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Full text of "Vorlesungen über geshichte der mathematik"

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VORLESUNGEN 


ÜBER 


GESCHICHTE DER MATHEMATIK 


HERAUSGEGEBEN VON 


MORITZ CANTOR 


UNTER MITWIRKUNG DER HERREN 


V. BOBYNIN, A. v. BRAUNMÜHL, F. CAJORI, S. GÜNTHER, V. KOMMERELL, 
G. LORIA, E. NETTO, G. VIVANTI, C. R. WALLNER. 


VIERTER BAND: , . 
VON 1759 BIS 1799°- + 


"MIT 100 IN DEN TEXT GEDRUCKTEN FIGUREN. 


& 


LEIPZIG, 
DRUCK UND VERLAG VON B.G. TEUBNER. 
1908. 


" CAJORI 


ALLE RECHTE, 
EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN. 


Vorwort. 


_® 


Wäre es nicht landläufige Übung, einem neu erscheinenden Bande 
einige, wenn auch nur kurze, ankündigende Worte vorauszuschicken, 
so würde ich am liebsten von jedem Vorworte Abstand nehmen. 
Fehlt mir doch die dem Verfasser innewohnende Berechtigung, den 
der Öffentlichkeit übergebenen Band als mir angehörend zu bezeichnen. 
Die Herren Günther, Cajori, Netto, Bobynin, v. Braunmühl, 
Kommerell, Loria, Vivanti, Wallner als Verfasser der Abschnitte 
XIX bis XXVII haben viel stärkere Beiträge als der Verfasser des 
kurzen XXVIII. Abschnittes geliefert und könnten beanspruchen, ihre 
Arbeit einzuführen. Wenn mir gleichwohl von Anfang an überlassen 
blieb, ein Gesamtvorwort zu schreiben, so betrachte ich mich dazu 
als mit einer dreifachen Legitimation versehen, 1. als Verfasser der 
drei ersten Bände, 2. als Mittelsperson der Bearbeiter dieses IV. Bandes, 
3. als der den Jahren nach Älteste unter den an der Entstehung des 
Bandes beteiligten Persönlichkeiten. 

Unser IV. Band wird der Art seiner Fertigstellung entsprechend 
unzweifelhaft wesentlich von den ihm vorhergegangenen Bänden ab- 
weichen. Die Einheitlichkeit wird ihm fehlen, dagegen wird man 
den einzelnen Abschnitten zu ihrem Vorteile anmerken, daß deren 
Verfasser ihre ganze Geistesarbeit auf ein eng umgrenztes Gebiet be- 
schränken durften. Möge der freundliche Leser diesem letzteren Vor- 
zuge zu Liebe den ersteren verhältnismäßig geringeren Mangel ent- 
schuldigen. 


Heidelberg, März 1908. 
Moritz Cantor. 


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XIX. 
XX. 


XXL 


XXI. 


XXIII. 


XXIV. 


XXV. 


Inhaltsverzeichnis. 


Geschichte der Mathematik von S. Günther . . . . .... 


Arithmetik. Algebra. Zahlentheorie von F. Cajori. . 
Arithmetik WE Ba ER OR ER 
BEL: 2,2 ER PP BER 
Zahlentheorie Ei 
MORE 2... ..,.. 


Kombinatorik. Wahrscheinlichkeitereohnung. Reihen. Ima- 
ginäres von E. Netto 

Kombinatorik . : i 

Wahrscheinlichkeitsr Gesung ’ 

Reihen , . 

Imaginäres . 


Elementare Geometrie von V. Bobynin 
Lehrbücher der Elementargeometrie. . . . 2.2... . 
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst) . . 2.2 222. 
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. ..... . 
Parallelenlehre. 
Verbesserungen 


Trigonometrie. Yolysoramitrii, Tafeln von A. v. Binksmahl 

Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen 
Zeitgenossen und Nachfolger 

Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Vermiche einer mög- 
lichst einfachen Begründung derselben. 

Tetragonometrie. Polygonometrie und Polyedrometrie 

Trigonometrische und andere Tafeln. Zyklometrie. rn 
metrische Reihen, 


Analytische Geometrie der Ebene und des EEE von V.Kom- 
merell... EEE IE 
Allgemeine Koßelschnitte . RER 
Höhere ebene Kurven 
Raumkurven und Flächen. 
Verbesserungen . . . . . 


Perspektive und darstellende RER von @. Loria. .. . 
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahr- 
en SEE 
Die goldene Periode der TEE Forssablise 
a nn i 
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie . . 


199—318 
201 
221 
257 
303 

319—402 
321 
360 
375 
388 
402 

403—450 


405 


424 
430 


VI Inhaltsverzeichnis. 


XXV1. Infinitesimalrechnuag von G. Vivanti 
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung . . . 
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung . . . . 
Differentiation und Integration 
1. Differentiation. 
2. Integration . . 
. Prinzipien der nalen zn sihie- 
denartige Fragen... . ... ... : 
. Integration von rationalen Pehlkühnen 
. Integration von irrationalen Funktionen. . . 
. Integration von transzendenten Funktionen . . 
. Reihenintegration, angenäherte Integration . 
. Differentiation und Integration unter dem Inte- 
gralzeichen. .... . 
G. Vielfache Integrale . 
Bestimmte Integrale . 5 
Analytische Anwendungen der Ininitesiunireiien 
1. Maxima und Minima. 
. Unbestimmte Formen. 
3. ee der Inßnitesimsirschmung auf die 
Reihenlehre.. es 
Transzendenten. Elliptische Its, ; 
1. Verschiedene Transzendenten . 


er 


SsDak 


2. Elliptische Integrale ....:. ..usr.ontanisn. 


A. Beziehung ES Big eines und desselben 
Kegelschnittes . 


B. Beziehungen zwischen Bögen verschiedener 


Kegelschnitte x 
C. Vermischte Fragen .. ... : . .. 


XXVII. Totale und partielle Dierk ae Pike 
und Summenrechnung. Variationsrechnung von Ü. R. 
Wallner. i 

Totale und RE. Differmlini sie himgtn ; 
Differenzen- und RE RE 
Variationsrechnung. 


XXVIII. Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799 von M. Cantor 

Verbesserungen und Zusätze zu den Abschnitten XXI und XXVI von 
F. Müller. . era er Bi Ba Ta a 

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Seite 
639—869 
641 
670 
695 
695 
702 


702 
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737 
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770 
779 


780 
790 
790 
794 


195 


835 
366 


871—1074 
873 
1047 
1066 


1075—1096 


1097—1098 
1099 —1113 


ABSCHNITT XIX 


GESCHICHTE DER MATHEMATIK 


VON 


S. GÜNTHER 


CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. » 1 





keschichte der Mathematik in selbständigen Werken, monogra- 
phischen Arbeiten und Biographien; Wörterbücher; Ausgaben, 
Bearbeitungen und Wiederherstellungen von Klassikern. 


Man hat das XVII. Jahrhundert nicht selten das „philosophische“ 
genannt, wogegen dem XIX. das Verdienst zuerkäant- werden ‘sollte, 
das „historische“ zu sein. Diese Gegenüberstellung ist. gewiß nicht 
ganz unberechtigt, allein in den zwischen 1760 ’und '1800 gelegenen 
vier Jahrzehnten nimmt doch auch schon das geschichtliche Interesse 
merklich zu, und nicht allein im Bereiche der im engeren Sinne hier 
in Betracht kommenden Disziplinen ist dieser Fortschritt wahrzu- 
nehmen, sondern auf allen Gebieten menschlichen Wissens macht sich 
die gleiche Erscheinung geltend. So hat denn auch das Studium der 
Geschichte der exakten Wissenschaften einen namhaften Aufschwung 
genommen, wie die folgenden Zeilen dies im einzelnen a 
werden. 

Als ein wesentlich unterstützendes Moment darf wohl das be- 
zeichnet werden, daß sich in dem uns jetzt beschäftigenden Zeitraume 
die Gelegenheiten zu Veröffentlichungen stetig mehren und verbessern. 
Wenn die bis dahin verfaßten Werke über Geschichte der Mathe- 
matik und Astronomie noch gar viel zu wünschen übrig ließen, so 
daß auch da eben — von Weidler!) und Montucla?) abgesehen — 
meist nur ganz schwache Anfänge vorhanden waren, so mag ein 
sehr bestimmender Grund für diese Unvollkommenheit in dem Um- 
stande erkannt werden, daß es noch fast ganz an Spezialarbeiten 
mangelte, jeder Autor also fast allein auf sich selbst und seine eigenen 
Hilfsmittel angewiesen war. Anders wurde dies, als einerseits die 
Veröffentlichungen der gelehrten Gesellschaften, RT die vor- 
her noch so seltenen Zeitschriften in immer steigender Zahl rührigen 
Schriftstellern sich zur Verfügung stellten. Und gerade hier ist in 
der zweiten Hälfte unseres laufenden Jahrhunderts, zumal von 1780 
an, sehr viel geleistet worden. 


' Val. diese Vorlesungen III?, S.497. ?) Ebenda III®, S. 500 ff. 
1* 


A Abschnitt XIX. 


Eine vortreffliche Zusammenstellung der mathematischen Zeit- 
schriftenliteratur, dieses letztere Wort im allerweitesten Sinne ge- 
nommen, verdankt man Rogg'), obwohl dieselbe, bei allem vom Ver- 
fasser aufgewendeten Fleiße, noch immer nicht als ganz vollständig 
betrachtet werden kann?). Diese Liste führt für unsere vier Dezen- 
nien periodische Herausgabe gelehrter Arbeiten von folgenden Kor- 
porationen an: Amsterdam, Basel, Berlin, Bologna, Boston, Breslau, 
Brüssel, Caleutta („Asiatic Researches“), Cortona (in Toscana), Danzig, 
Dessau, Dijon, Dublin, Düsseldorf, Edinburgh, Erfurt, Genf, Göttingen, 
Halle a.S., Harlem, Kopenhagen, Leipzig, Lissabon, London, Madrid, 
Mainz, Manchester, Mannheim, Middelburg (in den Niederlanden), 
Modena, München, Nancy, Neapel, Padua, Paris, St. Petersburg, Prag, 
Philadelphia, Rotterdam, Siena, Stockholm, Turin, Upsala, Wien, 
Züsieh. Vor gar möncher Hpene Städte wäre der Name mehrmals 
‚ZU DENAEn;. :xO. kommen. z. B. von Berlin die Akademie der Wissen- 
““schäffeh: taid die. N Naturforschenden Freunde“ als Herausgeber in Be- 
tracht. Vergleicht man das Verzeichnis mit demjenigen, welches sich 
für die erste Jahrhunderthälfte oder gar für noch frühere Zeiten her- 
stellen ließe, so gewinnt man erst eine wirkliche Einsicht in die ge- 
waltige Zunahme der gelehrten Produktion, welche mit den Anfängen 
des gewöhnlich als Aufklärungszeitalter gekennzeichneten Zeitab- 
schnittes eingesetzt hat. | 

Von Zeitschriften im eigentlichen Wortsinne besaß vorher Deutsch- 
land nur die „Acta Eruditorum“, die ja auch eine reiche Fundgrube 
für den Historiker darstellen, und in Frankreich besaß das „Journal 
des Savants“ in den hundertundsiebenundzwanzig Jahren seines Be- 
stehens (1665—1792) einen begründeten Ruf. Fachzeitschriften für 
die Mathematik und die zu ihr in Beziehung stehenden Wissenszweige 
gab es außer für die allerelementarsten Gebiete überhaupt noch nicht. 
Das Verdienst, eine solche geschaffen zu haben, kommt dem Leipziger 
Professor Karl Friedrich Hindenburg (1741—1808), dem Be- 

') Handbuch der mathematischen Literatur vom Anfange der Buchdrucker- 
kunst bis zum Schlusse des Jahres 1830, 1. Abteilung, Tübingen 1830, $. 282 ff. 
”) Es fehlen u. a. die beiden Publikationen der Universität Erlangen („Erlanger 
Gelehrte Anzeigen“; „Fränkische Sammlungen von Anmerkungen aus der Natur- 
lehre, Arzeneygelahrtheit und Ökonomie“), sowie das inhaltreiche „Journal de 
Trevoux‘ (kleine Stadt nördlich von Lyon). Auch Florenz ist in gewissem Sinne zu 
nennen, denn dort blühte längere Zeit die in der Geschichte der experimentellen 
Befragung der Natur einflußreich gewordene „Versuchsakademie“. Vgl. hierzu 
G. Targioni-Tozzettis (1712—1783) vierbändiges Werk (Notizie degli aggra- 
dimenti delle scienze fisiche, accaduti in Toscana nel corso di anni sessanta 
nel secolo XVII, Florenz 1780), Ferner sind noch die Memorie dell’Accademia 


Virgiliana von Mantua und die Memorie della Societä Italiana delle scienze von 
Verona zu bemerken. 





Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 5 


gründer der kombinatorischen Analysis, zu. Derselbe gab zusammen 
mit dem Astronomen Johann Bernoulli!) von 1786—1788 das 
„Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik“ heraus, 
nachdem er zuvor zusammen mit anderen Redakteuren, nämlich dem 
Physiker Christlieb Benedikt Funck (1736—1786) und dem Kame- 
ralisten Nathanael Gottfried Leske (1751—1786) bei der Heraus- 
gabe einer von 1781—1785 in Gang erhaltenen Vierteljahrsschrift von 
verwandtem Charakter, bei dem „Leipziger Magazin für Naturkunde, 
Mathematik und Astronomie“ beteiligt gewesen war. Für sich allein 
leitete Hindenburg sodann von 1795 bis 1800 das „Archiv für die 
reine und angewandte Mathematik“ (11 Hefte), ein Organ von reichem 
und vielseitigem Inhalte, an dem auch die Geschichtsforschung, wie 
dieses Kapitel noch zeigen wird, nicht achtlos vorübergehen darf. 
Selbstverständlich darf diese auch nicht übersehen, was die der 
Physik und Astronomie gewidmeten Zeitschriften enthalten. - Für 
erstere ist als Bahnbrecher anzusehen der Abbe Francois Rozier 
(1734—1793), der in Paris die „Observations et Memoires sur la 
physique, l’'histoire naturelle et les arts“ ins Leben rief?) und sie von 
1773—1793 im Rufe eines geachteten Fachblattes zu erhalten wußte. 
Nach seinem Tode ging die Schriftleitung über in die Hände der 
beiden Naturforscher Henri Marie Ducrotay de Blainville 
(1778— 1850) und Jean Claude Delametherie (1743— 1817); 
letzterer hatte auch früher bereits Rozier seine Unterstützung ge- 
liehen, während in den Jahren 1779—1785 der Abbe Jean Andre 
Mongez°) (1751—1788) als Mitherausgeber tätig gewesen war. Der 
Titel wurde in „Journal de physique“ umgewandelt, und als solches 
dauerte es von An II (1793) bis zum Jahre 1828. Die Entstehung 
eines deutschen Konkurrenzorganes, welches jedoch die physikalische 
Tendenz noch etwas schärfer betonte, fällt erst in die letzte Zeit des 
uns hier beschäftigenden Zeitraumes. Im Jahre 1799 nämlich be- 
gannen unter der Ägide des damals in Halle angestellten und 1811 
nach Leipzig berufenen Professors Ludwig Wilhelm Gilbert 
(1769—1824) die „Annalen der Physik“ zu erscheinen, welche als 
Fortsetzung zweier noch nicht zu gleicher Bedeutung gelangten Unter- 
nehmungen des Chemikers Karl Friedrich Adolf Gren (1760 bis 
 %) Der dritte Träger dieses Namens in der berühmten Mathematikerfamilie 
(diese Vorlesungen III?, 8.325). °) Die beiden ersten Jahrgänge (1771—-1773) 
führen eine etwas abweichende Bezeichnung, nämlich diese: „Introduction aux 
observations sur la physique et l’histoire naturelle“. ®) Mongez war wissen- 
schaftlicher Begleiter der unglücklichen Expedition des Kapitäns Jean Frangois 
De la Peyrouse, welche 1785 Frankreich verließ und niemals wiederkehrte, 


weil die beiden Schiffe an einer pazifischen Koralleninsel scheiterten und fast 
spurlos untergingen. 





6 Abschnitt XIX. 


1798) zu treten bestimmt waren („Journal der Physik“, 1790—1794; 
„Neues Journal der Physik“, 1795—1798). Gilbert hatte eine glück- 
liche Hand und brachte die „Annalen“ bald zu fröhlichem Gedeihen, 
so daß sie seinen Tod überdauerten und bis zum heutigen Tage, 
dank den glänzenden Namen Poggendorff, W.und E. Wiedemann, 
ihre Führerstellung, nicht bloß für die Grenzen des Vaterlandes, sich 
bewahrt haben. Als eine dritte wertvolle Sammlung zeitgenössischer 
Arbeiten hat zu gelten Lodovico Gasparo Brugnatellis (1761 
bis 1818) in seinem Wohnorte Pavia veröffentlichte „Biblioteca fisica 
d’Europa“ (1788—1791), an welche sich das „Giornale fisico-medieo“ 
anschloß; auch dieses hat nachher seinen Namen mehrfach gewechselt. 
Gasparo BrugnatelliÄ, Brunacei und Configliacchi unter- 
stützten den Vater des Erstgenannten bei der Herausgabe, und erst 
1827 endigte die ganze Zeitschriftenserie. 

‘Den deutschen und auswärtigen Vertretern der Sternkunde stellte 
zuerst der Berliner Astronom Johann Elert Bode (1747—1826) 
ein Organ für gelegentliche Veröffentlichungen zur Verfügung, indem 
er seinen Ephemeriden („Astronomisches Jahrbuch für die Jahre 
1776—1829“, Berlin 1774—1826; dazu vier Supplementbände) noch 
einen für Aufsätze und Mitteilungen aller Art bestimmten Anhang 
beifügte. Wichtiger unter dem hier in Betracht kommenden Gesichts- 
punkte wurden die Zeitschriften Franz Xaver v. Zachs (1754 bis 
1832), welche reich an geschichtlichen Originalabhandlungen und Be- 
richten sind. Auf die kurzlebigen, in Verbindung mit Bertuch in 
Weimar herausgegebenen „Geographischen Ephemeriden“ (1798—1799) 
folgte die noch jetzt unentbehrliche, in Gotha gedruckte „Monatliche 
Korrespondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde“ (1800 
bis 1813). Deren spätere Fortsetzung fällt nicht mehr in den Rahmen 
dieses Kapitels. 

Gar manche ihn näher berührende Notiz findet der die literarische 
Tätigkeit jener Tage Verfolgende auch in periodischen Schriften von 
mehr allgemeinem, teilweise auch populärem Gepräge, für die sich be- 
sonders der aus England herübergekommene Name „Magazin“ einge- 
bürgert hatte. Es gab eine ganze Reihe von Wochen- und Monats- 
schriften mit diesem Namen („Bremisches Magazin“, mit Fortsetzung 
von 1760—1766 reichend; „Göttingisches Magazin“ von Lichtenberg 
und Georg Forster, seit 1780; „Hamburger Magazin“, mit Fort- 
setzung von 1745—1784; „Stralsundisches Magazin“, 1767—1776). 
Der berühmte Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1744 bis 
1799) ließ nachmals das „Magazin für das Neueste aus der Physik 
und Naturgeschichte“ (Gotha 1784—1799) erscheinen, welches unter 
der Redaktion des früheren Mitarbeiters Johann Heinrich Voigt 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 7 


(1751—1823) als „Magazin für den neuesten Zustand der Naturkunde 
in Rücksicht auf die dazu gehörigen Hilfswissenschaften“ (1799 —1806) 
neu auflebte.e Nur ganz kurz hielt sich des in Göttingen dozierenden 
Chemikers Johann Friedrich Gmelin (1748—1804) „Journal der 
Naturwissenschaften“ (Göttingen 1797—1798). Zwei nicht ganz wert- 
lose Sammelwerke sind die folgenden: „Physikalische Bibliothek“, 
Rostock-Wismar 1754—1761; „Monatliche Beiträge zur Naturkunde“, 
Berlin 1752—1765; beide herausgegeben von dem Wismarer Rektor 
Johann Daniel Denso (1708 — 1795). Auch einzelne Gelehrte 
suchten ab und zu dem bestehenden Bedürfnis, vor die Öffentlichkeit 
treten zu können, durch Veranstaltung von Sammelschriften entgegen- 
zukommen. So gibt es zwei Veröffentlichungen des bayerischen Aka- 
demikers Franz v. P. Schrank („Abhandlungen einer Privatgesell- 
schaft von Naturforschern und Ökonomen in Oberteutschland“, München 
1792; „Sammlung naturhistorischer und physikalischer Aufsätze“, 
Nürnberg 1796). Eine populärwissenschaftliche, zu ihrer Zeit sehr 
geachtete Zeitschrift hatte ihren Sitz in Holland („Allgemeener Konst- 
en Letter-Bode“, 1788—1818). Von englischen Organen, die zugleich 
die Wissenschaft fördern und Wissen in weitere Kreise zu tragen be- 
stimmt waren, seien „Ihe Lady’s Diary“ und „The Penny Cyelo- 
paedia“ namhaft gemacht. Über den Einfluß, den die zahlreichen 
italienischen Literaturjournale auch auf den Entwicklungsgang der 
exakten Wissenschaften während des XVIII. Jahrhunderts ausübten, 
verbreitet sich sehr anregend G. Loria (Il „Giornale de’ Letterati 
d’Italia“ di Venezia e la „Raccolta Calogerä come fonti per la storia 
delle matematiche nel secolo XVIIL, Cantor-Festschrift, 1899, 5. 241 ff.). 

Die Möglichkeit, Studienfrüchte viel leichter als früher einem 
großen Publikum vorlegen zu können, kommt naturgemäß darin zum 
Ausdruck, daß kleinere Veröffentlichungen häufiger, dickleibige Bücher 
seltener zu werden anfangen. Auch die Geschichte der mathematı- 
schen Wissenschaften muß sich der in den Verhältnissen begründeten 
Regel unterordnen. Es sind nur verhältnismäßig wenige neue Werke, 
die uns in den vier Jahrzehnten zwischen 1760 und 1800 entgegen- 
treten, und man kann nicht behaupten, daß das, was geliefert ward, 
allen Ansprüchen vollkommen entsprach. Es läuft viel Mittelgut mit 
unter, wenn auch in manchen Fällen, wie sich gleich zeigen wird, 
die objektiver gewordene Anschauung der neuesten Zeit manches 
allzu herbe Urteil der Vergangenheit wenigstens einigermaßen richtig- 
stellen mußte. 

Wir haben hier vor allem das einzige selbständige Werk aus der 
Feder eines deutschen Schriftstellers im Auge, welches in das hier 
zur Besprechuug stehende Intervall gehört. Es stammt her von dem 


8 Abschnitt XIX. 


bekannten, schon im dritten Bande mehrfach genannten Abraham 
Gotthelf Kaestner'), entstand aber leider erst, und zwar in der 
äußerlich sehr stattlichen Gestalt von vier Bänden ?), in dem letzten 
Lebensabschnitte des bereits in das hohe Greisenalter eingetretenen, 
außerordentlich produktiven Gelehrten. Man begnügte sich späterhin 
nur zu leicht bei dem absprechenden Urteile eines allerdings durch 
scharfen kritischen Geist ausgezeichneten Historikers?), welches für 
diesen besonderen Fall völlig einem die ganze Tätigkeit des Mannes 
treffenden Sarkasmus des Princeps Mathematicorum zu entsprechen 
schien‘). „Von einem Eingehen in die Wissenschaft“, heißt es da, 
„ist fast nirgends die Rede. Das Einzige, was man aus dem Buche 
lernen kann, ist einige Bücherkenntnis. Aber auch hierin scheint den 
Verfasser mehr der Zufall, als irgend ein bestimmter Plan geleitet zu 
haben. Mit einem Worte, das Buch ist alles mögliche, nur keine Ge- 
schichte der Mathematik.“ Da heutzutage weit weniger mehr als 
früher Veranlassung dazu gegeben ist, von dem Werke nähere Ein- 
sicht zu nehmen, und da es wohl keine große Zahl von Fachmännern 
gibt, die sich das Zeugnis geben können, eine solche Einsicht wenig- 
stens angestrebt zu haben, so möchte eine etwas eingehendere Wür- 
digung des „sonderbaren Buches“ gerade an dieser Stelle am Platze 
erscheinen. 

Im XIX. Jahrhundert sind zumal auf einem nahe verwandten 
Gebiete verschiedene geschichtliche Gesamtdarstellungen ans Licht ge- 
treten, von denen man sagen kann, sie stellten das biographische 
Moment allzusehr in den Vordergrund; manche „Geschichte der 


!) Über die Persönlichkeit des Mannes ist das Notwendige schon früher 
beigebracht worden (diese Vorlesungen III?, 8. 576). Eine gerechtere Würdi- 
gung derselben greift immer mehr Platz. Recht dankenswerte Beiträge zu einer 
solchen bietet auch die für die mathematische Hochschulgeschichte überhaupt 
viel Interessantes enthaltende Göttinger Dissertation von C. H. Müller (Studien 
zur Geschichte der Mathematik; insbesondere des mathematischen Unterrichtes, 
an der Universität Göttingen im XVII. Jahrhundert, Leipzig 1904, 8. 50ff). Auch 
früher einmal ist ein darauf abzielender Versuch zu verzeichnen (Günther, 
Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften, 
Leipz. 1876, Kap.I,Anhang). °)Kaestner, Geschichte der Mathematik, Göttingen, 
1. Band 1796, 2. Band 1797, 3. Band 1799, 4. Band 1800 (erschienen im 'Todes- 
jahre des Autors). °)G. H. F. Nesselmann, Die Algebra der Griechen, Berlin 
1842, S. 24 ff. ‘) Gauß, der Kaestner noch selbst gekannt hat, dessen Vor- 
lesungen aber begreiflicherweise keinen Geschmack abgewinnen konnte, soll ein- 
mal geäußert haben, derselbe habe immer Geist und Witz an den Tag gelegt, 
wenn er von ptudnelchen anderen Sachen redete; ganz hätten ihn diese seine 
Eigenschaften auch dann nicht verlassen, wenn er von Mathematik im allgemeinen 
sprach; nur bei seinen eigentlich mathematischen Arbeiten hätten ihn jene 
völlig im Stiche gelassen. 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 9 


Physik“ ist in Wirklichkeit eine „Geschichte der Physiker“. Nicht 
das biographische, wohl aber das bibliographische Element über- 
wuchert nun allerdings bei Kaestner die Entwicklungsgeschichte in 
einem auch für die billigste Beurteilung tadelnswerten Maße. Allein 
da doch nun einmal, seltene Ausnahmen abgerechnet, die geistige 
Arbeit eines Zeitalters in seinen Preßerzeugnissen ihren natürlichen 
Ausdruck findet, so ist das Übel doch nicht so”sehr groß, und wer 
es einmal über sich gewonnen hat, den senilen Stil des Verfassers, 
seine Neigung zu oft sehr unangebrachten Scherzen, das Hereinziehen 
fremdartigster Dinge als gegebene Tatsachen hinzunehmen, der kann 
— und hier liegt für uns ein bewußter Gegensatz im Verhältnis zu 
der oben verlautbarten Geringschätzung vor — aus den vier Bänden 
doch sehr viel Nützliches lernen. Die zahlreichen Buchauszüge sind 
teilweise verständnisvoll gearbeitet und bringen dem modernen Leser 
durch Einkleidung älterer Methoden in das neuzeitliche Gewand das 
Wesen der ersteren doch oft weit näher, als dies für den Fernerstehen- 
den auch beim eifrigsten Studium der Originale erreichbar ist. Und 
wer sich die Mühe gibt, die Spreu vom Weizen zu sondern, der findet 
manches wertvolle Korn, dessen Besitz ihn für die aufgewandte Mühe 
entschädigen mag. 

Der erste Band geht aus von den Anfängen der Positionsarith- 
metik und sucht deren Ausbildung durch Hervorhebung wichtiger 
Etappen, durchaus nicht immer ungeschickt, ins richtige Licht zu 
stellen; eine kurze Geschichte der Algebra reiht sich an. Die Lehr- 
bücher und Bearbeitungen, welche der Bearbeitung unterstellt werden, 
erschöpfen zwar nicht die Fülle des vorhandenen Stoffes, geben aber 
doch ein ganz gutes Bild von der Literatur des XVI. Jahrhunderts, 
und zumal die etwas umständliche Schilderung der Werke von Chri- 
stoph Rudolf, Stifel und Cardano orientiert über deren reichen, 
angesichts der Seltenheit dieser Werke den meisten unzugänglichen 
Inhalt. Der Anhang „Gelehrter Tand von Zahlen“ wird jedem modernen 
Leser unschmackhaft sein, entbehrt aber keineswegs einer gewissen 
kulturgeschichtlichen Bedeutung. Die „Geschichte der theoretischen 
Elementargeometrie“ sucht möglichst viele Nachrichten über Klassiker- 
ausgaben und Übersetzungen, auch solche in die arabische Sprache, 
zusammenzustellen; daß Kaestner nicht gar so unkritisch war, be- 
weisen seine Bemerkungen über die angebliche „Katoptrik“ Euklids. 
Dem dritten Paragraphen') wird kein Bibliophile das Lob einer ge- 
nauen und verständigen Buchcharakteristik streitig machen, und auch 


') Kaestner I, 8. 289ff. „Die erste gedruckte Ausgabe von Euklids Ele- 
menten“, 


10 Abschnitt XIX. 


sachlich ist manche Einschaltung gar nicht wertlos, wie etwa die 
Prüfung der Parallelentheorie des Nasir Eddin'). Mit den Quadra- 
turversuchen des Nikolaus Cusanus befaßt sich Kaestner?) weit 
gründlicher, als irgend sonst ein früherer oder späterer Geometer vor 
der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts. Auch die „Geschichte der 
Trigonometrie“ wird noch in der Jetztzeit von Historikern nicht un- 
gerne zu Rate gezogen, weil sie in ihren Mitteilungen über die seltenen 
Folianten und Quartanten eines Rheticus, Pitiscus, Broscius u. a. 
treu und zuverlässig ist, so daß man über die abstruse Form leichter 
hinwegsieht. Ebenso ist der Abriß der Geschichte der Feldmeßkunst 
nicht arm an brauchbaren Einzelheiten. 

An der Spitze des zweiten Bandes steht die Geschichte der Per- 
spektive, und ihr folgt die „Geschichte der geometrischen Analysis 
und höheren Geometrie“, in welch letzterer die Notizen aus Com- 
mandino, Werner und Maurolico einen etwas höheren Standpunkt 
einnehmen. Wenn auch eine Übersicht über die „Mathematica Col- 
lectio“ des Pappus strenge genommen nicht an diese Stelle gehört, 
so mußte sie?) doch damals, da die antike Mathematik noch zu den 
recht wenig bekannten Dingen gehörte, einen erwünschten Bestandteil 
des Werkes bilden. Auch über die Urgeschichte der Lehre von 
asymptotischen Gebilden erfährt man Wissenswertes‘). Die Geschichte 
der Mechanik legt zu viel Gewicht auf Nebensachen, z. B. die Maschi- 
nenkunde, die doch nur sehr bedingt hierher gehört, und dasselbe 
darf von der auf Optik bezüglichen Abteilung ausgesagt werden. 
Dagegen darf der Geschichte der älteren Astronomie wiederum das 
Lob sorgfältigen Eingehens auf bibliographische Seltenheiten —- 
Nonius, Gemma Frisius, Reinhold und ganz besonders Tycho 
Brahe — nicht abgesprochen werden, und auch für die Anregungen, 
welche der reinen Mathematik aus der Himmelskunde zuflossen, fällt 
mancherlei ab. Wer jemals die wissenschaftlichen Bewegungen des 
Zeitalters, welches durch die Namen Coppernicus und Tycho ge- 
kennzeichnet ist, im Zusammenhange zu durchforschen unternommen 
hat, wird nieht anstehen, einzuräumen’), daß ihm die Kaestnersche 
Materialiensammlung für seinen Zweck von entschiedenem Nutzen ge- 
wesen sei. 

Der noch jetzt brauchbarste Band ist ohne Zweifel der dritte, 
der in der Hauptsache das XVII. Jahrhundert, d. h. dessen erste Hälfte, 
abhandelt; über das Jahr 1650 wird nur insofern hinausgegangen, als 





) Kaestner I, S. 374ff.; vgl. diese Vorlesungen I?, S. 734. 2°) Ebenda I, 
8.400ff.; vgl. diese Vorlesungen II?, S.192ff. °) Ebendall, S.82ff. *) Ebenda II, 
S. 94 ff.; vgl. diese Vorlesungen II?, 8.571. °) Es sei namentlich auf die Behand- 
lung Maestlins (Kaestner II, S. 446ff.) hingewiesen. 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 11 


die Publizierung älterer Schriften nach jenem Termine noch statt- 
gefunden hat. Die Darstellung der Kreisrechnung in ihrer interessan- 
testen, einen Ludolf, Metius, Adrianus Romanus aufweisenden 
Periode'), die ins einzelne gehende Beschreibung der zu Raritäten 
gewordenen Napierschen Logarithmenwerke?), die freilich selber oft 
etwas ausschweifende Schilderung des ebenso genialen wie wunder- 
lichen Faulhaber°), der vorher niemals geführte Nachweis*), daß 
‘sich bei Gregorius a Sto. Vincentio bereits die Quadratur der 
Hyperbel im Keime erkennen lasse, und eine Reihe anderer Para- 
graphen sichern dem Bande eine auch bei Anlegung eines strengeren 
Maßstabes nicht verschwindende Bedeutung. An der behaglich breiten 
Auslassung über Visierkunst und Proportionalzirkel nimmt vielleicht 
ein Leser, der sich von jenen Lieblingsobjekten der Vergangenheit 
keine Vorstellung machen kann, einigen Anstoß; wer aber weiß, welche 
Rolle diese geometrischen Anwendungen in damaliger Zeit spielten, 
und daß ein Kepler, ein Galilei ihnen ihre vollste Beachtung 
schenkten, der wird nichts dawider haben, hier ganz bequem in eine 
Literaturgattung eingeführt zu werden, deren Bestandteile er sich sonst 
mühsam zusammenzusuchen genötigt wäre. Daß Kaestner sich dann 
gelegentlich verleiten läßt, auch von weniger bedeutenden Produkten, 
wie z. B. von den auf einem ziemlich niedrigen Niveau stehenden 
technischen Skizzen des Ingenieurs Furttenbach’), sehr ‚ausgiebig 
Bericht zu erstatten, muß man mit in Kauf nehmen. 

Wiederum der angewandten Mathematik gehört der vierte Band. 
Hier bilden für Mechanik, Optik und Astronomie die beiden Dioskuren 
des beginnenden XVI. Jahrhunderts recht eigentlich die Mittelpunkte, 
und vornehmlich ist es Kepler, den der Verfasser gründlich durch- 
gearbeitet hat. Daß er sich in ziemlich gleiehgültige Episoden in der 
Lebensgeschichte seines Helden mehr als nötig vertieft, mag man mit 
seiner berechtigten Vorliebe für den in der Geschichte der Mensch- 
heit so einzigartig dastehenden Mann entschuldigen. Auch die durch 
die Bekanntmachung der „drei Keplerschen Gesetze“ entfesselte Be- 
wegung, deren Signatur die Polemik zwischen den Anhängern des 
coppernicanischen und des tychonischen Weltsystemes darstellt, hat keine 
üble Kennzeichnung erfahren, so daß neuere Schriftsteller, welche sich 


) Kaestner II, 8. 50ff. °) Ebenda II, S.70ff.; vgl. diese Vorlesungen II?, 
S. 730 ff. ®) Ebenda III, 8. 111 ff. 4) Ebenda III, S. 245. Vgl. diese Vor- 
lesungen II®, S.896. °) Ebenda III, S.419ff. Wohl nirgendwo sonst machen 
sich die Zerfahrenheit, der Mangel an Rücksicht auf die wirklich interessanten 
Fragen und die Redseligkeit des Alters unangenehmer geltend, weil von allen 
Furttenbachschen „Erfindungen“ höchstens die Anstellung ballistischer Ver- 
suche über das platte Alltagsleben hinausgeht. 


12 Abschnitt XIX. 


diese Phase des Erkenntnisfortschrittes zum Studienobjekte ausersahen, 
ohne Kaestner in Verlegenheit gekommen sein würden‘). Alles in 
allem wagen wir zu behaupten: Auch dieser Band, von einem gebrech- 
lichen Manne im einundachtzigsten Jahre seines Lebens mit letzter 
Kraft niedergeschrieben, leistet dem Geschichtschreiber, der sich über 
gewisse Punkte der großen Sturm- und Drangbewegung im Zeitalter 
eines Cartesius, Galilei, Kepler zuverlässig unterrichten will, sehr 
nützliche Dienste, und wenn auch der deutsche Mathematiker fraglos 
nicht auf der Höhe eines Montucla stand, so muß man sich doch 
hüten, an seinem Gedächtnis ein Unrecht zu begehen und über der 
abstoßenden Außenseite das, was am Inhalt nutzbar und lobenswert 
ist, ganz zu vernachlässigen. Diese kleine Ehrenrettung glaubte ein 
Späterer, der seit mehr denn vierzig Jahren sich gar häufig Rats aus 
dem vermeintlichen Sammelsurium erholt hat, dem oft verkannten 
Literator Kaestner schuldig zu sein. 

In Deutschland wurde von zusammenfassenden Schriften im übrigen 
nichts mehr hervorgebracht, wenigstens wenn wir nur die reine Mathe- 
matik ins Auge fassen. Höchstens die „Enzyklopädie“ von Rosen- 
thal?) könnte noch der Vollständigkeit halber genannt werden, und 
einem damals beliebten Lehrbuche?) ist ein kurzer historischer Abriß 
beigegeben. Ein Schriftehen von Hollenberg*) ist ziemlich bedeu- 
tungslos und scheint auch nur ganz wenig bekannt geworden zu sein?). 
Die Inauguraldissertation®) des bekannten Physikers Gilbert (s. 8. 5) 
weist der Geschichte von vornherein nur einen sekundären Platz an. 

Dagegen soll nicht verschwiegen werden, daß für den geschicht- 
lich arbeitenden Mathematiker sich auch mancherlei aus den deutschen 
Schriften über Geschichte der Physik und Astronomie entnehmen läßt. 
Die erstere wurde im fraglichen Zeitraum mit einem Werke”) be- 





') Vgl. Günther, Die Kompromißweltsysteme des XVI., XVII. und XVII. 
Jahrhunderts, Annales Internationales d’Histoire (Congres de Paris 1900), Paris 
1908, 8.121. ?) @. E. Rosenthal, Enzyklopädie aller mathematischen 
Wissenschaften, Gotha 1794—1797. 3) B. F. Moennich, Lehrbuch der Mathe- 
matik, Berlin-Stralsund 1781—1784. Dieses Schaltkapitel, über welches Nessel- 
mann (a. a. 0. 8.23ff.) nicht ganz ungünstig urteilt, führt den Titel: Kurze 
Geschichte der Mathematik nach der Ordnung der Hauptstücke im Lehrbuche. 
“) Hollenberg, Nachrichten von dem Leben und den Erfindungen der Mathe- 
matiker, Münster-i. W. 1788. °) Außer bei Nesselmann (a. a. O., 8.24) fanden 
wir es nirgendwo angeführt. 6% L. W. Gilbert, De natura, constitutione et 
historia matheseos primae vel universalis seu metaphysices mathematicae com- 
mentatio I et II, Halle a. S. 1794—1795. Vgl. dazu L. Choulant, Versuch über 
Ludwig Wilhelm Gilberts Leben und Wirken, Ann. d. Phys., LXXVI (1824, 
S. 463ff.). Danach soll Gilbert gewisse Aufstellungen seiner Erstlingsschrift 
ausdrücklich wieder zurückgenommen haben. ?°) J. C. Fischer, Geschichte der 
Naturlehre, Göttingen 1800—1808. 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 13 


reichert, dem hohe Verdienstlichkeit nicht abgesprochen werden darf, 
und welches man auch heute noch mit Vorteil zu Rate ziehen kann, 
weil es durchweg einen bequemen und sicheren Zugang zu den Quellen 
eröffnet. Stebt Fischer auch für seine Person noch auf einem etwas 
beschränkten Standpunkte, wie ihm denn z. B. Huygens’ Begründung 
. des Brechungsgesetzes aus der mathematisch eingekleideten Vibrations- 
theorie des Lichtes gar nicht einleuchten will!), so hat er sich doch 
redliche Mühe gegeben, in jedem Falle den verschiedenartigsten An- 
schauungen gerecht zu werden. Sein Werk überragt weit dasjenige 
des minder exakten Murhard (1779—1853)?), das denn auch, und zwar 
ohne ersichtlichen Grund, ein Torso geblieben ist. Eine eigenartige 
Schöpfung ist eine anonyme Geschichte der Sternkunde?), welche bis 
zum Ende des XVII. Jahrhunderts reicht und manch brauchbare Nach- 
richt enthält. Auch die deutsche Bearbeitung‘) einer älteren Schrift 
von Cassini°) darf hier nicht vergessen werden; sehr ungleichmäßig 
gearbeitet, so daß mancher Zeitabschnitt gar nicht zu seinem Rechte 
gelangt, verbreitet sie sich, zumal in den Zusätzen des Herausgebers, 
über viele wissenswerte Dinge, die anderwärts mehr in den Hinter- 
grund treten und die hier sachkundige Erörterung finden. 
Frankreich sah am Schlusse der uns hier beschäftigenden Periode 
das grundlegende Werk von Montucla°®) in neuer, sehr vermehrter 
Auflage erscheinen, deren Umfang sich auf vier Bände gesteigert 
hatte; die beiden letzten hatte der Astronom Lalande bearbeitet, 
ohne doch, wie an diesem Orte bereits ausgeführt ward’), die von 
dem Begründer selbst hergestellten Teile zu erreichen. In Montuclas 
Fußtapfen ist, teilweise allerdings nicht stets mit gleichem Glück, 
später Ch. Bossut (1730—1814) eingetreten, dessen Werk freilich erst 
dem XIX. Jahrhundert angehört und hier keiner Erwähnung teilhaftig 
werden könnte, wenn nicht ein Vorläufer desselben, Bossuts Discours 





») J. C. Fischer, Geschichte der Naturlehre II, Göttingen 1802, 8. 47. 
®) F. W. A. Murhard, Geschichte der Physik, 1. Band, Göttingen 1798—1799. 
°) Geschichte der Astronomie von den ältesten bis auf gegenwärtige Zeiten in 
zwey Bänden, I, Chemnitz 1792.° Als Verfasser zeichnet unter der Vorrede ein ge- 
wisser C. G. F., der sich hauptsächlich an Weidler (Historia Astronomiae, 
Wittenberg 1741) gehalten hat. Die äußerst zahlreichen Druckfehler stören den 
Leser in hohem Maße. *) J. L. Rost, Astronomisches Handbuch, neu heraus- 
gegeben von G. F. Kordenbusch, I, Nürnberg 1771, 8. 1—120. Die Über- 
setzung hatte schon früher J. P.v. Wurzelbau besorgt; Kordenbusch nahm 
sie, die nicht in den Druck gelangt war, in die von ihm besorgte Neuauflage 
des Rostschen Handbuches auf und bereicherte sie mit Anmerkungen, die auf 
eine gute Sachkenntnis schließen lassen. °) Dom. Cassini, De l’origine et du 
progres de l’astronomie et de son usage dans la g@ographie et dans la naviga- 
tion, Paris 1709 (Recueil d’observations faites... par Messieurs de l’Academie 
Royale des sciences). ®) Diese Vorlesungen IIl?, 8.500ff. °) Ebenda S. 501. 


14 Abschnitt XIX. 


preliminaire 1784 in der Eneyclopedie methodique erschienen wäre!). 
Der gleichen Zeit etwa gehört Condorcet, Esquisse d’un tableau 
historique des progres de l’esprit humain an, welche zahlreiche Auf- 
lagen erlebt hat. Eine ganz schwache Leistung war die „Entwieklungs- 
geschichte des menschlichen Geistes“ von Al. Saverien?) (1750—1805); 
Nesselmann sagt?) von ihr, es sei unbegreiflich, daß noch acht 
Jahre nach dem Erscheinen der Montuclaschen Schöpfung „eine 
solche Mißgeburt“ habe das Licht der Welt erblicken können. Der 
Vollständigkeit halber mag auch noch der geschichtliche Abriß in 
E. M. J. Lemoine D’Essoies’ (1751—1816) Lehrbuche‘) namhaft 
gemacht werden. Anerkennenswertes haben die Franzosen auf ge- 
schichtlich-astronomischem Gebiete zutage gefördert. Den zeitgeschicht- 
lichen Essay?) von Al. G. Pingre (1711—1796) würde man nur un- 
gerne missen, und die zahlreichen Schriften®) des vielseitigen, auf dem 
revolutionären Schafotte gefallenen J. S. Bailly (1736—1793) sind, 
wenn auch die Vorliebe ihres Verfassers für kühne Geschichtskon- 


!) Lediglich dieser Umstand veranlaßt uns hier dazu, einige einschlägige 
Nachrichten einzuflechten. Von Bossuts Werke gibt es eine Doppelausgabe (Essai 
sur l’histoire generale des mathematiques, Paris 1802; Histoire generale des 
math@ömatiques, ebenda 1810). Nach der ersten Auflage sind die deutsche und 
die englische Übersetzung gearbeitet; erstere lieferte Reimer (Hamburg 1804), 
letztere Churchill — nicht Bonnycastle, wie man gemeiniglich liest — 
(London 1803). Nun zitiert aber Rogg (S. 174 des 3.4 von uns erwähnten 
Werkes) auch einen italienischen Bossut (Quadro dei progressi delle matema- 
tiche, tradotto dal Francese, Mailand 1793). Nach Nesselmanns Vermutung 
(a. a. O., S. 28) wäre das wahrscheinlich eine Übertragung des der Geschichte ge- 
widmeten Abschnittes in Bossuts großem Kompendium (Cours de Mathema- 
tiques, Paris 1782). ?) Saverien, Histoire des progres de l’esprit humain dans 
les sciences exactes et dans les arts qui en dependent, savoir, l’arithmetique, 
l’algebre, la geometrie, l’astronomie, la gnomonique, la chronologie, la naviga- 
tion, l’optique, la mechanique, l’hydraulique, l’acoustique et la mousique, la 
g6ographie, l’architecture, avec un abrege de la vie des auteurs les plus c6- 
lebres dans ces sciences, Paris 1766. °) Nesselmann, a.a.0., 8.20. *) Le- 
moine-D’Essoies, Traite el&mentaire des mathematiques, Paris 1778. ®)Pingre&, 
Projet d’une histoire de l’astronomie du XVII® $iecle, Paris 1756. Als an der 
Grenzscheide der hier zu behandelnden Periode stehend mag dieses Buch hier 
ebenso eine Stelle finden, wie das nur zum Teile hierher gehörige, von Scheibel 
(s. u.) gelobte von A. Y. Goguet (De l’origine des lois, des arts et des sciences, 
et de leurs progres chez les anciens peuples, Paris 1758). Das letztere ist von 
Hamberger (Jena 1760—1772) ins Deutsche übertragen worden. Esteves Pla- 
giat an Weidler (s. $S. 3) (Histoire generale et particuliere de l’astronomie, 
Paris 1755) wird durch diese Notiz vielleicht schon zu sehr geehrt. °) Bailly, 
Histoire de l’astronomie aneienne depuis son origine jusqu’a l’etablissement de 
l’ecole d’Alexandrie, Paris 1775; Histoire de l’astronomie moderne depuis la 
fondation de l’&cole d’Alexandrie jusqu’äa l’&Epoche de 1781, ebenda 1779—1782; 
Lettres sur l’origine des sciences et sur celles des peuples de l’Asie, ebenda 1777. 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 15 


struktionen manche Störung mit sich bringt, doch für ihre Zeit von 
großem Werte gewesen. Insbesondere die Monographie über die in- 
dische Astronomie!) bietet auch für die reine Mathematik verschiedene 
Anhaltspunkte. 

Von anderen Ländern ist, soweit es sich um Schriften von mehr 
allgemeinem Gepräge handelt, nur noch England in Betracht zu ziehen. 
Es hat in 6. Costard (1710?—1782) einen tüchtigen Historiker der 
Astronomie besessen, von dem wir noch weiter unten wiederholt zu 
sprechen haben werden, und der auch mit einem größeren Werke?) 
seine Spezialuntersuchungen beschloß. Dasselbe scheint keiner großen 
Verbreitung teilhaftig geworden zu sein; selbst-Rud. Wolf kennt es 
nur von Hörensagen?). Man hat es da nicht mit einer geschichtlichen 
Darstellung im gewöhnlichen Wortsinne zu tun, sondern man würde 
seinem Inhalte nur dann gerecht werden, wenn man es als „Lehrbuch 
der Sternkunde auf geschichtlicher Grundlage“ bezeichnete. Der Ge- 
brauch des Globus steht im Vordergrunde, und auf mathematische 
Fragen wird nur gelegentlich eingegangen. 

Den historischen Arbeiten haben sich, als eine notwendige Er- 
gänzung, die bibliographischen anzureihen. ÖObenan steht hier das um- 
fassende und verlässige Repertorium*) von-J. E. Scheibel (1736 bis 
1809), welches, sobald älteres Schrifttum zu berücksichtigen ist, noch 
jetzt einen unentbehrlichen Ratgeber abgibt. Recht brauchbar ist 
auch des uns schon bekannten Murhard (s. S. 13) „Bibliothek“>), 
der eine sehr geschickt gemachte Bibliographie einer physikalischen 
Spezialdisziplin®) vorangegangen war. Die Astronomie hat in dem 
bücherliebenden und bücherkundigen J. J. F. De Lalande (1732 bis 
1807) einen Mann gefunden, der ihr ein literarisches Hilfsmittel von 
hoher Brauchbarkeit zu liefern am besten geeignet war. Gehört das- 
selbe auch bereits dem neuen Jahrhundert an’), so schließt es doch 
die Geschichte der beiden letzten Jahrzehnte des vorhergehenden in 
sich und durfte-folglich an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. 

Enzyklopädien und Wörterbücher sind für unsere Zeitspanne nur 





", Bailly, Histoire de l’astronomie indienne et orientale, Paris 1787. 
°) Costard, The History of Astronomy with Application to Geography, History, 
and Chronology, London 1767. °®) R. Wolf, Geschichte der Astronomie, München 
1877, 8.785. #) Scheibel, Einleitung zur mathematischen Bücherkenntnis, 
19 Teile, Breslau 1769—1798. °) Murhard, Bibliotheca mathematica oder Lite- 
ratur der mathematischen Wissenschaften, Leipzig 1797—1805. °) Murhard, 
Versuch einer historisch-chronologischen Bibliographie des Magnetismus, Kassel 
1797. °) Lalande, Bibliographie astronomique, avec l’histoire de l’astronomie 
depuis 1781 jusqu’en 1802, Paris 1803. Auch Lalandes großes, vierbändiges 
Handbuch (Paris 1777—1781) ist reich an der Geschichte seiner Wissenschaft 
dienendem Stoffe. 


16 Abschnitt XIX. 


in geringerer Anzahl anzuführen. An der Spitze stehen Diderots 
Encyelopedie und die später herausgekommene Eneyelopedie methodique. 
Das Sammelwerk!) des polyhistorisch veranlagten, doch aber mehr auf 
volkswirtschaftlichem als auf exaktwissenschaftlichem Arbeitsfelde origi- 
nellen J. &. Büsch (1728—1800) erhebt keine höheren Ansprüche. Sehr 
hoch dagegen stand von Anfang an das Klügelsche Wörterbuch, dessen 
hohe Wertschätzung seitens der Fachmänner sich klar in dem Umstande 
offenbart, daß es noch bis tief ins XIX. Jahrhundert hinein fortgesetzt 
ward. Wir würden seiner — und noch weniger der Fortsetzungen 
von ©. B. Mollweide und J. A. Grunert — nicht zu gedenken 
verpflichtet sein, weil erst im Jahre 1803 die Veröffentlichung begann, 
wenn man es nicht mit einigem Rechte als Konsequenz eines anderen, 
etwas älteren Werkes ansehen dürfte, welches Klügel im Bunde mit 
C. 6. D. Müller und J. A. Renner herausgab?), und welches auch 
in seinen Einzelbestandteilen verbreitet wurde. Das „Gehlersche 
Physikalische Wörterbuch“?) war ebenso für Deutschland ein literarisches 
Ereignis*). Von französischen Autoren hat J. Lacombe (1724—1811) 
sich auf diesem Gebiete eifrig betätigt’). Auch Großbritannien lieferte 
einige Beiträge zu dieser Literaturgattung. So ließ A. Rees) (1793 
bis 1825) die ältere Sammlung von Chambers’) neu aufleben. In 
zwei starken Bänden ließ Ch. Hutton (1737—1823) ein mathematisch- 
physikalisches Lexikon?) erscheinen; und eben derselbe hat auch für 
die mathematischen Unterhaltungsschriften durch Herausgabe der wohl 
bedeutendsten Probe?) dieser — in neuester Zeit durch E. Lucas, 


') Büsch, Enzyklopädie d. histor., philosoph. und mathem. Wissensch., Ham- 
burg 1775. ?) Enzyklopädie oder zusammenhängender Vortrag d. gemeinnützigsten 
Kenntnisse, Berlin 1782—1784. °) Gehler, Physikalisches Wörterbuch, Leipzig 
1787—1795. *) Davon, daß dieses Nachschlagewerk seinen Zweck erfüllte, legt 
am besten die Neubearbeitung Zeugnis ab, welche bedeutend später von Brandes, 
Muncke, Horner, L. Gmelin, C. H. Pfaff und J. J. v. Littrow unternom- 
men ward (Leipzig 1825—1844) und nunmehr statt der fünf Bände des Originals 
(darunter ein Supplementband) deren zwanzig in Anspruch nahm. 5) Lacombe, 
Dietionnaire encyclopedique des amusants des sciences mathömatiques et phy- 
siques, Paris 1792. Poggendorff (Biogr.-Liter. Handwörterb. I, Sp. 1339) sagt 
von ihm, es umfasse die auf ein ähnlich beschaffenes Ziel gerichteten Werke 
von Macquer, Nollet, Ozanam, Guyot, Deeremps und Pinetti. Als 
Nachtrag zum Kapitel der „mathematischen Ergötzungen“ (diese Vorlesungen II®, 
8.768ff.; III?, S. 103) finde noch ein anderes Erzeugnis Lacombes hier einen 
Platz: Dietionnaire des jeux mathömatiques, Paris 1799. °) Rees, Chambers’ 
Cyelopaedia, new Edition, London 1781—1786. In einer weiteren Auflage, die 
von 1802 an herauskam, sind diese vier Bände auf dreißig angewachsen. 
”) Diese Vorlesungen III?, S.510. ®) Hutton, A Mathematical and Philosophical 
Dietionary, London 1795—1796. „Natural Philosophy“ ist nach englischem 
Sprachgebrauche gleichbedeutend mit Physik. °) Hutton, Recreations in Ma- 
thematics and Natural Philosophy, London 1803. 


Geschichte d. Mathematik in.selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 17 


Schubert, Ahrens u. a. zu neuem Leben erweckten — Art von 
Seitenzweig der exakten Disziplinen Sorge getragen. 

Wir wenden uns nun denjenigen Arbeiten zu, welche sich in der 
Zeit zwischen 1760 und 1800 mit Einzelfragen aus dem Bereiche der 
mathematischen Wissenschaften beschäftigen. An die Spitze wollen 
wir diejenigen stellen, deren Gegenstand selbst wieder ein historischer 
ist, und es versteht sich von selbst, daß hier auch das biographische 
Moment, dessen Wertschätzung in der zweiten Hälfte des XVIIL Jahr- 
hunderts eine immer ausgesprochenere wird, Beachtung finden muß. 
Den Reigen mag L. Dutens (1730—1812) eröffnen, der sich in drei 
starken Bänden!) bemühte, dem Altertum die Kenntnis so ziemlich 
aller gewichtigeren Erfindungen und Entdeckungen der Folgezeit zu- 
zuschreiben, der aber — ähnlich wie Bailly (s. S. 14) — diesem 
seinem Streben die Regeln der Kritik ganz und gar zum Opfer 
brachte?). Immerhin ein geistvoller Versuch, wie er von dem ersten 
Herausgeber?) der Werke des großen Leibniz nicht anders zu er- 
warten war. Die Schrift steht ziemlich vereinzelt da, wogegen an Lebens- 
beschreibungen und Elogien durchaus kein Mangel ist. Ob die Übersicht, 
die wir darüber im folgenden geben, eine vollständige ist, bleibe dahin- 
gestellt; wichtigere‘Arbeiten dürften wohl kaum außer acht geblieben sein. 

Bleiben wir vorerst bei Deutschland stehen, so fällt uns zuerst 
R. E. Raspes (1736?—1794) Vorschlag‘) zu einer Herausgabe der 
Leibnizschen Werke ins Auge, der freilich einstweilen keine Folgen 
hatte. Äußerst eifrig auf diesem für den Historiker immer reizvollen 
Gebiete erwies sich Kaestner, dem die Gedenkreden auf drei hoch- 
verdiente Lehrer der Göttinger Hochschule zu danken sind®). Das 
Jahr 1783 brachte aus der Feder deutsch schreibender Gelehrter drei 
hierher gehörige Arbeiten, von denen zwei nur als Nekrologe zu 
gelten haben®), wogegen die dritte”) sich als ein tief greifendes, auf 
eigene Studien sich stützendes biographisches Denkmal für den Märtyrer 





') Dutens, Recherches sur l’origine des decouvertes attribudes aux mo- 
dernes, Paris 1766, 1776, 1812. ?°) Wir lesen darüber bei Poggendorff (Ge- 
schichte der Physik, Leipzig 1879, S. 11): „Wohl zu merken ist indeß, daß, 
während Dutens in dem Nachweise bekannter Thatsachen bei den Alten so 
überaus glücklich erscheint, er doch nicht eine einzige neue, zu seiner Zeit noch 
unbekannte bei ihnen aufzufinden weiß, wie wenn die Alten genau so viel ge- 
wußt hätten und nicht mehr, als die neueren Physiker im Jahre 1766.“ °®) J. H.G. 
Leibnitii Opera omnia, ed. Dutens, Genf 1769. ‘) Raspe, Programma 
de edendis Leibnitii Operibus philosophicis et mathematieis, Nova Acta Erudi- 
torum Lipsiensia, 1762, 8. 196ff. °) Kaestner, Elogium Tob. Mayeri, Göt- 
tingen 1762; Elogium Albr. Ludov. Fr. Meisteri, ebenda 1789; Elogium G. Ch. 
Lichtenbergi, ebenda 1799. ®) Al. David, Das Leben Newtons, Prag 1783; 
N. v. Fuß, L’eloge de L. Euler, St. Petersburg 1783. °) C. J. Jagemann, Ge- 
schichte des Lebens und der Schriften von Galilaeo Galilaei, Weimar 1783. 

CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 3 


I tu Abschnitt XIX. 


der neueren Naturforschung zu erkennen gibt!). Der wissenschaft- 
liche Nachruf war damals in erster Linie Sache der Franzosen, deren 
anerkanntes Geschick, gemeinverständlich und zugleich elegant zu 
schreiben, sich besonders geltend machte, wenn es darauf ankam, mit 
verhältnismäßig wenigen Worten viel zu sagen. 

Besonders ragte unter ihnen hervor der Marquis M. J. A.N.C. De 
Condorcet (1743—1794), selbst ein Analytiker von Ruf, den aber sein 
Verdienst so wenig wie Lavoisier und Bailly vor dem revolutionären 
Fallbeile schützen konnte, dem er nur durch Selbstmord sich entzog. In 
einer stattlichen Reihe von Bänden?) hat er die Taten und Schicksale der 
älteren Akademiker verewigt, unter denen nach damaliger Lage der Dinge 
Mathematiker, Physiker und Astronomen besonders zahlreich sind. Von 
Lalande haben wir eine Lobrede?) auf seinen unglücklichen Kollegen 
Bailly. Eine reich fließende Quelle biographischer Nachweisungen liegt: 
ferner in der jedem Bande der Pariser Denkschriften beigegebenen ‚„Hi- 
stoire“ vor; eine lange Reihe von Namen, die unten aufgezählt werden), 


') Durch Jagemann, der sich natürlich vorwiegend die damals energi- 
scher einsetzende Forschung Italiens zunutze machte, wo Viviani das Andenken 
seines großen Lehrers von den Schlacken der Verdächtigung zu reinigen suchte, 
wurde auf deutschem Boden das Studium des Lebens und der Werke Galileis 
erst begründet. Man bemerkt bei ihm (K. v. Gebler, Galileo Galilei und 
die Römische Kurie, I, Stuttgart 1876, 8. 293) schon eine viel tiefere Einsicht in 
die wahren Triebfedern des Inquisitionsprozesses, als bei viel späteren Schrift- 
stellern. Doch konnte er noch nicht verwerten das erst ein Dezennium später 
herausgekommene, an Originalmitteilungen reiche, posthume Werk des Senators 
G.C. De Nelli (1661—1725). In ihm (Vita e commerecio di Galileo Galilei, Lau- 
sanne 1793) wurde zuerst der unerschöpfliche Briefwechsel, den uns jetzt A. Fa- 
varos glänzende Nationalausgabe vollkommen zugänglich gemacht hat, in seiner 
großen Tragweite erkannt. 2°) Con dorcet, Eloge des acaddmiciens francais 
morts depuis 1666 jusqu’en 1699, Paris 1773; Eloge des acad&miciens morts 
depuis 1771—1790 (erst nach des Verfassers Tode erschienen), Paris 1799. 
°) Lalande, Eloge de J. 8. Bailly, Paris 1768. #) Histoire de l’Academie 
Royale des Sciences (avec les M&moires de Mathematique et de Physique). — 
1750, 8.259—276. Eloge de M. De Maupertuis (diese Vorlesungen IIT®, S. 774). 
— 1765, 8. 144—159. Eloge de M. Clairaut (a. a. O,, 111% 8.478), 1768; 
8.144—154. Eloge de M. Camus (1699—1768; bekannt als Kenner der theo- 
retischen Nautik und als einer der Teilnehmer an der lappländischen Grad- 
messung). — 1768, S. 155 —166. Eloge de M. Deparcieux (a.:a. O., III®, $. 638). 
— 1771, S.89—104. Eloge sur M. De Mairan (a. a. O., II®, 8. 628 £f.). — 1771, 
S.105—130. Eloge de M. Fontaine (a. a. O.,I 8. 587). — 1771, 8. 143—157. 
' Eloge de M. Pitot (a. a. O., III, 8. 445 ff.). — 1779, 8.54—70. Eloge de M. le 
Comte D’Arcy (1725—1779; Astronom und Ballistiker, aber auch der reinen 
Mathematik nicht fremd). — 1782, Eloge de M. D. Bernoulli (a. a. O,, IM 
8.631). — 1783, Eloge de M. L. Euler (a. a. O,, III, 8. 549#f.). — 1783, Eloge 
de M. Bezout (1730—1783; Begründer unserer heutigen Lehre von den Deter- 
minanten). — 1783, Eloge de M. D’Alembert (a. a. O., III®, 8.510). — 1788, 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 19 


tritt uns entgegen, und zwar nicht nur in aphoristischer, sondern zum 
Teile in recht ausführlicher Schilderung von sachkundiger Seite. Ver- 
dienstliche Beiträge zu dieser in jenen Jahren sehr geschätzten Lite- 
raturgattung lieferten ferner auch Italiener. Halten wir uns an die 
chronologische Reihenfolge, so stoßen wir auf Artikel über Rampi- 
nelli'), Cavalieri?) — dem der gelehrte Frisi?) auch eine eigene 
Abhandlung‘) widmete — und G@. Rocca (1607—1656)?). Mehrere 
lesenswerte Erinnerungsreden haben auch in die Veröffentlichungen 
der Akademie von St. Petersburg Aufnahme gefunden®). Großbritan- 
nien ist, soweit die wissenschaftliche Biographie in Frage kommt, nur 
durch ein einziges größeres Stück in unserer Periode vertreten, dem 
aber großer Wert zukommt; es ist ein Essay”) über den ebenso 





Eloge de M. Marschin (1717—1783; bekannter schwedischer Astronom). — 
1786, Eloge de M. l’Abb& De Gua (a. a. O., II, S. 576 ff.). 

) Elogio del R. P. Ramiro enipinelti Bresciano etc., Giornale de’ 
Letterati, Tomo per gli anni 1758 e 1759, S. 87ff. (Rom 1760). Rampinelli, 
der folgeweise in Bologna, Mailand und Pavia Mathematik lehrte, wurde be- 
rühmter, als durch eigene Schriften, durch seine Schülerin Gaetana Agnesi 
(diese Vorlesungen III®, 8. 822ff). ®) Frisi, Elogio del B. Cavalieri, Nuovo 
Giornale de’ Letterati d’Italia, XIV, S. 191ff. (Modena 1778); Aggiunte all’ Elogio 
del Cavalieri, ebenda, XV, 8.280ff. (Modena 1778); Risposta a un’ Elogio di 
Bonaventura Cavalieri, ebenda, XXIII, S. 116ff. (Modena 1781). > Pr, Frist 
(diese Vorlesungen III®, 8. 822) wurde als Schriftsteller über astronomische, me- 
chanische und meteorologische Probleme sehr geschätzt, hat jedoch in der zweiten 
Hälfte seines Lebens auch mathematische Fragen behandelt. *) Dieselbe er- 
schien 1778 in Mailand; ihre Überarbeitung ging, wie wir sahen, in die viel- 
gelesene Zeitschrift über Lobreden auf Galilei und auf N ewton sind 
gleichfalls zu nennen. Von Frisis geachteter Stellung zeugt eine auf ihn 
verfaßte Gedächtnisschrift: Memorie appartenenti alla vita ed aglı studi del Sig. 
Paolo Frisi ete., Mailand 1787. >) Lettere d’Uomini Illustri nel secolo XVII 
a Giannantonio Rocca, filosofo e matematico Reggiano ete., Nuovo Gior- 
nale ete., XXX, S. 1ff.; XXXII, S. 1ff.; XXXIV, 8. 1ff.; XXXVI, S. ıff. (Mo- 
dena 1785, 1786, 1786, 1786). °) Nova Acta Academiae Scientiarum Imperialis 
Petropolitanae. Historia ad annum 1783, N. Fuß, Eloge de M. Leonard Euler, 
S. 159 ff. (vgl. 8. 17); Historia ad annum 1784, Preeis de la vie de M. Lexell, 
S. 16ff.; Historia ad annum 1789, 8. 23ff., Preeis de la vie de M. Jacques 
Bernoulli. A. J. Lexell (1740—1784) hat sich durch zahlreiche trigono- 
metrische und andere Arbeiten, z.B. durch den nach ihm benannten Satz 
der Sphärik ein dauerndes Denkmal gesetzt; Jakob Bernoulli II (1759 
bis 1789) ist der zeitlich letzte Sproß der berühmten Baseler Mathematiker- 
familie. ”) W. Minto, Dav. Stewart’s, Earl of Buchan, Account of the Life, 
Writings and Inventions of John Napier of Merchiston, Edinburgh 1788. Die 
Geschichte der Mathematik scheint von David Stewart nichts weiter zu wissen, 
während seine Namensvettern John (gest. 1766) und Matthew (1717—1785) 
wohl bekannt sind; vom letzteren (diese Vorlesungen III®, 8. 541 ff.) handelt aus- 
führlich sein Landsmann John Playfair (1748—1819) (Account of M. Stewart, 
Transact. of the Royal Society of Edinburgh, I, 1 (1788), S. 57ff.). 


J2* 


20 Abschnitt XIX. 


genialen wie abstrusen Lord Napier, über dessen eigenartige Auf- 
fassung der Logarithmen in diesem Werk!) eingehend berichtet worden ist. 

In gewissem Sinne darf hierher wohl auch gerechnet werden: die 
Herausgabe nachgelassener Schriften hervorragender Zeitgenossen. Das 
„historische Jahrhundert“ hat es nicht an sich fehlen lassen, auch 
nach der uns hier angehenden Seite hin sich seines Namens würdig 
zu erweisen, denn daß derartige Sammlungen unter Umständen dem 
späteren Erforscher der geschichtlichen Zusammenhänge noch bedeut- 
samere Dienste leisten können, als bloße Berichterstattung, wird nicht 
bezweifelt werden können. Der Physiker Liehtenberg brachte einen 
Teil der von einem berühmten Göttinger Amtsgenossen hinterlassenen 
Abhandlungen an das Licht?). Ebenfalls in Göttingen erschienen unter 
der Obsorge von Wrisberg die großenteils noch ungedruckten Ar- 
beiten?) des polyhistorisch veranlagten Arztes J. @. Brendel (1712 bis 
1758), die auch in mathematischer Beziehung gar nicht belanglos 
sind®). Endlich wollen wir auch noch kurz die mathematische Über- 
setzungstätigkeit registrieren, die wir in Michelsen’) und Bul- 
garis®) verkörpert finden. 

Nunmehr sollen uns die geschichtlichen Untersuchungen über die 
mathematische Entwicklung in einzelnen Ländern noch kurz beschäf- 
tigen. Das Land Baden hat sich der Meteorologe J. L. Boeckmann 
(1741—1802) für eine solche Darstellung”) ausersehen; man wird sich 
nieht wundern, daß darin die Dinge, welche man ehemals als ange- 
wandte Mathematik zusammenzufassen liebte, weitaus überwiegen. Aus 
etwas früherer Zeit liegt F. J. Bucks (1722—1786) ganz brauchbare 
Charakteristik der hier in Frage kommenden Mathematiker Altpreußens 
vor°®). Viele Daten, die sonst schwer zu erlangen sind, vereinigte 
St. Wydra (1741—1804) in seiner Geschichte der Schicksale, welche 





!) Diese Vorlesungen II?, S.730ff. 2) Tob. Mayeri opera inedita, ed. G. Ch. 
Lichtenberg, Göttingen 1774. °) Joh. Gottfr. Brendelii opera mathematici et 
medici argumenti ed. H. A. Wrisberg, Göttingen 1769—1775. *) Betreffs der 
Verwendung, welcher ein von Brendel in die Wissenschaft eingeführtes Prinzip 
fähig ist, vgl. Günther, Parabolische Logarithmen und parabolische Trigono- 
metrie, eine vergleichende Untersuchung, Leipzig 1882. °) Man hat von J. A. 
C. Michelsen (diese Vorlesungen IIl?, S. 700, S. 749) deutsche Ausgaben Euler- 
scher Werke (Einleitung in die Analysis des Unendlichen, Berlin 1788—1792; 
Differentialrechnung, ebenda 1790—1793; Theorie der Gleichungen nach Euler 
und Lagrange, ebenda 1795). °) Eugenios Bulgaris, dessen Personalver- 
hältnisse anscheinend im Dunklen geblieben sind, übertrug in seine griechische 
Muttersprache u. a. Segners „Klementa arithmeticae et geometriae“* (Leipzig 
1793) und Schriften des Engländers Whiston (diese Vorlesungen III?, 8. 377, 
394). ”) J.L.Boeckmann, Beiträge zur Geschichte der Mathematik und Natur- 
kunde in Baden, Karlsruhe 1787. ®) Buck, Leben der verstorbenen preußischen 
Mathematiker, Königsberg i. Pr. 1764. 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 21 


die mathematischen Disziplinen in den Ländern der tschechischen Sprach- 
gemeinschaft erfahren haben‘). Von M. Barbieri wurde eine analoge 
Schrift über das Königreich Neapel verfaßt?), und mit dieser können 
wir sachlich zusammennehmen die vorzügliche Behandlung, welche 
G. Piazzi der sizilianischen Astronomie zuteil werden ließ?). Wenn 
auch nicht in erster Reihe, so ist doch auch hier wohl am besten 
unterzubringen ein Aufsatz von Johann Bernoulli®), der schon 
durch seinen Titel?) verrät, daß die Zusammenstellung interessanter 
zeitgeschichtlicher Notizen hauptsächlich beabsichtigt war; in größerem 
Stile enthält solche das astronomische Handbuch‘) ebendesselben 
Gelehrten. 

Dieser Zeitraum ist auch aus dem Grunde bemerkenswert, weil 
in ihn der erste Versuch fällt, sich über das Wesen der nach und 
nach durch Forschungsreisende und Missionare bekannter gewordenen 
indischen Mathematik zu orientieren. Der Schotte Playfair (s. S. 19) 
hat sich der schwierigen Aufgabe mit Glück unterzogen’); für den 
Anfang konnte sein redliches Bestreben als ein sehr erfolgreiches 
gelten. Der anerkanntermaßen wertvollste Bestandteil des Geschichts- 
werkes von A. Arneth°) geht der Anregung nach auf Playfairs 
Vorarbeit?) zurück. 





') Wydra, Historia matheseos in Bohemia et Moravia cultae, Prag 1778; 
eine Art Anhang dazu ist: Vita Josephi Stepling, ebenda 1779. °) Barbieri, 
Notizie istoriche dei matematici e filosofi del regno di Napoli, Neapel 1778. 
®) Piazzi, Della specola astronomica de’ regj studj di Palermo, Palermo 1792 
bis 1794, II, Einleitung. Eine sehr ins einzelne gehende Analyse des die Ent- 
 wiecklungsgeschichte der Wissenschaft auf der Insel darstellenden Abschnittes 
hat v. Zach gegeben (Hindenburgs Archiv der reinen und angew. Mathe- 
matik II, S. 357ff). *) Dieser Enkel des großen Johann Bernoulli (diese 
Vorlesungen III?, 8. 325) (1744—1807) hatte sich wesentlich-der_Astrenomie_zu- 
gewendet, wenngleich er auch mathematische Fragen ohne Rücksicht auf An- 
wendung gerne in den Kreis seiner Beschäftigung zog. °) Bernoulli, Anec- 
dotes pour servir & l’'histoire des math&matiques, Nouveaux M&moires de l’Acad. 
de Berlin, 1799—1800 (erschienen 1803), S.32ff. °) Im ganzen können vier 
Schriften Bernoullis als für die Geschichte der Astronomie in der zweiten 
Hälfte des XVII. Jahrhunderts bemerkenswert bezeichnet werden, nämlich die 
folgenden: Recueil pour les Astronomes, Berlin 1772—1776; Liste des Astro- 
nomes connus actuellement, ebenda 1776; Nouvelles literaires de divers pays, avec 
des supplemens pour la liste et le necrologe des Astronomes, ebenda 1776—1777; 
Lettres &erites pendant le cours d’un voyage par l’Allemagne ete., ebenda 1777 
bis 1779. °) Playfair, Remarks on the Astronomy of the Brahmins, Transact. 
of the Royal Society of Edinburgh, II, Abteil. 2; Observations on the Trigono- 
metrical Tables of the Brahmins, ebenda, II, Abteil. 4. °) Arneth, Geschichte 
der reinen Mathematik in ihrer Beziehung zur Entwicklung des menschlichen 
Geistes, Stuttgart 1852, S.140ff. °) Die Veröffentlichungen H. Th. Colebrookes 
(1765-—1837) über altindische Mathematik und Astronomie, die weit über Play- 
fair hinausgehen, gehören bereits dem XIX. Jahrhundert an. 


23 Abschnitt XIX. 


Jene von früher her erinnerlichen, etwas sonderbaren Geistes- 
produkte, welche sich mit einer — schwer definierbaren — biblischen 
Mathematik zu schaffen machen, fehlen auch dem Intervalle 1760 bis 
1800 nicht gänzlich. Ein Däne A. N. Aasheim (1749—1800) hat 
die Nutzbarkeit der Größenlehre für die Exegese der Heiligen Schrift 
darzutun versucht‘). Vor allem aber war J. E. B. Wiedeburg (1733 
bis 1789) ein eifriger Bearbeiter dieses Grenzgebietes zwischen Theologie 
und Mathematik, auf dem er sich übrigens ganz und gar im Geiste 
des herrschend gewordenen Rationalismus bewegte. Sein Buch’), 
welches unvollendet blieb, gibt eine achtungswerte Probe von der 
Gelehrsamkeit des Verfassers, dessen Vater schon für diese „Mathe- 
matica sacra“ Neigung an den Tag gelegt hatte?). Auch kleinere 
Arbeiten dieses Charakters würden sich bei fleißigem Suchen vielleicht 
noch zahlreicher auffinden lassen, als dies in unserer Note?) zum Aus- 
drucke kommt. | 

Die elementare Arithmetik, Algebra und Zahlenlehre der Ver- 
gangenheit fangen in diesen Jahren, da doch auch die philologisch- 
antiquarische Forschung sich immer kräftiger zu rühren und vervoll- 
kommnete Hilfsmittel der Untersuchung zur Verfügung zu stellen 
beginnt, mehr und mehr die Gelehrten zu beschäftigen an. Den‘ 
Lehrbüchern werden, wie dies vor allem A. G. Kaestners (s. 8. 8) 
mit Recht viel gebrauchtes, mehrbändiges Kompendium?) in zahllosen 





!) Aasheim, De usu matheseos in explicandis phaenomenis in codice sacro, 
Kopenhagen 1767. °) Wiedeburg, Natur- und Größenlehre in ihrer Anwendung 
zur Rechtfertigung der heiligen Schrift, I, Nürnberg 1782. °) Diese Vorlesungen 
Ill? S.523—524. *) Vielleicht ist es gestattet, der einschlägigen kurzen Darlegung 
am vorerwähnten Orte einige Ergänzungen nachfolgen zn lassen. Besonderer 
Beachtung hatte sich die Gestalt des „ehernen Meeres“ zu erfreuen (I. Buch der 
Könige, VII, 23). Schon im XVII. Jahrhundert bildete dieses Sakralaltertum den 
Gegenstand gelehrter Streitigkeiten, an denen sich sogar der geniale Philosoph 
B. Spinoza beteiligte (Tractatus theologico-politicus, Hamburg 1670, 8. 22). Aus 
dem laufenden Jahrhundert sind drei hierauf bezügliche Abhandlungen namhaft 
zu machen: Nicolai Clausing, De symmetria maris aenei, Wittenberg 1717; 
L. C. Sturm, Mare aeneum, Nürnberg 1710; Scheibel, Von der Gestalt des 
ehernen Meeres, Leipziger Magaz. f. Math. ete., 1787, 8.477 ff. Die Frage, ob die 
alten orientalischen Völker sich mit der rohen Annäherung #=3 (diese Vor- 
lesungen I?, S. 100ff.) beholfen hätten, stand in diesem Falle im Vordergrunde. 
°®) Angesichts der wirklich hohen Bedeutung dieser Reihe stufenweise aufsteigen- 
der Lehrbücher, welche den Studierenden von den allerersten Anfängen bis 
hinauf zu den höchsten Problemen zu führen bestimmt waren und welche in 
der Didaktik des XVII. Jahrhunderts die bis dahin fast des Monopoles der 
Alleinherrschaft sich erfreuenden Werke C.v. Wolfs ablösten, gehört hierher 
ein kurzer bibliographischer Exkurs auf Kaestners Unternehmen. Es sind zu- 
sammen zehn Oktavbändchen: Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie, ebenen 
und sphärischen Trigonometrie und Perspektive, Göttingen 1758, 5. Aufl. ebenda 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 23 


wertvollen Notizen ersehen läßt, geschichtliche Daten nicht bloß als 
gelehrter Ballast, sondern als eine willkommene Unterstützung zur 
Anregung und Vertiefung des Unterrichtes beigegeben. Mitunter fügt 
sich dem theoretischen Lehrgange — ähnlich, wie wir dies (8. 8.12—13) 
bei Bossut und Moennich kennen gelernt haben — auch bei solchen 
Leitfäden, die nur ein engeres Stoffgebiet umfassen, ein zusammen- 
fassender Überblick über die Geschichte der Disziplin an. So machte 
es J. @&. Praendel!) (1759—1816) bei seiner für die kurbayerischen 
Pagen ‚und Kadetten geschriebenen Algebra. 

Ein tiefgelehrtes, ja bahnbrechendes Werk. über die Urgeschichte 
eben dieses Zweiges der Mathematik förderte der in Parma als Hoch- 
schullehrer tätige P. Cossali (1748—1815) zutage?). Es mache, so 
meint der zum Lobe nicht allzu geneigte Nesselmann?), für die 
zwischen 1200 und 1589, zwischen Fibonaecci und Bombelli liegende 
Periode jede andere Geschichte der Algebra überflüssig und wisse die 
leitenden Gedanken der Männer, welche sich um die F ortbildung der 
Buchstabenrechnung und um die Auflösung der Gleichungen bemüht 
haben, ihrem ganzen Wesen nach zu erschließen, ohne deshalb die 
antike und arabische Wissenschaft zu vernachlässigen; höchstens könne 
man ihm vorwerfen, daß es die früher angewandten Methoden etwas 
zu sehr modernisiere.e. Und M. Cantor rühmt ebenso‘) Cossalis 
Geschieklichkeit in der Klarlegung der verschlungenen Wege, die Car- 
dano und Ferrari bei der Behandlung der Gleichungen vom dritten 
und vierten Grade betreten haben. Steht diese glänzende Leistung 
also auch etwas vereinzelt da, so nimmt doch mit ihr das Jahrhundert, 
dem sie noch angehört, einen im hohen Maße befriedigenden Ausgang. 

Zur Geschichte der elementaren Rechenkunst lieferte der uner- 
müdliche Kaestner einen Beitrag), indem er bewies, daß die be- 





1792, 6. Aufl. (posthum) 1800; Fortsetzung der höheren Rechenkunst, Geome- 
trische Abhandlungen I, 1789; Geometrische Abhandlungen II, 1791; Anfangs- 
gründe der angew. Mathematik in zwei Abteilungen (I, 1759, 3. Aufl. 1781, II, 
ebenso); Anfangsgründe der Analysis endlicher Größen, 1759, 3. Aufl. 1794; An- 
fangsgründe der Analysis des Unendlichen, 1761, 3. Aufl. 1798; Anfangsgründe 
der höheren Mechanik, 1765, 2. Aufl. 1793; Anfangsgründe der Hydrodynamik, 
1769, 2. Aufl. 1797; Weitere Ausführung der mathematischen Geographie, 1795. 
Aus diesen sämtlichen Büchern kann der Historiker der exakten Wissenschaften, 
wenn er zu suchen versteht, sehr viel lernen; nur gilt in der Hauptsache das 
Nämliche, was oben (s. $. 12) über das große Geschichtswerk gesagt worden ist. 

') Praendel, Algebra nebst ihrer literärischen Geschichte, München 1795. 
*) Cossali, Origine, trasporto in Italia, primi progressi in essa, dell’ Algebra, 
Storia eritica di nuove disquisizioni analitiche e metafisiche arricchita, Parma 
1797—1799. ®) Nesselmann, a.a. 0., S.25ff. ® Diese Vorlesungen II?, S. 503; 
8.509. ®) Kaestner, Die Kettenregel vor Graumann, Hindenburgs Arch. 
d. reinen und angew. Mathem., 2. Band (1796— 1797), S. 334 ff. 


24 Abschnitt XIX. 


kannte Kettenregel, die zur gegenseitigen Umwandlung von Maßen, 
Gewichten, Münzen usw. mit Vorteil angewandt wird, nicht — wie 
man durchweg glaubte — von einem Hamburger Rechenmeister Grau- 
mann, sondern aus Holland oder Frankreich stamme. Daß sie noch 
vor J. van Dam, bis zu dem sie Kaestner zurückverfolgt hatte, 
schon eine gewisse Rolle spielte, zeigte gleich nachher der früher 
(s. S. 12) zitierte Rosenthal'); in Wahrheit ist ıhr Alter ein weit 
ehrwürdigeres?). Dem eratosthenischen Siebe gewidmet ist eine Ab- 
handlung?) von S. Horsley (1733—1806). Die Anfänge der Loga- 
rithmenlehre suchte G@ehler (s. 5. 16) in historische Beleuchtung zu 
rücken‘). Auch die Frage nach der Existenz der Logarithmen nega- 
tiver Zahlen, die über ein Halbjahrhundert lang vielfach erörtert worden 
war?), fand eine zusammenfassende Bearbeitung‘). Als Bestrebung, 
sich in die Denkweise vergangener Zeiten zu versetzen, soll auch eine 
Spekulation über die Cardanische Regel, d. h. über den bei deren 
Auffindung vollzogenen gedanklichen Prozeß, ihre Stelle finden; F. Ma- 
seres (1731—1824), der sich so in einer „Divination“ versuchte”), hat 
auch sonst Sinn für geschichtlich-mathematische Studien an den Tag 
gelegt®), z. B. in einer Monographie über Jak. Bernoullis wissen- 
schaftliche Begründung der Permutationslehre und in seinem Loga- 
rithmenwerke. Wegen eines kurzen Schaltkapitels über das Auf- 
kommen der negativen Größen, als einer mit der positiven gleich- 
berechtigten Zahlform, wollen wir auch eine im übrigen andere Zwecke 





') Rosenthal, Die Kettenregel vor Jan van Dam, Hindenburgs Arch. 
d. reinen u. angew. Mathem., 3. Band (1799), S. 81ff. °) Man kann (diese Vor- 
lesungen II?, S. 15ff.) den Kettensatz bis auf das XII. Jahrhundert zurückführen; 
Lionardo Pisano kennt dieses Auskunftsmittel, wennschon nicht ganz in der 
uns jetzt geläufigen Form, als „figura cata“. Auch er ist jedoch nicht Erfinder, 
sondern gibt, wie häufig, arabische Errungenschaften wieder. Späterhin begegnet 
man jenem wieder (diese Vorlesungen II?, 8. 233, 399) bei J. Widmann von Eger 
und bei Chr. Rudolff. Höchstens die übliche Manier, die zusammengehörigen 
Zahlen durch einen Vertikalstrich voneinander zu trennen, also eine bloß äußer- 
liche Veranschaulichung der Rechnungsprozedur, kann man somit als das Eigen- 
tum einer späteren Zeit in .Anspruch nehmen, und sowohl Kaestner als auch 
Rosenthal haben die Erfindung viel zu spät angesetzt. °) Horsley, The Sieve 
of Eratosthenes, Philosophical Transactions, LXII (1772), 8.327ff. *)Gehler, 
Dissertatio historiae logarithmorum näturalium primordia sistens, Leipzig 1776. 
°), B. F. Thibaut, Dissertatio historiam controversise circa numerorum negati- 
vorum et impossibilium logarithmos sistens, Göttingen 1797. ®) Vgl. diese Vor- 
lesungen III?, 3.367 ff., 722ff. ”) Maseres, A Conjecture concerning the Method 
by which Cardan’s Rule for resolution of the Cubie Equation 2? +gxz=r... 
were probable discovered by Scipio Ferreus, Phil. Transact., 70. Band (1780), 
S.221ff. ®) Maseres, James’ Bernoulli’s Doctrine of Permutation ete., London 
1795; Seriptores logarithmici or a Collection of several curious Tracts on the 
Nature and Construction of Logarithms, 6 Bände, London 1791—1807. 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 25 


verfolgende Abhandlung!) W. Greenfields anführen. Zur Geschichte 
der unbestimmten Analytik gehört, daß kein geringerer als G. E. 
Lessing, der allerdings auch sonst sich für das Wissen und Können 
der Antike interessierte und z. B. nach Spuren praktischer Dioptrik 
bei Griechen und Römern suchte, jenes seitdem viel besprochene 
arithmetische Epigramm dem Staube der Vergessenheit entriß?), welches 
den späteren Mathematikern als „Problema bovinum“ bekannt ge- 
worden ist?). Die Auflösung, welche der von Lessing zu Hilfe 
gerufene, von fachmännischer Seite aber noch gar nicht gewürdigte 
C. Leiste von der Aufgabe gab, war nach dem Urteile Nessel- 
manns*) eine ganz befriedigende. 

Als K. F. Hindenburg (1741—1808) die kombinatorische Ana- 
lysis geschaffen hatte, deren Wert viele Zeitgenossen ebenso zu über- 
treiben, wie manche Epigonen herabzusetzen beeifert waren, ging er 
selbst darauf aus, festzustellen, welche Anklänge an sein neues System 
sich schon bei einzelnen älteren Analytikern vorfanden?). Es war 
ihm möglich, zu erweisen, daß zumal bei der Ermittlung der Nähe- 
rungswerte eines Kettenbruches D. Bernoulli und Lambert dem, 
was man nachmals „kombinatorische Involution“ genannt hat, ziem- 
lich nahe gekommen waren®). Auch in dem von Hindenburg ver- 
anstalteten Sammelwerke”) stößt, wer sich mit der Vorgeschichte des 
zwar ‘ephemeren, aber darum doch keineswegs wirkungslos wieder 
verschwundenen Wissenszweiges®) beschäftigen will, auf viele für ihn 
sehr brauchbare Einzelheiten. 





') Greenfield, On the Use of Negative Quantities in the Solution of Prob- 
lems by Algebraic Equations, Transact. of the R. Soc. of Edinburgh, II, 1 (1788), 
S. 131ff. °) Lessing, Zur Geschichte der Literatur, I, Berlin 1773, S. 421 ff. 
») Was über das dem Archimedes fälschlich zugeschriebene Rätsel geschrieben 
ward, haben, zusammen mit eigenen Untersuchungen, zusammengestellt Krumm- 
biegel und Amthor (Zeitschr. f. Math. u. Phys., Hist.-lit. Abt., 25. Band [1880], 
S.121ff., 153ff.). Vgl. auch diese Vorlesungen I?, $. 297. *) Nesselmann, 
a. a. O., 9.482, ®) Hindenburg, Mehrere große Mathematiker sind der Er- 
findung der kombinatorischen Involutionen ganz nahe gewesen, Arch. d. reinen 
u. angew. Matbem., I (1795—1796), 8.319 ff. °) Genauer kann diese Sache, die 
zugleich für die Vorgeschichte der kombinatorischen und der modernen niederen 
Analysis in Betracht kommt, verfolgt werden bei Günther (Darstellung der 
Näherungswerte von Kettenbrüchen in independenter Form, I, Erlangen 1873, 
S.1ff.). ”) Hindenburg, Sammlung kombinatorisch-analytischer Abhandlungen, 
Leipzig 1800. Vorgearbeitet hatte der Leipziger Mathematiker einer Geschichte 
der von ihm eingeleiteten Neuerung bereits durch eine frühere Veröffentlichung 
(Kritisches Verzeichnis aller die kombinatorische Analysis betreffenden Schriften, 
Archiv etc., I, 8.357ff.). ®) Dankt man eben diesem Werke doch die systemati- 
schen Anfänge des Rechnens mit Determinanten (Günther, Lehrbuch der De- 
terminantentheorie, Erlangen 1877, 8. 14ff.), 


96 Abschnitt XIX. 


Auch für die Geschichte der höheren Analysis hat der in Rede 
stehende Zeitraum einige Früchte getragen. Indessen wird vom 
Standpunkte der Gegenwart aus nur noch Murhards Charakteristik!) 
des ersten halben Jahrhunderts der Variationsrechnung höher gewertet 
werden können. Kaestners zunächst theoretische Beleuchtungen des 
Infinitesimalbegriffes?) berücksichtigen, wie bei ihm selbstverständlich, 
auch das geschichtliche Element. Die Entstehungsgeschichte des 
höheren Kalkuls hat mehrere Bearbeiter gefunden, von denen zwei, 
J. W. Christiani?) und L.H. Tobiesen*) (1771—1839), eben auch 
von Kaestner, nach dessen eigener Aussage’), zu diesem Thema hin- 
geleitet waren; er selbst führt seine Auffassung des Prioritätsstreites 
ziemlich umständlich bei dieser Gelegenheit aus und entscheidet sich 
dahin, Leibniz und Newton wären als vollkommen gleichberechtigt 
anzuerkennen®). J.J. Meyer andererseits tritt uns als Kämpe des 
deutschen Bewerbers entgegen‘). Christianis Dissertation war eine 
Beantwortung der 1782 von der Universität Göttingen gestellten 
Preisfrage, inwieweit die Rechnung des Unendlichen ihre Wurzeln im 
Altertum habe, und dementsprechend ging der Autor hauptsächlich 
darauf aus, die großen Geometer des Altertums auf Andeutungen im 
gedachten Sinne zu prüfen. Anhangsweise mag auch hier der Tat- 
sache Erwähnung getan werden, daß De L’Höpitals Lehrbuch, das 
— ob ganz selbständig oder mit starken Entlehnungen aus Joh. Ber- 
noulli I entstanden®) — jedenfalls der Einbürgerung der neuen Metho- 
den mächtigen Vorschub geleistet hatte, zweimal Kommentatoren ge- 
funden hat?). | 


ı) Murhard, Specimen historiae atque principiorum caleuli quem vocant 
variationum sistens, Göttingen 1796. °) Die einschlägigen Abhandlungen enthält 
ein Sammelband: Dissertationes mathematicae et physicae, Altenburg 1771. Dort 
finden sich: De vera infiniti notione, S.35ff.; De lege continui in natura, S. 142#f. 
®) Christiani, Commentatio, qua explicantur fundamenta calculi, quem ab in- 
finito nominamus, et ostenditur, quomodo iis, quae tradiderunt Eucelides, Archi- 
medes, Apollonius Pergaeus, innitatur caleulus infiniti, Göttingen 1792 (auch 
in deutscher Sprache herausgekommen). Dem schloß sich an: Disputatio inaugura- 
lis exhibens supplementa ad commentationem de fundamentis caleuli, quem ab 
infinito nominamus, Kiel 1793. *) Tobiesen, Prineipia atque historia inventionis 
caleuli differentialis et integralis nec non methodi fluxionum, Göttingen 1793. 
°) Kaestner, Anfangsgr. d. Anal. unendl. Größen, 8.59. °) Ebenda, 8.49. 
„Das billige Urteil ist! Jeder sey auf seine Methode für sich gekommen, zu- 
länglich war hiebey Nachdenken über das Verfahren vorhergehender Mathema- 
tiker. So urteilt auch Eduard Waring Meditationes analyticae, Cambridge 
1785; man s. meine ‘Rezension Gött. gel. Anz. 1786, S. 700.“ 9 Meyer, De 
fluxione fluxa sive de Leibnitio primo caleuli infinitesimalis inventore, Stettin 
1773. Im gleichen Geiste ist selbstredend die nachstehend bezeichnete Schrift 
gehalten: Leibnitii elogium, ebenda 1777. ®) Diese Vorlesungen III?, $. 244 ff. 
°)A.H. Paulian, Commentaire sur l’Analyse des infiniment petits de 1’Höpital, 





Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 27 


Indem wir zur Geometrie übergehen, dürfen wir wohl mit einer 
‚an der Grenzscheide stehenden Schrift von Z. Nordmark!) den An- 
fang machen, welche, ähnlich wie Christianis Arbeit (s. o.), Be- 
ziehungen zwischen sonst und jetzt aufzudecken sich vorgesetzt hat. 
Die feschichte der Elementargeometrie hat zunächst Akt zu nehmen 
von jenen literarischen Erscheinungen, welche sich mit der Kritik 
der Parallelentheorie befassen. Denn anders als auf historischem 
Wege konnte da nicht vorgegangen werden, und so ist im Laufe der 
Jahre eine gar nicht unbeträchtliche Literatur über dieses anscheinend 
so wenig ausgedehnte Gebiet erwachsen. Zeitlich steht an der Spitze 
Derer, die sich ihm zuwandten, @. 5. Klügel (s. S. 16), dessen Schrift?) 
wiederum Kaestners Rate?) fire Entstehung zu danken hatte. N icht 
weniger als 28 Versuche, das elfte che Axiom als beweis- 
bedürftig und beweisfähig hinzustellen, wurden gewürdigt und aus- 
nahmslos als unzureichend erkannt. Etwas später hat dann ©. F.M. 
M. Castillon*) die Begründung der Planimetrie auf den von Euklid 
aufgestellten, zweifelhaften Grundsatz auf das eingehendste untersucht’). 
Zur Stereometrie ist nur weniges zu bemerken. Kaestner, dessen 
Berechnung fremder Hohlmaße®) des antiquarischen Interesses nicht 
entbehrt, hat als der erste die Flächenbestimmung des Kugeldreieckes 
in ihren geschichtlichen Phasen studiert”) und dabei auch betont, wie 
man nach und nach, vom ebenen Winkel ausgehend, auch den Be- 
griff des körperlichen Winkels sich klar zu machen lernte; er lehrte 
uns da auch den Polen Broscius®) als einen selbständigen Denker 
kennen. Die Beschaffenheit sowohl wie die Herstellung der ägyp- 
tischen Pyramiden?) besprach der Göttinger Mathematiker A. L. F. 
Meister (1724—1788), dem wir noch öfter als einem auf seinem 





Nimes 1768; L. Lefevre-Gineau, L’Höpital, Analyse des infiniment petits avec 
des notes, Paris 1781. Das zuerst 1696 gedruckte Werk war nach des Autors 
(1661— 1704) frühem Tode noch dreimal (1715, 1720, 1768) wieder aufgelegt 
worden. 

') Nordmark, De scriptis veterum analytieis dissertatio, Upsala 1776. 
®) Klügel, Conatuum praecipuorum theoriam parallelarum demonstrandi recensio, 
Göttingen 1763. °) Kaestner, Anfangsgründe der Belkkanekik und Geometrie, 
Vorrede zur ersten Auflage. *) Diese Vorlesungen III?, S.508ff. 5) Castillon, 
Premier memoire sur les parallöles d’Euclide, Nouv. ah de l’Acad. de Berlin, 
1792, 8. 233 ff. ; Second m&moire sur les parallöles a’ Euclide, ebenda, 1793, S. 171 ff. 
°%) Kaestner, Bestimmung des ägyptischen Kornmaßes, Deutsche Schriften d. 
K. Soz. d. Wissehsch: zu Göttingen, I (1771), S.142ff. Zunächst handelt es sich 
um ein Modell, welches C. Niebuhr aus Ägypten von seiner großen Orientreise 
mit zurückgebracht hatte. °) Kaestner, Geometrische Abhandlungen II, S. 415 ff. 
®) Diese Vorlesungen I, 8.651. °) Meister, De pyramidum Aegyptiacarum 
fabrica et fine, Novi Comment. Gotting., V (1775), 8. 192 ff. 


08 Abschnitt XIX. 


eigenen Wege wandelnden Schriftsteller begegnen werden. Die Ele- 
mentargeometrie als Ganzes ist endlich Kaestner dafür verpflichtet, 
daß er die „Geometrie“ Gerberts, dieses merkwürdige Denkmal 
altersgrauen Mittelalters‘), einem größeren Leserkreise zugänglich ge- 
macht und in ihrer historischen Bedeutung festzulegen getrachtet 
hat?), mag ihn auch die damals noch allgemein vermißte Erkenntnis 
des- Wesens einer längst vergangenen Zeit nicht zu ganz triftigem 
Urteile haben kommen lassen. Die Trigonometrie verzeichnet J. Ber- 
noullis III. (s. 8.21) Bemerkungen?) über die großen Tafelwerke 
des XVI. Jahrhunderts. J. M. Matsko (1721—1796) war auf die 
Richtigstellung anderweiter Angaben über den ersten Gebrauch der 
sogenannten Prosthaphaeresis bedacht‘). Und vor allem verdient 
ehrende Erwähnung C.F. v. Pfleiderer (1736—1821), dessen Auf- 
sätze) höchste Vertrautheit mit den Originalschriften bekunden. 

Die höhere Geometrie kommt für uns in Betracht mit einer Ab- 
handlung®) des schwedischen Mathematikers D. Melanderhjelm 
(1726—1810) über Newtons Quadrierungsmethode und mit einer 
noch jetzt recht häufig zitierten Dissertation?) von N. Th. Reimer 
(1772—1832), welch letzterer sich nachher eine selbständige Schrift 
über den gleichen Gegenstand®), das Delische Problem°), anschloß !9). 


1) Diese Vorlesungen I?, 8.809. ?) Kaestner, Geometrische Abhandlgn. I, 
S.1ff. ®) J. Bernoulli, Analyse de l’Opus Palatinum de Rheticus et du The- 
saurus Mathematicus de Pitiscus, Nouv. Mem. de l’Acad. de Berlin, 1788, 8. 10 ff. 
% Matsko, Programma, quo prosthaphaeresis inventori suo Chr. Rottmanno 
vindicatur, Rinteln 1781. Vgl. dazu Kaestner (Gesch. d. Math. I, 8.566; II, S. 374) 
und A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I, 
Leipzig 1900, 8.135ff.), wo die Auffindung dieses für die logarithmenlose Zeit so 
wichtigen Rechnungsvorteiles ausführlich behandelt wird. °) v. Pfleiderer, 
Geschichte der ersten Einführung der trigonometrischen Linien, Tübingen 1785, 
1790. Aus dieser Einleitung heraus entstand jenes wertvolle Werk (Ebene Tri- 
gonometrie mit Anwendungen und Beiträgen zur Geschichte derselben, Tübingen 
1802), welches zwar, wenn das strenge chronologische Ausmaß zur Anwendung 
gelangt, nicht mehr in den Rahmen dieses vierten Bandes gehört, als reife Frucht 
jener Erstlingsschriften aber doch nicht ungenannt bleiben kann. Es wird von 
maßgebender Seite (diese Vorlesungen II”, S. 182) betont, daß es „allzu selten zu 
Rate gezogen“ werde; in diesem Worte mag die Entschuldigung der Über- 
schreitung der Zeitgrenze gesucht werden. °) Melanderhjelm, Isaaci Newtoni 
tractatus de quadratura curvarum .. . illustratus, Stockholm 1762. ”) Reimer, 
Dissertatio exhibens specimen libelli tractantis historiam problematis de cubi 
duplicatione, Göttingen 1796. °) Über die Frage, mit welchem Rechte die 
Würfelverdoppelung den bekannten Beinamen erhielt, verbreitet sich v. Wi- 
lamowitz-Moellendorff (Ein Weihgeschenk des Eratosthenes, Gött. Gel. 
Nachrichten, 1894, Nr. 1). ®) Diese Vorlesungen T?, S. 198. %) Reimer, 
Historia problematis de cubi duplicatione, Göttingen 1798. Nur als Plagiat 
davon kann gelten: Biering, Historia problematis cubi duplicandi, Kopenhagen 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 29 


Mit Umsicht und mit erfolgreichem Streben nach Vollständigkeit hat 
Reimer so ziemlich alles zusammengebracht, was sich auf die ange- 


näherte Darstellung von Y2 mittels mechanischer Hilfsmittel oder 
mittels Kurvenkonstruktion bezieht. Einen recht brauchbaren Beitrag 
zur Geschichte der krummen Linien bietet auch eine Preisschrift?) 
von J.H.M.Poppe (1776—1854), welche allerdings nur die Ver- 
wertung dieser Gebilde für praktische Zwecke sich zum Ziele gesetzt 
hat, dabei aber natürlich doch nieht umhin kann, auch der Wissen- 
schaft als solcher ziemlich umfassend Rechnung zu tragen. Eine 
musterhafte Lösung der Aufgabe, mit modernen Hilfsmitteln in den 
schwer verständlichen Sinn des Gedankenganges eines älteren Schrift- 
stellers einzudringen, stellt sich uns dar in v. Pfleiderers?) Erläu- 
terung der von Kepler in der „Stereometria doliorum“ (diese Vor- 
lesungen II, S. 750 ff, S. 774 ff.) vorgenommenen, verwickelten Kuba- 
turen. 

Nicht wenige und teilweise auch bedeutende Arbeiten brachte 
unser Zeitraum auf dem Felde der Geschichte der Mechanik, der theo- 
retischen sowohl wie nicht minder der praktischen. Es ist bekannt, 
daß J. L. Lagrange (1736—1813) jedem Kapitel seines Hauptwerkes 
„Mecanique analytique“ (1. Aufl., Paris 1788), aber auch jeder seiner 
Abhandlungen geschichtliche Einleitungen voranschickte, die zu dem 
Besten gehören, was hierin geleistet worden ist. Obwohl A. Bürja 
(1752—1816) nicht bloß diese Disziplin, sondern auch die reine Mathe- 
matik im Auge hatte, als er das Mathematische bei Aristoteles einer 
kritischen Besprechung unterzog?), so spielt doch bei ihm die Mechanik, 
die immerhin auf den Stagiriten als den ersten Systematiker des Alter- 
tums zurückgeht, die Hauptrolle*). Von des Göttinger Naturphilosophen 
S. ©. Hollmann (1696—1787) Versuche über die Massenanziehung’) 
wollen wir nur im Vorübergehen sprechen; weit mehr leisteten für die 
selbst nach 100 Jahren noch nicht zum Gemeingute der Gelehrtenwelt 
gewordenen klassischen Werke Newtons und deren Verbreitung der 





1844. Dagegen ist es bei der Seltenheit der erstgenannten Schrift erfreulich, 
daß OÖ. Terquem einen alles Notwendige enthaltenden Auszug aus ihr in die 
von ihm herausgegebene Zeitschrift (Bulletin de bibliogr. et d’hist. des math&ma- 
tiques, II, 8. 20ff.) aufgenommen hat. 

") Poppe, Geschichte der Anwendung der Kreis- und anderen krummen Linien 
in den mechanischen Künsten und in der Baukunst bis auf Dese artes, Göttingen 
1800. °) v. Pfleiderer, Kepleri methodus solida quaedam sua dimetiendi illu- 
strata ete. Tübingen 1795. °) Bürja, Sur les connaissances mathematiques d’Ari- 
stote, I, II, M&m. de l’Acad. de Berlin, 1790—1791, 8. 257 ff., 266ff. *) Diese Vor- 
lesungen 1?, S. 240 ff. Vgl. auch Poselger-Rühlmann, Aristoteles’ Mechanische 
Probleme, Hannover 1881. °) Hollmann, De attraetionis historia, Comm, Soe. 

Gott., 1795, 8. arıf. 


30 Abschnitt XIX. 


Böhme Tessanek!) (1728—1788) und der Engländer W. Emer- 
son?) (1701—1782). Die zum öfteren bestrittene Begründung der 
Lehre von der Bewegung flüssiger Körper, wie sie Joh. Bernoulli I?) 
gegeben hatte, suchte gegen die Angreifer Kaestner‘) zu verteidigen. 
Gewisse Maschinerien der Vorzeit auf Grund einer nicht immer durch- 
sichtigen Beschreibung ihrer Wirkungsweise nach aufzuklären, ließ 
sich Meister (s. 8. 27) angelegen sein°), der auch, wohl als der erste, 
die von Porta‘) nur ungenügend abgehandelte Technik der Alten, 
den Wasserdampf als Triebkraft auszunutzen, eingehender Prüfung 
würdigte.) Im Anschlusse an eine ältere französische Publikation?) 
beschäftigte sich J. E. Silberschlag®) (1721—1791) mit der antiken 
Artilleriemechanik. Auch wollen wir nicht darauf verzichten, des 
uns schon bekannten Poppe Studien über die Geschichte der Uhren!) 
als einen guten Ratgeber für diesen Teil der maschinellen Praxis mit 
aufzunehmen. Auch die deutsche Bearbeitung eines französischen 
Werkes über die Uhren!!) ist wegen historischer Nachweisungen 
schätzbar. | 

Die antike Optik nennt wiederum Meister'?) als Objekt einer 
seiner gelehrten Untersuchungen; indessen kommen hauptsächlich die 
Perspektive und deren künstlerische Anwendung hier zur Geltung. In 
dem selbst heute noch lesenswerten Werke von J. Priestley'?) (1733 
bis 1804), welches Klügel (s. S. 16) mit voller Sachkunde be- 
arbeitete!‘), wird auch Altertum und Mittelalter nicht vernachlässigt, 


!) Tessanek, Philosophiae naturalis principia mathematica auctore Isaaco 
Newton illustrata commentationibus, I, IH, Prag 1780, 1785. ?°) Emerson, 
A short Comment to Sir J. Newton’s Prineipia, London 1770. Vgl. auch C. L. 
Schübler, Newtons Scharfsinn, vor allem dessen Sagacität in der Analysis, 
Leipzig 1794. °) Bernoulli, Hydraulica, Opera omnia, IV, Lausanne 1742, 
Nr.186. *) Kaestner, Pro Jo. Bernoulli contra Dn. D’Alembert objectiones, 
Novi Comm. Gott., I (1771), 8. 45ff.; Anfangsgr. d. Hydrodynamik, 8. 465ff. 
5) Meister, Dissertatio de torculario Catonis.. ., Göttingen 1763; De vete- 
rum hydraulo, Novi Comm. Gott., I (1775), S. 152ff. Die erstgenannte Vorrich- 
tung ist eine Weinpresse (Kelter), die andere ein Wasserhebewerk. °) Porta, 
Pneumaticorum libri III, Neapel 1601. ”) Meister, De Heronis fonte educendis 
ex puteo aquis adhibito ..., Novi Comm. Gott., IV (1774), 8. 169. °) Opera 
veterum mathematicorum, Paris 1693. ® Silberschlag, Sur les trois princi- 
pales machines de guerre des anciens, savoir la Catapulte, la Baliste et l’Onagre, 
Berlin 1760. !°%) Poppe, Geschichte der Entstehung und der Fortschritte der 
theoretischen und praktischen Uhrmacherkunst, Leipzig 1797. *') J. Alexandre, 
Trait6 des horloges, Paris 1734; deutsch von Ü. Ph. Berger, Lemgo 1758. 
12) Meister, De optica veterum picetorum, sculptorum, architectorum sapientia 
... pars prior, Novi Comm. Gott., V (1775), 8. 141ff.; pars posterior, ebenda, VI 
(1776), 8. 129 ff. 1%) Priestley, History and present State of Discovery relating 
to Vision, Light and Colours, London 1772. '‘) Klügel, Geschichte und gegen- 
wärtiger Zustand der Optik, nach d. Englischen Priestleys bearbeitet, Leipzig 1776. 


(Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 31 


und insonderheit findet die Geschichte des Regenbogens, welche 
Scheibel (s. 3.15) mit neuen Wahrnehmungen bereichert hatte!), 
eine ausgiebige Berücksichtigung. Uber den archimedischen Brenn- 
spiegel hat Dutens?) (s. 5. 17) eine besondere Abhandlung ge- 
schrieben. 

Von der alten Astronomie handelt F. Meinert (1757—1828) 
in einer Monographie?), die auffällig wenig in das Publikum ge- 
drungen zu sein scheint. Sehr wertvolle Aufschlüsse über geschicht- 
liche Dinge finden sich in dem berühmten gemeinverständlichen 
Werke des großen P. 8. Laplace; die erste Auflage desselben gehört 
noch dem XVII. Jahrhundert an*). Gegen einige astronomisch -ehrono- 
logische Noten von Costard (s. S. 15), welche in den „Phil. Trans- 
act.“ der vierziger und fünfziger Jahre stehen und von einer Schrift?) 
über die Meteorsteinfallprognose®) des Anaxagoras gefolgt wurden, 
nahm J. Bernoulli III Stellung‘). Zur kometarischen Astronomie 
der Vergangenheit äußerte sich Ch. Burney°) (1726—1814), zur 
arabischen Astrognosie F. W. V. Lach?) (1772—1796), der sich haupt- 
sächlich auf eine unlängst ans Licht getretene Beschreibung’) einer 
künstlichen Himmelskugel mit arabischen Schriftzeichen stützte. Auch 
die antike Gnomonik hat sich in H.G. Martini!!) einen Liebhaber 
erworben, den jedoch J. F.van Beek-Calcoen!?) weit überragte. 

Das ganze Mittelalter hatte, nachdem bereits die Griechen diese 





U) Scheibel, De J. Fleischeri Vratislaviensis in doctrinam de iride meritis, 
Breslau 1762. °) Dutens, Du miroir ardent d’Archim£de, I, Paris 1775, II, 
ebenda 1778. °) Meinert, Über die Geschichte der älteren Astronomie, Halle a. S. 
1785. Wir fanden das Buch nur ein einziges Mal zitiert, und zwar bei R. Wolf 
(Gesch. d. Astron.) 8. 785. *) Laplace, Exposition du systöme du monde, Paris 
1796. °) Costard, Use of Astronomy in Chronology and History, Oxford 1764; 
eine Schrift, deren Tendenz sehr zu billigen ist, da.in der Tat die alte Geschichte 
gar oft einzig und allein durch Nachberechnung gesicherter astronomischer Vor- 
kommnisse zu einer gewissen Festigkeit ihrer Ergebnisse durchdringen kann; 
das Hauptbeispiel ist allerdings nicht gerade glücklich gewählt. °) Vgl. hierzu 
R. Wolf, a. a. O., S. 187; J. H. Maedler, Geschichte der Himmelskunde von 
der ältesten bis auf die gegenwärtige Zeit, I, Braunschweig 1873, S. 37. 
”) Bernoulli, Examen des remarques de M. Costard sur les Eclipses d’Ibn- 
Jotnes, Nouv. M&m. de l’Acad. de Berlin, 1784, S. 293ff. °) Burney, An Essay 
towards the History of Comets, London 1769. °) Lach, Anleitung zur Kenntnis 
der Sternnamen mit Erläuterungen aus der arabischen Sprache und Sternkunde, 
Leipzig 1796. 1°) Globus coelestis eufico-arabicus Veliterni Musei Borgiani a. S. 
Assemano illustratus, Padua 1790. J. S. Assemani (1687—1768) hatte wahr- 
scheinlich diesen Globus erworben; sein Neffe Simon (1752—1821) lieferte die 
genannte Monographie. Vgl. auch Fiorini-Günther, Erd- und Himmelsgloben, 
ihre Geschichte und Konstruktion, Leipzig 1895, S. 1öff. "")Martini, Abhand- 
‘ lung von den Sonnenuhren der Alten, Leipzig 1777. 2) van Beek-Calcoen, 
Tractatus de gnomonica veterum, Utrecht 1797. 


32 Absehnitt XIX. 


Anschauung vertreten, die Musik als eine mathematische Wissenschaft 
betrachtet!), da durch Boethius und Öassiodorius das „Quadru- 
vium“ als Kanon menschlichen Wissens zu beherrschender Stellung 
erhoben worden war?). So möchten wir denn auch an den wertvollen 
Quellenwerken?) Burneys und Forkels (s. o.) über Geschichte der 
Musik bei dieser Veranlassung nieht schweigend vorübergehen. 

Damit ist dann ein wichtiger Teil unserer Aufgabe zum Abschlusse 
gelangt, und es verbleibt uns dem Programme gemäß noch die Be- 
sprechung aller derjenigen literarischen Erzeugnisse, welche sich mit 
dem unmittelbaren Studium der antiken Schriftwerke zu schaffen 
machen. Dieselben können übersetzt, erläutert oder im gereinigten 
Texte der Urschrift neu herausgegeben werden; dazu tritt aber im 
gegenwärtigen Zeitraum weit entschiedener denn früher eine vierte 
Form gelehrter Arbeit, der Wiederherstellungsversuch. Sind uns 
doch leider so viele griechische Schriften — für die römischen trifft das 
aus nahe liegenden Gründen weit weniger zu — nur in Bruchstücken 
oder gar nur im nackten Titel erhalten geblieben; da war der Anreiz 
gegeben, den Inhalt auf Grund der freilich oft nur sehr unsicheren 
Andeutungen zu erraten, welche man von da und dort verstreut in der 
Literatur antraf. Die gewaltige Entfaltung des philologisch-archäolo- 
gischen Wissens in dieser durch die Namen Lessing, Winckel- 
mann, F. A. Wolf, @. Hermann gekennzeichneten Epoche mußte 
solchen Bestrebungen sehr zu statten kommen. Wir werden nach- 
stehend den vorhin aufgestellten Normen folgen: Übersetzung, Kom- 
mentar, Textausgabe mit oder ohne solchen und Rekonstruktion sollen 
nacheinander an die Reihe kommen. Auffallen kann einigermaßen, daß 
fast einzig und allein das klassische Dreigestirn Euklid, Archimedes, 
Apollonius die für die Antike begeisterten Mathematiker beschäftigt. 
Von ihnen abgesehen, ist es anscheinend allein der Byzantiner Anthe- 
mius, der gelegentlich einiger Beachtung gewürdigt wird?). 

Halten wir uns zuerst an die Übertragungen in unsere deutsche 
Sprache, so können wir ein paar recht gelungene, heute noch ebenso- 





‘) Diese eigentümliche Erweiterung der Mathematik, von welcher sich die 
Neuzeit sehr mit Recht losgesagt hat, die aber von jedem, der den wissenschaft- 
lichen Betrieb des Mittelalters erkunden will, wohl zu berücksichtigen ist, suchte 
in diesem Sinne zu skizzieren Günther (Geschichte des mathematischen Unter- 
richtes im deutschen Mittelalter bis zum Jahre 1525, Berlin 1887, S. ı10ff.). 
?) Diese Vorlesungen I?, 8. 529ff. °®) Burney, General History of Music from. 
the earliest Ages to the present Period, London 1777—1789; J. N. Forkel, 
Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig 1788—1801. °) Dupuy, Fragment 
d’un ouvrage grec d’Anthemius, Paris 1777. Übersetzung und Erläuterungen 
sind beigegeben. Vgl. diese Vorlesungen I?, S. 468 und Gilbert, Annalen der 
Physik, LIII, S. 248ff., sowie auch Poggendorff, Gesch. d. Phys., S. 22, 527. 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 33 


gut wie damals verwendbare Leistungen vorführen. J. F. Lorenz 
(1733— 1807) gab zwei deutsche Euklidübersetzungen heraus; zuerst 
nur einen Teil!), nachher aber das vollständige Werk?). Geschätzter 
Kompendiograph, wußte er den Ausdruck wo nicht elegant, so doch 
klar und deutlich zu wählen. Die ersten sechs Bücher der „Elemente“, 
welche nach lange gehegter Ansicht sozusagen den eisernen Bestand 
des in das Studium der Mathematik eintretenden Jünglings darstellten, 
verdeutschte auch J. K. F. Hauff?) (1766—1846). Erfreulich war, 
daß unser Volk auch die „Data“') in bequemer Form zugänglich ge- 
macht erhielt. Allerdings hatte J. C. Schwab (1743—1821), der 
sich dieses Verdienst erwarb, nicht den Urtext vor sich, sondern er 
hielt sich’) an die englische Bearbeitung des R. Simson‘). Daß er 
von der starren Beibehaltung der griechischen Ausdrucksweise, wie sie 
der britische Geometer für nötig erachtet hatte, sich frei machte und 
mit den Proportionen so operierte, wie es uns nun einmal geläufig 
ist, wird man nur billigen können. Doch ist zu bemerken, daß 
Schwab nicht sowohl dem Eindringen in die Eigenart des griechisch- 
geometrischen Geistes entgegenkommen, sondern mehr nur ein prakti- 
sches Hilfsbuch für die geometrische Analysis liefern wollte”). Ein für 
den Elementarunterricht besonders nützliches Werk des Archimedes 
wurde von K. F. Hauber°) (1775—1851) deutsch wiedergegeben. 
Einen englischen Euklid besorgte J. Bonnycastle°) (?— 1821), eine 
in der gleichen Sprache gehaltene Ausgabe der archimedischen „Sand- 
rechnung“ G@. Anderson!) (1760—1796). 

Eine sehr gute, vollständige Ausgabe der „sroryeie“ rührt von 
dem Wittenberger Professor G. F. Baermann!!) (1717—1769) her!?) 
Die italienischen Gelehrten betätigten in dieser Zeit einen ganz 





') Lorenz, Euclids sechs erste Bücher ... aus dem Griechischen, Halle 
a.S. 1773. ?) Ders., Euclids Elemente, fünfzehn Bücher aus dem Griechischen, 
ebenda 1781. °) Hauff, Euelidis Elementa, I—VI, aus dem Griechischen, Mar- 
burg i. H. 1797. Später folgten (ebenda 1807) auch das elfte und zwölfte Buch 
(d. h. die Grundlehren der Stereometrie). *) Diese Vorlesungen I?’, 8. 268 ff. 
°) Euklids Data, verbessert und vermehrt von Robert Simson, aus dem Eng- 
lischen übersetzt, und mit einer Sammlung geometrischer, nach der Analytischen 
Methode der Alten aufgelöster Probleme begleitet von J. C. Schwab, Stutt- 
gart 1780. ®) Diese Vorlesungen III?, S. 509. °) Die Vorrede des Schwabschen 
Werkchens läßt diese Absicht in vollster Deutlichkeit erkennen. °) Hauber, 
Archimeds zwei Bücher über Kugel und Cylinder ...., Tübingen 1793. °) Bon- 
nycastle, Euclids Elements of Geometry, London 1789. !%) Anderson, The 
Arenarius of Archimedes, translated, London 1784. !!) Baermann, Elemento- 
rum Euelidislibri XV, Leipzig 1743. 1?) Es ist nicht ohne Interesse, Kaestners 
Urteil über diese Edition kennen zu lernen. Nachdem er diejenige Barrows 
(Cambridge 1675, Osnabrück 1676) gerühmt, fährt er fort (Anfangsgr. d. Arithm. 
u. Geom., $. 445ff.): „Da Barrows Ausgabe in Deutschland doch nicht so häufig 

CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 3 


34 Abschnitt XIX, 


besonderen Eifer in Herausgabe und Übersetzung, doch sind ihre 
Werke außerhalb ihres Landes nur zum kleineren Teile einigermaßen 
bekannt geworden. Wir bescheiden uns damit, in einer Note!) nach 
Riecardis mustergültiger Zusammenstellung?) die Namen der Bear- 
beiter und die Erscheinungszeiten anzugeben. Hingegen ist von Ar- 
chimedes nur eine einzige Ausgabe namhaft zu machen, diejenige 
von 6. Torelli?) (1721—1781). Über sie berichtet Poggendorff?): 
„Torelli hinterließ handschriftlich Archimedes’ Werke, griechisch 
und lateinisch, mit einem Zusatz von sich De conoidibus et sphaeroi- 





zu haben ist, so verdient als Handausgabe G. F. Baermanns gebraucht zu 
werden ... Daß Baermann ein Schüler von Ernesti war, empfiehlt sie auch 
wegen kritischer Richtigkeit.‘ Der hier genannte Leipziger Philologe (1707—1781) 
besaß auch volles Verständnis für guten mathematischen Schulunterricht, wie sein 
viel gebrauchter Lehrbegriff beweist (Initia doctrinae solidioris: pars prima, arith- 
meticam, geometriam, psychologiam et ontologiam complectens, Leipzig 1734), 
der noch 1783 einer siebenten Auflage sich erfreuen durfte. Kaestner erinnert 
(a.2.0., 8.446) auch an die wenig bekannte Euklid-Ausgabe von J. J. Hench 
(Philosophia Mathematica complectens methodum cogitandi ex Euclide restitu- 
tam ..., Leipzig 1756), welche auch die ersten sechs Bücher enthält, dieselben 
jedoch nicht sowohl deshalb aufgenommen hat, um die geometrische Unter- 
weisung zu’ fördern, sondern vielmehr zu dem Zwecke, daß der Lernende sich 
an diesen Musterbeispielen formalen Denkens in Logik und Metaphysik übe. 

) Riccardi,a.a.0.II,S.44ff. 2) Es sind die folgenden Ausgaben und Über- 
setzungen vorhanden: OÖ. Cametti (1760), L. Ximenes (1762), OÖ. Cametti 
(1762), &. Accetta (1763), E. Ventretti (1766), O. Cametti (1767), G. A. 
Ferrari (1767), G. Grandi (1767—1768), V. Caravelli (1770), OÖ. Cametti 
(1772), @. F. Marquis De Fagnani (1773), F. Ventretti (1775), G. Grandi 
(1780), A. N. Silicani (1782), J. Calisti (1785), A. Tamberlicchi (1789), 
D. Paccanaro (1791), F. Ventretti (1792), F. Domenichi (1793), J. Calisti 
(1797). Auch ein posthumes Werk des letzten Galilei-Schülers V. Viviani liegt 
vor (1796). Unter diesen Schriftstellern sind nur einige, die sich auch sonst in 
der Geschichte der Mathematik einen Platz gesichert haben. Was zuerst G. 
Grandi (diese Vorlesungen 1II?, S. 365 ff.) anlangt, so hat man es ebenfalls bloß 
mit einem Stück seines literarischen Nachlasses zu tun. Cametti (?— 1789) 
schrieb über Hydrodynamik; Ximenes (1716— 1786) war ein geachteter Astronom; 
von Caravelli (1724—1800) besitzt man noch eine einigermaßen hierher gehörige 
Schrift (Theoremata Archimedis de dimensione circuli, sphaera et cylindro, faci- 
liori methodo demonstrata, Neapel 1750). Der Marquis Fagnani, Sohn eines weit 
berühmteren Vaters, war gleichfalls ein tüchtiger Forscher, von dem man lange- 
zeit gar keine biographischen Daten zur Verfügung hatte (Poggendorff, Biogr.- 
liter. Handwörterbuch, I, Sp. 715). Erst Fürst B. Bonecompagni brachte hier, 
wie in so vielen anderen Dingen, die Aufhellung (Memorie concernenti il Marchese 
Giulio Carlo de’ Toschi di Fagnano, Bull. d’istoria e di bibl. delle seienze 
mat. e fis., III [1870], S. 10ff.). Nunmehr kennt man angenähert die Lebenszeit 
(1715—1797) von Marquis Gianfrancesco di Fagnano (oder Fagnani), Ar- 
chidiakonus in Sinigaglia. °) Archimedis quae supersunt omnia, cum Eutocii 
Ascalonitae commentariis, ex recensione Jos. Torelli, Oxford 1792. *)Poggen- 
dorff, a. a. ©. I, Sp. 1117. 


Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 35 


dibus, welches Manuskript von der Universität zu Oxford gekauft und 
daselbst unter Aufsicht von A. Robertson gedruckt wurde.“ Einer 
der besten Sachverständigen, E. Nizze, stellt!) der Tätigkeit Torellis 
ein sehr, derjenigen des eigentlichen Herausgebers dagegen ein minder 
günstiges Zeugnis aus. Immerhin war bis Heiberg (1880), also fast 
hundert Jahre lang, wie auch von Poggendorff?) bestätigt wird, 
dieser oxonianische Archimedes der beste, über den man verfügte, 
auf den jedermann, der das Original zu verwenden gehalten war, zu- 
rückgreifen mußte. 

Als Kommentator des Euklid hat sich v. Pfleiderer ausge- 
zeichnet, der in einer ganzen Anzahl von Schriften?) die von ihm bei 
dem großen Systematiker wahrgenommenen Dunkelheiten aufzuhellen 
bestrebt war. Alle diese Arbeiten verfolgen neben dem geschicht- 
liehen auch einen ausgesprochen pädagogischen Zweck, der am be- 
stimmtesten in der Bearbeitung des fünften Buches, deren soeben 
Erwähnung geschah, zutage tritt. 

Während die „Kegelschnitte“, das Hauptwerk des Pergäers, in 
unserem Zeitabschnitte nicht näher betrachtet wurden, richtete sich 
mehrseitiges Augenmerk auf dessen übrige, nur in ganz fragmenta- 
rischem Zustande zu uns herabgelangte Schriften‘). Dem Traktate 
„Von den Neigungen“ galten diejenigen von S. Horsley°) (s. 8. 24) 
und R. Burrow®) (1747—1792); aus den uns gebliebenen Andeutungen 
suchten die Schrift „Vom bestimmten Schnitt“ wieder aufzubauen 
W. Wales!) (1734—1798) und R. Simson®). Auch P. Giannieri 
versuchte in seinen Opuscula mathematica (Parma 1773) als Op. IH 


) Nizze, Archimedes’ von Syrakus sämtliche Werke übersetzt und er- 
klärt, Stralsund 1824, Vorrede. ?) Poggendorff, a.a.0. II, Sp.56. °)v. Pflei- 
derer, Expositio et dilucidatio libri V elementorum Euclidis pars I, Tübingen 
1782, pars II, ebenda 1790; Scholia in librum II elementorum Euclidis, pars I, 
ebenda 1797, pars II, ebenda 1798, pars III, ebenda 1799; Scholia in librum VI 
elementorum Euclidis, pars I, ebenda 1800, pars II, ebenda 1801, pars II, 
ebenda 1802. Dazu gehört ein Exkurs über die euklidische Proportionenlehre 
(Hindenburgs Arch., II [1798], 8. 257ff., 8. 440ff.). Erwähnenswert sind noch 
folgende Schriften Pfeiderers: De dimensione circuli P. I (Tübingen 1787), 
P. UI (Tübingen 1790), Propositionum de rationibus inter se diversis demonstra- 
tiones ex solis Libri V. Elementorum definitionibus et propositionibus de- 
ductae (Tübingen 1793). *) Vgl. diese Vorlesungen I?, 8. 327 ff.; H. G@. 
Zeuthen, Geschichte der Mathematik im Altertum und Mittelalter, Kopen- 
hagen 1896, 8.212ff. °) Horsley, Apollonii Pergaei inclinationum libri duo, 
London 1770. °) Burrow, Restitution of the Geometrical Treatise of Apol- 
lonius Pergaeus on Inclination, London 1779. °') Wales, The two Books of 
Apollonius concerning Determinate Sections, London 1772. *) Bei Lebzeiten ließ 
Simson (diese Vorlesungen III? S. 509) nichts hierüber erscheinen. „Im Jahre 
1776 ließ Graf Stanhope“ — 1753—1816 — „nachfolgende von Simson 

5* 


36 | Abschnitt XIX. 


eine Wiederherstellung des Buches des Apollonius vom bestimmten 
Schnitt. Noch am ersten dürfte die schwierige Restitutionsarbeit ge- 
glückt sein bei der Abhandlung „Uber die Berührungen“, der gegen- 
über die Divinationstätigkeit am meisten festen Boden unter den Füßen 
fühlen mochte. J. Lawson und J. @. Camerer (1763—1847), deren 
Verdienst es ist, hier vorangegangen zu sein!), dürfte deshalb ihrem 
Ziele vielleicht am nächsten gekommen sein. 

Die Porismen des Euklides, über deren wahre Natur auch jetzt 
noch die Akten nicht als gänzlich geschlossen gelten können?), haben 
von jeher die Aufmerksamkeit der mit der Geometrie der Alten ver- 
trauten Mathematiker auf sich gezogen. A. Girard, P. Fermat u. a. 
wagten sich daran, auf wenige schwache Spuren hin das verschüttete 
Gebäude wieder auszugraben®). In die Fußtapfen des letztgenannten 
trat jener jüngere Marquis @. Fagnani*), der uns weiter oben als 
Kenner des Euklides bereits begegnet ist. 

Unsere Übersicht hatte in gebotener Kürze von einer stattlichen 
Reihe literarischer Arbeiten Notiz zu nehmen, welche mittelbar oder 
unmittelbar der Geschichte der exakten Wissenschaften Dienste zu 
leisten bestimmt waren. Die vier Jahrzehnte, auf die sich die Nach- 
forschung zu beschränken hatte, lassen eine erfreuliche Fortentwick- 
lung des schon früher erwachten Geistes gerade auch auf diesem an 
sich spröderen Gebiete erkennen. 


hinterlassene Aufsätze drucken: 1) Apollonius Determinate Section; 2) A Trea- 
tise on Porisms; 3) A Tract on Logarithms; 4) On the Limits of Quantities and 
Ratios; 5) Some Geometrical Problems“ (Poggendorff, a. a. O. II, Sp. 938). 

!) Camerer, Apollonii De tactionibus quae supersunt, ac maxime lem- 
mata Pappi in hos libros graece nunc primum edita a codicibus mscptis, 
cum Vietae librorum Apollonii restitutione, adjectis observationibus, compu- 
tationibus, ac problematis Apolloniani historis, Gotha-Amsterdam 1795 (die 
Jahresangabe bei Poggendorff [a.a. 0. II, Sp. 6] ist nicht richtig). Nach 
eigener Aussage war für Üamerer von großem Werte eine Schrift des sonst 
recht wenig bekannten Engländers Lawson: The two Books of Apollonius Per- 
gaeus, concerning Tangencies etc., London 1771. Bezugnehmend auf Vieta, 
Ghetaldi, Fermat und Th. Simpson kleidete Lawson die Hauptaufgabe 
folgendermaßen ein: Wenn von Punkten, Geraden und Kreisen irgend zwei in 
der nämlichen Ebene gegeben sind, so soll man den geometrischen Ort des 
Kreises angeben, der durch beide Punkte geht oder durch einen dieser Punkte 
geht und eine der übrigen Linien berührt oder endlich je zwei der genannten 
Linien berührt. ?) Diese Vorlesungen I?, S. 264, 267, 392, 423, Chasles- 
Sohncke, Geschichte der Geometrie mit besonderer Berücksichtigung der neueren 
Methoden, Halle a. 5. 1839, Note II. ®) Diese Vorlesungen II?, S. 656ff. 
“, J. F. De Fagnano, Porismata Euclidea, immo Fermatiana, demonstrata, Acta 
Eruditorum, 1762, S. 481ff. 





ABSCHNITT XX 


ARITHMETIK - GLEICHUNGSLEHRE 
ZAHLENTHEORIE 


VON 


F. CAJORI 





Arithmetik. 


Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war für Frankreich eine 
Zeit der Aufklärung, in welcher kühne Schriftsteller neue Ideen ent- 
falteten. Die französische Revolution zerstörte die Feudalinstitute 
des Mittelalters in allen Gebieten der weltlichen Einrichtungen. Die 
Wissenschaften und das Schulwesen wurden von diesen welthistori- 
Schen Ereignissen tief beeinflußt. Die Schriften von Rousseau und 
Condillae, von den Enzyklopädisten und von Condorcet brachten 
neue Gedanken, nicht nur über philosophische Sachen ım allgemeinen, 
sondern auch über die Erziehung und Mathematik im einzelnen. Ihr 
Einfluß auf den Elementarunterricht in der Mathematik wurde gegen 
das Ende des Jahrhunderts überwiegend. Diese Zeit weist in Frank- 
reich neue Rechenbücher auf, deren Autoren sich auch mit der 
höheren Mathematik beschäftigten. Dennoch finden wir, daß hier, 
wie auch in anderen Ländern, veraltete Rechenbücher noch großen 
Absatz fanden. Das bekannteste unter den letzteren war L’Arith- 
metique du S’Barr&me .. augmentee .. de plus de 190 pages. 
par N. Barr&me, Paris 1764, Rouen 1779. Die erste Auflage von- 
Francois Barr&me erschien 1677. Nicolas Barr&me war „ein 
Nachkomme des Autors“, wie wir aus der Auflage von 1715 ent- 
nehmen, welcher den Umfang dieses populären Werkes verdoppelte 
und deshalb erwähnt zu werden verdient. 

Ein zweites Werk dieser Art war L’Arithmetique en sa 
perfection..par F. Le Gendre, arithmeticien. Die erste Auf- 
lage erschien in Paris 1646, eine zehnte 1691. Während des 
18. Jahrhunderts wurden wenigstens sieben gedruckt. Eine erschien 
zu Paris 1774, eine andere zu Limoges 1781. Eine Vergleichung 
der Ausgabe von Lons le Saulnier 1812 mit denjenigen von 1774 und 
1705 zeigt, daß die drei sich nur im Anhang voneinander unter- 
scheiden und daß der Hauptteil während mehr als 100 Jahren ohne 
nennenswerte Abänderungen beharrte. Ein solches Beharren beim 
Alten in diesen und anderen Schulbüchern wirft ein düsteres Licht 
auf die Schulverhältnisse damaliger Zeit. 


40 Abschnitt XX. 


Weder in Barr&me noch in F. Le Gendre findet man Dezimal- 
brüche; dieselben wurden, soweit wir ermitteln können, in praktischen 
französischen Rechenbüchern der Zeit beinahe ganz vernachlässigt. 
Nur gegen Ende des Jahrhunderts, als das metrische System Auf- 
nahme fand, wurden Dezimalbrüche auch in Werken für Geschäfts- 
leute eingeführt. Citoyen Blavier veröffentlichte 1798 in Paris 
en Barr&me decimal!) und die späteren Ausgaben von F. Le 
Gendres Büchlein enthalten einen Anhang über Dezimalbrüche. 

Ein Werk, welches in den höheren Schulen in Frankreich, und 
durch Übersetzungen auch in anderen Ländern, während der zweiten 
Hälfte des Jahrhunderts weite Verbreitung erhielt! waren die 1741 
in Paris gedruckten Legons @l&mentaires de mathematiques 
des Astronomen Nicolas Louis de La Caille?) (1713 -1762). Der 
erste Teil enthält eine kurzgefaßte, theoretische Arithmetik. Eine 
verbesserte und erweiterte Ausgabe des La Cailleschen Werkes 
wurde 1770 zu Paris von Abbe Marie, Professor der Mathematik an 
dem college Mazarin, veranstaltet. 

Unter den neu verfaßten arithmetischen Werken dieser Zeit sind 
diejenigen der bedeutenden Mathematiker Bezout, Bossut und La- 
eroix hervorzuheben. Etienne Bezout (1780-- 1783) wurde 1763 
zum „examinateur des gardes de la marine“ ernannt. Man hat von 
ihm zwei athenatech” Schulbücher, Cours de math@ematiques ä 
usage des gardes du pavillon et de la marine, Paris 1764 
bis 1769, und Cours de math&matiques ä l’usage du corps de 
Vartillerie, Paris 1770—1772, die in mehreren Auflagen erschienen 
und weite Verbreitung fanden. Der arithmetische Teil letzteren 
Werkes ist demjenigen des ersten, mit Ausnahme einiger ausgelassener 
Paragraphen, Wort für Wort gleich. Er wurde auch separat gedruckt. 
Auf das kaufmännische Rechnen legt B&ezout wenig Nachdruck; er 
gibt sich viel Mühe, die theoretischen Teile klar zu machen, ohne den 
Schüler durch schwerverständliche Beweise abzuschrecken. 

Charles Bossut (1730—1814) verfaßte einen Cours cöhlpiek 
de math&ematiques, dessen erster Teil, ein Trait& el&mentaire 
d’arıthmetique, 1772 erschien. Er enthält eine Vorrede über 
die Grundideen der Arithmetik und der Algebra. Diese Arithmetik ist 
in gedrängtem Stile geschrieben und enthält nur weniges über Ge- 
schäftsrechnung. Daher fand es auch nur geringe Verbreitung. 

Während in französischen Werken über das praktische Rechnen 





') A. De Morgan, Arithmetical Books, London 1847, p. 75. 2) Vgl. 
„Intorno ad un’ opera dell’ Abate Nicold Luigi de La-Caille“ in B. Boncom- 
pagnis Bullettino, Tomo V, Roma 1872, p. 278—293. 


Arithmetik. 41 


Dezimalbrüche vernachlässigt oder ganz weggelassen werden, erhalten 
sie in Kompendien der Mathematik gehörige Beachtung. So gibt 
sich Lemoine in seinem Traite el&mentaire de math&matiques 
pures, Paris 1790 (3° ed. 1797), Mühe dieselben gleich von Anfang 
aufzunehmen und die Grundoperationen für ganze Zahlen und Dezi- 
malbrüche nebeneinander zu entwickeln. Edm& Marie Joseph Le- 
moine (d’Essoies) (1751—1816) war vor der Revolution Advokat, 
Lehrer des jungen Adels und Professor der Mathematik und Physik. 
Das obige Elementarwerk war für Schüler bestimmt, die Bezouts 
Werke zu umfassend fanden. 

Weitreichenden Einfluß auf das Studium aller mathematischen 
Fächer hatte Sylvestre Francois Lacroix (1765—1843), welcher 
großen Anteil an der Organisation der öffentlichen Erziehung und an 
der Vorbereitung passender Schulbücher hatte. Im Jahre 1797 erschien 
zu Paris sein Traite d’arithmetique, welcher für den Gebrauch in 
der ecole centrale bestimmt war. 

Gegen Ende des Jahrhunderts erschienen einige Arbeiten, welche 
neue Gedanken philosophischer Natur über arithmetische Operationen 
und die Sprache der Arithmetik und Algebra enthielten. Der erste 
uns bekannte Versuch, neue Grundoperationen einzuführen, ist von dem 
Marquis Fortia (1756—1843). Mit den Einschränkungen der 
gewöhnlichen Arithmetik nicht zufrieden, sucht er in seinem Traite 
d’arithmetique!), Avignon 1781, den Operationen der Addition, 
Subtraktion, Multiplikation und Division eine unendliche Anzahl 
höherer Operationen anzuschließen. Die sukzessive Multiplikation 
einer Zahl mit sich selbst nennt er puissaneiation. Soll die 
Summe von 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 gefunden werden, nennt er 1 den 
multiplicande, 8 den multiplicateur, die Summe das produit, 
mit dem Wort second hinzugefügt, um die multiplication 
seconde von der gewöhnlichen zu unterscheiden. Die multiplieation 
seconde gibt hier das produit 36. Dasjenige von 3 mit 8 gibt 
108 (= 3+6+9+12+15+18+21+24). Ein Beispiel einer 
puissanciation seconde hat man in der Auffindung des Produkts 
der Zahlen 2, 4, 8, 16, 32, 64, welches sich als das Produkt der 
ersten und letzten Zahl, puissaneie durch die Hälfte der Anzahl 
von Zahlen, ergibt. Wenn in einer arithmetischen Progression 
a+l(a+d)+(a+2d)+::-+(la+m— DA) nicht nur a=d, 
sondern auch «= n ist, gelangt man zur multiplication troisieme. 
Das produit troisieme, vn5mit2=5+(5+10+15+20+ 25) 
= 80, vn 5 mt 3=5+(5+10+15+20+25)+(5+10+--+50) 





) Uns liegt die zweite Auflage von 1790 vor. 


42 Abschnitt XX. 


-5+75+275-355 =5 +produit second von 5 mit 5 + pro- 
duit second von 5 mit 10. 

Man könne so fortfahren zu Operationen noch höherer Grade. Jede 
derselben habe ihre umgekehrte Operation. Fortia definiert nun 
eine num6ration seconde, worin die Einheit complexe und con- 
tinue ist, complexe, weil sie aus Teilen bestehe, und continue, 
weil die Anzahl dieser Teile unendlich sei. Mit sich selbst multipli- 
ziert gebe die Einheit die Zahl 2; 2 mit 1 multipliziert gebe 3 usw. 
Wenn die Einheit der nombres continus 2 ist, dann ist;der nombre 
continu 2 gleich 4 und der nombre continu 3 gleich 8. Die ein- 
fachste Operation der numeration seconde ist die Multiplikation, 
welche der Addition in der gewöhnlichen Numeration entspricht. 
Sollen die nombres continus 481 und 1321 miteinander multipli- 
ziert ae so ist das Resultat 1802. Ähnliches für die Division. 
3421 -- 2212 = 1209. Besteht die Einheit der nombres continus aus 
3 ir Einheiten, dann ist der nombre continu 2=9, der 
nombre continu 3=27 usw. Wird nun 2 puissancie@ durch 3, so 
erhält man den nombre continu 6= 1729. In diese numeration 
seconde könne man auch puissances secondes usw. einführen. 
Fortia gibt dann weitere Auseinandersetzungen von nombres conti- 
nus, deren Einheit 2 ist, und von höheren Numerationen. Es ge- 
lingt ihm aber nicht, dem Leser die Vorzüge seiner neuen Operationen, 
deren Formeln er der gewöhnlichen Algebra entlehnt, und seiner neuen 
Sprache überzeugend darzulegen. 

Eine Schrift über Arithmetik und Algebra, welche ein Versuch 
einer Philosophie dieser Wissenschaften ist, wurde von Etienne 
Bonnot de Condillac (1715—1780) verfaßt. De Condillac war 
ein scharfsinniger Philosoph, ein Freund von Rousseau und Diderot. 
Durch ihn fand der Sensualismus des englischen Freidenkers John 
Locke Eingang in Frankreich und, über diesen hinausgehend, 
weitere Ausbildung. Alle Theorien von angeborenen Ideen verwerfend, 
nahm Condillae nur die Wahrnehmungen der fünf Sinne für Wahr- 
heit an. Er erklärte die Funktionen des Denkens als Arten des 
Empfindens, die durch Übung vervollkommnet werden, und führte alle 
Verstandestätigkeit auf das Sprachvermögen zurück. Ohne Wörter 
könnte man keine abstrakten Ideen haben. Uns interessiert sein La 
Langue des Caleuls, & Paris, An VI (1798), welches achtzehn 
Jahre nach seinem Tode veröffentlicht wurde. Seine metaphysischen 
Lehren sollten hier auf Arithmetik und Algebra Licht werfen. „Un, 
deux, trois usw., dies sind also die abstrakten Ideen der Zahlen; 
denn diese Wörter stellen die Zahlen dar als auf alles anwendbar 
und als auf nichts angewandt.... Wenn zum Beispiel, nachdem wir 


Arithmetik. 43 


un doigt, un caillou, un arbre gesagt haben, wir un sagen, ohne 
etwas hinzuzufügen, haben wir in diesem Worte un die abstrakte 
Einheit. Wenn Sie glauben, daß abstrakte Ideen etwas anderes als 
Namen seien, bitte sagen Sie, wenn Sie können, was ist dieses‘ 
andere?“!) „Sprachen sind nicht Sammlungen zufällig aufgenommener 
Ausdrücke.... Wenn der Gebrauch jedes Wortes eine Konvention 
voraussetzt, setzt diese Konvention eine Ursache für die Annahme jedes 
Wortes und eine Analogie voraus, die das Gesetz angibt, ohne welches 
es unmöglich wäre dasselbe wahrzunehmen und welches keine absolut 
willkürliche Wahl zuläßt.“®) In der Sprache des Rechnens zeigt sich 
die Analogie klar. Das Zählen lernt man mit Hilfe der Finger. Man 
zählt bis 10, nımmt dann 10 als höhere Einheit an, fährt dann fort 
bis 100 usw. „Wenn wir uns aber nicht verirren wollen, müssen 
wir die Zahlenreihen durch Namen bezeichnen, weshalb die Namen 
im Rechnen so notwendig sind wie die Finger selbst.“”) Das Nume- 
rationssystem, welches uns die Natur darbietet, zeigt uns jedesmal 
wie eine Zahl zusammengesetzt ist. Unsere Sprachen haben aber die 
Analogie nicht befolgt. „Zum Beispiel, wir sagen, soixante et 
douze; die Finger sagen aber sept dix plus deux, ein Ausdruck, 
den wir vorziehen, um der Analogie der von der Natur gegebenen 
Sprache zu folgen.“) Condillac betrachtet die Operationsarten in 
Arithmetik und Algebra im Lichte seiner Theorie von den Analogien. 
Er findet, daß die Algebra nichts anderes als eine Sprache sei?). 
Diese Ansicht hatte schon früher Clairaut in seinen El&mens 
d’Algebre 1746 geäußert, und auch 38. F. Lacroix stimmt°) der- 
selben bei. Condillac behauptet, daß die Erfindungsmethode nichts 
anderes als die Analogie selbst sei‘). 

Wie das besprochene Werk die letzte (unvollendete) Arbeit Con- 
dillacs war, so ist das Büchlein Moyens d’apprendre & compter 
surement et avec faeilite, par Condorcet, ä Paris, 1799°), 
die letzte Schrift dieses berühmten Philosophen und Mathematikers. 
Es wurde in den letzten Tagen seines Lebens geschrieben, als er, in 
den Sturz der Girondisten verflochten, in der Nähe von Paris eine Zeitlang 
umherirrte, bis er erkannt und verhaftet wurde. Condillacs philo- 
sophische Studien trugen dazu bei, die Lehrmethode in neue Bahnen zu 
leiten. Das Büchlein von Condorcet erzielte Ähnliches durch eine 
klare, unkonventionelle Erklärung unseres Numerationssystems und 





") Condillac, La Langue des Calculs, 1798, p. 50. ?) Ebenda, S. 1. 
®) Ebenda, 8. 11. *) Ebenda, 8. 18. °) Ebenda, 8.47. °S. F. Lacroix, 
Essais sur L’Enseignement en General et sur celui des Math@matiques en parti- 
eulier, & Paris, An XIV, 1805, p. 235. °) Condillae, p. 232. *°) Zweite Auf- 
lage erschien 1800. 


44 Abschnitt XX. 


der vier Rechnungsarten. De Morgan!) beschreibt das kleine Werk 
als „eine der einfachsten Erklärungen der elementarsten Arithmetik, 
die je erschienen ist“. Das Werkchen besteht aus zwei Teilen. Der 
erste ist in leicht verständlicher Sprache für Kinder geschrieben. Der 
zweite Teil enthält philosophische und pädagogische Anweisungen 
für Lehrer. Manche seiner Ideen stimmen mit denen Condillaecs 
überein. Für vingt setzt er duante und, um die Analogie nicht zu 
brechen, führt er die alten Bezeichnungen septante, octante und 
nonante ein. Eine englische Übersetzung des Büchleins wurde 1813 
von Elias Johnston in Edinburgh veröffentlicht. Eine dritte eng- 
lische Ausgabe erschien dort 1816. 

Das Studium der praktischen Rechenkunst sollte sich nach und 
nach durch die Einführung des metrischen Systems bedeutend ver- 
einfachen. Als um die Zeit des Ausbruchs der französischen Revo- 
lution der Drang nach Neuerungen in allen Richtungen immer stärker 
wurde, machte man 1788 den Vorschlag, auch die Gewichts- und 
Maßsysteme einer radikalen Umformung zu unterwerfen. Viele Städte 
Frankreichs hatten durch ihre Deputierten um ein gemeinsames Maß 
für das ganze Land gebeten. In der Sitzung der Pariser Akademie 
vom 14. April 1790 schlug Brisson vor, ein neues System auf eine 
natürliche Länge zu gründen, die immer wieder leicht aufgefunden 
werden könne?). Nach einem Antrage von Talleyrand legte die 
Nationalversammlung am 8. Mai 1790 dem französischen Könige die Bitte 
vor, den König von England einzuladen, bei der allgemeinen Maß- 
reform mitzuwirken und Kommissare zu ernennen, die in Gemeinschaft 
mit den französischen die Reform durchführen sollten. Die National- 
versammlung beauftragte zugleich die Pariser Akademie, die französi- 
schen Kommissare zu wählen und die Länge des Sekundenpendels 
unter dem 45. Breitengrade als natürliche Grundlage des Maßsystems 
anzunehmen. Die Idee eines natürlichen Grundmaßes soll sich zuerst 
in einem Werke Gabriel Moutons des Jahres 1670 finden’). 

Durch die Mitwirkung Englands hofften die Franzosen zu er- 
zielen, daß ein neues System in anderen Ländern bessere Aufnahme 
finden würde. Diese großen kosmopolitischen Ideen sollten aber nicht 
so bald ausländischen Beifall finden. England lehnte, wahrscheinlich 
wegen der Hilfe, welche Frankreich den amerikanischen Kolonien in 
ihrem Freiheitskampfe geleistet hatte, das gemeinsame Vorgehen ab. 





ı) De Morgan, op. eit. 8. 82. ®) F. Rosenberger, Geschichte der 
Physik, Dritter Teil, Braunschweig 1887, S. 94. 5) Gabriel Mouton, Ob- 
servationes diametrorum solis et lunae apparentium ete., Lugd. 1670. V. De- 
lambre, Base du systeme me6trique decimal I, 11 und Rudolf Wolf, Geschichte 
der Astronomie, München 1877, S. 623. 


Arithmetik. 45 


Frankreich mußte allein an die Arbeit. Die französische Akademie 
unternahm es zwei Hauptfragen zu entscheiden: 1) Welehe nume- 
rische Skale sollte als Verhältnis sukzessiver Ober- und Unterein- 
heiten dienen, 2) welche unveränderliche Größe aus der Natur sollte 
als Einheit gewählt werden. Über die erste Frage stattete die fol- 
gende Kommission am 27. Oktober 1790 Bericht ab: Borda, La- 
grange, Lavoisier, Tillet und Condorcet!)., Für die Unter- 
suchung der zweiten Frage ernannte die Akademie als Kommissions- 
mitglieder Borda, Lagrange, Laplace, Monge und Condorcet?). 

Was numerische Skalen anbelangt, hatten Schriftsteller seit 
Leibniz öfters dem Binär-System Aufmerksamkeit geschenkt. 
In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts findet man in 
vielen Rechenbüchern kurze Besprechungen desselben. Georg Fried- 
rich Brander schrieb zu Augsburg 1767 (2. Aufl. 1775) eine 
Arithmetica binaria. Nicht selten findet man auch Angaben über 
das von Erhard Weigel (Bd. III, S. 39, 40) hochgeschätzte tetra- 
basische System. Das Duodezimalsystem hatte auch seine Anhänger, 
wie zum Beispiel Comte de Buffon, der dasselbe in seinem Essai 
d’Arithmetique morale?) (um 1760 geschrieben) bespricht. 

Die französische Kommission hatte natürlich mit Verände- 
rungen des Zahlensystems nichts zu tun. Selbst die französische 
Revolution vermochte das dezimale Zahlensystems nicht umzu- 
stürzen. Wohl aber mußte die Skale für das neue Maßsystem 
erwogen werden. Öbschon die dezimale Einteilung leicht den Sieg 
davontrug, weil dieselbe dem Numerationssystem zugrunde liegt, 
scheinen die Mitglieder der Kommission darüber nicht ganz in Ein- 
klang gewesen zu sein. Es ist wohlbekannt, daß Lagrange einer 
der eifrigsten Verteidiger der reinen Dezimaleinteilung war. „Er 
wollte“, sagt Delambre*), „das Dezimalsystem in seiner ganzen Rein- 
heit habanı er konnte es Borda nicht verzeihen, daß dieser die Ge- 
fälligkeit gehabt hatte, Viertelmeter machen zu lassen. Er legte auf 
den Einwand, daß die Basis des Dezimalsystems so wenige Theiler 
habe, keinen Werth. Er bedauerte beinahe, daß sie keine Primzahl 
sey, wie 11, weil dann nothwendig alle Brüche einerley Nenner be- 
kommen hätten. Man kann Dieses, wenn man will, für eine Über- 
 treibung halten, die wohl dem besten Kopfe im Eifer des Streits be- 


') Hist. de l’Acad. pour 1788, Hist. p. 1—6. Vgl. G. Bigourdan, Le 
Systeme mötrique des poids et mesures, Paris 1901, p. 17. 2°) G. Bigourdan 
op. eit., p. 17. ») Buffon, Suppl. & l’Hist. nat. 4, Paris 1777, p. 116. 

% „Nachricht von Lagranges Leben und Schriften“ in J. L. Lagranges Math. 
Werke, deutsch herausgegeben von A. L. Crelle, 1. Bd., $. XLIX. 


46 Absehnitt XX. 


# 


gegnet; aber er führte die Zahl 11 nur an, um die Zahl 12 abzu- 
wehren, welche die kühneren Neuerer statt der 10 einführen wollten, 
die überall die Basis des Zahlensystems ist“ Lagranges Vorliebe 
für die Zahl 10 und ihre Potenzen zeigte sich schon in Berlin, als 
er J. C. Schulze mitteilte, „daß es villeicht noch besser gethan seyn 
würde, wenn man, statt die trigonomischen Linien und ihre Logarith- 
men für Grade, Minuten und Secunden zu geben, dieselben in Graden 
und deren tausendste Theile nach Gellibrand Trigonometria Britannica 
an. 1633 berechnet lieferte“.') 

Die Kommission für die Wahl einer Längeneinheit stattete am 
19. März 1791 ihren Bericht ab. Sie entschied nicht für das von 
der Nationalversammlung vorgeschlagene Sekundenpendel als Einheit, 
sondern schlug vor, einem 1790 gemachten Vorschlage des Ingenieur- 
Geographen Bonne folgend’), den zehnmillionsten Teil des Erd- 
quadranten als Urmaß zu wählen. Die Pendellänge wurde verworfen, 
weil sie von zwei ungleichartigen Elementen, der Schwere und der 
Zeit, abhänge. Eine dritte Einheit, der Quadrant des Erdäquators, 
wurde von der Kommission auch besprochen, wurde aber wegen der 
Schwierigkeit der Messung in unwirtlichen Gegenden von Afrika und 
Amerika unpassend gefunden. 

Am 30. März 1791 wurde von der Nationalversammlung der 
zehnmillionste Teil des Erdmeridians als Maßeinheit festgesetzt. 
M&chain und Delambre begannen sogleich die hierzu nötige Grad- 
messung zwischen Dünkirchen und Montjouy (nicht weit von Bar- 
celona).’) Die Arbeit wurde 1792 durch Aufhebung der Akademie 
eingestellt, aber bald wieder durch Ernennung einer neuen Kommission, 
bestehend aus Laplace, Lagrange, Berthollet, Borda, Brisson, 
Coulomb, Delambre, Hauy, Mechain, Monge, Prony und 
Vandermonde, fortgesetzt. Die Urmaße wurden angefertigt und 
1799 dem Archiv der Republik einverleibt?). Das Meter war nun 
gleich 3 Fuß 11,296 par. Linien, oder etwas kürzer als der 1795 vor- 
läufig angenommene Wert von 3 Fuß 11,44 par. Linien. 

Um das neue System auch anderen Völkern annehmbar zu 
machen, wählte man für die Ober- und Unterabteilungen Namen, die 
nicht der französischen, sondern den neutralen griechischen und latei- 
nischen Sprachen angehören. 

Von großem Interesse sind die Elementarvorträge, welche 1795 





ı) Johann Carl Schulzes Neue und Erweiterte Sammlung Logarithmi- 
scher... Tabellen, I. Bd., Berlin 1778, Vorrede. 2) Rosenberger, op. eit. 
S. 94. ®) G. Bigourdan, op. eit. p. 109—155. *%) Rosenberger, op. 
eit. S. 94. - 


Arithmetik. 47 


auf der Ecole normale in Paris von Lagrange und Laplace!) ge- 
halten wurden. Die fünf Vorlesungen von Lagrange behandeln nur 
die Arithmetik und Algebra; Laplace berührt auch die Geometrie. 
Beim Nachlesen dieser Vorträge kann man leicht verstehen, wie die 
jüngeren Zuhörer auf der Ecole normale denselben nicht immer 
folgen konnten, während Männer, wie $, F. Lacroix, der damals 
schon selbst als Lehrer berühmt war, denselben mit Begeisterung zu- 
hörten. Schon in der ersten Vorlesung erklärt Lagrange die Ketten- 
brüche. Nachdem er im zweiten Vortrag die arithmetischen 
Operationen auseinandergesetzt, schreitet er in den übrigen zur 
Lösung der Gleichungen dritten und vierten Grades und der numerj- 
schen Gleichungen, und zur Verwendung der Kurven bei der Lösung 
der Probleme vor. Der Name „arithmetische Proportion“ scheint ihm 
sehr ungeeignet, weil der Begriff der Proportion durch den Sprach- 
gebrauch nur für geometrische Proportionen paßt. Man könnte 
Zahlen wie 3, 5, 7, 9 äquidifferent nennen, ein Ausdruck, den La- 
eroix in seine Arithmetik und Algebra aufnahm. 

Die Ideen von Rousseau, Condillac, Condorcet und La- 
grange fanden Ausdruck in der Arithmötique d’Emile, Paris 
1795 (2. Aufl. 1802) des Schweizers Isaac Emmanuel Louis De- 
veley*) (1764—1839). Er war aus Bretonniöre bei Payerne gebürtig, 
studierte in Genf und war später Professor der Mathematik auf der 
Akademie zu Lausanne. Das obgenannte Werk enthielt sorgfältige 
Erklärungen der Grundprinzipien und das metrische System. Es 
wurde 1799 von der französischen Regierung in die Liste von Rle- 
mentarwerken für den Schulgebrauch gesetzt. In der zweiten Auflage 
verweist es auf Schriften von Lagrange, Condillac und Condor- 
cet. Das Werk enthält keine Aufgaben zur Übung. 

In Italien sind für die Periode 1759—1799 keine nennenswerten 
Fortschritte in der Methode des Rechenunterrichts aufzuzeichnen. In 
kaufmännischen Werken wird nach gegebenen Regeln operiert. Die 
besten Erklärungen der Arithmetik findet man in den Kompendien 
der Mathematik von Odoardo Gherli?) und De la Caille Wie 
früher angegeben, erschienen die Legons el&mentaires de math£- 
matiques von De la Caille 1741 zu Paris. Mehrere Übersetzungen 
dieser Arbeit wurden in Italien veröffentlicht. Im Jahre 1772 wurde 


) Journal de l’&cole polytechnique, tome II, Paris 1812, p. 173—278 
(Lagrange), p. 1—172 (Laplace). °) L. Isely, Histoire des sciences math6- 
matiques dans la Suisse Frangaise, Neuchätel 1901, p. 174. ®) Gli elementi 
teorico-pratici delle matematiche pure del Padre Odoardo Gherli, Domenicano, 
professore di Teologia Dogmatica nell’ Universitä di Modena. Resi pubblici da 
Domenico Pollera, Tomo I, Modena 1770. 


48 Abschnitt XX. 


zu Venedig eine lateinische Ausgabe dieser Lectiones „ad quintam 
editionem Parisinam denuo exactae a C.S. e 8.J.“ (= Carolo 
Scherffer, $. J.) herausgegeben. Ausgaben in italienischer Sprache 
erschienen in Neapel 1761 und 17761), in Venedig 1775 und 1796 
als eine Bearbeitung von Ruggero Giuseppe Boscovich, in Florenz 
1781, 1782, 1787, 1791, 1796 und noch später. Selten hat ein aus- 
ländisches Werk größere Gunst genossen als La Caille in Italien. 

Daß Spanien und Portugal in engerem intellektuellen Verkehr 
“ mit Italien und anderen Ländern als mit Frankreich standen, ersieht 
man aus der Mathematik. Zum Beispiel im Lesen der Zahlen findet 
die französische Definition der billion und trillion keine Gunst. 
Nur gegen Ende des Jahrhunderts findet man Spuren französischen 
Einflusses. Ich habe nur einen spanischen?) und einen portugiesi- 
schen) Schriftsteller vorgefunden, welche im Zahlenlesen die drei- 
zifferigen Perioden wählen. 

Das im 18. Jahrhundert hervorragendste unter den älteren spani- 
schen Rechenbüchern ist die Aritmetica practica y especulative 
von Juan Perez de Moya, einem Mathematiker des 16. Jahrhunderts. 
Die 13. und 14. Auflage dieses Werkes erschienen zu Madrid 1776 
und 1784. Die 13. Auflage ist mit. der zu Salamanca 1562 heraus- 
gegebenen Wort für Wort identisch. Das Werk ist ein Beispiel der 
langen Lebensdauer, welche manche arithmetische Schriften genossen 
haben. 

Unter den neueren Rechenbüchern ist die Arismetica para 
negociantes von Don Benito Bails, Madrid 1790, nennenswert. 
Don Bails wurde 1743 zu Barcelona geboren, war Lehrer der 
Mathematik an der Akademie von San Fernando und Mitglied der 
Akademie der Wissenschaften und Künste zu Barcelona. Sein be- 
deutendstes mathematisches Werk sind die Principios de mate- 
matica, deren zweite Auflage 1788 zu Madrid erschien. Seine 
Werke scheinen in Mexiko Eingang gefunden zu haben, denn 1839 
wurden in der Stadt Mexiko die Principios de arismetica von 
D. Benito Bails gedruckt. Bails war auch als Komponist bekannt. 

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts findet man in Portugal größere 
mathematische Tätigkeit als in Spanien. Im Jahre 1772 wurde an der 
Universität in Coimbra durch die Tätigkeit von Jose Monteiro da 
Roche (1735—1819) und Jose Anastacio da Cunha (1744 bis 
1787 2) neues Leben in den mathematischen Unterricht gebracht‘). 





ei Bullettino Boncompagni, Tomo V, Roma 1872, p. 278—293. 
®, Juan Gerard, Tratado completo de aritmetica, Madrid 1798. 3) Jose 
Anastacio da Cunha, Principios Mathematicos, Lisboa 1790. *, R. Gui- 
maräes, Les mathömatiques en Portugal au XIX® sieele. Coimbre 1900. 


Arithmetik. 49 


Ersterer gab sich mehr mit Astronomie ab, übersetzte aber aus dem 
Französischen mathematische Werke von B&zout und mechanische 
Schriften von Bossut und Marie. Da Cunha lehrte an der Uni- 
versität bis 1778, zu welcher Zeit er wegen Anklagen des Inquisitions- 
tribunals die Universität verlassen und zwei Jahre im Gefängnis zu- 
bringen mußte Er wurde dann Direktor des collegio de Säo 
Lucas und schrieb seine Principios mathematicos, Lisboa 1790, 
deren letzte Druckseiten er am Abend vor seinem Tode korrigierte). 
Demnach wäre er 1790 gestorben. Eine französische Übersetzung 
wurde von seinem Schüler, J. M. D’Abren, zu Bordeaux 1811 heraus- 
gegeben. Dieses Werk von nur 302 Seiten enthält in sehr gedrängter 
Form Arithmetik, Geometrie, Algebra und Infinitesimalrechnung. 
Überall sucht der Verfasser strenge Beweise einzuführen. Seine Er- 
klärungen enthalten öfters neue und frische Ideen. 

Ein Schüler von Da Cunha und Monteiro da Roche, namens 
Jose Maria D’Antas Pereira, veröffentlichte zu Lissabon 1798 ein 
Curso de estudos para uso do commercio, e da Fazenda. 
Das Werk ist eine „arithmetica universal“ im Newtonschen Sinne, 
welches Rechenkunst und Algebra lehrt. Hauptsächlich von franzö- 
sischen Werken beeinflußt, hat Pereira ein ganz verdienstvolles Buch 
verfaßt. Während Da Cunha eine Billion als 10° definierte, nimmt 
Pereira dafür den in Portugal damals gebräuchlichen Wert 10% an. 

In Dänemark und in Norwegen, letzteres damals eine dänische 
Provinz, fand das 1680 in Kopenhagen veröffentlichte Rechenbuch 
von S. Mathissen, Compendium arithmeticum eller Wegviser 
hvor ved mand paa korteste og netteste maade kand ledsages 
til Regnekonstens rette brug, großen Beifall. Während des 
18. Jahrhunderts folgten mehrere Ausgaben davon’). 

Ein verdienstvolleres Werk wurde von Ole Andersen Borreby 
zu Kopenhagen 1765 unter dem Titel Mathesis puerilis eller 
Dansk skole mathematik herausgegeben. Nur der erste Teil 
wurde veröffentlicht, woraus man schließen darf, daß die im Buche 
enthaltenen neuen Ansichten geringen Anklang fanden. Der Autor 
widerspricht den alten mechanischen Lehrmethoden, macht an die 
Denkkraft der Schüler einigen Anspruch und sucht das Prinzip der 
Anschauung zur Anerkennung zu bringen. Sein Buch enthält aber 
keine Aufgabensammlung?). 

Unter den älteren Rechenbüchern, welche in Holland zu dieser 





‘) Edinburgh Review, Vol. 20, 1812, p. 425; auch Fröres-Hoefer, Nouv. 
Biogr. Generale. ?) S. A. Christensen, Matematikens Udvikling i Danmark 
og Norge i det XVIII Aarhundrede, Odense 1895, S. 14—16. ®) Ebenda, 
8. 30, 31. 

CAnrtor, Geschichte der Mathematik IV. 4 


50 Abschnitt XX. 


Zeit weite Verbreitung fanden, war De vernieuwde Cyfferinge 
von Willem Bartjens!) (1584—1645), vermehrt und verbessert 
von Jan van Dam und von „weiteren Mängeln gereinigt“ durch 
Klaas Bosch. Wir haben Ausgaben dieses Büchleins von 1771, 
1779, 1792, 1794 angetroffen. Es werden darin das Übersichdividieren 
und andere alte Operations- und Lehrmethoden angegeben. 

Von neuen Werken verdienen besonders hervorgehoben zu 
werden die Eerste Beginzelen der Reeken-Kunde, Rotterdam 
1769, 1782, 1790, und die Institution du caleul numerique et 
litteral, Haag 1770, von Jean Jacques Blassiere (1736—1791), 
dem zu Haag geborenen Mathematiker und Schüler von Johann 
Frederich Hennert, dem Autor der Elementa matheseos 
purae, Trajecti ad Rhenum 1766—68. 

Es war das Ziel Blassieres, die Theorie und Praktik der 
Arithmetik zu vereinigen. Sein letztgenanntes Werk ist eine Uni- 
versalarithmetik, deren zweiter Teil ganz der Algebra gewidmet ist. 
Die Proportionenlehre wird sorgfältig entwickelt. Der Hauptsatz, 
daß das Produkt des ersten und letzten Gliedes demjenigen der zwei 
mittleren Glieder gleich sei, wird so bewiesen: In A:B=(:D ist 
bewiesen, daß man homologe Glieder mit der gleichen Zahl multipli- 
zieren darf, wodurch man AxB:B=0xB:D, und dann 
AxB:4AxB=0x<B:AxD erhält. Da nun die zwei ersten 
Glieder einander gleich sind, müssen es die zwei letzten auch sein. 
Die Regeldetri und Gesellschaftsregel werden auf die Proportionen- 
lehre gegründet und nach dem Reesschen Mechanismus gelehrt. 
Der Reessche Ansatz hat also im Lande seiner Geburt auch Freunde 
gefunden. | | 

Im Reekenboek vor de Nederlandsche Jeugd, Leyden 1794, 
von Henri Aeneae (1743—1812) wird die „Ketting-Regel“ ausein- 
andergesetzt. Aeneae war ein Friesländer von Geburt, studierte 
auf der Universität Leyden und war 1795 Mitglied der internationalen 
Kommission für die Reform der Maß- und Gewichtssysteme. 

Daß unter holländischen Lehrern bedeutendes Interesse für die 
Mathematik herrschte, ersieht man aus der Tatsache, daß in Holland 
das erste Journal der Elementar-Mathematik veröffentlicht wurde. 
Die Maandelykse mathematische Liefhebbery wurde von 1754 
bis 1765 von Jakob Oostwoud (einem Lehrer zu Oost-Zaandam, 
in der Nähe von Amsterdam) zu Purmerend herausgegeben und von 





) B. Boneompagni, Bullettino, Tomo 14, Roma 1881, p. 533. Man findet 
eine „Bibliographie Neerlandaise Historico-Scientifique“ im Bullettino, Tomo 14, 
p. 523—630; Tomo 15, p. 225—312, 355—440; Tomo 16, p. 393—444, 687— 718. 


Arithmetik. 51 


Louis Schut bis 1769 fortgesetzt. Im ganzen erschienen 17 Bände, 
die hauptsächlich der Algebra gewidmet sind. Mathematische Auf- 
gaben werden gestellt und aufgelöst. Diese Aufgaben wurden später 
in drei Serien herausgegeben'). Es war auch Jakob Oostwoud, 
welcher in den Niederlanden Interesse für die 1690 gegründete Ham- 
burger Mathematische Gesellschaft erweckte. Von 1766-1790 traten 
viele holländische Lehrer dieser Gesellschaft bei. Die Auflösung 
dieser Beziehungen ist hauptsächlich der Gründung der Mathemati- 
schen Gesellschaft in Amsterdam 1778 zuzuschreiben. Den Anstoß 
hierzu gab Arnoldus Bastian Strabbe (1740—1805), ein Lehrer 
und Staatseichmeister in Amsterdam?), welcher seit 1775 Mitglied der 
Hamburger Gesellschaft war. 

Wie schon früher (Bd. II, S. 513) hervorgehoben, hatten wäh- 
rend unserer Zeitperiode die Philanthropen in Deutschland einen großen 
Einfluß auf das Schulwesen. Von den Schriften Rousseaus stark 
beeinflußt, wirkte Basedow in Dessau unermüdlich an der Verbesse- 
rung der deutschen Erziehung. Zu seiner Zeit wird es üblicher, 
Rechenbücher herauszugeben, die nicht allein für den Kaufmann, 
sondern hauptsächlich für die Schulen bestimmt sind und die Schär- 
fung des Verstandes bezwecken. Im Jahre 1763 erschien Basedows 
Überzeugende Methode der auf das bürgerliche Leben an- 
gewandten Arithmetik zum Vergnügen der Nachdenkenden 
und zur Beförderung des guten Unterrichts in den Schulen, 
und 1774 sein Werk Bewiesene Grundsätze der reinen Mathe- 
matik (Leipzig), dessen erster Band der Zahlenkunst und Algebra 
gewidmet ist. 

Um die beweisende Lehrart zu betonen, suchte er den Ketten- 
satz und die Reessche Regel, welche zur einfachen Beweisführung 
für Elementarschulen nicht angelegt waren, durch eine neue Regel 
zu ersetzen. So entstand die „Basedowsche Regel“. Wir benutzen 
diese Gelegenheit, zu bemerken, daß die Reessche Regel (Bd. IIP, 
S. 519, 520) in Deutschland, besonders im südlichen Teil, günstig 
aufgenommen wurde. Joseph Tanzer glaubte, „daß die Reessche 
Rechnung die größte Erfindung der gemeinen Arithmetik sey“?). 
Allgemeinen Beifall genoß aber weder diese Regel, noch der Ketten- 
satz. J. F. Lorenz, Professor an der Schule des Stifts und Klosters 





') Festschr. herausgeg. v. d. Mathem. Gesellschaft in Hamburg, Erster Teil, 


Hamburg 1890, 8. 79, 80. 2) Ebenda, S. 48, 81, 82. Vgl. D. Bierens de 
Haan, Bouwstoffen voor de geschiedenis der Wis- en Naturkundige Weten- 
schappen in de Nederlanden, 1878, 8. 63—81. ®) Joseph Tanzer, Mathe- 


matisches Lehrbuch zum Gebrauche der churfürstlichen Lyceen, Erster Teil, 


München 1780, S. 142. 
4* 


52 Abschnitt XX. 


Berge, drückt sich folgendermaßen darüber aus!): „Die gemeinen 
Rechenmeister pflegen überhaupt auch alle Proportionen, deren Lehre 
gar nicht ihre Sache ist, nach Ähnlichkeit ihres Kettensatzes, mittelst 
einer mechanischen Manier zu behandeln, welche unter dem Namen 
der Reesschen Regel nur gar zu bekannt und gemein ist.“ J, @. 
Prändel?) bemerkt, daß die Reessche Regel „auch wirklich in 
Deutschland eine geraume Zeit bei Geringköpfen viel Aufsehens 
machte“. In Holland wurde sie wenig gebraucht; in Frankreich und 
England haben wir sie nicht angetroffen. 

Die Basedowsche Regel erforderte einiges Nachdenken. Wenn’) 
1200 Mann 2400 Zentner Mehl in 4 Monaten verzehren, wieviel Mann 
kommen mit 4000 Zentner 3 Monate aus? Nach dem Basedow- 
schen Verfahren schreibe man 


1200 Mann 2400 Zentner 4 Monate 
? 4000 A 3 „ 


” 
und entscheide, ob die Glieder der zweiten Zeile zu Multiplikatoren 
oder Divisoren werden. Es folgt das Schema: 


? 1200 
2400 4000 
3 E 


Unger hebt hervor, daß diese Regel den Übergang zu dem im 
19. Jahrhundert beliebten Bruchsatz bildet. 

Um die beweisende Rechenkunst zu fördern, gibt Johann 
Tessanek in einer Betrachtung über die arithmetische Regel 
zweyer falschen Sätze?) algebraische Beweise für diese allgemein 
ohne Demonstration angeführte Regel, und hebt hervor, daß die 
Methode auf Aufgaben höherer Grade unanwendbar sei. 

Dem Mißbrauch, die Erfindung des größten gemeinschaftlichen 
Maßes zweier ganzen Zahlen in Lehrbüchern ohne allen Beweis an- 
zuführen, hat Karsten durch einen kurzen und bündigen Beweis 
abzuhelfen gesucht’), während J. Pasquich einen zweiten Beweis 
lieferte ®). 

Die Philanthropen Christian Trapp (1745—1818) und Gott- 
lieb Busse (1756—1835) betonten die Anschauung im Rechenunter- 





ı) Johann Friedrich Lorenz, Grundriß d. rein. u. angew. Mathematik, 
Erster Teil, Helmstädt 1798, S. 111. ?) Johann Georg Prändels Arith- 
metik nebst einer kleinen Globuslehre, München 1795, 8. 236. %) F. Unger, 
Die Methodik der Praktischen Arithmetik in historischer Entwickelung, Leipzig 
1888, 8. 171. *) Abhandlungen einer Privatgesellschaft in Böhmen, 1. Bd., 
Prag 1775, 8. 125—140. ®) Lehrb. d. ges. Math., 1. Teil. 6) Leipziger 
Magazin f. reine u. angew. Math., 1. Stück, 1787, 8. 97—103. 


Arithmetik. 53 


richt so nachdrücklich, daß man sie als Vorläufer der Pestalozzi- 
schen Periode ansehen darf. Trapp sagt in seinem Versuch einer 
Pädagogik!), 1780: „Addieren und Subtrahieren kann man schon 
kleine Kinder an Nüssen usw. lehren, ohne daß sie Zahlen kennen; 
bis auf einen gewissen Grad auch Multiplizieren und Dividieren“. In 
Busses Gemeinverständliches Rechenbuch für Schulen, 1786, 
und seiner Anleitung zum Gebrauche meines Rechenbuchs, 
1786, werden qualitätslose Anschauungsmittel (Punkte, Striche) den 
sinnenreizenden Gegenständen (Nüsse, Äpfel) vorgezogen. Künsteleien 
und das Streben nach einer Universalregel, wie die Reessche, hält 
er für unerlaubt. Unger?) nennt Busse den geschicktesten Rechen- 
methodiker des 18. Jahrhunderts. Von weitreichendem Einfluß auf 
die Reform des Dorfschulwesens war Eberhard Freiherr von 
Rochow (1734—1805), der in seiner berühmten Schule in Rekahn 
die Zahlenkunst als eine Verstandesübung lehrte, sowie Peter 
‘ Villaume (1746 — 1806), der nicht nur die Anschauung betonte, 
sondern auch die Beschränkung des Lehrstoffes und die Einführung 
des Kopfrechnens forderte?). Das Kopfreehnen wurde unter anderen 
auch von Friedrich Köhler in seiner Anweisung zum Kopf- 
rechnen, 1797, empfohlen. 

Von der alten Darstellungsweise verschieden waren auch die 
Versuche in Socratischen Gesprächen über die wichtigsten 
Gegenstände der Arithmetik von Johann Andreas Christian 
Michelsen, Berlin, Erster Band 1784, Zweyter Band 1785, 
Dritter Band 1786. Michelsen (1749-1797) war Professor der Mathe- 
matik und Physik am Vereinigten Berlinischen und Kölnischen Gym- 
nasium, hatte großen Erfolg als Lehrer und beförderte die Wissenschaft 
durch die Übersetzung einiger Eulerschen Werke. Seine Socratischen 
Gespräche sind weitläufig, zeigen aber einen großen Fortschritt gegen- 
über von bloßen Regelsammlungen, die in unserer Periode noch viel- 
fachen Absatz fanden. Michelsen führt hier und dort algebraische Sym- 
bole und algebraische Auseinandersetzungen ein. Diesen Versuch, 
für ältere Schüler die Arithmetik und Algebra miteinander zu ver- 
schmelzen, findet man in mehreren deutschen Anleitungen zur Mathe- 
matik, und derselbe darf gewiß als ein Fortschritt in der Methodik 
bezeichnet werden. Die Lehre von den Verhältnissen und der Regel- 
detri in der gemeinen praktischen Arithmetik hält er „nicht nur 
für überflüssig, sondern auch für zweckwidrig“, weil man durch die 


') Wir zitieren nach E. Jänicke und G. Schurig Geschichte des Unter- 
richts in den math. Lehrfächern in der Volksschule, Gotha 1888, S. 44. 
?) Unger, op. eit. $. 166, 167. °) E. Jänicke und G. Schurig, op. eit. S. 51 


54 Abschnitt XX. 


welsche Praktik ohne sie fertig werden kann, und weil sie nur durch 
Umwege zum Ziele führt. Während Michelsen die Verhältnislehre 
für den Elementarunterricht abschaffen möchte, sucht Johann Georg 
Büsch in seinem Versuch einer Mathematik zum Nuzzen und 
Vergnügen des bürgerlichen Lebens, Hamburg 1773 (dritte 
Auflage 1790, vierte 1798) neue Definitionen einzuführen. „Die Art, 
wie Zahlen und Größen auseinander entstehen, ist ihr Verhältnis.“ 
Es gibt zwei Arten. „Die erste Art, wenn aus einer Zahl durch 
Hinzusetzung oder Wegnehmung einer andern Zahl eine neue Zahl 
entsteht, ist das Arithmetische Verhältnis“, „Die zweite Art, wenn 
eine Zahl durch wiederholte Zusammensetzung einer andern oder 
eines Teils derselben entsteht, ist das Geometrische Verhältnis.“ Aus 
der Lehre von den Verhältnissen könne man die Bruchrechnung licht- 
voll erläutern. Seine früheste Schrift darüber, so erzählt er im Jahre 
1798, sei eine Probeschrift des Jahres 1756, er kenne aber kein 
Rechenbuch, in welchem seine Verhältnislehre ganz angenommen und 
daraus die Bruchrechnung und die Regeldetri hergeleitet wären‘). 
Büsch (1728—1800) wurde 1756 Lehrer der Mathematik am Ham- 
burger Gymnasium und bekleidete diese Stelle 44 Jahre lang bis zu 
seinem Tode. Er errichtete eine Handelsakademie in Hamburg und 
zeichnete sich durch gemeinnütziges Wirken und unermüdliche schrift- 
stellerische Tätigkeit aus. Unter den begeisterten Jünglingen, deren 
Studien er in die rechten Bahnen zu lenken wußte, war der Astronom 
J. E. Bode. 

Wir werden die Entwicklung methodischer Ideen für den Rechen- 
unterricht in Deutschland nicht weiter verfolgen, bemerken .aber, 
daß gegen Ende des Jahrhunderts in dieser Hinsicht hier größere 
Tätigkeit herrschte als in anderen Ländern’). 

Büsch wurde im Jahre 1790, bei Gelegenheit der 100 jährigen 
Jubelfeier der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg (Bd. II, S. 799), 
zum Ehrenmitglied dieser Gesellschaft ernannt). Seit 1751 war 
Johann Reimer (1731—1803) Mitglied der obigen Gesellschaft, 
dessen schriftstellerische Tätigkeit wir kurz erwähnen. Bis 1783 er- 
hielt jeder Eintretende einen Beinamen, und Reimer hieß „der Re- 
creirende“. In den Jahren 1767--1769 gab Reimer eine Wochen- 
schrift Der gemeinnützige mathematische Liebhaber heraus. 





ı) Büsch, Mathematik zum Nutzen usw., 4. Aufl., 1798, S. 29, 30. 
?) Weitere Auskunft über den Rechenunterricht in Deutschland findet man in 
den oben angeführten Werken von Unger und Jänicke und Schurig, sowie 
in M. Sterner, Geschichte der Rechenkunst, München und Leipzig 1891. 
®) Festschr. herausg. v. d. Math. Gesellsch. in Hamburg a. i. 200 jährigen Jubel- 
festes 1890, Leipzig 1890, 8. 50. 


Arithmetik. 55 


Diese hing mit der Gesellschaft nicht weiter zusammen, als daß der 
Herausgeber ihr angehörte und daß andere Mitglieder sich anfangs 
für die Schrift interessierten. Reimer begründet das Aufhören der 
Wochenschrift im Jahre 1769 mit dem mangelnden Interesse vieler 
Mitglieder. Diese Wochenschrift ist unseres Wissens die zweite ele- 
mentar-mathematische Zeitschrift in der Welt. Nur Oostwouds 
Monatsschrift war früher erschienen. 

Die Wochenschrift war teils in deutscher, teils in holländischer 
Sprache abgefaßt und enthielt Aufgaben und deren Auflösungen. 
Diese waren durchweg sehr elementar, und meistens der Algebra, aber 
auch der rechnenden Geometrie sowie der Astronomie entnommen. 
Äußerst wenige waren originell. Die meisten sind aus Paul Halckes 
Sinnenconfect (Bd. III, S. 412) abgeschrieben. Anderes ist ähn- 
lichen Werken entliehen. 

Die Hamburger Gesellschaft hatte mehr auswärtige Mitglieder 
als einheimische. Im Jahre 1760 gab es neben 5 einheimischen 20 
auswärtige Mitglieder. Im Jahre 1790 war die Zahl der auswärtigen 
auf 32 gewachsen, welche von Regensburg bis Stockholm und von 
Prag bis Amsterdam zerstreut waren. Von diesen waren 23 Holländer. 
Nach 1790 nahm letztere Zahl schnell ab, was einerseits den da- 
maligen Kriegsunruhen und andererseits der 1778 erfolgten Gründung 
der Mathematischen Gesellschaft in Amsterdam zuzuschrei- 
ben ist!). 

Die Arithmetik des Leontius Philippovisth Magnitzky 
(1669—1739) war beinahe das einzige Rechenbuch, welches während 
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in russischen Schulen ge- 
braucht wurde?). Es erschien 1703 und enthielt auch einiges über 
Algebra und Geometrie. Während der Blütezeit des Regelrechnens 
geschrieben, machte es keine Ansprüche an die Denkkraft der Schüler. 
In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde es allmählich von 
anderen Werken verdrängt. In der ersten Hälfte war das Gymnasium 
der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg der einzige Ort, 
wo neue Ideen über den Rechenunterricht aufblühten. Dort wurde 
1740 die Adodouroffsche Übersetzung des ersten Teiles von Leon- 
hard Eulers Einleitung zur Rechen-Kunst, zum Gebrauch 
des Gymnasii bey der Kayserlichen Academie der Wissen- 
schaften in Saint-Petersburg (erster Teil 1738; zweiter Teil 





') Festschr., 8. 47,48. °) V. V. Bobynin, „L’Enseignement mathematique 
en Russie‘* in L’Enseignement Mathömatique (C. A. Laisant et H. Fehr, Direc- 
teurs), 1®re annde, 1889, p. 81. Unsere Angaben über die Rechenkunst und Al- 
gebra in Rußland sind dieser Arbeit und der Russkaia Fiziko-Matematiches- 
kaia Bibliografiia, sostavil V. V. Bobynin 1886—1900 entnommen. 


56 | Abschnitt XX. 


1740) herausgegeben und im Gymnasium studiert. Der zweite Teil 
dieses Werkes, von Vasilii Kouznetzoff übersetzt, erschien 1760. 
Es war Eulers Absicht, allesrecht deutlich zu erklären und zu beweisen. 
Obschon der mathematische Unterricht auf dem St. Petersburger 
Gymnasium unter der Lehrtätigkeit von Georg Wolfgang Krafft 
(1701—1754) und Vasilii Evdokimovich Adodouroff (1709 bis 
1778) eine durchgreifende Erneuerung erfuhr, erwirkte derselbe doch 
nur geringen Einfluß auf andere Schulen Rußlands. 

Ein anderes Werk, welches die alten dogmatischen Methoden 
durch eine beweisende Lehrart zu ersetzen suchte, war die 1752 er- 
schienene Algebra von dem Ingenieur Kapitän-Lieutenant Nicolas 
Mouravief (1721—1770). Es war das erste Werk in russischer 
Sprache ganz diesem Fache gewidmet. Dann erschien ein Buch, 
welches der alle Beweise vermeidenden Darstellung folgte und viel 
größeren Beifall als das Mouraviefsche Werk genoß. Dies war die 
Universelle Arithmetik von Nicolas Kourganof (1725—1796), 
Professor der Mathematik und Navigation am Korps der adeligen 
Marinekadetten. In dieser Schule verdrängte dieses Werk die alte 
Arithmetik von Magnitzky. 

Während der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden haupt- 
sächlich deutsche mathematische Werke gelesen. Dimitri Sergie- 
viteh Anitchkof (1740—1788), ein Lizentiat der 1755 gegrün- 
deten Universität von Moskau, wurde 1762 als Lehrer an der 
Universität und den dazu gehörigen Gymnasien angestellt. Er gab 
1765 eine Übersetzung aus der lateinischen in die russische Sprache 
der verschiedenen Teile von Weidlers Institutiones Matheseos.., 
editio quinta, Vitembergae 1759, heraus. Uns interessieren hier 
nur zwei Teile, die Theoretische und Praktische Arithmetik, 
deren zweite und dritte Auflage 1787 und 1795 erschienen, und die 
Algebra, welche 1778 in zweiter Auflage herausgegeben wurde. 
Diese Werke, sowie diejenigen, welche von Anitchkof selbst nach 
dem Vorbilde der Weidlerschen und Wolffschen Werke geschrieben 
wurden‘), brachten in russischen Elementarwerken der Mathematik 
die demonstrative Methode in den Vordergrund. 

In Großbritannien ist die Methodenentwieklung für den Rechenunter- 
richt langsamer fortgeschritten als in Deutschland. Das Anschauungs- 
prinzip kam gar nicht in Betracht, wohl aber wurde die Beweisführung 
in den neueren Büchern dem bloßen Regelrechnen vorgezogen. Englische 
Rechenbücher unterscheiden sich von denen des Festlandes hauptsäch- 





‘) Theoretische und Praktische Arithmetik (Auflagen: 1764, 1775, 1786, 
1793); Elemente der Algebra, oder litterale Arithmetik (1787). 


Arithmetik. 57 


lich darin, daß erstere den Dezimalbrüchen und der Sammlung von 
Übungsaufgaben viel größere Aufmerksamkeit schenken. Englische 
Bücher operieren mit größeren Zahlen. Ein Verfasser gibt z. B. eine 
Aufgabe, welche die Berechnung von 2! erfordert, und diese wird 
mit 44 Ziffern durchgeführt). 

Zu dieser Zeit fanden Auflagen von den älteren Werken von 
Edward Cocker, Thomas Dilworth, John Hill und Edmund 
Wingate noch immer Absatz. Unter den verschiedenen Auflagen 
von Cockers Arithmetik?) erschienen zwischen 1725 und 1767 
mehrere von Mrs. Slack unter dem Namen „George Fisher“ heraus- 
gegeben®). Mrs. Slack hat unter dem Pseudonym „George Fisher“ 
auch eine eigene Arithmetik geschrieben. Sie ist unseres Wissens 
‚die erste Frau, welche arithmetische Bücher zu verfassen unternahm. 

1760 gab James Dodson eine Ausgabe der ungefähr 1629 
zuerst erschienenen Arithmetik von Wingate heraus. De Morgan 
erklärt, daß Wingate, nach den in verschiedenen Auflagen vorge- 
nommenen Abänderungen, sein Werk nicht wieder erkannt haben 
könntet). Dodson war Lehrer der Mathematik zu Christ’s Hospital, 
ein Freund De Moivres und ein Mitglied der Royal Society. Er ist 
ein Urgroßvater August De Morgans?). 

De Morgan zählt dreißig Rechenbücher auf, welche in Groß- 
britannien während der Periode 1759—1799 geschrieben wurden). 
Hervorragend unter diesen war A complete treatise on Praetical 
Arithmetic and Book-Keeping von Charles Hutton. Die 
5. Auflage soll 1778 gedruckt worden sein; die 8. erschien in London 
1788. In diesem kurzen Werke wird der Dezimalpunkt gegen den 
oberen Teil der Ziffer gesetzt, wie in 1'3, damit er nicht mit Satz- 
zeichen verwechselt werden könne. Hutton bemerkt, daß er den 


‘) John Hill, Arithmetic, 1772, p. 144. ?) Die erste Auflage erschien 
1678, „perused and published by John Hawkins“. Wenigstens 112 Auflagen 
sollen herausgegeben worden sein [V. Dietionary of National Biography]. Cockers 
Werk hatte vor dem 1661 erschienenen Rechenbuch des James Hodder den 
Vorzug, daß es Untersichdividieren, statt Übersichdividieren lehrte. 
Beide Bücher gaben Regeln ohne Beweise. Beide genossen weite Verbreitung. 
Näheres über Cocker findet man in De Morgans Arithmetical Books, S. 56 
bis 62. Wohl zu verwerfen ist De Morgans Ansicht, daß Cockers Arithmetic 
nicht von Cocker, sondern von John Hawkins geschrieben wurde, daß Haw- 
kins, um größeren Absatz zu erlangen, sich den Namen Cockers beilegte. 
°) G. Valentin, „Die Frauen in den exakten Wissenschaften“, Bibliotheca 
Mathematica, N. F., 1895, 8. 75. #) A. De Morgan, op. eit. p. 73. 
°) Memoir of Augustus De Morgan by his wife, Sophia Elizabeth De 
Morgan, London 1882, p. 233, 234. 6%) De Morgan, op. eit. p. 73—82. 


58 Abschnitt XX. 


Wink für diese Schreibweise aus Tabellen von Newtons Optics er- 
halten habe. | 

Ein anderes Werk war The Scholar’s Guide to Arithmetic, 
London 1780 (6. Auflage 1795), von John Bonnycastle (1750 [?] 
bis 1821). Man findet darin Beweise für die Regeln, welche in 
einigen Fällen in algebraischer Sprache dargestellt sind, aber immer 
in kleinerem Druck in der Form von Anmerkungen, so daß sie ganz 
bequem übergangen werden konnten. 1851 erschien die 18. Auflage 
dieses Werkes. Bonnycastle war ein Autodidakt, stand einer Aka- 
demie in London vor und wurde ungefähr 1782 Professor der Mathe- 
matik an der königlichen Militärakademie bei Woolwich. 

In Schottland stand die Arithmetie, Rational and Practical 
von John Mair in großer Gunst. Die erste Auflage soll 1766 er- 
schienen sein!), die fünfte wurde 1794 in Edinburgh herausgegeben. 
Dies ist ein weitläufiges, vollständiges Werk, verständlich geschrieben, 
obschon das Versprechen alles gründlich zu beweisen, nicht überall 
durchgeführt ist. Mair war Lehrer in Ayr, später Rektor an der 
Perth Akademie und Verfasser von Schulbüchern über verschiedene 
Fächer. | 

In Irland erschien 1759 die Praetical Arithmetic von einem 
Quäker John Gough (1721—1791), Schriftsteller und Lehrer in 
Cork und Dublin. Das Rechenbuch enthält Fragen und Antworten, 
einige davon in Versen: „Q. What is subtraction? A. Subtraction 
from a greater takes a less, and thereby shews the difference or 
excess“. Nach De Morgan?) soll die zweite Auflage große Erwei- 
terungen erfahren haben, während die späteren für Schulzwecke wieder 
reduziert wurden. Der Name des Schriftstellers wurde in Irland ein 
Synonym der Arithmetik, und als gegen Mitte des 19. Jahrhunderts 
Thomsons Werk Eingang fand, erhielt es den Namen „Thomson’s 
Gough“?). 

Eines der brauchbarsten Bücher damaliger Zeit war The Tutor’s 
Assistant von Francis Walkingame, dessen 28. Ausgabe in Lon- 
don 1798 gedruckt wurde. Eine Ausgabe davon erschien‘) in Lon- 
don 1844. 

Englische Rechenbücher legen großes Gewicht nicht nur auf 
Dezimal-, sondern auch auf Duodezimalbrüche. Ein Werk, The 
Measurer’s Best Companion; or Duodeeimals brought to Per- 
fection, von Thomas Sutton, 1785 in Great-Yarmouth gedruckt, 
erklärt diesen Gegenstand mit großer Vollständigkeit. Es wird erzählt, daß 


!) Allibones Dictionary of Authors. ?) Ebenda, $. 79, 80. *) Ebenda, 
S. 80. *, Ebenda, 8. 80. 


Arithmetik. 59 


ein Lehrer am Pembroke College auf der Universität Cambridge einem 
Studenten einmal folgenden Rat gab: „Vernachlässigen Sie keineswegs 
die Duodezimalen. Ich wurde Senior Wrangler 1767 durch meine 
Kenntnis der Duodezimalen.“!) 

Das Rechnen mit periodischen Dezimalbrüchen, welche schon in 
älteren englischen Büchern eine hervorragende Stelle erhielten, wurde 
theoretisch 1768 von John Robertson (1712—1776), damals Biblio- 
thekar der Royal Society, früher Lehrer der Mathematik in Ports- 
mouth, in einem Artikel erklärt?). Die Werte periodischer Dezimal- 
brüche werden durch Summation geometrischer Progressionen gefunden. 
In einem anderen Aufsatz erläutert er zwanzig Fälle in der Zinses- 
zinsrechnung, worin jede der fünf Größen (Annuität, Zeit, Prozent, 
Betrag, Kapital) auf vier verschiedenen Wegen aus den übrigen her- 
geleitet wird?). Diese Schrift führt er als die Vervollständigung 
einer Arbeit des William Jones vor. Eine andere*) über die Kon- 
struktion der Logarithmen durch Reihenentwicklung schreibt er ganz 
diesem William Jones zu. 

Eine mathematische Gesellschaft existierte zu S>pitalfields in 
London von 1717 bis 1845. Sie war also jünger als die Hamburger 
und älter als die Amsterdamer Gesellschaft. Sie war von Joseph 
Middleton, einem Verfasser mathematischer Bücher, gegründet und 
hatte Dolland, Simpson, Saunderson, Crossley, Parvissen und 
Gompertz als Mitglieder. Anfangs waren die Mitglieder Arbeiter, 
viele davon Seidenweber. Es wurde von jedem erwartet, daß er seine 
Pfeife, seinen Krug und sein Problem mitbringe?). 

Während des 18. Jahrhunderts gab es in England keine Journale, 
welche sich ganz der Mathematik widmeten, wohl aber mehrere, 
welche Abteilungen für Elementarmathematik enthielten. Die be- 
rühmtesten unter diesen waren The Ladies’ Diary, gegründet 1704, 
und The Gentleman’s Diary, welche 1840 vereinigt wurden. 
Thomas Simpson war Herausgeber der Ladies’ Diary von 1754 bis 
1760, und er rühmte von dieser Jahresschrift, sie hätte mehr zum 
Studium und Fortschritt der Mathematik beigetragen als die Hälfte 
der Bücher speziell für diesen Zweck geschrieben°). 





1) C. Wordsworth, Scholae Academicae, 1877, p. 73. ®) Philosophical 
Transactions (London), Vol. 58, for the year 1768, p. 207—213. 3) Ebenda, 
Vol. 60, for the year 1770, p. 508—517. *, Ebenda, Vol. 61, for the year 
1771, p. 455—461. 5) A. De Morgan, Budget of Paradoxes, p. 80, 232, 451; 
S. E. Morgan, op. eit. p. 123; P. A. Mac Mahon, Address before Section A, 
British Asia, Report 71, 1901. 6) Andere periodische Schriften, welche sich 
teilweise der Elementarmathematik widmeten, waren The Palladium, 1749—1777 
von Robert Heath als ein Rival der Ladies’ Diary veröffentlicht; Miscellanea 


60 Abschnitt XX. 


In den Kolonien von Nordamerika wurden im 18. Jahrhundert 
hauptsächlich Rechenbücher von Großbritannien importiert‘). Die 
erste amerikanische Auflage eines großbritannischen Werkes, welches 
ganz dem Rechnen gewidmet ist, war die Arithmetick: or, That 
necessary Art made most easie von James Hodder?), Boston 
1719. 1779 erschien in Philadelphia ein Neudruck des populärsten 
englischen Werkes des 17. Jahrhunderts, nämlich Edward Öockers 
Arithmetick. Weitere Verbreitung als diese zwei hatte Thomas 
Dilworths Schoolmaster’s Assistant, wovon wenigstens acht 
amerikanische Auflagen gedruckt wurden?). Es wurden hier auch 
die Rechenbücher von Daniel Fenning, John Gough und „George 
Fisher“ gedruckt. | 

Das erste Werk aus der Feder eines amerikanischen Schrift- 
stellers ist die Arithmetick, Vulgar and Decimal, Boston 1729, 
Das Buch ist anonym, wird aber Isaac Greenwood (1702—1745) 
zugeschrieben*). Ungleich den obengenannten ausländischen Werken 
setzt es die Kenntnis der Grundoperationen voraus und macht einigen 
Anspruch an die Denkkraft der Schüler. Vielleicht aus diesen 
Gründen fand es sehr geringe Verbreitung. Isaac Greenwood war 
Professor der Mathematik und Naturphilosophie an der Universität 
Harvard von 1727 bis 1738. 


Scientifica Curiosa, Vol. I, 1766, mit Charles Hutton als Mitarbeiter; The 
Scientific Receptacle, von Thomas Whiting 1791 in London gegründet; The 
Stockton Bee: or Monthly Miscellany, 1793; The Gentleman’s Mathematical 
Companion, von 1798 bis 1804 jährlich in London gedruckt. Diese Schriften 
standen mir zu Washington in der Bibliothek des Herrn Dr. Artemas Martin 
zur Verfügung. Es gab mehrere andere Journale gleicher Art, z. B. The Mathe- 
matical Magazine and Philosophical Repository von G. Mitchell, T. Moss und 
anderen, 1761; Huttons Mathematical Miscellany, The London Magazine, The 
British Oracle. (Vgl. T.T. Wilkinson, Memoir of the Rev. John Lawson, 
Manchester 1854; Bolton, Catalogue of Scientific and Technical Periodicals, 
1665—1895, Washington 1897.) 

!) Holländische Einwanderer des 17. Jahrhunderts brachten die Coffer- 
Konst von Pieter Venema (+ 1612) mit. Dies Buch war so hoch geschätzt, 
daß 1730 in New York eine englische Übersetzung davon gedruckt wurde 
(F. Cajori, The Teaching and History of Mathematies in the U. $., Bureau of 
Education Washington 1890, p. 13). ®) Die erste Auflage erschien in London 
1661 (August de Morgan, op. eit. p. 46). ®) Philadelphia 1769, Hartford 
1786, New York 1793 und 1806, New London 1797, Philadelphia 1805, Brooklyn 
1807, Albany 1824. *, Eine ausführlichere Beschreibung des Werkes findet 
man in „Notes on the History of American Text-books on Arithmetic“ by 
JamesM.Greenwood and Artemas Martin in The Report ofthe Commissioner 
of Education for 1897—1898, Washington, D.C., p. 802—805; Cajori, op- 
eit. p. 14. 


Arithmetik. 61 


Erst über fünfzig Jahre später begegnen wir einem zweiten 
amerikanischen Autor, dem Nicolas Pike, dessen New and Com- 
plete System of Arithmetie 17838 in Newburyport gedruckt 
wurde Nicolas Pike (1743—1819) absolvierte die Universität 
Harvard und war während vieler Jahre Lehrer in Newburyport. 
Seine Arithmetik enthielt auch ganz kurze Kapitel über Logarithmen, 
Trigonometrie, Kegelschnitte und Algebra. 

In der Beweismethode des arithmetischen und algebraischen 
Teils galt ihm Bonnycastle als Vorbild. Alle Beweise erscheinen 
als Anmerkungen in kleinerem Druck. Während dreißig Jahren wurde 
das Werk viel gelesen; anfangs diente es als Text für den mathema- 
tischen Kursus auf den Kollegien. Es wurde von Professoren mehrerer 
amerikanischen Kollegien empfohlen und Georg Washington sandte 
dem Autor einen Brief, worin er seine Anerkennung ausdrückte. 

Als nach dem Revolutionskrieg die Vereinigten Staaten 1789 zu 
der Verfassung gelangten, die sie noch heutzutage haben, und die 
Früchte der erstrittenen Freiheit zu genießen anfingen, erhielt das 
Schulwesen auch neuen Aufschwung. In dem Zeitraum 1739—1799 
erschienen über ein Dutzend neuer Rechenbücher!), von denen The 
Schoolmaster’s Assistant von Daboll, New London 1799, das 
hervorragendste war. Es legt auf Dezimalbrüche viel größeres Ge- 
wicht als damals üblich war. Nathan Daboll (ungefähr 1750 bis 
1818) war Lehrer in Connecticut. 

1792 wurde ein neues Münzsystem eingeführt. Seit dem ersten 
Gepräge 1794 verdrängten dollars und cents allmählich die eng- 
lischen pounds und shillings. Die Rechenbücher schlossen sich 
der neuen Ordnung an. Durch diese Münzveränderung wurden 
die ausländischen Schriftsteller Dilworth und Cocker aus amerika- 
nischen Schulen allmählich verdrängt. Zu erwähnen ist noch, daß 
The American Accomptant von Chauncy Lee, welches 1797 in 
Lansingburgh erschien, das früheste Rechenbuch ist, worin das Dollar- 
zeichen $ sich. vorfindet?). Nicolas Pike gab 1788 für mills, 
cents, dimes, dollars folgende Abkürzungen: m, c,d, D. Lee schreibt, 
ohne weitere Erklärungen, für mill /, cent //, dime 4%, dollar 4. 
In Handschriften von Robert Morris, dem Finanzier der Revolution, 
findet man das Dollarzeichen $ schon 1793. Gründliche Studien 
über den Ursprung des Zeichens sind nicht vorgenommen worden; 
man hat aber wenigstens sieben verschiedene Hypothesen darüber?). 





') Vide Greenwood and Martin, op. eit. p. 809—814; Cajori, op. eit. 
p. 46, 47. ?) Greenwood and Martin, op. eit. p. 812. 5) Vgl. Mal- 
colm Townsend, U.S.; an Index to the United States of America, Boston 
1890, 8. 420. 


62 Abschnitt XX. 


In dem Lesen der Zahlen und in der Ausführung der vier Rech- 
nungsarten mit ganzen Zahlen sind während der zweiten Hälfte des 
18. Jahrhunderts keine neuen Methoden erschienen, wohl aber ist ein 
Fortschritt zu größerer Übereinstimmung über den relativen Wert 
der verschiedenen Methoden und ein allmähliches Verwerfen der kom- 
plizierteren derselben wahrnehmbar. Die Wörter Billion, Trillion usw. 
werden in allen europäischen Ländern, außer Frankreich, sowie 
auch in den Staaten von Nordamerika, als 10%, 10% usw. definiert. 
Den Gebrauch dieser Wörter im Sinne von 10°, 10'? usw. findet man 
schon in der Arithmetique von G. Trenchant, Lyon 1566; 
der Gebrauch wurde in Frankreich im 17. Jahrhundert allgemein'). 
Daß hier und dort ein Rechenbuch zu finden ist, welches die Wörter 
Billion, Trillion, ja sogar das Wort Million noch gar nicht gebraucht, 
ist nicht auffallend?). Das Alte läßt sich nicht so leicht verdrängen. 

S. F. Laeroix?) bemerkt, daß man im Handel statt billion das 
Wort milliard brauche. F. Legendre schreibt milliars. Wir 
haben milliard in praktischen französischen Rechenbüchern allgemein 
gefunden; Barr&me und Pierre Senebier*)schreiben auch milliasses 
für trillions. In der Arithmetique raisonn@ee et demontre&e, 
welche Leonhard Euler zugeschrieben wird’), heißt 10° milliard, 





!) Encycelopedie des sciences math&matiques, Ed. Frangaise, Tome I, 1904, 


u, 47. 2) Das Wort Million ist z. B. in De Vernieuwde/Cyfferinge van 
Mr. Willem Bartjens, Herstelt, vermeerdert ende verbetert Door Mr. Jan 
van Dam,... Amsterdam 1771, nicht zu finden. Dort ist 1000000 — Dupzend- 


maal-Dunzend. Ähnliches findet man in J. C. Huths Die kürzeste, bequemste 
und leichteste Art zu Rechnen, Halberstadt 1774 (wie wir aus der Geschichte 
des Unterrichts in den mathematischen Lehrfächern in der Volksschule, bear- 
beitet von E. Jänicke und G. Schurig, Gotha 1888, 8.17, entnehmen). In 
dem Abbaco ovvero Pratica Generale Dell’ Aritmetica...esposto da Girolamo- 
Pietro Cortinovis, maestro d’Aritmetica Pratica. Quarta Edizione. Venezia 
1759, wird das Wort Billion nicht gebraucht, und 97600000000000 —=nove- 
cento, e settantasei milioni, di milioni. 3) Traite el&mentaire d’arith- 
metique, Paris 1807, p. 5. *), Senebier, Trait& d’arithmetique, Lausanne 
1178, PT. 5) L’arithmetique raisonnde et d@montree, oeuvres posthumes de. 
Leonard Euler, traduite en francois par Daniel Bernoulli, directeur de 
l’Observatoire de Berlin ete. Corrigee et considerablement augmentee par M. De 
la Grange, Berlin, chez Voss & fils et Decker & fils, 1792. Man glaubte zu- 
nächst in diesem Werke eine französische Übersetzung von Eulers 1738—40 
erschienenen, jetzt sehr seltenen Einleitung zur Rechenkunst zu sehen, aber P. H. 
Fuß und G. Valentin sind der Ansicht, daß hier ein literarischer Betrug vor- 
liegt, und daß Euler, Daniel Bernoulli und Lagrange kein Wort von 
diesem Werke geschrieben haben. Fuß führt im Bull. Ac. Petrop. Classe math. 
9, 1851, S. 340-341 die ersten Sätze des Werkes von 1738 und desjenigen von 
1792 an und findet keine Ähnlichkeit zwischen beiden. Auch hebt er hervor, 
daß Daniel Bernoulli nie directeur de l’observatoire de Berlin war und nicht 


Arithmetik. 63 


10"? billiard, 10% trilliard. Hätte sich diese Sprachweise erhalten, 
wäre man heutzutage von Verwirrung frei; es würden 10°, 1012, 10% 
milliard, billiard, trilliard, und 102, 10, 10% billion, trillion, qua- 
drillion heißen. 

Es ist bemerkenswert, daß das seit Anfang des 16. Jahrhunderts 
in Spanien von Ciruelo und Ortega gebrauchte Wort euento für 
10° (siehe Bd. IP, S. 386, 387) sich erhalten hat und von 
Perez de Moya und Bails in ihren von uns früher angeführten 
Werken dem Worte millone vorgezogen wird. Für 1012 schreibt 
Bails bieuentos und Perez de Moya euento de cuento. 

Die Ausführungen der Addition und Multiplikation waren mit 
den jetzigen Methoden identisch. Im Multiplizieren fing man allge- 
mein mit der niedrigsten Ziffer des Multiplikators an. Einige Autoren 
aber machen darauf aufmerksam, daß vorteilhaft mit der höchsten 
Ziffer des Multiplikators angefangen werden kann 1). Es werden drei 
Arten des Subtrahierens gelehrt. Wenn eine Ziffer im Subtrahend 





der Übersetzer von Eulers Algebra ist. In der Vorrede des Werkes von 1792 
heißt es nämlich: „le fameux Bernoulli, traducteur de l’Algebre de ce savant 
[Euler], a cru rendre service au public, en traduissant un Ouvrage.. .“* 
Valentin hebt in der Bibliotheca Mathematica N. F. 12, 1898, S. 49 hervor, 
daß in Qu&rards La France litteraire III, 1829, p. 233 ein Werk, L’arithme- 
tique demontree, operee et expliquee von C. F. Gaignat de L’Aulnays de 
Nantes, Paris 1770, angeführt wird, mit der Anmerkung: „Cet ouvrage a 6te 
reimpr. en 1792 comme un ouvrage posthume de Leonard Euler, etc.“ (folgt 
der obige Titel. Wir haben zwei verschiedene Ausgaben der Eulerschen 
Arithmetik vom Jahre 1792 gesehen, die sich aber nur durch das Titelblatt, 
einen Satz in der Vorrede und eine kurze Anmerkung unterscheiden. Der Titel 
der anderen Ausgabe lautet: „L’arithmetique raisonnde et demontree, oeuvres 
posthumes de L&onard Euler, traduite en francois par Bernoulli, directeur 
de l’Observatoire de Berlin ete. (Berlin, chez Voss & fils et Decker & fils, 1792). 
Der letzte Satz in der Vorrede der ersten Ausgabe, welcher sich auf Lagrange 
bezieht, wird weggelassen. Auf $. 616 der zweiten Ausgabe wurde hinzugefügt: 
„De l’Imprimerie de Grange, rue de la Parcheminerie“. Bisher ist es nie- 
mandem möglich gewesen, alle in Frage kommenden Werke einsehen zu können, 
weshalb die Geschichte des Werkes nicht definitiv bestimmt ist. In den Oeuvres 
completes en Francois de L. Euler, publiees par M. M. Dubois et Drapiez 
‚in Belgien wurde die Arithmetik des Jahres 1792 als echt angenommen und 1839 
als dritter Band herausgegeben. Um sie den damaligen Schulbedürfnissen an- 
zupassen, wurde sie so gründlich bearbeitet, daß sie mit dem Buche des Jahres 
1792 beinahe keine Ähnlichkeit hat. Von nun an werden wir letzteres als 
„Euler-Bernoulli“ zitieren. 

') Z.B. W. J. G. Karsten, Lehrbuch der gesamten Mathematik. Der 
Erste Theil, Greifswald 1767, S. 128; John Mair, Arithmetic, 1794, S. 59; La- 
grange, Math. Elementarvorlesungen, deutsche Separatausg. von Dr. H. Nieder- 
müller, Leipzig 1880, $. 22, 23. 


64 Abschnitt XX. 


größer ist als die darüber stehende, so wird in ungefähr dreiviertel 
der Rechenbücher eine Einheit von der nächst höheren Ziffer ım 
Minuend geborgt und wird dann vielleicht mit einem Punkte be- 
zeichnet, daß letztere sodann um eins weniger gelte. Statt die 
folgende Ziffer des Minuenden um eine Einheit zu verkleinern, wird 
in der zweiten Methode die folgende Stelle im Subtrahenden um eins 
vermehrt. Diese Erklärung findet man öfter in französischen und 
italienischen als in deutschen Werken. Manche Schulbücher enthalten 
beide Methoden. In den Vorlesungen von Laplace, 1795 auf der 
Normalschule in Paris gehalten, werden beide Arten erklärt!). In 
einem dritten Verfahren, welches selten erscheint, wird, wie früher 
bei Riese und Rudolff, die untere Ziffer erst von der geborgten 
10 abgezogen und die obere Ziffer hernach dazu addiert. Michelsen 
gibt noch einen anderen Weg. Man ziehe die Ziffer des Minuenden 
von der Ziffer des Subtrahenden ab, und subtrahiere den Rest von 
neuem von 10, und lasse dann die folgende Ziffer des Minuenden 
eins weniger gelten?). In allen von uns gelesenen Werken sagt man: 
2 von 5 bleibt 3; niemals wird 2 und 3 macht 5 angegeben. Die 
Operation geht beinahe immer von rechts nach links. 

Division ist eine bedeutend schwierigere Operation, wofür zur 
Zeit der Renaissance viele Methoden vorgeschlagen wurden. Gegen 
Ende des 18. Jahrhunderts findet der Sturz der während zweier Jahr- 
hunderte gemeinen Divisionsformen statt und größere Uniformität in 
den Operationen tritt ein. Die Rechenmeister der Zeitperiode 1759 
bis 1799 reden von zwei Hauptmethoden, die um die Herrschaft 
kämpften, 1. das Übersich- oder Oberwärtsdividieren, oder die 
Turmmethode, 2. das Untersich- oder Unterwärtsdividieren. 
Diese Einteilung der damals bekannten Divisionsformen ist nicht 
fundamental. Die Hauptfrage ist nicht, ob man oberwärts oder unter- 
wärts fortschreiten solle; wohl aber, ob man die Teilprodukte sofort 
abziehen solle oder nicht, ob im Bilden der Produkte man mit der 
höchsten oder mit der niedrigsten Ziffer des Divisors anfangen solle, 
und was überhaupt die anschaulichste Anordnung der Ziffern sei. Die 
verschiedenen Divisionsarten, welche in dieser Zeitperiode gebraucht 
wurden, lassen sich so anordnen, daß man stufenweise von einer ex- 
tremen Form zur anderen fortschreiten kann. Unten machen ' 
wir dies an folgenden Beispielen klar: 





ı) Journal de l’&cole Polytechnique ou Bulletin du Travail fait & cette 
6cole, 7. et 8. cahiers, Tome II, A Paris 1812. Lecous de Mathematiques, 
donnees A l’&cole normale, en 1795 par M. Laplace, p. 8. ?) Versuch in 
Socratischen Gesprächen usw. von J. A. C. Michelsen, I. Bd., 1784, 8. 133. 


Arithmetik, 65 
AB ‚ DEFGH 


abe 


Wir haben hier zwei Anordnungen, ABCDEFGHundabeDEFGH. 
Die Divisionsarten a, b, ce unterscheiden sich von A, B, C darin, daß 
man in ersterer beim Bilden der Teilprodukte mit der ersten Ziffer 
zur Linken anfängt und nach rechts geht, während in letzterer man 
mit der ersten Stelle zur Rechten anfängt und nach links schreitet. 








A. a. 
u 
2 
32 PR 
3188 Kies sor 
BI5A 18 reste 328 19773 
Bir). 56332 11818 
35 
A1866 
AT 
4 
F. Le Gendret), 1774 Christian Pescheck?), 1759 
(6754 : 357). (56331 : 476). 
B. b. 
A 
32321 
55553j2 
| 090254 
Diviseur 469] 387048 346 bee] 25859412 
“ Produit 825 x+1861 
242 
1 
„Euler-Bernoulli“, 1792, p. 173 Johann Friedrich Heynatz?), 
(387046 : 469). 1780 (89473645 : 346). 





') L’arithmetique en sa perfection, mise en en selon l’usage des 
 financiers, gens de pratique, banquiers, et marchands... par F. Le Gendre, 
Arithmeticien, Derniere 6dition, corrigee..., Paris 1774, p. 0. 2) M. Christian 
Peschecks.. Deutliche Erklärung deren: Kaufmann und öconomischen Rech- 
nungen, als da sind: Thara- und Fusti-Rechnung; ..., Budissin 1759, S. 11. 
®) M. Johann Friedrich Heynatz, Rektors zu Frankfurt an der Oder, Hand- 
buch ..., Zweiter Theil, welcher ein ausführliches Rechenbuch enthält. Zweyte 
vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1780, S. 106. 

CANToR, Geschichte der Mathematik IV. ö 


66 Abe ax 




















C. 6, 
Dividende Diviseur 89473645 
4187. | er an | PORUDENE 
103 1,01 090254 
347 129 855532 
4, 32321 
EcE 
„Euler-Bernoulli“, 1792, p.165 Johann Friedrich Heynatz, 
(4787 :37). 1780, 8. 106. 
D. E. 
4 | 1212 
203 | 426|7 
171812 34726852137 
123456 233 SR 
105644 528 34 
1888 102 
| 238 
Barr&me, 1764, p. 227 John Mair'), 1794 
(123456 : 528). (72685 : 34). 
F. G. 
12634 -- 25942 
28 
56 Divisore Dividendo 
166 7980. 1. 7980 | 148431 
28 15960. 2. Quoz: 18 
263 31920. 4. 68631 
98 39900. 5. 63840 
252 47880. 6. 
R 55860. 7. Residuo 4791 
fe 63840. 8. 
119 71820. 9. 
2 ; 
Johann Georg Prändel?), 1795 Odoardo Gherli?), 1770 
(72634 : 28). (148431 : 7980). 





'") John Mair, Arithmetic, Rational and Practical, Edinburgh 1794, p. 89. 
2) Johann Georg Prändels... Arithmetik... München 1795, 8.47. °) Gli 
Elementi Teorieo-Pratici delle matematiche pure del Padre Odoardo Gherli, 
Domenicano.... Tomo I, Modena 1770, p. 19. 


Arithmetik. 67 


H. 
15347 ER 
55... 1.142185 
223 
212 
114 

106 
nr 
53 
34 
Etienne B6zout!), 1797 
(75347 : 53). 


In A. und a. werden die Teilprodukte sofort abgezogen, die Reste 
über den Dividend geschrieben, der Divisor unter den Dividend gesetzt 
und nach rechts gerückt, und jede Ziffer durchgestrichen, sobald man 
damit fertig ist. A. wird von „Euler-Bernoulli“ 1792, von 
Pescheck 1741 und von Barr&me 1764 division ä l’Espagnole 
genannt. a. heißt bei Pescheck die gemeine Art, bei Barr&öme 
die division & la Francoise, bei „Euler-Bernoulli“ ä la 
Frangoise brieve, bei J. F. Maler”) 1765 das Teutsche Divi- 
dieren. Über die Divisionen aufwärts sagt Johann Georg 
Prändel?): „Ihr Aussehen ist sehr geschmeidig; aber sie haben die 
Beschwerlichkeit, daß sich ein begangener Fehler nicht so leicht ent- 
decken läßt, wie beym Abwärtsdividieren, folglich meistens die Opera- 
tion von Neuem angefangen werden muß“. „Ich bin überzeugt,“ sagt 
Heinatz*) 1799, „daß die meisten Menschen darum nicht ordentlich 
rechnen, weil ihnen die Turmmethode des Dividierens zu viel Schwie- 
rigkeiten macht.“ 

In b. wird der Divisor links und nur einmal geschrieben, wäh- 
rend in c. die Reste unten gesetzt werden. Letztere wird von 
Pescheck die welsche Art und von „Euler-Bernoulli“ division 
& la Francoise longue genannt. Schon über 200 Jahre früher er- 
wähnt Rudolff diese französische Manier des Rechnens?). 

In B. wird der Divisor nur einmal geschrieben. Divisor und 





) Cours de Math6matiques, & l’usage du corps de l’Artillerie. Par M. Be&- 
zout... Tome Premier, ... ä& Paris 1797, v. st. An V, p. 44. ®2) Kurzer und 
deutlicher Unterricht zum Rechnen... Jacob Friderich Maler... zweite 
und verbesserte Auflage, Carlsruhe 1765, 8. 62. °) Op. eit. S. 50. *) Jänicke 


und Schurig, op. eit. $. 58. ö) Sterner, op. eit. S. 279. 
5* 


68 Abschnitt XX. 


Quotient werden links gesetzt, und die Reste unter den Dividend. 
Bei „Euler-Bernoulli“ heißt diese Art division ä l’italienne 
longue. „Diese Art des Dividirens ist die kürzeste unter allen, und 
ob sie gleich auch nicht leicht ist, so muß man doch um des daraus 
zu hoffenden Nutzens. willen die auf ihre Erlernung zu wendende 
Mühe nicht achten.“'). 

C. ist der vorigen Form sehr ähnlich. Der Divisor und Quotient 
stehen rechts, und Ziffern werden nicht durchgestrichen. „Euler- 
Bernoulli“, sowie Barr&me, nennen diese Art division ä l’ita- 
lienne brieve. 

In D. werden die vollständigen Produkte unter den Dividend und 
die Reste über denselben gesetzt. Das sofortige Abziehen findet hier 
nicht statt. „Euler-Bernoulli“ und Barr&öme geben dieser Form 
den Namen division ä la Portugaise. 

Eine ganz ähnliche Manier ist E., wo der Divisor links steht und. 
Ziffern nicht durchgestrichen werden. 

F. ist eine mit der heutigen beinahe identische Form, worin der 
Divisor für jede Multiplikation wiederholt wird. Dieser Divisor wird 
öfters in Klammern gesetzt oder weiter nach links geschrieben, um 
bei der Subtraktion weniger im Wege zu sein. Diese Art wurde in 
Deutschland viel gebraucht. Barr&me nennt sie division & l’ita- 
lienne longue und Pescheck die französische Art?). 

In @. wird durch Hilfe der Addition das zweifache, dreifache 
usw. des Divisors gefunden, so daß man die Rechnung ohne Ein- 
maleins, „ja sogar ohne Neppersche Stäbe“®) durchführen und 
den Quotienten ohne Raten finden kann*). „Das Dividiren ohne Ein 
mal Eins nennt man das Indianische‘“®). | 

H. ist eine alte Form, die Ende des 18. Jahrhunderts in den 
besten Werken alle anderen Arten verdrängt hatte Um Verwirrung 
zu vermeiden, wird nach jeder Subtraktion die nächste Ziffer im 
Dividend mit dieser zum gebliebenen Reste heruntergezogenen Ziffer 
öfters mit einer geraden Linie verbunden; oder die Anzahl Ziffern, 
die noch nicht heruntergezogen sind, wird nach jedem neuen Teil- 
dividend durch Punkte angedeutet®). 





ı) Heynatz, op. cit. 8. 114. 2) Sterner, op. cit. S. 330. ®) Hey- 
natz, op. eit. 8. 116. *) Es ist bemerkenswert, daß diese Divisionsart schon von 
Adrianus Romanus (1561—1615) in einer Schrift Nova Multiplicandi, Dividendi, 
Quadrata componendi, Radices extrahendi ratio, multd quam pervulgata certior, 
facilior, & majoribus maxim® numeris accommodatio, erklärt wurde. [Vide 
H. Bosmans, 8. J., „La Methode D’Adrien Romain pour effectuer les caleuls 
des grands nombres“ in Annales de la Soeiete Seientifique de Bruxelles, 
T. XXVII, 2° partie.] ®) J. F. Maler, op. eit. S8. 62. 6) J. F. Maler, op. 
eit. S. 63, nennt diese Methode die Portugiesische. 


Arithmetik. 69 


Um genauere Angaben über den Gebrauch der verschiedenen 
Divisionsarten zu machen, bemerken wir, daß von den Werken, die 
während der Jahre 1759—1799 gedruckt wurden und dem Übersich- 
dividieren Aufmerksamkeit schenken, die meisten Ausgaben früher 
erschienener Werke sind. Von 103 mathematischen Büchern, die 
uns zur Einsicht vorlagen, sind Bartjens und Pescheck die einzigen, 
die das Übersichdividieren ausschließlich benutzen. Die ersten Auf- 
lagen beider Werke erschienen lange vor der Zeit, die wir jetzt be- 
trachten. Nur 16 Bücher erklären das Oberwärts- sowohl als das 
Unterwärtsdividieren. Die übrigen — ungefähr fünfsechstel der 
ganzen Anzahl — erklären das Unterwärtsdividieren, nämlich eine 
oder mehrere der Formen C, F, G, H; gewöhnlich ziehen sie eine der 
Arten F, G, H der Form C vor. 

Bei Dezimalbrüchen werden von etwa einviertel der Schriftsteller 
dieser Zeit die abgekürzten Multiplikations- und Divisionsmethoden 
erklärt. Die abgekürzte Multiplikation wird theoretischer- und prak- 
tischerseits in einer Abhandlung von Isidoro Bernareggi (1735 
bis 1808), Priester und Professor der Mathematik an der königlichen 
Schule zu Lodi, behandelt!). Bernareggi untersucht die Anzahl der 
Dezimalstellen in den Faktoren, welche notwendig sind, damit der 
Fehler im Produkte eine vorgelegte Grenze nicht übersteige. In 
der Ausführung der Multiplikation schreibt er die Ziffern des Multi- 
plikators in entgegengesetzter Reihenfolge In seiner Aritmetica 
rıformata, Milano 1797, werden diese Ideen für Schulzwecke dar- 
gestellt. 

Ein anonymes Werkchen über den gleichen Gegenstand, Essai 
sur les nombres approximatifs, Paris, an VII— 1799, wird 
Jean Antoine Frangois Massabiau (1765—1837) zugeschrieben?) 
welcher ein eifriger Anhänger der Prinzipien von 1789 war und 1795 
die Normalschule in Paris besuchte. In diesem Aufsatze stellt er 
sich die Aufgabe, allgemeine Formeln für die durch Kombination an- 
nähernder Zahlen entspringenden Fehler herzuleiten. Soll z. B. eine 
solche Zahl N durch eine andere N’ dividiert werden, wo @ und © 
beziehungsweise die genauen Werte darstellen, so daß = N -+e und 
Q@=N’+te, dann wird der Fehler (+ Ne+ Ne): N (N +e)). 


Von den vier Werten, welche dieser Ausdruck annehmen kann, ist 
(N’e+ Ne): N’(N’ — e‘) der größte. Wenn e=ed= x (10-”), und 


+ die Entfernung vom Dezimalpunkte der höchsten Ziffer im Quotienten 





1) Memorie di matematica e fisica della societä Italiana, Tomo VI, Verona 
- 1792, p. 1—70. 2) Biogr. Universelle (Michaud). 


70 Abschnitt XX. 


N: N’ darstellt, während % dieselbe für 10”N’ repräsentiert, dann 
hat man, für N>N, z=x+n+1-—y uwd, für N<N, 
z=n+1-—y, wo der Fehler im Quotient kleiner als 10°:2(10”) 
sein soll. Man soll z. B. die Anzahl Dezimalstellen finden, um, in 
der Division von @ = 63.04545.... mit @’= .6666..., den Fehler 


<- (10?) zu machen. Hier st =2, y=n, z2=n-—2, folglich 


n—=5, die erforderliche Anzahl Dezimalstellen im Dividend und 
Divisor. 

Die Zeichensprache der Arithmetik und Algebra hatte in der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutende Vollständigkeit und 
Uniformität erlangt. Die Zeichen + und — findet man beinahe über- 
all. In mehreren holländischen Werken und einem deutschen Werke!) 
sind wir statt — dem alten Rudolffschen Zeichen — begegnet. In 
- der Maandelykse mathematische Liefhebbery, 1754—69, wird 
-- regelmäßig als Subtraktionszeichen geschrieben. Wie unten an- 
gedeutet, galt -—- in England als Divisionszeichen und auf dem Fest- 
lande als Symbol einer arithmetischen Progression. In dieser Lief- 
hebbery findet man auch die eigentümliche Bezeichnung von 


- 4225 —— ar zer - 
V 5; als V4225 = 65, und PETER V als 


+1) =-#+227+1. 


Außer in der Proportionenlehre hatte = in allen Gebieten der 
Rechenkunst als Zeichen der Gleichheit sich eingebürgert. Wäh- 
rend der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verschwanden die letzten 
Spuren?) des Descartesschen ». Auch in der Proportionen- 
lehre war — in Deutschland üblich. Leibniz’ Sprache folgend 
wurde dort beinahe immer für geometrische Proportion a:b=c:d 





oder > 7 geschrieben, während in Frankreich, Spanien, Portugal, 


Italien und England das Oughtredsche Zeichen :: allgemeinen Beifall 
genoß und a:b::c:d die gewöhnliche Bezeichnungsart war. Über- 
haupt herrschte damals bedeutende Verschiedenheit in der Zeichen- 
sprache für arithmetische und geometrische Proportionen und Pro- 





!) Arithmetisches Handbuch für Lehrer in den Schulen ... von Carl 
Christian Illing, Dresden-Friedrichstadt 1793, S. 11. 2) M. Gallimard 
in seiner Methode Theorique et Pratique D’Arithmetique, D’Algöbre et de G6o- 
metrie..., Paris 1753, p. 26, sagt: —= signifie est egale ä, x signifie tout 


ö > a : A R . 90 
simplement, egal ä&, ou qui est-egalä. Er schreibt 8. 42: „Done x x te 


Odoardo Gherli, op. eit., 1770, Tomo I, p. 6, erinnert den Leser daran, daß 
„I Cartesio in vece di = usa il segno x“. 


Arithmetik. 71 


gressionen. Für die Regeldetri hatte man in früheren Jahrhun- 
derten verschiedene Bezeichnungen. Als im 18. Jahrhundert diese 
Regel mehr und mehr als eine Anwendung der Proportion, der Gleich- 
heit zweier oder mehrerer Verhältnisse, aufgefaßt wurde, fand die 
frühere Zeichensprache dieser Regel öfters Eingang unter den Pro- 
elle guld. elle 
portionssymbolen. Bartjens!) 1771 schreibt 4 — 9 — 16. Für 
das unbekannte vierte Glied gibt er gar kein Symbol. Pescheck 
1759 und viele andere tun desgleichen. Thomas Dilworth?) klagt, 
daß einige Meister lange Striche statt Punkte gebrauchen, um die 
Glieder zu trennen, was nicht recht sei, weil in a:b::c:d die: 
zeigen, daß die zwei ersten und die zwei letzten Glieder in gleicher 
Proportion seien, während das :: die zwei Paare trenne und zugleich 
zeige, daß das zweite Glied zum dritten sich nicht wie das erste zum 
vierten verhalte. Die Proportion als die Gleichheit zweier Verhält- 
nisse ist von Dilworth noch nicht klar erfaßt. Rivard?’) schreibt 


1768 eine geometrische Proportion - — 7 oder a.b::c.d. M.1’Abbe 


Maries Auflage von De la Caille*) schreibt @.b::c.d oder 
a:b::c:d; während die lateinische Auflage des De la Caille?) 
1762 und die italienische Auflage von Boscovich°) 1796 a:b::c:d, 


a:b=c:d, oder alb|jc|d enthalten. Die lateinische Übersetzung - 
gibt auch @.b::e.d, und die italienische 5 = T 

Die arithmetische Proportion deuteten Rivard, De la Caille 
und Bezout‘) durch a.b:c.d an. In deutschen Büchern findet 
man öfters a.b=c.d oder a—-b=c—d. Mit Recht klagt 
Scheibel®), daß wenn «.b=c.d geschrieben wird, man den Punkt 
mit dem Multiplikationszeichen leicht verwechseln könne. 

Die geometrischen und arithmetischen Progressionen wurden noch 
immer in die Rechenbücher aufgenommen. Allgemein brauchte man 
- als das Symbol der geometrischen Progression (-1.2.4.8.16) 
und, mit der Ausnahme von England, öfters —- als das Symbol der 





t) Bartjens-Jan van Dam, op. eit. S. 36. 2, Thomas Dilworth, 
op. eit., unter The Explication of some Marks used in this Compendium. 
5) Elöments de Math&ömatiques par M. Rivard, Professeur de Philosophie en 
l’Universit6 de Paris. Sixieme Edition, Revue et augmentde de nouveau par 
l’Auteur. A Paris 1768, p. 135. *, Legons de Mathömatiques par M. l’Abb& 
de la Caille, avec des augmentations par M. l’Abb& Marie, Paris 1770, 
p. 148. 5) De la Caille, Lectiones... a C.[arolo] S.[cherffer] e S. J. 
Viennae, Pragae, et Tergesti 1762, p. 76. °) Elementi ... del Padre Ruggero 
Giuseppe Boscovich. Editione terza italiana... in Venezia 1796, p. 115. 
7) Be&zout, op. cit., Tome I, p. 128. °) Einleitung zur Mathematischen Bücher 
Kentnis, Breslau 1781, Bd. I, S. 679. 


12 Abschnitt XX. 


arithmetischen Progression (-3.6.9.12.15). In Großbritannien 
gilt das ganz ähnliche von J. H. Rahn 1659 zuerst gebrauchte Sym- 
bol -- statt : als Divisionszeichen; weshalb von Schriftstellern, welche 
überhaupt für die arithmetische Progression die Notwendigkeit eines 
Zeichens fühlten, -- gebraucht wurde. Diese Bezeichnung findet man 
auch mitunter in deutschen Büchern‘, W. Emerson?) bezeichnet 
eine harmonische Proportion durch .,.. und eine harmonische Pro- 
gression durch ——. 


Algebra. 


Im Studium der Algebra war viel größerer Verkehr zwischen 
den verschiedenen Ländern Europas als im Studium der Arithmetik. 
Wegen der Abwesenheit einer streng provinziellen Behandlungsweise 
der Algebra wird es nicht nötig sein, die Geschichte dieser Wissen- 
schaft in jedem Lande einzeln zu verfolgen. 

Einige Werke über Algebra, die während der ersten Hälfte des 
18. Jahrhunderts, und zwar 1740—1748, verfaßt wurden, waren noch 
während der zweiten Hälfte sehr einflußreich, nicht nur im Lande 
ihrer Entstehung, sondern in ganz Europa, wo immer die Wissen- 
schaft betrieben wurde. Von englischen Werken heben wir das Elements 
of Algebra von Nicholas Saunderson (1682—1739) hervor, welches 
1740 zu Cambridge in zwei Bänden erschien. Dieser blinde Mathe- 
matiker stand als Jüngling im Briefwechsel mit Sir Isaac Newton 
und war der Nachfolger von Whiston als Lucasian Professor der 
Mathematik an der Universität Cambridge. Weite Verbreitung in 
England fand der Auszug aus dem Originalwerk: Select parts of 
Professor Saunderson’s Elements of Algebra for the use of 
students at the Universities. Die 3. Auflage davon wurde 1771 
in London veröffentlicht, die 4. Auflage 1776, die 5, von John 
Hellins (?—1827) verbessert, 1792. Das Originalwerk wurde 1756 
in französischer Übersetzung von Elie de Joncourt zu Amsterdam 
und Leipzig in zwei Bänden herausgegeben. Eine deutsche Über- 
setzung rührt von Johann Philipp Grüson, Professor am adelichen 
Cadettencorps in Berlin, her. (Erster Teil 1798, Halle; zweiter Teil 
1805.) 





") Z.B. in der Unterweisung in den philos. u. math. Wissenschaften für 
die obern Classen d. Schulen u. Gymnasien von Johann Jacob Ebert, Prof. 
d. Math. zu Wittenberg. Dritte vermehrte u. verbesserte Auflage, Leipzig 1787, 
S. 187. 2) The Doctrine of Proportion, Arithmetical and Geometrical ..., 
London 1763, p. 2. 


Algebra. 73 


Ein anderer englischer Schriftsteller, den wir erwähnen müssen, 
ist Thomas Simpson (1710—1761), Professor an der königlichen 
Militärakademie zu Woolwich. Seine Treatise on algebra wurde 
1745 in London gedruckt; eine dritte Auflage 1767, eine fünfte 1782, 
eine achte 1804. Die erste amerikanische Ausgabe erschien 1809 in 
Philadelphia. Eine Übersetzung in französischer Sprache wurde 1771 
in Paris veröffentlicht. 

Ein drittes Werk wurde von dem schottischen Mathematiker 
Colin Maeclaurin unter dem Titel Treatise of Algebra 1748 zu 
London veröffentlicht, wovon die 4. Auflage 1779 erschien. 

Die weite Verbreitung von De La CÜailles Lecons el&emen- 
taires de mathematiques nicht nur in Frankreich, sondern auch 
in Italien, ist von uns schon früher hervorgehoben worden (S. 47, 48). 
Eine lateinische Übersetzung durch „CE. 8. e 8. J“ (= Carolo 
Scherffer, $. J.) erschien 1762 zu Wien, Prag und Triest. Scherffer 
verfaßte eine Anzahl eigener Lehrbücher, von welchen die Institu- 
tiones analyticae, Wien 1770, hier Erwähnung verdienen. 

Das bedeutendste Werk dieser Zeit war aber das nach der 
heuristischen Methode verfaßte El&ments d’algebre des Alexis 
Claude Clairaut, Paris 1746. 

Dieses berühmte Werk wurde 1752 von Christlob Mylius 
(1678—1754) zu Berlin ins Deutsche übersetzt und an der Univer- 
sität Göttingen gebraucht, bis es von Kästners Kompendien ver- 
drängt wurde!). Clairauts Algebra erschien in holländischer Sprache 
1760 zu Amsterdam, von Arnoldus Bastiaan Strabbe übersetzt. 
Eine 5. französische Ausgabe in zwei Bänden von S. F. Lacroix er- 
schien 1797 in Paris. Diese enthält Anmerkungen und Nachträge 
über Gleichungstheorie, Kettenbrüche und Logarithmen, den Vor- 
lesungen von Lagrange und Laplace an der Normalschule ent- 
nommen, und eine einleitende Elementarschrift über Arithmetik, die 
in der Vorrede als größtenteils die Arbeit des jungen Jean Baptiste 
Biot (1774—1862) bezeichnet wird. Lacroix schrieb an Pietro 
Paoli von Pisa, diese Ausgabe sei doppelt so umfangreich als die 
früheren und enthalte Theorien, die vorher nie in Elementarwerken 
erklärt worden seien?). Die 6. Auflage (1801 zu Paris) ist vom 
Citoyen Jean Guillaume Garnier (1766—1840), Professor an der 


») C. H. Müller, „Studien z. Gesch. d. Math.... an der Univ Göttingen“, 
Abh. z. Gesch. d. math. Wiss., 18. Heft, Leipzig 1904, $. 113. Eine zweite Auf- 
lage, Berlin 1778, enthielt Zusätze von G. F. Tempelhof. 2) Memorie della 
regia accademia di secienze, Modena, Serie III, Tom. I, 1898, Sezione di Scienze, 
p. 109. 


74 Abschnitt XX. 


handlung von Charles Marie Simon Theveneau (1759—1821) 
Clairauts Algebra wurde von Mathematikern hoch geschätzt. 
Lambert schien in seinen ersten Schriften Forschungsergebnisse, die 
nicht im Clairaut zu finden waren, als neu und deshalb der Ver- 
öffentlichung würdig anzusehen. 

Im Jahre 1758 erschien in Halle der zweite Teil des Cursus 
mathematici von Johann Andreas Segner (1704—1777), damals 
Professor an der Universität Halle. Dieser Teil führte den Titel 
Elementa analyseos finitorum und behandelte die Algebra. Ob- 
schon Segner einer der besten Mathematiker und Physiker ın 
Deutschland war, fand sein Kursus nicht viele Leser. Segner schrieb 
in Latein und stellte auch an die Fähigkeiten seiner Schüler hohe 
Ansprüche. Von 1735—1754 war er Professor der Naturlehre und 
Mathematik in Göttingen. Sein Nachfolger an dieser Universität war 
Abraham Gotthelf Kästner, welcher 1760 in Göttingen unter dem 
Titel Anfangsgründe der Analysis endlicher Größen ein Werk 
verfaßte, welches den Bedürfnissen des Universitätsunterrichts ın 
Deutschland entsprach und zugleich die Lehren der großen Mathe- 
matiker seiner Zeit so erfolgreich popularisierte, daß es lange Zeit 
das beliebteste Kompendium war. Eine zweite Ausgabe erschien 17067; 
eine sechste vor dem Schlusse des Jahrhunderts. 

Als zweite, während der Periode 1759—1799 verfaßte Schrift 
nennen wir den algebraischen Teil des schon früher (S. 40) angeführten 
Cours de mathematiques & l’usage des gardes du pavillon 
et de la marine, 1764—1769, von Bezout, worin eine elementare 
Darstellung der von Bezout 1764 veröffentlichten berühmten Ab- 
handlung über die Auflösung von Gleichungen (8. 98) gegeben ist. 
In seinem Cours de mathömatiques ä& l’usage du corps de 
l’artillerie, 1770—1772, wird diese Darstellung weggelassen, wahr- 
scheinlich weil die Sache für Anfänger zu schwer war. Sonst ist 
die Algebra von 1770—1772 mit der früheren beinahe identisch. 

Der zweite Teil eines achtbändigen Werkes, betitelt Lehrbegrif 
der gesamten Mathematik von Wenceslaus Johann Gustav 
Karsten (1732— 1787), erschien 1768 zu Greifswald. Karsten 
lehrte seit 1760 an der neuen Universität Bützow. Durch sein Werk 
erhielten die auf Mittel- und Hochschulen eingeführten Kompendien 
von Wolf, Segner, Kästner eine gefährliche Konkurrenz'). 

Ohne Zweifel das einflußreichste Buch über Algebra im 18. Jahr- 
hundert ist die Vollständige Anleitung zur Algebra von Leon- 
hard Euler (erste deutsche Ausgabe 1770 in St. Petersburg). Die 





t) Allg. Deutsche Biographie (Art. v. Günther). 


Algebra. 75 


Entstehungsweise des Werkes ist interessant. Euler schrieb in der 
Gazette litt. de Berlin, 1768, fol. 245, ich „nehme mir die Frei- 
heit, Ihnen von meinen Arbeiten Nachricht zu ertheilen, mit welchen 
ich mich seit dem Verlust meines Gesichtes beschäftigt habe, der von 
Herrn Krafft und meinem älteren Sohne dadurch ersetzt worden, 
daß sie meine Ideen ausgearbeitet uhd öfters durch ihre eigne An- 
sichten weiter ausgeführt haben“'). Bestimmtere Auskunft findet 
man im Vorbericht zur Ausgabe von 1770: Um das Lehrbuch zu 
verfertigen, „erwählte er sich einen jungen Menschen, den er mit sich 
aus Berlin zur Aufwartung genommen hatte, und der ziemlich fertig 
rechnen, sonsten aber nicht den geringsten Begriff von der Mathe- 
matik hatte: er war seines Handwercks ein Schneider, und gehörte 
was seine Fähigkeit anlangt, unter die mittelmäßigen Köpfe. Dem 
ohngeachtet hat er nicht nur alles wohl begriffen, was ihm sein großer 
Lehrer vorsagte, und zu schreiben befahl, sondern er wurde dadurch 
in kurzer Zeit in den Stand gesetzt die in der Folge vorkommende 
schwere Buchstaben-Rechnungen ganz allein auszuführen.“ 

Im Vorbericht der Ausgabe von 1770 wird auch mitgeteilt, daß 
„schon vor zwey Jahren eine russische Uebersetzung zum Vorschein 
gekommen ist“. In etwas kleinerem Druck als die erste deutsche 
Ausgabe erschien 1771 eine zweite, welche als Verlagsort in vielen 
Exemplaren Lund, in anderen St. Petersburg angab. Eine Übersetzung 
ins Französische wurde von Johann Bernoulli III, Direktor an 
der Sternwarte zu Berlin, angefertigt und von Joseph Louis La- 
grange mit Zusätzen über die unbestimmte Analysis versehen. Diese 
berühmte Ausgabe erschien 1774 zu Lyon. Andere französische Aus- 
gaben erschienen zu Lyon 1795 (an III), St. Petersburg und Paris 
1798, Paris 1801?). 

Valentin?) nennt zwei holländische Ausgaben, Amsterdam 1773, 
Dordrecht 1807. 

Eine lateinische Ausgabe, mit den Zusätzen von Lagrange, 
wurde 1790 in Venedig gedruckt. In den Jahren 1796—1797 ver- 
öffentlichte Johann Philipp Grüson zu Berlin die erste deutsche Aus- 
gabe nach der von 1771, obgleich 1789 ein Auszug von Eulers Algebra 
von Johann Jacob Ebert, Professor der Mathematik zu Witten- 
berg, in Frankfurt am Main geliefert worden. Eine andere deutsche 
Ausgabe erschien in St. Petersburg im Jahre 1802. Es ist auffallend, 


1) Scheibel, Einl. zu Math. Bücherkentnis, Breslau 1781, Bd. I, $. 102. 
®) G. Valentin in Bibliotheca Mathematica, N. F. 12, 1898, S. 42. °) Ebenda, 
S.42. Hier werden auch einige andere, von uns nicht angeführte Ausgaben an- 
gegeben. 


76 Abschnitt XX. 


daß vor 1797 keine englische Übersetzung angefertigt wurde. In diesem 
Jahre gab John Hewlett unter der Mitwirkung seines Schülers 
Francis Horner zu London eine solche aus dem Französischen, 
wovon die zweite Auflage 1810, die dritte 1822 und die fünfte 1840 
erschien. In der zweiten schreibt der Herausgeber überall x? statt 
des früher gebräuchlichen &. x, und #° statt x.x.x. Im Jahre 1818 
gab John Farrar, Professor der Mathematik an der Harvard Uni- 
versität zu Cambridge in Massachusetts, einen Auszug heraus, welcher 
den Titel führt An Introduction to the Elements of Algebra, 
. Selected from the Algebra of Euler. 

In Italien schrieb Padre Odoardo Gherli 1771 zu Modena den 
zweiten Teil des schon auf 8. 47 angeführten siebenbändigen Kom- 
pendiums, Gli elementi teorico-pratici delle matematiche 
pure, worin die Algebra mit großer Vollkommenheit erklärt 
wird. In der Vorrede zum letzten Bande wird ein Gratulations- 
schreiben von Lagrange an Gherli angeführt, worin Lagrange 
den Autor auch auf seine eigenen Abhandlungen über die Auflösung 
von Gleichungen in den Berliner Memorien der Jahre 1770 und 1771 
(veröffentlicht 1772 und 1773) aufmerksam macht. Es folgt dann 
ein Auszug dieser Abhandlungen. Gherlis Bücher fanden in Italien 
nur geringen Absatz, was vielleicht ihrem unpassenden Quartoformat 
zuzuschreiben ist. | 

Pietro Paoli, Professor an der Universität Pisa, gab 1794 
ein Werk mit dem Titel Elementi d’algebra in drei Bänden 
heraus, deren erster der Algebra von endlichen Größen gewidmet ist. 
Obschon die Elementarteile eher kurz gefaßt sind, wurde das Werk 
von Mathematikern hoch geschätzt. 

Im Jahre 1799 (an VII) erschien in Paris die erste Auflage der 
El&mens d’algebre von Sylvestre Francois Lacroix, ein 
Werk, welches nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa und 
in den Vereinigten Staaten großen Einfluß auf den Unterricht aus- 
übte. Im gleichen Jahre veröffentlichte James Wood in Cambridge 
seine Elements of Algebra, die auf den englischen MHRERBROIURLON 
lange Zeit als „standard work“ galten!). 

Nachdem wir nun die bedeutenderen Lehrbücher über Algebra, 
welche während der Zeit gedruckt wurden, aufgezählt haben, werden 
wir die damalige Darstellung von Grundprinzipien dieser Wissenschaft 
unserem Studium unterziehen. Wie wurde der Zahlbegriff aufgefaßt? 
Inwieweit wurde die Algebra logisch entwickelt? Wir machen die 
einleitende Bemerkung, daß die Mathematik noch allgemein als die 





) W.W.R.Ball’s Mathematics at Cambridge, 1889, p. 110. 


Algebra. 77 


Wissenschaft von der Größe definiert wurde. Man findet diese De- 
finition z. B. in den Werken von Christian Wolfft), Kästner’), 
La Oaille?), Sauri (1741—1785)*), Bezout?), D’Alembert®), Abel 
Bürja’), Georg Vega (1756—1802)°), Johann Georg Büsch’), 
Johann Friedrich Lorenz’), Georg Metzburg!!), Johann 
Heinrich Voigt"), Pietro Paoli"), In keinem Lehrbuch sind 
wir einer wesentlich verschiedenen Definition begegnet. Sie ist alt, 
kann aber kaum griechischen Ursprungs sein, denn die Griechen 
hatten eine Geometrie, worin Probleme vorkamen, wie dasjenige, zu 
entscheiden, ob vier Punkte auf einer Ebene liegen. Solche Probleme 
hatten mit Größenbestimmungen nichts zu tun. Im 17. und 18. 
Jahrhundert fand der Ausdruck, Mathematik „die Wissenschaft von 
der Größe“, wenig Anstoß. Immanuel Kant war mit demselben 
nicht einverstanden. Einige Ideen von Lagrange, die in seinen 
Untersuchungen über Gleichungen enthalten sind und die Keime der 
Substitutionstheorie sind, passen in diese Auffassung der Mathematik 
nicht hinein. Dennoch war sie bei Mathematikern beinahe universal. 

Wenn aber Mathematik die Wissenschaft von der Größe ist, 
dann muß der einfachste mathematische Akt — das Zählen — not- 
wendig als eine Messung und die Zahl als ein Verhältnis angesehen 
werden. Dieser Schluß wurde aber unseres Wissens in Wirklichkeit 
nicht gezogen, obschon viele Autoren dem Beispiel von Newton 
folgten und die Zahl als ein Verhältnis betrachteten. An den Begriff 
der meßbaren Größen anknüpfend, drückt sich Christian Wolff so 
aus: „Zahl ist dasjenige, was sich zur Einheit verhält wie eine gerade 
Linie zu einer gewissen anderen Geraden“ #4). “Bei Ausmessungen 
kommt es darauf an, sagt Leonhard Euler®), „daß man bestimme, in 
was für einem Verhältniß die vorgegebene Größe gegen dieses | Einheits-] 
Maaß stehe, welches jederzeit durch Zahlen angezeigt wird, so daß 





') Mathemat. Lexicon, Leipzig 1716, Artikel „Mathematik“. ?) Anfangsgründe 
d. Arithmetik, Geometrie usw., Göttingen 1758, S. 3. Dieses Werk wurde später 
mit neuen Teilen unter dem Titel Anfangsgründe der Mathematik zusammen- 
begriffen. ®) Lecons &lömentaires de math@matiques, Paris 1770, p. 1. *) Cours 
complet de math@matiques par M. ’Abbe Sauri, ancien professeur de philosophie 
en P'universit€ de Montpellier, T. I, Paris 1774, p. 1. 5), Cours de math&ma- 
tiques A l’usage du corps de l’artillerie, Paris 1797, p. 1. 6) Enceyelopedie 
methodique, „Math&matique“. ”) Der selbstlernende Algebrist, I. Teil, Berlin 
und Libau 1786 (Vorrede). ®) Vorles. ü. d. Mathematik, I. Bd., 3. Aufl., Wien 
1802, S. 2. °») J. G. Büsch, op. eit. 8. 1. 10%) J. F. Lorenz, op. eit., Bd. I, 
1798, S. II. *") Anleitung zur Mathematik, I. Teil, Wien 1798, S.1. !?) Grund- 
lehren d. reinen Math., Jena 1791, 8. 1. 18) Paoli, op. eit. T.L S. 1. 
14, Elementa matheseos universae (Elementa arithmeticae) Halae 1710, art. 10. 
‘*) Anleitung zur Algebra, I. Teil, St. Petersburg 1770, 8. 5. 


18 Abschnitt XX. 


eine Zahl nichts anders ist als das Verhältniß, worinnen eine Größe 
gegen eine andere, welche für die Einheit angenommen wird, steht. 
Hieraus ist klar, daß sich alle Größen durch Zahlen ausdrücken 
lassen, und also der Grund aller mathematischen Wissenschaften darin 
gesetzt werden muß, daß man die Lehre von den Zahlen... genau in 
Erwegung ziehe, und vollständig abhandele.“ Hier ist der Gedanken- 
gang dem von uns oben angedeuteten entgegengesetzt. Die quanti- 
tative Idee wird der Zahl zugeschrieben und daraus der Schluß ge- 
zogen, daß Mathematik die Wissenschaft von der Größe sei. Dann 
und wann findet man auch in anderen Lehrbüchern dieser Zeit die 
Zahl ausdrücklich als ein Verhältnis erklärt. „Das 1 selber ist eine 
Zahl: denn 1 hält eine Verhältnuss zu eins“, sagt einer!). „Das Ver- 
hältnis irgend einer Größe zu einer gleicher Art, die als Einheit er- 
wählt ist, wird eine Zahl genannt, und man nennt Arithmetik die 
Wissenschaft von solchen Verhältnissen“?). Gewöhnlich wird aber 
der Begriff des Verhältnisses oder des Messens nicht so scharf her- 
vorgehoben, so daß man im Zweifel ist, ob das Zählen als ein wirk- 
liches Messen aufgefaßt wurde. „Eine Menge von Dingen einer Art 
heißt eine ganze Zahl“, sagt Kästner?). Diese Definition der Zahl 
ist der Euklidischen, „eine aus Einheiten bestehende Menge“, ganz 
ähnlich und hat keine notwendige Verknüpfung mit Verhältnissen. 
Bei Euklid waren Verhältnisse keine Zahlen. Bei Bezout*) scheint 
der Meßbegriff vorzuherrschen, denn er sagt: „le nombre exprime de 
combien d’unites, ou de parties d’unites, une quantite est composee“ 
und „lunite est une quantit6 que l’on prend .. pour servir de terme 
de comparaison & toutes les quantites d’une m&me espece“. Andere 
Schriftsteller führen unbedeutende Wortänderungen ein. „Mehrere 
gleichnamige Einheiten machen eine Zahl aus“’). „Mehrere solche 
zusammengestellte Einheiten geben eine ganze Zahl“®). Ob bei diesen 
und ähnlichen Ausdrücken, die in Lehrbüchern allgemein vorkommen, 
die Zahl ausschließlich als ein Verhältnis anzunehmen ist oder nicht, 
hängt davon ab, ob die Schriftsteller stillschweigend den Gedanken- 
gang von Newton und Wolf oder von Euklid befolgten. 

J. F. Heynatz’) macht die Bemerkung: „Einige leugnen, daß 
Eins oder die Einheit eine Zahl sey, und lassen nur das, was durch 
die Wiederholung der Einheit herauskömmt .. für eine Zahl gelten“. 





1) Jacob Friederich Maler, Unterricht zum Rechnen, Carlsruhe 1765, 
8. 23. 2) E. Develey, Arithmetique D’Emile, 2. Ed., Paris 1802, p. 2. 
») Kästner, op. cit.8. 21. *) B&zout, op. cit. T.I,p. 2. °) Matthias Haußer, 
Analytische Abhandlung der Anfangsgründe d. Mathematik, I. Teil, Wien 1778, 
8.1. 6) Johann Georg Prändels Arithmetik, München 1795, S. 3 


”, Heynatz, op. eit. 8.3. 


Algebra. 79 


Condillac') hebt hervor, daß wenn eine Zahl als eine Menge von 
Einheiten angenommen wird, 1 keine Zahl sei. Gherli?) sagt aus- 
drücklich: „Vunitä non & numero“. 

Kästner nennt einen Bruch eine ganze Zahl, deren Einheit ein 
Teil der ursprünglichen Einheit ist und so viele Einheiten hat, als 
der Zähler anzeigt. Irrationalzahlen oder surdische Zahlen lassen sich 
nach Kästner „weder durch ganze Einheiten noch durch Theile der 
Einheit vollkommen richtig ausdrücken“). 

Einen ganz neuen Zahlbegriff, welchem die Mathematiker des 
18. Jahrhunderts gar keine Aufmerksamkeit schenkten, gab Immanuel 
Kant 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft®), worin er sich 
so ausspricht: „Das reine Schema der Größe aber (quantitatis), als eines 
Begriffes des Verstandes ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die 
die suecessive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammen 
befaßt; also ist die Zahl nichts anderes als die Einheit der Synthesis 
des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch 
daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge“, 
Erst im 19. Jahrhundert wurde dieser auf die Vorstellung der Zeit 
gegründete Zahlbegriff von einigen Mathematikern (z.B. W.R. Hamil- 
ton) freundlich aufgenommen. 

Die Erweiterung des Zahlbegriffs durch die Einführung negativer 
Zahlen war die Folge des Bedürfnisses, die Subtraktion allgemein aus- 
führen zu können. Eine solche Allgemeinheit wurde in der Ent- 
wicklung der Algebra schon früh als eine große Bequemlichkeit er- 
kannt. Zur Einführung negativer Zahlen durch die Not gedrungen, 
war es den Mathematikern nie gelungen, die Theorie derselben von 
störenden Paradoxien zu befreien. In der zweiten Hälfte des Jahr- 
hunderts wurden die allgemeinen Erklärungen negativer Zahlen und 
ihrer Operationsregeln allmählich als unzureichend erkannt, ohne daß 
aber im 18. Jahrhundert eine strenge Entwieklung der logischen Vor- 
aussetzungen erreicht wurde. Gegen Ende des Jahrhunderts begegnet 
man Forschern da und dort, die den Zahlbegriff auf positive Zahlen 
beschränken möchten, um dadurch die „Pfuschereien“ in der Mathe- 
matik zu vermeiden. Der Einwand gegen imaginäre Zahlen war noch 
stärker als gegen die negativen, obschon alle Mathematiker ersten 
Ranges von beiden ohne Bedenken beständigen Gebrauch machten. 

Ein Schriftsteller, welcher während der letzten vierzig Jahre des 
Jahrhunderts in England eine Reaktion gegen den Gebrauch von 





') La langue des calculs, p.42. ?) Gherli, op. eit. T.I,p.2. °) Kästner, 
op. eit. 8. 102. *, Kants sämtl. Werke, herausgeg. von Hartenstein, III, 


S. 144. 


80 . Abschnitt XX. 


negativen und imaginären Größen in der Algebra hervorzurufen 
suchte und bei einigen gewissenhaften Mathematikern nicht ersten 
Ranges auch Anerkennung fand, war Francis Maseres (1731 bis 
1824). Schon früher hatte Robert Simson, welcher 1711 zum Pro- 
fessor der Mathematik an der Universität von Glasgow ernannt wurde 
und während beinahe fünfzig Jahren diese Stelle bekleidete, negative 
Zahlen in der Algebra verworfen‘), Maseres schrieb 1758 zu 
London eine in der Gleichungstheorie weiter zu besprechende Dis- 
sertation on the use of the negative sign etc. Er war damals 
„fellow of Clare-Hall“ in Cambridge. In dieser und in späteren 
Schriften sucht er negative, sowie imaginäre Größen aus der Algebra 
zu verbannen, durch welche die sonst klare und elegante Wissenschaft 
bewölkt worden sei. Eine negative Größe definiert er als eine Zahl, 
die von einer größeren abgezogen werden soll. Der Ausdruck a — b 
habe keinen Sinn, wenn b>a ist; (-5)(—5)=-+ 25 bedeute nur, 
daß 5>=<5=25, ohne Rücksicht auf Zeichen, oder es sei lauter 
Unsinn. So lange er nur im Bereich der positiven Zahlen zu rechnen 
unternahm, mußten natürlich alle wirklich negativen Zahlen sinnes- 
widrig erscheinen. 

Die Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie und 
ebenen und sphärischen Trigonometrie von A. G. Kästner, 
welche im gleichen Jahre (1758) zu Göttingen erschienen, enthalten 
eine wirkliche Erweiterung des Zahlbegriffs, obschon die Exposition 
noch immer mangelhaft ist. „Entgegengesetzte Größen heißen Größen 
von einer Art, die unter solchen Bedingungen betrachtet werden, 
daß die eine die andere vermindert“ (I. Cap., Art. 90). „Man kann die ver- 
neinende Größe als etwas, das von der bejahenden abgezogen werden 
muß, ansehen, und also mit dem Zeichen — bezeichnen, wenn die 
bejahende + hat“ (Art. 92). „Die verneinende Größe kann die be- 
jahende übertreffen“ (Art. 95). „Dieses Negative, das übrig bleibt, 
ist eine wirkliche Größe, nur der, die als positiv betrachtet wird, 
entgegengesetzt“ (Art. 94). Die Auffassung, daß eine verneinende 
Größe „abgezogen werden muß“, :hat bis in das 19. Jahrhundert ge- 
dauert. 

Von Kästner beeinflußt, verfaßte Immanuel Kant 1763 eine 
Schrift, Versuch den Begriff der negativen Größen in die 
Weltweisheit einzuführen?). „Einander entgegengesetzt ist, wo- 
von Eines dasjenige aufhebt, was durch das Andere gesetzt ist. 





) C. Wordsworth, Scholae Academicae: Some Account of the Studies at 
English Universities in the 18. Century, 1877, p. 68. 2) I. Kant, Sämmtliche 
Werke, herausg. v. G. Hartenstein, Bd. II, Leipzig 1867, 8. 71—79, 


. Algebra. 81 


Diese Entgegensetzung ist zwiefach; entweder logisch durch den 
Widerspruch, oder real, d. i. ohne Widerspruch“ „Es sind die 
negativen Größen nicht Negationen von Größen, wie die Ähnlichkeit 
des Ausdrucks ihn hat vermuten lassen, sondern etwas an sich selbst 
wahrhaftig Positives, nur was dem andern entgegengesetzt ist.“ Seine 
Exposition der Zeichen + und — ist nicht so gewandt. „Da die 
Subtraetion ein Aufheben ist, welches geschieht, wenn entgegenge- 
setzte Größen zusammengenommen werden, so ist klar, daß das — 
eigentlich nicht ein Zeichen der Subtraction sein könne, wie es ge- 
meiniglich vorgestellt wird, sondern das + und — zusammen nur zu- 
erst eine Abziehung bezeichnen. Daher —4—5=-—9 gar keine 
Subtraetion war, sondern eine wirkliche Vermehrung und Zusammen- 
thuung von Größen einerlei Art. Aber +9 —5=4 bedeutet eine 
Abziehung, indem die Zeichen der Entgegensetzung andeuten, daß 
die eine in der anderen, soviel ihr gleich ist, aufhebe.“ 

Um den Gedankengang in Lehrbüchern in größerer Kürze dar- 
stellen zu können, werden wir die Erklärungen in Eulers Voll- 
ständige Anleitung zur Algebra (1770) vorführen und sie kurz 
mit denen anderer Autoren vergleichen. Das Werk ist in populärem 
Stile geschrieben. Was logische Entwicklung von Grundprinzipien 
anbelangt, kann es aber mehreren anderen Werken dieser Zeit nicht 
vorgestellt werden. Der Ruhm dieses Lehrbuches scheint uns eher 
dem zweiten Teile, über die unbestimmte Analysis, als dem ersten 
Teile zuzuschreiben zu sein. 

In Art. 8 sagt Euler: „Wann zu einer Zahl eine andere hinzu- 
gesetzt oder addiert werden soll, so wird solches durch das Zeichen + 
angedeutet, welches der Zahl vorgesetzt und plus ausgesprochen wird“. 
Art. 11: „Wann hingegen von einer Zahl eine andere weggenommen 
werden soll, oder subtrahirt wird, so wird solches durch das Zeichen — 
minus angedeutet, welches soviel als weniger ist, und derselben 
Zahl, welche weggenommen wird, vorgesetzt wird“. Nach dieser Ein- 
führung von + und — als Operationszeichen liest man folgendes in 
Artikel 16: „Hier kommt also die Hauptsache darauf an, was für ein 
Zeichen eine jegliche Zahl vor sich stehen hat; daher pflegt man in 
der Algebra die Zahlen mit ihren vorstehenden Zeichen als einzelne 
Größen zu betrachten, und diejenigen, welche das Zeichen + vor sich 
haben, bejahende oder positive Größen zu nennen, diejenigen aber, welche 
das Zeichen — vor sich haben, werden verneinende oder negative 
Größen genennet“. Sind nach dieser Erklärung die Zeichen + und 
— noch immer überall als Operationszeichen zu betrachten? Hat 
man in den gewöhnlichen Rechenbüchern nicht auch negative Zahlen 


an Stellen, wo das Zeichen — benutzt wird? Kann eine negative Zahl 
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV, 6 


32 Abschnitt XX. 


zu einer anderen addiert werden? Darüber gibt der Autor keine 
genügende Auskunft. 

Die Zeichen + und — in der Algebra immer nur als Operations- 
zeichen ausdrücklich zu erklären, und sie hernach ohne zulängliche 
Auseinandersetzungen auch zur Bezeichnung positiver und negativer 
Zahlen zu gebrauchen, war ein allgemeines Verfahren in Lehrbüchern 
damaliger Zeit. Man findet es in den Werken von Clairaut, 
Maclaurin, Thomas Simpson, W. Emerson, William Trail!), 
Bezout, Sauri, Blassiere, Büsch, Bürja, Prändel, Karsten, 
Gherli, Paoli, Da Cunha und Bossut. Daß bei diesem Verfahren 
die Erschaffung einer neuen Zahlengattung für die Verallgemeinerung 
der Subtraktion nicht klar hervortritt, ersieht man aus der Bemer- 
kung von Thomas Simpson, daß —a in einem Sinne so unmög- 


lich sei wie VY-— b, da es nicht möglich sei, a von nichts abzuziehen, 
und der Begriff oder Irrglaube einer Größe weniger als Nichts sinnes- 
widrig sei. Trail behauptet, eine negative Größe an sich sei uner- 
klärlich. In einer Pariser Promotionsschrift des Jahres 1774 heißt 
es”): Keine absolute Größe kann — — a; weshalb die Zeichenregel in 
der Multiplikation nur für Polynomien gilt. Daß die Möglichkeit 
negativer Zahlen von vielen geleugnet wurde, ‘erhellt auch aus einer 
Promotionsschrift gleichen Jahres an der Universität Kopenhagen, 
worin negative Größen durch Beispiele erklärt werden?). 

In einigen Lehrbüchern werden + und — zuerst zur Bezeich- 
nung entgegengesetzter Zahlen angewandt und dann später still- 
schweigend auch als Operationszeichen gebraucht. Dieses ist z. B. bei 
Saunderson‘), Le Blond und Haußer der Fall. Die zweifache 
Bedeutung von + und — wird aber in einigen wenigen Schriften 
recht sorgfältig erklärt, z. B. in der Trait& &lömentaire de l’ana- 
Iyse mathematique, Paris 1797, von Jacques Antoine Joseph 
Cousin (1739—1800), Professor an dem College de France. Das 
Werk wurde von ihm zur Zeit der Schreckensherrschaft im Gefäng- 
nis geschrieben. 

Bei der Multiplikation ist folgendes bei Euler (Artikel 32) von 
Interesse: „Wir wollen erstlich —a mit 3 oder +3 multiplieiren; 

') Elements of Algebra for the Use of Students in Universities, 3”4 Ed. 
1789 (1° Ed. 1778). Im Dict. of the anonymous and pseudonymous literature 
of Great Britain, by S. Halkett and J. Laing, Edinburgh 1882, p. 238, wird 
dieses Werk dem Rev. William Trail, Professor der Mathematik am Marishal 
College .zu Aberdeen, zugeschrieben. ’) Theses mathematicas demonstrabit 
Theodorus Anna Bourree de Corberon, 1774 „Nulla quantitas absoluta est 
—= — a; hine in solis polynomiis obtinet signorum regula“. ®) 8. A. Chri- 
stensen, op. eit. S. 180. %) Saundersons Algebra, übersetzt von Grüson, 
Halle 1798, I. Teil, S. 102, 123. 





Algebra. 83 


weil nun — «a als eine Schuld angesehen werden kann, so ist offen- 
bar, daß wann diese Schuld 3mal genommen wird, dieselbe auch 
3 mal größer werden müsse, folglich wird das gesuchte Product — 3a 
seyn.“ Nicht so klar ist der nächste Ausspruch, daß „wann eine 
positive Größe mit einer negativen multiplieirt werden soll, das Pro- 
duct negativ werde“, da der Fall, wo +a mit —b multipliziert 
werden soll, gar nicht besprochen wird. Euler fährt fort (Art. 33): 
„Nun ist also noch dieser Fall zu bestimmen übrig: nämlich, wann — 
mit — multiplieirt wird, oder —a mit —b. Hierbey ist zuerst 
klar, daß, das Product in Ansehung der Buchstaben heißen werde, 
ab: ob _ aber das Zeichen + oder — dafür zu setzen sey, ist noch 
ungewißr so viel aber ist gewis, daß es entweder das eine, oder 
andere seyn muß. Nun aber, sage ich, kann es nicht das Zeichen — 
seyn? Dann —a mit +5 mult. giebt — ab, und also — a mit — b 
mult. kann nicht eben das geben, was — a mit +b giebt, sondern 
es muß das Gegentheil herauskommen, welches nehmlich heißt, + ab. 
Hieraus entsteht die Regul, — mit — multiplieirt giebt + eben so 
wohl als + mit +.“ Diese Aussprüche soll der Leser augenscheinlich 
als einen Beweis der paradoxischen Zeichenregel akzeptieren, obschon 
man dieselben kaum eine Demonstration nennen darf. Euler hätte 
beinahe ebenso gut behaupten können, das Produkt sei — ab, weil 
es eben nieht das geben kann, was +.a mit +5 gibt; ein Schluß, 
den wir später (S. 85) bei Daniel Porro wirklich vorfinden. 
Euler sucht gar nicht zu entscheiden, inwieweit die Operationsregeln 
einfach auf Voraussetzungen beruhen und inwieweit sie wirklich be- 
wiesen werden können. 

Die Beweisführungen dieser Regel in anderen Lehrbüchern 
weichen gewöhnlich von der Eulerschen bedeutend ab. „Um zu be- 
weisen,“ sagt Saunderson!), „daß +4 multiplizirt mit —3, — 12 
macht, multiplizire man + 4 nach einander mit + 3, O0 und — 3, und 
die Produkte machen eine arithmetische Progression; die zwey ersten 
sind 12 und 0, das dritte also — 12, und das Produkt von +4 mit 
— 8 gleich — 12.“ Schreibt man hier überall —4 und +12, statt 
+4 und — 12, hat man Saundersons Nachweis, dß — — =+. 
Der Leser muß dabei mit dem Satze „bekannt gemacht worden seyn“, 
daß wenn Zahlen in arithmetischer Progression durch einen Multipli- 
kator, oder wenn eine Zahl durch jede Zahl einer arithmetischen 
Progression multipliziert wird, die Produkte ebenfalls eine arithme- 
tische Progression bilden. Dieser ohne Beweis angenommene Satz 
birgt aber wichtige Voraussetzungen in sich. 





) Saunderson, Aufl. Grüson, 1798, I, S. 113, 
6* 


34 Abschnitt XX. 


Die Nachweise von Segner'), Karsten?) und Da Cunha?) ruhen 
auf einem unbewiesenen Satz und setzen zu gleicher Zeit stillschwei- 


gend voraus, daß 1-+bdb=+bund1-—b=—b ein Teil dessen, 


was die Autoren beweisen wollen. Der Satz lautet: Wenn in einer 
Proportion die zwei ersten Glieder gleiche (oder ungleiche) Zeichen 
haben, müssen die zwei letzten auch gleiche (oder ungleiche) Zeichen 
haben. Es it 1:a——b:a(—b), 1:—a=b:(—-a)b, 
l:a=b:a.b, 1:—a=—b:(—a)(—b). Also müsse +4-— b und 
—a:+b=—ab, aber ta-+b und —a:-—b=+tab sein. 
Clairaut betrachtet in seiner Algebra (Art. 43, 44, 45, 60) das 
Produkt (a—b)(e—d), wo (a— b) so viel mal zu nehmen, ist, als 
in (c— d) Einheiten sind. Man hat (a—b)e=ac—bc. Um aber 
das richtige Resultat zu erlangen, muß man (a—b)d oder ad — bd 
abziehen, wodurch man das wahre Endresultat ac —be—ad+bd 
erhält. „Es erhellet folglich zugleich, daß das Glied bd,... das 
Zeichen + hat, da indessen die Buchstaben 5b und d,... das Zeichen 
— haben.“ Damit ist aber Ölairaut nicht zufrieden. Man muß 
noch. sehen, „ob, wenn zwo negative Größen, als —b und —d, keine 
positive Größe vor sich haben, ihr Produkt noch bd sey“. Zu dem 
Zweck setzt er a=c=( und erhält —b:-— d=-+bd. Thomas 
Simpson geht nicht so weit; er betrachtet das Produkt von 
(a — b)(ce— d), ohne am Ende a=c=0 zu setzen, und erkennt einen 
Vorzug seines Verfahrens darin, daß Multiplikator und Multiplikand 
beide zusammengesetzte Größen sind. Einfache Größen, wie —b 
und — ce, unabhängig von anderen, seien unmögliche Größen, wegen 
der Unmöglichkeit, Etwas von Nichts abzuziehen. Es sei deshalb 
lächerlich durch wirkliche Demonstration zeigen zu wollen, was das 


Produkt von —b und —c oder von Y—b und Y—c sein muß, 
wenn man von den Werten der zu multiplizierenden Größen keine 
Idee habe. 

William Frend?) kritisiert das Clairautsche Verfahren a=c=0 
zu setzen, weil Clairaut das Zeichen — als Subtraktionszeichen 
definiert habe, und die Subtraktion, in der Abwesenheit eines Minuenden, 
keinen Sinn habe, also —b und —d nicht selbständig existieren 
können. Der Beweis, den wir von Simpson entnahmen, wird von 
Bezout, Sauri, Lhuilier°) und vielen anderen Autoren angegeben. 

Eine zweite weitverbreitete Beweismethode entnehmen wir aus 





) Segner, op. cit. I, 8.43. 2?) Karsten, op. cit. I, 8. 77, 79, °) Da 
Cunha, Principios mathematicos, Lisboa 1790, p. 101. *, Principles of Al- 
gebra, London 1796, p. 514—518. °) Anl. zur Elementaralgebra, 1. Teil, Tübingen 
1799. Lhuilier war seit’1795 Professor in Genf. 


Algebra. 85 


den Vorlesungen von Laplace!) 1795. „Cette regle“, sagt er, „pre- 
sente quelques difficultes.“ Das Produkt von — a mit b— b ist +0, 
dasjenige von —a mit +b ist —ab, weshalb —a-—b den Wert 
+ ab annehmen muß. Diesen Nachweis gaben auch W. Emerson?), 
Maclaurin (5. Auflage), Basedow und Paulus Mako. 

In den zwei letzten Demonstrationen wird die Natur der still- 
schweigend vorausgesetzten Gesetze leichter wahrgenommen. In beiden 
sollte das distributive Gesetz als logischer Vordersatz angeführt sein. 
In allen „Beweisen“ der Zeichenregel für die Multiplikation, welche 
im 18. Jahrhundert gegeben wurden, werden Schlüsse gezogen, welche 
auf kein Grundgesetz zurückgeführt werden und deshalb in Wirklich- 
keit keine Deduktionen, sondern bloß Expositionen einer in der Praxis 
nützlich gefundenen Verfahrungsweise sind. 

Ein Werk, welches der Unklarheit in der Auseinandersetzung 
der Grundprinzipien der Algebra seinen Ursprung verdankt, wurde 
von Francois Daniel Porro (1729—1795) von Besancon anonym 
unter dem Titel L’Algebre selon ses vrais principes, ä& Londres, 
& Paris et & Besancon 1789, veröffentlicht. Früher erschien von ihm 
Exposition du caleul des quantites negatives, Avignon (Be- 
sangon) 1784. Der Autor klagt, in der gewöhnlichen Darstellung 
.der Algebra hätten die Zeichen + und — je vier Bedeutungen. Das 
Symbol — bedeute 1) Subtraktion, 2) negative Größe, 3) Division, 


wie in a'°, 4) Multiplikation, wie in „; = 1x a?, parce que la 


quantite a? precedee du signe —, devient facteur du num£rateur en 
changeant son signe“. Auch sei die Multiplikationsregel, — - — gibt +, 
zu verwerfen, denn diese Regel sei die Ursache des Streits über 
negative Größen, Imaginäres, den irreduktiblen Fall und Logarithmen 
negativer Größen. Dieses Übel könne man dadurch beseitigen, daß 
man annehme +-+ gibt + und —-— gibt — Diese zwei Prin- 
zipien gäben zwei Kalkülssorten, deren jede ihre eigenen Regeln 
hätte. In diesen Schriften hervorzuheben ist wohl der Gedanke des 
Autors, daß Grundoperationen in Algebra hauptsächlich Voraus- 
setzungen sind, und daß verschiedene Annahmen verschiedene Arten 
der Algebra liefern. 

Die Theorie negativer Größen wird auch von einem Professor 
der Mathematik an dem College national de Toulouse, Gratien 
Olleac, in einer Schrift, Sur des the&ories nouvelles des 
nombres opposes, des imaginaires et des &quations du 





3 Journal de l’6&cole polytechnique. Septieme et huitiöme cahiers. T. II, 
Paris 1812, p. 30. ?) Treatise of Algebra, London 1780. 


86 Abschnitt XX. 


troisieme degre, ä Toulouse, an IT (1794) behandelt. Man solle 
die Wolfsche Idee der Heterogenität entgegengesetzter Zahlen, der 
zufolge sie miteinander keine Verhältnisse haben können, als absurd 
fallen lassen und die Descartessche Idee der Realität der negativen 
sowohl als der positiven Zahlen annehmen. 

An der Universität Cambridge sowie auch auf anderen Hoch- 
schulen in England hatte Baron Maseres’ arithmetische Auffassung 
der Algebra gegen Ende des Jahrhunderts viele Nachfolger, denn nur 
durch die Fortschaffung negativer Zahlen glaubte man die Algebra zu 
den auf strenge Beweise gegründeten Wissenschaften zählen zu 
dürfen. 

Uns ist nur eine Schrift bekannt, worin der Standpunkt von 
Maseres kritisiert wird. In einer Schrift On the use of negative 
quantities in the solution of problems by algebraie equa- 
tions!) beklagt William Greenfield, Pfarrer der St. Andrewskirche 
und Professor der Rhetorik an der Universität Edinburgh, daß 
Maseres sein Geschick der Umstürzung, statt der Befestigung, 
der Theorien des Negativen zugewandt habe. Er selber versucht eine 
Erklärung, indem er das Zeichen — immer nur als Subträktions- 
zeichen ansieht. Wenn ein Problem es erlaubt, eine Unbekannte x 
in zwei entgegengesetzten Lagen anzunehmen, dann wird die @lei- 
chung, welche die Bedingungen ausdrückt, die x in einer seiner 
Lagen verlangt, und deren positive Wurzeln die Werte von & für 
dieselbe Lage geben, zu gleicher Zeit auch, durch ihre negativen 
Wurzeln, die Werte von x für die entgegengesetzte Lage liefern. 
Ähnliches schließt Greenfield für den Fall, wo eine bekannte 
Größe entgegengesetzte Lagen einnehmen kann. Die Rechtfertigung 
negativer Größen beruht also bei Greenfield auf der Kenntnis, daß 
wirklich zwei Probleme auf einmal gelöst werden, und man für beide 
richtige Resultate erreicht. 

Um den Einfluß von Maseres auf Lehrer der Mathematik zu 
erkennen, braucht man nur die Lehrbücher von Nicolas Vilant?), 
Professor der Mathematik an der Universität St. Andrews zu Edin- 
burgh, von Thomas Manning?) in Cambridge, von W. Ludlamt), 
„tellow of St. John’s College“ in Cambridge, zu durchblättern. Be- 
sonders in der Exposition der Gleichungstheorie kommt Maseres’ 
Standpunkt stark zum Vorschein. Ludlam lehrt, daß entgegengesetzte 





‘) Trans. of the Roy. Soc. of Edinburgh, Vol. 1, Edinburgh 1788, p. 131 
bis 145. *) Elements of Mathematical Analysis, Edinburgh 1798. ®) Intro- 
duction to Arithmetic and Algebra, Cambridge 1796. _*) Rudiments of Mathe- 
matics designed for the use of students at the Universities, 5t* Ed., Lon- 
don 1809. 


Algebra. 87 


Größen kein Verhältnis hätten. Die Proportion —1:1=1:—1 werde 
als eine wunderbare Paradoxie angeführt, da — 1 (eine Zahl weniger 
als O und deshalb weniger als 1) zu einer größeren sein sollte, wie 
diese größere zur kleineren. In diesen Verhältnissen dürfe man aber 
nur die absoluten Werte in Betracht ziehen'). 

Nach Maseres war der bekannteste Gegner des Negativen in 
England zu dieser Zeit William Frend (1757—1841). Er promo- 
vierte 1780 an Christ’s College in Cambridge als zweiter „wrangler“. 
Nachdem er ein halb Dutzend Jahre lang als Tutor der Mathematik 
an der Universität gewirkt hatte, wurde er durch die Paradoxien, 
über „Zahlen weniger als Nichts“, über —a-—b=-+ab, über 
imaginäre Zahlen, deren Produkt die Einheit ist, zur Verwerfung 
aller negativen und imaginären Zahlen und zur Vorbereitung eines 
Lehrbuches einer streng arithmetischen Buchstabenrechnung ge- 
führt. So entstand sein Werk, Principles of Algebra, London 
1796, mit einem Appendix über Gleichungen von Franeis 
Maseres. 

Die Argumente, welche diese Gegner der Algebra vorbrachten, 
waren unanfechtbar. Der Ausdruck, negative Zahlen sind „weniger 
als Nichts“ oder, nach Newton, „nihilo minores“, war nicht gehörig 
definiert und deshalb paradoxisch. Negative Zahlen, definiert als 
solche, die „abgezogen werden müssen“, waren gewiß sinneswidrig, 
sobald der Subtrahend größer als der Minuend angenommen wurde. 
Man versuchte in den Lehrbüchern das Unmögliche zu tun, nämlich 
negative Zahlen aus positiven Zahlen abzuleiten, ohne die Operation 
der Subtraktion ausdrücklich zu erweitern oder den Begriff „weniger 
als Nichts“ zu beleuchten. Eine solche Erweiterung oder Beleuchtung 
hätte die Verallgemeinerung des Zahlbegriffs erfordert. In keinem 
Lehrbuche erschienen aber negative Zahlen in klarem Lichte, als 
eine willkürliche Erweiterung des Zahlbereichs, oder als eine Annahme 
(Voraussetzung), welche mit der Annahme positiver Zahlen auf 
gleicher Stufe stand und in der Definition selbst die Existenz nega- 
tiver Zahlen begründete. 

Die besprochene Reaktion ist eine eigentümliche Erscheinung in 
der Geschichte der Mathematik. Gewiß fehlte es dem Robert 
Simson, Maseres und Frend an Einsicht, an einem ins Innere ein- 
dringenden Erkennen. Sonst, statt negative und imaginäre Zahlen, 
welche nie falsche Resultate lieferten und eine große Ökonomie im 
mathematischen Arbeiten erzielten, zu verwerfen, wären sie tiefer ın 
die Theorie derselben gedrungen, um ihre logischen Grundlagen zu 





!) Rudiments of Mathematics, 8. 31. 


88 . Abschnitt XX. 


entdecken. Der erste, der an der Universität Cambridge dieses ver- 
suchte und die Opposition gegen die Erweiterung des Zahlbereichs zu ent- 
fernen strebte, war Robert Woodhouse, welcher 1801 in den 
Philosophical Transactions eine Abhandlung über Algebra ver- 
öffentlichte. Eine 1806 dort gedruckte Arbeit über imaginäre Größen 
vom Abbe Bu&e soll dem Lesen von Frends Algebra seinen Ursprung 
verdanken. Ein Brief von Bude an Frend führt auf diese Ver- 
mutung!). 

In Deutschland Sbaaliken 1795 ein Artikel Über die Lehre von 
den entgegengesetzten Größen?) von Georg Simon Klügel 
(1739—1812), Professor zu Halle, worin der Verfasser nahe daran 
war, einen wichtigen Schritt in der Exposition der Algebra vorzu- 
nehmen. Er führt acht Vorschriften für die gemeinen Operationen 
der Buchstabenrechnung an, welche das distributive Gesetz aus- 


drücken. Z.B. VII: 
(a+b)\(e - NM =-ale—dM+b(le—d)=ac—-ad+be—bd. 


Es findet sich hier ein Versuch vor, die Formalgesetze der Algebra 
festzusetzen. Es wird aber angenommen, daß in der Formel VII der 
Subtrahend kleiner als der Minuend sei. Jeder Rest und Quotient 
wird ursprünglich als positiv angesehen. Aus VII erhelle es, daß ein 
Produkt aus zwei Faktoren das Zeichen — erhält, wenn die Faktoren 
verschiedene Zeichen haben. 

So lange über negative Zahlen keine klaren Begriffe existierten, 
ist nicht zu verwundern, wenn imaginäre Größen allgemein als un- 
möglich angesehen wurden. Euler drückt sich in seiner ‘Algebra 
(Art. 143, 144) so aus: „Weil nun alle mögliche Zahlen, die man 
sich nur immer vorstellen mag, entweder größer oder kleiner sind 
als 0, oder etwa O0 selbst; so ist klar, daß die Quadratwurzel 
von Negativ-Zahlen nicht einmal unter die möglichen Zahlen können 
gerechnet werden.... Von diesen behauptet man also mit allem 
Recht, daß sie weder größer noch kleiner sind als nichts; und auch 
nicht einmahl nichts selbsten, als aus welchem Grund sie folglich für 
ohnmöglich gehalten werden müssen.“ Eine andere Auffassung findet 
man in einem Werke, El&ments de mathematiques ä l’usage 
des ecoles nationales, Toulouse et Paris 1781 (nouv. Ed,, Paris, 
an X) von Roger Martin (?— 1811), welcher sich viel Mühe nimmt, 
die Grundprinzipien deutlich darzulegen. Nach Euklid definiert er 
die Einheit als den abstrakten Begriff dessen, was irgend ein einziges 





') A. De Morgan, Trigonometry and Double Algebra, London 1849, p. V: 
?) Archiv d. r. u. a. Math. (Hindenburg), Bd. I, 1795, S. 309—319, 470—481. 


Algebra. 89 


Dasein vorstellt, und die Zahl als eine Menge gleicher Einheiten. 
Irrationale und imaginäre Größen seien auch Zahlen. Nehme man 


V-1 als Einheit, könne man 2Y— 1, 3Y—1 durch Wiederholungen 
erlangen, was für den Begriff einer Zahl genüge. „Rien n’empäche 
done de mettre les imaginaires au rang des nombres.“ 

In einer Schrift, On the arithmetie of impossible quan- 
tities') gibt John Playfair (1748—1819), der schottische Mathe- 
matiker und Physiker, eine naive Erklärung, warum der Gebrauch 
von imaginären Größen zu richtigen Resultaten führe. Operationen 
mit imaginären Schriftzeichen, obschon in sich selbst unsinnig, seien 
Kennzeichen für andere, welche Sinn mit sich führen. Dies werde bei 
der Berechnung von Sinus und Kosinus in bezug auf den Kreis und 
die Hyperbel besprochen. Wenn Untersuchungen, die mit imaginären 
Größen durchgeführt werden, ebenso erfolgreich zur Wahrheit leiten, 
als solche mit reellen Größen, so könne dieser Umstand nur einer 
Analogie zugeschrieben werden, welche zwischen den untersuchten 
Gegenständen existiere, eine Analogie, die so eng sei, daß jede Eigen- 
‚schaft des einen auf den anderen Gegenstand übertragen werden 
könne. Demnach könne jeder Ausdruck, den er beim Kreise abgeleitet 


habe, durch Substitution von Yl für Y— 1, in einen für die Hyperbel 
gültigen Ausdruck umgeändert werden. Die mit imaginären Symbolen 
durchgeführten Operationen, obschon an sich absurd, dienen als Weg- 
weiser zu solchen, welche verständlich seien. Diese Abhandlung 
Playfairs machte großen Eindruck in England, und 1801 fand 
Robert Woodhouse?) es noch nötig, die Unzulänglichkeit dieser 
Erklärung hervorzuheben. 

Eine eigentümliche Angabe findet man in W. Emersons Trea- 
tise of Algebra, welcher 1780 zu London erschien. Auf $. 67 heißt 
es: „Wenn imaginäre Wurzeln miteinander multipliziert werden, geben 
sie immer —, sonst würde ein reelles Produkt von unmöglichen Fak- 


toren entspringen, was sinneswidrig wäre. Also V- axVY—-b=YV-alb, 
und V-a=—_ Y-b=— V- ab, ete. Auch Y-a=Y-a=-.a, 
und V-ax<-—- Y-a=+ a, etc.“ Diese widersprüchlichen Angaben 
werden nicht weiter erklärt oder angewandt. Überhaupt ist die Ent- 
wicklung fundamentaler Begriffe bei Emerson sehr mangelhaft. 

_ In Huttons Mathematical and Philosophical Dictionary, 
London 1796, wird im Artikel „Imaginary“ hervorgehoben, daß man 
über die Arithmetik imaginärer Größen noch keine Übereinstimmung 
") Phil. Trans., Vol. 68 for the year 1778, Pt. I, p. 318—343. ?) Phil. 
Trans., 1801, S. 89. 


90 Abschnitt XX. 


erreicht habe. Euler schreibe- in seiner Algebra (Y—-3)’—- 3, 


setze aber V-1-Y—4=Y4=2. Wie könne die Gleichheit oder 
Ungleichheit der Faktoren die Zeichen beeinflussen? Er schreibe 


auch Te n_ — V— 1, woraus Y-1-Y—1=Y-+1 zu ziehen 
sei. Über die Behauptung von Emerson, daß das Produkt imagi- 
närer Größen selbst imaginär sein müsse, bemerkt Hutton, daß 
die Schriftsteller in ihren Ansichten hierüber ziemlich gleich geteilt 
seien. 

Imaginäre Zahlen werden in der Geschichte der Gleichungs- 
theorie sehr oft auftreten. Auch spielen sie in der Diskussion über 
Logarithmen von negativen Zahlen eine hervorragende Rolle. 

Wir lassen nun einige Einzeluntersuchungen folgen. 

Die Zerlegung eines Bruches in Partialbrüche wird von Nicolaus 
Fuß in seinen Meditationes circa resolutionem fractionis 
a” (2 — a)(0 — b)(x — c)(x — d) ete. in fractiones simplices, ubı 
simul demonstratio insignis theorematis arıthmetici oceur- 
rit?!) durch einen von dem Verfahren Eulers in seinen Institutiones 
caleuli integralis verschiedenen Vorgang ausgeführt. Fuß setzt 
(I), (2 /(x — a)(@ — b)(ete.) = a/2 — a+ P/& —b-+:--, multipliziert 
nun mit (x — a) und nimmt «= a, woraus « = a*/(a — b)(a— c)(ete.) 
hervorgeht. Die gleiche Methode ergibt die Werte von ß,7,.. 
Multipliziert man beide Seiten von (I) mit x, und setzt x —= , hat. 
man 1=«+ß+::-., wenn m-+1 der Anzahl Faktoren » gleich 
ist; wenn aber m +1 <n ist, ergibt ssch0O= «+ ß + - -- Letztere 
Formeln enthalten den im Titel angedeuteten arithmetischen Satz. 

Eine neue Bruchvereinfachungsmethode wurde von Euler in der 
Abhandlung Nova methodus fractiones quasconque rationales 
in fractiones simplices resolvendi?) auseinandergesetzt. Wir 





wählen das einfache Beispiel eines Bruches = dessen Nenner den Faktor 


z2— 4a) hat. Man setze z=a-+ 0» und gebe dem Bruch die Form 
g 





A Bo (do? ... 4 4; 
a ee, 


woraus sich « = ee B= = _ = ‚. ergibt. Die Methode ist auch 


auf transzendente Funktionen anwendbar. In der Behandlung des 
sin ® i 
tan® — cos® 





Bruches werden, im Laufe der Analysis, imaginäre 





1) Acta Acad. scient. imp. Petr. pro anno 1777, pars prior. Petropoli 1778, 
p. 91—104. ?) Ebenda. 1780, pars prior. Petropoli 1783, p. 32—46. 


Algebra. 91 


Winkel eingeführt, die von der Unerschrockenheit, mit welcher Euler 
imaginäre Größen zu gebrauchen gewöhnt war, Zeugnis geben. 

Einen Satz über Mittelwerte teilt Johann Nikolaus Tetens 
(1736— 1807), Professor in Kiel, in einer Schrift, Beweis eines 
Lehrsatzes von dem Mittelpunkte der Coeffiecienten in den 
Polynomien') mit. Er sei darauf bei der Berechnung von Leib- 
renten gekommen. Hat man P=a+bxz-+ca? +.... +12” und 
ula+b+c+--+)=b+2c+3d+---+mt, auch IT=« 
+ße +ya?+--- 2”, wo v(e+ß+. +N)=-ß+2y+--- +mr, 
dann hat man in PI=A+Bx+--- + Ta"", (u+v)(A+B+---+T) 
=B+2C+:::mnT. Dann folgen Betrachtungen über das Durch- 
schnittsglied. 

Burja?) schlägt für den Elementarunterricht eine Methode zur 
" Logarithmenberechnung vor, welche direkter sei als die älteren 
Methoden und geringere Kenntnisse voraussetze als die Reihen- 
methode. Sie besteht in der sukzessiven Ausziehung der Quadrat- 
wurzel von 10, der 5. Wurzel dieser Quadratwurzel, der Quadrat- 
wurzel des letzten Resultats usw., um dadurch die Zahlen zu finden, 
deren Logarithmen 0,5, 0,1, 0,05, 0,01, 0,005 usw. sind. Durch Kom- 
bination dieser Resultate kann irgend ein Logarithmus im Briggschen 
Systeme gefunden werden. In einer anderen Schrift, Essai d’un 
nouvel algorithme des logarithmes?) schlägt er den Logarithmus- 
kalkül als eine den sechs primitiven Operationen der Arithmetik 
(Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Potenzierung, Wurzel- 


. i . . . . a 
ausziehung) anzureihende Operation vor, und bezeichnet mit zoom 


eine Zahl a, deren Logarithmus, zur Basis b, m ist. 

Christian Kramp (1760—1826) entwickelt in einer Abhand- 
lung, Fraetionum Wallisianarum Analysis‘, einen Kalkül für 
die Berechnung der Werte von Brüchen wie der von Wallis ge- 


brauchte Ausdruck von =. Kramp schreibt a(a+v)(a+2»):.. 


(a+nv—v) so a”, wo x an dieser Stelle nur als Separations- 
zeichen dient. Er erhält a” - (a+nv)"""= ar” (a + mw)’ 


| Rn Be 
und, wenn a+tnv=b, amt mm a” ——-(a-+mo) 
Nimmt man b— a«—=d und m unendlich groß, dann wird a(a+v) 
d 


: Be £ 
(a+2») ete. in inf.--(a+d)(a+d-v)ete. in nf. =—a’" - (oo v)”. 





‘) Leipziger Magazin für r. u. a. Math. (Hindenburg), 1787, S. 55—62. 
?) N. M&moires de l’acad.roy. des sciences, 1786—1787, Berlin 1792, p. 433—478. 
°) Ebenda, 1788 et 1789, Berlin 1793, p. 300—325. *, Nova Acad. Elect. 
Moguntinae scient. utilium, ann. 1797—1799, Erfurti 1799, p. 257— 292. 


02 Abschnitt XX. 


Nun wird a®”’ in die Reihe entwickelt a” (1 + Aa='v+ Ba’? + 
etc, wo A=m(m+1)= (m — 1)+-2(m+1), 2B+-(m—D(m+1) 


= A(m—-1)-2(m+1-— . ‚ ete., oder, wenn diese divergiert, in 


die Reihe U(l + Au+BwW+:-), wo u=v-(a+nv) und 


| 2-.2:4:4-6-6 
— gmav Wil nnV 
U = a””’ (a + nv)" -- (a + mv)*””. Auf den Bruch — 5.5.5.7 


etc. angewandt, wird dessen Wert 93”? .273”° berechnet. Wenn 
man in 





sin ma m i1—m 14m 2%2—m 2-m 








etc. 


sin nz ” TER IH ITHi2rn 
für n, = —n, und für m, - — m schreibt, hat man einen ähnlichen 
Bruch, der, für m =n, einen Ausdruck für tan mx liefert, welcher 
Kramp neu zu sein glaubt, da dem berühmten Pfaff, in seinem Werk 
Beiträge zur Summationslehre, die Herleitung einer solchen 
Form nicht gelungen sei. 

Wichtige Untersuchungen wurden von Waring in England vor- 
genommen. 

Edward Waring (1734—1798)!) wurde bei Shrewsbury ge- 
boren, ging 1753 auf das Magdalen College in Cambridge, wo er 1757 
promovierte und „senior wrangler“ ward. Er wurde 1760, bevor er 
durch Erlangung der Magisterwürde sich qualifiziert hatte, zum 
Lucasianprofessor der Mathematik in Cambridge erwählt. Franeis 
Maseres war sein Rivalkandidat. Wegen seiner Jugend fand Warings 
Kandidatur Opposition. Um seine Fähigkeiten zu zeigen, sandte er 
vor der Wahl das erste Kapitel seiner Miscellanea Analytica 
herum, welches von William Samuel Powell wegen einiger unbe- 
deutender Fehler angegriffen wurde. Es erschienen mehrere: Streit- 
schriften. Waring wurde in diesem Streite von seinem Freunde, John 
Wilson vom Peterhouse College, unterstützt. Seine Miscellanea 
analytica deaequationibus algebraicis et curvarum proprie- 
tatibus wurde 1762 zu Cambridge veröffentlicht, seine Meditationes 
algebraicae 1770, seine Proprietatis algebraicarum curvarum 
1772, seine Meditationes analyticae 1776. Diese Werke ent- 
halten viel Neues, sind aber in der Darstellungsmethode sehr mangel- 
haft. Er soll in Cambridge keine Vorlesungen gehalten haben. Seine 
tiefen Untersuchungen waren zur Mitteilung durch Vorlesungen nicht 
geeignet, sagt Dr. Parr. Waring soll gestanden haben, daß er in 
England, außer in Cambridge, von niemandem je gehört habe, der 
seine Schriften gelesen und verstanden habe. Mit Mathematikern des 





ı) Dietionary Nat. Biog. (L. Stephen). 


Algebra. 93 


Festlandes scheint er wenig in Briefwechsel gewesen zu sein. Im 
Jahre 1782 bemerkte er, daß er 1763 ein Exemplar seiner Miscel- 
lanea an L. Euler, und 1770 Exemplare seiner Meditationes 
algebraicae an D’Alembert, Bezout, Montucla, Euler, La- 
grange und Frisi geschieht abe: Aber nur Frisi habs den Empfsug 
des Werkes bestätigt!). in seinen Schriften erwähnte aber La- 
grange 1771 die Verdienste Warings. Die Meditationes alge- 
braicae seienein „ouvrage rempli d’excellentes recherches“?). Waring 
wurde 1763 als Mitglied der Royal Society of London aufgenommen, 
aber schon 1757 schickte er, wie er selber erzählt?), einige Unter- 
suchungen ein, welche er zur Zeit seiner Kandidatur 1759 drucken 
ließ. Unter diesen soll eine Methode, die Anzahl imaginärer Wurzeln 
in der Quartic und Quintie und in =” + Aa" + B=0 zu finden, ge- 
wesen sein‘). Es ist wahrscheinlich letztere Mitteilung, welche 1764 
von der Royal Society gedruckt wurde’). Ohne Beweis führt er dort 
Sätze über die Anzahl komplexer Wurzeln der Gleichungen 
xt + ga? —- r +s=0,  +ga®—r® +se—-t=0 an. Ist in der 
Quartie der Ausdruck 2565? — 128 9?5?+ (144r?g + 16!) s — 27 
r* — 4r?gq? negativ, so existieren zwei es Wurzeln; ist dieser 
Ausdruck positiv, und entweder —g oder  — 4s negativ, dann sind 
alle Wurzeln u; verschwindet dieser Ausdruck, und ist ent- 
weder — q oder 9’ — 4s negativ, so sind die zwei ungleichen Wurzeln 
imaginär. Ähnliche, aber viel weitläufigere Ausdrücke sind für die 
Quintie angegeben‘). Waring war der erste, ein solches Kriterium 
für die Quintie abzuleiten. Dieses ist durch eine von ihm erfundene 
Transformation erzielt worden, wodurch eine Gleichung deduziert wird, 
deren Wurzeln die Quadrate der Wurzeldifferenzen der vorgelegten 
Gleichung sind, um dadurch notwendige, sowie auch hinreichende Be- 
dingungen für das Vorhandensein imaginärer Wurzeln zu erhalten. 
In den Miscellanea analytica, 1762, 8. 17, werden die drei ersten 
Glieder der allgemeinen transförmierten Gleichung ohne Ableitung an- 
gegeben. Wenn die Zeichen derselben beständig abwechseln, habe 
die vorgelegte Gleichung keine imaginären Wurzeln. Dieses berühmte 
Verfahren hat später Lagrange unabhängig ausgearbeitet. In seinen 
nachfolgenden Werken hat er aber Warings Priorität angezeigt’). 

ei Waring fängt in den Miscellanea analytiea mit der Ab- 





') Meditationes algebraicae, Ed. tertia, 1782, p. XXI. 2) Lagrange, 
Oeuvres, T. II, p. 370. ®) Med. alg. 1782, p. XXVIL. *) Phil. Trans. (London), 
Vol. 77, 1787, p. 71. Vgl. Med. alg. 1782, p. 91. °) Phil. Trans., Vol. 53. For 
the year 1763, London 1764, p. 294—298. 6%, Abgedruckt in Med. alg. 1782, 
p- 85, und in Lagrange, De la r6sol. des dquat. num. Note IH. )Dela 
resolution des &quations num6riques, Paris, An VI, Note II. 


94 Abschnitt XX. 


leitung seiner Formel für die Potenzsummen der Wurzeln an. Sie 
unterscheidet sich von den Newtonschen dadurch, daß statt durch 
rekurrierende Darstellung eine Summe s, durch Summen niedrigeren 
Grades, 8,_4, $,_g, - - -, zu berechnen, sie die Summe ganz unabhängig 
von früheren Ergebnissen darstellt. Auch führt Waring eine Formel 
für die Darstellung eines Koeffizienten der Gleichung durch die 
Potenzsummen s$,, $,... an. Gleichfalls als Waringsche Formeln 
bekannt sind diejenigen‘), mittels welcher man beliebige ganze sym- 
metrische Funktionen mit Gliedern «“ß?y°0?s° usw. direkt als Funk- 
tionen der @leichungskoeffizienten ausdrücken kann. Er skizziert 
dann das Verfahren, mittels symmetrischer Funktionen eine Gleichung 
zu finden, deren Wurzeln irgend eine gegebene Relation zu den 


Wurzeln einer oder mehrerer gegebenen Gleichungen haben. Durch 
A: 
die Annahme 9» = x" könne man dasselbe zur Wegschaffung von 
1 
Radikalen x” anwenden. Um imaginäre Wurzeln einer Gleichung 


ar — paar + ga"? — ra”? tete. —0 zu entdecken, gibt er 
ohne Nachweis die Regel S. 18: Man eliminiere v aus den zwei Glei- 
chungen 2nv?*-t— (2n — 1)pv?"-? + (2n — 2)qu?"? — etc. = 0 
und v2” — pv?r-1 + qu?”-?—ete.=w; wenn in der resultierenden 
Gleichung w?”=1— Pw?"-?-+ Qw?”-*—.ete. = 0, P, Q, etc. alle positiv 
sind, habe die vorgelegte Gleichung keine reellen Wurzeln. Um die 
Grenzen von Wurzeln zu bestimmen, transformiert er die gegebene 
Gleichung in eine andere, deren Wurzeln die reziproken Wurzel- 
differenzen 1/(@ — ß), 1/(« — y), 1/(@ — Ö), ete. der vorgelegten Glei- 
chung sind. Diese Methode wurde später von Lagrange wieder er- 
funden?). 
* Waring nimmt Wurzelformen wie 


«-Va+y-» +Va-yY-® 
an, und berechnet durch Wegschaffung der Radikalen die entsprechende 
Gleichung. Mit einer solehen Auflösungsmethode hatte Euler schon 
1732 (Bd.IIB, 8.574) experimentiert. Für die Quarticmachte Waring die 
Annahme?) = Vae+Yß+Yy und leitet die kubische Gleichung 
zur Bestimmung von «, ß,y ab. Für die Quintie macht er die ganz 
ähnliche Voraussetzung‘) = Ya + YB+YVy+Yod und läßt dann 
die unklare Bemerkung folgen: „Ich habe durch Berechnung gefunden, 
daß die biquadratische Gleichung, deren Wurzeln «, ß, y, ö sind, not- 





t) Misc. analyt., p. 8. 2) Lagrange, op. eit., Note III. ®) Misc. 
analyt., p. 45. *, Ebenda, p. 47. 


Algebra. 95 


wendig irrationale Größen habe, und daß die vorgelegte Gleichung 
durch diese Methode nicht auflösbar ist“!), Was sollen irrationale 
Größen hier bedeuten? Waren nach der Ansicht des Verfassers 
Irrationale anderer Natur als Radikale? Oder gründete er seinen 
Einwand gegen irrationale Koeffizienten der Quartie auf die schein- 
bare Unmöglichkeit dieselben zu berechnen? Daß die Auflösung von 
Gleichungen gewöhnlich auf der Lösung von Hilfsgleichungen höherer 
Grade beruht, davon hat sich Waring durch seine Beispiele von 
Gleichungen, welche vorgelegte Wurzelformen haben, überzeugt?). * 

Waring schlägt aber noch eine andere Wurzelform vor, welche 
einige Jahre später auch Euler und B6zout benutzten. Mit lako- 


nischer Kürze sagt Waring°): „Aufzulösen 2 — ayp+byVp 
te VP+ AV... AVpt 4 BYpr5 + 0 Ypr3 4 DYpr-i. Man 
rotte die irrationalen Größen aus und erhalte 

=" —nxaD+bO+cB+dA, ete. #"-? + ete. — 0. 


Daraus kann man die Auflösung kubischer Gleichungen entnehmen.“ 
Letztere Lösung wird durchgeführt. 

Im 18. Jahrhundert beschäftigte sich die Pariser Akademie der 
Wissenschaften dreimal mit der Bestimmung der Anzahl imaginärer 
Gleichungswurzeln. Das erstemal 1743, als de Gua eine Ab- 
handlung mitteilte; das zweitemal, als Fontaine seine Resultate vor- 
legte, und das drittemal, als 1772 du Sejour seine Studien veröffent- 
liehte. Die Untersuchungen von de Gua und die erste Schrift von 
Fontaine sind schon im dritten Band dieser Geschichte besprochen 
worden. Eine zweite Arbeit des Fontaine, L’art de resoudre les 
equations, wurde 1764 veröffentlicht‘). Es ist ein langer Aufsatz, 
welcher die Methoden seiner ersten Schrift auch auf Gleichungen 
4. und 5. Grades anzuwenden sucht. Er zählt für quartische Glei- 
‘ chungen 617 mögliche Fälle auf. Sein Verfahren ist für praktische 
Zwecke ungeeignet und von theoretischer Seite, wie Lagrange°) her- 
vorgehoben hat, unbefriedigend. 

In einer Abhandlung De funetionum algebraicarum integra- 
rum factoribus trinomialibus realibus commentatio®) nimmt 
Franz Ulrich Theodor Aepinus (1724—1802) die Wurzelexistenz 


stillschweigend an und zeigt, daß, wenn -+m-+n V-1 ein Faktor 








') Man sehe auch Meditationes algebraicae, 1782, p. 182, 183. °) Miscel- 
lanea analyt., p. 47. °) Ebenda, p- 44. *) Me&moires donnes A l’acad. roy. des 
sciences, non imprim6s dans leur temps. Par M. Fontaine, de cette academie, 
Paris 1764, p. 432—588. °) De la r6sol. des equat. num.,(Note VI.) °®) Novi 
Comm. acad. Sc. imp. Petropolitanae, Tom. VII, 1760 et 1764, Petropoli 1763, 


p. 169—180, 


96 Abschnitt XX. 


von a” taa@”+!+t..., ee ze +m-—nYV-—1 auch ist. Dabei wählt 
er für m +nYV- 1 die trigonometrische Form « (cos® + sin® Y— 1), 
so daß 

2” = a’ (cosv® + sinv® V— 1). 


Dureh Substitution des Wertes von x ergibt sich die Gleichung 
P+Q0y-1=0 und P=Q=0, worauf dann folgt, daB = 
&(cos® — sin®Y— 1) die Relation P— QY-1 liefert und des- 
halb eine Wurzel der vorgelegten Gleichung ist. 

In der Abhandlung De Resolutione aequationum cuiusvis 
gradus!) macht L. Euler einen seiner Abhandlung?) von 1732 ähn- 
lichen Versuch, die allgemeine Auflösung algebraischer Gleichungen 
zu finden. Wie vor dreißig Jahren, so glaubt er jetzt aus der Tat- 
sache, daß eine quadratische Gleichung durch die Ausziehung von 
Quadratwurzeln, eine kubische Gleichung durch Ausziehung von 
Quadrat- und Kubikwurzeln, und eine Gleichung vierten Grades durch 
Ausziehung biquadratischer Wurzeln gelöst werden kann, annehmen 
zu dürfen, daß sich die Wurzelform einer Gleichung n“" Grades 
durch Radikale nicht höher als n“" Ordnung ausdrücken lasse. 
Statt aber, wie 1732, für eine solehe (vom zweiten Gliede befreite) 
Gleichung die Wurzelform von n — 1 Gliedern 

a—-Va+VB+Yr+-- 
anzunehmen, stellt er jetzt einen allgemeineren, gewisse Schwierig- 
keiten der älteren Form vermeidenden Ausdruck auf, 


z=w+4AVv+BYVv%+---+QVw-t, 
wo w eine rationale Zahl ist, und „A, B,..., @ entweder rationale 
Größen oder mindestens keine n‘° Wurzel enthalten“. Er hoffe, daß 
diese Form allen Anforderungen genüge, da die übrigen Wurzeln da- 


durch bestimmt sind, daß man für Yv nacheinander alle Werte von ' 
Y1YVv einsetzt. Die Voraussetzung, daß A, B,..., Q im allgemeinen 


algebraische Zahlen seien, ist in unserer Zeit als unmöglich anerkannt. 
Euler zeigt, daß die Wurzeln der Gleichungen der ersten vier Grade 
sich auf diese Weise ausdrücken lassen. Durch die Tatsache, daß 
alle damals bekannten, auflösbaren Gleichungen diese Wurzelform 
besaßen, ist Euler von der Richtigkeit seiner Annahme überzeugt. 
„Aus diesen Gründen“, sagt er, „ist die neue Wurzelform zur höchsten 
Wahrscheinlichkeit erhoben.“ Bemerkenswert ist es noch, daß Eulers 
Form in etwas präziserer Fassung die Grundlage des Abelschen Be- 





ı) N. Comm. Petr., T. IX, pro annis 1762 et 1763, p. 70—98, 2) Diese 
Vorlesungen, Bd. III, 2. Aufl., S. 574. 


Algebra. 97 


weises der Unmöglichkeit der algebraischen Auflösungen höherer 
Gleichungen bildet!). In der Auflösung der vom zweiten Gliede be- 


freiten biquadratischen Gleichung setzt Euler = AV» + BY? 
+ (CYVo® und findet dann die Gleichung vierten Grades, welche diese 
Wurzelform hat. Quadriert man beide Seiten von &— BYv = AYv 
+0 Yo, so erhält man #2 —2BxYv + Bro = A!Yv +2 A0Qv 
+CvYv oder #? + (B?—2AC)v = 2BaYv + (A? + Oo) - Vo. 
Quadriert man abermals, so erhält man die rationale Gleichung 
x = 2(B?+24AC0)va? + 4(A? + Oo) Box + Atv — Biv? + Otv? + 
4AB0v?! — 2420”. Wem a=y-1,b=-—-1,c=—-Y-1, dann 
sind die drei übrigen Wurzeln dieser Gleichung x — AaYv + BbYv? 
+Ceyv, = AbYv +BYv! +Cbyv, z=Acyv + BbYor + 
CaYv°. Ist nun die gegebene Gleichung x&!—= A’x?+ B’z+(',so kann 
man die Werte von A, D, ©, v durch die Gleichungen A =2(B?+2AC)v, 
B=4(4?+ (0) Bv, = (A?+ Ov)?v — (B? +2 A0YV?+8AB Or 
bestimmen. Setzt man B=1, so erhält man die kubische Gleichung 
für die Bestimmung von »v, nämlich, 
"740 +2(C 4 AP)» .B?=0. 


Die vier Wurzeln gibt Euler in dieser Form: 
z=YVv+- 7 VByo +2 Av — Av, 
Bl, VBy +2 Av — Av, 


= Vo +5; V-BVo+240- 40, 





= -VE-.V-ByorH2 dr ie 
2yv 


Euler wendet diese Methode auf die Gleichung fünften Grades 
x = A’a®+ Ba? + (x + D’ an. Die angenommene Wurzelform ist 
nun &= AYv + BYv? + C Yo? +DYv. Das obige Verfahren be- 
folgend, bildet er vier Gleichungen für die Bestimmung der Werte 
von A, B, C, D, v. Die Elimination von A, B, C, D führt er aber 
nicht durch. Er hätte eine Gleichung des vierundzwanzigsten Grades 
in » gefunden. Es folgen nun Bemerkungen, die wir in deutscher 


ı) Vgl. J. Pierpont, „Zur Geschichte der Gleichung des V. Grades (bis 
1858)“ in Monatsh. f. Math. u. Phys., VI. Jahrg., Wien 1895, S. 23. 
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 7 


98 Abschnitt XX. 


Übersetzung wiedergeben: „Wenn nun gegenteilig die Größen A, B, 
0, D, sowie der Buchstabe v, durch die Koeffizienten AB, 
bestimmt werden könnten, hätte man die allgemeine Auflösung aller 
Gleichungen fünften Grades. Aber gerade darin liegt die größte 
Schwierigkeit, da kein Weg offen steht, die Buchstaben A, B, 0, D, 
von welchen zwar einer nach Willkür angenommen werden kann, 
nacheinander so zu eliminieren, daß eine Gleichung mit einer ein- 
zigen Unbekannten v und den gegebenen Werten A’B’0’D’ entstehe, 
die auch keine überflüssigen Wurzelzeichen einschließe. Wir dürfen 
gewiß vermuten, daß, wenn diese Elimination richtig durchgeführt 
ist, man endlich eine Gleichung vierten Grades erhalten wird, welche 
den Wert von v selbst festsetzt. Denn wenn die Gleichung einen 
höheren Grad erreichte, dann würde der Wert von v selbst Wurzel- 
zeichen desselben Grades enthalten, was verstandeswidrig erscheint.“ 

Auf Spezialfälle übergehend nimmt er 1) C=D=0 an und er- 


hält die auflösbare Gleichung # = 5 Pa? +5Q02+% + 7. 2) B- 


C=0 an und erhält die Gleichung #=5Pa°—5P®?x + D, deren 
Auflösung schon früher De Moivre gezeigt hatte, 3) die Koeffizienten 
A’, b, 0, D als gewisse rationale Funktionen fünf neuer Größen 
an und erhält eine Gleichung, deren Wurzeln bekannt sind. 

Diese Abhandlung wurde 1785 von Graf Franz Schafgotsch!) 
und 1791 von J. A. ©. Michelsen?) in das Deutsch übersetzt. Ein 
mühevoller Versuch Schafgotschs, die von Euler angedeutete Resol- 
vente zu finden, blieb ohne Erfolg. 

Ungefähr zu gleicher Zeit erschien eine andere hervorragende 
Arbeit, Sur Plusieurs Classes d’ Equations de Tousles Degres, 
qui admettent une solution algebrique?°), aus der Feder von 
Etienne Bezout. Er geht von der Idee aus, daß alle binomischen 
Gleichungen auflösbar sind. Wenn es deshalb möglich wäre, alle 
Gleichungen in binomische zu transformieren, hätte man das Ziel er- 
reicht. Er erklärt seine Methode durch kubische Gleichungen und 
nimmt dann das Studium derjenigen n!® Grades auf. Es sei 
a + pa? + qx% +r = 0 die vorgelegte Gleichung. Man setze „P-+h=0 
und («+b)y=x#+.a. Letztere Gleichung wird so gewählt, daß die 
Elimination von y zwischen den zwei letzten eine kubische Gleichung 
gibt, die mit der vorgelegten verglichen werden kann. Man erhält 





') Abh. d. Böhmisch. Gesellsch. d. Wiss., Prag 1785, 8. 177—236, 1. Abteil. 
?) Theorie der Gleich. aus den Schriften der Herren Euler u. de la Grange, 
Berlin 1791. °) Histoire de l’Acad. Roy. des Sciences, Annde 1762, Paris 1764, 
p. 17—73. 


Algebra. 99 


: } 3 351 3a? +3b®h a®+ b°’h ner 
auf diese Weise p—= an ‚g= Er tr in . Eliminiert 


man h, dann hat man p(a+b)—3ab=gq und p(a+ab+ 2) 


— Bab(a + b)=3r, woraus man weiter erhält «+ b = 5 an und 











PR = 8pr 


en Es sind nun a und 5b die zwei Wurzeln der Glei- 
A 








—9r ® — 3pr : Be 
chung a? — A 37 2 De g5 —=0. Man hat jetzt Y=- —h— u 
und <= un, woraus sich endlich 


:=—-,2+5zV [Ba -p@b-p)+zV [8a -p)@b — p)?] 


ergibt. Diese Methode verfolgend, sucht er nun die Bedingungen 
dafür, daß die Gleichung x‘ Grades sich in eine binomische transfor- 


za 


mieren lasse. Er nimmt y” +h= (0 und y= ar a, und eliminiert 
y. Er erhält eine Gleichung »* Grades in x, worin er das zweite 
Glied gleich Null setzt und so h=— , erhält. Alle Koeffizienten 


der resultierenden ‚Gleichung sind rationale Funktionen von @ und b. 
Es können deshalb die zwei Koeffizienten des dritten und vierten 
Gliedes willkürlich angenommen werden, wonach sich alle übrigen 
als Funktionen dieser zwei ausdrücken lassen. Dies sind die ge- 
suchten Bedingungen. In der Auflösung einer Gleichung n" Grades, 
welche diesen Bedingungen entspricht, löse man anfangs eine quadra- 
tische Gleichung, deren Wurzeln a und b sind. Dann können A und 
y berechnet werden, sowie x. Die allgemeine algebraische Auflösung 
von y„” +h=0( kannte Bezout nicht; er verfolgte die De Moivre- 
sche trigonometrische Behandlungsweise. Er untersucht dann die 
Gleichungen, deren Wurzeln die Form x — Var-15 + VYar-2?, n< 8, 
haben, und zeigt, daß der irreduktible Fall, wo a und b imaginär 
sind, für x reelle Werte gibt. 

Bezout setzt seine Untersuchungen in einer zweiten Abhand- 
lung, Sur la resolution generale des equations de tous les 
degres!) fort. Unterdessen ist ihm Eulers Arbeit von 1762 bekannt 
‚geworden. Sein jetziges Verfahren läßt sich aus seiner Behandlung 
der biquadratischen Gleichung ersehen. Er setzt Y„— 1-0 und 
ay’+by?+cy+x=0. Multipliziert man letztere mit BR 
erhält man 





') Histoire de l’Acad. Roy. des Sciences Annde 1765, Paris 1768, p. 533 
bis 552. 


7* 


100 Abschnitt XX. 
ap +byP +cy+x—=0, 
byte? +tayta=0, 
YyP+ayp+ay+b=0, 
say tay+tby+tce=0, 


aus welchen sich durch Elimination von y?, y?, y eine Gleichung 
vierten Grades in x ergibt. Vergleicht man deren Koeffizienten mit 
P,g,rin#+p@+qge-+r=(0, so hat man die Bestimmungsglei- 
chungen 4ac+2%” = —p, 4ab+4bd=g, t +d— bt — 2a8c 
+4ab’e=—r. Sucht man nun a und ce zu berechnen, so erhält 
man eine Gleichung des 24'” Grades; sucht man aber zuerst b, dann 
hat man eine des 6'® Grades, die als eine kubische angesehen werden 
kann. Die Werte von x erhalten die Form 


= —a—b-c, 
s=+ta—b-+e, 
z-t+ay-Ii+rb—- eyZu, 
z=-—-ay-1i1+rb+cyV-1. 


Wenn der Exponent n eine zusammengesetzte Zahl ist, wird ein 
zweites, etwas kürzeres Verfahren beschrieben. Die Bestimmungs- 
gleichungen für den Fall n—=5 findet Bezout abschreckend. „Ob- 
schon ich diese letzten Gleichungen auf mehrere Weisen verändert 
und verschiedene Mittel zur Abkürzung der Elimination gefunden 
habe, bin ich doch noch nicht imstande, die Schlußresultate anzu- 
geben.“ Auch sagt er: „Durch den Vergleich von Eulers Abhand- 
lung mit der meinigen sieht man, daß, obschon beide Methoden zu 
den gleichen Resultaten führen, wir voneinander bedeutend abweichen 
in der Schätzung des Grades der Gleichung, auf welcher die Auf- 
lösung der vorgelegten Gleiehung beruht. Dieser gelehrte Analyst 
glaubt, dieser Grad sei immer niedriger als der der vorgelegten Glei- 
chung; ich glaube im Gegenteil, er ist immer viel höher, daß aber 
die Gleichung keine anderen Schwierigkeiten als jene aller niedrigeren 
Grade umfaßt.“ Der Grad dieser Resolventen sei n(» —1)---2-1, 
und der Exponent der Unbekannten jedes Gliedes sei ein Vielfaches 
von n. Die Größen a,b, c,.... nennt Bezout eoöfficiens ind6ter- 
mines, ohne eine Meinung zu äußern, ob sie algebraisch seien. 

Die Eliminationsmethode, welche heutzutage die Eulersche ge- 
nannt wird, ist in seiner Schrift Nouvelle methode d’eliminer 


Algebra, 101 


les quantites inconnues des @quations') erklärt. Er zeigt den 
Gedankengang zuerst an den speziellen N 2? +Pz+. = 0 
-@—- w(@+4) und 2 +p2?+g4z+r=0=(2 my (er +02+b), 
wo w die gemeinsame Wurzel und A, a, b alliesinignip: re jzienten 
sind. Daraus folgen ”» 20% 3 


(+ Pze+Q)(® +a2+b)= (?+p2+gz+r)(e+ A), 


und die Bestimmungsgleichungen P+a=p+A Q+Pa+b= 
q+pA, Pb+Qa=gA+r, Qb=rA, welche durch Elimination 
von A, a, b das erwünschte Resultat liefern. 

Wilhelm Otto Reitz (1702—1768), ein Lehrer in Rotterdam 
und Middelburg, veröffentlichte eine Schrift?) über die Auflösung der 
Quartik, worin er Kunstgriffe angibt, um Fälle zu lösen, wo durch 
Addition eines Trinoms a2?+2abx + b? zu beiden Seiten, die Seiten 
Quadratformen annehmen können. 

Bezouts Untersuchungen über die algebraische Auflösung von 
Gleichungen führten ihn zu dem Eliminationsproblem. Er fand, daß 
Newtons Eliminationsmethode, durch Aufsuchung des größten ge- 
meinschaftlichen Teilers, öfters fremde Lösungen gibt, daß das Ver- 
fahren von Euler und Cramer, durch symmetrische Funktionen, 
nur auf zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten auf einmal anwend- 
bar ist. Im Falle mehrerer Gleichungen müsse man sie paarweise 
nehmen und die Endgleichung sei höheren Grades als notwendig ist. 
In einer Abhandlung Sur le degre des @quations resultantes de 
l’evanouissement des inconnues?) fängt Bezout mit einem 
Lemma an, um die Resultante von » linearen Gleichungen mit n Un- 
bekannten zu finden. Sind a, b, c, d,... die Koeffizienten der ersten 
Gleichung, a,b’, cd,d,... und a”, b”, ce”, d’,... diejenigen der zweiten 
und dritten Gleichung usw., dann bilde man die Permutationen ab, 
ba und schreibe ab — ba. Mit diesen zwei und c bilde man alle 
möglichen Permutationen und beachte einen Zeichenwechsel, wenn c 
in ab oder ba seine Stelle ändert. Man hat abe — acb + cab — bac 
+bca— cba. Auf gleiche Weise verfahre man mit dem Buchstaben 
d und den übrigen Koeffizienten der ersten Gleichung. Setzt man 
den letzten Ausdruck gleich Null, so hat man die Bedingung, daß die 
vorgelegten Gleichungen simultan seien. Diese Polynomen sind 
Determinanten, die durch eine einfache Regel niedergeschrieben 
werden können. B&zout schreitet dann zur Elimination zweier Un- 





') Histoire de l’acad. roy. des sciences, annde 1764, Berlin 1766, p. 91 bis 
104. ?) Verhandelingen uitgegeeven door de Hollandsche Maatschappye der 
Weetenschappen, te Haarlem, IX Deels III. Stuk 1767, S. 1—43. ®) Histoire 
de l’acad. roy. des sciences, annde 1764, Paris 1767, p. 288— 338. 


102 Abschnitt XX. 


bekannten aus zwei Gleichungen m'® und m’t" Grades, indem er die 
erste. Gleichung mit einem Polynom M’a”’-14 Na®-21... multi- 
pliziert und die. zweite mit einem Polynom Ma”"-14 Nam-2ı... 
und die Prodakte addiert. Der Koeffizient jeder Potenz von x in 
dieser Summe wird nun —0 gesetzt. Sind z. B. die vorgelegten 
Gleichungen A + Ba +0C=0, Ax®+Bx+0C=0, mültipliziert 
man beziehungsweise mit M&+ N, M’z+ N, und läßt die Koef- 
fizienten von x in der Summe der Produkte verschwinden, dann hat 
man AM +AM=V, BM+BM+HAN+AN=0, 0M+COM 
+BN+BN=0, ON+CON=0. Man darf hier den willkür- 
lichen Koeffizienten M gleich A’ setzen, dann wird M=—.A. 
Durch Elimination von N, N’ erhält man einen Ausdruck, den man 
leichter durch die Formeln obgenannten Lemmas niederschreiben 
kann. Dies Verfahren läßt sich, wie Bezout erklärt, auf drei oder 
mehrere Gleichungen ausdehnen. Um die Operationen abzukürzen, 
schlägt er vor, daß man bei den Gleichungen Ax”" + Ba"-1+... 
+T7T=0, 4x" + Ba"-!+...7’=0, ım Falle m = m’, die erste 
nacheinander mit A’, Ax+BD, Ax”’+Dx+0C,---, und die zweite 
nacheinander mit A, Ac+B, Aa?+Bx-+0,--- multipliziere und 
jedesmal die Differenz der entsprechenden Produkte niederschreibe. 
Man erhalte auf diese Weise m Gleichungen m — 1‘ Grades. Man 
soll dann jede Potenz von x als eine Unbekannte betrachten, und 
das Lemma liefere die Bedingung für die simultane Existenz dieser 
m Gleichungen. Die Frage, ob die Werte der verschiedenen Potenzen 
von & bei der Annahme, daß sie verschiedene Unbekannte vorstellen, 
miteinander verträglich seien, wird nicht berührt. Das Endresultat 
erkennt man als eine symmetrische Determinante. Ist m’ < m, dann 
multipliziereman die zweite Gleichung mit Aa ""', Aa +1 Bmw’... 
und verfahre wie oben. Der Grad der Resultante wird achtsam unter- 
sucht und nicht größer als das Produkt der Ordnungsexponenten der 
zwei Gleichungen gefunden. 

In der Schrift Nova criteria radices aequationum imagi- 
narias dignoscendi') erklärt Euler, daß die damals aufgestellten 
Kriterien für imaginäre Wurzeln die Existenz solcher Wurzeln in 
einer Gleichung wie # +42? —82°—242x+108=(2?+82+18). 
(<” — 42 +6)=0 nicht kund machen. Clairauts Algebra und die 
Veröffentlichungen von Waring aus den Jahren 1762 und 1764 waren 
ıhm also nicht bekannt. Euler stellt drei Prinzipien auf: Erstens, 
sind alle Wurzeln einer Gleichung reell, dann hat die Gleichung, 
deren Wurzeln die Quadrate derjenigen der vorgelegten Gleichung 





ı) N. Comm. Petr. Tom. XIH, pro anno 1768, Petropoli 1769, p. 89—119. 


Algebra. 103 


sind, lauter positive Wurzeln, und die Zeichen ihrer Koeffizienten 
wechseln ee ab. Zweitens, in der Gleichung 2” — aa”-! 
+ba"=?+---=( mit reellen Wurzeln muß die Summe der er 


drate der Wurzeldifferenzen positiv sein und folglich a? > re 


Drittens, hat die Gleichung =" + aa"! +ba""?+...—0 ger 
reelle Wurzeln, dann haben die zwei davon abgeleiteten Gleichungen 
n — 1‘ Grades auch lauter reelle Wurzeln: na”-!+ (n —1)ax"-? 
+(n — 2)ba"? +. —=0, aa®"14+2ba"r=?+ 3c2"-°+...—=0. Den 


Nachweis er, zieht er aus der Kurventheorie. Für die erste be- 
- trachtet er -—. — 0, und für die zweite setzt er erst = 1/2. Durch 


Wiederholung der Operation fließen aus den zwei Gleichungen 
n — 1‘ Grades drei Gleichungen n — 2'” Grades und vier Glei- 
chungen n — 3‘ Grades usw., bis man endlich auf quadratische Glei- 
chungen kommt, deren Wurzeln leicht erkennbar sind. Es ist zu 
beachten, daß von diesen drei Kriterien keines hinreichend ist, und 
keines die Anzahl imaginärer Wurzeln anzeigt, im Falle, daß solche 
sich vorfinden. Die zwei ersten Prinzipien findet man schon in 
Newtons Arithmetica universalis. 

Das dritte Prinzip Eulers wird auch von J. H. Lambert in 
seinen Observations sur les &quations d’un degr& quelconque!) 
hergestellt. Um die Bedingung für die Existenz gleicher Wurzeln 
einer Gleichung 2 +a2+bz+k=0 zu bestimmen, findet Lam- 
bert den größten gemeinschaftlichen Teiler zwischen 2? + a2? +bz 
+k und 32? +2az-+b, und setzt den letzten Rest gleich Null. In 
einer zweiten Abhandlung des gleichen Jahres?) bemerkt Lambert, 
daß Analysten wenig Hoffnung hegen, die allgemeine Auflösung 
algebraischer Gleichungen zu erzielen, weshalb es wünschenswert sei, 
Kunstgriffe für die Auffindung der Wurzeln für Spezialfälle zu ent- 
decken. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit numerischen Glei- 
chungen. Nach einem seiner Vorschläge bilde man eine*zweite Glei- 
chung, deren Wurzeln die Summe je zweier Wurzeln der vorgelegten 
Gleichung sind. Diese Hilfsgleichung lasse sich öfters in rationale 
Faktoren zerlegen und liefere die erwünschte Lösung. 

Franeiseo de Toschi a Fagnano untersucht in einer Schrift, 
De infinitarum aequationum resolutione, quarum radices 
sub eadem forma exhibentur, qua radix cubica, quae diei- 


tur Cardani°) Gleichungen, die mit 2° + 2 + , —=( oder 


') Histoire de l’acad. roy. des sciences, annde 1763, Berlin 1770, p. 278 bis 
291. ?) Ebenda, S. 292—310. ») Nova Acta Eruditorum, 1770, p. 200—227. 


104 Abschnitt XX. 


ö 
er + 2ayt— a0 (wo 2 =t— - gesetzt ist) verwandt sind. 


Statt dieser Gleichung 6° Grades nehme man Pr + Zar-ipny — ad" 
— 0, worin n eine ganze oder gebrochene, positive oder negative, ja 


sogar eine irrationale Zahl sein möge. In jedem Falle habe man 
1i—n 1 


1 
2a" <= (-y+Yy+ ar —(y+ Vy’+ a®)". Jede Gleichung, 
die sich auf die Form der obigen 2n'® Grades reduzieren läßt, zeigt 
Wurzeln der Cardanschen Art. Wenn n eine gerade Zahl ist 
und man bei + das untere Zeichen nimmt, sei die Wurzel durch Ima- 
ginäres verunstaltet; ist aber n ungerade, sei es gleichgültig, welches 


Zeichen man nimmt. Durch Differentiation der Wurzelform und 


Kombination erhält er BR.2. uch — Tr ER: 


Verta@  yyrtar 


und Transformation wird 





. Dann durch Integration 





2a ıy=(2-+ Var + a)" — (-2+ Va + ad)", 
eine Gleichung, die die Cardansche Wurzelform besitzt. Indem man 


r ER OR 
für 2 t— 7 einsetzt, gelangt man zur ursprünglichen Gleichung 


2n‘® Grades. Dann folgen geometrische Betrachtungen, aus welchen 
hervorgeht, daß die Konstruktion aller dieser Gleichungen durch die 
Seiten rechtwinkliger Dreiecke nach der Cotes’schen Methode für 
Kubikgleichungen erzielt werden kann. 

Ein durch leichtfaßliche Darstellung für den Unterricht geeig- 
netes Werk über Gleichungstheorie wurde von Mako unter dem 
Titel De arithmetieis, et geometrieis aequationum resolutio- 
nibus liber duo 1770 in Wien veröffentlicht. Paul Mako de 
Kerek Gede (1724? —1793) war ein ungarischer Jesuit, welcher 
durch seine Lehrtätigkeit in Mathematik und Physik an der Theresia- 
nischen Akademie in Wien Geschmack für die Mathematik erweckte. 

Der Pariser Astronom und Physiker Achille Pierre Dionis 
du Sejour (1734—1794) veröffentlichte!) einen Beweis, daB 2° — px 
+g=0 für den irreduktiblen Fall, 4p? > 27 q°, keine Wurzel von 


der Form a+byV—1 haben kann, und, da D’Alembert gezeigt 
habe, daß alle imaginären Wurzeln diese Form annehmen, müssen 
alle drei Wurzeln reell sein. Dieser Gedanke wird in einer Abhand- 
lung Pour determiner le nombre des racines reelles et des 
racines imaginaires...?) weiter entwickelt und auf Gleichungen 
dritten und vierten Grades angewandt. Er setzt voraus, daß jede 





») Histoire de l’acaddmie royale des sciences, annde 1768, Paris 1770, 
p. 207, 208. *) Ebenda, annde 1772, II. Partie, Paris 1776, p. 377—456. 


Algebra. 105 


Wurzel sich in der Form a +bY— 1 ausdrücken lasse, wo a reell 
ist, b aber diesmal entweder reell oder eine durch Y— 1 nicht teil- 


bare imaginäre Größe ist. Für x substituiert er «+bYV-—1 und 
bildet aus dem Resultate zwei Gleichungen, wovon die eine aus den 


mit dem Faktor Y— 1 behafteten Gliedern besteht und die andere 
alle übrigen Glieder enthält. Erhält nun a in einer dieser Glei- 
chungen einen willkürlichen Wert, dann läßt sich der korrelative Wert 
von b bestimmen. Setzt man diese Werte von a und 5b in die 
andere Gleichung ein, so erhält man Ausdrücke für die Bestimmung 


der Spezialgleichung desselben Grades, welche z— a—bV—1 als 


Faktor enthält. Stellt sich b als eine durch Y —1 nicht teilbare 
imaginäre Größe heraus, dann ist dieser Faktor imaginär, in anderen 
Fällen ist er reell. Setzt man z. B. in der Gleichung @ +px +g=0 


den Wert «+bY-—1 für x, dann erhält man nach obiger Anweisung 
die zwei Gleichungen (a) a — 3ab? + ap+qg=0, (ß) 3a —p=0. 
Eliminiert man #, so wird (y) 2a(4a+p)—g=0. Der kleinste 
Wert, den a? in (8) annehmen kann, ist 0. Setzt man in («) 


a=0 und b=+Yp, so wird g=(, und + V—-p=0 ist ein 
Faktor der Gleichung. Aus (ß) zieht man b= + Y3a?+p; für 
Werte von p>— 3a? ist b also immer reell und zwei Wurzeln der 
Kubik sind immer imaginär; b = 0 ist der Grenzwert. Setzt man in 


(«)b=0 unda=+ —*, so wird 4p°+27q?=0, in welchem Falle 


+ V =(. Nun kann 5b nicht reell sein, wenn y in der Glei- 


chung (1) 3a +p—y=0 nicht positiv ist. Diese Gleichung, in 
Verbindung mit («) und (ß), liefert 49° +27 = 4Ay(4y— 3)”, woraus 
zu ersehen ist, daß die vorgelegte Gleichung nur dann imaginäre 
Wurzeln haben kann, wenn y positiv, und folglich 4p? + 274? 
positiv ist. Sejour läßt eine ausführliche Besprechung der Quartik 
und die geometrische Deutung seiner Resultate folgen. Lagrange 
drückte sich über Sejours Verfahren anerkennend aus!), möchte 
aber dasselbe auf die Quintik übertragen sehen. Dies soll Sejour 
kurz vor seinem Tode wirklich erzielt haben; die neue Abhandlung 
sei aber verloren gegangen’). 

Die Hauptresultate über Gleichungen in der Miscellanea ana- 
lytica, 1762, wurden von Waring in etwas veränderter Form in 





‘) Lagrange, Oeuvres, T. XIV, p. 71. ?) Michaud, Biogr. univ.; La- 
place, „Lecons de math. donnedes A l’&cole normale“, Journ. de l’&cole polyt. 
T. I, Paris 1812, p. 44. 


106 _ Abschnitt XX. 


den Meditationes algebraicae, 1770, wiedergegeben. Letzteres 
ist aber ein größeres Werk und enthält vieles, was sich im ersten 
nicht vorfindet oder dort nur ganz kurz angedeutet ist. Die ein- 
schlagenden Neuerungen finden sich aber alle schon im ersten 
Werke. | 

Er zeigt unter anderem folgende Methode, die Grenzwerte 
von Wurzeln festzusetzen: Hat (A) =” — pa”"'+ete.—0 die reellen 
Wurzeln «, ß, y, ete, ww a>ß>y>:--, dann hat (B)na*"' — 
(n — 1) px"”?+ ete. = 0 die reellen Wurzeln z, og, 6,..., welche be- 
züglich zwischen « und ß, ß und y ete. liegen; auch liegen die 
Wurzeln von hA+mB=(, wenn h und m gleiche Zeichen haben, 
bezüglich zwischen «& und m, ß und o ete.; wenn aber A und m 
entgegengesetzte Zeichen haben, ist eine Wurzel vonhA+mB=V0 
größer als «, während die übrigen bezüglich zwischen x und ß, @ 
und y etc. liegen. Wenn h und m gleichzeichig sind, liegt eine 
Wurzel von hA+mB=0 zwischen der kleinsten positiven und 
Null, und eine andere zwischen der kleinsten negativen und Null von 
der Gleichung A= 0. Nun leitet er mehrere Regeln ab, welche an- 
nähernd die Anzahl imaginärer Wurzeln einer Gleichung angeben'), 
die aber wegen ihrer komplizierten Natur keine Aufnahme gefunden 
haben. Ist die vorgelegte Gleichung?) « — pa” "'+q@""’— etc. = (), 
so eliminiere man x zwischen derselben und na”"1— (n — 1)pa”? 
+ ete. =» oder zwischen 2” — pa*""!+ete.=v und na”"!— (n—]1) 
px”-?-+ete.=(0, und man kann aus der Gleichung v* — Av""'+ 
Bv"-2+...+&$=0 immer die genaue Anzahl imaginärer Wurzeln 
in einer Kubik, Quartik und Quintik entnehmen, und in einer höheren 
Gleichung entscheiden, ob sich imaginäre Wurzeln vorfinden. Das 
letzte Glied entscheidet ferner, ob die Anzahl solcher Wurzeln 2, 6, 
10 ete. oder 0, 2, 8 ete. ist. Um Descartes’ Zeichenregel nachzu- 
weisen, wird hervorgehoben, daß bei Multiplikation des Polynoms 
durch (x — a) die Anzahl der Zeichenwechsel um 1 oder 3 oder 5 etc. 
vermehrt wird. Die Diskussion komplexer Wurzeln nimmt 80 Seiten 
von Warings Quarto-Werke ein. 

Es wird?) eine Methode vorgeführt, Annäherungen zu imaginären 


Wurzeln zu finden. Ist «+bV-—-1 ein Näherungswert, so kann 
man größere Genauigkeit durch die Substitution von 2=4a+ a+ 
(b +5) Y—-1 in die vorgelegte Gleichung und die Festsetzung der 
beiden Werte, @ und b’, durch Auflösung der erfolgten Bestimmungs- 
gleichungen erlangen. Dann wird ein Verfahren skizziert, um aus 





1) Meditationes algeb., ed. tertia, 1782, p. 68, Problem IX ff. ?) Ebenda, 
p. 87, Problem XIII, XIV. ®, Ebenda, p. 268. 


Algebra. 107 


Inkrementen der Koeffizienten die Inkremente der Wurzeln zu be- 
rechnen. Endlich wird nach der Anzeige in der Vorrede!) „bewiesen, 
daß jede Gleichung reelle oder imaginäre Wurzeln von der Form 
«+ BYV-—1 habe“. Jede Gleichung?) 2° — px"=!+ ete. = 0 könne 
in irgend eine andere @«*— Pa”-! X ete. = (0 durch beständige Ad- 
dition von Größen — pa"! + g’ar-?_— ete. (wo p', d’,... möglich 
kleinste Größen sind, so gewählt, daß mehr als zwei Wurzeln niemals 
einander gleich werden) transformiert werden. Deshalb müsse irgend 
.eine Wurzel der Gleichung &”— Pa”-!1ete—=0 in der Formel 


&@+ßY-—1 enthalten sein. Es ist diese eine der Stellen in Warings 
Schriften, so allgemein und kurz gefaßt, daß sie beinahe wertlos sind. 
James Wood, ein Verehrer Warings, gesteht, daß der Verfasser 
hier den Leser über die Wurzelexistenz im Zweifel lasse. Uns scheint 
die Wurzelexistenz stillschweigend vorausgesetzt; Waring wollte 
wahrscheinlich nur nachweisen, daß sogar die sogenannten unmög- 


lichen Wurzeln immer in der Form «+ Y--1ß enthalten sind. 

Die Theorie der Gleichungen wird nun von Lagrange, dem 
größten Mathematiker des 18. Jahrhunderts, mit einschlagenden Ab- 
handlungen bereichert. Wir halten einige Augenblicke inne, kurz 
seinen Lebenslauf zu schildern. Joseph Louis Lagrange?’) (1736 
bis 1813) wurde zu Turin am 25. Januar geboren. Sein Urgroßvater) 
war ein geborener Pariser und war als Kavalleriekapitän im Dienste 
Königs Emanuel II. nach Sardinien gegangen, der ihn durch Ver- 
heiratung mit einer Dame Conti an Turin fesselte. Lagranges 
Vater war Kriegszahlmeister und seine Mutter die Tochter eines 





') Ebenda, p. XLI. ?) Ebenda, p. 272. ®) Wir benutzen folgende 
Schriften: 1) Nachricht von Lagrange’'s Leben und Schriften, vorgelesen von 
Delambre am 3. Januar 1814 in der Akademie der Wissenschaften zu Paris 
[Memoires de la classe des sciences mathematiques et physiques de l’institut de 
France, annde 1812], übersetzt von A. L. Crelle und gedruckt in J. L. La- 
grange’s mathematische Werke, herausgegeben von A. L. Crelle, Erster Band, 
Berlin 1823. 2) Preeis Historique sur la vie et la mort de Jo seph-Louis 
Lagrange, par MM. J.J. Virey et Potel, Paris 1813. 3) Intorno alla vita 
ed alle opere di Luigi Lagrange. Discorso letto nel R. Liceo Galilei di Pisa 
dal Cav. Angelo Forti, Roma 1869. 4) Notizen von Guyton Morveau in 
A.L. Crelle, op. eit. I, p. LXIX—LXXI. 5) Einige Zusätze zu vorstehenden 
Nachrichten von Lagrange’s Leben von A.L. Crelle in op. eit. I, p. XCV bis 
XCIX. 6) Joseph Bertrand, Eloges Academiques, nouvelle serie, Paris 1902, 
p. 291—311 (Extrait du Journal des Savants, septembre 1888). 7) A. Harnack, 
Gesch. d. K. Preuß. Ak. d. Wiss. zu Berlin, 1900. 8) Cossalis Elogio di L. 
Lagrange war uns nicht zugänglich. *) Nach Forti, op. eit. S. 8, und 
Virey et Potel, op. eit. p. 4, wurde er am 30. Januar geboren; nach Forti 
war sein Großvater, nicht sein Urgroßvater, im Dienste Emanuels II. von 
Sardinien, 


108 Abschnitt XX. 


reichen Arztes zu Cambiano. Durch gewagte Unternehmungen verlor 
der Vater sein Vermögen. Der junge Lagrange interessierte sich 
anfangs für Cicero und Virgil; erst später zeigte sich Neigung für 
Mathematik. Zuerst studierte er die Geometrie der Griechen, dann 
erregte eine Abhandlung des Astronomen Halley, worin die Vorzüge 
der Analysis hervorgehoben wurden, in ihm großen Eifer für die 
Analysis. Er machte so ausgezeichnete Fortschritte, daß er vor 
seinem 20. Jahre!) die Stelle eines Professors der Mathematik an der 
Königlichen Artillerieschule zu Turin bekleiden konnte. In Verbin- 
dung mit einigen seiner Schüler gründete er die Turiner Akademie. 
Zu dieser Zeit bearbeitete er seine neuen Methoden für die Maxima 
und Minima, schrieb über rücklaufende Reihen und Wahrscheinlich- 
keitsrechnung. In der Abhandlung über die Fortpflanzung des 
Schalles behandelte er einen schwierigen Gegenstand, an welchem 
Newton, Taylor, Daniel Bernoulli und D’Alembert gearbeitet 
hatten, und trat gleichsam als Schiedsrichter auf, der jedem zeigte, 
worin er in diesem Streite recht oder unrecht hatte. Lagranges Ar- 
beiten veranlaßten Euler ihn in die Berliner Akademie aufnehmen 
zu lassen. ° Am 2. Oktober 1759 meldete Euler seine Aufnahme an. 

Lagrange sehnte sich die Pariser Gelehrten, mit denen er in 
Briefwechsel war, persönlich kennen zu lernen. Er nahm eine Ein- 
ladung seines Freundes Carraccioli an, mit ihm über Paris nach 
London zu reisen. In Paris wurde er von D’Alembert, Clairaut, 
Condorcet, Fontaine, Nollet, Marie und anderen gut aufgenommen. 
Plötzlich erkrankt, konnte er seinem Freunde nicht nach London 
folgen. Nach Turin zurückgekehrt, widmete er sich mit neuem Eifer 
der Mathematik. Als Euler sich entschied, Berlin zu verlassen, um 
nach St. Petersburg zu gehen, bot Friedrich der Große die Prä- 
sidentenstelle seiner Akademie D’Alembert an. D’Alembert hatte 
aber keine Lust Paris zu verlassen und schlug Friedrich vor, La- 
grange an Eulers Stelle zu setzen. Diesen Vorschlag hatte schon 
Euler selbst gemacht. Lagrange wurde berufen. Sein Aufenthalt 
zu Turin hatte ihm wenig mehr gefallen. Er fand dort niemand, der 
Mathematik mit Erfolg studierte Er schrieb: „Je suis determine ä 
me tirer d’iei ä quelque prix que ce soit.“?) 

Lagrange nahm die Stelle in Berlin am 6. November 1766 an. 
Während seines zwanzigjährigen Aufenthaltes in Berlin lebte er so 
ganz seiner Wissenschaft, daß ihm die Händel der Welt beinahe un- 
bekannt blieben. 


') Nach Virey im 15., nach Delambre im 16., nach Forti im 18. Jahre. 
”) Vide Bollettino di Bibliografia e Storia delle Seienze Matematiche, Editore 
Carlo Clausen, Torino, T. IV, 1901, p. 4. 


Algebra. 109 


Veranlassung zur Verlegung seines Wohnortes nach Paris waren 
der Tod Friedrichs des Großen und die Veränderungen, welche da- 
nach in Preußen stattfanden oder befürchtet wurden. Mit der Be- 
dingung, daß er der Berliner Akademie noch einige Memoiren liefere, 
nahm er Abschied und kam 1787 in Paris an. Er wurde mit Wohl- 
wollen empfangen und ihm eine Wohnung im Louvre zugeteilt. Aber 
von dieser Zeit bis zur Gründung der Polytechnischen Schule verlor 
er den Geschmack an mathematischen Untersuchungen; er war zer- 
streut und schwermütig, Zwei Jahre lang lag seine Me&ca- 
nique analytique, 1788 von Legendre herausgegeben, ungeöffnet 
auf seinem Schreibtische. Metaphysik, Medizin, Botanik, Chemie teilten 
sich in seine Muse. Lavoisiers Chemie fand er „so leicht wie 
Algebra“. 

Die Hinrichtung Lavoisiers versetzte ihn in große Trauer. 
„Sie haben nur einen Augenblick gebraucht,“ sagte er zu Delambre, 
„um diesen Kopf fallen zu machen, und hundert Jahre vielleicht werden 
nicht hinreichen, einen ähnlichen hervorzubringen.“ Zu dieser Zeit 
sank das französische Papiergeld im Werte, und Lagrange geriet ın 
drückenden Mangel. Durch die Vermittlung eines seiner deutschen 
Freunde wurde ihm aus Preußen eine Pension von 300 Talern pro 
Jahr für die ganze Zeit seit seiner Abreise von Berlin zugeschickt. 
Bei der Gründung der Normalschule in Paris wurde er zum Lehrer 
ernannt, die ephemere Existenz derselben ließ ihm aber kaum Zeit, 
die Grundsätze der Arithmetik und Algebra vorzutragen. Es war die 
Polytechnische Schule, welche Lagrange der Analysis wiedergab. 

In der Unterhaltung war er sanft und beinahe schüchtern. Seine 
Rede begann gewöhnlich mit einem „Ich weiß nicht“. Von den Ver- 
diensten anderer sprach er mit größter Achtung. Auf die Frage, wie 
die Mathematik am besten zu studieren sei, verwies er auf Eulers 
Schriften. Er war zweimal verheiratet. In Berlin vermählte er sich 
mit seiner Cousine, deren früher Tod ihn tief betrübte. In Paris 
heiratete er 1794 die junge Tochter des Astronomen Lemonnier, 
die ihm ihre schönsten Jahre widmete und sein Leben versüßte. 

Euler verfaßte seine Abhandlungen in Latein, aber Lagrange 
benutzte die allgemeiner verständliche französische Sprache. Während 
Euler mit naiver Schaffensfreudigkeit und großer Begeisterung alle 
Teile der Mathematik entwickelte und Wichtiges und Unwichtiges 
mit gleicher Weitläufigkeit darlegte, so daß seine Schriften zu einem 
kaum zu überwältigenden Umfange anwuchsen, schrieb Lagrange mit 
größerer Sorgfalt, nahm sich mehr Mühe allgemeine Gesichtspunkte 
zu erreichen und seine Resultate in knappe und elegante Form zu 
bringen. Eulers Schriften lesen sich „wie Novellen“; diejenigen 


110 Abschnitt XX. 


Lagranges sind mehr abstrakt, dringen tiefer und zeigen größere 
Präzision der Darstellung. 

Lagrange machte einen neuen Angriff auf das Eliminations- 
problem in einer Schrift, Sur l’elimination des inconnues dans 
les &quations!). Wenn zwischen zwei simultanen Gleichungen 0O=1+ 


2 +3 +...ud0=1+4r+BR+.. = (l-am)(1-Be)--;, 


bezüglich m‘ und n'" Grades, x eliminiert werden soll, ist es klar, 
daß das Produkt T=(l+ac+bae +: )1+aß+bp+:-.)--- 
—=( sein muß. Der Logarithmus dieses Produktes II liefert n 
Glieder, log(1l+a« + aa? +:--)-+ etc, wovon jedes in eine Reihe 
entwickelt wird. Dann zieht er die Theorie der symmetrischen 


Funktionen zu Hilfe und erhält eine Reihe I-1-9+%—--,, 


welche // als eine Funktion von a,b, c,... und A, B, (,... aus- 
drückt. Die Gleichung //= 0 hat kein Glied, worin die a,b, ce... 
zusammen die Dimension m, und die A, 5, (©, ... zusammen die 
Dimension n übersteigen. Das Verfahren ist schwerfällig und hat 
keine weite Annahme gefunden. 

Die bedeutendste Abhandlung über Gleichungstheorie des 18. Jahr- 
hunderts ist wohl die Arbeit von Lagrange, Reflexions sur la 
resolution algebrique des equations’), denn darin, wie in keiner 
anderen, werden allgemeine Gesichtspunkte erreicht und die Grund- 
lagen der Methoden gelegt, auf welche später Ruffini, Abel und 
Galois weiter bauten. Er fängt mit der kubischen Gleichung an 
und zeigt, daß ihre Lösung von einer Resolventen-Gleichung sechsten 
Grades abhängt, die er reduite derjenigen dritten Grades nennt. 
Sind a, b,c die Wurzeln der kubischen Gleichung, y eine Wurzel 


der reduite und «, ß die imaginären Werte von V— 1, so hat man 
3y=a+eb+Bßec. Da der Wert des y nicht direkt von a, b, c, 
sondern von den Koeffizienten der kubischen Gleichung abhängt, in 
denen die drei Wurzeln gleichförmig eintreten, so ist klar, daß man 
in dem Ausdruck für 3y die drei Größen a, b, c willkürlich ver- 
tauschen kann, wodurch man sechs verschiedene Werte für 3y erhält. 
Wenn nun Aa + Bb + (ec einen Wert von y darstellt, worin A, DB, 
Cvona, b, c unabhängig sind, so kann man a, b, c auf alle mögliche 
Weisen vertauschen und so die sechs Wurzeln und endlich die Re- 
solvente selbst herleiten. Er erklärt die Tschirnhausensche Auf- 





!) M&moires de l’acad. roy. des sciences, annde 1769, t. 25, Berlin 1771, 
p. 3083—320 —= Oeuvres, T. III, p. 141—154. 2) N. m&moires de l’acad. roy. 
des sciences, annde 1770, Berlin 1772, p. 134—215; annde 1771, Berlin 1773, 
p. 138— 254 = Oeuvres, T. II, p. 205—421. 


Algebra. 111 


lösungsmethode und zeigt, daß diese, sowie alle anderen, die Auf- 
findung von Resolventen, deren Wurzeln entweder +2" a+x” a2 
oder («+ x2”«+x”a2)® sind und deren Grad entweder der sechste 
oder der zweite ist, erfordern. 

In diesen Untersuchungen hatte Lagrange Gelegenheit, die Kri- 
terien abzuleiten, damit zwei Gleichungen mehr als eine Wurzel mit- 
einander gemein haben. Sind P— 0, Q@=0 die zwei Gleichungen, 
nehme man P=y und schaffe x aus beiden Gleichungen weg. Man 
bekommt y"-+ ay® Ir... +pYP® +qy+r=0. Danunr=0 sein 
muß, damit P=0 und Q=0 eine gemeinschaftliche Wurzel haben, 


so wird zu zwei gemeinschaftlichen Wurzeln r — 0, 2 —=(, und zu 


2 
; .— 0 und za =(, ete. erfordert, wo & das letzte 


Glied der einen von den gegebenen Gleichungen ist. 

Zur Gleichung vierten Grades schreitend, bespricht Lagrange 
die Methoden von Ferrari, Descartes, Tschirnhausen, Euler, 
Bezout und zeigt den Zusammenhang und die gegenseitige Abhängig- 
keit derselben. Er gibt die a priori Gründe an, warum einige da- 
von auf Resolventen dritten, andere auf solche sechsten Grades führen, 
die aber zum dritten erniedrigt werden können. Die Wurzeln dieser 
Resolventen sind Funktionen der Größen x, x”, x”, x'V, solcher Art, 
daß, wenn alle möglichen Permutationen der vier Größen stattfinden, 
nur drei verschiedene Werte entspringen, wie bei a” + x” a'Y, oder 
sechs Werte, von denen je zwei entgegengesetzte Zeichen aber 
gleichen absoluten Wert haben, wie bei +2” — x” — av ,‚ oder 
auch sechs Werte, die in drei solche Paare verteilt werden können, 
daß, wenn man die Summe oder das Produkt der Werte jedes Paares 
bildet, diese drei Summen oder drei Produkte, bei irgend einer Per- 
mutation der x, x”, x”, &'!Y immer unverändert bleiben. Auf der 
Existenz solcher Funktionen ruht die allgemeine Auflösung biquadra- 
tischer Gleichungen. 

Lagrange kennt zwei Methoden, durch deren Hilfe man viel- 
leicht die allgemeine Auflösung der quintischen Gleichung erwarten 
dürfe: die Tsehirnhausensche Methode und diejenige von Euler 
und Bezout. Diese ergeben eine allgemeine und einheitliche Lösung 
der kubischen und biquadratischen Gleichungen, erfordern aber bei der 
Quintik die Lösung einer Gleichung des 24: Grades, die gewiß nicht 
auf einen niedrigeren als den 5" Grad reduziert werden kann. 
Lagrange sucht a priori die Tragweite dieser Methoden zu er- 
mitteln. Um die Gleichung 


dreien r = 0 


2" + mat nat pam dr... (0 


112 Abschnitt XX. 


nach Tsehirnhausen zu lösen, setzt man + fair ga? - 


+9y= 0, worin f, 9, . . . unbestimmte Koeffizienten sind, und erhält 
yu + Ay“=t+ Bye=?+ Oyt®?+.. =0, wo A, B, C,... rationale, 
ganze Funktionen von f,g,... sind. Man daf A=B=(=--- -0 


setzen, so daß y“+ V=0. Ist u zusammengesetzt und=»vo, so erhält man 


im allgemeinen eine Resolvente des (Grades ut. en ein 
o 





Wenn u prim ist, ist sie des Grades 1.2.3: -- (u — 1), kann aber 
immer in 1.2.3... (w— 2) Gleichungen u — 1‘ Grades, mit Hilfe 
einer Gleichung 1.2.3: (u — 2)” Grades, zerlegt werden. Für 
uw=5 ist der Grad letzterer Gleichung 6; für u=7 ist er 120. 
Wie hoch aber auch der Grad 1.2.3:-:-(w— 2) sein mag, bietet 
ihre Lösung keine Schwierigkeiten dar, die man nicht zugleich in 
der vorgelegten Gleichung u‘ Grades findet, denn die |u — 2-Wurzeln 


sind bekannte Funktionen der u Wurzeln #, &”, &’...., und deshalb 
nieht unabhängig voneinander, sondern durch |u — 2 — u Beziehungen 


miteinander verbunden. Resolventen der gleichen Grade ergeben sich 
im allgemeinen aus Eulers und Bezouts Methoden. Eine zweite 
Auflösungsmethode von Bezout wird untersucht. Dieselbe liefert 
für die Gleichung 6” Grades eine Resolvente des 10t®® Grades, die, 
Bezouts Vermutung zuwider, nicht in zwei Gleichungen zerlegt 
werden kann. 

Mit diesen kurzgefaßten Auseinandersetzungen des dritten Teils 
der Lagrangeschen Schrift schreiten wir zum letzten Teil, wo er 
zeigt, daß alle bekannten Auflösungsmethoden sich auf das gleiche 
allgemeine Prinzip reduzieren lassen. Dieses besteht darin, Funktionen 
der Wurzeln der vorgelegten Gleichung zu finden, solcherart, daß 
1) die Gleichung oder Gleichungen, von denen diese Funktionen die 
Wurzeln sind, von niedrigerem Grade als dem der vorgelegten sind, 
oder wenigstens in solche zerlegt werden können, 2) man die ge- 
suchten Wurzeln auf bequeme Weise herleiten kann. Die Auf- 
lösungskunst besteht also in der Entdeckung solcher Funktionen. Ist 
es möglich, für u>4 solche Funktionen zu finden? Dies sei im 
allgemeinen sehr schwer zu beantworten. Für n<5 sei «+ ya” 
2a” +... + yt 1a) die allgemeine Form der einfachsten Funktion 
der Wurzeln &, x”,..., wo y eine imaginäre uw Einheitswurzel ist. 
Da für nZ5 diese Funktion nicht zum Ziele führt, müsse die Auf- 
lösung durch neue Funktionen erfolgen, wenn sie überhaupt möglich 
sei. Bisher habe er solche Funktionen nur a posteriori gesucht, 
nun wolle er zeigen, wie rationale Funktionen a priori zu finden 





seien. 


Sind (8 95) &, a”, «”,.... die Wurzeln der vorgelegten Glei- 


? 


Algebra. 113 


chung, f rationale Funktionen dieser Wurzeln, und nimmt man im all- 
gemeinen das Produkt von so vielen Faktoren 


- FIN), EN). - 
FAIRE EN-- 


als Versetzungen unter den Wurzeln &, x”, ... möglich sind, näm- 
lich © = IM Faktoren, so ist IM die Anzahl Wurzeln von einer irredu- 
ziblen Gleichung © = t" — Mi®-!+ Nte?—...=0, wo M die 


Summe aller Funktionen, N die Summe aller Produkte je zweier 
Funktionen etc. darstellt. Es folgt, daß M, N,... rationale Funktionen 
der Koeffizienten sind, welche, wie schon Cramer und Waring gezeigt 
hatten, direkt berechnet werden können. Wenn nicht jede Permutation 
ungleichförmige Funktionen liefert, und man gleiche Funktionen aus- 
schließt, stellt sich @==0 von niederem Grade heraus. Es ergibt 
sich das Resultat ($ 99), daß 1) alle gleichartigen Funktionen von 
c,&,... (nämlich Funktionen von denselben Wurzeln, die bei einer 
gewissen Permutation sich gleichzeitig ändern oder sich nicht ändern) 
durch Gleichungen von gleichem Grade bestimmt sind; 2) daß 
dieser Grad der Anzahl verschiedener Werte der Funktion gleich ist 
und immer |u oder ein Teiler von u ist, 3) daß diese Funktionen be- 


rechnet werden können. Eine solche Funktion kann rational durch 
eine gleichartige Funktion ausgedrückt werden. Hat man zwei 
rationale Funktionen, y und ft, solcher Art, daß sich ? für jede Wurzel- 
permutation verändert, welche zugleich in y eine Variation hervor- 
bringt, dann läßt sich y rational durch # und den Koeffizienten der 
vorgelegten Gleichung ausdrücken. Lagrange erkennt diesen Lehr- 
satz als einen der wichtigsten in der Gleichungstheorie ($ 100). 
61 Jahre später erhielt dieser Satz eine allgemeinere Formulierung 
durch Evariste @alois. Die Eigenschaften dieser rationalen Funk- 
tionen werden durch die Kombinationsrechnung („caleul des eombi- 
naisons“) untersucht. Man findet darin die Keime der großen Sub- 
stitutionstheorie. Lagrange sagt ($ 109): „Dies sind, wenn ich 
nicht irre, die wahren Gründe von der Auflösung der Gleichungen, 
und der eigentliche Weg, welcher uns dahin führen kann.“ In der 
_Vorrede des dritten Abschnitts sagt er: „Aus diesen Betrachtungen 
erhellet, daß es äußerst zweifelhaft ist, ob die Methoden, von welchen 
wir geredet haben, zu einer vollständigen Auflösung der Gleichungen 
vom fünften Grade, und noch viel mehr der höheren Grade führen 
können.“ 


Kurz nach Lagranges Abhandlung erschien eine andere wich- 
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 8 


Ed 


114 Abschnitt XX. 


tige Arbeit, Memoire sur la resolution des &quations!) 
von Alexandre Theophile Vandermonde (1735—1796)2), einem 
Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften und seit 1782 
Direktor des Üonservatoire pour les arts-et-metiers. Die Unter- 
suchungen von Waring, Lagrange, Marguerie (8.118), Condorcet 
wurden ihm erst nach der Einreichung seines Memoires bekannt. 
Vandermonde hebt hervor, daß die wesentliche Bedingung für die 
allgemeine Auflösung der Gleichungen darin bestehe, eine Funktion 
der Summe der Wurzeln, der Summe der Produkte je zweier ihrer 
Wurzeln, der Summe der Produkte je dreier ihrer Wurzeln ete. zu 
finden, die gegen irgendwelche Wurzel indifferent sei. Diese Unter- 
suchung zerfalle in drei Teile: 1) eine Funktion der Wurzeln zu 
finden, die solchen dieser Wurzeln, die man wünscht, gleich sei, 
2) dieser Funktion eine Form zu geben, daß sie auch der Vertau- 
schung der Wurzeln unter sich indifferent sei, 3) darin die Werte 
der Summe der Wurzeln, der Summe der Produkte je zweier ihrer 
Wurzeln ete. einzusetzen. Er fängt mit 5) an und berechnet Tafeln, die 
die Werte symmetrischer Funktionen, durch die Gleichungskoeffizienten 
ausgedrückt, angeben. Eine Funktion der in 1) verlangten Art ist 


— a+b+c+ete+YVea +nb +nc4-:)" 








+ Vatnbrniet. Pt. + Veh rn 
die a, b oder c etc. indifferent gleich ist, wo a,b, c,... die Wurzeln 
der gegebenen Gleichung und 1,r7,, 73, r3,... die n" Einheits- 
wurzeln sind. Ist na=3, hat man 





a=4latd+)+la+nd+n0)+(a+nd +10), 
= =-[(a "% b+)+rlatrnb+trod)H+r?(a+r?’b+rzc)], 
= la +b+)+nlatnb+n)+r2latrtb+ no). 


Ferner (a +rb+r,c?’=a+b+e+babe+dr, (ab +bc+ ca) 
+ 3r, (a?c + b?a + c?b), welcher Ausdruck nun leicht als eine Funktion 
der Koeffizienten der vorgelegten Gleichung ausgedrückt werden kann. 
Desgleichen für (a+r,?b+r,?c)’”., Auf diese Weise folgt nun die 
Auflösung. Vandermonde sucht nun seine Methode auf die Quintie 
und höhere Gleichungen anzuwenden. Hier stößt er auf Schwierig- 





!) Histoire de l’acad. roy. des sciences, annde 1771, Paris 1774, p. 365 bis 
416. ®2) Über Vandermondes Vornamen sehe man H. Simon in Zeitschr. 
f. Math. u. Physik, 41. Jahrg., Hist.-Lit. Abth. 


Algebra. 115 


keiten, die obige Bedingung 2) zu erfüllen. Er schließt, daß die 
Auflösung der Quintie sich auf die einer Gleichung sechsten Grades 
stütze, deren Koeffizienten rationale Funktionen derjenigen der vor- 
gelegten Gleichung seien. Für die Gleichung sechsten Grades ent- 
deckt er Resolventen 10. und 15. Grades. Man substituiere in den 
letzten die obgenannten Funktionen. Wenn diese Gleichungen sich 
dann nicht auf solche vierten oder niedrigeren Grades reduzieren 
lassen, suche man die Resolventen der Gleichungen 10. und 15. Grades 
auf ete. Sei die allgemeine Quintic überhaupt lösbar, dann komme 
man endlich zum Ziele. Für die Quintie entdeckte er auch eine 
Resolvente fünften Grades. Er hat keine der angeführten Resolventen 
wirklich berechnet. Er ist der erste, der eine algebraische Lösung 
für 21 —-1=0 angab. 

In der Vandermondeschen, sowie in einigen Teilen der voran- 
gehenden Lagrangeschen Abhandlung findet man eine Auflösungs- 
methode, welche den Namen Kombinationsmethode erhalten hat!). 
Die älteren Verfahrungsarten von Tartaglia, Tschirnhausen, 
Waring, Bezout werden zum Unterschiede Substitutionsmethoden 
genannt. Auch Lagrange hat diese gebraucht. In ersterer werden 
a priori eine oder mehrere einfache Kombinationen der Wurzeln an- 
genommen und Resolventen zur Bestimmung dieser Kombinationen 
abgeleitet. Vandermondes Annahme dient als Beispiel. In der 
Substitutionsmethode substituiert man für x eine Funktion von einer 
oder mehreren neuen Unbekannten, die zu Resolventen mit möglichst 
einfachen Wurzelformen führen. Als Beispiel solcher Funktionen 
führen wir die Wurzelformen von Euler, Waring, Bezout und 
Lagrange und die Cardansche Annahme für kubische Gleichungen, 
%2=y+2, oder die Tschirnhausensche, y=a+bx + ca, an. 

Die Newtonsche Formel für die Potenzsummen der Wurzeln 
wird von Kästner in einer 1757 verfaßten, aber erst 1771 gedruckten 
Schrift?) nach der Methode der vollständigen Induktion bewiesen. Die _ 
unvollständige Induktion sei in der Mathematik zu meiden. Auch in 
seinen Anfangsgründen der Algebra, $ 316, klagt Kästner, daß 
viele Schriftsteller Gesetze allgemein annehmen, welche nur bei be- 
sonderen Fällen als richtig erwiesen sind, wie z. B. beim binomischen 
Lehrsatz. Es werde berichtet, „Reyneau habe Harriots Lehrsatz 
aus seiner Analyse demontr&e weggelassen, weil er die Regeln der 
Algebra demonstriren wollte“. „Ich hatte eben so viel Eifer die 
Regeln zu demonstriren, als Reyneau kann gehabt haben, und in 


’) L. Matthiessen, op. eit., p. 238, 789. ?°) Dissertationes math. et phys. 
quas soc. reg. scient. Gottingensi annis 1756—1766 ete., Altenburgi 1771, p. 1—8. 
8* 


116 Abschnitt XX. 


der That wäre es eine Schande für einen Deutschen, wenn er da nicht 
demonstriren wollte, wo selbst ein Franzose dieses unternimmt.“ Die 
Franzosen seien von der Euklidischen Beweisschärfe abgewichen, um 
Leuten das Studium der Mathematik zu erleichtern. 

An eine Arbeit von Gabriele Manfredi anknüpfend, gab 
Gianfrancesco Malfatti in einem bedeutenden Artikel, De aequa- 
tionibus quadrato-cubieis disquisitio analytica') die Lösungen 
quadratischer, kubischer und biquadratischer Gleichungen, und über- 
trägt dann seine Methode auf Gleichungen fünften Grades. Der 
Arbeiten von Waring und Bezout tut er keine Erwähnung. 
Wie Euler und B&zout nimmt er als Wurzelform der Gleichung 


2 —- Bar +5” +5ec +d=0 
x + mV +pVP+aVP +nVf=0, 
wo f= 1 genommen wird, und erhält 
2° — B(mn +pq)a? +5 (m?qg +n?p + mp? + ng?) #? 
— 5(m’p + n’qa + mg?’ + np? — men? + mnpg - PP)zE+m’ + 
+ pP? +? +5 (mn — pg) (mp? + ng? — m’g — n’p) =. 


Malfatti setzt mn=y, pg=u, mg+npy=r, mP+ngd=t. 
Zur weiteren Abkürzung schreiben wir m’p+n’g=v und mg’ 
+np®=w. Malfatti erhält nun w=rt— yw, vuv=ru+ty 
— 4u?y?, und aus diesen letzten Zuv—=rt+s, 2yw=rt—s, wo 
s= Vr?t — 4r2u?y — APuy? + 16u°y?. Dann wird vr = (m? + n?)u 
+y?t, wt= (pP +q°)y+ w’r. Durch Elimination von v und w 
folgen 2u(m’ +nd)= (rt +s)r —2tuf und 2 (P+gQ)=rt 
— 2ru?y— ts. Durch Vergleichung der Koeffizienten der vorgelegten 
und der derivierten Gleichung hat man 





ytu=a r+t=b, 


ty rWHW—NS 
2uy 





+? —-uytW= 6, 





Ra 


Die dritte Relation gibt s(u— y) = rt(y +.u) — 2uy’+2uy? — 2u’y 
+2cuy. Setzt man hierin =b— r und quadriert, so erhält man 


Be 





1) Atti dell’ Accademia delle Scienze di Siena detta de’ Fisio-eritici, 
L’anno 1771, T. IV, p. 129—184. 


Algebra. 117 


rt 2br° + @yP — Yu ya +2W— cy— cu +b)r? 
+ (3b +4byPu—2byu?— bu’+bey+beu)r + yu— 6yfu?+11yPu? 
6byut+yW—2ceyu+2eyu—2ceu’y+eyu+b’y— 2b? yu + biyu= 0 


und, für s seinen Wert in der vierten Bestimmungsgleichung ein- 
setzend, 
| (y-+ u) r? — (by — 2bu) r? 
+ (2,4 — 12yPu + 22 yPu? — 12yu? + 2ut + bu — ey? — cu’)r — by* 
— 6byPu — 11by?u? + 6byu? — but + beu? — dy?u + dyu? = 0. 


‚Eliminieren wir nun r, sagt Malfatti, so werden wir die lang- 


ersehnte Resolvente erhalten. Er schreibt 23uy=z+5a?’ — . 


und setzt die Resolvente in die Form 


+ a + bd) + 00 Me + Fade 


[ — 52 (30° — gr 


5b + 1datbd+ Zbed+ ad) + (.- 20 - 20). 


(dt + 30 abd? — 108 a?d? + 180 a?cd? — 80 ac?d? + 165 a?b?d? 
+ 90b?ed? — 360 atbed + 560 atbed — 160be?d — 80 a?b’d 
+ 630 ab?ed — 108b°d + 400 atc? — 640 a?c* + 256 ce? 
+ 100a?b?e? — 720 ab?e? — 135 bie?) = 0. 


Man wird gewiß zugestehen, daß Malfatti seine Elimination 
sehr scharfsinnig durchgeführt hat. Vor ihm hatte niemand dieses 
Ziel erreicht. Da die Gleichungen des 2., 3., 4. und 5. Grades Re- 
solventen des O., 1., 3., 6. Grades besitzen, spricht Malfatti die Ver- 
mutung aus, daß eine Gleichung n + 2'” Grades eine Resolvente 


5 (m? + m) Grades besäße.. Er äußerte aber diese Ansicht mit 


Schüchternheit, besonders da Euler den Resolventengrad niedriger 
als den Gleichungsgrad zu stellen schien. Da Malfatti seine Re- 
solvente sechsten Grades nicht allgemein lösen kann, sucht er Spezial- 
fälle aufzulösen. Er erkennt das Vorhandensein rationaler Faktoren 
der Resolvente als genügende Bedingung, und findet nicht nur alle 
vor ihm als auflösbar bekannten Fälle, sondern auch noch neue Fälle. 

In der Tat entdeckt er alle auflösbaren Fälle, denn es ist von 
E. Luther!) gezeigt worden, daß die hinreichenden Bedingungen auch 
zugleich notwendig sind’). 





) Crelle, Bd. 34. ?) Vgl. J. Pierpont, loc. eit., S. 36; auch Francesco 
Brioschi, ,„Sulla risolvente di Malfatti...“ in Memorie del reale istituto 
Lombardo di scienze, lettere ed arti, Vol. 9, terzo della serie seconda, p. 217 bis 
223, 224— 227. 


118 Abschnitt XX. 


In einer Abhandlung, Sur les equations resolues par M. de 
Moivre!) behandelt de Castillon die früher von Euler und 
Bezout besprochene De Moivresche Gleichung 


a=- "ne Vi + n/a _ aaa ana, n- 63/6 








7 


in na MT) n-33/78 — etc 


Verviezent ever) als Wurzel hat. De 
2 

Moivre gab keinen Beweis; Euler verifizierte die Lösung für 
n<5. Castillon beobachtet das Bildungsgesetz der Glieder dieser 
Gleichungen, mit Hilfe dessen das Resultat der Substitutionen viel 
leichter gefunden wird, und bespricht die irreduktiblen Fälle. 

Im Jahre 1773 erschien ein M&moire sur la resolution des 
equations en general, et particulierement sur l’&quation du 
5° degre?) von Jean-Jacques de Marguerie (1742—1779), einem 
jungen, aus Mondeville bei Caen gebürtigen Schiffsleutnant. Auf 
einer Fahrt nach Rußland machte er die Bekanntschaft von L. Euler. 
Er beteiligte sich am nordamerikanischen Freiheitskampf und starb 
in einer Seeschlacht der Franzosen gegen die Engländer. Seine 
mathematischen Schriften sind uns nur durch die Angaben von La- 
grange und seinem Biographen°)'bekannt. Lagrange pries die Talente 
des jungen Mannes®) und schrieb an ihn’): „Ihre Methode die Re- 
solventengleichung irgendwelchen Grades zu finden gefällt mir. Sie 
hat den Vorzug diese Gleichung in der einfachsten Form zu liefern... 
Ich bewundere, wie Sie durch geeignete Substitutionen Mittel ge- 
funden haben, den Eliminationskalkül zu vereinfachen und besonders, 
wie Sie sich von nutzlosen Faktoren befreien, die den Grad der End- 
gleichung viel höher machen als er sein sollte. Ich glaube Sie sind 
der erste, welcher das Resultat der Elimination für den 5. Grad ge- 
geben hat.“ 

In seinen Reflexions sur la forme des racines des 
equations determindes, la r&duetion et la solution de ces 
&quations®) gibt Le Marquis de Condorcet allgemeine Über- 
legungen, die er bei der Durchsicht der Arbeiten von Euler, B&zout, 


die z= 








‘) Nouveaux me&moires de l’acad. roy. des sciences et belles-lettres, annde 


1771, Berlin 1773, p. 254—272. ?) Memoires de l’acad. roy. de marine, T. 1, 
Brest 1773, p. 1. ®) Prosper Levot in Biographie universelle (Michaud), 
N. Ed. #) Lagrange, Oeuyres, T. XIV, p. 17, Brief an Condorcet vom 


24. Febr. 1774. °) Ebenda, p. 270. °) Melanges de Phil. et de Math. de la 
Soc. Roy. de Turin, pour les anndes 1770—1773, Classe Math., p. 1—7. 


Algebra. 119 


Waring, de Marguerie, Lagrange und Vandermonde machte. 
Er geht von der unsicheren Annahme aus, daß die Wurzeln einer 
Gleichung n*"® Grades ganze algebraische Funktionen ihrer 
Koeffizienten sein müssen und keine Radikale höherer als n‘ Ord- 
nung zulassen. Er nimmt dann die ältere Eulersche Wurzelform 


EIFRFEVBETICH- - - an, bespricht den Grad und die Reduk- 
tibilität der Gleichung für die Bestimmung von A und zieht den 
Schluß, „daß die Methode für die Auflösung der Gleichungen 2., 3, 
4. Grades sich auf höhere Grade ausdehnen lasse und daß die Schwie- 
rigkeit, welche von der Höhe der Gleichung oder der Wurzelform 
entspringt, nur die ungeheure Komplikation der Berechnung betreffe, 
welehe dann die Auflösung der Aufgabe erfordere; daß man aber 
immer zur gesuchten Lösung gelange“. Condorcet veröffentlicht im 
gleichen Bande!) Nouvelles recherches, worin er seine Ideen 
weiter entwickelt und sie soweit modifiziert, daß er die Existenz un- 
lösbarer Gleichungen nicht als unmöglich, wohl aber als unwahr- 
scheinlich erklärt. Wenn eine Gleichung keine allgemeine und end- 
liche Wurzelform besitze, werde man dieses dadurch herausfinden, daß 
man in den von ihm vorgeschlagenen Operationen auf eine andere 
Gleichung n‘® Grades geführt werde, die keine rationalen Divisoren 
enthalte, wenn n eine Primzahl ist; oder wenn % nicht prim ist, 
daß man auf eine Gleichung komme nicht niedrigeren Grades als 
(n—2)(n—3)...3.2.1. Diese Ideen werden von ıhm auch im 
Artikel „Equations Determindes“ in der Encyclopedie methodique 
(Mathematiques) erklärt. 

In der Abhandlung Sur la forme des racines imaginaires 
des equations?) gibt Lagrange einen Beweis des Satzes, daß jede 
imaginäre Wurzel einer Gleichung auf die Form A+DB V-1 ge- 
bracht werden kann. Nachdem er D’Alemberts auf der Kurven- 
theorie beruhenden Nachweis (1746), Eulers Nachweis (1749) und 
de Foncenex’ (1759), über welchen im XXI. Abschnitte be- 
richtet werden wird, kurz besprochen und ihre Schwächen aufge- 
deckt hat, schreitet er zur Ausfüllung der Lücken in Eulers Be- 
weise. Lagrange nimmt im allgemeinen die Wurzelexistenz ohne 
Beweis an. Auch wird als bewiesen vorausgesetzt, daß jede Gleichung 
von ungeradem Grade und mit reellen Koeffizienten wenigstens eine 
reelle Wurzel habe. Er erklärt, daß das Eulersche Verfahren, um 
eine Funktion f(x) vom Grade 2m, m>1, in zwei reelle Faktoren 





1) Melanges de Phil. et de Math. de la Soc. Roy. de Turin, pour les annedes 
1770—1773, Classe Math., p. 236— 264. 2) N. m&moires de l’acad. roy. des 
sciences, annde 1772, Berlin 1774, p. 222—258 —=Lagrange, Oeuvres, T. OI, 
p. 479—516. 


120 Abschnitt XX. 


zu zerlegen, nicht immer zum Ziele führt, da dasselbe auf 
Formeln für die Bestimmung der Koeffizienten führt, die in gewissen 


Fällen unbestimmt, = sind. Es gelingt Lagrange, diesen Einwurf 


gegen die Methode Eulers und de Foncenex’ zu beseitigen, indem 
er hier seine in den Reflexions sur la resolution des &quations, 
Sektion IV, n. 100, entwickelte Permutationstheorie anwendet, welche 
den Wert einer rationalen Funktion y der Wurzeln zu berechnen 
lehrt, sobald man den Wert einer ahderen Funktion t kennt, solcher- 
art, daß ? für alle Permutationen sich ändert, wofür sich y ändert. 
Gauß äußerte sich anerkennend über diese Arbeit. Der große La- 
grange habe die Sache „so tief durchforseht, daß nichts Weiteres zu 
wünschen bleibt; abgesehen davon, daß vielleicht bei seiner voraus- 
gehenden Behandlung der Eliminationstheorie, auf welche sich die 
gesammte Untersuchung stützt, einige zweifelhafte Punkte zurück- 
bleiben“!). 

De Foncenex’ Beweis wird von Louis Bertrand in Schutz 
genommen’). Bertrand behauptet, daß das Verfahren des Verfassers 
nur in sehr seltenen Fällen mißlinge. In diesen könne man eine 
Gleichung, deren Wurzeln die Quadrate der Wurzeln der vorgelegten 
Gleichung seien, als Hilfsgleichung ableiten, welche zum Ziele führe. 
Diese Aussage wird nur für die Quartic bewiesen. Wenn Lagranges 
Einwurf gegen «* — Aa’ + Be — 0x + D=0 gelte, gelte er gegen 
a — (#—-2B®+(BR—-24AC+2D)&®—-(®—-2BDc«+D=0 
nicht. Da nun die Quadratwurzeln einer Größe a +bY —1 von der 
gleichen Form wie dieselbe sind, sei der Satz für die Quartic bewiesen. 
Auch bei Bertrand wird die Wurzelexistenz ohne weiteres voraus- 
gesetzt. 

In einer Schrift, Sur des irrationnelles de differens ordres 
avec une application au cercle?), entwiekelt Vandermonde eine 
neue Darstellungsweise der Irrationalen, indem er eine Verallgemeine- 
rung des Symbols 9 —=p.p.p... (n Faktoren) annimmt, worin die 
zweiten statt der ersten Differenzen der Faktoren Null sind. Er 
schreibt |p" =p(p - 1)(p— 2)... (p—n+1) und entwickelt die 
Öperationsregeln dafür. Er findet 


p+m+n’ol "= [pP +m+ np” —=1 + [m][o)' of lol" 
+ [m] [on Ip’ + >, 


) C. F. Gauß, „Neuer Beweis des Satzes...“, $12 in Ostwalds Klassiker, 
 Nr.14. 2)L. Bertrand, Developpement nouveau de la partie el&mentaire des 
math&matiques, T. II, & Geneve, 1778, p. 499, °) Histoire de l’academie royale 
des sciences, annde 1772, Premiere Partie, Paris 1775, p. 489—498. 





Algebra. 121 


wo [p”"=1:[p + m]“ ist, und nimmt ohne weiteres an, daß diese 
Ausdrücke sich für Bruchwerte von m und n bewähren. In der 


Formel [a [pP] "= [a + r"[p + r]* [pl [al ":[p + n]"[g— n]-” 


läßt er r unendlich werden und erhält dadurch das unendliche Produkt 


la lpl "= [pl *lol*: [op + ng n])* 
=p+n+YDW-n+N)p+n+NY)@-n+2)... 
:P+Yda+YD(P+DY)@+2)... 


Die Anwendung seiner Resultate auf den Kreis ergibt die Ausdrücke 
17 a na... A ER 
a er aan T: wiyam 2 [5] nous: 


nalen Formen zweiter Ordnung [q]”[p]-* lassen sich, wiegezeigt wird, öfters 
auf rationale Zahlen oder auf einfachere irrationale Größen reduzieren. 


2. B. Bi [- Er — = ’ er I- Zn —Y2. Kriterien der ver- 


schiedenen Irrationalitätsarten werden aber nicht entwickelt. 

In den Nova acta eruditorum gibt Fagnano eine Demon- 
stratio theorematis Studeniani pro reductione aequationum, 
quae radiceshabent aequales!). Der Satz heißt: Wenn die Glieder 
einer Gleichung, deren m Wurzeln einander gleich sind, mit den 
Gliedern irgendwelcher arithmetischen Progresssion je multipliziert 
werden, behält die neue Gleichung m — 1 der gleichen Wurzeln bei. 
Fagnano beweist zuerst den Satz für Gleiehungen mit lauter gleichen 
Wurzeln. Werden die Glieder von (2 + a)”—= 0 mit den entsprechen- 
den Glieden von 9, p+q,p+ 2q,... multipliziert, erhält man 
(pl®+a]-+nga) (x + a)"-'=0. Dieses Resultat wird nun auf 
(b+cec+da-+.. )a+a"=b(c + a" +cx(x + a)”--- angewandt, 
wo die Glieder von b(2 + a)”, ex(x + @)”,--- mit den entsprechenden 
Gliedern von ep, p+q,..,p+ 9,P+2g,..., multipliziert werden. 

Nun folgt die Abhandlung Vandermondes, M&emoire sur l’&limi- 
nation?), worin er für » Gleichungen ersten Grades eine Eliminations- 
formel von sehr gedrängter Form entwickelt und seine Schreibart auf 
Elimination zwischen zwei Gleichungen höherer Grade anwendet; sie ist 
eine für die Determinantentheorie besonders wichtige Schrift. Vander- 
monde erfindet eine Bezeichnung, welche mit der später von Syl- 





') Nova acta eruditorum, 1776, p. 1—11. „Studeniani“ sollte „Hudeniani‘ 
heißen. Man findet Huddes Satz in der Ausgabe der Descartesschen Schrift 
Geometria & Renato des Cartes, Amsterdam 1659 (welche auch Arbeiten von 
Hudde und anderen niederländischen Mathematikern enthält), S. 435. 

*) Histoire de l’acad. roy. des sciences, annde 1772, II. Partie, Paris 1776, p. 516 
bis 532. Vgl. Thomas Muir, op. eit., 8. 15— 28. 


122 Abschnitt XX. 

vester aufgestellten umbral notation wesentlich übereinstimmt. 
Koeffizienten werden wie früher bei Leibniz durch zwei Buchstaben 
(oder Zahlen) 2 dargestellt, deren einer die Gleichung, worin der Koef- 


fizient vorkommt, und der andere den Ort desselben in der Gleichung 
bezeichnet. Was Leibniz durch 12 oder 1, bezeichnete, wird von 


Vandermonde a geschrieben. Ferner schreibt Vandermonde 

















ep u Pr“ ß 

ab 0:2 

“ipyY ee SBir ,@,.Plyr ‚way 

a)b|e a 1:98 ie alb?’ 

rege Ph ae my IR RT ee 
alb|celed a bjejd b c|d|ja ce dja|b d albje i 


Diese Ausdrücke enthalten die Definition einer Funktionenklasse und 
deren Rekursionsgesetz, die mit der von B&ezout gebrauchten De- 
finition identisch ist. Werden die Unbekannten «, y, 2 aus drei 


Gleichungen ö + Y - 52 —= 0 (r=1,2,5) eliminiert, so stellt eh 
das Resultat dar. Vandermonde erklärt, daß, statt der unteren 
Buchstaben a, b, c,..., man die oberen «, ß, y,... permutieren könne, 
ohne das Endresultat zu ändern, daß die Anzahl Glieder der Anzahl 
Permutationen von a, b, c,.... gleich sei, wovon die Hälfte negative 
Zeichen haben. Wir illustrieren durch ka — — %_P den von ihm 





a,b ba 
für spezielle Fälle verifizierten, aber allgemein auf zwei von ihm un- 
bewiesenen Hilfssätzen gegründeten Lehrsatz, daß die Permutation 
von zwei Buchstaben im gleichen Alphabet einen Zeichenwechsel, 
sonst aber keine Änderung hervorbringt. Daraus zieht er den 


Schluß, daß Far araRes —(, wenn zwei Buchstaben im gleichen 
| % 


Alphabet einander gleich sind. Davon wird nun die Regel für die 
Auflösung simultaner Lineargleichungen abgeleitet. Wenn | 








ı 1 ER 112 112 
Pe 273 ur 
erg wird ,= 5, = 715° 
at, tz>0 i® i2 


Die Schreibweise für den allgemeinen Fall von » Gleichungen wird 
angegeben. Bei der Elimination zwischen zwei Gleichungen m" Grades, 


1 2 2 Ei : : 
Lam 47 ri rete—o, ah art etc. = (, führt er die weiteren 


Isar 3 


Ra 3 12 Fe IE 
er ab «Bß 


a|d Een ER 


Abkürzungen a|b für abl«ß für 





Algebra. 123 


a a . f . . 
+5 a, etc. ein, woraus sich Transformationsformeln dieser Art 








ala-b|ß =ablaß—aß|ab ergeben. Die Eliminanten für die 
Fälle m = 2, 3, 4 werden niedergeschrieben. Für n=3 erhält er 


ME anal 8 (0 9) 


I 








— 5 2/4 .2]j4 
ee 


Bei der Ableitung einer ähnlichen Form der Eliminante für den Fall 
m—=5 stößt er auf Schwierigkeiten, die sich in der Reduktion der 
Eliminante auf die kleinste Anzahl Glieder zeigen. Nachdem der Aus- 
druck so weit entwickelt ist, daß derselbe in Faktoren der Form 
a|b umgesetzt ist, sucht Vandermonde Vereinfachungen durch eine 
Formel des Fontaine, welche in Vandermondes Schreibweise 


ab-eld-ale.Bd+ald.de-o 
lautet, zu erzielen, ohne aber das Ziel völlig zu erreichen. Das End- 
resultat sollte auf 120 Glieder reduziert werden, bevor es in die Form, 
welche denen für die Fälle m = 2, 3, 4 analog ist, gesetzt werden 
kann. Vandermonde erhält 124 Glieder und bemerkt, daß, nach 
einer persönlichen Mitteilung, de Gua durch ein anderes Verfahren 
auf die gleiche Anzahl gestoßen sei. 

Im gleichen Bande findet man eine Abhandlung von Laplacet), 
Recherches sur le ealeul integral et sur le systeme du 
monde, worin die Determinantentheorie berührt wird. Der Name 
resultant wird hier zum erstenmal für das Resultat der Elimination 
bei n linearen homogenen Gleichungen gebraucht. Er schreibt dafür 
das Symbol (!a.°b.®c). Der Lehrsatz über den Zeichenwechsel, durch 
die Transposition zweier Buchstaben hervorgerufen, wird hier auf 
befriedigendere Weise als bei Vandermonde bewiesen. Simultane 
lineare Gleichungen werden nach dem jetzt gebräuchlichen Verfahren 
gelöst. Um die Berechnung der Resultante zu vereinfachen, führt er 
eine Methode ein, die wir in Spezialfällen schon bei Vandermonde 
vorfanden, und die nun als die Laplacesche Entwicklung von Determi- 
nanten bekannt ist. Die Regel für diese Entwicklung wird aber nicht 
in einer Form ausgesprochen, daß sie auf andere Fälle leicht an- 
gewendet werden könnte. 

Beiläufige, isolierte Resultate über Determinanten hat Lagrange 


') Hist. de l’acad. roy. des sciences, annde 1772, 2° pt., Paris 1776, p. (267 
bis 376), 294—304. Vgl. T. Muir, op. cit., p. 23—33. 


124 Abschnitt XX. 


in zwei Abhandlungen des Jahres 1773 gegeben. In der ersten, 
Nouvelle solution du probleme du mouvement de rotation ete.') 
sind fünf Identitäten, die wir jetzt als Beispiele der Multiplikation 
und Addition von Determinanten ansehen. Andere Identitäten fin- 
den sich in der zweiten Abhandlung, Solutions analytiques de 
quelques probl&mes sur les pyramides triangulaires?). 

Von einer Mitteilung Condorcets angeregt, untersuchte Euler 
in einem Artikel De formulis exponentialibus replicatis?) die 
Grenzwerte der Zahlen «, ß, 7,..., wo ß=r“%, y=r?,... Damit 
diese Größen nicht ins Unendliche wachsen, muß ein Glied, welches 
die Grenze berührt hat (attigerit), dem nächstfolgenden gleich sein, 

1 


d. h. r® = o, oder r—= »”. Wenn log @—=1, erreicht r sein Maximum 
1 1 
et — 1,4447 .... Istil<r< e®, gibt es zwei Größen ® und WY, 
welche die Bedingungen = ®, r? = Y erfüllen. Setzt man Y=»p®, 
1 


Ki . 
dann wird ®=p?-!, Y=p?-\ Man kann also p beliebig wählen 
1 
und die zugehörigen Werte von ®, Y, r finden. Wenn r>ee, können 


nur imaginäre Zahlen die Bedingung r” = » erfüllen. Der Fallr <i 
wird auch untersucht. 

In einem Artikel, Observations on the limits of algebraical 
equations; and a general demonstration of Des Cartes’s 
Rule...*) hebt Isaac Milner (1750—1820), „fellow“ an Queen’s 
College in Cambridge, hervor, daß der Satz in Maclaurins Algebra, 
demzufolge die Wurzeln der Gleichung (B) 


(+nm)"— (+ {n— 1im)pa""'+ (l+ In— 2) m)gaa”?—..-=(0 
als Grenzen zwischen den Wurzeln der Gleichung (A) x” + 9x”! 
+ 92"? — ...—= (0 liegen, nicht allgemein richtig sei. Z.B. die Wur- 


zeln 2+ Y13 von © — 4x — 9 = 0 liegen nicht zwischen den Wur- 
zeln 3 und —1 der Gleichung #—-22—3=0. Der Satz gelte 
nur, wenn alle Wurzeln gleiche Zeichen haben, was Maclaurin nicht 
deutlich hervorgehoben habe’). Milner habe 1775 auch Waring 
mitgeteilt, daß der Maclaurinsche Satz, daß die Wurzeln von (C) 
na" — (n — 1)px”"?+ (n — 2)g2” 7° —---=0 Grenzen der Wurzeln 
von(A) seien, einer Einschränkung bedürfe, da es möglich sei,daß keine der 
Wurzeln von (C) zwischen der kleinsten positiven und der größten nega- 





') N. mem. de l’acad. roy. des sciences, annde 1773, Berlin 1775, p. 85 bis 
120—=Lagrange, Oeuvres, T. III, p. 579—616. ?, Ebenda, p. 149—176 — 
Öeuvres T. II, p. 661—692. Vgl. T. Muir, op. eit. p. 33—41. °) Acta acad. 
scient. imp. Petropolitanae, pro anno 1777, Pars 1, Petropoli 1778, p. 38—60. 

*) Philos. Trans., Vol. 68, for the year 1778, London 1779, p. 380—388. °) Vide 
Maclaurin in Phil. Trans. (London) Vol. 36, auch seine Algebra, Art. 44, 45—50. 


Algebra. 125 


tiven Wurzel von (A) liegen. Denn setze man diese zwei Wurzeln 
in (C) ein, so möge das Polynom (C) Werte gleichen Zeichens er- 
halten, weshalb keine Wurzel von (C) zwischen den zwei Wurzeln 
von (A) liegen würde. Daß ein solcher Fall wirklich eintreten kann, 
ist natürlich nicht bewiesen. 

Milner gibt folgenden Beweis der Descartesschen Zeichen- 
regel. Sind alle Wurzeln von (D)I+ ma +na®+---+2"=0 reell, 
dann sind diejenigen von (E) m +2nx + ---nx”"-'!= (0 Grenzen der 
Wurzeln von (D). Es sind deshalb nicht weniger +-Wurzeln in (D) 
als in (E), denn da jede Wurzel von (E) zwischen verschiedenen 
Wurzeln von (D) liegt, kann die Anzahl positiver Wurzeln nicht 
kleiner sein. Sind 7 und m beide positiv, muß die Anzahl +-Wur- 
zeln in (D) und (E) gerade sein, und die Anzahl in (D) kann also 
die in (E) nicht durch die Einheit übersteigen. (D) hat aber eine 
Wurzel mehr als (E), welche gewiß — sein muß. Ähnlich behandelt 
er den Fall, wo ! und m beide negative, und den Fall, wo diese 
entgegengesetzte Zeichen haben. 

In der Abhandlung Sur la determination du nombre des 
racines imaginaires dans les equations literales!) entwickelt 
Lagrange anfangs die bekannten Kriteria für die Bestimmung der 
Natur der Wurzeln von © — Br +C=0; alle Wurzeln sind reell, 
wenn 4 B? > 270°; zwei sind einander gleich, wenn 4B’— 270 =; 
zwei Wurzeln sind imaginär, wenn 45b?<27C?. Zu Gleichungen 
n“® Grades übergehend, bemerkt Lagrange, daß Newton und an- 
dere Forscher Bedingungen für die Existenz lauter reeller Wurzeln 
aufgestellt haben, die.nicht hinreichend seien. Der Grund dafür liege 
darin, daß diese Bedingungen nicht durch die direkte Betrachtung der 
reellen und imaginären Wurzeln abgeleitet wurden, sondern bloß 
aus gewissen Bedingungen, welche befriedigt sein müssen, wenn alle 
Wurzeln reell sind. Wenn die Wurzeln reell sind, muß z. B. die 
Summe der Quadrate aller Wurzeln, oder der Quadrate ihrer Diffe- 
renzen, positiv sein; man darf aber nicht schließen, daß eine positive 
Summe das Vorhandensein lauter reeller Wurzeln nachweist. La- 
grange hebt nun hervor, daß man die Frage, ob es imaginäre 
Wurzeln gibt oder nicht, sicherlich dadurch beantworten kann, daß 
man ermittelt, ob die linke Seite der Gleichung durch einen oder 


mehrere Faktoren = — ax +b, wo b> . teilbar ist oder nicht. In 


demjenigen Divisionsrest, welcher keine höheren Potenzen von x als 
die erste enthält, setze man deri Koeffizienten von x, sowie auch den 





») Nouveaux memoires de l’acad. roy. des sciences, annee 1777, Berlin 1779, 
p. 111—139; Lagrange, Oeuvres, T. IV, p. 343—374. 


126 Abschnitt XX. 


von % freien Teil gleich Null. Man erhält auf diese Weise zwei 


Gleichungen, und eine dritte durch die Annahme 2 —b=u, aus 


welchen man die unbestimmten Größen a und 5 eliminieren soll. 
Die Größe u stellt sich hier als das Quadrat der Halbdifferenz irgend 
eines Wurzelpaares der vorgelegten Gleichung heraus. Ist letztere 
m (m — ı)ten 
2 
Endgleichung « negative Werte hat, sind in der vorgelegten Glei- 
chung imaginäre Wurzeln vorhanden, sonst nicht. Ob u negative 
Werte habe oder nicht, lasse sich durch Descartes’ Zeichenregel 
entscheiden. Gibt es in der Reihe der Koeffizienten lauter Zeichen- 
wechsel, so hat die vorgelegte Gleichung keine imaginären Wurzeln; 
sind Zeichenfolgen vorhanden, dann sind imaginäre Wurzeln gewiß 
vorhanden. Lagrange erklärt, daß die Anzahl von imaginären 
Wurzelpaaren nicht größer als die Anzahl Zeichenfolgen sei, weshalb 
man wisse, daß sich imaginäre Wurzelpaare vorfinden, nieht aber 
deren Anzahl. Um diese Anzahl näher zu untersuchen, berechne man 
eine zweite transformierte Gleichung, deren Wurzeln die Quadrate 
der Halbdifferenzen zwischen der Summe zweier Wurzeln und zweier 
anderer Wurzeln der vorgelegten Gleichung sind. Hat diese neue 
Gleichung keine negative Wurzel, dann hat die vorgelegte Gleichung 
nur zwei imaginäre Wurzeln. Daß eine negative Wurzel wenigstens 
vier imaginäre Wurzeln der vorgelegten Gleichung andeuten würde, 


Be 3 En *) für die Wurzeln 


der transformierten Gleichung. Sind a und b, c und d zwei konjugierte 
imaginäre Wurzelpaare, so muß obiger Ausdruck einen negativen Wert 
annehmen. Um herauszufinden, ob nicht mehr als vier imaginäre 
Wurzeln existieren, bilde man eine dritte Gleichung, deren Wurzeln 
die Quadrate der Differenzen zwischen der Summe von drei Wurzeln 
und der Summe dreier anderer Wurzeln sind. Hat diese dritte Glei- 
chung eine negative Wurzel, dann besitzt die vorgelegte Gleichung 
wenigstens sechs imaginäre Wurzeln. Wenn notwendig, könne man 
noch weitere Transformationen unternehmen. Lagrange bemerkt, 
daß ıhm kein allgemeines Kriterium zur Bestimmung der Anzahl 
negativer Wurzeln einer Gleichung bekannt sei. Diese Methode für 
die Bestimmung der Anzahl imaginärer Wurzeln führt immer zum 
Zaele. Sie ist der Glanzpunkt der Resultate, welche man im 18. Jahr- 
hundert über diesen Gegenstand erreicht hat. 

Endlich leitet Lagrange noch die Beziehungen zwischen den 
Koeffizienten einer Quartic, welche die Natur ihrer Wurzeln bestim- 
men, ab, und bemerkt, daß schon früher Waring in seinen Medi- 





m‘®® Grades, muß erstere Grades sein. Wenn nun in der 





ersieht man aus dem Ausdrucke ( 


Algebra. 127 


tationes algebraicae diese Resultate mitgeteilt habe, ohne aber 
den Nachweis dafür zu veröffentlichen. 

Das 1779 zu Paris erschienene Werk Theorie generale des 
equations algebriques von B6zout zeichnet sich aus durch das, 
was es enthält, sowie durch das, was es wegläßt. Von der algebraischen 
Auflösung von Gleichungen f (2) =0 verschiedener Grade, oder der 
Auflösung durch Annäherung, oder der Transformation von f(z)=0 
in eine neue Gleichung, deren Wurzeln oder Koeffizienten bestimmte 
Beziehungen zu denen der vorgelegten Gleichung haben, davon wird 
nichts gesagt. Das ganze Werk ist dem Eliminationsproblem ge- 
widmet. Die Elimination ohne Einführung fremder Faktoren hatten 
Euler und Be&zout bisher nur für zwei Gleichungen höheren Grades 
mit zwei Unbekannten erzielt. Um für den allgemeinen Fall fremde 
Lösungen zu vermeiden, erkannte Bözout schon früher‘), „daß nicht 
eine allmähliche, sondern nur eine gleichzeitige Elimination von (m — 1) 
der m Variablen zum richtigen Grade der Endgleichung oder der 
Eliminante führen könne“. Diese Sache wird nun weiter entwickelt. 
Nach einer Einleitung über Differenzenrechnung folgt die allgemeine 
Theorie von Gleichungen irgendwelchen Grades und mit mehreren 
Unbekannten. Ein vollständiges Polynom des Grades 7 mit n Un- 
bekannten wird durch (w...n)? bezeichnet; dessen Gliederzahl, durch 
N(w...n)” symbolisiert, ergibt sich gleich |"+n/n|T. Bezout 
jeitet einen Ausdruck ab für die Berechung der Anzahl derjenigen 
Glieder in diesem Polynom, welche durch keine der Größen ur, a, y", 2’ 
teilbar sind, und wird durch denselben zum Lehrsatz geführt: Der 
Grad der Endgleichung, welche aus einer Anzahl n von vollständigen 
Gleichungen irgendwelcher Grade mit n» Unbekannten hervorgeht, 
ist dem Produkte der Grade der vorgelegten Gleichungen gleich. 
Nur für den Spezialfall von zwei Gleichungen war dieser Satz früher 
bekannt. Im Falle unvollständiger Polynome mag der Grad des End- 
resultats niedriger sein. Bezout unterwirft dieselben einer ein- 
gehenden Untersuchung. Im zweiten Teile des Werkes wird die Eh- 
mination selbst durchgeführt. Ohne Nachweis gibt er zur Berech- 
nung der Unbekannten von linearen Gleichungen eine scheinbar will- 
kürliche Regel, welche gleichgültig auf literale und numerische, all- 
gemeine und spezielle Gleichungen anwendbar ist. Wir erläutern sie 
an einem Beispiele aus 8200. Sind @x-+t by+cdz+d=0 üi=0,1,2), 
nehme man stillschweigend ? als Unbekannte der absoluten Glieder 
an. Man hat dann ax + b’y+cz+dt=0. Im Produkte zyzt 
setze man nacheinander bezüglich a, b, c, d an die Stelle von x, y, 2, t. 


') Cours de math, & l’usage des Gardes du Pavillon, 1764/69, p. 209. Vgl. 
Eneyklopädie der math. Wiss., Bd. I, 8. 261. 


128 Abschnitt XX. 


Man erhält, nach einem Zeichenwechsel für jede ungerade Vertauschung, 
die erste Linie, ayzt— bxzt +cayt— dayz. In dieser ersten 
Linie setze man ähnlicherweise, nacheinander, bezüglich a’, b’, c‘, d’ 
statt x, y, 2, t. Man erhält die zweite Linie. Darin setze man be- 
züglich a”, b”, c”, d” statt x, y, z, t, und man erhält die dritte Linie. 
Der Wert von x ergibt sich dann durch Division des Koeffizienten 
von x mit dem des Koeffizienten von t; d.h. 


= — !(be — Ve) d” — (bd — b’d)c” + (cd — ed d)b”) 
: !(ab’ — db)e" — (ad —ac)b" + (be -beo)a”!. 


Ähnliches für y und z. Warum mit xyzt angefangen wird, und 
was dieses Produkt eigentlich bedeutet, wird nicht erklärt. Man sieht, 
daß hier Determinantenausdrücke vorkommen und daß die Methode 
auch zur Resultantenbestimmung dient. Die Regel wird an Beispielen 
angewendet, wo einige Koeffizienten Null sind, oder eine Linie ver- 
schwindet, oder eine der Unbekannten in der letzten Linie wegbleibt. 
Bezout gibt auch eine bessere Regel, die Laplacesche Entwicklung 
niederzuschreiben'). 

Bezout geht dann zu Gleichungssystemen höherer Grade über 
und bewirkt die Elimination nach einer Methode von unbestimmten 
Koeffizienten. Jede der vorgelegten Gleichungen wird mit einem un- 
bestimmten Polynom multipliziert, so daß in der Summe dieser Pro- 
dukte alle Unbekannten mit Ausnahme einer einzigen verschwinden. 
Durch eine Konstantenabzählung und die Auflösung von linearen 
Gleichungen lehrt er Polynome dieser Art zu finden. Das Werk 
wurde von Lagrange?) und Laplace?) sehr hoch geschätzt. La- 
grange sagte: „je le mets dans le petit nombre de ceux qui sont 
veritablement utiles aux progres des sciences“. Und doch scheinen 
Bezouts Resultate teilweise in Vergessenheit geraten zu sein, denn 
Jacobi und Minding leiteten solche über ein halbes Jahrhundert 
später von neuem ab, ohne Bezout als Vorgänger zu nennen‘). 

B&zouts Eliminationsregel für lineare Gleichungen wurde von 
C. F. Hindenburg in seiner Vorrede zu einem Werke von (. F. 
Rüdiger, Specimen analyticum de lineis curvis ete,, Leipzig 
1784, ins Lateinische übersetzt. Hindenburg selbst gab eine Regel, 
welche zugleich -die Gliederbildung und die Zeichenordnung in Deter- 
minanten lieferte°). 





1) Vgl. T. Muir, op. eit., p. 41—53. *) Oeuvres, T. XIV, p. 276: Brief an 
Be&zout, 12. Juli 1779. s) Ebenda, p. 80: Brief an Lagrange. *) A. Brill 
und M. Noether, Jahresb. d. Deutsch. Math. Ver., 3. Bd., 1892—1893, S. 143 
bis 147. 5) T. Muir, op. eit., p. 53—55. 


Algebra. 129 


Vor dem Abschlusse unserer Angaben über Determinanten be- 
merken wir noch, daß in den Schriften von Vandermonde und 
Francois Marie Riche de Prony') (1755 — 1839) die ersten 
Spuren von Alternanten vorkommen’). 

Der Mathematiker und Astronom John Hellins (?— 1827), 
1779—1783 Pfarrer zu Constantine in Cornwall, schlug eine Methode 
zur Berechnung von zwei gleichen Wurzeln vor, welche für die 
kubische Gleichung so lautet?): Wenn #— pa?+qx2=—r=0 zwei gleiche 
Wurzeln hat, finde man durch Division den gemeinschaftlichen Faktor 
zwischen dieser Gleichung und 32? — 2px-+g=0. Man erhält da- 
durch x = (pq — 9r):(29— 6g). Hatnun © +52? — 322 +36=0 
zwei gleiche Wurzeln? Man findet (pq — 9r):(2p® — 69) =2. Dieser 
Wert, <=2, genügt der vorgelegten Gleichung und muß also die 
doppelte Wurzel sein. Diese Methode wird auf die Quartic und 
Quintie angewendet. 

Ungefähr zu gleicher Zeit wurden Studien über Gleichungen 
auf den schwedischen Universitäten zu Upsala und Lund vor- 
genommen; in Upsala von Mallet, in Lund von Bring. Fried- 
rich Mallet (1728—1797) stammte von einer Familie, die aus 
Frankreich nach Schweden auswanderte. Nachdem er einige Jahre 
in England, Frankreich und den Niederlanden zugebracht hatte, wurde 
er 1757 Assistent für Astronomie und später Professor der Mathe- 
matik an der Universität Upsala. Zwischen 1777 und 1784 hat er 
vier Schriften über Gleichungen der ersten vier Grade geschrieben. 
Drei sind von Matthiessen angeführt?); eine vierte, De Aequatione 
biquadratica (Resp. J. Norderling) erschien in Upsala 1782 und 
ist geschichtlichen Inhalts. Er eröffnete einen neuen Gesichtspunkt 
durch sein Verfahren, die Unbekannte zu variieren und die Koef- 
fizienten der erhaltenen Gleichung gewissen Bedingungen zu unter- 
werfen. Bei +4Ax°’+Bi?+Cz:+D=0 setzt er’) =y+E 
und erhält “+ab? +6 +AE+DyY+ab’y+b!=0, wo 
= E'+AEP+BE+CE+D, ab=4E+A, a’ =4E’+53AE? 
+2BE-+ 0. Daraus folgt die kubische Gleichung 

(4° —4AB+SC)E+(2#2B+24A40—4B+16D)E 
| +(4?C+8AD—-ABO)E+42?D- ?=0 
für die Bestimmung des E. Es sind dann a, b, c®=6E?+3AE+B 

1) Journ. de l’&c. polyt. I, p. 264, 265. °) T. Muir, ‚The Theory of Alter- 
nants in the Historical Order etc.‘ in Proceed. roy. Soc. of Edinburgh, Vol. 23, 
1899—1901, p. 93, 9. ®, Phil. Trans. 1782 London, p. 417—425. *) Mat- 
thiessen, op. eit. S. 340, 438, 545, 621, 977. 5, Nov. Act. Soc. Scient. et 
Litt. Ups., Vol. II, p. 253, auch De aequatione biquadratica, Upsala 1782, 

‚16, 17. 
E CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 9 


130 Abschnitt XX. 


bekannt. © Die erhaltene Gleichung ist nach Saundersons Methode 
leieht zu lösen, denn | | 


+ aby+ cp + abby+ 0 — (+ eby + B)-(y + fDy ta), 
wo e +f= a, e—f ER VR—4c+8. 


' De aequatione, cujus radices sunt binarum datae aequa- 
tionis radieum summae!') ist eine Untersuchung von Sebastiano 
Canterzani (1734—1819), Professor der Mathematik in Bologna 
und Verfasser mehrerer Lehrbücher und Abhandlungen. Er war 
auch Sekretär des Instituts von Bologna. Er hebt hervor, daß 
Waring in seinen Meditationes algebraicae die Herleitung einer 
Gleichung besprochen habe, deren Wurzeln irgend eine algebraische 
Funktion der Wurzeln einer gegebenen Gleichung seien, daß aber die 
Bestimmung der Glieder einer allgemeinen Gleichung nn‘ Grades 
nicht leicht sei. Lagrange habe 1767 die Gleichung, deren Wurzeln 
die Differenz je zweier der vorgelegten Gleichung sind, hergeleitet. 
Nun soll die Summe je zweier Wurzeln in Betracht kommen. Die 
Methode ist hier nur sehr kurz erklärt. Sind a’, a”, a”,... die 
Koeffizienten der vorgelegten Gleichung m” Grades und A’, 4”, 
nen RM 

2 


A ı, 


ah Di 


diejenigen der gesuchten Grades, dann sei 


KR 
A — Da A2-! Fa" 4er... AN) + (m — IN ar, 


wo in der durch _ angedeuteten Summe m die Variable ist. Obschon 
im nächsten Bande die Sache weiter auseinandergesetzt wird, ist, sie 
doch nicht mit genügender Klarheit dargestellt. 

Ein sorgfältig verfaßtes Werk, betitelt Analysis aequationum, 
Dublin 1784, erschien aus der Feder von William Hales (1747 bis 
1831), Tutor zu Trinity College, Dublin, und Professor der orienta- 
lischen Sprachen an der dortigen Universität. Es ist reich an Lite- 
raturangaben.. Lagrange soll an den Autor aus Berlin ein Lobschreiben 
‚gerichtet haben’). 

Unter den wichtigen Ergebnissen, welche während der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrhunderts in der 'Gleichungstheorie hervorgebracht 
wurden, muß man auch eine kleine Schrift des oben angeführten 
schwedischen Mathematikers Bring nennen. Während 75 Jahre 
blieb dieselbe den Mathematikern unbekannt; die Resultate derselben 
wurden von dem englischen Mathematiker Jerrard 1834 neu ent- 


| ») De Bononiensi Scientiarum et Artium Instituto atque Academia Com- 
mentarii, T. VI, Bononiae 1783, Comm. p. 107. _?) Dictionary of National Bio- 
graphy een und Lee). 


Algebra. 131 


deckt: ‘Sie betrifft die Transformation der allgemeinen  Gleiehung 
5. Grades in die Form y„P +Gy+ H=0 und erschien unter dem 
Titel B. cum D. Meletemata quaedam mathematica eirca 
transformationem aequationum algebraicarum, quae ...in 
Regia Academia Carolina praeside D. Erland Sam. Bring, 
Hist. Profess. Reg. & Ord. publico eruditorum examini 
modeste subjieit Sven Gustaf Sommelius...1786, Lundae. 
Man könnte diesem Titel zufolge veranlaßt sein, Soemmelius für den 
Verfasser zu halten, besonders da auch die Dedikation seine Namens- 
unterschrift trägt, und er darin von diesen seinen Erstlingsfrüchten 
(„primitias“) redet. Auf eine Anfrage des Hm. Felix Klein teilt 
aber Hr. Bäcklund in Lund mit, „daß dies jedenfalls unzu- 
treffend sein würde, indem die Promotionsschriften damals durch- 
gängig von den Vorsitzenden des Examens verfaßt wurden und den 
Examinanden nur als Substrat der Disputation dienten“.!) 

Schon früher hatten C. Hill (1861) aus Lund und Ebbe Sam. 
Bring, ein Neffe unseres Bring (ungefähr 1824), diese Dissertation 
ihm zugeschrieben. Ja schon 1798 enthält der Titel einer Tegman- 
schen Dissertation den Ausdruck „methodus Bringiana“. Auch muß 
bemerkt werden, daß Bring sich viel mit Gleichungen beschäftigte, 
während der siebzehnjährige Sommelius sich später nicht wieder 
mit mathematischen Studien abgab und 1790 eine Promotionsschrift 
historischen Inhalts verteidigte. Die Verdienste von Erland Samuel 
Bring wurden 1861 von Hrn. €. Hill in Lund ausführlich gewürdigt, 
der die Arbeit mit eigenen Bemerkungen begleitete?). Es ist merk- 
würdig, daß die Bringsche Arbeit nicht früher allgemein bekannt 
wurde, denn, wie schon bemerkt, erschien 1798 eine Dissertation mit 
Brings Namen im Titel. Ferner hob Brings Neffe ungefähr 
1824, bei der Inauguration des Physikers J. C. Hill in Lund, den 
großen Wert seiner Gleichungsuntersuchungen scharf hervor und 
1837 wurden Auszüge dieser Mitteilungen in einem wohlbekannten 
schwedischen biographischen Lexikon gedruckt?). Erland Samuel 
Bring (1736—1798) studierte in Lund Rechtswissenschaft, wurde 
1762 Dozent, später Professor Historiarum und 1790 Rektor der 
Akademie. Mathematik war für ihn ein Lieblingsstudium, aber nur 
wenige seiner Arbeiten wurden veröffentlicht. In der Bibliothek der 





4 F. Klein, Vorles. ü. d. Ikosaeder, Leipzig 1884, 8. 143. ®, Öfversigt 
af Kongl. Vetenskaps-Akademiens Förhandlingar 1861, Stockholm 1862, p. 317 
'bis 355. Ein Auszug von Brings Schrift mit Bemerkungen erschien in Grunerts 
Archiv, Bd. 41, 1864, S. 105—117; Bd. 40, 1863, S. 55; auch in Quarterly Journ. 
of Mathematics, Vol. VI, 1864, p. 38—47, ®) Biographisk Lexikon öfver 
Namnkundige Svenska män Tredje Bandet, Upsala 1837, p. 83—84. 

g* 


132 Abschnitt XX. 


Universität in Lund sind acht handschriftliche Bände seiner mathe- 
matischen Abhandlungen und Kommentarien zu Euler, Wolf, 
Palmquist, Hospital und anderen. Er schrieb über Algebra, Geo- 
metrie, Differentialrechnung, Gleichungen, Theorie der homogenen 
Funktionen, Chronologie und Astronomie!). 

In seiner Dissertation wendet Bring die Tschirnhausensche 
Transformation an. Er fängt mit der quadratischen Gleichung 
2+mze+n=0 an, setzt z2=y—a, dann -—2a+m=0 zur Be- 


2 
stimmung des a und erhält „= _— n. Durch ein ähnliches 


Verfahren wird die kubische in eine binomische Gleichung transfor- 
miert. Dann folgt eine interessante Diskussion der Quartie, z* + nz? 
+p»2+9g=0. Durch Hilfsgleichungen zweiten Grades 2 +bz+a 
+y=0 wird diese auf die Form „+ Ay? + B=0 gebracht. Um, 
wenn möglich, alle dazwischenliegenden Glieder der vorgelegten 
Quartie zu beseitigen, nimmt er ?+c®+bz+a+y=(0 an, eli- 
miniert 2 und setzt die Koeffizienten y?, y?, y gleich Null. Die Elı- 
mination von b führt ihn zu einer Gleichung sechsten Grades in e. 
Ohne diese Sache weiter aufzuklären schreitet er zur Quintie. 

Um die Quintie ?+p2?+g2+r=0 von dem Gliede 2? zu 
befreien, nimmt Bring ?+d?+c?+bz+a+y=0 an und elı- 
miniert 2. In der neuen Quintie P+ Dt HEY +FyY +: =0 
setzt er D=0, E=0, F=0. Von D=O erhältera=(3pd-+4g):5, 
dessen Wert er n E=0(0 und F=0 setzt. Versucht man nun b, e 
oder d zu eliminieren, so bekommt man eine Gleichung sechsten 
Grades. Dieses vermeidet Bring aber durch die Annahmen b = «ad 
+& und c=d-+y. Die Gleichung E=(0 nimmt nun die Form 
einer Quadratie in d an, deren drei Koeffizienten er gleich Null setzt. 
Das Verschwinden des ersten Koeffizienten liefert ihm durch Auf- 
lösung einer Gleichung ersten Grades den Wert von «, dasjenige des 
zweiten Koeffizienten gibt ihm & als eine lineare Funktion von y, 
dasjenige des dritten Gliedes bringt ihm y durch Auflösung einer 
Quadratie, als eine Funktion von 9,9, r. Setzt man nun n !=0 
für a, b, ce die Werte (3pd + 49):5, ed+&,d-+y ein, so erhält man 
eine Gleichung in d, die nicht höheren als dritten Grades sein kann. 
Auf diese Weise transformiert Bring die allgemeine Quintie in die 
Form y’ + Gy + H=0, ohne aber in seiner Dissertation zu zeigen, 
ob eine weitere Änderung zur Binomialform y° + I=0 unmöglich 
wäre?). Diesen bedeutenden Leistungen sind in Schweden keine 
weiteren Untersuchungen gefolgt, außer zwei Dissertationen der Jahre 


!) Biographisk Lexicon ete., S. 84. ®, Eine Kritik der Bedeutung von 
Brings Transformation findet man in F. Klein, op. cit. 8. 143, 144, 207—209, 244. 


Algebra. 133 


1798 und 1799 von Tegman, Regula Cardani et methodus 
Bringiana radices inveniendi cubicas inter se collatae, und 
De aequatione biquadratica, worin die Gleichungen dritten und 
vierten Grades etwas eingehender behandelt werden, als bei Bring der 
Fall war!). Pehr Tegman (1757—1810) war Professor der Mathe- 
matik an der Universität zu Lund?)- 

J. H. Lambert sagt in einem Aufsatze Über die Verwand- 
lung und Auflösung der Gleichungen?), daß Waring einen dem 
seinigen ganz ähnlichen Versuch gemacht habe, die Sache aber so 
sehr abstrakt vornehme, daß er die Vorteile, welche besondere Fälle 
darbieten, gar nicht sehen konnte. Lambert bestimmt die Grenzen, 
in welchen alle Wurzeln einer Quartic entweder unmöglich oder reell 
sind. Die Auflösung einer solchen Quartie hängt von einer kubischen 
Gleichung mit lauter reellen Wurzeln ab, die sich auf die Dreiteilung 
eines Kreisbogens reduzieren läßt. Eine bequeme Auflösungsform 
wird angegeben. Auch behandelt er die Aufgabe, aus zwei Glei- 
chungen 0 = 2" — aa" "!+-.., O=y"— aa”! ---, ohne diese 
vorerst aufzulösen, eine dritte Gleichung 0 = #* — Az”! +... her- 
zuleiten, so daß z= x + y ist. 

Sebastiano Canterzani sucht in einer Schrift Della riduei- 
bilitä di ogni quantitä immaginaria algebrica alla forma 
A-+ BY-—1*) einen für elementare Lehrbücher geeigneten Beweis 
darzulegen. Es ist dem Verfasser aber nicht gelungen, den Beweis 
dieses schweren Satzes von Übelständen verschiedener Arten zu be- 
freien. 

In einer Schrift, Von der cubischen und biquadratischen 
Gleichungen bejahten, verneinten und unmöglichen Wur- 
zeln®), gibt Gustaf Adolph Leijonmark (1734—1815), Bergrat 
beim schwedischen Bergkollegium, eine weitläufige Erklärung von 
Konstruktionen, um die Natur von kubischen und quartischen Glei- 
chungen geometrisch zu bestimmen. In späteren Artikeln untersucht 
er quartische Gleichungen, die sich in zwei quadratische Faktoren 
zerlegen lassen und quintische Gleichungen, die sich in quadratische 
und kubische Faktoren zerlegen lassen®‘). 

In einem Artikel On finding the values of algebraical quan- 


) C. Hill, loc. eit. 8. 319. >) J. C. Poggendorff, Handwörterb. z, 
Gesch. d.' exact. Wiss., Bd. II, Leipzig 1863, 8. 1074. °) Beyträge z. Gebrauche 
d. Math. u. deren Anwend. Zweyter Theil, Berlin 1770, S. 184—249. *, Me- 
morie di Matematica e Fisica della Societä Italiana, Tomo II, Pt. II, p. 720 bis 
731. ’) Neue Abhandl, d. K. Schw. Akad. d. Wiss. für das Jahr 1785, aus 
dem Schwedischen übers. von A. G. Kästner, Leipzig 1786, S. 3—15, nebst 
fünf Fortsetzungen. °) Ebenda, Bd. 9, 1788; Bd. 16, 1795. 


134 Abschnitt XX. 


tities by converging serieses, and demonstrating and ex- 
tending propositions given by Pappus and others!) betrachtet 
Edward Waring den Ausdruck 
V(+#V+A+Y+B+VY+Ü+ ete)), 
Sind «+4, «a +3%4,... I’+ fi respektive Wurzeln von = F1=0, 
a® F$1=0,...2" F1=0 (Waring schreibt Y—1 statt ö), und 
Br 1 1 1 

+ P=+4Ara + Brad +, +Q=+4r1 + Br X +-:-, dann wird 
obiger Ausdruck, wo P statt +P und P>®, 


4 1 r 
Be a an a en 


1 Q 1 1i—r 1-2r 9 je ap N 
(sn Reh a BR rung bl: va. Ana nes 








Aue a 
° zum 








in welchem Falle L und M konvergieren. Sodann ist (T+:i4J) 
-(+L+iM) eine Wurzel der vorgelegten Größe. Er nimmt ferner 
—P statt +P, hbemach P<Q@, P=+0. Die Wurzeln von 
x +1= 0 könne man algebraisch finden, wenn b<11 (Vander- 
mondes Auflösung von z!!—1=0 von 1774 war ihm also nicht 


bekannt), oder wenn b = 2!:3”...10” wo 1,V...’ ganze Zahlen sind. 

Auflösbare Gleichungen höheren Grades werden von Euler in 
der 1776 eingereichten Schrift Innumerae aequationum formae, 
ex omnibus ordinibus, u resolutio exhiberi potest?) 


behandelt. Der Bruch x = (5 _ — a): (1 a wo ve n ver- 


schiedene Werte annimmt, ist Wurzel der Gleichung Ge) — E ; 
welche in entwickelter Form 
b WW b? N- 5 
ee ab‘ >) 7a a ab (“= =)? +: 
wird, wenn n’,n”,... den zweiten, dritten ete. Koeffizienten eines 'zur 


nr Pötehz Bitch Binoms andeutet. Es ist auffallend, daß in 
dieser Abhandlung gar kein Hinweis auf die Arbeiten von B&zout, 
Lagrange und Malfatti vorkommt. Seine jetzigen Ansichten 
über die allgemeine Lösbarkeit von Gleichungen stimmen mit denen, 
die er 1 und 1762 geäußert hatte, ganz überein. Obiges Resultat 


2 Phil. Trans. Vol. 77, for the year 1787, Pt. I, London 1787, p. 71-88. 
”) Nova acta acad. scient, imp. Petropolitanae, T. VI, ad annum 1788, Petro- 
poli 1790, p. 25—35. 


+ - Algebra. 135 


wird von ihm als eine Bestätigung seiner früheren Mutmaßung, daß 
eine Gleichung =” = pa”? +q2”"”° +++» die Wurzelform = y« 


+YBß-+--- besitze, wo a, ß,... Wurzeln einer Resolvente n — 1 


Grades darstellen, angesehen. | 
In der Abhandlung De radicibus aequationis infinitae 
4 ® 





On Im n(n +1) r nn tn +Dn +3 mn...n +5 2; etc.) zeigt 
Euler, daß für n=1, ?=-+7, erg fürn-2, tz, 
+22,..; firn=3, +22, +42,.... Während in diesen 


Fällen eine unendliche Anzahl reeller Wurzeln existiert, sind für 
n = 4 alle Wurzeln imaginär, weil die Summe —" —;— der unend- 


lichen Reihe für keine reellen Werte von x verschwinden kann. 
Euler schließt nun ohne Beweis, daß höhere ganzzahlige Werte von 
n ebenfalls nur imaginäre Wurzeln besitzen. Ist »<3 und ein 
Bruch, so gibt Daniel Bernoullis Methode der rekurrierenden Reihen 
ET 
Wert von x bezw. 0.909, 0.687, 0.572. Die verschiedenen Wurzeln, 
welche sich für Bruchwerte von n oder für ganzzahlige Werte von 
n>3 ergeben, lassen sich nicht auf einfache Weise durch x aus- 
drücken. 

Wir erwähnen hier ein uns nicht zugängliches Werk, Opusecules 
mathematiques contenant de nouvelles theories pour la 
resolution des &quations de deux, trois et quatre degres 
(Leyde et Paris 1794) von Louis Bourguet (1678—1742), welcher 
in den letzten Jahren seines Lebens Professor der Philosophie und 
Mathematik in Neuenburg war”). 

In einem Büchlein über Analytische Entdeckungen in der 
Verwandlungs- und Auflösungskunst der höheren Glei- 
chungen von Hulbe, Berlin und Stralsund 1794, werden, wie der 
Autor sich ausdrückt, „weitere Gesichtslinien gezogen“. Adam Ehre- 
gott Leberecht Hulbe (1768 —?) wurde zu Berlin geboren und 
bekleidete dort gegen Ende des Jahrhunderts die Stelle eines könig- 
lichen Lotteriesekretärs. Sein wertvolles Werkehen wurde von 
Kästner, dem es zugeeignet ist, erwähnt; sonst blieb es lange un- 
 bekannt°). Er zeigt wie man eine Gleichung nach # in eine andere 
nach y durch die Annahme y= x” transformieren kann, Wenn man 


Näherungswerte. Setzt man n = dann wird der kleinste 


1) Nova acta acad. scient. imp. Petropolitanae, T.IX, ad annum 1791. 
Petropoli 1795, p. 19—40. 2) Michaud, Biogr. univ. »). Allgemeine Bio- 
graphie, Art. von S. Günther. 


136 Abschnitt XX. 


also die allgemeine kubische Gleichung „+ y? + Ry— - u 


1X 


die Gleichung 2 + (@R—- 9)2 + (R? % 7 ): — z — (0 verwandelt, 


= _ er) BE 
eliminiert R mittels der zwei letzten Gleichungen, so erhält man die allge- 
meine quartische Gleichung «+q@°+r2+s=0. Folglich erhält man 
auch umgekehrt durch Auflösung der kubischen Gleichung von z die 
Wurzeln dieser quartischen Gleichung‘). Hulbe lehrt auch Glei- 
chungen mit ganzen und gebrochenen Exponenten, wenn diese Ex- 
ponenten auch nicht alle positiv sind, in Gleichungen mit ganzen 
positiven Exponenten zu verwandeln, sowie aus der Summe der Potenzen 
mit ganzen positiven Exponenten der Wurzeln, die Summen der 
Potenzen mit ganzen positiven und negativen Exponenten der Pro- 
dukte von gleich vielen ihrer Wurzeln zu finden, wodurch jede Gleichung 
in eine andere verwandelt werden kann, worin die Wurzeln den Pro- 
dukten von gleich vielen Wurzeln dieser Gleichung, zu Potenzen mit 
ganzen positiven oder negativen Exponenten erhoben, gleich sind. 

Um die Wegschaffung der Wurzelgrößen aus den Glei- 
chungen zu erzielen, gibt ©. G. Fischer, Professor am Kölnischen 
Gymnasium, drei Methoden?). Soll nach der ersten eine Gleichung 
in eine andere, deren Exponenten sämtlich z. B. dreimal so groß sind, 
verwandelt werden, so bringe man die Gleichung auf die Form — a= bx 
+ c#°, wo a, b, c entweder gar keine, oder bloß solche Potenzen von 
% enthalten, deren Exponenten durch 3 teilbar sind. Man erhält 
dann — a’ = b’a? + 3b?cat + 3b? + a, — var? = abat + «ca. 
Das willkürlich angenommene « läßt sich nun so bestimmen, daß in 
der Summe der Seiten dieser Gleichungen die Glieder, welche x* und 
x? enthalten, Null werden; also «= — 3bc, und man hat das Resultat 
0=a’+b’%? + ca® — Babe. In der zweiten Methode, wenn die ge- 
gebene Gleichung #” + aa”-!+..-—= 0 und die gesuchte 

re Axrt-dBn Li. 0 

ist, dividiere man letztere durch erstere bis im Quotienten ein Glied 
vorkommt, das kein & mehr hat, dann muß der rgliedrige Rest, 
Glied für Glied, Null sein. Man hat also r Gleichungen für die 
Bestimmung der r Größen A, B,... Die dritte Methode ist tri- 
gonometrisch. 

In einem Aufsatze, De inventione divisorum?) werden von 


worin 2= y, und man setzt 2R— 2? = 5 ‚R+ 





)Hulbe, 8.135. Vgl.Matthiessen, Grundz.d. Ant.&Mod. Alg.d.Litt. Gleich., 
S. 331, 433, 568. ?) Archiv d. r. u. a. Mathem. (Hindenburg), 2. Bd., 1798, 
S. 180—195, 426—440. 3) Nova acta scient. imp.- Petropolitanae, T. XI, ad 
annum 1793. Petropoli 1798, p. 172—182. no 


Algebra. 137 


dem Astronomen Friedrich Theodor v. Schubert (1758 — 1825) 
aus Helmstedt die Regeln in Newtons Arithmetica universalis 
für die Auffindung linearer und quadratischer Faktoren eines Polynoms 
F(&) = Ax" + Ba"! +... angegeben und auch eine allgemeine 
Regel, um rationale Faktoren f(x) = ax” + ba"-!ı... höheren 
Grades aufzufinden, abgeleitet. Diese Arbeit scheint von Mathe- 
matikern übersehen worden zu sein, denn noch 1882 äußerte Kronecker 
das Bedürfnis einer allgemeinen Zerlegungsmethode!). Schubert 
gründet sein Verfahren auf folgendes durch mathematische Induktion 
bewiesene Lemma: Gibt man dem & in X = x” nacheinander die In- 
kremente 1, 2,3,..., so ist die n® Differenz PX =1.2.3...n. 
Für jeden ganzzahligen Wert z, von x ist der Wert von F (z,) ein 
‚ganzes Vielfaches des Wertes von f(z,). Man trage nun für x nach- 
einander die Werte ...2,1,0, —1,—2... ein. Für jeden der- 
selben zerlege man den Zahlenwert von F(x) in seine ganzzahligen 
Teiler. Wenn man jeden dieser Teiler für irgendeinen Wert von 2, von a@” 
abzieht, muß, wenn ein Faktor f(x) überhaupt vorhanden ist, unter 
den verschiedenen Resten der Wert von aa” — f(x) sich vorfinden. 
Wenn man jetzt in der Berechnung von 


Alaa" — fo), - -... 1"? (aa" — f(x) 


für die oben angedeuteten Werte von z alle möglichen Kombinationen 
von Minuenden und Subtrahenden macht, wird es möglich sein, für 
1°7?(a2” — f(a)) Werte zu erhalten, die eine arithmetische Reihe 
bilden. Ist dieses nicht möglich, so kann F(x) nicht in Faktoren zer- 
legt werden. Im Verfahren Kroneckers werden statt der Differenzen- 
methode Interpolationsformeln gebraucht. Sonst sind die zwei 
Methoden ganz ähnlich. 

Einen interessanten Versuch nachzuweisen, daß Gleichungen von 
geradem Grade in lauter reelle trinomische Faktoren zerlegt werden 
können, machte Laplace 1795 in seinen Vorlesungen auf der 
Normalschule?). Die Wurzelexistenz wird stillschweigend voraus- 
gesetzt. Ist der Grad der vorgelegten Gleichung 2'S, und S eine 
ungerade Zahl, und sind a, b, e,... die Wurzeln, so soll man eine 
neue Gleichung vom Grade 2i-18(2?S$ — 1) bilden, deren Wurzeln 
a+b-+mab sind, wo m verschiedene bestimmte Werte annehmen 





') Journal f. r. u. a. Mathematik, Bd. 92, S. 10. *) Seances des &coles 
normales, an III (1794—1795) = Journal de l’&cole polytechnique 7. et 8, cahiers, 
T.D, 1812, p. 56, 57. Vgl. G.Loria, Il teorema fondamentale della teoria 
delle equazioni algebriche, Rivista di matematica, 1891, p. 185—248; G. Loria, 
Esame di aleune ricerche concernenti l’esistenza di radiei nelle equazioni alge- 
briche, Bibliotheca mathematica 1891, p. 99—112. 


138 Abschnitt XX. 


darf. Wenn i=1, so ist ihr Grad ungerade und sie hat wenigstens 
eine reelle Wurzel, welchen Wert m auch haben möge. Es kann 
aber m beliebig viele Werte annehmen, weshalb es beliebig viele 
Gleichungen letztgenannten Grades gibt, welche je wenigstens eine 
reelle Wurzel von dem Typus «+b+mab haben. Unter diesen 
Gleichungen sind gewiß zwei, welche dasselbe Wurzelpaar enthalten 
und reelle Werte für « +b + mab liefern: Sind’ diese reellen Werte 
a+b+mab und «+b+m’ab, dann sind a + b und ab auch reell, 
sowie der Trinom #2 — (a+b)x + ab, welcher ein Faktor der vor- 
gelegten Gleichung ist. Wenn © = 2, so hat eine Gleichung des Grades 
2-15, wie eben gezeigt worden, einen quadratischen Faktor. Es 
gibt beliebig viele Faktoren des Typus a +b-+ mab, welche Werte 


von der Form e-+gY-— 1 annehmen, woraus geschlossen wird, daß 
a-+b und ab gleichfalls diese Form haben, und daß die vorgelegte 
Gleichung einen reellen quartischen Faktor enthält. Für >2 ist 
das Verfahren ähnlich. 

In einer Schrift, On the roots of equations') gibt James 
Wood (1760—1839), damals Fellow in St. John’s College, ein ein- 
flußreicher Mann auf der Cambridge Universität, einen Beweis, daß 


eine Gleichung n“" Grades n Wurzeln von der Form a + V-+b be- 
sitze. Der Eulersche Beweis dieses Satzes sei nicht allgemein, 
während Warings Auseinandersetzungen zu kurz und schwer ver- 
ständlich seien. Wood demonstriert den Satz, daß zwei Wurzeln 
einer Gleichung 2m*® Grades durch die Lösung einer” Gleichung 
m (2m — 1)” Grades gefunden werden können. Wenn möglich, seien 
2+v und z—v zwei Wurzeln der vorgelegten Gleichung. Man er- 
hält durch Substitution dieser Werte und Addition und Subtraktion 
der erlangten Ausdrücke zwei Gleichungen, die sich durch y= v? in 
y®r+byrin...=0 und Ay®-i+ By"-?+-..=0 reduzieren. 
Letztere haben einen gemeinschaftlichen Faktor y+Z, wo Z eine 
Funktion von z und bekannten Größen ist. Diesen Faktor findet er 
nach der bekannten Divisionsmethode, indem er den von % freien 
Rest gleich Null setzt. Dieser Rest ist m (2m — 1)” Grades in 2. 
Existiert nun ein Wert von 2, dann existieren auch Z und der ge- 


meinschaftliche Faktor y+ Z, sowie zwei Wurzeln 2+ V+Z der 
vorgelegten Gleichung. Nach dieser Vorbereitung nımmt Wood an, 
daß jede Gleichung ungeraden Grades wenigstens eine reelle Wurzel 
‚habe, und deshalb auf eine 2m" Grades erniedrigt werden könne. 
Ist m eine ungerade Zahl, so ist es auch m (2m — 1), weshalb z 


!) Phil. Trans. Vol. 88, for the year 1798, London 1798, p. 369—377. 


Algebra. . 139 


und v* reell sein können. Die vorgelegte Gleichung 2m" Grades 
hat demnach den reellen quadratischen Faktor 2 — 222 + 2 — 2 =0, 


Wenn m gerade und z ungerade sind, dann hat die Hilfsgleichung 


in 2, wie eben bewiesen, zwei reelle Wurzeln oder zwei von der 


Form a+ V— 1b; v hat die Form e+dyY-—1. Daraus zieht er die 
Folgerung, daß die vorgelegte Gleichung einen quartischen Faktor 
a +pa’+gq@®+r2+s— 0 mit reellen Koeffizienten besitzt, welcher 
in zwei reelle. quadratische Faktoren zerteilbar ist und deshalb Waur- 


zeln von der Form a + Y-— 1b besitzt. Man fahre so fort für die 


Mm mM 
a ke 


macht von den verwandten Arbeiten von Foncenex und Lagrange 
keine Erwähnung. Gegen den Beweis von Wood und auch gegen 
diejenigen von Euler, Foncenex, Lagrange und Laplace gilt 
der Einwurf, daß dieselben nicht zum Ziele führen ohne die Wurzeln, 
deren Existenz zu beweisen ist, vorher auf irgendwelche Weise vor- 
zuführen. Was die Mathematiker des 18. Jahrhunderts hauptsächlich 
im Auge hatten, war der Nachweis, daß alle Wurzeln von Gleichungen 
mit rationalen Koeffizienten entweder reelle Größen oder Größen 


Fälle, wo ungerade ganze Zahlen sind. Wood 


vom Typus « +by—1 seien. 

Zakarias Nordmark (1751—1828), Professor der Physik zu 
Upsala, veröffentlichte eine Schrift Expressio uniuscujusque 
radicis aequationis cubicae in casu irreductibili, ope trium 
radicum e casu reductibili simul adhibitarum!), worin er 


% —-(Yp 2. Vq .. Vr) setzt und die Koeffizienten der kubischen 
Gleichung, welche diese Wurzel hat, den Koeffizienten der vorgelegtn 
Kubik © — 392 —2h=0 bezw. gleich setzt. Danach erhält er 
eine Gleichung, deren Wurzeln », q, r sind und die für den irreduk- 
tiblen Fall (9° > h?) der vorgelegten Gleichung nur eine reelle Wurzel 
hat und deshalb durch Del Ferros Formel numerisch lösbar ist. 
Es kann also jede Wurzel von © — 392 —2h=(0, für den Fall 
g°>h?, durch drei Wurzelgrößen einer reduktiblen Kubik ausgedrückt 
werden. Diese Untersuchung muß denen von besonderem Interesse 
gewesen sein, die mit D’Alembert glaubten, der irreduktible Fall ent- 
springe aus den unschicklichen Annahmen in der Del Ferroschen 
Auflösung. Nordmarks neuer Angriff des Problems mußte aber 
doch den Glauben an die Unmöglichkeit, imaginäre Ausdrücke zu 
vermeiden, bedeutend stärken. 

Die 1799 veröffentlichte Teoria generale delle equazioni 
von Paolo Ruffini ist die erste von mehreren wichtigen Schriften 


) Nova Acta Reg. Soc. Seien. Upsaliensis, Vol. VI, 1799, p. 203—210, 





140 Abschnitt XX. 


Ruffinis über die Unlösbarkeit der Quintic und gehört deshalb einer 
späteren Zeitperiode an. Nach Poggendorff und Matthiessen 
wurde das eben zitierte Werk 1798 gedruckt. Alle Exemplare, die 
wir gesehen haben, tragen aber die Jahreszahl 1799). 

Zu Berechnungsmethoden der Wurzeln durch Annäherung über- 
gehend, fangen wir mit einer Schrift, Observationes variae in 
mathesin puram?), von J. H. Lambert an, welche die Gleichungs- 
theorie berührt. Formeln für die Berechnung von Summen der 
Wurzelpotenzen und der Wurzeln selbst werden hergeleitet. In 
0= a" — Aa"! + Ba”? —..:.—- Ic +K setze man für x nach- 
einander die Wurzeln «, ß, y,..., dann wird durch Addition dieser 
Ausdrücke fer — A JM _ Bfre: +...4+ I r— mK, wo fr" 
die Summe der m*" Potenzen der Wurzeln bezeichnet und m nach- 
einander die Zahlen 1, 2,3,... vorstellen kann. Um Lamberts 
Näherungsmethode zu kennzeichnen, setze man n O=a—bx + ca? 
— ...+9a”, 2—=k-+ y und verwerfe alle Glieder, die „2, y°,... ent- 
a— ck?+2dk®—.--— (m— 1)pk” 

b— 2ckh + 3dk?—.- — mpk"=! 
erhält. Wenn % irgend eine Zahl ist, gebe diese Formel eine Zahl, 
welche ein Näherungswert für die dem % nächstliegende Wurzel sei. 
Sind alle Wurzeln positiv, dann setze man — %k gleich dem Koef- 
fizienten von z”=!, und man erhalte einen Näherungswert für die 
größte Wurzel, während = 0 einen für die kleinste liefert. 

Lambert erwähnt noch eine zweite Näherungsmethode als eine 
sehr natürliche und einfache. Es sei @+px=q, dann ist q>pa, 
<<: A<P:, FREIE PFERD DEI FI 
>: 2 rer 
+p2<g 2<g:p— $:p° +29: p? — pt:p',ete. Auf diese Weise 
erhält er obere und untere Grenzen für x in der quadratischen und 
auch in der allgemeineren Gleichung a2” + bx*—=d, welche sich auf 
die Form x” +px=g reduzieren läßt. Für 2" +px==g schließt 
er dann, daß 


halten, wodurch man <=k+y= 





an wen. 


s "a 2 RT 1 ete., 


ee 1:Pp — g" # anails E er ER Per 


eine Reihe, die konvergiere, wenn (m — 1)” 19" > m" g"-1. Also 
konvergiere diese Reihe für den irreduktiblen Fall von #" +px = q. 
Nun läßt Lambert die Bemerkung folgen: „Qui casus praeeise illum 
complecitur, qui hactenus nullo modo perfecte solvi potuit. V. Cel. 
Clairaut, Elem. Algebr. P. V. $ 8“ woraus zu ersehen ist, daß 

!) Man sehe auch E. Bortolotti, „Paolo Ruffini“, Annuario della R. uni- 


- vwersitä di Modena 1902—1903, p. 12; Carteggio in Mem. d. Soc. ital. d. Scienze, 
S. 3%, T. XIV, 1906. *) Acta Helvetica, Basileae, Vol. III, 1758, p. 128—168. 





Algebra. 141 


Lambert 1758 zwischen einer algebraischen Auflösung und solcher 
durch Näherungsmethoden noch keine scharfe Grenze zog. Obige Reihe 
für die Wurzeln trinomischer Gleichungen führt den Namen Lamberts. 
Im Jahre 1759 veröffentlichte Johann Andreas v. Segner 
einen Methodus simplex et universalis, omnes omnium 
aequationum radices detegendi!), welcher die Kurve der Glei- 
chung graphisch zu erhalten lehrt. Soll z. B. die Kurve der kubischen 
Gleichung Az? + B2?+Cz+ D=y gefunden werden, dann ziehe 
man PO, TS, RO auf MN senk- 4 a 

recht, wo OQ=1 und 08=z. h 
Die Koeffizienten D, C, B, A der | 
Gleichung sind durch die Strecken 
OD, DC, CB, BA dargestellt. 
Man ziehe Aa || MN, dann ziehe 
man Ba, und durch den neuen 
Punkt b pe | MN. Durch Ce er- 
hält man den Punkt d und 
ge| MN. Auf ähnliche Weise 
_ erhält man die Linie De und den y__0 >) Q 





ie 





P 





sa wa W 





IS 








Punkt f. Es ist nun fS=y und | 

fein Punkt der Kurve; denn durch 2 7 A 

die Betrachtung ähnlicher Dreiecke Fig. 1. 

findet man leicht pr =4Az2+B,qD=A2?+Bz+(, fS= Ar? 
+ Bz?+0Cz+D. Für jeden neuen Wert von z oder OS erhält 
man einen neuen Punkt der Kurve. Wo diese Kurve die Linie MN 
schneidet, hat man eine reelle Wurzel der Gleichung Az? + Bz?+ (z 
+ D=0; wo sie eine Minimum-Ordinate zeigt, ohne an dieser Stelle 
die Linie MN zu erreichen, wird eine imaginäre Wurzel angezeigt, 
ohne jedoch deren Wert anzudeuten. Es wäre wünschenswert, sagt 
Segner, solche Kurven mechanisch beschreiben zu können. Die Er- 
findung eines solehen Verfahrens scheine ihm aber so schwer, daß er 
es nicht versucht habe. 

Die numerische Auflösung der Gleichungen ist ein Gebiet, wofür 
Lagrange sich sein Leben lang interessierte. Seine erste Arbeit 
darüber führt den Titel Sur la resolution des equations nume- 
riques?). Den Satz für die Bestimmung des ganzzahligen Näherungs- 
wertes einer Wurzel, daß zwischen p und q wenigstens eine reelle 
Wurzel einer Gleichung f(x) = 0 liegt, wenn f(p) und f(gq) entgegen- 
gesetzte Zeichen haben, beweist er ohne den damals üblichen Hinweis 











ı) Novi Comm. Acad. Sceient. Imp. Petropolitanae, T. VU, pro annis 1758 
et 1759, p. 211—226. 2) M&moires de l’acad. roy. des sciences, annde 1767, 
Berlin 1769, p. 311—352 = Lagrange, Oeuvres, T. 2, p. 539— 578. 


142 Abschnitt XX. 


auf die Kurventheorie, indem’ er in dem Ausdruck (« — e)(£ — ß)--- 
—( (e, ß,... Wurzeln), «»—=p, dann #—g setzt und die’ zwei Er- 
gebnisse vergleicht. Substituiert man für & die Glieder der Pro- 
gression 0, D,2D,..., wo D kleiner als die kleinste Wurzeldifferenz 
sein muß, so ist man imstande die Lage aller reellen Wurzeln zu 
bestimmen. Das Schwierigste ist, den Wert von D zu berechnen, 
Lagrange hat dafür drei Methoden angegeben; eine 1767, eine 
andere 1795, die dritte 1798. Die erste stützt sich auf die Gleichung, 
deren Wurzeln die Quadrate der Wurzeldifferenzen von f(x) = 0 sind. 
Von dieser Hilfsgleichung leitet er die Anzahl von imaginären Wurzeln 
ab. Man wird sich erinnern, daß schon früher Waring diese wichtige 
Hilfsgleichung abgeleitet hatte; Lagranges Exposition ist aber 
viel eleganter. Warings Schriften waren Lagrange 1767 noch 
nicht bekannt. 

Gleiche Wurzeln werden durch die Divisionsoperation zur Ent- 
deckung des größten gemeinschaftlichen Teilers von f(x) und f’(z) 
bestimmt. Allgemeine charakteristische Beziehungen zwischen den 
Koeffizienten von f(x) = 0 für den Fall, daß f(x) und f’(x) einen 
gemeinschaftlichen Teiler haben, oder f(x) eine . vorgeschriebene 
Anzahl mehrfacher Wurzeln besitzt, werden von Lagrange weder 
hier noch in späteren Schriften entwickelt. Hätte er sein beliebtes 
Werkzeug, die symmetrischen Funktionen, auf die Vervollkommnung 
der Theorie der mehrfachen Wurzeln angewandt, so wäre er nach 
der Ansicht Sylvesters!) auf einem Rückwege sehr wahrscheinlich 
auf die Entdeckung des Sturmschen Satzes gekommen. Die Be- 
rechnung der negativen Wurzeln in der Gleichung für die Quadrate 
der Wurzeldifferenzen liefert Lagrange die Werte ß, welche in den 
imaginären Wurzeln &-+iß der vorgelegten Gleichung erscheinen. 
Um « zu finden, setzt er in die vorgelegte Gleichung 2 = «+ if, und 
erhält durch Trennung der reellen und imaginären Glieder zwei Glei- 
chungen, die für denselben Wert von ß einen gemeinschaftlichen 
Teiler haben. Setzt man denselben gleich Null, so kann man « berechnen. 

Es ist bemerkenswert, daß Lagrange die Kettenbrüche mit 
Vorliebe als ein Mittel zur Wurzelberechnung von bestimmten, sowie 
unbestimmten Gleichungen angewandt hat. Für erstere beschreibt er 
eine ganz neue Näherungsmethode. Ist p der‘ erste Näherungswert 


einer Wurzel « von f(x)=(, setze man 7=p+ : ‚ dann m der 
resultierenden Gleichung fy)=0, y=4+ z ,‚ ferner ın | I(2) Be 


z=r+ I usw.. .Es ergibt sich daraus ein Kettenbruch für den 





t) Philosophical Magazine, Vol. 18, 1841, p. 249. 


Algebra. 143 


Wert von x, welcher alternierend zwei Arten von Näherungsbrüchen 
des x liefert. Die Werte der einen Art sind alle > «, die der anderen 
Art sind alle <«. Die Eigenschaften dieser Ausdrücke werden mit 
Meisterhand entwickelt. Bei einer rationalen Wurzel wird der Ketten- 
bruch endlich und liefert den genauen Wert derselben. Bei einer 
irrationalen Wurzel kennt man bei jeder einzelnen Annäherung die 
Größe des Fehlers, was bei der Newtonschen Methode bekanntlich 
nicht der Fall ist. ' 

Um diese Schrift zu ergänzen und seine Methode zu vereinfachen, 
schrieb Lagrange Additions au m&moire sur la resolution 
des equations nume6riques‘). Die Gleichung der quadrierten 
Wurzeldifferenzen wird vollständiger besprochen. In derselben kann 
‚die Anzahl imaginärer Wurzelpaare die Anzahl Zeichenfolgen nicht 
übersteigen. Durch bloße Besichtigung der Zeichen kann man ent- 
scheiden, ob die Anzahl reeller Wurzeln eine der Zahlen 1, 4, 5, 8, 
9, 12, 13,..., oder ob sie eine von 2, 3, 6, 7, 10, 11,... ist. Dieses 
genügt, die ganze Anzahl von reellen und von imaginären Wurzeln 
in allen Fällen zu entscheiden, wo’ der Gleichungsgrad nicht höher 
als 5 ist, und wo für höhere Grade man im voraus weiß, daß nicht 
mehr als 4 imaginäre Wurzeln vorkommen. 

Es folgen Anwendungen auf die vier ersten Grade. Bei der 
Kettenbruchentwicklung der numerischen Wurzeln wird hervor- 
gehoben, daß auch ein unendlicher Kettenbruch den genauen Wurzel- 
wert liefert, wenn nur dieser Bruch periodisch ist. Daß jeder perio- 
dische Kettenbruch auf eine quadratische Gleichung zurückgeführt 
‚werden kann, war längst bekannt; der inverse Satz wird aber hier 
zum erstenmal demonstriert. Den Spezialfall, 2—=c, hatte Euler 
früher?) ohne Nachweis angeführt, wo Ve zu einem periodischen 
Kettenbruch entwickelt wurde. 

Obschon die Näherungsmethode von Lagrange theoretisch vor- 
trefflich ist und vor älteren Methoden den Vorteil besitzt, immer 
mit Sicherheit zum Ziele zu führen, so daß Lagrange mit Recht be- 
haupten konnte, „cette methode ne laisse, ce me semble, rien ä 
desirer“, besaß sie für praktische Zwecke geringen Vorteil, denn die 
Wurzel wird in der Form eines Kettenbruchs ausgedrückt und die 
Berechnung derselben ist mühsam. | 

Ein Werk, Trait& de la resolution des &quations en 
general, von J. Raym. Mourraille in Marseille 1768 herausgegeben, 
behandelt hauptsächlich die Auflösung von Gleichungen durch An- 
näherung. Während vierzehn Jahren, bis 1782, war Mourraille 





) M@moires de’ l’acad. roy. des sciences, annde 1768, T. 24, Berlin 1770, 
p. 111—180 = Oeuvres, T. 2, p. 581—652. 2), N. Comm. Petr. XI, 1765. 


144 Abschnitt XX. 


Sekretär de la elasse des sciences der Akademie von Marseille. 
Zur Zeit der Revolution wurde er zum Bürgermeister der Stadt er- 
nannt und später verschiedener Verbrechen angeklast!). Sein Werk 
über Gleichungen ist eigentümlich. Von zu großem Umfange und 
für den Anfänger zu abstrakt in der Behandlungsweise scheucht es den 
Fachmann durch die Unbündigkeit vieler seiner Beweise zurück. 
Dennoch ist es nicht ganz ohne Verdienst. Außer einer Rezension 
im Journal des Scavans in Amsterdam, März 1769, haben wir gar 
keine Äußerungen darüber finden können. Unter Mathematikern 
blieben das Werk und .der Name des Autors ganz unbekannt. Der 
Verfasser gesteht, daß er sich keine Mühe gegeben habe, sich über die 
Literatur seines Faches zu orientieren. Nur englische Schriftsteller 
vor Waring und der Franzose Reynau werden von ihm genannt. 
Newtons Annäherungsmethode ist der Hauptgegenstand seines 
Werkes und wird von ihm nicht analytisch, sondern aus den allge- 
meinen Eigenschaften der Kurven entwickelt. Auf .diese Weise sei 
es ihm möglich geworden, die Mängel der Newtonschen Methode 
zu heben. Er verhütet das Mißlingen der Operation dadurch, daß er 
erst die Kurve beschreibt und dann den ersten Annäherungswert A 
der Wurzel & so wählt, daß die Kurve für die Strecke =« bis 
xt = A gegen die X-Achse konvex ist. Man wird beachten, daß auch 
andere Mathematiker dieser Zeit zur Geometrie und dem Kurven- 
zeichnen Zuflucht nehmen, um die analytischen Mängel ihrer Nähe- 
rungsmethoden zu ersetzen. 

Angeregt durch Segners Aufsatz aus dem Jahre 1759 ver- 
öffentlichte John Rowning?), ein „fellow“ von Magdalenen College 
in Cambridge und später Pfarrer an diesem Üollege?), einen Artikel, 
Direcetions for making a Machine for finding the Roots of 
Equations universally, with the Manner of using it.) Wenn 
die verschiedenen Linien in Segners Figur (8. 141) durch Lineale mit 
Rinnen dargestellt werden, und PO, R®, Aa, Ba, sowie die Punkte 
A,B,C,D unbeweglich gemacht werden, während pe und ge sich 
nur MN parallel bewegen können, und Üc, De beweglich sind, dann 
kann man die Linie $7 parallel nach rechts oder links stoßen, ohne 
die Konstruktion der Figur zu vernichten. Wenn nun TS eine Lage 
annimmt, wo fs=0, dann ist OS eine reelle Wurzel, die negativ 
ist, wenn OS nach links weist. Rowning gibt eine Abbildung 
seiner interessanten Maschine. 





) A. Fabre, Histoire de Marseille T. II, Marseille et Paris 1829, p. 409, 
482, 496, 499. 2) 1701?— 1771. 3) Dietionary of National Biography. 
*, Philos. Trans. Vol. 60, for the year 1770, p. 240—256. 


Algebra. | 145 


In einer Untersuchung, Observationes eirca radices aequa- 
tionum!), leitet L. Euler eine Reihe ab, welehe die größte Wurzel 


einer Gleichung 1 = = + = ausdrückt, und erhält dann durch In- 
duktion die entsprechende Reihe für 1=—, +5 —. Er schreitet nun 


zu quadrinomischen und endlich zu en ‘Gleichungen und 
zeigt, daß. nicht nur irgend ein Wurzelwert, sondern auch irgend eine 
Potenz eines solchen durch Reihen dargestellt werden kann. 


In der Abhandlung, Observations analytiques?), erzählt 
Lambert, daß er seine 1758 in den Acta Helvetica gedruckte Be- 
handlung von trinomischen Gleichungen bei seiner Ankunft in Berlin, 
1764, Euler und später auch RER mitteilte, worauf. Euler 
diese Resultate auf quadrinomische Gleichungen 0 = 2” + ax" 
+ baP +c übertrug und Lagrange auch die allgemeinere Gleichung 
«— 2+9(2) =0 (wo p(x) irgend eine Funktion ist) untersuchte?). 
Dieses Thema führt nun Lambert weiter fort. In einer Gleichufte 
y(y)=v(x,y) soll & oder irgend eine Funktion von x oder von x 
und % mittels der Differentialrechnung in Reihenentwicklung dureh 
% bestimmt werden. 

In der ersten von den zwei 1776 eingereichten Abhandlungen‘) 
spricht Euler anerkennend von der Lambertschen Reihenentwick- 
lung der Wurzelwerte einer trinomischen Gleichung. Die zwei Ab- 
handlungen stehen in enger Verbindung mit der letzten von uns an- 
geführten Eulerschen Schrift Observationes circa radices 
aequationum. Hier wie dort sollen nicht nur die Wurzeln selbst, 
sondern auch irgendwelche Potenzen derselben durch Reihen dar- 
gestellt werden; die Reihenentwicklung sucht er nun zu verein- 
fachen und zu präzisieren und von allem Mysterium zu befreien.. Die 
Schriften von Lagrange über Auflösung der Gleichungen durch 
Reihen erwähnt Euler nicht. 


In dem Aufsatze Eulers, Nova ratio quantitates irratio- 
nales proxime exprimendi,) nee rasch konvergierende Reihen 


R m 
entwickelt, um Irrationalgrößen N’ = (@+br=arll+ = u 


) N. Comm. Petr. T. XV pro anno 1770.  Petropoli 1771, p. 51—74. 
®) N. m&moires de ‚l’acad. roy. des sciences, annde 1770. Berlin 1772, p. 225— 244. 
») Man sehe „Nouvelle methode pour r&soudre les &quations litterales par le 
moyen des series“. Me&moires de Berlin t. 24, 1770 = Lagrange, Üeuvres 
t. II, p. 5—73 und. „Sur le probleme de Kepler“ ebenda, t: 25, 1771 — Oeuvres 
t. I, p. 113-138. ‘N. Acta Petr. IV, 1786, p. 55-73, p. 74—95. 
°») N. Comm. Petr. T. XVIIE pro anno 1773. Petropoli 1774, p. 186—170. 

CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 10 


146 Abschnitt XX. 


berechnen. Wenn die Binomialentwicklung von (1-+2)” durch 
1 — «x multipliziert wird, erhält man } 


(1+2)”®"=(1+4Ax+ Ba? + .-):(1—oR). 


. ne 1 
Setzt man nun A= (0, wird «—=n und der Näherungswert = 


I_nz' 
u 


“ und der Näherungs- 


Setzt man statt dessen B=0, wirde =" 
2 + (nn +1)x 
2 — (n—1)x 
er statt 1— «x den Nenner 1— «x + x? und später noch irgend 
eın Polynom nimmt. Die Brauchbarkeit der errungenen Formeln 
wird durch Aufgaben in der Wurzel-, Logarithmen- und Exponential- 
berechnung erläutert. 

In einer Abhandlung, Methodus generalis investigandi radices 
omnium aequationum per approximationem?), die Euler schon 
1776 einreichte, soll eine Wurzel z der Gleichung Z=0 berechnet werden. 
Sgtzt man für 2 den Näherungswert v ein, so erhält man einen Aus- 
druck Z= V, wo V eine bekannte Funktion von » ist, welche für 
v—z verschwindet. Umgekehrt ist v eine Funktion von V, also 


etwa v—=T:V. Nun ist T: V+aJ)=v+ap+ za +r,.W0 


d 1? £ ’ } 
»- 77 g= wi + Wenn a=—V, so erhält man die Reihe 





wert = usw. Euler verfährt auf ähnliche Weise, indem 


2=v—pV + „qV® — +++, welche in der Berechnung von Wurzeln 


anwendbar ist. Die Konvergenz der Reihe wird nicht untersucht. 
Ein Nachteil der Methode besteht darin, daß man nicht weiß, welchen 
Grad der Genauigkeit man erreicht hat. 


In den Riflessioni sul Metodo di risolver lVequazioni 
numeriche proposto dal Sig. De-la-Grange?) hebt der Padre 
Stanislao Canovai (1740—1811) hervor, daß die. Hauptteile der 
Lagrangeschen Theorie schon früher von Waring und anderen 
entwickelt worden und versucht dann eine einfachere Entwicklung 
dieser Theorie zu geben. | 

Lagrange schrieb 1777 an Lorgna,’) daß seine Untersuchung 
über die numerische Auflösung der Gleichungen aus den Jahren 1767. 
und 1768 von Mathematikern größere Aufmerksamkeit verdiene als 
sie wirklich erhalten habe. Nach der Veröffentlichung seiner Schrift 
De la resolution des. &quations num6riques de tous les 
degres, Paris, an VI (1798), schickte Lagrange ein Exemplar an 


') N. Acta Petr. T. VI, ad-ann. 1788. Petropoli 1790, p.16—24. *) Atti 
dell’ accademia delle scienze di Siena detta de’ Fisio-Critici, Tomo VII, 1794, 
p- 29—45. ®) Lagrange, Oeuvres T. XIV, p. 253. 


Algebra. 147 


Pietro Paoli mit der Bemerkung: „Es enthält meine alten Memoiren 
über die Auflösung numerischer Gleichungen, ... mit mehreren Noten 
über diese Memoiren, sowie auch über andere Punkte der Gleichungs- 
theorie. Ich fügte jene Noten bei, um die Aufmerksamkeit von Mathe- 
matikern auf diesen wichtigen Gegenstand der Analyse zu richten, 
welchen sie beinahe verlassen zu haben scheinen.“!) Die zwei ersten 
Noten enthalten Verbesserungen in den Beweisen der Fundamental- 
sätze, 1) daß zwischen a und 5b, wo fa)=+ und fb)=-—, 
wenigstens eine reelle Wurzel liegt, (2) daß, wenn eine reelle Wurzel 
zwischen a und b liegt, f(a) und f(b) entgegengesetzte Zeichen 
haben. Einen ähnlichen Zweck hat Note III; worin er die Gleichung 
der Wurzeldifferenzen behandelt. Hier werden die Arbeiten von 
Waring erwähnt und daraus die Gleichung, deren Wurzeln die 
quadrierten Wurzeldifferenzen der Quintik sind, entnommen. Lagrange 
selber hatte die Koeffizienten dieser Gleichung nie berechnet. Es 
wird dann in Note IV das Problem weiter untersucht, eine Zahl D 
zu finden, die kleiner als die kleinste Wurzeldifferenz ist. Die erste 
Berechnungsweise von D wurde von ihm 1767 erklärt; die zweite 
wurde 1795 in Vorlesungen auf der Normalschule vorgetragen.?) Die 
dritte ist eine Modifikation der zweiten und nicht ganz so schwer- 
fällig. Die Annäherungsmethoden von Newton und Raphson 
werden in Note V kritisch untersucht. Es stellt sich heraus, daß 
Newtons Methode mit Sicherheit nur zur Berechnung der größten 
oder kleinsten reellen Wurzeln derjenigen Gleichungen dient, ın 
welchen der reelle Teil « jeder imaginären Wurzel «+:ß zwischen 
der größten und der kleinsten reellen Wurzel liegt. Zunächst werden 
die Annäherung durch rekurrente Reihen und die Fontainesche 
Auflösungsmethode untersucht. Er zeigt, daß Fontaines Verfahren 
selbst für Gleichungen niedrigen (z. B. dritten) Grades nicht immer 
zum Ziele führt. Es folgen dann Noten mit historischen Angaben 
über Wurzelgrenzen, die Reellität der Wurzeln und die Möglichkeit, 


alle imaginären Wurzeln einer Gleichung in der Form a+ Y 15 
. auszudrücken. Note X betrifft die Zerlegung eines Polynoms in 
reelle Faktoren, Note XI weitere Approximationsformeln zur Berech- 
nung der Wurzelwerte. Die letzte Note behandelt Transformationen, 
welche Gleiehungen liefern, in denen alle x enthaltende Glieder 
einerlei Zeichen haben und das absolute Glied das entgegengesetzte 
Zeichen besitzt. Ä 


i) Memorie della regia accad. di scienze in Modena, Serie III, T. I, 1898, 
p- 109. 2) Seances des &coles normales, T. 3, p. 466 = H. Niedermüller, 


op. eit., ps 90—97. 
10* 


148 Abschnitt XX. 


' Eine geometrische Methode, die -Wurzeln. von Gleichungen zu 
bestimmen, wird: von Teodoro Bonati’ (1724— 1820), einem in 
Ferrara gebürtigen italienischen Arzte, beschrieben 1). Die Natur und 
Lage der Wurzeln soll durch die Gleichungskurve bestimmt werden. 
Um diese zu zeichnen, wird die Gleichung anfangs durch Trans- 
formation von dem vorletzten Gliede befreite Hat man z. B. 


2° — Bast+5e® — Dh +i=0 und setzt man u = 0, so hat 


man auch x —= (0 und man hat auf der Y-Achse einen Maximum- oder 
Minimumpunkt der Kurve, welcher zur bequemeren Zeichnung der 
Kurve dient. Die übrigen solcher Punkte werden durch Verschiebung 
der Y-Achse nach rechts oder links gefunden. ?) 

Unter den Spezialuntersuchungen über Gleichungstheorie bringen 
wir in erster Linie die Diskussion über den irreduktiblen Fall in der 
Lösung von Kubikgleichungen. Zahlreiche Schriften über diesen 
(egenstand wurden verfaßt, besonders in Italien. Obschon keine 
neuen Resultate gewonnen wurden, war die Diskussion doch nicht 
ohne Erfolg, denn viele Mathematiker überzeugten sich allmählich 
von den Vorteilen, welche imaginäre Größen in der Gleichungstheorie 
gewähren. Lagrange schrieb an Lorgna 1777 aus Berlin:°) „Als 
einen der wichtigsten Schritte, welche die Analyse in letzter Zeit 
genommen hat, erachte ich, daß sie durch imaginäre Größen nicht 
länger in Verlegenheit gesetzt wird, und daß dieselben der Rechnung 
unterzogen werden, eben wie reelle Größen.“ 

Allgemeine Gesichtspunkte werden nicht ohne Mühe erreicht. 
Als Beispiel dient die Äußerung, die in dieser Zeit gelegentlich ge- 
macht wurde, daß die Algebra keine allgemeine Auflösung kubischer 
Gleichungen kenne). | | 

Ein bloßer formaler Ausdruck, wie die Del Ferrosche Formel 
für den irreduktiblen Fall, welcher numerische Wurzelwerte zu be- 
rechnen nicht gestattete, wurde nicht selten von algebraischen 
Lösungen ausgeschlossen. Blassiere ist der Ansicht, daß, obschon 
eine allgemeine Lösung von © +qgx-+r=0 nicht möglich sei, er 
die Möglichkeit einer allgemeinen Lösung von x? + pa? +g2+r= Kb 
doch nicht leugnen möchte. 





.D) Memorie di Matamalich e Fisica della Societä Italiana, Tomo VII, Pt. i 
Modena 1799,. p. 231—272. ?) Abhandlungen von P. Franchini u 
T. V. de Caluso in Memoires de l’acad. de Turin, annde 1792 ü 1800, T. VI 
werden hier ausgelassen, weil erst 1800 gedruckt. ?) Lagrange, Oeuvres, 
T. XIV, p. 261. *) Z.B. Paoli Frisii operum tomus primus algebram et 
geometriam analyticam continens, Mediolani.1782, p. 269, und J. J. Blassiöre in 
Verhandel. uitgegeeven door de Hollandsche Maatschappye der Weetensch. te 
Haarlem, VIII. Deels I. Stuk, 1765, S. 197— 220. 


r 


Algebra. 149 


' Ein schon früher erwähntes Werk 'von Franeis Maseres, be- 
titel A -dissertation on the use of the negative sign in 
algebra ... showing how quadratie and cubie equations 
may be explained, without the consideration of negative 
roots, erschien 1758 in London. Negative Wurzeln verwerfend, be- 
hauptet Maseres, die Gleichung 2? — xp =r habe nur eine Wurzel. 
Bei der Gleichung #+p2°?+gx2=r bespricht er die sieben Fälle, 
die man erhält, wenn nicht mehr als zwei Glieder auf der linken 
Seite das — Zeichen erhalten und zählt die Anzahl Wurzeln jeden 
Falles auf. Er teilt die kubischen Gleichungen in solche erster, 
zweiter und dritter Art, je nachdem kein Glied, das dritte oder das 
zweite Glied fehlt. Er zeigt, wie die übrigen Auf solche dritter Art 
transformiert werden können und erklärt die Auflösung jeden Falles. 
Alles ist mit langweiliger Weitläufigkeit auseinandergesetzt. Die 
große Anzahl spezieller Fälle, welche seine Auffassung der Algebra 
erfordert, bezeugt, wie sehr bequem und zeitersparend negative Größen 
wirklich sind, indem sie alle Fälle in einen einzigen einschließen. 
Maseres ist aber gewissenhaft. Die Möglichkeit einer solchen 
Algebra sieht er nicht ein und er zieht die Logik der Einfachheit 
vor, so lange er nicht beide gleichzeitig haben kann. Der irreduk- 
tıble Fall für P" —cy=d, wo d< = hänge in seiner Auflösung 
von cy—y’=d ab. Letztere Gleichung habe zwei Wurzeln, die 
ınan. durch Dreiteilung eines Kreisbogens erhalten könne. Wenn 


p 


x? — px? +gx=r Wurzeln hat, setze man x = 3, y und finde die 


kleinste durch Auflösung von y? — Y— d, wo d . C —r 55 
d an, ae? —r. Die zwei übrigen erhalte man durch die Berech- 


nung der zwei Wurzeln von cy— y’=d und «= . +yY. 


In den Artikeln in Diderots Encyclop&die über den irreduk- 
tiblen Fall!) erklärt D’Alembert, daß die Cardansche Formel nicht 
bloß eine Wurzel, wie gewisse Mathematiker (z. B. Clairaut) be- 
haupten, sondern gleichzeitig alle drei darstellen. Der Übelstand 
beim irreduktiblen Fall bestehe darin, daß man 2 —=y-+z setze, wo 
y und z unbestimmt sind, und dann zugleich — 3y2=g annehme, 
wodurch y und z imaginär werden. Diese Annahme sei nicht nötig 
und werde gemacht, nur um die Werte von y und z leichter abzu- 
leiten. Es sei aber sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, diese An- 


3) Man sehe auch die Hnoyelopödie methodique ih eiekaqueh; Partb 
1784, Art. „Cas irreductible“. 


150 Abschnitt XX. 


nahme durch eine bessere zu ersetzen. Daß das Del Ferrosche Ver- 
fahren schon von Anfang falsch sei, behaupten auch Frisius!) und 
Francesco Domenico Michelotti?).. Der Aufsatz Sur lex- 
pression de certaines quantites imaginaires?) von D’Alem- 
bert dient als Ergänzung seiner Artikel in Diderots Eneyelopedie. 
Er hebt unter anderem hervor, daß aus (1+hY — 1)"=(1—hy — 1)" 


man nicht schließen dürfe 1 + hY—1=1-hyY-1, wo h nicht 
Null sei. In dieser paradoxen Gleichung nimmt er h=tanA = 


tan(®+2n)x an und, um die Gleichung cos m A + sinmA-V—1 


sol mA=-+uz, wo u eine ganze Zahl ist, weshalb m(® +2n)= + u 
ist und die Werte von m festgesetzt sind. 

Ein vielsagender Kommentar über den Scharfblick gewisser Ver- 
fasser von Schriften, sowie der Herausgeber der Nova acta erudi- 
torum sind zwei anonyme Artikel‘), worin gezeigt werden soll, daß 
kubische Gleichungen, die drei reelle Wurzeln haben 


(wie #2 —52°+62—2=0), 
zugleich,noch drei imaginäre Wurzeln besitzen mögen. 


Jean-Francois-Mauro-Melchior Salvemini de Castillon 
(1709—1791), aus Toskana gebürtig, tut einen reaktionären Schritt 
in der Erklärung’), daß die Del Ferrosche Formel nur auf arith- 
metische Gleichungen Bezug habe; Gleichungen, die sich auf geo- 
metrische Aufgaben beziehen, lassen sich durch geometrische Kon- 
struktion leicht erledigen. Viele Algebristen trauen der Algebra 
hlindlings. Für das Problem, zwei Zahlen zu finden, deren jede das 
Quadrat der anderen sei und deren Summe dem Kubus einer von 
' ihnen gleich sei, liefere die Algebra Ausdrücke, obschon der gesunde 
Menschenverstand die Unmöglichkeit derselben leicht erblicke. Diese 
Bemerkung wurde durch die Äußerung Lagranges hervorgerufen, 


daß 2 2 V-3 das Quadrat von ie Ba —3 sei; La- 


granges Autorität hatte bei Castillon weniger Gewicht als bei 
anderen Mathematikern, weil letzterer ein Mitbewerber für die Stelle 
als Nachfolger von Euler an der Berliner Akademie gewesen war 
und zu Lagrange in gespannten Beziehungen stand°). 


", Atti dell’ accademia delle scienze di Siena detta de’ Fisio-Critici, T.IV, 
1771, p. 20—24. ?) Antologia Romana T. IV, 1778, p. 300—302. ®) Opus- 
cules math&matiques T. V, Pt. I, p. 1853—215. #) Anni 1775, p. 60—84, 
104—116. °) N. memoires de l’acad. roy. des sciences, annee 1783, Berlin 1785, _ 
p- 244—265. 6) Lagrange, Oeuvres, T. XIII, p. 79, 89, 202, 205. 


Algebra. 151 


' Die Entwicklung des Cardanschen Ausdruckes, wie man allge- 
mein zu sagen pflegte, in Reihen, von Nicole schon 1738 vor- 
geschlagen, wurde später von mehreren angeraten. Maseres ver- 
öffentlichte A method of extending Cardan’s rule for solving 
one case of a eubick equation of this form @°%+* — gr =r, to 
the other case of the same equation, which it is not natu- 
rally fitted to solve, and which is therefore often called 
the irreduceible case!), worin die Entwicklung der Wurzelwerte 
durch die Binomialformel in Reihen gegeben wird. 

Kästner äußerte sich 1794 so: „Sonderbar ist, daß man in 
Italien noch in neueren Zeiten sich mit dieser Untersuchung viel zu 
tun gemacht hat.“ Er selber habe seine Betrachtungen in dem 1757 
herausgegebenen Programm Formulam Cardanı aequationum 
eubicarum radices omnes tenere cet. vorgetragen. 


Schriften von den Italienern Frisi und Michelotti haben wir 
schon angeführt. Francesco Maria Zanotti (1692 — 1777) zeigt?), 


daß, wenn r +? = VA +YV—B, dann sei auch r —i = Zr V-B, 
wodurch leicht zu ersehen sei, wie der Gardansche Ausdruck für 
die Wurzeln im irreduktiblen Fall reell sein kann. Ähnliche Nach- 
weise findet man bei mehreren Mathematikern. 

In einem Aufsatze, De casu irreductibili tertii gradus et 
seriebus infinitis, Verona 1776 (?)°), gibt Antonio Maria 
Lorgna®) (1735—1796) von der Militärschule zu Verona eine Aus- 
einandersetzung der hHeihenentwicklung von den Cardanschen 
Wurzelausdrücken und der Zurückführung von der Summation dieser 
Reihen auf die Integralrechnung. In einem Briefe an ıhn gibt 
Lagrange?°) eine Berichtigung betreffs einer Elimination. Malfattı 
kritisierte die Reihenbehandlung. 

In einem Aufsatze des Jahres 1782, Dell’ Irreducibilitä 
della Formula Cardanica a forma finita, algebraica, e 
libera da aspetto immaginario®), sucht Lorgna einen kürzeren 
Beweis als den des Jahres 1776 vorzuführen. Er zeigt, daß die 
Cardansche Formel für den irreduktiblen Fall der Gleichung 


2° —px2—qg=0 nicht gleich x +YVv oder Vv oder xVv oder einer 


ı) Phil. Trans. Vol. 68 for the year 1778, Pt. II, London 1779, p. 902— 949. 
2) De Bononiensi Scientiarum et Artium Instituto atque Academia Commentarii 
Tomi Quinti Pars Prima, 1767, p. 145—151. 3) Über das Datum sehe man 
Bullettino Boncompagni, T'. VI, Roma 1873, p. 101 ff. *) Man sehe 
Bullettino Boncompagni, T. X, p. 1—74, 5) Lagrange, Oeuvres, T. XIV, 
p. 261. 6) Memorie di Matematica e Fisica .della societü Italiana. Tomo I, 
Verona 1782, p. 707— 746. 


152 Abschnitt XX. 


größeren endlichen Anzahl solcher reellen Glieder sein kann, wo x 
und v rational angenommen werden und Gleichungen mit en 
Wurzeln ausgeschlossen sind. In der Anwendung dieser Ergebnisse 
kommt ‚aber ein  unheilbarer Fehlschluß vor. Diese Abhandlung 
wurde der Akademie zu Padua, die 1781 eine Preisfrage über den 
irreduktiblen Fall gestellt hatte, eingereicht. Durch den Einfluß eines 
der Schiedsrichter, Nicolai, wurde der Preis vorenthalten !). 

In Paulli ‚Frisii operum tomus primus, 1782, wird im 
10. Kapitel der irreduktible Fall eingehend besprochen. Im folgenden 
Jahre erschien in Padua eine Abhandlung Della possibilitä della 
reale ,soluzione analitica del caso irredueibile von Lorgnas 
Gegner Giämbatista Nicolai (1726—1795), Lehrer der Mathe- 
matik an der Universität zu Padua. Durch Operationen, die nicht 
alle mit Y—-1-Y—1=-—1 im Einklang sind, leitet Nieolai die 
Paradoxie ab (1+Y1—g):1—-V1—g= 1—-V1i—-gN:1+Y1-g). 
Durch ähnliche Fehlschlüsse ergibt sich ihm das Resultat, daß der 
ırreduktible Fall von imaginären Größen befreit werden Ka 3 

Dieser Aufsatz entflammte einen langen Streit. Sebastiano 
Ganterzani schrieb drei Aufsätze, um heterodoxe Ideen dieser Art 
zu widerlegen’). | | 

Petronio Maria Caldani (1735—1808), Professor zu Bologna, 
schrieb einen Brief an Padre Jaequier, worin er Nicolais Fehl- 
schluß im se daß 


sei, hervorhebt. N icolai schreibe — y—1 era ı Fra: q. , 


anstatt +y1—g*). Es erschienen noch mehrere Streitschriften über 
diesen Gegenstand in italienischen Journalen, welche die Frage, ob 


das Produkt von — y—1-y—1 BEStBnN oder negativ sein soll, 
diskutieren). 
Es erschienen auch Abhandlungen von den Brüdern Vincenzo 
und Giordano Riccati®), 
Eine klare Diskussion des irreduktiblen Falles gab Lagrange’) 
in seinen Vorlesungen des Jahres 1795. . Er ‚hebt hervor, daß das 


') Bullettino Boncompagni, T. VI, 1873, p. 122, 123. ?) Näheres auch 
in De studiis philosophieis, et. mathematieis, Matriti 1789, von Juan Andres, 
p-153—181. °) Man sehe Antologia Romana, Tomo XIV, 1788, p.114. *) Anto- 


logia ‘Romana, Tomo X, 1784, p. 33—37. . ®) Antologia Romana, Tomo X, 
p. 61-62, 313—317, 401—405; Tomo ‘XI, p. 33—46, 49-54, 57--62. Giornale 
de’ confini d’Italia 1783, num. 43; 1784, num. 13. .®) Nuovo Giornale, 


Modena, T, 24, p. 170—205; T.:28,.p. 256. 7) Seances des &coles normales, 
an III, 3. Vorlesung = H. Niedermüller, op. eit., p 48—69. 0,3 


Zahlentheorie. 153 


Imaginäre in der Gardanschen Wurzelform von der Annahme 
z=y-+ z unabhängig sei. 

Als Einzeluntersuchung über Gleichungen ist noch anzuführen 
eine Schrift, De aequationibus indefinitis, deque methodo 
indeterminatarum‘), von Gregorio Fontana, über die Aufgabe 
in Eulers Anleitung zur Algebra?), eine reelle Wurzel der 
Gleichung mit unendlichen Exponenten 2°— 2°! 2%? —...— 10 
zu finden. Man schreibe die Gleichung #” + (1 — 2”): (2 — 1) =0 


oder z°+!—-2r7”+1=0, oder 7-2 +0 und es sei dann 


klar, daß = 2 sei. Die Lösung der Gleichung 1+2xr+32°+.-- 
+(»+1)2"=0 hänge von der Lösung der Trinomialgleichung 
(n+1)a”"+?— (n+2)a"t!+1=0 ab, wie aus der Division 
1:(1— x)? zu ersehen sei. 


Zahlentheorie. 


Am Anfange unserer Zeitperiode ist L. Euler noch immer der 
einzige hervorragende Mathematiker, welcher sich mit der Zahlen- 
theorie beschäftigte. Die erste seiner hierher gehörigen Schriften 
gibt die Auflösung der simultanen Gleichungen + y+2z= uf, 
sy+2z+yz=v, zy2=w??”) Euler bemerkt, daß er an der 
Auflösung dieses Problems beinahe verzweifelte, so viel Mühe habe 
ihm dieselbe gekostet. Wie wir bald sehen ah hat er später 
diese Aufgabe auf vier Zahlen x, y, z, s ausgedehnt und noch andere 
bedeutend schwierigere unbestimmte Gleichungen dieser Art gelöst. 
Die kleinsten von Null verschiedenen ganzen Zahlenwerte für x, y, z 
im gegenwärtigen Problem sind 

x = 1633780814400, y = 252782198228, z = 3474741058973. 
Wenn diese durch 2315449? dividiert werden, erhält man Bruchwerte 
von %, %, 2 

Im gleichen Bande kehrt Euler in der Schrift Theoremata 
arıthmetica nova methodo demonstrata®) zum Studium der 
Potenzreste zurück, die er schon ein Vierteljahrhundert früher bei 
Betrachtungen über den Fermatschen Satz untersucht hatte. Er 
erforscht die durch Division der sukzessiven Glieder arithmetischer 


"). Atti dell’ accademia delle scienze di. Siena, T. VI, p. 184—191. 
2) 2. TI., 1. Absch., Kap. 16, $ 239. -®»).N. Comm. Petr. VII, 1760—61, 
p- 64—73 = Comm. Arith. I, p. 239. ..% N. Comm. Petr. VII, 1760—61, 
p. 74—104 — Comm. Arith. I, p. 274. \ 


154 Abschnitt XX. 


und geometrischer Reihen erhaltenen Reste, und erhält den wohl- 
bekannten Ausdruck für die Anzahl der Zahlen, die prim zu einer 
gegebenen Zahl und nicht größer als dieselbe sind. Ist die gegebene 
Zahl das Produkt dreier ungleichen Primzahlen p,g,r, dann ist diese 
Anzahl = (p— 1)(g — 1L)(r —1). Dieser Ausdruck, dessen Verallge- 
meinerung Euler andeutet, wird öfters die „Eulersche Funktion“ 
genannt. Am Ende der Schrift findet er folgende Erweiterung des 
von ihm in früheren Jahren schon zweimal bewiesenen Fermatschen 
Lehrsatzes: Wenn N prim zu x ist und » die Anzahl der Zahlen 
bezeichnet, die prim zu N und nicht größer als N sind, so ist = — 1 
immer durch N teilbar. 

In einer dritten Arbeit über Zahlentheorie in diesem Bande, nämlich 
Supplementum quorundam theorematum arithmeticorum, 
quae in nonnullis demonstrationibus supponuntur!) sind die 
Eigenschaften ganzer Zahlen von der Form a? + 3b? entwickelt und 
auf das Problem angewandt, drei Kubikzahlen zu finden, deren 
Summe eine Kubikzahl ist, sowie auf die Vervollständigung seines 
Beweises des berühmten Fermatschen Unmöglichkeitssatzes über 
x” +y"=2", für den Fall »=3. Man wird sich erinnern, daß 
schon zweiundzwanzig Jahre früher Euler, für den Fall»= 4, den 
Unmöglichkeitsbeweis geliefert hatte. (Bd. IP, S. 613.) 

Im Aufsatze De resolutione formularum quadraticarum 
indeterminatarum per numeros integros?) wird die Auffindung 
rationaler oder ganzzahliger Werte von x und y der Gleichung 
2” +Pßx+Yy=y” betrachtet, ohne daß allgemeine Gesichtspunkte 
erreicht würden. Großes Gewicht legt Euler auf folgenden Satz: 
Wenn die Gleichung ex +p=y? für =a und y=b, und die 
Gleichung &®+g9=y für =c, y=d erfüllt sind, dann sind 
x£=bce-+.ad und y=bd-+ «ac Lösungen von az? +pq = y”. Wäre 
Euler die Zahlentheorie der Inder zugänglich gewesen, würde er 
diesen schönen Satz schon in den Arbeiten von Bhaskara gefunden 
haben). 

In seiner Schrift De numeris primis valde magnis') ver- 
gleicht er die Auffindung des Gesetzes der Verteilung der Primzahlen 
‚mit dem Problem der Quadratur des Kreises: beide gehen über unsere 
Fassungskraft. Daß die Fermatsche Formel 2?” +1 immer Prim- 
zahlen darstelle, hatte Euler in seinem allerersten 1732—33 ‚er- 


») N. Comm. Petr. VII, 1760 et 1761,-p. 105—128 = Comm. Arith. I, 


p- 287. ®) N. Comm. Petr. IX, 1762-63, p. 3—39 = Comm. Arith. I, 
p:- 297. ®) H. Hankel, Gesch. d. Math. in Alterth. u. Mittelalt., Leipzig 1874, 
S. 200. %) N. Comm. Petr. IX, 1762—63, p. 99—153 = Comm. Arith. 1, 


p. 356. 


Zahlentheorie. 155 


schienenen Aufsatze über Zahlentheorie!) widerlegt. Nun zeigt er, 
daß es keine algebraische Funktion X=«+ ßxz+y2°? + --- gebe, 
welche nur Primzahlen darstelle; denn, wenn z=a und 
A=za«a+ßa+ya?+---, erhält man im Falle z=nA+a für X 
einen Wert, der durch A teilbar ist. Die Schrift endet mit mehreren 
Tabellen. Die erste enthält alle Primzahlen nicht größer als 1997 
und von der Form 4» + 1, jede als die Summe zweier Quadrate .aus- 
gedrückt, sowie die Werte von a, welche das Binom a? +1 durch 
diese Zahl teilbar macht. Drei andere Tabellen folgen. Diese zeigen, 
welches fleißige empirische Studium Euler der Zahlentheorie widmete 
und wie es Euler möglich wurde, viele Lehrsätze durch bloße An- 
schauung zu entdecken. 

- Um die Lehre von den Kettenbrüchen leichter darzustellen und, 
im besonderen, um Gesetze zu entdecken, welche die Auffindung 
irgend eines Näherungswertes ohne die Berechnung aller voran- 
gehenden gestatten, schuf Euler in einer Schrift, Specimen 
algorithmi singularis?), einen eigenen Algorithmus und dazu 
passende Rechnungsregeln, welcher er sich in einer drei Jahre später 
gedruckten wichtigen zahlentheoretischen Schrift, De usu novi 


algorithmi, bediente?) Ein Kettenbruch a + FT 


C 


wird durch das 


Symbol es dargestellt; ein unendlicher Kettenbruch durch 


{a,b,c,d,e etc.) 


(b, c,d, e etc.) « Man hat hier (a, b, C, d, e) "re (a, b, C, d) + (a, b, e), auch 


(a,b,c,d,e)= (e,d,c,b,a). Da nun (a,b,c,d) (b,c,d,e) — (b,c,d) (a,b, c,d,e) 
= (a,b,c, d)e(b,c,d)-+ (a,b, c,d,e)(b,c) — (b,c,d)e(a,b,c,d) — (b,c,d)(a,b,c) 
= — [(a,b,e)(b,c,d)— (b,c)(a,b,c,d)} =+1, weil (a)(b)— 1(ab)=—1 
ist, läßt sich der Nachweis führen, daß die sukzessiven Näherungs- 
brüche sich dem wahren Werte des Kettenbruchs mehr und mehr 
nähern. Denn man hat a — - =— ir a — a =+ ©) ” 5 USW. 
Zieht man letztere Gleichungen zusammen, so hat man die Entwicklung 
des Kettenbruchs in einer Reihe. Euler erhält durch Induktion 
Formeln dieser Art (a,b, c,d) (ef,9,h) — (ab,c,d,,f,g,h)l = 
— (a,b,c) (f,9,h), (a,b,6,d,e) (6, d,e,f,9,h) — (a,b,c,d,e,f,9,h) (c,d,e) = 
+ (a)(g,h) und lehrt derartige Formeln in beliebiger Anzahl hinzu- 





1) Comm. Petr., VI, 1732—33, p. 103 = Comm. Arith. I, p. 1; Cantor, 


Bd. HI? S. 611. 2) N. Comm. Petr. IX, pro annis 1762 et 1763. Petropoli 
1764, p. 53—69. Vergl. $S. Günther, Nüherungswerthe von Kettenbrüchen, 
Erlangen 1872, S. 1—10. 5) Ebenda, T. XI, pro anno 1765, Petropoli 1767, 


pvp: 28. 


156 Abschnitt XX. 


schreiben. Er wendet seinen neuen Algorithmus auf die Bestimmung 
der Differenz ‘zweier beliebiger Näherungswerte an. Wie Günther 
hervorgehoben hat!), bedient sich Euler „zur Zerlegung seiner 
Symbole eines Verfahrens, welches ganz dem Zerfällen einer Deter- 
minante in ihre Unterdeterminanten entspricht“. 


Wichtiger ist Eulers nächste Arbeit, De usu novi algorithmi 
in problemate Pelliano solvendo?), welche eine neue Auflösung 
der Fermatschen Gleichung 2 — Dy?=1 (irrtümlich die Pellsche 
Gleichung genannt) gibt. Diese berühmte Gleichung, zuerst von den 
Griechen betrachtet, dann von den Indern aufgelöst und wieder von 
neuem durch Fermat, Brouncker, Wallis entwickelt, wird in der 
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts von Euler und 
Lagrange weiteren Untersuchungen unterworfen®). Nachdem in dem 
gegenwärtigen Artikel Euler gezeigt hat, daß die Auflösung nicht 
nur der Gleichung 12? + mx + n = y?, sondern auch der allgemeineren 
Gleichung zweiten Grades A + 2Bzy+ (0? +2Dx+2Ey+F=0, 
wo B?> AC angenommen wird, von der Auflösung der Gleichung 
der Form p?=1g? +1 (l positive ganze Zahl) abhänge und dadurch 
die Wichtigkeit der letzten Gleichung betont hat, erklärt er, wie die 
Auflösung von p® —=!q? +1 durch die Entwicklung von Y! in einen 
Kettenbruch bedeutend erleichtert werden könne. Ohne Beweis nimmt 


er an, daß, wenn ar, der Bruch a eine Annäherung zum irratio- 


nalen Werte VI liefere, die nieht überstiegen werden kann, ohne 
größere ganze Zahlen für p und qg in Anwendung zu bringen. Er 
erklärt die Kettenbruchentwicklung zuerst an numerischen Beispielen, 
dann im allgemeinen wie folgt: 


Ve=rto 


+1 
c+1 
d+ ete. 





wo die Indizes: a, b, c, d etc. |so nennt Euler die Teilnenner] durch 
sukzessive Operationen gefunden werden. Wenn Yz=v+ "und 


Vs+A_YVe+A 
Far & 


v= A, dann wird = = 





‚woa=z2—4?”. Da nun 





1.8. Günther, op. eit., 8.59. 9 N. Comm. Petr. XI; 1765, p. 283—66 
—= Comm. Arith. I, p.'316. - - -°) Man lese H. Konen, Gesch. d. Gleichung 
t?— Du?’—=1, Leipzig 1901. e 


Zahlentheorie. 157 


V: Aus +4 


oder er ist, hat man a< - r u a 


a die größte ar Zahl in 


Setzt man en =4 +7 ‚ dann wird, da g=-at+ 4 k 


_.Ve—A+tae _Vz+B 
YTi7I2aA-ae B: 





wo B=a«a—- A und ßB=1+a(4-—B). Weil b die größte ganze 
Baer 


in y enthaltene Zahl ist, hat man b<-— Setzt man drittens 


y-b + und fährt in ähnlicher. Weise fort, so erhält man die 


folgende Tabelle von Euler: 





Capiatur | tum vero . eritque 
4 er | a=2—- A’=z2— 0 | az 
I. B=o.a—A4A B-’=®"=-1+a(4-B) <’+2 
IL C=ßb —B re © I 
IV. D-ye-C | 0-7 -B+e(C—D os a2 
V.E=40-D ee, | <rtE 

ete. 


Wenn in der letzten Kolumne die Brüche in Wirkliehkeit ganze 
Zahlen vorstellen, dann soll das Zeichen < durch — ersetzt werden. 


Da A=v und e _ so hat man B=a«— A<zv, BF>1,; 


b<=2v. Folglich ist auch O=bß — B<Zv ete. Durch die Indizes 
a,b,c,d etc. erhält man also die ganzen Zahlen A, B,C, D ete., 
welche alle <Z» sind, sowie die ganzen Zahlen «, ß, y, d etc., welche 
alle 1 sind. Aus der letzten Kolumne ersieht man nun, daß jeder 
Index a,b,c,d ete. <2v sein muß. Euler erklärt, daß, nachdem 
der Index 2» erreicht wird, die Werte a, b,c, d ete. sich wiederholen 
und die Entwicklung von neuem beginnt. Er gibt aber keinen 
Beweis, daß der Index 2» notwendig existiert. Er zeigt an Bei- 
spielen, daß die Indizes a,b,c,d etc. und die Zahlen «, ß, y, d etc. 
sich periodisch wiederholen. Nur für die Form z=n?+1 und 
sieben andere ähnliche Formen werden allgemeine Werte für die 
Indizes und für die griechischen Buchstaben angegeben. 


158 Abschnitt XX. 


Um nun p= Vlg? +1 in ganzen Zahlen aufzulösen, werden aus 
den Indizes Näherungsbrüche = nach dem in folgenden zwei Reihen 


ersichtlichen Gesetze entwickelt: 





Indizes v, a, b, e, a ey 
= 1 0 041 (ab+Do+b MON nNtM 
4:05.10 a? ab+1 P’:Q’..nd+P. 


Dann wird ein abgekürzter Algorithmus für r eingeführt wie folgt: 


1 (v) (v, a) (v, a, b) (v,a,b, ec) (v,a,b,c,d). t 
0 I? 94>r ab’ abo bed 


vn (Wa)=aw)+1; (v,a,b) ns b(w,a)+(v); (v,a,b,c)=c(v,a,b) + (v,a) 
(d)=al+0; (05) b(a)+1; (05,0) = e(a,5) + (a) 


Euler teilt ferner mit, daß er folgende Transformationen bewiesen 
habe: 








oO 


(v,a,b,c,d,e) = v(a,b,c,d,e) + (b,c,d,e) 
(v,a,b,c,d,e) = (v,a)(b,c,d,e) + v(c,d,e) 
(v,a,b,c,d,e) = (v,a,b)(c,d,e) + (v,a)(d,e) 
(v,a,b,c,d,e) = (v.a,b,c)(d,e) + (v,a,b)(e). 


Durch diese Formeln kann man sich die Berechnung beinahe der 
Hälfte der Näherungsbrüche ersparen. Sind nämlich »,a,b,c,c,b,a,2v 
die Indizes einer Periode und nimmt man mit Euler als bewiesen 
an, daß (a,b,c) = (ce,b,a) und bezeichnet die Näherungsbrüche durch 
g> 2 
lYı Balyay +++, Xelys, WO Rlyı = ' \st, so erhält man = 2,1, + 244, 
Yy= Yy au Yr, wo = (%, a,b, ec), 4 = (v, d, b), %.7 (a, b,c) a (6, 4, b), 
y,=(a,b)=(b,a). Man braucht x,,x2, und %,,%, gar nicht zu be- 
rechnen). 
Es wird nun gezeigt, dab 


z=]1 


wenn | ann =zyP-+J1, 


y=0 


\ 
0 Ir ee 
SP] > seen 


g' H. Konen, a. a. O., S. 56, hebt hervor, daß diese abgekürzte Methode 
von G. W. Tenner ee Merseburg 1841) unabhängig ausgearbeitet und 
von einigen Schriftstellern ihm zugeschrieben worden ist. 


Zahlentheorie. 159 


wenn | er \ dann = zy?’ —y, 
. Men (a, b) ) 

= (v,a,b, e) 2 2 ' 

— Ö, 

„ | y us (a, b, ce) ” & zy Tr I 


[ x = (v,a,b,c,d) | 32 2 
R | Ag (a, b,c, d) : a | 


ete. 


Wird nun einer der Buchstaben ß,0 ete.— 1, so hat man eine Auflösung 
der Gleichung 2° — zy’—=1. Aber keiner dieser Buchstaben kann 
+ 1 werden, wenn nicht zugleich der entsprechende Index 2» wird. 
Wenn deshalb irgend eine Periode, die wir in der Anordnung der 
Indizes finden, den Wert 2v enthält und wir x und y den Näherungs- 
werten, welche der ersten Periode entsprechen, gleichstellen, erhalten 
wir 2° = zy? + 1 unter der Bedingung, daß die Anzahl der Indizes in 
einer Periode gerade ist, und 2?=zy? — 1, wenn diese Anzahl un- 
gerade ist. Im ersteren Falle haben wir direkt die gesuchte Lösung; 
im letzteren Falle soll man entweder zwei Perioden weiter gehen, wo 
der Index 2v gerade ist und für x und y die Näherungswerte in der 
dritten Periode wählen, oder man soll p=2#°+1 und y=2xy 
setzen. Dieses Verfahren liefert auf bequeme Weise die kleinsten 
Lösungen von 2 — zy?=1. Da aber nirgends bewiesen ist, daß der 
Index 2v notwendig vorkommt, ist man nicht sicher, daß die Gleichung 
außer z—=1 und y=( wirklich Lösungen hat. Der englische Zahlen- 
theoretiker H. J. S. Smith drückt sich über diese Abhandlung so 


aus: „Buler beobachtete, daß notwendigerweise ein Näherungswert 


von Yz ist, weshalb es genügt, um die Zahlen p und g zu erhalten, 


Vz in einen Kettenbruch zu entwickeln. Es ist aber sonderbar, daß 
ihm die Notwendigkeit nie eingefallen ist, zur Vervollständigung der 
Theorie zu beweisen, daß die Gleichung auch immer auflösbar sei 


und daß durch die Entwicklung von Yz alle Lösungen gegeben 
seien. Sein Memoir enthält alle für den Beweis nötigen Elemente; 
hier aber, wie in anderen Stellen, ist Euler mit einer Induktion ohne 
strengen Beweis zufrieden“!). 

Dieser Aufsatz Eulers enthält zwei Tafeln. Die erste gibt die 
Entwicklung aller Zahlen unter 121, mit Ausnahme der Quadrat- 
zahlen, in Kettenbrüchen an; die zweite enthält für jeden nicht 


en 


) H. J. S. Smith, British Assn. Report 1861, p. 315 — Üolleeted works, 
Vol. I, Oxford 1894, p. 192. 


160 Abschnitt XX. 


quadratischen Wert von z zwischen 1 und.100 den kleinsten Wert 
von & und %, welcher eine Lösung der Gleichung x? — zy? =1 ist. 

In dem Aufsatze Quomodo numeri praemagni sint explo- 
randi, utrum sint primi, nec ne!) fährt Euler mit der Betrach- 
tung der Primzahlen fort und entwickelt Methoden zur Entscheidung, 
ob eine Zahl von der Form 4» + 1 prim ist oder nicht. 

Wie früher (Bd. IIP, 5. 617, 618, 719—721) klar gemacht wurde, 
verdankt man Euler die ersten Arbeiten über analytische Zahlen- 
theorie. Dieser Gegenstand wird nun in der Abhandlung De par- 
titione .numerorum in partes tam numero quam specie 
datas?) fortgesetzt. Aus seinen Ergebnissen heben wir nur hervor, 
daß er mit Hilfe der erzeugenden Funktion 1/(1 — x°y“) (1 — a’y?) 
(1—xy’)(1— x'y’) etc. und der erzeugten Reihe 1+4Aar'y: 
+ Bry' + Cx'y'+ ete. die Folgerung zieht, daß, wenn darin .ein 
Glied Nx”y’ vorkommt, es N Lösungen der simultanen Gleichungen 
ap+bgq-+erete.—=n, «ap+Pßgq-+ yrete. =» gibt, wenn aber dieses 
Glied fehlt, keine positiven ganzzahligen Werte für »,q,r ete. existieren. 
Die Entscheidung über die Anzahl Lösungen solcher Gleichungen ist 
somit auf das Studium der. Koeffizienten N von x”y’ zurückgeführt. 
Euler bemerkt, daß vormals Lösungen durch die regula virginum’) 
erhalten wurden. | 

In einer Abhandlung, Observationes variae in mathesin 
puram), teilt J. H. Lambert unter anderem Sätze über rekurrierende 
Dezimalbrüche mit. Er beweist, daß bei teilerfremden Zahlen eine 
Division mit einer Primzahl, außer 2 oder 5, stets einen periodischen 
Dezimalbruch liefert, und daß alle periodischen Dezimalbrüche aus 
rationalen Brüchen entspringen, weshalb keine irrationale Größe durch 
einen periodischen Bruch dargestellt werden kann. In seinen 
Adnotata quaedam de numeris eorumque anatomia?) setzt er 
diese Studien fort, gibt einen Beweis des schon früher von Leibniz 
und Euler bewiesenen Fermatschen Satzes und zieht daraus weitere 
Resultate. Ist a eine Primzahl, aber nicht — 2 oder 5, dann stellt 
(10°-1—1):a eine ganze Zahl dar; ist (10”"—1):a eine ganze Zahl, 
dann ist entweder m durch «—1 oder «— 1 durch m teilbar; 


weshalb g nicht prim sein kann, im Falle daß ; einen Bruch mit 





ı) N. Comm. Petr. XII, 1768, p. 67—88 = Comm. Arith. I, p. 379. 
2. N. Comm. Petr. XIV, I, 1769, p. 168&—187 = Comm. Arith. I, p. 391. 
3) Regula virginum — regula coecis — regula potatorum.. ‘Man sehe 
Chr. Peschecks Deutliche Erklärung derer Kaufmann- und öconomischen 
Rechnungen etec., Budissin 1759, S. 440. ® Acta Helvetica, Vol. III, Basileae 
1758, p. 128—168. °, Nova Acta Eruditorum, Lipsiae.1769, p. 107—128. 


Zahlentheorie. 161 


mzahliger Periode liefert und 9—1 durch m nicht teilbar ist. 
Lambert zieht auch die Folgerung, daß, wenn g—1 Periodenzahlen 
vorliegen und g ungerade ist, 9 prim sein muß. Setzt man a — 2m +1, 
so ist (10”"-+1):a eine ganze Zahl qg und (10?” — l):a=10rg— g. 
Ist m nicht prim, so kann man es durch einen gewissen seiner Faktoren 
ersetzen. Nimmt man a=13 und m=3, so wird (10°? +1): 13 


— 77, 771000 — 77 — 716923, weshalb . — 0, 076923, 076923 ete. 


Wenn a nicht prim ist und 2 die Periodenzahl 2» gibt, dann 


haben a und 10” +1 einen gemeinsamen Faktor. Es folgen dann 
einige ähnliche aber längere Sätze, die zur Entscheidung, ob eine Zahl 
prim sei oder nicht, Anwendung finden können. ‚Mehrere derselben 
sind nicht nur auf Dezimalbrüche, sondern gleichzeitig auf Brüche 
anderer Systeme anwendbar. Die Auffindung der Teiler einer Zahl 
wird von Lambert auch in einem Briefe an Oberreit besprochen). 
Soweit ist Euler der einzige große Mathematiker des 18. Jahr- 
hunderts, der sich eingehend mit der Zahlentheorie beschäftigt hat. 
Nun erscheint die erste Arbeit von Lagrange auf diesem Gebiete. 
Am 20. September 1768 vollendete er in Berlin seine Abhand- 
lung Solution d’un problöme d’arithmetique?). Darin wird 
zum erstenmal ein strenger Beweis von der Lösbarkeit der Gleichung 
#”—ay’=1 gegeben. Er kannte zu dieser Zeit die Arbeiten von 
Wallis über dieses Problem, aber nicht diejenigen Eulers. Um zu 
zeigen, daß die Gleichung immer ganzzahlig lösbar ist, entwickelt er 


Va in einen unendlichen Kettenbruch 


Va 


dit g’ Sn 
wo q,9,q" --- ganzzahlig und positiv sind und erhält die Näherungs- 
R 1 M EHE "36; . ; , 
brüche FE —, N —, > —r, ya, woinm=q4,M=qgm+1, 
m=q’"M+m,---,, n=1, N=gan Ww=gqg’N+n,--- und 
u” ET ch 1 (r)2 (r)2 r) ) 
Ta>Va > RE r=0,1,2,... Er zeigt, dB MN? _-aNN:= Zm>( 
2m. ara 
und < 2775 ist, weshalb die unendliche Anzahl positiver, ganz 


? 


zahliger Werte Z, Z’, Z”,... nur eine endliche Anzahl untereinander 
verschiedener Zahlen darstellen. Auch hat man m")? — an)? — N, 


') J. H. Lamberts Deutscher gelehrter Briefwechsel Bd. II, Berlin 1782, 
S. 378—382; Bd. V, 1785, $. 323325. ®) Miscellanea Taurinensia, tome IV, 
1766—1769 = Oeuvres de Lagrange, tome I, Paris 1867, p. 671— 731. 
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 11 


162 Abschnitt XX. 


, SER 92 (r) a ‘ “N 
wo 2" <Ö und —.N< I +1, so daß 2,2',2?, ... eine unendliche 


Anzahl ganzzahliger, negativer Zahlen sind, wovon wie oben die 
Anzahl verschiedener Werte endlich ist. Es gibt also unendlich viele 
Zahlen x, «,... und Y, Y,..., welche die Gleichung 2 — a =R 
befriedigen, wo R irgend ein Wert Z”) oder 2” ist. An dieser Stelle 
untersuchte nun Euler die Werte ZW, 2”); Lagrange schlägt aber 
einen anderen Weg ein und benutzt das schon den Indern bekannte 
Lemma: Das Produkt von #2 — ay? und #? — ay? ist («a + ayy')® 
— a(zy + yx)’. Man hat also 

| (A), R?= (aa +ayy)) — alay + ya), 


(B), Ry?— y?) = (ay’ + ya’) (ay' — ya’). 


Ist nun R prim, so muß nach (D) entweder xy’ + yx’ oder xy’ — ya’ 
durch R teilbar sein; es sei 2 +y@’=qR, dann gibt (A), 


auch 


R= (ax +ayy’ —agR, 


und &2° + ayy' ist durch R teilbar. Wenn z@’+ayy =pR, so er- 
folgt sogleich 1=p?— ag’. Für den Spezialfall, A prim, ist also 
die Lösbarkeit erwiesen. Dieses ist aber nur ein kleiner Teil der 
Untersuchung für den Fall, daß R und «a teilerfremd sind. Gemein- 
teilige Werte von R und «a sind einer besonderen Diskussion unter- 
worfen. Die zwei Fälle bieten bedeutende Schwierigkeiten dar; der 
. Beweis, daß = —ay=1 (wo a keine Quadratzahl ist) lösbar ist, 
wird aber allgemein erzwungen. Zu gleicher Zeit ist das Verfahren, 
eine Lösung zu finden, angedeutet. 

Der zweite Schritt besteht darin, aus der kleinsten Lösung von 
x?” — ay: = 1 alle anderen abzuleiten. Ist p,g ein Wertpaar, so wird 


1 (p? — ag)" = (p + Vag)" (p — Vagq)" = (x + Yay) (a — Yay), 


und 





„ e+aVa)”"+P-aVa)" 
2 
_(p+aVya)"— (p—qVa)” 
2 Ya 

Setzt man nun m —=1,2,3,..., so hat man eine unendliche Anzahl 
Lösungen. Es folgt der Beweis, daß, wenn p und g die kleinsten 
Lösungen sind, m=2 die nächst größeren liefert usw., so daß in. 
obigen Ausdrücken für x und y alle Lösungen eingeschlossen sind. 

... Der dritte Sehritt ist der Beweis, daß alle Werte von x und %, 
welche der Gleichung 2° — ay’—=1 genügen, unter den Zahlen 





Y 


‚ Zahlentheorie. 163 


M;M’, ...: und: N; N, ... zu finden sind, daß also: 2 immer einer 
der Näherungsbrüche ist. Es wird nämlich gezeigt, daß die Annahme 
MN <p< Met), NO9<g< Ne+t) auf einen Widerspruch führt. 
Daraus stammt eine zweite Lösungsmethode, der zufolge man die 
Näherungsbrüche für Ya berechnet und nacheinander die Zähler für 
x und die Nenner für y setzt. Eine unendliche Anzahl dieser Zähler 
und Nenner werden der Gleichung «? — ay? —=1 genügen. 
Lagrange ließ seiner am 20. September 1768 vollendeten 
Lösung der Gleichung &?— ay? = 1 bald eine noch wichtigere Schrift 
folgen. Schon am 24. November gleichen Jahres legte er der Ber- 
liner Akademie die neue Abhandlung Sur la solution des pro- 
blemes indetermines du second degr&!) vor. Es wird hier die 
unbestimmte Gleichung 4 — u? — Bt?, die obige als Spezialfall ein- 
schließt, gelöst. Aus der Einleitung geht hervor, daß nun Lagrange 
die zwei Abhandlungen Eulers über diese’Sache in den Petersburger 
Kommentarien der Jahre 1738 und 1764 gelesen hatte, aber Eulers 
De usu novi algorithmi des Jahres 1765 noch immer nicht kannte. 
Lagrange betont die Wichtigkeit der Gleichung A = u? — BE&, in- 
dem er zeigt, daß jede Gleichung zweiten Grades mit zwei Unbe- 
kannten auf diese Form reduziert werden kann. Er liefert zuerst die 
Auflösung dieser Gleichung, wenn « und t ganze oder gebrochene 
Zahlen sein können, dann die wichtigere Auflösung, wenn w und £ 
ganze Zahlen sein sollen. In der letzteren Auflösung wird zuerst 
bemerkt, daß, wenn A einen quadratischen Faktor 0° hat, man 
=op, t=og, A=o’a setzen kann, wodurch die vorgelegte 
Gleichung in die Form a = p? — Bg? übergeht, wo p und q teiler- 
fremd sind. Wenn man alle möglichen teilerfremden Werte von 
.p und g in a=p?— Bgq findet, so kann man daraus mittels 
“=op,t=og alle überhaupt vorhandenen Lösungen von A= u? 
— Bf herleiten. Es sei also die Gleichung A = p? — BqQ vorgelegt, 
in der p und g ganze teilerfremde Zahlen sein sollen. Man hat zwei 
Fälle, B positiv und B negativ. Für den Fall B positiv und zugleich 
A>YB, multipliziere man A = p® — Bq? mit A, = pP? — Bq,, wo 
P, —-P,9=+1 und a=pp, — Bgq, angenommen wird. Man er- 


hält AA, = «®— B. Nun sei — der in der Kettenbruchentwicklung 


von - dem = unmittelbar vorausgehende Näherungsbruch, dann wird 


‘) Mem. de l’academie roy. des sciences, annde 1767, Berlin 1769, p. 165 
bis 310 —Lagrange, Oeuvres, Tome II, Paris 1868, p. 377—-535. Vgl. Nettos 
Ausgabe, Ostwalds Klassiker Nr. 146, Leipzig 1904. 

3.7 


164 Abschnitt XX. 


pr, =uptm ,=uq+Nn, wo u irgend welche ganze Zahl sein kann. 
Es folgt «= u(p® — BqQ?) + (pm — Bqan) =uA-+a, wenn a=mp 


— Bgqn ist. Man kann Pe machen, und es wird A, Br Es 


muß dann @® — B durch A teilbar sein und einen Quotienten von der 
Form 2° — Bag liefern, sonst ist die vorgelegte Gleichung unlösbar. 
Gibt es dagegen eine solche Zahl, so hat man eine neue Gleichung 
A, = pP” — Bq, aufzulösen, wo A, <A ist. Ist letztere Gleichung 
lösbar, so kann man aus den bekannten Werten von p, und q, die 
Werte von » und g durch die Gleichungen &=pp, — Bgq, und 
Ph —-P9=+]X bestimmen. Sind p und q ganze Zahlen, dann 
ist die vorgelegte Gleichung lösbar; sonst nicht. Um alle Lösungen 


zu erhalten, muß man alle Zahlen & aufsuchen, die < & 


«@® — B durch A teilbar machen. Auch muß jede der entstehenden 
Gleichungen A, = p,? — Bq,° einzeln untersucht werden. Es wird 
dann erklärt, wie man aus einem den Bedingungen genügenden Werte 
von « alle anderen bestimmen kann. Es stellt sich heraus, wenn 
die Anzahl teilerfremder Faktoren von A, die Primzahlen oder Prim- 
zahlpotenzen sind, gleich » ist, daß die Anzahl der Werte von « 
gleich OÖ oder gleich 2”-! ist. Unter Faktoren mit gemeinsamen 
Teilern braucht man nur solche zu nehmen, deren größter gemein- 
schaftlicher Teiler 2 ist. Es wird ferner die Gleichung A, = p,? — Bg 
genau so behandelt, wie es bei A=p? — Bgq? der Fall war. Ihre 
Lösung wird auf A, = p,? — Bg,” zurückgeführt, letztere auf A, = p,? 
— Bag,’ et. Kann man nun irgend eine dieser Gleichungen lösen, 
etwa A,—»,’— Bq,’, so kann man zu Werten » und q aufsteigen, 
welche die vorgelegte Gleichung lösen. Es wird dann die Gleichung 
A,=»,° — Dq,? einer eingehenden Untersuchung unterworfen, worin 
die Kettenbrüche wieder eine hervorragende Rolle spielen, und alles 
darauf zuspitzt, ein Glied einer Reihe E, E,,... zu finden, das gleich 
eins wird. Es ergibt sich endlich, dad A =»? — Bg? bei positivem 
B, wenn sie überhaupt lösbar ist, eine unendliche Anzahl von Lösungen 
hat. Der Fall, wo B negativ ist, wird leichter gefunden. Die ganze 
Abhandlung ist die erste vollständige und strenge Auflösung von un- 
bestimmten Gleichuugen zweiten Grades mit zwei Unbekannten durch 
ganze Zahlen. Wie schon bemerkt, tritt die von Lagrange in seiner 
ersten zahlentheoretischen Abhandlung gelöste Gleichung +1=r? 
— bs’, hier als ein Spezialfall auf. Lagrange sagt nun darüber: 
„Die eben gegebene Methode ist direkter und einfacher; zudem hat 
sie noch den Vorzug, zu zeigen, daß die gegebene Gleichung für jedes 
B lösbar ıst. Dies konnte ich damals nur auf einem ziemlich großen 
Umwege dartun.“ Am Schlusse der Abhandlung wird auch die 


sind, und 


Zahlentheorie, 165 


Fermatsche Unmöglichkeit »" +5”—gq", n>2 berührt, ohne jedoch 
zu den Eulerschen Ergebnissen etwas beizutragen. 

Lagrange verfaßte 1770 eine dritte Schrift über die Auflösung 
von unbestimmten Gleichungen, betitelt Nouvelle m&thode pour 
resoudre les problemes indetermines en nombres entiers!) 
worin er Methoden entwickelt, welche auf Gleichungen höherer Grade 
anwendbar sind und die Behandlung der Gleichung zweiten Grades, 
die er in zwei früheren Abhandlungen auseinandersetzte, bedeutend 
vereinfachen. Die Theorie der Kettenbrüche, wie er sie in dem 
Memoire sur la resolution des equations num6riques und in 
den Additions dazu entwickelt hatte, findet hier Anwendung. Die 
Transformation von A= Bir + Cr -!u + Der +... 4 Ku”, wo 
alle Koeffizienten ganze Zahlen und A und « teilerfremd sind, in die 
Gleichung 1 = Pu” + Qu”-!y-+ --- 7y” wird durch die Annahme 
t= ud — Ay (0 und y ganzzahlig) erzielt. Die Berechnung von 6, 
erfolgt durch die von ihm schon früher angewandte Differenzmethode?). 
Sind « und y in der transformierten Gleichung ganze Zahlen, so 
müssen P, Q,... V, sowie u und y selbst, teilerfremd sein. Man setze 
= = und es wird Pa” + Qx”"!+...+V=y”"=z Wennz= 0, 
so drücke man eine positive Wurzel « mit Hilfe zweier Reihen von 
Konvergenzwerten aus, welche die Kettenbruchentwicklung liefert. 
In der ersten Reihe sind alle Bruchwerte größer, in der zweiten Reihe 
alle kleiner als die entsprechende Wurzel a. Es folgt dann der 
Nachweis, daß unter den Brüchen der einen oder der anderen Reihe 


sich der Bruch S vorfindet, und daß man auf diese Weise alle ganz- 


zahligen Werte von « und y aufsuchen kann. Die Operation, welche 
den Kettenbruch für die Berechnung von a hervorbringt, liefert also 
zu gleicher Zeit die Zahlen « und y. Die Auflösungen bestimmter 
und unbestimmter Gleichungen können demnach durch das gleiche 
Werkzeug, die Kettenbrüche, erledigt werden. Nachdem die Einzel- 
heiten ausgearbeitet sind, schreitet Lagrange zur Anwendung seiner 
Ergebnisse auf unbestimmte Gleichungen des ersten und zweiten 
Grades. Seine jetzige Methode der Auflösung von A=t? — Au? 
nennt er „tres-simple‘ et tres-elegante“, seine frühere „ä la verite un 
peu longue et compliquee“. 

Lagrange gesteht, daß seine arithmetischen Abhandlungen ihm 
viel Mühe gekostet hätten. Am 15. August 1768 schreibt er an 


') M&m. de l’acad. roy. des sciences, tome XXIV, annde 1768, Berlin 1770, 
p: 181—250 = Lagrange, Oeuvres, tome II, p. 655—726. *) M&moire sur la 
resolution des &quat. num., scolie du no. 13. 


166 y Abschnitt XX. 


D’Alembert!): „Ich versichere Ihnen, daß ich viel mehr Schwierig- 
keiten gefunden habe, als ich vermutet hätte. Hier ist z. B. eine, 
welche ich nicht ohne große Anstrengung habe überwinden können: 
Es sei irgend eine ganze, positive, nicht-quadratische Zahl n gegeben, 
eine ganze Quadratzahl x? zu finden, so daß nz? +1 ein Quadrat 
wird. Dieses Problem ist von großer Wichtigkeit in der Theorie von 
(uadratzahlen, die der Hauptgegenstand der diophantischen Analysi 

ist.“ In späteren Briefen drückt er sich ähnlich aus?). Ä 

Es ist ein merkwürdiger Umstand, daß L. Euler und La- 
grange in der Theorie der unbestimmten Gleichungen einander wenig 
beeinflußten. Wie schon bemerkt, kannte Lagrange die wichtigste 
Arbeit Eulers nicht. Als Lagrange seine Schriften veröffentlichte, 
war Euler blind. Am 9./20. März 1770 schrieb er an Lagrange°): 
„lch ließ mir alle Operationen vorlesen, die Sie über die Formel 
1 = p® — 153g? vorgenommen, und ich bin von ihrer Richtigkeit völlig 
überzeugt; da ich aber nicht selber lesen und schreiben kann, muß 
ich Ihnen gestehen, daß meine Einbildungskraft nicht die Grundlage 
aller Ihrer Ableitungen hat fassen und die Bedeutung aller Buchstaben, 
die Sie eingeführt haben, nicht im Gedächtnis hat halten können.“ 
So fuhr Euler mit seinen eigenen Untersuchungen fort, ohne die 
Arbeiten Lagranges genau zu kennen. Am 30. September 1771 . 
schrieb Lagrange an Öondorcet‘): „Sie sind, glaube ich, der Einzige, 
der mir diese Ehre erwiesen hat“ (seine Arbeiten zu lesen). 

Die unbestimmte Analytik wird im zweiten Teile von L. Eulers 
Anleitung zur Algebra, 1770, behandelt. Die Popularität dieses 
Werkes unter Wackärtärinern ist hauptsächlich diesem zweiten Teile 
zuzuschreiben’). Eulers Interesse scheint sich in der Zahlentheorie 
konzentriert zu. haben, denn er widmet derselben 322 Seiten, während 
alle anderen Zweige der Algebra nur 560 Seiten erhalten. Euler 
fängt mit sehr einfachen, beinahe kindlichen Beispielen von unbe- 
stimmten Aufgaben an. Im 2. Kapitel werden Fragen angeführt, die 
in gemeinen Rechenbüchern damaliger Zeit nach der „Regel-Ooeci* 
aufgelöst wurden. Z.B., „30 Personen, Männer, Weiber und Kinder, 
verzehren in einem Wirths-Hauss 50 Rthl. Daran zahlt ein Mann 
3 Rthl, ein Weib 2 Rthl. und ein Kind 1 Rthl., wie viel Personen 
sind von jeder Gattung gewesen?“ im 4. und 5. Kapitel löst Euler 
die Gleichung a+bx+ca2?=y*. In der Behandlung von a +b=y}, 





ı) Lagrange, Oeuvres, T. 13, p. 118. 2) Ebenda, T. 13, p. 121, 301. 
®) Ebenda, Tome 14, p. 219. *) Ebenda, T. 14, p. 4. 5) Lagrange 
schrieb am 26. August 1770 an D’Alembert: „Elle ne contient rien d’interessant 
qu’un Traite sur'les questions de Diophante, ‘qui est, ä la verite, enge eh 
grange, Oeuvres, T. 13, p. 181, 191). 


Zahlentheorie. 167 


im 6. Kapitel, ist er von Lagranges Untersuchungen nicht beein- 
‘Hußt worden und die Auflösung ist unvollständig. Es „ist unum- 
gänglich nötig“, sagt Euler, „daß man schon einen Fall in ganzen 
‚Zahlen wisse oder errathen habe“. Merkwürdig ist es, daß er im 
nächsten Kapitel für die Fermatsche Gleichung an? + 1 = m? nicht 
seine eigene, in seiner Schrift De usu novi algorithmi 1765 ent- 
‚wickelte Methode, sondern die Auflösungsmethode von Wallis dar- 
stellt. Die drei folgenden Kapitel enthalten Lösungen von 


a+be+c+d=y, a+be+c®+d+et—y, 
a+bz + ca + da = y°. 


Im 13. Kapitel wird bewiesen, daß weder die Summe, noch die Diffe- 
renz zweier Biquadraten jemals eine Quadratzahl werden könne. Die 
Unmöglichkeit dieser Fermatschen Sätze und mehrerer ähnlicher 
diophantischer Ausdrücke wird dadurch nachgewiesen, „daß wann 
auch in den größten Zahlen solche Werthe für x und y vorhanden 
wären, aus denselben auch in kleinern Zahlen eben dergleichen 
Werthe geschlossen werden könnten, und aus diesen ferner in noch 
kleinern usf, da nun aber in kleinen Zahlen keine solche Werthe 
vorhanden sind...so kann mann sicher schließen, daß auch in größern 
».. keine solche Werthe von x und y vorhanden seyn können“. Im 
15. Kapitel wird die Fermatsche Unmöglichkeit «&° + y?= 2? nach- 
gewiesen. 

Der gegenwärtige Zeitpunkt (um 1770) ist in der unbestimmten 
sowohl als in der bestimmten Gleichungstheorie durch große schöp- 
ferische Tätigkeit gekennzeichnet. Während Euler und Lagrange 
die schon besprochenen Arbeiten hervorbrachten, war auch Waring 
in England tätig. In seinen Meditationes algebraicae, 1770, 
werden einige neue zahlentheoretische Sätze angegeben. Ohne Beweis 
gibt er folgende Theoreme an!): „Jede ganze Zahl ist entweder eine 
Kubikzahl oder die Summe von 2, 3, 4, 5, 6, 7, S oder 9 Kubikzahlen’?); 
entweder eine Biquadrate, oder die Summe von 2, 3 ete. oder 19 Bi- 
quadraten.“ Der Beweis hiervon läßt noch immer auf sich warten. An 
anderer Stelle schreibt Waring ohne Nachweis hin®): „Jede gerade 
Zahl ist die Summe zweier Primzahlen, und jede ungerade Zahl ist 
eine Primzahl oder die Summe von drei Primzahlen.“ Der Satz über 
gerade Zahlen ist allgemein als der „@oldbachsche Erfahrungssatz“ 
bekannt, wurde aber zuerst von Waring gedruckt. @oldbach') teilte 





?) Medit. algebraicae, 3. Ed. 1782, p. 349. 2) Vgl. C. G. J. Jacobi, Ges. 
Werke, Bd. VI, 8. 322—354. ®) Medit. algebraicae, 3. Ed. 1782, p. 379. 
*) Corresp. math. (Fuß) I, p. 127, 135. Vgl. Nouvelles. Annales, T. 18, 1859; 
Bull. de Bibl., D’Hist. p. 2. 


168 Abschnitt XX. 


ihn 1742 Euler brieflich mit (Bd. III, 2. Aufl., 8. 610), die 
Korrespondenz wurde aber erst 1843 veröffentlicht. An gleicher 
Stelle!) führt Waring ohne Beweis noch andere Lehrsätze über Prim- 
zahlen an: Bilden drei Primzahlen eine arithmetische Progression, 
dann ist ihre Differenz durch 6 teilbar, wenn nicht 3 eine der drei 
Primzahlen ist. Ein ähnlicher Satz lautet: Sind fünf Primzahlen in 
arithmetischer Progression, dann ist die Differenz durch 30 teilbar, 
wenn nicht 5 ein Glied der Progression ist. Und im allgemeinen: 
Es haben 3, 5, 7, 11, 13 oder 17 ete. Primzahlen in arithmetischer 
Progression Differenzen, die bezüglich durch 1-2- 8, 1-2-.3-5, 
1:2:9-D.1, 1-2-8:DsL AR, 1-2-3-5-7-11-13, oder 
1.2.3-.5-7-.11-13.17, ete. teilbar sind, wenn nicht bezüglich 
3,5, 7,11,13 oder 17 ete. ein Glied der Progression ist. 

Der berühmteste der neuen Sätze, die Waring anführt, ist fol- 
gender?): „Ist n eine Primzahl, dann wird 


1x2 x3x4... Rn xn—)+1 
N 





eine ganze Zahl“ Er fügt dann hinzu: „Diese sehr elegante Eigen- 
schaft von Primzahlen hat der ausgezeichnete, in mathematischen 
Sachen weit bewanderte Joannes Wilson Armiger entdeckt .... 
Der Nachweis von Sätzen dieser Art wird deshalb sehr schwer sein, 
weil keine Notation erfunden ist, welche Primzahlen ausdrückt.“ Im Werke 
von Waring erscheint also der berühmte Wilsonsche Satz ohne Demon- 
stration®). Sir John Wilson‘) (1741—1793) wurde in Westmoreland 
geboren, besuchte Peterhouse College in Cambridge und hatte schon 
als Student den Ruf, auf der Universität nächst Waring der beste 
Algebraist zu sein. Im Jahre 1761 war er „senior wrangler“. Eine 
Jeitlang war er Tutor der Mathematik, dann widmete er sich der 
Rechtswissenschaft. Er wurde 1786 zum Ritter ernannt. Waring 
führt ihn in seinen Werken öfters an. In seinen Meditationes 
analyticae nennt er ihn seinen einstmaligen Beschützer, und als 
den Mann, von dem er in seinen mathematischen Untersuchungen den 
größten Beistand erhalten habe. 

Der Artikel Demonstration d’un theor&me d’arithmetique?’) 


‘) Medit. algebr., 3. Ed., p. 379. ?) Ebenda, 1770, p. 218, 3. Ed., p. 380. 
*) Eine Angabe von W. W.R. Ball (Mathematics at Cambridge, 1889, p- 102), 
derzufolge Waring den Satz vor 1770 in einer Antwort auf eine Kritik der 
Miscellanea analytica gedruckt haben soll, beruht auf einem Irrtum, wie mir 
Herr Ball brieflich mitteilt. *#) Dietionary of National Biography; De 
Morgan, A Budget of Paradoxes, London 1872, p. 132; Nouvelle correspondance 
mathematique 2, 1876, p. 110—114, 32—34; Bibliotheca mathematica, 3. Folge, 
Bd. 3, p. 412, und Bd. 4, 1903, p. 91. °) N. Memoires de l’acad. roy. des 


Zahlentheorie. 169 


enthält den Lagrangeschen Beweis des von Diophant an einigen 
Stellen stillschweigend vorausgesetzten und von Bachet zuerst aus- 
gesprochenen Satzes, daß jede Zahl als Summe von vier oder weniger 
Quadraten dargestellt werden kann. Sich auf einige Resultate Eulers 
stützend, zeigt Lagrange, daß, wenn die Summe von vier Quadraten 
durch eine Primzahl größer als die Quadratwurzel dieser Summe teil- 
bar ist, diese Primzahl selbst die Summe von vier Quadraten ist. 
Eine oder zwei der Quadrate im Dividend dürfen auch Null sein. 
Dann wird bewiesen, daß p und q so gewählt werden können, daß 
p®+g°+ 1 durch irgend eine vorgelegte Primzahl teilbar wird. Da- 
durch ist der Bachetsche Satz für Primzahlen sicher gestellt.. Aus 
dem Eulerschen Theorem, daß das Produkt von zwei oder mehreren 
Zahlen, deren jede die Summe von vier Quadraten ist, selbst die 
Summe von vier Quadraten ist, kann dieses Ergebnis leicht auf jede 
zusammengesetzte Zahl ausgedehnt werden. 

Eine interessante Leistung ist die Demonstration d’un 
theoreme nouveau concernant les nombres premierst), 
worin Lagrange zwei Beweise des von Waring veröffentlichten 
und von seinem Freunde John Wilson entdeckten Lehrsatzes über 
Primzahlen gibt. Der erste Nachweis beruht auf Eigenschaften der 
Koeffizienten der gleichen Potenzen von & in 
@+l)&+2) -(e+n)= (x +1" +4 (+ Dt +... 4e-d(g+1) 

‚= +n+ Na"! + nA +A)a" tt. +nAe-D, 
Daraus zieht Lagrange auch einen Beweis des Fermatschen Satzes. 
In dem zweiten Beweise wird umgekehrt der Fermatsche Satz vor- 
ausgesetzt und davon der Wilsonsche abgeleitet. Es folgen dann 
die Beweise der zwei ersten von uns angeführten Sätze von Waring 
über Primzahlen in arithmetischer Progression. 

Ohne von den Untersuchungen Lamberts Kenntnis zu haben, 
veröffentlichte Johann Bernoulli III. (1744—1807) einen Aufsatz 
Sur les fraetions decimales periodiques?), worin er nach einer 
summarischen Übersicht der Arbeiten von Wallis, Euler und John 


Robertson Bemerkungen über die am Ende seines Aufsatzes ge- 
druckte Tafel macht. Diese Tafel enthält die Perioden aller aus 7, 
entspringenden Dezimalbrüche, wo D nacheinander alle Primzahlen 
außer 2 und 5 bis 199 vorstellt. Die Ziffern in einer Periode 


sciences de Berlin, annee 1770, Berlin 1772, p. 123—133 = Lagrange, Oeuvres, 
Tome III, 1869, p. 189-201. 

") N. M@moires de l’acad. roy. des sciences Berlin, annde 1771, Berlin 1773, 
p- 125—137 = Lagrange, Oeuvres, Tome III, p. 425—438. *, Ebenda, annee 
1771, Berlin 1773, p. 273—304. 


170 Absehnitt XX. 


liefert In, wo s die kleinste ganze Zahl ist, welche 10° — 1 durch 


D teilbar macht. Es sei ihm nicht gelungen, das Gesetz für die Be- 
stimmung des. s aufzufinden, weshalb seine Tabelle wertvoll sein 
dürfte. In der Fortsetzung derselben könnte man sich vielleicht 
durch Anwendung der von Rallier des Ourmes') vorgeschlagenen 
‚Divisionsmethode Zeit ersparen, welche, wenn man zum voraus weiß, 
daß die Division ohne Rest herauskommt, den Quotienten durch eine 
von rechts nach links fortschreitende Operation liefert. Bernoulli 
beobachtete, daß, wenn bei der Division von 1 mit D einer der Reste 


te 
D-—-1 ist, dieser der Rest ist. Dann folgen einige Beobach- 


2 

tungen über Brüche, worin D das Produkt zweier Primzahlen ist. 
Lambert machte den Bernoulli auf seine eigenen Arbeiten der 
Jahre 1758 und 1769 über diese Sache aufmerksam, worauf Ber- 
noulli in Additions au me&moire preeedent?) eine Übersicht 
derselben gab und sie mit einigen Bemerkungen über die Fort- 
setzung seiner Tafeln begleitete. 

Mit den eben besprochenen Abhandlungen eng verbunden ist die 
folgende von Johann Bernoulli IL: Recherches sur les divi- 
seurs de quelques nombres tres grands compris dans la 
somme de la progression geometrique 1+10 +10? + 10° 
+...107— 8) Er zeigt, daß diese Frage sich auf die Bestimmung 
der primen Teiler von 10°+ 1 reduziert. Er stützt sich auf Theoreme 
Eulers*) und berechnet eine Tabelle, welche die primen Teiler von 
S, für die Werte 1,2,...30 von ?t angibt. Auch tabelliert er 
Primzahlen von der Form 16%» + 1, bis auf die Primzahl 21601, so- 
wie Primfaktoren von Zahlen der Form a? -+ 10b5?. Diese Abhand- 
lung wurde von Euler gelesen und er teilte Bernoulli brieflich 
Kriteria mit’), die zur Entscheidung dienen, welche der Zahlen, 
10? — 1 oder 10? + 1, durch eine Primzahl 2p +1 teilbar sei. Ist 
2p+1=4n-+1, so braucht man nur die Teiler der drei Zahlen », 
n+2,nZz6 zu betrachten. Wenn man bei diesen die zwei Fak- 
toren 2 oder 5 oder keine derselben findet, ist 10? — 1 teilbar; findet 
man aber nur den Faktor 2 oder den Faktor 5, ist 10? + 1 teilbar. Ist 
z.B.n=13,2p +1=55, dann sind keine der Faktoren bei 13, 11,7 


!) Memoires de math. et phys., presentes a l’acad. roy. des sciences, par 
divers savans, T. V, 1768, p. 550—574. ®) N. Memoires de l’acad. roy. des 
scien. et b. l., annde 1771, Berlin 1773, p. 305—317. ®) Ebenda, annee 1771, 
Berlin 1773, p. 318—337. *, Comm. Petr. T. XIV, Theo. 31; N. Comm. Petr. 
T.I, 838, T. VO, Theo. 13, $ 57, T. VII, T.IX, 85 u. 6; Lagrange in einer 
damals noch ungedruckten Arbeit. °) N. me&moires de l’acad roy. des sciences, 
annee 1772, Berlin 1774, p. 35, 36 = Comm. Arith. I, p. 584. 


Zahlentheorie. 171 


vorhanden, und 10° — 1 ist durch 53 teilbar. Euler bemerkt, daß 
diese Regeln auf Prinzipien beruhen, deren Nachweis noch mangelt. 
Die größte Zahl, von der man sicher weiß, daß sie Primzahl ist, sei 
die Fermatsche Zahl 2° — 1 = 2147483647. Bemerkenswert sei 
der Ausdruck 41 — x + x°, weil seine ersten 40 Zahlen alle prim seien. 

L. Eulers Anleitung zur Algebra sollte in den späteren 
Auflagen drei große Namen mit sich tragen — Euler, Bernoulli, 
Lagrange. Im Jahre 1774 erschien nämlich zu Lyon eine von 
Johann Bernoulli III. besorgte französische Übersetzung mit Zu- 
sätzen von Lagrange. Diese Zusätze!) beziehen sich auf die un- 
bestimmte oder diophantische Analysis. Die methodische Behand- 
lung dieser Sache in Eulers Algebra suchte er durch neue Zusätze 
zu vervollständigen. Lagrange fängt mit Kettenbrüchen an und 
sucht seine 1767 und 1768 in den Berliner Abhandlungen entwickelte 
Theorie der periodischen Kettenbrüche den Mathematikern bekannt 
zu machen. Dann geht er zu neuen und wichtigen Methoden zur Bestim- 
mung der ganzen Zahlen über, die Minima der unbestimmten Formen 
mit zwei Unbekannten ergeben. Die Auflösung unbestimmter Glei- 
chungen zweiten Grades wird vereinfacht, aber in nicht ganz so voll- 
ständiger Form wie in seinen früheren Abhandlungen dargestellt. 
Betreffs der Fermatschen Gleichung p® = Ag? + 1 sagt er in $ VII: 
„Ich glaube mithin der erste zu sein, der eine vollständig strenge 
Lösung gegeben hat; man findet sie in Band IV der Miscellanea 
societatis taurinensis; aber sie ist sehr umständlich und sehr indirekt; 
die vorstehend in Nr. 37 gegebene ist den wahren Grundsätzen der 
Frage gemäß und läßt, wie mir scheint, nichts zu wünschen übrig.“ 
Am Ende beschreibt Lagrange die Art, algebraische Funktionen 
aller Grade zu finden, die, miteinander multipliziert, stets ähnliche 
Funktionen erzeugen. Diese Zusätze trugen viel dazu bei, La- 
granges Untersuchungen über unbestimmte Analysis dem mathe- 
matischen Publikum genauer bekannt zu machen. 

Lagranges Zusätze übten auf Euler geringen Einfluß. In 
einem Briefe vom 24. September (5. Oktober) 1773 an Lagrange?) 
drückt er sich über dieselben anerkennend aus, schreitet aber sogleich 
zur eingehenden Besprechung seiner eigenen diophantischen Probleme. 
Daß der blinde und greise Mathematiker sich eine Lagrangesche 
Strenge der Beweise aneignen würde, dürfte wohl niemand erwarten. 
Euler arbeitete noch immer in seiner alten naiven Weise. Sein 
Arbeitsverfahren in der Zahlentheorie hat öfters mit der induktiven 





1) Lagrange, Oeuvres, T. VII, Paris 1877, p. 158. Deutsche Übersetz. von 
H. Weber in Ostwalds Klassiker, Nr. 103, Leipzig 1898. *) Lagrange, 
Oeuvres, T. 14, p. 235. 


172 Abschnitt XX. 


Methode eines Charles Darwin größere Ähnlichkeit als mit der 
strengen Deduktion eines Lagrange. Und noch in seinen letzten 
Jahren sollte er durch einfache Induktion zur Entdeckung eines der 
größten Gesetze, nämlich des Reziprozitätsgesetzes, geführt werden. 
Wir erwähnen nun sechs Abhandlungen L. Eulers über dio- 
phantische Probleme, die mit großer Geschicklichkeit und Unermüd- 
lichkeit behandelt werden, aber wegen der Abwesenheit allgemeiner 
Methoden dennoch geringen Einfluß auf den Fortschritt der Zahlen- 
theorie gehabt haben. Die erste derselben!) gibt die Auflösung, in 
rationalen Werten von A und D, der simultanen Gleichungen 


AB+A+B=0D, AB+A-b=0O, Ab-A+DB=L, 
AB-A-DBb=L. 
Die zweite?) löst drei Aufgaben, deren eine die Auffindung von neun 
rationalen Zahlen verlangt, welche zwölf Gleichungen genügen. Die 
zwei anderen Aufgaben sind gleicher Natur. Die Auflösungen der- 
selben beruhen auf eleganten Kunstgriffen in Koordinatentransfor- 


mationen. Die dritte Abhandlung’) gibt die Auflösung (1) der 
simultanen Gleichungen 


NER -D, HN) +) -n, 
(2) der Gleichung 
(2x: + u?) (Wr + By) = OO, 
(3) der simultanen Gleichungen | 
Petr 0, rd, 

Die vierte Abhandlung) löst unter anderem die simultanen Gleichungen 
x+y+2z+s=0D, zy+az+as+yze+ys+2zs=L, 
zyz+ays+x22s+y2s=UQ,: ays=L, 
während die fünfte?) die Gleichung At + bt—= ©* + D* in rationalen 
sowie auch in ganzzahligen Werten erzielt. Die sechste Schrift ist 
geometrisch: Dreiecke zu finden, deren Seiten und Mittellinien rational 
sind®). Sind 2a, 2b, 2c die drei Seiten und f, 9, deren Mittel- 

linien, dann fordert dieses Problem die Lösung der Gleichungen 
2% +22 —- ®=f, 22 +2 =, 2° +29? — ?—=#. 


ı) N. Comm. Petr. XV, 1770, p. 29—50 = Comm. Arith. I, p. 414. PN, 
Comm. Petr. XV, 1770, p. 75—106 = Comm. Arith. I, p. 427. ») N. Comm. 
Petr. XX, 1775, p. 48 — Comm. Arith. J, p. 444. #) N. Comm. Petr. XVII, 
1772, p. 24—63 = Comm. Arith. I, p. 450. N. Comm. Petr. XVII, 1772, 
p- 64—69 —= Comm. Arith.:I, p. 473. °% N. Comm. Petr. XVII, 1773, p. 171 
— Comm. Arith. I, p. 507. | 


Zahlentheorie. 173 


In dem Aufsatze Demonstrationes circa residua ex divi- 
sione potestatum per numeros primos resultantia!) entwickelt 
L. Euler Lehrsätze über die bei Division einer Progression 1, a, a®, 
a?, ... durch eine Primzahl P erhaltenen Reste, und wird zur wich- 
tigen Frage geführt, ob es geometrische Progressionen gibt, welche 
eine vollständige Reihe von Resten 1,2,3,..., P—-1 liefern. Die 
Zahlen a, welche dieses tun, werden primitive Wurzeln (radices primi- 
tivas) von P genannt. Euler hat keinen strengen Beweis von der 
Existenz solcher Zahlen gegeben. Ihr Vorhandensein voraussetzend, 
gelingt es ihm aber, ihre Anzahl genau zu bestimmen. In Gauß' 
Disquisitiones arithmeticae, Art. 56, wird Eulers Existenz- 
beweis angegriffen. 

Der Eulersche Aufsatz Novae demonstrationes circa reso- 
lutionemnumeroruminquadrata°) wurde durch denLagrangeschen 
Beweis (1770) des Bachetschen Satzes hervorgerufen. Euler war 
weder mit seinem eigenen früheren Beweise, noch mit dem La- 
granges zufrieden. Letzterer war zu „abstrusus et prolixus“. Des- 
halb wird dieser Gegenstand aufs neue bearbeitet. Die Darstellung 
von Zahlen durch die Formen +9, 2°?+ 29%, 2? +32, 2? + y? 
+2? -+ u? wird auf die Eigenschaften von Divisoren dieser Ausdrücke 
gegründet, und Euler zeigt, daß das Produkt zweier solcher ähn- 
lichen Funktionen eine ihnen ähnliche Funktion ist. 

Eine durch die Irrationalentheorie erzielte Lösung der Gleichung?) 
As®+2Bxy+CyP +2Dz+2Ey+F=0 darf ohne weitere Er- 
klärungen übergangen werden, da Euler noch immer die Existenz 
einer Lösung voraussetzt. Die gleiche Voraussetzung wird von ihm 
auch noch in einer durch Kettenbrüche erlangten Auflösung dieser 
Gleichung gemacht‘). 

In der Schrift Problema diophanteum singulare?°) löst 
L. Euler die simultanen Gleichungen 2y+22=0D, ay+yz =D. 
Bald nachher beschäftigte sich Euler wieder mit Primzahlen und be- 
rechnete sich eine Tafel von Primzahlen bis zur Primzahl 
1001989, sowie von zusammengesetzten Zahlen mit ihren kleinsten 
Divisoren®). 

Über die Zerlegung von Zahlen in Summanden haben auch 


) N. Comm. Petr. XVII, 1773, p. 85—135 = Comm. Arith. I, p. 516—537. 
*) Acta Erud. Lips. 1773, p. 193 —= Acta Petrop. I, II, 1775, p. 48 = Comm.’ Arith. 
I, p. 538—548. °) N. Comm. Petr. XVII, 1773, p. 185—197 = Comm. Arith. I, 


p. 549—555. *, N. Comm. Petr. XVDI, 1773, p. 218—244 — Comm. Arith. I, 
p- 570—583. °), N. Comm. Petr. XIX, 1774, p. 112—131 = Comm. Arith. IH, 
‘pP. 53—63. 6%) N. Comm. Petr. XIX, 1774, p. 132—183 = Comm. Arith. I, 


p. 64-91, 


174 Abschnitt XX. 


italienische Mathematiker geschrieben. Deren Schriften sind uns aber 
nicht zugänglich. Major P. A. MacMahon!) berichtet, daß Paoli 
(vor 1800?) und andere daran arbeiteten ohne große Fortschritte zu 
machen. Gianfrancesco Malfatti verfaßte einen Aufsatz?) Lotto, 
worin. die „Soluzion d’un problema sulla partizione de’ numeri“ ge- 
geben ist, weldher von Italienern hoch gepriesen wird?). 

Nicolas de Beguelin (1714—1789), Mitglied der Berliner 
Akademie der Wissenschaften, veröffentlichte Recherches sur les 
nombres triangulaires relativement au theoreme general de 
Mr. Fermat RR les nombres polygonaux*), worin er 


nachweist, daß —_- (+ y) auf wenigstens zwei Weisen alle ganzen 


Zahlen N Sa kann, während =“ (?+y)+ = (y? +2) dieses 


j £ } 1 1 1 
auf wenigstens vier Weisen und „@’+yJ)+; WW +2)+z@+u) 


wenigstens auf sechs Weisen erzielen kann. Der nächste Teil des 
Beweises, daß auch die drei Dreieckszahlen 


@+0)+ +W+z(@+2) 


alle Zahlen vorstellen mögen, ist aber nicht klar genug auseinander- 
gesetzt. Der Autor muß dieses selber gefühlt haben, denn er be- 
merkt, daß die Demonstration alle Gewißheit besitze, die eine „meta- 
physische“ Schlußfolgerung zulasse°). 

Gleiche Urteile müssen wir über Beguelins Ableitung des 
Bachetschen Satzes von obigem Fermatschen Satze, und umgekehrt 
des obigen Fermatschen Satzes vom Bachetschen, fällen ®). 

Beguelin schlägt für die binäre Arithmetik von Leibniz einen 
abgekürzten Algorithmus’) — einen exponential algorıtmus — vor, 
dessen Idee aus ein paar Beispielen klar wird. Die Zahlen 48 und 
60, die im gewöhnlichen binären Algorithmus 110000 und 111100 
geschrieben werden, werden im exponentialen Algorithmus durch 4-5 


!) London Math. Soc., Vol. 28, 1896/97, p. 17. ®) Prodomo della nuova 
eneiclopedia italiana, Siena 1779, p. 69—95. Vgl. Bullettino Boncompagni IX, 
p. 374. °) Bullettino Boncompagni VI, 1873, p. 128. *) N. m&moires de l’acad. roy. 
des sciences, annde 1773, Berlin 1775, p. 203—216. °) Einen früheren Versuch, 
den allgemeinen Fermatschen Satz zu beweisen, daß jede Zahl die Summe von 
1, 2,...n n-Eckszahlen ist, machte Beguelin in dem Aufsatze „Application du 
prineipe de la raison suffisante & la d&monstration d’un theor&me de M. Fermat 
sur les nombres polygonaux, qui n’a point encore ete demontre“ in den N. 
Memoires de l’acad. roy. des sciences, annde 1772, Berlin 1774, p. 387—413. 
6) Ebenda annde 1774, Berlin 1776, p. 312—369. °) Ebenda, annde 1772, Berlin 
1774, p. 296—352. | 


Zahlentheorie. 175 


und 2.3.4.5 ausgedrückt.. Es sind nämlich 100000 — 25 und 
10000 — 2%, Beguelin leitet die Operationsregeln für die neue 
Schreibart ab. In zwei späteren Abhandlungen!) wendet er seinen 
Algorithmus auf die Bestimmung der Faktoren von Zahlen 9” +1 
und 4» +3 an, ohne aber dadurch bedeutende Resultate zu er- 
zielen. 

In einer Solution particuliere du probleme sur les 

nombres premiers?) entwickelt Beguelin eine Methode, Primzahlen 
von der Form 42? +1 zu finden. Das Resultat dieser Arbeit ist dem 
Eulerschen in den Petersburger Memoiren der Jahre 1762,63, Bd. IX, 
p- 99—153 ähnlich; die Methode ist aber ganz verschieden. Beguelin 
wählt als Grundlage den Eulerschen Satz, daß alle Zahlen, welche 
nur ein einziges Mal in der Formel x? + y? enthalten sind, wo x und 
y teilerfremd sind, entweder Primzahlen oder das Doppelte von Prim- 
zahlen sind. In einem an Beguelin gerichteten Briefe, datiert: Mai 
1778 macht ihn Euler?) auf die Tatsache aufmerksam, daß die all- 
gemeinere Formel nx? + y? die nämliche Eigenschaft besitze, und bei 
geeigneter Wahl des n nur Primzahlen liefere. Zur Wahl von n 
diene folgende Regel: Wenn eine Zahl in der Form n + y? enthalten 
ist, kleiner als 4» ist (wo y und n teilerfremd sind) und entweder 
eine Primzahl » oder 2» oder p? oder eine Potenz von 2 ist, dann 
ist die Zahl », welche diesen Bedingungen genügt, eine geeignete 
Zahl. Z. B. 60 ist eine solche Zahl, denn 60 + 1%: 60 #73, 604 118, 
60 +13? sind’alle Primzahlen. Euler entdeckte 65 verschiedene 
Zahlen n, konnte aber keine finden, welche 1848 überstieg. Die 
Form 1848 x? + y? ermöglichte es ihm mehrere große Primzahlen (z.B. 
18518809) zu entdecken. Eine vollkommenere Mitteilung dieser 
Arbeit wurde nach dem Wunsche Eulers von N. Fuß in einem 
Briefe vom 19./30. Juni 1778 an Beguelin gemacht®). 

In einer Abhandlung Recherches d’arithmetique?) untersucht 
Lagrange die verschiedenen Formen, welche die Teiler einer ganzen 
Zahl von der Form Bt? + Ctu + Du? annehmen können. Es stellen 
alle Buchstaben dieses Ausdrucks ganze Zahlen dar, die auch negativ 
sein dürfen; B, C, D sind zum voraus bestimmte, # und « unbe- 
stimmte, teilerfremde Zahlen. Es wird zuerst bewiesen, daß jeder 
Teiler A die Form A—= Ls? + Msx + Na? hat, wo s und x gleich- 
falls teilerfremd sind, und wo 4LN— M=4BD- ©. Um dieses 





ı) N. Me&moires de l’acad. roy. des sciences, annde 1777, Berlin 1779, p. 239 
bis 264, 265310. ®) Ebenda, annde 1775, Berlin 1777, p. 300-322. 
°) Ebenda, annde 1776, Berlin 1779, p. 337—339. *) Ebenda, p. 340—346. 
#) Ebenda, annde 1773, Berlin 1775, p. 265—312 — Lagrange, Oeuvres, T. III, 
p- 696— 795. 


176 Abschnitt XX. 


zu beweisen, lasse man Aa = Bf? + Ctu+ Du? Ferner setze man 
a=bc, u=bs, wo c und s teilerfremd sind, und es folgt aus 
Abc= Bt?+ Obts + Db?s?, daß B=Eb und Ac= Ef +Cts+ Dbs?. 
Da 0s +cx irgend eine ganze Zahl sein kann, schreibe man t=9s 
+ cz und eliminiere . Man ersieht dann, daß E60? ++ 09 + Db durch 
c teilbar, also = Le ist. Wenn 2E0+C= MM, Ec= N genommen 
wird, erhält man A= Ls’+ Msx + Na?, sowie 4LM — M?’=4BD 
— (%, und der grundlegende Satz der Abhandlung ist bewiesen. Ist 
nun M numerisch größer als L, wird durch die Annahme s=mx-+s’ 
eine neue Form A = L’s?+ M’s’x’ + N’x’” abgeleitet, wo numerisch 
M'<M und 4LU’N — M?=4ALN — M? ist. 

Durch eine endliche Anzahl von Wiederholungen dieser Operation 
erhält man A= Py? + Qyz + Rz?, worin numerisch O<P,Q<H, 
4PR—- @®=4BD—(C und y und z teilerfremd sind. Wenn 


4 BD — (0? positiv ist, dann muß also Ve Ei sein; wenn 





4BD — (? negativ ist, so muß 0 < ve nei u sein. Durch diese 


Relationen sind die möglichen Werte von @ bedeutend eingeschränkt. 
Überdies ist Q gerade oder ungerade, je nachdem ( gerade oder un- 
gerade ist. Sobald nun @ festgesetzt ist, erhält man PR durch die 
Relation 4 PR— W9=4BD— (C?, und man kann irgend zwei Fak- 
toren von PR, welche nicht kleiner als Q sind, als Werte von 
P und R wählen. Aus obigem sieht man, daß die Bestimmung von 
P, Q@, R nur von dem Werte 45bD— 0?=-+K (K positiv) abhängt. 
Bemerkt man überdies, daß (Bt? + Ctu + Du?) 4B = (2Bt + Cu)’ 
E: (4 BD — 0?) u?, so Bee es klar, daß Teiler von Bt? + Ctu + Du? 
auch Teiler der einfacheren Formel &?+ Ku? sind. Betrachtet man 
? + au? (a irgend eine ganze positive Zahl) als einen Spezialfall von 


Bt? + Ctu+ Du, worin B=1, C=0, D=a, wo also K=4a, 


Q=-+2g (q positiv), dann werden qg< Y® und PR=a+g. Ist 


nun PR=pr, wo p>2gq, r>2g, dann ergibt sich py? + 2qyz2 + re? 
als der allgemeine Ausdruck für die Teiler von ?+au?. Füra=1 
wird der Teiler y„? + 2°, für a=2 wird er y’ + 22°, füra=3 wird 
jeder ungerade Teiler „’ +32°?. Die Resultate für diese drei Werte von a 
hatte früher Euler durch eine ganz verschiedene, auf höhere Werte 
von a nicht verwendbare Methode ausgearbeitet'). Die Methode von 
Lagrange ist allgemein und wird von ihm bis auf «= 12 ange- 
wandt. Bei der Ausbeutung der Resultate für ?? — au? ist das Ver- 





N. Comm. Petr., T. IV, VI, VID. 


Zahlentheorie. 177 


fahren von Lagrange ganz ähnlich.. Er stößt aber auf die Unbe- 
quemlichkeit, daß dann und wann sich scheinbar mehr Teilungsformeln 
herausstellen, als wirklich existieren, daß also gewisse unter denselben 
einander äquivalent sind. Z.B, wenn a= 12, so findet man die 
Teiler 12z?— y? und 3y?— 42°. . Letzterer reduziert sich auf den 
ersteren durch die Substitution y=4y' +7, z=3y +7. Diese 
Erscheinung veranlaßt ihn zu einer Untersuchung, und diese 
führt zur Entdeckung einer Regel, wodurch man einander iden- 
tische Formeln leicht erkennen kann. Auch konstruiert er zwei 
Tafeln, welche die Werte von p, q, r der ungeraden Divisoren der 
Zahlen ? + au? und ? — au? für die sukzessiven Werte 1,2,3,...31 
der Konstanten a angeben. 

Diese große Untersuchung Lagranges wird in den Berliner 
Memoiren des Jahres 1775 fortgesetzt!). 

Für Zahlen von der Form ?{-+ au? wurde im eben besprochenen 
Teil der Abhandlung die allgemeine Divisorsformel 


X=py-+2qyz + re 


abgeleitet. Im zweiten Teil wird dieser Divisor in die einfachere 
Form 4na + b transformiert, wo » irgendwelche ganze Zahl ist, 
a=pr + g°, und b durch die Zahlen p, q, r bestimmt wird. Wenn 
X ein ungerader Teiler ist, muß entweder p oder x ungerade sein. 
Es sei p ungerade. Man kann schreiben 


pX=-(py+g) ra#=y’tar, 


wo y=py+gz Istp=Ppd a=rpe, wo P und r teilerfremd 
sein sollen, dann muß "= Pr + q?p‘. wo g=gp’e, und wo P und 
p' teilerfremd sind, sowie auch P und p’r. Es muß also „= pex 
sein, und man erhält PX =pa?+r'2?. Setzt man weiter pr’ =a), 
dann läßt sich PX durch eine lineare Transformation von x und z 
auf die Form 4a’n + b’ reduzieren, wo 5’ positiv oder negativ und 
numerisch < 2a’ ist. Nun können in der Gleichung ersten Grades 
PX=4a'n-+ b die unbestimmten ganzen Zahlen X und » immer 
berechnet werden, und man erhält X = 4a’n’ + ab’, wo n’ irgend eine 
ganze Zahl, und « der Zähler des vorletzten Näherungsbruches für 


4 f . ’ ‚ . ‚ 
den Wert von — ist. Wenn nun «=«ace=a, dann ist + ab’=b 


und X hat die erwünschte Form; wenn dies nicht der Fall ist, muß 
man noch n —= ne? + setzen (y<c?), und es wird 





) N. Mömoires de l’acad. roy. des sciences, annee 1775, Berlin 1777, p. 323 
bis 356 —Lagrange, Oeuvres Ill, p. 759—795. 
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 12 


178 Abschnitt XX. 


X—=4ant eb’ +4ay, 


wo also b— +ob’ +4ay. Lagrange berechnet nun zwei Tafeln, 
die für jeden Wert von a (< ee und von » die passenden Werte von 
b_ für Teiler von au?” angeben, und zwei andere Tafeln, 
welche die Werte von b für Nichtteiler liefern. Um z. B. Teiler von 
10001 zu finden, beachte man, daß 10001 = (100) +1, daß also 
a=]1, wofür die Tafeln b=1 angeben, weshalb jeder Teiler die 
Form 40 +1 hat. Es ist aber auch 10001 = (101)? — 2 (10)2. Für 
a— 2 liefern die Tafeln b= 1, — 1, weshalb die Teiler eine der zwei 
Formen Sn +1 und 8n— 1 haben müssen. Von den Primzahlen 
unter 100 genügen nur 17, 41, 73, 89, 97 diesen zwei Bedingungen. 
Durch Division ermittelt man, daß 73 ein Teiler ist. Die Abhand- 
lung endet mit einer Untersuchung über Primzahlen von der Form 
4na + b, welche zu gleicher Zeit die Form u?° + at? annehmen. Zu 
diesem Zwecke braucht er sieben Lemma, welche, in Verbindung 
mit seinen Tafeln, ihm 36 Lehrsätze über Primzahlen von der Form 
4» — 1 und 13 Lehrsätze über Primzahlen von der Form 4n +1 
einbringen. Man findet hier den Nachweis von sechs Fermatschen 
Sätzen. Der erste von diesen sagt, daß alle Primzahlen von der 
Form 4» +1 auch die Form y? + 2°? annehmen. Vier andere Fer- 
matsche Sätze betreffen bzw. die Formenpaare 


6n +1, y’ +32; 8Sn +1, y +22; 8n +3, y’ + 228; 
8n +1, — 28. 


Für. die zwei ersten Fermatschen Sätze hatte Euler schon früher 
Beweise veröffentlicht. Vier andere Sätze hatte Euler früher durch 
Induktion entdeckt!). Sie ‚betreffen bzw. die Formen 20% +1, 
20n +9 und y’ +52’; 24n +1, 24n+T und „+62; 24n +5, 
24» +11 und 2y? + 32°; 283%» +1, 28n +9, 283% +11, 283% +15, 
28n +23, 28n +25 und y?-+ 72°. Lagrange bemerkt, daß es ihm 
nicht gelungen sei, den Fermatschen Satz, daß das Doppelte einer 
Primzahl 8» — 1 die Summe eines Quadrates und das Doppelte eines 
Quadrates sei, nachzuweisen. Auch kündigt er den von ihm durch 
Induktion entdeckten, aber noch unbewiesenen Satz an, daß alle Prim- 
zahlen von der Form 4» — 1 die Summe einer Primzahl von der 
Form 4» +1 und das Doppelte einer Primzahl dieser Form sind. 

" "Eine Methode, die vollkommenen Theiler einer gegebenen 
Zahl zu finden?) von Johann Tessanek (1728—1788), Lehrer 


4) N. mdmoires Petr. VI, p. 221, VII, p. 127. *) Abh. einer Privat- 
gesellsch. in Böhmen, 1. Bd., Prag 1775, S. 1—64. 


Zahlentheorie. 179 


der höheren Mathematik an der Prager Hochschule, enthält drei 
Regeln, je eine für Zahlen, deren rechtsstehende Ziffer 1, 3 oder 7 
ist. Eine Zahl ersterer Art kann so ausgedrückt werden: 100« + 105 
+1, wo b die Zahl der Zehner andeutet. Ist sie keine Primzahl, so 
ist sie entweder 


— (1002 +10f+1)(1002+10g9 +1) oder (100& + 10f+ 3) 
(1002 +109 +7) oder (1002 + 10f+ 9) (1002 + 109 + 9). 
Daher ist erstens 
(1004 + 105 + 1): (1002 + 10f+1) = 1002 + 109 +1; 
woraus man erhält 


(10a +b— 102 — f):(1002x+10f+1)= 10: +9 


und 
(10a + b— 102 — f — 10092 — 10fy — 9) : (1002 + 10f-+1) = 10z, 


weshalb b— f— g mit 10 teilbar sein muß, d.h.b=f-+g oder aber 
b+10=f-+g. Man erhält 


(a — x — 10bx + 10fx —bf + f?): (1002 + 10f+1)=z 


oder z+ 1. Wenn man von der Quadratwurzel von 1004 + 10b +1 
die zwei rechtsstehenden Zahlen abschneidet, und die übrige Zahl 
m nennt, und man 100 +10f-+ 1 kleiner als die Quadratwurzel 
nimmt, kann & nicht größer und z nicht kleiner sein als m. Es 
folgt, daß 2+ 1— m und 2— m positive Zahlen sein müssen und 
daß 


(a — m — z[100 m + 105 + 1] — f[10m +5 — 10x — f]) 
:(1002+10f+1)=z2— m oder z+1— m. 
Aus dieser Hauptformel erhält man zehn besondere Formeln, 


eine für jeden Fall des Wertes von b. Auf ähnliche Weise werden 
die zwei anderen Faktorenformen behandelt, von denen 


(1002 + 10f + 3) (1002 + 109 + 7) 


zwei Hauptformeln liefert. Im ganzen -hat man 40 besondere 
Formeln für Zahlen, deren rechtsstehende Ziffer 1 ist. Solche, 
deren Endziffer 3 oder 7 ist, werden nach der gleichen Methode be- 
handelt. 

Die 1775 gedruckte Abhandlung!) über diophantische Probleme 


») N. Comm, Petr. XX, 1775, p. 48—58 = Comm, Arith. I, p. 444—449, 
13° 


180 Abschnitt XX. 


wurden von L. Euler schon 1771 eingereicht. Es werden erstens 
die simultanen Gleichungen 


HERUM, (#4): (war tey)- Pr, 
zweitens (#2? + u?y?) (ur? + Py?)—= V?, drittens die Gleichungen 


Pa? + uy — U? By?’ + u?a?—= V? aufgelöst. Ein ähnliches Kunst- 
stück ist die Resolution jeder der zwei folgenden Gleichungen!): 


e+yf+ + — 20? — 2a? — Ay 
+22? +2 P? +22 = 0, 
+++ vr 20y — 202? — 2av? 
— 2y?2? — 2? — 220°? = 0 


’ 


sowie die Lösung der simultanen Gleichungen’): 
22 + y + 22? Eu u, x?y? + 222g? + y?2? — 9%. 


Sein ältester Sohn Johann Albrecht Euler (1734—1800), 
schrieb einen Kommentar über die Lösung des letzten Problems?). 

In der Abhandlung Sur quelques problömes de l’analyse 
de Diophante*) geht Lagrange von dem Fermatschen Problem 
aus, ein rechtwinkliges Dreieck zu finden, dessen Hypotenuse, sowie 
die Summe der Katheten, Quadratzahlen sind. Wenn also p und q 
die Katheten sind, sollen p+g=y, e+qg=at. Setzt man 
P— q= 2, so erhält man pP — 2pg +®= = 2x — y. Kennt man 
also Lösungen von 22° — y*=2?, dann sind die Katheten durch die 
Relationen 2p=y?+2, 2q=y?—z bestimmt. Es können = 13, 
y=1, z2=239 sein, woraus sich p= 120, q=— 119 ergeben. 
Sollen aber p und q beide positive ganze Zahlen sein, dann versichere 
Fermat, daß keine kleineren Wertsysteme existieren als 


x = 2165017, y = 2372159, z = 1560590745759, 
p = 1061652293520, q = 4565486 027 761. 


Um diese Äußerung zu beweisen und um überhaupt eine allgemeine 
Auflösung der Gleichung 22* — y! = 2? zu finden, erfindet Lagrange 
eine Methode, welche der berühmten Fermatschen Methode, die Un- 
möglichkeit von x — y*=2? zu beweisen, ähnlich ist. Fermat 





') Acta Petrop. 1778, II, p. 85—110, eingereicht 1780 = Comm. Arith. I, 
p-366—379. °) Ebenda, 1779, 1,p.30—89, einger. 1780— Comm. Arith.II,p.457—461. 
°) Ebenda, 1779, Pt. I, p. 40—48. *) N. memodires de l’acad. roy. des sciences, 
annee 1777, Berlin 1779, p. 140—154 = Lagrange, Oeuvres IV, p. 377—398. 


Zahlentheorie. 181 


zeigte, daß man aus der Voraussetzung, daß ganzzahlige Werte von 
x, Y, 2 existieren, immer nachweisen kann, daß es noch kleinere ganz- 
zahlige Werte von #, y, z gibt, die der Bedingung z* — y* — 2? ge- 
nügen. Durch Wiederholung dieser Operation kommt man auf kleine 
Werte von z, y, z herab, die der Gleichung genügen sollten. Da in 
Wirklichkeit es keine solche kleinen Werte gibt, ist die Annahme 
der Lösbarkeit falsch. Lagranges Modifikation dieses Kunstgriffes 
ist wie folgt: Aus der Voraussetzung, daß es ganzzahlige Werte von 
x und y gibt («>1, y>1), die der Bedingung 22° — y'=T ge- 
nügen, soll gezeigt werden, daß es noch kleinere Werte von x und 
y gibt, die dieser Bedingung genügen. Es soll zu gleicher Zeit eine 
allgemeine Methode entwickelt werden, um letztere Werte aus den ersteren 
abzuleiten. Wenn man nun für x und y ihre Minimum-Werte angibt, 
nämlich <= 1, y=1, kann man durch Wiederaufsteigen alle höheren 
Werte in der Reihenfolge ihrer Größe berechnen. Dieses Programm 
wird mit großer Geschicklichkeit erfolgreich durchgeführt. Erstens 
wird bewiesen, daß die Auflösung von 22° — y'—=z? sich auf die 
Auflösung von s* + 8t!—= u? durch kleinere Zahlen reduziert, und daß 
eine Lösung letzterer Gleichung stets durch die Relationen 


m:n = (u — Bst): (S? — 81), 


m und n teilerfremd,e= ms + nt, y= ms — nt eine Lösung der ersteren 
einbringt. Zweitens wird die Auflösung von s’ + 8f— u? auf die Lösung 
von der Gleichung 29*— r*=s? oder der Gleichung g* — 2r! = s® 
reduziert, so daß von den Werten g, r, s, welche der einen oder der 
anderen dieser Gleichungen genügen, durch die Hilfsgleichung = qr 
Lösungen von st + 8t!—= u? abgeleitet werden können. Drittens wird 
die Auflösung von 9 —2r!=s? von der Lösung der Gleichung 
q? = n! + 8p* abhängig gemacht, wo r—=2pn, s—=n* — 8p‘, und die 
ganzen Zahlen n,p kleiner sind als q,r. Die Gleichung n‘+8p'=gq° 
hat aber die gleiche Form wie !+8t!=.u?; folglich ist das Problem 
gelöst. Diese Untersuchung ergibt also nicht nur die Lösung von 
22° — y*=D, sondern auch von #— 2 =D und “+3yf'=L. 

Es wird nun gezeigt, wie die Auflösung aller Gleichungen von 
der Form xt + ayt = 2°, wo a irgend eine gegebene Zahl ist, durch 
die Lösung einer gleichförmigen Gleichung mit kleineren Zahlen- 
werten erzielt werden kann; es wird aber betont, daß die hier er- 
klärte Methode nicht notwendig alle möglichen Lösungen liefert. 

In der Eulerschen Abhandlung De mirabilibus proprietati- 
bus numerorum pentagonalium!) werden aus dem Ausdrucke 


t) Acta Petr. 1780, I, p. 56—75 —= Comm. Arith. I, p. 105—115. 


182 Abschnitt XX. 
A-)A-MA- Det. - 1-2 ++ — aa + ete, 


wo die Exponenten von x in der Reihe Pentagonalzahlen von der Form 


en, d. h. die Zahlen 0, 1, 2, 5, 7, 12, 15, 22 ete. sind, und wo 


z"=1(n=1, 2, 3, 4 oder 5) ist, schwankende und divergente Reihen 
abgeleitet. Die Summe solcher Reihen wird nach der damals noch 
üblichen formalen Behandlungsweise ermittelt. Euler schreibt 


1-1+1—-1+1ee-3 ud -?-245+7 219 - ee. —0. 


Vom Standpunkte der analytischen Zahlentheorie betrachtet, enthält 
diese Schrift Ergebnisse, die Euler schon früher veröffentlicht 
hatte!). | 

Die Anzahl Zahlen, welche kleiner als N und zugleich mit N 
teilerfremd sind, wird von L. Euler in einer Schrift des Jahres?) 


1780 durch die Formel N = mn olsrrk ausgedrückt, wo 


N=p*gPrY. Dies ist eine verallgemeinerte Form der Formeln, 
welche Euler 1760/61 in der Abhandlung Theoremata arithmetica 
nova methodo demonstrata bekannt machte. 

In dem Aufsatze De inductione ad plenam certitudinem 
evehenda?) zeigt L. Euler, daß jede Zahl sich als in vier Quadrat- 
zahlen und in drei Dreieckszahlen zerlegbar erweist, sobald man an- 
nimmt, daß jede Zahl 4n + 2 in zwei Primzahlen der Form 4» +1 
zerlegbar sei. Letzterer Satz wird durch Induktion untersucht und 
als Erfahrungssatz aufgestellt. 

Im Jahre 1781 wurden Auszüge aus Briefen Eulers an Con- 
dorcet veröffentlicht®), worin unter anderem bewiesen wird, daß die 
Summe der Quadrate der Koeffizienten in der Binomialentwicklung 
von (1 +2)” dem Ausdrucke gleich ist 








2..:& 10 1% 4n — 2 
a ee SE EEE nz 
Die vollständige Abhandlung Eulers erschien in St. Petersburg unter 
dem Titel De mirabilibus proprietatibus unciarum, quae in 
evolutione binomii ad potestatem quamcungque evecti oc- 


1 
N 2 in de 
eurrunt°). Diese Werte werden vom Integral _-- 2?” ee Yip 


yv1ı—x-x 
v 
!) Intr. in analys. Pt. 1V, Chap. 16; N. Comm. Petr. 1750/51, p. 155; ebenda, 
1754/55, V, p. 59—94; Corresp. math. (Fuß) II, p. 467. 2) Acta Petr. IV, I, 


1780, p. 18—30 = Comm. Arith. II, p. 127—133. °) Ebenda, p. 38—48 = Comm. 
Arith. II, p. 134—139. *) Histoire de l’acad&mie royale des sciences, annde 1778, 
Paris 1781, p. 606. ®) Acta Petrop. pro anno 1781 pars prior. Petropoli 1784, 
p. 74—111. { 


‚Zahlentheorie. 183 


geleitet. Euler betrachtet auch Bruchwerte von n mit dem Nenner 


2 und erhält für n = - als Summe der unendlichen Reihe =, für 


n=— “ eine unendliche Zahl. Euler schreibt 
„ei ‚ w@a—ı1) 
BE y> ß en warf 


und erhält mit Hilfe der Integralrechnung die Werte der Reihe 
1+oca+PßPß +:-- für ganze und gebrochene Werte von n und »‘. 
Diese interessante Untersuchung wird in der Schrift De insignibus 
proprietatibus unciarum binomii ad uneias quorumvis poly- 
nomiorum extensis!) auf Koeffizienten von Polynomen übergeführt, 
und die Resultate werden durch Induktion abgeleitet. 

Ein vom Grafen Franz Schaffgotsch von Prag (1743—1809) 
‘entdecktes Gesetz, welches zur Fortsetzung der bekannten 
'Pellischen Tafeln dienet?), wird am gleichen Orte von Beguelin 
und von Tessanek bewiesen. Schaffgotsch stand mit dem Astronomen 
Bernoulli in Berlin in Korrespondenz und wurde durch ihn und die 
Schriften von Beguelin und Lambert angeregt, die Faktorentafeln zu 
erweitern. Sobald er aber vernahm, daß Hindenburg in Leipzig 
sich mit dergleichen beschäftigte, unterbrach er die vorgenommene 
Arbeit. Er veröffentlichte aber sein Gesetz, wodurch er Faktoren- 
tafeln, die alle durch 2, 3, 5 teilbare Zahlen ausschließen, ohne Be- 
rechnung fortsetzen konnte. Eine solche Zahlenreihe ist von der Form 


30r + 1, 30r + 7, 30r + 11, 30r + 13, 30r + 17, 30r + 19, 
| 30r + 23, 30r + 29, 


wo r=0,1,2,3,... In einer Tabelle gibt Schaffgotsch alle 
Primzahlen von 7—449 und für jede derselben gibt er acht Zahlen 
zur Anwendung seiner Methode Z. B. für die Primzahl 7 hat er 
7,4, 7,4,7,12,3,12. Um nun in obgenannter Zahlenreihe alle 
durch 7 teilbare Zahlen, die größer als 7? sind, zu finden, nehme man 
nach 49 die siebente (30r + 17 = 77), die nächstfolgende vierte (91), 
dann die siebente (119), die vierte (133), die siebente (161), die zwölfte 
(203), die dritte (217), die zwölfte (259). Dann fange man von 
neuem an und nehme die siebente ete. Noch zu beachten ist, dab 
die Summe der zu einer Primzahl p gehörigen Zahlen immer 8p ist. 

Die Abhandlung?) Novae demonstrationes eirca divisores 


1) Acta Petrop. pro anno 1781 pars posterior, Petropoli 1785, p. 76—89. 
®) Abh. einer Privatgesellsch. in Böhmen, 5. Bd., .Prag 1782, S. 354382. Man 
sehe einen zweiten Aufsatz von ihm für das Jahr 1786, S. 123—159. N. 
Acta Petrop. I, 1783, p. 47—74 = Comm. Arith. U, p. 1659—173. 


184 Abschnitt XX. 


numerorum formae @2-+ny? ist eine von drei Schriften?) 
L. Eulers, welche im 18. Jahrhundert gedruckt wurden und eine 
bedeutende Anzahl Lehrsätze über Teilbarkeit von 2? + ny? enthalten. 

Den naturgemäßen Weg, Kettenbrüche abzuleiten, sie. nämlich 
aus trinomischen Gleichungen abzuleiten, hatte Euler schon 1739 
angedeutet”). Er wird nun in der Schrift De formatione fractio- 
num continuarum?) weiter geführt. Die rekurrierenden Gleichungen 


fA=g9B+bC,fB=gC+WD,... ergeben 


Ars: hc fh fB rd ‚ 0% 
= N Fra Az BO Orr on: Ya 
woraus sich der Kettenbruch & =9g+ A OR leicht herleiten 
g” + ete. 


läßt. Ist z.B s= (a — Br — y®°), so wird s=(, wenn «= ßx 
+73 oder aa" — Bart! + yart3 won=1, 2,3,... Für die Reihe 
A,B,C,... kann man hier 1,2, ... und statt 9, h,... die 
nad 4 

P+ery e 


ß-+ ete. 


Zahlen «, ß, y,... setzen. Daraus wird — —=ß+ wo 


«= B+VR + Eey 


Im Jahre 1783, dem Todesjahre L. Eulers, erschien in St. Peters- 
burg der erste Band seiner Opusecula analytica, wovon der zweite 
Band 1785 herausgegeben wurde. Diese zwei Bände enthalten mehrere 
Abhandlungen über Zahlentheorie, die Euler ungefähr zehn Jahre 
früher verfaßte. In einer derselben‘) werden die Kriteria für die 
ganzzahlige Auflösung von fx? + gy? = hz? hergeleitet. Für vorgelegte 
Werte von f und y werden Zahlen h gefunden, wofür Lösungen der 
Gleichung möglich oder unmöglich sind. In einer anderen Schrift?) 
Nova subsidia pro resolutione formulae aa? +1= y? wird ein 
wiederholter Angriff auf die Fermatsche Gleichung, die er selber 
und auch Lagrange früher eingehend behandelt hatten, gemacht. 
Er stellt Regeln auf, welche in der Konstruktion von Tabellen zur 
Erleichterung der Rechnungen dienen. 

In der Abhandlung Miscellanea analytica‘), welche 1773 ver- 
faßt wurde, gibt Euler unter anderem einen Beweis des früher von 





') Comm. Petr. XIV, 1744/46, p. 151; Opuscula analytica II, 1785, p. 275 
—= Comm. Arith. I, p. 35. II, p. 140. ?) Ebenda, T. XI, ad annum 1739, Petro- 
poli 1750, p. 32—81. °) Acta acad. sceient. imp. Petr. pro anno 1779, pars 
prior, Petropoli 1782, p. 3—29.  ) Opuseula analytica I, p. 211—241 = Comm. 
Arith. I, p. 556—569. °) Ebenda, I, p. 310-328 — Comm. Arith. II, p. 35—43. 
©) Ebenda, I, p. 329—344 — Comm. Arith. II, p. 44—52. 


N 


Zahlentheorie. 185 


Lagrange demonstrierten Satzes von John Wilson‘). Euler 
erzielt dieses durch die von ihm entdeckten primitiven Wurzeln. Ist 
9 eine primitive Wurzel der Primzahl p, so enthält die Periode von 
alle Zahlen 1,2, 3,...(?—1). Es gehört nun 9 zu der geraden Zahl 
p— 1, weshalb 

1-2- 3: (op 1) #1 
durch p teilbar ist. 

Ein anderer Aufsatz?) L. Eulers enthält Beobachtungen über 
den Fermatschen Polygonalzahlsatz, welche auf der Entwicklung der 
Potenzen der Reihe 1+2°+2°+:--, wo &,ß,... Polygonalzahlen 
sind, beruhen. Eine zu gleicher Zeit veröffentlichte kleine Schrift?) 
Eulers lehrt die kleinsten Werte von «, ß,y zu finden, die annähernd 
der unbestimmten Gleichung ersten Grades «A = + PB 1 yC genügen, 
wo A, B, © gegebene Zahlen sind, die im allgemeinen auch irrationat 
sein dürfen. Ä 

In der Abhandlung Speculationes super formula integrali 


= —— 7.7 Ubi simul egregiae observationes circa 
y (aa—2bxr-+cxx ee 


fractiones continuas occurrunt*) leitet Euler durch Integral- 
rechnung die Werte verschiedener Kettenbrüche ab. Er erhält z. B. 


aac 
Tg Kane 


* b+Yb?’— a:e > dx . \ 
wo, für N er Mrs u Pe A B— y(aa—2bz-Lexa) y „ein Ausdruck 
welcher“, wie er sagt, „deshalb denkwürdiger ist, weil bisher kein Weg 
offen stand, den Wert dieses Kettenbruchs a priori zu finden“. Es 

\ p nm 
werden logi, log an BE 
g 


aretan °? 
BT 


Wir verdanken Euler die Entdeckung eines fundamentalen Lehr- 
satzes der Zahlentheorie, des sogenannten Reziprozitätsgesetzes. Un- 
gefähr 140 Jahre früher hatten die binomischen Kongruenzen zweiten 
Grades die Aufmerksamkeit des großen Mathematikers Fermat erregt. 
Ohne Beweise anzugeben, hatte er die Bedingungen, unter welchen 


in Kettenbrüche entwickelt, sowie 


') Vgl. Eulers Brief an Lagrange vom 24. Sept. (5. Okt.) 1773 in La- 
grange, Oeuvres XIV, p. 285, und Opera posthuma (Euler) I, p. 583. 
”) Opuscula analytica II, p. 3 = Comm. Arith. II, p. 92—98. °) Ebenda, II, p. 91 
— Comm. Arith. II, p. 99—104- #, Acta acad. scient. imp. Petr. pro anno 
1782, pars posterior, Petropoli 1786, p. 62—84.” 


‚186 Abschnitt XX. 


+1, +2, + 3,5 quadratische Reste oder Niehtreste von ungeraden 
insählen sind, aufgestellt). | 

Euler mkhrsunlie in zwei Abhandlungen, die ERRIEEEN 
beide 1772 verfaßt wurden?), die Reste, welche entstehen, wenn 
Quadrate und höhere Potenzen mit Primzahlen dividiert werden. In 
der ersten dieser zwei Schriften drückt er das Gesetz in vollendeter 
Form, aber ohne Beweis aus. Diese berühmte Abhandlung führt den 
"Titel Observationes circa divisionem quadratorum per 
ınumeros primos. 

Kronecker macht die interessante Mitteilung”), daß Euler bei- 
nahe 40 Jahre früher, in einer Abhandlung aus den Jahren 1744 bis 
1746, als Resultat von Beobachtungen eine Reihe von Lehrsätzen und 
Beobachtungen gibt, welche im wesentlichen das Reziprozitätsgesetz 
‘enthalten*). Natürlich dürfen diese Aussprüche nicht als eine Ent- 
deckung des Gesetzes angesehen werden. 

Die entwickelte und allgemeine Auffassung des Reziprozitäts- 
gesetzes wird von Euler in der Schrift des Jahres 1783 zuerst in. 
vier Theoremen aufgestellt, dann in der neuen Form eines einzigen 
Lehrsatzes ausgesprochen. Die vier Theoreme beziehen sich auf die 
Division der Quadratzahlen durch Primzahlen und lauten wie folgt?): 

Si divisor primus fuerit formae Ans + (22 + 1)?, existente 
s numero primo, tum in residuis occurrent numeri +5 
et —s. 

Si divisor primus fuerit formae 4ns — (2x +1)?, existente 
s numero primo, tum in residuis oceurret numerus +5; at 
— s erit in non-residuis. 

Sı divisor primus fuerit formae 4ns—4z—1, excludendo 
omnes valores in forma 4ns — (22 +1)? contentos, existente 
s numero primo, tum in residuis oceurret —s, at +s erit 
non-residuum. 

Si divisor primus fuerit forma 4ns +42 +1, excludendo 
omnes valores in forma 4ns + (22 +1)? contentos, existente 
s numero primo, tum tam +s quam —s in non-residuis 
occurret. 

Euler läßt nun die Bemerkung folgen, daß er diese Lehrsätze 


Oswald Baumgart, Ueber das Quadratische Reciprocitätsgesetz, Leipzig 
1885, 8.3. 2?) Opuscula analytica I, p. 64—84 = Comm. Arith. I, p. 477—486; 
ebenda. p. 122—156 = Comm. Arith. I, p. 487—506. ®) Monatsb. d. K. Akad. 
d. Wiss. zu Berlin, 1875, S. 268. 4) Comm. Petr. XIV, 1744, p. 151 = Comm. 
Arith. I, p. 35—49. Das Reziprozitätsgesetz hätte nach Kronecker namentlich 
aus Theorema 27 und -den Annotationes 3, 4, 7, 13, 14 und 16 geschlossen 
werden können. °) Comm. Arith. I, p. 484, 485. 


Zahlentheorie. 187 


hinzufüge, damit jedermann, der an Spekulationen dieser Art Ver- 
gnügen findet, ihren Beweisen nachspüren möge, denn dadurch werde 
die Zahlentheorie gewiß wichtige Erweiterungen erhalten. Zum Schluß 
sagt er dann, daß die vier Sätze in folgender Weise recht übersicht- 
lich dargestellt werden können: 

Existentes numero quocunque primo, dividantur tantum 
quadrata imparia 1, 9, 25, 49, ete. per divisorem 4s, notentur- 
que residua, quae omnia erunt formae 49 + 1, quorum quod- 
vis littera « indicetur, religquorum autem numerorum, formae 
49 +1, qui inter residua non occurrunt, quilibet littera A 
indicetur, quo facto si fuerit 


divisor numerus 


| tum est 
primus formae | 
Ans+ « | +s residuum et —s residuum, 
Ans — 0 | +s residuum et —s non-residuum, 
Ans + A + s non-residuum et —s non-residuum, 
Ans — A + s non-residuum et —s residuum. 





Wenn wir hier den quadratischen Charakter von — s außer Betracht 
lassen und die Primzahlen 4ns + « und 4ns + A durch p bezeichnen, 
so ist es nicht schwer, die Eulersche Formulierung des Rezipro- 
zitätsgesetzes mit der folgenden jetzt üblichen Form zu identifizieren: 
Sind p und s zwei positive Primzahlen, von denen mindestens 
eine die Form 4» +1 hat, so ist s quadratischer Rest oder Nicht- 
rest von p, je nachdem » quadratischer Rest oder Nichtrest von s 
ist; haben aber beide Primzahlen p und s die Form 4n + 3, so ist s 
quadratischer Rest oder Nichtrest von p, je nachdem p quadratischer 
Nichtrest oder Rest von s ist. 

An die Arbeit von Johann Bernoulli III. des Jahres 1771 an- 
knüpfend, untersucht Anton Felkel (1750—?) die Verwandlung 


der Bruchperioden nach den Gesetzen verschiedener 


Zahlensysteme!). Der im Dezimalsysteme 0,076923 . .: = Ei 


geschriebene Bruch heißt im Systeme von der Grundzahl 6 nach 
Felkel: 0,024340531215---- + +g+g +: Er nemt 


eine Bruchperiode eines Primteilers p eine vollständige, wenn sie 
?—1 Stellen hat (wie bei p=[), eine unvollständige, wenn sie 


1) Abh. d. Böhmischen Gesellsch. d.. Wiss. auf das Jahr 1785, Prag, S. 135 
bis 174, 1. Abteil. 


188 Abschnitt XX. 


weniger Stellen hat (wie bei =), und zeigt unter anderem durch 
Beispiele, daß unvollständige Perioden nach verschiedenen Zahlen- 
systemen verschiedentlich in vollständige und in unvollständige Perioden 
übergehen können. Felkel war Lehrer an der k. k. Normalschule in 
Wien, 1785 Direktor von Schul- und Armenanstalten in Böhmen, 
später Vorsteher einer deutschen Schule in Lissabon. Er erfand eine 
gemeine Rechenmaschine, und schrieb ein großes Tabellenwerk, wo- 
von die ersten Teile gedruckt wurden. Beinahe die ganze Auflage 
wurde aber vor Ausbruch des Türkenkrieges 1788 zu Infanterie- 
patronenpapier verwendet'). 

In den Adversaria analytica miscellanea de fractionibus 
continuis?) setzt Daniel Bernoulli den zu bestimmenden Wert 


eines unendlichen Kettenbruches gleich S, schreibt dann 


Era. 
m+1 
m + ie 


S= d 


1 

Een 
a m + V4 + m? 
- Er a 

wenn m positiv ist, 
' —- m — V4ı+-m?’ 
se VER, 
wenn m negativ ist. Merkwürdig erscheint ihm der Fall m=0(, 
welcher S=1 und auch S= — 1 liefert. Man müsse hier zwischen 
der absoluten Null und dem unendlich Kleinen unterscheiden. Erstere 


Anschauung liefere en letztere +1. Für den unendlichen Bruch 


n D . . 1 ie 2 2 re 
Er ergibt sich die Summe +, (-m+Ym?-+4n), wo man 
m 
nur für negative Werte von m — . nimmt, und nur für negative 


Werte von » — 4n schreibt. Daraus ersieht man, daß die Multi- 
plikation der einzelnen Zähler und Nenner eines Kettenbruches durch 


eine Zahl m dessen Wert ändert. Ist » negativ und numerisch größer 


m? 
re 


n=—1 sind die Näherungswerte — 1, — %,0, —1, — @©,0, etc, 
die gegen keinen bestimmten Wert konvergieren, weshalb es nicht 
sonderbar sei, daß die Formel imaginäre Resultate ergebe. Das Be- 
1 i 
en 
Aa ul 
le, Eu: 


!) Allgemeine Deutsche Biographie VI, 612 (Canton). ®) N. Comm. Petr., 
Tom. XX, pro anno 1775, Petropoli 1786, p. 3—23. 


als so liefert die Formel eine imaginäre Zahl. Für m=1, 


streben, eine Darstellung des Wertes des Kettenbruches 


Zahlentheorie. 189 


zu finden, hatte seinen Ausgang in einer zweiten Abhandlung, Dis- 
quisitiones ulteriores de indole fractionum continuarum!) 
worin Bernoulli die Auffindung eines independenten Gesetzes für 
die Bildung eines beliebigen Näherungswertes im Auge hat, aber im 


Falle willkürlicher „Indices“ - : r ‚In dem allgemeinen Ketten- 


a 
bruch «&+d nicht weiter kommt, als aus zwei nacheinander fol- 
PERL eh | 

genden Näherungsbrüchen ,, Q und dem nächsten Index z den 
P®-+ Mf 
QO+Nf 
welches er als ein vorzügliches Kompendium charakterisiert. Ohne 
' sich des Eulerschen Algorithmus zu bedienen, vervollkommnet und 
vereinfacht Bernoulli die bisher angewandten Darstellungsmethoden 
der Näherungswerte. Er geht von einem allgemeineren Kettenbruch 
aus, als es bei Euler der Fall war. 

In einer Schrift, Arithmetische Betrachtung?), behandelt 
Johann Tessanek die Gleichung dn’+1=e?, ohne aber die Ar- 
beiten Lagranges anzuführen. 

Tessanek bestimmt den Wert von » bei gewissen Zahlen d 
verschiedener Formen, und zeigt, wie unendlich viele Formen gefunden 
und bei diesen die Werte für n allgemein bestimmt werden können. 
Er schreibt d=.a?-+b und findet e>an, also e=an+p,; auch 
findet er n>p, also n=p,+9,. Dann betrachtet er den Fall 
b>a, p>P, M<2p, und seit 1 =m+Pp, mM=P+P,, 
Ps <2p,, etc. Für p, findet er einen allgemeinen Ausdruck 


hierauf folgenden Näherungswert zu ziehen, ein Verfahren, 


(Ph; 7 Ve@+ b)pFrı 4,9,) 9; 
woh,=b—-ag=b, , =2a—b+1T, und 
hazı =9g,—h, ri 2, - 5 t+%-:- 


Nimmt man nun ,=1 und p,,,—=0, dann wird p,=1 und man 
kann 9,_,, P;_g,---,% ausrechnen. Z.B. nimmt man ;=35, dann 
hat man 


»=-1,92,=-0, 9» =-1,n,=23,n=3, , =12a—9+4=]1, 


a=3c—1, b=4c—1, wo c irgend eine positive ganze Zahl ist. 
Endlich folgt (&c— 1”? +4c—1}3?+1=(9ce— 1)” Die Auf- 





') N. Comm. Petr., Tom. XX, pro anno 1775, Petropoli 1786, p. 24—47; 
vgl. S. Günther, op. eit., p. 8—10. ?) Abh. d. Böhmischen Gesellsch. der 
Wiss. auf das Jahr 1786, p. 160—171. 


190 Abschnitt XX. 


fassung des sogenannten Pellschen Problems ist hier der von La- 
grange und Euler ganz fremd. Statt d als eine gegebene Kon- 
stante zu betrachten und die dazu gehörigen Werte von n und e zu 
untersuchen, werden hier verschiedene Formen der Zahl d genommen 
und dazu passende Zahlen » gefunden. 

Die Zerfällung zusammengesetzter Zahlen wird auch von G@. S. 
Klügel zu Helmstädt besprochen. Er nimmt das Produkt 


(30r + m) (30r + n) 


und untersucht die Werte, die mn annehmen kann!). An gleicher 
Stelle erschien über diesen Gegenstand eine Schrift von Johann 
Andreas von Segner, die er schon 1777 als eine ‚Briefbeilage an 
Hindenburg versandt hatte”). Jede Zahl, die sich nicht durch 2 
oder 3 teilen läßt, besitzt die Form 6» — 1 oder 6» +1. Von diesem 
Lehrsatze ausgehend, stellt Segner Regeln für die aufzusuchenden 
Faktoren der Zahlen. Wie ©. F. Hindenburg in seinen Anmerkungen 
über diese Abhandlung?) sagt, werden diese Regeln immer zusammen- 
gesetzter, je mehr Teiler man von Anfang an ausschließen will. 

Das 18. Jahrhundert brachte drei große Forscher im Gebiete der 
Zahlentheorie hervor, nämlich Euler, Lagrange und Legendre. 
Die erste Arbeit Legendres ist Recherches d’analyse indeter- 
minde*). Diese hervorragende Leistung betrifft vier Probleme zahlen- 
theoretischen Inhalts, wovon das erste die ganzzahlige Auflösung der 
linearen Gleichung Ay = ax" + ba”=' +.ca”7? +. -- behandelt. Vom 
Lagrangeschen Satze?), daß « nicht mehr als n Werte annehmen 
kann, und vom Fermatschen Satze ausgehend, zeigt Legendre erst, 
wie man Ay= x” — B lösen kann, und wendet dann die so er- 
haltenen Resultate auf die allgemeine Gleichung an. Im zweiten 
Problem wird die unbestimmte Analysis zur Zerlegung eines Poly- 
noms in Faktoren benutzt. Es werden aber keine Kriterien entwickelt, 
welche die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Zerlegung dartun. 
Der dritte Abschnitt entwickelt den Satz, daß aa? + by? = c2?, wo 
a, b, c positiv, teilerfremd und von quadratischen Faktoren frei sind, 


lösbar ist, wenn drei ganze Zahlen A, u,v von der Art existieren, daß 
ER BR 2 der “ ganze Zahlen sind. Der vierte Abschnitt 
behandelt Primzahlen und ist bei weitem der bedeutendste dieser Ab- 
handlung. Er enthält nichts weniger als das große Reziprozitäts- 


1) Leipziger Magazin d. r. u. a. Mathem., 1. Stück, 1787, 5. 199— 216. 

2) Ebenda, S. 217—225. °) Ebenda, 8. 226—244. ° *) Histoire de l’acad. roy. 

- des sciences, annde 1785, Paris 1788, p. 465-559. °) Berliner Memorien 1768 
und 1775. | 


Zahlentheorie, 191 


gesetz, welches zwei Jahre früher in Eulers Schriften schon ge- 
druckt war. Legendre ist der zweite Entdecker dieses Satzes. Ob- 
schon er damals Schriften Eulers über Zahlentheorie durchmustert 
und einige Teile von Eulers Opuscula analytica (Bd. I) ge- 
lesen hatte, wär ihm die Arbeit des Schweizers über das Reziprozitäts- 
gesetz nicht bekannt. Später machte Gauß eine ähnliche Erfahrung. 
Von ihm wurde der Satz zum drittenmal entdeckt, bevor er von 
Legendres Untersuchungen Kenntnis hatte. Eulers Aufstellung 
des Satzes haben Gauß und Legendre nie gekannt. Erst Kronecker 
hat die Mathematiker auf diese Leistung aufmerksam gemacht!), 

In Legendres Untersuchung ist das Reziprozitätsgesetz auch 
bewiesen, aber der Beweis ist unvollständig. In dem Ausdrucke 
c—1 r 
d? soll nach Legendre angenommen werden, daß alle Vielfachen 

c—1 
der Primzahl ce verworfen sind; dann hat man entweder d? —1 oder 
c—1 
d? =—1, wo d irgend eine ganze Zahl, nur kein Vielfaches von c, 
sein darf. Nach Legendre seien A, a Primzahlen von der Form 
4n-+ 1, und B,b Primzahlen von der Form 4» + 3; dann stellt er?) 
acht Theoreme auf, die zusammen das große Gesetz ausmachen. Die 


Ausdrucksweise derselben ist aus den zwei ersten ersichtlich, nämlich 


—ı b—-1 


I. Wenn 52 =1, dann folgt a? =1. 
db—1 a—1 


Legendre faßt nun alle acht Fälle in folgendem Ausspruch zu- 
sammen: „cetd etant deux nombres premiers, les expressions 
d-1 c-1 

e?2,d: ne seront de differens sıgnes que lorsque c et d 
seront tous deux de la forme 4n— 1; dans tous les autres 
cas, ces expressions auront toujours le möme signe.“ 

In seinem sinnreichen Beweise geht Legendre von der Gleichung 
Aa” + ay’= bz2? aus. Dieselbe kann nicht durch ganze Zahlen gelöst 
werden, da die linke Seite von der Form 4» -+1 oder 4n +2 und 
die rechte Seite von der Form 4» oder 4n—1 ist. Nach einer 


Methode von Lagrange sollte diese Gleichung aber stets lösbar sein, 
6 A ET ober 
wenn gleichzeitig die drei Bedingungen a? b?—-1,4°b?=1, 
b—1 b—-1 a-ı 
A?’ a°®=—1 erfüllt wären. Wenn A =1 ist, so sollte 5b? =1, 
“  #”) Monatsb. d. K. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 1875, $. 267—275. 2) Loc. 
eit., $. 516, 517. 


192 Abschnitt XX. 


db—1 


a? —-—1 sein. Da dies aber unmöglich ist, zieht Legendre aus 
a—1 b—-1 


b—-1 a—1 

a2 —=—1 die Folgerung b ?=—1. Soweit ist der Beweis voll- 
B-i 

ständig; auch zieht Legendre den strengen Schluß, dß b? =1, 


ade 

des Beweises anbelangt, sagt Legendre selbst: „Dans cette demon- 
stration, nous avons suppos6 seulement qu’il y avoit un nombre premier 
b de la forme 4n — 1, qui pouvoit diviser la formule x? + Ay?“ 
Gauß hat den Legendreschen Beweis einer eingehenden Kritik unter- 
worfen!) und hat hervorgehoben’), daß zur Vervollständigung des- 
selben es erwiesen werden sollte, daß zu einer jeden Primzahl von 
der Form 4n +1 eine Primzahl von der Form 4» + 3 gefunden 
werden kann, in Beziehung auf welche jene quadratischer Nichtrest 
ist. Dieses Postulat mag von dem Satze abhängig gemacht werden, 
daß jede arithmetische Reihe, in welcher nicht alle Glieder einen ge- 
meinschaftlichen Faktor haben, notwendig Primzahlen enthalten muß. 
Dirichlet hat später diesen Satz bewiesen?). 

Legendre hat die Wichtigkeit des Reziprozitätsgesetzes völlig 
erkannt und mehrere Sätze über Primzahlen daraus abgeleitet. Mit 
demselben könne man alle Sätze, die Euler durch Induktion auf 
S. 176, 281, 295 usw. des ersten Bandes der Opuscula analytica 
aufgestellt habe, beweisen; man könne zeigen, daß, wenn fx?’ +gy? 
— he? lösbar ist, fa tgyP = (h+fgn)e® es auch ist, solange 
(h + fgn) prim bleibt. Letzterer Satz enthält als Spezialsatz einen 
ähnlichen, von Euler durch Induktion entdeckten Satz. Legendre 
berechnet vier Tafeln, welche die verschiedenen Formen, die Teiler 
von #?-+ au? annehmen können, enthalten, worin die Primzahl a, be- 
ziehungsweise die Form 8n — 3, 8n +1, 8n +3, 3» — 1 hat. Diese 
Tafeln dienten nicht nur um viele schon bewiesene Sätze deutlicher 
hervortreten zu lassen, sondern auch um neue Sätze zu enthüllen. 
Legendre nennt z. B. den von ihm durch Induktion erhaltenen Satz, 
daß, wenn a—=8n— 3, es ebenso viele Teiler von der Form 4n— 1 
als von der 4n +1 gibt, und daß diese Anzahl der Anzahl verschie- 
dener Zerlegungen von a in die Summe dreier Quadrate gleich ist. 
Z.B, wenn a=109, so hat ?+au? zwei Teiler von der Form 
4n +1, nämlich 4? + 1092, 5y? + 2yz2 + 2222, und zwei ähnliche 





1) Disq. Arith., Artikel 151, 296, 297 und Additamenta. ?) Additamenta. 
>) Kummer in Math. Abh. d. K. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 1859, 8. 19, 20. 


Zahlentheorie. 193 


von der Form 4n— 1; es kann nun 109 genau auf zwei Arten, 
10° +3? +0%, 8°+6°+3°, in die Summe dreier Quadrate zerlegt 
werden. Einige Sätze über Primzahlen, welche Lagrange in den 
Berliner Memorien der Jahre 1773 und 1775 bewiesen hatte, werden 
von Legendre auf neue Art abgeleitet. 

L. Euler behandelt in einem Memoir') den früher von ihm und 
Lagrange untersuchten Gegenstand über ähnliche Funktionen und 
Minimalwerte.e Wenn N=a?+nb?, soll erstens N? N®,... durch 
die gleiche Form «?-+ny? dargestellt werden, und zweitens sollen 
die Minimalwerte von & oder von y gefunden werden. 

Eine andere Abhandlung?) L. Eulers gibt die Fälle an, in 
welchen die Formel #*+ka?’y? + y‘ ein Quadrat ist, und tabuliert 
die ganzzahligen Werte von k zwischen — 100 und + 100, und die 


dazu gehörigen Verhältniswerte von a welche Quadrate liefern. 


2 5 


i BER 1 EM u 
Man hat z.B. k= 16, a und rc 


1,3, 4,5, 6, 9,... sein kann. 

Die Zahl 1000009, welche L. Euler in seiner De tabula 
numerorum primorum des Jahres 1774 unter die Primzahlen setzte, 
wird von ihm 1778 in einem separaten Aufsatz?) untersucht und als 
eine zusammengesetzte Zahl mit dem kleinsten Divisor 293 erkannt. 
Euler findet 1000009 — ©? — 2352 wo x = — 972 ist, sowie 
1000009 = 1000? + 3? = 972? + 235°. Daraus wird 1000? — 235? 


2 R 1235 969 19 
— 972° — 3°, 1235 . 765 = 969.975 und „, = 5” ab 


also 19? + 15°? — 293 ein Divisor von 1000009. 

In der 1777 verfaßten Schrift De novo genere quaestionum 
arıthmeticarum, pro quibus solvendis certa methodus ad- 
huc desideratur‘) untersucht L. Euler das Problem, alle ganzen 
Zahlen N zu finden, so daß A?-+ BD? und 4?-+ N B? zu gleicher Zeit 
Quadratzahlen vorstellen. Er setzt 


A="—y, B=2ıy 2+ND= 2? 


Es ergibt sich, daß %k nicht 


ist 


und erhält N = [2? — (2? — y?)?) :4a°y?, wo also z so zu wählen ist, 
daß N ganzzahlig wir. Man nehme z=a?+2axy? +y? oder 
z= 0 + 2ary? — y?, woraus 


N=(u®+1l)(ey +1) odr = (aa? —1)(ey +1)+1 





1) N. Acta Petr. IX, 1791, p. 3—18 = Comm. Arith. II, p. 174—182. 
2) Ebenda, X, 1792, p. 27—40 = Comm. Arith. II, p. 183—189. $) Ebenda, 
p. 683—73 = Comm. Arith. II, p. 243— 248. *) Ebenda, XI, ad annum 1793, 
p. 78—93 = Comm. Arith. U, p. 190—197, | 
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 13 


194 ‚Abschnitt XX, 


wird. Erhält hier & verschiedene ganzzahlige und Bruchwerte, so er- 
geben sich 41 ganze Zahlen N, die kleiner als 100 sind. Euler gibt 
nun‘ an, daß es ihm nicht gelungen sei, das Gesetz zu entdecken, 
welches die Zahlen N von anderen ganzen Zahlen unterscheidet, auch 
sei das Problem noch nicht allgemein gelöst, alle Zahlen N zu finden, 
welche in den Formen N = (+ 1)(y? +1) und N= (2 —- 1)? — 1), 
wo x und % Integral- oder Bruchzahlen sein mögen, enthalten sind. 

Dies ist die letzte Abhandlung von L. Euler über Zahlentheorie, 
welehe vor 1800 gedruckt wurde. In den von uns öfters zitierten 
Leonhardi Euleri commentationes arithmeticae collectae 
(P.H. Fuß et Nicolaus Fuß, 1849) werden im ganzen 96 Ab- 
handlungen angegeben, von denen 33 nach 1799 erschienen und des- 
halb hier nicht besprochen werden können. Weder der Verlust 
seines Gesichts noch sein hohes Alter vermochten Eulers Arbeits- 
liebe zu erschöpfen. Sein Versprechen, der Petersburger Akademie 
sö viele Abhandlungen zu liefern, daß sie auf zwanzig Jahre nach 
seinem Tode hinreichen sollten, hat er gehalten. Er starb 1783 und 
1830 erschien ın den Petersburger Memorien ein Aufsatz von ihm 
über die unbestimmte Analysis. 

In einem Aufsatze De decomposer: les nombres entiers 
non-carres en: deux, trois ou quatre carres!) werden von 
Christian Friedrich Kausler (1760—1825) aus Tübingen Rech- 
nungsregeln abgeleitet, um eine ganze Zahl, die keine Quadratzahl 
ist, in die Summe von zwei, drei oder vier ganzen Quadratzahlen zu 
zerlegen. Dabei spielen die pronischen Zahlen, d. h. Zahlen von der 
Form m(m + 1), eine hervorragende Rolle. In einer Tabelle werden 
alle pronischen Zahlen bis 50850 aufgezählt. 

Im Jahre 17983 (an VI) veröffentlichte Legendre in Paris sein 
berühmtes Werk Essai sur la theorie des nombres. Eine zweite 
Auflage erschien 1808, eine dritte, mit dem Titel Theorie des 
nombres, 1330. Während der zweite Teil von Eulers Algebra, 
mit den Lagrangeschen Zusätzen, viele der höheren Resultate der 
‘ Jahlentheorie unberührt läßt, bringt Legendre alles, was er finden 
konnte, in seinem: Werke zusammen. Seine eigenen Untersuchungen 
von 1785 sind hier in vollendeter Form wiedergegeben. Ein 'ge- 
regeltes Werk darf man es aber nicht nennen. Es fehlt der leitende 
Faden allgemeiner Methoden. Dessenungeachtet war es hoch ge- 
schätzt und während mehrerer Dezennien waren dieses und Gauß’ 
Disquisitiones arithmeticae die einzigen Bücher über die höheren 
Teile der Zahlentheorie. Auf S. 186 führt er die jetzt als das 


') N. Acta Petr., ad annum 1793, Petropoli 1798, hist. p. 125—156. 


Zahlentheorie. 195 


„Legendresche Symbol“ bekannte Bezeichnung () ein, die den Rest 
c—-1 

+1 oder — 1 ausdrückt, den man bei der Division von N ® durch 

die Primzahl ce erhält. In diesem Werke wird zum erstenmal der 

Name „Reziprozitätsgesetz“ gebraucht. Er drückt nun „la loi de r£- 

eiproeite“ in eleganter Form so aus (8. 214): „Quels que soient les 


nombres premiers m et n, sils ne sont pas tous deux de la forme 


m 


4x — 1, on aura toujours (4) u (=), et s’ils sont tous deux de. la 
forzme 4r — 1, on aura (7) = — (=). Ces deux cas generaux sont 
m=ilsna-l 
”)- Es ist Le- 
gendre hier nicht gelungen, die Mängel im Beweise dieses Satzes, 
den er 1785 gab, zu heben, obwohl er es möglich fand, die früheren 
unbewiesenen Voraussetzungen über die Existenz gewisser Primzahlen 
einigermaßen einzuschränken. 

Im Rückblick sieht man, daß durch die Untersuchungen von 
Euler, Lagrange und Legendre die Zahlentheorie energisch ge- 
fördert wurde. Diese Forscher richteten ihre Kräfte auf folgende 
Themata: Die Teilbarkeit der Zahlen, die Sonderung der Primzahlen, 
das Studium der quadratischen Reste (welches in der Entdeckung des 
Reziprozitätsgesetzes gipfelte), die Betrachtung der höheren Potenz- 
reste, die öfters auf Grund von Identitäten erlangte Lösung oder Auf- 
lösbarkeit verschiedener unbestimmter Gleichungen oder Gleichungs- 
systeme, die Zerfällung von Zahlen in ihre Summanden, die Betrachtung 
von binären, ternären und anderen quadratischen, kubischen oder 
quartischen Formen, die Darstellbarkeit bestimmter Zahlen in Formen 
dieser Art und die Auffindung der möglichen Teiler derselben. 

Unter den Einzeluntersuchungen über Zahlentheorie während des 
Zeitraumes 1759—1799 ist erstlich eine interessante Schrift von 
Elie de Joncourt, betitelt De la nature et des principaux 
usages de la plus simple espece de nombres trigonaux, ä la 
Haye, 1762, zu nennen. Er war Professor der Philosophie und 
Prediger zu Bois-le-Due. Er gibt eine Tafel der Trigonal- und der 
entsprechenden natürlichen Zahlen, zeigt wie diese zur Auffindung 
des Produktes zweier Zahlen der Quadrat- und‘ Kubikwurzel einer 
Zahl verwendet werden kann, und bemerkt an einer Stelle, daß Log- 
arithmen keine einfachere Rechnungsmethode liefern. 

Albrecht Euler, der älteste Sohn Leonhard Eulers, ver- 
öffentlichte eine Schrift, Beantwortung einiger arithmetischen 
Fragen!), worin das Problem gelöst wird, durch eine Formel die 


) Abhandl. d. Churbayerisch. Akad., Bd. II, 2. Teil, 3. 5—36, 1764. 
13* 


compris dans la formule (4) — (— 1) 2 a ( 





196 Abschnitt XX. 


Anzahl Ziffern auszudrücken, welche erforderlich sind, eine Zahl 5b 
von einer größeren Zahl a nach der gewöhnlichen Art so oft abzu- 
ziehen, bis ein Rest übrig bleibt, welcher kleiner als b ist. Dann 
werden Modifikationen dieses Problems betrachtet, wie z. B, « und b 
so zu bestimmen, daß die Anzahl der erforderlichen Ziffern gleich «a ist. 


In einem Aufsatze, De proprietate numerorum divisibilium 
per 11, 111, 1111 ete.!) setzt Giannantonio Andrea ÜÖastelvetri 
(? —1766) von Bologna frühere Untersuchungen fort?) und findet für 
11, 111, 1111,... Eigenschaften. welche denen von 9 und 3 analog 
sind. Um zu sehen, ob 83976426643 durch 111 teilbar sei, nehme 
man die Summe der dreizifferigen Perioden, so 643 + 426 + 976 
+ 83 = 2128, dann die Summe 128+2=130. Da nun 130:111 
den Rest 19 gibt, ist die vorgelegte Zahl durch 111 nicht teilbar 
und 19 bleibt bei der Division übrig, Die Zahl 93297809286 ist 
durch 1111 teilbar, denn 9286 + 9780 + 952 = 19998, 9998 +1 
— 9999, und letztere Summe ist durch 1111 teilbar. Eine zweite 
Eigenschaft erklärt sich durch zwei Beispiele. Ob die Zahl 


73486529466 durch 111 teilbar sei, kann man so ausfinden: 
66 +29 +86 + 73 = 254, (4A+5+4)11= 143, 254 — 143 = 111, 
deshalb ist die gegebene Zahl durch 111 teilbar. Die Zahl 
321490128211 ist durch 1111 nicht teilbar, denn 211 + 012 + 214 
— 457, (3+9+8)111= 2220, 437 — 2220 = — 1783, — 1783 + 1111 
x2=439, und 439 ıst der bei der Division erhaltene Rest. 
Castelvetri bemerkt, daß für die Zahl 11, der „doctissimus Pater 
G. H.“ diese Eigenschaft hergeleitet habe. 

In einem Aufsatze Methode pour resoudre plusieurs pro- 
blemes indetermines?) löst De la Bottiere vier Aufgaben, deren 





?) De Bononiensi Scientiarum et Artium Instituto atque Academia Commentarii, 
T. V, Pars altera, Bononiae 1767, p. 108—119. °) In einer vor Anfang unserer 
Zeitperiode veröffentlichten Abhandlung De quadam generali numerorum pro- 
prietate (De Bononiensi Scientiarum et Artium Inst. atque Acad. Comm., T. IV, 
Bononiae, 1757, Opuscula, p. 242—259; Commentarii, p. 113—144) zeigt er, daß 
die Eigenschaften der einfachen Zahlen (d. h. der Ziffern), die Fontenelle in der 
Histoire de l’Academie Roy. des Sciences, Paris 1728, gefunden, und Frederie 
Sanvitali, S. J., in der Storia Letteraria d’Italia, T. VI, p. 761, bewiesen habe, 
sich auf alle ganzen Zahlen verallgemeinern lassen. Diese Arbeiten veranlaßten 
Francisco Maria Zanotti, die Zahlen 9 und 3 näher zu betrachten (De 
Bononiensi Scientiarum etc., T. IV, Commentarii, p. 113—144), den Satz zu er- 
weitern: Si numerus quispiam multiplex sit numeri 9, ac figurae ejus omnem 
in unam summam conferantur, erit haec quoque summa multiplex numeri 9, 
und seine Resultate, in Bezug auf 9, auf die Ziffer 3 anzuwenden. °) Me&moires 
de math. et de phys. presentes...par divers savans, Tome IV, Paris 1763, p. 33 
bis 65. 











Zahlentheorie. 197 


drei aus Saundersons Algebra entnommen sind und auf der Auf- 
lösung unbestimmter Gleichungen ersten Grades beruhen. In der 
ersten sollen Vielfache von zwei ungleichen ganzen Zahlen a, b, deren 
Differenz eine Minimalzahl »n sei, gefunden werden. Die Minimalzahl 
wird durch den Algorithmus des größten gemeinschaftlichen Divisors 
gefunden; dann wird ax —by= + m aufgelöst. Die zweite Aufgabe, 
zwei positive ganze Zahlen zu finden, die durch zwei Divisoren d’ 
und d” dividiert die Reste »’ und r” lassen, wird auf Kalenderfragen, 
betreffend Sonnen- und Mondzykeln, angewandt. 

Jean Joseph Rallier des Ourmes (1701—1771) von Rennes, 
welcher arithmetische Artikel für die große französische Enzyklopädie 
schrieb und Regeln zum Aufsuchen von Primzahlen vorschlug'), 
‚schrieb auch einen Aufsatz?), worin er eine schnelle Methode, n ganze 
Zahlen zu finden, angibt, wenn man das Produkt einer jeden mit der 
Summe der übrigen kennt. Hat man z.B. 


2y+9)-9, ya+9)—4, sat), 


won=3 ist, soll man die »n— 1 kleineren Zahlen in Faktorenpaare 

Se BE A a Ma 
a ED ie 
diejenigen Faktorenpaare aus, deren Faktoren eine gleiche Summe 


zerlegen, so: für 24 Nun suche man 


i . 3.8 i e en : 
haben.. Diese sind 12? 9. Pie kleineren Faktoren 2 und 5 sind zwei 


der gesuchten Zahlen, und die dritte ist 14—2—-5-—7. Man hat 
also z=T,y=5,:=2. 

Der Astronom Joseph Stepling (1716—1778) führt Beweise 
einiger Eigenschaften des Neuners?) an. Er zeigt z. B., daß 
wenn n irgend eine Ziffer ist, die Ziffern des Produktes 9» die Summe 
9 haben. 

Im Jahre 1788 veröffentlichte A. G. Kästner die Lösung der 
folgenden unbestimmten Aufgabet): Drei Bäuerinnen (A, 5, ©) haben 
je eine gegebene, von der andern unterschiedene Anzahl Eier (a, b, e). 
Jede verkauft ihre Eier auf zweimal, das erstemal eine so teuer als 
die andere (m), und so auch das zweitemal (rn). Am Ende hat eine 
soviel gelöst wie die andere. Wieviel von ihren Eiern hat jede das 
erstemal verkauft (x y, 2)? Und wie verhalten sich die Preise des 
_ ersten und des zweiten Verkaufs ()? Man erhält die Gleichungen 
met+nla—a)=my+n(b —y)=mz+n(e— 2) wo a,b,c,2,y, 2, 

") M&moires de math. et de phys. ... Tome V, 1768, p. 485—499. 
®) Ebenda, Tome V, Paris 1768, p. 479—484. ®) Abh. einer Privatgesellsch. 
in Böhmen, 1. Bd., Prag 1775, S. 141—144. *) Leipziger Magazin f. d. r. 
a. angew. Mathematik, Leipzig 1788, S. 215—227. 


198 Abschnitt XX. 


(a— x), (b— y), (ce — z) positiv und ganzzahlig sind. Kästner leitet 
‚Gleichungen ab, so daß für irgend eine Voraussetzung für x die zu- 
gehörigen Werte von 9,2, m, n durchgezählt werden können. In 
einer zweiten Tlössifemethede braucht er die Symbole da und d« für 


dx Er 
„Änderungen von endlicher Größe“, wo —— positiv oder negativ ist 
- da: ug F 


je nachdem der Preis wächst oder abnimmt. Diese Rechnungsaufgabe 
ist eine Verallgemeinerung einer Aufgabe, die Johann Prätorius 
in seinem Abentheuerlichen Glückstopf (1669) löste. 

Ein andermal nimmt Kästner ein Exempel aus Lilles Amuse- 
mens mathematiques, 1749, wo ein Blinder augenblicklich das 
Produkt von 999...(n — 1 Ziffern) mit 666...(n — 1 Ziffern) zu 
finden weiß, und leitet die Regel abt), die das Produkt liefert. Von. 
der rechten Hand gegen die linke hat man folgende Ziffern: 4,33 ... 
(n — 1 Ziffern), 5,66...(n — 1 Ziffern). Dann folgt die Regel für 
irgend eine Ziffer statt 6 und die Auflösung eines Problems in der 
arıthmetica divinatoria. 

In einer Jugendarbeit On the resolution of indeterminate 
problems%) sucht John Leslie (1766—1832) größere Uniformität 
in die Auflösung unbestimmter Probleme einzuführen. Ist A.B 
—(.D, m eine rationale Zahl, und nimmt man in A.mB=(.mD, 
A=mD an, dann folgt m B= C. Dieses Prinzip wird auf 14 Probleme 
angewandt. Das 13. heißt: Eine Kubikzahl zu finden, die dem Pro- 
dukte eines Quadrats und einer gegebenen Zahl gleich sei. Man hat 
a°=ay’ oder x.2°—=a.y’. Nun setze man = ma und y? = ma®. 
Dann y? = m?a?, und y.y= ma.m®a. Durch eine zweite Annahme 


hat man y=pma und m’a=py. Da aber e—ma, so wird y=-px 


m2 ; 
= = ‚2=ap,y=ap?”. Wenn nun «=3,p=2, dann ist 
ı=302)”=-12 und y=3 (2) = 24. 
') Archiv d. r. u. angew. Mathematik, 1799, S, 204—208. ”), Trans. 


Roy. Soc. of Edinburgh, Vol. II, Pt. II, 1790, p. 193 212. 





Verbesserungen. 


. 39 2. 6 v. u. statt Lons le Saulnier lies Lons le Saunier. 
48 2. 5 statt Ruggero lies Ruggiero. 

49 Z. 10 statt D’Abren lies D’Abreu. 

53 Z. 14 statt Rekahn lies Reckahn. 

57 2. 9 statt Arithmetik lies Arithmetick. 

61 Z. 30 statt Chauncy lies Chauncey. 

62 Z. 10 statt G. Trenchant lies J. Trenchant. 


Bun nmnı 





ABSCHNITT XXI 


KOMBINATORIK 
WAHRSCHEINLICHKEITSRECHNUNG 
REIHEN - IMAGINÄRES 


VON 


E. NETTO 





Kombinatorik. 


In den früheren Bänden dieser Vorlesungen wurde gezeigt, daß 
die Begründung der wissenschaftlichen Kombinatorik sowie die der kom- 
 binatorischen Analysis für Leibniz in Anspruch genommen werden 
muß, der seiner philosophischen Anlage gemäß die hohe Bedeutung 
und die vielversprechende Zukunft dieser im Werden begriffenen 
mathematischen Disziplinen, wenn auch nicht scharf erkannte, so 
doch mit dem sicheren Takte des Genies ahnte.e Es wurden dann 
die Fortschritte dargelegt, die dieser neue Zweig der Wissenschaft den 
Arbeiten der Bernoullis, eines Moivre, eines Euler verdankt. 
Nach diesen Ergebnissen kommen wir zu einer merkwürdigen Epoche, 
zu der der sogenannten kombinatorischen Schule Die aus- 
gesprochene Absicht der sie begründenden und fördernden Männer 
war, neben die gewöhnlichen Operationen der Arithmetik, Algebra 
und Analysis die kombinatorischen Operationen als gleichberechtigt 
und gleichwertig zu stellen und für sie das Bürgerrecht zu erwerben. 
Durch diese Erweiterung der Hilfsmittel sollte sich, wie sie meinten, 
die Darstellung vereinfachen und das Forschungsgebiet vergrößern. 
Diese Schule faßte trotz ihrer großen Ziele und Absichten nur in 
Deutschland Boden und trug auch hier nur bescheidene Früchte; von 
großen Forschern im mathematischen Bereiche gehörte ihr keiner an. 
Das erklärt sich wohl daraus, daß sie ganz in Formeln und in For- 
malismus aufging. Zwar beherrschte sie eine Zeitlang den deutschen 
Markt; aber das meiste von dem, was sie brachte, sank bald in eine, nicht 
immer ganz gerechte Vergessenheit!). 

Der Begründer der kombinatorischen Schule war Karl Fried- 


a ———— 


') In seinem, von Napoleon I. veranlaßten „Rapport historique sur les 
progrös des sciences mathematiques depuis 1789“ (Paris 1810) sagt J. B. Joseph 
Delambre: Die kombinatorische Analysis beschäftigt noch immer die deutschen 
Mathematiker; aber in Frankreich hat sie keine Gunst erringen können, weil ihr 
Gebrauch zu beschränkt ist, und besonders weil sie auf die Zweige der Wissen- 
schaft nicht anwendbar erscheint, deren Förderung uns vorzüglich am 
Herzen liegt. 

CAntor, Geschichte der Mathematik IV. 14 


202 Abschnitt XXI. 


rich Hindenburg, Sohn eines Kaufmanns in Dresden, am 13. Juli 
1739 daselbst geboren. Nachdem er das Gymnasium zu Freiberg 
in Sachsen absolviert hatte, studierte er in Leipzig Medizin, Physik 
und Mathematik und kam dann durch Gellerts Vermittlung als Er- 
zieher in das Haus eines Herrn von Schönberg, in dessen Sohne 
sich schon früh ausgesprochene mathematische Talente zeigten. 
Ihn begleitete Hindenburg auf die Universität Leipzig, wo er sich 
von da ab, ebenso wie später in Göttingen, mehr und mehr mit 
mathematischen Studien beschäftigte. Dort, in Göttingen schloß sich 
Hindenburg hauptsächlich an Abraham Gotthelf Kästner an. 
Im Jahre 1771 habilitierte er sich in Leipzig, ward dort 1781 außer- 
ordentlicher Professor der Philosophie, 1786 ordentlicher Professor 
der Physik und starb am Orte seiner Wirksamkeit am 17. März 1808. 
In der ersten Zeit nach seiner Ernennung zum Professor der Physik 
widmete er sich eingehend dieser Wissenschaft. Eine Arbeit über 
Wasserpumpen stammt aus dieser Periode. Seinen ersten mathematischen 
Untersuchungen entstammt ein im Jahre 1776 verfaßtes Büchlein: 
„Beschreibung einer ganz neuen Art, nach einem bekannten Gesetze 
fortgehende Zahlen durch Abzählen oder Abmessen bequem und sicher 
zu finden“. Sie kommt im wesentlichen auf die Darlegung der Idee 
hinaus, durch mechanische Mittel (Abzählen oder Anlegen eines 
Winkelmaßes) das bekannte Schema des „Siebes des Eratosthenes“, 
mittels dessen die Folge der Primzahlen hergestellt wird, zur Ab- 
lesung der Glieder arithmetischer Reihen zu benutzen. Hinden- 
burgs Vorliebe für Superlative in der Abschätzung der eigenen Ver- 
dienste kommt schon hier unverhüllt zum Ausdruck. Von diesen 
„Hindenburgschen Zahlenbogen“ ist mehrfach in Lamberts deut- 
schem gelehrten Briefwechsel (herausgeg. von Joh. Bernoulli, Berlin 
1785) die Rede, da ein österreichischer Mathematiker, Anton Felkel, 
der eine ähnliche Erfindung gemacht und bei der Berechnung von 
Faktorentafeln benutzt hatte, sie Lambert vorlegte. Zu seinen ersten 
kombinatorischen Arbeiten kam Hindenburg 1778; sie beziehen sich 
auf den polynomischen Satz, oder wie die damalige Ausdrucksweise 
lautete, auf die Potenzierung des Infinitinoms. 

Wir müssen hier eine kleine Einschiebung machen. 

Die Potenzierung des Binoms und die Beweise der binomischen 
Formel wurden früher bereits eingehend besprochen. Aber für 
unsere Zeitperiode kommen auch noch Beweise in Betracht; von ihnen 
seien diejenigen kombinatorischer Natur hier erwähnt. 

Fr. Ulr. Theod. Aepinus, 1724 zu Rostock geboren, zuerst 
Privatdozent zu Rostock, dann 1755—1757 Professor der Astronomie 
in Berlin und später in Petersburg, zuletzt in Dorpat privatisierend, 


Kombinatorik. 203 


wo er 1802 starb, beweist den binomischen Satz auf Grund folgender 
Beziehungen?): Ist 

+" -a,+be+c®+da0+e0t+:::, 
so hat man, wie gezeigt wird, für die Koeffizienten die Relationen 


“ RE RAR d db _ 1 Ön_ 5 ne 6u.b,_1-d,_9-du [3 BR 
ne Mer ran u 1.2.3.4 A. 








und daraus folgen die Werte der Binomialkoeffizienten nach Bestim- 
mung von b,, wo fürb,,,=b,+b,=(r+s)b,=(r-+) gilt. | 

Jan Hendrik van Swinden, 1746 im Haag geboren, zuerst Pro- 
fessor der Physik, dann zu Amsterdam auch Professor der Mathe- 
 matik, nahm 1798 an der Beratung über die Einführung des metrischen 
Maß- und Gewichtssystems teil; starb 1823 zu Amsterdam. Er benutzt 
zum Beweise der binomischen Formel die Relationen?) 


„en baue, =, —b, ta, 


Bi ww n 


d,_ =, —c,+b,—4,::.:. 


Auch Euler beschäftigte sich mehrfach mit der Frage nach dem 
Gültigkeitsbereiche der Newtonschen Binomialformel. Zunächst im 
Jahre 1774°). 

Hier geht er von der interessanten Bemerkung aus, daß eine 
Gleichung, in der ein Parameter » vorkommt, wohl für alle positiven 
Werte von » richtig, für die übrigen aber falsch sein könne, so daß 
also die Richtigkeit der binomischen Formel für ganzzahlige positive 
Exponenten noch keine weiteren Schlüsse auf ausgedehntere Gültigkeit 
erlaubt. Als Beispiel gibt er die Gleichung 


"1-08 W(isar) (1 —a"-}) B (1—a”)(1 aD) —ar-2) 


er Pa FAR 1—.a? 1— a? 





+», 


die er für ganzzahlige positive n beweist, aber für andere Werte von 
n als unrichtig erkennt“). Aus diesem Beispiele erhellt, daß die für 





') Nov. Comment. Petxop. 1760, 1761, VIIL, p. 169-180. ?2) Verhandl. Maatsch. 
Haarlem 1770, XII, p.334—358, °) Nov. Comment. Petrop. 1774, XIX, p. 1083—111. 
‘) Hiermit im Zusammenhange steht folgende Stelle eines Briefes von Euler an 
Daniel Bernoulli vom 16. Februar 1734 aus Petersburg datiert (Bibliotheca 
mathematica, dritte Folge, VII, p. 136; 1906): „Ich vermeinte neulich, daß nach- 
folgende Series 


m—1 (m—i1)m—10)  (m— 1)(m — 10)(m — 100) 
gar? 990 + 999 000 
(m — 1)(m — 10) (m — 100) (m — 1000) 
B 9.999 000.000 Eu 


(alwo (!) die Anzahl der Nullen im Numeratore und Denominatore einander 
3 14* 








204 Abschnitt XXI. 


ganze positive Exponenten n kombinatorisch sofort beweisbare Glei- 
chung 


A+aP-1+7 tx ns ai 


aa + ee 





noch nicht die Gültigkeit für we Exponenten n verbürgt. Nun 
setzt Euler 
| 1+76+ 


nn —1) , n(n — 1) (n — 2) >: $ 
Br N er ee. 
dann gilt also für positive ganze »n die Gleichung [»] = (1 + x)”. 
Kombinatorisch wird nun gezeigt, daß [»]: [m] = [» + m] sei, und 
daraus ergibt sich [an] = [n]* für alle beliebigen Werte von n und 





alle ganzen positiven Werte a. Ist nun [*| vorgelegt, wo p und gq ganz 
und positiv sind, so findet man F i m zn —=|[p]=(1+ x) und also 


Ed . 
er —(1+%)?. Ahnlich wird der Beweis für negative Exponenten 


geliefert. 

In der zweiten, auf den binomischen Satz kerniiden Arbeit, die 
‚ dreizehn Jahre später erschienen ist!), setzt Euler voraus, daß bei 
beliebigem Exponenten » Entwicklungen der Form 


(l1+2”"=1+Ar+B®?+02°+--., 
(1+z2t!=-1+Ax+B?+(0a°+--- 


möglich seien, und daß für n—= 0 alle Koeffizienten A, B, C,... ver- 
schwinden. Dann leitet er die Rekursionsformeln 


4-4=-1 B-BeA:. 0-0 Bil EN Mi 


ab. Setzt man N=a«n, also N=«(n+1), so wird M=«. Um- 
gekehrt folgt aus M = « durch Integration der Funktionalgleichung 
N=.an+ c, woceine Konstante ist; da fir»a=0, N=0 sein muß, 
so ist N=an die für diesen Fall allgemeine Lösung. Ebenso: ist 
N=an(n—1) also N=an(n+1)n, so ist M=2an, und um- 


gekehrt folgt aus M=«n allgemein N = —an(n — 1) usf. ° Auf 


diese Weise wird das Gesetz der Koeffizienten festgelegt; da der An- 
fangskoeffizient = 1 ist, so folgt die Newtonsche Form. / 
Auch einer hierher gehörigen Arbeit von Joh. Andr. v. Segner 





gleich sind, im Übrigen ist die Lex klar) den Logarithmum communem ipsius m 
exprimere, dann ist m =1, so ist die gantze Series = 0, ist m—=10, so kommt 1, 
ist m = 100, kommt 2, und so fortan. Als ich nun daraus den Log. 9 finden 
wollte, bekam ich eine Zahl, welche weit zu klein war, ohngeacht diese Series 
sehr stark convergirte.“ 

ı) Nov. Act. Petrop. V, 1887, p. 52. 


Kombinatorik. 205 


sei gedacht), in der die Binomialform ohne Berücksichtigung der 
Konvergenzfrage allgemein bewiesen werden soll. Segner setzt 


1er derer -s 


wo n eine ganz beliebige Größe bedeutet, beweist kombinatorisch die 
Gleichung 8,-8,—= S8,„,,, darauf direkt $ —=1-+e und dann der 
Reihe nach 8, = (1 + e)” für ganze positive, für gebrochene positive, 
für negative und endlich als Grenzfall für irrationale Zahlen. Von 
e sagt Segner, er werde „im allgemeinen“ kleiner als 1 angenommen. 
Man erkennt leicht die Ähnlichkeit seiner Schlüsse mit denen des 
ersten Eulerschen Beweises. 

Wir kehren von dieser Einschaltung zu unserem eigentlichen 
Thema zurück. 

Die Aufgabe der Potenzierung des Infinitinoms?) fordert die Be- 
stimmung des allgemeinen Gliedes in der Entwicklung einer der 
Formen 


(a+b+c+d+--)”" und l+o2+Pß2+yz? +: - +)”, 
deren zweite nach Potenzen von z geordnet zu denken ist. Über 
die Behandlung dieser Probleme durch A. de Moivre, Leibniz, 
Jak. Bernoulli wurde früher bereits berichtet. Die erste darauf 
bezügliche Untersuchung Hindenburgs bezieht sich auf die erste 
dieser Formen, die zweite Untersuchung auf die letzte, und die dritte 
Veröffentlichung ist im wesentlichen nur ein Abdruck der beiden 
ersten nebst einigen Erweiterungen und einer voraufgeschickten, sehr 
ausführlichen Geschichte des Problems®). Wir gehen etwas näher auf 
die Besprechung dieser drei Arbeiten ein. 

Durch die Benutzung der Permutationen oder der Kombinationen 
hatte man den Ausdruck für die Polynomialkoeffizienten in 


(a+b+c+:-..)” 


für jedes Aggregat a“bPer... ohne weiteres aufschreiben können. 
Aber diese Methode hatte den nicht zu unterschätzenden Nachteil im 
Gefolge, daß die Gültigkeit der Formel sich auf ganze positive Ex- 
ponenten beschränkte. Um diesem Mangel abzuhelfen, hatte eben 





. ') Nouy. M&m. de Berlin 1777, p. 37. ?) Dieser Ausdruck stammt nach 
Pfaff, „Bemerkungen über eine besondere Art von Gleichungen‘ (Der polynomische 
Lehrsatz, p. 150 Anm.) von Ernst Gottfried Fischer. °) I. Infinitinomii 
dignitatum indeterminarum leges ac formulae. Gotting. 1778. II. Methodus 
nova et facilis serierum infinitarum exhibendi dignitates exponentis indeterminati. 
Gotting. 1778. II. Infinitinomii dignitatum exponentis indeterminati historia, 
leges ac formulae, editio pluribus locis aucta et passim emendata. Gotting. 1779. 


206 Abschnitt XXI. 


jener junge Mann, dessen wissenschaftliche Ausbildung Hindenburg 
leitete, Karl Friedrich von Schönberg, den Versuch gemacht, 
das Polynomialtheorem aus dem Binomialtheorem herzuleiten, um 
jenem den gleichen Gültigkeitsbereich zu geben, wie diesem, nämlich 
den für gebrochene und für negative Exponenten; weiter gingen kaum 
weder für das eine noch für das andere Problem die Bestrebungen 
jener Zeit. Hindenburg folgte seinem Schüler in seiner ersten 





Arbeit auf diesem Wege, aber ohne Neues oder Besseres zu bieten. 
Die zweite Abhandlung beschäftigt sich mit der Form 





(1 rTesrPper is 


In ihr bringt Hindenburg die Anfänge seiner komplizierten Be- 
zeichnungsweise, die er von nun an weiter entwickelt und im Jahre 
1796 abschließend einheitlich vorträgt!). Wir wollen zunächst auf 
diese Bezeichnungsart näher eingehen. 

Bei Hindenburg bedeuten die Symbole 


m, "2y, u , 
oder in der ersten Zeit auch nur 
4288, 


die einzelnen Binomialkoeffizienten erster, zweiter, dritter, vierter, .... 
Ordnung von m Elementen, nämlich | 








my — m my — m(m — 23 7 mis — m(m — 1)(m — 2) 
1 ? 


WIrg 1,88 fa 


Hindenburg behält also, wie auch noch viel später L. Euler?), die von 
Leibniz aus guten Gründen wenigstens zum Teil verlassene Methode, 
die alphabetische Reihenfolge der Buchstaben als Anordnungs- und 





ı) „Höchst wichtiger Einfluß der Combinationslehre auf die Analysis.“ 
VI. Abhandlung mit dem vollständigen 12 Zeilen langen Titel in dem Sammel- 
werke: „Der polynomische Lehrsatz, das wichtigste Theorem der ganzen Ana- 
lysis“. Herausgegeben von C. F. Hindenburg, Leipzig 1796. 


— 2) Euler benutzt zur Bezeichnung der Binomialkoeffizienten (>) und 


[= Das erste im Jahre 1778; die Abhandlung erschien erst 1806 in den Nov. 
Act. Acad. Petrop. XV, 1806, p. 33; das zweite im Jahre 1781, Act. Acad. Petrop. 
V (1784), pars prior, p. 84. Die jetzt gebräuchliche Bezeichnung ( stammt von 


Andreas von Ettingshausen (1796— 1878), ee über höhere Mathe: 
matik, Bd. I, S. 38 (Wien 1827). | 3 


Kombinatorik. 207 


Abzählungsprinzip zu verwenden, hier und später, trotz ihrer Unüber- 
sichtlichkeit und Unbequemlichkeit noch bei. Ähnlich bezeichnet 
er generell die Polynomialkoeffizienten durch 


wi en. .; 


die Buchstaben haben hier, je nach den Potenzprodukten, mit denen 
sie verbunden sind, verschiedene zahlenmäßige bei gleicher begriff- 
licher Bedeutung. So ist z. B. 


4! 4! 
dat +ay+tayz tayzut )=egttgn®Y 





4! 4! 
ni 2 = Kg 
+ nan?V? + ppm ry2u tr 


7 5! 5! 
e(a? — ey + a’y® — z?y2 + ay?2 +... -) EM a + ey 





Une ,, ee 
try tz? 92 tr gan year 





Man sieht, daß ein Symbol wie h allerlei bedeuten kann, indem z. B. 
haryb — Barys, Hay = Cody, hatt = Dat, ... 


wird, so daß also eine deutliche Inkongruenz zwischen der Bezeichnung 
bei den Binomial- und der bei den Polynomialkoeffizienten zutage tritt. 
Die Bezeichnung der verschiedenen Klassen bei Kombinationen 
und Variationen geschieht in ähnlicher Weise. Dabei unterscheidet 
Hindenburg die Kombinationen und Variationen „an sich“, d.h. 
ihre Gesamtheit, und die „zu bestimmter Summe“ der als Zahlen 
genommenen Elemente. Zugleich ist zu bemerken, daß es sich dabei 
nicht um bloße Anzahlbestimmungen handelt, sondern daß die be- 
zeichnenden Symbole die Aufstellung aller geforderten Komplexionen 
selbst andeuten sollen. Darin beruht eine Ergänzung früherer Unter- 
suchungen der Bernoullis und Eulers, die den Kombinatorikern 
besonders wichtig erschien. 
-. Bei Hindenburg bedeuten 


"A, 'B, 'C, D,... Kombinationen erster, zweiter, dritter, ... Klasse 
ohne Wiederholungen, 

A’, B, C/, D’,... Kombinationen erster, zweiter, dritter, ... Klasse 
mit Wiederholungen, 

A, ’B,’C, ’D,... Variationen erster, zweiter, dritter, ... Klasse 
ohne Wiederholungen, 

4A/, B,0,D,... Variationen erster, zweiter, dritter, ... Klasse 


mit Wiederholungen. 
Es ist also zu setzen 


208 Abschnitt XXI. 


B=ab, ac, ad, be, bd, cd,... 
B=aa, ab, ac, ad, bb, be,... 
B=ab, ba, ac, ca, ad, da, ... 
B = aa, ab,'ba, ac, ca, bb,.... 
Die zugehörigen Anzahlen der Komplexionen werden durch ein vor- 


gesetztes N PR = numerus specierum = Anzahl der Komplexionen 
bezeichnet; das A Glied der gut geordneten Komplexionen durch 
nachgesetztes k. So ist bei vier Elementen a, b, c, d 


B4=be, B4=ad, 'B5=ad, 'Bl=aa. 
Handelt es sich um Kombinationen oder Variationen zu bestimmter- 
Summe m, so wird "A, ”B,..., "A, "B,... geschrieben. Die Ele- 
mente sind dabei als Zahlen gedacht, etwa als die natürlichen Zahlen. 
1,2,3,4,... Dabei wird z.B. 

C= 115, 124, 133, 223; 

"C= 115, 124, 133, 142, 151, 214, 223, 232, 

241, 313, 322, 331, 412, 421, 511. 

Wenn es notwendig wird, die Zahlen durch Buchstaben zu ersetzen, 


dann wird diese Art der Substitution durch einen Zeiger oder einem: 
Index angegeben. Also bedeutet ”C unter Verwendung des Index 


a) 
abcde 
aae, abd, acc, bbe; 


und i75) bedeutet bei den drei Indizes 


(12345 Ber 9 | ee 
Bl) = (apy8. BE HOERR abcde 


den Komplex der Kombinationen 


die Kombinationen 


ae, aßd, ayc, bpe. 
Hindenburg bezeichnet ferner gegebene Glieder und Koef- 
fizienten (dati) durch gewöhnliche Buchstaben, 
ABC U TUT RR. , 
e+ße+y®+-.- =r, 
und angenommene, als unbekannt angesehene (fieti) durch Buch- 
staben mit darüber gesetzten Punkten‘). Endlich werden noch 





ı) Nach Leibniz: „coefficientes ficti, qui assumuntur tamquam dati“*. 
Gegen diese Bezeichnung wendet sich Klügel (Der polynomische Lehrsatz usw. 
herausg. von Hindenburg; Leipzig 1796, p. 61): „nicht coefficientes ficti, 


Kombinatorik. 209 


Lokalausdrücke oder Lokalzeichen eingeführt; sie werden als Ab- 
kürzung des Anfangsbuchstabens von „terminus“ mit # oder 1 be-” 
zeichnet, in der Weise, daß 


pAn = ptn, pqAn, An | 
bzw. den n‘® Term der Reihe p, des Produktes pg, der dritten Potenz \ 


von g bedeutet. — Ferner bedeutet x den Koeffizienten, also pxn — 


den nt” Koeffizienten der Reihe p; so für p=a«+Pßxr+ya?+da?--- 
| »x2=ß pıl=y, Pal=o,... 


Hindenburgs wissenschaftliche Bestrebungen gingen vor allem 
auf die Benutzung der kombinatorischen Komplexe aus, und deshalb 
stellte er auch, als Erster, einfache Regeln für die Bildung von Per- 
mutationen, von Kombinations-')- und von Variationsklassen auf, um 
bei der Herstellung von Tafeln die Möglichkeit von Auslassungen 
oder von Wiederholungen auszuschließen. Weitere Beschäftigung mit 
diesem für ihn grundlegenden Problem führte ihn 1794 zu seinen 
kombinatorischen Involutionen und Evolutionen?), d. h. zu 
demjenigen Verfahren bei der Herstellung von Tabellen, nach dem 
aus den niedergeschriebenen kombinatorischen Komplexionen für n 
Elemente durch Hinzufügung nach einfachen Regeln die Komplexionen 





PS 3 ale 
4#33:211 
a 
BE 2) 
re 
" 7, Er 
5 Be Gr 
u Er 
€ 
Be en ZU | 
u 2: 7:3 
u Gr 
a ee’ 
u er 
>. 1: 234 


für (a + 1) Elemente gefunden werden können, und umgekehrt durch 
einfaches Abstreichen jene aus diesen. 





sondern incogniti oder assunti. Die unbekannte Größe in einer Gleichung 
ist keine erdichtete Größe‘. | 

1) Während man früher Kombinationen, Konternationen,... (Con 2 ationen, 
Con 3 nationen,....) unterschied, nimmt durch Hindenburg der Ausdruck „Kom- 
bination‘‘ die umfassende, jetzt übliche Bedeutung an und verdrängt das bis 
dahin gebräuchliche „Complexion“. ®) „Über eombinatorische Involutionen und 


Evolutionen“, Archiv f. reine u. angew. Math., herausgeg. von Hindenburg 
(1794), Bd. I, p. 13—46. 


210 Abschnitt XXI. 


Bei den Permutationen stellt sich der involutorische Aufbau so 
dar, wie die vorstehende Probe zeigt. Im kleinsten Winkelhaken, 
rechts oben, steht 1. Davor wird dann 2 geschrieben und darunter 
die Vertauschung 2, 1. Die erlangten beiden Permutationen der Ele- 
mente 1, 2 werden in den Winkelhaken bb eingeschlossen. Vor jede 
Permutation innerhalb bb wird das neue Element 3 geschrieben, 
darunter ein zweiter Komplex von ebensovielen Zeilen, die aus dem 
ersten Komplexe durch Vertauschung von 2 und 3 entstehen; darunter 
ein dritter Komplex, der aus dem zweiten durch Vertauschung von 
l und 2 entsteht. So hat man alle Permutationen von 1, 2,3 erlangt; 
sie werden in den Winkelhaken ce eingeschlossen. Weiter wird allen 
Permutationen aus ce das neue Element 4 vorgesetzt. Darunter schreibt 
man einen zweiten Komplex, der aus dem ersten durch Vertauschung 
von 3, 4 entsteht; darunter einen dritten, der aus dem zweiten durch 
Vertauschung von 2, 3 entsteht, und darunter endlich einen letzten 
vierten, der aus dem dritten durch Vertauschung von 1, 2 entsteht. 
So hat man die Gesamtheit der Permutationen aus den vier Elementen 
1, 2,3, 4 usf. 

Als zweites Beispiel geben wir die Herstellung der Tabelle der 
Kombinationen (nicht „an sich“, sondern) mit den „Lokalsummen“ 
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, gebildet aus den natürlichen Zahlen. In dem 
innersten Winkelhaken, oben rechts, steht die 1, als einzig mögliche 
Zerlegung der Summe 1. In die Spalte vorher, links, wird 1, 2 unter- 
einander gesetzt; diese beiden Zerleguugen der 2 werden in den Winkel- 
haken bb eingeschlossen. Um das allgemeine Fortschrittsgesetz der 
involutorischen Bildung zu zeigen, denken wir uns den Winkel- 




















ee ee A x a 
111[|1[J1 144 
li lı ll» 
ılılılrla b 
ılıltız 2 
111 731% 
ı1lıle 3: e 
11115 : 
1132.98 N 
ıl2 4 
1488 
1l6 3 
2. : 
25 
3 4 
7 A 








haken ee bereits ausgefüllt und zeigen nun die Herstellung von ff. 
Dabei enthält ee alle Zerlegungen von 5. Vor jede dieser Zerlegungen 


Kombinatorik. 211 


in ee schreiben wir 1; darunter sovielmal 2, als Zerlegungen in d 
(von 4) mit 2 oder einem höheren Elemente beginnen und hinter 
die Zweien die erwähnten Zerlegungen der 4 selbst. In die neue Spalte 
schreiben wir unter die Zweien die 3 so oft, als Zerlegungen in c (von 3) 
mit 3 oder einer höheren Zahl vorkommen und hinter die Dreien diese 
Zerlegungen selbst usf. Das Gesetz ist leicht kenntlich. 

In ähnlicher Weise werden die Variationen behandelt. 

Die Auffindung solcher involutorischen Anordnungen schien 
Hindenburg ein ganz besonderer Ruhmestitel zu sein. Das klingt 
recht naiv aus seinem Aufsatze heraus: „Mehrere große Mathematiker 
sind der Erfindung der combinatorischen Involutionen ganz nahe ge- 
wesen“; Archiv f. reine u. angew. Mathematik I (1795), p. 319—331. 
Euler, Lambert, Daniel Bernoulli werden dabei mit einer ge- 
wissen herablassenden Anerkennung erwähnt, sie seien der Lösung 
schon hübsch nahe gekommen. 

In dem Aufsatze „Die Kombinationslehre ist eine selbständige 
Wissenschaft usw.“ (12 Zeilen)!) führt Hindenburg besondere Be- 
zeichnungen für involutorisch geordnete Kombinationen und Variationen 
durch seltsam geschlungene Buchstabenformen ein; das übergehen wir 
berechtigterweise, da es keinerlei Bedeutung für die Entwicklung der 
Mathematik gehabt hat. Dagegen weisen wir gleich hier auf eine 
ähnliche involutorisch angelegte Darstellung der Zähler und der 
Nenner von Kettenbrüchen hin, die Hindenburg gleichfalls gegeben 
hat?). Nach dem bisher Besprochenen sieht man sofort, wie man die 
Nenner von 1/a,, 1/a,+1/a,, 1/a, + 1/a,+ 1/a,,---, d.h. die Ausdrücke 
a, 4a, +1, a,a,a, + A, + a,,:-- aus der Buchstaben- und Zahlenanord- 
nung in den einzelnen Winkelhaken entnimmt, und wie diese Anord- 
nungen hergestellt werden können. Hindenburg bespricht a. a. O. 














a,la,|e, | lo 
a, \a,|a, | 1 
a.lale, 

1% 

ai 1 

a: 

% 

u 








die zugehörigen Regeln in der allerbreitesten und ausführlichsten Form. 
Seine Resultate preist der Erfinder mit überschwenglichen Worten. 





‘) In dem Sammelwerke: „Der polynomische Lehrsatz, das wichtigste 
Theorem der ganzen Analysis“, Leipzig 1796, p. 303. ?2) Archiv f. reine u. 
angew. Math. Hindenburg (1794), p. 47—69; p. 154—19%4. 


212 Abschnitt XXI. 


Er ist ein Mann der Superlative; er läßt keine Gelegenheit vorüber- 

gehen, ohne sich selbst und seine Involutionen in das strahlendste 

Licht zu setzen; er hat die unbedingteste Hochachtung vor den Er- 

gebnissen und den Fortschritten, die ihm die Wissenschaft verdankt. 
Bei der Potenzerhebung von Reihen setzt Hindenburg 


"= lt +++ "—(l + Y)” 
und führt dadurch die Frage auf die Herstellung der Potenzen 
(2 +WPR+ae+::) 
zurück; denn q” besitzt als Faktor der Potenz 2* das Aggregat 
Yyak +" ByIkk — 1) +"CyiIk—2)+. = (l+Yy"rlk+1). 
Das ist eine sogenannte Lokalformel, die die Lösung vermittelt. 
Von ihr aus muß man zu den rein kombinatorischen Formeln über- 
gehen; denn!) „das Direktorium führt die Analysis. Diese läßt ihre 
Verordnungen durch Lokalformeln ergehen und überläßt die Voll- 
ziehung derselben den combinatorischen. Die Analysis kann nicht 
deutlicher und vernehmlicher sprechen als in Lokalformeln; ihre Be- 
fehle können nicht pünktlicher und prompter vollstreckt werden, als 
durch combinatorische“. — „Die Analysis zeigt, was zu tun sei; die 
Kombinatorik, wie es zu tun sei.“?) | 


Um von der Lokalformel zur kombinatorischen Formel zu ge- 


langen muß 
yalysartg®taget:::) 


hergestellt werden. Bei unserer (von der Hindenburgschen schwer- 
fälligen etwas abweichenden) Bezeichnung wären alle Produkte 


0,0 


ig 


& 


GG > . . [2 & . 
1, 13 in? 


bei denen 
ut Fa +: > +1 
ist, herzustellen. Bei Hindenburg tritt wegen der Schreibweise 
y=zaz+ß?+y+ör+--- 
der Zeiger oder Index 
aßyd... 
kr 23 4,. ) 


in Kraft, um die Frage auf die Kombinationen n“* Klasse mit der 





1) „Höchst wichtiger Einfluß“ usw. siehe oben, p. 308. ?) „Novi syste- 
matis permutationum, combinationum et variationum ... primae lineae‘“, Lips. 
1781, p. IV: „Analysis ostendit, quae sunt agenda; ars combinatoria, quomodo 
sint agenda“. 


Kombinatorik. 213 


Lokalsumme A zu übersetzen. So beantwortet er denn die Frage 
durch das auszuführende Symbol für Kombinationen, in dem N die 
n"® Klasse generell repräsentiert, 


aa... 
N # Py°.. Ä ; 
Von diesen Kombinationen kommt er durch Hinzufügung des Zeichens 
für Polynomialkoeffizienten zu den Variationen, und die Lösung der 
Aufgabe wird durch y"14 = wNz* vermittelt. Für die Koeffizienten 
von q” gilt die Gleichung 
g"a(k +1) ="UatA +BbB He CH--;; 


in ihr ist das Hauptresultat der Hindenburgschen Untersuchungen 
enthalten. Sie gibt also ein mechanisches Verfahren, um den Koef- 
fizienten von 2* m (l+«2+ ßz2?+-- :)" zu bestimmen. 


Ist eine Summe a+bx +cx? + dx?’ + --- vorgelegt, in die für 
x zu substituieren it 1# a2 + ß2?+yz?+---, so ist nach der Be- 
stimmung von 2°, x°,... die Substitution in den einzelnen Summanden 


vorzunehmen. Das nennt Hindenburg „die Methode der Potenzen“. 
Auf sie ist er besonders stolz. 

Die besprochene Verwendung der Kombinatorik bei Potenz- 
erhebung zeigt uns, wie Hindenburg zu seinen Untersuchungen ge- 
führt wurde!). „Bisher hatte man sich in der Kombinationslehre fast 
nur allein um die Menge und Anzahl der Verbindungen und Ver- 
setzungen gegebener Dinge gekümmert?), ihre wirkliche Darstellung 
aber, die für die Analysis so wichtig ist, fast ganz übergangen oder 
nur jener Zahlen wegen in Betrachtung gezogen. Hier war also noch 
viel zu tun übrig; und es ist in der Tat unbegreiflich, wie ein so 
großes, fruchtbares Land so lange hat unbebaut liegen bleiben 
können.“ 

Zur Untersuchung der Variationen führte ihn das Problem der 
Multiplikation von verschiedenen Reihen, wie ihn die von gleichen 
Reihen auf das Studium der Kombinationen geleitet hatte. Ist etwa beı 


p=ax+ba +ca +. , geas+ßatye+t:-;, 
r=a2x +b2? +02? +--- 


das Produkt pgr zu bilden und nach Potenzen von x zu entwickeln, 
so gilt für den Koeffizienten von x” der kombinatorische Ausdruck 





!) Leipz. Magazin f. reine u. angew. Math. (1786), Heft 3, p. 323. *) Vgl. 
jedoch diese Vorlesungen, Bd. III?, S. 342 angeführte Tabelle des Franciscus 
van Schooten. 


214 Abschnitt XXI. 
par 
r 


mit den Zeigern 
138.,, Inn... i9%,,, 
2 (> = (ve,..)> rl) 
deren erster, zweiter, dritter die Übersetzung der ersten, zweiten, 
dritten Elementenzahl der Variationen dritter Klasse zur Summe A in 
die entsprechenden Lettern vermittelt. : | 
Befremdlich mag es bei den obigen Darlegungen erscheinen, daß 


die kombinatorische Schule den Schritt: von der Verwendung von 
Buchstaben zu Zahlen nur so langsam und gewissermaßen wider- 


‘ strebend hat tun können; daß sie die Einführung von „Zeigern“ nicht 


\ durch die Benutzung von Zahlindizes überflüssig gemacht hat. “Und 


ar 
— 


dabei war Hindenburg bereits 1783 zu der Erkenntnis gekommen 
und hatte sie im $ III der oben angeführten „lineae“ zum Ausdruck 
gebracht, daß die Verwendung von Zahlen als Elemente der von 
Buchstaben weit überlegen sei. Allein zu der nötigen Folgerung 
drang er nicht vor.» 

In der gleichen Abhandlung „novi systematis primae lineae“ 
wird die Reihe der Anwendungen der Kombinatorik auf die Analysis | 
ausführlich angegeben ($ IV). Es wird angeführt: 1) Multiplikation 
von Reihen; 2) Division von Reihen; 3) Potenzieren und Radizieren 
von Reihen; 4) Substitution von Reihen in Reihen; 5) Elimination; 
6) Rationalisierung irrationaler Ausdrücke; 7) Interpolation; 8) Trans- 
formation; 9) Umkehrung von Reihen; 10) Darstellung von trigono- 
metrischen und anderen transzendenten Funktionen durch Reihen. — 
Alle diese Probleme, oder genauer nur ihre formale Seite, bespricht 
Hindenburg 1. ce. ausführlich und gibt am Schlusse der Abhandlung 
zu jedem Problem zugehörige Tabellen mit den fertigen Resultaten der 
einfachsten Fälle. 

Als Beispiel geben wir eine Formel von J. K. Burekhardt (1773 
bis 1825), einem unter v. Zach zum Astronomen ausgebildeten Ge- 
lehrten. Sie gehört zur Anwendung 10) und lautet?) 

"Atanga — "CL tang’a +”"Etang’« — * 
1— "Btang’« + "Diang’«a —-- 





tangna = 


Das am meisten, am eingehendsten und mit dem größten Erfolge 
behandelte Problem war das der (formalen) Umkehrung unendlicher 
Reihen „reversio serierum“. Ist die Reihe 


Vena ut ep 





') „Nova acta Academ. electoralis Moguntiae scientiarum utilium, quae 
Erfurti est“. I, Erf. 1799, p. 295—316. 


Kombinatorik. 215 


gegeben und wird daraus die Entwicklung 
Pr B(y+9) ß(y+29) 
allen #7 Auf 120.07 70 207 A117 Be EEE 227 

gesucht (wobei die oben angegebene Schreibweise über den A,, A,,... 
als „angenommenen“ Koeffizienten eigentlich noch Punkte gefordert 
hätte), so erhält man rekurrierende Formeln für die A,, A,, As, :-. 
durch die Lokalformeln 

Arnsi=1, Arpx2 + A, Prl=0, 

A,px3 + A,p?#»2 + Ar’rl=0,... 





Eine independente Formel für die Lösung des Umkehrproblems 
fand zuerst Eschenbach. — Hieron. Christoph Eschenbach 
war 1764 zu Leipzig geboren; er hatte dort unter dem Einflusse der 
Hindenburgschen Schule gestanden; seit 1790 als Ingenieur-Kapitän 
im Dienste der holländisch-ostindischen Kompagnie, wurde er weit in 
der Welt umhergeworfen; er starb 1797 zu Madras in Vorderindien 
als englischer Kriegsgefangener. In seiner 1789 zu Leipzig erschienenen 
„Dissertatio de serierum reversione, formulis analytico-combinatoribus 
exhibita“ stellt er das allgemeine Glied der Entwicklung von x’ nach 
Potenzen von y mit Hilfe kombinatorischer Operationen her. Seine 
Ergebnisse waren aber insofern unbefriedigend, als diese Formel nur 
durch unstrenge Induktion erlangt war und eines Beweises ermangelte; 
dann aber auch dadurch, „daß die Harmonie in den einzelnen 
Gliedern der Formel vermißt wurde, wo ungleichnamige Buchstaben 
mit einander verbunden sind, A mit bB, und ® mit (©, u. s. w.“), 
Dem letzten Mangel half Hindenburg ab?’), der vollkommen sym- 
metrisch und in der geforderten harmonischen Darstellung die allge- 
meinere Aufgabe löst, aus der Relation 


ad batrdi rear r... — ay* N By +9 E% yyr+2d +... 


die Darstellung einer beliebigen Potenz x° von x als Potenzreihe von 
y herzuleiten. Den ersten Mangel jedoch beseitigte erst 1793 ein 
Schüler Hindenburgs, Heinr. August Rothe, der, 1773 zu 
Dresden geboren, dort die Kreuzschule besuchte, in Leipzig Dozent 
und a. o. Professor war, darauf von 1800—1804 als Privatmann in 
Freiberg lebte, dann als o. Professor der Mathematik an der Univer- 
'sität zu Erlangen wirkte, 1823 in den Ruhestand trat und 1842 starb. 
Er führt den Beweis der Formel auf doppelte Art; einmal auf rein 





ı) H. A. Töpfer, „Combinatorische Analysis und Theorie der Dimensions- 
zeichen in Parallele gestellt“. Leipzig 1793, S. 170. 2) Problema solutum 
maxima universale ad serierum recursionem formulis localibus et combinatorio- 
analyticis absolvendum paralipomenon. Lips. 1793. 


- 


216 Abschnitt XXI. 


kombinatorischem Wege durch den Schluß von » auf (a +1) und 
einmal mit Hilfe der Differentialrechnung!),. Rothe gibt der 
Eschenbachschen Formel den Ausdruck in Lokalzeichen 


. _yt+nd Bw+nd) 
gain +1) Pe „n+l)y ° , 
wobei 
p = yP — ax. + ba +3 $ ex +29 +..., 
PY PY+9) B(y+29) 
= AIE TBU N er 
zu setzen ist?). In Worten heißt dies: „das (n + 1)' Glied der Reihe 


für «7 ist gleich dem Produkte des (n + 1)'%® Koeffizienten der Potenz 
_Y+nd { h i P(y+nd) 
» “ der Reihe für y? in die Größe Be MITTEN 

Dieses elegante Resultat verknüpft die Umkehrung der Reihen 
mit dem Polynomialtheorem. Das mag wohl den mit keinem allzu 
weiten Blick begabten Hindenburg zu der Meinung geführt haben, 
es sei „der polynomische Lehrsatz das wichtigste Theorem der ganzen 
Analysis“. 

Durch die Eschenbach-Rothesche Formel wurde für die Kombi- 
natoriker die Untersuchung und die Benutzung der Lokalzeichen in 
den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Ihnen wurde nun eine ganze 
Reihe von Arbeiten gewidmet. Rothe selbst versucht durch Auf- 
stellung von Lokalformeln für Produkte aus Potenzen von Reihen 
diese Lokalzeichen von den kombinatorischen Zeichen unabhängig zu 

__machen?). Es gelang ihm, aus seiner Formel die bekannte, von La- 
\ grange 1768 ohne Beweis gegebene für die Umkehrung von Funk- 
| tionen herzuleiten, d.h. die, durch die eine willkürliche Funktion 
(x) der durch 2=y-+zf(y) bestimmten Variablen x in eine nach 
Potenzen von z fortschreitende Reihe entwickelt wird*). Hier setzt 
eine Arbeit Pfaffs ein. Johann Friedrich Pfaff wurde 1765 zu 
Stuttgart geboren; er zeigte schon als Zögling der Karlsschule seine 
hervorragende Begabung für Mathematik; auf Veranlassung des Her- 
zogs Karl studierte er in Göttingen, ging 1787 als Astronom zu 
Bode nach Berlin, von da bald darauf nach Wien und ward 1788 
als Professor der Mathematik nach Helmstädt berufen. Von der 
westfälischen Regierung wurde er 1800 als Professor nach Halle a. S. 














1) Formulae de serierum reversione, demonstratio ete., Lips. 1793. 
2) Oder (nach Rothescher Bezeichnung), wobei die beiden Skalen gelten 
p(a,b,e,..) und g(4,B,0,...). | 
®) Archiv f. reine u. angew. Mathem. I (1794), p. 220—223, 223—232. *) Ibid. 
I (1794), p. 442. 


Kombinatorik. 217 


versetzt, wo er 1825 starb. Pfaff schlägt in der oben erwähnten 
Arbeit den umgekehrten Weg ein wie Rothe: er gibt zunächst 
einen Beweis für den Lagrangeschen Satz und folgert aus ihm die 
Lokalformel für die Umkehrung der Reihen). Von Pfaff erwähnen 
wir hier gleich noch das Werk: „Disquisitiones analyticae maxime ad 
caleulum integralem et doctrinam serierum pertinentes“, Helmstädt 
1797, I (einziger Teil. In dem hierin befindlichen „Traetatus de 
reversione serierum sive de resolutione aequationum“ werden die 
Untersuchungen über die Lagrangesche Reihe und die Rothesche 
Formel zusammengestellt; weiter findet sich in ihm ein Überblick 
über die Kombinationslehre und eine Ableitung des polynomischen 
Satzes. 

Große Aufregung wurde in den Reihen der Kombinatoriker 
durch das Erscheinen eines Buches hervorgerufen: „Theorie der 
Dimensionszeichen nebst ihrer Anwendung auf verschiedene Materien 
aus der Analysis endlicher Größen, Teil 1 und 2, Halle 1792“. Diese 
Schrift stammte von Ernst Gottfried Fischer, der 1754 in Hohen- 
eiche bei Saalfeld geboren war, zunächst in Halle a. S. Lehrer am 
Pädagogium der Franckeschen Stiftungen wurde, dann seit 1787 
Professor der Physik und Mathematik am grauen Kloster zu Berlin 
und der gleichzeitig der Akademie der Wissenschaften angehörte. Er 
starb 1831 zu Berlin. Die durch seine Veröffentlichung hervor- 
gerufene Aufregung grenzte an Empörung. Und das ist erklärlich; 
denn die Schrift enthielt, als eine Erfindung Fischers, die Theorie 
der kombinatorischen Analysis, wie sie von Hindenburg ausgearbeitet 
worden war, in, so schien es, nur oberflächlich, und nicht einmal zu 
ihrem Vorteile verändertem Gewande! Es kommt in ihr in der Tat 
wenig Neues vor, abgesehen von einer eigentümlichen Bezeichnungs- 
_weise, aus der, wie zu glauben nahe lag, die Absichtlichkeit in der 

Verschiedenheit allerorten herausbliekte. Hindenburg selbst hielt sich 
dieser Veröffentlichung gegenüber mit seiner Meinung vornehm zurück 
und erwähnt nur ganz gelegentlich die „Dimensionszeichen“; seine 
Schüler, zumal Rothe und Heinrich August Töpfer traten um 
so entschiedener und lauter für ihren Lehrer gegen den „Plagiator“ 
auf. Töpfer war 1758 zu Leisnig in Sachsen geboren; er wuchs in 
ärmlichen Verhältnissen auf und wurde Schreiber beim Appellations- 
rat v. Schlieben. Dieser ward auf seine hervorragende Begabung 
aufmerksam und setzte ihn in den Stand, an der Universität Leipzig 
Mathematik und Physik zu studieren. 1798—1828 lebte er als Lehrer 
an der Fürstenschule zu Grimma und starb im Ruhestand 1833 zu 





') Archiv f. reine u. angew. Math. I (1794), p. 81—84, 85-—88. 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 15 


218 Abschnitt XXI. 


Dresden. Er veröffentlichte 1793 zu Leipzig als Sachwalter Hinden- 
burgs eine geharnischte Schrift: „Combinatorische Analytik und 
Theorie der Dimensionszeichen in Parallele gestellt“, in der er das 
Fischersche Buch als ein „Beispiel von Dreistigkeit hinstellt, wie es 
in den Geschichtsbüchern der Wissenschaften vielleicht ohne seines 
Gleichen ist“. H. A. Töpfer versucht es, Belege dafür beizubringen, 
daß Fischer die Hindenburgschen Untersuchungen gekannt habe. 

Zu seiner Verteidigung veröffentlichte G@. Fischer 1794 die 
Schrift: „Über den Ursprung der Theorie der Dimensionszeichen und 
ihr Verhältnis gegen die combinatorische Analytik des Herrn Pro- 
fessor Hindenburg“, in der er den Nachweis zu liefern unternimmt, 
daß die Übereinstimmung eine naturgemäße Folge der Behandlung 
von gleichen Problemen (der Umkehrung der Reihen, sowie der Poten- 
zierung von Polynomen) sei. Über seine Kenntnis der Hindenburg- 
schen Arbeiten äußert sich Fischer: „Ich versuchte mehr als einmal, 
diese Schrift“ (das Nov. Syst.) „durchzulesen, aber ich gestehe auf- 
richtig, daß mir immer die Geduld ausging, ehe ich noch mit den 
Definitionen, welche zwölf Quartseiten füllen, fertig war“). In dem 
Sammelbande der Königlichen Bibliothek zu Berlin, der die Fischer- 
sche Antwort-Schrift enthält, sind ihr zwei Manuskripte vorgeheftet; 
das erste ist eine kurze Verteidigung von Fischer selbst; das zweite 
rührt her von Abel Bürja, Professor der Mathematik an der Academie 
militaire zu Berlin und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. 
Er, „ayant soigneusement examine“ Fischers Verteidigungsschritft, 
tritt unbedingt für ihn ein. Mancher andere tat das gleichfalls; alleın 
die Männer der kombinatorischen Schule konnten sich weder zufrieden 
geben, noch mochten sie ihre Angriffe einstellen. So blieb die An- 
— gelegenheit bis zum September 1802 in der Schwebe. Da erschien 
in Nr. 169 des „Intelligenzblattes der allgemeinen Litteraturzeitung‘“ 
eine, durch ein anonymes Schreiben an die Redaktion vom Jahre 1800 
veranlaßte Erklärung von W. Pfaff, der damit „eine erwünschte Ge- 
legenheit ergriff, etwas zur Ehrenrettung Fischers beizutragen“. Es 
stellte sich heraus, daß Pfaff im Besitze mehrerer Briefe Fischers 
sich befand, die sich auf den Gegenstand des Streites bezogen; die 
Existenz dieser Briefe hatte Pfaff vergessen; durch die anonyme An- 
frage wurden sie in sein Gedächtnis zurückgerufen. Und diese Briefe 
zeigten durch Inhalt und Datierung unwiderleglich, daß von einem 
Plagiat keine Rede sein konnte! Hindenburg erklärte denn auch 
in Nr. 193 des Intelligenzblattes: „So nehme ich nun weiter keinen 
Anstand, unaufgefordert, aus freier Bewegung Fischer von jenem 





1, S. XIH der Einleitung. 


Kombinatorik. 219 


Verdachte frei zu sprechen“. Damit war die unerquickliche An- 
gelegenheit beendet. 

Unter den Vertretern der um Hindenburg gescharten kombina- 
torischen Schule haben wir bereits Eschenbach, Rothe, Töpfer 
uud Pfaff angeführt. Neben ihnen sind noch Kramp und Klügel 
zu nennen. Christian Kramp wurde 1760 zu Straßburg i. E. ge- 
‘boren und starb daselbst 1826; er führte ein unstetes Leben, durch- 
zog Deutschland und die Nachbarländer, war Mediziner, Hebammen- 
‚meister, Physikus, Professor der Chemie und Physik zu Köln und 
endlich, nachdem er sich als Liebhaber mit der Mathematik beschäftigt 
hatte, Professor der Mathematik zu Straßburg. Er schrieb eine Fieber- 
lehre nach mechanischen Grundsätzen, eine Kristallographie des 
Mineralreiches, eine Geschichte der Aerostatik, über eine geometrische 
Analyse der Kristalle u. a.; seine Untersuchungen über Infinitinome 
lassen ihn als zu den Kombinatorikern gehörig erscheinen. — Georg 
Simon Klügel, 1739 zu Hamburg geboren, 1812 zu Halle gestorben, 
Professor zu Helmstädt und dann zu Halle, mehr vielseitig als tief, 
‚hat in seinem mathematischen Wörterbuche die Artikel, die der Kom- \ 
binatorik gewidmet waren, besonders eingehend behandelt. 
® In seinen Schriften beruft sich Hindenburg oft darauf, daß 
Leibniz an die Entwicklung der Kombinatorik die größten Er- 
wartungen geknüpft und von ihr weittragende Resultate erwartet und 
vorausgeahnt habe. In der Tat spricht sich Leibniz häufiger in 
diesem Sinne aus; das eine Mal (vgl. diese Vorlesungen 111°, S. 112) 
an einer Stelle, an der er sich über die Einführung eines Algorithmus 
äußert, den wir jetzt als Determinantenbildung bezeichnen. Er sagt 
dort: „Man sieht hieraus, daß die Vervollkommnung der Algebra von 
der Kombinatorik abhängt“. Um so auffälliger ist die geringe Beteili- 
gung der kombinatorischen Schule am Ausbau der Determinanten, des 
mächtigsten und wichtigsten kombinatorischen Hilfsmittels. Hinden- 
burg ist der Einzige, der sich gelegentlich einmal mit diesem Zweige 
der Wissenschaft befaßt; aber freilich ohne neues zu geben. Er 
referiert‘) über Cramers und B&zouts Resultate. Das einzig Selb- 
ständige dieser Arbeit war die Übertragung der Determinanten- 
entwicklung in kombinatorische Zeichen. — 

Über die weitere Entwieklung der Determinanten in unserem 
Zeitraum wird bei der Behandlung der linearen Gleichungen die 
Rede sein. — 

Von Euler, dessen weit fassender Geist keinem Zweige der 





') Praefatio zum „Specimen analytieum de lineis eurvis secundi ordinis“, 
Lipsiae 1784. 
| 15* 


220 Abschnitt XXI. 


Mathematik fern blieb, ist auch bei der Behandlung der Kombinatorik 
Erwähnung zu tun. Es gehören zwei Arbeiten hierher, die er beide 
im Titel als „merkwürdige Fragen“ bezeichnet; die erste: „Solution 
d’une question curieuse qui ne parait soumise ä aucune analyse“ er- 
schien 1766 in der Histoire de l’Acad. ä Berlin für 1759; p. 310—337. 
Sie behandelt die zufällig an Euler herangetretene Aufgabe des 
Rösselsprunges, d. h. die, einen Springer in seiner eigentümlichen 
 Fortbewegungsart so über das ganze Schachbrett von 64 Feldern zu 
führen, daß jedes der Felder einmal und nur einmal besetzt wird. 
Zu dieser einfachsten Aufgabe können noch komplizierende Forde- 
rungen treten; so etwa, daß vom letzten besetzten Felde ein einziger 
Springerzug wieder auf das Ausgangsfeld zurückführt; oder daß, wenn 
die der Reihe nach besetzten Felder mit fortlaufenden Nummern 
1,2,3,... 63, 64 bezeichnet werden, die Differenz der Nummern je 
zweier zur Mitte symmetrischer Felder stets 32 betrage. Auch an 
die Zahl der Felder des Schachbrettes. ist das Wesentliche des Pro- 
blems nicht geknüpft; die entsprechende Forderung kann für ein Recht- 
eck von a-b Feldern aufgestellt werden, die sich in a Zeilen und 
b Spalten verteilen. Euler behandelt die Frage derart, daß er einen 
Rösselsprungweg aufs Geratewohl vornimmt und ihn so weit als 
möglich fortführt; ist eine Fortsetzung nicht mehr möglich, sind da- 
bei aber noch freie Felder des Schachbrettes vorhanden, dann wird 
der Rösselsprungweg in zwei Teile zerlegt, die, anders miteinander ver- 
knüpft, einen neuen Rösselweg geben, der alle früheren Felder umfaßt und 
einen neuen Endpunkt hat; von ihm aus ist möglicherweise ein noch 
freies Feld zu erreichen. Daß durch solche Methode bei geschickter 
Zerlegung die Aufgabe gelöst werden kann, scheint durch die ge- 
gebenen Beispiele gewährleistet; bewiesen wird es nicht. 

Die zweite „merkwürdige Frage“ wurde am 18. Oktober 1779 
von Euler vor der Petersburger Akademie behandelt, aber erst 
28 Jahre nach dem Tode des Verfassers veröffentlicht: Balrtie quae- 
stionis curiosae ex doctrina combinationum“, Mem. de St. Peters- 
burg III (1811), p. 37—64. Es ist die, bereits von P. R. de Mont- 
mort und Nicolas I. Bernoulli als „Jeu de treize“ oder „Jeu de 
rencontre“ untersuchte (vgl. auch diese Vorlesungen IIP, S. 357), die 
bei Euler in der Fragestellung auftritt: bei wievielen der n! Permu- 
tationen unter » verschiedenen Dingen steht mindestens eins der Ele- 
mente an seiner ursprünglichen Stelle?!) Auf die gleiche Frage war 
Johann Heinrich Lambert gestoßen?); sie steht bei ihm im Zu- 





) Vgl. auch Euler, M&m. de Berlin 1751 (1753), p. 255—270. 2) Ibid. 
1771 (1773), p. 411—420. 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 291 


sammenhang mit den Wetterprophezeiungen und ihrer Richtigkeit, 
wobei es sich darum handelt, zu untersuchen, wie oft das willkürlich 
prophezeite Wetter mit dem wirklich eintreffenden übereinstimmt, 
Waring behandelte, wie Lambert, die gleiche Aufgabe als Wahr- 
scheinlichkeitsproblem!'). 

Endlich gehört hierher noch die ee wishung einer Arbeit von 
Gaspard Monge, die der Besprechung eines „Kartenkunststückes“?), 
genauer der einer Mischungsmethode für Karten. gewidmet ist. Sind 
m Karten gegeben, so findet eine erste Mischung so statt, daß Karte 2 
auf Karte 1, Karte 3 unter 1 gelegt wird; dann 4 auf die obere 
5 unter die untere; 6 auf die obere, 7 unter die untere usf. Bei 10 Karten 
entsteht z. B. 


aus der ersten Lage 1 2 3 4 5 G 1.8-9 10 
als zweite Lug 108642153579. 


Von dieser neuen Anordnung kommt man auf die gleiche Weise zu 
einer weiteren; hier 


a Lahn 2.307 
usf. zu den aufeinander folgenden Lagen 


2045918635 
9 9 4 2 (30 5.1 6 
WE : FOR Gr San > Pe Zune: ae Ui BR | 
En Be ee 


Wie in diesem Beispiele, so kommt man stets zu der ursprüng- 
lichen Anordnung zurück. Monge untersucht die hierbei eintretenden 
Umstände und Gesetzmäßigkeiten. Er zeigt, daß wenn zwei Spalten 
in einem Elemente übereinstimmen, sie dann in allen übereinstimmen, 
und daß die Folgen in vertikaler Richtung zyklisch die gleichen sind. 
Dabei können kleinere Perioden eintreten, wie hier bei 2, 8, 5 und 

auch bei 4. Er berechnet die Anzahl der Mischungen, die notwendig 
; sind, um die anfängliche Lage herbeizuführen. 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 


Der bisherigen, wohlbegründeten Gepflogenheit dieses Werkes gemäß 
wenden wir uns nach der Besprechung der Kombinatorik zur Wahrschein- 





1) „An essay on the principles of human knowledge“, Cambridge 1794 
(Addenda). 2) M&m. Acad. pres. p. div. Savans, Paris 1773 (1776), VII, 
p. 390—412. 


222 Abschnitt XXI. 


lichkeitsrechnung, als dem hauptsächlichsten Anwendungsfelde kombina- 
torischer Methoden und Resultate. Der Zeitraum, auf den wir ein- 
zugehen haben, ist gerade in diesem Gebiete reich an bemerkenswerten 
Fortschritten; neue Methoden der Untersuchung werden aufgefunden, 
neue Forschungsgebiete erschlossen; die Wissenschaft tritt in engste 
Beziehung zur Praxis, zur Völkerwohlfahrt. 

Gleich zu Anfang dieser Periode entbrennt ein Kampf um oder, 
vielleicht genauer, ein Angriff gegen die Prinzipien der Wahrschein- 
lichkeitsrechnung, in dem sich d’Alembert als leidenschaftlicher 
Rufer im Streite zeigt. Auf seine Plänkeleien in den Artikeln „eroix 
ou pile“ und „gageure“ der Enzyklopädie wurde, der Zeit ihrer 
Entstehung gemäß, bereits eingegangen (III, S. 639). Auch in seinen 
späteren Schriften kommt er ausführlich auf die Frage zurück, wie 
groß die Wahrscheinlichkeit sei, mit einer Münze in zwei Würfen 
mindestens einmal „Kopf“ zu werfen. D’Alembert hatte als Mög- 
lichkeiten angenommen: entweder es fällt auf den ersten Wurf Kopf, 
und dann ist das Spiel bereits entschieden; oder es fällt Schrift und 
dann Kopf; oder endlich zweimal Schrift. Von diesen drei Fällen 
sind zwei günstig, also ist die Wahrscheinlichkeit, mindestens einmal 


Kopf zu werfen w = = Auf den Widerspruch hin, den diese An- 


schauung von hervorragenden Seiten erfuhr, schwankt d’Alembert 
zwischen der Meinung, daß diese drei Möglichkeiten gleich berechtigt 
seien, und der, sie seien es nicht. Im zweiten Bande seiner „Opus- 
cules Math&matiques“ heißt es auf S. 21: „Gleichwohl möchte ich die 
drei Fälle, um die es sich handelt, nicht ın aller Strenge als gleich 
möglich ansehen“; dann wieder im vierten Bande, $. 289: „Je mehr 
ich darüber nachdenke, desto mehr scheint es mir, daß diese drei 
Fälle, mathematisch gesprochen, gleich möglich sind.“ Ebenda be- 
streitet er mit ganz nichtigen Behauptungen den schlagenden Einwurf, 
man könne statt zweimal hintereinander mit nur einem, auch 
gleichzeitig mit zwei Geldstücken werfen; dabei ergibt sich nämlich 


zweifellos w = 2 An der ersterwähnten Stelle finden sich seine 


Angriffe gegen die geltende Lehre in dem Aufsatze „Reflexions sur 
le caleul des Probabilites“, p. 7—26, Paris 1761 im Zusammenhange 
dargelegt. Er behandelt zuerst den Begriff der mathematischen Er- 
wartung (diese Vorlesungen III’, S. 631), demzufolge, wenn 9,, Ps, 
Pa, ... die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens verschiedener, mit den 
bezw. Gewinnen 9,, 99, 93, - .. verknüpften Ereignisse sind, die mathe- 
matische Erwartung den Wert 9,9; + 98Pg + 9595 +: habe. Das 
Petersburger Problem (ibid. 5. 633) muß als Sturmbock gegen die 
Regel dienen, den Einsatz dieser Größe gleich anzunehmen: Paul solle 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 223 


dem Peter 1 geben, wenn dieser bei seinem ersten Wurfe mit einer 
Münze Kopf werfe, dagegen 2, 4, 8, 16,..., wenn Kopf erst beim 
zten, Bien, 4ten, Hin ,„.. Wurfe erscheine. Peters Einsatz müßte 


1 1 1 1 
VS 0 le a RT sine 


und so ohne Ende weiter, müßte also oo sein. Das widerspricht dem 
gesunden Verstande; wer würde selbst nur eine mäßige Summe 
als Einsatz bei diesem Spiele wagen? Zur Erklärung dieses Dilemmas 
‘wurden am angegebenen Orte zwei Versuche angeführt, der von Cramer 
und der von Daniel Bernoulli; hier stoßen wir auf einen dritten. 
D’Alembert schließt, daß wenn die Wahrscheinlichkeit eines Ereig- 
nisses sehr klein ist, sie gleich Null gesetzt werden muß; man dürfe 
diese Wahrscheinlichkeit also nicht, wie die Theorie es vorschrieb, 
mit dem erhofften Gewinne multiplizieren, um die mathematische Er- 
wartung, d. h. die Höhe des Einsatzes zu finden. Übrigens war 
d’Alembert nicht der Erste, der auf diese Idee kam; Nicolas I. 
Bernoulli hatte 1709 ähnliches, aber ‚vorsichtiger ausgesprochen 
(Vorlesungen III?, 8. 336, Anm. 3); und Buffon schließt in 
seinem „Essai d’Arithmetique morale“ (Nr. VIII) aus der Betrach- 
tung der menschlichen Handlungen im gewöhnlichen Leben, daß man 


jede Wahrscheinlichkeit, die nicht größer als Zoos ist, gleich Null 
setzen kann und muß; für einen gesunden Mann von 56 Jahren sei die 


Wahrscheinlichkeit, binnen 24 Stunden zu sterben, gleich Zn; 
Mensch aber rechne mit dieser Wahrscheinlichkeit; jeder setze sie 
einfach =0. Diese Anschauung wird von Condorcet (Essai sur 
application ete.; Preliminaire p. CVIII) einer kritischen Prüfung 
unterzogen und widerlegt. Buffon teilte seine Auffassung von kleinen 
Wahrscheinlichkeiten 1762 Daniel Bernoulli mit, der sie unter 
vorsichtiger Einschränkung als „moralische Wahrscheinlichkeit“ gut- 
hieß. D’Alembert ist sich selbst über die Grenze, unterhalb deren 
die Wahrscheinlichkeit gleich Null gesetzt werden soll, nicht im 
klaren. 

‚Es mag hier gleich erwähnt werden, daß Condorcet, über 
dessen tragische Lebensschicksale wir später berichten werden, in der 
„Histoire de l’Acad. de Paris“ 1781, p. 707 auf eine Analyse der 
mathematischen Erwartung 9,9, + 939, + 959, +: :- genau eingeht. 
Zuerst macht er darauf aufmerksam, daß dieser Wert nur als Mittelwert 


kein 


Geltung hat. Ist p, = — 9, = 1, so ist die mathematische Erwartung 


1 ; EIRE > . 
5 , trotzdem nur Gewinne O oder 1, aber nie 5 vorkommen können. Die 


224 Abschnitt XXI. 


Regelung der Einsätze muß billigerweise so geschehen, daß 1. der 
Fall, in dem weder Gewinn noch Verlust für einen Spieler eintrifft, 
der wahrscheinlichste ist; daß 2. die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen 


oder zu verlieren, für beide Spieler — e wird. Man könnte noch 


fordern, daß 3. mit der Anzahl der Spiele die Wahrscheinlichkeit 
wächst, daß der Gewinn- oder Verlustbetrag eine gegebene Größe 
nicht überschreitet, oder daß 4. das Verhältnis dieses Betrages zum 
höchsten Gewinn oder Verlust ein beliebig kleines werde. Es zeigt 
sich, daß durch die Gleichsetzung der mathematischen Erwartungen 
beider Spieler die ersten beiden Bedingungen nebst der vierten erfüllt 
werden, und nur dadurch; daß dagegen 3. überhaupt durch keine An- 
nahme erfüllbar ist. — Die Wirkung dieser Gleichsetzung tritt aber 
erst in der Folge vieler Spiele hervor. Ist die Wahrscheinlichkeit 
klein, so muß die Anzahl stark vergrößert werden. Besteht für A bei 
kleinerem Gewinn größere Gewinnaussicht, für B bei größerem Gewinn 
kleinere Aussicht, so wird bei Wiederholung des Spieles für 5 mit 
wachsender Gewinnaussicht der Gewinnbetrag sich vermindern und für 
A das Umgekehrte eintreten. Aus seinen Untersuchungen schließt 
Condorcet, daß beim Petersburger Problem die Gleichsetzung der 
mathematischen Erwartungen beider Spieler unstatthaft sei, weil ihre 
Anwendbarkeit erst bei o0%-maliger Wiederholung des Spieles eintrete. 
— Um den Unterschied eines einzelnen Falles vom Durchschnitte 
einer Reihe von Fällen zu illustrieren, macht Condorcet darauf auf- 
merksam, daß ein verständiger Mann es sehr wohl ablehnen kann, 
eine Summe Db, für die Wahrscheinlichkeit p, eines Gewinnes von 9, 
zu geben, ablehnen kann, wenngleich b, <p,9, ist; während er ande- 
rerseits für eine Summe b, die Wahrscheinlichkeit 9, eines Gewinnes 9 
erkauft, trotzdem b, > p,9, ist; dazu würde ausreichen, daß p, sehr 
klein und p, sehr groß ist. Eine kleine Wahrscheinlichkeit gleich 
Null zu setzen, geht nach Condorcet nicht an; es würde der gleiche 
Fehler sein, als wolle man eine entfernt berührende Tangente mit 
einer Asymptote verwechseln. — Ähnliche Darlegungen gibt Con- 
dorcet in dem Werke, auf dessen Besprechung wir bald eingehen 
werden, dem „Essai sur lapplieation de l’Analyse ä la probabilite des 
deeisions rendues ä la pluralit des voix“, Paris 1785; Discours pre- 
liminaires p. LXXIlff. und im Werke selbst p. 138ff. In diesen kri- 
tischen Beleuchtungen beschäftigt er sich besonders mit den oben 
erwähnten Anschauungen Buffons, die er zurückweist. Was für die 
wirklichen Werte der Wahrscheinlichkeiten falsch ist, das könne 
nicht dadurch richtig werden, daß man den wirklichen Werten falsche 
substituiere, Ä 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 225 


Mit dem Petersburger Problem beschäftigt sich auch Georg 
Christoph Lichtenberg, jüngstes unter 18 Kindern eines Predigers 
bei Darmstadt, 1742 geboren. Er studierte in Göttingen unter 
Kästner Mathematik und wurde daselbst 1770 außerordentlicher Pro- 
fessor. Er betätigte sich vielfach schriftstellerisch, hauptsächlich als 
Satiriker. Körperliche Leiden verdüsterten seine letzten Lebensjahre; 
er starb am 24. Februar 1799. Im Jahre 1770 veröffentlichte er 
einen kleinen, populär geschriebenen Aufsatz: „Betrachtungen über 
einige Methoden, eine gewisse Schwierigkeit in der Berechnung der 
Wahrscheinlichkeit beim Spiele zu heben“'). In ihm legt er die Be- 
deutung und die Erklärungsversuche des Petersburger Problems dar. 
Er tritt ganz auf Bernoullis Seite und nimmt gegen d’Alembert 
Partei, über dessen Ansichten er sagt: „Herrn d’Alembert entgegen- 
setzen, daß nach den Regeln der Combinationen kein Fall wahrschein- 
licher sei als der andere, kommt mir nicht viel besser vor, als einem 
gelehrten Verteidiger der Dreieinigkeit die Beweise der Multiplikation 
entgegensetzen wollen“. Neues enthält der Aufsatz nicht. 

Wir kehren zu dem Berichte über d’Alemberts Anschauungen 
zurück: Spielt Peter mit Paul unter der Bedingung, daß Peter 
210 Mark gewinne, wenn beim Werfen einer Münze die Kopfseite 
erst auf den 100° Wurf fällt, so müßte der Einsatz gemäß der mathe- 
matischen Erwartung gleich 1 Mark bemessen werden; trotz dieser 
geringen Summe wird Peter ihn nicht wagen, weil die Kopfseite 
nicht notwendig, aber doch sicher bereits vorher fallen wird. Des- 
halb muß man nach d’Alemberts Meinung zwischen dem unter- 
scheiden, was metaphysisch möglich ist, und dem, was physisch 
möglich ist. Zum ersten Begriffe gehört alles, was nicht widersinnig 
genannt werden kann, zum zweiten alles, was nicht allzu weit aus 
dem gewöhnlichen Laufe der Dinge heraustritt. So gehört es zu den 
metaphysischen Möglichkeiten, mit zwei Würfeln hundertmal hinter- 
einander „Sechs—sechs“ zu werfen; physisch dagegen ist es unmög- 
lich, weil es noch niemals geschehen ist und niemals geschehen wird. 

Mit dieser Unterscheidung hängt folgendes zusammen. Die 
Theorie nimmt bei der Wiederholung von Ereignissen jede Kom- 
bination als gleich möglich und als gleich wahrscheinlich an, z. B. 
beim 1O0maligen Werfen einer Münze das 1Omalige Auffallen von 
Kopf als so wahrscheinlich wie einen beliebigen Wechsel von Kopf und 
Schrift. Ist das berechtigt? D’Alembert glaubt es nicht: ist schon 
9mal Kopf gefallen, so ist es wahrscheinlicher, daß das nächste Mal 





!) Auch abgedruckt in Lichtenbergs physikalischen und mathematischen 
Schriften, Göttingen 1806, Bd. IV, S. 3—46. 


296 Abschnitt XXI. 


Schrift fällt als wieder Kopf. Man sieht, daß dabei ein Einfluß 
angenommen würde, den das voraufgehende Ereignis auf das fol- 
gende ausübt. Dieser Ansicht, die d’Alembert durch Scheingründe 
stützt, war schon von de Montmort widersprochen worden; „die 
Vergangenheit entscheidet nichts für die Zukunft“ (diese Vorlesungen 
III®, S. 335). Euler drückt sich (Opuseula analytica I, 1785, p. 331 
bis 346) noch drastischer aus: dann müßte auf jeden folgenden 
Wurf jeder vorhergehende, wenn er auch vor hundert Jahren und an 
irgend welchem Orte geschehen wäre, von Einfluß sein, „ungefähr das 
Absurdeste, was man überhaupt ausdenken kann“. 

Den angenommenen Einfluß früherer Würfe auf folgende kann 
d’Alembert natürlich nur hypothetisch angeben. Das tut er (Opus- 
cules IV, p. 73) bei erneuter Behandlung des Petersburger Problems, 
indem er die Wahrscheinlichkeit dafür, erst beim »*® Wurfe Kopf 





fallen zu sehen, nicht = ns sondern ganz willkürlich = ri + En) 
1 


oder auch = - ——— setzt; noch wunderlicher ist die Annahme 


le 4 eh 


=) ‚ wo B und K Konstanten und g eine ungerade 


(K—n)2 

ganze Zahl bedeuten. Ein andermal (Öpuscules VII, p. 39) nimmt er 
für das Auffallen von Kopf beim 1!, 2ten, Zten, gem ... Wurfe die 
Wahrscheinlichkeiten 


1 1+a 1+a+b 1+a+b-+te 
9? FE, 2 ? 2 Sr 


an 








an, wo a,b, c,... kleine positive Größen sein sollen, deren Summe 
die Einheit nicht erreicht. Diese Hypothesen sind nur darauf be- 
rechnet, den Einsatz beim Petersburger Problem zu einem endlichen 
zu machen. Wissenschaftlichen Wert haben sie nicht. 

Noch einen anderen Punkt hebt d’Alembert kritisierend hervor. 
Sieht man auf einem Tische Buchstaben nebeneinander liegend, die 
das Wort „Constantinopolitanensibus“ bilden, oder die alphabetisch auf- 
einander folgen, so wird kein Mensch annehmen, daß sie durch Zufall 
so angeordnet seien, trotzdem die Wahrscheinlichkeit der beiden An- 
ordnungen aus den auftretenden Buchstaben nach den Schulanschau- 
ungen nicht geringer sein soll, als die einer willkürlichen, regellosen 
Aufeinanderfolge. In den ersten Fällen erkenne man eine Absicht, 
und eine solche müsse auch bei regelmäßigem Fallen der Münze an- 
genommen werden. Mehrfaches Aufwerfen von Kopf hintereinander 
sei unwahrscheinlicher als Wechsel in den Flächen der Münze. 

Solchen ketzerischen Ideen gegenüber verhielt sich die Mehrzahl 
der Mathematiker jener Zeit kühl ablehnend; sie erachtete es wohl der 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 297 


Mühe nicht für wert, darauf einzugehen. D’Alembert beruft sich 
häufig auf die Zustimmung „bedeutender Männer“, „berühmter Ge- 
lehrten“, „hervorragender Mathematiker“, in deren Gesellschaft ihm 
aber selber mitunter nicht recht behaglich ist, wenn sie z. B. durch 
seine Einwürfe die ganze Lehre der Wahrscheinlichkeitsrechnung als 
„zugrunde gerichtet“ ansehen; aber Namen verschweigt er dabei. Da- 
gegen verschweigt er nicht, daß seine revolutionären Meinungen auch 
vielen Widerspruch gefunden haben, daß sie „absurd“ und von Daniel 
Bernoulli „lächerlich“ genannt worden sind. Wuchtig absprechend 
drückt sich L. Euler aus in den Opuscula analytica I, 1785, p. 331: 
„Mich schrecken“ (bei solchen Untersuchungen) „die Einwürfe 
d’Alemberts nicht zurück, der diesen Kalkül zu verdächtigen ver- 
sucht hat. Zuerst nämlich hat dieser bedeutende Geometer die mathe- 
matischen Studien beiseite gelegt; jetzt scheint er sie sogar zu be- 
kämpfen, indem er unternommen hat, eine Reihe von Grundsätzen 
umzustürzen, die auf das sicherste begründet sind. Den Laien mögen 
seine Einwürfe gewichtig erscheinen, doch die Furcht liegt fern, daß 
die Wissenschaft selbst Schaden durch sie erleide.“ 

Daher ist es denn nicht verwunderlich, daß d’Alemberts Ruf so 
ziemlich ohne Nachklang verhalltee Von den wenigen, die seinen Be- 
denken geneigtes Ohr liehen, sei der Direktor der physikalischen Klasse 
der Berliner Akademie Nic. de Beguelin erwähnt. Er war 1714 
im Kanton Basel geboren, wurde Hofmeister des nachmaligen Königs 
Friedrich Wilhelm II. und starb 1789 zu Berlin. Er hat sich 
mit den metaphysischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung 
in zwei Aufsätzen der Memoires de lAcad. ä Berlin 1765 (1767), 
p- 231, und 1767 (1769), p. 381 beschäftigt. In dem ersten spricht 
er seine Ansicht aus: „Die Wahrscheinlichkeitsrechnung gehört eben so 
sehr, ja vielleicht in höherem Maße zur Metaphysik als zur Mathe- 
matik; diese liefert die Behandlung durch Rechnung, jene die Grund- 
lagen, auf welche die Rechnungen sich gründen“. Im zweiten Auf- 
satze behandelt er eingehend, aber ohne begründete Resultate das 
Petersburger Problem; er gibt eine ganze Reihe von Lösungen, die 
das Gemeinsame haben, völlig willkürlich zu sein. Daß Kopf erst 
beim A" Wurfe auffalle, soll beispielsweise die Wahrscheinlichkeit 


er: 
@yır1 haben. 
Auch der Marquis de Condorcet ging, wie wir bereits erwähnt 
haben, auf eine Prüfung der d’Alembertschen Bedenken ein. Im 
zweiten Abschnitte der oben angeführten Abhandlung!) geht Condorcet 





t) Hist. Acad. de Paris, 1781, p. 707. 


228 Abschnitt XXI. 


auch auf die Frage nach den regulären Anordnungen gegebener Elemente 
ein. Er betrachtet die beiden Reihen 


2 8 A: 62.28 0 
1.93, 9240.143, 98 31 87. 160. 


beide sind nn jedes Glied a,,, der ersten ist nach dem Gesetze 
G,.2=2°qa,,,— a, gebildet, jedes Glied b,,, der zweiten nach dem 
Gesetze b,,5 = bu, + bu + b,_ı + b„_s- Gesucht wird der Quotient 
der Wahrscheinlichkeiten dafür, daß bei einer Fortsetzung der Reihen 
um g Glieder dieselben Gesetze sich zeigen werden. Wie man sieht, 
ist die Frage merkwürdig unbestimmt gehalten; die Behandlung des 
Problems durch Condorcet ist nicht minder unbestimmt. Wenn ın 
einer Reihe je e aufeinanderfolgende Glieder einem Gesetze unterworfen 
„erberdeh 

e+Yyda+a+2 


Quotienten geben. Fragt man nach diesem Quotienten bei g= —®, 





sind, in einer zweiten je e,, dann sol den gesuchten 





d.h. bei den ins Unendliche fortgesetzten Reihen, dann soll ri, 
herauskommen, in unserem obigen Beispiele also wegen e=2, ,=4 


der Wert = . 


Wie er, so trat Laplace, dem die Wahrscheinlichkeitsrechnung 
viel zu danken hat, kritisch an d’Alemberts Bedenken. Pierre Simon 
Marquis de Laplace, 1749 zu Beaumont-en-Auge geboren, ent- 
stammte einer einfachen Familie. Er hatte die Schwäche, sich seiner 
Herkunft zu schämen; nur ungern sprach er von seiner Jugend. In 
der Ecole militaire zeigten sich schon früh seine mathematischen 
Anlagen. Er wurde zuerst Lehrer zu Beaumont, dann Professor an 
der Eeole militaire und 1794 an der Ecole normale. 1795 gehörte 
er dem Bureau des longitudes an. „Er bot das traurige Schauspiel 
politischer Schmiegsamkeit und Mantelträgerei, die an Kriecherei 
streifte, und deren Anzeichen bis in die Vorreden seiner Werke 
drangen, die bei jedem Regierungswechsel geändert wurden“ (La 
grande Eneyelopedie). Bonaparte übertrug ihm das Portefeuille des 
Innern, entzog es ihm wegen mangelnden Verwaltungssinnes nach 
sechs Monaten: „er trug in die Geschäfte den Geist des Unendlich- 
Kleinen“ — und machte ihn zum Mitgliede des Senats. Unter 
Louis XVII. wurde er Pair de France und Marquis. Er starb im 
März 1827 zu Paris. 

In einer Abhandlung der M&moires de math. Acad. R, Paris a 
1773), p. 37—232, deren zweiter Teil der Wahrscheinlichkeitsrech- 
nung gewidmet ist (p. 113—163) geht Laplace auf die d’Alembert- 
schen Bedenken ein. Daß beim Würfeln frühere Ergebnisse auf fol- 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 229 


gende beeinflussend wirken sollen, weist er von der Hand. Auf eine 
spätere, scheinbare Einschränkung kommen wir bald zurück. — Über 
das „Constantinopolitanensibus“, das sich bei ihm in das Wort „In- 
finitösimal“ umgewandelt hat, äußert er sich folgendermaßen: Wo 
wir Symmetrie bemerken, glauben wir an die Wirkung einer Ab- 
sicht, da sie für die Hervorbringung der Symmetrie wahrscheinlicher 


ist als der Zufall. Ist En die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses, falls 


es ein Zufall, - seine Wahrscheinlichkeit, falls es eine Absicht her- 


vorgerufen hat, so ist die Wahrscheinlichkeit des Bestehens und 
Wirkens einer Absicht?) 


1:n a 1 i 
1l:n+1:m i+n:m’ 





sie wächst also mit m. Nicht weil die Symmetrie geringere Wahr- 
scheinlichkeit hat als ein unsymmetrisches Ergebnis, suchen wir eine 
Absicht bei Eintreffen der Symmetrie, sondern weil der Zufall un- 
wahrscheinlicher ist, als die Absicht. Hätte das Wort „Infinitesimal“ 
in keiner Sprache eine Bedeutung, so würde das dazu nötige Arrange- 
ment der Buchstaben weder wahrscheinlicher, noch unwahrscheinlicher 
sein, als es jetzt ist; und gleichwohl würden wir bei der Zusammen- 
stellung keine besondere Ursache vermuten. Da das Wort aber in 
Gebrauch bei uns ist, so ist es unvergleichlich mehr wahrscheinlich, 
. daß eine Person die Lettern zusammengelegt hat, als daß ein Zufall 
sie so zusammenfügte, wie wir sie sehen. 

Ein weiteres Eingehen auf die philosophischen Grundlagen der 
Wahrscheinlichkeitsrecehnung müssen wir uns versagen. — 

Nach diesem Berichte über den Sturm gegen die Prinzipien 
gehen wir zu der Besprechung einer Bereicherung der Untersuchungs- 
methoden über, zumal da diese zeitlich mit der Periode beginnt, die 
wir behandeln. Daniel Bernoulli gehört das Verdienst, die Infini- 
tesimalrechnung den Zwecken der Wahrscheinlichkeitsrechnung dienst- 
bar gemacht zu haben. Bis zu ihm hatte ausschließlich das Fermat- 
sche Vorgehen Geltung gehabt, als Wahrscheinlichkeit den Quotienten 
aus der Zahl der günstigen durch die Zahl der möglichen Fälle zu 
- nehmen, wobei man bei verwickelteren Aufgaben auf bedeutende kom- 
binatorische Schwierigkeiten stieß. Für diesen Quotienten substituiert 

Daniel Bernoulli den Quotienten aus den unendlich kleinen In- 





ı) Diese Rechnung benutzt "die später zu behandelnde Bayessche Regel 
über die, aus ihren Wirkungen zu erschließenden Ursachen, die Laplace in 
Bd. VI der M&moires de l’Acad. de Paris dargestellt hatte. 


230 Abschnitt XXI. 


krementen oder Dekrementen jener beiden Größen, und ihn behandelt 
er dann nach den gewöhnlichen Regeln und Vorschriften der Analysis. 
Natürlich ist dieses Verfahren nicht allgemein bei jeder Aufgabe an- 
wendbar. Bernoulli sagt darüber‘): „Man kann mit Nutzen die In- 
finitesimalrechnung verwenden, wenn nur die Aenderung, die eintreten 
kann, als unendlich klein angesehen werden darf“. Das tritt z. B. 
ein, wenn aus einer Urne, die eine große Anzahl von Kugeln enthält, 
einzelne gezogen werden; „denn dann kann die Einheit als unendlich 
kleines Element betrachtet werden; und man stützt sich auf die 
gleiche Hypothese, deren sich die Mathematiker vor der Entdeckung 
der Differential- und Integral-Rechnung bedienten“. In der angeführten 
Abhandlung bespricht Bernoulli als Beispiel ein Problem, das er für 
andere Zwecke braucht. Er behandelt es zuerst nach der alten und 
dann nach der bequemeren neuen Methode. Es scheint uns geraten, 
erst später dieses etwas komplizierte Problem mitzuteilen, und die 
Methode lieber an einem anderen, einfacheren darzulegen’). 

In einer Urne sind n weiße, in einer anderen » schwarze Kugeln. 
Aus jeder wird eine Kugel gezogen und in die andere Urne gelegt; 
die Ziehungen erfolgen gleichzeitig. Dieselbe Operation wird von 
neuem und im ganzen rmal gemacht. Wie groß ist hinterdrein die 
wahrscheinliche Anzahl x der weißen Kugeln in der ersten Urne? 


Die Verwendung der gewöhnlichen Methode gibt «= 2 n|1 + =) 


2 77 


Für ein großes n kann man dies Resultat durch das bequemere 
2r 


= z|ı an a 


ersetzen. Hierauf führt die neue Methode direkt. Es werden x und 
r als stetig veränderliche Größen betrachtet; dr, d. h. die Einheit, sei 
das Inkrement von r; es fragt sich, wie groß dz:dr ist. Die, mit 
der Wahrscheinlichkeit — erfolgende Entnahme einer weißen Kugel 
aus der ersten Urne liefert das Dekrement (— 1) für dx; das mit der 
Wahrscheinlichkeit -—- 


in die erste Urne liefert das Inkrement (+ 1) für dx; folglich wird 


da _ 
dr 


erfolgende Hineinlegen einer weißen Kugel 





dx BL: 


31 —nNn N 








—1:.—+1:7Z£, d.h. 


n 


Diese Differentialgleichung liefert dann bei richtiger Bestimmung der 
Integrationskonstante wieder den Wert 





") Novi Comment. Acad. Petrop. XII, 1766, 1767 (1768), p. 87—98. ?) Ibid. 
XIV, 1769 (1770), p. 2-25. 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 231 


2r 
= sn E + en. 


Die Aufgabe wird nach der Richtung hin erweitert, daß » Urnen mit 
je n Kugeln vorhanden sind, und daß jede gezogene Kugel in die fol- 
gende der zyklisch angeordneten Urnen gelegt wird. Durch ein Miß- 
verständnis wurde Malfatti!) zu einer unberechtigten Kritik dieser 
Arbeit verleitet; nur in einem Punkte müssen wir ihm beipflichten, 
daß nämlich das angeführte Bernoullische Problem nicht mit einem 
anderen identisch ist, von dem Bernoulli es behauptet. Malfatti 
selbst behandelt 20, aus der Bernoullischen Annahme folgende Pro- 
bleme auf elementarem Wege. 

Es sei noch erwähnt, daß D. Bernoulli sich der gleichen 
Methode bedient, um näherungsweise gewisse numerische Rechnungen, 
die infolge der Höhe der eintretenden Zahlen unbequem und langwierig 
sind, durch bequemere und kürzere zu ersetzen. So verfährt er in 
der „Mensura sortis“ usw. (Novi Comment. Acad. Petrop. XIV, für 1769, 


(2n}! ’ 
ande. gr und findet, je nachdem er n 


durch »n +1 oder durch n — 1 ersetzt, 





p. 26) mit dem Ausdrucke q = 





eg gan Ei gan , 
dqd=-— int? und d=-— FRE 
er nimmt die arithmetische Mitte der rechten Seiten, erhält 
d=-— gan 
2n-+ 7: 


und kommt durch Integration auf 








gq= cst. Re 
Vın+1 


Das eben erwähnte allgemeine Approximationsproblem war bei 
der Behandlung der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie sie in unserem 
Zeitraum geübt wurde, ein sehr naheliegendes und notwendig zu be- 
handelndes, Dies erkannte auch Laplace nach Bernoulli, wie es 
Stirling vor diesem erkannt hatte. Mit ihm beschäftigt sich La- 
place eingehend in dem „Me&moire sur les approximations des formules 
qui sont fonctions de tres-grands nombres“ (Histoire de l’Academ. ä 
Paris 1782). Wir kommen später auf diese Arbeiten zurück. 
| Wenden wir uns wieder zu Daniel Bernoulli, so ist noch zu 
erwähnen, daß er die erste Anwendung der Infinitesimalrechnung in der 
Wahrscheinlichkeitslehre bergits vor der prinzipiellen, 1766 erfolgten 
Ankündigung und Darlegung schon 1760 in dem Aufsatze „Essai 





) Memorie mat. e fis. Soc. Ital. I (1782), p. 768. 


232 Abschnitt XXI. 


d’une nouvelle analyse de la mortalite causee par la petite verole ete.“ 
(Histoire de l’Acad. ... ä Paris 1760 [1766], p. 1-45) gegeben hat; 
und als Kritiker dieser Arbeit wendet auch d’Alembert (Opuscules 
II, p. 26—95) dieselbe Methode an. 

Wir wenden unsere Aufmerksamkeit nunmehr den Arbeiten zu, die, 
sozusagen, noch im Pascalschen Boden wurzeln und nach elementarer 
kombinatorischer Methode eine Reihe von Problemen behandeln, die 
den Mathematikern in den Glücksspielen entgegen traten. Es ist 
natürlich nicht unsere Aufgabe, jede kleinste derartige Arbeit zu be- 
sprechen; es reicht aus, die bedeutenderen unter ihnen hervorzuheben. 

Hinsichtlich der Spiele, die nicht allein vom Zufall, sondern auch 
von der Geschicklichkeit der Spieler abhängig sind, macht Laplace 
(Histoire de l’Academ. Paris [1778], p. 230) folgende Bemerkungen: 
Es sei überaus unwahrscheinlich, daß beide Spieler die gleiche Ge- 
schicklichkeit besitzen; die des einen sei 1-+«, die des anderen 
1— e«. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß der stärkere Spieler die 


beiden ersten Partien gewinnen wird, - (1 + «)”, die, daß der 


- . . 11 h 
schwächere sie gewinne = (1 «). Nun weiß man von vorn- 


herein nicht, wer von den beiden Spielern der stärkere ist; danach 
wird die Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmter unter ihnen beide 
ersten Partien gewinnt, gleich dem mittleren Werte, d. h. 


u ee) 


Ohne Berücksichtigung der Geschicklichkeiten würde sich e ergeben. 


Es ist also nach diesen Überlegungen wahrscheinlicher, daß einer der 
beiden Spieler beide ersten Partien gewinnt, als daß der eine die erste, 
der andere die zweite gewinnt. 

Über den Wert von & weiß man zu Beginn der Spiele nichts. 
Das gibt nach mehreren Richtungen hin zu Untersuchungen Anlaß 
(1. e. 8. 238ff.). Kennt man für « die Grenzwerte (0,..., g) und zu- 
gleich die Wahrscheinlichkeit Y(«) dafür, daß ein bestimmtes « auf- 
trete, dann ist der obige Ausdruck durch das Integral _ 


7 


Siv@ (1+o°)da 


ö 
zu ersetzen, wobei %(«) so beschaffen sein muß, daß f: vle)dae=1 
0 


ist. Es möge ein für allemal hier daran erinnert werden, dab diese 
Schreibweise der Integralgrenzen in unserem Zeitraume noch nicht 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 233 


eingeführt ist. — Somit weist dieses Resultat darauf hin, das „Gesetz 
der Fehler“, d. h. die Funktion y(«) zu bestimmen. Das unternimmt 
Laplace im weiteren Fortgange seiner Untersuchungen. Wir werden 
davon bald ausführlich zu sprechen haben. 

Die zweite Untersuchungsrichtung, auf die wir auch erst später 
eingehen können, ist die folgende: Die anfängliche Unkenntnis der 
Geschicklichkeiten der Spieler wird im Verlaufe der Spiele einer 
größeren und größeren Kenntnis dieser Geschicklichkeiten durch den 
Ausfall der Spiele selbst Platz machen. Hierzu gehört die Möglich- 
keit, aus einem Ereignis auf seine Ursachen zu schließen. Das ist 
ein Problem, das in unserer Epoche zum ersten Male aufgestellt und 
behandelt worden ist. 

Es möge noch bemerkt werden, daß Laplace in diesem „Me- 
moire“ nicht bei zwei Spielern und zwei von ihnen zu spielenden 
Partien stehen bleibt, sondern die Anzahl sowohl der Spieler wie der 
Partien beliebig groß annimmt. Wir verlassen diese Fragen und 
gehen auf andere hierher gehörige Probleme ein. 

Schon früher wurde (Bd. II, S. 338) erwähnt, daß Moivre 
1708 die Aufgabe erledigte, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, 
daß mit einem gewöhnlichen Würfel in 8 Würfen mindestens 2mal 
die 1 geworfen werde. Das Problem wird in unserer Epoche wieder 
aufgenommen, in erweiterter Form behandelt und gelöst. Lagrange, 
der sich im zweiten Abschnitte seines Aufsatzes: „Recherches sur les 
suites recurrentes... ou sur lintegration des &quations lineaires aux 
differences finies et partielles; et sur l’usage de ces öquations dans la 
theorie des hasards“ (Nouv. M&m. de l’Acad....ä Berlin 1775 [1777], 
p- 183—272) mit verschiedenen Aufgaben der Wahrscheinlichkeits- 
theorie beschäftigt, stellt die Fragen allgemein so: Wie groß ist die 
Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein Ereignis, dessen Eintreffen bei einem 
Versuche die Wahrsch£inlichkeit p hat, in k Einzelversuchen genau 
amal eintritt? — oder mindestens amal? Ferner: es kann bei einem 
Versuche dreierlei eintreffen: entweder, mit der Wahrscheinlichkeit p, 
das Ereignis A; oder, mit der Wahrscheinlichkeit q, das Ereignis B; 
oder, mit der Wahrscheinlichkeit 1—p— g, keins von beiden; wie 

groß ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß in % Versuchen A min- 
 destens amal und B mindestens bmal auftritt? oder, daß A eher amal 
eintritt als B seinerserts bmal? — Der Titel der Lagrangeschen 
Abhandlung zeigt deutlich die Hilfsmittel an, auf die sich die Lösungen 
der Aufgaben stützen, nämlich die rekurrierenden Reihen und die Dif- 
ferenzengleichungen. Hier knüpfen die Arbeiten Trembleys an. 
Einer angesehenen Schweizer Familie entsprossen, war er, Jean, ge- 
boren 1749 in Genf, nicht der erste unter ihren Mitgliedern, der sich 


CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 16 


234 Abschnitt XXI. 


wissenschaftlich einen Namen errang. Jean sollte Jurist werden; 
allein, durch Mallet beeinflußt, wendete er sich dem Studium der 
Astronomie und der Mathematik zu, ging 1794 nach Berlin, wo er 
Mitglied der Akademie der Wissenschaften wurde, und starb 1811 
bei Verwandten in Südfrankreich. Er empfand es als unnötige 
Erschwerung, daß Lagrange und Laplace bei der Behandlung relativ 
einfacher Aufgaben der Wahrscheinlichkeitsrechnung Hilfsmittel ver- 
wendeten, .die — wie er sich ausdrückt — „aus den tiefsten 
Eingeweiden der Integral-Rechnung“ entnommen sind, und er 
stellt sich die Aufgabe, dieselben Fragen allgemein und elementar 
„methodo elementari“ zu behandeln. Das tut er in der „disquisitio 
elementaris circa ealeulum probabilium“, Comm. Soc. Gotting. XI, 
1793—1794 (1796), p. 99—136. Wir gehen nicht näher darauf ein, 
da kaum etwas Neues geboten wird, und da die Nachteile elemen- 
tarer Behandlung meistens ihre Vorteile überwiegen, indem sie er-- 
müdend lang und unübersichtlich ist. 

Auch das Teilungsproblem findet sich unter den Problemen 
wieder, an die man in unserer: Epoche herantritt. Die Frage kommt 
schon in der Ars conjeetandi vor; sie lautet allgemein: ein Spiel 
wird vor seiner Beendigung abgebrochen; wie sind gerechtermaßen die 
Einsätze zu verteilen? Bei der Untersuchung eines solchen Pro- 
blems') kommt Nie. Fuß zu einem Resultate, das von dem durch 
Jak. Bernoulli erhaltenen wesentlich abweicht. Es zeigt sich aber 2), 
daß dieser Unterschied von einer nicht scharfen Fassung der Aufgabe 
herrührt, so daß in Wirklichkeit beide Forscher durchaus ver- 
schiedene Aufgaben behandelt hatten. Fuß selbst klärt dies auf. — 

Eine andere häufig behandelte Aufgabe ist die nach der Dauer 
von Spielen. De Montmort gab die Anregung dazu; und auch hier 
ist de Moivre als erster zu nennen, der sich mit entschiedenem Er- 
folge des Problems annahm. Wir geben ihm folgenden Ausdruck: 
A besitzt a Marken, B deren b, und es besteht für A die Wahrschein- 
lichkeit p, im Einzelspiele zu gewinnen, für B die Wahrscheinlichkeit 
gq=1-—p. Der im Einzelspiele Verlierende zahlt dem Gewinnenden 
eine Marke. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß in %k Spielen 
einem der Spieler durch den Verlust aller seiner Marken die Fort- 
setzung des Spiels unmöglich gemacht wird? In wieviel Spielen ist 
es gleich wahrscheinlich, daß diese Beendigumg eingetreten, oder dab 
sie nicht eingetreten ist? Auch hier haben Lagrange und Laplace 
allgemeine Lösungen geliefert. Die Lagrangesche Arbeit, im der 
das geschehen ist, haben wir bereits erwähnt. 





1) Act. Petrop. 1779, II, p. 81--92. °) Ibid. 1780, II, p. 91—96. 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 235 


Die Entstehung des @enueser Zahlen-Lotto ist bereits oben (Bd. III?, 
S. 336) besprochen und seine Einrichtung mitgeteilt; wir erwähnen 
dabei, daß „Laplace (Mem. de Paris VI, 1774, p. 365) dieses Spiel 
als „Lotterie der Militär-Schule“ bezeichnet, ohne einen Grund für diese 
Benennung anzugeben: Aus 90 mit den fortlaufenden Zahlen 1 bis 
90 bezifferten Marken werden 5 Gewinnmarken herausgegriffen. An 
diese Einrichtung der Genueser Zahlen-Lotterie knüpfen sich mehrere 
interessante Fragen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Das Erscheinen 
von 2 aufeinander folgenden Zahlen unter den Gewinnmarken heißt eine 
Sequenz oder eine Folge. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß 
bei einer Ziehung eine Sequenz auftritt? Euler hat dieses Problem 
in dem Aufsatze: „Sur la probabilit€ des sequences dans la loterie 
genoise“, Histoire de VAcad. ... & Berlin 1765 (1767), p. 191-230 
aufgeworfen und erledigt. An gleichem Orte p. 271—280 und im An- 
schlusse an diesen Aufsatz behandelt Beguelin die gleiche Frage in 
der Arbeit: „Sur les suites et les sequences dans la loterie de Gönes“. 
Der Unterschied zwischen beiden ist nur der, daß Beguelin auch 
die Nummern 90, 1 als Sequenz auffaßt, also eine kreisartig ge- 
schlossene Folge der Nummern annimmt. Johann II. Bernoulli 
nimmt in einer schon früher verfaßten, aber erst später veröffentlichten 
Arbeit: „Sur les suites ou sequences dans la loterie de Gönes“ 
(ibid. 1769 [1771], p. 234—253) den gleichen Standpunkt ein wie 
Beguelin. Werden allgemein »n Nummern angenommen, von denen r 
gezogen werden, so ist die Wahrscheinlichkeit bei der Eulerschen 


Annahme ent Sr (.) für das Nichtauftreten einer Sequenz und 
in; 2 - (r) bei der Bernoulli-Beguelinschen. Beguelin 
gibt eine mechanische Aufstellung der möglichen Ziehungen ohne 
Sequenz, die an die Hindenburgschen kombinatorischen Regeln er- 
innert und „involutorisch“ genannt werden kann. Wir wollen an 
einem Beispiele zeigen, in welcher Weise Beguelin vorgeht. Für 
n—=6 und r=2 seien die sequenzlosen Ziehungen gegeben. Es sind 
13, 14, 15, 16, 24, 25, 26, 35, 36, 46. 
Um die füra—=7 undr=3 zu erhalten, behalten wir aus den so- 
eben aufgestellten alle bei, die nieht mit 1 beginnen, also die sechs 
letzten, erhöhen jede eingehende Nummer um 1, so daß 35, 36, 37, 
46, 47, 57 entsteht, und schreiben eine 1 vor Sal dieser Komilere 
Das gibt alle die sequenzlosen Kombinationen firn=7,r—=3, die 
mit einer 1 beginnen: 


135, 136, 137, 146, 147, 157. 


Unter jede dieser, allgemein mit a, b, c bezeichneten Kombinationen 
16* 


236 Abschnitt XXI. 


wird nun +1, b-+1, c-+ 1 geschrieben; unter die so entstehenden 
in eine dritte Zeile a +2, b+2, c+ 2, usf. bis in der letzten, dritten 
Nummer des Tripels die höchste Zahl 7 erreicht wird. Die vollstän- 
dige Tabelle lautet dann 1 


135, 136, 137, 146, 147, 157, 
246, 247, 257, 
357. 


Das sind unter der Eulerschen Annahme die 10 sequenzlosen Kom- 
binationen; die 7 Bernoullischen erhält man durch Tilgung der 
dritten, fünften und sechsten dieser 6 Spalten. Wie es sein muß, ist 
den obigen Formeln entsprechend 


10 „1.) und Tr sl de 


Laplace hat im „Memoire sur les suites recurrentes et leurs 
usages dans la theorie des hasards“!) Probleme behandelt, die 
Euler in Zusammenhang mit der Genueser Zahlenlotterie bringt und 
in folgender Fassung vorträgt (Opusc. analyt. II, 1785, p. 331—346): 
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß nach Beendigung einer ge- 
gebenen Anzahl von Ziehungen alle 90 Nummern als Gewinnummern 
zum Vorschein gekommen sind, oder gerade 89 von ihnen, oder 88, 
oder weniger? Wie groß ist die Anzahl der Ziehungen, nach denen 
die -Wahrscheinlichkeit, daß alle 90 erschienen sind, ebenso groß ist 
wie die, daß sie nicht erschienen sind? Bei der ersten angegebenen 
Problemreihe fügt Euler noch als erschwerenden Zusatz das Wörtchen 
„wenigstens“ ein: wenigstens 89, wenigstens 88. Ist » die Anzahl 
der Nummern, r die Anzahl der jedesmal gezogenen, %k die Anzahl 
der Ziehungen, dann ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß in & 
Ziehungen jede der n Nummern erscheint 


k NE — ak k 
Wr rin ah 

Aus der Bedeutung dieses Ausdruckes schließt man den arithmetischen 
Satz, daß der Dividend den Wert Null besitzt, sobald n>r-k ist. 

Hierher gehört auch die folgende Aufgabe: Wie groß ist die 
Wahrscheinlichkeit dafür, mit einem Würfel von » Flächen in q 
Würfen einmal der Reihe nach die Zahlen 1,2, 3,...» zu werfen? 
J. Trembley behandelt diese Frage?) und gibt die Lösung induktiv 
ohne Beweis: Ist » die gesuchte Wahrscheinlichkeit, so findet er 





!) Me&m. pres. p. div. Savans ä l’Acad. de Paris VI, 1775, p. 353. ?) Arch. 
f. reine u. angew. Math. herausgeg. v. Hindenburg, 1799, Heft 10, 8. 123 
bis 137. 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 237 


1-uvw= ee: wo (g) der Koeffizient von x in der, nach steigenden 
N 


1 
1i—nz+.” 
ist. Auch Laplace hat das gleiche Problem behandelt!) und die 
Differenzengleichung hergeleitet, von der seine Lösung abhängig ist. 


g+1 
PA 


bleyschen Resultate übereinstimmt. Der Laplacesche Aufsatz be- 
handelt in seinem zweiten Teile noch mehrere andere auf Spiele, ihre 
Dauer und ihr Abbrechen bezügliche Probleme. 

Von der Behandlung der Lotterien führt ein kleiner Schritt zu 
den sozialwissenschaftlichen Zweigen, die sich auf die Statistik stützen 
und der Mathematik als Hilfswissenschaft bedürfen. Wir können nur 
in größter Kürze auf diesen Gegenstand eingehen; behufs weiteren 
und tieferen Eindringens verweisen wir auf die Schrift „Histoire du 
calcul des probabilites depuis ses origines jusqu’ä nos jours“ par 
Charles Gouraud, Paris 1848, die gerade auf diese, der reinen 
Mathematik ferner liegenden Partien liebevoll eingeht. 

Eine Anzahl von Abhandlungen befaßt sich mit den verderblichen 
Wirkungen der Pocken und mit der Schutzimpfung gegen sie. 
Daniel Bernoulli kommt in der Abhandlung: „Essai d’une nouvelle 
analyse de la mortalit@ causee par la petite verole et les avantages 
de l’inoculation pour la prevenir“ Hist. de l’Acad. ä Paris 1760 
(1766), p. 1—45 auf diese, für die damalige Zeit eminent wich- 
tigen Fragen, und der Hauptzweck seiner Arbeit ist der, die durch 
die Pocken hervorgerufene erhöhte Sterblichkeit in den verschiedenen 
Lebensaltern zahlenmäßig festzulegen. Das hätte durch eine sorgfäl- 
tige Statistik ohne besondere Schwierigkeiten geschehen können; aber 
es mangelte gerade an den notwendigen statistischen Daten, und 
diese Lücke sucht D. Bernoulli durch Formeln auszufüllen, die auf 
Grund theoretischer Betrachtungen über Wahrscheinlichkeit aufgestellt 
werden. Bernoulli nimmt an, daß von je » Personen 1 von den 
Pocken befallen werde, und daß von je m Befallenen 1 daran sterbe. 
Die Zahlen m und n betrachtet er als konstant, d. h. als vom Alter 
der in Frage stehenden Personen unabhängig, und zwar setzt er 
n—8 und m=8. Diese Annahmen schienen besonders für das frühe 
Alter bis zu 25 Jahren durch die Erfahrung so ziemlich gesichert 
zu sein, boten aber der Kritik d’Alemberts willkommene Angriffs- 
punkte. 

Nun mögen von einer Generation & Personen das Alter x er- 





Potenzen von x fortschreitenden Entwicklung des Bruches 





Fürn=2 gibtecw=1— als Lösung, was mit dem Trem- 


') Memoires... Paris VII, 1773, p. 37-232. 


238 Abschnitt XXI. 


reichen, und unter ihnen s, die nicht von den Pocken befallen waren; 
dann stellt Bernoulli nach der oben dargelegten Infinitesimalmethode 
eine Differentialgleichung zwischen &, x und s her, die durch In- 
tegration auf das Resultat 


mE 
| (m ye'*+1 
führt. Bedeutet z die Zahl der unter den & Personen im Alter x 
noch Lebenden unter der Annahme, daß die Pocken nicht vorhanden 
wären, dann folgt die Bestimmung 





Bam ms een, 
(m — Ne" +1 
so daß also z2=s- e”'* wird. Diese Formeln für s und z ermöglichen 
die Herstellung der gewünschten Tabellen, sowie den Schluß auf die 
Nützlichkeit der Pockenimpfung, durch die das durchschnittliche 
Leben der Bevölkerung verlängert werde. Auch hier setzt die Kritik 
d’Alemberts wieder ein und stellt, ohne den Nutzen der Impfung 
zu leugnen, dem Interesse der Gesamtheit das des Einzelnen entgegen, 
der leicht durch die Impfung geschädigt werden könne!). 

Seinem Programm gemäß geht J. Trembley unter Aufrecht- 
erhaltung der Hypothesen Daniel Bernoullis mit elementaren 
Mitteln an dieselben Untersuchungen in der Arbeit „Recherches sur 
la mortalit6 de la petite verole“ (Mem. de l’Acad....ä Berlin 1796 
[1799], p. 17—38). 

Für die Frage nach der mittleren Dauer der Ehen lag ebenso- 
wenig ausreichendes statistisches Material vor. Auch hier mußte die 
Theorie aushelfen. Daniel Bernoulli führt das Problem ın seiner 
einfachsten Gestalt — gleiches Alter der Gatten und gleiche Sterb- 
lichkeit für beide Geschlechter — auf folgende Aufgabe der Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung zurück („De usu algorithmi infinitesimalis 
in arte conjectandi speeimen“; Nov. comment, ..... Petrop. XI, 
1766, 1767 [1768], p. 87—98): In einer Urne befinden sich 2% 
Karten; zwei von ihnen sind mit 1 bezeichnet, zwei mit 2,... zwei mit 
n. Es werden m Karten gezogen. Welches ist die wahrscheinlichste 
Zahl von Paaren, die vollständig in der Urne zurückbleiben? Er findet 
en— man—m—1) 








Die Übertragung auf das Problem der Ehe- 


2(2n—1) 
dauer ist naheliegend; Bernoulli führt es ın der Arbeit: „De dura- 
tione media matrimoniorum ...“ Nov. comment. ... . Petrop. XII, p. 99 


— 126 in jener einfachsten, sowie in allgemeinerer Form durch. Mit 


1) Opuseules II, p. 26—95: Sur l’application du caleul des probabilites de 
l’inoculation de la petite verole. — Ibid. IV, p. 283—341: Sur les calculs relatifs 
& Vinoculation. 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 239 


ähnlichen Gegenständen beschäftigt sich Johann III. Bernoulli in 
der Histoire de l!’Acad....ä Berlin 1768 (1770), p. 384—403. 
In ähnlicher Weise behandelt D. Bernoulli die Frage nach dem 
Verhältnis der Geburten von Knaben und Mädchen, der schon de 
Moivre in seiner „doctrine of chances“, p. 243—254 näher getreten 
war. Bernoulli macht zuerst die Hypothese, daß das Überwiegen 
der Knabengeburten lediglich Wirkung des Zufalls sei; dann die, daß 
in ihr ein Naturgesetz in Erscheinung trete: „Mensura sortis ad 
fortultam successionem rerum naturaliter contingentium applicata“ 
Nov. comment. .... Petrop. XIV, 1, 1769 (1770), p. 1—25 und „Con- 
tinuatio argumenti....“ ibid. XV, 1770 (1771), p. 3—28; seine Unter- 
suchungen zeigen, daß die größere Wahrscheinlichkeit auf seiten der 
_ zweiten Annahme steht, d. h. daß eine natürliche Ursache für die 
größere Anzahl der Knabengeburten vorhanden sei. 

Euler fragt nach der Sterblichkeit und nach der Bevölkerungs- 
zunahme (Hist. de l’Acad....ä Berlin 1760 [1767], p. 144—164); 
hierauf gründet er Formeln zur Berechnung von Leibrenten, ein 
Thema, das ihn ibid. p. 165-175 beschäftigt. Es ist nicht möglich, 
noch angängig, in einer Geschichte der Mathematik alle, auf diese 
statistischen Fragen bezüglichen Arbeiten zu besprechen, bei denen es 
sich hauptsächlich um die Herstellung von Tabellen handelt, die 
praktischen Zwecken dienen sollen. Nur ihrer Verfasser wegen er- 
wähnen wir noch zwei Arbeiten; die eine von Lagrange: „Memoire 
sur une question concernante les annuites“; Me&m. de l’Acad.... ä 
Berlin 1792, 1793 (1798), p. 225—246; sie behandelt folgende Frage: 
Wieviel muß ein Vater jährlich, so lange er lebt und mindestens eins 
seiner Kinder noch minorenn ist, als Prämie einzahlen, damit nach 
seinem Tode, aber nur so lange bis alle seine Kinder majorenn sind, 
eine bestimmte Summe jährlich den Kindern ausgezahlt werde? Die 
andere Arbeit, auf die wir hinweisen wollen, stammt von de Con- 
dorcet: „Suite du m&moire sur le caleul des probabilites“, Histoire 
de l’Acad.... ü Paris 1782 (1785), p. 674. Sie behandelt die fol- 
gende Frage: Auf einem Grundstück lasten Pflichten in Gestalt von Ab- 
gaben, die nicht zu bestimmten Zeiten fällig sind, sondern beim 
 Eintritte von Ereignissen fällig werden, die in gewisser Weise vom Zu- 
falle abhängig sind; dazu gehört z. B. der Übergang des Besitzes in andere 
Hände, sei es durch Verkauf, sei es durch Erbschaft. Diese Ereig- 
nisse können demnach entweder nur möglicherweise eintreten oder 
auch notwendigerweise. Es soll der Ablösungswert einer solchen Last 
bestimmt werden. 

Wir kommen nun zu der Darstellung eines weiteren, wichtigen 
Prinzips, das der Wahrscheinlichkeitsrechnung neue Bahnen eröffnete. 


240 Abschnitt XXI. 


Jakob Bernoulli hatte gezeigt, daß, wenn bei einem Versuche eins 
der beiden sich ausschließenden Ereignisse A, B eintreffen muß; wenn 
ferner die Wahrscheinlichkeit des ersten dabei gleich p und die des 
zweiten gleich g=1-—p ist; wenn endlich bei (m + n) Versuchen 
A gerade mmal und B gerade nmal eingetroffen ist: daß dann der 


Quotient - sich bei wachsendem (m + n) dem Quotienten 2 ohne 


Aufhören nähert. De Moivre hatte noch einen Schritt weiter getan, 
indem er die Differenz der beiden Quotienten zwischen bestimmte 
Grenzen einschloß, die einander um so näher rücken, je größer die An- 
zahl der Beobachtungen ist. Bisher war also die Wahrscheinlich- 
keit des Ereignisses das Gegebene gewesen, aus dem Schlüsse über 
das Eintreffen des Ereignisses sich ziehen ließen. Jetzt wird die um- 
gekehrte Frage aufgeworfen: kann man aus dem Eintreffen eines Er- 
eignisses seine Wahrscheinlichkeit bestimmen? Implizite ist diese 
Frage bereits bei der Aufstellung von Geburtstabellen von Daniel 
Bernoulli (siehe oben) gestreift worden; mit vollster Klarheit wurde 
sie von dem Engländer Bayes aufgeworfen und behandelt. Laplace 
schreibt darüber‘): „Bayes’ hat direkt die Wahrscheinlichkeit dafür 
bestimmt, daß die roh bereits vollzogene Versuche gegebenen Mög- 
lichkeiten zwischen gegebenen Grenzen liegen. Er gelangt dazu auf 
elegante und sehr geistreiche Art, die freilich ein wenig verwickelt 
ist.“ Über Thomas Bayes’ Lebensumstände haben wir nichts in 
Erfahrung bringen können, außer daß er Mitglied der Royal Soeiety 
zu London war und vor Ende November 1763 starb. Seine Ab- 
handlung: „An essay towards solving a problem in the doctrine of 
chances“ wurde nach seinem Tode unter hinterlassenen Papieren ge- 
funden und durch Vermittlung seines Freundes Richard Price 
(1723—1791), der sich durch Aufstellung von Lebensversicherungs- 
berechnungen als Fachmann bekannt gemacht hatte, in den P. T. 
LIII, 1763, p. 370°) veröffentlicht; Price selbst schrieb eine Ein- 
leitung, Erläuterungen und Beweise zu dieser Abhandlung. 

Bayes beginnt mit der Fixierung des Problems: „Es ist bekannt, 
wie oft bei einer Anzahl von Versuchen ein Ereignis eingetroffen 
und wie oft es ausgeblieben ist; gesucht wird die Wahrscheinlichkeit 
dafür, daß die Wahrscheinlichkeit seines Eintreffens in einem einzelnen 
Versuche zwischen zwei gegebenen Grenzen liege“. 

Die Behandlung des Problems geschieht auf geometrischem Wege. 
Auf eine rechtwinklige Tafel ABCD von der Länge AD=a wird 
eine Kugel geworfen, die in @ zur Ruhe kommt; ihre Entfernung 





ı) Theorie analytique des probabilites, 3=° edit. Paris 1820, p. CXXXVI. 
2) Nebst Supplement P. T. LIV (1764), p. 296. 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 241 


von AB sei <= AF= BH. Alle Werte vonx=0 bis z=a seien 
für die Ruhelage der Kugel gleich wahrscheinlich, Nun wird eine 
zweite Kugel auf die Tafel geworfen; ihre Ruhelage habe von AB 
die Entfernung & Der Wurf der zweiten Kugel finde (m + n) mal 
statt. Es soll, bevor die erste Kugel ge- 


worfen ist, die Wahrscheinlichkeit dafür Ä 
bestimmt werden, daß x zwischen zwei BR 
gegebene Grenzen b=AK und c=AN | K erh 




















fällt, und daß sich dann mmal &<x und i 

nmal E>x bei den Würfen mit der ae; 

zweiten Kugel herausstellt. Bayes zeichnet | | j 
B zZ H0 c 

über AD eine Kurve mit der Ordinate 


y=a’(a— x)? und zeigt, daß die gesuchte 
Wahrscheinlichkeit, abgesehen von einem konstanten Faktor, 


= KJMNK 
wird. Nimmt man b=(, c=a, so wird die Wahrscheinlichkeit 


= AJEMDNKA. 


Da diese Wahrscheinlichkeit = 1, d. h. Gewißheit wird, so bestimmt 
sich dadurch der konstante Faktor. Daraus folgert Bayes: Wissen wir, 
daß bei den (m +n) Würfen der zweiten Kugel mmal &<x und 
nmal &> x gewesen ist, dann wird die Wahrscheinlichkeit dafür, daß 
b<x@<.c ist gleich dem Quotienten der Flächen KJMNK und 
AJEMDA, oder in unserer Schreibweise 


fr« — ı)!dz 
b 


Fi (a — aylda 


0 





Man kann Laplace nur beistimmen, wenn er diese Schlüsse ein 
wenig verwickelt nennt. 

Laplace stellt seinerseits das Prinzip, auf das sich die Unter- 
suchung der Wahrscheinlichkeit von Ursachen aufbaut, an den Beginn 
seiner Abhandlung!). Er gibt ihm die Form: Ist ein Ereignis A die 
Folge einer der n Ursachen B,, B,,..., B,, derart daß jedes B, dem 
Eintreffen von A die Wahrscheinlichkeit w, erteilt, dann ist die 
Wahrscheinlichkeit dafür, daß B, das Eintreffen von A hervorgerufen 
hat, w,:2w,. Laplace erklärt dies Prinzip an einem Beispiele: Es 





") Memoires ... Acad. des sciences ä& Paris VI (1774), p. 621. 


242 Abschnitt XXI. 


seien zwei Urnen B, und B, vorhanden; B, enthalte p weiße und 
q schwarze Kugeln; B, enthalte p’ weiße und g’ schwarze. Aus einer, 
aber unbekannt aus welcher Urne werden (f+h) Kugeln gezogen; 
dabei sind f weiße und A schwarze herausgekommen. Wie groß ist die 
Wahrscheinlichkeit, daß sie aus D,, wie groß die, daß sie aus B, ge- 
zogen wurden? Das Ziehen der f weißen und h schwarzen Kugeln ist 
das Ereignis A; die Wahl von B, oder die von B, die Ursache; w, wird 
die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses, wenn es aus der Wahl von 
B, stammt, und w,, wenn es aus der von B, stammt; also ist, wie 


Laplace angibt, 
_f+hb!e+a-f-—hiptla! 
+! — f)!@—h!f!h! 


ee FE EB Mip!a! 
Pt! -N!@—h!f!h! 
Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß B, die Ursache des Ereignisses 
%, 

ww 

Laplace geht darauf zu der Aufgabe über: wenn eine Urne un- 
endlich viele weiße und schwarze Bälle in unbekanntem Verhältnis 
enthält, und wenn bei der Ziehung von (p+g) Kugeln p weiße und 
q schwarze erschienen sind, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß 
eine neue Ziehung eine weiße Kugel liefern wird? Hier ist die An- 
zahl der möglichen Ursachen, dem unbekannten Verhältnisse ent- 
sprechend, unendlich groß. Als Resultat ergibt sich für die gesuchte 


Wahrscheinlichkeit _? 1 _. — Unter den gleichen Verhältnissen 
P+4r2 


können die Zahlen » und q so hoch genommen werden, daß mit einer 
an Gewißheit streifenden Wahrscheinlichkeit behauptet werden kann, 
das Verhältnis der weißen zu sämtlichen Kugeln der Urne liege 





w, 


und ebenso 








war, ist dann 


zwischen Te — o und ae +0, wo © beliebig klein gemacht 
werden kann. — Auf diesen wichtigen Satz war auch Price (I. c. 


LIV, p. 317 Anm.) schon gekommen; da Laplace in seiner ersten 
Publikation 1774 weder Bayes noch Price erwähnt, läßt sich wohl 
annehmen, daß ihm ihre Untersuehungen damals noch unbekannt 
waren; zum ersten Male werden beide englische Mathematiker im Zu- 
sammenhange mit Laplace in der Inhaltsangabe erwähnt, die der 
Arbeit des französischen Forschers in der Histoire de l’Acad. ... 
Paris 1778 (1781), p. 43 vorausgeschickt ist. Die Arbeit ist von 
1780 datiert. Zu ähnlichen Resultaten gelangt auch Condorcet, 
auf dessen Leistungen wir bald genauer einzugehen haben werden, in 
einem Aufsatze der Hist. de l’Acad.... Paris 1783 (1786), p. 539. — 
J. Trembley hat sich ebenfalls mit diesen Fragen beschäftigt, wieder 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 243 


in der Absicht, ohne Verwendung der höheren Mathematik die Re- 
sultate abzuleiten, wie wir das schon früher erwähnten. Seine Arbeit 
„De probabilitate causarum ab effectibus oriunda“ findet sich in den 
Comm. Soc. Reg. Gotting. XIH, 1795—1798 (1799), p. 64—119; sie 
vermeidet tiefer liegende Hilfsmittel nur auf Kosten der Kürze und 
Übersichtlichkeit. 

Im vierten Abschnitt seines „Me&moire sur le calcul de probabilites“ 
Histoire de l’Acad. des sciences ä Paris 1783 (1786), p. 539 stößt auch 
Condorcet auf diese Fragen. Er macht auf folgendes aufmerksam. 
Wenn bei 100000 Versuchen das Ereignis A 51000mal und das Ereig- 
nis 5 49000 mal eingetreten ist, so wird das Problem über die Wahr- 
scheinlichkeit des Ausfalls der weiteren Ziehungen verschieden sein, 
je nachdem jene 51000 Ereignisse stattgefunden haben; wenn nämlich in 
je 100 aufeinander folgenden Versuchen durchschnittlich 5lmal A und 
49 mal B erschienen ist, so wird der gesunde Verstand andere Er- 
wartungen über die folgenden Ereignisse hegen, als wenn in den 
ersten Serien von je 100 Versuchen A stark überwogen hat, dann 
dieses Überwiegen aber abnahm, und dafür allmählich das Ereignis B 
häufiger und häufiger auftrat. Bei beiden Annahmen gibt die Bayes- 
sche Formel jedoch das gleiche Resultat. Sie erscheint daher nur 
dann anwendbar, wenn die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses A 
wenigstens durchschnittlich den gleichen Wert beibehält. Auf die 
Fälle, in denen das nicht eintrifft, wendet Condorcet seine Aufmerk- 
samkeit. Er stellt analog der Bayesschen Formel zwei andere 
auf; die eine bezieht sich auf den Fall, daß die Wahrscheinlichkeit 
des Ereignisses A zwar veränderlich ist, jedoch nicht von der Folge 
der Versuchsausfälle abhängig erscheint; die zweite Formel läßt die 
Wahrscheinlichkeit auch von der Folge der Ereignisse abhängig sein. 
Die Wahrscheinlichkeiten stellen sich als Quotienten aus vielfachen Inte- 
gralen dar. Sie liefern z. B. das Resultat: Ist A dreimal eingetreten, 


dann ist die Wahrscheinlichkeit eines vierten Eintretens z —= 0,8, 
wenn die Wahrscheinlichkeit konstant ist; = 
veränderlich, allein von der Folge der Ereignisse unabhängig ist; 
1799 
3000 
lichkeit wirkend angesehen wird. 

In der Abhandlung „M&moire sur les probabilites“ datiert vom 
19. Juli 1780 in der Hist....& Paris für 1778 macht Laplace 
darauf aufmerksam, daß in gewisser Art, aber anders als d’Alembert 
es sich dachte, künftige Ereignisse von früheren abhängig erscheinen, 
insofern nämlich als durch den Ausfall der früheren die Anschauung 


— 0,607, wenn sie zwar 


0,599, wenn die Folge des Ereignisses als auf die Wahrschein- 


244 Abschnitt XXI. 


und die Kenntnis der Wahrscheinlichkeit des Eintreffens der späteren 
korrigiert und erweitert werde. Im Artikel XIV dieser Abhandlung 
heißt es bei der Besprechung des Ausfalles fortgesetzter Spiele zweier 
Personen, daß man durch die Folge der Ereignisse neue Aufschlüsse 
über ihre Geschicklichkeiten erhalten könne, derart daß sie bei un- 
endlich vielen Spielen genau bekannt werden. „Unter diesem Gesichts- 
punkte läßt sich nicht bezweifeln, daß frühere Ereignisse auf die 
- Wahrscheinlichkeit späterer Einfluß haben.“ 

Das gibt Laplace Veranlassung, diesen Einfluß zu untersuchen 
und so zu der Bayesschen Regel zu gelangen. Die dazu nötigen 
Schlüsse hat Laplace wiederholt vorgetragen. Wir gehen sofort 
darauf ein; nur erwähnen wir erst noch, daß in Artikel XVI der 
besprochenen Abhandlung dieser Einfluß an dem Beispiele zweier Spieler 
erläutert wird: B hat die erste Partie gewonnen, wie groß ist die 
Wahrscheinlichkeit, daß A die beiden folgenden gewinnt? Es stellt 
sich heraus, daß unter Berücksichtigung der Verschiedenheiten der 


Geschicklichkeiten diese Wahrscheinlichkeit kleiner als . ist. 


Laplace kommt in seinem „Memoire sur les approximations des 
formules qui sont fonctions de tres-grands nombres“, Art. IV (Hist. 
de l’Acad....& Paris 1783 [1786], p. 423), auf die Begründung der 
Bayesschen Regel zurück und leitet sie mit größter Einfachheit ab. 
Er geht dabei folgenden Weg: Bezeichnen e und E zwei Ereignisse, 
p und W ihre Wahrscheinlichkeiten, und hat das gleichzeitige Ein- 
treffen von e und von E die Wahrscheinlichkeit v, so ist v=p-V; 


‚2 7 „Die gesamte Theorie der Ursachen und der zukünftigen Er- 


eignisse, erschlossen aus den bereits eingetretenen, fließt mit großer 
Leichtigkeit aus dieser Formel“ (p. 428). Nämlich so: 

Es möge E Folge eines der Ereignisse e,, &, &,..., €, Sein; e, 
gebe dem Erscheinen von E die Wahrscheinlichkeit a,. A priori 
mögen alle e, gleiche Wahrscheinlichkeiten, d. h. jedes die Wahr- 


scheinlichkeit n haben; dann hat das Zusammentreffen von e, und E 
die Wahrscheinlichkeit =, und daraus folgt für die Wahrscheinlich- 
keit von E | 
1 
‚- a +%+%+:::+9) 


Bezeichnet p, die Wahrscheinlichkeit, daß e, die Ursache von E war, 
und bedenkt man, daß a die Wahrscheinlichkeit des Zusammen- 


treffens von e, und E, also gleich v, ist, so wird nach der obigen 
Elementarformel 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 245 


a 
.: a, 


ag +a+:.-+a 


% 
ee 





(+9 +::+@,) 


Das ist die Bayessche Regel. 

Auch hier gibt Laplace ein sehr treffendes Beispiel: Eine Urne 
enthält drei Kugeln, schwarze oder weiße. Es wird blindlings eine 
Kugel gezogen; diese wird wieder in die Urne getan und dann eine 
neue Ziehung vorgenommen. In m aufeinander folgenden Ziehungen sind 
nur weiße Kugeln zum Vorschein gekommen. Wie groß sind die 
Wahrscheinlichkeiten dafür, daß die Urne nur weiße, oder 2 weiße 
und 1 schwarze, oder 1 weiße und 2 schwarze Kugeln enthält? 
Nimmt man für e,, &,e, diese 3 Möglichkeiten, so wird a, =1, 


N j\m 
„= (5) ‚= (3) ,‚ und 
> gr Bol m u 1» 
14m’ PT, mm BTÜLLmLm 
Laplace bemerkt weiter, daß die genaue Wahrscheinlichkeit der 
meisten einfachen Ereignisse uns unbekannt, also für uns jedes Wertes 
zwischen O0 und 1 fähig sei. Sie heiße x; die Wahrscheinlichkeit 


von E unter der Geltung von & sei f({x)dx; dann geht die obige Formel 
für p, nach Erweiterung mit dx über in 


_ foada 


u I 


je 
[r@az 
0 











pP, 


x 


und die Wahrscheinlichkeit, daß x zwischen den beiden Grenzen ® 
und 9, liegt, ist gleich dem Quotienten 


Sie) dx  ffeoaa. 


0 und 9, werden nahe dem Werte a, diesen einschließend, ge- 
wählt, wo 2= a die Funktion f(x) zu einem Maximum macht; und 
dann läßt sich zeigen, wie die Wiederholung einfacher Ereignisse 
durch ihren Ausfall Schlüsse auf ihre Wahrscheinlichkeit ermöglicht. 

Laplace wendet dann die erhaltenen Theoreme auf das Problem 
der Knaben- und Mädchen-Geburten an (vgl. S. 239) und benutzt für 
die wirkliche Berechnung der unbekannten Wahrscheinlichkeiten die 
in dem früheren Teile des M&moire (Hist.... Paris 1782, p. 1—883) 
hergeleiteten Näherungsformeln für die Integrale der angegebenen 
Formen. 


246 Abschnitt XXI. 


Dann geht er auf weitere theoretische Untersuchungen darüber 
ein, wie aus dem Vorkommen früherer Ereignisse auf das Eintreten 
späterer Schlüsse möglich sind. Ist p(z) die Wahrscheinlichkeit des 
zukünftigen Ereignisses, a priori betrachtet, und P die, aus den be- 
obachteten früheren Resultaten erschlossene Wahrscheinlichkeit, so 
ergibt sich 


P - Sta) (x) da [fo da. 


Auch diese Formel wird auf das typische Beispiel vom Ziehen einer 
Kugel aus einer Urne angewendet: ist einmal eine weiße Kugel ge- 
zogen, dann ist die Wahrscheinlichkeit für das weitere Erscheinen 


von n schwarzen Kugeln 


1 1 
2 


0 

Von der Methode der Bestimmung zukünftiger Ereignisse durch 

den Ausfall früherer macht Laplace auch in dem Aufsatze „Sur les 
naissances, les mariages et les morts ä Paris“ (Hist. de !’Acad. 1773 
[1776], p. 693— 702) Gebrauch, um die Ergebnisse von Volkszählungen, 
die in einzelnen Distrikten Frankreichs vorgenommen wurden, ver- 
allgemeinernd zu verwerten. Aus ihnen sollte die Bevölkerung des 
ganzen Reiches bestimmt werden. Das konnte mit Hilfe von Geburts- 
tabellen für das gesamte Gebiet geschehen, wenn das aus jenen 
Distrikten erhaltene Verhältnis zwischen Geburten und Lebenden für 
das ganze Reich Gültigkeit beanspruchen darf. Laplace erörtert, 
mit welcher Wahrscheinlichkeit man eine solche Annahme machen 
dürfe. Er reduziert sie auf das Urnenschema: In einer Urne befinden 
sich unendlich viele schwarze und weiße Kugeln in unbekanntem Ver- 
hältnisse. In einer ersten Ziehungsserie werden p weiße und q 
schwarze Kugeln gezogen; in einer zweiten g, schwarze, wieviel weiße 
ist unbekannt. Dabei ist es am naturgemäßesten, anzunehmen, daß 
die Zahl », der weißen das Verhältnis befriedigt p:q=p,:9, also 


pM= 2 wird. Es wird nun die Wahrscheinlichkeit P dafür bestimmt, - 





daß für den wahren Wert », die Eingrenzung 
 A-o)<n<Y (te) 


bei kleinem ® gilt. Bis auf Größen der Ordnung »* wird 


2 % x 
Pe VL 12 BB» Pgg9,® z 
vajä (« ee, 





Wahrscheinlichkeitsrechnung. 247 


Auch in dem Aufsatze der Histoire de l’Acad.... Paris 1778, p. 227 
geht Laplace auf das Problem des Geburtsverhältnisses von Knaben 
und Mädchen ausführlich ein. 

Eine weitere Frage zieht, sowohl wegen der Untersuchungen, zu 
denen sie in unserem Zeitraume selbst Anlaß gab, als auch wegen 
ihrer praktischen Wichtigkeit unsere Aufmerksamkeit auf sich. Zu- 
dem gab sie den ersten Anstoß zur Theorie der Beobachtungs- 
fehler. Ist eine Größe mehrfach beobachtet, dann werden die Re- 
sultate der einzelnen Beobachtungen i. a. nicht miteinander überein- 
stimmen, so z. B. wenn die Länge einer Strecke oder die Größe eines 
Winkels gemessen worden ist. Als das wahrscheinlichste Resultat 
hat man dann, wenn die Beobachtungen als gleichwertig eingeschätzt 
werden, das arithmetische Mittel der Einzelbeobachtungen angesehen. 
Es ist die Frage, mit welchem Rechte das geschieht. Davon war 
(diese Vorlesungen III, S. 640—641) im Anschluß an eine Abhand- 
lung von Th. Simpson schon die Rede; Lagrange nimmt (Mis- 
cellanea Taurinensia V, 1770—1773, p. 167—232)*), wahrscheinlich ohne 
Kenntnis jener früheren Untersuchung zu haben, das Problem wieder 
auf und führt die Behandlung ähnlich wie Simpson durch. Er setzt den 
wahren Wert der zu beobachtenden Größe und die begangenen Be- 
obachtungsfehler als gegeben voraus, kann daraus das Mittel der Be- 
obachtungen berechnen und darauf hin bestimmen, mit welcher Wahr- 
scheinlichkeit das Mittel den genauen Wert gibt, und mit welcher 
Wahrscheinlichkeit bei seiner Annahme ein Fehler von gegebener 
Größe begangen wird. Liegen z. B. Fehler nur von den Größen 
+1, 0, — 1 vor, gilt gleiche Wahrscheinlichkeit für das Eintreten 
von jeder der drei Sorten, und hat man n Beobachtungen gemacht, 
dann ist für die Annahme 

ER EBRTRE 


’ 5074 es 


er M3 2%43 139 171 153 14 
die Wahrschein]l SEO ne te ar: Scherer 
nlichkeit — 755, 7997 799 729? 729’ 729° 


dafür, daß das Mittel den wahren Wert gibt. Es scheint auf Grund 
dieser Zahlen unvorteilhaft, die Anzahl der Beobachtungen über 2 
steigen zu lassen; allein, wenn man nach der Wahrscheinlichkeit fragt, 
daß der bei der Annahme des Mittels gemachte Fehler den Betrag 
3 nieht übersteigt, dann findet sich für die Annahme 

na Fe Ve er 


a .%M3 567 513 639 603 673 
die Wahrscheinlich = 0, you aa Fan many ** 
, ha) Tag Tag 7a 


Es ist also in Wirklichkeit vorteilhaft, » als große und als gerade 





') Oeuvres publ. p. Serret, II, Paris 1868, p. 171. 


243 Abschnitt XXI 


Zahl anzunehmen. In den ersten acht der zehn Probleme, mit denen 
seine Abhandlung sich beschäftigt, behandelt Lagrange den Fall, 
daß eine endliche Anzahl diskreter Fehler begangen sei; von da aus 
macht er den Übergang zu der, in der Natur begründeten Annahme, 
daß unendlich viele Fehlermöglichkeiten innerhalb gewisser Grenzen 
vorliegen. Am Schlusse der Abhandlung geht Lagrange direkt auf 
diesen natürlichen Fall ein. Dabei führt er den Begriff der Fehler- 
wahrscheinlichkeit ein, und stützt diesen auf die gemachten Be- 
obachtungen; ist x die Größe des Fehlers, so ist die Fehlerwahr- 
scheinlichkeit y hierfür gleich der Anzahl der Male, in denen x auf- 
getreten ist, dividiert durch die Gesamtzahl der Beobachtungen. In 
den gegebenen Beispielen wird einmal y als Konstante, einmal als 
y= cst.(p? — x”) angenommen, so daß hier die beiden Grenzen der 
Fehler —p und +p sind. Die zweite Hypothese für y erklärt La- 
grange für die einfachste und naturgemäßeste, die man erdenken 
könne. Ein letztes Beispiel nimmt y= cst. cosz an. Auf eine theo- 
retische Annahme, die zu der jetzt üblichen Fehlerwahrscheinlichkeits- 
funktion führen könnte, geht Lagrange nicht ein. 

Von ganz anderen Gesichtspunkten läßt sich Daniel Bernoulli 
in seiner „Dijudicatio maxime probabilis plurium observationum dis- 
crepantium atque verisimillima inductio inde formanda“ (Act. Acad. 
Petrop. 1777 [1778], p. 3—23) leiten. Kommen, so überlegt er, 
große Abweichungen unter den Beobachtungen vor, so werden mit 
einem gewissen Rechte die extremen Resultate weggelassen; das arith- 
metische Mittel verliert in solchem Falle seine Gültigkeit als wahr- 
scheinlichster Wert. Vor allem ist ein Gesetz für die Wahrschein- 
lichkeit der Fehler, als eine Funktion ihrer Größe, aufzusuchen. Falls 
x& die Größe des Fehlers und % die Wahrscheinlichkeit seines Ein- 
treffens ıst, findet Bernoulli folgende Annahmen über y nötig: 
a) y muß für +x und — x gleichen Wert haben; b) mit wachsendem 
x muß y abnehmen; c) im höchsten Punkte der Fehlerkurve y=f(«) 
muß die Tangente parallel der x-Achse laufen; d) y=f(x) muß auf 
der x-Achse enden; e) die Tangenten in diesen Endpunkten müssen 
senkrecht auf der x-Achse stehen. Über d) und e) kann man ge- 
teilter Ansicht sein; jedenfalls haben diese Hypothesen sich im Ver- 
laufe der weiteren Entwicklung nicht durchgesetzt. Als Fehler- 


funktion y= f(x) wählt der Verfasser einen Halbkreis y = ce. Vr?— x, 
dessen Radius bei jeder Untersuchung experimentell dadurch zu be- 
stimmen ist, daß —r und + r als Grenzen für mögliche negative und 
positive Fehler genommen werden. Es kommt ferner noch auf die 
Lage des Halbkreises, d.h. auf die seines Mittelpunktes an, der so 
festgelegt wird: A, A+a, A+b,..., die nach steigender Größe 


Wahrscheinlichkeitsreehnung. 249 


geordneten Beobachtungen sind gegeben; z ist die Entfernung des 
Mittelpunktes von A; dann ist die Wahrscheinlichkeit des gleich- 
zeitigen Vorkommens der Fehler x, «—a, 2 —b,... proportional zu 
dem Produkte Yr? — 2°: Yr? —- (2 —- a): Vr — (2 —b%...=YVQ. 
Nun wird folgender Schluß gewagt: Da diese Fehler ja wirklich ein- 
getroffen sind, so ist ihre Wahrscheinlichkeit, wie Bernoulli be- 
hauptet, ein Maximum; man findet also x dadurch, daß man Q zu 
einem Maximum macht. Das führt bei n Beobachtungen auf eine 
Gleichung des Grades (2n—1). Bei n=1 und 2 liefert diese 
das arithmetische Mittel; bei n = 3 schon nicht mehr. 

In seinen Bemerkungen zur eben besprochenen Abhandlung greift 
Euler (ibid. p. 24—33) die eben hervorgehobene gewagte Behauptung 
D. Bernoullis an. Er selbst umgeht durch eine geistreiche Wendung 
die Auflösung der Gleichung des Grades (2» — 1) und zeigt, wie die 
einer Gleichung dritten Grades in allen Fällen ausreicht. 

Auch Laplace nimmt in der oben erwähnten Untersuchung 
(Memoires de l’Acad. des Sciences, Paris VI[1774], p.621) Stellung zu der 
Frage nach dem arithmetischen Mittel aus einer Reihe von Beobach- 
tungen. Er erklärt (p. 639), die Annahme, die auf das arithmetische 
Mittel führt, sei „wenig natürlich“ und hält es für notwendig, bei 
feineren Untersuchungen von einer anderen Methode Gebrauch zu 
machen. Laplace setzt die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers von 
der Größe x gleich f(x); dabei fordert er, daß f(+2)=f(—x) sei; 
ferner daß die x-Achse eine Asymptote der Kurve y=(x) werde, 
und daß die von der z-Achse und der Kurve y= f(x) begrenzte Fläche 
die Größe 1 besitze. Mit Hilfe einer ganz willkürlichen Annahme 








wird f(x) = mem: gefunden. Merkwürdigerweise übersieht La- 
place dabei, daß die erste seiner, für f(x) aufgestellten drei Forde- 


„me ”® nieht befriedigt wird. Zur weiteren Be- 


handlung der Frage verwendet er das von ihm aufgestellte Prinzip iiber 
die Wahrscheinlichkeit der Ursachen und kommt auf einem, schon 
für drei Beobachtungen recht komplizierten Wege zum Ziele. Die 
Bestimmung des Mittels ist selbst in diesem so einfachen Falle von der 
Lösung einer Gleichung 15'" Grades abhängig. Einer kleinen von 
Laplace berechneten Tafel entnehmen wir folgende Resultate: Sind 
die drei beobachteten Punkte A, B, C; wird stets AB=1 gesetzt 
und dann BU =g; hat endlich das Laplacesche Mittel M die Ent- 
fernung AM = x von A, so ergibt sich für 


rungen durch y= 


Ber; 01 ;02 MOB OFT OT 0; ri 


© —= 0,860; 0,894; 0,916; 0,932; 0,944; 0,955; 0,965; 0,975; 0,984; 0,992; 1 
CANToR, Geschichte der Mathematik IV, 17 











250. Abschnitt XXI. 


Auf mehr als drei Beobachtungen geht die Abhandlung bei der 
Schwierigkeit der Rechnungen nicht ein. | 

Auch in seinem „Memoire sur les probabilites“ vom Jahre 1785 
(Histoire de l’Acad.... Paris, 1778) behandelt Laplace diese Fragen. 
Er löst dabei zuerst das folgende Problem: „Es seien » positive, 
stetige Variable t,, 4, ..., 4, mit der festen Summe s gegeben. Das 
Gesetz der Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen jedes einzelnen t, 
sei bekannt. Es soll die Summe der Produkte aller Werte einer ge- 
gebenen Funktion Y(t,, tz, ..., £,) in die Wahrscheinlichkeit des Auf- 
tretens des betreffenden Wertes ermittelt werden.“ Damit hängt aufs 
engste das, wie wir.3.248 sahen, schon von Lagrange behandelte Problem 
zusammen: „Die Wahrscheinlichkeit dafür zu finden, daß die Summe 
der Fehler bei mehreren ‚Beobachtungen zwischen gegebenen Grenzen 
liegt, wenn das Fehlergesetz durch eine rationale ganze Funktion ge- 
geben ist.“ Auf die Entdeckung dieses Fehlergesetzes geht nun La- 
place (l. c. S. 254; art. XII) aus. Er nimmt an, daß keine Fehler 
von höherem absoluten Betrage als « vorkommen; ferner daß gleich 
große positive und negative Fehler mit gleich großer Wahrscheinlich- 
keit auftreten; endlich daß die Wahrscheinlichkeit bei stetig wachsen- 
der Fehlergröße stetig abnimmt. Hierauf teilt er die Strecke, auf der 
die » Fehler als Abszissen repräsentiert werden, von O bis a in n 
gleiche Teile und errichtet in der Mitte eines jeden Teils ein Lot, das 
die entsprechende, zur Abszisse gehörende Wahrscheinlichkeit dar- 
stellt. Da die Fehlerkurve mit der Achse eine Fläche von konstantem 
Inhalte 1 bildet, so muß auch die Summe der errichteten Ordinaten 
konstant sein: diese Summe denkt sich jetzt Laplace auf alle mög- 
lichen Weisen in » ihrer Größe nach geordnete Längenteile zerlegt; 
dann entspricht jeder solchen Zerlegung eine Fehlerkurve oder ge- 
nauer ein Fehlerpolygon. Von allen möglichen, so konstruierbaren 
wird ein „mittleres“ Polygon genommen; und diese Annahme wird 
dureh die Gleichberechtigung aller konstruierten Fehlerkurven be- 
gründet. Läßt man dann » ins Unendliche wachsen, so gelangt man 
zu der Kurve, die das Fehlergesetz mit der größten Wahrscheinlich- 
keit darstellt. Laplace findet für diese Kurve die Gleichung 


y-;.lg4- 
Dabei ist jedoch anzunehmen, ic für negative x in den Nenner des 
Logarithmus-Arguments die entgegengesetzt gleiche positive Größe 
eingetragen wird. Über die bei der Abszisse x = 0 auftauchende 
Schwierigkeit geht Laplace hinweg; ebensowenig stört ihn der Um- 


stand, daß für «> a reelle negative y auftreten. 
‚Die erhaltene Lösung benutzt Laplace am Schlusse, seiner um- 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 251 


fangreiehen Abhandlung bei der Bestimmung des vorteilhaftesten 
Mittelwertes, der aus mehreren Beobachtungen zu nehmen. ist, also bei 
dem 8. 248, 249 besprochenen, schon von Laplace selbst, dann von La- 
grange, von D. Bernoulli und Euler behandelten Probleme. Hier 
macht Laplace die erschwerende Voraussetzung, daß die » einzelnen 
Beobachtungen eines Phänomens von n verschiedenen Personen her- 
rühren, also auch verschiedenen Fehlergesetzen unterliegen. Diese 
Gesetze seien durch y= 9, (2), y= 9(2#),..., y= Y,(x) repräsentiert; 
die Beobachtungsresultate seien in steigender Größe angeordnet, und 
die Differenz des zweiten Resultats gegen das erste, des dritten gegen 
das zweite, usw. seien 95, Ps, -- -, 2,„. Dann bezeichnet Laplace die 
Kurve 
2 = Pıl@) Pla —®) -- - Pu(lPn — &) 


als Kurve der Wahrscheinlichkeiten, „courbe des probabilites“, und 
bestimmt als vorteilhaftesten Mittelwert den Wert x, der die zwischen 
der x-Achse und dieser Kurve gelegene Fläche halbiert. Dabei macht 
Laplace ausdrücklich darauf aufmerksam, daß der Begriff „Mittel- 
wert“ durchaus nichts fest Bestimmtes ist, indem „das mittlere Re- 
sultat“ einer Reihe von Beobachtungen auf unendlich viele Arten 
definiert werden kann. — Die einzelnen p unterscheiden sich nur durch 
die Werte des a voneinander, so daß man hat 
de, ee lo 

Setzt man alle a gleich oo, so gelangt man zum arithmetischen 
Mittel. Das Gleiche tritt auch in einem allgemeineren Falle ein, den 
wir aber als zu verwickelt übergehen. 

Die vorgetragene Theorie wird endlich auch noch zur Ableitung 
einer Regel für die Korrektion von Beobachtungsinstrumenten be- 
nutzt. — 

Wir gehen nunmehr zu der Anwendung der Wahrscheinlichkeits- 
rechnung auf soziale Fragen über, auf Fragen über die Richtigkeit 
von Urteilssprüchen, über Einführung von Gesetzen, über Einrichtung 
von Gerichtshöfen, über Wahlen. Dieser ganze Zweig wurde haupt- 
sächlich von dem französischen Mathematiker Condorcet geschaffen 
und gepflegt, dessen wir bereits mehrere Male gedenken mußten. Da 
seine Leistungen hauptsächlich auf diesem Gebiete der Wahrschein- 
lichkeitsrechnung liegen, so haben wir den Bericht über seinen 
Lebenslauf bis hierher aufgeschoben. Marie-Jean-Antoine-Nico- 
las-Caritat marquis de Condorcet wurde am 17. September 1743 
in der Picardie als Sproß einer altadligen Familie geboren. Seine 


Mutter erzog ihn, nach dem frühzeitigen Tode des Vaters, in frömmsten 
17: 


252 Abschnitt XX1. 


Anschauungen; acht Jahre hindurch trug er zu Ehren der Jungfrau 
Maria Mädchenkleider; sein Erzieher war ein Jesuit. Im College von 
Navarra widmete er sich mathematischen Studien und erhielt, sech- 
zehnjährig, in Paris seinen akademischen Grad. Durch seinen „Essai 
sur le caleul integral“ (1765) und sein „Memoire sur le probleme des 
trois corps“ (1768) gelangte er zu hohem Ansehen. 1769 wurde er 
zum Mitglied der Academie des sciences gewählt. Turgot und Vol- 
taire waren ihm eng befreundet; mit dem ersten betrieb er national- 
ökonomische Untersuchungen; mit dem zweiten behandelte er litera- 
rische Fragen. 1782 wurde er Mitglied der Academie frangaise. Es 
beseelte ihn eine durchaus liberale, für die Fortschritte der Menseh- 
heit begeisterte, für die Verbesserung ihrer Lage eintretende Ge- 
sinnung. Unter und mit Turgot hatte er für Reformideen gekämpft, hatte 
gegen die Sklaverei der Neger, gegen die Zurücksetzung der Calvı- 
nisten geschrieben; er hatte öffentlich gegen ungerechte Entschei- 
dungen des Parlaments, gegen ungerechte Verurteilungen der Gerichte 
protestiert. 1789 schloß er sich der Revolutionspartei an. Er wurde 1791 
zum Kommissar der Schatzkammer ernannt, dann in die gesetz- 
gebende Versammlung gewählt und 1792 sogar Präsident derselben. 
Im Prozeß gegen den König stimmte Condorcet für die härteste 
Strafe nach der Todesstrafe. Er stand auf der Seite der Girondisten 
und flüchtete, um der Verhaftung zu entgehen, 1793 nach ihrem Sturze. 
Acht Monate hindurch lebte er in einem Verstecke in Paris und ver- 
faßte dort mehrere sozial-wissenschaftliche Schriften. Durch einen 
anonymen Brief gewarnt, verließ er sein Asyl im April 1794, fand 
den Schutz, den er erhofft hatte, nicht, irrte zwei Tage lang umher 
und wurde als verdächtig in Clamart angehalten. Im Verhör legte 
er sich einen falschen Namen bei. Unerkannt wurde er nach Bourg 
la Reine transportiert und dort im Gefängnisse am nächsten Tage 
tot aufgefunden; wahrscheinlich hatte er Gift genommen. Mehrere 
Monate hindurch blieb infolge des falschen Namens seiner Familie 
sein Geschick unbekannt; nur dank einer, beim Gestorbenen aufgefun- 
denen Uhr konnte seine Person festgestellt werden. 

Charakteristisch für ihn ist das Wort d’Alemberts, das ihn 
als „un volean couvert de neige“ bezeichnete. Auch für seine wissen- 
schaftlichen Bestrebungen gilt d’Alemberts Ausspruch. Gondoreet 
war von heiligem Eifer für das Wohl der gesamten Menschheit 
durehglüht und von ihrer unbeschränkten Vervollkommnungsfähigkeit 
überzeugt, auf ethischem wie auf wissenschaftlichem Gebiete. Von 
diesen Gesichtspunkten aus ist sein Hauptwerk zu betrachten und zu 
beurteilen; ihm dient die Mathematik darin als Mittel, die Wohlfahrt 
und die Wahrheit zu fördern. Es trägt den Titel: „Essai sur Y’applı- 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 253 


cation de analyse & la probabilite des deeisions rendues ä la plura- 
litE des voix“ und ist im Jahre 1785 zu Paris erschienen. Es be- 
steht aus einem „Discours preliminaire“ von 191 Seiten und dem 
eigentlichen Werke von 304 Seiten. Der „Discours“ liefert eine, deın 
Werke parallel laufende, eingehende und erläuternde Inhaltsangabe 
unter Ausschaltung der mathematischen Ableitungen, die das Werk 
selbst gibt. Eine kurze Einführung in die Grundsätze der Wahrschein- 
lichkeitsrechnung bildet den Anfang des Discours. Das eigentliche 
Werk zerfällt in vier Teile. 

Bei der Wahrscheinlichkeit von Entscheidungen beachtet CGon- 
dorcet folgende Hauptpunkte: 1) die Wahrscheinlichkeit, daß eine 
Versammlung keine falsche Entscheidung abgibt; 2) die, daß sie eine 
richtige abgibt; 3) die, daß sie überhaupt eine abgibt; 4) die, daß 
eine abgegebene Entscheidung richtig ist. Der Unterschied von 1) und 
2) liegt darin, daß 1) auch den Fall umfaßt, in dem keine Entschei- 
dung erfolgt. 

Im ersten Teile werden diese Fragen unter verschiedenen An- 
nahmen über den Abstimmungsmodus untersucht. Es wird der Reihe 
nach vorausgesetzt: 1) die Anzahl der Abstimmenden ist ungerade; 
man sucht die Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Urteils, 
wenn nach absoluter Majorität beschlossen wird; 2) wenn eine vor- 
geschriebene Majorität von (2q, + 1) Stimmen zum Beschluß nötig 
ist; 3) wenn bei gerader Anzahl der Abstimmenden eine Majorität von 
2q, Stimmen gefordert wird; 4) wenn die Majorität einen vorge- 
schriebenen Prozentsatz der Anzahl der Abstimmenden erreichen, 
oder 5) wenn die Majorität die Minorität um eine vorgeschriebene 
Anzahl übertreffen muß; 6) wenn die Abstimmung so lange wieder- 
holt wird, is man eine vorgeschriebene Majorität erhalten hat; 
7) wenn die Entscheidung von den aufeinander folgenden Ab- 
stimmungen einer Anzahl von Körperschaften abhängig gemacht 
wird, usw. 

Um ein Bild dieser Untersuchungen zu geben, knüpfen wir an 
die erste Annahme an. Es sind (29 + 1) Abstimmende vorhanden; 
alle haben gleiche Geistesschärfe, sind von gleichem Gerechtigkeits- 
gefühle beseelt und die Abstimmung jedes einzelnen geschieht un- 
beeinflußt von der der übrigen. Die Wahrscheinlichkeit, daß das Ur- 
teil des einzelnen mit der Wahrheit übereinstimmt, sei gleich ® 
(verite); daß es falsch sei, gleich e (erreur); also v+e=1. Die 
Wahrscheinlichkeit, daß bei der Abstimmung mindestens (q +1) 
Stimme sich für die Wahrheit ausspricht, sei V,; daß das Gegenteil 
eintrete, E,. Dann wird, wie sofort ersichtlich ist, der Wert von V, 
bestimmt als 


254 Abschnitt XXI. 


v, = yaıtrııyı Be “ ve2e + Gi ') vie... + ') virlen; 
und daraus leitet Condorcet den Ausdruck her 


V,=v+ @— [ve + (5) e+ (et: + ‚wel. 


Ist v>e, so wächst V, zugleich mit q und wird gleich 1 für g= 
Ist v<e, so nimmt V, bei wachsendem g ab und wird gleich O für 
q=%. Das rechtfertigt den Schluß: „eine rein demokratische Ver- 
fassung ist bei Abstimmungen über Dinge, die den Horizont gewöhn- 
licher Leute übersteigen, unter allen Verfassungen die schlechteste“; 
denn bei ae Mehrzahl des Volkes ist a e>v.— Für v=e wird 
V,=E = = 
V, und E, geben die Wahrscheinlichkeiten für die Richtigkeit 

und die Unrichtigkeit eines abzugebenden Urteils. Ist die Entschei- 
dung aber schon gefällt und die Majorität, mit der sie eintrat 
— 2q, + 1 bekannt, dann berechnet sich die Wahrscheinlichkeit für 
die Richtigkeit des lgegsbenar Urteils folgendermaßen: für die Rich- 
tigkeit sprechen 

Be \ortg tie, 

44 
dagegen sprechen | 

Di ee ) vet +1 

g—q 

Chancen, also ist die Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit und die 
Unrichtigkeit des gefällten Urteils bezw. 


ur er 


und . 
vurtten ti Pa ah Ep FEL:E. 








In ähnlicher Art wird das Problem unter der zweiten Annahme 
behandelt, daß eine Majorität von 2q, + 1 Stimme zum Beschluß 
nötig ist. Dabei stellt sich heraus, daß bei 9» >e die Werte von V, 
zwar im allgemeinen mit wachsendem q zunehmen, daß aber bei 
kleinen Werten von g Abweichungen von dieser Regel vorkommen 
können. So liefert bei o-,, e- - und ,=3 der Wert g=19 den 


kleinsten Betrag für V,; diesen kleinsten Betrag, der eine Funktion 
von g ist, bezeichnet Condorcet durch M. Es ist bei diesem Ab- 
stimmungsmodus also nicht stets geraten, die Anzahl der Abetinimen: 
den zu vermehren. die 
Im ersten Teile geht Condorcet auch auf Untersuchungen über 
die Richtigkeit von Wahlen ein und zeigt, daß eine durch Stimm- 
zettel erfolgende Wahl eines unter drei Kandidaten sehr wohl. den 


Wahrscheinlichkeitsrechnung. 255 


Ansichten der Majorität der Abstimmenden direkt entgegengesetzt 
sein kann. Condorcet war nicht der erste, der auf diese Kompli- 
kationen hinwies; Jean Charles de Borda hatte seinen Ideen 
darüber schon 1770 vor der Akademie Ausdruck gegeben. In der 
Histoire de l’Acad....ä Paris wurde 1781 eine von ihm verfaßte, 
darauf bezügliche Abhandlung gedruckt (8. 617: Memoire sur les 
elections au serutin). Das folgende Beispiel mag die Schwierig- 
keiten, die bei der Wahl auftreten können, erläutern. Von den drei 
‘Kandidaten A, B, € soll durch Abstimmung einer gewählt werden. 
Es sind 12 Wähler vorhanden, die einzeln die drei Kandidaten in 
folgende Reihenfolge der Würdigkeit bringen | 












































Wäleer I IuoJju vw v/vmivu/jwmx|x|xılxa 
AA a eh ee Bi | Ele 
Bis; BJ] 0 0 0). | ie: c A| BB 
Ol Gb BideBilatkiar | Ach A FEB. -4:|22A 














Hat jeder der Wähler nur einem der Kandidaten seine Stimme zu 
geben, so erhält A 5 Stimmen, B 4 und © 3; somit ist A gewählt. 
‚Legt man aber der dritten Stelle das Gewicht « bei, der zweiten das 
Gewicht & + ß und der ersten das Gewicht «+ ß + y, so besitzt A das 
Gewicht 12&« +6ß +5»; B das Gewicht 12&« +8ß + 4y und Ü end- 
lich das Gewicht 12« + 108 +3». Je nach den Werten, die «, ß, y 
erhalten, kann man A oder Ü an erste Stelle bringen. So müßte 
für ö= y der Kandidat C gewählt sein. = y ist Bordas Annahme, 
die offenbar ihrer Willkür halber die Schwierigkeit nicht beseitigt. Con- 
dorcet beschäftigt sich eingehender mit der Hebung der Schwierigkeit, 
indem er die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeiten der Gruppierungen 
heranzieht. Aber auch er scheitert an der Lösung des vollkommenen 
Widerspruches, der bei solchen Abstimmungen auftreten kann; wenn 
sich z. B. bei der Abschätzung von je 2 der 4 Kandidaten. unter sich 
eine Majorität für jede der 6 Anordnungen findet, in denen das 
> Zeichen die Überlegenheit andeuten soll: 
a>B:4>0;4>D; Bu6 DaB: 05 B, 

so sind die drei letzten Beziehungen unvereinbar. | 

Der zweite Teil des Essay liefert eine Umkehrung der Aufgaben 
des ersten Teils; dort waren v, q, q, bekannt, und es wurden V. ,„ und 
M gesucht. Hier nimmt man die letzten Größen als bekannt an und 
bestimmt aus ihnen die ersten. Um diesem Zwecke zu genügen, 
werden die Formeln des ersten Teils näherungsweise aufgelöst. Der 
Verfasser beschäftigt sich dann eingehend mit philosophischen Fragen 
über die Grundgesetze der Wahrscheinliehkeitsrechnung und wieder- 
holt seine Kritik 8. 223, 244 der Buffonschen Annahmen. 


256 Abschnitt XXL 


Im dritten Teile werden zwei Probleme behandelt: durch Ver- 
suche soll die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit abgegebener Urteile 
bestimmt werden; und zweitens soll die Wahrscheinlichkeit festgelegt 
werden, die notwendig zu fordern ist, damit ein Urteil als gerecht 
angesehen werden könne. Für die Erledigung des ersten Punktes ist 
es nötig, die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses, das eintreten soll, 
aus dem vorhergehenden Verlaufe des Eintretens dieses Ereignisses 
zu bestimmen; und dies führt direkt auf die Bayessche Theorie. 
. Sie findet sich denn auch in dreizehn Problemen erläutert. Wir 
führen die ersten derselben an. Von zwei Ereignissen, die so be- 
schaffen sind, daß bei jedem Versuche immer nur eins eintreten 
kann, aber auch eins eintreten muß, ist bei (m + n) Versuchen das 
erste A mmal, das zweite BD nmal eingetreten; mit welcher Wahr- 
scheinlichkeit ist bei einem neuen Versuche A zu erwarten, wenn 
die unbekannten Wahrscheinlichkeiten & und 1—x von A und B 
entweder I. konstant; oder II. veränderlich sind; oder III. wenn über 
ihre Konstanz oder Veränderlichkeit nichts bekannt ist? — Bei der 
Besprechung des zweiten Punktes stellt Condorcet, ähnlich wie 
Buffon, ein Maß auf für die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit 
von Urteilen, mit der man sich begnügen müsse; er kommt durch 


merkwürdig verzwickte, an die Lebenshoffnung geknüpfte Betrach- 
144 767 


. tungen zu dem Werte u 


— M. Setzt man eine Versammlung 
von 2q +1 = 61 Abstimmenden voraus, für deren jeden v = ni ist, 


so reicht eine Mehrheit von 2q, +1= 9 Stimmen, um die Wahr- 
scheinlichkeit des Spruches > M zu machen. 

In der Einleitung zum vierten Teile des Werkes gesteht Con- 
dorcet ein, daß die für Abstimmungen gemachten allgemeinen An- 
nahmen: unverändertes v, gleiche geistige Stellung, gleiche Wahr- 
heitsliebe, Freiheit von Beeinflussungen der Abstimmenden untereinander 
— sich allzuweit von der Wirklichkeit entfernen, und er unternimmt 
es, die wirklichen Verhältnisse mehr, als dies bis dahin geschehen 
war, in die Rechnung zu bringen. 

An vier ausführlich besprochenen Beispielen versucht endlich 
der fünfte und letzte Teil die Anwendung der aufgestellten Grund- 
sätze zu zeigen. Die Durchführung ist so wenig mathematisch, daß 
eine weitere Darlegung zu sehr aus dem Rahmen dieser Vorlesungen 
heraustreten würde. 

Es ist schwer, zu dem Werke Condorcets gerechte Stellung zu 
nehmen: „Bewundert viel und viel gescholten“. Rein mathematisch 
betrachtet bietet es schon so manchen Angriffspunkt; sein Haupt- 
mangel aber liegt in der Grundansicht, es könne das verwickelte 


Reihen. 257 


Leben sich unter so einfache Annahmen einschnüren lassen, wie sie 
hier aufgestellt werden; einen anderen Mangel finden wir in der 
Dunkelheit seines Stils und in der Unklarheit seiner Ideen. Manche 
Beurteiler haben gemeint, Condorcet sei es gelungen, die Lücke 
auszufüllen, die der vierte Abschnitt der „ars conjectandi* Jakob 
Bernoullis aufweist. Dieser geniale Mann wurde durch den Tod 
gehindert, die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechung auf bürger- 
liche, moralische und wirtschaftliche Verhältnisse zu liefern, was er 
beabsichtigte; Condorcet habe nach 72 Jahren die Gedanken Ber- 
noullis durchgeführt. Andere Beurteiler finden Condorcet eher phan- 
tastisch als streng, eher enthusiastisch als wissenschaftlich scharf. 

Wir müssen noch einen Blick auf die letzten beiden Artikel 
eines Condorcetschen Aufsatzes über die Wahrscheinlichkeitsrech- 
nung werfen, deren erste Artikel bereits S. 243 besprochen sind. 
Diese beiden übrigen Artikel handeln über die Wahrscheinlichkeit außer- 
ordentlicher Ereignisse (Histoire de l’Acad. des sciences...ä Paris 
1783, p. 553, und 1784, p. 454) und über die Glaubwürdigkeit dahin 
gehender Zeugenaussagen. Die Ausführungen des ersten werden im 
zweiten zurückgenommen, weil sie zu hypothetisch, zu schwierig, zu 
wenig dem gesunden Verstande entsprechend seien. Neue, ziemlich 
unverständliche Betrachtungen werden an ihre Stelle gesetzt und 
zu einer Untersuchung über die wahrscheinliche Regierungsdauer der 
sieben Könige von Rom benutzt! Man könnte es wirklich verstehen, 
wenn jemand solche Anwendungen als einen recht schlechten Scherz 
auffaßte, nur dazu angetan, die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu dis- 
kreditieren. 


Reihen. 


Wir gehen jetzt zur Theorie der Reihen über. Dabei macht 
sich eine, in der Natur der Sache liegende Schwierigkeit fühlbar, 
mehr als in den früheren Epochen. Sie betrifft die Anordnung des 
Stoffes. Die Verwendung der unendlichen Reihen findet jetzt näm- 
lich nahezu in allen Gebieten der Analysis statt und nimmt an 
‚prinzipieller Wichtigkeit mehr und mehr zu; Differential- und Inte- 
gralrechnung, Differenzenrechnung, Funktionentheorie, Algebra wären 
ohne die Theorie und die Praxis der unendlichen Reihen eines weit- 
tragenden Hilfsmittels beraubt. Eine Darstellung dieser Gebiete, die 
die Reihen gänzlich ausschlösse und auf eine Sonderdarstellung ver- 
wiese, wäre kaum denkbar. So muß es denn in gewissem Maße dem 
Belieben überlassen bleiben, ob die eine oder die andere Arbeit hier 


258 Abschnitt XXI. 


unter der Theorie der Reihen oder an einer anderen Stelle besprochen 
wird, wohin sie dem Stoffe nach oder aus anderen Gründen gehört. 
Ein Beispiel für das soeben Gesagte möge genügen: Lagrange 
hat 1768!) eine „neue Methode“ gegeben, um die literalen Gleichungen 
mit Hilfe von Reihen aufzulösen. Dabei gelangt er, ohne einen Be- 
weis für sein Resultat zu geben, zu der wichtigen Formel, die als „La- 
grangesche Umkehrungsformel“ seinen Namen trägt. Er bringt 
die Gleichung mit der Unbekannten x auf die Form a—z+y(x)=0. 
Ist dann p eine Wurzel dieser Gleichung, Y{p) eine Funktion von 
p und %’(z) die Ableitung von »(x), dann wird nach seiner Formel 

2 3 

up) = ua) + Y(a)p (a) + 1 


va yR] , AED] 
Agarn ı7 ar 7 








’ 


falls nach dem Differenzieren x überall durch «a ersetzt wird. Diese 
Formel gehört ihrem Wesen nach zur Infinitesimalrechnung, ihrer 
Anwendung und Entstehung nach zur Algebra, ihrer Form nach zur 
Reihentheorie und ihrer Herleitung nach (wie wir früher $. 216 
sahen) auch wohl zur Kombinatorik. — Dies mag gleichzeitig zur 
Erklärung dafür dienen, daß wir die, auf den binomischen Satz be- 
züglichen Untersuchungen vereint an den Beginn der Besprechung 
über die Kombinatorik gesetzt haben; daß dort auf die Potenzierung 
des Polynoms und auf die formelle Umkehrung der Reihen eingegangen 
wurde. 

Was die Grundlegung der Theorie der unendlichen Reihen be- 
trifft, so können wir uns, ebenso wie im 109. Kapitel des dritten 
Bandes der Überzeugung nicht verschließen, daß bei außerordentlich 
angewachsenem Reihenmaterial die Begründung der Reihentheorie 
und zwar besonders die Begriffe von Konvergenz und Divergenz in 
Hinsicht auf Strenge noch fast alles zu wünschen lassen. Selbst 
Geistern wie Euler und Daniel Bernoulli war es nicht vergönnt, 
sich zu korrekten Anschauungen durchzuarbeiten; sie gerieten auf die 
seltsamsten Abwege. 

Hinsichtlich des Stoffes mag gleich hier erwähnt werden, daß in 
unserer Epoche die Reihen, die nach dem Sinus oder dem Kosinus 
der Vielfachen eines Winkels fortschreiten, besonders die Aufmerk- 
samkeit der Mathematiker auf sich ziehen und ein bevorzugtes Objekt 
der Untersuchungen werden: wir stehen eben in der vorbereitenden 
Epoche für die Entdeckungen Fouriers. 

Es möge nun die Besprechung der einzelnen, wichtigeren Arbeiten 





'; Histoire de l’Acad. de Berlin 1768, p. 251, insbesondere p. 274. 


Reihen. 259 


folgen. — Wir beginnen mit einer Arbeit von John Landen‘), der 
1760 eine Methode angibt, gewisse Reihen zu summieren. Sie be- 
ruht auf der gliedweisen Integration einer Reihe, deren Summe be- 
kannt ist, nebst zugehöriger Bestimmung der Integrationskonstanten. 
Landen knüpft dabei an die bekannte Entwicklung von 


log(1+«) 
an. Er findet Beziehungen zwischen Reihen von der Form 
ar EPU 2 
a er 
bei verschiedenen x. Bezeichnet wird 
1 1 1 1 1 1 
x) — AR iD TER RER () — Ba a 
Se Bett ; ®& re er Euer en ; 
1 1 1 
ER Berg be ni: BEE 
q 1 9% 52 5% 7% ag ı 


dann beweist Landen, was Euler schon auf Ann JAHR in 2 











„Introductio in analysin“ hergeleitet hatte, daß PD — 7 , 0W — 
3 
gm — Er ist. Weiter liefert er Formeln wie 
Ama 4 
a 0 bpın ı 0 _ bt PD + 3.32 Br... 
3-.4-5-6-7 ... 
2 
worn ? = — = ist. Auch Reihen von der Gestalt 
1 1 1 DA 
Pets tramtrtengnd 
1 1 1 3? 1 
Feat yeetremet tn 





werden bestimmt. 

Eine große Anzahl von Abhandlungen mehr oder weniger be- 
deutenden Inhalts über Reihen liefert Euler in seiner Unermüdlich- 
keit und seinem nie versiegenden Ideenreichtum. 

Durch einen gewissen geometrisch-asymptotischen Prozeß hatte 
Descartes die Quadratur des Kreises konstruktiv geliefert. Euler 
überträgt ihn ins Gebiet der Analysis?) und gelangt dabei zur Sum- 
mation der Reihe 


tangp +. tang ı- Th 7 tang ı- FRUR RER 


nn, 


*; Ph. Tr. (London), Vol. 51; part II; p. 553. ®) Nov. Comment. Petrop. 
1% 
. VII, pro 1760, 1761, p. 157. 


260 Abschnitt XXI. 


die er dann auch, wie ähnliche Formeln, rein rechnerisch und 
elementar herleitet. 

In einem anderen kleineren Aufsatze entwickelt Euler!) Be- 
ziehungen wie 


1 
A tang + A tang TAB .+:+ Atang 4... 


= A tang , +4 tang -- A tang „, +... 





1 7 
+ A tang 7, Fi er £: 
In diesen Formeln bedeutet, wie auch anderswo zu dieser Zeit, 
Atangg so viel wie unser aretang . 

Im Jahre 1765 beschäftigte u Euler?) mit der Eitnieklang 
der Potenz (1 +x-+ x°)” und insbesondere mit dem darin auftretenden 
Koeffizienten der Potenz x”. Bezeichnen wir ihn durch a,, so ist 


10 I) 5 Irb)l 2 ee 


die Binomialkoeffizienten in moderner Schreibweise angeben. Es 
gilt die Rekursionsformel (n + 1)a,,; = (2n+1)a,,, ie Ina,. 


Daraus folgt ya +2 +, +, +: = (1-28 + 322) ” . End- 
lich wird die allgemeinere Potenz (a + ® + cx?)” in ähnlicher Weise 
behandelt und auch bei ihr der Koeffizient von x” untersucht. 

Im Jahre 1767 veröffentlichte der Italiener Francesco Luino 
oder Luini zwei Werke: „Delle progressioni e serie“ und „Sulla 
interpolazione delle serie e suo uso all’ astronomia“ ’), die mehr ihrem 
Titel als ihrem Inhalte nach hierher gehören. Das erste beschäftigt 
sich eingehend mit der elementaren Arithmetik und Algebra, führt 
die Behandlung der positiven und negativen, der reellen und der ima- 
ginären Größen durch, löst die Gleichungen der niederen Grade, be- 
spricht die endlichen arithmetischen und geometrischen Reihen und geht 
dann zu den unendlichen Reihen über. Dabei verwertet Luino eine 
von Vincenzo Riccati stammende Idee*). Die Summe der m ersten 
Glieder einer unendlichen Reihe sei $, die Summe ihrer (m — 1) 
ersten Glieder s, und das allgemeine m‘® Glied heiße 7. Dann ist 
T=S-—s. Hat man andererseits ’=A-—.a, wo A dieselbe Funktion 
von m, wie a von (m — 1) ist, so braucht A noch nicht gleich S zu 
sein, man kann aber leicht $ finden. Bedeuten nämlich 7’ und 4A’ 





ı) Nov. Comment. Petrop. IX, pro 1763, p. 40. ?) Ibid. XI, pro 1765, p. 124; 
vgl. den Aufsatz in den Opuscula analytica I; Petrop. 1783, p. 48. ®), Luino 
oder Luini (1740—1792). Beide Werke erschienen 1767 zu Mailand. *) Annali 
dei letterati d’Italia; vol. I. Modena 1756. 


Reihen. 261 


die Werte, die T und A für m=1 annehmen, und setzt man ’— A =b, 
dann ist S=4A-+b. Riceati und Luino nehmen nun S als ge- 
gebene Funktion und bilden daraus das allgemeine Glied T— 8S— s. 
Dies gehört dann als allgemeines Glied zu einer Reihe mit bekannter 
Summe. Als die praktisch wichtigsten Reihen werden die arith- 
metischen mit T=a+bm-+ cm? + ---+ dm”, die geometrischen 
mit T=e* und die gemischten mit 7T= (a+bm+---+ dm’)e" 
behandelt. Die Methode trägt aber weiter, wie an dem Beispiele 


Lm-+ Mm?+---+ Rm’ 


= (AL Bm)\AFBm—N)...AFBm—p+N1) 





gezeigt wird. 

Nahm Luino die Riceatische frühere Arbeit als besonders 
wichtig in seine Darstellung auf, so veröffentlichte Riecati selber im 
gleichen Jahre neue Untersuchungen über rekurrente Reihen'). Schon 
1756 hatte er das allgemeine Glied einer rekurrenten Reihe aus der 
zwischen ihren Gliedern geltenden Rekursionsformel bestimmt. Hier er- 
ledigter das gleiche Problem für allgemeinere Reihen, für „rekurrente mit 
Appendix“. Bei solchen unterscheidet sich die Rekursionsformel da- 
durch von der für gewöhnliche rekurrierende Reihen, daß eine addi- 
tive Konstante als Appendix hinzutritt. So gehört die Reihe 0, 1,1, 
2, 4, 9, 21, 50, 120,... zu den rekurrenten Reihen mit Appendix, da 
für sie a,—2a,_,+q,_g—1 ist; das Glied — 1 ist der Appendix. 
Auch für solche Reihen bestimmt Rieeati das allgemeine Glied. 
Dabei geht er schrittweise vor, indem er zuerst Reihen „erster Ord- 
nung“ oder „ersten Grades“, d. h. solche behandelt, bei denen die 
Rekursionsformel a,—=ta,_,+« ist. Für sie findet er als allge- 

n—1 
meines Glied a,=at""'+a : m. Dann geht Riccatı zu 
Reihen zweiter Ordnung oder zweiten Grades über, d. h. zu solchen, 
bei denen a,=ta, ,+sa,_,+ «a gilt, wo t, s, a konstant sind, so 
daß jedes Glied aus den beiden vorhergehenden berechnet werden 
kann. Die Bestimmung von «a, in independenter Weise wird auf die 
bei gewöhnlichen rekurrenten Reihen zurückgeführt, wobei dann eine 
quadratische Gleichung zu lösen ist. Induktiv ergeben sich weiter 
die Resultate für rekurrente Reihen mit Appendix beliebigen Grades. 

Im ersten Teile des zweiten Bandes der „Opuscules mathema- 
tiques“ von d’Alembert?) findet sich als 35. M&moire ein Aufsatz 
über die Reihen, deren erster Paragraph von Konvergenz und Divergenz 
unendlicher Reihen handelt, und sich insbesondere auf die Entwick- 


1) Möm. presentes p. div. Sav. Paris 1768, V, p.153—174 und auch Comment. 
Bonon. V, 1767. ®) Paris 1768, p. 171. 


262 Abschnitt XXI. 


lung von (1-+ u)” für willkürliche m bezieht. Nach d’Alembert 
konvergiert (divergiert) eine Reihe an einer Stelle, wenn der Betrag 
jedes folgenden Gliedes kleiner (größer) ist, als der des vorhergehenden; 
er bemerkt dabei aber ganz zutreffend, daß die Reihe im Unend- 
lichen konvergieren müsse, um richtige Resultate zu geben, und gibt 
für diese eigentliche Konvergenz als Kriterium an, daß der Betrag 
von u kleiner als 1 sein müsse; „sonst liefert sie falsche Resultate, 
auch wenn sie bei |u| > 1 anfänglich konvergiert. Eine solche an- 


fängliche Konvergenz kann sehr weit hinaus bestehen, z. B. bei 


(1 + m wo die Divergenz erst mit dem 300*® Gliede beginnt“. 


Er betrachtet eine Reihe als „vollkommen“, wenn ihre Glieder gleich 
vom ersten an abnehmen, und wenn sie sämtlich das gleiche Vor- 
zeichen haben. Er zeigt, wie man bei (1+ u)” stets die erste Forderung 


verwirklichen kann, indem man z.B. (1+ 1)? = pi -- 7 setzt; 


i ' x ar, ie 
oder indem man bei der Reihe ine =-, — 3, +37: für große 


x besser (x — 2nz) einsetzt, wo n so gewählt wird, daß der Klammer- 
wert möglichst klein ist. 
Im Jahre 1769 beschäftigte sich Euler mit der Summation von 


Reihen, deren Koeffizienten mit den Bernoullischen Zahlen eng zu- 


> ER 
.. $ r I wu BE Er 
sammenhängen!). Statt der Bernoullischen Zahlen 5.200 Gr Zu 
Be: 691 7 


66° 3730? 6, betrachtet Euler ihre Produkte mit bez. den Zahlen 


6, 10, 14, 18, 22, 26, 30,...; er benennt diese Produkte Y, 8, €, D, 
&%,6,..., so daß 


691 


1 
1-1,8-;,C-5 ‚De; E-,,8- 105° 


G=355, .: 
wird, und geht von ihnen zu einer neuen Reihe von Zahlen 
A= 4,4 B-280-%5%D-79,E- € 

RE BT TR RAR I De 1A. 


über. Für A, B, C,... bestehen zwei Sorten von Rekursionsformeln; einmal 


1 2 1 1 3 

A= zn Be adoan OB gt 
1 1 1 4 
D- „zer ghrndng 


und andererseits auch B5B=24?%, TC=4AB, 9D=4AC+2B?, 





') Nov. Comment. Petrop. XIV, pro 1769, p. 129—167. (Auf dem Titelblatt 
steht irrtümlich 1759.) 


Reihen. 265 


1lE=4AD-+4B(,... Euler sucht nun die Summe E von 
Reihen zu bestimmen, die die Form haben 


«Aa? + BBat + y0a+6Da®+---, 


wo @, ß, y, 6, .... gegebene Größen sind. Nimmt man z. B. 
a-ß=-y-8=-..--1, 

so folgt 

Z2=4Ax+Brt+la+. = Het ne-) 


1: 1 1 1 
:(i- get gt): ,„, w eotgz, 


1 


und daraus erhält man A— B+0—- D+.- = Fir 


Ferner gibt dieselbe Formel durch Differentiation das Resultat 
1 1 1 6 SE) FE ur BR 
54x + ; Br + ; 08 +: Re 2 log = 
Eine andere Quelle für summierbare Reihen liefert die Formel 
(Bd. III, S. 678 dieser Vorlesungen) 


. AdX Bd’X CdX 
28-2 [Kat X a tag 


hier ist „das summatorische Glied“ X (ibid. S. 657) eine Funktion von 
<, und $ ist = EX, wo die Summe über die Werte @—1,2,5,...@ 


erstreckt wird. Zunächst setzt Euler X = = bei »>1; dann wird 
x 


8-14. 4445 und man erhält 
%c 











1 1 nA n(n +1) (n + 2)B 
... a IE u sn. 2 Muss 
2«" (n— 1)a" 7! ati tr gt." r? 
nn +1): -n+NC, nn -+1)...(n + 6)D 
_ Ba re en Fr 
2°x 2’x 


In dieser Formel ist O die Integrationskonstante, die durch besondere 
Annahmen bestimmt wird. Für »=2 z.B. erhält man 


ma AB; ld 
a a Fr yize 





1 
— = 09° —-ı + —ıS 


x 
a? E 1 
= u ne > 
5 * 2 > ( '=)- 
1 


| 


Für n=4 ergibt sich 


P4 
HA... B 8 TR | 
EB WERE SEN. nn Bes 9 a, Br See 
- Fr raue 3!Ba'x 3:— 22 6x 8 =) 


1 


264 Abschnitt XX1. 


Setzt man den „terminus summatorius“ X = logx, so ergibt sich 
A aB 20 nD 


1 95 AB 97 





+. =1— 5 1log2x. 


Dies dürfte zur Charakterisierung der Abhandlung ausreichen. — 
Euler hatte bereits in Kap. XIV der „Introductio“ Reihen von 
der Form 


sina+sin(a+b)+sin(a +2b)+---+sin(a+nb) 


oder 


cosa + cos(a+b) + cos(a +2b)+---+ cos(a + nb) 
summiert. Der Abbe Charles Bossut!) löste im Jahre 1769 


vierzehn derartige Aufgaben wie DI(cosvg)* für »—1, 2,3, 4; 
v=4 n 


D(eosvqsinvg)* usw. Diese Arbeit würde kaum erwähnenswert 


v=1 
sein, wenn sich nicht weitere, wichtigere Untersuchungen an sie 
angeschlossen hätten, auf die wir bald eingehen werden. 

Condorcet veröffentlichte im gleichen Jahre und im gleichen 
Bande?) einen Artikel „sur la nature des suites infinies“. Bedürfte 
es noch der Bestätigung für unsere, oben (S. 257) ausgesprochene 
Ansicht, daß Condorcet ein zwar ideenreicher, aber unklarer Kopf 
gewesen sei, so würde diese Arbeit sie liefern können. Es gibt, wie 
der Verfasser meint, drei Arten von Reihen, solche wie 


a+bz+c® +de’-++-- 
für x <1, bei denen der Rest unendlich klein wird; die gleichen für 
x >], bei denen der Rest unendlich groß wird, und solche wie 


a+becose+ccos2%+dcosd3c+:--, 


bei denen der Rest endlich bleibt. Im ersten Falle ist die Reihe 
gleich der Funktion, aus deren Entwicklung sie entsteht, im zweiten 
Falle nicht?). Für diesen zweiten Fall gibt Condorcet als Beispiel, 


daß A+.+2+ + t+sta+) nicht durch 


1 a | 
+; 1 u ha 
= 


ersetzbar ist, sondern nur durch 














ie ae a 
ER ER  eg 
c—1 1 z—1 
Be | 
ne & 
t, Histoire de !’Acad. a Paris 1769, p. 453. ®) Ibid. p. 83. ®) Die 


‘erste Anschauung trifft sich mit der Eulers, der sie aber auf alle Reihen be- 


Reihen. 265 


Der dritte Fall ist der, daß eine gewisse endliche Anzahl von Funk- 
tionen durch ihre Entwicklung die Reihe gibt; ihre Summe dividiert 
durch ihre Anzahl liefert den Wert der Reihe. — Vollkommen un- 
klar sind die Darlegungen über Transformation divergenter Reihen in 
konvergente. — Des weiteren integriert Condorcet Differential- 


gleichungen wie dyY1l— x°”= dx oder Funktionalgleichungen wie 
(2 +g)=y(x) in Reihenform durch die Methode der unbestimmten 
Koeffizienten, wobei er darauf aufmerksam macht, daß die als Lösung 
vorausgesetzten Reihen mit den zu bestimmenden Koeffizienten die 
allgemeinste Form der Lösung haben müssen, wenn man die Auf- 
gabe umfassend behandeln will. Hat eine Differential- oder eine Funk- 
tional-Gleichung mehrere, ihrer Form nach verschiedene Lösungen, so 
müssen alle diese Formen berücksichtigt werden. 

Wir knüpfen hieran die Erwähnung, daß Condorcet 1770 einen 
kurzen Beweis für die oben (8. 216, 258) besprochene Lagrangesche 
Umkehrungsformel gab!). Eine Verifikation des gleichen Satzes stammt 
von Andr. Joh. Lexell?). 

Wir kommen nun zu drei Arbeiten von Daniel Bernoulli?), 
die gleichfalls die Prinzipien der Reihentheorie behandeln. Der Titel 
der ersten lautet: „De summationibus serierum quarundam incongrue 
veris earumque interpretatione atque usu“. Dieses „incongrue verum“ 
ist ein charakteristischer Verlegenheitsbegriff, der sich glücklicher- 
weise nicht adäquat ins Deutsche übersetzen läßt. Reihensummen 
können „in concreto“ falsch, „in abstraeto“ richtig sein, indem sie 
durch legitime Schlüsse hergeleitet werden. So kann die Gleichung 


: 


1-1+1-1+4...=-Z 


als falsch aufgefaßt werden, da bei fortlaufender Summierung immer 
nur 1 oder OÖ herauskommt; — aber auch als richtig, da aus der 
richtigen Gleichung „ se -=1l1—-ı +? —-2?+--- für 2=1 jenes 
Resultat entspringt; genau wie bei der, ohne Determination als richtig an- 


genommenen Gleichung — = 008% +00820 + cos3x +: fürn. 


2 
Setzt man endlich 1-1+1—1+-:-=S$, so wird1— S=S$ also 
wieder $S = =. Unterstützt wird der Glaube an die Richtigkeit dieser 





zieht; die dritte mit der sofort zu besprechenden Daniel Bernoullis (vgl. 
Band III®, S. 693). 

!) Miscell. Taurin. V, 1770, p. 7—9. *) Nov. Comment. Petrop. XVI pro 
1771, p. 220. ») Nov. Comment. Petrop. XVI pro 1771, p. 71; ibid. XVII pro 
1772, p. 3; ibid. XVIII pro 1773, p. 3. 

CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 18 


266 Abschnitt XXI. 


Überlegungen dadurch, daß man aus solchen Reihen richtige Resultate 
1 
1+x 
den richtigen Wert von log2 gibt, und da „ex falso verum numquam 

‚legitime deduci potest“. Bernoulli leitet dann 


herleiten kann, wie die Reihe für z. B. nach Integration bei —1 


1=1+0+1-1404-. 5, 


dagegen 
A ea a 
her; aus der Entwicklung 
Bi. OBER, ge: Bi A ern 
d-a) 1 — 22 + 32° — 42° + 
bestimmt er 
1 


usf. 
Im zweiten Aufsatze geht Bernoulli von der Reihe, wie Euler 


sie summiert hatte (siehe Band III?, S. 717) 


cos © + 00820 + 00832 +. --— I 
aus, kommt durch Integration auf 
; I: BE 1 
sind he 2 HG nA 


und bestimmt die Konstante der Leibnizschen Reihe für x = z als 


= —; (<= 0 liefert einen unrichtigen Wert für ©). In ähnlicher 


Art geht es weiter auf 





1 1 ; _ 1 1 
csc + 50827 + co 837 +. = — M — —nı + —a, 
2 3 Ü 2 4 
usw. Die a. a. O. erwähnte Reihe 
— ginx 
sınz + sın 2x + sın 3& +... = Fran 
liefert durch Integration 
1 1 1 x 
SC + co 2% +7 co5xc+:: = + su 


usw. 
Erst nach der Veröffentlichung dieser Arbeit hatte Daniel Ber- 
noulli die oben (S. 264) besprochene Arbeit Bossuts kennen ge- 


lernt, in der die Summen D’cosxg, Dsinxg, ... abgeleitet waren, 
“er k=1 


und untersucht in der dritten Arbeit, wie man vom Resultate Bossuts 


Reihen. 267 








sing +sin2qg+---+sinng = sing[1-+ nn cos(n + 1)g] 


bei der Annahme n = oo zu dem Eulerschen Resultate 


} sin 
2 q 


sing +sin2g +: = 


1— cosq 


kommen könne. Er fragt sich: Was ist für sin 009, was für c0os00g, usw. 
zu setzen, wo doch kein bestimmter Wert mit Notwendigkeit sich dar- 
bietet? Und er antwortet: „Gemäß der Natur des Unendlichen muß ein 
Wert genommen werden durch die Forderung, die gesunden metaphy- 
sischen Grundsätzen entspricht, daß alle möglichen Werte in der gleichen 
Weise berücksichtigt werden: der wahre Wert muß daher gleich der 
Summe aller möglichen Werte, dividiert durch ihre Anzahl, sein, also 
—=(. Das ist rein metaphysisch, nicht geometrisch.‘“ In der Tat 
geht durch diese Annahme der Bossutsche Wert in den Eulerschen über. 
Diese Theorie beruht nach Bernoulli auf zwei Voraussetzungen; zu- 
erst, daß die Glieder der unendlichen Reihe in Perioden geteilt werden 
können, die sich unendlich oft in gleicher Gliederfolge wiederholen; 
zweitens, daß die Summe der Glieder einer, also jeder Periode gleich 


0 ist. Die erste Annahme ist bei den Reihen (sin x9)‘, I (c0sxg)* 
erfüllt; denn wenn auch g kein aliquoter Teil eines Vielfachen der 
Peripherie ist, „so kann doch die Periode als aus unendlich vielen 
Gliedern bestehend angesehen werden“. Die zweite Annahme ist 
nicht immer erfüllt, z. B. dann nicht, wenn (sin 009)?, (cos oog)? auf- 
tritt. Bernoulli stützt sein Vorgehen auf die Analogie mit der 
Wahl eines Mittelwertes in der Wahrscheinlichkeitsreehnung. 

In einer unmittelbar sich anschließenden Abhandlung!) behandelt 
auch Euler, aber von anderem Standpunkte aus die Summen 


(sin p) + (sin2p) +. -- + (sinng) 


(08 P)? + (60829)? +: + (cosng), 


die er durch Einführung von Exponentialgrößen statt der Winkel- 
funktionen umformt und für 4 — 1,2, 3, 4 wirklich herstellt. Dann 
($ 9) geht auch er zu n= oo über. Dabei wahrt er Bernoulli 
gegenüber seine eigenen Anschauungen über die unendlichen Reihen. 
„Der berühmte Verfasser der vorstehenden Abhandlung gibt in diesem 
Falle die Summen sehr geistvoll auf Grund metaphysischer Über- 
legungen an, bei denen wir uns in der Analysis durchaus beruhigen 
könnten. Ich habe schon früher, auf allerstärkste Gründe gestützt, 


') Nov. Comment. Petrop. XVIII, 1773, p. 24. 


und 


18* 


268 Abschnitt XXI. 


darauf hingewiesen, daß in diesen Fällen dem Ausdrucke „Summe“ 
eine andere, der Analysis angemessenere Bedeutung beigelegt werden 
müsse. Diese neue Bedeutung muß meiner Ansicht nach so fest- 
gestellt werden, daß als Summe jeder unendlichen, konvergenten oder 
divergenten Reihe die analytische Formel angesehen wird, aus deren 
Entwicklung die Reihe entspringt.“ Auf die Fragen, ob stets eine 
und ob auch nur eine solche analytische Formel vorhanden ist, geht 
Euler nicht ein. Daß übrigens Euler doch nicht so ganz von der 
Richtigkeit seiner Anschauungen über die Reihen überzeugt war, läßt 
sich aus einer Stelle einer anderen Arbeit!) entnehmen, in der er 
1—-V2+YV3—YV4+ Y5 —--- = 0380317... berechnet. Da heißt 
es dann, „daß diese Gleichungen absolut richtig seien, möchte ich 
weder hartnäckig noch mit Zuversicht behaupten“. 

Am Schlusse zeigt Euler, wie man aus der bekannten Summe 
einer Reihe a2 +bz2?+cz2?+---+ h2” durch Einführung von 


2=x(cosp+YV-—1sinp) 
die Summen 
ax cosp + ba? cos2p +: + ha" cosnp 


und 
axsinp + ba?sin2p +: --+ hx" sinn 
herleiten kann und wendet dies Verfahren auf a =b=c=-:--=h=]1 
1 1 1 
und au a=1,b=--., u Senden, ir 


Wie Euler, so richtete sich auch Anders Johann Lexell, der 
gleichfalls Mitglied der Petersburger Akademie war, gegen die An- 
sichten D. Bernoullis?). Er bestreitet, daß von Perioden die Rede 
sein könne, wenn q zu x in irrationalem Verhältnis stehe, und meint, 
daß selbst wenn cosng für n = © gleich Null gesetzt werden dürfe, 
doch cosng + eos(n + 1)q nicht auch gleich Null sei, wie Ber- 
noulli es angenommen hatte. Im letzten Punkte übersieht er aber 
wohl die Begründung, die Bernoulli seiner Annahme beifügte. 

Aus dem gleichen Jahre stammt noch eine Abhandlung Eulers, 
die erwähnt werden mag?). Euler setzt 


1/ b 1 b 7 
s(e+7)@+avm+ 3(e-7)@-aVr- m 

und stellt dann den Ausdruck [» + 2v] durch [» + v] und [»] her; 
ferner den von [2%] durch [»] usf. Ist [»]’ der Wert, der aus [n] 
entsteht, wenn a und b durch andere Werte a’ und b’ ersetzt: werden, 
dann besteht eine quadratische Beziehung zwischen [rn] und [n]. 





1) Nov. Comment. Petrop. XVII, 1772, p. 173. ?) Ibid. XVII, 1773, p. 37. 
®) Ibid. XIVIOL, 1773, p. 198. 


Reihen. 269 


Der italienische Mathematiker Ant. Mar. Lorgna veröffentlichte?) 
1775 eine Arbeit, in der er eine große Anzahl von Reihen gewissen 
Charakters summieren lehrte. Die Reihenglieder besteben nämlich aus 
Brüchen, deren Zähler und Nenner Produkte aus Faktoren von der 
Form (a + bz) sind; dabei sind a und 5 für alle Glieder der Reihe 
konstant, während z die Ordnungsziffer des Gliedes bedeutet, so daß 
also 2=1,2,3,... zu setzen ist. Die Abhandlung teilt sich in fünf 
Kapitel. Das erste beschäftigt sich mit Reihen von der Form 


1 1 1 1 
es pr ar eu en We 








das zweite mit Reihen 





ee) =: 


wobeı nacheinander r — 2, 3, 4,... gesetzt wird. Als Beispiel diene die 


; 1 1 1 1 i ; 
Reihe a RT EM eryug ua ui: Im dritten Kapitel 








| 2 
handelt es sich um Ze oe vierten Kapitel tritt 


noch ein zweiter linearer Faktor (b+z) in den letzten Zähler. Das 


fünfte Kapitel behandelt die Summen 1+ 2 + — a an 2 Besen: 


Een 
Die Berechnung seiner Summen gründet Lorgna darauf, daß er das 
allgemeine Glied der Reihe als Integral darstellt, die Summe der Inte- 
grale bildet und das Resultat nach Möglichkeit vereinfacht. Dieser 
Methode werden wir noch mehrfach begegnen. 

Im gleichen Jahre 1775 gibt Euler die Summation gewisser 


Reihen von besonderer Gestalt?). Es sind dies Reihen 


erretntsliietete)tn 


y 
die er der Abkürzung wegen durch Es Fe) bezeichnet. Ähnlich 
77 
setzt er auch z =1+ a — je = +++. Es gelten für sie Re- 


e 


lationen von der Form 
ul Sole fa 
SS SE Se Sa 


') Specimen de seriebus convergentibus. Verona 1775. — Giomale dei 
Letterati d’Italia XXIV, p. 79. ?®) Nov. Comment. Petrop. XX, 1775, p. 140. 








270 Abschnitt XXI. 


Zum Teil beweist Euler diese Formeln, zum Teil stützt er sie nur 
auf unstrenge Induktion. 

Da früher die Behandlung der Kettenbrüche mit der der Reihen 
zusammengenommen wurde (III, S. 693), so müssen wir uns, diesem 
' Prinzipe treu, jetzt zu einer Abhandlung von Lagrange wenden!), die 
sich auf die Verwertung der Kettenbrüche bei der Integration von 
Differentialgleichungen bezieht. Die Verwertung von unendlichen 
Reihen zu diesem Zwecke ist näherliegend; Lagrange benutzte sie 
schon früher; sie hat aber den Übelstand, daß auch rationale Lösungen 
in die Form unendlicher Reihen treten. Das fällt bei Kettenbrüchen 
fort. Ist eine Differentialgleichung zwischen & und y gegeben, so be- 
stimmt Lagrange zunächst das Anfangsglied & der Entwicklung 
von y nach a. vom © bei kleinen Werten dieser Variablen; 


dann setzt er y= —"— in die vorgelegte Gleichung ein und erhält 


rn 


dadurch eine Gleichung ee x und y,; diese wird in gleicher Weise 


behandelt; sie führt auf y, = , 
2 


zuy=&/1+&/1+8&/1+8/--:. Die & treten in der Form 
ax“ auf; der Exponent & wird durch eine Methode bestimmt, die 
als analytische Form des Newtonschen Parallelogramms bezeichnet 
werden kann; a wird durch Lösung einer i. A. linearen Gleichung 
gefunden. Als Beispiel behandelt Lagrange die Integration von 


uf. Man kommt sonach 





my+(1l+%) =Y —=() und kommt zur Kettenbruch-Entwicklung 


d+ar-14m 1-9 








2-3 
+ 1-9 u hereh- 
Daraus ergeben sich weiter Kettenbrüche für Z!(1 +x),e” usw. Das 


Beispiel 1= (1 + )9% führt auf 


aretange— 14, 145 =jı+2 fıtrsftr 


Wenden wir den Blick nach England auf die Veröffentlichungen 
in den Philosophical Transactions der Londoner Royal Society, so 
stoßen wir auf drei Arbeiten über Reihen, die der Zeit nach hierher ge- 
hören. Ch. Hutton?) gibt bequeme, schnell konvergierende Entwick- 


lungen zum Zwecke der Berechnung von x, die sich auf die Formel 


3 5 
arctangx = = — = + u. — +... stützen und die Zerlegungen 








1) M&m. de Berlin 1776, p. 236. *) Phil. Trans. London 1776, VI, part II, 
p- 476. 


Reihen. 271 


1 
arctgl = arctg = + arc tg — Zarctang, + arc tang — =... 


benutzen. Diese Art von Zerlegungen wird eingehend untersucht; sie 


hängt von den Werten in 

Fr. Maseres!) wandelt die Reihe a br +c®— da’ +er!—:-- 
ar: bzx Da" >» D:"z* 
ie a ee er 
kannten D’, D”, D”,...um; er willdamit, woına>b>c>d>...; 
a—b>b—-c>c—d,..;a—2b+c>b—2c+d>... usf, und 
x©<1l ist, eine raschere Konvergenz der Reihe erzielen. Für die 
D',D", D’”,... findet er die Differenzen erster, zweiter, dritter,.... Ordnung 





- mit unbe- 








b—c,b—-2c+d,b—-3ce+B3d-e,---. 


Von dieser Umformung macht er eine Anwendung auf die eben be- 
sprochene arctang-Reihe, sowie auf die Pendel-Schwingungsdauer. 
Eine zweite Arbeit?) von Fr. Maseres läuft darauf hinaus, daß er für 


die harmonische Reihe 2 + = + = + = + = ++ als Annäherung 
Beh 

den Wert b[(1—x)’— 1] bei sehr großen b benutzt. Für b setzt 

der Verfasser der Abhandlung 10"? ein. 

Bossut gibt?) ohne theoretische Begründung eine praktische 
Anweisung für die angenäherte Umkehrung von Reihen. Ein Beispiel 
wird am besten sein Verfahren erläutern: aus der Gleichung 
t=xz+nsinz soll x durch eine Reihe 


x—=t+Asint+ Bsin2?+Csindt+Dsin4t+--- 


dargestellt werden. Bossut bricht die Reihe nach den hingeschrie- 
benen 5 Gliedern ab und bildet von der so entstehenden, als angenähert 
richtig angenommenen Gleichung die 1., 3., 5. und 7. Ableitung; die- 
selben Ableitungen erhält er aus der vorgelegten Gleichung als 


de _ 1 43 
dt 1+ncox 


- 


1—n cosz + n? cos?x — n? cos®x + nt costx —-:- -, 


wo auch die weiteren Glieder unterdrückt werden. Dann liefert = x — 0 
vier lineare Gleichungen, die zur Berechnung von A, B, C, D ausreichen. 

In dem gleichen Bande der Histoire de l’Acad. Paris*) findet sich 
eine Abhandlung von Laplace, die sich mit Differenzenrechnung und 
mit Reihen beschäftigt. Ist u eine Funktion von «&, &, &..., und 





‘) Phil. Trans. London 1777, vol. 67, part I, p. 187. °) Ibid, 1778, vol. 68, 
p. 895. ®») Hist. de l’Acad. Paris 1777, p. 52. *, Ibid., p. 9. 


212 Abschnitt XXI. 


wird “= (u) + ago + go +: + ‘tkm t+t::: ge 
setzt, wo (u) den Wert von u fre=,=%,=::-=( angibt, so 
findet man durch Differentiationen den Wert 


1 ( AEG ) 
Imnm T nimiml... \dorda da... 


Wenn dann etwa u=g(le+t, o,+t,%-+t,,...) genommen wird, 
so ist offenbar die letzte Klammergröße gleich 


ee) BE je er 
dt" dt" dt,”... BEE Wear 











man kommt somit auf die Taylorsche Reihenentwicklung. 


Nimmt man « als Funktion einer Größe x an, die durch die 


Differentialgleichung = = en definiert wird, in der z eine beliebige 


Funktion von x bedeutet, dann kommt man auf ähnliche Art zu der 
Lagrangeschen Reversionsformel. Nach derselben Methode lassen sich 
viele andere, zur Ditferenzenrechnung gehörige Formeln herleiten, die 
bereits Lagrange aufgestellt!) und zum Teil bewiesen hatte. 

Das Studium der Lambertschen algebraischen Arbeiten führte 
Euler zu der Aufgabe, die Lambertsche Reihenentwicklung der 
Wurzel einer trinomischen Gleichung zu verifizieren’). 

Es mußte dabei folgendes gezeigt werden: Wenn x eine Wurzel 
der ‘trinomischen Gleichung (« — B)v - x+?= x*— x bedeutet, so 
gilt für jedes »n die Gleichung 


@—1l+no+sn n+« «+ B)v’+z nn + +0@+2Pß)(n+2« + B)v® 
+ nn +a+3Pß)(n+2« +2B)(n+3a +) +... 


Euler geht bei dem Beweise folgendermaßen vor. Er betrachtet die 

rechte Seite der zu beweisenden Gleichung als Funktion von », setzt 

sie gleich S(n) und zeigt, daß S(n — B) — S(n — «) = (a — B)vS(n) 

wird. Diese Funktionalgleichung läßt sich integrieren und führt zu 
dem Schlußergebnis, daß S(n) = x” ist. 

| Für «= ß geht die trinomische Gleichung über in logx = va. 

Man erhält für «=1 








a et Tr... und: 
N 1) 2! 


a" 
org re au 








MA. PER Ines AR 





1) Mem. ‚Acad. Berlin 1772. 2) Nov. Comment. Act. Petrop. XX, 1775, 
pars II, p. 29. 


Reihen. 2753 


Aus dem Jahre 1779 stammt eine umfangreiche, das Gebiet der 
Differenzenrechnung nahe berührende Arbeit von Laplace!). Ist 
y, eine Funktion von #, so heißt u=y + yt! + yP + +y,+ 
die erzeugende Funktion von y,. Bezeichnen wir die Differenzen 
Yarı — Ya = AV; Ayzyı — Ay, — A’y,; ... und setzen 


Vy,=ay, + 0DYrıt CYera: + Warn 
1 
s-a+tb- te at +0; 


dann ist utf”s* (+) die erzeugende Funktion von A’V*y,_,. Insbe- 
sondere gehört Viy, zur erzeugenden Funktion us‘. Wird negativ, 


so treten Summen I" statt der Differenzen A’ auf; «(1 — —y 


ist die erzeugende Funktion von D"y,. Hieraus folgt, daß Viy, 
durch einfache Entwicklung algebraischer Funktionen gefunden werden 


kann. Bildet man z.B. u: f=u ((1 + =) — 1) und entwickelt die 
rechte Seite, so entsteht i 

Ya u + a + ya FF a, + 
Dadurch, daß der Wert von y,,, auf diese Reihen-Form gebracht ist, 
hat man die Möglichkeit, für i gebrochene Werte einzuführen; das 
gibt also die Lösung der Interpolationsaufgabe für y,. Laplace 
leitet auf diese Art sowohl bekannte, wie auch neue Formeln her. — 
In großer Ausführlichkeit werden in den Nummern UI bis VIII be- 
sonders wichtige Fälle behandelt. In Nummer IX folgt die Trans- 
formation von Reihen; ihre Besprechung würde uns zu weit führen. 
— Auch auf Reihen von zwei Variablen geht Laplace ein. Er 
nimmt y,, als Funktion von u und v an und behandelt die „rekurro- 
rekurrenten“ Reihen in ähnlicher Weise, wie er die von einer 
Variablen behandelt hatte. 

Die nächste, der Zeit wie dem Stoffe nach zu erwähnende Arbeit 
stammt wieder von Euler?). Sie beschäftigt sich mit der Reihen- 
entwicklung des Produktes 


1-1 - )1—-aA)(1l—ı):.-- 
! | 1a tritt at _gör..., 
Hierin haben auf der rechten Seite die Exponenten die Form 








1 aan) 
und der zugehörige Koeffizient ist gleich (— 1)”. Diese merkwürdige Be- 


') Hist. de "Acad. Paris 1779 (1782), p. 207. ®) Act. Petrop. IV, 1780, 
pars I, p. 47. 


274 Abschnitt XXI. 


ziehung hatte Euler schon früher in den Nov. Comment. Acad. Petrop. III, 
1750—1751, p. 155 induktiv hergeleitet und das Resultat in das 
Kap. XVI, $ 323 der „Introductio in Analysin“ aufgenommen. Später 
hat er es in den Nov. Comment. Acad. Petrop. pro 1754, 1755, p. 75 
bis 83 bewiesen. Jetzt, 25 Jahre später, modifiziert er jenen Beweis. 
Jacobi beschäftigte sich 1840 eingehend mit derartigen Reihen, bei 
denen die Exponenten eine arithmetische Folge zweiter Ordnung 
bilden. Er stieß auf solche Entwicklungen in der Theorie der ellip- 
tischen Funktionen. Jacobi nimmt dabei!) ausdrücklich Bezug auf 
diese Eulerschen Untersuchungen, und gibt als interessante Ergän- 
zung zu dem Eulerschen Satze noch die folgende Entwicklung der 
dritten Potenz der rechten Seite unserer letzten Gleichung 


(1-1: - ++ — 2? — +.) 
=1-32 +50? — 72° +92 - 112° +». .; 


hier haben die Exponenten der rechten Seite die Gestalt (ne + n); 
die zugehörigen Koeffizienten sind (— 1 (2n +1). 
In einer anderen Arbeit des gleichen Jahres?) dehnt Euler die 


Formel Ä x Ä 
n n\? 2.6-.10...4n— 2 
sw)=($) =) +6) ee Ber= 
auf gebrochene Werte von » aus; es handelt sich also dabei um eine 
Interpolationsaufgabe. Er findet mit Hilfe der Integrale, die von 
Legendre als Eulersche Integrale zweiter Gattung bezeichnet 
worden sind, 


A 4 3 4.18 5 4 8-16 7 4 8.16 - 24 
s5)-5 sG)=-5 35: s)-2 55 SG) 


Ebenso wird für gebrochene n, p, q auch 


Dicke Er 


behandelt. Das behandelte Problem gehört als Interpolationsproblem 
einer Reihe von Aufgaben an, die den meisten Forschern der da- 
maligen Zeit sehr am Herzen lag. 

Von den „Mathematical Memoirs“ von J. Landen?) haben wir 
das fünfte „eine neue Methode, um die Summen gewisser Reihen zu 
erhalten“ in unsere Besprechungen zu ziehen. Nach einigen analytischen 
Vorbereitungen geht Landen so vor: Aus den Entwicklungen von 








1+u) und (1 + =) folgert er ohne Konvergenz-Bedenken 


u=(u— u) (7) + (Wu) en 





t) Jacobis Werke VI, p. 281. ®) Act. Petrop. IV, 1780, pars I, p. 74. 
®) London 1780. 


Reihen. 275 


hierin trägt er u—=zy-—1 ein und erhält 


2 sin zZ sin 22 sin 32 


„7014 ar 








In diese Formel setzt er zur Herleitung spezieller Resultate 


7T 
ki=<ı = 


3 4 
usw. Die Integration der Formel liefert 


2? cos 2 cos 22 cos 32 2 
u 12 ee any 32 reLTTDY 





wp =1-— er + e- _ e +... ist; dies wird mittels eines Kunst- 
griffes — = bestimmt. In entsprechender Art leitet Landen die Formeln 


sin ir sin .; sin 2 
2] F} D} m? a 1 
ne = (+3 - 5) singz — 22. 00852 





317-9? arg rt 8?.4° 





2 2 
und 
c08 n cos ”) cos 6 

2 2 2 BE n° 5 
7a tyra tg + = 2@— oinge+(G—me+ 58 3) 


her. Aus diesem letzten Resultate folgt 


* 1 1 1 
as sel setnpt, 








Im folgenden Jahre veröffentlichte Ed. Waring') seine „Medi- 
tationes analyticae“, deren drittes und viertes Buch uns hier inter- 
essiert. Waring zeigt zum Teil schon moderne Anschauungen über 
Konvergenz und Divergenz; er sagt: „streben n atb+c+d+e+-- 
die Summen a+b, a+b+c, a+b+c+d, ... einer endlichen 
Größe zu, an die sie näher herankommen als eine beliebig gegebene 
Differenz, so konvergiert die Reihe“. — „Die Reihe 


1 1 1 
44 Fi + zur m u 5 
konvergiert für n>1, und für » <1 divergiert die Reihe. Ist für 


beliebige endliche x und n = oo das unendlich ferne Glied a, < — 


dann und nur dann konvergiert die Reihe ww +, +% ++. 
Wenn für unendlich großes » der Quotient a,:a,,, kleiner (größer) 
als 1 ist, so divergiert (konvergiert) die Reihe.“ Wir stoßen also hier 
auf das bekannte Konvergenz-Kriterium. In die Reihen 





') Cantabrigiae 1781. 


276 Abschnitt XXI. 








al ete- tr 
Farm ate trat 
Fatal et rare 


setzt Waring zwar «= 1 und erhält dabei verschiedene Werte für 
1—-1+1-1+1-—1+:-; aber er setzt bei diesen Herleitungen 
ausdrücklich hinzu (S. 355): „in Wahrheit kann diesen Reihen keine 
Summe zugesprochen werden“. - 

Waring ist in erster Linie Algebraiker; das zeigt sich auch hier 
darin, daß die Untersuchung gern auf das Gebiet der Gleichungen 
übertritt. So werden die Wurzeln «, ß, y, d, ... der „infiniten“ 
Gleichung für x von der Gestalt O= a — bz + ca? — da? + ex — 
in Zusammenhang mit den Koeffizienten gebracht: 

1: no c 1 1 1 
eat gtst Paar Tea Taken ai ac 

und die Reihe liefert in Faktoren aufgelöst 


(1) -2a-3).0 


wie das schon in den Eulerschen Untersuchungen benutzt ist. — Im 
vierten Buche geht Waring ausführlich auf Beziehungen ein, die 
zwischen dem »'" Reihengliede, der Summe der » ersten Glieder und 
der Ordnungsziffer n selbst bestehen können; ebenso vergleicht er 
Reihen, zwischen deren Partialsummen vorgeschriebene Relationen be- 
stehen. Ausgiebigen Gebrauch zur Herstellung summierbarer Reihen 
macht er von dem Kunstgriff, die Summe zu geben und die Reihen 
daraus herzustellen. Auf weitere Einzelheiten des umfassenden Werkes 
hier einzugehen, müssen wir uns versagen; über einige Nachträge zu 
den „Meditationes algebraicae“ werden wir an gehöriger Stelle zu 
berichten haben. 

Aus dem Jahre 1781 sind noch zwei Eulersche Arbeiten zu be- 
sprechen. Des besseren Zusammenhanges wegen behandeln wir sie in 
der umgekehrten Folge ihres Erscheinens. 

Die zweite, kleinere Arbeit Eulers!) dehnt die S. 274 behandelte 
Summations-Formel für 


Kerl ehren ine he 


auf andere Symbole 


Dllassbelleeuanr 


D) Act. Petrop. IV, 1781, II, p. 76. 








Reihen. 277 


aus, wo 5 durch die Gleichung 


A+.+ 2 + 414er er let 
erklärt wird. 

Die erste, größere Arbeit!) beschäftigt sich mit Umwandlungen 
der harmonischen Reihe 


& D 
tn 





1 A B 
rt 
in der, verschieden von früherer Bezeichnung (vgl. S. 262), 

1 1 a 


1 
Amon d-.' Sr Din a: 


die Bernoullischen Zahlen sind, und € = 0,5772 156649... die Kon- 
stante bedeutet, die später die Bezeichnung „Eulersche Konstante“ 
erhalten hat. Setzt man 

1 Et 1 


u wimeß, riet 


wobei die Summen von n=1 bis n= oo erstreckt werden, dann 
findet Euler 


0 Ed EDtZE-Dr-- 
ferner 


1 1 1 3 


ebenso 
1 1 1 
Blatt, attzeitt 


und andere Beziehungen mehr. Euler gewinnt dabei den Anschluß 
an bereits früher von ihm angestellte Untersuchungen (Band III?, 
S. 657) und liefert hier den Beweis für die, dort in der Gestalt 


daX d’X 
S-—/[XdotoX+B2 +y dx? +. 
gegebene Summenformel. Dabei ist X eine Funktion von x etwa X (x) 
und S(2) = X(a) +X(@e +1) + X(&+2)+::: oder, wie Euler 
kürzer schreibt, S=- X+-X' + X" + X” +..., 
Ein ähnliches Problem beschäftigt Euler auch weiterhin.) Er 
fragt nach der Summe S- X —- X +X”’—- X” +.... Ist 5° die- 


selbe Summe, in der nur # durch («+ 1) ersetzt wird, so hat man 


S+S’= X und erkennt daraus, daß in erster Näherung $ — =X 
und, bei noch unbekannten Koeffizienten «, ß, y, ..., weiter 








') Act. Petrop. IV, 1781, II, p. 45. ”) Nov. Act. Acad. Petrop. II pro 
1784, p. 46. | 


278 Abschnitt XXI. 


1 dX d?’X d’X 
ar a trerI zr 
wird. Die «, ß, y, --- kann man nun mit Hilfe von Reduktions- 


formeln bestimmen, und zwar am bequemsten durch die Einführung 
einer Funktion 


s-Stet+ßR +yP+ötH.... 


Euler bezeichnet s — = = v und findet als Bestimmungs - Gleichung 


| 1 1 


av 
dt 4’ ee‘ 


Hieraus ergeben sich dann die gesuchten Koeffizienten «, ß, 9, ..., 
die in enger Beziehung zu den Bernoullischen Zahlen stehen. Ist 


1 


3 5 691 
’ A =, d= 


Ta du all Gel; A 





a=1, b= 


| m 


-(Introductio in analysin infin. Cap. X, $ 168), dann wird 
2?— 1a dX 2?— 1b d’X 2°—1c dX 


3! 2 de I 2 de 112 de 
282 —_1d dX 
+ Ya a Pr 











1 





Für diese Entwicklung gibt Euler dann noch einen zweiten Beweis. 
Ferner behandelt er die Summationen der beiden Reihen 
"X—mtHıIX mtr X” —mwtX” +... 
und 
2!X — (+)! + +2)IX” — (+53) N” +. 

Die Arbeit wurde erst nach dem am 7. September 1783 (A. St.) zu 
Petersburg erfolgten Tode Eulers publiziert. Bei seinen Lebzeiten waren 
von ihm allein 473 Abhandlungen erschienen; über 200 andere hinterließ 
er. Bis zum Jahre 1830, also beinahe noch 50 Jahre, nachdem 
Euler die Augen geschlossen hatte, dauerten die Publikationen ihres 
größten Mitgliedes seitens der Petersburger Akademie fort. 

Wir kehren zum Jahre 1782 zurück und erwähnen einen Aufsatz 
von Nic. Fuß’), der sich auf folgendes stützt. Es seien A, B, C, 
D,... X,... beliebige Größen 1A, AB, AC,.... die Reihe ihrer 
ersten Differenzen, 1A, PB, IC, ... die ihrer zweiten Diffe- 
renzen usf.; dann hat man bekanntlich 





RmA+ AS Ba N pl en. 


Daraus folgt 





') Act. Petrop. 1782, II, p. 96. 


Reihen. 279 


X— A 





lim = 1A-PA+ SPA TSAH-; 


z=0 
die linke Seite tritt dabei unter der Form 0:0 auf. Gelingt es, den 
wahren Wert dieses Quotienten zu bestimmen, so liefert derselbe die 
Summe der rechtsstehenden Reihe. So findet Fuß 


-3 I a 


+ )-U+l Hl 


2°. : ‚ee — 1) (© — 2) 


=. 
auldr I Be Er 








aus der Annahme X =/(1-+ x); und 
29 cosp = 2singp- cos2p + ,2sin’ sindp — „2’sin’g cos4gp 
— 2*sin‘ sindp+ -2’sin’g cos6p + --- 


aus der Annahme X = sin(1 + 2x)p. 

Von dem schon erwähnten Italiener Lorgna stammt eine um- 
fangreiche Untersuchung über Reihensummen.!) Wir können sie aber 
gleichwohl kurz behandeln, da ihr Inhalt im wesentlichen mit dem 
der früheren Arbeit übereinstimmt. In zehn Kapiteln werden ver- 
schiedene Arten von summierbaren Reihen besprochen. Als neu heben 


wir hervor aus Kap. VI die Reihe 1!+2!+3!+4!+---+x!, allgemeiner 
(s+b)!+ (a + 2b)! + (a + 3b)! + --- 


und 


(m + 1)(m + 2° + (m+1)(m +2) (m + 3° 


ev (m +1) (m + 2) (m + 3) (m + 4) (m + 4) 


12 +(13— 212) + (14— 3-13 + 312) + (15 —414 + 615 — 412) + --; 
aus Kap. VIII 


2», _%Map+b) Blaptbp+b Lap+2bp+b. 











a (a+b)(i+p) (a+2b)(1+2p) (a+3b)(1+3p) 


u 2(ap+2b) 3(lap+bp+2b) 4lap+2bp+ 2b) ER 
2a (a+b)2?+p) (a+2b)(2?+2p) (a+3b)(2 + 3p) f 


aus Kap. IX die Doppelreihe 





I-.+H-2+)+1-3+5-0 +) 
++ at )t 


Die Ben Summationsmethoden sind die gleichen wie in dem 


N Memor. mat. fis. Soc. Ital. 3 1782, p. 268. 


280 Abschnitt XXI. 


oben (S. 269) besprochenen Aufsatze des Verfassers. — Wir wollen 
gleich hier eine dritte Abhandlung Lorgnas erwähnen, trotzdem sie 
erst 1784, also zwei Jahre später erschienen ist.') In ihr handelt es 
sich um die Summierung der Reihe 


1 ER 1 1 REN 
a Vol eu a ne, 





wo K die Basis der hyperbolischen Logarithmen bezeichnet. Sie wird 
durch die Substitution > 


sin ma = en Krro _ K-"ae) (ao —-YV-— 1) 


geleistet. Dadurch wird 
K”+1=20oK”sin—:(K° — 1) 
und 
K*—1=20K*sin—:(K” +1), 


so daß in jedem Reihengliede die Summe aus dem Nenner ın den 
Zähler geschafft werden kann. — Weiter beschäftigt sich Lorgna mit 
anderen Reihen und erhält z. B. die Resultate 








11 1 1 1 1 
Borg ug 
1 5 1 1 1 1 
02-552 nr ee a a a N war Same ar A: 


Wir gehen nunmehr zu einer, ganz anderen Anschauungskreisen 
angehörigen Arbeit von Laplace über.?) Bei seinen eingehenden 
Forschungen im Gebiete der Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihrer 
praktischen Verwertung bei national-ökonomische Fragen war Laplace 
häufig auf Formeln gestoßen, die zur Berechnung ganz ungeeignet 
sich zeigten, weil sehr große oder sehr viele Zahlen in sie eintraten. 
Handelt es sich z. B. bei hohem Werte des s um die Berechnung von 

25s-2s— 1):-(2s—2)...(s+1) 
a 





so wird dies selbst bei der Benutzung von Logarithmen sehr müh- 
selig. In diesem Falle hatte Stirling eine bequeme Formel zur an- 
genäherten Berechnung jenes Binomialkoeffizienten aufgestellt; in 
anderen Fällen war, wie wir oben sahen, D. Bernoulli in ähnlicher 
Weise vorgegangen (vgl. S. 231). Laplace greift hier die Frage 


fundamental an und bringt sie zur Lösung. Seine umfangreiche Ab- 





t) Memor. mat. fis. Soc. Ital. II, 1784, p. 210. %\ Hist. Acad. Paris, 1782, 
p. 1, und 1783, p. 423 (vgl. S. 231). 


Reihen. 281 


handlung ist aber in derartigem Maße von Formeln durchsetzt, daß 
eine Darlegung der Entwicklung hier nicht möglich erscheint. Wir 
müssen uns auf die Angabe des Zieles der Untersuchung und auf die 
Mitteilung einiger Resultate beschränken. Das Problem, dem Laplace 
seinen Scharfsinn widmet, zerfällt in zwei Teile. Zunächst wird eine 
Integration durch unendliche Reihen für solche Integranden hergeleitet, 
die in hohe Potenzen erhobene Faktoren enthalten. Die hierfür ge- 
gebenen Reihen konvergieren äußerst schnell. An zweiter Stelle 
werden Funktionen, von welchen man angenäherte Werte sucht, auf die 
angegebene Integralgestalt gebracht, deren Entwicklung soeben be- 
sprochen wurde. Diese Behandlung umfaßt alle Funktionen, die durch 
‚gewöhnliche oder partielle Differenzen- oder Differentialgleichungen 
definiert werden. 
Bei solehen Untersuchungen treten Integrale von der Gestalt 


[es] 
er 
fP* u 
0 E 


auf. Laplace bestimmt außer dem schon vor ihm bekannten Integrale 


er 
/ ed ;Vr 


i 0 
noch andere wie z. B. 


” 3 

feeraı —-n*: (4) 2y2.7'), 

N 
wo x" die Stirlingsche Konstante 1,311023777.... bedeutet, die zur 
Länge der elastischen Kurve in enger Beziehung steht. Der dritte 
Abschnitt der Laplaceschen Abhandlung liefert Anwendungen der 
erhaltenen Resultate auf schwierigere Probleme der Wahrscheinlich- 
keitsrechnung. 

Ein Aufsatz, der vielfach an die Arbeiten von Lorgna erinnert, 

stammt von üeen. Engländer Samuel Vince.!) Im ersten Teile geht 


der Verfasser von der Bemerkung aus, daß die Integration von IF 
durch Logarithmen und Kreisfunktionen ausführbar sei, und daß 
andererseits die Reihenentwicklung des Bruches mit nachfolgender, 
von OÖ bis 1 erstreekter Inlssnlien die Summe 
1 1 1 
TEE BIT AU 
ergebe. Daher kann die Summe S dieser Reihe durch die angegebenen 
Transzendenten ausgedrückt werden; S wird als bekannt angesehen. 





') Phil. Transact. London, for 1782, p. 389. 
CAxrtor, Geschichte der Mathematik IV. 19 


282 Abschnitt XXI. 


Auf diese Reihe werden andere dadurch reduziert, daß Glieder zerlegt 
oder in eins zusammengezogen werden. So findet Vince 


a Er a—b a—+ 2b a+3b 
IWF EFVer nt erFn@etn erFiGrH) 


- ,(Zra—(r + 2)b]|S—ra+(r+1)b}. 








Bei der Annahme 2ra = (r + 2)b fällt S weg. So erhält man z.B. 


RN 9 13 1 





FE et bar vr ra rar. 
Andere, in ähnlicher Art summierte Reihen sind 


m SR mn m 2n 
IF Der FH + er Fer Var +" ar FNor Fler F 


ferner 











m mn 

Der Fer +) T Br fNar+Nor+)) 
mt 2n 

Tee FDer+N 
m m+n 

Gr For Fidr +) T WHDer +Nor+n 
m 2n 

T (er FDar Fer +N 


Dann folgen solche, deren Nenner vier derartige Faktoren enthält usw. 
Durch Spezialisierung kann man auch mitunter das transzendente 5 
aus den Formeln entfernen. Man findet u. a. 











oe. 




















1 1 1 1 
1-@r-+1) + @r +l(Ar-+1) E 4r +1)6r +1) Kr 


Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Summierung von Reihen, 
die die Form haben 











p FR q 
n(n + m)...(n + rm) (n + m)(n + 2m)...n+[r+ 1]m) 








r 


a5 (n + 2m)(n + 3m)...(n + [r + 2]m) 


in der p, 9, 7,... eine arithmetische Reihe beliebiger Ordnung bilden 
Von den erlangten Resultaten führen wir an 








+:..3 


3 6 10 15 11 








te Tan lag we Be 
1:2 2.8 3.4 4:5 1 
£.8,-5,7 1 554758 + em Be 


hr + 8° Ei 59 + en 1° = BR 
1-4.7.10 4-7:.10-13 7.10-13-1 10.13-16.19 7° 2268 








Reihen. 283 


Im dritten Teile geht Vince von der Bemerkung aus, daß in 
einer unendlichen Reihe, deren Glieder nach Null konvergieren und 
abwechselnde Vorzeichen haben, aufeinander folgende Glieder in eins 
zusammengefaßt werden dürfen, wie bei 


1 1 1 1 1 1 1 1 
aa 
1 1 1 1 
ee Te Be a 


daß dies aber bei Reihen, deren Glieder nach einer endlichen Größe 
+0 konvergieren, nicht erlaubt sei; daß also nicht 

1 2 3 4 5 6 1 1 1 
BEE ae Te a nt 


1 1 1 
ERW e 


Es müssen also bei solcher Zusammenfassung noch Ergänzungsglieder 
beigefügt werden. Das erklärt sich (an den obigen Beispielen) so: Die 


; 1 1 1 
Ay ARee Er Tuer Sen Te as 


Glieder 0, 0, --- werden; die Reihe > +2 — 2 _... „geht im 


Unendlichen noch fort“, da sie die Gestalt 1—-1-+1-—1-.. annimmt. 


Die Wahrung der Gleichheit fordert also, daß man zum Ausdrucke 


1 1 . i 
2 De Wer ce noch 1—_1+1-—1+-+... hinzufüge. Und das 


+ „hört im Unendlichen auf“, da ihre 


hat „bekanntlich“ den Wert - Genau aus den gleichen Gründen 


. 243 1 1 “. Hair 
wird bei 1atz3at56+::: das Ergänzungsglied 
-1+1-1+1-..-—1 


sein. Es ist interessant zu sehen, welche wilden Schößlinge die Lehre 
von den divergenten Reihen treibt, und wieviel Scharfsinn auf das 
Dogma von der Summe solcher Reihen aufgewendet wurde. 

In dem Eulerschen Werke, dessen erster Teil 1783, in des Ver- 
fassers Todesjahr, dessen zweiter 1785 zu Petersburg erschien und den 
Titel „Opuscula analytica“ trägt, finden wir Reihen-Untersuchungen. 
Gleich die erste Abhandlung (p. 3) des ersten Bandes gehört hierher. 
Das in ihr behandelte Problem ist etwas unbestimmt gedacht und 
ausgedrückt: Eine Reihe von Zahlen 4: Bu GD. RK F,... ist ge- 
geben, und eine andere a, b, c, d, %, f, 9, + soll gefunden werden, so 
dB ab=A; be=B; cd = C; d=D;ef=E,; f9=@; --- wird. 
Offenbar hängt alles von der Bestimmung des a ab, und dies a bleibt 
ganz willkürlich. Euler sucht nun, ohne es ausdrücklich anzugeben, 


284 Abschnitt XXI. 


einen solchen Wert des a, für den die Reihe a, b, c, d, --- möglichst 
‘einfach sich gestaltet. Er findet für diese, auch so noch unbestimmte 
Aufgabe, da der Begriff der „Einfachheit“ unbestimmt ist, 


A-CC-EE-G 


2 AR 
"—-ASBDDFrF'‘' 





und stellt daraus bei besonderen Annahmen über A, B, C, --- das a? 
durch Integrale dar. Andererseits entwickelt er a? in einen Ketten- 
bruch und erhält durch Gleichsetzung beider Lösungen merkwürdige 
Beziehungen, von denen wir wenigstens eine anführen wollen, nämlich 


——-1+2/3+1-3/4+3.5/4+5-1/4 + 7.944... 


Die zweite Abhandlung dieses Bandes führt Eulers frühe Unter- 
suchungen (8. 260) über die Potenzerhebung von (1 +x+ 2°), ins- 
besondere über den Koeffizienten von x” in diesem entwickelten Po- 
lynome weiter, in der ausgesprochenen Absicht, verschiedene analy- 
tische Kunstgriffe darzulegen, und andererseits zu zeigen, wie vor- 
sichtig man mit Induktionsschlüssen sein müsse. 

Der vierte Aufsatz (p. 85) beschäftigt sich mit Kettenbrüchen 
und steht in gewissem Zusammenhange mit dem zweiten Teile des 
ersten Aufsatzes. Mit Hilfe eigentümlicher Relationen werden Glei- 
chungen zwischen gewissen Kettenbrüchen hergestellt, aus denen 
durch Spezialisierung folgendes Resultat hervorgeht. Setzt man 


D=m+n/(m +) +R+YD/m +) +mn+2)/m+3)+:-;, 


so wird | | 
n—1):p=1+m-m-2)/m+d)+m—- m—3)/m+3)t-- 
Daraus folgt der Wert von p für n=m+2, m+3, m+4,::-. 
Auch für n=m-+1 gelingt, freilich auf andere Weise, die Bestim- 


mung. Setzt man in diesem Falle » = en — 1, so wird 


1 1 1 
TH TED mat m Em TE Er 


% 





= n e’z”da2. 
0 

Im sechsten Aufsatze (p. 157) wird die Aufgabe behandelt, die 

Koeffizienten der Reihe 
y= Az + Bx(a? — a?) + Ca(@? — a?) (a? — B°) 
+De(® - ad)? —- (a? —)+:-- 

so zu bestimmen, daß y für 2=a,b,c,d, --- die Werte 9,4,7,5,°:' 
annimmt. Für a, b, c, d,--- werden dann irgendwelche Kreisbögen 


Reihen. 285 

(beim Kreis-Radius 1) und für 9, 9, r, 5, --- ihre Sinus eingetragen; 
dabei wird allgemein y= sin«. Das liefert 
a?b? 

1= She u at) 


a’q b’e® SEN 3p38, 
- alt te 0) 05T 1: 


und führt durch Spezialisierung auf interessante Formeln. 
Auch der zweite Band der Opuscula liefert Bemerkenswertes. 
Im siebenten Aufsatze (p. 102) wird die Ba transzendenter 











Brüche in unendliche Reihen geliefert. Ist — dieser Bruch, dessen 


7 


Nenner eine transzendente Funktion von 2 ist; ist a eine Wurzel 
des gleich Null gesetzten Nenners, so wird der Zähler « des 


Gliedes a, das in n als Partialbruch eingeht, durch 


_ Pde+(e—a)dP 
dQ 


gegeben. Diese Bestimmung der Zähler wird auf N, auf 
sın z 




















2 e 2? cos 2 1 1 1 
a re Dr re re ee EN 
sin 2 sın 2 sin 2 sınz? cos& — cosz sın2*’ sinz 
angewendet. 


Die nächste Abhandlung beschäftigt sich mit der Umwandlung 
von Reihen in Kettenbrüche (p. 138) in der Gestalt 


| or a, 
eyleheldt. - - 45 - Beten - Det 
So wird aus der Reihe 1 — = + 2 — . +: =12 hergeleitet 
1:12=1+1?/1 + 22/1 + 32/1 + 
und aus 1 — - + > +... = = folgt die Brounckersche Ent- 


wicklung 4:2 —=1+ 12/2 + 32/2 + 5°/2++--. Hier mag gleich bemerkt 
werden, daß Euler auch ) die umgekehrte Aufgabe löste: den Broun- 
essken Kettenbruch in die Leibnizsche Formel umzuwandeln. 


; 2. 1 1 1 ' 
Ferner folgt für s— u, . ar - der reziproke Wert 
1 
er N HEN) +: 
und aus s= — 2 + re — ++ ergibt sich allgemeiner 


') Nov. Act. Petrop. II, 1784, p. 33. 


286 Abschnitt XXI. 


et) + Ba tr) +: 
und dgl. mehr. 

Das gleiche Thema wird in einer späteren Abhandlung (p. 217) 
fortgesetzt. Euler erledigt dabei den Fall, der den früheren Me- 
thoden nicht zugänglich war; daß alle Teilzähler gleich 1 sind, wäh- 
rend die Teilnenner eine arithmetische Reihe bilden. Die Lösung 
wird durch die Integration einer Differentialgleichung vermittelt. 

In der zehnten dieser Arbeiten (p. 240) handelt es sich, ohne daß 
erwähnenswerte Resultate zutage gefördert werden, um die Summe der 
Reihe 

& 1 1 1 


a Er Re 
1-5 75,7. Deu soraiBarnen 
Die elfte Arbeit des zweiten Bandes (p. 257) gibt eine neue Ab- 
leitung der Summen 1 + =; + ir + 7. + = #.--, die sich auf 


die Entwicklung der beiden Formeln 
7 2 2 2 











mn ee 
n sin — 
n 
und 
P17 er 2 2 2 
er "—1 am®—1 9n—1 

ntg — 

stützt. 


Nach der Besprechung der auf Reihen bezüglichen Arbeiten in 
Eulers Sammelwerke „Opuscula analytica“ gehen wir zu einem Auf- 
satze von E. Waring über‘) Waring betrachtet hauptsächlich 
Reihen, deren allgemeines Glied eine rationale Funktion des Stellen- 
zeigers oder, wie sein Ausdruck lautet, der Entfernung vom Anfangs- 
gliede ist. Er geht davon aus, eine gegebene Summe A(x) in eine 
nach Potenzen von x fortschreitende Reihe sich entwickelt zu denken. 

Setzt man den Nenner von A(x) gleich Null, so liefert die, ihrem 
absoluten Betrage nach kleinste Wurzel dieser Gleichung die obere 
Grenze für die Konvergenz der Reihe. Das ist also eine bereits voll- 
kommen moderne Auffassung; bemerkenswert ist, daß hier bei einer 
komplexen Wurzel a +bY-—1 statt des absoluten Betrages Ve + 
die kleinere der beiden Größen |a — b|, |a-+ b| genommen wird. — 

ag" be" +... 
@+9@+e+D.-@+e+n-—1) 
mit m<n—2, so kann es in ein Aggregat 
y ö a 
@Foetet)te+o..-@reFHT e+or..(c+e+3) 


Hat das allgemeine Glied die Form 

















!) Phil. Transact. R. Soc. London 74 (1784), p. 385. 


Reihen. 287 


umgewandelt werden, und als Reihensumme ergibt sich daher 


Y d e no 
ste tseFo@terntserg- gefragt" 





In ähnlicher Weise werden Reihen behandelt, deren Glieder mit 
Nennern der verwickelteren -Form 


+9: (e+e+n-D-(e+N). etttn-D-e+N 
.+g9+n—1)--- 


behaftet sind. Die Bestimmung der Reihensumme kann auch mit 
Hilfe der Methode der unbestimmten Koeffizienten geliefert werden, 
da durch die eben besprochene Überlegung die Form der Summe be- 
a ET u 
@+oa@te+b.  @+tern—]) 
a Bet tr... 
@+Ö@+e+nD:-@te+n—) 
Waring behandelt dann auch den Fall, daß zum angegebenen all- 
gemeinen Gliede ein Exponentialfaktor g° hinzutritt. — Des weiteren 
bespricht er das folgende Verfahren zur Herstellung summierbarer 
Reihen: Ist “,, %,, %, - - - eine unendliche Reihe von, nach der Null als 
Grenze konvergierenden Zahlen, so hat die Reihe mit dem allgemeinen 
Gliede (eu; + Burza + Yu, +. .), falls aß + y+ = 0 ıst, 
eine leicht angebbare Summe. — Ferner bildet Waring aus einer Reihe 
mit bekannter Summe =>qa,+ X + a,2? + a,2® + -- durch Multi- 
plikation mit #” und Differentiation 





kannt ist; zum allgemeinen Gliede 





z. B. gehört nämlich eine Summe 





u= „ae = re" +r+Da2 tr +2)a0t’+-; 
d(ua’”") ER 
ea let Nart'+:-- 
usf. — Wie man sieht, geht Warings Absicht darauf hinaus, Regeln 
zu bilden, die zur Herstellung summierbarer Reihen führen. — Den 


Schluß des Aufsatzes bilden Prioritätsreklamationen gegenüber Euler 
und Lagrange hinsichtlich algebraischer Entdeckungen. So nimmt 
Waring die Behandlung der Wurzeln einer auflösbaren Gleichung 
in der Gestalt y=aYp-+byp + cVYp°-+--- gegen Euler für sich 
in Anspruch; Bestimmungen der Anzahl komplexer Wurzelpaare einer 
Gleichung gegen Lagrange. Für die damalige Zeit, die noch nicht 
im Zeichen des Verkehrs stand, sind derartige Fälle durchaus nicht 
überraschend; Waring behandelt sie auch demgemäß: „er habe an 
Euler eine Arbeit geschickt; ob der sie je empfangen habe, könne 
er nicht sagen“. 


288 Abschnitt XXI. 


Die zeitliche Folge leitet uns nunmehr zu einem Aufsatze von 
Carlo Gianella über!). In vier Paragraphen werden Fragen be- 


sprochen, die sich auf die Theorie der Reihen beziehen. Im ersten 


2 3 
Paragraphen wird Z=1 — 5 t 5. _ T +... zur n!® Potenz er- 


hoben. ‘Dabei findet sich die Relation, deren Richtigkeit evident ist, 


n&cZ n?x*? Z? n?x°® Z° 


d+jp-1 2 gay red, 














3! 
Im zweiten Paragraphen wird die Reihe A+B10+... =% D: 
V?r 
summiert, wo die einzelnen Glieder A, B, C,... durch die Gleichung 
1” Ym Zm 1 meh Re 1 m A m-—1i 
+2" +5" +. +N EN + mAn 
+ nn 1) Bnw-24 m(m _. — 2) Onm-3L... 


bestimmt sind. Der dritte Paragraph beschäftigt sich mit einem 
Symbole d, für das da”= na”! ist. Dadurch kürzen sich manche 
Formeln in ihrer Schreibweise wesentlich ab; man erhält z. B. 


2 = In—1_ B2r 7 20-3 u re Fa .; 


und im vierten Paragraphen wird das gleiche Symbol d für die Trans- 
formation und die Iteration von Reihen ausgenützt. 

Ein kleiner Streit spielt sich um diese Zeit ab. Euler hatte, 
unbekümmert um Konvergenz-Notwendigkeiten, die Gleichung 


1 1 1 1 1 1 1 1 
Da a re ee 


aufgestellt). Greg. Fontana?) greift die Ableitung der Gleichung 
an; Nik. Fuß verteidigt sie‘). Auch über die Eulersche Behauptung, 


1 1 1 PR 
daß artumgst tr teams für n= 00 werde, 


R+1)n 

herrschen verschiedene Meinungen. G. Fontana erwähnt übrigens 
den bereits verstorbenen Euler bei seinen Angriffen nirgend. Es ist 
ein „Verfahren gegen Unbekannt“, das er einschlägt. Fuß weist 
aber nach, daß nur Euler bei den Angriffen gemeint sein kann. 
Aus der Fußschen Abhandlung heben wir hier gleich noch eine 


interessante Formel heraus, die in den letzten Paragraphen der Arbeit 








) Mem. Acad. Turin I, 1784—1785, p. 391. *) Comm. Petrop. IX (1737), 
1744, p. 188. °) Mem. mat. fis. Soc. Ital. II, 1784, p. 133. *) Nov. Act. Petrop. 
VII, 1790, p. 201. | 


Reihen. 289 





Ihr Beweis ist ja sehr 


abgeleitet wird; es ist DD = 
v=2 

einfach. - 

Aus demselben Jahre 1784 stammt von dem eben erwähnten 
G. Fontana eine zweite Arbeit!) über unendliche Reihen, in der er 
wiederum gelegentlich Eulers Schlüsse angreift. Der Hauptinhalt 
der Abhandlung liegt in der Benutzung der Integralrechnung für die 
Summierung von Reihen. Als Beispiel Be ee. dienen: um 


#1 = .—- = ++. zu finden, leitet er ee FR S her und inte- 


= 
griert diese Differentialgleichung. Ähnlich behandelt er 


gti a15 


IHatatatsn rratet 


3 * ac? 0? > ge? 


eier Ara tarıs trennt 5; 











er kommt auch auf Bossuts Theoreme (vgl. $. 264). 

Aus dem im Jahre 1785 erschienenen letzten Bande des Brief- 
wechsels Lamberts interessieren uns hier zwei Stellen?), in denen 
Ludwig Oberreit über eine Reihentransformation berichtet, die er 
und schon vor ihm Lambert gefunden hatte. Von Oberreit werde 
erwähnt, daß er 1734 zu Lindau geboren wurde und 1803 zu Dresden 
als Finanzbeamter starb. Die erwähnte Transformation von 


y- ac" — bam+n .n eg +?n + Aue 


geht so vor sich, daß die Gleichung zunächst mit « + ba” multi- 
pliziert wird. Dadurch fällt das Glied mit x” +” fort, und man hat 


(a + ba”) y — a?" — a amr+r2n _ b’ gm +3n + Camt+in _.. “ 


durch Multiplikation mit (a’ + b’a”) wird das Glied mit am+3” weg- 
geschafft usw. Dieses Vorgehen liefert 


a?" a2. +?n a’ gm rin 


Tor (area kV) "(ar e)la LP) a He) t 
Wendet man diese Transformation auf die Reihen für die Logarithmen, 
für die Quadrat- und die Kubikwurzeln an, so*erhält man sehr Sur 
konvergierende Entwicklungen. 

Im Jahre 1786 veröffentlicht A. M. Lorgna wieder eine Reihen- 
BE RRSEUREN, Er summiert 


') Mem. mat. fis. Soc. Ital. II, 1784, p. 886. ®) Lamberts gelehrter 
_ deutscher Briefwechsel, herausgeg. von Job Rernoulli, Band V (1785), p. 304 
und p. 354. °) Mem. Acad. sci. Turin III, 1786—1787. 








290 Abschnitt XXI. 

















1 . 1 | 1 1 
sin(p+Dp — sin(p+2N9 ' snp+3gg = = sinp-tnggp 
(und die entsprechende Reihe für die Kosinus) durch Benutzung des 
tim 
Integrals fi a für endliche und für unendlich große n. Bei- 

x 
V 
spielsweise wird für g = . gefunden 
1 1 Ne 3,1 
sin p 7 sin2g % insg -y3 . m 


G. Fontana gibt ohne Beweise!) 37 Theoreme über Reihen- 
summen; wir führen, um eine Anschauung zu vermitteln, einige an: 


1 1-3 1-.3-5 





itsus fast 
a als. 2 

Teen sang 
1 1? 12.3: 12.32.52 











2 
ae ra Pte 
Das genüge! 

Mit rekurrenten Reihen beschäftigt sich Gian. Franc. Mal- 
fatti?). Er knüpft an Lagranges grundlegende Untersuchungen 
an. Ist Ay, + By,,ı ++ Ny,,„= 0 die Relation, die je +1) 
aufeinander folgende Reihenglieder verbindet, dann ist 


y„=a@®+bR+ep+:-- 


das allgemeine Reihenglied, wobei «, ß, Y,.... die Wurzeln der Glei- 
chung A+ Bt+.--+ Nt"=0 sind. Dabei werden «a, ß, y,.... von- 
einander verschieden angenommen. Die Behandlung gleicher Wurzeln 
hatte Lagrange geliefert; aber Malfatti findet sein Verfahren in- 
korrekt, zeigt den Fehler an einem Beispiele und ‘ersetzt es durch 
ein anderes, das er im Falle zweier und dreier gleichen Wurzeln er- 
läutert (vgl. aber auch S. 295). — 

Eine eigentümliche, der Differentiation, und eine andere der 
Integration ähnliche Rechnungsart bespricht Euler?) in einem kurzen 
Aufsatze. Ihn ist aufgefallen, daß die Formeln für die Reihensummen 
1” +2” +5” +...+ 2” bei aufeinander folgenden ganzzahligen 
Werten von » in engem Zusammenhange stehen. So kann man aus 





1+22+... + = Er + ar 4 Sa +0.°— . durch Inte- 
!) Mem. mat. fis. Soc. Ital. III, 1786—1787, p. 174. 2) Ibid. III, 1786, 


p. 571. °) Nov. Act. Acad. Petrop. VI, 1788, p. 3. 


Reihen. 291 


gration der rechten Seite und gleichzeitige Multiplikation mit 5 herleiten 
+24... + litt de +cst. In 
ähnlicher Weise geht er von n auf (n— 1) zurück. Größere Wich- 
tigkeit können wir dieser gelegentlichen Bemerkung nicht zu- 
sprechen. — 

Aus dem Jahre 1787 ist kaum etwas beizubringen. Denn die 
Arbeit von E. Waring'), deren Titel auf Reihen hinweist: „Werte 
algebraischer Größen ausgedrückt durch konvergente Reihen“, ist in 
Wahrheit algebraischer Natur; sie rechtfertigt ihren Titel nur durch 
eine ungerechtfertigte Benutzung des binomischen Lehrsatzes für ge- 
brochene Exponenten. Am Schlusse gibt sie eine historische Über- 
sicht über die bis zur damaligen Zeit unternommenen Versuche, die 
Anzahl der positiven und der negativen Wurzeln einer algebraischen 
Gleichung zu bestimmen. 

Wir haben jetzt auf eine umfangreiche, in Buchform erschienene 
Schrift von Johann Friedrich Pfaff einzugehen?): „Versuch einer 
neuen Summationsmethode nebst anderen damit zusammenhängenden 
analytischen Bemerkungen“. 

Pfaff beginnt mit einer Reihe literarischer Notizen. Im zweiten 
Abschnitte setzt er seine Methode auseinander, die als Hilfssätze die 
bedenklichen Gleichungen 

Ri 


1-1+1-1+-..=— und 17 —- 27 +3” —- 4" 4... =0 
benutzt. Handelt es sich nun z. B. um die Reihe 


sinp—sin2p++sin3p—---, 


so setzt Pfaff für jedes Glied die Potenzentwicklung nach dem Bogen 
ein und faßt die Glieder von gleichen Exponenten in p zusammen. 
So entsteht mit Benutzung der obigen fragwürdigen Resultate 


9:d-1+1—-1+4-.)-Fl1-28+9—-24+..) 
5 1 
+++.) 9, 
also merkwürdigerweise etwas Richtiges. Ähnlich wird 


} sin 2p sin 3 sing” sin?2p”  sin3g” 
zuch EFF 77 r 77 re Sea und m am En a: N 





behandelt. Im letzten Falle ist die Summe nur dann angebbar, wenn 


‘) Phil. Transact. Lond. 1787, p. 71. ®) Berlin 1788. 


292 Abschnitt XXI. 


r und m zugleich gerade oder zugleich ungerade us Pfaff findet 
für die letzte Summe 0, wenn m <r; dagegen + — gm, wenn m=r 


ist. Ebenso werden Reihen 


l sinn Icosn 
ve a und SE 


untersucht und mittels der Substitution A = uyY— 1 umgeformt. Auf 
weitere Einzelheiten gehen wir nicht ein, da die Grundlagen seiner 
Beweisführung zu wenig fest sind. 

Aus dem A ahre 1789 haben wir eine kleinere Arbeit Eulers zu er- 
wähnen'), in der er darauf aufmerksam macht, daß die Substitution 








x =r(cosp + Y-—1sing) von der Summe der Reihe 
| A+Bx+0(2°+Da-+... 
auf die Summen der beiden Reihen führt 
A-+ Br cos p+ Cr? cos2p + Dr? cosd3p + -- 


und 


Brsinp+ Cr?sn2p + Drsind3p-+--- 


(vgl. S. 268). Diese Methode verwendet Euler auf die binomische 
Formel. Unter Vernachlässigung der Konvergenzfrage stößt er dabei 
auf Resultate wie 


1—4cosp + 10 c0829 — 20 00889 +. -— 0829: (16 cos 5) 


und 1-3+5—-7+9—...—(, 1 

Unter den Veröffentlichungen der Petersburger Akademie im 
Jahre 1790 befinden sich zwei Abhandlungen Eulers®) deren erste 
an eine frühere des Jahres 1781 anknüpft (vol. S. 276). Es handelt 
sich um die Summen 


m\/n m N m N _ (mtn 
VIE 
die für ganze Werte von m, n, p bewiesen werden und die auf be- 
liebige Werte von m, n, p ausgedehnt werden sollen; also auch 





hier wieder um eine Interpolationsaufgabe. Der Wert von = für 
1 


beliebige 9, g wird mit Hilfe von 3; (1) da = »! definiert, und dann 
0 


‘) Nov. Act. Petrop. VII, 1789, p. 87. ”) Ibid. VIII, 1790, p. 32. 


a Te en ee En 00 ER A BEER Ze ne Be 
EN = WE ER e 
IE re Be 





” Reihen. 293 


die RED? Summe als ein bestimmtes Integral dargestellt. Setzt 


ir le: A ch ei 


1 


= ZA, 0 a+b mr to —HE 
Ir+ BT; BRETT a+2b+e 164.6; 
0 


und das leitet zur Lösung hin. Auch mit Aufgaben folgender Art 
beschäftigt sich Euler in dieser Arbeit: Er setzt 








1-2) ’=1+42+Ba® +02” +-- 


und 
Gsy F_1+AP+ Bee + Cz”+- 
und bestimmt die Summen der Koeffizienten-Aggregate 


1+AA+BB+---, AHAB+BC+---, BHAC+BD+---. 


Sebastiano Canterzani untersucht!) die Umkehrung der Reihe 
y-azs+ta’z+a”r+---, mag die rechte Seite dabei bis ıns 
Unendliche gehen oder im Endlichen abbrechen. Er findet 

zbyibp4b"p+--- - 
y: ob ba” _ ba” 


mt -4, 17 - 77,0 -0% ‚..- und gibt die 


a a 


Regel für die Bildung der Zähler an. Die erhaltenen Resultate ver- 
wendet der Verfasser bei der Lösung der Gleichung 


0=— y+tar+adr+--- 


Konvergiert die Reihe für z, dann konvergiert sie, wie dem Verfasser 
„scheint“, nach der, dem absoluten Werte nach, kleinsten Gleiehungs- 
wurzel, falls diese reell ist; das hatte bereits E. Waring angegeben. 

Von den Eulerschen Untersuchungen über Reihen gehören zwei 
ins Jahr 1791. Die eine?) liefert für das, durch Rektifikation ‚der 
gleichseitigen Hyperbel geometrisch erlangte Resultat 





i 
B 
: 
2 

-4 

3 
= 
* 
2 
: 


1 1-5 : 1 72 es 1 





ru zumt  r 
einen sehr einfachen direkten Beweis. Euler leitet auf dem gleichen 
a a+ß BERENCEFO a 
Wege RE Br Ga a sowie 





2) Mem. mat. fis. Soc. Ital. V, 1790 *) Nor. Act. Petrop. IX, 1791, p. 41. 





294 Abschnitt XXI. ” 


a a b b € a 
PURE euErSiu ruhen Dee) 





her. 
Die andere!) knüpft an folgende Tatsache an. Setzt man 
2c0osp=x%, so wird für positive ganze n, die > 2 sind 








2c8ng= a" — nd" ?+ eo. u 
a ga 
5F 1:2.3-.4 ah 


falls man sich auf die nicht negativen Potenzen von x beschränkt. 
Für n=0,1 und alle negativen und gebrochenen n ist die Formel 
aber falsch. Wie erklärt sich das? Euler setzt cosp oder sing 
gleich z und cosngp bezw. sinnp=s. Dann gilt 


d@s(1l— 2) — zdzds + n?sd2? = 0. 
Die Integration liefert, wenn f, g willkürliche Konstanten bedeuten, 
-f-(e+ VE 1 +9: (Va D". 
Die dem Problem entsprechenden Werte von f, 9 werden durch Reihen- 
entwicklungen gefunden. So erhält man 


s- ("77 n— ee +) 


+ ("+4 nn, zwar. -) 


als richtige und allgemein gültige Formel; bei positivem, ganzen 

n>2 fallen die Potenzen mit negativen Exponenten von selbst fort. 
An diese Arbeit knüpft Nik. Fuß einige Untersuchungen?), in 

denen er die Eulersche Formel herleitet durch Entwicklung von 


y+Vy?— 1r = Ayt — By? + Oyrt— Dyrti+... 

Eine andere Arbeit Eulers aus dem Jahre 1760 (siehe $. 259) 
gab Pfaff, der sich mit der Herausgabe von Eulers hinterlassenen 
Schriften beschäftigte, Veranlassung zu weiteren Forschungen?) Die 


Reihe > aretang?®) oder in damaliger Schreibart SAtang” läßt 
k=i 
f@)--f@+% 
1+f@- f@e+1) 
der einzelnen Summanden in (Atangf(&) — Atangf(« + 1)) summieren. 
Man erhält dabei als Summe Atangf(1) — Atangf(z +1). Wird 


«= +4 ZT und az _ 4 esetzt, dann ist eine solche 
> + be -+e 5 4 


sich leicht unter der Annahme {® = 





durch Zerlegung 





Darstellung von {@ möglich, und man erhält 





t) Nov. Act. Petrop. IX, 1791, p. 54. ?2) Ibid. p. 205. ® Ibid. X, 
1792, p. 123. 


Reihen. 295 


2ax 


a 
Dr AST — Atang SID@LDFR 
1 


ET . ’ f(«) — f(& + r) . 
=) Ber . ai 
Ahnlich läßt sich die Form 2 | f( ) fi | r) bei ganzzahligem 7 be 


handeln. Hierbei kann z.B. f® = 











genommen werden, falls 


a 
i a" +bc+ec 
4«k=b°+ ni — r? gesetzt wird. Pfaff wendet diese Methode noch 


weiter an, um im zweiten Kapitel allgemeinere Fälle summierbarer 


Reihen aufzustellen. So berechnet er 2 


a 


E’+b-E*°-+e' 





wenn 


b 


A PER a 1 IE Di 
;- BE j: 2. oe 18 ist; die Größen 5 = + © yilden dabei 


nach Riccatischer Bezeichnung (S. 261) eine „rekurrente Reihe mit 
Appendix“. 

Wir besprachen oben (5.290) eine Arbeit Malfattis, der einen 
Punkt in Lagranges Untersuchungen über rekurrente Reihen als 
falsch erkannt und verbessert hatte. Lagrange selber war auf 
diesen Fehler schon bei der Drucklegung seines Aufsatzes gestoßen; er 
gibt nun jetzt!) eine neue Bearbeitung der Frage nach gleichen 
Wurzeln, und gestaltet sie direkter und übersichtlicher als Malfatti. 
Seine Resultate für Wurzeln zweiter, dritter, vierter Multiplizität treten 
in verschiedener Form auf; am Schlusse der Abhandlung wird eine 
für alle Wurzel-Multiplizitäten gemeinsame Form den Mathematikern 
zum Beweise vorgelegt. 

Eine wunderliche Arbeit Jean Trembleys stammt aus dem 
Jahre 1794.?) Der Verfasser knüpft an den vierten, über Ketten- 
brüche handelnden Aufsatz der Opuscula Eulers (vgl. S. 284) an, und 
bringt zunächst eine Reihe Eulerscher Resultate auf die elegante Form 


l/—-n+2/(- n +1) +3/ na +2) +4 n+3)+:-:-=-n+1. 
Für den Beleg der Gültigkeit aber begnügt er sich mit einem un- 
strengen Induktionsbeweise; und er macht sogar eine Methode aus 
dieser Art von Beweisen. Er setzt z. B. als Annäherung 

1+4Axr+ Bx?’+ 0x? 

| 1+ax-+ba’+ex??’ 

wobei er die Konstanten in Zähler und Nenner der rechten Seite 
dazu benutzt, die Glieder der rechten Entwicklung so weit als mög- 
lich mit denen der linken Seite in Übereinstimmung zu bringen. Dann 
wandelt er den Bruch rechts durch sukzessive Divisionen in einen 
Kettenbruch um und kommt vermutungsweise so auf das (Gesetz, 








(+ 2)" = 








‘) Mem. de Berlin 1792, p. 247. ?) Ibid. 1794, p. 109. 


296 s Abschnitt XXL 


nach dem wohl die Kettenbruch-Entwicklung der linken Seite fort- 
schreiten kann. Auf diese Art leitet er voller Stolz, immer mit Be- 
tonung der Einfachheit seiner Methode, Lagrangesche und Lam- 
bertsche Resultate her, die natürlich auf minder einfachem Wege 
von ihren Entdeckern erhalten worden waren. 

Pietro Paoli (Petrus Paulus) beginnt eine zur Reihentheorie 
gehörige Abhandlung!) mit folgender Angabe: „Lagrange hat be- 
merkt, daß das allgemeine Glied rekurrenter Reihen von der Integra- 
tion einer (endlichen) Differenzen-Gleichung abhängt. Bisher hat nie- 
mand wahrgenommen, daß auch die Summation einer rekurrenten 
Reihe durch die Integration einer ähnlichen Differenzen-Gleichung ge- 
leistet werden kann.“ Kennt man das allgemeine Glied einer rekur- 
renten Reihe, so kann man auf verschiedene Arten ihre Summe 
finden; die Paolische Methode kann aber auch ohne diese Kenntnis 
auskommen. Die Reihe sei %, Y, Ya, *" Ya, "5; es bestehe für 
jedes x die Relation ay, +by,_ı+'':+PY,_„=0. Dann ist 


y,= Am” + A,m”’ + A, mg? +++, 
wo m, My, Mg," die Wurzeln von at" + bi"! ...+9=0 sind. 
Setzen wir die Summe 2, = y,+Yyı *%+:':'+Y, so folgt 
ET Ye Re TFart Rr Ya 3 


und wenn man diese letzten Gleichungen der Reihe nach mit a,b, c, ... 
multipliziert und zueinander addiert, so entsteht 


aa,+b—-a)s, te). t'"—P2%,_m-ı 0. 
Demnach bilden auch die z, eine rekurrente Reihe; man hat also die 
Gleichung au”"+!+(b— a)u”" +(c— b)u"i+...-— p=0 aufzu- 
lösen; aber offenbar sind ihre Wurzeln gleich 1, m, m,, M,, :: , und 
daher ist 2,= 0, + Cm? + O,m” + C3Mmg” +. Die CO lassen sich 
nun leicht aus linearen Gleichungen bestimmen, die aus den Anfangs- 
werten 2,, 23, *'- hervorgehen. — 


Hier ist vielleicht der beste Platz für die Besprechung einer 
Arbeit, die sich zwar nicht auf Reihen, sondern auf fortgesetzte Pro- 
dukte bezieht, aber doch wegen deren Umwandlung in unendliche 
Reihen nicht ganz unangemessen an dieser Stelle untergebracht werden 
kann. Es handelt sich um einen Aufsatz von Chr. Kramp über die 
Wallisschen Brüche?); sie ist der Ausgangspunkt der Untersuchungen 
über „Fakultäten“. Kramp setzt 


a(a+r)(a+2r)---(a+[n — 1]r) = a”; 





!) Mem. Acad. Mantova I, 1795, p. 121. ?) Nov. Act. Acad. Elect. Mogunt. 
sci. quae Erfurti est; I, 1797 (1799), p. 257. 


Beihen. 297 


dann gelten die Formeln 


am+n)aer — gmar, (a + meer 
und 
amar s (a + nr er — qrar. (a + mr""r, 


© setzt, so ergibt sich 





Wenn man hierin » — = 
b-a b—-a 
TOTEN änr 
armr:hret—=a! :(a+mr)’ ; 
für m —= oo wird jeder Faktor des letzten Divisors gleich (x - r), und 
bei b—a=d entsteht daher die Gleichung 


a(a-+r)(a+2r)(a-+3r)::- FE REN 
@+d)\aHd+r)a+d+?2r)(atd+3r).-- e: 
(er) 7 
Durch diese Formel meint Kramp den Wert der linken Seite be- 
stimmt zu haben; er übersieht dabei, daß die rechte Seite nur eine Be- 
zeichnung ist. Er geht dann zur Umwandlung der Fakultät 


amar — qM 1 Aa”-1y + Ba" -?yr? + (ar 373 -. RR 


in eine Reihe über und bestimmt die ersten Koeffizienten 











A u—1 1 2B DE ey Mm, 
mm+1) m+ı 2’ m—i1)(m+1) m+1 2 12? 
30 m—1 1 m—1 

>=. _B_ "4... 
m— 3 m+1) m+ti1 2 12 


Die erhaltenen Resultate werden auf die Entwicklungen 


sinm®m m(1—m)(1-+ m) (2 — m) (2 tm)---, 
sinnz *" ni—n)i1-+ n)(2—n)@-+n)... ? 
2n (2 —2n) (2 +2n)--- 


coonz (1—2n) 1+2n) 8 — 2m)... 


angewendet. An und für sich bedeutet die Arbeit nicht viel; sie ist 
jedoch historisch interessant als Ausgangspunkt der Fakultäten-Lehre. 
Im Jahre 1798 wurden die letzten Eulerschen Arbeiten über 
Reihen, die in unsere Epoche fallen, von der Petersburger Akademie 
veröffentlicht. Die beiden ersten dieser Abhandlungen!) beschäftigen 
sich mit der Entwicklung einer Funktion, die er in der damaligen 
Funktional-Bezeichnung T': o schreibt, in eine Reihe von der Form 
A+ Beosp + Ceos2p + Deos3p + oder, nach Euler, um 
T:9=(0)+(1)ecosp + (2) cos 2p-+ (B)c0s3p +: +. 
Die zweite Bezeichnungsweise wählt er, weil bei der ersten „bald das 
ganze Alphabet erschöpft sein würde“. Soll die Funktion rF: p 
stetig sein, so müssen, wie Euler behauptet, die Koeffizienten sehr 











sinnz 














') Nov. Act. Petrop. XI, 1793 (1798), p. 94 und p. 114. 
CANTOR, Geschichte der Mathematik IY. 20 


298 Abschnitt XXI. 


schnell abnehmen, da sonst z. B. bei der Vermehrung des Arguments 


p um die kleine Größe ,..,; das Glied (1000) cos 1000 in 


(1000) eos (x + 1000) = — (1000) eos (1000 p) 


übergehen würde, was die Stetigkeit geführden könnte. Die späteren 
Koeffizienten dürfen demnach gegen die früheren vernachlässigt 
“werden. Nun bildet Euler, um A zu bestimmen, 


+T:0+7T:a=A+0+E+64J +: 
=); 


dann 


17:04217:34+—T:2a=-A+E+J+N+.- 
-+ ++ 


und 


lv. ei REF 
st:04 07: Hr Dat 


-A+I+R+ = (VE) + (6) +. 


Im letzten Resultat ist (0) schon als hinreichend genauer Wert der 
rechten Seite anzusehen, so daß die Summe der linken Seite = A = (0) 
gesetzt werden kann. Die weiteren Koeffizienten in ähnlicher Art zu 
berechnen, würde viele Mühe machen. Euler wendet daher andere 
Methoden an, die sich auf die Summation von 


1+cosp + c0s29 +:::-+ 00509 


stützen, wo np ein Vielfaches von x sein soll. Dabei erlangt er 
das Resultat, daß, wenn Ä 
1 An 114 
D/=-zT:0+0s 0:7 + cos 
gesetzt wird, die Bestimmung 


2 D-()+@n-Mı+@nty+ An Mranti)t- 


folgt. 

So interessant diese Arbeit auch ist, so können wir uns doch 
nicht gegen ihre Mängel verschließen, die zum Teil in unbewiesenen 
Annahmen über die Konvergenz sowie über die Größe der Koeffi- 
zienten, dann über die nur näherungsweise erfolgende Auflösung des 
Problems beruht. Für die Zwecke der Astronomie, die bei der 
Untersuchung an erster Stelle in Betracht kommen, bedeutet das Re- 
sultat eine beträchtliche Rechnungs-Vereinfachung. 

Ein ungemeiner Fortschritt wird durch die unmittelbar fol- 
gende Abhandlung repräsentiert, die am gleichen Tage, dem 26. Mai 
1777, wie die erste Arbeit der Akademie vorgelegt wurde. Hier tritt 


ah 2 1 
er ci. zeosAal:x 


Reihen. 299 


zum ersten Male die gebräuchlich gebliebene Koeffizienten-Bestimmung 
durch Integrale 


. P44 rt 
1 3 
4=-()-4[T-49 und = | T-dp:cosng 
) 0 
auf. Dieses Resultat benutzt Euler dann zur Transformation von 


T:9=(0) + (l)eosp + (2) cos 29 et 


in die Reihe, die nach Potenzen von cosg fortschreitet, und die wir 
etwas abweichend von der Bezeichnung der Original-Arbeit 


= [0] + [1Jeosp + [2] (cos 9)? + [3] (eos p)’ + - - - 


schreiben. Dabei kommt es natürlich auf die Berechnung von In- 


tegralen > c08%p -(cosp)’dp an. Es ergibt sich: 
0 


9-04 214 ll +, 


und wenn n >6O ist: 
4 
rim) [n]-+ an: [n +2] + (n + en [n +4] 


++) m+%) 
+ 4.8.12 Lese 








Die beiden letzten Aufsätze Eulers!) beschäftigen sich mit 
Zyklometrie, d.h. mit der Frage nach expediter Berechnung des 
Wertes der Zahl x. Euler gibt zunächst eine kurze historische 
Übersicht über die Resultate von A. Shar p,;, J. Machin und 
G. de Lagny (vgl. Band III®, S. 668—669); dabei erklärt er die 
Arbeit des letzteren, der die Berechnung auf 100 Stellen durchführte, 
für eine mehr als herkulische Leistung.?) Danach stellt er eine neue 
Formel auf, die bedeutende Vorzüge gegen die Leibnizsche Formel 
hat. Bedeutet s den zur Tangente t gehörigen Bogen, so wird 

t 2 & 2 4 e? n 246 e , 
a, el! 73 1) +35 (iF®) KsııT (i+®) $ ku 
Auf verschiedenen Wegen, einmal durch eine Reduktionsformel, einmal 
durch eine Integral-Transformation, wird die Richtigkeit dieser Be- 
ziehung nachgewiesen. Die einzelnen Glieder lassen sich deswegen 





') Nov. Act. Petrop. XI, 1793 (1798), p. 133 und p. 150. ®) Euler über- 
sieht hierbei eine Arbeit, auf die im Briefwechsel von Lambert IV, p. 480 
(Schreiben von Wolfram an Lamb ert) aufmerksam gemacht wird: B. Lamy 
hat = bis auf 128 Ziffern geliefert. | 


20* 


300 Abschnitt XXI. 


bequemer entwickeln als bei der Leibnizschen Formel, weil jedes 
durch eine einfache Multiplikation aus dem vorhergehenden abgeleitet 
werden kann. Ein weiterer Vorzug liegt darin, daß alle Glieder von 
gleichem Vorzeichen sind, so daß Sir Addition = Glieder genügt. Wird 


die neue Formel bei x = 4Atang +44 tang ı „ verwendet, so entsteht 
2.73 2 FAR. 8 6 /2\3 
lt) tr se) task) +] 
2 


4 
5 
HEHE) + 


noch bessere Formeln erhält man für x = 8 Atang; + 4Atang 7, 


16 


ap le 


da Er auf den zweiten Summanden ee Reihe ia: Potenzen 


von _ fortschreitet, und für x = 20 Atang 8 Atang 79, wo die 


144 
700000. erfolgt. 
Der Ausgangspunkt der letzten Abhandlung (ibid., p. 150) ist die 
Integralgleichung 


En. _ - (aAtang;t, 
dx x? da 
el a Je 


Nimmt man die Grenzen der Integrale gleich O und x, so wird ihr 


entsprechende Entwicklung nach Potenzen von 














Wert gleich Atang en ; dies Integral bezeichnet Euler mit dem 


astronomischen Zeichen für die Sonne und ähnlich die drei Integrale 
rechts mit den Zeichen für Saturn, Jupiter und Mars: 


dx dx "ad 
Kr, je =. =: 


Er schreibt also o= 25 +24 +7 = Atang Nun ist die Ent- 








4 
wicklung des Nenners der Integrale nach Potenzen von jr. leicht. Die er- 
langten Reihen werden für =1,2 = 4 und 2 = = benutzt, wodurch 
man auf Atangl, Atang und Eee kommt. Die beiden letzten 


1 
Reihen, die nach Potenzen von — j bezw. ar TE fortschreiten, konver- 


gieren recht gut und liefern den "Wert für 
1 1 
T —=2Atang, + Atang, 


mit ziemlicher Leichtigkeit als Aggregat von sechs unendlichen Reihen. 


Reihen. 301 


Im gleichen Bande der Petersburger Veröffentlichungen kommt 
Nik. Fuß!) auf ein, früher von Euler behandeltes Thema zurück 
(s. 5. 294). Es handelt sich um die Entwicklung von cosnp = s nach 


Potenzen von cosp—=z, und bei sinnp=vY1-— 2? um die von v 
nach Potenzen von z. Fuß stellt die schon von Euler angegebene 
Differentialgleichung d?s(2’—1)+zdzds—n’sd2?=0 auf und integriert 
sie mit Hilfe unbestimmter Koeffizienten in Gestalt einer Reihe, die 
nach steigenden Potenzen von z fortschreitet, statt nach fallenden, 
wie bei Euler. Dabei wird das Eintreten von Ausnahmefällen ver- 
mieden. | 

Wir haben unsere Blicke jetzt wieder nach England zu richten, 
wo uns die Transactions von Edinburgh und die von London einiges 
Bemerkenswerte bieten. Da sei kurz einer Arbeit von James Ivory?) 
gedacht, der eine Formel schneller Konvergenz für den Umfang einer 
Ellipse aus der Entwicklung der Potenz (a? + b? — 2abcosgp)” her- 
leitet. Auf den Kreis angewendet liefert diese Formel 


ir. 12.15.88 Kruftegech 


4 y ı 
I! rettete teen rt 
als besonderen Fall. 
Vier Aufsätze von John Hellins?) beschäftigen sich mit kon- 
vergenten Reihen. Der erste leitet eine Hilfsformel für die Trans- 


formation gewisser Reihen her. Durch zwei verschiedene Integrations- 
m—1 





Ausführungen von wird die Gleichung 


N 


ge gg +n ge +2n ze n ge +n 


m mn % m+2%n RE m (1 — x”) R n(m + n)(1— x”)° 








m+?2n m+3n 


Nn-2n-3Enx 


er m(m + n)(m + 2n)(1 — «")? m (m + n)...(m + 3n)(1 — a”) 


Nn-2n-x 








gefunden; durch sie wird dann die zyklometrische Formel 


7c 


alt ge) VG ee 
in CT ee 


umgestaltet, indem die Hilfsgleiehung sich auf jede der vier Klammer- 





Ban ar a rn ) 


') Nov. Act. Petrop. XI, 1793 (1798), p. 155. ?) Transact. R. Soc. of 
Edinburgh IV (1798), p. 177. °) Transact. R. Soc. of London 84 (1794), p. 217; 
86 (1796), p. 135; 88 (1798), p. 183 und p. 527. 


302 Abschnitt XXI. 


reihen anwenden läßt. Die entstehenden Reihen schreiten etwa wie 


: 1 
die Potenzen von =. fort. 


Die gleiche Transformation wird in dem zweiten Aufsatze ver- 
wertet, der sich die Aufgabe stellt, den log10 möglichst expedit zu 


berechnen. Es wird log10 =3log2 + et ® durch drei Reihen her- 


gestellt, die ungefähr nach Potenzen von = fortschreiten. Noch be- 


quemere Reihen werden durch log 10 = 10 log Fan 3log1n5 erlangt. 
Im dritten Aufsatze wird die Reihe 


ac+b?r +ca+da+er®+:--, 


die bei mäßig abnehmenden positiven Koeffizienten a, b, ce, ... und 
einem x, welches nur wenig kleiner ist als 1, sehr gering konvergiet 
in die nn zweier Reihen 


(au bar +c— dat +ea® —--)+2(ba?+dt+fae + --.) 


zerlegt. Die erste Reihe kann nach der Methode von F. Maseres 
(vgl. S. 271) behandelt werden; und die zweite Reihe, die offenbar 
schon für sich besser konvergiert, gestattet die gleiche weitere Be- 
handlung, wie sie bei der ursprünglichen Reihe vorgenommen wurde. 
Die Wirksamkeit dieser Methode soll durch das Beispiel 


RN für 2 = - 


das recht ausführlich behandelt wird, klar gestellt werden. 

| Der letzte Aufsatz von Hellins beschäftigt sich mit einer Auf- 
gabe der Störungstheorie: Der reziproke Wert von (a — bcoszx)” ist 
in die Reihe A+ Beosxz + Ücos2x + Deos3x2 + --- zu entwickeln. 
Der Weg führt über Summationen mäßig konvergierender Reihen. 
Der Verfasser bemüht sich, sie in besser konvergierende umzu- 
wandeln. 

Im Bande 86 (1796) der Ph. Tr. Lond. befindet sich auch ein 
französisch geschriebener Aufsatz von Simon L’Huilier!), in dem 
die Reihen für die Exponentialfunktionen, für die Logarithmen und 
für die Kreisfunktionen auf elementarem Wege abgeleitet werden; vor 
allem wird die Verwendung des Unendlichen dabei vermieden. Bei 
den Herleitungen fällt dem Verf. die Analogie zwischen den Loga- 
rithmen und den trigonometrischen Funktionen in die Augen. 





') Transact. R. Soc. of London 86 (1796), p. 142. 


Imaginäres. 303 


Imaginäres. 


Man hätte der Ansicht sein können, daß über die Meinungsverschie- 
denheit, die zwischen Leibniz und Johann Bernoulli in betreff der 
Natur der Logarithmen negativer Größen bestand, durch die geniale 
Arbeit Eulers, die im Band III?, S. 722 ausführlich besprochen 
wurde, endgültig entschieden sei. Dem war nicht so! Und der 
Grund dafür lag nicht zum mindesten in der freien Art und Weise, 
mit der Euler in der Sitte seiner Zeit das unendlich Große und das 
unendlich Kleine verwendet hatte; freilich auch darin, daß er in seiner 
Arbeit nicht darauf eingegangen war, alle früheren falschen Be- 
 hauptungen auf ihren wahren Wert zurückzuführen, und alle auf- 
gestellten Paradoxa aufzuklären. Diese tauchten daher wieder und 
immer wieder auf. — 

D’Alembert veröffentlichte 1761 in seinen „Opuscules mathe- 
matiques“ I, Paris, einen schon mehrere Jahre früher geschriebenen 
Aufsatz „Sur les logarithmes des quantites negatives“, in dem er für 
Bernoullis und gegen Leibniz’ Anschauungen eintrat. Er führt 
eine Reihe von Gründen dafür an, daß log(—a)=log(+.) oder 
nach der damaligen Schreibweise, daß !-—a=1!-+a sei. In erster 
Linie beutet d’Alembert dabei eine etwas unbestimmte, von Neper 
herrührende Definition des Logarithmenbegriffs aus: „Logarithmen 
sind eine beliebige Folge von Zahlen in arithmetischer Progression, 
die einer beliebigen Folge von Zahlen in geometrischer Progression 
entsprechend zugeordnet sind; nur mit der Einschränkung, daß der Null 
der arithmetischen Progression stets die Einheit der geometrischen 
entspricht“. Man hat also nach dieser Auffassung als 


4 B 
Logarithmen ..., — 2a, —a, 0, a, 2a, 3a, ...,na,... 


x 1 
Numeri ..., ch ee... 89: 


bei beliebigen positiven oder negativen Zahlen a und b. Davon 
macht d’Alembert häufig nicht ganz einwandfreien Gebrauch: Be- 
hauptet Euler unter der stillschweigenden Voraussetzung einer posi- 
tiven Basis, die Logarithmen negativer Größen seien „unmöglich“, 
d. b. komplex, so nimmt d’Alembert b negativ an und erhält dabei 
für gewisse negative Zahlen auch reelle Logarithmen. Schließt Euler, 
aus der Bernoullischen Annahme log (+ a) = log (— a) müsse not- 
wendig für jedes a folgen log(a) = 0, so erklärt d’Alembert, das 
berge keinen Widerspruch, denn man brauche ja in dem oben ge- 
gebenen Systeme nur a= (0) zu setzen, um ein Logarithmensystem zu 


304 Abschnitt XXI. 


haben, das aus lauter Nullen bestehe. Ja! d’Alembert faßt (l. ce. 
p. 185) das Schema | 
34, 20, a, 0, —a,—2a,..,—na, 
; x 1 1 1 
Be a re b’ a wre 
3.08, .5, 000, 7720, 0,0, 0, 20, 


1 1 1 
vonin Omr san. wer Marien Sehe 


als einheitliches logarithmisches System auf, trotzdem es in der Mitte 
der Beziehungsreihe die Basis wechselt; und das, um log(+A)—=log(—k) 
zu erhalten. — Aus (+1? = (— 1) wird log(+1)=log(— 1) er- 
schlossen. — In der Eulerschen Gleichung, die zur Berechnung von 
y= log(— 1) führt (vgl. Vorles. II?, 8. 725 Z.9 v. u.), 


1+ 2 = 008% 2 u men 
setzt d’Alembert A=n und Be zu 
1 ne ES 
1 +2 = cos 2-)r+V-1sin(?- )r= L; 
also zu log(—-1)= 0, statt daß er auf beiden Seiten gleichzeitig ii 
nach Null führt und dann die richtige Gleichung log(—1)= + Y-—1:-x 


erlangt. 

Muß d’Alembert zugeben, daß man im ersten, oben angeführten 
Schema für Logarithmen und Numeri durch keine Fortsetzung oder 
Interpolation auf (— b), (— b?), (— 0°), ... kommen könne, so schiebt 
er metaphysische Gründe vor, um diesen Übergang herzustellen. Er 
behauptet, es sei nicht zu verstehen, wie der Logarithmus einer, vom 
Positiven durch Null zum Negativen gehenden Veränderlichen durch 
negative Werte und das negative Unendliche ins imaginäre Größen- 
gebiet übertreten könne. Er seinerseits läßt deshalb die Logarithmen 
vom negativ Unendlichen ins positive Gebiet treten. Wir können 
nicht auf alle Einzelheiten eingehen, müssen aber jedenfalls zwei 

‚ Punkte hervorheben, um die sich 
_ vielfach der Streit drehte. Es han- 
[6 


7 


PERLE 











Bi “delt sich dabei um die geometrische 
PPE 4 Fassung der Frage nach den Loga- 
rithmen negativer Zahlen. 
| & 5 Ist y=c*, also z=logy:loge, 
| so heißt die hierdurch repräsentierte 
5% Kurve die „Logistica“ oder die „loga- 
Fig. 8. rithmische Linie“. Der Bequemlich- 


keit wegen setzen wir lege =1. 
Zur Abszisse © = 0 gehört die Ordinate y=1 und uxr=|1 


Imaginäres. 305 


gehört y=c. Die von O aus gerechnete Abszisse ist also der 
Logarithmus der zugehörigen Ordinate. Bernoulli behauptete nun, 
die Logistica habe noch einen zweiten Linienzug y= —.c”, eine 
„Gefährtin“ (comes), das Spiegelbild des ersten Zuges an der x-Achse. 
Leibniz leugnet dies. D’Alembert tritt auf die Seite Bernoullis 
und gibt folgenden Beweis: Ist in der obigen Figur AQ=@P, so 
ist die zu @ gehörige Ordinate =Y AB: PM = + QS8. Hier stoßen 
wir also auf den oben erwähnten Fehlschluß, daß aus a?=b? auch 
a=b folge Das Gleiche beweist d’Alembert analytisch auch fol- 
gendermaßen: Die Gleichung y = c” gibt für unendlich viele Werte 
von & einen doppelten Wert von y, sobald nämlich x ein rationaler 
Bruch mit geradem Nenner ist; also hat die Logarithmica auf der 
negativen Seite der Achse unendlich viele, vielleicht diskrete Punkte 
An zweiter Stelle = 

handelt es sich um B 

die Bernoullische sr 

Darstellung der Loga- 


rithmen mittels einer 


gleichseitigen Hyber- EN ne 


bel y= —, die auf 6 — Mm 


ihre Asymptoten als en S 
Achsen bezogen wird. 
Ist AN=1, AR=y, 
dann wird die Fläche 
NPSR = logy. Ei 
Diese Beziehung zwi- 
schen der Ordinate ur 
AR und der trapezartigen Fläche NPSR wird jetzt auch für den 


oberen Teil der Hyperbel als gültig angesehen, so daß z. B. zu der 
Ordinate Ar als Fläche 


NPQOA+ AGpn + npsr 

















gehört. Dann wird behauptet, es sei AGpn bei An—= AN gleich 
dem negativen Betrage von NPQOA und npsr gleich NPSR; 
daraus folge dann, daß zu Ar die Fläche NPSR gehöre, d. h. das 
gleiche Flächenstück wie zu AR; somit sei 


log(AR) = log(Ar) = log (— AR). 


Es ist auffallend, daß diese Schlüsse auf alle möglichen Weisen 
bekämpft worden sind, nur nicht dadurch, daß die Gleichung 


306 Abschnitt XXI. 
AGpn =— NPQO0A 


der Behauptung oo — x = (0) äquivalent wäre. 

Gegen die d’Alembertschen Anschauungen und Behauptungen 
erhob ein italienischer Chevalier, Daviet de Foncenex seine Stimme!), 
Sein Aufsatz ist hauptsächlich durch den Versuch eines Beweises der 
Wurzel-Existenz algebraischer Gleichungen bekannt, den €. F. Gauß 
in seiner Inaugural-Dissertation eingehend kritisierte. Wir wollen 
einem früher (Band IV, 8. 119) gegebenen Hinweise folgen, und neben 
dem weiteren Inhalte des Foncenexschen Aufsatzes über die imagi- 
nären Größen auch diesen besonderen Beweis in den Bereich unserer Be- 
sprechungen ziehen; dazu sind wir um so mehr berechtigt, als es sich 
beim Foncenexschen Beweise nicht eigentlich um die Existenz der 
Wurzeln, als vielmehr darum handelt, zu zeigen, daß die als existie- 
rend vorausgesetzten Wurzeln einer jeden algebraischen Gleichung die 


Gestalt A+ BY—1 besitzen. Die Frage nach der Existenz der Wur- 
zeln selbst war zu damaliger Zeit noch nicht mit der nötigen Schärfe 
gefaßt worden. 

In $5 der Abhandlung zeigt Foncenex zunächst, daß die Wur- 
zeln einer quadratischen Gleichung mit reellen oder komplexen Koef- 
fizienten in die Form c+dY-—1 bei reellen c und d gebracht werden 
können. Dann betrachtet er eine algebraische Gleichung in z des 
Grades r, wo r in seine verschiedenen Primzahl-Potenz-Faktoren zerlegt 


ist; er versucht nun einen quadratischen Faktor (2? — uz + M)- des 
vorgelegten Gleiehungspolynoms herzustellen. Dabei hängt « von 


einer Gleichung des Grades 2”-1P.(2"P — 1) ab, da u die Summe 
je zweier Wurzeln der vorgelegten Gleichung darstellt, also 


Sr -(r— 1) Werte hat. Die Gleichung in u ist daher vom Grade 


2”=!P,, wo P, ungerade wird. Für dieses neue Gleichungspolynom 
in u wird wieder ein quadratischer Faktor (u® — u,u + M,) gesucht; 
dabei hängt u, von einer Gleichung des Grades 2”? P, - (P,2”-1 1) 
ab. So geht man weiter, bis man nach m Schritten auf eine Glei- 
hung ungeraden Grades für «,_, in dem Faktor 


(Um-2 —Un1' Um- 3 2 Mu) 


des vorhergehenden Polynoms stößt. Eine solche Gleichung un- 
geraden Grades hat, wie Foncenex aus Stetigkeitsbetrachtungen her- 





‘) Miscellanea Philosophico-mathematica Societatis privatae Taurinensis I, 
1759, p. 113 (der zweiten Numerierung). 


Imaginäres. 307 


leitet, immer mindestens eine reelle Wurzel; «,_, ist also reell. 
Aber auch M,„_ı;5 Foncenex sagt nämlich: „M,_, ist, wie man 
weiß, durch «,_, und durch die Koeffizienten der gegebenen Glei- 


chung in z ohne Wurzelausziehung darstellbar“. Folglich hat 
uU. '%,.s HM, ; = 0 

eine Wurzel m +nYV-— 1 bei reellen m und n. Setzt man sie in 
Uns —Un_ 3 Ws + M,.; = 0 


ein, so bestimmt sich M,,_, durch rationale Operationen!); also hat 


auch diese Gleichung Wurzeln von der Form p+gY-—1 usw. bis 
man zu 22— uz+ M= 0 kommt, deren Wurzeln dann auch die Form 
A+ BY-—1 haben. Damit wäre gezeigt, daß die vorgelegte alge- 
braische Gleichung r‘" Grades in z das Trinom (2 —2Az+ 4°?+ B?) 
als Faktor besitzt, also die Wurzel A+ BY—1 hat. 

Wir haben schon hervorgehoben, daß diese Folgerungen die 
Wurzelexistenz algebraischer Gleichungen nicht beweisen, sondern vor- 
aussetzen; daß sie also nur den Zweck haben könnten, den Satz zu 


begründen, jede algebraische Größe stehe unter der Form A + BY-1. 
Aber selbst dieser Zweck wird nicht erreicht. Denn, wie Gauß in 
$ 11 seiner Dissertation zeigt, ist die Behauptung, die Größe M_, 
sei durch «,„_, und die Koeffizienten rational darstellbar, nicht allge- 
mein richtig. Gauß faßt sein Urteil dahin zusammen, es wäre ein bei 
weitem tieferes Eindringen in die Theorie der Elimination nötig, 
um den Foncenexschen Beweis zu einem strengen zu machen. 

Gehen wir zur Besprechung des weiteren Inhalts der Arbeit 
über! Hinsichtlich der imaginären Gleichungslösungen äußert sich 
der Verfasser noch nicht sehr weitblickend ($ 6): „Die imaginären 
Wurzeln haben keine geometrische Darstellung. In welchem Sinne 
man sie auch nehme, man kann keinen Nutzen aus ihnen ziehen. Man 
muß bestrebt sein, sie soviel als möglich aus den Endgleiehungen zu 
entfernen.“ 

Foncenex unternimmt es, die Eulerschen Resultate auf neuem 
und sichererem Wege herzuleiten und zugleich die Schwierigkeiten, die 
Bernoulli in der Theorie der Logarithmen gefunden hatte, zu be- 
seitigen. Sein erstes Ziel erreicht er leicht mit Hilfe der Glei- 
chungen des Kreises und der Hyperbel; er fügt hinzu, daß der ge- 
gebene Beweis von Lagrange ihm mitgeteilt sei. 

Hinsichtlich der Schlüsse, die Bernoulli an die Betrachtung der 











1) „par de pures preparations algebriques“, 





308 Abschnitt XXI. 


ein, daß zwar die beiden entgegengesetzten Zweige der Hyperbel ge- 
mäß dem Gesetze der Stetigkeit miteinander im Unendliehen zu- 
sammenhingen, daß dies jedoch für die oben konstruierten Flächen 


der Hyperbel nicht gelte. Denn das Differential der Fläche für 


eine unendlich kleine Strecke Aa sei ja zdy = > = m —=] für ein 


positives y und gleich = - 1 für ein negatives y. Es ge- 


( 'schehe also beim Übergange von positivem unendlich Kleinen zu 
\\negativem unendlich Kleinen ein endlicher Sprung, der sich mit 
stetiger Fortsetzung der Flächen nicht verträgt. Foncenex gibt 
den Anhängern Bernoullis die Existenz eines zweiten Zweiges 
der Logarithmica zwar zu, sagt aber, daß beide reell, voneinander 
isoliert, zwar transzendent miteinander verbunden, dagegen algebraisch 
voneinander unabhängig seien. 
Diese Ansichten bekämpft nun wieder d’Alembert in dem „Sup- 
pl&ment“t) des oben erwähnten „Memoire“. Auf den Einwurf be- 
treffs der Unstetigkeit des Flächenübergangs erwiderte d’Alembert 


mit Recht, daß für negative, unendlich kleine y folge Be = 1, 


Auch seine übrigen Behauptungen verteidigte er mit Beharrlichkeit. 
Die Schrift hatte den Erfolg, daß Foncenex sich in einigen 
Punkten für überzeugt erklärte?) Er trat der Anschauung bei, daß 
. die Logistica aus zwei, algebraisch zusammenhängenden Zweigen be- 
stehe; andererseits versucht er die Eulersche Formel mit den d’Alem- 
bertschen Ansichten zu verknüpfen. Für die Existenz zweier Zweige 
der Logistica bringt Foncenex jetzt selbst einen neuen Beleg bei: 
bedeuten ? und « Abszisse und Ordinate der Evolute der Logistica, 
so gilt v= +Y(t— 1)-'; das doppelte Zeichen führe mit Notwendig- 
keit auf die beiden Zweige. 

Hier möge noch folgendes im Anschluß an die besprochenen 
Aufsätze von Daviet de Foncenex erwähnt werden. J. B. J. De- 
lambre teilt in seinem „Eloge de Lagrange“ mit und wiederholt 
es in seiner, den Werken Lagranges vorgedruckten „Notice sur la 
vie etc.“ p. XI, daß Lagrange seinem Schüler und späteren Freunde 
Foncenex eigene Forschungen in der Form fertiger Resultate über- 
ließ, die dann dieser, weiter ausgeführt und begründet, unter eigenem 
Namen veröffentlichte. Ob diese Mitteilung richtig ist, mag dahin- 
gestellt bleiben; jedenfalls stand die Abhandlung „sur les logarithmes 
des quantites imaginaires“ (Misc. Taur. I), wie Foncenex selbst an- 
gibt, unter Lagranges Einfluß. Das Verlassen des hierin eingenom- 





ı) Opuscules I, 1761, p. 210. 2, Miscell. Taurin. III, p. 337. 


Imaginäres. 309 


menen Standpunktes in den „Eelaireissements“ (Mise. Taur. II) 
spricht dagegen weniger für eine Mitwirkung von Lagrange. 

Um die Arbeiten d’Alemberts auf diesem Gebiete gleich hier 
zu erledigen, erwähnen wir einen im fünften Bande der „Opuscules“ 
gegebenen Aufsatz!) über die Mehrdeutigkeit der Ausdrücke von der 


Form Va + bVY— 1. Seine Darstellung der Wurzeln ist völlig kor- 
rekt. — Ferner stammt aus dem Jahre 1778 ein Artikel über Loga- 
rithmen?) von ihm; er vertritt durchaus noch seinen früheren, von 
uns oben dargelegten Standpunkt. — 

Im Jahre 1768 erschien unter dem Titel „Von den Logarithmen 
verneinter Größen“ eine sehr umfangreiche Arbeit von W. J.G. Kar- 
sten.?) Sie liefert eine gute historische Darstellung der Frage und 
eine eingehende mitunter etwas breit gehaltene Kritik der Darlegungen 
und Beweise d’Alenberts (sie!. Karsten steht völlig auf der 
Seite Eulers. Den Hyperbel-Beweis, durch den Bernoulli die 
Existenz der beiden Zweige der Logarithmica dartun will, sucht 
Karsten dadurch zu entkräftigen, daß er die dabei benutzten Be- 
griffe der positiven und der negativen Flächenstücke kritisch prüft 
und ihre Anwendung auf das vorliegende Problem als unstatthaft er- 
klärt. Die Unhaltbarkeit des ersten oben gegebenen Beweises (3. 304) 
tut Karsten dadurch dar, daß er ihn auf eine beliebige Kurve 
anwendet, indem er deren Gleichung y= f(x) durch y’= f(x)? er- 
setzt. — Im ersten Teile seines Aufsatzes geht Karsten auch aus- 
führlich auf die Natur und den Begriff der negativen Zahlen ein. 
Er erklärt sie als Richtungs-Größen und bekämpft die Meinung, es 
seien negative Größen solche, die „kleiner als die Null“ seien. Sonst 
würde ja (vgl. Bd. III?, S. 367) aus der unzweifelhaft richtigen Pro- 
portion 1:(—1)=(—1):1 folgen, daß sich das Größere zum Klei- 
neren verhalte, wie das un zum Größeren. 

Die Zeitenfolge nötigt uns, auf eine andere Frage einzugehen, 
die auch ein wesentlicher Bestandteil der Theorie des Imaginären ist. 
Es ist die Frage, ob alle imaginären Größen in der Gestalt 


A+By-1 

darstellbar sind, wo A und B reelle Größen bedeuten. Über die Un- 
bestimmtheit, um nicht zu sagen die Unklarheit der Fragestellung 
setzten sich die Mathematiker der damaligen Zeit um so leichter hin- 


weg, als die Begriffe des Imaginären und des Unmöglichen noch immer 
ineinander spielen. D’Alembert hatte 1747 durch die Benutzung 








') Opucules V, 1768, p. 183. ?) Encyelopedie XX, Geneve 1778, p. 234. 
°) Abhandl. der churfürstl. Baierischen Akad. d. W. V, 1768, p. 3. 


310 Abschnitt XXT. 


unendlich kleiner Größen den Beweis dafür zu liefern gesucht, daß sich 
die „unmöglichen“ Wurzeln algebraischer Gleichungen in der Form 


A+ BY-1 darstellen lassen; Bougainville hatte in seinem „Traite 
du caleul integral“, Paris 1752, diesen Beweis recht übersichtlich 
reproduziert. Auch Foncenex lieferte (]. e.) einen Beweis dieses be- 
sonderen Satzes zugleich mit einer Kritik des d’Alembertschen Ver- 
suches; d’Alembert kritisiert dann seinerseits den Foncenexschen 
Beweis in dem „Supplement“ (siehe $. 308). Euler hatte 1749 durch 
eine Reihe von Beispielen den allgemeineren Satz überaus wahr- 
scheinlich gemacht. 

Nach gleicher Richtung geht eine Arbeit des italienischen Ge- 
lehrten Pietro Paoli; sie findet sich als drittes „Opuseulum“ 
seiner Opuscula analytica!). Paoli legt Gewicht darauf, seine Ab- 
leitungen unter Vermeidung der Infinitesimal-Rechnung zu geben, und 
benutzt, um das zu ermöglichen, durchgehend das Prinzip der unbe- 
stimmten Koeffizienten als Hilfsmittel für die Herleitung der nötigen 
Formeln. So liefert er die Entwicklungen von a*, log(1-++ x), sinz, cosz, 
tang, arctangz. Nach diesen Vorbereitungen geht der Verfasser zu 
einer Reihe von Beispielen über. Er beginnt mit dem Logarithmus 


von (a+b- V—1); diesen stellt er mit Hilfe der zuerst vorgenommenen 
Entwicklung in der Form einer unendlichen Reihe dar und findet 


log (a + by-1)= loegYya® +5 + By—-1, wo = arc tang ist. 

Für «= 0 gibt er noch als besonders erwähnenswert das J. Ber- 
noullische Resultat 

Fe: 

2 Pat 
an. Dann folgt die Behandlung von 

log[log(a + b-Y—1)], log[logllog(a +b-V—1)]}, 
usw. In gleicher Weise wird 
pers VA, rev, 


auf die Form A+ BY-—1 gebracht; dann 


(a +d-V-1)r, (a +5. yZh" +" 97 
usf. Hierauf kommen die goniometrischen und die zu ihnen inversen 
Funktionen an die Reihe. Und den Schluß bilden die Kettenbrüche 
mit imaginären Teilzählern und Teilnennern. Die abbrechenden lassen 
sich sofort durch Aufrechnung erledigen; die ins Unendliche fort- 
laufenden werden zunächst in unendliche Reihen verwandelt. 





‘) Liburnum (Livorno) 1780, p. 131. 


Imaginäres. 311 


Auch Nik. Fuß beschäftigt sich!) mit der Frage nach der Dar- 
stellung imaginärer Größen. Dabei macht er ganz wunderliche 
Sprünge. Wenn z eine variable imaginäre Größe, a, b, c,... reelle Kon- 
stanten bedeuten, dann umfassen die beiden Formen «-+2z und b-z 
bei der willkürlichen Bedeutung von a, b, z unendlich viele imagi- 
näre Größen. Die Größen der beiden Formen «+2 und bz können 
einander nur gleich sein, wenn a=0 und b=1 ist. Die allgemeinere 
Größenform a & bz umfaßt unendlich vielmal mehr Größen als a +2, 
da in ihr auch b alle reellen Zahlen durchlaufen kann; deshalb um- 
faßt sie „wahrscheinlich“ alle imaginären Größen; somit auch jede 


C . . . 
von der Form ei „Demnach kann man, wie es scheint, als sicher 
s C . . . 
annehmen, daß jedes — gleich einem a +bz sei, und zwar nur auf 


eine Art“ Aus a+bz= - folgt die Gleichung 


b?+az—-c=0 und z=«+ßYy—1, 


wo « und ß reell sind; dadurch wäre der Satz über die Darstellung 
imaginärer Größen allgemein bewiesen. 

Euler wird diesen Beweis von Fuß schwerlich als vollgültig 
und überzeugend anerkannt haben; sonst hätte er wohl kaum 1783 
im zweiten Teile der „Opuscula analytiea“ p. 81 unter anderen For- 
derungen an die Forschung auch die eines strengen Beweises für 
diesen Fundamentalsatz aufgestellt. 

Mehrere andere Mathematiker versuchten sich, wie d’Alembert 
und D. de Foncenex, um das Theorem in der Weise, daß sie es 
mit dem Problem der Wurzelexistenz algebraischer Gleichungen ver- 
quickten, sich also die Aufgabe stellten, die Form der, noch nicht 
als vorhanden bewiesenen Wurzeln festzustellen. Wir können solche 
verfehlten Untersuchungen, wie die von Seb. Canterzani?) hier 
übergehen. — 

An dem Leibniz-Bernoullischen oder, wenn man will, dem 
Euler-d’Alembertschen Widerstreite der Meinungen beteiligte sich 
auch der Italiener Greg. Fontana.?) Er steht auf Eulers Seite, 
findet aber, daß Eulers Herleitung der unendlich vielen Werte von 
log (cosp + sinpyY—1) durch die Benutzung des Unendlich-Großen 
und des Unendlich-Kleinen an Übersichtlichkeit und an Überzeugungs- 
kraft verliert. Deswegen schlägt Fontana einen anderen Weg ein. 
Er beweist die entscheidenden Formeln einmal durch Integration von 


!) Act. Petrop. 1781, pars II, p. 118. 2) Mem. Soc. ital. II, 1784. 
®, Ibid. I, 1782, p. 183. 


312 Abschnitt XXI. 


Differential-Ausdrücken, dann aber auch ohne Integrierung durch Sub- 
stitution von = tangp-VY—1 in die Entwicklung 


1 
log = Matze te tet); 


dadurch gelangt er zu der gewünschten Eulerschen Formel 


gYy—1 = log (cos p + sing v1); 


die die unendlich vielen Werte des Logarithmus vermittelt. 

In aller Kürze sei noch ein Aufsatz von Fr. Mallet erwähnt"), 
der den Zwist schlichten will, aber in seinem elenden Küchenlatein 
kaum über die historische Darstellung der Meinungsverschiedenheiten 
hinauskommt. 

Einige Darlegungen von J. A. Chr. Michelsen führen uns zu 
der Logarithmenfrage zurück. Michelsen gab 1788 die Übersetzung 
der „Analysis infinitorum“ Eulers heraus und versah sie mit An- 
merkungen zweifelhaften Wertes. Die zum siebenten Kapitel gehörigen 
beschäftigen sich mit der Eulerschen Logarithmen-Theorie und be- 
kämpfen sie. Natürlich knüpft Michelsen an die Verwendung des Un- 
endlichen an. Er sagt S. 500—501: „Euler betrachtet die Formel 


logx = limn(Yx— 1) 


als allgemein gültig. Setzt man für x irgendeine negative Zahl und 
für n nach und nach immer größere positive ungerade Zahlen, so 


findet man für Yx außer den unmöglichen Werten auch allemal einen 
reellen negativen Wert, und es sollte folglich jede negative Zahl 
außer den imaginären auch einen reellen und zwar negativen Loga- 
_ rithmen haben, der mit dem Logarithmen der gleichgroßen positiven 
Zahl verglichen, größer sein würde. Ferner setze man für n nach 
und nach immer größere positive aber gerade Zahlen und lasse x 


positiv sein. Alsdann hat Yx zwei einander entgegengesetzte sonst 
gleiche Werte, und es müßte demnach logx einen doppelten, sowohl 
den Zeichen als der Größe nach verschiedenen Wert haben.“ Zu 
weiteren Angriffspunkten führt die Allgemeingültigkeit der Gleichung 


aa", wie dies ja schon bei Bernoulli und d’Alembert zu 
verzeichnen war, die ihre darauf gegründeten Einwände geometrisch 
formuliert hatten. 


Seine Ansicht ist (8. 503) die folgende: „Zu jeder Größe, 





» Nov. Act. Upsal. IV, 1784, p. 205. 


Imaginäres. 315 


sie mag nun positiv oder negativ, reell oder imaginär sein, gehört ein 
möglicher Logarithmus und nicht mehrere.“ 

Ferner sei noch erwähnt, daß Pietro Franchini in seiner 
„Teoria dell’ Analisi“ Roma 1792, I fünf Beweise für die Richtigkeit 
der Formel log(—2)=log (+ z) publiziert, freilich ohne neue Ideen bei- 
zubringen; und daß Malfatti!) eingehend untersucht, ob die Logistiea 
einen oder zwei Zweige besitze. 

Auch Kästner findet, wie so mancher vor und nach ihm, daß die 
von Euler beliebte Benutzung der höheren Analysis das Eindringen in 
die Natur der Logarithmen erschwere. Kästner erkennt an?), daß 
Hilfsmittel der höheren Mathematik notwendig seien, um „die Mannig- 
 faltigkeit der unmöglichen Logarithmen zu kennen und zu brauchen“, 
aber er meint, daß sich schon „aus den ersten gemeinen Lehren von 
den Logarithmen dartun lasse, daß jede bejahte Zahl einen möglichen 
Logarithmen hat und nur einen möglichen, und daß verneinte Zahlen 
keinen möglichen Logarithmen haben“. Der Standpunkt ist, wie man 
sieht, ein noch ziemlich beschränkter. Um den Nachweis elementar zu 
liefern, erklärt Kästner jede „bejahte“ Zahl als abgekürzten Ausdruck 
ihres Verhältnisses zur Einheit und setzt, um das anzudeuten, + a 
—(1:a). Dann wird für ganze positive m die Potenz a” — m-(1 :a), 
d. h. das Resultat des m-fachen Verhältnisses (1:a), (a:a?), 
(a"=*:a"); die gleiche Erklärung soll für gebrochene positive Expo- 


nenten m— = gelten, „da das Verhältnis (1:4) in q Teile geteilt 


wire RER von denen dann p genommen werden, um = -(1:a) 
zu geben“. So sei (1:8)=3-(1:2), also f 


51:9) (1:2) und 21:8) (1:4). 


„Das Verhältnis (1:— a) läßt sich mit keinem Verhältnis zwischen 
ein Paar bejahter Zahlen vergleichen.“ Ist bei konstantem positiven c 
und bei positivem y das Verhältnis (1:y) das x-fache des Verhält- 
nisses (1:c), also (l:y)=x-(1:c) oder ® —y, so liefert das ein loga- 


rithmisches System mit der Basis c. Ist x ein Bruch - a -, dann 


könnte y zwar einen verneinten Wert annehmen; aber diene Annahme 
würde besagen, das Verhältnis zwischen 1 und einer verneinten Zahl 
sei ein Vielfaches des Verhältnisses (1:c). „Und das findet nicht 
statt.“ Den Grund bleibt Kästner uns schuldig. Denn das soeben 


') Mem. R. Acad. Mantova, 1795. p. 3. ?) Leipz. Magaz. f. r. u. a. 
 Mathem., Stück IV, 1786, p. 531. 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. „» 21 


314 Abschnitt XXI. 


in Anführungszeichen Gesetzte ist doch sicher kein Grund für diese 
Behauptung. 

Paolo Frisi hatte in seiner Algebra!) eine Unterscheidung 
zwischen der reellen und der 
imaginären Null gemacht und 
die Behauptung aufgestellt, es 
sei nicht 0:Y—1= 0; denn 
daraus würde die unrichtige 
Proportion folgen 

1:V—-1=0:0. 
Er meint, die imaginäre Null 
zeige eine reelle Größe an. 

Fig. 5. Diesen vermeinten Unter- 

schied hatte G. Riccati?) durch 
geometrische Gründe zu stützen versucht. Es sei HD@G...JbE. .. eine 
Konchoide; AB=FE=AD=FG=::-=a; 0A=c und c>a. 
Dann bestehe zwischen den Koordinaten x, y jedes Kurvenpunktes 
e-wVe—y 
. 
ya. VILLE: 


C 











E=(«|y) die Gleichung « = 





Für y=c ergebe das 





Aber für y=c existiere nach der Definition der Kurve kein Kurven- 
punkt; demnach könne & nicht gleich Null sein. 

F. Th. Schubert?) weist diesen Einwurf ganz richtig zurück: 
Der Punkt C besteht tatsächlich als isolierter Kurvenpunkt, als 
„punetum conjugatum“. 

Ohne Kenntnis von dem Aufsatze Schuberts zu haben, auf den 
er sonst hingewiesen hätte, tut Greg. Fontana das Gleiche.*) Dabei 
wendet er sich polemisierend gegen die soeben besprochenen Aus- 


führungen Frisis: Wäre 0.Y—1 von 0 verschieden und etwa = 4 


+bYV-—1, wo a, b reelle Größen bedeuten, so würde daraus das 
offenbar unrichtige Resultat Y—_1= — z folgen; die von Frisi be- 


anstandete Proportion 1:Y—1=0:0 weise wegen der Unbestimmt- 
heit der rechten Seite gar nichts Widersinniges auf. : 
Franc. Pezzi°) sucht die Frage zu beantworten, warum Euler 


in seinen Formeln stets die Gestaltung cosp + sinp-V—1 statt der 
ebenso naheliegenden und scheinbar ebenso berechtigten 





!, Mailand 1782. 2) Memorie mat. fis. Soc. Ital. IV, 1788, p. 116. 
s) Nov. Act. Petrop. VIII, 1790, p. 171. 4) Memorie mat. fis. Soc. Ital. 1799, 
VIH, p. 174. 5, Ibid. 1790, V. 


sn, 


Imaginäres. 315 


sing + cosp-Y—1 


genommen habe. Er kommt zu dem Schlusse, dies sei erfolgt, weil 
die Darstellung der Potenzen des Ausdrucks bei der ersteren Form 
einem einfacheren Gesetze unterworfen sei, als bei der zweiten. 

B. Fr. Thibaut!) gibt in einer historischen Arbeit eine kurze, 
gedrängte Übersicht über die wichtigsten Phasen der Entwicklung der 
Lehre von den imaginären Größen. Er fügt einige kritische Be- 
merkungen an, mit denen er sich in dieser Frage ganz auf die Seite 
von L. Euler stellt. 

Wir nahen uns dem Schlusse; haben aber zunächst eine historische 
Bemerkung zu machen, die sich auf die Bezeichnung der imaginären 
Einheit bezieht. Im vorhergehenden haben wir diese, dem Gebrauche 


der damaligen Zeit entsprechend, mit Y— 1 bezeichnet; das jetzt 
meist übliche „“ hatte noch kein Bürgerrecht erlangt. Von wem 
stammt die Einführung dieses „2“? Wohl von Euler! Im vierten 
Bande der zweiten Auflage der Eulerschen „Institutiones Calculi 
integralis“?) findet sich als viertes „Supplementum“ erstmalig ge- 
druckt eine Abhandlung des Verfassers „De integratione formularum 
angulos sinusve angulorum implicantium“ und als ihre erste Nummer: 
„L- De formulis differentialibus...M.S. Academiae exhibit. die 5 Maii 
1777“. Darin heißt es: Pyoßleine 1: ‚Proposita formula diffe- 
0peosp 
Veosng 
investigare. Solutio: Quoniam mihi quidem alia adhuc via non 
patet istud praestandi, nisi per imaginaria procedendo, formulam 





rentiali ,‚ ejus integrale per logarithmos et arcus circulares 


V-1 littera ö in posteriorem designabo, ita ut it ö@=-—1, 


1 
ideoque — — — i.” Auf einen ‚früheren Gebrauch des Zeichens i sind 


a nee ur 
Te nen ae ee 


wir nirgends gestoßen. 

Den Schluß unserer Darlegungen liefert eine Abhandlung von 
großer Bedeutung, der wir das Motto geben möchten: „habent sua 
fata libelli“. Sie eilte ihrer Zeit voraus; sie blieb unbeachtet; sie 
wurde nach 100 Jahren der Vergessenheit entrissen und anerkannt. 
‚Die Abhandlung trägt den Titel: „Om direktionens analytiske Beteg- 
ning“; ihr Autor ist Caspar Wessel.) Zunächst heben wir aus 
einer Besprechung seitens des Herrn Valentiner einleitend folgendes 
heraus.®) 








!) Dissertat. inaugur. Gotting. 1797. ?) Petropol. 1792—1794, 4 vol. 4°, 
(während die erste Auflage nur 3 Volumina aufweist). ®) Danske Selsk. Skr. 
N. Samml. V, 1799. *) Jahrb. Fortschr. Math. 23 (1897), p. 499. 

i 21* 


316 Abschnitt XXI. 


Diese Abhandlung, welche vermutlich die älteste ist, die eine 
vollständige Theorie der imaginären Zahlen enthält, wurde am 10. März 
1797 der Kgl. Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen vorge- 
legt. Der Verfasser, 1745 in Norwegen geboren, kam 1763 nach 
Dänemark, wo er später sein ganzes Leben als Feldmesser verbrachte. 
Er starb 1818. In seinem Berufe war er sehr geschätzt; einen großen 
Teil der Triangulation und der genauen Aufnahme des Königreichs 
hat er besorgt. Im Jahre 1815 wurde er Ritter des Danebrog; dies 
wird nur deshalb angeführt, weil es sicher damals für einen Feld- 
messer eine außergewöhnliche Ehrenbeweisung gewesen ist. Von 
seinen Fähigkeiten als Mathematiker haben wir gar keine Nach- 
richten. Die Tradition schweigt ganz davon. Nichtsdestoweniger 
ist das in Rede stehende Werk eine sehr bemerkenswerte Leistung. 

Mit den eigenen Worten des Verfassers werde der Zweck des 
Werkes angegeben. Er sagt: 

Diese Abhandlung hat zum Gegenstande die Frage, wie kann 
die Richtung analytisch dargestellt werden, das heißt, wie kann man 
die Abschnitte von Geraden darstellen, wenn man mittels einer ein- 
zigen Gleichung zwischen einer unbekannten Strecke und anderen be- 
kannten Strecken einen Ausdruck finden wollte, welcher auf einmal 
die Länge und die Richtung der unbekannten Strecke darstellt. 

Weiter sagt er: Was mir die Veranlassung gegeben hat, diese 
Abhandlung zu schreiben, ist, daß ich eine Methode suchte, welche 
mir erlaubte, die unmöglichen Rechnungen zu vermeiden. Nachdem 
ich sie gefunden habe, habe ich sie dazu verwendet, mich der allge- 
meinen Gültigkeit einiger wohlbekannten Formeln zu versichern. 

— Soweit Valentiner. — 

Wessel geht von geometrischen Betrachtungen aus und definiert 
die Addition zweier Strecken folgendermaßen: „man läßt die eine 
von dem Punkte ausgehen, in dem die andere endet; dann verbindet 
man durch eine neue Strecke die beiden Endpunkte der so erhaltenen 
gebrochenen Linie; die neue Strecke heißt dann die Summe der 
beiden gegebenen“ ($ 1). „Das Produkt zweier Strecken muß in 
jeder Hinsicht aus dem einen Faktor in der gleichen Weise gebildet 
werden, wie der andere Faktor aus der positiv oder absolut genom- 
menen Einheitsstrecke gebildet ist“ ($ 4). Dabei ist es notwendig, 
daß die Faktoren solche Richtungen haben, die mit der Einheits- 
strecke in einer Ebene liegen, und die Worte „in jeder Hinsicht“ be- 
ziehen sich auf die Länge sowie auf die Richtung des Produktes. 
„Durch + 1 wird die geradlinige positive Einheitsstrecke bezeichnet, 
durch & eine andere, auf der ersten senkrechte, mit gleichem An- 
fangspunkte“ ($ 5). Aus der Definition der Multiplikation folgt so- 


Imaginäres. / 317 


fort &=YV— 1. Es werden dann Strecken a + sb eingeführt und 
mit ihnen die Operationen der Addition, der Multiplikation, der Po- 
tenzierung und der Radizierung vorgenommen. Als Anwendung 
wird der Beweis des Satzes von Öotes gegeben (Bd. III”, S. 410—411) 
und die Bestimmung aller Elemente eines Polygons geliefert, von 
dem die nötige Anzahl von Bestimmungsstücken bekannt ist. 

Um zu einer analytischen Bestimmung der Lage von Punkten 
im drei-dimensionalen Raume zu gelangen, nimmt Wessel zu den 
beiden Einheitsstreecken +1 und +. eine dritte mit gleichem An- 
fangspunkte, auf 1 und z senkrecht stehende + an, für die auch 
7=—1 ist, und gibt die Form «+ ny-+ sz als allgemeinen Aus- 
druck einer „Geraden“, d. h. eines Strahles vom Anfangspunkte bis 
zum Punkte mit den Koordinaten x, y, z. Das Hauptproblem besteht 
in. der analytischen Bestimmung der Rotation. Wessel zerlegt eine 
beliebige Rotation in zwei, deren eine die n-Achse, die andere die 
&-Achse zur festen Drehungs-Achse hat. Soll sich «+ ny-+ ez) um 
die n-Achse durch einen Winkel « drehen, so drückt er dies durch 
die Bezeichnung 

(2 +ny + 82) » (cosa + esina) 

aus, und ähnlich die Drehung um die g-Achse durch den Winkel b 
durch die Bezeichnung (« +ny-+ &2)  (cosb + nsinb). Es ist, wie 
Wessel zeigt, 


Ser (cosa + esina) = (zcosa — zsin a) 
+ny+ e(2sina + 2cosa); 
(2 +ny+ 82)" (cosb + nsinb) = (#cosb — ysin b) 
+ n(@sindb + ycosb) + ez; 
(2 +ny + 82) » (cosa + esina) » (cosc + esine) 
= (2 +ny+ e2)»(cos[a +c] +esin[a + e]). 


Auf die kurz gefaßte T'heorie der Drehungen um die Achsen der 

n und & folgt als Anwendung die Behandlung der sphärischen Polygone, 

die im wesentlichen auf eine sphärische Trigonometrie hinausläuft. T.-N. 

‚Thiele, einer der beiden Herausgeber der ins Französische übersetzten 
Abhandlang'), macht auf den merkwürdigen Umstand aufmerksam, 

daß Wessel bei seinen Untersuchungen nicht auf die Gleichungen 
von Gauß oder Delambre gestoßen sei, denen er doch so nahe war. 

Ebenso bedauert Thiele, daß der Verfasser die Behandlung der 

Drehung um die reelle Achse unterlassen hat; dieser eine Schritt hätte 

ihn ohne Zweifel zur Entdeckung der Quaternionen geführt. Wenngleich 


') Essai sur la representation analytique de la direction par ©. Wessel 
avec preface de H. Valentiner et T. N. Thiele. Copenhague 1897. 


318 Abschnitt XXI. Imaginäres. 


der Gedanke Wessels also nicht vollkommen von ihm selbst ausge- 
schöpft erscheint, so genügt doch der Inhalt der Arbeit, um die Prio- 
rität der Darstellung komplexer Größen Argand zu entziehen und 
Wessel zuzuerkennen. Argand, der 1806 seinen „Essai sur une 
maniere de representer des quantites imaginaires“ veröffentlichte, hat 
zweifellos von der Idee des dänischen Mathematikers nichts gewußt — 
wie die ganze damalige wissenschaftliche Welt nichts mehr von ihr 
wußte; auch der „Essai“ Argands wurde vergessen, hatte aber den 
„Direktionens analytiske Betegning“ gegenüber das Glück, früher!) 
wieder entdeckt zu werden; so konnte Argand langezeit für den Ent- 
decker gelten. 





!) Annales de Gergonne 1813. 


ABSCHNITT XXI 


ELEMENTARE GEOMETRIE 


VON 


V. BOBYNIN 





Lehrbücher der Elementargeometrie. 


Ihre schon längst begonnene sowohl quantitative als auch qualitative 
Entwicklung fortsetzend, bereicherte sich im Laufe der zu betrach- 
tenden 40 Jahre die lehrende elementargeometrische Literatur mit 
einer sehr ansehnlichen Anzahl neuer Errungenschaften. Infolge des 
unvollständigen bibliographischen Materials, das uns zu Gebote stand, 
sind die deshalb zum Teil verminderten und nur annähernd richtigen 
Ziffern, die die oben erwähnte Anzahl ausdrücken, folgende: 55 Ge- 
samtlehrbücher, welche neben den Teilen, welche allen oder auch 
einigen Abteilungen der elementaren Mathematik gewidmet sind, auch 
Teile, die ausschließlich die elementare Geometrie betrachten, ent- 
halten, 35 spezielle elementargeometrische Lehrbücher, 35 Über- 
setzungen der Elemente des Euklid und 10 Übersetzungen der Werke, 
die im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen sınd. 
Folgende Tabelle stellt die Verteilung dieser Ziffern in den Haupt- 
ländern Europas dar: 

















Lehrbücher ‚ Übersetzungen der 
Eee eoBen | der Euklids | Schriften der 

FREE | Elementar- Elemente |1.Hälfted. 2.Hälfted. 

| geometrie '18.Jahrh. | 18. Jahrh. 

| a ee | 
Deutschland....... | 24 | 10 13 1, 1 
BR 2, | 1 | 3 8 | — = 
PranktMich ........ 13 | 4 3 — — 
A RESENRNFERE 5 | 3 2 | 1 1 
Niederlande....... 2 | 9 3 | 2 _ 
nn RE 8 | — 1 | 2 3 
Rußland ..........| 2 | 6 2 | 3 6 
Schweden......... | — | = 3 | 2 _ 





Einige der hier angegebenen Bücher sind mehrmals verlegt worden. 
Zur Ergänzung und Erklärung dieser Tabelle ist folgendes zu be- 
merken. Werke der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, deren Über- 
setzungen in der Tabelle angegeben sind, waren folgende: Christian 
Wolffs Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften (Halle 
1710) waren ins Holländische, Polnische, Russische und Schwedische 
übersetzt. Clairaut, Elements de geometrie (Paris 1741) waren ins 
Schwedische, Holländische und Polnische übersetzt. Georg Wolf- 


322 Abschnitt XXIL 


gang Krafft, Kurtze Einleitung zur theoretischen Geometrie, zum 
Gebrauche der studirenden Jugend in dem Gymnasio bey der Aca- 
demie der Wissenschaften in St. Petersburg (1740). Weidlers In- 
stitutiones mathematicae (Wittenberg 1718). Diese beiden Werke 
waren nur ins Russische übersetzt. Das letzte Werk, ebenso auch 
das obengenannte Buch Wolffs sind mehrmals auch bei sich in 
Deutschland verlegt worden. Zu den Übersetzungen des Werkes 
Wolffs in der Tabelle ist auch die 2. italienische Auflage des 
Buches Christiani Wolfii!) Elementa Matheseos universae®) mit 
eingerechnet. Als Werke, die in einiger Beziehung zu den Elementen 
des Euklid stehen, obwohl sie in die Tabelle nicht eingeführt sind, 
sind folgende anzugeben: in England R. Simson, The Elements of 
Euelid. Notes eritical and geometrical (Glasgow 1762 und 1781) 
und The philosophical and mathematical Commentaries of Proclus, 
surnamed Plato’s Successor, on the I Book of Euclids Elements 
and his life by Marinus etc. (London 1788); in Deutschland Euclid’s 
Data verbessert und vermehrt von R. Simson, übersetzt von Ch. 
Schwab (Stuttgart 1780, 8%). In England, Deutschland und Frank- 
‘reich beansprucht die vollständige Abwesenheit der übersetzten Werke 
aus anderen Sprachen besondere Beachtung. In Frankreich und Eng- 
land war nicht eine einzige Übersetzung vorhanden. In Deutschland 
nur eine, nämlich die Übersetzung aus dem Holländischen des Werkes 
von Swinden, Anfangsgründe der Meßkunde Die größte Zahl der 
Übersetzungen erschien in den am wenigsten zivilisierten Ländern, 
nämlich in Rußland, und schon in geringerem Maße in Polen. In 
diesen beiden Ländern trifft der Forscher wohl fast zum erstenmal 
Übersetzungen an, die nicht nach gedruckten Ausgaben, sondern nach 
Handschriften angefertigt sind. Als derartige Übersetzungen sind an- 
zugeben: in Rußland Eulers Geometrie?) und das bereits oben an- 
geführte Werk Kraffts und in Polen „Geometrie“ von Lhuilier*). 

Die wichtigste der Angaben, die die angeführte Tabelle dem 
Forscher liefern, ist diejenige, welche die Beziehung der „Elemente“ 
des Euklid zu dem Fache des Unterrichts der Geometrie in den 
verschiedenen Ländern Europas bezeichnet. Aus dieser Tabelle ist 
ersichtlich, daß die „Elemente“ des Euklid ihre uralte Stellung, als 
\ der einzigen Lehrbücher der Elementargeometrie, nur in England ın der 


t) Diese Vorlesungen III”, S. 529— 531. ®) Editio secunda veronensis. 
Veronae 1788—98, vol. 5; 4°. ®) Leonh. Eulers Geometrie, zum Gebrauche 
in dem Gymnasio bei der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. Aus 
dem Lateinischen. 1765. *#, Geometrie für die Volksschulen. 1. Teil. 
Warschau 1780. 2. Teil. Krakau 1781. 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 325 


zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts behalten haben. Ungeachtet 
dessen, daß Deutschland nach der Anzahl der Ausgaben der Werke 
des Euklid alle anderen Länder übertrifft, kann dennoch von dem 
vorherrschenden, geschweige dem ausschließlichen Gebrauch beim 
Unterricht der Elementargeometrie keine Rede sein. Das bezeugen 
uns mit voller Deutlichkeit die noch viel bedeutenderen Zahlen der 
Lehrbücher, die von einheimischen Autoren verfaßt und verlegt worden 
sind. Was Frankreich anbetrifft, kann der direkte Gebrauch der 
„Elemente“ des Euklid beim Unterricht der Elementargeometrie jetzt 
als vollständig aufgehoben betrachtet werden. Die übrigen Haupt- 
länder Europas endlich nehmen Mittelstellungen zwischen Deutschland 
und Frankreich ein, dennoch näher an Frankreich stehend. Auf diese 
Weise erreichte das Bestreben, die „Elemente“ des Euklid beim 
Unterricht der Elementargeometrie durch zweckentsprechendere Lehr- 
bücher zu ersetzen, was der Philosoph Ramus als erster aus- 
gesprochen und im Laufe der Zeit sich immer verstärkt hatte, in der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutende Resultate. Zur selben Zeit 
macht auch das Verständnis der Ursachen des obengenannten Be- 
strebens Fortschritte, obgleich in geringerem Maße. Da die haupt- 
sächlichsten dieser Gründe sehr tief im Wesen der Sache selbst liegen, 
war das Verständnis derselben in der zu betrachtenden Zeit noch 
nicht erreicht. Man hatte bloß Zeit, diejenigen ihrer Folgen kennen 
zu lernen, die ohne tiefe und umfassende historische Kenntnisse dem 
unmittelbaren Beobachter zugänglich waren. 

In demjenigen Lande, wo die zu betrachtende Strömung sich am 
meisten kundgegeben hat, und deshalb beinahe ihr Ziel voll erreicht 
ist, nämlich in Frankreich begegnet der Forscher der Angabe dieser 


Na 


oder jener Ursache bei vielen Schriftstellern. Nach den Worten % 


d’Alemberts') sind die Beweise des Euklid, ungeachtet ihrer Ge- 
nauigkeit, dem Verständnis so schwer zugänglich, daß es vielen be- 
rühmten Mathematikern nicht gelungen ist, ihrer vollständig Herr zu 
werden. Bouillau z. B. gestand offen, daß er sie niemals gut ver- 
stand, und der noch berühmtere Vieta verdächtigte ihn des Para- 
logismus, was nur aus mangelhaftem Verständnis zu erklären ist. Im 
Diseours preliminaire zu derselben Ausgabe?) sagt Bossut, daß viele, 
vollkommen die Vorzüge des prachtvollen Werkes des Euklid an- 
erkennend, ihm doch Vorwürfe machen wegen zu großer Anzahl von 
Bestimmungen und scholastischen Einteilungen, wegen zu strenger 
und verfeinerter Beweisführung von Wahrheiten, die schon an und 


') Encyclopedie methodique. Mathömatiques, Tome II, p. 129. *) Ebenda, 
Tome I, p. IX. 


324 Abschnitt XXII. 


für sich vollkommen klar sind. Man ist geneigt, anzunehmen, be- 
merkt er weiterhin, daß es den spitzfindigen und kleinlichen Methoden 
griechischer Sophisten gelungen ist, auch in die exakten Wissen- 
schaften einzudringen. Später, in seiner Histoire generale des mathe- 
matiques'), die den erweiterten und ergänzten Discours darstellt, 
spricht derselbe Autor vom Charakter und den Eigenschaften der Be- 
weise des Euklid. Letztere verursachen nach seinen Worten An- 
/ fängern große Schwierigkeiten, weil sie indirekt, nicht selten lang 
‚ und verwickelt sind. Gerade diese Eigenschaften zwangen viele ae 
) neuesten Gelehrten bei der Herausgabe der „Elemente“ des Euklid 
| leichtere und einfachere Beweise anzuführen. Andere jedoch 
fanden es am nützlichsten, in ihren eigenen Aufsätzen sich ganz und 
gar von der Methode des Euklid zu entfernen. Die bedeutendsten 
aus der Zahl der ersten, die Bossut beim Namen nicht anführt, waren 
selbstverständlich in England: Robert Simson mit seinem Werk 
The Elements of Euclid. Notes critical and geometrical?) und 
James Williamson mit seiner Ausgabe The Elements of Euelid, 
with dissertations®) und in Deutschland Lorenz mit seiner vollen 
Ausgabe der „Elemente“ des Euklid*) und der teilweisen: der sechs 
ersten Bücher°), des elften und zwölften®), und der ersten acht Bücher 
mit dem elften und zwölften‘). Montuela, dieser überzeugte An- 
hänger der „Elemente“ des Euklid, verweilt besonders in der ihnen 
geweihten Apologie bei der Unzufriedenheit vieler Geometer über die 
Verteilung des Gegenstandes®). Die Verteidigerrolle, die Montucla 
in bezug auf die „Elemente“ des Euklid auf sich genommen hatte, 
verhinderte ihn jedoch nicht, am Ende seiner Apologie den Nutzen 
der Werke, die von den neuesten Autoren als Ersatz derselben verfaßt 
"worden sind, anzuerkennen. Sich der Meinung der Gelehrten, daß 
die Erlernung der Geometrie nach den „Elementen“ des Euklid für 
Anfänger sehr schwierig sei, anschließend, findet er es für nötig, die 
Geometrie für Anfänger zugänglicher zu machen, hauptsächlich den- 

_ jenigen, die nicht beabsichtigen, Geometer von Fach zu werden. 
Von den Geometern der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, die be- 
sonders scharf ihre Unzufriedenheit über die Verteilung des Materials 
in den Elementen aussprachen, genügt es auf Lacroix hinzuweisen, 
welcher in seinem Werk „Essais sur l’enseignement“ diese Verteilung 
als unordentlich kennzeichnet. Als Beispiel nimmt er übrigens nur 


') Hist. gen. d. math., Tome I, p. 29. ?) Glasgow 1762, 1781 usw., 
8 Auflagen, 8°. ») Oxford 1781—90; 2. vol. 4°. *, In 15 Büchern, Halle 
1781; 2. Aufl. 1798, 8°, 5) Halle 1773. 6%) Halle 1781, 8°. ‘) Halle 


1798, 8°. ®, Histoire des math&matiques I, p. 218—222. 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 325 


eines, dafür jedoch besonders wichtiges, nämlich Euklids Folgerung 
des Grundsatzes der Theorie der proportionalen Linien aus der Ver- 
gleichung der Flächen der Dreiecke. 

Womit Laeroix in unmittelbare Berührung kam, und was ihn 
dabei besonders unangenehm berührte, waren die durch die „Elemente“ 
des Euklid und durch ihre seit Jahrhunderten erworbene Autorität 
in der Wissenschaft und im Unterricht hervorgerufenen Schwierig- 
keiten für die neueren Autoren der Elemente der Geometrie. Diese 
Schwierigkeiten sieht er erstens in der Konkurrenz mit den Werken 
des Euklid, welche immer sehr gefährlich für die neuesten Autoren 
ist, ungeachtet jeden Beweises ihrerseits zugunsten des gewählten 
Planes; zweitens in der Notwendigkeit, nach dem Beispiel des Euklid 
und überhaupt der griechischen Geometer sich der synthetischen 
Methode zu bedienen auf einem Gebiete, wo alle anderen Teile sich 
der analytischen bedienen, wodurch sie dem Lernenden zugänglicher 
und geläufiger werden; und drittens in der drohenden Möglichkeit, zu 
jeder Zeit Vorwürfe sowohl von den Anhängern als auch den Gegnern 
des Euklid zu erhalten. Von ersteren für die Unzulänglichkeit in 
der Strenge der Beweise, die von den Alten festgesetzt sind, und 
von letzteren für die Unterwerfung dieser Forderung, welche klein- 
liche, nur den Verstand verwirrende Formen verursachen, als auch für 
die Beseitigung der analytischen Prozesse, welche die Methode der 
Erfindung darstellen. 

Das kritische Verhalten zu den „Elementen“ des Euklid, welches 
sich in den Kreisen der Mathematiker festgestellt hatte, und welches 
eine große Anzahl Arbeiten, die der Erörterung der Elemente der 
Geometrie gewidmet sind, hervorgerufen hatte, mußte vor jeden philo- 
sophischen Denker die Frage stellen, was eigentlich die Elemente der | 
Geometrie seien. Woraus soll sich ihr Inhalt bilden? Die Aufsätze 
d’Alemberts in der Encycelopedie me&thodique!) waren in der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wohl nahezu die bedeutendsten 
Versuche, diese Frage zu lösen. 

D’Alembert unterscheidet in jeder Wissenschaft, darunter auch 
in der Geometrie, zwei Arten von Elementen. Wenn man in einer 
Wissenschaft alle Sätze oder Wahrheiten, welche die Grundlage zu 
allen anderen bilden, absondert, und sie in ein Ganzes vereinigt, er- 
hält man die Elemente der ersten Art. Sie bilden sozusagen den 
Keim, aus welchem alle Teile samt ihren Details entwickelt werden 
können, was daraus folgt, daß sie alle allgemeinen Wahrheiten und 


1) Elömens des sciences. Mathematiques, Tome I, p. 617—625. Des ele- 
mens de Geometrie. Ebenda, Tome II, p. 133—136. 


ei 


326 Abschnitt XXI. if 


Sätze, welche die Elemente bilden, wenn auch nicht augenscheinlich, 
alle anderen Wahrheiten enthalten. Daraus folgt also, daß in ihren 
Elementen erster Art jede Wissenschaft in ihrem vollen Umfang ent- 
halten ist. In der Geometrie würden nicht nur diejenigen Sätze 
solche Elemente sein, die die Prinzipien der Ausmessung und der 
Eigenschaften der ebenen Figuren enthalten, sondern auch diejenigen, 
die die Prinzipien der Anwendung der Algebra auf Geometrie und 
der Differential- und Integralrechnung bei krummen Linien ent- 
halten. 

Wahrheiten oder Sätze, die die Wissenschaft bilden, können auch 
von einem anderen Standpunkt aus betrachtet werden. Einige von 
ihnen können in sich selbst oder auch in ihren Folgerungen den 
Gegenstand auf die einfachste Art betrachten. Die Gesamtheit solcher 
Wahrheiten oder Sätze samt ihren genau angeführten Folgerungen 
stellen die Klemente der zweiten Art dar, zwar allgemein gebräuch- 
licher, jedoch vom Standpunkt der Philosophie aus den Elementen 
der ersten Art viel nachstehend. Dieselben stellen folglich die’ de- 
—tailliertere Betrachtung der einfachsten Teile des Gegenstandes dar. 
In der Literatur der Geometrie bilden sie die Elemente der gewöhn- 
lichen Geometrie, welche nichts weiter betrachtet, als die Eigen- 
schaften der ebenen Figuren und des Kreises, und deshalb, wenn auch 
mit allen Einzelheiten, dennoch den einfachsten Teil des Gegenstandes 
enthalten. 

Weiterhin die einzelnen Stadien der Entwicklung jeder Wissen- 
schaft betrachtend, dargestellt erstens durch die Anhäufung neuer 
Kenntnisse, und zweitens der sie ablösenden Systematisierung dieser 
Kenntnisse, erklärt d’Alembert das Unzureichende der Traktate, die 
die ersten Versuche genannter Systematisierung darstellen, damit, 
daß die Autoren gewöhnlich nicht zu den Erfindern und Erschaffern 
der Wissenschaften gehören. Jeder Traktat einer Wissenschaft, ob 
voll oder bloß ihre Elemente darstellend, muß nach seiner Meinung 
derjenigen Richtung folgen, nach der nr ee Bu da einzig 
nur diese Richtung als fähig erklärt werden kann, den Zusammen- 
hang der Wahrheiten oder Sätze der Wissenschaft in ihrem natür- 
lichen Zustand darzustellen. D’Alembert vergißt dabei nicht, auch 
auf diejenigen Fälle hinzuweisen, in denen der Erfinder selbst nicht 
imstande erscheint, den schon durchgegangenen Weg wieder einzu- 
schlagen, was jedesmal geschieht, wenn er während seiner Forschungen 
sich einer gewissen Art Instinkt überläßt, anstatt der Spekulation?). 
Nach weiteren vier Seiten?) kehrt d’Alembert zu dem gleichen 





1) Flömens des sciences, p. 618—619. *) Ebenda, p. 622—623. 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 327 


Gegenstand zurück: Nachdem er die Frage stellt, ob es ratsam ist, 
sich beim Auslegen der Elemente der Reihenfolge, an welche sich 
die Erfinder hielten, anzuschließen, spricht er folgende Gedanken aus: 
Zweifellos ist diese Reihenfolge überhaupt die vorteilhafteste, als die 
am meisten dem Gedankengang entsprechende. Die Vernunft lehrend, 
klärt sie auf, weist den Weg, welcher weiter zu verfolgen ist, und 
gibt die Möglichkeit, auf diesem Wege jeden folgenden Schritt vorauszu- 
sehen. Diese Reihenfolge ist es nämlich, die als analytische 
Methode bezeichnet wird, die von zusammengesetzten zu abstrakten 
Ideen führt, aufsteigend von bewußten Schlußfolgerungen zu un- 
bewußten Prinzipien, und die Entwicklung der letzten durch die Ver- 
allgemeinerungen der ersten erreicht, 

Für die Elemente der Geometrie schlägt d’Alembert fol- 
genden Plan vor. Indem er ihre gewöhnliche Teilung in Longi- 
metrie, Planimetrie und Stereometrie als nicht zutreffend er-| 
klärt, weil sie neben der Betrachtung der geraden Linien und 
der Ebene die Betrachtung der Kreislinie und der sphärischen 
Figuren vergißt, teilt er sie in die Geometrie der geraden Linien 
und der Kreislinie, Geometrie der Flächen und Geometrie der 
Körper. Der erste dieser drei Teile zerfällt in zwei Abteilungen. 
In deren erster werden die Linien ihrer Lage nach betrachtet, und in 
der zweiten ihre Beziehungen zueinander. Ungeachtet dessen, dab 
die gerade Linie unvergleichlich einfacher ist, als die Kreislinie, 
müssen beide in den Elementen dennoch zusammen betrachtet werden, 
und nicht jede besonders, da die Eigenschaften der Kreislinie ungemein 
nützlich sind beim Beweise dessen, was zur Vergleichung der geraden 
. Linien ihrer Lage nach dient. Der Satz von der Ausmessung des 
Winkels mittels des Kreisbogens, beschrieben aus seinem Scheitel 
als Zentrum, und das Prinzip der Kongruenz bilden zusammen- 
genommen die Basis des ganzen ersten Teils der Geometrie der 
Linien in den Elementen, da mit ihrer Hilfe alle ihre Sätze bewiesen 
werden können. Die Erörterung dieses ersten Teiles abschließend, 
muß der Verfasser zur Auslegung des zweiten Teiles übergehen, als 
dessen Grundsatz, nach d’Alemberts Meinung, das Theorem von der 
Teilung der Seiten des Dreiecks in proportionale Teile durch eine 
seiner Basis parallele Linie dient. Um dieses Theorem zu beweisen, 
genügt es zu zeigen, daß wenn die erwähnte Parallele durch die 
Mitte einer der beiden Seiten des Dreicks geht, sie auch durch die 
Mitte der anderen geht, weil danach leicht zu beweisen sein wird, 
daß im Falle der Kommensurabilität des Abschnittes mit der ganzen 
Seite die erhaltenen Abschnitte proportional sind. Was den entgegen- 
gesetzten Fall anbetrifft, bleibt nur übrig, mittels der apagogischen 


328 Abschnitt XXI. 


Methode zu beweisen, daß das eine von den betrachteten Verhält- 
' nissen weder kleiner noch größer sein kann als das andere, es ihm 
folglich gleich sein muß. Die apagogische Methode sowohl in diesem 
als auch in den meisten anderen Fällen, wo es sich um inkommen- 
surabele Größen handelt, wird an Stelle der direkten Beweise, welche 
hier nicht anwendbar sind, aus folgenden Gründen gebraucht. In 
den Begriff der inkommensurabelen Größen gehört, wenn auch nicht 
augenscheinlich, auch die Idee der Unendlichkeit, welche sich uns 
immer als negativer Begriff der Endlichkeit darstellt, was auch als 
natürliche Folge hat, daß alles, was die mathematische Unendlichkeit 
anbetrifft, unmöglich direkt und a priori zu beweisen ist. In voll- 
kommener Anerkennung der Schwierigkeiten, welche die inkommen- 
surabelen Größen Anfängern verursachen, gibt d’Alembert den Rat, 
sie wegen ihrer Wichtigkeit in der Geometrie und besonders in der 
Theorie der Proportionen der Linien lieber früher als später in die 
Elemente einzuführen. Dabei ist es unmöglich, ohne den einzigen Satz 
auszukommen, den die Theorie der inkommensurabelen Größen ver- 
langt und der die Grenzen der Größen behandelt. Dieser Satz lautet 
' folgendermaßen: Größen, welche die Grenzen einer und derselben 
Größe bilden, oder Größen, welche eine und dieselbe Grenze haben, 
sind einander gleich. 

Die Geometrie der Flächen behandelt, nach d’Alemberts An- 
sicht, ihre Ausmessung, ebenso wie die Geometrie der Körper die 
Ausmessung des Rauminhalts behandelt. Als Grundprinzip ‚beim 
Ausmessen der ersten dient das Prinzip der Ausmessung des Recht- 
ecks, und in der zweiten das Prinzip der Ausmessung des recht- 
winkligen Parallelepipedons. Die Schwierigkeit, die wir in der Geo- - 
metrie der Körper antreffen und der keine in der Geometrie der‘ 
Flächen entspricht, liegt in dem Satze von dem Inhalte der Pyramide, 
der den dritten Teil des Inhalts eines Parallelepipedons darstellt, 
welches mit der Pyramide gleiche Grundfläche und Höhe hat. Um 
diesen Satz zu beweisen, ist es notwendig, zuerst den Satz von der 
Volumengleichheit der Pyramiden, die gleiche Grundfläche und Höhe 
haben, zu beweisen, was leicht zu bewerkstelligen ist mittels der 
Exhaustionsmethode. Der gleichen Methode oder der Methode 
der Grenzen muß man sich in der Geometrie der Flächen bedienen, 
beim Messen des Flächeninhalts des Kreises und in der Geometrie 
der Körper beim Berechnen der Oberfläche und des Inhalts der Kugel. 
Zu diesem Zweck muß man z. B. im ersten Fall zeigen, daß die 
Grenze des Flächeninhalts beim eingeschriebenen oder umgeschriebenen 
Vieleck das Produkt des Umfanges in die Hälfte des Radius ist, und 
danach, weil augenscheinlich die Fläche des Kreises als dieselbe 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 329 


Grenze erscheint, endgültig daraus schließen, daß die Fläche des 
Kreises das Produkt des Umfanges mit dem halben Radius ist, oder 
des Radius mit dem halben Umfang. 

Von der Methode der Grenzen spricht d’Alembert auch in 
den Abhandlungen Differentiel') und Limite?). In der zweiten Ab- 
handlung, deren Hauptteil dem Abbe de la Chapelle?) gehört, be- 
müht sich d’Alembert, dessen Definition der Grenzen klarer und 
strenger zu machen. De la Chapelle gab folgende Definition: Eine 
Größe ist dann die Grenze einer anderen Größe, wenn die zweite/ 
der ersten näher als jede gegebene Größe kommen kann, wie klein | 
der Abstand auch vorausgesetzt würde, dabei aber auf solche Weise, 
daß die sich annähernde Größe niemals diejenige übertreffe, der sie‘ 
sich nähert; die Differenz zwischen einer solchen Größe und der, 
Grenze erscheint auf diese Weise absolut undefinierbar. D’Alembert \ 
ergänzt diese Definition dahin, daß die Grenze niemals zusammen- | 
fällt, oder niemals gleich wird mit derjenigen Größe, als deren 
Grenze sie erscheint; daß sie jedoch, sich ihr immer mehr nähernd, 
sich von ihr so wenig als nur möglich unterscheiden kann. Der 
' Kreis z. B. ist die Grenze der eingeschriebenen und umschriebenen 
Vielecke, weil er niemals mit ihnen zusammenfällt, obgleich dieselben 
sich ihm bis zur Unendlichkeit nähern können. Danach, um an 
einem Beispiel die Bedeutung dieser Bemerkung zur Beleuchtung 
einiger mathematischen Sätze zu zeigen, verweilt er bei der Unter- 
suchung des Ausdruckes der Summe der unendlich abnehmenden geo- 
metrischen Progression. Überhaupt räumt d’Alembert der Theorie 
der Grenzen wichtige Bedeutung ein, weil er in ihr die Grundlage 
der wahren Metaphysik der Differentialrechnung sieht. In der Ab- 
handlung Differentiel führt d’Alembert, sich des ersten der beiden 
von de la Chapelle angeführten Grundsätze der Methode der Grenzen __ 
bedienend, zugleich auch seinen Beweis an, in welchem er sich der 
apagogischen Methode bedient. Dieser Satz und der ihm beigefügte 
Satz von de la Chapelle sind in seiner Schrift folgendermaßen dar- 
gestellt: 1. Wenn jede von zwei Größen die Grenze ein und derselben 
(Größen darstellt, so sind diese Größen einander gleich. 2. Wir nehmen 
an, daß A>< .B das Produkt zweier Größen A, B ist. Nehmen wir 
ferner an, daß C die Grenze der Größe A, und D die Grenze der 
Größe B ist, so folgt weiter, daß das Produkt CO >< D unbedingt die 
Grenze von A>< B, dem Produkt zweier Größen A, b, sein wird. 
Den Beweis dieser Sätze führt der Verfasser nicht an, den Leser an 


') Eneyclopedie methodique. Mathematiques I, p. 520—526. ®) Ebenda 
II, p. 309—310. °) Ebenda I, p. 521. 
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 22 


330 Abschnitt XXL. 


sein Werk „Institutions de Geometrie“ verweisend, um sich mit ihm 
vertraut zu machen. Was jedoch den erwähnten Beweis d’Alem- 
berts des ersten Satzes anbetrifft, so besteht er aus folgendem: Wir 
nehmen an, daß Z und X die Grenzen ein und derselben Größe Y 
sind, ich sage X = Z, denn wenn zwischen ihnen irgend eine Diffe- 
renz V wäre, so wäre X—=Z-+ V. Aber nach Voraussetzung kann 
die Größe Y sich beliebig an X nähern, d. h. die Differenz 
zwischen X und Y kann beliebig klein sein. Da jedoch Z sich von 
X um die Größe V unterscheidet, so folgt daraus, daß Y sich nicht 
mehr als bis zur Größe V dem Z nähern kann, und folglich ist Z 
nicht die Grenze von Y, was der Voraussetzung widerspricht!). 

Dem Abbe de la Chapelle gehört auch in der Encyelopedie 
der Artikel über die Exhaustionsmethode an?). Er definiert sie als 
Mittel zum Beweise der Gleichheit zweier Größen, indem man auf- 
deckt, daß ihre Differenz kleiner als jede darstellbare Größe ist, und 
ebenso beim Gebrauch der apagogischen Methode. Aus dem Grunde, 
daß ungeachtet der Einfachheit des Prinzips der Exhaustionsmethode 
deren Anwendung nicht selten die Beweise sehr lang und kompliziert 
' macht, schlägt d’Alembert vor, sie durch das Prinzip des unend- 
lich Kleinen zu ersetzen, indem er die völlige Identität der beiden 
Prinzipien zeigt, von denen das zweite bloß der verkürzte Ausdruck 
des ersten ist. 

Um beim Verteilen des Materials strenger in der Reihenfolge 
und dem System zu sein, sollte die Behandlung der Kugelfläche zur 
Geometrie der Flächen gerechnet werden. Gleichzeitig gibt d’Alem- 
bert den Rat, die Theorie der Proportionen der Linien mittels des 
geometrisch bewiesenen Satzes, daß bei vier proportionalen Linien 
das Produkt der beiden äußeren dem Produkt der beiden inneren 
gleich ist, ebenfalls der Geometrie der Flächen näher zu bringen. 
Den Gebrauch der algebraischen Rechnung beim Beweis dieses 
Satzes, ebenso wie auch in allen anderen Fällen findet d’Alembert 
für die Elemente der Geometrie vollständig überflüssig, wegen der 
völligen Unfähigkeit dieser Rechnung, in irgend einem Maße bei 
deren Darstellung zur Erleichterung beizutragen. Als ein sehr nütz- 
liches, zur Entwicklung und Stärkung des Verstandes des Lernenden 
dienendes Resultat der zu betrachtenden Annäherung erscheint die 
Beobachtung, wie zwei einzeln betrachtete Theorien im Beweise ver- 
schiedener Sätze zusammentreffen, wie z. B. der Satz von dem Quadrate 
der Hypotenuse. 

Nachdem d’Alembert seinen Plan für die Elemente der Geo- 





1) Encyel. meth. I, p. 521. ?2) Ebenda I, p. 703—704. 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 331 


metrie dargelegt hat, bemerkt er, daß sowohl diese Darlegung als 
auch die allgemeinen Erwägungen, die im Artikel El&öments des 
Sciences ausgesprochen sind, alle beweisen, daß es nicht einen 
Geometer gibt, von dem gesagt werden könne, daß er erhaben 
über die Aufgabe sei, die Elemente der Geometrie zu verfassen; 
daß diese Zusammenstellung nur von einem Mathematiker ersten 
Ranges gut verfaßt werden kann, und daß endlich diese Aufgabe der 
Verfassung der bestmöglichen Elemente der Geometrie als würdig 
solcher Kräfte erscheine wie Descartes, Newton, Leibniz, Ber- 
noulli und anderer. Als Gegensatz zu diesen idealen Forderungen 
spricht d’Alembert folgende unerbittliche Kritik der traurigen 
Gegenwart aus: Es gibt womöglich keine einzige Wissenschaft in” 
der Gegenwart, von der Zukunft schon nicht zu reden, in der so 
viele den Elementen gewidmete Arbeiten erschienen sind als in der 
Geometrie. Und diese Werke sind größtenteils von mittelmäßigen ' 
Mathematikern verfaßt, deren geometrische Kenntnisse nicht über die 
Grenzen des Inhalts ihrer Schriften gehen, und die deshalb absolut 
‚nicht imstande sind, ihrem Gegenstande gerecht zu werden. Zu alle- 
dem ist es notwendig, noch hinzuzufügen, daß es beinahe keinen 
einzigen Autor der Elemente der Geometrie gibt, der in seinem Vor- 
wort nicht mehr oder weniger schlecht spreche über seine Vorgänger 
in diesem Fache. 
Die Bemerkungen, die dazu dienen, die Elemente der Geometrie 
nach Möglichkeit zu vervollkommnen, treffen sieh nicht nur in der 
Darlegung des Planes derselben an, sondern auch im Schlußteil des 
ihnen gewidmeten Aufsatzes, ebenso auch in einigen anderen Auf- 
sätzen von d’Alembert, die sich in der Eneyclopedie methodique 
befinden (z. B. „Axiome“, „Courbe“). Axiome sind vollständig nutz- 
los, sowohl für alle Wissenschaften im allgemeinen, als auch im 
einzelnen für die Geometrie. Was für eine Notwendigkeit z. B. kann 
in dem Axiom vom Ganzen und seinen Teilen sein, um zu sehen, 
daß die Hälfte einer Linie kleiner als die ganze Linie ist? Das Fest- 
legen von Axiomen soll überhaupt nicht in den Elementen der Geo- 
metrie stattfinden. Völlig verboten soll auch die Auslegung von 
Definitionen werden, dieses besonders notwendigen Teiles. Definitionen \ 
sofort im Anfang anzuführen ohne besondere Art der Analyse be- 
deutet nicht nur gegen die gesunde Philosophie handeln, sondern 
auch vollständig entgegen dem natürlichen Gang der Gedanken. Ist 
es z. B. am Platze, direkt zu sagen: Die Fläche ist die Grenze eines | 
Körpers, der keine Dicke hat? Ist es nicht besser, anfangs den 
Körper zu betrachten so wie er wirklich ist, und erst darnach zu 


zeigen, wie man mit Hilfe einer Reihenfolge von Abstraktionen zur 
| 22* 


332 Abschnitt XXII. 


Vorstellung von einem Körper, als von einem räumlichen Gebilde, 
und danach erst durch eine neue Reihe von Abstraktionen zur auf- 
einander folgenden Betrachtung von Oberfläche, Linie und Punkt 
kommen kann? Endlich sind auch solche Fälle anzutreffen, be- 
sonders in vollen Kursen der Geometrie, bei welchen die De- 
finition eines Gegenstandes erst nach seiner Analyse gegeben werden 
kann, d.h. wenn sie als Resultat derselben erscheint. Die gerade 
und die krumme Linie dürfen überhaupt nicht in den Elementen 
definiert werden, hauptsächlich aus dem Grunde, weil ihre Begriffe 
gar nicht auf noch einfachere Ideen zurückgeführt werden können. 
Das Streben zur Genauigkeit darf niemals zu einem Hasten nach 
pseudoidealer Genauigkeit werden. Den Raum z. B. soll man als 
solchen darstellen, wie ihn alle Menschen verstehen. Sich seinethalben 
nach Beispiel der Sophisten Schwierigkeit erschaffen, ist vollständig 
unnütz. Auch um nur gewöhnlich scheinende Genauigkeit zu er- 
langen, soll man sich nieht grober unvollkommener physischer Formen 
bedienen, zum Ersatz abstrakter mathematischer Hypothesen, wie 
2. B. ein Zeitgenosse d’Alemberts zum Ersatze des Begriffes einer 
geraden Linie sich der Vorstellung eines straff gespannten Fadens 
bediente. 

Außer d’Alembert beschäftigten sich. mit der Vervollkommnung 
der Elemente der Geometrie auch viele andere Gelehrte, sowohl in 
separaten Werken, als auch in Aufsätzen in Zeitschriften. Louis 
Bertrand!) (1731—1812), in Genf geboren, war bis zur Revolution 
Professor der Mathematik an der Akademie zu Genf, und vor diesem 
Amte lebte er längere Zeit in Berlin, wo er Mitglied der dortigen 
Akademie der Wissenschaften geworden war. In den Sitzungen der- 
selben verlas er einige von seinen mathematischen Arbeiten und von 
den Mitgliedern stand er Euler am nächsten. In seinem für An- 
fänger bestimmten Kursus der elementaren Mathematik, Developpe- 
ment nouveau de la partie el&mentaire des math&matiques, 
prise dans toute son ötendue?), macht er sie zum Hilfsgegen- 
stand für die Theorie des Kreises und der geraden Linie, als dem 
Hauptgebiet der Elemente der Mathematik. Den ganzen ersten Band’) 
der Arithmetik und der Algebra bestimmend, widmet er den größten 
Teil‘) des zweiten Bandes’) den Elementen der Geometrie, die er 
ebenso wie d’Alembert in drei Teile teilt: der erste „Von der ge- 
raden Linie und Kreislinien“®), der zweite „Vom Ausmessen der 
Stücke der Ebene, die von geraden Linien und Kreisen begrenzt sind“) 


ı) Poggendorff, I, 8. 171. 2) 2 vol. Gendve 1778. 4. 1 + XXXU 
46768. %388 8. 9%) 1646 S, und XIX Tafeln. ®) 1608. 7) 161—19 8: 


Lebrbücher der Elementargeometrie. 333 


und der dritte Teil, der sich mit dem Ausmessen krummer Flächen 
und Körper beschäftigt, die vom Kreise und von der geraden Linie 
abhängen!). Sieben Kapitel bilden den ersten Teil. Das erste handelt 
von der Ebene, von geraden Linien und von Winkeln; das zweite 
von den Bedingungen, die die Dreiecke bestimmen; das dritte von 
der Ähnlichkeit der Dreiecke und einiger ebener Figuren; das vierte 
von der relativen Lage der Geraden und der Kreislinie, ebenso auch 
von zwei Kreislinien; das fünfte von der Lösung von 19 Aufgaben 
auf Grund der Prinzipien, die in den vorhergehenden Kapiteln dar- 
gelegt sind; das sechste von den eingeschriebenen und umschriebenen 
Vielecken und von der Rektifikation der Kreislinie und das siebente 
von der Krümmung der Kurven und Kreislinien. Zwei Kapitel, die 
den zweiten Teil bilden, enthalten folgendes: das erste die ebenen 
geradlinigen Flächen, und das zweite den Flächeninhalt des Kreises 
und seiner Teile. Endlich von den sechs Kapiteln, die den dritten 
Teil bilden, handelt das erste von der Begegnung der geraden Linien 
und Ebenen; das zweite von den Körpern, regulären Körpern und 
von der Kugel; das dritte von den Prismen, Pyramiden, Kegeln und 
Zylindern, ebenso auch von einigen Definitionen, die die Kugel be- 
treffen; das vierte vom Ausmessen der Oberflächen der Zylinder, ge- 
raden Kegel, der Kugel und ihrer Teile; das fünfte von den Volumen 
der Prismen, Pyramiden, Kegel, der Kugel und ihrer Teile und das 
sechste von der Ähnlichkeit der Körper. Bezüglich des zweiten 
Teiles bemerkt Bertrand, daß man das Kapitel aus dem dritten 
Teil von den krummen Oberflächen, zu deren Ausmessung die Kennt- 
nisse von den Eigenschaften des Kreises und der geraden Linie ge- 
nügen, übertragen könne. Mit demselben Rechte müßte man es aus 
dem dritten Teil in den ersten übertragen, der da handelt von der 
Begegnung gerader Linien und Ebenen mit alle dem, was sich zur 
Konstruktion regelmäßiger Körper und den Abständen ihrer Mittel- 
punkte von den Seiten und Scheiteln der Ecken, ebenso auch den 
Querschnitten der Prismen, Zylinder, Pyramiden usw. von Ebenen, 
welche zu ihren Grundflächen parallel sind, bezieht. Er unternimmt 
aber weder das eine, noch das andere, weil er dadurch mit der an- 
erkannten Sitte in Widerspruch geraten würde, und welches vollständig 
dadurch gerechtfertigt ist, daß beide erste Teile nichts weiter ent- 
halten, als die Ebene. 

Die Idee d’Alemberts von der gleichzeitigen Behandlung der \ 
geraden Linie und der Kreislinie in dem ersten Teil der Elemente 
der eometrie finden wir im Buch von Bertrand vollkommen verwirk- / 





ı) 195—388 8. 


334 Abschnitt XXIL 


licht, besonders im ersten Kapitel. Was jedoch seine andere Idee an- 
betrifft, nämlich die der Einteilung desselben ersten Teiles in zwei 
Abteilungen, so ist sie vollkommen bloß in den ersten drei Kapiteln 
anzutreffen, von denen die beiden ersten vollkommen der ersten Ab- 
teilung angehören, und das dritte der zweiten. In den nächsten drei 
Kapiteln sind die beiden Abteilungen schon in gemischtem Zustand 
vorhanden. So enthalten von den drei Teilen, die das vierte Kapitel 
bilden, der erste Teil die Sätze von der relativen Lage der Geraden 
und der Kreislinie und zweier Kreislinien, der zweite das Vermessen 
der Winkel im Kreise, und der dritte die sich mit dem Kreise in 
Beziehung befindenden proportionalen Linien. Ebenso auch in der 
Sammlung der Aufgaben, welche das fünfte Kapitel bilden, gehören 
die einen zur einen Abteilung, die anderen zur anderen. 

Das Bestreben, die Elemente der Geometrie zu vervollkommnen, 
welches das Werk Bertrands durchdringt, äußert sich vor allem in 
den von ihm gegebenen Definitionen der Ebene und der ge- 
raden Linie Der Raum ist unendlich und homogen oder mit 
anderen Worten, ist sich selbst gleich zu jeder Zeit und an jedem Ort. 
Und wirklich, wenn wir seiner Ausdehnung Grenzen angeben wollten, so 
müßten wir es auf seiner ganzen Ausdehnung tun, das würde aber 
bedeuten, daß die angegebenen Grenzen ihn nicht begrenzen. Was 
seine Homogenität anbetrifft, so äußert sie sich darin, daß der Teil 
des Raumes, der von einem Körper an irgend einer Stelle eingenommen 
wird, sich in nichts unterscheidet von einem anderen Teil, welcher 
von demselben Körper an einer beliebigen anderen Stelle eingenommen 
wird; dazu ist hinzuzufügen, daß der Raum, welcher den Körper an 
einer Stelle umgibt, derselbe ist wie der Raum, der denselben Körper 
an einer anderen Stelle umgibt. Aus diesem Begriff vom Raum folgt, 
daß man sich den Raum in zwei solche Teile geteilt vorstellen kann, 
von denen man nichts von dem einen sagen kann, was nicht auch von 
dem anderen gesagt werden könnte, und daß ihre allgemeine Grenze 
zu einem jeden von ihnen ein und dasselbe Verhältnis hat, mag man 
sie im ganzen oder in ihren Teilen betrachten. Diese Grenze, die 
den Raum in zwei Teile teilt, ist dasjenige, was man die Ebene 
nennt. Die Ebene wie auch den Raum kann man sich in zwei solche 
Teile geteilt vorstellen, von denen man nichts von einem sagen kann, 
was nicht auch vom anderen gesagt werden könnte, und daß ihre 
allgemeine Grenze außerdem zu einem jeden von ihnen ein und die- 
selben Verhältnisse hat, beliebig betrachtet im ganzen oder in seinen 
Teilen. Diese Grenze, die die Ebene in zwei Teile teilt, ist das, was 
man die gerade Linie nennt. Mit Hilfe dieser Definitionen beweist 
Bertrand folgende Sätze von geraden Linien, die ohne sie nicht 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 335 


bewiesen werden können und deshalb gewöhnlich als Axiome angenommen 
werden: „Aus einem Punkt der Ebene zum anderen kann man nur 
eine gerade Linie führen.“ „Zwei Punkte der Ebene bestimmen die 
gerade Linie“ „Zwei sich auf einer Ebene schneidende Linien 
schneiden sich nur in einem Punkte.“ Späterhin werden dieselben 


Sätze auch auf eine andere Weise bewiesen mit Hilfe der von La- - 


place im Journal des scances de l’Eeole Normale gegebenen Definition 
der geraden Linie. 

Indem Bertrand im allgemeinen mit d’Alembert ziemlich 
übereinstimmt in der Beweisführung von Sätzen, welche von Über- 
gängen von den kommensurabelen Größen zu den inkommensurabelen 
und von den geraden Linien zu den krummen handeln, gibt er bloß 


einer größeren Verbreitung der apagogischen Methode Platz. Er be-- 


dient sich dieser Methode in allen Sätzen nicht nur in der ersten 
von den angegebenen zwei Gruppen, sondern auch in den beiden 
der zweiten Gruppe, welche sich mit der Bestimmung des Flächen- 
inhalts des Kreises und der Oberflächen des Zylinders und des Kegels 
beschäftigen, obwohl dank ihrer Eigenschaften er auch dabei nicht 
ohne die Exhaustionsmethode auskommen kann. Der Exhaustions- 
methode bedienen sich alle anderen Beweise der Sätze in der zweiten 
Gruppe und ebenso auch der Satz von der Gleichheit der dreiseitigen 
Pyramiden mit gleichen Grundflächen und Höhen. 

Das Bestreben Bertrands zur größtmöglichen Verkürzung der 
Anzahl einzelner Sätze tritt besonders stark in dem 5. Kapitel des 
3. Teiles hervor, wo eine ganze Reihe von Sätzen durch eine Reihe 
entsprechender Aufgaben ersetzt erscheint, die in folgendem einen 
Satze vereinigt sind: Es sollen ausgemessen werden das Prisma, die 


Pyramide, die abgestumpfte Pyramide, der Zylinder, der Kegel, der 


abgestumpfte Kegel, die Kugel, der Kugelsektor, das Kugelsegment, 
das abgekürzte Kugelsegment. Der Rauminhalt der abgestumpften 
Pyramide (bez. des abgestumpften Kegels) wird hier als Differenz 
zwischen den Rauminhalten der vollen Pyramide (bez. des Kegels) 
und der Ergänzungspyramide (bez. des Ergünzungskegels) gekenn- 
zeichnet. Der Rauminhalt des Zylinders wird ausgemessen mit Hilfe 
des Theorems: Das Verhältnis der Zylinder zu den Prismen ist gleich 
dem zusammengesetzten Verhältnis ihrer Höhen und Grundflächen, 
und das Ausmessen des Inhalts des Kegels und der Kugel wird auf 
das Ausmessen des Inhalts des Zylinders zurückgeführt. 

Indem das Buch Bertrands in der zweiten Hälfte des 18. Jahr- 
hunderts als eines der inhaltsreichsten und tiefsinnigsten Werke in 
der elementaren Mathematik im allgemeinen und der Geometrie im 


— 


besonderen erscheint, ist es trotz seiner geringen Verbreitung nicht —_ 


336 Abschnitt XXI. 


ohne wesentliche Wirkung auf die nachfolgende Literatur in diesem 
Fache geblieben, was aus der von Lacroix gerichteten Einladung 
an diejenigen seiner Leser, welche sich in die Prinzipien der Ana- 
lysis und der Elementargeometrie zu vertiefen wünschen, zu ersehen 
ist, sich an das Werk Bertrands zu wenden, welchem Lacroix 
- selbst viele wichtige Ideen verdankt. 

Außer den betrachteten sind noch zwei Werke Bertrands im 
Druck erschienen: Renouvellements periodiques des continents ter- 
restres!) und Sur une question du calcul des probabilites.”) Aus den 
Memoiren, die er in der Berliner Akademie der Wissenschaften ver- 
lesen hatte und die nicht im Druck erschienen sind, ist bekannt 
Sur le developpement des puissances d’un binome, dont les exposans 
sont des fraetions ou des nombres negatifs. 

Aus den Schriften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die 
den Elementen der Geometrie gewidmet sind, waren am allerver- 
breitetsten, besonders während des ganzen nachfolgenden 19. Jahr- 
hunderts, die Elements de geometrie; par A. M. Legendre, die in 
Paris im Jahre 1794 erschienen waren. Im 19. Jahrhundert hatten 
sie viele Ausgaben, in Frankreich und Belgien, und außerdem 
waren sie fast in alle europäische Sprachen übersetzt worden. Die 
Einkünfte aus denselben waren so bedeutend, daß sie vollständig 
ihrem Autor die Existenz sicherten. Sie würden noch in einer 
größeren Anzahl von Exemplaren erschienen sein, wenn sie daran 
nicht gehindert worden wären durch die in großer Anzahl erschie- 
nenen Lehrbücher, die nach ihnen in allen Sprachen zusammengestellt 
waren und oft nur ihre Wiederholung darstellten. Ihr Verfasser, 
Adrien Marie Legendre (1752—1833), von Geburt ein Pariser, 
lernte in dem College Mazarın, wo er nach Beendigung der Huma- 
nitätsstudien die Vorlesungen über Mathematik des zu seiner Zeit 
sehr bekannten Lehrers, des Abbe Marie, besuchte Die Fähig- 
keiten Legendres lenkten auf ihn die Aufmerksamkeit des Lehrers, 
der zu seiner wissenschaftlichen Entwicklung viel beigetragen hat. 
Die Resultate im Studium der Mathematik, die Legendre zu jener 
Zeit erreicht hatte, äußerten sich in einzelnen Kapiteln, die er ım 
Auftrage seines Lehrers für dessen Werk Traite de me&canique aus 
dem Jahre 1774 geschrieben hat. Indem sie zu den bemerkens- 
wertesten des Buches gehörten, traten sie besonders im Kapitel von 
den beschleunigenden Kräften in der Klarheit und Strenge der Dar- 
stellung hervor, so daß sie den Beifall von Lagrange ernteten. So- 
wohl in praktischer, als auch in wissenschaftlicher Beziehung war 


!) Hamburg 1799. ?) Memoires presentes par divers Savans etrangers. 


Lehrbücher der Elementargeometrie. >31 


wichtig seine Bekanntschaft mit d’Alembert, die er zu dieser Zeit 
geschlossen hatte, und der ihn als Gelehrten richtig zu schätzen 
wußte. Mit dem Beistand d’Alemberts gelang es ihm im Jahre 
1775 eine Lehrstelle der Mathematik an der Pariser Kriegsschule zu 
erhalten, welche er alsdann bis 1780 inne hatte. Durch diese Stel- 
lung in materieller Hinsicht gesichert, begann Legendre mit großem 
Fleiße die Werke berühmter Geometer zu studieren, hauptsächlich 
Eulers, der ihm seitdem als Muster in allen Arbeiten und Forschun- 
gen diente. Als erstes wissenschaftliches Werk Legendres erschien 
im Druck im Jahre 1782 und erhielt die volle Prämie der Berliner 
Akademie der Wissenschaften sein Memoire: Recherches sur la tra- 
jeetoire des projectiles dans les milieux resistants.!) Nach diesem 
Aufsatze folgte bald ein anderer mit dem Titel Sur l’attraction des 
spheroides homogenes?), der der Pariser Akademie der Wissenschaften 
im Jahre 1783 vorgelegt wurde Die günstige Meinung, die La- 
place von diesem Werke, welches ihm und d’Alembert zur Be- 
urteilung übergeben wurde, aussprach, veranlaßte die Pariser Aka- 
demie der Wissenschaften den Verfasser in demselben Jahre 1783 
zum Adjunkten der Akademie zu ernennen an Stelle von Laplace, 
der den nächsten höheren akademischen Grad erhielt. Im Jahre 
1787. wurde Legendre zum Mitglied der Kommission ernannt, deren 
Aufgabe es war, die geodätischen Arbeiten zu verrichten, um das 
Pariser Observatorium und das Observatorium zu Greenwich in Zu- 
sammenhang zu bringen. Sich mit der tätigen Beteiligung an der 
praktischen Seite dieser Operationen, welche aus täglichen Beobach- 
tungen und logarithmischen Berechnungen bestanden, nicht begnügend, 
trug Legendre auch zu deren Theorie viel bei. Als er bemerkte, 
daß die Dreiecke auf der Erdoberfläche, die zum Bau des geodäti- 
schen Netzes gehörten, nicht als eben angesehen werden konnten, wie 
es früher geschah, entdeckte er den wichtigen Satz, der unter dem 
Namen des Legendreschen Theorems bekannt ist. In diesen seinen 
Arbeiten führte er zum erstenmal in die Wissenschaft ein die Definition 
der geodätischen Linien, als den kürzesten von allen, die auf einer 
Oberfläche gezogen werden können. Zum Studium dieses Gegenstandes 
und im einzelnen zur Theorie der geodätischen Linien auf den Flächen 
zweiter Ordnung kehrte er öfters zurück nach mehr oder weniger be- 
deutenden Zeitabschnitten. Sowohl diese als auch andere weniger 
bedeutende Entdeckungen und Neuerungen waren im berühmten Werke 





!) Berlin. ?) Memoires de mathematique et de physique, presentes ä 
’Academie Royale des Sciences par divers Savans, et lüs dans’ ses Assemblees, 
T.X, 1786. 


338. Abschnitt XXII. 


des Autors Sur les operations trigonometriques, dont les resultats de- 
pendent de la figure de la terre!) dargestellt, zu der auch seine Suite 
du calcul des triangles qui servent ä determiner la difference de lon- 
gitude entre l’Observatoire de Paris et celui de Greenwich?) in un- 
mittelbarer Beziehung stand. In seiner Teilnahme an den Arbeiten 
der Kommission ging Legendre viel weiter als es verlangt wurde. 
Er berechnete nicht nur alle Dreiecke, die sich in Frankreich be- 
fanden, sondern auch die, welche das Ufer Englands mit Greenwich 
verbanden. Um diesen letzten Teil seiner Arbeit auszuführen, mußte 
er sich nach London begeben, wo er mit großen Ehren emp- 
fangen und sofort zum Mitglied der Royal Society ernannt wurde. 
Dem Bericht über die praktischen Arbeiten Legendres und der anderen 
Mitglieder der Kommission ist das Buch Expose des operations faites 
en France en 1787 pour la jonction des observatoires de Paris et de 
Greenwich par Cassini, M&chain et Legendre?) gewidmet. 

Im Jahre 1791 wurde Legendre zum Mitglied der Kommission 
ernannt, welche zur Bestimmung der Grundlagen des neuen Systems 
der Maße und Gewichte gebildet wurde, und zur Berichtigung der 
Ausmessung des Bogens des Meridians zwischen Dünkirchen und Bar- 
celona, was mit ersterem in Zusammenhang stand. Nach Beendigung 
der Arbeiten dieser Kommission hörte die unmittelbare Teilnahme 
Legendres beim Erschaffen des neuen Systems der Maße und Ge- 
wichte auf, bis zu seinem Eintritt in die internationale Kommission, 
welche zur Berichtigung der Arbeiten auf diesem Gebiete bestimmt 
war. Er unterschrieb im Jahre 1799 den Bericht, welcher von der 
Kommission der Akademie erstattet wurde, worauf diese endgültig 
beschloß, das metrische Maßsystem anzunehmen. 

Auch nach Beendigung der praktischen geodätischen Arbeiten 
setzte Legendre die Bearbeitung des theoretischen Teils der Geodäsie 
fort. So druckte er im Jahre 1798 sein Memoire analytique pour la 
determination d’un arc du meridien bei der Herausgabe des gleich- 
namigen Werkes Delambres. In dem Memoire Analyse des triangles 
traces sur la surface d’un spheroide*) verallgemeinerte er die von ihm 
früher angegebenen Methoden und besprach im allgemeinen Überblick 
alle hauptsächlichsten geodätischen Operationen. 

Die Beschäftigung mit der Theorie der Anziehung führte E 
gendre zur Himmelsmechanik und die geodätischen Arbeiten zur 
Astronomie. Der ersten widmete er zwei Memoiren mit dem gemein- 
samen Titel Sur la figure des planetes°), in welchen er das Theorem 





ı) Histoire de ’Academie Royale des Sciences 1787, p. 352 et suiv. 
2) Ebenda 1788, ®) Paris 1791, 4°. *, Memoires de l’Institut 1806. 
°) Histoire de l’Acad&mie des Sciences, 1784 et 1789. 


ri li sin > u» 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 339 


bewies, daß, wenn die Figur einer flüssigen Masse sich wenig von 
einer sphärischen unterscheidet, sie bloß ein Umdrehungsellipsoid sein 
kann. Von den homogenen Sphäroiden, für die der Satz im Jahre 
1784 bewiesen wurde, erweiterte er ihn im Memoire des Jahres 1789 
auf die ungleichartigen Sphäroide. Am Schluß dieses zweiten Me- 
moires bestimmte er die Diehtigkeit der Erde, die er als fünfmal die 
Dichtigkeit des Meerwassers übertreffend bezeichnete. 

Mit dem Verlassen der Pariser Kriegsschule hörte die direkte 
und indirekte Beteiligung Legendres am Unterricht der mathemati- 
schen Wissenschaften nicht auf. Nach dem Eröffnen der Pariser Nor- 
malschule im Jahre 1795 wurde er, wenn auch nicht sofort, dort zum 
Professor ernannt. Noch später wurde er dem Lehrpersonal der poly- 
technischen Schule als Examinator einverleibt. Bei Eröffnung der 
Universität im Jahre 1809 wurde Legendre zum Ehrenrat ernannt 
und noch später zum Mitglied der Kommission des öffentlichen Unter- 
richts. Im Jahre 1812 trat Legendre an Stelle von Lagrange 
ins Bureau des Longitudes ein. 

Die Abfassung der El&ments de g6eometrie von Legendre 
wurde durch das Bestreben, das Fach dieses Werkes zu vervoll- 
kommnen, hervorgerufen. Wie das lange Vorwort zeigt, welches 
seiner ersten Auflage vorausgeschickt ist, erkennt Legendre nur 
einen von den zahlreichen und verschiedenen Vorwürfen an, welche 
den existierenden Lehrbüchern der Elementargeometrie gemacht werden, 
nämlich den Mangel an Genauigkeit. Auf die Beseitigung dieses> 
. Mangels konzentrierte er sein ganzes Bestreben, alles andere über- 
sehend. Dieses Verhalten zu seiner Aufgabe blieb vor allem nicht 
ohne Wirkung auf die Anordnung des Gegenstandes, welche in ihrer 
Unordnung den zum Muster genommenen Elementen des Euklid nicht 
nachsteht. Im Buche von Legendre ist auch nicht die Spur von) 
der Sorge um die Harmonie und das System des Planes der Elemente 
der Geometrie, die die soeben betrachteten Werke d’Alemberts und. 
Bertrands kennzeichnen, anzutreffen. Nicht nur, daß er den ganzen 
Gegenstand in Teile nicht teilt, er erwähnt auch darüber nichts. 
Dieser Gegenstand zerfällt bei ihm von selbst, seiner Natur gemäß, 
in zwei Teile: die Geometrie der Ebene und die Geometrie des 
Raumes. Ganz äußerlich ist sein Werk in acht Bücher geteilt. 
Das erste, „Die Prinzipien“ betitelt, beginnt nach Beispiel der Ele- 
ınente des Euklid mit einer Sammlung von Definitionen und Axiomen, 
zu denen der Verfasser noch die Erklärung der Ausdrücke und Zeichen 
beifügt. Weiter folgen die Betrachtungen der Eigenschaften der sich 
schneidenden geraden Linien, der Gleichheit und der anderen Eigen- 
' schaften der Dreiecke, der Eigenschaften der senkrechten, schiefen und 


m 


340 Abschnitt XXI. 


parallelen Linien, und am Schlusse der Parallelogramme. Den Inhalt 
des zweiten Buches bilden der Kreis und die Ausmessung der Winkel; 
des dritten die Proportionalität von Figuren; des vierten die regel- 
mäßigen Vielecke und das Ausmessen des Kreises; des fünften die 
Ebenen und die körperlichen Winkel; des sechsten die Polyeder; des | 
siebenten die Kugel und die sphärischen Dreiecke und des achten 
die drei runden Körper: der Zylinder, die Kugel und der Kegel. Den 
Schlußteil des Buches unter dem Titel „Notes sur les elements de 
geometrie“ bilden eine Menge von Ergänzungsartikeln. Die Unord- 
nung und besonders, nach seinem eigenen Ausdruck, das „Verwechseln 
der Eigenschaften der Linien mit den Eigenschaften der Flächen“ 
gesteht er selbst ein, sich mit dem Beispiel des Euklid entschuldigend, 
sowie mit der Behauptung, daß eine Anordnung nicht als schlecht 
angesehen werden kann, wenn die einzelnen Sätze darin gut mitein- 
ander verbunden sind. | 

Der von Euklid eingeführte Gebrauch, jedem Buch der Elemente 
eine Sammlung der darin enthaltenen Definitionen vorauszuschicken, 
wurde von Legendre nicht nur in seinem ersten Buche der Ele- 
mente, wie oben angeführt, sondern auch in allen anderen beibehalten, 
ungeachtet der strengen Verurteilung seitens der .philosophischen 
Kritik. Die Definitionen der Linie und der Fläche sind bei ihm die- 
selben, wie bei Euklid. „Die Linie ist eine Länge ohne Breite.“ „Die 
Fläche ist das, was Länge und Breite hat, jedoch ohne Höhe oder 
Dicke.“ Die gerade Linie, die Ebene und der Winkel werden von 
ihm schon anders definiert. „Die gerade Linie ist die kürzeste Ent- 
fernung von einem Punkte zu einem anderen.“ „Die Ebene ist eine 
solche Fläche, auf der jede gerade Linie vollkommen aufliegt, welche 
zwei beliebig auf dieser Fläche genommene Punkte verbindet.“ „Wenn 
zwei gerade Linien AB und AC sich begegnen, so wird jede mehr 
oder weniger bedeutende Größe, um die sie ae voneinander 
entfernt sind, der Winkel genannt.“ 

Beim Bowäiße der Theoreme, die von dem Übergang von den 
kommensurabelen Größen zu den inkommensurabelen handeln, be- 
dient sich Legendre der apagogischen Methode, zeigend, daß das 
bras der beiden Verhältnisse, deren Gleichheit zu beweisen ist, weder 
‚größer noch kleiner sein kann, als das andere. 

Beim Beweise der Sätze, die vom Übergang von den geraden 
Linien zu den krummen handeln, gebraucht Legendre die von Archi- 
medes angegebene Form der Exhaustionsmethode in etwas verän- 
\dertem Zustande. Die wenig bedeutende Änderung dieser Form, die 
er sich erlaubt, bestand im Gebrauch der zwei folgenden Hilfssätze: 
Wenn die Fläche eines Kreises größer ist, als irgend eine andere 








Lehrbücher der Elementargeometrie. 341 


Fläche, so kann in diesen Kreis immer ein regelmäßiges Vieleck ein- 
geschrieben werden, dessen Fläche ebenfalls größer sein wird als die 
gegebene Fläche. Wenn die Fläche eines Kreises kleiner ist, als 
irgend eine andere Fläche, so kann man diesem Kreis immer ein 
regelmäßiges Vieleck umschreiben, dessen Fläche ebenfalls kleiner sein 
wird als die genannte Fläche. Anstatt diese beiden Hilfssätze einzeln 
zu entwickeln, führt Legendre in seinem Buche folgenden sie zu- 
sammenfassenden Hilfssatz an: Wenn zwei konzentrische Kreise ge- 
geben sind, kann man immer in den größeren von ihnen ein regel- 
mäßiges Vieleck einschreiben, ohne daß seine Seiten den kleineren 
schneiden, ebenso kann man auch um den kleineren Kreis ein regel- 
mäßiges Vieleck umschreiben, dessen Seiten den größeren Kreis nicht 
schneiden; auf diese Weise werden im einen sowohl wie im anderen 
Falle die Seiten des konstruierten Vielecks zwischen den beiden 
Kreisen eingeschlossen sein. Dieser Hilfssatz sowohl als dessen scharf- 
sinnige Benutzung in der Exhaustionsmethode stellen nicht die Er- 
findung von Legendre dar. Er befindet sich im 16. Satze des 
12. Buches der Elemente des Euklid, und dessen erste Benutzung in 
der Exhaustionsmethode gehört Maurolycus an, wie aus der Aus- 
gabe seiner Übersetzung der Werke des Archimedes zu ersehen ist.') 
In seinem Vorwort sagt Legendre, daß er im Anfang, an Stelle 
der Exhaustionsmethode, oder, nach seinen Worten, der Methode des 
Archimedes, die Methode der Grenzen anwenden wollte, weil sie als> 
vorzügliche Vorbereitung zur Erlernung der Differentialrechnung er- 
scheine. Später aber ließ er dies Vorhaben fallen, weil in die Theorie, 
der Grenzen einige allgemeine Anfangsgründe, die eher den Gegen- \\ 
stand der Algebra, als der Geometrie bilden, hineingehören, und weil \ 
zweitens die Anwendung dieser Theorie zum Besprechen einer unend- 
lichen Reihe von eingeschriebenen und umschriebenen Figuren führt, 
was Länge der Auseinandersetzung und verschiedene Schwierigkeiten 
nach sich zieht. Es ist übrigens zu bemerken, daß der erste dieser 
Gründe mit der Aussage des Verfassers in demselben Vorwort, daß 
er beim Leser seines Buches Kenntnisse der Arithmetik, und wenigstens 
des anfänglichen Teils der Algebra, voraussetzt, im Widerspruch steht. 
Aus den Neuerungen, die Legendre in den Elementen der Geo- 
metrie gemacht hat, ist das Heranziehen des Prinzips der Sym- 
metrie in die Zahl der Prinzipien der Elementargeometrie hervor- __ 
zuheben. Die direkte Anwendung dieses Prinzips finden wir bei ihm 





‘) Admirandi Archimedis Syracusani monumenta omnia mathematica quae 
extant, ex traditione D. Franc. Maurolici, ete. Panormi 1685, in-fol., p. 5 
et suiv. 


342 Abschnitt XXI. 


dort, wo zum Beweise der Gleichheit das Prinzip der Kongruenz sich 

als unzulänglich erweist, nämlich beim Betrachten der Körper. Er 

nennt zwei solche Polyeder symmetrisch,') von denen bei gemein- 

schaftlicher Basis der eine unter und der andere über dieser Basis 

konstruiert sind, bei der Bedingung, daß die Scheitel der homologen 

körperlichen Winkel auf gleicher Entfernung von der Grundfläche 

und auf dem Perpendikel zur selben Grundfläche gelegen sind. Diese 

Definition erklärt er am Beispiel zweier Pyramiden SABC und 

TABC, die eine gemeinschaft- 

4 liche Basis ABC haben und 

deren Spitzen $ und 7 auf dem 

Er Perpendikel ST zur selben 

Basis gelegen sind, wobei der 

e: a Perpendikel sich im Schnitt- 

S' Ö T punkt O mit der Basis in zwei 

Fig. 6. gleiche Teile teilt. Nachdem er 

alsdann im II. Satz des sechsten 

Buches bewiesen hat, daß jedes Polyeder nur ein symmetrisches 

Polyeder haben kann, führt er in die Elemente der Geometrie eine 

neue Art von Gleichheit ein, die manches Mal die Gleichheit von 

Körpern durch Symmetrie genannt wird. Sie ist im folgenden Satz 

erhalten: Wenn zwei Körper a und b symmetrisch dem dritten e sind, 
so sind sie kongruent. 

Das Einschlagen des Weges, der ihn zu dieser Neuerung führte, 
verdankt er Robert Simson, welcher in seinen „Kritischen und 
geometrischen Bemerkungen“ zu seiner Ausgabe der Elemente des 
Euklid?), als erster auf die 9. und 10. Definitionen im XI. Buche der 
Elemente des Euklid hinwies (die Definition ähnlicher Körper; die 
Definition gleicher und ähnlicher Körper), als auf solche, die nicht 
als Definitionen angesehen werden können und deshalb als Theoreme 
bewiesen werden müssen. Die Richtigkeit dieser Bemerkung an- 
erkennend, und zu gleicher Zeit diese Definitionen in die Zahl der 
Theoreme nicht einführend, mußte Legendre, ebenso wie Robert 
Simson, zum Auffinden neuer Beweise zu solchen Theoremen sich 
anschicken, die Euklid auf die oben erwähnten Definitionen gründete. 
Dabei mußte auf den 28. Satz des XI. Buches der Elemente des 
Euklid acht gegeben werden, der aus dem Theorem über die Teilung 
eines Parallelepipedons in zwei gleiche Teile bestand. Robert 
Simson betrachtete diesen Satz als Folge des von ihm vorher be- 








D) 8. livre VI, XVI. definition. ?) The Elements of Euclid by Robert 
Simson, p. 388sqgq. 





a a a a a in a u nn nos 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 343 


wiesenen Theorems: die n-seitigen Prismen, welche von gleichen, 
ähnlichen und entsprechend gelegenen Seiten begrenzt sind, sind 
einander gleich. Was jedoch Legendre anbetrifft, so beweist er in 
seinen Elementen vor diesem Satz folgendes Theorem!): eine Ebene, 
welche durch zwei entgegengesetzte und parallele Kanten geht, teilt 
das Parallelepipedon in zwei dreiseitige, einander symmetrische Prismen. 
Diesen Satz selbst jedoch faßt er in Form eines Theorems zusammen): 
zwei symmetrische dreiseitige Prismen, in die ein Parallelepipedon 
sich teilen läßt, sind volumengleich. 

Aus allem Gesagten über die Elemente von Legendre folgt, daß 
sie durchaus den Forderungen der Zeit, die die philosophische Kritik 
stellte, nicht entsprachen. Indem sie sich als Vorbild Euklid und | 
Archimedes nahmen, hauptsächlich den ersteren, teilten sie mit ihm | 
auch alle seine Mängel. Wie soll man aber in diesem Fall ihren | 
kolossalen Erfolg erklären? Die Erklärung dazu finden wir teils in 
einigen Bedingungen jener Epoche, hauptsächlich aber im Vorhanden- 
sein wirklicher wichtiger Verdienste neben den Mängeln. Aus den 
Bedingungen der Epoche, die zum Erfolg des Buches von Legendre 
beitrugen und hauptsächlich im Anfang, sind folgende aufzuweisen: 
Die Anforderungen seitens der philosophischen Kritik in bezug auf 
Elemente der Geometrie wurden lange nicht von allen Zeitgenossen 
gestellt. Viele von ihnen, wie wir es schon früher gesehen, hielten 
es als unbedingte Pflicht der Autoren solcher Werke, die den Elementen 
der Geometrie gewidmet waren, den Werken der alten Griechen als 
Vorbildern zu folgen. Was die erwähnten Verdienste des Buches von 
Legendre anbetrifft, äußerten sie sich in der bemerkenswerten Klar- 
heit der Darstellung und der vom Autor erreichten außerordentlichen 
Genauigkeit. Zum Erfolg des Buches von Legendre trugen auch 
viel die beigefügten Noten bei, von denen viele sogar in Beziehung 
zur Wissenschaft sich als wertvoll erwiesen. Mit einigen von ihnen 
werden wir noch späterhin zu tun haben. 

Obwohl Legendre im Zusammenstellen der Elemente der 
(Geometrie nicht auf der Höhe derjenigen Forderungen der zeitgemäßen 
Wissenschaft stand, die die voranschreitenden Kräfte der Wissenschaft 
ihnen stellten, mußte er dennoch Kind seiner Zeit bleiben. Und | 
wirklich war er nicht imstande, die Methode der alten Griechen in 
der Elementargeometrie in ihrem reinen Zustand vollständig frei von 
dem Einfluß der arithmetisch-algebraischen Richtung wiederherzu- 
stellen. Schon die Forderung der arithmetischen und algebraischen 
Kenntnisse, die er den Lesern seines Buches stellt, beweist seine 


") Der 6. Satz des VI. Buches. ?) Der 8. Satz desselben Buches. 


344 Abschnitt XXI. 


Absicht, die Darstellung der Elemente der Geometrie von den arith- 
metischen Prozessen der neuesten Analysis abhängig zu machen. Diese 
Absicht wurde auch von ihm in vollem Maße ausgeführt. Überall in 


seinem Buche setzte er die geometrische Größe, als durch eine Zahl 


ersetzt, voraus. In seiner Darstellung spricht er z. B. vom Produkt 
der Linien oder vom Produkt der Linien und Flächen. In den 
Beweisen, welche die Anwendung der Proportionen fordern, wendet 


er zur Proportion der Linien direkt arithmetische Theoreme an, die 


nur für die Proportion der rationalen Zahlen bewiesen sind. Auf 
diese Weise erscheint d’Alembert, dieser beste Darsteller der den 
Elementen der Geometrie gestellten zeitgemäßen Forderungen in der 


von ihm ausgesprochenen Ansicht über die Unnützlichkeit der Algebra 


für die Beweise in dem Gebiet der Elementargeometrie, als dem 
wahren Verständnis des Geistes der altgriechischen Methoden der 
Geometrie viel näher stehend, als Legendre, der sich die genaue 
Befolgung dieser Methoden als Ziel setzte. 


u 


Von den Lehrbüchern der Elementargeometrie in der zweiten | 


Hälfte des 18. Jahrhunderts stand seiner Verbreitung nach neben den 
„Elements de g6ometrie“ von Legendre ein gleichnamiges Lehrbuch, 
dessen Autor Sylvestre Francois Lacroix!) (1765—1843) war, 
ein Pariser von Geburt. Sein ganzes Leben war dem Unterricht der 
Mathematik gewidmet, was er als Professor an der Marineschule zu 
Rochefort seit 1782, an der Kriegsschule in Paris seit 1757 und an 
der Artillerieschule zu Besancon seit 1788, als Examinator der Aspi- 
ranten und Zöglinge des Artilleriekorps vom Jahre 1793, als Adjunkt- 
professor der beschreibenden Geometrie an der Normalschule, als Pro- 
fessor der Mathematik an der Zentralschule der vier Nationen, als 
Professor der Analysis an der Polytechnischen Schule vom Jahre 1799, 
als Professor der transzendenten Mathematik bei der Fakultät der 
Wissenschaften und seit 1815 auch am College de France durch- 
führte. Außerdem war er vom Jahre 1794 an Vorsitzender des Bureaus 
der Kommission zur Reorganisation des öffentlichen Unterrichts. Seine 
literarische Tätigkeit war ebenfalls beinahe ausschließlich dem Unter- 
richt der Mathematik gewidmet. Diese Richtung zu verändern zu- 
'gunsten der Ausarbeitung speziell wissenschaftlicher Fragen erwies 
sich selbst Laeroix, dessen Ernennung zum Mitglied der Akademie 
im Jahre 1799 erfolgte, nicht imstande. Seine wissenschaftliche Tätig- 
keit als Mitglied dieser Anstalt kennzeichnete sich beinahe ausschließ- 
lich durch Berichte über Werke, die ihm zum Durchsehen von der 





 Poggendorff, I, S. 1340. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der 
Mathematik, III?, S. 506. 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 345 


Klasse der Wissenschaften vorgelegt wurden, später genannt „Die 
Akademie der Wissenschaften“. 

Die Bestimmung als Elementarlehrbücher hatten folgende Werke 
von Lacroix: „Essais sur les plans et les surfaces“'); „Introduction 
ä la geographie mathematique et eritique et ä la geographie phy- 
sique“?); „Essais de geometrie sur les plans et les surfaces courbes“?); 
„Traite elementaire du caleul des probabilites“*); „Manuel d’arpen- 
tage“°); „Introduction & la connaissance de la sphere“.°) Die erste 
und dritte dieser Schriften und ebenso auch das „Complement des 
Elsmens de Geometrie ou El&mens de Geometrie descriptive“?) haben 
als erste ihren Gegenstand, die darstellende Geometrie, allgemein zu- 
gänglich gemacht und zu diesem Zweck ihre Prinzipien entwickelt. 
Der Popularisierung seines Gegenstandes waren auch das vierte Werk 
und die Artikel im „Dietionnaire des sciences naturelles“ und „Bio- 
graphie universelle“ gewidmet. In der letzteren ist besonders be- 
merkenswert der Artikel über Euklid, welcher eine wertvolle Analyse 
seiner Elemente enthält. | 

Das umfangreiche Werk Lacroix’ in der lehrenden Literatur 
war der am Anfang in sieben Bänden erschienene „Cours de Mathe- 
matiques & l’usage de l’Ecole centrale des Quatre-Nations“ in den 
Jahren 1796—1799. Die einzelnen Überschriften jedes Bandes dieses 
Werkes waren: „Trait6 el&mentaire d’Arithmetique“; „Elemens d’Al- 
gebre“; „Elemens de Geometrie“; „Traite elementaire de Trigono- 
metrie reeti-ligne et spherique, et d’application de l’Algebre ä la 
Geometrie“; „Complement des El&mens d’Algebre“; „Complement des 
El&mens de Geometrie, ou El&mens de Geometrie descriptive“; „Traite 
elementaire de Caleul differentiel et de Caleul integral“ Von der 
französischen Regierung als Leitfaden in den Lyzeen und mittleren 
Lehranstalten angenommen, bekam es sofort nach seinem Erscheinen 
eine sehr große Verbreitung, die sogar in der neuesten Zeit nicht ein- 
gebüßt ist, was aus seiner fünfundzwanzigsten Ausgabe im Jahre 1897 
zu ersehen ist. Es erschienen im Druck auch dessen Übersetzungen 
in andere Sprachen, wie zum Beispiel in die deutsche, russische 
und polnische. Die ausführliche Kritik seines Werkes und den Be- 
richt über die gemachten Vervollkommnungen in den Elementen der 
Mathematik gab Lacroix sechs Jahre nach dem Erscheinen des 
letzten Bandes in der Schrift „Essais sur l’enseignement en general, 
et sur celui des mathematiques en particulier“®), wo ihnen der $ III 





") 1 vol. 8°, Paris 1795. ?) 8°, Paris 1811. ®») Paris 1812. 0°, 
Paris 1816. °, 12°, Paris 1825. 6) 18°, Paris 1832. ”) 8°, Paris 1796. 
®) Paris 1805, 8°, 398 8. 
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 23 


346 Abschnitt XXI. 


in der zweiten Abteilung, „Analyse du Cours elementaire de Mathe- 
matiques pures ä usage de ’Eeole Centrale des Quatre-Nations“!) be- 
titelt, gewidmet ist. Zur großen Verbreitung der Lehrbücher Lacroix’ 
trug die Art der Darstellung bei, welche sich durch Klarheit, Ge- 
‚nauigkeit und Einfachheit ee 

In dem elementargeometrischen Teile des Kursus von Lacroix, 
welcher dem angenommenen Plan des Autors gemäß verfaßt ist, 
worüber er sich übrigens in seinem Bericht wenig aufhält, wird die 
Elementargeometrie in zwei Teile geteilt, welche nicht mit bikini 
Überschriften versehen sind. Die Übersicht ihres Inhalts jedoch zeigt 
[ klar, daß der erste Teil die Elementargeometrie der Ebene genannt 
werden soll, und der zweite die Elementargeometrie des Raumes. Mit 

der Einführung dieser Einteilung der Elemente der (Geometrie wich 
Lacroix der Unfolgerichtigkeit aus, in die Bertrand verfiel, indem 
er die Einteilung d’Alemberts annahm und zu gleicher Zeit es nicht 
wagte, aus dem zweiten Teil eine richtige Geometrie der Flächen zu 
Tusche Seinen ersten Teil verteilt er folgendermaßen: die erste Ab- 
teilung „Von den Eigenschaften der geraden Linien und der Kreis- 
linien“ und die zweite „Von dem Flächeninhalt des Vielecks und des 
Kreises“. Die zweite Abteilung hat keine Unterabteilungen. In der ersten 
befinden sich folgende Artikel: „Definitionen und vorläufige Begriffe“; 
„Von senkrechten und ah Linien“; „Theorie der parallelen 
Taniege: : „Von den Vielecken“; „Von der Geraden und der Kreislinie“; 
„Von den eingeschriebenen und umschriebenen Vielecken“. Die I 
Fehlen d’Alemberts über die gleichzeitige Betrachtung der geraden 
' Linie und der Kreislinie und über die Unterabteilung der ersten Ab- 
' teilung des ersten Teiles in zwei Hälften werden bei Laeroix über- 
“haupt nicht verwirklicht. Über den zweiten Teil endlich genügt es 
zu bemerken, daß er ebenfalls in zwei Hälften geteilt ist, von denen 
die erste betitelt ist „Über Ebenen und Körper, die von bei be- 
grenzt sind“ und aus den Artikeln besteht: „Über Ebenen und Gerade“; 
„Über durch Ebenen begrenzte Körper“; „Über das Ausmessen des 
Reinminhaltet und die zweite Hälfte unter dem Titel „Von den runden 
Körpern“ außer dem Artikel gleichen Namens noch den Artikel „Über 
die Vergleichung runder Körper“ enthält. : 

Der Bericht von Lacroix über den angenommenen Plan der 
Elemente der Geometrie ist sehr kurz und bezieht sich hauptsächlich 
auf die Geometrie der Linien. An den Anfang der letzten setzt er die 
Betrachtung der geraden Linien bezüglich der Vergleichung ihrer 
Längen und erst danach schreitet er zur Betrachtung ihrer relativen 


SER 


») p. 254—390. 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 347 


Lage. In diesem zweiten Teil seiner Darstellung der Geometrie der 
Linien vereinigt er vor allem alle Sätze, die über die Ahnlichkeit und 
Gleichheit der Dreiecke handeln, aus dem Grunde, daß die Dreiecke 
als Elemente aller andern Figuren erscheinen und außerdem am ein- 
fachsten die Lage der Punkte und Linien auf den Ebenen bestimmen. 
Danach geht er zur Ähnlichkeit und Gleichheit der Polygone über, 
und zum Schluß der Abteilung setzt er die Artikel über den Kreis 
und die in Verbindung mit ihm stehenden geraden Linien. Aus der 
Verteilung der Sätze in der ersten Abteilung der Elementargeometrie 
kann man leicht den Schluß ziehen über ihre Verteilung in den andern 
Abteilungen, die dem Ausmessen der Flächeninhalte, den Ebenen und 
den Eigenschaften der Körper gewidmet sind, mit Hilfe der zwischen\ 
allen diesen Teilen existierenden Analogie, deren Anwendung im Unter- | 
richt Lacroix großes Gewicht beilegt, als Mittel das Gedächtnis und‘ 
die Gewohnheit zur Verallgemeinerung der Ideen des Lernenden zu 
stärken. Wenn die Analogie beim Beweise einiger Sätze nicht durch- 
geführt werden kann, wie es manchmal vorkommt, so muß sie dennoch, 
wenn auch nur im Verteilen der Sätze und in der Art der Darstel- 
lung aufrechterhalten werden. Aus den Sätzen der Elementargeometrie 
gehören, nach der Meinung von Lacroix, bloß zwei Arten von 
Sätzen in die Elemente der Geometrie, erstens die zum Verständnis 
des Ganges des Denkens erforderlichen Sätze, beim Betrachten der 
Figuren mit Hilfe der synthetischen Methode, und zweitens solche, 
die aus praktischen Operationen der Geometrie folgen, wie zum Bei- 
spiel das Reißen, Vermessen usw. Was übrigens die Sätze der zweiten 
Art anbetrifft, findet es Lacroix für notwendig zu bemerken, daß aus 
ihnen nur solehe gewählt werden sollen, die als wirklich bequem und 
anwendbar anerkannt werden können. Seinen Plan der Elemente vo 
Geometrie hält Lacroix auf Grund seiner langjährigen pädagogischen 
Erfahrung für natürlich und streng. 

Da er im Worte „die gerade Linie“ den direkten Ausdruck der 
unmittelbaren Resultate der Tätigkeit der Gefühle sieht, nämlich der 
Vorstellung des kürzesten Weges, der zu verfolgen ist, um von einem 1 
Punkt zum andern zu gelangen, führt Lacroix die Definition der 
geraden Linie auf den Ausdruck dieser einzigen Eigenschaft zurück. 
Die Definition des Begriffs in diesem Falle erhält er auf diese Weise 
mit der Definition der Bedeutung des Wortes, welche in folgendem 
Satze enthalten ist: der kürzeste Abstand zwischen zwei Punkten wird 
die gerade Linie genannt. Indem er die Ansicht über die Punkte, 
Linien und Flächen, als abstrakte Begriffe, die außerhalb uns selbst 
keine Objekte haben, verneint, findet er, daß sie wirklich existieren, 


wenn sie auch, getrennt vom Körper, dem sie angehören, nicht ge- 
23* 


348 Abschnitt XXI. 


dacht werden können. Jeder Körper muß in Wirklichkeit abgegrenzt 
sein, sonst wird er sich vom unendlichen Raume nicht unterscheiden. 
Solche Grenzen sind eben die Flächen, die ihrerseits wieder als Grenzen 
die Linien haben, und diese letzten — die Punkte. Alle diese Grenzen 
existieren nicht nur in Wirklichkeit, sondern stehen auch gerade 
unseren Sinnen vor, weil diese ohne ihre Hilfe keine Figuren der 
Körper kennen würden. Von der Darlegung dieser Ansichten muß 
auch die Darlegung der Elemente der Geometrie anfangen. Lacroix 
führt es auch wirklich in seinem Lehrbuche durch, indem er seinem 
ersten Teil die der oben genannten Auslegung gewidmete Stelle voran- 
schickt, nämlich den „Hauptbegriff der Ausdehnung“. 

Alle Axiome in Form einer Sammlung an den Anfang der Eiemente 
zu setzen, findet Lacroix nutzlos, sogar lächerlich, weil ihrer 
Natur nach sich keine Hindernisse in den Weg stellen können, sich 
ihrer bei Beweisen dort zu bedienen, wo es als notwendig erscheint. 
Als Definition, die besonderer Aufmerksamkeit wert ist infolge ihrer 
völligen Unzulänglichkeit bei Euklid und die überhaupt ernste Schwie- 

Crigkeiten bietet, findet Lacroix die Definition des Winkels. Um diese 
zu umgehen, schlägt er sogar vor, überhaupt keine Definition zu 
' geben, sondern sich mit der Bekanntmachung mit dem Winkel oder 

\direkt durch den Gegenstand selbst zu begnügen. In seinem Lehr- 
buche führt er dieses jedoch nicht durch und begnügt sich, nach 
seinen eigenen Worten, mit der ungenügenden Definition des Winkels, 
als eines unbestimmten Raumes, eingeschlossen von zwei geraden 
Linien, die sich in irgend einem Punkte treffen, und die man sich als 
beliebig verlängert vorstellen kann. Derselben Definition bedient sich 
auch Bertrand, jedoch in folgendem viel genauerem Satze: Ein 
Winkel ist der Teil einer ebenen Fläche, eingeschlossen von zwei 
geraden sich schneidenden Linien, die im Punkte ihrer Begegnung 
endigen. 

Verhältnismäßig viel Platz, wie es eigentlich auch sein soll, 
widmet Lacroix in seinem Berichte dem in verschiedenen Teilen der 
Elemente der Geometrie sich antreffenden Übergang vom Endlichen 
zum Unendlichen. Solcher Fälle, die denselben augenscheinlich oder 
nichtaugenscheinlich darstellen, existieren drei: 1. der Übergang vom 
Kommensurabelen zum Inkommensurabelen, der in der Theorie der 
proportionalen Linien gemacht wird; 2. der Übergang von geraden 
Linien zu krummen, der beim Ausmessen des Kreises und der runden 
Körper vorkommt; 3. das Auftreten der Gleichheit des Rauminhaltes 
von Körpern in Fällen, wo das Prinzip der Kongruenz unanwendbar 

' ist, was als Folge davon erscheint, daß der Körper eine Größe von 
drei Dimensionen ist. Als einfachstes Mittel in solchen Fällen, dieser 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 349 


Betrachtung vom Unendlichen auszuweichen, bezeichnet Lacroix die 
Grenzen. Die beim Gebrauch dieses Mittels angewandten Prinzipien, 
als gemeingültig für Sätze dieser Art, müssen getrennt von ihnen und 
unabhängig von den Linien dargestellt werden, als Prinzipien, die 
nicht nur auf Größen, die in den Elementen der Geometrie betrachtet 
werden, anwendbar sind, sondern auch auf andere Größen. Dank 
diesen Folgerungen stellt Lacroix die erwähnten Prinzipien in fol- 
genden Formen dar: 1. Wenn bewiesen werden kann, daß die Diffe- 
renz zweier unveränderlicher Größen kleiner ist, als jede gegebene 
Größe, wie klein sie auch wäre, so folgt daraus, daß die beiden ersten 
Größen einander gleich sind. 2. Wenn von drei Größen eine sich 
verändernde und dabei immer größere, als die beiden anderen, die 
_ unveränderlich bleiben, sich gleichzeitig einer jeden von ihnen nähern 
kann, so nahe wie nur wünschenswert, so sind die beiden unveränder- 
lichen Größen einander gleich. Indem er diese beiden Theoreme als 
Ausdruck, wenn auch nicht als offenbaren, der ersten Gründe der 
Grenzmethode ansieht und die angenommene Form des zweiten sich 
zuschreibt, spricht er die Überzeugung aus, daß diese letzte besonders 
die Eigenschaft besitzt, alle ihrer bedürftige Beweise zu vereinfachen, 
bedeutend zu verkürzen und sie symmetrischer zu machen. In seinen 
Elementen der Geometrie setzt er das erste Theorem an den Anfang 


des Artikels über die Rektifikation des Kreises und das zweite an — 


den Anfang des Artikels vom Ausmessen des Flächeninhaltes des 
Kreises. Zu zeigen, daß je mehr sich die geradlinigen Figuren den 
krummlinigen nähern, sich auch das Maß der ersten dem Maße der 
zweiten nähert — das sei die Hauptsache, auf die nach Laecroix’ 
Meinung die Aufmerksamkeit gerichtet werden muß, bei Anwendung 
dieser beiden Theoreme zum Übergang von geraden Linien zu krummen. 
Als Erfindung kann hier bloß die Methode der Annäherung angesehen 
werden, die am Ende mit Hilfe der Induktion die gesuchte strenge 
Bedeutung der betrachteten Größe offenbart. 

Laeroix gibt den Rat, die apagogische Methode nur zum Be- \ 
weis der einfachsten Sätze anzuwenden. In allen komplizierten Fällen | 
jedoch muß man seiner Meinung nach dieser Methode ausweichen, 
weil sie den Verstand überzeugt, ihn jedoch nicht erleuchtet. Zu 
diesen Ansichten und ebenso auch zur oben angeführten Überzeugung 
von der Möglichkeit, die Methode der Grenzen in allen Fällen des Über- 
gangs vom Endlichen zum Unendlichen anzuwenden, gelangte La- 
eroix augenscheinlich nach dem Erscheinen der ersten Ausgaben 
seiner Elemente der Geometrie. In ihnen benutzte er wirklich bei 
Beweise der Sätze, die vom Übergang von den kommensurabelen N‘ 
inkommensurabelen Größen handeln, in Übereinstimmung mit d’Alem- ) 


350 Abschnitt XXI. 


|  bert und Bertrand die apagogische Methode Von diesem 


anfänglichen, von ihm gewählten Wege zugunsten seiner er- 
wähnten Überzeugung abzugehen, findet er übrigens auch in 
allen folgenden Ausgaben seiner Elemente der Geometrie nicht 
für nötig. 

Dem Bestreben zur Verminderung der Anzahl der einzelnen Sätze, 
das so klar bei Bertrand ausgedrückt ist, bleibt auch Lacroix nicht 


fremd. Als Anlaß dazu dient ihm die Erwägung, daß es nötig sei, 


die Ausführlichkeit zugunsten der Forderungen der Wissenschaft an 
den Unterricht, die sich infolge des Fortschritts immer vergrößern, 
zu opfern und zugleich das existierende Verhältnis zwischen dem Um- 
fang und der gegebenen Zeit des Unterrichts aufrecht zu erhalten. 
Als die bemerkbarste Folge des betrachteten Bestrebens in den Ele- 
menten der Geometrie von Lacroix erscheint das Auslassen. des 
Satzes über das Zerlegen des Rauminhaltes der abgestumpften Py- 
ramide und ebenso auch des abgestumpften Kegels. Indem er vor- 


‘schlägt, in Beziehung auf diese Sätze dem von Bertrand eingeschla- 
\genen Weg zu folgen, bemerkt Lacroix in seinem Bericht, daß aus der 


Auslassung der eigenartigen Art des Beweises dieser Sätze keine Un- 
bequemlichkeit entstehen kann, weil dieselbe Art der Beweisführung 
auch beim Beweise des Theorems über das Zerlegen des abgestumpften 
dreiseitigen Prismas angewandt wird, welches niemals ausgelassen 
werden darf. 

Zum Schluß seiner Bemerkungen vom Übergang vom Endlichen 
zum Unendlichen in den Elementen der Geometrie bleibt Lacroix 
bei der Darstellung der Bedeutung der Arbeiten von Robert Simson 
stehen, die sie nach seiner Meinung in der Literatur der Elementar- 
geometrie hatten, welche mit seiner Ausgabe der Elemente des Euklid 
in Verbindung standen, und bei dem oben erwähnten Werk von 


/Bertrand. Indem er auf diese Ausgabe Simsons, als auf eine 
\ wichtige Erscheinung in der Geschichte der Geometrie hinweist, 


ebenso auch auf das Werk Bertrands, sagt er, daß sie die geringe 
Anzahl von Sätzen enthalten, die ar sind, um die richtigen An- 
sichten in allen schwierigen Stellen der Elementargeometrie mit Hilfe 
der Mittel allein, die uns die Werke der Alten liefern, festzustellen. 
Nach Erscheinung dieser beiden Bücher kann seiner Meinung nach 
in den Elementen der Geometrie keine Veränderung mehr, außer der 
Anordnung des Inhaltes, vor sich gehen. 

Die in den eben erwähnten Meinungen von Lacroix geäußerte 
Ansicht über die Grundbedeutung der Vervollkommnung der Bearbei- 
tung der Sätze, die vom Übergang vom Endlichen zum Unendlichen 
handeln, teilt auch vollkommen der russische Gelehrte Simeon Gu- 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 351 


rief!) (1766—1813). Er war in den Jahren 1778—1784 in Peters- 
burg Schüler im Artillerie- und Ingenieurkadettenkorps. Infolge der 
schon hier sich kundgebenden Neigung zur Beschäftigung mit der 
Mathematik mußte er die Grenzen des elementaren Kursus dieser Wissen- 
schaft überschreiten. Nachdem er das Korps im Range eines Ofhi- 
ziers verlassen hatte, widmete er seine Tätigkeit nieht dem Militär- 
dienst, sondern dem Unterricht der Mathematik und gelehrten Arbeiten 
in dieser Sphäre. Anfangs war er Lehrer der Navigation und Artillerie 
in dem griechischen Kadettenkorps in Petersburg, Der Mangel 
an Werken über Navigation, die der zeitgemäßen Lage der Wissen- 
schaft entsprachen, in der russischen Literatur bewog Gurief, den 
sechsten Teil des „Cours de mathematiques“ von Bezout, der diesem 
Gegenstand gewidmet war, ins Russische zu übersetzen und ihn unter 
dem Titel „Nautische Untersuchungen“?) herauszugeben. In dieser 
Ausgabe fügte er viele eigene Ergänzungen bei, von ihnen als wich- 
tigste die in russischer Sprache zum ersten Male gelehrte Differential- 
und Integralrechnung.?°) Im Jahre 1792 machte Gurief eine Reise 
nach England, um dort die hydraulischen Arbeiten zu studieren. Nach 
der Rückkehr im Jahre 1795 wurde ihm die Vorlesung der physico- 


- mathematischen Wissenschaften und der Artillerie für die Offiziere 


der Ruderflotte anvertraut, und seine umfangreichen Kenntnisse in der 
reinen und angewandten Mathematik, die er durch das Studium der 
besten Autoren erworben hatte, lenkten auf ihn die Aufmerksamkeit 
der Akademie der Wissenschaften in Petersburg, die ihn am 26. Mai 
1796 zum Adjunkten der physico-mathematischen Wissenschaften er- 
nannte. Sehr bald nach dieser Ernennung, nämlich im Jahre 1798 
am 31. Januar, wurde er zum ordentlichen Akademiker befördert. Die 
ersten wissenschaftlichen Arbeiten von Gurief, die er der St. Peters- 
burger Akademie der Wissenschaften bis zum Jahre 1800 vorlegte, 
waren folgende: „Memoire sur la resolution des prineipaux problemes 
qu’on peut proposer dans les courbes dont les ordonndes partent 
d’un point fixe.“*) „Essai de d&montrer rigoureusement un theor&me 
fondamental des equations de condition de la differentielle des fone- 
tions & plusieurs variables, et du caleul des variations“.’) „Obser- 
vations sur le theoreme de Taylor, avec sa demonstration par la 
methode des limites; application de ce theor&me, ainsi d&montre, ä la 
‚demonstration du binome de Newton, dans le cas oü l’exposant est 
une quantite fractionnaire, negative et incommensurable avec l’unite; 


') Memoires de l’Academie Imp6eriale des sciences de St. Petersbourg, VI 
(1818). Histoire, p. 4—6. — Poggendorff, I, 8. 380. °) 2 Bände, St. Peters- 
burg 1790—91, 4°. °) 598. *) Nova Acta Academiae Scientiarum Imperialis 
Petropolitanae, T. XII, p. 176—191. 5), Ebenda, T. XII, p. 154—165. 


352 Abschnitt XX1. 


suivie de la resolution d’un probleme qui concerne la methode in- 
verse des tangentes, par le moyen de ce theoreme“.!) Eins der Resultate 
der literarischen Berühmtheit, die Gurief dank seiner wissenschaftlichen 
und lehrenden Tätigkeit erlangte, war seine Ernennung am 1. Septem- 
ber 1800 zum Mitglied der Russischen Akademie zu St. Petersburg. 

Die Reform des Lehrfaches und das Eröffnen einiger neuen 
höheren Lehranstalten im Anfange des 19. Jahrhunderts in Rußland 
eröffneten Guriefs Begabung als Lehrer neue Gebiete zur Tätigkeit. 
Im Jahre 1800 wurde er zum Professor der Mathematik an der Schule 
der Schiffsarchitektur ernannt, im Jahre 1809 in der geistlichen 
Akademie zu St. Petersburg und im Jahre 1810 im Institut des Korps 
der Ingenieure der Kommunikationswege. Bei Eröffnung der zweiten 
dieser Lehranstalten verlas er die später gedruckte „Abhandlung über 
Mathematik und ihre Zweige“.?) In den Ausgaben der Akademie der 
Wissenschaften waren 23 Schriften und Abhandlungen gedruckt, die 
er in ihren Sitzungen vom Jahre 1800 an verlas. Als Mitglied einiger 
Kommissionen, die von der Akademie der Wissenschaften zum Durch- 
sehen der ihr vorgelegten Arbeiten und Erfindungen gebildet wurden, 
beteiligte sich Gurief an der Zusammenstellung zweier Berichte. Die 
Hauptgegenstände der wissenschaftlichen Arbeiten von Gurief, welche 
in den Ausgaben der Akademie der Wissenschaften gedruckt wurden, 
waren Mechanik, Geometrie und Differentialrechnung. 

Die Zwischenstellung in den wissenschaftlichen und lehrenden 
Arbeiten von Gurief nahmen ein: „Die Grundlagen der Differential- 
rechnung mit deren Anwendung auf Analytik“.?) „Grundlagen der 
transzendenten Geometrie der krummen Flächen“.*) „Grundlagen der 
Mechanik“.°) Rein lehrende Arbeiten von Gurief, die im 19. Jahr- 
hundert erschienen, und die ausschließlich der Elementarmathematik 
gewidmet waren, waren folgende: „Der erste Teil des nautischen Lehr- 
kursus, die Grundlagen der Geometrie enthaltend“®); „Das erste Buch 
der Zahlenlehre, die Grundlagen der Arithmetik enthaltend“”); „Grund- 
lagen der Geometrie“.?) 

Aus der gelehrten Tätigkeit von Gurief ist als charakteristisch 
zu bezeichnen sein besonderes Interesse für festere Begründung der 
schon bekannten Wahrheiten und der schon festgestellten Prinzipien. 
Seinem methodischen Verstande, welcher von der Verehrung der 
strengen Methoden der altgriechischen Geometrie durchdrungen war, 
waren die Arbeiten in dieser Richtung kostbarer, als die Aufdeckung 





!) Nova Acta Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, T. XIV, 
p. 306—335. ?) 4°, St. Petersburg 1809. ®) 4°, St. Petersburg 1811. 
4) 4°, ib. 1806. >) 8°, ib. 1815. ©) 4°, ib. 1804—1807, 2 Bände. ?) 4°, ib, 
1805. ®) 8°, ib. 1811. 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 353 


neuer Wahrheiten. Außer den Arbeiten über die Differentialrechnung, 
die dieser Riehtung angehörten, und einigen anderen gehören dazu 
noch einige Arbeiten, die, obgleich nicht gedruckt, so doch der Aka- 
demie der Wissenschaften vorgelegt waren, wie zum Beispiel das von 
ihr am 26. Mai 1796 handschriftlich erhaltene Werk „Anfangsgründe 
der transzendenten Geometrie und der Differentialrechnung, abgeleitet 
aus der wahren Natur ihres Gegenstandes“, oder des von ihm im Jahre 
1797 verlesenen Manuskripts „Versuch der Begründung der Mathe- 
matik auf festen Gründen“. 

Die ersse seiner Arbeiten dieser Art, die im Druck erschien, war 
„Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geo- 
metrie“!). Direkte Ursache zum Verfassen dieses Werkes war der Ver- 
such, die Beweise der Theoreme, die über den Übergang vom Endlichen 
zum Unendlichen handelten, von dem verbreiteten Gebrauch der Unteil- 
baren von Cavalieri und der Unendlichkleinen von Guldin zu befreien. 
Um der Geometrie ihre Genauigkeit und Klarheit wiederzugeben, die sie 
nach der Meinung des Autors, infolge des Gebrauches dieser Größen, 
oder, was dasselbe ist, infolge der Einführung der von ihnen dar- 
gestellten Methode der Unteilbaren eingebüßt hat, stellt er an Stelle 
der letzteren die Methode der Grenzen, die er aus den obengenannten 
Werken d’Alemberts und des Abbe de la Chapelle entnimmt. 
Indem er jedoch die darin gegebene Definition der Grenze als un- 


genügend und unbestimmt findet, stellt er sie, um die darin befind-_ 


lichen Mängel zu beseitigen, in folgender Form dar: „Wenn irgend 
eine Größe durch irgend eine bestimmte bis in die Unendlichkeit 
dauernde Operation sich vergrößert oder vermindert, und dadurch 
sich einer anderen unveränderlichen Größe so nähert, daß sie sich 
von ihr weniger unterscheidet als um irgend eine willkürlich ge- 


nommene Größe derselben Art und mit alledem sie doch niemals er- 
reicht, so ist diese andere unveränderliche Größe dasjenige, was man 


die Grenze der ersten sich vergrößernden oder vermindernden 
Größe nennt.“?) Indem er als Grundsatz der Methode der Grenzen 
den ersten der beiden von de la Chapelle anerkannten Sätze an- 
nimmt, stellt Gurief den Beweis, den d’Alembert diesem Satz gab, 
in folgender veränderter Form dar: „Nehmen wir an, daß X die sich 
vermehrende Größe ist und A, B ihre beiden Grenzen sind, so sind 
sie, wenn nicht einander gleich, die eine größer als die andere. 
Nehmen wir an, daß A größer ist als B um eine unveränderliche 
Größe D, so wird infolgedessen, daß A und B zwei unveränderliche 
Größen sin, A=B+D sein. Da aber X immer kleiner ist als B, 


N) St. Petersburg 1798, 4°, 264 S. mit 5 Tafeln. 2) Gurief, Ver- 
such, S. 34. 





—ı 


354 Abschnitt XXIL 


so kann der Unterschied zwischen X und B+ D niemals kleiner 
werden als D, kann auch folglich nicht kleiner werden als jede willkür- 
lich gegebene Größe, und dB+D=A ist, so kann auch die Diffe- 
renz zwischen X und A nicht kleiner werden als jede willkürlich ge- 
gebene Größe und A ist folglich nicht die Grenze von X, was der Vor- 
aussetzung widerspricht, folglich usw.“!) Dieses Satzes bedient sich 
Gurief in allen Fällen im ersten Kapitel seines Werkes, welches dem 
Übergang vom Endlichen zum Unendlichen gewidmet ist, außer dem 
Fall des Übergangs vom Kommensurabelen zum Inkommensurabelen, 
welchem das zweite Kapitel bestimmt ist. Der Inhadt des ersten 
Kapitels wird vom Verfasser als „Sätze, in denen die Gleichheit zweier 
Größen aus drei Arten von Dimensionen begründet werden“, bezeichnet. 
Als zweiten Grundsatz der Methode der Grenzen, deren er sich aus- 
schließlich im zweiten Kapitel bedient, wo er auch angeführt wird, 
nimmt Gurief folgendes an: „Wenn zwei sich vergrößernde oder ver- 
mindernde Größen X und Y, die als Grenzen A und B haben, sich so ver- 
halten, wie zwei unveränderliche Größen © und D, so werden sich auch 
ihre Grenzen A und B so verhalten, wie diese unveränderlichen Größen C 
und D“?). Die Sätze, „deren genauer und klarer Beweis“ den Gegen- 
stand des zweiten Kapitels bilden, werden in dessen Überschrift als 
solche charakterisiert, „in denen die Proportionalität zweier Größen 
aus drei Arten von Dimensionen zu zwei anderen Größen derselben 
oder einer anderen einfachen Dimension gesucht wird“?). Diese 
beiden Kapitel in Verbindung mit den Elementen des Euklid bilden, 
nach der hochmütigen Meinung ihres Autors, das vollständig ge- 
nügende Material für die Elemente der Geometrie, so wie sie sich 
d’Alembert wünscht, und zu deren Zusammenstellung nach der 
Meinung des letzteren die Kräfte der größten Geometer, wie Des- 
cartes, Newtons, Leibniz’ und Bernoullis erforderlich sind. 
Den Plan solcher Elemente, den d’Alembert zusammengestellt hatte, 
sah Gurief nicht als den’ auserwähltesten an, und zog ihm den von 
Euklid angenommenen vor. Über Gurief kann man sagen, daß er 
zu dem in Rußland sehr verbreiteten Typus gebildeter Leute ge- 
hörte, die große Ehrfurcht für die alten Autoren fühlen, und gleich- 
zeitig sehr ungenügende Kenntnisse von ihnen besitzen. Die authen- 
tischen Werke der alten Geometer und besonders die des Euklid 
und Archimedes kannte er so oberflächlich, daß er mit Gewißheit 
zu behaupten wagte, daß die Exhaustionsmethode von der Methode 
Newtons der ersten und letzten Verhältnisse herstamme, und daß 
sie bei den alten Geometern gar nicht gebraucht worden seit). Diese 


!) Gurief, Versuch, S. 35. 2) Ebenda, 8. 152. 3) Ebenda, S. 105. 
4) Hbenda, $. 26—27. 





Lehrbücher der Elementargeometrie. 355 


Behauptung sprach er zum Zwecke der Widerlegung der entgegen- 
gesetzten Meinung des Abbe de la Chapelle aus. In demselben 
Werk gibt Gurief, wenn auch einen sehr umfangreichen, jedoch 
lange wicht den ganzen Gegenstand erschöpfenden kritischen Überblick 
der Elemente der Geometrie von Legendre. 

Unter den Lehrbüchern der Elementargeometrie, die in der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen, nennen wir auch das 
Lehrbuch, welches eingeschlossen war in dem umfangreichen Werk 
des Mitgliedes der Pariser Akademie der Wissenschaften Bezout, 
„Cours de mathömatiques“'), das alle Abteilungen der Wlaniertar- 
eiliknintil, Mechanik und Navigation umfaßte. Außer den Über- 
setzungen in viele europäische Sprachen erschienen die Ausgaben 
der einzelnen Teile dieses Kursus während der ganzen ersten Hälfte 
des 19. Jahrhunderts?). Beim Zusammenstellen der in diesem Kursus 
befindlichen Elemente der Geometrie bemüht sich der Verfasser, so- 
weit es in seinen Kräften stand, den obengenannten Anweisungen und 
_dem Plan d’Alemberts zu folgen. Dieses gut durchzuführen, gelang 
ihm jedoch nicht. Sein Werk, wie es schon von der zeitgemäßen 
_Kıitik bemerkt wurde, zeichnete sich durch Mangel an Strenge aus. 
Vieles, was er voraussetzte und als augenscheinliche Folge benannte, 
bedürfte-des_Beweises. Einer der Hauptgründe des Mißlingens, das 
Bezout traf, war sein Verfolgen einiger Nebenzwecke, wie z. B. das 
Bestreben, das Examen sowohl dem Examinator, als auch dem Exami- | 
nanden zu erleichtern. 

Wenn die bis jetzt betrachteten Schriften über die Elementar- 
geometrie im vollen Sinne des Ausdrucks als Elemente der Geometrie 
sich erwiesen, die von d’Alembert genau festgestellt waren, so ist 
der der Geometrie gewidmete zweite Teil der „Anfangsgründe der 
Arithmetik, Geometrie, ebener und sphärischer Trigonometrie und 
Perspektive“®) von Kästner‘) Muster eines anderen Typus der Ele- 
mente der Geometrie, der außer den allgemeinen auch spezielle Ziele 
verfolgt. Dieser Typus hat dank der ihn reichlich vertretenden 
Werke schon lange sein Bürgerrecht bekommen. Aus den angewiesenen 
verschiedenen Formen in dem Aufsatz „Des elemens de Geometrie?) 





) 80%, 6 Bände, Paris 1764—69. ?) Es wurde bis zum Jahre 1852 in 
vielen neuen Ausgaben verlegt, und in Übersetzungen in der deutschen, russischen 
und polnischen Sprache. Mit der Umarbeitung einiger seiner Teile, die zum 
Zweck hatte, einige darin enthaltene Unvollkommenheiten zu beseitigen, be- 


schäftigten sich Baron Reynaud, Garnier, Reboul und Peyrard. A 
Göttingen 1758, 6. Aufl., ib. 1800. *%, Cantor, Vorlesungen über Geschichte 
der Mathematik IIT®, S. 576. 5) Eucyclopedie methodique. Mathe&matiques 


II, p. 136. 


356 Abschnitt XXII. 


von d’Alembert, in denen die Elemente der Geometrie dargestellt 
werden können, je nach den Forderungen, die von verschiedenen Gruppen 
von Lesern an sie gestellt werden, nähert sich das Werk von Kästner 
am nächsten der Form eines Traktates über die praktische Geometrie, 
das von Spekulationen begleitet wird, welche bis zu einem gewissen Grade 
die praktischen Operationen zu erleuchten imstande sind, und verhindern, 
daß man sich mit der blinden Routine allein begnüge. Der erste Teil 
/ der Geometrie von Kästner besteht aus der Geometrie der Ebene und der 
\ Anwendung der in ihr vorgelegten Regeln zur praktischen Geometrie. 
Unmittelbar nach dem ersten Teile folgt die Darstellung der ebenen 
‚ Irigonometrie, welche auf diese Weise den Charakter eines Anhangs 
' oder sogar eines Schlußteils des Traktats über die praktische Geo- 
metrie der Ebene bekommt. Den zweiten Teil der Geometrie von 
Kästner stellt die Geometrie des Raumes dar, wonach unmittelbar 
als Ergänzung oder ihr Schlußteil die sphärische Trigonometrie folgt. 
Die theoretische Abteilung des ersten Teiles enthält die Geometrie 
der geraden Linie und der Kreislinie. Die Reinheit seiner Darstellung 
wird durch die Einführung zweier Theoreme aus der Geometrie der 
Flächen gestört: des Theorems des Pythagoras und des Theorems 
über das Verhältnis der Flächeninhalte von Dreiecken mit gleicher 
Höhe. Die Abteilung beginnt mit der Erklärung von Definitionen, 
Postulaten und Axiomen. Von den Definitionen, die Kästner gibt, 
genügt es, folgende anzuführen: „Die gerade Linie ist eine solche, 
deren Punkte gerade nach einer Seite hin liegen.“ „Die Kurve jedoch 
ist eine Linie, in welcher zwischen zwei möglichst nahe aneinander 
gelegenen Punkten sich immer einige Punkte befinden, die nicht mit 
ihnen zusammen auf einer geraden Linie liegen.“ „Die Ebene ist 
eine Fläche, von deren jedem Punkt zu ihren anderen Punkten man 
gerade Linien führen kann, so daß alle ihre Punkte sich auf derselben 
Fläche befinden werden.“ „Ebener Winkel ist die gegenseitige 
Neigung zweier Linien, die auf einer Ebene liegen, und welche nicht 
eine gerade Linie bilden.“ Folgende Sätze sieht Kästner als Axiome 
an: 1) Durch jede zwei Punkte geht nur eine gerade Linie. 2) Wenn 
zwei gerade Linien zusammentreffen, ohne eine Gerade zu bilden, so 
“werden sie außer einem Punkt nichts gemeinschaftlich haben. 
3) Größen, die so aufeinander gelegt werden können, daß die Grenzen 
der einen und was zwischen ihnen enthalten ist, zusammenfallen mit 
den Grenzen und allem was zwischen ihnen sich befindet, der anderen sind 
einander gleich und ähnlich. 4) Gleiche gerade Linien und gleiche 
Winkel decken einander. 5) Alle rechten Winkel sind einander 
gleich, weil sie sich gegenseitig decken. 6) Der Durchmesser teilt 
den Kreis in zwei ähnliche und gleiche Teile. 7) Die Peripherie 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 357 


des Kreises um das Zentrum ist eine ununterbrochene Kurve. 8) Eine 
unbestimmte gerade Linie teilt eine unbestimmte Ebene, auf der sie 
gelegen ist, in zwei Teile, die auf den ihnen entgegengesetzten Seiten 
gelegen sind. Mit Ausnahme der zwei angeführten Theoreme ist die‘ 
‚ganze Geometrie der Flächen und mit ihr das Ausmessen des Kreis- | 
umfanges von Kästner in die Abteilung der praktischen Geometrie) 
zugerechnet. Als auf eine bemerkenswerte Eigenartigkeit der Geo- 
metrie von Kästner ist auf die Einheit der Mittel der Beweisführung 
von Sätzen, die vom Übergang vom Endlichen zum Unendlichen 
handeln, hinzuweisen. In beiden Fällen dieses Überganges, d. h. ebenso 
wie beim Übergang von den kommensurabelen zu inkommensurabelen 
Größen, ebenso auch beim Übergang von geraden Linien zu krummen 
wird in ihr gleichförmig dieselbe Methode gebraucht, nämlich die” 
Exhaustionsmethode. 

Von den anderen Lehrbüchern der Elementarmathematik, die in 
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verlegt worden sind, waren 
in der Heimat ziemlich verbreitet, und sogar außerhalb derselben 
einigermaßen bekannt, die Werke des Professors der Mathematik und 
Physik an der Universität zu Rostock, zu Bützow und zu Halle 
Wenceslaus Johann Gustav Karsten (1732—1787)!) „Lehrbegriff 
der gesammten Mathematik“?); „Anfangsgründe der mathematischen 
Wissenschaften“?) und „Auszug aus den Anfangsgründen und dem 
Lehrbegriff der mathematischen Wissenschaften“*). Als bemerkens- 
werte Eigenschaft des den Elementen der Geometrie gewidmeten 
Teiles dieses Werkes erschien die vollkommene Beseitigung der An- 
forderung an den Leser, anfängliche Kenntnisse der Arithmetik und 
Algebra zu besitzen. Um diesen Umstand vielleicht stärker zu be- 
tonen, fängt die Darstellung der Teile der Be a NOIR. mit 
der 6 asia an. Urs; sm: & 

“Der Wunsch d’ Alemberts, als Autoren .- Elemente der Geo- 
metrie Geometer vom ersten Raupe zu sehen’), wurde in der zweiten 


Hälfte des 18. Jahrhunderts von Euler und Legendre erfüllt. Je- 





doch bekam das obenerwähnte Werk Eulers gar keine Bekanntheit Qua 


und außerhalb Rußlands gar keine Verbreitung. Was das Werk von 
Legendre anbetrifft, so entsprach es überhaupt den Forderuugen \ 
d’Alemberts nicht, bei Darlegung der Elemente der Geometrie dem 
Weg zu folgen, dem die sie erschaffenden Forscher in ihren Ent- 
deckungen folgten, d. h. eben derjenigen Forderung, welche d’Alem- 


) Poggendorff, I, S. 1224—1225. ?) 8 Bücher, 8°, Greifswald 1767—77, 
2. Aufl. 1782—91. ») 3 Bücher, 8°, Rostock 1780. *) 2 Bücher, 8°, Greifs- 


wald 1781, 2. Aufl. ib. 1785. °) Encyclopedie methodique. Math@matiques II, 
p. 135—136. 


\ 
1 


j 
) 


et 


358 Abschnitt XXI. 


bert zwang, Mathematiker vom ersten Range zum Zusammenstellen 
der Elemente der Geometrie zu bewegen. Sogar Euklid, wenn nicht 
in der Beweisführung, so im Verteilen des Inhalts einiger Teile seines 
Buches, stand den Anforderungen d’Alemberts näher als Legendre. —— 
Und überhaupt kann man an der Fähigkeit und der Möglichkeit für 
‘Mathematiker vom ersten Range den Anforderungen d’Alemberts 
ver genügen, stark zweifeln, sie sogar absprechen. Auf einen der 
Gründe dieser Zweifel, nämlich auf das Vorhandensein unbewußter 
schöpferischer Prozesse oder, nach dem Ausdruck d’Alemberts, auf 
/den Fall, wenn der Forscher sich mehr von einer Art des Instinktes 
\als von Vernunftschlüssen leiten läßt, weist d’Alembert schon selbst 
hin. Aber außer diesem Grunde, und schon nicht allein zum Zweifel, 
sondern zum Verneinen, können auch andere angeführt werden. 
Gegen die Möglichkeit, für Mathematiker vom ersten Range der 
neuen und neuesten Zeiten auf die Wege zurückzukehren, auf denen 
die Schöpfer der Elementargeometrie bei ihrem Erschaffen gingen, 
sprechen noch folgende Verhunftschlüsse. Das Erschaffen der grie- 
chischen Geometrie, durch die Elemente von Euklid dargestellt, als 
Resultat der im Laufe großer Zeiträume sich entwickelnden Kollektiv- 
arbeit solcher Schöpfer, welche einer langen Reihe von aufeinander 
folgenden Generationen und dabei so verschiedenen Nationen, wie 
der ägyptischen, griechischen und den mehr oder weniger bekannten 
anderen angehörten, ging bei vollständig anderen Umständen und Be- 
dingungen vor sich, als die Arbeiten der Forscher der neuen Wissen- 
schaft. Um sich von der Gerechtigkeit der eben ausgesprochenen 
Behauptung zu überzeugen, genügt es der Erinnerung, daß Euler, 
Legendre und andere europäische Mathematiker des 18. Jahrhunderts 
und überhaupt der neuen Zeit, infolge ihres Standpunktes auf der 
arithmetisch-algebraischen Richtung der Inder, Analytiker waren, abge- 
sehen von dem Unterschiede, der unumgänglich hervorgerufen wird 
durch den Fortschritt der weit vorgerückten Wissenschaft im Ver- 
gleich zum grauen Altertum, während solche hervorragende Kräfte in 
der Elementargeometrie, wie die griechischen Mathematiker des fünften 
und der folgenden Jahrhunderte vor Christi Geburt, als reine Geo- 
meter angesehen werden müssen, weil sie immer auf dem Grunde rein 
geometrischer Richtung standen, welcher so schroff die indische 
Mathematik von der altgriechischen unterscheidet. 

Was jedoch die Fähigkeit der Mathematiker vom ersten Range der 
neuen Zeit anbetrifft, die Wege wiederherzustellen, auf denen beim Er- 
schaffen der Elementargeometrie ihre Schöpfer gingen, so genügt es in 
dieser Beziehung, um den Einzelheiten beim Betrachten dieses Gegen- 
standes auszuweichen, die Aufmerksamkeit auf folgenden Umstand zu 


Lehrbücher der Elementargeometrie. 359 


lenken. Als d’Alembert die Mathematiker vom ersten Range zum Zu- 


sammenstellen der Elemente der Geometrie aufforderte, dachte er, daß es 
für sie genügend sein würde, beim Wiederherstellen der Wege der an- 
fänglichen Schöpfung dieser Elemente, ihren eigenen Wegen, die sie 
während ihrer eigenen Entdeckungen gingen, zu folgen, d. h. mit 
anderen Worten, mit der Wiederherstellung dieser eigenen Wege 
wieder anfänglich zu beginnen. Können sie das aber bei den herr- 
schenden Bedingungen und Arten der schaffenden wissenschaftlichen 
Arbeiten in der neuen und neuesten Zeit in den mathematischen 
Wissenschaften? Um eine neue Entdeckung zu machen, hält sich der 
Gelehrte bei den Wegen, die seine Idee wandelt, und bei den einzelnen 
Stadien ihrer Entwicklung in seinen Gedanken nicht auf, sondern 
bemüht sich, so schnell wie möglich zu seinem Ziel zu gelangen. 
Gewöhnlich gibt er sich über dieselben nicht nur keine klare, sondern 
überhaupt gar keine Rechenschaft. Nachdem er sein Ziel erreicht 
und eine neue Entdeckung gemacht, gibt sich der Gelehrte Mühe, oft 
mit großer Anstrengung, dieselbe in den ihm selbst gewohnten Formen 
darzustellen, in denen gewöhnlich in der gelehrten Literatur und im 
Unterricht die Wahrheiten und ihre Beweise dargestellt werden. 
Dasjenige, mit dessen Hilfe er seine Entdeckung erreichte, erscheint 
ihm in dieser seiner neuen Arbeit nicht als Beistand, sondern direkt 
als Störung und Hemmung. Er ist bemüht, sich davon zu befreien, 
es zu vergessen. Dieses Bestreben gelangt zu seiner höchsten Ent- 
wieklung, die sich bis zur absichtlichen Vernichtung aller Spuren 
der anfänglichen schaffenden Arbeit steigert, bei solchen Gelehrten, 
die ihre unmittelbaren Resultate, als unelegant und manchesmal als 
Fehler enthaltend, finden. Als Resultat aller eben angeführten Um- 
stände und Bedingungen, bei denen die schöpferische Arbeit der Ge- 
lehrten in der neuen und neuesten Zeit vor sich geht, erscheint seine 
Lage augenscheinlich als sehr nahe angrenzend an diejenige, in der 
der Gelehrte sich bei der unbewußten schöpferischen Arbeit befindet, 
oder nach dem Ausdruck d’Alemberts im Falle, daß er dem Instinkt 
mehr folgt als dem Vernunftschluß. 

Wer kann eigentlich die Anforderungen von d’Alembert be- 
friedigen, wenn sogar die Mathematiker vom ersten Range der neuen 
und neuesten Zeit es zu tun nicht imstande und sogar dazu unfähig 
sind? Das kann nur die Geschichte der Mathematik erfüllen, oder in 
engerem Sinn, die in dieser Richtung von ihr gemachten Forschungen. 
Leider entbehrt sie solcher Forschungen nicht nur in der zweiten Hälfte 
des 18. Jahrhunderts, sondern auch in der Gegenwart. Folglich konnten 
und können nicht, nicht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, 

sogar jetzt nicht diejenigen wahren Elemente der Geometrie zusammen- 


360 Abschnitt XXL. 


gestellt werden, welche d’Alembert vorschwebten, und die seinem 
Gedanken nach eine Verbindung der Wahrheiten in ihrem natürlichen 
Schein darstellen sollten, indem sie zwischen ihnen eine in Wirklich- 
keit existierende und keine künstliche Kette bilden sollte, und die 
außerdem von derjenigen Ausdrucksform befreit sein sollte, welche 
sich im Laufe der Jahrhunderte in der Wissenschaft ausgearbeitet 
hatte, teils dazu, um ihr etwas Geheimnisvolles zu verleihen, teils um 
ihren Gebrauch in der Praktik zu vereinfachen. 

‘ Eine besonders wichtige Bedeutung muß das Zusammenstellen 
solcher wahren Elemente der Geometrie zum Erlernen der letzteren 
haben, wenn man diese Elemente als Leitfaden oder sogar direkt als 
Lehrbuch ansieht. Und wirklich, nur nach der Reinigung der Elemente 
der Geometrie von allem Künstlichen und allem, was der Natur 
der menschlichen Vernunft und den Gesetzen der Entwicklung 
der menschlichen Kenntnisse widerspricht, werden sie für Menschen, 
die über mittleren Verstand verfügen, zugänglich werden, das heißt 
für die Mehrzahl der Menschheit, und ihr Erlernen von dieser Mehr- 
zahl wird ein wirkliches und kein scheinbares werden, wie jetzt und 
auch früher. Nur bei einer solchen Befreiung der Elemente der 
Geometrie von allem Fremden und von außen Eingeführten kann der 
königliche Weg der Erlernung der Geometrie geschaffen werden, über 
dessen Abwesenheit in den Elementen des Euklid einstmals der weise 
König Ptolemäus dem Autor bitter klagte. 


Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 


Außer den Lehrbüchern der Elementargeometrie, welche, gleich 
dem oben besprochenen Lehrbuch von Kästner, die, in der Über- 
schrift nieht bezeichnete, Verbindung der theoretischen Geometrie mit 
der praktischen darstellten, erschienen in der zweiten Hälfte des 
18. Jahrhunderts nicht wenige solcher Lehrbücher, deren Benennungen 
auf diese Vereinigung als auf den Gegenstand des Werkes hinwiesen. 
„Geometria theoretica-practica“!) oder „Trait& de g&ometrie theorique 
et pratique“?), das waren ungefähr die allgemeinen Überschriften der 
Werke dieses Typus, in einzelnen Fällen mehr oder weniger variierend. 
Das Erscheinen einer bedeutenden Anzahl solcher Werke in der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wies klar auf die Verbreitung in 

ieser Epoche des von d’Alembert bezeichneten Typus von Lesern 
der elementargeometrischen Werke, die bei deren Erlernung nur prak- 





!) Florian Dabuz, Mogunt. (Mainz) 1767. 5 Seb. Le Clere, 
Paris 1764. 


Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 361 


tische Ziele verfolgten. In der größten Anzahl erschienen Werke des \ 
betrachteten Typus entweder in den am wenigsten kultivierten Ländern, 
wie Rußland und Polen, die dementsprechend über fünf und neun 
solcher Werke verfügten, oder in Ländern, die sich in der vorherrschend 
praktischen Richtung auszeichneten, wie Holland, wo es deren fünf 
gab. In den anderen Hauptländern Europas gab es ungefähr ın Eng- 
land und Italien je eins, in Frankreich zwei, und in Deutschland vier 
solche Werke. 

In den Inhalt dieser Werke wurden verschiedene Artikel aus ver- 
schiedenen Teilen der praktischen Geometrie eingeführt, wie die Artikel 
über die Maße, von den Mitteln der Messung und von den dabei ge- 
bräuchlichsten Vorrichtungen (Astrolabium und Mensula), von der Ab- 
steckung und Messung der Strecken und Winkel auf dem Felde und 
auch der Entfernungen und Höhen, vom Ausmessen der Felder, von 
der Grundrißaufnahme, von verschiedenen in der Praktik vorkommen- 
den Fällen des Ausmessens der Rauminhalte (unregelmäßige Körper, 
Kornhaufen, Holzstapel, Fässer, Krüge, Kanonenkugeln). In einigen 
von solchen Werken wurden ebenfalls Artikel über Nivellierungen 
und sogar über Refraktion eingeschoben. 

Außer den Werken des betrachteten Typus wurden im Laufe der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch Werke herausgegeben, die 
der Darstellung der praktischen Geometrie allein gewidmet waren. 
Nach den zurzeit sehr unvollkommenen bibliographischen Berichten 
erschien in dem angegebenen Zeitraum je ein solches Werk in Eng- 
land und Rußland, vier in Deutschland und zwei in Polen. Das her- 
vorragendste von ihnen war das Werk Mayers des Sohnes „Gründ- 
licher und ausführlicher Unterricht zur praktischen Geometrie“'). In 
großem Gebrauch in der betrachteten Epoche waren einige Werke 
über die praktische Geometrie, die im Laufe der ersten Hälfte des 
15. und sogar im 17. Jahrhundert erschienen waren. Von ihnen hatten 
eine sehr große Verbreitung folgende Werke: Chr. Clavius?), Geo- 
metria practica®); Daniel Schwenter, Geometria practica nova®); 
Nicolas Bion, Trait€ de la construction et des prineipaux usages 
des instruments de math&matiques®); J. F, Penther, Praxis geo- 





.») 3 Teile, 8°, Göttingen 1778—83, 4. Aufl. 1814—18. ®) Cantor, Vor- 
lesungen II?, S. 555—557. *°) Opera mathematica, II, fol. Mogunt. 1612. Cantor 
Vorlesungen II®, 8. 579—581. *) 2 tom., 4°, Nürnberg, 1618. Cantor, Vorlesungen 
II?, S. 666—670. °) 8°, Paris 1709. Poggendorff, I, S. 194—195. Erschien 
in mehreren Ausgaben in Frankreich und war außerdem in einige andere Sprachen 
übersetzt worden. Besonders bemerkenswert war die deutsche Übersetzung von 
Doppelmayr, weil sie viele Ergänzungen enthielt. Sie erschien im Jahre 1713 
in Nürnberg unter dem Titel „Mathematische Werkschule“, und danach von 
neuem herausgegeben 1717 und 1723; in-4°, 

CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 24 


362 Abschnitt XXTI. 


metriae!); Johann Bayer, Vollkommene Visier-Kunst?); Pezenas, 
Traite du Jaugeage?). 

Für die praktische Geometrie, ebenso wie für alle Wissenschaften, 
die über Maße handeln, stellt die große Anzahl der letzteren im 
Leben große Hindernisse und Unbequemlichkeiten in den Weg. Be- 
sonders bemerkbar war es in Frankreich, wo nicht nur verschiedene 
Provinzen verschiedene Maße hatten, sondern einzelne Städte in ein 
und derselben Provinz. Das Feststellen der Einheit der Maße oder 
die Gebrauchseinführung eines allgemeinen Maßes für die ganze Mensch- 
heit wurde hier früher, und vielleicht mit einer größeren Klarheit ein- 
gesehen, als in den anderen Ländern Europas. Als erster trat mit 
einem bestimmten Vorschlag in der Wissenschaft über diesen wichtigen 
Gegenstand Gabriel Mouton*) hervor. In seinem Werk „Obser- 
vationes diametrorum solis et lunae apparentium ete.“?) schlug er vor 
als allgemeines, Maß den geometrischen Fuß, „virgula geometrica“, 
der im Erdgrad 600000mal enthalten war, anzunehmen. Um die 
Möglichkeit zu haben, die wirkliche Länge dieses Fußes zu jeder Zeit 
zu finden, bestimmte er die Zahl der Schwingungen des einfachen 
Pendels derselben Länge während einer halben Stunde, die sich als 
die Zahl 3959,2 erwies- Dieselben Gedanken wurden im nächsten 
Jahre (1671) von Picard ausgesprochen und 1673 von Huygens; sie 
fanden sogar in der Royal Society solchen Anklang, daß diese sich ihnen 
öffentlich anschloß. Am Anfang des 18. Jahrhunderts fing man an 
direkt die schnelle Durchführung in der Wirklichkeit zu fordern, was 
in ihren Werken als erste Amontons®) und Bouguer‘) taten. Da- 
nach stellte der Akademiker du Fay dem Minister das Projekt des 
Reglements vor, welches die Einführung eines allgemeinen Maßes durch 
ein Gesetz feststellte. Die Annahme dieses Projekts verhinderte der 
Tod des ihm sympathisierenden Ministers, und ebenfalls des Autors 
selbst. Auf derselben Neuerung bestand auch de la Condamine in 
seinem Memoire®), in dem er zu zeigen sich bemühte, daß das natür- 
lichste und am wenigsten die Eifersucht verschiedener Länder her- 
vorrufende Maß, dem deshalb auch der Vorzug gegeben werden müßte, 
das Äquatorialpendel erschien, welches die Länge von 36 pariser Zollen 
und 7,21 Linien besitze, wenn man sich der Toise, die für Aus- 
messungen in Peru angefertigt worden war, bediente. Bei Einführung 





1) 1732, neue Auflage, 2 Teile, fol. Augsburg 1755. Cantor, Vorlesungen 
III?, S. 528—529. 2) 4°, Frankfurt a. M. 1603. °) 4°, Marseille 1742. Seconde 
edition, donnde en 1778 par les soins de M. de la Lande. Poggendorff, 
II, 8. 422—423. #) Cantor, Vorlesungen III?, 8.76. 5) 4°, Lugd. 1670, 
p. 433. 6) Histoire de l’Acaddmie des sciences de Paris, annee 1703, p. 51. 
”) Ebenda, p. 300. °) Ebenda, annee 1747, p. 189. 


Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 363 


dieses Maßes würde die pariser Toise um 14,42 Linien länger 
werden, und der pariser Breitengrad würde 56132 astronomische 
Toisen enthalten anstatt 57069 solcher pariser Toisen, die im Grad 
des Meridians zwischen Paris und Amiens enthalten waren. 

Am Ende des 18. Jahrhunderts, am Anfang der französischen 
Revolution, wurde die Forderung der Einführung eines allgemeinen 
Maßes nicht nur von wissenschaftlichen Anstalten und einzelnen Ge- 
lehrten ausgesprochen, sondern auch von weiten Kreisen der Gesell- 
schaft. So legte am Anfang des Jahres 1790, dem allgemeinen Wunsch 
entsprechend, der Bürger vieler Städte, Talleyrand-Pe&rigord, welcher 
damals Bischof von Autun war, der Nationalversammlung den Bericht 
von der Notwendigkeit, ein allgemeines Maß durch das Gesetz festzu- 
stellen, vor, wozu man sich eines von den vorgeschlagenen natürlichen 
Maßen bedienen konnte, und am besten der Länge des Sekundenpendels 
auf der geographischen Breite von 45°. Da sich die Nationalver- 
sammlung nicht als kompetent genug fühlte, um eine so wichtige 
Frage endgültig zu bestimmen, wandte sie sich mit einer entsprechenden 
Anfrage an die Pariser Akademie der Wissenschaften. Die Ausarbeitung 
der Antwort auf diese Anfrage vertraute die letztere einer zu diesem 
Zweck besonders erwählten Kommission an, welche aus den Akademikern 
Borda, Lagrange, Laplace, Monge und Condoreet bestand. Die 
Ergebnisse der Arbeiten dieser Kommission waren in dem in ihrem 
Namen gemachten vom 19. März 1791 datierten Berichte „Sur le 
choix d’une unite des Mesures“!) enthalten. | 

Die Länge des Sekundenpendels auf dem 45. Breitengrade als 
allgemeines Maß anzunehmen, fand die Kommission als unbequem, 
weil es in das System der Maße eine Ungleichartigkeit einführt, in- 
dem es die Bestimmung der Länge dem Vermessen der mit ihm so 
ungleichartigen Größe, wie die Zeit, unterwirft, oder, was gleich- 
bedeutend ist, der Größe der Schwere, und außerdem, was noch 
wichtiger ist, ein Element der Willkür hineinbringt, weil es sich eines 
so willkürlich gewählten Zeitteiles bedient, wie die Sekunde. Die 
Längeneinheit im allgemeinen Maßsystem muß nach der Meinung der 
Kommission auf der Erde selbst gefunden werden, weil nur eine 
solche Einheit von keiner andern Größe abhängig sein wird, und 
außerdem, ihrem Ursprung nach, die Analogie mit allen anderen, von 
der Menschheit gebrauchten Längeneinheiten bewahren wird. Von 
diesem Standpunkt aus würde es natürlicher sein, die Abstände der 
Orte auf der Erde auf das Viertel eines der Erdkreise zurückzuführen, 





') Histoire de l’Acad6mie royale des sciences, annde 1788 (Paris 1791), 
p. 7—16,. 
24* 


364 Abschnitt XXI. 


als auf die Länge des Pendels. Als solcher Kreis muß der Äquator 
oder Meridian angenommen werden, und nur der Meridian, weil er 
aus vollkommen begreiflicher praktischer Erwägung dem von den 
Völkern Europas dargestellten zivilisierten Teil der Menschheit die 
größten Bequemlichkeiten darbietet. Als wirkliche Maßeinheit muB 
der vierte Teil des Erdmeridians gewählt werden, und die im prak- 
tischen Leben gebrauchte Einheit ihr 10000000. Teil sein. Im Ein- 
klang mit dem eingeführten Dezimalsystem in der Arithmetik muß 
das System der Einteilung dieser Einheiten nicht ein sexagesimales, 
wie früher, sondern ein dezimales werden. Der Bericht hält sich nicht 
bei den Erwägungen auf, welche die Kommission zwangen, das Dezimal- 
system vorzuziehen, aus dem Grunde vielleicht, daß dieser Gegenstand 
schon früher einer genauen Betrachtung im „Rapport fait a ’Academie 
des Sciences par MM. Borda, Lagrange, Lavoisier, Tillet et 
Condorcet, le 27 Oetobre 1790“?) unterzogen war. Dieser „Rapport“ 
war entstanden infolge des Wunsches der Nationalversammlung, die 
Meinung der Akademie über die Frage zu wissen: „sil convient de 
fixer invariablement le titre des metaux monnoy@s, de maniere que 
les especes ne puissent jamais &prouver d’alteration que dans le poids, 
et „il n’est pas utile que la difference toleree sous le nom de remede, 
soit toujours en dehors. Elle a charge en möme temps l’Academie 
d’indiquer aussi l’&chelle de division qu’elle eroira la plus convenable, 
tant pour les poids que pour les autres mesures, et pour les mon- 
noies? Die Messungen des Meridians, die zur Bestimmung dieser 
Einheiten notwendig sind, müssen als Ziel die Bestimmung der Länge 
des Bogens des Erdmeridians haben, welche dem 10000000. Teil des 
Bogens des Himmelsmeridians — 90° entsprechen würde, und so ge- 
legen wäre, daß seine eine Hälfte nach Norden und die andere nach 
Siiden von der Parallele 45° sich befinde. Um dieses Ziel in Wirk- 
lichkeit zu erreichen, schlug die Kommission vor, den Bogen des 
Meridians von Dünkirchen bis Barcelona unmittelbar auszumessen, 
welcher etwas mehr als 9/,° einschloß. Als die Hauptvorteile, welche 
dieser Bogen darstellte, wies die Kommission auf die hinlängliche 
Größe seiner Ausdehnung und auf seine Teilung durch die Parallele 
45° in folgende Teile: den nördlichen Teil = 6° und den südlichen 
— 31/,0, und auf das Befinden seiner Endpunkte auf der Höhe der 
Meeresfläche hin. Außer diesem Bogen konnte ebenso vorteilhaft sein 
der Bogen, der noch westlicher lag und vom Ufer Frankreichs bis zum 
Ufer Spaniens ging. Jedoch der Vorzug mußte dem ersten gegeben 


1) Histoire de l’Academie royale des sciences, annde 1788 (Paris 1791), 
p. 1—6. 


Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 365 


werden, weil er schon zum Teil nämlich zwischen Dünkirchen und Per- 
pignan ausgemessen war und deshalb ein kostbares Mittel der Prüfung 
der sich ihm anschließenden neuen Vermessungen und Beobachtungen 
besaß. Als Operationen, die zur Ausführung der ganzen Arbeit über 
das von der Kommission vorgeschlagene allgemeine Maß notwendig 
waren, erkannte sie folgende an: 1. Die Bestimmung der Längen- 
differenz zwischen Dünkirchen und Barcelona, und überhaupt das Aus- 
führen auf dieser Linie aller astronomischer Beobachtungen, welche 
als nützlich anerkannt werden könnten. 2. Die Vermessung der früheren 
Basen, deren man sich bei der Messung des Grades, in Paris aus- 
geführt, bediente, und bei den Arbeiten der Zusammenstellung der 
Karte von Frankreich. 3. Die Prüfung, durch eine neue Reihe von 
Beobachtungen der Dreiecke, die früher zur Messung des Meridians 
gebraucht wurden, und ihre Verlängerung bis Barcelona. 4. Die 
Ausführung von Beobachtungen unter 45° geographischer Breite zum 
‚Feststellen der Zahl der Schwingungen im luftleeren Raume, am 
Meeresstrande, im Laufe eines Tages, bei der Gefriertemperatur, eines 
einfachen Pendels, dessen Länge dem 10000000. Teile des Bogens des 
Meridians gleich sein würde. 5. Die Prüfung durch neue, sorgfältig 
ausgeführte Experimente des Gewichts eines gegebenen Volums de- 
stillierten Wassers, welches sich im luftleeren Raum bei der Gefrier- 
temperatur befindet. 6. Die Zurückführung auf irgend welche neueste 
Maße, zum Beispiel auf die pariser Toise oder das Pfund oder alle 
andern im Handel gebräuchlichen Längen-, Flächen-, Kubik- und Ge- 
wichtsmaße mit der Bedingung, daß nach der Bestimmung der Ein- 
heiten des neuen allgemeinen Maßsystems alle ihre Ausdrücke auf die 
früheren Maße durch einfache Regeldetri zurückzuführen sind. In 
Beziehung auf die vierte von den aufgezählten Operationen wurde im 
Bericht bemerkt, daß die aufgefundene Zahl der Schwingungen, einmal 
bekannt geworden, die Möglichkeit geben wird, die Einheit der Länge 
selbst von neuem zu finden mit Hilfe der Beobachtungen über das 
Pendel. Damit wird die Vereinigung der Vorteile des Systems der 
Maße, welche von der Kommission vorgeschlagen, mit den Vorteilen 
des Systems, welche als Einheit die Länge des Pendels annimmt, er- 
reicht. Nach der Erstattung dieses Berichts in der Nationalversamm- 
lung wurde er von ihr am 26. März 1791 angenommen und bekam 
danach die Kraft des Gesetzes. Die Pariser Akademie der Wissen- 
schaften, der die Leitung aller obengenannten Operationen anvertraut 
war, mußte, dem Vorschlag des Berichts entsprechend, für dieselben 
einzelne Kommissionen bilden, deren erste Arbeit das Vorlegen des 
allgemeinen Planes der bevorstehenden Arbeiten sein mußte. Als Mit- 
glieder dieser Kommissionen für die erste und dritte Operationen er- 


366 Abschnitt XXI. 


wählte die Akademie Cassini, Mechain und Legendre, für die 
zweite Monge und Meusnier, für die vierte Borda und Coulomb, 
für die fünfte Lavoisier und Haüy und für die sechste Tillet, 
Brisson und Vandermonde.!) 

Die Benennung „Metrisches System“ bekam das neue System der 
Maße und. Gewichte zum erstenmal im „Rapport fait & l’Academie 
des Sciences, sur le systeme general des Poids et Mesures, par les 
Citoyens Borda, Lagrange et Monge“*). Dieser von der Akademie 
angenommene Bericht wurde in ihrem Namen der gesetzgebenden 
Versammlung vorgelegt als „derjenige zweite Bericht, welcher nach 
dem im ersten Bericht gegebenen Versprechen den vollen Plan des 
neuen Systems darstellen mußte. Als Darstellung dieses Planes in 
Beziehung auf die Längen- und Kubikmaße dienen folgende im Be- 
richt angeführte Tabellen: 


Seconde Premiere 
nomenclature. nomenclature. 
Quart Quart toises 
du meridien du meridien.... 5132430 
Mesurea. göogr. 1 Döckdle su... u. .2 ln as 513243 
et nautiques Deere a Bes 51324 
Menaros TPORBE- no a ee 5132 
itineraires Mile. Sean, = BREER u 20 513 
pieds pouces lignes 
Morures 1 Stade: . 2... RR AR ER 11 4 
agraires Ben a ee er 30 9 6,4 
BIDERB in Male. nord 3 0 11,44 
Mesures }Palme..,....:--+-... Dec-mehra.. .. . 25... 3 8,34 
usuelles | Doigt............... Centi-mötre ........... 4,43 
RE Be ee Milli-metre............ 0,44 
Seconde Premiere Valeurs en Valeurs en 
nomenclature nomenclature pintes de Paris boisseaux 
pintes boisseaux 
aa | Tonneau ER ER Muid. 3.5, 226 25 1051"), 78,90 
cubique 
Böklerzii, uni Deci-muid.. issues > 105'/, 7,89 
Boisseau........ Oonti-mnid ;: ui sure 10%), 0,789 
kalme | Pinte VETETENT: Eislä .iseuih uruıkh 1Y,, 0,0789 
cubique 


Zum Ausdruck der neuen Maße in den alten wurde in der ersten 
dieser Tabellen das Viertel des Meridians als gleich der 90 mal ge- 





1) Expose des travaux de l’Academie, sur le projet de l’uniformite des 
mesures et des poids. Histoire de l’Academie royale des sciences, annde 1788 
(Paris 1791), p. 17—20. ?) Ebenda, annde 1789 (Paris, l’an II de la Republique), 
p. 1—18. 


Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 367 


nommenen 57027. Toise angesehen, die der Länge des 45. Breiten- 
grades auf dem Meridian, welcher über Frankreich geht, nach den 
Angaben des Abbe de la Caille!) auf Grund der Vermessungen, welche 
von früheren Astronomen der Akademie ausgeführt waren, entsprachen. 
Das zweite der geographischen und nautischen Maße bekam seine Be- 
nennung als Grad aus dem Grunde, weil nach der Bestimmung der 
Akademie in dem neuen Maßsystem der 100. Teil des Viertels des Kreis- 
umfanges als Grad angenommen wurde. Er stellte folglich die Länge des 
Erdgrades dar, „mille“, oder sein 100. Teil die Länge der dezimalen Erd- 
minute („minute deeimale terrestre“) und „perche“, als 100. Teil dieser 
letzten, die Länge der dezimalen Erdsekunde (seconde deeimale ter- 
restre). „Stade“ stellte die Seite eines Quadrats dar, welches im neuen Maß- 
system als neuer Morgen Landes angenommen wurde, welcher beinahe um 
das Doppelte den früheren französischen Morgen übertraf. Die zweite 
Nomenklatur parallel der ersten anzunehmen, hielt sich die Akademie 
für gezwungen infolge der Unvollkommenheiten, die der letzteren 
eigen waren: die Länge der Benennungen, die Kompliziertheit der von 
ihnen ausgedrückten Begriffe und der Möglichkeit, die eine Benennung 
mit der andern zu verwechseln, wegen ihrer gleichen Endungen. Zur 
Erläuterung der angezeigten Kompliziertheit der Begriffe durch ein 
Beispiel bleibt der Bericht auf der Benennung „Deci-metre“ stehen, in 
welchem er die Vereinigung dreier Begriffe sieht: der metaphysischen 
Idee des Zehntels, der metaphysischen Idee eines bestimmten Maßes - 
und endlich die Anwendung der ersten Idee auf die zweite. Um auf 
diese Weise zum ausgedrückten physischen Maß zu gelangen, muß 
der Verstand drei Operationen verrichten. Als Benennungen in der 
zweiten Nomenklatur bemühte sich die Akademie, solche zu wählen, 
die sich durch Eigenschaften auszeichneten, die den Mängeln der ersten 
Nomenklatur entgegengesetzt waren und aus der existierenden Metro- 
logie entnommen waren: der französischen, wie decade, degre, poste, 
perche, und der alten, wie stade, palme, oder aus den Benennungen 
von Gegenständen, die an eine- entsprechende Länge erinnern, wie 
doigt, trait. Dieselben Überlegungen gaben die Anleitung beim Aus- 
arbeiten der zweiten Nomenklatur der Kubikmaße, die in dem neuen 
Maßsystem dieselben wie für Flüssigkeiten ebenso auch für Körner 
sein sollten. Für die Zurückführung der neuen Maße in frühere bei 
Zusammenstellung der zweiten Tabelle benutzte die Akademie „pinte 
de Paris“ als das zu jener Zeit gebräuchliche Flüssigkeitsmaß und 
„boisseau“ als das ebenso gebräuchliche Kornmaß. 

Die begonnenen Arbeiten zur Einführung des metrischen Systems 


‘) Histoire de l’Acad&mie des sciences, annde 1758, 


368 Abschnitt XXI. 


wurden von den Umständen der Revolutionszeit sehr aufgehalten. Die 
nach Beendigung dieser Arbeiten erfolgte offizielle Einführung des 
metrischen Systems in Frankreich konnte erst im Jahre 1795, am 
22. Dezember zustande kommen (1 nivöse de !’an IV de la Republique). 
Etwas früher, nämlich den 31. Juli 1793 (13 thermidor de lan I de 
la Republique), wurde das Dekret von der Annahme des Meters als 
Grundmaß erlassen. Um das metrische System vollkommener zu 
machen und ebenso auch, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich 
möglichst weit über andere Nationen zu verbreiten, wurde im Jahre 1797 
in Paris die internationale Kommission zusammengerufen, welcher 
Lorenzo Mascheroni angehörte, der dem Gegenstand ihrer Beschäf- 
tigung sein Werk „Notizie generali del nuovo sistema dei pesi e 
misure de dotte dalla grandeza della terra“) widmete. 

Derjenige Teil der praktischen Geometrie, welcher als Gegen- 
stand die Kunst des Messens der Felder hatte, wurde von der Feld- 
meßkunst dargestellt. Sie wurde in drei Teile geteilt. Der erste 
Teil, oder die Feldmeßkunst im eigentlichen Sinne des Worts, be- 
schäftigte sich mit der Messung der Dimensionen des Feldes, ebenso 
wie mit der Verrichtung der dabei erforderlichen Beobachtungen in 
diesem Felde selbst. Der zweite Teil, oder die Grundrißaufnahme 
genannt, hatte als Ziel die gefundenen Größen und die Ergebnisse 
der gemachten Beobachtungen auf das Papier zu bringen. Gegenstand 
- des dritten Teils endlich war die Bestimmung des Flächeninhalts 
des Feldes. Der erste Teil wurde der eben gegebenen Definition 
seines Gegenstands gemäß seinerseits wieder in folgende zwei Unter- 
abteilungen geteilt: das Messen der Entfernungen und die Beobach- 
tungen der Winkel. Als gebräuchliche Vorrichtungen im ersten Teil 
dienten entweder die Meßkette oder der Wegemesser, im zweiten das 
@raphometer, Meßtisch, Boussole, Meßscheibe usw. Die Bestimmung 
des Flächeninhalts des Feldes im dritten Teil der Feldmeßkunst wurde 
durch das vorhergehende Teilen derselben in Dreiecke, Quadrate, 
Parallelogramme, Trapeze und hauptsächlich Dreiecke erzielt, wonach 
die Bestimmung ihres Flächeninhalts und deren Summierung folgte. 

An den dritten Teil der Feldmeßkunst schloß sich unmittelbar 
der besondere Teil der praktischen Geometrie an, der sich mit der 
Teilung der Länder und der Felder und mit deren Verteilung zwischen 
ihren Besitzern beschäftigte. Indem man sie als selbständigen Teil 
der praktischen Geometrie betrachtete, nannte man sie, sich an die 
Etymologie des Wortes haltend, die Geodäsie im engen Sinne dieses 
Wortes. Der im weiteren Umfang verstandene Sinn der Benennung 





') Milano, anno VI (1798). 


Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 369 


„Geodäsie“ umfaßte dagegen nicht nur die Feldmeßkunst, sondern auch 
solche, höherstehende geometrische und trigonometrische Operationen, 
wie das Zusammenstellen von Karten und das Messen der Grade des 
Meridians, oder überhaupt irgend welcher seiner Teile. 

Die Grundfrage der Geodäsie, im obengenannten engen Sinne 
des Wortes verstanden, war die -Frage, irgend eine Figur in eine be- 
stimmte Anzahl von Teilen zu teilen, was in den meisten Fällen auf 
Teilung des Dreiecks in gegebenem Verhältnis zurückgeführt wurde, 
welches darum auch mit allen Details betrachtet wurde, in vielen, 
diesem Gegenstand gewidmeten Werken, aus denen angeführt zu 
werden verdienen: „Application de lalgebre & la geometrie“ par 
Guisnee!) und „Pratique de la geometrie sur le papier et sur le 
terrain“?) par Le Clerec. In ihnen wurde diese Frage in den Fällen 
betrachtet, wenn die Gerade, die das Dreieck in gegebenem Verhältnis 
teilte, durch den Punkt ging, 1) der mit der einen seiner Spitzen 
zusammenfiel, 2) der auf einer seiner Seiten lag, 3) der inwendig im 
Dreieck lag, 4) welcher sich außerhalb befand. In denselben vier 
Vällen wurde auch die allgemeine Frage von der Teilung einer Figur 
in gegebenem Verhältnis betrachtet. Im Falle, daß verlangt wurde, 
irgend eine Figur in einem gegebenen Verhältnis durch eine Gerade 
zu teilen, welche durch einen gegebenen Punkt gehe und der ge- 
gebenen Geraden parallel sei, wurde die Figur zuerst durch Gerade 
geteilt, die aus den Spitzen ihrer Winkel parallel der gegebenen Ge- 
raden geführt, sie in Trapezoide teilte. Im Falle einer krummlinigen 
Figur wurde die sie begrenzende Linie in Teile geteilt, die ohne 
fühlbaren Fehler als geradlinig angesehen werden konnten, was die 
Möglichkeit gab, die ganze Figur als geradlinig anzusehen, und folg- 
lich solche Methoden anzuwenden, die für Figuren solcher Art aus- 
gearbeitet waren. 

Unter den Fragen der Feldmeßkunst, die hauptsächlich 
durch ihre Ausführung Wichtigkeit gewannen, lenkte die besondere 
Aufmerksamkeit im Anfang der zweiten Hälfte des 18. Jahr- 
hunderts die Frage auf sich, ob beim Messen eines geneigten Feldes 
. dessen wirklicher Flächeninhalt, oder der Inhalt seiner horizontalen 
Grundfläche zu nehmen sei? Wie wichtig diese Frage auch vom 
ökonomischen und praktischen Standpunkt aus betrachtet wäre, 
kann sie jedoch nicht als direkt zur Geometrie gehörend betrachtet 
werden. Und wirklich, wie man sich auch entscheiden würde, in der 
Praktik müßte man immer nur eine und dieselbe Größe ausmessen, 
die Grenzen des Feldes nämlich und ihre Neigung zum Horizont, 





") Paris 1705; 2° edition, ib. 1753, 4°. 2) Amsterdam 1691, 12°. 


370 Abschnitt XXIIL 


und welchen Flächeninhalt man dann bestimmen würde, den wirk- 
lichen oder den der horizontalen Grundfläche, das Endresultat würde 
immer eine und dieselbe Größe darstellen, nämlich die Ausdehnung 
des Feldes. Bei den französischen Feldmessern wurde die Methode, 
welche bei der Messung des Feldes sich ihrer horizontalen Grund- 
fläche bediente, „methode de cultellation“, und die andere, die sich 
ihrer wirklichen Fläche bediente, „methode de developpement“ genannt. 

In Deutschland lenkte die im Jahre 1766 in der Danziger 
Physischen Gesellschaft für Bewerbung um die Prämie des Fürsten 
Jablonowsky vorgelegte Frage: „einen unzugänglichen und undurch- 
sichtigen Wald oder Morast auf die beste Weise auszumessen, aufzu- 
nehmen und zu vertheilen“ einige Aufmerksamkeit auf sich. Außer 
den beiden Autoren Auer und Wilke?), deren Werke mit der Prämie 
gekrönt wurden, beschäftigten sich mit der Lösung derselben Frage 
auch einige ER deutsche Gelehrte. 

Als bemerkenswerteste Arbeit in wissenschaftlicher Hinsicht, die 
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Fragen der Feldmeß- 
kunst gewidmet war, ist das Werk von Lorenzo Mascheroni, 
Problemi per gli agrimensori con varie soluzioni?) zu nennen, welches 
1805 in die französische Sprache übersetzt wurde. Besondere Be- 
achtung verdienen darin die Aufgaben, die mit Hilfe bloß eines Lineals 
gelöst werden oder, nach der später angenommenen Terminologie, 
mit Hilfe der ehmelrie des Lineals. 

Von den Teilen der praktischen Geometrie stand ihrer Entwick- 
lung nach in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am niedrigsten 
die Kunst der direkten Ausmessung des Inhalts der Gefäße, 
welche in Frankreich Jaugeage und in Deutschland Visierkunst 
genannt wurde. Ungeachtet der großen praktischen Wichtigkeit dieser 
Kunst besonders in den Ländern, in denen die Steuern und Zölle auf 
Getränke und andere Flüssigkeiten den Hauptteil der staatlichen und 
öffentlichen Einkünfte bildeten, erreichte die Willkür in der Wahl 
der theoretischen Grundlagen der Ausmessung und die damit bedingte 
Fehlerhaftigkeit der Resultate in keinem anderen Fach als in an 
einen so hohen Stand der Entwicklung. Das Faß wurde z. B. bald 


‘) Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik III®, S. 556. Das 
mit der Prämie gekrönte Werk Wilkes, „Abhandlung über die Fürstl. Jablo- 
nowskische Preisaufgabe aus der Erdmeßkunst ete.“ (32 S. mit 1 Tafel), war in 
der Sammlung „Solutiones problematum a celsissimo principe Jablonovio ex 
historia polona, Geometria et oeconomia propositorum quas societas Physica 
Gedanensis 1766 praemiis Jablonovianis coronavit“ (Danzig 1767), herausgegeben 
von der Danziger Physischen Gesellschaft, gedruckt. In derselben Sammlung 
war auch das Werk Auers abgedruckt worden (32 S. mit 1 Tafel). a: 
Pavia 1793. 





Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 37: 


als abgekürztes Ellipsoid betrachtet, bald als Zylinder, dessen Diameter 
gleich ist der halben Summe der Diameter der Grundflächen des ab- 
gestumpften Kegels, der dieselbe Höhe hat, bald als zwei abgestumpfte 
Kegel, die an beiden Seiten der gemeinschaftlichen großen Grundflächen 
gelegen sind. Die Resultate der Ausmessung in der ersten Voraus- 
setzung erschienen im Vergleich zur Wirklichkeit stark vergrößert, 
bei den beiden anderen jedoch im Gegenteil stark verkleinert. In 
vollem Einklang mit der Ungenauigkeit und Fehlerhaftigkeit der 
theoretischen Gründe der Ausmessung des Inhalts von Gefäßen 
standen die dazu in der Praktik gebrauchten Instrumente; als solche 
dienten die Stäbe, Velten, pytometrische Lineale, Ruten, Rohre, 
Gerten, Bänder und eine Menge verschiedener Visiere mit 4, 6 
und 8 Seiten, die eine bedeutende Anzahl von Skalen enthielten, die 
nach verschiedenen und dabei gewöhnlich fehlerhaften Methoden kon- 
struiert waren, Die Folgen eines so traurigen Zustandes der für das 
praktische Leben so wichtigen Kunst sind nicht schwer vorauszusehen. 
Der reiche Kaufmann Bruni aus Marseille erlitt einen Schaden von 
40000 Franken wegen der fehlerhaften Ausmessung des Inhalts der 
Fässer mit dem zugestellten Öl aus dem Osten. Bei der Ausmessung 
eines Fäßchens mit Branntwein, das aus Orleans gesandt war und in 
Wirklichkeit 58 Pinten enthielt, mußte in Paris im Jahre 1783 für 
16 Pinten Einfuhrzoll bezahlt werden. 

Aus den Versuchen, die Visierkunst auf eine möglich höchste 
Stufe zu bringen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ge- 
macht wurden, erregte wenigstens in Frankreich die größte Aufmerk- 
samkeit das Werk, welches dem königlichen Professor der Mathematik 
an der königlichen Kriegsschule, Dez, gehörte. Seinen Erfindungen 
und Forschungen auf diesem Gebiete weihte er sein, von der Pariser 
Akademie der Wissenschaften gedrucktes „Me&moire sur la theorie 
du jaugeage“') und den umfangreichen Artikel „Jauger“ in der 
Eneyelopedie methodique?). Der Vorzug des von ihm erfundenen 
Apparates zum Ausmessen des Inhaltes der Fässer vor anderen solchen 
Apparaten wurde durch zahlreiche Versuche, die am 22. Februar 1776 
in der Steuerverwaltung in Gegenwart von Mitgliedern der Kom- 
mission, die zu diesem Zweck von der Pariser Akademie der Wissen- 
schaften ernannt war, festgestellt. Auf Grund des Berichtes, den diese 
Kommission vorlegte, nahm die Regierung in Person des Ministers 
Turgot diese Erfindung von Dez an und beschloß sie zum Ge- 
brauche seiner Beamten einzuführen. Die Anerkennung der Erfindung von 





‘) Memoires de mathematique et de physique, presentes & l’Academie 
Royale des sciences par divers Savans et lüs dans ses Assemblees, annde 1773, 
p- 383—389,., °) Mathematiques II, p. 245—257. 


312 Abschnitt XXI. 


Dez wurde von der Regierung auch schon früher durch die ihm 
am 22. Dezember 1775 bewilligten Patente über diese Erfindung aus- 
gesprochen. 

Zu seimer Erfindung wurde Dez durch die von ihm an- 
genommene Methode zur Ausmessung der Fässer von Camus ge- 
bracht, welche erklärt und gedruckt war im Jahre 1744 im Memoire 
des Autors „Sur un instrument propre & jauger les tonneaux et 
les autres vaisseaux qui servent ä contenir des liqueurs“', Camus 

betrachtete das Faß als einen 

Körper, der gebildet wird durch 
P Umdrehung um die Achse AH 
einer gemischten Linie, die aus 
dem Bogen einer Parabel m BM 
in ihrem Scheitel B und zweier 
Tangenten mK und MF in den 
> zz Hadpunkten dieses Bogens m und 
z e q M besteht. Die aus diesen beiden 
Punkten auf die Achse gefällten 


Perpendikel MQ und mq teilen 

- N ihre beiden Hälften HC und hC 

Di in gleiche Teile. Wenn man da- 

\ a nach den Diameter des Fasses BD 

Br 5 bei ihrer Biegung oder, was das- 

selbe ist, bei ihrer Mitte durch 5 

bezeichnet, mit f den Diameter FN des Bodens des Fasses und mit 

l die innere Länge Hh, so bekommt man für den Inhalt des Fasses 

oder, was dasselbe ist, für das darin enthaltene Volum der Flüssig- 
keit den Ausdruck 


64b? 37b 34f? 
(1) al: ( e ren, 





So yo 


























dessen sich Dez auch bediente. 
Camus erhielt diese Formel folgendermaßen. Sind HO=|1, 
BC=a, FH=b, so ist BL=a-—b und nach der Voraussetzung 


MQ, = —1 Man verlängere danach MF bis zum Schnitt O mit der 
Achse der Parabel. Dann sind 
1 


Q,L=Q,0 und QB=;Q40-ZQL 


und folglich 





: a 
QB=;BL="—-- 





ı) Histoire de l’Acad&mie Royale des sciences, annee 1741, p. 385—402. 


Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 373 


Das parabolische Segment M@, B wird auf diese Weise 


2 1 
; MU: Brz 





a—b 
1°. 
Der Punkt P der Achse, der dem Schwerpunkt P des Segments ent- 
spricht, gibt 


a—b 





und folglich 


und der Umkreis, der vom Punkte P um den Punkt O, als Zentrum, 


umschrieben wird, wird gleich 2x- Bau Der Inhalt des Körpers 


welcher durch die Rotation des Segments MQ,B gebildet wird, wird 
auf diese Weise durch die Formel ausgedrückt 





= (8a? — bab — 253). 


Der Inhalt des Zylinders, welcher durch die Rotation des Rechtecks 
MC um die Achse Hh gebildet wird, ist x- MQ, - (MQ)”. Weil jedoch 


MQ=-41und UQ-°°?, so wird damit dieser Inhalt durch 


die Formel bezeichnet 


Vo za 


u BE 


Endlich ist der Inhalt des abgestumpften Kegels, gebildet durch die 
Rotation des Trapezes FHQM um die Achse Hh, 


x. Z2.(uQ®+MQ- FH+ FH) 
oder 
al 4a?-+10ab + 13b? 
= 5 
Das Addieren der Inhalte dieser drei Körper gibt folglich den Inhalt 
des ganzen Fasses, welcher durch die Formel ausgedrückt wird 


64a?-+ 37ab + 34b° 
(2) Re 135 l 








aus der durch Einführung an Stelle von BC des ganzen Diameters 
BD, an Stelle von FH des ganzen Diameters des Bodens des Fasses 
FN und an Stelle von HC der ganzen Länge des Fasses Hh, die 
Formel (1) erhalten wird, welche Dez gebraucht. 

Vollkommen bestätigt durch eine Menge von Versuchen und 
Vergleichen der Resultate der nach der Formel berechneten mit den 


374 Abschnitt XXI. 


wirklich in den verschiedensten Gefäßen vorhandenen Flüssigkeiten 
erwies sich jedoch die Formel des Camus, ihrer Kompliziertheit 
wegen, als unbequem für den Gebrauch in der Praxis, besonders 
wenn man den geringen Stand der Kenntnisse und der Entwicklung 
des Verstandes der Leute in Betracht zieht, denen gewöhnlich das 
Ausmessen der Fässer und anderer Gefäße anvertraut wurde. Diese 
Formel in einfacherer Art darzustellen und sie dadurch bequemer 
zur Anwendung zu machen, half Dez die Beobachtung, daß in Wirk- 
lichkeit die Differenz zwischen dem Durchmesser des Fasses an der 
Stelle seiner Biegung und dem Durchmesser seines Bodens sehr un- 
bedeutend ist. Diese Differenz mit « bezeichnend und in der 
Formel (1) auf Grund des Ausdrucks 


e—=b—f 


die entsprechenden Substitutionen ausübend und in den erhaltenen 
Zahlen unbedeutende Veränderungen zulassend, die nicht zu irgend 
fühlbaren Fehlern führen, brachte Dez die Formel (1) in folgender 
einfachen Form 

1 3 E 

(ze), 


4 


oder nach der Transformation der letzten zur Formel 


(3) mu rn). 


Der Fehler, der durch diese Vereinfachung der anfänglichen Formel 
entsteht, ist sehr unbedeutend. Und wirklich beträgt die Differenz 
zwischen den Formeln (1) und (3), was nicht schwer zu ersehen ist, 


4 #1(0,11122 - « — 0,0277.) - @, 


was kaum den 20 Teil des Inhalts des Fasses ergibt, sogar wenn 


3 R ie R 
man «= -,b annimmt, nämlich nach der Versicherung des Autors 


beim ungünstigsten der Fälle, vor dessen Begegnung man sich in der 
Praxis hüten muß. 

Es würde zu weit führen, die Beschreibung des Visiers, das von 
Dez nach der Formel (3) konstruiert wurde, zu schildern. Wir 
finden es für genügend, uns mit der Bemerkung zu begnügen, daß 
die Hauptbedeutung in diesem Apparat zwei Skalen haben, von denen 
die eine, nach der Benennung des Autors, die Skala der Längen 
(echelle des longueurs), zum Ausmessen der Länge Il des Fasses 
dient, und die andere, oder die Skala der Durchmesser (6chelle des 
diametres) zur Ausmessung des Multiplikators 


Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 375 
1 b+f 1 5 
zer. tel IN. 


Demjenigen, der sich dieses Visiers bediente, blieb nur übrig, um 
das Endresultat der vollzogenen Ausmessung zu erhalten, die An- 
zeigen der beiden Skalen zu multiplizieren. 


Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 


Ebenso wie früher, vielleicht auch noch in größerem Maße, war 
die Aufmerksamkeit einiger Spezialisten und überhaupt vieler Leute, 
die dem aufgeklärteren Teile der Gesellschaft angehören, im Laufe der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf das Vermächtnis des Alter- 
tums, die berühmten Aufgaben der Dreiteilung eines Winkels, 
Quadratur des Kreises und der Verdoppelung des Würfels, 
gerichtet. Als auf sehr bedeutende Zeichen der Aufmerksamkeit auf 
diese Aufgaben seitens der Spezialisten ist auch auf das Erscheinen in 
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Werken, die der Geschichte 
dieses Gegenstandes gewidmet waren, hinzuweisen. Es gab drei 
solche Werke. Als erstes erschien das schon früher erwähnte!) Werk 
Montuclas „Histoire des recherches sur la quadrature du cerele“?), 
das im letzten 6. Kapitel einen kurzen historischen Überblick der Auf- 
gaben über die Verdoppelung des Würfels und die Dreiteilung eines 
Winkels enthielt. Die beiden anderen Werke, die ausschließlich der - 
Aufgabe der Verdoppelung des Würfels gewidmet waren, gehörten 
Nikolaus Theodor Reimer?) (1772—1832), der im Jahre 1796 
Privatdozent an der Universität in Göttingen war, und später, vom Jahre 
1801, Professor der Mathematik an der Universität zu Kiel. $. oben 
5.28 im XIX. Abschnitte. 

Die Aufmerksamkeit auf diese berühmten Aufgaben seitens der 
Mitglieder der gebildeten Gesellschaft kennzeichnete sich durch das 
Erscheinen einer bedeutenden Anzahl von Versuchen dieselben zu 
lösen. Die Aufgabe der Quadratur des Kreises beschäftigte übrigens 
die gebildete Gesellschaft mehr als die beiden anderen. Besonders 
viel beschäftigte man sich mit ihr, nach der gedruckten Literatur zu 
urteilen, in Polen, wo ihr 15 Werke gewidmet waren, und in Frank- 
reich, wo es 7 solcher Werke gab. EIf der Werke über die Quadra- 
tur des Kreises, die in Polen erschienen, gehörten einem Autor, dem 


‘) Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, III®, S. 506. 
2) Paris 1754. ») Poggendorff, II, S. 596. 


376 Abschnitt XXII. 


Vizeoberst Eugenius Innocentius Corsonich, der darin bewies, 
daß z= 3 sei.!) Sowohl dieses Resultat, als auch dessen in den- 


selben Werken versuchter Beweis waren, seinen Worten nach, von 
vielen Mathematikern und von sieben Akademien gutgeheißen. Und 
wirklich wurde der von ihm zusammengestellte genaue Bericht über 
seine sechsjährige Beschäftigung mit den entsprechenden Gegenständen 
außer in Warschau, wo er im Jahre 1779 erschien, noch in den 
„Nova Acta eruditorum“?) gedruckt unter dem Titel „Quadratura 
lunulae, ceireuli et segmenti, nee non curvatura sphaerae a V.-Col. 
E. Corsonich, ope 4 propositionum fundamentalium inviete demon- 
strata, et judicio Academiarum celeberrimarum subjecta“®). Jedoch 
nicht alle, die mit den Arbeiten von Öorsonich bekannt waren, be- 
friedigten sich mit seinen Beweisen. Als Opponent in der Heimat 
des Autors trat in der Literatur der Warschauer Professor Johann 
Koe vor. Die Polemik über einige im Druck erschienene Versuche 
der Lösung dieser berühmten Aufgaben entstand auch in anderen 
Ländern. So herrschte in Italien, wo man sich mehr mit der Drei- 
teilung eines Winkels und der Verdoppelung des Würfels beschäftigte, 
als mit der Quadratur des Kreises, nach der Literatur zu urteilen, 
eine heiße Polemik zwischen Francesco Boaretti einerseits und 
Vincenzo Dandolo und Antonio Romano andererseits, in den 
Jahren 1792—93 über den vom ersteren gegebenen Versuch, diese 
beiden Aufgaben mit Hilfe des Zirkels und Lineals zu lösen.*) 

Die Literatur über die Lösung dieser drei berühmten Aufgaben 
erschöpfte sich jedoch nicht mit den Werken, die im Druck er- 
schienen. Der bedeutend größere Teil der Versuche, diese Aufgaben 
zu lösen, blieb in Manuskripten und in diesem Zustande den Aka- 
demien und gelehrten Gesellschaften vorgelegt, belästigte er sie äußerst, 
da er zu seiner Durchsicht eine vollständig nutzlose Anwendung von 
Mühe und Zeit beanspruchte Aus den zahlreichen Durchsichten in 
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war nur ein einziger Fall, 
der der Wissenschaft einen neuen interessanten Satz gab. Er be- 
‚schäftigte die Pariser Akademie der Wissenschaften, und wurde 
im Artikel „Memoire sur la Quadrature de la partie bfd du cercle 
ahrbda“ (par M. Bourrand°’)) des von ihr im Jahre 1774 ge- 
druckten 6. Bandes der „Memoires de mathematique et de phy- 
sique, presentes ä l’Academie Royale des Sciences, par divers Savans“ 





) Dra Teofila Zebrawskiego Bibliografija pismiennietwa polskiego z. 
dziatu Matematyki i fizyki oraz ich zastösowan. W Krakowie 1873. ?) Anno 
1776. ») p. 108—124. *) @. Valentin, Eine seltene Schrift über Winkel- 
dreitheilung. Bibliotheca mathematica, VII (1893), S. 113—114. °) p. 400. 


Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 377 


dargestellt. Der Gegenstand dieses Artikels war folgender neue Satz: 
Wenn wir im Kreise rba eine Sehne ba ziehen, die die Endpunkte 
des Bogens von 120° verbindet, und den Durchmesser hd, der den 
Teil bd von 30° von diesem Bogen ab- 
teilt, so stellt der Sektor cbd den 


= Teil des Kreises rdba dar. Wenn d 


danach mit der Sehne ad, die die End- 
punkte des Bogens von 90° verbindet, „ 
um den Punkt a, als um das Zentrum, 
der Bogen fd beschrieben wird, so wird 
der Sektor fsad, der zum Zentriwinkel 


“SD 


A 





a von 15° gehört, den 2 Teil des 4 


Kreisss bilden, dem er angehört, und Fig. 8. 
welcher doppelt so groß ist, als 


der gegebene Kreis rba. Dieser Sektor wird folglich den = Teil des 


Kreises rba darstellen, und deshalb dem Sektor cbd gleich sein. 
Diese beiden Sektoren aber haben den gemeinschaftlichen Teil fsd 


und deshalb 
Asda = Acsb + bfd. 


Es stellt sich auf diese Weise heraus, daß die Differenz zwischen den 
Flächen der Dreiecke sda und csb durch die Fläche des Teiles bfd 
des gegebenen Kreises ausgedrückt wird, worin eben der Beweis dieses 
Satzes besteht. 

Die sich immer vergrößernde Anzahl der der Pariser Akademie 
der Wissenschaften vorgelegten Erzeugnisse der Kreisquadrierer und 
anderer Personen, die sich mit anderen berühmten Aufgaben, wenn 
auch in geringerem Maße, beschäftigten, erreichte endlich einen solchen 
Umfang, daß die Akademie anfing ernstlich darüber nachzudenken, 
ihre Mitglieder von der nutzlosen Anwendung der Zeit und der Mühe 
bei dem Durchsehen dieser Erzeugnisse zu befreien. Zum Erreichen 
dieses Zieles wurde das entschiedenste Mittel gewählt. Im Jahre 
1775 veröffentlichte die Akademie folgende Erklärung: „L’Academie 
a pris, cette annee, la r&solution de ne plus examiner aucune solu- 
tion des Problemes de la duplication du cube, de la triseetion de 
angle, ou de la quadrature du cercle, ni aueune machine annoncee 
comme un mouvement perpetuel“.') Der beständige Sekretär der 
Akademie, Condorcet, motivierte diese Erklärung durch folgende 
Betrachtungen: Von der Aufgabe der Verdoppelung des Würfels ist 





‘) Histoire de l’Academie Royale des sciences, annde 1775, p. 61. 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 25 


918 Abschnitt XXI. 


alles, was nur möglich ist von ihr zu wissen, bekannt. Bekannt sind 
' die einfachsten Methoden der Lösung; bewiesen ist, daß es nutzlos 
sein würde, deren Lösung mit Hilfe nur eines Kreises und einer ge- 
raden Linie zu machen. Die Analyse des Problems der Dreiteilung 
eines Winkels ist so vollständig, daß sie schon seit langer Zeit nichts 
mehr zu wünschen übrig läßt. Auf diese Weise kann es keinem 
Zweifel unterliegen, daß diejenigen, die zur Lösung dieser Aufgabe 
nur den Zirkel und das Lineal gebrauchen, ein fehlerhaftes Resultat 
erhalten müssen. Diejenigen von ihnen, die zu richtigen Resultaten 
gelangen, erreichen sie durch den unbemerkten Gebrauch auch anderer 
Kurven zusammen mit dem Kreise und der geraden Linie, wodurch 
ihre Lösungen sich von den schon bekannten nicht unterscheiden 
können, und aus diesem Grunde wird deren Betrachtung vollständig 
nutzlos. In einer ganz anderen Lage befindet sich die Aufgabe der 
Quadratur des Kreises, Angenäherte Lösungen sind schon in großer 
Anzahl gefunden, und die Akademie erkennt in vollem Maße den Wert 
der Arbeiten in der Richtung der Vervollkommnung der Methoden 
soleher Lösungen an. Die Kreisquadrierer jedoch suchen nicht die 
angenäherten Lösungen, sondern die genauen. In Beziehung auf diese 
letzten zerfällt. die Aufgabe der Quadratur des Kreises in zwei selb- 
ständige Aufgaben: in der ersten wird die Quadratur des ganzen 
Kreises gesucht, in der anderen die Quadratur irgend eines Teiles, 
dessen Sehne als bekannt angesehen wird. Die Unmöglichkeit der 
ersten Aufgabe wurde von solchen Autoritäten anerkannt, wie Gre- 
gory und Newton, ist von vielen Geometern bewiesen, und am 
besten von Johann Bernoulli. In betreff der zweiten Aufgabe 
herrscht zwischen den Geometern keine solche Einstimmigkeit über 
die Unmöglichkeit ihrer Lösung, infolge der häufig vorkommenden 
Möglichkeit in besonderen Fällen die Größen zu bestimmen, was im 
allgemeinen Fall unmöglich ist. Infolge dieser Lage der Sache fand 
Condorcet zur Rechtfertigung der Erklärung der Akademie im be- 
trachteten schwierigen Falle nichts besseres, als an ihre 70jährige Er- 
fahrung zu appellieren, welche klar die vollkommene Nutzlosigkeit 
für die Wissenschaft der Prüfung der ihr zugestellten eingebildeten 
Lösungen dieser Frage gezeigt hat, als Erzeugungen von Autoren, die 
mit der Natur und den Schwierigkeiten dieser Frage nicht bekannt 
seien, und deshalb solche Methoden anwenden, die zur Lösung dieser 
Frage nicht führen können, sogar in dem Falle, wenn sie möglich 
wäre. 

Es gab auch noch andere Aufgaben aus der Zahl der von der alten 
griechischen Geometrie gestellten, für welche sich die Geometer in 
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts interessierten. So gaben 


Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 379 


Lambert, Euler!) und Fuß?) neue Lösungen der Aufgabe über die 
Konstruktion eines drei gegebene Kreise berührenden Kreises. Be- 
sonderer Beachtung unter solchen Aufgaben erfreute sich die Auf- 
gabe des Pappus von Alexandria von der Einbeschreibung in den 
Kreis eines Dreiecks, dessen Seiten durch drei auf einer geraden Linie 
gegebene Punkte gehen, welche von Cramer im Jahre 1742 in fol- 
gender allgemeineren Formulierung dargestellt wurde: In einen Kreis 
ein Dreieck einzuschreiben, dessen Seiten durch drei gegebene Punkte 
gehen müssen. Diese, in der anfänglichen besonderen Form sehr ein- 
fache Aufgabe stellte in der verallgemeinerten Form einige Schwierig- 
keiten dar, die auch die Aufmerksamkeit der Geometer auf sie lenkten. 
Als erster löste sie in dieser Form Castillon®), dem sie von Öramer 
vorgelegt wurde. In demselben Bande der Memoiren der Berliner 
Akademie der Wissenschaften gab auch Lagrange seine Lösung dieser 
Aufgabe. Im Jahre 1780 erschienen drei neue Lösungen von Euler‘), 
Fuß°) und Lexell®). In noch allgemeinerer Form und dabei end- 
gültig wurde die Aufgabe des Pappus von Alexandria dargestellt 
und gelöst von den italienischen Geometern: A. Giordano’) aus 
Ottaiano, der diese Arbeit mit bemerkenswerter Einfachheit im Alter 
von 16 Jahren verrichtete, und Malfatti.®) Die Aufgabe des Pap- 
pus von Alexandria hatte in ihrer endgültigen allgemeinen Form 
folgende Darstellung: In einen Kreis ein Vieleck einzuschreiben, dessen 
Seiten in einer beliebigen Anzahl genommen durch eine gleiche An- 
zahl von Punkten gehen müssen, welche in der Ebene des Kreises 
willkürlich gelegen sind. Die letzte dieser Aufgabe gewidmete Arbeit 
„am Ende des 18. Jahrhunderts war das Werk von Lhuilier®), welches 





‘) Solutio facilis problematis, quo quaeritur circulus, qui datos tres circulos 
tangat. Nova Acta Academiae Scientiarum Petropolitanae, VI, p. 95—101, 
’) Solution du problöme de trouver un cercle, qui touche trois cercles donnes 
de grandeur et de position. Ebenda, p. 102—113, °) Sur un problöme de 
geom6trie plane, qu’on regarde comme fort diffieile. Nouveaux M&moires de 
l’Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres, & Berlin, annde 1776, p. 265 


bis 283. ‘) Problematis cujusdam Pappi Alexandrini constructio. Acta Aca- 
demiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, 1780, I, p. 91—96. °) Solutio 
problematis geometrici Pappi Alexandrini, ebenda, p. 97—104. 6) Solutio 
problematis geometrici in Actis Academiae Scientiarum Berolinensis, pro Anno 
1776, a celeb. Castillon propositi, ebenda, 1780, II, p. 70—90. ”) Con- 


siderazioni sintetiche sopra di un celebre problema piano, e risoluzione di al- 
quanti problemi affin. Memorie mat.-fis. della Societä Italiana delle scienze, 
IV, 1788, °) Soluzione generale di un problema geometrico di Pappo Ales- 
sandrino, ebenda, IV, 1788: °) Solution algebrique du probleme suivant: A 
un cerele donne, inscrire un polygone dont les cötes passent, par des points 
donnes. Nouveaux Memoires de l’Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres, 
ä Berlin, annde 1796 (publie 1799), p. 94—116. 

25* 


380 Abschnitt XXI. 


einige Änderungen in die Lösungen der italienischen Geometer hinein- 
brachte. 

Ebenso als Beendigung der Arbeiten, die schon früher ange- 
fangen waren, nämlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts '), 
erschien das Werk von Mascheroni La Geometria del compasso?), 
das im Jahre 1797 erschien. Sein Gegenstand, wie schon aus dem 
Titel ersichtlich, besteht aus der Lösung ausschließlich nur mit Hilfe 
des Zirkels aller Aufgaben, die gewöhnlich mit dem Zirkel und Lineal 
gelöst werden. Sich mit den Aufgaben der Elementargeometrie nicht 
begnügend, zeigt Mascheroni in seinem Werke, daß die (reometrie 
des Zirkels leicht zur angenäherten Lösung der Aufgaben von den 
Kegelschnitten und sogar von noch höheren Teilen der Geometrie an- 
gewandt werden kann. Lorenzo Mascheroni?) (1750-1800), ein 
Abbe, beschäftigte sich am Anfang seiner wissenschaftlich-lehrenden 
Tätigkeit mit Poesie und Belletristik. Aber nach einigen Jahren des 
Vortrages der humanistischen Wissenschaften und der griechischen 
Sprache in Bergamo und Pavia fühlte er sich zur Mathematik hin- 
gezogen. Nachdem er sich ihrem Studium vollständig gewidmet hatte, 
wurde er so bald ihrer Herr, daß er schon nach einem kurzen Zeit- 
raum imstande war den Vortrag der Geometrie auf sich zu nehmen, 
anfangs im Marienkollegium in Bergamo und danach im Archigym- 
nasium in Tieino. Späterhin wurde er Professor der, Elementarmathe- 
matik an der Universität in Pavia, Korrespondent der Akademie von 
Padua und Mitglied der italienischen Gesellschaft der Wissenschaften. 
Als überzeugter und heißer Anhänger der Revolution kam er mit 
Enthusiasmus den Veränderungen in Italien entgegen, die die Armeen . 
der ersten französischen Republik in ihr politisches Leben hinein- 
brachten. Nach Gründung der zisalpinischen Republik wurde er zum 
Mitglied des gesetzgebenden Körpers erwählt und begab sich bald 
darauf nach Paris, um an der internationalen Kommission teilzunehmen, 
die zur Ordnung des metrischen Systems der Maße und Gewichte zu- 
sammengerufen war. Während seines Aufenthaltes in Paris und kurz 
vor seinem Tode wurde er zum Mitglied des Stadtrats in Mailand er- 
nannt. 





ı) Die ersten Arbeiten dieser Art waren Cardanos und Tartaglias 
Lösungen einiger Aufgaben der Geometrie von Euklid mit Hilfe eines Lineals 
allein oder eines Lineals und Zirkels, der jedoch immer unveränderte Öffnung 
hat. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, H?, S. 526—529 
und häufiger.. ) Pavia, 8°, VIIT-+ 264 pp., 14 tavole. In das Französische von 
Carette (Paris 1798) übersetzt und später von Gruson (Berlin 1825) ins 
Deutsche. 5) Poggendorff, II, S. 71—72. Biografia di Lorenzo Mascheroni 
di Camillo Ugoni, Bergamo 1873. Bibliografia mascheroniana per Giuseppe 
Ravelli, Bergamo 1881. 


Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 381 


Durch das Einführen der Algebra in die Elemente der Geometrie 
in Widerspruch mit den altgriechischen Geometern geraten, setzte 
Legendre denselben Weg fort. In seinen Arbeiten gab er den analy- 
tischen Methoden einen weiten Zugang in der Lösung der Fragen der 
Elementargeometrie. So gibter im V. Anhang zu seinen „Elementen“ 
analytische Lösungen der Aufgaben, die da handeln von Dreiecken, 
in einen Kreis eingeschriebenen Vierecken, Parallelepipeden und der 
dreiseitigen Pyramide. Bei der Wahl eines Beispiels aus ihnen für 
unsere Darstellung genügt es an der Bestimmung des Radius des 
Kreises, der um ein Viereck umschrieben ist, und an dessen Fläche, 
als Beispiele, in denen der Autor die 
Theorie des eingeschriebenen Vierecks er- 
gänzt hat und welche deshalb eine selb- 
ständige Bedeutung haben. 


Es seien die gegebenen Seiten des \ n 
\ ce 


B 


dem Kreise eingeschriebenen Vierecks 


ABCOD A 
AB=a BC=b, CD=c DA=d, 





D 


und seine unbekannten Diagonalen AC=, Fig. 9 


BD=y. Dann werden auf Grund- 
lage der Theoreme über das Produkt der Diagonalen eines eingeschrie- 
benen Vierecks und über ihr Verhältnis 


&y=ac+bd und Per 


y ab+cd’ 
daraus folgt, daß 











Geb (ac + bd) (ad + be) a (ae+bd)(ab+cd) 


Mn sn 
ab-+cd e ad-+be 





Wenn man sich danach der bekannten Darstellung des Radius eines 
umschriebenen Kreises des Dreiecks durch die drei Seiten und die 
Fläche des letzteren bedient, so erhält man für den gesuchten Radius, 
als den Radius eines umschriebenen Kreises des Dreiecks ABC, den 
Ausdruck 


abx 


= — — 
Via?b?— (a + b?— x)?’ 











welcher sich nach Ersetzen des x durch seinen eben gefundenen Wert 
und ferner nach Zerlegung der erhaltenen Resultate in Faktoren in 
den endgültigen Ausdruck verwandelt 





"pi V 0 (ae+ba)(adtbo)ab+c 
a+b+ce—dy(a+b+d— g)la+ctd=b)b+c+d—a 





382 Abschnitt XXL. 


Auf Grundlage derselben Darstellung des Radius eines einem Dreieck 
umschriebenen Kreises durch dessen drei Seiten und seine Fläche 
werden die Flächen der Dreiecke ABC und ADC sich in folgenden 
Ausdrücken darstellen 


5 1 
— ab& — edz 


AABO= " _— und AADO=--<- 








und folglich wird die ganze Fläche des dem Kreise eingeschriebenen 
Vierecks sein 


AB 





oder nach Ersetzen des x und des 2 durch ihre Werte 
ABCD 
-— , Va +b+e-d)(a+tb +d—o$latetd-dotc+d-a), 





und bei p= —(a+b+c+d) 





ABOCD=-Yp-p-)P-A(P—d). 


Wenn eine so weite Anwendung der analytischen Methoden in 
den elementar-geometrischen Untersuchungen von Gelehrten zugelassen 
wurde, welche überzeugte Anhänger der altgriechischen Geometer 
waren, so ist es nicht schwer sich vorzustellen, wie in solchen Fällen 
Gelehrte, die sich anders zu den Alten verhielten, handelten. In 
ihren Schriften haben die synthetischen Methoden vollständig den 
analytischen den Platz geräumt. Diese Erscheinung ist unmöglich 
außer acht zu lassen, als sehr charakteristische für die elementar- 
geometrischen Untersuchungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahr- 
hunderts. 

Die sphärische Geometrie bis in die zweite Hälfte des 
18. Jahrhunderts überschritt fast gar nicht die engen Grenzen ihres 
kleinen Teils, den sie mit der sphärischen Trigonometrie teilte und 
die sich mit den sphärischen Dreiecken beschäftigte. Dieser Teil, 
durch die Bedürfnisse der Astronomie und nachher als notwendig für 
die Navigation und Geodäsie ins Leben hervorgerufen, entsprach un- 
geachtet der erreichten hohen Entwicklungsstufe nur demjenigen 
kleinen Teil der Geometrie der Ebene, der zum Gegenstand die gerade 
Linie und das Dreieck hat. Alle anderen Teile der sphärischen Geo- 
metrie jedoch, die den viel größeren Teilen der Geometrie der Ebene 
entsprachen, harrten noch ihrer Forscher. Als erster erschien in der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der schon oben erwähnte Anders 


Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 383 


Johann Lexell (1740—1784)!). Er wurde in der Stadt Abo geboren und 
fing seine wissenschaftlich-lehrende Tätigkeit an der Universität als Dozent 
der Mathematik in derselben Stadt an. Im Jahre 1769 wurde er Mitglied 
der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften, und im Jahre 1771 
war er daselbst schon Professor der Astronomie und ordentlicher 
Akademiker. Er wurde ebenfalls zum Mitglied der Akademie der 
Wissenschaften in Stockholm ernannt. Da in Petersburg die Astro- 
nomie das Hauptfach Lexells wurde, so gehörten ihr alle seine 
Schriften, die in einzelnen Ausgaben erschienen und der größte Teil 
derer, die in den Veröffentlichungen der Akademien in Petersburg und 
Stockholm und in den „Philosophical Transactions“ enthalten waren. 
Von den Abhandlungen Lexells in der Mathematik gehörten sechs 
der Geometrie an, acht der Integralrechnung, je zwei der Differential- 
rechnung, der Trigonometrie und der Geodäsie, vier der theoretischen 
Mechanik und je eine der Algebra und den Reihen. Von den astro- 
nomischen Arbeiten Lexells waren am bekanntesten seine Schriften 
über die Sonnenparallaxe und ihrer Bestimmung, die sich in den Ver- 
öffentlichungen der Petersburger und Stockholmer Akademien befanden. 
Als auf die wichtigste von ihnen ist auf die im Jahre 1772 in Peters- 
burg als Sonderausgabe erschienene „Disquisitio de investiganda vera 
quantitate parallaxeos solis, et transitu Veneris ante discum solis 
anno 1769“?) hinzuweisen, in welcher der Autor, die Berechnungen 
nach den Methoden Eulers führend, die Sonnenparallaxe gleich 8”,68 
fand. | 

Die erste Arbeit Lexells, die der sphärischen Geometrie ge- 
widmet war, war der Artikel „De epieycloidibus in superfieie sphaerica 
descriptis“®), der, wie aus dem Titel zu ersehen, sich mit Gegen- 
ständen beschäftigte, die schon früher von den Geometern berührt 
worden waren. Als vollständige Neuheit, dem Gegenstand der Er- 
forschung nach, traten folgende drei Arbeiten Lexells hervor, welche 
in den Jahren 1781 und 1782 erschienen „Solutio problematis geo- 
metrici ex doctrina sphaericorum“*), „De proprietatibus eireulorum in 
superficie sphaerica descriptorum“?) und „Demonstratio nonnullorum 
theorematum ex doetrina sphaerica“.°) Als Hauptgegenstand ihrer 
Betrachtung erscheinen die Eigenschaften von Kreisen, die auf der 





') Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch, I, S. 1444 
bis 1446. Precis de la vie de M. Lexell. Nova Acta Academiae Seientiarum 
Imperialis Petropolitanae, II. Historia Academiae ad annum 1784, p. 16—19. 
®2) 4°, 131 S., mit 1 Tafel. ») Acta Academiae Scientiarum Imperialis Petro- 
politanae pro Anno 1779, pars I, p. 49—71. *, Ebenda, pro Anno 1781, 
pars I, p. 112—126. °) Ebenda, 1782, pars I, p. 58—103. °) Ebenda 1782, 
pars II, p. 85—95. 


384 Abschnitt XXI. 


Kugel konstruiert sind. In der Geometrie der Ebene werden folglich 
analog zu diesem Gegenstande Eigenschaften von Kreisen, welche in 
der Ebene konstruiert sind, vorhanden sein. 

Als der am meisten bemerkenswerte Satz aus diesem von Lexell 
gewählten Gebiet der sphärischen Geometrie erkennt man gewöhnlich 
das schöne Theorem über die Linie, die den geometrischen Ort der 
Spitzen der sphärischen Dreiecke darstellt, welche eine gemeinschaft- 
liche Basis und gleiche Oberfläche haben. Angenommen, ABC sei 
eines der sphärischen Dreiecke, deren gemeinsame 
Basis AB= e ist und die gegebene Oberfläche 
A+B+U-x=S. Es sei ferner JPK der 
unbestimmt verlängerte Perpendikel, der auf AB 
in der Mitte errichtet ist. Dann wird, wenn JP 
ein Quadrant ist, der Punkt P der Pol des Bogens 
ADB sein und der Bogen PÜD, der durch die 
Punkte P und (gezogen ist, perpendikular zu Ab 
sein. Es sei weiter JD=p»p, ÜD=g, dann wer- 
den die rechtwinkligen Dreiecke AUDund BCD, 


a in welchen AU=b, BUÜ=a, AD=p +36, 





BD=» en ist, geben 


% 
Cosa — COSQ COS (p — > c) 
cosb = cosgq cos (p +50): 


Setzt man jetzt in die schon früher gefundene Formel 


1+cosa—+ cosb + cosc 


1 
ct,8 = sina-sinb- sine 





die Werte 
1 
cosa + cosb — 2c08 9: 008P-C085 € 
ol 
1 + cosce = 2co08s?— c 
i N . ; a | 1 i 
sinb sin O=sinc-sinB= 2sinZc-cos. c-sinB, 


so bekommt man: 


1 
cos 3r# CO8P-Cosgq 





4 
cot 8 — 
r sina-sinnc-sin B 


Außerdem ist noch in dem rechtwinkligen Dreieck BOD 


sina-sinD= sing 


Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 385 


und folglich 


1 
cos —C-+ c08 P-cosq 





re. 2 
ct, 8 — 
in —c - sin 
sin z ing 
oder 
rt 1 
(1) c08p-cosg — cot,S-sin„c- sing — 0856, 


was endlich auch jene Beziehung zwischen » und g vorstellt, die die 
Linie bestimmen muß, auf der alle Punkte ( gelegen sind. 

Wenn man jetzt JP um die Größe PK=x verlängert und 
KO=y zieht, so läßt sich die Seite KXC des Dreiecks PKC, in 


welchem PC = on — q und der Winkel KPC=x—p aus der 


Formel 
cos KÜ = cos KPÜ:sin PK-sın PÜ-+ cos PK cos PC 


oder 

COS y = SING: C0OSC — SINT-COSIG-COSP 
bestimmen. Man erhält nach Substitution des nach der Formel (1) 
gefundenen Wertes von c0osg:-cosp 


: 1 : 1 en 
cos y = sın®-cos,c+ sin q (cos — sın cot,. S-sin, c)- 


Man sieht daraus, daß wenn man annimmt 


i 1: rt 
Cost — sin x-cob8-sin„c— 0 


oder 


1 $ 
or = cot,S-sinzc, 


alsdann gefunden wird 


(2) cos y = sin@- 6085 c 


und folglich wird der Wert y eine Konstante werden. 

Erriehtet man also auf der Basis AB in der Mitte den Perpen- 
dikel JP und nimmt auf der andern Seite des Pols den Bogen PK 
so, daß 


ct PK = cot , S-sinze, 
so werden alle Spitzen der Dreiecke, die eine gemeinschaftliche Basis C 
und gleiche Oberfläche S$ haben, auf dem kleinen Kugelkreise EC. 


gelegen sein und alle Punkte dieses Kreises EC denselben nach der 
Formel 


cos KÜ = sin PK-cos , e 
gefundenen Abstand XC von dem Pol K haben. 


386 Abschnitt XXI. 


Die Bedeutung, die Lexell selbst diesem Theorem gab, oder, wie 
er es nannte, diesem Problem, ist daraus ersichtlich, daß er ihm einen 
besonderen Artikel widmete, nämlich die schon oben erwähnte „So- 
lutio problematis geometriei ex doctrina sphaerieorum“. Legendre 
stellte am Ende seiner Bemerkung X!) zu seinen „El&ments de gE0- 
metrie“ die Lösung dieses Theorems in einer gedrängteren Weise dar, 
als der Autor. In dieser Form ist sie auch von uns dargestellt. 

Nach dem Tode von Lexell übernahmen die Fortsetzung der 
von ihm unternommenen Ausarbeitung der sphärischen Geometrie 
zwei andere Mitglieder der Petersburger Akademie der. Wissenschaften 
Nikolaus Fuß und Friedrich Theodor Schubert. Der erste von 
ihnen legte die Resultate seiner Untersuchungen in diesem Gebiet in 
den im Jahre 1788 erschienenen zwei Memoiren: „Problematum quo- 
rundam sphaericorum solutio“?) und „De proprietatibus quibusdam 
ellipseos in superficie sphaerica descriptae“.?) In dem ersten von ihnen 
löste Fuß folgende drei Aufgaben: Auf gegebener Basis zwischen zwei 
gegebenen größten Kugelkreisen ein Dreieck zu konstruieren, an dessen 
Spitze der Winkel ein Maximum sei; ein Dreieck zu konstruieren, 
an dessen Spitze die Summe zweier Seiten ein Minimum sei; ein 
Dreieck zu konstruieren, dessen Fläche ein Maximum sei. Da die 
Lösung der ersten Aufgabe zu einer kubischen Gleichung führt, so 
untersucht der Autor zuerst die Bedingungen, bei denen die Aufgabe 
drei Wurzeln zuläßt. Diese Untersuchung findet mit Hilfe der Drei- 
‚teilung des Winkels statt und wird von Berechnungen begleitet, die 
einem bestimmten Fall angehören. Danach folgt die Betrachtung des 
Falles, bei dem die beiden größten Kugelkreise aufeinander senkrecht 
stehen und welcher die kubische Gleichung zur Gleichung vom zweiten 
Grade bringt. Obwohl die zweite Aufgabe nicht schwer erscheint, 
führt dennoch der Gebrauch gewöhnlicher Mittel zu ihrer Lösung zu 
solchen Gleichungen, deren Lösung große Schwierigkeiten in den Weg 
setzen. Der Autor umgeht sie, indem er die Spitze des Dreiecks um 
einen unendlich kleinen Bogen ändert, als Resultat erscheint eine 
äußerst einfache Lösung. Außer dem Memoire von Fuß, und sogar 
früher als dessen Erscheinung, erschien die dritte Aufgabe im zweiten 
Heft des „Leipziger Magazins für reine und angewandte Mathematik“ 
von J. Bernoulli und Hindenburg, was darauf hinweist, daß die 
deutschen Gelehrten an den Untersuchungen über die sphärische Geo- 
metrie, die von den Petersburger Akademikern ausgeführt wurden, 





ı) Note X. Sur l’aire du triangle spherique. ?) Nova Acta Academiae 
Scientiarum Imperialis Petropolitanae, II, p. 70-83. ®) Ebenda, II, p. 90 
bis 99. 


Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 387 


ebenfalls teilzunehmen anfingen. Ungeachtet, daß die Lösung dieser 
Aufgabe schwieriger erscheint, als die der zweiten, gelang es Fuß mit 
Hilfe der Methode, die der Methode der zweiten Aufgabe ähnlich ist, 
einen viel schöneren Ausdruck der Lösung der dritten Aufgabe zu 
finden, welcher dabei geometrisch auf der Kugel konstruiert werden 
kann. Sein zweites Memoire widmete Fuß den Eigenschaften der 
bekannten sphärischen Ellipse, d. h. der Kurve, die den geo- 
metrischen Ort der Spitzen der Dreiecke darstellt, in denen bei ein 
und derselben Basis die Summe der zwei andern Seiten konstant ist. 
Zu der Untersuchung dieser Eigenschaften, die den Eigenschaften der 
ebenen Ellipse analog sind, wurde Fuß durch die zweite Aufgabe des 
ersten Memoires veranlaßt. Als Resultat dieser Untersuchung erschien 
die Schlußfolge, daß die zu betrachtende Kurve eine Durchschnitts- 
linie der Kugel mit dem Kegel zweiten Grades sei, dessen Spitze in 
dem Mittelpunkt der Kugel liegt. Anders ausgedrückt: die sphärische 
Ellipse ist die Krümmungslinie der Kegel zweiten Grades. Sie kann 
auf der Kugel konstruiert werden, ebenso wie die Ellipse in der Ebene, 
d. h. mit Hilfe eines Fadens, welcher von einem sich bewegenden 
Stifte stets straff gespannt wird und dessen Enden in zwei Brenn- 
punkten befestigt sind. Wenn man die Abszisse dieser Kurve auf 
dem größten Kugelkreise nimmt, 
der durch die Punkte A und B 
geht, in denen die Enden des 
Fadens befestigt sind, indem 
man aus der Mitte Ü zwischen 
ihnen ausgeht, und diese Abszisse 
mit x bezeichnet, die Ordinate 
auf dem größten Kugelkreise Fig. 11. 

(z. Be YX), der senkrecht 

zum größten Kugelkreise ACB steht, mit y bezeichnet, die Länge 
des Fadens A Y_B mit 2c und den Bogen des größten Kugelkreises AB 
mit 2a, so kann man mit Hilfe der sehr bekannten Transformationen 
und Reduktionen bei dem Kalkül der Sinusse eine Gleichung erhalten 





Vin? e — sin?a) (sine — sin?x) 
sine. cose ’ 


tangy = 





welche die Natur der sphärischen Ellipse ausdrücken wird. Die An- 
wendung dieser Gleichung auf den speziellen Fall, in welchem die 
Länge des Fadens 2c gleich der halben Peripherie des größten Kugel- 
kreises ist, führte den Autor zu folgendem bemerkenswerten Resultat. 
Wenn die Länge des Fadens der halben Peripherie des größten Kugel- 
kreises gleich ist, so ist die mit ihrer Hilfe konstruierte Kurve immer 


388 Abschnitt XXI. 


ein größter Kugelkreis, wie groß auch die Entfernung zwischen den 
beiden Punkten, in denen der Faden befestigt ist, sein mag. 

Schubert beschäftigte sich in seinem der Petersburger Akademie 
der Wissenschaften im Jahre 1798 mitgeteilten Memoire „Problemata 
ex doctrina sphaerica“!), welches der Ausarbeitung der sphärischen 
Geometrie gewidmet war, mit der Lösung der vier Fragen über die 
geometrischen Orte der Spitzen der Dreiecke, in denen bei der ge- 
gebenen Basis folgendes in den einzelnen Fällen gegeben wird: im 
ersten das Verhältnis der Sinusse der beiden andern Seiten, im zweiten 
das Verhältnis ihrer Kosinusse, im dritten das Verhältnis der Sinusse 
der Hälften derselben Seiten und im vierten das Verhältnis der Ko- 
sinusse derselben Hälften. Der Autor zeigt, daß der gesuchte geo- 
metrische Ort in der ersten Frage dargestellt wird durch den Durch- 
schnitt der Kugel mit dem Kegel, dessen Grundfläche eine Ellipse 
ist, welche sich auf die Ebene der gegebenen Basis projiziert und als 
Projektion die Hyperbel hat. Der erwähnte Durchschnitt stellt eine 
Kurve doppelter Krümmung dar. Der geometrische Ort in der zweiten 
Frage ist der zur Basis senkrechte größte Kugelkreis. Endlich sind 
die gesuchten geometrischen Orte in der dritten und vierten Frage 
durch zwei kleine Kugelkreise dargestellt, die untereinander gleich 
und parallel sind und senkrecht zur gegebenen Basis stehen. 


Parallelenlehre. 


Beständig wachsend erreichte das Interesse an der Parallelenlehre 
bei den Gelehrten im betrachteten Zeitraum von 1759 —1800 ein 
solches Maß, das bedeutend dasjenige übertraf, welches in gleichen 
Zeitabschnitten der vorhergehenden Periode erreicht wurde. In diesem 
Zeitraum erschienen 67 Werke, die in ihrem ganzen Umfang, oder 
einigen ihrer Teile, der Parallelenlehre gewidmet waren, während in 
der ganzen vorhergehenden Periode, von Euklid angefangen, nur 
55°) solcher Werke existierten. Der größte Teil der erwähnten 





') Nova Acta Academiae Petropolitanae, XII, p. 196—216. 2) Engel 
und Stäckel, Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauß, Leipzig 
1895, 8. 287—316. Stäckel, Zur Bibliographie der Parallelentheorie. Biblio- 
theca Mathematica. Neue Folge, XII, 8. 47—48. Zur Angabe der in diesen 
beiden Werken bezeichneten Schriften sind noch zwei in Rußland erschienene 
Arbeiten hinzuzufügen: das aus. dem Vorhergehenden bekannte Werk von 
Gurief, „Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geometrie“ und der 
Artikel „Theorie des lignes paralleles“, mitgeteilt in der Sitzung der Petersburger 
Akademie der Wissenschaften im Jahre 1799 (24. Oktober). Nova Acta Academiae 
Scientiarum Imperialis Petropolitanae, XV, p. 77—78. 


Parallelenlehre. 389 


Schriften, nämlich 44, gehörten Deutschland an. Was die andern an- 
betrifft, so gehörten 7 Frankreich, ebenfalls 7 Italien, 4 England, 
2 Rußland und je 1 der Schweiz, Schweden und Holland an. 

Einer und vielleicht der wichtigste von den Gründen, welche die 
soeben in Zahlen angegebene hohe Entwicklung des Interesses an der 
Parallelenlehre in Deutschland hervorriefen, war das Erscheinen der 
Dissertation „Conatuum praecipuorum theoriam parallelarum demon- 
strandi recensio, quam publico examini submittent Abrah. Gotthelf 
Kaestner et auctor respondens Georgius Simon Klügel“') im 
Jahre 1763. Der Gegenstand dieser Dissertation bestand aus’ der 
Geschichte der Parallelenlehre und der Kritik der ihr gewidmeten 
30 Arbeiten. Die Idee zu diesem Werk, ebenso auch das dazu er- 
forderliche Material, wurde dem Autor wahrscheinlich von Kästner 
gegeben, der sich für die Parallelenlehre während seiner ganzen ge- 
lehrten Tätigkeit interessierte. Indem er in seinen eigenen Unter- 
suchungen auf diesem Gebiet nicht zu genügenden Resultaten gelangte, 
suchte sie Kästner bei den anderen Autoren und stellte deshalb mit 
Sorgfalt eine Sammlung derselben zusammen, welche am Ende seines 
Lebens ziemlich bedeutenden Umfang erreichte. Diese Sammlung benutzte 
natürlich Klügel bei seinen Arbeiten. Einige Angaben aus der Ge- 
schichte der Parallelenlehre waren ebenfalls in dem Artikel von 
Castillon „Sur les paralleles d’Euelide“?) enthalten. 

Dank seiner Autorität und Popularität trug d’Alembert viel 
dazu bei, das Interesse an der Parallelenlehre in Frankreich und 
anderen Staaten Europas hervorzurufen und zu unterhalten. „Die 
Erklärung und die Eigenschaften der geraden Linie sowie der paral- 
lelen Geraden sind die Klippe und sozusagen das Ärgernis der Ele- 
mentargeometrie“, hatte er in einem bemerkenswerten Aufsatze über 
die Elemente der Geometrie 1759?) ausgerufen und hatte hinzugefügt, 
man könne allerdings parallele Gerade als solche erklären, die auf 
eirfer dritten Geraden senkrecht stehen, dann aber sei unbedingt er- 
forderlich, zu beweisen, daß der Abstand der beiden Geraden immer 
gleich dem gemeinsamen Lote sei. Später in dem im Jahre 1785 
gedruckten Artikel „Parallele“*) in der Encyelopedie methodique 
sagte er: „Der strenge Beweis der Theorie der Parallellinien ist viel- 
leicht in der Elementargeometrie die schwerste Aufgabe. Wie es mir 
scheint, ist die wahre und dabei die reinste Definition der parallelen 





') Göttingen, 4°, 30 8., mit 1 Tafel. 2) Nouveaux me&moires de l’Aca- 
demie royale de Berlin, annede 1786—1787, Berlin 1792, p. 233—254, anndes 
1788— 1789, ib. 1793, p. 171—202, 4°. 3), D’Alembert, Melange de Litte_ 


rature, d’Histoire et de Philosophie. Nouvelle edition. T. V. Amsterdam, 8°. 
*) T. II, 3° partie, p. 520. Mathömatiques. 


390 Abschnitt XXI, 


Linie, welche überhaupt gegeben werden kann, diejenige, welche sagt, 
parallel seien Gerade, wenn zwei Punkte der einen gleichweit von 
zwei Punkten einer anderen Geraden entfernt sind. Zwei Punkte an- 
zuführen ist vollkommen genügend, weil zwei Punkte die gerade Linie 
bestimmen. Danach muß bewiesen werden (und das ist das Schwerste), 
daß alle anderen Punkte der zweiten Geraden gleichweit enifernt sind 
von der gegebenen Geraden und daß folglich sich diese Linien niemals 
schneiden werden. Zu sagen, daß die parallele Linie eine solche ist, 
deren Punkte alle gleichweit von einer anderen Linie entfernt sind 
oder eine solche, welche bei der Verlängerung sich niemals mit ihr 
schneidet, heißt das, wonach gefragt wird, voraussetzen. Den großen 
Geometern gleich zu sagen, daß zwei parallele Linien zwei gerade 
Linien sind, die in einer unendlichen Entfernung oder in einem un- 
endlich entfernten Punkte sich schneiden, das heißt einem vollkommen 
einfachen Gegenstande eine äußerst metaphysische und abstrakte De- 
finition geben.“ | 

Wie auch früher, waren die Anstrengungen der Geometer der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sich mit der Theorie der 
Parallellinien beschäftigten, auf die Entdeckung eines strengen Be- 
weises der fünften Forderung des Euklid, oder, was dasselbe 
ist, seines elften Axioms gerichtet, welches, wie bekannt, folgenden 
Satz darstellt: Wenn eine Gerade zwei Gerade trifft und mit ihnen 
auf derselben Seite innere Winkel bildet, die zusammen kleiner sind 
als zwei Rechte, so müssen die beiden Geraden, ins Unendliche ver- 
längert, schließlich auf der Seite zusammentreffen, auf der die Winkel 
liegen, die zusammen kleiner sind als zwei Rechte. In der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrhunderts waren zwischen den, wie die oben an- 
geführten Zahlen zeigen, zahlreichen Versuchen, den Beweis dieses 
Satzes zu liefern, sehr wenig solche, die allgemeine Aufmerksamkeit 
auf sich lenkten und die als vollkommen genügend angesehen in Lehr- 
bücher übergingen. In der chronologischen Reihenfolge ihrer Er- 
scheinung muß man vor allem bei dem Beweise von Bertrand stehen 
bleiben, welchen er in seinem aus der früheren Darstellung bekannten 
Werke „Developpement nouveau de la partie elömentaire des mathe- 
matiques“!) gab. 

Seinem Beweise der fünften Forderung schickte Bertrand fol- 
genden Satz voraus: Zwei Gerade, welche von einer dritten Geraden 
derart geschnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel, welche 
auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, zwei Rechte be- 
trägt, schließen einen solchen Teil der Ebene ein, der in der ganzen 





') Tome II, p. 19—20. 


Parallelenlehre. 391 


Ebene unendlich vielmal enthalten ist. Und wirklich, wenn man auf 
der Geraden @.H, die den angegebenen Bedingungen genügende zwei 
gerade Linien AB und OD schneidet, die Strecke LM gleich der 
Strecke KL macht und danach 

durch den Punkt M die Linie EF G 
zieht, die mit @H den Winkel / 
F ML, gleich dem Winkel DLK, 
bildet, so wird bei der Verschie- C 
bungdes Streifens AC.D B, dieden 
Punkt K zur Übereinstimmung 
mit dem Punkt Z und die Strecke 
KL mit der Strecke LM bringt, Fig. 12. 

dieser Streifen mit dem Streifen 

CEFD übereinstimmen, was daraus folgt, daß die Winkel DLM 
und BKL, als den Winkel DLK bis zu zweien Rechten ergänzend, 
einander gleich sein müssen. Da aber die Anzahl solcher Streifen, 
wie OEFD, gleich der Anzahl der nacheinander in der Linie GH 
eingetragenen Strecken LM ist, so wird bei der augenscheinlich un- 
endlichen Zahl dieser Streeken auch die Anzahl dieser Streifen un- 
endlich sein. Nachdem Bertrand auf diese Weise seinen vorläufigen 
Satz bewiesen hat, geht er zur fünften Forderung über. Angenommen, 





E 





IS 





ie erg 
{ 








D 
M L N 
inf 
A + B 
Fig. 13. 


daß die Geraden AB und CD, welche von einer dritten Geraden XL 
derart geschnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel, welche 
auf derselben Seite der schneidenden Geraden KL liegen, zwei Rechte 
nicht beträgt. Es sei ebenso 


LBKL+LDLK>2R, 
dann 


LAKL-+LCOLK<2R. 


Wenn man nun die Gerade LM zieht, die den Winkel OLM bildet, 
welcher so viel Grade, Minuten und Sekunden enthält, als der Summe 
LAKL+LCLK fehlen, daß sie 2R gleich werde, so kann man 
auf Grund des vorhergehenden vorläufigen Satzes sagen, daß die ganze 
Ebene eine unendliche Anzahl solcher Streifen enthält, wie der Streifen 


392 Abschnitt XXIL 


MLKA. Dasselbe kann man jedoch vom Winkel MLC nicht sagen, 
da er im Gegensatz zum Streifen MLKA in der ganzen Ebene eine 
endliche Zahl mal enthalten sein wird, nämlich 360 mal bei der 
Größe von 1 Grad, 21600mal bei der Größe‘ von einer Minute, 
1296000 mal bei Größe von einer Sekunde usw. Aus diesem Grunde 
wird die Voraussetzung, daß die Gerade LÜ sich auf der Seite von 
A nicht mit der Geraden KA begegnet, zu einer Absurdität, da sie 
zu dem Schlusse führt, der Winkel MLO, der in der ganzen Ebene 
eine endliche Anzahl mal enthalten ist, sei im Streifen MLKA ent- 
halten, welcher in der ganzen Ebene eine unendliche Anzahl mal ent- 
halten ist oder, was dasselbe ist, bilde einen Teil von ihm. Also 
ist es unmöglich, daß die Gerade LC sich mit der Geraden AK in 
der Seite von A nicht trifft, oder, überhaupt gesagt, ist es unmög- 
lich, daß sich zwei Gerade nicht treffen, die von einer dritten Ge- 
raden derart geschnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel, 
welche auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, zwei 
Rechte nicht beträgt. 

Um dem Leser die Kraft dieses Beweises verständlicher zu 
machen, führt Bertrand zum Schluß folgende strengere Darstellung 
seiner Gründe an. Wie klein oder wie groß ein Winkel auch sein 
würde, dessen Scheitel im Zentrum des Kreises liegt, welcher mit 
irgend einem endlichen Radius beschrieben ist, wird er immer ent- 
weder zu einem Bogen gehören, der irgend eine Größe hat, oder zu 
einem Bogen, der gar keine Größe hat. Im zweiten Falle werden 
seine Schenkel zusammenfallen und folglich wird er kein Winkel 
mehr sein. Was jedoch den ersten Fall anbetrifft, so wird, da die 
Peripherie des Kreises selbst eine endliche Größe besitzt, das Verhält- 
nis des Bogens, der dem Winkel gehört, zur ganzen Peripherie des 
Kreises notwendig das Verhältnis einer endlichen Größe zu einer end- 
lichen Größe sein, und folglich wird sich auch der Winkel selbst zur 
ganzen Winkelgröße am Zentrum, wie eine endliche Größe zu einer 
anderen endlichen Größe verhalten, was daraus folgt, daß die Zentri- 
winkel sich zur ganzen Winkelgröße am Zentrum verhalten wie die 
Bogen, die zu ihnen gehören, zur ganzen Peripherie des Kreises. Aber 
zur gleichen Zeit wird derjenige Teil der Ebene, welcher von zwei 
Geraden eingeschlossen ist, die von einer dritten Geraden derart ge- 
schnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel, welche auf 
derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, zwei Rechte beträgt, 
sich zur ganzen Ebene nicht wie eine endliche Größe zu einer anderen 
endlichen Größe verhalten, sondern wie eine endliche Größe zu 
einer unendlichen. Der Streifen ACDB z. B. verhält sich zur 
ganzen Ebene, dessen Teil er bildet, wie eine endliche Gerade KL 


Parallelenlehre. 393 


l 


zu einer unendlichen Geraden KG. Also wie klein ein Winkel auch 
sein wird, er wird immer den Teil einer Ebene übertreffen, welcher 
eben mit dem Ausdruck „Streifen“ bezeichnet worden ist. Die Be- 
hauptung, daß ein Streifen einen Winkel enthält, schließt folglich. 
einen Widerspruch ein. Ebenso schließt auch die Behauptung einen 
Widerspruch ein, daß zwei Gerade, welche von einer dritten Geraden 
derart geschnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel, welche 
auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, zwei Rechte 
nicht beträgt, sich bei der Verlängerung auf der Seite, wo diese 
Summe kleiner als zwei Rechte ist, nicht treffen werden. 

Einer großen Bekanntheit, die die Bekanntheit der angeführten 
Beweisführung Bertrands bedeutend übertraf, erfreuten sich die dem- 
selben Gegenstand gewidmeten Arbeiten Legendres hauptsächlich 
dank der Verbreitung seiner Elöments de g&omötrie, in denen er sie 
anbrachte. An Stelle der fünften Forderung selbst bewies er in diesen 
seinen Arbeiten einige andere Sätze, auf denen die ganze Theorie der 
Parallellinien ebenso streng begründet werden konnte, wie auf diese 
Forderung. Ein solcher Satz war in der ersten Ausgabe der „Ele- 
ments“ im Jahre 1794 der folgende: Wenn die gerade Linie BD das 
Perpendikel zu AB ist und 
eine andere Gerade AC mit D 
derselben Linie AD einen 
spitzen Winkel BAC bildet, E 
so begegnen sich die Linien F 
AC und BD bei genügender E C 
Verlängerung. Legendre F 
beweist diesen Satz auf fol- x 
gende Weise: Der Punkt @,,„ __ 7 r 

der Fußpunkt des Prpn 74 urn a) 
dikels, der auf die Gerade AB ei 
von irgend einem Punkte 
F auf der Linie AC gefällt ist, kann nicht auf den Punkt A fallen, 
noch auf irgend einen anderen Punkt auf der Linie AL. Die erste 
Voraussetzung ist unmöglich, weil der Winkel BAF kein rechter ist. 
Was jedoch die zweite Voraussetzung anbetrifft, so erweist sich seine 
Unmöglichkeit aus folgenden Erwägungen. Wenn der Fußpunkt G 
des Perpendikels zum Beispiel auf den Punkt H fallen würde, so 
würde sich das angenommene Perpendikel FH im Punkte K mit dem 
anderen Perpendikel AE, das auf der Geraden AB in dem Punkte A 
errichtet ist, schneiden, dann würden von dem Punkte X aus auf die 
Gerade AB zwei Perpendikel gefällt worden sein, was unmöglich ist. 
Also kann der Punkt @, der Fußpunkt des Perpendikels FG, nur 


CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 26 














394 Abschnitt XXII. 


auf irgend einen Punkt der Linie AJ fallen. Auf Grund derselben 
Erwägungen kann man weiterhin behaupten, daß der Fußpunkt M 
des Perpendikels, der auf die Gerade AB von dem Punkte Ü aus ge- 
fällt ist, nicht in den Punkt @ fallen kann und nicht in irgend einen 
anderen Punkt der Linie @L, da der Punkt C auf der Geraden AU 
in der Entfernung AC, die AF' übertrifft, genommen ist. Ebenso 
kann auch der Fußpunkt N des Perpendikels, der auf die Gerade AB 
von dem Punkte 7 aus auf der Geraden AC in der Entfernung von 
AP genommen, die AC übertrifft, gefällt ist, nicht auf den Punkt 
M, nicht auf irgend einen anderen Punkt der Linie ML fallen usw. 
Also können die Fußpunkte M, N usw. der Perpendikel sich nur 
bez. auf den Linien @J, MJ usw. befinden auf Entfernungen vom 
Punkte A, die bez. die Entfernungen AG, AM usw. übertreffen. Auf 
diese Weise werden nach der allmählichen Entfernung der Punkte der 
Linie AC vom Punkte A, von denen Perpendikel auf die Linie AB 
gefällt werden, auch diese Perpendikel sich vom Punkte A entfernen. 
Dabei eine Grenze der Vergrößerung des Abstandes (z. B. AN) des 
Fußpunktes des Perpendikels vom Punkte A bei der gleichzeitigen 
Vergrößerung des Abstandes vom Punkte A desjenigen Punktes (z. B. 
P), von dem das Perpendikel gefällt ist, vorauszusetzen, wäre absurd. 
Und wirklich, nehmen wir an, daß das letzte oder das am meisten 
vom Punkte A entfernte Perpendikel UM sei, so könnten wir, indem 
wir auf der Verlängerung von AC den Punkt P nehmen würden, auf 
dieselbe Weise, wie auch früher, beweisen, daß der Fußpunkt des 
Perpendikels PN auf die Linie M.J fallen muß und folglich von A 
auf einer Entfernung, die die Entfernung AM übertrifft, sein muß, 
was der Voraussetzung widerspricht. Also können die Fußpunkte der 
Perpendikel, die von den verschiedenen Punkten der Linie AC aus 
auf AJ gefällt sind, in beliebig großen Entfernungen vom Punkte A 
liegen, folglich wird auch unter ihnen ein solcher Fußpunkt sein, der 
mit B zusammenfallen wird, oder, was dasselbe ist, das ihm ent- 
sprechende Perpendikel wird mit BD zusammenfallen, woraus direkt 
folgt, daß die Linien AC und BD bei genügender Verlängerung ein- 
ander treffen werden. 

Dieser Beweis ist nicht genau, da die Behauptung von der Ab- 
surdität der Voraussetzung, daß es eine Grenze der Entfernung gäbe 
zwischen dem Fußpunkt des Perpendikels und dem Punkte A, nicht 
richtig ist. Und diese Ungenauigkeit ist der Aufmerksamkeit der 
Zeitgenossen nicht entschlüpft. Gurief hat schon in seiner oben er- 
wähnten kritischen Analyse der „Elements“ von Legendre folgende 
Einwände diesbezüglich gemacht.) Wenn auch zusammen mit der 





!) Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geometrie, 8. 189—190. 


Parallelenlehre. 39 


Entfernung des Punktes C von A der Abstand AM des Perpendikels 
CM von demselben Punkte A wirklich eine unendliche Anzahl Zu- 
wächse bekommen kann, so folgt noch lange nicht daraus, daß die 
Voraussetzung von der Möglichkeit der Existenz einer Grenze für die 
Entfernung AM absurd ist. Der Beweis Legendres setzt dabei nur 
die Unmöglichkeit der Existenz des letzten der Perpendikel fest, die 
von dem auf AC genommenen Punkte aus auf AB gefällt werden, 
beweist jedoch in keinem Falle die Unmöglichkeit der Existenz einer 
Grenze für den Abstand AM. Es kann jedoch kein Zweifel bezüg- 
lich des ersteren herrschen, deshalb ist auch sein Feststellen nicht als 
Beweis des betrachteten Satzes anzusehen. Was jedoch die Unrich- 
tigkeit der Ansicht, daß die Voraussetzung der Existenz einer Grenze _ 
des Abstandes AM absurd sei, anbetrifft, so deckt sie G@urief mit 
Hilfe folgender Betrachtungen auf. Da uns beim Beweise des Grundsatzes 
der Theorie der Parallellinien noch nicht bewußt ist, ob den gleichen 
Längen AF, FC, CP usw., die auf AP genommen, ebenso unter- 
einander gleiche Größen entsprechen, nämlich AG, GM, MN usw, 
die auf der Linie A.J durch die gefällten Perpendikel von den Punkten 
F, C, P usw. abgetrennt sind, so entsteht die Möglichkeit zu sagen, 
daß die Zuwächse des Abstandes AM z..B. der Reihe folgen 


1 1 1 


1 1 
en 7 er ee 1er re 


Da aber die Summe der Glieder dieser Reihe immer kleiner als 2 ist, 
wie weit man sie auch fortsetzt, so folgt daraus direkt, daß, wie weit 
der Punkt © sich vom Punkte A auch entfernen mag, das von ihm 
aus gefällte Perpendikel CM auf der Linie AJ immer eine um zwei- 
mal kleinere als die genommene Größe AG von ihr abschneiden 
wird. Die verdoppelte Größe AG wird auf diese Weise zur Grenze 
der Entfernung AM. 

Den Beweis Legendres auf diese Weise widerlegend, gab Gu- 
rief in demselben Werke!) seinen eigenen Beweis der fünften For- 
derung, der mit dessen Teilung in drei Fälle anfing. Als ersten Fall 
beweist er den, in welchem von den beiden inneren Winkeln, welche 
auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, der eine ein 
spitzer, der andere ein rechter ist. Beim Beweise des zweiten, in 
welchem beide innere Winkel, welche auf derselben Seite der schnei- 
denden Geraden liegen, spitze Winkel sind, benutzt er den ersten Fall. 
Was jedoch den dritten Fall anbetrifit, in dem der eine der inneren 
Winkel, welche auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, 


') Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geometrie, S. 236—239. 
26* 


396 Abschnitt XXI. 


ein spitzer und der andere ein stumpfer ist, so führt er dessen Be- 
weis direkt auf den ersten Fall zurück. Der Beweis, den Gurief 
dem ersten Fall gab, welcher den Fall darstellt, den Legendre zu 
beweisen versucht, wurde Gurief durch das Durchsehen der Arbeit 
des letzteren eingeflößt, wie er es selbst eingesteht, indem er mit dem 
ihm eigenen Eigendünkel sagt: „Wie schwach und unbegründet dieser 
Beweis des Herrn Legendre auch sei, er gab mir die Gelegenheit 
diese Sache zu beendigen, auf die so viel Mühe verwandt worden ist, 
wie im Altertum, so auch in der neuen Zeit, von den berühmtesten 
Männern.“!) Dieser Beweis ist ebenso ungenau, wie der Beweis Le- 
gendres, weil @urief unbemerkbar für sich selbst denselben Fehl- 
tritt getan hat wie Legendre. 

Indem Legendre von der Kritik Guriefs keine Vorstellung 
hatte, da dieselbe in russischer Sprache erschien, war er selbst von 
seinem Beweise nicht befriedigt. In der dritten Ausgabe seiner 
„El&ments“, die im Jahre 1800 erschien, ebenso auch in allen folgen- 
den bis zur achten einschließlich, bewies er an Stelle des Satzes, den 
er als Grundsatz der Theorie der Parallellinien in der ersten Ausgabe 
annahm, schon einen anderen, nämlich den Satz von der Gleichheit 
der Winkelsumme eines Dreiecks mit zwei Rechten, welcher infolge 
seines engen Zusammenhanges mit der Theorie der Parallellinien als 
Grundsatz dieser Theorie ebenso streng angenommen werden kann, 
wie der erstere Satz und wie die fünfte Forderung selbst. 

Nach einer Reihe mißlungener Versuche, den direkten Beweis 
dieses Satzes zu finden, war Legendre gezwungen bei dem indirekten 
Beweise stehen zu bleiben, nämlich bei den Sätzen, daß die Winkel- 
summe eines Dreiecks nicht größer sein kann als zwei Rechte, und 
daß dieselbe Summe nicht kleiner sein kann als zwei Rechte. Für 
den ersten dieser Sätze gab er folgenden vollkommen strengen Beweis. 
Wenn es möglich ist, so sei das Dreieck ABO ein solches, bei dem 


B D F' ZH K M oO @ 








2 a RE ar Pau ze Se Er | 
Fig. 15. 


die Winkelsumme größer als zwei Rechte ist. Indem man dann auf 
der Verlängerung von AC die Strecke OE = AC nimmt, den Winkel 
ECD=(CAB konstruiert, auf seiner Seite die Strecke CD= AB 


') Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geometrie, $. 190. 


Parallelenlehre. 397 


macht und sodann die entsprechenden Punkte durch die Linien DE und 
BD verbindet, so bekommt man ein Dreieck ODE, das gleich dem 
Dreieck ABC ist, da sie übereinstimmen in zwei Seiten und dem 
eingeschlossenen Winkel. Aus der Gleichheit dieser Dreiecke folgt, 
daß der Winkel OED= ACB ist, der Winkel ODE= ABC und 
die dritten Seiten ED und BC gleich sind. Da die Linie ACE eine 
Gerade ist, so ist die Summe der Winkel ACB, BCD und DCE 
zwei Rechten gleich, und folglich laut der Voraussetzung, daß die 
Winkelsumme des Dreiecks ABC größer als zwei Rechte ist, 


CAB+ABC+BCA>ACb+BCD+DCE. 


Indem man von beiden Seiten dieser Ungleichheit den gemeinsamen 
Winkel ACB subtrahiert und ebenso die gleichen Winkel CAB und 
ECD, bekommt man 

ABCO>BCD; 


und da die Seiten AB und BC des Dreiecks ABC gleich den ent- 
sprechenden Seiten OD und CB des Dreiecks BCD sind, so wird die 
dritte Seite AC größer als die dritte Seite BD sein. Wenn man sich 
danach die Linie AE als unbegrenzt verlängert denkt, ebenso die auf 
ihr konstruierte Reihe von gleichen und ähnlich liegenden Dreiecken 
ABO, CODE, EFG, GHJ usw., so wird zu gleicher Zeit durch die 
Verbindung der anliegenden Spitzen durch die Geraden BD, DF, FH, 
HK usw. eine Reihe dazwischen liegender Dreiecke BCD, DEF, 
FGH usw. erhalten, die alle untereinander gleich sein werden, als 
solche, die übereinstimmen in zwei Seiten und dem eingeschlossenen 
Winkel. Aus der Gleichheit dieser Zwischendreiecke folgt, daß 
BD=-DF=-FH=MHK us. 

Weil ACU>BD ist, sei die Differenz zwischen ihnen A0O— BD=D. 
Dann wird 2D die Differenz zwischen der Geraden ACE, die gleich 
2AC ist, und der geraden oder der gebrochenen Linie BDF sein, 
die gleich 2.BD ist und ebenso AG — BH=3D, AJ— BK=4D usw. 
Aber wie klein auch die Differenz D wäre, ist es augenscheinlich, 
daß sie, genügend wiederholt, größer werden kann, als irgend eine 
mögliche gegebene Größe, infolgedessen kann man immer voraus- 
setzen, daß die Reihe der Dreiecke so weit fortgesetzt ist, daß 


AP—BQ>2AB ode AP>BQ+2AB. 


Andererseits jedoch dieser Folgerung widersprechend, muß die Gerade 
AP kürzer sein als die gebrochene Linie ABQP, weil sie mit ihr 
die gemeinsamen Endpunkte A und P hat, d. h. es muß immer sein 


AP<AB+BQ+QP ode AP<BQ+2AB. 


398 Abschnitt XXI. 


Die Voraussetzung, von der man ausging, erweist sich auf diese Weise 
als absurd, folglich kann die Winkelsumme des Dreiecks ABC nicht 
größer als zwei Rechte sein. | 

Dem zweiten Satze gab Legendre den Beweis, dessen Mangel- 
haftigkeit er später selbst anerkannte'), indem er sagte, daß „dieser 
zweite Satz, obwohl das Prinzip seines Beweises gut bekannt ist, uns 
Schwierigkeiten stellte, die wir nicht vollends beseitigen konnten“. 

Zu Legendres Versuchen des direkten Beweises des Satzes über 
die Gleichheit der Summe der Winkel eines Dreiecks mit zwei Rechten 
ist auch der Beweis dieses Satzes zu rechnen, welcher in der ersten 
Ausgabe der „El&ments de g&ometrie“ angeführt wird, obwohl er auch 
nicht mit der Absicht gegeben war, diesen Satz als Grundsatz der 
Theorie der Parallellinien anzugeben. Ungeachtet dessen, daß dieser 
Beweis in dem eben angeführten Memoire von Legendre?) wieder- 
holt war, befriedigte er den Autor nicht, weil er sich nicht mit dem 
Gebrauche der Mittel begnügte, die vom ersten Buche der Elemente 
des Euklid geboten wurden, und teils synthetisch, teils analytisch war. 
Hier ist dieser Beweis. 

Indem wir unmittelbar durch Auflegung ohne Anwendung irgend 
eines vorläufigen Satzes beweisen, daß zwei Dreiecke kongruent sind, 
wenn sie übereinstimmen in einer Seite und den beiden anliegenden 
Winkeln, bezeichnen wir die erwähnte Seite mit dem Buchstaben p, 
die ihr anliegenden Winkel mit A und B und den dritten Winkel 
mit ©. Es ist nötig, daß der Winkel C vollkommen bestimmt ist 
im Falle, wenn die Winkel A und B und die Seite p bekannt sind, 
weil im andern Fall den drei gegebenen Größen A, B, p einige 
Winkel C entsprechen könnten und es ebenso viel verschiedene Drei- 
ecke geben würde, die übereinstimmen in einer Seite und den beiden 
anliegenden Winkeln, was unmöglich ist. Also muß der Winkel C 
eine bestimmte Funktion der drei Größen A, B, p sein, was auf 
folgende Weise dargestellt werden kann ÜO=g (A, B, p). 

Wenn als Einheit der rechte Winkel genommen wird, so werden 
die Winkel A, B, C durch Zahlen ausgedrückt werden können, die 
zwischen 0 und 2 liegen; da aber ÖO=g (A, B, p), so erhalten wir 
die Möglichkeit zu behaupten, daß die Funktion p die Linie p nicht 
enthalten kann. Und wirklich, wenn dank der Eigenschaft des © 
durch die gegebenen Größen A, B, p allein vollkommen bestimmt 
zu werden, irgend eine Gleichung zwischen A, B, C, p existieren 





") Legendre, R£flexions sur differentes manieres de demontrer la theorie 
des parallöles ou le th&eoreme sur la somme des trois angles du triangle. 
Memoires de l’Academie Royale des sciences de l’Institut de France XII (1833), 
p. 371. *) Ebenda, p. 372—374. 


Parallelenlehre. 399 


könnte, so könnte man aus ihr den Ausdruck der Größe p ableiten 
in der Abhängigkeit von den A, B, ©, woraus folgen würde, daß die 
Seite p einer Zahl gleich sein würde, was absurd ist. Also kann die 
Funktion die Seite p nicht enthalten, und folglich ist O=g 
(A, B). 

Diese Formel weist gerade darauf hin, daß wenn zwei Winkel 
eines Dreiecks zwei Winkeln eines andern Dreiecks gleich sind, so 
auch die dritten Winkel gleich sind. Wenn aber das bewiesen ist, so 
ist es nicht ‚schwer, auch das Theorem selbst über die Gleichheit der 
Summe der Winkel eines Dreiecks mit zwei Rechten zu beweisen. 

Zuerst nehmen wir ein rechtwinkliges Dreieck ABC mit dem 
rechten Winkel bei A und fällen ein Perpendikel AD von diesem 
Punkt A auf die Hypotenuse. Dann werden a: 
die Winkel B und D des Dreiecks ABD den D 
Winken B und A des Dreiecks BAC gleich 
sein, und folglich wird, nach dem eben Be- 
wiesenen, der dritte Winkel BAD dem dritten 
Winkel C gleich sein. Auf Grund derselben Er- 
wägungen wird der Winkel DAU=B sein, und folglich BAD+DAC 
oder BAC=B-+C. Aber der Winkel BAC ist ein rechter, folglich 
werden die beiden spitzen Winkel eines rechtwinkligen Dreiecks zu- 
sammen einen rechten Winkel bilden. 

Nehmen wir jetzt irgend ein Dreieck BAC, in dem die Seite BC 
nicht kleiner ist, als jede der beiden andern Seiten. Wenn wir von 
dem Scheitel des Winkels A, der der Seite 
BC gegenüberliegt, auf diese Seite der 
Perpendikel AD fällen, so wird dieses 
Perpendikel im Innern des Dreiecks BAC 
verlaufen und dasselbe in zwei recht- z 
winklige Dreiecke BAD, DAC teilen. 
Im ersten werden die beiden Winkel 
BAD und ABD einen rechten Winkel bilden, ebenso auch im 
zweiten die beiden Winkel DAC, ACD. Bei der Vereinigung 
jedoch aller dieser vier Winkel werden sie die drei Winkel bilden 
BAC, ABO, ACB, oder ebenfalls zwei Rechte. Also ist die Summe 
der Winkel in jedem Dreieck zwei Rechten gleich. 

Die Hauptarbeit in der Theorie der Parallellinien in der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrhunderts und, wenn man die Arbeit von 
Saccheri ausschließt, auch in der ganzen vorhergehenden Zeit, war 
das Werk Lamberts „Theorie der Parallellinien“t). Es war schon 





A £ 
Fig. 16. 








Fig. 17. 





') Magazin für die reine und angewandte Mathematik, herausgegeben von 


400 Abschnitt XXII. 


im September 1766 verfaßt, jedoch befriedigte es den Autor nicht 
und wurde auch deshalb während seiner Lebzeiten nicht verlegt. 
( Diese Pflicht bezüglich der wichtigen Arbeit fiel dem Direktor der 
\ Königlichen Sternwarte zu Berlin, Johann Bernoulli (1744—1807), 
Ye ‚ dem die Berliner Akademie der Wissenschaften den Nachlaß 
Lamberts „unter annehmlichen Bedingungen“ überließ, „damit er 
einen für das gelehrte Publikum nützlichen Gebrauch davon machen 
sollte“. 
In seinem Werk ging Lambert, Saccheri gleich, vom Viereck 
ABDC, in welchem die Winkel A und B Rechte sind, aus. Wenn 
in ihm ebenso auch der Winkel C ein 
B D Rechter sein wird, so werden AB 
und CD einander nicht begegnen 
_ und die Frage wird auf den Winkel 
Be ern “ BDc zurückgeführt, in Beziehung 
zu welchem man drei Voraussetzungen 
zulassen kann: _BDO = %0°%, LBDC>W%°, LBDUÜ<MW. 
Nach der Durchsicht einer jeden dieser Voraussetzungen im ein- 
zelnen unter den entsprechenden Titeln: „Erste Hypothese“!), „Zweite 
Hypothese“?) und „Dritte Hypothese“?) kommt Lambert hin- 
sichtlich der ersten zum Schluß, daß sie mit der Annahme des 
fünften Euklidischen Postulats gleichbedeutend ist, und die zweite 
Hypothese auf einen Widerspruch führt. Endlich macht er bei 
der dritten Hypothese stillschweigend eine mit dem zu beweisenden 
Postulate gleichbedeutende Annahme. Dieser letzte Umstand war 
auch wahrscheinlich einer der Gründe, und vielleicht auch der Haupt- 
grund der Unzufriedenheit des Autors mit seiner Arbeit, die ihn an 
deren Druck hinderte. Die schwachen Seiten des Werks von Lam- 
bert verhinderten ihn jedoch nicht bei seiner weiteren, viel weiter als 
bei Saccheri gehenden Betrachtung von der zweiten und dritten 
Hypothese zu einigen bemerkenswerten Resultaten zu gelangen. So 
findet er, daß wenn eine von jenen beiden Hypothesen stattfände 
ein absolutes Maß der Länge vorhanden wäre. Als letztes und vielleicht 
als wichtigstes Resultat erscheinen die Betrachtungen über den Flächen- 
inhalt des Dreiecks, die Lambert zeigten, daß dieser Flächeninhalt 
bei der zweiten und dritten Hypothese der Abweichung der Summe 
der Winkel des Dreiecks von zwei Rechten proportional ist. Dieser 
Schluß bringt ihn zur folgenden wichtigen Bemerkung: „Hierbey 




















Bernoulli und Hindenburg, Leipzig 8°, Jahrgang 1786, 2. Stück, S. 137 bis 
164; 3. Stück, $. 325—358. Engel und Stäckel, Die Theorie der Parallel- 
linien von Euklid bis auf Gauß, Leipzig 1895, S. 152—207. 

1) 8. 180-185. 2) 9.186—192. °) $. 192207. 


Parallelenlehre. 40] 


scheint mir merkwürdig zu seyn, daß die zwote Hypothese statt hat, 
wenn man statt ebener Triangel sphärische nimmt, weil bei diesen 
sowohl die Summe der Winkel größer als 180 Gr. als auch der 
Überschuß dem Flächenraume des Triangels proportional ist. Noch 
merkwürdiger scheint es, daß, was ich hier von den sphärischen 
Triangeln sage, sich ohne Rücksicht auf die Schwierigkeit der Parallel- 
linien erweisen lasse, und keinen andern Grundsatz voraussetzt, als 
daß jede durch den Mittelpunkt der Kugel gehende ebene Fläche die 
Kugel in zween gleiche Theile theile. Ich sollte daraus fast den 
Schluß machen, die dritte Hypothese komme bey einer imaginären 
Kugelfläche vor. Wenigstens muß immer etwas seyn, warum sie sich 
bey ebenen Flächen lange nicht so leicht umstoßen läßt, als es sich 
bei der zwoten tbun ließ.“') 

Als er, wie die Bemerkung zeigt, erfuhr, daß die zweite Hypo- 
these sich auf der Kugel verwirklicht, ging Lambert weiter und 
sprach die für seine Zeit außerordentlich kühne Vermutung aus, dab 
zu demselben für die dritte Hypothese die imaginäre Kugelfläche 
führe. Damit schaute er weit in die Zukunft, weil die Richtigkeit 
seiner Vermutung erst ein ganzes Jahrhundert nachher bewiesen werden 
konnte. Vollkommen möglich ist es, daß er zu seiner Vermutung ge- 


langte, indem er den Radius der Kugel r durch den Wert Y—-1-r 
in der Formel 


r(A+B+C-n) 


ersetzt, die zum Ausdruck des Flächeninhaltes des sphärischen Drei- 
ecks mit den Winkeln A, B, C dient. Als Resultat dieser Ver- 
tauschung mußte er den Ausdruck 


(a —A—B-(C) 


bekommen, was dem Forscher zeigte, daß auf der imaginären Kugel, 
ebenso wie auf der wirklichen, der Flächeninhalt des Dreiecks der 
Abweichung der Winkelsumme des Dreiecks von zwei Rechten pro- 
portional ist und daß dieselbe Summe nicht größer sein kann als 
zwei Rechte, d. h. alles das, was den Inhalt der dritten Hypothese 
bildet. 

Mit der Theorie der Parallellinien beschäftigte sich ebenfalls 
Lagrange. Er war, ebenso wie Lambert und Legendre, von den 
erhaltenen Resultaten nicht befriedigt, was aus folgenden übrigens 
sehr ungenügenden Auskünften zu ersehen ist. Nach der Mitteilung 
Leforts, von Hoüel?) dargestellt: „Lagrange hatte erkannt, dab 


) Engel und Stäckel, Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis 
| auf Gauß, Leipzig 1895, S. 202—203. ®, Hoüel, Essai ceritique sur les prin- 


26 ** 


402 Abschnitt XXI. 


die Formeln der sphärischen Trigonometrie von dem elften Axiome 
unabhängig sind, und hoffte hieraus einen Beweis dieses Axioms zu 
gewinnen. Alle anderen Beweisversuche betrachtete er als ungenügend. 
So hat er sich in seinen Unterhaltungen mit Biot ausgedrückt.“ Und 
nach der Erzählung von de Morgan!): „Lagrange verfaßte am 
Ende seines Lebens eine Abhandlung über die Parallellinien. Er be- 
gann sie in der Akademie zu lesen, aber plötzlich hielt er inne und 
sagte: ‚Il faut que j’y songe encore‘; damit steckte er seine Papiere 
wieder ein.“ 


cipes fondamentaux de la geometrie el&mentaire ou commentaire sur les XXXII 
premieres propositions des El&ments d’Euclide p. 76. 
') Engel und Stäckel, Die Theorie der Parallellinien usw., $. 212. 


Verbesserungen. 


S. 58 2. 2 v. u. statt 2) Ebenda, 8.79, 80 lies 2) A. De Morgan, op. eit. 8. 79, 80. 
3. 59 2. 4 v. u. statt S. E. Morgan lies $. E. De Morgan. 


ABSCHNITT XXIII 


TRIGONOMETRIE : POLYGONOMETRIE 
UND TAFELN 


VON 


A.v. BRAUNMÜHL 


CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 27 





Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeit- 
| genossen und Nachfolger. 


Die definitive Umgestaltung der Trigonometrie war 1753 durch 
den ersten grundlegenden Aufsatz Eulers angebahnt worden (vgl. IIT?, 
S.560—561 und 867—869), obwohl derselbe seine praktische Be- 
zeichnungsweise der trigonometrischen Funktionen schon viel früher 
in seinen zahlreichen Abhandlungen sowie in der „Introduetio“ an- 
gewendet hatte. Diese Bezeichnungsweise, die in der Hauptsache der 
noch jetzt gebräuchlichen entspricht, war auch von einigen der her- 
vorragendsten Mathematiker, wie von den Franzosen Clairaut und 
d’Alembert, alsbald mit Glück gebraucht worden, während andere 
und darunter namentlich die Engländer sich noch ziemlich lange teils 
der älteren Abkürzungen!) bedienten, teils überhaupt keine Formeln 
schrieben. Die Wichtigkeit seiner Schreibweise für die ganze Mathe- 
matik hat Euler selbst mit folgenden Worten hervorgehoben?): „Wenn 
dies (nämlich die Einführung der trigonometrischen Funktionen in 
den Kalkül) auch nicht von großer Wichtigkeit scheinen möchte, da 
es hauptsächlich auf der von mir in die Rechnung einge- 
führten Bezeichnungsweise dieser Größen beruht...., so hat 
doch eben diese Art der Bezeichnung nachmals der ganzen Analysis 
so große Hilfsmittel verschafft, daß dadurch ein fast neues Feld er- 
schlossen wurde .. .“ 

Ferner hat Euler”), wenn er dies auch nirgends ausdrücklich her- 
vorhob,“ die trigonometrischen Funktionen nicht mehr allein als 
Linien, wie es bisher stets geschehen war, sondern fast durchweg als 
Verhältnisse aufgefaßt. Dies geht aus verschiedenen Stellen seiner 
Schriften auf das deutlichste hervor und war schon durch den Um- 





') Vgl. z.B. die Bezeichnung bei F. C. Maier, III?, S. 559. Ausführlicheres 
hierüber in: A. v. Braunmühl, Die Entwicklung der Zeichen- und Formel- 
sprache in der Trigonometrie. Bibl. math. (3) III, 1902, p. 64—74. 2, Subsidium 
caleuli sinuum. Novi Comment. Acad. sc. Petrop. ad annos 1754/55, erschienen 
1760, V,p.164—165. ®) So z. B. in „Annotationes in locum quendam Cartesii ad 
eirculi quadraturam spectantem“. Novi Comment. Acad. Petrop. 1760/61 (er- 
schienen 1763), VIII, p. 159 ff.; ferner in „Trigonometria sphaerica universa“. Acta 
Acad. Petrop. 1779, I, p.73. Vgl. auch die Übersetzung von E. Hammer, Ost- 
walds Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 73, p. 41. 

27° 


406 Abschnitt XXIII. 


stand gefordert, daß er sie als Winkelfunktionen in die Ana- 
lysis einführte‘). Simon Klügel, auf den wir weiter unten noch 
ausführlich zu sprechen kommen werden, hat diese Neuerung mit 
folgenden Worten gekennzeichnet?): „Nach der alten Ansicht der go- 
niometrischen Funktionen waren es bloße Linien, die man unter sich 
und mit dem Halbmesser zu Gleichungen verknüpfte..., und hier den 
Halbmesser zur Einheit nehmen, war nur Ersparung im Schreiben, 
welche die Gleichartigkeit (Homogeneität) der Glieder zerstörte. Nach 
der neuen, durch Euler eingeführten, sind sie Zahlgrößen, 
welche die Gleichartigkeit der Glieder nicht aufheben, ...“ Aber 
obwohl schon Eulers Arbeiten den Vorteil dieser Auffassung ins 
Licht setzten, und später Klügel und andere für sie eintraten, dauerte 
es noch bis tief in das 19. Jahrhundert hinein, bis dieselbe auch ın 
der elementaren Trigonometrie durchgriff und überall festen Fuß faßte. 
Ähnlich ging es auch mit jenem so einfachen und in seiner 
Tragweite doch so wichtigen Gedanken Eulers, die Seiten der ebenen 
und sphärischen Dreiecke mit a, b, ce und die gegenüberliegenden 
Winkel mit den an den Eeken stehenden Buchstaben A, B, © zu be- 
zeichnen, ein Gedanke,‘ den er schon in jener Abhandlung von 1753 
über die kürzeste Linie zur vollkommen symmetrischen Gestaltung 
der sphärischen Formelsysteme ausgenützt hatte. Obwohl das Vor- 
teilhafte dieser Bezeichnung auf der Hand lag, fand auch sie nur 
ziemlich langsam allgemeine Verwendung. | 
Sehen wir uns um, was von Rulers Zeitgenossen und Nach- 
folgern sowie von ihm selbst von 1759 ab neues in der Trigono- 
metrie geleistet wurde, so müssen wir um einige Jahre zurückgreifend 
einen Aufsatz des Engländers Franeis Blake (1718—1780) mit dem 
Titel „Spherical Trigonometrie reduced to 
Plane“®) besprechen, der deshalb nicht 
übergangen werden kann, weil die darin 
angewandte Methode nachmals wiederholte 
Verwendung fand. Den Schlüssel zur Be- 
handlung der sphärischen Dreiecke bot ihm 
Fig. 19. der Fall, einen Winkel aus den drei Seiten zu 
bestimmen, den er folgendermaßen löste. Um 
<a in Aabd (Fig. 19) zu bestimmen, seien af und ae die Tangenten 











') Er sagt im Subsidium caleuli sinuum a. 0. a. O.: „Ebenso (wie Johann 
Bernoulli die Logarithmen zu analytischen Größen machte) glaube ich die 
Sinus und Tangenten der Winkel zuerst in den Kalkül eingeführt zu haben, so 
daß man sie wie andere Größen behandeln und mit ihnen alle Operationen 
ohne jedes Hindernis ausführen kann“. 2) Mathem. Wörterbuch, Il, 1805» 
p- 618. s, P.T. XLVII, 1752, p. 441 ff, 


Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 407 


der Bögen ad und ab und c sei das Zentrum der Kugel, dann ist 
ce=secab, cef—secad und Xc-=arcbd bekannt. Somit ergibt 
sich aus Acef die Seite ef, und da af=tgad, ae=tgab ebenfalls 
bekannt sind, so findet man aus dem ebenen Aaef den Keaf= a. 
Im Grunde genommen ist Blakes Verfahren nur eine Vereinfachung 
der schon von den Arabern und Regiomontan ausgebildeten Me- 
thode.!) 

Im Jahre 1756?) versuchte ferner der Franzose Alexander- 
Gui Pingre (siehe XIX. Abschnitt, $. 14), der sich durchweg der 
Formelschreibweise Eulers bediente, die Nepersche Regel für recht- 
winklige sphärische Dreiecke auf schiefwinklige auszudehnen, indem 
er die längst bekannten Sätze, welche sich durch Fällen eines senk- 
rechten Bogens von einer Ecke eines Dreiecks auf die Gegenseite er- 
geben, in zwei Regeln zusammenfaßte, die nur auf jene beiden Auf- 
gaben, in welchen drei Seiten oder drei Winkel gegeben sind, keine 
Anwendung fanden. Dieser Umstand veranlaßte später (1798) den 
Sehotten Walter Fisher, Pingres Regeln zu verbessern’), indem er 
sie durch vier in allen Fällen anwendbare Theoreme ersetzte, die je- 
doch wenig Verwendung fanden. 

Jean Francois de Castillon kennen wir bereits als Heraus- 
geber von Newtons kleineren Schriften (II2, $.508). Durch das 
Studium der Werke des letzteren wurde er offenbar zur Abfassung 
zweier Abhandlungen veranlaßt, die er 1764 und 1765 der Berliner 
Akademie vorlegte‘) und in denen er eine neue Begründung einiger 
Sätze der ebenen Trigonometrie versuchte So gab er eine geome- 
trische Ableitung des Halbwinkelsatzes und zeigte, wie aus diesem 
sieben Theoreme fließen, die schon Newton in seiner Arithmetica 
universalis aufgestellt hatte) 

Eulers analytische Formeln wurden mit Glück verwendet in 
einer Dissertation aus dem Jahre 1760, die unter dem Präsidium von 
Johann Kies (1713—1781), Professor in Tübingen, von den Kan- 
didaten des Magisteriums Hoffmann und Jäger verteidigt wurde. 
Sie führt den Titel „Trigonometria methodo plana et facili exposita“ 
und gibt die goniometrischen Formeln sehr vollständig, ohne jedoch 
die trigonometrischen Funktionen als Verhältnisse zu definieren. Dann 
werden die zehn Hauptgleichungen zwischen drei Stücken eines recht- 





') Vgl. A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigono- 
metrie I, 1900, p. 68 und 129. ?) Me&m. de l’Acad. de Paris 1756 (erschienen 
1762), p. 301. » P. T. I 2, 1758, p. 538—543. *, Propositions de G&o- 
metrie et de Trigonometrie &lömentaire, d&montrees d’une maniere nouvelle. 
Mem, de l’Acad. de Berlin 1766 (publiziert 1768), p. 354—364. °), Arith- 
metica univ., Cap. XIII, Problemata geometrica. 


408 Abschnitt XXIII. 


winkligen sphärischen Dreiecks abgeleitet und auch die weniger be- 
kannten Relationen zwischen vier Stücken aufgestellt, woran sich die 
Ableitung der Sätze für das schiefwinklige Dreieck mit Einschluß der 
Neperschen Analogien anreiht. Bemerkenswert ist die polare Grup- 
pierung der sechs Dreiecksfälle zu zweien, die trotz Vietas Vorgang!) 
selten genug zu finden war. Die Formeln für das ebene Dreieck ge- 
winnt Kies, wie das später noch oft geschah, durch Grenzübergang 
aus jenen für die Kugel, indem er sinA=A, tg4A=4A, cosA=1 setzt. 

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde auch zum ersten Male 
die Notwendigkeit einer Kleinkreistrigonometrie auf der Kugel von 
d’Alembert betont. Nachdem derselbe bereits in seinen Reflexions 
sur la cause des vents, Paris 1757, durch eine ziemlich umständliche 
Rechnung gezeigt hatte, wie man eine Relation zwischen den Seiten 
eines Dreiecks herstellen kann, dessen Basis aus einem Kleinkreis- 
bogen und dessen Schenkel aus Großkreisbögen bestehen, löste er 
einige Jahre später?) die Hauptaufgaben, den Neigungswinkel eines 
Klein- und eines Großkreises, welche dieselbe Sehne haben, zu be- 
stimmen, die zwischen zwei solchen Kreisen liegende Fläche aus- 
zudrücken und endlich den Winkel der Ebenen zweier Kleinkreise an- 
zugeben. Seinem Wunsche, andere möchten diese seine Ideen weiter 
ausführen, kam 1798 Charles Bossut nach, indem er sowohl mit 
Integralrechnung den Inhalt eines von drei Kleinkreisen gebildeten 
Dreiecks bestimmte, als auch einen elementaren Weg hierzu angab.’) 

Bedeutende Förderung fand die Trigonometrie durch verschiedene 
Arbeiten Johann Heinrich Lamberts. Lambert?) ist am 
25. August 1728 in der damals schweizerischen Stadt Mülhausen im 
Öberelsaß geboren und als Mitglied der Berliner Akademie und Ober- 
baurat am 25. September 1777 gestorben. Aus einer unbemittelten 
Schneidersfamilie hervorgegangen, mußte er sich frühzeitig sein Brot 
als Schreiber verdienen, brachte es jedoch als Autodidakt sich fort- 
bıldend bald zum Hauslehrer bei dem Reichsgrafen Peter von Salis, 
wo er seinen Studien weiter obliegen konnte. Da aber Studieren und 
Produzieren bei ihm Hand in Hand ging, so bereitete er schon da- 
mals die wichtigsten seiner Werke vor. Nachdem er diese, nämlich 
die Photometrie, eine Schrift über die Kometenbahnen und die Kos- 
mologischen Briefe zu Augsburg hatte erscheinen lassen, wurde er 
Mitglied der bayerischen Akademie der Wissenschaften mit S00 Gulden 
Gehalt, löste jedoch dieses Verhältnis bald wieder und kam nach ver- 





ı) Vgl. A. v. Braunmühl, Gesch. der Trig. I, p. 180—181. ?) Recherches 
mathem. sur differents sujets. Miscellanea Taurin. IV, 1766—69,$1,p. 127,2. Zählung. 
®) Traites de calcul differentiel et integral, an VI, 1797/98, U, p. 522—531. 

*) Allgem. deutsche Biographie XVII, p. 552—556. 


Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 409 


schiedenen Versuchen eine dauernde Lebensstellung zu finden, die ihm 
Muße zu seinen wissenschaftliehen Arbeiten böte, endlich 1764 nach 
Berlin, wo er auf Veranlassung der dort herrschenden Schweizer 
Sehule mit einem Gehalt von 500 Talern, der sich später auf 1100 Taler 
erhöhte, in die Akademie aufgenommen wurde. Seine wissenschaft- 
liche Tätigkeit war eine äußerst fruchtbare und erstreckte sich so- 
wohl auf die reine Mathematik, als auch auf alle mit der Praxis in 
Beziehung stehenden Anwendungen derselben. Alle seine Arbeiten 
sind, wenn auch nieht immer so bedeutend wie die Eulers und La- 
granges, reich an originellen und fruchtbaren Gedanken und zeichnen 
sich durch eine in jener Zeit seltene Strenge der Beweisführung aus. 
Die gleiche Originalität zeigt sein Stil, der derb und oft schrullenhaft 
wie seine Persönlichkeit, doch nie die nötige Klarheit und Prägnanz 
vermissen läßt. 

Für unser engeres Wissensgebiet kommen von seinen Publika- 
tionen zunächst die „Beiträge zum Gebrauche der Mathematik und 
deren Anwendung“!) in Betracht. Im ersten Bande derselben spricht 
er sich (8. 369 ff.) über die Art und Weise, wie die Trigonometrie zu 
fördern sei, eingehend aus, indem er hauptsächlich drei Gesichtspunkte 
«im Auge hat: einmal, sagt er, könne man die Auflösung der einzelnen 
Dreiecksfälle durch Berechnung passender Tafeln vereinfachen, dann 
könne durch Benutzung der Algebra viel erspart werden und endlich 
könne man in der Verwendung der Trigonometrie zur Integralrech- 
nung noch bedeutend weiter gehen. 

Vorerst wandte sich nun Lambert der Neperschen Regel zu, 
indem er an Stelle des bisher durch einen Induktionsschluß bewerk- 
stelligten Beweises derselben einen anderen setzte, der mehr das Wesen 
dieser merkwürdigen Regel aufdeckte und auf dem gleichen Gedanken 
beruhte, den schon Neper angewendet, aber nur angedeutet hatte. 
Christian von Wolf hatte in seinen Anfangsgründen der Mathe- 
matik?) den Wortlaut der Regel zum ersten Male in der Weise aus- 
gesprochen, wie er heute noch allgemein angegeben wird. An ihn 
schloß sich Lambert an, indem er die Katheten des rechtwinklig 
sphärischen Dreiecks durch ihre Komplemente ersetzte und zeigte, 
daß die fünf zirkulären Stücke in fünf Dreiecken liegen, die sich in 
einem Zyklus um die Kugel aneinanderschließen, wie dies Fig. 20 ver- 
anschaulichen möge. Daselbst stellen AadF und ADc@ zwei Groß- 
kreise dar, deren Pole P und ® sind, durch die der Kreis cQ Pa 
geht. Ferner ist dPC irgend ein anderer Kreis durch P, welcher 


') 4 Bände, 8°, Berlin 1765— 1772. ®, Im 3. Teile, zweite Ausgabe von 
1717, p. 144 und 152; die erste Ausgabe von 1710 enthält dieselbe noch nicht. 


410 Abschnitt XXIII. 
den ersten in Ü rechtwinklig schneidend das AABO vollendet. Zieht 
man endlich noch Kreis @HQb durch Q, so daß seine Ebene auf De 
| senkrecht steht, so entstehen die 
fünf schraffierten Dreiecke, von denen 
Lambert aus ihrer Entstehung nach- 
weist, daß sie die verlangte Eigen- 
schaft haben, dieselben fünf zirku- 
' lären Stücke zu besitzen. So ist 
'2.B. <A inl1 gleich 90°— PD in 
II, gleich PQ in II, gleich 90° — FQ 
in IV und endlich wieder gleich A 
in V, und allgemein behalten ein 
Mittelstück und zwei anliegende Stücke 
sowie ein Mittelstück und zwei gegen- 
überliegende diesen Charakter in allen 
fünf Dreiecken bei. Zeichnet man daher mit Lambert die beiden 
stereographischen Figuren (Fig. 21), in denen die kleinen Buchstaben 
die Komplemente der Katheten be- 
deuten, so liefern die beiden dar- 
=. unter stehenden Gleichungen, für 
\ ein Dreieck bewiesen, die sämt- 
“t. \ lichen zehn Fälle der Neperschen 
Regel. 
cosC=sinAsinB cosC= cotA.cotB Man wird aus dem Vorstehen- 
yes den erkannt haben, daß Lambert 
wirklich den wahren Grund der Neperschen Regel aufdeckte, indem 
er bei Aufstellung seines Beweises unbewußt mit dem Begriff der 
Gruppe operierte.t) 

An die Behandlung der Neperschen Regel schließt Lambert 
eine Zusammenstellung der wichtigsten goniometrischen Formeln an 
und gibt dann die Vorschriften zur Berechnung der schiefwinkligen 
sphärischen Dreiecke, die er mittels einer Höhe in zwei rechtwinklige 
zerspaltet. Die Anwendung jener Regel auf die beiden Teildreiecke 
und die Verbindung der Formeln zu einer einzigen Schlußformel führt 
ihn dann selbstverständlich wieder zu den schon längst bekannten 
Hauptgleichungen für das schiefwinklige Dreieck. 

Da Lambert stets die praktische Verwendbarkeit der Formeln 
im Auge hatte, so stellte er auch eine Umformung des sphärischen 











Fig. 20. 








') Vgl. 0. Pund, Über Substitutionsgruppen in der sphärischen Trigono- 
metrie usw. Mitteilungen der mathematischen Gesellschaft in Hamburg II, 
1897, p. 7, und N. OÖ. Lovett in Bulletin of the American Math. pink 
2. Bares; IV, 1898, p. 252. 


Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 411 


Kosinussatzes, wie der Kotangentenformel für logarithmische Rech- 
nung her, indem er z. B. im ersteren Falle in 


ß } eh 
cos A = cosBcosÜ + sinBsin Ccosa, cosa—=1-— 2sin = 


und 


BB 6) 93 
2snBsnc ug 


setzte, wodurch er die elegante Formel 

cos A = 2 sin Bsin Ü sin en sin 
erhielt.!) | 
Ferner muß noch erwähnt werden, daß Lambert ebenso wie 
Euler die trigonometrischen Funktionen als Verhältnisse 
auffaßte, wenn er dies auch ebensowenig wie jener ausdrücklich her- 
vorhob; dies beweist die Schreibweise seiner Formeln für die recht- 
winkligen ebenen Dreiecke, wie 


k=hsna=hcosb, c=hceosa=hsinb usw, 


wo h die Hypotenuse, k und c die beiden Katheten. bezeichnen. 

Noch von einer anderen Seite her suchte Lambert die Trigono- 
metrie zu bereichern, indem er nämlich die Hyperbelfunktionen 
für sie verwertete. Schon Gregor von St. Vincentio, David Gre- 
gory und John Craig hatten durch die Quadratur der gleichseitigen 
Hyperbel, wenn auch unbewußt, die Grundlagen für diese Funktionen 
geschaffen, bei Newton traten dann bereits Vergleiche zwischen Kreis 
und gleichseitiger Hyperbel auf, und De Moivre hatte schon ziem- 
lich deutlich erkannt, daß durch Vertauschung des Reellen mit dem 
Imaginären Kreisaufgaben in solche für die gleichseitige Hyperbel 
übergehen. Der erste aber, welcher eine Theorie der Hyperbelfunk- 
tionen begründete, war der von Lambert selbst genannte Graf Vin- 
cenzo Riceati (vgl. BIII, S. 474), der sie mit Hilfe geometrischer Be- 
trachtungen entwickelte®), während Lambert 1768 zuerst auf den 
Gedanken kam, sie zur Behandlung trigonometrischer Probleme zu ver- 
werten.°) 

Ist (Fig. 22) ODQ ein Kreisquadrant, der den Ast Qq einer 
gleichseitigen Hyperbel in @ berührt, q ein beliebiger Punkt der Hy- 
perbel, gP| QC, PQ und gP LQC, X<PCQ=o der sogenannte 





) a. a. O., p. 41öff. — Eine etwas andere Umgestaltung hat W. Croswell, 
Lehrer der Schiffahrtskunde, durch eine Regel ausgedrückt, gegeben: Memoirs 
of the American Academy of Arts and Sciences II, part I, 1780 (veröffentlicht 
1793), p. 18—20. ”) Vgl. S. Günther, Lehre von den Hyperbelfunktionen, 


Halle 1880, Kap. I. ®) Observations trigonometriques. Histoire de l’Aca- 
demie de Berlin 1768, 24, p. 327. 


412 Abschnitt XXIIL 


„transzendente“ und XgCQ=9 der „gewöhnliche“ Winkel, dann 
folgt aus der Figur: 1. tg9 = sino, OP=seco—=(Cp= cosh u und 
PQ=tgo = pq= sinhu, wenn der zu Win- 
kel g gehörige Hyperbelsektor QÜgq mit 
D «w bezeichnet wird. Hieraus folgt dann 


,„_ _dUgYp) 
p leicht ul A a 


2. u = logtg (45° +2). Somit kann man 
9 | zu jedem Winkel $ den entsprechenden 
e LQP Hyperbelsektor berechnen, indem man sich 
ER der beiden Gleichungen 1.und 2. bedient. Damit 
konstruiertenun Lamberteine kleine Tabelle, 
welche in der ersten Spalte links die Werte des Winkels » von 0° bis 90° 
enthält und zu ihnen die entsprechenden Hyperbelsektoren, den sin- 
hyp., den coshyp., die Logarithmen derselben, die tg. und logtg. 
des gewöhnlichen Winkels und endlich in der letzten Spalte diesen 
selbst gibt. Wie er dieselbe zur Vereinfachung trigonometrischer 
Rechnungen anwandte, erkennt man am besten aus einem Beispiel. 
Es soll für ein sphärisches Dreieck abe aus dem Winkel ce und der 
Seite B!) eine Tabelle berechnet werden, die zu jedem Winkel c den 
zugehörigen Winkel a gibt. Dazu hat man 





und daraus hinwieder 











sin Betg A = coscecos B+ sincctga 
i ctg a ‚ ‚ 
und hieraus _ .g —tghsece —tgce, wenn tsk=tgBetgA und 


c = 90° — c ist. Sind nun die den Winkeln % und c entsprechenden 


Hyperbelsektoren x und y, so hat man ciga — Dr sinh(# — y), 


coshx 
wodurch die Rechnung auf eine einzige Analogie gebracht ist und 
zwar auf die einfache Addition des konstanten Logarithmus. von 
cos B:coshx zu dem Logarithmus von sinh(# — y). 

Dadurch, daß Euler die trigonometrischen Linien als „BRech- 
nungsgrößen“, wie er sagte, in die Analysis eingeführt hatte, hatte 
sich zunächst vielfach eine Trennung der elementaren Trigono- 
metrie, die nur zur Berechnung der Figuren in der Ebene und auf 
der Kugel dient, von der heute nach Klügels Vorgang”) als Konio- 
metrie bezeichneten Lehre von den Winkelfunktionen vollzogen. Dies 
läßt sich am deutlichsten aus zwei Schriften erkennen, die der preu- 
Bische Offizier Georg Friedrich von Tempelhof (1737—1807) 





1) Lambert bezeichnet durchweg die Seiten mit den großen, die gegen- 
überliegenden Winkel mit den kleinen Buchstaben des lateinischen Alphabetes. 
®) Mathematisches Wörterbuch II, p. 504. 


Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 413 


unter dem Titel „Anfangsgründe der Analysis endlicher Größen“ 
(Berlin 1769) und „Anfangsgründe der Analysis des Unendlichen“ 
(Berlin und Stralsund 1770) veröffentlichte. Während nämlich in 
dem ersten Werke nur die wichtigsten goniometrischen Formeln so- 
wie die Periodizität der trigonometrischen Funktionen geometrisch 
abgeleitet werden, und bei sämtlichen geometrischen Anwendungen 
sogar wieder der Radius r mitgeschleppt wird, indem die Funktionen 
durch Linien ersetzt werden, sind in das zweite Werk ganz verschieden 
hiervon die analytischen Formeln Eulers zur Dreiecksberechnung in 
ihrem vollen Umfange aufgenommen. Eine Vereinigung der beiden 
getrennten Gebiete wurde erst dadurch ermöglicht, daß Simon Klü- 
gel in seiner „Analytischen Trigonometrie“ (Braunschweig 1770) das 
Wesentliche in Eulers Auffassung erkannte, indem er -die trigono- 
metrischen Größen ausdrücklich als Verhältnisse der Seiten eines 
rechtwinkligen Dreiecks definierte und sie zum ersten Male als tri- 
gonometrische Funktionen bezeichnete.!) Das Buch Klügels weist 
aber außerdem noch andere bemerkenswerte Verdienste auf. Das 
wichtigste ist wohl die Erkenntnis, daß die Additionstheoreme für 
die Sinus- und Kosinusfunktion allein „alle Lehrsätze über die Zu- 
sammensetzung der Winkel“ enthalten?), was durch direkte Entwick- 
lung aller einschlägigen Formeln aus diesen Theoremen gezeigt wird. 
Weitere Verdienste Klügels sind, daß er in diesem Buche die Ab- 
leitung der sechs Grundformeln des rechtwinkligen sphärischen Drei- 
ecks auf Dreiecke mit Seiten, die einen Quadranten überschreiten, aus- 
dehnte, die hervorragende Verwendbarkeit der Neperschen Analogien 
für praktische Rechnungen hervorhob und nachwies, wie man mit 
Hilfe des Supplementardreiecks zu jeder Formel eine Polarformel an- 
geben kann. Klügels Buch hat jedenfalls viel dazu beigetragen, 
Eulers analytische Behandlungsweise der Trigonometrie in weiteren 
Kreisen bekannt zu machen. | 

Aber auch Kästner (vgl. II, S. 576),*der immer bestrebt war 
die neuesten Erscheinungen der mathematischen Literatur den Lesern 
seiner zahlreichen Schriften auf seine etwas breite und umständliche 
Weise zugänglich zu machen, bediente sich frühzeitig der Eulerschen 
Formelrechnung und veröffentlichte in seinen Astronomischen Ab- 
handlungen (I. Sammlung Göttingen 1772), ähnlich wie Kies und 
Klügel, eine elementare Ableitung der hauptsächlichsten Formeln der 
sphärischen Trigonometrie. Auch gab er hier, wie in den Göttinger 


’) 2.2.0, p.4 heißt es: „Ich will diese Verhältnisse mit einem allge- 
meinen Namen: trigonometrische Funktionen der Winkel nennen, als deren 
Stelle sie in der Rechnung vertreten‘. ?) Ebenda, p. 35. 


414 Abschnitt XXIH. 


Dissertationen!) und in seinen geometrischen Abhandlungen (2 Samm- 
lungen, Göttingen 1790—91) und noch anderwärts?) vielfache An- 
wendungen auf astronomische, physikalische und geometrische Fragen, 
wobei er die trigonometrischen Formeln mit Gewandtheit handhabte, 
wenn auch die Eleganz seiner Lösungen durch das fast beständige 
Mitschleppen des Sinus totus beeinträchtigt wird. 

Neun Jahre nach dem Erscheinen von Klügels Buch kam auch 
Euler noch einmal auf die sphärische Trigonometrie zurück®), deren 
Formelsystem er bereits vor 26 Jahren mit Hilfe höherer Rechnung 
abgeleitet hatte. Offenbar befriedigten ihn die inzwischen über diesen 
Gegenstand erschienenen Abhandlungen und Bücher nicht, und er 
wollte daher zeigen, wie man das ganze Formelsystem, das auch noch 
einiger Ergänzungen bedurfte, auf elementare Weise aus einer ein- 
zigen Figur ableiten könne. Als solcher bediente er sich des zum 
schiefwinkligen sphärischen Dreieck A.BÜ gehörigen 
Dreikants, dessen Spitze im Mittelpunkt O der 
B N Kugel mit dem Halbmesser 1 liegt (Fig. 23). In den 

„ Ebenen COa und OOb (a liegt auf OA und b auf 
OB) seien Ca und Cb senkrecht zu OC errichtet, 
ferner sei bp_L Ca, bq _L 0a, dann ist <bqp 
der Neigungswinkel von < Da, ferner ist X C’Oa 
— Seite b, < COb= Seite a und X aOb = Seite € 
des sphärischen Dreiecks. Aus der Figur folgt 
dann unmittelbar: 








Fig. 28. Ca=tgb, Oa=secbh, Cb=tga, Ob= seca. 


Hieraus folgt bq = Obsinc = ed Ogqg = Obcose = u, 


cos a cosa. 


ferner <a0Cb=< 0 des Dreiecks ABC ist, so hat man 





1) Dissertationes mathematicae et physicae, quas Societati reg. sci. Got- 
tingensi annis 1756—1766 exhibuit etc. Altenburgi 1771. Besonders zu be- 
merken sind darunter Nr. 7: Gnomonica universalis analytica 1762, eine Um- 
arbeitung der Gnomonica analytica von 1754, hervorgerufen durch seine erweiterten 
Kenntnisse trigonometrischer Formeln; dann Nr. 9: „Quot sphaerae aequales 
mediam et se mutuo tangere possint“, woselbst sich eine elegante Ableitung 
der Fläche eines sphärischen Dreiecks mit höherer Rechnung findet. 2) So 
findet sich in Novi Comm. Soc. Gotting. VII ad annum 1776 (publiziert 1777), 
p. 92—141 bei Behandlung des optischen Problems von Alhazen (vgl. 1”, S. 744) 
eine näherungsweise Auflösung einer trigonometrischen Gleichung von der Form 
sinp— Btgp= 4A und in Hindenburgs Archiv der reinen und angewandten 
Mathematik II, 1798, p. 174 wird die Wertänderung der beiden Seiten des Aus- 


druckes seccpgttgp=tg (45° + 2) diskutiert und in Einklang gebracht, wenn 


p von 0° bis 90° wächst. °) Trigonometria. sphaerica universa ex primis prineipiis 


Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler’ und dessen Zeitgenossen. 415 
bp= CbsinC—=tgasinC und Cp=Cb-.cosÜ—tga cosQ; 
und da < (a0 = 90° — b ist, so folgt noch: 
ap= C(a— Cp=tgb—tgacos (0, pgq—=apeosb=sinb— tga cosb.cosC 
und 
sinb? 


ag=apsnd= , tg“ sinb cosÜ oder — —=cosb+tgasinb cos Ü 


und hieraus endlich 


c0oSC = eosacosb + sinasinbcos(. 


Ähnlich liest man aus der Figur unmittelbar die Gleichung des Sinus- 
sinC _sinA 








satzes —— = — und die in dieser Form neue Gleichung 
sin € sina 
cosasinb — sinacosbcos Ü 
291 _c0osA= k 
bq sin e 


ab. Diese drei Gleichungen umfassen, wie Euler sagt, die ganze 
sphärische Trigonometrie, und in der Tat gelang es ihm durch ein- 
fache Rechnung aus ihnen alle jene Formeln abzuleiten, die heute den 
eisernen Bestand der sphärischen Trigonometrie bilden. 

Auch die Existenz und die Eigenschaften des Supplementardrei- 
ecks, für das Euler jedoch keinen eigenen Namen hat, wurden in 
einem „Iheorema“ hervorgehoben, während eine Nebeneinanderstel- 
lung der Polarformeln nur für die Kosinus- und Kotangentensätze 
durchgeführt wurde — in diesem Punkte war Klügel bereits weiter 
gegangen. Dagegen erkannte Euler hier zuerst die sechs möglichen 
Formen der dritten Hauptgleichung, das Prinzip der zyklischen Ver- 
tauschung aber war ihm, wie seine Formelschreibung zeigt, entgangen. 

Euler hat von seinen trigonometrischen Formeln den vielseitig- 
sten Gebrauch gemacht in rein mathematischen und mechanischen, 
wie in astronomischen und physikalischen Untersuchungen. Wir 
wollen hier auf die wichtigsten hinweisen, die zur ersten Gruppe ge- 
hören. In den Petersburger Akten für das Jahr 1778!) hatte er 
bereits gezeigt, wie man die trigonometrischen Funktionen zur Lösung 
einiger schwieriger diophantischer Gleichungen benutzen könne und 
ebenda?) eine Abhandlung über die Messung der Körperwinkel durch 
die Inhaltsbestimmung sphärischer Figuren gegeben, bei welcher Ge- 


breviter et dilueide derivata. Acta Acad. Petrop. 1779 (erschienen 1782), 1, 
p-. 72—86. 

') De casibus quibusdam maxime memorabilibus in Analysi indeterminata 
etc. Acta Acad. Petrop. ad annum 1778, pars II (erschienen 1781), p. 85—110. 
”) De mensura angulorum solidorum. Ebenda, p. 31—54. 


416 ‘ Abschnitt XXTI. 


legenheit er die trigonometrischen Funktionen des sphärischen Exzesses 
S eines Dreiecks in den Seiten desselben durch elegante Formeln aus- 
drückte. Diese wurden noch in einer erst nach seinem Tode 1792 
erschienenen Abhandlung weiter ergänzt, die ebenfalls aus dem Jahre 
1778 stammte.‘) Die in der ersteren Abhandlung mitgeteilte Formel 





f 8 _ Vi cosa* — cosb? — cosc? + 2cos a cos b cos c 
8% 1-+cosa + cosb + cosc 

des Dreiecks sind, hat De Gua 1783?) wieder entwickelt, ohne jedoch 
Euler zu erwähnen. Endlich erschien 1786 ebenfalls posthum ein älterer 
Aufsatz von ihm°?), in welchem er mit alleiniger Benutzung des Ko- 
sinussatzes die Relationen zwischen den sechs Linien, die vier Punkte 
in der Ebene verbinden, aufsuchtee Dabei wurde auch die Frage 
behandelt, wie man ein Kreisviereck bestimmt, dessen Seiten und Dia- 
gonalen durch rationale Zahlen ausgedrückt werden. 

Mit besonderer Eleganz handhabten die Eulerschen Formeln 
bald sein Schüler Andreas Johann Lexell, sein Gehilfe Nikolaus 
Fuß und der Petersburger Astronom Friedrich Theodor Schubert- 
Der erste, auf den wir noch weiter unten eingehend zu sprechen 
kommen werden, hat in mehreren Abhandlungen?) eine ganze Reihe 
von wichtigen Theoremen über die Geometrie der Kugelkreise ent- 
wickelt, die geradezu die Grundlagen für alle späteren auf dieses Ge- 
biet bezüglichen Arbeiten wurden. So wies er nach, daß die Spitzen 
aller sphärischen Dreiecke von gleicher Fläche, die über derselben 
Grundlinie stehen, auf einem Kleinkreise liegen’), berechnete in ele- 
ganten Formeln die sphärischen Radien des einem Dreieck umge- 
schriebenen und des ihm eingeschriebenen Kreises aus den Seiten, bzw. 
Winkeln desselben, gab ein Analogon zum Ptolemäischen Satze vom 
ebenen Sehnenviereck für das einem Kleinkreis eingeschriebene Vier- 
eck, berechnete den Radius von jenem aus den Seiten von diesem 
und löste die entsprechenden polaren Aufgaben. Auch übertrug er 
den Satz vom harmonischen Kreis auf die Kugel (Lexellsche 
Kreis). | 

Auch Nikolaus Fuß (vgl. III, S. 551) hat interessante Aufgaben 
der Kugelgeometrie behandelt‘), die wir in folgender Form kurz zu- 





‚wo a,b, c die Seiten 





') Variae speculationes super area triangulorum sphaericorum. Nova Acta 
Acad. Petrop. X, ad annum 1792 (erschienen 1797), p. 47—62. 2) Memoires 
de l’Academie de Paris 1783, p. 358. °) De symptomatibus quatuor punctorum 
in eodem plano sitorum. Acta Acad. Petrop. ad annum 1782 (erschienen 1786), 
pars I, p. 3ff. *) Acta Acad. Petrop. ad annum 1781, pars I (erschienen 1784), 
p. 112—126, und ebenda, 1782, pars I (erschienen 1786), p. 58—106 und pars Il,, 
p. 85—95. 5) Einen Beweis dieses Satzes hatte Euler schon 1778 gegeben; 
posthum erschienen 1797 in Nova Acta Acad. Petrop. X, ad annum 1792. 
6%, Nova Acta Acad. Petrop. I, ad annum. 1784 (erschienen 1788), vorgelegt 1786, 


Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 417 


sammenfassen können: Ein sphärisches Dreieck mit gegebener Basis 
so zu bestimmen, daß seine Spitze auf einem gegebenen größten 
Kreise liegt und der Dreieckswinkel an derselben oder die Fläche des 
Dreiecks ein Maximum oder die Summe der Schenkel ein Minimum 
wird. Auch fand er!) als Ort der Spitze eines sphärischen Dreiecks 
über gegebener Basis, für das die Summe der Schenkel konstant ist, 
eine „sphärische Ellipse“, welche mit der ebenen Figur gleichen 
Namens viele Eigenschaften gemein hat. 

Endlich hat Schubert, durch diese Arbeiten angeregt, 1786 und 
1798 ähnliche Fragen untersucht, indem er?) z. B. das größte und 
kleinste sphärische Dreieck mit gegebener Basis und Höhe bestimmte 
und die geometrischen Örter eines Punktes auf der Kugelfläche be- 
handelte?), für welchen das Verhältnis der Sinus oder der Kosinus 
der ganzen oder halben kürzesten Entfernungen von zwei festen 
Kugelpunkten konstant ist. 

Auch der große Lagrange beschäftigte sich vorübergehend mit 
trigonometrischen Fragen. Außer einer Abhandlung über eine neue 
Begründung der sphärischen Trigonometrie, auf die wir weiter unten 
noch zu sprechen kommen, veröffentlichte er 1774 „Solutions de 
quelques problemes d’Astronomie spherique par le moyen des series“t), 
worin er die Auflösung der transzendenten Gleichung tgx = mtgy nach 


& durch die Reihe = y-—0Osin2y+ ,0sindy— 0sin6y+--- 


‚darstellte, in welcher 0 = ı—Z® pedeutet. Indem er diese Gleichung 


1i-m 

sowohl mit jenen drei Fundamentalgleichungen des sphärischen Drei- 
ecks, in denen Tangenten vorkommen, als auch mit den Neperschen 
Analogien verband, gelangte er zu mehreren, namentlich in der Astro- 
nomie und Geodäsie sehr brauchbaren Lösungen trigonometrischer 
Aufgaben. So erhielt er z. B. zur Bestimmung der Winkel ß und y 
eines sphärischen Dreiecks, von dem die Seiten b, ce und der Winkel « 
gegeben sind mit Benutzung der erwähnten Analogien, die Reihen- 
entwicklungen: 


b RN; 1 2 b2 DA. 
tg, (dez +tg,)sine— tg 5 (eig; tg, )sin2a+--, 
» 





p: 70; auch Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik, 1786, 
p. 241—245. 
') Nova Acta Acad. Petrop. III, ad annum 1785 (erschienen 1788), vorge- 


legt 1787, p. 90—99. ?) Ebenda, IV, ad annum 1786 (erschienen 1789), vor- 
gelegt 1786, p. 89—94. °») Ebenda, XII, ad annum 1794 (erschienen 1801), 
vorgelegt 1798, p. 196—216. *) Nouveaux Memoires de l’Acad. de Berlin, 


annee 1776 (erschienen 1779), gelesen 1774, p. 214ff. Oeuvres, Ed. Serret, IV, 
p. 275—298. 


418 . Abschnitt XXIH. 
ß = 180’ — «+ tg (tg — ctg ) sin « 

= Zi &2 (te. — eig ) sin2«+:--, 
welche nach Lagranges Bemerkung um so konvergenter sind, je 
kleiner c ist und je näher b an 90° liegt. Auch zeigte er, daß die 
Verwendung des Imaginären, durch welche er diese Formeln gefunden 
hatte, noch ähnliche Gleichungen komplizierterer Form zu lösen ge- 
stattet. Lambert hat 1777 ebenfalls ähnliche Gleichungen durch 
Reihen gelöst!), und desgleichen finden sich in Delambres großer 
Arbeit über die Bestimmung des Meridianbogens zwischen Dünkirchen 
und Barcelona?) trigonometrische Gleichungen mit Reihen behandelt, 
die mittels der Methode der unbestimmten Koeffizienten erhalten 
werden. 

Bedeutende Verdienste um die Ausbildung der elementaren Tri- 
gonometrie in Eulerschem Sinne, sowie um die systematische Aus- 
gestaltung derselben erwarb sich der Italiener Antonio Cagnoli 
(1743—1816). Cagnoli?), zu Zante geboren, zog sich bald von der 
zuerst gewählten diplomatischen Laufbahn zurück, lebte dann in 
Verona als Privatmann, wo er sich eine Sternwarte erbaute und wurde 
nach Gründung der cisalpinischen Republik von Napoleon an das 
Observatorium in Mailand berufen. Später wurde er Professor der 
Astronomie an der Kriegsschule in Modena. Er gehörte der von Lorgna 
gegründeten Societä Italiana delle scienze an, welche Mathematiker, wie 
Malfatti, V. Riceati, Ruffini und Ferroni zu den ihrigen zählte, 
und wurde nach Lorgnas Tode Präsident dieser gelehrten Gesell- 
schaft. Seine Trigonometria piana e sferica, welche 1786 italienisch 
und in französischer Übersetzung von N. M. Chompre in Paris in 
erster Ausgabe erschien, wurde 1804 in 2. Auflage italienisch zu Bo- 
logna und 1808 abermals französisch zu Paris publiziert und ist das 
vollständigste und umfassendste Handbuch jener Zeit, in dem man 
manches auch heute noch Interessante und Lesenswerte findet. Wenn 
auch Öagnoli noch immer ausschließlich mit trigonometrischen Linien 
rechnete, so nahm er doch die Einheit als Radius an und bediente 
sich der Eulerschen Funktionszeichen, denen er nur merkwürdißer- 
weise die abkürzende Bezeichnung der Dreiecksseiten durch die Buch- 
staben des kleinen lateinischen Alphabets nicht zugesellte Cagnolis 
Hauptverdienst liegt darin, daß er wie Klügel die analytische Formel- 





") Bode, Astronomisches Jahrbuch für 1780, p. 67. ?) Methodes ana- 
lytiques pour la determination d’un arc du meridien, an VII (1798/99), Paris, 4°, 


p. 64 und 111. °) Poggendorff, Literarisch-biographisches Handwörterbuch, _ 
T, p. 359/60. 


Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 419 


rechnung in den Vordergrund stellte und nur die notwendigsten Sätze 
aus Figuren ableitete. Auch bei Behandlung von komplizierten Drei- 
ecksaufgaben, die er in eleganter Weise zu lösen verstand, setzte er 
sich stets die Herstellung einer allgemeinen Endformel zum Ziele. 

Wesentlich Neues in bezug auf die ebene Trigonometrie war da- 
mals nicht mehr zu bringen; so ergibt denn die Durchsicht von Cag- 
nolis Werk sowie einer ergänzenden Abhandlung!) vom Jahre 1794 
als erwähnenswert nur eine Umgestaltung der Formel des ebenen 
Kosinussatzes für logarithmische Rechnung, aber auch hierin war ihm 
schon 1777 Johann Tobias Mayer?), der jüngere, zuvorgekommen. 
Zudem sei noch erwähnt, daß er auch die sogenannten Mollweide- 
schen Gleichungen entwickelte und verwenden lehrte.?) 

Aus seinen Ergänzungen zur sphärischen Trigonometrie ent- 
nehmen wir die fundamentale Formel 


sincsina + cosceosacos B= sin AsinÜ — cos AcosC cos b 


als die erste Relation, welche zwischen den sechs Stücken eines sphä- 
rischen Dreiecks gegeben wurde.) Ferner teilte er eine praktische 
Umgestaltung des sphärischen Kosinussatzes für logarithmische Rech- 
nung mit?), abweichend von jener, die Lambert gegeben hatte (8. 411) 
und entwickelte Formeln, um die Stücke rechtwinklig sphärischer 
Dreiecke eventuell bis auf Zehntel-Sekunden genau erhalten zu können, 
Auch die Proportionen, zu welchen die Betrachtung zweier Dreiecke 
dieser Gattung führt, wenn sie einen Winkel oder die Hypotenuse ge- 
meinsam haben, wurden von Cagnoli aufgestellt und außerdem 
wurden die Formeln abgeleitet, welehe den Zusammenhang der Ele- 
mente eines sphärischen Dreiecks mit denen des zugehörigen Sehnen- 
dreiecks geben.°) In der eleganten Behandlung der trigonometrischen 
Gleichung acos A+bsinA=n aber war ihm schon Kästner 1772 
zuvorgekommen.”) 

Wichtige Fortschritte machte in dem von uns betrachteten Zeit- 
abschnitte auch die für die Astronomie und Geodäsie so notwendige 





') Cose trigonometriche. Memorie della Societä Italiana, VII, 1794, p. 35ff. 
*) Gründlicher und ausführlicher Unterricht zur praktischen Geometrie, Göttingen 
1777, 4 Bände, 8°, I, p. 12—13. ®) Trigonometria, 1. Aufl. p. 122. *) Diese 
Formel findet sich allerdings erst in der Ausgabe von 1808, Nr. 1139, p. 326. 
°) Diese Umformung steht schon in Cose trigonometriche, Nr. VI der sphä- 
rischen Probleme. °) Kap. VIII der ersten, Kap. er der Auflage von 1808. 
Die elegante Formel cos4’ = cos A 08 2 cos © - + sin — sin 5 gibt z. B. den 
Winkel 4’ des Sehnendreiecks, der dem Winkel A im cn Eos 
‘) Astronomische Abhandlungen 1774, p. 13—15. 

CAnTorR, Geschichte der Mathematik IV. 28 


420 ’ | ‚Abschnitt XXII. 


Fehlerrechnung, bei welcher es sich um die Bestimmung der Ver- 
änderungen handelt, welche die Stücke eines Dreiecks erleiden, wenn 
gewisse derselben um sehr kleine Größen zu- oder abnehmen. Nach- 
dem Cotes in seiner Aestimatio errorum 1722 dieselbe eingeführt 
(III, S. 360 und 412—414) und die wichtigsten Sätze geometrisch ent- 
wickelt hatte, publizierte De la Caille 1741 einen „Calcul des difie- 
rences dans la trigonomätrie spherique“!), in welchem er Cotes’ 
18 Theoreme in 24 Formeln vereinigte, die er auf astronomische 
Aufgaben anwandte. Später haben sich namentlich Klügel, Kästner, 
Boscovich und Cagnoli mit Ausbildung dieses Wissenszweiges be- 
schäftigt. Ersterer widmete ihm das 8. Kapitel seiner analytischen 
Trigonometrie und einen Aufsatz mit dem Titel „Trigonometrische 
Variationsrechnung zum Gebrauche bei Berechnung der Sonnen- und 
Mondfinsternisse“?) und behandelte die vier wichtigsten Fälle, indem 
er ein Dreiecksstück konstant ließ und die endlichen Variationen der 
anderen untersuchte. Die beiden Hauptformeln, welche er erhielt, 
sind: Aa = cosCAb + cos BAc und 


AB: AC = (sincAb — cosasinbAc): (sinb Ac — cosasincAb), 


die sich aus dem Kosinussatze und aus der Kotangentenformel er- 
geben. Kästner gab im ersten Bande seiner „Astronomischen Ab- 
handlungen“?) ebenfalls eine analytische Ableitung der Cotesschen 
Theoreme und teilte auch Differentialformeln für ebene Dreiecke mit, 
aber das Verdienst, aus den vielen in der sphärischen Trigonometrie 
möglichen Relationen die vier Hauptgleichungen 


da = cos Cdb + cos Bde + sin Bsin cdA, 

sin Bda — coscsin Adb= sinedA + sinacos BdC, 
etgada — ctgbab = ctg AdA — etg Bab, 
dA = sinbsin Oda — eoscdB — cosbd(, 


die man heute als Fehlergleichungen bezeichnet, ausgewählt und 
in dieser Form geschrieben zu haben®), gebührt dem auch sonst ver- 
dienten Jesuiten Roger Boscovich (1711—1787). Dieser war in 
Ragusa geboren, wurde 1740 Professor der. Mathematik und Philo- 
sophie am Collegium Romanum, dann Professor in Pavia, dann Direc- 
teur de l’optigue de la marine in Paris, kehrte aber 1783 nach Italien 
zurück, wo er in Mailand starb. Aus Boscovichs Formeln folgen 





1) Memoires de l’Academie de Paris 1741, p. 238 ff. 7 Bodo; Astro- 


nomisches Jahrbuch für 1793, Berlin 1790, p. 178—182. 5) A. a. O., p. 95 


bis 107. 4) Opera IV, 1785, 4°, p. 316—394, wo er auch die entsprechenden 
Formeln für ebene Dreiecke angibt (p. 322). ; 


Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 421 


alle anderen, weshalb es ziemlich überflüssig war, daß Cagnoli noch 
1798 eine Zusammenstellung von 139 Proportionen angab'); aller- 
dings sind unter diesen auch die Formeln für endliche Variationen 
en thalten. 

In Beziehung zu diesen Betrachtungen stehen auch die Methoden, 
welche anzuwenden sind, wenn in trigonometrischen Rechnungen die 
Logarithmen der Sinus von Winkeln, die nahe an 90° liegen, oder 
die der Kosinus sehr kleiner Winkel vorkommen, oder wenn direkt 
Funktionen kleiner Winkel zu bestimmen sind. Israel Lyons (1739 
bis 1775), Rechner beim Board of Longitude in London, schlug hierzu 
ein Verfahren ein?), das wir an einem von ihm gegebenen Beispiel 
erläutern wollen. Ist in dem bei B rechtwinkligen sphärischen Drei- 
eck ABC AB=c und BC=a (klein gegen c) gegeben, und soll 
die Hypotenuse b berechnet werden, so setzt erdb=c+ £, nimmt 


eosb = cos @cosc = cos(C + $) = cosc — sin csin & — coscsinvers$ 
und erhält hieraus 
sin & = cetgesinversa — ctge sinvers?. 


Nun berechnet er mit alleiniger Benutzung des ersten Gliedes auf 
der rechten Seite einen Näherungswert für & und mit diesem dann 
als Korrektur das zweite Glied. 

Anders verfuhren Lambert und Cagnoli, die für solche Fälle 
die Ersetzung der zu berechnenden Formeln durch andere gleich- 
wertige, aber brauchbarere vorschlugen. Ist z.B. die Entfernung « 
zweier sehr nahe beieinander gelegener Örter auf der Erde oder 
zweier Sterne aus ihren Entfernungen vom Pol ce und x und dem 
Unterschied A der Längen oder Rektaszensionen zu bestimmen, so 
ersetzt Lambert?) die Formel cos® = c0sccosx + sinesinxcos4 


’ ; r RR; NETT RE © 
durch die gleichwertige sin -V sin 5= + sinesin«sin , für 
die man, falls c— x und A wenig von 1 oder 2 Graden verschieden 





sind, die Näherungsformel x =YA?’sinesinx + (c— x)? nehmen kann. 
Ähnlich verfuhr Cagnoli®), sprach aber das allgemein richtige Prin- 
zip aus, daß man am sichersten rechnet, wenn man den gesuchten 
Winkel durch eine Tangente oder Kotangente bestimmt. So ge- 


brauchte er z. B. für die Gleichung cosa = un im Falle b und ec 


!) Memorie della Societä Italiana VII, 1, p. 214—218, vorgelegt 1798, und 
Trigonometria, 2. Aufl., p. 360—378. »), P.T. LXV, 2, 1775, p. 470—484. 
») Bodes Astronomisches Jahrbuch für 1778 (erschienen 1776), p. 205— 210. 
*) Trigonometria, 1. Aufl. p. 250, 2. Aufl. p. 296. 
28” 


422 Abschnitt XXIII. 


nahezu gleich sind, die aus den Neperschen Analogien entstehende 
Formel tgl - Vie ee De, 


Übrigens Le ein auch, daß man sich zur Bestim- 
mung der Sinus, Kosinus, Tangenten und Sekanten sehr kleiner 
Winkel der gewöhnlichen Tafeln der natürlichen goniometrischen 
Funktionen bedienen könne!), wenn man die Kotangenten und Ko- 
sekanten zu Hilfe nimmt. Will man z.B. sin1’ und cos1’ berechnen, 








2 1 
so setzt man sinl’= ———- und 
cosec 1 


st Ye RTREHRFEBILL 0 © 
cosec 1’? 2 cosec 1’? 8 cosee 1’? 


Hat man dann cosec1’ auf 5 Dezimalen, so bekommt man hieraus 
sinl’ und mit Hilfe der Reihe auch cos1’ bis auf 12 Dezimalen 
genau. 








Auch Kästner hat Formeln mitgeteilt, welche zur Berechnung 
sphärischer Dreiecke mit kleinen oder nahezu gleichen Stücken dienen), 
und in dem Tafelwerk von Gardiner?), auf das wir unten noch zu 
sprechen kommen, finden sich bereits solche Formeln zusammen- 
gestellt. 

Dem Gedanken, zur Berechnung der Funktionen eines sehr kleinen 
Winkels zu Reihenentwicklungen zu greifen, entsprang auch eine noch 
heute viel verwendete Regel zur Bestimmung von logsinz und logtg, 
die der Greenwicher Astronom Nevil Maskelyne (1732—1811) her- 
leitete und die seinen Namen erhalten hat.) Vernachlässigt man 
in den Reihen für sinz und cosz die Glieder vom 4. Grade an, so 

27 


oder da ( ey 
a* 


innerhalb derselben Genauigkeitsgrenze » 1 — — ist, 





H : 2: a’ 
erhält man sinz x (1 — =)» cszw1— — 


sin © 2 (cos x)3 
und hieraus logsinzwlogx + a log cosx; genau ebenso folgt für 
log tg x » logx — - log cos «. 


Die Regel ist, wie man leicht sieht, bequem zur Berechnung der 





t) Bodes Astronomisches Jahrbuch für 1778 (publiziert 1776), p. 209. 
?) Acta Acad. Elect. Moguntinae 1778—79 (erschienen 1780), p. 181—190. 
5) W. Gardiner, Tables de Logarithmes; Ausgabe von Pezenas, Dumas und 
Blanchard, 1770, 4°. 4) Maskelyne hat dieselbe mitgeteilt in der Ein- 
leitung zu seiner Ausgabe der Tables of Logarithms von Michael Taylor, 
London 1792, 2°, Problem II, p. 21—22, ohne eine Begründung zu geben. Diese 
gab erst 1804 Tralles, Abhandl. der Berliner Akademie, 1804—1811, p. 17. 


Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 423 


Logarithmen von sinx und tgx für Winkel bis zu 5°33, wenn in 
einer Logarithmentafel die Werte von 


rn logesz=S und — = log csz=T 


notiert sind, was zum erstenmal in der 7stelligen Tafel von Callet 
1795 der Fall war. Von ihr aus gingen die Zahlen $ und 7 in die 
neuen vollständigen Logarithmentafeln über. 

Mit einigen Worten sei auch noch auf die Näherungsformeln 
hingewiesen, welche infolge der Verfeinerung der astronomischen Be- 
obachtungen und der geodätischen Messungen notwendig wurden. 
Man hatte sphärische Dreiecke mit sehr kleinen Winkeln lange Zeit 
wie ebene Dreiecke behandelt, bis J. L. Lalande (III?, S. 500) zuerst 
1763 darauf aufmerksam machte, daß dies nicht immer statt- 
haft sei, ohne sich erheblichen Fehlern auszusetzen'), und durch eine 
allerdings nicht einwandfreie Rechnung fand, daß man dem ebenen 
Winkel B des bei A rechtwinklign AABO die in Sekunden ausge- 


drückte Größe 2 BC? sn2B(3— cos2.B) hinzufügen muß, um den 


entsprechenden sphärischen Winkel zu erhalten. Auch ergab sich ıhm 
der Unterschied zwischen der geradlinigen und der sphärischen Hypo- 
ee 
8 BC 

Weit praktischer aber griff Adrien Marie Legendre die 
Sache an, als an ihn bei Gelegenheit der Feststellung der gegen- 
seitigen Lage der Greenwicher und Pariser Sternwarten?) die Not- 
wendigkeit herantrat,' verhältnismäßig kleine Dreiecke auf der Erd- 
kugel zu behandeln. In seiner berühmten Abhandlung „Sur les 
operations trigonometriques, dont les resultats dependent de la figure 
de la terre“ 1787?) sprach er den nach ihm benannten Satz aus), daß 
ein sphärisches Dreieck, dessen Seiten gegen den Kugelradius klein sind, 
wie ein ebenes mit denselben Seiten berechnet werden kann, wenn 
man von seinen Winkeln je den dritten Teil des sphärischen Exzesses 
in Abrechnung bringt. Lagrange erkannte den Vorteil und die 
Notwendigkeit einer solchen Berechnung darin, daß die vollen tri- 
gonometrischen Formeln für Dreiecke mit so kleinen Seiten, wie sie 


tenuse zu 


‘) Memoires de l’Acad. de Paris 1763, p. 347—353. ?2) 1787 wurde auf 
Betreiben Cassinis de Thury eine Kommission von französischen und eng- 
lischen Gelehrten zur Ausführung dieser Arbeit gewählt, welcher auch Le- 


gendre angehörte. ®) Me&moires de l’Acad. de Paris 1787, p. 352 ff. 
*) A. a. O., p. 858. 


424 | Abschnitt XXIII. 


hier in Betracht kommen, gar keine exakte Rechnung gestatten, und 
gab!) einen kurzen und sehr übersichtlichen Beweis des schönen 
Theorems. 


Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Versuche einer möglichst 
einfachen Begründung desselben. 


Obwohl uns das Vorhergehende ein Bild von der theoretischen 
Entwicklung der Trigonometrie in der zweiten Hälfte des 18. Jahr- 
hunderts gab, dürfte es doch nieht überflüssig erscheinen, sich die 
Frage vorzulegen, wie rasch und in welchem Umfang die allmählich 
angewachsene Summe von neuen Kenntnissen in der Lehrbücher- 
literatur Verwertung fand, da gerade sie zur Ausbreitung der Wissen- 
schaft in weiteren Kreisen dient und dadurch ihrerseits wieder auf 
das Wachstum jener befruchtend einwirkt. Wir wollen daher diese 
Frage durch den folgenden kurzen Überblick zu beantworten suchen. 

In allen, auch den gelehrtesten Kompendien jener Zeit, mit ein- 
ziger Ausnahme von Klügels Analytischer Trigonometrie, wurden die 
trigonometrischen Funktionen noch als Linien definiert, und dement- 
sprechend wurde auch der Sinus totus oder Radius x mitgeführt. Nur 
zur Vereinfachung der Formeln setzten ihn manche Schriftsteller, wie 
Karsten?), Kästner und Cagnoli gleieh 1. Eulers Bezeichnungs- 
weise der Funktionen dagegen fand ziemlich rasche und umfassende 
Verbreitung, während der alte Gebrauch, die Lehrsätze in Proportionen 
zu schreiben, mit großer Zähigkeit festgehalten wurde.°) 

Die Aufstellung der Funktionen für alle 4 Quadranten wurde 
seit der Veröffentlichung von Eulers „Introduetio“ allgemein als not- 
wendig erkannt, geschah aber immer noch, selbst für die Tangenten 
und Kotangenten, an der Figur, wodurch Irrtümer in den Zeichen 


nicht immer vermieden wurden. Durch die Beachtung der längst 

bekannten Gleichung tge — — , oder wie sie damals stets ge- 
cos & 

schrieben wurde: tge:r=sin«:cos«, brach sich jedoch die Erkennt- 

nis des Richtigen allmählich Bahn, so daß man a posteriori eine 


Übereinstimmung mit der geometrischen Interpretation suchen konnte). 





') De quelques problemes relatifs aux triangles spheriques avec une analyse 
complete de ces triangles. Journal de l’Ecole Polyt., 6. cah., 1798/99, p. 293 
bis 296. *) Wenzeslaus Johann Gustav Karsten hat zwei hier einschlägige 
Werke geschrieben: Mathesis theoretica elementaris atque sublimior, Rostock 
1760, 8°, und Lehrbegriff der gesammten Mathematik, 2. Teil, 2. Aufl., Greifs- 
wald 1786, 8°.  ®) Vgl. z.B. Legendres El&ments de Geometrie noch in der 
14. Aufl. von 1832. *) Segner, Elementa Arithmeticae Geometriae et Caleuli 


Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Versuche einer Begründung dess. 425 


Auch die Funktionen negativer Argumente wurden wenigstens in den 
umfassenderen Werken, wie bei Karsten und Legendre, in den Kreis 
der Betrachtung gezogen und richtig bestimmt. Die Ableitung der 
goniometrischen Formeln wurde trotz Euler und Klügel (vgl. S. 413) 
immer noch einzeln geometrisch vollzogen, das vollständigste Formel- 
system hat wohl Oagnoli aufgestellt. Dagegen beschränkte man 
sich in den größeren Kompendien') nicht mehr nur auf die Ableitung 
der elementaren Formeln, sondern man nahm auch aus der „Intro- 
ductio“ die trigonometrischen und zyklometrischen Reihen und den 
Satz von Moivre in sie auf, ja selbst die Teilungsgleichungen wurden 
zuweilen mit in den Kreis der Betrachtung gezogen. 

Die Berechnung der ebenen Dreiecke hatte durch den Gebrauch 
der Formeln wohl etwas an Leichtigkeit gewonnen, aber infolge der 
beständigen Beibehaltung des Sinus totus ihre Vollendung noch 
nicht erreicht?), wozu noch der Umstand beitrug, daß Eulers prak- 
tische Bezeichnungsweise der Seiten und Winkel des Dreiecks von 
den meisten seiner Zeitgenossen, ja selbst von Oagnoli und Louis 
Bertrand in der ebenen Trigonometrie so wenig wie in der sphä- 
rischen angewendet wurde; eine rühmliche Ausnahme hiervon machten 
Kästner?) und Klügel. Daß die sämtlichen Sätze zur Berechnung 
der ebenen Dreiecke, wie wir sie jetzt benützen, damals bereits in 
Gebrauch waren, braucht kaum bemerkt zu werden; in ihrer Gresamt- 
heit, selbst mit Einschluß der sogenannten Mollweideschen Glei- 
ehungen®) zusammengestellt und in unserer Art abgeleitet finden wir 
sie jedoch nur in Cagnolis Trigonometrie. 


Geometriei in neuer Auflage Halae Magdeb. 1756; Abbe Sauri, Cours complet 
de math&matiques, t. I, Paris 1774, 8°, und Institutions mathömatiques, Paris 
1786, 4. Aufl., p. 206, wo ein kurzer Auszug der Trigonometrie aus dem Cours 
steht; P. ©. Scherffer (8. J.), Institutionum geometricarum pars sec. sive Tri- 
gonometria plana. Vindob. 1770, 4°. Deutsche Übersetzung von einem Unge- 
nannten, Halle 1782. Scherffer bemerkt, wie später auch Cagnoli, daß beim 
Durchgang durch Null und durch Unendlich ein Zeichenwechsel eintreten muß. 

1) So nahm z.B. Louis Bertrand, ein Schüler Eulers, in sein zwei- 
bändiges Werk „Developpement nouveau de la partie el&ömentaire des mathe- 
matiques, Geneve, II, 1778, 4°, alle Entdeckungen Eulers, die sich auf die Tri- 
gonometrie beziehen, auf. Ähnlich verfahren Mauduit in seinen Prineipes de 
l’Astronomie spherique ou traitE complet de trigonometrie spherique“, Paris 
1765, 8°, und Karsten in den o. a. Werken. ?, Vgl. La Caille, Legons 
elömentaires de mathömatiques, Paris 1764, und Sauri in derschon angeführten 
Schrift, Etienne B6zout in seinem Cours de mathematiques, Paris, pars II, 
1772, usw. ®) In den späteren Auflagen seiner „Anfangsgründe der Arith- 
metik, Geometrie, ebenen und sphärischen Trigonometrie“ sowie in seinen 
„Geometrischen Abhandlungen“, 1790—1791. *) Schon in der 1. Aufl. von 1786 
stehen diese Gleichungen aus dem Sinussatze abgeleitet p. 122, übrigens finden 


426 Abschnitt XXIII. 


Bezüglich der Behandlung der sphärischen Trigonometrie muß 
man die graphischen und rechnerischen Methoden auseinander- 
halten. Die ersteren, die sich in der alten Astronomie schon einer 
großen Beliebtheit erfreut hatten!), waren durch die Trigonometriae 
sphaericae constructio, Romae 1737, 4°, des uns schon bekannten 
Boscovich wieder neuerdings in Gebrauch gekommen. Sie be- 
ruhten in der Hauptsache auf der Orthogonalprojektion und wurden 
zur näherungsweisen Auflösung der sphärischen Aufgaben, vereinzelt, 
wie bei Mauduit, auch zur Ableitung der trigonometrischen Haupt- 
sätze verwendet”), Antoine Remi Mauduit (1731—1815) war zu- 
erst Professor der Mathematik an der Ecole des ponts et chaussees, dann 
Professor der Geometrie am College de France in Paris und hat in seinen 
Prineipes d’astronomie spherique ein reichhaltiges Werk geschaffen. 
Die ausführlichste Schrift aber, welche ohne Kenntnis der geschicht- 
lichen Entwicklung der Jahrhunderte alten Methode alles längst Be- 
kannte wieder neu fand und in organischen Zusammenhang brachte, 
war eine Schrift”) des Mathematiklehrers zu Montauban Simeon 
Fagon Valette (1719—1801) aus dem Jahre 1757, sie baut un- 
mittelbar auf Boscovich auf, der jedoch nirgends genannt wird. 
Auch der Abbe Tommaso Valperga di Caluso (1737—1815), der 
erst Offizier auf der Flotte des Malteser-Ordens, dann Priester in 
Neapel und Turin war, woselbst er Professor der griechischen und 
orientalischen Sprachen und Direktor der Sternwarte wurde, hat noch 
1786 eine ähnliche Arbeit, allerdings nieht in Form eines Lehrbuches 
veröffentlicht). 

Die weit wichtigere rechnerische Behandlung der sphärischen 
Trigonometrie, welche die Lehrbücher fast ausschließlich brachten, 
wurde damals im Gegensatze zu Eulers Methode, die er in seiner 
Abhandlung von 1779 befolgte, in der Weise vorgenommen, daß zuerst 
die Sätze für das rechtwinklige und dann jene für das schiefwinklige 
Dreieck als Folgerungen aus ersteren gebracht wurden. So leiten 
z. B. Segner, dessen vielbefolgte Bezeiehnungsweise aus der 
nachfolgenden Figur 24 erhellt, und ebenso Sauri und Bosco- 
vich sowie viele andere auf diese Weise die folgenden fünf Glei- 
chungen ab: 





sie sich auch in Mauduits o.a. Werke p. 83 und 84 ohne Beweis aus den 
Neperschen Analogien der sphärischen Trigonometrie geschlossen. 

') A.v. Braunmühl, Gesch. d. Trig. I, Kap. 2, $1, Kap. 3, 8 2, Kap. 4, 
$ 2, Kap. 7, $1, Kap. 8, $6. Ferner Zeuthen, Bibl. mathem. 1900, p. 20—27. 
2) A.2.0., p. 6öfl. ’) Trigonometrie spherique resolue par le moyen de la 
Regle et du Compas, Bourges 1757, 8°. *) De l’utilit@ des projections ortho- 
graphiques. M&moires de l’Acad. de Turin II, 1786, p. 291—327. 


Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Versuche einer Begründung dess. 427 


1) sin: sinh = sinm : sin M; 2) sin B:sinb = ctg M:: etgm; 
3) sinN:sinn = cos M:cosm; 4) cosN:cosn = «tg H:ctgh; 
5) cos B:cosb = cos H: cosh 
und fügen ihnen noch die beiden durch korrespondierende Addition 

und Subtraktion aus 3) und 5) hervorgehenden Formeln: 
N+n M-+m 





eig E) : tg Aa = tg nr . tg ar Sa 
B+b H—+h ar h B-—-b 
Rede te] : tg or ae a EEE dern 


hinzu‘). Die Methode, mit diesen 7 en alle Dreiecksaufgaben 
zu behandeln, war damals sehr verbreitet, wenn auch manche Autoren 
noch nebenbei die allgemeinen Formeln 
für das schiefwinklige Dreieck entwickel- 
ten, indem sie die Hauptsätze aus dem 
Dreikant ableiteten und aus diesen dann 
die übrigen durch Rechnung gewannen. | 
Andere wieder, wie Cagnoli, Scherffar, ui | \ 
Karsten und Mauduit stellten sich als er 
Grundlage ihrer Formeln den Kosinus-, 2 £ 

den Sinussatz und die Kotangentenformel reeh 

mit Hilfe der Sätze des rechtwinkligen 

Dreiecks her. Auch die Neperschen Analogien kommen bei den 
genannten Autoren vor, die auch ihre praktische Verwendung ausein- 
andersetzten. Dagegen wird die Methode, das ganze Formelsystem 
durch Anwendung des Supplementardreiecks zu verdoppeln, merk- 
würdigerweise nirgends ausschließlich angewendet. 

Wenn wir im vorhergehenden die hauptsächlichsten Methoden 
kennen gelernt haben, nach denen die Trigonometrie für den Unter- 
richt entwickelt wurde, so müssen wir noch der am Ende des Jahr- 
hunderts auftretenden Versuche gedenken, welche dahin zielten, das 
ganze trigonometrische Lehrgebäude auf die einfachst- 
mögliche Grundlage zu stützen. Ohne diese bestimmte Absicht 
auszusprechen, leitete Kästner?) die Hauptformeln der ebenen Tri- 
gonometrie rechnerisch aus dem Sinussatze und der Winkelbeziehung 
4+B5+0C=180° ab, und noch viel früher?) hatte der Oberberg- 








') Diese waren schon im 17. Jahrhundert von Thomas Baker (1625 bis 
1690), Pfarrer in Bishop-Nymmet in Devonshire, mitgeteilt worden. Siehe A. 
v. Braunmühl, Gesch. d. Trig. II, p. 48. ®) Anfangsgründe der Arithmetik, 
Geometrie und Trigonometrie, z. B. 3. Aufl. 1774, p. 418; 4. Aufl. 1786, p. 505. 
Kästner wollte eigentlich nur eine „Vergleichung der Seiten des Dreiecks und 
eines seiner Winkel‘ finden. ») A. v. Braunmühl, Gesch. der Trig. U, 
p. 97—100. Oppels Schrift heißt: Analysis triangulorum 1746, 2°. 


428 _ Abschnitt XXI. 


hauptmann Friedrich Wilhelm Oppel in Freiberg (1720—1769) 
gezeigt, daß sich aus der Kenntnis des Sinus- und Kosinussatzes die 
sämtlichen Formeln der sphärischen Trigonometrie gewinnen lassen. 
Damit nicht zufrieden suchte De @ua de Malves (III, S. 576—577) 
zu zeigen'), daß die Kosinusformel allein zu diesem Aufbau genüge. 
Diesen Gedanken, den übrigens, wie De Gua selbst bemerkt, schon 
der Petersburger Akademiker F. C. Maier (III?, 5. 558—559) aus- 
gesprochen hatte, führte er in der Abhandlung „Trigonometrie 
spherique deduite tres brievement et completement de la seule 
solution algebrique du plus simple des ses problemes generaux ete.“ 
1783 aus. Dabei hatte er die unglückliche Idee für seine neu auf- 
gebaute Trigonometrie auch eine neue Funktionsbezeichnung einzu- 
führen, die durch ihre Schwerfälligkeit die Lektüre seiner sonst ver- 
dienstlichen Abhandlung sehr unangenehm macht. Da sie jedoch 
keine Nachahmung fand, gehen wir auf dieselbe nicht weiter ein. 
De Gua leitet nun zunächst den Kosinussatz 


cos ad — cosb cosc + sinb since cos A 


geometrisch ab, indem er sich derselben Figur bedient, die wir bei 
F. Blake (S. 406) antrafen, und berechnet aus dieser Formel 





sin A= Yl — cosa? — cosb? — cosc? + 2 cosa cosb cosc:: (sind sine). 


Da man aus der Symmetrie dieser Form erkennt, daß sin B und sin O 
denselben Zähler erhalten müssen, so folgt unmittelbar 
1 1 1 


sin A : sin B: sin ( = — —— : ——— : — ——— — sina;anhbi mine, 
sın b sınc SINCSIıIna sına sın b 








also der Sinussatz. Durch sehr umfangreiche Rechnungen ergeben 
sich dann der Kosinussatz für die Winkel, die Kotangentenformel 
und noch 10 andere recht komplizierte Gleichungen, welche zu prak- 
tischer Verwendung zum Teil sehr wenig brauchbar sind. 

Die abschreckenden Rechnungen De Guas veranlaßten Lagrange 
in der schon erwähnten Abhandlung „De quelques Problemes relatifs 
aux triangles spheriques avec une Analyse complete de ces triangles“?) 
eine einfachere Ableitung zu geben. Kosinus- und Sinussatz erhält 
er wie De @ua, inderm er aber dann den ersteren für die Seiten «a und c 
ansetzt, mit Hilfe der zweiten dieser Formeln eose aus der ersten 
eliminiert und since=sinasinC:sin A einführt, ergibt sich ihm als 
dritte Gleichung ctga sind=ctgAsinÜ+cosbcosC. Vor der 





| !) Memoires de l’Acad. de Paris 1786, p. 291—343, vorgelegt 1783. 
2) Journal de l’Ecole Polytechnique, ceahier 6, 1798/99. 


Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Versuche einer Begründung dess. 429 


eben erwähnten Einführung von sine hatte sich Eulers Formel 
cosa sinb—= cosb sina cosÜ + sinecos A ergeben; indem er nun in 
dieser a mit b und folglich auch A mit 5 vertauschte und den hier- 
durch erhaltenen Ausdruck für cosb sina in sie einführte, ergab sich 
mit Hilfe der Beziehung sin c = sin b sin Ü: sin B leicht der Kosinus- 
satz für die Winkel als vierte Hauptgleichung. Obwohl diese Formeln 
genügen, wie Lagrange sagt, um alle auf sphärische Dreiecke be- 
züglichen Aufgaben, zu lösen, so leitet er dennoch aus ihnen die be- 
kannten 6 Gleichungen für das rechtwinklige Dreieck sowie die 
Sätze zur Bestimmung der Seiten aus den Winkeln und der Winkel aus 
den Seiten ab und verschafft sich die Neperschen Analogien, indem 
er in beiden Fällen auch das Supplementardreieck verwendet. 

Da Lagranges Arbeit unmittelbar an De Guas Gedanken an- 
knüpfte, mußten wir ihre Besprechung gleich hier anfügen und 
können erst nachträglich noch auf eine Abhandlung des uns schon 
bekannten Schubert hinweisen, die schon 1796 erschienen war!) und 
denselben Gegenstand behandelte, ohne jedoch jener Lagranges au 
Übersichtlichkeit, Einfachheit und Eleganz gleichzukommen. Fried- 
rich Theodor Schubert (1758—1825), geboren zu Helmstädt, be- 
gann seine Tätigkeit als Hauslehrer, wurde dann Revisor des hapsal- 
schen Kreises in Esthland, beschäftigte sich aber hauptsächlich mit 
geographischen und astronomischen Studien, die ihm die Pforten der 
Akademie in Petersburg eröffneten, woselbst er Aufseher der Biblio- 
thek und des Münzkabinetts dieser Anstalt wurde, Stellungen, die er 
bis zu seinem Tode inne hatte. Mit den Schriften der Alten wohl- 
vertraut kam er auf den Gedanken, aus dem Satze des Menelaus’), 
mit dem schon Ptolemäus die sphärische Trigonometrie behandelt 
hatte, das ganze bekannte Formelsystem der Trigonometrie abzuleiten. 
Zunächst gewann er aus diesem Theorem die 6 Formeln für die 
rechtwinkligen sphärischen Dreiecke?), dann den Sinussatz und durch 
beständige Anwendung der gefundenen Formeln auf die Figur jenes 
Transversalensatzes von Menelaus die beiden Kosinusregeln, aus 
denen sich dann als einzige noch notwendige Regeln die Formel 

sin A sine 
ET oa eb kin Bohr 
und ihre polare ergaben. Auch dieses schöne System gründet die 
ganze sphärische Trigonometrie auf einen einzigen Satz, die hierzu 
notwendigen Rechnungen stehen aber jenen Lagranges an Einfach- 
heit bedeutend nach. Beachtung hat dasselbe wenig gefunden. 


') Trigonometria sphaerica e Ptolemaeo. Vorgelegt am 22. Dezember 1796, 
publiziert 1801 in Nova Acta Acad. Petrop. XII, p. 165—175. ?) Vgl. dieses 
Werk I?, p. 386. ») Vgl. I?, p. 392—393. 


430 Abschnitt XXIII. 


Tetragonometrie, Polygonometrie und Polyedrometrie. 


Nachdem infolge der Ausbildung der Formelsprache und der da- 
durch gewonnenen Geschmeidigkeit der analytischen Rechnung die 
Behandlung aller auf ebene Dreiecke bezüglichen Fragen eine Leich- 
tigkeit geworden war, regte sich der Wunsch, auch für unregelmäßige 
Vierecke und allgemeine Polygone, deren typische Formen schon 
Stevin und Girard unterschieden hatten‘), Formeln zu besitzen, 
welche eine Berechnung derselben direkt, d. h. ohne vorherige Zer- 
schneidung in Dreiecke gestatten würden. Lambert war der erste, 
der in seiner „Anlage zur Tetragonometrie“?) diesen Gedanken ver- 
folgte, um überflüssigen Rechnungen zu begegnen. Er gab ohne Be- 
weis die vier Beziehungen an, welche zwischen je 6 Stücken eines 
ebenen Vierecks bestehen müssen. Da man jede von diesen nach 
einem der sechs Stücke auflösen kann, so ergeben sich 24 Fälle, 
von denen jedoch nur 14 verschieden sind, da mehrere Auflösungen 
dasselbe sagen, und drei Winkel bereits den vierten bestimmen, Um- 
stände, die Lambert nicht berücksichtigt hat. Nimmt man noch 
eine Diagonale hinzu, so vermehren sich die möglichen Fälle, deren 
unvollständige Abzählung durch Lambert später Björnsen und Lexell 
ergänzten, während Johann Tobias Mayer in seine Inauguraldissertation 
von 1773°) Lamberts Irrtümer herübernahm. Der schon früher ge- 
nannte J. T. Mayer war als Sohn des berühmten Astronomen gleichen 
Namens 1752 in Göttingen geboren, studierte und habilitierte sich 
daselbst, wurde dann Professor der Mathematik und Physik in Alt- 
dorf und Erlangen und starb als Professor der Physik in Göttingen 
1830. In der genannten Schrift bemühte er sich hauptsächlich, loga- 
rithmisch brauchbare Gleichungen in der Tetragonometrie zu erhalten, 
was seine, wenn auch mangelhafte Abhandlung immer noch vorteil- 
haft von dem Buche unterscheidet, das der Düne Stephan Björnsen 
(1730—1798), Kalkulator der dänischen Landesvermessung, 1780 
herausgab‘). Dasselbe ebenfalls an Lambert anschließend bietet 
wenig elegante Formeln, wenn es auch Mayers Schrift an Vollstän- 
digkeit übertrifft, indem es noch die Fälle, welehe mit Hinzunahme 
einer Diagonale entstehen, analytisch behandelt, geometrische Kon- 
struktionen ableitet und die auftretenden Doppelwerte erklärt. 
| Der erste, welcher den geringen Wert solcher Detailuntersuchungen 





1) Vgi. dieses Werk II?, p. 665—666 und Bibliotheca math. 1900, I, p. 271. 
2), Beiträge zum Gebrauche der Mathematik II, 1770, p. 175—134. ®, Tetra- 
gonometriae specimen I, Göttingen 1773. *% Introduetio in Tetragonometriam 
ad mentem Lambert. Hauniae 1780, 8°. 


Tetragonometrie, Polygonometrie und Polyedrometrie. 431 


erkennend eine allgemeine Methode zur Berechnung beliebiger 
Polygone entwickelte, war der schon genannte Petersburger Mathe- 
matiker Lexell. Andreas Johann Lexell, 1740 zu Abo in 
Finland als Sohn des dortigen Bürgermeisters geboren, kam 1766 
auf Grund einer Abhandlung über die Auffindung von Kurven aus 
den Eigenschaften ihrer Krümmung als Lektor an die Universität 
und als Professor an die Marineschule in Upsala. Als er 1768 an 
die Petersburger Akademie eine Abhandlung einsandte, in welcher er 
eine neue Methode zur Integration gewisser Differentialgleichungen 
auseinandersetzte, wurde Euler auf ihn aufmerksam und veranlaßte 
sofort seine Berufung nach Petersburg, der er auch Folge leistete 
und sich als Eulers treuer Mitarbeiter namentlich an dessen neuer 
Mondtheorie auszeichnete. Als der letztere 1783 starb, erhielt Lexell 
seine Stelle in der Akademie, in die er schon früher aufgenommen 
worden war, hatte sie jedoch nur mehr ein Jahr inne, indem er schon 
1784 seinem Meister im Tode nachfolgte. 

Lexell hat der Polygonometrie zwei Abhandlungen gewidmet, 
in denen er diesen Zweig der Trigonometrie eigentlich erst schuf!). 
Er löste darin die Aufgabe aus 2» — 3 Stücken eines n-Ecks, die 
dasselbe bestimmen, die übrigen zu berechnen, indem er das Poly- 
gon auf zwei zueinander senkrechte Linien, wovon er die eine mit 
einer Seite zusammenfallen ließ, orthogonal projizierte. Die beiden 
hierdurch sich ergebenden Gleichungen sind in seiner Schreibweise: 


asne+bsin(e +ß)+esn(e+ß+yp)+--- 


+isn(a+ß+Y+.+)=-0, 
acosa+bceos(e+P)+eceos(@+ß+yY)+--- 


+lese +ß+Yy+::+4)=(, 
wobei a, b, c,... I die Seitenlängen und «, ß,y,... A die Außenwinkel 
des Polygons bedeuten, und die Beziehung besteht: 


a+ß+Y+:::+2— 3600. 


Die beiden Gleichungen werden auch noch dadurch verallgemeinert, 
daß die Projektion des Polygons auf zwei beliebige sich in einer 
Ecke schneidende rechtwinklige Achsen vorgenommen wird; auch wird 
ihre allgemeine Gültigkeit für überschlagene Polygone und solche mit 
einspringenden Ecken an Beispielen dargetan, wobei nur zu beachten 
ist, daß die Summe der Außenwinkel in solchen Fällen ein Vielfaches 
von 2x beträgt. 


Als spezielle Anwendungen zeigt Lexell, wie sich aus seinen 





') De resolutione polygonorum rectilineorum. Novi Comm. Acad. Petrop. 
XIX, 1774, p. 184—236 und XX, 1775, p. 80—122, publiziert 1775, resp. 1776. 


432 Abschnitt XXII. 


Gleichungen die Grundformeln der Trigonometrie und der Tetragono- 
metrie ergeben und fügt noch die entsprechenden für die Fünf- und 
Sechsecke hinzu. Diese Detailuntersuchungen, namentlich insoweit 
sie sich auf das Viereck beziehen, werden dann in der zweiten Ab- 
handlung noch weiter ausgearbeitet, wobei eine vollständige Klassi- 
fizierung aller möglichen Fälle, auch jener, die mit Hereinziehung 
einer und zweier Diagonalen entstehen, vorgenommen wird. 

Auf einer anderen Grundlage hat Simon L’Huilier eine Poly- 
gonometrie aufgebaut!). An ihre Spitze stellte er folgenden Satz: 
„Läßt man eine Seite des Polygons weg, bildet aus allen anderen die 
Produkte aus je zweien und multipliziert jedes Produkt mit dem 


Sinus des von den betreffenden Seiten gebildeten Winkels, so ist die 


Summe dieser F*ZVR ZI Produkte gleich dem doppelten Inhalt des 


5) 


u 


Polygons“. Da man nun immer andere Seiten des Polygons weg- 
lassen kann, so erhält man n Ausdrücke für den Polygonsinhalt, die 
einander gleichgesetzt die fundamentalen Beziehungen zwischen den 
Seiten und Winkeln des Polygons liefern. Außer dieser Formelgruppe 
verschafft sich L’Huilier aber noch zwei Fundamentalformeln, die 
identisch sind mit Lexells Projektionsformeln?), indem er den Poly- 
gonsinhalt einmal in der obigen Weise und dann als Summe eines 
durch eine Diagonale abgeschnittenen Eckdreiecks und des übrig- 
bleibenden Polygons von n — 1 Seiten bildet. Den übrigen Inhalt des 
Buches machen allgemeine und spezielle Anwendungen dieser Sätze aus. 

Außerdem hat L’Huilier über seine Vorgänger hinausgehend 
noch ın einer dem Institut national 1799 eingereichten Abhandlung 
„Iheoremes de Polyedrometrie“, Paris 1805, seine Sätze auf Raum- 
polygone ausgedehnt und den Hauptsatz der Polyedrometrie auf- 
gestellt, daß jede Seitenfläche eines: Polyeders gleich der Summe der 
übrigen ist, wenn man jede mit dem Kosinus des Winkels multipliziert, 
den sie mit der ersten bildet. Doch wurden die notwendigen Be- 
dingungen, unter denen allein dieser Satz gültig ist, weder von 
L’Huilier noch von Carnot?), der sich bald nach ihm mit Sätzen 
der Polyedrometrie und der Raumpolygone beschäftigte, angegeben. 

Die Bauptsätze der Polygonometrie fanden in den Lehrbüchern 
merkwürdig schnell Eingang, so in Prändels vielbenutzter „Geo- 
metrie und ebene 'Trigonometrie“, München 1793, die einen eigenen 
Abschnitt darüber enthält. 





') Polygonometrie ou de la mesure des figures rectilignes ete., Geneve 1789, 
4°. Es scheint dies das erste Lehrbuch der Polygonometrie zu sein. Masche- 
ronis „Metodo di misurare i poligoni“, Pavia 1787, konnten wir nicht einsehen. 
?) Dieselben stehen a. a. ©. p. 18 und 20. ?°) Geometrie de position,.1803, p. 306, 


Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 433 


Zum ‘Schlusse dieses Kapitels möge noch auf spezielle Unter- 
suchungen über Vierecke und Polygone hingewiesen werden, mit 
denen sich Nik. Fuß am Ende des Jahrhunderts beschäftigte. In 
einer ersten Abhandlung von 1794!) löste er auf trigonometrischem 
Wege Aufgaben, welche sich darauf bezogen, aus gewissen gegebenen 
Stücken ein Viereck zu konstruieren, dem man einen Kreis um- 
schreiben und einen anderen einschreiben kann und berechnete die 
Radien dieser Kreise, den Abstand. ihrer Mittelpunkte und die noch 
fehlenden Stücke solcher Vierecke. In der zweiten Abhandlung von 
1798?) dehnte er diese Untersuchungen auf symmetrisch irreguläre 
Polygone aus, womit er solche Polygone bezeichnete, denen man einen 
Kreis um- und einen anderen einschreiben kann und die so beschaffen 
sind, daß sie durch den gemeinsamen Durchmesser dieser beiden 
Kreise in zwei kongruente Hälften geteilt werden?). Auch hier werden 
alle Einzelaufgaben trigonometrisch behandelt und die Konstruktionen 
aus den Formeln abgeleitet. Der Zielpunkt der Arbeit ist die Lösung 
des allgemeinen Problems: einem gegebenen Kreis ein n-Eck einzu- 
schreiben, dem selbst wieder ein Kreis eingeschrieben werden kann. 
Direkt gelöst wurde jedoch diese Aufgabe nur bis zum 8-Eck ein- 
schließlich, indem man, wie er sagte, hieraus bereits ersehen könne, 
wie man bei höherer Eckenzahl verfahren müsse. 


Trigonometrische und andere Tafeln. Zyklometrie. 
Trigonometrische Reihen. 


Nachdem bereits Isaak Newton auf die Benutzung der unend- 
lichen Reihen zur Berechnung logarithmisch-trigonometrischer Tabellen 
hingewiesen, und der unermüdliche Abraham Sharp‘) zu Beginn 
des 18. Jahrhunderts mit ihrer Hilfe darauf bezügliche Rechnungen 
in großer Zahl ausgeführt hatte, wurden die letzteren von Gardiner 
in einer Neuauflage von Sherwins Logarithmentafel 1741 publiziert. 
Die zahlreichen Auflagen dieser zuerst 1705 erschienenen Mathematical 
tables von Sherwin, von denen Gardiners weitere Ausgabe von 
1742 die korrekteste sein soll’), laufen bis 1771 fort, wo die fünfte 





') Nova Acta Acad. Petrop. 1792, X (erschienen 1797), p. 103—125. 

®) Ebenda, 1795/96, XII (erschienen 1802), p. 166—189. ®) J. Steiner stellte 
(Journal für Math. und Phys. II, 1827, p. 96 und 289) die Relation zwischen den 
Radien der erwähnten Kreise und der Distanz ihrer Mittelpunkte für das Fünf-, 
Sechs- und Achteck auf, C. G. Jacobi aber wies (ebenda, III, p. 376) nach, daß 
diese Formeln mit den von Fuß gegebenen zusammenstimmen müssen, da dieser 
ohne es zu bemerken, den allgemeinsten Fall bereits behandelt hatte. ) Über 
ihn vgl. dieses Werk, III?, S. 86. °) Tables of Logarithms for all numbers 
from 1 to 102100, and for the Sines and Tangents etc., London 1742. 


434 Abschnitt XXIIL 


Auflage derselben erschien, und enthalten die Briggschen Logarithmen 
aller Zahlen bis 99 und die Logarithmen der Primzahlen von 100 
bis 1097 auf 61 Stellen nach Sharps Rechnungen!) sowie sieben- 
stellige Logarithmen aller Zahlen bis 1000 und von 10000 bis 101000. 
Außerdem finden sich darin Tafeln für die Sinus, Tangenten, Sekanten 
und Sinus versus und ihrer Logarithmen für alle Bogenminuten eben- 
falls auf 7 Stellen. Eine Neuauflage von Gardiners Tafelwerk in 
französischer Sprache wurde 1770 von dem Jesuiten Esprit Pezenas 
(1692— 1776), Direktor der Sternwarte in Avignon, besorgt, der hierzu 
die von Gabriel Mouton (vgl. IP, 5. 77) mit dessen Differenzen- 
methode?) berechneten Zahlen benutzte, ohne jedoch seine Tafeln 
aller Logarithmen der trigonometrischen Funktionen für die Sekunden 
der ersten und letzten 4 Grade zu veröffentlichen. Lalande, der 
dies lebhaft bedauerte, setzte in einer Abhandlung von 1761?) ein 
Interpolationsverfahren zur Berechnung solcher Tafeln auseinander 
und veranstaltete 1781 und noch später Neuausgaben der 1760 zum 
erstenmal erschienenen Tables des Logarithmes pour les Sinus, Tan- 
gentes ete. von Lacaille. Diese Tafeln waren wegen ihrer Hand- 
lichkeit (Duodezformat) und Exaktheit sehr beliebt und blieben langezeit 
im Gebrauch; 1832 wurden sie noch einmal von Köhler herausgegeben). 

Eine der wichtigsten Tafelsammlungen, die in der zweiten Hälfte 
des 18. Jahrhunderts erschienen, enthielten Lamberts „Zusätze zu 
den logarithmisch trigonometrischen Tabellen zur Erleichterung und 
Abkürzung der bei Anwendung der Mathematik vorfallenden Be- 
rechnungen“, Berlin 1770, 8°. Diese auf eine Anregung Lagranges 
entstandene Tafelsammlung?) wurde 1788 von dem mit Lambert 
im Briefwechsel stehenden und von ihm vielfach unterstützten Anton 
Felkel (geb. 1740) in Lissabon in lateinischer Sprache neu aufgelegt. 
Wir wollen auf die wichtigsten Tafeln dieser Sammlung hinweisen. 
Lambert hatte schon im Il. Bande seiner Beiträge zur Mathematik 
die Teiler aller Zahlen von 1 bis 10200 gegeben, ferner hatte Hein- 
rich Ajema 1767 eine Tafel der Teiler aller Zahlen von 1 bis 10000 





!) Zuerst veröffentlicht in seiner Geometry improved, London 1717. 
2) Mouton hat sein Verfahren zuerst angewendet in „Observationes dia- 
metrorum solis et lunae“, Lugd. 1670, 4°, und damit die Logarithmen 
der Sinus und Tangenten auf 10 Dezimalen berechnet. Das diese Tafeln 
enthaltende Manuskript reichte er der Pariser Akademie ein, und Pezenas 
konnte es benutzen. ) Sur les interpolations ou sur l’usage des differences 
secondes, troisitmes etc. Me&moires de l’Acad. de Paris 1761, p. 125—139. 
4) Glaisher, Report of Mathematical Tables in Report of the British Asso- 
ciation, London 1874, p. 1—175 [künftig nur als „Glaisher“ zitiert], p. 153. 
5) Brief an d’Alembert vom 4. April 1771. Lagrange, Oeuvres, Ed. Serret, 
XIH, p. 195. 


Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 435 


zu Löwen veröffentlicht und sowohl im Dietionnaire enceyclopedique wie 
auch in Harris Lexikon der Künste und Wissenschaft war je eine 
solche Tafel für alle nicht durch 2, 3, 5 teilbaren Zahlen von 1 bis 
100000 nach John Pell (vgl. II#, S. 713) mitgeteilt worden; diese 
dehnte Lambert unter Vornahme der nötigen Korrekturen auf alle 
Zahlen bis 102000 aus (Tab. I) und fügte noch Tafeln für die Prim- 
zahlen bis 101977%) bei (Tab. II und VI), zu deren Bildung er in 
der Einleitung eine Reihe von Sätzen mitteilt. Felkel hat die 
Teilertafel fortgesetzt, indem er 1776 in Wien eine sehr praktisch 
eingerichtete Tabelle erscheinen ließ, die die Divisoren bis 336000 ent- 
hielt (vgl. S. 202). Nach Angabe von Gauß hatte er seine Rechnung so- 
gar bis 2000000 getrieben, jedoch ist der Rest nicht mehr im Druck er- 
schienen. Auch die Tafel der Primzahlen wurde 1772 von Marecıi 
bis 400000 fortgesetzt, während Johann Neumann zu Dessau 
1785 Tabellen der Primzahlen und der zusammengesetzten Teiler 
aller Zahlen bis 100100 mitteilte und Vega eine Faktorentafel bis 
400000 in seinen Vorlesungen (1793) drucken ließ. 

Außer den Primzahltafeln enthält Lamberts Sammlung noch 
kleinere Tabellen der Quadrat- und Kubikzahlen, der Potenzen von 
2 bis 2, von 3 und 5 bis zur 50°‘ Potenz, eine Tafel für die Werte 
der -Exponentialfunktion e-*, von 2=0,1 bis x = 10, nebst den Ent- 


— (e + 1), log(a + x) usw. in Reihen und Ketten- 
brüche, dann eine Tafel der siebenstelligen hyperbolischen Logarithmen 
der Zahlen von 1 bis 100 (Tab. XIII) und eine ebensolche der Zahlen 
von 1,01 bis 10 in Intervallen von 0,01. Bemerkenswert ist die 
XIX. Tafel, welche die Werte der Sinus von 3° zu 3° in algebraischen 
Ausdrücken zusammenstellt, um gegebenenfalls verschiedene Rech- 
nungen mit aller Schärfe vornehmen zu können. Über die Auf- 
stellung dieser Tabelle verbreitete er sich in seinen Beiträgen zur 
Mathematik II (5. 133—139) und zeigte, daß die einzelnen Funktions- 
werte aus 15 verschiedenen Wurzeln durch Addition und Subtraktion 
allein zusammengesetzt sind?). Außerdem enthält Lamberts Samm- 


wieklungen von e*, 





) J. @. Krüger hatte schon 1746 zu Halle im Magdeburgischen eine Prim- 
zahltafel bis 100999 gegeben, die er nach Aussage Lamberts von Peter Jäger 
erhalten hatte, und von Giuseppe Pigri (1728 etwa —1804) waren 1758 Nuove 
tavole degli elementi dei numeri dall’ 1 al 10000 in Pisa veröffentlicht worden. 
Diese Tafeln enthalten alle Zahlen innerhalb der gegebenen Grenzen durch Prim- 
zahlprodukte dargestellt und sollten nach des Autors sanguinischer Hoffnung die 
Benutzung der Logarithmen überflüssig machen. Eine Methode zur Aufsuchung 
der Primzahlteiler hat auch Johann Tessanek in Abhandlungen einer Privat- 
gesellschaft in Böhmen, I, Prag 1775, p. 1—64 angegeben und mit derselben 


eine Tafel von 1 bis 1000 berechnet (p. 53—60). ?) Eine Ableitung derselben 
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 29 


436 Abschnitt XXI. 


lung noch eine Tafel (XXI), in welcher die hauptsächlichsten tri- 
sonometrischen Formeln zusammengestellt sind, die zur Berechnung 
der ebenen und sphärischen Dreiecke dienen, Tafeln für die Längen 
der Kreisbögen auf 27 Dezimalen von 1° bis 100°, von da ab in 
Intervallen von 30° und endlich für Minuten und Sekunden; ferner 
Tabellen zur Berechnung der trigonometrischen Funktionen kleiner 
Winkel, zur Bestimmung der Sinus aller Grade mit ihren ersten 
9 Vielfachen auf 5 Dezimalen usw. Zum Schlusse mag noch auf die 
Tafeln zur Erleichterung der Auflösung höherer Gleichungen, wie 
der Gleichungen 3. und 4. Grades, und endlich auf die Tafel der 
hyperbolischen Logarithmen (Tab. XXXIJI) aller ganzen Winkelgrade 
des 1. Quadranten hingewiesen werden. Im ganzen umfaßte die mit 
großer Sachkenntnis zusammengestellte Sammlung Lamberts 45 Tafeln 
in einem sehr: handlichen Oktavbändchen. 

Ein wichtiges Tabellenwerk war damals auch die „Neue und er- 
weiterte Sammlung logarithmischer, trigonometrischer und anderer 
Tafeln“ von Johann Karl Schulze (1749—1790), einem Schüler 
Lamberts, welche 1778 in Berlin in zwei Oktavbänden erschien. 
Außer den siebenstelligen Briggsschen Logarithmen der Zahlen von 
1 bis 101000 finden sich daselbst die hyperbolischen Logarithmen 
der Primzahlen von 1 bis 10000, die der holländische Artillerieoffizier 
Wolfram auf 48 Dezimalen berechnet hatte, ferner eine Tafel für 
die Logarithmen der Sinus und Tangenten kleiner Bögen von 0° 
bis 2° von Sekunde zu Sekunde berechnet, dann im II. Bande Tafeln 
der Sinus, Tangenten und Sekanten mit den zugehörigen Briggsschen 
und hyperbolischen Logarithmen für die 4 ersten und 4 letzten Grade 
in Intervallen von 10”, für den übrigen Teil des Quadranten aber von 
Minute zu Minute berechnet. Auch die Längen der „Zirkulbögen“ 
für alle Grade auf 27 Dezimalen, ferner für alle Minuten und Se- 
kunden sind für den Radius 1 angegeben, und außerdem ist noch eine 
Interpolationstafel aufgenommen. Auch findet sich darin eine Tafel 
für rationale Trigonometrie, die nach Lamberts Angaben berechnet 
wurde. Sie gibt für 100 rechtwinklige Dreiecke die Seiten, für 


welche die Tangente des halben spitzen Winkels > 25 ist. Hier mag 


erwähnt werden, daß Lambert auf die sogenannte rationale Trigono- 
metrie, mit welcher sich schon Vieta!) und De Lagny”) beschäftigt 





hat Cagnoli 1794 in „Cose trigonometriche‘“, Mem. della Soc. Italiana VI, p. 2 
bis 3 gegeben. 

1) Canon mathematicus seu ad triangula cum appendieibus, Lutetiae 1579 
in fol. Darin: Canonion triangulorum Laterum rationalium. Vgl. die Beschrei- 
bung desselben bei Hunrath in Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik, 
Heft 9, p. 221—225. ®) Sur le caleul analytique et indefini des Angles 


Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 437 


hatten, durch einen Brief aufmerksam geworden zu sein scheint, den 
ihm ein gewisser Pater Simon Baum vom St. Salvatororden am 
15. Oktober 1773 schrieb; darin teilte er ihm mit, daß er 223 Sinus- 
werte in rationalen Zahlen bestimmt habe und noch 20000 zu be- 
rechnen gedenke, welche zur Behandlung von Dreiecken dienen, deren 
Seiten und Inhalt rational sind. In seiner Antwort auf diesen Brief 
am 14. Dezember des gleichen Jahres teilte ihm Lambert mit, 
er habe eine Tafel für alle Brüche, deren Nenner 100 ist, berechnet, 
und aus dieser Tafel könne man schon 200 rationale Sinus finden, 


was völlig genüge. Ferner sei allgemein tg« — r gesetzt, so folgt 


Tab BER 
: & a 3 
und hieraus z.B. für — = — 
. b ıE 
1 33 56 0 ’ „ 
sin2a= 5, cos2a«—,,, «= 30°30'27”. 


Diese Überlegungen waren es jedenfalls, die die Entstehung der 
Schulzeschen Tafel verursachten, nur war dieselbe leider mit so 
vielen Fehlern behaftet, daß sie Bretschneider 1841!) noch einmal 
berechnen mußte. 

Schulzes Werk scheint jedoch das Bedürfnis nach Logarithmen- 
tafeln nicht befriedigt zu haben, weshalb Georg Freiherr von Vega 
(1756—1802) sich mit der Herausgabe ähnlicher Werke befaßte, die 
bald sehr populär wurden. Vega, in Zagarika in Krain geboren, 
trat früh in die österreichische Armee, war als Hauptmann zugleich 
Professor der Mathematik beim Bombardierkorps in Wien, machte 
die Feldzüge gegen die Türken 1788 und gegen Frankreich 1793 bis 
1797 mit, in denen er sich sehr auszeichnete, und stieg bis zum 
Oberstleutnant. 1802 wurde er entseelt in der Donau gefunden: 
später ergab sich, daß er von einem Müller ermordet worden war?). 
Während er seine Professur inne hatte, veröffentlichte er zunächst 
„Logarithmische, trigonometrische und andere zum Gebrauche der 
Mathematik eingerichtete Tafeln und Formeln“, Wien 1783, 8°, die 
in zahllosen Neuauflagen und Bearbeitungen bis heute im Gebrauche 
blieben. Das Werk umfaßte die siebenstelligen Logarithmen der 





des triangles ete. Memoires de l’Academie de Paris 1729, insbesondere 
p- 318. 


‘) Archiv für Mathematik und Physik I, p. 96—101. ®) K. Döhlemann, 


Georg von Vega. Zeitschrift für Mathematik und Physik 1894, XXXIX, p. 204 
bis 211. 


29 * 


438 Abschnitt XXIIL. 


Zahlen und der trigonometrischen Funktionen sowie die gonio- 
metrischen Funktionen selbst, die Längen der Kreisbögen und ver- 
schiedene den Kreis und die Berechnung der ebenen und sphärischen 
Dreiecke betreffende Formeln. 1794 erschien dann in Leipzig 
„Logarithmisch-trigonometrisches Handbuch“ und im gleichen Jahre 
Vegas vollständigstes und bedeutendstes Werk in dieser Richtung, 
der „Thesaurus logarithmorum completus ex Arithmetica logarithmica, 
et ex Trigonometria artefieiali“, Lipsiae 1794, 2%. Die erste Tafel 
desselben, der „Magnus Canon logarithmorum vulgarium“ enthält die 
10stelligen Logarithmen der Zahlen von 1 bis 1000 ohne Differenzen 
und von 1000 bis 100999 mit Differenzen, die 2. Tafel, der Magnus 
Canon logarithmorum vulgarium trigonometricus gibt die 10 stelligen 
Logarithmen der Sinus, Kosinus, Tangenten und Kotangenten und 
zwar zwischen 0° und 2° in Intervallen von 1” und für die übrigen 
Winkel von 10” zu 10” mit Angabe der Differenzen. Außerdem 
findet man noch darin Tafeln für Kreisbogenlängen, eine umfassende 
Sammlung trigonometrischer Formeln und Wolframs hyperbolische 
Logarithmen der Primzahlen. Vegas Thesaurus war, wie er selbst 
sagt, eine Neuberechnung von Vlacks Tafeln (IP, 5.443 ff.), und er 
glaubte die Fehler jener Tabellen so verbessert zu haben, daß er für jeden 
ihm angezeigten Fehler einen Dukaten zu zahlen versprach. Doch ge- 
nügte, wie nachmals Gauß in einer Besprechung. des Werkes nach- 
wies!), die Tafel II der Anforderung, die Tabulargröße dürfe niemals 
um mehr als eine halbe Hinheit der letzten Dezimalstelle von dem 
wahren Werte abweichen, keineswegs. 

Ein Jahr nach dem Erscheinen des Thesaurus kam in Paris die 
Tafelsammlung von Francois Callet (1744—1798) heraus, die. wir 
schon S. 423 anführten?). Sie umfaßte im ganzen 11 wichtige 
Tafeln in einem nicht übermäßig dieken Oktavband und berücksich- 
tigte neben der alten Teilung des Quadranten auch die Hundertteilung 
desselben. Die Haupttafeln enthalten 7stellige Logarithmen der 
Zahlen wie der trigonometrischen Funktionen, doch sind auch die 
gewöhnlichen und hyperbolischen Logarithmen der Zahlen von 1 bis 
1200 und von 101000 bis 101179 sowie die gewöhnlichen und 
hyperbolischen Antilogarıthmen von 0,00001 bis 0,00179 in Inter- 
vallen von 0,00001 und von 0,000001 bis 0,000179 in Intervallen 





') Astronomische Nachrichten 1851, Nr. 756, Werke II, p. 257—264. 
Vgl. dagegen die Ansicht von Leber „Tabularum ad faciliorem interpolationis 
computationem utilium Trias“, Vindob. 1897. ?, Tables portatives de loga- 
rithmes 1795, 8°. Die umfangreiche Einleitung (118 Seiten) enthält eine genaue 
Angabe der Berechnung der Tafeln. Neudrucke erschienen 1827, 1829, 
1853, 1890. 


Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 439 


von 0,000001 sämtlich auf 20 Dezimalen mitgeteilt und die ersten, 
zweiten und dritten Differenzen angegeben. Außerdem ist noch eine 
Tafel bemerkenswert, die die Sinus und Logarithmen derselben auf 
15 Dezimalen für je 10° des hundertteiligen Quadranten gibt. Was 
die Berechnung der natürlichen Sinus in diesem Werke betrifft, so 
hat sie Callet wahrscheinlich durch Interpolation aus der „Trigono- 
metria arteficialis“ von Vlack vollzogen'). 

Von den um jene Zeit in England erschienenen Tafelsammlungen 
haben wir die trefflichen Mathematical Tables, London 1785, 8°, zu 
nennen, die Charles Hutton (siehe Abschnitt XIX, S. 16), seit 
1773 Professor an der Militärakademie zu Woolwich, herausgab. 
Sie erlebten bis 1858 Neuauflagen unter beständiger Verbesserung. 
Die ersten sechs derselben enthalten eine äußerst wertvolle Einleitung 
über die Geschichte der Logarithmen. Außerdem finden sich in 
dieser Sammlung Antilogarithmen, d.h. die Zahlen zu den Logarithmen 
von 0 bis 0,00149 in Intervallen von 1 Hunderttausendstel auf 20 Dezi- 
malstellen berechnet, und logistische Logarithmen, d. h. die Werte 
von log 3600” — log, von &=1" bis x = 5280” in Sekundeninter- 
vallen auf 4 Dezimalen. 

Ein bedeutendes Werk ist auch die dreibändige von Michael Taylor 
(1756—1789), einem Rechner für den Nautical Almanac, in London 
1792 in-4° herausgegebene Tafelsammlung mit einer Vorrede von 
Nevil Maskelyne, dem wir schon begegneten. Unter den durch- 
weg Tstelligen Tafeln befindet sich eine (die III.) von 450 Seiten 


mit nahe 32 Millionen Ziffern; sie enthält die Sinus, Kosinus, Tan- 


genten und Kotangenten und wurde durch Interpolation aus Vlacks 
10stelliger Tafel mit Kürzung auf 7 Stellen berechnet. Außerdem 
hat Taylor noch 1780 eine Sexagesimaltafel publiziert. 

Als man in Frankreich in den ersten Jahren der großen Um- 
wälzung, welche die Revolution auf allen Gebieten hervorgerufen 
hatte, auch die Maße und Gewichte reformierte, indem man überall 
das Dezimalsystem einführte, lag es nahe, den schon früher vereinzelt 
aufgetauchten Gedanken der Dezimalteilung des Winkels wieder auf- 
zunehmen und dafür neue logarithmisch-trigonometrische Tafeln zu 
schaften, ähnlich wie sie einst Briggs berechnet hatte (vgl. II, S. 743), 
Die Anregung hierzu ging von Carnot, Prieur und Brunet aus, 
und mit der Leitung des Unternehmens, welches in großem Maßstabe 
angelegt wurde, ward 1794 der zum Vorstande des Katasterbureaus 
(1791) ernannte Ingenieur Gaspard de Prony (1755—1839) betraut. 





') Glaisher, a.a. O., $S. 93 nach Hoberts und Idelers Angabe (1799). 














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Lünrriavenaen, De aber sense unwveriffentischt, urer beramisanglingen 
‚brusk wegen ser Zerrütiuug ser Dizaızen augesilk werben mul. 
Vsrsgens aut dumsähbe an Wiert seien weinen, die Ali Hkunikeri- 
Keime es uaskmunien an er Irnige Asien Humgune Gil, week 
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u ee, nn ie 
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ini Im der Vorrede 
zus letzterem Werks. weiches las erste war, das- m Deutsehlame: ie 
zeutesimaie Terlung des (usdranten enzutührem suchte, wird. lem 
Ditferenzenmethode zur Bereeimung: ler Taielır (as Wort zeredes ınd 

ip en eunmeeilineil 
‚larzetan. 


gt. «iementarr Werken hermussilen. Dit jenen sun nicne I 
Wekbemaiili am dür- Aeadämie- mililisire- im Berlin, Mei Biorjas Sene 
E 39) veröffentlichte: 1786”) zwei seiche Werhodem zur (direktem Be- 
reehnumg der Loganihmen: Die erste bemiite (iarauf,. dab er due 
aliweehseindes Ziehen der zweiten: nd. ler üintten Wurzei aus 10 ums. 
dem hieredurein entstehenden Zahlen die zw dem Loganısımem 


82... Re: AO, MORE _... MR: OOa, O,OME, _.. OO LEE. 

Numer: bildete, dann üe ersten '* Vieifnchen: dieser Zalilem 
iereelinste: umsl: alles. im einer Taiel vereinigte, im welcher (ie Loga- 
zikmem vom: zpöllbem. zum kleinsten abnehmen. Diese „Eilfstaisl“ 
in nik ne 
man. din Fälterem. vom. 10%. 1095. I09M& _. im jener Tadek aui- 
schlägt und miieinander mullipliziers, was dnrei: die Vieifachen ım 











zo m Tabl ie niumes - Tuner, amggmambinn ci: publiges, pa J. Bi]. 






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| > Dem, Gedanken, wenn Aue: nichts dem Form. nal diessube 
n Isite den. Rare Tnelen: RORT- im. dam ri Vak: DER Ne. 3a, 





440 Abschnitt XXII. 


Dieser teilte seine Hilfsarbeiter in drei Gruppen. Die Herstellung 
der für die Rechnung notwendigen Formeln lag in den Händen be- 
rühmter Mathematiker, wie Delambre und Legendre, die zweite 
Gruppe bestand aus Rechnern, die mit der Analysis vertraut waren, 
während die Mitglieder der dritten Sektion, zu denen man hauptsäch- 
lich die durch das neue Regime brotlos gewordenen Perückenmacher 
heranzog, nur die Additionen und Differenzenreehnungen auszuführen 
hatten. Dabei vollzog man!) die Berechnung der Sinus von 10° zu 
10° mittelst der Reihe, die Sinus der zwischenliegenden Bögen wurden 
von Grad zu Grad mit der Formel 


sin(a+b)=2cosasinb + sin(a— b) 


bestimmt, und alles übrige wurde durch eine geschickt angelegte 
Differenzenrechnung ausgefüllt, deren auf Moutons Methode be- 
ruhende Einrichtung man hauptsächlich Legendre verdankte?). Das 
Werk umfaßt handschriftlieh 17 Bände in Folio und enthält neben 
einer ausführlichen Einleitung über die Herstellung usw. der Tafeln 
die natürlichen Sinus für jeden 10000*" Teil des Quadranten auf 
25 Dezimalen, um sie sicher auf 22 zu haben, mit Angabe von 7 oder 
5 Kolonnen Differenzen, ferner die Logarithmen der Sinus und der Tan- 
genten für jedes Hunderttausendstel des Quadranten auf 14 Dezimalen 
mit 5 Differenzen, dann die Logarithmen der Verhältnisse der Sinus 
und der Tangenten zu ihren Bögen für die 5000 ersten Hundert- 
tausendstel des Quadranten in 14 Dezimalen, weiter die Logarithmen 
der Zahlen von 1 bis 10000 auf 19 Dezimalen und die der Zahlen 
von 10000 bis 200000 mit 14 Dezimalstellen und 5 Differenzen. Das 
begonnene Riesenwerk war also wirklich dem Plane gemäß zu Ende ge- 
führt worden, blieb aber leider unveröffentlicht, da der bereits angefangene 
Druck wegen der Zerrüttung der Finanzen eingestellt werden mußte. 
Übrigens hat dasselbe an Wert bedeutend verloren, da die Hundert- 
teilung des Quadranten in der Folge keinen Eingang -fand, obwohl 
sie Legendre in seiner vielbenutzten Trigonometrie den Rechnungen 
zugrunde legte, und auch bald kleinere Tafeln, wie die „Tables tri- 
gonometriques decimales“ von Borda?) in Frankreich und die „Nou- 





') Memoires de l’Institut V, an XII, p. 56—66: Rapport sur les grandes 
tables trigonometriques decimales du cadastre par Lagrange, Laplace et De- 
lambre und Bulletin de la Societe Philomathique de Paris III, 1811, Bericht von 
denselben. Vgl. auch Comptes rendus de l’Acad. de Paris 1858, XLVI, p. 911 
bis 912; ferner Annales de l’OÖbservatoire imperial de Paris IV, 1858, p. 123 bis 
150, endlich Nouvelles Annales XIV, 1855, p. 14—17 des historischen Teils. 

2) Connaissance de temps 1817, p. 219-—233. 3) Tables trigonometriques deei- 


Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 441 


velles tables trigonome6triques“ von Hobert und Ideler') in Deutsch- 
land erschienen, die sich dieser Teilung bedienten. In der Vorrede 
zu letzterem Werk, welches das erste war, das in Deutschland die 
zentesimale Teilung des Quadranten einzuführen suchte, wird der 
Differenzenmethode zur Berechnung der Tafeln das Wort geredet und 
in der Tat hatte die Herstellung der „Tables du Cadastre“ das Über- 
gewicht dieser Methode über die direkte Berechnung auf das schlagendste 
dargetan. 

Obwohl man sich, wie schon am Anfang dieses Abschnittes er- 
wähnt, zur Berechnung der Logarithmen stets der unendlichen Reihen 
bediente, machte sich doch am Ende des Jahrhunderts das Bestreben 
geltend, elementare Methoden herzustellen, mit denen eine solche Be- 
rechnung wenigstens für die Zahlenlogarithmen möglich wäre. Der 
Prediger der französischen Gemeinde und nachmalige Professor der 
Mathematik an der Academie militaire in Berlin, Abel Bürja (siehe 
S. 29) veröffentlichte 1786?) zwei solche Methoden zur direkten Be- 
rechnung der Logarithmen. Die erste beruhte darauf, daß er durch 
abwechselndes Ziehen der zweiten und der fünften Wurzel aus 10 und 
den hierdurch entstehenden Zahlen die zu den Logarithmen 


0,1, 02, ... 09; 0,01, 0,02, ... 0,09; 0,001, 0,002, ... 0,009 usw. 


gehörigen Numeri bildete, dann die ersten 9 Vielfachen dieser Zahlen 
berechnete und alles in einer Tafel vereinigte, in welcher die Loga- 
rithmen vom größten zum kleinsten abnehmen. Diese „Hilfstafel“?) 


hat er bis zu „. fortgeführt. Den zu einem gegebenen Logarith- 


10 
mus, z. B. zu 0,463... gehörigen Numerus findet man dann, indem 
man die Faktoren von 10%. 109% . 109093, ,, in jener Tafel auf- 


schlägt und miteinander multipliziert, was durch die Vielfachen in 
der Tafel erleichtert wird. Auch die umgekehrte Aufgabe läßt sich, 
wie Bürja zeigt, mit der Hilfstafel leicht lösen). 

Die zweite Methode, die er mitteilte, diente dazu, jeden Loga- 





males ou Tables des logarithmes ... revues, augmentees et publiees, par J. B. J. 
Delambre, Paris, an IX (1800/1), klein-8°. 

') Nouvelles tables trigonometriques caleulees pour la division decimale du 
quart de cercle, Berlin 1799, 8°. ( 2) Der selbstredende Algebraiste 1786 und 
Memoires de l’Acad. de Berlin 1786/87 (publiziert 1792), p. 433—478, und kürzer 
im Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik von J. Bernoulli 
und Hindenburg 1786, p. 90—105. °) A.a. O., p. 456—478. Das Verfahren 
ist wahrscheinlich Long nachgebildet, der es in P. T. 1714, XXIX, Nr. 339, 
p: 52—54 gab. *) Dem Gedanken, wenn auch nicht der Form nach dieselbe 
Methode hatte schon Brook Taylor 1717 in den P. T. Vol. XXX, Nr. 352, 
p- 618—622, entwickelt. 


442 Abschnitt XXIII. 


rithmus einer Zahl ohne Tafel zu finden und beruhte auf der Dar- 
stellung desselben durch einen Kettenbruch. War z. B. der Loga- 
rithmus von 262144 zur Basis 128 zu bestimmen, so setzte man 


1 
128”" 2 — 262144, daraus folgt sofort p—2, und hiermit leicht 
16? — 128; ist jetzt = r +, so folgt wieder »—1 und hiermit 
8 — 16 usw., so daß sich schließlich der gesuchte Exponent in der 


Form 2+ . = ei darstellt. Fast genau die gleiche Methode 


ui 
hat 1795 der Amerikaner David Rittenhouse (1732—1796) ge- 
geben!), ob mit oder ohne Kenntnis von Bürjas Abhandlung, läßt 
sich wohl nicht mehr feststellen. 

In allen Tafelwerken jener Zeit wurde natürlich, wie auch heute 
noch, der Zahl x gedacht; so finden sich z. B. in Lamberts Samm- 


lung (Tafel XXIV) m, log, E ‚Vrx auf 18 Dezimalen angeführt, 


und Vega gab in seinem Thesaurus (p. 633) x auf 140 Stellen an, 
von denen 136 richtig sind. Die Methoden, mit denen man x be- 
rechnete, beruhten hauptsächlich auf dem Kunstgriff, den zuerst 


Machin angewendet hatte (vgl. II, $. 364—365), nämlich 7- in die 








Summe zweier oder mehrerer Bögen mit rationalen Tangenten zu 
zerlegen, die dann einzeln mit der Arkustangensreihe berechnet 
wurden. Euler war es, der zuerst diesen Gedanken wieder aufgriff 
und auf das vollkommenste ausbeutete, indem er schon 1737?) durch 
Einführung spezieller Zahlenwerte in die allgemeine Formel 


arctg = arcig — + arctg —; AI MRCOrE 


solche Zerlegungen vornahm und außerdem die Reihe 


Br 





archg —— arctg = arctg + arctg +. 


y+x Fe ee 


herstellte, die z. B. für = =], .a,b,c,...:gleich den ungeraden 
Zahlen der Zahlenreihe die Reihe 





!) Method of raising the common Logarithm of any Number immediately 
(gelesen am 12. August 1795). Transactions of the American philosophical Society, 
IV, Philadelphia 1799, p. 69—71, Nr. IX. 2) De variis modis eirculi quadra- 
turam numeris proxime exprimendi. Comment. Acad. Petrop. IX, 1737 (er- 
schienen 1744), p. 100. 


Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 443 


_ = aretg I # arctg ;, + arctg — "a tep arctg —— . et’ 


lieferte. Auf solche auch vom analytischen Standpunkt interessante 
Reihen kam er später (1762/63) noch einmal zurück"), indem er sich 
mit ihrer Summation beschäftigte Daran anschließend hat dann 
Johann Friedrich Pfaff (1765—1825), Universitätsprofessor zu 
Helmstädt und dann zu Halle, diese Reihenkategorie von allgemeinerem 
Standpunkt systematisch untersucht?) und zu den schon von Euler 
summierten Reihen auch noch solche hinzugefügt, deren Summe durch 
einen Bogen ausgedrückt wird, dessen Tangente transzendente Größen 
einschließt. 

Eulers Formeln wurden vielfach zur Berechnung von x benutzt (vgl. 
S.299,300). So hatz.B. Vega das oben angeführte Resultat aus derEuler- 


schen Formel er = 5 aretg — + 2arctg = gewonnen, wozu er noch 
zur Kontrolle = = 2 aretg — + arctg nahm, und Karl Buzen- 
geiger (1771—1835), zuerst Magister in Ansbach, dann Professor 
der Mathematik in Freiburg im Breisgau, gab die auf ähnliche Weise 
gebildete neue Formel: 
1 1 
— —=8 arctg 0 tareig 0; — arg ag") 

an, die auf sehr rasch konvergente Reihen führt. Ebenso teilte 
Ch. Hutton, dem wir schon wiederholt begegneten, drei ähnliche 


Zerlegungen von I mit®), bereehnete aber die Teilbögen nicht mit 


der gewöhnlichen Arkustangensreihe, sondern mit der viel rascher 
konvergenten Reihe: 


a 


die er durch Transformation aus ersterer erhielt. Euler hatte 
übrigens diese Reihe schon 1755 in seiner Differentialrechnung auf- 
gestellt?) und teilte sie 1779 der Petersburger Akademie mit, indem 
er durch Einführung derselben in die Formel 








') De progressionibus arcuum circularium, quorum tangentes secundum 
certam legem procedunt. Novi Comment. Acad. Petrop. IX, 1762/63 (er- 
schienen 1764), p. 40—52. ?) De progressionibus arcuum eircularium etc., 
wie bei Euler, Nova Acta Acad. Petrop. X, 1792 (vorgelegt 1795, erschienen 
1797), p. 123—184. °) Klügel, Wörterbuch I, p. 666. *) P. T. 1776, p. 476. 
Vgl. über die weitere Geschichte dieser Reihe, die wiederholt neu gefunden 
wurde, Glaisher in Messenger of Mathematics II, 1873, p. 119ff. 5, Pars II, 
Kap. 2, p. 318. 


444 Abschnitt XXIII. 


1 3 
x — 2laretg + Barcig 
die äußerst bequeme Formel: 
m 28 2.7: 2.4/2\2 | 
nt ten +) 
30366 2 / 144 2:4 / 144 \2 
7 100000 (1 a Se ie en, N 
erhielt. Mit ihr berechnete er, nach seiner Angabe, x in einer Stunde 
auf 20 Dezimalen!). 


In einer anderen Abhandlung vom 17. Juni desselben Jahres?) 
bildete Euler die leicht zu beweisende ae 





& da x«?’dx 
ni Se fra fr Jar 
. : + a 1 1 
entwickelte diese oc in Reihen, setzte »=-— und dann =-. 


n 1 1 ABER 

und erhielt dadurch Reihen für aretg- und aretg—, welche in die 
ß 1 . e 

Gleichung 7 — 2arctg-,; + aretg-, eingesetzt ebenfalls einen zur Be- 


rechnung von x brauchbaren Ausdruck lieferten. 

Zu einer anderen interessanten Abhandlung über das hier einschlägige 
Gebiet wurde Euler durch einen von Descartes gemachten Versuch der 
Kreisrektifikation veranlaßt?) erg. 8. 259, 260). Zu diesem Zweck hatte 


Descartes an das Quadrat bf (Fig. 25) das Rechteck cg, dessen vierte 


% Eeke or der Diagonale liest und dessen Fläche 
7 


2 gleich — des Quadrates ist, CR an dieses 





7 


a ein Rechteck dh = = des vorhergehen- 


den usw. Dadurch warerschließlichzu einem Grenz- 
punkt x gelangt, der so liegt, daß ax dem Durch- 
messer des gesuchten Kreises gleich wird. Dabei 
a 5 2 “ hatte er angegeben, daß ab der Durchmesser des 
0 dem Quadrate eingeschriebenen Kreises, ac der 
Durchmesser des dem Achteck eingeschriebenen, 

ad jener des dem Sechzehneck eingeschriebenen Kreises usw. ist, so 




















!) Investigatio quarundam serierum, Nova Acta Acad. Petrop. XI, 1793, 
p. 133ff., gelesen am 7. Juni 1779 (erschienen 1798), p. 133. In einem anderen 
Aufsatze, der erst 1862 in den Opera posthuma L. Euleri von P.H. Fuß et 
Nic. Fuß I, p. 288 veröffentlicht wurde, wird diese Reihe noch auf einem etwas 
anderen Wege abgeleitet. Dort findet sich obige Angabe für die Zeit der Be- 
rechnung. ?) Nova Acta Acad. Petrop. XI, p. 150. °) Oeuyres de Descartes 


Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 445 


daß endlich ax der Durchmesser des dem Polygon mit unendlich 
vielen Seiten eingeschriebenen Kreises, d. h. der gesuchte Kreisdurch- 
messer selbst wird. Euler beweist nun zunächst die Richtigkeit 
dieser Konstruktion und leitet dann aus ihr die Formel 
ce 1 ac 1 ac 1 61 4 
wotrstustientsnt Oz 


U 


ab. Diese Reihe gibt ihm aber sofort Veranlassung, die Summe der 
allgemeineren Reihe tgp + i- tg I + n tg I +... zu suchen, die 


er auch leicht in der Form — 2etg2p findet. Aus dieser Glei- 
chung wird dann unter anderem auch die Faktorenfolge gewonnen: 


Ya a Bi. 
a A (05 9 C08 — 608 7 008 5 ): 


die im speziellen für = . jene schon Vieta bekannte Beziehung 


liefert (vgl. II, S. 595), welche als das erste unendliche Produkt gilt w; 

Auch Eulers jüngerer Zeitgenosse Lambert hatte schon 1758 an 
die Quadraturversuche des Gregoriusa St. Vincentio (1l?, Kap.S1) an- 
knüpfend eine Ableitung dieser Faktorenfolge in einer Abhandlung‘) 
gegeben, auf deren Inhalt wir, soweit er unser Gebiet betrifft, noch 
kurz eingehen wollen. Er sagt daselbst, da die Länge eines Kreis- 
bogenstückes AM =v (Fig. 26) zwischen 7 
dem Sinus AS=y und der Tangente AF a 
liegt, so wird es auf der Verlängerung des Q\__\yy 
Durchmessers AB=2 einen Punkt P in © 
der Entfernung AP=z geben, der mit M x 





verbunden, einen Punkt ® auf AF liefert, 4 


der zwischen S und F liegt. Bezeichnet \ 
man MS mit & = sinversv, so ergibt sich in dt 
leicht die Beziehung z = ee! Wenn man 


Fig. 26. 





in dieser © und y durch die bekannten 
Reihen ersetzt, so findet man zunächst für z die Reihe 


Ed. Cousin, XI, p. 442—443. Eulers Abhandlung führt den Titel: Annotatio- 
nes in locum quondam Cartesii ad eireuli quadraturam spectantem. Nov. Comment. 
Acad. Petrop. VII, 1760/61, p. 157ff. (erschienen 1763). Später gab auch J.Fr. 
de Tuschio a Fagnano in Acta Eruditorum 1771,p. 406—418 einen Beweis der 
Konstruktion. 

!) Übrigens hat Euler diese Formel von anderen Betrachtungen ausgehend 
schon früher gefunden: Comment. Acad. Petrop. IX, 1737 (erschienen 1744), 
p. 234—235. Sie tritt auch wieder auf in Opuscula analytica L. Euleri, Petro- 
poli 1783, 4°, p. 345. ?) Observationes variae in mathesin puram. Acta 
Helvetica III, Basileae 1758, $ 10, p. 132. 


446, Abschnitt XXIII. 


In et 
durch welche P so bestimmt wird, daß AQ=vist. Nimmt man 
ferner 2=5 an, so ergibt der hierdurch bestimmte Punkt P eine 
sehr einfache und genaue Methode zur Rektifikation des Bogens 
v= AM=4Q. Lambert weist die Richtigkeit seiner Behauptung 
dadurch nach, daß er mit seiner Formel eine kleine Tabelle berechnet 
und die Unterschiede der gefundenen und der wahren Werte bestimmt, 


Weiter ergibt sich aus der Figur die Proportion 
0S:SF=(1-2):8—x), 


aus welcher für sehr kleine z («=0) folgt, daB FQ=2S8Q oder 
tgv — v=2(v— sinv) ist, woraus 


32 
tgo + 2sinv 


180° te vu’ — 2sinv® 
arcv—- gv +? 


unc u nn 
n nd z „5 r 








sich viel genauer ergibt, als wenn man, wie gewöhnlich, das arith- 
metische Mittel zwischen tgv und sin», oder den Seiten der um- und 
eingeschriebenen Polygone bildet. 

Nieht unerwähnt wollen wir auch die Versuche lassen, welche 
im fernen Japan in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gemacht 
wurden, um die Zahl x auf eine größere Anzahl Dezimalen zu be- 
stimmen, und welche beweisen, daß die Japaner damals im Besitze 
von Methoden waren, die im Abendlande der Erfindung des Infini- 
tesimalkalküls unmittelbar vorhergingen. 

Japans berühmtester Mathematiker Köwa Scki (vgl. III, S. 669) 
gilt als der Erfinder einer solchen Methode, und aus der von ihm 
gegründeten Schule gingen mehrere Mathematiker hervor, die seine 
Erfindung ausbauten. Bemerkenswert sind einige unendliche Reihen 
für aresinx, welche sich bei verschiedenen japanischen Mathematikern 
finden. So wurde in dem Werke Ho en san Kyo von Yoshihide 


Matsunaga von 1739 der Wert von x auf 50 Stellen für «= = 


aus der gewöhnlichen Arkussinusreihe berechnet, die Newton (Ill? 
S. 74) in seiner Analysis per aequationes abgeleitet hatte!). Ajima 
(oder Yasujima?)?) aber (etwa 1737—1797) gab außer jener Reihe 
auch noch die zwei folgenden: 


p=» 
= (arssine +tzVl—— M)-r— a ; 
ß=1 





1:8 a) zaR+1 
2. 2B 


5. 
4- 6. 





1) Sie steht übrigens auch bei Wallis „De Algebra Tractatus“, Opera II, 
ÖOxoniae 1693, p. 383. ?2) Vgl. über diese Lesart den Aufsatz von Y. Mikami 
im Jahresbericht der Mathematikervereinigung, 1906, p. 254. 


Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 447 


und 





P=* 
. ER Ei“ 2.4.6...2B 23+11 
arsne=y1l—x BE aan? 7 
ER Fre 


Außerdem finden sich in japanischen Schriften aus jener Zeit auch 
Darstellungen der Zahl x durch Näherungswerte von Kettenbrüchen?). 
So stammt von Y. Arima aus dem Jahre 1766 der auf 12 Stellen 





; } 5419351 
richtige Näherungsbruch Be: und der auf 30 Stellen zutreffende 
428224593349304 = 5 
en LT TTSTITTIT ET während G. Kurushima (7 1760) 
98548 
> AR fer 
ar angab. 


Versuche, den Charakter der Zahl x zu ergründen, waren 
schon von De Lagny (III, S. 120) gemacht worden. Derselbe war 
bereits 1719 zu dem wichtigen Satze gelangt?), den er allerdings 
nicht beweisen konnte, daß, wenn die Tangente eines Bogens 
eine rationale Zahl ist, der Bogen selbst irrational sein 
muß, und hatte daraus die Folgerung gezogen, daß die Kreisrektifikation 
durch Radius und Tangente geometrisch unmöglich sei*). Dieser 
Satz war es, der Lambert zum Ausgang seines Beweises für die 
Irrationalität von x im Jahre 1767 diente?), und den er „außerordentlich 
scharfsinnig und im wesentlichen einwandfrei“ gestaltete®). 

Lamberts Zeitgenossen scheinen allerdings entweder seine Arbeit 
nicht beachtet oder die Bedeutung des Schrittes, den er in der Er- 
kenntnis des Charakters der Zahl x durch diesen exakten Beweis ge- 





) Auf die hier mitgeteilten Reihen ist von P. Harzer: „Die exakten 
Wissenschaften im alten Japan‘, Rede gehalten zu Kiel am 27. Januar 1905, hin- 
gewiesen worden (p. 33—34). Daselbst werden auch die Quellen, aus denen 
Harzer geschöpft hat, genau angegeben. °) Harzer, a.a. 0., p. 29, Anmerk. 5. 
Vgl. auch T. Hayashi, The values of x by the japanese mathematicians of 
the 17'® and 18'% centuries. Bibliotheca math. 1902, p. 273—275. ?°) M&moires 
de l’Acad. de Paris, 1719, p. 141. *, Ebenda, 1727, p. 124—125. °®) Me- 
moire sur quelques proprietes remarquables des quantites transcendentes circu- 
laires et logarithmiques. Lu en 1767. Histoire de l’Acad. de Berlin 1761 (sic!), 
p- 265—322, und in populärer Darstellung in den Beiträgen zum Gebrauche der 
Mathematik II, p. i40—169. °%) Man sehe über den Wert von Lamberts Be- 
weis: A. Pringsheim, „Über die ersten Beweise der Irrationalität von e und x“; 
Sitzungsberichte der math.-phys. Klasse der k. bayr. Akad. der Wissensch. 1898, 
XXVLUIL, Heft 2, p. 325—337. Hierzu sei noch bemerkt, daß Lambert in seiner 
Erkenntnis noch weiter ging, indem er in einem Briefe an Holland (Lamberts 
deutscher gelehrter Briefwechsel, herausgegeben von J. Bernoulli, I, p. 254) 
sagt: „Die Art, wie ich dies bewiesen habe, läßt sich so weit ausdehnen, daß 
zirkuläre und logarithmische Größen nicht Wurzeln von rationalen Gleichungen 
sein können“. 


448. Abschnitt XXI. 


tan hatte, nicht erkannt zu haben, sonst hätte nicht selbst Euler 
noch 1771 seine ziemlich unfruchtbaren Spekulationen über die Mög- 
lichkeit oder Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises, die er bereits 
in der Introductio!) an die Lösung transzendenter Gleichungen, wie 
s= 088, s—sin2s usw. angeknüpft hatte, wiederholen können’). 
Der ganze Charakter von Lamberts auf absolute Exaktheit zielender 
Beweisführung steht eben so ganz außerhalb der fast nur auf for- 
male Erweiterung der Mathematik hinzielenden Tätigkeit seiner Zeit- 
genossen, daß eine Nichtbeachtung derselben wohl verstanden 
werden kann. 

Haben wir uns mit der Besprechung der Methoden zur Berech- 
nung der Zahl x bereits einen Übergriff in das Gebiet der Analysis 
erlaubt, so müssen wir auch noch in kurzem der übrigen Errungen- 
schaften auf diesem Gebiete gedenken, die mit den trigonometrischen 
Funktionen in Zusammenhang stehen. Wir erinnern uns (III?, S. 716 
bis 717), daß Euler schon in der Introductio 1748 und noch früher 
(1743)°?) die Summe einer endlichen Zahl von Sinus oder Kosinus, 
deren Argumente in arithmetischer Progression fortschreiten, auf nicht 
einwandsfreie Weise gewann, indem er sich divergenter unendlicher 
Reihen bediente. Die einfachen und stichhaltigen Ableitungen, deren 
wir uns heute noch bedienen, haben erst Klügel?), Cagnoli’) und 
später wieder Francesco Pezzi°) (f 1813), Ingenieur und Professor 
der Mathematik an der Universität Genua, gegeben, und Cagnoli 
hat auch noch die Summen der n‘“® Potenzen der Sinus und Kosinus 
solcher Winkel berechnet, nachdem schon 1748 Gregorio Fontana 
(1735—1803), der Nachfolger Boscovichs an der Universität Pavia 
war, eine Ableitung dieser Summen mit Hilfe des Imaginären mit- 
geteilt hatte‘), Aber auch diese Gelehrten glaubten noch alle die 
Reihen ohne Rücksicht auf Konvergenz oder Divergenz ins Unend- 
liche fortsetzen zu dürfen. 

Auch für die längst bekannten Formeln, welche den Sinus und 
den Kosinus ganzzahliger Vielfachen eines Winkels durch die Potenzen 
der Sinus und Kosinus oder einer dieser Funktionen allein ausdrücken, 
haben Klügel®), Cagnoli?) und andere neue Ableitungen gegeben, 





1) B, H, Kap. 22. °) Considerationes ceyclometricae. Novi Commentarii Acad. 

Petrop. XVI, p. 160ff. °) Miscellanea Berolinensia VII, p. 129. *) Analytische 
Trigonometrie 1770, p. 39—43. °) Trigonometria, 2. Aufl., p. 117—118. 
6% Memorie della Societä Italiana XI, 1803, p. 21f. ”) Ebenda, II, 1784, 
p. 424 ff. °) Analytische Trigonometrie 1770, p. 46—65. °) Cose trigonometriche, 
Memorie della Societä Italiana VII, 1794 und Trigonometria, p. 104—108, wo- 
selbst übrigens wieder kritiklos unendliche Reihen benutzt werden. In demselben 
Kapitel IX werden auch die umgekehrten Formeln für sin «” und cos x” mittels 
des Imaginären abgeleitet. 


Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 449 


von denen die des Irländers John Brinkley (1797)!) die vollständigste 
ist, da derselbe das Koeffizientengesetz mittels des Schlusses von n 
auf n + 1 bewies. 

Für ein ganzzahliges gerades oder ungerades » liefern diese 
Entwicklungen bekanntlich direkt die Teilungsgleichungen der tri- 
gonometrischen Funktionen. Nun wußte man schon seit Wallis, daß 
im ersteren Falle 2», im letzteren » Wurzeln vorhanden sind, auch 
hatten bereits Euler 1748 (vgl. III?, S. 716) und noch viel ein- 
gehender Kästner 1756?) Untersuchungen über Zeichen und Gruppie- 
rung dieser Wurzeln angestellt, dennoch glaubte D’Alembert 1763 
noch einmal auf diese Fragen zurückkommen zu müssen?) und 
Klügel, Karsten und andere folgten ıhm nach. Der erstere der 
beiden zuletztgenannten Männer schloß an seine Überlegungen auch 
die Produktdarstellung von sinnz und cosnz für ein ganzzahliges n 
an und fügte‘) noch eine stichhaltige Ableitung des Satzes von 
Cotes bei, die als eine Erweiterung und Vereinfachung des schon 
von Johann Bernoulli mitgeteilten Beweises?) angesehen werden muß. 

Was die Ableitung der Potenzreihen für sinz, cosz, tgz anlangt, 
so wurde gewöhnlich die uns schon aus Ill? S. 708 bekannte Methode 
Eulers angewendet, oder man bestimmte in der mit unbestimmten 
Koeffizienten angenommenen Reihenform die Koeffizienten mit Diffe- 
rentialrechnung; L’Huilier‘), der so elementar als möglich verfahren 
wollte, verwendet hierzu die Differenzenrechnung. Eine elementare 
Ableitung gab auch 17987) Jakob de Gelder (1765—1848), Pro- 
fessor in Leyden. In umfassendster Weise aber hat den analytischen 
Teil der Trigonometrie Pietro Ferroni mit Hilfe des Infinitesimal- 





') Transactions of the R. Irish Academy VII, 1800, p. 27ff. Brinkley er- 
wähnt hier, daß Waring in seinen Curvarum algebraicarum proprietates, 1772, 
Theor. 26 für ein ungerades n mit seinem Satze über die Potenzsummen zuerst 
einen exakten Beweis gegeben habe, daß diese Methode aber für ein gerades n 
versage. ?) Unde plures insint radices aequationibus seetiones angu- 
lares definientibus, Dissertatio 1756, Altdorfii 1771. Über die algebraische Auf- 
lösbarkeit der einen speziellen Fall bildenden Kreisteilungsgleichungen sah man 
damals noch sehr unklar; so sagt Mosdorff, Acta Erud. 1751, man werde wohl 
kaum jemals dazu kommen, zu untersuchen, wann sich diese Gleichungen alge- 
braisch lösen lassen, und Klügel betont ebenfalls a. a. O., p. 66, daß die tri- 
gonometrischen Tafeln die Auflösung der Teilungsgleichungen geben, welche 
die Algebra bis jetzt nicht allgemein geben kann. °) Opuscules V, p. 222—227. 
*, Analytische Trigonometrie, Kap. 4, Nr. XXXL >) Opera IV, p. 67. ®%P.T. 
1796, p. 142 und Prineipiorum calculi differentialis et integralis expositio ele- 
mentaris. Tubingae 1795, 4°, Kap. 3. '?), Over de reeksen, dienende om de 
rapporten van de cirkelbogen tot derzelver sinussen etc. zoonder behulp der 
differentiaal- och integraal-rekening afteleiden. Verhandelingen van het Genot- 
schap te Rotterdam XII, 1798. 


450 Abschnitt XXIL. 


kalküls in seinem großen Werke „Magnitudinum exponentialium 
logarithmorum et trigonometriae sublimis theoria nova miethodo per- 
traeta“. Florenz 1782, 49,1) behandelt. Der Autor hat gehalten, was 
er im Titel seines Werkes versprochen, indem er eine vollständige ° 
Theorie der Exponential- und trigonometrischen Größen entwickelte, 
wobei er die entsprechenden Formeln für Kreis- und Hyperbelfunk- 
tionen stets nebeneinander stellte. 

Die Reihendarstellungen der ersteren erhielt er von der Reihe 
für 2’” ausgehend, wo er zunächst dem z einen ganz beliebigen Wert 
erteilte und dann z2=e oder = setzte, wie er die Basis des natür- 
lichen Logarithmensystems bezeichnete. Dadurch erhielt er die seit 
Euler bekannten Darstellungen des Sinus und Kosinus durch die 
Exponentialfunktion und die Fundamentalformel e’ = cos£e +isinzg 


die ihn für sinz=»v, cos = Y1-— v? zur Gleichung 


wi = log(iv+ Vl1— vM) 


führte. Indem er dann für die Wurzel die binomische Reihe einführte 
und den Logarithmus durch die bekannte Reihenentwicklung ersetzte, 
gewann er auch die Reihe für aresinv. Bei Ableitung dieser Reihe, deren 
Koeffizientengesetz übrigens nicht bewiesen wird, findet sich auch 
der Versuch, die Konvergenz mittels des Quotienten zweier aufein- 
ander folgender allgemeiner Glieder zu bestimmen, ein Beweis dafür, 
daß am Ende des 18. Jahrhunderts die Erkenntnis der Notwendigkeit, 
die Bahn rein formaler Entwicklungen zu verlassen, sich allmählich 
einstellte. 





») Kap. 5—8. 





ABSCHNITT XXIV 


ANALYTISCHE GEOMETRIE 
DER EBENE UND DES RAUMES 


VON 


V. KOMMERELL 


“CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 30 





sesammor V 





Allgemeines. Kegelschnitte. 


Nach dem glänzenden Aufschwung, den die analytische Geometrie 
der Ebene durch die Erfindung des mächtigen Hilfsmittels der In- 
finitesimalrechnung, durch die Arbeiten eines Newton, Maclaurin, 
de Gua, Clairaut, Euler u. a. genommen hatte, kann man unseren 
Zeitraum, die letzten 40 Jahre des 18. Jahrhunderts, als eine Periode 
verhältnismäßigen Stillstands bezeichnen; neue Gedanken und Methoden 
von großer Tragweite, die auf das ganze Gebiet befruchtend einwirken, 
treten kaum auf!); die Tätigkeit der Mathematiker erstreckt sich mehr 
auf Spezialuntersuchungen. Dagegen wuchs die analytische Geometrie 
des Raumes, die bis dahin nur schwache Ansätze gezeigt hatte, zu 
einem stattlichen Baum empor, als dessen Krone Monges geniales 
Werk: „Feuilles d’analyse appliquee ä la geometrie“ gelten kann. 

Was die Behandlungsweise der Probleme in unserem Zeit- 
raum betrifft, so ist besonders bemerkenswert das Hervortreten des 
Gegensatzes zwischen analytischer und synthetischer Methode, 
von denen die letztere im allgemeinen mehr in England und Italien, 
die erstere in Deutschland und Frankreich gepflegt wurde. Es handelt 
sich dabei nicht bloß um den Unterschied zwischen rechnerischem 
und konstruktivem Verfahren, sondern unter analytischer Methode wird 
vielfach eine Behandlungsweise verstanden, die man heute vielleicht 
eher als „heuristisch“ oder „genetisch“ bezeichnen würde, eine solche 
nämlich, die den Gedankengang des Verfassers, die Überlegungen, 
durch welche er seine Resultate gefunden hat, klar erkennen läßt ?), 
während der Synthetiker seine Sätze fertig mitteilt, und im Beweis 
seinen eigenen Weg eher zu verdecken, als darzulegen sucht. Ver- 
schiedene namhafte Mathematiker haben sich über diesen Gegenstand 
ausgesprochen. Der Zeit nach steht voran eine aus dem Jahre 1759 
stammende Vorrede Kästners zu dem kleinen Buch von Hube: 


‘) Es wäre denn, daß man die Anfänge der Theorie der elliptischen Inte- 
grale und Funktionen hierher rechnen wollte, die allerdings von analytisch-geo- 
metrischen Untersuchungen über die Rektifikation der Kegelschnitte ausgegangen 
sind, aber doch eigentlich in Abschnitt XXVI gehören. 2) Als geradezu 
klassische Beispiele hierfür sind die Arbeiten Eulers anzuführen.: 

30* 


454 Abschnitt XXIV. 


„Versuch einer analytischen Abhandlung von den Kegelschnitten“ 
(Göttingen 1759), das auf Kästners Veranlassung verfaßt wurde. 
Dieser führt hier über die Vorzüge der analytischen Behandlung etwa 
folgendes aus: Sie ermöglicht dem „Lehrling“ eine selbständige 
Lösung von Aufgaben, während er bei der synthetischen Methode, 
die ihm nur die Sätze und Beweise fertig mitteilt, stets auf die Lippen 
des Lehrers sehen muß. „Das größte Vergnügen aber, das wir kennen, 
ist die Wahrheit durch uns selbst zu finden.“ Ein weiterer Vorteil 
ist die größere Allgemeinheit und Sicherheit der Ergebnisse, wogegen 
sie allerdings etwas an „Schönheit“ (wir würden heute vielleicht sagen: 
an Eleganz) verliert. Kästner macht hierzu die originelle, man 
möchte fast sagen, etwas philisterhafte Bemerkung: „Würde es wohl 
ein Fehler sein, wenn der Mathematikverständige, wie Männer, die 
ökonomisch denken, bei gleicher Jugend weniger Schönheit mit mehr 
Reichtum wählet“. Als Vorzug des synthetischen Verfahrens wird 
anerkannt, daß es eine vorzügliche Denkübung ist, weil hier stets 
mit den Begriffen selbst operiert wird; dementsprechend wird vor, 
einer rein mechanischen, gedankenlosen Anwendung der Buchstaben- 
rechnung gewarnt, im übrigen aber der Vorwurf zurückgewiesen, daß 
das analytische Verfahren rein mechanisch sei. Vielmehr, sagt 
Kästner, überhebt es uns bloß einer beträchtlichen Denkarbeit; denn 
nachdem einmal die Aufgabe in die Sprache der Analysis übersetzt 
ist, läßt sich das Resultat mit einfachen, und zwar immer mit den- 
selben Hilfsmitteln finden. Wer also diese besitzt, ist befähigt, eine 
Menge von Kenntnissen zu erlangen. „Der Analyst“, schließt er, 
„gleicht einem Manne, der viel Geld hat, und dafür allemal die Güter 
haben kann, die er verlangt, und insofern sie für Geld feil sind.“ — 
Den entgegengesetzten Standpunkt vertritt Malfatti in der Einleitung 
zu seiner Schrift: „Della curva Cassiniana“ (Pavia 1781); er verkennt 
zwar die Vorzüge der Analysis durchaus nicht, gibt aber doch der 
Synthese den Vorzug wegen ihrer größeren Eleganz, und weil sie 
den Geist zwingt, mit steter Aufmerksamkeit bei der Aufgabe zu 
- bleiben, Hilfssätze zu suchen, die zum Hauptsatz in Beziehung stehen, 
und so allmählich das Ziel zu erreichen. Auch Malfatti sucht die 
Sache durch ein hübsches Bild zu veranschaulichen. Er vergleicht 
den Synthetiker mit einem Reisenden, der nur überhaupt ans Ziel 
kommen will, dabei aber oft an Ruhepunkten Halt macht, um alles 
Schöne zu genießen, das sich ihm bietet; diese Ruhepunkte würden 
den Neben- und Zwischenresultaten im Beweis entsprechen, von denen 
aus sich ein Ausblick auf weitere Beziehungen eröffnet. Der Ana- 
lytiker dagegen, sagt er, gleicht einem Reisenden, der sich in einen 
Wagen einschließt, und sich durch dessen Mechanismus (der also dem 


Allgemeines. Kegelschnitte. 455 


Mechanismus der Rechnungen verglichen wird) ans Ziel führen läßt. 
„Er kommt vielleicht früher ans Ziel, aber er hat weniger gesehen.“ 
— Eine besondere, eingehende und geistvolle Untersuchung hat 
Klügel dieser Frage gewidmet mit einer kleinen Schrift: „De ratione 
quam inter. se habent in demonstrationibus mathematicis methodus 
synthetica et analytica“. Helmstädt 1767. Es wird darin zunächst 
der Unterschied zwischen synthetischer und analytischer Methode 
klar und scharf angegeben, der nicht sowohl darin besteht, ob Kon- 
struktion oder Rechnung benutzt wird, sondern „ex interiore veritatum 
natura, et ratione quam in eruendis illis et deducendis sequuntur, 
petendum est“. Als charakteristisch für die synthetische wird an- 
‚gegeben, daß sie „die Quelle der Erfindung verdecke“ und die etwas 
malitiöse Bemerkung beigefügt, die Synthetiker (die Engländer, unter 
anderen Newton und Maclaurin werden genannt) tun dies, „um 
aus der Schwierigkeit der Beweise eine größere Berühmtheit ihres 
Geistes zu erlangen“; als weiterer Grund wird indes noch angegeben, 
daß sie „diese Methode allein als der Geometrie und der Mathematik 
überhaupt würdig, und der größten Strenge fähig ansehen“. Es wird 
dann weiter ausgeführt, daß bei der synthetischen Methode jeder Satz 
für sich aufgestellt und bewiesen werde; daher komme es, daß die 
Geometrie manchem „horrida et sterilis“ erscheine, daran schließt sich 
die ganz richtige Bemerkung, daß die Evidenz der geometrischen Be- 
weise dazu verleite, diese Methode auf andere Wissensgebiete zu über- 
tragen, für die sie nicht passe. Die synthetische Methode sei auch 
zur Entdeckung neuer Wahrheiten weniger geeignet, außer in den 
Händen des Genies, was auch Kästner in der erwähnten Vorrede 
einmal sagt. Ferner wird hervorgehoben, daß die synthetische Methode 
immer nur Einzelfälle ins Auge fassen und jeden für sich beweisen 
müsse, während die analytische Formel einer vollständigen Allgemein- 
heit sich erfreue. Ein Beispiel für die Richtigkeit dieses letzteren 
Satzes bietet die synthetische Untersuchung der Kegelschnitte, wo 
jede der drei Kurven für sich betrachtet wird, während bei der ana- 
lytischen Behandlung in der Regel ein. Zeichenwechsel genügt, um 
einen für die Ellipse gefundenen Satz auf die Hyperbel zu übertragen 
Demgegenüber werden die Vorzüge der Analysis entwickelt, wobei 
noch ein Gedanke ausgesprochen wird, den wir nicht unerwähnt 
lassen wollen, nämlich: „Wenn uns jemals die Fähigkeit gegeben 
werden könnte, die Wirkung jeder Ursache mit ihren Folgen für alle 
übrigen für sich zu betrachten und mathematisch zu formulieren, so 
würde die ganze Natur, soweit sie meßbar ist („quanta quanta est“), 
in einem einzigen, aber gewaltigen analytischen Problem bestehen“. 
Es ist hier offenbar die Idee, die der sogenannten Laplaceschen 


456 Abschnitt XXIV. 


„Weltformel“!) zugrunde liegt, vollständig klar ausge- 
sprochen. — Der synthetischen Methode wird eingeräumt, daß sie 
bei Lagebeziehungen den Vorzug verdiene, ferner zugegeben, daß 
eine einseitige Benutzung der Analysis ein Nachlassen der Schärfe 
des geometrischen Geistes bewirke, was sich bei den Franzosen be- 
merkbar mache. Den Schluß bildet der gewiß richtige Satz: „Es 
scheint, als ob ohne Schaden öfter, als es geschieht, wenn die Arbeit 
des Rechnens und Beweisens getan ist, einige kurze, philosophische 
Bemerkungen über den Ursprung und Zusammenhang der Wahrheiten, 
und den Weg, auf welchem man zu ihnen gelangt ist, beigefügt werden 
könnten“. 

Die Opposition gegen die einseitige Anwendung der synthetischen 
Methode wird begreiflich, wenn man bedenkt, welche Schwierigkeiten 
ein derart geschriebenes Werk dem Verständnis bereitet. Speziell in 
England scheint sich diese Vorliebe für eine schwer verständliche 
Ausdrucksweise in einzelnen Fällen beinahe zum Spleen gesteigert zu 
haben, wenigstens kommt man auf diesen Gedanken, wenn man Sätze, 
wie den folgenden liest?): „A conice hyperbola being given, a point 
may be found, such that if from it there be drawn straight lines to 
all intersections of the given curve, with an infinite number of para- 
bolas, or hyperbolas, of any given order whatever, lying between 
straight lines, of which one passes through a given point, and the 
other may be found, the straight lines so drawn, from the point 
found, shall be tangents to the parabolas or hyperbolas“. — Man wird 
darin nicht so leicht den einfachen Satz wiedererkennen: Zieht man 
von einem gegebenen Punkt an alle Kurven der Schar y= px” (wo 
p ein variabler Parameter, n eine Konstante ist) die Tangenten, so 
liegen die Berührpunkte auf einer Hyperbel. 

Der zu Anfang erwähnte Charakter unserer Epoche als eines 
gewissen Ruhestadiums in der Entwicklung zeigt sich auch darin, 
daß in größerer Anzahl Werke veröffentlicht werden, die nicht sowohl 
der Bekanntmachung neuer Ergebnisse dienen, sondern sich die Auf- 
gabe stellen, systematisch zusammenzufassen und zu ordnen, 
was die Forschung im Laufe der Zeit ergeben hatte, also Lehrbücher 
über größere Gebiete der Mathematik. Dahin gehört Kästners 
ausführliches Werk: „Anfangsgründe der Mathematik“, von dem 
die 1. Auflage 1758, die 2. 1770 erschien, und das in etwas breiter 





!) Essai philosophique sur les Probabilites. Seconde &dition (1814), p. 2f. 
Vgl. Dubois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, 1872, wo auch 
in Anm. 5 auf eine Stelle ähnlichen Inhalts bei Leibniz aufmerksam gemacht 
ist. ?) Brougham, General Theorems, chiefly Porisms, in the higher Geo- 


metry. Phil. Trans. Vol. 88 (1798), p. 378—396. 


Allgemeines. Kegelschnitte. 457 


Darstellung auch das Wichtigste aus unserem Gebiet bringt. Es 
kommen in Betracht aus der ersten Hälfte des 3. Teiles die $$ 322 
bis 623, in denen zunächst die Gerade ($$ 340—348), die Kegel- 
schnitte (88 349—466) und einige höheren Kurven (Cissoide, Konchoide, 
88 467—496) behandelt werden, wie auch Fragen allgemeinerer Natur: 
Anzahl der Schnittpunkte einer Kurve mit einer Geraden, Anzahl der 
zur Bestimmung einer Kurve notwendigen Punkte, Zeichnung von 
Kurven, die durch ihre Gleichung gegeben sind. Daran schließen 
sich (88 514-611) die Grundzüge der analytischen (Geometrie des 
Raumes, beginnend mit der Frage: „Wie die Natur der Flächen, 
welche Körper begrenzen, durch Gleichungen ausgedrückt werde“ 
(88 514—519). Der Ausdruck ist bezeichnend für die Betrachtungs- 
weise der Flächen in dieser Zeit, insofern diese fast immer als Be- 
grenzung von Körpern erscheinen, nicht von diesen losgelöst als 
gewissermaßen selbständige Gebilde, eine Anschauung, die erst seit 
Gauß allgemein geworden zu sein scheint. Betrachtet werden nament- 
lich Kegelflächen („deren Gleichungen gleichartige sind“, 88 529— 544), 
sodann „runde Körper“ (d. h. Rotationsflächen im heutigen Sprach- 
gebrauch, 8$ 545—548), deren allgemeine Gleichung aufgestellt wird 
(= 2? +9, Z=f(e)), mit der Bemerkung, sie stelle einen „Körper“ 
dar; ferner Schnitt einer Fläche mit einer beliebigen Ebene ($$ 549 
bis 570), die stets durch ihre Spur in der xy-Ebene und ihre 
Neigung gegen diese gegeben gedacht wird. Das Verfahren wird 
dann auf den Rotationskegel angewendet und die hier auftretenden 
Möglichkeiten diskutiert. Den Schluß dieses Abschnitts bildet die 
Betrachtung einiger „transzendentischen, krummen Linien“ (Spiralen, 
Zykloiden, 88 571—623), von denen gesagt wird, daß ihre Ordnung 
„unendlich“ sei. 

Die zweite Hälfte des dritten Teiles ist der Anwendung der 
Infinitesimalrechnung auf die Geometrie gewidmet, sowohl in recht- 
winkligen, als in Polarkoordinaten; bei den letzteren wird an Stelle 
des Winkels der Bogen eines Kreises von gegebenem Radius benutzt. 
Dieser Teil enthält: Tangente und Normale ($$ 63—-107), Asymptote 
(s$ 108—119), Wendepunkte ($$ 112, 532—537), Quadratur ($$ 205 
bis 212), Rektifikation ($S$ 266— 272), Krümmungskreis ($$ 538—556), 
Evolute und Evolvente ($$ 563--577), alles für ebene Kurven. Den 
Schluß bilden Betrachtungen über Kurven, die ihren Evoluten ähn- 
lich sind ($$ 578—592), Kubaturen und Komplanationen usw. ($ 609 
bis Schluß). 

Vollständig, klar und eingehend findet sich die Anwendung der 
Analysis auf die Geometrie dargestellt in dem zweibändigen Werk: 
„Institutiones analyticae a Vincentio Rieeato et Hieronymo Saladino“ 


458 Abschnitt XXIV. 


(Bologna 1765), (Girolamo Saladini, 1731—1813, Professor der 
Mathematik in Bologna) für das namentlich die glückliche Verbin- 
dung von analytischer und geometrischer Betrachtungsweise charak- 
teristisch ist. Der erste Band bringt zunächst eine historische Ein- 
leitung, sodann im ersten Buch („De algorithmo et de aequationibus 
primi et secundi gradus“) die Definition der Koordinaten und das 
Wichtigste über die Gerade; im zweiten Buch („De lineis seu loeis 
secundi gradus et de aequationibus tertii gradus, et quarti“) werden 
die drei Kegelschnitte nacheinander behandelt und ihre Haupteigen- 
schaften zusammengestellt; besonders wird auf die Verwendung der 
Schnittpunkte zweier Kegelschnitte zur graphischen Darstellung der 
Wurzeln von Gleichungen 3. und 4. Grades eingegangen. — Das 
dritte Buch (,De locis tertii et superiorum graduum et de aequatio- 
nibus excedentibus gradum quartum“) beschäftigt sich mit Kurven 
höherer Ordnung, ihren Berührungen (zwei- und mehrpunktig), 
Asymptoten, singulären Punkten, oskulierenden Parabeln und dergl.; 
auch der Verzeichnung einer Kurve auf Grund ihrer Gleichung ist 
ein Kapitel gewidmet (Kap. 10), das allerdings nur die Fälle behandelt, 
wo die Gleichung nach einer der Variablen auflösbar ist, und für 
alle anderen Fälle bemerkt: „nulla suppetit methodus cognoscendi, qua 
figura praedita sit curva in finito spatio“. Auch hier ist (Kap. 11) 
von der Verwendung von Kurven zur Darstellung von Gleichungs- 
wurzeln die Rede, wobei die richtige Bemerkung fällt, daß es 
sich nicht darum handle, Kurven von möglichst einfacher Gleichung 
zu finden, sondern solche, die möglichst genau, am besten mechanisch, 
gezeichnet werden können. Das 13. Kapitel beschäftigt sich mit 
Kurven von der Eigenschaft, daß zwischen den verschiedenen Ordi- 
naten, welche zur gleichen Abszisse gehören, Beziehungen bestehen; 
ist z. B. deren Summe konstant, so muß der Koeffizient des zweit- 
höchsten Gliedes in y konstant sein, u. ä. 

Der zweite Band, dem ebenfalls eine historische Einleitung voran- 
geht, bringt eine erschöpfende Darstellung der Infinitesimalrechnung 
und ihrer Anwendung auf die Geometrie. Aus dem 1. Buch, betitelt: 
„De quantitatibus infinitesimis et de integratione formularum, quae 
unam tantum variabilem continent“, kommen für unser Gebiet haupt- 
sächlich in Betracht: die Quadratur (Kap. 5) und Rektifikation 
(Kap. 11) der Kurven; die Komplanation der Rotationsflächen, und 
Kubatur der Rotationskörper. | 

Das 2. Buch: „De methodo tangentium directa et imversa, de 
separatione indeterminatarum et de constructione earum aequationum, 
in quibus indeterminatae separari non possunt“, beginnt mit der Be- 
stimmung der Tangente, Normale, Subtangente und Subnormale ebener 


Allgemeines. Kegelschnitte. 459 


Kurven, und bringt im Anschluß daran die Theorie der Maxima und 
Minima mit Anwendungen, des weiteren die Lehre von der Integration 
der Differentialgleichungen nach dem damaligen Stand der Wissen- 
schaft („Methodus tangentium inversa“ im Sprachgebrauch jener Zeit). 
Hier ist auch die im Bd. III, S. 786 erwähnte Abhandlung V. Ric- 
catis: „De usu motus traetorii in constructione aequationum differen- 
tialium SEREREENE (1752) in ihrem wesentlichen Inhalte angegeben 
(Kap. 14 und 15). 

Das 3. Buch handelt De caleulo et usu bertähehrin diffe- 
rentialium altiorum graduum, also von Differentialen höherer Ordnung, 
und verbreitet sich zunächst über Integrationsmethoden für Differential- 
gleichungen höherer Ordnungen. Kap. 11 bringt eine nieht uninter- 
essante Herleitung des Ausdrucks für den Krümmungsradius og durch 
folgende einfache differential-geometrische Betrachtungen: Ist MN 
ein Kurvenbogen, der unendlich klein von der ersten Ordnung .ist, 
und errichtet man in M und N die Normalen, die sich in Ü’ schneiden, 
so ist die Differenz COM — CN unendlich klein von der dritten Ord- 
nung. Daraus wird geschlossen, daß die Krümmung der Kurve mit 
der des Kreises übereinstimmt, der um U mit Radius ÜM be- 
schrieben wird; für OM wird dann, ebenfalls geometrisch, die 
Formel hergeleitet: 

ds? 


dyd’x — daxd’y u 





Auf die Besprechung der Evoluten folgt die Ableitung des Ausdrucks 
für den Krümmungsradius in Polarkoordinaten, dann verschiedene 
Beispiele. Das 12. Kapitel ist den von Joh. Bernoulli untersuchten 
kaustischen Linien gewidmet. Kap. 13 und 14 enthalten Anwendungen 
und einige Problemata inversa, das 15. handelt von singulären 
Punkten, unter welchen jedoch nur Wende- und Rückkehrpunkte ver- 
standen sind (also nicht Doppelpunkte). Außerdem werden hier 
einige Bemerkungen darüber gemacht, inwieweit eine Kurve durch 
geradlinige Elemente ersetzt gedacht werden darf. Das 16. Kapitel 
ist überschrieben: De trajeetoriis. Hierbei werden unter „Trajektorien“ 
einer Kurvenschar ganz allgemein Kurven verstanden, quarum con- 
structio peragitur per quantitatem quam sectio curvarum determinat; 
d. h. also Kurven, die nach irgend einem Gesetz von Schnitten der 
gegebenen Kurvenschar abhängen, ein Begriff, der sonst nicht üblich 
zu sein scheint!). Ein Beispiel (das 4. des Kapitels) mag erläutern, 
um was es sich handelt. Die gegebene Kurvenschar werde gebildet 





") Vgl. Klügel, Mathematisches Wörterbuch, V, S. 92. 


460 Abschnitt XXIV. 


von konzentrischen Kreisen, die von einer Sekante und einem zu ihr 
parallelen Durchmesser geschnitten werden. Ein zweiter Durchmesser 
stehe auf dem ersten senkrecht und schneide (Fig. 27) einen Kreis 
der Schar in A. Trägt man dann auf der Tangente des 
Punktes A ein Stück AC gleich dem 

Hear Bogen BD des Kreises zwischen der 
Sekante und dem ihr parallelen Durch- 

Ic messer ab, und wiederholt diese Kon- 
struktion für jeden Kreis der Schar, so 
A bildet der geometrische Ort der Punkte 














a C eine „Trajektorie“ der Kreisschar in 
diesem Sinn. In der zweiten Hälfte des 
Kapitels werden Trajektorien im üblichen 
Sinn (rechtwinklige und schiefwinklige) 
a behandelt, sowie die sogenannten „rezi- 


proken“ Trajektorien, von welch letzteren 
Klügel!) mit Recht sagt, daß in den Lehrbüchern sehr wenig dar- 
über zu finden sei. Da auch Euler?) sich mit diesen Kurven be- 
schäftigt hat, so sei ihre Definition hier kurz angegeben. Eine rezi- 
proke Trajektorie hat folgende Eigenschaft: wird sie um eine 
in ihrer Ebene liegende Achse umgeklappt, und dann längs dieser 
Achse parallel verschoben, so schneidet die umgeklappte Kurve die 
ursprüngliche überall unter demselben Winkel. Ist dies nicht bloß 
für eine bestimmte Achse, sondern auch für jede Parallele dazu der 
Fall, so heißt die Kurve nach Joh. Bernoulli?) „Pantagonia“; auch 
diese wird besprochen. Den Schluß (Kap. 17 und 18) bildet ein Aus- 
zug aus Eulers „Methodus inveniendi“. 

In Karstens großem Werk: „Lehrbegriff der gesammten Mathe- 
matik“ kommt für unser Gebiet nur der VII. Teil, „Perspektive“ 
(1775) in Betracht, der in systematischer und eingehender Weise die 
Kegelschnitte als Zentralprojektionen des Kreises behandelt, und da- 
her bei der projektiven Geometrie in Abschnitt XXV näher besprochen 
werden wird. 

Auch bei Bossut, „Traites de caleul differentiel et de caleul inte- 
gral“ (Paris 1798) sind verschiedene Kapitel des I. Bandes der An- 
wendung der Analysis auf die Geometrie gewidmet, Kap. 2 gibt eine 
kurze Übersicht über die analytische Geometrie: ebene Kurven (bei 
denen die „courbes geometriques ou algebriques“ von den „courbes meca- 
niques“ unterschieden werden), krumme Flächen, Raumkurven. Kap. 3 
enthält die Tangente und Normale ebener Kurven in rechtwinkligen 





ı) Klügel, Mathematisches Wörterbuch, V, 8. 136. 2) 8. u. 8. 509. 
®) Opera, T. II, p. 600 (nach Klügel). 


Allgemeines. Kegelschnitte. 461 


und Polarkoordinaten, Kap. 5 und 6 die Bestimmung der Maxima 
und Minima, Kap. 7 Wende- und Rückkehrpunkte, Kap. 8 Krümmungs- 
radius, Kap. 9 Krümmung der Flächen mit Hinweis auf Eulers 
„Mömoire sur la courbure des surfaces“ (s. p. 545 ff.). Aus der Inte- 
gralrechnung ist hauptsächlich der Bericht über die Arbeiten von 
Fagnano, Euler u.a. über die Rektifikation der Kegelschnitte zu er- 
wähnen. 

Endlich gibt Vega in seinen für das K. K. Artilleriekorps be- 
stimmten „Vorlesungen über Mathematik“ (1786—1802) im II. Band, 
6. Hauptstück, 1. Abschnitt, $$ 620—625 das Wichtigste aus der 
Kurvenlehre und Anwendung der Infinitesimalrechnung auf ebene 
Kurven, und im 2. Abschnitt, 88 630—674 eine Darstellung der Kegel- 
schnitte. Bemerkenswert ist, daß diese hier durch ihre Fokaleigen- 
schaften definiert werden, die sonst in den einschlägigen Werken 
dieser Zeit nicht besonders hervortreten. Im ganzen Werke steht, 
seinem Zweck entsprechend, die praktische Anwendung im Vorder- 
grund. 

Gehen wir nun zur Darstellung der Fortschritte über, die auf 
den verschiedenen Gebieten der analytischen Geometrie in den Jahren 
1759—1799 gemacht worden sind, so hat die wissenschaftliche 
Forschung in bezug auf die Kegelschnitte nicht gerade viel Neues 
von Bedeutung produziert. Auch die Behandlungsweise schließt sich 
meist an die von Euler (Introductio Il, Kap. 5) gegebene an; als 
Fundamentalsätze erscheinen gewöhnlich die auch von Euler als 
solche bezeichneten (vgl. III?, S. 779/780), nämlich: 1) daß der Ort 
der Mittelpunkte paralleler Sehnen eine Gerade ist, und 2) der Satz 
von den Abschnitten paralleler Sehnenpaare: Wird ein Kegelschnitt 
von zwei Paaren paralleler Sehnen 
geschnitten, so ist (s. Fig. 28): 

4,0,:B,0, _ 4,0,:B,0, 

C, 0, D, 0, "7 0,0, D,0, ’ 
gleichgültig, ob die Durchschnitts- 
punkte O0, und O0, innerhalb oder 
außerhalb des Kegelschnitts liegen. 
Diese beiden Sätze bilden in der 
Regel den Ausgangspunkt, von dem 
aus die weiteren bekannten Eigen- 
schaften der Kegelschnitte abgeleitet 
werden. Gleich am Anfang unserer 
Periode stehen zwei Werke, die für den oben erwähnten Gegensatz 
zwischen synthetischer und analytischer Behandlungsweise charak- 
teristisch sind. Das eine ist: Hamilton: „Treatise of conie sections“ 








462 Abschnitt XXIV. 


(1758) (Hugh Hamilton, 1729—1805, war eigentlich Theologe, 
starb als Bischof von Ossory), das andere das $. 454 genannte 
kleine Buch von Hube. Hamiltons Werk ist ganz in streng 
euklidischer Form abgefaßt, und vermeidet auch in Äußerlichkeiten 
peinlich alles, was nur von ferne an algebraische Behandlung erinnern 
könnte, sogar das Gleichheitszeichen, das durch die Wendung „is equal 
to“ ersetzt wird; das Produkt zweier in einem Endpunkt A zusammen- 
stoßenden Strecken AB und AC heißt „the rectangle under BAC“ 
usw. Angenehm für die historische Betrachtungsweise ist, daß der 
Autor die von ihm neugefundenen Sätze als solche bezeichnet. — 
Der Grundgedanke des ganzen Werkes ist, die Eigenschaften der 
Kegelschnitte aus denen des Kegels abzuleiten, der hier, wie über- 
haupt meist in der damaligen Zeit, als schiefer Kreiskegel definiert 
ist!). Die streng synthetische Darstellung nötigt den Verfasser, seine 
Sätze meist für jeden der drei Kegelschnitte besonders zu formulieren 
und zu beweisen, wodurch die Schreibweise etwas ins Breite geht, 
und worunter namentlich die Kürze und Klarheit der Formulierung 
leidet. So erscheint z. B. der zweite der oben (8. 461) erwähnten 
Fundamentalsätze (I. Buch, Satz 18) in folgender Form: 

„If two right lines meeting each other be always parallel to 
two right lines given in position; according as they both touch or 
cut, or one of them touches and the other cuts a conice section or 
opposite sections (d. h. die beiden Äste einer Hyperbel); the squares 
of the segments of the tangents, or the rectangels under the seg- 
ments of the secants between the point of concours of the two lines, and 
the section, or sections, will be in a constant ratio to each other, 
wheresoever the point of concours of the right lines be taken.“ 

Das Buch erschöpft seinen Stoff vollständig und ist klar ge- 
schrieben, nur die harmonischen Eigenschaften kommen kurz weg; 
der Autor bemerkt in der Vorrede über De la Hires Methoden (vgl. 
III, S. 120#f.): „this expedient has rather embarrassed the doctrine of 
eonie sections“. Verschiedene Eigenschaften hat der Verfasser neu 
entdeckt; bemerkenswert ist, daß der sogenannte Dandelinsche Satz?) 
schon bei ihm auftritt (II. Buch, Satz 37), allerdings in etwas anderer 
Fassung; er lautet so: „Let @VH (s. Fig. 29) be a right cone, and 
PAR a conie section in its surface, and LNO a cirele which does 
not meet the section: let its distance AL from the vertex (Scheitel) 
of the section be equal to AF, the distance of the same vertex from 
the focus F nearer to this eirele; I say, that the interseetion of the 
plane of this cirele with the plane of the section will be its 





N) Vgl. S. 465. ®) Nouv. M&m. de l’Acad. de Bruxelles 1822, T. II, p. 172. 


Allgemeines. Kegelschnitte. 463 


direetrix, and that PN a side (Mantellinie) of the cone intercepted 
between this eirele and any point P in the section will be equal to 
a right line drawn from the same point to the focus F' nearer to 
this eirele“. 

Der Verfasser sagt, er habe diesen Satz gefunden bei dem Ver- 
such, den Ursprung der Leitlinie, dem Grundgedanken gemäß, aus der 
Natur des Kegels herzuleiten. Der Beweis ist charakteristisch für die 

. ganze Darstellungsweise, und sei daher hier kurz wiedergegeben. 




















Fig. 29. 


E, sei die Ebene des Kegelschnitts, E, die des Kreises, s ihre 
Schnittgerade; Ebene GV H sei senkrecht s und schneide s in D, 
E, nach AB, E, nach LO, so daß AB die große Achse des Kegel- 
schnitts ist; C sei sein Zentrum, durch © sei eine Ebene senkrecht 
zur Kegelachse gelegt, die aus dem Kegel den Kreis MK aus- 
schneidet; dieser treffe den Kegelschnitt in P und R. Durch die 
Spitze V des Kegels sei eine Parallele zu AB gezogen, die die Ebene 
des Grundkreises in $ trifft. Dann ist 

1) zu beweisen, daß s die Direktrix des Kegelschnitts ist. 
Nun ist nach einem vorher bewiesenen Satz vom Kegel: 


AC-BC:MC:.CK=V83:HS-GS, 


aber: 
AC-BC=AC; MC.CK=(P:. 
Durch Einsetzen dieser Werte folgt: 


C4?:CP®=-V9:HS-.@8 


464 Abschnitt XXIV. 


und daraus: 


04?:(CA?— CP?) _ v8: (VS? — HS:G$) 
04°: 0F?=-V9:V@*. 


oder: 


Nun ergibt sich aber durch ähnliche Dreiecke: 
VS:V@G@=(04A:CM; 
also nach der letzten Gleichung: 


AM=CF 


Ferner ıst: 


AM:CA=LA:DA, 
also, dd AM = CF und LA= FA (nach Voraussetzung): 
OF:CA=FA: DA, 


oder auch: 

CF:FA=(4:D4. 
Daraus folgt aber: 

CF:CA=CA:CD. 


Darnach ist aber D der Schnittpunkt der Achse mit der Direktrix 
und da s__ AD ist, so ist s die Direktrix, q. e. d. 

2) ist zu beweisen, daß die Entfernung eines beliebigen 
Punktes des Kegelschnitts vom Brennpunkt F gleich dem 
Stück seiner Mantellinie zwischen dem Kreis LO und dem 
Punkt ist. Als dieser beliebige Punkt wird der schon vorher defi- 
nierte Punkt P benutzt, so daß auch C nicht mehr der Mittelpunkt, 
sondern einfach der Fußpunkt des Lotes von P auf AB ist, was 
aber nicht bemerkt wird; es ist also zu beweisen, daß PF=NP. 
Zu diesem Zweck wird durch P eine Parallele zu AB gezogen, die 
s in E trifft, dann ist PE= (CD. Fermer, da DE Direktrix ist: 


PF;PE= AF: AD. 
Aus dem Proportionallehrsatz folgt: 
ML:CD=LA:DA. 


Da PE=CD und LA= AF ist, ergibt sich aus den beiden letzten 


Proportionen: 
ML=PF, 


und dd ML=PN, so ist: 


PE=NF, 
g. e. d. 


Allgemeines. Kegelschnitte. 465 


Die übrigen vom Verfasser neu gefundenen Sätze sind von ge- 
ringerer Bedeutung. 

Von Hubes Buch (Joh. Michael Hube, 1737— 1807; Professor am 
Kadettenkorps in Warschau) war oben schon die Rede. Der Verfasser 
will, von Kästner veranlaßt, die Eigenschaften der Kegelschnitte auf 
analytischem Weg herleiten und geht demgemäß aus von der allge- 
meinen Gleichung 2. Grades, indem er daraus ähnlich wie Euler 
(vgl. II, a. a. O.) die erwähnten beiden Haupteigenschaften her- 
leitet. Ebenso werden die übrigen, bekannten Eigenschaften der 
Kegelschnitte durch Rechnung entwickelt; man kann indes nicht 
sagen, daß Hubes Schrift der analytischen Methode zu einer beson- 
deren Empfehlung gereichen würde; der Gang der Rechnung ist recht 
unübersichtlich; man sieht nicht ein, wie der Verfasser zu seinen 
Herleitungen kommt; dazu erschweren viele Druckfehler das Ver- 
ständnis. | 

Von weiteren zusammenfassenden Werken ist Karstens „Lehr- 
begriff der gesammten Mathematik“ schon genannt. Hier sei nur im 
Zusammenhang mit den Kegelschnitten eine Bemerkung über den 
Kegel erwähnt, aus der hervorgeht, daß die Identität des schiefen 
Kreiskegels und des geraden elliptischen Kegels damals noch nicht 
bekannt war. Am Schlusse des XV. Abschnittes (Bd. VII, $ 269) 
führt Karsten an, daß Euler Schnitte eines senkrechten Kegels mit 
elliptischer Grundfläche betrachte, und knüpft daran die Bemerkung: 
„Unter diesem Begriff sind nicht alle Apollonischen schiefen Kegel 
enthalten, weil es schiefe Kegel gibt, wovon die senkrechten Schnitte 
Kreise sind.... Ob und inwieweit dieser elliptische Kegel mit dem 
Apollonischen einerlei sei, würde eine besondere Untersuchung er- 
fordern.“ 

Von Charles Hutton (1737—1823, Professor der Mathematik an 
der Militärakademie zu Woolwich, später ER EREN am Kollegium der 
englisch-ostindischen Kompagnie zu Addiscombre, vgl. S. 16) stammt ein 
Werk: „Elements of conic sections“ (1789), das nach der Vorrede für die 
Royal Military Academy bestimmt ist. Montucla nennt es in seiner Ge- 
schichte der Mathematik): „un modele de precision et de clarte“, ein Urteil, 
das namentlich in bezug auf die Form der Darstellung sehr berechtigt 
ist. Hutton hat nämlich hier, zum erstenmal, wie er angibt, jede 
Gleichung auf eine besondere Zeile drucken lassen, was natürlich sehr 
zur Übersichtlichkeit beiträgt. Das Buch enthält übrigens nicht bloß 
Kegelschnitte, sondern am Schluß noch eine Reihe praktischer Auf- 
gaben über Körper- und Flächenberechnung, Geodäsie, Mechanik, 
Ballistik u. a. 


») 2, Aufl., 1IT. Bd, 8. 13. 





466 Abschnitt XXIV. 


Auch Fergolas Buch: „Le sezioni coniche“ (1791), über das ich 
nur nach Loria!) berichten kann, bringt nichts wesentlich Neues, 
hebt aber die Analogie zwischen den drei Kurven in der Art hervor, 
daß die entsprechenden Sätze einander gegenübergestellt werden. Das 
Gleiche ist über die Schrift von Riche de Prony, die rein analytisch 
verfährt, zu sagen: „Exposition d’une nouvelle methode pour con- 
struire les &quations indeterminees, qui se rapportent aux sections 
coniques“ (1790). 

Die Abhandlungen über Einzelheiten aus der Lehre von den 
Kegelschnitten sind natürlich ziemlich zahlreich, aber viel Neues, 
Bemerkenswertes ist nicht zutage gefördert worden. Freilich ist 
ein Gebiet der Mathematik, das späterhin eine damals noch un- 
geahnte Ausdehnung gewann, die Theorie der elliptischen Integrale 
und Funktionen, von Untersuchungen über die Rektifikation der Kegel- 
schnitte ausgegangen, speziell von Sätzen über Ellipsenbögen, deren 
Summe oder Differenz sich algebraisch ausdrücken und daher geo- 
metrisch konstruieren läßt. 

Euler hat, wie es scheint, die Wichtigkeit und Tragweite der- 
artiger Sätze erkannt; er suchte die Aufmerksamkeit der Mathematiker 
auf dieses Gebiet zu lenken, indem er 1754 in den Leipziger Annalen 
anonym den Satz zum Beweis vorlegte, daß die Differenz gewisser 
Ellipsenbögen rektifizierbar sei, und gab dadurch den ersten Anstoß 
zu weiteren Untersuchungen. Da jedoch diese ganze Frage in den 
XXVI. Abschnitt gehört, werden die einschlägigen Arbeiten dort 
besprochen werden. Hier sei in diesem Zusammenhang nur noch eine 
Note von Euler aus dem Jahre 1773 erwähnt: „Nova series infinita 
maxime convergens perimetrum ellipsis exprimens“?), worin er für den 
Ellipsenquadranten die gut konvergierende Reihe herleitet: 








ern 1:1-n? 
= i1- 


? 1-1-8-5-nt-1-3 1-1-3-5-7.9-n® 1-3-5 
v2 2.4-6-8 


2.4-2 3747-279. 1:6: 8.-10.208 
nn) 


(= +b; np 


Eine Anzahl von Untersuchungen befassen sich mit Maximal- 
oder Minimalaufgaben, die zu den Kegelschnitten in Beziehung stehen. 





» NicolaFergola ela scuola di matematica che lo ebbe a duce (Genua 1892). 
2) N.C. P. XVII, $. 71—84. Da wir die Veröffentlichungen der St. Petersburger 
Akademie in diesem Abschnitt oft zu zitieren haben, mögen sie mit folgenden 
Abkürzungen bezeichnet werden: 
N.C.P. — Novi Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, 


A.P. = Acta Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, 
N. A. P. — Nova Acta Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, 
M.P. = Memoires de l’Acaddmie Imperiale des Sciences de St. Petersbourg. 


Allgemeines. Kegelschnitte. 467 


Hierher gehört eine Reihe von Sätzen, die Edward Waring!) in seinem 
eigenartigen Buch: „Proprietates algebraicarum curvarum“ (Cambridge 
1762), meist ohne Beweis, angibt. Es ist ein geistreiches, vielseitiges Werk, 
durchaus original gedacht, und jedenfalls eine der bedeutendsten Erschei- 
nungen der ganzen Epoche auf diesem Gebiet, leider aber durch die knappe 
Ausdrucksweise und überhaupt durch die ganze Darstellung nicht 
leicht verständlich. Das Buch scheint wohl aus diesem Grunde 
den Zeitgenossen, wenigstens auf dem Kontinent, ziemlich unbekannt 
geblieben zu sein; in den zahlreichen Abhandlungen unseres Zeit- 
raumes, ebenso bei Klügel (Mathematisches Wörterbuch) konnte ich 
es nicht erwähnt finden?); auch sind die von Waring angegebenen 
neuen Gedanken und Gesichtspunkte, soviel ich sehe, nicht weiter 
verfolgt worden. — Das Werk ist in 4 Bücher eingeteilt, von denen 
hier hauptsächlich das vierte Buch in Betracht kommt. Das von 
Waring ausgedachte Prinzip, aus dem er seine Sätze herleitet, wird 
folgendermaßen formuliert: „quantitates, quae ad singulum curvae 
‚puncetum recipiant maximum vel minimum, perpetuo evadunt inter se 
aequales“ Der Sinn dieses in seiner Kürze nicht recht klaren 
Satzes ist etwa folgender: Man kann die Bedingungen aufstellen, 
unter welchen irgend eine Größe für einen Kurvenpunkt einen extremen 
Wert annimmt (so ist z.B. für einen Punkt P einer beliebigen 
Kurve die Summe seiner Entfernungen von zwei festen Punkten F, 
und F, dann ein Minimum, wenn PF, und PF, mit der Kurven- 
tangente gleiche Winkel bilden). Wenn es nun eine Kurve gibt, wo 
diese Bedingung für jeden Kurvenpunkt erfüllt ist (also in dem ange- 
führten Beispiel die Ellipse), so ist für diese Kurve die betreffende 
Größe konstant. Dieses Prinzip wird nun z. B. in folgender Weise 
benutzt: Es wird bewiesen, daß ein Vieleck, das einem geschlossenen 
Oval so umbeschrieben ist, daß seine Seiten von den Berührpunkten 
halbiert werden, unter allen dem Oval umbeschriebenen Vielecken 
von gleicher Seitenzahl den kleinsten Inhalt hat. Daraus wird nun 
geschlossen, daß alle solche Vielecke, die demselben Oval umbeschrieben 
sind, gleichen Inhalt haben. Ob es aber überhaupt mehrere solche 
gibt, und wie man sie findet, diese Frage wird gar nicht berührt. 
Solche und ähnliche, für beliebige Ovale geführte Beweise werden 
dann auf Kegelschnitte angewendet und liefern Sätze wie die folgenden: 
Sind einer Ellipse zwei Polygone von gleicher Seitenzahl so um- 
beschrieben, daß jede Seite von ihrem Berührpunkt halbiert wird, so 
haben sie gleichen Flächeninhalt (Theorem 19). 
Verbindet man die Ecken (oder Berührpunkte) beider Polygone 


1) 8. 92ff. *) Dagegen ist bei Chasles, Apercu historique, p. 153, das 
Buch erwähnt. 
CAnNToR, Geschichte der Mathematik IV. 31 


470 Abschnitt XXIV. 


stimmten Werte in a, b,c, d... einzusetzen sind. Euler zeigt noch, 
daß diese Gleichung mindestens eine reelle Wurzel hat und macht 
eine Anwendung auf den Spezialfall des Parallelogramms. 

In einer zweiten Abhandlung, die am gleichen Tage vorgelegt 
wurde, löst Euler dieselbe Aufgabe für das Dreieck. Sie ist betitelt: 
„Solutio problematis maxime curiosi, quo inter omnes ellipses, quae 
eirca datum triangulum eircumseribi possunt, ea quaeritur ceujus area 
sit omnium minima“!). Da sich hier von den fünf unabhängigen 
Konstanten der allgemeinen Ellipsengleichung nur drei bestimmen 
lassen, so hängt der Flächeninhalt noch von zwei unabhängigen 
Variabeln ab. Nimmt man zwei Seiten des gegebenen Dreiecks, etwa 
a und c, als Koordinatenachsen, so lautet die Gleichung der gesuchten 
Ellipse: 

ca +acay+tayp — ad — acy—=V. 

Aus dieser Gleichung leitet Euler her, daß der Mittelpunkt der 
Ellipse in den Schwerpunkt des Dreiecks fällt, und daß die Tan- 
gente in jeder Ecke des Dreiecks der Gegenseite parallel ist. An die 
erste dieser beiden Arbeiten knüpft Fuß in einer Note vom 
31. August 1795: „Dilueidationes super problemate geometrico de ellipsi 
minima per data quatuor puneta ducenda“?) an und diskutiert die dort 
gefundene Gleichung 3. Grades eingehender mit dem Resultat, daß 
von den drei Wurzeln derselben eine eine Ellipse, die beiden andern 
Hyperbeln bestimmen, die natürlich dem Problem in der Eulerschen 
Fassung nicht genügen, wohl aber, wie Fuß bemerkt, dem allgemei- 
neren: „Inter omnes lineas curvas secundi ordinis per data quatuor 
puncta transeuntes eas invenire, in quibus rectangulum ex semiaxibus 
factum sit omnium minimum“. Fuß berechnet ein Zahlenbeispiel und 
wendet seine Resultate auch auf den Fall an, daß statt zwei Punkten 
einer mit seiner Tangente gegeben ist. 

Um Eulers Arbeiten über Kegelschnitte hier vollends zu be- 
sprechen, sei noch eine Untersuchung von ihm erwähnt: „Solutio trium 
problematum difficillimorum ad methodum tangentium inversam per- 
tinentium“. Die Arbeit wurde am 12. November 1781 eingereicht, 
aber erst 1826 veröffentlicht?). Die späte Veröffentlichung erklärt 
sich damit, daß Euler vor seinem Tode den Wunsch geäußert hat, 
die Veröffentlichungen der Petersburger Akademie möchten noch 
20 Jahre nach seinem Tode Arbeiten von ihm enthalten‘), ein Wunsch, 
den die Akademie in Ehren gehalten hat (s. die Vorrede zu M. P. XI). 
Die drei Aufgaben, die Euler hier behandelt, sind: 





) N. A. P. IX, p. 146-153. >) Ebenda, XI, p.187—212. 9)M.P.X, 
p. 16—26. “, In den M.P. ist sogar von 40 Jahren die Rede. F 


Allgemeines, Kegelschnitte. Höhere ebene Kurven. 471 


1) Alle Kurven zu finden von der Bigenschaft, daß die von zwei 
festen Punkten nach einem beliebigen Kurvenpunkt gezogenen Strahlen 
mit der Tangente gleiche Winkel machen. 

2) Gegeben eine Gerade und auf ihr ein Punkt A. Von A ist 
nach einem beliebigen Kurvenpunkt ein Strahl AP gezogen, der nach 
seiner Reflexion an der Kurve die Gerade in O schneidet. Alle 
Kurven von der Eigenschaft zu finden, dad AP + PO konstant sei. 

3) Alle Kurven von der Eigenschaft zu finden, daß die von zwei 
festen Punkten auf eine beliebige Tangente gefällten Lote ein kon- 
stantes Produkt haben. 

Die Untersuchung liefert das bemerkenswerte Resultat, daß sich in 
allen drei Fällen nur Kegelschnitte ergeben, daß es also außer diesen 
keine Kurven gibt, die eine der genannten drei Eigenschaften besitzen. 

In den A.E. (1771), p. 131ff., leitet ein Anonymus einen nicht 
uninteressanten Satz her, den er selbst als „Theorema elegantissimum“ 
bezeichnet, nämlich: Zieht man in einem Kegelschnitt von einem 
Brennpunkt O aus drei Radienvektoren OF, 0G, OH und beschreibt 


um O einen Kreis mit dem Radius r=YOF-0G:0OH, der den 
Kegelschnitt in F”, @’, H’ schneidet, so ist: 


p AFGH 





r  AFGH 
2 


wo p der Parameter des Kegelschnittes ist (p = —) 


Endlieh untersucht Fuß in einer Arbeit vom 19. April 1798, 
betitelt: „Observationes circa ellipsin quandam prorsus singularem“!), 
die Kurve, die entsteht, wenn man in einem Kreis um den Koordi- 
natenursprung jede Ordinate um ihre Abszisse verlängert. Die Kurve 
ist eine Ellipse, von der eine Reihe merkwürdiger Eigenschaften 
nachgewiesen werden, z. B. gilt für ihre Halbachsen a und b: ab=rf; 
a—b=r (r— Radius des Kreises); die vier lunulae, die von dem 
Kreis und der Ellipse gebildet werden, haben gleichen Inhalt; die 
Differenz zwischen dem Umfang der Ellipse und dem des Kreises ist 
nahezu gleich den von der Ellipse eingeschlossenen Kreisbögen, u. a. 


Höhere ebene Kurven. 


Wie schon in der Einleitung bemerkt wurde, sind in der Theorie 
der höheren ebenen Kurven keine wesentlich neuen Ideen von allge- 
meinerer Bedeutung zu verzeichnen; die meisten einschlägigen Arbeiten 





» N.A.P. XV, p. 11-87. 


472 Abschnitt XXIV. 


sind Spezialuntersuchungen über einzelne Kurven und Kurveugattungen, 
die freilich manches Interessante zutage gebracht haben, aber meist 
isoliert stehen und wenig Zusammenhang miteinander zeigen. Da- 
durch ist natürlich die Übersicht über diesen Zweig der Mathematik 
und seine Entwicklung erschwert; immerhin lassen sich wenigstens 
einige Gruppen verwandter Untersuchungen zusammenfassen. — Die 
Literatur ist meist in Akademieschriften zerstreut; größere Werke, 
die sich speziell mit den ebenen Kurven befassen, sind wenig er- 
schienen. Zu nennen ist hier hauptsächlich das schon 8. 467 an- 
geführte und charakterisierte Buch von Waring: „Proprietates alge- 
braicarım curvarum“. Über das auf die Kegelschnitte bezügliche 
vierte Buch ist oben schon berichtet worden. Hier ist nun der In- 
halt der beiden ersten Bücher in der Kürze anzugeben. 

Das 1. Buch enthält allgemeine Sätze über algebraische Kurven 
beliebiger Ordnung und beginnt mit einer Definition der Durch- 
messer, von denen Waring verschiedene Ordnungen unterscheidet. 
Deren Definition läßt sich am einfachsten folgendermaßen angeben: 
Wenn in einem schiefwinkligen Koordinatensystem zu jeder Abszisse 
n+1-—i Ordinaten einer Kurve n‘” Ordnung gehören, deren al- 
gebraische Summe verschwindet, so heißt die Abszissenachse ein Durch- 
messer '" Ordnung der Kurve Es werden die analytischen Be- 
dingungen hierfür angegeben; für einen Durchmesser 1. Ordnung muß 
z. B. in der Kurvengleichung: 


Ay" +(a+ba)y"!+(c+dae+te)y"’+.. =0 

das 2. Glied mit „*=!1 verschwinden. Daran schließen sich Formeln 
für Koordinatentransformation; mit Hilfe derselben wird z. B. untersucht. 
ob eine Gerade ein Durchmesser ist, indem sie einfach als Abszissen- 
achse eingeführt wird. Ferner wird die Anzahl der Durchmesser 
1. Ordnung bestimmt, die ihre Ordinaten unter einem gegebenen 
Winkel « schneiden, und gezeigt, daß diese Zahl höchstens = 2n 
sein, für «= 90° aber höchstens = n sein kann. Weitere Sätze, die 
sich hier anschließen und die der Verfasser als neu bezeichnet, sind: 

Eine Kurve, deren Durchmesser alle parallel sind, hat keine 
hyperbolischen Äste, außer wenn die Asymptoten auch alle parallel 
sind, und keine parabolischen, wenn nicht alle nach derselben Rich- 
tung konkav oder konvex sind (Theorem 2). 


Es gibt nicht mehr als nn Richtungen paralleler Ördinaten, 


welche die Kurven in (na — m) Punkten schneiden (Theorem 5). 

Es wird aus der Kurvengleichung eine Beziehung für die Ab- 
stände eines Kurvenpunktes von 2, 3, 4 usw. festen Punkten herge- 
leitet (Problem 7). 


Höhere ebene Kurven. 473 


Schneidet eine um einen festen Punkt rotierende Gerade die 
Kurve, so gibt es für jede Lage einen Punkt so, daß die algebraische 
Summe der Abstände aller Schnittpunkte von diesem verschwindet. 
Der Ort dieser Schnittpunkte ist eine Kurve von höchstens n‘" Grad. 

Eigenschaften, die nur von den Gliedern n‘* und (n — 1)** Ord- 
nung abhängen, sind für zwei Kurven, die in diesen Gliedern über- 
einstimmen, dieselben; also hat z. B. eine Kurve mit ihren Asymptoten 
(diese als zerfallende Kurve n‘* Ordnung betrachtet) alle Durchmesser 
gemein, ebenso alles, was von den Durchmessern abhängt, z. B. die 
Mittelpunkte (Mittelpunkt heißt bei Waring ein Punkt eines Durch- 
messers von der Art, daß die algebraische Summe der Abstände aller 
Schnittpunkte dieses Durchmessers von dem Punkt verschwindet), 
ferner die „eurva diametralis“, die Waring definiert als: „locus ulti- 
marum diametrorum intersectionum“. Was damit gemeint ist, ist nicht 
recht klar; vielleicht die Enveloppe der Durchmesser? 

Von besonderem Interesse ist das 10. Theorem, welches behauptet, 
daß keine algebraische Kurve, die ein Oval ohne Doppelpunkt 
hat, allgemein quadriert werden könne, oder, wie Waring 
sagt: „Nulla datur algebraica curva, quae habet ovalem sese in dato 
puncto haud intersecantem, quae generaliter quadrari potest“. Es ist 
dies ‚offenbar derselbe Satz, der bei Newton, Principia I, Lemma 28, 
so lautet: „Nulla extat figura ovalis, cuius area, rectis pro lubitu 
abscissa, possit per aequationes numero terminorum ac dimensionum 
finitas generaliter inveniri“, und an den sich eine Kontroverse geknüpft 
hat!). Der Beweis bei Waring ist so charakteristisch für dessen 
prägnante Ausdrucksweise, daß wir ihn hier im Wortlaut anführen 
wollen: „Inveniatur enim generalis expressio ad aream, e.g. terminis 
abscissae x, fiat haec expressio vel area impossibilis, cum x fiat « vel 
x, et ovalis continetur intra valores abseissae « et x; inveniatur fluxio 
datae expressionis, sed methodus fluxiones inveniendi eadem est ac 
methodus inveniendi aequationes, quarum radices sint limites inter 
radices & et x datarum aequationum; et si radices « et x datarum 
aequationum sint possibiles, possibilis etiam erit radix inter eas posita; 
ergo necessario ovalis se intersecabit“. 





) Vgl. Brougham (ist der schon S. 456, Fußnote, genannte Mathematiker) 
and Routh, Analytical View of Sir Isaac Newtons Principia (1855), p. 73. Dort 
wird behauptet, der Satz sei falsch, da jede Kurve von der Form: 


y" = nor 1)m (a” A «*) 


quadrierbar sei. Zeuthen hat darauf hingewiesen, daß diese Kurve gar kein 
eigentliches Oval darstellt, sondern im Koordinatenursprung einen Selbstberüh- 
zungspunkt hat. (Sur quelques critiques faites de nos jours ä Newton; Bulletin 
de l’Acad&mie de Copenhague, 1895.) 


474 Abschnitt XXIV. 


Der Gedankengang scheint mir etwa folgender zu sein. Ist 
y= f(x) die Gleichung der Kurve, die das Oval bildet, und ist das- 
selbe zwischen den Ordinaten eingeschlossen, deren Abszissen « und x 


sind; ist ferner F(x) = f f(z)dx, so wird sowohl f(x) als F(x) außer- 
halb der Grenze « und x imaginär, Dann muß aber F(z), wenn es 
eine algebraische Funktion sein soll, zwischen « und x ein Maximum 
oder Minimum haben, und es wird dann F’(@)=f(x)=0, d.h. das Oval 
schneidet die Abszissenachse. Daraus schließt nun Waring, wenn ich den 
Schluß des obigen Beweises recht verstehe, ohne weiteres, daß das Oval 
sich selbst schneide. Dabei müßte aber doch angenommen sein, daß die 
Abszissenachse ein Durchmesser des Ovals ist; das wird aber nirgends 
gesagt, ebensowenig wird eine scharfe Definition des „Ovals“ gegeben; 
auch was die „radices datarum aequationum“ sind, ist nicht recht klar; 
namentlich aber scheint mir nicht genügend berücksichtigt, daß wegen 
des Ovals f(x), und damit auch F(x), eine doppeldeutige Funktion 
sein muß, also noch mit einer Irrationalität behaftet ist. 

Als eine „proprietas maxime elegans“ aller Archimedischen Parabeln 
(d. h. Kurven mit lauter parallelen Durchmessern) wird folgender 
Satz angeführt: Ist 


"tray +lbten)y"?r+..  — 0 
die Gleichung einer solchen Kurve, so ist deren Subtangente: 


Tr tRn-Yay'tm—Nbtedy" +. 
ER a JE" WE 


Gibt man 7 einen konstanten Wert, so gibt es n? Kurvenpunkte, zu 
denen dieselbe Subtangente gehört, und für alle diese ist die Summe 
der Ordinaten konstant. 

Ferner: 

Ist die Gleichung einer Parabel: 





yzal +bar Ir... 


und sind %,%s, --- %,_, die Ordinaten der Maximal- und Minimal- 
punkte, 2, 2, ... 2, die Abszissen der Schnittpunkte mit der x-Achse, 
so ist: 

YıYaYs »--%-ı a” 


(X, — 2): er (%, — 3%)” (Kg — 4)”: En (X 20: 79) gas = (-1 a3 [is n" 





Zu diesen und ähnlichen Untersuchungen bemerkt Waring mit be- 
rechtigtem Stolz, daß auch die algebraischen Sätze, die ihnen zu- 
grunde liegen, von ihm selbst gefunden seien. Der letzte Satz zeugt 
z. B. von dem Kenntnis einer wesentlichen Eigenschaft der Dis- 
kriminante. 


Höhere ebene Kurven. 475 


Das 2. Buch handelt von „Kurvoiden“ Die Bezeichnung ist 
nach Analogie von „Cykloide“ gebildet, und bedeutet eine Verallge- 
meinerung dieser Kurve, d. h. eine „Kurvoide“ wird von einem festen 
Punkt einer Kurve beschrieben, wenn diese auf einer Geraden abrollt. 
Rollt sie, statt auf einer Geraden, auf einer anderen Kurve ab, so 
entsteht eine „Epikurvoide“. Behandelt werden insbesondere Aufgaben 
über Rektifizierbarkeit und Quadratur der Kurvoiden, deren Lösung von 
der Rektifizierbarkeit der rollenden Kurve abhängt. Auch wird der Satz 
aufgestellt, daß alle Kurven, die durch eine aequatio fluxionalis bestimmt 
sind, durch Kurvoiden und Epikurvoiden konstruiert werden können. 

Das 3. Buch beschäftigt sich mit Raumgeometrie und wird im 
nächsten Kapitel besprochen werden. 

Unter den kürzeren Abhandlungen allgemeineren Charakters seien 
zunächst einige aufgeführt, die sich mit den Formeln für den Krümmungs- 
radıus, für Wende- und Rückkehrpunkte beschäftigen. Die erste ist eine 
nicht ganz einwandfreie Schrift von Johann Jakob Hentsch (1723 
bis 1764, Professor der Mathematik in Helmstädt): „De eurvis punetum 
inflexionis vel regressus habentibus“!). Schon die Definitionen, bzw. die 
Begründungen. seiner Bezeichnungen, die Hentseh gibt, passen nicht 
für alle Fälle, wie man leicht sieht; sie lauten: 

für den Wendepunkt: „punetum inflexionis ob mutatam curvae 
faciem, rectae assumtae vel puncto fixo obversam“,; 

für den Rückkehrpunkt: „punetum regressus ob mutationem 
motus, qui ordine fit retrogrado et versus prineipium, aquo eurva moveri 
coeperat, respieit“. 

Abgesehen von der mangelnden Klarheit gilt z. B. die erste 
nicht, wenn die recta assumta die Wendetangente ist. — Hentsch 
folgert nun daraus weiter: 

1) Für einen Wendepunkt ist der Abschnitt der Abszissenachse 
zwischen dem Ursprung und der Kurventangente ein Minimum oder 
Maximum. 

2) Für einen Rückkehrpunkt ist die Abszisse ein Maximum oder 
Minimum. (Dies ist aber offenbar auch der Fall, wenn die Kurven- 
tangente parallel der Ordinatenachse ist.) 

Die analytischen Bedingungen, die Hentsch für Wende- und 
Rückkehrpunkte herleitet, sind zum Teil sonderbar ausgedrückt, und 
lassen eine Verwechslung von Differential und Differentialquotient er- 
kennen. Er sagt z. B., in einem Punkt mit vertikaler Tangente sei 
dy= © (!), die Bedingung für einen Wendepunkt sei entweder 
d’y=(, oder, bei vertikaler Wendetangente, d’y =  (!), — Die 





!) Nov. Act. Erud., 1762, p. 256. 


476 Abschnitt XXIV. 


Betrachtungen werden dann auch auf den Fall ausgedehnt, „sı in 
Curva Semiordinatae a puncto fixo ducantur“, d. h. auf Polarkoordi- 
naten. 

Aus dem gleichen Jahre stammt eine Arbeit von Fontana') 
über Kurven in Polarkoordinaten, nämlich: „De invenienda formula 
radii osculatoris in eurvis ad umbilicum relatis ex data formula eius- 
dem in eurvis relatis ad axem, eruendisque inde eurvarum evolutis“?). 
Es handelt sich also um Übertragung der Formeln für Krümmungs- 
radius und Evolute von rechtwinkligen (z,y) auf Polarkoordinaten 


(& P)- 
Ist du = zdp, so bestehen die Beziehungen: 


2+yp=2%; da+ dy = du? + de. 


Führt man mit Hilfe dieser Gleichungen z und u an Stelle von & 
und y in den bekannten Ausdruck für den Krümmungsradius g ein, 
so ergibt sich: 
(de + du 
9 zdzdtu — dud!e) + dulde’ + du) 





Ist nun (s. Fig. 31) O der Koordinatenursprung, sind P und » 
zwei konsekutive Kurvenpunkte, 
C und e die ihnen entsprechenden 
Punkte der Evolute, ist ferner auf 
Op eine Strecke OR= OP und 
auf Oc ebenso OD= OU abge- 
tragen, endlich von O0 auf PC das 
Lot OF gefällt, so ist wegen der 
Ähnlichkeit der Dreiecke PRp, 
PFO und OFC, CDe: 


PP: - PZ Rp 


— 
== 


PO PF FO 








und 





Fig. 31. DD: 08° 





!) Den Bericht hierüber verdanke ich einer gütigen Mitteilung des Herrn 
Vivanti, der ursprünglich der Anwendung der Infinitesimalrechnung auf die 
Geometrie ein besonderes Kapitel im XXVI. Abschnitt zu widmen gedachte. 
Da jedoch die meisten hierher gehörigen Arbeiten schon im XXIV. Abschnitt 
besprochen werden, hat Herr Vivanti nach einem Vorschlage des Herrn Heraus- 
gebers mir sein Manuskript in überaus dankenswerter Weise zur Verfügung ge- 
stellt, damit nicht derselbe Stoff in zwei verschiedenen Abschnitten behandelt 
würde. Die Stellen, die von Herrn Vivanti herrühren, werden überall durch 
Verweisung auf diese Fußnote als solche bezeichnet werden. ?2) Analyseos 
sublimioris opuscula (Venedig 1763), Op. III, p. 120—136. 


Höhere ebene Kurven. A7TT 


woraus sich ergibt: 











PO:PR zdu 
u: ren Vaz’ + du® 
und: re # 
ze. kp a 202 
a er perl 
OF:.Ce 2dz Ce 
097500,” Yarıam 00° 
also ist: 3 
ZAU 
FC=PC-PF= Fan ART, 


Setzt man nun O0O=Z; CD=dT, so ist nach dem Obigen: 











2?dz? zdu 2 
Z=00=-YV0OF+FO- Ver +(e un) 


und, da Üc= de ist: 


=. 6D- RER 


Vz?dz® + (g Vdz?+ du? — zdu)? 


Aus diesen Gleichungen in Verbindung mit der Kurvengleichung 
f(, w) = ergibt sich durch Elimination von z und « die Differential- 
gleichung der Evolute. 

Euler entwickelt die Formel für den Krümmungsradius auf 
elegante Weise in seiner Arbeit: „Methodus facilis investigandi radıum 
osculi ex princeipio maximorum et minimorum petita“!) (11. Septem- 
ber 1776). Der Inhalt ist kurz folgender: Ist O ein Punkt auf der 
Normalen eines Kurvenpunktes Y, und ändert sich OY nicht, wenn 
man zum zweiten konsekutiven Kurvenpunkt weitergeht, d.h. OY 
zweimal differenziert, so ist OÖ der Krümmungsmittelpunkt. Daraus 
ergeben sich die bekannten Formeln für den Krümmungsradius. 

Eine übersichtliche Zusammenstellung der Formeln für Polarkoor- 
dinaten findet sich bei Gurief?): „Memoire sur la resolution des prin- 
cipaux problemes, qu’on peut proposer dans les courbes, dont les 
coordonnees partent d’un point fixe“®) (22. Mai 1797). Gurief 
führt für die Koordinaten folgende Bezeichnungen ein (vgl. Fig. 32): 








Radiusvektor FM =z; ABFM=o, 


ferner werden benutzt der Winkel der Tangente gegen die Achse 
LMTF=9; das in F auf FM errichtete Lot bis zur Tangente FR, 
das als Subtangente bezeichnet wird; die rechtwinkligen Koordinaten 





) N.A.P. VII, p. 88-86. 8. 351. s N.A.P. XIL p. 176—191. 


478 Abschnitt XXIV. 


des Punktes M sind BP=x; MP=y; ferner ist PF=v, endlich 
das Bogenelement ds. Damit wird nun abgeleitet: 


zdo z’do 
dy=dz.sino+2zcoswodo; de= — dz coso +zsinodo. 


2/2 
RR 
ARTE Verr. 





Krümmungsradius: R= 





daraus ‚die Bedingung für Wendepunkte: 


d? dz\? 
274 2(5,) =. 





Ferner ergibt sich: 





2 
Flächenelement: ® 2 = 
Volumelement des Rotationskörpers: np sinodo, 





Oberflächenelement des Rotationskörpers: 2x2 sinoY2?do? + d2?. 


Diese Formeln werden auf einige Beispiele angewendet. — Die 
Arbeit ist hauptsächlich darum bemerkenswert, weil hier klar und 
konsequent überall Winkel 
und Radiusvektor verwendet 
werden, während sonst viel- 
fach statt des ersteren Kreis- 
bögen von irgend einem Radius 
auftreten. 

Einige andere Arbeiten 
beschäftigten sich mit sonsti- 
B 7 = gen Fragen aus der Kurven- 

lehre. Die erste stammt von 

Kästner, nämlich: „Deminimo 

in reflexione a curvis“'). Dort 

wird, wohl zum erstenmal, ein 

Fig. 32. rein geometrischer Beweis des 

Satzes geführt: Wenn ein von 

einem Punkt O ausgehender Lichtstrahl an einem Kurvenpunkt M 
so reflektiert wird, daß er durch einen anderen Punkt P geht, 
so ist OM + MP ein Minimum. Die ins Unendliche verlaufenden 
Äste einer Kurve behandelt eine kleine Schrift eines württembergischen 


aM, 











AR 





I) Dissert. math. et phys. Altenburgenses 1758. 


Höhere ebene Kurven. 479 


Theologen, J. @. Pfeiffer (geb. 1766, gest. als Pfarrer in Steinheim 
a. d. Murr): „De eurvarım algebraicarum asymptotis tam rectilineis 
quam curvilineis earumque investigatione“ (Tübingen 1764). Sie bietet 
inhaltlich gerade nichts Neues, gibt aber einen klaren Überblick 
über die verschiedenen Methoden zur Aufstellung der geradlinigen 
Asymptoten und asymptotischen Kurven einer gegebenen algebraischen 
Kurve, Ä 

Endlich ist eine Arbeit von Busse (Friedrich Gottlieb 
von Busse, 1756—1835, Professor der Mathematik und Physik in 
Freiberg) zu nennen: „Formulae linearum subtangentium et sub- 
normalium, tangentium et normalium castigatae et diligentius, quam 
‚fieri solent, explicatae“ (Leipzig 1798). Das Wesentliche daran ist, 
daß bei den genannten Strecken nicht bloß, wie dies sonst üblich 
war, der absolute Wert, sondern auch das Vorzeichen berücksichtigt 
wird. Insbesondere wird die damals gebräuchliche Formel für die 


Subnormale S = Ir als falsch bezeichnet, und durch die richtigere 


S=— A ersetzt. Als Kuriosum sei noch eine Bemerkung des Ver- 


fassers angeführt, welche zeigt, daß mathematische Schriften schon 
damals sich keines allzugroßen Absatzes zu erfreuen hatten. Er sagt 
nämlich, er hätte diese Sachen schon längst veröffentlicht, „nisi biblio- 
polae eiusmodi scripta a me redimere et typis vulgare mirifice dubi- 
tassent, seilicet emtorum qui talia sibi comparare soleaut, non tam 
paucitatem, quam tarditatem in hac temporum inconstantia constanter 
timentes“. 

Gehen wir nun zu den Einzeluntersuchungen über, so ıst zu 
bemerken, daß weitaus die meisten Arbeiten sich mit Aufgaben be- 
fassen, bei denen es sich darum handelt, die Gleichungen von Kurven 
mit bestimmten Eigenschaften aufzustellen, und zwar sind sie meist 
derart, daß sie auf Differentialgleichungen führen; im Sprachgebrauch 
der damaligen Zeit sind dies „Problemata ex methodo tangentium 
inversa“, So heißen ganz allgemein Aufgaben, die auf Integration 
von Differentialgleichungen führen, auch wenn es sich gar nicht um 
Eigenschaften der Tangente, sondern z. B. des Krümmungsradius handelt. 
Hierbei macht sich eine gewisse Unklarheit über die Bedeutung der Inte- 
grationskonstanten bemerkbar; es fehlt meist das volle Verständnis der 
Tatsache, daß eine Differentialgleichung nicht bloß eine Kurve, sondern 
eine ganze Schar definiert. Selbst Euler läßt in die Differentialgleichung 
einer Kurvenschar fast immer noch den variablen Parameter eingehen. 
Wie sehon bemerkt, ist es schwierig, die große Menge von Abhand- 
lungen, die in den verschiedensten Zeitschriften zerstreut sind, nach 
einheitlichen Gesichtspunkten zu ordnen; doch lassen sich wenigstens 


480 Abschnitt XXIV. 


einige solche herausfinden. Die Arbeiten, die ganz isoliert stehen, 
werden dann eben in chronologischer Reihenfolge aufgeführt werden. 

Eine erste Gruppe von Abhandlungen beschäftigt sich mit der 
Bestimmung von Kurven, deren Bogenlängen irgend einer Be- 
dingung genügen sollen. Wir führen zunächst zwei Arbeiten von 
Euler an, in denen ein heute wenig mehr gebrauchter Begriff eine 
Rolle spielt, nämlich die Amplitude eines Kurvenbogens, eine von 
Joh. Bernoulli eingeführte Bezeichnung. Man versteht darunter 
den Winkel der beiden Normalen (oder Tangenten) in den Endpunkten 
des Bogens. Dieser Winkel ist in den meisten der folgenden Unter- 
suchungen als Parameter eingeführt. Nimmt man die eine der beiden 
Normalen als x-Achse, so ist, wie man leicht sieht: 


de=ds-sing; dy=ds cos. 


Diese Darstellung ermöglicht es nun, eine große Klasse von 
rektifizierbaren Kurven zu finden. Ist nämlich v eine beliebige 


; ds d?v ; x ; 
Funktion von , und setzt man reger + das, 50 ist damit eine 


Kurve bestimmt, für welche sich sowohl die Koordinaten als die 
Bogenlänge einfach in v und p ausdrücken lassen. Es ergibt sich 
nämlich durch Integration der obigen Gleichungen: | 


— 1! np —vco8g; Eh + Ing; 
pe p 9 9-7, 0pre-ang; 
s= | vd — . 

es Pr 


Ist also das Integral [vap ausführbar, so läßt sich die Kurve 


rektifizieren, und soll sie sonst noch einer Bedingung unterworfen sein, 
so handelt es sich nur um eine geeignete Bestimmung der Funktion v. 
Diese oder ähnliche Überlegungen liegen den meisten Arbeiten 
Eulers über die Bogenlängen von Kurven zugrunde. Die erste der 
beiden Eulerschen Abhandlungen heißt: „De arcubus curvarum aeque 
amplis earumque comparatione“!). Es handelt sich hier um die Auf- 
gabe, Kurven so zu finden, daß die Bogenlängen ihren Amplituden 
proportional sind, daß also: 


FT — 


b.. 
x? 


S|o 


oder 


a 
& 


Ste 
8|» 


ist. Es ist klar, daß der Kreis jedenfalls zu den gesuchten Kurven 





» N. 0. P. XII (1766/67), p. 17—41. 


Höhere ebene Kurven. 481 


gehört; es fragt sich aber, ob nicht noch andere Kurven diese 
dem Kreis zukommende Eigenschaften haben. Fragen dieser Art 
sind in jener Zeit öfters behandelt worden; wir werden später 
noch einige hierher gehörigen Untersuchungen anzuführen haben; 
Hier findet Euler außer dem Kreis noch weitere Kurven durch einen 
Kunstgriff: er fügt nämlich zu @ eine Funktion V hinzu, die 
sieh nicht ändert, wenn g um « wächst; 7 muß dabei einfach 


27 I } B 
— und cos —— sein. Nimmt man nun 





eine Funktion von sin 


den einen Endpunkt des Kurvenbogens als Koordinatenanfangspunkt, 
seine Normale als x-Achse, so findet man die Gleichung der gesuchten 
Kurve in der Form: 


= —(1 — c08 p) + /singaV; y= — sin + JcospdV. 
Hieraus folgt für den Krümmungsradius der Ausdruck: 
= m + dp a 


Die nähere Untersuchung zeigt, daß die Kurve aus lauter kongruenten 
Stücken von der Länge a besteht. 

Die zweite Arbeit (vom 19. August 1776) ist betitelt: „De duabus 
pluribusve curvis algebraieis, in quibus, si a terminis fixis aequales 
arcus abscindantur, earum amplitudines datam inter se teneant 
rationem“!). 

Hier handelt es sich also um zwei verschiedene Kurven und die 
Amplituden gleicher Bögen sollen nicht mehr gleich sein, sondern in 
einem gegebenen Verhältnis stehen. Euler findet für die eine 
Kurve die folgenden Gleichungen, in welchen « und ß Konstanten 
sind, derart, daß das Verhältnis der Amplituden =«:ß ist, und in 
welchen » eine Funktion von @ bedeutet: 


3, d? 


1 dv 1 d’v 1 
sin«p — — sp + 5, Fr “sin ep — — 70 „, 6059), 


a dp 


1 dv . 1 d’v 
V-arg Way +g snap+ ale „er 00sap + — 


en 


2 


d’v 
dg5 sin «p). 


Die Gleichungen der zweiten Kurve ergeben sich hieraus durch Ver- 
tauschung von « und ß, Sollen die beiden Kurven algebraisch sein, 
so müssen « und ß rationale Zahlen und muß v eine algebraische 
Funktion von sinp und cosp sein. Das Beispiel v—= cosp wird 
durchgeführt und ergibt Epizykloiden; außerdem wird die Aufgabe 





) N.A.P. VI, p. 68—76, 


482 Abschnitt XXIV. 


auf 3, 4 usw. Kurven verallgemeinert, deren Amplituden bei gleichen 
Bögen ein vorgeschriebenes Verhältnis haben sollen. 

Mit der Rektifikation von Kurven haben sich die Mathematiker 
in unserem Zeitraum mehrfach beschäftigt’. Schon früher hatte 
Hermann?) die Aufgabe vorgelegt, die Quadratur einer Kurve auf 
eine Rektifikation zurückzuführen, die dann von N. Bernoulli?) und 
Euler*) behandelt wurde. Saladini nahm die Frage wieder auf in 
seiner Abhandlung: „Methodus Bernoulliana de reducendis quadraturis 
transcendentibus ad longitudinem curvarum algebraicarum, a quibus 
inutilis saepe redditur, imaginariis quantitatibus liberatur atque eius- 
dem reductionis innumerae aliae viae indigitantur“®). Er gab einen 
Beweis des Bernoullischen Satzes, nach welchem die Fläche einer 
Kurve y= f(x) durch 


le De 
x- 2 v-I 0 (1) 


bezeichnet. Um aber die Einführung der für y? > 1 vorkommenden 


imaginären Größen zu vermeiden, stellt er folgenden Satz auf: 
Man hat: 





(va: ee - + [varzaxz, 
wenn i 
2 4P 2 

ER Gr 

y - ; Kst an 4% 
Ist die vorgegebene Kurve algebraisch, so ist es auch die Kurve (1); 
es läßt sich also die Quadratur jeder algebraischen Kurve.auf die 
Rektifikation einer algebraischen Kurve zurückführen. Da aber die 
Linie (1) öfters kompliziert ausfällt, so schlägt Saladini eine andere 
Methode zur Auflösung des Problems vor. Setzt man z. B. 


Rue Y-%+ms, (2) 


X—!| 








Yy ? 
wo m konstant ist, während P, @ Funktionen von y bezeichnen, so 
lautet die Bedingung dafür, daß dS?= dX?+dY? ein vollständiges 
Quadrat sei: 
| uch un FE 
Q P 


‘) Für den Bericht über die im folgenden erwähnten Arbeiten von Sala- 
dini, d’Alembert, Mascheroni, Gratognini, Contarelli vgl. Fußnote 
S. 476.  ?) Acta Erud. 1719. °) Ebenda, 1720. *) Comment. Acad. Petrop. 
MN. °) Comment. Bonon. T. V, P.H, p. 120—138 (1767). 


Höhere ebene Kurven. 483 


Nimmt man dann für @ eine solche algebraische Funktion von y, 


daß "44 ein logarithmisches ‚Differential ist, so ist P eine alge- 


Q 


braische Funktion von y, und man hat: 
hr 2? | N% AP\2 d 3 pP: “ 
ar VE HE he EFE-5 
wo 5 den Bogen der Kurve (2) bezeichnet. 
Schon im Ill. Bande der Denkschriften der Berliner Akademie 
(1747) hatte d’Alembert aufein Paradoxon hingewiesen, das aus der 
Betrachtung der Kurven entsteht, die durch die Differentialgleichung: 








dy-daV( nt — 1 (3) 
definiert ist. Zwanzig Jahre später nahm er den Gegenstand wieder 
auf in einer Schrift: „Extrait de plusieurs lettres de l’auteur sur 
differens sujets ecrites dans le courant de l’annee 1767“!). Integriert 
man (3) mit der Bedingung, daß für 2=0 auch y=(0 werden soll 
so erhält man: 


’ 


5 
y-l1-(a-ailt; (4) 
ferner ist: 
ds=dsVi -Dt- (1 "tar, (5) 
also unter der Bedingung s= 0 für 2= (0: 
3 | 2 
s- 11-41-2093]. (6) 
Aus (4) ergibt sich die Ge- A | RR 2 
stalt der Kurve; es ist y-1l | N, De 
für z= 1, dann nimmt y ab für e 47% 
wachsendes und abnehmendes z, Y ir 


und es wird y=0 für 2=0 
und x=2. Für £<0 und für 
#2>2 ist y imaginär. Ferner 
hat y für jeden Wert von & zwei 
gleiche und entgegengesetzte 
Werte, so daß die Kurve die aus _A c z 

% Fig. 3% ersichtliche Gestalt ABOD 
hat; es ist die seit Leibniz be- 
kannte reguläre Astroide?), 
deren Gleichung durch die Trans- 
formation z=1+2; y=y sich 
auf die Form: 














D 
‘ Fig. 33. 





| ') Opuseules math&matiques T. IV, p. 65—68 (Paris 1768). ;M) Vgl. 
Loria, Spez. Kurven, $. 227, 
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 32 


484 Abschnitt XXIV. 


INT Bar («2 + y'? — 1)? + 272°y?=0 


bringen läßt. 

Sind nın M und M’ zwei den Zweigen AB, bzw. BC an- 
gehörige, in bezug auf die y-Achse symmetrische Kurvenpunkte, P 
und P’ ihre Projektionen auf die x-Achse und setzt man 


O0P=-0OP =2, 
so folgt aus (6) 
‚ 3 3 
ac AM = a ABM -(1- )<Z, 
_ während are ABb= = ist, ferner are ABO=0. Es nimmt also die 


Bogenlänge vom Punkte B an fortwährend ab, was absurd ist. Und 
d’Alembert schließt: „Voilä done encore iei le caleul en defaut“. 

Eine weitere Bemerkung ist folgende: Nimmt man, wie es still- 
schweigend vorausgesetzt worden ist, dy in (3) positiv an, so muß y 
immer zunehmen; also ist die Fortsetzung der Linie über B hinaus 
nicht BC, sondern der zu BC in bezug auf die durch B parallel zu 
AC gezogene Gerade symmetrische Zweig BC“. 

Diese Schwierigkeiten, auf welche d’Alembert keine Antwort 
gab, reizten den Scharfsinn Mascheronis'), welcher sich die Auf- 
gabe stellte, die Angriffe von d’Alembert gegen die Analysis zu 
widerlegen („Injuria tamen aceusatur caleulus“). Durch Reiheninte- 
gration findet er 


a | Se u: ° 1 3 8 1-3 3 
y-B-283+4+5:7% Hase taı gt Bm 





wo B eine Konstante ist. Hieraus ersieht man, daß y für zund —z 
denselben Wert annimmt, so daß die Fortsetzung von AB nicht 
BC, sondern BC ist. Nimmt man aber die in (8) vorkommende 
Wurzelgröße mit doppeltem Zeichen an, so erhält man 


y=B+u 


so daß die ganze Kurve aus den vier Zweigen AB, BC, AB, BC 
gebildet ist. Die Gleichung (5) läßt sich schreiben: 


ds=+ 2 °dz 


und aus derselben folgt durch Integration: 


3 
s-+,8, 





!) Adnotationes ad caleulum integralem Euleri P. I, 1790. 


4 


Höhere ebene Kurven. 485 


vorausgesetzt, daß s=0 für z=0 ist. Betrachtet man also den 
Bogen BA als positiv, so muß man den Bogen BC als negativ an- 
sehen. 

Hierdurch wird jedoch d’Alemberts Bedenken keineswegs er- 
ledigt; aber noch mehr: Mascheroni entdeckt ein neues Paradoxon. 
Für <>2 ist die Kurve imaginär; aber die Bogenlänge ist auch 
für diese Werte von & reell. Die Erscheinung ist nicht vereinzelt: 


jedesmal wenn = reell und <1 ist, hat man eine reelle Bogen- 


länge bei imaginärer Kurve; denn es ist dann (22) — (£) —1<ß(, 


also TE imaginär. Diese Bemerkungen von Mascheroni, welche im 


Jahre 1790 veröffentlicht wurden, gaben noch in demselben Jahre 
Veranlassung zu einer Antwort von seiten eines gewissen Giovanni 
Gratognini (1757—1836), Professor an der Universität in Pavia. 
Seine Schrift führt den Titel: „Esame analitico d’un paradosso 
proposto ai geometri dal sign. D’Alembert e della soluzione 
datane dal Ch. sign. Don Lorenzo Mascheroni“ (Pavia 1790); sie 
gibt eine eigentümliche Lösung des Rätsels. Gratognini sagt näm- 
lich: „die Formel für die Bogenlänge kann längs des Zweiges BU 
nicht gelten; sie würde nämlich den Bogen BC, gegen seine Natur, 
durch eine negative Größe ausdrücken. Man muß vielmehr den Aus- 
druck für ds in (5) für AB mit positivem, für BC mit negativem 
Vorzeichen versehen. Desgleichen kann für £>2 der in (5) an- 
gegebene Wert dem Bogen nicht angehören, weil sie von der Glei- 
chung ds? = da? + dy? abgeleitet wurde, welche, da im betrachteten 
Falle dy fehlt, etwas Chimärisches und Bedeutungsloses darstellt.“ 
Einen ähnlichen Gedanken hat Contarelli in einem Brief!) an 
Paolo Cassiani, Professor in Modena, ausgesprochen. Er sagt 
nämlich, daß bei der Berechnung der Bogenlänge der Bogen CD 
notwendig als negativ angesehen werden müsse, da ja Ü ein Rück- 
kehrpunkt sei, und fügt bei, daß Giordano Riccati dieser An- 
schauung zugestimmt habe. | 
Daß alle diese Deutungen ganz ungenügend sind, ist klar. Die her- 
vorgehobenen Schwierigkeiten konnten nicht überwunden werden, so- 
lange man den Begriff des Veränderlichkeitsbereichs einer algebraischen 
Funktion ‘nieht vollständig beherrschte. Heutzutage haben die 
d’Alembertschen Paradoxa für uns nichts Verwunderliches mehr. 
Da die Funktion y von x durch eine Differentialgleichung von der 
Form dy= Pdx definiert wird, so ist sie, von einer bloß additiven 





") Continuazione del nuovo giornale dei letserati, T. 21. 
82” 


486 Abschnitt XXIV. 


Konstanten abgesehen, bestimmt, und daher sind sowohl A’BC als 
ADC Zweige der Integralkurve. Ferner ist die Ordinate y, nachdem 
sie durch Angabe ihres Wertes für x —= 1 bestimmt worden ist, eine 
sechswertige Funktion von x; dasselbe kann man von s sagen, da die 
rechte Seite von (6) mit doppeltem Vorzeichen behaftet werden muß, 
Die Bogenlänge s bildet eine auf der die Funktion y von x dar- 
stellenden Riemannschen Fläche reguläre Funktion; 2=1 ist ein 
Verzweigungspunkt dieser Fläche, und an diesem Punkte kann der 
Übergang von einem zu einem anderen Funktionszweige sowohl von 
y als von s stattfinden. Dadurch kann man sich von allen schein- 
baren Unregelmäßigkeiten Rechenschaft geben. 

Die Schwierigkeiten, welche die Rektifikation der meisten Kurven 
bietet, scheinen Euler dazu veranlaßt zu haben, Kurven zu suchen, 
deren Bogenlänge sich angeben, oder wenigstens durch diejenige be- 
kannter Kurven ausdrücken läßt, oder, wie Euler sagt, die durch 
die Bogenlängen bekannter Kurven „meßbar“ sind. Dieses Problem 
kann!) als eine Verallgemeinerung der gewöhnlichen Rektifikation 
angesehen werden, bei der es sich ja einfach um eine „Meßbarkeit“ 
durch geradlinige Strecken handelt. Euler hat solchen Fragen ver- 
schiedene Abhandlungen gewidmet; die erste heißt: „De innumeris 
curvis algebraicis, quarum longitudinem per arcus parabolicos metiri 
licet“?). Die analytische Formulierung dieser Aufgabe ist: x und y 
als Funktionen eines Parameters v so darzustellen, daß: 


ds = Yda? + dy? = dvy1 + v 


wird. Euler nimmt zunächst die allgemeine Aufgabe in Angriff, 
daß das Bogenelement ds dem Differential einer beliebigen Funktion 
von v gleich werden soll, also ds = Vdv, und versucht, ob folgende 
Gleichungen das Problem zu lösen vermögen: 


de _PYAFU—QyB-V, PyB-U+Qy4A+U a) 
dv VA+B VA+B 
wo P, Q, U Funktionen von v, A und B Konstanten sind. Dies ist 
der Fall, wenn 











day _ 
dv 


P+Qg=V | (2) 


ist. Dieser Gleichung müssen also P und @ genügen, und dann ist 
U so zu bestimmen, daß die Gleichungen (1) integrabel werden. 
Zu diesem Zweck führt man statt U einen Winkel p, der also gleich- 
falls eine Funktion von v ist, ein, und setzt: 





t) Nach einer Bemerkung von Herrn Vivanti, vgl. Fußnote S. 476. 
2) N. A. P. V, p. 59—70. . 


Höhere ebene Kurven. 487 


= = Psinp+ Q 089; 2 = P eosp — Qsing. (3) 


Nach diesen allgemeinen Bemerkungen wird wieder auf die spezielle 
Aufgabe, wo also V = V1 + v? sein soll, zurückgegriffen, und gezeigt, 
daß diese Forderung erfüllt ist, wenn in (1) U eine beliebige ganzzahlige 
Wurzel von v ist; die Beispiele U=v, U= Vv werden durchgeführt. 
Ebenso läßt sich aus (3) eine spezielle Lösung herleiten, wenn P=1, 
Q=v gesetzt wird; es ergibt sich so: 


dx = dvsinpg + vdvcosp; dy= dv cosp — vdv sıny. 


Setzt man hier noch v® = sind, so macht die Beziehung g = 4% die 
Gleichungen integrabel und liefert algebraische Kurven, wenn A eine 
rationale Zahl ist: Schließlich wird noch eine dritte, allgemeinere 
Lösung hergeleitet, nämlich 





42 = —  00s(@ +9) + __ cos[« + (A +2)%] 


= VL gos[a + (1 — 2)8]; 


4y-—- sin(@ +49) + a: sin[@« + (4 +2)9] 


= wer sin[@ + (4 — 2) 9], 
wo « ein beliebiger Winkel, A eine rationale Zahl exkl. + 2 ist. 
Die gleiche Aufgabe hat Euler in einer späteren Arbeit vom 
20. August 1781 wieder aufgenommen, über die deshalb auch gleich hier 
berichtet werden möge. Sie heißt: De innumeris curvis algebraieis 
quarum longitudo arcui parabolico aequatur!). Er gibt dort folgende 
elegante Konstruktion einer solchen Kurve: Es sei Ab= BUÜ=2a 
der doppelte Parameter der 
Parabel AC, AD eine zu ihr 2 














symmetrische, die mit ihr Z c 
Achse und Scheitel gemein V me | 
hat; » sei eine _—. Zahl. 
Mache nun FG = —; GV R\ | 

Im 
parallel der Achse ns Sn F re p; 
einer beliebigen Ordinate X Y; Fig. 34. 


AVFG sei =9%. Lege in 
Fan AF einen Winkel=n% an, und trage auf dem Schenkel desselben 





») M. P. XI (1830), p. 100—101. 


488 Abschnitt XXIV. 


FZ=FX ab, dann ist der geometrische Ort von Z eine Kurve der 
gesuchten Art, deren es also unendlich viele gibt, da » beliebig an- 
genommen werden kann. Der Beweis ergibt sich leicht aus der an- 
gegebenen Konstruktion. 

Eine weitere Abhandlung vom 10. Juni 1776 behandelt dieselbe 
Aufgabe für Ellipsenbögen; sie heißt: „De innumeris curvis algebraicis 
quarum longitudines per arcus ellipticos metiri licet“'). Hier soll also 
das Linienelement von der Form sein 


day er, ag 


179° 








Dieser Forderung wird genügt, wenn: 
tom, 4, _ Pod (5 
—yaato’ ”  yaa-o) e 


ist, wobei p und q Funktionen von v sind, derart, daß 
”+qQ—-2pgv=1+(n?— 1). 


Dadurch werden die Gleichungen (4) integrabel und liefern alge- 
braische Gleichungen. Z. B. ergeben die Werte p=1;qg=v(n+1) 
eine Kurve 6. Ordnung. Auch hier lassen sich durch Einführung 
von Winkeln die Gleichungen umformen, und Euler ermittelt fol- 
gende Lösung der Aufgabe: 





dx 





20? sin[(2 +19] - 7 sin[A — 1)Q], 


-141 


2y = 13 e0[( +19] - 7 sn[a — Dp)], 


wo 4 eine rationale Zahl sein muß, wenn die Kurven algebraisch 
sein sollen. Die durch (6) dargestellten Kurven sind Epi- und Hypo- 
zykloiden. Auffallend ist das Resultat für »—=1; in diesem Fall 
stellt (4) das Linienelement des Kreises dar, (6) aber den Kreis 
selbst. Euler sah sich dadurch veranlaßt, den Satz auszusprechen, 
daß es außer dem Kreis selbst keine Kurve gebe, deren 
Bogen sich durch Kreisbögen messen lasse (vgl. unten S. 491), 
unterließ es aber nicht, die Aufmerksamkeit der Mathematiker auf 
das S. 486 formulierte allgemeine Problem zu lenken. Auch führt 
er am Schluß dieser Abhandlung noch an, daß es ihm nicht ge- 
lungen sei, diese Aufgabe wie für Ellipsenbögen, so auch für 
Hyperbelbögen zu lösen. Dies leistete später Fuß in einer Abhand- 
lung vom 28. Juni 1788: „De innumeris curvis algebraieis qua- 


(6) 





» N.A.P. V, p. 71-88. 


Höhere ebene Kurven. 489 


rum longitudinem per arcus hyperbolieos metiri licet“') durch Ein- 
führung hyperbolischer Funktionen. — Auch diesmal hat Euler 
der Aufgabe später (20. August 1781) eine zweite Arbeit ge- 
widmet: „De curvis algebraieis, quarum longitudo indefinita arcui 
elliptico aequatur“?). Er knüpft hier an die Formeln (6) an, und be- 
merkt mit der liebenswürdigen Offenheit, mit der er stets seinen Ge- 
dankengang klarlegt, daß er zufällig (casu) darauf gekommen sei. 
Die Arbeit besteht im wesentlichen in einer Verallgemeinerung der 
vorher gefundenen Resultate. Auch einen schwierigeren Fall des all- 
gemeinen Problems ds — Vdv hat Euler behandelt (17. Juni 1776): 
„De innumeris curvis algebraieis, quarum longitudo exprimitur hac 


mi 


formula integrali rer Kae] Das Problem wird gelöst und aus- 
er, 





gedehnt auf den allgemeineren Fall 


ve 


—1 
= (na + born + ont + at + ..) dv. 
Vi -v 





1 —_v 


Wieder einer Aufgabe allgemeinerer Natur, die in diese Gruppe 
gehört, sind zwei Arbeiten von Euler gewidmet, nämlich: „De binis 
curvis algebraieis inveniendis, quarum arcus indefinite inter se sint 
aequales“*) (20. Juni 1776) und: „De binis curvis algebraieis eadem 
rectificatione gaudentibus“°) (20. August}1781). Jede der beiden löst 
die Aufgabe auf zwei verschiedene Arten. In der ersten nimmt 
Euler die beiden Kurven in Parameterform gegeben an: 


X=p»(z) +g(2); = p(2) — (2); 
Y=r()—s(); y=r(2)—s(e) 


Die Forderung, daß die Linienelemente beider Kurven gleich 
seien, ergibt für die vier Funktionen p,g,r, s die Bedingungsgleichung: 
vg Fe rs. 

Um dieser Gleichung zu genügen, führt Euler zwei neue Funk- 
tionen % und » von z ein, die mit den ersten durch die Glei- 
chungen verbunden sind: 

q v uv 


gar =; s= r Se I" 
r ? p u’ u 4 


u = 


Damit ist die Bedingungsgleichung erfüllt, und Koordinaten der beiden 
Kurven sind dargestellt durch: 





ı) N. A. P. XIV (1805), p. 111—138. *) M.P. XI (1830), p. 95—99. 
S N.A.P. VI, p. 36—62. ‘) Ebenda, IV, p. 96-108. 5°) M.P. XI (1830), 
p. 102—113. 


490 Abschnitt XXIV. 


v v 
Ar Tth ef 
uv uv 
re Bu de 


Sind q, r, v algebraische Funktionen, so sind beide Kurven alge- 
braisch. 

Die zweite Lösung legt die Bedingungsgleichung in der Form 

Hr = er. zugrunde, und führt zu einer einfachen geometrischen Kon- 

struktion, nämlich (vgl. Fig. 35): Es seien zwei beliebige Kurven mit: 

derselben Abszissen- 





6 ‚achse und den Koordi- 

\ naten 9,85 und q,r ge- 

B geben. Man ziehe 
Z 

BP OR parallele Tangenten an 

a die beiden Kurven, die 


sie in Sund @ berühren, 
so ergeben sich die Koordinaten X, Y und «,y der beiden gesuchten 
Kurven aus den Gleichungen (vgl. Fig. 35) 


X=-BP+RQ; «= BP—.RQ; 
Y=UR-—-PS; y=ÜR+P8S. 

In der zweiten Abhandlung ist zunächst eine Lösung mit Be- 
nutzung von Winkelgrößen gegeben. Der Forderung der Aufgabe 
wird genügt durch die beiden Gleichungen: 

dAX=dxcosp + dysing, 

dAY=daxsinp — dycosg, 
wo x und y noch als Funktionen von p so zu bestimmen sind, daß 
diese Gleichungen integrabel werden und algebraische Funktionen er- 


geben. Euler führt zu diesem Zweck zwei Funktionen P und @ 
von ein, derart, daß - 


dp . d 
= Zap + TE cosg, 
dp d 5 
y-— 4, 008p + 5% sing, 
dann wird | 
dQ. Si 


Sind hierbei P und @ algebraische Funktionen von sing und 
c0o8@, so werden die Gleichungen integrabel, und ergeben algebraische 


Höhere ebene Kurven. 491 


Kurven. Die zweite Lösung, die gegeben wird, benutzt keine Winkel- 
größen, ist aber in ihrem Resultat nicht wesentlich von der ersten 
verschieden, die auch für die Anwendung bequemer ist. Setzt man 
z.B. @= 0, so ergeben sich Kurvenpaare von der Eigenschaft, daß 
der Radiusvektor der einen Kurve gleich der Ordinate der anderen 
ist. Dies wird angewendet auf Parabel und Ellipse. Aber auch hier 
ergibt sich durch Spezialisierung für den Kreis als zweite Kurve 
eben wieder der Kreis. Trotzdem gelangte Euler später im Zu- 
sammenhang mit diesen Untersuchungen zu einer Lösung der 
früher (s. 8.488) vonihm für unmöglich gehaltenen Aufgabe, 
Kurven zu finden, deren Bögen sich durch Kreisbögen aus- 
drücken lassen, abgesehen vom Kreise selbst. Seine Arbeit hier- 
über: ist am gleichen Tag wie die letztere der beiden vorigen der 
Akademie vorgelegt worden. Sie führt den Titel: „De curvis algebrai- 
cis quarum omnes arcus per arcus circulares metiri licet“'). In der 
Einleitung kommt Euler auf seine früher (s. 5. 489) aufgestellte 
Behauptung zurück, daß es keine solchen Kurven gebe, und gesteht 
mit der für ihn charakteristischen Offenheit ein, der Hauptgrund für 
jene Behauptung sei gewesen, daß es ihm trotz aller Anstrengungen 
nicht gelungen sei, solche zu finden; er nimmt sie hiermit feierlich 
zurück („solemniter retractans“). Sein Verfahren, um Kurven der ge- 
nannten Art zu finden, ist nun folgendes: Es sei w ein Bogen eines 
Kreises vom Radius =1; die Gleichung der Kurve soll in Polar- 
koordinaten (2, @) aufgestellt werden; dann muß sein 


de? + 2?dp? = dw? 


—_ 1/4w? — da? 

dp = Dr 
Die Aufgabe ist also einfach, z in Funktion von p so zu bestimmen, 
daß das Integral der rechten Seite einen Kreisbogen ergibt, d.h. sich 
durch zyklometrische Funktionen ausdrücken läßt. Dies ist nun sehr 


einfach möglich, wenn z=b-+ cosw gesetzt wird, wo b eine beliebige 
Konstante ist. Hierdurch erhält man: 


oder 





dw cosw 
d 


b-+cosw 
Um dies Integral auszuführen, setzt man t= tg und erhält: 


gy=w— m — arctg t went 4 
Diese Gleichung in Verbindung mit t= tg — und z=b+ cosw stellt 





1) M. P. XI (1830), p. 114—124. 


492 Abschnitt XXIV. 


eine 





nun die gesuchte Kurve dar; sie ist algebraisch, wenn A 
rationale Zahl ist. An diese Formeln schließt sich eine Diskussion 
der. Kurve, die als wichtigste Resultate folgende ergibt: der Krüm- 
b-+ cosw 


mungsradius istr= Sa daraus folgt, daß ein Wende- 
punkt auftritt für cosw = — =; also 2= 8 (Daraus folgt, daß 


ein solcher nur auftreten kann, wenn b<2 ist, weil sonst z<b—1 
würde, was nicht möglich ist.) Die Amplitude!) ist e=w-+ 9. 
Auf Grund der entwickelten Formeln wird noch ein Zahlenbeispiel 


Dr berechnet, und der Verlauf der Kurve gezeichnet; sie hat 
v3 | 


etwa die Gestalt einer Lemniskate mit ungleichen Schleifen. SchlieB- 
lich wird noch bemerkt, daß der von einem bestimmten Punkt ab 
gemessene Bogen gleich dem Arkus des Winkels zwischen dem Radius- 
vektor und der Tangente im Endpunkt des Bogens ist. 

Während es sich in den Arbeiten, über die vorstehend berichtet 
wurde, um Vergleichung von Bogenlängen verschiedener Kurven 
handelt, sind nun einige Abhandlungen zu nennen, in denen Be- 
ziehungen zwischen Bogenlängen und Tangenten, Normalen usw. 
einer und derselben Kurve untersucht werden. Unter diesen ist 
der Zeit nach die erste eine Veröffentlichung von Pio Fantoni 
(1721—1804, Wasserbaumeister in toskanischen Diensten, Mitglied 
des Instituts von Bologna): „De problemate quodam algebraico, deque 
evolutione mechanicae euiusdam curvae inter infinitas hypermechanicas, 
quae determinatae aequationi satisfaciunt“?). Die Aufgabe, die Fan- 
toni als „Problema algebraicum“ bezeichnet, ist folgende: Eine Kurve 
so zu finden, daß das Stück der Tangente zwischen dem Berührpunkt 
und dem vom Koordinatenanfangspunkt auf sie gefällten Lot kon- 
stant sei. Als Differentialgleichung der gesuchten Kurve ergibt sich: 





d dx?” + dy? 

u r ee 
Die Integration wird zunächst in rechtwinkligen Koordinaten aus- 
geführt, wobei der Differentialquotient als Parameter auftritt; es 
ergibt sich eine ziemlich komplizierte Formel, die sich aber wesent- 
lich vereinfacht dadurch, daß als Koordinaten der Radiusvektor 2, 
und der von ihm und der &-Achse begrenzte Bogen u eines Kreises 
von gegebenem Radius = a eingeführt werden, also Polarkoordinaten 





1) Vgl. 8.480. *) Phil. Trans. Vol. 57 (1767), p. 338—371. 


u . 


Höhere ebene Kurven. 493 


besonderer Art. Setzt man nämlich noch Y®—a?=1t, so er- 
gibt sich 
uv=t— aarctg - . 


Es wird dann noch gezeigt, daß diese Kurven Traktorien der 
Archimedischen Spirale sind. 

Auch Euler hat sich mit derarligen Fragen beschäftigt und 
folgendes „Problema geometricum ob singularia symptomata imprimis 
memorabile“!) gelöst (10. Februar 1777): Eine Kurve so zu be- 
stimmen, daß der Sektor AUZ=2 dem Quadrat des Bogens 
AZ=s proportional sei. Dabei 
ist angenommen, daß A zugleich 
Tangente an die Kurve in A sei, 
und daß die Achse OB auf AC 
senkrecht stehe. Es soll also 
sein: 

—=4n2. (1) 
Dieser Gleichung genügt, wie 4 
man leicht sieht, die logarith- A 
mische Spirale um C, wenn 


2 
sin 28 











ist, wo & den konstanten Winkel 2 
des Radiusvektor gegen die Tan- Fig. 36. 

gente bedeutet. Dies ist aber 

schon deshalb nicht die allgemeinste Lösung, weil hier n>2 sein 
muß. Für die allgemein gefaßte Aufgabe gibt Euler drei Lösungen; 
die erste benutzt den Winkel @ der Normalen gegen die Achse und 
drückt das vom Ursprung auf die Normale gefällte Lot OD=t, und 
das Stück ZD der Normalen =p in Funktion dieses Winkels aus. 
Hierbei zeigt sich zunächst, daß p dem Bogen s, t dem Krümmungs- 
radius r proportional ist, nämlich 


B 


sen r=nt, | (2) 


was Euler als „proprietates insignes“ dieser Kurven bezeichnet. Weiter 
ergeben sich die Differentialgleichungen: 





dt d’t “ dp 


 N.A.P. VII, p. 87—116. 


494 Abschnitt XXIV. 


Die Integration liefert unter Berücksichtigung der Anfangsbedin- 
gungen: 
t= 








(wer — Ber); ar fig = zer e), (4) 


wo die vom Ursprung an die Kurve gezogene Tangente CA = a ist, 
und « und ß den Gleichungen genügen: 


e+ß=n; aß = 1. 


Die Reellität von « und ß hängt also davon ab, ob n22 ist. Es 


sind also bei der Diskussion der Kurve drei Fälle zu unterscheiden: 

1) n>2, « und ß sind reell (Fig. 37). Für wachsende Werte 
von @ wird t und damit nach (2) auch r immer größer; die Kurve 
zieht sich also in immer weiteren Windungen um den Punkt © herum. 
Nimmt p ab und wird negativ, so gibt es schließlich einen Wert, nämlich 


— 2log« 

a—ß 

wo t, und damit r, verschwindet. Daraus ergibt sich, daß der 
entsprechende Kurvenpunkt E ein Rückkehrpunkt ist (dar =0), 
dessen Normale durch Ü geht (da t=0). Von diesem Punkte ab 
nähert sich die Kurve asymptotisch dem Ursprung (C, 
und es ist Bogen ÜE= Bogen AE. In der Nähe von 
C und im Unendlichen nähert sich die Kurve der loga- 
rithmischen Spirale. Denn ist #® der Winkel des Radius- 
vektor gegen die Kurventangente, so ist‘ 





7A 





Ei ee _ ef P 
de Et aeP® _ Ber’ 


also lim tg9 = ß, und lim tg9# = «. 


BR 9y=nR 


2) Falln=2. In diesem Fall ist «= ß; aus (3) 








E folgt t=a(l+gQp)e; p=ayp:e; Wem Im 
( Rückkehrpunkt ist = — 1. Die logarithmische Spirale, 
Fig. 37. der sich die Kurve asymptotisch nähert, hat den Win- 


kel 45°. 

3) Fall n< 2. Hier werden « und ß konjugiert imaginär und 
an Stelle der Exponentialfunktion treten goniometrische Funktionen. 
Setzt man = u-+ iv; B=u-— iv, so wird: 
a:e"?sinvgp 

v 





= er? (m sinvp+vcosvp); Pp= 


Die Bedingung für den Rückkehrpunkt (t=0) ist hier tgvp= — = ; diese 


ist aber für unendlich viele Werte von p erfüllt, also hat die Kurve 
unendlich viele Spitzen. 


Höhere ebene Kurven. 495 


Die beiden anderen Lösungen geben die Gleichung der Kurve in 
Polarkoordinaten (z, w) und in rechtwinkligen Koordinaten (2, Y), 
nämlich: 








= 


ayitea—at of ngdq 
2a) h A+HdA—nga +)’ 
(ga — B* =? 


w 


wo der Parameter q = er ist; und 


x = 00°? (« sing — 08 p) — ae?? (B sing — c0Sp), 
y= ae? (sinp + «cosp) — ae’? (sing + PB cosp). 

Endlich gehören hierher noch zwei Abhandlungen von Fuß, 
nämlich: „Exereitatio analytico-geometrica circa lineam curvam singu- 
lari proprietate praeditam“!) und: „Disquisitio analytico-geometrica de 
variis speciebus linearum eurvarum singulari proprietate praeditarum“?). 
In der ersten werden Kurven folgender Eigenschaft gesucht: Ist © 
ein Punkt der Normalen, 7 ein Punkt 
der Tangente eines Kurvenpunktes A 
und Y der Schnittpunkt von CT mit 
der Kurve, so sol AT=arce AY sein. x 
Setzt man AC=1, und nimmt AC als r % 
Abszissenachse, (C als Ursprung (also 


0X =x, X Y=y), so wird AT=%, 


2 




















xc 
die Differentialgleichung der Kurve lautet: 
A 
4(z)=ds Ar C 
oder Fig. 38. 
dy _ ytaeVarty'—e‘ 
AR ix: 2(1— x) l 


die sich jedoch nicht integrieren läßt, auch nicht durch Einführung 
von Polarkoordinaten. Fuß nimmt nun AT als x-Achse, also 
AX=xz, XY=y, zieht ferner in Y die Tangente YV, und führt 


’ 


den _TVY=9 und den Bogen ÄY=s ein. Dann ist: 





dx = ds c0S p; 

dy= — ds sing; 

AT=-s=- ——. 
Ar; 


Hieraus ergibt sich 


z=?sinp+scospg; y=1-—ssinp — 008SYp; 


= 1 TUE TEE 
Ss ayang J de Vene. 


1) A. P. 1780, II, p. 49—69. *) Ebenda, 1781, I, p. 127—146 





496 . Abschnitt XXIV. 


Hieraus folgt für den Krümmungsradius: 
d 1 
= -j;(l — Ss ctgp). 


Für s wird noch folgende Reihenentwicklung angegeben: 


Sr 1 1100-4) 1-3 singt 1:3...20—1 sing” 
s-sinp (5 Tem ran ee. 





Die zweite Abhandlung bringt eine Verallgemeinerung der vorigen 
Aufgabe, insofern jetzt an Stelle der Tangente eine beliebige Gerade 
aD. tritt. Es soll also (s. Fig. 39) 

% arcmn= MN sein. Hierbei 
wird der spezielle Fall be- 
handelt, daß die Kurve durch 
© gehen und in © eine ge- 
gebene Neigung « gegen die 
x-Achse (das Lot von ( auf 
MN) haben soll. Auch hier 











MY... . ; 
* führt die Aufgabe auf ein In- 
tegral von ähnlicher Form, 
Zt wie vorher, nämlich: 
A n Süsve»9; 


Fig. 39. i | DENE 
es wird auch hierfür eine Reihe 


entwickelt, die zur Berechnung von Kurvenpunkten für Spezialwerte 
von « dient. | | 

In verschiedenen Aufgaben der hiermit erledigten Gruppe han- 
delte es sich um Kurven, die gewisse Eigenschaften mit dem 
Kreis gemein haben. Es lag nahe, eine derartige Fragestellung 
noch weiter zu versuchen. Euler selbst hat dies ja für die charak- 
teristischen Eigenschaften der Kegelschnitte getan (s. 8. 471), und 
sich auch weiterhin mit ähnlichen Untersuchungen beschäftigt. 
Schubert und namentlich Fuß sind speziell vom Kreis ausgegangen. 
An derartige Fragen schlossen sich naturgemäß sonstige Aufgaben 
über Krümmungsradien, und deren Beziehungen zu den 
Koordinaten, zu Tangente, Bogenlänge usw. Die erste Abhand- 
lung auf diesem Gebiet wurde von Euler der Petersburger Akademie vor- 
gelegt am 16. Januar 1777: „Evolutio problematis, cuius solutio ana- 
lytica est diffieillima, dum synthetica per se est obvia“!). Es handelt 
sich darum, eine Kurve zu finden, deren Krümmungszentra alle 
auf einem gegebenen Kreis vom Radius —=a liegen. Es ist 
ohne weiteres klar, daß dieser Bedingung genügen: 





») N. A. P. VIII, p. 73886, 


Höhere ebene Kurven. 497 


1) alle Kreise, deren Mittelpunkte auf dem gegebenen Kreis liegen, 
also auch die Punkte dieses Kreises selbst. 

2) alle Evolventen des gegebenen Kreises. 

Die Abhandlung ist mehr wegen der darin angewandten Integrations- 
methoden bemerkenswert, als wegen der gefundenen Kurven, die ja 
nichts Neues bieten. In ersterer Beziehung handelt es sich um eine 
Differentialgleichung zweiter Ordnung, wobei Integrale verschiedener 
Art auftreten, darunter auch der Kreis selbst als singuläres Integral. 
Von Interesse ist hier eine Bemerkung Eulers über die Unter- 
suchungen von Lagrange (Nouveaux m&moires der Berliner Aka- 
demie 1774) über diesen Gegenstand, an denen Euler die nötige 
Klarheit vermißt: „Nullum autem est dubium, quin vir Illustrissimus 
(d.h. Lagrange) mentem suam non satis exposuerit aut quasdam 
rationes ad intelligendum necessarias reticuerit, quas equidem supplere 
non valeo, unde uberior explicatio super hoc prineipio, in quo ll. 
Auctor adeo insigne supplementum Caleuli integralis constituit, maxime 
foret optanda“. Es handelt sich hier wieder hauptsächlich um 
die Bedeutung der Integrationskonstante (s. 5. 479). Das jedem 
Band dieser Serie von Publikationen vorausgeschickte „Extrait histo- 
rique“ bemerkt dazu: „Il y a lieu de croire que M. Euler n’a pas bien 
saisi lidee de M. de la Grange, aussi parait-il dispose lu m&me ä 
mettre ses doutes sur le compte de quelque malentendu“. 

Auf höchst merkwürdige Kurven wurde Euler geführt durch 
seine Untersuchungen: „De 
curvis, quarum radıi osculi 
tenent rationem duplicatam 
distantiae a puncto fixo, 
earumque mirabilibus pro- 
prietatibus“!) (20. August 
1781). Die Aufgabe ist also, 
eine Kurve so zu bestimmen, 
daB der Krümmungs- 
radıus r dem Quadrat 
des Radiusvektor z pro- 
portional ist, also r = er 
Daß der Kreis vom Radius «a 
dieser Gleichung genügt, ist 
ohne weiteresklar; es gibt aber 


auch noch andere Kurven. Um diese zu finden, werden Polarkoordi- 








Fig. 40. 





) M. P. IX (1824), p. 4756. 


498 Abschnitt XXIV. 


naten (2, 9) eingeführt, ferner das Lot P vom Pol © auf die Tan- 
gente =p, und der Winkel ÜZP des Radiusvektor gegen die Tan- 
gente = % (vgl. Fig. 40). Es ist dann: 








2.dz u 
’m dp ’ (1) 
OELL, 2 
gUv TE ( ) 
also: 
dee 5 3 
nn (3) 
Diyr—= rn ‚ folgt aus (1) durch Integration, wobei die Konstante 
= 1 gesetzt wird: | 
p = alogs, (4) 
und somit ist nach (3): | 
alogzdz (5) 


de 
ig 2y 2°” — (a? log z)? 


Hieraus läßt sich ds bestimmen und integrieren; es ergibt sich 





s— ap = Ve? — (alogz)’+e, 
also, wenn c=( gesetzt wird (vgl. Fig. 40): 
apg=AZ—PZ. 


Aus der Figur folgt noch: 


siny--—, 


a |R8 


also nach (4): 





siny = = (6) 

Die Integration von (5) ist nicht ausführbar, daher versucht 

Euler durch eine scharfsinnige Diskussion dieser Gleichungen den 

angenäherten Verlauf der Kurve herzuleiten. Zunächst ist zu be- 

merken, daß sich zwei wesentlich verschiedene Fälle ergeben, je nach- 

dem a größer oder kleiner als die Basis e des natürlichen Loga- 
rithmensystems ist. Euler behandelt zunächst den 


1) Fall: a<e. 


In diesem Fall gibt es nur einen Wert von 2, der den Radi- 
kanden 2? — (alogz)’ zum Verschwinden bringt; denn der Faktor 
2— alogz kann in diesem Fall überhaupt nicht verschwinden. Be- 
zeichnet man jenen Wert von z mit f, so ist also f+alogf=(. 


Beispielsweise ist für a=1 angenähert f.= = Dieser Wert ist, 


= 
. 1 
wie Euler bemerkt, nahezu = ——-, woraus er vermutet, daß 


Vr' 


; . Höhere ebene Kurven. 499 


Tr der genaue Wert sei. Trägt man nun (vgl. Fig. 41) auf der 


7c 


Achse ein Stück OF=f ab, so wird für diesen Wert von z nach 
(6) sind = — 1; die Kurve steht also auf der Achse senkrecht. Nun 
schließt Euler aus (5), daß dp zunächst negativ sei, solange z<e, 
da ja dann logz negativ ist. Hier liegt nun offenbar ein Versehen 
vor; denn die Wurzel im Nenner hat ja ein Doppelzeichen, also muß 
die Kurve zur Achse symmetrisch sein. — Euler zeigt nun, daß die 
Kurve von F ab mit wachsendem z unter die Achse herunter geht, 
bis für z=1 dp=0, und y=(0 wird; d.h. die Kurve berührt hier 
den Radiusvektor. Für weiter wachsende 2 nimmt siny zu, erreicht 
sein Maximum für 2=e, und nimmt von da an immer ab. Der 


2 
Krümmungsradius nimmt gemäß der Gleichung r = T mit wachsen- 


dem z sehr rasch zu. Den Verlauf der Kurve für sehr große Werte 
von 2 bestimmt Euler durch etwas gewagte Schlüsse dahin, daß sie 
__.a(1+logk) 
3 k 





zu einer Geraden, die mit der Achse einen Winkel 


bildet (wo %k eine sehr große Zahl ist), ähnlich verläuft, wie die 
Parabel zu ihrer Achse. Vielleicht ist es richtiger, daß die Kurve 








Fig. 41. 


für sehr große Werte von 2 in rasch größer werdenden Spiralen um 
den Pol läuft. Auf Grund dieser Überlegungen bestimmt Euler für 
a=1 die Gestalt der Kurve in der durch Fig. 41 angedeuteten 
Weise, wobei der von ihm nicht gezeichnete symmetrische zweite Zweig 
der Kurve gestrichelt beigefügt ist. 

2. Fall: a>e. Hier erhalten die Kurven eine wesentlich 
andere Gestalt. Es gibt nämlich jetzt drei Werte von 2, die den 
Ausdruck 2? — (a logz)? zum Verschwinden bringen: einmal den schon 
im 1. Fall genannten, für den z+alogz2=0 ist, und der wieder 
mit f bezeichnet wird, und dann noch zwei weitere, g und h, für 
welche z— alogz=0 ist, und von denen der eine zwischen 1 und 
e, der andere zwischen e und ® liegt. Die Werte g und h genügen 
dabei noch der Gleichung: 


CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 33 


500 Abschnitt XXIV. 


Für Werte von z zwischen g und h wird die Kurve imaginär, ebenso 
für z2<f. Die Kurve zerfällt also in zwei getrennte Zweige, von 
denen der eine außerhalb des Kreises mit Radius Ah, der andere 
zwischen den Kreisen mit den Raden f und g liegt. In den Punkten, 
woz=f,2=9,2=h ist, steht der Radiusvektor auf der Tangente 
senkrecht; für z= 1 berührt er die Kurve. 

Auf Grund ähnlicher Überlegungen wie im ersten Fall findet 
Euler die in Fig. 42 angedeutete Gestalt der Kurve, wobei g= Y3 
h=3YV3; a ns und f angenähert = er ist. Hierbei ist also 
OF=f, Cg=(0G=g; CH=h; CE=e; OA=]1. Die Symmetrie 

oN zur Achse wird diesmal berücksichtigt. Der 

BR pt \ äußere Zweig verläuft ähnlich, wie die Kurve 
a im 1. Fall für große Werte von 2. Die An- 
N € zahl der Windungen des inneren Kurven- 
zweiges hängt vom Verhältnis der X EÜg 
AD ” - ir zu 360° ab. Euler bemerkt noch, daß dieser 
j & Winkel um so kleiner sei, je mehr f und g 

SS Y / sich dem gemeinsamen Wert 1 nähern, und 
/ um so größer, je mehr sich g und h dem 

N / gemeinsamen Wert e nähern, und folgert 
.* B% daraus, daß für «= e, in welchem Fall auch 
Fi g und A=e werden, dieser Winkel EÜg 
unendlich groß werde, d. h. daß die Kurve 

erst nach unendlich vielen Umdrehungen den Kreis mit Radius e er- 
reiche, um dann in den äußeren Zweig überzugehen. Schließlich 


macht Euler darauf aufmerksam, daß der Kreis mit Radius a, der 


ja offensichtlich der Gleichung 2= — genügt, gar nicht auftritt, und 











bemerkt: „istum casum quasi per divisionem e caleulo expulsum fore“. 

Die hier behandelte Frage ist ein spezieller Fall eines allgemei- 
neren, die Fuß untersucht in einer Arbeit vom 24. April 1788: 
„Solutio problematis ex methodo tangentium inversa“'), Fuß knüpft 
hier an ein Paradoxon an, nämlich daß alle Kurven, deren Krüm- 
mungsradius gleich dem Radiusvektor ist, sich rektifizieren 
lassen, und daß dies für den Kreis (der doch sicher auch zu 
diesen Kurven gehört), bekanntlich nicht zutrifft. Er sucht nun 
zu einer Lösung dieses Paradoxons zu gelangen, indem er sich die 
Aufgabe stellt, alle Kurven zu finden, deren Krümmungsradius eine 
gegebene Funktion des Radiusvektor ist?). 





ı) N. A. P. IV, p. 104—128. 2) Mit dieser Aufgabe hat sich auch schon 
Jacopo Riccati beschäftigt. S. Loria, Spez. alg. u. transcerd. Kurven, S. 530. 


Höhere ebene Kurven. 501 


Der Gang der Untersuchung ist im ganzen ähnlich wie in der 
Arbeit von Euler, die Bezeichnungen sind indes etwas anders ge- 
wählt. Fuß führt außer Polarkoordinaten (2, ) ebenfalls das vom 


Pol auf die Tangente gefällte Lot 2 und ee —=p ein. Die Funktion 


von 2, die dem Krümmungsradius gleich sein soll, heißt Z. Es werden 
dann, meist auf differentialgeometrischem Wege, folgende Relationen 


hergeleitet: 
ad2 _ — px 
hr = Yı+p’ (1) 
tdz | 
2 
 wye—# a 2) 


Setzt man in (2) für t seinen Wert aus (1) ein, so ist die Auf- 
gabe auf die Ausführung von zwei Quadraturen zurückgeführt. Nun 
werden Spezialfälle behandelt, und zwar 

1) Z= nz. Die Integration wird bewerkstelligt durch Einfüh- 
rung des Winkels, den die Tangente eines Kurvenpunktes mit dem 
in diesem Punkt auf dem Radiusvektor errichteten Lot bildet, und 
der mit 2% bezeichnet wird. Es ergibt sich dann (mit a und C als 
Integrationskonstanten): 
2dy 








a 
ac +n cos ae en 02% + 1+ncos2%?’ (3) 
und für den Bogen s 
£, n?a - sin 2% $ Re 
9° 7 —ndA Encon2y) 4 (9 +29 — 0) (4) 


Aus (4) folgt, daß diese Kurven rektifizierbar sind. Das Integral 
in (3) nimmt verschiedene Formen an, je nachdem n=1,n<I1, 
n>1 ist, nämlich: 

















fürn=1 
g=0—-2U +tgV, 
für n<1l 
Mi: 2 1—-n 
ee Vin: Vizt tv], 
fürrn>1 
27 
9— 204, 1o Via 2, 





N 
Bu Vi: ev 


Diese Fälle werden der Reihe nach entwickelt; am interessan- 
testen ist eigentlich der erste, weil hierunter auch der Kreis fällt. 
Es ergibt sich eine Kurve, welche die zweite Evolvente eines 
Kreises vom Radius a ist. Beschreibt man nämlich (Fig. 43) 


einen Kreis mit Radius a (Mittelpunkt A), konstruiert dessen Evol- 
33* 


502 Abschnitt XXIV. 


vente ER von E aus, trägt auf der Tangente des Anfangspunktes 
ein Stück EC = 5 ab, und wickelt nun einen über die Evolvente 


gespannten Faden, von ( beginnend, ab, so beschreibt das freie Ende 
die gesuchte Kurve. Es ist jedoch auch hier, wie bei Euler, nicht 
berücksichtigt, daß die Kurve zur Achse symmetrisch sein muß, und 
daher nur der in der Fig. 43 
ganz ausgezogene Teil der 
Kurve angegeben. Für die 
Bogenlänge s ergibt sich in 
diesem Fall 








1 a 
— „V2a2z— a? 


* (2a2 — as)’ 
6a? 








Fig. 43. " 
also ist die Kurve rektifizier- 
bar. Damit kommt Fuß auf das zu Anfang erwähnte Paradoxon 
zurück, daß der Kreis mit Radius =a, der doch auch zu diesen 
Kurven gehört, nicht rektifizierbar ist. Die Lösung findet Fuß darin, 
daß für z— «a der Ausdruck für das Linienelement die unbestimmte 


0) 
Form - = annımmt. 


Nachdem auch noch die beiden anderen Fälle m<1,n>1) 
entwickelt sind, werden die Kurven betrachtet, für welche 

2)r=Z pen ist. Hier ergibt sich aus (1) mit Vernach- 
lässigung der Integrationskonstante: 


gaım 


Zr ger‘; 


und daraus 
A 


"Van (m — 1) 








Es zeigt sich nun, daß diese Formeln für m=1 und m = 2 
versagen; für m = 2 findet Fuß den Ausdruck für die Bogenlänge, 
der auch bei Euler vorkommt, und bekennt: „hie subsistere sumus 
eoacti“ m=3 ergibt eine gleichseitige Hyperbel. Von Interesse ist 
noch die Schlußbemerkung, daß Fuß erst nachdem er seine Untersuchung 
„iam ad umbilicam paene“ durchgeführt hatte, die vorher (9.497 ff.) be- 
is lheirs Arbeit des schon verstorbenen Euler entdeckte (die damals 
noch nicht gedruckt war), wo die Diskussion des 'schwierigsten Falles 
m—=2 „per mera ratiocinia* durchgeführt sei. 

Dem in den beiden letzten Arbeiten erwähnten Paradoxon be- 


Höhere ebene Kurven. 503 


züglich des Kreises hat Schubert eine eigene Untersuchung gewidmet: 
„Solutio dubii eirca reetificationem eurvarum“!) (30. Juni 1791). Er 
bemerkt einleitend, daß solche Paradoxa meist daher kommen, „quod 
Analysta ad caleulum nimis attentus, minus inquisiverit, an, quae 
calculo supponit, cum rei natura consentiant“, und knüpft dann an die 
eben besprochene Arbeit von Fuß an. Die Untersuchung trifft aber den 
eigentlichen Kern der Sache auch nicht, nämlich, daß r = const. ein 
singuläres Integral der Differentialgleichung ist. Schubert bemerkt 
nur, daß sich für den Kreis durch Anwendung des allgemeinen Ver- 
fahrens eine identische Gleichung ergebe. Interessant ist an der 
Arbeit auch eine Zwischenbemerkung; Schubert glaubt nämlich in 
der Tatsache, daß sich der Bogen des Kreises durch das allgemeine 
Verfahren nicht berechnen läßt, einen Beweis dafür zu finden, daß er 
überhaupt nicht rektifizierbar sei, während bisher die „irrecti- 
fieabilitas“ des Kreises schwerlich je streng bewiesen worden sei. 

Kurz vorher (18. Oktober 1790) hatte Schubert in einer Note 
(„Problemata e methodo tangentium inversa“?) sich, ausgehend von der 
Eigenschaft des Kreises, daß der Krümmungsradius gleich der Nor- 
malen ist, die Aufgabe gestellt, eine Kurve zu finden, für welche der 
Krümmungsradius gleich der negativen Normalen ist; daß die von 
ihm ermittelte Kurve die längst bekannte Kettenlinie ist, scheint ihm 
dabei entgangen zu sein. 

Auch Fuß hat sich später noch einmal mit derartigen Fragen 
beschäftigt, und zehn Aufgaben über den Krümmungsradius, wo Be- 


ee 








© A au @ N 
Fig. 44. 


ziehungen zwischen diesem, dem Radiusvektor, der Bogenlänge usw. 
gegeben sind, gelöst („Decas problematum geometricorum ex methodo 
tangentium inversa, radium osculi speetantium“®?) (13. Juni 1799). 





») N.A.P.IX, p. 190—204. °) Ebenda p.166—189. °)M.P.1(1809), p.88—118. 


504 Abschnitt XXIV. 


Dieselben lauten in den durch Fig. 44 angedeuteten Bezeichnungen 
(m, n bedeuten gegebene Zahlen, a, c gegebene Strecken, R das 
Krümmungszentrum): 


l)s=r. 2) Aua y- 
a)r—2—a. 4) = 

r 1 RN: 
ER er RT ER 
7) +: 8) mir? +? 2. 
)mr+ns = at. 10) m?s? — n?r? = c?. 


Endlich gehört noch hierher eine Arbeit von Platzmann (1760 bis 
1786), einem Schüler von Lexell und Adjunkt der Petersburger Aka- 
demie?): „Solutio problematis ex methodo tangentium inversa“?). Hier 
soll der Krümmungsradius in einem konstanten Verhältnis zur Summe 
der Abszisse und Subnormale stehen, es ist also dieselbe Aufgabe, die 
Fuß später in seiner Decas als Nr. 2 behandelt hat. 

Eine dritte, kleinere Gruppe von Abhandlungen befaßt sich mit 
Kurven, die durch irgendwelche mechanische Eigenschaften 
definiert sind. Die erste dieser Arbeiten ist von Saint Jacques de 
Guillaume de Silvabella (1722—1801, Direktor der Sternwarte 
zu Marseille); sie handelt: „Du solide de la moindre resistance“?) und 
sucht die Kurve, deren Rotationskörper bei einer Bewegung 
in der Richtung der Achse im widerstehenden Mittel den 
geringsten Widerstand erfährt‘) Silvabella betrachtet zuerst 
den Widerstand des Rotationskörpers eines Kreisbogens, stellt die 
Bedingung dafür auf, daß dieser ein Minimum wird, und leitet daraus 
die Differentialgleichung der Kurve her, nämlich: 


3ydady dy — ydydz — dyda=0. 


Ein erstes Integral lautet, wenn = — u gesetzt wird: 
x 


. Beung — (1 2 u?). 


Die ballistische Aufgabe, die Bahnlinie der Geschosse mit Be- 
rücksichtigung des Luftwiderstandes zu finden, behandelt Jean 
Charles Borda?°) (1733—1799, Ingenieur der französischen Flotte, 





ı) Vesselofski, Einige Materialien zur Geschichte der Akademie der 
Wissenschaften M. P. LXXIIIl, Anhang Nr. 2 (in russischer Sprache). ER 
1781, II, p. 90—103. °) Mem. div. Sav. III (1760), p. 638—649. *) Loria, 
Spezielle Kurven, S. 585 f. °) Hist. de l’Acad. Avec les m&moires math. et 
phys. 1769, p. 247--271 


Höhere ebene Kurven. 505 


später Divisionschef im Marineministerium) unter der Voraus- 
setzung, daß der Luftwiderstand R dem Quadrat der Geschwindigkeit 


u proportional ist, also R = < . Die entstehende Differentialgleichung 


dy. 
lautet, wenn 2 = er ist: 
‚X 


adz azdz 
1 ET Y = EZ . 
ie ee 


Um die Integration dieser Gleichungen bewerkstelligen zu können, 
nimmt Borda an, daß die Dichtigkeit der Luft nicht konstant sel, 
sondern eine Funktion von x sei. Durch passende Wahl derselben 
werden die Gleichungen integrabel. Durchgerechnete Zahlenbeispiele 
ergeben, daß die Bahn erheblich von der parabolischen abweicht 
ferner, daß die wirkliche Schußweite 
hinter der theoretischen zurückbleibt, 
und daß sie ihr Maximum nicht 
bei 45°, sondern etwa bei 30° er- 
reicht. 

Mit einer elastischen Kurve hat 
sich Euler in einer Abhandlung: i 
„De miris proprietatibus curvae elasti- 

















: x? dx 
cae sub aequatione Yy= | ——— 





contentae“?) beschäftigt. Er bemerkt 
einleitend, daß die Kurve periodisch 
verlaufe, und beweist nun folgende merkwürdige Eigenschaften von 
ihr, wobei (vgl. Fig. 45) AD (Abstand eines Maximalpunktes von der 
y-Achse) = 1; ferner 


CD=a;: arclA=c; CP=x; PM=y; aeCM=s 


Fig. 45. 


ist; nämlich: 
die Normale MN=-; 1 f de 
® V 


is ar’ 


; AB-arc AO= AD. 7. 


e|S 
2 


* r 1 
Krümmungsradius = — = 
2% 





Bedeutet ferner //(z) die Funktion : a so zeigt sich, daß 
—2 


d 
y = Il(x) unsere Kurve darstellt, ist ferner &(z) = er so daß 





) A. P. 1782, II, p. 34—61. 


506 Abschnitt XXIV. 


©(&) die Bogenlänge bedeutet, sind endlich x, y, z drei Abszissen 
derart, daß 
9(2) = 9a) + 0(y) : 


IT(e) = I(a) + II(y) + aya. 

Die A. E. 1769 enthalten eine Arbeit von Lambert: „Solutio 
problematis ad methodum tangentium inversam pertinentis“, über 
die Verfolgungskurve, mit der Angabe, daß die Aufgabe von 
Vincenzo Riecati stamme?); nach dessen Aussage sei sie ihm 
(Riecati) gesprächsweise von einem „viro in rebus analytieis satis 
versato“ vorgelegt worden, der aber offen zugab („ingenue aiebat“) keine 
Lösung zu wissen. Lambert bemerkt dazu, daß ihm dieselbe Auf- 
gabe schon lange wie ein „lusus ingenii“ in den Sinn gekommen sei. 

Die Kurve muß nun 

die Eigenschaft haben, 

daß ein Kurvenbogen MD 

in einem konstanten Ver- 

hältnis steht zu dem Stück 

TG, das die in seinen 

Endpunkten gezogenen 

Tangenten auf einer ge- 

a Fig. 46. r gebenen (eraden abschnei- 
den, also 


areMD:TG =n:l. 


Nimmt man die gegebene Gerade als «-Achse und GT als positive 
Richtung derselben, und bezeichnet den / MTG mit w, so ist 


ist, so ist: | 





ay 
user 7 


und die Differentialgleichung der Kurve heißt: 


d 
Fr y —= yd(ctgw). 





Nimmt man als Anfangspunkt den Punkt, wo die Kurventangente 
auf der x-Achse senkrecht steht, und den Abschnitt dieser Tangente 
als Einheit, so ergibt die Integration: 

1 1 1 1 
Be ng tag +) 

Ist n=1,d.h. die Geschwindigkeit des Verfolgers gleich der 
des Verfolgten, so versagt diese Gleichung. Ein Zurückgehen auf die 
ursprüngliche Differentialgleichung ergibt in diesem Fall: 








‘) Loria, Spezielle Kurven, S. 608, zeigt, daß die Aufgabe älter ist. 


Höhere ebene Kurven. 507 


27 = a 


Eine Aufgabe verwandter Art behandelt Nieuport (Charles 
Francois lePrudhomme d’Hailly, Vicomte de Nieuport, 1746 
bis 1827, Malteser Ritter, von 1815 an Mitglied der 2. Kammer und 
der Akademie in Brüssel) in einer vom 16. September 1777 datierten 
Arbeit: „Memoire sur les courbes que decrit un corps qui s’approche 
ou s’eloigne en raison donnee d’un point qui parcourt une ligne 
droite“?). Es handelt sich dabei um folgendes: Ein Punkt bewegt sich mit 
gegebener Geschwindigkeit 
v von einem festen Punkt A 
aus, ein zweiter ebenso mit 
der Geschwindigkeit w von 
B aus, der letztere auf 
einer Geraden. Bezeichnen 
C und D eine beliebige 
Lage der beiden Punkte, KK D on = 
so kann man die Aufgabe 
stellen, die Bahnkurve des Punktes © so zu bestimmen, daß die Ent- 
fernung CD der beiden Punkte eine gegebene Funktion der Koordi- 
naten des Punktes C sei. Die Lösung ist folgende: Es sei (Fig. 47) 
BK=z; CK=y; BD=2; are AC=s, so ist 








z=2—- VCD— y; 2. 


© 


Daraus folgt als Differentialgleichung der Kurve 


äugs d(z Te veD: — 9?) ’ 


wo also ÜD eine gegebene Funktion von « und y ist. Dies wird an 
dem einfachsten FallOD= «a durchgeführt, wobei also die Entfernung 
der beiden Punkte und das Verhältnis ihrer Geschwindigkeiten kon- 
stant ıst. Ist letzteres = h, so ergibt sich: 


ame + ViV ıh a ER 


wo W"—1= 9 ist. 


Für A=1 erhält man mit Weglassung der Integrationskon- 
stanten: 


ds: w 





RL TEUER N Arnd Arch 
rn a+ Va’—y? 





") Memoires de l’Acad. Imp. de Bruxelles, T. II (1780), p. 139—151. 


508 Abschnitt XXIV. 


Es wird dann noch der schwierigere Fall untersucht, daß die 
Geschwindigkeiten veränderlich sind. Bezeichnet man diese mit P 


und @, so ist 2= F .. also wird die Differentialgleichung: 








e - - de - dVODY. 
| Fr Pe Bi ; 
Als Beispiel dient a ve *; OD=y, wobei sich die Wurfparabel 
a, 


ergibt. Auf diesem Weg läßt sich auch leicht die Leibnizsche 
Isochrone herleiten, indem OD=y; P=Yg; Q=Y« gesetzt wird. 
Man erhält so die Neilsche Parabel. 

Mit allgemeinen Traktrixkurven!) beschäftigt sich Euler in zwei 
Abhandlungen aus dem Jahr 1775, „Commentatio de curvis traetorlis“, 
und „De eurvis traetorlis ecompositis“.?) Die erste stellt die Differential- 
gleichung für den allgemeinen Fall auf, daß der ziehende Punkt sich 
auf einer beliebigen Kurve bewegt, integriert und rektifiziert sie für 
den Fall, daß diese Kurve ein Kreis ist. Euler versucht auch, die 
Aufgabe unter Berücksichtigung der Reibung zu lösen, mit dem Re- 
sultat, daß diese Aufgabe die Kräfte der Analysis übersteige. In der 
zweiten Abhandlung wird der Fall untersucht, daß mehrere Punkte 
hintereinander an demselben Faden befestigt gedacht sind; doch ge- 
lingt auch hier die Lösung nicht. 

Endlich ist noch zu bemerken, daß Malfatti in der schon er- 
wähnten Schrift: „Della curva Cassiniana“, wo alle Eigenschaften durch 
synthetische Überlegungen hergeleitet werden, von der Lemniskate 
die folgende nachweist: Steht eine Doppelpunktstangente vertikal, so 
durchfällt ein schwerer Punkt, der im Doppelpunkt seine Bewegung 
beginnt, einen Kurvenbogen und seine Sehne in der gleichen Zeit. 

Als vierte Gruppe lassen sich einige Arbeiten über Trajek- 
torien und Parallelkurven zusammenstellen; den ersteren sind 
verschiedene Abhandlungen von Euler gewidmet, nämlich: „Conside- 
rationes de traieetoriis orthogonalibus“°), „Digressio de traiecetoriis tam 
orthogonalibus quam obliquangulis“*) und „Considerationes super traiec- 
toriis tam rectangulis quam obliquangulis“°) (3. Juni 1775). Gerade 
bei diesen Arbeiten ist wieder auf die S.479 gemachte Bemerkung 
über eine gewisse Unklarheit in betreff der Integrationskonstanten 
hinzuweisen. Zunächst ist stets nur von einer Trajektorie die Rede®). 
Es ist nämlich fast immer angenommen, daß die Differentialgleichung der 





ı) Vgl. Kästner, Gesch. d. Math. IV, 8. af. ®, N.A.P. IH, p. 3—27, 
p- 28—35. 5 N.C.P. XIV (1769), p. 46—71. *, Ebenda, XVII (1772), 
p. 205—248. S% N.A.P. I, p. 3—46. 6, So übrigens auch bei Klügel in 
dem betr. Artikel, V, p. 92#f. 


Höhere ebene Kurven. 509 


Kurvenschar, deren Trajektorie gesucht wird, den Parameter noch ent- 
hält; in der zweiten der oben genannten Abhandlungen sagt Euler 
sogar geradezu, eine Kurvenschar könne definiert sein durch eine 
Differentialgleichung mit einem Parameter. — Unter dieser Annahme 
untersucht Euler die verschiedenen Fälle, die sich ergeben, je nach- 
dem die Gleichung der Kurvenschar nach einer der Variabeln oder 
nach dem Parameter auflösbar ist. Die Theorie selbst wird jedoch 
in keinem wesentlichen Punkte weiter gefördert, nur der Satz tritt 
wohl hier zum erstenmal auf, daß die Bedingung für die Orthogona- 
lität zweier Kurvenscharen F(x, y, p)=0 und ®l(z, y, yJ=0O ge- 


geben ist durch die Gleichung ie + ir =(); um die hier auf- 


tretenden Differentialquotienten bilden zu können, sind aus den Glei- 
chungen der Kurvenscharen x und y als Funktionen der Parameter p 
und g auszudrücken. 

Einen entschiedenen Fortschritt gegenüber diesem Standpunkt 
"bedeutet die Arbeit von Trembley (1749—1811, erst Jurist, dann 
Mathematiker, von 1794 an in Berlin, Mitglied der Akademie): „Ob- 
servations sur le probleme des Trajectoires“.!) Hier wird die Aufgabe mit 
voller Klarheit angefaßt und durchgeführt, unter Bezugnahme auf Eulers 
Veröffentlichungen, die Trembley als einen „calcul assez prolixe“ be- 
zeichnet. Er macht auch auf den Hauptfehler aufmerksam, nämlich auf 
die falsche Auffassung des Parameters, bzw. der Integrationskonstanten, 
und zeigt, wie man aus der Gleichung einer Kurvenschar F(z, y,«) = 0 
mit dem Parameter « ihre Differentialgleichung findet, indem 
man sie differenziert und den Parameter eliminiert, was freilich bei 
der praktischen Ausführung manche Schwierigkeiten bietet. Aus der 
Differentialgleichung ergibt sich dann die der Orthogonaltrajektorien, 


r d ; d i ; Er 
indem man er mit — er vertauscht. Die Methode wird an einigen 


Beispielen durchgeführt und auf schiefwinklige Trajektorien ausgedehnt. 

„De traiectoriis reciprocis tam reetangulis quam obliquangulis“ ist 
der Titel einer Abhandlung von Euler in den A. P. 1782, II, p.3—33. 
Die hier betrachteten Kurven sind von etwas anderer Art, als die 
Isogonaltrajektorien. Es handelt sich nämlich darum, eine Kurve zu 
finden, die, um eine Gerade umgeklappt und parallel mit dieser ver- 
schoben, ihre ursprüngliche Lage immer unter demselben Winkel 
schneidet. Euler behandelt hier die schon von Joh. Bernoulli und 
von ihm selbst gelöste Aufgabe?) in allgemeiner Weise, und leitet 
algebraische Kurven dieser Art her. 





‘) Nouyeaux Memoires de l’Acad. de Berlin (1797), p. 36—83. ®, Siehe 
Klügel, V, p. 113ff. 


510 Abschnitt XXIV. 


Zu den Trajektorien kann man in gewissem Sinn auch die Pa- 
rallelkurven rechnen, sofern sie die ÖOrthogonaltrajektorien einer 
Schar von Geraden sind. Sie entstehen bekanntlich dadurch, daß man 
auf allen Normalen einer Kurve in derselben Richtung gleiche Stücke 
abträgt und die Endpunkte verbindet; sie heißen auch äquidistante 
Kurven. Leibniz!) hat zuerst auf sie aufmerksam gemacht; in un- 
serem Zeitraum hat sich zuerst Nieuport damit beschäftigt in einem 
„M&moire sur les codeveloppees des courbes“”). Er nennt sie hier „code- 
veloppees“ und stellt ihre allgemeine Gleichung auf, die er dann speziell 
auf die Parallelkurven der Parabel anwendet. Bemerkenswert ist, wie 
er sie zu veranschaulichen sucht, nämlich durch eine Fläche, die ent- 
steht, wenn man jede Parallelkurve im Abstand ce um die Strecke c 
über die Koordinatenebene hebt. Es entsteht so ein „solide fort com- 
plique“, nämlich, um die Sache im heutigen Sprachgebrauch auszu- 
drücken, eine Regelfläche, deren Mantellinien alle die gegebene Kurve 
schneiden, mit deren Ebene einen X 45° bilden und sich auf diese. 
Ebene als die Normalen der Kurve projizieren. — Fast gleichzeitig 
und, wie es scheint, unabhängig voneinander, haben Kästner und 
Angelo Luigi Lotteri (1760—1840, Professor der Mathematik zu 
Pavia) die Parallelkurven untersucht. Merkwürdig ist auch, daß beide 
durch eine Aufgabe aus der Praxis darauf geführt worden sind, näm- 
lich eine elliptische Mauer von überall gleicher Dieke zu konstruieren. 
Kästners Arbeit „De curvis aequidistantibus“ steht in den Commen- 
tationes Goettingenses 1793, Lotteris (Memorie sulle eurve parallele) 
im Giornale fisico-medico de Pavia (1792). In dieser Zeitschrift findet 
sich im Jahrgang 1795 ein Bericht über Kästners Arbeit, sowie 
über eine frühere von Cagnazzi über denselben Gegenstand, die 
schon 1789 ‚der R. Soc. delle Scienze di Napoli übergeben wurde. 
Die wichtigste, von Kästner und Lotteri unabhängig gefundene 
Eigenschaft bezieht sich auf die von: zwei Kurvennormalen und den 
zwischen ihnen liegenden Bögen der Parallelkurven eingeschlossene 
Fläche. Sie ist nämlich gleich dem Inhalt eines Trapezes, dessen 
parallele Seiten gleich den beiden Parallelkurven sind, und dessen 
Höhe gleich dem Abstand derselben ist; dieser Satz tritt bei Kästner 
allerdings in etwas anderer Form auf. Es ist nämlich angenommen, 
daß die eine der begrenzenden Normalen die x-Achse ist; ist nun 
are AM =s der Bogen einer Kurve, are FH der einer Parallelen 
im Abstand h, und & der Winkel der Tangente im Punkt M gegen 
die x-Achse, so ist zunächst 
FH= s — h(90°’ — $)}), 

») Bd. II2, 8.212. 2) Mem. de l’Acad. de Bruxelles, T. 4, p. 1-16. 
®) Wird Joh. Bernoulli zugeschrieben. 





Höhere ebene Kurven. 511 


und daraus 
AFMH = hs — 4+12(%° — 8). 


Es folgt dann eine ausführliche Diskussion der verschiedenen 
Fälle, die auftreten, namentlich dann, wenn der Abstand der auf der kon- 
kaven Seite liegenden Parallelkurve u 
größer oder gleich dem Krümmungs- 
radius ist; im letzteren Fall hat die I 
Parallelkurve einen Rückkehrpunkt. | 
Auch daß die Parallelkurven alle die- 
selbe Evolute haben, wird bemerkt, 
und den Schluß bilden einige Anwen- 
dungen. Die Parallelkurven der 
Ellipse speziell hat Prasse in 
einer Schrift: „De ellipseos evoluta et aequidistantibus“ (Leipzig 1798) 
behandelt. 

Zum Schluß dieses Kapitels sind nun noch eine Anzahl von Ar- 
beiten aufzuführen, die untereinander in keinem engeren Zusammen- 
hang stehen. Wir beginnen mit einer Untersuchung von Üasali 
(1721—1802; Professor in Bologna) über den Ort der Brennpunkte 
einer Schar von Kegelschnitten, deren Ebenen alle durch eine ge- 
gebene zur Grundkreisebene parallele Tangente gehen. Sie ist be- 
titelt: „De conicarum seetionum focis“ und steht in den Comment. 
Bonon. T. IV (1757). Casali findet als den gesuchten Ort eine Kurve 
dritter Ordnung, die sogenannte Pteroides Torricellanea'); sie liegt in 
der zur gegebenen Tangente senkrechten Meridianebene, hat die eine 
der in dieser liegenden Mantellinien zur Asymptote, berührt die andere 
im Berührpunkt der gegebenen Tangente, und hat einen Doppelpunkt 
in dem Fußpunkt des Lotes, das von diesem Punkt auf die Achse 
gefällt wird. 

Aus dem Jahr 1764 ist eine Arbeit von Euler zu nennen: „De 
insigni promotione methodi tangentium inversae“?). Es handelt sich 
hier um eine Kurve, die zunächst durch eine diskontinuierliche Reihe 
von Punkten bestimmt ist. Die Aufgabe ist nämlich, eine Kurve so 
zu finden, daß die Normale eines Punktes der Ordinate des 
Endpunktes dieser Normalen gleich werde. Die Herstellung einer 
Differentialgleichung ist nieht ohne weiteres möglich. Zunächst wird 
gezeigt, daß die Subnormalen der verschiedenen auf diese Weise ge- 





4 F' 
Fig. 48. 





') Nach Loria (Spez. Kurven, S. 60) stammt diese Kurve jedoch nicht von 
Torricelli, sondern von einem französischen Mathematiker des 17. Jahrhun- 
derts, vielleicht Roberval. 2», N.C.P. X, p. 135—153. 


512 Abschnitt XXIV. 


wonnenen Kurvenpunkte gleich sind, daß aber das Umgekehrte nicht 
gilt, d.h. daß die Kurven mit konstanter Subnormale der gestellten 
Bedingung nicht entsprechen. Bezeichnet man nun diesen konstanten 
Wert der Subnormalen mit {, so können die Abszissen der ein- 


zelnen Punkte so ausgedrückt werden: 207 +Z, wit wdT 
Funktionen von sing und cos g bedeuten; wächst also g um 2x, so 


wächst x um i. Da nun ? die Subnormale bedeutet, so ist = =t3 





also v-2] tda, während de = u +.dT ist. Setzt man 


diesen Wert ein, so folgt: „= . - = Pag +2 [tar In ähn- 


licher Weise werden dann noch andere Aufgaben dieser Art behandelt, 
z.B. daß QR?— JQ? konstant sein soll; daß die Subnormalen eine 
arithmetische oder geometrische Progression bilden sollen. 

Eine Kurve, von der sich ebenfalls zunächst bloß diskrete Punkte 
bestimmen lassen, ist y=x! Dieser hat Euler eine Abhandlung 
gewidmet: „De curva hypergeometrica hac aequatione expressa: 
y=1:-:2-3-4-.-2“") Die Gleichung ergibt zunächst nur Ordinaten- 
werte für ganzzahlige Abszissen; für gebrochene ist sie so umzu- 
formen, daß sie für beliebige Abszissen brauchbar ist, und natürlich 
für ganzzahlige mit der ursprünglichen Gleichung übereinstimmt. 
Hierbei ist die Bemerkung von Wert, daß mit einer beliebigen Ordi- 
nate auch diejenige bekannt ist, die zu einer um 1 größeren oder 
kleineren Abszisse gehört, wie ja leicht zu sehen ist. Es genügt also, 
den Verlauf der Kurve im Abszissenintervall O0 bis 1 festzustellen. 
Euler gibt hierfür verschiedene Entwicklungen, die zur Bestimmung 
von Tangente, Normale, Krümmungsradius usw. benutzt werden. Als 
Koordinaten eines Minimalpunktes ergeben sich durch ein Annähe- 
rungsverfahren: x = 0,46163214471; y = 0,8856031945, wozu Euler 
bemerkt, es sei nicht gelungen, irgendwelche Beziehungen dieser Werte 
zu bekannten irrationalen oder transzendenten Zahlen aufzufinden. 

Eine dritte Abhandlung über derartige Kurven, von denen zu- 
nächst nur diskrete Punkte gegeben sind, rührt von Fontana her: 
„Sopra lequazione d’una curva. Sopra la falsita di due famosi Teo- 
remi, e sopra la serie armoniche a termini infinitamente piecioli“.?) 
Hier interessiert uns nur der erste Teil der Abhandlung, der folgen- 
der Aufgabe gewidmet ist: Auf dem einen Schenkel eines Winkels 
QAB ist in B ein Lot errichtet, das die Halbierungslinie des Winkels 





» N.C.P. XII (1768), p. 3—66. 2, Mem. mat. fis. Soc. Ital. (1784), 
ee DR Be | 


Höhere ebene Kurven. 513 


in C schneidet; auf AC ist m © wieder ein Lot errichtet, das die 
Halbierungslinie des Winkels Q@AC in D schneidet usf. Führt man 
diese Konstruktion unendlich oft aus, so erreicht man schließlich die 
Gerade AQ in einem Punkte #7. Gesucht ist nun 1. die Strecke AH, 
2. die Gleichung der Kurve B, C, D...H. — Ist AD=z der Ra- 


A Q 

















Fig. 49. 


diusvektor eines beliebigen Kurvenpunktes D, und <QAD=u, so 
ist für den nächsten Punkt E der Radiusvektor AE= —° 





usw., SO 
OB 
z 


daß schließlich: 
AH = Im 


a 6. cos = cos as cos 
2 4 8 3n 


F7 





? 


oder nach einem trigonometrischen Satze: 


uU'2 
Aue; 
Bezeichnet man diesen Wert mit a, so ist umgekehrt die Gleichung 


der Kurve: 


a-sin“% 
g = . 
U 





Zu bemerken ist noch, daß für diese Gleichung, wohl zum erstenmal, 
der Ausdruck equazione polare gebraucht wird. Sonach scheint 
das Wort „Polargleichung“ und damit zusammenhängend: „Polar- 
koordinaten“ aus Italien zu stammen. — Die Kurve selbst liegt sym- 
metrisch zur Achse AQ und besteht aus einem herzförmigen Zweig 
mit der Spitze in A und unendlich vielen immer kleiner werdenden 
Övalen, die AQ in A beiderseits berühren. 

Zwei weitere Arbeiten Eulers beschäftigen sich mit der Be- 
ziehung einer Kurve zu ihren Evoluten. In der ersten: „Demonstratio 
theorematis Bernoulliani quod ex evolutione curvae euiuscunque rect- 
angulae in infinitum tandem eyeloides nascantur“') wird ein Satz von 





ı) N.C.P. X (1764), p. 179—198. 


514 Abschnitt XXIV. 


Bernoulli bewiesen, wonach ein Kurvenstück von der Amplitude 
= 90° durch fortgesetzte Evolutenbildung schließlich in eine Zykloide 
übergeht, und zwar zunächst durch eine Art Anschaulichkeitsbeweis, 
dann in streng analytischer Form, wobei gezeigt wird, daß für die 
letzte Kurve zwischen dem Bogen s und seiner Amplitude v die Be- 
ziehung besteht: 2= A sinv, welche die Zykloide definiert. Die 
zweite heißt: „Investigatio curvarum, quae similes sunt suis evolutis 
vel primis vel secundis vel adeo ordinis euiuseunque“!) (11. Dez. 1775). 
Zunächst wird eine elegante Beziehung zwischen dem Krümmungs- 
radius r, der Amplitude und dem Krümmungsradius r(” der nten 


Evolute hergeleitet, nämlich: 9 — a. Sollen nun zwei Kurven 


7 
ähnlich sein, so müssen ihre Krümmungsradien in entsprechenden 


Punkten proportional sein, d.h. für unseren Fall muß »« "= (.r, 
oder 


sein. Die Gleichung ist leicht zu integrieren; sie liefert 


r=4A-.0®, 


1=yC 
ist. Dieses Resultat wird auf Spezialfälle angewendet. 

In den Phil. Trans. 57 (1767), p. 28—43 untersucht George 
Witchell (1728—1785, Privatlehrer der Mathematik in London, von 
1767 an Headmaster of the Royal Naval Academy Portsmouth) die 
Frage nach dem Schatten eines Rotationsellipsoids (A general in- 
vestigation of the nature of a Curve formed by the shadow of a pro- 
late spheroid upon a plane standing at right angles to the axıs ‚of 
the shadow). Der Verfasser glaubt, gewisse Unregelmäßigkeiten in 
der Verfinsterung der Jupiterstrabanten damit erklären zu können, 
daß der Jupiter keine Kugel, sondern stark abgeplattet ist. Er sucht 
nun den Kernschatten dieses Planeten auf einer Ebene, die auf der 
Achse dieses Schattens senkrecht steht, wobei die Aufgabe sich wesent- 
lich dadurch vereinfacht, daß die Achse des Jupiter nahezu auf seiner 
Bahnebene senkrecht steht, so daß die Aufgabe auf die einfachere 
zurückgeführt werden kann: Gegeben eine leuchtende runde Scheibe, 
und eine elliptische, die beide auf der Verbindungslinie der Mittel- 
punkte senkrecht stehen; gesucht der Kernschatten der letzteren auf 
einer dritten Parallelebene. Es ergibt sich eine Art Lemniskate, die 


wo 





» N.A.P. I, p. 75—116. 


Höhere ebene Kurven. 515 


entsteht, wenn man auf allen Halbmessern einer Ellipse von der 
Peripherie aus gleiche Stücke abträgt. 

Es folgen nun in chronologischer Ordnung wieder einige kleinere 
Arbeiten von Euler. Die erste: „Problematis cuiusdam geometrieci 
prorsus singularis evolutio“!) sucht eine Kurve so zu bestimmen, daß 
die Normale den Winkel zwischen der Tangente und einer festen 
Geraden halbiert. 

Die zweite heißt: „De curvis hyperbolieis quae intra suas asym- 
totas spatium finitum ineludunt“?) (13. Februar 1777). Sie geht aus 
von der Bemerkung, daß keine Hyperbel von der Form 2” y” = c die 
im Titel genannte Eigenschaft besitzt, und untersucht nun, ob dies 
vielleicht für Kurven von der Form ax°y? +ba’y’=c der Fall sei. 
Vorausgeschickt wird ein Hilfssatz aus der Theorie der bestimmten 


Integrale, nämlich daß das Integral ; | Pe, 
0 | 
nk>(m+1)>0 ist. Dieser wird auf zwei Arten bewiesen und 
bildet die Grundlage für die Herleitung folgender Resultate: 


Alle hyperbolischen Kurven von der spezielleren Form: 


endlich ist, wenn 


axyP + bary— ce 


schließen zwischen ihren Asymptoten einen endlichen Raum ein, wenn 
folgende drei Bedingungen erfüllt sind: 1. a, db, c müssen alle drei 
positiv sein, 2. « und ß müssen beide positiv sein, 3. « darf nicht 
= ß sein. 

Für Kurven von der allgemeineren Form 


azy’ + bar = c 
gilt dasselbe, wenn 1. a, b, c alle positiv sind, 2. wenn «, ß, y, Öö 


alle positiv sind, 3. wenn von den Brüchen nn und = der eine >1, 
der andere <1 ist. 

Für Kurven der ersten, spezielleren Form gelingt unter den an- 
gegebenen Bedingungen die Bestimmung des in Rede stehenden Flächen- 
inhalts, wenn «@+ß=1; er beträgt nämlich: une 

Die dritte heißt: „De insigni paradoxo, quod in analysi maximo- 
rum et minimorum occurrit“®) (31. Mai 1779). Es handelt sich darum, 


eine Kurve zu finden, für welche f dsYx ein Minimum wird. Die-. 
selbe wird nach den Methoden der Variationsrechnung bestimmt, wo- 


N. O..P. ZVI (1771), ps 140—159. 2», N; A, P. VHL p- 116—139. 
s) M. P. III (1811), p. 1625. | 
: CAntor, Geschichte der Mathematik IV. 34 


516 Abschnitt XXIV. 


bei sich das scheinbare Paradoxon herausstellt, daß es eine Kurve 
gibt, für welche dieses Integral einen noch kleineren Wert annimmt. 
Euler findet die Lösung darin, daß jenes Minimum nur ein relatives 
sei, ebenso wie etwa ein Minimalpunkt einer Kurve nur den kleinsten 
Wert gegenüber den benachbarten Ördinaten, nicht den kleinsten 
Wert überhaupt bestimmt. 

Die vierte ist betitelt: „Solutio problematis ob singularia caleuli 
artifieia memorabilis“!) (22. März 1779). Hier ist die Aufgabe, eine 
Kurve so zu bestimmen, daß das Integral über dem Produkt aus dem 
Linienelement und einer beliebigen Funktion des Radiusvektor z, also 


fi ds: f(z) ein Minimum oder Maximum wird. Setzt man 


dv d 
fe)=v 5,5 =D 


so ergibt sich als Differentialgleichung: 


_.. v2dp 
g(1+P?) 


Die „singularia artificia“ bestehen nun darin, daß die Größen 


ydz — xzdy 


x dz 
a er 
eingeführt werden, wodurch sich ergibt: 


dz 
zVn®v?z?—1 





dp = 


(n ist Integrationskonstante). Charakteristisch für Euler ist die 
Schlußbemerkung, daß er nie auf diese artificia gekommen wäre, wenn 
er nicht die Lösung schon auf anderem Weg gehabt hätte, nämlich 
durch Einführung von Polarkoordinaten. 

In einer fünften Abhandlung: „De dupliei genesi tam epieyeloidum 
quam hypoeycloidum“?) beweist Euler einen von Dan. Bernoulli°) 
herrührenden Satz, daß jede solche Kurve auf doppelte Art erzeugt 


werden kann. Ist nämlich a der Radius des festen, b der des rollenden 


. ; . a C 
Kreises, so kommt, für b <a, dieselbe Kurve heraus, wenn b= —, 





c 


und b= >. ist, wo c eine beliebige Strecke <a ist. Ist b>a, 


so wird bei innerer Berührung für b=a-+ ec dieselbe Kurve be- 
schrieben, wie bei äußerer für b= c. 
Über eine 1779 erschienene Schrift von Nicola Fergola 





» M.P. II (1810), p. 3—9. 2, A. P. 1781, I, p. 48—39. s) Nach 
Loria (Spez. Kurven, $. 483). S. dort auch näheres hierüber. 


Höhere ebene Kurven. 517 


(1752—1824, Professor der Mathematik an der Universität Neapel 
und Gründer einer Schule von italienischen Mathematikern) kann ich 
nur nach Loria!) berichten. Es findet sich dort die Notiz, daß 
Fergola die schwierige Aufgabe gelöst habe, eine Kurve von der 
Eigenschaft zu finden, daß das Stück ihrer Tangente zwischen zwei 
festen Geraden gleich dem Krümmungsradius des Berührpunktes sei. 
Eine interessante Klasse von Kurven hat Euler in einer Arbeit: 
„De eurvis triangularibus“?) untersucht. Er versteht darunter Kurven 
mit drei Rückkehrpunkten (vgl. 
Fig. 49). Sie sind sowohl in 
der Optik, wo sie als Brennlinien 
auftreten, wie wegen ihrer Evol- 
venten von Interesse. A, B, © 
seien die drei Spitzen; a, b, ce die 
gegenüberliegenden Kurvenbögen. 
Trägt man nun z. B. auf der 
Tangente von A ein Stück 


AF=f 


ab und läßt die Tangente auf 
der Kurve abrollen, bis sie in z 
B berührt, so ist der die Evol- Fig. 50. 

vente beschreibende Punkt in g 

angekommen und es ist Bg=c+f. Kommt dieser Punkt der Reihe 
nach in die Lagen H, f, G@, h, so ist leicht zu sehen, daß 


CH=Bg—a=c+f-a; Af=b+CH=b+c+f-a; 
BG=Af—c=b+f-a; Ch=BG+a=b+f usw. 





Daraus folgt: 
FFf=Gg9g=Hh=2f+b+c-—a. 


Dies gilt aber für das Stück Xx jeder beliebigen Tangente, das inner- 
halb der Evolvente fällt; ist nämlich S der Berührpunkt, so ist 


SX=SC+CH; St-AS+AF; 


also 


X=S8SX+Sı=b+c+f-a+f=2f+b+ce—a. 


Die Evolvente hat also die merkwürdige Eigenschaft (die 
sonst nur dem Kreis zukommt), daß jede Normale eines belie- 
bigen Kurvenpunktes X in ihrem zweiten Schnittpunkt x 





) Niccolo Fergola & la scuola di Matematici che lo ebbe ä duce, 1904, 
p- 78/4. 9 A.P. 1778..IL p: 8-80, | 
34* 


518 Abschnitt XXIV. 


mit der Kurve wieder auf dieser senkrecht steht, und daß 
Xzx konstant ist. Euler nennt deshalb diese Kurven „orbiformes“. 

Um nun die Gleichung einer dreispitzigen Kurve aufzustellen, 
geht Euler aus von der Gleichung einer orbiformis und nimmt eine 
beliebige Normale Ff zur x-Achse; die konstante Länge Ff wird mit 
2f') bezeichnet. Ist nun Mm eine beliebige zweite Normale, und sind 
von M und m die Lote MM, und mm, auf Ff gefällt, ist ferner: 


FM,=X; MM=YT; Fm=: mm=y; 




















endlich 
aY u 
arg 
so ist zunächst P=p. Ferner läßt sich leicht zeigen, daß: 
r 2f 2fp 
Y-y=-——; ı- IX= 
| "vie Vitr 
Setzt man: 
X+x=-20; Y+y=2R, 
so wird 
fp f 
® is 4 vi+rP® 1) 
f 
=0+ =R— —+ 2 
tum Vraree “ 


Da (1) und (2) sich nur durch das Vorzeiehen der Wurzel 
unterscheiden, und dieser Unterschied verschwindet, sobald rational 
gemacht wird, so können (1) und (2) als gleichwertig angesehen 
werden. Differenziert man (1) oder (2), und setzt man dJY=pdX 
und dy=pdz ein, so ergibt sich dR=pdVQ, also 


R=/paQ. " | (3) 

Ist also @ eine beliebige Funktion von p, für welche die Inte- 
gration in (3) ausführbar wird, so stellt (1) oder (2) in Verbindung 
mit (3) die Koordinaten einer orbiformis als Funktionen des Para- 
meters p dar. — Um nun die Gleichung der dreispitzigen Kurve, d.h. 
der Evoluten zu finden, werden die Gleichungen durch eine Hilfs- 


funktion S = e* Qdp etwas vereinfacht. Man erhält nämlich aus (2): 





_dS fp Be ne Be 
ap 'yıyp' ? 0 Vi+r: 


Da die Kurve geschlossen sein soll, x und y also keinen unend- 
lichen Wert annehmen können, so darf auch $ nicht unendlich werden. 
Ist also z.B. S von der Fb 


_ WFAPFuPF'+a,9" 
&u+rbp+bp’ +. +b,n" ’ 








ı) f hat also hier eine andere Bedeutung als vorher. 


Höhere ebene Kurven. 519 


so darf der Nenner keine reellen Linearfaktoren haben, und es muß 
m<n sein. Die Aufstellung der Evolute wird nun vereinfacht durch 
die Bemerkung, daß diese für alle Werte von f immer die gleiche 
bleibt; man kann also f=0 setzen und erhält für die Koordinaten 
(t, w) des Krümmungsmittelpunkts: 


5 daS d’S 
en 0 (1+P); u=8— Pop ltr) 
Hieraus Zen sich für den ne n- ;(1+ + p)®. 


Schließlich wird das Beispiel S = - en —-, durchgeführt, Br die Auf- 


gabe gelöst, eine dreispitzige Kurve so zu bestimmen, daß die Spitzen 
in drei gegebene Punkte fallen. 

Zu einigen bemerkenswerten Resultaten über die Brennlinie 
der Parabel gelangt Fuß in einer Publikation vom 26. Januar 1791: 
„De novis quibusdam causticae parabolae proprietatibus“.') Er löst 
zunächst die (schon von Joh. Bernoulli und de l’Höpital behandelte) 
Aufgabe, die Brennlinien zu finden, die durch Reflexion paralleler 
Strahlen an einer beliebigen Kurve entstehen. Fuß nimmt die Ab- 
szissenachse senkrecht zu der gegebenen Strahlenrichtung an, führt den 
Winkel p der Kurventangente gegen die Ordinate ein und findet als 
Koordinaten X, Y eines Punktes der Brennlinie: 
dssing- sin 2 

Fr ns I 


ds sing cos2 


i=-ı+ yT 2dyp 








Dies wird angewendet auf die Parabel „= 2px. Als Brennlinie 


ergibt sich: 
er 3 X 2pX 
ihn) 

Von dieser Kurve werden nun folgende Eigenschaften hergeleitet 


SID 


a 


a, 
a 





om 








Fig. 51. 


' N. A. P. VII, p. 182—200. 


520 Abschnitt XXIV. 


die sich am kürzesten an Fig. 5l ablesen lassen (AC ist die Ab- 


szisse der Punkte mit horizontaler Tangente, Al= AU = 2) 


1) are AZ+ ZY=s+y=3 2? 


3 
2) DN—- DZ=3p» 
3) IT+TZ=2arc AZ =2s. 


Fuß untersucht nun, ob es noch andere Kurven gibt, denen eine 
dieser drei Eigenschaften zu- 

F; kommt, und findet, daß dies 

nicht der Fall ist, daß also nur 

die Brennlinie der Parabel diese 

Eigenschaften besitzt. Dagegen 

r gelingt es ihm, Kurven zu fin- 
den, die durch eine Verall- 
4 D gemeinerung definiert sind, 
nämlich so, daB IT+-TZ ın 
einem gegebenen Verhältnis zur 
Bogenlänge stehen, daß also, 
wenn DY eine solche Kurve 








Fig. 52. 


ist (Fig. 52), 
AV+VY=n-are DY. 


Er findet als Bogenlänge 


f) gr—i 
El Bey 
Sr — 4? 


und für den Krümmungsradius 








ae 


Am Er 
wo A eine Integrationskonstante ist. Die Kurven sind algebraisch 
und rektifizierbar. 

Mit Kurven, die bei Abwicklung von Kegel und Zylinder auf- 
treten, haben sich Euler und Schubert beschäftigt. Ersterer kommt 
in einer Note über die Oberfläche des schiefen Kreiskegels: „De super- 
ficie coni scaleni, ubi imprimis ingentes difficultates, quae in hac in- 
vestigatione oceurrunt, perpenduntur“!)(12.September 1786) auch auf die 
Abwicklungsfigur des Grundkreises und stellt für deren Krümmungs- 


radius die Formel auf r = — “2. Hierbei ist c der Radius des 
e—+bcosgp 


Grundkreises, b der Abstand des Mittelpunktes von der Projektion 
der Spitze auf die Grundkreisebene, » die Mantellinie eines beliebigen 





ı) N. A. P. II, p. 69-89. 


Höhere ebene Kurven. — Raumkurven und Flächen. 521 


Punktes, p ihr Winkel (in der Abwieklungsfigur) mit der größten 
Mantellinie. — Sehubert (De evolutione seetionum eylindri?), 25. Ok- 
tober 1798) untersucht die Abwieklungsfigur eines ebenen Zylinder- 
schnittes durch Rechnung und Konstruktion. Die Gleichung der Kurve ist: 


y-atge(l— 00), 


wo a der Radius des Zylinders, « die Neigung der Schnittebene gegen 
die Grundkreisebene ist. 


Raumkurven und Flächen. 


Wie wir gesehen haben, ist für die analytische Geometrie der 
Ebene in unserem Zeitraum über das Entstehen und Wachsen neuer, 
fruehtbarer Gedanken und Methoden von allgemeiner Bedeutung nicht 
viel zu berichten; die Mathematiker zeigen sich auf diesem Gebiet 
mehr mit Einzeluntersuchungen von Kurven beschäftigt, und es tritt 
namentlich die Neigung hervor, neue Kurven und Kurvengattungen 
von gegebenen Eigenschaften aufzusuchen. Gerade umgekehrt ist das 
Verhältnis in der analytischen Geometrie des Raumes: Hier liegen 
wenig Untersuchungen über spezielle Kurven und Flächen vor, da- 
gegen sind eine ganze Reihe bahnbrechender Arbeiten zu nennen, die 
teils ganz allgemeine, wichtige Eigenschaften von Kurven und Flächen 
behandeln, teils die Methoden und Theorien in einer Weise fördern, 
daß die analytische Geometrie des Raumes sich von bescheidenen An- 
fängen zu der Höhe erhob, die durch Monges Werk: „Feuilles d’Ana- 
lyse appliquee ä& la G&ometrie“ bezeichnet wird. — Wir werden zu- 
nächst einige Arbeiten über Raumgeometrie überhaupt, Koordinaten 
usw. besprechen, hierauf die Raumkurven und abwickelbaren Flächen, 
dann die krummen Flächen behandeln und schließlich über die Feuilles 
d’Analyse berichten. Als eine Art Anhang werden dann noch einige 
Bemerkungen über die Fortschritte der Kartographie folgen, soweit 
die mathematische Seite daran in Betracht kommt. 

Als einen Beweis dafür, wie ungelenk selbst bedeutende Mathe- 
matiker am Anfang unseres Zeitraumes noch die räumlichen Probleme 
anfaßten, führen wir einiges aus dem III. Kapitel des mehrfach er- 
wähnten Werkes von Waring, „Proprietates algebraicarum curvarum“ 
an. Hier werden die „proprietates algebraicorum solidorum“ betrachtet. 
Zunächst sei an die schon früher (3. 457) gemachte Bemerkung erinnert, 
daß fast immer nur von Körpern die Rede ist, und daß die Flächen 





ı) N. A. P. XIII, p. 190-204. 


522 Abschnitt XXIV. 


nur als Begrenzung von Körpern, nicht als selbständige Gebilde auf- 
treten. Waring stellt nun die Gleichung einer Rotationsfläche auf, 
indem er die Schnittkurve einer beliebigen Ebene ermittelt. Er be- 
nutzt dazu (s. Fig. 53) die zur Schnittebene senkrechte Meridianebene, 
ın der die kung ae Meridiankurve in rechtwinkligen Koordinaten 
(AP=x, PM=y) gegeben ist. 
Die Schnittebene trifft die Achse 
(Abszisse) in L, die Ordinate 
MP in p; in der Schnittebene 
wird wieder ein rechtwinkliges 
Koordinatensystem angenommen, 
mit dem Ursprung ZL, der Ab- 
szisse Lp=z, der Ordinate 
pm=v. Die Lage der Schnitt- 
ebene zur Achse ist bestimmt durch 
AL=a, und das Verhältnis 


Lp r “2 
ip; das = s gesetzt wird. 


Waring bezeichnet AL als 
prima abscissa, Lp als secunda absceissa, mp als ordinata secundae 
abscissae. Es ergeben sich nun leicht die Beziehungen: 





Fig. 53. 


| =-a+-; y + er 

In Verbindung mit der Gleichung der Meridiankurve stellen diese 
Gleichungen bei Waring den Rotationskörper dar. Er folgert daraus 
einige Bemerkungen über die Rotationsflächen 2. Ordnung, über den 
Ort der Zentra und der Brennpunkte einer Schar von Parallelschnitten.' 
Die Zahl der unabhängigen Konstanten einer Fläche nt" Ordnung 


wird zu ante +®_] bestimmt. Weiter folgen Sätze über 


Durchmesserebenen, die denen über die Durchmesser ebener Kurven 
analog sind, und es scheint, daß Waring im Besitze einer Reihe von 
Sätzen über algebraische Raumkurven und Flächen war, ähnlicher 
Art wie die von ihm über ebene Kurven gefundenen; er bemerkt 
hierüber: „Hie adjiei possunt propositiones ad algebraica solida et 
curvas duplicis curvaturae, quae consimiles sunt fere omnibus propo- 
sitionibus capite primo traditis de curvis simplieis curvaturae; sed 
taedet has disquisitiones ulterius promovere“. Auch mit Zentralpro- 
jektion von Kurven und Körpern beschäftigt er sich, und stellt hier- 
bei den Satz auf: „Nulla curva projiciet eurvas superiorum sibi ipsi 
ordinum“, | | 

Einen wesentlich anderen Charakter zeigt die Abhandlung von 





Raumkurven und Flächen. 523 


Lagrange: „Solution analytique de quelques problemes sur les pyra- 
mides triangulaires“.') Der eigentliche Zweck ist, Oberfläche, Inhalt, 
einbeschriebene und umbeschriebene Kugel, Schwerpunkt usw. für 
ein Tetraeder durch seine sechs Kanten auszudrücken. Hierzu wird 
ein rechtwinkliges Koordinatensystem so angenommen, daß eine Ecke 
(S) in den Ursprung fällt, die AZ 
drei anderen (M,, M,, M,) 
durch ihre Koordinaten ge- 
geben sind. Infolge dieser Be- 
handlungsweise, die ganz sym- Da 
8 D g y 
metrisch und mit bewunderns- 
werter Eleganz durchgeführt | I, 
wird, ergeben sich eine Reihe 2 
fundamentaler Sätze über [+ 
Punkte und Geraden im ee 
Raum. Um sie kurz anführen te AN Hi 
zu können, benutzen wir die 
Bezeichnungen Lagranges, L ä 
wobei jedoch die Striche Fig. 34. 
durch Indices ersetzt sind, und 
von drei durch zyklische Vertauschung sich ergebenden Formeln immer 
nur eine angeschrieben wird. Es sei also (Fig. 54) 











SM’=a=-2’+y’+2° 
bh = %g%g + Yaya + 2925 
M,M’=ca=4a,+% — 2b,. 
Ferner: | 
= —bi; A=bb— ab M,SM;= y,. 


Dann ist: 


erg . b, 
SM,=Va,; M,M,=YVa; cos y = —— 
V% 4, 
AMSM,=-3Yya,,—b’-4}Vo; 
AM,M,M,=E=4yZa«a+22B.) 
Es wird nun die Gleichung der durch M,, M,, M, gelegten 
Ebene hergeleitet, allerdings nicht ganz symmetrisch. Lagrange 











') Nouveaux M&moires de l’Acad&mie Royale des Sciences et Belles-Lettres 
& Berlin 1773, p. 149—177. Vgl. Loria in den Verhandlungen des III. Mathe- 
matikerkongresses (zu Heidelberg 1904), S. 571. ?°) Das Zeichen £ bedeutet im 
folgenden die Summe der drei Glieder, die durch zyklische Vertauschung der 
Indices 1, 2, 3 entstehen. 


524 Abschnitt XXIV. 


nimmt nämlich ihre Gleichung in s, f, « als laufenden Koordinaten 


in der Form an: 
u=l+ms+nt, 


und bestimmt die Koeffizienten !, m, n, wobei zur Abkürzung gesetzt 
wird: | 
NY N; M— Als Ni = Days 7 Yalısi 


es wird dann: 
ZE — 4. ] A 


METZ NT 


wobei A die (natürlich nicht in der heutigen Form geschriebene) 
Determinante 


%ı, Yı 2% | 
Be | 
|% % % 





ist. Für das Lot A vom Ursprung ergibt sich: 
2 A r A 
VEH+ En)’ +(Z9 VZEa+2zB' 


daraus der Inhalt des Tetraeders: 

















N ga Geht Ka 


3 BB 


A = Vo,0y0, +28, BB; — Ze, ßı?. 





Es wird sodann die Aufgabe gelöst, das Tetraeder von größtem 
Inhalt zu finden, wenn die vier Seitenflächen dem Inhalt nach ge- 
geben sind. Für die folgenden Überlegungen von großer Wichtigkeit 
ist die Aufgabe, die Diagonale einer dreiseitigen Doppelpyramide durch 
ihre neun Kanten auszudrücken. Eine solche erhält man, wenn ein 
beliebiger Punkt P (p», q, r) des Raumes mit M,, M,, M, verbunden 
wird. Ist PS?=f, PM,’= 9, usw., und zur Abkürzung gesetzt: 


kp, +tqay+r2, 








so Ist: 
,=aı+rf-—2k, 
oder: 
En. Ge m Beet 
k, = . 2 -: 
und: 
hs, „Zu, „Ah 
Es A ’ a A ’ a A ’ 


und daraus: 


Af= Zu,k? + 22ß, kalz- 
Dies ist eine Gleichung 2. Grades für f, wie es ja auch sein muß, da 


Raumkurven und Flächen. ; 525 


die beiden Pyramiden auf derselben oder auf entgegengesetzten Seiten 
der gemeinsamen Grundfläche liegen können. Aus den zuletzt aufge- 
stellten Gleichungen erhält man Radius und Mittelpunkt der umbe- 
schriebenen Kugel, indem man f=9,= 9 9; setzt, und die zu- 
gehörigen Werte von p, 9, r berechnet. Es ist in diesem Fall 


a, 
k, u 3. 


also ergibt sich für den Radius (Vf) und die Mittelpunktskoordinaten 


p, , r 
(D, 9 ) _2%0’+22P,00,, an u 


f Fax ; Ja USW. 





In ähnlicher Weise werden Radius und Mittelpunkt der einbe- 
schriebenen Kugel ermittelt, indem man zunächst die von P auf 
die vier Seiten des Tetraeders gefällten Lote berechnet. Das Lot o, 
auf M,SM, wird 

0, = ak, ++ P, k, Pi 5m thr 
Ayo, Ve, 
und das Lot x auf M,M,M,;, 
_A-w2+gaintr2d), 
VZe+22B 

Damit wird zunächst die Aufgabe gelöst, den Punkt P so zu 
bestimmen, daß die vier Pyramiden, welche die Spitzen in P und die 
Tetraederflächen als Grundflächen haben, in einem vorgeschriebenen 
Verhältnis hinsichtlich des Inhalts stehen. Dann wird 











TT 


EEPTT ET Os 
gesetzt, wodurch sich für den Radius (Yf) und die Mittelpunktskoor- 
dinaten der einbeschriebenen Kugel die Werte ergeben: 
FOR. he Buben Va, Si; Ex, Ve, 
(Vo+zYa® ° *  Vatzya’ 


o=2«4+22P. 








wo 


Schließlich wird noch in ähnlicher Weise der Schwerpunkt bestimmt. 

Den Übergang zu den Raumkurven mag eine hervorragende Ab- 
handlung von Euler bilden, die ebenfalls noch allgemeinerer Natur 
und insofern von großer Bedeutung ist, als darin die Grundzüge 
der allgemeinen Theorie der Raumkurven in ihrer heutigen 
Gestalt entwickelt sind. Sie heißt: „Methodus facilis omnia sympto- 
mata linearum curvarum non in eodem plano sitarum investigandi“.') 





ı) A. P. 1782, I, p. 19-57. 


526 Abschnitt XXIV. i 


Euler geht hier darauf aus, die durch „figurae tantopere complicatae 
et propemodum inextricabiles“ hergeleiteten Formeln auf einfacherem 
Wege zu gewinnen, wobei die Hilfsmittel der sphärischen Trigono- 
metrie benutzt werden. Um keine der drei Achsen zu bevorzugen, 
wird die Bogenlänge s der Kurve als Parameter eingeführt und 
mit 9, q, r die Ableitungen der Koordinaten nach diesem Parameter 
bezeichnet, so daß: 


da=pds; dy=gqds; dz=rds 
ist. Es muß dann sein: 
P+f+r=l; pdp+gdga+rdr=0. (1) 
Ferner, wenn ds als konstant angesehen wird: 
Px=dpds; dy=dqads; dz = drds. 


Euler denkt sich nun (Fig. 55) 
um einen Kurvenpunkt Z(z, y, 2) 
eine Kugel vom Radius =1 
beschrieben, die von der Tangente 
in z geschnitten wird, während die 
durch Z gehenden Parallelen zu 
den Achsen einen Oktanten a, b, c 
bestimmen. Es ist dann 


co8a2=Pp; 
sinaz=VYVl—-#®=Vf+r. (0) 


Das sphärische Lot vonzaufbe ist 
das Komplement von az, und zugleich 
ii der Neigungswinkel der Tangente 
BR gegen die yz-Ebene. Ferner ist 











Ku nach bekannten Sätzen der Tri- 
gonometrie: 
sin baz = ——, 
ö Vr’+a 
Beh 
q 
cos baz = ware 8) 


Es sei nun durch Z auch noch eine Parallele zur Tangente des 
Nachbarpunktes gezogen, welche die Kugel in z° schneidet, dann ist 
X 2Zz' der Kontingenzwinkel (im heutigen Sprachgebrauch), der 


Krümmungsradius R= a und die durch den Bogen 22’ gelegte 


TREE 


Raumkurven und Flächen. 527 


Ebene die Schmiegungsebene der Kurve. Diese Betrachtungsweise 
zeigt, daß Euler das Verdienst gebührt, die sogenannte sphä- 
rische Abbildung in die Mathematik eingeführt zu haben, 
was gewöhnlich Gauß zugeschrieben wird. — Um nun die Neigungs- 
winkel der Schmiegungsebene gegen die Koordinatenebenen zu be- 
stimmen, setzt Euler az=«, so daß also a’=«+ de wird. Es 
ist also nach (2): 





dp 
de = f 4 
"yet . 


Bezeichnet man <baz mit ®, so wird: 


<xba’=o+ do, 


also: | 
- X za = do. 
Nun ist: 
q 
tg N 7?’ 
also: ; } 
__qdr—rdq 
do — re 
Ist ferner zs_L az’, so ist: 
ji 2s=do-sinas; sz= de; (5) 
also: 
gdr— rdg, 
an’ © 
ferner: 


zer, 


also nach (1), (5) und (6): 














22? = dp?+ dq?’ + dr? (7) 
und: 
Hi RE MM = Ä (8) 
Veap’+dg’+dr? Yid’a)’+ (d’y)’ + (d*2) 
Ist ds nicht konstant, so ist: he 


ds? 
v2 ERDN ; 
V(d?’x)? + (d’y)* + (d?2)’— (d?s)? 








Euler bemerkt hierzu: „quae formula per analysin communem 
demum post calculos maxime perplexos est eruta“. 


Ferner folgt aus (5) und (6) 


‚.__rdq— qdr 
tg227s = u 





Verlängert man 27’ bis zum Schnitt mit den Oktantenseiten in 


528 Abschnitt XXIV. _ 


pP, 9, r (natürlich nicht zu verwechseln mit den Differentialquotienten 
p, 9, Y), so ergibt eine einfache Rechnung: 


gqdr—rdgq 
Vap! + dg? + dr?’ 


womit der Winkel der Schmiegungsebene gegen die yz- 
Ebene bestimmt ist; die beiden anderen werden hieraus durch zyk- 
lische Vertauschung abgeleitet, obgleich natürlich diese Bezeich- 
nung nicht auftritt. Danach wäre auch die erste klar bewußte An- 
wendung dieses Verfahrens Euler zuzuschreiben. Ist ferner R der 
Schnittpunkt des Krümmungsradius mit der Einheitskugel, so ist: 








cos zpb = 


cosaZR= dp 
Vap?+dg’+dr® 
Die aus dem Bisherigen sich ergebenden bemerkenswerten Sätze 
der sphärischen Trigonometrie werden formuliert, und dann auf eine 
zweite Art die Gleichung der Schmiegungsebene hergeleitet. Sind 
nämlich «, v, w ihre Achsenabschnitte, so ist ihre Gleichung 








& Yy N 
ee 


Auch diese Form der Ebenengleichung dürfte hier zum 
erstenmal auftreten. Da in der Schmiegungsebene drei konseku- 
tive Punkte liegen, so ist auch: 

cstHdx | y+dy , z+d? _ 
ern Te 
oder: 


und ebenso: 
dp ,dgq dr 
u * v F Pr 0. 


Hieraus folgt mit Einführung eines Proportionalitätsfaktors ?: 


EI EC usw., 
% t 


und hieraus als Gleichung der Schmiegungsebene: 


z(rdgq — qdr) + y(pdr — rdp) + z(gdp + pdg)=1t, 


wo t noch durch die Bedingung bestimmt wird, daß die Schmiegungs- 
ebene durch einen gegebenen Kurvenpunkt geht. Daraus werden nun 
wieder die schon oben gefundenen Formeln entwickelt und schließlich 
die Resultate in die elegante Form gebracht: 


Raumkurven und Flächen. 529 


Hat man ein rechtwinkliges Parallelepipedon, dessen Kanten den 
Achsen parallel sind, und sind die Kantenlängen 

1. x, y, 2, so gibt die Diagonale die Richtung und Größe des 
Radiusvektors an; 

2. sind sie p, q, r, — die Richtung der Tangente; 








3. sind sie — er. R 7 — Richtung und Größe des Krüm- 
mungsradius; 
; i _ _ dp— pd u ö 
4. sind sie BEZ, Prmrdh 2 #— g: so steht die Diago- 


nale auf der Schmiegungsebene senkrecht. 

Damit sind wir nun schon auf dem Gebiet der Raumkurven 
und der damit eng zusammenhängenden abwickelbaren Flächen 
angelangt, ein Zusammenhang, der auch erst in unserem Zeitraum 
genauer studiert und klar erkannt worden ist. Auch hier war Euler 
der erste, der sich mit diesen Beziehungen beschäftigt und dabei 
sogleich wichtige Resultate gefunden hat. Seine Arbeit, die sehr be- 
achtenswert ist, ist betitelt: „De solidis, quorum superficiem in planum 
explicare licet“.!) Zu bemerken ist hier, daß Euler zwar noch in den 
Anschauungen seiner Zeit befangen erscheint, insofern er von „solidis“ 
spricht?), daß er aber doch den ersten Schritt zur heutigen Betrach- 
tungsweise der Flächen als selbständiger Gebilde tut, indem er die 
Koordinaten der Flächenpunkte als Funktionen zweier Pa- 
rameter £, « darstellt, und untersucht, welchen Bedingungen diese 
genügen müssen, wenn die Fläche in eine Ebene abwickelbar sein 
soll. Euler geht aus von der abgewickelten Fläche, nimmt t und « 
als rechtwinklige Koordinaten eines Punktes der Ebene, und be- 
trachtet in dieser Ebene ein unendlich kleines rechtwinkliges Dreieck, 
dessen Ecken die Koordinaten (t, u); (+ dt, u); (t, u + du) haben, 
und das wegen der Abwickelbarkeit dem entspreehenden Dreieck auf 
der Fläche selbst kongruent sein muß. Er bezeichnet nun die par- 
tiellen Ableitungen von &, y, z nach t und u mit I, A; m, u; n, v 


(also — =m; er —4 usw.). Dann sind die Koordinaten der Ecken 


des entsprechenden Dreiecks auf der Fläche x, y, 2; x +1dt, y-+ mdt, 
zrndt; a+Adu, y+udu, z+vdu, und aus der Kongruenz der 
Dreiecke ergeben sich für 1, m, n; A, u,v die drei Bedingungs- 
gleichungen: 


?+m®+n-1; 2+ + VW-1]; A+mu+nv-(0. 


Dies sind also die analytischen, notwendigen und hinreichen- 


») N. CP. XVI. 1771, 9.8284. 2) Vgl. S. 457. 


530 - . Abschnitt XXIV. 


den Bedingungen der Abwickelbarkeit. Man sieht leicht, daß 
Euler damit nichts anderes gezeigt hat, als daß, modern ausgedrückt, 
das Linienelement der Fläche mit dem der Ebene überein- 
stimmen muß. Analytisch betrachtet, handelt es sich also um die 
Aufgabe, drei Funktionen von t und u so zu bestimmen, daß _ ihre 
partiellen Ableitungen den aufgestellten Bedingungen genügen. Diese 
werden gefunden durch eine geometrische Behandlung des Pro- 
blems. Euler entwickelt nämlich die Beziehungen der abwickelbaren 
Flächen zu den Raumkurven, und zeigt, daß die Tangenten einer 
beliebigen Raumkurve stets eine abwickelbare Fläche be- 
stimmen; die Koordinaten eines beliebigen Punktes einer solchen 
werden nun folgendermaßen dargestellt (vgl. Fig. 56). AT, TU, UV 
Z seien die Koordinaten t, u, v 
eines Punktes Y der Raum- 
kurve, $ der Schnittpunkt 

seiner Tangente mit der 

xy-Ebene, M der Schnitt- 

punkt von SU mit der 

x-Achse. Die entsprechenden 

f: | Größen für einen Nachbar- 
21 M _ m_„y punkt v sind mit kleinen 
Buchstaben bezeichnet, so 
daß z. B. At=t+dt ist, 
usw. Ist ferner _MUT=|5$, 
LUVS=#, und sind u=f{t) 
undv =g(t) die Gleichungen 


J 











Ss = der Raumkurve, so ist: 
me tg: Uu rn 
dv = Uu ne tere 
Daraus folgt für das Kurvenelement: V/v = ee Sind nun z, 


y, 2 die Koordinaten eines beliebigen Punktes Z auf der Tangente Vs, 
und ZV=s, so hat man: 


z=t—ssnd.- sn; y=-u—s-sind-cosf; 2=V—8C08%, 
wobei durch die Gleichungen 


5 dt , ‚ 


die Winkel &£ und &® in Funktion von ? bestimmt, also die Koordi- 
naten x, y, z eines Punktes einer beliebigen abwickelbaren Fläche als 


| 


__Polachse (axe des pöles) eines Kreisbogens; er versteht darunter 


Raumkurven und Flächen. 531 


Funktionen der beiden Parameter s und £ dargestellt sind. Die Be- 
ziehungen zwischen den Winkeln & und # und den früher benutzten 
Größen /!, m, n, A, u, v ergeben sich durch Einführung des Kontin- 
genzwinkels Svs—= do, für welche Euler zunächst die Gleichung 
herleitet: do® = d9? + d&sin?®. Es ist dann: 


!-sino+4coso=sin&sin®; msino + ucoso — c08s$ sin®; 


n»sino +vcoso = cos®# 











und: 
; _ ‚(dsin$sin®)| , 65% i __ d(cos# sind), 
l.cosoo—A-sno= 7 ; Mesa — usina—  —,, - 
; dcos®# 
N C0S® -—vsno = . 
do 


Damit sind /, m, n, A, u, v durch & und 9 ausgedrückt; es läßt sich 
noch die bemerkenswerte Beziehung nachweisen: 

dl dm dn 

Dr green 
Schließlich wird gezeigt, daß der Schatten, den ein leuchtender ' 
Körper von einem dunkeln erzeugt, ein solches „solidum“ darstellt, 
und daraus ebenfalls die Gleichung der abwickelbaren Fläche her- 
geleitet. 

Ungefähr in dieselbe Zeit fällt die erste Untersuchung von 
Monge über diesen Gegenstand, die sich in etwas anderer Richtung 
bewegt, nämlich ein „M&moire sur les Developpees, les Rayons de 
courbure et les differents genres d’inflexion des courbes ä double 
courbure“, das schon im Jahre 1771 der Akademie eingereicht, aber 
erst im 10. Band der Mem. div. Sav. (1785), p. 511—550, veröffentlicht 
und später von Monge seinen „Feuilles d’Analyse“ als Schlußkapitel 
einverleibt wurde. Schon dieses erste Werk zeigt alle Vorzüge von 
Monges Darstellungsweise, vor allem eine eminente Sicherheit des 
räumlichen Anschauungsvermögens; man muß geradezu sagen, daß 
Monge mit bloß vorgestellten räumlichen Gebilden ebenso leicht 
operiert, wie ein anderer mit gezeichneten Figuren in der Ebene. 
Dazu kommt eine ungemeine Eleganz in der Beweisführung und 
eine staunenswerte Gewandtheit in der analytischen Formulierung 
differential-geometrischer Beziehungen. — Monge schiekt zunächst 
einige Hilfsaufgaben über Punkte, Geraden und Ebenen voraus, 
die er in den F. d’A. in der Einleitung behandelt, und erläutert 
dann einen für das Folgende wichtigen Begriff, nämlich den der 


den geometrischen Ort der Pole, d.h. der Punkte, die von allen 


CAnToR, Geschichte der Mathematik IV, 35 


532 Abschnitt XXIV. 


Punkten des Kreisbogens gleichweit entfernt sind; d. h. die Polachse 
ist das im Mittelpunkt eines Kreisbogens auf seiner Ebene errichtete 
Lot. Unter Benutzung dieser Bezeichnung ist also die Polachse 
für ein durch drei konsekutive Punkte bestimmtes Bogenelement einer 
Kurve die Schnittgerade zweier konsekutiver Normalebenen. 
Die Gesamtheit aller dieser ( Geraden ergibt den Ort der Pole (surface des 
_ pöles) 5) für alle 'Bogenelemente ‚der ganzen Kurve. Es ist eine abwickel- 
bare Fläche und auf ihr liegen auch die sämtlichen Evoluten der Kurve; 
eine solche wird von Monge in anschaulicher Weise definiert als der 
Ort der Schnittpunkte konsekutiver Normalen; er zeigt, wie man zu einer 
beliebigen Normale geometrisch die Nachbarnormale findet, die sie 
schneidet, zu dieser ebenso eine dritte usf. Er hat also damit nicht bloß den 
< Begriff der Evolute einer Raumkurveneu eingeführt, sondern auch 
gezeigt, daß jede Raumkurve unendlich viele Evoluten hat, 
daß alle auf der surface des pöles liegen und wie sie konstruiert 
werden. — Monge zeigt dann sofort, daß der Ort der Krümmungs- 
centra auch auf der Polarfläche liegt, aber, im Gegensatze zu den 
ebenen Kurven, keine Evolute darstellt, außer eben bei einer solchen 
Kurve. Ferner beweist er, ebenfalls rein geometrisch, den interessanten 
Satz, daß die Evoluten geodätische Linien (in moderner Aus- 
a, der Polarfläche sind. Monge drückt sich folgender- 
maßen aus: „on aura une developpee, si, par un de ses points, on 
mene une tansehte & la surface d6veloppable qui est le lieu de ses pöles, 
* et si !’on plie librement sur cette surface le prolongement de cette 


\ 

\ 

Ba mi 
s 
S 

I x 

x 

”. 














Fig. 57. 





tangente“. Die Beweisführung, die auf 
dem hier von Monge benutzten Ver- 
fahren des „plier librement“ beruht, 
ist so charakteristisch für die Ge- 
wandtheit und Eleganz, mit der 
Monge im Raum operiert, daß wir 
wenigstens die Grundgedanken kurz 
andeuten wollen: er vergleicht die 
oben erwähnte Tangente mit einem 
unendlich dünnen Band, das über 
eine Keilkante gelegt wird, hier also 
über eine der Mantellinien, längs der 
zwei konsekutive Elemente der ab- 
wickelbaren Fläche zusammenstoßen, 
und zeigt, daß die beiden Teile 


derselben AB und BC (s. Fig. 57) mit der Keilkante gleiche Winkel 





!) Daher die heutige Bezeichnung: „abwickelbare Polarfläche“. 


Raumkurven und Flächen. 533 


machen, daß also LABO=LO BC ist. Dies trifft aber auch für 
jede Evolute auf Grund der von Monge gegebenen Definition zu. 
Daraus folgt dann sofort, daß ABC in eine Gerade ABC’ übergeht, 
wenn die zweite Ebene um O0’ gedreht wird, bis sie mit der ersten 
zusammenfällt, d.h. daß bei Abwicklung der Polarfläche in eine 
Ebene die Evoluten in Gerade übergehen, daß sie also kür- 
zeste Linien d: der. Polarfläche sind. Dieser geometrischen Her- 
leitung folgt dann der analytische Beweis, sowie eine differential- 
geometrische Herleitung der goodktistkeh Linien für beliebige 
(also nicht abwickelbare Flächen), die in den Feuilles d’Analyse) 
fehlt und die auf der für abwickelbare Flächen gegebenen fußt. 
Monge betrachtet nämlich ein Element Mm einer geodätischen 
Linie ML und legt 
durch M und m Ebenen 
parallel der yz-Ebene, = 
welche die Tangential- A 
ebenen in M und m nach 

GT und gt schneiden. |@ 

Q und g sind die Pro- ER 
jektionen von M und 

m auf die zy-Ebene, | | 
ferner ist 


Mn | 90; QM | QM, 
MN | @9; 
der Winkel M’Mm ist 


mit v» bezeichnet, und 
es ist dann nach be- 
kannten Formeln der 
sphärischen Trigono- 
metrie 


cosv = cos Q’ Qg - cos M'MN . cosm Mn + sin M'MN sınm Mn. 




















Nun ist oben gezeigt worden, daß für geodätische Linien 
LMmt=gmL=v+ dv 


ist; die beiden Winkel v» und v»+dv sind also nur verschieden durch 
die Änderung des Winkels M’MN; das Differential von cos» ist 
also — (0, wenn man bei der Differentiation den _ M'MN als kon- 
stant ansieht. Bildet man also das Differential unter dieser Voraus- 


setzung und drückt dabei die Winkelfunktionen durch die Differentiale 
35* 


534 Abschnitt XXIV. 


von %,y,2 aus, so erhält man die Differentialgleichung der geo- 
dätischen Linien, nämlich: 


ds 1 de) d@y = [ayds — °*]atz 
q ? 


wo ds? = da? + dy?, und wo die Differentiale von 2 vermöge der 
Flächengleichung durch x, y und ihre Differentiale auszudrücken sind. 

Daran schließt sich eine Anwendung auf ebene und sphärische 
Kurven: für erstere ist die Polarfläche ein Zylinder, der auf der 
Kurvenebene senkrecht steht, und dessen Basis die gewöhnliche 
Evolute der Kurve ist; für letztere ist es ein Kegel, dessen Spitze im 
Mittelpunkt der Kugel liegt. - Es folgen einige allgemeine Bemer- 
kungen geometrischer Natur über abwickelbare Flächen überhaupt 
und ihre Rückkehrkante, für welche Monge den Namen „ar&te de 
rebroussement“ eingeführt hat. Die analytische Behandlung geht aus 
von der Kurvengleichung in der Form y=g(#); 2=y(#), und es 
werden nacheinander die Gleichungen der Normalebene, der abwickel- 
baren Polarfläche, ihrer Rückkehrkante und einer beliebigen Evolute 
aufgestellt. Dann kommen Bemerkungen über die zwei Arten von 
Wendepunkten einer Raumkurve, die Monge als „points de simple 
inflexion“ und „points de double inflexion“ unterscheidet. Die ersteren 
sind Stellen, >wo vier konsekutive Punkte in einer Ebene liegen; 
hier werden zwei konsekutive Polarachsen parallel, die Rückkehr- 
kante der Polarfläche hat einen unendlichen fernen Punkt, oder, in 
moderner Ausdrucksweise: die Torsion der Kurve ist=(0. Als 
Bedingung für solehe Punkte findet Monge: 


Letztere, die „points de double inflexion“ sind Stellen, wo.drei kon- _ 
sekutive Punkte in einer Geraden liegen, d. h. wo die Krümmung 
der Kurve=0, und der Krümmungsrädius unendlich wird. Um 
solche Punkte zu bestimmen, wird zunächst für den Krümmungs- 
radius die Formel entwickelt 


IR E 2 42% 2 LE 
V9”’+w"?+@ u" — vg”) 
Daraus ergibt sich als Bedingung für einen solchen Punkt: po —=0; 
‘%”=0. Den Schluß bilden Betrachtungen über die Developpee einer 
\ abwickelbaren Fläche; es ist dies_die abwickelbare Fläche, die heute 
die, rektifizierende heißt. Von dieser weist Mangs folgende 
Eigenschaften nach: 
1. Wird die Developpee in einer Ebene sngöhäkelt so geht die 
Raumkurve in eine Gerade über. Monge drückt allerdings diesen 








Raumkurven und Flächen. 535 


Satz etwas anders aus, er sagt nämlich: wenn eine der rektifizierenden 
Ebenen mit der in ihr liegenden Kurventangente auf der Developpee 
rollt, so beschreibt diese Tangente die abwickelbare Fläche, die von 
den Tangenten der Raumkurve gebildet wird. 

2. Jedes Element einer abwickelbaren Fläche (d. h. der Streifen 
zwischen zwei konsekutiven Mantellinien) kann angesehen werden als 
Flächenelement eines Kegels, dessen Spitze der Schnittpunkt der 
beiden Mantellinien, und dessen Achse die zugehörige Erzeugende der 
Developpee ist. 

3. Ist die Developpee ein Zylinder, so haben alle Mantellinien 
der abwickelbaren Fläche gleiche Neigung gegen dessen Mantellinien. 

Der Zeit nach folgt nun Tinseau (Offizier im Geniekorps) mit 
einer Arbeit: „Solution de quelques problemes relatifs ä la theorie des 
surfaces courbes et des courbes & double courbure“!) (1774). Hier 
kommt nur der zweite Teil in Betracht, wo er von Raumkurven 
spricht, die Gleichung der von den Tangenten gebildeten abwickel- 
baren Fläche aufstellt, und die zwei Arten von Wendepunkten, ganz 
wie Monge, unterscheidet, und zwar als „points d’inflexion lineaire“ 
(Krümmung — 0) und „points d’inflexion plane“ (Torsion — 0) unter- 
scheidet. Er stellt weiter die Gleichung der Schmiegungsebene auf, 
. wobei sich, wohl zum erstenmal, der Satz findet, daß die Ortho- 
gonalprojektion einer Raumkurve auf eine Ebene dann einen 
Wendepunkt hat, wenn die Schmiegungsebene auf der Pro- 
jektionsebene senkrecht steht. Endlich werden noch Formeln 
entwickelt für die Komplanation einer abwickelbaren Fläche und für 
“die Kubatur des Raums, der von ihr, der &y-Ebene und den beiden 
Ebenen begrenzt wird, welche zwei beliebige Mantellinien auf die 
xy-Ebene projizieren. 

Eine zweite, größere Abhandlung von Monge, die nach der 
ersten, vorhin erwähnten, eingereicht (1775), aber vor ihr veröffent- 
licht?) wurde, heißt: „Sur les Proprietes de plusieurs genres de Sur- 
faces courbes, particuliörement sur celles des Surfaces developpables, 
avec une Application & la Theorie des Ombres et des P&nombres“. 
Monge erwähnt darin seine eigene frühere Arbeit®), sowie diejenige 
Eulers‘“) mit der Bemerkung: „je suis parvenu ä des r&sultats, qui me 
semblent beaucoup plus simples“. “Die Arbeit bringt also keine wesent- 
lich neuen Ergebnisse, aber eine einfachere und elegantere Her- 
leitung. Zunächst wird scharf unterschieden zwischen abwickelbaren 
Flächen und allgemeinen Regelflächen mit der Bemerkung, daß der 


a — 





‘) Mem. div. Sav. IX, 1780, p. 593—624. ?) Ebenda, p. 382 —440. 
®) Siehe 8. 531 ff. *) Siehe S. 529 ff. 


536 Abschnitt XXIV. | 


„auteur de la coupe de pierres“ (also wohl Fr&zier) sich hierüber 
nicht ganz klar sei; die abwickelbare Fläche wird definiert durch die 
Eigenschaft, daß sie sich ohne Faltung und Zerreißung in eine 
Ebene ausbreiten lasse, und ihre Gleichung auf drei verschiedene 
Arten und in drei verschiedenen Formen hergeleitet, nämlich: 

1. in endlicher Form, indem die Koordinaten eines beliebigen 
Punktes auf der Tangente der Raumkurve aufgestellt werden. Hier- 
bei treten zwei, die Raumkurve bestimmende, willkürliche Funktionen 
auf; diese werden durch zweimaliges Differenzieren eliminiert, was die 
Differentialgleichung rt — s? = 0 liefert. 

2. Diese wird direkt gewonnen durch Aufstellung der Schnitt- 
geraden zweier konsekutiven Tangentialebenen und Berücksichtigung 
der Tatsache, daß für eine abwiekelbare Fläche, und nur für eine 
solche, diese Schnittgerade dieselbe bleibt, gleichviel ob bloß x oder 
bloß y sich ändert. 

3. Längs eines Flächenelements (= Streifen zwischen zwei kon- 
sekutiven Mantellinien) sind p und g beide konstant; wenn man 
zum nächstfolgenden übergeht, so ändern sich beide gleichzeitig. 
Nun kommt der in seiner Neuheit überraschende Schluß: p und q 
sind also „constants ensemble et variables ensemble, donc on doit avoir 
p=9(q)“, d.h. p muß Funktion von q sein (oder umgekehrt). Da- 
mit ist zugleich ein erstes Integral der Differentialgleichung 


rt— !=0 
gefunden. 

Ähnlich wie bei Euler (s. 8.531), aber weiter ausgeführt, folgt nun 
eine Anwendung der Theorie der abwickelbaren Flächen auf die „ombres 
et penombres“. Sind zwei Körper, ein leuchtender und ein dunkler, 
gegeben, so zeigt Monge, daß die Grenze zwischen Kern- und Halb- 
schatten gebildet wird von einer abwickelbaren Fläche, welche die 
beiden Körper berührt; das Gleiche gilt für die Grenze von Halb- 
schatten und Licht; die Rückkehrkante liegt im letzteren Fall zwischen, 
im ersteren außöckäfb der beiden Körper. Es wird dann zunächst 


der einfachste Fall erledigt, daß der leuchtende Körper ein Punkt ist. 
Sind a, b, ce die Koordinaten a A ist z=K(zx, y) die Glei- 


chung der Fläche und hieraus > ——/P, a — (, so ergibt die Glei- 


chung: 2—- c= (x -a)P+(y-— er Q in Verbindung mit z=K(«, y) 
durch Elimination von 2 die Horizontalprojektion der Licht- und 
Schattengrenze oder der Berührkurve des von dem Punkt an die 
Fläche gelegten Tangentialkegels. Damit ist zugleich die erste 
Polarfläche des Punktes in bezug auf die Fläche aufgestellt, wenn- 
gleich diese Bezeichnung natürlich nicht auftritt. Es wird dann noch 


Raumkurven und Flächen. 537 


die Gleichung des Tangentialkegels angegeben und bemerkt, daß da- 
mit zugleich die Aufgabe gelöst ist, den scheinbaren Umriß der 
Fläche in Zentralperspektive zu bestimmen. 

Daran schließt sich die Lösung der allgemeineren Aufgaben, did 
gemeinsame Developpable zweier Flächen zu finden, und durch zwei 
gegebene Kurven eine abwickelbare Fläche zu legen. Monge stellt 
die Tangentialebene für beide Flächen 

4=K(a,y) und 3=K,(%, %) 
auf, nämlich: 
KK =-n@—-2)+4,Y-N) 


:—- R-9 le —-2)t+%RlY—-%)- (1) 

Soll nun eine Ebene beide Flächen berühren, so müssen diese beiden 
Gleichungen identisch sein, d. h. es muß sein: 

Pr =P; 1 =G K-ma- NR mi Mh. (2) 

Eliminiert man aus diesen drei Gleichungen und einer der Gleichungen 


(1) drei der Größen &,, %,, 23, Y5, so erhält man die Gleichung einer 
Ebene, 


und 


z= Ar +Bby+(, (3) 


wo die Koeffizienten A, B, C Funktionen der vierten, nicht eliminierten 
Variabeln, z. B. x,, sind, die also hier als Parameter auftritt. Diffe- 
renziert mau (3) nach diesem Parameter, und eliminiert ihn, so ergibt 
sich die Gleichung der gemeinsamen Developpabeln; sie stellt ins- 
besondere einen Kegel dar, wenn 





dc 
4 ‘(2) & 
— I = 
(5) 
ist. — Im Anschluß daran werden verschiedene analytische Probleme 


erledigt, deren Lösungen im vorstehenden enthalten sind, um zu zeigen, 
„que l’Analyse peut tirer de tres-grand secours de la connaissance des 
proprietes de l’&tendue“. Endlich folgt die Aufstellung der Diffe- 
rentialgleichungen der surfaces gauches, d. h. der allge- 
meinen Regelflächen, und die Lösung der Aufgabe, durch drei 
gegebene Kurven eine Regelfläche zu legen. 

Nur kurz erwähnen wir eine Arbeit von Euler vom 8. März 1779: 
„De lineis eurvis non in eodem plano sitis quae maximi vel minimi 
proprietate sunt praeditae“!). Sie enthält eine Anwendung des Metho- 
dus inveniendi, d. h. der Variationsrechnung auf Raumkurven, und sucht 
die Gleichungen y=f(z), 2=g(x) einer solchen so zu bestimmen, 








) M.P. IV, p. 18—42. 


538 Abschnitt XXIV. 


daß # Vdx ein Maximum oder Minimum wird, wo V eine Funktion 


von &, y, 2 und den Differentialquotienten von y und z nach & ist. 
Die Auflösung ist folgende: Euler setzt zunächst 


dy dp dq 
ES rn ER Fi 

















de © 0: SB er 
de rd ee 
Ferner 
oV oV oV 1 
u 
oV FIN 2 4 oV ‚ 
EL ET 
und findet als Bedingungen: 
Q_ ER ur 
tan 
d’R 
ee 22.0 





Treten nur die Differentialquotienten erster Ordnung p und p’ in 
V auf, so reduzieren sich diese Gleichungen auf: 


dp ‚ ap 
N md; Naeh 


Diese Methoden werden auf einige Beispiele angewendet. 

Unter den Arbeiten, die sich auf Flächenkurven (d. h. Raum- 
kurven, die auf einer gegebenen Fläche liegen) beziehen, ist die be- 
deutendste die von Euler über geodätische Linien: „Accuratior evo- 
lutio problematis de linea brevissima in superficie quacumque du- 
cenda“!) (25. Januar 1779). Es werden keine wesentlich neuen 
Resultate gefunden, da ja Euler die Aufgabe selbst schon früher ge- 
löst hat (III, S. 817 ff), bemerkenswert ist aber die Herleitung der 
Differentialgleichung und namentlich ihre Integration. Zunächst werden 
folgende Bezeichnungen eingeführt: | 


dze=fdaz+ gay; df=ada + Pdy; dg= Pdx + ydy, 


so daß das Linienelement ds einer beliebigen auf der Fläche gezogenen 
Kurve die Form erhält: 


ds = Yda? + dy? + (fdx + gdy)', 


oder, wenn dy=pdx gesetzt wird: 








ı) N.A.P. XV, p. 44-54. 


Raumkurven und Flächen. 539 


ds=dayi+p?+(f+ gP)°. 
Es soll nun das Integral 


s- [deyi+p+(f+gp) 


zu einem Minimum gemacht werden. Die Anwendung der von Euler in 
der Methodus inveniendi aufgestellten Regeln führt auf die Differential- 
gleichung dp(1+f?+9) +(g— fp)(df + pdg) =. Dies ist eine 
Differentialgleichung zweiter Ordnung. Eine erste Integration leistet 
Euler durch einige Substitutionen; er setzt nämlich 





ED th, Msbsorauuiif: ti. 
® f+gp’ f +9 hr; f k; B 1+h? 


Es ergibt sich so 
ds dk 


It a+a)yı+ Rn? 





so daß wenigstens die Variable s isoliert ist. 

Es ist von Interesse, daß die hier eingeführte Größe s eine einfache 
geometrische Bedeutung hat; ist nämlich « der Winkel, den eine 
geodätische Linie mit den Kurven z — const. bildet, so ist s=tgw; 
dieser Hinweis fehlt allerdings bei Euler, aber immerhin ist es be- 
merkenswert, daß Gauß die Integration der geodätischen Linie auf 
ähnliche Weise angegriffen hat!), nämlich durch Einführung des 
Winkels, den sie mit den Parameterkurven bilden. — Des weiteren 
ist bemerkenswert, daß Euler hier, wohl zum erstenmal, eine sym- 
metrische Behandlung der drei Koordinaten eines Flächenpunktes 
und einer für sie abgeleiteten Differentialgleichung unternimmt, die er 
mit den Worten einleitet: „Universam hanc quaestionem 'ita tractare 
mihi est visum, ut omnes formulae pari ratione tres coordinatas 
%, y, 2 involvant, quo pacto speculationi potius consulatur quam 
usui; hancque ob rem investigationes sequentes subjungam“. Er nimmt 
nun die Differentialgleichung der Fläche ın der Form an: 


pda +gdy+rd=(, 
und erhält als Differentialgleichung der geodätischen Linien: 
d?x(gdz — rdy) + d’y(rda — pdy) + d’z(pdy — qda) = (, 


die er noch in die Form setzt: 





ds gqgd’e—rd’y rd’z— pd’y pd’y—qgd’x 
ds gde—rday Has pdz pday—gds 











') Disquisitiones generales circa superficies curvas, Art. 18. 


540 Abschnitt XXIV. 


Schließlich wird die Integration für Rotationsflächen durchgeführt, 
— 


deren Gleichung in der Form Se +f(z)=(0 angenommen wird, 


so dß p=x, q=y wird, woraus durch eine erste Integration mit 
der Konstanten A folgt: 
Ads = xdy — yda. 
Durch Einführung von Polarkoordinaten in der xy- Ebene 
(e=v:0089 Yy=vsinp) 
folgt: 
r? v2 
Bl an ’ 
wo r eine Funktion von v ist, de den Meridian der Rotationsfläche 
bestimmt. 

Es wird dem Ruhm und den Verdiensten von Gauß keinen Ein- 
trag tun, wenn wir hier darauf hinweisen, daß verschiedene der 
Gedanken und Methoden, von denen er in den „Disquisitiones 
generales“ mit so glänzendem Erfolg Gebrauch macht, sich 
(allerdings zum Teil in spezieller Form, oder nicht ausdrücklich for- 
muliert) schon bei Euler finden, z. B. die sphärische Ab- 
bildung (8. 527), die Darstellung der Flächen in Parameter- 
form (8. 529), die Übereinstimmung des Linienelements als 
Bedingung für die Abwickelbarkeit (8. 530) und endlich 
die Behandlung der Differentialgleichung der geodätischen Linien 
mit Hilfe des Winkels, den sie mit einer auf der Fläche be- 
findlichen Kurvenschar bilden (8. 559).') 

Die im vorigen Kapitel besprochenen Arbeiten Eulers über die 
Rektifikation von Kurven stehen in gewissem Zusammenhang mit 
Untersuchungen über rektifizierbare Kurven auf Flächen, sofern 
er auch hier die S.480 angegebene Methode anwendet.) Für die 
erste der hierher gehörigen Abhandlungen trifft dies allerdings nicht 
zu, wohl aber für die übrigen. Jene handelt: „De curva rectificabili 
in superficie sphaerica“?), bringt aber keine vollständige Lösung der 
Aufgabe, sondern leitet nur für das Bogenelement den Ausdruck her: 
a wo r der sphärische Krümmungsradius, s der Bogen der Evo- 
lute ist. Die zweite Abhandlung heißt: „De lineis rectificabilibus in 
superficie sphaeroidiea quacunque geometrice ducendis“*) (4. Juli 1776). 
Es sollen also hier auf einem Rotationsellipsoid rektifizierbare Kurven 


gefunden werden. Der Weg zur Lösung ist der, daß in der xy-Ebene 





!) Vgl. auch Euler, Opera posthuma I, p. 491—496, und Lagrange, 
Oeuvres XIV, p. 217, 221. S. Stäckel in Biblioth. Mathem. (3) II (1901), p. 123. 
®) Stäckel, Leipziger Berichte 1902, p. 102. s, N.C.P. XV (1770), p. 196 . 
bis 216. *#, N. A. P. IH, p. 57—68. 


Raumkurven und Flächen. 541 


nach dem angegebenen Verfahren eine rektifizierbare Kurve bestimmt, 
und der Bogen der gesuchten Flächenkurve der z-Koordinate propor- 
tional gesetzt wird, also: 

s=n2 ds=n-da. 


Bezeichnet man das Bogenelement der Kurve in der xy-Ebene mit 


do, so daß: 
do’= da? + dy? 
ist, so ist: 
ds? 
mn?’ 


d?—= de? +dy+d?=do’+ 


oder: 


BT ey T, 
Rn 
Zi ,ym—1i. 


os" 


Die Gleichungen der Kurve in der xy-Ebene sind nun nach 

S. 480: 
de: . : a ; 
TR er Pa ee 

und der Bogen 6 ist dann: 

dv 

6= dp + vdp. 

Ist nun die Gleichung des Ellipsoids: 


2=-e21- ?-M)=e 1 (5) |; 


so hat man nach den vorangehenden Gleichungen: 


+ vdp = eVı ZEN En ('ym-1. 


Um diese Gleichung integrabel zu machen, setzt Euler: 





v=cos(/p + «), 
wobei sich für A die Bedingung ergibt: 


1—14? 
I, ee -- 1) 


und die Horizontalprojektion der gesuchten Kurve die Form erhält: 
z=—c089:-cos(Ap+e)—Asinpsin(Ap-+ «), 
y= sinp-cos(Ap+ea)—Acospsin(Ap-+ «); 


für A ist hierbei noch der aus der vorangehenden Gleichung sich er- 
gebende Wert einzusetzen. Da über c keinerlei Voraussetzung ge- 


542 Abschnitt XXIV. 


macht ist, so gelten die Resultate für jedes Rotationsellipsoid, also 
auch für die Kugel, sowie für das Rotationshyperboloid. 

In einer dritten Arbeit: „De curvis rectificabilibus in superficie 
coni reeti ducendis“!) leitet Euler rektifizierbare Kurven auf dem 
Rotationskegel her; die Höhe ist = a, der Grundkreisradius = b, die 
Mantellinie =c, und rektifizierbare Kurven lassen sich nur finden, 
wenn c:b ein rationales Verhältnis ist, Der Gang der Lösung ist 
ganz analog wie im vorigen Fall, nur ist der dort mit @ bezeichnete 
Hilfswinkel hier =% gesetzt. 6 bedeutet eine beliebige Funktion 

d 
’ d» 
suchten Kurve: 


von 9; 2° ist mit n bezeichnet; dann sind die Gleichungen der ge- 


C FR 5; i 
ah 0 ee 


b sinn sinn ’ sinn 





für die Bogenlänge s ergibt sich 


ar) 


Mit verschiedenen sphärischen Kurven haben sich Lexell, 
Schubert und Fuß beschäftigt. Ersterer behandelt sphärische Epi- 
zykloiden in einer Abhandlung: „De epicyeloidibus in superficie sphae- 
rica descriptis“?), ermittelt ihre Gleichung, die sphärische Tangente, 
das Bogenelement und den sphärischen Krümmungsradius. Schuberts 
Note: „De eurva loxodromica“?) (14. August 1786) löst die Aufgabe, 
den loxodromischen Winkel für die Loxodrome zu finden, die zwei durch 
ihre sphärischen Koordinaten gegebene Punkte verbindet; sie hat 
mehr vom Standpunkt der Nautik Interesse. Fuß endlich untersucht, 
wohl zum erstenmal, die sphärischen Kegelschnitte in einer 
vom 25. Oktober 1787 datierten Abhandlung: „De proprietatibus quibus- 
dam ellipseos in superficie sphaerica descriptae“‘) Es wird der 

Ort der Punkte Y gesucht, 
für welche die Summe der 
sphärischen Entfernungen von 
zwei festen Punkten A und B 

' konstant ist. Zu diesem Zweck 
B wird von Y das sphärische Lot 
A YX auf AB gefällt, und mit 
Fig. 59. | y bezeichnet, AX ist =z, 

Ab=2a AY+BY=2ec ge- 


8 





2) A. P. 1781, I, p. 60-73. 2) Ebenda, 1779, 1.p.49-11. ®9)N.A.P. 
IV, p. 95—101. #) Ebenda, III, p. 90—99, vgl. auch S. 387. 


Raumkurven und Flächen. 543 


setzt. Hierauf werden mit Hilfe sphärischer Dreiecke die Beziehungen 
hergeleitet: 














won sin € C08 € 
y Veos ce? sin a? + cos ©?(cos a? — cos c?) 
’ cos @® — cos c?) (cos ©? — cos € 
ea \ ) 





Veos e? sin a? + cos x?(cos a? — cos c?) 


Als „proprietas maxime memorabilis“ hebt Fuß hervor, daß für 
c= 90° die sphärische Ellipse ein Großkreis wird, gleichviel, wie 
die Brennpunkte A und B liegen. Er berechnet sodann die beiden 
Halbachsen; die eine ist natürlich = c, für die andere, die mit g be- 
zeichnet ist, ergibt sich: | 





Vsin e®— sin a? 


ig.9 Ir c08 C 





(Daß diese Gleichung sich auf die einfache Form bringen läßt: 





und daß hiernach c die Hypotenuse eines sphärischen rechtwinkligen 
Dreiecks mit den Katheten a und b ist, wird nicht bemerkt.) Durch 
Einführung von 9 nimmt die Kurvengleichung die Form an: 





tg y= . Vsin & — sin @?. 
Ferner wird von der sphärischen Ellipse bewiesen, daß die Brenn- 
strahlen AY und BY mit der Kurventangente in Y gleiche Winkel 
machen, und schließlich gezeigt, daß die Projektion der sphärischen 
Ellipse auf die zu ihrem Mittelpunkt als Pol gehörige Äquatorebene 
eine Ellipse ist, daß aber die Brennpunkte derselben nicht die Pro- 
'jektionen der Brennpunkte der sphärischen Ellipse sind. 

Als letzte Abhandlung über Raumkurven ist endlich zu nennen: 
„Kästner, Cylindrorum rectorum se decussantium sectiones ad geo- 
metriam fornicum relatae“.') Es handelt sich also um die Durch- 
dringung zweier Kreiszylinder, wie sie in der Architektur bei der 
Durchkreuzung zweier zylindrischen Gewölbe auftritt. Hier wird nur 
der Fall erörtert, daß die Achsen der beiden Zylinder sich schneiden. 
Ist ihr Winkel = 2«, sind die Radien der Zylinder « und b, und 
nimmt man die Halbierungslinien des Winkels 2« und seines Neben- 


winkels als Koordinatenachsen, so ist die Gleichung der Projektion 


der Schnittkurve auf die Ebene der Achsen: xy = , also eine 





') Comment. Goetting. X (1791), p. 30—54. 


544 Abschnitt XXIV. 


gleichseitige Hyperbel, woraus sich leicht die Gleichungen der Schnitt- 
kurve selbst herleiten lassen. 

Wir verlassen nun die Raumkurven und wenden uns zu den 
krummen Flächen, dem Gebiet, in welches die hervorragendsten 
Leistungen unserer Periode fallen. Gleich bei den Arbeiten allge- 
meinerer Natur haben wir von zwei der schönsten Entdeckungen zu 
berichten; wir meinen die bekannten Sätze von Euler und Meusnier 
über die Krümmung der Oberflächen, und diesen werden sich nachher 
bei der Besprechung der Feuilles d’Analyse noch weitere anreihen, 
Vorher müssen wir jedoch noch einmal auf die schon früher (8. 535) 
erwähnte Arbeit von Tinseau: „Solution de quelques problemes ete.“ 
zurückkommen, da sie einige interessante Bemerkungen auch über 
Flächen enthält. Tinseau stellt zunächst die Gleichung der Tangen- 
tialebene in einem Flächenpunkt «, y, z auf mit =, y, © als laufen- 
den Koordinaten, und zwar in der eigentümlichen Form: 


dz d 
(2 — a)dy (7) de + (y— y)dx En dy— (2 — o)dady—=(, 


wobei die Klammern nach der damals üblichen Schreibweise eine par- 
tielle Differentiation andeuten. Diese Gleichung wird nun sofort um- 
gedeutet, indem den Koordinaten =, p, ® feste Werte a, b, c erteilt 
werden. Sie stellt dann zusammen mit der Flächengleichung die Be- 
rührungskurve des vom Punkt a, b, c an die Fläche gelegten Tan- 
gentialkegels dar. Es liegt also ein ganz ähnlicher Gedankengang 
vor, wie bei Monge (s. 8.537), für den aber Tinseau die Priorität 
gebührt, da seine Arbeit zeitlich vorangeht. — Die Gleichung des 
Berührungskegels selbst wird gewonnen, indem man z, y, z aus den 
Gleichungen der Berührkurve und den beiden Gleichungen einer durch 
den Punkt (a, b, c) gehenden Geraden eliminiert. Tinseau macht 
auf die Bedeutung dieser Überlegungen für die Perspektive aufmerk- 
sam, gibt auch einen einfachen Beweis für den Satz vom Fluchtpunkt, 
daß die Horizontalprojektionen einer Schar von parallelen Geraden sich 
in einem Punkte schneiden, und bemerkt dazu: „Voiei une demon- 
stration bien simple de ce prineipe, dont les auteurs de perspective ont 
jusqwici cherch6 la preuve, les uns dans la metaphysique, les autres 
dans des eonsiderations sur Vinfini“ — Diese Betrachtungen werden 
ebenso wie für den Kegel, auch für den Zylinder angestellt. Außer- 
dem hat Tinseau in dieser Arbeit bewiesen, daß zwischen den 
Neigungswinkeln «, ß, y einer Ebene gegen die Koordinatenebenen die 


Beziehung besteht: 
cos «+ cos BP? + cos y’=1, 





») Die letzte Bemerkung Tinseaus ist übrigens unrichtig. Vgl. S. 585, 
Fußnote. 


Raumkurven und Flächen. 545 


und daraus den bemerkenswerten Satz hergeleitet, daß das Quadrat 
eines ebenen Flächenstücks gleich der Summe der Quadrate 
seiner Projektionen auf drei zueinander senkrechte Ebenen 
ist; auf die Analogie dieses Satzes mit dem pythagoreischen Lehr- 
satz wird ausdrücklich hingewiesen. Der Rest handelt von einigen 
speziellen Regelflächen, und wird weiter unten, wo wir über die Einzel- 
untersuchungen berichten, nochmals zu erwähnen sein. 

Eulers berühmter Satz über die Krümmungsradien der Nor- 
malsehnitte einer Fläche steht in seinen „Recherches sur la cour- 
bure des surfaces“.!) Die Untersuchung ist durch ziemlich umständ- 
liche Rechnungen geführt, von denen wir nur die Hauptresultate 
angeben. Euler betrachtet die Schnittkurve der Fläche mit einer 
beliebigen Ebene z=ay— ßx-+y, und findet für den Krümmungs- 
radius o dieser Kurve den Ausdruck: 

? _ [et +ß—2ag+2Pp+(er + 9’ +P’+ @]" 
le —D’r+Pß+Dtr2e— DP+tpslu ° 


wo p, 9, r, s, t die bekannten Differentialquotienten sind, und zur 





Abkürzung vi+pP+4q4 — u gesetzt ist. Hieraus wird nun der 
Krümmungsradius r (natürlich nicht zu verwechseln mit dem 
Differentialquotienten r) eines beliebigen Normalschnitts herge- 
leitet, und zu diesem Zweck der Neigungswinkel 9 der Schnittebene 
gegen die «y-Ebene, und der Winkel &, den ihre Spur in dieser 
Ebene mit der x-Achse macht, eingeführt. Es ergibt sich dann ein 
ziemlich komplizierter Ausdruck; mit Hilfe desselben werden zunächst 
die Krümmungsradien der Schnittebene, welche durch die z- Koordinate 
geht, und der zu ihr senkrechten Ebene berechnet, die Euler als 
„sections prineipales“ bezeichnet. Nun wird der Winkel p eingeführt, 
den die Ebene des beliebigen Normalschnritts mit der eines der Haupt- 
schnitte bildet. Hierdurch ergibt sich: 


et 
rP—gtgy-W’+tga+ptgp-wW’+2s(p—gtgp u (a+ptgp-W’ 
also ein Ausdruck von der Form: 
l 

 ZL+Meos2p + N sin2p’ 
wo L, M, N Funktionen der Differentialquotienten p, q, r, s, t sind, 
die sich leicht angeben lassen. Aus dem letzten Ausdruck folgert 
nun Euler die wichtigen Sätze: 

1. Die Krümmung zweier Flächenelemente stimmt überein, wenn 


Vz 











r 





') Hist. de l’Acad. Royale d. Sciences et Belles-Lettres ä& Berlin 1760, 
p. 119143. 


546 Abschnitt XXIV. 


L, M, N für beide denselben Wert haben, oder durch Veränderung 
des Winkels p (d.h. durch Drehung des Elements um seine Normale) 
ineinander übergeführt werden können. 
2. Kennt man drei Werte von r, so kann man L, M, N, und 
damit alle übrigen bestimmen. 
3. r nimmt einen größten oder kleinsten Wert an, wenn 
2: 
tg 29 = — Mm 
ist. Diese extremen Werte (d. h. die Hauptkrüämmungsradien im heu- 
tigen Sprachgebrauch) werden mit f und g bezeichnet. 
4. Die Richtungen, in welche diese beiden extremen Werte fallen, 
stehen aufeinander senkrecht. 
5. Für den Fall, daß einer von den extremen Werten von r in 


z 1 
die durch = 0 bestimmte Ebene fällt, ist r = tg A 


6. Kennt man f und g, so kennt man alle Werte von r; stimmen 
also die Hauptkrümmungsradien für zwei Flächenelemente überein, so 
haben diese dieselbe Krümmung („on peut prononcer hardiment, que 
ces deux el&ments sont doues de la m&me courbure“‘). 





. ie 1 z 
7. Die Eulersche Formel: Führt maninr = RS ee die 





Werte f und g ein, so ergibt sich: 


BE 2/9 
f+g9+(f—g) c0829Y 


Nur in dieser Form, nicht in der jetzt gebräuchlichen: 








1 c0o8Yp? sing? 
(fr a PT ) 

tritt die Gleichung bei Euler auf. Den Schluß bildet eine auf obiger 

Formel beruhende geometrische Konstruktion des Flächenelements, 

wobei noch bemerkt wird, daß r=(0 und r= oo nicht als extreme 

Werte gelten können. 

Neben dieser Arbeit steht ebenbürtig die von Meusnier über 
die Krümmungsradien schiefer Sehnitte, die merkwürdigerweise die 
einzige mathematische Publikation irn Mannes geblieben ist. 

Jean Baptiste Marie Charles Meusnier, geb. 1754, war 
Oberstleutnant im Geniekorps der französischen Armee, bald darauf 
Divisionskommandeur und Mitglied der Pariser Akademie. Er fand 
den Heldentod bei der Verteidigung von Mainz gegen die belagernden 
Preußen, wo er schwer verwundet wurde und bald darauf starb (1793). 
Den schönen Satz, der heute noch seinen Namen trägt, hat er schon 
mit 22 Jahren entdeckt, und in einem „M&moire sur la courbure des 


Raumkurven und Flächen. 547 


surfaces“!) im Jahr 1776 der Akademie vorgelegt. Es enthält neben 
dem sogenannten Meusnierschen Theorem noch die Entdeckung einer 
fundamentalen Eigenschaft der Minimalflächen, nämlich, daß 
ihre Hauptkrümmungsradien überall gleich und entgegengesetzt sind, 
sowie die ersten speziellen Minimalflächen. Auch der glückliche 
Gedanke, eine Fläche in der Umgebung eines ihrer Punkte zu ersetzen 
durch eine Annäherungsfläche 2. Grades (jetzt Schmiegungspara- 
boloid genannt), taucht in dieser Arbeit zum erstenmal auf. Meusnier 
beginnt nämlich seine Untersuchung eines Flächenelementes damit, 
daß er die Flächengleichung auf ein Koordinatensystem (u, v, £) be- 
zieht, dessen uv-Ebene die Tangentialebene und dessen t-Achse die 
Normale des betr. Punktes ist. Dann gibt es eine Fläche von der 





Form: t= een ” welche dieselbe Krümmung hat, wie. das 
Flächenelement. Wird nun das Koordinatensystem um einen Winkel 


Par bestimmt ist, um die Normale gedreht, so 
nimmt die Gleichung der Annäherungsfläcke die Form an: 
2t= Auw’+ Bv’?’, wo w und v’ die neuen Koordinaten sind und A 
und BD von c, e, f und dem Winkel p abhängen. Damit beweist nun 
Meusnier folgenden Satz: 

Jedes Flächenelement kann angesehen werden als er- 
zeugt durch Rotation eines Kreises um eine zur Tangential- 
ebene des Elementes parallele Achse. Ist r der Radius des 
Kreises, og der Abstand der Rotationsachse von der Tangentialebene, 


so sind r und g durch die Gleichungen bestimmt: 


1 _ec+ftVe-NHt4E 1_c+FVe-NFtie 


p, der durch tgyp = 














r @ 2 
Meusnier wählt das obere Vorzeichen, und er nennt r und o 
die „rayons decourbure“ des Flächen- ‚2 


\ 


elementes. Es ist dies wohl das erste 
Vorkommen dieses Ausdrucks in 
der Flächentheorie; ih Eülers Ab- 








handlung?) findet er sich noch nicht. L 

Daran schließt Meusnier zwei wich- 2 ae 
tige Folgerungen, die sich durch 

Berechnung des Krümmungsradius eines 

schiefen Schnittes ergeben. Als al“ ü 





Achsen des Koordinatensystems (Fig. 60) 
nimmt er die Flächennormale AD, 
und die Richtungen AG und AL, in welche ‚die „rayons de 


Fig. 60. 





') Mem. div. Sav. 1785, p. 477—510. e Siehe S. 545. 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 36 


548 Abschnitt XXIV. 


courbure“ r und o fallen. Ist nun AQ die Schnittgerade einer belie- 
bigen, durch A gehenden Schnittebene mit der xy-Ebene, ® ihr 
Neigungswinkel gegen dieselbe, <@AQ=x, so erhält man für den 
Krümmungsradius R dieses Schnittes: 








ER rosino Fer 2resino 

Da on TTS ER eye (1) 

Setzt man » = 90°, so ergibt sich der Krümmungsradius R’ eines 
Normalschnittes, nämlich: 

wa 2ro 

re enrtr (2) 

Der Vergleich dieser Gleichung mit der Eulerschen Formel 

(8.546) zeigt, daß r und o nichts anderes sind, als die von Euler 

berechneten extremen Werte der Krümmungsradien der Nor- 

malschnitte. Das ist die erste der beiden Folgerungen. Die zweite 

ist das aus (1) und (2) sich sofort ergebende Meusniersche Theorem: 


R=FRsino, (3) 





das Meusnier in folgende geometrische Form kleidet: 

„Si l’on eoupe un elöment de surface par un plan qui lui soit 
perpendieulaire, qu’on imagine une sphere qui lui soit tangente, et 
dont le rayon soit egal au rayon de courbure de la section, dont 
nous venons de parler, qu’on fasse par linterseetion du plan coupant 
avec le plan tangent un autre plan quelconque, il fera, dans la sphere, 
et dans l’elöment de surface des sections d’egale courbure.“ 

Mit Zugrundelegung der Formel (2) wird nun die Art der Wöl- 
bung des Flächenelementes, und ihre Abhängigkeit vom Vorzeichen 
der Radien r und oe diskutiert, die Richtung bestimmt, für welche R 
unendlich groß wird, und der Spezialfall, daß » oder g unendlich 
wird, erörtert. Sodann wird auf ein beliebiges Koordinatensystem 
übergegangen, und die Größen c, e, f, und damit auch die Haupt- 
krümmungsradien durch die partiellen Ableitungen erster und zweiter 
Ordnung von z nach x und y ausgedrückt. Es folgt noch eine An- 
wendung auf Rotationsflächen, und die Bestimmung der Flächen, für 
welche r—= eo ist, was natürlich auf die Kugel führt. 

Der oben (8.547) aufgestellte Satz über die Erzeugung eines 
Flächenelementes durch Rotation eines Kreises wird nun angewendet, 
um die wichtigste Eigenschaft der Minimalflächen. herzuleiten, näm- 
lich, dd r+o=0 ist. Meusnier berechnet unter Zugrunde- 
legung dieser Erzeugungsweise den Inhalt eines Flächenstückchens 
von gegebener Begrenzung, und stellt die Bedingung dafür auf, daß 
dieser ein Minimum wird. 


Raumkurven und Flächen. 549 


Er verfährt dabei folgendermaßen: Das Flächenelement entstehe 
durch Rotation eines unendlich kleinen Kreisbogens AmB, dessen 
Halbierungspunkt m und ‘dessen Sehne = 
AB=2o ist, um eine Achse HK, TE 79 
die der Sehne AB parallel ist, und ei | 
von ihr den Abstand AH=a hat. | 
Der Radius r des Kreisbogens ist ' | 
dann der eine, der Abstand mg des 
Mittelpunktes m von HK der andere 
Hauptkrümmungsradius o des Ele- 
mentes. Ist nun 9 der Schwerpunkt 
des Bogens AmB, so muß wegen der | | | 
Guldinschen Regel das Produkt 


gI- AmbB 





AB 





ein Minimum werden. Hierfür ergibt 
sich unter der Voraussetzung, daß ® 
sehr klein ist, daß also: 








7,5 54 K 


AmB- 20 +%- 
gesetzt werden kann: 
N [2e = ea]. 


Zwischen den beiden Variabeln r und go besteht aber die leicht her- 
zuleitende Beziehung: 


w? 
e=4ar;,' 


Unter Berücksichtigung dieser Gleichung ergibt sich durch Differen- 
tiation als Bedingung dafür, daß das Flächenelement ein 
Minimum werden soll, r+o=(0. 

Man verdankt also Meusnier den Satz, daß in jedem 
Punkt einer Minimalfläche die Hauptkrümmungsradien 
gleich und entgegengesetzt gerichtet sind. Auf Grund hiervon 
kann die Differentialgleichung der Minimalflächen leicht auf- 
gestellt werden, da ja r und o in Funktion der Differentialquotienten 
P, 9, r, s, t (für die drei letzteren schreibt Meusnier: m, n, s) be- 
kannt sind. Hierbei ergibt sich die bekannte Gleichung: 


HM) +tl+P) —- 2pgs=0. 


Meusnier bemerkt, daß man außer der Ebene noch keine Fläche 
kenne, welche dieser Gleichung genüge. Er findet nun zwei partikuläre 


Integrale, das eine dadurch, daß er die Gleichung zerlegt nr +1= 0 
36* 


550 Abschnitt XXIV. 


und rg? + tp?— 2pgs = 0. Die zweite lehrt, wie Monge gezeigt hat'), 
daß die Fläche erzeugt wird durch Bewegung einer Geraden parallel 
der zy-Ebene. Mit Zuziehung der ersten ergibt sich die windschiefe 
Schraubenfläche Ein zweites Integral findet er, indem er die Rota- 
tionsflächen sucht, die zugleich Minimalflächen sind; dies führt auf 
das Katenoid. Meusnier ist also auch der Entdecker der ersten 
speziellen Minimalflächen. 

In sehr eleganter Weise wird dann noch die Differentialgleichung 
der abwickelbaren Flächen aus der Bedingung abgeleitet, daß r oder 
o unendlich wird, und schließlich gezeigt, daß für alle Regelflächen, 
die nicht abwickelbar sind, r und og verschiedenes Vorzeichen haben. 

Damit sind die allgemeinen Untersuchungen über die Theorie 
der Flächen erledigt, und wir wenden uns nun zu einer Gruppe von 
Arbeiten, die sich damit befassen, die Gleichungen von Flächen 
mit gegebenen Eigenschaften aufzustellen. Hierher gehören ja 
eigentlich die abwickelbaren Flächen auch schon als besonderer Fall. 
Zuerst steht hier Lagrange mit seinem berühmten „Essai d’une nou- 
velle methode pour determiner les Maxima et les Minima des Formules 
integrales indefinies“?), wo nach den Methoden der Variationsrechnung 
die Differentialgleichung der Minimalflächen in der bekannten Form 
aufgestellt wird: r 1 +) +t(1l+p9)—2pgs—0. Dann folgt 
Euler mit einer interessanten Abhandlung: „Evolutio insignis para- 
doxi eirca aequalitatem superfieierum“.?) Es handelt sich hier um die 
Aufgabe, zwei Flächen zu finden, so daß die über demselben 
Stück der x&y-Ebene stehenden Flächenteile gleich sind. Euler 
kommt zunächst darauf zu sprechen, daß hier ein wesentlicher Unter- 
schied zwischen ebenen Kurven und Flächen besteht, insofern zwei Kurven, 
bei denen zu gleichen Abszissen gleiche Bögen gehören, stets kon- 
gruent sind, während dies bei zwei Flächen der oben genannten Art 
nicht zuzutreffen braucht. Dies ist das Paradoxon, von dem der Titel 
spricht. Es läßt sich nun leicht zeigen, daß der obigen Forderung 
genügt wird, wenn p?-+ g? für beide Flächen denselben Wert haben. 
Daß dies für zwei verschiedene Flächen überhaupt möglich ist, zeigt 
Euler an dem Beispiel der beiden Paraboloide 


2 2 
SEM ea 
2a a 





2a 


Zwei Flächen dieser Art nennt er kongruent, und die Aufgabe, alle 
Flächen zu finden, die einer gegebenen „kongruent“ sind, kommt dar- 
auf hinaus, die Gleichung p+ g9?= f(x, y) zu integrieren, was Euler 





I) Siehe S. 365. 2) Miscell. Taurin. 1760. s» N.C.P. XIV, Pars I, 
769, p. 104—128. 


3 


a 


Raumkurven und Flächen. 551 


als ein „problema diffieillimum“ bezeichnet. Doch gelingt ihm die 
Lösung wenigstens für die Ebene z=a+mz + ny. Hier ist also 
P+g@=m?+n?. Diese Gleichung integriert Euler auf folgendem 
Wege: er setzt 


08.2 2 122 08, : 9-78 
ri © YV m rn”, dy sın oYVm 4ın 


und findet nun durch partielle Integration: 
her 


—cı 





2 — Ym’+n?|(@ cos 0 + ysin ®) + f(@ sin @ — Y cos ®) do|- 

Er macht nun folgenden Schluß, der in derselben oder in ähn- 
licher Weise öfters bei ihm wiederkehrt: Soll das Integral ausführbar 
sein, so muß zsin@— ycos eine Funktion von ® sein, die er mit 
2 bezeichnet; so ergibt sich also die Flächengleichung durch Elimi- 
nation von & aus den beiden Gleichungen: 

2 — Vm® + n?| (@ -6c08@ + ysin ®) + [@do]|, 2=xsin@ —YCOSw. 


Es sind dies abwickelbare Flächen, die sich als Enveloppen einer 
Schar von Ebenen mit gleicher Neigung gegen die xy-Ebene er- 
geben. Denselben Satz samt Umkehrung hat Monge später in der 
oben (s. S.535ff.) besprochenen Arbeit bewiesen und in die Feuilles 
d’Analyse aufgenommen (s. $. 563). 

Mit derartigen Aufgaben hatte Euler ein bis dahin noch wenig 
bearbeitetes Gebiet der Analysis, nämlich die Integration partieller 
Differentialgleichungen, betreten, und es war natürlich, daß er sich 

Fe pls: KinleraneRängen, deren große Wichtigkeit er wohl er- 
kannte, noch weiter beschäftigte. Er formulierte das Problem allge- 
meiner mit dem Titel seiner nächsten Arbeit hierüber: „De methodo 
tangentium inversa ad theoriam solidorum translata“!) (2. Sept. 1776). 
In der Einleitung hebt er die Bedeutung derartiger Forschungen her- 
vor, und bemerkt, daß sie himmelweit (,„toto coelo“) von der Behand- 
lung der Funktionen einer Variabeln verschieden seien. Er nimmt 
dann gleich eine spezielle Aufgabe vor, nämlich die Flächen zu be- 
stimmen, für welche das Stück ZN der Normalen zwischen Fläche 
und xy-Ebene einen konstanten Wert a habe; diese Aufgabe erscheint 
ihm deshalb besonders geeignet, weil hier die Resultate der analyti- 
schen Lösung, die „ob novitatem“ manchem nicht ganz einwandfrei 
(suspeeta) erscheinen könnten, geometrisch ohne weiteres einleuchten. 
Evident ist, daß die zwei Parallelebenen zur xy-Ebene im Abstand a, 
sowie die Kugeln und Rotationszylinder, die beide berühren, der For- 
derung genügen. Deren analytischer Ausdruck ist: 





» N. A.P. VI, p. 77-9. 


552 Abschnitt XXIV. 





zyl+pP+gQ=a. 


Sie wird auf zwei Arten hergeleitet, zuerst geometrisch, dann analy- 
tisch auf Grund der Überlegung, daß ZN konstant bleibt, sowohl 
wenn x als wenn y allein variiert. Die Integration dieser Gleichung 
beruht auf einem ganz ähnlichen Gedanken wie in der vorigen Arbeit. 
Da nämlich: 


so kann man setzen: 


.  Yarzi Ver: 
een Er 








- sin p; 


setzt man diese Werte in dz2=pdx-+ gdy ein, so folgt durch teil- 
weise Integration mit © als Integrationskonstante: 


VER pi 


Soll die rechte Seite auch integrabel sein, so muß x sin — y cos-p 
eine Funktion von ® sein, also 


zsımp —ycosp=®. 


Damit ist die Aufgabe eigentlich gelöst; denn man braucht bloß für 
® irgend eine Funktion von @ einzusetzen, so ergibt die Elimination 
von p aus den beiden letzten Gleichungen eine Fläche der verlangten 
Art. Der geometrische Charakter derselben wird jedoch deutlicher 
durch eine Umformung der Gleichungen. Euler setzt nämlich: 


Ve— 2=v; cos p | Bdp — Bsingp=1; 
sin ® | Ddp+ Boosy=u, 


so dab also ? als eine willkürliche Funktion von « angesehen werden 
kann. Dadurch ergeben sich die Gleichungen: 


z=t—vco8p y-u+tvsiny z=Va?— v. 


Diese lassen eine einfache geometrische Deutung zu: sind nämlich f 
und % rechtwinklige Koordinaten einer in der xy-Ebene willkürlich 
gezogenen Kurve, so- entsteht die Fläche durch Bewegung eines Kreises 
vom Radius a, dessen Mittelpunkt auf der Kurve fortrückt, während 
seine Ebene stets normal zu der Kurve bleibt. Die Flächen sind also 
die später so genannten Kanal- oder Röhrenflächen. Euler hebt 
besonders hervor, daß bei derartigen Aufgaben nicht bloß willkürliche 
Konstanten, sondern willkürliche Funktionen auftreten, und daß 


N 


Raumkurven und Flächen. 553 


diese auch wirklich ganz beliebig, sogar diskontinuierlich!) an- 
genommen werden können. — Auf die analytische folgt eine geo- 
metrische Lösung, als einfachstes Beispiel von Flächen dieser Art 
nennt Euler die Ringfläche, von der er sagt, daß sie wie eine Wurst 
aussehe („fareiminis figuram mentiens“), und schlägt schließlich vor, die 
hier gefundenen Flächen als „gekrümmte Zylinder“ (eylindri incurvati) 
zu bezeichnen. In derselben Abhandlung wird noch eine allgemeinere 
Aufgabe gelöst, nämlich daß das Stück ZN der Normalen nicht konstant, 
sondern eine Funktion Z von z sein soll, so daß also die Differential- 
gleichung der Fläche in diesem Fall ist: 





evi+P+Q=-Z 


Die Integration wird auf ganz analogem Wege bewerkstelligt und 
führt auf die Gleichungen: 
2d2 


ee 
ZZ _— 2? 





z=t+v0008p9 y=u-+v-singp; o—[- 


wo wieder £ eine willkürliche Funktion von « ist. 

Auch die geometrische Deutung ist eine ähnliche: es ist einfach 
an Stelle des Kreises eine beliebige, durch Z definierte Kurve. ge- 
treten, d.h. eine Ebene, in der diese Kurve liegt, bewegt sich senk- 
recht zur xy-Ebene so, daß ein in ihr fest angenommener Punkt eine 
willkürliche Kurve beschreibt, und eine feste, durch diesen Punkt 
gehende Gerade stets in die Normale der Kurve fällt; dann beschreibt 
die in der beweglichen Ebene liegende Kurve eine Fläche der ge- 
suchten Art, die man wohl als „Gesimsflächen“ bezeichnet hat. Beide 
Flächenfamilien, die Kanal- und die Gesimsflächen hat Monge unter 
anderen Gesichtspunkten später auch untersucht, wie wir weiter unten 
sehen werden. Auch Euler hat sich noch einmal mit beiden Arten 
von Flächen beschäftigt in den beiden Abhandlungen: „Investigatio 
superficierum, quarum normales ad datum planum productae sint 
omnes inter se aequales“?) (28. Dezember 1777) und „De corporibus 
eylindrieis incurvatis“®) (21. September 1778). Was diese Neues bieten, 
ist im wesentlichen der Satz, daß für beide Arten von Flächen In- 
halt und Oberfläche nach der Guldinschen Regel berechnet 
werden kann, und daß dies auch dann noch gilt, wenn die Leit- 
kurve nicht eine ebene, sondern eine Raumkurve ist. 

Ebenfalls auf eine partielle Differentialgleichung erster Ordnung 


führt eine Aufgabe, die auch durch Übertragung eines Problems von 


') Ob_solche zulässig seien, war eine in jener Zeit mehrfach diskutierte 














Streitfrage. S. Abschn. XXVI. 2 N.A.P. X, p. 41—46. 5) Ebenda, XII, 
p. 91—100. ke 





554 Abschnitt XXIV. 


der Ebene auf den Raum entsteht, nämlich Flächen zu finden, die 
eine gegebene Schar überall rechtwinklig schneiden. Sie bildet den 
Gegenstand einer Abhandlung von Euler aus seinen letzten Lebens- 
jahren: „De problemate Trajectoriarum ad superficies translato“!) 
(12. August 1782). Euler verfährt auch hier symmetrisch: für die 
gegebene Flächenschar (secandae) sei: 


pdz+gdy+rdz=0 
die differenzierte Flächengleichung, für die gesuchte: 
Pdx + Qdy+ Rdz =. 
Dann ist die Bedingung der Orthogonalität: 
pP+qgQ9+rR=(. 
Daneben besteht die allgemeine Integrabilitätsbedingung: 


(7-0) + (On) Hm Pi) 





Nimmt man die Flächengleichungen nach z aufgelöst an, so ist die 
Bedingung der Orthogonalität: 


»P+gQ+1=0. 


Euler behandelt nun den allgemeinen Fall derart, daß er zwei Inte- 
grale, « und v, sucht, die je eine Variable nicht enthalten, so daß 
also z.B. u nur x und y, v nur y und z enthält. Dann heißt z.B. 
für « die Bedingungsgleichung: 

ou ou 
922 + PEN a=$, 
die nach der gewöhnlichen Methode behandelt werden kann, sofern 


auch » und q von 2 frei sind. Ist so «, und auf dieselbe Weise v 
bestimmt, so genügt auch jede Gleichung von der Form 


v= ®@(u) 


der Differentialgleichung. Euler nennt sie das „integrale completum“; 
ihre Herleitung geschieht jedoch in den meisten Beispielen, die er 
gibt, mit Hilfe des S. 551 erwähnten Schlusses. So ist für die 
Kugeln: 

e+yP+2#—d=-0; P-Z; 94-5, 


also die Differentialgleichung der gesuchten Flächen: 





») M.P. VII, p. 33—60. 


Raumkurven und Flächen. 555 


1- PZ—-03=0. 


Daneben ist: 
dz = Pdx + Qdy. 


Die Elimination von @ ergibt: 


ydz — zdy = P(ydz — ady), - 
4) Pa) 
-Jr6G) 


Nun muß wieder, wenn die Integration ausführbar sein soll, P Funk- 


tion von S sein. Dann ist aber auch f Pd (2) eine solche, also ist 


‚-G) 


wo F' noch eine willkürliche Funktion ist. Damit ist das „integrale 
completum“ gefunden. Diese Methoden werden noch auf verschiedene 
Beispiele angewendet. 

‘Nur kurz erwähnen wir hier eine Arbeit von Monge: „Sur l’ex- 
pression analytique de la generation des surfaces courbes“'), da ihre 
wesentlichen Resultate den Feuilles d’Analyse an verschiedenen Orten 
einverleibt sind, und daher dort darüber berichtet werden wird. 
Monge zeigt an einer Reihe von Beispielen, daß eine Flächengattung, 
deren endliche Gleichung » willkürliehe Funktionen enthält, durch 
eine partielle Differentialgleichung. n'” Ordnung definiert wird, die 
sich durch sukzessive Differentiation und schließliche Elimination her- 
leiten läßt. 

Die Einzeluntersuchungen über Flächen bieten, wie schon 
in der Einleitung zu diesem Kapitel hervorgehoben wurde, nicht ge- 
rade viel Bemerkenswertes. Verschiedene befassen sich mit der Kom- 
planation und Kubatur bestimmter Zylinder- und Regelflächen, andere 
mit speziellen Regelflächen, wobei die Terminologie von der heute 
üblichen wesentlich verschieden ist.?) Die erste Untersuchung hier- 
über stammt von Braikenridge (vgl. III, S. 761): „Letter to Earl 


oder 


also 





') Mem. de l’Acad. Roy. de Turin, 2. serie, 1. partie, 1784/85, p. 19—30. 
?) Nach Klügel (III®, S. 98ff.) entsteht ein Konoid dadurch, daß eine Kurve, 
deren Ördinaten beständig zunehmen, und die die Abszissenachse nicht schnei- 
det, um diese Achse rotiert. Das Konoid im heutigen Sinne dagegen bezeichnet 
er als Conocuneus (ib. 8. 302), das hyperbolische Paraboloid als kegelförmige Keil- 
fläche. S. dagegen Tinseau, S$. 556. 


556 Abschnitt XXIV. 


of Marchmont concerning the section of a solid, hitherto not consi- 
dered by Geometers“!) (1759). Es handelt sich um Flächen, die man 
heute als Konoidflächen bezeichnet, und die Braikenridge folgender- 
maßen entstehen läßt: Gegeben eine Gerade und eine Kurve (direetrix). 
Eine Ebene, die beide schneidet, bewegt sich parallel mit sich selbst; die 
Verbindungslinie ihrer Schnittpunkte mit der Geraden und der Kurve 
beschreibt dann die Fläche. Wird diese von einer beliebigen Ebene 
geschnitten, so ist die Schnittkurve im allgemeinen von einer doppelt 
so hohen Ordnung, als die Direktrix. Am ausführlichsten wird der 
Fall behandelt, daß auch die Direktrix eine Gerade ist, d.h. das 
hyperbolische Paraboloid. Dieselbe Fläche tritt auf bei Mauduit 
(Antoine Rene Mauduit, 1731—1815, Professor der Geometrie am 
College de France); seine Arbeit führt den langen Titel: „Memoire sur 
la cubature des corps gauches, oü l’on explique leur formation, la 
maniere de les toiser sans &tre oblige de les d&composer; et les diffe- 
rents proprietes de ces corps par rapport aux courbes que l’on peut 
y trouver par lintersection d’un plan“?) (1763). Ein solches „corps 
gauche“ ist begrenzt von den Ebenen, die die vier Seiten eines wind- 
schiefen Vierecks ABCD auf eine durch eine Ecke A gehende Ebene 
projizieren, ferner von dieser Ebene und endlich von einer Fläche, 
die von einer Geraden beschrieben wird, welche an zwei Gegenseiten, . 
z.B. AB und CD so hingleitet, daß sie beide in derselben Zeit 
durchläuft. Der Inhalt des so definierten Körpers wird durch eine 
Integration ermittelt, ferner die Gleichung seiner Oberfläche für den Fall 
hergeleitet, daß die Projektionen von BC und AD (und damit auch die 
Projektion sämtlicher Lagen der erzeugenden Geraden parallel sind. Für 
diesen Fall (hyperb. Paraboloid) wird nachgewiesen — und das ist wohl 
das Bemerkenswerteste an der ganzen Arbeit —, daß auf der Fläche 
noch eine zweite Schar von Geraden sich befindet. Diese 
Entdeckung wird also Mauduit zuzuschreiben sein. Aus der Existenz 
dieser beiden Scharen von Geraden auf der Fläche zieht er dann den 
merkwürdigen Schluß, daß sie „le moins ecourbe possible“ sei, d. h. daß 
sie sich am meisten der Ebene nähern. Auch Tinseau untersucht 
in seiner mehrfach erwähnten Arbeit im 2. Teil solche Flächen, die 
durch Bewegung einer Geraden entstehen, welche, stets einer Ebene 
parallel bleibend, an zwei gegebenen Kurven hingleitet. Er nennt 
diese Gattung von Flächen Paralleloide. Zuerst wird der Fall 
untersucht, daß die eine der Leitkurven eine auf der Richtebene senk- 
rechte Gerade („Achse“) ist, d. h. das gerade Konoid, das von Tin- 





») Phil. Trans., Vol. 51, P. I, p. 446—457. ?, Mem. div. Sav. IV, p. 623 
bis 634. 


Raumkurven und Flächen. 557 


seau auch so bezeichnet wird. Von dieser Fläche weist er folgende 
Eigenschaften nach: 

1) Die ebenen Schnitte parallel der Achse sind bezüglich des 
Inhalts proportional ihrer Entfernung von der Achse. 

2) Das Volumen des von einem solehen Schnitt abgeschnittenen 
Stücks des Konoids ist gleich dem halben Produkt aus der Schnitt- 
fläche und ihrem Abstand von der Achse. 

3) Zieht man durch den Schwerpunkt des in 2) beschriebenen 
Körpers eine die Achse schneidende Gerade parallel zur Richtebene, 
so wird diese vom Schwerpunkt im Verhältnis 1:2 geteilt. Weiter 
ist die Rede von quadrilateres gauches, worunter wieder das hyper- 
bolische Paraboloid verstanden ist, dessen Gleichung hier in der Form 
auftritt Xy= zz. Von den allgemeinen „Paralleloiden“ werden dann 
noch ähnliche Sätze nachgewiesen, wie vom Konoid. 

Mit Schraubenflächen haben sich u. a. Fergola und Kästner 
beschäftigt. Ersterer (La vera misura della volte a spira!), 1785) 
hat den, übrigens schon von Euler (s. S. 553) gefundenen Satz be- 
wiesen, daß die Guldinsche Regel sich auch auf Schraubenflächen 
ausdehnen läßt, und in folgende Form gekleidet: Es ist Inhalt und 
Oberfläche eines durch Schraubenbewegung eines beliebigen Meridians 
um eine gegebene Achse erzeugten Körpers — Inhalt und Oberfläche 
des Rotationskörpers, der durch Umdrehung desselben Meridians um 
dieselbe Achse erzeugt wird. Kästner (Ad theoriam eochleae pertinens 
observatio geometrica)?) hat darauf aufmerksam gemacht, daß die üb- 
liche Ausdrucksweise, eine Schraubenfläche entstehe durch Aufwick- 
lung einer schiefen Ebene auf einen Zylinder, falsch ist. Dies ist 
ohne Zerreißung („elementa hiatu dirimuntur“, sagt Kästner) nicht 
möglich, da ja die windschiefe Schraubenfläche nieht zu den abwickel- 
baren Flächen gehört. Kästner stellt in dieser Arbeit auch die 
Gleichung der Schraubenlinie auf und zeigt, daß die Schmiegungs- 
ebene eines Punktes (der Ausdruck selbst kommt natürlich noch nicht 
vor) stets das Lot von dem Punkt auf die Achse enthält, und daß 
die Schnittgerade konsekutiver Schmiegungsebenen die Tangente der 
Kurve ist. 

Zu erwähnen sind noch vier kleinere Arbeiten von Fontana°). In 
der ersten: „Sopra un errore che si commette da molti nell’ assegnare la 
misura delli iperboloidi“*) berichtigt er einen von früheren Autoren 
begangenen Fehler, indem er bemerkt, daß der Inhalt des durch 





') Atti Acad. Napoli 1787. ?) Dissert. math. et phys. Altenburg. 1771, 
p- 38 ff. °) Für den Bericht hierüber s. Fußnote 8. 476. *) Mem. Soe. It., 
T. II, p. 507—509 (1786): Ricerche analitiche sopra diversi soggetti, Art: III. 


558 Abschnitt XXIV. 


Umdrehung der Linie x” y”" = a"+” um die &-Achse erzeugten Hyper- 
boloids, von 2=a bis 2—= ® nicht nur für n= 2m, sondern auch 
für n> 2m unendlich ist; auf denselben Gegenstand bezieht sich die 
vierte (der Zeit nach) Schrift: „Sopra i conoidi asimtotieo-iperboliei“!). 
In der zweiten: „Sopra la misura d’aleuni solidi e superficie rotonde“?) 
wird der folgende, von Parent”) ohne Beweis ausgesprochene Satz 
nachgewiesen: Rotiert ein Kreissegment vom Zentriwinkel 90° um den 
zu seiner Sehne parallelen Durchmesser, so hat der dadurch erzeugte 
ringförmige Körper gleichen Inhalt und gleiche Fläche mit der den- 
selben von innen berührenden Kugel. — In der dritten: „Sopra la 
massa di una sfera composta di materia eterogenea, la cui densitä 
varie da uno strato sferico all’ altre in ragione d’una qualunque 
potenza della distanza dal centro; e sopra qualche paradosso, 
che quindi deriva“*) berechnet Fontana die Masse M einer Kugel 
vom Radius r, unter der Voraussetzung, daß die Dichtigkeit einer 
Kugelschicht einer beliebigen Potenz n ihres Radius proportional sei. 


Er findet M=- et ; ("+9 — 0*+®), wo 4 die Dichtigkeit an der 
(n+3)r"t | 


Oberfläche ist. Die Masse m ist endlich, logarithmisch unendlich 


> 


oder algebraisch unendlich, je nachdem en 3 ist. Das darf uns 


nicht befremden, da für ein negatives n die Dichtigkeit in unendlicher 
Nähe des Mittelpunktes unendlich groß ist. Daß nichtsdestoweniger 
M für —3<n<o endlich ist, hängt damit zusammen, daß der Inhalt 
einer Kugel von unendlich kleinem Radius unendlich klein von der 
dritten Ordnung ist, während die Dichtigkeit unendlich groß ist von 
der Ordnung —n<3. Für n=—5 hat diese unendlich kleine 
Kugel endliche Masse, und es ist daher keineswegs unverständlich, 
daß die ganze Masse unendlich groß ausfallen kann. 

Verschiedene Arbeiten befassen sich, von praktischen Gesichts- 
punkten ausgehend, mit der Ausmessung der Oberfläche und des In- 
halts von Gewölben, Fässern usw., meist auf elementarem Wege. Wir 
gehen hierauf nicht weiter ein, wollen jedoch als curiosa zwei Stellen 
aus Kästner, „Über die Ausmessung bauchichter Körper, nebst An- 
wendung auf die Visierkunst‘“?) -(1787) anführen. Er bespricht darin 
ihre Entstehung durch Rotation der Kurve um eine Achse, der sie 
die konkave Seite zuwendet; ist sie konvex gegen die Achse, so ent- 
steht ein „negativer Bauch“; als Beispiel für ein derartiges Gebilde 








!) Memorie matematiche, Pavia 1796, Mem. III. 2) Ricerche sopra di- 
versi punti concernente l’analisi infinitesimale et la sua applicazione alla fisica, 
Pavia 1793, Art. IV. °, Bd: 1? 8. 399, *) Memorie matematiche, Pavia 
1796, Mem. I. 5) Leipziger Archiv für reine und angewandte Mathematik 
1787, 8. 1-24. 


Raumkurven und Flächen. 559 


führt er — die Schnürbrust an. Er polemisiert dann gegen Lam- 
bert, der für die Inhaltsberechnung der Fässer eine bloß angenähert 
richtige Formel angebe!), und bemerkt, daß bei „unrichtiger Verwal- 
tung dieses Verfahrens (d. h. der Berechnung des Faßinhalts) jeder 
leidet, der nieht bloß Wassertrinker ist“. 

Und nun kommen wir zu dem Werk, das unstreitig unter allen 
bisher besprochenen den ersten Rang einnimmt, nämlich Monges 
„Feuilles d’Analyse“. Der volle Titel lautet: Feuilles d’Analyse appliquee 
ä la Geometrie & l’usage de l’Ecole Polytechnique, publiees la premiere 
annee de cette Ecole (an 3 de la Republique), Paris. Das Exemplar, 
nach dem ich berichte?), trägt die Zeitangabe: Thermidor, an 9, ist 
also sechs Jahre später gedruckt. Wie der Titel besagt, ist das Werk 
kein systematisches Lehrbuch, sondern besteht aus losen Blättern (das 
mir zu Gebote stehende Exemplar ist nicht einmal paginiert), hervor- 
gegangen teils aus Monges Vorlesungen an der polytechnischen 
Schule, teils aus früher erschienenen Abhandlungen, die nun hier ge- 
sammelt der Öffentlichkeit übergeben werden. Aber diese Blätter 
enthalten eine Fülle hochbedeutsamer Gedanken und Entdeckungen 
in einer geistvollen, durchweg originalen Darstellungsweise, bewun- 
dernswert in erster Linie durch das phänomenale räumliche Anschau- 
ungsvermögen, das dem „Vater der darstellenden Geometrie“ zu Gebote 
stand; man hat den Eindruck, daß die Geraden und Ebenen, die 
Kurven und Flächen, um die es sich handelt, mit geradezu greifbarer 
Deutlichkeit vor Monges geistigem Auge standen; dazu kommt die 
fast verblüffende Sicherheit, mit der die analytischen Hilfsmittel aus 
einem vorher noch wenig bearbeiteten Gebiet, der Theorie der par- 
tiellen Differentialgleichungen, auf die Raumgebilde und deren Ele- 
mente angewendet werden, wobei umgekehrt jene Theorien durch 
diese räumliche Interpretation eine wesentliche Förderung und Ver- 
anschaulichung erfahren. Fügen wir noch hinzu die Eleganz der 
Entwicklungen, die sich von umständliehen Rechnungen fast ganz 
fernhalten, so haben wir wenigstens die Hauptvorzüge des hervor- 
ragenden Werkes genannt. Freilich macht die oft überraschende 
Originalität von Monges Gedankengang das Studium des Werks 
nicht gerade leicht, aber der Leser wird durch die Früchte dieses 
Studiums für die.gehabte Mühe reichlich entschädigt. — Versuchen 
wir in möglichster Kürze eine Vorstellung von dem reichen Inhalt 
zu geben. 

Die drei ersten Nummern enthalten so ziemlich die ganze ana- 





') Leipziger Archiv für reine und angewandte Mathematik, 1786, 8. 425 
bis 446. ?) Aus der Bibliothek des Herrn Prof. Dr. v. Brill in Tübingen. 


560 Abschnitt XXIV. 


lytische Geometrie der Ebene und der Geraden im Raum 
und die Lösungen aller vorkommenden Fundamentalaufgaben, also: 
Ziehen von Parallelen, Fällen von Loten, Bedingungen des Senkrecht- 
stehens von Geraden und Ebenen, kürzeste Entfernung zweier wind- 
schiefen Geraden, Neigungswinkel gegen die Koordinatenebenen, alles 
in einer, man möchte sagen, klassischen Form dargestellt, über die 
man eigentlich bis heute nicht wesentlich hinausgekommen ist. 
Namentlich ist hervorzuheben die Verwendung der Elimination zur 
Herleitung von Schnittpunkten und Sehnittpunktsbedingungen, an 
mehreren Stellen scheint es auch, als ob die Aufgaben und Methoden 
der deskriptiven Geometrie von Einfluß auf die Behandlungsweise ge- 
wesen wären, so namentlich bei den Aufgaben über das Fällen von 
Loten auf gegebene Ebenen. 

Mit Nr. 4 beginnt die Behandlung der Flächenfamilien, die 
durch eine gemeinsame Eigenschaft definiert sind. Dieser Begriff ist 
eigentlich erst durch Monge in die Wissenschaft eingeführt und zur 
vollen Klarheit durchgearbeitet worden. Die Untersuchungen über 
diese Dinge nehmen auch den größten Raum in dem ganzen Werk 
ein, und bilden sozusagen dessen Grundidee, wenn man bei einem 
so überreichen Inhalt überhaupt von einer solchen sprechen kann. 
— Zunächst werden Tangentialebene und Normale aufgestellt, erstere 
in der Weise, daß einer beliebigen durch den betreffenden Flächen- 
punkt gehenden Ebene die Bedingung auferlegt wird, noch durch 
jeden beliebigen Nachbarpunkt zu gehen. Nachdem so die Tangential- 
ebene bestimmt ist, wird nach den in Nr. 1—3 entwickelten Methoden 
leicht die Normale hergeleitet, die Monge außerdem noch durch den 
Sehnitt zweier Normalebenen bekommt; letztere gewinnt er durch zwei 
Kugeln mit gleichem Radius, von denen die eine ihren Mittelpunkt 
in dem betreffenden Punkt, die andere in einem Nachbarpunkt hat. 
Die Ebene des Schnittkreises ist dann eine Normalebene der Fläche. 
Dabei wird der Übergang zum Nachbarpunkt einfach durch Diffe- 
renzieren ausgeführt, ein Verfahren, das Monge im ganzen Werke 
vielfach anwendet. 

Daran schließt sich die Aufstellung der Gleichung der Zylinder- 
flächen, und zwar wird zunächst ihre partielle Differentialgleichung 
sehr einfach dadurch hergeleitet, daß man der vorher aufgestellten 
Tangentialebene einer allgemeinen Fläche die Bedingung auferlegt, 
einer gegebenen Geraden parallel zu sein. Hieraus ergibt sich sofort 
die gesuchte partielle Differentialgleichung: ap + bg = 1. Dann wird 
die allgemeine Gleichung in endlicher Form aufgestellt, und auch 
hier ist die Schlußweise überraschend einfach: Monge geht aus von 
den allgemeinen Gleichungen einer Geraden: 


Raumkurven und Flächen. 561 


z=a2 +03 y=bz+P. 


Soll diese Gerade einer gegebenen Richtung parallel sein, so müssen 
a und b konstant sein, dagegen sind « und ß beliebig. Sie haben 
aber beide für alle Punkte einer bestimmten Geraden konstante 
Werte, und ändern beide zugleich ihre Werte, wenn man zu einer 
anderen Geraden übergeht. Und nun kommt wieder der einfache 
Sehluß!): Ces deux quantites sont done constantes ensemble et 
variables ensemble, done elles sont fonctions l’une de Y’autre. Man 
hat also ß=y(e«e), und damit (y—bz)=gy(x —.az) als allgemeine 
Gleichung der Zylinderfläichen. Monge bemerkt hier ausdrücklich, 
daß @ nicht notwendig eine analytisch ausdrückbare Funktion zu 
sein brauche, da sie ja von der ganz willkürlichen Leitlinie abhängt, 
die auch unstetig (non soumis & la loi de continuite) sein könne?). 
Es folgt die Lösung der beiden Aufgaben, eine Zylinderfläche zu 
finden, 1) die durch eine gegebene Raumkurve geht, und 2) die eine 
gegebene Fläche berührt. In ganz analoger Weise werden in Nr. 5 
die Kegelflächen und die Rotationsflächen untersucht. Bei ersteren 
wird auch die Aufgabe gelöst, die Fläche zu finden, die den geo- 
metrischen Ort der Berührkurven aller Tangentialkegel bildet, die man 
von einem festen Punkt als Spitze an alle Flächen einer einfach un- 
endlichen Schar legen kann. Bei letzteren wird die Rotationsfläche 
bestimmt, die bei Umdrehung einer gegebenen Fläche um eine mit 
ihr fest verbundene Achse als Enveloppe sämtlicher Lagen der ge- 
dachten Fläche entsteht. Ebenso werden (Nr. 6) die Flächen behan- 
delt, die durch Bewegung einer Geraden entstehen, welche stets 
parallel einer gegebenen Ebene bleibt, und dabei eine feste, auf dieser 
Ebene senkrechte Gerade schneidet, also die senkrechten Konoidflächen 
im heutigen Sprachgebrauch. Monge macht hier auch auf das Vor- 
kommen solcher Flächen in der Technik (z. B. windschiefe Schrauben- 
fläche) aufmerksam. Von besonderem Interesse ist Nr. 7 und 8, wo 
von der Enveloppe einer Flächenschar die Rede ist. Monge führt 
hier den in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen so 
wichtig gewordenen Begriff der Charakteristik ein. Die wesent- 
lichen Punkte seiner Überlegungen sind folgende: Enthält die Gleichung 
einer Fläche F(z, y, 2, «, ß)=0 zwei variable Parameter, « und ߣ, 
die durch eine Gleichung ß— gp(«) verbunden sind, so erhält man 
durch Variation von « eine einfach unendliche Flächenschar. Diese 
besitzt eine Enveloppe, deren Gestalt natürlich von der Funktion p 
abhängt. Alle diese Enveloppen nun, die durch Abänderung der 





") Vgl. S. 536. ®) Vgl. Fußnote !) S. 553. 


562 Abschnitt XXIV. 


Funktion entstehen, haben, wie Monge sich ausdrückt, un caractere 
general, une propriet€ commune, une möme generation, unabhängig 
von der Natur der Funktion 9; dieser gemeinsame Charakter kann 
durch eine partielle Differentialgleichung ausgedrückt werden, 
der sämtliche Flächen dieser Art genügen, und die von p ganz frei ist, 
während die endliche Gleichung natürlich eine willkürliche Funktion 
enthält. Hier spielt nun eine wichtige Rolle die Charakteristik; 
Monge versteht darunter die Schnittkurve zweier Flächen, deren Para- 
meter nur um eine unendlich kleine Größe sich unterscheiden, d. h. die 


Schnittkurve der Flächen F"=0 und - 0. Die Enveloppe ist der 


geometrische Ort der Charakteristiken und ergibt sich durch Elimi- 
nation von « aus diesen beiden Gleichungen. Ebenfalls wichtig ist 
der Ort der Schnittpunkte dreier konsekutiven Flächen einer 
Schar; d. h. die Kurve, die definiert ist durch die drei Gleichungen 
cF 0F 

CE A be 0. 


F=0; 


Diese Kurve wird von sämtlichen Charakteristiken berührt, ist also 
die Enveloppe derselben; Monge nennt sie arte de rebroussement. 
Diese Überlegungen werden durch ein geeignetes Beispiel illustriert, 
nämlich durch die Kanalflächen mit ebener (in der xy-Ebene liegender) 
Leitkurve. Als Differentialgleichung derselben!) ergibt sich 


2(+pP +) a. 


Die Charakteristiken sind Kreise, deren Mittelpunkte auf der Leit- 
kurve liegen und deren Ebenen normal zu derselben sind. Als 
Ditferentialgleichung der Charakteristiken ergibt sich: 


pdy—qdıe=(, 


und als Differentialgleichung der Rückkehrkanten (ardtes de rebrousse- 
ment): 
2? (da? + dy? + dz?) = a?(dx? + dy?). 


Daran schließt sich die Lösung einiger Aufgaben über Kanalflächen, 
z.B. eine solche Fläche derart zu bestimmen, daß sie durch eine gegebene 
Raumkurve geht, oder eine gegebene Fläche längs einer Kurve be- 
rührt. Im folgenden Blatt (Nr. 9) behandelt Monge in derselben 
Art die Flächen, für welche die Linien größten Gefälls Geraden mit 
konstanter Horizontalneigung sind. Er zeigt, daß sie als Enveloppen 
einer Schar von Kreiskegeln angesehen werden können, deren Achsen 





t) Sie ist schon von Euler (s. S. 552f.) angegeben worden. 


Raumkurven und Flächen. 563 


auf der (als Horizontalebene angenommenen) xy-Ebene senkrecht 
stehen, und deren Mantellinien stets dieselbe Horizontalneigung haben. 
Es sind dieselben Flächen, die Euler als „kongruent“ mit einer 
Ebene von derselben Horizontalneigung bestimmt hat'!). Ihre Charak- 
teristiken sind eben die Geraden, welche die Linien größten Gefälls dar- 
stellen, die Rückkehrkanten demnach Raumkurven, deren Tangenten stets 
dieselbe Horizontalneigung haben (Schraubenlinien eines beliebigen, 
auf der xy-Ebene senkrechten Zylinders). An dieses Beispiel knüpft 
Monge noch eine wichtige Bemerkung, nämlich daß die Differen- 
tialgleichung der Charakteristiken direkt aus der partiellen 
Differentialgleichung der betreffenden Flächenfamilie her- 
geleitet werden kann. Ist diese nämlich 


F(«, Y, %, P; gq)=0 


und ist 
EHER, FL} I 
op ur ) q he Q, 
so ist die Differentialgleichung der Charakteristiken: 
Pdy— Qdxr=0. 


Als letztes Beispiel für Flächenfamilien, die durch eine partielle 
Differentialgleichung 1. Ordnung definiert sind, folgen in Nr. 10 die 
Flächen, welche durch Translation einer gegebenen Fläche längs einer 
Raumkurve, die auf einer gegebenen Fläche liegt, also noch durch 
eine willkürliche Funktion bestimmt wird, als Enveloppen entstehen. 

Von Nr. 11 ab werden Flächenfamilien behandelt, die durch eine 
partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung definiert sind, und 
zwar zuerst die Regelflächen, deren Mantellinien alle einer gegebenen 
Ebene Ax + By+(Cz=0 parallel sind. Zur Definition der Fläche 
sind zwei Raumkurven (Leitkurven) nötig, die von jeder Mantellinie 
geschnitten werden. Monge stellt nun die Gleichung der Fläche in 
drei verschiedenen Formen auf: 

1. Unabhängig von den Leitkurven; hierbei ergibt sich eine 
Differentialgleichung 2. Ordnung, die er sehr elegant folgendermaßen 
herleitet: die Mantellinie eines Punktes P(x, y, 2) liegt erstens in 
der Tangentialebene der Fläche, also besteht für die Koordinaten 
x,y,2' eines ihrer Punkte die Gleichung: 


p@—2)+94W-Y)-@—2)-0. (1) 
Sie ist aber auch zweitens parallel der Richtebene ‚ also hat man: 
_ı  4@-m)+BYy-N)+lE-n)-0 @& 


') Siehe 8. 550. 
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 37 


564 - Abschnitt XXIV. 


Dieselben Gleichungen gelten aber auch für einen auf derselben Mantel- 
linie liegenden Punkt P’(x + dx, y-+ dy, 2+ dz); unter Berücksich- 
tigung von (1) und (2) ergibt sich: 


(rda+sdy)(a—a)+ dr +id)y-N)-0  Q) 
Adz + Bay + C(pda« + gdy) =. (4) 


Die Elimination von 2— x, y— y', 2—z aus (1) — (4) ergibt dann 
sofort die gesuchte partielle Differentialgleichung 2. Ordnung, nämlich: 


(Cg + Br -—2(Cg + B)(Cp + AN)s + (Cp + Nt=0. 


Ehe die beiden anderen Gleichungsformen hergeleitet werden, zeigt 
Monge (Nr. 11), wie man in diesem Fall aus der Differentialgleichung 
der Flächen die der Charakteristiken finden kann. Ist nämlich die 
erstere: | 


und: 


De, Y,2,P, 4, 7, 5, t) ao 0, 


00 _ 7, 60 
Pe Be?" 


und ist: 

=»; 2 et, 

so heißt die Differentialgleichung der Charakteristiken: 
| | Rax: — Sdxdy + Ta =0. 


Sie zeigt, daß in jedem Flächenpunkt die Charakteristik einen Doppel- 
punkt hat, außer in dem Fall, wo die Differentialgleichung in zwei ratio- 
nale Linearfaktoren zerfällt, wo also zwei Scharen von Charakteristiken 
auf der Fläche vorhanden sind. In dem vorliegenden Beispiel ergibt 
sich als Differentialgleichung der Charakteristiken: 

(Adz + Bay+ Cd”? =0, 

d.h. ein vollständiges Quadrat, so daß man nur eine Schar von 
Charakteristiken erhält, nämlich eben die Mantellinien der Fläche. 

2. Um die partielle Differentialgleichung 1. Ordnung zu finden, 
welche diesen Flächen zukommt, geht Monge wieder aus von den 
Gleichungen (1) und (2), die eine Mantellinie der Fläche darstellen. 
Deren Projektion auf eine der Koordinatenebenen, z. B. die x2-Ebene, 
sei « = ßz2’ +y. Dann ist, wenn zur Abkürzung 

| Az +By+(z=« 
gesetzt wird, 

ER u ee a BAT 
Bp—4q’ Bp— 4q 

Nun haben für eine bestimmte Mantellinie die drei Größen «, ß, y 
einen bestimmten Wert, oder, wenn eine dieser drei Größen konstant 
ist, so sind es auch die beiden anderen; geht man aber zu einer 
anderen über, so ändern alle drei ihren Wert, sie sind also zugleich 





Reumkirven und Flächen. 565 


konstant und zugleich veränderlich, folglich müssen je zwei durch 
eine Gleichung verbunden sein, z.B. ß=y(e«). Man hat also als 
pimbene Differentialgleichung 1. Ordnung: 


C B 
ng = gp(Ax + By+ Ce). 


Stellt man dieselbe Überlegung für die beiden anderen Projektionen 
an, so findet man noch zwei weitere Gleichungen, also im ganzen 
drei, von denen jede eine Folge der beiden anderen ist. Wendet man 
auf irgend eine derselben das oben zur Herleitung der Charakteristiken 
aus einer partiellen Differentialgleichung 1. Ordnung angegebene Ver- 
fahren an, so findet man wieder: 


Adz + Bdy+(Cdz=V0. 


3. Endlich läßt sich leicht die endliche Gleichung aufstellen, 

nämlich: 

z=3:p(Ax + By+Cz)+y:-v(Ax+ By+ (2). 
Sie enthält zwei willkürliche Funktionen und ist von derselben All- 
gemeinheit, wie jede der beiden ersten Formen, deren gemeinsames 
Integral sie darstellt. 

Auch hier schließt Monge einige Aufgaben über solche Flächen 
an, nämlich eine zu bestimmen, die durch zwei gegebene Kurven geht, 
oder eine, deren Mantellinien sämtlich zwei gegebene Flächen be- 
rühren; ferner eine Spezialisierung (Nr. 13) für den Fall, daß die 
Mantellinien alle der «y-Ebene parallel sind und die z-Achse treffen. 
Hier ergibt sich die Differentialgleichung, von der Meusnier Ge- 
brauch gemacht hat!), nämlich: 


r® —2pgs+tP®=0. 
Den Schluß bildet eine Bemerkung über das Vorkommen solcher 
Flächen in der Technik. 

In Nr. 14 kommt sodann eine ausführliche Darlegung der Eigen- 
schaften der abwickelbaren Flächen. Durch analoge Überlegungen 
wie vorher wird die sie definierende Gleichung in drei verschiedenen 
Formen aufgestellt: 1. Als partielle Differentialgleichung 2. Ordnung, 
2. als eine ebensolche 1. Ordnung mit einer willkürlichen Funktion, 
3. als endliche Gleichung mit zwei willkürlichen Funktionen; und es 
werden wieder die zwei gleichen Aufgaben wie oben für ke 
Flächen gelöst. Übrigens deckt sich der Inhalt dieses Blattes im 


wesentlichen mit der schon besprochenen Abhandlung von Monge 
über diesen Gegenstand’). 





') Siehe S. 550. ?) Siehe S. 535 ff. 
87* 


566 Abschnitt XXIV. 


Nr. 15 behandelt nach denselben Methoden die Flächen, welche 
durch Translation einer gegebenen Fläche längs einer ganz beliebigen 
Raumkurve (die also nicht mehr, wie in Nr. 10, auf einer gegebenen 
Fläche angenommen wird) als Enveloppen entstehen. Die partielle 
Differentialgleichung derselben ist von der Form: 


HS) RT-)—rR—-2s8 -tT+1-0. 


R, S, T sind dabei gegebene Funktionen, die folgendermaßen mit der 
transferierten Fläche zusammenhängen: ist diese bestimmt durch 


An Fa, y), 
so kann man die beiden Gleichungen p = Er und q -5 nach % 


und y aufgelöst denken, so daß also 2=-f\ (m, ):y=f,(P, q) Ist. 


Monge zeigt nun zunächst, daß A = r ist, daß also f, und f, als 


partielle Ableitungen einer Funktion von p und g, die er mit I’ be- 
zeichnet, angesehen werden können. R, $, T sind dann die partiellen 
Ableitungen 2. Ordnung von I’ nach p und q. — Ähnlich erledigt 
sich die Aufgabe, die Flächen zu bestimmen, die durch Translation 
einer Raumkurve längs einer anderen Raumkurve erzeugt werden; am 
Schluß wird noch darauf hingewiesen, wie die entwickelten Methoden 
umgekehrt zur Integration einer partiellen Differentialgleichung dienen 
können, welche die obige Form hat. 

Nr. 17 und 18 bringen eine der schönsten Entdeckungen von 
Monge, nämlich die Krümmungslinien einer Fläche. Dieser 
Teil kann unbedenklich als der Glanzpunkt des ganzen Werks be- 
zeichnet werden, sowohl in bezug auf die hohe Bedeutung der Resul- 
tate, wie in bezug auf die Eleganz, Präzision und Klarheit der Ent- 
wieklung. Wir versuchen Monges Gedankengang in Kürze anzugeben. 
Er geht aus von den schon früher aufgestellten Normalengleichungen: 


-N)+(@-)p-I9 W-Y)+@—-2)4-), 


und sucht die Bedingung dafür, daß diese von der Normalen eines 
Nachbarpunktes (x + dz, y+ dy, 24 pdx + qdy) geschnitten wird. 
Unter Berücksichtigung der obigen Gleichungen sind die Gleichungen 
dieser Nachbarnormalen: 


da + p?dxz +pgdy + (2 — Z)(rdx + sdy)=0, 
dy + pgda + Ydy+ (2 — z)(sdx + tdy) =. 
Die Bedingung, daß diese Normale die erste schneidet, findet man 


durch Elimination von (2 — 2), (y—y), (ze — 2’) aus den vier Glei-. 
chungen der beiden Normalen. Da indes die letzten beiden nur noch 


Raumkurven und Flächen. 567 


z2— z' enthalten, genügt es, z— z' zu eliminieren, wodurch man er- 
hält: 

2 d 
(32) [U+g@)s-pail+7,[A+Nr-A+P))-A+p)stpar=0. (1) 


% 
Eliminiert man umgekehrt E so ergibt sich: 
x 


(«-2)\(rt—8)+@-2)[A+D-2rgs+Al+P)i+l+P+g—0. (2) 
Die beiden letzten Gleichungen werden nun geometrisch gedeutet. 
Die erste, die quadratisch in — ist, sagt, daß es zu jedem Flächen- 


punkt P zwei Nachbarpunkte P, und P, auf der Fläche gibt, deren 
Normalen die des Punktes P schneiden. Die Projektionen der Rich- 
tungen PP, und PP, auf die «y-Ebene sind durch die Gleichung (1) 
bestimmt, aus der auch die bemerkenswerte Eigenschaft folgt, daß 
PP,ı_PP, ist. Die zweite liefert zwei Werte von z—7’, also in 
Verbindung mit den Gleichungen der Normalen zwei Punkte auf 
dieser, wo sie von den Normalen der Punkte P;, und P, geschnitten 
wird und die als „centres de courbure‘‘ bezeichnet werden. Die Ab- 
stände dieser beiden Schnittpunkte ergeben sich als die Wurzeln der 
quadratischen Gleichung in R: 

gR+hkR+KM=0, 


wo: 
gert—-H, Keil+pfr+gd; A-M+Mr—2ras+1l+ Mt. 


Die beiden sich ergebenden Werte nennt Monge „rayons de cour- 
bure“; daß es die von Euler!) gefundenen extremen Werte der 
Krümmungsradien der Normalschnitte sind, wird nicht bemerkt. Nun 
folgt die geometrische Konstruktion der beiden orthogonalen Scharen 
von Krümmungslinien, die man erhält, indem man von jedem 
Flächenpunkt zu den beiden Nachbarpunkten weitergeht, deren Nor- 
malen die seinige schneiden, von diesen ebenso zu dritten Punkten usf. 
Man erhält so zwei Scharen von Kurven, deren Projektionen auf die 
xy-Ebene der Gleichung (1) genügen. Diese ist also die Differen- 
tialgleichung der Krümmungslinien. Sie läßt sich auch in die 
Form setzen: 


dp(dy + qdz) = dq(dx + pdz). 


Es wird dann durch geometrische Überlegungen gezeigt, daß die 
Flächennormalen längs jeder Krümmungslinie eine abwiekelbare Fläche 
bilden; daß also für jede Fläche zwei Scharen von solchen Flächen 


ı) Vgl. S. 546. 





568 Abschnitt XXIV. 


existieren, und daß diese sich ebenfalls überall rechtwinklig schneiden. 
Davon wird nun sofort eine praktische Anwendung auf den Gewölbe- 
bau gemacht: nämlich man solle die hierzu erforderlichen Steine der- 
art wählen, daß ihre Fugen die Krümmungslinien der Gewölbefläche 
bilden. Des weiteren wird dann entwickelt, daß jede dieser Flächen 
eine Rückkehrkante hat, die den Ort aller Krümmungszentra der 
Fläche längs der betr. Krümmungslinie darstellt. Die Gesamtheit 
aller dieser Rückkehrkanten bildet also eine aus zwei Mänteln be- 
stehende Fläche, die der Ort aller Krümmungszentra der gegebenen 
ist, und von der zunächst die merkwürdige Eigenschaft nachgewiesen 
wird, daß die scheinbaren Umrisse der beiden Mäntel, von wo 
aus man sie auch betrachtet, sich rechtwinklig schneiden. Diese, 
rein geometrisch abgeleitete Bemerkung zeigt schon für sich allein, 
welche Sicherheit der räumlichen Anschauung Monge zu Gebote 
stand. Auch daß die Rückkehrkanten geodätische Linien dieser Zentra- 
fläche sind, ergibt sich rein geometrisch. 

Nun ist aber ein kleines Versehen zu erwähnen, das Monge 
passiert ist. Er stellt nämlich die Bedingung auf, daß die beiden 
Krümmungsradien gleich sein sollen, und findet (vgl. S. 567) 


MW —Alg-0. 


Diese Gleichung, sagt er, definiere eine Kurve (eourbe spherique) auf 
der-Fläche, für deren sämtliche Punkte die beiden Hauptkrümmungs- 
radien denselben Wert haben; der Ort der zugehörigen Krümmungs- 
zentra wäre dann die Schnittkurve der beiden Mäntel der Zentrafläche. 
Dabei hat er jedoch nicht bemerkt, daß h?— 4%?g sich als die Summe 
zweier Quadrate darstellen läßt, daß daher %®—4g—=0 eine 
imaginäre Fläche mit reeller Doppelkurve darstellt, woraus 
folgt, daß esnur einzelne reelle Punkte auf einer Fläche, nicht eine 
ganze Kurve gibt, für welche die beiden Krümmungsradien gleich 
sind. Dies stellt sich auch nachher an dem Beispiel heraus, das 
Monge betrachtet, nämlich am dreiachsigen Ellipsoid (Nr. 19 u. 20). 
Er stellt für diese Fläche die Differentialgleichung der Krümmungs- 
linien auf, integriert sie und findet die bekannten Resultate; hier 
zeigt sich nun, daß es keine Kurve, sondern bloß vier Punkte gibt, 
für welche die beiden Krümmungsradien gleich sind. Auch hier weiß 
Monge sofort seinen theoretischen Entwicklungen eine praktische 
Gestalt zu geben. Er schlägt nämlich vor, dem zu erbauenden Saal 
für die gesetzgebenden Versammlungen eine elliptische Gestalt und 
der Decke die Form eines Ellipsoids zu geben. Die Kreispunkte 
wären durch helle Lampen zu markieren, die Krümmungslinien sollten 
an der Decke als „nervures de la voüte“ eine geschmackvolle Dekora- 


Raumkurven und Flächen. 569 


tion geben; die Zwischenräume würden Licht- und Luftöffnungen dar- 
stellen. Ob dieser Vorschlag jemals praktisch ausgeführt worden ist, 
ist mir nicht bekannt. — Als Anwendung der hier entwickelten 
Theorie der Krümmungslinien betrachtet Monge folgende Beispiele: 
1. Die Flächen, für welche die eine Schar von Krümmungslinien von 
ebenen Kurven gebildet wird, deren Ebenen alle parallel sind 
(Nr. 21—23). Es sind die schon von Euler in anderem Zusammen- 
hang!) gefundenen Gesimsflächen; Monge gibt noch verschiedene Er- 
zeugungsweisen dieser Flächen an; 2. die Flächen, für welche der 
eine Krümmungsradius konstant ist (Nr. 24 und 25). Hier er- 
geben sich die Röhrenflächen mit einer beliebigen Raumkurve als 
Leitkurve; der spezielle Fall, daß diese eine ebene Kurve ist, ist ja 
schon in Nr. 8 erledigt worden. 3. Die Flächen, für welche die 
Krümmungsradien gleich und gleichgerichtet sind (Nr. 26). 
Als einzige Fläche ergibt sich die Kugel, scheinbar allerdings noch 
eine Fläche, die folgendermaßen entsteht: Es sei eine Raumkurve und 
eine ihrer Evolventen gegeben; beschreibt man dann um jeden Punkt 
der Kurve eine Kugel, deren Radius gleich dem Stück der Tangente 
zwischen Kurve und Evolvente ist, so hat die Enveloppe aller dieser 
Kugeln die verlangte Eigenschaft. Diese Enveloppe reduziert sich aber 
bei genauerem Zusehen auf die Evolvente selbst, indem jede Kugel 
von der nachfolgenden nicht geschnitten, sondern einschließend be- 
rührt wird. Die Enveloppe ist dann der Ort dieser Berührpunkte, 
d.h. eben die Evolvente. 4. Das Beispiel, das die wichtigsten Ergeb- 
nisse liefert, nämlich die Flächen, für welche die Krümmungsradien 
gleich und entgegengesetzt gerichtet sind (Nr. 27 und 28). 
Die Bedingung hierfür ist nach den früheren Untersuchungen’) h = 0, 
d.h. 

A+f)r—2pgs+Al+P)t-0, (1) 


d. h. dieselbe Gleichung, die der „eitoyen Lagrange“ für die Minimal- 
flächen gefunden hat.) Meusnier wird nicht erwähnt; da seine 
Arbeit erst 1785 gedruckt wurde, hat Monge sie vermutlich noch 
nicht gekannt. 

Er stellt nun zunächst nach der früher (S. 564) angegebenen 
Methode die Differentialgleichung der Charakteristiken auf und findet: 


A+P)ay’+2pgdady+(l + P)de— 0. (2) 
Nimmt man dazu die beiden Gleichungen: | 
dp=rdz +sdy, dgq=sdax-+tdy 
und die Differentialgleichung der Fläche, so können r, t und 2 eli- 





ı) Siehe 9.553. ®) Siehe $. 567. ®) Siehe S. 550. 


570 Abschnitt XXIV. 


miniert werden, wobei s von selbst mit herausfällt. Es bleibt dann 
eine gewöhnliche Differentialgleichung 1. Ordnung in p und q, nämlich: 


(A+gaM)dap — 2pgdpdgqa + (1 +PM)dg=0. 


Diese ist leicht zu integrieren und ergibt, wenn « die Integrations- 
konstante ist: 


A+e)+(P-ag=0, (3) 


d. h. eine Gleichung 2. Grades; die Fläche hat also zwei Scharen von 
Charakteristiken, die durch die beiden Linearfaktoren von (3) definiert 
sind. Bezeichnet man die Konstante für die eine Schar mit «, für 
die andere mit ß, so lauten die Gleichungen: 


p—ag=iVl+ta; p-PBg=-—-iyViI+ß. (4) 
Setzt man die aus (4) sich ergebenden Werte von p und q in 
(2) ein, so ergibt sich die Differentialgleichung der Charakteristiken mit 


den Konstanten « und ß an Stelle von p und g. Vorher macht Monge 
noch darauf aufmerksam, daß (2), da: 


pdxz +qgdy= dz 
ist, sich auch in die Form setzen läßt: 
de? +dy+d2?=0, 


d.h. er hat gefunden, daß die Linien von der Länge Null (in 
heutiger Bezeichnung) die Charakteristiken der Minimalflächen 
sind. — Stellt man nun nach (4) die Differentialgleichung der Charak- 
teristiken auf, so zeigt sich, daß sie in die beiden linearen Gleichungen: 


dy+ade=0 und dy+Pßda=0 
zerfällt, von denen jedoch die erste mit der zweiten Gleichung (4), 
die zweite mit der ersten zusammengehört, so daß die Differential- 
gleichungen der beiden Scharen von Charakteristiken schließlich sind: 


p—-og=iVl+o; dy+ßde=0; | 6) 


p—Bq=—-iyV1+Pp; dy+ade—0 


Die Integration dieser Gleichungen ist schwierig, da im ersten 
Paar ß, im zweiten « nicht als konstant betrachtet werden kann; 
durch ein scharfsinniges Verfahren wird sie aber doch ausgeführt, und 
so ergibt sich schließlich die allgemeine Gleichung der Minimal- 
flächen mit zwei willkürlichen Funktionen ® und Y, allerdings in 
imaginärer Form, indem die Koordinaten eines Punktes sich folgender- 
maßen durch die beiden Parameter « und ß ausdrücken: 


Raumkurven und Flächen, 571 


= — Pla) +YP); | 
y=-0@)+u0(e) + WB) —BV(); N 
z=i/[®(w)VI+ada+ifw’(p)yi a) 


Eine geometrische Darstellung dieser Flächen vermag Monge 
jedoch nur in der Weise zu geben, daß er sie Element für Element 
zusammensetzt. 

Damit werden die partiellen Differentialgleichungen zweiter Ord- 
nung verlassen und Beispiele für solche der dritten Ordnung in An- 
griff genommen. Monge beginnt mit den allgemeinen Regel- 
flächen (Nr. 29 und 30), und stellt, durch ganz analoge Betrach- 
tungen wie früher, die sie definierende Gleichung in vier verschiedenen 
Formen auf, nämlich: 

1. als partielle Differentialgleichung dritter Ordnung, wobei zur 
Abkürzung 


erpeorn 


a t 





gesetzt wird. Die Gleichung heißt dann: 


DE 0% a 
zit d@ 62°0Y +3« 0x.0y? EL öy: > 





2. als partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung mit einer 
willkürlichen Funktion, und zwar auf drei verschiedene Arten: 


p+egq=yla); y-aexz=yYla); z—-(p+tag)=x(e), 


wo « dieselbe Bedeutung hat wie vorher, und g, y, x willkürliche 
Funktionen sind; 

3. als partielle Differentialgleichung erster Ordnung mit zwei 
willkürlichen Funktionen. Man erhält die Gleichung durch Elimination 
von « aus irgend zwei der in 2. aufgestellten drei Gleichungen, so 
daß also noch zwei von den drei Funktionen p, v, x in die Gleichung 
eingehen; 

4. in endlicher Form mit drei willkürlichen Funktionen, nämlich: 


y-er=Yla); 3-2: ple)—=x(e), 


wo « ein variabler Parameter ist, durch dessen Elimination aus den 
beiden Gleichungen die Fläche in die Form F(«, y, z) = 0 gebracht 
werden kann. 

Zunächst wird dann gezeigt, wie man aus der partiellen Diffe- 
rentialgleichung dritter Ordnung ganz ebenso wie bei denen erster 
und zweiter Ordnung die Differentialgleichung der Charakteristiken 


572 Abschnitt XXIV. 


finden kann, und daß diese Methode auf Gleichungen beliebig hoher 
Ordnung anwendbar ist, die linear in den Differentialquotienten höch- 
ster Ordnung sind. Als zweites Beispiel werden noch die Flächen 
behandelt, die als Enveloppen einer Kugel von veränderlichem 
Radius entstehen, deren Mittelpunkt sich auf einer gegebenen Raum- 
kurve bewegt (Nr. 31). Den Schluß des Ganzen bildet die schon 
früher (S. 531 ff.) besprochene Untersuchung der Evoluten und Krüm- 
mungsverhältnisse einer Raumkurve (Nr. 32—34). 

Zum Schluß berichten wir noch kurz über die Fortschritte der 
Kartographie in unserem Zeitraum, soweit die mathematische Seite 
daran in Betracht kommt. Auch hier hat Euler die erste allgemeine 
Stellung und Lösung des Problems gegeben. Voran gehen einige Arbeiten 
von Kästner?), die sich jedoch nur mit der stereographischen und 
gnomonischen Projektion befassen, sowie ein Abschnitt aus dem III. Band 
von Lambert, Beyträge zum Gebrauch der Mathematik und deren 
Anwendung (Berlin 1772), S. 105—192. In der Einleitung wird ein 
klarer Überblick über die verschiedenen Forderungen gegeben, die an 
eine Karte zu stellen sind (Winkeltreue, Flächentreue usw.) und ge- 
zeigt, inwieweit die verschiedenen Projektionsarten denselben genügen, 
und wie die Erfüllung einer Forderung die Vernachlässigung einer 
anderen nach sich zieht. Eine allgemeine Lösung der Aufgabe, die 
Kugel konform auf die’Ebene abzubilden, gibt jedoch Lambert nicht, 
dagegen folgende Formeln für die stereographische Projektion: 


Me De RR DREI 


cos 


_.ndp 

cos p 

Hierbei bedeutet p die geographische Breite, A die geographische | 

Länge, m und n die partiellen Ableitungen von 2 und y nach A. Die 

Arbeit verfolgt im weiteren Verlauf mehr praktische Zwecke; von 

Interesse ist jedoch noch die Bemerkung, daß die Mitteilung der 

obigen Formeln an Lagrange diesen zu seinen Untersuchungen über 
diese Fragen (s. 5. 575ff.) veranlaßt habe. 

Euler entwickelt seine Methoden in einer Abhandlung: „De re- 
praesentatione superficiei sphaericae super plano“?), und bemerkt ein- 
leitend, daß es sich um die Aufgabe handle, die Koordinaten eines 
Punktes «, y der Ebene als Funktionen der sphärischen Koordinaten 
(t= geogr. Länge, u = geogr. Breite) so darzustellen, daß die hierdurch 
bestimmte Abbildung gewissen Forderungen genüge. 





!) Theoria projectionis stereographicae horizontalis. Diss. math. phys. 
Altenburg. 1771, p. 88ff. (1766). Additio ad theoriam proj. ster. hor. Novi 
Goetting. Commentarii, T. 1, p. 138—193 (1770). Theorias projectionis super- 
ficiei sphaericae in planum tangens, oculo in centro posito. RP RTITT, 5, 
p- 107—132, 


Raumkurven und Flächen. 573 


Zunächst werden nun die Bedingungen der Kongruenz durch 
analytisch-geometrische Betrachtungen entwickelt und gezeigt, daß es 
nieht möglich ist, diese zu erfüllen. Da also hiernach auf die Kon- 
gruenz verzichtet werden muß, kann man andere Bedingungen stellen, 
und deren analytischen Ausdruck entwickeln. Sollen z. B. Meridiane 
und Parallelkreise sich als zwei orthogonale Kurvensysteme abbilden, 


so muß: 

0202 , oyoy __ 

Dune Fäude® 
sein; sollen sie insbesondere in die Parallelen zu den Koordinaten- 
achsen übergehen, so muß: 


«=f(l); y= p(u) 


sein. Dies wird auf die Merkatorkarte angewendet. Weiter wird 
eine Abbildung gesucht, bei der jedes Stück der Kugel sich als ein 
Stück der Ebene von gleichem Flächeninhalt abbildet, also die 
flächentreue Abbildung. Da das Flächenelement der Kugel 
—= dudt cos u, das der Ebene = dxdy ist, so ist diese Forderung jeden- 


falls erfüllt, wenn: 
zetby=smu 


ist. Hierbei ist das Bild der Erdoberfläche ein Rechteck, und natür- 
lich in den Polargegenden sehr stark verzerrt. 

Nach diesen Einzelbeispielen wird nun die „Hypothesis, qua 
regiones terrae per similes figuras exhibentur“, d.h. die winkeltreue 
oder konforme Abbildung im heutigen Sinne eingehend behandelt. 
Da hierbei das Gradnetz der Erde sicher in zwei orthogonale Kurven- 
systeme übergeht, so ist jedenfalls notwendig, daß, wie oben, 


0x0x  Oydy 26 


du dt * ouöt 
ist. Euler setzt nun zur Abkürzung: 


EL; Br MR 


0% 0x _ ey ey 
eig SEA Tara SHARE 7 dt 


r; = Ss. 
Dann ergibt sich als notwendige und hinreichende Bedingung 


der Winkeltreue: 
de =pdu +rdtcosu; dy=rdu— pdt cos u. 


Die Integration dieser Gleichungen wird auf doppelte Art — 
Methodus partieularis und Methodus generalis — geleistet. Die erstere 
ist etwas umständlich, die zweite dagegen sehr bemerkenswert, weil 
hier zum erstenmal komplexe Größen zur konformen Abbil- 


574 Abschnitt XXIV. 


dung benutzt werden. Euler sucht nämlich eine lineare Kombi- 
nation dieser Gleichungen so zu finden, daß die rechte Seite in ein 
Produkt übergeht, um dann die von ihm so oft mit Erfolg‘) be- 
nutzte Schlußweise anwenden zu können. Eine solche ist, wie d’Alem- 
bert gezeigt hat, dx + idy. 

Hierdurch ergibt sich: 

dx + idy = (p + ir) (du — idt cos u). 
Euler setzt nun: 
s— 1g(45° +5); g=1gs—it, 

so daß: 


du 
cos U 


— idt. 





de="° + idt- 
Es ist dann also: 

de +idy= (p+ ir) cos udz, 
und wenn die Integration ausführbar sein soll, muß (p + ir). cos« 
Funktion von z, nach ausgeführter Integration also auch x + iy eine 
Funktion von z sein, die mit 2I’(z) bezeichnet wird, so daß: 

T’(2)=(p-+ir)-cosu 
ist. Dann ist also: 
z+iy=2T()=2T(lgs— it), 

woraus sofort folgt: | 
z—iy=2T(lgs + it). 
Hiernach sind also: 

z=T(lgs— it) + T(lgs-+it), 

iy= T(lgs — it) - T(lgs + it) 
die Gleichungen, welche die allgemeinste winkeltreue Ab- 
bildung definieren. x und y sind dabei stets reell. Die Gleichungen 
lassen sich noch etwas umformen, indem s an Stelle von z eingeführt 
wird vermöge der Gleichung 

e—= 5° (cos at — isin ct), 

wo « eine beliebige Konstante bedeutet. Die Funktion I’ von z geht 
natürlich hierbei auch in andere Funktion von s über, die mit A be- 
zeichnet wird. Man erhält so: 


x = Als“(eos at — i sin «t)] + Als“(cos «t + sin «i)], 
iy = Al[s“(cos «t — i sin «t)] — Als“(cos at +isin «t)]. 
Das ist, wie Euler bemerkt, die allgemeinste Lösung der Aufgabe, 


eine Kugel so auf die Ebene abzubilden, daß die kleinsten Teile 
(figurae valde exiguae) ihren Bildern ähnlich werden. Wir möchten 





») Vgl. 8. 551, 552, 555. 


Raumkurven und Flächen. 575 


nicht unterlassen, noch einmal hervorzuheben, daß die ungemein 
fruchtbare Idee, zur Lösung dieser Aufgabe komplexe Größen 
zu verwenden, Eulers Eigentum ist. 

Auch die Aufgabe, eine flächentreue Abbildung der Kugel auf 
die Ebene herzustellen, ist von Euler gelöst worden, und zwar für 
den Fall, daß das Gradnetz in zwei orthogonale Kurvensysteme über- 
geht; hier gibt allerdings Euler nur spezielle Lösungen. In einer 
unmittelbar folgenden Note („De projeetione Geographica superfieiei 
sphaericae“!) zeigt er noch, wie die stereographische Projektion einen 
Spezialfall der von ihm aufgestellten allgemeinen Formeln für die 
konforme Abbildung darstellt. 

Sehr eingehend hat sich Lagrange in einer längeren Abhand- 
lung: „Sur la construction des Cartes geographiques“?) mit der winkel- 
treuen Abbildung beschäftigt. Zwar geht die Aufstellung der Ab- 
bildungsformeln nicht wesentlich über das von Euler Geleistete hin- 
aus; sie lauten nämlich bei Lagrange: 

x tiy=-furit; z-iy-plWu—il), 
wo f und g noch willkürlich sind, aber natürlich eine reelle Abbil- 
dung nur dann ergeben, wenn sie konjugierte Funktionen sind. Da- 
gegen tritt hier eine ganz neue Fragestellung auf, nämlich wie f und 
p gewählt werden müssen, damit Meridiane und Parallelkreise 
in bestimmte, vorgegebene orthogonale Kurvensysteme der 
Ebene übergehen. Diese Frage wird für verschiedene besondere 
Fälle gelöst. Neu ist ferner, daß Lagrange das Vergrößerungs- 
verhältnis in Betracht zieht; wird dies mit m bezeichnet und ist das 
Linienelement der Kugel: 

d?— du + Pat, 

so ist: 
ER 1 
U tHdÜ— 
Er erörtert hierbei auch die Frage, wie der Meridian der Erde be- 
schaffen sein müßte, wenn m konstant sein sollte, und findet natür- 
lich, daß in diesem Fall die Meridiane gerade Linien sein müßten. 

Die weiteren kartographischen Arbeiten von Schubert, Lorgna, 
Kästner u.a. haben mehr geographisches oder nautisches, als speziell 
mathematisches Interesse. Nur aus einer Abhandlung von Schubert: 
„De projectione sphaeroidis ellipticae geographiea“?) ist einiges bemer- 
kenswert; zunächst, daß dort von einer projectio figurae ellipticae 
conformis die Rede ist, was wohl das erste Vorkommen des Wortes 


Mm 





») A.P. 1777, IL p. 188-148. ?) Nouveaux memoires de l’Academie 
Royale des Sciences et Belles-Lettres ä Berlin 1779, p. 161—210. RER 
p. 130—146. 


576 Abschnitt XXIV. 


„konforme Abbildung“ sein dürfte. Die Arbeit beschäftigt sich 
mit der Frage, welchen Fehler man begeht, wenn bei der Karten- 
projektion die Erde als Kugel angenommen wird. Hierbei wird ein 
nicht uninteressanter Satz bewiesen: wird ein Rotationsellipsoid von 
einem Punkt des Äquators aus auf eine zum Radius dieses Punktes 
senkrechte Ebene projiziert, so gehen sowohl die Meridiane, als die 
Parallelkreise in Ellipsen über, die dem Meridian des Ellipsoids ähn- 
lich sind. Der Satz ist bemerkenswert durch seine Analogie mit dem 
bekannten Satz über die stereographische Projektion, daß jeder ae 
kreis wieder in einen Kreis übergeht. 





_ Verbesserungen zu Abschnitt XXIV. 


. 461 letzte Zeile statt: of lies: on. 

. 494 Z. 14 statt: und damit r lies: und damit nach 2) r 

S. 508 Z. 2 v. u. ist der Satz „Zunächst ist... Rede‘ zu streichen. Das Zitat ®) 

gehört zu dem Worte „angenommen“ auf Z.1 v.u. 
S. 537 Z. 6 v. u. beizufügen: Auch diese Abhandlung wurde in ihren wesent- 
lichen Bestandteilen später in die F. d’A. aufgenommen. 

. 544 2.6 v. u. an „linfini“ das Zitat !) beizufügen. 

. 549 2. 8 statt: mg lies: mJ. 

. 550 Fußnote !) statt: S. 365 lies: S. 565. 

552 Z. 14 statt: eine Funktion von ® lies: eine Funktion ® von g. 

556 Z. 12 v. u. hinter Fläche beizufügen: (die in diesem Fall ein hyper- 
bolisches Paraboloid ist). 

S. 559 Z. 7 statt: bisher Be lies: bisher in diesem Abschnitte be- 

sprochenen. | 


an 


NnUnNnmn m 





ABSCHNITT XXV 


PERSPEKTIVE 
UND DARSTELLENDE GEOMETRIE 


VON 


GINO LORIA 





Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende 
des 17. Jahrhunderts. 


Unter dem Namen „Perspektive“ (von perspicere = klar sehen) 
haben die Alten die Grundbegriffe und Grundlehren der geometrischen 
Optik zusammengestellt; dies ergibt sich hauptsächlich aus einem 
Werke des Euklid, das wir noch besitzen'). Diese Lehre wurde in 
Europa von Ibn Alhaitam gelehrt und verbreitet (I, S. 744). Sehr 
bald wurde sie ein Unterrichtsfach in den mittelalterlichen Universi- 
täten; infolgedessen fand Johann Peckham, Bischof von Canterbury, 
es für notwendig, eine für die Schulen bestimmte Behandlung der- 
selben zu schreiben (1I?, S. 98); Bradwardin hat dann dieselbe ver- 
schlimmert (S. 111); auf ähnlichen Grundlagen ist eine Perspektive 
des berühmten Witelo aufgebaut (8. 93). 

Aber mit der Zeit und mit der Entwicklung der Kultur hat sich 
die Bedeutung jenes Wortes gänzlich verändert. Da der Seh- 
prozeß sich durch geradlinige Lichtstrahlen vollzieht, welche von den 
verschiedenen Punkten des Objektes bis zu den Augen des Beob- 
achters gehen, so ist jeder Augapfel der Mittelpunkt eines „Seh- oder 
perspektivischen Kegels“. Man stelle sich nun vor, daß zwischen die 
Augen und das Objekt eine durchsichtige Fläche („Tafel“) gesetzt 
werde, daß man den Punkt bestimme, wo dieselbe von jedem Seh- 
strahl geschnitten wird, und daß endlich dieser Schnittpunkt mit der- 





Anmerkung zu Abschnitt XXV. Über die Geschichte der Perspektive 
ist die beste Quelle die „Histoire de la perspective ancienne et moderne‘ (Paris 
1864), von M. Poudra, mit den Zusätzen, welche L. Cremona (,„Sulla storia 
della prospettiva antica e moderna“ in der Rivista italiana di scienze, lettere 
ed arti, t. V, 1865, p. 226—231, 241—245) dazu gemacht hat, und P.Riccardi („Di 
alcune opere di autori itali@%1i ommesse nella Histoire de la perspective di 
M. Poudra“; Bibl. math. 1889, p. 39—42). Über dasselbe Thema und die Ge- 
schichte der darstellenden Geometrie sehe man auch den I. Bd. von Chr. 
Wiener, „Lehrbuch der darstellenden Geometrie“ (Leipzig 1884). 

') „Euclidis Opera omnia“, vol. VII, Lipsiae 1895; vgl. das IV. Kap. des 
III. Buches des Werkes von @. Loria, „Le scienze esatte nell’ antica Grecia‘ 
(Mem. della R. Acc. die Modena, II. Reihe, XII. Bd., 1900). 

CAntor, Geschichte der Mathematik IV. 38 


580 Abschnitt XXV. 


selben Farbe versehen werde, welche der entsprechende Objektspunkt 
hat, so wird man eine Punktgruppe bekommen, welche im Auge die- 
selbe Empfindung hervorruft wie das gegebene Objekt. Nun bildet 
eben gerade die Bestimmung dieser Punktgruppe auf der Tafel den 
Zweck der modernen Perspektive. Diese besteht aus zwei Teilen: der 
„Linearperspektive“, welche die Schnittpunkte der Lichtstrahlen auf 
der Tafel geometrisch zu konstruieren lehrt, und der „Luftperspektive“, 
welche den Zweck hat, die Farben der verschiedenen Punkte des 
Bildes zu bestimmen. Nur die erstere kann als ein Teil der Mathe- 
matik betrachtet werden; daher werden wir hier nur auf die Werke, 
welche sie betreffen, eingehen. Ferner werden wir auch von unserer 
Analyse alle für Künstler oder von Künstlern bearbeiteten Werke aus- 
schließen, welche nur empirische Zeichnungsvorschriften enthalten; sie 
werden von einigen als zur „praktischen Perspektive“ gehörig betrachtet. 

Es erhellt aus dem eben Gesagten, daß die Perspektive die 
wissenschaftliche Grundlage der Malerei bildet; daher ist es wohl 
natürlich, daß die Maler die ersten waren, welche sich damit be- 
schäftigt haben. Unter ihnen sind diejenigen, welche mit Euklid 
vertraut waren, zu endgültigen Schlüssen und rationellen Methoden 
gelangt. Um das zu beweisen, genügt es, daran zu erinnern, daß 
Johann van Eyck (1395 —1440), welcher in Deutschland als Lehrer 
der Lehrer der Malerei betrachtet wird, den Ruf eines vortrefflichen 
Geometers genießt!). Andere Beweise derselben Behauptung liefert 
die ganze Geschichte des ersten Entwicklungsstadiums der in Rede 
stehenden Lehre. So verdanken wir dem vielseitigen Genius des Leon 
Battista Alberti (II?, S. 292)?) den Grundbegriff von der „Perspek- 
tive eines Objektes“ als dem Durchschnitt der Tafel mit dem ent- 
sprechenden Sehkegel oder -Pyramide. Nach ihm begegnen wir 
Pier dei Franceschi, gewöhnlich della Francesca genannt (1406 
oder 1416 geboren, 1492 gestorben), welcher, wahrscheinlich im Jahr- 
zehnt 1470—1480, ein vollständiges Handbuch der Perspektive schrieb, 
das erste, welches in Italien, vielmehr in der Welt, das Licht er- 
blickte; ein Handbuch, welches handschriftlich von vielen ausgenutzt 
oder besser geplündert wurde, und das erst vor sieben Jahren ge- 





ı) S. Günther, „Geschichte des math. Unterrichts im deutschen Mittel- 
alter bis zum Jahre 1525“ (Berlin 1887), 8. 331. Wach G. J. Kern („Die Grund- 
züge der linear-perspektivischen Darstellung in der Kunst der Gebrüder van Eyck 
und ihrer Schule“, I. Bd., Leipzig 1904) hat Johann van Eyck die Existenz 
des Fluchtpunktes gekannt und denselben verwertet; aber diese Behauptung 
wurde von K. Döhlemann im Aufsatze Die Perspektive der Brüder van 
Eyck (Zeitschrift f. Math. und Phys., III. Bd., 1905, S. 419—425) als unbegründet 
bewiesen. 2) Vgl. G. Loria, „Per L. B. Alberti‘‘ (Bibl. math. 1895, p. 9—12). 


Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 581 


druckt wurde!),. Um über ein solches Thema zu schreiben, war 
der berühmte Maler vortrefflich vorbereitet, da er als Jüng- 
ling die Geometrie gründlich studiert hatte; in der Tat sagt Vasari 
von ihm, daß er „raro nelle difficoltä dei corpi regolari e nell’ arit- 
metica e nella geometria“ war, und daß „i libri meritamente gli 
hanno acquistato nome del miglior geometra che fusse nei tempi 
suoi“. In seinem Lehrbuche über die „Perspective“ hat Piero den 
Albertischen Begriff von der „Perspektive eines Körpers“ benutzt 
und weiterentwickelt; ferner hat er zuerst Verfahren angewandt, 
welche ihre volle Entwicklung viel später in der darstellenden Geo- 
metrie fanden (z. B. die Anwendung der Drehung der objektiven 
Figuren, um die Perspektive leichter zeichnen zu können) oder welche 
gewöhnlich unter dem Namen anderer gehen; endlich war er der 
erste, welcher, um die Perspektive eines Körpers zu erhalten, die 
entsprechenden Projektionen einer Reihe ebener Schnitte derselben 
betrachtete, und, bevor Leibniz den Begriff der Einhüllenden einer 
Kurvenschar noch im allgemeinen festgestellt hatte, sehr klar sah, 
daß alle die Kurven jener Reihe den Umriß des Körpers berühren.?) 

Als dritten in dieser Gruppe von Italienern, welche zugleich 
Maler und Geometer waren, finden wir Lionardo da Vinei, den 
Verfasser eines hinterlassenen „Trattato della pittura* (Rom 1651), 
welches trotz des Titels kein organisches Werk, sondern nur eine 
Sammlung vereinzelter Bemerkungen ist, wo mehrmals ein „Trattato 
dı prospettiva“ zitiert wird, welcher aber verloren gegangen zu sein 
scheint. Unter diesen Bemerkungen werden wir nur die folgende an- 
führen: „Die Linearperspektive bezieht sich auf die Linien, um das 
Maß zu untersuchen, wie viel die zweite Sache kleiner sei als die 
erste, und die dritte als die andere, und also von Grad zu Grad bis 
zu der letzten Weite der sichtbaren Objekte. Ich habe durch die 
Erfahrung gefunden, daß wenn das andere Objekt ebensoweit 
von dem ersten entfernt ist, als das erste vom Auge absteht, gleich- 
wohl das andere um die Hälfte kleiner als das erste sein wird, ob 
sie schon einerlei Größe unter sich haben. Und wenn das dritte 





') „Petrus Pietor Burgensis, De prospectiva pingendi, herausg. von 
Dr. Winterberg‘ (Straßburg 1899); vgl. eine Mitteilung von G. Pittarelli in 
„Atti del congresso internazionale di scienze storiche, vol. XII, Rom 1904, p. 251 
bis 266; Libri hat in der Note III des IV. Bd. seiner „Histoire“ eine klare Übersicht 
über die in Rede stehende Arbeit gegeben. ?®) Nach Ignazio Danti (vgl. 
das Vorwort seiner Auflage von Barozzi, von der wir später sprechen werden) 
und G. Pittarelli ist Piero auch der Verfasser des Buches „Über die regel- 
mäßigen Polyeder“, welches Luca Paciuolo als sein Eigentum in seine „Divina 
proportione‘“ eingeschoben hat (vgl. II®, S. 341). 

38* 


582 Abschnitt XXV. 


Objekt in gleicher Weise von dem anderen entfernt ist, wird es um 
- kleiner sein, und also von Grad zu Grad durch gleichen Abstand 


allezeit eine proportionale Verminderung statthaben“ Ist es nun 
nicht überraschend, daß man diese empirische Bemerkung durch 
einfache geometrische Überlegungen als vollkommen richtig beweisen 
kann?!) 

Von einem letzten berühmten Maler müssen wir noch sprechen: 
von Albrecht Dürer, dessen geometrische Werke schon gründlich 
studiert wurden (Il®, S. 459—468)?). Darin findet man viele die 
Perspektive betreffende Stellen (sie wurden wahrscheinlich von Pietro 
dei Franceschi inspiriert) und die Beschreibung eines neuen und 
zwar des ältesten Apparates, um eine Perspektive mechanisch zu 
zeichnen. Ist das etwa hinreichend, um schließen zu können, daß 
Dürer „die erste darstellende Geometrie in deutscher Sprache ge- 
schrieben hat“?®). Oder ist es nötig und genügt es, um zu dieser 
Folgerung zu kommen, die zahlreichen deutschen Werke anzuführen‘), 
welche von Dürers Werk inspiriert wurden und es zum Modell 
nahmen? 

Aus den Händen der Künstler ist die Perspektive in die der 
Mathematiker übergegangen infolge einer der vornehmsten Arbeiten 
des Federico Commandino (ll, S. 553)°). Es ist der Band des 
berühmten Kommentators, welcher die Überschrift trägt: „Ptolemaei 
Planisphaerium, Jordani Planisphaerium, Federici Commandini Urbi- 
natis in Planisphaerium eommentarius, in quo universa scenographices 
ratio quam brevissima traditur ac demonstrationibus confirmatur“ 
(Venetiis 1558). Das Werk von Ptolemäus, um welches es sich 
hier handelt, enthält bekanntlich die Grundzüge der sogenannten 
„stereographischen Projektion“; das Buch von Jordanus Nemorarius 
behandelt dasselbe Thema ausführlicher. Der Kommentar Comman- 
dinos ist ein kurzer Traktat über die Linearperspektive, welcher zu 
dem Zweck geschrieben wurde, die Prinzipien festzustellen, welche 
der große griechische Astronom als Grundlagen seiner Projektions- 
methode gewählt hat. Um diesen Zweck zu erreichen, setzt Com- 
mandino voraus, daß die betrachteten Figuren auf zwei zueinander 
orthogonale Ebenen bezogen werden (eine horizontale und eine verti- 





') Lambert, „Die freye Perspective“, II. Aufl., II. Bd., S. 17- ?) Vgl. auch 

Günther, a.a. O., S. 354—370. ®) Gerhardt, „Geschichte der Mathematik 
in Deutschland“ (München 1877), S. 25. *) Kästner, „Geschichte der Mathe- 
matik‘, II. Bd., Göttingen 1797, 8.9. °) Man sehe auch: Tiraboschi, „Storia 
della letteratura italiana‘, Vol. VII, Venezia 1796, p. 479—481; Libri, „Histoire 
des sc. math. en Italie“, t. III, p. 118. 


Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 583 


kale), daß die Tafel zu beiden rechtwinklig sei und daß das Auge sich 
auf der Vertikalebene befinde; die Tafel wird auf die Vertikalebene 
umgelegt vermittels Drehung um ihre Vertikalachse. Unter Annahme 
solcher Voraussetzungen gelangte Commandino zu zwei sehr be- 
merkenswerten Konstruktionen der Perspektive eines beliebigen 
Punktes der Horizontalebene, welche er sodann anwendet, um die 
Perspektive der Kreise einer Kugel zu finden. Eine der erwähnten 
Konstruktionen war schon bei: den Praktikern im Gebrauch; aber 
Commandino kannte sie sicher nicht, denn er scheint die früheren 
Werke über die Perspektive nicht studiert zu haben, weil er ihre innige 
Verbindung mit den ptolemäischen Untersuchungen nicht bemerkt 
hatte. Diese Arbeit des großen Kommentators schien und war in der 
Tat auch zu einseitig und wissenschaftlich; die Maler und die Archi- 
tekten, welche dieselbe benutzen wollten, fanden sie unvollständig 
und zu schwer; daher hielt es ein gelehrter Prälat, Daniele Bar- 
baro (1513—1570)!), für der Mühe wert, ein neues Lehrbuch über 
die Perspektive zu schreiben, welches zugleich dem Bedürfnisse 
der Praktiker und den Forderungen der Theoretiker genügte. Nach- 
dem er sich daher mit Unterstützung eines gewissen Johann Zam- 
berti mit jener Lehre genügend vertraut gemacht hatte, schrieb er 
ein Buch über: „La pratica della prospettiva; opera molto profitte- 
vole a pittori, ‚seultori et architetti“ (Venezia 1559). Es ist ein 
Werk, welches hält, was es in seinem Titel verspricht; daher verdiente 
es die freundliche Aufnahme, welche es wegen seines reichen Inhalts 
allgemein fand. Der Geschichtschreiber darf aber nicht unterlassen, 
darauf hinzuweisen, daß Barbaro?), nicht nur vieles von Piero della 
Francesca sich aneignete, sondern auch versuchte, das ganze Werk 
desselben in Mißkredit zu bringen, um von dem Leser den Verdacht 
eines Plagiats möglichst fern zu halten. 

Auf Daniele Barbaro folgt der Zeit nach ein berühmter 
Künstler: Jacopo Barozzi aus Vignola, als Gesetzgeber in der 
Architektur unter dem Namen „Vignola“ allgemein bekannt (1507 
bis 1573), welcher das Glück hatte, in einem sehr bedeutenden Mathe- 
watiker, Egnatio Danti?) (1537—1586), einen gewissenhaften Ver- 
leger und geistreichen Kommentator zu finden. Das in Rede stehende 


') Biographische Nachrichten über diesen Gelehrten findet man bei: Maz- 
zucchelli, „Gli serittori d’Italia“, T. II, P.I, p. 247; Tiraboschi, a. a. O., 
p. 474. ”) Vgl. das Vorwort zu dem Werke von Vignola-Danti, von dem 
wir sogleich sprechen werden, und Pittarelli in der o. a. Mitteilung, S. 262. °) Vgl. 
Libri, t. IV, p. 37; Tiraboschi, a. a. O., p. 456—459, wo auch über andere 
Mitglieder der Familie Danti, die sich mit den Wissenschaften beschäftigten, 
berichtet wird. 


584 Abschnitt XXV. 


Werk!) wurde 1530 verfaßt, ging handschriftlich dureh viele Hände 
und wurde vom Verfasser mehrmals durchgesehen und umgearbeitet; 
der Sohn Vignolas übergab nach dessen Tode die letzte Bearbeitung 
Danti zur Veröffentlichung. — Vignola setzt, den Gewohnheiten 
seiner Zeit folgend, immer voraus, daß die Tafel vertikal sei, und 
daß man eine Horizontalebene als Träger aller betrachteten Figuren 
habe; von jedem Punkt des Körpers nimmt er die Orthogonal- 
projektion auf dieser Ebene und die entsprechende Höhe als gegeben 
an; und um die Perspektive dieses Punktes zu finden, beginnt er mit 
der Bestimmung der Perspektive seiner Orthogonalprojektion. Die so 
entstehende Beziehung zwischen der Horizontalebene und der Tafel 
ist?) eine Homologie, die vom Verfasser auf zweierlei Weise kon- 
struiert wird. Mindestens eine von diesen Konstruktionen ist neu. 
Die Erläuterungen Dantis sind sehr bemerkenswert, nicht nur wegen 
ihres streng euklidischen Stils und wegen der wertvollen geschicht- 
lichen Nachrichten, welche sie über die Untersuchungen der älteren 
Perspektiveforscher enthalten, sondern auch weil sie den Beweis von 
der in einigen besonderen Fällen vorhandenen Existenz der sogenannten 
„punti di concorso“ enthalten, die ein wenig später ihren siegreichen Ein- 
zug in unsere Wissenschaft halten sollten. Diese vortrefflichen Kommen- 
tare und der große Wert des Originals selbst verschafften der Arbeit 
einen ungeheuren Erfolg; sie wurde mehrmals neu aufgelegt, ferner 
ins Lateinische, Französische, Englische, Deutsche und Russische über- 
setzt; man sagt sogar, daß Peter der Große es nicht verschmäht 
habe, dieselbe zu kommentieren!?) 

Auch Giambattista Benedetti (II?, S. 565)*) muß unter den 
Mathematikern aufgeführt werden, welche sich mit der Perspektive 
beschäftigten; denn der II. Teil seines Werkes „Diversarum spe- 
culationum mathematiearum et physicarum liber“ (Taurini 1585) ist 
betitelt „De rationibus operationum perspectivae“ und scheint den 
Zweck zu haben, einige bei den Malern übliche Verfahren zu berich- 
tigen. Schon vor Benedetti hatte zwar Danti bereits die Notwen- 
digkeit erkannt, derartige Berichtigungen zu geben; aber der Weg, 
welchen Benedetti einschlägt, um zum Ziele zu gelangen, ist zum 
Teil neu. Es möge noch bemerkt werden, daß der Verfasser für 
jedes Problem eine „figura corporea“ und eine „figura superficialis“ 





ı) „Le due regole della prospettiva pratica di M. Jacopo Barozzi da 
Vignola, con i commentari di Egnatio Danti“, Roma, I. ed. 1583; II. ed. 1644. 
?) Eine Bemerkung von Chasles („Apergu historique“, II. Aufl., 1875, p. 348). 
s) Tiraboschi, „Biblioteca modenese“, T. I (Modena 1781), p. 1761. Tram on- 
tini, „Elogio di G. Barozzi* (Modena 1825). *) Man sehe auch Libri, T. III, 
p. 121 und Note XXV. 


Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 585 


(d. h. eine schematische und eine wirkliche Figur) gibt, ein System, 
welches von dem hochbedeutenden Gelehrten Guido Ubaldo del 
Monte (1545—1607) (vgl. II?, 3. 568)!), zu dem wir uns jetzt 
wenden, beständig verfolgt und ausgeführt wird. 

Die hohe Bedeutung der Arbeiten del Montes über die Mechanik 
wurde von Lagrange und den nachfolgenden Historikern vollkommen 
erkannt (II, S. 568ff.).. Einen nicht minder hervorragenden Platz 
verdient er in der Geschichte der Geometrie als Verfasser der „Per- 
spectivae libri sex“ (Pisauri 1600), eines Werkes, das nicht nur als 
einer der glänzendsten Edelsteine der italienischen Literatur, sondern 
auch als eines der höchsten Produkte des menschlichen Geistes über- 
haupt betrachtet werden muß. Alle diejenigen, welche es genauer 
kennen lernten, haben es sehr bewundert. Und wenn die Verehrer- 
zahl nicht sehr groß ist, so beruht das darauf, daß viele Mathematiker 
es mit Unrecht für ein Werk hielten, das nur den Künstlern gewidmet 
sei, und diese hingegen zum größten Teil ein im reinsten euklidischen 
Stil geschriebenes Werk schwierig fanden. Um die außerordentliche 
Wichtigkeit der „Perspective“ del Montes zu beweisen, genüge es, 
darauf hinzuweisen, daß im I. Buch der Satz in seiner All- 
gemeinheit bewiesen ist, daß die Zentralprojektion eines Systems 
paralleler Geraden im allgemeinen ein Büschel ist, eine Tatsache, 
welche man zwar schon vorher empirisch festgestellt hatte, dessen 
rationelle Erklärung aber nicht einmal versucht worden war?). Daß 
der Verfasser sich der Bedeutung dieser Entdeckung wohl bewußt 
war, erhellt aus dem Titelblatt seines Bandes, wo man die neben- 
stehende Fig. 62 sieht 
mit dem Motto: „eitra 
dolum fallimur“. Del 
Monte verdanken wir 
auch die Benennung 
„punetum coneursus“ für 
den Mittelpunkt des 
Büschels, welches die 
Projektion einesSystems 
paralleler Geraden ist, 
eine Bezeichnung, wel- 
che die nachfolgenden 
Schriftsteller einstimmig annahmen. — Im II. Buch wird die Theorie 























') Vgl. Tiraboschi, a. a. O., p.475—478. ) Als eine nicht uninteressante 
Kuriosität möge das Folgende erwähnt werden (vgl. 8. 544): In Tinseaus Abhand- 
lung „Solutions de quelques problömes relatifs ä la theorie des surfaces courbes 


586 Abschnitt XXV. 


von den Konkurspunkten auf die Konstruktion der Perspektive von 
Punkten der Horizontalebene angewandt (die Tafel immer vertikal 
vorausgesetzt); der Verfasser setzt zuerst die Konstruktion mittels 
einer Raumfigur auseinander, stürzt dann die Tafel auf die Horizontal- 
ebene um und gelangt so zu einer vollständig ausführbaren Kon- 
struktion. Diese wird dann in nicht weniger als 23 verschiedenen 
Formen dargestellt, und der Verfasser fügt noch hinzu, daß andere 
nur der Kürze wegen nicht mitgeteilt wurden. Alle sind bemerkens- 
wert, schon allein deswegen, weil der moderne Leser darin viele Be- 
griffe, welche der Lehre der Homologie angehören, unbewußt ange- 
wandt finden wird. Ohne uns bei alien Anwendungen aufhalten zu 
wollen, welche der Verfasser von diesen Konstruktionen macht, be- 
merken wir nur, daß del Monte auch einige besondere Fälle der 
umgekehrten Aufgabe der Perspektive betrachtet hat, wie z. B. die 
folgenden: „einen Punkt zu bestimmen, dessen Perspektive man kennt“; 
„die Lage der Augen zu finden, wenn die Perspektive einer gegebenen 
Geraden bekannt ist“. — Der Zweck des IH. Buches ist die Kon- 
struktion der Perspektive der Höhen (über der Horizontalebene) der 
Raumfiguren zu zeichnen; der Verfasser betrachtet zuerst die Pro- 
jektionen von Figuren, die in Ebenen liegen, welche zur Horizontal- 
ebene parallel sind, dann diejenigen, welche beliebigen Ebenen an- 
gehören, macht sodann viele Anwendungen davon und betrachtet 
schließlich die Perspektive auf nicht ebene Bildtafeln. Aus dem Inhalt 
des III. Buches ersieht man, daß es, um die Perspektive einer belie- 
bigen Figur zu finden, notwendig ist, ihre Orthogonalprojektion auf 
die Horizontalebene („ae trito vocabulo plantam nos Itali appellamus“) 
zu kennen und von jedem Punkt die entsprechende Höhe. Und nun 
ist der Hauptzweck des IV. Buches des in Rede stehenden Werkes 
der, beides für eine geometrisch definierte Figur zu bestimmen. Was 
der Verfasser lehrt, gibt sogleich die Darstellung jener Figuren durch 
die Methode der kotierten Ebene (wır gebrauchen diese moderne 
Ausdrucksweise, um klarer zu sein) und mit wenigen anderen Bemer- 
kungen befähigt er uns auch, die Vertikalprojektion derselben zu 
finden. Bemerkenswert sind die Anwendungen auf die regelmäßigen 
Polyeder und den Kreis. — Im V. Buch wird ausführlich bewiesen, 





et des courbes ä double courbure“ (M&m. pres. par divers savants, T. IX, 1780, 
p. 593—642) findet man einen sehr einfachen Beweis des Satzes: „die Projek- 
tionen mehrerer paralleler Geraden gehen alle durch den Schnittpunkt der Tafel 
mit dem Strahle, welchen man vom Auge parallel zu jenen Geraden ziehen 
kann“, ein Prinzip, sagt Tinseau, „dont les auteurs de perspective ont jusquw’ici 
cherch® la preuve, les uns dans la meötaphysique, les autres dans les conside- 
artions sur l’infini“. Tinseau kannte gewiß nicht das Werk del Montes! 


Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 587 


wie man das Gesagte auf die Zeichnung der Schatten anwenden 
kann (die Lichtquelle im Endlichen vorausgesetzt). — Das letzte Buch 
behandelt ein Gebiet, welches ein großes praktisches Interesse besitzt 
und daher die Aufmerksamkeit der Gelehrten von den Griechen bis 
Daniele Barbaro auf sich gezogen hatte: wir meinen die Zeichnung 
der Theaterbühnen. Auch für die zu diesem Zweck geeigneten Ver- 
fahren gelingt es del Monte, eine wissenschaftliche Grundlage zu 
geben. Daher behält seine „Perspective“ bis zum Ende den Wert, 
welchen sie bereits auf den ersten Seiten hatte, und welcher ihn 
würdig machen würde, unter den Klassikern der exakten Wissen- 
schaften zu erscheinen. 

Wir müßten jetzt über das Werk „ÖOpticorum Libri VI“ berichten, 
das von Fr. d’Aiguillon in Antwerpen im Jahre 1613 veröffent- 
licht wurde; aber was über dieses vorzügliche Werk bereits gesagt 
wurde (II?, S. 695), ist wohl hinreichend, um sich eine klare Vor- 
stellung von seinem Inhalt und Zweck bilden zu können. 

Ungefähr um dieselbe Zeit beschäftigte sich mit der Perspektive 
ein anderer und zwar sehr berühmter belgischer Geometer, Simon 
Stevin (II, S. 572). Sein „Traite d’optique“ enthält seine diesbe- 
züglichen Entdeckungen, über welche Chasles urteilt‘): „... mais 
nous nous etonnons que l’on passe sous silence Stevin qui... avait 
aussi innove dans cette matiere, qu’il avait traite en geometre pro- 
fond, et peut-&tre plus completement qu’aucun autre, sous le rapport 
theorique. Ainsi nous ne trouvons que dans cet auteur la solution 
geometrique de cette question, qui est linverse de la perspective: 
etant donnees, dans un plan et dans une position queleonque /’une 
par rapport & Jautre, deux figures qui sont la perspective l’une de 
Y’autre, on demande de les placer dans l’espace de maniere que la 
perspective ait lieu, et determiner la position de l’euil. Stevin, il 
est vrai, ne resout que quelques cas partieuliers de cette question, 
dont le plus diffieile est celui oü l’une des figures est un quadrilatere 
et la seconde un parallelogramme....“ Chasles hätte auch hinzufügen 
können, daß Stevin den folgenden Fundamentalsatz der Methode der 
Zentralprojektion entdeckt und bewiesen hat: „Wenn sich die Bildtafel 
um ihre Schnittlinie mit der Horizontallinie dreht, und wenn sich zu- 
gleich der Beobachter um seine Füße dreht, und zwar so, daß er 
beständig parallel zur Tafel bleibt, so wird die Perspektive zwischen 
Horizontal- und Bildebene nicht gestört; sie bleibt auch dieselbe, 
wenn die genannten Ebenen zusammenfallen“?). Durch einige ge- 





!) „Apergu historique“, p. 347. ?) „Oeuvres de Stevin“; ed. Girard, p. 533. 


Vgl. G. Loria, „Vorlesungen über darstellende Geometrie“, I. Bd., Leipzig 1907, 
8. 131. 


588 Abschnitt XXV. 


schickt gewählte Anwendungen beweist Stevin die Nützlichkeit 
dieses schönen Satzes. 

Girard Desargues, welcher eine so hervorragende Stellung in 
der Geschichte der theoretischen Geometrie einnimmt (I, S. 674—678), 
behauptet diese Stellung nicht minder in derjenigen der verschiedenen 
Zweige der Ingenieurwissenschaft. Ja vielmehr könnte man behaupten, 
daß die theoretischen Arbeiten Desargues’ nichts anderes als Neben- 
produkte seiner Bemühungen seien, um einigen praktischen bei Archi- 
tekten und Malern üblichen Verfahren eine wissenschaftliche Grund- 
lage zu geben. Eine solche Hypothese erscheint wohl gerechtfertigt, 
wenn man bedenkt, daß er im reifen Alter (Oktober 1647) erklärt 
hat: „je n’eus jamais de goust ä l’estude ou recherche, n’y de la 
physique, n’y de la geometrie, sinon en tant qu’elles peuvent servir 
ä l’esprit, d’un moyen d’arriver ä quelques sorte de connaissance des 
causes prochaines des eflets de choses qui se puissent reduire en acte 
effectif, au bien et commodite de la vie qui soit en usage pour 
V’entretien et conservation de la sante“!). Die älteste gedruckte Arbeit 
von Desargues ist eine „Methode universelle de mettre en perspec- 
tive les objets donnes reellement ou en devis, avec leurs proportions, 
mesures, eloignements sans employer aucun point qui soit hors du 
champ de l’ouvrage“ (Lyon 1636; Oeuvres, I, p. 53—84). Sie fängt 
mit einem Verzeichnis neuer Namen an, um die Grundelemente der 
Lehre der Perspektive zu bezeichnen, Namen, welche von den Zeit- 
genossen des Desargues als überflüssig, schlecht gewählt und daher 
tadelnswert angesehen wurden?). Wenn diese in dieser Beziehung 
vielleicht nicht ganz unrecht haben, so haben sie es dagegen gewiß, 
als ihre Pfeile sich gegen die von ihm ersonnenen Methoden richteten, 
Methoden, deren Quintessenz die folgende ist: Eine beliebige Figur 
ist vollkommen bestimmt in bezug auf ein rechtwinkliges Trieder, 
dessen Kanten OX, OY, OZ seien, falls von jedem ihrer Punkte die 
Entfernungen von den Ebenen YOZ, ZOX, XOY gegeben sind. 
Ein Ähnliches gilt für eine ebene Figur. In beiden Fällen kennt man 
von den betrachteten Punkten die Cartesischen Koordinaten; um- 
gekehrt kann man, wenn man von einem Raumpunkte P die Car- 
tesischen Koordinaten x, y, 2 kennt, die Lage des Punktes wie folgt 
finden: Mau trage auf OX die Strecke OÖOM=x ab, man ziehe von 
M die Strecke MN =y parallel zu OY, endlich die Strecke NP=z 
parallel zu OZ. Um nun die Perspektive von P zu finden, schlägt 





1) „Oeuvres de Desargues“; ed. Poudra, Paris 1864, I. Bd., p. 487. 
?) Vgl. die Urteile von Beaugrand und Curabelle in den „Oeuvres de Des- 
argues“. II. Bd., p. 355 und 388, 


Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 589 


Desargues vor, diese Konstruktion vom Raume auf die Bildtafel zu 
übertragen (d. h. „de pratiquer la perspective conformement au ge£o- 
metral“). Der Leser wird hier gewiß den Grundgedanken der neueren 
Axonometrie klar ausgedrückt finden. In der Entwicklung desselben 
setzt Desargues voraus, daß die gegebene Horizontalebene als 
xy-Ebene angenommen werde, und deren Schnittlinie mit der Tafel 
als «-Achse sowohl auf der Tafel, als auch im Raume. Die zu 
OX parallelen Geraden haben als Projektionen eben andere zu OX 
parallele Geraden, während die zu OY oder OZ parallelen zwei 
Büschel nicht paralleler Geraden geben. Zwei Skalen äquidistanter 
Punkte auf OY und OZ („echelles de petits pieds“) geben auf der 
Tafel zwei nicht-reguläre, aber konstruierbare Punktreihen. Mittels 
dieser und der obigen Büschel kann man, wie leicht ersichtlich ist, 
die Perspektive einer beliebigen Figur zeichnen. 

Nicht nur ihre Neuheit ließ die Methode des Desargues 
den Zeitgenossen so schwierig erscheinen, sondern auch der Um- 
stand, daß er sich damit begnügt hatte, seine Idee nur anzu- 
deuten und auf ein besonderes Beispiel allein angewandt ausein- 
anderzusetzeg. Man muß noch hinzufügen, daß er keinen Ge- 
brauch von den Konkurspunkten gemacht hat, deren Theorie del 
Monte. schon festgestellt hatte; aber in einem den „contemplatifs“ 
gewidmeten Anhang lehrte er die Transformation durch Projektion 
eines Systems paralleler Geraden in ein eigentliches Büschel, wie auch 
die (übrigens von Stevin schon beobachtete) umgekehrte Transfor- 
mation, die stattfindet aus einem Büschel, dessen Mittelpunkt auf 
einer Parallelen liegt, die vom Auge auf die Tafel gezogen wird. In 
dieser Gruppe von Theoremen hat Desargues „une fourmilisre de 
grandes propositions“ erkannt. Zum Schlusse hat er versichert, in 
der Lage zu sein, das folgende wichtige Problem aufzulösen: „In der 
Ebene eines Kegelschnitts, dessen Perspektive man sucht, die Geraden 
zu bestimmen, welche in die Achsen dieser letzteren sich projizieren“. 

Im Jahre 1640 veröffentlichte Desargues ein anderes Werkchen 
mit dem Titel: „Brouillon-projet d’exemple d’une maniere univer- 
selle touchant la practique du trait ä preuves pour la coupe des 
pierres en l’architeeture; et de l’eclaireissement d’une maniere de 
reduire au petit pied en perspective comme en g&ometral et de tracer 
tous quadrans plats d’heures @gales au soleil“ (Oeuvres I, p. 303 ff.). 
In dem Teil, welcher in diesem Augenbliek allein uns interessiert, 
hat sich Desargues die Aufgabe gestellt, die Augen sowohl den- 
jenigen zu öffnen, welche seinen Methoden jeden Wert ableugneten, 
da sie dieselben nicht verstanden hatten, als auch denjenigen, welche 
ihnen jede Originalität absprachen. Wenn man auch zugeben muß, 


590 Abschnitt XXV. 


daß die zweite Veröffentlichung Desargues’ weniger bündig ge- 
schrieben ist, als seine erste, so zeichnet sie sich doch nicht durch 
allzu große Klarheit aus, so daß man bezweifeln kann, ob er den 
ersten Zweck erreicht hat; es muß indessen bemerkt werden, daß er 
mehrere Personen nennt, welche imstande waren, seine Methoden 
anzuwenden. Unter diesen finden wir den „graveur“ Abraham Bosse 
(1611—1678), welcher im Jahre 1648 ein Lehrbuch der Perspektive 
herausgab!), in dem man eine wertvolle Note findet (vgl. Oeuvres de 
Desargues I, p. 303—358). Sie bildet eine wichtige Ergänzung zur 
ersten Broschüre Desargues’, da man in derselben einige wichtige 
Hilfssätze zur Perspektive und Vorschriften für den Gebrauch des 
„optischen oder Proportionszirkels“ beim perspektivischen Zeichnen 
findet. Wir haben die Pflicht, zu bemerken, daß die Priorität der 
Anwendung desselben Desargues in einem „Abrege ou Racourei de 
la perspective par liimitation“ (Paris 1643) von Vaulezard abge- 
stritten wurde, ein Werk, das in seiner sehr langen Überschrift 
unsern Geometer als „celui qui se vante d’avoir l’unique secret et les 
manieres de la perspective“?) bezeichnet. 

A. Bosse, von dem wir soeben gesprochen haben, ist der- 
jenige, welcher mehr als alle anderen sich bemüht hat, den Ideen 
des Desargues zum Siege zu verhelfen. Unter seinen zu diesem 
Zweck geschriebenen Werken führen wir noch zwei andere an: 
das Buch „Moyen universel de pratiquer la perspective sur les 
tableaux ou surfaces irregulieres“ (Paris 1653; vgl. Oeuvres de 
Desargues, II, p. 16—33), auch eine Frucht des Desarguesschen 
Unterrichts, dessen Thema schon von del Monte gestreift worden 
war?), und den „Traite des pratiques geometrale et perspective 
enseignes dans l’Academie royale de peinture et seulpture“ (Paris 
1656; Oeuvres de Desargues, II, p. 35—47), welcher zwar nach Des- 
argues’ Tod erschienen ist, aber dessen Methoden zur Konstruktion 
von Basreliefs auseinandersetzt, Methoden, welche Desargues die 
Würde des Begründers der Relief-Perspektive sichern. Es mag 
zuletzt noch bemerkt werden, daß mit den Untersuchungen des 





!) „Manitre universelle de M. Desargues pour pratiquer la perspective par 
petits pieds comme le geometral, ensemble les places et les proportions, touches, 
teintes et couleurs“, Paris 1648. 2) Poudra, „Histoire de la perspective“, 
p. 310. Aus dem hier gegebenen Bericht erhellt, daß das „Abrege“ eine 
wissenschaftlich geschriebene Arbeit ist, welche die erste Andeutung des 
Problems gibt, eine Figur zu bestimmen, von der mehrere Perspektiven ge- 
geben sind (Hauptaufgabe der neueren theoretischen Photogrammetrie). 

. ®) Darin befindet sich der Umriß einer Ringfläche als die Einhüllende der Pro- 
jektionen der Kreise der Fläche („Oeuvres de Desargues“, II. Bd., p. 22). 


Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 591 


Desargues über die Perspektive im allgemeinen wahrscheinlich die 
geheimnisvollen und jetzt verlorenen „Legons de tenebres“ in engem 
Zusammenhang stehen, wo die Kegelschnitte als von einem erleuch- 
teten Kreise geworfene Schatten betrachtet waren, das Licht im End- 
lichen vorausgesetzt, um keine Kurve auszuschließen. 

Eine andere Schrift, in welcher die Methoden des Desargues 
erklärt und entwickelt sind, ist die „Perspecetive adressee aux theo- 
riciens“, die Poudra am Ende der Bosseschen „Perspective“ einge- 
schaltet fand (Oeuvres de Desargues, I, p. 439—462); sie hat den 
Zweck, die Angriffe zurückzuweisen, welche gegen Desargues in dem 
Werke „La perspective speculative et th&orique. De lYinvention du 
feu Sieur Alleaume“ (Paris 1634) gerichtet worden waren.') 

Einen ganz anderen Standpunkt Desargues gegenüber, dem von 
Bosse ganz entgegengesetzt, nahm Curabelle ein, dessen heftige 
und unbegründete Kritiken wahrscheinlich einer verdienten Vergessen- 
heit anheimgefallen wären, wenn Poudra nicht in seiner Ausgabe 
der Werke des Desargues die Erinnerung an dieselben wieder auf- 
gefrischt hätte. An diese gewissenhafte Publikation verweisen wir 
diejenigen unserer Leser, welche die Einzelheiten dieser sonderbaren 
Streitigkeiten kennen zu lernen wünschen, in deren Verlauf unter 
anderem auch eine Herausforderung erfolgte, nach der jeder der Wider- 
sacher dem anderen 100 Pistolen versprach für den Fall, daß es ihm 
gelänge, ihn von seinem Unrecht zu überzeugen. Um Curabelle 
jedoch teilweise zu entschuldigen, wollen wir auch bemerken, daß im 
Jahre 1642 ein Buch von Pater du Breuil ans Licht kam?), in dem 
die Ideen Desargues’ in vollkommener Entstellung dargestellt sind 
von einem, der sie nicht verstanden hatte. Die von du Breuil be- 
gangenen Irrtümer wurden von Desargues selbst vor der Öffentlich- 
keit mit großer Heftigkeit zurückgewiesen; so entstand ein hart- 
näckiger Streit, welcher ungefähr 40 Jahre dauerte, und infolgedessen 
Bosse, der treue Beschützer des Desargues, seinen Lehrstuhl an 
der Akademie der schönen Künste verlassen mußte. 

Als der Kampf immer heftiger wurde, setzte Desargues, um 
ihm ein Ende zu machen, einen Preis von 1000 Franken für den- 
jenigen aus, welcher neue Verfahren zur Ausführung von Perspek- 


e 


‘) Aus dem Berichte, welchen Poudra („Histoire“, p. 288—309) über dieses 
Werk gegeben hat, erhellt, daß darin eine Auflösung des Problems enthalten ist, 
die Perspektive einer Figur zu finden, deren Seiten und Ecken gegeben sind. 
?) „La perspective pratique necessaire ä tous... par un Parisien, religieux 
de la Compagnie de Jesus“; vgl. Poudra, a. a. O., p. 271—287, wo auch über 
die folgenden verbesserten Auflagen berichtet wird und darin enthaltene Andeu- 
tungen über die Militär- oder Kavalierperspektive angegeben sind (s. $S. 283). 


592 Abschnitt XXV. 


tiven erfinden würde, die denjenigen des Desargues vorzuziehen 
wären; diese Zusage ist in einem an Bosse gerichteten Briefe ent- 
halten, welcher das Datum des 25. Juli 1657 trägt und der Pariser 
Aueh Arie vier Tage später mitgeteilt wurde und so weite Verbreitung 
in der Öffentlichkeit fand. Und nun schrieb „pour esrege au prix 
que M. Desargues, homme savant et genereux, a propose“, Pater 
Charles Bourgoing die „Perspective affranchie“ (Paris1661), in welcher 
viele bemerkenswerte, auf die Anwendung der Konkurspunkte gegrün- 
dete Konstruktionen ausgeführt werden. Wenn man bedenkt, daß 
Desargues die Hilfe der Konkurspunkte abgelehnt hatte, so muß 
man zugeben, daß der Verfasser in der Wahl seines Krbeitepäbiiteh 
äußerst geschickt war. Er versucht die Überlegenheit seiner eigenen 
Methoden über diejenigen von Desargues in sechs Punkten zu be- 
weisen und nimmt zufrieden mit seiner Ausführung von seinem Buche 
mit den folgenden Versen Abschied: 

„Parcourez lunivers banissant toute crainte, 

Le monde ni l’enfer n’auront sur vous atteinte, 

Car les plus grands efforts de la t&merite 

Mettent bas les armes devant la verite.“ 

Das 17. Jahrhundert, welchem die Wissenschaft von der Perspek- 
tive Forscher ersten Ranges, wie delMonte, Stevin und Desargues, 
verdankt, hat auch noch eine große Anzahl von sonstigen Bearbei- 
tungen und Einzelbeiträgen hervorgebracht. Alle zu nennen ist un- 
möglich und wäre auch zwecklos; die wichtigsten aber verdienen 
wenigstens erwähnt zu werden. 

So enthält der V. Band des „Cours mathematique“ von Peter 
Herigone eine kurze Auseinandersetzung der uns beschäftigenden 
Lehre (Paris 1654, p. 190—217), wo auch die originelle Symbolik 
angewandt wird, deren Schöpfer er ist (vgl. Bd. II?, S. 656). 

Ver Herigone (1633 oder etwa 1614) veröffentlichte zu Amster- 
dam Samuel Marolais die lateinisch geschriebenen „Prinzipien der 
Optik und der Perspektive“, welche bemerkenswert sind, weil sie den 
ersten Versuch darstellen, die Aufgaben der Perspektive arithmetisch 
zu lösen. Gerade unter diesem Gesichtspunkt erinnert diese Arbeit 
an eine spätere mit der Überschrift „Andreae Alberti duo libri, prior 
de perspectiva cum et praeter arithmeticam inventa, posterior de 
umbra ad eam pertinente“ (Norimbergae 1671), in welcher ausgeführt 
wird, wie man die Koordinaten des Bildes eines Punktes, dessen Ko- 
ordinaten bekannt sind, bestimmen kann. 

Mit Rücksicht auf den großen Ruhm, den ihr Verfasser genießt, 
wollen wir weiter die Arbeit des Pater Niceron (1613—1646) „La 
perspective curieuse“ (Paris 1671) anführen, eine hinterlassene und 


Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 593 


von unbekannter Hand stammende Bearbeitung des „Thaumaturgus. 
optieus seu admiranda“, ein Werk, dessen Druck am 2. August 1646 
vollendet wurde; sie ist denjenigen zu empfehlen, die sich für die 
von der Zentralprojektion verursachten Verzerrungen interessieren. 
Die verzerrende Gewalt jener Öperation scheint von Andreas 
Tacquet (1612—1660) wahrgenommen und überschätzt worden zu 
sein, da man auf dem Titelblatt der 2. Auflage (1707) des präch- 
tigen Bandes seiner „Opera mathematica“ einen durch die Sonne er- 
leuchteten rechtwinkligen Rahmen sieht, welcher als Schatten 
einen Kreis wirft, und diese sonderbare Figur „mutat quadrata 
rotundi“ als Motto trägt. Die Figur selbst dient als symbolischer 
Hinweis auf das II. Buch („Syllabus propositionum opticae“) der 
„Opera“, wo die Grundbegriffe der Perspektive bewiesen werden, um 
sie dann auf die Astronomie anzuwenden. 

Zum Schluß dieser flüchtigen Musterung der Beiträge, welche 
das 17. Jahrhundert zur Perspektive gegeben hat, mag zweierlei be- 
merkt werden: 

Erstens daß das großartige Werk von Guarini (vgl. 
Vorl., III? S.14)') nieht nur in seinem XXXIIL Abschnitt ein 
Kapitel unserer heutigen darstellenden Geometrie enthält, welches, 
wie Chasles?) hervorhob, „traittE de la projeetion sur des 
plans des lignes qui proviennent de l’intersection de la sphere, du cöne 
et du eylindre entre eux et du developpement, sur un plan, de ces courbes 
a double courbure“, sondern daß auch sein XVI. Abschnitt zu derselben 
Lehre gehört. Dieser Abschnitt behandelt nämlich unter dem Titel 
De projeeturis die früheren Arbeiten von Vitruv und Aiguillon, 
die Orthogonalprojektion auf eine Ebene und die stereographische 
Projektion einer beliebigen Figur. Der Vollständigkeit wegen soll 
auch gesagt werden, daß das in Rede stehende Werk kein Kommentar 
zu den Elementen Euklids ist, da es nicht nur von den klassischen 
Theorien der Geometrie, welche man bei Euklid, Archimed und 
Pappus findet, handelt, sondern auch die modernen, auf den Ge- 
brauch der Trigonometrie und der Logarithmen gegründeten arithme- 
tischen Methoden, um die geometrischen Probleme aufzulösen, um- 


') Sein vollständiger Titel ist der folgende: „Euclides adauctus et metho- 
dicus mathematicaque universalis Car. Em. II dicata, quae ne dum propositionum 
dependentiam, sed et rerum ordinem observat. Et complectitur ea omnia, quae 
de quantitatae tum discreta; tum continua abstracta speculari queunt. Resectis 
superfluis demonstrationibus, et requisitis omnibus profuse coadunatis. Singulis 
quoque Tractatus novis propositionibus adaucti sunt, et aliqui etiam ex integro 
adornati. Omnesque tum figuris, tum verbis clare, dilucideque propositi.“ 
Augustae Taurinorum, MDCLXXI. ?) „Apergu hist.“, Note XVII. 


594 Abschnitt XXV. 


faßt; daher findet man am Schluß desselben eine Tafel von: den Si- 
nussen und Tangenten. 

Unsere zweite Schlußbemerkung betrifft das Werk von Milliet- 
Dechales, von dem schon zweimal gesprochen wurde (III?, 5. 4—6 
und S. 15—18), welches sechs Bücher über die Perspektive enthält. 
Unter den dort bewiesenen Sätzen findet man auch den folgenden 
bemerkenswerten, oft zu Unrecht dem Lambert zugeschriebenen 
Lehrsatz: „Zwei parallele Geraden AC, BD werden von einer Trans- 
versale AD geschnitten. Durch einen Punkt ( einer dieser Geraden 
zieht man die Geraden OD, CI,... bis. sie die andere Gerade schneiden. 
Man bestimmt dann ihre Schnittpunkte F, E,... mit der Transver- 
salen Ab. Wenn man nun die beiden gegebenen Parallelen um die 
Punkte A, B rotieren läßt, so daß sie beständig parallel bleiben und 
den Punkt X, der dem Punkt © entspricht, mit den Punkten D, ],..., 
welche den Punkten @, H,... entsprechen, durch Gerade verbindet, 
so werden die Geraden KG, KH,... noch durch die Punkte F, E,... 
gehen.“ Es ist unmöglich, alle Anwendungen aufzuzählen, welche der 
Verfasser von diesem Satz macht; aber wir können nicht umhin, einige 
der wichtigen Probleme, welche er löst, wenigstens zu erwähnen; z.B. 
die Bestimmung des Fluchtpunktes aller Geraden auf der Tafel, welche 
rechtwinklig auf einer anderen Geraden dieser Tafel stehen, die Auf- 
suchung der Geraden, welche zwei untereinander rechtwinklige Gerade 
rechtwinklig schneidet, usw. | 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 


So mannigfaltig und wichtig die Beiträge sind, welche das 
17. Jahrhundert zur Perspektive geliefert hat, so sind nicht weniger 
bedeutend diejenigen, welche wir dem nächsten verdanken, in dessen 
Verlaufe diese Wissenschaft eine Höhe erreichte, über die wir heute 
noch nicht hinausgekommen sind. Der erste bedeutende Gelehrte, 
dem wir begegnen'), ist Wilhelm Jacob s’Gravesande, geboren 
am 27. September 1688 und als Leydener Universitätsprofessor am 
28. Februar 1742 gestorben, der als Herausgeber der Werke von 
Huygens und Newton unseren Lesern schon bekannt ıst (III, 





) Wir haben im Text Ozanams (vgl. III?, S. 102 und 270) keine Er- 
wähnung getan, weil seine „Perspective theorique et pratique“ (Paris 1711) 
nichts Neues, aber viel Falsches enthält. Zu bemerken ist ferner, daß in seinen 
wohlbekannten „Recreations math&ematiques et physiques“ (III. &d., Paris 1700 
‚ einige ,„Problemes d’optique“ enthalten sind, welche unsere Wissenschaft be- 
treffen. 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 595 


S.278 und 394). Die Arbeit, mit der er seine Laufbahn als Schrift- 
steller begann, ist eben diejenige, welche ihm einen Ehrenplatz in 
der Geschichte der Perspektive sichert; es ist der „Essai de perspec- 
tive“ (La Haye 1711), in welchem Johann Bernoulli sofort „plu- 
sieurs regles fort ingenieuses et tres-commodes pour la pratique, qu’on 
ne trouve pas ailleurs“!) entdeckte. Das I. Kapitel dieses Werkes 
enthält zuerst eine Abhandlung, in der er die Nützlichkeit der Per- 
spektive zu beweisen sucht und dann die Erklärungen der Grundbe- 
griffe derselben gibt. Das II. Kapitel lehrt ihre wissenschaftlichen 
Grundlagen. Zuerst beweist der Verfasser, daß „eine zur Tafel paral- 
lele Gerade auch zu ihrer Projektion parallel ist“, und daß „eine Figur, 
deren Ebene parallel zur Tafel ist, ihrer Perspektive ähnlich ist“. 
Dann folgt die wichtige Bemerkung, daß, „wenn eine Gerade die Tafel 
in einem eigentlichen Punkte schneidet, ihre Perspektive die Verbin- 
dungslinie dieses Punktes mit demjenigen ist, in welchem die Tafel 
von der Parallele geschnitten wird, welche man vom Projektionszen- 
trum jener Geraden ziehen kann“. So gelangt er zur Bestimmbarkeit 
einer beliebigen Geraden durch ihre Spur- und Fluchtpunkte (vgl 
auch Kapitel III, 3. Probl.); daraus folgt ferner, daß die Lage der 
Perspektive einer Geraden keine Veränderung erleidet, wenn das Pro- 
jektionszentrum auf einer zu jener parallelen Geraden sich bewegen 
läßt. Im III. Kapitel werden die so gefundenen Prinzipien auf die 
Konstruktion der Perspektive von Figuren angewandt, welche in einer 
Horizontalebene liegen, die Tafel ursprünglich vertikal vorausgesetzt, 
und dann durch Drehung auf die Horizontalebene umgelegt. Unter den 
sieben Verfahren, welche der Verfasser auseinandersetzt, wählen wir 
die folgenden als Beispiele. In Figur 63 ist Y der Projektionsmittel- 
punkt und O der Fußpunkt der Senkrechten, 


welche von ihm auf die Tafel gefällt wird; L | 
P ist ein beliebiger Punkt der Horizontal- Y Ye 2 
ebene und H ihre Orthogonalprojektion auf Y | 
die Tafel. Dann ist augenscheinlich die Per- AN | 


spektive von P der Schnittpunkt P’ der Nr . 
Geraden VP und OH; daher teilt er die 2 N # 
Strecke OH in dem Verhältnis VO: PH. / BEL N 





Aus dieser Beobachtung leitet s’Gravesande v | yRN y, 
die erste seiner Methoden ab. Es sei (Fig. 64) / / e: 
t die „ligne de terre“ (Schnittlinie der Ho- ae 


rızontal- und Bildebenen) und o die Parallele, welche zu ihr durch 
O gezogen ist; die Strecke OV sei zu o senkrecht und an Länge der 





') Poudra, „Histoire“, p. 484. 
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 39 


596 ' Abschnitt XXV. 


Strecke VO in Fig. 63 gleich; die Geraden OH und V_P schneiden 
sich dann augenscheinlich im gesuchten Punkte P'. Beschreibt man 
nun die Kreise, welche P resp. V als Mittelpunkte und die Strecken 
PH und UO als Halb- 
messer haben, so wird 
P’' gewiß einer ihrer 
Ähnlichkeitspunkte 
sein; daher (IV. Me- 
. thode) kann man P’ 
° auch finden als Schnitt- 
punkt zweier den beiden 
£ Kreisen gemeinschaft- 
lichen Tangenten. Be- 
trachtet man nun (VI. 
Methode) einen zweiten 
Punkt @ der Horizontal- 
ebene,um Q’ zu finden, so 
kann man sich die Tat- 
sache zunutze machen, daß die Geraden p Q und P’Q auf der Geraden £ 
sich schneiden; man bestimme nämlich den Punkt PQ.t und verbinde 
ihn mit P’,; die so entstehende Verbindungslinie wird VYQ in © 
schneiden. Betrachtet man nun, nachdem man P’ und Q bestimmt 
hat, einen dritten Punkt R der Horizontalebene, um R’ zu finden, so 
kann man den Umstand benutzen, daß PQR und P’Q’R perspek- 
tivische Dreiecke sind, mit V als Zentrum und t als Perspektivachse. 
Um auch noch über die letzte der Methoden s’Gravesandes zu be- 
richten, erwähnen wir, daß die von ihm angenommene Bildtafel recht- 
| winklig zur Horizontalebene 
steht und auf diese umgelegt 
wird; daher ist das, was 
s’G@ravesande die Projektion 
einer Figur F' nennt, eher das, 
was wir als Umlegung (F') 
derselben zu bezeichnen 
pflegen, während seine ‘(der 
Horizontalebene angehörige) 
objektive Figur unseren Augen 
als eine Horizontalprojektion F’ 
von F' erscheint; und die von 
ihm gelöste Aufgabe kommt 
der Ableitung von F’ aus (F) 
gleich: nun ist die von ihm vorgeschlagene Konstruktion von der- 











Fig. 64. 











Fig. 65. 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 597 


jenigen nicht verschieden, welche heutzutage in der Methode der Zen- 
tralprojektion angewandt wird, und an die wir durch die Fig. 65 unsere 
Leser erinnern wollen. Der Verfasser wendet seine Methoden auf die 
Bestimmung der Perspektive von Polygonen an und lehrt dann vier 
weitere Methoden zur Auffindung der Perspektive eines beliebigen 
Raumpunktes; unter diesen Methoden ist die erste besonders bemer- 
kenswert, da sie von der Betrachtung der Orthogonalprojektion des 
Punktes unabhängig ist. Das IV. Kapitel beginnt mit der Voraus- 
setzung, daß das Projektionszentrum von der Tafel sehr weit entfernt 
sei, so daß die Projektionsstrahlen als parallel angesehen werden 
können. Das V. Kapitel handelt von der Perspektive auf schiefe 
Ebenen, das folgende von derjenigen auf Ebenen, welche dem Horizont 
parallel sind, und das VII. von den Schatten. In dem folgenden kehrt 
der Verfasser zu den Problemen zurück, welche er im Anfange be- 
trachtet hat, um zu zeigen, wie die dort angegebenen Auflösungen 
zu vereinfachen sind, und im letzten wendet er die. erhaltenen Resul- 
tate auf die Gnomonik an, wobei er zu neuen und einfachen Kon- 
struktionen gelangt. Nun, das Wenige, das wir hier über diese Jüng- 
lingsarbeit des hervorragenden niederländischen Gelehrten gesagt haben, 
scheint uns zu genügen, um zu beweisen, daß er dem Zweige der 
Mathematik, dessen Entwieklungsstadien wir hier verfolgen, eine 
außerordentliche Förderung gebracht hat. 

Nicht minder wichtig und ersprießlich wurde die Wirkung, welche 
auf die Entwicklung der Perspektive ein großer Analyst ausübte, 
welcher auch eine große Rolle zur Zeit der Geburt der Infinitesimal- 
rechnung spielte; wir meinen Brook Taylor (1685—1731; vgl. III, 
S. 378). — Im Jahre 1715 veröffentlichte er eine kurze Arbeit über 
die „Linear-Perspektive“, welche vier Jahre später in verbesserter Auf- 
lage unter dem Titel „New principles of linear Perspective“ erschien; 
aber der zu gedrängte Stil des Verfassers verhinderte, daß die Künstler, 
an die das Werk in erster Linie gerichtet war, es verstanden; daher 
veröffentlichte nach Taylors Tod John Colson (1680—1760) — 
eine andere der Personen in dem Drama, in dem Leibniz und 
Newton die Protagonisten waren! — eine neue mit Berichtigungen 
und Zusätzen versehene Auflage, deren vollständiger Titel lautet: 
„New principles of linear perspective: or the Art of Designing in a 
Plane, the representation of all sort of Objeets, in a more and general 
simple Method, than has been hitherto done“ (London 1749). Die 
Lektüre dieses kurzen, aber vortrefflichen Werkes bereitet dem mo- 
dernen Leser eine der angenehmsten Überraschungen, da man, um es 
ganz kurz zu sagen, darin alle Grundbegriffe (nur etwa den „Distanz- 


kreis“ ausgenommen) und alle Methoden der Zentralprojektion vor- 
89* 


598 Abschnitt XXV. 


findet, wie man sie z. B. in dem klassischen Lehrbuch von W.Fiedler 
angeführt findet‘) Zwar finden sich einige von diesen bereits in 
älteren Arbeiten über die Perspektive; es scheint aber, daß diese 
Arbeiten Taylor ganz unbekannt waren, und daß er nur die em- 
pirischen von den Malern befolgten Regeln kannte. 

Um seine Ideen klar auseinanderzusetzen, sah sich unser Ver- 
fasser gezwungen, ein ganz neues System von Fachausdrücken zu 
schaffen, von dem wir glauben, hier eine kleine Probe geben zu 
müssen, um sie mit der modernen Nomenklatur zu vergleichen. Nach 
ihm ist die Linearperspektive die Kunst, eine beliebige Figur auf 
einer beliebigen Ebene genau zu zeichnen. Was er „point of sight“ 
nennt, ist das „Projektionszentrum“, während unser „Hauptpunkt“ von 
ihm „centre of the pieture“ genannt wird; die durch diese Punkte 
begrenzte Strecke wird von ihm, wie auch heute noch, „Distanz“ ge- 
nannt. Zieht man durch das Projektionszentrum die zur Tafel paral- 
lele Ebene („direeting plane“ = „Verschwindungsebene“), so heißen 
ihre Schnittpunkte mit einer beliebigen Geraden oder Ebene „direc- 
ting point“ (oder kürzer „direetor“) resp. „direeting line“. Die „inter- 
section“ einer Geraden oder einer Ebene ist die entsprechende Spur, 
während das Beiwort „vanishing“ unseren Fluchtelementen entspricht. 
Schon Taylor machte darauf aufmerksam, daß die „direeting“ und 
„vanishing“ Geraden einer Ebene untereinander parallel sind. End- 
lich versteht er unter dem „seat“ eines Punktes oder einer Geraden 
die entsprechende Orthogonalprojektion auf die Bildebene. Nachdem 
der Verfasser diese Definitionen vorausgeschickt hat, stellt er vier 
Lehrsätze ohne Beweis auf, die zwar nicht ohne weiteres evident sind, 
aber nicht zu seinem Thema gehören.) Sie werden sogleich auf die 
Grundsätze der Perspektive angewandt; unter diesen erwähnen wir 
den Lehrsatz, nach welchem die Geraden, welche unter sich, aber 
nicht zur Tafel parallel sind, denselben Fluchtpunkt haben?), und dab 
dieser Punkt mit dem Hauptpunkt zusammenfällt, wenn jene Geraden 
die Tafel rechtwinklig schneiden; wenn aber mehrere Geraden unter 
sich und zur Tafel parallel sind, so sind auch ihre Projektionen unter- 
einander parallel. Diese Sätze und die obigen Begriffe bilden die 





) Daß dieses Zusammentreffen „une rencontre qui n'est pas un rendez-vous“ 
ist, erhellt daraus, daß das Taylorsche Werk bis nach dem Jahre 1858 Fiedler 
ganz unbekannt blieb. Man sehe den Aufsatz desselben „Meine Mitarbeit an 
der Reform der darstellenden Geometrie in neuerer Zeit‘‘ im Jahresbericht der 
Deutschen Math.-Ver., 1905, 8. 493. . ?) Der dritte dieser Sätze ist nicht ganz 
richtig, da drei Geraden, wenn sie sich je paarweise schneiden, entweder in 
einer Ebene liegen, oder durch denselben Punkt gehen. °) Es ist im Grunde 
genommen der Satz del Montes über den Konkurspunkt. 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 599 


gesamten Werkzeuge, deren Taylor sich bedient, um alle beliebigen 
Perspektive-Aufgaben zu lösen, d.h. nicht nur die rein deskriptiver 
Natur, sondern auch diejenigen, in welchen man Orthogonalitätsbe- 
dingungen begegnet'), wie auch diejenigen, bei denen sich unter dem 
Gegebenen oder Gesuchten auch die Größen von Strecken oder Win- 
keln befinden.) Daß man auf diese Weise im Besitz der nötigen 
Mittel sei, um die Perspektive jeder Figur zu zeichnen, wird von 
Taylor an mehreren ziemlich verwickelten Beispielen gezeigt. In 
einem Anhang wird dann noch bewiesen, daß vieles von dem, was er 
auseinandergesetzt hat, auch seine Gültigkeit behält, falls die Tafel 
nicht eben ist.?) 

Der zweite Teil des besprochenen Werkes ist sehr kurz, aber 
sehr bemerkenswert, insofern er in einigen Fällen die umgekehrte 
Aufgabe der Perspektive mit Erfolg angreift. Um unseren Lesern 
eine Idee der Grenzen und der Ordnung des behandelten Stoffes zu 
geben, möge es genügen, die von ihm betrachteten Probleme anzu- 
führen: I. Es sind die Projektionen A, B, C dreier Punkte einer Ge- 
raden gegeben, wie auch der Fluchtpunkt der Geraden; es soll das Ver- 
hältnis AC: BC bestimmt werden. I. Es sind die Projektionen 
dreier Punkte A, B, C einer Geraden und das Verhältnis AC: BO 
gegeben; der Fluchtpunkt der Geraden ist zu bestimmen. III. Man 
kennt die Projektion eines Dreiecks, die Fluchtgerade seiner Ebene, 
den Hauptpunkt und die Distanz; gesucht ist die Art des Dreiecks. 
IV. Gegeben ist die Projektion und die Art eines Dreiecks, ferner die 
Fluchtgerade seiner Ebene; der Hauptpunkt und die Distanz sollen 
bestimmt werden. V. Die Projektion eines Trapezes gegebener Art 
ist bekannt; man soll die Fluchtgerade seiner Ebene, den Hauptpunkt 
und die Distanz finden. VI. Man kennt die Projektion eines recht- 
winkligen Parallelepipedons; der Hauptpunkt, die Distanz und die Art 
der Raumfigur sind zu bestimmen. | 

Wir halten es für überflüssig, die Auflösungen dieser Aufgaben 
nach Taylor zu geben, da sie von den heute üblichen nicht ver- 
schieden sind. Lieber wollen wir bemerken, daß, während die Mathe- 
matiker Taylor in den Himmel hoben, weil er es verstanden habe, 
so viel Gutes und Neues auf nur 80 kleine Seiten zusammengedrängt 
zu haben, die Künstler nicht mit ihm zufrieden waren, weil sie sein 


') Hier eine stillschweigende Anwendung der Antipolarität in bezug auf 


den Distanzkreis. *) Der von Taylor angewandte Kunstgriff besteht in der 
Umlegung der betrachteten Ebene auf die Bildtafel, d. h. es ist der auch von 
uns angewandte. °) Ein anderer von Newton inspirierter Anhang gehört 


zur Physik. 


600 Abschnitt XXV. 


Werk zu schwierig und zu wenig praktisch fanden!) Um 


nun aber seinen Fachgenossen die Anwendung der Taylorschen 


Methoden leichter zu ermöglichen, schrieb der Maler Josuah Kirby 
(1716—1774) ein zweibändiges Werk mit dem langen Titel: „Dr. Brook 
Taylors Method of Perspective made easy both in theory and prac- 
tice. In two books. Being an Attempt to make the Art of perspec- 
tive easy and familiar to adapt it entirely to the art of design; and 
to make it an entertaining study to any gentleman who shall chose 
so polite an amusement“ (Ipswich 1754). Wir wissen nicht, welche 
Aufnahme diese Arbeit gefunden hat, und ob der Verfasser seinen 
Zweck erreicht hat. Dagegen ist es aber zweifellos, daß jeder Mathe- 
matiker, der das Werk mit demjenigen Taylors vergleicht, finden 
wird, daß es einen entschiedenen Rückschritt gegen jenes bedeutet, 
da man die sehr schätzenswerten Eigenschaften von Allgemeinheit 
und Bündigkeit, denen wir beim Autor begegnet sind, beim Kommen- 
tator vergebens suchen wird. Allerdings hat Kirby das Verdienst, 
die älteren Perspektivmethoden im Zusammenhang dargestellt und 
die Anwendung derjenigen Taylors zur Bestimmung der Schatten 
auseinandergesetzt zu haben.?) 

Einen ähnlichen Zweck hat der „Traite de perspective line&aire“ 
(Paris 1771) von S. N. Michel; er ist aber praktischer und elemen- 
tarer als das Werk von Kirby, da er nur Definitionen und Beispiele 
enthält. | 

Der Beifall, mit welchem das Werk Taylors in der mathema- 
tischen Welt begrüßt wurde, findet seine Bestätigung in einigen Er- 
scheinungen, welche der Geschichtsschreiber nicht unerwähnt lassen 
darf. Zuerst das monumentale Werk „Stereography or a general 
Treatise of Perspective in all its Branches“ (London 1748) von 
H. Hamilton, welches viele Erörterungen über die Taylorschen 
Methoden enthält. Dann kann die italienische und französische 
Übersetzung des Taylorschen Werkes erwähnt werden. Der Ver- 
fasser der letzteren Arbeit?) ist uns unbekannt; der der ersteren aber 


b Vgl. Poudra, „Histoire“, p. 529. 2) Wollte man sich von der Pflicht 
befreien, der chronologischen Ordnung getreu zu folgen, so konnte man außer 
den im Texte angeführten Ereignissen noch ein anderes erwähnen, daß nämlich 
ein großer Geometer wie L. Cremona es nicht unter seiner Würde hielt, die 
Taylorschen Methoden in die moderne Sprache der Wissenschaft zu übersetzen ; 
man sehe den Aufsatz „I principi della prospettiva lineare secondo Taylor“, 
welcher mit dem Anagramm Marco Uglieni im III. Bd. (1865) des „Giornale di 
matematiche‘“ veröffentlicht wurde. ®) „Nouveaux principes de la perspective 
lineaire; traduction de deux ouvrages: l’un en anglais du “docteur-Brook 
Taylor, l’autre en latin de M. Patrice Murdoch“, Amsterdam 1759. 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 601 


ist ein Franzose, der Pater Jacquier (1711—1788; vgl. III, S. 841), 
wegen eines vortrefflichen Kommentars zuden Newton schen „Prineipia“ 
wohlbekannt, welchen er in Gemeinschaft mit Pater Lesueur (1703 bis 
1770) geschrieben hat. Auch seineBearbeitung des Taylorschen Werkes +) 
ist mit schätzbaren Anhängen versehen, von denen einige auch für 
uns in Betracht kommen, da sie mathematischer Natur sind. Der, 
welcher die Nr. 3 trägt (die Numerierung folgt der des Originals), 
bezieht sich auf die Erniedrigungserscheinung, welche die Höhe eines 
Gegenstandes darbietet, falls er sich von dem Auge des Beschauers 
entfernt, und die Bestimmung der Kurve (Hyperbel), auf welche man 
die gleich hohen Gegenstände einer Reihe verteilen muß, damit sie 
einem Beschauer als von gleicher Höhe erscheinen. Die folgende 
"Anmerkung handelt von den verzerrenden Projektionen (Anamor- 
fosi), welche entstehen, wenn der Gegenstand sich zwischen den 
Augen und der Tafel befindet; Jacquier zeigt den Zusammenhang 
dieser Lehre mit derjenigen von den Brennlinien. Der Sinn des Wortes 
„Schatten“, welchem man in der Überschrift und im Text der V. Note 
begegnet, ist derselbe, wie der von Newton (vgl. III, 5.423) ange- 
nommene, da es sich bei Jaequier um Projektionen von Figuren han- 
delt; mit jenem großen Mathematiker schließt er folgendermaßen: „Si in 
planum infinitum a puneto lueidum illuminatum umbrae figurarum 
projieiuntur, umbrae sectionum conicarum semper erunt sectiones co- 
nicae. Quaemadmodum cireulus umbra projiciendo generat omnes 
sectiones conicas, sic parabolae quinque divergentes umbris suis gene- 
rant et exhibent alias omnes secundi generis curvas.“ Um zu diesem 
wichtigen Resultate zu gelangen, bestimmt unser Verfasser die Carte- 
sische Gleichung der Kurve, die man erhält, wenn man einen Kegel 
durch eine Ebene schneidet. Dasselbe Thema wird in der folgenden 
Note behandelt, welehe die Überschrift „Von der Projektion der 
Kurven“ trägt; in der letzten endlich werden die Eigenschaften der 
ın der Astronomie angewandten Projektionen vorgetragen, d.h. die 
Projektionen einer Kugelfläche auf eine Ebene von einem Punkte der 
Oberfläche („stereographische“ Projektion) oder von ihrem Mittelpunkt 
(„gnomonische“ Projektion) aus; beiläufig gibt der Verfasser eine neue 
Auflösung der folgenden schon von Descartes und de l’Höpital 
behandelten Aufgabe: „die Kreisschnitte eines Kegels zu bestimmen, 
dessen Mittelpunkt und kegelschnittförmige Basis gegeben sind“. Aus 
alledem geht klar hervor, daß Pater Jacquier den Einfluß, welchen 
die Zentralprojektion auf die Geometrie auszuüben bestimmt war, ın 





)) „Elementi di prospettiva secondo li prineipi di Brook Taylor con varie 
aggiunte spettanti all’ ottica e alla geometria‘“, Roma 1755. 


602 Abschnitt XXV. 


seiner vollen Bedeutung erkannt hat. Ja, er hat sogar zu sehen ge- 
glaubt, daß ihr Bereich sich bis auf die Analysis erstrecken könnte, 
wie aus den folgenden Sätzen, mit denen er seinen Band schließt, 
ersichtlich ist: „Ich möchte dieses Buch mit der Bemerkung schließen, 
daß die Projektionsmethode auch bei den höchsten Rechnungen sehr 
nützlich sein kann. Die Projektion von Kurven und krummen 
Flächen bringt oft überraschende Vereinfachungen in ihrer Quadratur 
hervor. Aber dieser Gegenstand erfordert eine besondere Abhandlung, 
welche ich ans Licht zu bringen hoffe.“ Leider wurde dieses Ver- 
sprechen nie gehalten! 

Dem 18. Jahrhunderte verdanken wir ein anderes Werk über 
die Perspektive, das sich an Bedeutung mit der Taylorschen Per- 
spektive messen kann, Lamberts „Freye Perspective“. Seinem Er- 
scheinen aber gingen einige andere Arbeiten voraus, die unerwähnt 
zu lassen, unrecht wäre. 

Edmond Sebastian Jeaurat (1724—1803), zuerst „Ingenieur- 
geograph“, dann Professor an der Pariser Kriegsschule, ist der Verfasser 
eines „Traite de perspeetive“ (Paris 1750), aus dem ein kompetenter Fach- 
mann!) wertvolle neue Konstruktionen mitteilt. Später richtete er seine 
Gedanken auf die Astronomie und gedachte auf dieselbe die Methoden 
der Wissenschaft anzuwenden, mit der wir uns jetzt beschäftigen; so 
entstand die Abhandlung „Projection des Eclipses de soleil, assujetie 
aux regles de la perspective ordinaire“ (Mem. de math. et phys. pres. 
par divers sav., T. IV, Paris 1763, 5. 318—335); aber in dieser Ab- 
handlung findet der Geometer nichts, was ihn interessieren könnte, 
und auch die Astronomen lernten darin kein neues Verfahren von 
praktischem Wert kennen’). 

Einem anderen Astronomen, Nicolas Ludwig la Caille 
(1713—1762), verdanken wir die „Lecons elementaires d’optique“, 
von denen wir nicht weniger als fünf Auflagen (Paris 1750, 
1756, 1764, 1808, 1810) und eine lateinische Übersetzung 
kennen (Venedig 1774). Für uns hat gegenwärtig nur der III. Teil 
dieses Werkes Interesse, weil darin die Elemente der Perspek- 
tive mit Hilfe der Rechnung auseinandergesetzt sind. Der Ver- 
fasser nimmt drei orthogonale Koordinatenebenen, von denen die 
xz-Ebene mit der vertikal vorausgesetzten Tafel zusammenfällt; die 
xy-Ebene ist die durch das Auge geführte Horizontalebene; die 2- 
Ebene endlich geht auch durch das Auge, steht aber zu den zwei 





1) Poudra, „Histoire“, p. 501. ®) R. Wolf erwähnt wohl Jeaurat in 
seiner „Geschichte der Astronomie“ (München 1877), sagt aber von jener Ab- 
handlung kein Wort. | 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 603 


anderen rechtwinklig. Auf der Tafel wird ebenso ein rechtwinkliges 
Koordinatensystem festgestellt, dessen x-Achse mit derjenigen des 
Raumsystems zusammenfällt. Dann sind die Koordinaten x, y, z 
eines beliebigen Raumpunktes mit denjenigen #, y' seiner Projektion 
durch Gleichungen folgender Art gebunden: 
“=ad:(d+y); Y=zd:(d+y); 

wo d die Entfernung des Projektionszentrums von der Tafel bedeutet. 
»Marolais (s. oben) hatte diese schon gefunden; la Caille drückte sie 
in Worten als Proportionen aus. 

Einen ähnlichen Zweck verfolgt die Programmabhandlung „Per- 
spectivae et projeetionum theoria generalis analytica“ (Leipzig 1752) 
des berühmten Professors A. G. Kästner (1719—1800). Dasselbe 
gilt von dem „Essai sur la perspective pratique par le moyen du 
ealeul“ (Paris 1756) von Ü. Roy, „graveur en taille douce“. Roy 
weiß sehr wohl, daß schon vor ihm die Perspektive analytisch be- 
handelt worden ist, bemerkt aber, daß „il est etonnant quil ne se 
trouve nulle application du calcul dans les traites de perspective 
donnes au publie depuis quelques annees, et quil faille recourir ä 
celui de P. Tacquet, 1618, ou du P. Lamy“. Wir müssen nun 
aber bemerken, daß man wohl mit Recht daran zweifeln darf, daß 
der Verfasser die von ihm angeführten Werke gekannt habe; denn 
Taequet war im Jahre 1618 erst sechs Jahre alt, konnte daher 
weder Pater noch Autor sein; und außerdem ist in seinem uns bereits 
bekannten Buch über die Perspektive von Rechnungsanwendung über- 
haupt keine Rede; weiterhin bemerkt Montucla!) von dem „Traite 
de perspeetive“ Lamys (1640—1715), daß er „est plus fait pour les 
peintres, et plus relatif au coloris, que propre aux geometres“. Alles 
das glaubten wir nicht unbemerkt lassen zu dürfen, um die Ver- 
breitung irrtümlicher Ansichten über die Geschichte der Anwendung 
der Rechnung auf die Perspektive zu verhindern. 

Eine bedeutendere Originalität besitzt die Abhandlung „De perspec- 
tiva in theorema unum redacta“ (Bonon. Comment. III. Bd. 1755, p. 169 
bis 177). Man verdankt dieselbe Eustachius Zanotti (1709—-1782), 
einem Schüler des Eustachius Manfredi (1674—1739) und zugleich 
Nachfolger desselben auf dem Lehrstuhle der Astronomie an der 
Universität zu Bologna. Indem Zanotti sich den Gebräuchen seiner 
Zeit anschließt, betrachtet er zwei Grundebenen MS und LF (Fig. 66), 
‚die erste horizontal, die zweite (die Tafel) vertikal; er setzt ferner voraus, 
daß die Tafel zwischen dem Beschauerauge O und dem zu betrach- 
tenden Punkte N liege. Die Gerade NO schneidet die Tafel in dem 





') „Histoire des mathematiques“, T. I, 2. Aufl., p. 711. 


604 ädschniit: IXY: 


Punkte X der Projektion von N; wenn nun weiter OF und NI zur 
Tafel rechtwinklig sind, so wird X auf der Strecke IF liegen und 
dieselbe im Verhältnis OF: NI teilen. Diese Bemerkung, eine Ver- 
allgemeinerung derjenigen, die wir schon bei s’Gravesande fanden, 
führt zu einer ebenen Konstruktion des gesuchten Punktes X. Um 
zu derselben zu gelangen, ziehen wir durch N die zur Horizontal- 
ebene rechtwinklige Gerade NM und eine beliebige Hilfsgerade, die 
die Ebene MS in H schneiden möge; so entsteht ein rechtwinkliges, 
Dreieck MHN, dessen spitzer Winkel MHN die Neigung « jener 
Hilfsgeraden zu der Horizontalebene darstellt. Ist ferner ML zur 
Tafel rechtwinklig, so ist ILMN ein rechtwinkliges Parallelogramm 
und daher MN = IL. Nehmen wir nun zuletzt noch an, daß die 









































Fig. 66. Fig. 67. 


Tafel auf die Horizontalebene umgelegt werde, so wird die Fig. 67 
entstehen. In dieser ziehen wir nun die zu LQ parallele Gerade FA 
und durch M die zu LQ rechtwinklige Gerade ML; ferner verlängern 
wir die Gerade ML so weit, bis die Verlängerung LI gleich der 
gegebenen Höhe des Punktes ist; der gesuchte Punkt X wird dann 
augenscheinlich auf die Gerade FI fallen. Es sei nun ferner @ der 
Schnittpunkt von MH mit der Grundlinie LQ und ferner die Strecke 
QU=QH. Durch U ziehen wir weiter die Gerade UC, so daß der 
Winkel UCQ=« wird, und durch F rechtwinklig zu FA die 
Strecke FP, die gleich der gegebenen Entfernung zwischen dem 

Auge und der Tafel sein soll. Die Gerade PA sei zu MQ parallel 
und die Strecke AG—= AP. Zuletzt sei die Gerade AB zu PF 
"parallel und die Gerade @B zu CU. Die Geraden FI und BC 
schneiden sich dann in dem gesuchten Punkte X. Um sich 
dessen zu vergewissern genügt es, festzustellen, daß X die Strecke 
FI in dem bereits angegebenen Verhältnis teilt. Zanotti beweist 








Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 605 


dies in einer langen Erörterung euklidischen Stils, die hier wieder- 
zugeben wir für überflüssig halten. Nur sei bemerkt, daß die obige 
Konstruktion eine beträchtliche Vereinfachung erfährt, falls der 
gegebene Punkt auf der Horizontalebene liegt; in diesem Falle wird 
sie mit einer schon von s’G@ravesande vorgeschlagenen identisch. 
Gerade von diesem besonderen Falle geht nun Zanotti in 
seinem „Trattato teorieo-pratico di prospettiva“ (Bologna 1766) aus, 
welcher, nach einem Biograph Zanottis!) eine siegreiche Kon- 
kurrenz mit demjenigen von Taylor-Jacquier bestand. In diesem 
findet sich nach einem Abschnitte, „welcher die Erklärungen enthält“, 
ein zweiter mit der Überschrift „von der Ikonographie“, und 
wo die oben angeführte Konstruktion s’Gravesandes durch die 
folgende ersetzt wird: Auf der Ge- 
raden, welche durch F (Fig. 68) zur 
Grundlinie („linea della terra“) ge- 
zogen ist, trage man FD = der 
Entfernung der Augen von der 
Tafel ab und auf der Grundlinie 
selbst LO = LM; die Geraden LF 
und D®@ schneiden sich dann in 
dem gesuchten Punkte Z, da er 
die Strecke LF in dem oben an- \ 
gegebenen Verhältnisse teilt. Von \ | 
dieser Konstruktion leitet Zanotti Es 
in seinem III. Abschnitte („Von Fig. 68. 
der ÖOrthographie“) eine andere ab, 
um die Perspektive eines beliebigen Raumpunktes N zu finden, die 
einfacher ist als die in seiner vorigen Abhandlung von 1755 aus- 
einandergesetzte, und die daher eine Erwähnung verdient. Wir be- 
merken nämlich, daß aus der Fig. 66 die Proportion folgt 


NM:XZ=FL:FZ, 


und daß die Projektionen der Punkte M, N auf eine zur Grundlinie 
rechtwinklige Gerade fallen werden. Kehren wir nun zur Fig. 68 
zurück und tragen wir auf der Verlängerung von ML’ die Strecke 
LN= der Höhe des objektiven Punktes ab und verbinden F mit N, 
dann wird die Gerade FN die Gerade, welche durch Z parallel zu 
MLN gezogen wird, in der gesuchten Perspektive X von N schneiden. 
Der Kürze wegen wollen wir den Beweis für die Richtigkeit dieses 














') Man sehe den ursprünglich lateinisch geschriebenen „Elogio“ von 
L. Palcani, welcher, ins Italienische übersetzt, als Einleitung zu der 2. Aufl. 
(Milano 1825) des in Rede stehenden ‚Trattato“ dient. 


606 Abschnitt XXV. 


Verfahrens hier nicht angeben und nur bemerken, daß Zanotti auch 
die Modifikationen zeigt, welche jene Konstruktion erfordert, wenn 
das Objekt zwischen das Auge und die Tafel fällt. — Der IV. Ab- 
schnitt des betreffenden „Trattato“ enthält die bekannten, schon von 
del Monte und Stevin angeführten Sätze über die Transformation 
eines Systems paralleler Geraden durch Projektion in ein eigentliches 
Büschel oder umgekehrt. Der V. Abschnitt betrifft die Schatten, der 
VI. Abschnitt die Perspektive von Kurven mit besonderer Berück- 
sichtigung des Kreises, der VII. Abschnitt die Perspektive der regel- 
mäßigen Polyeder und der VIII. Abschnitt, welcher rein praktischer 
Natur ist, die Perspektive der Zimmerdecken und der Bühnen. Die 
zwei letzten Abschnitte sind dagegen wieder theoretisch; der eine 
enthält eine Methode zur Zeichnung der Perspektive ohne Zuhilfe- 
nahme des Grundrisses!), während der andere sich mit der Wieder- 
herstellung einer Figur beschäftigt, von der eine Perspektive be- 
kannt ist. Das Werk schließt mit einem Nachworte „über ver- 
schiedene, die Perspektive betreffende Fragen“, welche nur für Künstler 
Interesse hat. 

Mit Rücksicht darauf, daß es zweckmäßiger war, alle Bei- 
träge, welche Zanotti zur Perspektive geliefert hat, im Zusammen- 
hang zu betrachten, haben wir uns leider gezwungen gesehen, die 
chronologische Ordnung für einen Augenblick zu verlassen. Denn 
schon vor dem Erscheinen des „Trattato teorico-pratico di prospettiva“ 
war in Deutschland ein sehr originelles Werk veröffentlicht worden, 
dessen Verfasser Johann Heinrich Lambert (1728—1777)?) war. 
Während seines fast ein halbes Jahrhundert dauernden Lebens hat 
‚Lambert viele wertvolle mathematische und philosophische Arbeiten 
geschrieben, wobei er sich beständig bemüht, die Anwendungen der 
exakten Wissenschaften in das gehörige Licht zu setzen. Eine große 
und wohlverdiente Berühmtheit erlangte die Abhandlung „Insigniores 
orbitae cometarum proprietates“ (Wien 1761; Augsburg 1771), 
welche mindestens eine Erwähnung in jeder Geschichte der Geometrie 
verdiente, weil darin der schöne Satz (heute „Lambertscher Lehr- 
satz“ genannt) dargelegt wird: „In jeder parabolischen Bahnkurve 
eines Punktes hängt die Zeit, in welcher ein beliebiger Bogen be- 
schrieben wird, nur von der entsprechenden Sehne und der Summe 
der Radiusvektoren der Bogenextreme ab“. Dieser Satz hat ein 
Analogon in dem folgenden, welchen man ebenfalls Lambert ver- 





!) Wurde beim Schreiben dieses Abschnittes Zanotti etwa von Lambert 
beeinflußt, von dem wir gleich sprechen werden? ?) Seine Biographie be- 
findet sich im XXIII. Abschnitt, S. 408. 











Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 607 


dankt: „Betrachtet man in zwei Ellipsen, welche einen gemeinsamen 
Brennpunkt haben, zwei Bogen, in welchen die Sehnen und die 
Radiusvektoren gleich sind, so ist das Verhältnis der entsprechenden 
Ellipsensektoren gleich der Quadratwurzel des Verhältnisses der ent- 
sprechenden Parameter“ Lagrange und Laplace, auf die die 
Schönheit dieser Resultate großen Eindruck machte, haben versucht, 
dieselben analytisch zu begründen. Es gelang ihnen. Lagrange 
aber hat dabei gewissenhaft anerkannt, daß in diesem Falle die Geo- 
metrie Siegerin über die Analysis geblieben war. 

„Die freye Perspective, oder Anweisung jeden perspectivischen 
Aufriß von freyen Stücken und ohne Grundriß zu verfertigen“!'), 
das Werk, welches Lambert einen Ehrenplatz in der Geschichte der 
Perspektive und der modernen Geometrie sichert, zeigt auch den- 
Jenigen, welche die wissenschaftliche Physiognomie des Verfassers 
nicht kennen, deutlich, daß dieser zugleich Mathematiker und Physiker 
war, und daß er in seinen wissenschaftlichen Studien stets seinen 
Blick auf die praktischen Anwendungen richtete. Sein Hauptziel 
war, das Zeichnen von Perspektiven unabhängig von einer vorher- 
gehenden Zeichnung einer Orthogonalprojektion zu machen; es war 
ein natürlicher und wohlberechtigter Wunsch, den wir schon bei 
anderen angedeutet fanden, und den auch schon Taylor in seinem 
Werk erfüllt hatte Lambert kannte wahrscheinlich dieses Werk 
nicht, jedenfalls gab er einen neuen Weg an, um jenes Ziel zu er- 
reichen. 

Diese allgemeine Bemerkung vorausgeschickt, wollen wir nun 
die acht Abschnitte des Lambertschen Werkes durchgehen, um 
ihren Inhalt kennen zu lernen: 

I. Abschnitt. „Von den Gründen der Perspektive, und den 
Gesetzen, nach denen ebene Flächen und darauf stehende Körper 
entworfen werden.“ Als Erfahrungstatsachen nimmt Lambert 
die folgenden an: a) das Licht verbreitet sich geradlinig, b) die 
Tafel vertikal vorausgesetzt, haben die Vertikallinien eben solche 
Geraden als Projektionen. Er setzt ferner ein Beziehungs- 
system als gegeben voraus, dessen Ebenen die Tafel, die ge- 
gebene Horizontalebene und eine durch den Gesichtspunkt (oder 
das „Auge“) gehende und zu den zwei anderen rechtwinklig stehende 
' Ebene seien. Die Schnittlinie der Tafel mit der Horizontalebene 
nennt er Fundamental- oder Grundlinie („ligne de terre“ in der fran- 
zösischen Übersetzung). Die Entfernung (Fig. 69) des Auges O von 





') L Aufl., Zürich 1759; II. Aufl., ib. 1774. Man sehe auch „La perspec- 
tive affranchie de l’embarras du plan geometral“, Zurich 1759. 


608 Abschnitt XXV. 


der Horizontalebene O8, heißt die „Höhe des Auges“, der Fußpunkt 
P des von O auf die Tafel gefüllten Lotes ist der „Augenpunkt“ 
und die Länge der Strecke OP die „Entfernung“; endlich nennt er 
die durch den Augenpunkt gehende horizontale Gerade die „Horizon- 
tallinie“. @ sei der vierte Eckpunkt des rechtwinkligen Parallelo- 
gramms POSQ, C ein beliebiger Punkt der Horizontalebene und ce 
die Projektion desselben. Ist qg der Schnittpunkt der Geraden US 
mit der Grundlinie, so wird q offenbar die Horizontalprojektion von 
c sein. Wir ziehen nun durch C in der Horizontalebene eine belie- 
bige Hilfsgerade, welche die Grundlinie in M schneiden möge, und 
durch O die zu OM parallele Gerade, welche die Tafel in dem auf 
der Horizontallinie gelegenen Punkte p schneidet; p M wird die Pro- 
jektion von IM sein. Alle zu CM parallelen Geraden haben als 





















































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Fig. 69. Fig. 70. 


Projektionen Geraden, welche durch p gehen, einen Punkt, welcher 
nur von dem Winkel « abhängt, welchen sie mit der Grundlinie, oder 


von demjenigen ß = u — a („Deklination“ genannt), welchen sie mit 


einer zur Grundlinie rechtwinkligen Geraden bilden. Um eine dieser 
Geraden festzustellen empfiehlt es sich (Fig. 70) den Punkt zu geben, 
in dem sie die Gerade SQ schneidet. Dann bemerken wir als Folge 
der dargelegten Konstruktion, daß Winkel POp=QCM=Pß und 
deshalb auch Pp= OPtangß is. Wenn nun ß bekannt ist, so - 
können wir von P aus auf der Horizontallinie die Strecke OP 
tang 8 abtragen. Wir erhalten so zwei Punkte, durch deren einen @ 
die Projektionen aller Geraden der Horizontalebene, welche mit der 
Grundlinie den Winkel 8 bilden, gehen. Setzt man ferner voraus, 


daß OP=P®Q sei, so werden die Dreiecke PQp, POp kongruent 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 609 


sein und infolge dessen auch die Winkel PQp, POp und ß. Be- 
schreibt man dann auf der Tafel einen Kreis mit @ als Mittelpunkt 
und QP als Halbmesser und zieht durch g die auf der Tafel liegenden 
Geraden, welche mit @P die Winkel von 1°, 2%... bilden, so wird 
auf der Horizontallinie eine Reihe (,Skala“) von Punkten entstehen, 
welche wir entsprechend mit 1°, 2°,... bezeichnen wollen. Mit Hilfe 
dieser Skala (welche sich schon bei la Caille vorfindet) kann man 
viele Konstruktionen auf der Tafel ausführen, sobald man bemerkt 
hat, daß zwei Gerade, deren Deklinationen 8 und ß’ sind, unterein- 
ander den Winkel ’— ß bilden. Aus dieser Beobachtung ergibt 
sich, daß, wenn zwei Geraden der Horizontalebene untereinander den 
Winkel y bilden, ihre Projektionen durch zwei Punkte obiger Skala 
gehen, deren Zahlen den Unterschied 7 haben. An dieser Stelle 
führt Lambert eine nur ihm eigentümliche Nomenklatur ein, die 
aus den folgenden Sätzen erhellt: I. Zwei Gerade der Tafel, welche 
durch denselben Punkt der Horizontallinie gehen, werden „parallele“ 
genannt (weil sie die Projektionen paralleler Geraden sind). II. Eine 
auf der Horizontallinie rechtwinklig stehende Gerade heißt perpen- 
dikular (weil sie die Projektion einer Vertikallinie ist). III. Jedem 
Winkel auf der Tafel wird die Geradenanzahl zugeschrieben, welche 
der entsprechende Winkel der Tafel enthält. IV. Endlich behält auch 
das Bild jeder Strecke das Maß ihrer Länge auf der Horizontalebene 
bei. Mit Hilfe dieser Nomenklatur (welche die Grundlage einer 
„perspektivischen Geometrie“ bildet) wird die Bedeutung folgender 
von Lambert aufgelösten Aufgaben klar werden: I. Durch einen 
gegebenen Punkt eine Gerade zu ziehen, welche einer gegebenen 
Geraden parallel ist. II. Durch einen auf einer Geraden gegebenen 
Punkt eine andere Gerade zu ziehen, welche mit der ersteren einen 
gegebenen Winkel bildet. III. Wenn die Seiten einer Figur und ihre 
Lage nebst den Winkeln gegeben sind, die Figur zu entwerfen. 
IV. Die Perspektive eines Kreises zu konstruieren, von dem man eine 
Sehne kennt, die einem Bogen von gegebener Größe entspricht. 
Betreffs der Lösung der metrischen Fragen bemerkt Lambert, daß, 
wenn A’B’C’D’ ein Viereck auf der Tafel ist, und wenn A’B’ und 
C’D’ in der Horizontallinie sich schneiden, während A’C’ und B’D’ 
untereinander parallel sind, AbBCD ein Parallelogramm sein "wird 
und daher Ab=CD, AC=BD, AD=BC sind. Kennt man 
daher eine Skala, deren Träger eine zur Grundlinie parallele Gerade 
ist, so ist es leicht, jede zu derselben parallele Strecke zu messen. 
Die analoge Frage in bezug auf eine beliebige Strecke ist 
schwieriger; ihre Lösung gibt Lambert mit Hilfe des folgen- 
den Problems: „Gegeben auf der Tafel ein Winkel, dessen Seite 


610 Abschnitt XXV. 


8’Q’ horizontal ist. Der Punkt $’ ist derart zu bestimmen, daß 
RS= RQ sei“. 

II. Abschnitt. „Von der geschickten Lage des Auges und der 
Entfernung der Tafel von demselbigen.“ Bemerkungen und Ratschläge 
für die Künstler bestimmt. 

III. Abschnitt. „Von verschiedenen Instrumenten, dadurch die 
Ausübung der Perspektive verkürzt wird.“ Das hauptsächlichste Instru- 
ment, dessen Gebrauch von Lambert angeraten wird, ist der „op- 
tische“ oder „Proportionszirkel“, dessen Anwendung, wie wir gesehen 
haben (8.590), die Veranlassung zu einem Streit zwischen Desargues 
und Vaulezard um die Priorität der Erfindung gab. Lambert 
scheint diese Vorgänger nicht gekannt zu haben. Aber er war so 
überzeugt von dem Nutzen des Proportionszirkels, daß er ıhn zum 
Gegenstand einer besonderen Publikation machte.!) 

IV. Absehnitt. „Die Ausübung obiger Regeln in ausführlichen 
Exempeln.“ Hier werden die im I. Abschnitt gegebenen Vorschriften 
auf die Zeichnung der Schatten angewandt. 

V. Abschnitt. „Von der Entwerfung schiefliegender Linien und 
Flächen, und dessen, was darauf vorkommt.“ In diesem wichtigen 
Teil seines Werkes hat sich Lambert die Aufgabe gestellt, die Er- 
gebnisse des I. Abschnitts in der Weise zu modifizieren, daß sie auch 
für den Fall anwendbar sind, daß die Tafel nicht vertikal ist. Unter 
den von ihm eingeführten Begriffen mögen diejenigen von der Spur- 
(„Knotenlinie“ nach Lambert) und der Fluchtlinie („Grenzlinie“ nach 
Lambert) einer Ebene ($$ 165—167), und der Begriff der ent- 
sprechenden Punkte einer Geraden angeführt werden. Für den Fall, 
daß die Orthogonalprojektion des Gesichtspunktes auf der Horizontal- 
ebene auf die Grundlinie fällt, gibt Lambert die Anweisung, auf der 
Horizontallinie der Tafel eine Skala zu entwerfen, analog derjenigen, 
welche im I. Abschnitt konstruiert und benutzt wurde. Unter den 
zahlreichen von ihm aufgelösten Aufgaben wollen wir diejenige er- 
wähnen, welche die Gerade zu zeichnen versucht, die eine Ebene 
rechtwinklig schneidet, um den Leser darauf aufmerksam zu machen, 
daß das Lambertsche Verfahren sich vom unsrigen weiter entfernt, 
als das von Taylor angewandte. 

VI. Absehnitt. „Verschiedene Anmerkungen und Beispiele, so 
zu Erläuterung dessen dienen, was erst von der Zeichnung schief- 
liegender Flächen gelehrt worden.“ Den Praktikern gewidmet! 





1) „Kurzgefaßte Regeln zu perspektivischen Zeichnungen vermittelst eines zu 
deren Ausübung so wie auch zu geometrischen Zeichnungen eingerichteten 
Proportionalzirkels“, Augsburg; I. Aufl. 1768; II. Aufl. 1770. 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 611 


VII Abschnitt. „Von der perspektivischen Entwerfung aus 
einem unendlich entfernten Gesichtspunkt.“ Die so entstehende Pro- 
jektion wird von Lambert (nur in der 1. Auflage) „orthographisch“, 
„militär“ oder „kavalier“ genannt. Er bemerkt, daß es dasselbe sei, 
eine endliche Figur von einem unendlich entfernten Mittelpunkt aus 
oder eine unendlich kleine Figur von einem endlich entfernten Zentrum 
aus zu projizieren. Die Wichtigkeit dieser Beobachtung für die 
Lehre von den Schatten wird ausführlich dargelegt, für den Fall, dab 
die Lichtquelle im Unendlichen liegt. 

Der VII. (letzte) Abschnitt behandelt die „Umgekehrten Auf- 
gaben der Perspektive“, ein Thema, welches, wie wir sahen, schon 
von del Monte und Vaulezard gestreift wurde, und dessen theo- 
retische wie praktische Wichtigkeit außer Zweifel steht. Es handelt 
sich hier darum, die Bedingungen zu bestimmen, unter welchen eine 
gegebene Perspektive entworfen wurde, d.h. die Lage des Gesichts- 
punktes und der Tafel zu finden. Im gewöhnlichen Leben pflegt man 
diese Untersuchung durch praktische Versuche anzustellen, wenn man 
ein Gemälde betrachtet. Die Tatsache, daß Lambert jene Frage 
“ rationell lösen und ferner zwei orthogonale Projektionen eines Körpers 
aus einer Projektion ableiten wollte, hat dazu geführt, daß man 
ihn zu den Begründern der heutigen Photogrammetrie rechnet.) 
Ausdrücklich sagt er zwar nicht, daß jene Aufgabe unbestimmt ist; 
stillschweigend aber wird diese Unbestimmtheit zugestanden und 
durch Hinzufügung neuer Angaben vermindert.’) In zahlreichen und 
interessanten Beispielen wird von Lambert die Auffindung der Lage 
des Gesichtspunktes in bezug auf die vertikal vorausgesetzte Tafel 
ausgeführt. Die Lösung des obigen Problems ist keine erschöpfende 
und konnte es auch nicht sein, da die Erscheinungsformen, unter 
denen es einem begegnen kann, unendlich sind; die Fälle aber, welche 
Lambert betrachtet und behandelt, sind sehr geschickt gewählt und 
behandelt. 

Eine Fortsetzung, gewissermaßen einen Anhang zu diesen 
Abschnitten der „Freyen Perspective“ bildet eine von Lambert 
hinterlassene Abhandlung mit dem Titel: „Die vornehmsten und 
brauchbarsten Grundsätze der Perspeetive, aus Betrachtung einer geo- 
metrisch gezeichneten Landschaft abgeleitet“ (Hindenburgs Archiv 1799). 
Dieser Titel könnte den Glauben erwecken, daß diese Arbeit rein 


ı) Vgl. die schöne Rede von J. Schur, „J. H. Lambert als Geometer‘‘; 
Jahresber. der Deutschen Mathem.-Ver., Bd. XIV, 1905, 8.196. ?) Z. B. setzt 
er an einer Stelle voraus, daß ein auf der Tafel gezeichnetes Viereck die Per- 
spektive eines Quadrates oder eines Rechtecks gegebener Art sei. 

CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 40 


612 Abschnitt XXV. 


didaktischer Natur wäre; aber der folgende Auszug wird zeigen, daß 
ihr Zweck ein ganz anderer war, denn, um der Schlußkette Lamberts 
folgen zu können, ist es unbedingt notwendig, schon die Prinzipien 
der Perspektive zu kennen. Er bemerkt zunächst, daß die Maler die 
Regeln der Perspektive nicht befolgen; daher schlägt er eine Unter- 
scheidung zwischen „Landschaft“ und „Prospekt“ vor, indem er den 
letzteren Namen den Landschaften vorbehält, bei denen jene Prinzipien 
streng befolgt werden. Indem er sodann einen (aus einem Turm 
und einem Haus bestehenden) Prospekt als gegeben voraussetzt, be- 
stimmt er mit Hilfe desselben. und durch ein sehr geistreiches Ver- 
fahren den „Horizont“ und den „Augenpunkt“; dieses Verfahren 
hängt seiner Natur und seinem Zweck nach mit dem letzten Ab- 
schnitt der „Freyen Perspective“ eng zusammen. Lambert schließt 
die Darlegung derselben durch die folgende Bemerkung: „Das bloße 
Augenmaß ist bei Zeichnungen von Aussichten etwas sehr Mißliches, 
und so sehr man auch den Malern die Übung desselben einschärft 
und den Gebrauch des Zirkels untersagt, so sehr könnten die Käufer 
und Liebhaber sich ausbitten, daß wenigstens bei Zeichnungen von 
Landschaften und Aussichten der Gebrauch des Lineals und Zirkels 
nicht nur gestattet, sondern als etwas schlechthin Unentbehrliches 
gefordert werde“ Wurden diese vernünftigen Ratschläge von den 
Künstlern und ihren Mäcenaten befolgt? Wir haben Gründe genug, 
um daran zu zweifeln! 

Fünfzehn Jahre nach der Veröffentlichung der „Freyen Perspec- 
tive“ machte sich das Bedürfnis nach einer Neuauflage fühlbar. 
Lambert beschränkte sich dabei auf einige kleinere Verbesserungen 
des Textes.!) Jedoch fügte er zu dem alten Bande einen neuen hinzu, 
welcher wichtige „Anmerkungen und Zusätze“ enthält. In dem ersten 
dieser Zusätze gibt Lambert, mit freier Benutzung der Geschichts- 
werke des Montucla und Saverien, eine flüchtige Übersicht über 
die wichtigsten Arbeiten über Perspektive. In einem anderen gibt 
er kleine Zusätze zu der behandelten Lehre, welche sehr wohl auch 
im Text selbst hätten Platz finden können. Bei zwei längeren Zu- 
sätzen müssen wir einen Augenblick verweilen. In dem einen Zusatz 
(zu $ 12) setzt Lambert die zahlreichen Verfahren zum Entwerfen 
von Perspektiven auseinander, welche vor ihm bereits durch Dürer, 
Danti usw. empfohlen worden waren; andere werden von ihm selbst 
hinzugefügt. Der zweite wichtige Zusatz reiht Lambert zu den 
Begründern der „Geometrie des Lineals“”) Da wir keinen Raum 





1) Die Vermehrung der Paragraphen von 310 auf 315 ist nur scheinbar und 
die Folge eines Versehens, da dem $ 310 der $ 315 folgt. ?) Chasles, „Apergu 
historique“, p. 186; Cremona, „Geometria projettiva‘, Torino 1873, p. 123. 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 613 


haben, um den Inhalt desselben hier ausführlich wiederzugeben, wollen 
wir uns damit begnügen, die behandelten Aufgaben wiederzugeben 
und zu bemerken, daß ihre Auflösungen auf denselben Prinzipien 
beruhen, welche Lambert zur „perspektivischen Geometrie“ (m. s. 
S. 609) geführt haben: 

I. Durch vier gegebene Punkte, die nicht in gerader Linie liegen, 
sondern von denen jeder außerhalb des von den drei übrigen gebil- 
deten Dreiecks liegt, vermittels des bloßen Lineals mehrere Punkte 
zu bestimmen, die mit den vier gegebenen in dem Umkreis einer 
Ellipse liegen. (Lambert bemerkt ausdrücklich, daß die Aufgabe 
unbestimmt ist, daß sie aber durch Hinzufügung eines fünften Punktes 
aufhört, unbestimmt zu sein, und so gelangt man zu einer sehr 
leichten Konstruktion des durch fünf Punkte bestimmten Kegel- 
schnittes.) II. Wenn ein Parallelogramm gegeben ist, bloß mit einem 
Lineal durch einen gegebenen Punkt eine Linie zu ziehen, die mit 
einer gegebenen Geraden parallel ist!) II. Ein Kreis nebst seinem 
Mittelpunkt ist gegeben; auf eine gegebene Gerade von einem Punkt 
die Senkrechte mit bloßem Lineal zu ziehen. IV. Eine Linie sei in 
zwei gleiche Teile geteilt; dieselbe mit bloßem Lineal in eine beliebige 
Anzahl gleicher Teile zu teilen?) V. Es sind zwei Linien gegeben, 
welche sich in einem Punkte außerhalb der Tafel schneiden; mit 
bloßem Lineal und ohne Verlängerung dieser Linien durch einen ge- 
gebenen Punkt eine Linie zu ziehen, welche durch den Schnittpunkt 
der gegebenen Linien hindurchgeht. (Die von Lambert empfohlene 
Konstruktion ist noch heute in Gebrauch; sie stützt sich auf die har- 
monischen Eigenschaften des vollständigen Vierecks.) VI. Zwei Linien 
sind beide in zwei gleiche Teile geteilt; zu einer gegebenen Geraden 
eine Parallele zu ziehen. VII. Den Pythagoraeischen Lehrsatz mit 
bloßem Lineal perspektivisch zu zeichnen. VIII. Ein Kreis und dessen 
Mittelpunkt ist gegeben; einen beliebigen Bogen desselben in zwei 
gleiche Teile zu teilen. IX. Zwei Strecken AC und BD mögen sich 
im Punkte E derart schneiden, daß AE= E C, ED=2BE ist. Es 
soll mit bloßem Lineal ein Parallelogramm gezeichnet werden. 
X— XI. Zeichnung von Parallelen mit anderen Systemen von Daten. 
XII. Wenn der Winke] ABE gleich dem Winkel EBF ist, mit 
bloßem Lineal auf EB durch B die Senkrechte zu ziehen.) 





') Cremona, a. a. O., p. 57. ”) Ebenda, p. 58. ®) Wollte man alle 
Beiträge aufzählen, welche Lambert zur Perspektive gegeben hat, so müßte 
man auch- die kurze Arbeit „Sur la perspective aörienne“* (Nouv. Mem. de 
l’Acad. de Berlin, annee 1774, p. 74—80) erwähnen, wo die Anwendung der 
Mathematik auf die „degradation de la couleur des objets par rapport & leur 
eloignement et ä la constitution de l’atmosphere‘“ versucht wird; im Text haben 

40* 


614 “ Abschnitt XXV. 


Um unseren Lesern eine Idee der von Lambert angewandten 
Verfahren zu geben, möge die Auflösung der V. Aufgabe dienen: 
„Sind AC und BD die Geraden, die in einem Punkte außerhalb der 
Tafel zusammenlaufen, und E der gegebene Punkt; durch E ziehe 
man zwei Geraden AH, GB und dann Ab, GH, bis zu ihrem Durch- 
schnitt X; aus K ziehe man die Gerade KCD und dann CH und 
GD; ist F der Durchschnittspunkt der letzteren, so ist EF' die ge- 
suchte Gerade.“ 

Die Ideen und Methoden Lamberts, welche, wie wir sahen (8.606), 
wahrscheinlich schon auf E. Zanotti einen Einfluß ausübten, blieben 
ohne jegliche Wirkung auf einen italienischen Architekten, Maler und 
Professor Baldassare Orsini (1732—1810), welcher hier eine bei- 
läufige Erwähnung verdient als Verfasser eines dreibändigen Werkes 
„Della geometria e prospettiva pratica“ (Rom 1773), in dem wir nichts 
Neues gefunden haben. Dagegen haben jene Ideen und Methoden einen 
warmen Bewunderer an einem deutschen Universitätsprofessor Johann 
Gustav Karsten (1752—1787) (vgl. S. 357) gefunden, der aus ihnen 
die Anregung zur Abfassung eines Teils seines kolossalen (achtbän- 
digen) Werkes „Lehrbegriff der gesamten Mathematik“ (Greifswald 
1767 — 1777) schöpfte, das er während seines Professorats in Halle a.S. 
herausgab.!) Es ist der vorletzte Band (1775) dieses Handbuchs 
(„Die Optik und die Perspektive“), noch genauer sein II. Teil (3. 110 
bis 928), wo der auch vom Verfasser zugestandene Einfluß von 
Lambert unverkennbar ist”) Aber Karsten hat, wenn er auch 
Begriffe und Verfahren auseinandersetzt, die nicht sein Eigentum 
waren, in dieselben ein Element eingeführt, dessen Hilfe Lambert 
abgelehnt hatte, nämlich die Rechnung; auf diese Weise gelang es 
ihm, zu den Resultaten seines Vorgängers manches hinzuzufügen. 

Nicht alle Kapitel der genannten Karstenschen Arbeit verdienen 
eine besondere Erwähnung in einer Geschichte der Linearperspektive; 
keines aber darf von dem außer Betracht gelassen werden, der eine 





wir derselben keine Erwähnung getan, da sie eher zur Physik als zur Geometrie 
gehört (vgl. S. 580). 

1) Mit Recht bemerkt Karsten, daß die von Lambert vorgeschlagenen 
Konstruktionen so einfach sind, daß sie nicht von der Kritik betroffen werden, 
die die Inauguraldissertation A. L. F. Meisters (1724—1788) „Instrumentum 
scenographicum, cujus ope ichonographia et orthographia invenire scenographiam 
exponit‘* (Göttingen 1753) enthält. ?) Die Perspektive in das System der ge- 
samten Mathematik einzufügen, entspricht einer Gewohnheit, die man bis auf 
das Mittelalter zurückführen kann, und welcher sich, schon vor Karsten, A. G. 
Kästner (1719—1780) in seinem Unterricht getreulich anschloß; man sehe (vgl. 
S. 355) seine „Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie, ebene und sphärische 
Trigonometrie und Perspektive“ (I. Aufl, Göttingen 1758). 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 615 


klare Idee von der Arbeit sich oder anderen verschaffen will. Indem 
Karsten der Gewohnheit seiner Zeit folgt, geht er zunächst von der 
Voraussetzung aus (Il. Abschnitt), daß die Tafel vertikal, und daß 
ferner eine horizontale Ebene gegeben sei, auf welche alle betrach- 
teten Figuren orthogonal projiziert werden; er weist sofort darauf 
hin, daß, wenn man die Perspektive der Punkte jener Horizontal- 
ebene zu finden weiß (Problem der „perspektivischen Ichonographie“), 
es dann auch leicht- ist, diejenige eines beliebigen Punktes zu zeichnen 
(Problem der „Scenographie“). Nachdem er so die Wichtigkeit der 
perspektivischen Ikonographie außer Zweifel gesetzt hat, wendet sich 
der Verfasser zu ihrer Entwicklung und Anwendung (Abschnitt II 
bis IV) — wobei er interessante historische Nachrichten gibt — und 
den Gebrauch des Proportionszirkels erklärt, dessen Anwendung auf die 
Perspektive er auf Desargues zurückführt. Im V. Abschnitt werden 
in einfacher Weise die Formeln gefunden, welche die Cartesischen or- 
thogonalen Koordinaten x, y der Horizontalebene mit den Koordinaten 
t, u ihrer Perspektive verbinden; in ihrer einfachsten Form lauten 
diese Formeln folgendermaßen: 


t=Dxr:L—-x, u=Dy:L—x, 


deren Ähnlichkeit mit den bereits von Marolais und la Caille 
(s. 8. 603) gefundenen augenscheinlich ist; D und L sind gewisse 
Konstanten der Aufgabe. Im VI. Abschnitt werden die Prinzipien der 
Szenographie gelehrt und in dem folgenden die Vorschriften zur Aus- 
führung der Perspektive auf eine nicht vertikale Tafel. Hier verall- 
gemeinert der Verfasser unter anderem auch die obigen Formeln und 
erweitert so bedeutend ihr Anwendbarkeitsgebiet; z. B. lernt man so 
alle Prinzipien zur Zeichnung der Schatten, Prinzipien, welche im 
XI. Abschnitt, unter der Überschrift „Allgemeine Theorie der Seia- 
graphie“'), entwickelt sind. Nicht der Wissenschaft, sondern der 
Kunst sind die Abschnitte IX und X gewidmet. Hier werden die Vor- 
schriften gegeben, nach welchen die Lage des Augenpunktes "gewählt 
werden muß. Weiter wird auf die Übelstände hingewiesen, die ent- 
stehen, wenn man eine Perspektive von einem Punkte aus betrachtet, 
der mit dem vom Zeichner der Perspektive gewählten Augenpunkte 
nicht zusammenfällt. Um nun aber solche Übelstände vermeiden zu 
können, sind Normen nötig, die dazu befähigen, die Lage des Augen- 
punktes für eine gegebene Perspektive zu finden; sie werden im 





') Nach Karsten wurde dieser Name zum ersten Male in der Abhandlung 
von J. M. Hase (1684—1742), „Sceiagraphiae integri tractatus de constructionis 
mapparum omnis generis“ (Lipsiae 1717) gebraucht. 


616 Abschnitt XXV. 


XII. Abschnitt gelehrt, welchen man, wie den VII. Abschnitt der „Freyen 
Perspective“, als einen Teil der heutigen Photogrammetrie ansehen 
kann. In der weiteren Erörterung geht Karsten von der Voraus- 
setzung aus, daß das Projektionszentrum in das Unendliche rücke, 
und bestimmt die Modifikationen (Abschnitt XIII und XIV), welche 
die vorigen Konstruktionen, Formeln und Sätze erleiden; wir müssen 
dazu bemerken, daß unser Geometer, dem Beispiel Lamberts (I. Auf- 
lage) folgend, den Namen „orthographisch“ auf alle Parallelprojek- 
tionen anwendet. Die Abschnitte XV—XVI enthalten eine inter- 
essante Theorie von den Kegelschnitten als Perspektiven des Kreises 
betrachtet. Als eine Fortsetzung derselben können die AbschnitteXX VIII 
bis XXX angesehen werden, wo die Projektionen der Kegelschnitte 
untersucht werden und insbesondere die Frage behandelt wird, welche 
Lage man dem Augenpunkt geben muß, um von einem gegebenen 
Kegelschnitt eine Projektion gegebener Art zu erhalten. Die übrigen 
Abschnitte XIX—XXVII behandeln einen Gegenstand, welchen man 
heute lieber der mathematischen Geographie oder der Geodäsie zu- 
rechnet, nämlich die verschiedenen Arten der Projektion einer Kugel 
auf eine Ebene: stereographische, orthographische und Zentralprojek- 
tion. Es hat keinen Zweck, hier dabei zu verweilen. 

Der Erfolg des Karstenschen Werkes erhellt daraus, daß sehr 
bald der Wunsch nach einer zweiten Auflage laut wurde. Diese Neu- 
auflage wurde nach einem etwas anderen Plan hergestellt und trägt 
auch den Titel „Anfangsgründe der mathematischen Wissenschaften“ 
(1778—1786). Hier wird im IV. Band, betitelt „Die optischen Wissen- 
schaften“ (1780), die Perspektive behandelt; aber während ihr in der 
1. Auflage 818 Seiten gewidmet waren, muß sie sich in der zweiten 
mit ungefähr 100 Seiten begnügen. Die Abschnitte über die Kegel- 
schnitte und die Kugelprojektionen fehlen hier nämlich; indem so 
die Behandlung von diesen ihr fremden und hinderlichen Bestandteilen 
. befreit wird, wird sie zugleich einfacher und nähert sich den modernen 
Behandltingen dieser Disziplin. | 

Das wichtigste der elementaren Verfahren zur eindeutigen 
Darstellung einer Kugelfläche auf der Ebene wurde kurz darauf 
von einem berühmten Lehrer behandelt in seiner Antrittsvorlesung 
an der Universität Halle. Wir meinen die Abhandlung „Eine 
geometrische Entwicklung der Eigenschaften der stereographischen 
Projektion“ (Halle 1788), in der Georg Simon Klügel die 
Überlegenheit der Geometrie über die Analysis beweisen wollte in 
Fragen, welche kurz vorher Karsten mit Hilfe der analytischen 
Trigonometrie behandelt hatte. Um seinen Zweck zu erreichen, hat 
der Verfasser nicht nur die charakteristischen Eigenschaften der ste- 


Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 617 


reographischen Projektion geometrisch abgeleitet, sondern auch, durch 
Anwendung dieses Verfahrens, die Hauptfragen der sphärischen 
Trigonometrie und der Gnomonik ohne Zuhilfenahme der Rech- 
nung gelöst. 

Im Monat März desselben Jahres (1788) erschien in Verona das 
Büchlein „I. Torelli Veronensis, Elementa perspectivae libri II. Opus 
postumum recensuit et edidit J. B. Bertolini“. Sein Verfasser ist Joseph 
Torelli!), welcher in Verona am 3. November 1721 geboren wurde, 
die juristische Doktorwürde in Padua erhielt und sich dann vollständig 
der Literatur und den Wissenschaften widmete. Außer einem an Poleni 
gerichteten Briefe, welcher „De rota sub aquis eireumacta“ (Verona 
1747) handelt, hat er eine Arbeit philosophischer Natur „De nihilo 
geometrico“ (Verona 1758; vgl. Absch. XXVI) und eine andere in 
euklidischem Stil „Geometrica“ (Verona 1769) geschrieben, in welcher 
die folgenden drei Probleme aufgelöst sind: I. Durch zwei in der 
Ebene eines Kreises gelegenen Punkte einen anderen Kreis durchgehen 
zu lassen, welcher den ersten berührt. II. Gegeben zwei geradlinige 
Strecken; über denselben zwei ähnliche Kreissegmente zu beschreiben, 
deren Bogen sich berühren. UI. In einem Punkte der Quadratrix 
des Dinostratus?) die Tangente zu ziehen?). Torelli starb in 
seinem Vaterlande am 18. August 1781. Die Früchte seiner lang- 
jährigen Forschungen über die archimedischen Handschriften wurden 
von der Universität Oxford angekauft und durch A. Robertson ver- 
öffentlicht; so entstand ein prächtiger Folioband, welcher Torellı 
die Unsterblichkeit sichert. Handschriftlich hinterließ Torelli auch 
einige Kapitel über die Perspektive, wozu er als Einleitung eine Ab- 
handlung schreiben wollte, um zu beweisen, daß diese Lehre bereits 
den Alten wohl bekannt war. Sie bilden kein eigentliches Lehrbuch, 
da sie Erklärungen, aber nicht Methoden enthalten; man darf auch 
nicht verschweigen, daß die häßlichen Figuren den Text eher ver- 
dunkeln, als ihn erläutern und dazu beigetragen haben werden, das 
Buch bei den Künstlern in Mißkredit zu bringen. 





) Vgl. die Lobrede, welche der berühmte Dichter Pindemonte auf 
Torelli schrieb, und die im III. Bd. der „Mem. della Soc. It. delle Scienze‘“ (1784) 
veröffentlicht wurde. ®, Die als „quadratrice scalena‘“ bezeichnete Kurve ist 
von der gewöhnlichen Quadratrix nicht verschieden. ®, Torelli gibt den 
griechischen Text (und die lateinische Übersetzung) des Passus der „Colleetiones 
mathematicae“ von Pappus, welcher jene Kurve betrifft, nach einer Vatikan- 
Handschrift, welche wahrscheinlich dieselbe ist, welche Hultsch benutzte; 
er schlug einige Varianten vor, welche dieser Gelehrte nicht gekannt zu 
haben scheint. 


618 - Abschnitt XXV, 


Die Vorläufer Monges. 


Die „perspektivische“ Literatur des 18. Jahrhunderts, welche 
unter so guten Auspizien mit s’Gravesande begann, erreichte ihren 
höchsten Glanzpunkt mit Taylor und Lambert, fand in Zanotti 
und Karsten würdige Fortsetzer, offenbart aber dann in Torelli 
unzweideutige Zeichen eines Verfalles). Wenn auch noch einige der 
späteren Werke sich bedeutend über das Niveau der Arbeit Torellis 
erhoben haben, so kann man doch sagen, daß die Ära der Perspek- 
tive mit dem eben besprochenen Jahrhundert ihr Ende erreicht hat. 
Das hat seinen Grund darin, daß gerade an der Wende des 18. Jahr- 
hunderts ein neuer Zweig der Mathematik eine bis dahin ungeahnte 
Blüte und einen gewaltigen Ertrag hervorbrachte, welcher den bisher 
von der Perspektive eingenommenen Platz eines „Verbindungsstriches“ 
zwischen der Mathematik und den Zeichenkünsten einnehmen sollte. 
Um aber die Quelle dieses neuen mächtigen Gedankenflusses aufzu- 
decken, müssen wir um einige Jahrhunderte zurückkehren. Und, 
während wir in der Malerei die Ursprünge der modernen Perspektive 
gefunden haben, müssen wir uns nun zur Architektur wenden, um 
die Genealogie der neuen Lehre zu bestimmen und ihre Geburts- 
urkunde zu erlangen. 

Zu diesem Zweck möge zunächst bemerkt werden, daß Vitruvius, 
der berühmte Baumeister der Epoche des Julius Cäsar und Augustus, 
im I. Buch seiner „Architectura“, von der „ichonographia“ und „ortho- 
graphia“, d.h. dem „Grundriß“ und „Aufriß“ eines Gebäudes, als 
Hilfsverfahren zur Darstellung desselben, spricht; er hat diese 
Methoden wahrscheinlich von den Griechen entlehnt, hat aber das 
Verdienst, sie allgemein verbreitet zu haben, so daß seine Nachfolger 
sie ohne Ausnahme anwandten. Aber diese Urform einer sehr be- 
kannten Methode der darstellenden Geometrie gibt zwar eine leichte 
und bequeme Art an, um die dreidimensionalen Figuren darzustellen, 
zeigt aber den Weg nicht, um auf dieselben die gewöhnlichen Operationen 
der Geometrie anzuwenden. Und zwar lehrt sie es deshalb nicht, weil der 
reine Architekt dessen nicht bedarf. Aber der praktische Archi- 
tekt: muß auch die Handwerker bei der Bearbeitung des Materials, 
beim Holz- und Steinschnitt anleiten; daraus erwuchs die Notwendig- 





') Ein im 18. Jahrhundert erhaltenes Resultat rein theoretischer Natur ver- 
dient hier noch angeführt zu werden; wir meinen den Satz, daß die Ordnung 
einer Kurve durch Projektion nicht erhöht werden kann: vgl. Waring, „Pro- 
prietates curvarum algebraicarum‘ (Cantabridgae 1772), Prop. 24—26. Vgl. 
S. 522. 


Die Vorläufer Monges. 619 


keit einer neuen Hilfswissenschaft, der „Stereotomie“. Empirische 
Vorschriften dieser Lehre sind im „Traite d’architecture“ zu finden, 
welchen im Jahre 1757 Philibert de Lorme, ein Almosenier 
Heinrichs II, herausgab, ferner in den „Secrets d’architecture“ (La 
Fleche 1642) von Maturin Jousse, und vollständiger in dem Werk 
„Architeeture des voütes ou lart de trait et coupe des pierres“ 
(Paris 1634) von Pater Derand, dessen Regeln in den Abschnitt 
„De lapidum sectionum“ des berühmten „Mundus mathematicus“ 
(1674) von Milliet-Dechales übergegangen sind. Derjenige aber, 
welcher zuerst auch diesen Teil der Ingenieurwissenschaft streng 
wissenschaftlich zu behandeln begann, ist wiederum Desargues, von 
dem wir noch ein Werkchen über den Steinschnitt besitzen (Oeuvres 
de Desargues, €d. Poudra, I. Bd., p. 303—362); aber da er auch 
bei dieser Gelegenheit sich damit begnügte, seine Gedanken nur un- 
klar an einem Beispiele auseinanderzusetzen, so blieb er fast un- 
verständlich und daher ohne Einfluß, auch nachdem Bosse seinen 
verehrten Lehrer kommentiert hatte!); wer heute die Methoden von Des- 
argues kennen zu lernen wünscht, wird im Poudraschen Kommentar 
(Oeuvres de Desargues, I. Bd. p. 362—382) eine wertvolle Hilfe 
dazu finden, vermittels deren er leicht ihre Analogie mit denjenigen 
wahrnehmen wird, welche unsere darstellende Geometrie anwendet, 
um die Aufgaben von den mehrkantigen Ecken und den Polyedern 
aufzulösen. 

Das, was Desargues und Bosse nicht erreichen konnten, näm- 
lich der Stereotomie eine beständig rationelle Richtung zu geben, ge- 
lang ein Jahrhundert später Amedee Francois Frezier. Dieser, 
1682 in Chambery geboren, war von seiner Familie zum Studium 
der Jurisprudenz bestimmt; aber seine Abneigung gegen die Pandekten 
war so groß, daß er im Jahre 1700, gegen den Willen seiner Eltern, 
in die französische Infanterie eintrat; sieben Jahre später wurde er 
gewürdigt, in das Ingenieurkorps einzutreten; die französische Regie- 
rung vertraute ihm mehrere wichtige Missionen an (unter anderen 
eine nach der Insel St. Domingo im Jahre 1719); zuletzt (1740) 
wurde er Direktor der Festungswerke der Bretagne; im Jahre 1746 
wurde er zur Ruhe gesetzt und starb am 26. Oktober 1773. Gerade 
nun auf seiner Rückkehr von Amerika faßte er die Idee, das große 
Werk zu schreiben, welches seinem Namen einen Ehrenplatz auch 


') „Oeuyres de Desargues“, I. Bd., p. 470 und II. Bd., p. 4. „Bosse donna 
un systeme tout different qu’il tenoit de Desargues, lequel, par son ob- 
scurite et la nouveaute de son language, ne fut pas gout&“, bemerkt Fr&zier 
in der Einleitung eines Werkes, von dem wir bald sprechen werden. 


620 Abschnitt XXV. 


in der Geschichte der Geometrie sichern sollte. Es ist „La theorie 
.et la pratique de la coupe des pierres et des bois, pour la con- 
struction des voutes et autres parties des bätiments ceivils et militaires, 
ou Trait& de stereotomie & Yusage de Yarchiteeture“!) (vgl. III, 
S. 793) mit dem folgenden Satz des Vitruvius als Motto: „geo- 
metria plura praesidia praestat architecturae“. Frezier sieht, diesem 
Grundsatz folgend, von einer mechanischen Betrachtung vollständig 
ab und betrachtet den Steinschnitt ausschließlich vom geometrischen 
Standpunkt; infolgedessen besteht nach ihm diese Lehre aus folgenden 
Teilen: I. Untersuchung der Kurven, die entstehen, wenn Körper 
durch ebene oder nicht-ebene Flächen geschnitten werden; dieser Ab- 
schnitt der Stereotomie heißt „Tomomorphie“. II. Beschreibung von 
Kurven auf gegebenen Flächen; dies ist das Ziel der „Tomographie*, 
III. Untersuchung einfacher Methoden, um die Körper und ihre 
Schnitte auf einer Ebene darzustellen; diese Methoden, welche er 
‚unter dem Namen „Stereographie“ zusammenfaßt, sind: a) die Ikono- 
'graphie und die ÖOrthographie; b) die Abwicklung der krummen 
‘Flächen auf eine Ebene, oder „Epipedographie“?); e) die „Goniographie“. 
IV. Anwendung des Vorigen auf die Bestimmung der Flächenschnitte, 
die für den Stein- und Holzschnitt am wichtigsten sind („Tomotech- 
nik“). Diese vier Hauptteile der Stereotomie werden der Reihe nach 
in den vier Büchern des Werkes von Frezier behandelt, dessen In- 
halt wir jetzt kurz durchgehen wollen. Ä 

Das I. Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste handelt von den 
ebenen Schnitten einiger Körper, wie Kugel, Kegel, Zylinder und 
„regulär-irregulärer“ Figuren (Quadriflächen, Ringflächen, Helikoiden). 
In der Einleitung zum zweiten Teile des I. Buches bemerkt Fr£zier, 
daß Pater Courcier (1604—1692) in seinem Werke „De sectione 
superficiei sphaericae per superficiem sphaericam, cylindricae per 
cylindrieam et conieae per conicam“ (Divionae 1662) den Namen 
„eurvitegae“ den von ihm untersuchten Kurven gegeben hat; Frezier 
hat es dagegen vorgezogen, denselben Namen zu geben, welche aus 
„imbrex“ (= hohler Dachziegel) abgeleitet sind; so entstanden fol- 
gende Neologismen: „eieloimbre, ellipsimbre, ellipsoidimbre, para- 
boloidimbre, hyperboloidimbre“, Namen, welche ein moderner @eometer 





») Straßburg, t. I, 1737; t. II, 1738; t. II, 1739; 4°. 8. XVI+ 424 + 503 
+ 417 + 65, mit 27 + 68-69 lith. Tafeln. Eine II. Auflage trägt das Datum 
1769; trotz wiederholter Versuche konnten wir uns diese nicht verschaffen. Im 
Jahre 1759 wurde ein Auszug dieses Werkes, betitelt „Elements de ster&otomie 
& l’usage de l’architecture“, veröffentlicht. °) Dieser Name wurde von Lagny 
(1660—1734) vorgeschlagen; man sehe die dritte seiner Abhandlungen über „La 
goniom6trie“ in den Pariser Mem. 1727. 


Die Vorläufer Monges. : 621 


wieder in Gebrauch gebracht hat!). Von diesen Kurven, welche alle 
besondere gewundene Linien vierter Ordnung der I. Art sind, setzt 
Frezier die Grundeigenschaften auseinander. 

Der erste Teil des II. Buches lehrt, wie man den Kreis, die 
Kegelschnitte, die spirischen Linien und einige Spiralen beschreiben 
kann, ferner die Zusammensetzung von Kurven, welche die Form 
einer Ellipse oder Spirale haben; endlich die Auflösung von Auf- 
gaben, welche sich auf die Normalen von Kegelschnitten oder anderer 
geometrischer Kurven beziehen. Der zweite Teil dieses Buches han- 
delt von der Beschreibung von Kurven auf krummen Flächen; man 
begegnet hier vor allem der Definition von der orthogonalen Pro- 
jektion und der Beziehung, die zwischen einer Strecke und ihrer 
Projektion statthat, endlich die Auflösung einiger Probleme, von 
denen wir die folgenden anführen wollen: auf einer Kugelfläche einen 
Kreis zu beschreiben; die Kreisschnitte eines Kegels oder Zylinders 
zu finden?); auf einer Kegelfliche Kegelschnitte von vorgeschriebener 
Art zu zeichnen; usw. Im dritten Teil beschäftigt sich der Verfasser 
mit den unebenen Linien, die Schnittlinien von Kugel-, Kegel- oder 
Zylinderflächen sind, wobei er seine Aufmerksamkeit besonders auf 
ihre Beschreibung lenkt, welche er mittels eines Systems paralleler 
Ebenen ausführt. Wie bekannt ist dies dasselbe Prinzip, das man noch 
heute in der darstellenden Geometrie anwendet, um die Schnittlinie 
zweier Flächen zu konstruieren; aber diese Methode ist auf die 
Schraubenlinien („limaces“) nicht anwendbar, welche man auf einen 
Zylinder, einen Kegel oder eine Kugel zeichnen kann; und da 
diese Kurven sehr wichtig in der Theorie und Praxis sind, so 
lehrt Frezier, wie man sie nach besonderen Methoden beschreiben 
kann. 

In direktem Zusammenhang mit der darstellenden Geometrie 
steht das III. Buch, wo der allgemeine Begriff „Projektion“ auf die 
Darstellung vermittels der Ikonographie und Orthographie der Ge- 
wölbe angewandt wird; es erhellt daraus die Notwendigkeit, zwei 
Projektionen einer Figur zu betrachten, um dieselbe eindeutig darzu- 
stellen; über die Perspektive bemerkt unser Ingenieur (T.], S. 271), 
daß „on n’en peut tirer aucun secours pour la coupe des pierres, 
parce qu’elle change les mesures des solides representez, en diminuant 
les parties qui s’eloignent du devant du tableau“. Alles das bildet 





‘) La Gournerie, „Recherches sur les surfaces reglees tetra&drales syme- 
triques“, Paris 1867. ”) Für einen besonderen Fall dieses Problems gibt 
Frezier zwei Lösungen, welche ihm Johann und Daniel Bernoulli mit- 
geteilt hatten. 


622 Abschhitt XXV. 


den Inhalt der vier ersten Kapitel des genannten Buches; das fünfte 
ist der Abwicklung auf einer Ebene der Oberflächen von polyedrischen, 
konischen und zylindrischen Körpern und der Bestimmung der ent- 
sprechenden Gestalt, welche gegebene Linien infolgedessen annehmen, 
gewidmet. Ein letztes Kapitel löst die Aufgabe, die Diöder eines 
durch seine Flächen bestimmten Trieders zu finden; Frezier gibt 
zwei Auflösungen, die eine vermittels Umlegungen, während die 
andere von der Betrachtung des Tetraeders ausgeht, welcher entsteht, 
wenn das Trieder durch eine Hilfsebene geschnitten wird. 

Das IV. Buch, welches die zwei letzten Bände füllt, gehört eher 
der Praxis als der Theorie an, da es zum Gegenstand die „Tomotech- 
nik“ hat; dessenungeachtet finden sich im Anfang desselben einige 
Betrachtungen über die Flächen, welche diejenigen interessieren 
werden, welche die Höhe der Entwicklung, welche in jener Zeit die 
Flächentheorie erreicht hatte, kennen lernen, oder ein Verzeichnis 
der besonderen, damals bekannten Flächen aufstellen wollen!) Wir 
müssen noch bemerken, daß es Frezier gelang, die Richtigkeit und 
Nützlichkeit der Desarguesschen Methoden zu beweisen (T.II, S. 191); 
eine gründlichere Prüfung des IV. Buches des „Traite“ von Frezier 
würde ferner mit voller Klarheit zeigen, daß in ihm ein ausgedehnter 
Gebrauch von Hilfsebenen, Umlegungen usw. gemacht ist, was seinen 
Wert noch beträchtlich in unseren Augen erhöht. 

„Je sais bien“ (bemerkt traurig unser Verfasser, S. IX des 
I. Bd.) „qwaujourd’hui la geometrie lineaire n’est plus gueres & la 
mode, ä que pour se donner un air de science, il faut faire parade 
de l’analyse“; heute ist nun kein Zweifel mehr daran, daß zu der 
Umwälzung der öffentlichen Meinung zugunsten der Geometrie, welche 
an dem Ende des 18. Jahrhunderts erfolgte, Frezier das Seinige 
beigetragen hat; aber das Hauptverdienst daran gebührt doch 
dem unsterblichen Mathematiker, zu dem wir uns jetzt wenden 
wollen. 





1) Bemerkenswert ist, daß Frezier als „schiefe Flächen“ diejenigen be- 
trachtet, welche man folgendermaßen erzeugen kann: 1. durch die Bewegung 
einer Geraden, welche beständig parallel zu einer Ebene bleibt und zwei feste 
Geraden schneidet (.planolime“); 2. und 3. durch die Bewegung einer Geraden, 
welche immer eine Gerade und eine Kurve („mixtilime‘“) oder zwei Kurven 
(„doliolime“) schneidet; 4. durch die Bewegung einer Kurve, welche zwei feste 
Linien schneidet („sphericolime‘*). 


G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 623 


6. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 


Jakob Monge war ein armer umherziehender Kaufmann aus 
Beaune, einer kleinen Stadt des Departement de la Cöte d’or (Bur- 
gund), dessen ganzes Streben danach ging, seinen drei Söhnen den 
Unterricht angedeihen zu lassen, welchen das Kollegium seiner Vater- 
stadt ihnen geben konnte. Alle drei entsprachen in reichem Maße 
den Erwartungen ihres Vaters; unter ihnen aber war es der älteste, 
Gaspard, geboren am 10. Mai 1746, welcher den Namen Monge 
unsterblich machen sollte‘) Kaum 14 Jahre alt, erregte er schon die 
Bewunderung seiner Umgebung, indem er eine Feuerpumpe herstellte, 
und im Alter von 16 Jahren durch die Zeichnung eines prächtigen 
Planes seiner Vaterstad. Die Kunde von seiner hohen Begabung 
gelangte auch bis zu den Ohren der Öratoristen von Lyon, welche 
dem hoffnungsvollen Knaben den Unterricht in der Physik in ihrem 
Kollegium anvertrauten, wobei sie ihn zugleich für ihren Orden zu 
gewinnen suchten. Jakob Monge riet seinem Sohn ab und suchte 
ihn dafür zu bestimmen, die Unterstützung eines Oberstleutnants 
anzunehmen, welcher jenen Plan von Beaune voller Bewunderung 
kennen gelernt hatte und nun versuchte, dem Autor den Eintritt in 
die Militärschule des Geniekorps zu M&zieres zu verschaffen. Aber 
die niedrige Herkunft erlaubte dem jungen Monge nicht, den Offiziers- 
degen zu tragen; daher mußte er sich mit einer Stelle in der Unter- 
sektion jener Schule, die für Praktiker bestimmt war, begnügen (1765). 
In dieser Stelle hatte er sich besonders mit einer Operation zu be- 
schäftigen, welche man „defiler un fort“ nannte. Die geistreichen 
Modifikationen, welche er an den alten und sehr mühsamen Verfahren, 
nach welchen jene Operation bisher vollzogen wurde, vornehmen 





‘) Von Monge sprechen, mehr oder minder ausführlich, alle Geschichts- 
werke über das Kaiserreich und das Konsulat, wie auch die Derkschriften 
jener Zeit (vgl. z. B. „M&moires de Madame Roland“ Paris 1884, II. Bd., p. 286). 
Aber die ergiebigste und beste Quelle über sein Leben ist die geistreiche 
Lobrede, welche Arago am 11. Mai 1846 an der Pariser Akademie hielt 
(„Oeuvres completes de F. Arago“, II. Bd., Paris 1854, $. 427 ff... Man muß 
auch den „Essai sur les services et les travaux scientifiques de @. Monge“ 
(Paris 1819) von ©. Dupin heranziehen, obgleich in ihm die politische Leiden- 
schaft der Epoche sich bemerkbar macht. Andere Quellen sind im Inter- 
mediaire des math&maticiens, Bd. XII, 1905, p. 47—48, Bd. XIII, 1906, 
p. 118—119, 202—203, und Bd. XIV, 1907, p. 11—13. Diejenigen, welche die 
ganze Familie Monge, von dem Urgroßvater des großen Geometers bis zu den 
letzten Nachkommen, kennen lernen wollen, mögen auf die „Genealo gie de la 


famille de Gaspard Monge“ (Dijon et Paris 1904) von L. Morand verwiesen 
werden. 


624 Abschnitt XXV. 


wollte, Modifikationen, welche im Keime bereits die Grundbegriffe 
der darstellenden Geometrie enthielten), begegneten zuerst dem hef- 
tigsten Widerspruch seitens seiner Vorgesetzten; allein ihr Wert wurde 
endlich doch anerkannt, und nun erhielt unser Mathematiker dafür 
den Platz eines Repetitors. Gerade in diesen Jahren (1770—1773) faßte 
Monge zuerst seine epochemachenden Ideen über die Anwendung der 
Analysis auf die Geometrie (vgl. Abschn. XXIV\, bearbeitete und veröffent- 
lichte sie, damit sie ihm, in einer Zeit der Oberherrschaft der Algebra, 
als Reisepaß in das Rech der Mathematiker dienen sollten; und in 
der Tat soll, nach einer sehr verbreiteten Erzählung, n.. nach 
der Lektüre dieser Arbeiten Monges ausgerufen haben: „avec son 
application de lanalyse ä& la repr@sentation des surfaces, ce diable 
d’homme sera immortel!“ Nachdem so Monge den ersten Schritt 
in der Lehrlaufbahn, allerdings nicht ohne Mühe, getan hatte, wurden 
ihm die folgenden bedeutend leichter. Im Jahre 1768 erhielt er die 
Professur für Mathematik und drei Jahre später wurde ihm auch der 
Lehrstuhl für Physik anvertraut. 1780 übernahm er den Unterricht 
in der Hydraulik im Louvre, mit der Verpflichtung jedes Jahr sechs 
Monate in Paris zu wohnen; zugleich öffnete ihm die Akademie der 
Wissenschaften ihre Tore. Endlich wurde er, als Bezout starb, zu 
seinem Nachfolger als „Examinateur“ der Marineschüler gewählt; in- 
folgedessen siedelte er nun vollständig von Mezieres nach der Haupt- 
stadt über. 

Es ist natürlich, daß Gaspard Monge, welcher aus dem Volke 
stammte und seinen Weg durch Kastenvorurteile zur Genüge versperrt 
gesehen hatte, sich mit ganzer Seele für die Prinzipien der fran- 
zösischen Revolution begeisterte. Ein glühender und schwärmerischer 
Charakter, warf er sich blindlings in den revolutionären Strom. Er 
war Mitglied der berühmten Kommission, welche der Welt ein all- 
gemeines, auf vernünftiger Grundlage aufgebautes System der Maße 
und Gewichte gab, und wurde, nach dem 10. August 1792, Marine- 
minister im zweiten Ministerium Roland; nachdem er die Verwaltung 
reorganisiert hatte, wollte er sich zurückziehen (12. Februar 1793), 
er mußte aber auf jenem Posten bis zum folgenden 10. Mai ausharren. 
Von den Regierungsgeschäften befreit, widmete Monge seine ganze 
wunderbare Arbeitskraft der Fabrikation von Kanonen- und Flinten- 





ı) Will man das Datum für die Entstehung dieser Lehren festsetzen, so 
sei darauf hingewiesen, daß in dem „Memoire sur les proprietes de plusieurs 
genres de surfaces usw.“, welches Monge am 11. Januar 1775 der „Academie 
des Sciences“ vorlegte, die folgenden Sätze enthalten sind (p. 435—436): „les deux 
plans, l’un horizontal et l’autre vertical, auxquels on rapporte tout ce qui est 
dans l’espace par des projections orthogonales“. 


G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 625 


pulver, weil sein Vaterland damals einen großen Mangel daran hatte!), 
und der Gründung und Organisation zweier berühmter Schulen, der 
Normalschule?) und der polytechnischen Schule®?), in denen er einer 
der beliebtesten Lehrer war; in der ersteren konnte er endlich die dar- 
stellende Geometrie öffentlich vortragen. Auch an der zweiten blieb er bis 
1809 eine der größten Zierden. Von seinem Anteil an der Reorganisation 
des „Institut de France“ müssen wir brevitatis causa schweigen und 
nur daran erinnern, daß Monge nach Italien gesandt wurde, um die 
Auswahl der Gemälde und Statuen, welche nach Paris geschickt werden 
sollten, zu leiten; bei dieser Gelegenheit lernte er den General Bona- 
parte kennen, mit dem ihn von da an eine Freundschaft fürs Leben 
verband. Von Bonaparte wurde er mit der Überbringung des 
Vertrages von Campo-Formio nach Paris betraut; mit Napoleon 
ging er dann auch nach Ägypten, wo er das ERIRER d’Egypte“ 
gründete und leitete; nach Frankreich zurückgekehrt wurde er Senator 
(1799) und dann Graf von Pelouze. 

Als Bewunderer des Genies Napoleons verzieh der alte Republi- 
kaner ihm die Annahme der Kaiserkrone, und beim Lesen des berühmten 
XXIX. Bulletins des russischen Krieges erlitt er einen Schlaganfall. 
Aber er erholte sich schnell, und so finden wir ihn während der 
„hundert Tage“ wieder an der Seite Napoleons. Es blieb der 
zweiten Restauration vorbehalten, sein Ende herbeizuführen. Als er 
nämlich das Dekret erfuhr (21. März 1816), das ihn nebst Carnot 
aus der Akademie ausstieß, verfiel er in einen Zustand der Apathie, 
aus dem ihn nicht einmal der Klang der „Marseillaise“ erwecken 
‘konnte, und in dem er bis zu seinem am 18. Juli 1818 erfolgten 
Tode RR Die damalige französische Regierung vermochte es 
nicht zu verhindern, daß die Ecole polytechnique und die Akademie 
der Wissenschaften ihm glänzende Ehren erwiesen. 

Aus obiger biographischen Skizze erhellt, daß die mathematischen 
Arbeiten Monges in zwei Teile zerfallen, welche man, obgleich sie 
beträchtliche Beziehungen zueinander haben, doch getrennt betrachten 





') Vgl. Monge, „Description de l’art de fabriquer les canons“ (Paris, an IM. 
*) Diese durch ein Dekret des 9. Brumaire des II. Jahres der Republik 
(30. August 1794) gegründete Schule blieb nur während der vier ersten Monate 
des folgenden Jahres am Leben; Lagrange und Laplace lehrten an ihr Mathe- 
matik, Monge, mit Hilfe von Lacroix und Hachette, die darstellende Geo- 
metrie. Vgl. den prächtigen Band „Le centenaire de l’Ecole normale“ (1795 bis 
1895), Paris 1895. °) Vgl. Jacobi, „Über die Pariser polytechnische Schule“ 
(Werke, VII. Bd., Berlin 1891, 8. 335—370). Der Organisationsplan dieser be- 


rühmten Anbei ist im III. Cahier des „Journal de l’Eeole polytechnique“ zu 
finden. 


626 Abschnitt XXV. 


muß; der eine umfaßt die Arbeiten über die darstellende Geometrie, 
der andere diejenigen über die Anwendung der Analysis auf die 
Geometrie, worüber man im vorigen Abschnitte ausführlich be- 
richtet hat. 

Zu Beginn unseres Berichtes über die Arbeiten der ersten Gruppe 
muß man daran erinnern, daß Monge auf dieselben durch die An- 
wendungen geführt wurde, welche man mit der neuen Methode auf 
die militärische Topographie machen konnte. Und hier liegt auch 
der Grund zu dem Verbot der Veröffentlichung der neuen Methoden, 
welches bis 1795 (Gründung der Normalschule) aufrecht erhalten 
blieb. Diese Methoden verbreiteten sich über die Grenzen Frank- 
reichs hinaus in der ganzen gelehrten Welt, als er drei Jahre später 
das Werk veröffentlichte: „Geometrie descriptive. Lecons donnees aux 
Ecoles normales, ’an 3 de la Röpublique. Paris, an VIL“) 

In dem „Programm“, womit dieser Band beginnt, wird die neue 
Lehre, welehe Monge ihren Namen und die Würde einer Wissen- 
schaft verdankt, als eins der Mittel hingestellt „pour tirer la nation 
francaise de la dependence oü elle a etE jusqu’a present de industrie 
trangere“?); in Wirklichkeit aber wird sie, gemäß den Zwecken der 
Schule, an welcher Monge lehrte, in der Sprache der reinen Wissen- 
schaft auseinandergesetzt. Diese erhabene Richtung zeigt sich schon 
klar auf den ersten Seiten, wo der Verfasser, nachdem er die zwei 
Ziele der darstellenden Geometrie (Darstellung der dreidimensionalen 
Figuren auf einer Ebene, Ableitung der Eigenschaften einer Figur 
aus einer Darstellung derselben) aufgestellt hat, sich zur Methode der 
doppelten Orthogonalprojektion wendet, indem er sich die Frage stellt, 
welches die besten Beziehungselemente seien, um die Lage eines Raum- 
punktes zu bestimmen. Können drei Punkte dazu dienen?- Nein, 
weil zwei Punkte existieren, welehe gegebene Entfernungen von drei 
gegebenen Punkten haben. Können drei Geraden dazu dienen? Nein, 
weil acht Punkte vorhanden sind, welche gegebene Entfernungen von 
drei Geraden haben.) Können drei Ebenen dazu dienen? Ja! Denn, 
wenn es auch acht Punkte gibt, welche gegebene Entfernungen von 





1) Die „Geometrie deseriptive“, welche ins Deutsche von G. Schreiber 
frei übersetzt wurde („Lehrbuch der darstellenden Geometrie nach Monges 
Geometrie deseriptive vollständig bearbeitet‘; Karlsruhe und Freiburg 1828), 
wurde kürzlich in die Sammlung „Ostwalds Klassiker der exakten Wissen- 
schaften‘ (Nr. 117) aufgenommen; die (treue) Übersetzung und die Noten gehören 
R. Haußner an. 2) Anderswo (Journal polytechnique, T. I, p. 1) wird sie als 
„une espece de langue necessaire ü tous les artistes‘‘ bezeichnet. °) In einer 
Note am Ende des Bandes wird die Existenz solcher Punkte erklärt, aber nicht 
bewiesen. 


G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 627 


drei Ebenen haben, so kann man durch eine geschickte Vorzeichen- 
wahl doch alle diese auf einen reduzieren: es ist das System, welches 
die analytische Geometrie des Raumes gewöhnlich anwendet. „Mais 
dans la geometrie deseriptive, qui a ete pratiquee depuis beaucoup 
plus longtemps par un beaucoup plus grand nombre d’hommes, et 
par des hommes dont le temps &tait precieux, les procedes se sont 
encore simphfies; et au lieu de la consideration des trois plans, on 
est parvenu, au moyen des projections, ä n’avoir plus besoin expli- 
citement que de celle de deux.“ Und hier stellt nun der Autor den 
Begriff der „Orthogonalprojektion“ auf und beweist die Nützlichkeit 
der Anwendung zweier untereinander rechtwinkliger Projektionsebenen, 
einer horizontalen und einer vertikalen, welche man durch Drehung 
um ihre Schnittlinie') zusammenfallen läßt. Die zwei Projektionen 
eines beliebigen Punktes fallen infolgedessen immer auf eine zu dieser 
Schnittlinie rechtwinklig stehende Gerade; und Monge gibt eine vor- 
teilhafte und noch heute angewandte Methode zur Bestimmung der 
Entfernung zweier Punkte, deren Projektionen bekannt sind. Nach- 
dem die Methoden festgestellt sind, nach denen man die Punkte und 
die Geraden darstellen kann, müßte man mit denjenigen sich beschäf- 
tigen, welche man auf die Polyeder anwenden könnte; dafür aber 
existiert kein allgemeines Verfahren, eine Tatsache, bemerkt Monge, 
ähnlich derjenigen, die die Algebra darbietet, in der es keine sichere 
und allgemeine Methode gibt, um eine Aufgabe in eine Gleichung 
umzusetzen; dies ist nicht der einzige Berührungspunkt zwischen den 
beiden Wissenschaften, und daher gibt Monge den Rat, die beiden 
gleichzeitig zu studieren. 

Kein neues Prinzip ist nötig, um durch zwei Projektionen eine 
Kurve darzustellen. Um aber eine Fläche darzustellen, muß man 
seine Zuflucht zu ihrer (unendlich vieldeutigen) Erzeugbarkeit durch die 
Bewegung einer (i. A. auch in der Form veränderlichen) Kurve nehmen. 
Um daher eine Fläche darzustellen, stellt man ein System ihrer 
Kurven dar; ja, es ist sogar nützlicher, zwei solcher Systeme darzu- 
stellen, die man derart wählen soll, daß durch jeden Punkt der Fläche 
eine Kurve jedes Systems geht. Die konischen, die zylindrischen 
und die Rotationsflächen bieten interessante Erklärungen dieser Dar- 


') Diese Gerade wird nicht von Monge „ligne de terre“ genannt, wie 
Chr. Wiener (o. a. W., 1. Ba., S. 25) meint; sie wird immer durch die Buch- 
staben LM bezeichnet. Wir wollen noch bemerken, daß die zwei Projektionen 
eines Punktes P von Monge mit pP, P bezeichnet werden; das jetzt übliche 
System P’, P” findet sich schon bei Lacroix und Brisson in ihren sogleich 
zu nennenden Veröffentlichungen. 

CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 41 


628 Abschnitt XXV. 


stellungsmethoden; dasselbe gilt von den Regelflächen, deren Erzeu- 
gung durch die Bewegung einer Geraden, welche drei feste Direktrizen 
beständig schneidet, im I. Anhang zur 1. Auflage der „Geometrie de- 
scriptive“ gelehrt wird. Das Verfahren zur Darstellung der Erzeugen- 
den einer solchen Fläche war von Monge schon 20 Jahre vorher in 
der Abhandlung „Memoire sur les proprietes de plusieurs genres de 
surfaces courbes“ (p. 435) bekannt gemacht; es ist zu bedauern, daß 
dieses Verfahren nicht nach Verdienst bekannt geworden ist, da es 
in einer Arbeit enthalten ist, welche scheinbar mit der darstellenden 
Geometrie nichts zu tun hatte. 

Die einfachste aller Flächen ist die Ebene, welche man durch 
die Bewegung einer Geraden erzeugen kann, die eine andere Gerade 
immer schneidet und einer dritten parallel ist; als bestimmende Ge- 
rade einer Ebene ist es ratsam, diejenigen zu wählen, in welchen die 
betrachtete Ebene die Projektionsebenen schneidet; sie bilden die 
„traces“ (Spuren) der Ebene, ein von Monge vorgeschlagener und 
allgemein angenommener Name. 

Diese Begriffe erlauben, eine große Menge wichtiger Probleme 
aufzulösen; unter den unendlich vielen, die man behandeln könnte, 
wählt Monge die neun folgenden aus: Durch einen Punkt die 
Gerade zu ziehen, welche einer anderen parallel ist oder eine 
Ebene rechtwinklig schneidet, oder die Ebene, welche einer anderen 
parallel ist oder eine andere Gerade rechtwinklig schneidet (I—IV); 
die Schnittlinie zweier Ebenen zu finden (V); den Winkel zweier 
Ebenen, zweier Geraden oder einer Ebene mit einer Geraden zu be- 
stimmen (VI—VII); einen Winkel am Horizont zu reduzieren (IX). 
Wenn man auch über die Reihenfolge und die Auswahl solcher Fragen 
einen gewissen Vorbehalt machen kann (da nicht immer die schwie- 
rigeren den einfacheren folgen, und man nicht verstehen kann, warum 
z. B. die Bestimmung der Schnittlinie zweier Ebenen ex professo behan- 
delt wird, während dies für den Schnittpunkt einer Ebene mit einer 
Geraden nicht geschieht), so muß man doch anerkennen, daß die Auf- 
lösungen so geistreich und von so wunderbarer. Einfachheit sind, 
daß die Epigonen Monges i. A. keine besseren zu finden ver-. 
mochten; die schönste unter allen scheint uns die allgemein bekannte 
des VI. Problems zu sein. 

Mit dieser Aufgabe schließt der I. Abschnitt. Der II. Abschnitt 
handelt von den Berührungsebenen und den Normalen der Flächen. 
Die Berührungsebene in einem Punkt einer Oberfläche ist bestimmt 
durch die Tangenten in jenem Punkte an die entsprechenden zwei 
Erzeugenden (s. 0.) derselben; daß die Ebene von der Wahl der Er- 
zeugenden unabhängig ist, wird von Monge nicht bewiesen, ja nicht 


G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 629 


einmal gesagt!); daß der Begriff der Berührungsebene auch bei der 
Anwendung nützlich sei, wird an zwei Beispielen gezeigt, von denen 
er das eine aus der Malerei, das andere aus der Gewölbekonstruktion 
entlehnt. Dann wendet er sich zu der Konstruktion von Berührungs- 
ebenen an zylindrischen, konischen und Rotationsflächen mit vertikal 
vorausgesetzter Achse; von den Tangentenebenen der Regelflächen 
handelt der III. Anhang zur 1. Auflage. Es folgt dann die Bestim- 
mung der kleinsten Entfernung zweier schiefen Geraden, welche 
Monge durch die Berührungsebene eines Kreiszylinders ausführt; die 
Ausführung einer elementaren Konstruktion dieser Entfernung wird 
dem Leser als Übung überlassen. 

Der Verfasser wendet sich dann zur Bestimmung von Berührungs- 
ebenen, deren Berührungspunkt nicht gegeben ist. Die erste Aufgabe 
dieser Art versucht die Ebenen zu finden, welche durch eine gegebene 
Gerade gehen und eine gegebene Kugelfläche berühren; Monge gibt 
zwei Auflösungen: 1. durch Umlegung der Ebene, welche senkrecht 
zur Geraden ist und durch den Kugelmittelpunkt geht, oder 2. durch 
Betrachtung des Kegels, welcher diese Kugel von einem Punkt 
jener Geraden aus projiziert. Mit dieser zweiten Auflösung wird die 
Darlegung der Haupteigenschaften der Polaren in bezug auf Kreise, 
Kegelschnitte und Quadriflächen verbunden?). Auf das obige Problem 
können diejenigen zurückgeführt werden, welche darin bestehen, 
durch einen Punkt die Ebene zu ziehen, welche entweder zwei Kugel- 
flächen oder drei Kugelflächen berührt: An das letztere knüpft 
Monge die Darlegung der charakteristischen Eigenschaften der Ähn- 
lichkeitspunkte von Kreisen?) oder Kugeln‘) an. Die Bestimmung 
der Ebenen, welche durch einen Punkt gehen und einen Kegel oder 
Zylinder berühren, ist der Zweck der zwei folgenden Aufgaben, wäh- 
rend der inhaltsreiche Abschnitt mit der Konstruktion der durch 
eine gegebene Gerade gehenden Berührungsebenen einer Rotations 
fläche mit Vertikalachse schließt. Diese Aufgabe wird von Monge 
wie noch heute, durch Benutzung der Fläche aufgelöst, die durch 
Drehung der gegebenen Geraden um die Achse der Fläche er- 
zeugt wird. 





') Der erste Versuch, die Existenz der Berührungsebene geometrisch zu be- 
weisen, findet sich bei C. Du pin, „Developpements de g&om6trie“ (Paris 1813), p. 7. 
) Vgl. E. Kötter, „Die Entwicklung der synthetischen Geometrie“; Bd. V 
des Jahresber. der Deutsch. Math.-Ver., S. 48, 88 und 112. »s, Nach N. Fuß 
(Nova Acta Petrop., T. XIV, 1805) wurde Monge von d’Alembert inspiriert. 
*) In den diesbezüglichen Sätzen findet man einige Unrichtigkeiten, da Monge 
die Ebenen nicht betrachtete, von denen jede zwei innere und vier äußere Ähn- 
lichkeitspunkte enthält. 

41* 


630 Abschnitt XXV. 


„Die Schnittlinien krummer Flächen“ bilden das Thema des IV.Ab- 
schnittes unseres Werkes. In der Einleitung zu demselben verweist 
Monge auf die bereits früher von ihm skizzierten Ideen betreffs der 
vollkommenen Übereinstimmung, welche zwischen den Operationen 
der Algebra und denen der darstellenden Geometrie besteht, und 
schließt mit der folgenden Bemerkung: „I faut que l’eleve s’accou- 
tume de bonne heure & sentir la correspondance qu’ont entre elles 
les operations de l’analyse et celle de la geometrie; il faut quil se 
mette en etat, d’une part, de pouvoir &crire en analyse tous les 
mouvements qu'il peut concevoir dans l’espace, et, de l’autre, de se 
representer perpetuellement dans l’espace le spectacle mouvant dont 
chacune des operations analytiques est l’@criture“. Nach diesen allge- 
meinen Betrachtungen setzt er die allgemeine Methode auseinander, 
um die Schnittlinie zweier Flächen F” und F” punktweise zu zeichnen; 
der von Monge vorgeschlagene Kunstgriff ist derselbe, dessen wir uns 
heute noch bedienen; er besteht darin, daß man die gegebenen Flächen 
durch eine Reihe von Hilfsflächen F' schneidet und die Kurven 
FF’ und FF”, wie auch deren Schnittpunkte bestimmt. Wechselt 
man F' so wechseln auch diese Punkte, und so wird die verlangte 
Kurve F’F” erzeugt. Im allgemeinen empfiehlt es sich, als Hilfs- 
flächen horizontale oder vertikale Ebenen zu wählen; wenn aber F’ 
und F” Kegel oder Zylinder sind, so ist es vorteilhafter, andere 
Ebenen zu wählen; und wenn die Achsen zweier Rotationsflächen sich 
schneiden, so ist es das beste, F' kugelförmig anzunehmen. Die von 
Monge untersuchten Fälle dieses aflgemeinen Problems beziehen sich 
auf die Schnittlinien von Kegeln, Zylindern und Rotationsflächen, die 
sich entweder untereinander oder mit Ebenen schneiden; von den so ent- 
stehenden Kurven werden nicht nur die Projektionen der Punkte und 
Tangenten bestimmt, sondern, wenn es sich um Schnitte durch Ebenen 
handelt, auch die wahre Form und Größe (durch Umlegungen), oder 
ihre Abwicklung, falls sie auf Kegeln oder Zylindern beschrieben 
sind. Im allgemeinen ist dies alles in die folgenden Lehrbücher der 
darstellenden Geometrie ohne wesentliche Veränderungen übergegangen. 
Zu bemerken ist noch, daß Monge mehrmals von der Veränderung 
der Projektionsebenen spricht, ohne aber eine Anweisung zu geben, 
wie man dieselbe ausführen kann. Zum Schluß des besprochenen 
Abschnittes legt Monge die Robervalsche Tangentenmethode dar, 
ohne die Grenze ihrer Anwendbarkeit zu bestimmen); er versucht 
auch, sie auf den Raum auszudehnen; die Kurve aber, welche er 





) Vgl. Duhamel, „Note sur la methode des tangentes de Roberval‘ 
(Mem. des Sav. Etr., t. V, Paris 1838, p. 257—266). 


G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 631 


als Beispiel wählte, ist nicht gewunden'!) und die Anwendung selbst 
bedeutungslos! 

Die Nützlichkeit obiger Konstruktionen für die Auflösung von 
Aufgaben von besonderem theoretischen und praktischen Interesse 
wird von Monge im IV. Abschnitte seines Werkes klar bewiesen, 
wo drei rein theoretische und drei praktische Aufgaben elegant auf- 
gelöst werden. : 

Die ersteren haben zum Zweck die Bestimmung der Mittel- 
punkte der Um- und Inkugel eines Tetraeders und die Bestim- 
mung der Punkte, deren Entfernungen von drei gegebenen Punkten 
gegeben sind (das analoge Problem der Bestimmung der Punkte, 
welche gegebene Entfernungen von drei gegebenen Geraden haben, 
wird dem Leser zur Übung aufgegeben). 

Die übrigen drei Aufgaben betreffen die Vervollständigung einer 
topographischen Karte durch Winkelbeobachtungen von Bodenpunkten 
oder einem Ballon aus; gewiß sind sie während Monges Aufenthalt 
in Mezieres entstanden. Bei diesen Aufgaben zeigt sich Monge mit 
der Methode der kotierten Projektionen in ihrer Anwendung auf die 
Topographie sehr vertraut, was nicht verwundern kann, da jene Me- 
thode in der Schule zu M&zieres allgemein bekannt sein mußte. In 
der Tat ist es zwar wahr, daß der Geograph Ph. Bouache 
(1700— 1773) die Niveaukurven (1738) einführte?), aber es war doch 
Chätillon?), der erste Direktor jener Schule, der auf die Idee kam, 
die bemerkenswerten Punkte eines Bodenstückes durch ihre Ortho- 
gonalprojektionen und ihre entsprechenden Höhen zu bestimmen; es 
war ferner ein anderer Genieoffizier, Milet de Mureau, welcher auf 
den Einfall kam, durch ein ähnliches Verfahren die Vertikalschnitte 
des Bodens darzustellen. Es sei zuletzt noch bemerkt, daß die Unter- 
suchungen von Monge über die Tangentialebenen topographischer 
Flächen L.G@.Dubuat-Nancay (1732—1787) dazu führten, die Ebenen 
durch ihre Geraden größter Neigung darzustellen; Monge selbst hat 
diese Darstellungsmethode auf beliebige Flächen ausgedehnt. 

Nach dieser Abschweifung über die erste Entwicklungsstadie der 
Methode der kotierten Ebenen wollen wir zu unserem Hauptthema 
zurückkehren und bemerken, daß Monge jene praktischen Probleme 
auf die Bestimmung der Punkte zurückführt, welchen, drei Rotations- 
kegel oder drei Ringflächen mit parallelen Achsen gemeinschaftlich 
sind; die letzte Aufgabe, von der Monge irrtümlich annahm, daß sie 





') Eine Bemerkung von R. Haußner; vgl. $. 626, Fußnote 1. 2, J. de 
la Gournerie, „Discours sur l’art du trait et de la geometrie descriptive“, Paris 
1855, p. 22. °) Das Folgende ist aus dem o. a. „Essai“ von Dupin entnommen, 


632 BR Abschnitt XXV. 


64. Grades sei, wurde im nächsten Jahrhundert der Gegenstand längerer 
und fruchtbarer Untersuchungen in der Schule von Nicola Fer- 
gola.t) 

Mit dem IV. Abschnitt endet der Teil des Mongeschen Werken; 
welcher streng genommen zur darstellenden Geometrie gehört und, 
wie der Verfasser richtig bemerkt, in allen höheren Schulen gelehrt 
werden müßte; das übrige ist ein Abriß der Häupteigenschaften der 
Kurven, Developpabeln und beliebigen Flächen. Hier bemüht sich 
Monge die Bekanntschaft der Begriffe zu verbreiten, welche er in 
dem „Mö&moire sur les developpdes, les rayons de courbure et les 
diff6rents genres d’inflexion des courbes & double courbure“ (Mem. 
pres. par div. savants, T. X, 1785; vgl. oben S. 531) und in den 
anderen Abhandlungen festgestellt hatte, die die Grundlage seiner 
„Application de lanalyse ä la geometrie* bilden (vgl. den. vorigen 
Abschnitt). Mit sichtbarem Vergnügen verweilt er bei den Haupt- 
eigenschaften der Krümmungslinien der Flächen‘), um dann auch 
die Anwendungen bekannt zu machen, welche man davon beim Stein- 
schnitte (Gewölbekonstruktion) machen kann. 

Aus diesem Berichte über das erste Lehrbuch der dar- 
stellenden Geometrie erhellt, daß es nach unseren heutigen 
Besriffen nicht vollständig genannt werden kann?); in einigen seiner 
Teile erscheint es dessenungeachtet als durchaus vollkommen, indem 
es u.a. die Keime aller Lehren enthält, welche später in diesem 
Zweige der Mathematik aufgetaucht sind. Aber der, welcher glaubt, 
daß es eine erschöpfende Darstellung der Kenntnisse Monges 
in demselben sei, würde einen groben Irrtum begehen. In 
der Tat hat Monge, nach Hachettes Bericht?), die alte Aufgabe 
der „kürzesten Dämmerung“ verwandelt in die Untersuchung der 
Ebenen, welche zwei konzentrische Kegel zugleich berühren. Ferner 
findet man in dem Aufsatz, mit welchem das „Journal polytechnique“ 
(Mois de Germinal, an III) beginnt, mehrere andere Probleme er- 
wähnt, welche den Schlag der arten Ecole polytechnique zur 
Auflösung vorgelegt wurden, z. B. die Aufgaben über das Trieder 





) Vgl: G. Loria, „Nicola Fergola e la scuola di matematici che lo ebbe a 
duce“, $5 des IV. Kap. 2) Man sehe auch den berühmten Aufsatz „Sur les 
liones de courbure de Vellipsoide“ (Journ. de l’Ec. pol., II. Cah., p. 145—165), 
wo solche Krümmungskurven sorgfältig gezeichnet sind. ®) ai unvollständig 
erschien sie Hachette, welcher die Notwendigkeit der „Suppl&ments‘ erkannte, 
die er dann in den Jahren 1811 und 1818 herausgab. *) „Du plus petit crepus- 
cule‘“ (Corresp. sur l’Ee. pol, T.I, p. 148—151). Vgl. K. Zelbr, „Das Problem 
der kürzesten Dämmerung“, Zeitschr. f. Math. u. Phys., 41. Bd., 1896, Hist.-lit. 
Abt., insbesondere S. 153 —156. 


G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 633 


„ce qui comporte toute la trigonometrie spherique“!); weiter die Dar- 
stellung des regulären Dodekaeders?) und die Konstruktion der Ge- 
raden oder Ebenen, welche durch einen gegebenen Punkt gehen und 
gegebene Neigungen zu den Projektionsebenen haben; endlich die- 
Rotationsflächen, welche im Monges Buch immer durch die Rotation 
ebener Kurven erzeugt werden, werden im Aufsatz durch beliebige 
Kurven beschrieben. Zu den behandelten Flächen gesellen sich noch 
die Quadriflächen, die Konoiden und einige Helikoiden. Andere Pro- 
bleme findet man in den Nachrichten über die Mongeschen Vor- 
lesungen, welche man Eisemann’) verdankt‘). Es handelt sich 
hier um neue Fälle der Aufgabe, die Schnittkurve zweier Flächen 
zu finden, einige neue Schraubenflächen (z. B. die Schraube von 
St. Giles) und einige elementare Aufgaben, welche man vermittels der 
Flächendurchschnitte auflösen kann. Aus diesen Nachrichten er- 
sieht man, daß in jenen Vorlesungen auch Fragen der angewandten 
darstellenden Geometrie behandelt wurden, wie z. B. die Schatten- 
lehre und die Perspektive; die von Monge dazu angewandten Me- 
thoden fanden sich auf einigen Blättern kurz skizziert, die nach 
Monges Tod glücklicherweise in die Hände seines bedeutenden und 
von ihm sehr geliebten Neffen und Schülers B. Brisson. (1777 bis 
1827) fielen; dieser hat sie einer genauen Durchsicht unterzogen und 
dann in die 4. Aufl. (1820) der „Geometrie deseriptive“ aufgenommen. 
Es ist unsere Pflicht, etwas darauf einzugehen. 

Setzt man voraus, daß die Lichtquelle ein Punkt O sei, und daß 
alle zu betrachtenden Körper undurchsichtig seien, so kann man, wenn 
sie Polyeder sind, die Aufgabe der von diesen Körpern auf Ebenen ge- 
worfenen Schatten durch Anwendung der Grundaufgaben der dar- 
stellenden Geometrie leicht auflösen; auf dem Körper ist der beleuch- 
tete Teil von dem dunklen durch ein schiefes Polygon abgesondert, 
welches man bestimmen kann auf Grund der Lage des Polyeders in 
bezug auf 0. Wenn es sich aber um einen durch eine krumme 
Fläche begrenzten Körper handelt, so ist die Trennungslinie eine 
sehr wichtige Kurve, welche Monge in einer Abhandlung des Jahres 
1775 schon betrachtet, und der er auf p. 694 seines „M&moire sur la 
theorie des deblais et de remblais“ (Mem. de. Paris 1781) den 





') Vgl. auch Hachette, „Solution complete de la pyramide triangulaire‘ 
(Corresp. sur l’Ec. pol., T. I, p. 41—51). ?) Es mag hier erinnert werden, daß 
die Perspektive der regulären (konvexen wie auch Stern-) Polyeder sich schon 
(1568) bei W. Jamitzer (Bd. II?, S. 582) findet. ®) Es ist der Gelehrte, dem 
man eine partielle Ausgabe von Pappus (vgl. Pappus ed. Hultsch, S. XVID 
verdankt. *) Journal de l’Ee. pol., II. Cah., p. 100—106, III. Cah., p. 440—442, 
IV. Cah., p. 619-622. 


634 Abschnitt XXV. 


Namen „ligne de contour apparent d’une surface“ gegeben hatte, 
welchen sie beibehalten hate. Um diese Linie zu konstruieren, 
zieht man von O Ebenen o, welche wir der Bequemlichkeit halber 
auf einer Projektionsebene normal annehmen wollen; jede schneidet 
die Fläche in einer Kurve, welche konstruierbar und darstellbar isty die 
Berührungspunkte der von O an I’ geführten Tangenten gehören dem 
gesuchten Umrisse an. Läßt man o um OÖ herumgehen, so wird dieser 
punktweise beschrieben. Alles das besteht auch, wenn O unendlich 
entfernt liegt. Wenn aber die Lichtquelle nicht ein Punkt, sondern 
eine Fläche ist, so müssen beträchtliche Modifikationen vorgenommen 
werden, von denen Euler schon in seiner großen Abhandlung „De 
solidis, quorum superficiem in planum explicare licet“ (Nova Comment. 
Petrop., T. XIV, 1772) gesprochen hatte (vgl. S. 531) und womit sich 
Monge schon, unabhängig von Euler, in dem „Memoire sur les pro- 
prietes de plusieurs genres de surface courbes, partieulierement sur celles 
des surfaces developpables, avec une application ä la theorie des ombres 
et des penombres“ (Mem. pres. par divers sav., T. IX, 1780, p. 382 bis 
420) beschäftigt hatte (vgl. 5.537). Diese großen Geometer stimmen 
darin überein, daß es notwendig sei, die zwei Schalen der Developpabeln 
zu betrachten, welche aus den Ebenen besteht, welche die leuchtende 
und die beleuchtete Fläche zugleich berühren; so entstehen im Raume 
eine Schatten- und eine Halbschattenregion, und auf der betrachteten 
Oberfläche zwei Umrisse. Alles das wird evident klar in dem Falle, 
daß beide betrachteten Flächen Kugeln sind, ein Fall, welcher von 
Monge und Brisson eingehend untersucht wird. !) 

Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die Perspektive. 
Monge geht von der Voraussetzung aus, daß die objektive Figur F’ 
und das Auge OÖ durch ihre Orthogonalprojektionen bestimmt und 
daß die Tafel beider Grundebenen normal sei. Infolgedessen (Fig. 71) 
kann man die Projektionen des Punktes P,, welcher die Perspektive 
von P ist, sogleich zeichnen; um aber die wahre Form der erhaltenen 
Perspektive der gegebenen Figur F' zu erhalten, muß man die Tafel 
in eine andere Lage bringen, was (Fig. 72) mittels der Koordinaten 
leicht geschehen kann. Ein ähnliches Verfahren kann in dem Falle 
angewandt werden, daß die Tafel nur auf der Horizontalebene normal 





', Man sehe auch: Monge und Hachette, „Sur la theorie des ombres et 
de la perspective; sur les points brillants des surfaces courbes“ (Corresp. sur l’Ee. 
pol., T. I, p. 295—305). Es möge noch der „Memoire sur la determination geo- 
metrique des teintes dans les desseins“ (Journ. de l’Ec. pol., I. Cah., p. 167— 183) 
als ein Produkt des Mongeschen Unterrichts angeführt werden; er wurde von 
Dupuis bearbeitet auf Grund der verschiedenen von den „chefs de brigade‘* 
der polytechnischen Schule gegebenen Materialien. 


G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 635 


ist. Beide Fälle sind als Anwendungen der neuen von Monge 
geschaffenen Wissenschaft interessant; an Umfang und Allgemein- 
heit können sie sich gewiß mit denjenigen Taylors und Lam- 
berts nicht messen. Um die Ausführung der Perspektive zu er- 
leichtern, weist Monge noch darauf hin, daß es überflüssig ist, 
die Perspektive der Punkte zu zeichnen, welche von dem Augen- 
punkt aus unsichtbar sind, daß die Perspektive einer Geraden eine 
Gerade ist, und daß endlich die Perspektiven paralleler Geraden 
ein eigentliches Büschel bilden. Ist die Tafel uneben, so kann man 
(bemerkt Monge) die Aufgabe der Perspektive gleichwohl durch 
Anwendung der darstellenden Geometrie lösen. Monge (oder 
Brisson?) bemerkt weiter, daß man eine Raumfigur durch zwei 
Perspektiven bestimmen kann; andere 
Beobachtungen über die Luftperspek- 
u TRUE 0” tive sind unserem Gegenstand fremd; 
| nur sei der folgende Satz wieder- 
| gegeben: „In jedem Punkte einer 
| Fläche ist die Lichtstärke dem Sinus 





7 


wi =; [24-0 


& 


RB-NP" 
BE 





ie) 


t 
3 








Fig. 71. Fig. 72. 


des Winkels direkt proportional, welchen der einfallende Strahl mit 
der Berührungsebene bildet und dem Quadrat der Entfernung vom 
leuchtenden Punkt umgekehrt proportional“. 

Zum Schluß unseres Berichtes über die Werke Monges über 
die darstellende Geometrie möge nicht unerwähnt bleiben, daß mit 
diesem großen Geometer die Wiedererweckung des Interesses der 
Mathematiker für die reine Geometrie zusammenhängt; ein solches Er- 
gebnis verdanken wir nicht nur seinen unsterblichen Schriften, sondern 
auch seinem unübertrefflichen Unterricht an der Eeole polytechnique, 
welcher mehrere Hunderte von Studenten förmlich elektrisierte, so 
daß infolgedessen mehrere von ihnen bedeutende Gelehrte wurden. 

Jetzt müssen wir noch bemerken, daß der Band „Geometrie 
descriptive“ von Monge später gedruckt worden ist, als die „Essais 
de geometrie sur les plans et les surfaces eourbes“ (Paris 1796)!) von 


') Unser Bericht stützt sich auf die Seconde &dition revue et augmentee, 
Paris an X (1802). 


636 Abschnitt XXV. 


S. F.Lacroix (1765—1843) (vgl. 5.344), der der Reihe nach Professor der 
Mathematik an der Artillerieschule von Besancon (1788), an der 
Normalschule von Paris (1795) und an der dortigen polytechnischen 
Schule (1799)_.war. Sein Buch soll gewiß kein Kommentar zu den 
Mongeschen Vorlesungen sein, ist aber auf jeden Fall von denselben 
nicht ganz unabhängig. Die Geschichte seiner Entstehung erzählt 
C. Dupin folgendermaßen!): Lacroix war einer der Zuhörer der 
freien Vorlesungen über Geometrie, welche Monge im Louvre hielt; 
in diesen sprach Monge oft von den wunderbaren Beziehungen, 
welche zwischen den Operationen der Algebra und denjenigen der 
Geometrie existieren, wobei er sich beklagte, daß es ihm verboten 
sei, seine geometrischen Entdeckungen vorzutragen. „Tout ce que 
je fais par le calcul“, sagte er, „je pourrais l’executer avec la regle 
et le compas; mais il ne m’est pas permis de vous reveler ces 
seerets.“ Diese Andeutung hat die Neugierde von Lacroix stark 
erregt; er versuchte die Analysis von Monge in geometrische Kon- 
struktionen zu übersetzen, überzeugte sich dabei selbst von der 
Wichtigkeit der Projektionsmethode, und auf diesem Wege gelang es 
ihm, die Fundamentalaufgaben der darstellenden Geometrie aufzu- 
lösen. Der angeführte Band bildet nun die Frucht dieser Unter- 
suchungen. Das Werk führt auch den Nebentitel „Complements de 
geometrie“, und dieser komplementäre Zweck seines Buches wird 
ausdrücklich vom Verfasser auch in seiner Vorrede hervorgehoben, wo man 
die Bemerkung findet, daß, während die Auflösungen der planimetri- 
schen Probleme vollkommen ausführbar sind, die der stereometrischen 
einen rein theoretischen Charakter besitzen, welchen man in der 
Praxis ihnen unbedingt nehmen muß. Eben dies ist der Zweck der 
von Lacroix dargelegten Methoden. 

Der erste Abschnitt seiner „Essais“ enthält die Grundlagen der 
Methode der doppelten Orthogonalprojektion und der Anwendungen 
derselben auf Punkte, Geraden, Ebenen und Kugeln. Die Art der 
Darstellung ist bei Lacroix minder glänzend, aber etwas methodischer 
als bei Monge und ist der heute von uns angewandten ähnlicher, 
als der älteren. Im zweiten Abschnitte sind die Hauptprobleme über 
die krummen Flächen aufgelöst (Durchschnitte und Tangentenebenen), 
mit besonderen Anwendungen auf zylindrische, konische, Rotations- 
und Regelflächen. Zuletzt beschäftigt sich der Verfasser mit der 
Perspektive unter einem Gesichtspunkt, der dem von Monge ge- 
wählten ganz ähnlich ist; seine Behandlung ist aber allgemeiner und 





ı) Vgl. den o. a. „Essai“. Diese Geschichte wird in der Vorrede des 
„Cours de geometrie descriptive“ (I. Partie, Paris 1852) von Th. Olivier anders 
erzählt. 


/ 


G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 637 


verschieden von der älteren, da Lacroix nur annimmt, daß die Tafel 
auf einer der Grundebenen normal sei, und sich, um die wahre Figur 
der Perspektive zu finden, einer Umlegung bedient. Aber er deutet 
auch ein anderes Verfahren an, zum Entwerfen einer Perspektive, 
welches demjenigen Lamberts ähnlich ist und übrigens auch 
nicht als neu hingestellt wird. Zum Schluß findet sich die Bemer- 
kung, daß die darstellende Geometrie auf die Gnomonik anwendbar 
ist, wenn man diese Lehre wie Montucla definiert!); diese Anwendung 
wurde später durch einen Schüler Monges vollständig entwickelt?). 
In ‘einem eingehenderen Bericht über die „Essais“ würde auch der 
vortrefflichen pädagogischen Bemerkungen Erwähnung getan werden 
müssen, welche sie enthalten, und welche gewiß nicht wunder 
nehmen werden bei einem der besten Schriftsteller der mathematischen 
Pädagogik. 


Dies sind die Anfänge der neuen Lehre, mit der der Name 
Monge für immer verbunden sein wird; die Geschichte ihrer weiteren 
Entwicklungsstadien gehört dem 19. Jahrhundert an. 





') „Histoire des math&ematiques“, 2. &d., T. I, p. 725. 2) Lefrancois, 
„Memoire sur la gnomonique“ (Journ. de l’Ec. pol., XI. Cah., p. 261—271). 





BEER: 





ABSCHNITT XXVI 


INFINITESIMALRECHNUNG 


VON 


G. VIVANTI 





Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung.') 


In dem vorhergehenden Zeitabschnitte wohnten wir einem der 
wichtigsten Ereignisse der Geschichte der Mathematik, der Geburt 
der Infinitesimalrechnung, bei. Die mit diesem Namen bezeichnete 
Lehre unterscheidet sich dadurch von allen übrigen Teilen der Mathe- 
matik, daß sie sich, wenigstens in der Form, in der sie von ihren 
Hauptbegründern, Leibniz und Newton, vorgetragen wurde, auf 
nicht echt mathematische Prinzipien stützt. Newton geht von dem 
Geschwindigkeitsbegriffe aus; Leibniz verlangt, man dürfe, ja man 
solle gewisse nicht verschwindende Größen vernachlässigen. Suchen 
wir eine Erklärung darüber in ihren Schriften, so finden wir bei 
Newton so gut wie nichts; Leibniz sagt zwar wiederholt aus, seine 
eigene Methode sei von der Archimedischen nur der Form nach 
verschieden, aber einen Beweis seiner Behauptung finden wir nirgends. 
Auch seine unmittelbaren Nachfolger besorgten eher die Entwicklung 
der Rechnungsmethoden als die Grundlegung der Theorie. Der Ver- 
fasser des III. Bandes konnte ja den Gegenstand in einigen wenigen 
Seiten erledigen. | 

Der Periode der Schöpfung folgt aber, wie gewöhnlich, eine 
Periode, in welcher das Werk der Schöpfer geordnet und vervoll- 
kommnet wird, eine Periode, die, wenn auch etwa nicht so glänzend, 
doch ebenso wichtig und fruchtbar ist als die frühere?), denn aus 
dieser Anordnungsarbeit entsteht, wenn sie von genialen Geistern ge- 
leistet wird, wohl manches wesentlich Neue und Wertvolle; so z. B. 
die Theorie der elliptischen Funktionen. 

Eine Aufgabe der neuen Periode sollte selbstverständlich die sein, 
die Prinzipien der Infinitesimalrechnung auf einen festen Boden zu 
gründen. In dieser Hinsicht zeigen sich zwei entgegengesetzte Ten- 
denzen; einerseits bestrebt man sich, die Stichhaltigkeit der Infini- 
tesimalrechnung nachzuweisen, andererseits versucht man, die Leib- 
nizsche Methode durch andere, vermeintlich strengere zu ersetzen. 





') Siehe Vivanti, Il econcetto d’infinitesimo ela sua applicazione 
alla matematica, 2. Aufl., Napoli 1901. ?) Siehe Marie, Hist. des sc. 
math. et phys., VIII, Paris 1886, p. 67. 


642 Abschnitt XXVI. 


Als Hauptvertreter der ersten Tendenz kann man d’Alembert und 
Carnot, als Hauptvertreter der zweiten kann man Lagrange nennen. 

D’Alembert (1717—1783, diese Vorl., III®, S. 510) behauptet!), 
das Unendliche der Analysis sei nichts ‚anderes «| als die Grenze, welcher 
“das Endliche sich unbeschränkt nähert, ohne dieselbe jemals zu er- 
reichen. Sagt man also, die Größe: 


1+2+4+35+--- 

sei unendlich, so ist damit nur gemeint, daß man stets so viele 
Glieder der Folge annehmen kann, daß die Summe derselben eine be- 
liebig vorgeschriebene Größe übertrifft. Auf analoge Weise wird das 
Unendlichkleine erklärt. Die Differentialrechnung setzt sich vor, die 
Grenzwerte der Verhältnisse je zweier endlichen, durch bestimmte 
Gesetze verbundenen Größen auszuwerten; sie hat nur mit endlichen 
Größen zu tun; das Unendliche und das Unendlichkleine sind bloß 
Kunstwörter, die die Mathematiker erfunden haben, um die Ergebnisse 
ihrer Forschungen kürzer und einfacher aussprechen zu dürfen. 

Dem d’Alembertschen Begriffe, nach welchem dieInfinitesimalrech- 
nung nur eine Grenzrechnung ist, schließt sich Kästner (1719— 1800, 
diese Vorl. III, S. 576, IV, S. 456)?) an. Nimmt » unbeschränkt 
an b 

an 





zu, so hat die Einheit zur Grenze; das läßt sich aber dadurch 


ausdrücken, daß man sagt, es dürfe die endliche Größe b gegen die unend- 
liche Größe an vernachlässigt werden. Aufähnliche Weise lassen sich die 
unendlichen und die unendlichkleinen Größen der verschiedenen Ord- 
nungen rechtfertigen. Ist Z eine Funktion von z, welche für den Wert 
z-+e von z den Wert Z+ E annimmt, so heißt die Grenze, welcher‘ 


sich = bei abnehmenden E und e unbeschränkt nähert, das „Ver- 


hältnis der Differentiale“ von Z und z; E und e heißen die „Diffe- 
rentiale“. Auf Grund dieser Definition ergibt sich, unter der Voraus- 
setzung, daß n eine ganze positive Zahl bezeichnet und Z = 2 ist: 


u: 
lim — = n?"!; 
e 


diese Formel läßt sich auf jeden reellen Wert von n erstrecken. 
Weiter unten mischt aber Kästner in die Definition des Differentials 
den Geschwindigkeitsbegriff ein. Die Differentiale dZ, dz von Z, 2, 
sagt er, sind nicht die wirklichen Zuwächse dieser Größen, sondern 
die Zuwächse, welche dieselben in einer bestimmten Zeit erhalten 





ı) Melanges de litt., d’hist. et de philos., Nouv. €d., T. 5, Amster- 
dam 1767, p. 239 —252; Encyclopedie m&thodique, Paris 1785, art. „Diffe- 
rentiel‘“. ®) Anfangsgründe der An. des Unendl., Halle, 1. Aufl. 1761, 
2. Aufl. 1770. | 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 643 


würden, wenn sie sich diese ganze Zeit hindurch mit den Anfangs- 


geschwindigkeiten veränderten; das Verhältnis e ist also gleich dem 


Verhältnis der Geschwindigkeiten, es möge die Zeit endlich sein oder 
nicht, und wenn man die Zeit als unendlichklein ansieht, so geschieht 
das nur, um die Geschwindigkeiten als konstant betrachten zu dürfen. 
Die so verstandenen Differentiale sind nichts anderes als die New- 
tonschen Fluxionen. Man kann aber nach Maeclaurin zeigen, daß 
das Verhältnis der Fluxionen von 2” und von z gleich nz”! ist; es 
stimmen also die Resultate der Fluxionsrechnung mit denjenigen der 
Leibnizschen Rechnung vollkommen überein, und man kann diese 
letztere mit Zuversicht gebrauchen. 

Dieselben Ideen finden sich in Kästners Dissertation über das 
Unendliche!) wieder. Das Unendliche und das Unendlichkleine sind 
keine Größen; sie drücken bloß die Möglichkeit einer unbeschränkten 
Zu- oder Abnahme aus. Wenn wir sagen, das letzte Glied der Reihe: 


1 1 1 
a) 


sei O und ihre Summe sei 1, so verstehen wir darunter nur, daß die 
Glieder der Reihe unbeschränkt abnehmen, und daß ihre Summe sich 
der 1 unbeschränkt nähert. Der Quotient zweier Funktionen einer Ver- 
änderlichen & nähert sich bei zunehmendem n dem Quotienten der 
Glieder höchster Ordnung; die Sache verhält sich daher ganz so, als 
wenn man alle übrigen Glieder unterdrückte. 

Unter den Anhängern von d’Alembert muß auch Gerdil ge- 
nannt werden. Hyacinth Sigismund Gerdil, Barnabit, geboren 
am 23. Juni 1718 zu Samoens in Savoyen, war der Sohn eines Notars. 
Kaum 19 Jahre alt, wurde er zum Professor der Philosophie an der 
Universität zu Macerata ernannt; später war er Professor der Philo- 
sophie und dann der Moraltheologie an der Turiner Universität. Der 
Ruhm seiner Gelehrsamkeit, Wohltätigkeit und Frömmigkeit ver- 





') Dissertationes mathematicae et physicae quas Societati 
Regiae Scientiarum Gottingensi annis 17561766 exhibuit A. G. Käst- 
ner, Altenburg 1771 (vgl. diese Vorlesungen, IV, 8. 26), Diss. V: De vera in- 
finiti notione (p. 35—38). Siehe auch Diss. XI: De trauslatis in dietione geo- 
metrarum (p. 79—88), Diss. XII: De lege continui in natura (p. 142—149), wo 
ein früheres Inauguralprogramm des Verfassers mit dem Titel: De cautione 
in neglectu quantitatum infinite parvarum observanda (Leipzig 1746) 
zitiert wird. — Auf Kästners Ideen bezieht sich Ludolphus Hermannus 
Tobiesen (1771-1839) in seiner schon oben S. 26 erwähnten Schrift: 
Principia atque historia inventionis calculi differentialis et inte- 
gralis nee non methodi fluxionum, Göttingen 1793. 

CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 42 


644 Abschnitt XXVL 


breitete sich mehr und mehr. Der König wählte ihn zum Lehrer 
seines Sohnes, des späteren Karl Emanuel IV.; viele Akademien 
zählten ihn unter ihren Mitgliedern. Im Jahre 1777 wurde er Kar- 
dinal, und beim Tode von Pius VI. hätte er den päpstlichen Thron 
bestiegen, hätten sich nicht politische Gründe dagegen geltend ge- 
macht. Er starb zu Rom am 12. August 1802. Seine Schriften sind 
sehr zahlreich und betreffen meistens Theologie und Philosophie. 

Gerdil!) geht noch weiter als d’Alembert, indem er nicht nur 
behauptet, daß die unendlichen und unendlichkleinen Größen für die 
Infinitesimalrechnung entbehrlich sind, sondern auch, daß das absolut 
Unendliche unmöglich ist. Die sieben von ihm angeführten Beweise 
dieser Behauptung sind weder bündig noch wesentlich neu, und bieten 
für uns wenig Interesse dar. 

Die Abhandlung von Gerdil gab zu einer ganz kurzen, aber 
interessanten Note Lagranges?) Veranlassung. In dieser Note be- 
‚ merkt Lagrange, daß man in der Infinitesimalrechnung von unrich- 
\ tigen Voraussetzungen ausgeht, daß aber andere in der Rechnung 
begangene Fehler die Unrichtigkeit aufheben; so z. B. ist es eine 
falsche Annahme, daß die Tangente die Verlängerung einer Seite eines 
Unendlichvieleckes sei; da man aber während der Rechnung Größen 
als verschwindend vernachlässigt, die bloß unendlichklein sind, so 
werden beide Unrichtigkeiten sich gegenseitig tilgen. Erst nachdem 
man bewiesen hat, daß eine solche Aufhebung wirklich stattfindet, 
sei man berechtigt, das Unendlichkleine als eine wirkliche Größe zu 
betrachten. 

Der. Begriff von der Ausgleichung der Fehler war nicht neu, er 
kommt schon ein Vierteljahrhundert früher bei Berkeley (diese 
Vorl, IIZ, S. 741ff.) vor, ob es gleich keinen Beleg dafür gibt, daß 
Lagrange dessen Schriften gekannt hat. Merkwürdig ist es, daß 
Lagrange, gleich zu Anfang seiner glänzenden Laufbahn, auf die 
Diskussion von der Stichhaltigkeit der Prinzipien der Infinitesimal- 
rechnung geführt wurde, ein Gegenstand, der ihn bis zu seinen letzten 
Jahren beschäftigte und auf welchen er nach mehr oder minder langen 
Intervallen wiederholt gekommen ist. Während er aber anfangs die 
Strenge der Infinitesimalrechnung zu verteidigen suchte, kam er später 
auf den Gedanken, diese Rechnung durch eine strengere zu ersetzen. 
Einen Grundriß seiner neuen Methode gab er in einer Abhandlung 
von 1772°), aber erst 1797 entwickelte er dieselbe in seinen berühmten 





1) De l’infini absolu consid6ere dans la grandeur, Misc. Taur., T. I, 
1760—61, P. III, p. 1—45. ®) Note sur la mötaphysique du calceul in- 
finit6simal, Misc. Taur., T. II, 1760—61, P. II, p. 17—18; Oeuvres, T. VI, 
Paris 1877, p. 597—599. 3) Sur une nouvelle esp£ce de calcul relatif 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 645 


Vorlesungen über analytische Funktionen!). In der Zwischenzeit 
(1784) hatte er durch die Berliner Akademie, deren Vorsitzender er 


— 


war, die Gelehrten der ganzen Welt aufgefordert, das hochwichtige | 





Problem aufzulösen; woraus erhellt, erstens, daß er damals mit seiner 
eigenen Lösung nicht ganz zufrieden war, zweitens, daß, wenn auch 
die Akademie eine der vorgelegten Abhandlungen krönte, die darin 


vorgeschlagene Methode seinen Geist so ‚wenig befriedigte, daß er bald 


‚seine alten Ideen wieder aufnahm. 

Über die erwähnte Preisfrage müssen wir etwas ausführlicher 
berichten. Man verlangte?) „eine lichtvolle und strenge Theorie 
dessen, was man Unendlich in der Mathematik nennt“. „Die höhere 
Geometrie“, lautete die Aufforderung, „benutzt häufig unendlichgroße 
und unendlichkleine Größen; jedoch haben die alten Gelehrten das 
Unendliche sorgfältig vermieden, und einige berühmte Analysten 
unserer Zeit bekennen, daß die Wörter unendliche Größe wider- 
spruchsvoll sind. Die Akademie verlangt also, daß man erkläre, wie 
aus einer widersprechenden Annahme so viele richtige Sätze entstanden 
sind, und daß man einen sicheren und klaren Grundbegriff angebe, 
welcher das Unendliche ersetzen dürfe, ohne die Rechnungen zu 
schwierig oder zu lang zu machen.“ 

Der Preis wurde der Exposition el&mentaire des prineipes 
des caleuls superieurs (Berlin 1786)?) erteilt. Verfasser dieser 
Abhandlung war Simon Antoine Jean Lhuilier, geboren in Genf 
1750, gestorben daselbst 1840, seit 1795 Professor der Mathematik 
an der Akademie in Genf, dessen Namen in mehr als einem Ab- 
schnitte dieses Bandes erscheint (s. o. $. 84, 432). 

Lhuilier erhebt wohlbekannte Bedenken gegen den Unendlich- 
keitsbegriff. Es zerlegt z. B. eine Ebene den Raum in zwei gleiche 
Teile‘), und dasselbe tut eine der ersteren parallele Ebene; jedoch ist 





a la differentiation et A l’integration des quantites variables, Nour. 
Mem. Berlin, 1772 (publ. 1774), p. 186—221; Oeuvres, T. III, Paris 1869, p. 441 
bis 476. 

') Theorie des fonctions analytiques, eontenant les principes 
du Calcul differentiel, degages de toute consid&eration d’infini- 
ment petits, d’&vanouissants, de limites et de fluxions, et reduits & 
l’analyse algebrique des quantites finies, 1. Aufl., Paris 1797, 2. Aufl., 
Paris 1813 (wieder abgedruckt in Oeuvres, T. IX, Paris 1881). Siehe auch: Dis- 
cours sur l’objet de la th6orie des fonctions analytiques, Journ. Ee. 
Polyt., VI. Cahier, T. II, 1799; Oeuvres, T. VII, Paris 1877, p. 325—328, 


®) Nouy. M&m. Berlin 1784 (publ. 1786 pi 1-18, ®») Eine lateinische _ 
pP P be 


Bearbeitun erschien 1795 in Tübingen unter dem Titel: Prineipiorum 
calculi differentialis et integralis expositio elementaris. 

%) »- . . telles qu’on ne puisse rien dire de l’une qu’on ne puisse egalement dire 
de l’autre“, 


42* 


646 | Abschnitt XXVI. 


von den beiden letzteren Halbräumen der eine größer, der andere 
kleiner als einer der ersteren. Ferner kann der unendliche Raum 
keine Figur aufweisen; eine Figur setzt nämlich eine gewisse Ein- 
richtung der Grenzen voraus, das Unendliche aber läßt keine Grenzen 
zu. Noch unbegreiflicher ist das Unendlichkleine; es sollte dieses 
eine jedes Größencharakters entbehrende Größe sein. In der Infini- 
tesimalrechnung wird das Unendlichkleine bald als verschwindend, 
bald als nicht verschwindend betrachtet; jedoch gleichen sich die 
Rechnungen von selbst aus, da, was vernachlässigt wird, nicht unver- 
gleichbar, sondern genau gleich Null ist. Es empfiehlt sich also, die 
Infinitesimalrechnung durch die Grenzmethode zu ersetzen, ohne je- 
doch die Ausdrucksweise und die Bezeichnungen der ersteren zu ver- 
lassen. Ob und wie Lhuilier seinen Gedanken ausgeführt hat, 
werden wir weiter unten sehen. 

Die Berliner Preisfrage gab auch zu einer anderen Schrift Ver- 
anlassung, die aber der Akademie nicht vorgelegt wurde. Wenzeslaus 
Johann Gustav Karsten (s.0.S5.74,357), Professor der Mathematik 
und Naturlehre in Halle, geboren 1732, gestorben 1787, war damals mit 
der Abfassung seines Handbuches der Analysis und höheren 
Geometrie beschäftigt und wurde natürlich dazu geleitet, die auf- 
geworfene Frage zu berücksichtigen. Hieraus entstand die erste seiner 
Mathematischen Abhandlungen, welche den folgenden Titel 
trägt: Vom Mathematisch-Unendlichen mit Rücksicht auf 
eine im Jahre 1784 aufgegebene Preisfrage. Wenn der Mathe- 


i Hi ” 
matiker sagt, es sei ——-—() für m — 00,50 bedeutet das nach Karsten, 


daß - bei zunehmendem m beständig abnimmt, und daß die Glei- 


1 r . N 
chung — — 0 nur dann gelten würde, wenn m einen Wert erhielte, 


den es nicht erreichen kann, so lange man fortzählt. Auch das Un- 
endlichkleine ist bloß eine Redensart; die Regeln der Infinitesimal- 
rechnung lassen sich durch die Grenzmethode rechtfertigen, so daß 
es nutzlos erscheint, neue Methoden zu bilden, wie es.die Akademie 
verlangt. Dieselben Begriffe, wenn auch unter einer etwas veränderten 
Form, finden sich in der fünften Abhandlung!) wieder, deren Titel 
ist: Vom Berührungswinkel und Krümmungskreise. Von den 
beiden entgegengesetzten Meinungen, deren Hauptvertreter Clavius 





1) Die Titel der drei übrigen Abhandlungen lauten: 2. Von den Parallel- 
linien,und den neuerenBemühungen,die Theorie davon zu ergänzen; 
3. Über eine Stelle in des Herrn Lamberts Briefwechsel, von ver- 
neinten und unmöglichen Wurzelgrößen; 4. Von den Logarithmen 
der verneinten und unmöglichen Größen. 








Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 647 


und Le Peletier sind!), schließt sich Karsten derjenigen des letzteren 
an, indem er behauptet, der Berührungswinkel sei genau gleich Null. 
Er zeigt aber, daß diese Behauptung nicht im mindesten hindert, die 
Verschiedenheit der Krümmungsmasse der eine gemeinschaftliche Tan- 
gente besitzenden Linien zu begreifen. 

Der Berliner Preisfrage verdanken wir vermutlich auch Carnots 
Reflexions sur la metaphysique du ealeul infinit@simal, die 
zwar erst im Jahre 1797 erschienen, die aber, wie der Verfasser in 
seiner Vorrede angibt, schon lange fertig standen’). 

Lazare Nicolas Marguerite Öarnot, geboren am 13. Mai 1753 
zu Nolay in Frankreich, wurde Genieoffizier, dann Mitglied der 
Assemblee nationale und des Konvents (1791), wo er für das 
Todesurteil des Königs stimmte. Als Mitglied des Comite de salut 
public (1793) verdiente er den ehrenvollen Beinamen eines organi- 
sateur de la vietoire. Später war er Minister unter Napoleon; 
als dieser aber die Kaiserkrone annahm, trat Carnot ins Privatleben 
zurück. Nach dem unglücklichen russischen Feldzuge bot er wieder 
seine Dienste dem Vaterlande an, und zeichnete sich bei der Ver- 
teidigung von Antwerpen aus. Er war wieder Minister beim hundert- 
tägigen Kaisertum Napoleons, und wurde nach dessen Falle in 
eine Proskriptionsliste einbegriffen; er erhielt seinen Wohnsitz in 
Magdeburg angewiesen, wo er am 22. August 1823 starb. 

In seinen Reflexions unternimmt es Carnot, nachzuweisen, 
daß die Infinitesimalmethode ganz streng ist, und daß es daher 
keinen Grund dafür gibt, auf diese Methode zu verzichten. Dazu unter- 
sucht er zunächst, wie der menschliche Verstand zu dem Grundbegriffe 
dieser Methode gelangt sein möge. Die Unmöglichkeit, eine genaue 
Auflösung gewisser Probleme zu erhalten, führte, meint er, zum Ver- 
suche, dieselben annäherungsweise aufzulösen, indem man die Daten 
der Probleme durch andere ersetzte, die von diesen so wenig ver- 
schieden wären, daß man die in den Endresultaten entstehenden 
Fehler vernachlässigen dürfte. Carnot führt das folgende Beispiel 
an: Es solle die Tangente MT zu einem Kreis MBD in einem 
Punkt M geführt werden (Fig. 73). Sei « der Radius, € der Mittel- 
punkt, BD ein Durchmesser, MP die zu BD senkrechte durch M 
gehende Gerade; man setze: 


DP=z, MP-y, 





‘) Bd. II® u. III® passim; Vivanti, a. a. O. 2) Eine deutsche Über- 
setzung mit sehr interessanten Noten ist von J. K. Hauff herausgegeben worden 
unter dem Titel: Betrachtungen über die Theorie der Infinitesimal- 
rechnung (Frankfurt a. M. 1800). Auch eine italienische Übersetzung von 
G. B. Magistrini (Pavia 1803) liegt vor. 


648 Abschnitt XXVI. 


und suche, die Subtangente TP zu bestimmen. Dazu betrachte man 
den Kreis als ein Vieleck, und es sei NM eine Seite desselben, NO 
die Senkrechte zu DB durch N, MQ die Senkrechte zu NO durch 

M; die Verlängerung von NM gibt an- 














näherungsweise die Tangente an, so daß 
die angenäherte Beziehung stattfindet: 
“ji 
MQ9 TP 
1 er ah 
(1) „0% 
Andererseits ist: 
yP=2ax— x, 
= NO?=2a- DO — DO}; 
Q j diese letzte Gleichung läßt sich schreiben: 
Y+NQ’—-2a@+ MV) 
Sr (X +M 2), 
B und wenn man die erste Gleichung ab- 
Fig. 73. zieht: 


2y:NQ + NQ@=2(a—2)MQ — MY), 
oder: 
MQ 2938 
NG 2(a—x)— MV’ 





also wegen (1): 


2y+N® 
(2) TE =-Yza_9=Mm0' 





Nun sind MQ und NQ kleiner als MN, folglich vernachlässigbar, 


und man hat annäherungsweise: 


Par. 


A ei 





Es ist aber überraschend, daß diese Lösung nicht angenähert, son- 
dern streng richtig ist. Woher kommt das? Da wir von einer 
ungenauen Voraussetzung ausgegangen sind, so ist die Gleichung (2) 
notwendig ungenau; sie ist es aber um so weniger, je kleiner MN 
ist, und wird ganz genau, wenn MN und somit M@ und N ver- 
schwinden. Es hat hier eine gegenseitige Aufhebung der Fehler statt- 
gefunden); und dasselbe geschieht in allen Fällen. Wie kann man 





2) Es kommt hier der Begriff von der Ausgleichung der Fehler vor, welchen 
man schon bei Berkeley und bei Lagrange gefunden hat; ob Carnot seine 


en ” 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 649 


aber erkennen, daß die Fehler sich aufgehoben haben? Die in den 
Rechnungen vorkommenden Größen sind teils bestimmt, wie TP, 
MP, BP, teils unbestimmt, wie MN, MQ, NQ; die letzteren schleichen 
sich in die Rechnungen ein, wenn wir zur Erleichterung gewisse 
Grössen durch andere ersetzen, die von diesen wenig verschieden sind, 
und von diesen ausschließlich hängen daher die Fehler ab, mit welchen 
die Resultate behaftet sind. Sobald also sämtliche willkürliche Größen 
aus den Rechnungen entfernt worden sind, können wir mit Sicherheit 
annehmen, daß die Fehler sich aufgehoben haben. 

Kann eine willkürliche Größe (wie NO) so wenig verschieden 
von einer bestimmten (wie MP) angenommen werden, als man will, 
so sagt man, die letztere sei die Grenze der ersteren, und die Diffe- 
renz (nämlich N@) sei unendlichklein; eine unendlichkleine Größe 
ist also eine willkürliche Größe, welche die Null zur Grenze hat. 
Die ungenauen Gleichungen (wie (2)) werden zu genauen, sobald man 
die in denselben vorkommenden willkürlichen Größen durch deren 
Grenzen ersetzt. Dadurch erklärt sich, wie die scheinbar ungenaue 
Regel von der Vernachlässigung der unendlichkleinen Größen zu ge- 
nauen Resultaten führen kann. 

Will man aber die Unbequemlichkeit vermeiden, mit ungenauen 
Größen zu tun zu haben, so kann man die unendlichkleinen Größen 
als streng verschwindend betrachten, mit der alleinigen Vorsicht, die 
etwa vorkommenden Verhältnisse je zwei soleher Größen durch 
deren Grenzen zu ersetzen. 

Wird also gefragt, ob man die unendlichkleinen Größen als 
verschwindend betrachten muß oder nicht, ein Dilemma, das zu vielen 
Diskussionen Veranlassung gegeben hat, so läßt sich antworten: man 
kann nach Belieben ebenso den einen wie den anderen Standpunkt 
behalten. 

Ist so die Strenge der Infinitesimalreehnung gesichert, so bleibt 
nur noch übrig, zu bemerken, daß sie die Grenzmethode, mit wel- 
cher sie in den Resultaten übereinstimmt, an Einfachheit weit über- 
trifft, insofern sie sich vorsetzt, jeder Grenzbestimmung zu entbehren 
und mit bloß algebraischen Rechnungen zu verfahren. Wird man 
also, fragt Carnot, auf die unermeßlichen Vorteile verzichten, die 
die Infinitesimalmethode darbietet, aus Furcht, sich auf einen Augen- 





Vorgänger gekannt hat oder nicht, möge dahingestellt bleiben. Einem anderen 
Vorgänger, N. Fiorentino, werden wir weiter unten begegnen. Es möge hier 
auch die Aussage von Segner (s. u.) erwähnt werden, daß das Gleichheitszeichen 
in einer Differentialgleichung nicht die Gleichheit, sondern das Streben nach 
Gleichheit bedeutet. 


650 Abschnitt XXVI. 


blick von dem genauen Verfahren der Elementargeometrie zu ent- 
fernen? Wird man einem ebenen und bequemen Wege einen dor- 
nigen Pfad vorziehen, auf welchem es so schwer ist, sich nicht zu 
verirren? 

Der Standpunkt von Carnot ist richtig, aber sein Verfahren ist 
weder so einfach, als es sein dürfte, noch ganz vollständig. Um nachzu- 
weisen, daß die ungenauen Gleichungen sich durch Vertilgung der 
unendlichkleinen Größen in genaue verwandeln, braucht man nur die 
unendlichkleine Größe als eine willkürliche Größe zu definieren; denn, 
da nach dieser Definition die unendlichkleinen Größen sich so klein 
annehmen lassen, daß die aus deren Vertilgung hervorgehenden Fehler 
kleiner sind als jede beliebig vorgegebene Größe, so sind diese Fehler 
genau gleich Null. Es findet also wirklich eine Aufhebung der 
Fehler statt, nicht aber durch gegenseitige Ausgleichung („compen- 
sation des erreurs“), wie Carnot meint, sondern dadurch, daß jeder 
Fehler für sich selbst zu Null wird. Es ist ferner zu beachten, daß 
sich Carnot mit der Bestätigung der Tatsache von der Fehlerauf- 
hebung begnügt, ohne nach deren Grunde zu suchen; hätte er das 
getan, so hätte er den Grund darin gefunden, daß, wie soeben gesagt, 
jeder Fehler für sich verschwindet. 

Manche andere Schriftsteller bemühten sich, mit größerem oder 
kleinerem Erfolg, die Strenge der Leeibnizschen Methode außer 
Zweifel zu legen. 

Nach Johann Andreas von Segner (diese Vorl., ILI?, S. 609, IV, 
S. 74)!) ist der Unendlichkeitsbegriff bloß ein negativer Begriff, denn 
unendlich ist was keine Grenzen hat; um auszudrücken, daß zwei 
parallele Linien nicht zusammentreffen, sagt man, sie schneiden sich 
im Unendlichen. Man kann aber dem Unendlichen eine positive 
Bedeutung geben. Behauptet man, zwei parallele Geraden haben 
einen im Endlichen liegenden gemeinschaftlichen Punkt, so begeht 
man einen desto kleineren Fehler, je größer der Abstand des Punktes 
ist; wäre also der Abstand größer als jede angebbare Größe, so würde 
der Fehler verschwinden. Bezeichnen wir mit M den Ozean, mit P 


einen Tropfen Wasser, so ist es uns unmöglich, das Verhältnis „ von 


1 ü s ‘ ; . 
-„ zu unterscheiden, wenn sie auch voneinander sachlich verschieden 


sind, denn unser Begriff von M und von M + P ist ganz derselbe; 


das zeigt, daß wir fähig sind, das Verhältnis r gewissermaßen zu 





I) Segner, Elementa analyseos finitorum, Halle 1758; Elemen- 
torum analyseos infinitorum Pars prima, Halle 1761, Pars secunda, 
Halle 1763. 


- 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 651 


begreifen. Die Gleichung E = = ist nur dann möglich, wenn a be- 


liebig zunehmen darf; sie drückt aus, daß die Gleichung nn = 4 für 


1 
0?’ 
heißt a unendlich in bezug auf b; ist b eine endliche Größe, so 
schreibt man «= &, und es folgt: 


keinen nicht verschwindenden Wert von n besteht. Ist 5 = so 


SED = 00, 


wodurch sich alle Regeln der Differentialreehnung rechtfertigen lassen. 

Jacopo Belgrado, Jesuit, geboren zu Udine 1704, gestorben 
daselbst 1789, Verfasser mehrerer mechanischer und physikalischer 
Schriften, veröffentlichte in höchst eleganter Ausstattung ein dem elf- 
jährigen Herzog von Parma gewidmetes, zweibändiges Werk, welches 
über 200 meistens mechanische Probleme enthält.') In der Einleitung 
zum zweiten Bande spricht Belgrado seine Meinung über das Un- 
endliche aus. Die Linie, sagt er, besteht aus Punkten und wird durch 
das Fließen eines Punktes erzeugt; der Punkt ist ein Unendlichkleines 
in bezug auf die Linie. Das Unendlichkleine ist also kein bestimmter 

eil des Endlichen, es ist kleiner als jeder noch so kleine Teil. Hier- 
aus folgt, daß zwei Größen einander gleich sind oder als solche be- 
trachtet werden dürfen, wenn ihre Differenz unendlichklein ist. Nach 
Belgrado sind die Antworten von Leibniz auf die Angriffe 
Nieuwentijts (diese Vorl, II, S. 254) keineswegs überzeugend; er 
schließt sich den von Torelli in seinem Werke De nihilo geo- 
metrico auseinandergesetzten Begriffen an. 

Da der letztgenannte, von seinen Zeitgenossen sehr geschätzte 
Mathematiker im III. Bande nicht berücksichtigt worden ist, so möge 
es uns erlaubt werden, hier diese Lücke auszufüllen. 

Giuseppe Torelli (diese Vorl., IV, S. 34 und 617) ?), geboren zu 








') Belgrado, De utriusque analyseos usu in re physica, 
2 Bde., Parma 1761—62. Der erste Band (De analyseos vulgaris usu in 
re physica) umfaßt 113 Probleme über Hydraulik (23), Mechanik (14), Astro- 
nomie (12), Optik (10), Ballistik (4), Zentrobarik (2), Pneumatik (6), Architektur 
(9), Meteorologie (2), Hygrometrie (1), Bewegung (8), Pendel (6), Stoß (4), Ko- 
härenz (4), Akustik (1), Nautik (1), Geographie (1), Gnomonik- (1), Zinse und 
Glücksspiele (4). Der zweite Band (De analyseos infinitorum usu in re 
physica) umfaßt 100 Probleme über Nautik (13), Hydrostatik (3), Hydraulik (9), 
Mechanik (7), Dynamik (14), Ballistik (3), Atmosphärik (8), Geographie (3), 
Architektur (2), Zentripetalkraft (14), Optik (9), Fortpflanzung der Bewegung (5), 
Schwingungsbewegung (6), Widerstände (9). *) Siehe drei Nachrufe von Ippo- 
lito Pindemonte (1753—1828) in dessen Werken; einer von diesen ist aus 
den Mem. Soe. It. (1) II, 2 (1784), p. III—XXXIV abgedruckt. 


nn 
De 
ß 


652 Abschnitt XXVI. 


Verona am 3. November 1721, gestorben am 18. August 1781, war Dichter, 
Philosoph und Mathematiker. Sein Hauptwerk, welches neulich aus 
der Vergessenheit durch O. Stolz!) hervorgerufen wurde, ist: De 
nihilo geometrico libri duo (Verona 1758). Nach Torelli ist 


‚ die Differentialrechnung nichts anderes als eine Rechnung mit Nullen. 


Man muß aber die metaphysische und die geometrische Null unter- 
scheiden; die zwei Begriffe werden vom ersten bzw. zweiten Teil der 
folgenden Definition bestimmt: „Nihilum est, per quod unumquodque 
eorum, quae non sunt, dieitur nihilum. Dieitur autem unum non 
esse, quod antea cum esset, non esse amplius coneipitur“. Die geo- 
metrische Null steht zu sich selbst in demselben Verhältnis wie die 
Einheit zur Einheit. Die Vergleichung zweier gleichdimensionaler 
Größen ist „ejusdem generis“ oder „diversi generis“, je nachdem die 
beiden Größen von Null verschieden sind, oder eine derselben gleich 
Null ist. Auf diese Grundlagen sich stützend, beweist Torelli im 
ersten Buche eine Reihe von Sätzen, welche meistens die Vergleichung 
von Nullen oder von Unendlichen betreffen. Wird eine beliebige 
Größe von sich selbst subtrahiert, so entsteht die (geometrische) 
Null; denn dadurch hört auf zu sein, was früher war. Die Null 
1— 1, welche aus der Subtraktion der Einheit von sich selbst ent- 
steht, heißt „nihilum ordine primum“; und e st — z=a(1-—]). 
Bezeichnet x eine zweidimensionale Größe, und subtrahiert man jede 
ihrer Dimensionen von sich selbst, so ist das Produkt beider Diffe- 
renzen £(1— 1)°; daher ist die Vergleichung der aus Subtraktion 
entstehenden Null «(1 — 1) mit der aus Subtraktion und Multiplika- 
tion entstehenden x (1 — 1)? eine „comparatio diversi generis“, da man 
dabei x mit x, 1—1 mit 1—1 und 1 mit 1— 1 vergleichen muß. 
Aus der Division von 1 mit OÖ entsteht ©. Es ist nämlich: 


s1-D+i=2, 


was beweist, daß man durch Division von x mit 1 — 1 als Quotienten 
und als Rest x erhält; da aber der Rest dem Dividenden gleich ist, 
so kann die Division ohne Ende fortgeführt werden, und der Gesamt- 
quotient ist eine Größe, welche keine Grenzen hat, d.i. eine unend- 
liche Größe („quod autem nullos habet fines, illud infinitum esse 
dieitur“). — Daß die Torellische Methode nichts anderes ist als die 


maskierte Grenzmethode, erhellt aus den geometrischen Anwendungen, 
' welche den Stoff des zweiten Buches bilden. Bezeichnen wir der 


Kürze wegen mit 0, die aus der Größe « entstehende Null «(1—1), 
so ist allgemein: 





ı) Größen und Zahlen, Leipzig 1891. 


ie), 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 653 


ar Ya 

BA 
Ist insbesondere y die Ordinate, v die Subtangente einer Kurve, so 
hat man: 





da aber zur Bestimmung der Tangente (d. i. derjenigen Geraden, 
welche früher die Kurve in zwei Punkten schnitt, jetzt aber sie nicht 


mehr schneidet) nötig ist, das Verhältnis > zu kennen, so kann man 


sich statt dieses vorsetzen, das Verhältnis De zu bestimmen. Diese 
v 


Bestimmung geschieht für die Parabel folgendermaßen. Es seien 
(Fig. 74) A der Scheitel, F, E 

zwei beliebige Punkte der Er 

Kurve, BF, IE die zugehöri- 
gen Ordinaten, D der Durch- 














schnitt von /E mit der durch 7 - 
F parallel zur Achse gezoge- 

nen Geraden, H, @ die a u; vr 
Schnittpunkte der Sehne FE an 


und der Tangente in F' mit 
der Achse, AO das latus reetum. Dann ist: 


AC:AI=-IE® 

oder: 
AC(AB+BN=(ID+ DE)= (BF + DE)%, 

ferner: 

AC-AB= BF? 
also: 

AC:-BI=2BF.DE+ DE, 

oder: 


AC(HI— Hb)=2BF(IE— BF) + (IE— BF). 
Fällt E mit F zusammen, so ist: 


HI—- HB=GB—- GB=0, IE- BF=-BF—-BF=0, 


also: 


A0-0,=2BF:0,+0,% 


Da aber die Vergleichung der beiden Glieder rechts eine comparatio 
diversi generis ist, so erhält man durch Vernachlässigung von 0,? 
(„neglecto ab altera parte nihilo orto ex BF in semetipsum ducto“): 


BEER URS 
® RERBER 1: #2) 


v 


654 | Abschnitt XXVI. 


Weitere Anwendungen seiner Methode hat Torelli in einer spä- 
teren Schrift mit dem Titel Geometrica (Verona 1769) gegeben, 
wo er einige geometrische Probleme zuerst durch die reine Geometrie, 
dann durch die Nullrechnung auflöst. Diese Schrift bietet nichts 
Merkwürdiges dar, ausgenommen etwa einen kuriosen Fehler (s. o. 
S. 617); Torelli meint, eine neue Quadratrix (quadrataria scalena) 
erfunden zu haben, und bemerkt nicht, daß diese mit der gewöhnlichen 
Quadratrix übereinstimmt. 

Eine lange Diskussion über die Prinzipien der Infinitesimalrech- 
nung enthält der höchst interessante Briefwechsel zwischen Lambert 
und von Holland äus den Jahren 1765 und 1766.) Beide sind 
_ darüber einig, daß das Unendlichkleine bloß eine Fiktion ist. Der 
Infinitesimalbegriff gibt aber, wie von Holland bemerkt, der Mei- 
nung Veranlassung, die Differentialrechnung sei nur eine Annähe- 
rungsmethode; besser ist, Null zu nennen, was Null ist. Man muß 
jedoch zwischen verschwundenen und verschwindenden Größen unter- 
scheiden; die ersteren sind sämtlich gleich, die letzteren dagegen 
können auch verschieden sein, je nach der Geschwindigkeit, mit wel- 
cher die Größen nach Null streben. So ist z.B.: 


für = a. Die Vernachlässigung von dx? rechts in der Formel: 
d(x?) = 2xdx + da? 
geschieht nicht precario modo, sondern notwendig; es ist nämlich: 
d(x2) = 2xde + d® = (22 + 0)0 = 2x: 0 = 2uda. 
Ist = —1 für A=-C=(, so kann man, „so oft von letzten 


Verhältnissen die Rede ist“, A statt C und Ü statt A nehmen; so 
z.B. kann man den Bogen durch die Sehne ersetzen, was zum un- 
genauen und dem Stetigkeitsprinzip widersprechenden Begriffe einer 
aus unendlich vielen Strecken bestehenden Kurve geführt hat. Nicht 
minder fiktiv als das Unendlichkleine ist das Unendliche, welches ein 
negativer Begriff ist und eine Unmöglichkeit ausdrückt. Diese Un- 
möglichkeit ist aber, wie von Holland scharfsinnig bemerkt, von 
soleher Beschaffenheit, daß man sich derselben unbeschränkt annähern 


darf, während man das Gleiche von der Unmöglichkeit ay—1 nicht 
sagen kann; wollte man in positiver Form ausdrücken, daß Gott un- 





ı) Lamberts deutscher gelehrter Briefwechsel, herausgegeben von 
Johann Bernoulli, 5 Bde., Berlin 178i—87; Ba. I, S. 11ff. re 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 655 


sterblich ist, so könnte man sagen, er sterbe nach der Zeit aY—1, 
nicht aber, er sterbe nach der Zeit . 

Der später als „Prinzip von der Ersetzung der Infinitesimal- 
größen“ bezeichnete Grundbegriff ist in das klarste Licht gesetzt 
worden von Riceati und Saladini in ihren noch weiter unten zu 
besprechenden Institutiones analyticae(2Bde.,Bolognal765—1767). 
Vincenzo Riecati (vgl. diese Vorl., III?, 5.474, IV, 5.457), Jesuit, Sohn 
des berühmten Jaeopo Riccati, geboren den 11. Januar 1707 zu Castel- 
franco bei Treviso, gestorben daselbst den 17. Januar 1775, war Pro- 
fessor der Literatur und Rhetorik zu Piacenza, Padua und Parma, 
‘dann Professor der Mathematik zu Bologna; er schrieb über Mathe- 
matik, Physik und Mechanik, und beschäftigte sich auch mit hydrau- 
lischen Fragen. Girolamo Saladini, Cölestinermönch, geboren zu 
Lucea 1731, gestorben zu Bologna den 1. Juni 1813, lehrte an der 
Universität zu Bologna erst Geometrie, dann Astronomie, dann höhere 
Mathematik. Die Grundlagen der Infinitesimalmethode, so lehren 
Riceati und Saladini, lassen sich auf ein einziges Lemma redu- 
zieren, daß nämlich zwei Größen, deren Unterschied kleiner werden 
kann als jede vorgegebene Größe, zuletzt einander gleich werden. 
Haben wir also mit zwei derartigen Größen zu tun, so können wir 
dieselben der Kürze wegen einander gleich setzen; dadurch wird 
gar nichts vernachlässigt, da unendlich kleine Differenzen weglassen 
nichts anderes ist als genaue Gleichungen zwischen den Grenzen 
schreiben. 

Die Ideen von Euler über das Unendlichkleine sind schon be- 
kannt (diese Vorl., III?, S. 749) und kommen auch in seiner Integral- 
rechnung (1768) wieder vor; dieselben zu rechtfertigen und ihre Über- 
einstimmung mit dem Grenzbegriff zu zeigen, bestrebt sich sein 
Kommentator Johann Philipp Grüson (s. o. S. 72)!), Professor 
der Mathematik am Kadettenkorps in Berlin, dann an der Bau- 
akademie und an der Universität, geboren zu Neustadt-Magdeburg 
am 2. Februar 1768, gestorben zu Berlin am 16. November 1857, 
der aber seinerseits, sonderbar genug, die Notwendigkeit fühlte, die 
Leibnizsche Methode durch eine neue Methode zu ersetzen (siehe 
unten). 

Auch eine kleine Schrift von Luino vom Jahre 1770?) ist, trotz 





') Grüson, Supplement zu L. Eulers Differenzialrechnung, worin 
ausser den Zusätzen und Berichtigungen, auch noch andere nützliche 
analytische Untersuchungen, welche grösstentheils die combinato- 
rische Analysis betreffen, enthalten sind, Berlin 1798. 2) Oggetto 
e principii del metodo flussionario, Milano 1770, nach Poggendorff. 


656 Abschnitt XXVI. 


ihres Titels, der Verteidigung nicht nur der Fluxions-, sondern auch 
der Infinitesimalmethode gegen die Angriffe von Berkeley (diese 
Vorl., IP, 8. 737 ff.) gewidmet. Francesco Luino, Jesuit, geboren 
zu Lugano am 25. März 1740, gestorben zu Mailand am 7. Novem- 
ber 1792, lehrte Astronomie und Mathematik zu Mailand, dann an der 
Universität zu Pavia; mußte aber wegen seiner zu kühnen philoso- 
phischen Ansichten diese Stadt verlassen und wanderte nach Mantua, 
wo er eine philosophische Schule stiftete. — Luino sagt, er hätte 
von seiten Berkeleys einen Lobspruch der Mathematik und zugleich 
des Glaubens erwartet, sowie auch den Schluß, daß die Prinzipien der 
Mathematik freilich begreiflicher sind als die des Glaubens, daß aber‘ 
die Klarheit der ersteren nicht größer ist als die Glaubwürdigkeit der 
letzteren, und daß die menschliche Vernunft so wenig verletzt wird’ 
durch Aneignung der dunkelsten Dogmen, als durch Anerkennung 
der überzeugendsten mathematischen Beweise. Nach dieser Vorbe- 
merkung kommt Luino zu seinem Hauptgegenstande, wobei er aber 
zur Klarlegung der Prinzipien der Differentialrechnung keinen wesent- 
lichen Beitrag liefert. Er erwähnt eine Schrift von Boscovich!): 
De natura etusuinfinitorum, etinfinite parvorum (Rom 1740), 
in welcher gezeigt wird, daß sich die Fehler, die man dadurch begeht, 
daß man Größen durch andere ersetzt, die sich von diesen um Größen 
niederer Ordnung unterscheiden, während der Rechnung gegenseitig 
aufheben. 

Auch Odoardo Gherli, Dominikaner, Professor der Theologie 
und Mathematik, geboren zu Guastalla bei Reggio 1730, gestorben 
zu Parma am 6. Januar 1780, spricht in seinen Elementi?) analoge 





Riccardi (Bibl. mat. it.) sagt, daß diese Schrift keine typographische Angabe 
enthält, und auch das von mir durchgesehene, der Universitäts-Bibliothek zu 
Pavia gehörende Exemplar trägt weder Druckort noch Datum. 

t) Der Abt Ruggiero Giuseppe Boscovich (s. o. 8. 420), 
geboren zu Ragusa am 18. Mai 1711, war zugleich Philosoph, Dichter, 
Geodät, Astronom und Archäolog. Er wurde oft vom Papst über tech- 
nisch e und ökonomische Fragen zu Rate gezogen, beschäftigte sich mit 
einer Gradmessung im päpstlichen Staat, machte lange Reisen und ent- 
deckte die Trümmer von Troja. Er lehrte in Pavia, Mailand und Pisa, 
worauf er nach Frankreich übersiedelte als Direktor der optischen Abteilung 
der Marine. Später war er wieder in Italien, um die Drucklegung seiner Werke 
zu besorgen, welche in Bassano in fünf Bänden erschienen; aber der Schmerz, 
dieselben nicht so sehr gesucht zu sehen, als er hoffte, trübte seinen Geist, und 
nicht viel später starb er in Mailand, am 13. Februar 1787 (A. Fabroni, 
Elogio dell’ Ab. Ruggiero Giuseppe Boscovich, Mem. Soc. I. 1) IV 
(1788), p. VO—XLVD. ?), Gli elementi teorico-pratici delle matema- 
tiche pure, 7 Bde., Modena 1770—1777 (s. o. 8. 47, 76). 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 657 


Ideen aus. Die veränderlichen Größen werden als aus dem Fließen 
eines erzeugenden Elementes entstanden gedacht. Die zwischen O0 
und einem endlichen Zuwachse liegenden Größenstufen heißen, wenn 
sie kleiner sind als jede angebbare Größe, unendlichklein. Solche 
Gebe Errmen in de Difererkierechuung vor; diese ist aber nicht 
auf dieselben begründet, sondern bedient sich dieser Größen, um die 
Grenzen veränderlicher Größen zu bestimmen, so daß die Differential- 
rechnung nichts anderes ist, als die Methode von den letzten Ver- 
hältnissen. Da also bei der Berechnung dieser Verhältnisse die un- 
endlichkleinen Differenzen der veränderlichen Größen verschwindend 
sind, so dürfen sie vernachlässigt werden. 

Nur der Vollständigkeit wegen erwähnen wir eine kleine Schrift 
von H.W. J. von Stamford'), geboren zu Bourges, gestorben zu 
Hamburg am 16. Mai 1807, Hauptmann im preußischen Ingenieur- 
korps, welche nichts Interessantes darbietet. 

Mit den Grundlagen der Infinitesimalrechnung beschäftigte sich 
lange und wiederholt Johannes Schultz?), Hofprediger und Professor 
der Mathematik in Königsberg, geboren zu Mühlhausen am 11. Juni 
1739, gestorben zu Königsberg am 27. Juni 1805, welcher auch ein 





') Versuch, die Grundsäzze des Differential- und Integral- 
kalkuls vorzutragen, ohne die Begriffe von den unendlich- 
kleinen Größen hineinzubringen, Berl. Mag. der Wiss. und Künste, 
I 1 (1784), 8. 3—36. °) De geometria acustica seu solius auditus ope 
exercenda, Diss. prima, Königsberg 1775; De geometria acustica necnon 
de ratione 0:0 ceu basi caleuli differentialis, Diss. secunda, Königs- 
berg 1787. — Versuch einer genauen Theorie des Unendlichen, Königs- 
berg-Leipzig 1788. — Anfangsgründe der reinen Mathematik, Königs- 
berg 1790. — Kurzer Lehrbegriff der Mathematik, 3 Bde., Königsberg 
1797—1806. — Da der Titel der ersten dieser Schriften den Leser wohl stutzig 
machen kann, so halten wir es für angemessen, etwas davon zu sagen.. Schultz 
setzt sich als Zweck vor, die Probleme der Feldmessungskunst mit alleiniger 
Hilfe des Gehörs aufzulösen. Will man drei Punkte B, C, D mit einem unsicht- 
baren Punkte A verbinden, so kann man aus der Kenntnis der Zeiten, in welchen 
ein und derselbe in A geschehene Schuß in B, C, D gehört wird, die Differenz 
der Abstände AB, AC, AD entnehmen; es kommt also alles auf das folgende 
geometrische Problem an: Die Abstände AB, AC, AD zu bestimmen, wenn 


BC, BD, BoD, AB— AO, AC— AD gegeben sind. Liegen die zu betrach- 
tenden Punkte nicht sämtlich in einer Ebene, so muß man vier Stationen B, C, 
D, E annehmen, und es entsteht das Problem: Die Kanten AB,AC, AD, AE 
einer viereckigen Pyramide zu bestimmen, wenn die Differenzen dieser Kanten 
und die Basis BODE gegeben sind. — Gehören im ersten Problem B,C,D 


einer und derselben Geraden an, so kommt AB in der Form r vor, was dem 
Verfasser die Gelegenheit darbietet, ein langes Scholium den Prinzipien der 


Differentialrechnung zu widmen. damen E 


658 Abschnitt XXV1. 


besonderes Werk diesem Gegenstande widmete. Schultz denkt die 
_Infinitesimalgrößen als genau gleich Null, und die Differentialrech- 
nung als eine Rechnung mit Nullen, welche die Bestimmung der 
letzten Verhältnisse der Inkremente de Zweck hat; man erhält die- 
selben dadurch, daß man in den Verhältnissen der Inkremente die 
Inkremente selbst gleich Null setzt, woraus folgt, daß die Differential- 
rechnung ganz streng ist. Das von Null verschiedene Unendlichkleine 
ist blok eine Fiktion, welche aus der Analysis verbannt“werden muß. 


Daß 2 einen verschwindenden, endlichen oder unendlichen Wert an- 


| nehmen kann, läßt sich wie folgt beweisen. Betrachtet man rn als 


ein Verhältnis, so gelten die Relationen: 
a:b 
0:07: 388° L, 

0:a 


weil: 


:0=-a-0, 1.02 80 


betrachtet man dasselbe als einen Bruch, so gelten die Relationen: 


a 
0 b 
0-'. ep 
0 
weil: 
a 
7.09 ©.0-0, 0.09=0. 
. e.% nT dx _2y a0 ; 
Leitet man aus 2 =y? die Relation € ab, so ist dieses 
nichts anderes als ni = Er die Nullen dz, dy sind der Quantität 


nach gleich, der Qualität nach ‚verschieden. Die Ähnlichkeit mit den 
_Eulerschen und Torellischen Nullen i ist einleuchtend. 

Weiter verbreitet sich Schultz über den "Begriff vom Unend- 
lichen. Einige von seinen Bemerkungen über diesen Gegenstand ver- 
dienen hervorgehoben zu werden, da sie manche Ideen im Keime 
enthalten, deren Entwicklung der G. Cantorschen Mannigfaltigkeits- 
lehre vorbehalten war. Das absolut Unendliche hat eine reelle Existenz; 
die absolut unendlichen Größen sind nicht sämtlich gleich und lassen 
sich untereinander vergleichen. Die „allereinfachste und erste“ un- 
. endliche Menge ist 1+1-+---; sie kann durch © bezeichnet werden. 
Dann ist auch 2+2+:--= ©, denn jedes 2 kann durch 1+1 
ersetzt werden. In anderer Beziehung ist aber 2 +2 +:.::=2®, 
denn man kann die Reihe2+2 +... indie zweiReihen1+1-+---, 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 659 


1-+1-+:+- spalten. Welcher von den beiden Standpunkten der 
richtige sei, hängt von der Natur der in jedem besonderen Falle zu 
behandelnden Frage ab. Hat man mit einer Linie zu tun, so kann 
2+2-+.:.. nichts anderes als 1+1---- bedeuten (m. a. W., es 
kommt auf dasselbe hinaus, ob man auf eine Gerade unendlich viele 
Strecken von der Länge 1 oder von der Länge 2 nimmt); bewegt 
man sich dagegen in der Ebene oder im Raume, so kann man die 
Reihe in andere zerlegen, so z.B. kann man die Strecken 1+1-+-.. 
auf einer Geraden und die Strecken 1+1---- auf einer anderen 
nehmen, woraus 2+2-+-:-—=2oo folgt. In analogem Sinne kann 
man schreiben: | 
1+53+5+:--.: = 002 

Der Satz, daß das Ganze größer ist als jeder Teil, besteht nicht 
unbedingt für unendliche Größen, wie sich leicht aus der Bemerkung 
folgern läßt, daß alle Halbstrahlen einander kongruent sind. 

Die zweite Abteilung des Versuches ist der „Meßkunst des 
Unendlichgroßen“ gewidmet. Es ist kaum nötig hervorzuheben, daß 
dieser Gegenstand jedes Interesses entbehrt; der Verfasser selbst 
schließt, nachdem er sich bemüht hat, einen unendlichen Kurvenast 
zu rektifizieren, daß die Länge eines solchen Astes immer o0y ist, 
wo y eine endliche Größe bezeichnet, so daß die Rektifikation nutz- 
los erscheint. 

Eine andere mehr philosophische als mathematische Schrift ist 
der J. Schultz gewidmete Versuch von Bendavid.!) Lazarus | 
Bendavid, geboren zu Berlin am 18. Oktober 1762, gestorben da- 
selbst am 28. März 1832, ist wohl bekannt als eifriger Kantianer; er 
hatte aber eine so ausgezeichnete mathematische Bildung, daß Käst- 
ner von ihm sagte, er wäre würdig, jeden Lehrstuhl Deutschlands, 
mit alleiniger Ausnahme des von ihm selbst innegehabten, zu be- 
steigen. | 

Bendavid wirft sich drei Fragen vor: Was ist das mathema- 
tische Unendliche? Darf man hoffen, in der Rechnung mit unend- 
lichen Größen eine gleiche Evidenz zu erreichen, wie in der Elementar- 
geometrie? Welchen Einfluß hat die Klarheit der Prinzipien auf die 
Stichhaltigkeit der Resultate? — Unendlich heißt eine Größe, wenn 
sie nicht meßbar ist; das Unendliche stellt also nicht eine Quantität, 
sondern eine Eigenschaft dar. Die Unmeßbarkeit kann entweder vom 
Fehlen jeder Quantität herrühren (wie z.B. für einen Punkt), oder 
von der Unmöglichkeit, die Quantität vollständig anzugeben (wiez.B.- 





') Versuch einer logischen Auseinandersetzung des mathema- 
tischen Unendlichen, Berlin 1789, 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 43 


660 Abschnitt XXVI. 


für tang =); im ersten Falle heißt die Größe unendlichklein, im 


zweiten unendlichgroß. Das Unendliche fällt, als Gegenstand der 
Arithmetik betrachtet, mit der Null zusammen. Diese sonderbare 
Behauptung wird wie folgt bewiesen. Jede Größe kann, vom 
arithmetischen Standpunkte aus, nur in bezug auf eine Maßeinheit 
gedacht werden; nur die Null läßt sich absolut denken; da also das 
Unendliche nicht meßbar ist und daher nur absolut gedacht werden 
kann, so muß es mit der Null übereinstimmen. Dies festgesetzt, 
fragt sich Bendavid, wie ein solcher Begriff in der Arithmetik 
Platz finden kann. Diese Frage, welche aus den Prämissen ganz 
logisch folgt, hätte wohl Bendavid von der Unhaltbarkeit seiner 
Ideen überzeugen sollen; dagegen beantwortet er sie dadurch, daß er die 
mathematischen Resultate auf den Gewißheitsgrad von Analogieschlüssen 
herabsetzt. Es gibt, sagt er, physische und metaphysische Begriffe, 
die wir nur unvollständig besitzen, und aus welchen wir zwar nicht 
apodiktische, wohl aber problematische Sätze ableiten können; man 
kann z. B. aus der zwischen der Erde und dem Monde stattfindenden 
Ähnlichkeit schließen, daß es auch im Monde Berge, Flüsse, lebende 
Wesen gibt. Auf gleiche Weise verfährt man in der Mathematik. 
Die Ausdrücke © +a, de -+ a, wo oo das Unendlichgroße, dx das 
Unendlichkleine bezeichnet, haben für sich selbst keine Bedeutung; 
denn man kann nieht eine Eigenschaft und eine Größe zusammen- 
addieren, Von den zwei Summanden muß also einer wegfallen. Im 
ersten Fall verschwindet der zweite Summand, da das Unendliche 
nicht mehr unendlich wäre, wenn es sich durch Hinzufügung einer Gröbe a 
vermehren ließe; im zweiten Fall ergibt sich de+a=a durch Ana- 
logie mit den sehr kleinen Größen. Das Produkt no drückt die 
Wiederholung eines und desselben Begriffes aus, wie z. B. Tangenten 
von rechten Winkeln; als Summe betrachtet ist noo = ©. Daß 


“© — dx, folgt aus Analogie; man kann auch bemerken, daß — eine 
00 © 


auf ein unendliches Maß bezogene endliche Größe darstellt. Auf ähn- 
liche Weise lassen sich andere infinitäre Ausdrücke, wie re dc + dx, 


ad usw. deuten. Aus dem Gesagten schließt Bendavid, daß die 
Theorie des Unendlichen als eine „unmathematische Wissenschaft“ 
angesehen werden darf, welche keineswegs die Evidenz der Elementar- 
mathematik besitzen kann; daß aber dennoch ihre Schlüsse ganz 
streng sind, da der Begriff vom Unendlichen widerspruchsfrei ist. 
Wir möchten fast sagen: je unmathematischer die Bendavidsche 
Theorie des Unendlichen ist, desto unphilosophischer ist sein 
Schlußsatz! 


TREE Se rau 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 661 


Nachdem wir die Verteidiger der Infinitesimalmethode besprochen 
haben, kommen wir auf diejenigen, welche diese Methode durch an- 
dere bekannte oder neue zu ersetzen versuchten. 

Noch am Anfang unserer Periode begegnen wir einem englischen 
Gelehrten, mit dessen Namen eine merkwürdige, am passenden Orte 
zu besprechende Entdeckung im Gebiete der elliptischen Integrale 
verbunden ist, John Landen, Mitglied der Royal Society, geboren 
am 23. Januar 1719 zu Peakirk bei Peterborough, gestorben am 
15. Januar 1790 zu Milton. In seiner Residual analysis!) nennt 


Yı 


er Spezialwert des Quotienten u, wobei %, y, ähnliche Funk- 


tionen von &, x, darstellen, den Wert dieses Quotienten für 2, —=z; 





er bezeichnet den Spezialwert von = mit [£ — y]. Die Berech- 
1 


nung solcher Ausdrücke, oder die residual division, geschieht aber 
selbstverständlich durch Grenzübergang, so daß die Landensche Me- 
thode nichts wesentlich Neues darbietet. 

Ein hierher gehöriger, nicht sehr bekannter italienischer Schrift- 
steller ist Niccola Fiorentino. Geboren in Unteritalien, war er 
ÖOberaufseher der königlichen Schulen zu Bari, dann Advokat und 
Professor der Mathematik zu Neapel, und starb an dem Galgen am 
12. Dezember 1799, ein Opfer der damals in dem neapolitanischen 
Königreich wütenden Reaktion?) Im Jahre 1782, bei Gelegenheit 
einer in Neapel stattgefundenen Öffentlichen Diskussion über eine 
mechanische Frage, gab er ein kleines Buch heraus mit dem Titel: 
Saggio sulle quantitä infinitesime e sulle forze vive e 





t) Der ausführliche Titel ist: The residual analysis, & new branch 
ofthe algebraic art, of very extensive use, both in pure mathe- 
matics, and natural philosophy, Book I (vereinzelt), London 1764. 

?) Es möge uns erlaubt sein, sein Todesurteil (5. Dezember 1799) hier wieder- 
zugeben: „Niccola Fiorentino, ch’era stato da Sua Maestä degnato per molti 
anni dei governi regi; per aver spiegato nell’ entrata dei Francesi il suo carat- 
tere diametralmente opposto al suo benefattore, per aver dato alla luce due 
proclami in istampa, uno diretto ai giovani cittadini studiosi, relativo al van- 
taggio del governo repubblicano e l’imposture contro le sacre persone, e l’altro 
contenente un ragionamento sulla tranquillitä della repubblica, per esser stato 
autore di un Inno a S. Gennaro per la conservazione della libertä, pieno di 
scostumatezze; per esser stato autore delle note in stampa alla costituzione 
della repubblica; e finalmente per esser stato ascritto nell’ elenco della Societä 
popolare, con aver aggiunto al suo nome e cognome di essere vero demo- 
eratico; & stato condannato a morir sulle forche colla confisca dei beni, con 
essersi disposta l’esecuzione della sentenza‘“ (A. Sansone, Gli avvenimenti 
del 1799 nelle Due Sieilie, Palermo 1901, p. 274). — Siehe auch: 
P. Colletta, Storia del reame di Napoli, Capolago 1834, Bd. II, p. 166 
bis 168. 


43* 


ABA L ri 


ER 


662 Abschnitt XXVI, 


morte'), wobei der eigentlichen Behandlung des Hauptgegenstandes 
ein langer Abschnitt über unendlichkleine Größen vorangeht, welcher 
allein uns interessiert. In bezug auf die in der höheren Analseie an- 
" züwendenden Methoden ist Fiorentino Eklektiker. Die beste Methode, 


\sagt er, ist die Cavalierische; sie ist lichtvoll, gedrängt, elegant, 


und gibt zu keinem Bedenken Veranlassung. Da aber nicht alle mit 
dem, was aus der Indivisibilienmethode abgeleitet wurde, zufrieden sein 
werden, und da andererseits auch die Fluxionsmethode sicher und 
elegant ist, so hält es Fiorentino für gut, die Infinitesimalmethode 
vermittels der Fluxionsmethode zu prüfen. Vergleicht man die nach 
den beiden Methoden gegebenen Beweise der Formel für die Ablei- 
tung eines Produktes xy, so bemerkt man, daß der als eine unendlich- 
kleine Größe zweiter Ordnung zu vernachlässigende Bestandteil dzdy 
eigentlich aus dem Grunde vernachlässigbar ist, daß er der Fluxion 
von xy nicht angehört. Von der Infinitesimalrechnung darf man nur 
das behalten, was sich durch die Fluxionsmethode nachweisen läßt; 
das übrige ist unsicher. Daß dennoch die Infinitesimalrechnung zu 
richtigen Resultaten führt, rührt davon her, daß die Fehler sich gegen- 
seitig aufheben. 

Auch Jakob II. Bernoulli erklärt sich für die Fluxions- 


.methode?); er äußert aber den Wunsch, daß die langen und pein- 


lichen Maclaurinschen Beweise ohne Beeinträchtigung der Strenge 
vereinfacht werden mögen. :J. Bernoulli gehört einer Familie an, 
die in der Geschichte der Infinitesimalrechnung eine Hauptrolle ge- 
spielt hat. Sein Vater war Johann II. (diese Vorl., IIP, 8. 325). 

wurde am 17. Oktober 1759 in Basel geboren, war Substitut seines 
Onkels Daniel von 1780 bis zu dessen Tode (1782) am Lehrstuhl 
der Physik, konnte aber seine Nachfolge nicht erhalten. Er war in 
Italien als Sekretär des österreichischen Gesandten in Venedig, und 
machte Bekanntschaft mit manchen italienischen Geometern. Nach 
Lexells Tode (1786) wurde er zum Adjunkten an der Petersburger 





) Das Buch trägt weder Datum, noch Druckort. Der Verfasser sagt aber, 
er habe zu Neapel „im vergangenen November“ von einer dort geschehenen 
Diskussion gehört, über welche d’Alembert und Lagrange um ihre Meinung 
gefragt worden wären, und man findet in Lagranges Briefwechsel (Oeuvres 
T. XIV, Paris 1892, p. 279—282) ein Schreiben vom 13. Oktober 1781, welches 
sich unzweifelhaft auf denselben Gegenstand bezieht, so daß man mit Sicherheit 
schließen kann, das-Buch_ sei zu Neapel-im-Jahre_17 782 gedruckt worden. 


"®) Essai d’une nouvelle manidre d’envisager les differences ou les 


fluxions des quantitds variables, par M. Bernoulli, M&em. Acad. Turin 
1784—85 (publ. 1786), Mem- des corresp., p. 141—153; es folgt eine Addition 
von Caluso (p. 158—159). Daß der Verfasser Jak. II. Bernoulli ist, erhellt 
aus einer Note zu einer alsbald zu besprechenden Abhandlung von Caluso. 








Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 663 


Akademie ernannt; später wurde er ordentlicher Akademiker und Pro- 
fessor der Kadetten (1788). Im Jahre 1789 heiratete er eine Tochter 
von Johann Albrecht Euler, Sohn Leonhard Eulers; zwei 
Monate später, am 3. Juli 1789, während er sich in der Newa badete 
wurde er vom Schlag gerührt, und starb bald darauf. Seine Schriften, 
welche in den Nova Acta Acad. Petrop. erschienen sind, be- 
treffen sämtlich die Mechanik, mit alleiniger Ausnahme der soeben 
angeführten.!) ’ | 

Wie J. Bernoulli uns erzählt, lehrte ihn sein Vater die Größen 
nicht als zu- oder abnehmend, sondern als mit der „Anlage“ („dis- 
position“) zu- oder abzunehmen behaftet zu betrachten; so sind da, 
dy die Anlagen von x, y. Die Anlagen sind, wie Bernoulli erkennt, 
von den in der Fluxionsrechnung vorkommenden Geschwindigkeiten 
nicht wesentlich verschieden; andererseits wird die durch den neuen 
Begriff zu erzielende Vereinfachung ganz auf Kosten der Strenge er- 
halten. Sehen wir zu, wie Bernoulli die Anlage eines Produktes 
%y berechnet. Wäre nur x veränderlich, so wäre ydaz die Anlage 
von %y; wäre nur y veränderlich, so wäre sie xdy; sind also x und 
y zugleich veränderlich, so finden beide Anlagen zugleich statt, und 
die Gesamtanlage ist ydx+ xdy. Aber auch die vermeinte Einfach- 
heit verschwindet, sobald schwierigere Aufgaben vorliegen, und Ber- 
noulli selbst bekennt andererseits, daß sich die von ihm bei der 
Auflösung dieser Aufgaben befolgte Methode mit der Grenzmethode 
deckt. 

Auch der schon genannte Caluso ist unter die Anhänger der 
Fluxionsmethode zu rechnen. Tomaso Valperga di Caluso, ge- 
boren 1737 in Turin, gehörte einer angesehenen Familie an. Nach- 
dem er seinem König als Marineoffizier gedient hatte, zog er sich als 
Geistlicher nach Neapel zurück, von wo er später (1769) nach seinem 
Vaterlande zurückkehrte. Dort war er Sekretär der Akademie der 
Wissenschaften, Direktor der Sternwarte und Professor der orientali- 
schen Sprachen an der Universität. Er starb am 1. April 1815. 
Seine zahlreichen Schriften beziehen sich auf Philosophie, Sprach- 
wissenschaft und Literaturgeschichte; auch ist er Verfasser von ita- 
lienischen, lateinischen und griechischen Dichtungen. Seine Freund- 
schaft mit Vittorio Alfieri ist allbekannt; der berühmte Tragödien- 
schreiber sagte, er verdankte es Caluso, wenn er sich der Unwissen- 


heit entzogen habe, in welche er bis zu seinem 27. Jahre getaucht 
gelegen war. 


7 





.) Preeis de la vie de M. Jacques Bernoulli, Nov. Acta Acad. Petrop. 
VI, 1789 (publ. 1793), Hist., p. 23-32. 


664 Abschnitt XXVL 


Caluso widmet eine lange Abhandlung!) der Verteidigung der 
Fluxionsmethode; er bekämpft besonders die Meinung, der Geschwin- 
digkeitsbegriff sei ein der reinen Analysis fremdartiges Element. Er 
versucht aber auch, den Grund der Richtigkeit der durch die Infini- 
tesimalmethode erhaltenen Resultate aufzudecken. Dazu bedient er 
sich der Rechnung mit unmöglichen Größen — so nennt er die 
unendlichen und die unendlichkleinen Größen. Ist: 


ya +bar it... + AR, 


und dividiert man mit x”, so ıst für = ©: 





y b Ars; 
a ar 
es ist aber: _ 
b A 
ee ’y Zu 


folglich: 


Y-a 
& . 
Dividiert man dagegen mit x, so ist für 2=0: 
2 =a.#1+5.00024..-+4A=A. 


Hieraus folgt die Regel, daß man für «—= © nur das Glied mit 
dem größten, für &—= 0 nur dasjenige mit dem kleinsten Exponent 
beibehalten muß. 

Es ist schon oben erwähnt worden, daß Lagrange den Versuch 
machte, die Infinitesimalmethode durch eine neue Methode zu ersetzen. 
Es ist jetzt Zeit, seine Ideen auseinanderzusetzen. 

Lagrange befolgt einen Weg, der dem gewöhnlichen umgekehrt 
ist. In der Infinitesimalreehnung geht man nämlich von der auf 
" Grenzbetrachtungen sich gründenden Definition der Ableitungen der 
ersten und der höheren Ordnungen aus, um zum Beweis der Taylorschen 
Reihenentwicklung zu kommen, deren Koeffizienten die mit Zahlen- 
faktoren behäfteten Ableitungen aller Ordnungen der zu entwickelnden 
Funktion sind. Ließe sich daher, so denkt Lagrange, die Taylorsche 
Entwicklung einer Funktion direkt auffinden, so könnte man aus der- 
selben sämtliche Ableitungen der Funktion ohne weiteres ablesen. 

Nun gibt aber die Reihentheorie eine Entwicklung von der Form: 


fe +9=- fa) tpita®+:-:. 





1) Des diff6rentes manieres de traiter cette partie des mathe- 
matiques que les uns appellent calcul differentiel et les autres 
m6thode des fluxions, Mem. Acad. Turin, 1786—87 (publ. 1788), p. 489 
bis 590. 


EROERRN ’ 
ESEL Kali ei tn neh. 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 665 


Um indessen nichts unbewiesen zu lassen („mais pour ne rien 
avancer gratuitement“), will Lagrange vor allem zeigen — was 
niemand vorher getan habe —, daß die Reihe, ausgenommen für be- 
sondere Werte von x, keine gebrochenen Exponenten enthalten darf. 


m 


Käme nämlich eine gebrochene Potenz öi” von i vor, so müßte sie 
von in f(x) existierenden Wurzelgrößen herrühren; f(x) wäre also 
eine mehrwertige Funktion, und die Ersetzung von & durch +; 
würde weder die Anzahl, noch die Beschaffenheit dieser Größen um- 
ändern, so daß f(x) und f(x + i) für jedes Wertepaar x, eine gleiche 


Anzahl von verschiedenen Werten erhalten würden. Andererseits ließe 


sich jeder Wert von f(x) mit jedem Werte von öi* kombinieren, so 
daß sich eine weit größere Anzahl von Werten für f(x + i) ergeben 
müßte, woraus der Widerspruch. 

Dieses vorausgeschickt, muß man beachten, daß, da sich f(x + i) 
für «= 0 auf f(x) reduziert, die Differenz f(x +) — f(a) für i= 0 
verschwindet, also eine positive Potenz von ‘ als Faktor enthalten 
muß („... sera ou pourra &tre censee multipliee par une puissance 
positive de ;“), deren Exponent nach dem Gesagten notwendig ganz- 
zahlig ist. Man kann also schreiben: 


fa+)=f(@a) +iP. 
Eine analoge Schlußweise ergibt: 
P=p+iQ, Q=qg+iR, Rer+iß,..., 


also: 
(3) fe +9=-f@)+ir+Ög+tört+:::. 

Die Bestimmung von 92, q,r,... läßt sich entweder durch direkte 
Berechnung, oder durch Fortschaffung der etwa vorkommenden Wurzel- 
größen, oder endlich durch die Methode der unbestimmten Koeffizienten 
bewerkstelligen. Ein Beispiel mag die Anwendung der drei Methoden 
erleuchten, wobei wir uns freilich, der Kürze wegen, auf die Berech- 
nung von p beschränken. 


Es sei f(«)=Yx. Man hat: 








R rag“ br i 
a) A A Ka a Te 
also: 
br 1 
und für =: Kate 
1 
2 aye’ 


b) Veti=ya+ip, 


666 Abschnitt XXVI. 


also: d 
2 +i=x+2iPyx + W@P, 
oder: 


1=2Pyz+iP: 
woraus für i= (0 abermals folgt: 
1 
* Ahr 2YVx’ 
co) Veti=-Ve+ip+ig+t:--, 


also: 
a +i= (Vatip+ gt) =a+2ipye+®(2gVe+P)+t, 


und hieraus durch Vergleichung der beiderseitigen Koeffizienten der 


ersten Potenz von ®: 
1 


Payye 


Ist so die Reihe (3) ermittelt worden, so muß man sehen, ob 


sie konvergent ist. Betrachtet man ö als die Abszisse, :P als die 
Ordinate einer Linie, so geht diese durch den Koordinatenursprung, 
und so lange dieser kein singulärer Punkt ist, nähert sich die Linie 
beständig der Abszissenachse; es läßt sich folglich © so klein an- 
nehmen, daß öP kleiner sei als eine beliebig vorgegebene Größe. Es 
ist also z. B. für hinreichend kleine Werte von ?: 


iP<f(@), 
und man kann analog erhalten: 


iQ<p, iR<g .-., 

oder: 

ET 
Es ist aber: 

iP=iwH+VWqa+ter-+---, 

BQ=-lgdtÜrt+---, 

R=Ür+:-:, 
man kann also ö so klein annehmen, daß für diesen Wert und um so 
mehr für alle kleineren Werte von i jedes Glied der betrachteten 
Reihe größer ausfällt als die Summe aller darauffolgenden Glieder, 
womit die Konvergenz nachgewiesen ist. 


tungen einer Funktion durch rein algebraische Operationen zu erhalten. 


Die Lagrangesche Methode erlaubt uns also, sämtliche an 


Leider gibt sie zu manchen Bedenken Anlaß, auf deren Erör- 








Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 667 


terung wir hier verzichten müssen.!) \Merkwürdig ist es, daß Lagrange 


seiner Aussage, auf eine Funktion „insofern als sie in eine Reihe ent- 
wickelbar ist“ (‚„autant que cette fonetion est susceptible d’ötre reduite 
en une serie“) angewandt werden kann. 

Analoge, aber bei weitem nicht so bekannte neue Methoden sind 
der antecedental caleulus von James Glenie (Glenie oder 
Glennie, geboren zu Fyfe 1750, gestorben zu Chelsea am 23. No- 
vember 1817, Artillerieoffizier im amerikanischen Kriege, dann Pro- 
fessor der Mathematik an der Militärschule der East India Company), 
die Exponentialrechnung von Johann Pasquich (Geistlicher, 
Professor und Astronom zu Ofen, geboren zu Wien 1753, gestorben 
daselbst am 15. November 1829), und der caleul d’exposition von 
dem schon oben erwähnten J. Ph. Grüson.?) 

Der antecedental calculus stimmt, wie der Erfinder selbst sagt, 
mit der Fluxionsrechnung überein; der antecedental einer Funk- 
tion ist ihre Ableitung, der antecedent ist ihr Integral. 

Pasquich hält jede Rechnung, welche die Differentialrechnung 
zu ersetzen zum Zwecke hat, für ganz entbehrlich; andererseits aber 
denkt er, seine Methode verdiene wegen ihrer „Einfachheit, Gründlich- 
keit und Allgemeinheit“ eine größere Beachtung als jede andere ana- 


') Siehe S.Dickstein, ZurGeschichte der Prineipien der Infinitesi- 
malrechnung. Die Kritiker der „Theorie des fonctions analytiques“ 
von Lagrange in der Cantor-Festschrift (Leipzig 1899), 8.65—79. 2 Glenie, 
A_short paper on the prineiples of the antecedental calculus, 
Trans. R. Soc. Edinburgh, IV (1798), p. 65—82. Von zwei früheren, in dieser 
Schrift zitierten Arbeiten von Glenie, Universal comparison und Ante- 
cedental calculus, konnte ich keine Kenntnis haben. — Pasquich, An- 
fangsgründe einer neuen Exponentialrechnung, Archiv der reinen und 
angew. Math. II (1798), 8. 385—424. Siehe auch eine Anmerkung des Heraus- 
gebers des Archives (Hindenburg), wo eine im Intelligenzblatt der Allg. litt. 
Zeit. 1798, Nr. 99 erschienene Nachricht von Pasquich über seine neue Rech- 
nung und desselben Unterricht in der mathematischen Analysis und 
Maschinenlehre angeführt wird. — Grüson, Le caleul d’exposition\\ 
invente par J. Ph. G., Mem. Acad. Berlin 1798 (publ. 1801), p. 151—216, 1799 ) 
und 1800 (publ. 1808), p. 157—188. — Ein anderer Versuch, die Leibnizsche 
Methode zu verdrängen, rührt von L. F. A. Arbogast (1759—1803) her, der im 
Jahre 1789 der Pariser Akademie eine Schrift vorlegte mit dem Titel: Essai 
sur des nouveaux principes de caleul differentiel et integral, ind6&- 
pendants de la theorie des infiniment petits, et de celle des limites, 
Da aber die Abhandlung nicht veröffentlicht wurde, und die Arbogastsche 
Methode erst 1800 im Druck erschien (Arbogast, Caleul des derivations, 
Strasbourg 1800), so möge die Besprechung dieser Methode dem Verfasser des \ 
V. Bandes überlassen werden. 


668 - Abschnitt XXVI. 


loge. Er geht von diesem Postulat aus: Jede Funktion y von x läßt 
sich unter der Form: | 
y=Ax+Be+--- 

annehmen, sei es, daß sie wirklich diese Form besitzt, oder daß sie 
. auf dieselbe durch Reihenentwicklung gebracht werden kann. Setzt 
man nach der heutigen Schreibweise: | 

y- As“, 
so heißt die Funktion: 

ey = ZaAx" 
das Exponential von y, y die exponentiierte Funktion von ey. 
Aus dieser Definition ergeben sich von selbst die Regeln für die Be- 
stimmung des Exponentiales einer Summe, eines Produktes, einer 
Potenz und eines Quotienten; es folgt dann die Binomialreihe und 
die Taylorsche Entwicklung. Dieser letzteren bedient sich Pasquich 
zur Auffindung des Exponentiales einer beliebigen Funktion. Aus der 
Entwicklung: 


Ay N + I Adt+.: = 


2!x 

wo allgemein: 

a Ey 

ie Fuel 
ist, folgt nämlich: 

xAy ey 

As. ar +5 ‚As +: 
dieses on nähert sich bei unbeschränkt abnehmendem Az dem 


Werte Y ‚ sodaß &y die Grenze von a ist. Findet man allgemein 


für ein beliebig kleines Ax sowohl: 


ud FPYAcH 


als 
zAy 


so ist notwendig &y=Z. Das mag wohl genügen, um den Leser zu 
überzeugen, daß Pasquich nur neue Namen für altbekannte Sachen 
eingeführt hat. 

Eine auffallende Ähnlichkeit, selbst in der Nomenklatur, mit der 
Pasquichschen Methode zeigt die Grüsonsche'). 





) In der oben erwähnten Nachricht bemerkt Pasquich, daß Grüson 
in der Vorrede zur Übersetzung der Lagrangeschen Funktionentheorie seinen 
neuen Exponierungscalcui voranmeldet; er versichert aber, er sei seit 
neun Jahren im Besitz seiner Exponentialrechnung, und habe dieselbe vor fünf 
Jahren dem Prof. Kraft in St. Petersburg ee dann einigen deutschen Gelehrten 
mitgeteilt. 


Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 669 


Nach Grüson ist seine Methode, die er noch vor der Heraus- 
gabe des Lagrangeschen Werkes erfunden habe, einfacher und licht- 
voller als die der Infinitesimalrechnung, da sie sich nur wohlbekannter 
algebraischer Prinzipien bedient. Man kann aber voraussehen, daß 
die Einfachheit auf Kosten der Strenge erhalten wird. Wie es scheint, 
nimmt Grüson als selbstverständlich an, daß jede Funktion sich 
in eine Reihe von ganzen oder gebrochenen Potenzen der Veränder- 
lichen entwickeln läßt. Sein Verfahren ist folgendes. Ist F eine 
Potenzreihe von x mit ganzen positiven Exponenten, so findet offen- 
bar dasselbe für F” für jedes ganze und positive m statt; es läßt 


sich ferner nachweisen, daß auch 5, und folglich Em; in eine solche 
Reihe entwickelbar ist. Grüson will zeigen, daß F'* dieselbe Form 
hat wie F. Da F" und F” gleiche Form haben, so muß dasselbe, sagt er, 


von F* und F folgen. Da aber, fügt er am Ende seiner zweiten 
Abhandlung hinzu, mein Beweis einige Zweifel im Geiste der Geo- 
meter nachgelassen hat, so gebe ich einen zweiten an, der nichts zu 
wünschen übrig läßt. Enthielte die Entwicklung einer Funktion f 
eine gebrochene Potenz von &, so würde diese Potenz ebenfalls in f” 
vorkommen, welche auch die ganze Zahl r sei. Nimmt man nun: 


N 
[=F", r=m 


an, so folgt f"= F”; es würde sich dann ergeben, daß F” eine ge- 
brochene Potenz von x enthalten sollte, was unmöglich ist. Das 
Resultat kann auch auf irrationale Potenzen einer Funktion F er- 
‚streckt werden, freilich aber auf Grund der folgenden Hilfssätze, die, 
wie leicht zu sehen, wesentlich der Grenztheorie angehören: Können 
%, y kleiner gemacht werden als jede angebbare gleichartige Größe, 
und ist: 
A<BbB+x, A>B-y, 
so st A=B. Ist: 
U=. ta ++ :--, 
V=-b,+b2+ba+:--, 
W=o+4a2% +920°+:--, 
ferner: 
Hi mc. =, 
wo n eine bestimmte Zahl bezeichnet, und ist V für alle Werte von 
x zwischen U und W enthalten, so folgt: 


=, bea,-.., =, 


Aus dem Gesagten läßt sich schließen, daß jede algebraische 


670 . Abschnitt XXVL 


oder transzendente Funktion von x nach ganzen positiven Potenzen 
von x entwickelbar ist. 

Ist dieses festgestellt, und bezeichnet F+AF den Wert der 
Funktion: 


F= Ax+BaP+...: 
für den Wert + Ax von &, so ergibt sich sogleich: 


F+AF=F+ (Aaat+ BBat +. )2E + QAar. 
Grüson schreibt: | 
IF= Aaux®+ Bpaf+---, 


und nennt diese Größe das Exponential (l’exponentielle) von F‘ 
Die Methode, welche lehrt, das Exponential einer Funktion zu finden, 
oder umgekehrt von dem Exponential einer Funktion zur Funktion 
selbst wieder emporzusteigen, heißt Expositionsrechnung (caleul 
d’exposition). 

Zum Schluß sei noch bemerkt, daß nicht alle, die sich mit In- 
finitesimalrechnung beschäftigten, es für nötig hielten, sich über die 
logischen Grundlagen derselben aufzuhalten; wir führen unter anderen 
in dieser Hinsicht die Lehrbücher von Saladini!), Marie und Bezout 
usf. an. 


Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 


Als wir versuchten, den allgemeinen Charakter unseres Zeitab- 
schnittes in bezug auf den von uns zu behandelnden Zweig der Ma- 
thematik zu schildern, sagten wir, es sei diese eine der Anordnung 
und Vervollständigung der früher ermittelten Resultate besonders ge- 
widmete Periode gewesen. Ein Zeugnis dafür ist die ungemeine Fülle von 


Lehrbüchern der höheren Analysis oder der gesamten Mathematik, die 


unserer Periode ihre Entstehung verdanken. Wir wollen eine rasche 
Übersicht dieser Werke übernehmen, die wir, bei der Unmöglichkeit 
jeder systematischen Anordnung, chronologisch durchmustern werden. 
Unsere Aufmerksamkeit werden wir vorläufig nur auf den Allgemein- 
plan jedes Buches und auf die darin befolgte Methode lenken, wäh- 
rend wir uns vorbehalten, das etwa vorkommende wissenschaftlich 
Neue an den gebührenden Orten zu besprechen. Wir schmeicheln 
uns keineswegs, ein vollständiges Verzeichnis der in unserer Periode 
erschienenen Lehrbücher unseren Lesern vorzustellen; das aber dürfen 
wir mit Sicherheit behaupten, daß das Unterlassene nicht imstande 





ı) Elementa geometriae infinitesimorum, Bononiae 1760. 


a 





Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 671 


sein kann, die Umrisse unseres wissenschaftlichen Bildes auch im min- 
desten zu verändern.') 

Heinrich Wilhelm Clemm, Professor und Prediger zu Beben- 
hausen bei Tübingen, dann Professor zu Stuttgart und Tübingen, ge- 
boren zu Hohen-Asperg am 13. Dezember 1725, gestorben zu Tübingen 
am 27. Juli 1775, gab zu Stuttgart im Jahre 1759 ein Lehrbuch der 
Mathematik mit dem Titel: Erste Gründe aller mathematischen 
Wissenschaften heraus, von welchem wir nur eines zu bemerken 
haben, daß nämlich der Verfasser die Infinitesimalrechnung nach der 
Fluxionsmethode, aber mit der Ausdrucksweise der Leibnizschen 
Methode behandelt. 

Ebenfalls im Jahre 1759 erschien die Geometria algebrica 
von Giambattista Caraccioli, geboren zu Rom am 29. Dezember 
1695, gestorben daselbst 1765.) Der zweite Band dieses Werkes 
behandelt die Elemente der Infinitesimalrechnung und deren Anwen- 
dung auf Kurvenlehre auf Grund der beiden L’Hospitalschen Po- 
stulate. 

Aus dem Jahre 1760 haben wir ein ausführliches Handbuch von 
Karsten?), welches aber nichts Merkwürdiges darbietet. 





1) Trotz der außerordentlichen Güte und Bereitwilligkeit der italie- 
nischen und ausländischen Bibliotheksdirektoren, welchen wir hier unseren 
wärmsten Dank ausprechen, waren uns die folgenden Werke unzugänglich: 
Martin, Institutiones mathematicae, London 1759; Müller, Traite 
analytique des sections coniques, fluxions et fluentes, Paris 1760; 
Mormoraj, Elementa analyseos, Pisa 1761; Berthelot, Cours de mathe- 
matiques, Paris 1762; Bergmann, Lectiones mathematicae, Prag 1765; 
Condorcet, Trait& du calcul integral, Paris 1765; Kies, Analyseosin- 
finitorum quaedam specimina, Tübingen 1765; Beck, Praelectiones 
mathematicae, Salzburg 1768—1780; Mako von Kerek, Calculi diffe- 
rentialis et integralis institutio, Wien 1768; Sauri, Cours complet 
de math&matiques, Paris 1774; Wydra, Primae calculi differentialis 
rationes, Prag 1774; Schmiedel, Institutiones calculi differentialis 
et integralis, Breslau 1775; Fontaine, Nouveau plan des mathema- 
tiques, Annecy 1777; Girault de Keroudou, Lecons analytiques du 
calcul des fluxions et des fluentes, Paris 1777; Antoni, Prineipii 
di matematica sublime, Torino 1779; Beck, Institutiones mathema- 
ticae, Salzburg 1781; Langsdorf, Ausführung der Erläuterungen 
über die Kästnersche Analysis des Unendlichen, Gießen 1781; Rauch, 
Elementa sectionum conicarum et caleuli infinitesimalis, München 
1790; Minzele, La grandezza discreta analizzata nelle sue 
finite ed infinitesime funzioni, Napoli 1798; Rohde, Anfangs- 
gründe der Differentialrechnung, Potsdam 1799. ?) Der ausführliche 
Titel ist: Geometria algebrica universa quantitatum finitarum, et 
infinite minimarum. Adjectus in fine est commentarius de curv& 
cochlea, Romae 1759. Eine biographische Skizze über Caraccioli von 
G. Loria liest man in Boll. bibl. st. se. mat. VI, 1903, p. 33—88. °) Mathesis 


672 Abschnitt XXVI. 


Im Jahre 1761 erschien der erste Teil der schon erwähnten 
Elementa analyseos finitorum von Segner. Als „Differential- 


16! gleichung“ einer gegebenen Gleichung zwischen X und Y bezeichnet 
d\ Segner diejenige Beziehung, die sich dadurch ergibt, daß man X, Y 


\- durch X + x bzw. Y-+y ersetzt; in einer solchen Gleichung bedeutet 

" = nicht _die_Gleiehheit, sondern das Streben nach Gleichheit. Die 
\ Elementa behandeln, wie fast alle gleichartigen Werke dieser Z eit, 
nicht nur die EEE, sondern auch die Anwendung 
Su wmtt derselben auf ebene Kurven und auf algebraische Gleichungen. 

Ebenfalls im Jahre 1761 erschienen die schon erwähnten An- 
fangsgründe der Analysis des Unendlichen von Kästner. Bei 
diesem Buche haben wir uns im vorigen Kapitel ziemlich lange auf- 
gehalten. Nur eins wollen wir hier anführen: ein Verfahren zur Ab- 
leitung des Differentiales eines Logarithmus, welches, von seinem geome- 
trischen Gewande entblößt, folgendermaßen lauten mag. Es sei y= e, 
und bezeichnen wir mit m, n die gleichzeitigen Zuwächse von z und 
y, so hat man: 

n= e@("— 1). 


1 h er 
Setzen wir m—=—-, wo r eine ganze positive Zahl bezeichnet, 


ferner: 
1 
A er — 1, 
so ist: 
n=eg=yg, 

folglich: 

ym m 

Tg 


Es ist aber > von y% unabhängig und von Null verschieden; be- 


zeichnen wir diese konstante Größe mit a, so ist: 


Mm 
2 =4d, 
oder: 
u 
er ER ; 


Aus demselben Jahre stammen die Analyseos infinite par- 
vorum sive caleuli differentialis elementa (Pisa 1761) von 
Ranieri Bonaventura Martini (1723—1774), Arzt und Professor 





theoretica elementaris atque sublimior in usum academicarum 
praelectionum, Rostock und Greifswald 1760. — Ein anderes didaktisches Werk 
von Karsten ist: Mathematische Analysis und höhere Geometrie, 
Greifswald 1786. Siehe auch: K. Rohde, preußischer Lieutenant, Erläute- 
rungen über Herrn Karstens mathematische Analysis und höhere 
Geometrie, Berlin 1789. 





Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 673 


der Philosophie aus Pisa. Einer kurzen Entwicklung der Grundsätze 
der Differentialrechnung folgt in diesem Buche eine ausführliche Aus- 
einandersetzung der Infinitesimalgeometrie der ebenen Kurven. Der 
Verfasser geht von der Definition des Unendlichkleinen als einer Größe 
aus, die als über jede Grenze abnehmend gedacht werden kann. Er 


handelt mit unendlichkleinen und unendlichgroßen Größen mit einer 





Freiheit, die freilich im 18. Jahrhundert üblich war. So zum Bei- _ 





spiel bemerkt er, daß die Subtangente in einem vielfachen Punkte die 


Form 2 annimmt und folglich unendlich ist; selbstverständlich ist 





Tr 


er genötigt, hinzuzufügen, daß man nicht hieraus schließen darf, daß 
die Subtangente wirklich unendlich ist, sondern daß es mehrere Sub- 


tangenten gibt. Daß. . = (Martini schreibt dafür 00), wird wie 
folgt nachgewiesen. Es sei (Fig. 75) ACB ein Kreisquadrant, AD 




















4 
‚A 
D E 
) c 
G 2: c B E c 
Fig. 75. Fig. 76. 


eine Sehne desselben, @ der Schnittpunkt von AD mit BC, E die 
Projektion von D auf AC, F die auf BC, und setzen wir AC=a, 
DE=y; dann ist: 


.DF a? — y? 
a-— Va?—y 





ist nun y=(, so wird AG parallel zu BC, und es ist: 
FG= =. 


Es ist merkwürdig, daß Martini dieses Ergebnis als ganz allgemein 
betrachtet, während der Begriff von den verschiedenen Ordnungen des 
Unendlichkleinen ihm offenbar nicht fremd war, da er an einem an- 
deren Orte bemerkt, daß, wenn in einem Dreieck ABC (Fig. 76) die 
Basis BC unendlich klein von der ersten Ordnung ist, AB und AC 
als parallel betrachtet werden dürfen, und EC = dy unendlich klein 
von der zweiten Ordnung ist; daß ferner, wenn A unendlich weit ist, 


N 


- 


num 


674 Abschnitt XXVI. 


die Seiten „fient inter se magis parallela“, und dy = = daß, wenn 
daneben BU = a dann dy = ne ist. 
oo 00 


Noch im Jahre 1761 begegnen wir einem bekannteren italieni- 
schen Gelehrten, Paolo Frisi (siehe oben 8.19), Barnabiten, ge- 
boren zu Mailand am 13. April 1728, gestorben daselbst am 22. No- 
vember 1784. Seit seiner ersten Jugend widmete sich Frisi der 
Mathematik gegen den Willen seiner Vorgesetzten, die beabsichtigten, 
aus ihm einen Theologen zu machen, und die erst dann davon ab- 
standen, seine Neigung zu bekämpfen, als sein Wert von der gelehrten 
Welt öffentlich anerkannt wurde. Er lehrte Mathematik zu Pisa, 
dann zu Mailand; die ersten Akademien und Gesellschaften von ganz 
Europa zählten ihn unter ihre Mitglieder, Fürsten und Könige er- 
teilten ihm die höchsten Ehren. Den großen Ruhm, dessen er sich 
erfreute, verdankt Frisi besonders seinen astronomischen und hydrau- 
lischen Schriften; wohlbekannt sind auch seine Lobreden auf Galilei 
und Cavalieri. Auf die reine Mathematik bezieht sich eine Abhand- 
lung über die F luxionsmethode, welche den zweiten Teil des 
1761 erschienenen zweiten Bandes der Dissertationum variarum!) 
bildet. Wie der Verfasser angibt, ist diese eine Erweiterung einer 
vor neun Jahren in Mailand herausgegebenen Schrift.) Frisi setzt 
sich als Zweck vor, die Maclaurinschen Methoden zu vereinfachen; 
sein Verfahren ist aber eine Vermischung der Fluxions- mit der In- 


‚finitesimalmethode, und zwar finden wir neben der Definition der 


Fluxion die des Differentials, welches der Unterschied zweier Ordi- 


"naten oder Bögen usw. ist, wenn diese einander unendlich nahe sind, 


so daß man den Unterschibd als unendlich klein und die ÖOrdinaten 
oder Bögen als einander gleich ansehen darf. Die Abhandlung be- 
steht aus zwei Abteilungen, deren erste die Theorie behandelt, wäh- 
rend die zweite den geometrischen Anwendungen gewidmet ist. Die 
Entwicklung der Theorie beschränkt sich auf die Bestimmung der 
Fluxion eines Produktes, einer Potenz mit rationalem Exponenten und 
eines Polynoms. Um die in der zweiten Abteilung befolgte Methode 
zu charakterisieren, mag es. hinreichen, darauf hinzuweisen, daß der 





1) Der erste Band (Lucca 1759) enthält eine Dissertation über die Prä- 
zession der Nachtgleichen, eine über die Atmosphäre der Himmelskörper und 
eine über die Natur des Äthers, von denen die erste von der Berliner, die 
zweite von der Pariser Akademie gekrönt wurde. Der zweite Band (Lucca 1761) 
enthält eine Dissertation über die Unregelmäßigkeiten der Bewegungen der 
Planeten, eine über die Fluxionsmethode und eine dritte mit dem Titel: Me- 
ditationes quaedam metaphysicae. ?) De methodo fluxionum geo- 
metricarum et ejus usu in investigandis praecipuis curvarum affec- 
tionibus dissertatio, Mailand 1753. 


Be Bi 4. 


Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 675 


Ausdruck der Subtangente aus der Ähnlichkeit der beiden rechtwink- 
ligen Dreiecke erhalten wird, deren Katheten einerseits die Subtangente 
und die Ordinate, andererseits de und dy sind. Gegenstand dieser 
Abteilung ist die Bestimmung der größten und kleinsten Ordinaten, 
der singulären Punkte und des Krümmungsradius einer ebenen Linie 
und der Fläche des durch die Schraubenbewegung einer ebenen Figur 
erzeugten Körpers. 


Im Jahre 1762 erschien in London ein Büchelchen mit dem /76' 


Titel: Mathematics, dessen Verfasser, Rev. William West, am 


1. Oktober 1760, 53 Jahre alt, gestorben war. Herausgeber war /h ie 


John Rowe, der, wie sich aus dem Vorwort ergibt, selbst ein Werk / 
mit dem Titel: An introduction to the doctrine of fluxions 
verfaßt haben soll, dessen zweite Auflage damals soeben erschienen 
war. Das Büchelchen zerfällt in zwei Kapitel, deren zweites (Mi- 
scellaneous questions) der Infinitesimalrechnung fremd ist, während 
das erste (Fluxions) der Theorie der Maxima und Minima gewidmet 
ist (was an seinem Orte besprochen werden soll), mit Ausschluß der 
ersten fünf Seiten, die einen ganz kurzen Abriß der Fluxionsrech- 
nung darbieten. Während aber der Verfasser von der üblichen Defi- 
nition der Fluxionen ausgeht, bemerkt er zu unserer Überraschung 
bei der Aufsuchung der Fluxion von xy, daß man in dem Zuwachse 
@y+zy+.y den Term xy‘ vernachlässigen darf („may be rejec- 
ted“), weil #° und y’ unendlich klein („infinitely little“) sind. 

Im Jahre 1763 gab Emerson zu London sein Werk: The 
method of increments heraus. William Emerson (s.o. 5.30), Sohn 
eines Schulmeisters, geboren zu Hurworth am 14. Mai 1701, gestorben 
daselbst am 20. Mai 1782, war ein sehr sonderbarer Mann; er machte 
sich einen Ruhm daraus, sich roh und schmutzig zu zeigen, und man 
erzählt, er habe dieselben Kleider 20 Jahre hindurch gebraucht; er 
war in der theoretischen Musik sehr gewandt, aber so unglücklich in 
der Praxis, daß es ihm nicht einmal gelang, die Violine zu stimmen. 
Emerson ist Verfasser von zahlreichen mathematischen Werken, deren 
eins soeben erwähnt wurde, während andere an den passenden Orten 
besprochen werden sollen. 

Im folgenden Jahre erschien die schon oben besprochene Residual 
analysis von Landen, welche als ein Lehrbuch der Differential- 
rechnung und ihrer geometrischen Anwendungen angesehen werden darf. 

Noch in demselben Jahre begegnen wir einem Namen, der in der 
Mathematik eine dauernde Stelle eingenommen hat. Etienne Bezout (8.0. 
3.74)') geboren zu Nemours am 31. März 1730 aus einer armen Familie, 





') Eloge de M. B&zout, Hist. Acad. Paris 1783 (publ. 1786), p. 69— 75. 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IY. 44 


r 


Kö Funeme 
- . 


676 Abschnitt XXVI. 


widmete sich gegen den Willen seines Vaters der Mathematik. Er 
wurde Mitglied der Akademie 1758, Examinator der Marinegarden 
1763, und als solcher war er mit der Abfassung eines Lehrbuches 
der Mathematik beauftragt, welches im folgenden Jahre erschien.') 
Im Jahre 1768 wurde er Examinator der Artillerie, und einige Jahre 
später (1770) gab er eine neue Auflage seines Cours heraus, wobei 
er die alten Anwendungen seinem neuen Berufe gemäß durch andere 
ersetzte. Zugleich beschäftigte er sich mit denjenigen Untersuchungen 
über algebraische Gleichungen, welchen sein Name anhaftet. Als Bei- 
spiel seines Mutes und seiner Gewissenhaftigkeit erzählt man, daß er 
einige Kandidaten, die zu Toulon an den Blattern krank waren, an 
ihrem Bette examinierte, um ihnen den Schaden zu ersparen, den der 
Aufschub des Examens verursachen würde. Er beschloß sein ruhiges 
und glückliches Leben am 27. September 1783. 

Der Cours de mathematiques”) besteht aus fünf Teilen: 
Arithmetik, Geometrie und Trigonometrie, Algebra und analytische 
Geometrie, Mechanik und Infinitesimalrechnung, Schiffahrt. Daß wir 
„Mechanik und Infinitesimalreehnung“ und nicht umgekehrt gesagt 
haben, ist nicht ein Versehen von unserer Seite, sondern entspricht 
der im vierten Bande des Cours befolgten Anordnung; es ist aber 
zu beachten, daß die Mechanik mit lauter elementaren Mitteln ent- 
wickelt wird. Die Behandlung der Infinitesimalrechnung bietet nichts 
Besonderes, als daß Bezout durchgängig mit Differentialen arbeitet, 
so daß man die Definition der Ableitung in seinem Lehrbüche-um-- 
sonst suchen würde. 

Es ist bekannt, welchen Beifall die 1748 erschienenen a 
zioni analitiche von Maria Gaetana Agnesi (diese Vorl., ILI?, 
S. 822) in und außer Italien fanden. Es war aber nunmehr ng 
dieses Lehrbuch durch ein anderes zu ersetzen, welches die inzwischen 
erreichten Resultate umfassen sollte. Diesen Zweck setzten sich Riccati 
und Saladini mit ihren mehr als 1100 Quartseiten starken Institu- 
tiones analyticae (vgl. S.457ff.) vor. Welche Fortschritte dieses Lehr- 
buch gegenüber dem Agnesischen darbietet, ergibt sich aus den 
Vorworten zu den zwei Bänden, von denen der erste der endlichen, 
der zweite der unendlichen Analysis gewidmet ist. Als uns interessie- 
rende Zusätze sind folgende zu bezeichnen: Begriff des Unendlich- 
kleinen, Gebrauch der Reihen in der Infinitesimalrechnung, Beweis 
der ehe der Integralrechnung auf Grund der Reihen, Integration 





!) Cours de math&matiques ä l’usage de la marine. ?) Die uns 
vorliegende Auflage (von den Jahren IX und X des republikanischen Kalenders) 
ist eine Verschmelzung der beiden Cours und enthält sowohl die Anwendungen 
auf Schiffahrt als die auf Artillerie. 


Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 677 


von Kreis- und Hyperbelfunktionen, Rektifikation der Kegelschnitte. 
Der erste dieser Punkte ist schon oben berührt worden; auf andere 
werden wir weiter unten wieder kommen. Aus dem Vorwort ent- 
nehmen wir auch, welchen Anteil jeder der beiden Verfasser an dem 
Werke hatte, und welche ihre Arbeitsweise war!) Vom methodolo- 
gischen Standpunkte aus bieten die Institutiones eine wichtige 


Neuigkeit dar, die Verschmelzung der Differential- mit der‘ 


F 


Integralreehnung; das erste Buch (des II. Bandes) enthält die ele-/ 


mentaren Differentialformeln, denen die bezüglichen Integralformeln 
gegenüberstehen, und die Integrationsmethoden mit Anwendung auf 
Quadraturen und Rektifikationen; das zweite behandelt die direkte 
und inverse Tangentenmethode; das dritte betrifft die Differentiale 
höherer Ordnung nebst den bezüglichen geometrischen Anwendungen, 
und die Variationsrechnung. | 

Es möge auch bemerkt werden, daß unsere Autoren den ur- 
sprünglichen Integralbegriff wieder aufgenommen haben (was sie da- 
durch ausdrückten, daß sie die Prinzipien der Integralrechnung auf 
die Reihentheorie begründeten). In der Vorgeschichte der Infinitesi- 
malrechnung war, was wir jetzt als Integral bezeichnen, eine Fläche, 
also eine Summe unendlich vieler Elemente. Nachdem man aber die 
folgenreiche Entdeckung machte, daß Differentiation und Integration 
umgekehrte Operationen sind (diese Vorl., III, S. 156, 165), bezeich- 
nete man als Integral einer Funktion f(z) diejenige Funktion, deren 
Ableitung f(x) ist. Was die Wissenschaft dieser Entdeckung ver- 
dankt, ist niemandem unbekannt; es ist aber noch immer interessant, 
zu zeigen, daß gewisse Integrationen sich auch auf Grund der ur- 
sprünglichen Definition des Integrals als einer Summe ausführen lassen. 
Dazu geben Riecati und Saladini drei Methoden, welche auf die 
durch die Gleichungen: 


TI u en, rg” 


definierten Funktionen y von & angewandt werden.?) 





') „Totius operis methodum Riecatus diposuit; conscribenda vero capita 
amice divisa sunt. Quae magis subobscura, magisque erant diffieilia, Riccatus 
magno studio clara, perceptuque reddidit facilia; quin etiam antequam in 
lucem proferret, ea adolescentibus quibusdam suis auditoribus addiscenda 
tradidit, atque experientia comperit, ea perquam facillime pereipi, ac penetrari. 
Caetera vero Saladinus collegit, explicavit, ac multum de suo addidit. Is scripta 
deferebat amico socio, quibus perpensis, atque approbatis, illud tantum addebat 
quod necessaria operis connexio postulabat. Stilum vero, si leetor identidem 
mutatum cernat, plurimos hune librum latine reddidisse sciat.“ ?) Vgl.: 
V. Riecati, De quadratura eurvarum tradita per summas generales 
serierum, Comm. Acad. Bon. V 2, 1767, p. 432—445. 

44* 


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NN 


673 Abschnitt XXVI. 


Die Institutiones analyticae, von welchen Saladıni zehn 
Jahre später einen Auszug in italienischer Sprache herausgab'), boten 
zu lebhaften Diskussionen Gelegenheit. Im Jahre 1773 erschien im 
Giornale de’ letterati ein ausführlicher Bericht von dem Abt Gio- 
acchino Pessuti?), wo das Werk als eines der besten und vollstän- 
digsten Lehrbücher der Analysis bezeichnet wird, aber einige „kleine_ 


_Flecken“ hervorgehoben werden, deren einer die Verschmelzung der 


Differential- und Integralrechnung ist. Ein Schreiben von V. Riccati 
an Pessuti vom 29. August 1773, welches eine heftige Verteidigung 
seiner Reform enthält, wurde erst nach V. Riccatis Tode von dessen 
Brüdern veröffentlicht”) Pessuti erwiderte darauf mit seinen Ri- 
flessioni analitiche (Livorno 1777), welche wiederum eine lange 
Antwort von seiten eines ungenannten Verfassers hervorriefen.*) 

Im Jahre 1767 kommt ein schon bekannter Name wieder vor, 
der von Emerson, als Verfasser eines kleinen Buches: The 
arithmetie of infinites, and the differential method; 
illustrated by examples (London 1767). Die „arithmetic of 
infinites“, oder die Indivisibilienmethode, ist die Kunst, die Potenzen 
der Glieder einer arithmetischen Reihe von unendlichkleiner Differenz 
zu summieren. Sie wird besonders auf die Berechnung von geo- 
metrischen Größen angewandt, welche als aus unteilbaren Elementen 
zusammengesetzt betrachtet werden; es ist aber zu beachten, daß diese 
Elemente nicht wirklich unteilbar sind, und nur „by reason of simi- 
litude“ unteilbar genannt werden. Die „differential method“ ist die 
Difförenzen- und Interpolationslehre. 

\ Im Jahre 1768 erschienen die El&mens du caleul integral 
von Leseur und Jacquier, den beiden Minoriten, welchen man einen 





) Instituzioni analitiche del conte V. Riccati compendiate da 
G. Saladini, Bologna, I. Bd. 1776, I. Bd. 1775. ®) Institutiones analy- 
ticae di V. Riccati e J. Saladini (Rezension ohne Namen des Verfassers), 
Nuovo Giornale de’ letterati d’Italia (Modena) 1773, I, p. 30—73, II, p. 219 
bis 287, III, p. 78—123. Daß Pessuti der Verfasser ist, ergibt sich aus p. 144 
des XV. Bandes des Giornale. ®) Lettera all’ autore della rela- 
zione delle Istituzioni analitiche dell’ Ab. Co. Vincenzo Ric- 
cati, inserita nel Nuovo Giornale de’ letterati d’Italia, Tomo I, II 
e II, Nuova Raccolta d’Opuscoli scientifiei e. filologiei XXX, 1776, 
Op. IH, p. 8—25. — Den auf die im Texte berührte Frage sich be- 
ziehenden Teil dieses Schreibens kann man lesen in Loria, Il Giorn. 
de’ Lett. d’Italia ete., Cantor-Festschrift, Leipzig 1897, S. 241—274. 
* Risposta alle Riflessioni analitiche del Sig. Ab G. Pessuti sopra 
una lettera scrittagli dal Sig. Ab.Co.V.Riccati, N. Giorn.lett. XV, 1778, 
p. 144—204. Nach Riccardi ist Verfasser derselben Giordano Riccati, 
Bruder von Vincenzo (aus Treviso, 1709—1790, siehe diese Vorl. III?, S. 474). 





Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 679 


bekannten Kommentar zu den Principia von Newton verdankt. 
- Thomas Leseur, geboren zu Rethel 1703, gestorben zu Rom am 
22. September 1770, war zusammen mit Frangois Jacquier (1711 
bis 1788; diese Vorl., II?, S. 841) Professor der Mathematik und 
der Theologie zu Rom; beide wurden im Jahre 1763 nach Parma 
berufen als Lehrer des Infanten, welchem sie ihr Lehrbuch der Inte- 
gralrechnung widmeten. Von diesem aus mehr als 1100 Seiten be- 
stehenden Werke wollen wir nur sagen, daß es für eins der besten 
Lehrbücher seiner Zeit gehalten wurde, und daß dieses Urteil nach 
unserem Ermessen ganz richtig ist. 

Das Jahr 1768 zeichnet sich aber besonders durch die Erscheinung 
eines der wichtigsten Werke unserer Periode, der Institutiones caleuli 
integralis (Petersburg 1768, 1769, 1770) von L. Euler (1707—1783; 
diese Vorl., III?, S.549) aus. Dieses großartige Werk besteht aus 
drei starken Quartbänden, denen ein vierter nach des Verfassers Tode von 
der Petersburger Akademie 1794 hinzugefügt wurde. Bei der außerordent- 
lichen Wichtigkeit desselben halten wir es für nötig, den allgemeinen 
Plan in seinen Hauptlinien wiederzugeben: 

Erstes Buch (Liber). Integration der Funktionen einer Va- 
riabeln. 

I. Abteilung (Pars). Untersuchung der Beziehungen, in welchen 
nur Differentiale erster Ordnung vorkommen. 

1. Abschnitt (Sectio). Integration der Differentialformeln. 

2. Abschnitt. Integration der Differentialgleichungen. 

3. Abschnitt. Auflösung der Differentialgleichungen, in welchen 
die Differentialgrößen nicht linear auftreten. 

II. Abteilung. Untersuchung der Beziehungen, in welchen Diffe- 
rentiale höherer Ordnung vorkommen. 

1. Abschnitt. Differentialgleichungen zweiter Ordnung (mit zwei 
Variabeln). 

2. Abschnitt. Differentialgleichungen von höherer Ordnung. 

Zweites Buch. Integration der Funktionen mehrerer Varıabeln. 

I. Abteilung. Funktionen von zwei Variabeln. 

1. Abschnitt. Untersuchung der durch eine Relation zwischen 
ihren ersten Differentialen definierten Funktionen von zwei Variabeln. 

2. Abschnitt. Dasselbe für die zweiten Differentiale. 

3. Abschnitt. Dasselbe für die höheren Differentiale. 

II. Abteilung. Funktionen von mehr als zwei Variabeln. 

Anhang (Appendix). Variationsrechnung. 

Zusatz (Supplementum). Entwicklung einiger besonderer 
Fälle der Integration von Differentialgleichungen. 

Wir wollen ferner die Verteilung der Kapitel des 1. Abschnittes 


2‘ 


680 Abschnitt XXVI. 


der I. Abteilung des 1. Buches anführen, welcher allein unseren Ab- 
schnitt betrifft: 
1. Kap. Rationale Funktionen. 


2. „ Irrationale Funktionen. 

3. „  Reihenintegration. 

4. ,„  Logarithmische und exponentiale Funktionen. 

5. „Aus Winkeln oder Sinussen gebildete Funktionen. 

6. ,„ Entwicklung der Integrale nach Sinussen und Kosinussen 
von vielfachen Bögen. 

7. „ Angenäherte Integration. 


8. „Bestimmte Integrale. 

9. ,„ Entwicklung der Integrale in unendliche Produkte. 

Der vierte Band enthält 29 teils schon erschienene, teils der 
Petersburger Akademie vorgelegte, aber noch nicht herausgegebene 
Abhandlungen, welche elf Supplemente zu den einzelnen Kapiteln der 
ersten drei Bände bilden. 

Was den Stoff des Werkes betrifft, so werden wir öfters Gelegen- 
heit haben auf denselben zurückzukommen. Hier begnügen wir uns 


damit, die Eulersche Definition des Integrals anzuführen: WE Xdx ist 


diejenige veränderliche Größe, deren Differential Xdx ist. Selbstver- 
ständlich behält‘ Euler auch hier seinen Begriff von dem _ strengen 


Nullsein_der in bestimmten gegenseitigen Verhältnissen uynee 


Differentiale bei (diese Vorl., III, 8. 749); er bemerkt, daß der Ge- 


brauch des Zeichens £ welches summa bedeutet, von einem unan- 
€ 


gemessenen („parum idoneo“) Begriffe herrührt, nach welchem ein 
Integral als die Summe sämtlicher Differentiale zu betrachten wäre; 
was mit nicht besserem Rechte zugegeben werden darf, als daß die 
Linie aus Punkten bestehen möge. 

Dem Jahre 1769 gehören die Anfangsgründe der Analysis 
der unendlichen Größen (Berlin) an von Georg Friedrich 
Tempelhoff, einem preußischen Artillerieoffizier, geboren zu Tramp 
am 17. März 1737, gestorben zu Berlin am 13. Juli 1807, der die 
große Ehre hatte, im Jahre 1778 den von der Berliner Akademie 
für eine Arbeit über die Kometen bestimmten Preis mit Condorcet 
zu teilen. 

In den Jahren 1769—1771 gab der schon oben erwähnte Carac- 
cioli seine Introduzione alla matematica per mezzo del calcolo 
universalet) heraus, deren vierter und letzter Teil der Infinitesimal- 





1) Zwei Bände, Velletri 1769 und 1771. Eine lateinische Ausgabe war 
früher unter dem Titel: Isagoge in universam mathesin zu Neapel er- 
schienen. 





Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 681 


rechnung gewidmet ist. Den Ausgangspunkt bildet das Newtonsche\ 


Lemma, nach welchem zwei veränderliche Größen, deren Differenz 
kleiner als jede angebbare Größe ist, endlich einander gleich werden. 

Das Datum 1770 trägt der erste Band eines schon oben besprochenen 
Werkes, welches gewissermaßen als eine Enzyklopädie der Mathematik 
bezeichnet werden darf: Gli elementi teorieo-pratiei delle mate- 
matiche pure (Modena 1770—1777) von O. Gherli. Die Ele- 
menti zerfallen in sieben Quartbände, von welchen der erste die 
Arithmetik, der zweite die Algebra, der dritte die Geometrie, der 
vierte die analytische Geometrie, der fünfte die Differentialrechnung, 
die zwei letzten die Integralrechnung behandeln. Sie geben alles da- 
mals Bekannte in ausführlicher Entwicklung wieder; wesentlich neues 
tragen sie nicht hinzu. 

Ein ganz kleines und unerhebliches Büchlein ist die Pertractatio 
elementorum caleuli integralis discentium bono typis com- 
missa (Prag 1771) von Johann Tessanek (s. o. 8. 30), Jesuit 
und Professor der höheren Mathematik, geboren in Böhmen 1728, 
gestorben zu Prag 1788. 

Einem anderen italienischen Gelehrten, Franceseo Maria Gaudi 0, 
geboren zu S. Remo bei Genua 1726, gestorben 1793, gehört ein dem 
von Gherli verfaßten analoges Werk, die Institutiones mathema- 
ticae, deren vier Oktavbände in Rom in den Jahren 1772—.1779 
gedruckt wurden. 

Wieder in Italien erschien eine Dissertation!) von Carlo Fran- 
cesco Gianella, Jesuit, geboren zu Mailand am 13. Juni 1740, ge- 
storben am 15. Juli 1810, Mitglied der Turiner Akademie seit ihrer 
Stiftung und Professor zu Mailand und zu Pavia. Gianella geht 











_vom Begriff der Fluxion aus, bedient sich aber der Leibnizschen 
Bezeichnung, und lehrt zuletzt, wie die Infinitesimalmethode als ein 
„compendium“ der Fluxionsmethode angesehen werden darf. 


Der schon erwähnte Paolo Frisi gab in den Jahren 1782—1785 FI, 
seine Werke?) in drei Bänden heraus, von denen der erste, der Ar 


gebra und analytischen Geometrie gewidmet, uns allein interessiert, 
während die zwei übrigen Mechanik und Kosmographie betreffen. Die 
Kapitel 11—15 des ersten Bandes behandeln die Infinitesimalrechnung 
und ihre Anwendung auf Kurvenlehre; Frisi erwähnt seine nunmehr 
30 Jahre alte Schrift über Fluxionen, und fügt hinzu, er habe seit- 





) De fluxionibus earumque usu Dissertatio a Carolo Fran- 
cisco Gianella 8. J. Phys. Prof. proposita a D. Rocco Marliani 


propugnata, Mailand 1777. ) Pauli Frisii Opera, Mailand 1782, 
1783, 1785. 


De 


682 Abschnitt XXVI. 


x De 


dem gefunden, daß alles auf ein einziges Axiom ankommt: Zwei ver-‘ 
änderliche Größen, welche von einander um weniger als jede vorge-' 
gebene Größe verschieden sind, werden schließlich einander gleich; | 
was mit einer Bekehrung von der Fluxions- zur eigentlichen Grenz- 
methode gleichbedeutend ist. ee 
Ebenfalls in Italien erschien das Werk (s. o. 8. 450): Magni- 
tudinum exponentialium logarıithmorum et trigono- 
‚metriae sublimis theoria nova methodo pertractata 
(Florenz 1782) von Ferroni. Pietro Ferroni, geboren zu 
Florenz am 22. Februar 1744, gestorben daselbst im Novem- 
ber 1825, war kaum 20 Jahre alt Professor der Mathematik an 
der Universität zu Pisa; später lehrte er in Florenz und wurde 
Mathematiker, d. h. Bau- und Flußoberaufseher des Großherzogs 
von Toskana. Er beschäftigte sich vorzüglich mit angewandter 
Mathematik, und gab wertvolle Studien über die Theorie der 
Gewölbe heraus. Von dem oben erwähnten Werk betrifft nur ein 
kleiner Teil die Infinitesimalrechnung, nämlich das 10. Kapitel, welches 


sich auf das Integral f = bezieht, und das 8. Kapitel, wo Ferroni 


lehrt, wie man die Differentialquotienten der logarithmischen und ex- 
ponentialen Größen ohne Gebrauch der Geometrie berechnen kann. 
Es ist zu beachten, daß die Formel: 


dgex 1 


data 





damals häufig aus der Betrachtung der logarithmischen Kurve abge- 
leitet wurde. Dagegen bedient sich Ferroni der Reihenentwicklung: 





a 
woraus folgt: 
dige= del - @-VD+@-1%- =. 


Er verfährt auch so: aus: 


ergibt sich: 


dge=®:_x° ae 
x 


xC 
Was die Exponentialfunktion betrifft, hat man: 


x” lg a? 


.- 
E ne GR 


a=]1+ 





also: 





Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 683 


d-a=1lga: au(1+°,4° Er... )=arlga:da; 
oder auch: 
il x lg a\” 
a -(1+7 ) ’ 


woraus folgt: 


da = oo (1 + ER (1 +? 8°) Igadz = arlgadı.‘) 


O0 


Nach diesen aus Italien herrührenden Werken müssen wir zwei 
in Österreich erschienene Schriften erwähnen, die Vorlesungen über 





!) Um besser zu zeigen, mit welcher Unbefangenheit Ferroni mit unend- 
lichen und verschwindenden Größen handelt, wollen wir noch einige Formeln 
aus Kap. 10 entnehmen. Aus: 


EN, NO nr m? log x? 


m m 6 
folgt für m=0: 
x 
a dx 1 
0 


1 0=--(1+,+3, +) 





Es ist auch: 








also: 
x 
da _ 
14 +3 + +lga 14 ++ 
0 
x—1 («—1)? 
Aaar ER BR 
Aus: 
I r (1 .. m? log x? 
i a” dx x ( = E= 51 +) 
—a+—-elege+, log +: 
m? 
— ME RE Erd el 
+ m’x 4... 
=ı(l—m+m’— tele (+: ) 
m? 
+ aloe (5 )+: 
folgt für m— — 1: 
Rn ooxl log? 
fe "dan 000 — IE Br — ++ B=ooxe !®"ıB 
1 1 


z<®+B=BtU+E@— 1) 


usw, 


684 Abschnitt XXV1. 


Mathematik!) von Vega, und die Elementa caleuli differen- 
tialis et integralis (Prag und Wien 1783) von Stanislaus 
Wydra (1741—1804, s. o. 8.20), Professor der Mathematik an der 
Universität zu Prag. 

Georg Freiherr von Vega (s. o. 8. 437) ist weitbekannt als 
Verfasser eines noch heute in Gebrauch bleibenden logarithmisch- 
trigonometrischen Handbuches. Seine Vorlesungen zerfallen in 
zwei Bände, von welchen der erste die Rechenkunst und Algebra, 
der zweite die theoretische und praktische Geometrie, die geradlinige 
und sphärische Trigonometrie, die höhere Geometrie und die Infini- 
tesimalrechnung enthält. Wie der Verfasser selbst in seiner Vor- 
rede erkennt, enthält sein Werk nichts wesentlich Neues; es möge 
nur bemerkt werden, daß die Integration von: 


® 
z"dıe(e + Br + ya): 
für ganzzahlige m und p, und von: 


"dx (ae + Ba” + yx°”) 
m—+1 


für ganzzahlige —,— und » dadurch erzielt wird, daß man die Tri- 


2 
2 


nome in Binome durch die Beziehung: 


% -:- 5 oder "-n-£ 

umformt. Ä 

Die Elementa von Wydra sind, ihrem Titel gemäß, ein ele- 
mentares Lehrbuch der Infinitesimalrechnung und ihrer Anwendungen, 
wobei die Infinitesimalmethode durchgängig gebraucht wird. 

Zwei andere ganz elementare Schriften sind die Brevi elementi 
di calcolo differenziale (Milano }1784) von Gaetano Allodi, 
Adjunkt am Observatorium zu Mailand, und das Lehrbuch der Infini- 
tesimalrechnung von Vito Caravelli (aus Montepeloso in Basilicata, 
1724—1800, s. 0. 8.34) und Vincenzo Porto.?) 

Ein Werk, von welchem in Italien weit mehr gesprochen wurde, als 
es dies verdiente, ist das zweibändige, mehr als 1200 Quartseiten starke 
Lehrbuch von Nicolai: Nova analyseos elementa”) Giovanni 





ı) Der ausführliche Titel ist: Vorlesungen über Mathematik sowohl 
überhaupt zu mehrerer Verbreitung mathematischer Kenntnisse in 
den K.-K. Staaten, als auch insbesondere zum Gebrauche des K.-K. 
Artillerie-Corps. Das Werk, dessen erste Auflage das Datum. 1782 trägt, ist 
dem Artillerie-Corps gewidmet. Uns liegt eine spätere Ausgabe (Wien 1891) 
vor, die aus der vierten Auflage des ersten Bandes und aus der sechsten des 
zweiten gebildet ist. 2) Trattato del calcolo differenziale di Vito 
Caravelli, e del calcolo integrale di Vincenzo Porto, per uso del 
regale Collegio Militare, Napoli 1786. °) T.I, Pars prima, Patavii 1786; 








Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 685 


Battista Nicolai, geboren zu Venedig am 30. März 1726, gestorben 
zu Schio bei Vicenza am 15. Juli 1795, war Schüler von Jacopo 
Rieccati, lehrte zu Treviso und dann an der Universität zu Padua. 
Nicolai denkt, die gemeine Analysis sei ganz wertlos, was davon 
herrühre, daß man nicht genau wisse, was „Einheit“ bedeutet. Die 
Einheit ist, wie er uns lehrt, dem Werte, der Natur, der Dimension, 
dem Systeme, der Lage nach unbestimmt; jede Zahl kann als Einheit 
angenommen werden. Von dieser trivialen Wahrheit ausgehend, ver- 
wickelt er sich in ein solches Netz von Unsinn, daß wir zu viel 
Raum verschwenden müßten, wollten wir unseren Lesern eine genaue 
Idee davon geben. Aus den ungemein weitschweifigen Entwicklungen 
von Nicolai die Quintessenz entnehmend, können wir folgendes sagen: 
Da die Einheit willkürlich ist, so kann man das Negative auf eine 
negative Einheit beziehen, wodurch dasselbe als positiv erscheint; es 
ist also —1=1.') Ja noch mehr, jede Zahl ist jeder anderen Zahl 
gleich”) Dadurch wird das Imaginäre aus der Analysis verdrängt, 


da sowohl YAB als YBA (wo AB eine Strecke bezeichnet) einen 
reellen Wert hat. 

Derartige Ideen konnten nicht umhin, die höchste Verwunderung 
überall zu erregen, um so mehr, als sich Nicolai, wie es scheint, der 
allgemeinen Achtung erfreute Die Elementa und die früheren 
Riflessioni sulla possibilitä della reale soluzione analitica 
del caso irreducibile (Padua 1783) wurden von allen Seiten heftig 
bekämpft?), und Silio, der freilich die tiefste Verehrung gegen 


T. I, Pars altera (nach des Verfassers Tode vom Abt Vincenzo Chiminello, 
Adjunkt am Observatorium zu Padua, herausgegeben), Patavii 1793. Lag es 
etwa im Sinne des Verfassers, noch einen zweiten Band hinzuzufügen? 

‘) Wir wollen hier wenigstens ein Beispiel von dem Übergange vom Posi- 
tiven zum Negativen anführen: 





a 1 0 1—1 —1-+1, 
= En 3 SER ar et ı RERREN SlER N Rue a RS 1 
Berpernn in ae er 5 ke 
0 —1-1 
5-9 - (TE) NW) —a 


(Bd. I1, p. 29). Die Gleichheit der positiven und der negativen Größen wurde 
von Chiminello in seinen Riflessioni su la veritä di alcuni paradossi 


analitici verteidigt. °) „1°(19)P = g°(g®)’ ut quisque facile videt. Sed 
j 0 

1’) = 1(19)%; ergo erit etiam 1-1) = 1t!= 1(y)—=g () =gg)=g'*r!, 

sive 11-10-9004 (Bd. 12, p. 57). ®) Lettera del Sig. 


Petronio Maria Caldani (s.o. 8.152) al Rev. Padre Jacquier, 
Antol. Romana X, 1784, p. 33—37. — Lettera del Sig. P. M. Caldani al 


686 Abschnitt XXVI. 


Nicolai zeigt, sagt, seine Elemente sollten besser analytische Rätsel 
oder analytisches Labyrinth betitelt werden. 
Von der 1786 erschienenen Exposition von Lhuilier haben 


wir schon oben gesprochen'); es möge hier nur weniges hinzukommen. 
‚Lhuilier bezeichnet als das Differentialverhältnis > von zwei 
veränderlichen Größen P, x die Grenze des Verhältnisses ihrer gleich- 


zeitigen Zuwächse, wobei 2 nicht als ein wirkliches Verhältnis, son- 


dern als ein unzerlegbarer Ausdruck gelten muß. Er beweist dann, 
auf Grund der Binomialformel, daß das Differentialverhältnis von x” 
und & durch nx”=! gegeben ist, und bemerkt, daß dieses Ergebnis 
ganz allgemein ist, da die Binomialformel sich für jeden beliebigen 
Exponent algebraisch nachweisen läßt. Demnach kann man das Diffe- 
rentialverhältnis einer jeden algebraischen Funktion von x (in bezug 
auf x) bestimmen, da jede solche Funktion in eine Potenzreihe ent- 
wiekelbar ist. Was die transzendenten Funktionen betrifft, benutzt 
Lhuilier die Taylorsche Entwicklung. 

Wir begegnen nunmehr wieder einem italienischen Schriftsteller, 
dem Pater Angelo Luigi Lotteri, Mönch aus dem Orden der 


Sig. N.N., ebenda, p. 61—62.— Lettera d’un dilettante d’analisi ad un 
suo amico sulla risposta inseritas nel giornale no. 37 da’ confini 
d’Italia alla lettera del Sig. P.M. Caldani al P. Jacquier intorno ai 
calcoli delSig. Ab. Nicolai, ebenda, p. 249—254. — Risposta al Sig. prof. 
diCamerino autoredelle riflessioni (stampate nel giornale letterario 
dai confini d’Italia no. 43) sulla lettera del Sig. P. M. Caldani di- 
retta al P. Jacquier, ebenda, p. 313—318. — Riflessioni del prof. di 
matematica nell’ universitä di Camerino alla risposta data al suo 
articolo inserito nelnum. 13, 1784 del giornale letterario da’ confini 
d’Italia, ebenda, p. 401—405, 409—414. — Postille alle Riflessioni del 
prof. di matematica etc., Antol. Romana XI, 1784, p. 33—40, 41—46, 49 
bis 54, 57—62. — Lettera del Sig. Co. Giordano Riccati al Sig. Ab. 
Contarelli intorno alle Riflessioni su la veritä di alcuni paradossi 
analitici, ereduti comunemente paralogismi, contenute nel n.1 e 
2 del Giornale letterario dai confini dell’ Italia 1784, Nuovo Giorn. 
Lett. (Modena) XXVII, 1784, p. 256—266. — Antonio Eximeno Valentini 
(Jesuit, 1732—1798), De studiis philosophicis et mathematicis insti- 
tuendis (angeführt in einem Flugblatt von 12 Seiten s. 1. et a. mit dem Titel: 
Lettera ad un amicv del Sig. Arciprete Nicolai professore di analisi 
nella Universitä diPadova). — Guglielmo Silio Borremans (aus Sizilien), 
professore di analisi nella R. Accademia Militare, Osservazioni critiche su 
i nuovi elementi di analisi dell’ abate Nicolai, Napoli 1787. — Was das 
Giornale letterario dai confini d’Italia ist, habe ich nicht ermitteln können. 

!) Einen ausführlichen Bericht über dieses Werk findet man in: Vivanti, 
Il concetto d’infinitesimo etc. 





Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 687 


Hierosolymiten. Geboren zu Bollate bei Mailand am 24.November 1760, 
war er 1787 Repetitor, 1798 Professor an der Universität zu Pavia. 
Als im Jahre 1799 die Studien an dieser Universität unterbrochen 
wurden, ging er nach Como als Professor am dortigen Lyceum, kam 
aber im nachfolgenden Jahre, bei der Wiedereröffnung der Universität, 
nach Pavia zurück als Substitut von Gregorio Fontana, welcher 
als Mitglied des Corps legislatif der zisalpinen Republik von Pavia 


ferngehalten wurde, bis er später zum Professor der Einleitung in - 


die Infinitesimalreehnung ernannt wurde. Er starb zu Mailand am 
23. Januar 1839. Die Die Geschichte seines Lehrbuches der Infinitesimal- 





rechnung!) erzählt er ı »r wie e folgt. Nachdem d’ 'Alembert, sagt Lotteri, < 


den Spuren Newtons folgend, die To kneiheds durch die 
_ Grenzmethode ersetzte, wodurch die Analysis viel lichtvoller geworden 
ist, sind z: zahlreiche ‘Lehrbücher _ der Infinitesimalrechnung in allen 
-Tändern erschienen. Unter diesen zeichnet sich ein von einem un- 
genannten preußischen Offizier?) zum Gebrauche der Ingenieure und 
der Artillerie verfaßtes kleines Buch aus. Lotteri fing an, dasselbe 
zu übersetzen, sah aber bald ein, daß manche Berichtigungen und 
Zusätze nötig waren, und daher zog er es vor, das Werk in eine 
etwas verschiedene Form zu bringen; dazu bediente er sich zum Teil 
selbständiger Forschungen, entnahm aber die Theorie der Krümmung 
und der singulären Punkte dem Lehrbuche von Cousin (s.u.), die Integral- 
rechnung dem von Bezout. Vier Zusätze von Fontana betreffen 
den Integrallogarithmus, eine Differentialgleichung zweiter und eine 
dritter Ordnung, und die Ausdehnung der Taylorschen Formel auf 
Funktionen von mehreren Veränderlichen. 
Von zwei Lehrbüchern von Schultz haben wir schon früher 
gesprochen; wenn auch in ihnen der Begriff vom Unendlichen vor- 
kommt, so beschäftigt sich doch keins von beiden mit der Infinitesi- 
malrechnung. 

Ein Werk von nicht ganz entschiedenem Charakter ist die Teoria 
dell’ analisi®) von Pietro Franchini(s.0.8.313), geboren zu Parti- 
gliano bei Lucca am 24. April 1768, gestorben zu Lucca am 26. Januar 1837, 
Professor der Philosophie am bischöflichen Seminar zu Veroli bei 
Rom. Es besteht aus vier Abschnitten: I. Theorie der Rechnungen, 








') Prineipj fondamentali del caleolo differenziale e integrale 
appoggiati alla dottrina de’ limiti, Pavia 1788. 2, War er etwa der 
schon oben erwähnte Tempelhoff? oder von Massenbach, Verfasser der: An- 
fangsgründe der Differential- und Integralrechnung zum Gebrauch 
der Ingenieurs und Artilleristen, von einem K. Pr. Offizier, Halle 1784? 
°’) Teoria dell’ analisi da servire d’introduzione al metodo diretto, 
ed inverso de’ limiti, 3 Bde., Roma 1792—93. 


688 Abschnitt XXVI. 


oder der vier arithmetischen Operationen; II. Von den Quellen der 
Analysis; es sind 15 Theorien, nämlich: 1. Faktoren eines Monoms. 
2. Kombinationen. 3. Potenzen. 4. Wurzeln. 5. Proportionen, Pro- 
gressionen, Reihen. 6. Kettenbrüche. 7. Teilbrüche. 8. Logarithmen. 
9. Kreisfunktionen. 10. Polygonometrie. 11. Endliche Differenzen. 
12. Grenzwerte. 13. Maxima und Minima. 14. Endliche und unend- 
lichkleine Größen. 15. Stetige Funktionen; III. Theorie der Glei- 
chungen; IV. Von der Analysis im allgemeinen (endliche bestimmte 
und unbestimmte Analysis). 

Der oben genannte Cousin hatte zu Paris im Jahre 1777 ein 
Werk mit dem Titel: Lecons de ealeul differentiel et de caleul 
integral herausgegeben, welches neu bearbeitet im Jahre 1796 unter 
dem veränderten Titel: Traite du caleul differentiel et du cal- 
cul integral erschien. Jacques Antoine Joseph Cousin, ge- 
boren zu Paris am 29. Januar 1739, gestorben daselbst am 28. De- 
zember 1800, führte bis zu seinem 50. Jahre ein ruhiges Leben als 
Professor der Mathematik und Physik; in den trüben Zeiten der Re- 
publik nahm er an den Staatssachen auf die ehrenhafteste Weise teil 
und starb als Mitglied des Senates und des Institut national. Es ist 
kaum nötig zu sagen, daß er ein Anhänger von d’Alembert ist; als 
Grundlagen zu seiner Tnlckignr der Infinitesimalrechnung TER die 
wohlbekannten Prinzipien der Grenztheorie. 

Das Jahr 1797 ist für uns besonders wichtig, da in diesem Jahre 
die Theorie des fonctions analytiques von Lagrange heraus- 
gegeben wurde. Wir haben schon oben versucht, den Standpunkt 
von Lagrange zu schildern; wir wollen nunmehr sehen, wie er von diesem 
aus zu Werke geht. Seine Methode zur Auffindung der Ableitungen 
ist, wenn man die Exponentialreihe als bekannt voraussetzt, auf die 
Funktionen 2”, a”, lg x sehr leicht anwendbar; für die trigonometri- 
schen Funktionen bedient er sich der Eulerschen Formeln (diese 
Vorl, III, 3. 708), welche diese Funktionen mit der Exponential- 
funktion in Verbindung setzen. 

Mit gleicher Leichtigkeit ergibt sich die Ableitung einer Summe, 
eines Produktes, eines Quotienten von Funktionen; ist z. B.: 

y=»g, 
so erhält man: 
yvrytr = rw) trieltr rettete dt 
also: 
v=pd+rP. | 

Die Ableitung einer Funktionsfunktion y=/fyp(x) erhält man 

folgendermaßen. Es ist: 





Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 689 
a A Er 2 2 
a Ba a a 
-/W)+@W+- dt. -- Fa +Wf@W)+---, 
Y=pf'(p). 


Ist nunmehr y=f(p, gq), und setzt man + statt x in p, so 
wird die Funktion: 


also: 


Er ieh we 
setzt man dagegen © + statt x in q, so erhält man: 
u Aria 


es a sich folglich durch die a Einsetzung von © +i 
in p und in g: 
rl A a 

also: 

y BER ur, ..- BR 

Ist y=f(x) eine implizite, durch die Gleichung: 
F (&, y) N 

definierte Funktion von &, und setzt man: 

F(&, f@)) wo; («), 
so erhält man aus p(x) nach Ersetzung von x durch «+ i: 

ya)tip(a)t; 

es ist aber p(x) = 0 für jeden Wert von x, folglich ist @ (<)—=0 oder: 

F, + ur, DEN 0, 


woraus sich ergibt: 


Die Regel von L’Hospital wird folgendermaßen bewiesen. Es sei: 


5 f(a) = F(a)= 


yF(&) = f(&) 
yYF(«)+yF(e)=f(«), 


und hieraus für x = a: 


aus: 


ergibt sich: 





‘) Lagrange bezeichnet die partiellen Ableitungen von f(p, g) nach p, g, 
wo p, q Funktionen von x sind, mit f’(p), f(q), dagegen die Ableitungen von 
f(x, y) nach «, y mit f’(«, y), f(«, Y). 


690 Abschnitt XXVI. 


Ar 
Re. 
Wäre auch: 
f (a) Das F'(a) ar 0, 
so würde man erhalten: 
a 
a F’” (a) ’ 


usw.; und es ist nicht zu befürchten, daß sämtliche Ableitungen ver- 
schwinden mögen, denn es wäre dann: 


fa+)=0, Flıa+tü)=0 


für jeden Wert von i. 

Darauf kommt Lagrange auf die Aufstellung der nach ihm be- 
nannten Restformel und auf die Theorie der gewöhnlichen Differential- 
gleichungen. f 

Was die Funktionen von zwei Variablen betrifft, so nimmt La- 
grange als selbstverständlich an, daß f(@-+i, y+ 0) sich überhaupt in 
eine nach steigenden Potenzen von i, 0 fortschreitende Reihe ent- 
wickeln läßt, deren erstes Glied f(x, y) ist. Um das Gesetz dieser 
Reihe zu finden, setze man zuerst 2 +i statt x; dann ist: 


Hs WR WHEN HELEN + 
Setzt man jetzt y-+ o statt y, so folet: 
fat, y +) y+) + y+o) + SL y +0) 
Es ıst aber: 
fa y+)- fa W+ or, W+ HR NM+ 
Ey tr) NM H+ohr NH, 
fe. y+)- fe y)+t:°‘, 


also: 
fat, y+)-Ffa Wil y)+of,&W)+ Ztr2la %) 
+ if) + Sn NMH+ 


Läßt man dagegen zuerst y um o, dann x um i zunehmen, so 
wird man analog erhalten: 


fat y +) = WHEN + or Y) + Eee y) 
A NE 


Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 691 


Aus dem Vergleich der beiden Entwicklungen folgt der bekannte 
Satz (diese Vorl., III, S. 759, 881): 


fzy(&, Y) = fyz(& Y). 


Die Funktionen von mehr als zwei Variablen werden analog behan- 
delt. Die erste Abteilung des Werkes schließt mit der Untersuchung 
der partiellen Differentialgleichungen. 

Die zweite Abteilung ist den geometrischen Anwendungen gewidmet. 
Lagrange bemerkt, daß die Alten die Tangente als eine solche Ge- 
rade definierten, daß zwischen derselben und der Kurve keine andere 
Gerade liegen könne; später betrachtete man die Tangente entweder 
als eine Sekante mit zusammenfallenden Schnittpunkten, oder als die 
Verlängerung einer Seite eines Unendlichvieleckes, oder als die 
Richtung der Bewegung, durch welche die Kurve beschrieben werden 
könne. Hieraus entstanden einerseits die algebraischen, auf die Gleich- 
heit der Wurzeln der Gleichungen gegründeten, andererseits die diffe- 
rentiellen, die Verhältnisse von unendlichkleinen Differenzen oder von 
Fluxionen benutzenden Methoden. Unser Verfahren, fährt Lagrange 
fort, gestattet uns, die Begriffe und die Methoden der Alten wieder 
aufzunehmen. 

Es mögen: 

y-fl@, y-F(e) 
zwei Kurven darstellen. Damit sie einen gemeinschaftlichen Punkt 
besitzen, muß sein (für einen gewissen Wert von ”): 


f(@) = Fe). 


Um die beiden Linien in der Nähe dieses Punktes untereinander zu 
vergleichen, setzen wir © + statt x; der Unterschied der beiden 
ÖOrdinaten ist dann: 


fat) -Fe+)=-if@-Fa)+ilf@-F@)+:--; 


er ist um so kleiner, je mehr Glieder rechts verschwinden. Es sei 
nunmehr: 
y=y(R) 


eine dritte, durch denselben Punkt gehende Linie, so daß: 


f@)=Fla)=p(a) 


ist, und setzen wir: 
D=-fla+)-Fa@+)=-i(f @)-F@a)+F(f’@+D—-F"a+j), 


I=- far) - Pga+H) if) — pP’) + i FRtI-pacH)), 


CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 45 


692 Abschnitt XXVI. 


wo j in den beiden Formeln verschieden sein kann. Damit die dritte 
Linie zwischen den beiden anderen liege, muß D für ein beliebig 
kleines ö absolut größer sein als 1. Ist nun: 


r(@)=F'(«) f(&=p(e), 
so ıst: 
D-,;(f@+)-F’@+9)), 
und man kann : so klein annehmen daß 41 absolut größer als D 


wird. Die dritte Linie kann also nur dann zwischen den beiden 
anderen liegen, wenn f(x) = (x). Ist insbesondere: 


F(x)=a+bs, 
so daß y= F'(x) eine Gerade darstellt, so nehmen die Beziehungen: 
fa)=Füa, F)=-F(&) 
f«)=a+bz, f(a)=b 
an, und die Gleichung der Geraden wird: 
(1) q= fl) -ef(a) + Pf l@), 


wo 9, q die laufenden Koordinaten bezeichnen. Ist die dritte Linie 
ebenfalls eine Gerade, so daß: 


p (x) = h, 


und soll diese durch den betrachteten Punkt gehen, so muß sein in 
diesem Punkte: 


die Form: 


f@=g+hs; 
soll sie ferner zwischen den beiden ersten Linien liegen, so muß sein: 
F(@)—h. 
Hieraus ergibt sich aber: 
9=n, h=b. 
Es kann also keine Gerade zwischen der Linie g=f(p) und der 
Geraden (1) liegen; und diese letztere ist die Tangente. 
Ein analoges Verfahren kann auf die Untersuchung des Schmie- 


gungskreises und überhaupt der Berührungen irgendwelcher Ordnungen 
angewandt werden. 


Setzt man ferner = statt x, und stimmen die Reihenentwick- 


lungen von f (2). F(-) nach steigenden Potenzen von i in den 


ersten, zweiten, ... Gliedern überein, so läßt sich beweisen, daß die 


Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 693 


Linie y=gy(x) in den Punkten, deren Abszissen x > z sind, zwischen 
den beiden Linien y= f(x), y—= F(x) nieht liegen kann, wenn die 
Reihenentwicklung von (>) nicht wenigstens in ebensovielen Glie- 


dern mit den übrigen übereinstimmt, woraus sich der Begriff von 
den Asymptoten ganz leicht ergibt. 

Was wir bisher gesagt haben, ist wohl hinreichend, um dem 
Leser einen klaren Begriff von dem Lagrangeschen Verfahren zu 
geben, und wir dürfen daher über das übrige ziemlich rasch hinweg- 
gehen. Die Bedingung dafür, daß der Abszisse & die größte oder 
kleinste Ordinate zukommt, ergibt sich aus der Betrachtung, daß: 


fa+)—f(«) 


ein von dem Vorzeichen von i unabhängiges Vorzeichen besitzen muß. 
Zum Zwecke der Berechnung der Fläche F(x) einer ebenen Linie 
y—f(z), wo f(x) eine monotone Funktion bezeichnet, bemerkt La- 
grange, dab F(x+i)— F(x) zwischen if(x) und if(x + i) liegen 


muß; es ist aber: 

ICE TORE JCH WE 

Fa+9)=Fl@)+iF(a)+,F’(c+j3), 
folglich liegt: 

IF(@)+ FF (@+)) 
zwischen den Größen: 
if(a), if) +Rf (a + j); 

hieraus ergibt sich leicht: 


F(e)= f(x). c 


Bezeichnet f(x) die Fläche des ebenen 
Schnittes eines Körpers, so ergibt F(x) dessen 
Inhalt. E » 

Die Rektifikationsformel wird folgender- 
maßen erhalten. Nach Archimed ist der 
Bogen AFB (Fig. 77) Jänger als die Sehne 4 
AB und kürzer als AE + EB, wobei E den 
Schnittpunkt der Tangenten AC, BD in A 
und B bezeichnet; nun ist aber die Neigung 
von AÜ gegen # Ördinatenachse Kielner die 
von BD größer als die von AB, folglich: 


AB>BD, AC>AE+EB, 











45* 


Fa) 


694 | Abschnitt XXVI. 


und endlich: 
AC>AFB>BD, 


oder: 





iyI+f?(a)> AFD>iYVI + Fa +). 


Hieraus ergibt sich, wenn ®(x) die Bogenlänge bezeichnet: 


8 (0) -VIFF*@) 

Es folgt dann die Theorie der Raumkurven und Oberflächen und der 
Maxima und Minima der Funktionen von mehreren Veränderlichen, 
die Variationsrechnung und die Theorie der Quadraturen und Kuba- 
turen. 

Die dritte Abteilung enthält die mechanischen Anwendungen, auf 
welche wir nicht einzugehen brauchen. 

Noch im Jahre 1797 erschien der erste Band des umfangreichen 
und treffliehen Trait& du caleul diff&rentiel et du ealeul inte- 
gral (Paris, an V, VI [1797—98], 2 Bde.) von Sylvestre Frangois 
Laeroix, geboren zu Paris 1765, gestorben am 26. Mai 1843. Sohn 
einer armen Familie, wollte sich Lacroix der Schiffahrt widmen; 
bald aber erkannte er, daß sich diese Wissenschaft auf Mathematik 
gründet, und gab sich daher mathematischen Studien eifrig hin. 
Seine Mühe war von dem besten Erfolg gekrönt (s. o. 8. 344). 
Als Zeugen seiner schriftstellerischen Tätigkeit liegen uns manche 
Lehrbücher von hohem didaktischem Werte vor. Der Gedanke, ein 
Lehrbuch der Infinitesimalrechnung abzufassen, wurde ihm durch die La- 


‚ _grangesche Abhandlung von 1772 (8.0.9. 644) eingehbßt Im Jahre 1787 


fing er an, den Stoff zu seinem Werke zu sammeln und einige 
Fachmänner um Rat zu fragen. Man kann aber Lacroix nicht unter 
die Anhänger Lagranges zählen. Freilich gibt er die Lagrangesche 
Definition _der Ableitung an und bestimmt. _ dementsprechend die Ab- 


“leitungen_ der elementaren Funktionen; aber er zeigt bald nachher, daß 


die Ableitung die Grenze der a ee Zuwächse der Funktion 
und der Veränderlichen ist, und bezeichnet als Gegenstand der Diffe- 
rentialrechnung die Bestimmung der Grenzen der Zuwachsverhältnisse 
von veränderlichen Größen, wenn die Beziehungen zwischen diesen 
Größen bekannt sind. An einem anderen Orte bemüht _er sich zu be- _ 


‚weisen, daß _die Infinitesimalmethode nicht angenähert, sondern streng 
‚genau ist, und dab Leibniz mit der Metaphysik der Infinitesimal- 
rechnung ganz im reinen war. 


Viel Neues bietet das Buch nicht dar; es mag daher genügen, 
auf die Einteilung des Stoffes kurz en, 

Der erste Band, der Differentialrechnung gewidmet, zerfällt in 
eine Einleitung und fünf Kapitel. In der Einleitung werden die 


Differentiation und Integration. 695 


Definitionen von Funktion und Grenze gegeben, und die Grundsätze 
der Grenztheorie aufgestellt. Das 1. Kapitel beginnt mit der La- 
grangeschen Definition der Ableitung; es werden dann, wie schon 
gesagt, die Ableitungen der elementaren Funktionen bestimmt und die 
Hauptsätze der Differentialrechnung nachgewiesen, und es wird zum 
Schlusse gezeigt, daß die Ableitung die Grenze des Zuwachsverhält- 
nisses ist, was zur oben angeführten Definition der Differentialrech- 
nung führt. Das 2. Kapitel behandelt die analytischen Anwendungen 
der Differentialrechnung: Reihenentwicklungen, unbestimmte Ausdrücke, 
Maxima und Minima. Bemerkenswert ist hier die Untersuchung 
einiger Fälle, in welchen die Taylorsche Reihenentwicklung nicht 
zulässig ist. Hat man: 
f(«) Er (® af, 

wo n positiv und kleiner als 1 ist, so enthält das erste Glied der 
Entwicklung eine positive Potenz, die übrigen aber sämtlich negative 
Potenzen von (x — a), und man kann also nicht a— 0 setzen. Das 
rührt davon her, daß («e— a+k)* sich für <—=a auf k”, d.h. auf 
eine nicht ganze Potenz von % reduziert, was mit der allgemeinen 
Form der Entwicklung nicht verträglich ist. Ist f (x) allgemein 
irrational, hört aber für = «a auf, es zu sein, so muß k in f(a-+ k) 
irrational auftreten, und daher kann f (@+%) durch keine Entwick- 
lung nach ganzen positiven Potenzen von dargestellt werden. 
Das 3. Kapitel enthält eine Abschweifung über algebraische Kurven, 
das 4. und 5. die Theorie der ebenen Kurven und diejenige der Raum- 
kurven und Oberflächen. 

Der zweite Band enthält die Integralrechnung und zerfällt eben- 
falls in fünf Kapitel, nämlich: 1. Integration der Funktionen einer Ver- 
änderlichen; 2. Geometrische Anwendungen der Integralrechnung; 
3. Gewöhnliche Differentialgleichungen; 4. Funktionen von mehreren 
Veränderlichen; 5. Variationsrechnung. 


Differentiation und Integration. 


1. Differentiation. 


Die Differentialrechnung war in allen ihren wesentlichen Teilen 
von Leibniz geschaffen worden und hatte noch am Sehlusse der 
vorigen Periode in Eulers Lehrbuche eine erschöpfende Behandlung 
erhalten. Es war also von unserer Periode kein beträchtlicher Bei- 
trag zu erwarten. Und so ist es wirklich. Nur eines verdient als 
ganz neu angezeigt; zu werden, die Einführung der symbolischen Be- 
zeichnung in die Infinitesimalrechnung durch Lagrange. 


696 Abschnitt XXVL 


Lagrange!) schreibt die Taylorsche Entwicklung folgender- 


maßen: 
Ju ed= 


und geht dann zur allgemeinen Formel über: 


ALT 4 
PR ee, 


diese Formel läßt sich auch auf den Fall eines negativen A erstrecken, 


so daß: 
1 


On ER ae) A? 
(>: dy he}, 


wo 2*u durch die Beziehungen: 





Zu= 


A2u= 2m... JZu=u 


definiert ist. Der Übergang von Au zu &*u, bemerkt Lagrange, 
ist nicht auf ersichtliche und strenge Prinzipien gegründet, er ist 
aber nichtsdestoweniger richtig, wovon man sich a posteriori zu 
überzeugen imstande ist, und hängt mit der zwischen den positiven 
Potenzen und der Differentiation einerseits, zwischen den negativen 
Potenzen und der Integration andererseits obwaltenden Analogie zu- 
sammen. Es wäre jedoch wohl schwierig, einen direkten analytischen 
Beweis davon zu geben. 

Betrachten wir, der Einfachheit wegen, den Fall einer einzigen 


Veränderlichen. Da: 
© 2 


Ze Ziapol he 20 in Me 
ist, so folgt: 


(® — 1% = o(1+Anm +Bo?+.-.), 


und hieraus durch logarithmische Differentiation: 








( e” Er ar A+2Bo-+::: 











PuleRE | oa) 1+40o+Bo?+--- 
oder: 
1 © 
A+2Bo+--- 1 1 > ass eu 
IF EBEN: Le ae 0 , @* £ 
we 31 ne era TER 


woraus folgt: 





') In der schon oben (S. 644) angeführten Abhandlung: Sur une nouvelle 
espe&ce de calcul etc. 


Differentiation und Integration. 697 
h inR-+1 BEL 1? 
AMT, B-5 = 4-;|-4t+5: en, 
und: 


1. 11 d** 
Au rer n rye ER PR [+ Dar a. ee 


Für negative Indices hat man dann: 


i—1 


4 
a ’ 3 
Zu; fudi ga fudrnt 


es ist insbesondere für den Index — 1: 


ZU= r ude + au + BET + Kin, 


wo &,ß,... die Werte von A,B,... für 4= — 1 bezeichnen. Durch 
diese Formel kann man die Summe einer Reihe angeben, deren all- 
gemeines Glied bekannt ist. 

Die Formeln von Lagrange sind von P. S. Laplace!) auf eine 
andere Weise bewiesen worden. 

Einiger kleineren Beiträge müssen wir hier Erwähnung tun. 

Johann Friedrich Pfaff (s. o. S. 216) gibt in seinem Inau- 
guralprogramm von 1788?) eine neue Methode zur Aufstellung der 
Grundformeln der Differentialrechnung. Seinen Ausführungen liegen 
die beiden folgenden Hilfssätze zugrunde: a) Sind x, y unabhängige 
Veränderliche, P, @, P,, %, Funktionen von x, y, so folgt aus: 


Pdz+0Qdy=P,dx + Q,dy 


notwendig P=P,, Q=Q,; b) Sind X, Y ähnliche Funktionen von 
x bzw. y, und ist X = Y, so folgt X = Y = const. — Will man nun 


die Ableitung von logx ermitteln, so setze man —- =o(%); 


folgt dann aus: 


log (zy) = logx + logy 
durch Differentiation: 


play) (edy+ ydz) = yp(a)dz +yY(y)dy, 


yplay) =Yp(a), zylay) = p(y), 


also: 


und hieraus: 

') M&moire sur l’inclinaison moyenne des orbites des comötes, 
sur la figure de la terre et sur les fonetions, Mem. Sav. Etr. VII, 1773 
(publ. 1776); Oeuvres VIII, Paris 1891, p. 279—321. ®) Programma inau- 
gurale in quo peculiarem differentialia investigandi rationem ex 
theoria functionum dedueit; simulque praelectiones proximo se- 
mestre hiberno habendas indieit J. F. Pfaff, Helmstädt 1788. 


698 Abschnitt XXVI. 


29 (2) = yg(y) — vonst, 
oder p(x) = Ss Die Potenz x” und die Kreisfunktionen lassen sich 


analog behandeln. Aber auch die soeben benutzte Formel: 


d(ay) = ady + yda 


kann durch diese Methode nachgewiesen werden. Es sei: 
d(zy) = Pdx + Qdy, 


P=o(2,y), %=yp(y, 2); 


setzt man y+z=v, so ist: 


wo: 


ww=ay+%2, 
also: 
dzp(z, v) + (dy+ de) p(v, %) 
= dap(a, y) + dyp(y 2) +dap (a, 2) + dzyp(z, 8). 
Es folgt hieraus: 
p(z, v) He p(%, Y) a p(z, 2), p(v, &) ao p(Y, %) u & (2, %), 


also: 


94 D)=v@), vWt)=rW)+u@); 


aus dieser letzten Funktionalgleichung ergibt sich aber: 


vy+)=VW)=VvVd)=O, 
oder 
v() Bone 0x, 
daher ist: 
d(xy) = C(ydz = xdy). 


Setzt man schließlich y=1, so ergibt sich Ö=1, womit die 
vorgelegte Formel bewiesen ist. 

Man kann durch analoge Betrachtungen zur Taylorschen Reihen- 
entwicklung gelangen. Setzt man dp(2) = v(z)dz, so ist: 


dp(c+Yy)= va +y)(de+dy), 





also: 
0 0 
va ty) ee Di nn 
ER 2 
ist umgekehrt — = yo folgt P=gp(x + y). Schreibt man dem- 
nach: 








A | 
\) Pfaff schreibt n ee: 2 .d et DE 


Differentiation und Integration. 699 


gc+y)=r+tny+tRP+tRW +: 


so hat man für y=(0: 


ze p (X), 
ferner: 
ey + Y) 


DIEB FDINT ; 
ö 
DE EINE ee 
woraus folgt: 


2 ’ 1 4 1 [24 h 1 ’ 1 [244 
n=r=pyl@), mM-;5Pı =5P dh Buch 259 @), 
und schließlich: 

. y? ZZ 
ya+W=- Pd) ++ tz rt 


Andere, aber nichts wesentlich Neues enthaltende Beweise des 
Taylorschen Lehrsatzes gaben Lhuilier'), Christoph Friedrich 
von Pfleiderer (1736 —1821; s. o. $.28, 29, 35)?), Professor der Physik 
und Mathematik an der Universität zu Tübingen, und Simon G@urieff 
(1766—1813)°), Professor der Mathematik zu Petersburg. Lagrange‘) 
brachte den Rest auf die nach ihm benannte Form; G. Fontana’) 
dehnte die Taylorsche Formel auf Funktionen von mehreren Ver- 
änderlichen aus. 

Als eine Vervollständigung seines Lehrbuches der Integralrech- 
nung kann man eine Schrift von Euler) ansehen, in welcher er eine ein- 





1) A.2.0. ®) Theorematis Tayloriani demonstratio, Tübingen 
1789. Es ist diese eigentlich eine Dissertation, welche unter von Pfleiderers Vor- 
sitze von J. C.Harprecht und G. F. Seiz verteidigt wurde (s. 0.8.131). °)Obser- 
vations sur le th6eor&me de Taylor, avec sa d&monstration par la 
möthode des limites; application de ce th&or&me, ainsi d&emontre, 
ä la d&monstration du binome de Newton, dans le cas oü l’exposant 
est une quantite fraetionnaire, negative et incommensurable avec 
l’unite; suivie de la resolution d’un probleme qui concerne 1a 
möthode inverse des tangentes, par le moyen de ce th&or&me (1799), 
Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797—98 (publ. 1805), p. 306—335. * Th. 
des fonetions analytiques. 5) In Lotteri, a. a. O. 6) De trans- 
formationefunctionum,duasvariabilesinvolventium, dum earum loco 
aliae binae variabiles introducuntur (1779), M&m. Acad. St. Petersb. III, 1809 
bis 1810 (publ. 1811), p. 43—56. Euler hatte in seinen letzten Lebensjahren der 
Petersburger Akademie eine große Fülle von Abhandlungen vorgelegt; er hatte 
auch den Wunsch geäußert, daß die Denkschriften der Akademie vierzig Jahre hin- 
durch nach seinem Tode Schriften aus seiner Hand enthalten möchten (s. 0. S. 470). 
Dieser Wunsch wurde pünktlich erfüllt. Euler starb 1783; und im Jahre 1830, 
nachdem in allen von der Akademie herausgegebenen Bänden mehrere Abhand- 
lungen von Euler aufgenommen worden waren, während andere ein besonderes 
zweibändiges Werk ausgemacht hatten (Opuscula analytica, Petersburg 1783, 


700 Abschnitt XXVI. 


fachere Auflösung des folgenden Problemes entwickelt: Ist die Funktion 
f(x, y) gegeben, und sind &, y bekannte Funktionen von t,«, so sollen 
die Ableitungen jeder Ordnung von f(x, y) nach x, y durch t, u aus- 
gedrückt werden. 

Nicolao Colletti'), Geistlicher und Professor der Philosophie, 
bemerkte die folgenden Analogien, die sich freilich aus der Definition 
des Differentiales von selbst ergeben: Die m‘® Differenz von: 


d(d+1)---(d+m-—1) 
ist konstant; dasselbe findet für das m‘° Differential von: 


x” aa” it... ta, 


statt. Die m‘® Differenz der m*® Potenzen der natürlichen Zahlen 
ist konstant; dasselbe geschieht vom m*®* Differentiale von x”. Die 
m‘® Differenz von: 


d(d+n)::-(d+m—1)n) 


ist m!n”; das m‘ Differential von x” ist m!da”. 

Zn Schlusse müssen wir einige Betrachtungen Eulers über 
die unendlichkleinen und die unendlichgroßen Größen erwähnen?). 
Euler bemerkt, daß es neben den unendlichgroßen Größen, welche 
durch ganze und gebrochene Potenzen von x dargestellt werden, noch 

1 
andere gibt, deren Ordnung unendlich kleiner ist als die von x” für 
jedes noch so große n. Eine solche ist logx, wie sich durch 
L’Hospitals Regel nachweisen läßt; andere derartige Größen sind 
log log x, logloglog x usw. Dagegen ist die Ordnung von a” größer 
als die von «” für jedes noch so große n. 

Das logarithmisch Unendliche nennt Fontana?) Arzt gi Or- 
dinis semper infinitesimi oder infinitum paradoxum. Gre- 


1785), enthielten die Archive der Akademie noch 14 ungedruckte Schriften, 
die in einem Supplementband (Memoires XI) zusammen mit 4 Schriften von 
Schubert und 13 von Fuß publiziert wurden. Selbstverständlich müssen wir 
alle von Euler hinterlassenen Schriften als unserer Periode angehörig betrachten, 
wenn sie auch viel später zum Druck gelangt sind. 

! Colletti, Dissertazioni d’algebra, Torino 1787 (1. Dell’ uso dei 
segni +, e — nel calcolo delle quantitä. 2. Consenso del calcolo differenziale col 
calcolo delle quantitä finite. 3. Metodo per determinare nelle curve la ragione 
delle coordinate, dalla ragione della differenza delle coordinate fra di loro, ovvero 
dell’ una, o l’altra, o di amendue insieme coll’ arco corrispondente. Saggio nelle 
sezioni coniche). ?®) Euler, De infinities infinitis gradibus tam in- 
finite magnorum quaminfinite parvorum, Nova Acta Acad. Petrop. 1778, 
P. I (publ. 1780), p.102-—118. °) Disquisitiones physico-mathematicae, 
nunc primum editae, Pavia 1780. Disq. 13. De infinito logarithmico. 





Differentiation und Integration. 701 


gorio Fontana, geboren zu Nogarolo bei Rovereto in Tirol am 
19. Oktober 1735, ein Mönch aus dem Orden der Scolopii, lehrte in 
Sinigallia, wo die Freundschaft mit Giulio Fagnano (diese Vorl, 
III, S. 485) die Neigung zur Mathematik in ihm erweckte. Im 
Jahre 1764 wurde er Professor der Philosophie an der Universität 
zu Pavia und Direktor der dortigen Bibliothek; vier Jahre später 
wechselte er seinen Lehrstuhl mit dem von Boscovich (s. o. 3. 656) 
freigelassenen der Mathematik und Physik. Im Jahre 1800 verließ 
er die Universität als emeritierter Professor und zog nach Mailand 
als Mitglied der legislativen Versammlung; früher war er von Napo- 
leon zu einem Dezemvir der zisalpinen Republik ernannt worden. 
Er starb zu Mailand am 26. August 1803%). 

Genauer gesagt, nennt Fontana infinitum paradoxum das- 
jenige, welches von einer unendlichkleineren Ordnung ist als das 


„Unendliche erster Ordnung“ (1 +1-+:--: odr a+a+::-- oder 


m oder =); er begründet die Existenz und bestimmt die Form 


eines solehen Umendlichen auf folgende Weise. Setzt man: 
1 


147, 
so kann y weder Null noch endlich sein, noch die Form . haben, 
wo p endlich ist; es muß also notwendig sein: 


1 


RR RE 
u a 
wo » das infinitum paradoxum ist. Hieraus folgt: 
4, nee 
N logn = Fe he IE, 


also p = logn. 





!) In einem Dokumente derK. Polizeikommission zu Pavia liest man die folgende 
Notiz über Fontana (Mem. e doc. per la storia dell’ Univ. di Pavia e 
degli uomini illustri che v’insegnarono, Pavia 1877—78): „Fontana Gre- 
gorio di Rovereto, delle Scuole pie, professore nella R. Universitä di Pavia, occulto 
giacobino ed ateo anche prima dell’ ingresso dei Francesi in Lombardia, e 
scellerato di professione, fu chiamato a Milano da Bonaparte appena giuntovi, 
ove condusse seco certo Massa (rivoluzionario fuggito da Napoli), per la forma- 
zione della costituzione cisalpina; avanti la resa di Mantova, e mentre si batteva 
il Castello di Milano, intervenne ad un pranzo di molti Giacobini fattosi nella 
sala di questo teatro, ove recitd alcuni suoi sonetti contro il pontefice da esso 
chiamato Barionna, poscia si portarono tutti al Gravellona cantando canzoni 
scellerate contro li Sovrani con gran scandalo del popolo; per di lui opera 
furono impiegati l’Alpruni ed il detenuto Borletti di lui confidente, ed & noto 
il pravo di lai genio dimostrato anche nel Corpo legislativo, di cui & sempre 
stato individuo. Egli & a Milano.“ 


102 Abschnitt XXVI. 


2. Integration. 


Bei weitem länger werden wir uns bei der Integralrechnung auf- 
halten. 

Um systematisch zu verfahren, wollen wir den zu behandelnden 
Stoff folgendermaßen einteilen: 
. Prinzipien der Integralrechnung und verschiedenartige Fragen. 
. Integration von rationalen Funktionen. 
Integration von irrationalen Funktionen. 
. Integration von transzendenten Funktionen. 
Reihenintegration, angenäherte Integration. 
Differentiation und Integration unter dem Integralzeichen. 
Vielfache Integrale. | 


aBsbanad> 


A. Prinzipien der Integralrechnung und verschiedenartige 
Fragen. 

Vor allem müssen wir eine Schrift erwähnen, die alles in der 
Integralrechnung früher Gemachte bekämpft, und eine Revolution in 
diesen Wissenszweig bringen will. Daß aber das Interesse der Ab- 
handlung nur im Namen des Verfassers liegt, einem Namen, der in 
diesem Bande häufig vorkommen soll, wird der Leser bald von selbst 
einsehen. ie trägt den Titel: Sur la mö&thode du calcul inte- 
gral!) und rührt von der Feder Lamberts her. Nach Lambert 
sind die Analysten, aus Ungeduld, neue Integrale zu berechnen, vor- 
eilig, unsystematisch und sozusagen tappend fortgeschritten; man sollte 
von vornherein nicht die Differentiale, sondern die Integrale klassi- 
fizieren, und dann Symptome ableiten, nach welchen die Differentiale 
klassifizierbar sein würden. Eine erste Klassifikation der Integrale ist 
die in algebraische und transzendente. Eine algebraische Funktion 
kann verschiedenen Typen angehören, von welchen Lambert die fol- 
genden aufzählt: 1. Einfache rationale Funktionen, oder Poly- 
nome; 2. Rationale Brüche; das Differential ist ebenfalls rational, 
und sein Nenner ist, von eventuellen Reduktionen abgesehen, das 
(Quadrat des Nenners des Integrals; 3. Wurzelgrößen; das Differential 
enthält dieselbe Wurzelgröße, mit einem rationalen -Faktor multi- 
pliziert; 4. Algebraische Summen von Wurzelgrößen; das Diffe- 
rential zerfällt in mehrere Summanden; 5. Produkte und Quotienten 
von Wurzelgrößen; 6. Summen von solchen Größen; 
t. Produkte von Wurzelgrößen und rationalen Größen; 
8. Summen von solchen Produkten; 9 Quotienten- von 
solchen Summen, usw. 





1) Hist. Acad. Berlin 1762 (publ. 1769), p. 441-484. 


Differentiation und Integration. 703 


Ein Beispiel mag die Anwendung dieser Klassifikation beleuchten. 

Es liege ein rationales Differential vor, welches stets auf die Form: 
dy= 7 da 

gebracht werden kann, wo P, @ Polynome bezeichnen. Ist das Inte- 


gral rational, so muß es die Form: 
zZ 


8 
haben, wo z ganz und rational ist, so daß es der zweiten Klasse an- 
gehört. Setzt man dann: 


z2=4A+Bsae+0rf+---, 


so wird man versuchen, die Größen A, B, ©... durch die Methode 
der unbestimmten Koeffizienten zu erhalten; erweist sich das als mög- 
lich, und ist nur eine endliche Anzahl von diesen Größen von Null 
verschieden, so ist das Integral rational. 

Was die nicht algebraischen Integrale betrifft, erkennt Lambert, 
daß man den richtigen Weg eingeschlagen hat, da man mit den ein- 
fachsten, durch Tabellen angebbaren Fällen angefangen und dann 
versucht hat, die übrigen auf diese zurückzuführen. Es wäre aber 
nötig, Reduzierbarkeitssymptome zu baben, aus welchen sich auch 
die Reduktionsmethode ergeben möchte; und in dieser Hinsicht 
schlägt Lambert eine Klassifikation der transzendenten Integrale vor, 
auf welche wir unterlassen, näher einzugehen. 

Aus dem schon oben angeführten Briefwechsel zwischen Lambert 
und von Holland ergibt sich, daß sich auch der letztere um eine 
Reform der Integralrechnung bemühte; so versuchte er (18. Juli 1765) 
aus dem Verhältnis zweier Differentiale das Verhältnis der bezüg- 
lichen Integrale herzuleiten, was ihm selbstverständlich nicht gelang; 
später (6. Dezember 1767) zeigte er, wie sich alle Integrale der Diffe- 


de ade a’d no — 
rentiale nr i wu ; a ..., wo y= Vbx — 2°, durch eins derselben 


ausdrücken lassen, und sagte, daß die Integralrechnung viel vollstän- 
diger würde, wenn dies im allgemeinen möglich wäre. 

Eine gründliche Erneuerung der Integralreehnung wurde auch 
von Johann von Pakussi!) (oder Pacussi oder Pacassi, geboren 
zu Görz im Dezember 1758, gestorben zu Wien am 8. Juni 1818, 
Hofbaurat und Wasserbauinspektor) ersonnen. Er gibt diese Regel 





') Pakussi, Abhandlung über eine neue Methode zu integrieren, 
Wien1785.-- Versuch einer neuen Methode zu integrieren, Phys. Arbeiten 
der einträchtigen Freunde (Wien) II, 1786. — Joh. Bernoulli in Lamberts 
Briefwechsel III, p. 368—372. — Siehe die Einwürfe von L. Oberreit in Lam- 
berts Briefwechsel V, p. 344 ff. 


704 Abschnitt XXVI. 


an: Liegt ein Integral f Pax vor, so quadriere man Pdx und teile 


mit d(Pdx); dann setze man (man weiß nicht warum) dx? = zd?x; 
das Resulttat ist der Wert des Integrales.. In Formeln: 


A N 
 Pdz+Pda PI1Pxz 


Für die Integrale: 


[war + ady), ee 


muß man auch die Relation dy’= yd?y berücksichtigen. Selbstver- 
ständlich führt diese vermeintliche Integrationsmethode nur in ganz 
besonderen Fällen zu richtigen Resultaten, und es ist sehr leicht, Bei- 
spiele anzugeben, für welche sie nicht gelingt. 

Samuel Vince (gest. 1821)!) gibt eine neue Methode, die er 
continuation nennt, zur Herleitung von neuen aus bekannten Inte- 
gralformeln; so z.B. drückt er: 




















f Bi ade N a" de ade rd % 
Zara ae Vı — «®’ 
durch: 
ns a de ne De 
a” ur a+ ba" cam? 1— x’ e ed 
aus, 


Es gehören hierher vier Abhandlungen von Euler, welche 
einige unbestimmte Fragen der Integralrechnung betreffen. ?) 

Es seien?) einige, z. B. drei Funktionen », q, r von v gegeben; 
man soll eine derartige Funktion x von v auffinden, daß pdx, gd«, 
rdx& integrierbar sind. Setzen wir: 


ae BE A 
42%. a0 nd 
nehmen wir ferner eine Funktion &” von v willkürlich an und 
setzen: 
# dx” 233% dx 
CV = nie 





I? = äg’ = dp ; 





) A new method of finding fluents by continuation, Philos. 


Trans. LXXVI, 1786, p. 432—442. °) Euler hat sich auch mit vielen anderen 
analogen Fragen vom Standpunkte der Differentialgeometrie aus beschäftigt; 
siehe Abschn. XXIV. °) Specimen singulare analyseos infinitorum in- 
determinatae (1776), Nova Acta Acad. Petrop. II, 1785 (publ. 1788), p. 47 bis 
56. — Solutio problematis ad analysin infinitorum indeterminatam 
referendi (1781), M&m. Acad. St.-Pet. XI, 1830, p. 92—94. 


Differentiation und Integration. 105 


dann ist x die gesuchte Funktion. Es ergibt sich nämlich: 


[pda = 0% — (zap = DE — [da = pa —K, 
fadz = (8 — [xdq = gx — [ddr =q2 —g« + fa dg’ 
= q2 — ge + [da” =. — ge +, 
[rdz = re — Iladr=rx — Irde =r2 — ri + [a dr 
=-rı—rx + fr” da” - re — re +r — [a”dr" 
- re re +r'x" — [da re — re +r a" —-.e”. 
Euler berücksichtigt auch den Fall, in welchem verlangt wird, 


daß einige der Quadraturen (pas, Sadz, ... bestimmten Typen an- 


gehören mögen. Ein verwandtes Problem ist folgendes: Zwei solche 


Funktionen g, z einer Veränderlichen ? zu finden, daß fadz algebraisch. 


ist und ai = V?—1 sich durch einen Kreisbogen ausdrücken läßt. 


Man nehme dazu eine willkürliche Funktion « von t, und setze: 


du 0) 1 
a Pe Eng VmSpdam pa — [rap pe —t, 
dt 


EEE _syitp, 
e-Varr, gr, 





dann findet man: 


x ee 1 2 
Jes- Ve, wet, 


Man kann sich vornehmen‘), alle Differentiale d W zu bestimmen, 
die mit zwei oder mehreren vorgegebenen Funktionen p, q,... multi- 
pliziert algebraisch integrierbar werden. Für zwei Funktionen p, q 
wird die Lösung des Problems durch: 

dw — Pea@tv — dvd’d) + galdvd’p — dpd*o) + v(dpd?g — dgd?p) 

(pdg — qdp)’ £ 
oder, nach der heutigen Schreibweise, durch: 


Ei ing 
x} ER | p g v Nr 
| y’gv" q 











') Euler, De formulis differentialibus, quae per duas pluresve 
quantitates datas multiplicatae fiant integrabiles (1776), Nova Acta 
Acad. Petrop. VII, 1789 (publ. 1793), p. 3—21. 


706 Abschnitt XXVL. 


gegeben, wo v eine willkürliche Funktion ist; man findet: 


dv — vdp r  gqdv—vdgq 
dw =! ——-, fsaw- 
J» pdq— gap’ pdq — qdp 





Ein anderes Problem, dessen Lösung man Euler verdankt, ist 
folgendes, welches in der Theorie der rechtwinkligen Trajektorien 


einer Oberfläche vorkommt): Sind », q, P, @ Funktionen von 2, so 


soll man eine solche Funktion IZ von x, y bestimmen, daß: 





d _pde+Hgdy n-ı 
1P+% 


integrierbar ist. 
Auch mit der Integration von Differentialen zweiter Ordnung 
beschäftigte sich der unermüdliche Euler.) Er fand als die Inte- 


grierbarkeitsbedingung für F Vap: 


2Ndp+dM+rdN=0, 


d Er y . 
wo p= Tr V eine Funktion von x, y, p ist, und: 


dAV= Mdx + Ndy+ Pdp, 


und wandte das erhaltene Resultat auf die folgenden besonderen 
Fälle an: 

a) V=Px+ Qy, wo P, Q Funktionen von p sind; es muB 
zwischen P und @ die Beziehung: 


P+pQ+29=0 


bestehen, worauf sich P durch Q oder Q durch P ausdrücken läßt. 


b) V=(Mx+ Ny)Il, wo von den Funktionen M, N, II von p 
die zwei ersten vorgegeben sind; man erhält: 


C 
H= KMHND 


wo ( eine Konstante bezeichnet und: 


Ndp 


ER—) urn 





1) Euler, Solutio problematis analytiei diffieillimi (1782), Mem. 
Acad. St.-Pet. XI, 1830, p. 125—130. ?) Euler, De formulis differentia- 
libus secundi gradus, quae integrationem admittunt (1777), Nova 
Acta Acad. Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), p. 3—26. 


Differentiation und Integration. 1707 


c) V= (px — y)""4(Px + Qy), wo P, @ zu bestimmende Funk- 


tionen von p sind; es ergibt sich: 
P+pQ@+m+1Q=0. 
d) V= (px — y)"-1(Mx& + Ny)II, wo M, N, II dieselbe Bedeu- 
tung haben als unter b); es muß sein: 


— C . 
 K"(M+Np) 





II 


Die Anwendung der Infinitesimalrechnung auf die Bestimmung 
der Fläche eines sphärischen Dreiecks möge hier Platz finden. Der 
Gedanke, die höhere Analysis auf die sphärische Trigonometrie anzu- 
wenden, war nicht neu; Euler hatte sogar nachgewiesen, wie sich 
diese ganz elementare Lehre aus den Prinzipien der Variationsrech- 
nung herleiten lasse (diese Vorl., III?, S. 560, 867). 

Kästner!) beschränkt sich darauf, die Fläche eines rechtwink- 
ligen Dreiecks zu bestimmen, da jedes 
Dreieck als die Summe oder die Differenz 2 
zweier rechtwinkligen Dreiecke angesehen 
werden darf. 

Es sei (Fig. 78) AMP ein sphärisches 
Dreieck mit einem rechten Winkel P; 
der Pol von AP, D, muß auf der Ver- 
längerung von MP liegen. Wir führen 
durch D einen anderen, von DMP wn- 
endlich wenig abweichenden größten Kreis Fig. 78. 

Dmp, und durch M einen zu AP paral- 
lelen kleineren Kreis MR. Dann ist MRpP das Element einer 
Zone, und die Fläche von MRpP ist bekanntlich Pp-sin PM. 


Setzen wir: 


MAP=« AMP=ß, AP=,, cos AP=3; 


5 


8 
r 


” 











dann ist: 
Pp=— BEL t 
Yı-z„ tang PM =sinytange, cosß — cosy sing, 
also 
sinPM—- _V!-"tange _Yi-zsina 
ind: Vv1+(1—2) tang «°? V! — z*sin «®’ 





') Dissertationes mathematicae et physicae. Diss. IX. De quae- 
stione, quot sphaerae aequales inter datam mediam poni possint, ut omnes illam 
et eircumpositarum sibi vieinae, se mutuo tangant (p. 62— 75). 

CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 46 


, 


108 Abschnitt XXVL 








dz sin «& 
ee Vi -— 2? sin «a? 
Es ist aber: 
MRpP=MmpP=d:. AMP, 
folglich: 


AMP = const. — arc sin (cos 7 sin «), 
und nach Bestimmung der willkürlichen Konstante: 


AMP=«-—.aresin (oosnsine)=«+ B-7- 


An einer anderen Stelle!) beschreibt Kästner Girards Ver- 
fahren zur Bestimmung des Inhalts eines sphärischen Dreiecks mit 
dem Zusatze, es sei sonderbar, daß hier Girards „Scharfsinnigkeit“ 
die Rechnung des Unendlichen übertreffe. 

Dagegen behandelt Jean Paul de @ua de Malves (diese Vorl., 
III, 8. 576)?) direkt das allgemeine Dreieck. De Guas Verfahren 
kann in der heutigen Bezeichnungsweise wie folgt geschildert werden. 

Es sei (Fig. 79) ABC ein sphärisches 

Dreieck, AC’ ein zu AC unendlich nahe 
liegender, gleichlanger Bogen; man nehme 
auf BC den Bogen BD= BC’, und ziehe 
die zu AC bzw. BC senkrechten Bögen 
von kleineren Kugelkreisen CC’, OD. DBe- 
zeichnet man durch © die Fläche, durch 
a,b, c, U, 8, & die Kosinusse der Seiten 
und der Winkel des vorgegebenen Drei- 

C ecks, so ist: 


a 
C’ — dS = Fläche BCC’ — Fläche A0C,, 
Fig. 79. 
oder auch, durch Vernachlässigung einer 


unendlichkleinen Größe zweiter Ordnung: 
— d© = Fläche BO’D — Fläche AC’C. 


Es ist auch: 
da 





CD=d-arecst=— 





ı) Kästner, Geometrische Abhandlungen II, Göttingen 1790, 8. 424. 
2») Diverses mesures, en partie neuves, des ajires sphe@riques et 
des angles solides, triangulaires et polygones, dont on est suppose& 
connaitre des el&emens en nombre suffisant, avec des remarques 
qu’on croit pouvoir contribuer ä simplifier les integrations de 
plusieurs &quations differentielles & inconnues actuellement se&- 
pardes, Hist. Acad. Paris 1783 (publ. 1786), p. 344—362. 


Differentiation und Integration. 109 











‚ So u We A 
UD=CD-.tangl’CD= CD eotg AOD = rn 1 U 
Co A TE Kinn 
Br cos CD u sin ACD ea 1721 BR E?yı DEREN 


Ferner ist sn ACO—=Y1-—b? der Radius des Bogens CC’, also: 


wu, da 
Vi V1- «yı— byi—c®’ 
andererseits ist bekanntlich 2x sinvers AC oder 2x(1 — b) die Fläche 
der Kugelkalotte, deren Differential das Dreieck ACC ist, also: 








ö : (1—b)da 
= —— nd EEE eur ee 
Fläche ACC’ = (1—b) (’AC Yi a 1-Byi_ © 
Man findet analog: 


. ' d—a)Cda Cda 
BED. —5” | 
Asche V-eyi-efi-® dtayı® 














Hieraus folgt: 
= Cda ie (1 —b)da ® 
A+a)y1—- yı-ayiı—- bWyı —& 


Es ist aber wegen bekannter trigonometrischer Sätze: 


























ee ee RD 

Vi-ayıp 
[- &-VÜZDU-B-LR Zah? _Vizw-B—etiad: 
Khza Vi1- a!yı 9 Vı—- ayı -# ’ 
also: 
— _t—abda , d—bda _ da (b+dda 
a wassıt, © Ta d-tead’ 
wo: 











d-yl-®-#—- + 2abce=- VI ai — 5°) — (c — ab)2. 


Nun ist, da nur a verändert worden ist, während b und c kon- 
stant bleiben: 














da 
en Der zieren as junger 
ö ln Gi d are cos Veräng ET nam a dare cos, 
Ale) 
dS = dare cos A + ee 


Um das zweite Differential zu integrieren, erwägen wir folgendes. 
Enthält dS den Summand d are cos YA, so muß es der Symmetrie 
wegen auch dare cos® und dare cos & enthalten; es ist aber: 

46 * 


710 Abschnitt XXVI. 




















b—ca (e— ab)da 
—dBdB=—d == 
we vi-&A-ad) VU-HA-dAL— an’ 
und analog: 
s ee (b — ac)da 
vya—-byA—-aNı — a9’ 

also: 

dare cos®B = Tune dare cosC = et 

darc cosB + dare cos — rd 


und endlich: 
dS = darc ecosA + darecos®B +darecsC =d(A+B+C), 


oder: 


S=-4A-+B-+HÜ+ const. 
Zur Bestimmung der Integrationskonstante muß man bemerken, 


daß für A+B+ (0 = - die Fläche des Dreiecks — ist. Es ergibt 


sich hieraus: 
const. = — z, 
und schließlich: 
S=-A+B+(Ü-—n. 


B. Integration von rationalen Funktionen. 


Diese Aufgabe war schon früher von Leibniz und Johann 
Bernoulli (diese Vorl, III, 8. 272 ff.) vollständig aufgelöst worden.') 
Es blieb also nur noch übrig, neue und elegantere Integrationsmetho- 
den aufzustellen, und besonders interessante Spezialfälle zu behandeln. 
Es möge uns daher erlaubt werden, auf die bezüglichen Schriften nur 
ganz kurz hinzuweisen. 

Von Fontana?) haben wir einen neuen Beweis des Cotesschen 
Satzes und die Anwendung dieses Satzes auf die Berechnung des 


N dz 
Integrale |- 
ntegrals (m kam) 








') Freilich mußte dazu die Auflösbarkeit jeder algebraischen Gleichung 
postuliert werden, während die bezügliche Frage damals noch nicht gelöst 
worden war, was Euler in seiner Integralrechnung (I, p. 34) ausdrücklich 
betont. Er fügt aber hinzu: „Hoc autem in Analysi ubique postulari solet, ut 
quo longius progrediamur, ea quae retro sunt relicta, etiamsi non satis fuerint 
explorata, tanquam cognita assumamus“., ?°) Analyseos sublimioris opus- 
cula, Venedig 1763 (Op. 1. De formularum quarumdam trigonometricarum 
integratione. Op. 2. De theoremate Rogerii Cotes, ejus usu, utilitate, praestantia. 
Op. 3. De invenienda formula radii osculatoris in curvis ad umbilicum relatis 
ex data formula ejusdem in curvis relatis ad axem, eruendisque inde curvarum 
evolutis). 





Differentiation und Integration. 711 


Am Ende des ersten Bandes seiner noch oft zu erwähnenden 
Mathematicalmemoirs (zwei Bände, London 1780 und 1789) veröffent- 
lichte Landen (selbstverständlich mit den Bezeichnungen der Fluxions- 
rechnung) ein sehr ausführliches Verzeichnis von Integralen, welche, 
nach seiner Angabe, größtenteils neu sind; es kommen hier aber 
auch die ganz bekannten rationalen Integrale: 


Saraz, Sta + bar)par-1az 
usw. vor. 


Francesco Pezzi (s. o. S. 448), Genieoffizier und Professor der 
Mathematik an der Universität zu Genua, gab in den Memorie di 
matematica e fisica della Societä italiana delle seienze zwei Abhand- 
lungen!) heraus, in welchen er sich vorsetzte, die Integrale: 


(A+ Ba2)dz : # x !dz 
(a? — 2abz cosp + b?z3)P ? (a+bxc-+ ca? 


+egdz +94% 
(a+bz+ ca? + fax?)P r +bxz+ca2?+ fx?’ + hat)? 
ohne Hilfe von Rekursionsformeln zu berechnen. 
Euler?) zeigte, wie man eine rationale Funktion ohne den Ge- 
brauch von imaginären Größen integrieren kann, und wandte seine 
Theorie auf das Integral / re an, wo P ein Polynom bedeutet, 


und: 











1 22% 
oder: 
9=1+2X8%cosn +x% 
ist. | 
Andererseits lehrte Euler), wie nützlich. die Einführung der 


‘) Ricerca sopra l’integrazione sviluppata in una serie finita 
(A+ Bz)dz 
della formola (a — 2abzcosp + bizd# essendo p un numero qua- 
lunque intero, Mem. Soc. It. IV, 1788, p. 577—588. — Integrazione in 
serie finite delle formole 





xt !dx xt rdx xt ?dx 


(a+ba+ca)?" (a+batcatfeP’ (atbaetea fe hei’ 


essendo peg de’ numeri qualunque interi, Mem. Soc. It. VI, 1792, p. 256 
bis 308. ®) Nova methodus integrandi formulas differentiales ratio- 
nales sine subsidio quantitatum imaginariarum, Acta Acad. Petrop. 
1781, P. I (publ. 1784), p. 3—47. — Siehe auch: De resolutione fractionum 
compositarum in simpliciores (1779), M&m. Acad. St.-Pet. I, 1803—1806 
(publ. 1809), p. 3—25. %) De integrationibus maxime memorabilibus 
ex calculo imaginariorum oriundis (1777), Nova Acta Acad. Petrop. VII, 








712 Abschnitt XXVI. 


imaginären Größen bei algebraischen Integrationen ist. Es sei: 


v- [Zds, 


wo Z eine Funktion von 2 ist; setzt man: 


z=2+iy, Z=M+HiN, V=P+ig 


so ı1st: 


P+iQ - /(M + iN)(dx + idy), 


also: 


P- [(Max— Nay), Q-/(Ndz + May). 


Die Integrierbarkeitsbedingungen für diese Ausdrücke sind: 


DM 0oN öN_oM 
u I’ 94 908’ 
und man hat: 
aD _ 29 an en 
0% y’ Be: 


Euler verifiziert diese Beziehungen an einigen einfachen Inte- 
ogralen von rationalen Funktionen, und macht davon eine Anwendung 


m—1i 
auf die Berechnung von f Tr für z=v(cosp+isinp). Wird 
ferner zwischen & und y eine Beziehung vorausgesetzt, so verwandeln 
sich P und Q in Integrale einer einzigen Veränderlichen; läßt sich 
dann V leichter als P und Q auswerten, so hat man in der Zer- 
legung von V in seinen reellen und imaginären Bestandteil ein Mittel, 


den Wert von P und @ zu erhalten. Es sei z.B.: 





1789 (publ. 1798), p. 99—133. — Supplementum ad dissertationem prae- 
v m—1 

cedentem, circa integrationem formula | ei A casu quo ponitur 
z=v(cosp + ising), ebenda, p. 134—148. — Ulterior disquisitio de for- 
mulis integralibus imaginariis (1777), Nova Acta Acad. Petrop. X, 1792 
(pabl. 1797), p. 3—19. — De insigni usu calculi imaginariorum in calculo 
integrali (1777), Nova Acta Acad. Petrop. XI, 1794 (publ. 1801), p. 3—21. — 
De integrationibus difficillimis, quarum integralia tamen aliunde 
exhiberi possunt (1777), Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797—1798 (publ. 
1805), p. 62—74. — Auf die beiden ersten Abhandlungen bezieht sich die 
Schrift von Fuß: Enodatio diffieultatis ab Ill. Eulero in dissertatione 
deintegrationibus memorabilibus ex calculo imaginariorum oriun- 
dis geometris propositae (1790), Nova Acta Acad. Petrop. VII, 1789 
(publ. 1793), p. 175—188. 

1) Es ist fast überflüssig, daran zu erinnern, daß diese Gleichungen viel 
später die Grundlage der Cauchy-Riemannschen Funktionentheorie ge- 
worden sind. 


Differentiation und Integration. 713 


m—1 
Jar 
setzen wir 2= v(cos® +isin®), und betrachten # als konstant (was 
mit der Voraussetzung x — const. gleichbedeutend ist); es ist dann: 
de _ dv 
2 07 | 
a+ ber = a + bo" cosn® + ibv" sinn$ = s(cosp +isinp), 


wo: 


bv" sinn® 
= a? + 2abv" cosnd + b?v?”, tangp=_ en n9’ 


folglich: 








v - 7 [eos (m® — Ap) + i sin (md — A9Q)]. 
S 


Es ergibt sich aber aus den obigen Beziehungen: 














in asing _. asinnd 
nnd gg’ ° innd—g’ 
also: 
m 
oo» is er 
T gen sing" sn(n®—gp) " cos(md — Ay)dp, 
nb" sinns?-! 
all, RR zur. 
= — sing" sinn®—g) " sin(m® —Agp)dy. 


nb" sinns*! 
Ist insbesondere } = 7) ,‚ so verwandelt die Substitution: 


ei 


(a + be") " 


das Differential dV in ein rationales Differential; es ergibt sich 
nämlich: 





rat 
Fe 


Man hat andererseits in diesem Falle: 


en m 
siınpr cos (m# _ — o) 
P= = "14 
m m] sin (n® — p) P) 


nb” sinn®#"” 








') Für ein gebrochenes 4 gehört das Integral V eigentlich nicht hierher; 
wir behandeln es aber des Zusammenhanges wegen an diesem Orte. 


714 Abschnitt XXVI. 


A m 
sing” sin (md — 9) 
0m 1 N Ze 
m Mi. 2 sin (n®# — 9) 9 


nb” sinn®#” 








setzt man = no und bezeichnet mit «, ß, y, Ö konstante Größen, 
so nehmen diese Integrale die folgende Form an: 


(1) ; do «ein mo 4 Pos mm 





n-m ysinno-— dcosno 
sınna NR 
Es ergibt sich also der Satz, von welchem Euler auch einen 
direkten Beweis liefert: Jedes Integral vom Typus (1) ist durch ele- 
mentare Funktionen ausdrückbar. Der Satz läßt sich wie folgt ver- 
allgemeinern: Sind P, @ rationale Funktionen von x”, so ist: 


pet #7 a 


m 


(a + bar)n 


integrierbar; sind P, Q rationale Funktionen von sin2no, cos2no, 
so ist: 





dx 


J (P sin mo + Q cosmo)d- sinn®* 
integrierbar. 

So nützlich aber die Theorie der imaginären Größen sein möchte, 
so konnte sie nicht umhin, bei der bisher erreichten unvollständigen 
Entwicklung, zu Paradoxen zu führen. So warnt d’Alembert!'), daß 
man vorsichtig verfahren muß, so oft man mit imaginären Größen zu 
tun hat. Es ist z.B.: 


du du 1 Se 1-+ ui 
= -/; iWd-ie) Tr ı. ring en) ar 


Setzt man u=iv, so folgt übereinstimmend: 

















du i dv i 1+v 1— wi 1 1-+ wi 
et HIT DT - ze; = en 
setzt man dagegen u = — iv, so hat man: 
du ; dv. 1+v 
a, 


woraus sich nur dann das frühere Resultat wiederum ergibt, wenn 
statt v nicht — iu, sondern iu gesetzt wird. 





ı) Opuscules math&ematiques, T. VI, Paris 1773 (Remarques sur le 
m&moire: Suite des recherches sur la figure de la terre). 


u nn 


Differentiation und Integration. 115 


Zu analogen Betrachtungen gibt das von d’Alembert schon 
früher (Suite des recherches sur la figure de la terre) berück- 


sichtigte Integral: } 
rs ©» 








d d 
is aaa Nach d’Alembert ist Isar, nicht = Va , son- 
dern = a denn Yx?— 1 positiv genommen ist gleich iV1 — a? 

zu — 


positiv genommen. Man könnte auch setzen: 


Ve-1=-iVi-e; 


























dann wäre: 
- vis 
if. VE og IS 
u 5 i i : 
0 
also: 
> via 
/ Via? 5 i en 
log HI IE, 


ein Resultat, welches mit dem unter der Voraussetzung: 
V®—l=iy1-—a: 


erhaltenen übereinstimmt. Dazu bemerkt Giuseppe, Contarelli in 


einem viel längeren Brief, als es der Gegenstand verdiente‘), daß die 


letzte Gleichheit unrichtig ist, und daß —1___ gieht gleich 


* ic + V1— x? 
%r 4 — @°, sondern gleich ie +iV1— a2) ist. 2) 








C. Integration von irrationalen Funktionen. 


Die Integration der einfachsten irrationalen Funktionen war seit 
der früheren Periode her schon bekannt. Euler und seine Schüler 





') Lettera del sig. Abate Giuseppe Contarelli al Sig. Avv. Paolo 
Cassiani pubblico professore di filosofia e matematica nell’ Uni- 
versitä di Modena, Nuovo Giorn. lett. It. (Modena) XIV, 1778, p. 237—262. 
®) Über die Integration rationaler Funktionen siehe auch den Aufsatz von 
Jacopo Riccati: Dei polinomi (Opere del conte Jacopo Riccati, 4 Bde., 
Lucca 1761—1765, Bd. II, p. 67—78), der aber schon früher in den Institu- 
zioni analitiche von Maria Gaetana Agnesi (1748) gedruckt worden war. 


716 Abschnitt XXVI. 


beschäftigten sich damit, neue Differentialausdrücke direkt zu inte- 
grieren oder auf schon behandelte Typen zurückzuführen. Aus dem 
IV. Bande von Eulers Integralrechnung und aus dessen weiteren 
Schriften entnehmen wir die folgenden: 


a)1) /f(a, s)da, 


wo f eine rationale Funktion bezeichnet und: 


Vi oder s-Va+bVf ge 


29) Iran, 2% 


-1 a-+ ba" Li. n 2n 
-VrS oder s= Ya + bar + car. 


2+1 
: FE ee Lea") ® n de 
ec) ) Ta Bad ? 


wo ı ganz, A ganz oder gebrochen ist. 











d)*) ar ide 





m? 


(fa" — g)[r? a" — (fa — 9)?” 
wo m, A, n ganze Zahlen bezeichnen, durch die Substitution: 


% 





ne 
[I a*” a (fa” BR AR ah 
)Supplementum calculiintegralis pro integrationeformularum 


irrationalium, Acta Acad. Petrop. IV, P. I, 1780, p. 3—31; Inst. cale. int. IV, 
p: 3—31 (unter dem Titel: De integratione formularum differentialium 








irrationalium). au ®) De integratione formulae 
deyıta* 
1—- at ° 


aliarumque ejusdem generis, per logarithmos et arcus circulares, 
M. S. Acad. exhib. 1776; Inst. cale. int. IV, p. 36—48. *) Memorabile genus 
formularum differentialium maxime irrationalium, quas tamen ad 
rationalitatem perducere licet, M. S. Acad. exhib. 1777; Inst. calc. int. 
iD. er — Specimen integrationis abstrusissimae hac formula 





ir 2 Var contentae (1777), Nova Acta Acad. Petrop. IX, 1791 (publ. 
& u” — 


1795), p. 98— 117. 


Differentiation und Integration. 117 


a pn (1Fx%)?dx Er 
J ALNALsR+zYt 


Setzt man für das obere Vorzeichen: 




















1 +6’ + =, p=-!T8, a-'—, 
so folgt: 
p+a-2, de", 
also: 
aprge@? 
ar. v _ 4(p—gq)p? g’da _ 4p°’g?dx 4p?g?’dz 
te +N) v’ip'—gN) v(pi—g) vi(p!— 49) 


_ 2p?dp 2g°dgq 
‘4 Br 9%. ee g* ’ 





wonach sich die Integration unmittelbar ausführen läßt. Für das 
untere Vorzeichen kommt man zum ersteren Falle durch die Substi- 
tution <= iy wieder. 


‚ 3 + x.M)dx 
um ze ® R 
A+a)(+60°+ 0) 4 


Setzt man: 
1+y 


1—y 





—1, 


so folgt: 


v-2| (= ER + le ar rr+e 


Durch die Substitutionen: 











Er. ve t, Yıty en 


u”du 
Pl _9? ang BELDE 


g)°) Eine Verallgemeinerung von f) bilden die zwei folgenden 
Integrale: 


erhält man: 





‘) Integratio formulae differentialis maxime irrationalis, 
quam tamen per logarithmos et arcus circulares expedire 
liceat (1777), Nova Acta Acad. Petrop. IX, 1791 (publ. 1795), p. 118—126. 


”) Evolutio formulae integralis J er 

d+2)Yı+62+ 2% 
rithmos et arcus circulares, Nova Acta Acad. Petrop. IX, 1791 (publ. 
1795), p. 127—131. ®) Formae generales differentialium, quae etsi 
nulla substitutione rationales reddi possunt, tamen integrationem 
per logarithmos et arcus eirculares admittunt (1777), Nova Acta Acad. 
Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), p. 27—77. 








per loga- 


718 Abschnitt XXVI. 
M = JO In" M(A07" + Ba'")de 
v"(0E"+ Dn”) 
v_ [rar mL Bı"")dz 
&n(c&" + Dr") 





’ 





, 


wo: 





b=a+ym n—=ß+ön v=Yala+ yay'+b(B + da)", 
und A, B, ©, D rationale Funktionen von (&)" sind. Setzt man: 


u Pr sad &, 
so folgt: 


7 | n—1 m—1 
u S u"idu : 1 7 Bu du = 
j ah it + Dy(au" +b)n | 


2% _(M, r M,), 


a 1 (so Senne 47a | 
reed = Cu” +D | 


1 
us: ae Fe N;), 














wo A, B, C, D rationale Funktionen von u” sind. Wendet man dann 
auf M,, N, die Substitution: 


(au” + b) 
auf M,, N, die Substitution: 


1 
n 


U 


=t 





1 
(au" +5)” 


an, so ergibt sich: 


dA ae ArN 2 
— JaD-vcrHror, HT IR ZdYaD-I0H OR)’ 


Be’ 12) 
M, = DLC-aD)i"? ne 








S 








wo A, B, C, D rationale Funktionen von ?* sind. 


ne er Sys 


") Integratio suceincta formulae integralis maxime memorabilis 


dz 
(1777), Nova Acta Acad. Petrop. X, 1792 (publ. 1797), 
+2) Yı + 32° 

















Differentiation und Integration. 719 


Setzt man für das obere Vorzeichen: 

















”=1+ 32, p-'t?, „tt, 
so folgt: 
2x(3 u 4 
P+fP=2, „Pete, P-4-5, 
v’d v?d 
dam — a - a 
also: i 
92 ER 
r 35t = Be, 
und: 
et Gere 2 ARROERR 3 Du k L OMENRRRRN.. 
Er 2(p° — q°)v? 2(p° — q°) 4(p® — 1) a. {a u. 


Für das untere Vorzeichen setzt man x = iy. 

Andere spezielle Integrale wurden von Andreas Johann Lexell 
(s. o. 8.383) und von Etienne Rumowski (1732—1812, Schüler 
von Euler, Professor der Astronomie zu Petersburg und Verfasser 
eines in russischer Sprache erschienenen Lehrbuches der Elementar- 
geometrie) berechnet: 


))) r-[ tr EUREN > 
(1— am)" Vaa" — ı 


Schreiben wir: 





dx ride 
daV= PRIEENEEBL ver — 
(1 a”) Yaar — 1 (1 a”) Vaart — 1 


und setzen wir im ersten Integral: 








RUE N 
v2 a1 
x 9 
ım zweiten: 
FERIEN 
VPer—i1=z, 
so erhalten wir: 
EU ya ?dy gm—2 7, 
Kr er) REaREe ur 








9 = Ye ntde 


p- 20—26. — Siehe auch: Rumowski, Integratio formula 








dz 
e 
Ir — 2) Y 1+2? 
aliarumque nonnullarum (1795), ebenda, p. 126—136. 


) Lexell, Integratio formulae cujusdam differentialis per 
logarithmos et arcus cireulares, Acta Acad. Petrop. 1781, P. II (publ. 
1785), p. 104—117. ”) Rumowski, Integratio formularum 


120 Abschnitt XXVI. 


Dureh die Substitutionen: 
V:’ —y3 _Vas®—1—Y3 











ra PER 
zer ve: 22 Var-ırys 
erhält man: 
83 2dz 
23 
10 36 2°dz _9e’de(V3 — VYAz®— 1) 
4. (VE FH Ya 1) ... E-aR—1) 
_9 sl +229)dz 93 2°dz 





2 1—2)Aaz—1)) 2% 1 PyYar—ı 


Um dieses letzte Integral zu berechnen, setze man: 











Yı+w 
"are 3 
man hat: 
9 y3 sd 1 Vıtudu er 
a" (1 29)? Yaz°—1 FIRE S U % u? # 


Das erste Integral wird durch die Substitution v— Yl-+ u® 


rationalisiert (man erhält BR, das zweite geht durch die Sub- 


stitution = in das erste über. 


k)!) re avIFE 


Durch die Substitution: 
wo v3; a ?) 





ergibt sich: 
u ee u. 
ER 2973 ; 
@ nn rer ye|; 








d Yı . 
dx N % A 
(1+2)Yı a? 1+% 
(1795), Nova Acta Acad. Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), p. 213—219. 
dz 


8 — 2) Yı1+ 2° 
nonnullarum, Nova Acta Acad. Petrop. X, 1792 (publ. 1797), p. 126—136. 
?) Rumowski bewerkstelligt diese Substitution in drei Schritten, nämlich: 


Vits=ta t=VYi—3y+3y%, 9-7 er 











) Rumowski, Integratio formulae aliarumque 








-H 


Differentiation und Integration. 121 


von diesen Integralen läßt sich das erste durch die Substitution: 


an ag 
berechnen, während das zweite in das erste durch die Substitution 
ie übergeführt wird. 
U 


Noch andere, aber nichts wesentlich Neues darbietende Integrale 
finden sich in dem oben angeführten Anhange zum ersten Bande der 
Mathematical Memoirs von Landen. 

Der unten noch öfters zu erwähnende @. F. Fagnano gab‘) einen 
neuen Beweis des Satzes, nach welchem sich die Integration von 
"dx 
(c-+ ex)?’ 


auf diejenige von 


wo m und n beliebig sind, p aber ganz und positiv ist, 





a .. zurückführen läßt. 
c-+ex 


Eine Bemerkung Eulers?) verdient, trotz ihrer Einfachheit, her- 
vorgehoben zu werden. Nicht alle Integrale, die durch elementare 
Funktionen ausdrückbar sind, lassen sich durch eine Substitution 
rationalisieren; es kommt zuweilen vor, daß ein Integral sich in eine 
Summe von Integralen zerlegen läßt, deren jedes einer besonderen 
Substitution bedarf, um rationalisiert zu werden. Dieser Umstand ist 
in den oben behandelten Integralen wiederholt vorgekommen; ein 
weiteres Beispiel ist: 


a b € 
Myte*vrstvra" 


Auch die binomischen Integrale: 





au 
Sam-1(a + bar)’ da 
waren schon von Newton (diese Vorl, III, S. 185—186) behandelt 


worden; er hatte die beiden Fälle erledigt, wo — oder — + r ganz- 


zahlig ist. Euler?) setzte sich vor, die Integrierbarkeitsfälle direkt 
aufzufinden; er kam selbstverständlich auf die zwei Newtonschen 
Fälle, und fügte hinzu: „Faeile autem intelligitur alias substitutiones 
huie seopo idoneas excogitari non posse“. Es sollte aber noch ein Jahr- 
hundert dauern, bevor diese Behauptung bewiesen werden konnte.‘) 

Auf die binomischen Integrale bezieht sich das Schriftchen: 





) Theorema caleuli integralis, N. Racc. d’opuscoli seientifici e filologiei 
XXIL, 1772, op. II. 2) Supplementum caleuli integralis ete. (s. o. S. 716). 
— Specimen integrationis etc. (ebenda). ®) Inst. calc. int. I, p. 67. 

#) Bekanntlich wurde der Beweis zuerst von Tehebycheff erbracht (J. de Liou- 
ville XVII). 


7122 Abschnitt XXVI. 


Dissertatio de comparatione fluxionum binomialium quam praeside 
F. Mallet... pro laurea publice examinandam sistit Andreas Hulten 
(Upsala 1785). 

Karsten!) versuchte, die Integrationsmethode der binomischen 
Differentiale auf polynomische zu erstrecken. Ist: 


dy = x" da(a + ba” + cap, 


so kann man schreiben: 














m—p m+i1 m+tnp+tn+1l m+2np+2n+i\p 
RB es Br en RR ) 
Setzt man: 
m+1 m+np+n+i1 m+2np+2n+1 
1 1 1 Z 
axrtı! - ba Pr +ex  » =%£, 
so folgt: 





m— m+np+n-—p 
ac rg ot tet, 2. 
p+1 p-+1 
m+2np+2n—p 
ME IOHIRTT nr E 
+c Sa dx = dz, 











und hieraus: 


m—p m+np+n—p 





























BE Su ul, bmtnptnti, nrn2teeN 
gp+idg am+ı) pr Er p+1 dx 
ec m+t2np+2n+1 en 
a m+1 '%, 
folglich: 
pri m+nptn-p 
: dee red net ne ee 
m+2np+2r—p 
e m+?2np+2n+1 7 
2: a m+1 e er er RerTih 
y a et t famtn(a + bar + ca?"pdzx 
In RE (ara + bar + ca®?")pda. 


Auf gleiche Weise fährt man fort; bricht die Reihe nicht ab, 
so erhält man dadurch einen angenäherten Ausdruck für das Integral. 
Die polynomischen Differentiale lassen sich analog behandeln. 

Mit der Integration der polynomischen Differentiale beschäftigte 





!) Mathesis theoretica elementaris etc., $ 380. 


Differentiation und Integration. 123 


sich auch Carlo Francesco Gianella!) (s. o. 8.681). Er be- 
handelte das Integral f: x" X"dx, wo: 


X= far tga” ha” +, m>m>m’>:.-- für r>0; 
Xeftga" ho” +..., m<m <--- für r<O, 


und suchte erstens hinreichende Bedingungen dafür aufzustellen, daß 
die Integration in geschlossener Form ausführbar sei, zweitens die 
Gesetze zu bestimmen, denen die Koeffizienten der Reihe gehorchen, 
durch welche das Integral im allgemeinen ausdrückbar ist. Daß aber 
die von ihm angegebenen Bedingungen nicht hinreichend sind, läßt 
sich leicht ersehen. 

Lacroix?) bemerkte, daß einige Integrale, wie z. B.: 


it 


Jar-taa (a+ bar + ca" +...)?, 


Rekursionsformeln zulassen, welche den für die binomischen Integrale 
geltenden analog sind, und daß sich andere auf mehrere aufeinander- 
folgende binomische Integrale zurückführen lassen. Es finden sich 
auch Rekursionsformeln bei Fontana?) (s. u. $. 725), Lorgna®) und 
Frisi?). 

Es mögen schließlich einige Untersuchungen von Condorcet‘) 
kurz erwähnt werden, welche eine größere Tragweite haben. Unter 
den von Condorcet aufgestellten Sätzen heben wir den folgenden 
als Beispiel hervor: 

Ist: 

Ay" + Ay =, 


wo A, eine ganze rationale Funktion von x vom i'® Grade bezeichnet, 
so läßt sich das Differential ydx auf die Form Pdx + Qdy bringen, 
wo P, @ rationale Funktionen von z, y sind, und Pdx + Qdy ein 
exaktes Differential ist; unter denselben Voraussetzungen läßt sich 
eydxz auf die Form eines exakten Differentials & (Pdx + Qdy) 
bringen. 

Es ist aber zu beachten, daß Condorcets Beweise sich einzig 
und allein auf die Abzählung der Konstanten stützen, eine Beweis- 





) De integratione indefinitinomii, Misc. Taur. IV, 1766—1769, P. II, 
p- 253—271. — De fluxionibus earumque usu, Mailand 1777, 8 68 ff. 
*) Traite de caleul diff6rentiel, Art. 395 ff. ®) Analyseos subli- 
mioris opuscula, Venedig 1763, Op. I. *) Opuseula mathematica et 
physica, Verona 1770, Op. V. 5) Pauli Frisii Opera, Bd. I, Mailand 1782. 
6%) Theor&mes sur les quadratures, M&m. Acad. Paris 1771 (publ. 1774), 
p. 693— 704. 


CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 47 


124 Abschnitt XXVI. 


methode, die bekanntlich niehts weniger als sicher ist. Das ist frei- 
lich dem Verfasser selbst nicht entgangen. Er bemerkt nämlich, daß 
die Unmöglichkeit, die Anzahl der Koeffizienten größer zu machen 
als die der Gleichungen, die Unlösbarkeit der Aufgabe nicht not- 
' wendig nach sich zieht, und verspricht, in einer späteren Arbeit eine 
Methode anzugeben, welche in denjenigen Fällen, in welchen die 
frühere versagt, zu genauen Ergebnissen führt. Auch Lagrange, 
in einem an Öondorcet gerichteten Schreiben vom 1. Oktober 1774"), 
erhob einige Bedenken gegen die Methode von der Konstantenabzäh- 
lung, deren Unsicherheit er durch ein Beispiel nachwies. 


D. Integration von transzendenten Funktionen. 


Die Integration der transzendenten Funktionen war in unserer 


Periode Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. 
Gleich am Anfang finden wir bei Karsten?) neben den Inte- 


gralen: 


far log a” dx, [verda, [eos «« sın Badz 


noch einige andere, wie: 


n 


1 de ' e ewszsinzd« 
fin log 4 je COSCALX, f ee usw. 
e 


In drei Briefen aus den Jahren 1760—1764 stellt V. Riccati 
die folgenden Formeln auf?): 





( m Jcosp"dp = (m — 1) feos gm-2dy + 08 p""'sin p, 
m |sin g"dp = (m — 1) /sin gr-?dp — et 1cosy, 
| (m + n) fsin g"=lcosp"t'dp 
” — m | sin p""!cos g""!dp + sin 9" cos", 
.(m-+ n) f eos p”=!sin p"+!dp 
| N [eos p”"=!sin p"=Idp — cos p” sin g". 





Riecati bemerkt, daß die ersten zwei Formeln den Wert von 





1) Oeuvres XIV, Paris 1892, p. 29—30. 2) Mathesis theoretica ele- 
mentaris etc., $ 400 ff. 5) Epistolae tres, quibus utilitas calculi 
sinuum, et cosinuum in infinitesimorum analysi demonstratur, 


Comm. Bon. V, P. II, 1767, p. 198—215. 


Differentiation und Integration. 125 





12 Je: nieht liefern können; er berechnet diese Integrale auf 
osp’,/sing 


anderem Wege, und beweist, daß seine Formeln mit den Eulerschen'): 


dy 7 p dp 
fer = log tang (Z + *) , Me gg log tang *- 2 


übereinstimmen. 

Die zu (2) analogen, für die Hyperbelfunktionen geltenden For- 
meln finden sich in den Institutiones analyticae von Riccati 
und Saladini?). 

Noch bevor die Riecatischen Briefe an die Öffentlichkeit traten, 
widmete Fontana das erste seiner oben angeführten Opuscula der 
Untersuchung der vier folgenden Integrale, die, sagt er, soviel ich 
weiß, niemand bisher betrachtet hat: 


. n n 
sin" 7 1 Cop" 7 f ne 2 f dp 
m sın cos d . 
S& p" P sin p" P ? Er sin p” cos p" ’ 


hier bezeichnen m und n positive, ganze oder gebrochene Zahlen. 
Fontana schickt vier Rekursionsformeln voraus, welche: 


2”dz 
(1 + 2")? 
beziehentlich mit: 


f, 2"dz a a Rdz as 7 1 2"dz 
(Hd Ilı asp’ Ilı -da"prt? GE Te) al 
verbinden. Wendet man auf die vorgegebenen Integrale die Substi- 
tution 2= cosp an, so lassen sich die dadurch erhaltenen Integrale 
für ganzzahlige m, n vermittels der erwähnten Rekursionsformeln in 
allen Fällen berechnen. Sind m, » nicht zugleich ganzzahlig, so ist 
die Integration nicht immer ausführbar; Fontana erörtert aber einige 
Fälle, in welchen die Berechnung der Integrale möglich ist. 

Carlo Maj?) berechnet durch partielle Integration (ein Ver- 


fahren, das er, mit Beschränkung auf die von ihm betrachteten Inte- 
grale, ausführlich beschreibt) die Integrale: 























fiog x"dxz und [at”loga”dk, 


und leitet hieraus die Integration von f: x”dx ab; es ist nämlich: 





n ei Recherches sur l’effet des moulins ä vent, Hist. Acad, 
Berlin XII, 1856. ”) T. DO, p. 151. ®) Diversi metodi per l’inte- 
grazione di alcune formole logaritmiche, Atti dell’ Accad. delle Scienze 
di Siena detta dei Fisioeritiei III, 1767, p. 278—300. 


47* 


7126 Abschnitt XXVL 


fear = far + 4 fe 1ogedr + d, x log dc +--- 


Eine kurze, aber inhaltsreiche Arbeit widmet Giovanni Francesco 
Fagnano (1715—1797, Archidiakon von Senigallia, Sohn des berühmten 
Giulio Fagnano, s. 0.8. 34) der Berechnung einiger transzendenten 
Integrale.) Sein Hauptzweck ist, nachzuweisen, daß die Integrale 


Je p? fr ie ge: er durch bloße Logarithmen aus- 


drückbar sind, wie Johann Bernoulli in seiner Arbeit Continuatio 
materiae de trajectoriis reciprocis von gewissen rationalen, in 
diese unmittelbar transformierbaren Integralen behauptet hatte. Re 
tangp=t, cotgp=u secpg=s, cosecpy=r, 
csygy=X, Snyg=y suvesg=qgq=1-—z, 
Absz. Kompl. p (d. i. die Projektion des Bogens x — p auf den Durch- 
messer)=/1=2—g, Seheg=m= V29, 
Sehne 2x — g)=p=Y2l, 
und werden durch die gleichen größeren Buchstaben die entsprechen- 
den Funktionen von np bezeichnet, so erhält Fagnano, von der Diffe- 


rentialgleichung: 


dt 1 
(8) ae ri 


ausgehend, die folgenden Relationen: 


dT 
ıi+7 





T_ tar! -a- 
(++ in" 
_—,Q+it+lW-i)" 
VE NEE 
28" 


(hi Ve zıP LG Ayo; Ya 











2ir" 


Ian na 
-, (@e+iVI-<@)" +@-iVI-2®)), 








ı) Integratio quarundam quantitatum differentislium, quae 
originem habent a lineis, quae ad circulum referuntur, Nova Acta 
eruditorum 1764—1765 (publ. 1767), p. 361—371, abgedruckt in Nuova Raccolta 
d’opuscoli scientifici e filologiei XXII, 1772, op. I, 16 8. 


Differentiation und Integration. 127 


-, (ir + -(VI-F-iy)), 
g-2-U-0+ Va) - d-0-Va=r 


2 , 





„_?FU-1+iVI-P PER, 


ge V2- ( — m I im Va — m‘ == ( — m? — im er 


2 


p-Va EN, er avee). 























Aus (3) folgt auch: 


le FE) 
N 7 1+ 72)? 


tangnp nn TA+T 


und hieraus durch Integration: 


1 
dp Tr 
fir = an 
® 


aaa 


Ferner ergeben sich die folgenden Integralrelationen: 





1 
NEE —-log(1+ I, 


Eu 
d 1 un?” 
first 


® ug. 


2 Aut IE er ; 
(1+ + un?n 








128 Abschnitt XXVL 


d 1 1—- yı- 7. 
Se - 4108 Er 


‚fras--tyi=r, 


dp _ 1 2-0 
east 

Saas -- VER + 0, 
9. 1 yR-L 

5 --V’ 

Strap - VL Zü+, 


dp 1 2 — YA — M? 
er Ya Ze; 


Juw--2:yi-ı, 


je -11g:4@=F 


P N 














’ 


Noch allgemeinere Integralformeln wurden von Euler in seiner 
Integralrechnung!) betrachtet, nämlich: 


iz log a”dx, S[Xaraz, fx arcsinz"dz, 


wo X eine algebraische Funktion von x bezeichnet. Ferner integrierte 
er, wohl unabhängig von seinen Vorgängern, sinp”cosgp"dgp, und 
gab Rekursionsformeln für: 


Fast gleichzeitig mit der Integralrechnung von Euler er- 
schien eine Arbeit von d’Alembert?), worin er einige ziemlich all- 
gemeine, für die Bildung rationalisierbarer Integrale nutzbare Prin- 
zipien aufstellte. — Ist V eine rationale Funktion von Sinussen und 
Kosinussen von pp +«, qp9 + Pß,..., oder von aPP+«, a2P+P, wo die 
Verhältnisse von 9,9g,... rational sind, so ist VYdy integrierbar. Man 








1) Art. 189 ff. 2) Recherches sur le calcul integral, Hist. Acad. 
Paris 1767 (publ. 1770), p. 573-587; 1769 (publ. 1772), p. 73—146. 


Differentiation und Integration. 129 


kann aber allgemeinere Integraltypen erhalten, wenn man folgendes be- 
achtet. Setzt man x = sing, so folgt: 


d rer . eur 
dp er csp=YVl1- a, sin2pg=zyl—a?-X, 
cs2pp=X, sunßp+1l)p=zxX,, cos(2p+1)p —-V1-—-ıa?X,, 
wo X, X,, X,, X, ganze rationale Funktionen von x? sind, so daß: 
sin(2p+1)gp, cos2py, sin2ppdy, cos(2p +1)pdy 
keine Wurzelgrößen enthalten. 


Mit der Integration von transzendenten Funktionen beschäftigte 
sich wiederum Fagnano in einer zweiten Arbeit), wo er, neben den 
schon bekannten Integralen: 


dx 
dr ; a : Jerazsinz, farazcosz, ne ns; 
sın x 08% cos 


noch einige neue berechnete, nämlich: 


/ 2" sin log ad, far coslogxdz, 


sin 2dxz 


; ; cos xdx e 
und zeigte, wie sich - und — - durch Reihen integrieren 


lassen. 
Daß auch hier wie sonst überall der Name Eulers wiederholt 
vorkommt, mag nicht befremden. Von ihm haben wir, was 


transzendente Integrale betrifft, vier Abhandlungen aus den Jahren 
17T6— 1777. 


Euler benutzt für die Integration von: 


Er. sinmpdgp 


sinng 


die Theorie der imaginären Größen.’) Setzt man: 


t=cosp +ising, 
so ist: 





) Reductio functionum transcendentalium simplicium, quae 
a circulo petuntur, et quarum universalior est usus, Nova Acta 
erud. 1774 (publ. 1777), p. 385—420. Die erste Abteilung dieser Schrift wurde 
in Nuova Raccolta d’opuscoli scientifici e filologiei XXI, 1772, op. II, 19 S., 
abgedruckt. ”) De summo usu calculi imaginariorum in analysi 


(1776), Nova Acta Acad. Petrop. III, 1785 (publ. 1788), p. 25—46. — Vgl. oben 
S. 711. 


730 Abschnitt XXVI. 


_ det” hr 


id 7 > TS 


sind m und » ganze Zahlen, so hat man nunmehr mit einer rationalen 
Funktion zu tun. 
Auch die weit komplizierteren Integrale: 


pP [® (# + o) dv Q sin (# + o)dv 














ee 
wo: 
Hi : sin 2$ 
tang 20 = 55 s= Vl — 202 00828 + vf, 

werden mit Hilfe imaginärer Größen berechnet.!) Setzt man nämlich: 

I — =aresinz=27+iy, z2=v(cos#® +isin®), 

Vi — z°® 

so folgt: 


vcs®=tsinz(®!+e?), vsind—=tcoz(d!—e)), 


woraus sich x und y leicht bestimmen lassen; ferner, unter der Vor- 
aussetzung, daß ® konstant sei: 


de i 
art 
P=z, V=yY. 





also: 


Für das Integral?): 
174 (u: (FsinAp-+@Gcosig) 
V(a cosnp + bsin np)” 


wo ® eine rationale Funktion von tang np bezeichnet, setzt Euler: 








cosp—+ising 














zeid =XLX%L 
Vacosnp + bsinng g 
woraus folgt: 
1— ax” dx 
tang np = ,‚.dg= 
ba’ — i 2ie (1 _ se a") 














Bdg (cos + isin p) 1 e (=) Zidn 
n er er i : 
V(acosnp + bsinng) Bet ba"—i), _“ ee, 


) De integrationibus diffieillimis quarum integralia tamen 
aliunde exhiberi possunt (1777), Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797 und 
1798 (publ. 1805), p. 62—74. ?) De formulis differentialibus angu- 
laribus maxime irrationalibus, quas tamen per logarithmos et 
arcus circulares integrare licet, M.S. Acad. exhib. 1777; Inst. calc. int. 
IV, p. 183—194. 





Beh dee 
nn. er 


Differentiation und Integration. 731 


auf analoge Weise wird: 


Ddy (cosp — isin p)* 





7 Va cosnp—+ bsinn p) 
berechnet, und aus p, q erhält man unmittelbar V. 
Euler gibt auch den Ausdruck der Integrale'): 


[sin (n + 2h + 1)9 sin p*-!dg, 
[eos (n+2h-+1)p sin p""!dgy, 
[sin (n + 2h + 1) eos p""1g, 


[eos (n +2h+ 1)p cos p""!dy. 


Im Jahre 1790 gab Mascheroni den ersten Teil seiner Noten 
zu Eulers Integralrechnung?) heraus. Abt Lorenzo Mascheroni, 
geboren zu Castagneta bei Bergamo am 14. Mai 1750, gestorben zu 
Paris am 30. Juli 1800, war Dichter und Mathematiker (s. o. S. 380). 
Außer den in den vorhergehenden Abschnitten erwähnten Schriften 
verdankt man ihm noch einige Werke über Astronomie und an- 
gewandte Mathematik. Unter seinen Gedichten ist eins allbekannt, 
Invito a Lesbia, worin er in erhabener, dichterischer Form das 
physikalische und naturgeschichtliche Museum der Universität von 
Pavia beschreibt. Bei seinem Tode schrieb der berühmte Dichter 
Vincenzo Monti als Nachruf ein kleines Poem, die Masche- 
roniana. 

Aus den Adnotationes entnehmen wir an diesem Orte nur 
folgendes. In der Adn. II behandelt Mascheroni die Integrale: 


fa sinzde, fa" cosxde, 


ohne, wie es scheint, zu wissen, daß sie schon Gegenstand früherer 
Untersuchungen gewesen waren; ferner berechnet er: 


d A 
I. cz ‚fersinde-araz, ‚fer oosbz  araz. 
a gx 


Es werden dort auch vier Sätze von Gregorio Fontana mit- 
geteilt, welche den Wert der Integrale: 











‘) Quatuor theoremata maxime notatu digna in calculo inte- 
grali (1776), Nova Acta Acad. Petrop. VII, 1789 (publ. 1793), p. 22—41. 
”) Adnotationes ad Caleulum integralem Euleri in quibus nonnulla 


problemata ab Eulero proposita resolvuntur, Pavia, P. I 1790, 
P. II 1792. 


132: Abschnitt XXVI. 


dx dx | 
sinz + sina’ c08 24 008 a 
ergeben. 


Hierher gehört eine Abhandlung von V.Riccati'), wo er neben. 
schon bekannten Integralen auch die folgenden. berechnet: 





fer sin qy°dg, ee? singp cosgqpdy, fer cos gg?dg; 
Ser pr sin qy?dg, fer gr singqp cosgqpdp, Jergr eosgo’dg; 
Sershqaypag, fer chapdg; 
Ser shap’dg, ‚fer shaychaydg, Ser chay’ag; 
Serp shapdy, Sergr ch aydp; 
Serge sh ay?dg, Sergr sh ap chaydg, Ser gr chaydg; 
| [er shap"-" chgyrdg. 


Merkwürdig sind die Ausnahmefälle, die bei den Hyperbelfunk- 
tionen enthaltenden Integralen auftreten. Es ist z. B.: 





Ser nagap - 2 „(95hay — gchap), 


fe shqgp?’dp 


#7 


= 2) ha? — 2ggshapchap + 2g’chag?]; 


diese Formeln versagen aber für 9=+g bzw. 9g= + 2q, in welchen 
Fällen man die Integrale auf anderem Wege berechnen muß. Ein 


analoges Vorkommnis findet für f ePshgp”"-"chggp”"dgp statt; die 
Ausnahmefälle sind: 


g=+mg, 9=+(m— 2) ---- 


Murhard?) (siehe oben $. 13) integrierte ein transzendentes 


N 


Differential, das sich in nr überführen läßt. 





) De quarundam formularum exponentialium integratione, 
Comm. Bonon. VII, 1791, p. 241—288. ?*) Exhibetur integratio formulae 
valde complicatae, Göttingen 1796 (Festschrift zum Akademischen Jubiläum 
von Kästner). 











Differentiation und Integration. 183 


Daniel Melanderhjelm‘) (1726—1810; siehe oben 5. 28) ver- 
suchte den Ausdruck: 


dV = e""a"(a+ba+:--)RPStdz, 
wo: 


R=c+fe+90&®°+:-:, S=h+tka+le+--- 
ist, dadurch zu integrieren, daß er: 
V= er-ır+t!(A+ Ba + )Retiser! 


und insbesondere: 
ah 1Dp+1 1 
a [erza" BrSıda — Actazmti Bor Her, 
1 BER 2 Ppr+1Cg+1 
b ferzan+ PrSıde = Ber amt Bp+istt!, 


setzte, was aber, wie er anscheinend nicht bemerkte, im allgemeinen 
nieht möglich ist.?) | 
E. Reihenintegration, angenäherte Integration. 

Die Reihenintegration wurde in unserer Periode um so häufiger 
gebraucht, als man sie, ohne auf deren Zulässigkeit zu achten, als 
ein ganz allgemeines Integrationsmittel betrachtete. Aber eben darum, 
daß sie ohne jedes Bedenken angewandt wurde, gab sie zu keiner theo- 
retischen Erörterung Anlaß; man beschränkte sich darauf, das allge- 
meine Glied der Entwicklung in jedem besonderen Falle zu ermitteln. 
Wir können uns also über diesen Gegenstand ganz kurz fassen. 

Euler widmet der Reihenintegration ein besonderes Kapitel 
seiner Integralrechnung, wo er rationale und irrationale Integrale 
durch diese Methode berechnet; weitere Integrale werden auf gleiche 





Y) Integratio formulae differentialis 


Na” de(a +bxr + ca +kx + 1x + ete)(e + fx + gx?+ ete.)? 
(h+r&+tx?-+ etc), 


in qua N est numerus euius logarithmus hyperbolicus est unitas, 
quantitates vero „nm a,b, c,k,l,e,f,g,h,r,t,p,q quaelibet datae 
(1798), Nova Acta Acad. Petrop. XII, 1794 (publ. 1801), p. 114—124. 

®) Sind nämlich R, $ Polynome von den Ordnungen r, s, so ist a”"R?S? 


. 


1 
von der Ordnung m + rp+ sq, und folglich —; / ex" RPStdx von derselben 
e 


Ordnung, während ©” +'RP+!ga+! yon der Ordnung: 


m+i+r@+1)+s@+1) 


ist. 


734 Abschnitt XXVI. 


Weise an anderen Stellen ausgewertet. Ein anderes Kapitel beschäftigt 
sich mit der Entwicklung der Integrale nach Sinussen und Kosinussen 
von Vielfachen der Veränderlichen. Eine im IV. Band der Integral- 
rechnung erschienene Abhandlung') betrifft die Reihenentwicklung 


des Integrals Sar-'ar(a + x"), wo A eine Konstante bezeichnet. 


Mascheroni beschäftigt sich in dem oben angeführten Werke 
mit der Bestimmung der Konstante in der Gleichung: 


2 


dz 1 logz 1 logz? 
Siez; = const. + log log z RE ya ar er + ...3 


0g2 
0 





dazu bedient er sich aber ohne jedes Bedenken divergenter Reihen, 
was übrigens zu jener Zeit geläufig war. Ferner berechnet er durch 
Reihenentwicklung die Integrale: 


Ba, AueR, a 4a | gen 
log & 7 ’ 


dxzlogx * dx log x dx 
De 2. 12; (cbe Veen 
Auch mit angenäherter Integration beschäftigt sich Eulers In- 
tegralrechnung. Ist: 
y- /Xdz, 


wo X eine Funktion von & bezeichnet, und ist: 


y-b5,0,....,3:.X=4 4,4 ),.-- 


2 














für: 
! „ 
HR = q, A ’ Ad R . . . 7 


so kann man X als konstant und gleich A, A’, A”,... in den Inter- 





!) De resolutione formulae integralis fe" 'az(a + 2") in se- 


riem semper convergentem. Ubi simul plurainsignia artifieia circa 
serierum summationem explicantur, M.$. Acad. exhib. 1779; Inst. cale. 
int. IV, p. 60—77. — Auf diese Arbeit bezieht sich die Schrift von Fuß: De 


resolutione formulae integralis [a""'da(A +2") in seriem semper 


convergentem; ubi simul serierum quarundam summatio directa 
traditur (1797), Nova Acta Acad. Petrop. XV, 1799—1802 (publ. 1806), p. 55—70, 
sowie die Schrift von Pfaff: Observationes analyticae ad L. Euleri 
Institutiones caleuli integralis, Vol.IV, Suppl. II et IV (1797), Nova 
Acta Acad. Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), Hist., p. 37—57, wo auch die folgende 
allgemeine Entwicklung aufgestellt wird: 


m ZZ, 1 m+l,,__ 1 a RE 
Sr: mai > wiumtnı 











Differentiation und Integration. 135 


A 7 4 


vallen aa, aa”, a’a”,... ansehen; man hat dann annäherungs- 
weise: 
b=b+A(d-—.a), 
b’=b+A(d—a)+ 4a’ — a), 
D"’=b+Al@—a)+A(a” — a)+A”’(a”— a”), 


Will man eine größere Annäherung erreichen, so kann man 
X= F Pdx setzen, wo P als konstant in jedem Teilintervall ange- 
sehen wird; es ergibt sich so: 

y-b+ X,@-W)+4P,@-a), 


wo X,, P, die Werte von X, P für «= a bezeichnen. 
Alexis Fontaine (diese Vorl, II2, 8. 587)') gibt ohne Beweis 


die folgende Annäherungsformel: 


far 


Laplace wurde von seinen tiefgehenden Untersuchungen über 
Wahrscheinlichkeitslehre zum Probleme geführt, das Integral: 





5 


Sww. ..pAX, 


r 


wou,%,...,9@ Funktionen von & bezeichnen und s, s’,... sehr große 
Zahlen sind, in eine konvergente Reihe zu entwickeln. Die Erörte- 
rung dieses Problems und die verwandten Untersuchungen füllen eine 
Abhandlung von mehr als 130 Seiten aus?); wir müssen uns damit 
begnügen, die Grundlage der Laplaceschen Behandlung wiederzu- 
geben. 


Setzen wir: 
y=y(e)=wuw”...p, y@)=Y, 





ydı / > 
re NIE NEE Aue Aal 
dann ist: 
ER d’x  vdv d"z _vd(vdw...dv)) 
a RR N nr Bee Ten de” Kar 





) M&moires donn6s ä l’Acad&mie royale des sciences, non im- 
prim&s dans leur temps, Paris 1764. 2) M&moire sur les approxi- 
mations des formules, qui sont fonctions de tr&s grands nombres, 
Mem. Acad. Paris 1782 (publ. 1785), p. 1—88, 1783 (publ. 1786), p. 423—467; 
ÖOeuvres X, Paris 1894, p. 207—291, 293—338. 


736 Abschnitt XXVI. 


wobei dx rechts als konstant angesehen wird, ferner: 


dee 


ti? UdU., t Ud(UAUD) 
- 94045 tn ae 


woraus folgt: 





da = Val + tt) 


11d4$ "21 d® 
und: 


ung 


Jmte= vr| fear sa, a ß erdt+:--|, 


wo & den Nullwert von y bedeutet. Es ist aber: 


[6 0) 


Sera =1, frerat BEN 
0 0 


d(va U) 
‚fre- oy|ı Hat urTcEe +). 
Setzt man analog: 


ye)=Y, v0) - U 


folglich: 


so hat man: 


5 
ko 
= 


Ja vr |ı Me Le Lee 


0 








folglich: 
jr 
„Jyda 
ER d(UdD) ] y du’ | d(U’aU)) = 
MR 1435 + as 1 |- erlag + PA 
Da: 
Br 1 
ARE DE 1dp’ 
watt gan 
so ist, wenn s, $,... sehr groß sind, v sehr klein; sind s, Be 


gleicher Ordnung wie —, wo «a sehr klein ist, so ist v von der Ord- 


TE ae 
nung von @, und u, gg sind von den Ordnungen von «, @°,..., 


was nach Laplace die Konvergenz der gefundenen Reihen sicher- 
stellt. 





Differentiation und Integration. 133 


F. Differentiation und Integration unter dem 
Integralzeichen. 


Diese schwierigen Fragen, welche den Scharfsinn der gegenwär- 
tigen Mathematiker geprüft haben, wurden von Euler ganz einfach 
behandelt.') Ist P, sagt er”), eine Funktion von z, u, und setzt man: 


[Pa - S, 
so ist: 
ER oP 08 


man hat nämlich: 
08 oPr_ 68 
062’ 0u  0Oudz’ 


Pi 





woraus (4) folgt. Es ist ferner: 


(5) [sau — [az / Pau; 


setzt man nämlich: 


[sau = V, 
so folgt: 
oV 0?V 08 
==S-[Pa, 2-5 -P, 
also: 


ig L Pdu, 
02 
woraus sich (5) ergibt.?) 
Später stellte Euler die folgenden Sätze auf‘): 





ı) Die Differentiation unter dem Integralzeichen wurde schon von Leibniz 


gebraucht (diese Vorl., III?, S. 231). 2) Nova methodus quantitates 
integrales determinandi, Novi Comm. Acad. Petrop. XIX, 1774 (publ. 1775), 
p- 66—102; Inst. cale. int. IV, p. 260—294. ®). Fontaine (a. a. O.) beweist 


diesen Satz wie folgt. Es ist: 


[war — fude=a uda, 
andererseits hat man: 
[war — [ude— [(w da — uda) — [A(uda), 
a (wda — (Ada), 


*) Uberior explicatio methodi singularis nuper expositae, integralia 
alias maxime abscondita investigandi (1776), Nova Acta Acad. Petrop. 
IV, 1786 (publ. 1789), p. 17—54. — De insignibus proprietatibus formu- 
larum integralium praeter binas variables etiam earum differen- 
tialia cujuscunque ordinis involventium (1777), Nova Acta Acad. Petrop. 
IX, 1791 (publ. 1795), p. 81—97. 


also: 


138 Abschnitt XXVI. 


1. Es ist für jede Funktion PV: 


(v) (u) 


W) 
(CF ar - 5 [var far [rap - far [ran 


dp 


2. Setzt man 9 = = EEE ist ferner Z eine Funktion 


oe? 
von &, Y, P, Q, -.., und: 


VYan—-d2= 2 de+? „dy+s dp +52 dg +: 








0oZ 
- (+? Turner en 
so folgt: 
REBEL: a 
dt = ; 
ao og Arös 2 opögorös 





fe LS Z 4 f getßt+tytö+te+lz ’ 
% A% 
ge Bayer 1ngderds‘ Ba 92a ep Htog"or'ds 


 f- Derß+tytöte+tz e getß+r+dte+lz 
dx | F_ 
oe rtartast +5 2 op Ag’ or+'ds 5 








dx. 


G. Vielfache Integrale. 


Euler ist wohl der erste, der sich mit vielfachen Integralen be- 
schäftigte. In einer im Jahre 1770 erschienenen Abhandlung!) stellt 
er vor allem die Bedeutung der Bezeichnung RR [ Zixdy fest, wo Z 
eine Funktion von &, y ist, und bemerkt, daß: 


Sfzaxay-V+X+Y 


ist, wo V eine bestimmte Funktion von &, y bezeichnet, während 
X, Y willkürliche Funktionen von x bzw. y darstellen. Die Berech- 
nung von V kann auf zweifache Weise geschehen; es ist nämlıch: 


SJzaray = fax [Zay = fay f Zax. 


Handelt es sich aber um die Berechnung einer krummen Fläche 
oder eines Volumens (oder, wie man heute sagen würde, um die Inte- 
gration über einen bestimmten Bereich), so muß bei der Auswertung 
des Integrales unter der Form: 





') De formulis integralibus duplicatis, Novi Comm. Acad. Petrop. 
XIV, 1769 (publ. 1770), p. 72—103; Inst. cale. int. IV, p. 416—445. Freilich 


hatte Euler auch früher Doppelintegrale betrachtet (diese Vorl., III?, S. 657, 
855). 





Differentiation und Integration. 139 


Sax zay 


die Integration nach y zwischen solchen Grenzen erstreckt werden, 
die, den Fall eines rechtwinkligen Integrationsbereiches ausgenommen, 
von x abhängig sind, und sich durch Auflösung der Gleichung 
der Begrenzung nach y ergeben. Dagegen sind die Grenzen der 
zweiten Integration konstant; sie sind die äußersten Werte von z, 
und ergeben sich aus der soeben erwähnten Gleichung, wenn man 
da—=0 setzt; mit anderen Worten, man muß, wenn f(z, y)=0 


die Gleichung der Begrenzung ist, y zwischen f= 0 und a =( eli- 


minieren und dann nach x auflösen. 

Nachdem Euler auf diese Weise die Aehdiige der Theorie der 
vielfachen Integrale gewonnen hat, kommt er auf das Problem von 
der Transformation. Dazu bedient er sich, dem Wesen nach, derselben 
Methode, die in den heutigen Lehrbüchern üblich ist. Er bemerkt, 
daß, wenn man: 


z=f+tm+uyVl—m, y=g+tyYl— m?— um 


setzt, das Element der Basis (so nennt Euler den Integrationsbe- 
reich), das früher dzdy war, jetzt durch dtdu dargestellt wird. Es 
ist andererseits nicht dedy = dtdu; aber es gibt keinen Grund dafür, 
daß die statt dxdy einzusetzende Größe den gleichen Wert haben 
müsse Um nun die Transformation auszuführen, setze man zuerst 
u anstatt y ein, so daß y als eine Funktion von x, u betrachtet wer- 
den darf; es folgt hieraus: 


(6) dy= Pdx + Qdu. 


Da aber x während der Integration nach « als konstant anzu- 
sehen ist, so reduziert sich dy auf Qdu, und es ist: 


SI zaray = fax [ozau — [au [QZada. 
Ersetzt man nun x durch seinen Ausdruck in #, u, und ist: 
(7) dz = Rdt + Sau, 


so ergibt sich, da « bei der Integration nach x konstant bleibt: 


SI zaxay — [au [QZRat - /[oZRatau. 


Ist aber: 
(8) dy= Tdt + Udu, 


so folgt wegen (7) aus dem Vergleich von (6) und (8): 


CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 48 


740 Abschnitt XXVIL 


PR=T, PS+Q=T, 
und hieraus: 


OR RU NE 


[I zaxdy = [zZ RU- ST)atau. 


Hätte man die Operationen in umgekehrter Ordnung ausgeführt, 
so würde sich dasselbe Resultat, jedoch mit entgegengesetztem Vor- 
zeichen ergeben; das ist aber nebensächlich, da es sich hier nur um 
die Bestimmung von absoluten Größen handelt. 

Das Problem von der Transformation der vielfachen Integrale 
bot sich nicht viel später Lagrange!) dar; seine Erörterungen sind 
den Eulerschen sehr ähnlich, man kann aber nicht entscheiden, ob 
er die Arbeit von Euler kannte oder nicht. Ist: 


dz = Adp + Bdgq + Cdr, 
dy= Ddp + Edq + Far, 
dz= Gdp + Hdq + Iar, 
so muß man beachten, daß man bei der Berechnung der im Produkte 


dxzdydz vorkommenden Größe dz die Größen x, y als konstant an- 
sehen muß. Aus: 


also: 


Adp+Badqg+ (dr =, 


Ddp+ Edq+Fdr = 
folgt aber: 
BF—-CE CD—AF 


dy=- 75 En MU dEIBD 








dr, 


also: 





dig _ EG®BF-CHH+ aD + I(AE—BD) ,, 


Um dann dy zu berechnen, muß man de =dz=( setzen; es 
folgt: 
dr=0, Adp+Bdq=0, 





also: 
Bd AE—BD 
Um endlich dx zu berechnen, muß man dy=dz=( setzen; es 
folgt: 


dqa=-dr—=0, da Adp. 
Aus den erhaltenen Ausdrücken ergibt sich: 


dadydz = [G\BF— CE) + H(CD— AF) + I(AE— BD)]dpdgar. 





ı) Sur l’attraction des sph6roides elliptiques, Nouv. Mem. Berlin 
1773; Oeuvres III, Paris 1869, p. 619—649. 











BE. 


Bestimmte Integrale. 741 


Der absolute Wert der eingeklammerten Größe ändert sich nicht, 
wenn man dz, dy, dz beliebig umsetzt; es ist also gleichgültig, in 
welcher Folge man sich die Integrationen ausgeführt denkt. 

Legendre') nahm das Problem wieder auf; er erkannte aber 
selbst, daß sein Transformationsprinzip mit dem Lagrangeschen 
übereinstimmt. 

Kleinere Beiträge zur Theorie der vielfachen Integrale sind: 

a) Die Eulersche Formel): 


(u) 1 
Ber 1 fi u—1 
EI: Kar | =, ee re 


welche ohne Zweifel aus der (von Euler freilich nicht angegebenen) 
Rekursionsformel: 


fü - a Xar= (1- a7 [Xda + v[(l - a)-tda [Xdr 


abgeleitet ist; 
b) die Frisischen Formeln°): 


Sax [yda = x [yda — [ayda, 


fax dx |ydı = = (yar _ & fayda - - yds, 


USW. 


Wollen wir die Ergebnisse des vorliegenden Kapitels in wenige 
Worte zusammenfassen, so können wir sagen, daß unsere Periode 
einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Integrationstheorie geliefert 
hat, da wir ihr eine große Entwicklung der Integration der 
irrationalen und transzendenten Größen und die Klarlegung des Be- 
griffes vom vielfachen Integrale verdanken. Ein weit wichtigerer 
Zweig der Integralrechnung wurde in dieser Periode geboren, aber 
diesem soll ein besonderes Kapitel gewidmet werden. 


Bestimmte Integrale. 


Die bestimmten Integrale bilden nur einen speziellen Fall der 
unbestimmten. Daß sie nichtsdestoweniger eine besondere Behand- 
lung verdienen, hängt davon ab, daß manche Integrale, die nicht 





«4 Memoire sur les integrales doubles, Hist. Acad. Paris 1788 
(publ. 1791), p. 454 — 486. 2, Uberior explicatio etc. (s. o. S. 737). 
®) Opera, I. Bd. 
48* 


742 Abschnitt XXVI. 


durch elementare Funktionen ausdrückbar sind, sich dennoch, zwischen 
gewissen Grenzen genommen, durch zweckmäßige Kunstgriffe be- 
rechnen lassen. Euler hat sich mit der bestimmten Integration mit 
Vorliebe beschäftigt, und sein Name wird so gut als vollständig das 
gegenwärtige Kapitel ausfüllen. 

Zunächst eine kleine Bemerkung. Die heutige Bezeichnung: 


Sra)da 


wird in unserer Periode noch nicht gebraucht (s. o. 5. 232); man sagt: 


n fi f(x)dx von a bis b erstreckt“, oder: fi f(x)dx, wo das Integral 
für = a Null ist, und nach der Integration x = b gesetzt werden muß“. 

Eine andere Bemerkung, die allerdings fast überflüssig erscheint, 
ist diese: Euler behandelt ohne jedes Bedenken als gewöhnliche 
Integrale diejenigen, die wir heutzutage als uneigentliche Integrale 
bezeichnen. 

Bei der Unmöglichkeit, alle von Euler berechneten Typen von 
bestimmten Integralen anzuführen, werden wir die interessantesten 
unter ihnen erwähnen. 


1.1) Das Integral: 
H,= |a’"!da(l — a)" 


läßt, wie man leicht beweist, die folgende Rekursionsformel zu: 


Se 77 ng 


Setzt man dann: 





MH, tr - 7) 


A 


I, - (w-1dz (1 — a", 
0 
so folgt hieraus: 





NER. 
1I,= f+ng Fit 
es ist aber I, = ri ‚ folglich: 
eo g" 1-2- 





n TIeSTE ERS 


Ist 9 unendlichklein, so kann man setzen: 





ı) Evolutio formulae integralis a’ "dx doga)*, integratione & 


valorex=0 ad x—=1 extensa, Novi Comm. Acad. Petrop. XVI, 1771 (publ. 
1772), p. 91—139; Inst. calc. int. IV, p. 78—121. 


TR VEREEN 
TEE AT TER 


Bestimmte Integrale. 743 


”=1-+glogz, 


also: 
1 


„= Y’ Ja’ logrrde; 
0 
es ergibt sich daher: 


1 
pe log a” dx = (— 1)" re 
0 


2.) Man erhält durch Reihenintegration: 


1 


ee , n-iı 1 nt 1 
: 140" m" 2n+m 2n—m !"intm in—mt: 











Pi t 1 E ı 
re are ee 


oder, wegen bekannter Formeln aus der Reihentheorie: 

















j 7 
1 ._ MU 
gl „num-i Ber, 
f ia“ de=! E 
0 ntanı ” 5 
| r a ae 
Setzt man: 
ü T 7 To 
m=4h—o, = 214, S= .; T-;;tangz,, 
24 008 27- 


so ergibt sich?): 





') De inventione integralium,. si post integrationem variabili 
quantitati determinatus valor tribuatur, Miscell. Berol. VO, 1743, 





p. 129. — De valore formulae integralis 
m—1l n-m-1 
& 5 de, 
. 1 tz” 


casu quo post integrationem ponitur 2—=1, Novi Comm. Acad. Petrop. 
XIX, 1774 (publ. 1775), p. 3—29. — De valore formulae integralis 


rar ira, “ 
a Ra 


casu quo post integrationem ponitur z=1, ebenda, p. 30—65; Inst. 
calc. int. IV, p. 122—154. — Siehe auch Lorgna, Mem. Soc. It. I. *) Eine 
direkte Ableitung dieser Formel findet sich in: Euler, Nova methodus inte- 


grandi formulas differentiales rationales sine subsidio quantitatum 
imaginariarum, Acta Acad. Petrop. 1781, P. I (publ. 1784), p. 3—47. 


744 Abschnitt XXVI. 


% 


| ae ann ER E 
i 1+.°% Ei 


Schreiben wir: 
aim o—1 A+Hw—1i1 
P(&)= -f: a = dx, 


so daß P(1)= 8, so folgt: 








BP si ee 











0x ke 1.42% ’ 
3° P rn ai 0 — a 
DE 1+ 221 log &, 


also: 





ET ra OT areas ö:P op. 
ji. 2 log xdx Re dx na 


und insbesondere: 








1 i sin O0 
(1) en joende — (>) on 
0 1+@" ; a on Te 

24 


Man erhält analog: 


1 


| v 1-o0—1 A+w—1 9 1 
(2) IE ac logede - = — (3) — 
1—x 0@ „7m 
f) : coB* 7 


Für o=0 hat man aus (2): 








+} 1° 
Sr logede = - Sr 


0 
4 E 
logadz m 
er er | 


0 


und insbesondere: 





Wendet man auf (1), (2) dieselbe Methode an, und so weiter, so 
kann man das Integral: 


4 

i-w-—1 A+w—1 

x %c 

fi = 21 log x" dx 
| ıi+% 





0 





für jeden ganzen positiven Wert von u berechnen. 





Bestimmte Integrale. 145 


Eine Verallgemeinerung eines soeben berechneten Integrales bildet 
das folgende: 


1 


SB 5 fees 4) 
(1—a”)" 


0 





Es ist: 


1 
rg 1 1 
— — ZA -N)+zZU-NM+zA-a)+--] 
/ ef" | 
1 
fi m—1,] a Fe: 1 1 EN ar 1 ae 07 | 
=— s\(1- Fz1=9) Er, 2 Tl 
0 


Setzt man aber: 
Ser-taz(ı — ar)? — A [am-1dz (1 — z")-14+ Bar (1 — ar), 
so ergibt sich durch Differentiation: 


Ai in B 1 


m+ın? Rz; m-+ın? 
also: 
1 1 
1 7 an = 24 
ide a) — mm j "de (1 m)?-1, 
0 ) 
Da nun: 


1 


m 
eu 5 % 
ideal a) Tepe 
“sn — 
- N 


0 


ist, so folgt, wenn man diesen letzten Wert der Kürze wegen mit A 
bezeichnet: 


1 1 











m— nn nm m— „ir 
f» !d«(1— x") au vr f: !dz(1— a”) 
n—m 2n—m kn—m 
0 TREE Te a. 
also: 
Rei n—m (n — m) (2n — m) (n — m) (2n — m) (3n — m) 
5 al 7— er pn E7 n-An-3n-3n +]. 





') De integralibus quibusdam inventu diffieillimis (1780), Mem. 
Acad. St.-P&t. VI, 1813—1814 (publ. 1818), p. 3058. 


746 Abschnitt XXVI. 


Setzt man: 





et, IW-T 


n-2n.-2n 
so folgt: 
SmAn 
ferner: 
‚To RR Nn—M m = man m) an |, em) En min Tan 








dt N n-2n N-2n:3n 


am (1 iss ur = 3; 
also: 


r- [#fa-9 1]. 


Für 1—- = w ıst: 


1 
n—1 m—1l 
U — U 
r-/ du. 
1— u 
0 








3.) Es ist: 

FF RE 200 

f: du = EL 
- : 
San frau (5, 
08% 

N ö 

5 get 
Saas =, 

1 

"ED RREER ER 
f dt = sr 
0 

1 
Sau fardz —-logu+1)+C, 
Ki) 
folglich: 
1 
ug 
(8) NE gu + 1 + 0. 
0 


Die willkürliche Konstante ist unendlich; setzt man aber nachein- 
ander v= m, u=n, so erhält man: 





!) Nova methodus quantitates integrales determinandi, Novi 
Comm. Acad. Petrop. XIX, 1774 (publ. 1775), p. 66—102; Inst. cale. int. IV, 
p. 260—294, — Speculationes analyticae, Novi Comm. Acad. Petrop. XX, 
1775 (publ. 1776), p. 59—79. 








Bestimmte Integrale. 747 





a _ og" m+1 
(4) 4 en dt=10g —.— ' 
0 


Ist allgemeiner: 


P(a)=Ar"+Bo+--., 


wo: 
AB 
oder: 
PFD)=0, 

so folgt: 

1 

ea log(e +1) + Blog(B+1)+--- 

0 


Ein besonderer Fall dieser letzten Formel ist: 


1 
(e— 1)" dx 


Tem =logn +1) — ( 1) logn + ( ) log(n — 1) — 
Aus (4) folgt für m=ir, n=— ir: 


1 


l 
F _ en 2) de= „log: nu — ler 
0 








Will man analog f nn 2) da erhalten, ss kann man die 
ö oO 


Reihenintegration anwenden; man erhält so‘): 


1 1 
cos (r log «) -/ı 
je: a Marge joga tee VI + rS; 
0 0 0) 


wobei man beachten muß, daß das rechts vorkommende Integral un- 
endlich ist. Es ergibt sich aber hieraus: 
1 











cos (n log ©) — cos (m log «) 1-+n? 
ge  log« de=z le 1-+m??’ 
0 
1) Es ergibt sich: 
cos (r log %) 1 r? r* 
N as "Tune - —giloga +jloga'—  |da; 


es ist aber: 
finger de=(—1N)"n!, 
ö 


woraus die im Texte angegebene Formel unmittelbar folgt. 


748 | Abschnitt XXVI. 


oder auch: 
1 


sin (p log «) - sin (q log x) L FIR. 
E log x Zen 1 log 1+p+9° 
0 h 








Setzt man in (dA) m=s+tir, n=s-— ir, so folgt: 


1 


x” sin (r log «) 2 
fi eg dx = aretg —— us = 
0 





Die Gleichung (3) läßt sich auch so schreiben: 


1 


x” da 
1 _ logu + 0. 
ö 


Hieraus folgt durch abermalige Integration nach «: 


1 


“d 
/ los En +Cu+G, =ulegu+(C—-N)u+O0, 
0 








1 


"da 
Sa -$. "+On+G, 
0 





und allgemein: 


5) SE Lu logu + Aw + Aut  A, u +4, 


Da aber die willkürlichen Konstanten unendlichgroß sind, so muß 
man dieselben fortschaffen; das geschieht durch zweckmäßige Kom- 
bination der für n verschiedene Werte %,,%,...,u, von u geschrie- 
benen Formel (5). Ist nämlich: 


2 = (m —%) (U — U) (u — U), 


a Zei “) (Ha T- u) " (Ug — %,), 


U, = (Un — U) (Un — U) (in — ui) , 
so ergibt sich: 


dx ac" 
J ee 


n 


u u" logo u"? logu, a, 
2 U, nr T, u 











U, 


n 


” 
u 
ee 








Bestimmte Integrale. 749 


4.") Von der Formel: 


die einen besonderen Fall einer schon besprochenen Formel bildet 
(siehe oben 2.), gibt Euler drei Beweise, von denen nur einer hier 
angeführt werden möge. 

Setzt man: 


V1-2°=y, 
so ist: 
EA Zu BB... 2% 
va ya-p® 
RER TTENER 2 4 6 
lge=-lgVi-yY-- +4 +4 +..|, 
folglich: 





1 1 
dxlogx _ dy y? y* y° ; 
wer sitetrt] 
0 0 


es ist aber: 








1 
Yen, 1-3-5..-@h—1) x 
..  8:4-:6---2h 2’ 





vi 
0 
also: 
Ka 
dzlogx 1-3-5 
a tlat tet] 


Andererseits hat man: 


— log(1 +yi-— =) > uf 


und: 
“= dz ar 43 
alter) 
oder: 
dz dz 1 1-3 
Sr Sr Hr terre +6 
folglich: 





-lgl + -M-grtz get +6, 


und, wenn man 2=() setzt: 





dx log x 
Vvı— a?’ 
Acta Acad. Petrop. I, P.II, 1777, p. 3—28; Inst. cale. int. IV, p. 154—182. 
Ein anderer Beweis findet sich in der oben ($. 745) angeführten Schrift: De 
integralibus quibusdam ete. 





‘) De integratione formulae abxz=0adr=1extensa, 


750 Abschnitt XXVI. 


C=—.log?2, 
also: 
2 RR © er 
Bw 2 53? et 


Setzt man 2=]1, so ergibt sich: 





gest lat, 
und folglich: * 


1 
dx log x 


Sy 
6 





7T 
u 2 log 2. 


5. Eine Anwendung früherer Formeln ist die Berechnung des 
Integrals?): 





7 f GN, 


log (1 — x" ) 


Euler bemerkt, daß die zu intsgrierende Funktion für n= 1 
verschwindet, da der Zähler durch (1 — x)?, der Nenner aber durch 
(1— x) teilbar ist; es folgt hieraus (vgl. oben unter 3.), daß bei 
der Berechnung von: 


ferne 

(+ tr Hat". ) tet tert...) 

2% ( + gotetn Lgdror:n Ln. -)] 

die Integrationskonstante fortfällt. Benutzt man dann die unten 
(S. 760) anzuführende Formel: 


1 mon 

Sata) 

0 _m+nDamtr+matm 
1 mon Pat otnmtatm 


S #artı Me, 


0 








ON 


so kann man schreiben, wegen (3): 


I= log 5; 


wo entweder: 





a—1 b ec 
dx(1 — 1—& 

') De valore formulae integralis = = FW ) 
log (1 — x") 


mino z=0 usque ad x=1 extensae, Acta Acad. Petrop. 1777, P. I (publ. 
1780), p. 29—47. 





a ter- 


RE RE ans nn on cm 17 


Bestimmte Integrale. 151 


m=b p=aHte q=a, 
oder: 
m=6 p=a+b q=a 
ist. 
6.') Man soll eine Rekursionsformel für das Integral: 


- 


en ) ee - fd: 
2: Ve’ —2bxt ca* / R 


aufstellen, wobei & eine Wurzel der Gleichung R= 0 bezeichnet. 


Setzen wir allgemein: 
"da 
Em F BR > 
0 


so ist vor allem zu bemerken, daß F, sich direkt berechnen läßt; 
man findet nämlich: 











für c>0, 
1 b+aye 
u A l 
uL ve AN aba Lee’ 
für c<O, 
F = ER OL Au 2 REN EEE. 
Tr € | Vb* — a®e vb: a: 


Führt man die neue Veränderliche: 





u=R-a 
ein, so ist: 
—b d 
dt, — ( ii & 
also?): 
(6) = —bF,+cr, 
oder: ' 


b 
FR=.R+%, 
und folglich: 
b 
=. d-.: 





n 
; d: 
') Speculationes super formula integrali F ee ubi 
" Va—2bxc-+cx? 
simul egregiae observationes circa fractiones continuas occurrunt, 
Acta Acad. Petrop. 1782, P. II (publ. 1786), p. 62—84. Ein Teil dieser Schrift 
wurde in Inst. cale. int. IV, p. 31—36 abgedruckt unter dem Titel: De inte- 
gratione formulae irrationali Ind ?2) Die Int tie 
nalis - 
Var sinken ie Integrations 


konstante in den Gleichungen (6), (7), (8) ist gleich Null, weil beide Seiten für 
x=(0 verschwinden. 











152 Abschnitt XXVI. 


Führt man dagegen die Veränderliche: 


= BR 
ein, so ergibt sich: 








hy 2_ 3b 20x? 
dt = (R+ FT) an TE dr, 
folglich: 
(7) u =a@®’F,—3bF,+2cH,, 


und insbesondere: | 
0=a?d,—-3b9, +2c9,, 
woraus folgt: 


3b a? 3b’—ua?c „ 3ab 
9, AIR ar Ar 
Fährt man auf diese Weise fort, so findet man für jeden Wert 


yon: 
=2, Dt %- 


Das Gesetz der Koeffizienten p,, q,„ läßt sich folgendermaßen er- 


mitteln. Setzt man: 
= o"R, 
so ergibt sich: 





de [ra R er = | dx 


= H[natar-1— (2m + 1)bar + (u + L)ear+7]dz, 
also: 
(8) "R=t„=naF,_,—- (2@n+1)bF,+(n+1D)eF,;ı 
und für = 8: 
O=na®, ,— (2n+1)bd,+(n+1)e®,,ı 


oder: 


® I2n +1)b®d, —na®®,_,] 


1 
teer 
: 
<= „aylt2n + 1)bp,— na’p,_ı)D+ (2a + 1b, —natg,_,}], 
woraus folgt: 


Pası“ (2% + 1)bp,— na?p,_ı» RER Bey (2n + 1)bq„— na?q,_:- 
7. Das Integral): 





') Methodus facilis inveniendi integrale hujus formulae 


da "+? _22” cos + a"? 
EA" —_2a"cod +1 





’ 


casu quo post integrationem ponitur vel@e=1vele—=% (1776), Nova 
Acta Acad. Petrop. III, 1785 (publ. 1788), p. 3—24. 














Bestimmte Integrale. 153 


1 
Der 2x0" coag-+ a"? 
I) EoO Ar 29 +1 





’ 


wo p<n, wird durch Zerlegung der zu integrierenden Funktion in 
einfache Brüche berechnet, nachdem man bemerkt hat, daß die Null- 
werte des Nenners durch: 


9 9+22 9-+4x +2 (n— ln „, 
TS, we PR; n 








gegeben sind, wenn: 
= (080 +isino 
ist. Man findet ferner: 
& 1 
- Er? _ 2a" coag+ x"? ge: — 22" cos& + a"? 


Er 20° coo$ +1 EC ar —_2R"cosd$ +1 








Unter den interessanten Bemerkungen, zu denen dieses Integral 
Anlaß bietet, möge eine hervorgehoben werden. Die zu integrierende 
Funktion verändert sich nicht, wenn man ® durch $ +2kx ersetzt, 
während der Wert des Integrales ein anderer wird. Welcher ist, fragt 
sich Euler, der wahre Wert des Integrales? Alle sind es, antwortet 
er, denn solche Integrale sind unendlichvieldeutige Funktionen, wie 
sich aus dem Beispiel von 5 ersehen läßt. 

8.') In einem Schreiben an Lagrange vom 26. Januar 1775 
teilte ihm Euler die Formel: 


L 

w— dx 
7 ge \ 88 
0 


mit. Lagrange bewies diese Formel und legte Euler die weiteren 


vor: 
b n 
x" — x"da dy 
22 -Sili —_ ayı 23 
een 
a m 


( 
tang . = 





an 
[} 
@"—a")dx _ 


— hen 
(1+2”)loge & tang er 
0 





') Lagrange, Oeuvres XIV, Paris 1892, p. 241, 242.— Euler, Observa- 
tiones in aliquot theoremata illustris de la Grange, Opuscula anal. 
II, Petersburg 1785, p. 16-41. — Siehe auch: Euler, De iterata integratione 
formularum integralium dum aliquis exponens pro variabili assu- 
mitur (1776), Nova Acta Acad. Petrop. VII, 1789 (publ. 1793), p. 64—82. 

N Über dieses und einige damit verwandte Integrale siehe auch: Euler, Uberior 


154 | Abschnitt XXVI. 


Die erste Gleichung bewies Euler zunächst durch Reihenentwick- 
lung, dann auf folgende Weise. Aus: 


n 


b 
b’ — a? Fe | 
vl]: = — Y = 
f dx SH f dy ers, 
a 0 
n b b n 
d 
/ fau fe az - [%: [ray 
Ö a [77 v 


N. b 


; diy_ ("—1 
Jo - xlogx® 
0 a 


m b 
dy ”—1 
1 ZABBRNE Y ER -——-3 —[-- .-. 
/)® @) Y & log x’ 
0 a 


woraus die verlangte Formel unmittelbar folgt. 
Was die zweite Lagrangesche Gleichung betrifft, geht Euler 
von der Relation: 





folgt: 





Es ist analog: 


ek 
Sir dx _ B7 
10. & ok. con 7 
"Co8 —— 
: 2k 


aus. Integriert man nach n, so folgt: 


a N 


k+n k 
[1 —ı dx 7 dan n n 
= m — logtang _.ı 
142° zloga 2k nn 
c08 — 
0 0 e* 


setzt man hier statt k +n zuerst n+ 1, dann m + 1, statt 2% beide- 
mal r, und subtrahiert, so ergibt sich die gesuchte Formel. 

9.1) Wir begnügen uns damit, die Untersuchungen Eulers über 
die Integrale: 











explicatio methodi singularis nuper expositae, integralia alias 
maxime abscondita investigandi (1776), Nova Acta Acad. Petrop. IV, 1786 
(publ. 1789), p. 17—54. 


gt — 1 
dx 
ı, Investigatio formulae integralis G+ ae casu quo post 


integrationem statuitur = 00, Opuse. an. II, p. 42—54; Inst. cale. int. IV, 


® Be 
.346—357. — Investigatio valoris inte zalis | a ter- 
: . 5 1— 2u* cos# ta”. 


mino 2=0 usque ad 2 = ® extensi, Opuse. an. II,p. 55—75; Inst. cale. int. 
IV, p. 358-378. 





Bestimmte Integrale. 155 


» 


n 
zu -1de f zguldz N) 
; (+) ; 1— 22° cos9 + a” 





nur kurz zu erwähnen. Mit seiner gewöhnlichen Gewandtheit faßt 
Euler einerseits alle logarithmischen, andererseits alle zyklometrischen 
Bestandteile jedes Integrals zusammen, zeigt, daß die ersteren eine 
verschwindende Summe liefern, und berechnet die Summe der letz- 
teren; dadurch findet er für m <k und für m < 2%k beziehungsweise: 


on 


m—i 
a a — (s. o. unter 8), 
ia NE 7 Wit 











x k 
9 2 ma) + 
gulge zsin n 
=... 2° 
Ta eh ksin & sin -,- 
3% 


Setzt man ferner: 


Pu Ax”" je 
Br  Neray 


so ergibt sich durch Differentiation: 





erden 3.4 m 


(n — 1)k’ mn—ı)k’ 
folglich für m <k: 


Zr ide - (1 2m )f "id 
n ir n—1)k ’ ir 


Durch wiederholte Anwendung dieser Formel erhält man wegen 
der ersten Formel (9): 





) 


Fe = (1 = #) (1 E2 sr) >e (1 m ) WALD 
| | k 





0 


10.?) In einer Arbeit mit dem Titel: Methodus inveniendi etc. 
behandelt Euler gewisse Probleme, von denen wir eins als Beispiel 
wiedergeben. 





') Über das erstere Integral siehe auch: Mascheroni, Adnotationes etc. 
?) Methodus inveniendi formulas integrales quae certis casibus 
datam inter se teneant rationem, Öpuse. an. II, p. 178—216; Inst. cale. 
int. IV, p. 378—415. 
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 49 


156 Abschnitt XXVL 


Man verlangt, eine solche Funktion » von x zu finden, daß für 
jeden Wert von n die folgende Relation besteht: 


1 1 
ont 146: 
b 
. Pn+ 


Wir setzen, der Einfachheit wegen, «= ß—=1 voraus. Wenn 
die geschriebene Relation gelten soll, so muß sein: 


(10) fear = nr feao » 


wo YV eine Funktion von & bezeichnet, die für 2=0 und für «=1 
verschwindet. Es ergibt sich hieraus durch Differentiation: 


(n+b)rdv=(n+a)a”Idv+(n+b)dV, 


woraus erhellt, daß dV den Faktor 2”! und folglich V den Faktor 
x” enthalten muß. Setzt man daher: 


n+b)V/=a"Q, 
so ist: 
(n+bedv=(n+a)dv+-nQda+xdQ, 
eine Relation, die erfüllt wird, wenn man setzt: 
(x — dv = Qda, (br — a)dv=xdN. 
Hieraus folgt: 








dQ (bz — a)dıx a b—a 
2 Dee (2 — 1) - (+, =), 
also: Ä 
0 = Orr — 1%, 
und: 


V= Oate(g — 1)P-«, 


eine Funktion, die, wenn b>a, fürz=0(0 und für <=1 wirklich 
verschwindet; ferner: 

Qdx 
De | 


dı= = (2° (x — 1)P=ride. 


Die Rekursionsformel (10) wird also: 
ferr@ 0 Iprarig: 


+8 fanta- x — 1) a— idz + u ne a 


woraus folgt: 





Bestimmte Integrale. 157 


& 1 


fer — 1p- ide = Jar @ — 1? re -1de. 
: 


0 


Das Problem läßt sich in zweifacher Richtung verallgemeinern, 
indem man sich entweder die Relation: 


1 1 


z (en +a)(n+a) ([ n-ı 
Jr@-| Bm + En + Bw,” son 


oder die Relation: 


nn 3 z 
(11) (en+a) Serdv- (Bn-+ ) ztido+(yn+ ec) Sart?av 
0 0 0 


vorlegt. Beide Fragen werden von Euler in der angeführten Ar- 
beit berücksichtigt; die zweite läßt eine Anwendung auf die Theorie 
der Kettenbrüche zu. Ist nämlich der Kettenbruch: 


YtrAR«-+a) 
er toBeta) 
rc, 





y—-ß+b+ 





gegeben, und läßt sich ein Integral: 


1 


1,— Jardv 


0 


ermitteln, welches die Gleichung (11) erfüllt, so ist: 


en, 
J; 


11.) Zur Berechnung von: 


farb da er log ) 


gibt Euler fünf Methoden, auf welehe wir einzugehen nicht für nötig 
halten. 








i TS 1 1 
') Evolutio formulae integralie (dal at jogz) a termino 


x<=0 usque ad z=1 extensae (1776), Nova Acta Acad. Petrop. IV, 1786 
(publ. 1789), p. 3—16. 
49* 


158 Abschnitt XXVI. 


12.) Durch Differentiation und Integration unter dem Integral- 
zeichen berechnet Euler die Integrale: 


lgade (a da 
a Azlogx? 


0 


1 
af — a P logaede a — a? da 

R A FEN A logx’ 

0 N 








wo: 
x" +2cos9® +", 
As eK + x”) R 
n 1 _.n 
"+ lft+z)+2” 
ferner: 


1 
f a de a ta Pde 
Ve ke Ze 











13. Eine Verallgemeinerung der sogenannten Betafunktion 


1 
(diese Vorl, II, 8.653) far-1(1 — z)-!da bildet das Integral: 


(P, 9) sr a 


welches sich auf. das frühere für n = 1 reduziert. Diesem Integrale 
widmet Euler drei Abhandlungen.) | 





') Innumera theoremata circa formulas integrales quarum de- 
monstratio vires analyseos superare videtur (1776), Nova Acta Acad. 
Petrop. V, 1787 (publ. 1789), p. 3—26. ?°) Observationes circa integralia 


formularum Seas a)" posito post integrationem z«=1, 
Misc. Taur. III, 1762—1765 (publ 1766), P. I, p. 156—177.— Comparatio va- 
| ar !dz 

. 
VA ER a 
x—=1 extensae, Nova Acta Acad. Petrop. V, 1787 (publ. 1789), p. 86—117; 
Inst. cale. int. IV, p. 295—326. — Additamentum ad dissertationem prae- 


ar !de 
R 
V( APR 
ad @—=1 extensae, Nova Acta Acad. Petrop. V, 1787 (publ. 1789), p. 118 bis 
129; Inst. calc. int. IV, p. 326—337. 


a termino 2=0 usque ad 





lorum formulae integralis 











cedentem, de valoribus formulae integralis ab x=0 


Bestimmte Integrale. 159 


Es ist vor allem zu bemerken, daß man p und g kleiner als » 
machen kann vermittels der Formeln'): 


1) G+HnND-5 WM) Bıtm-,, Rd; 





pP 
ferner ist: | 
1 
(13) B&)-(ar, DBmW)-—, nN)-, 
Durch wiederholte Anwendung der ersten Formel (12) ergibt sich: 
p 4, ptar+Pp+4 z 
(P, q) = +9) are 
ee ı,, IT 








ggg int Ytrba+tmdg) 


wo j= 00. Desgleichen ist: 


er. PET Dat g) 


‘) Die Formeln (12), (13) lassen sich folgendermaßen ableiten. Es ist: 


1 


gan 


en 4“; 
(p+n, o+ warn | tie) : Hari an)" da 


0 


5 
ı an 
- [eu a [«"+(1—-2”)]da&= (p, N, 
0 
ap +. Dd+r(ma+m 


[ur 4914-2" aa lea- ho 


woraus sich die Formeln (12) unmittelbar ergeben. 


Setzt man ferner in (p, g): 
1 


lg (1 a y")” , 


so folgt nach einfachen Umformungen: 





pn re pn 
(p, ea " dy=- ) MG y")" dy=(gP). 
1 0 


Endlich ist: 
1 


pl 1 
‚Nn) = ta || en 
(P, N) rs 


1 
(n, ) ze ‚N = —. 
)= (q, n) - 


760 Abschnitt XXVL 


also: 


(D, 9) BEA und un Kusm Sum 22. 
nr) Pr+on+PmR-+r+gQ : 





woraus die Relation: 
ab __(e 
a+cb5) (a+b,o’ 
unmittelbar folgt, die zu einer Fülle von weiteren, hier nicht anzu- 


führenden Beziehungen Anlaß gibt. 
Das Integral (p, g) läßt sich durch eine konvergente Reihe aus- 


drücken; es ist nämlich: 





1 


Bi: ER 
(P, q) - fol Han 4 "gan }...)da 
0 


a 
p n n+p N 2n 2n-+p 0 


Br n—q 1 n—q2n—q 1 ee 
et n Er n 2n RB 














Es ist aber von Interesse, eine rascher konvergierende Reihe zu 
erhalten. Dazu muß man beachten, daß: 


1 





va 
ed ei 
(n,q)= Jar-1— ar) * de + Jr-U1— ar) * da 
0 1 
v3 
ee 
v | 
En | pon | 
ui 7 > A ae — x”) n de — ya-ı(1 — y") n dy?) 
Ö 1 
v3 


vol | 
S 


lan) e de + ya) r is Zy 


or 5 
! 








EEE es Ren 1 oe] 
et" rt 2n 4n erte 


n—p2n—p 1 
toals er an n tat 2n 4n a BlBek, 











t) Der Wert von ar war von Euler schon im 1. Bande seiner Integral- 


rechnung angegeben worden. *) Siehe die vorletzte Anmerkung. 





Bestimmte Integrale, 161 


worin die Glieder der beiden Reihen rascher abnehmen als diejenigen 


der Reihe: 
I+s ++ 


14.!) Man erhält durch partielle Integration: 


Fftos ı)Y aa — z(log 24 n [(1og ar; 


es ergibt sich aber durch wiederholte Anwendung der l’Hospital- 


schen Regel: 
[e(081)]=0 


1 


1 
f (108 4)" dıe=n ” (1084) dx, 
0 


also: 


o 


woraus folgt: 


15.2) Ist: 


®=a+4 689 +q,c082p+:=b,+b,cosp+b,cosp’+---, 
so findet Euler durch Berechnung des Integrales: 
1 
[eos pg cos p2dp 
die Beziehung: ö 
2a, — 6,+ =. bura Ey ° S u) Dura ar 





wo k=h oder k=h-—1, je nachdem h=0 oder h>O ist. 
16.) Man findet leicht: 





!) De vero valore formulae integralis far (s+)' a termino 


x&—=0 usque ad terminum x—=1 extensae (1776), Nova Acta Acad. Petrop. 
VIH, 1790 (publ. 1794), p. 15—31. ®) Disquisitio ulterior de seriebus 
secundum multipla cujusdam anguli progredientibus (1777), Nova Acta 
Acad. Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), p. 114—132. ®) Theorema maxime 
dgcosip 





M.S. 


memorabile circa formulam integralem \ 
A n+i 


—+ a? — 2a cos p) 
Acad. exhib. 1778; Inst. calc. int. IV, p. 194—217. — Disquisitio con- 
dp cosip 

+ ß eos gp)r ’ 





jeeturalis super formula integrali Se M.S. Acad. 


162 . Abschnitt XXVI. 


pi son kıazi «cosp+Pß 
ee = AIG OB TB cos @ ; 











also: 





we En 2.4 
een Ver — ß%’ 


0 
a FREE 


A=1-+a?’— 2a cospg. 


und hieraus: 


wo: 


Es ist ferner identisch: 


dp=(l ta) 2 En 


woraus durch Integration folgt: 


A ee re IE Pe ee 2 





za 
"cos pd 1+.a? 07 a 
De J 44 Ir, 2 
6 
Man kann demnach vermuten, es sei allgemein: 


T- 
ji aaa a 
2 A Darslig 





0 


Diese Formel läßt sich auf folgende Weise bestätigen. Nehmen 


wir an, e8 sel: 
i—1 4 
ara ra 

I. = 


age 


1— a?’ 2 
Man hat identisch: 





cosApdp — (A 2 3) cos ai: SA Pe: en pdy 








cosigpd cos (A+ 1)pd cos (Ak — 1)pd 
- (149) 2 ng N en B 


und hieraus durch bestimmte Integration von O bis x: 


m (1 P a?) I; Se al;}ı al;_ı 
oder: 





exhib. 1778; Inst. _cale. int. IV, p. 217—242. — Demonstratio theorematis 
insignis per conjecturam eruti, circa integrationem formulae 


dpesip 
(1 +0: — 2acos pt!’ 
M. S. Acad. exhib. 1778; Inst. calec. int. IV, p. 242—259. 








Bestimmte Integrale. 763 


+1 
In Fa? Ta 


u a $ 


I, 


ER, Orae 


Diese Formel ist aber nur ein besonderer Fall einer anderen, die 
Euler durch Induktion beweist: 


ii. = a ll) ps > En 6%) a ]- 
0 


17.) Ein geometrisches Problem führte Euler zu den Inte- 
gralen: 


3 d sin d 
14 ie pdp sin pgdp 
( ) : VY ’ Be 


Die Berechnung derselben gründet er auf die später als Euler- 
sches Integral zweiter Gattung bezeichnete Funktion: 








| fee rde = In). 
0 


Man findet leicht die Rekursionsformel: 
(15) Ia+1)=nIl(n); 


es ergibt sich ferner durch die Substitution x = ky: 


fr 1 aym u 


Die Größe %k darf nicht negativ, wohl aber imaginär sein. Ist 
dann k=p-+ ig, und setzt man: 


p=rcose, q=rsine, 


oder: 
VER, 0a, 
so folgt: 
pr YerPY(cosqy + isin gqy)dy = - em m (cosn« Fisinne), 
Ptig 7 
also: 





') De valoribus integralium a termino variabilis x— 0 usque ad 
“=00 extensorum, M. S. Acad. exhib. 1781; Inst. cale. int. ir, BT 
bis 345. 


764 Abschnitt XXVI. 


Mr cos qydy = — cos ne, 
(16) gi 
we sin gydy = 2m sin ne. 
r 


09 





Um die Integrale (14) zu erhalten, muß man bier setzen: 


also: 
beachtet man, daß: 
ist!), so folgt: 


"os pd singpd EEE EN. = 
Eu Vom yE, fg = -Yrsin7- = 


Man hat allgemeiner: 


- emgade - Be: „e _Vr u 
2 r 2 
U 
PR ui pn N PER 
e singrdz ii ee 
e Vx r 2 r 2 


0 











Nimmt man in (16) n=o an, wo @ eine unendlichkleine Größe 
bezeichnet, und bemerkt man, daß: 





1) Euler hat die Formel: 


1 
[v-rsrae-% 
N 
t 


angegeben (diese Vorl., III?, 8. 656). Setzt man 2—=e „so folgt hieraus 
irrt 
J: via=r(z)- = 
0 


und daher, wegen Formel (15) im Texte: 


n(=r: 








Bestimmte Integrale. 765 
1 1 1 


cso«—=], sinw«—= wa = w arctg a 


so erhält man: 


nn n 
en cos gedax 6: je singedx arctg I: 
& & p 
w; 


0 








fürp=0, qg=1 ergibt sich aus der letzten Formel: 


sinzdx 7 
x ae 
0 


2n 
= 


11+.:+V —- > 0%, 


h=0 





18.1) Ist: 


so sucht Euler die Koeffizienten a,, durch bestimmte Integrale aus- 
zudrücken. Er findet: 


an | (14 2osg)rdp, 
0 
anni d +2c0sp)"cospdp, 
0 
| (1+2cosp)"cos2pdy, 
j 0 


Hieraus ergibt sich: 




















rt 
1 a” cosrpd ve” 
F pap PR A, nr — Fr . 
7 1—x—27cosp ’ yi—-2x2— 32° 
0 n 
wo: 
1— 2 — V1— 22 — 32? 
vv — 
2 
Setzt man: 
ul 5 E 
Be  Db+-b-+1’ 


so läßt sich die erhaltene Formel folgendermaßen schreiben: 





‘) Disquisitiones analyticae super evolutione potestatis tri- 


nomialis (1+x2=+x%” (1778), Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797—1798 
(publ. 1805), p. 75—110. 


166 Abschnitt XXVI. 


PL4 


cosrpdy Ar a 
1—2bcsg+b? 1—b? 
) 





Einen, wenn auch unvergleichlich kleineren, doch nieht unbedeu- 
tenden Beitrag zur Theorie der bestimmten Integrale lieferten auch 
andere Schriftsteller. 

Landen!) stellte einige bekannte Integrale durch unendliche 
Produkte dar, und gab neue Methoden zur Berechnung von zwischen 
bestimmten Grenzen genommenen Integralen vom Typus: 


F «dx 
ptae+re"+.- 


Laplace?) begegnete im Laufe seiner Untersuchungen über Wahr- 
scheinlichkeitslehre dem Integrale: 





fme-rrau 


Dieses Integral verschwindet für ein ungerades m; man kann 
daher m = 2n setzen, in welchem Falle man hat: 


ferea — 2 [time "dt. 
i% ö 
Es ergibt sich ferner ohne Schwierigkeit für r = 1: 


je) 


fe oe u e-® dt. 
0 i Ö 


Um dieses letzte Integral zu berechnen, geht Laplace von dem 


Doppelintegrale: 
1= [ Jet dsau 
00 


aus. Integriert man zuerst nach s, so ergibt sich: 


n Sins 





1) Specimen of a new method of comparing curvilineal areas; 


by which many such areas may be compared as have not yet ap- 
peared to be comparable by any other method, Phil. Trans. LVII, 1768, 


p. 174—180. — Some new theorems for computing the areas of certain 


curve lines, ebenda LX, 1770, p. 441—443. *) M&moire sur les probabi- 
lit&s, Me&m. Acad. Paris 1778 (publ. 1781); Oeuvres IX, Paris 1893, p. 381—485. 








Bestimmte Integrale. 767 


setzt man dagegen uVYs=t und dann s= 5’, so folgt: 


1- (fern fer ie. rar 2 feras. ferat 
00 £ ö 4 ö 0 
2 
feel 
ö 


ferar-%. 


0 


also: 


Für r=2 hat man: 


D 


fee} 
F 1-5-.9...(4n — 3) ’ 
Bre-tdi — aa fra 
4” 








4" 


Ansagengg _ Tann) feerar 


o 
— — 


0 


so daß alles auf die Bestimmung von: 


erdt=C, feerrat=c 
fra-e j 


ankommt. Es ist: 


ut | u? "du RE LEN 
I- [fe a4 asdu = a 


00 0 


man erhält andererseits durch die Substitutionen uYs = ,s=s*: 


je 


dr fe Jera- 4 Jseras ferrat=a0c, 
$ 
0 0 v 


0 


so daß: 


= ne 
as, 
und die Berechnung des einen dieser Integrale auf die des anderen 
zurückgeführt wird. Es ist aber unmöglich, jedes der beiden Inte- 
grale durch elementare Transzendenten auszudrücken. 

Nieolaus Fuß (geboren zu Berlin 1755, seit 1773 Hilfsarbeiter 
des damals schon erblindeten Euler zu Petersburg, später Mitglied 
und Sekretär der dortigen Akademie und Generalschuldirektor, ge- 


768 Abschnitt XXYVI., 


storben daselbst 1826) gab zwei Methoden!) zur Berechnung des Pro- 


duktes: 
1 1 
x "Id «td 
a, BE 
ee : EL "a en 


0 














Friedrich Mallet (s. o. $. 129)?) berechnete auf einem neuen 
Wege das schon von d’Alembert?) betrachtete Integral: 


27 


dt (1 — 19)" 





: Ni -e@te—tt 
Giovanni Francesco Giuseppe Malfatti, geboren 1731 zu 
Ala in Tirol, gestorben 1807 als Professor an der Universität zu 
Ferrara, widmete eine lange Abhandlung‘) dem Integral: 





welches er in das rationale Integral: 


1 1 | j 
m+n—1 n—i = 
ren fer ei 
u n Jiry 
durch die Substitution & = y” überführte. Die Integration geschieht 


dann durch Zerlegung in einfache Brüche. 
Mascheroni?) gab einen neuen Beweis von der Formel: 


je) 


1 
artridge P7 
BB, te 
1+% ee 


0 





) Gemina methodus investigandi valorem producti 
a lde f zlde 

n re zu Rn —- 

Va a? J Yı-a') 
dum ambo integralia a termino 2@=0 usque ad terminum &=1 ex- 
tenduntur, Acta Acad. Petrop. 1778, P. II (publ. 1781), p. 111—134. 
®) Dissertatio integrationem formulae & D’Alembertio propositae 
sistens, quam praesideF.Mallet...publico examini subjieit Carolus 
DiethericusHierta, Upsala 1781. °®)Rech.sur le syst. du mondeII, p. 166. 
*) Essai analytique sur l’integration de deux formules diffe- 
rentielles, et sur la somme generale des söeriesharmoniques ä& termes 
rationnels, M&m. Acad. Turin 1788—1789 (publ. 1790), p- 53—112. 
®) Adnotationes etc. 








a a 





Bestimmte Integrale. 169 


Fontana!) berechnete einige von 0 bis 5 erstreckte Integrale. 


Nachdem er gezeigt hat, daß: 


z zt 
| F\ 
[log sinzdx — flog coszde, 
ö ö 


geht er von der bekannten Relation: 


s ; . 1 x 
sine +sin2r +sndr +. = cotg 


aus, die gliedweise integriert wird; dadurch ergibt sich: 


1 1 ee 
8% + —e827 +, c08382% +. —— logsin Z — C, 


und die Konstante © wird durch Einsetzung von 2—= x bestimmt, 
was ergibt: 
C=1—-— +: =log2. 


Es ist also, wenn man 2x statt x setzt: 
co82% + n cos4x + „cos 6% +. = — logsinz — log 2. 


Integriert man nochmals, so erhält man: 


2 a 1 


Hin: ii 
5 psin2x+ 5 sindr+ 5,5; sin 6x +... 


Se — flog sinzd«e — x«log2 +0; 


erstreckt man von 2=(0 bis = —, so folgt: 


a 


2 
‚fios sinedz = — 7 log2, 
0 


also auch: 
nr 


2 
‚fios coszde = — Z log 2. 
0 


Hieraus ergibt sich: 





') Ricerche sopra diversi punti concernenti l’analisi infinitesi- 
male e la sua applicazione alla fisica, Pavia 1793, 


770 Abschnitt XXV1. 


ze zt 
w 6: 
‚fios sec 2dx - flog cosee dx = -. log 2, 
ö ö 
zt za 
E35 # 


[log tang da = flog eotgredz — 0. 
N} ö 


Es wäre wohl angemessen, dieser kurzen Zusammenstellung der 
in unsere Periode fallenden Untersuchungen über bestimmte Integrale 
eine Kritik derselben folgen zu lassen; wir verzichten aber darauf, 
da die Bedenken, zu denen diese Untersuchungen Anlaß geben, meistens 
von so elementarer Natur sind, daß sie für einen sachkundigen Leser 
keiner besonderen Erörterungen bedürfen. 


Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 


1. Maxima und Minima. 


Die Aufsuchung der größten und kleinsten Werte der Funktionen 
bildet eins der Hauptprobleme, denen die Infinitesimalrechnung ihre 
Entstehung verdankt. Für uns bietet diese Frage ein besonderes 
Interesse darum dar, weil sie den Gegenstand der ersten Schrift 
Lagranges bildet, derjenigen nämlich, welche den Beginn unserer 
Periode bezeichnet. Bevor wir aber diese Arbeit, die sich auf Ex- 
tremwerte der Funktionen mehrerer Veränderlichen bezieht, besprechen, 
wollen wir die wenigen erwähnen, die sich mit Extremwerten der 
Funktionen einer einzigen Variabeln beschäftigen. 

Diesem Gegenstand ist fast ausschließlich die erste Hälfte eines schon 
oben (S. 675) besprochenen Büchelchens von West!) gewidmet. Der 
Verfasser bemerkt, daß man die Extremwerte gewöhnlich durch Null- 
setzung der ersten Fluxion erhält; da aber, fährt er fort, der Grund 
dieses Verfahrens nicht so leicht zu verstehen ist, so mag wohl die 
hier vorgeschlagene Methode eine günstige Beurteilung finden. Dar- 
auf läßt er eine Reihe von 20 Problemen folgen, deren 14 erste nach 
dem common way und nach dem new way gelöst werden, während 
auf die sechs letzten nur die neue Methode angewandt wird. Wir 
führen als Beispiel das zweite Problem an. Eine Strecke AB soll 





ı) West, Mathematics. 


Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 7171 


in C© derart geteilt werden, daB AC- CB’ größtmöglich sei. Setzt 
man: wo 

AB=a, AC=xz, OB=y=a—ı, 
so hat man nach der gewöhnlichen Methode die Fluxion von z(a— x)? 
gleich Null zu setzen, woraus sich ergibt: 


0 = (a — 2)? — 2la— z)ca = (a — x)(a — 3r)r, 


oder = -_ Dasselbe Resultat erhält man durch folgende Schluß- 


weise. Lassen wir den beweglichen Punkt © von A nach B gehen. 
Das Produkt xy? nimmt zu, solange das Verhältnis des Zuwachses 
von x zu x das Verhältnis der Verminderung von y? zu y? übertrifft; 
das Maximum kommt also dann vor, wenn diese beiden Verhältnisse 
einander gleich sind, wenn nämlıch: 


BR 
zo y 
ist. Es ist aber 2=y, da der Zuwachs von x der Verminderung 


von y gleich ist, folglich y=2x, und hieraus wie oben r = - 


Daß diese Methode im Grunde keine Neuheit darbietet, erkennt 
West selbst in einem Scholium zum 14* Problem, wo er sagt, die 
von ihm als neu gegebene Methode sei freilich schon früher von an- 
deren angewandt worden, niemand aber habe den Grund derselben 
so klar auseinandergesetzt als er selbst. Daß aber die neue Methode 
einen Rückschritt bildet, ist kaum nötig zu erwähnen; während näm- 
lieh die Infinitesimalrechnung darauf gerichtet ist, mechanische, all- 
gemein gültige Regeln für die Auflösung der verschiedenen Probleme 
zu liefern, nötigt uns West, eine besondere Gedankenfolge für jeden 
besonderen Fall zu erfinden. Einen ähnlichen Irrtum würde derjenige 
begehen, der sich bei geometrischen Problemen des Gebrauches der 
analytischen Geometrie enthalten und die Geometrie der Alten be- 
ständig anwenden wollte. 

In seiner Dissertation: De minimo in reflexione a eurvis!) 
bestätigt Kästner die Behauptung von Robert Smith (diese Vorl., 
IIl?, 5.377), daß die Reflexion auf einem Kreise auf vier Wegen ge- 
schehen kann. Es seien nämlich @G, H (Fig. 80) zwei gegen einen 
Durchmesser AB des Kreises symmetrisch liegende innere Punkte, 
und man ziehe durch die Punkte @, H und den Mittelpunkt C einen 
zweiten Kreis, welcher den ersten Kreis in E, F schneiden möge; 





') Dissertationes mathematicae et physicae, Altenburg 1771, 
Diss. III, p. 22—27. 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 50 


112 Abschnitt XXVL 


dann werden die Strahlen @A, GB, GE, GF, wie sich leicht nach- 
weisen läßt, beziehungsweise in AH, BH, EH, FH reflektiert. Für 
die Punkte A, B ist der Weg ein Maximum, für die Punkte E, F 
ein Minimum. 

Fontana widmet die elfte seiner Disquisitiones!) der Theorie 
der Maxima und Minima, fügt aber dem schon bekannten nichts Neues 
hinzu. 

Dasselbe läßt sich von 
einer Abhandlung von Frisi?) 
aussagen. 

Es ist wohl hier der Ort, 
zwei kleine Schriften von 
Andreas Hulten?) (geboren 
zu Suaflund in Schweden 1767, 
Professor der Mathematik und 
Astronomie und dann der Theo- 
logie an der Universität zu 
Fig. 80. Upsala, gestorben daselbst 1831) 


zu erwähnen, deren Inhalt aus 
I 








dem Titel selbst erhellt. 

Die Theorie der Maxima und Minima der Funktionen von meh- 
reren Veränderlichen war zuerst von Euler, aber nur unvollständig 
behandelt worden (diese Vorl., III, 8. 769— 770). Es war Lagrange 
vorbehalten, die Auflösung des wichtigen Problems wesentlich zu 
fördern.*) 


Es sei Z eine algebraische Funktion von #, u, ...., und: 
dZ=pdt+qgdu+::-. 
Unerläßlich für jeden Extremwert ist bekanntlich: 
dZ=0$, 





') Disquisitiones physico-mathematicae, nune primum editae, 
Pavia 1780. 2?) De quantitatibus maximis, minimis, isoperimetricis, 
Atti Accad. Siena VI, 1781, p. 121—159. Die frühere Arbeit von Frisi: De 
problematis quibusdam maximorum et minimorum exercitatio geo- 
metrica, Atti Accad. Siena IV, 1771, p. 15—20, ist rein geometrischen Inhalts; 
auf diese bezieht sich ein Brief von V. Riecati in N. Race. d’opuscoli scient. 
e filol. XXX, 1776, op. II, p. 1—7. ») Dissertatio de aequationibus 
radices aliquot aequales habentibus, Greifswald, P. I 1793, P. II 1796, 
P. III 1797. — Methodus Huddenii de maximis et minimis cum cal- 
eulo fluxionum comparata, Greifswald 1797. 4) Recherches sur la 
methode de maximis et minimis, Misc. Taur. I, 1759; Oeuvres I, Paris 
1867, p. 3—20. 


Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 173 


oder: 
pdt+gdu+:.:=(. 

Da aber diese Beziehung, wegen der Unabhängigkeit der Ver- 
änderlichen 4, u, ..., für jedes Wertsystem von dt, du, ... bestehen 
muß, so folgt: 

P=4=-.-0 
ein Gleichungssystem, das die gesuchten Wertsysteme t, u, ... liefern 


wird. 
Man muß aber auf das zweite Differential d?Z acht geben. Ist: 


dp = Adt + Bau + -: 


so folgt: 


,„ dg=Bdt+Cdu+-:--,:-- 


? 


®Z= Adt?+ 2Bdtdu+ Cd +... 
Hat man mit einer einzigen Veränderlichen zu tun ‚so hat @Z 
das gleiche Vorzeichen wie A, und man hat ein Minimum oder ein 


Maximum, je nachdem A z 0 ist. 
Bei zwei Veränderlichen kann man schreiben: 


BZ= Adf + 2Batdu + Ca®= A(dt+ 2 au) + (e- 5, ) aus. 


Hier muß, wegen der Unabhängigkeit von dt und du, jedes Glied 
rechts für ein Minimum oder für ein Maximum positiv bzw. negativ 
sein; es folgt dann für ein Minimum: 


ee een) 
oder: i 
(1) A>0, C>0O, AC>B, 
für ein Maximum: 


A<0, 0-2<0, 


oder: 
(2) EICH: BR 
Hat man drei Veränderlichen t, u, v, und ist: 
dp= Adt + Bdu-+ Dav, 
dq= Bdt + Odu+ Edv, 
dr = Ddt+ Edu + Fdv, 
so folgt: 


#Z= Ad? + 2Bdtdu + Cdu + 2Ddtdv + 2 Edudv + Far: 


- Aldt+ Zau+? dv) +a (du + .do) + (e- 2) av, 
50 * 


774 Abschnitt XXVI. 


Dim RENNEN. 


a A? A 


Es ist also für ein Minimum: 


A>9 >08 m -Rı 
oder: 


DHPA>I CAST COLEDNFAFDYSTERN BD)%, 
woraus folgt: 
(4) A>D, OD: F>0O CAD SFADR 


Diese letzten Bedingungen sind aber mit den (3) nicht gleich- 
bedeutend, wie es gleich daraus erhellt, daß E in (3), nicht aber ın 
(4) vorkommt; Lagrange unterläßt nämlich, die weitere Bedingung: 


FÜ>E: 


hinzuzufügen, welche der Symmetrie wegen ersichtlich hinzutreten 
muß und sich auch wirklich aus (3) ableiten läßt.') 

Nachdem Lagrange einige Worte der Ausdehnung seiner Unter- 
suchungen auf Funktionen einer beliebigen Anzahl von Veränder- 
lichen gewidmet hat, fügt er einige Bemerkungen hinzu, die insofern 
zweckmäßig sind, als seine Theorie, wie er denkt, ganz neu ist („comme 
je erois cette theorie entierement nouvelle...“). 

Ist Z eine Funktion der zwei Veränderlichen i, «, so kann man 
Z als die Ordinate einer Fläche ansehen. Die der Annahme % = const. 
entsprechende Gleichung dZ = pdt stellt alle Schnitte der Fläche dar, 
die in den der tZ-Ebene parallelen Ebenen liegen; für p=0 erhält 





t) Setzen wir: 
CA—B=«uM, FA-D=P’, «>0, B>0, 
so wird die letzte Ungleichung (3): 
aß? > (EA— BD), 
woraus folgt, wenn |p| den absoluten Betrag von p bezeichnet: 
|EA|<eß+|BD|, 
E?A?<o®ß?+B’D’+2aß,BD| 
— A!OF—ACD?— AFB?+2B?D?+2%oß| BD, 
oder: 
A(CF— EN >D°?(AC—BY)+B?(AF— DY)—2%aß| BD| 
woraus sich ergibt: wei Ned 


OCF- E:>0. 


Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 775 


man die größte oder die kleinste Ordinate eines dieser Schnitte, je 


nachdem AS 0. Die Gleichung p—=0 stellt also den Ort der Maximal- 
und Minimalordinaten dar; diese bilden einen ebenen oder nicht ebenen 
Schnitt der Fläche, der von den Gleichungen dZ=gdu, p=0 be- 
stimmt wird. Die Maximal- und Minimalordinaten der Fläche stimmen 
mit denjenigen dieses Schnittes überein; diese aber werden durch die 
Gleichung q = 0 gegeben. Aus p = 0 folgt: 


dp= Adt+ Bdu=0, 
und daher: 
„Ar 


dg T—-du, 


so daß man ein Maximum oder ein Minimum hat, je nachdem: 
® B? 
<>» 
er 
ist. Die Bedingungen für ein Maximum oder Minimum sind also: 


re 4A S 0, cs . 
oder: 


(5) ASO0, A0C>B: 


Wollte man mit « anstatt mit £ anfangen, so würde man er- 
halten: 
050, A0>B 


welche, zusammen mit (5), die Bedingungen (1), (2) wiedergeben. 

Der Fall von mehr als zwei Veränderlichen ließe sich analog 
behandeln.?) 

Die Arbeit Lagranges hatte, wie es scheint, keinen großen An- 
klang; wenigstens finden wir, in den 20 darauffolgenden Jahren, keine 
auf denselben Gegenstand bezügliche Schrift. Erst 1779 veröffent- 
lichte @. F. Fagnano eine Abhandlung?), in welcher er einige Maxi- 
mal- und Minimalaufgaben sowohl durch die Differentialrechnung als 
durch die reine Geometrie behandelte. Es sind folgende: 


a) Einen Punkt D innerhalb eines Dreiecks ABC derart zu be- 
stimmen, daß DA+ _DB-+ DC ein Minimum wird. 





') Einige Anwendungen der Theorie der Extremwerte finden sich in der 
Abhandlung von Lagrange: Solutions analytiques de quelques pro- 
blemes sur les pyramides triangulaires, Nouv. M&m. Berlin 1773; 
Oeuvres III, 1869, p. 661-692. ”) Problemata quaedam ad methodum 
maximorum et minimorum spectantia, Nova Acta Erudit. 1775 (publ. 
1779), p. 281—303. 


776 Abschnitt XXVI. 


b) Einen Punkt D innerhalb eines Dreiecks ABC derart zu be- 
stimmen, daß DA’ +DB’+ DOC" ein Minimum wird. 

ec) Einen Punkt E innerhalb eines Vierecks ABOD derart zu 
bestimmen, daß EA+ EB+ EC+ ED ein Minimum wird. 


d) In ein spitzwinkliges Dreieck das Dreieck von kleinstem Um- 
fang einzuschreiben. 


e) Bezeichnen ©, F, f den Mittelpunkt und die Brennpunkte 
einer Ellipse, so soll ein Punkt X des Umfanges derselben derart 
bestimmt werden, daß die Differenz der WinkelOXF, OXf ein Maxi- 
mum wird. 

Diese Probleme gehören sämtlich, mit Ausschluß des letzten, der 
Theorie der Maxima und Minima der Funktionen von mehreren Ver- 
änderlichen an. Daß Fagnano die darauf bezüglichen Untersuchungen 
von Euler und Lagrange kannte, ist sehr wahrscheinlich; jedoch 
folgt er bei der Auflösung seiner Probleme nicht dem von der Diffe- 
rentialrechnung vorgezeichneten methodischen Weg, sondern er bedient 
sich in jedem Falle besonderer Kunstgriffe. Aus der Differential- 
rechnung entnimmt er nur den Grundbegriff der Theorie der Maxima 
und Minima, in derselben Form, in welcher er schon bei Kepler 
vorkommt (diese Vorl., II®, S. 828), daß nämlich in der Nähe eines 
Extremwertes die Veränderung der Funktion als gleich Null, die 
Funktion selbst also als konstant anzusehen ist. Hat er dann mit 
einer Funktion von zwei unabhängigen Veränderlichen zu tun, so 
nimmt er zuerst die eine von diesen als konstant an, und sucht den- 
jenigen Wert der anderen zu bestimmen, für welchen die. Variation 
der Funktion verschwindet, was ihm eine Maximums- oder Minimums- 
bedingung gibt; er setzt dann die zweite Veränderliche als konstant 
voraus, und verfährt auf ebendieselbe Weise, wodurch er die zweite 
Bedingung erhält. 

Um dem Leser einen genaueren Begriff von Fagnanos Ver- 
fahren zu geben, wollen wir die Auflösung des ersten seiner Probleme 
anführen. 

Man beschreibe um © mit dem Radius OD einen Kreisbogen 
VDF (Fig. 81), und E sei ein unendlich nahe an D liegender Punkt 
dieses Bogens; es muß sein, wegen des Minimumscharakters des Punktes 
D („per minimi naturam“): 


DA+DB+D(=- EA+ EB+ EG, 


oder, dd DO = EC: 
DA+DB=EA+EB, 


oder auch, wenn man um A, B die Kreisbögen Ed, De zieht: 
Dd= Ee. 


Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. IHN 


Es folgt hieraus, daß die beiden unendlichkleinen rechtwinkligen 
N N 
Dreiecke DdE, EeD einander gleich sind, so daß eED=dDE. Ist 
N 
DO die Tangente zum Bogen VF im Punkte D, so ist, da BDe 


ES 7 
= BeD = er 
N = Fan ar 2 Fa 
BDO=_—eDE, eED=- Ein 
folglich: 


ER N 94° 
BDO=eED=-dDE,; 


N N 
addiert man die rechten Winkel ODC bzw. EDC hinzu, so folgt: 


N zer": 
BDC=ADG. 








Fig. 81. 


Auf gleiche Weise erhält man: - 


Er N 
BDC=ADRB. 


Die Minimumsbedingung ist also: 
N N N e_ 
ADB=BDC=CDA= 


Derselbe Gedankengang, den wir soeben zu schildern versuchten, 
erscheint wieder, wenn auch unter etwas veränderter Form, in einem 
schon oben (3. 687) erwähnten italienischen Lehrbuche, in den Prineipii 
fondamentali del calcolo differenziale e integrale von Lotteri. 
Es wird in diesem Werke vorgeschrieben, daß man im Falle von 
mehreren Veränderlichen einige derselben als konstant ansehen möge. 
Soll z.B. eine Zahl a in drei Teile von größtem Produkte zerlegt 
werden, und sind zwei derselben x, y, so daß das zu untersuchende 
Produkt durch: 

fir, y) = aay — ary — zy? 


778 Abschnitt XXVI. 


ausgedrückt wird, so betrachtet man zunächst x als einzig veränder- 
lich; das gibt durch Differentiation: 


ay— 22y— =, 
also: 


2%, (a W)-L(a-y. 





Differentiiert man jetzt nach y, so erhält man: 
1 
7 (a —-y)la—3y)—0, 


woraus sich y= = und folglich x = 5 ergibt. 


Um den Unterschied zwischen diesem und dem Euler-Lagrange- 
schen Verfahren in wenigen Worten nach der heutigen Ausdrucks- 
weise zusammenzufassen, können wir sagen: Nach Euler und Lagrange 
ergeben sich die gesuchten Wertepaare x, y aus der Auflösung des 
Gleichungssystems: 


nr of(®, of(@, 
2 Yen, Yon-o 





Nach Lotteri muß man dagegen erst die Gleichung: 


of(®, 
@) u _g 


nach x auflösen; ergibt sich hieraus: 
Im y), 
ey, yW)=IW). 


so gibt die Auflösung der Gleichung: 


und setzt man: 


| dg(y) 
8 —— —0 
(8) r 
die gesuchten Werte von y, die dann, in x = #(y) eingesetzt, die ent- 
sprechenden Werte von # liefern. 


Es ist leicht zu sehen, daß beide Wege zu demselben Resultate 
führen. Man hat nämlich nach der Definition von #(y): 


(9) ET Tee 
ferner: 
dgy) _EFEW,Y) gr fa y), y) 
a eg 3 


so daß sich (8), wegen (9), auf: 





Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 7179 - 
2 Fam) _ 
(10) a are 0 
reduziert, und das Gleichungssystem (7), (8) durch das na (9), 
(10) ersetzbar ist, welches mit (6) übereinstimmt. 


Es ist merkwürdig, daß Lagrange selbst in seiner Theorie 
des foncetions analytiques ganz ähnlich wie Lotteri verfährt; 
nur ist seine Behandlung insofern vollständiger, als er auch die 
zweiten Ableitungen berücksichtigt. 


2. Unbestimmte Formen. 


Zur Bestimmung des wahren Wertes des Verhältnisses = geben 


Riceati und Saladini in ihren Institutiones analyticae eine von 
Riecati') ersonnene Methode, die aber von der gewöhnlichen nicht 


wesentlich abweicht. Liegt das Verhältnis na vor, und ist: 


so muß man f(x) und p(x) durch x — a so oft teilen, als wenigstens 
‚einer der beiden Quotienten einen bestimmten Wert erhält. Kommen 
in f(x) oder in (x) Wurzelgrößen vor, so muß man & durch a + dx 
ersetzen und dann die Wurzeln „more neutoniano“ ausziehen (man 


macht z. B. vi +/dce+::: =-1+ da +:-.); der Quotient der 


Koeffizienten der ersten Potenz von dx liefert den wahren Wert des 
Verhältnisses. 
Es gehört wohl hierher eine Bemerkung von Kästner.) Es ist: 





secp + tangp = tang (45° u 2) s 
also: 
2tanggp = tang (45° + 2) — tang (45° — =) 
Hieraus folgt für p = 90°: 
(11) see 90° + tang 90° = tang 90°, 


und: 





) Animadversiones in fractionem, cuius numerator et de- 
nominator per certam determinationem nihilo aequales fiunt, 
Comm. Bon. II, P. II, 1747, p. 173—193. ?) Summe und Unterschied 
von Dangante und Secante, Arch. d. r. und angew. Math. I, 1797—1798, 
S. 174—180. 


780 Abschnitt XXVI. 


tang (45 °+ 7) 








lım n —)» 
p=9%0° ang p 
oder: 
10 un; + tanggp =» 
( ) p= 900 tang Y 


Die Gleichungen (11), (12) stehen zueinander in Widerspruch. Man 
muß aber erwägen, sagt Kästner, daß der rechte Winkel weder 
Sekante noch Tangente besitzt, so daß (11) nur aussagt, daß zwei 
nicht existierende Dinge zusammengenommen ein nicht existierendes 
Ding ausmachen. Nur für diejenigen, fährt er fort, besteht 
der Widerspruch, die das Unendliche als etwas Wirkliches be- 
trachten. 


3. Anwendungen der Infinitesimalrechnung auf die 
Reihenlehre. 


Diese Anwendungen erscheinen in unserer Periode um so häu- 
figer, als man sich damals berechtigt glaubte, mit unendlichgroßen und 
unendlichkleinen Größen und mit unendlichen Reihen ganz rücksichts- 
los umzugehen. Eben darum aber bedürfen die bezüglichen Formeln 
einer genauen Prüfung, und einige von ihnen haben nur eine — wie 
man heute sagen würde — asymptotische Bedeutung. Solcher- 
art ist gleich die erste, die wir anzuführen haben. 

In die schon oben (3. 747) besprochene Formel: 


1 


I IE VOR.) 
Ö 


x log x 2 





1 
setzt Euler!) A 1) statt logx ein, wo j eine unendliche Zahl 
bezeichnet; es ergibt sich: 





und durch die Substitution £ = 2’: 


4 
ms nj 
2 er Mm 
ee dz=log 
0 


!) Speculationes analyticae, Novi Comm. Acad. Petrop. XX, 1775 
(publ. 1776), p. 59—79. 








Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 781 


ms nj 
k F z zZ - # 
Nehmen wir m >n an, und entwickeln —— „ ın Reihen, 


£(2<—1)’ 2@—1) 
so folgt nach Integration: 


1 1 1 1 
_— — en oO 
EBERLE TR Ya j j log 

oder: 
1 1 


m 
— + —— 
mw. m) — 2 


1 
Es mag hier bemerkt werden, daß die Entwicklung nach fallen- 
den Potenzen von z im Intervalle O<2<{1 nicht konvergiert. Man 
kann aber, wenigstens für ganzzahlige m und n, dieser Schwierigkeit 


aus dem Wege gehen wie folgt. Es ist: 


A zu) mn) _q 


( 
a u en er 0 anj-1(sm—n)j—1 (m—n)j—2 Pe 
RR, 2 GE 2 (2 +2 — +1) 


EL mi ne 
= aM ITI gMIT IL +2 ; 
woraus sich durch Integration wiederum ergibt: 


1 
a zZ" 1 1 


1 
FE Be eat, 
0 


Ein interessantes Problem der Differenzenrechnung ist folgendes!): 
Aus der als bekannt vorausgesetzten Summe: 


lH + en 


die Summen: 
fu) = Hi mr. Hart, 


la) lr'+ 2unilL... {4 gr-1 


abzuleiten. Dieses Problem löst Euler auf Grund einer von ihm 
früher aufgestellten Formel, welche den Ausdruck von f,(x) unter der 
Form einer ganzen rationalen Funktion von x von der (n + 1)ter Ord- 


nung angibt. Man kann allgemeiner aus der Summe Iy(r) die 


ri 


Summen . / p(r)dr und > pr) ableiten. 


r=1 v=1 
Man hat oft versucht, die Summe einer Reihe durch ein be- 
stimmtes Integral auszudrücken, wenn dieses auch manchmal nur 
eine scheinbare Vereinfachung ist, insofern als die Berechnung eines 


') Euler, De singulari ratione differentiandi et integrandi quae 
in summis serierum occeurrit (1776), Nova Acta Acad. Petrop. VI, 1788 
(publ. 1790), p. 3—15. 


182 Abschnitt XXVI. 


bestimmten Integrals nieht selten nur durch Reihenentwicklung ge- 
schehen kann. Euler!) hat dieses Problem für die Summe: 


1+ae?+9%°+- 
gelöst, wo: 


ba+2b h—1)b 
-(-" )- ne, on ) 





ist. Man kann durch Differentiation bestätigen, daß: 
ey = a [a "ya BR (a .- fat y dr, 
wo: 


1 
y-(1-)°. 
Hieraus folgt: 


1 1 
a 
a+b—1,,—b ur a—1,,0—b 
f yddz fe yddr, 
0 0 
1 


ak 
RE 16, DR HE ae a arb-1,0=b 
fr y’dı-- le yertaz,. 
0 0 


1 


1 
b 
Jerry az Be nerren ger Je va, 
0 


0 





und analog: 





also: 


usw. Setzt man insbesondere c= b—.a, und beachtet, daß: 


1 


Jerraz - a 
bsin —- 


0 





ein Wert, den wir mit A bezeichnen wollen, so erhält man: 


4 


Seriyreaz Di „A En. 
0 
1 


[07 — —(A aa b 
fr En te er ER 


0 


usw. Es ist aber: 





!) Plenior expositio serierum illarum memorabilium, quae ex 
unciis potestatum binomii formantur (1776), Nova Acta Acad. Petrop. 
VII, 1790 (publ. 1794), p. 32—68. 





Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 183 


1 


1 
Sa -'y-"°dz — /aetyredal +,” +a®’+--.) 
0 0 


1 


1 1 
ze iIyedc + a, [er y de + a art -Iyreda+- er 
N 0 N 


folglich: 


1 


Say dar -Altartar+--)), 
0 
und hieraus: 


Die Summen: 
[4 ’ 
lt, +9, +, 
’ 
0 + aa ++ 
. [ * . . * . [3 .: 


5 ":b : ; 
wow,= (-° N ), lassen sich auf analoge Weise berechnen. 


Ein Interpolationsproblem führte Euler!) dazu, die Größe: 


PER A RE 
Fra’f+3a’(f+ 5a’: 
durch bestimmte Integrale auszudrücken. Aus: 


1 3 














5b a"ide el arde 
n—k m mn n—k 
- ER k + er 
| k=a k=a 
leitete er für im=f und fürım=f+a ab: 
I n = 2a 
1 1 
I eye, | ed 
 FASERSGE 7 3 ff+?2a).- J Yı_a?® 





ira dx (f+2a)(f+4a):- 2 joe 
ER JE TER 2 21 2 E DEEee ] 


also: 





') De fractionibus continuis Wallisii (1780), M&m. Acad. St.-Pet. V, 
1812 (publ. 1815), p. 24—44. 


784 Abschnitt XXVI. 


1 
rer 
Via 
S 
rıde 
& Vı —.a#° 


Ebenfalls mit der Differenzen- und Interpolationslehre hängt die 
Eulersche!) Formel zusammen: 


fe)+fae+l)+fe@+2)+--- 








A=f 





wo dıe Zahlen: 


1 1 1 
En Bro een We 


die nämlichen sind, welche in den Formeln: 


14. +5 + = Amt, 
ee ‚ 
+ getget = Bat, 
Itatg+:- 02 


vorkommen. Eine analoge Formel gilt für die Summe: 


fe)-f@e+)+fe@+23-::- | 
Endlich drückt Euler?) den Binomialkoeffizienten (3) durch 


ein bestimmtes Integral aus: 


Air 


g JA ""ı — a tda 
0 





insbesondere ist: 





0 1 sing 
ie 1 gq” 

q Sean az 

0 


') Methodus succincta summas serierum infinitarum per for- 
mulas differentiales investigandi (1780), M&m. Acad. St.-Pet. V, 1812 
(pukl. 1815), p. 45—56. 2) De unciis potestatum binomii earumgque 
interpolatione (1781), Mem. Acad. St.-Pet. IX, 1819—1820 (publ. 1824), 
p. 5776, 








Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 


=] 
nn 
Qi 


Mit der Auswertung der Reihen: 


2) 


Dt » \ 1 
en 2 Grm 


wert I: 





“=... ı An 
_ (p+am(r +sn)(t-+un)’ ; u (p+gan)(r+sn)..-? 








IT (a+bn)etdn) 
= otmetn. 





durch bestimmte Integrale beschäftigt sich Lorgna'). Antonio 
Maria Lorgna, geboren zu Üerea bei Verona am 18. Oktober 1735, 
gestorben zu Verona am 28. Juni 1796, war Oberst des Geniekorps 
und Professor an der Militärschule zu Verona und beschäftigte sich be- 
sonders mit hydraulischen Fragen; er war der Stifter und der erste 
Vorsteher der Societä Italiana delle Scienze und veröffentlichte 
zahlreiche mathematische und hydraulische Werke und Abhandlungen. 

Eine spätere Schrift von Lorgna?) bezweckt die Summierung der 


ao 


Reihe DIR Be ‚wo a>1. Setzen wir der Einfachheit wegen «= e 


»=1 


voraus. Es ist: 








sin en 
a2 2i ’ 
also: 
1 ie” 
aer _ 
2 sin er e 1 
® 





die Werte p= =, q=1 ein, so folgt: 


1 


n 1 n 
a’ 2 '"da = ine" 
Kae ne 
} sin — e 1 
i 


0 











') Specimen de seriebus convergentibus, Verona 1775. 2, Delle 


progressioni reciproche delle potenze affette, Mem. Soc. It. sc. II, P. II, 
1784, p. 210-236. 


786 Abschnitt XXVI. 


oder: 
1 


An Wen 
oxı fer ae. 
Line": 1+% x et 











oder auch: 


1 1 
A > are 2 
1 ee "any. feüre "ar|_ 1 
2 mi 1+x 2. 1+x x pri 
0 0 


Diese Relation läßt sich folgendermaßen schreiben: 
























































0 


® . ie ER nr 
„a _.®) dx x bg ir) dx 
m ( Sn e ( Tag 
1+20)\1—x'" 6 1+2)\1—x iz) 
1 1 
= ı et iR 
u a aa ) dx x ee GB ei 
za 1 Berge - TE 
ee x ee ir) 
1 1 
b& nr: 
nn 1 a: zgin ds zz in dx 
2 mi m) & =) x 
er: > ale 
1 1 
PO. _n+l1 
er dx ge SM dx 
“ / ee BRETT 
: es in) e ea ir) 
1 1 
n n+t1i1 
A a” 82.08 er dx 
Br % 73 Tor : x: 
s ne) u 
1 1 
PR. 1.» +1 4 
= ; Ai ee dx 
te N Sr n 325 Ya 
eg ir) ee. ir) 


Summiert man nach n von 1 bis oo, so erhält man nach leichten 
Reduktionen: 





Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 187 


» 














1 1 
” B. PERS 
” a, : a" ar, ee dx 
Pi 9m ( er ( a 
n=1 ’ d+m\1-a'” A+D9lı—x '” 
1 
» L LM 
in in 
2 x #4 x dı 
te $: En = x ’ 
eh ah is) : atalı_n!2 i) 


eine Formel, welehe die Summe der beiden Reihen links durch be- 
stimmte Integrale ausdrückt. 

Auch Malfatti in einer schon oben angeführten Abhandlung!) 
beschäftigt sich mit der Summierung von Reihen durch bestimmte 
Integrale. Es ist: 


n+m n+2m 
my m _...6% 
IF fa u 


m+n 2Zm+n 3m+n 

1 Be m m 

x x x s 

Ei ee... 
mn 2m+n 3m+n 














also: 
1 


E 
ı farae_ 1 SEN 
m 1+2 m+n 2mHtn 3m+tn 

0 


Man erhält analog: 








3 


N 
1 x” dx 1 1 1 
ı fe = + - + 
m 1—x m+n 2m+tn 3m+n 


0 








Es ist zu beachten, daß dieses letzte Integral unendlich ist; führt 
man nämlich die Substitution x = y” aus, zerlegt in einfache Brüche 
und integriert, so kommt das Glied: 


1 1 


los (1-— N) oder Bar (1 _=)] 


0 





') Essai analytique sur l’int6gration de deux formules diffe- 
rentielles, et sur la somme g&n6rale des series harmoniques ä 
termes rationnels, M&m. Acad. Turin 1788—1789 (publ. 1790), p. 58—112. 
Siehe auch: Gratognini, Saggio analitico sopra una svista comune nel 
problema per la valutazione delle annuitä, e sull’ uso del Caleolo 
differenziale ed integrale nel sommare le serie armoniche relativa- 
mente a tale problema, Pavia 1782. 

CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 51 


188 ; Abschnitt XXVI. 


vor. Nichtsdestoweniger hat die Formel nach Malfatti eine Bedeu- 
tung; es ergibt sich nämlich für jedes » und p: 


1 1 
Fr en Ei 
1 Fa ge” 
Aw da — “ 
m 1—ı. li—2. 5 
0 0 
1 1 1 1 


—mtn Namlat/: mT BAT Vene, 














und die links vorkommende Differenz ist endlich, weil die beiden 


1 
1 


Glieder fiog (1 — „=)| sich gegenseitig aufheben. 
0 


Andere Schriften setzen sich als Zweck vor, die Summe einer 
Reihe oder den Wert eines unendlichen Produktes in geschlossener 
Form mit Hilfe der Integralrechnung zu ermitteln. Um auch hier 
mit Euler zu beginnen, führen wir zunächst eine Schrift!) an, wo er 
7 


die schon bekannte unendliche Produktenentwicklung von cos ig 


TESTER BE 


vermittels Integrationen berechnet. 
Ebenfalls Euler verdankt man die merkwürdige Formel: 


(13) E44 + )+ 4444) 5 logrlogy, 


wo&z+y=1?) Es sei: 


d d 
p - (1ogn, 1 fr 108, 


p+q=logrelogy+C. 
Man hat für c+y=!1: 


woraus folgt: 


0 [era fee | 


X 


oc? 


-- +7 +5 +), 





N Exereitatio analytica (1776), Nova Acta Acad. Petrop. VII, 1790 
‘(publ. 1794), p. 69—72. ?, De summatione serierum in hac forma 
contentarum: 


a ar. 


(1779), M&m. Acad. St.-Pet. III, 1809—1810 (publ. 1811), p. 26—42, 


Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 189 


und analog: 
ch 8 
a-—-(F+ tt), 
also: 
Grrtstr )+ +++ )=0-logalogy. 
Für =1 ist: 


y=0, logelogy=0; 
es folgt: 


 E a 
rt # 
woraus (13) sich ergibt. 
Man kann auf analoge Weise die folgenden Beziehungen finden: 


1 1 1 % - Ei _m® Y 
ratar +45) rise, 
w—y=]; 

x rg "2 DEE ERBEN: vos y°? 
hretaat + TH rt) 


+15 +5) =logelog”F — logx logy +” 


ce c? c? 
+-5+5-) 
wo y+&+y=c. 


Auch die Relation: 


2 , } a ; Dee j 
mosno— zsin5osino’+, sindosino®—... 
22 4 96 


2 
a Aal 2 © sın @— 7 e08 4o sın oa + cos 60 sin w —... 


wird von Euler!) auf Grund der Integralrechnung bewiesen. Es 
mögen die beiden Seiten durch S bzw. 7 bezeichnet werden. Setzen 
wir 2sinoa—=b und betrachten wir augenblicklich b, © als vonein- 
ander unabhängig, so ist: 





__ bsino b’sin3o _ b*cos2o b*cos4w RES 
ER PEDTAUBNG Ink BIST, TIIBIUERT i 

ds i j 

I besw— bcos3o+---, 1 — b’ sin 20 + b*sindo—--, 


woraus sich leicht ergibt: 





') De seriebus memorabilibus quibus sinus et cosinus angulorum 
multiplorum exprimere licet (1780), Mem. Acad. St.-Pet. V, 1812 (publ. 
1815), p. 57-72. 

b1* 


790 Abschnitt XXVI. 
45 1 L9p 4 2 
75 (1 + 20° cos20 + b*) =b(1l +?) cos w, 
aT 9 i 4 ..: 
do A + 25° cos2o + b‘) = — b’ sin2o, 
und durch Integration: 


, 1+5b?+2bsino 
8 EL sino’ 





T= 1 1log[(1 ++ 2b sino)(1 +’ 2b sino)], 
also: 


T-S=-log(l +b?— 2b sin o), 


und durch Einsetzung des Wertes von b: 
T=S8. 


Verschiedene Methoden zur Auswertung von unendlichen Reihen 
durch Integration wurden von Landen!) und Fontana?) entwickelt. 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 


1. Verschiedene Transzendenten. 


Bevor wir auf die elliptischen Integrale kommen, deren Behand- 
lung beinahe das ganze Kapitel einnehmen wird, wollen wir uns 
mit einigen anderen Transzendenten von weit geringerer Wichtigkeit 
beschäftigen. 

Nur wenige Worte werden wir einer Schrift Eulers über un- 
stetige Funktionen?) widmen. Euler bezeichnet diejenigen Funktionen 
als „unstetig“, die sich nieht durch einen einzigen analytischen Aus- 
druck darstellen lassen; so ist z. B. eine Polygonallinie das Bild einer 
unstetigen Funktion. Nun fragt sich Euler, ob man solche Funk- 
tionen in der Analysis zulassen darf. Dazu bemerkt er, daß die Inte- 
gration der partiellen Differentialgleichungen willkürliche Funktionen 
einführt, und daß man sich folglich, wenn man alle Lösungen er- 





) A new method of obtaining the sums of certain series, Math. 
Mem. I, p. 67—118. 2) Memoria sopra la somma di alcune serie 
(das mir zur Verfügung stehende, der Universitäts-Bibliothek zu Pavia an- 
gehörende Exemplar trägt weder Druckort noch Datum).  ?°) De usu func- 
tionum discontinuarum in analysi, Novi Comm. Acad. Petrop. XI, 1765 
(publ. 1767), p. 3—27. 


‘ Transzendenten. Elliptische Integrale. 791 


halten will, erlauben muß, als solche nicht nur stetige, sondern auch 
unstetige Funktionen anzunehmen. 

Vandermonde betrachtet in einer schon oben (S. 120) an- 
geführten Schrift!) den später als „Fakultät“ oder „Faktorielle“ be- 
zeichneten Ausdruck: 


p"=p@—-1): (p—n+l1). 
Er findet: 
[ef= ©”, [pP= [p]"[p — m)”, 


1 
0 = 1 Mm DE gerne ” 
[Ir] ’ Ir] [p A m)" ? 


ferner: 


(1) Ip +m+n][p]" 


— 1 + [m]'[0] a]?! + [m]? [OT RP Ip]? + 
und hieraus, da die rechte Seite in bezug auf m und n symmetrisch 
ist: 


ptrmtnf[p "= Ip tm+n] "Ip". 
Die Formel (1) kann als Definition des Ausdruckes: 


pP +m+n]"[pl" 
für nicht ganzzahlige m und » dienen. Eine andere wichtige Formel 
ist: 


n [pl [a] 
2 n ee u: 


_@tr+DME+tRn +9. -Wor+Yda—rn+d:- 
PHNPFD  +YD@+2%:--- 


Die Binomialreihe läßt sich durch die hier eingeführte Bezeich- 
nung schreiben: 


(1 +27 =1+ [rP[O] 2x + [PO] +. 


Man erhält demnach durch Reihenintegration: 








1 


I=»N [er @/Pde=1— „az [PPI0R 


0 


+ v5 [PPIOP + 
— 1 + [PO] [— NYIN]'+ [PP[OJ- I— NPINT+---. 





') M&moire sur les irrationnelles de diff&erens ordres avec une 
application au cercle, Hist. Acad. Paris 1772, P. I, p. 489—498. 


192 Abschnitt XXVL 


Dieselbe Entwicklung ergibt sich aber auch aus der rechten 
Seite von (1), wenn mn m—=—P,n=—N,p=Nodrm=-—.N, 
n=P,p=N darin setzt; es ist also: 


EL IELENT 
oder wegen (2): 


_ _[PFFINT® _(PHN+YP+N+N -- 1.2... 
[P+N]T [7°  FPrDP+2. NHDN+N-; 








Ist insbesondere v=2, N = in ‚P=-— n ‚so folgt: 


also: 


en a a RE: - en 
TEE +33 2.4.5 Ba 1 9 a 3 PEN 


Eine andere merkwürdige Transzendente ist der „Hyperlogarith- 





mus“, wie Mascheroni!) das Integral 1 en nennt. Diese Funktion 


entwickelt er für jeden Wert von x in eine konvergente Reihe, und 
zeigt, wie man mit Hilfe derselben andere Integrale berechnen kann; 
es ist z. B.: 


dx 
Nios log xdx = x loglogx — re 
Er versucht auch, x durch he = u auszudrücken; dazu setzt er: 


z=K+4Au+BwW+---, 


und bestimmt die Koeffizienten mit Hilfe der Relation: 


d’z dx 
Tu Au 
Mascheroni betrachtet auch das Integral AR ae ale 


log log x’ 
„hypersecundus Logarithmus“ bezeichnet wird. 
Adrien Marie Legendre?) verdankt man die Einführung in 


die Analysis der heutzutage „Kugelfunktionen“ genannten Polynome: 





ı) Adnotationes ad Calculum integralem Euleri etc. ?) Re- 
 cherches sur l’attraction des sph6roides homog£nes, M&m. pres. par 
divers savants X, 1785, p. 411—434. — Recherches sur la figure des pla- 
netes, Hist. Acad. Paris 1784 (publ. 1787), p. 370—389. — Suite des recherches 
sur la figure des plan&tes, Hist. Acad. Paris 1789 (publ. 1793), p. 372 
bis 454. 








Transzendenten. Elliptische Integrale. 193 


-1, 
X=%, 
X, ge = (e* — 3): 














1.8.5." — 1) /,  ne-l)- 
At FETTE (a TI -N : 
. nn In —- 2n—3) „- 
t gaaR_ Manz? Admin 
die aus der Reihenentwicklung: 
1 
a, x WER... 
Vi1— 2x2 + 2°? a 
entstehen. Über diese Polynome beweist er die folgenden Sätze!): 
a) X, l)=1; 
b) IX,Q@)I<1 für jel<l; 


c) die Wurzeln der Gleichung X,(z2)=0 sind sämtlich reell, 
kleiner als 1 und voneinander verschieden; 


1 


d) farx,de - nn —1)---n—r-+2) 
0 





tr Hat N. nr +3) 








insbesondere: 
1 
Se"X,,de=0 für n<r; 
0 
1 
e) SX.x,de =(0 für m+#n; 
1 
1 
f) fi Kr 
” 2n-+1’ 
Re 
L 
Xy,da 2 (— I)” 
g) fi ; Int3 Bntı Int+i 
(1+kad) (d+M ? 


—1i1 


Die erste Schrift von Legendre wurde der Pariser Akademie 
im Jahre 1784 vorgelesen, und bot Laplace?) Gelegenheit dar, die 





') Einige von diesen Sätzen wurden von Legendre zuerst für gerade, 
später aber für beliebige Indizes aufgestellt. ®) Theorie des attractions 
des spheroides et de la figure des planötes, Hist. Acad. Paris 1782 


794 Abschnitt XXVI. 


Theorie der Kugelfunktionen zu fördern und zu erweitern. Er führte 
die von zwei Paaren von Veränderlichen 9, ®, #, ® abhängigen 
Kugelfunktionen Y,, ein, stellte die Differentialgleichung auf, welcher 
dieselben genügen, nämlich: 








Ö OX RER a0 # 
2la-9 52 |+ a7 +Ra+ Dr, =0, 
wo u=c0s®; ferner entwickelte er Y, nach den Kosinussen der 
Vielfachen von &© — ®’, und gab die Integralrelation: 


I 27 
S[SUr.dudo=0 für m+n. 
-1 0 


Die Untersuchungen von Laplace wurden von Legendre in 
der zuletzt angeführten Abhandlung wieder aufgenommen und ver- 
vollständigt. 


2. Elliptische Integrale.') 


Die Theorie der elliptischen Integrale, deren Geburt wir in der 
vorhergehenden Periode beigewohnt haben, nahm in der gegenwär- 
tigen einen unerwarteten Aufschwung infolge einer von Euler in 
einer im Jahre 1754 herausgegebenen anonymen Schrift?) aufgewor- 
fenen Frage. Es war eben diese Frage, die@. B. Fagnano dazu auf- 
munterte, die Untersuchungen seines Vaters wieder aufzunehmen, und 
dessen Prioritätsrechte zu behaupten, während für Euler selbst seine 
eigene Frage der Ausgangspunkt einer Reihe von wichtigen Ar- 
beiten war. 

Um uns inmitten der großen Menge von uns vorliegenden 
Schriften zu orientieren, werden wir versuchen, dieselben um zwei 
Grundfragen zu gruppieren, nämlich: 


A. Beziehungen zwischen Bögen eines und desselben Kegel- 
schnittes (Eulersche Differentialgleichung, Additionssätze); 


(publ. 1785); Oeuvres X, Paris 1894, p. 341—419. Daß die Priorität der Er- 
findung der Kugelfunktionen Legendre zukommt, ist ganz unzweifelhaft; siehe 
Heine, Handbuch der Kugelfunctionen, II. Aufl., Berlin 1878, Einleitung 
zum ersten Bande. 

!) Über die Geschichte der elliptischen Integrale führen wir zwei wertvolle 
Werke an: Enneper, Elliptische Functionen. Theorie und Geschichte, 
II. Aufl., Halle 1890; Bellacchi, Introduzione storica alla teoria delle 
funzioni ellittiche, Firenze 1894. ?) Daß diese Schrift von Euler herrührt, 
ergibt sich aus Nova Acta Erud. 1770, p. 433 und aus Novi Comm. Acad. Petrop. 
VI, 1758—1759 (publ. 1761), p. 128. 











Transzendenten. Elliptische Integrale. 719 


B. Beziehungen zwischen Bögen verschiedener Kegelschnitte 
(Transformation, Normalformen). 

Einige wenige Schriften, die zu keiner dieser Fragen in Be- 
ziehung stehen, werden wir behandeln unter dem Titel: 


C. Vermischte Fragen. 


A. Beziehungen zwischen Bögen eines und desselben 
Kegelschnittes. 


Im Jahre 1754 erschien in den Nova Acta Eruditorum (p. 40) als 
Aufforderung, einen Satz zu beweisen und ein Problem aufzulösen, die 
soeben erwähnte anonyme Schrift Eulers. 

Der Satz war: Ist (Fig. 82) O der Mittelpunkt, A’A die größere 
Achse einer Ellipse und 


sind PP, @'Q zwei konju- > 2 

gierte Durchmesser dersel- 

ben, V’, V die Projektionen ‚ Q 
von @ Q auf PP, ver- 

längert man P’P bis R, y oO 





so dß OR= 0A, und 
schneidet die zu A’A senk- 
rechte Gerade RT die a 








S' 
Ellipse in $, so ist: 
Bogen W’ PS — Bogen QAS A 
ig. 82. 
=-2:0V=V’YV. 


Das Problem war: Auf einem Ellipsenquadranten einen Bogen 
algebraisch zu bestimmen, dessen Länge die Hälfte der Länge des 
Quadranten sein möge. 

Unzweifelhaft hatte der Versuch, die Untersuchungen von Giulio 
Fagnano zu verallgemeinern, Euler zu solchen Betrachtungen ge- 
führt. Die Ergebnisse seiner Forschungen in diesem Bereiche ent- 
wickelte Euler in einer Reihe von Abhandlungen, über welche wir 
zunächst zu berichten haben. 

In seinen berühmten Untersuchungen über die Rektifikation der 
Kegelschnitte war @. Fagnano besonderen Differentialgleichungen von 


der Form: 
F(x)d« £ F(y)dy = 0 


wiederholt begegnet (diese Vorl., III, S. 487), welche sich integrieren 
lassen, während jedes Glied für sich selbst nicht integrierbar ist. 
Nun setzt sich Euler’) das allgemeine Problem vor, Differential- 





') Specimen novae methodi curvarum quadraturas et rectifica- 


796 Abschnitt XXVI. 


gleichungen von solcher Beschaffenheit direkt aufzufinden. Dazu geht 
er von einer zweckmäßig gewählten Beziehung zwischen z und y 
aus, welche das Integral der zu bildenden Differentialgleichung dar- 
stellen soll. 

a) Es sei erstens: 
(3) e+r(®+y) +2dey—=0. 


Setzt man: 


ver X, VE=Py ar - Y,) 


so erhält man aus (3): 








PRRREP Sum, VrKrid 
709 Y 





’ 


oder: 
(4) X=yy+6dn Y=yr+dy; 
es ergibt sich andererseits durch Differentiation von (B): 


Vet+sNda+lyy+Isr)dy=d, 

also wegen (4): 
dx , dy 
(8) zz 

Um diese Gleichung auf eine bessere Form zu bringen, setzen 
wir: 
a Re 
es folgt: | 


e=—p, G=VA(A+ON), X-YVAR(A+CH), 
Y=YAR(A+ 09), 











und wir erhalten aus (3), (5), wenn wir YA, VA+ Oy? mit nega- 
tirem Vorzeichen annehmen: 


(By? — AM+ Ala?+y) —2ayVAA+OD)—=0, 








tiones aliasque quantitates transcendentes inter se comparandi, 
Novi Comm. Acad. Petrop. VII, 1758—1759 (publ. 1761), p. 88—127. — Specimen 
alterum methodi novae quantitates transcendentes inter se compa- 
randi. De comparatione arcuum ellipsis, ebenda, p. 3—48. — Demon- 
stratio theorematis et solutio problematis in Actis Eruditorum 
Lipsiensibus propositorum, ebenda, p. 128—162.— Institutiones calculi 
integralis, Bd. I, Art. 580 ff., Bd. III, p. 597, Supplementum: Evolutio casuum 
prorsus singularium eirca integrationem aequationum differentialium. 

!) Das Vorzeichen der hier und in der Folge auftretenden Wurzelgrößen 
muß in jedem besonderen Falle gehörig bestimmt werden. 





NE va 





Transzendenten. Elliptische Integrale. 7197 





7) dx % dy ; 
( vA+Czı? YyA+Cy 


Da k in (6), nicht aber in (7) vorkommt, so stellt es die will- 
kürliche Integrationskonstante dar, und (6) ist das vollständige Inte- 
gral von (7). 

Man kann solche Funktionen f(x) finden, daß unter der Voraus- 
setzung, daß zwischen x und y die Relation (7) besteht, die Gleichung: 


faaz __fdy _ 
VA+Os Yazoy 
gilt, wo V eine algebraische Funktion von x, y bezeichnet. Es muß 
dann: 





f(@)dz fy)ay 
VA+ Ca? yA-+ Cy? oo 
nur eine veränderte Form der Integralgleichung (6) von (7) sein. Ist 
z.B. f(x) = x, so ergibt sich: 


V= key + const. 


b) Es sei: & 
e+2Bla ty) t+rl@+y) +2day—0; 
man erhält hieraus: 
(®) 08-0 


wo: 





X=V(B’— ep) +2B(8 — ya + (0° — Par, 
Y=V(ß’—ay) +28 — y)y + (9 Pyr. 





ce) Ist: 
e+m®+ny+2day—=0, 


so erhält man wieder Gl. (8), wo: 








X=V(®— mn)e—an, Y= V (6° — mn)y? — am; 


ferner: 

d d > 
(9) re NE zn —-dV, 
wo: 


V=--—ıay für f(a)= ma, Y(y) = ny; 
V=-ayla+day) für fa) — mat, ply) = ntye. 


Hieraus folgt allgemein: 


798 Abschnitt XXVI. 


a-+ bmx? + cm?«* a+bny?’+ en?y* 
.& X dx ns Y d 


—= y|—b+ca+ cöxy] + const. 








Für m=n hat man: 


er «“ q de ee + cm? y* 


= ay(—b+ca+cödxy) + const., 








unter den Voraussetzungen: 


—. V(®?—- m)e®—am, Y=Y(d?— m?)y? —am, 
e+m(@®+y) +2day=0. 








d) Ist: 
a+ ra? +y?) + 2day + Ey 0 


so folgt wieder (8), wo: 
X=- VER (a+yd)(y+L), Y-VRYP— (a+YyY)(y+EP)- 
Es gilt ferner Gl. (9) für: 
fia)= a, oy)=y’, Ar 








und für: 
fa), pw), V=-;,l20- rla+ 9?) + day). 


Hieraus ergibt sich: 


nn a en 


Er _ +, ne -[2« Ru y(22+ y?) + day] + ceonst. 








Von den vier behandelten Fällen gehört nur der letzte unserer 
Frage eigentlich an; die in den drei übrigen Fällen auftretenden Inte- 
grale lassen sich durch elementare Funktionen ausdrücken. | 

Die ermittelten Resultate lassen wichtige geometrische Anwen- | 


dungen zu. 
Die Rektifikation des Kreises wird durch die Formel: 








= arc sinz 





dz 
Vi — 
0 
geliefert. Bezeichnen wir dieses Integral mit /7z, und wollen wir 
dasselbe mit dem unter ce) vorkommenden: 








Transzendenten. Elliptische Integrale. 799 


a + bmz?-+ cm?z* 
(10) V (6? — m?)z? — «m u. 


identifizieren, so müssen wir setzen: 








b=c=-0, a=km «= — Km, d=—-my1l—K, 
wo k eine willkürliche Konstante bezeichnet; dann ist die Relation: 


(11) I1x — IIy = const. 
mit der anderen: 


(12) PB a2— y+22yVl-R=0 


gleichbedeutend. Zur Bestimmung der willkürlichen Konstante in (11) 
erwäge man, daß aus y=0 wegen (12) 2 = % folgt; es nimmt daher 
(11) die präzisere Form an: 


IIx — IIy= Ilk, 
während sich aus (12) ergibt: 
z=yyl-kR+Rkyl<y, 
y=xYy1l-M-— kY1-— a, 
k=zVl1-y-yVYi-a. 


z=sinE y-sinn k=8iny, 


Setzt man: 


so lassen sich die obigen Formeln folgendermaßen schreiben: 
Ss n=97 
sin& = sinn cosy + siny cosn, 
sinn = sin & cosy — siny cos, 


sin y = sin & cosn — sinn cos$, 
oder kürzer: 


sin (u & v) = sin u cosv E sinv cos u, 


eine Formel, welche den Additions- und Subtraktionssatz der 
Sinusfunktion darstellt. 


Betrachten wir nunmehr die Parabel: 


2’, 


EREE 
Fr 


wo 2, u kartesische Koordinaten bezeichnen; dann ist: 


800 Abschnitt XXVI, 








au 2 Sy tz 
s +: dz ES 
0 0 


Um dieses Integral, welches ebenfalls mit //z bezeichnet werden 
möge, mit (10) zu identifizieren, setzen wir: 


a=|1, b=—h, c=Vd—; “=hk, er Zee m-—{; 


es ist dann, nachdem die willkürliche Konstante wie oben bestimmt 


worden ist: 
IIx — IIy= IIk + kay, 


unter der Voraussetzung: 


RB 2-2 +2YV1+MRay-=0, 
oder: 


z=yYi+M+kyi+y, 
N u El are 
k=zyVl+yV—-yyYil+a. 


Bezeiehnen wir mit o den Scheitel der Parabel, ferner allgemein 
mit 3 den Kurvenpunkt, dessen Abszisse 2 ist; es folgt dann: 


IIz=2}, 
also: 
(13) yr=ol+kay, 
wenn: 


zyli+y—-yYl+ro=k. 


Sind p,q zwei andere Punkte, deren Abszissen zu k in derselben 
Beziehung stehen als x, y, so folgt: 


oqp=pT + kpg, 
also: 


ap — ye—kipg — 89): 
Diese Formeln liefern die Auflösung einiger geometrischer Pro- 
bleme. 
1. Sind zwei Kurvenpunkte r, f gegeben, so soll man einen 
dritten Punkt $ derart bestimmen, daß sich 8 — of durch die Ab- 
szissen r, % algebraisch ausdrücken läßt. — Setzen wir in (13) », s 


statt y, x, so ist: 
ww —of=hrs, 


s=-kyYl+r+ryi+R®. 








Transzendenten. Elliptische Integrale. 801 


Diese selben Formeln dienen dazu, f aufzufinden, wenn r und 8 
gegeben sind; die letzte Gleichung kann in dieser Hinsicht die 
Form: 


k=sVl+r—ryi+3 


erhalten. Diese Beziehung läßt sich auch schreiben: 


s+VYl+s8=-(k+V1+R)(r+Vi+r). 


2. Sind drei Punkte r, h, f gegeben, so soll man einen vierten 
Punkt 3 derart finden, daß sich r8— hf durch r», h, k algebraisch 
ausdrücken läßt. — Man bestimme zunächst einen solchen Punkt [, 


daß: 
be —ol=hkl=hk|kyl1 +M®—hyi+R2] 


ist; dann wird der gesuchte Punkt 5 durch die Beziehung: 


s=rVil+P+1y1i+r 


bestimmt, und es ist: 
rw —ol=Irs, 
folglich: 
18 —hi=I(rs — hR). 


3. Sind drei Punkte r, h, £ gegeben, und ist n eine ganze posi- 
tive Zahl, so soll man einen Punkt &, derart bestimmen, daß: 


v8, — nhf 


algebraisch angebbar ist. — Ist z. B.n = 2, so bestimme man 8, der- 
art, daß es zu 3, b, f in derselben Beziehung stehe, in welcher 3 im 
vorhergehenden Probleme zu r, h, £ steht; dann ist: 


8%, —hi=1(ss,— hk), 
= sVl+R+1yi+s, 
1, — 2hE = (rs + 58, — 2hk), 


wo: 


und folglich: 


Die Bogenlänge der Ellipse: 


2? u? 
Arm“! 
ist: 
ns Ans 
- (Viza- —g—de= Ja, 
0) 0 
wo: 





= an, Z=YV(4°— 2°) (A?— n2?). 


802 Abschnitt XXVI. 


Um I/z mit dem unter d) vorkommenden Integral: 


f a+bz?-+cz* ;; 
v92— (e+y2)y+ 329) 


in Übereinstimmung zu bringen, setzen wir: 








a= 4A, b=-—n ce=0, —uy= AM, 
PH air Run 
ferner, wenn <=k für y=( sein muß: 


e+yk®=0; 





es folgt dann, wenn Y(A?— 12) (A?— nk?) = K ist: 


A? K nk 
«= kA?, ci > ie 36, an 
also: 
Nz— INy— Ik"), 
und: 


A? — 2? —y) +nk?a?y + 2A’ Kay=O, 


woraus folgt: 


TC = 











A’Ky+kY) A’Kxz—kX) i A’(Ye— yX) 
At—nköy? ’ Ye A!—mk’x: ?’ k= A'—naty® i 


Sind also die‘ Kurvenpunkte r, T gegeben, und ist a einer der 
Punkte, für welche z= 0, so läßt sich ein Punkt 3 derart finden, 
daß v5 — af algebraisch angebbar ist; man hat nämlich: 





(14) 1 af-Is—- Ir Ik —r, 
_4A’Kr+ Rh 
(15) ee Lpae7y 77 


Ist insbesondere r — A, und bezeichnet man mit b den ent- 
sprechenden Kurvenpunkt (Fig. 83), so folgt R=(0, und: 


A: "AH 
(16) s- AV 


ferner: 
at—bs = ya: u. 


— nk? ’ 


eine Gleichung, die mit einer von G. Fagnano gegebenen (diese Vorl., 
IIP, S. 490) übereinstimmt. 


Man findet leicht, daß die rechte Seite der letzten Gleichung die 
Länge der zwischen dem Berührungspunkte f und der Projektion p 





Transzendenten. Elliptische Integrale. 803 


des Mittelpunktes liegenden Strecke der Tangente in f angibt. Ist 
ferner t der Schnittpunkt der Achse oa mit dieser Tangente, und 
nimmt man auf derselben 
tv = A, so ist der gesuchte 
Punkt $ der Schnittpunkt 
der Ellipse mit der durch 
v gehenden Parallele zu oa. 
Derselbe Wert für s ergibt 
sich offenbar, wenn man 
den zu of konjugierten IN r 
Durchmesser oh bis [ derart 


verlängert, daß ol=A ist, 2 u 
und [ auf ob projiziert; die 6 
zu den beiden Schnitt- 7 
5 
l 


rn 


S 





punkten $, & der projizie- 
renden Geraden mit der | 5 
Ellipse gemeinschaftliche 
Abszisse hat die durch (16) Fig. 83, 
gegebene Größe. Man kann 

also schreiben: 








a bi=af—bi=pf, 
oder: 
ab—ti=pf; 
ferner, wenn j die Projektion von f auf oh ist: 


ab —fs’= pi. 


Hieraus ergibt sich unmittelbar der Beweis des 1754 vor- 
geschlagenen Satzes. Man hat nämlich (siehe oben Fig. 82): 


BA—- QAS=0OV, 
BA-OPS HOF, 


und analog: 


woraus folgt: 


QPS-QAS=-VTV. 


Setzt man in (14), (15) r—=%, und bezeichnet man mit 9 den 
daraus entstehenden Wert von s, so folgt: 


k? 
an ee, 
er 24°’kK 
A'!—_ nk! 


Aus (14), (17) ergibt sich: 
2(at — 18) — (at 19) =" (2rs — kg), 


CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 52 


804 Abschnitt XXVI. 


oder: | 
ag — 215 — ” (2rs— kg). 


Soll rs = ag sein, so muß zwischen r, s, k, g die Beziehung: 
2rs=kg 


stattfinden, welche zusammen mit (15) und dem soeben angegebenen 
Ausdrucke von g die Werte von r,s,k als Funktionen von g ergibt. 
Es ist daher möglich, einen. Bogen algebraisch zu bestimmen, dessen 
Länge die Hälfte der Länge eines gegebenen Bogens ist, ein Problem, 
welches das 1754 vorgeschlagene als besonderen Fall einschließt. 

Auf die Integration der nach ihm benannten Gleichung ist Euler 
noch wiederholt gekommen.') 


In einer 1768 erschienenen Schrift?) zeigt Euler, wie man die 
Differentialgleichung: 

d& rn dy 
VA+Bxz+02:+Dxa’+Ext yA+By+Cy’+Dy’+ Ey‘ 
direkt integrieren kann. Man muß zunächst die ungeraden Potenzen 

von &, y abschaffen, wonach die Gleichung die Form: 








I 
VA+Cz?+Dx‘ yA+Cy?+ Dy* 
annimmt. Setzt man hier zuerst: 


<= YVpq, y-V#, 


Ge u V®—1, 








dann: 


endlich: 


1 Ä ——r 
u= jap“ C(A + Dp®) + (A+ Dp?)sV4AD — Q], 
so erhält man die durch elementare Funktionen integrierbare Glei- 


chung: 





ı) Ein besonderer Fall dieser Gleichung wird integriert in der Schrift: 
Problöme: Un corps 6&tant attire en raison r&ciproque quarree des 
distances vers deux points fixes donn&s, trouver les cas oü la courbe 
d&crite par ce corps sera algebrique. Resolu par M. Euler, Mem. Acad. 
Berlin 1760 (publ. 1767), p. 228— 249. 2?) Integratio aequationis 


dx ae dy 
VA+Ba+0Ca+Da’+ Ex YVA+By+OyY+DyP+EY 


Novi Comm. Acad. Petrop. XII, 1766—1767 (publ.-1768), p. 3—16. 














. ‚erfüllen. 


J 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 805 


Ei 200 7 nella ZA 
Vı+s Tan A— Dy? 

Die oben angegebene Methode zur Bildung von algebraisch inte- 
grierbaren Differentialgleichungen von der Form (5) oder (8) wurde 
später von Euler verallgemeinert‘)., Er geht von der Integral- 
gleichung: 


18) a +2Bla+y)+yYlat+y?)+2day+ 2eayla+y) + Rp = 0 


aus, und findet eine Differentialgleichung von der gewünschten Form. 
Da ferner diese 4 Konstanten, (18) aber 5 enthält, so ist (18) das voll- 
ständige Integral. — Interessant sind die Betrachtungen Eulers über 
die Möglichkeit weiterer Verallgemeinerungen. Wäre es möglich, die 
Gleichung (8), wo X? ein beliebiges Polynom der sechsten Ord- 


nung bezeichnen möge, algebraisch zu integrieren, so wäre ins- 
besondere: 


(19) ds _ dy 


wo P ein beliebiges Polynom der dritten Ordnung ist, algebraisch 
integrierbar, was nicht immer stattfindet. Ist X? vom fünften Grade, 
so geht die Gleichung durch die Substitution: 


z=W+o, y-ÜV+o, 
wo « eine passend gewählte Konstante ist?), in: 


du dv 
SER 


über, wo U? ein Polynom vom vierten Grade in u? darstellt; wäre 
aber diese Gleichung stets algebraisch integrierbar, so würde dasselbe 
von (19) folgen, wenn P ein Polynom vom zweiten Grade in x? 
wäre, was nicht immer wahr ist. Also ist (8) nicht im allgemeinen 
algebraisch integrierbar, wenn die Ordnung von X? vier übertrifft. 

Die algebraische Integration ist auch im allgemeinen unmöglich, 
wenn X eine Wurzelgröße darstellt, deren Index > 2 ist. 


") Evolutio generalior formularum comparationi curvarum inser- 
vientium, Novi Comm. Acad. Petrop. XII, 1766—1767 (publ. 1768), p. 42—86. 
®) Euler sagt einfach, daß man x*, y? statt x, y setzen muß. — Ist: 


X—=A+Bx+02?+Dae’+ Ex! + Fa, 
so muß die Konstante « die Bedingung: 
A+Ba+(Ce®+Da’+ Eat + Fe—0 


62* 


806 Abschnitt XXVI. 


In seiner Integralrechnung!) kommt Euler auf den wichtigen 
Gegenstand wieder zurück. Er bemerkt, daß die von ihm behandelten Glei- 
chungen dazu geeignet sind, die Vorzüge der Methode des integrierenden 
Faktors gegenüber derjenigen von der Trennung der Veränderlichen 
aufs beste zu zeigen; es ist nämlich leicht ersichtlich, daß das 
Eulersche Integrationsverfahren wesentlich in der Auffindung eines 
Multiplikators besteht. Es ist aber im allgemeinen nichts weniger 
als leicht, zu einer gegebenen Gleichung (5) einen passenden Multi- 
plikator M zu finden. Man kann sich umgekehrt fragen, welche 
Gleichungen durch einen Multiplikator von gegebener Form integriert 
werden können. — Es sei z. B.: 

DR 
MR rN® 
wo X, Y zwei gleichartige Funktionen von & bzw. y bezeichnen 
mögen; dann muß: 











Ydxz-+ Xdy 
e+Pe-+rW° 
ein vollständiges Differential sein. Integriert man nach x, so findet 
man: 
— Y 
SE FatBatrn Wi 


integriert man dagegen nach y, so ergibt sich: 


x 
(21) Ye FBe try) 


Durch Gleichsetzung der beiden Ausdrücke erhält man: 
BX—-yY=PBrle+ße+tyy)ld@)- IW)]. 


Da, wegen der Form der linken Seite, alle x und y zugleich ent- 
haltenden Glieder rechts verschwinden müssen, so ist notwendig: 


+4(8). 





A(z) = mßx + const, I'(y) = myy + const., 
wo m eine konstante Größe bezeichnet, folglich: 
X=y[mPp?x? +ß(mae+n)c+p], 
Y-PBlmyy+ymae—n)y+d) 
wo N, ?, q konstante Größen sind, zwischen welchen die Beziehung: 
PISTEN ; 
besteht. Durch Einsetzung dieser Ausdrücke in (20) oder in (21) 





!) An den $. 796 angeführten Orten. 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 807 


ergibt sich als Integral der betrachteten Gleichung, nach leichten Um- 
formungen: 


mBray — 5 (Br yy) -f=gle+Br+rYy) 


wo f=p- = =g+ - ‚ und g eine willkürliche Konstante ist. 


Geht man von komplizierteren Formen von M aus, so erhält 
man die schon oben behandelten elliptischen Differentialgleichungen. 
Die Arbeiten Eulers über die Differentialgleichung: 
Er 
erregten die Aufmerksamkeit Lagranges.') Ihm schien sonderbar 
genug, daß eine Differentialgleichung mit separierten Veränderlichen, 
deren Glieder einzeln nicht algebraisch integrierbar sind, sich nichts- 
destoweniger algebraisch integrieren ließe; und er wollte die Sache 
näher betrachten. Ebenso wie Euler ging er vom einfachsten 
Falle aus: 
dx dy 


22 ie 
( ) Yı—-aı: V-y 


Das Integral dieser Gleichung ist: 





arcsinz = aresin y + const. = arcsin y + arcsın a; 


es läßt sich aber auch auf algebraische Form bringen, denn es folgt, 
wegen bekannter trigonometrischer Sätze: 


(23) a=zyl—- yP?—yyi- a. 

Es wäre jedoch wünschenswert, zu diesem Integrale auf algebraischem 
Wege direkt zu gelangen. Das läßt sich folgendermaßen erreichen. 
Man schreibe die Differentialgleichung so: 

Vvi-ydr=Y1-a?dy, 


und wende auf beide Seiten die partielle Integration an; man erhält 
die Gleichung: 


zyl— y+ el + m + const,, 


welche sich wegen (22) auf (23) reduziert. 





%) Sur l’int6gration de quelques equations differentielles dont 
les ind&ötermindes sont s6epardes, mais dont chaque membre en par- 
ticulier n’est point integrable, Misc. Taur. IV, 1766—1769, p. 98—125; 
ÖOeuvres II, Paris 1868, p. 5—33. 


808 Abschnitt XXVL 


Ist die Differentialgleichung: 
d& dy 


Vetßstra+ödarten YVarßytry’+oy’+eyt 


gegeben, so verifiziert man leicht durch Differentiation, daß ihr 
Integral die Form: 














A+B(z+y)+0(a@ +) + Day + E(#y + 2%) + Fey = 0 


hat; die Koeffizienten lassen sich durch «, ß, y, 6, & ausdrücken mit 
Ausschluß eines einzigen, der als Integrationskonstante gilt, so daß 
die letzte Gleichung das vollständige Integral der gegebenen Diffe- 
rentialgleichung bildet. Diese Integration ist aber, wie Lagrange 
sich ausspricht, nur zufällig; er versucht daher, eine direkte Inte- 
grationsmethode für derartige Gleichungen zu finden. Seine Methode 
ist auf folgendes Prinzip gegründet. 

Liegt eine nicht integrierbare Differentialgleichung erster Ord- 
nung vor, so differentiiere man sie, und sehe zu, ob es möglich 
ist, aus der gegebenen und der durch Differentiation aus dieser er- 
haltenen Gleichung eine neue Differentialgleichung erster Ordnung 
durch Kombination und Integration abzuleiten; dann liefert die Eli- 


mination von — aus den beiden Differentialgleichungen erster Ord- 


nung das gesuchte Integral. Ist das nicht möglich, so kann man 
zweimal differentiieren usw. | 

Sehen wir zu, unter welchen Bedingungen die Methode auf die 
Gleichung: | 


ER 

ea 
anwendbar ist, wo X, Y zwei gleichartige Funktionen von x bzw. y 
bezeichnen. Schreiben wir: 


ye"yrnT 


wo t eine Hilfsveränderliche, 7’ eine Funktion von t ist. Es folgt: 


(24) dx LE) _ dt 


dx\?2 dy\2 
nm)-% 7) -% 
und hieraus durch Differentiation: 


05 2 TATdx +2 72x dX 2TdTdy+2T:dy dY 
(25) de Ber de? ay' 








Setzen wir nunmehr: 


2+y=p, 2—y=q, dT= Map + Ndg; 





Transzendenten. Elliptische Integrale. 809 


es folgt dann, wegen (24), (25): 




















sT ort KX— Y)dt® 
YM=-7' ei Fr dpdq = T? ’ 
2 Tap(Mdp+ Ndg+2T’dp _dX , aY 
di? ag! 
und hieraus: 
a T(Mdpt + Tatp) _AX _ dY_2NK-N. 
dt? u ee E 
Betrachtet man p als konstant, so ist: 
dX ,90X dY__90X 
da og’ dy eq’ 
also: 
AT’ 3 R 
ıT(,, dp’ + Ta ») 22%) ax-naı 
dt? vr öq 7 0q’ 
oder: 
R dp]? 
Zu Zar (&) 
op Er öq a 5 


Um 2 hieraus abzuleiten, muß man diese Gleichung derart um- 
formen, daß sie nur p und g enthalten möge; das aber scheint mır, 
sagt Lagrange, nur dann möglich, wenn: 


a) T=PQ ist, wo P eine Funktion von p, @ eine Funktion 
von g bezeichnet, so daß die letzte Gleichung die Form: 





| [perl 
(26) al u G 2 $ 
erhält; 


b) die rechte Seite von (26) eine Funktion 2p(p) von p Ist. 
Es folgt dann: 
as 


em) = 900) [Qda+ vo). 
d 


2 
(Pr) -2 Je War +6; 
da aber: 


dr A 1 


m ——— ———— 





dp _de day_ VA+YF _VX+VY 
Sen sauren 


ist, so erhält man schließlich das gesuchte Integral: 


(28) VX+VY=QV2/p(o)dp + C. 


Wie müssen X und Y beschaffen sein, damit (27) bestehen 
kann? 





810 Abschnitt XXVI. 
Setzen wir: 
X=a+ße+ty®+datet+tod+t::., 
ne 


es folgt hieraus: 


2 Y-al(p+ pp + 02h Pte 





An aa % ] 
- alle + w+ Er + + p+--) 
+ (++ Se + )+el&+)+ 


Es muß also wegen (27) zunächst Q=g sein, ferner: 


Brm+ gr ++ pt. = u), 
+ir+p+ a - pp), 
a le Ei u, 
folglich: : 
= =, vW)=B+Pp + +5P, 9W)=L+en, 


und (28) reduziert sich auf: 
VX+VY=gVC+öp+ ep, 


oder: 


VX+VY=(e-y)VC+slKC+Y)+eEea-ty)%, 








wo: 
X=a+ße+ya®+0da?+ sat, Y=a+ßy-+yy+oöy + ey. 


Man kann auch versuchen, für X und Y nicht notwendig gleich- 
artige Funktionen anzunehmen. Setzt man: 


i=-d22)=Blp+g, F=- FAy)=-W(p-—g), 
so folgt aus (27): 


op+)- #w- = Q|ylo)fQdg +vW)]. 


Differentiiert man zweimal nach p oder nach 9, so kommt: 











Transzendenten. Elliptische Integrale. 811 


’(p+d- (p—g) = Q|P” (») fQda + W” (o|, 
2 +)- "0 -9W)45(o ad) +vw) TE 


also: 


ale’ (0,f 9dg + v0 =) 45 (9 Qda) + um GE: 


Da diese Gleichung identisch bestehen soll, so kann man zunächst 
setzen: 





Qu (0) - TE), 


also: 


d?Q 
dg? = — m’ Q, 





wo m eine Konstante bezeichnet, und folglich: 
Q=Asin(mq +«), 
v(p) = — m’v (p), 

v(p) = Bsin (mp +P). 


af aaa 7m) - 0) 4, (af 0x4) 


y(@)=— 4m’p(p), 


und hieraus durch Integration: 


9 (p) = Csin2 (mp + y). 


Durch Einsetzung der erhaltenen Ausdrücke ergibt sich, wenn 
man: 


ferner: 


woraus sich ergibt: 


Aus: 


folgt dann: 


20 AB 


4m er a Digg 





macht: 
B (22) - PA2y)=dlkp+N- F(ir—g 
= — 2csin2(mp + y)sin2(mq + «) 
— 2b sin (mp + ß) sin (mq + «) 
— c[eos2 (2m& +y+ a) — c0os2(2my+y— «)] 
+ bl[eos(2m& + ß + «) — cos (2my+ß— «)], 
und folglich, wenn a eine weitere Konstante bezeichnet: 
X=P(22)=a+beos(2me +ß+a)+ccos22 mx +y+e), 
Y= #l2y)=a+bceos (2my+B-— ae) +cc0os2(2my+y— «), 


812 Abschnitt XXVI. 


welche nach Lagrange die allgemeinsten durch seine Methode zu 
erhaltenden Ausdrücke zu sein scheinen. Das Integral ist nach (28): 





V®(22)+YyP(2y) = Asin(mqg + e) V#- & cos (2mp + y), 
wo H die willkürliche Konstante ist. Setzt man: 


cos2mz +isin2mxz=u, cos2my-+isin2my=v, 
cos(B+@)=A, cos(P—e)=E, 
cs2y+te)=B cs2y—eo)=F, 
so folgt: 


U Vv 


au. 2 


wo: 
U=c(B- yR-1)+b(A-— VA?— 1)u + 2au? 
+d(A+ VAR 1)wW+c(B+YB?— 1)ut, 
V=c(F-yYRF-1)+b(E-YVE-—-1) 
+2a” +b(E+VE—- 1)” +e(F+ YF—-1)v%, 
und die Differentialgleichung nimmt die Form: 


du dv 


vo vv 
an, welche etwas allgemeiner ist als die frühere, insofern als in der- 
selben nicht 5, sondern 6 Konstanten vorkommen'). 
Zwei weitere Integrationsmethoden wurden von Lagrange in 
seiner Theorie des fonctions analytiques entwickelt. 
Man setze wie oben: | 


p+4 2-4 
m > ’ Yy ee DD) ’ 
ferner: 
ae a9. 
EN 
wo: 


X=a+ße+y® toten, Y=e+tßy+trYP Hof t en; 


dann ist: 





1) Die Konstanten sind zwar 7, nämlich A, B,E, F,a,b, ce; aber es findet 
zwischen ihnen eine Relation statt. Es ist nämlich: 








cs«—=AE-+Y1— A’yı— E}, 0082 — BF+yi—_Biyi— F,, 
folglich: 
It BF+ Vi Z-Byfi-PR=2[l4E+ yi-Lyi ER)”. 














Transzendenten. Elliptische Integrale. 813 





dp 7 7 7 d? 7 [2 „ 
Zer-ı FH Er =% +, 
2 d?’q 7 „ [Z 
==. -y, TH pas at Be 

2" = X = (B +2yr +30d0° + 4ea?)r, 


2yy = Y=-(B+2yy+3dy + 4ey)y, 


und hieraus: 


p -B+ym+” °p +M)+z(e + 3pq°), 


„ 30 
d‘=-y4+zrI+5BPd+P), 
pq - 1’ Y'- a. g € 
{) 

-Ba+Yypa + zZ EP +) + (Pd + PP), 

folglich: 
„ Pr Öö 

a" —-Pd=-(5 + ep), 

oder: 





rar Ze _ ($+2:p)p, 


woraus sich durch Integration ergibt, wenn a eine Konstante be- 
zeichnet: 

#3 

2 =a+ dp -E Ep", 


VX+VY=(e-Y)Yya+slac+y)+Eea+ y:. 


Man kann auch die gegebene Differentialgleichung auf die 
Form: 


oder: 





du Er dz 
VA+DBeosu YVA+B cosz 
bringen. Dann ist: 























2Wu’=— Bsinu-wW, 2272” = — Bsinz: 7, 
oder: 
en sin en 
Setzt man: 
z-+u Z—U 
e An 2 ’ . Kuna 2 ’ 
so folgt: 
‚, zZ+w ır uw 
ven 2 y q erg 2 ? 
2” u B . 
pP’ — 2 (sins+sinu) = — — sinp cosq, 
„ . BU —U - B 
q -"5% - 7 (sing sinu) = — 2 eosp sing, 


814 - Abschnitt XXVI. 


und hieraus: 





9:8 2 — u’ B B. 1 
Prd=— = 7 (e0s2 — cosu) = — 5 sinp sing, 
also: 
p” q" 
-— = 60t —-, = c0t . 
FZ 89; vg gp 


Man erhält hieraus durch Integration: 


p=asing, q=bsinp, 
folglich: 


bsnp-p=asing-g, 
und durch abermalige Integration: 
(29) bceosp=acosg+ 6, 


wo a, b, c drei Konstanten bezeichnen. 
It z2= m für = (0, so hat man entsprechend: 








pP=4=-, !=YVA+Beosm=P, W“=YVA+B=Q, 
Br FU. 
folglich: 
1 
’ at PB d-—P-9 
BB 2sin 


= — W eotg I 


P 
und hieraus, wenn man — =cosM setzt, wegen 


Q 
(29): 


(30) cos = cos cos, + sin > sin . cos M. 

Diese Gleichung läßt eine elegante geo- 
metrische Interpretation zu. Hat man auf einer 
Kugel zwei größte Kreise (Fig. 84) ARB, ASB, 
deren gegenseitige Neigung M sein möge, und 
nimmt man auf diesen zwei Bögen: 





Fig. 84. U RE 
A AD“; 

: m m Y 
so ist ODD=-—. Ist auch DE=, und setzt man AE=,, 
so ist: 
| ed 

C08 = 008 0085 + sin ‚an, cos M. 





2; " ee en b 
in a a a a u a 








Bene 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 815 
It EF= ._ und setzt man AF = - so hat man analog: 


Wi et 
cos. = 08, 008, + Sin „ sn, cos M, 


usw. Die Gleichung (30) ist mit: 
fa) = f(u) + f(m) 


k dz 
f@) - (75 cos 2 
ö 
ist. Man hat dann: 


fa) = Fe) + fm) = Fu) + 2 fm), 
fo) =) + fm) = flu) + 3f(m), 


Erst später erfuhr Euler zu seiner Verwunderung'), dab La- 
grange seine Differentialgleichung integriert hatte, ohne von der 
Methode des integrierenden Faktors Gebrauch zu machen. Mit seiner 
unermüdlichen Tätigkeit wollte er gleich das sich auf Differentiation 
stützende Lagrangesche Verfahren beherrschen und erkannte, dab 
dasselbe in manchen Fällen gute Dienste leisten kann. Ist z.B. die 
Gleichung: 


gleichbedeutend, wo: 








vorhanden, wo: 
X=a+2ße+ya, Y=a+2ßy+tyy, 


so schreibe man: 


8 
| 
x 
< 


-J, 


> 


t 
woraus folgt: 

d 

Ga hate; 
a RAT EN) 


Setzt man 2 — y=q, 80 ist: 


De rrerh 


also: 





) Dilucidationes super methodo elegantissima, qua illustris 
de la Grange usus est, in integranda aequatione differentiali 


dx 2 dy 


cv 


Acta Acad. Petrop. II P. 1, 1778, p. 20—57; Inst. calc. int. IV, p. 465—503. 


816 Abschnitt XXVI. 


Pic dy dq 
dt dt dt | r 
Dr 


und durch Integration: 


| log 4? Tr er 10g 03 — 2loggq + const,, 
oder: 
> dxdy ıF 

g’dt? m. (2 — y)? ? 


oder auch, durch Veränderung der willkürlichen Konstante: 





A @+Ba+ytrey) 
Io mie me @_g® 


was sich einfacher schreiben läßt: 


a une 





EH 
Die Gleichung: 
EBERLE 
X Re 


wo X, Y die obige Bedeutung haben, kann auf ähnliche Weise be- 
handelt werden. 

Nach diesen ganz einfachen Beispielen kommt Euler auf die 
Differentialgleichung: 


(31) — + Te -0), 


die er in den folgenden Fällen integriert: 
X=a+ßae+ ya, 
X=e+ßa+y®+dad+t ent, 
X=a+ßa?+tyat + 6a. 


Wir beschränken uns hier auf den zweiten Fall, auf welchen die 
zwei übrigen zurückführbar sind. Euler setzt, nach Lagrange: 


re ar Er Be Kae 
ferner, wenn das untere Vorzeichen angenommen wird: 
a 
year 
was darauf hinauskommt, daß er das Lagrangesche 7 gleich Eins 
annimmt. Es ist dann: 


dpd 
wem ir alt + ter +n4H (+29), 








Transzendenten. Elliptische Integrale. 817 


ferner: 





woraus folgt: 


’ dX dyY 36 
et) Shtmt ++ 3 (#’ +3p9), 


also: : 
d’p dpdgq 
Zen (s ter) 


Multipliziert man mit a ‚ und integriert, so erhält man wie 
oben: 
+ (32) = C+0p+ Ep, 
oder: 





VX+VY=(@-y)VC+I(a+Yy) + Ele + y)*. 


Bestimmt man die willkürliche Konstante derart, daß x — %k für 
y=(0 ist, so erhält man nach einigen leichten Umformungen: 


(32) 2e+PfatNWt2ray+Ssryc+ty)+2exry H2yXY 
(x — y)? 


_ 2«+pßk+2YoK 
a] 2 , 











wo: 


K=a+ßk+yl2 +63 + ec. 


Nimmt man in (31) das obere Vorzeichen an, so hat man nur YY 
mit dem Minuszeichen zu behaften. 
In dem besonderen Falle, wo: 


A=(a+ba+c®—-R%, Y=(a+by+ cyp)— 8 


ist, kommt das merkwürdige Ergebnis vor, daß das Integral von (31), 
wenn das obere Vorzeichen angenommen wird, in eine Identität 
übergeht. Man kann dennoch das Integral durch die folgende Methode 
erhalten. Ä 


Setzen wir: 


X=R?’+4, Y=$°+4, 
wo 4 beliebig klein ist; es folgt dann: 
1 > 1 
VX=R+,, VY=-5+4,5, 


und das Integral, wo d=2bec, &= c* ist, nimmt die Form an: 


h 
(Bu Bytes.) | 
Ey VOHBe@FNFe@EN, 








818 Abschnitt XXVI. 


oder: 





| h 
(b+cp) (1,53) — VC+2bep + dp? 


Quadriert man beiderseits, so ergibt sich: 


(b+cp) — (b + op), - C+2bep + Ep, 


oder: 





dep PO - 
OT DE | -D, 


wo D eine neue willkürliche Konstante bezeichnet. Hieraus folgt 
nach einigen leichten Reduktionen: 





Br RS „a _ bez Ze 
D b+? ce eb+ep  \b+ep’ 


wo uv=xy, also: 








Ad — CU a t 
BT onst., 
oder auch: 
aactyNtbay _ EN 
cay— a 


In einer weiteren Abhandlung!) vereinfacht Euler sein Ver- 
fahren, und zieht auch seine älteren geometrischen Interpretationen 
wieder in Betracht. 


Die Eulersche Methode kann auch dazu dienen?), um parti-: 
kuläre algebraische Integrale gewisser Differentialgleichungen zu er- 
halten, welche sich sonst wohl nicht leicht ermitteln ließen. Es er- 
gibt sich z. B. aus Gleichung (32), wenn man: 


2a+ßk+2YVeK 
2K? —H 





setzt: 
VX=-,|[H@-y' - a E(a+y)—yay+ Sayatyy—ery], 


und folglich wegen (31) (wo das untere Vorzeichen angenommen 
wird): 





I!) Methodus succinctior comparationes quantitatum transcen- 


dentium in forma = contentaruminve- 
VA+2Bz+ (02’+2Dz’+ Ez* 

niendi,M.S. Acad. exhib.1777; Inst. cale. int. IV, p.504—524. ®)Euler, Exempla 

quarundam memorabilium aequationum differentialium, quas adeo 

algebraice integrare licet, etiamsi nulla via pateat variabiles a se 

invicem separandi (1778), Nova Acta Acad. Petrop. XII, 1795—1796 (publ. 

1802), p. 3—13. 








Transzendenten. Elliptische Integrale. 819 
(e+ßBy+yy?+dy? + eyi)de 
+ Here + y) + ray — Saya+y) +eyP)dy=0, 


eine Differentialgleichung, welche (32) als partikuläres Integral besitzt. 
Zwei andere Abhandlungen Eulers!) fügen dessen früheren 
Leistungen nichts wesentlich Neues hinzu. 


Die Aufforderung vom Jahre 1754 konnte nicht umhin, 6. B. 
Fagnano zu interessieren, um so mehr als sein Vater damals noch 
lebte. Und in der Tat be- 
schäftigte er sich mit der & 

Eulerschen Frage und Zn: 
verwandten Gegenständen 
in drei Schriften, welche 2 
die Data 1763, 1768, 1770 2 e 

tragen ?). Seinen Beweis 
des Eulerschen Theorems Q 
gründet er auf folgenden 


von seinem Vater auf- = 
gestellten Satz’): Sind: . V 


Fig. 85. 
AB=20 EF=2% | 





U 








(Fig. 85) die größere und die kleinere Achse einer Ellipse mit dem 
Mittelpunkt (, COM=x, CP=z die Abszissen von zwei Kurven- 
punkten X, 7, und besteht zwischen x und 2 die Beziehung: 





')Pleniorexplicatiocircacomparationem quantitatuminformula 
; j Zdz 
integrali contentarum, denotante Z functionem 
mz’+nz 





quamcunque rationalem ipsius z°, Acta Acad. Petrop. 1781, P. II (publ. 
1785), p. 3—22; Inst. calc. int. IV, p. 446—464. — Uberior evolutio com- 
NE quam inter arcus seetionum conicarum instituere licet, 


Acta Acad. Petrop. 1781, P. II (publ. 1785), p. 23—44. ” Demon- 
stratio sh st aha tr Actis Lipsiensibus propositi ad 
annum 1754, Nova Acta Erud. 1762 (publ. 1763), p. 458-466. — Nova 


arcuum parabolae apollonianae, atque hyperbolae aequilaterae 
mensura, Nova Acta Erud. 1766—1767 (publ. 1768), p. 27—35 (abgedruckt in 
Nuova Race. d’opuscoli scientifici e filologiei XVO, 1768, op. V, 17 8.) 
— Commentatio ad theorema paternum cui titulus: TER da 
eui si deduce una nuova misura degli archi ellittiei, iperbolie? e 
eicloidali, sive de arcuum sectionum conicarum, aliarumque cur- 
varuım inter se comparatione, investigatio, Nova Acta Erud. 1770, 
p- 433—506. °) G@. lett, it. 1716; diese Vorl., II? S. 489—490, 
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. . 53 


820 Abschnitt XXVI. 


at 2? 
z = — [1 
a8 ce? x? ’ 


a? 





wo c= Va? — b?, so ist: / 
2 meinten 
Bogen EX — Bogen AT = ln ieh 

-5 
Es ist leicht, das Eulersche Theorem auf Grund dieses Hilfs- 
satzes nachzuweisen. Nimmt man nämlich auf der Verlängerung von 
TP einen solchen Punkt V, daß OV=a, und schneidet CV die 
Ellipse in Z, so sind COX, CZ konjugierte Durchmesser'). Ist nun 
XQ die Normale in X, Q@ die Projektion von X auf CZ, L der 
Schnittpunkt von XQ mit CA, so ist: 











2 2 2 
LM-: or. cu ne 
a a a 
OCH-CP ER a? — x? 
u Ver: 
RT 


folglich: 
Bogen EX — Bogen AT= OQ. 


Ist H der zu X in bezug auf AB symmetrische Punkt, Y der 
zu X entgegengesetzte Kurvenpunkt, S der Schnittpunkt von PV 
mit der Ellipse, so ist: 


EX=FH-=-YF XT=HS AT=.A4S, 
folglich: 
YFH—-TAS=20Q, 
oder schließlich: 
YFS— XA8=2(09, 
was zu beweisen war. 
Die größte Differenz der Bögen YF'S, XAS entspricht der 
Abszisse: 
aya | 
"yatr' 


es ist dann 2=x, so daß T mit X zusammenfällt, und: 








») Aus: 


ergibt sich: 
£5 2 
tang ACV= din =— de , 
a ya? — x? a’y 


woraus bekanntlich folgt, daß OX und CZ konjugierte Durchmesser sind. 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 821 
YFS—- XA8=2(a —b). 


In dir zweiten Abhandlung beweist Fagnano einige die Bögen 
der Parabel und der gleichseitigen Hyperbel betreffende Sätze. 

Die dritte Abhandlung ist der Auflösung des Eulerschen Pro: 
blemes hauptsächlich gewidmet. Dazu stellt aber Fagnano mehrere 
allgemeinere Sätze auf, bei deren Auffindung, wie er erzählt, die Rat- 
schläge seines mehr als achtzigjährigen Vaters ihm zustatten kamen. 


a) Besteht zwischen x und z die Beziehung: 


(33) fha®r2?" + fl(a" +2) + gl=0, 
oder: 

(34) fha®"z?" + gh(a” +2) + gl=0, 
so ist: 











kai an ı 7 „en | 
Fran er Hıfenias hr + 
































hx"s” 
ne +0 
Vhx” 2” 
Es, 
nV—9 
Es folgt nämlich aus (33): 
gi ve a Ve Uf2?" +9) 
har" +) ’ fr" +) ’ 
also: 
—ıIla" tax, "id; 
X + Z = VF| zii + | 
man erhält aber aus (33) durch Differentiation: 
herr" Ida + har" zer -1dz + Ir ide + la -IAdg 0, 
oder: 
den. I (ar de+ wer-id) = — 2 d(arm), 
z" # >% 
folglieh: 





Str J2-- 5 


Die @l. (34) läßt sich analog behandeln. 
53 * 


822 Abschnitt XXVI. 


b) Es ist unter denselben Voraussetzungen: 


de 2 
san Agent an 
f Vfna*" + (fl + gh)a®”" + gl 


N 1dz 
He — -——=Ü, 
YV rn*" + (fI+ gn) "+ gl 


c) Ebenfalls unter den obigen Voraussetzungen hat man: 


fe + [R = gdr— lix 
Vrna'" + fl + gNyar" + gl 























N „N 





























%.# 
+ fl rrtgg- | nyer Be 
Vrer Hrn" tn a, 
ny— gh 
d) Ist: 
(35) p’(fha®r 22" + gl) — gl(a?" + 2°”) 





F2r Vgl VD +) 0, 


wo p eine Konstante bezeichnet, so folgt: 


(36) [rz/v=e 


und (35) ist die allgemeinste Beziehung, für welche (36) besteht. 


e) Sex jr-- Mat 


i Sn—1i 
fh V gl«*" + (fI+ gh)a?” + fh 


2 gle’""!dz _ PVgla':" _ ( 
5 
fhVgle" + fine tm "f 


aid 
g) fF je -/[; 
e Vola®" + (fI+ gh)a®” + fh 


af Nn— ldz - C 
Vor" + (fl + gh)a?" + fh 


























h) Jr» J2--"7 +6. 


EIER TU TERN 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 823 


A ah TE 
1) fa#/v=f Idx Be? 


leer -h 1a" 2" 
+ wridE DE ereE + Ö. 


a 
gl(a?" + 22") + 20" 2" Vgl Vghp? + gl— gip? = 0, 
so folgt: 


ji + fo  far- ldxz vr + fer-1as vr 


 hpa"z" 2" 
= C. 
nygl se 


k) Ist g eine ungerade Zahl, und besteht die Beziehung (33), 


so ist: 
= Ir et. 
ff a 
“ Vrna" + (fI+ gh)a®" + gl 
asie.. 
Vrne*" + (fl + gh)2?" + gl 


eine algebraische Größe. Man hat nämlich: 

















+ 











d (a0 Vfhad” + (fl + gh)a®" + gl + zu" Yfht" + (fl + gh)2?" + gl) 
„ atDrre"+aH DE + gha”" + ggl 


= na"io er en 
Vrnae" + (fI+ ghya®" + gl 

+ agn-1ds AtDfRE" +a+DWI+gNz" +agl 
Va" ++ gh)e" + gl 


=n|[(g+ Dfh(W WEZZ)+t(@+NV(fi + gh\(W,_st+ Z,_,) 
+IgAW._, EZ, _,)] 


und W+£Z, ist fürg =——3 und für g=— 1 wegen der Sätze b), 
e) algebraisch integrierbar. 

Die obigen Sätze lassen zahlreiche geometrische Anwendungen 
zu, die zwar nicht sämtlich neu sind, und von welchen nur einige 
angeführt werden mögen. 











a) Ist a die Halbachse einer Lemniskate, & der vom Doppelpunkt 
ausgehende Vektorradius, so ist der Elementarbogen der Kurve: 


a?dx 


a a, 
- Vat— x* 





824 Abschnitt XXVI. 
Man erhält aber dieses Differential aus T, wenn man setzt: 
sl; f=--1l g=-l=d, h=]; 
es folgt also aus (33): 


rt) — at, 


vn 
ge = iemunhmirnin tree „© 
a?+x? 


Ist daher CEB=x, ÜE=z, so folgt (Fig. 86): 


oder: 


Bogen OE + Bogen ÜB = const. 


Zur Bestimmung der Konstante beachte man, daß z=a für r=0 


van 


Fig. 86. 





ist. Die Konstante ist also der Bogen OA, und man hat: 
Bogen ÜUE = Bogen BA. 


Die Punkte E, B fallen zusammen, wenn: 


vet Fe 
en at-&x? 


oder =aVy2—1 ist, eine Formel, welche das Mittel liefert, den 
Lemniskatenquadranten zu halbieren. 

b) Ist a die Halbachse, x der vom Mittelpunkt ausgehende Vektor- 
radius einer gleichseitigen Hyperbel, so ist: 


z’dx 
ds u Vx* ae i 





Um dieses Differential mit Q in Übereinstimmung zu bringen, 
muß man setzen: 


n=|1, f=h=]1, 9=— a, I= a}; 
es folgt dann aus (34): 


HH) —- td, 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 825 


oder: w., 
(37) z=4d 1 
Ist also ObB=z, 0OE=z (Fig. 87), so folgt: 


AB+AE=-TZ +0. 


Ist B' ein anderer Kurvenpunkt, E’ der wegen (37) demselben 
entsprechende Punkt, und be- 
zeichnet man mit {, « die nach 
B', E’ gehenden Vektorradien, 
so ist: 

AB+AE=Ü@+C. 

Hieraus folgt: 

AB+AE-—-AB-AF 


oder: 


‚ cz —tu 
EE-BP= a 











c) Setzt man: 
a Life nl, g-i=-al 
h=—d, 
so ergibt sich: 


> N u a 
a RE 26 
welches den Elementarbogen 


der Ellipse darstellt, deren 


Fig. 37. 
Halbachsen a, Va?— c? sind, 
ferner, wegen (35): 
(38) ep + ap — a? — 2?) F2adrın = 0, 


oder, wenn man das obere Vorzeichen annimmt: 


_ re +pda 


ad —_ cipta? ? 





zZ 


wo: 








1 -V@-p)a- Ep), -Va-) a er), 


826 Abschnitt XXVI. 


ist dann (Fig. 8) CM=x, ON=z CQ=p, so folgt: 





DR DEF es 





Bestimmt man die Konstante auf die gewöhnliche Weise, so er- 
hält man: 
e?px2 


DRTIW-7T7 1323, 


oder: 


DR-ST="#, 


ein Ergebnis, welchem wir schon oben (Formel (14)) begegnet sind. 


| 
NL 7 


Fig. 88. 











Nimmt man dagegen das untere Vorzeichen, so erhält man: 


(39) PP 2 eh m .. 


a® — c?p?x? — c?x?2?? 





wo: 





= Va’ — (at — 2); 
=. 


Fig. 89. 











der Punkt 7 fällt zwischen S und D, und man hat (Fig. 89): 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 827 
2 
DR—-DS="2° —DT, 


woraus wiederum die obige Beziehung folgt. 
Fällt insbesondere R mit 7’ zusammen, so it a=p, &E=n, folg- 
lich wegen der zweiten Gleichung (39): 


azE= (a — Par + ade; 
es ergibt sich andererseits aus (38): 
et? — az +2anzE=0, 
folglich: | 
etz? — a2? + 20a — Pr? + add) = 0, 
oder: 
et — 20 ++ at, 


woraus man erhält: 
(40) = — Vla — Va? — 22] [a — Va — @2]a. 


Ist also (Fig. %) C(M=&=p, CON=;z, so hat man: 





D 











u  ; ; 
(AD 7 GE 
Fig. 9. 


DR-RS="°? -! [a Va] [® Va er]. 


a* 


’ aya 
Für z=a findet man, wie oben, 2 — A und: 


Va+?’ 
DR-RA=a-—b. 


Nimmt man nun p, 2 statt &, p, und ist (Fig. 91) 2,=CN, der 
entsprechende Wert von z, so hat man: 


_ wz+p8) _ a’@d+x) 


1 a® — c?p?z? En ad — ce! x? 2?’ 








ferner: 


828 Abschnitt XXVI. 





DR S8 € Da _er22, 
a* 


a* ? 


und wenn man mit der oben gefundenen Gleichung summiert: 





2DR- Ram, 


wo x den Wert (40) hat. 
Nimmt man nun z, statt 2, und ist 9», = CM, der den Werten 











Fig. 91. 


x, 2, entsprechende Wert von p, so hat man: 


am +99 
(41) 2, = a6 — e? x? p, , 


wo z, eine zu x analoge Bedeutung hat, ferner: 





DR- RS, = ni de ; 


a* 


multipliziert man mit 2 und subtrahiert (DR — RS), so folgt: 
2 
DS—2RS = (2m A — 82). 
Damit DS=2R,$, ist, muß die Beziehung: 





(42) 29,2, = 22 
bestehen. Setzt man nun in (38) 2,, ?, statt z, p, so erhält man: 
(43) ep 22.+0(p? —- R—- 2) +2era,m, 0. 
Aus (41), (42), (43) ergibt sich: 
“ = 1, Verz=t +02? + ut a®xz 





ef | 
UY8 "u Fam tr en El 


Transzendenten. Elliptische Integrale. ü 829 


wo: 
2a’xE 
er 


Fällt insbesondere S mit A zusammen, so wird: 


aya ya 


= a AB 
za I=- Tan, & Are 


also: 








Ele - |Vba +30 +4Vala + b) 


+Y5a +3b—AYa(a + b)|, 





eine Formel, welche die Auflösung des Eulerschen Problems liefert. 
Mit der Eulerschen Frage beschäftigten sich auch Charles 
Bossut (geb. zu Tartaras bei Lyon am 11. August 1730, gest. zu 
Paris am 14. Januar 1814) und Etienne Bezout. 
Der Beweis von Bossut?) ist folgender. 














B 
P! 
Y @ 
0 VAL ii 
4 a IV 
qQ' 
<T 
B’ R 
Fig. 92. 


Es sei (Fig. 92): 
OP=n AN=2, AT=u NQ=y; 


man hat dann: 


und folglich: 
ET dx Va®b? + 2actn — c’x? 3 


ay2ar— a 





40, au ed Haan u— c!u? 
ay?au — 
) Demonstration d’un th6eor&me de geomätrie Enonce dans les 


Actes de Leipsick, annde 1754, M&m. pres. par div. sav. III, 1760, p. 314 
bis 320. 


830 Abschnitt XXVI. 


Drücken wir alles durch n aus. Es ist bekanntlich: 





09=Va?+b?—n?, 


ferner: 
B 1 : 
09=-yVON+ NG -Va-a'+ty- Ve -2adr+ de; 


durch Gleichsetzung der beiden Werte von OQ ergibt sich: 











W "WI rg 
s=a+. Ve—n, 


und hieraus: 


? 


4-49 -d-419- -"®, 4.49 -d.419- 4.419 -"0" 


wo: 





R=Y(a? — n?)(n? — 2). 


DBMR SER 
ER r db? 


Aus: 





-1, 00° +MP=-n 
erhält man andererseits: 


0OM=- Vr?—», 


C 


folglich: 
2 a at 2 De ID 535 
0T=Z-0M=- —_Vm—b, u=a— — Vm"—b, 


und hieraus: 
a?b?dn 
4. AS=— n:R 

Es folgt: 


KQOPS- 049) =: 0 PA 4'942 20738 


N? 





Ist dieser Ausdruck das Differential einer algebraischen Funktion 
von n, so hat diese notwendig die Form pn? R, wo p eine Konstante, 
q eine ganze Zahl ist. Durch Differentiation ergibt sich p= 2, 
g=—J1, also: 

d(Q PS- QA)-2d%, 


und wenn man integriert: 


QPS- QAS=2%, 


wobei die Integrationskonstante, wie man leicht bestätigt, gleich Null 
zu setzen ist. e 


ENTF 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 831 


Es ist ferner, wegen einer bekannten Eigenschaft der konjugierten 
Durchmesser: 


n:-QV=al, 


also: 








- oV-Va+s m 8 


und schließlich: 


’ 


OPS—- QAB=2- OV.. 


Der Eulersche Satz ließe sich, wie Bossut bemerkt, auf fol- 
gende Weise a priori entdecken. Setzen wir uns vor, zwei Ellipsen- 
bögen anzugeben, deren Differenz algebraisch rektifizierbar sein möge. 
Es sei A’BQ einer dieser Bögen, wo A’Q=x; dann ergibt sich wie 


oben: 
: n?’dn 
a.ABN-—-7-, 


wenn man setzt: 





Veb” +2adr— da?=an, 
woraus folgt: 
& Aa TE  — 
z=a+ Ve— n°- 


Da aber identisch: 
n®dn a’b’dn a R 
R "RR "Mm 





a’b’dn 
n®R 
bogens bildet. Daß dieses wirklich stattfindet, bestätigt man durch 


die Substitution n = 3, welche ergibt: 
1 





so ist das Problem gelöst, wenn das Differential eines Ellipsen- 





ED rn BR 
en; 3 AR, 
wo: 
ist R,= Y(a?— n,?)(n,?— d%) 
ist. 


Bezout!) stellt die folgenden drei Sätze auf: 
a) Das Differential: 
de un d gar (+27) : 
e+fx" 


läßt sich in zwei Differentiale von der Form: 





') M&moire sur les quantites differentielles, qui n’&tant point 
integrables par elles-mömes, le deviennent ndanmoins quand on 
leur joint des quantites de möme forme qu'elles, Me&m. pres. par div. 
savans III, 1760, p. 326—343. 


832 - Abschnitt XXVI. 


karidg ( + sich 
e+ fx" 


zerlegen. — Die Zerlegung findet auf folgende Weise statt: 








q [92°” Be sah „ mreg (af—boc'""'dz (@ + “ 





e+ fa" f (e+ fx")? e+ fa" 
mrbg .m-ı ee ba” A 
+ er dx $ 


das zweite Glied rechts hat die verlangte Form, das erste wird auf 
dieselbe durch die Substitution: 


a+be® . b 
e+fa” S 


gm 





gebracht, welche es in: 


mrdg mg, (HE 
7? dz en 
überführt, so daß: 


do — mrbg vm-14y = a, vcbg #217, Be 














f e+ fa" f e+ fe" 
b) Das Differential do läßt sich in zwei Differentiale von der 
Form: 
karn-1aa (2 +D=" ı, 
e+ fx" 
zerlegen. — Es ist nämlich: 
m\r m\r—1 
do = mrga""!dx (° a = + megibe ER ee (£ r —) : 
e+ fa (e+f«")’ e+fz 


das erste Glied hat die gewünschte Form, das zweite geht durch die 
obige Substitution in: 


rm—1i a+bz" s 
mYg2 de(* a 





über, so daß: 
a+ bx"” 
e+fx” 


) +mrgs"1dz (ee): 





do = mrgarntdz( 
c) Das Differential: 
dr = d|x”"""(a + ba”)’(e + fa”)”] 
"läßt sich in zwei Differentiale von der Form: 


ka"-ıda(a + ba”) Ile + far"! 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 833 
zerlegen. — Es ist: 
dt = — rmaea"""Ida(a + ba") !(e + far)r-! 
+ rmbfar”""Adz(a + ba”) !(e + fa”)r-t; 


das erste Glied hat die gewünschte Form, das zweite wird durch die 
Substitution: 


BL. 
bfx" 





auf dieselbe gebracht, wonach man hat: 
dr = — rmaea""Idz(a + bare + fam)r-! 
— rmaez""Idg(a + bez" I(e + famyr-1. 


Diese Sätze lassen sich auf die Aufsuchung von Kurvenbögen 
anwenden, deren Summe algebraisch rektifizierbar ist. 
Das Differential des Ellipsenbogens ist: 


a: — s?x? 
ds- V“; 3 —r da, 
zu< 


wo «, ß die Halbachsen bezeichnen, und: 


a —Bß? 
Ze us 








ist. Will man Satz a) verwerten, so muß man setzen: 


1 2 


m = 2, r-7., =, b=—1, e=d, f-—-8, 9-1; 
ist also: 
0? — x? 
rn 
so folgt: 


RE aba aa 7 d2= d(a2), 


eine Beziehung, welche den Beweis des Eulerschen Satzes liefert. 
Für die Hyperbel ist: 


ei? — 0? 
= Va 00 


wo «, ß die Halbachsen bezeichnen und: 


Se 


Er. ze 


ist. Vergleicht man mit b), so muß man setzen: 


834 Abschnitt XXVI. 


ist also: 


so folgt: 





Satz c) kann auf die Kurven: 


4t+1 4t—1 
ei 41+5 == 4t+1 
y—= Mit, Vo BET 


angewandt werden, wo +0. 


Die bisher besprochenen Untersuchungen sind nicht nur in histo- 
rischer, sondern auch in sachlicher Hinsicht von außerordentlicher 
Wichtigkeit. Ihr wesentlicher Inhalt läßt sich wie folgt zusammen- 
fassen. 

Bezeichnet IIx irgend eins von den betrachteten Integralen, also 
ein Integral, welches die Quadratwurzel eines Polynoms der vierten 
Ordnung als einzige Irrationalität enthält, und besteht zwischen z, y, a 
eine gewisse algebraische Beziehung: 


a=vy(t, Y), 
IIx £ IIy = lla+ p(z, Y; a), 


so ist: 


wo. p(&, y, a) eine algebraische Funktion!) von x, y, @ bezeichnet; in 
den einfachsten Fällen ist diese Funktion identisch Null, so daß: 


Ix = IIy= IIa 


ist. Mit anderen Worten: Die Summe oder die Differenz zweier 
gleichartigen Integrale IT’x mit verschiedenen oberen Grenzen ist, von 
einer algebraischen Funktion dieser Grenzen eventuell abgesehen, ein 
Integral von eben derselben Form, dessen obere Grenze von den- 
jenigen der vorgegebenen Integrale algebraisch abhängt. 

Diese Eigenschaft der elliptischen Integrale hat man sich ge- 
wöhnt als Additionstheorem zu bezeichnen; und Euler bemerkte auch, 
wie schon (8. 805) gesagt, daß dieselbe den hyperelliptischen Integralen 





Y) Erst gegen das Ende unserer Periode stellte sich, wie wir unten sehen 
werden, der Fall von den Integralen dritter Gattung ein, wo p eine algebraisch- 
logarithmische Funktion ist. | | 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 835 


nicht zukommt, was später den Ausgangspunkt des Umkehrproblems 
der Abelschen Integrale bildete. 

Die Analogie mit den Kreisfunktionen entfiel weder Euler u 
Lagrange; beide gingen, um eine Integrationsmethode für die ellip- 
tische Gleichung aufzufinden, von der einfacheren Gleichung: 


Be BE N 
er I Ne > 


aus, deren Integral sich unter den beiden gleichbedeutenden Formen: 


zyl-yYtyYi—-&=a, 


arcsin x £ aresin y = arcsin a 





schreiben läßt. Setzt man: 
xz=sint, y=sinu, 


so erhält man hieraus, nach einer viel üblicheren Schreibweise: 





sintYl—sin®+sinuy1l— sin # — sin (LE , 


eine Formel, welche aussagt, daß zwischen sin t, sin u und sin (t = u) 
eine algebraische Bachs stattfindet. Es sollte ganz natürlich er- 
scheinen, eine analoge Umformung in die liptieche Differential- 
Sleichnig einzuführen; man hatte nur: . 


Ix=w IIy=v IHa=c 
zu setzen, und 2, %, a als Funktionen von u, v bzw. c: 
= u, y ir, a= 1c 
anzusehen, um schreiben zu können: 
Alu +v) = Yl(Au, Av). 


Man sieht hieraus, wie nahe die beiden großen Mathematiker 
dem Begriffe der Bas der elliptischen Integrale kamen. Und 
es mußten dennoch manche Jahrzehnte verfließen, ehe dieser Begriff 
ans Licht kommen möchte! 


x 
B. Beziehungen zwischen Bögen verschiedener 
Kegelschnitte. 


Zu jedem beliebigen Bogen eines Kegelschnittes läßt sich, wie 
schon gesehen, ein anderer Bogen desselben Kegelschnittes a an- 


geben, daß die Differenz beider Bögen algebraisch ausdrückbar. ist. 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 54 


836 Abschnitt XXVI. 


Es erhebt sich aber die Frage, ob es möglich ist, jeden beliebigen 
Kegelschnittbogen durch Bögen eines Kegelschnittes von bestimmter 
Art auszudrücken. Analytisch lautet die Frage, ob und wie man ge- 
wisse Integrale auf eine bestimmte Form bringen kann. Diese Frage 
enthält den Kern zweier Begriffe, die in der Theorie der elliptischen 
Funktionen eine Hauptrolle spielen, der Transformation und der 
Reduktion auf Normalformen. 

Eigentliche Transformationen und Reduktionen sind die folgenden 
Probleme, die Euler gleich zu Anfang unserer Periode unter- 
suchte): 


1. Das Differential: 
dx te: dx 


Ve+ßa+re+özi+en! YX 


durch Kegelschnittbögen zu integrieren; 





2. die Bedingungen aufzusuchen, unter welchen: 














(P+4ay+ry’)dy 
44 A 
nr er. 
auf die Form: 
(pP+gez+rer)de 
Ve+tya?+ ext 
zurückführbar ist; 
3.«.das Differential: 
ptraed)dz 
Vatzar+ en‘ 


durch Kegelschnittbögen zu integrieren, wenn das unter dem Wurzel- 
zeichen stehende Polynom nicht in zwei reelle rein quadratische Fak- 
toren f + g2%, h+ kx? auflösbar ist; 

4. die Bedingungen anzugeben, unter welchen (44) sich auf die 


Form: 
prgetre)de 
vV2ßx + yax:+ 202° 





bringen läßt. 

Eine mehr systematische Behandlung erfährt das allgemeine 
Reduktionsproblem in einer späteren Schrift Eulers.’) Hier taucht 
ein neuer und fruchtbarer Gedanke auf; ein Gedanke, der auch ge- 
eignet war, zur „Umkehrung der elliptischen Integrale zu führen. 


) Consideratio formularum, quarum integratio per arcus sectio- 
num conicarum absolvi potest, Novi Comm. Acad. Petrop. VII, 1760 und 
1761 (publ. 1763), p. 129—149. ®) De reductione formularum inte- 
gralium ad rectificationem ellipsis et hyperbolae, Novi Comm. Acad. 
-Petrop. X, 1764 (publ. 1766), p. 3—50. 











Transzendenten. Elliptische Integrale. 837 


Euler will die Kegelsehnittbögen als neue Transzendenten mit dem- 
selben Rechte in der Analysis einbürgern, mit welchem schon lange 
her die Logarithmen und die Kreisbögen in derselben auftreten. Und 
so wie man in der Trigonometrie den Radius = 1 annimmt, so nimmt 
er den Halbparameter — 1 an, so daß die Gleichung des auf einen 
Scheitel als Koordinatenursprung bezogenen Kegelschnittes lautet: 


2 


Y-2ı——, 


wo 2a die Länge der durch den betrachteten Scheitel gehenden Achse 
bezeichnet. Hier ist: 


a>0 für die Ellipse: 

a=1 für den Kreis; 

a= 00 für die Parabel; 

a<O0 für die Hyperbel. 
Die Bogenlänge II,x!) ist: 


a — 2a1 — ac +(1—a)x? , 
ne [V a(2ax — x?) dx; 


Euler bringt dieses Integral auf die Form: 


2? 
Bi in de, 
und unterscheidet zwölf für dieses letzte Integral mögliche Fälle, 
je nach dem Vorzeichen und der relativen Größe der Koeffizienten, 
wie aus folgender Tabelle erhellt, welche auch angibt, auf welche 
Weise das Integral in jedem besonderen Falle durch Kegelschnittbögen 
darstellbar ist: 











ee 
l ++ + + fk>gh alg.F. Ellipse und Hyperbel 
2 + + + +. fk<gh Hyperbel 
3+ ++ — Ellipse 
4 + + — + alg. F., Ellipse und Hyperbel 
5 + - ++ alg. F., Ellipse und Hyperbel 
6 + —- + -— fk>gh Ellipse 
+ —- + — fk<gh alg. F. und Hyperbel 





‘) Euler schreibt IIx[a]. 
54* 


838 Abschnitt XXVI. 


ne. 6 
8 + — — + fk>ogh alg.F. Ellipse und Hyperbel 
9I- ++ + alg. F. und Ellipse 
10 — + + — fk<gh alg.F. und Hyperbel 
ll — + — + . fk>gh alg.F. und Ellipse 


12 — + — + fk<ogh Hyperbel) 


Das Problem der Zurückführung von Integralen .auf Kegel- 
schnittbögen hatte schon früher (diese Vorl., II, S. 871) Maelaurin 
und d’Alembert beschäftigt. Der letztere kommt auf den Gegen- 
stand noch öfters wieder zurück. In seinen Opuscules mathema- 
tiques?) beweist er, mit Hilfe früher erhaltener Resultate, daß: 








f y’ay 

Var FOyp+Dy+E 

und andere ähnliche Integrale auf Kegelschnittbögen reduzierbar sind. 
Die Berichtigung und Vervollständigung einiger Punkte dieser Arbeit 
bildet den Zweck einer kurz darauf erschienenen Schrift.) Auch in 
seinen schon oben (S. 728) besprochenen Recherches sur le caleul 


integral gibt er einige auf Kegelschnittbögen zurückführbare Inte- 
grale, wie: 


a) /UVdv[A + Bsin(a+v)+Ccos(e+v)+Dsin(g +») 
+Feos(+v)+---] 


wo n eine ganze Zahl, U eine ganze rationale Funktion von Sinussen 


und Kosinussen von um konstante Größen vermehrten Vielfachen von 
v bezeichnet; 


m 


b) FäolA + Bsinv)?(C+Dsinv+ Esinv®):, 


wo m, n ganze Zahlen sind und U eine ganze rationale Funktion von 
sin2p®V oder von cosqv er 





') Eine analoge Untersuchung bildet den Inhalt von zwei Kapiteln (T. II, 
L.], C. 12, 13) der mehrmals angeführten Institutiones analyticae von 
Riccati und Saladini, wo die Frage auf Grund einer früheren Arbeit von 
Riccati Opuronleruin ad res physicas et mathematicas pertinen- 
tium, 2 Bde., Bononiae 1757—1762, T. II, Op. 2, p. 36—176) behandelt wird. 
Einige auf Kegelschnittbögen reduzierbare Integrale wurden auch von Lorgna 
(Opuscula mathematica et physica, Veronae 1770) angegeben. 
”) T.1V, Paris 1768, .p. 225—253: Recherches de calcul integral, p. 254 bis 
282: Suppläment au me&moire precedent. ®) Recherches math&ematiques 
sur divers sujets, Misc. Taur. IV, 1766—1769, P. II, p. 127—161. 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 839 


ei 
2 


ie) Svarca + Ede) (g+hsinv?)?, 


wo m und n ganzzahlig sind und U eine ganze rationale Funktion 
von cosgv oder von singv bezeichnet; 


d) J Udv(a + bsinv?)? (ce + dsin v?)? (e+ fsin v?)?, 


wo m, n, r ganzzahlig sind und U eine ganze rationale Funktion von 
sin gv ist; 


‚e) [varca + bsinv + g sin v2)”, 


wo 3n oder 4n eine ganze positive Zahl ist und U eine ganze ratio- 
nale Funktion von sin2pv oder von cosgv bezeichnet; 


+92)’ (p+q) D (+ ray? 


wo o, A, 6 ganz und positiv sind, # ganzzahlig ist, und: 





ganz und nicht negativ ist; 


S on 
8) / = 
d_ay? (+50)? ?(e+ fa)? 


wo $, q, p positive ungerade Zahlen sind, m ganzzahlig ist, und: 





m... 


ganz und nicht negativ ist. 
d’Alembert ergreift die Gelegenheit, um seine Priorität hinsicht- 





lich der Integration von v; er = durch Kegelschnittbögen Riecati') 


gegenüber zu behaupten. 

In einer späteren Schrift?) zeigt d’Alembert, wie sich die oben 
angeführte Eulersche Klassifikation auf Grund seiner eigenen. älteren 
Methoden aufstellen läßt. Er bemerkt, daß seine Resultate einige 
Verschiedenheiten gegenüber den Eulerschen aufzeigen, insofern als ge- 
wisse mem Euler auf Bögen und algebraische Funktionen reduzier- 


% Riccati (Inst. an, T.IL, P.II, C. 12) sagte, ähänd vor ihm hätte 
dieses geleistet. ?) Öpeweuler mathömatiques, T. VII, Paris 1780, p. 61 bis 
101: Sur des differentielles reductibles aux arcs de sections coniques, p. 390: 
Remarque pour la page 96. 


340 Abschnitt XXVI. 


bare Integrale von ihm selbst durch lauter Bögen ausgedrückt werden; 
daß dieses aber keinen Widerspruch bildet, da die Fagnano-Euler- 
schen Sätze in bestimmten Fällen das Mittel liefern, die Summe eines 
Bogens und einer algebraischen Funktion durch einen Bogen zu er- 
setzen. 


Wiederum auf elliptische Integrale bezieht sich ein Schreiben 


von d’Alembert an Lagrange vom Jahre 1781.!) Hier berichtigt 
er eine Stelle seiner Schrift vom Jahre 1746 dadurch, daß er bemerkt, 


daß das dort als auf zwei Hyperbelbögen und einen Ellipsenbogen. 


reduzierbar angegebene Integral: 





wo. 


?+fe+b=(e+a)(2+ec), >09, 2>D, 


durch einen einzigen Ellipsenbogen und eine algebraische Funktion 
darstellbar ist, da die beiden Hyperbelbögen sich gegenseitig aufheben. 
Ist dagegen: 
?+fzr+b=(2-a)(2-— ec), 
oder sind die Faktoren des Trinoms imaginär, so. findet diese Auf- 
hebung nicht mehr statt. 
Lexell?) gibt für die Eulersche Klassifikation eigene Beweise, 


und leitet einige neue Sätze aus der Vergleichung der Ergebnisse 
verschiedener Reduktionen eines und desselben Integrales ab. Ist z. B. 


das Integral: 
1+m 2" 1 
I = ln +nz „ 


vorhanden, und setzt man: 











e sin 
mi tecosg 
oder: 
1 1-+ecosy 
eV  siny ? 
wo: 


VE 
M—N 


) Extrait d’une lettre de M. D’Alembert & M. de la Grange du 
14 decembre 1781, Nouv. Mem. Berlin 1780 (publ. 1782), p. 376—378. 
®) De reductione formularum integralium ad rectifieationem 
ellipseos et hyperbolae, Acta Acad. Petrop. 1778, P.I (publ. 1780), p. 58 
bis 101.— Ad dissertationem de reductione formularum integralium 
ad reetificationem ellipseos et hyperbolae additamentum, Acta Acad. 
Petrop. 1778, P. II (publ. 1781), p. 55—84. 








Transzendenten. Elliptische Integrale. 841 


ist, so erhält man: 




































































RER Rdy _ _VYm—n f(e+ cos»)? de. 
 YmJttecogp' m .) Ssiny? 
wo: 
R=1+2ecspg+e, S=1-+2ecosp +e. 
Es gelten aber die Beziehungen: 
E Rdgy u Rsing singp°’dg 
(45) J/titecosp? (I-+ecosg)(e+cosp) „) (e+cospPR 
Er (e+cosgp)R 1 *(e+ cos p)’dp 
“Da Peak "PL. Rsin p® 
e? singp(e + cos p) u: dp 
7 e—-1(1-+tecosgy)R 3 
e Er Rsing 1 (1+ecosp)’dg 
(14 eeosgp)(e + cos p) * (e+cosp)?R 
4 Rdy 
(e + cos p)! 
Bi Rsing = f Rdy 
aeg (e+ cos 9)? 
2 R® Rap 
 e’sinp(l-+ecosp)(e+ cosp) +; sing? 
1 Rdy 
e® ) @F os)" 
__singp(e+ cosp) Rsing | 
(1+ecosp)R + e*(l +ecosp)(e + cos 9) 
sinp’dgp 1 f Rdp 
ee RR  e&,) (e+cosp)! 
Vermittels der zweiten dieser Gleichungen hat man dann: 
(e + cos y)’dy er 21 Sdy (e + cos y)S 
np men ) (1+ecosw)? (1-+ecosy) sinvy’ 
folglich: 
Ve [30 
(1-+ecosp)! en (®—1) (1-+ ecos y)® 





(e + cos y)S | 
 (i-ecosy) siny |’ 
oder: 











842 Abschnitt XXV1. 
Rdy R Sdw >: 
(1-+ ecos p)? (1+ecosy)? (e?—1)(1-+ecosy)sin y 


 e(e+ c08Y)(e + cos p) 

— (e® —1)(1+ecos y)(1-ecosp)’ 
eine Formel, welche eine selbstverständliche geometrische Interpreta- 
tion gestattet, da die beiden Integrale links, von einem konstanten 
Faktor abgesehen, die Bögen eines-auf den Brennpunkt bezogenen 
Kegelschnittes darstellen. 

In anderen Fällen muß man sich der übrigen Formeln (45) be- 
dienen. 
Weitere auf I zurückführbare Integrale sind: 


. v2 a durch die Substitution z -. 


1i+nx?’x?? 




















z?dx a 
Ir +mayEtne)! 97,9 ” z=yVl+na; 
a yA+mad)(i+na)? ” 2 ” Br & ) 
Do : 
FR da ” „ „ Be 
mer yı +nı? 
en ER aus 
Vitmeittnn 7 ö Vitna” 





C 
ya 
= dene Vitnz 
Dagegen läßt sich: 








& 
en +mad)(1+nad 


auf die Summe von zwei Integralen von der betrachteten Form zurück- 
führen. 


Die logische Folge hat uns von der chronologischen etwas abge- 
wandt. Wir müssen jetzt um ein Jahrzehnt zurückgehen, um einiger 
jenseits der See erschienenen, auf dem Festlande lange unbekannt ge- 
bliebenen denkwürdigen Schriften Erwähnung zu tun. Ihr Ver- 
fasser ist der schon genannte John Landen, Mitglied der Royal 
Society of London.!) Selbstverständlich bedient er sich durchgängig 





') A disquisition concerning certain fluents, which are assig- 
nable by the arcs of the conic sections; where are investigated 
some new and useful theorems for computing the fluents, Phil. Trans. 


Be ET ud an a 2 al SR Dia Sinn zn Sale al nal dl nn eine a LEE ut a a nn A na u tn mann a 





Transzendenten. Elliptische Integrale. 843 


der Fluxionenmethode; wir werden aber seine Untersuchungen in die 
übliche Schreibweise überführen. | 
Landen will zunächst den Grenzwert A der negativ genommenen 











Fig. 98. 


Differenz zwischen dem Hyperbelbogen und der entsprechenden Tan- 


gente bestimmen. Ist (Fig. 93): 
x* y® 1 
a | 


a? 


die Gleichung der Hyperbel, bezeichnen C, A, D, P den Mittelpunkt, 





LXI, 1771, p. 298—309. — An investigation of a general theorem for 
finding the length of any are of any conic hyperbola, by means of 
two elliptic ares, with some other new and useful theorems dedu- 
ced therefrom, Phil. Trans LXV, 1775, p. 283—289. — Math. Memoirs I, 


London 1780, p. 23—36: Of the ellipsis and hyperbola. — Math. Memoirs I, 
Appendix. ” 


844 Abschnitt XXVI. 


einen Scheitel, einen beliebigen Kurvenpunkt und den Fußpunkt der 
aus ( auf die Tangente in D gefällten Normale, und setzt man: 


so ergibt sich: 


| Ba RE dzYVz 
(46) DP-ADe 0, 


a 








Nennt man andererseits (,, A,, D,, P; die analogen Elemente 


einer Ellipse, deren Halbachsen c=Ya?+ b?, b sind (Fig. 94), wo- 





> 











Fig. 94. 


bei D, derjenige Ellipsenpunkt‘ sein möge, dessen Ordinate: 


D,M-bY 
ist, so ergibt sich: 
a Aa 


Ist nun F der Punkt der Hyperbel, dem der Wert: 


A 
“= Paz 





von 2 zukommt, R der zu P analoge Fußpunkt, so folgt: 


rr2är-2fe du Yu 5 “abs Ve—2da 
) 2 Ya—wl’ ta) % ? Va tant 











also: 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 845 





DP-AD+FR- AF- [°*|- ee 
” le Va—»)(b’+ az) # Vz (b’+ a2)? 
+ const. 


Die unter dem Integralzeichen stehende Größe ist aber d-D,P;; 
also ist: 


DP—-AD+FR-AF=D,P, + const. 
Setzt man z2=(), so folgt: 
DP-AD=4 u=a, FR-AF=0, DP,=(; 
es ist also allgemein: | 
DP—-—AD+FR-AF=DP, +4. 


Ist insbesondere « = z, so fallen D und F mit einem und dem- 
selben Punkte E zusammen, P, R gehen in @ über, und man hat: 


b?(a — 2) 
= pFaz 

oder: 
ya b(e — b) 





ferner, wenn E,, Q, die zu E, @ entsprechenden, auf die Ellipse be- 
züglichen Punkte sind: 
E, Q, =c—b, 
und schließlich: 
= 2(EQ—- AE)— (c—b). 


Aus (46) folgt: 














1 -/% days 
2 Ya—2)b’+as)' 
also: 
pp-AD-i- |: eV 
) 2 Va—2)(0?+ a2) 
und: 


3 


ve days Fi duyu “ 
)TVa-a@ta J3 Vase 














u 


womit die Differenz zweier Hyperbelbögen durch eine Strecke dar- 
gestellt wird. Ä 

Diese Resultate stimmen wesentlich mit den G. Fagnanoschen 
überein. Am Ende seiner Abhandlung vom Jahre 1771 kündigt aber 





846 Abschnitt XXVI. 


Landen an, er habe einen allgemeinen Satz entdeckt, den er näch- 
stens mitteilen werde. Die Mitteilung geschah jedoch erst 1775. 
Setzt man: 


so erhält man aus (46): 


a? — ti? 
0 


ferner: 


5 b? - as). Er 
(48) BD = ug gi ne .- v3 


a 


Betrachten wir nunmehr eine zweite Ellipse (Fig. 95) mit den 
Halbachsen: 


a D und bezeichnen mit A,, B,,... 

ee I r— die zu A,, B,,... analogen, auf 
4, dieselbe bezüglichen Punkte. D 

CM 2 dieselbe bezüg . Der 

een Punkt D, werde auf dieser Ellipse 








Fig. 9. derartig gewählt, daß: 
D,P,=t 
sei; setzt man: 
00M,;-8, 
so ıst: 


VER 


2£ Ei 
DR=t=- Du 


wo «=Yy? — ß. 
Wir wollen t als neue Integrationsveränderliche in das Integral 
B,D, einführen.) Es ist: 





!) Spätere Untersuchungen haben der Substitution: 





= arg Yy? — & ; 
1Vrt—art® u 


die man üblich als „Landensche Transformation“ bezeichnet, eine große Wich- 
tigkeit erteilt. Setzt man: 





$=ysing, t=sing,, een ame Vorne, 








Transzendenten. Elliptische Integrale. 847 





Vr& ;B ns art — ey?(@?+ £?)&? = yet 








also 
EB - Y[e + BP Ve 2 + PR +] 
- le + ?-VI@ + M-Pll@ — BP Pl 
- le + r-Ve-Ba@= Bl; 
Differentiiert man, so ergibt sich: 
Ela VSEr Vene, 
folglich: 


ce” nr a —it 
2) al: + Vozr +Ve=s; 
oder, wegen (47), (48): 


ZEB-S3DPı BD ıDP- AD. 
oder auch: 


AD=BD,—-4B,D,+2D,P,+DP. 


Ist also ein Hyperbelbogen vorgegeben, so kann man zwei zwei 
verschiedenen Ellipsen angehörige Bögen auffinden, deren Differenz 
sich von diesem Bogen nur um eine gerade Strecke unterscheidet. 
Oder kürzer: Ein Hyperbelbogen ist durch zwei Ellipsenbögen rektı- 
fizierbar. 

Der Wert der Landenschen Entdeckung wurde zuerst von 
Legendre in zwei Abhandlungen aus dem Jahre 1786 ans Licht 
gesetzt. Bevor wir aber auf die Besprechung dieser wichtigen Ab- 
handlungen kommen, müssen wir einige inzwischen erschienene 
Schriften erwähnen. 

Dem Probleme, algebraische Kurven anzugeben, welche durch 
Kegelschnitte rektifizierbar sind, widmet Euler eine Reihe von 
Araemewe‘), welche uns TER interessieren, als sie die Bil- 


so nimmt die Transformation die Form: 
t 


(1-+K)sinpcosp 


sing, = Fo 





an (Enneper, a. a. O., p. 352), wo: 


Ig=yVi1—kKsng!, K:=1—K*. 


) De innumeris curvis algebraicis, quarum longitudinem per 
arcus parabolicos metiri licet (1776), Nova Acta Acad. Petrop. V, 1787 


848 Abschnitt XXVI. 


dung von auf elliptische Integrale zurückführbaren Integralen be- 
treffen. Von dem vorgestellten Problem gibt Euler, unter der Vor- 
aussetzung, daß der betrachtete Kegelschnitt eine Ellipse mit den 
Halbachsen 1, » ist, drei Lösungen. 


1. Es muß sein: 
Var + dy= = en 


wo %, y die Koordinaten eines Punktes der gesuchten Kurve be- 
zeichnen, während v die Abszisse des entsprechenden Punktes der 
Ellipse ist. Man setze nun: 

















FR ae DEE d BEE a 
ya Yo 
dann ist: 
Vde+ dp > re 2Pqv dv. 


| Nimmt man also für p, q zwei solche ganze rationale Funktionen 
von v, daß: 
+ 2p—-1—- (1 me 


ist, so sind die Differentialausdrücke dx, dy algebraisch integrierbar’), 





(publ. 1789), p. 59—70. — De innumeris curvis algebraicis, quarım 
longitudinem per arcus ellipticos metiri licet (1776), ebenda, p. 71 
bis 85. — De infinitis curvis algebraicis, quarum longitudo in- 
definita arcui elliptico aequatur (1781), Mem. Acad. St. Pet. XI, 1830, p. 95 
bis 99. — De infinitis curvis algebraicis, quarum longitudo arcui 
parabolico aequatur (1781), ebenda, p. 100—101.— De curvis algebraicis, 
quarum omnes arcus per arcus circulares metiri liceat (1781), ebenda, 
p. 114—124. — Mit diesen Schriften hängt die von Fuß zusammen: De in- 
numeris curvis algebraicis, quarum longitudinem per arcus hyper- 
bolicos metiri licet (1798), Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797—1798 (publ. 
1805), p. 111—138. 
Y, Ist nämlich: 


= Dar, g= Dr, 
h h 


und setzt man: 
yı +t=!1, 
so folgt: 
p+a= I te, E_ -nat, 


Yı-te 
dz= Y2 Da, + b,) (? — Yrdt, 
h 





also: 


woraus sich durch Integration ein Polynom in t, also eine algebraische Funktion 
von v ergibt. Dasselbe findet für y statt. 





Transzendenten. Elliptische Integrale. 849 


und ihre Integrale liefern die Parametergleichungen der gesuchten 
Linie. 


Einige einfachere Fälle sind folgende: 
«) pr=1l qg=e. 
Es ergibt sich«=1-+ n, also: 


y 


= zV2(1+W)[l-2n+(l+me], 
y- V2d —v)[-1+2n+(1+n)o) 
Br p=1+PpvV, q=av. 
Es muß sein: 
P— 20-0, @+2B-2u-— 14m, 
also: 
e=n—1, Bß=2(n-1), 
und: 
= v2 + v) [2 +3 —- (n—- 1)v+2n— 1)v?], 
z ; 
y=--VRA-W)[- 2% —-3+(n— 1) — 2(n — 1)02]. 
r) p=1+Pß%, g=av+yv. 


Es folgt hieraus: 


e=n+3, B=—2(n-+1), 
p=1+ Bv?+ dv, 


Es muß sein: 


= —-4n +1). 
Ö) g=av+yv. 
®+2Bß—-20a=n—1, + 26 +20y—20ß —2y=0, 
2Bö +? — 20 — 2 =0, 9 —2y0 = 0; 
eine Lösung dieser Gleichnngen ist: 
e=n—3, B=4n—2), y=—4n-—1), 6=—8(n—1). 
2. Setzt man: 


'v=sing, 
also: 





ds =Yeos p?+ n? sing? dg, 
so kann man annehmen: 


dx = (08 p cos® — n sing sino)dg, 


dy= (cosp sin®o +nsin@ cos@)dy, 


850 | Abschnitt XXVI. 


wo'@ eine auf passende Weise zu wählende Funktion von @ be- 
zeichnet. Nimmt man @=4g, wo A eine ganze von &1 verschie- 
dene Zahl ist, so erhält man: 


= Au: sin (A + 1) "sin (A — )p|, 


y- n 71, 008 A+Dp+ ir 


diese Gleichungen stellen eine algebraische Kurve dar. 
3. Nehmen wir zunächst an, es sei n>1. Wir können setzen: 
dx = (cosAp — msing sinAp)dp, dy=(sinAp + m sing cosAp)dp, 


wo A die obige Bedeutung beibehält, und m’=n?— 1 ist; hieraus 
folgt: 


- m m i 
x= —sinip — 2a) sin( —1)p+ sa rein (+ 1)9, 


1 
un en cos (A— 1)P — ar ‚eos(A + 1). 
Ist dagegen n < 1, so setzen wir: “ 
de = (n sin Ap + m c08p cosip)dgp, 
dy= (n cosAp — m cosp sinAp)dy, 


wo m’=1-—.n?; es folgt dann: 


= — 0084 en ‚sin(A—1)9+ sin (A+1)p, 


Er 





y- — sin Ip+; „cos —1)p+ cr 608 (A + 1)9. 

Eine längere Abhandlung widmet der schon oben genannte 
Malfatti!) den elliptischen Integralen. Nachdem er die Ellipse und 
die Hyperbel durch Reihenintegration rektifiziert hat, bemerkt er, daß 
zwar das Bogenelement dieser Linien die Form: 


m nz? 


FETT nd 





hat, daß aber nicht umgekehrt jedes Differential von A Form 
einen einzigen Kegelschnittbogen darstellt. Um die Differentiale von 
dieser Beschaffenheit zu untersuchen, schickt er einige Hilfssätze vor- 





t) Delle formole differenziali la cuiintegrazione dipende dalla 
rettificazione delle sezioni coniche,' Mem. Soc. It. II, P.II, 1784, p. 749 
bis 786! 7 


- 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 851 


aus, von denen die zwei ersten, ‚wie Malfatti selbst anerkennt, 
V. Riccati angehören. | 


a) mtna? ; np —mg)x’dx p+qr’dı 


p+ge  pYm+na)(p+gaN er 
_mp—myVY—m+z’dz myYp-+gx° 

















de, 
npVYnp— mg+.q2° pyYm+nx® 
wo: i 
er, 
n 


b) Setzt man: 


so erhält man durch partielle Integration: 


m+na , _ CE Je wer. VE 
SVor5ae I zdu=2y p+gqr® % atgwtt 


e) Setzt man: 





p+ge° 





N m tn 
so folgt: 

Par N& P-+q2° + Gene, k 
SV pre VE SV na 


Mit Hilfe dieser Sätze behandelt Malfatti die erener 








Fälle des Integrales vr: tes dx, woraus eine Klassifikation entsteht, 


die der Eulerschen ganz ähnlich ist. Es ist aber zu beachten, daß 
die Eulerschen Schriften Malfatti wohl unbekannt waren; wenig- 
stens tritt sein Name nicht unter den von Malfatti en 
(Fagnano, Maclaurin, d’Alembert, Lexell, V. Riecati) auf. 

Einen etwas eh Blendoankt nimmt Lagrange!) ein. 
Er geht von einer zu integrierenden rationalen Funktion von 2 und 
R aus, wo: 





 R=-YVa+bz+ca+ ren 
und reduziert dieselbe zunächst auf die Form: 


Nda 


du= 2°, 


') Sur une nouvelle möthode de calcul integral pour les diffs- 
sentielles affectees d’un radical carre sous lequel la variable ne 
passe pas le quatriöme degre, M&m. Acad. Turin Il, 1784—1785, Br 218 
bis 290; Oeuvres II, Paris 1868, p. 253—312. 

CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 55 


852  ihachnitt XEVE 


wo N eine rationale Funktion von z ist. Kommt in R keine un- 


gerade Potenz von x vor, und bringt man N auf die Form T+ Vz, 
wo 7, V rationale Funktionen von x° sind, so läßt sich nn durch 
elementare Funktionen integrieren, und es bleibt nur noch Im 


allgemeinen Falle setzen wir: 
= f(mtne+.®)m +nc+ &); 


es ergibt sich: 
ng e-+yh ‚_e—Yh 


2f ’ v 2f F 
b—cen-+en?— fn? , „b—en ten ?— fn” 
e— 2fn Re e—2fn ni 








Mm = 


wo h die Gleichung: 
%— (3 — Sef)h?+ (Bet — 16c®f+ 160°f? + 16bef?— 64af?)h 
— (8bf?— 4cef+ ef = 0 


erfüllen muß, welche offenbar stets eine reelle nicht negative Wurzel 
besitzt. Setzt man demnach: 


| m tn + x’ 
(49) arzt 





so ergibt sich: 


— (m + nz + 29)y, 


und das Differential nimmt die Form: 


Ndx 


du mEna Fang 





an. Es ist aber wegen (49): 


dx 


zyay = m+tnzc+ 





„tf@er +) — ve +n)], 


oder: 
dx 2dy 


mFne+a)y 2elf— tere, 








es folgt andererseits wiederum aus (49): 


2 ar =) + ln fny)—=Va + By’+rY, 


wo; | 
el? — LA) B=-—2f(n" —2m— 2m), y-n"— 4m, 


Be 





Transzendenten. Elliptische Integrale. 853 


2Ndy 


du= = 
Ve+Ppy®+ry‘ 








Da: 





u rn Eeryatby’ try 
2(f— y”) 
ist, so erhält man: 


N=g9Wy)+YVa+By try up), 


wo g(y”), v(y?) rationale Funktionen von y? bezeichnen, so daß du, 
von einem rationalen Differential abgesehen, in: 


BEER a. 


Va+ By°+ yy' 


übergeht, wo @ eine rationale Funktion von y? ist. 

Um dieses Differential behandeln zu können, muß man annehmen, 
daß «+ ßy?+ yy‘ in zwei reelle Binome zerlegbar ist, daß nämlich 
ß?>4ay. Ist dies nicht der Fall, so setze man: 








— Y . 
Ve+ßy'+yyt’ 
man erhält dann, nach Vernachlässiveung eines rationalen Differen- 
2 oO eo, 
tıales, einen Ausdruck von der Form: 




















Ldz > 
vı—2B2°+ (P?— day)e‘ 
oder: 
le Ldz 
vi+Rz +2 
wo: 


P?—4y= 16ay>0 


ist, da in dem betrachteten Falle 4«y positiv sein muß. Wir können 
also in allen Fällen setzen: 


Tax BURETE N DER ER 
Va+ ber tea Vom ne) pt an’ 





wobei 7 eine zellnahh Funktion von x? bezeichnet und m, n, 2,q 
reell sind. 


Ist n=0 oder g=0 oder 7 = n ‚ so ist das Integral auf ele- 


mentare Weise berechenbar; bestehen diese Bedingungen nur annähe- 
rungsweise, so kann man einen angenäherten Wert des Integrales 
durch Reihenentwicklung erhalten. Es ist aber immer möglich, das 


vorgegebene Differential in ein anderes überzuführen, welches, = ver- 
65* 


854 Abschnitt XXVI 


langten Bedingungen mit größerer Annäherung erfüllt. Nehmen wir 
an, es sei (+) > (2), und setzen wir: 


p 
# m +n«®? 
h Abuse =V+ qa®' 


— nn mi? — m +my1+2(2np - ma)yP + m?’gyt], 


wir erhalten hieraus: 





und folglich, wenn L, M rationale Funktionen von y? bezeichnen: 
Pdx z dy+ - Mdy 
Vm tra ptae) Vi + 2(anp may’ + m’gty‘ 


Das biquadratische Polynom ist, unter der Voraussetzung: 
n\2 q 2 
SHE 


1+[2np — mg + 2YVnp(np — mg) y? 


zerlegbar; ferner sind die beiden in eckigen Klammern stehenden 
Ausdrücke gleichbezeichnet, so daß man setzen kann: 














in zwei reelle Faktoren: 








np — mg + 2Vnpnp — mg)= +r}, 
np - mg F2Ynp(np -mq)= +8}, 





wobei die oberen Vorzeichen für np >0, die unteren für np<0O 

gelten, r und s positiv sind und r >s ist. Das zu behandelnde Diffe- 

rential ist also auf: 5 i | 
Mdy 

y utry)(t+s’y) 


reduziert. Wendet man auf dasselbe das obige Verfahren an, So er- 
hält man ein neues Differential: 








M, day, 
=» 
ya En’ )ALEs’UuN) 








wo: 
„-r+Vr-s>r 3 =, VrZ S<8 


ist. Auf gleiche Weise kann man fortfahren, bis s so klein geworden 
ist, daß die Annäherungsformeln anwendbar sind. 

Wie oben bemerkt, versuchte Euler die Ellipsenbögen ın die 
Rechnungen als ein len zu den Kreisbögen einzuführen. Le- 
gendre!) sprach auch den Wunsch aus, daß man Tafeln für Ellipsen- 





1) M&moire sur les integrations par arces d’ellipse, Hist. Acad. 











Transzendenten.  Elliptische Integrale. 855 


bögen verfertigen möge; und zu diesem Zwecke versuchte er, Reihen- 
entwicklungen zu liefern, welche dazu geeignet wären, die Berechnung 
solcher Bögen zu erleichtern. 


Sind (Fig. 96): D 











Z 
CA=1, (B=d=-y1-d B Be 
die Halbachsen der Ellipse, und ist: 
z | 
CP=x si PM=y=be | 
| “=sing, | 1 Y c0o8 Q, > A r 
so folgt: Fig. 96. 


BM = E(c, g) = Napvi- einge, 


ba i 
AM=F(e y)= favyıi — c? c08 y?. 
0 





Aus diesen Formeln ergeben sich leicht die Werte von E(e, g), 
Fe, y) unter der Form von konvergenten Reihen, wenn c nicht zu 


nahe an 1 ist; im entgegengesetzten Falle kann man den Fagnano- 
schen Satz Feesnähen: 


Aus den obigen Formeln folgt: 


F 
Ee, p) - /Yı BE u cos ydg, 


1) 


ER Ai [v4 „sin u? dy. 


Auf diese Formen sind: 








Vv1—-e 


se 4 BEER 
JVFF 9 sin p?dg, SVI +9 e0s vay 
N 6 


zurückführbar; dasselbe läßt sich aber nicht von: 





Y Y = 
JVs es p°—fdg, JVf=3 sin p’ dp 
0 0 y 


Paris 1786 (publ. 1788), p. 616—643. — Second m&moire sur les inte- 


grations par arcs d’ellipse, et sur la comparaison de ces arcs, 
ebenda, p. 644—683, 


856 Abschnitt XXVI. 


Y 
für 9>f behaupten. Übt man auf diese letzten Integrale die Sub- 


stitution: x 
sinp = sin« sin ® 


u — arc cos VL, 
9 


und setzt man sin« = c, so folgt: 


aus, wo: 








? N 
/Vs cosp? — fdp SV 9° — cosa?)dyp 
0 0 











y | . = 9%) A ; 
= ‚yon e — sinp)dp=cYy Sr 2. 


ce? sin »? 
[ie 


-eval [Veintda- ae [ een 1 


Vi-— e’sino 








oE(c, ®) 


-Y9|eE(e, One) |: 


Die Integrale: 
[sin p° cosp’FAgp?"tidg, 


wo: 
N Bo 
Ay’=1— esın of, 


sind ebenfalls durch Ellipsenbögen ausdrückbar; sie lassen sich näm- 
lich auf 2 Ag?’"+idgp zurückführen, welches für jedes positive oder 


negative ganzzahlige m durch E und Zi ausdrückbar ist. 


de 
/ Die Rektifikation der Hyperbel 
2 kann man von derjenigen der El- 
u lipse abhängig machen. — Sind 
” (Fig. 97): 
AN CA=1, OB=b' 
A i die Halbachsen einer Ellipse, und: 


CF=c=-yV1—b, OB=b 


diejenigen einer Hyperbel, wobei 
- die beiden Kurven denselben Mittel- 
C - "DPF An punkt und dieselbe Fokalachse 
Fig. 97. haben; ist ferner CP’ die Abszisse 

eines Hs mebelunäken M', X der 

Schnittpunkt: des um C mit dem Radius CP’ gezogenen Kreises 
mit der Scheiteltangente der Hyberbel, Z der Schnittpunkt von 


- 

















_ Transzendenten. Elliptische Integrale. 857 


CX mit dem um Ü mit dem Radius CA gezogenen Kreise, M der 
Schnittpunkt der zu OA senkrechten Geraden ZP mit der Ellipse, 
und setzt man ACZ=g, so ergibt sich leicht: 


FM=-E=- | I ,V1- dcosg‘, 
0 


cosp? 





p 
AM=F= [Vi - cos gp!dg, 
0 
und hieraus: 
E=-tgpVl - css —@F—Weh- 
Das Integral: 


a FBELOR 


läßt sich in allen Fällen auf E, F und deren Ableitungen nach c 
zurückführen; dasselbe folgt von: | 
dz 
N 31 02%’ SV EEBs RED FEr 

Erst nachdem die erste Legendresche Abhandlung, deren 
Inhalt wir soeben wiedergegeben haben, der Pariser Akademie 
vorgelesen worden war, erfuhr ihr Verfasser, daß Landen den den 
Hyperbelbogen betreffenden Satz aufgestellt hatte. Er setzte sich 
dann vor, zu beweisen, daß sich der Landensche Satz aus seinen 
eigenen Resultaten herleiten läßt, und daß man auch eine unendliche 
Folge von Ellipsen auffinden kann, deren Rektifikation von derjenigen 
von zwei derselben abhängig ist. 

Es sei neben der schon oben betrachteten Ellipse noch eine 
zweite vorhanden, deren Elemente c’, b’, F’ usw. sein mögen, und 
setze man: 











e*’sinp’cosp ide uch 
Vi—-c*sing'° ( ” 


= — p übereinstimmt; das ist nichts anderes 
als die Landensche Transformation. Es folgt: 


wo mit dem früheren 


sinpg?= - [l+esinptcospAp|, 


—b 
woc= : ferner: 


er 


ame. Vi- 7  ? sin pidp’ x ce? sing cos pdyp 2sınp cosp dp. 


Aa—d)sinpg — 7 a+osing 
Nimmt man aber in der vorletzten Gleichung das untere Vor- 
zeichen und differentiiert, so ergibt sich: 





858 | Abschnitt XXVI. 


e*singpcosp’dp 
Ag 





4 sing cos g do= 2e sing cospdy + singAgydp ni 
es ist also: | 
ec? cosgp’dg 
Ay 
b’dgp 
—= 2ccospdp + 2Aydy — a 


2(1+0dF=2ecospdpg + Aydyp+ 





und man erhält hieraus durch Integration: 
(50) 2 +O)F=2esinpg+2F—b F = 


— 2csing+2F— (F- en 


= 2csnp ++ cd)F+ 


. Der Bogen der Ellipse mit der Exzentrizität ec wird also durch 
den Bogen der Ellipse mit der Exzentrizität c und dessen Ableitung 
nach c ausgedrückt, wobei: | 


’ 2ye 


= _— 


ite 
Es folgt aus (50) durch eine leichte Rechnung: 


2UHNF-AHNF- SU(L+P)F- VL -d)sinp 
| +2. sing‘, 
wo F” den Bogen einer dritten Ellipse mit der Exzentrizität: 


| ‚» _2Ve 
5 1+c 


bezeichnet. Fährt man auf gleiche Weise fort, so kann man eine 
unbeschränkte Folge von Ellipsen erhalten, deren Rektifikation von 
derjenigen von zwei derselben abhängig ist. Dac' >Yc> c, während 
9'<9@, so bilden die Exzentrizitäten eine zunehmende, die Amplituden 
dagegen eine abnehmende Folge. 

Bevor wir die späteren Untersuchungen Legendres Bosurachei 
müssen wir einige Worte einer hierher gehörigen Schrift des schon 
erwähnten Pietro Ferroni!) widmen. Um das Integral: 


(51) F 2 + ge Ie de 


EP un 








ne a LE Az ne 


auf einen Ellipsenbogen zurückzuführen, befolgt er einen sehr langen 


1) De caleulo integralium exercitatio mathematica, Florenz 1792. 








Transzendenten. Elliptische Integrale, 859 


Weg. Er bedient sich dazu des folgenden Pascalschen Satzes!): 
Ist (Fig. 98) NA der Radius der Basis, XN die Höhe und XA die 
Erzeugende eines schiefen Zylinders, beschreibt man einen Kreis um 
N mit dem Radius NA und einen zweiten Kreis auf NA als Durch- 
messer, und sind @, S zwei Punkte der beiden Kreise, deren Verbin- 


X 








Fig. 98. 


dungslinie durch N geht, so ist die Oberfläche des von den durch A 
und (@ gehenden Erzeugenden begrenzten Zylinderteiles gleich dem 
Vierfachen der Summe aller von X nach den Punkten des Bogens 
AS gehenden Strecken (d. i. des Integrales des Produktes einer solchen 
Strecke mit dem Elemente des Bogens AS). Diese Summe, oder 
dieses Integral, läßt sich auf die Form (51) bringen; da andererseits 
die betrachtete Zylinderfläche von dem Produkt der Erzeugenden mit 
einem Bogen des Orthogonalschnittes gegeben wird, und dieser Schnitt 
eine Ellipse ist, so ergibt sich von selbst das verlangte Resultat. 
Ferroni zeigt auch, daß man ein Integral von der Form: 


mer 


erhält, wenn man eine Ellipse oder eine Hyperbel auf die Fokalachse 
bezieht; daß man dagegen: 


PER 5, 

si h+kx da 

erhält, wenn man die Hyperbel auf die zweite Achse bezieht. 
Er behandelt ferner das allgemeine Integral: 


{ Vedz 
v+ 2! + fz+b®’ 


wo 2 positiv ist und die Wurzeln des Trinoms als reell vorausgesetzt 
menden, und stellt die ge Tafel der möglichen Fälle auf: 


\ Pascal, Oeuvres V, La Haye 1779, p. 407. Der Pascalsche Satz 
ist etwas allgemeiner. 


8360 Abschnitt XXVI. 


— — '— unmöglich 
— Ellipse 
Hyperbel 


++ 
| 


— — Hpperbel 


ed 
| + 
+++ 


Hyperbel und Gerade 
Hyperbel und Gerade 


I N U pe DD m 


+ ae: 
S + + + Ellipse und Gerade. 


Hyperbel, Ellipse und Gerade 


Die Schrift von Legendre!), mit welcher wir uns nunmehr zu 
beschäftigen haben, verdient wohl als die Grundlage der systema- 
tischen Behandlung der elliptischen Integrale bezeichnet zu: werden; 
und vielleicht hätte die Theorie dieser Funktionen am Einde des 
18. Jahrhunderts einen rascheren Fortschritt aufgezeigt, wenn nicht 
die Legendreschen Untersuchungen aus äußeren Umständen so gut 
wie unbekannt geblieben wären, bis sie zwanzig Jahre später durch 
die Exercices de calcul integral verbreitet wurden. 

Manche analytische Fragen, sagt Legendre, die sich nicht durch 
Ellipsenbögen auflösen lassen, führen zu Integralen von der Form 


I — ‚wo P eine rationale Funktion von x, R die Quadratwurzel 


eines Polynoms vierten Grades bezeichnet. Man kann aber nach- 
weisen, daß solche Integrale auf drei Typen reduzierbar sind, deren 
zwei ersten sich durch Ellipsenbögen ausdrücken lassen, während der 
dritte von verwickelterer Art ist; daß aber die zwei ersten Typen 
voneinander zu unterscheiden sind, hängt davon ab, daß der erste 
auf den zweiten zurückführbar ist, während das Umgekehrte nicht 
stattfindet. 


ı) M&moire sur les transcendantes elliptiques, oü l’on donne 
des möthodes faciles pour comparer et &valuer ces transcendantes 
qui comprennent les arcs d’ellipse, et qui se rencontrent frequem- 
ment dafs les applications du calcul integral, Paris, an II (1793). — 
Diese Abhandlung, welche der Pariser Akademie im April 1792 vorgelesen 
wurde, erschien im darauffolgenden Jahre als selbständige Schrift wegen der 
inzwischen geschehenen Abschaffung der Akademie. Sie ist selbst in Frank- 
reich sehr selten, und wir verdanken es der Freundlichkeit von Prof. A. Bou- 
langer zu Lille, der die Gefälligkeit hatte, ‘einen äusführlichen Auszug nach 
einem in der Bibliothek de la Sorbonne existierenden Exemplar für uns zu 
liefern, daß es uns möglich ist, über diese wichtige Schrift zu berichten. Das 
Wesentlichste des Inhaltes des M&moire wurde von Legendre in seine Exer- 
cices de calceul integral (T.I, Paris 1811) einverleibt. 


BE en) dm it Sn 2 = am 


Transzendenten. Elliptische Integrale. 861 


Die Reduktion des allgemeinen Integrales auf die erwähnten drei 
Typen geschieht folgendermaßen. 

Man kann vor allem R? in ein anderes nur gerade Potenzen der 
Veränderlichen enthaltendes Polynom von gleicher Ordnung durch 
eine lineare Substitution umwandeln; wir können also setzen: 


R= «+ Ba? + yat. 


Man kann ferner voraussetzen, P sei eine rationale Funktion von 
x°; zerlegt man nämlich P in die Summe einer geraden und einer 
ungeraden Funktion: 


P=P,+P, 





so ist Sf Be: bekanntlich ein elementares Integral. Es existiert 


dann stets eine Substitution, die das Integral in nn überführt, 
wo Ap=yY1l1-—esinp®, Q eine rationale Funktion von sin 9° be- 
zeichnet, und die Zahl ce zwischen O und 1 liegt. 

Ist nun @ zunächst eine ganze Funktion von sin p*: 





k 
1) — Da, sin @°*, 
kh=0 


und setzt man: 


so folgt: 


es ıst aber identisch: 


Ag: cosp- sinp’’= (2h—3)Z7,_;,— (1 + c)(2h—2)Z,_, 
+c(2h—1)Z,, 


wonach sämtliche Z, durch Z, und Z, ausdrückbar sind. — Ist zwei- 
tens Q gebrochen, so kommen auch Teilintegrale von der Form: 
£) dp 5 
Sarmanenas I 


vor; setzt man aber augenblicklich sing = x, so folgt: 


F A+neYyı—(lte)at+eizt 


ein Integral, für welches die folgende Rekursionsformel gilt: 


862 | Abschnitt XXVI. 


i@yl — (1+)a2?+ cat nr ec? 
(1 nad 1 = (2k — 2) (1 ex Be + =) II, 


- ar 9142" + BE) ans t AH Er 


— (2k— 5) II,_3, 








wonach sämtliche //, durch IZ,, II, und II_,, oder, was dasselbe ist, 
durch I1,, Z,, Z, ausdrückbar sind. — Die erhaltenen rag 
subsumieren sich unter die Form: 


ja (A+Bsing’)dp 


(1-+nsinp’)Ag 


Legendre unterscheidet aber drei Gattungen von elliptischen 
Transzendenten, nämlich: 


"_ [48, 
h F= (22: 
5 ' d 
2. @= A+ Being) 25; 


besondere Fälle dieser Gattung sind der Ellipsenbogen: 


E= fa pdy 
und der Hyperbelbogen: 


ET 8 [eos s’dp, 
—= Ag -tangp ®| As 


Zwischen F und E besteht die Beziehung: 


EEE REN le 


oc 


A+ B sing’ dp 
1+nsinp’ Ay 


. Für die Integrale erster Gattung hat man: 


we F(9)Z F(w)=F(u), 


wenn: 





3. H= 


coSsp cosy F sing siny Au —= cos u 
ist; hieraus ergeben sich die Additionsformeln: 


sin p cos yAy + sin v cos PAY 
1— e?singp°sin y? , 





sin u = 


c08 pcosy + sinpsinyAyAy | 
1 — c?’sin g?sin y? e 





cosu= 








Transzendenten. Elliptische Integrale. 863 


AypAy Te*sing sin cos p cos u 
Kr re 


1— c?sin p? sin y? 





und als besonderer Fall die Multiplikationsformeln, aus welchen 
sich die Teilungsformeln ableiten lassen. Das »-Teilungsproblem 
hängt von einer algebraischen Gleichung der n?-ten Ordnung ab, die 


iR 
sich auf. eine der "— I .ten Ordnung. reduziert, wenn n ungerade 
unddg= “ ist. 

| Besteht zwischen p, % und u die Beziehung: 


Fo)+FW)- Fü) 
so folgt: 


(DBF E(p) + E(w) — E(u) = € sin p sin y sin u, 





(54) II() + I) — IL(u) = 7;aretg n Ye sin p sin y sin w 


eg, 
wo: 





c? 
Sara urnlırh) 
1St. 


In seiner re Abhandlung von 1786 wurde Legendre dazu 
geführt, zwei Ellipsenbögen untereinander zu vergleichen, deren Ex- 
zentrizitäten c, c' und deren Argumente p, @’ in den Beziehungen: 








A = 2 e*’singp' cosp ar ER 
= — =(c—Y1-e?)sin 
ER, Yı-ec?sing® ze v ) = 


zueinander stehen. Diese letzte Gleichung läßt sich einfacher 
schreiben: 
sin (29 — P) = (sing. 


Hier dehnt Legendre diese Vergleichung auf Integrale aller 
drei Gattungen aus. Es ergibt sich zunächst: 


4 [4 1 
Fe, p) = rk p); 


wendet man diese Transformation wiederholt an, so folgt: 


Dr 2ye EU 2ye ee 
i+e? er 


[70 [23 1+ [240 ‚ 1 2 ’ „ 
F(c', 9") = FE, p'), F(c,g”)= FERN), 





") Die Formeln (52), (53), (54) gehören eigentlich der Abteilung A dieses 


Kapitels an; wir haben dieselben aber hier des Zusammenhangs wegen an- 
geführt. 


864 la Abschnitt XXVI. 


Wie schon bemerkt, bilden ce, c‘, c’, ... eine zu-, 9, @, @",.. 
eine abnehmende Folge. Man kann aber auch die Folge nach der 
umgekehrten Seite hit fortsetzen. Ist nämlich: 


2ya Bd 6 BER 
i+@’ yet ! 


 sin(29—9)=c,sing,, sin (29, — 95) = 6, sin 2 > Daher 
(woraus sich ergibt: 
tang (p, — P)=V1— dtangp, tang(9,— 9) =YV1— c’tangp,,--), 


so hat man: 
1 1 6 
F(c, 9) = on F(c, 9), Fa, 9) = F(@, 9), °'; 


C, €, €, ... Ist eine ab-, @, @,, Pg, -. . eine zunehmende Folge. Ist 
dann c, so klein, daß es vernachlässigt werden darf, so ist annähe- 


rungsweise: 
F (ec, p,) I: Pn3 


== 











bezeichnet also ® den Grenzwert, welchem sich die Folge p, a, a, . 
unbeschränkt nähert, so ist: 
F(9)=- Bl +) +9). = 02/4 2Va..._.Ko 


4 
Ist insbesondere p = —, so folgt: 


Pi. 4 > 


Er 


3 
also: | 
F(e, 2) - F!(e) -KZ: 


Setzt man ar 





F d 
G, - fa, + B, sin p,°) no A,p, = yi — 4’ sin p,°, 


so hat man: 





= 74(0,—% sin Q,), A=4A+5B, B, =, Ba. 


Es ergibt sich analog: 








1 
= an (@ - sing), A=-A+5B, B,—=B,6; 
i+e B, 1 1 
G,= re (6; — Fein g,), A=-A+gB, B=-7B6; 


u 








Transzendenten. Elliptische Integrale. 865 


Es ist zu bemerken, daß die Folge BD, B,, B,, ... rascher als 
die Folge c, c,, @&,, ... abnimmt. Können B,, c, vernachlässigt wer- 


den, so ist: 
Gr, er A,9, er” 2” A, D, 


wo: 

B 6 6,6 GCg"-&n_4\, 

u lt OREETITE TER AU ei 4); 
bezeichnet also L den Grenzwert von A,, so folgt: 


G = EL— 2 (Vasing, + V&& sing, + Va int. ): 


_ Für 9=-- hat man G= KL? ei 


Setzt man A=1, Ba @, so stellt. @ den Ellipsenbogen E 
dar; es ist also: 


E(,gJ)=KLö+- eva sing + Vet int... 


> 
ii 


E (e, =) - E\(c()= KL: 


Die Integrale dritter Gattung H lassen sich analog behandeln; 
' man kann aber auch auf dieselben eine oder die andere der beiden 


Substitutionen: 
(l+e)sinp 0 21,200 
sın op — 1 Le sing?’ sın op = ge Ay 
anwenden. 
Die Integrale: 


IIRPRERR LM Ir 7A nn 
TE a 


‚fPazt« +ßx+y2?+ sat 
Pdx 
Ve+ßa+ ya? +ö0° + yat + ßr° taae’ 
| Pdx 
VP+ya?+s2'+ ya° + Ba 
wo P eine rationale Funktion von x bezeichnet, lassen sich auf ellip- 


tische Transzendenten zurückführen; dasselbe gilt von dem Euler- 
schen Integral erster Art: 























wenn n = 3, 4, 6, 8, 12. 


866 Abschnitt XXVL 


C. Vermischte Fragen. 


Unter diesem Titel wollen wir einige wenige Schriften kurz be- 
sprechen, die sich keinem der beiden oben als Leitfaden angenom- 
menen Hauptprobleme anschließen. 

Vor allem erwähnen wir zwei Abhandlungen Lagranges mecha- 
nischen Inhalts), wo besondere elliptische Integrale berechnet werden, 
welche in elementare Integrale dadurch ‘übergehen, daß entweder das 
Polynom vierter Ordnung einen zweifachen Faktor besitzt, oder eine 
unter dem Integrationszeichen auftretende Konstante sehr klein ist. 

Hierher gehört auch eine Schrift Eulers?), welche den Zweck 
hat, eine stark konvergierende Reihe für den : der Ellipse auf- 
zustellen (s. o. 8.466) Ist: 

ae 2; 
ge 


die Gleichung der Ellipse, so setzt Euler: 





aba Ka a er Sr 
| Pe a SD 
ferner: 
2 2 
EEE CB re, 
a+b Pop: N. 
Es ist dann, wenn s die Ellipsenquadrante bezeichnet: 
+1 Ä 
Ins; € "ds ( 1 1-1 
— I—— (11l- en - —_?—-- ) 
alleı ap. | yı—’ 2 2-4 
+1 +1 +1 : 
a ” de 1 u ” 2de 1-1 » g?ds 
ay2l, Pie 2 /yı-e ?4 Jyı-z 
—1 —1 


) Recherches sur le mouvement d’un corps qui est 

attir6E vers deux centres fixes, Misc. Taur. IV, 1766—1769; 
Oeuvres II, Paris 1868, p. 67—121. — Sur la force des ressorts 
plies, M&m. Acad. Berlin XXV, 1771; Oeuvres II, Paris 1869, p. 77—110. 
r. Nova series infinita maxime convergens perimetrum ellipsis 
exprimens, Novi Comm. Acad. Petrop. XVII, 1773 (publ. 1774), p. 71—84. — 
Weitere Reihenentwicklungen für elliptische Integrale finden sich u. a. in: 
Lambert, Beyträge zum Gebrauche der Mathematik und deren An- 
wendung III, Berlin 1772, p. 35—55; Ivory, A new series for the recti- 
fication of the ellipsis; together with observations on the evolution 
of the formula (a? +b*?— 2abcosp)” (1796), Trans. R. Soc. Edinburgh IV, 
1798, p. 177—190; Trembley, Observations sur l’attraction et l’Equi- 
libre des sph6roides, Hist. Acad. Berlin 1799—1800 (publ. ge R: 68 
bis 109. 





"Transzendenten. Elliptische Integrale. 867 











Es ist aber: 

+1 +1 +1 £E 

} dz N [ 2dz 0 tr®dz IE A ar BEL 
JVı— 2 "IA ng er I BATrwer 
= 1 Ei A 





a ahar: ER ui 
575 2 2.4 4 2.4.6.8 
2-88 1.1:0:8.2:0 
7 2,4-623-4.6-8.10-18*% ne], 


eine Reihe, welche sehr stark konvergiert. 
Wichtiger ist die Abhandlung Eulers über die elastische Kurve r 
(s. o. 8. 505£.): 


> " 1°dz 
fe 
Ö 
eine Linie, welche schon früher von Jakob Bernoulli und von 


Maclaurin?) betrachtet worden war. Ist (Fig. 99): 
CP=& PM=(0Q9=y, u 


so ist die der Abszisse CB- 1 ent- ee 
sprechende Ordinate: x 

=. 
x?dx D A 
: 


1 
cD=-[, m 


0 























Die Kurve ist symmetrisch in be- Ä 
zug auf die durch D zur x-Achse € we a 
parallel gezogene Gerade DA. Man en 
findet ferner, wenn MN die Normale in M, N ihren Schnittpunkt 
mit der y-Achse, O den Krümmungsmittelpunkt bezeichnet: 











) De miris proprietatibus curvae elasticae sub aequatione 
x?dx 

JVı=a 

contentae, Acta Acad. Petrop. 1782, P. II (publ. 1786), p. 34—61. ?) Siehe 


diese Vorl., III2, 8. 221; Enneper, a. a. O., p. 525. 
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 56 








y- 


2 sy 


868 Abschnitt XXVI. 


Setzt man P=ys, so folgt: 


Fi fon fa an ee 


es ıst aber: 








a 
seat garten 1.9.8 er ae 
2r 2.4.-:2r 4r+3?’ 
r=0 
nr < 4 
7 + 3- Sasse — 4) zirdx 5 4 5 3 Es (2r — 1) 1 nr 
’ “.. . ) 
! 2.4 29 4r—+1 
7 x 
de 1 arte Be, / ide 
Yvi-ıat 2’ Via A+2) yı-z 
0 0 0 


1 
er ED 1 

— Art 2)Ar—2)---10-6 Ta niidir Wi 22 28 re 
0 


folglich: 








1 


® a u 24 3 
F n > 2 ER2 "dx 
Er En 2.4...2r7 en vi—z 








a) UV 


1 1 
E 2 @r+1)(4r +3)’ 
r=®% 


E = “e-=1 .) 
fir ci > ar — 1) 1 fee 
AMr=0 r=0 2.4. 27 Ar +1 Vi1—x* 











0 . 
1 — 1 
3 Ze Fvarty) 
ER 
und hieraus: 
DO 1 uch 1 | 
a > dr +1 r ih =? 4 (@r L1)(är +3) | 
set r=0 
art 1:7 rearcigehel ppekarirem Ri, 
Dal I 13 4 
230 r=0 


Man kann selbstverständlich für die elastische Kurve alle Rekti- 
fikationsprobleme auflösen, deren Behandlung für die Kegelschnitte 
schon oben besprochen wurde. Bezeichnen &,, x, die Abszissen von 
zwei Kurvenpunkten M,, M,, so ist: 


% V 1 — %s a V ke, ? 


142°, 








Lg = 





Transzendenten. Elliptische Integrale. 869 


die Abszisse eines dritten Punktes M,, der zu den oberen in der Be- 
ziehung: 

CM,=CM,+CM, 
steht. Sind ferner P, Q, R drei Kurvenpunkte, so läßt sich ein 
vierter Punkt $ derart angeben, daß RS= PQ ist. 

Unter den zahlreichen Schriften geometrischen Inhalts, welche 
elliptische Funktionen berücksichtigen, erwähnen wir hier eine Ab- 
handlung von Euler über die Oberfläche des schiefen Kegels (s. o. 
5. 520)'), und eine von Schubert über die Abwicklung der ebenen 
Schnitte eines Zylinders?) (s. o. 8. 521). 

Wir können diesen Abschnitt nicht beschließen, ohne einen 
Namen auszusprechen, der in der künftigen Periode eine Hauptrolle 
spielen wird. Der princeps mathematicorum, Karl Friedrich 
Gauß (1777—1855), beschäftigte sich seit seiner ersten Jugend mit 
elliptischen Integralen, und es ist wohlbekannt, daß manche von den 
wichtigsten Entdeckungen Jacobis und Abels ihm seit lange ange- 
hörten. Leider hinterließ er von seinen jugendlichen Studien über 
diesen Gegenstand nur einige handschriftliche Fragmente, welche erst 
nach seinem Tode gedruckt wurden?), und aus welchen es nicht leicht 
zu ersehen ist, wie tief er während unseres Zeitabschnittes in die neue 
Theorie eingedrungen war. Wichtige Aufschlüsse hat jedoch das 
Tagebuch von Gauß gegeben.®) 


') De superficie coni scaleni, ubi imprimis ingentes difficul- 
tates, quae in hac investigatione occurrunt, perpenduntur (1776), 
Nova Acta Acad. Petrop. III, 1785 (publ. 1788), p- 69—89. Siehe auch die oben 
besprochenen Schriften von Legendre von 1786 und 1793. ?) De evolu- 
tione sectionum cylindri (1798), Nova Acta Acad. Petrop. XII, 1795—1796 
(publ. 1802), p. 190—204. °») Gauß, Werke III, Göttingen 1866, S. 404—406 
(1797), 433—435 (1799); VII, Göttingen 1901, $. 98—117. #) Über das von 
P. Stäckel entdeckte Tagebuch vgl. F. Klein, Mathem. Annal. LVII, 1903, 
p. 14—32. 


56* 


















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ABSCHNITT XXVI 


TOTALE UND PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 
DIFFERENZEN- UND SUMMENRECHNUNG 
VARIATIONSRECHNUNG 


VON 


C. R. WALLNER 





Totale und partielle Differentialgleichungen. 


Um die Mitte des 18. Jahrhunderts sehen wir die Theorie der 
Differentialgleichungen bereits als eine selbständige mathematische 
Disziplin vor uns. Während die Untersuchung von Differential- 
gleichungen anfänglich nur Mittel zum Zweck war, während ihre 
Lösung ursprünglich sozusagen nur als Nebenrechnung bewerkstelligt 
wurde, war ihre Integration mittlerweile Selbstzweck geworden. 
Auch die Problemstellung hat sich geändert. In den ersten Zeiten 
werden Integrationen in geschlossener Form durch elementare Trans- 
zendenten verlangt, bald beschränkt man sich auf bloße Quadraturen; 
aber auch diese Forderung wird fallen gelassen; man ist zufrieden, 
überhaupt die durch die gegebene Differentialgleichung definierte Ab- 
hängigkeit diskutieren und womöglich durch unendliche Reihen oder 
bestimmte Integrale ausdrücken zu können. Trotz dieses freiwilligen 
Aufgebens zu hoch geschraubter Forderungen ist natürlich die Frage 
nach Integrationen in endlicher, geschlossener Form nicht erloschen; 
aber während man früher schlechthin für jede Differentialgleichung 
ein derartiges Integral verlangte, fragt man jetzt umgekehrt nach 
Gleichungen, welche eine Integration durch eine endliche Zahl ele- 
mentarer Funktionen erlauben. Derartige Nachforschungen haben die 
Entdeekung größerer Gruppen integrabler Typen zur Folge. Solche 
enthält z. B. eine Arbeit von d’Alembert in den Memoiren der 
französischen Akademie von 1767.!) D’Alembert sucht zuerst Aus- 
drücke, die sich mit Hilfe der Exponentialfunktion, des Integral- 
logarithmus, von Logarithmen und elliptischen Integralen integrieren 
lassen. Im folgenden gibt er eine Reihe von eigentlichen Diffe- 
rentialgleichungen, meistens 2. Ordnung, die aber viel zu speziell 
sind, als daß wir hier darauf eingehen könnten, und Bedingungen 
für ihre Integrabilität. Wie er diese Gleichungen erhalten hat, legt 
er in einem späteren Aufsatze dar?): Seine Methode besteht darin, 


') Histoire de l’Acad6mie Royale des Sciences (avec les M&moires de 
Math@matique et de Physique) 1767 (1770), p. 573 ff. (s. o. S. 728, 838). Die 
Seitenzahl bezieht sich hier, wie bei den Petersburger Akademieschriften, nur wenn 
besonders bemerkt auf die Histoire selber. ?) Ebenda 1769 (1772), p. 73ft. 


874 Abschnitt XXVIl. 


aus einer integrablen Gleichung durch verschiedene Kunstgriffe wieder 
neue abzuleiten. Ähnlich leitet Euler!) aus der Gleichung ddy = Yda°, 
wo Y eine Funktion von y allein ist, und die mit Hilfe des Multi- 


plikators 2 = integriert werden kann, neue Typen ab, indem er 


z. B. x als abhängige Variable auffaßt. So ergibt sich 
| dyd’ =— Yaz, 
d. i. in unserer ne | 
| Fe kiss Y(,). ! 
Eine neue Gleichung liefert die Einführung von 
ds = Vda? + dy® 


SSddz + SdSdz — aazda?’ = O 





usw. Aus 


leitet er?) durch Substitutionen wie z= “ und S= a wo P und 


R Funktionen von & sind, neue eikhihgä und im Falle der Inte- 
grabilität neue Fälle integrabler Gleichungen ab. Ähnlich erkennt 
er, daß die Gleichung 

I: (Ei) RR (=) MR re te 


a\dt:) \dx? E% 





ein endliches Integral besitzt.) Ein von Euler oft geübtes Ver- 
fahren, in endlicher Form integrable Differentialgleichungen zu finden, 
besteht darin, daß er die Bedingungen aufsucht, unter welchen die 
das Integral darstellende unendliche Reihe abbricht (vol. S. 913, Pa 
und 992). So per er die Gleichung 


FL 
ER E- amt 0 
allgemein in der Form Ä 
m+i1 


Y ke? (1 — Ba?" + Da®" —.. -) sin ber + 0) 
ME 


m+1 


— ka ? (Aa — Cam +... .) 608 ( +0 
INK 





%, Institutiones calculi integralis, vol. II, 1769, p. 25. 2) Ebenda, p. 142. 
3) Miscellanea Taurinensia t. II, (der Index 2 deutet die 2. Paginierung an) 
1762/65 (1766), p. 70. Die Klammern deuten, wie überall im folgenden, partielle 
Differentialquotienten an. # Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, 
t. IX, 1762/63 (1764), p. 298. | Zu 








Totale und partielle Differentialgleichungen. 875 


wo k und # die Integrationskonstanten sind; er untersucht, für welche 
Werte von m die Reihen abbrechen. Denselben Gedankengang wendet 
Laplace auf die partielle Differentialgleichung 2. Ordnung an (vgl. 
S. 1001). 

Naturgemäß mußte sich bei eingehender Beschäftigung mit der 
Theorie der Differentialgleichungen rasch eine Einteilung derselben 
herausbilden: man schied in die zwei Hauptgruppen der totalen und 
partiellen Gleichungen. Des weiteren wurden die Begriffe Ordnung!) 
und Grad einer Differentialgleichung zur Abgrenzung einzelner Typen 
herangezogen und zwar in der Weise, daß man bald Gleichungen 
gegebener (meist 1. oder 2.) Ordnung aber beliebigen Grades, bald Glei- 
chungen gegebenen (besonders 1.) Grades und beliebiger Ordnung 
ins Auge faßte. Einen anderen Gesichtspunkt bildete die Zahl der 
Variabeln, und hier ist es wieder die Gleichung mit 2 bzw. 3 Ver- 
änderlichen, die am meisten untersucht wurde. Diese Art der Ein- 
teilung ergibt sich als die natürliche, wenn man die Integration der 
Differentialgleichungen als rein mathematisches Problem auffaßt, und 
demgemäß werden auch die einfachsten Fälle, die sich bei dieser 
Unterscheidung ergeben, wegen ihrer theoretischen Bedeutung eifrig 
behandelt. Die Praxis freilich führt sehr häufig gerade auf viel 
schwierigere und kompliziertere Fälle; Simultansysteme und große 
Zahl von Variabeln sind in Astronomie und Mechanik Regel, und es 
ist nichts Seltenes, daß alle die schönen Integrationstheorien der 
reinen Mathematik vollständig versagen und man zu Kunstgriffen 
seine Zuflucht nehmen muß. Trotzdem haben hierher gehörige Pro- 
bleme wegen ihrer eminenten Bedeutung die hervorragendsten Geister 
dauernd beschäftigt, und wir begreifen, daß die Weiterentwicklung 
der Theorie der Differentialgleichungen der Verfolgung von zweierlei 
Absichten zuzuschreiben ist: erstlich war es das Streben nach — so- 
weit möglich — vollständigen und erschöpfenden Theorien für die 
theoretisch interessanten Fälle; andererseits war es das Verlangen, 
die aus der Anwendung hervorgegangenen Methoden und Kenntnisse 
so allgemein und einheitlich als möglich zu gestalten. Diese An- 
regung aus der Praxis, dies Verlangen nach Ausbau wichtiger theo- 
retischer Fragen lösen sich fortwährend ab und fördern, sich gegen- 
seitig beständig ergänzend, in gleicher Weise die schon gewonnenen 
Resultate. 

Indessen ist doch wenigstens zu Beginn des hier geschilderten 
Zeitabsehnittes ein deutlicher Unterschied hinsichtlich des Objektes 
dieser treibenden Momente zu konstatieren. Der Gesichtspunkt prak- 





!, Im Lateinischen „gradus“, 


876 Abschnitt XXVIL 


tischer Verwertbarkeit kommt vorzüglich für partielle Differential- 
gleichungen in Frage, während von den totalen Gleichungen hauptsäch- 
lich solche behandelt werden, die formal, also vermöge Grad, Ordnung, 
Variabelnzahl eine ausgezeichnete Rolle spielen. Doch bietet auch bei 
totalen Gleichungen die Anwendung noch oft genug den Ausgangspunkt, 
die Veranlassung zur Untersuchung; es sei hier nur auf das Vorkommen 
der natürlichen Gleichungen bei Nils Landerbeck (1735—1810, Pro- 
fessor zu Upsala) hingewiesen. In einer Abhandlung aus dem Jahre 1783 


wird zunächst ein index variationis curvaturae T’= 77) wo R den 


Krümmungsradius, dz das Bogenelement einer ebenen Kurve bedeutet, 


[4 


sowie eine Hilfsgröße p, die mit unserem DIR 


vi+y® 
finiert. Es werden nun Kurven gesucht, die durch eine Relation 
zwischen 7 und p oder verwandten Gebilden definiert sind. Interesse 
für uns besitzt nur ein Scholion?), das die Aufgabe enthält, aus einer 
Gleichung zwischen 7 und R, also einer speziellen Gattung natür- 
licher Gleichungen die betreffende Kurve zu ermitteln. Landerbeck 
benutzt zur Integration einen Hilfssatz 





identisch ist, de- 


dR dp 5) 


RT... yiep® 

der sich leicht verifizieren läßt. Die Integrationen selbst bieten, 
weil an ganz speziellen Beispielen vorgenommen, keinerlei mathe- 
matisches Interesse. In einer Fortsetzung dieses Aufsatzes*) ist auf 
die Möglichkeit hingewiesen, aus einer Relation zwischen 7 und 2 
oder zwischen R und z die Gleichung der Kurve in x und % Koordi- 
naten zu bestimmen. An die umgekehrte Aufgabe, eine gegebene 
Kurve durch eine Gleichung zwischen R und z darzustellen, ist ın 
keiner Weise gedacht; sind doch auch die erwähnten Probleme für 
Landerbeck nur Aufgaben unter vielen anderen und in keiner Weise 
ausgezeichnet. 

Wir haben heutzutage für die Einteilung der Differentialglei- 
chungen außer den oben genannten noch andere Gesichtspunkte mehr 
funktionentheoretischer Natur, wie die Art der Unstetigkeiten des 
Integrals (z. B. ob fest oder verschiebbar), das Verhalten im Un- 
endlichen u. a. m. Derartige Untersuchungen kommen natürlich vor 
Ausbildung der Funktionentheorie fast nicht vor, doch sei hier auf 





!) Philosophical Transactions, vol. 73, 1783, p. 458. 2) Ebenda, p. 467 
3) Das negative Vorzeichen rührt von geometrischen Betrachtungen her. 
*, Philosophical 'Transactions, vol. 74, 1784, p..478, Schol. 2. 











Totale und partielle Differentialgleichungen. 877 


eine Stelle bei Euler!) hingewiesen, an der gezeigt ist, wie eine 
gewisse Methode der Integration durch Approximation infolge be- 
stimmter Unstetigkeiten des Integrals hinfällig werden kann. Es ist 
speziell von der Differentialgleichung 

dd en ffyde’ _ 0 


He act 


die Rede, deren vollständiges Integral 


y-Asin-( + «) 


ist. Hier geht, sagt Euler, während x von O bis w, d. i. einer sehr 
kleinen Größe, wächst, der Winkel n + « aus dem Unendlichen ins 


Endliche über, so daß sein Sinus inzwischen alle Zwischenwerte von 
+1 bis —1 unendlich oft annimmt. 

Die Frage nach der Existenz der Integrale, die nach unserer 
Ansicht den speziellen Untersuchungen voranzugehen hat, existiert 
vor Cauchy überhaupt nicht. Einerseits war die Zeit für derartig 
kritische Fragestellungen noch nicht reif, andererseits mochte die 
geometrisch oder physikalisch evidente Existenz der Lösung von 
Problemen, die aus der Praxis genommen waren, die Überzeugung 
erwecken, daß auch der entsprechenden mathematischen Formulierung 
der Aufgabe eine Bedeutung zukommen muß. Indessen findet sich 
doch, wiederum bei Euler, eine Überlegung, die, wenngleich mit der 
Frage nach der Existenz der Integrale in keinerlei Zusammenhang 
stehend, doch Cauchy nachmals bei seinen Untersuchungen genützt 
haben kann. Euler stellt nämlich an die Spitze eines Kapitels 
seiner Integralrechnung, das speziell von der Integration durch Ap- 
proximation handelt?), folgende Auslegung der Differentialgleichung 
d 
r 
Nimmt x der Reihe nach die Werte a,«a’,a”, a”,... an, so nehmen, 
wenn die Differenzen «@ —a, a” —a,... sehr kleine Zahlen sind, 
y und V die Werte b, b', 6”, b”,... bzw. A, 4’, A”, 4’”,... an, wo 
die a, b, A durch die Gleichungen 


b’ ser b 4 A(a rt a); bh" a b’ + A (a” == a’); 
le ER ur + vi (a ER3: a); : 


= V, wo V eine gegebene Funktion von x und y ist (s. 0. 8. 734): 


verbunden sind. Euler hat also hier ähnlich wie Cauchy ein Inte- 





') Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 355. ”) Ebenda, vol. I, 1768, 
p. 493, 


878 Abschnitt XXVIL 


grationsintervall ax in Teilintervalle aa’, a’ a”,... zerlegt und die 
vorgelegte ‚Differentialgleiehung näherungsweise als Differenzenglei- 
chung angesehen. 

Unter der stillschweigenden Voraussetzung also, daß eine Inte- 
gration immer möglich sei, war man zu verschiedenen Erkenntnissen 
über die Natur der Integrale gelangt. Die Tatsache, daß in das 
Integral der totalen Differentialgleichung »‘® Ordnung mit 2 Variabeln 
immer n Konstante eintreten, ist längst bekannt'); über die Zahl der 
willkürlichen Funktionen im Falle partieller Differentialgleichungen 
finden sich Untersuchungen in den Memoiren der Pariser Akademie?). 
Umgekehrt wird die Frage nach der Ordnung der Differentialglei- 
chung, die durch Elimination von » Konstanten entsteht, behandelt. 
So zeigt Lagrange?), daß aus einer Gleichung mit 3 Variabeln und 
5 Konstanten immer eine partielle Differentialgleichung mit 3 Variabeln 
und 5 Differentialquotienten hervorgeht, so daß also die gegebene 
Gleichung einer partiellen Gleichung 2. Ordnung gleichwertig ist. 

Einen größeren Reiz übte auf viele Mathematiker das Problen, 
von vornherein, a priori, ganz allgemein den Bau, die analytische 
Form der Integrale und die Natur der darin auftretenden Transzen- 
denten zu bestimmen. Die betreffenden Mathematiker waren sich 
natürlich der Schwierigkeit und Unbestimmtheit dieser Fragestellung 
gar nicht bewußt; man denke nur, welche Hilfsmittel allein die 
Theorie der Integrale von Funktionen mit ausschließlich algebraischen 
Irrationalitäten erfordert, wie sie das abgelaufene Jahrhundert ge- 
schaffen hat, und man wird die Zwecklosigkeit jener Versuche ein- 
sehen. Insbesondere hat sich der Marquis de Condorcet mit 
diesem Problem beschäftigt?), ohne allgemein giltige Resultate zu er- 
halten; auch Laplace ist in dieser Hinsicht tätig, steckt sich aber 
von Anfang an engere Grenzen. Er versucht von vornherein, ohne 
wirklich Integrationen durchzuführen, lediglich auf Grund funktionen- 
theoretischer, sehr interessanter, allerdings nicht ganz korrekter 
Schlüsse die_Bo rm des Integrals dep partiellen Differentialgleichungen 
1. und 2. Ordnung festzustellen’ °), d. h. die Art der Verknüpfung der 
darin auftretenden willkürlichen Fünktionen zu bestimmen. Die Er- 
gebnisse seiner Untersuchung bilden die wesentliche Grundlage seiner 
Theorie der Integration der partiellen Differentialgleichung 2. Ordnung. 


an ee m 





.)) Siehe z. B. Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 367. 2?) Histoire 
de l’Academie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 1 ff. ®) Oeuvres de La- 
grange publ. par Serret, t IV, p. 89. *) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 
1772, part. 1 (1775), Histoire, p. 66. Viele spezielle brauchbare‘ Erkenntnisse: 
Ebenda, Memoires, p. 1ft. 5) Ebenda 1773 (1777), p. 347ff. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 879 


Ein wichtiges sich zwar nicht auf den äußeren Bau, so doch 
ebenfalls auf die Natur der Integrale beziehendes Problem wirft man 
mit der Frage auf, welcherlei Unstetigkeiten in den willkürlichen 
Funktionen einer Integralgleichung auftreten dürfen. Wir wissen 
aus dem vorigen Band‘), daß dieses Problem durch die Integration 
der Differentialgleichung der Saitenschwingungen veranlaßt wurde und 
ein Gegenstand lebhaften Streites unter den einzelnen Mathematikern 
war. Der vorsichtige d’Alembert, welcher von seinen Zeitgenossen 
am meisten Sion für Präzision und Exaktheit, für Strenge in der Rech- 
nung zeigte, wollte, wie wir uns erinnern, nur solche Funktionen zu- 
lassen, die nach Taylors Reihe entwickelbar sind, Euler glaubt diesen 
Funktionen keinerlei Beschränkung auferlegen zu dürfen. Beide Forscher 
bleiben bis zu Ende ihres Lebens hartnäckig auf ihrer Meinung bestehen 
und geben ihrer Ansicht wiederholt bestimmtesten Ausdruck, d’Alem- 
bert besonders in seinem Briefwechsel und in seinen Opuseules 
mathematiques, Euler u.a. in seiner Integralrechnung?). Die will- 
kürliche Funktion /, sagt dieser, kann so gewählt werden, daß die 
durch 5=f(n) dargestellte Kurve mit freier Hand gezogen und aus | 
Teilen verschiedener Kurven zusammengesetzt ist. Derartige Funk- 
tionen nennt Euler „discontinuas sen nexu continuitatis destitutas“ - 
die Fähigkeit, auch diskontinuierlich sein zu dürfen, bezeichnet er als 
eine „vis praeeipua“ der willkürlichen Funktionen. Zur Begründung 
für seine Behauptungen benutzt er gleich darauf das Beispiel der 
schwingenden Saite: Die willkürlichen Funktionen des Integrals, heißt 
es, stellen die Anfangsbedingungen dar im Fall, daß sie (analytisch) 
bestimmt werden können; da diese Lösung allgemein sein muß, jedem 
Anfangszustand genügen muß, ist sie notwendig auch für jene Fälle 
tauglich, in welchen man der Saite zu Beginn der Schwingungen eine 
ganz unregelmäßige, diskontinuierliche Form gibt, und die Integrations- 
funktion muß sich auch diesen Fällen anpassen lassen. 

Während nun Euler und d’Alembert, neben Daniel Ber- 
noulli die Häupter der beiden Parteien, ihrer ursprünglichen Ansicht 
unerschütterlich treu blieben, hat Lagrange, der den fast beruhigten, 
weil aussichtslosen Streit durch seine beiden großen Aufsätze über 
Natur und Fortpflanzung des Schalles neu entfachte und darin sich 
auf die Seite Eulers stellte, sich von d’Alembert zwar nicht völlig 
überzeugen, aber doch wenigstens zu dem Zugeständnis drängen 
lassen, seine Lösung sei nicht von jeglicher Beschränkung frei, sondern 
setze die Endlichkeit sämtlicher Differentialquotienten in allen 








') Vgl. diese Vorlesungen, III?, S. 900 ff. ?) Institutiones calculi inte- 
gralis, vol. III, 1770, p. 39. 


880 Abschnitt XXVI. 


Punkten der gegebenen Anfangsfigur implizite voraus!). Nach und 
nach flaute die Debatte ab, da eine Einigung nicht zu erzielen war; 
die späteren Forscher begnügten sich damit, gelegentlich zu der 
Sache Stellung zu nehmen. Auf diese Weise wird ersichtlich, daß 
Condorcet?) und Laplace mehr auf der Seite d’Alemberts standen, 
insofern als auch sie die willkürlichen Funktionen gewissen Beschrän- 
kungen unterworfen wissen wollten. So fordert Laplace für das 
Integral einer Gleichung »'® Ordnung die Stetigkeit der Ableitungen 
aber nur bis zur (n — 1)'® Ordnung einschließlich?) Für seine Auf- 
fassung ist folgende Überlegung maßgebend: Man kann jede Diffe- 
rentialgleichung als Spezialfall einer Differenzengleichung auffassen, 
es sind lediglich die Differenzen unendlich klein geworden. Für die 
Differenzengleichungen brauchen aber (wie durch geometrische Kon- 
struktion der Integrale solcher Gleichungen gezeigt wird) die will- 
kürlichen Funktionen durchaus nicht stetig zu sein. Die übrigen 
Geometer nehmen fast alle Eulers Standpunkt ein. Der Streit hat 
übrigens eine wichtige Unterscheidung der bei Kurven möglichen 
Unstetigkeiten geschaffen; nach einer von der Petersburger Akademie 
preisgekrönten Arbeit?) ist „discontiguite“, d. i. Unstetigkeit in unserm 
Sinne (etwa durch Sprung), von „discontinuite“ zu trennen. Letztere 
Art von Unstetigkeit besteht darin, daß die Funktion in verschiedenen 
Intervallen verschiedenen Gesetzen gehorcht. Der Verfasser, L. F. A. 
Arbogast (8. 667, Note 1), ist der Ansicht, daß beiderlei Gattungen 
von Unstetigkeiten in den Integralgleichungen zuzulassen sind; die 
Differentialgleichung verlange ja nur, daß ein Sprung des einen Diffe- 
rentialquotienten durch einen analogen Sprung des übrigen kompen- 
siert werde. Die Unstetigkeiten im zweiten Sinne werden überhaupt 
von den meisten Mathematikern zugelassen; erwähnt sei z. B. 


der Abbe T. Valperga di Caluso°) (1737—1825). Einen wirk- 


—— Nach Burkhardt, Entwicklungen nach oseillirenden Funktionen, 
Heft 1, \8/ 40. Dieser RD im folgenden einfach als Burkhardt zitiert, 
findet sich in den Jahresberichten der deutschen Mathematikervereinigung; da- 
selbst ist der ganze Streit bezüglich des Problems der schwingenden Saiten aus- 
führlich dargestellt. Der Briefwechsel zwischen d’Alembert und Lagrange 
in Oeuvres de Lagrange, t. XIII. Man vgl. auch d’Alembert, Opuscules mathe- 
matiques, t. I, 1761, p. 65ff. ?) Histoire de l’Acad&emie des Seiences 1771 (1774), 
p. 49 ff. und p. 69. Seine Schlüsse sind nicht streng, die Darstellung ist schwer- 
verständlich. ®») Ebenda 1779 (1782), p. 299 ff. #, Vgl. Nova Acta Aca- 
demiae Petropolitanae, t. V, 1787 (1789), Histoire, p. 5. Die Arbeit heißt Me- 
moing sur la nature des fonctions arbitraires, qui entrent dans les integrales 
des equations aux differentielles partielles, St. Petersbourg 1791. Vgl. auch 
Burkhardt a.a. 0. ®) Nach Burkhardt, Heft 1, S. 44 Mem. Tor. 1786/87 
(1788), p. 571. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 881 


lichen und zwar hochwichtigen Fortschritt bedeutet eine Arbeit von 
Jacques Charles (1746-1823, erst Beamter im französischen 
Finanzministerium, später Professor der Physik am Üonservatoire 
des arts et metiers und Mitglied der Academie des sciences). 
Dieser unterscheidet zunächst zwischen Kurven, die vollkommen will- 
kürlich, etwa aus freier Hand gezogen sind, die also, wie er sagt, 
nicht durch analytische Formeln ausgedrückt werden können, und 
Kurven, die in verschiedenen Abschnitten ihres Verlaufes verschiedenen 
Gesetzen gehorchen. Von letzteren behauptet er, daß sie immer durch 
‚einen einzigen analytischen Ausdruck dargestellt werden können und 
behandelt auch die Aufgabe, 'ein gegebenes „Gemisch“ von Flächen, 
Linien und Punkten durch eine einzige Formel auszudrücken. Als 
Vorbereitung zu dieser Aufgabe gibt er umgekehrt analytische Aus- 
drücke an, welche derartige Unstetigkeiten aufweisen. Ich bringe 
hiervon nur folgendes Beispiel). Sei 


z=9+ka+ [| — Sa er + R rn V(x a) (b— x), 


bed u 
a b 
rd 
wo @a<b. Charles untersucht diese Gleichung für den Fall 
ui 
Fz)=0 








Für a<xz<b sind 1— und -—1 beide negativ und die Glei- 
chung reduziert sich auf z2=g+kx. Liegt hingegen x außerhalb 


dieses Intervalls, so ist eine von den Differenzen 1 — - und - —1 


positiv, die andere negativ, die Gleichung reduziert sich auf 
2=g+ks+Ylea@—a)(b— a); 


dieser Ausdruck ist aber dann imaginär. Die Schnittlinie der Ebene 


F (2 ) —=() mit der gegebenen Fläche ist demnach ein Geradenstück 





mit der Gleichung z2=g+kx, wenn x von a bis b läuft. Analog 
läßt sich eine Fläche angeben, die mit F (2) —=(0 ein Geradenstück 


2=g' + k'x gemeinsam hat, wenn x von b bis c läuft. Das Produkt 
all der erwähnten Gleichungen stellt schließlich eine Fläche dar, von 


der F (2) = () einen gebrochenen Linienzug ausschneidet. Einzelne 


Punkte stellt Charles analytisch dar, indem er sie als isolierte 
Punkte von Kurven auffaßt. 





') Memoires de math&matique et de physique presentes par divers Savans, 
t. X, 1785, p. 586. 


882 Abschnitt XXVII. 


Als ganz entschiedener Anhänger Eulers ist endlich Monge zu 
nennen, der von geometrischen Überlegungen geleitet wird. In einem 
Aufsatz über die Bestimmung der willkürlichen Funktionen 
einiger partieller Differentialgleichungen!) zeigt er, daß dies‘ Problem 
bei gegebenen Anfangsbedingungen auch auf rein geometrischem Wege 
durch Konstruktion der Integrale behandelt werden kann. Da ergibt 
sich denn, daß unter Umständen diese Konstruktion, m. a. W. die geo- 
metrische Lösung des Problems noch einen Sinn behält, wenn jene 
willkürlichen Funktionen wegen auftretender Unstetigkeiten in den 
Anfangsbedingungen nicht mehr angebbar (inassignable)?) geworden 
sind (vgl. auch oben $S. 561). So ist ihm z.B. die Aufgabe, die will- 
kürliche Funktion p in der Gleichung Z=g[V(x,y)} zu bestimmen, 
wenn für ein gegebenes y—=A(x) gleichzeitig 2=Y(x) sein soll, 
identisch mit der Forderung, diejenige Fläche einer gewissen Flächen- 
familie zu finden, welche durch eine gewisse Raumkurve, nämlich 
y=4A(&) und 2= (x), hindurchgeht. Die betreffende Konstruktion 
wird sehr anschaulich und einfach durch Einführung der Schar von 
Zylinderflächen 

k (®, y) ee b, | 

welche auf der gesuchten Fläche eine Schar von ebenen Kurven aus- 
schneidet. Monge geht im folgenden zu Integralgleichungen mit 
mehreren willkürlichen Funktionen über, immer an einzelnen speziellen 
Aufgaben rechnerisches und konstruktives Verfahren erprobend. Dies 
ist übrigens nicht der erste Aufsatz von Monge über diesen Gegen- 
stand”), und auch später ist er wiederholt darauf zurückgekommen.®) 
Er bringt indessen nichts wesentlich Neues mehr; zu den schwierigeren 
späteren Aufgaben gehört z. B. folgende’): Ssiz=g(U)+vY(V), wo U 
und V gegebene Funktionen von x und y sind; es sollen p und v 
so bestimmt werden, daß für y= Fx von selbst z=fx und für 
y—F’'x analog z=f’x wird. Die Schwierigkeiten der Konstruktion 
von z2=M+Ngy(V)+Py(W)-+--: kann er nicht allgemein über- 
winden‘®); die Konstruktion gelingt ihm nur, wenn die willkürlichen 
Funktionen alle das nämliche Argument besitzen. Im ersten Fall 
wird Monge zu Differenzengleichungen geführt (vgl. S. 1051). Im 
Supplement zur Applikation kommt er endlich noch einmal auf diese 
Aufgaben zu sprechen. 

Die Bestimmung der willkürlichen Funktionen unter gegebenen 





t) Miscellanea Taurinensia V?, 1770—1773, p- 16 ff. ?) Ebenda, p. 21. 
®) Vgl. ebenda, p. 18: dans un me&moire preeedent, *) Memoires presentes 
par divers Savans, t. VII?, 1773 (1776), p. 267ff. Vgl. auch p. XIII der Vorrede. 
°) Ebenda, p. 306. °°) Ebenda, t. IX (1780), p. 345 ff. Der Aufsatz wurde 1774 
der Akademie vorgelegt. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 333 


Anfangsbedingungen tritt noch viel häufiger in der mathematischen 
Physik auf, und hier hat Euler für eine Reihe spezieller Probleme 
die Aufgabe rechnerisch gelöst. Die Erfüllbarkeit der gegebenen An- 
fangsbedingungen schien, auch wenn sie in analytischer Form vor- 
lagen, gemäß ihrer geometrisch-physikalischen Bedeutung bei allen 
derartigen Problemen schon von vornherein gesichert und wurde des- 
halb nie Gegenstand besonderer Untersuchungen. 

Im Anschluß daran behandeln wir einen interessanten Fall einer 
Randwertaufgabe bei d’Alembert.') Vom Problem der schwingenden 
ungleichförmigen Saite ausgehend, kommt er zu der Gleichung 

d? 

Ze =ı1X. 5, 
wo X eine gegebene positive Funktion von x bedeutet. Er fragt 
nun, ob man den Parameter A so bestimmen kann, daß diese Glei- 
chung eine Lösung zuläßt, welche in a und b verschwindet, ohne 
identisch zu verschwinden. Um diese Frage zu beantworten, führt 
er die obige Gleichung in eine Riccatische Gleichung über durch 


, 





Einführung der neuen abhängigen Veränderlichen z — G Durch 


Untersuchung dieser Gleichung kommt er zu dem Resultat, daß die 
gewünschte Parametervestimmung stets möglich ist, und zwar so, daß 
die betr. Lösung zwischen a und b nicht verschwindet. Daß es aber 
nur einen solchen Parameterwert gibt, wird nicht erwähnt, ebenso- 
wenig ist von den unendlich vielen Parameterwerten die Rede, welche 
man bekommt, wenn man Nullstellen zwischen a und 5 zuläßt. 

Man hat ziemlich von allem Anfang an die Integrale in voll- 
ständige (bzw. allgemeine) und partikuläre unterschieden. Dazu kam 
dann später unser singuläres Integral hinzu.) Endlich unterschied 
Lagrange bezüglich der Integrale partieller Differentialgleichungen 
zwischen vollständigem und allgemeinem Integral (vgl. indessen $. 969 
und 5. 972 Anm. 2).’) — Bezüglich des Integrals, das aus 


dz 


N dz ‚ Ä 
VYa,y,23,a4ab)=0, b=y(a), tar) = 0) 





‘) Histoire de l’Acad&mie de Berlin, t. XIX, 1763 (1770), p. 244. Nach dem 
Artikel „Randwertaufgaben bei totalen Differentialgleichungen“ in der Enzyklo- 
pädie der mathematischen Wissenschaften, II A 7a, 8.439. 2°) Eine Definition 
des partikulären Integrals bei Euler, Institutiones caleuli integralis, vol. I, 
sect. 2, cap. 4. Ferner bei Laplace, Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69, 
p- 174 (verdruckt statt 274), Definition des singulären Integrals bei Condorcet, 
ebenda, t. IV®, 1766/69, p. 6 (solution particuliöre); siehe auch Oeuvres de La- 
grange, t. IV, p. 7. °) Die Benennung der verschiedenen Arten von Integralen 
war jedoch beständigem Wechsel unterworfen. *) Wir haben bei den partiellen 

CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 57 


884 Abschnitt XXVII. 


durch Elimination von a und b hervorgeht, sagt Lagrange!), es sei 
beaueoup plus generale als das vollständige Integral und nennt es 
daher integrale generale. Bald darauf?) sagt er, das allgemeine Inte- 
gral schließe die vollständigen Integrale ein comme des cas parti- 
euliers. Lagrange beschäftigt sich auch mit dem Zusammenhang 
zwischen vollständigem und allgemeinem Integral und sucht letzteres 
im Falle der Differentialgleichung 2. Ordnung sowohl aus dem end- 
lichen vollständigen Integral als aus ersten Integralen herzuleiten. 
Er zeigt dabei?), daß das allgemeine Integral dieser Gleichung viel 
leichter aus den beiden vollständigen ersten Integralen als aus dem 
vollständigen endlichen Integral entwickelt werden kann und sucht 
deshalb aus dem letzteren auf das erste Integral zu schließen. Durch 
Einführung der partiellen Differentialquotienten 1. Ordnung geht aber 
aus der vollständigen Integralgleichung mit 5 willkürlichen Kon- 
stanten im allgemeinen eine Gleichung mit 3 Konstanten hervor, die 
nicht als erstes Integral der ursprünglichen Gleichung angesehen 
werden kann, da ein solches nur zwei Konstanten besitzen darf.) 
Doch kann man durch geschickte Kombination der einZelnen Glei- 
chungen in speziellen Fällen eine Gleichung mit bloß zwei Konstanten 
erhalten, wie Lagrange an einigen Beispielen zeigt. 

Auch Monge beschäftigte sich’) mit der: Aufsuchung erster In- 
tegrale besonders für Differentialgleichungen, von denen zu seiner 
Zeit wohl das endliche, aber nicht das erste Integral bekannt war; 
von den Zwischenintegralen einer partiellen Differentialgleichung 
2. Ordnung verlangt er®): sie dürfen keine Differentiationen 2. Ord- 
nung aufweisen, müssen aber dafür eine willkürliche Funktion ent- 
halten und sich durch einmalige totale Differentiation der Integral- 
gleichung und nachfolgender Elimination einer der zwei willkürlichen 
Funktionen samt ihrer Derivierten ergeben. J. Trembley (1749—1811) 
kommt gelegentlich‘) auf die Ergebnisse von Monge zu: reden und 
spricht dessen Gleichungen den Charakter von ersten Integralen ab. 





Differentialgleichungen die Schreibweise des Originals durchweg beibehalten, 
weil die sehr verschiedenartigen Manieren in der Bezeichnung das Suchen nach 
einer vorteilhaften Schreibweise am besten erkennen lassen. Lagrange deutet 
wie dies zum Teil noch heute üblich ist, die partielle Differentiation nicht be- 
sonders an. 


!) Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 74. Dieser Aufsatz stammt aus den 
Memoiren der Berliner Akademie für 1774. ?) Oeuvres de Lagrange, t. IV, 
p. 88. °») Ebenda, p. 101. *) Ebenda, p. 104. °’) In seinem großen Auf- 
satz über Differentialgleichungen in der Histoire de l’Academie des Sciences 1784 
(1787), der unten eingehend besprochen wird. ©) Ebenda, p. 135. 

’) Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XI, 1793 (1798), p. 79. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 885 


Eine gemischte Form des Integrals, die neben willkürlichen Funk- 
tionen auch eine Integrationskonstante « enthält, will Monge zu- 
lassen‘) Die Gleichung 


2=gplax— y+Ylbz — y)] 
ist Integral von 
02 Ööz2 Ö2 021 002 „odz 02 _ 0%) 
dyde® Lda A dxdy azdy!:. .../' 
Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß Laplace auf die 
Existenz trivialer Lösungen einer Differentialgleichung hingewiesen 
hat, die nicht als Integrale zu betrachten sind.?) So wird 


uMox-+uNcey=0 


durch u —0 erfüllt; aber die „eigentliche“ Lösung muß die Gleichung 
oy=p0x erfüllen, wo p eine Funktion von x und y ist. Eine ge- 
naue Definition, was als Integral zu gelten hat und was nicht, läßt 
sich bekanntermaßen bei Verwendung Monge-Liescher Vorstellungen 
in besonders anschaulicher Weise geben. 

Von größter Wichtigkeit sind die Untersuchungen, die sich auf 
die Theorie der singulären Integrale beziehen. Clairaut®) und 
Euler fanden auf diesem Gebiet zunächst keine Nachfolger; dieser 
leitet 1768 für Gleichungen 1. Ordnung ein allerdings wenig allge- 
meines Kriterium ab, durch das ein partikuläres Integral von einem 
singulären unterschieden werden kann, ohne daß das vollständige In- 
tegral der Gleichung bekannt ist. D’Alembert fügt in einer Ab- 
handlung aus dem Jahre 17695) wenig Neues hinzu; höchstens kann 
man sagen, daß er Eulers Überlegung strenger und schärfer macht. 
Erst Laplace faßt 1772 das Problem bedeutend weiter. Er verlangt 
ein für Gleichungen beliebiger Ordnung mit beliebiger Variabelnzahl 
geltendes, dem Eulerschen ähnliches Kriterium; außerdem stellt er 
die Forderung, es sollen sämtliche singuläre Integrale einer gegebenen 
Differentialgleichung angegeben werden. Durch Laplaces Arbeit 
angeregt, nimmt endlich Lagrange 1774 das Problem von neuem 
vor; er erkennt als erster die wahre Natur des singulären Integrals 
und seinen Zusammenhang mit dem vollständigen Integral. Die dar- 


') Me&moires presentes par divers Savans 1773 (1776), p. 322. Auf eine 
ähnliche Form des Integrals bei Monge (M&moires de Turin, t. V, p. 52) kommt 
Trembley eingehend zu sprechen in Nova Acta Academiae Petropolitanae, 
t. XIII, 1795/96 (1802), p. 134. ®) Wegen der Schreibweise vgl. 8. 1012 u. 1019) 
°) Histoire de l’Acad6mie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 34. 5 Vgl. 
diese Vorl., III?, $. 889. °) Histoire de l’Academie des Sciences 1769 (1772), 
p. 85 ff. 

57* 


886 Abschnitt XXVIl. 


auf gegründete Methode zur Bestimmung der singulären Integrale 
durch Elimination der Konstanten der Integralgleichung ist der 
Laplaceschen Herleitung an Eleganz, Sicherheit und Leichtigkeit 
der Handhabung bedeutend überlegen und hat deshalb das ältere 
Verfahren vollständig verdrängt. Die zweite, schon von Clairaut 
und Euler geübte Methode wiederholter Differentiation, die nicht 
vom Integral, sondern von der Differentialgleichung ausgeht, besitzt 
Lagrange ebenfalls, auch gibt er erweiterte Kriterien. Endlich be- 
handelt er die geometrische Deutung des singulären Integrals als 
Enveloppe einer Kurvenschar'), und ist der Ansicht, daß ım allge- 
meinen @ein "singuläres] Integral vorhanden ist. Daß ein Ort der 
Spitzen oder anderer Singularitäten auftreten kann, ist ıhm dabei 
entgangen; ebensowenig weiß er, daß es Integrale gibt, die zugleich 
partikulär und singulär sind, d.h. geometrisch gesprochen, daß ein 
Zweig der Enveloppe zu den Kurven der Schar gehören kann. 1774 
dehnt Lagrange seine Untersuchungen auf Differentialgleichungen 
höherer Ordnung und partielle Differentialgleichungen aus; endlich 
sind noch die, Arbeiten von Trembley?’) und Legendre zu er- 
wähnen. 

Wir können uns nicht versagen, näher auf die Aufsätze von 
Euler, Laplace, Lagrange und Legendre einzugehen. Euler 
sucht3), wie schon erwähnt, ein Kriterium, das gestattet, ein singu- 
läres oder partikuläres gegebenes Integral als solches zu erkennen. 
In gewohnter Weise geht er allmählich von einfachen Fällen zu 
schwierigeren über. So kommt er unter der Voraussetzung, das voll- 
ständige Integral laute y= C + P, zu dem Schlusse, daß Z für -—a 
nicht unendlich werden darf, wenn «= «a partikuläres und nicht sıin- 


guläres Integral von dy = E sein soll. Es ist dabei natürlich an- 


genommen, daß «= a die letztgenannte Differentialgleichung befrie- 
digt. Er untersucht noch weitere Fälle, wie 


Pdx Pdx 
RE 
vs Yon 
und bildet an ihnen folgende Untersuchungsmethode heraus*): Sei’ | 
Pdx 
d a (7) ’ 

) Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 38. Die Deutung des singulären Inte- 
grals partieller Differentialgleichungen: ebenda, p. 67. 2) M&moires de l’aca- 
demie royale des sciences de Turin 1790/91. Ferner Nouveaux M&moires de 
V’Academie de Berlin 1792/93 (1798), p. 341—416. Vgl. unten S. 908. '% In- 


stitutiones calculi integralis, vol. I, p. 393. *) Ebenda, p. 402. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 887 


wo Q für £=a verschwindet, P aber nicht. Man setze z=aT o, 
und „betrachte ® als unendlich klein“, so wird Q die Form Ro? an- 
nehmen; 2=a wird dann immer partikuläres Integral sein, außer 
wenn A<1. Als Beispiel gibt er: 


dx 
V( —- c08 =) 
wo sich der Nenner für <=4— o bei sehr kleinem » auf a 
ayz 
reduziert, wie durch Reihenentwicklung unmittelbar zu sehen ist. 


Hier ist A= 1; hätte man aber statt der Quadratwurzel eine dritte 
Wurzel im Nenner, so wäre offenbar 4<1. Im folgenden gibt 


dy = 


Euler die naturgemäße Erweiterung dieser Regel für Differential- 


gleichungen der Form z = n wo X und Y Funktionen von x 
bzw. y allein sind, und geht endlich ')zu dem Fall Pdxz = Qdy über, 
wo P und @ irgendwelche Funktionen von x und y sind. Dieser 
Gleichung genüge die endliche Auflösung y= X, wo X eine Funk- 


tion von x allein. Euler sagt, man ersetze in der gegebenen Diffe- 


rentialgleichung y durch X +» und bestimme = für unendlich 


kleine ©. Es wird = —= Sdx werden, und y—= X ist ein Integral 
[0] 


oder nicht, je nachdem A>1 oder A< 1. Nach dieser Ausdrucks- 
weise sieht es fast so aus, als ob Euler die singulären Integrale 


nicht als Integrale gelten lassen wollte; Namen hat er keinen dafür. 
Die oben beschriebene Methode führt z. B. bei 


ady— adı = dxY(yy - vr), 
weX=z, auf 


Ber dc Y2x;. din A 


yo 2 


Hieran knüpft Euler die weitere Bemerkung?): das Integral der ge- 
gebenen Differentialgleichung ist: 


2 = 
2ZayYo—=(+ 3 &V2x, 


wo © nach Voraussetzung unendlich klein ist. Es wird ‚aber, heißt 
es weiter, wie man auch die Konstante © bestimmen mag, ® einen 
endlichen Wert erhalten, woraus notwendig folgt, daß die Gleichung 
Y=% kein Integral sein kann. 

Auf diese Abhandlung Eulers weist Laplace hin und sagt, sie 


') Institutiones caleuli integralis, vol. I, p. 408. ”) Ebenda, p. 411. 


8838 Abschnitt XXVII. 


habe den Anstoß zu seinen eigenen Untersuchungen gegeben!). Zu- 
nächst schafft er das, was Euler fehlt, nämlich eine besondere Benennung 
für die singulären Integrale. Er definiert allgemein als „solution“?) 
jede Gleichung, die eine gegebene Differentialgleichung befriedigt, be- 
hält aber dann diesen Ausdruck mit dem Beiwort „particuliere“ 
speziell für unser singuläres Integral und spricht im Gegensatz dazu 
von einem „integrale particuliere* bzw. „generale“ (auch „resolution 
complete“). Sodann stellt sich Laplace die Aufgabe: Eine Lösung 
von öy=»pöx ist bekannt; man soll feststellen, ob sie im allgemeinen 
Integral enthalten ist oder nicht, ohne dieses zu kennen. Laplace 
geht von der geometrischen Versinnlichung der Integralgleichung 

aus. u=( sei die gegebene Lösung, 
”— 9=0 das unbekannte vollständige 
Integral. Man konstruiere die Kurve 
HCM mit der Gleichung u—=0 und 
ar‘ diejenige Kurve $=0, welche 
25 durch einen gegebenen Punkt Ü von 
HCM geht. Heißt sie LON, so 
ist also LCN Repräsentantin eines 
partikulären Integrals. Ist nun 
u= (0 im allgemeinen Integral ent- 
halten, so muß, behauptet La- 
place, HCM Punkt für Punkt 
mit LCON zusammenfallen. Indem er jetzt die Ordinaten von LON 
mit Y, die zugehörigen Differentiale mit 2, die Ordinaten von HOM 
mit y, die Differentiale mit Ö bezeichnet und Y und y für die Um- 
gebung des Punktes © nach der Taylorschen Reihe entwickelt, er- 
hält er als Bedingung für das Zusammenfallen beider Kurven, d. i. 
als Bedingung dafür, daß HCM, also u = (0, ein partikuläres Integral 
ist, folgendes System von Gleichungen: 


ZA- 6’ Be; 


> 











A B Fr 
Fig. 100. 


44.04 u 0a az 

dx: Daran data de 
usw. Diese Relationen sind zunächst nur für den Punkt (, d. i. für ein be- 
stimmtes Wertepaar x, y abgeleitet; nimmt man aber einen anderen 


Punkt 0’ der Kurve HCM, deren Zugehörigkeit zu den partikulären 


', Histoire de l’Acadömie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 343. Vgl. 
auch die Zusätze p. 641 und die Histoire desselben Jahres, p. 67ff. Ferner eine 
bereits früher veröffentlichte Notiz am Schlusse eines Aufsatzes über Wahrschein- 
lichkeitsrechnung in den M&moires presentes par divers Savans, t. VI (1774), 
p. 654. Daselbst ist noch auf einen Aufsatz in den Actes de Leipsie für 1771 
hingewiesen, der indessen nach Laplaces eigenem Zugeständnis Fehlerhaftes 
enthält. ®, Histoire de l’Academie des Sciences 1772, part. 1 (1775), 
p: 344. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 889 


oder singulären . Kurven in Frage steht, und legt durch (” die ent- 
sprechende partikuläre Kurve), so erhält man dieselben Bedingungen; 
demnach müssen letztere, wenn HÜUM ein partikuläres Integral dar- 
stellen soll, für jedes x giltig sein. 

Nun lassen sich aber die ö-Derivierten aus der gegebenen Diffe- 
rentialgleichung leicht bilden; man erhält nämlich der Reihe nach. 
Bu sinn OU (OD, (AP\0Y 2 Bp).L KaoN 2). 
a (22) na (2) DEE ee) ” =) p uw.); 

p ist hierbei eine gegebene Funktion von & und y. Andererseits 
können auch die ö-Derivierten aus der bekannten Gleichung der Kurve 
HCNM erhalten werden. 
Laplace bemerkt sodann, daß natürlich die Gleichung 
oy 0y 
ox 0x 





von selbst schon erfüllt ist; hierauf geht er zu subtileren Unter- 
suchungen über, deren Gang und Ergebnisse hier nur kurz angedeutet 
werden können. Er formt zunächst die ursprüngliche Differential- 
gleichung so um, daß der Buchstabe u der gegebenen Integralgleichung 
#= 0 darin auftritt, und erhält schließlich die Gleichungen: 


cu = u"-höx 


oder unter gewissen Voraussetzungen 


(2) 
— w'gir = sn dx + öy, 
(ev) 
wo h immer endlich, solange u=0. Diese Gleichung gibt er als 
Kriterium für den Charakter von u—=0: im Falle »>1 handelt es 
sich um ein partikuläres, im Falle an <1 um ein singuläres Integral, 
So liefert die Gleichung 
08. was 
02 y—Vlex+yy— aa) 
mit dem Integral 


u=xcz+yy—aa=0O 
unschwer 


vertan vH yyyVeetwm-an)| 


‘) Man beachte, daß Laplace nur immer einzelne Integralkurven LUN 
und nie die ganze Schar ins Auge faßt, was ihn wahrscheinlich zu tieferer Ein- 
sicht in das Wesen der singulären Lösungen geführt hätte. *) Die Klammern 
bedeuten, wie immer, partielle Differentiation. 





890 Abschnitt XXVII. 


Da n = —< 1, so ıst das Integral ein singuläres. Die ganze Dar- 


stellung hat vor der Eulerschen den Vorzug, daß sie nieht mit 
bloßen Worten geschildert, beschrieben, sondern mit den Symbolen 
p, u, © usw. wirklich rechnerisch durchgeführt ist. Beide Gedanken- 
gänge betonen in gleicher Weise das Endlichbleiben oder Unendlich- 
werden gewisser im Lauf der Untersuchung auftretender Ausdrücke. 
Im folgenden!) zeigt Laplace, daß u, wenn u=0 ein singuläres 
Integral von öy = pöx sein soll, gemeinschaftlicher Faktor von 


(SE) 
p+ a und er 
( a) (03) 

ist. Dieses Theorem verwertet er zur Bestimmung der singulären 
Integrale, wenn nur die Differentialgleichung gegeben ist. Er behan- 
delt speziell den Fall, daß u eine Funktion von x oder y allein ist. 
Endlich geht Laplace zu Differentialgleichungen 2. Ordnung und 
zu solchen mit 3 Variabeln über, welche die Integrabilitätsbedingungen 
erfüllen. Als Kriterium für die Natur eines Integrals u=0 der 
Gleichung dz = pdx + qdy gibt er die Regel: man bilde 
je nachdem der kleinere der beiden Exponenten » und n’ >1 oder 
< 1 ist, hat man ein partikuläres oder singuläres Integral vor sich.?) 

Lagrange gibt zu Beginn seiner Arbeit?) einen kurzen ge- 
schichtlichen Überblick über die Theorie der singulären Lösungen. 
Er verweist auf Eulers Mechanik*) und Integralrechnung, auf d’Alem- 
bert, Condorcet und besonders Laplace. Er definiert sodann inte- 
grale partieuliere als unser singuläres Integral und verlangt ausdrück- 
lich, daß es nicht durch Spezialisierung aus dem vollständigen Inte- 
gral erhalten werde.’) Dann betrachtet er, in welcher Weise eine 
Integralgleichung V(zx, y, a) = 0, wo a die Integrationskonstante be- 
deutet, einer Differentialgleichung 


Z (2, Y, 2) +0) 


Genüge leisten kann, m.a. W. wie die Differentialgleichung aus der 





‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 355. 
?) Ebenda, p. 367. ®) Oeuvres, t. IV, p. 5ff. (Nouveaux Me&moires de l’Aca- 
d&mie de Berlin 1774.) *) Lagrange selbst zitiert t. II, Artieles 268, 
303, 335. °) Dies erkennt schon Euler, vgl. S. 887. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 891 


Integralgleichung entstehen könne. Die Gleichung V = 0 gibt durch 
Differentiation, sagt Lagrange, eine Gleichung 


dy=p(a, y, a)da, 


und die Gleichung Z= 0 folgt hieraus und aus V=0 durch Elimi- 
nation von a. Hierbei ist der Wert von a vollkommen gleichgiltig. 
Das Resultat der Elimination wird immer dasselbe, nämlich Z= 0, 
bleiben, ob a konstant oder variabel ist, so lange nur die beiden El- 
minationsgleichungen V=0 und dy=pdz heißen. Faßt man aber 
den Fall eines variabeln a ins Auge), so erhält man aus V7 = 0 die 
Gleichung dy=pdx + gda, wo p und q Funktionen von &, y und a 
sind. Letztere Gleichung kann sich aber bei variablem «a nur dann 
auf dy= pdx reduzieren, wenn g=() ist. Der Wert von a aus 

day 


ee) 


berechnet und in V—0 substituiert, wird ein singuläres Integral 


geben. Desgleichen wird 2 =( ein singuläres Integral liefern. 


Lagrang: betrachtet auch den Fall, daß die Bestimmungsgleichungen 
für a dieses a entweder nur in Verbindung mit Konstanten oder 
überhaupt nicht enthalten; im ersten Fall, sagt er, haben wir kein 


eigentlich singuläres Integral, im zweiten wird eine besondere Prü- 


fung notwendig sein. Den Fall a= . weist er als unbrauchbar 
zurück. 

Nach dieser Voruntersuchung fragt er nach einer Methode, welche 
die singulären Integrale ohne Kenntnis des vollständigen Integrals zu 
finden gestattet. Er weist zunächst darauf hin, daß die singulären 
Integrale einer Differentialgleichung Integrale der aus diesen abge- 
leiteten Differentialgleichungen nur unter besonderen Bedingungen 
sind, was für die Integrale einer auf niedrigere Ordnung reduzierbaren 
Differentialgleichung höherer Ordnung von großer Wichtigkeit ist. 
So hat z.B. die Gleichung xdz + ydy— dyYa®+yP—b=0 ein 
singuläres Integral 2?+ y?— b?= 0; letzteres ist aber kein Integral der 
Differentialgleichung 2. Ordnung xd’y — dydx = 0, von der jene Glei- 
chung 1. Ordnung erstes Integral ist.?) Lagrange zeigt dann, daß, 
wenn die erwähnten Bedingungsgleichungen 


‘) Lagrange macht in der Bezeichnung totaler und partieller Differentiäl- 
quotienten keinen Unterschied. ?) Schon Euler läßt den Parameter einer In- 
tegralgleichung nachträglich variieren (vgl. 8. 925). ») Diese etwas ungewöhn- 
liche Form erhält man aus dem ersten Integral, wie es sich zunächst ergibt, 
bei Benutzung des vollständigen Integrals. 


892 Abschnitt XXVI. 


ay we a’y » .d’y 0 
I 


da 3 de Ne 


(und analog, wenn x mit y vertauscht wird) alle bis ins Unendliche 
erfüllt sind, d.h. wenn das in Frage kommende Integral sämtliche 
aus Z — () durch Differentiation hervorgehenden Gleichungen befriedigt 
dieses Integral kein singuläres, sondern nur ein partikuläres Integral 
ist. Für den Fall eines singulären Integrals dürfen also diese Glei- 
chungen nur bis zu einer bestimmten erfüllt sein; wie bei Laplace 
ist der Charakter eines partikulären Integrals von unendlich vielen 
Bedingungsgleichungen abhängig gemacht. 

Diese Bemerkung dient nun als Grundlage zu der folgenden 
Untersuchung, welche die Bestimmung der singulären Integrale un- 
mittelbar aus der gegebenen Differentialgleichung bezweckt. Lagrange 


sagt: da Z die Größe a nicht enthält, so ist zunächst ee 0. Nun 
kann aber das in Z auftretende y gemäß der Gleichung V=0 als 
Funktion von x und y angesehen werden; es ist demnach 

dZz d’y day 

da A ande + Para). 
Handelt es sich jetzt um ein singuläres Integral, so ist fernerhin 


a _g 


da ? 


und es ergibt sich 
A Bir 
dzda 0, 


da 5 unter der Voraussetzung, daß Z eine ganze rationale Funktion 


von x und = ist, nicht unendlich werden kann. Für den Fall, daß 


2 
A 0 ist, betrachtet Lagrange die höheren Ableitungen. Er 
dxda I ” > 
3 
kommt zu dem Ergebnis, daß dann ee usw. gleich Null sein 
x’da i 
müssen. Da aber das Nullsein sämtlicher derivierten N, a ... 
a xzda 


nach dem Obigen den Charakter eines partikulären Integrals anzeigen 
würde, so folgert Lagrange, daß für ein singuläres Integral A — 0 
sein muß. Da aber 


dZ= 4:d9 + Bay + Oda = 0, 
so folgt 
Bäy + Ode = 0; 


d.h. im Falle des singulären Integrals muß der aus Z= 0 abgeleitete 
Wert 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 393 


dy 
de Part 


dr, . A 0 





werden, und diese Gleichung wird umgekehrt als Bedingung für das 
Auftreten eines singulären Integrals hingestellt. Sie liefert zwei Glei- 
chungen, die mit Z= (0 simultan bestehen müssen. 

Nach der geometrischen Deutung des singulären Integrals als 
Enveloppe wendet sich Lagrange zu den totalen Differentialglei- 
chungen 2. Ordnung. Lautet die Integralgleichung wieder V=0, wo 
V eine Funktion von x, y und den Integrationskonstanten a und b 
ist, so faßt Lagrange die Größe b zunächst als willkürliche Funktion 
von a auf. Die Bedingungen für das Vorhandensein eines singulären 


2 
Integrals und: I - 0 verwandeln sich dann in 
da dxda 


dy db 


d’y d’y db 
AB, da) und + r 


dy 
l: 3, re Fa ET ER Frage 


da 


Durch Elimination von — ergibt sich 


2 712 
2 u A Me A N 


da dadb dbdxda 
Es ist ferner 
dy = pda + s da + ab, 
folglich 


3. dy— pdı=(. 
Dazu kommt noch die Integralgleichung 
4. Vv=-(, 


. h db ee 
Aus diesen vier Gleichungen sind a, b und 7. 7u eliminieren. Durch 


Vertauschung von x und y ergibt sich eine Reihe analoger Glei- 
ehungen. 

Später") gibt dann Lagrange eine Methode an, aus einem ersten 
Integral der gegebenen Differentialgleichung 2. Ordnung, also aus 
einer Differentialgleichung 1. Ordnung das singuläre Integral der ur- 
sprünglichen Gleichung zu ermitteln, die dem Verfahren, das singuläre 
Integral einer Differentialgleichung 1. Ordnung aus deren endlichem 
Integral herzuleiten, völlig analog ist. Die Methode läßt sich en 
Differentialgleichungen beliebig hoher Ordnung übertragen.?) 

Wichtiger sind die Untersuchungen über die singulären Integrale 
partieller Differentialgleichungen. Die zu einer Integralgleichung 


', Oeuyres de Lagrange, t. IV, p. 58. ®) Ebenda, p. 59. 


894 Abschnitt XXVH. 
V’(x,y,2,a,b)=0 


gehörige partielle Differentialgleiehung 7 = 0 entsteht nämlich durch 
Elimination von a und b aus den Gleichungen Ä 


wo p und q Funktionen von x, y, 2, a und b sind. Das Resultat 
dieser Elimination wird dasselbe sein, ob a und b konstant sind oder 
nicht, wenn nur die drei Gleichungen, aus denen a und b eliminiert 
werden sollen, dieselben sind. Dazu ist aber im Fall variabler a 
und b das Bestehen der Gleichung rda + sdb= (0 notwendig, wie 
sich aus de = pdxz + gdy + rda + sdb ergibt. Die einfachste Manier, 
dieser Gleichung Genüge zu leisten, sagt Lagrange, besteht darın, 
daß man getrennt r— O0 und s=0 setzt. Während Lagrange so- 
eben r und s für sich gleich Null setzte, leistet er der Gleichung 
rda +sdb= 0 im folgenden allgemeiner dadurch Genüge, daß er die 
Existenz einer Relation zwischen a und b annimmt und demzufolge 
b= y(a) setzt. So wird er, von der Theorie der singulären Integrale 
ausgehend, wieder zum allgemeinen Integral geführt. Um das singu- 
läre Integral aus der Differentialgleichung selbst zu ermitteln, gibt 
Lagranget) folgende Regel: Differentiiert man die Gleichung 7 = 0), 
so erhält man 
Ma°. + Na 1, + Pda + Ldy=0, 


dz dz 


wo M, N, P, L ganze Funktionen von &, %, 2, a sind, denn 


dz kann vermöge der Relation 


da q 

dz = — - da = a ® 
immer eliminiert werden. Man setze jetzt M, N, P, L jedes für sıch 
gleich Null, was mit Z=(0 nach Elimination von = und. er drei 


Gleichungen in x, y, 2 gibt, die gleichzeitig statthaben müssen Be- 
sitzen sie einen gemeinschaftlichen Faktor, so ist dieser als das ge- 
suchte singuläre Integral anzusehen. Reduziert sich dZ auf 


AdTE + Ba‘, ia; 


so hat man nur die drei Gleichungen Z=0, A=0, B=0, die 
immer ein singuläres Integral liefern. Durch Besprechung dieses 
Falles kommt er zu der Einsicht, daß dann das vollständige Integral 


') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 71. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 895 


Z=ax+by-+fla, b) 
und die gegebene Differentialgleichung 


= +3 ve+te 2.) 


sein muß. Auf die Ähnlichkeit mit der Clairautschen totalen Glei- 
ehung ist bei Lagrange nicht hingewiesen. 

Weiterhin!) zeigt Lagrange, daß das singuläre Integral nicht 
im allgemeinen Integral enthalten ist, an einem speziellen, in alle 
Lehrbücher übergegangenen Beispiel und geht dann auf die geome- 
trische Interpretation der Integrale partieller Differentialgleichungen 
ein. Die durch das singuläre Integral dargestellte Fläche, sagt er, 
berührt alle im vollständigen Integral enthaltenen Flächen; die durch 
das allgemeine Integral bei Wahl eines bestimmten Wertes der will- 
kürlichen Funktion g dargestellte Fläche berührt nur jene Flächen 
des vollständigen Integrals, welche bei der speziellen Annahme b= (a) 
herausgegriffen werden. 

Auch über die singulären Integrale partieller Gleichungen 2. Ord- 
nung macht Lagrange einige Angaben; um das singuläre Integral 
aus dem vollständigen Integral V=0 zu finden, gibt er folgende 
Regel an’): Man lasse in den Gleichungen 

ATi dz dz 

Abe 0; da Be dy eg 
die fünf Integrationskonstanten a, b, c, g, h variieren und halte wäh- 
renddessen &, y und z konstant, setze dV, dp und dg gleich Null 
und eliminiere aus diesen drei Gleichungen zwei der fünf Differen- 
tiale da, db, de, dg, dh. Endlich setze man in der Eliminations- 
gleichung die Koeffizienten der übrigen drei Differentiale gleich Null. 
Bei Kombination mit den oben angeführten drei Gleichungen 


d 


Vv=0; 7 p— 0 und an 


dy 

erhält man durch Elimination der Integrationskonstanten a,b, ce, g, h 
eine partielle Differentialgleichung 1. Ordnung, die als singuläres Inte- 
gral der gegebenen Gleichung 2. Ordnung aufzufassen ist. Ist hin- 
gegen die Differentialgleichung allein, nicht aber ihr Integral gegeben, 
so bilde man das vollständige Differential der gegebenen Gleichung 
in der Form 


Ma + Nd5, + Pd +0Qdx + Rday=V0 


En 


') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 79. ®, Ebenda, p. 91. 


896 Abschnitt XX VI. 


und setze die Koeffizienten M, N, P, Q, R für sich gleich Null. So 
erhält man fünf Gleichungen, die mit der gegebenen Differentialglei- 
chung zusammen bestehen müssen. Durch Elimination der drei par- 
tiellen Differentialquotienten 2. Ordnung erhält man simultane Glei- 


chungen in z, y, 2, u. und RR ein gemeinschaftlicher Faktor der- 


selben ist als singuläres Integral aufzufassen; der Spezialfall 9 = 0, 
R=0 ist wie bei der Gleichung 1. Ordnung von besonderem In- 
teresse. 

Lagrange charakterisiert den Unterschied zwischen seinen und 
den Arbeiten seiner Vorgänger mit den Worten!): „Ich habe zuerst 
die wahren Prinzipien dieser Theorie gegeben. Man hat Regeln mehr 
oder weniger allgemeiner Art aufgefunden, ein gegebenes Integral von 
vornherein als singuläres oder partikuläres zu erkennen, auch für die 
Auffindung der singulären Integrale sind Regeln entdeckt worden. 
Aber niemand hat meines Wissens den Ursprung dieser Integrale ent- 
wickelt.“ Das berechtigte Selbstbewußtsein, den freudigen Stolz dieser 
Worte wird wohl jeder nachfühlen, der Gelegenheit hat, den Ent- 
wicklungsgang der Theorie aus den Originalarbeiten selbst kennen zu 
lernen. 

Legendre kommt zu seinen Resultaten durch Benutzung des 
Prinzips, daß das singuläre Integral immer weniger willkürliche Kon- 
stanten enthält als das vollständige; er stellt diese Eigenschaft als 
Fundamentalsatz an die Spitze seiner Abhandlung. Von diesem Theo- 
rem aus gelangt er folgendermaßen zur Bestimmung der singulären 
Integrale aus der Differentialgleichung?): sei ein Wert von y, welcher 
der Gleichung genügt, bekannt, ein benachbarter Wert y-+öy ge- 
sucht. Zu diesem Zweck variiere man, sagt Legendre, in der ge- 


gebenen Gleichung von der Ordnung » bei konstantem x die Größen 
Y, S er ‚... und man wird wegen der Relationen 


ödy == döy, Öddy= dddy usw. 


eine lineare Gleichung der Form 


d” 2 ge oy 
A- —t Töy=0 
dx 2% dar-! Tixaik J 


erhalten, die als Differentialgleichung für öy aufgefaßt werden kann. 


Nun läßt sich aber die Form dieser Größe öy aus der Integralglei- 
chung erschließen; differentiiert man diese nämlich, indem man die 


') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 585. ®) Histoire de l’Acadsmie des 
Sciences 1790 (1797), p. 222. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 897 


Integrationskonstanten a, b, c,.... variieren läßt, so ergibt sich eine 
Beziehung: 


y— SP da + SP 30 + 99 2det...ı 


Diese Gleichung ist aber nach Auffassung das Integral 
der vorerwähnten linearen Differentialgleichung für öy; die Größen 
da, öb, öc,... sind hierbei die Integrationskonstanten. Wenn 
nun y ein vollständiges Integral ist, wird die Zahl der Größen a,b,c,... 
gleich n sein, öy enthält demnach ebenfalls » Integrationskonstanten, 
und die Differentialgleichung für öy wird »‘!” Ordnung. In diesem 


Falle kann der Koeffizient A von -— niemals Null sein. Im Fall 
x 


des singulären Integrals hingegen enthält y und damit dy höchstens 
n — 1 Konstante, die Differentialgleichung für öy wird deshalb höch- 
stens (n — 1)‘ Ordnung; es muß also jedenfalls A—= 0 sein, wobei 
außerdem auch die Relationen B=0, 0=(,.,.. bestehen können. 
So liefert die an age 


vl +2y + —y-0, 


indem man y und @ Zn variiert, 


(v5 E+m)53 ernten 


Setzt man den Koeffizienten von > ? gleich Null, so kommt y=0 — 


und u +2=0. Letztere a gibt im Verein mit der vor- 


gegebenen das singuläre Integral Y +2? — = 0, 
Aus einer partiellen Differentialgleichung erster Ordnung!) erhält 


d d 
man durch Variation von z, 5, Fr nach Unterdrückung der Nenner 


eine Relation der Form 
484, +B8% + 08:0, 


die als partielle Gleichung für dz SH werden kann. Soll sie 
also ein singuläres Integral liefern, so müssen gleichzeitig A = 0 und 
B=0 sein, da eine gegenteilige Annahme eine willkürliche Funktion 
in den Ausdruck für öz einführen würde. Bei partiellen Gleichungen 
2. Ordnung kann das singnläre Integral höchstens eine einzige will- 
kürliche Funktion besitzen, die partielle Gleichung für öz daher 
höchstens 1. Ordnung sein. Variiert man daher in der gegebenen 
Differentialgleichung die Größen 


') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1790 (1797), p. 236. 


898 Absehnitt XXVL. 


dd: ddz ddz dz dz 

d2’N. day Say 42’ 0 
so müssen im Falle eines singulären Integrals außer der gegebenen 
Gleichung noch drei Relationen bestehen, die man durch Nullsetzen der 
Koeffizienten von 


27 


‚ddz 


ö ..dde ddz 
da?’ 


Odaay’ Pay: 
erhält. | 

Wir sahen im vorhergehenden — bei der Konstruktion willkür- 
licher Funktionen unter gegebenen Anfangsbedingungen durch Monge 
sowie bei der Theorie der singulären Integrale — wiederholt geo- 
metrische Vorstellungen zur Aufhellung der Theorie herangezogen. 
Man muß sich aber hüten, den Einfluß solcher Hilfsmittel auf die 
Entwicklung dieser Theorie zu überschätzen, zumal es sich um eine 
vorwiegend analytische Epoche der Mathematikgeschichte handelt. 
Monge kommt rückwärts von geometrischen Problemen aus zu seinen 
Differentialgleichungen und gewinnt durch Übersetzung erprobter Ver- 
fahren und Überlegungen geometrischer Natur in die Sprache der 
Analysis viele seiner rechnerischen Methoden; aber es ist ihm nicht 
umgekehrt darum zu tun, eine eigentliche geometrische Theorie der 
Differentialgleichungen und ihrer Integrale zu entwickeln, d.h. eine 
Theorie, welche in konsequenter Weise analytische Operationen durch 
geometrische Konstruktionen ersetzt. Und wenn es auch manchmal 
den Anschein hat, daß er Differentialgleichungen durch geometrische 
Überlegungen löst, so darf man doch sicher sein, daß er in allen 
diesen Fällen das Resultat schon vorher besessen und die betreffende 
Differentialgleichung erst nachträglich aufgestellt hat. Es finden sich 
demgemäß bei Monge Stellen genug, welche die geometrische Be- 
deutung gewisser Gleichungen anschaulich und klar machen, und die, 
zusammengetragen, eine geometrische Theorie der Differentialglei- 
chungen liefern würden, aber Monge scheint selbst nicht an eine 
solche Zusammenstellung zu denken. Die bedeutendsten Überlegungen 
dieser Art vor dem Erscheinen der „Application de l’analyse & la 
geometrie“ sind auf 8. 56lff. und S. 1037 ff. dargestellt. Schwierigere 
Probleme dieser Art, wie wir sie heutzutage behandeln, so die Frage 
nach der Gestalt der durch eine Differentialgleichung definierten 
Kurven, oder die Untersuchung einzelner Punkte und ihrer Umgebung 
werden naturgemäß überhaupt gar nicht aufgeworfen. 

Wir wenden uns im folgenden zu den allgemeinen Methoden, 
welche dem Charakter des jeweiligen Problems angepaßt in veränderter 
Form auf die verschiedensten Gattungen von Differentialgleichungen 
Anwendung finden. Dabei ist auch einiger Versuche zu gedenken, 
einen unbedingt gangbaren Weg zu finden, auf dem sich alle Difie- 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 899 


rentialgleichungen, gleichviel welcher Beschaffenheit, integrieren lassen. 
Man möchte meinen, daß die Existenz von so vielen und dabei so 
verschiedenen Lösungsmethoden, die Leichtigkeit der Integration in 
den einen, die ungeheure Schwierigkeit in den anderen Fällen, es 
hätte wahrscheinlich machen müssen, daß eine einheitliche, unter allen 
Umständen zum Ziele führende EEE nicht existiert; 
und dieser Vorwurf trifft den Marquis de Condorcet, der mit seinen 
zahlreichen Arbeiten sich das Lob der Zeitgenossen, wie Lagranges 
und d’Alemberts!) erwarb, aber doch gerade auf diesem seinem 
Lieblingsgebiete keine wirklich lebensfähige Integrationsmethode in Um- 
lauf zu setzen wußte, in viel höherem Grade als den bedeutend früheren 
Fontaine (1705—1771), zu dessen Zeiten ein derartiger Versuch noch 
nicht so aussichts- und zwecklos erscheinen mußte als später. Fon- 
taines Abhandlung von 1738 erschien erst 1764 im Druck ®); sie enthält 
eine eigenartige, von der herkömmlichen abweichende Bezeichnungs- 
weise, die mir, da ich das Original nicht zur Verfügung hatte, nicht 
“recht verständlich wurde.?) Condorcet sucht das ER eT 
auf eine kanonische Reihe von Fundamentaloperationen, wie Diffe- 
rentiation, Elimination, Substitution usw. zurückzuführen®) und er- 
läutert seine Methode an einigen einfachen Beispielen; es ist aber 
nicht recht einzusehen, was er mit seinen Spekulationen eigentlich 
will, bis wieweit er seine Behauptungen für richtig hält, und in 
welchem Umfang er seine Regeln für die Integration auch praktisch 
anwendbar und ausführbar ansieht; auf die Arbeiten der anderen Mathe- 
matiker sind gerade diese Untersuchungen Condorcets ohne allen 
Einfluß geblieben. 

Sehen wir von unmittelbar integrablen Gleichungen, wie dem 
Fall separierter Wurzeln, oder anderen, durch Kunstgriffe zu behan- 
delnden Gleichungen spezieller Form ab, so ist als eine der ältesten 
Integrationsmethoden allgemeinerer Art die Reduktion auf integrable 
oder wenigstens diskutable Gleichungen durch Einführung neuer 
Variabeln zu nennen. In der ersten Zeit war überhaupt mehr oder 
minder bewußt die Ansicht herrschend, daß in der Separation durch 
Anwendung von Substitutionen „die Integrationsmethode“ zu erblicken 
sei. Bald dachte man kühler. Euler zeigt, daß alle Fälle, in denen 
Differentialgleichungen durch Trennung der Veränderlichen integriert 
werden können, auch mittels Multiplikator integrabel sind, aber nicht 
umgekehrt, und sieht deshalb im integrierenden Faktor die umfassen- 


‘) Vgl. Nouvelle Biographie generale über Condorcet. ?) Vgl. diese Vorl., 
III®, S. 883. °) Einiges bei Montucla, Histoire des Math&matiques; t. TH, 
p- 137. *) Du caleul integral 1765, Sect. II. Ferner Miscellanea Taurinensia, 
t. IV?, 1766/69, p. 1ff. 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 58 


900 Abschnitt XXVI. 


dere, allgemeinere Methode. Er weist ferner!) auf die Unmöglichkeit 
hin, bestimmte Prinzipien für die Auffindung von Substitutionen, die 
auf integrable Gleichungen führen, anzugeben, sowie auf das Versagen 
der Separationsmethode bei Differentialgleichungen höherer Ordnung. 
Die Auffindung von Substitutionen, welche Trennung der Variabeln 
ermöglichen, erfordert, wie er sagt”), nicht weniger Scharfsinn als die 
Integration selbst. 

Wenn auch im allgemeinen bei einer beliebig gegebenen Diffe- 
rentialgleichung jene Transformationen, welche eine Integration, sei 
es durch vorgeschriebene Transzendenten, ermöglichen, nicht angegeben 
werden können, weil die Angabe dieser Transformationen mit der In- 
tegration der Gleichung selbst identisch wäre, so sind es doch Trans- 
formationsverfahren, welche, selbst wenn sie nicht auf integrable 
Typen führten, immer noch die theoretisch bedeutendsten Resultate 
zeitigten. Viele Methoden der Ordnungserniedrigung, die Eulersche 

und die Laplacesche Theorie der partiellen Differentialgleichungen 
2. Ordnung, die Theorie der Eulerschen homogenen partiellen Diffe- 
rentialgleichung, in gewissem Sinne auch die Methode der Variation der- 
Konstanten beruhen auf solehen Verfahren. Schließlich dürfen Trans- 
formationen höherer Ordnung nicht unerwähnt bleiben, welche auch 
Differentialquotienten enthalten; es sei nur an die d’Alembertsche 
Gleichung?) erinnert. 

Die eben erwähnte Methode der Ordnungserniedrigung ist 
im Grunde genommen die vorbildliche klassische Integrations- 
methode für alle Differentialgleichungen höherer Ordnung und be- 
liebigen Grades. Man hat entweder mit Hilfe von passenden Sub- 
stitutionen oder mit Benutzung eines Multiplikators ein erstes Integral 
zu finden, das dann ebenso weiter behandelt wird. Dieser allgemeine 
Gedankengang liegt den meisten speziellen Integrationsmethoden zu- 
grunde, und besonders Euler hat versucht ihn brauchbar zu machen; 
freilich ist seine Durchführung in der Praxis im allgemeinen nicht 
möglich. Aber man hat in Verfolgung dieser Idee wenigstens eine 
Reihe von allgemeinen Gleichungstypen gefunden, auf die sie mit 
Erfolg angewendet werden kann. Auf Ordnungserniedrigung durch 
Substitution beruhen die Theorie gewisser zuerst von Monge be- 
handelter partieller Gleichungen beliebiger Ordnung (vgl. S. 1019), die 
Theorie des Zusammenhangs zwischen homogener linearer Gleichung 
2. Ordnung und Riccatischer Gleichung, die Reduktion der totalen 
Differentialgleichung 2. Ordnung, welche die unabhängige Variable 





!) Institutiones caleuli integralis, vol. I, p. 290. °) Ebenda, vol. III, p. 600. 
®) Vgl. diese Vorl., III? S. 897. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 901 


nicht explizite enthält!), die Verwandlung von Differentialgleichungen 
höherer Ordnung in ein Simultansystem von Gleichungen 1. Ord- 
nung. So führt z. B. Euler‘) die Gleichung beliebiger Ordnung 


dy ‚ddy 
syhBeth Egah :: 


durch die Substitutionen 
dy=pda; dp= gdı; ... 


in ein System linearer Gleichungen 1. Ordnung über, ohne gerade be- 
sonderen Nachdruck auf die Bedeutung dieses Schrittes zu legen. 

Hier sei noch folgende originelle Methode von Lagrange für 
eine spezielle Gleichung erwähnt?): Ist 


0 = fonct - 6 DEREN, .. ir 
wo 


y, dp, ag, 
ee Fe Baar Pe ne re ee 


so ergibt sich mittels der Substitutionen 


ke RER A 
x x t 
der Reihe nach: 
t-d(u-+t) 
a ee Fre 
t: dm -t ( du ) 
p=u+rt, q= . re = Ei Ra PnER Die 


Setzt man diese Ausdrücke in die ursprüngliche Gleichung ein, so 
ist die Ordnung um 1 Grad erniedrigt. 

Im Anschluß an die Verwertung der Transformationen überhaupt 
sei noch auf das Auftreten von Berührungstransformationen bei 
Monge hingewiesen (vgl. S. 980 ff.). 

Wie schon erwähnt hat Euler die Anwendung von Multipli- 
katoren zwecks Ördnungserniedrigung der Integration durch Sub- 
stitution vorgezogen und sich deshalb eingehend mit der Theorie 
der Multiplikatoren als der „wahren und natürlichen Quelle aller 
Integrationen“*) beschäftigt. Er geht dabei auf zwei gänzlich ver- 


') Die Reduktion gelingt, wenn man den 1. Differentialquotienten der ab- 
hängigen Veränderlichen als neue Variable einführt; & und y ergeben sich 
dann als Funktionen dieser Variablen in Parameterdarstellung. Siehe Institu- 
tiones caleuli integralis, vol. II, p. 40. ?) Ebenda, vol. II, p. 373. Diese Re- 
duktion, nach einer gütigen Mitteilung von Herrn Prof. v. Braunmühl schon 
bei d’Alembert, Histoire de l’Academie de Berlin, t. IV, 1748 (1750), p. 289, 
°) Miscellanea Taurinensia, t. IV? p. 342. *) Institutiones calceuli integralis, 
vol. I, p. 314. 

58* 


902 Abschnitt XXVL. 


schiedenen Wegen vor; einmal sucht er Gleichungen, welche einen 
Multiplikator von gegebener Form besitzen, das andere Mal sucht er 
zu gegebenen Differentialgleichungen einen integrierenden Faktor zu 
finden. Das erste, leichtere Problem ist in der Integralrechnung 
ausführlich behandelt.!., Euler nimmt dabei die Form der Diffe- 
rentialgleichungen bis auf gewisse unbestimmte Funktionen schon von 
vornherein an, wozu natürlich viel Geschick und mathematischer Blick 
gehören, damit die Aufgabe lösbar wird. Die Bestimmung der un- 
bestimmt gelassenen Funktionen erfolgt natürlich mit Zuhilfenahme 
der Integrabilitätsbedingungen; die Resultate sind aber viel zu speziell, 
zu wenig interessant und übersichtlich, als daß wir darauf eingehen 
könnten. 
Auch Trembley sucht Differentialgleichungen 


Rdz + Sdy=0, 
die durch einen gegebenen Multiplikator M integrabel werden. Aus 
der Bedingung 


Ray) - 2a) (a) 0 
folgt vermöge R= — nn > die Gleichung 


(ar a 


d. h. | 
dam ) 9) 
m S 


- (@))ar = 0, 








Auf diese Gleichung gründet Trembley seine Rechnung; ihre 
Einzelheiten müssen hier übergangen werden; sie bietet, sagt 
Trembley?), keinerlei Schwierigkeiten als ihre Länge. Und daran 
ist ihm, wie wir noch sehen werden, gar nichts gelegen. Schwie- 
riger ist die Aufgabe, zu einer gegebenen Differentialgleichung 
einen et Faktor zu finden; so verlangt Euler?), die Glei- 


chung = 6 m 0, die zunächst das Integral in transzendenter 
Form liefert, mit Hilfe eines geeigneten Multiplikators unmittelbar 
in algebraischer Form zu integrieren. Für Gleichungen x‘ Ordnung 
verwendet Euler einen Multiplikator, welcher die Differentialquotienten 
bis zum (n — 1)" einschließlich enthält. So versucht?) er z. B. für 


die Gleichung 





') Institutiones caleuli integralis, vol. I, p. 351 ff. ?), Nouveaux Memoires 
de l’Academie de Berlin 1790/91 (1796), p. 328. °) Institutiones caleuli inte- 
gralis, vol. III, p. 603ff. *) Ebenda, vol. II, p. 153. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 903 


Ayda? 
PAY T OH Da Rae ® 





einen Multiplikator der Form 
2Pdy+2Qyde, 


wo P und @ Funktionen von x sein sollen, und zwar verlangt er 
das Integral in der Form 


Pdy +2Qydady-+ Vdxz = Const. da?, 


wo V eine Funktion von x und y sein soll. Durch Anwendung der 
Integrabilitätsbedingungen erhält er schließlich den Multiplikator 


2dy(C+2Dx + Exx) — 2ydz(D+ Ex). 


Besondere Eleganz und Übersichtlichkeit ist bei dieser Rechnung 
allerdings nicht zu finden; Euler benutzt die Formel, um aus ihr 
Spezialfälle abzuleiten. Für die Gleichung 


yyddy + ydy? + Axda? = 0 


wird, wie Euler sagt!), vergeblich der Versuch mit einem Multipli- 
kator der Form 


Ldy + Mdx 
gemacht; möge also, fährt er fort, der Versuch mit der Form 


3Ldy’ +2Mdady + Nda? 
und dem Integral 


Lyydy? + Myydady? + Nyyda?dy + Vda? = Cda? 
gemacht werden. Es ergibt sich 


L=y M=0, N=34Ar 
mit 
V’=— Ay’+ 44a? 
als eine brauchbare Lösung. Die folgende Behandlung dieses Bei- 


spiels, wobei von der Substitution . = Gebrauch gemacht wird, 


ist nicht uninteressant. Übrigens sind wir .auf diese Beispiele nur 
eingegangen, weil sie zeigen, welcher Art die Differentialgleichungen 
sind, an die sich Euler wagt. Daß er schon früher einfachere Bei- 
spiele behandelt hat?), wird niemand wundern. 

Für die Theorie der Multiplikatoren von Differentialgleichungen 





») Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 162. ?) Novi Commentarii 
Academiae Petropolitanae, t. VII, 1758/59 (1761), p. 163 ff. 


904 Abschnitt XXVIL. 


höherer Ordnung wird ein Integrabilitätskriterium von höchster 
Wichtigkeit, das Euler bei seinen Untersuchungen über die Variations- 
rechnung nebenbei gefunden hat. Er fragt nach der Bedingung dafür, 
daß hi Zdx ein Maximum oder Minimum werde und findet, wie schon 
früher), dafür die Gleichung 


Pr...  eL 
mITataten 
wo 
dZ= Mdx + Ndy+Pdp+0Qdgy-+--- 
und 


d d 
dert al Ce, 
Am Schluß der betreffenden Abhandlung endlich erwähnt er?) ganz 
kurz und ohne Beweis, daß die identische Erfüllung jener Maxi- 
malbedingung die Integrabilität von Zdx zur Folge habe. Diese 
Bemerkung blieb anscheinend unbeachtet; wenigstens knüpft Lexell, 
der sich eingehend mit diesem Kriterium beschäftigt hat (vgl. unten), 
erst an Eulers Integralrechnung an, deren 3. Band in einem Anhang 
über Variationsreehnung den genannten Satz wieder enthält. Man 
beachte, daß Euler nicht von vornherein nach einem Integrabilitäts- 
kriterium für Zdx, wo Z Differentialquotienten beliebig hoher Ord- 
nung enthält, gesucht hat; vielmehr ist er von ganz anderen Pro- 
blemen aus zu jener Gleichung gelangt, nach deren tieferer Bedeutung 
er sich nachträglich gefragt hat. Euler verwendet seinen Satz zur 
Auffindung integrabler Zdx. So geht er einmal?) von dem Ausdruck 


(@0x + yoy) Oyooz — Ox00y) 
(2° + dyS? 


aus, der ein Integral 

YORE 

Voz® + op) 
besitzt und fragt nach ähnlichen integrablen Fällen. Er gibt dabei 
dem zu integrierenden Ausdruck von vornherein schon eine bestimmte 
Form und sucht die darin unbestimmt gelassenen Funktionen so zu 
bestimmen, daß sie die Integrabilitätsbedingung erfüllen, ganz ähnlich 
wie er früher Differentialgleichungen suchte, die einen Multiplikator 
von gegebener Form zulassen. 

Unabhängig von Euler beschäftigte sich Condorcet mit der 


ı) Vgl. diese Vorl., III?, S. 863. ®, Novi Commentarii Academiae Petro- 
politanae, t. X, 1764 (1766), p. 134. >) Nova Acta Academiae Petropolitanae, 
t. XI, 1793 (1798), p. 3. Zu diesem Aufsatz steht ein anderer Artikel von Euler 
aus dem Jahre 1777 in Beziehung: Ebenda, t. IX, 1791 (1795), p. 81ff. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 905 


Frage nach der Integrabilität von Ausdrücken mit 2 Variabeln; er 
kommt auf ziemlich mühsamen Wegen zu derselben Gleichung'). 
Am eingehendsten hat sich Lexell mit dieser Frage beschäftigt. Zu- 
nächst verlangt er?) einen von den Prinzipien der Variationsrechnung 
freien, rein analytischen Beweis des Eulerschen Kriteriums. Sei also 
V eine Funktion von 2, 9,2,9,r,... und 


dy=pda; dp=qda; dq=rda; ...; dt=uda, 
und sei weiterhin 
dAV= Mdx + Ndy+ Pdp+ Qdgqg +: + Udu. 
Nun kann man, sagt Lexell, jedenfalls setzen: 


Var =ude +vdy+ndp+::: + rdt 
und demzufolge 


V=u+tvp+tng+t:: +; 
hieraus gewinnt man 
daV=du+pdv+gdan +: + udr 
+vdp+nrdg +: + rdu. 


Vergleicht man diese Form mit der ursprünglichen, so ergeben 
sich die Gleichungen: 


u 
ve 
ET Eee 
rettet 

Bei allen Differentiationen sind dabei x, y, p,... u, wie vollständig 


voneinander unabhängige Variable zu behandeln, so daß also z. B. 


(32) und ähnliche Ausdrücke Null zu setzen sind. Soll jetzt VYdx ein 


exaktes Differential sein, so müssen Gleichungen bestehen, wie 





") Condorcet, Du calcul integral. Paris 17656. An Stelle dieses Werkes, 
das mir leider nicht zur Verfügung stand, benutzte ich die eingehende zeit- 
genössische Besprechung durch Pietro Ferroni in den Memorie di Mat. e Fis. 
Soc. It., tomo V, 1790, p. 130 ff. 2) Novi Commentarii Academiae Petropoli- 
tanae, t. XV, 1770 (1771), p. 128. 


906 Abschnitt XXVI. 


ee -: 


usw. Dann wird aber 


ut 


net 
Pet 


Multipliziert man diese Gleichungen mit dx durch und berück- 
sichtigt die Gleichungen 


pde=dy; qda=dp, 
usw., so erhält man 


u /Mda; v— / Nas; x— )(P- v)da; = /(Q- da; ... 


Daraus ergeben sich aber die u,»,a,... durch die M, P,Q,... 


ausgedrückt und zwar in Form von Summen mehrfacher Integrale. 
Diese Werte in 


Vntvp +20 te Heu 


eingeführt, ergeben in leicht verständlicher Bezeichnungsweise die 
Gleichung 


V-/Mda +p/Ndz + q( | Pax _ (Na.) 


+r(/Qdz _ [Pax + [ Nas) +++: 
(m—1) (m) 


+u( [Pax +:.-+ [Pd F /Nax) 


(2) (m) 
Eee ern 
(m —1) 


+ [ofPdn nina.» free 
+... 


Nun ist identisch 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 907 


Ndy-+ au [Nds == (pNda B= dp | Nda) 
(2) 
— (dp / Nax -r dq / Nds) ++: 
7 (ae far + du f aa) 
PN Er ne Fe 
Ebenso ist 


(m—1) (2) (m—1) 
Pap+du| Pax—d.q/Par—d:r/Pdx+.::+d-u/ Pdz 
(2) (m —1) 
-a|a/Paa—r/Pan+:--+u/ Pan] 
usw. 
Durch Benutzung dieser Gleichungen folgt unmittelbar 


dV= Mdx +Ndy+ Pdp-+-:: + Tdt 
(m) . (m — 1) (m — 2) 


Fdu(/Nax — [ Paz + [Qda+---F Tag). 
Da aber nach Voraussetzung 


dV = Mdx + Ndy+Pdp+:-:+ Udu, 
so folgt 


(m) (m—1) 


U-F/Nds + [Pax F..:+ [Tde. 


Hieraus endlich gewinnt man durch wiederholte Differentiation 
und Umstellung als notwendige Bedingung für die Integrabilität von 
Vdx die Gleichung 


dP dd 
N-r @8_....09, 

Im folgenden sucht Lexell ähnliche Kriterien für den Fall dreier 
Variabeln z, y, 2°); in einer späteren Abhandlung kommt er nochmals 
auf das Problem zurück und rechnet?) auch ein praktisches Beispiel 
durch, des weiteren kommt er auf die wichtige Frage eines Multi- 
plikators für nichtintegrable Ydz zu sprechen. Wegen einer An- 
wendung dieser Untersuchungen vgl. $. 1032. 


') Wir sind gegen Schluß unwesentlich von der etwas unübersichtlichen 
Darstellung des Originals abgewichen. ?) Novi Commentarii Academiae 
Petropolitanae, t. XV, 1770 (1771), p. 193. ®) Ebenda, t. XVI, 1771 (1772), 
p- 189. 


908 Abschnitt XXVIL 


Wir haben diese Fragen im Anschluß an die Theorie des inte- 
orierenden Faktors gebracht; in dieser Hinsicht ist noch einiges zu 
sagen. Schon Condorcet beschäftigt sich mit dem Zusammenhang 
zwischen Integral und Multiplikator‘).. Euler zeigt”), daß jeder 
Multiplikator M von Pdxe+0Qdy= 0 ein partikuläres Integral M = 0 
liefert, sofern nicht einer der Koeffizienten P oder Q@ dadurch unend- 
lich wird; analoges gilt von einem integrierenden Divisor. An anderer 
Stelle hat er den leicht beweisbaren Satz?): Ist ZL ein Multiplikator 
von Pdz + Qdy, so ist auch L- ®(Z) ein solcher, wo ® eine will- 
kürliche Funktion bedeutet, und Z sich aus dZ= L(Pdx + Qdy) 
bestimmt. Dieser Satz ist nur eine andere Form des bekannteren, 
daß der Quotient zweier Multiplikatoren, einer Konstanten gleichgesetzt, 
das vollständige Integral der Differentialgleichung gibt. Der Zusammen- 
hang zwischen Partikulärintegral und Multiplikator hat für Trembley 
großen Reiz; seine Absicht ist, aus einem bekannten partikulären oder 
singulären Integral einen Multiplikator herzuleiten und mit diesem 
das vollständige Integral zu ermitteln. Er braucht also vor allem 
ein Integral, das er sich mit Hilfe unbestimmter Koeffizienten fol- 
gendermaßen zu verschaffen sucht.‘) Ist die gegebene Differential- 


gleichung dy + T=0, so bildet er zunächst den Ausdruck 
> > de , 


(eu 


In diesem Ausdruck, der eine Summe von Funktionen von x und y 
sein wird, ersetzt er die Koeffizienten der einzelnen Summanden durch 
Buchstaben, die er so zu bestimmen sucht, daß der ganze Ausdruck, 
gleich Null gesetzt, die gegebene Differentialgleichung erfüllt. Ist 


z. B. 
day _ay® by _ 


dx c eyx 
gegeben, so ist 
ay? by? 
U=— a 
eyx 


dann findet man 





dU dU 
(22) iz (75) 
bis auf die Koeffizienten gleich 


1) Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69, p. fl. Nach Lagrange auch 
Du Caleul integral, p. 67. 2) Institutiones caleuli integralis, vol. I, p. 414 
bzw. 416. °) Ebenda, vol. I, p. 329. Vgl. diese Vorl., III®, S. 883. Eine Verall- 
gemeinerung des im Text erwähnten Satzes bei Condorcet: Miscellanea Tauri- 
nensia, t. IV®, 1766/69, p. 14. *) Nouveaux M&moires de l’Academie de Berlin 
1792/93 (1798), p. 341—416. Diesem Aufsatz geht ein Artikel ähnlichen Inhalts 
in den Turiner Memoiren für 1790 voran. 5) Man vergleiche die Bedingungs- 
gleichungen von Lagrange für das Auftreten eines singulären Integrals S. 893 oben. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 909 


y" 
rl De 


Mit Unterdrückung des Faktors y?!) setzt Trembley: 
Öö 


EEE or 
wer Vater 


d® d® 

FE ee 
— so kann nämlich die ursprüngliche Differentialgleichung ge- 
schrieben werden, wenn sie das Integral ®= 0 besitzt — gibt die 


Gleichung : 
3a« Pr (ee? ee). + (4 2%) ® 


ce xc 


Substitution in 


y 
V® 


Daraus lassen sich mit Hilfe von 


EEE EEE RE 
D=ay m tughn =) 
die Glieder mit y° und y* eliminieren; der Ausdruck wird dadurch 
noch umfänglicher; es resultiert eine Gleichung, die sich von ® = 0 
nur dadurch unterscheidet, daß an die Stelle der «, ß,... komplizierte 
Funktionen dieser Größen getreten sind. Da aber die Schlußgleichung 
bis auf einen Faktor mit ®=0 identisch sein muß, ist Koeffizienten- 
vergleichung statthaft, und es ergibt sich schließlich 


D = ay? ae 0. 


Die Methode erfordert umfangreiche Rechnungen; weit einfacher hätte 
Trembley gleich das vollständige Integral der gegebenen Differential- 


gleichung 
Gomera Fler), 
V® V® 


wo w, und w, die Wurzeln der Gleichung 
a b 1 
SET UT, 


und «, ß,y leicht zu bestimmende Konstante sind, abgeleitet; das von 
Trembley gefundene Integral läßt sich unschwer in der Form schreiben: 


') Nouveaux M&moires de l’Academie de Berlin 1792/93 (1798), p. 343. 


910 Abschnitt XXVII. 


Oele 


Trembley gibt noch zahlreiche andere Beispiele, die indes zum 
großen Teil auf ganz ungeheuerliche Rechnungen führen; dann nimmt 
er als Integralgleichung statt des einfachen ®=0 das kompliziertere 
e"®=(), wo u und ® Funktionen von x und y sein sollen?); ja er 
dehnt seine Methode auf totale Differentialgleichungen mit 3 Variabeln ?) 
und auf Differentialgleichungen 2. Ordnung aus?). Auf das letzt- 
genannte Problem kommt er in einem späteren Aufsatz*) zurück; er 
rechnet hauptsächlich Beispiele, die Euler und andere schon behan- 
delt haben, und sucht auch Multiplikatoren zu bestimmen. Endlich 
geht er auf ein interessantes Paradoxon ein; man findet, sagt er?), 
in den Beispielen bei Euler und Waring algebraische integrierende 
Faktoren, die gleich Null gesetzt, kein partikuläres Integral der ge- 
gebenen Differentialgleichung liefern, was der Theorie zu wider- 
sprechen scheint. Aber diese Gleichungen werden in Wahrheit durch 
Exponentialfunktionen integriert, und die von den genannten Autoren 
gefundenen Faktoren sind das Resultat der Kombination zweier erster 
Integrale, wobei sich die Exponentialfunktionen gegenseitig aufheben. 
Den Satz, daß ein Multiplikator M gleich Null gesetzt ein partikuläres 
Integral gibt, überträgt Trembley auf Gleichungen »‘” Ordnung.°) 

Wirklichen Erfolg und praktische Bedeutung hat die Methode 
des integrierenden Faktors nur in wenigen Fällen errungen; hier ist 
in erster Linie ihre Anwendung bei der totalen linearen homogenen 
Differentialgleichung n‘” Ordnung zwecks ÖOrdnungserniedrigung zu 
nennen’); man wird hier zu der sogenannten Lagrangeschen Ad- 
jungierten geführt, von der an einschlägiger Stelle die Rede sein wird 
(vgl. 5. 928). Dann ist auf die Benutzung von Multiplikatorensystemen 
bei Simultansystemen von Differentialgleichungen hinzuweisen; so sei 
z.B. an die elegante Behandlung der Differentialgleichungen der Be- 
wegung mit Nebenbedingungen mittels unbestimmter Multiplikatoren 
erinnert. 

Im Gegensatz zur Methode des integrierenden Faktors war die 
Integration der Differentialgleichungen durch unendliche Reihen 
stets von höchster praktischer Bedeutung°), sei es nun, daß man die 


!) Nouveaux M&moires de l’Academie de Berlin 1792/93 (1798), p. 386. 
», Ebenda, p. 391. °) Ebenda, p. 397. *) Ebenda, 1794/95 (1799), p. 3—68. 
°®) Ebenda, p. 69. 6) Ebenda, p. 90. ”) Auch Euler behandelt die voll- 
ständige lineare Differentialgleichung »!* Ordnung mit konstanten Koeffizienten 
mittels eines integrierenden Faktors: Institutiones calculi integralis, vol. II, 
p. 402. ®) Laplace z.B. stellt sich in der Histoire de l’Acad&mie des Sciences 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 911 


gesuchten Reihen direkt oder erst durch sukzessive Annäherung be- 
stimmte. Entwicklung nach Potenzreihen mittels der Methode der 
unbestimmten Koefäzienten treffen wir in Eulers Integralrechnung; 
besonders die Differentialgleichung 2. Ordnung ist dort eingehend be- 
handelt.) Wie gewöhnlich ist von einfacheren Beispielen zu solchen 
schwierigerer Art übergegangen. So behandelt Euler?) z.B. die Glei- 
chung 
ddy+ ax"yda? =. 
Er setzt eine Reihenentwicklung mit steigenden Exponenten an: 
y= Axt+ Bartr+2 2 Ogl+imt+4n... 


und erhält durch Einsetzen in die gegebene Differentialgleichung zu- 
nächst die Bedingung 

AA —1V)=0. 
Daraus folgt A=0 oder A=1, weshalb Euler die neue Reihe an- 
setzt: 


y-=A + Bart? Oarttr... 
+ An + Bart? + Cats... 


Die B, ©, ... und B, € drücken sich dann leicht durch die 
beiden Integrationskonstanten A und X aus. Ein Ansatz mit abneh- 
menden Exponenten führt, wie er sagt, zu keinem Ergebnis. Im 
folgenden integriert er durch Reihen die Gleichung 


vx(a + bar) ddy + x(c+ ea")dxdy + (f+ gar)yda? = 0, 


und Spezialfälle davon, weil gerade bei ihr die Rekursionsformeln 
für die Koeffizienten der Reihenentwicklung ganz besonders einfach 
werden; es drückt sich näilich jeder Koeffizient durch den unmittel- 
bar vorhergehenden aus. Diese Bemerkung veranlaßt Euler zur Be- 
handlung des Problems?), alle linearen Differentialgleichungen 2. Ord- 
nung von der Eigenschaft aufzusuchen, daß in den zugehörigen 
Reihenentwicklungen jeder Koeffizient sich durch die zwei unmittel- 
bar vorhergehenden Koeffizienten ausdrückt. Hier sei auch noch auf 
das Auftreten der Zylinderfunktionen bei Euler hingewiesen; das 
Problem der Schwingungen einer Membran führt ihn nämlich®) auf 
die Differentialgleichung 


1782 (1785), p.5 bzw. p. 31ff. die Aufgabe, Reihenentwicklungen für gewisse 
Integrale zu finden, die durch starke Konvergenz für die Praxis brauchbar sind. 
Vgl. o. 8. 735. 

') Institutiones calculi integralis, vol. II. p. 182 ff. ?) Reihen mit un- 
bestimmten Koeffizienten auch in Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, 
t. XVII, 1772 (1773), p. 129, und Institutiones caleuli integralis, vol. II, Sect. I, 
cap. VII, VIII, IX. ®) Ebenda (Inst. cale. int.), p. 252. *) Novi Commentarii 
Academiae Petropolitanae, t. X, 1764 (1766), p. 243. 


912 Abschnitt XXVI. 
ß? 1 du 
I +, 
die mit der bekannten Besselschen Differentialgleichung identisch 


ist. Euler entwickelt in eine unendliche Reihe. Eine andere nicht 
uninteressante Reihenentwicklung für die Gleichung 


d?M m dM 
Er sei 


findet sich bei Lagrange.) Für m = (0 hat man das Integral 
M= AsinxVY—k, 


für m=2 aber 


M= Asinz Y—k— Ax en 
daraus läßt sich, sagt Lagrange, für m—=4, 6, .... auf die Form 


M- Asina Vu Be er er 


schließen, wo A, B, C, ... Funktionen von & sind. Durch Substitu- 
tion in die gegebene Differentialgleichung ergibt sich eine Folge von 
Differentialgleichungen zur Bestimmung von A, B,0,.... Lagrange 
findet 
A=f+ha"t,; B=— far — hat? 
m m 4 
CA 2) 4 er ante, 


(m — 2) (m — 4) m+H9mt+e m+a. 
an Dr ee Alm 





usw., 


wo f und h Integrationskonstanten sind, und bemerkt hierzu: ist m 
eine positive gerade Zahl > 2, so bricht die Reihe der mit f multi- 
plizierten Terme ab, ist m negativ und gerade < — 4, so ist die An- 
zahl der in A multiplizierten Terme eine endliche; man erhält dann 
Integrale in endlicher Form, indem man h bzw. f gleich Null setzt; 
für m=0 undm=— 2 wird die Formel unbrauchbar; Lagrange 
macht dann hinsichtlich der Brauchbarkeit dieser Entwicklung eine 
Reihe von Bemerkungen; insbesondere spricht er von einer Unan- 
nehmlichkeit, die allen allgemeinen Integrationsformeln anhafte, daß 
sie nämlich in gewissen Fällen, die dann eine Sonderuntersuchung 
erfordern, ungiltig werden. Auch auf dem Gebiet der partiellen Diffe- 
rentialgleichungen hat die Entwicklung nach unendlichen Reihen. oft 
Dienste geleistet; Angaben über die Zahl der dabei auftretenden will- 


1) Miscellanea Taurinensia, t. II?, 1760/61, p. 81ff. Vgl. auch 8. 930 dieses 
Bandes. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 913 


kürlichen Funktionen, die ja kleiner als die Ordnung der Differential- 
gleichung sein kann, haben wir nicht gefunden. So behandelt Euler!) 
die Gleichung 


met (mar (+0; 





er setzt das Integral in der Form 
= Alk + yo) + Bat Wr) + Cat) + -- 


an und drückt die Koeffizienten B, C, D,... durch A aus. Die 
Rekursionsformeln hierfür, die quadratische Gleichung 


n+2mi+ii —-I=0 


mit eingeschlossen, nennt er determinationes. Bei Vertauschung 
von x mit y muß man wieder ein Integral haben; daraus ergibt sich 


= Aut fa + FW) + Bat WHEN). 
In die Gleichung für A setzt Euler 


Am=-—1i 
und erhält so 


n=(m+i)(m —i—1); 


durch passende Wahl von ö bricht dann die Reihe von selbst ab. 
Im Anschluß daran behandelt Euler die Frage, wann sich die 


Gleichung 
(av) = ae) + Ra) + Ska) + Te 0 


auf die eben integrierte Gleichung zurückführen läßt, und gewinnt so 
viele Fälle integrabler Gleichungen. 

Hier sei eine Aufgabe von Condorcet angefügt, der zur Lösung 
der Gleichung 





02 _ 02e1+% EB 
öy 9Oxz1-+ty 
die unendliche Reihe 
F E 
rt N, 
ansetzt?), wo P, @, ... Funktionen von x und y sind. Durch Sub- 
stitution in die gegebene Gleichung und Nullsetzen der Koeffizienten 


') Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 262 ff. ®) Histoire de l’Aca- 
demie des Sciences 1772 (1775), p. 40. 


914 Abschnitt XXVII. 


bzw. der 1., 2, .... Ableitung von F' erhält er eine Reihe von par- 
tiellen Gleichungen. So liefert der Koeffizient von 


o# oe 
02 9 


+9 en 


mit dem partikulären Integral P=.zy. Die 2. Ableitung von F 
ergibt 


die Gleichung 


Ö 
Pr atn -Prz)ata- 
wegen P= xy ist aber 
0 
7 (1 +) +y)=-ytay. 
Diese Gleichung wird durch 
O- =" y" 
2 


befriedigt. So kann man fortfahren; aber, wie leicht ersichtlich, die 
unmittelbare Aufstellung des allgemeinen Integrals in endlicher Form 
kostet weniger Zeit und Mühe als die Berechnung der von Condorcet 
angegebenen Reihen. Wir sind dabei der größeren Deutlichkeit 
halber von der Schreibweise des Originals abgewichen, indem wir 
Klammern gesetzt haben, wo auch schon zu Condorcets Zeit solche 
geschrieben wurden, und verschiedene Druckfehler verbessert haben. 
Lagrange versucht a. bei der Integration von 





Te Er +7 dt Een 
eine Beihe 
ih Di ae de nd ss 
wo die 9, 9”, 9”, .... Funktionen von &, y, t, aber nicht von 2 be- 


deuten; er erhält durch Einführung der Reihe in die vorgegebene 
Differentialgleichung die PEBER 


ar d’y’ d’p iv d?gp” d?p" 
I. Ta a Fe ee 





p und 9” bleiben hierbei unbestimmt und stellen die beiden will- 
kürlichen Funktionen dar. Vielfach wird das Integrationsgeschäft 
durch die Annahme komplizierterer Reihenformen sehr erleichtert; 
hierbei können schon bekannte partikuläre Integrale mit Vorteil ver- 





!) Mecanique analytique, 3. edit. par Bertrand, t. Il, p. 280. Nach einer 
liebenswürdigen Mitteilung von Herrn Prof. v. Braunmühl. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 915 


wendet werden; so beruht die eben angeführte Reihenentwicklung 
von Euler auf der Kenntnis eines partikulären Integrals 


ns (X +9Y)%, 


die Integration der Gleichung der Saitenschwingungen durch trigono- 
metrische Reihen ebenso auf der Einsicht, daß trigonometrische Funk- 
tionen partikuläre Lösungen sind. In interessanter Weise verwendet 
Condorcet die unendlichen Reihen!) für Differentialgleichungen wie 

dz mdz ddz c’ddz 

Flur sr Pokal 7.55 
er integriert zunächst, wobei die Koeffizienten willkürlich bleiben, 
und sucht sodann aus der Reihendarstellung das Integral, welches 
willkürliche Funktionen enthält, in endlicher Form zu ermitteln. 
Dieser Gedanke ist deshalb von Wichtigkeit, weil man mit seiner 
Hilfe hätte schließen können, daß, wie schon D. Bernoulli behauptet 
hatte, eine derartige Entwicklung mit unendlich vielen Integrations- 
konstanten unter Umständen gerade so allgemein sein kann wie das 
Integral mit willkürlichen Funktionen; man erinnere sich, daß Euler 
z.B. die Integration der Gleichung der Saitenschwingungen durch 
trigonometrische Funktionen, die nach Vielfachen des Arguments fort- 
schreiten, für weniger allgemein als das sog. allgemeine Integral hielt ?) 
(vgl. S. 995). Condorcets Methode besteht nun einfach darin, daß 
er das Integral z. B. von 


zunächst in der Form 
z=a+ba+by+e+cday+clyY+:-- 
ansetzt, und aus 
a+b(e+})+ («+ 4 
wo a,b, c,... Integrationskonstante sind, dann auf 
z=yp(e+2)+N 


schließt (vgl. 5.998). Schließlich sind noch die Methoden von Cousin 
zu erwähnen (vgl. S. 952ff.). 

Auf Reihenentwicklungen nach bestimmten Funktionen, wie tri- 
gonometrischen Funktionen, Kugelfunktionen, kann hier nicht einge- 





‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1769 (1772), p. 193 ff. 2) Vgl. 
diese Vorl., III?, S. 906. Wegen der Entwickelbarkeit einer Funktion nach Viel- 
fachen des Arguments des Sinus vgl. man u. a. besonders Lagrange: Miscel- 
lanea Taurinensia, t. III?, 1762/65 (1766), p. 221. 

CAntor, Geschichte der Mathematik IV. 59 


916 Abschnitt XXVIL. 


gangen werden; wir verweisen deshalb auf den XXVI. Abschnitt 
dieses Bandes. 

Unter den Näherungsverfahren, welche nicht von vornherein 
gleich die ganze Reihe bis auf gewisse erst zu bestimmende Koeffi- 
zienten in Form der Taylorschen Reihe event. mit veränderlichen 
Koeffizienten ansetzen, können wir zwei Gruppen unterscheiden, solche, 
welche die gegebene Differentialgleichung ohne weiteres in der ge- 
gebenen Form benutzen und lediglich durch beständige Korrektion 
das Integral zu finden suchen, und solche, welche von vornherein 
sich nicht der vollständigen Differentialgleichung, sondern nur einer 
genäherten Form derselben bedienen, wobei natürlich die Schätzung 
der erreichten Genauigkeit viel schwieriger wird. Das letztgenannte 
Verfahren wird besonders häufig in der Astronomie geübt; unter den 
ersten steht die Integration durch Kettenbrüche wegen ihrer Eleganz 
und Allgemeinheit obenan. Hierzu bemerkt Lagrange!) in den 
Berliner Memoiren für 1776, die Methode der Integration durch un- 
endliche Reihen habe den Nachteil, daß rationale endliche Ausdrücke 
als solche nicht erkannt werden; die Kettenbruchentwicklung habe 
dagegen alle Vorteile der Reihenentwicklung und sei von dem letzt- 
erwähnten Übelstand frei, da ein öndlicher und rationaler Wert des 
betr. Ausdrucks als Kettenbruch von selbst abbrechen wird. Sein 
Verfahren ist etwa folgendes: ein erster Näherungswert von y für 
sehr kleine x sei &; setzt man jetzt 
in die gegebene Differentialgleichung ein, so erhält man eine neue 
Gleichung derselben Ordnung und desselben Grades zwischen x und y. 
In derselben Weise sucht man jetzt für sehr kleine x einen Nähe- 
rungswert 8 von y’, und setzt 


V-{ 
1+y" 
Die Größen &, 8°, &”,... müssen von der Form 42“ sein, und zwar muß 


« (außer für die Größe & selbst) immer positiv sein. Die fortgesetzte An- 
wendung dieses Verfahrens liefert den gewünschten Kettenbruch; die 
Bestimmung von a und « bietet hierbei die einzige Schwierigkeit. 
Mittels dieser Methode erhält Lagrange bei Differentialgleichungen, 
die durch bekannte Transzendenten integrabel sind, die Kettenbruch- 
entwicklung von Funktionen wie log, tg, arcetg, die übrigens schon 
Euler gegeben hatte (vgl. S. 270). 


') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 301. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 917 


Auf die Entwicklung der übrigen Näherungsverfahren war die 
theoretische Astronomie von großem Einfluß. Da die Exzentrizitäten 
der Planetenbahnen, sowie ihre Neigungen meistens ziemlich klein 
sind, nahm man seit d’Alembert die Kreisbahn als genäherte Lösung 
an?) und suchte diese durch Korrektionen in der Weise zu verbessern, 
daß man schließlich Reihen erhielt, welehe nach Potenzen dieser 
kleinen Größen fortschritten. Die verschiedenen Methoden, deren 
man sich hierzu bediente, charakterisiert Condorcet?), der sich selbst 
sehr viel mit der Integration durch Reihen beschäftigt hat?): ent- 
weder setzt man, sagt er, die Unbekannte gleich einem angenäherten 
. Wert vermehrt um ein Korrektionsglied, dessen 2.,3.,... Potenz man 
vernachlässigt. Diesen Ausdruck substituiert man in die ursprüng- 
liche Gleichung, integriert und bestimmt das Korrektionsglied ange- 
nähert. Mit dem so verbesserten Wert der Unbekannten wiederholt 
man das Verfahren. Diese Methode ist vereinfacht von d’Alembert 
in den Turiner Memoiren und in seinen Opuscules, auch von Euler 
in seiner preisgekrönten Abhandlung über die Mondbewegung von 
1770 benutzt. Bei der zweiten Methode vernachlässigt man nicht 
alle höheren Potenzen des Korrektionsgliedes.‘) Endlich geht Con- 
dorcet auf die Methoden von Lagrange und d’Alembert des 
näheren ein. Von welcher Wichtigkeit diese Verfahren für die Praxis 
sind, kann aus der großen Zahl von diesbezüglichen Abhandlungen 
entnommen werden. 

Unter den speziellen Näherungsverfahren, die wir hier genauer 
darlegen wollen, sei zuerst eine Methode von Euler zur Integration 
totaler Differentialgleichungen genannt. Die Gleichung 1. Ordnung 
denkt sich Euler?) auf die Form 

d 

==V 
gebracht, wo V eine Funktion von x und y ist. Für die höheren 
Differentialquotienten ergibt sich leicht 


ddy dV aV 
a +) 
d’y daV‘ aV\ /dV ddV dV\2 ddV 
et) +2 Va) a) en 
') Nach einer Arbeit, die mir Herr Professor von Braunmühl in liebens- 


würdigster Weise im Manuskript zur Verfügung stellte. °) Histoire de l’Acad&mie 
des Sciences 1771 (1774), p. 281. °) Vgl. auch den bereits erwähnten Aufsatz: 


Ebenda 1769 (1772), p. 1983; ferner 1770 (1773), p. 191. *, Hierzu zitiert er 
Lagrange, Miscellanea Taurinensia, t. II. Vgl. die drittnächste Anmerkung 
und d’Alembert, Opuscules math&matiques, t. V. °, Institutiones caleuli 


integralis, vol. I, p. 498. Vgl. auch o. 8. 734. 


59* 


918 Abschnitt XXVI. 


Anwendung der Taylorschen Reihe liefert die gewünschte Reihen- 
entwicklung. So führt die Gleichung 


dy = da(a2” + cy) 


auf 


y=b+o(a”"+cb)+ 5.0°(ccb + ca” + na”-') 
+ 2 0°(e’b + cca" + nca" "Inn — Dar-%)+---, 


wo b der zux=a, y der zux=qa-+ » gehörige Wert von y ist. 
Bei der Gleichung 2. Ordnung 


wo dy=pdx, und V eine Funktion von &, y, p ist, seien die An- 
fangswerte 2= a, y—=b,p=c. Für das Intervall 
z=a bs z=a+to 
ist 
p=c+V(e —a) — [(@«- a)dV. 
Die Größe dV ergibt sich aus der gegebenen Differentialgleichung zu 
dV = Pdx + Qdy+ Rdp= (P+ Qp + RV)da. 


Die Annahme, daß P+ Qp + RV in dem Intervall a bis x konstant 
ist, führt auf 


p=c+F&@-a)—-(P+ Qc+ RF) (x — a), 


wo F den Anfangswert von V bedeutet. Integration dieser Gleichung 
liefert endlich 


y-b+c@—a)+ 3 F@-a®—4(P+ Qe+RF)(e-a). 


Aus diesem Näherungswert von y läßt sich sodann derjenige eines 
benachbarten y finden; auf diese Weise läßt sich allmählich das 
Intervall zwischen dem gegebenen a und einem beliebig großen & 
zurücklegen; auf das eventuelle Auftreten von Unstetigkeiten macht 
Euler aufmerksam. 

Ein sehr eigentümliches Verfahren wendet Lagrange an?): Die 
partielle Differentialgleichung 





t) Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 352. ?) Miscellanea Tauri- 
nensia, t. II®, 1760/61, p. 118. Im Original ist aus Versehen in der ersten 
Gleichung die Größe c weggelassen. 


Totale ünd partielle Differentialgleichungen. 919 


d? d?z 2dz 22 


dt? WEGEN? de(c+2) Cz@+z) 





führt er mit Hilfe von Reihen zurück auf 


Indem er auf der rechten Seite nur die ersten zwei Klammer- 
ausdrücke berücksichtigt, alle folgenden Glieder aber vernachlässigt, 
ohne natürlich den Einfluß dieser Unterdrückung auf die Integral- 
oleichung festzustellen, gewinnt er eine Gleichung, die er auf Grund 
der Besonderheit, daß 


| = 
wer = 5) 0 


ein totales Differential ist, weiter behandeln kann. 

Im folgenden gehen wir auf die Integration einer Gleichung ein, 
die für die Erfindung der Methode der Variation der Konstanten 
von Wichtigkeit geworden ist. Lagrange behandelt‘) die für die 
Astronomie wichtige Gleichung 





I +Ky+ L+iMyP+PNyP+-- a 


mit konstanten Koeffizienten X, L, M, ..., wo i eine sehr kleine 
Größe ist. Es wird sich zeigen, daß die einzelnen Näherungsglei- 
chungen immer die Form 


Ex YLKıy+Lt+acosattbeosßt+-- 


annehmen. Das Integral dieser Gleichung ist aber 


y=feosKt+ 4 sin Kt + 2 (cosKt— 1) + 





in — —; (eos Kt — cosat) 


-- Kg; (608 Kt — cos Bi) +. +,; 


für den Fall — und der tritt gerade in unserm speziellen Problem 
ein —, daß eine der Zahlen «, ß, ---=K wird, findet Lagrange 
den Wert des dadurch unbestimmt werdenden Terms durch Grenz- 





!) Miscellanea Taurinensia, t. III?, 1762/65 (1766), p. 262 ff. 


920 Abschnitt XXVL. 


übergang in bekannter Weise. Als erste Näherungsgleiehung nımmt 
Lagrange 


ze Hk Köyeck Do 0. 


Das Integral hiervon kann aus der oben angegebenen allgemeinen 
Formel entnommen werden, indem man a=b=:...—( setzt. So 
ergibt sich als erste Näherung 


y=feosKt+7 x sin Kt + 7 L_ (cos Kt — 1); 


Lagrange setzt „der Einfachheit halber“ 9=0. Führt man diesen 
Wert von y in das Schlußglied der zweiten Näherungsgleichung 


Y+Kry+ L+iMy a; 


ein, so ergibt sich als integrable Form der zweiten Näherungsgleichung. 


L 


.r (F® MLF 
+ Kıy ++ +) - 1% 


cos Kt 





+3 a -co2Kt=(, 
wo zur Abkürzung 


f+ 75 =F 


gesetzt wurde. Das Integral dieser Differentialgleichung kann wieder 
aus der allgemeinen Formel entnommen werden, und man erhält nach 


Auswertung des dabei auftretenden Terms - einen zweiten Nähe- 


rungswert. Indessen geht bei Ausführung des Grenzübergangs ein 
Summand von der Form AtsinKt in das Integral ein, und bei Fort- 
setzung der Methode würden auch Glieder auftreten, die in #, # usw. 
multipliziert sind. Dieser Umstand macht die gefundene Reihenent- 
wicklung für die Praxis unbrauchbar. Lagrange sucht deshalb die 
Reihe so umzuformen, daß sie derartige Terme nieht mehr enthält. 
Sein Verfahren ist jedoch ziemlich mühevoll!): verständlicher ist eine 
Abhandlung von Laplace über denselben Gegenstand.) Laplace 
bezeichnet sein Verfahren als eine nouvelle methode d’approximation. 
Sie besteht darin, sagt er, daß man die willkürlichen Konstanten in 
den angenäherten Integralen variieren läßt und so womöglich die 
Kreisbogen (er meint damit die Potenzen von £) zum Verschwinden 
bringt. Diese Methode ist, fährt er fort, wenn ich mich nicht 


') Das Schlußresultat Miscellanea Taurinensia, t. III®, 1762/65 (1766), p. 273. 
?) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 651 ft. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 921 


täusche, vollständig neu und von großer Fruchtbarkeit für die Rech- 
nung. Diese Worte beweisen, daß sich Laplace der Neuheit, Eigen- 
art und Wichtigkeit seiner Methode vollkommen bewußt ist. Zur 
Integration von 


_ 00y 


wo « sehr klein und konstant ist, setzt Laplace ganz ähnlich wie 


Lagrange zuerst 


_ 00, 
— 982 Ty=1, 


woraus 
y=l+psint+geost, 


wo p und g zwei willkürliche Konstante sind. Setzt man jetzt 
y=-li+psint+geost+e«z 


in die ursprüngliche Differentialgleichung ein, wobei !, p, q, « kon- 
stant sind und 2 eine Funktion von £ ist, vernachlässigt hierbei «? 
und «° und dividiert mit « weg, so ergibt sich 


= +2+1+9p°sın?? + 9? cost? + 2lp sint + 2lg cost 
+ 2pgsinteost=(0). 
Diese Gleichung liefert ein Integral 


2=— en Mer — lgt sint + Ipt cost et 2 cos 2t + 1 sin 21. 


Bis hierher unterscheidet sich das Verfahren von dem Lagranges 
nicht wesentlich; um die mit £ behafteten Glieder unschädlich zu 
machen, wird folgender Gedankengang benutzt: Substituiert man in 
der ursprünglichen Differentialgleichung 7 +t, an Stelle von t, so 
wird sie in ihrer Form nicht geändert. Man kann also das oben 
abgeleitete Integral durch ein anderes ersetzen, in welchem statt p 
und q die Konstanten "p und ’g, statt ? die Variable 7’ + ?, auftreten. 
Nun ist der Umstand von Bedeutung, daß für T=0 und «=( die 
Gleichungen p=p und 'g=g statthaben, woraus Laplace schließt, 
daß '» und p bzw. 'q und q sich um Größen von derselben Ordnung 
wie « unterscheiden. Er setzt demzufolge 


p=p+odp und g=g+Jda. 


Die beiden ee für y liefern dann bei Vernachlässigung 
aller Größen, die mit «®, «®, ... gleiche Rangordnung haben, durch 
Subtraktion 


0= [dp + «lTq]: simt + (dq — elTp) - cost. 


922 Abschnitt XXVII. 


Diese Gleichung zerfällt aber, da t variabel und 7 konstant, in die 
beiden folgenden 


op=—alT:.q und dg=«lT.p. 
Hieraus folgert Laplace 
p=f-eosalT—h-sinelT und g9=f-sinalT’ +h. cos «lT.') 
Später?) kommt Laplace noch einmal auf das Problem der Ent- 


fernung der Potenzen von t zurück. Er geht jetzt von der allgemei- 
neren Gleichung 


I Hu Eur 


oe 


aus, wo Y eine ganze rationale Funktion von «, y und den Sinus 
und Kosinus von ? sein soll. Ein Ansatz der Form 


y-2+a!+ezT+odzl L... 


liefert, wenn man die Terme gleicher Ordnung in « allemal gleich 
Null setzt, die Gleichungen 


0°2 0°z1 
0-75 +ths+T; eh a a 
2 zI1 
Ur —_ +hzT4+ TI usw, 
wo T® eine Funktion von 2, 2!, ...2®-®, sowie der Sinus und Co- 


sinus von ? ist. Treibt man die Annäherung bis zur Ordnung von «“, 
so hat man damit a» +1 Gleichungen, deren sukzessive Integration 
aber im allgemeinen Kreisbogen in die Lösung einführt. Laplace 
behandelt nun zunächst das spezielle Beispiel 


Y= my cos 2t 


nach dieser Methode und schließt aus der Form des Integrals, daß 
im allgemeinen Fall die Lösung folgende Form besitzen wird: 


y=|p+ At+BP+...|snht+[g + Mt+ NP+...]cosht+ R. 


Hierbei sind A, B,....M, N, .... ganze rationale Funktionen von », 
q und «; R ist eine ganze rationale Funktion von p, 9, «, t und ver- 
schiedenen Sinus und Cosinus, worunter jedoch sinht und cosht 
sich nicht befinden. Laplace formt diesen Ausdruck so um, daß an 





!) Macht man die Probe, so wird d« an Stelle von « auftreten. Eine 
jener kleinen Ungenauigkeiten, wie sie in diesen für die Praxis geschriebenen 
Aufsätzen häufig zu finden sind. ?) Histoire de l’Academie des Sciences 1777 
(1780), p. 373ff. Vgl. auch die Histoire desselben Bandes, p. 55. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 923 


Stelle der Potenzen von ? solche von t — ® auftreten, wo ® eine neue 
Konstante ist. Trotzdem kann der Ausdruck, wie er sagt, dadurch 
nicht allgemeiner werden, da er bereits die zwei Integrationskonstanten 
p und g enthält. Auf Grund einer Überlegung, welche der oben aus- 
einandergesetzten analog ist, findet Laplace endlich folgende Regel 
zur Bildung eines Integrals, welches die Potenzen von Z nicht enthält: 
Stellt man das Integral aus dem Gleichungssysten für 2, 2! usw. 
nach gewöhnlichen Methoden in der vorerwähnten Form dar und 
unterdrückt nachträglich alle Glieder, die { und seine Potenzen ex- 
plizite enthalten, so hat man das Integral in der gewünschten Form, 
sofern man nur für p und qg die Werte einsetzt, welche sich durch 
Integration der Gleichungen 


0 _ I 

=, — A und Fr = 
ergeben; das gesuchte Integral wird wieder zwei Integrationskonstanten 
enthalten. Im folgenden zeigt Laplace!), wie sich seine Methode 
auf ein in der Störungstheorie brauchbares Simultansystem ausdehnen 
läßt. Dasselbe lautet: 


0 0?y n2 T vun o’yl n12jl I yı 
BEE NIELS DS ah en LT tar:..; 


die 7, T!... sind hierbei ganze rationale Funktionen der Sinus und 
Kosinus von t, die Y, Y!,... ganze rationale Funktionen derselben 
Größen, sowie von « und den » Variabeln y, y!, .... Endlich über- 
trägt Laplace seinen Gedankengang noch auf die Integration von 


wo p eine Funktion von y, seinen Ableitungen nach t, Sinus, Cosinus, 
Exponentialfunktionen mit dem Argument {, nicht aber den Potenzen 
von £ ist. 

Die Entfernung der Kreisbogen aus dem Integral, die Lagrange 
und Laplace durch geistreiche Überlegungen bewerkstelligt hatten, 
leistet Trembley, dem die Methode der Variation der Konstanten, 
und nicht bloß in der Laplaceschen, sondern auch in der viel durch- 
sichtigeren, weniger anfechtbaren Lagrangeschen Form von 1775 
(vgl. S. 932), verdächtig erscheint, auf anderem Wege vermöge seiner 
Geduld und Ausdauer im Rechnen.?) Trembley erkennt ganz richtig, 
daß das Auftreten der Kreisbogen nur auf Täuschung beruht; denn 





') Histoire de l’Academie des Sciences 1777 (1780), p. 384. ?) Nouveaux 
Memoires de l’Acad&mie de Berlin 1786/87 (1792), p. 363 ff. 


924 Abschnitt XXVII. 


führt man die Rechnung soweit durch, daß das Fortschreitungsgesetz 
der einzelnen Terme erkannt wird, so findet man, daß sich die Kreis- 
bogen zu Potenzreihen zusammenfassen lassen, die durch Exponential- 
funktionen summierbar sind. Da aber die Gleichung 


dd 





bzw. die Ableitung des von Laplace gegebenen von Kreisbogen 
freien Integrals bei Trembley allein zehn Quartseiten erfordert, 
zeigen wir sein Verfahren an einem einfacheren Beispiel. Sei gleich- 
zeitig 
d R d s 
nr —=(1+2ix)z und Tr —= — (1 + 2ie)y, 
wo i eine sehr kleine Größe bedeutet. “= 0 gibt zwei Näherungs- 
gleiehungen, aus denen durch Kombination die Gleichung 
ddy 
dr +y=d) 


folgt. Korrigiert man die daraus erhältlichen Näherungswerte von y 
und z durch die Zusatzglieder iy' bzw. iz’, so ist 


y= AeV-1+ BerV-1+iy,; 

gs= AY— 1eVY-1- BY—-leV-!+i7. 
Indem man B einstweilen gleich Null setzt, ergibt sich durch Sub- 
stitution in das ursprüngliche System das genäherte System 


day _ ee et, 

35 = 24Aey—1ee +32; re — yY. 
Man erhält hieraus y' und 2’ und hieraus verbesserte Werte von y 
und z, die man sogleich wieder mit Zusatzgliedern @?y” und ?2” ver- 


sieht. Fortgesetzte Anwendung dieses Verfahrens ergibt schließlich: 





J A a A er u Veen 





= Ay-1-eV-i(l+ Lay-i- ln, yZ1+-) 


dh  yoAeliretei, AV leeViHevn, 


Ähnlich hätte man von vornherein statt B die Integrationskon- 
stante A gleich Null setzen können; man hätte dann 


y= B.e-V-1-i82V-1;, g=- — ByY—-1:- e-:V-i-iey-1 


erhalten. Aus beiden partikulären Integralen läßt sich sofort das 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 925 


vollständige Integral zusammensetzen. Im folgenden!) verbessert 
Trembley eine von d’Alembert 1769 in den Pariser Memoiren ent- 
wickelte Näherungsmethode, deren Grundgedanke darin besteht, daß 
man eine gegebene Differentialgleichung wiederholt differentiiert und 
die so erhaltenen Gleichungen derart zu kombinieren sucht, daß man 
eine integrable Gleichung höherer Ordnung erhält, welche die ur- 
sprüngliche näherungsweise zu ersetzen vermag. 

Wir haben im vorausgehenden die Methode der Variation der 
Konstanten zum erstenmal bei Laplace mit vollem Bewußtsein ihrer 
Eigenart auftreten sehen; die Idee selbst, eine Größe zeitweilig als 
konstant und dann als variabel aufzufassen, ist indessen schon lange 
genug vorbereitet. Zunächst sei an die Bestimmung des Integrals 
der totalen linearen Differentialgleichung »‘* Ordnung mit konstanten 
Koeffizienten im Fall gleicher Wurzeln erinnert (vgl. S.928, Note 1), die 
bewerkstelligt wurde, indem man den Wurzeln, d. i. in Wirklichkeit 
konstanten Größen, sehr kleine, gegen Null abnehmende Differenzen 
erteilte, ohne sich mit der Frage nach der Berechtigung eines solchen 
Schrittes aufzuhalten. Euler behandelt?) folgende Aufgabe: Sei 7 
eine gegebene Funktion von x und y, es soll das Differential von 


Z=-/Vas, 


wo die Integration bei konstantem y vorgenommen wurde, bestimmt 
werden, wenn dabei auch y variabel angenommen wird. Euler erhält 
unschwer 


di Vaz+dy [di (Gr) 


Kurz darauf stellt er die Aufgabe, aus einer gegebenen Differential- 
gleichung, die einen Parameter enthält, jene Gleichung abzuleiten, 
welche entsteht, wenn man die Integralgleichung so differentiiert, daß 
dabei auch jener Parameter variabel ist. Die Störungsgleichungen 
des Mondes werden von Euler und späteren mit Benutzung des Um- 
standes abgeleitet, daß gewisse Bewegungsgleichungen sowohl bei 
Konstanz als bei Variabilität bestimmter Bahnelemente bestehen 
müssen. Nach ihm hat Lagrange dieselbe Methode in seiner Ab- 
handlung über die Theorie von Jupiter und Saturn benutzt”) und 
das Prinzipielle und Eigenartige dieser Methode noch besonders be- 
tont; er ist es auch, der die Methode zuerst in weitestem Umfang 


‘) Nouveaux Mömoires de l’Acaddmie de Berlin 1786/1787 (1792), p. 387. 
Siehe auch p. 397. ?) Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 31. Vgl. auch 
Klügels mathematisches Wörterbuch, I. Abtlg., unter „Differentialgleichung“, 
S. 891. °) Miscellanea Taurinensia, t. III®, 1762/65 (1766). p. 323. 


926 Abschnitt XXVI. 


gebraucht hat. Von Variation der Konstanten kann man auch bei 
Lagranges Herleitung des singulären Integrals aus dem vollständigen 
Integral reden; in allen diesen Fällen handelt es sich jedoch nicht 
um die uns geläufige Methode der Variation der Konstanten. Diese 
besteht vielmehr darin, daß man statt einer gegebenen Differential- 
gleichung eine andere, die aus der ursprünglichen entweder durch 
Vernachlässigung einzelner Glieder oder dadurch, daß man einzelne 
Variable konstant setzt, hervorgeht, behandelt, und in dem Integral 
dieser Hilfsgleichung nachträglich die Integrationskonstanten oder 
einstweilen konstant gesetzten Veränderlichen variieren läßt. In 
diesem Sinne ist die Variation der Konstanten nur eine spezielle 
Näherungsmethode, die durch passende Korrektion einen halbwegs 
brauchbaren Wert genau richtig macht. Bierher könnte man z.B. 
die Integration totaler Differentialgleichungen mit mehr als 2 Varia- 
beln, welche die Integrabilitätsbedingungen erfüllen, rechnen, die man 
bekanntermaßen dadurch vollzieht, daß man in der ursprünglichen 
Gleichung nur 2 Variable variieren läßt, integriert und nachträglich 
die Integrationskonstante als Funktion der konstant gelassenen Variablen 
ansieht; diese Methode ist zu Beginn des hier behandelten Zeit- 
abschnitts bereits bekannt. Ganz analog geht man bei partiellen Diffe- 
rentialgleichungen vor, die nur die Ableitung nach einer Varıabeln ent- 
halten, und wir werden sehen, daß Lagrange einen ähnlichen Gedanken- 
gang in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen 1. Ordnung mit 
großem Erfolg verwertet hat (vgl. S. 970). Die eleganteste Anwendung 
der Variation der Konstanten hat Lagrange mit der Integration der 
vollständigen linearen totalen Differentialgleichung und Differenzen- 
gleichung »‘” Ordnung gegeben (vgl. S. 932). Derselbe geht auch 
auf die Möglichkeit der Integration von 


d’y 
ee 
n—|1 


wo P und II Funktionen von x, Y, Y; ... Ge sind, mittels Va- 
 L 





riation der Konstanten ein, falls das vollständige Integral von 
VL P=0 
dx 


bekannt ist.') Ferner erwähnt er, daß die Methode der Variation der 
Konstanten mit Vorteil auf die durch Vernachlässigung sehr kleiner 
Größen erhaltenen angenäherten Integrale von Simultansystemen an- 
gewendet werden kann?), daß jedoch für ein beliebiges vollständiges 


!) Nouveaux M&moires de l’Academie de Berlin 1775 (1777), p. 192. 
?) Ebenda, p. 195. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 927 


Integral einer Gleichung 2. Ordnung dieselbe Methode plus eurieuse 
qu’utile sei.') 

In Verbindung mit der Methode der unendlichen Reihen ist die 
Integration durch bestimmte Integrale zu nennen. Besonders 
Euler hat sich mit dieser Aufgabe beschäftigt; und wie er in der 
Theorie des Multiplikators die zu einem gegebenen integrierenden 
Faktor gehörige Differentialgleichung sucht, geht er auch hier von 
einem gegebenen Integral aus und fragt nach der äquivalenten Diffe- 
rentialgleichung. Bezüglich der Integration der linearen Differential- 
gleichung 2. Ordnung nach diesem Verfahren, per quadraturas curva- 
rum, wie er sich ausdrückt, bemerkt er selbst?), es sei dabei zu be- 
achten, daß die Wahl jenes Integrals nicht völlig von der Willkür 
des Rechners abhängt, sondern von vornherein die Anlage haben 
muß, bei der Entwieklung der zugehörigen Differentialgleichung auf 
die 2. Ordnung zu führen; es stehe daher nicht zu hoffen, auf diesem 
Wege jemals zu einer beliebig vorgegebenen Differentialgleichung zu 
gelangen. Letzterer Aufgabe, eine gegebene Differentialgleichung 
durch ein bestimmtes Integral zu integrieren, sucht Euler dadurch 
beizukommen, daß er das Integral zuerst in Form einer unendlichen 
Reihe entwickelt und diese nachträglich in ein bestimmtes Integral 
verwandelt?); das Integral der auf Seite 911 erwähnten Differential- 
gleichung erhält er auf diesem Weg in mehrfach verschiedener Form. 
Dieselbe Methode wendet, wie wir sehen werden (vgl. S. 1006), La- 
place auf die lineare partielle Differentialgleichung 2. Ordnung an; 
er stellt das Integral als unendliche Reihe dar, die er in ein be- 
stimmtes Integral umformt. 

Mit der Schilderung dieser Methoden haben wir die Gesichts- 
punkte, welche für totale wie partielle Differentialgleichungen in 
gleicher Weise in Betracht kommen, ziemlich erschöpft und wir 
wenden uns zunächst ausschließlich den totalen Differentialglei- 
chungen zu. Hier ist es die lineare Gleichung, d.h. die Glei- 
chung, deren Koeffizienten Funktionen der unabhängigen Variablen 
allein sind, welche das Hauptinteresse der Mathematiker auf sich 
gezogen hat, und ihrer Untersuchung ist eine ganze Reihe von Ab- 
handlungen gewidmet. Auf diesem Gebiet hatten schon Euler und 
d’Alembert viel geleistet; sie hatten zunächst die unvollständige, 
dann aber auch die vollständige Gleichung mit konstanten Koeffizienten 





‘) Oeuyres de Lagrange, t. IV, p. 101. Hier mag noch erwähnt werden, 
daß auch Euler gelegentlich aus partikulären Integralen die vollständigen 
durch Variation der Konstanten herleitet; man vgl. einen Aufsatz vom Jahre 1778 
in Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XIII, 1795/96 (1802), p. 3 ff. 

?) Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 308. °®) Ebenda, vol. II, p. 310 ff. 


928 Abschnitt XXVL. 


integriert, auch den Fall gleicher und komplexer Wurzeln der dabei 
auftretenden Hilfsgleichung behandelt!) Den Fortschritt zu nicht- 
konstanten Koeffizienten macht Lagrange?); er wird dabei zu einer 
Gleichung geführt, die wir heutzutage die Lagrangesche Adjungierte 
nennen. Multipliziert man die Gleichung 


Iy+ M% N 


wo L, M, N,...T Funktionen von t sind, mit zdt, wo 2 eine noch 
zu bestimmende Funktion von f ist, und integriert, so erhält man 
durch partielle Integration 


1 Me at = Mey— | yat 
Pan „Ay ah y+ Jar ya 


dt? eat de 
Setzt man diese Ausdrücke in die ursprüngliche Differentialglei- 
chung ein, so kommt 


(Me —° 7° a BE - 


Ist der Klammerausdruck unter dem ne gleich Null — 
eine Relation, die man als Differentialgleichung für z auffassen kann 
— so bleibt eine Differentialgleichung für y stehen, deren Ordnung 
im Vergleich zu der gegebenen Differentialgleichung um einen Grad 
niedriger ist. Die Relation zur Bestimmung von z behandelt Lagrange 
auf dieselbe Art weiter; er verlangt eine Funktion y von ? zu finden, 
deren Kenntnis, genau wie vorher die der Funktion z, Ordnungserniedri- 
gung ermöglicht. Er wird dabei auf eine Differentialgleichung für y 
zurückgeführt, die sich von der Anfangsgleichung in y nur dadurch unter- 
scheidet, daß die rechte Seite nicht 7, sondern 0 ist. Lagrange 
wird damit zum Entdecker des Satzes, daß die Adjungierte der Ad- 
jungierten die ursprüngliche unvollständige Gleichung ist; da er aber 
für die Adjungierte keinen besonderen Namen hat, so hebt er diese 
auffällige Tatsache nicht besonders scharf hervor. Euler kommt in 


') Vgl. diese Vorl., III?, S. 892—895 bzw. 8.898. Den Fall gleicher Wurzeln 
behandelt d’Alembert auch unter Tangentes im Dietionnaire des math&matiques 
der Encyclopedie methodique. ?) Miscellanea Taurinensia, t. IIl?, 1762/65 
(1766), p. 179#f. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 929 


einer Abhandlung von 1778 wieder auf die Frage der Ordnungs- 
erniedrigung, scheint aber die Resultate der Lagrangeschen Abhand- 
lung, die er jedenfalls gelesen hatte, vollständig vergessen zu haben, 
wenigstens hält er sein Ergebnis für vollkommen neu; er formuliert?) 
folgendes Gesetz: Die Gleichung 


p2+gdze +rddz + sd’z +tid!z +... = 0?) 


wird ein totales Differential mittels eines Multiplikators Z, welcher 
sich aus der „konjugierten Gleichung“ 


PZ+QdZ + R@® Z+ S®Z + THZ-+.:.—0 


bestimmt, wo 
P=p—dg+ddr — ds +dt—... 


= — g+2dr — 3dds+4dt —... 
R=r—3ds +6ddt—... 


S-üis+tAdt—... 
a: Be 


Durch Auflösung dieser Gleichungen nach 9,9, r,... findet 
Euler, daß diese Größen durch die P, @, R,... genau in derselben 
Weise ausgedrückt werden, wie letztere durch jene; daraus schließt 
er, daß von den beiden Gleichungen für 2 bzw. Z eine die konjugierte 
der anderen ist. Eulers Darstellung bedeutet insofern einen Fort- 
schritt gegenüber Lagrange, als in ihr erst die vollkommen gleiche 
Bauart, die durchgehende Dualität zweier adjungierter Gleichungen 
erkannt und durch eine übersichtliche Bezeichnungsweise (kleine und 
große Buchstaben) angedeutet ist; Lagrange hatte nur beobachtet, 
daß bei zweimaliger Anwendung seines Verfahrens schließlich die ur- 
sprüngliche, aber unvollständige Gleichung resultiert. 

Lagranges Hauptverdienst ist in der Aufstellung allgemeiner 
Sätze über die Integrale der linearen Differentialgleichungen zu sehen, 
m.a. W. in der Schaffung einer Theorie dieser Integrale; die Form 
des vollständigen Integrals als Summe von unabhängigen, mit will- 
kürlichen Konstanten multiplizierten Partikulärintegralen, der Zusam- 
menhang zwischen vollständiger und unvollständiger Gleichung?), ins- 
besondere aber die Einsicht, daß die Kenntnis von m Partikulärinte- 
gralen (valeur particuliere) der letzteren eine Ordnungserniedrigung 


') Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XIV, 1797/98 (1805), p. 58. 
”) Die Potenzen des Differentials der unabhängigen Veränderlichen sind hier 
einfach weggelassen. °) Für die Gleichung 2. Ordnung eingehend besprochen. 


930 Abschnitt XXVII. 


der ersteren um m Grad ermöglicht‘), sind nach meiner Ansicht die 
vornehmsten Resultate der erwähnten Abhandlung. In der Praxis 
muß natürlich Lagrange häufig zu Reihenentwicklungen seine Zu- 
flucht nehmen; so setzt er?) z. B. für 


at (+ +0, 


auf welche Form er von 


az?” +0 


ausgehend kommt, die Reihe 
z= AwW+ Bwt!+(Cwt?’+--- 


an und bestimmt die unbestimmten Koeffizienten in gewohnter Weise. 
Die Lagrangesche Theorie der linearen Gleichung beliebiger Ord- 
nung läßt sich sehr vorteilhaft auf die Gleichung 


Ay+ B(h-+ kt) = "+ Ch + kt) u -T 


anwenden, wo h, k, A, B,.... Konstante sind. Lagrange bildet?) 
die Adjungierte und setzt versuchsweise deren Integral (h + kt)”. 
Das gibt eine Gleichung für r, nämlich 


A— Bir +) +CKR(r +Y(r +2): =. 


Lagrange geht dann auf die Ermittlung des vollständigen Inte- 
grals der ursprünglichen Gleichung ein. Als Anwendung bringt er“) 
die Behandlung einer Gleichung, die eine unbekannte, zu bestimmende 
Funktion enthält; das Problem führt mit Zuhilfenahme des Taylor- 
schen Satzes auf eine Gleichung der erwähnten Art von unendlich 
hoher Ordnung. Solche Gleichungen, allerdings nur mit konstanten 
Koeffizienten, hatte schon Euler vor ihm behandelt (vgl. diese Vorl., III, 
S. 896); in seiner Integralrechnung finden sich wieder eine Menge, 
teils schon früher gelöster derartiger Gleichungen’), aber weder Euler 
noch Lagrange erkennen oder erwähnen, daß in die Lösung dieser 
Gleichungen, weil sie im Grunde genommen nichts als Differenzen- 
oleichungen sind, eine willkürliche Funktion eingeht. Die unendlich 
vielen Integrationskonstanten ihrer Lösung konnten sie deshalb nicht 
zu dieser Einsicht führen, da ihnen die Darstellbarkeit einer beliebigen 
Funktion durch trigonometrische Funktionen unbekannt war.‘) Glei- 





!) Miscellanea Taurinensia, t. III?, 1762/65 (1766), p. 183. 2) Ebenda, 
p. 187. ®) Ebenda, p. 190. *, Ebenda, p. 201. 5) Institutiones caleuli 
integralis, vol. II, p. 459, 463, 476, 477, 480. °) Vgl. diese Vorl., III?, S. 207. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 931 


f 


chungen von unendlich hoher Ordnung mit nichtkonstanten Koeffi- 
zienten behandelt Euler nicht, obwohl er z.B. 
2 
Bd DE za 1 Diese 
für beliebige Ordnungen untersucht. 

An die Möglichkeit der Ordnungserniedrigung bei Kenntnis von 
Partikulärintegralen knüpft d’Alembert in einem Schreiben an La- 
grange') wieder an und bringt einen neuen Beweis dafür; derselbe 
Forscher gibt an anderer Stelle den bekannten Satz, daß das vollständige 
Integral der vollständigen Gleichung aus zwei Teilen sich additiv zu- 
. sammensetzt, nämlich aus einem Partikulärintegral der yollständigen 
und dem vollständigen Integral der unvollständigen Gleichung. 

Laplace behandelt die lineare Differentialgleichung?) nicht wie 
Lagrange mit Hilfe eines einzigen Multiplikators, sondern bedient 
sich gleich eines ganzen Multiplikatorsystems. Sei 





L: day ‚ d’y n-1 8° 
Beth ++ H dar’ 
wo X, H, H’,... Funktionen von x-sind. Laplace setzt 
d 
m) ty= T, 


wo @ und 7 erst näher zu bestimmende Funktionen von x sind. 
Durch Differentiation ergibt sich daraus 


ddy dT 


rer) 


Berende are TE to dy_d"IT. 
2 7 a En Fl 


da" dat * a: ge 








+1) 


Diese Gleichungen multipliziert Laplace bzw. mit o@, ®” 
und addiert unter Hinzuziehung von 


ae 


d 
(m) pr +y=[T. 
So ergibt sich eine Gleichung, die durch Vergleichung mit der ur- 


sprünglichen auf folgendes System führt: 


ED, Egeip 
re re ai 








‘) Miscellanea Taurinensia, t. III?, 1762/65 (1766), p. 381—396. Vgl. auch 
die Pariser Memoiren für 1767 und 1769. ?) Ebenda (Misc. Taur.), t. IV?, 
1766/69, p. 173 ff. (verdruckt statt 273). 
Cantor, Geschichte der Mathematik IV.3 | 60 


932 Abschnitt XXVI. 


ooar-dB— Har-D 
n—1 


ar 9 + mr -dı 7 





nn 0 Tria-n 
dx 


‚ ‚do 
re 


Diese Gleichungen gestatten aber die ©’, @, ... durch ® und 
die 4’, H”, ... auszudrücken. Durch Substitution der so erhaltenen 


Werte ın 


d ‚do „dAdo 
H=o+o+o,,+%W 7t'"' 





und 
3 Br 
N -T+0 iz + ® ee 


ergeben sich endlich zwei Differentialgleichungen für © und 7’; dabei 
ist Ordnungserniedrigung erzielt worden. Hat man aus den letzt- 
erwähnten beiden Gleichungen eine Reihe Partikulärlösungen ß,ß),... 
von ® und die zugehörigen 7, 7’, .... gefunden, so erhält man mit 
Hilfe von | 

@ * +y=T 
das Integral 


y I? (or j2:/ 8. N SE SF an)a-- 


Auf die weitere Theorie der bei Anwendung dieser Methode auf- 
tretenden Ausdrücke, insbesondere für den Fall konstanter H, H’,...') 
kann hier nicht näher eingegangen werden, da die Resultate nicht 
neu und die auftretenden Formeln alle ziemlich kompliziert sind. 
Laplace behandelt speziell auch die Gleichung 2. Ordnung, welche 
auf die allgemeine Riccatische Differentialgleichung führt.) 

Der nächste bedeutende Fortschritt ist die Heranziehung der 
Methode der Variation der Konstanten zur Nutzbarmachung des Zu- 
sammenhangs zwischen vollständiger und unvollständiger Differential- 
oleichungen durch Lagrange.’) Sei die lineare Gleichung n‘” Ord- 
nung gegeben: 


dy d?y ey 
Py+ 97, + Ras ee le, 


woX, P, Q, R,.... Funktionen von x sind. Im FallX=0 sei das 





1) Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69, p. 295. 2) Ebenda, p. 297. 
s) Nouveaux M&moires de l’Acad&mie de Berlin 1775 (1777), p. 190. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 933 


vollständige Integral der Gleichung bekannt; dieses besitzt notwendig 
die Form | 
yzap+tbg+ter+t::;, 

wo a, b, c,.... n Integrationskonstanten, p, q, r, ... ebensoviele par- 
tikuläre Werte von y darstellen. Betrachtet man, fährt Lagrange 
fort, die willkürlichen Größen a, b, c,... als unbestimmte Variable 
und setzt in den Ausdrücken dy, d?y, ... d"-!y den Teil, der von 
der Variabilität von a, b, c, ... herrührt, immer gleich Null, so er- 
gibt sich 


dy = adp +bdg : +cdr + 
O= pda + gdb +rde + 
®y=adp +bdg + cd?r +. 
O=dpda + dgqdb + drde .. 
d’-iIy = ad" ip + bdr-!g + cd" -!Iyr +... 
0 = d" pda + d""’gadb +d"-rdc-+--- 
und endlich 
V"y=adp+barg+tcd'r+:-: 
+ da" Ipda + d"!gdb+d"-Irdc+--- 


Auf diese Weise erhalten also die Ausdrücke für dy, d?y,... driy 
genau dieselbe Form, wie wenn a, b, c,... konstant wären, und auch 
d”y unterscheidet sich von dem d”y im Fall konstanter Koeffizienten 
nur durch das Zusatzglied d""!pda + d"-!gdb + d"-Irde+..:. Da 
aber bei konstanten Koeffizienten die Ausdrücke für y, dy, ... dry 
nach den Voraussetzungen über die Größen a, b, c,...9, 5, r,... 
der unvollständigen Differentialgleichung Genüge leisten, so müssen 
auch jetzt, im Fall der vollständigen Gleichung, bei Substitution 
obiger Ausdrücke für y, dy, ... d"y alle Terme sich gegenseitig fort- 
‚ heben, und nur das zu d”y gehörige Zusatzglied und der Term X 
werden davon eine Ausnahme machen. Es resultiert also die Gleichung 


dr ipda + d-'gdb + d"-Irde+ = K dan, 
welche mit den » — 1 Bedingungsgleichungen 
O=pda+gdb+rdc+-:- 
0 = dA" pda + d"?gdb + d"-trdc+t:-- 
zusammen n Gleichungen zur Bestimmung der Differentiale da, db, 


de, ... liefert. 
60* 


954 Abschnitt XXVI. 


Von späteren Arbeiten!) über die lineare Gleichung sei nur noch 
eine Abhandlung von Lorgna besprochen.) Lorgna geht zunächst 
auf die vollständige Gleichung mit konstanten Koeffizienten ein; er 
substituiert für die abhängige Variable y den Ausdruck 


en fa fü PR 


wo u und z neue Variable sind, während u konstant ist, und drückt 
dy, ddy, ... durch z, u, y, du und das Differential dx der unab- 
hängigen Veränderlichen x aus. Nach Einführung dieser Werte in 
die ursprüngliche Differentialgleichung setzt er den Teil, welcher den 
Faktor y besitzt, für sich gleich Null und erhält so zwei Gleichungen, 
deren eine nur 2 und seine Ableitungen nach « enthält, also als Be- 
stimmungsgleichung für 2 benutzt werden kann. Zugleich ist Ord- 


nungserniedrigung erreicht. Interessanter sind die Untersuchungen 
über die Gleichung 2. Ordnung’) 


Mdx? = 7?(a + bar)ddy + x(e + fa")dady + (g+ ha”)yda, 


von der uns der Fall M=0 schon wiederholt begegnet ist (vgl. 
8. 911 und 927). Durch die Substitution y— — ergibt sich 


zMd&’= x?’(a + bar)dde + x(— 2a+e+(— 2b + f)a”)dadz 
+(2a—e+g9+%2b— f+ha”)zda, R 


und diese Gleichung ist genau von derselben Form wie die ursprüng- 
liche. Die wiederholte Anwendung analoger Substitutionen 


rresllgft 

ge = FR er a h 

wird daher wieder eine Gleichung der alten Form hervorbringen, 

nämlich 

am M da? = x:(a + ba")ddem-d + x(e—2ma + (f—- 2mb)ar)dader -? | 
+ ((m + ma — me +9 + (m + mYb — m(f + War)" Dada. 


Ist nun das letzte Glied gleich Null, so wird die Differentialgleichung 
bedeutend vereinfacht, und man kann ihr Integral leicht angeben. 
Ein derartiges Verschwinden wird eintreten, wenn die Gleichungen 


matmla—)+9=0 und mb+mb—f)t+h=0 





1) Siehe auch Memorie di Mat. e Fis. Soe. It., t. VIII, 1799, parte I, p. 307 ff. 
?») Ebenda, t. II, 1784, parte I, p. 177 ff. ®) Ebenda, p. 197. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 935 


bei gegebenen Koeffizienten a, b, c,.... beide durch das nämliche 
ganzzahlige m gelöst werden; dieses Kriterium hat die besondere 
Eigentümlichkeit von n unabhängig zu sein. Die Methode erinnert 
an die Laplacesche Kaskadenmethode für partielle Differentialglei- 
chungen 2. Ordnung (vgl. S. 1001ff.). Auf dem nämlichen Wege leitet 
Lorgna ein ähnliches Kriterium für die Gleichung beliebiger Ordnung 


Mdx" = x"+!(a + bX)ydar + a”*+?(c + eX)dyda"-! 
+ am +3(f+ gX)ddydar-?+--. 
ab; die Substitution, die hier zum Ziel führt, ist 


y V® 
ze +1 


Von den nichtlinearen Differentialgleichungen ist wegen 
ihres Zusammenhangs mit der linearen Gleichung 2. Ordnung, sowie wegen 
ihrer Bedeutung für die Flächentheorie, Physik usw., die Riccatische 
Differentialgleichung wohl die interessanteste. Man versteht darunter 
heutzutage die Gleichung 


I = ala) + a2): y+@,(2)-y, 


und es scheint, daß d’Alembert als einer der ersten den Namen in 
weiterem Umfang als früher üblich gebraucht hat, wenn er die aus 


dat _ ent 
de? 2ale 


jr 


hervorgehende Gleichung als Riecatische bezeichnet.!) Spezielle 
Formen der allgemeinen Gleichung treten natürlich viel früher auf 
(vgl. Cantor III®, 3.880)?), aber Lagrange°) und Euler bezeichnen 
gewöhnlich nur die Gleichung, die das Glied mit y? nicht enthält, 
als Riccatische; allerdings sagt Lagrange‘) von der Gleichung 





vermöge 


2 
u in 
dx 


x dx 


(vgl. 8.912), sie falle unter „le cas general de Riecati“, sagt aber 





‘) Histoire de l’Academie de Berlin, t. XIX, 1763 (1770), p. 242. 2) Nach 
einer gütigen Mitteilung von Herrn Professor von Braunmühl schon 1738 bei 
Euler: Commentarii Academiae Petropolitanae (1747), p. 46. ®) Z.B. Mis- 
cellanea Taurinensia, t. III, 1762/65 (1766), p. 189. *) Ebenda, t. II?, 1760/61, 
p- 81. 


936 Abschnitt XXVL. 


nicht, was darunter zu verstehen sei; die angegebene Gleichung führt 
mittels | 
Mor J z2dz 
auf 
dz se m m 
dat? mike 


doch ist die Substitution selbst an der betr. Stelle nicht angegeben. 
Der Zusammenhang mit der linearen Gleichung 


ddy + Pdady + Qyd?=(, 


wo also P und Q Funktionen von x allein sind, sei hier im Anschluß 
an Eulers Integralrechnung') dargestellt. Euler verlangt zunächst 
Ordnungserniedrigung, schreibt in üblicher Weise 


ga+Pp+Qy—V 
und erhält mittels der Substitutionen p = uy und q = vy die Gleichung 


v=— Pu —(. 
Es ist aber 
dy=uydz und udy-+ ydu = vyda. 
Also 
an 


Y U 
daraus folgt mit Hilfe von 


v=—-Pu— 0 
endlich 
du +uudz + Pude + Qdz=O. 


Aus dieser Gleichung folgt bei Anwendung der Transformation 


RR... 
BEN DE NG 
eine Gleichung von der Form 





dz + Pzdx + Rzzdz + Qde=V0$, 


die sich von der vorhergehenden nur durch das Auffreten der Funk- 
tion R unterscheidet; der am meisten ausgezeichnete Fall ist, sagt 
Euler, die Rieceatische Gleichung 


dz + 22dx = ar"dx. 


Endlich ist zu erwähnen, daß Euler imstande ist, die Riccatische 
Gleichung bei Kenntnis eines partikulären Integrals v durch die Sub- 





‘) Institutiones calceuli integralis, vol. II, p. 88ff. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 937 


stitution 2=v + wu”! in eine lineare Gleichung überzuführen!) und bei 
Kenntnis zweier Partikulärlösungen durch Quadraturen zu erfüllen; der 
Satz von der Konstanz des Doppelverhältnisses von vier partikulären 
Integralen scheint. erst in jüngerer Zeit gefunden worden zu sein.?) 

Von anderen speziellen Gleichungen, wie sie meist bei praktischen 
Aufgaben auftreten, sei beispielshalber die von Euler behandelte 
Gleichung 


Andds Ads ns 
5 RT a 
angeführt?); Nikolaus Fuß schreibt?) über die Gleichung 


1 + n._ I(4n — 6)t+n] + (nn —n)s = (), 

welche einen Spezialfall der Gaußischen Differentialgleichung dar- 
stellt, entwickelt s in eine Reihe nach Potenzen von ? und leitet aus 
der ursprünglichen Differentialgleichung durch Transformation ver- 
schiedene neue ab. Eine Gleichung, die sich von der Riccatischen 
dadurch unterscheidet, daß die abhängige Variable auch in der 3. Po- 
tenz auftritt, findet Euler gelegentlich eines mechanischen Problems.) 
Auf eine Menge interessanter, spezieller Gleichungen 2. Ordnung kommt 
Legendre ın einem Aufsatz über die Figur der Planeten zu sprechen.) 
Ungleich mehr Interesse beansprucht die Theorie der Differential- 
gleichung 

dx dy 


Very. 

wo X und Y Polynome in x bzw. y sind, die allerdings im Zusam- 
menhang mit der Theorie der elliptischen Integrale zu betrachten 
ist (vgl. 8. 795 ff). Hier sei nur eine Untersuchung angeführt, welche 
ausschließlich auf Methoden beruht, wie sie für Differentialgleichungen 
in Anwendung gebracht werden. In einer Arbeit aus dem Jahre 1768, 
die sich die Auffindung von Differentialgleichungen, welche ein Ad- 
ditionstheorem zulassen, zur Aufgabe macht, behandelt Lagrange in 
direktem Anschlusse an Eulers einschlagende Arbeiten (s. o. S. 807) 
zunächst?) die Gleichung 





') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. VIII, 1760/61 (1763), 
p. 32ff. Ebenda, t. IX, 1762/63 (1764), p. 162. 2) Hier sei noch ein Aufsatz 
von Lorgna über die Gleichung Qdx + Py?de-+dy=0 in Memorie di Mat. 
e Fis. Soc. It., t. II, 1786 erwähnt. ®) Acta Academiae Petropolitanae 1780 
(1784), pars II, p. 8. *, Ebenda 1782 (1785), pars I, p. 107. °) Ebenda, 
1778, pars II, p. 162. Auf diese Gleichung geht Stephan Rumovski (1734 
bis 1815) ebenda 1781 (1784), pars I, p. 147ff. wieder ein. Eine andere spezielle 
Gleichung 1. Ordnung behandelt derselbe Nova Acta Acad. Petrop., t. XII, 1794 
(1801), p. 192—195 (der Aufsatz stammt aus dem Jahre 1797). ®) Histoire 
de l’Acad&mie des Sciences 1789 (1793), p. 372 ff. ‘, Miscellanea Taurinensia, 
t. IV®, 1766/69, p. 104. 


. 938 | Abschnitt XXVL. 
dx | ih dy = 
Ve+pßa+ye? Vet+py+ry? 











Aus | 
d dy? 5 K 
m atßatye und mm e+Bitry 


Eh er durch Differentiation und darauffolgender Division mit @ Fr n 


bzw. 2 die Gleichungen 


9 ® 
2a -B+2ya ud 2 —-B+2rV. 


Die Substitution + y= p liefert 


u 
2 73 = 2ß +2yP, 
also 





d e- 
= Vk+2ßp + yp}; 
hierbei bedeutet k die Integrationskonstante. Mit Berücksichtigung von 


dp dx+dy 
dt  .det 





p=x+y und 
folgt sofort die Gleichung 


Va+BetrP)+Va+By tr) -VeR+ Bet N)trE+W], 
welche den Zusammenhang zwischen x und y algebraisch ausdrückt, 


Analog führt die Substitution 2 —-y=q zu 


d? j 
27-279 











und damit zu 


V(@ + Bx + ya) —V(e+ By + yy)=VIH+ Bea — WI: 


Lagrange wendet seine Methode auch auf elliptische Integrale an 
und behandelt dann!) allgemein die Gleichung 


dx dy 


ya yı 

wo X und Y dieselbe ganze rationale Funktion beliebigen Grades 
von & bzw. y darstellen; er probiert verschiedene mögliche Formen 
der Integralgleichung?), führt aber die Untersuchung wegen ihrer 
Schwierigkeit nicht zu Ende; nach seiner Ansicht ist die Entdeckung 
weiterer Differentialgleichungen, die zunächst auf Transzendenten 
führen, aber auch durch eine algebraische Gleichung integrabel sind, 
nicht ausgeschlossen. 














!) Miscellanea Taurinensia, t IV?, 1766/69, p. 111. ?) Ebenda, p. 114, 124, 
Vgl. S. 810 dieses Bandes. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 939 


Totale Differentialgleichungen höheren Grades finden sich in 
Eulers Integralrechnung viel behandelt; der wichtigste Fall ist der- 
jenige, in welchem die eine Variable nicht explizite in die Differential- 
gleichung eingeht. Man erhält dann das Integral zunächst in Para- 
meterdarstellung. So liefert?) 


‚+p’= apa, 
wop= = ‚ bei Anwendung der Substitution p = #x die Gleichungen 


auu 


und Liu 


BU 
1+w 


also vermöge dy = pdx auch 


ee 
y-4 (1 + u?)? . 


Die Schlußgleichung zwischen x und y, welche gerade bei diesem 
Beispiel leicht aufzustellen ist, gibt Euler nicht an. Dagegen be- 
merkt er, daß jede Gleichung zwischen &, y und p, die in x und y 
homogen ist, eine derartige Integration in Parameterdarstellung ge- 
stattet. Durch die Substitution y=ux wird nämlich die Gleichung 
auf eine solche zwischen u und » reduziert; die beiden Gleichungen 





dy=udae+azdu und dy=pdx 
ergeben 
pdx — udx = du, 


1. (,". 
p— u 


folgt. Da sich aber p durch « ausdrückt, so ist damit x als Funk- 
tion von u und wegen y=uzx auch y als Funktion von u gefunden. 
Hier sei auch noch eine Gleichung behandelt, auf welche Lagrange?) bei 
Gelegenheit der[Untersuchung der Evolvente einer ebenen Kurve stößt: 


woraus 





dy „(ay\® 
Eee) + (2) ay| 
+ ne er 
dax® dx? 

Er ersetzt das Argument von p durch p und erhält mittels der Sub- 
stitution =, = 2 die Gleichungen 

x 

a home un 








") Institutiones ealculi integralis, vol. I, p. 514. ?) Oeuvres de Lagrange, 
t. IV, p. 594 ff. 


940 Abschnitt XX VI. 


Daraus folgt zunächst 





y+2=o(p) 


und durch Differentiation und Elimination von dz (mit Hilfe der 
ersten der beiden Gleichungen) 


An % 
-— = (p)dp. 


Hier hat man entweder dp=(, d.h. p ist konstant, was in Verbin- 
dung mit 





y+—t=g(p) 
die Gleichung 
@-P’+W—- go)’ =r 


gibt. Im anderen Fall hat man die Gleichung 
1 ‚ 
ae (2), 


die sich auf die Form p = Z bringen läßt; Z ist hierbei eine Funk- 
tion von 2. Dann läßt sich aber 


Et 2r)2de _ 





2 FF en 
in der Form 
x—Z 
a 
schreiben, was 
:V1- 2? Zd 
Eee NO 
E7 e 2? V1-+3° 


gibt; berechnet man endlich 2 aus 


y+,-—-9Z2 





und setzt diesen Wert in die vorhergehende Gleichung ein, so ist das 
Integral der ursprünglichen Gleichung gefunden. 

Tiefer in das Wesen der Gleichungen höheren Grades und ihrer 
Integrale dringt Monge ein.!) Er nimmt an, die algebraische Gleichung 
0—= Ay" + Baym-! + Oay" +... 

+ Asr:3 + B’ay"?4+ 
— A’ym-? +...» 





| ') Histoire de l’Acad&emie des Sciences 1783 (1786) (Monge selbst zitiert 
1782), p. 719—724. Ausführlicher: ebenda 1784 (1787), p. 164 ff. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 941 


sei das „allgemeine“ Integral einer Differentialgleichung, diese selbst 
sei gesucht. Monge zeigt, daß die auf normalem Weg, also durch 
wiederholte Differentiation und Elimination der Integrationskonstanten 
A, B,... entstehende Differentialgleichung in bezug auf den höchsten 
darin auftretenden Differentialguotienten immer vom ersten Grad ist 
und erläutert diese Ausführungen an dem Beispiel 


Ax?+Bay+CyY=1, 
das nacheinander die Gleichungen 
2Axdx + B(zdy + ydax) + 20ydy = 0; 
2 Ada? + B(xd?y + 2dady) + 20(dy? + ydy) = 0; usw. 


liefert.) Aus dem Umstand, daß derartige Elimination der Integra- 
tionskonstanten stets auf Gleichungen 1. Grades führt, folgert Monge, 
daß Differentialgleichungen nur dann in bezug auf die höchste darin 
vorkommende Derivierte von höherem Grade sein können, wenn die 
zugehörige Integralgleichung nicht alle ihre willkürlichen Konstanten 
in der 1. Potenz enthält, und man wird auch, wenn man die A, B,... 
als Funktionen von neuen Konstanten a, b, ... ansieht, bei Elimina- 
tion der a, b,... auf Gleichungen höheren Grades stoßen; das Gleiche 
findet statt, wenn zwischen den A, B, .... irgendwelche Relationen 
bestehen; darauf gründet er nun seine Integrationsmethode für Glei- 
chungen höheren Grades: man ersetze letztere durch die zugehörige 
Differentialgleichung ersten Grades und höherer Ordnung, integriere 
und entferne die dabei auftretenden überzähligen Konstanten durch 
Substitution des Integrals in die ursprüngliche Differentialgleichung. 
Als Beispiel gibt Monge die Gleichung?) 
dy? 


d 2 
ea) + 22Y T +?’— f=(. 


Durch Differentiation folgt unmittelbar 
d 
(a? — 2) ddy+ ayday =. 


Diese Gleichung ist in bezug auf den 2. Differentialguotienten vom 
1. Grad; ddy=0 gibt e= — A. Setzt man diesen Wert in die ur- 


sprüngliche Gleichung ein, so erhält man ohne weiteres 


') Dasselbe Verfahren auf die weitaus einfachere Gleichung 
Ax+By+Caıy=1i 


angewandt hätte Monge auf die Schwarzsche Abgeleitete geführt. 
®) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1783 (1786), p. 725. 


942 Abschnitt XXVIIL. 
Aa — 2) +2Ary+®d— Y=0; 


überzählige Konstante tritt hier natürlich keine auf. Monge sagt 
zwar nicht, daß sich die gefundene Gleichung in zwei Linearfaktoren 
spalten läßt; gibt aber dafür die geometrische Bedeutung der Integral- 
gleichung an. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß der andere 
Faktor 


(2) +2y= 0 


in Verbindung mit der ursprünglichen Differentialgleichung deren 
singuläres Integral (integrale particeuliere) 

x? .n y? CH a? 
liefert. Eine andere Methode, die Monge in Vorschlag bringt, wird 
in Zusammenhang mit seiner Theorie der Berührungstransformationen 
erörtert werden (vgl. S. 983). 

Totale Differentialgleichungen mit mehreren Variabeln und Simultan- 
systeme von totalen Gleichungen behandeln wir aus praktischen Gründen 
erst nach den partiellen Gleichungen, zu deren Besprechung 
wir hiermit übergehen. Wie schon erwähnt geht die Veranlassung 
zur Untersuchung bestimmter partieller Gleichungen zu Beginn un- 
seres Abschnitts, abgesehen von Fragen der Differentialgeometrie 
(vgl. Abschnitt XXIV, bes. S. 550ff.), noch hauptsächlich auf die 
Probleme der Praxis zurück; das rein theoretische Interesse er- 
wacht erst viel später. Es sind hauptsächlich die Probleme der 
Störungstheorie, der Potentialtheorie und der Hydrodynamik, 
speziell der Saitenschwingungen, welche in diesem Sinne an- 
regend gewirkt haben. Das Potential wurde schon lange vor Green 
und Gauß benutzt, wenn auch anscheinend vor diesen beiden ein 
Name dafür fehlt!); von der unter gewissen Umständen bestehenden 
Möglichkeit, die Komponenten der auf einen Punkt wirkenden Kraft 
als Differentialquotienten ein und derselben Funktion darzustellen, 
wurde mit mehr oder minder deutlichem Bewußtsein von der Wichtig- 
keit dieses Umstandes Gebrauch gemacht. Schon bei D. Bernoulli?) 
und Lagrange?) tritt die Kräftefunktion auf, bei letzterem sogar für 
kontinuierliche. Massen; Niveauflächen finden wir bei Maclaurin in 
seinem Treatise of luxions 1742 und in der Figure de la terre 1743 von 
Clairaut. Die berühmte Differentialgleichung 2. Ordnung, welcher 





!) Nach einer gütigen Mitteilung von Herrn Prof. Stäckel findet sich der 
Name schon in D. Bernoullis Hydrodynamik. ?2) Histoire de l’Acad&mie de 
Berlin, t. IV, 1748 (1750), p. 361. Im folgenden wurden teils der vorerwähnte 
Aufsatz von Burkhardt teils verschiedene Aufsätze der Enzyklopädie der 
mathematischen Wissenschaften benutzt. 5) Oeuyres de Lagrange, t. IV, 
p. 402 (aus dem Jahr 1777) und t. VI, p. 349. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 943 


das Potential V eines beliebigen Körpers auf einen außerhalb ge- 
legenen Punkt mit den Polarkoordinaten r, ® und ® gehorcht, ist 
von Laplace 1782!) angegeben; dieser setzt für V in der Gleichung 


oV 00V 
E Fir N 1 (au) Y da 

ou 1— uu ger 
wo cos®# = u, eine Reihenentwicklung mit fallenden Potenzen von r 
und bestimmt die Entwicklungskoeffizienten dieser Reihe. 1787 end- 
lich gibt er auch die Gleichung in rechtwinkligen Koordinaten 

Br Fin Ela 

0x” oy? 02° ’ 
die nach ihm benannt ist.”) Letztere Gleichung tritt zwar schon 
früher in der Dynamik inkompressibler Flüssigkeiten bei Lagrange?) 
auf, aber nur nebenbei, zufällig, weil sie eben der Natur des behan- 
delten Problems nach notwendig auftreten muß; bei Laplace hin- 
gegen bildet die Bestimmung der Eigenschaften der Funktion Y den 
Kernpunkt der Untersuchung, die Differentialgleichung ist bei ihm 
mit voller Einsicht ihrer Bedeutung in den Vordergrund gerückt. 
Den direkten Anlaß zu Laplaces Arbeit gab das Problem der Attrak- 
tion der Sphäroide und das Problem der Erdfigur, mit dem sich auch 
Legendre beschäftigt hat*). Die Untersuchungen auf diesem für die 
Astronomie bedeutungsvollen Gebiet führten zur Benutzung wichtiger 
Reihenentwicklungen und zur Verwendung der Kugelfunktionen?) 
(s. 0. 5. 792); insbesondere die Gleichgewichtsfigur einer rotierenden 
Flüssigkeitsmasse, deren Teilchen sich nach dem Newtonschen Gesetz 
anziehen, war schon früher besonders von Clairaut in seiner Figure 
de la terre behandelt. Es waren also Mechanik, Hydrodynamik und 
Astronomie in gleicher Weise, welche auf die Einführung des Poten- 
tialbegriffes hinwiesen. Auf die Untersuchungen über den Fall, daß 
der Punkt u, $, ® innerhalb der anziehenden Masse liegt, auf das 
Auftreten des logarithmischen Potentials und ähnliche Fragen kann 
hier nicht eingegangen werden. 

Die allgemeinen hydrodynamischen Gleichungen versucht La- 

grange zu integrieren (vgl. S. 1024); es sind indessen begreiflicher- 
weise nur speziellere Probleme, die zu brauchbaren interessanten Er- 








‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1782 (1785), p. 135. Dieser Aufsatz 
handelt von der Anziehung der Sphäroide und der Figur der Planeten. Man 


vgl. hierzu auch: ebenda, 1783 (1786), p. 25. ”, Ebenda 1787 (1789), p. 252 
in einer Abhandlung über die Saturnringe. ®) Miscellanea Taurinensia, t. II?, 
1760/61, p. 273. Vgl. auch oben S. 914. *, Vgl. Histoire de l’Academie des 


Sciences 1784 (1787), p. 370 ff. Ebenda 1789 (1793), p. 372 ff. °) Ebenda 1785 
(1788), p. 64 ff. 


944 Abschnitt XXVI. 


gebnissen geführt haben. Um von der Art der untersuchten Probleme 
eine Vorstellung zu gewinnen, seien einige Beispiele aufgeführt. Euler 
behandelt das Problem der Fortpflanzung von Wellen, die von einem 
Störungszentrum ausgehen, sowohl für die Ebene, wie für den Raum; 


diese Aufgabe führt auf die Gleichung 


1 /dds n (ds dds 

son ar) = var) + ar) 
wo V den Radius einer Welle bedeutet, und zwar ist n beim ebenen 
Problem gleich 3, beim entsprechenden räumlichen Problem gleich 4 
zu setzen. Die Fortpflanzung von Wellen an der Oberfläche eines 
Kanals von konstanter Tiefe behandelt Laplace 1778") unter der 
Voraussetzung, daß die Breite des Kanals nicht in Betracht kommt. 
Seien X, Z die Koordinaten eines Flüssigkeitsteilchens zur Zeit t=0, 
X-+ex, Z+ez die Koordinaten desselben Teilchens zur Zeit 
(« eine sehr kleine Größe), ö die Dichtigkeit, p der Druck, g das 
Gewicht des Teilchens, so findet Laplace: 


0-(a+hz); 
0=gd-(Ztad)+aoX-(&r) +02.) +; 


d bedeutet dabei eine Differentiation, bei der t als konstant behandelt 
wird. Die letztere Gleichung kann nur bestehen, wenn auch ihr 
2. und 3. Glied zusammen ein vollständiges Differential in bezug auf 
X und Z bilden. Aus der Bedingung hierfür erhält man durch 
zweimalige Integration nach t die Gleichung 


0% 02 
2) 2) 
und durch Kombination mit 
0% 02 
62) +62) 
die beiden folgenden: 
= 9X +2VY-N)+YIX-ZVeD) 
= —-V(- 1) IglX+2YC-DI4+»R - ZVcHl; 

dabei muß g(X)=— y(X) sein, da für Z=0, d.h. am Boden des 


Kanals, 2 überall und beständig Null ist. Mit Hilfe dieser beiden 
Gleichungen lassen sich z2 und x für alle Punkte der Flüssigkeit be- 


und 





1) Histoire de l’Acad6mie des Sciences 1776 (1779), p. 544 ff. Das Folgende 
nach Burkhardt a.a. O. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 945 


stimmen, sobald man ihre Werte an der’ Oberfläche kennt. Sei für 
diese Z=1!-+ eu, wo u eine beliebige Funktion von X ist, so erhält 
man unter Vernachlässigung höherer Potenzen von e«: 
te: 

Laplace begnügt sich mit der Angabe eines partikulären Integrals 
dieser Gleichung. Lagrange beschäftigt sich nach sorgfältigen Lite- 
raturstudien mit der Untersuchung der Wellenbewegung an der Ober- 
fläche eines beinahe horizontalen Gewässers von sehr geringer Tiefe!) 
und kommt zu dem Resultat, daß sie den Gesetzen. der Schallfort- 
pflanzung in einer ebenen Luftschicht gehorcht. Das wichtigste hier- 
her gehörige Problem ist aber das der schwingenden Saiten und über- 
haupt der musikalischen Instrumente. Abgesehen von der physikali- 
schen Bedeutung dieses Problems hat seine Behandlung nach den 
verschiedensten Richtungen hin fördernd und fruchtbringend auf die 
Mathematik eingewirkt. Der ganze Streit über die Art der in den 
willkürlichen Funktionen einer Integralgleichung zulässigen Unstetig- 
keiten, die intensive Beschäftigung mit den partiellen Differential- 
gleichungen 2. Ordnung, die schließlich notwendig zu einer Theorie 
dieser Gleichungen führen mußte, wurde durch die genannte Aufgabe 
veranlaßt. Eben dieselbe führte — und das war, wenn man auch 
das Geleistete nicht zu erkennen vermochte, immerhin ein bedeutender 
Schritt — unbewußt zur Darstellung einer Funktion nach Vielfachen 
von sinus und cosinus?); die Physik verdankt diesem Problem die 
Erfindung des Prinzips der Superposition der Wellen durch D. Ber- 
noulli®) und des Begriffs der Freiheitsgrade eines Systems, von dem 
Euler bei Untersuchung einer nicht in einer Ebene, sondern räum- 
lich schwingenden Saite Gebrauch macht‘) Um die in Frage kom- 
menden, für die Probleme der bezeichneten Art charakteristischen Dif- 
ferentialgleichungen der Bewegung bzw. deren Integral zu finden, 
stehen zwei Wege offen; der eine geht von den Bewegungsgleichungen 
einer kompressiblen Flüssigkeit aus, der andere bildet zunächst das 
Gleichungssystem, das die Schwingungen einer endlichen Anzahl von 
Massenpunkten darstellt, integriert sie und sucht dann durch Grenz- 
übergang das für einen kontinuierlichen Komplex von Punkten gel- 





!) Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 746 (Berliner Memoiren für 1781). 
?) Vgl. diese Vorl., III?, S. 905 ff, ®) Histoire de l’Academie de Berlin 1753 
(1755), p. 187, 189. Vgl. Journal des sgavans 1758, p. 158. *) Novi Com- 
mentarii Academiae Petropolitanae, t. XIX, 1774 (1775), p. 340ff. Das Problem 
der Schwingungen einer Saite mit Berücksichtigung ihres Gewichts: Acta Aca- 
demiae Petropolitanae 1781 (1784), pars I, p. 178 #f. 


946 | Abschnitt XXVI. 


tende Integral daraus abzuleiten; den letztgenannten Weg schlägt als 
besonders sicher und unanfechtbar Lagrange in seiner großen Ab- 
handlung über die Fortpflanzung des Schalles ein, da er den An- 
schauungen seiner Zeit gemäß die dem Grenzübergang innewohnenden 
prinzipiellen Schwierigkeiten nicht erkennt. Euler behandelt Saiten 
von ungleichmäßiger Dicke, und zwar will er von einer Saite, die 
aus einer endlichen Anzahl von Stücken verschiedener Dicke zu- 
sammengesetzt ist, zu der Saite mit kontinuierlich veränderlicher 
Dicke übergehen.') Euler legte auf diese Untersuchungen viel Wert, 
da er glaubte, mit dem Nachweis, daß bei derartigen Saiten im all- 
gemeinen disharmonische Obertöne auftreten, die (gerade von der mo- 
dernen Musiktheorie wieder aufgenommenen) Versuche widerlegen zu 
können, welche Konsonanz und Dissonanz, überhaupt die Harmonie- 
lehre mit der Anordnung der Obertöne in Zusammenhang bringen.?) 
Die Theorie der Pfeifen wurde von D. Bernoulli sehr gefördert?), 
der aus den Ergebnissen seiner Studien über die Verhältnisse an 
offenen und geschlossenen Enden auf den Grundton offener und ge- 
deckter Pfeifen schließt, auch den Satz findet, daß bei der gedeckten 
Pfeife die Schwingungszahlen der Obertöne ungerade Vielfache der 
Schwingungszahl des Grundtons sind; er behandelt auch das der Saite 
von verschiedener Dicke analoge Problem einer Pfeife von veränder- 
lichem Durchmesser. Pfeifen von nicht zylindrischer Form wurden 
von verschiedenen Forschern untersucht®); eine Theorie der Blas- 
instrumente für beliebige Gestalt der Begrenzungsfläche sucht La- 
grange abzuleiten und die allgemeine Lösung durch Superposition 
einfacher Schwingungen zusammenzusetzen.’) Endlich ist noch der 
Theorie der Schwingungen von Lamellen, Membranen und Glocken 
zu gedenken; die diesbezüglichen Differentialgleichungen werden an 
Ort und Stelle angegeben werden. | 

Aufalle hierher gehörigen Abhandlungen konnte hier nur dann einge- 
gangen werden, wenn darin die eigentlich physikalische Seite desProblems, 
obwohl ursprünglich Veranlasserin und Urheberin der ganzen Unter- 
suchung, doch hinter den zur Lösung erforderlichen neuen Methoden 
und Theorien in solchem Maße zurücktritt, daß ihr Inhalt mehr den 
Mathematiker als den Physiker interessiert. So konnte z. B. die große 


') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764), p. 271 
und ebenda, t. XVII, 1772 (1773), p. 432ff. Endlich Miscellanea Taurinensia, 
t. III?, 1762/65 (1766), p. 27—59. ?®) Vgl. auch D. Bernoulli in Novi Com- 
mentarii Academiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 268. ») Histoire 
de l’Acad&mie de Berlin 1753 (1755), p. 150. Histoire de l’Acad&mie des Sciences 
1762 (1764), p. 431 ff. #) Ebenda, p. 470. 5) Wegen dieses Prineips beruft 
er sich in den Miscellanea Taurinensia, t. II, 1760/61, p. 171 auf D. Bernoulli. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 947 


Abhandlung von Lagrange über Natur und Fortpflanzung des Schalls 
Berücksichtigung finden; des gleichen Verfassers Aufsatz über Hydro- 
dynamik in den Berliner Memoiren von 178 ußte dagegen über- 
gangen werden, da er inhaltlich wie auch äußerlich den ausgesprochenen 
Charakter einer Untersuchung auf dem Gebiet der theoretischen Physik 
besitzt; die darin auftretenden Gleichungen sind meistens zu speziell 
und die zu ihrer Lösung benutzten Kunstgriffe bei allem Scharfsinn 
zu wenig allgemein, als daß sie die Aufstellung rein mathematischer 
Theorien hätten zur Folge haben können. 

Was die Integration der partiellen Differentialgleichungen betrifft, 
so erkannte man bald, daß das Vorkommen gerade der partiellen Dif- 
ferentialquotienten in einer Gleichung auf die Integralgleichung keinen 
anderen Einfluß ausübt, als daß in diese willkürliche Funktionen ein- _ 











gehen, so daß also das eigentliche Integrationsgeschäft keinerlei Ope- ER 














_ rationen erf erfordert, die von den bei gewöhnlichen Differentialgleichungen 
"notwendige: digen prinzipi piell_verschieden wären. Das Problem der Inte- 
gration partieller Differentialgleichungen läßt sich demnach in zwei 
voneinander unabhängige Aufgaben trennen, einmal in die Aufdeekung 
der Art und Weise, wie die willkürlichen Funktionen in das Integral 
eintreten, sodann aber in die Forderung, alle durch die ursprüngliche 
Gleichung definierten eigentlichen Integrationen für sich allein, d. i. 
durch Gleiehungen darzustellen, deren Lösung keine willkürlichen 
Funktionen mehr in sich birgt; das sind eben totale Gleichungen. 

Deshalb begnügen sich auch die Mathematiker, sofern es sich 
nicht um spezielle Gleichungen handelt, meistens damit „ die_partiellen _ 

Differentialgleichungen auf _totale zurückzuführen und den Zusammen- 





hang zwischen den _Integralgleichungen der partiellen und totalen. za 


"Gleichungen a anzugeben. Diese Reduktion wird wiederholt als das 
Grundprinzip. der Integration partieller Differentialgleichungen an- 
gesprochen; Laplace sagt‘) klar und deutlich: Jje_regarde une equa- 
tion aux differences partielles comme integree, lorsqwelle est ramenee 
& l’integration d’une equation aux differences or BENmaERR. Wegen einer 
ähnlichen Stelle bei Lagrange vergleiche man 8.972. 

Diese Reduktion auf totale er eim Hat’am konsequen- 
testen Monge in einer großen Abhandlung in den Pariser Memoiren von 
1784 durchgeführt.) Er findet für die verschiedensten partiellen 
Seinen die entsprechenden totalen dadurch, daß er die partiellen 
Differentialquotienten mit Hilfe der Gleichungen, welche diese mit 
den totalen Differentialen verbinden, so weit als möglich eliminiert 








') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1773 (1777), p. 344. Vgl. auch die 
Histoire desselben Jahres, p. 44. ?) Ebenda 1784 (1787), p. 118—192. 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 61 


948 Abschnitt XXVIL 


und die so erhaltenen Schlußgleichungen derart zerfällt, daß sie un- 
abhängig von darin noch auftretenden partiellen Derivierten Geltung 
haben. Sei z.B. die lineare Gleichung 1. Ordnung 
Mp+Ng+L=0 

zu integrieren, wo M, N, L gegebene Funktionen von &, y und 2, 
p und q die partiellen Differentialquotienten von z nach x bzw. y 
sind.‘) Diese Gleichung stellt, wie Monge sagt, lediglich eine Be- 
ziehung zwischen p und g dar, aus welcher allein, d.h. ohne das 
Hinzukommen einer weiteren Gleichung, p und g nicht jedes für sich 
berechnet werden können. Eliminiert man also p bzw. q mit Hilfe 
der immer bestehenden Gleichung 


dz=pdx + gdy, 


so ergibt sich 
Mdz + Ldx = q(Mdy — Ndx) 


und 


Ndz+ Ldy=p(Mdy— Ndx); 


damit das aber nicht zwei Bestimmungsgleichungen für g und p sind, 
müssen nach Monge die drei Gleichungen 


Mdz+Lde=0; Mdy— Nd«e=0; Ndz+ Ldy=0 


gleichzeitig bestehen, die indes nur zwei voneinander unabhängige 
Gleichungen darstellen. Genau denselben Gedankengang verwendet 
Monge zur Behandlung aller anderen partiellen Gleichungen, wie wir 
in den einzelnen Fällen an Ort und Stelle sehen werden; hier sei nur 
mitgeteilt, wie Monge den Zusammenhang zwischen den Integralen 
der partiellen und der totalen Gleichungen herstellt. Er betrachtet 
es nämlich als wesentlich, daß, wenn wir das eben erwähnte Beispiel 
beibehalten, von den beiden totalen Schlußgleichungen nicht jede ein- 
zelne für sich, sondern beide zusammen statthaben, und kommt so- 
dann durch eigentümliche Deutung des Wortes simultan zum Integral 
(integrale complete) der gegebenen partiellen Gleichung. Er erklärt den 
Begriff simultan folgendermaßen: Sind V=a und U=b die vollständigen 
Integrale des der partiellen Gleichung äquivalenten Systems, so müssen, 
wenn beide gleichzeitig bestehen sollen, nieht V und U jedes einzeln 
konstant sein, sondern es muß U konstant sein, solange V es ist und um- 
gekehrt; ist hingegen das eine variabel, so ist es das andere auch, ou autre- 
ment... elles sont fonctions l’une de l’autre, sans rien statuer d’ailleurs sur 
la forme de cette fonetion. (Vgl. o. S. 536 und 561.) Man kann 
dieser glücklichen Dialektik, durch welche Monge die Gleichung 
V=9(U) plausibel macht, nicht die Bewunderung versagen, wobei zu 





" Histoire de l’Acad&emie des Sciences 1784 (1787), p. 121. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 949 


bedenken ist, daß das Resultat, weil längst bekannt, niemanden in Er- 
staunen setzte und deshalb auch einige Nachsicht bezüglich seiner Her- 
leitung erwarten konnte. Verständlicher wird dieser ganze Gedanken- 
gang, wenn man berücksichtigt, daß Monge die Bildung des Integrals 
der partiellen Gleichung aus den Integralen der totalen Gleichungen 
als die „operation inverse“ zur Elimination der willkürlichen Funktion 
aus einer gegebenen Integralgleichung angesehen haben will. Um 
diese Elimination möglichst einfach zu gestalten, verwandelt er z. B. 
die Gleichung = g(U) mittels der Substitution U=a in die beiden 
Gleichungen 
U=a; V=oyla)=b, 

die zu gleicher Zeit statthaben müssen und zwar in der Art, daß die 
eine die notwendige Folge der andern ist. Aus dU=0 und dV=0 


erhält er 2 
(7) de + (7) dy=0 
daV 


dV 
(a) + a) ar = 9, 
woraus durch Elimination „der unbestimmten Größe“ = die partielle 


aD 6 


Statt T zu eliminieren, kann, wie Monge noch erwähnt, dieselbe 


und 


Gleichung folgt: 


Schlußgleichung durch Elimination einer Unbestimmten &® aus zwei 
anderen Gleichungen hervorgehen; letztere stellen dann ebenfalls ein 
der Schlußgleichung äquivalentes System dar. Den hier entwickelten 
Prozeß faßt dann Monge in folgende Regel zusammen: Man setze das 
totale Differential des Arguments der in der Integralgleichung auf- 
tretenden willkürlichen Funktion gleich Null, differentiiere sodann die 
Integralgleichung selbst derart total, daß dabei die willkürliche 
Funktion als Konstante behandelt wird und eliminiere endlich aus 
den beiden so erhaltenen Gleichungen, sowie der Integralgleichung 


die willkürliche Funktion = ‚ so erhält man die zur gegebenen Integral- 


gleichung gehörige Differentialgleichung für den Fall, daß auch noch 
die Differentialquotienten der willkürlichen Funktion in der Integral- 
gleichung auftreten, ist wenigstens hingewiesen. Nun ist diese 
Methode, aus dem Integral auf die Differentialgleichung zu schließen, 
in einem anderen Aufsatz!) desselben Bandes der Pariser Memoiren 
bereits ausführlich auseinandergesetzt und an Beispielen erläutert; 


') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 85 ff. 
61* 


950 Abschnitt XXVLI. 


sie bildet nach Monges eigener Aussage die Grundlage für den In- 
halt der eben besprochenen größeren Abhandlung'), woraus zwar nicht 
auf die zeitliche Abfassung der beiden Artikel, wohl aber auf die 
Vorgeschichte des Gedankenganges, der Methode, die in den erwähnten 
Aufsätzen bereits vollständig durchgebildet, sicher, abgerundet und klar 
dargestellt und gehandhabt wird, ein Schluß gezogen werden kann. 
In dieser ersten Abhandlung stellt sich nun Monge die Aufgabe, 
irgendwelche geometrisch oder mechanisch erzeugten Flächentypen 
analytisch, zunächst mit Zuhilfenahme willkürlicher Funktionen und 
dann mit Hilfe partieller Differentialgleichungen, darzustellen; er ge- 
winnt so, wie jedenfalls schon früher, rückwärts verschiedene kom- 
plizierte und dennoch integrable Differentialgleichungen. Sehen wir 
also in diesen Untersuchungen die Grundlage, den Ausgangspunkt für 
die eigentlichen Forschungen Monges auf dem Gebiete der Diffe- 
rentialgleichungen selbst, so können wir eine erste Entwicklungsreihe 
für diese aufstellen: Beschäftigung mit Problemen der Flächen- 
theorie?), Aufstellung der Gleichungen von Flächenfamilien, Über- 
gang zu den gleichwertigen Differentialgleiehungen durch Elimination 
der willkürlichen Funktionen jener Gleichungen, Vereinfachung 
des Eliminationsprozesses, Umkehrung dieser Methode. Daneben ist 
aber auch eine Anmerkung zu berücksichtigen, welche Monge dem 
erwähnten Aufsatz über partielle Differentialgleichungen vorangeschickt 
hat: Dieses Memoire sei durch einen Lehrsatz veranlaßt (a ete fait & 
l’oecasion d’une proposition), den er der Akademie mitgeteilt habe; 
nach seiner Vollendung habe man ihn darauf aufmerksam gemacht, 
daß der Grundgedanke, allerdings nur in Anwendung auf Gleichungen 
1. Ordnung, bereits in einem Memoire von Lagrange in den Berliner 
Memoiren für 1779 veröffentlicht sei. Monge weist sodann auf einen 
früheren, verwandten Gedanken hin, den er 1771 der Akademie vor- 
gelegt und hernach in den Savans Etrangers für 1773 veröffentlicht 
hatte, nämlich auf die Tatsache, daß sich für die partielle Gleichung 
Mp + Ng=0, wo M und N Funktionen von x, y und z sind, die- 
selbe Integralgleichung ergibt, ob man jetzt z als Konstante oder als 
Variable behandelt. On y verra, fährt er fort, que cette proposition, 
dont j'6tois des-lors fortement occupe, est le germe de ce qui fait 
Vobjet du M&moire actuel, et qu’elle a dü me conduire aux resultats 
que je prösente. In der zitierten Abhandlung sind aber wiederum 


1) Tout ce que je me propose de dire sur cet objet, &tant fonde sur le 
proc6de que j’ai expos6 dans le Me&moire preeedent. Histoire de l’Academie 
des Sciences 1784 (1787), p. 118. _?) Hierbei empfing Monge u. a. mancherlei 
Anregungen durch die diesbezüglichen Arbeiten von Euler und Meusnier, 
die er auf p. 92 bzw. p. 106 zitiert. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 951 


geometrische Überlegung und Behandlurgsweise in den Vordergrund 
gerückt, ist geometrische Versinnlichung das Ziel der Untersuchung; 
Monge konstruiert nämlich genau wie früher nichts als Flächen, die 
durch eine gegebene Raumkurve hindurchgehen und eine gegebene 
Integralgleichung erfüllen; bei Besprechung von einzelnen Beispielen 
wird er dann zu dem erwähnten Satz geführt; er schreibt!) die 
Differentialgleichung in der Form 


Ö2 02 


deutet hierbei durch die Symbole ö, ö, d die verschiedenen Differen- 
tiationen an (vgl. S. 885) und erwähnt, daß sich statt des Integrals 
z=g(V) auch z=g@(V + Yz) schreiben läßt. Nachdem er den Satz 
auch analytisch bewiesen hat, weist er zum besseren Verständnis noch 
auf die Gleichungen 


dydz— adxoz=0; dydz— dxöoeze= (0; dydz — Zdxiz = 0 


hin, wo Z eine Funktion von z ist; diese Gleichungen haben bzw. 
die Integrale 


= gplaz+y); z=plkxrt+y); 2=gp(Zı-+y), 


so daß also die Variabeln z und Z auf dieselbe Weise in das Integral 
eintreten wie die Konstante a. 

Das allgemeine Prinzip der Behandlung pattieller Differential- 
ach die Reduktion auf et Gleichungen, unbekümmert rer ob 
diese integrabel sind oder nicht, hat Trembley ee er 
betont nämlich — was nichts Neues ist —, daß die zwei totalen 
Gleichungen, auf welche Lagrange die lineare partielle Differential- 
gleichung 1. Ordnung zurückgeführt hat, ebenso schwierig zu inte- 
grieren sind als die ursprüngliche Gleichung, und geht deshalb un- 
mittelbar auf die partielle Gleichung selbst ein. An diese Unter- 
suchung knüpft sich eine ganze Reihe anderer Aufsätze, die alle 
dieselbe Methode in ungeheuren Rechnungen durchführen; wir werden 
bei Gelegenheit der Gleichung 2. Ordnung darauf zurückkommen. 

Auch Cousin, ‚zieht die direkte Behandlung der partiellen Differen- 
tialgleichung der Diskussion der gleichwertigen totalen Gleichungen vor; 
ja während die zeitgenössischen Mathematiker froh sind, die Pareen 
Gleichungen auf totale reduzieren zu können, verwandelt er gerade 
umgekehrt öhnliche. ‚Differentialgleichungen in partielle; er_und _ 
nach ihm Tre mbley suchen integrable Fälle, die sich in vorgegebener 





‘) Memoires presentes par divers Savans 1773 (1776), p. 283 corollaire I. 


952 Abschnitt XXVII. 


Weise integrieren lassen, und gehen deshalb im allgemeinen von einer 
gegebenen Integralgleichung aus. Die totale Differentialgleichung 
2. Ordnung 


Zn dz+u=V0 
wo u eine Funktion von &, Y und 9? Fa a Cousin!) 
durch die Substitution 2 = 2 vermöge dz = -_ da 4 „au in die 


dx 
Gleichung 


l 
ten tu- 0, 


wobei die partielle Differentiation in der Schreibweise nicht besonders 
angedeutet wird; er ersetzt also mit anderen Worten das Simultan- 
system 


Qu 


dz Y 
RE a Te 


durch eine partielle Gleichung, während man gewöhnlich an Stelle 
letzterer das erwähnte Simultansystem betrachtet. Ist jetzt z. B. 


u=ae+pßety, 


wo «, ß, y Funktionen von x und y allein sind, so setzt Cousin als 
Integral die Gleichung an: 


np le Ba ke Iyda e“ (B a; 6) dy]!’ 


Damit die hier angedeuteten Integrationen ausgeführt werden können, 
müssen aber die Bedingungsgleichungen | 


d da d d 
tan? und Ro +)=gLter 


bestehen; aus ihnen folgert Cousin die Gleichung 





d’a d?ß d- Fr 
een een 
ui ee Er 

dz dy 


und besprieht auch den Fall, daß ihr Nenner Null ist. Interessanter 
werden die Untersuchungen, die sich an die Annahme knüpfen, das 
.. von 


ı, Histoire de l’Acadömie des Sciences 1778 (1781), p. 442. Vgl. auch 
Histoire, p. 42. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 953 


= + 2 u 
lasse sich in der Form 
B+F(K)=0 
darstellen, wo B und K Funktionen von &, y und z sind. Cousin 
leitet aus dem Integral durch partielle Differentiation nach x bzw. y, 
wobei z als Funktion von & und y zu gelten hat, und Elimination 
von F’ eine Gleichung her, von der er verlangt, daß sie bis auf einen 


Faktor ® mit der gegebenen Differentialgleichung übereinstimme. 
Auf diese Weise ergibt sich 


dKdB_dBaK_, dBadK_dKAB_,, 
dz dy da FE ide Wie 
dKdB dKAB 
d2 du  dyde PM 


Durch Elimination von » folgen endlich die Gleichungen: 


Br ann run 
a EEE 


Cousin nimmt nun spezielle Formen für B und K an, um inte- 
grable Fälle aufzufinden; so setzt er 


Bb=mz+n und K=Mz+N, 
wo m, n, M, N Funktionen von x und y allein sind. Ist wieder 


u=ar+Pßz+Y, 


so folgen bei Substitution dieser speziellen Werte in (I) durch 
Nullsetzen der Koeffizienten von z und z? Relationen zwischen m, n, 
M und N, aus deren einer die Gleichung 


m=M : gprı(«) 


efoloert werden kann. Interessant ist nun, daß Cousin eine eicene 
fee) ’ oO 


Bezeichnung für die Funktionaldeterminante einführt, indem er!) 


dm dM dm dM 
mM ee 


Ausdrücke echt Damit geht die Gleichung (f) mit Berücksich- 
tigung von m= M-gı(«) in 


und analoge Symbole an Stelle ähnlicher 


— uM?yiı(&) = mM2?+ (mN+nM)z+nN 


‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1778 (1781), p. 449. 


954 Abschnitt XXVI. 


über; es soll aber 


u=a®+ße+Yy 


sein. Durch geschickte Kombination der verschiedenen allmählich 
aufgestellten Relationen und Integration erhält Cousin die Größen 
m, n, M, N in ziemlich verwickelter Form ausgedrückt durch «, ß, 7, 
sowie durch vier willkürliche Funktionen p,(%); P17(8); fr(@); fır(®); 
da aber diese Größen teilweise unter Integralzeichen auftreten, müssen 
noch gewisse Integrabilitätsbedingungen erfüllt sein, welche die prak- 
tische Anwendung der ohnehin komplizierten Cousinschen Formeln 
erschweren. Im folgenden!) geht Cousin zu Gleichungen höherer 
Ordnung über; für die Gleichung 


1 T 
7,02+0e2°+ßZH+r=0d, 


wo Z einen Differentialquotienten beliebiger Ordnung von y nach x 
bedeutet, und die «, ß, y Funktionen von &,y,2 und sämtlichen Ab- 
leitungen von 2 bis Z sind, versucht er ein erstes Integral von der Form 


(mZ+n)+F(MZ+N)=0. 
Endlich?) nimmt er 
B=mz+n; K= Me” +Nz!+..., 


was auf ganz ungeheure Ausdrücke führt. In einer späteren Abhand- 
lung?), die vor der früheren größere Übersichtlichkeit voraus hat, 
kommt er auf diese Untersuchungen zurück; er erwähnt, daß man 
die beiden vollständigen ersten Integrale einer totalen Differential- 
gleichung 2. Ordnung erhält, indem man in dem Integral der zu- 
gehörigen partiellen Gleichung einmal die willkürliche Funktion selbst, 
das andere Mal ihr Argument gleich einer Konstanten setzt. Ist 


wieder B+F(K)=0 das Integral von 
dz dz 
dat Faytremd 


so ergeben sich genau wie früher die Gleichungen (T') und (2). 
Cousin nimmt jetzt allgemeiner 

My 
Pi 


B=m:e+m +" 4: u 


und 


K-Me:+M+@4 24... 


‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1778 (1781), p. 452. Die im Text 
angeführte Gleichung p. 468. ?) Ebenda, p. 469. ®, Ebenda 1783 (1786), 
p. 649 ff. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 955 








und führt der Kürze halber Größen n, n,, n,,.... ein, wo 
dM Amir. : dM, dm, 0 
Ele re ie 
dM, dm dm 
m ——= — M—— mare — NM; :.. 


Es möge hier gestattet sein, die vielen einzelnen Gleichungen, die 
Cousin angibt, um das Bildungsgesetz erkennen zu lassen, mittels 
eines allgemeinen Index i in eine zusammenzufassen: 








dM, dm, dM,_, dm,;_5 
a re MG Mn + M dx 
Bun er Zi 3 
dm 
- (i- Dm Sn +6 - DM ZT m 


Diese Gleichung gilt in sinngemäßer Anwendung schon für i=0 und i=1. 
Setzt man jetzt die unendlichen Reihen für B und K in die Gleichung 
(TI) ein, wobei Bund K wie Funktionen von drei voneinander unab- 
hängigen Variabeln &, y, z zu behandeln sind, so ergibt sich durch 
Nullsetzen aller Koeffizienten der einzelnen Potenzen von z eine 2. Gruppe 
von Ausdrücken für die Größen n, die wir wieder mit Hilfe des Buch- 
staben > in eine Gleichung sammeln: 


m" dM, M dm;_9 dM,_, 
ae eg: 
dm;_s dM,_3 


ss ’s dy 


-d- DU +E-YDm ni 


unter n_,, das sich für <= 0 ergibt, ist hierbei die Zahl 0 zu verstehen. 
Mit Hilfe der eben gefundenen Relationen folgt aber 


dB aK dB dK 
day de dedy “% rt, Bus 


Führt man für die Funktionaldeterminante 
dm dM dm dM 
dy de dxdy 
wieder das Symbol mM ein (Cousin läßt jetzt die Punkte eg), so 
kann man schreiben 


956 Abschnitt XXVI. 


dBdK dBdKkK 
Er 9er mM2?+ (m, M+mM,)e+m, M+m,M, +mM, 


+ (m, M + m,M, +m, M, +mM,)2"'+---; 


und setzt man endlich die zwei zuletzt erhaltenen Gleichungen in (1) 
ein, so ergibt sich unter der Annahme, daß u von der Form 


te tyt+ltst 
ist, nachstehende Folge von Gleichungen: 
mM= an; 
m, M +mM, = en, + Pn; 
m; M + m, M, + mM, = an, + Bn, + pn; 
m; M + m, M, + m, M, + mM, = an, + Pn, + yn, +0n 


usw. Mittels dieser Gleichungen berechnet nun Cousin sukzessive 
die Größen m, m,, M,, m,, M, usw. Die Gleichung 


dm dM 
eh 5 Fügykude Fe 


0, 
die in der 2. Gruppe von Ausdrücken für die n, enthalten ist, liefert 
nämlich m = M-x,, wo &, eine zunächst willkürliche Funktion von 
x allein bedeutet. Mit Hilfe von n_,—=0 ergibt sich au mM = an 
bei Berücksichtigung der Bedeutung von mM und n die Gleichung 
dM 
dy = «M, 
d. h. 
wel, 


wo X, eine neue willkürliche Funktion von x allein bedeutet. »o 
kann man fortfahren, indem man immer zuerst ein m, und dann das 
zugehörige M, berechnet; es hat aber keinen Zweck, die sehr kom- 
plizierten Formeln hier mitzuteilen. Die dabei auftretenden willkür- 
lichen Funktionen &,, X,, %, Xg,... müssen dem jeweils vorgelegten 
speziellen Problem entsprechend gewählt werden; ihre Bestimmung 
erläutert Cousin an einem konkreten Fall, um sodann zur totalen 
Gleichung 3. Ordnung, die auf eine partielle 2. Ordnung führt, über- 
zugehen. 

Wir wenden uns im folgenden zur partiellen Gleichung 1. Ord- 
nung und beliebigen Grades mit drei oder mehr Veränder- 
lichen. Da die Gleichung 2. Ordnung wegen ihrer physikalischen 
Bedeutung anfänglich im Vordergrund des Interesses stand, so kam 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 957 


es erst sehr spät zu einer eigentlichen Theorie der Gleichungen 1. Ord- 
nung, und alles, was auf diesem Gebiet vor Lagrange geleistet 
wurde, verdankt weniger planmäßiger Überlegung als Kunstgriffen 
und geistreichen Versuchen sein Entstehen. So wird begreiflich, was 
im ersten Augenblick wundernehmen muß, daß lange Zeit die 
Gleichung 1. Ordnung nicht mehr Fortschritte machte als die Glei- 
chungen höheren Grades: man integrierte eben, was man integrieren 
konnte, und da lagen einfache Gleichungen höheren Grades oft viel 
näher als komplizierte 1. Ordnung; allerdings sind die derart ge- 
fundenen integrablen Typen meist wenig allgemein. Als erste Ab- 
handlung haben wir einen Aufsatz von Euler zu nennen‘); die Frage- 
stellung ist etwas kompliziert und die partielle Gleichung tritt nur 
nebenbei verschleiert auf. So stellt Euler die Aufgabe 


Pdx +0Qdy 


zu einem totalen Differential dV zu machen, wenn gleichzeitig die 
Relation 
Px + Qy= 0 


besteht; zur Lösung der Aufgabe schreibt er 


dAV=Pdxz+0Qdy= Py- vera und erkennt daraus, daß V und 


. % . 5 . . . . 
Py Funktionen von $S=— sein müssen.?) Ziemlich nebenbei, im 


Corollar 1?) tritt der eigentliche Charakter der Aufgabe deutlicher 
hervor; es ist nämlich darauf hingewiesen, daß 


2-42) mi 0-() 


ist. In einer Menge von Einzelbeispielen behandelt Euler sodann 
die allgemeinere Aufgabe, V aus 


dV = Pda + Qdy 


zu bestimmen, wenn P und @ durch eine beliebige Nebenbedingung, 
wie z. B. 


PP+QQ= ar + yy,) 


verbunden sind. Der wichtigste Fall ist aber der, daß © eine Funktion 
von P allein ist.) Ist 





') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764), 
. 17OR. ?) Diese Schlußweise ist durchaus nicht neu; vgl. Cantor II, 
. 901. °) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764), 
. 176. *) Ebenda, p. 196. °) Ebenda, p. 192. 


en TE = 


958 Abschnitt XXVI. 


dQ— Rdp, 


so muß, wie Euler findet, 


+ Ry=II 


sein, wo II irgend eine Funktion von P bedeutet, und es wird 


V-Pa+Qy-— [IdP. 
Auch Relationen zwischen V, P und @ nimmt Euler an, so 
P=nV; V=mP&+nQy; 


endlich verlangt er, daß V eine beliebige Funktion von P und ® 
allein sei.) Es ist leicht, die zugehörigen Differentialgleichungen, 
auf die diese Aufgaben im Grunde genommen hinauslaufen, anzugeben, 
wenn man nur bedenkt, daß P und © eigentlich partielle Differential- 
quotienten sind; nur die Fassung der Aufgaben ist für uns ein wenig 
fremdartig: Euler faßt, wenn wir den Unterschied noch einmal aus- 
einandersetzen sollen, 


dV=Pdx + Qdy 


als Ausgangsgleichung und die partielle Gleichung als Nebenbedingung, 
während wir gerade umgekehrt letztere als Hauptproblem, erstere 
als Hilfsgleichung ansehen. 

Wenig systematischer und übersichtlicher sind die Bemerkungen 
d’Alemberts über die lineare partielle Differentialgleichung; wie 
Euler benützt er zur eigentlichen Integration totale Gleichungen. Die 


Gleichung 


++ 9-0, 


wo A und © Konstante sind, verwandelt er?) mittels der Substitution 
g=.e" in 

Ado 

Te a dz 





+0=0;, 


d. i, wenn 
do = «dx + ßdz 
gesetzt wird, 
e +APB+C=0. 
Da aber 
«dx + ßdz 
mit anderen Worten 


Bdz — Cdx — Aßda 


ein totales Differential, nämlich do, sein soll, muß 





ı) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764), bzw. 
p. 199, 203, 209. 2) Opuscules mathematiques, t. IV (1768), p. 236. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 959 


B=9(@— Ar); 
hieraus ergeben sich unmittelbar « und &. Die Gleichung 


dq 
TEE 


in der & und »& Funktionen von x und z sind, geht vermöge 


dz = dx + ßdz 
e+5ß+o=0 


über, und das Problem reduziert sich auf die Aufgabe, 
Bdz — Eßdx — odz 


zu einem vollständigen Differential zu machen. D’Alembert unter- 
scheidet einzelne Fälle, in welchen ihm die Integration gelingt, wenn 
nämlich ßdz oder &ßdx oder endlich dz — &dx vollständige Diffe- 
rentiale sind. Kurz darauf untersucht er die Gleichung 


d d 
Et rd 
die sich mittels g=.” auf den vorigen Fall reduziert, sowie die 
Gleichung, die sich durch Addition einer weiteren Funktion ergibt. 
Wie ungeordnet, unzusammenhängend und unübersichtlich die 
Kenntnisse auf dem Gebiet der Gleichung 1. Ordnung waren, zeigt 
der diesbezügliche Abschnitt in Eulers Integralrechnung. Trotzdem 
ist daselbst wenigstens ein Versuch gemacht, die verschiedenen ge- 
sammelten Resultate in eine gewisse Ordnung zu bringen und stufen- 
weise vom Einfachen zum Schwierigeren vorzudringen. Der einfachste 
Fall ist der, daß die Gleichung nur eine der beiden partiellen Ab- 
leitungen enthält. Die Gleichung 


)-° 


integriert Euler dadurch, daß er das gleichwertige 
dz = adx + gdy 


nach den für totale Gleichungen mit 3 Variablen geltenden Methoden 
behandelt. Er nimmt also zunächst y konstant an, woraus dy= 0 
folgt, und erhält aus dz = adx die Gleichung 


2= Axt + const. 


Indem er jetzt die Integrationskonstante als Funktion von y auffaßt, 
hat er das gesuchte Integral bereits gewonnen; durch Differentiation 
erhält er nämlich rückwärts 


960 Abschnitt XXVI. 


dz = adı + dy- f(y) 
und daraus (&) wie verlangt. Euler weist auch auf die Tatsache 
hin, daß die Integrabilitätsbedingung für 
dz = ad + qdy 


nur dann erfüllt ist, wenn q eine Funktion von y allein ist. Nach- 
dem er weiterhin die Gleichung 


dz 

(X 
wo X eine Funktion von x und y bzw. von z und 2 oder gar von 
allen 3 Variablen x, y, 2!) ist, genau auf dieselbe Weise in der Form 


= I; Xdx +f(y) 
integriert hat, wendet er sich zu Gleichungen, die beide Abgeleitete 


dz dz 

dr a (id 
aber keine der 3 Variablen x, y, z enthalten, d. i. zu den Gleichungen 
der abwickelbaren Flächen. p=g z.B. führt auf 


dz=p(dz + dy) 
und bei Anwendung der Substitution 2+y=u auf 
de = pdu, 


woraus folgt, daß p eine Funktion von u allein sein muß; daraus 
ergibt sich endlich 
:=f@ty) 


er 


behandelt Euler der vorigen analog durch Einführung von 


Die Gleichung 


Px —uy=u. 
Partielle Integration zieht er in dem Beispiel pg =1 heran?); 


dz=pdxz + gdy 
gibt nämlich 
z= pa +qy— | (edp + ydg) 
(vgl. S. 1013) und damit 





‘) Institutiones caleuli integralis, vol. II, bzw. p. 41, 55, 58. 2) Ebenda, 
p: 74. 


; 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 961 


Ri ji SEHE we 
ee de Sea dp). 
Hier muß notwendig 
Be 
°—,,-f). 


d. h. eine Funktion von p allein sein; das Integral — „solutio gene- 
ralis“, wie Euler hier, oder „completa“, wie er bald darauf sagt — 
besteht dann aus den zwei Gleichungen 


-,r1.0) und = + Pf) Fo) 


zwischen denen man sich p» eliminiert denken muß. Von den hierher 
gehörigen Gleichungen sei noch 


pp+gg=1 


erwähnt, sowie der Fall, daß qg eine beliebige Funktion von p ist. 
Enthält die gegebene Differentialgleichung außer p und g noch die 
Variablen x, y und z, so unterscheidet Euler wieder verschiedene 
Typen. Für die Behandlung der Gleichung P=@, wo P eine 
Funktion von p und x, @ eine solche von g und y ist, gibt er fol- 
gende Regel'): Man setze P= v und demzufolge auch Q = v, berechne 
p als Funktion von x und v, qg als Funktion von y und v, bilde 
ferner bei konstantem v die Integrale 


/pdx- R und Jady =. 


Diese Integrale liefern aber" rückwärts, wenn man jetzt auch v als 
variabel ansieht, die Gleichungen 


dk=pdx+YVdv und dS=gdy-+ Udv; 
damit aber dann 
dz=dR+dS—dve(V+UÜ) 
integrabel werde, muß 
V+U=f), 
welch letztere Gleichung mit 
2=R+S-—-f(v) 


zusammen das gewünschte Integral darstellt. Das Verfahren beruht 
im Prinzip auf der Variation der Konstanten. Den ganz allgemeinen Fall 





') Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 130. 


962 Abschnitt XXVL. 


einer beliebigen Gleichung zwischen p, g, x, y und z erwähnt Euler 
zwar"), weiß ihn aber natürlich nur in speziellen Fällen zu behandeln. 
Um sich einen Begriff zu machen, wie er sich in solchen Einzel- 
fällen zu helfen weiß, sei seine Integration?) von 


Z=pP+gQ 


kurz skizziert, wo Z eine Funktion von 2 allein ist, P und @ Funk- 
tionen von x und % bedeuten. Ein Multiplikatorensystem L, M, N 
liefert hier 


Ldz = Lpd& + Lady; MZdx& = MpPdx + MaQda; 
NZdy= NpPdy-+ NqQay; 
durch Addition folgt 
Ldz + Z(Mdxz + Ndy)=p((L+ MP)d« + N Pdy) 
+ g((b + NQ)dy + MQda). 
Euler verlangt jetzt das Bestehen der Proportion 


L+MP:NP=MQ:L+Ng, 
d.h. 
= - MP NQ 


und erhält so die Gleichung 
— de(MP+ NQ)+Z(Mdx + Ndy) = (Mg — Np)(Qdx — Pdy). 


Ein neuer Multiplikator R, der Qdx — Pdy integrabel macht, habe 


die Gleichung 

R(Qdx — PdyJ)=dU 
Mdx + Ndy 
MPALNO 
durch geeignete Wahl von M und N immer erreicht werden kann. 
Durch Einführung der Größen U und V in die umgeformte Diffe- 
rentialgleichung ergibt sich endlich 


(MP + NQ)(- ds + zav) = HIER ar, 





zur Folge; ferner sei ebenfalls integrabel = dV, was 








woraus ersichtlich wird, daß —, DEN 7) eine Funktion von U allein 
sein muß. Diese Einsicht führt unmittelbar zu dem gesuchten Integral 
dz 
GERT 


Aus den angeführten Beispielen geht hervor, wie Euler nach Bedarf 





') Institutiones calculi integralis, vol. III, p. 142. 2) Ebenda, p. 168. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 963 


die verschiedensten Hilfsmittel als Substitutionen, teilweise Integrationen, 
Multiplikatoren zur Lösung heranzieht und durch die uneinheitliche 
Behandlungsweise, die ihm selbstverständlich in keiner Weise zum 
Vorwurf gemacht werden kann, nicht einmal den Gedanken an die 
Möglichkeit einer allgemeinen Integrationstheorie aufkommen läßt; 
das unausgesprochene Grundprinzip, das — abgesehen von den ersten 
Beispielen, die nach der für totale Gleichungen dreier Variablen 
üblichen Methode gelöst sind — bei allen seinen Aufgaben zur An- 
wendung kommt, besteht darin, daß er die partielle Gleichung zu- 
nächst in eine totale verwandelt, in dieser durch geschickte, dem ge- 
gebenen Fall angepaßte Umformung einen größstmöglichen inte- 
grablen additiven Teil absondert, und endlich aus dem Umstand, daß 
ja auch der übrige Teil der Gleichung ein exaktes Differential sein 
muß, Nutzen zu ziehen sucht. 

Euler behandelt auch die Gleichung 1. Ordnung mit 4 Variablen. 
Sei v die abhängige, &, y, 2 seien die unabhängigen Veränderlichen, 


dv=pdz+gdy-+rda. 
Dann geht z. B. die Gleichung 
ep+ßg+yr=0') 
ydv = p(ydx — adz) + g(ydy— Bda), 


und daraus wird mittels der Substitutionen 


über in 


ye—o2=t und yy— ßBze=u 
die Gleichung 
ydv=pdt-+ gdu. 
Euler folgert 


v=TI(t&u)=I(yr — az&yy— ßz) 
oder auch 


Are), 


Im folgenden behandelt er u. a. die Gleichungen 
pc+qy+rz=nv+S, 

wo S eine Funktion von &, y, z ist, und 
pL+qM +rN=0(, 


wo L, M, N Funktionen von & bzw. y bzw. z allein sind. Von Glei- 
chungen höheren Grades seien 


‘) Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 423. 
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 62 


964 Abschnitt XXVI. 


5 





pgr=1 und pgqr = es 
erwähnt!) (vgl. auch 8. 552); auf ihre Integration kann hier nicht 
eingegangen werden. Euler macht sodann die besondere Annahme, 
daß sich v, d.i. eine Funktion der 3 Variablen z, y, z, auch als 
Funktion zweier Variablen von der speziellen Form = «x + ßz und 
u=yy-+ de auffassen lasse, und drückt die Ableitungen von v nach 
”x,y,2 durch diejenigen nach t und « aus. Unter der Voraussetzung, 
daß die homogene Gleichung (vgl. S. 1025) 


++ 


wo A, B, C Konstante sind, in die geschilderte Kategorie gehöre, 
kommt durch Anwendung der beschriebenen Transformation die 


Gleichung 
(z (Aa + 0B)+ (2 2) (By + 00) = 0, 


welche vermöge L = n— und —- a zur Identität wird. 


Der Zeit .. vorgreifend gehen wir hier auf die Methode von 
Laplace für die partielle Gleichung 1. Ordnung ein, um dann die 
Lagrangeschen Arbeiten auf diesem Gebiet im Zusammenhang 
bringen zu können. Zu Beginn seiner berühmten Abhandlung über 
die Gleichung 2. Ordnung kommt Laplace auch auf die Gleichung 


(ee 


zu sprechen?), wo « eine Funktion von x und y, V eine solche von 
x, y und z ist, und stellt sich ausdrücklich die Aufgabe, sie auf 
totale Gleichungen zurückzuführen. Durch Einführung einer neuen 
Variablen u, die eine noch zu bestimmende Funktion von x und y 
sein soll, erhält er, indem er z einmal als Funktion von & und y, das 
andere Mal als Funktion von x und w auffaßt: 


u ( 
62 - (00 + (2) ou, 
OU = (2) 08° + (>). OY. 





!) ITnstitutiones caleuli integralis, vol. III, bzw. p. 428, 432, 435, 440 
2)‘ Histoire de l’Academie des Sciences 1773 (1777), p. 344. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 965 


Führt man die dritte dieser Gleichungen in die zweite ein, so erhält 
man durch Vergleichung mit der ersten 


DEE EEE 


Demnach geht die vorgelegte Differentialgleichung über in 


(+ 


Da « noch unbestimmt ist, so kann man trennen in 


ou ou 6z\I 

0 (+) ud 0-(},) + V 
Die letzte Gleichung reduziert sich, wenn aus der vorletzten y als 
Funktion von x und u bekannt ist, auf eine totale Gleichung (weil 
man « während der Integration als konstant ansehen kann). Die 


vorletzte Gleichung führt, wie Laplace sich ausdrückt, durch Kom- 


bination mit ou = (2) 0% + (>) öy auf die Integration von 


oy—ıaoı 0. 


Um das Argument der willkürlichen Funktion der Integralgleichung 
zu erhalten, braucht man, wie Laplace angıbt, nur das Integral der 
letzten Gleichung nach der Integrationskonstanten aufzulösen. La- 
place hat also im Grunde genau dieselben totalen Gleichungen wie 
Lagrange, denn die zwei Gleichungen 
10 (22): +V/ und öoy-eor—=0 

sind, abgesehen von dem für die Integration unschädlichen Parameter ı 
nichts als die bekannten Lagrangeschen Gleichungen 


? 


0% 


1 


02 


Vv 


°y 
& 
in etwas anderer Forın — und das ist nicht verwunderlich, da in 
letzter Linie alle Integrationsmethoden auf dieses charakteristische 
System zurückkommen werden; aber die klare, elegante, die Bedeutung 
jenes Vereins von Gleichungen viel schärfer betonende Darstellung 
von Lagrange zeigt deutlich, daß sich Lagrange seines Fort- 
schritts, der die endgiltige Erledigung der in Frage stehenden Glei- 
chung bedeutet, vollkommen bewußt war; auch ist bei Lagrange 
von der Beschränkung des « Abstand genommen. Was das Entstehen 
der Laplaceschen Methode anlangt, so weist sie deutlich auf die 
Eulersche Behandlung partieller Differentialgleichungen durch Ein- 
62* 


966 Abschnitt XXVI. 


führung neuer Variabler hin (vgl. $. 994); für die Gleiehung 2. Ord- 
nung, die Laplace in dem nämlichen Aufsatz behandelt, gibt er 
selbst Eulers Integralrechnung als Quelle an. 

Von den Lagrangeschen Abhandlungen ist zuerst ein größerer 
Aufsatz in den Memoiren der Berliner Akademie von 1772 zu nennen), 
welcher der partiellen Gleichung 1. Ordnung beliebigen Grades ge- 


widmet ist. Sei « eine Funktion von x und y allein, p = = und 


= ne wobei die partielle Differentiation nicht besonders angedeutet 


wird. Die Integration einer Gleichung beliebigen Grades zwischen 
u, 2, y, p und g bedeutet dann nichts anderes als die Aufsuchung 
eıner Gleichung zwischen u, & und y allein. Die. gegebene Diffe- 
rentialgleichung gestattet nun, wie Lagrange sagt, etwa q durch 
u,x,y,p auszudrücken; „die Größe » ist hierbei noch unbestimmt, und 
die ganze Frage reduziert sich darauf, p derart zu bestimmen, daß die 
Gleichung du = pdx + qgdy oder vielmehr du pda — gqdy=V in- 
tegrabel wird.“ Lagrange verlangt also, daß M(du — pdx — qdy) 
das totale Differential einer Funktion N von u, & und y wird. Das 
ergibt sofort die drei Gleichungen 
dN AN; dN 


welche sich durch folgende drei ersetzen lassen 


aM ___d(Mp), dM__AdMn. _d4Mm _ _aMm, 


dx du ’ dy du ? ET dx 





Die letzte Gleichung läßt sich aber auch in der Form 


dy d& 


FREE ar 


schreiben, woraus durch Einführung der beiden ersteren Gleichungen 


(2 2) - u 1g 2 ET; 


dx 
kommt. Daraus folgt endlich 


dp an dp _ 

ar ip 58 a2 2+g Fri 
Diese Gleichung, von der Lagrange noch eine zweite Herleitung 
gibt, ist nichts anderes als die Integrabilitätsbedingung für die totale 


Gleichung r : . | 
u BOE TION 





1) Oeuvres de Lagrange, t. IH, p. 519. Die Lagrangeschen Arbeiten 
sind übersetzt in Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 967 


mit den drei Variablen v,x und y und ist als solche längst bekannt, 
wie Lagrange selbst mit den Worten „connue depuis longtemps“ 
zugibt; vollkommen neu ist indessen die Anwendung, die Lagrange 
von ihr macht. Er denkt sich nämlich mit Hilfe der gegebenen 
Differentialgleichung q (oder p) durch &, y, u und p ausgedrückt und 
in die genannte Integrabilitätsbedingung eingesetzt; diese definiert 
dann p als Funktion von «, x und y. Scheinbar ist damit wenig 
erreicht, denn die neue Gleichung hat vier Variable u, x, y und p; 
bedenkt man aber, daß die Gleichung linear ist, daß ferner eine parti- 
kuläre Lösung, wenn sie nur eine willkürliche Konstante enthält, die 
„solution generale et complete“ der ursprünglichen Differentialgleichung 
liefert, so läßt sich schon ersehen, welche Bedeutung sie unter Um- 
ständen erlangen kann. Um letztere Behauptung zu erweisen, ver- 
wendet Lagrange einen auf der Variation der Konstanten beruhenden 
Gedankengang. Sei « die Integrationskonstante, welche, wie verlangt, 
in die partikuläre Lösung für p eingeht. Es ist dann 


est.— [M (du — pdz — gdy) — N 
das Integral der Gleichung 
du— pde— qdy=(; 


N ist eine Funktion von u, &, y und «. Läßt man jetzt « variieren, 
so ist 


N farcau — pdz — qdy) + “X ae; 


da aber der Ausdruck unter dem ersten Integralzeichen ein vollstän- 
diges Differential ist, so muß auch, wie Lagrange folgert, = da 
ein solches sein, d.h. es muß a eine Funktion f’(«) von « allein 


sein. Somit erhält Lagrange die beiden Gleichungen 
dN , 
N — f(«) — est. und FR = PR («) 


mit der willkürlichen Funktion f, zwischen denen man sich « eliminiert 
denken muß; N bedeutet hierbei den durch Integration von 


M (du — pdx — qdy) 


bei konstantem « erhaltenen Ausdruck in u, @, y und «. Hier sei 
bemerkt, daß Lagranges Gedankengang nicht völlig unvorbereitet 
war. Wie schon gezeigt, führt Euler die Lösung von (2) = a und 


einigen ähnlichen Problemen auf die Integration einer totalen Diffe- 


968 Abschnitt XXVIIL. 


rentialgleichung mit drei Variablen zurück, und es ist wohl nur die Ein- 
fachheit dieser Beispiele daran schuld, daß er die Integrabilitäts- 
bedingung dieser Gleichung nicht stärker betont und mit zur Integration 
heranzieht (vgl. 5. 960 oben); in seinem Aufsatz von 1762 formuliert 
er das Problem der Integration der partiellen Differentialgleichung 
1. Ordnung als die Aufgabe, Pdx + Qdy zu einem totalen Differential 
zu machen, wenn zwischen P und © eine Nebenbedingung besteht 
(vgl. 8. 957), während Lagrange dasselbe von du — pdz — gdy 
fordert; der Gedanke, die Integrationskonstante einer gegebenen Glei- 
chung variieren zu lassen, findet sich endlich auch schon bei Euler 
(vgl. S. 959 unten). Von den Beispielen, an denen Lagrange seine 
Methode erörtert, sei nur eines mitgeteilt: Für g= P, wo P eine 
Funktion von » allein, erhält man als Integrabilitätsbedingung 


dp ‚d | Pyp 
a ER 0. 


Man findet leicht y=«, d.h. g= A und demnach 


du — ade — Ady=O. 
Daraus ergibt sich 
IN ‚ ‚ 
N=u-ax— Ay; = -.:-Ay=l lo); 


daraus ist « zu berechnen und in 
u— 0x — Ay— f(e) = 0 


einzusetzen. In dieser Weise zählt Lagrange noch eine ganze Reihe, im 
ganzen neun, Fälle auf, in welchen man mit der erwähnten linearen Hilfs- 
gleichung zum Ziele kommt; darunter befindet sich z. B. der Fall, 
daß die gegebene Differentialgleichung eine der beiden Variablen x 
oder y nicht enthält. Die erwähnte partielle Gleichung mit vier 
Variablen benutzt er hierbei lediglich als Hilfsgleichung, die unter 
Umständen, also etwa in den erwähnten neun Fällen, mit Erfolg be- 
nutzt werden kann; daß durch sie allgemein die Integration der 
Gleichung beliebigen Grades auf den linearen Typus zurückzuführen 
ist, vermag er nicht einzusehen‘), und daran ist wohl die große All- 
gemeinheit dieser Idee schuld. Dafür weiß er aber seine Methode, 
aus einer Partikulärlösung („integrale particuliere“) das „integrale 
complete“ herzustellen, ihrer vollen Bedeutung nach zu würdigen, in- 
dem er sie als ein besonderes „Prinzip“ hinstellt.°) Endlich zeigt er, 


') In seiner Abhandlung von 1785 (vgl. unten) gesteht er selbst zu, die 
"allgemeine Gleichung höheren Grades nicht lösen zu können. ?) Oeuvres de 
Lagrange, t. II, p. 571. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 969 


daß statt eines partikulären Wertes von p oder q ein solcher von u 
mit zwei willkürlichen Konstanten und allgemein für den Fall, daß 
« eine Funktion der n Variabeln x, Y,2,... ist, ein partikulärer 
Wert von « mit » Konstanten genau dieselben Dienste leistet.') 
Diese Bemerkung ist sehr wichtig; Lagrange zeigt damit den Zu- 
sammenhang zwischen vollständigem und allgemeinem In- 
tegral einer partiellen Gleichung; dabei ist beachtenswert, daß er in 
dieser Abhandlung den Wert von « mit » Konstanten noch nicht 
als vollständiges Integral, sondern nur als partikuläre Lösung ansieht. 

In seiner großen Abhandlung über die singulären Integrale vom 
Jahre 1774 geht Lagrange, nachdem er den Zusammenhang von 
vollständigem, singulärem und allgemeinem Integral ausführlich dar- 
getan, wieder auf die Integration der partiellen Differentialgleichung 
1. Ordnung und beliebigen Grades ein und zwar gibt er Integrations- 
methoden für verschiedene ausgezeichnete Gleichungstypen. Ist z. B. 
eine Gleichung der Form 


Ma )-F(az o) 


vorgelegt?), so setzt er?) genau wie Euler, der diese Gleichung auch 


schon behandelt hat (vgl. Ss 961), f (2, x) gleich einer Konstanten a, 


berechnet aus dieser Gleichung a als Funktion von £ und a und 


integriert endlich bei konstantem a. So ergibt sich 

z = X +, 
wo X eine Funktion von x und a, # eine solche von y und a ist; 
ganz analog führt 

a=F (7 ; y) 


auf eine Gleichung 
er +5, 


wo Y eine Funktion von y und a, #£ eine von x und a bedeutet. 
Da aber bis auf eine additive Konstante = Y und $=X sein 


muß, so ergibt sich 
z=X+Y+rb. 


Letztere Gleichung ist, weil sie die zwei Konstanten a und 5 enthält, 
als das vollständige Integral der gegebenen Gleichung anzusehen. Die 
Gleichung 


') Oeuvres de Lagrange, t. II, p. 572. ?) Schon 1772, ebenda, p. 561. 
®) Ebenda, t. IV, p. 80. 


970 Abschnitt XXVII. 


r(&: 2) 0 


dz 


führt mit Hilfe der Substitutionen Z = z und — 
& dy 


= aZ auf 
z+tay= = +b, 
wobei Z aus 


f(Z, a2, ) =0 


als Funktion von 2 und a berechnet werden muß. Von größter 
Wichtigkeit ist das folgende Beispiel!), nämlich die auch von Laplace 


behandelte Gleichung 
2 V/E+Z 
wo V eine Funktion von & und y, Z eine solche von z,y und 2 ist. 
Lagrange multipliziert mit dx, addiert beiderseits n,ay, erhält da- 
durch 
de = (Vda + day), + Zda 


und setzt, gewissermaßen versuchsweise, 
Ver+dy=0. 


Integriert man diese Gleichung, wobei die Integrationskonstante «& 
auftritt, und differentiiert wieder, indem man jetzt « als variabel an- 
sieht, so ergibt sich eine Gleichung 


Vdx +dy= Ade, 


wo A eine bekannte Funktion von &, y und « ist. Mit Benutzung 
dieses Wertes ergibt sich aber 


ae Az, des Zan; 


Lagrange verlangt nun, daß man y durch x und « darstelle und 
den betreffenden Ausdruck in die letzterwähnte Gleichung einsetze; 
diese reduziert sich dann bei konstantem « auf die totale Gleichung 


de = Zdx. 
Die Integrationskonstante dieser Gleichung, fährt Lagrange fort, 





') Ebenfalls schon 1772 behandelt, doch sind die der partiellen Gleichung 
. entsprechenden totalen noch nicht erkennbar. Vgl. Oeuvres de Lagrange, 
t. III, p. 562. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 971 


fasse man als willkürliche Funktion von « auf, und hat somit, da 
bereits « als Funktion von & und y durch das Integral von 


Ver +dy=V 


bestimmt ist, ohne weiteres das allgemeine Integral der gegebenen 
Differentialgleichung. Hier sind also die beiden totalen Gleichungen 


Ver+dy=0 und 2=Zdx 


wirklich angeschrieben, wenn auch noch nicht in ihrer vollen Bedeu- 
tung erkannt. Lagrange sagt aber nicht, die Gleichung 


dz= (Vdx + dy) Fr + Zdx 
ist jedenfalls erfüllt, wenn gleichzeitig 
Vecs+dy=0 und 2= Zdr; 


sein Gedankengang beruht vielmehr eher auf der Idee der Variation 
der Konstanten, deren Anwendung hier, in einer Abhandlung über 
singuläre Integrale, wo fortwährend Differentiationen nach Integra- 
tionskonstanten auftreten, besonders nahe lag, oder, wenn man will, 
auf der Einführung einer neuen Variablen «, die durch die Gleichung 


Ver+dy=V0O 


definiert wird. In ganz ähnlicher Weise behandelt Lagrange sodann 
die Gleichungen 


t=Vy+Z, 
. ; ’ d k 1 
wo V eine Funktion von . und 5 ‚„Z eine solche von eo 
dx dy dx’ dy 
EEE ELLI d 
he dx YAy Ep 
dz Y Z 
f Präaal Abi 
ö . ; dz ; dz 
wo V eme Funktion von x und An Z eine solche von «, ds und 


ge ist. Es ist noch darauf hinzuweisen, daß Lagrange der 
dy ’ 


Gleichung 


dz dz 

eur 
unter den angeführten Beispielen keine ausgezeichnete Rolle zuerkennt, 
sondern sie einfach als einen integrablen Fall unter anderen inte- 
grablen Fällen ansieht. Zur Beschäftigung mit diesen Beispielen 
gaben wahrscheinlich folgende Umstände die Veranlassung: Lagrange 


972 Abschnitt XXVII. 


suchte das singuläre Integral einer partiellen Differentialgleichung 
aus der Integralgleichung abzuleiten, fand, daß dies leichter ist, wenn 
nicht das allgemeine, sondern das bereits früher von ihm entdeckte, 
mittlerweile auch in seiner Bedeutung erkannte vollständige Integral 
gegeben ist, und suchte demgemäß das vollständige Integral für ver- 
schiedene Gleichungstypen zu bilden; dem ist nicht entgegen, daß er 
in dem speziellen a 
dz 


.- “Inne 


gerade auf das allgemeine Integral geführt wird. 

Mittlerweile fällt Lagrange auf, daß er in der eben besprochenen 
Abhandlung die partielle Differentialgleichung 1. Ordnung, in der die 
Differentialquotienten nur linear auftreten, integriert hat; er erkennt 
das Prinzipielle der Methode und gibt 1779 eine Verallgemeinerung 
derselben. Wie Laplace formuliert er!) vorher die Aufgabe: „Man 
weiß, daß die Kunst der Integration bei partiellen Differentialglei- 
chungen nur in der Zurückführung dieser Integration auf die von 
gewöhnlichen Differentialgleichungen besteht, und daß man eine 
partielle Differentialgleichung dann als integriert betrachtet, wenn 
ihre Integration nur mehr von derjenigen einer oder mehrerer totalen 
Differentialgleichungen abhängt.“ Lagrange gibt sodann ohne weitere 
Begründung folgende Regel: Ist 


dz 


wo P,@,...Z beliebige gegebene Funktionen von 5, tb... 2 
sind und z selbst eine unbekannte Funktion von 2,9, t,... ist, so 
bilde man die „Eequations particulieres“ 

dy— Pde=0; dt—- Qdı=0;...,;d2e— Zde=(0, 
integriere und löse nach den Integrationskonstanten «, ß, y, ... auf. 


Das gesuchte Integral der ursprünglichen Gleichung ist dann 


e=gp(ß, RER 


wo 9 eine willkürliche und unbestimmte Funktion ist; das Integral 
wird „complete“?) sein, weil es eine willkürliche Funktion enthält. 


') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 625. Im Anschluß an diesen Aufsatz 
steht eine Bemerkung von Charles für den Fall, daß die gegebene Differential- 
gleichung in den drei Variablen x, y%, z homogen ist: Histoire de l’Academie des 
Sciences 1784 (1787), p. 348. ?) So schreibt Lagrange, obwohl er früher 
zwischen allgemeinem und vollständigem Integral unterschieden hat. 


ge: 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 973 
Einen Beweis gibt Lagrange nicht an, sondern verweist einfach 
auf seine Integration der Gleichung 
dz dz 
e ee Ar +Z. 


Erst im Jahre 1785 kommt Lagrange wieder auf die lineare 
Gleichung zurück, um einen Beweis für seine Methode zu geben.!) 
Für den Fall von drei Variablen «, 2, y sei wie herkömmlich 


du 


— du — 
dx 


—=» und Er q 
gesetzt; die gegebene Differentialgleichung sei 
Xp+ Yg=T, 


wo X, Y, U beliebige Funktionen von «, x und y sind. Es ist dann 


von selbst 
du = pda + qdy. 


Durch Multiplikation beider Gleichungen folgt 
(Xp + Yg)du = U(pda + qdy) 
p(Xdu — Udx) + g(Ydu — Udy) = 0. 


oder 


Lagrange nimmt nun an, die beiden Gleichungen 
XAdu— Ud<e=0 und Ydu — Tdy=0 
seien in der Form integriert 
ea=4A'ß=B 


wo A und B bekannte Funktionen von u, x und y, ferner &, ß die 
Integrationskonstanten sind. Lagrange führt jetzt statt x und Y 
die eben bestimmten Ausdrücke A und B als neue Variable « und ß 
indie ursprüngliche Differentialgleichung ein. Er erhält zunächst 


dA . dA dia 
de = iu du + 7, dr + FR dy 
und ganz analog 
dB dB dB 


Für die hierin auftretenden Derivierten von A und B lassen sich 
aber zwei bemerkenswerte Relationen aufstellen. Betrachtet man 
nämlich die Funktionen A und B als Integrale von 


‘) Oeuvres de Lagrange, t. V, p. 543#f. 


974 Abschnitt XXVIL 
Xdau— Ude=0 und Ydu— Udy=(, 


sind also A und B konstant, so ist 


en da +, dy= 0 


und ebenso 


dB dB a 


d. h. es müssen die Gleichungen 


dAX BATE aB X 3» 3 
—=( und 


trier Fri; Htraıtnr- 0 


identisch bestehen, also auch wenn man A und B nicht mehr als 


Integrale, d. i. als Konstante, sondern als neue Variable auffaßt. Aus 


den letztangeführten Gleichungen kann man aber sofort ; und ei 


berechnen; mit Hilfe der so erhaltenen Ausdrücke lassen sich dann 
die Differentiale der Variablen « und ß in der Form schreiben: 


da 5 3. (Udo — Xdu)+ zn, (Uay — Ydu); 


dB= 4 5 (Uds— Xdu)+ 7 er (Day — Yau); 


daraus ergibt sich 


Xdu — Ude — (7, da 43 14a); 
Yan - Uy-4(, Bern de), 


wo zur Abkürzung 
dAdB dBadäA 


dy de dy da 
gesetzt ist. | 
Lagrange führt jetzt diese Ausdrücke in die der gegebenen 


äquivalente totale Differentialgleichung 


p(Xdu — Udx) + g(Ydu — Udy) = 0) 
ein und erhält dadurch 





Ay 2 
dx ey, 
det gurahe 
Pdy 11x 


wobei der Faktor 7, der, gleich Null gesetzt, unter Umständen auch 
eine Lösung liefert, stillschweigend fortgelassen ist. Da diese Diffe- 
rentialgleichung, fährt Lagrange fort, nur die beiden Differentiale 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 975 


d« und dß enthält, so kann sie nur in der Art bestehen, daß der 
Koeffizient von dß, wenn man für x und y ihre Wertein «, ß und « 
einsetzt, wie sie sich au A=«, B=ß ergeben, eine Funktion von 
« und ß allein ist, d.h. es muß nach ausgeführter Substitution u 
von selbst herausfallen. Setzt man also diesen Koeffizienten gleich 
einer beliebigen Funktion f(«, 8), so geht die Differentialgleichung 
in die neue über 


de + f(e, P)dB = 0, 
die sich immer ın der Form 


F(o, 8)—0 


integrieren läßt. Ersetzt man endlich, sagt Lagrange, die Hilfs- 
varlabeln « und 3 wieder durch ihre Werte in x, y und u, so ergibt 


sich das Integral 


und F' wird eine beliebige Funktion sein, da f eine solche ist. La- 
grange führt den analogen Beweis noch für den Fall von vier Veränder- 
lichen und weist darauf hin, daß er für noch mehr Variable in ähn- 
licher Weise erledigt werden kann. Lagrange betrachtet sodann!) 
den speziellen Fall 


du du du 


wo X, Y,Z,... Funktionen der unabhängigen Variablen x, y, z 
allein, $ und 7 von allen Variablen außer « sind. Das System 
Xdu—(S+Tu)da=0; Ydau— (S+Tw)dy=0; 
Zdu —- (S+Tu)d=0;... 


lese 


liefert dann 
Ydz— Xdy=0; Zde— Xdz=0;... 


d. h. Gleichungen, in welchen « nicht mehr vorkommt. Hieraus er- 
hält man die y,2,... durch x und die willkürlichen Konstanten 
ß, 9, ... ausgedrückt. Endlich ist. 





‚Tdx 
Tax he: 
ner Ra 
u-e = x +, 


so daß man nach Substitution der eben berechneten Ausdrücke für 
Y, 2,... auch « durch x ausgedrückt erhält. 
An die Abhandlungen von Lagrange aus den Jahren 1772 und 


') Oeuvres de Lagrange, t. V, p. 554. 


976 Abschnitt XXVI. 


1774 über die nichtlineare Gleichung 1. Ordnung knüpft Legendre 
an!); wichtiger erscheint hier der Hinweis auf eine Arbeit von 
Charpit über denselben Gegenstand, in der die zwei Methoden von 
Lagrange in glücklicher Weise vereinigt sind; Charpits Unter- 
suchungen, der Akademie im Jahre 1784 überreicht, kamen nicht in 
den Druck; alle Nachrichten über ihn und seine Methode verdanken 
wir der Darstellung bei Lacroix.?) „La mort“, heißt es da, „enleva 
ce jeune homme au moment oü ses talens donnaient de grandes 
esperances“ Die Integrabilitätsbedingung für die totale Gleichung 
dreier Variablen 
dz = pdx + gqdy 

ist, wie wir uns erinnern, 

d d dp d 

ea Pla A 
wo p und g als Funktionen von &, y und z gedacht sind. Ist nun 
eine Relation Z = 0 zwischen den fünf Größen z, y, 2, p und q gegeben, 
so kann man mit ihrer Hilfe » oder q in die Integrabilitätsbedingung 
einsetzen und hat damit eine lineare partielle Differentialgleichung 
1. Ordnung mit vier Variablen gewonnen (vgl. S. 966ff.). Man erhält 
nämlich durch Differentiation 


dZ= Adx + Bdy + Cdz + Ddp + Edq= 0 
und daraus 
dq „dq 
dp FF ä dp _ er 
a FE ri Fa Eee: pas 
Führt man diese Werte in die Integrabilitätsbedingung ein, so er- 


gibt sich 
dq ,.dq d 
DoatEmy+tEatDn., +B+ Og=0, 
d. i. die gesuchte lineare Gleichung, wenn man noch p mittels Z= 0 
eliminiert denkt. Auf diese Gleichung wendet jetzt Charpit die 


Lagrangesche Methode für lineare Gleichungen an (vgl. S. 972) und 
erhält dadurch unmittelbar 


Day— Edz=0; Ddz — (Eqg + Dp)da = 0; 
Däg + (B+ Cq)de = 0, 


wo » durch seinen Wert in z, y, 2 und q zu ersetzen ist. Wenn 





‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1787 (1789), p. 337. 2?) Lacroix, 
Traite du caleul differentiel et du calcul integral, 2. edit. Paris 1814, t. II, 
p- 548. 





Totale und partielle Differentialgleichungen. 977 


T=a, U=bund V = die Integrale dieser drei Gleichungen sind, so 
ist V=g(T, U) das allgemeine Integral der linearen Gleichung, d.h. 
eine zweite Relation zwischen x, y, 2,p und g, die mit Z= 0 zu- 
sammen derartige Werte von p und g liefert, daß die Gleichung 


dz=pdz + gqdy 


eventuell mit Hilfe eines Multiplikators integrabel wird. Man schreibt 
heutzutage seit Monge') etwas allgemeiner und übersichtlicher 
ea ee 
A+Cp B-+cg DB +4 Die BE 
und wird so auf eine Relation zwischen x, y, 2,» und q geführt, die 
neben Z= 0 besteht. 

Auf die Behandlung der linearen Gleichung mit drei Variablen 
durch Monge, die in einfachster Weise zu den Lagrangeschen 
Gleichungen führt, sind wir bereits eingegangen (vgl. S. 948). 

Die lineare Gleichung mit beliebig vielen Variablen behandelt 
Monge nach derselben Methode?): Zurückführung auf totale Glei- 
chungen mit Hilfe der Relationen, die partielle Differentialquotienten 
und totale Differentiale untereinander verbinden. Zunächst ist auf 
die Gleichung mit drei unabhängigen Variablen «, x, y und der ab- 
hängigen Veränderlichen 2 eingegangen; hier ist 


dz=pdu + gdz + rdy. 
Die Differentialgleichung 
Ap+Bg+Cr+D=0 


verwandelt sich dann, je nachdem man eine der Größen p, q oder r 
mit Hilfe des Ausdruckes für dz eliminiert, in eine der drei Gleichungen 


Adz+Ddu= gqg(Adx — Bdu) + r(Ady— Cdu), 
Bdz + Ddx = — p(Adx — Bdu) + r (Bay — Od), 
Odz + Day= — p(Ady — Cdu) — q (Bay — Cde«). 


Diese Gleichungen dürfen die Größen 9, q, r nicht bestimmen, 
sondern müssen unabhängig von ihnen gelten; durch Nullsetzen ihrer 
Koeffizienten erhält Monge sechs Gleichungen, von welchen aber nur drei 
wesentlich verschieden sind. Lassen sich aus diesem System oder 
einem daraus hergeleiteten gleichwertigen drei vollständige Integral- 


‘) Applieation de l’analyse ä la geom6trie, Addition p. 437. ®, Histoire 
de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 159. 


978 Abschnitt XXVII. 


gleichungen V=a, U=b und W=c mit den Integrationskonstanten 
a, b, ce bilden, „so drücken diese drei Integrale zusammen (simultanees) 
dasselbe aus wie die vorgelegte Differentialgleichung: sie bedeuten 
nicht, daß die Größen V, U, W jede einzeln konstant sind, sondern 
daß, sobald eine davon konstant ist, auch die beiden anderen es not- 
wendig sind, oder daß diese eine von ihnen eine willkürliche Funktion 
der beiden anderen ist; demnach bedeutet die Gleichung 


VY=9(U&W) 


dasselbe wie die gegebene Differentialgleichung und bildet ıhr voll- 
ständiges Integral.“ Mit der Begründung: „Es ist leicht zu sehen, daß 
die allgemeine lineare Gleichung mit beliebig vielen Variablen sich 
gerade so und mit Hilfe einer ähnlichen Überlegung behandeln läßt“, 
gibt Monge sodann kurz die entsprechende Integrationstheorie. 

Hier sei angeführt, was derselbe Autor über die nichtlineare 
Gleichung sagt. Die diesbezüglichen Ausführungen sind im Anschluß 
an die analogen Untersuchungen über totale Gleichungen höheren 
Grades gemacht (vgl. S. 940); Monge findet!), daß eine partielle 
Differentialgleichung nur dann nichtlinear sein kann, wenn 1. die 
willkürlichen Funktionen im Integral in verschiedenen Potenzen vor- 
kommen, oder 2. wenn die Argumente dieser Funktionen nicht un- 
mittelbar, sondern durch weitere Gleichungen gegeben sind, in denen 
sie wieder als Argumente willkürlicher Funktionen und zwar nicht 
alle linear auftreten. Wenn man nun, sagt Monge im folgenden, in 
der Integralgleichung die verschiedenen Potenzen der nämlichen Größe, 
durch deren Elimination die nichtlineare Differentialgleichung entsteht, als 
ebensoviele verschiedene Größen auffaßt und eliminiert, so wird die 
jetzt entstehende Differentialgleichung linear sein. Ist die Integral- 
gleichung selbst nicht gegeben, so handelt es sich einfach darum, 
aus der vorgelegten Differentialgleichung höheren Grades die ent- 
sprechende lineare Differentialgleichung, die natürlich höherer Ord- 
nung sein wird als die ursprüngliche, herzuleiten. 

Sei nun die partielle Differentialgleichung 1. Ordnung W=V0 
gegeben, wo W eine Funktion von &, y, 2, p und g ist. Durch Diffe- 
rentiation ergibt sich 


Adp + Bdg+0Cdxe + Day=0, 


wobei dz mittels da=pdx + qdy eliminiert gedacht ist. Monge 
nimmt nun willkürlich an, es sei etwa 


Cdz + Ddy=d; 





1) Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 167. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 979 


dann ist von selbst 
Adp+ Bbdy=V(\, 


und es ergibt sich, indem man 
dp=rdz+sdy; dq=sdz + tdy 
setzt, durch Elimination von 23 die Gleichung 2. Ordnung 


ADr + (BD— AO)s — BOt=0. 

Monge verlangt von dieser Gleichung, daß sie nicht alle Konstanten 
«der Gleichung W = 0 enthalte, und behandelt sie nach seiner Methode 
für die partielle Gleichung 2. Ordnung, auf die wir noch zu sprechen 
kommen (vgl. S. 1009); er erhält so das Simultansystem 

ADdy® — (BD — AC)dxdy — BOda?= 0 
und 

ADdpdy — Bldgdz =. 

Die erste Gleichung hat die beiden Wurzeln 

Cdx+Ddy=0 und Ady— Badz=0, 


deren erste nichts Neues gibt, deren zweite aber auf das Simultan- 
system 


Ady— Bdz=0; Cdq— Dadp=V0 


führt; das sind aber, wenn man die Verschiedenheit der Schreibweise 
bedenkt, zwei der Charpitschen Gleichungen. Lassen sich davon zwei 
Integrale V= «a und U= gp(«) angeben, so erhält man das „integrale 
complete“ der ursprünglichen Gleichung, indem man aus ihr und den 
Gleichungen V=« und U= g(«) die Größen p und g eliminiert. 
Verschwindet der Parameter «& dabei nicht von selbst, so ist das End- 
ergebnis dieser Elimination noch partiell nach « zu differentiieren; 
das Integral besteht dann aus zwei Gleichungen, zwischen denen man 
sich & eliminiert denken muß. So führt die Gleichung 


(ap — q)” +ax(ap+g)+ az = 0 


ady— dz=0; adp+dq=d0; 


auf 
aus 
ay—z=a und a+g=yle)=gplay— x) 
ergibt sich dann sofort das „integrale complete“ in der Form 
Iplay— za)? +2 play—-a)+2—0. 
Wichtiger ist der Fall'), daß die gegebene Gleichung sich in irgend 


') Histoire de ’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 172. 
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 63 


980 Abschnitt XXVL. 


einer Weise aus den drei Größen p,q und M=2z— px —qy zusammen- 
setzt; dann werden nämlich die Größen Ü und D beide notwendig 
0, das Differential der ursprünglichen Gleichung wird von der Form 


Mdp+ Naq=V(, 


woraus Mongep=9(g) folgert, und das ist, wie er ausdrücklich be- 
merkt, die Gleichung der abwickelbaren Flächen. Setzt man diese 
Gleichung in die ursprüngliche ein, faßt q als Parameter auf und diffe- 
rentiiert nach g partiell, so hat man zwei Gleichungen, die das ge- 
suchte Integral repräsentieren. Bei dieser Gleichung, die als allge- 
meine Clairautsche Gleichung aufgefaßt werden kann, ließe sich das 
vollständige Integral noch leichter aufstellen. 
Monge bemerkt sodann), daß die Annahme 


Udz + Daday= 0 


vollkommen willkürlich war, und daß jede andere derartige Annahme, 
die auf eine bekannte Differentialgleichung 2. Ordnung mit einer 
Konstanten weniger führt, ebenso berechtigt sei; diese Überlegung 
habe ihn zu den folgenden merkwürdigen Resultaten geführt: Ist 


F(L, M, N)=0 


eine Differentialgleichung, wo L, M, N gegebene Funktionen von 
x, y, 2, P, q sind mit der ganz speziellen Eigenschaft, daß aus zweien 


der Gleichungen 
dL=0, dM=-0, dN=0 


von selbst mit Notwendigkeit die dritte folgt, so wird das Resultat 
der Elimination von p, q und einer der willkürlichen Funktionen aus 
den vier Gleichungen 


L=«; M=oo; N=yau; Flo, pa, va) = 0 


zusammen mit der partiellen Derivierten der Eliminationsgleichung 
nach « das „integrale complete“ der gegebenen Differentialgleichung 
bilden. Nach dieser Methode der Integration durch Berührungstrans- 
formationen?), wie wir heutzutage sagen, behandelt, führt das Beispiel 


al +) + (y+ N) +ele— =, 
ei P=-1+pP+g4, 
auf die drei Gleichungen 





t, Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 174. 2) Auf 
dieses Vorkommen der Berührungstransformationen hat zuerst E,. v. Weber, 
Math. Enzyklopädie, Bd. II, S. 359, Anm. 224 aufmerksam gemacht, 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 981 


(— «’+y—- Ye’ +(k— ve”’—h; 
ae +bpga+cya=]; 
—- a+y—-ge)ya+l—voya=0; 


da, wie verlangt, von den drei Gleichungen 
hp hq h 
d(@+7)-0; ay+79)=9; d(«—-z)=0 


eine die Folge der beiden anderen ist. Monge gibt wie gewöhn- 
lich auch die geometrische Deutung der Integralgleichungen; die erste 
stellt eine Kugelfläche mit unbestimmtem Mittelpunkt dar, die zweite 
verlangt, daß dieser Mittelpunkt auf der Ebene 


ax+by+cez=]1 


liegt, die dritte fordert, daß die Koordinaten x, y, z sich nicht ändern, 
wenn « variiert; alle Gleichungen zusammen bedeuten demnach 
die Enveloppe einer Schar von Kugeln mit dem Radius h, deren 
Mittelpunkte auf einer beliebigen Kurve liegen, die man in einer ge- 
gebenen Ebene gezogen hat. Nach zwei weiteren Beispielen mit den- 
selben Größen L, M, N bringt Monge eine Verallgemeinerung seiner 
Methode; sind die Größen L, M, N, P,... derart aus &, y, 2,p, q zu- 
sammengesetzt, daß aus irgend zweien der Gleichungen 


dL=0; dM=0; dN=0; dP=(,... 


die anderen alle von selbst schon folgen, so wird eine beliebig aus 
den Größen L, M, N, P,... zusammengesetzte Differentialgleichung 


FM.N]P,.. 3:0 
in der Weise integriert, daß man aus den Gleichungen 
L=o; M=goa; N=yao P=aa,... 


zunächst die Größen p und g eliminiert. Indem man jetzt aus den 
überbleibenden Gleichungen und aus 


F(o, pa, va,na,...)=0 


alle willkürlichen Funktionen bis auf eine eliminiert, erhält man eine 
Gleichung V=(, die nur &, y, 2,« und eine willkürliche Funktion 
enthält; diese Gleichung bildet dann mit der durch partielle Diffe- 


rentiation gebildeten 0 zusammen das gesuchte Integral. Eine 


Verallgemeinerung dieses Satzes für beliebig viele Variable findet sich 
63 * 


982 Abschnitt XXVII. 


in dem nämlichen Bande der Pariser Memoiren.') Monge weist end- 
lich darauf hin, daß hierbei die Funktion F' auch willkürliche Funk- 
tionen enthalten darf, d.h. daß die gegebene Differentialgleichung 
Integral einer Gleichung höherer Ordnung sein kann. 

Im folgenden?) stellt Monge die äußerst wichtige Behauptung 
auf: Es gibt keine partielle Differentialgleichung 1. Ordnung, welche 
nicht auf die betrachtete Form zurückführbar und nicht nach der 
angegebenen Methode integrierbar wäre, wenn man nur einen Prozeß 
hätte, die Größen L, M, N, P,... aufzufinden; aber ihre Aufsuchung, 
fährt Monge fort, bringt im allgemeinen ebenso große Schwierigkeiten 
mit sich als die Integration der partiellen Differentialgleichungen 
selbst); und der Inhalt der letzten Ausführungen kann nur in sehr 
speziellen Fällen nützlich werden; dessenungeachtet ist die Anzahl 
von solchen Systemen Z, M, N, P,... unendlich groß. Nachdem er 
noch zwei Beispiele von Wertetripeln Z, M, N gebracht hat, stellt 
er sich‘) die Aufgabe, a priori ein System von drei Größen L, M, N 
zu finden, welche, aus &, y, 2, p und q zusammengesetzt, die Eigen- 
schaft haben, „daß eine beliebige von ihnen eine Funktion der beiden 
anderen ist“. Man nehme, heißt es, eine beliebige Gleichung V = 0 


E 


zwischen &, %, 2 und drei Parametern, und berechne aus ihr und 2 ==) 
und TE —= () die Werte dieser drei Parameter, so werden diese die ver- 
langte Eigenschaft besitzen, d. h. werden die totalen Differentiale von 
zweien derselben gleich Null gesetzt, so wird auch dasjenige des 
dritten Parameters gleich Null. Monge gibt kein Beispiel’) und 
auch keinen Beweis für seine Behauptung; indessen folgt, wenn wir 
die erwähnten Parameter L, M und N nennen, aus den drei Gleichungen 


oV eV oV oV Dar AR 
+ AU + Get a Et zu AM + zn; 





AV: er; oV 9. V oV 
TR en en wer 


de 0% 


0 


mit Berücksichtigung von 
dz = pda + qdy 


!) Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 557. Monge bringt 
als Beispiel die Verallgemeinerung eines schon von Lagrange behandelten 
Falles. ®, Ebenda, p. 183. 3) Mais cette recherche comporte en general 
des diffieult6s aussi grandes que celles du calcul integral des &quations aux 
differences partielles. *, Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), 
p. 185. 5) In dem obigen Beispiel war offenbar 


V=-@—-D’+y—- M’+@—N’—M—0 
zu setzen. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 983 


unmittelbar h 
oV oV Esel 
DL N 
Man erkennt leicht die Definition der Berührungstransformationen 
wieder, wie sie Lie für den dreidimensionalen Raum beim Bestehen 
einer einzigen Relation zwischen ursprünglichen und transformierten 
Koordinaten aufstellt; nur hat Lie noch zwei weitere Ausdrücke p, 
und q,, die, wenn L, M, N bzw. den Variabeln x, y, z entsprechen, 


in der Mongeschen Schreibweise durch die Gleichungen 


oV oV 


autom) 


+2 5-0 und 
definiert wären. Doch fehlt Monge die Vorstellung, daß es sich bei 
seiner Methode um eine Transformation handelt; um so mehr fehlt 
natürlich die Kenntnis der geometrischen Eigentümlichkeit dieser 
Transformation, die den Namen Berührungstransformation veranlaßt 
hat. Monge wendet seine Theorie auch auf totale Gleichungen an 
und integriert mit ihr die allgemeinen Gleichungstypen 


F|p, (Y — pzx)]=0 und F(a -- Se ) (Y > mn; )) —( 
Sucht man zwei Funktionen M und N von z,y und p= 2 
der Art, daß aus der einen der beiden Gleichungen dM=0 und 
dN=( auch die andere folgt, so hat man nach Monge eine 
Funktion Y von &, y und zwei Parametern zu nehmen und aus 
V=0 und dV =( die zwei Parameter zu berechnen. Die allgemeine 
Theorie ist in folgendem Theorem enthalten!): Sind » Größen M, N 
dy dp dq 
u 7 SR A TEN 7 TAche 
bis zu den Differentialquotienten (n — 1) Ordnung einschließlich zu- 
sammensetzen, und folgen aus einer einzigen der Gleichungen 


von 


’ 


P, Q,... gegeben, die sich aus x, y, p 


dAM=0, dN=0, dP=0, aQ=9.... 


alle übrigen, so wird eine totale Differentialgleichung (n — 1) Ord- 
nung F(M, N, P,@,...)=0 zum endlichen und vollständigen In- 
tegral die Gleichung besitzen, die sich durch Elimination der n — I 
Größen 9,9, r,... und einer der willkürlichen Konstanten a, b, e, d, ... 
aus den a + 1 Gleichungen 


M=a; N-b; P=45; Q9=d;..., F(ab,o,d,..)=0 


') Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 189. 


984 Abschnitt XXVII, 


ergibt; das Resultat dieser Elimination wird eine Gleichung zwischen 
x, y und n willkürlichen Konstanten sein. Eine elegante Methode 
für partielle Gleichungen 2. Ordnung, die auf Berührungstransfor- 
mationen beruht, werden wir bei Legendre (vgl. S. 1013) antreffen. 

Von den partiellen Differentialgleichungen 2. Ordnung 
mit drei Variabeln wurde zuerst die Gleichung der Saitenschwin- 
gungen behandelt. Im vorigen Bande sind bereits die Bemühungen 
verschiedener Mathematiker um diese Gleichung geschildert; hier ist 
Lagrange zu nennen, der in den Abhandlungen der Turiner Aka- 
demie der Natur und Fortpflanzung des Schalles zwei eingehende 
Untersuchungen widmet und an das erwähnte Problem von vornherein 
mit der ganz bestimmten Absicht herangeht, Eulers Auffassung von 
der Natur der willkürlichen Funktionen einwandfrei zu beweisen. Bei 
dieser Gelegenheit hat Lagrange Ausdrücke aufgestellt, welche mit den 
Formeln für die Koeffizienten einer Fourierschen Reihe überein- 
stimmen, was zu der Behauptung Veranlassung gegeben hat, La- 
grange habe bereits die Theorie der Fourierschen Reihe besessen; 
in Wirklichkeit ist die Lagrangesche Entwicklung prinzipiell davon 
verschieden; man könnte sie eher als eine Formel zur Interpolation 
durch trigonometrische Funktionen auffassen. Lagrange geht aus 
von einem Simultansystem®), das wir kürzer in die Gleichung 

ZB — e(yi+D — 20 + ye-9) 

zusammenfassen können, wenn i von 1 bis m — 1 läuft und y® und 
y'9 beide Null sind; diese Gleichungen stellen die Schwingungen 
einer endlichen Zahl von Massenpunkten dar. Die Integration wird 
nach der d’Alembertschen Methode für derartige Simultansysteme 
mit Hilfe unbestimmter Multiplikatoren bewerkstelligt, dabei gehen 
auch die Geschwindigkeiten in die Rechnung ein. Nach ziemlich 
weitläufigen Rechnungen ergibt sich endlich für die Koordinate y 
des u‘ Massenpunktes ein komplizierter Ausdruck?), der überdies 
von den Anfangsbedingungen abhängig ist. Aus dieser Formel erhält 
Lagrange?°), indem er die Zahl der schwingenden Punkte unendlich 
groß annimmt, 


2 SL ste, FR 7. 
y= 2 fau z (sin 9, en 5, 8 Ir 


ee EEE mia; 4 2” Ht x ) 
BER 2a ’ 2a vun 3: . 


') Miscellanea Taurinensia, t. I? (1759), p. 26. ?) Ebenda, p. 44. 
®, Ebenda, p. 56. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 985 


wozu noch ein additives Glied tritt, das er im folgenden gleich 
Null setzt. 

X und Y sind hierbei die Anfangskoordinaten, x und y die Ko- 
ordinaten zur Zeit £, a die Länge der Saite und H eine bekannte 


konstante Größe. Lagrange bemerkt hierzu, daß das Zeichen 7 


nur ein Summenzeichen sei, sagt aber fast unmittelbar darauf, daß 
die Integrationen bei variabeln X, Y und konstanten x, ? auszuführen 
seien. Wesentlich ist nun, daß Lagrange die Reihe unter dem 
Integralzeichen nicht etwa gliedweise integriert, sondern vor der 
Integration diese Reihe zu summieren sucht, da er für y nicht eine 
unendliche Reihe, sondern die schon bekannte Form mit zwei will- 
kürlichen ag erhalten will. Zu diesem Zweck wird der Aus- 


druck 2 sin > x c08 7, en in bekannter Weise durch die Sumnie 


zweier Sinus a es ergibt sich: 


4 £ X nn [mx m Ht 
‘iz Y sin Fr >< sin ( are ) 











1 2 \a 81 
5 WR nein (EEE 
PW; 2 2 
s di Ye = >< sin ® n E nn 
5 2a " cos Be N en — COS X 
2 va 4 2a 


Da m unendlich groß ist, heißt es weiter, wird, was auch x und 
b 2 Hu. l : 
t sein mögen, m (- + T) immer eine ganze Zahl, der Sinus davon 


und folglich die betreffenden Integrale Null sein. Eine Ausnahme 
tritt nur ein, wenn gleichzeitig der Nenner Null wird; den Wert von 


m bestimmt Lagrange durch Differentiation von Zähler und Nenner 
und kommt schließlich zum gesuchten allgemeinen Integral. Die ganze 
umständliche Ableitung des bekannten Resultats hat er hauptsächlich 
unternommen, um zu zeigen, daß es sich ohne alle Voraussetzungen 
über die Natur der darin auftretenden willkürlichen Funktionen ge- 
winnen läßt; die Schwächen seiner Methode und insbesondere des be- 
nutzten Grenzübergangs hat neben anderen d’Alembert klar gestellt!). 
Noch ist zu bemerken, daß Spätere aus Gehässigkeit gegen Fourier 


') Besonders in verschiedenen Bemerkungen im 1. und 5. Band seiner 
Opuscules math@matiques. Man vgl. übrigens noch Riemann, Partielle Differen- 
tialgleichungen, bearb. von K. Hattendorf 1869, S. 200, und Reiff, Geschichte 
der unendlichen Reihen 1889, S. 132. 


986 } Abschnitt XXVII. 


dessen Reihen als Lagrangesche Formeln bezeichnet haben; man ist 
indessen längst davon zurückgekommen. 

Die partielle Differentialgleichung der Saitenschwingungen selbst 
behandelt Lagrange auf eine ganz neue, eigenartige Weise; er führt 
sie nämlich auf die Integration einer gewöhnlichen Differentialglei- 
chung 2. Ordnung zurück, wenn er auch diese Reduktion nicht aus- 
drücklich als Ziel seiner Methode hinstellt. Naturgemäß ist die er- 
wähnte Reduktion auch ein wenig umständlich, und es ist z. B. 
d’Alemberts Zurückführung des Problems auf ein Simultansystem 
von totalen Gleichungen!) unzweifelhaft eleganter; nichtsdestoweniger 
ist der Gedankengang Lagranges als äußerst geistreich und originell 
zu bezeichnen; wir können hierbei, weil ihn sein Erfinder konsequent 
für eine Reihe viel komplizierterer Gleichungen in Anwendung brachte, 
sogar von einer wirklichen Methode sprechen. Die partielle Gleichung 


d’z d’z\ 

(2) = ° (a2) 
multipliziert Lagrange?) mit einer Funktion von x allein, die M 
heißen soll. Zweimalige partielle Integration nach x ergibt sodann 


GE Mao = [(1) a0 ()] + [> (da) a 


Die physikalischen Anfangsbedingungen der Aufgabe verlangen, daß 
2 für zwei Wertex=0 und 2 =a beständig, d.h. für jedes i, gleich 
Null ist; das Gleiche verlangt Lagrange von der Funktion M. Wird 
jetzt zwischen den Grenzen O0 und a integriert, was in der Schreib- 
weise nicht besonders ausgedrückt ist, so ergibt sich die Gleichung 


H&R) Mdı = E (53) de, 


die auf Grund der Annahme 


ea) ua 





(k bedeutet hierbei eine Konstante) in 


es Mdx = ke |» Mär 


übergeht. Hieraus erhält man endlich mittels der Substitution 


| zMdx = s 


') Vgl. diese Vorl., II®, S. 901. ?) Miscellanea Taurinensia, t. II?, 1760/61, 
p- 20. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 987 


— wobei das Integral natürlich wieder zwischen den Grenzen x = 0 
und z=a zu nehmen ist, so daß s eine Funktion von # allein dar- 
stellt — die Gleichung 


Sign) 


welche, wie Lagrange sagt, zu integrieren ist, indem man die Zeit / 
als einzige Variable ansieht. Damit ist die Integration der ursprüng- 
lichen partiellen Differentialgleichung auf diejenige der beiden totalen 
Gleichungen 

d®M d’s 

(Ga) tM und (7) = kes 
zurückgeführt, die sich nur durch den konstanten Faktor ce unter- 
scheiden; nach ihrer Integration ist nur noch z so zu bestimmen, daß 


ai eMdx=s. 


Lagrange führt nun zunächst die Gleichung 


s=ScostY— ck— nn sintV— ck 


: r /ds\ 
ein, wo 8 und R die Anfangswerte von s und (7) 


bzw. N (E) Mdx bedeuten, und kommt dann mit Hilfe verschiedener 


geschickter, allerdings nicht ganz korrekter und ausreichender Schlüsse 
zu dem Integral 


2(@+1yo)+2(@—ıyo) , JVae—fVde, 
2 er7; z ) 


worin Z und P willkürliche Funktionen sind, die den Anfangs- 
bedingungen entsprechend gewählt werden müssen; das erste Integral 


f Ydx hat dabei die obere Grenze x©+tVe, das zweite c—tYe. Nach 
derselben Methode behandelt Lagrange?) die Gleichung 


(a) = (ie) + % 


wo y eine beliebige Funktion von x und # ist; die Gleichung 


a) a: (135) 10 (zz =) + 9°) 


ersetzt er durch die beiden Gleichungen 


d.ı. von j?Mdz 


As= 





dz du „au d’z 
RE Te Pr re 


') Miscellanea Taurinensia, t. II®, 1760/61, p. 27. ?) Ebenda, p. 104. 
°») Ebenda, p. 110. 


988 Abschnitt XXVI. 


Er multipliziert die erste mit N, die zweite mit M, integriert partiell 
nach & und addiert; so ergibt sich durch Nullsetzen aller Glieder, 
die nicht unter dem Integralzeichen stehen, die Gleichung 


Sin + 2%) ar= f(e I2 + [N 25 ]e) dx + | Myar. 


Diese Gleichung werde erfüllt durch das Simultansystem 


kN—cl% und EM-N-—-bI; 
‚x dx 


aus diesen beiden Gleichungen folgt dann durch Elimination von N 
eine totale Gleichung für M, nämlich 


PM +bRIO 0-0, 
so daß also 


M = Act 1 Berk 
ist, wo m und »n die Wurzeln der Gleichung 
1+by- ey?’ =0 


sind. Lagrange verlangt nun, daß M für «=0 und z=a ver- 
schwindet, was B=— A, sowie e"*« — e"*®=(), d. i. eine Bestim- 
mungsgleichung für %k, ergibt; endlich wird 


VER 2 zmkx 2 ,nkz 
N = ck (m? et: — n?e"*?), 


wobei A stillschweigend gleich 1 gesetzt ist. Sind solehermaßen die 
Funktionen M und N bestimmt, so ist 2 aus der zwischen den 
Grenzen O0 und « genommenen Gleichung 


ke + Mu)da = s 


zu bestimmen, wobei s selbst der Gleichung 


dz du ds 
In + MT)da= 7, —ks + [Myar 


genügen muß. Die weitere Behandlung des Problems bringt keinen 
neuen Gedanken herein. Lagrange vergleicht schließlich noch seine 
Resultate mit denen von d’Alembert. 

Das Problem einer schwingenden Saite von ungleichmäßiger 
Dicke führt auf eine Gleichung, die sich von derjenigen der Saiten- 
schwingungen dadurch unterscheidet, daß die Konstante e durch eine 
Funktion von x ersetzt ist; Lagrange führt diese Gleichung 


ex 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 989 


auf die Integration von 
d?M 


zurück!) und zeigt den Zusammenhang mit der Riceatischen Glei- 
chung für spezielle Fälle. Dieselbe Reduktion führt kurz darauf?) 
Euler aus und verwandelt seine totale Gleichung durch die Sub- 
stitution 


p=e Sedz 
in eine solche 1. Ordnung. Er setzt auch versuchsweise 
y=v®dlu), 


wo u eine Funktion von & und £, v eine solche von « allein ist, und 
findet, daß v eine lineare Funktion von z, 
"da 
Oi a Een 
X=-(Ü-.v und u + [7% 
ist.) In einer anderen Abhandlung aus derselben Zeit‘) nimmt 
Euler eine bestimmte Form des Integrals an, sucht aus ihr r als 
Funktion von & so zu bestimmen, daß die Gleichung 


„„iday\ __ (day 
4 (2) - (Gr ) 


erfüllt wird, und erhält so verschiedene integrable Differentialglei- 
chungen dieser Form. So führt ihn die Annahme 


y=P.T(/ude+1t), 


wo P und % Funktionen von & sein sollen, durch Einsetzen in die 
Differentialgleichung auf simultane totale Differentialgleichungen für 
P, u und r; es ergibt sich 

1] 8 an 

r (ee +P? 


Im folgenden geht Euler zu Integralen der Form 


P=ax+ß; u= 


y- PT(/ udz + ı) + or (Sudz + ı) +.» 


über, wo P, Q,..., u bestimmte Funktionen von x, I’ eine willkür- 
liche Funktion und I”,.... ihre Ableitungen bedeuten; er behandelt 
der Reihe nach Fälle, in denen das Integral 1, 2 und mehr Glieder 





‘) Miscellanea Taurinensia, t. II®, 1760/61, p. 98. ?) Novi Commentarii 
Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764), p. 292. ® Burkhardt, a.a.O,, 
Heft 2, S. 349, 355. *) Miscellanea Taurinensia, t. III®, 1762/65 (1766), p. 27 


bis 59. 


990 Abschnitt XXVI. 


besitzt und erhält so Gleichungen, die in endlicher Form integrabel 
sind; zu der Heranziehung der Derivierten der willkürlichen Funktion 
mag wohl der Umstand mitgewirkt haben, daß Euler bereits früher 
(vgl. unten S. 990) eine Gleichung integriert hatte, in deren Integral 
die Differentialquotienten der willkürlichen Funktion auftreten. End- 
lich ist noch d’Alembert zu erwähnen, der die Gleichung 

d’y  yd’y 

de Age 
durch eine Summe von Gliedern 


Ant 


g. C08 


zu integrieren sucht, wo & eine Funktion von = allein ist!); er erhält 


Ze —2m0Xt, 
eine Gleichung, über deren Weiterbehandlung bereits berichtet wurde 
(vgl. S. 883). 
Das Problem der von einem Störungszentrum ausgehenden Wellen 
führt Euler schon 1759 auf die partielle Gleichung mit veränder- 
lichen Koeffizienten 


ii dds u, m) B (Fr) 
2gh ( 18) ER (a Pr av? 


zurück, die er auf eine Riccatische reduziert; er findet daraus, daß 
sich für das räumliche Problem, d.i. für n=4, die Aufgabe ele- 
mentar lösen läßt und errät schließlich aus einigen partıkulären 
Integralen die unten angegebene allgemeine Form des Integrals. 
Kurz darauf behandelt er das Problem wieder in einem Brief an 
Lagrange?) ohne neues zu bringen. Er verlangt, daß die Ge- 
schwindigkeit in allen Punkten gleichen Abstandes von dem Zentrum 
dieselbe ist, und erhält die Gleichung 


1 /ddu — 2u 2 /du ddw 
on (ae) vet rlan) + (are) 


die aus der vorigen im Falle n=4 durch s= . entsteht. Apres 


plusieurs recherches, sagt er, j’ai enfin trouve 





!) Histoire de l’Academie de Berlin, t. XIX, 1763 (1770), p. 242. D’Alem- 
bert verweist bezüglich der Methode auf seine Opuscules math&matiques. 
?) Ebenda (Hist. Berlin), t. XV, 1759 (1766), p. 243. °) Miscellanea Taurinensia, 
t. II, 1760/61, p. 1—10. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 991 
A x Mn 79 „UN 
u= pP +tY@am)—- ylV +tV@an)] 


u Fulv —tY@gh)) - Zw [r -tV@gn], 


wo @ und % willkürliche Funktionen, ’, d’ ihre Ableitungen be- 
deuten. Lagrange behandelt die von Euler aufgestellte Gleichung 
mittels seiner oben geschilderten Methode der Reduktion auf totale 
Gleichungen, nachdem er sie auf die Form 


(& 

d’z d’z 7 

(a er) 

gebracht hat, und erhält so für den Multiplikator M die Hilfsgleichung 


dM 2dM 
da? zd«ı 


=kM. 
Diese Gleichung besitzt das für x = 0 verschwindende Integral 
M= AlsineY—-k— xy-—- keosazY-— k). 1) 


Nach den physikalischen Bedingungen des Problems soll M auch für 
2 = a zu Null werden; das führt auf 


aY—k=tgaY—k 


als Bestimmungsgleichung für k. Lagrange bemerkt?) auch, daß 
die gegebene Gleichung durch die Substitutionen 
r dzx? 


PL ERROEN = % a 


dx 
oder auch durch 
dy 


ER da 


auf das Problem der Saitenschwingungen zurückgeführt wird, und 
geht sodann zu der etwas allgemeineren Gleichung 


‘) 
d’z d?’z x 
(ae) clan) + me (“: 
über®); seine Methode führt hier zu der Gleichung 


d?M m dM 
Tan «M 


deren Integration wir bereits besprochen haben (vgl. S. 912); der 





') Miscellanea Taurinensia, t. II®, 1760/61, p. 58. ”) Ebenda, p. 74. 
°) Ebenda, p. 81. 


992 Abschnitt XX VII. 


Übergang zum allgemeinen Integral der gegebenen partiellen Glei- 
chung geschieht durch ähnliche Schlüsse wie beim Problem der 
Saitenschwingungen und ergibt 


_ „T@+ttVo) . Al@—tye) INRRS (+ Ve) Ve) 








£ 





ers 


wo I' und 47 willkürliche Funktionen, I", I”,..., I, 4”,... ihre 
Abgeleiteten und A, B, C,... die Entwicklungskoeffizienten der La- 
grangeschen Form des Integrals der Riccatischen Gleichung sind 
(vgl. S. 912), wenn man in diesen —m durch m + 2 ersetzt. La- 
grange knüpft daran auch die Bemerkung, daß die spezielle an- 
gewandte Methode stetige Änderung von z zugleich mit x voraus- 
setze, weshalb I’ und 4 nicht völlig beliebig seien.) Endlich be- 
schäftigt sich Euler?) mit der Integration?) von 


ddz\ _ ddz b Ei A 
rt 


diese Gleichung wird durch die Substitution 2 = 2*u in eine Gleichung 
derselben Form übergeführt, was die Wegschaffung des Gliedes mit 


’ 


T"(z ec) +2’ (a —tYVe 
ee BASE 4 u 


. durch passende Wahl von A ermöglicht. Euler setzt ein In- 


tegral in folgender Form an: 
2= Ax"T (2 +at) + Bet! (atat)+-- -*) 


und findet als Bedingung für das Bestehen dieser Gleichung die 


Relation 
e=—n(n—]). 


Ist n eine negative ganze Zahl, so bricht die Reihe von selbst ab, 
und man gewinnt auf diese Weise wieder integrable Fälle. Euler 
integriert die Gleichung auch in der Form, daß die willkürliche 
Funktion statt differentiiert wiederholt integriert auftritt; interessanter 
scheinen verschiedene Bemerkungen, welche zeigen, daß sich Euler 
schon damals mit der Umformung partieller Gleichungen 2. Ordnung 
durch Transformation, wenigstens in speziellen Fällen, beschäftigt hat. 
So ist darauf hingewiesen, daß die Gleichung 





!) Miscellanea Taurinensia, t. II?, 1760/61, p. 92. ?) Ebenda, t. III?, 
1762/65 (1766), p. 60—91. °) Erwähnt sei folgende Ausdrucksweise: la solution 
complete qui nous decouvre & la fois toutes les fonetions possibles (sc. welche 
die Differentialgleichung erfüllen). Ebenda, p. 60. *) Das ist dieselbe Form, 
die wir eben bei Lagrange getroffen haben; die beiden Resultate lassen sich 
leicht ineinander überführen. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 993 


Bus Hs 
aadt? da xx’ 


ın der also das Glied mit 5 ;. fehlt, durch die Substitutionen 


-.-1+yit&h; K=k+1+YV1+4k; TR 
m 
1 ddu ddu Ku 
aadi? da xx 
übergeführt wird. Setzt man k=0, so ergibt sich # —= 2, daraus 
k"=6 usw. Fermer ist die Gleichung der Saitenschwingungen 


(ar) = au (0) 
vermöge der Substitution 


(2) Hal) 


- 
Bu re} 
das ganze Problem also auf die Integration zweier linearer partieller 


Differentialgleichungen 1. Ordnung zurückgeführt, die durch Benutzung 
der Gleichung 





auf 


du = dt(“ = + dx 2) 
zunächst auf 
u=I"’(z + at) 


und damit zum allgemeinen Integral führen. 

Gegenüber diesen Untersuchungen, die alle den Charakter des 
Willkürlichen, Zufälligen an sich tragen, bedeutet die Behandlung 
der partiellen Gleichung 2. Ordnung ‚in Eulers Integralrechnung 
einen ganz wesentlichen Fortschritt. Euler schiebt nämlich nach 
den Gleichungen 1. Ordnung, bevor er zu höheren Gleichungen über- 
geht, ein eigenes Kapitel eis das nur von der Umformung der par- 
tiellen Differentialgleichungen durch Einführung neuer Variablen 
handelt, und zeigt so schon durch die ausgezeichnete Stellung, die er 
diesen Untersuchungen einräumt, sowie durch die eingehende Behand- 
lung der ganzen Frage, daß er die Integration der höheren partiellen 
Gleichungen prinzipiell auf ihre Transformation in eine geeignete 
kanonische Form gegründet wissen will. Die von Euler behandelten 
Transformationen zerfallen in zwei Arten; die erste ersetzt nur die 
abhängige Variable z durch eine neue v, während die unabhängigen 
Veränderlichen & und y in der Gleichung belassen werden; hierher 


994 Abschnitt XXVII. 


gehören die Substitutionen z= Pv') und z=P-+v, wo unter P 
und v Funktionen von x und y zu verstehen sind. Wichtiger ist die 
Einführung neuer unabhängiger Variablen # und u an Stelle von x 
und y; die Formeln, welche die Differentialquotienten nach x und 
y in den neuen Veränderlichen ausdrücken, stellt Euler für den 
späteren Gebrauch in übersichtlicher Weise zusammen. Der Behaup- 
tung, Euler behandle die Gleichung 2. Ordnung methodisch, plan- 
mäßig mittels Transformationen, scheint nun zu widersprechen, daß 
er in den zunächst folgenden Beispielen die Methode der Reduktion 
auf eine Normalform durch Einführung neuer Variablen nicht an- 
wendet. Indessen handelt es sich hierbei um Beispiele, die sich eben 
auf anderem Wege einfacher oder rascher erledigen lassen als durch 
jene immerhin einen ziemlichen Formelapparat erfordernde Reduktion. 
So behandelt Euler zuerst ausschließlich Gleichungen, welche nur 
einen einzigen von den Differentialquotienten 2. Ordnung enthalten. 


Ä ; dd 
Die Gleichung in 


tegriert E uler, indem er y als konstant ansieht und nachträglich 
diese Beschränkung fallen läßt; er erhält schließlich 


2 — [dx | Pdx + zf(y) + Fly). 


(a) 2) +0 


dx 


— P, wo P eine Funktion von z, y und 2 ist, in- 


Die Gleichung 


läßt sich mittels der Substitution 


dz 
(22) 
behandeln, wenn P und © die Variable 2 nicht enthalten. In 


letzterem Fall hat man sich y als konstant zu denken und die totale 


Gleichung 
ddz = Pdxdz + Qdx? 


mit dem Parameter y zu integrieren; das allgemeine Integral („integrale 
completum“) ergibt sich, wenn man die beiden Integrationskonstanten 
durch Funktionen von y ersetzt.) In der Gleichung 


ddz ) Bee 
ur; a) 
setzt Euler 
s = e_%% Y, 
t) Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 194. ?) Ebenda, p. 209. 


Man beachte, daß ein derartiges Ersetzen von Konstanten durch variable Größen 
der Entstehung einer besonderen „Methode“ der Variation der Konstanten nur 
günstig sein konnte. ®, Ebenda, p. 221. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 995 


wo Y eine Funktion von y allein sein soll, und erhält so die totale 


Gleichung 


adY 
y = ady 
mit dem Integral ! 
ay 
| Yes. 


Daraus schließt Euler auf das Integral der ursprünglichen Gleichung 
in der Form 


a a 
ax + — Pz+ „y 
l 


I  e :,, +..-, 


-bemerkt aber ganz im Einklang mit seinen früheren Ansichten über 
die Entwickelbarkeit einer willkürlichen Funktion, daß diese Dar- 
stellung mit unendlich vielen Integrationskonstanten dem Integral mit 
zwei willkürlichen Funktionen deshalb nicht gleichwertig zu erachten 
sei, weil man sie nicht beliebigen Anfangsbedingungen anpassen 
könne.!) Euler sucht sodann das Anwendungsgebiet der eben be- 
nutzten Substitution z= e**Y bzw. 2=e“Y!X, wo X eine ‚Funktion 
von x allein ist, zu erweitern; insbesondere?) verwertet er sie für 


die Gleichung 
( ddz 


dz dz‘ 

re) +0, 

‚wo die Koeffizienten Funktionen von & allein sind. Den allgemeinen 
Fall?), daß P,@, R,S Funktionen von x und y sind, unterwirft er 
der Transformation z = e’v, wo V eine Funktion von x und y, v eine 
noch zu bestimmende Größe ist; dieser Gleichungstypus ist von großer 
Wichtigkeit. Gleichungen, die mehr als einen Differentialquotienten 
2. Ordnung enthalten, behandelt Euler nur durch Transformation. 
In die Gleichung der Saitenschwingungen 
ddz‘ ddz 
(ei) = u 


setzt er*) 
t=ex+ßy wund u=yr+by 


und erhält so die neue Gleichung 


(BB — auaa) (“r) + 2(B8 — ayaa)(,) + (88 — yyaa) (44) =, 


wobei jetzt z als Funktion von ? und « aufzufassen ist. Die Annahme 


e=1 y=1l, ß=-a, =—4a 
liefert 


ı) Vgl. 8. 915. *, Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 224. 
®») Ebenda, p. 234. *) Ebenda, p. 225. 
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 64 


996 Abschnitt XXVIL 
t=2+ay u=2-—-ay und (u) =(). 
Daraus folgt dann unmittelbar 
:=f()+Flu)=-fl@+ay)+F(x — ay). 


Nach einer kurzen Schilderung von d’Alemberts Methode!) bemerkt 
Euler, daß man auch versuchsweise 


(a 
setzen kann; dann wird 
(ar) = # (ana) = Ra) 


Ein Vergleich mit der ursprünglichen Gleichung liefert 
kera 





und somit die zwei Gleichungen 1. Ordnung 
dz dz 
Fern, 
Die Schwingungsgleichung der Saite von veränderlicher Dicke 
ddz ddz 
F „) mz (2=) 


4m 





führt Euler für 


auf die Riceatische Gleichung 


—4Am 


dp + ppdaz = aa" -!dz 


zurück?), die für positive oder negative ganzzahlige m mittels der Sub- 
stitutionen 
z=e’'v und v= er 

integrabel ist, fügt aber hinzu: es ist fast nicht zu glauben, daß beide 
(nämlich die partielle und die totale) Differentialgleichungen nicht in den- 
selben Fällen integrabel sein können. Wie er behauptet, ist für m = oo 
die Riceatische Differentialgleichung leicht zu integrieren, während 
die entsprechende partielle Gleichung 


(ar) = Az (a2) 


") Vgl. diese Vorl., III?, S. 901. ?) Institutiones caleuli integralis, 
vol. UI, p. 286. 


. Totale und partielle Differentialgleichungen. 997 


seiner Methode sich nicht fügt. Für diese Gleichung setzt er ein 
Integral in der Form | 


z= re" Yv(A+ elle + By) 


an; u und — lassen sich hierbei durch A ausdrücken. Die Gleichung 


ß 
ddz 


ddz dz 

(a) + + Br 

hatte Euler von einem hydrodynamischen Problem ausgehend schon 
früher in einem speziellen Fall behandelt; jetzt verlangt er nur, daß 
P, @, R Funktionen von x allein sind. Diese verallgemeinerte Glei- 
chung soll nun mittels der Substitution 





d 
= n(7.) u Nv, 
wo M und N Funktionen von x allein sind, wieder in die nämliche 


Form 
ddv ddv dv 
le) + el) + Ho 
übergeführt werden‘), wo auch M, N, F, G@, H Funktionen von x 
allein sind. Durch geschickte Kombination erhält Euler drei Bestim- 
mungsgleichungen für P, @, R, wenn F, G, H gegeben sind, nämlich 
daF 2FadM 
Be er er 
und 


22.2 @GdM dß FddäM 2Fds 2FadM? sdäfF dFamM, 
Pag‘ Bag 


Mäxz ' dz Mdx Ar MMdx? dx Mdx? 








hierbei bestimmt sich das Verhältnis s= = aus der Gleichung 


C=H—Gs—- FöE + Fss, 


worin © eine willkürliche Konstante bedeutet. Ist also die transfor- 
mierte partielle Gleichung mit der abhängigen Veränderlichen v in- 
tegrabel, so ist es auch die Gleichung in z vermöge der Beziehung 


z= a(s + (2). 


Durch Spezialisierung der Funktionen F, G, H erhält Euler endlich 
verschiedene integrable Gleichungen. Die partielle Gleichung 


= + alter, 


') Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 292. 





64* 


dueaıe 


998 Abschnitt XXVI. 


wo U und T Funktionen von x allein bedeuten, behandelt Euler 
auch an anderer Stelle‘) in einer Abhandlung über die Luftbewegung 
in Tuben nach seiner früheren Methode wel. S. 989), indem er nach 
Integralen der Form 


v=Lf(S+ed +Mf(S+et)+--- 
sucht. 

Es wurde behauptet, daß Euler in der Integralrechnung bei 
Gleichungen 2. Ordnung hauptsächlich durch Transformation, sei es 
der unabhängigen oder der abhängigen?) Variabeln — oft allerdings 
nur mittels mühsamer, weitschweifiger Rechnungen — zum Ziel kommt; 
er selbst sagt”), seine Methode bestehe darin, die gegebene Gleichung 
dureh Einführung neuer Variabeln auf die Form zu bringen 


ddz dz 
(aan) + Pla) + la) + Rr+ 8-0. 
Diese Gleichung fällt aber unter die Kategorie derjenigen Gleichungen, 
welche nur einen einzigen Differentialquotienten 2. Ordnung enthalten, 
und ist mit diesen Gleichungen ausführlich behandelt worden. Es 
ist sehr wesentlich, daß Euler das Methodische dieser Reduktion 
betont; allerdings ist der Raum, den er diesem Gedanken gönnt, ge- 
ing im Vergleich zu dem Platz, der anderen Anwendungen der Ein- 
führung neuer Variabeln, wie der Reduktion auf die Ausgangsform 
oder der Aufsuchung integrabler Fälle eingeräumt ist. 
Condorcet nimmt als Integral der linearen Gleichung 2. und 
3. Ordnung die Gleichung z = Ae”*+”Yy an und sucht von einer Reihe 
mit unendlich vielen derartigen Gliedern auf die Darstellung mit will- 
kürlichen Funktionen überzugehen.t) Die Gleichungen mit nichtkon- 
stanten Koeffizienten sucht er mittels Reihen zu lösen.?) 
D’Alembert behandelt®) neben anderen Gleichungen 2. Ordnung 


den Fall 


car ddq , bddq 


&q ng + de? Zar 0, 


wo & und & Funktionen von x, b eine Konstante bedeuten, und ver- 
sucht ein ı Integral der Form 


" Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 355. 
”) Von letzterer Art sei noch die Substitution 


(a) Helen) 


wo r und s Funktionen von x allein sind, erwähnt, von der Euler Institutiones 
caleuli integralis, vol. III, p. 323 Gebrauch macht. ») Ebenda, p. 261. 


k = 


Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 23 bzw, 30. _ 


°) Ebenda, p. 37. 6) Opuscules mathematiques. t. IV (1768), p. 243. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 999 


X du , X’ddu 
ee 7°,” °F 





wo X, X, X”.,. passend zu bestimmende Funktionen von x sind. 

Laplace hat die Eulersche Idee der Zurückführung der par- 
tiellen Gleichung 2. Ordnung auf die eben angegebene kanonische 
Form wieder aufgegriffen; er fragt daran anknüpfend nach Bedingungen, 
unter welchen diese in endlicher Form integrabel ist. Für das Ent- 
stehen seiner Abhandlung sind Eulers Vorarbeiten in verschiedener 
Weise bedeutungsvoll geworden: die Transformation (transformation) 
selbst, die Ausnahmen, die sie erleiden kann, das Auftreten der Diffe- 
rentialquotienten oder Integrale der willkürlichen Funktion in der 
Integralgleichung, dies alles hat, wie Laplace selbst zugesteht!), 
schon Euler. Laplaces Verdienst ist, daß er die mögliche Form 
des Integrals genauer festlegt, daß er nicht wie Euler nur Differen- 
tialgleichungen sucht, die in geschlossener Form integrierbar sind, 
sondern die Bedingungen hierfür in Form von Gleichungen angibt, 
daß er endlich — und darauf legt er selbst großen -Wert — alles 
analytisch, in bequemen Formeln darstellt. Laplace reduziert wie 
Euler die Gleichung 


002 002 a. [002 02 ‚ (02 " 
te tert 
in welcher alle Koeffizienten Funktionen von x und y, aber nicht 


von 2 sind, durch Einführung neuer Veränderlicher © und ® auf die 
Normalform 


wo jetzt m, » und Z Funktionen von ® und 6 sind. Hierbei sind 
die alten und die neuen Variabeln durch die Gleichungen verknüpft: 


Ge) - @).[- «+ Vi @-9)]| 
9-6) |-3°-VGe-9)| 


Diese Gleichungen reduzieren sich, wenn gleichzeitig «= 0 und 
B=0, auf (2) —=(0) und (2) —(, d.h. © und 9 sind Funktionen 


von y allein; in diesem Fall, den auch Euler schon eingehend be- 
handelt hat, ist, wie Laplace im folgenden findet?), ein „vollstän- 


un 


15 


') Vgl. hierzu Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1773 (1777), Histoire 
p. 45 ff. ”) Ebenda, p. 360. Vgl. auch M&moires presentes par divers Savans, 
t. VI (1774), p. 656. 


1000 Abschnitt XXVI. 


diges“ Integral in endlicher Form nur dann möglich, wenn d — 0 ist; 
das schließt natürlich nicht aus, daß oft partikuläre Integrale in ge- 
schlossener Form angegeben werden können. Als zweiten Ausnahme- 
fall nennt Laplace das Bestehen der Gleichung 


1 
ß en 4 a, 


heutzutage als parabolischer Fall bezeichnet; hier sind die Gleichungen 
für & und # nicht mehr unterschieden, man erhält nämlich 


7) 


Man kann aber, wie Laplace zeigt, diesen Fall auf den Typus « = 0, 
ß = 0 reduzieren, wenn man aus 


(0) 1 10) 

=. 
die Variable x als Funktion von & und y berechnet und den betr. 
Ausdruck in die gegebene Differentialgleichung einführt, so daß also 
eine Gleichung in z, ®, y entsteht.) Für die folgende Untersuchung 
wird von Wichtigkeit, was Laplace über die Form der Integrale der 
linearen Gleiehungen 2. Ordnung behauptet. Nach eigener Aussage 
hatte Laplace beobachtet, daß die willkürlichen Funktionen im 
Integral einer linearen Gleichung immer selber linear vorkommen. 
Differentialquotienten und Integrale der willkürlichen Funktionen 
zieht schon Euler zur Bildung des allgemeinen Integrals heran; 
berücksichtigt man endlich noch die Arbeiten Condorcets auf 
diesem (Gebiet, so ist damit aufgezählt, was Laplace über den 
Gegenstand bekannt war. Auf die Methode, wie er sodann die Form 
des Integrals von vornherein zu ermitteln sucht, kann, wenngleich 
auf die mühsame Untersuehung eminenter Scharfsinn verwendet ist, 
hier nicht eingegangen werden, da ihre Darstellung zu viel Platz be- 
anspruchen würde, und der Wert der betr. funktionentheoretischen 
Schlüsse wenigstens ohne Modifikationen und Ergänzungen verhältnis- 
mäßig gering ist. Laplace kommt durch Überlegungen, die er für 
die Gleichung 1. Ordnung ausführlich angibt, zunächst zu dem Re- 
sultat, daß das Integral die willkürlichen Funktionen p und Y, wie 
bereits beobachtet, linear und wiederholt differentiiert oder integriert 


‘) Auf diesen Fall, der sich immer auf die Gleichung der Wärmeleitung 
2 
m 7 reduzieren läßt, ist Laplace später wieder zurückgekommen: Journal 


de l’Ecole polytechnique, cah. 15, 1809, p. 235. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1001 


enthält; des weiteren findet er, daß die Argumente von p und % 
Funktionen von den Variabeln »® bzw. 6 allein sein müssen, ein Um- 
stand, der eine ganz bedeutende Vereinfachung des Integrals zur Folge 


hat, da sich Ausdrücke wie f: Eö0y(o) auf einfachere Formen, also 


hier p(o®)- fi E96, reduzieren lassen. 

Nach diesen Voruntersuchungen wendet sich Laplace der eigent- 
lichen Aufgabe zu; er verlangt, daß die willkürliche Funktion nicht 
unter dem Integralzeichen auftreten soll, setzt 7=0 und überdies 
zur Vereinfachung auch v® = 0. Die einfachste Form, die das Integral 
dann haben kann, ıst 


z=A:gp(o). 
Laplace substituiert diesen Ausdruck in die kanonische Differential- 
gleichung und setzt — die Berechtigung hierzu ist leicht einzusehen 


— den Koeffizienten von p(®) sowie den der Abgeleiteten p/(o) 
gleich Null. Es ergibt sich so 


0- Get ma ui 0- (tm hen rt 


Aus dieser Gleichung lassen sich aber mit Hilfe der ersten und der 
daraus durch partielle Differentiation nach  hervorgehenden Gleichung 
die Differentialquotienten von A eliminieren; man erhält nach Divi- 
sion mit A die Bedingung 
om 
0-1- (ir) —nm, 
von deren Bestehen die Existenzmöglichkeit eines Integrals der Form 
2— Ay(o) 


abhängt. Diesen Weg schlägt indes Laplace nicht ein, sondern sagt, 
daß die Differentialgleichung 


0 (Bu) tm) 4n + 
mittels der Substitution 
ID — (*2) + mz 
in 
0= (5) +n:D)+2- L = (=) = mn | 
übergeht; unter der Annahme 
2— 4. Y(o) 


reduziert sich dann die Gleichung 


1002 Abschnitt XXVI. 


0% 


N (# ) + mz2 


auf 


AO, 


was die erwähnte Relation zwischen m, » und / liefert. Ist diese 
Relation nicht erfüllt, so versucht Laplace die nächst einfache An- 
nahme 


= 4:9(o) + A’. pl); 


es ergeben sich dann drei Gleichungen für A, nämlich 


0- (95) + mA; 
0 - (2) +m- E )+n- ke rar 5) +mAr; 
0- (25,) + m) +n- e a) tl 


Wie schon erwähnt, verwandelt die Substitution 


BUT = (25) + ma 


die ursprüngliche Gleichung in 


1 (Oz! 
0 lt 


i 
wo zur Abkürzung 
| u=1— en — mn 
do 


gesetzt ist. Aus diesen Gleichungen erhält man nun durch geschickte 
Kombination bei Benutzung der weiteren Substitutionen 


Az ou 
„0 m!; ee ee u 


die Differentialgleichung 


0 = ke + mm. ( +n = n) + Mg m, 


die genau die Form der ursprünglichen Gleichung hat. Mit Berück- 
sichtigung der Annahme 


2 = Ay(o) + A’yı(lo) 


geht aber die Gleichung 
ID — (22) + mz 





in 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1003 


0 [E9) + mA]oo) + [&E) + mA]oıte 


über, die sich wegen der für A geltenden Relationen auf 


en - (4) + mAi]orlo 


reduziert. Das heißt nichts anderes, als z) ist Integral einer kano- 
nischen Differentialgleichung 2. Ordnung und enthält nur eine will- 
kürliche Funktion p7,(®), aber keinen ihrer Differentialquotienten. 
Dieser Fall ist aber als der einfachste bereits untersucht und die 
Bedingungsgleichung für sein Bestehen aufgestellt; sie lautet 


(2 
= M — er \) — nm, 
0o 


Die kanonische Gleichung 2. Ordnung in z), m!, n, I! hat sich ganz 
unabhängig von |der speziellen Annahme über die Form des Inte- 
grals 2 ergeben; sie wird also auch Geltung haben, wenn 


2=4A:9(o) + A!- lo) + AY- po). 


Durch Substitution dieses Ausdrucks in die ursprüngliche Differential- 
gleichung (mit der abhängigen Veränderlichen z) ergeben sich aber 
Gleichungen für A, A’, AT, deren Berücksichtigung 


AN — dien )+ mAt|. yo) + IC =) +m An| - Pır(®) 


liefert. Und das heißt gar nichts anderes, als z7) enthält eine will- 
kürliche Funktion p,(®) und deren erste Derivierte Yp1(@©), weshalb 
auf die Differentialgleichung 2. Ordnung 27) die Überlegungen des 
eben untersuchten Falles angewendet werden können. 

So kann man weiter schließen. Die bei dieser Methode — Kas- 
kadenmethode hat man sie später genannt — auftretenden Größen un), 
m”, 19, z) mit dem Index r gehen aus den u, m, I, z mit dem 
nr r — 1 genau in derselben Weise hervor, wie die u/, m!, I, a’ 
aus u, m, |, z selbst. Der Wert von z”) läßt sich indessen leicht 
independent darstellen, da, wie Laplace zeigt, die Gleichung 


(r) 
0-(%, ) + nen) 


mit dem Integral 


') Diese Gleichung gilt natürlich nicht für einen beliebigen, sondern nur 
für denjenigen Index r, der das Abbrechen der Reihe für & bewirkt. 


1004 Abschnitt XXVIL 


besteht. Die Bedingung, daß z keinen höheren als den rt“ Differen- 
tialquotienten der willkürlichen Funktion p enthält, ist dann, wie 


sofort ersichtlich, 
01m _ 2) nme: 

ist sie für kein endliches r erfüllt, so ist die Gleichung — vorausgesetzt, daß 
die Laplaceschen Behauptungen über die notwendige Form des In- 
tegrals richtig sind — auch nicht in endlicher Form integrierbar, 
dieser Fall tritt z. B. im allgemeinen ein, wenn |,'m, n konstant sind). 
Ganz die gleiche Methode würde am Platze sein, wenn man von vorn- 
herein nicht %d, sondern g gleich Null gesetzt hätte; Laplace geht 
deshalb gar nicht auf diese Frage ein, sondern wendet sich zur Be- 
trachtung des Falles, daß 7 nicht identisch Null ist, welcher eine 
analoge Behandlung gestattet. 

Indem Laplace des weiteren die angegebene Bedingungsgleichung 
für Integration in geschlossener Form als Bestimmungsgleichung für r 
auffaßt, erhält er in endlicher Form integrable Fälle?) Auch ist noch 
gezeigt, daß der Ausdruck für z, sobald er eine nur endliche Anzahl 
von Integralzeichen enthält, immer auch durch willkürliche Funktionen 
und deren Differentialquotienten allein dargestellt werden kann, oder, 
wie Laplace sich ausdrückt, notwendig von Integralzeichen frei ist?); 
endlich ist noch auf die Integration unter gegebenen Anfangs- 
bedingungen eingegangen.) Daß mit der Integration einer einzigen 
der Differentialgleichungen 2. Ordnung, die sich der Reihe nach er- 
geben, die aller übrigen durch Quadraturen oder Differentiationen 
gefunden wird, erwähnt Laplace, offenbar weil selbstverständlich, 
nicht. 

Später®) kommt Laplace auf seine Ergebnisse zurück und stellt 
sie in folgender Form dar: Jede lineare partielle Differentialgleichung 
2. Ördnung, sagt er, kann in der Form dargestellt werden 


0 (er) rm ern) 
wo m, n und l gegebene Funktionen der Variabeln s und s’ sind. 
Versteht man unter g;(s) das Integral Jös -p(s), unter ,(s) das 
Integral e| sp ı(8) usf., desgleichen unter %;(s’) das Integral fs’ u(st), 


unter %,(s’) das Integral 2 es!wr(s!) usf., so ist 





ı Histoire de l’Academie des Sciences 1773 (1777), p. 369. 2) Ebenda, 
p- 380. 3) Ebenda, p. 382 ff., speziell p. 395. Auf die im Text angeführte 
Behauptung kommt Cousin ebenda 1784 (1787), p. 420 zurück und stellt einen 
entsprechenden Satz allgemein für Gleichungen »‘* Ordnung auf: ebenda, p. 429. 
#, Ebenda 1773 (1777), p. 396. °) Ebenda 1779 (1782), p. 268 ff. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1005 
u— Ag) +AD-) + AN: gl) + 
+ B. vl) + BO ya) + BO ul) +; 


p(s) und %(s’) sind hierbei zwei willkürliche Funktionen; für ihre 
Koeffizienten gelten folgende Gleichungen: 


0-()rma 
0- (7) + mAn+ DA; 








Wi Be + nB® ee DB; 
0- (7) +nB9 + DB®, 


Ergibt sich einer der Koeffizienten A® oder BW, wo u eine 
positive ganze Zahl ist, zu Null, so bricht die Reihe für u ab. Im 
folgenden gelangt Laplace zur Darstellung von u in Form von be- 
stimmten Integralen. Er bezeichnet nämlich die Summe 


PO) +Lples) + RP(2ES) + --- +1%°. p(s) 


mit 7 und entwickelt u nach Potenzen von £. Dann wird der 


Koeffizient von 2° gleich 


[P(0) + Plös) + p(205) ++ gp(s)] - ös 
gefunden; das ist aber nichts anderes als pı(s). Allgemein ist der 


Koeffizient von £°* in der Entwicklung von 7(1— t)-“ös“ nichts 
anderes als p,(s). Mit Hilfe dieser Beziehung läßt sich, wenn man 
für T seinen Wert in p(0), p(ös), ... einsetzt, p,„(s) linear durch 


') Wir haben uns hier der Übersichtlichkeit halber der modernen Bezeich- 
nungsweise bedient, die statt der vorgelegten Differentialgleichung in « sym- 
bolisch Du = 0 schreibt. 


1006 Abschnitt XXVII. 


die (0), p(ös),... und gewisse Koeffizienten ausdrücken, die be- 
stimmt werden sollen. Der Koeffizient von p(rös) in dem Ausdruck 
T1—trost ist P(l— Host; auf @,(s) trifft dabei nur der 


Koeffizient von t*. Drückt man also p,(8) in angedeuteter Weise 
dureh (0), p(ös),.... p(rös),... aus, so wird der Koeffizient von 


s 


y(rös) gleich dem Koeffizienten von t’* in der Entwicklung von 


(1 — t)-*os“, d.i. gleich dem von {» " in der Entwicklung von 
(1— t)-*os“ sein. Dieser ist aber gleich 
S Ss S 
Em A nl a endeten «> 
1 : & 4 


2 - etz 


läßt man r so ins Unendliche wachsen, daß dabei rös Bogen einen 





endlichen Wert z konvergiert, so geht er über in — os. Mit 
Hilfe dieser Darstellung läßt sich jetzt auch das Integral u statt 
durch 9, durch die g(0), p(ös), ... p(r&s), ... ausdrücken. Hier- 


bei Be der Koeffizient von 


p(rös) = p(2) 


gleich 


6 I au 9" )! U ORAATEN 


u=1 


DI) au = BET OR 


setzt. Hieraus schließt Laplace auf die Gleichung 
% 
vw Jere — 2)p(2) + [Belle — 2) (2), 
0 


wo die Funktion IT analog der Funktion I, aber mit Hilfe der B 
gebildet ist. Hierbei sind aber, wie aus den Gleichungen für die A 
und B hervorgeht, T(s— z) und II(s’— z) selbst partikuläre Inte- 
grale der gegebenen Differentialgleichung, von denen das erstere für 
s= 2 der Anfangsbedingung 


wenn man 


% 


ou 
os! 


das letztere für = 2 der Anfangsbedingung 


+mu=0, 


ou 
tr m—0) 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1007 


genügt. Durch dieses Ergebnis wird Laplace veranlaßt, den Aus- 
druck 


u — fpöz -p(2) + /plöz .ı(2), 


genommen von einem konstanten Wert von z bis z— s bzw. z= sl, 
zu untersuchen; er findet durch Differentiation, daß dieser Ausdruck 
der Differentialgleichung genügt, sobald p und p7 partikuläre Werte 
von u sind, die eine willkürliche Konstante z einschließen und für 
2—s bzw. s’ in Funktionen P und P! von der Art übergehen, daß 


0- (7) +mP und 0- (5) +mPr. 


Da der Ausdruck für u zwei willkürliche Funktionen p(2) und %(z) 
enthält, erklärt ihn Laplace für das allgemeine Integral. Endlich 
sind noch verschiedene andere Darstellungen des bestimmten Integrals 
angegeben; so erhält man vermöge der Substitutionen z — st bzw. 
2—= s!t die folgende zusammengezogene Form 


= Jör-isg- pl) + Sg Ylsh)), 


wo zwischen den Grenzen 0 und 1 integriert wird, und q und g? aus 
p und »7 hervorgehen. Besonders behandelt wird der Fall, daß !,m, n 


konstant sind; hier ist I(s—z) gleich dem Produkt aus e-ms’-ns 
und einer Funktion der einen Variabeln 


0 = 5] (s —# ); 
die der gewöhnlichen Differentialgleichung 
04 00 
9-A-mn) 44 (5) +0: (5) 
und den Anfangsbedingungen 
y-1l, (22) =+mn—| 


für d9=0 genügt; diese Funktion war übrigens schon Bernoulli 
und Euler begegnet. Für 


I—- mn = 0 


reduziert sich das Integral auf 


at TOR EROE 
Der schon in der ersten Abhandlung besprochene Fall 


') Größtenteils nach Burkhardt a.a. Ö., Heft 2, S. 398 ff. 


1008 Abschnitt XXVII. 


h 


f RER, DEHEIR Nas SERBR. 23, 
s+s!’ (s+ s!)?’ 


re 





n 


wo f, 9, h Konstante sind, wird nochmals vorgenommen; die bereits 
von Lagrange behandelte Gleichung 


DE En 


durch die Substitutionen 











stat=s und z—-at=s! 


auf eine Gleichung der eben erwähnten Art, nämlich 


reduziert. 


Später!) überträgt dann Legendre die Laplacesche Kaskaden- 
methode auf die lineare partielle Differentialgleichung 2. Ordnung in 
ihrer ursprünglichen Form, d.h. er zeigt, daß die Transformation auf 
die Euler-Laplacesche Normalform überflüssig ist. Legendre 
führt hierbei die Integrale der Gleichungen 


dy— pdz=0 und dy— Pdx=0 
ein, wo p und P die Wurzeln der Gleichung 


P—ap+b=0 
dd 


Pe 
bzw. a der ge- 


“2 ist gleich 1 


gesetzt — bedeuten; auf die Darstellung seiner Methode kann, da sie 
prinzipiell von der Laplaceschen nicht verschieden ist, hier ver- 
zichtet werden. 

Das Ziel der Laplaceschen Arbeit war die Aufsuchung eines 
Kriteriums für die Möglichkeit einer Integration in geschlossener 
Form; der hierbei eingeschlagene Weg führte nebenbei noch auf die 
Lösung der Gleichung 2. Ordnung durch bestimmte Integrale. Von 
anderen Gesichtspunkten gehen die Untersuchungen aus, denen wir 
uns jetzt zuwenden. Lagrange, der Schöpfer der Theorie der par- 
tiellen Gleichung 1. Ordnung, derselbe, der durch seine Arbeiten über 
Natur und Fortpflanzung des Schalls das Interesse an der Gleichung 
2. Ordnung so mächtig gefördert hat, ist später nur mehr gelegentlich 


sind, und a und b die Koeffizienten von ae 
? dxzdy 





gebenen Differentialgleichung — der Koeffizient von 





‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1787 (1789), p. 319. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. *-..47009 


auf diese zurückgekommen; erwähnt sei von ihm die Behauptung‘), 
daß man bei Kenntnis zweier verschiedenen vollständigen ersten Inte- 
grale allgemein das vollständige endliche Integral finden könne, indem 


22 sodann 92 aus jenen eliminiere und die durch par- 
dx’ dy 


tielle Integration nach x bzw. y gebildeten Integralgleichungen mit- 
einander vergleiche. 

Weiterhin ist Monge zu nennen, der abweichend von Laplace 
unter einer linearen Gleichung 2. Ordnung jede Gleichung 


Ar+Bs+(0t+D=0 


man zuerst 


versteht, wo r, s, £ ın üblicher Weise die partiellen Ableitungen 
2. Ordnung bedeuten und A, B, C, D beliebige Funktionen von z, %, 
z, p und q sind, der also nur verlangt, daß r, s und £ linear auf- 
treten”) Das Verfahren ist genau dasselbe wie sonst: Reduktion auf 
totale Gleichungen. Die Relationen 


dp=rde+sdy und dg=sdr + tdy, 


„die nichts Neues sagen“, gestatten zwei von den drei Größen r, s, t 
zu eliminieren, und man erhält: 


Bapdy + Cdgdy — Capdx + Day?= — r| Ady? — Bdxdy + Uda?) 
Adpdy + Cdgdz + Daxdy = s[Ady? — Bdxdy + Cda? 
Adpdx > Adqdy+ Badgdz + Dax’= — t! Ady? — Baxdy + Cda?). 


Damit diese Gleichungen nicht r, s, f in z, y, z, p, q bestimmen 
können, muß gleichzeitig 


Ady?’ — Bdxdy + Oda? = 0 

Adpdy+ Cdgdx + Daxdy= 0 

Bapdy + C(dgqdy — dpdz) + Day? = 0 

A(dpdx — dgqdy) + Bagdx + Dax?=0. 
Von diesen vier Gleichungen sind zwei die Folge der beiden 
übrigen; sie erfahren, wie Monge in seiner Application zeigt, mit 
Hilfe der Charakteristikentheorie eine einfache geometrische Deutung. 


Dieselbe Deutung des Wortes simultan, die schon früher den Zu- 
sammenhang zwischen totalen und partiellen Gleichungen vermitteln 


') Oeuvres de Lagrange, t.IV, p. 95. Der Aufsatz stammt aus dem 
Jahre 1774. ”) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 126 ff. 
Vgl. auch Me&moires de l’Academie de Turin 1784/85 (1786), p. 31 ff.; ferner 
Histoire de l’Acadömie des Sciences 1783 (1786), p. 720, woselbst die speziellere 
Gleichung Lr + Ms + Nt=0 auf totale Gleichungen reduziert, auch die Glei- 
chung der Minimalflächen behandelt wird. 


1010 Abschnitt XXVL. 


mußte, führt auch jetzt zu dem Schluß, daß V= gp(U) ein erstes Inte- 
oral (integrale premiere) der vorgelegten Gleichung ist, wenn V=a 
und U=b die vollständigen Integrale zweier von den angegebenen 
vier totalen Gleichungen oder zweier gleichwertigen sind. Sind zwei 
derartige Gleichungen zwar integrabel, läßt sich aber keine von ihnen 
auf den ersten Grad reduzieren, so ist besondere Vorsicht nötig, in 
welcher Weise die betr. Integrale zu kombinieren sind, da nicht alle 
Kombinationen brauchbare Resultate geben; Monge gibt diesbezüg- 
liche Vorschriften.) Von Beispielen ist die Gleichung mit konstanten 
Koeffizienten behandelt, außerdem die Differentialgleichung der Minı- 
malflächen, letztere in wenig brauchbarer Form und fehlerhaft. Monge 
schreibt diese Gleichung Borda zu, wohl weil dieser eine kurze Ab- 
handlung über diesen Gegenstand gebracht hatte?); Borda selbst ver- 
weist dort auf einen noch zu besprechenden Aufsatz in den Miscellanea 
Taurinensia, in dem Lagrange seine Variationsrechnung bekannt 
macht. Legendre zeigt?) von der Mongeschen Integration, dab die 
darin auftretenden Integralzeichen sich über mehrere Variable er- 
strecken, ohne daß die Integrabilitätsbedingungen erfüllt sind, und 
findet die richtige Lösung durch einfache Änderung der Ver 
als Beispiele bringt er den Rotationskörper, dessen Meridiankurve die 
Kettenlinie ist, sowie die Minimalfläche zwischen zwei windschiefen 
Geraden.*) 

In der erwähnten Abhandlung behandelt Monge auch Gleichungen, 
für welche sich nicht ein erstes Integral der Form V = (U), sondern 
komplizierteren Baues ergibt; aber leider fragt er nicht nach den Be- 
dingungen, unter welchen ein erstes Integral der Form Y/=gy(U) 
existiert; er wäre sonst notwendig auf die allgemeinere sogenannte 
Amperesche Form der Differentialgleichung 2. Ordnung geführt wor- 
den, die noch ein additives Glied E(rt — s?) besitzt, aber trotzdem 
prinzipiell nicht schwieriger zu integrieren ist als die von ihm be- 
trachtete lineare Gleichung. Übrigens war Monge die Einsicht in 
die Wichtigkeit der Verbindung rt — s® nicht verschlossen; dieser 
Ausdruck, der schon 1760 in den Eulerschen Untersuchungen über 
Flächenkrümmung auftritt, findet sich in verschiedenen von Monge 
untersuchten Differentialgleichungen, wie 

rtt—2+4A4A=0 und (te - P+4rs=(, 
wieder. u 


n Histoire de l’Academie des Sciences 1783 (1786), p. 143. *) Ebenda, 
1767 (1770), p. 561ff. Borda bezeichnet die Aufgabe als Problem von La- 
grange. 5) Ebenda 1787 (1789), p. 309ff. *) Vgl. diesen Band S. 550 oben 
und S. 569. ») Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 89, 157, 
endlich p. 561, 562. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1011 


Monge behandelt!) auch nichtlineare Gleichungen 2. Ordnung, 
indem er sie auf lineare Gleichungen höherer Ordnung zurückführt. 
Sei W=0 eine beliebig aus x, y, 2, p, q, r, 5, t zusammengesetzte 
Differentialgleichung. Durch Differentiation erhalte man hieraus mit 
Benutzung der Relationen 


dz=pda +gdy dp=rda+sdy; dgq=sdx + tdy 


die Gleichung 
-Adr + Bas+ Cdt+Ddz + Edy=V0. 


Wenn jetzt, sagt Monge, auf Grund einer gewissen Annahme über 
den Wert von = die partielle Gleichung 3. Ordnung, die man erhält, 
% 


eine Konstante weniger besitzt und linear oder doch von brauchbarer 
Gestalt ist, und es ist möglich, zwischen den drei ersten Integralen 
dieser Gleichung (und der ursprünglichen) die fünf Größen p, g, r, 
s, t auf einmal zu eliminieren, so hat man in dem Resultat dieser 
Elimination das gesuchte endliche Integral vor sich. Monge nimmt 
speziell 


Dax + Edy=0 


d 
an, berechnet daraus er und setzt diesen Wert in 


Adr + Bds + Odt=0 


a ! nn 02 d’z . 
eın, wo man sich dr durch IE T aatay dy usw. ersetzt denken 
muß; dadurch entsteht die lineare Gleichung 3. Ordnung 
d’z . 
AE BAR BE AD) gesar + (CE — BD) ar — CD55 - = (), 


die nach der gewöhnlichen Methode auf totale Gleichungen reduziert 
wird. Aus diesen folgert Monge mit Ausschaltung der Gleichung 


Ddx + Edy=V(), 


die wieder auf die ursprüngliche Gleichung führt, folgende zwei Glei- 
chungen, welche die beiden anderen Integrale der Gleichung 3. Ord- 
nung liefern: 


Ady?— Bdxdy + Cda?’= 0 
und 


A Edydr + ds(ÜEdxz — ADdy) — ODdxdt =. 
Monge gibt als Beispiel die Gleichung 


‘) Histoire de l’Acad&mie des Seiences 1783 (1786), p. 190. 
ÜANTOR, Geschichte der Mathematik IV, 65 


1012 Abschnitt XXYII. 


2bx(ar +2as+t)+aylar+2as+t)— 2ablap +g)=0, 


welche auf 
adr +2ads+dt=0; de — ady —=0 


und damit auf das Integral 


2= vl —ay) + xp — ay) + 2ba?[p(a — ay)] 


führt. Es ist leicht, fügt er hinzu, ähnliche Überlegungen für die 
Gleichungen höherer Ordnung anzustellen, aber man sieht auch, daß 
mit wachsender Ordnung die Fälle, wo das geschilderte Verfahren 
eine „vollständige“ Integration erlaubt, immer seltener werden. 

Nach Monge ist Legendres Behandlung der speziellen Gleichung 


ddz Br, 7, 77 
u Pa Pr zn 


ddz “e 


ap 


? 


deren Koeffizienten A, B, © Funktionen von 


Be a Mu 
aa Pr 


allein sind, zu erwähnen!) Auf einen sehr speziellen Fall dieser 


Gleichung war schon Monge gestoßen, der erkannt hatte), daß die 
Gleichung 


döz . 0902 „002 02? 0202 BR. 
A Br rn TA pr 9 


77 


Y 
durch die Substitution z = e® in 


006 ö0w 00o 
de Aa a 8 





übergeht; Monge findet 
2= |p(Px - y))x[u(Px— Y)], 
wo P und P’ die Wurzeln von 
P?—- AP+B=0 
sind, und im Fall gleicher Wurzeln 
= |p(Pr— y)’Px[v(Pae —Y)]. 


Legendre behandelt nun die allgemeine Gleichung folgendermaßen: 


‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1787 (1789), p. 314. ‘° ?) M&moires 
presentes par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 323. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1013 


statt 2, p, q als Funktionen von x und y aufzufassen, sieht er viel- 
mehr umgekehrt x, y, z als Funktionen von p und g an; dann ist 
zdp + ydgq ein exaktes Differential do und folglich 


do do 
u 1 de Pa at a 
Man sieht leicht, daß diese Gleichungen eine Berührungstransformation 


darstellen, die sich nach den Vorschriften von Monge oder Lie aus 
2-24 +2, +tyy,=0 


ergibt, wo der Übersicht halber 2), %, Yı Statt ©, 9, q geschrieben 
sind; Legendre erkennt aber den Zusammenhang seiner Methode 
mit der Mongeschen Theorie der Berührungstransformationen nicht. 
Führt man nun ® als neue abhängige Veränderliche ein, so müssen 
auch die Ableitungen von z nach x bzw. y durch die Differential- 
quotienten von @ nach p und g ersetzt werden. Legendre erhält 


auf diese Weise bei stillschweigender Unterdrückung eines Nenners 
uud Reben 7 
dp? dg? \dpda 





) die neue Gleichung 


ddo ddo ddo 
Aa Bapagt ap 9 
von der die Gleichung der Minimalflächen ein spezieller Fall ist. 
Legendre behandelt!) auch einen speziellen Typus von Glei- 
chungen höheren Grades, nämlich 


r= F(s, t), 


wo r, s und ? die übliche Bedeutung haben. Sein Gedankengang 
ist ähnlich wie bei der eben behandelten linearen Gleichung; er fol- 
gert aus 


dp=rdz+sdy und dg=sde + tdy, 


daß zdr + yds und zds + ydt exakte Differentiale sind, betrachtet 
x und y als Funktionen von s und £ und setzt 


zds + ydt= do; 
dann ist 
Dt do 
vlta? FILE dee Fe 
Durch Differentiation der gegebenen Differentialgleichung folgt aber 
eine Gleichung 
BEIDEN dr = Ads + Bdt, 
') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1787 (1789), p. 317. 
65* 


1014 Abschnitt XXVIL. 

wo A und .B bekannte Funktionen von s und ? sind; somit wird 
zdr + yds = (Az + y)ds + Badt. 

Da aber zdr + yds ein vollständiges Differential sein soll, so muß 


ua en a de 
Ber Es > 


oder, mit Berücksichtigung von 


dA dB 
re 
endlich 
A BE. 
+ BD 


Setzt man hierin für z und y die oben angegebenen Ausdrücke 


do do 


er a rer 


ein, so ergibt sich unmittelbar die lineare Gleichung 2. Ordnung 


ddo ddo ddo 
ar Ag Par 9 
welche die 1. Ableitungen von ® nicht enthält. 

Im Anschluß an frühere Arbeiten über die lineare partielle Diffe- 
rentialgleichung 1. Ordnung‘) behandelt Trembley in ganz analoger 
Weise die lineare Gleichung 2. Ordnung.) Ausgangspunkt für ihn 
ist eine gegebene Form des Integrals; Ziel die Aufsuchung Na 
Fälle. Zunächst nimmt er 


z= IT. F(®) + II”. f(@”) 


als Integralgleichung an, wo die //I und ® Funktionen der unab- 
hängigen Variabeln x und y, die Striche aber natürlich keine Diffe- 
rentiationen bedeuten. Bei Elimination der willkürlichen Funktionen 
F und f, sagt Trembley, erhält man nur dann eine lineare Gleichung 
2. Ordnung, wenn zwischen den II’, II" und ©, ®’ gewisse Rela- 
tionen bestehen. Um diese zu finden, bildet Trembley die partiellen 
Ableitungen 1. und 2. Ordnung von z, multipliziert sie mit unbe- 
stimmten Funktionen @G, A, B,..., addiert und setzt 


') Besonders Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. IX, Histoire p. 88ff. 
(pres. 1794). *) Ebenda, t. X, 1792 (1797), Histoire p. 27—104. Die besprochene 
Abhandlung ist 1795 der Akademie vorgelegt. Siehe auch ebenda, t. XI, 1793 
(1798), Histoire p. 58 (pres. 1797). 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1015 


A '02 02 ‚[00z 00z „[ 002\ 
62+4(5,)+ BC .) + 05) + Da +£ a5) = 
Ersetzt man in dieser Gleichung die einzelnen Differentialguo- 
tienten durch ihre aus der gegebenen Integralgleichung berechneten 
Werte, so treten die willkürlichen Funktionen F und f nebst ihren 
Derivierten in verschiedenen Verbindungen auf. Die Koeffizienten 
dieser Kombinationen setzt Trembley, da die Gleichung keine will- 
kürlichen Funktionen mehr enthalten soll, gleich Null und erhält so 
6 Gleichungen für die ® und IT, wie z.B. 
‚(0 ®\2 An CL AU CL An 
c a +2 6; |+E (FE) Er ui 
Aus diesen Gleichungen lassen sich zunächst die Verhältnisse der 
Größen @, A, 5,... durch die ® und I/ ausdrücken; haben also 
umgekehrt jene Verhältnisse diese Form, so ist die Gleichung sicher 


durch 
z = IT. F(®) + II”. f(®”) 


integriert. Sind die @, A, B,... gegebene Funktionen, so besteht 
die Aufgabe darin, die // und ® zu bestimmen. Trembley löst die 
Aufgabe für spezielle Fälle. Zuerst nimmt er //’= II” an!) und be- 
rechnet aus den erwähnten 6 Gleichungen die Ableitungen von II 
und ® durch die G, A, B,... dargestellt. Für ® und ©” ergeben 
sich, wie schon aus der einen angeführten Relation ersichtlich, die 
Gleichungen 
2 . (0 © — V(EE—4CD)| (0® 
zen. 
und 
Pr 54 Re iR 
en) -. 
und das sind, wie es der Natur der Aufgabe nach nicht anders sein 
kann, genau die Gleichungen, welche Laplace zur Transformation 
der Gleichung 2. Ordnung auf die kanonische Form benutzte. Trembley 
ersetzt beide Gleichungen durch die totale 





[EFV(EE—-4CD)|öy—2Di2==0, 


wobei also #, Ü und D als gegeben zu betrachten sind; des weiteren 
stellt er Formeln auf, welche nach Berechnung von ®’ und ®” die 
Funktionen //’ und /1” durch die Koeffizienten @, A, B,... der ge- 
gebenen Differentialgleichung ausdrücken. Analog wird der Fall 


o—® 


') Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XI, 1792 (1797), Histoire p. 35. 


1016 Abschnitt XXVII. 


untersucht.) Noch mehr Gelegenheit zu rechnen gibt die Annahme?) 
einer komplizierteren Integralgleichung 


» = I109.[FO@) + fO@N)], 
t= 0 


wobei die F® und f® die Derivierten von F bzw. f bedeuten, und 
die /I® nach einem gewissen Gesetz auseinander hervorgehen. Weiter- 
hin geht Trembley von der Integralgleichung 


d(z, Y, 2) m Il(«, Yy) ‘ F(D«, Yy)) 


aus°), die ihn zunächst auf eine komplizierte partielle Gleichung mit den 
abhängigen Variabeln » und z und drei Bedingungsgleichungen führt. 
Diese komplizierte Form vergleicht er sodann mit der allgemeinen 
partiellen Gleichung 2. Ordnung, welche die ersten Ableitungen von z 
in der 2. Potenz enthält, und stellt » durch die Koeffizienten der 
letzteren dar. Ist nun eine derartige Gleichung 2. Ordnung gegeben, 
so existiert, wenn d außerdem die erwähnten Bedingungsgleichungen 
erfüllt, ein Integral der angegebenen Form. Ein Anhang*) bringt 
eine Abänderung der besprochenen allgemeinen Methode. Endlich ist 
zu erwähnen, daß Trembley eine Unmenge von Beispielen, besonders 
aus Eulers Integralrechnung, nach seiner Methode rechnet, die nur 
den Nachteil hat, daß man bei einer beliebig vorgelegten Differential- 
gleichung von vornherein ersehen sollte, welche Form das Integral 
haben wird. 

Von den Gleichungen höherer Ordnung gesteht Euler in 
seiner Integralrechnung?) zu, daß die Einführung neuer Veränderlicher 
hier wegen der allzuverwickelten Formeln wenig zweckmäßig ist. 
Euler beschränkt sich auf drei Typen von Gleichungen, deren erster 
dadurch entsteht, daß man eine einzige Derivierte höherer Ordnung 
gleich Null oder einer Funktion von x und y gleichsetzt.‘) Für die 


Gleichung 
d’z 
(= 
versucht Euler ein Integral 
dz 
2)" 


das auf die Bedingung n°= a® führt und so drei partikuläre Integrale 
der Form 





') Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XI, 1792 (1797), Histoire, p. 42#f. 
*) Ebenda, p. 83 ff. ») Ebenda, p. 101 ff. *) Ebenda, p. 105—109. 
°) Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 348. 6) Ebenda, p. 351 bzw. 355. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1017 
3 = e""I'(y) 


mit der willkürlichen Funktion IT’ liefert; eine ähnliche Methode hat 
Euler auch zur Integration der Gleichung der Saitenschwingungen 
benutzt (S. 996). Als zweiter Fall ist die Gleichung behandelt, welche 
die Ableitungen nach einer der beiden Variabeln x und y gar nicht 
enthält. Man kann deswegen z.B. in der Gleichung 


Br) +0, 


wo P, Q, R,... Funktionen von & und y sind, y als konstant an- 
sehen und integrieren; man hat lediglich für die Integrationskonstanten 
nachträglich arbiträre Funktionen von y einzuführen. Euler be- 


trachtet verschiedene integrable Gleichungen 3. Ordnung; hierauf die 
Gleichung der Schwingungen elastischer Lamellen 


'd’z ddz 
(1) Brio (ge ); 
von der er als partikuläres Integral die Gleichung 


E AR (4 ) 


mit der Bedingung b= + a angibt.!) Der dritte Typus, von Euler 
als homogener bezeichnet, ist dadurch charakterisiert, daß die Diffe- 
rentialgleichung nur Derivierte derselben Ordnung und kein Absolut- 
glied besitzt. Für die Lösung der Gleichung 


1(7,)+ Be) er ( +0, 


wo A, B,C,... Konstante sind, gibt Euler die Regel an: man bilde 
die algebraische Gleichung A'® Grades 


An’+ Bn*-!+ On-?+..:=0 


und bestimme ihre Wurzeln «, ß, y,...; dann ist das „vollständige 
Integral“ der vorgelegten Gleichung 


»=T(ytaa)+Ay+ßa)+Zy+trR)t 
wo I, 4, Z,... willkürliche Funktionen sind. Im Fall gleicher 


') Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 374. Die Schwingungen 
elastischer Lamellen und Ruten unter verschiedenen Grenzbedingungen hat 
Euler ausführlich Acta Academiae Petropolitanae 1779 (1782), pars I, p. 103 ff. 
behandelt. Daran knüpft endlich ein Aufsatz von Lexell an: ebenda, 1781 
(1785), pars II, p. 185 ff. 


1018 Abschnitt XXVIL. 


Wurzeln treten Faktoren x, #°, ... oder, was die Form des Integrals 
nur scheinbar ändert, %, y?, ... auf; ein Resultat, das Euler dadurch 
erhält, daß er die gleichen Wurzeln als unendlich wenig verschieden 
annimmt und nach geeigneter Umformung zur Grenze übergeht. Ist 
von den ersten Koeffizienten A, B, C,... eine Anzahl Null, so sind 
ebensoviele Wurzeln » unendlich groß!),j und der entsprechende Teil 
des Integrals lautet I) +yI(&) + yE(x) +: -- 

Dieser Gleichungstypus begegnet uns bereits bei Laplace?), der 
indessen auf der rechten Seite statt der Zahl 0 eine gegebene Funk- 
tion X von # annimmt. Laplace behandelt die Gleichung mit Hilfe 
einer Methode, die derjenigen für die lineare totale Gleichung n'” Ord- 
nung vollkommen analog ist (vgl. 8. 931); nach seiner Behauptung 
hat sie schon d’Alembert im 4. Band seiner Opuscules integriert. 
Man vergleiche hierzu auch die von Legendre behandelte Gleichung 
2. Ördnung (vel. S. 1012). 

Euler hat noch verschiedene spezielle Gleichungen höherer Ord- 
nung integriert; als Integral von 


(2) = aa (92) + 2ab (92) + bbz 


gibt er?) an 

ddz 

Melia 
und knüpft daran die Bemerkung, daß man a posteriori, d.h. vom 
Integral ausgehend, noch weitere derartige Beispiele finden könne. 
Das Problem der Schwingungen von Glocken behandelt Euler durch 
Zerlegung der Glocke in Kreisringe und Betrachtung von deren Be- 
wegung. Als Gleichung für die letztere erhält er- 


ae 


mit der partikulären Lösung 
y= Asın ee + «) sın (et er Ya — 1) + v), 


wo i jede ganze Zahl bedeuten, jeder Sinus durch einen Cosinus er- 
setzt werden kann, und A, «, v willkürliche Größen sind. Aus den 
Partikulärlösungen für die Kreisringe sucht er dann die Schwingungen 
der ganzen Glocke zu konstruieren. 


') Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 387. ?, Miscellanea Tauri- 
nensia, t. IV?, 1766/69, p. 339. ®) Institutiones calculi integralis, vol. IL, 
p. 377. *) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. X, 1764 (1766), 
p- 269. Vgl. Burkhardt, a. a. O., Heft 2, S. 364. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1019 


Monge behandelt!) durch sukzessive Ordnungserniedrigung einen 
weiteren Typus, welcher allgemeiner Behandlung zugänglich ist, näm- 
lich die Gleichung 


0” ee 


| z m— 1) 
gm —— + Mm." 1 3: 
YAar-iay 


0" ?ddz 
+ m:> % ” amt “ RT 


—  —— te =0( 
de ..dy 


da" 


mit dem Integral 


(Hr Hr) +), 


Q 


wo f, f,f‘,... g willkürliche Funktionen bedeuten. Monge sagt: 
Setzt man 
—1 ER; m — 2 
ar —— + (m — 1)0”?y 


dam! 


"7 "de 


da” 2] y 


so ergibt sich mit Benutzung der vorgelegten Differentialgleichung 


oV daV 
u, tr am -YV/=0)) 
also 
—oam-1l % x 
_uy »(,) 
Dann ist 
rl, 2 
a Be RE Ba 
2 da! en Y e(‘,) 


als int6grale premiere der gegebenen Gleichung aufzufassen und kann 
ebenso weiter behandelt werden, ohne daß durch die willkürliche 
Funktion g die Integration erschwert würde. Weiterhin behauptet 
Monge, daß 


z=g+k 
das endliche und „vollständige“ Integral von 
W=G+K 


sei, wenn 2= 9 bzw. z2—% die endlichen vollständigen Integrale von 
W=G bzw. W=K seien, wo W, @, K Ausdrücke obiger Art 
sind. Mit Hilfe dieser Regel sucht er dann Gleichungen 


W+AV+BV'’+..:=K 


‘) Miscellanea Taurinensia, t. V?, 1770/73, p. 94. Auch bei Condorcet s 
findet sich in einem Aufsatz über partielle Ditferentialgleichungen Histoire de |\ 
l’Acad&mie des Sciences 1770 (1773), p. 151ff. die Schreibweise #*d”Z, wo mit 
d die Differentiation nach x, mit © diejenige nach y angedeutet ist. Siehe auch 
ebenda 1772, part. 1 (1775), p. 14. ?) Ebenda (Misc. T.), t. V?, 1770/73, p. 89. 


1020 Abschnitt XXVI. 


zu behandeln, wo die W, V, V’,... Gebilde obiger Art mit ver- 
schiedenen m bedeuten. 
Nikolaus Fuß schreibt!) über die Integration der Gleichungen 


Az+BP=0; A2+BP+C0Q9=0 
usw., wo A, B, C,.. Konstante und 


+) 


usw. Legendre behandelt?) in seinem mehrerwähnten Aufsatz die 
vervollständigte Gleichung dieser Art 





; dv dv ’ ddv ddv 
nu ltr re ae ae 





)+ 


und gibt an, daß sie sich entweder durch Ordnungserniedrigung be- 
handeln läßt oder mittels der Substitutionen 


in die Gleichung 


T= av +br% a 


übergeht, deren Integration keinerlei Schwierigkeiten macht. 

Die allgemeine lineare Gleichung 3. Ordnung mit drei 
Variablen ist von Monge nach seiner bekannten Methode behan- 
delt.?) Sei 


dr=.ads + Pdy; ds—= PBdx-+ ydy,; dt=yda + sdy, 


so daß also «, ß, y, & die vier partiellen Differentialquotienten 3. Ord- 
nung sind, sowie 


A«e+bß+Cy+D:+E=(0, 


wo A, B, C, D, E gegebene Funktionen von &, %, 2, P, q, r, 5, t be- 
deuten. Eliminiert man daraus drei von den vier Größen «, ß, y, & 
so entstehen Gleichungen, welche, da sie die vierte der Größen «, ß, 
y, & nicht bestimmen können, zerfallen müssen. So erhält Monge 
durch Elimination von ß, y, & die zwei totalen Gleichungen 


Ady?— Bay?da + Cdyda?’— Ddx’ = 0; 
dy?(Bdr + Cds + Ddt) — dady(Cdr + Dds) + Dax®dr + Ed? =0. 


‘) Acta Academiae Petropolitanae 1780 (1783), pars I, p. 76ff. 2) Histoire 
de l’Academie des Sciences 1787 (1789), p. 336. °) Ebenda 1784 (1787), p. 155. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1021 


Zwei Integrale 
V=a und U=b 


dieser Gleichungen liefern das erste Integral 
V’=o(0) 


der ursprünglichen Gleichung. Monge benützt diese Methode zur 
Integration der Differentialgleichung der Regelflächen (vgl. S. 571), die 


er in der Form 
Pa + 3uß + B3tuy + Ws — 0 


angibt, wo zur Abkürzung 
LT ne 


gesetzt ist. Die eben aufgestellten totalen Gleichungen lauten in 
diesem Falle: 


Pay? — 3Pudydx + 3tu?dyda? — wda’— 0; 
dy’(3t’dr + 3tuds + u?dt) — dady(3utdr + u?ds) + udadr = 0. 
Die erste dieser Gleichungen hat drei gleiche Wurzeln 
tdy — udz = 0; 
dadurch geht die zweite Gleichung in 


wdt + 2utds + dr = 0 
mit dem Integral 


us { 
t 


über. Damit findet man aber aus 


tdy — udz = 0 
die Gleichung 
y=azxz+b 


und somit das erste Integral 
-U U 
mt): 
Setzt man für « seinen Wert in 


=( 


ein, so kommt 
r+2as+at=0 


') Diese Gleichung läßt sich mit der vorhergehenden gleichartig schreiben, 
nämlich #?.r + 2tu.s+u?.t=0. 


1022 Abschnitt XXVII. 
mit dem integrale complete 


2=iV(ac —y) +rlax — y). 


Monge erhält endlich die beiden simultanen Gleichungen 


y=az+y(a) und z=xYla)+r(a), 


aus denen man sich @ eliminiert zu denken hat. Nach einer Bemer- 
kung, wie die einzelnen Wurzeln der erwähnten totalen Gleichungen 
des allgemeinen Falles zu kombinieren sind, wenn jede dieser Glei- 
chungen ungleiche Wurzeln besitzt, weist Monge darauf hin, daß 
seine Methode auch auf Gleichungen höherer Ordnung anwendbar ist 
und nennt den ihr zugrunde liegenden Gedankengang la v£eritable 
metaphysique du caleul aux differences partielles.') 

Legendre verwandelt?) die spezielle Gleichung 3. Ordnung, in 
welcher die abhängige Variable v» höchstens einmal nach y differen- 
tiiert auftritt, durch die Transformation 


dv ‚ 
Iz +pvr=v 


in eine Gleichung 2. Ordnung, wobei p eine einfache Differential- 
gleichung zu erfüllen hat. 

Trembley hat außer der Gleichung 1. und 2. Ordnung auch 
diejenige 3. Ordnung aus dem gegebenen Integral konstruiert.”) Er 
setzt 

2 = Il(a, y): F(@@, y) 


wo unter F eine willkürliche Funktion zu verstehen ist. Indem er 
aus den partiellen Ableitungen von 2 die allgemeine Gleichung 
3. Grades bildet, welche diese Ableitungen nur in der ersten Potenz 
enthält, bekommt er vier Bedingungsgleichungen, von deren Erfüllt- 
sein das Bestehen der Differentialgleichung 3. Ordnung bzw. der an- 
genommenen Integralgleichung abhängt. Die eine dieser Bedingungs- 


(1 


gleichungen ist hinsichtlich der Unbekannten (®) vom 3. Grade und 
ex 


!) Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 158. Es mag hier 


noch die Gleichung 
(22:) (av) = (aavay) (azayı) 
dx?/ \dy’} \da’dy) \dady? 


erwähnt werden, die ebenda p. 567 kurz besprochen ist. ®) Ebenda 1787 
(1789), p. 332. °) Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XII, 1795/96 (1802), 
p. 101 ff. Aus dem Jahre 1798. 








Totale und partielle Differentialgleichungen. 1023 


liefert somit drei Werte von ®, die ®’, ©’, ®” heißen mögen. Hier- 
mit ergibt sich das Integral 


Bi I: F(®') T 11". f(®”) ni ; 7 Aa z(®"), 


wo F, f, Z willkürliche, II’, 11”, 11” passend zu bestimmende Funk- 
tionen sind. Die Methode hat den Nachteil, daß von vornherein nicht 
zu ersehen ist, ob ein Integral der angenommenen Form existiert; 
trotzdem scheut Trembley nicht vor der Berechnung der kompli- 
ziertesten Ausdrücke und Formeln zurück. 

Cousin ist, indem er die oben erwähnten Untersuchungen in 
anderer Richtung weiter verfolgte, zu einem Theorem über die Inte- 
gration der allgemeinen im Mongeschen Sinne linearen Gleichung 
n“* Ordnung gekommen! ), das die Integrationsvorschriften von Monge 
für die Gleichung 1., 2. und 3. Ordnung als Spezialfälle umfaßt. Sei 


d"z d"z d"z d"z 
a rd a ges, ag Ta ee Be Ar 
dy" dy"Idx 7 dy" "de? + nu da” ? 
wo «, ß, Y,..., tr Funktionen von x, y, 2 und den partiellen Ab- 


geleiteten von 2, die der (» — 1)" Ordnung einschließlich, bedeuten. 
Man berechne die Wurzeln der Gleichung 


em" + Bm" + ym" +.  +8=0 
(vgl. Eulers homogene Gleichung S. 1017) und bilde die Größen 
em +ß=ul, aAm+y=uau; aum+ö=uv 


usw. Dann ergeben sich alle Integrale der ursprünglichen partiellen 
Gleichung durch Integration folgender beiden totalen Gleichungen 


mdy+dz=0 und am(dp+Adgq+udr +vds+:--)+rda=V, 


u 
wo 9,4 r, 5, ... die Differentialquotienten (n — 1)'” Ordnung ne ; 
n—1l, 
a ‚... bedeuten. Cousin betrachtet sodann speziell diejenige 


dy" "da 
Gleichung, welche keine Produkte oder Potenzen von Differential- 
quotienten enthält, in der also sämtliche Abgeleitete linear auftreten; 
er bezeichnet sie als lineare Gleichung, während Monge dabei nur 
das Linearsein der Derivierten n'" Ordnung fordert. 

Zu den frühest behandelten Differentialgleichungen von 
mehr Variablen und höherer Ordnung — die 1. Ordnung sind 


') Histoire de l’Academie des Sciences 1783 (1786), p. 688ff. Im Text ist 
die Darstellung von ebenda 1784 (1787), p. 407 zugrunde gelegt. 


1024 Abschnitt XXVI. 


bereits an Ort und Stelle besprochen worden — gehören die Grund- 
gleichungen der Hydrodynamik. Euler gibt, wie schon erwähnt, in 
einem Brief an Lagrange die Gleichung 


d 
son (ae) — (ax) + (ar) + a2) 

an und sucht partikuläre Lösungen von ihr aufzufinden.) Lagrange 
sucht fernerhin die allgemeinen hydrodynamischen Gleichungen in 
ihrer Lagrangeschen Form zu integrieren”) Durch Einführung der 
Multiplikatoren L, M, N, wo L, M, N Funktionen der drei Variablen 
(changeantes) X, Y, Z bedeuten, Addition und Integration über den 
von der Flüssigkeit eingenommenen Raum erhält er zunächst die 
Gleichung 


d’x d’y d’z E 
je: tzeH4t+ a NdXaYaz 


d?x d’y d?’z d’y d?x 
zn sr taxar! taxztt mt mx 


d’z d’z d?x d’y 


Die hier auftretenden dreifachen Integrale werden durch partielle 
Integration umgeformt, so daß z. B. 

d’x IR’ e dx dL 
[daraxa Yaz (ei dXdYdZ fee — 253) dYdZ usw. 
Lagrange zeigt, daß unter gewissen Bedingungen, die allerdings in 
den meisten Fällen nicht angebbar sein werden, alle auftretenden 


Doppelintegrale (Öberflächenintegrale) zum Verschwinden gebracht 
werden können und reduziert dann durch die Festsetzungen 


dL ..:deM d?N @M @L dN 


am taxar t axuz tb Gm tayax taraz N 
d?N d’L d?M 
a2? T azax " dzaY 

und die Substitution 


s= [(eL+yM+zN)dXdYdz 





—=kN 


— das Integral genommen über den von Flüssigkeit erfüllten Raum — 
die ursprüngliche Gleichung auf 





') Miscellanea Taurinensia, t. II®, 1760/61, p. i—10. Vgl. auch Histoire 
de l’Academie de Berlin, t. XV, 1759 (1766), p. 236 ff. 2) Miscellanea Tauri- 
nensia, t. II?, p. 120. Mit Benutzung von Burkhardt, a.a. O., Heft 2, S. 365. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1025 


= kes. 
Bestimmt man daraus s und berücksichtigt die physikalischen An- 
fangsbedingungen für = 0, so läßt sich damit, wie Lagrange an- 
deutet, die Berechnung von z,y,z auf die an einfacheren Differential- 
gleichungen 2. Ordnung auseinandergesetzten Methoden zurückführen. 
Die Berechnung von L, M, N gelingt Lagrange nur in speziellen 
Fällen; so führt die Annahme 


L = AcdepX+a Yırz)Yk. DE BepX+gY+rz)Vk, N = (ePX+gY+rz)Vk 
auf die Gleichungen 


A=c(Ap’+ Bpg+Cpr); B=c(BQ?+ Apg + Org); 
C=c(Cr’+ Apr + Bgr) 


zur Bestimmung von »,q, r. Schließlich!) sind noch Reihenentwick- 
lungen abgeleitet, die jedoch sehr viel Raum einnehmen. 

Unter allgemeinen Gesichtspunkten sucht die Gleichungen von 
mehr Variablen zuerst Euler zu behandeln. Er macht auch darauf 
aufmerksam, daß bei drei unabhängigen Variablen die willkür- 
liche Funktion der Integralgleichung eine Funktion von zwei Variablen 
ist.) Er unterscheidet verschiedene Typen, die einer gleichartigen 
Behandlung zugänglich sind. Ist eine einzige Derivierte von v einer 
beliebigen Funktion der unabhängigen Variablen gleichgesetzt, so 
findet man das Resultat, indem man bei jeder Integration alle Ver- 
änderlichen bis auf eine konstant läßt und die Integrationskonstanten 
durch willkürliche Funktionen dieser Variablen ersetzt. Die Anzahl 
der willkürlichen Funktionen, bemerkt Euler ausdrücklich, ist immer 
gleich der Ordnung der Differentialgleichung. Ist weiterhin die Diffe- 
rentialgleichung von der Art, daß sie nur die Ableitung nach ein und 
derselben Variablen, etwa x enthält, so kann man wieder die übrigen 
Veränderlichen als konstant ansehen und nachher — wie wir sagen 
würden — die Variation der Konstanten anwenden. Treten nur die 
Ableitungen nach zweien der Variablen auf, so kann man wenigstens 
die dritte als konstant betrachten und die Gleichung als Differential- 
gleichung zweier unabhängigen Variablen behandeln.) Euler unter- 
sucht außerdem speziell die „homogene“ Gleichung 2. und 3. Ord- 
nung, d. i. jene Gleichung, welche nur die Differentialquotienten der 
höchsten Ordnung und kein Absolutglied besitzt. Unter der Annahme, 
daß v nur von 





2‘ Miscellanea Taurinensia, t. II®, p. 127. ?) Institutiones caleuli inte- 
gralis, vol. II, p. 397. °) Ebenda, bzw. p. 409, 416, 419. 


1026 Abschnitt XXVLL. 
t=ox +ß2 und uv=yy-+dz 
abhänge, führt die Gleichung 2. Ordnung’) 


1 (ai) + nlei) + older) Hann) + (ie) 





+2F(2,a,) 0 


durch Einführung von t und «u an Stelle von x, y, 2 zu den drei 
Gleichungen 


Ava +CBßß+2Eceß=0; 208 +2Day+2Ead +2FPßy=0 


und 


Byy +089 +2Fyd=0, 
die sich zu der Bedingung 
AFF+-BEE+ÜCDD=ABC+2DEF. 


vereinigen lassen. Das ist aber, sagt Euler, die Bedingung dafür, 
daß sich 

Ax& + Byy+ Czz2+2Dxy-+ 2Exz + 2FYyz 

in 


(a® + by + ee) (fx + 9y + he) 


spalten läßt. Nun lassen sich die Quotienten : und = durch die A, 


B,C,..., diese selbst aber durch die a, b, c,... ausdrücken; so ge- 
lingt es Euler, # und u (bis auf einen konstanten Faktor, der gleich- 
giltig ist) durch die a,b, c,... darzustellen; beim Bestehen der er- 


wähnten Bedingungsgleichung, welche, wie nebenbei?) gezeigt wird, 
die homogenen Gleichungen 1. Ordnung 


MEET EI te IrERTDE TE 


im Gefolge hat, lautet dann das „vollständige“ Integral 


»- Tl - Be en 


wo I' und 7 willkürliche Funktionen sind. Euler behandelt sodann 
die homogene Gleichung 3. Ordnung?) unter der Annahme, daß ein 


Integral 
et 


') Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 447 ff. ?®, Ebenda, p. 451. 
®) Ebenda, p. 453. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1027 


existiert; diese Hypothese führt auf die Bedingung, daß ein gewisser 
algebraischer Ausdruck 3. Grades, gebildet aus z, y, z und den Koef- 
fizienten A, B,O,... der gegebenen Differentialgleichung, sich in drei 
Linearfaktoren der Form a@+by-+ cz spalten läßt; ist diese Be- 
dingung erfüllt, so kann das „vollständige“ Integral ohne weiteres 
angegeben werden. Aber auch wenn vollständige Zerfällung in 
Linearfaktoren nicht möglich ist, sondern — und dies gilt allgemein 
auch für homogene Gleichungen höherer Ordnung — lediglich eine 
Zerspaltung in Faktoren höheren Grades möglich ist), kann man noch 
einen gewissen Nutzen aus dieser Faktorenzerlegung ziehen; denn es 
ist dann wenigstens Ördnungserniedrigung anwendbar, so führt z. B. 
ein Faktor xy — zz auf 


ddv ddv 
(Geay) aa) 0 
Schließlich wird noch der Fall, daß eine der Größen a, b, c gleich 


Null ist, an einem Beispiel erläutert. Endlich sagt Euler?) von der 
hydrodynamischen Gleichung mit vier unabhängigen Veränderlichen 


(ae) = (ee) + (ae) + (a2) 
daß ihr vollständiges Integral zwei willkürliche Funktionen von je 
drei Variablen haben müsse, und versucht ein Integral der Form 
v=I(ex +ßy+yz+ bt). 
Es ergibt sich die Bedingung 
66=ua+PßPß + yYyY. 


Ferner gibt Euler noch die Integrale 








„ [dtVeertyytr), „_T@LVÜe—yy—e3) 


Vaxrtyytz2) Vet —yy— 22) 


sowie die beiden anderen an, welche sich durch Vertauschung von & 
mit y und 2 hieraus ergeben. 

An anderer Stelle behandelt Euler spezielle Gleichungen von 
mehr Variablen; für die Schwingungen von Pauken stellt er?) die 


Gleichung u (da) “ ea a (ee 
ee\dt) \dx? day’ 


auf; hier findet man leicht 








’ 


') Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 457. ?) Ebenda, p. 458. 
s) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae t. X, 1764 (1766), p. 252. 
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 66 


1028 Abschnitt XXVIL 


2= dl(ax+By+ytb), 


wo 


+ BB= 


ist. Er versucht!) auch für den Fall e=1 eine Lösung der Form 
2 = sin («at + W) sin ( + 8) - sin (# + 6); 
dann müssen die Konstanten «, ß, y der Bedingung 
= ß?+y? 

gehorchen. Euler erkennt diese Lösung als den Fall der Schwin- 
gungen einer rechteckigen Membran, die an den Rändern ringsum 
befestigt ist. Um weitere Lösungen zu finden, transformiert er auf 
Polarkoordinaten und wird dabei schließlich auf unsere Zylinder- 
funktion geführt. 

Monge behandelt?) die lineare Gleichung 2. Ordnung mit drei 
unabhängigen Variablen; man erhält sie aus der Eulerschen homo- 
genen Gleichung, indem man ein Absolutglied hinzufügt und die 
Koeffizienten als Funktionen der vier Variablen und der Derivierten 
1. Ordnung auffaßt. Monge wendet sein oft bewährtes Verfahren 
an, indem er die drei Gleichungen, welche die Derivierten 2. Ordnung 
mit den totalen Differentialen der drei unabhängigen Variablen und 
der drei Derivierten 1. Ordnung verknüpfen, einführt, mit ihrer Hilfe 
drei Derivierte 2. Ordnung aus der ursprünglichen Gleichung eliminiert 
und wie immer das Resultat der Elimination in einzelne Gleichungen 
zerlegt. Er erhält so genau dieselbe Bedingungsgleichung wie Euler, 
nur in etwas anderer Bezeichnungsweise, und sagt von ihr: „la pro- 
posee n’est integrable que lorsque les coefficiens satisfont ä cette 
condition“; daß sie die Bedingung für das Zerfallen eines gewissen 
Ausdrucks in Linearfaktoren ist, braucht er deshalb nicht anzugeben, 
weil er sie umgekehrt gerade aus diesen Linearfaktoren, die ihm 
seine Methode zuerst liefert, herleitet. Monge deutet auch kurz die 
Ausdehnung seines Verfahrens auf Gleichungen höherer Ordnung an; 
er findet, daß die Anzahl der Bedingungsgleichungen — im Fall von 
drei unabhängigen Variabeln natürlieh — immer gleich der Ordnung 
der Differentialgleichung, vermindert um die Einheit, ist. Im An- 
schluß daran erwähnt er wieder, daß seine totalen Gleichungen, auf 
die er das Problem reduziert, von derselben Allgemeinheit (de la 
me&me gen6ralite) seien wie die partiellen Gleichungen. „Le travail 





') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. X, 1764 (1766), p. 248. 
*”, Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 161. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1029 


de Yintegration“, sagt er, „ne consiste done plus, lorsquelle est 
possible, qu’ä transformer ces &quations en d’autres qui les com- 
. portent toutes et qui soient integrables“. So eigentümlich diese Worte 
beim ersten Lesen anmuten, man muß sich hüten, ihnen allzu große 
Bedeutung beizumessen oder gar Liesche Ideen darin finden zu wollen; 
Lie sagt ausdrücklich, Integration ist nichts anderes als Transfor- 
mation; Monge unterscheidet genau zwischen Transformation und In- 
tegration; was er verlangt, ist lediglich Transformation auf einen 
integrablen Typus. 

Auch Legendre untersucht!) die lineare Gleichung 2. Ordnung 


ddv ddv ddv 
er ar 

verlangt aber im Gegensatz zu Monge, daß die Koeffizienten a, b,... 
die abhängige Variable v nicht enthalten, also Funktionen von x, y, 2 
allein sind. Als „notwendige Bedingung“ für die Existenz eines In- 
tegrals, das nur eine endliche Zahl von Termen aufweist, bezeichnet 
auch er die Möglichkeit, das Polynom »°+ axy+bxzz-+:-- in zwei 
rationale Faktoren zerspalten zu können. Er behauptet, daß für 
Gleichungen aller Ordnungen ein ähnliches Gesetz bestehe, und geht 
dann?) endlich zu Gleichungen 2. Ordnung mit vier unabhängigen 
Veränderlichen über, bei denen das Prinzip der Zerspaltung wieder 
von Bedeutung wird. 

Gleiehungen mit mehreren abhängigen Variablen treten im 
allgemeinen nur bei Simultansystemen auf, wie sie schon frühzeitig 
bei hydrodynamischen Problemen untersucht wurden; so haben La- 
grange*) und d’Alembert*) das System 

d d d d ’ 

FE za 
integriert. Der Fall einer einzigen Gleichung mit mehreren abhängigen 
Variablen findet sich bei Trembley, welcher die Gleichung 


de\ /du de\ (du\ _ 
ya 
durch eg = F(w) integriert°); die Beziehung ge = Fu) sieht Trembley 
lediglich als Integral der gegebenen Differentialgleichung an, während 


') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1787 (1789), p. 323. ?) Ebenda, 
p. 331. °) Miscellanea Taurinensia, t. III®, 1762/65 (1766), p. 20. ‘#) Opus- 
cules math&matiques, t. V, 1768, p. 41. °) Nouveaux Me&moires de l’Academie 


de Berlin 1792/93, p. 386. Vgl. hierzu auch Condorcet, Histoire de l’Aca- 
demie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 17. In obiger Form läßt sich be- 
kanntermaßen auch die Gleichung der abwickelbaren Flächen rt— s?®—0 
schreiben. 

66 * 


1030 Abschnitt XXVII. 


wir heutzutage diese als notwendige und hinreichende Bedingung für 
das Bestehen einer Relation zwischen o und u auffassen; Trembley 
hat also, wenn man so sagen darf, nur das „hinreichend“ eingesehen. 

Von den Differentialgleichungen mit drei oder mehr Veränder- 
lichen haben wir bis jetzt nur die partiellen betrachtet. Simultan- 
systeme wenigstens von totalen Gleichungen sind uns wiederholt 
begegnet; wie wir uns erinnern, lag in ihrer Anwendung in zwei 
wichtigen Fällen Methode und zielbewußte Absicht. Der eine dieser 
Fälle ist die Reduktion einer totalen Gleichung »t“ Ordnung auf ein 
System von n totalen Gleichungen 1. Ordnung. Eine besondere 
Integrationsmethode für dieses Ersatzsystem wird indessen nirgends 
entwickelt, wohl deshalb, weil das betreffende System da, wo es auf- 
gestellt wird, nicht die Integration erleichtern, sondern anderen 
Zwecken, wie z. B. der Herleitung irgend eines allgemeinen Satzes 
(vgl. S. 905) dienen soll. Doch wird angeblich in speziellen Fällen 
für n=2 und n=5 auch die Integration selbst durch Euler in 
Angriff genommen und zwar mit Hilfe eines Multiplikatorensystems, 
ohne daß jedoch deren allgemeine Existenz behauptet wäre.) Wich- 
tiger ist die Heranziehung von simultanen totalen Gleichungen zur 
Integration der partiellen Differentialgleichungen, wie sie von La- 
place, Lagrange und Monge (vgl. insbes. S. 947, 972, 1009) geübt 
wurde Monge selbst geht ja hierbei soweit, daß er den Verein 
totaler Gleichungen nicht nur als ein Hilfsmittel zur Integration der 
partiellen Gleichung, seine Integration nicht bloß als eine Aufgabe 
ansieht, auf welche sich diejenige der partiellen Gleichung stets zu- 
rückführen läßt, sondern den betreffenden Verein als ein der partiellen 
Gleichung vollkommen gleichwertiges Gebilde ansieht, weshalb er den 
Verein totaler Gleichungen selbst nicht durch eine Reihe einzelner 
Integralgleichungen, sondern durch ein Integral mit willkürlichen 
Funktionen integriert. 

Speziellere Systeme hat zuerst d’Alembert integriert, dem man 
überhaupt die systematische Untersuchung von Simultansystemen ver- 
dankt.?) Interessant ist die Behandlung des Systems von Differential- 
gleichungen der Schwingungen einer endlichen Zahl von Massen- 
punkten durch Lagrange bei Gelegenheit seiner Untersuchungen 
tiber Saitenschwingungen?); doch sind die Gleichungen zu speziell, als 
daß hier darauf eingegangen werden könnte. In demselben Aufsatz, 
der die Theorie der Adjungierten entbält, bringt Lagrange‘) ein 


') Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften ITA 4b, S. 246. 
?) Vgl. diese Vorl., II?, S. 898, 901. ®), Miscellanea Taurinensia, t. I? (1759), 
p. 26.  *) Ebenda, t. III®, 1762/65 (1766), p. 223. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1031 


System von Gleichungen, auf das sich diese Theorie übertragen läßt; 
die Verwendung seiner Variation der Konstanten auf ein spezielles 
Gleiehungssystem haben wir bereits erwähnt (vgl. 5. 926), desgleichen 
die Ausdehnung einer von Laplace herrührenden Näherungsmethode 
auf ein System von Störungsgleichungen (vgl. S. 923). Auf ein 
interessantes Simultansystem, das Cousin behandelt!), und seine 
approximative Berechnung kann hier, da die betreffenden Entwick- 
lungen allzu umfangreich sind, nicht eingegangen werden. Endlich 
sei noch an die zahlreichen Simultansysteme, auf welche die Mechanik 
z. B. im Dreikörperproblem führt, erinnert. 

Wir charakterisieren hier nur die Integration des Simultansystems 


ddx +udz +ßdy +yx +öy =; 
ddy+«dde+Bdy+ye+Vy=0 


durch Lexell?); dabei sind x und y als Funktion einer unabhängigen 
Variablen « zu denken, deren Differentiale du, du? usw. der Einfach- 
heit halber fortgelassen sind. Durch zweimalige Differentiation beider 
Gleichungen ergeben sich vier weitere Gleichungen, die durch Ein- 
führung eines Multiplikatorsystems oe, v, u, A, 1 und Addition auf eine 
Gleichung 4. Ordnung führen. Bestimmt man hierin die Multipli- 
katoren so, daß nur mehr x und seine Differentiale überbleiben, so 
ergibt sich die Gleichung 


Ec+(ce+P)Pr+lef -— a B+Yy+ö)dde 
+ (a ds + By — Pry)de+ (dry —dy)x—=0, 


wegen deren Integration auf Eulers Integralrechnung verwiesen 
ist; ebensogut hätte man natürlich auch in der Gleichung y allein 
belassen können?) Im folgenden betrachtet Lexell zwei lineare 
Gleichungen 3. Ordnung, ebenfalls mit konstanten Koeffizienten und 
stößt so auf eine Gleichung 6. Ordnung, welche nur x und seine Ab- 
leitungen enthält. Sind die zwei Ausgangsgleichungen vierter Ord- 
nung, so wird analog die Schlußgleichung 8. Ordnung usw. Lexell 
nimmt sodann drei Gleichungen mit den drei abhängigen Veränder- 
lichen , y, 2; hier treten in den Schlußgleichungen viel kompliziertere 
Koeffizienten auf. Endlich ist das Problem mit der Frage der Inte- 
grabilität durch Verwendung passender Multiplikatoren, auf die wir 
für den Fall von bloß zwei Veränderlichen ausführlich eingegangen 


') Histoire de l’Academie des Sciences 1783 (1786), p. 674. ?) Acta 
Academiae Petropolitanae 1777 (1778), pars I, p. 61ff. Die Untersuchung ver- 
dankt nach Aussage des Autors ihre Entstehung der Anregung durch d’Alem- 
bert. ») Ebenda, p. 67. 


10532 Abschnitt XXVIL 


sind (vgl. 5. 905ff.), in Zusammenhang gebracht; ist V= 0 eine Glei- 
chung zwischen 9,9, r,..., 2,9, r,..., wo 


de=pdu; dde=gdu;.... dyy=pdu; ddy=gdu; .. 


u 


so ist das Integrabilitätskriterrum durch folgende Gleichungen ge- 
ı 


? 


wenn 


dV=Mdu+Nd«+Ndy+--- 
+ Pdp+Podp+--- 
+Qdg + Qdg+-- 


Durch Anwendung dieser Kriterien (vgl. S. 538) erhält Lexell schließ- 
lich totale Differentialgleichungen für die gesuchten Multiplikatoren, 
die den ursprünglichen Gleichungen sehr ähnlich sind; zur Integration 
der letzteren genügen indes schon partikuläre Lösungen der ersteren. 
Später hat Lexell diese Untersuchungen fortgesetzt.”) 

Wir betrachten jetzt den Fall, daß eine einzige totale Glei- 
chung mit mehr als zwei Variablen vorliegt, und zwar sollen 
insbesondere die Differentiale aller dieser Veränderlichen vorkommen, 
da der gegenteilige Fall keinerlei Schwierigkeiten macht. Die hierher 
gehörigen Gleichungen 1. Ordnung und 1. Grades hat schon frühzeitig 
Clairaut eingehend behandelt?) und die Bedingung ihrer Integra- 
bilität, die event. mit Hilfe eines Multiplikators zu bewerkstelligen 
ist, aufgestellt. Diese Bedingungsgleichung bringt Euler in seiner 
Integralreehnung wieder?), woselbst sich auch das entsprechende Kri- 
terium für die spezielle Gleichung 


dz = Pdx + Qdy 


findet, ohne daß Euler die wichtige Anwendung zu machen weiß, 
die nachher Lagrange geglückt ist (vgl. S. 966). Letzterer Umstand 
ist indessen sehr begreiflich, da Euler von der totalen Gleichung 
ausgeht, bei der P und Q Funktionen bedeuten, die zumeist gegeben 
sind oder doch bestimmt angebbar gedacht werden, während La- 
grange eine gegebene Gleichung zwischen x, y, z, P, Q@ integrieren 
will, in der P und Q nichts als die Symbole für partielle Differential- 
quotienten, nichts als Zeichen, formale Gebilde sind. Ist die Integra- 


') Acta Academiae Petropolitanae 1779 (1783), pars IL, p. 52ff. ®») Vgl. 
diese Vorl., III? S. 885. °) Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 5. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1033 


bilitätsbedingung nicht erfüllt, so ist die gegebene Differentialgleichung 
nach Eulers Ansicht völlig sinnlos. Man sieht, heißt es, daß man 
unendlich viele derartige Gleichungen mit drei Variabeln vorlegen 
kann, denen keinerlei endliche Gleichung (d. i. Integralgleichung) zu- 
kommt, und die außerdem absolut nichts bedeuten („nihil plane defi- 
niant“ und an anderer Stelle „nihilque omnino declararet“); es wäre 
lächerlich, ihre Integration zu versuchen, heißt es weiterhin. 

Euler kann sich gar nicht genug tun in starken Ausdrücken, 
„aequatio nihil significans absurda“ nennt er diesen Fall im Gegen- 
satz zur „aequatio realis“!) Ähnlich sagt er gleich darauf von der 
Gleichung 2. Grades mit drei Variabeln, sie sei überhaupt immer ab- 
surd, wenn sie nicht durch Wurzelziehen?) auf die Form 


Pdx + Qdy+ Rdz=0 


gebracht werden könne. Diese Anschauung kann in Erstaunen setzen, 
wenn man weiß, daß Newton bereits die Differentialgleichung 


2dz + xdy— dz = 
nicht allein durch die zwei Relationen 


1; 
Y=-z und = 22 +.0° 


erfüllt, sondern sogar die viel allgemeinere Vorschrift gegeben hat, 
eine Relation zwischen zweien der Variabeln willkürlich anzunehmen, 
um mit ihrer Hilfe die gegebene Gleichung auf eine solche von nur 
zwei Veränderlichen zu reduzieren.) Noch viel wunderbarer erscheint 
aber die Tatsache, daß Euler schon lange vor dem Erscheinen der 
Integralrechnung Gleichungen, die er später als absurd und sinnlos 
bezeichnet, wirklich nach allen Regeln der Kunst integriert hat. 
So löst er‘) schon 1730 die Gleichung 


ds = Yda? + dy? 
durch 


2 y-px—P; s=-syl+P-Q, 
wo 


‘) Institutiones calculi integralis, vol. III, p. 4, 7, 9, 10. *) An Faktoren- 
zerlegung im allgemeinen scheint er nicht zu denken. ®) Man vgl. eine 
AbhandInng von Stäckel in den Leipziger Berichten 1902, ferner einen dies- 
bezüglichen Aufsatz von v. Braunmühl in den Verhandlungen des III. inter- 
nationalen Mathematiker-Kongresses in Heidelberg vom 8. bis 13. August 1904. 
*) Commentarii Academiae Petropolitanae 1730/31. Nach Klügels mathema- 
tischem Wörterbuch, Artikel Rectification. Siehe auch Institutiones caleuli inte- 
gralis, vol. I, p. 525. 


1034 Abschnitt XXVI. 


9 Jyirn. 


oder, wenn wir das Resultat nur ein wenig anders Dear durch 
= 52, - Bene -p 5; „VIFr- Ar = ap, 
wo P eine Funktion von 9» ee, Man darf nun nicht etwa 
glauben, daß Euler mit den oben zitierten Ausdrücken diese früheren 
Resultate widerrufen wollte; dazu hätte er sie doch wenigstens er- 
wähnen müssen. Euler beruft sich aber in keiner Weise auf sie, 
denkt auch offenbar gerade gar nicht an sie — denn sonst müßte er 
den auffälligen Widerspruch doch merken; ja es macht beinahe den 
Eindruck, als hätte er sie vollständig vergessen. Beinahe, sage ich; 
denn mir erscheint viel wahrscheinlicher, daß Euler den Inhalt, die 
Tragweite seiner früheren Entdeckung nicht in ihrem vollen Umfange 
erkannt hat, ähnlich wie Lagrange nicht merkt, daß er die partielle 
Gleichung 1. Ordnung beliebigen Grades integriert hat. Hätte sich 
Euler seinerzeit klar und ausdrücklich die Aufgabe gestellt „ich will 
jetzt die Gleichung 
d?—= da? + dy? 

integrieren“, wäre er von dieser Formulierung aus zu dem erwähnten 
Resultat gekommen, so würde freilich nur die Annahme völligen Ver- 
gessens jenen rätselhaften Widerspruch erklären. Dann bliebe aber 
merkwürdig, daß Euler nicht wenigstens später, wo er wieder ähn- 
liche Gleichungen behandelt und ähnliche Resultate erzielt, seinen 
Irrtum eingesehen hat. Meiner Ansicht nach ist an allem in erster 
Linie die Problemstellung schuld, wobei das Moment augenblicklichen 
Vergessens mitgewirkt haben mag; man hat zu bedenken, daß die 
betr. Gleichung nicht unmittelbar, von vornherein analytisch gegeben 
war, sondern in irgend welche geometrische Aufgaben eingekleidet, 
erst allmählich im Laufe der Untersuchung, scheinbar ganz zufällig 
und nebensächlich, unter einem Gewirr von ähnlichen Gleichungen 
unbemerkt auftauchte, ohne daß klar hervortrat, daß gerade sie das 
betr. Problem völlig zu umschreiben, zu ersetzen imstande sei, daß 
sie m.a. W. die analytische Fassung der Aufgabe vorstelle Ich er- 
innere hier an Leibniz, der lange Gleichungen mit Differentialen prak- 
tisch handhabte, ohne das diesen Gleichungen gemeinsame Prinzip zu 
erkennen. Immerhin bleibt jener Widerspruch auffallend genug und 
gıbt zu denken Anlaß. Und man sieht, wenn es wie hier geschehen 
konnte, daß ein Autor zu einem hochwichtigen Resultat gelangt, 
es explizite darstellt und doch nicht zu deuten weiß'), wie sehr. man 
sich hüten muß, einem Forscher einen Gedankengang, eine Einsicht 





') Vgl. auch S. 968 unten und $. 1043. 


Totale und partielle Differentialgleichungen 1035 


zuzuschreiben, die er nach Zeitcharakter und eigenem Wissen noch 
nicht haben kann, und die erst Spätere, auch wenn sie dessen Vor- 
arbeiten kannten, mit größter Anstrengung allmählich aufdeekten. Die 
Lösung irgend einer mathematischen Aufgabe ist zwar ohne die Ein- 
führung gewisser für sie charakteristiıscher Gedankengänge und Defi- 
nitionen (z. B. des Grenzbegriffes) nicht möglich, man darf aber aus 
der faktischen Herstellung der Lösung noch nicht schließen, daß auch - 
die Prinzipien, welche allein die Lösung ermöglichten, erkannt worden 
sind. Es ist ein Unterschied, ob man ein Theorem unbewußt anwendet 
und ob man sich über seine Bedeutung klar ist, und Newtons Ver- 
dienst liegt nicht so sehr darin, daß er das Gravitationsgesetz be- 
hauptete, als daß er zeigte, wie sich die kompliziertesten himmlischen 
Vorgänge mit seiner Hilfe erklären lassen. Der Nichthistoriker kann 
ja sagen: wie leicht hätte Euler auf die allgemeine totale Gleichung 
mit drei Variabeln dasselbe Verfahren anwenden können, wie auf die 
spezielle Gleichung 
dz = Pdx + Qdy, 
wo P und @ durch eine Relation verbunden waren (vgl. S. 957 und 
S. 963); hätte er doch wie sonst die ganze Gleichung bis auf ein 
einziges Glied in ein exaktes Differential umgeformt, und den Koeffi- 
zienten dieses Gliedes mit Zuhilfenahme einer willkürlichen Funktion 
so bestimmt, daß die ganze Gleichung ein vollständiges Differential 
geworden wäre! So naheliegend der Gedanke war, Euler hat ihn 
eben gerade hier nicht gedacht, und das ist für den Historiker das 
Wesentliche. In anderen Fällen hat er dann plötzlich die Fruchtbar- 
keit der eben geschilderten Methode wieder eingesehen; die Gleichungen 
dz=pdu+rdteosu und dy=rdu — pdt cosu, 

auf die er gelegentlich eines Abbildungsproblems stößt!) (vgl. 5.573), 
multipliziert er mit « bzw. ß, addiert und erhält auf Grund der Annahme 


ea + BB = 09 
die Gleichung 


dz +dyY—1=cosulp+ry— 1) (-V- 1.dt). 


du 


Hier sagt Euler kurz und klar, dab ——, - — y= ldt ein vollstän- 





diges Differential dz sei, weswegen cos u ” +ryV-—1) eine Funktion 
von z sein müsse. Er erhält sofort 


z+yY-1=2T(s—-ty-i), 
wo zur Abkürzung 


s= tg (45° + = u) 





') Acta Academiae Petropolitanae 1777 (1778), pars I, p. 124. 


1035 Abschnitt XXVIL 


gesetzt ist, und ebenso, weil, wie er sagt, Y— 1 immer zwei Vor- 
zeichen hat, 


EEE 
Daraus lassen sich jetzt unmittelbar x und yY— 1 berechnen. Hier 
reiht sich gut die Integration von 


de? + dy?—= m’(d?+ g’dtR), 


wo qg eine Funktion von s ist, durch Lagrange in den Berliner 
Memoiren von 1779 an.!) (Vgl. 8.575.) Die Substitutionen 


d 
T =du und mg=n 


liefern 
da? + dy? = n?(du? + di). 
Führt man durch den Multiplikator 
1 = sin’o + cos? o 


eine Hilfsgröße »® ein, so wird 

da? + dy?= n?(sin adu — cos wdt)’+ n?(coswodu + sin adt)?; 
da © noch unbestimmt ist, kann man in 

dz = n(sinodu — cosodt) und dy=n(coswdu + sin adt) 
trennen. Wegen der Integration dieser Gleichungen verweist La- 


grange auf d’Alembert; er findet 


% 





_ fa + Yy-Y)+FlW—ty-1), 
D) ’ 





Y 9 Ver 1 ’ 
n = Fl + VEDrW eV) 
q ’ 





wo f und F' willkürliche Funktionen bedeuten. Aus der Eigenschaft, 
daß m nur von £ und u, d.i. von t und s abhängt, folgert Lagrange, 
daß die Abbildung, die ihn auf die ursprüngliche Gleichung geführt 
hat, winkeltreu ist. 

Die Eulersche Ansicht über die totalen Gleichungen mit mehr 
als zwei Variabeln war bis Monge die allgemein verbreitete; die An- 
schauung „es sei lächerlich, im Falle des Nichterfülltseins der Inte- 
grabilitätsbedingung eine Integration zu versuchen“, erklärt hinreichend 
das Stillschweigen aller Mathematiker in betreff dieser Gleichungen; 





') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 643. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1037 


kaum daß sich da oder dort eine Bemerkung darüber findet, wie bei 
Laplace, der nach singulären Integralen von Gleichungen mit drei 
Variabeln fragt und dabei auf die Integrabilitätsbedingungen zu 
sprechen kommt.) Endlich 1784, gleichzeitig mit den beiden früher 
erwähnten Aufsätzen über Differentialgleichungen (vgl. $. 949 u.), er- 
scheint die große Arbeit von Monge?), die auf diese Fragen nicht 
nur neues Licht wirft, sondern sie unter großen, allgemeinen Gesichts- 
punkten behandelt und auch zu einem gewissen Abschluß bringt. 
Einleitend bezeichnet Monge die Gleichung . 


Mdx + Nday= 0 


als Bestimmungsgleichung für die Tangentenrichtung der Integral- 
kurven in dem Punkt (2, y) und deutet analog die entsprechende 
Gleichung 2. Ordnung. Von den Gleichungen mit mehr Variabeln, 
heißt es weiter, hält man die höheren Grades alle für absurd; von 
den linearen alle jene, die nicht bestimmten Bedingungen genügen: 
diese Bedingungen, an Zahl immer um zwei weniger als die Anzahl 
der Variabeln, werden kurz besprochen. Nach solchen orientierenden 
Bemerkungen kündet Monge den Inhalt seiner Untersuchung an?): 
„ich nehme mir vor, zu zeigen, daß es keine absurde Differential- 
gleichung gibt, absurd im Sinne von unmöglich, imaginär. Ich werde 
zeigen, daß alle Differentialgleichungen reelle Eigenschaften ausdrücken, 
ob sie jetzt den erwähnten Bedingungen gehorchen oder nicht; daß 
sie alle einer wirklichen Integration fähig sind.“ Zum besseren Ver- 
ständnis des folgenden bringt jetzt Monge folgende Überlegung: Von 
allen Gleichungen 1. Ordnung mit zwei Variabeln, sagt er, gibt es 
nur eine einzige nichtlineare, nämlich 


M?dx?" . N?dy?"” nn 0, 


wo unter M und N Funktionen von x und y zu verstehen sind; diese 
Gleichung könne nichts Reelles bedeuten, außer wenn gleichzeitig 


M=0 und N=(, 
oder 
dze=0 und dy=O®. 


Das erste dieser zwei Ergebnisse könne nicht als Integral angesehen 
werden, da es keine willkürliche Konstante enthalte; als wirkliches 
Integral sei demnach der Verein der Gleichungen 


id, y=Ib, 


‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 368. 
”, Ebenda, 1784 (1787), p. 502—576. °®) Ebenda, p. 504. 


1038 Abschnitt XXVIL. 


d.i. die Gleichung eines einzelnen Punktes anzusehen. Unter den 
Differentialgleichungen 1. Ordnung gebe es also solche, deren Integral 
aus einer bzw. zwei Gleichungen bestehe und eine bzw. zwei Integra- 
tionskonstanten enthalte. Die besprochene Eigenschaft der Gleichung 
höheren Grades sei schon früher beobachtet, aber als Ausnahme be- 
trachtet worden, indessen sei sie nur der Anfang einer ungeheuren 
Kette. Dieses Bild erklärt Monge durch folgende Ausführungen: die 
totalen Gleichungen dreier Variabeln gehören, wenn die Integrabilitäts- 
bedingung erfüllt ist, alle krummen Oberflächen an, und ihr Integral 
besteht in einer einzigen Gleichung mit einer einzigen Integrations- 
konstanten. Aber alle die unendlich vielen Gleichungen, die jener 
Bedingung nicht genügen, gehören Raumkurven an, und ihr Integral 
besteht aus zwei simultanen Gleichungen. Indessen habe eine einzige 
von ihnen, nämlich 


M?dx?" ..- N?dy?" + P?dz?" > 0, 
die drei simultanen Gleichungen 
Vz d, Y —— b, = [6 


die zusammen einen Punkt darstellen, zum Integral. Nach Darlegung 
der analogen Verhältnisse für vier Variable, wobei Monge natürlich 
auf die geometrische Veranschaulichung verzichten muß, ist die neue 
Auffassung ausgesprochen, die sogen. Integrabilitätsbedingungen hätten 
nicht die Beurteilung, ob eine Integration möglich sei, sondern die 
Entscheidung, aus wieviel simultanen Gleichungen sich das Integral 
zusammensetze, zum Gegenstand.) An einigen Beispielen wird so- 
dann das Gesagte erörtert; die Einschaltung dieser Aufgaben hat aber 
für uns den großen Wert, daß wir aus ihnen wieder geometrische 
Untersuchungen als Quelle von Monges Ideen über die Differential- 
gleichungen, d.i. einen Zweig der Analysis, erkennen können, denn 
die Behandlung dieser Aufgaben macht es fast unzweifelhaft, daß 
Monge bei ausgedehnter Beschäftigung mit Problemen der Flächen- 
theorie zuerst immer wieder auf derartige Gleichungen geführt wurde, 
bis er sie endlich in ihrer vollen Bedeutung erkannte und nun um- 
gekehrt zum Gegenstand einer Sonderuntersuchung machte. Das erste 


dieser Beispiele ist 
d2?’= a?(dx?+ dy?), 


in dem a eine gegebene Konstante bedeutet. Es ist offenkundig, 
sagt Monge, daß diese Gleiehung derjenigen doppelt gekrümmten 
Kurve angehört, deren Elemente einen gewissen konstanten Winkel 


') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 506. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1039 


mit der xy-Ebene bilden; deshalb sind speziell die Gleichungen aller 
Geraden, die diesen Winkel mit der xy-Ebene bilden, Lösungen der 
gegebenen Gleichung. 

Diese Geraden sind aber 


z=a2+ß; y-:V (4 - @) Yurs 


wo «, ß, y drei willkürliche Konstanten sind. Nachdem sich Monge 
dureh Differentiation überzeugt hat, daß diese beiden Gleichungen 
zusammen wirklich eine Lösung darstellen, geht er dazu über, das 
integrale complete zu finden. Elimination von «& gibt zunächst 


> 


@-M’+W—-NM-5, 


und das ist die Gleichung aller Kegel, deren Spitzen in der xy- Ebene 
liegen, und deren Erzeugende mit dieser Ebene den erwähnten kon- 
stanten Winkel bilden. Die Annahme 


»=9(ß) 


scheidet hieraus alle jene Kegel aus, deren Spitzen auf der in der 
xy-Ebene gezogenen Kurve 

y=Yp(a) 
liegen. Zwei konsekutive Kegel dieser Schar schneiden sich nun, 
fährt Monge fort, in einer Geraden mit den Gleichungen 


@-M+Y-yW=i; 2-B+W- HB) - 0, 


deren zweite durch partielle Differentiation nach ß entstanden ist. 
Auch diese Gerade bildet immer noch mit der &y-Ebene jenen kon- 
stanten Winkel und ist daher eine Lösung der Differentialgleichung. 
Betrachtet man aber die Schar (suite) von Kegelflächen, so ergibt 
sich eine Reihe solcher Schnittgeraden wie die eben erwähnte. Da 
sich aber von diesen Geraden, deren Lage nur von dem variabeln 
Parameter (parametre variable) ß abhängt, immer zwei konsekutive 
auf der nämlichen Kegelfläche befinden, so schneiden sie sich not- 
wendig zu zweien konsekutiv und bilden folglich die Tangenten einer 
doppelt gekrümmten Kurve, die wegen der konstanten N eigung ihrer 
Elemente das vollständige Integral der gegebenen Differentialgleichung 
darstellen wird. Nach ihrer geometrischen Entstehungsweise wird sie 
dargestellt durch die drei Gleichungen 


(+ y- PD) = 5; 
-P+rr- WO) -0; —i— VA +Y— PB)P"(B) = 0, 


1040 Abschnitt XXVI. 


worin p als willkürliche Funktion aufzufassen ist. Durch ähnliche 
Überlegungen integriert Monge die Gleichungen 
(da? + dy’ + d2?) = a?(de? + dy?) 


und 


(vdy — ydz)’+ (ydz — zdy)’+ (ed — xd2)?—= a!(da?’+ dy?+ d2?) 


und leitet, vielleicht durch die Form der hierbei auftretenden Inte- 
grale zu tieferem Eindringen in deren Natur veranlaßt, einige allge- 
meine Sätze ab. So erhält man, heißt es!), das integrale complete 
der Gleichung 


dx: dy | 
Fig 2) 
welche dıe Variabeln x, y, z selbst nicht enthält, durch Elimination 
von « aus den drei Gleichungen 
<—a Yy—yp(e) ; dF 5 ddF\ _ 

Bee, 0), (2-0, (in) 
wo die 2. und 3. Gleichung durch partielle Differentiation der 1. bzw. 
2. Gleichung nach « entstehen. Für den Beweis, sagt Monge, ist zu 
beachten, daß man die 1. und 2. dieser Gleichungen differentiieren 
darf, als ob « konstant wäre, da ja die partiellen Abgeleiteten dieser 
beiden Gleichungen nach « Null sind. Führt man diese Differentiation 
wirklich aus, so ergibt sich mit Benutzung der Abkürzungen 





EC — BER ER: 
Tr TE 
2 R4 


()-0 
(1) +) re = 0 
(7m) am + () an = 0; 


(ame) + man) 9 9]am + Kaman) + (a) @]an =0 


Diese beiden Gleichungen können aber nicht unabhängig von 
dem Wert von F existieren, wenn nicht gleichzeitig 


da sich die Gleichung 
auch 


schreiben läßt: 





') Histoire de l’Acad&mie des Seiences 1784 (1787), p. 515. Auf den im 
Text erwähnten Typus läßt sich die eben behandelte Gleichung 


d2’= a? (dx’—+ dy?) 
ohne weiteres zurückführen. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1041 
dm=0 und dn=(, 


u a a 


IS 
Qu 
QÜ | 
IS 
x 


ist. Die verlangte Elimination von « führt dann sofort auf 


In ganz analoger Weise wird das Integral von 


dX dy 


F(2: 32)-9 


wo X, Y, Z Funktionen von z, y, z sind, durch 


X— —- o( 
F(Z, ei; ze) = 
und die beiden partiellen Ableitungen nach « dargestellt. 

Im folgenden!) sucht Monge den Zusammenhang zwischen 
totalen und partiellen Differentialgleichungen von drei Va- 
riabeln darzustellen. Er bedient sich hierzu folgender Überlegung: 
Ist eine Flächengleichung M = 0 gegeben, die einen Parameter & und 
eine willkürliche Funktion @(«) dieses Parameters enthält, so werden 
bei variablem « und festem g zwei konsekutive Flächen sich in einer 
Kurve 


dM\ 
M=-0,; (7,)-0 
schneiden. Alle diese Kurven zusammen bilden eine Fläche, nämlich 
die Enveloppe der Flächen M = 0. Man erhält die endliche, d. i. von 
Differentialen freie Gleichung derselben durch Elimination von « aus 
dM 
M=-0 und (4) -0, 
doch wird die Elimination im allgemeinen wegen der willkürlichen 
Funktion p nicht ausführbar sein. Die Kurven, welche diese En- 
veloppe zusammensetzten, besitzen aber selbst wieder eine Enveloppe, 
die Monge die Grenzkurve (limite) der Enveloppe nennt; ihre end- 
lichen Gleichungen erhält man durch Hinzunahme von 
dadaM 
(ar) N 
zu den früheren beiden Gleichungen und Elimination von «. Monge 
stellt nun die von @ freien Differentialgleichungen sowohl der En- 


') Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 518. 


1042 Abschnitt XXVI. 


veloppe als der Rückkehrkante auf; um die Gleichung der ersteren 
zu finden, differentiiere man nach & und y, wobei « wegen 

dM 

(5) en 
als konstant betrachtet werden darf; Elimination von « und p(«) aus 
den drei Gleichungen 

dM dM 
u-0 (0 (= 

führt endlich auf die partielle Differentialgleichung Y = 0), welche 
y nieht mehr enthält. Im zweiten Fall denkt sich Monge die für 
die Gleichung 


Bee 


F7 


angestellten Überlegungen wiederholt; wir haben bereits eingesehen, 
sagt er, daß man durch totale Differentiation von 


M=-0 wd (Ü.)=0, 


(2) =0 vum. (ii) 


wobei wegen 


die Größe « wie eine Konstante behandelt werden kann, und Elimina- 
tion von a, p(«), P(«) aus 
dM dM 
M=0;, (Ü2)=-0; dM=0; d: (I) =0 
eine totale Gleichung 1. Ordnung höheren Grades U — 0 erhält, welche 
die Integrabilitätsbedingung nicht erfüllt. 

Nun läßt sich aber, wenn von den beiden Gleichungen F — 0 
und T=0 die eine gegeben ist, die andere ohne Kenntnis der Inte- 
oralgleichung daraus herleiten.') Ist nämlich die partielle Gleichung 
V = 0 gegeben, so substituiere man hierin den Wert von p (oder gq) 


aus der Gleichung 
dz = pdx + qdy, 


was eine Gleichung 7!=0 zwischen x, y, 2, da&, dy, de und q 
(bzw. p) ergibt; die totale Gleichung U — 0 erhält man dann durch 
Elimination von q aus 

7) = 


Y!=0 und er 


Umgekehrt hat man, falls U=0 gegeben ist, hierin statt dz den 





1) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1754 (1787), p. 520. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1043 


Ausdruck pdx + qdy einzusetzen; das liefert eine Gleichung U’ = 0 
zwischen z, %, 2, 9, q und za — o; Elimination von ® aus 


. du! 
U-0 ud (;)-0 
gibt die gewünschte partielle Gleichung Y=0. Monge erläutert 


diese Vorschriften wieder an dem speziellen Beispiel 


, 2? 
M=-(—- eo’ +(Yy— ya) — el 
wo die Gleichungen 
V=0 und U=0 bzw p+gQ=a! und dze=a?(da? + dy?) 


lauten, und geht sodann zu ihrem allgemeinen Beweis über, der hier 
übergangen werden kann. 

Diese Beziehung zwischen den Gleichungen U—-0 und V=0 
kann nun, wie Monge zeigt!), deshalb für ihre Integration, d.i. für 
die Auffindung der Gleichung M = 0, bedeutungsvoll werden, da sich 
die eine von ihnen oft unschwer integrieren läßt, die andere keiner 
der bekannten Integrationsmethoden sich fügt. Dahin gehört das 
dritte von den oben erwähnten Beispielen, das auf die partielle Glei- 
chung 

z—- pa — qy=ayY(l+p+qQ) 


führt, die einem der von Lagrange integrierten Gleichungstypen 
(vgl. S. 968) angehört und auf 


M=z-—-.x — op(e) Yy — a? v +0@:+ (p («))?] 


führt. Umgekehrt läßt sich, wie Monge, der die Lagrangesche 
Arbeit von 1772 noch nicht in ihrer vollen Tragweite erfaßt, be- 
hauptet, die partielle Gleichung 


ba?r(2 + pa — qy)’ + aby’(z— px +qy)?+az(z+px + qgy)’= 0 


nach keiner der bekannten Methoden integrieren; sie führt aber auf 
eine totale Gleichung der Form 


dX dy 
Fiaz: 32) 9 


und damit zu der Gleichung 


‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 526, 
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV, 67 


1044 Abschnitt XXVIL 


woraus die Integrale sowohl der partiellen als der totalen Gleichung 
in bekannter Weise abzuleiten sind. 

Monge kommt sodann!) auf die linearen Gleichungen zu sprechen; 
für die betr. Gleichung mit drei Variablen 


Ld@ + Mdy+ Ndz = 


sucht er zunächst die entsprechende partielle Gleichung genau nach 
der eben hierfür aufgestellten Regel. Einführung von pdz + gdy an 
Stelle von dz gibt 


(L+ Np)d& + (M + No)dy =; 


' partielle Differentiation nach ®, d. ı. > und Elimination von o 


liefert die zwei simultanen Gleichungen 
L+Np=0; M+Ng=V(. 


Man integriere, heißt es weiter, die eine dieser Gleichungen, wobei % 
bzw. x konstant betrachtet werden kann, und ergänze das Integral 
durch eine willkürliche Funktion von y bzw. x; setzt man den aus 
dieser Gleichung berechneten Wert von q bzw. p in die andere von 
jenen simultanen Gleichungen ein, so erhält man eine Gleichung, die 
keine Differentiationen mehr aufweist; man hat auf diese Weise zwei 
endliche Gleichungen gewonnen, die einer Raumkurve angehören und 
das Integral der ursprünglichen Gleichung darstellen. Nach einigen 
Beispielen ist auf den Fall von mehr als drei Variablen eingegangen ’?); 
man substituiere, sagt Monge, für dz seinen Wert 


pdu+gde+rdy+:-- 


und differentiiere, indem man der Reihe nach immer nur eine einzige 
von den Größen =, BEER 
Anzahl von Gleichungen, die zur Elimination dieser Größen genügt. 
Die sich ergebenden partiellen Schlußgleichungen sind sodann ganz 
wie im Fall von drei Variablen weiter zu behandeln. Monge be- 
hauptet sodann°®), daß die Zahl der Integralgleichungen nicht immer 
um Eins kleiner ist als die Zahl der Variablen, sondern daß sie, wie 


an dem Beispiel 


als variabel ansieht; so erhält man eine 


udu + xdz + xdy+ zdz = 0 


gezeigt ist, auch geringer sein kann. Doch scheint er das Vorhanden- 
sein von n— 1 Integralgleichungen bei » Veränderlichen für die 





t) Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 528. ®) Ebenda, 
p. 532. ®) Ebenda, p. 534. 


Totale und partielle Differentialgleichungen. 1045 


Regel anzusehen. Dazu stimmt auch die Äußerung‘), es hätte etwas 
Absurdes an sich, wenn eine totale Gleichung mit mehr Variablen 
sich durch eine einzige Gleichung integrieren lasse; so sei es z.B. 
(eher) absurd, wenn die Differentialgleichung mit drei Variablen, wie 
man bisher stillschweigend voraussetzte, einer Fläche angehöre; sie 
gehöre vielmehr einer Raumkurve an, die sich zwar durch eine einzige 
Differentialgleichung, aber bei Verwendung von endlichen Größen 
allein nur durch zwei simultane Gleichungen darstellen lasse. Unter 
der Überschrift „Gleichungen 2. Ordnung höheren Grades mit mehr 
als zwei Variablen“ behandelt Monge dann zunächst die Aufgabe, 
alle Raumkurven mit konstantem Krümmungsradius zu finden ?), zeigt 
dann analog dem früheren die Integration von 
dd. ddz 
Eder aa) 0 

usw. und überträgt endlich die diesbezüglichen Sätze für Gleichungen 
1. und 2. Ordnung allgemeiner auf den Fall beliebig vieler Veränder- 
licher.?) 

Monge behauptet‘), daß auch partielle Gleichungen im allge- 
meinen nicht Flächen, sondern Raumkurven angehören. Setzt man 


in der Gleichung 
p— Ay=y(q+ Ar), 


wo A konstant und g eine willkürliche Funktion ist, zur Abkürzung 


q+ArXr=u, 
also 
p— Ay=y(e), 
so wird aus 
dz = pdx + qdy 
die neue Gleichung 


dz = dxyp(e) + ady — Alxdy — yde). 


Man kann hier « konstant betrachten, sagt Monge, integrieren und 
die so gewonnene Integralgleichung nachträglich durch eine willkür- 
liche Funktion von «@ zu der Gleichung M = 0 vervollständigen, 


wobei dann 
dM 
(au) = 


sein muß; da aber die eben aufgestellte totale Gleichung die Integra- 
bilitätsbedingung nicht erfüllt, so komme die weitere Gleichung 





') Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 535. ?) Ebenda, 
p. 536ff. *) Ebenda, p. 547 bzw. 549. *) Ebenda, p. 551. Ähnliche Unter- 
suchungen für Gleichungen 2. Ordnung ebenda, p. 568. 
67* 


1046 Abschnitt XXVIL, 


rel) 
hinzu, so daß man im ganzen drei Gleichungen habe, die sich bei Bli- 
mination von « auf zwei Gleichungen zwischen z, y, 2 und einer 
willkürlichen Funktion y reduzieren. Offenbar hat Monge geglaubt, 
für die partiellen Gleichungen müsse dasselbe gelten wie für die 
totalen. | 
Endlich folgen noch einige Bemerkungen über partielle Differen- 
tialgleichungen 1. und höherer Ordnung; hier sei folgendes Theorem 
erwähnt): Ist 


dz=pdu+gde+rdy:-- und F(z,pÜU,qX,rY,.-)=0 
die gegebene Differentialgleichung, wo U, X, Y, .... Funktionen von 


u, bzw. x, bzw. y, ... sind, so ergibt sich das Integral durch bloße 
Quadraturen. Sei nämlich 


»U=ur)Y; qgX=ßrY;.--, 


wo «, ß, .., unbestimmte Größen sind, so wird durch Substitution 
in die gegebene Differentialgleichung 


Se, a, ß, LI IR 


Aus dieser Gleichung läßt sich rY in der Form 


rY=fl(e, u, ß, -- .) 


berechnen und man erhält 


»U = üfle, u. B, 2)? TR» Bfie ,B..., 5 


so daß also 
dz 


FE. 


wird. Integration bei konstanten «, ß,... ergibt unter Beifügung 
einer willkürlichen Funktion eben dieser Größen «, ß,... eine Glei- 
chung M=(, zu der noch die Gleichungen 

dM aM 

re: 
hinzutreten; aus allen diesen Gleichungen hat man sich die «&, ß,... 
eliminiert zu denken (vgl. S. 981). Endlich stellt Monge in einer 
conclusion generale die Hauptergebnisse der ganzen Arbeit nochmals 
übersichtlich zusammen und weist auf den großen Nutzen hin, den 





_. adu Pdx dy 


', Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 556. 


Differenzen- und Summenrechnung. 1047 


die Geometrie aus den darin niedergelegten neuen Gedanken und 
Methoden ziehen kann.') 

Außer der großen Arbeit von Monge findet sich wenig über 
totale [Gleichungen mit mehr Variabeln; P. G. Fontana (vgl. Ab- 
schnitt XXVI passim) versucht sich mit Multiplikatoren für derartige 
Gleichungen?); bedeutender ist eine Arbeit von Pietro Paoli über 
Differentialgleichungen, welche die Integrabilitätsbedingungen nicht er- 
füllen.?) Paoli schließt sich im allgemeinen eng an sein Vorbild Monge 
an; hier sei seine Integration der Gleiehung mit vier Variablen 


Adu+ bBdz+Cdy+ Dd« = 0 


mitgeteilt.*) Paoli nimmt zwei Gleichungn M=« und N= ß, wo 
« und 8 Konstante bedeuten, zwischen x, y, z willkürlich an; aus 
ihnen lassen sich z und y als Funktionen von & berechnen. Diese 
Werte ergeben,. in die gegebene Gleichung eingeführt, eine totale 
Gleichung zwischen u und x mit einem Integral P=y. Betrachtet 
man jetzt in den Integralgleichungen 


M=-4a N=fß, P=y 


die Größen «, ß, y als variabel, so muß, wenn die gegebene Diffe- 
rentialgleichung noch erfüllt sein soll, eine Gleichung der Form 


mdy +nda« + pdß= 0 


bestehen. Das ist aber eine totale Gleichung mit nur drei Variablen, 
die im allgemeinen die Integrabilitätsbedingungen nicht befriedigen 
wird, weshalb sie nach den für solche Gleichungen geltenden Methoden 
weiter behandelt wird. Paoli geht im folgenden noch auf die Glei- 
chungen mit fünf Veränderlichen, auf die höheren Grades und endlich 
auf diejenigen 2. Ordnung ein.’) 


Differenzen- und Summenrechnung. 


Wir gehen zur Differenzen- und Summenrechnung über. 
Den ersten Aufschwung verdankt diese Disziplin der Untersuchung 
der arithmetischen Reihen höherer Ordnung, und die sich hierbei er- 
gebenden Gesetzmäßigkeiten für den Zusammenhang zwischen Diffe- 
renzen höherer und niederer Ordnung haben in mannigfacher Weise 


') Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 573 bzw. 574. 

*) Memorie di Matematica e Fisica Soc. Ital. Verona, t. I, 1786, p. 516 #f. 

°) Ebenda, t. VI, 1792, p. 501 ff. *) Ebenda, p. 509. °, Ebenda, p. 513, 
517, 522. 


1048 Abschnitt XXVL. 


auf die Probleme der niederen Analysis befruchtend eingewirkt. Hier 
sei eine Abhandlung von Euler') erwähnt, die sich die Umformung 
von Reihen mit Hilfe endlicher Differenzen zur Aufgabe stellt. Wich- 
tiger wurden die hierher gehörigen Untersuchungen für das Inter- 
polationsproblem, das gewöhnlich im Zusammenhang mit der 
Summen- und Differenzenrechnung behandelt zu werden pflegt. Hier 
ist allerdings nur wenig darüber zu sagen, da die meisten diesbezüg- 
lichen Methoden für eine ganz spezielle praktische Anwendung ge- 
schaffen und gleich im Zusammenhang mit dieser behandelt wurden; 
die meisten Notizen finden sich in großen Tafelwerken, astronomischen 
und ähnlichen Abhandlungen der angewandten Mathematik.) Rein 
mathematische Untersuchungen über das Interpolationsproblem im all- 
gemeinen finden sich nur wenige; in speziellen Fällen wurde die Inter- 
polation schon seit langem durch geistreiche Kunstgriffe geleistet, ich 
erinnere hier aus früherer Zeit nur an die Berechnung der Logarith- 
men, an das Wallissche Produkt und die Eulersche Interpolation 
der Fakultät (vgl. auch S. 781ff.). Das allgemeine Problem behandelt 
insbesondere Lagrange und kommt hierbei?) zu der bekannten, prak- 
tisch allerdings wenig brauchbaren Formel 


_@—-R)a =) @ — en) wa) =) @ —en), 


(Mr — 3%) (X, — 4) ° + (&, — 2)”! (X — 4) (&; Er %,) + (og HR on) 


wobei %,, Yg, - -- %, die Werte der Funktion y, für 


n 


md, Ag, 


n 


bedeuten. Von Lagrange stammen auch (aus dem Jahr 1772) die 
eleganten symbolischen Formeln*) 


Nu = (2a: _ ı): (Geb): = [log(1 + Au)f; 


£} 
a - / usw; Ar'=2 usw, 
€ 


') Memoires de l’Academie Imperiale des Sciences de St. Petersbourg, t. IV, 
1811 (1813), p. 88 ff. ®»), So z.B. Lambert, Über das Einschalten in den 
„Beiträgen zum Gebrauch der Mathematik und deren Anwendung“, Berlin 
1765/77, Bd. III, 85. Nach Klügels mathematischem Wörterbuch, Artikel Ein- 
schalten. Ferner Lambert, Über das Einschalten beim Gebrauch der Epheme- 
riden, Bodes Jahrbuch für 1776. Poggendorff I, 8. 1357. ®) Lagrange 
gewinnt diese Formel durch Umformung des bereits 1775 aufgestellten Ausdrucks 
für den allgemeinen Term einer rekurrenten Reihe bei bekannten Anfangstermen. 
Nouveaux M&moires de l’Acadömie de Berlin, anndes 1792 et 1793. - Oeuvres, 
t. V, p. 627 fl. ) Sur une nouvelle espece de calcul, Oeuvres de Lagrange, 
t. III, bzw. p. 452, 457, 451. Auf diesen Aufsatz kommt Laplace, Histoire de 
l’Acad&mie des Sciences 1777 (1780), p. 113 zurück. 


Differenzen- und Summenrechnung. 1049 


in denen nach Auswertung der auftretenden Klammern (mit Hilfe des 


binomischen Lehrsatzes) und Ausführung der angedeuteten Multiplika- 
; ö . 8 d EEE . 
tion mit « die Symbole A, A?, AP’, ... und da’ da’ I, ;; . nicht 


mehr Potenzen von A bzw. — sondern Differenzen und Differential- 


quotienten höherer Ordnung bedeuten (vgl. S. 696). Bei Aufstellung dieser 
Gleichungen mag sich Lagrange wohl der sogen. Leibnizschen Dar- 
stellung der höheren Differentialquotienten eines Produktes erinnert 
haben) Auch Edward Waring kommt in einem Aufsatz über 
Interpolation zur Lagrangeschen Formel; er verwendet seine Formeln 
aber nicht zur Einschaltung selbst, sondern zur Herleitung von Glei- 
chungen, die der niederen Analysis angehören. So bringt er?) z.B. 
den Satz, daß der Ausdruck 


Pad ß” 


-He-ne-d: Bon 
rn ? wroRt 








Null oder Eins ist, je nachdem 
m<n—]1 oder m=n-—1 


ist, wo »n die Anzahl der Größen «, ß, y, d,.... bedeutet. Von be- 
sonderer Wichtigkeit sind später diejenigen Interpolationsmethoden 
geworden, die trigonometrische Funktionen benutzen. Lagrange, 
dessen früher erwähnte Behandlung des Problems der Schwingungen 
einer endlichen Zahl von Punkten unschwer auf eine derartige Inter- 
polationsformel führt, setzt später gelegentlich?) das allgemeine Glied 
einer Reihe in der Form 


y=asin(e+xp)+bsin( +ay)+esinpy+tau)+--- 


an, und zeigt, wie die Größen ,b,6...,B,9,...9,%%,... 
aus gegebenen Werten von y bestimmt werden können; er wird hier- 
bei auf rekurrente Reihen geführt. In anderer Weise verwendet 
Charles die trigonometrischen Funktionen; ihm werden die Glei- 


chungen 





) Hier mag auch eine Methode von Lagrange aus dem Jahre 1783 Er- 
wähnung finden, nach der er eine Funktion y=9p(x) näherungsweise durch 
y=fß-+y5 (bzw. wenn y = 0 ist, durch ß-+ 08°) ersetzt, wo & eine sehr kleine 
Zunahme von x bedeutet, wenn zwischen x und einer Funktion X von x und 
ebenso zwischen p(x) und (X) zwei bekannte Relationen existieren. La- 
grange zeigt die Anwendung seines Verfahrens für die Logarithmen Oeuvres, 
t. V, p. 517ff. Man vgl. endlich Oeuvres, t. V, p. 663ff. °) Philosophical Trans- 
actions, vol. 69, 1779, p. 64. °), Astronomisches Jahrbuch 1783, S. 41. Nach 
Klügel, a.a. 0. 


1050 Abschnitt XXVII. 








_ _ asinn&® bsinz(& — 1) 

Ela een Eat 
= a sin bsinz(= —1) ; 
FE ET ee 


?y= (sinne)? = Fr rn 1): rat | 

zugeschrieben, wo y für 2=(, 1,... die Werte a, b,... annimmt.') 
Auch die rekurrenten Reihen sind im Zusammenhang mit dem Inter- 
polationsproblem viel behandelt worden; indessen benutzen die meisten 
Arbeiten über rekurrente Reihen die Integrationsmethoden für Diffe- 
renzengleichungen, die weiter unten besprochen werden sollen. Von 
mehr elementaren Arbeiten auf diesem Gebiet ist eine Untersuchung 
von Lagrange zu nennen’), der das allgemeine Glied einer rekur- 
renten Reihe mit den » ersten Termen 7, 7’, 7”, ... dadurch findet, 
daß er zunächst eine gebrochene rationale Funktion in möglichst ein- 
facher Weise so zu bestimmen sucht, daß die bei wirklicher Ausfüh- 
rung der Division entstehende unendliche Reihe in der Form 


T+Txz+T"?+--: 


beginnt. Partialbruchzerlegung und Reihenentwicklung der einzelnen 


Partialbrüche liefert dann sofort das gesuchte allgemeine Glied der 


Reihe 
T+.T7Tc:+T 2400: 


In gewissem Zusammenhang mit diesen Problemen steht auch eine 
Methode°?), die Laplace als calcul des fonetions generatrices be- 
zeichnet (vgl. S. 273). Unter erzeugender Funktion ist nichts weiter 
als die Summe einer Reihe einzelner nach demselben Gesetz entstandener 
Größen zu verstehen. Die Abhandlung selbst enthält nichts wesentlich 


Neues; sie behandelt Aufgaben wie z. B. : durch z auszudrücken, wenn 


t (; — 1)- 2 


ist, und löst sie mittels Reihenentwicklungen und Überlegungen, wie 
wir sie an der geistreichen Koeffizientenbestimmung S. 1005 bereits 
kennen gelernt haben. 


) Nach Klügel a. a. O. finden sich diese Formeln angegeben bei Prony, 
Nouvelle Architechnique hydraulique 1790/96, t. II, Anmkg. zu $ 1373. Die 
letzte der angeführten Gleichungen steht auch Histoire de l’Acad&mie des Sciences 
1788 (1791), p. 582. 2) Oeuvres de Lagrange, t. VI, p. 507. Die Abhand- 
lung ist vom Jahr 1772, 3) Histoire de l’Academie des Sciences 1779 (1782), 
p. 207 ff. ; 


Differenzen- und Summenrechnung. 1051 


Differenzengleichungen treten in Praxis und Theorie oft auf; so 
im Zusammenhang mit der Bestimmung der willkürlichen Funktionen 
der Integrale partieller Differentialgleichungen, wenn gewisse Be- 
dingungen zu erfüllen sind; dies hat nach Charles!) zuerst Con- 
dorcet bemerkt.”) Einen anderen Ausgangspunkt, der auf Differenzen- 
gleichungen führt, bilden die Funktionalgleiehungen. So redu- 
zıert Laplace?) die Gleichung 


fonet. [p(2)] = H,- fonct. [v(x)] + X,, 
wo 9, %, H und X gegebene Funktionen sind und die unbekannte 


Funktion fonet. bestimmt werden soll, in folgender Weise auf eine 
Differenzengleichung: er setzt 

w=Y(a) und u,,,= pa), 
berechnet aus der ersten dieser Gleichungen durch Umkehrung 


7 Tu) 
und erhält so 

Y,,1= px) = II(u,). 
Diese Rekursionsformel für «, definiert aber u, als Funktion von z; 
somit können z£= I‘(u,) und damit auch H, und X, als Funktionen 
von 2 dargestellt werden. Ersetzt man jetzt in der ursprünglichen 
Gleichung x überall dureh z, so entsteht eine Gleichung der Form 


| Keine, 
wo Y, für fonet. [w,] geschrieben ist. Ist 
|fonct. (2)? = fonct. (2x) + 2 
gegeben‘), so setzt Laplace 
w=%, U,,,=2%, also u,,=2u, 


und erhält durch Anwendung der weiteren Substitution fonet. (w,) = t, 
die Gleichung 

lrı er (t,)? ne 2 
mit dem Integral 





') Memoires presentes par divers Savans, t. X (1785), p. 573#f. ?, Siehe 
Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1771 (1774), p. 49ff. und 1772, part. 1 (1775), 
p- 32 und p. 57. Man vgl. hierzu auch Monge in Me&moires presentes par 
divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 322. ®) Ebenda (Mem. div. Sav.), p. 71. 
Laplace behauptet, seine Methode stamme aus dem Jahre 1772, und verweist 
auf die oben zitierte Abhandlung von Condorcet aus dem Jahre 1771. _ 

*) Ebenda, p. 74. Diese Gleichung findet sich schon Miscellanea Taurinensia, 
t. II®, 1760/61, p. 320. 


1052 Abschnitt XXVII. 


:—1 4 
= a? Br 
wo a eine willkürliche Konstante ist; die weitere Untersuchung bietet 


keine Schwierigkeiten. Auch Charles hat Funktionalgleichungen'); 
van +mae+n)— Pvb®+pe+)=RH, 


wo P und R Funktionen von x und a, m, n, b, p, q Konstante sind, 
geht, wenn 


ar +ms+n=blao+Yp”+plao+yp)+gq 


ist, wo © und @ zwei neue Konstante sind, unschwer in eine 
Differenzengleichung über. 

Die größte Anzahl von Arbeiten über Differenzengleichungen ver- 
dankt jedoch nicht einem praktischen Bedürfnisse ihren Ursprung, 
sondern vielmehr dem Umstand, daß sich sowohl alle allgemeinen 
Gesichtspunkte als die meisten in weiterem Umfange brauchbaren 
Integrationsmethoden, die bei Differentialgleichungen von Vorteil sind, 
mühelos auf die Theorie der Differenzengleichungen übertragen lassen. 
So sehen wir die Entwicklung der letzteren Theorie von den Fort- 
schritten auf dem Gebiet der Differentialgleichungen abhängig, durch 
diese bedingt; dieser Zusammenhang ist so innig, daß häufig einer 
Abhandlung über Differentialgleichungen Bemerkungen über Diffe- 
renzengleichungen anhangsweise beigefügt sind. Am geringsten ist 
die Analogie bezüglich der singulären Integrale Charles hat 
diesen Begriff zuerst auf Differenzengleichungen übertragen?) unter 
Berufung auf die Erklärung ihres Wesens, wie sie Lagrange ge- 
geben hat; er kommt zu dem Ergebnis, daß eine Differenzengleichung 
zwei vollständige Integrale haben kann. Ist nämlich V=0 das Inte- 
gral einer Differenzengleichung Z = 0, so erhält man letztere aus dem 
Integral, indem man die Integrationskonstante a aus den Gleichungen 
V=0( und öV eliminiert; ÖV entsteht hierbei durch Variation von 
x und y bei konstantem a. Läßt man jetzt auch a variieren, so wird 


AV=8V + RAa. 
Ist nun R=0, so werden die beiden Gleichungen 
V=0 und d7=0 


wieder genau dieselbe Gleichung Z = 0 liefern, wie zuerst auch, und 
es ist bei diesem Eliminationsprozeß ganz gleichgiltis, ob « konstant 





‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1786 (1788), p. 695. ?2) Ebenda, 
1783 (1786), p. 560. 


Differenzen- und Summenrechnung. 1053 


ist oder nicht. Das singuläre Integral ergibt sich dann durch Eli- 
mination von a au V=(0 und R=(. Bis hierher ist die Analogie 
mit den Differentialgleichungen vollständig; jetzt kommt aber ein be- 
deutsamer Unterschied: während man nämlich bei den Differential- 
gleiehungen die Größe « unmittelbar aus R=(0 berechnen kann, 
enthält diese Gleichung bei den Differenzengleichungen neben a im 
allgemeinen auch noch die Differenz Aa. Um a eliminieren zu können, 
ist daher die Integration von R=0 erforderlich; infolge dieses Pro-. 
zesses geht aber eine willkürliche Konstante in das singuläre Integral 
ein. Charles erläutert das Gesagte an einigen Beispielen. Das voll- 
ständige Integral von 


A 2 
gy-ahy+, 


wo Az, die Differenz von x, konstant und gleich y ist, lautet 


g9y = 2nax + a”. 


Daraus ergibt sich 
Ay= 2na, 


wenn a konstant ist, hingegen 

Ay=2na+ 2. I2n(x +9) +2a+ Aal, 
wenn «a ebenfalls variiert. Zur Bildung des singulären Integrals er- 
hält man also die Bedingung 


2n(c+g)+2a+Aa=0. 
Hieraus folgt 


a RE 1y>[4 +2 |, 


wo b eine willkürliche Konstante bedeutet, und damit endlich 


2.38 


Charles weist auch noch darauf hin, daß man aus dieser Gleichung 
bei Anwendung desselben Prozesses wieder 


gy = 2nax + a? 


erhalten würde, d.h. daß das singuläre Integral des singulären Inte- 
grals das ursprüngliche vollständige Integral ist. Später sucht Charles 
auch bei gewöhnlichen Differentialgleichungen, die er als Grenzfall 





') Die Herleitung setzt voraus, daß "— -” eine ganze Zahl ist. 
g I% 


1054 Abschnitt XXVII. 


der Differenzengleichungen auffaßt, ähnliche Verhältnisse, d. i. die 
Existenz zweier vollständigen Integrale, von denen eins das singuläre 
des anderen ist, nachzuweisen und sie durch einen Ausdruck zu inte- 
grieren, der das singuläre Integral als Spezialfall enthält; seine Dar- 
stellung ist indessen nicht recht verständlich.') Die erwähnte Eigen- 
tümlichkeit ist auch Monge nicht entgangen; aus 


| (Ay)’= b* 
erhält er zunächst 
2AyAAy+ (AAy’= 0 
und hieraus 


AAy=0 und 2Ay+AAy=(. 


Der erste Fall gibt 
bx 
a 


ER ee 


der zweite aber 
b = 
y- A ea bo 1)*. 


Monge behauptet?) dann, das vollständige Integral der gegebenen 
Gleichung sei das Produkt der vier Gleichungen 


y-A-+; y-A-—%; 
b - b = 
y-Actsi UN Aa 


Die übrigen Untersuchungen zeigen mehr Analogie; Condorcet, 
der wie bei den Differentialgleichungen die Integration auf die Aus- 
führung einer ganz bestimmten Reihenfolge gewisser Operationen als 
Multiplikationen, Substitutionen, Eliminationen, Umformungen und 
Integrationen zurückführen will?), auch Näherungsmethoden für Diffe- 
renzengleichungen bespricht?), hat sich eingehend mit der Integra- 
bilität gegebener Differentialausdrücke beschäftigt; in Analogie dazu 
sucht er die Bedingungen aufzustellen®), wann eine gegebene Funk- 
tion V_ von 8, 9, 2,... Az, Ay, Az,... A?z, A?y, A?z,... vollstän- 
dige Differenz einer ähnlich gearteten Funktion B der nächstniederen 
Ordnung ist, so daß also VY=AB. Durch Benutzung der Glei- 
chungen 

dV_dAB dV _dAB dV_dAB 


dz dx’ dAxz dArz’ Ay Se 2 








!, Histoire de l’Academie des Sciences 1788 (1791), p. 115ff. Vgl. auch 
p. 580 ff. ?) Ebenda 1783 (1786) p. 727. Die betreffende Abhandlung wurde 
1785 gelesen. ®) Ebenda 1770 (1773), p. 123 ff. %) Ebenda, p. 135. 
®) Ebenda, p. 110. 


Differenzen- und Summenrechnung. 1055 


wo die d partielle Differenzenbildung andeuten, findet er zunächst 





daV dB 

re 7% 

dV dB dB db 
77 AR a 

dV dB dB dB 
Ars hauen 


und ähnlich gebaute Ausdrücke in ,2,.... Es ergibt sich schließ- 
lich die Bedingungsgleichung 








av dV ı nn—1) ,sdV „aV 
Fre FF Se un Eee r 

dv „dV „av 
ra 

„ dV „av 

ragt A gan 

dV 

m 2 
+ m, =) 
und analoge Gleichungen in Y, 2, ....; hierbei ist n» der Exponent der 


Ordnung der Funktion V. In derselben Abhandlung sucht Condorcet 
auch die Variationsrechnung für endliche Differenzen abzuleiten), 
was nach seiner Aussage bereits Lagrange in einem speziellen, aller- 
dings alle Schwierigkeiten des allgemeinen Problems enthaltenden 
Fall getan hatte. Soll £V ein Maximum oder Minimum werden, 
sagt Condorcet, wo V eine Funktion von &, Y, 2,... und den end- 
lichen Differenzen dieser Variablen bedeutet, so ist die Bedingung 


dzV=0 
gleichbedeutend mit 
dEV 


dzEV 
dx mo 7 


’ dAx 0; 


ur 
und ähnlichen Gleichungen in %, 2,...; Condoreet weist auch auf 
die verwandten Bedingungen dafür hin, daß Y eine exakte Diffe- 
renz ist. 

Auch die allgemeinen Methoden der Differentialgleichungen 
wurden auf Differenzengleichungen übertragen. So übt Lorgna die 
Methode der Auffindung integrabler Gleichungen durch Ausgehen 
vom Integral; er stellt sich die Aufgabe, alle Differenzengleichungen 
mit variablen Koeffizienten zu finden, die ein vollständiges Integral 


') Histoire de l’Academie des Sciences 1770 (1773), p. 119. 


1056 Abschnitt XXVL. 


von gegebener Form zulassen.') Die Verwendung von. Multiplikatoren 
zwecks Integration von Differenzengleichungen faßt u.a. Pietro Paoli 
ins Auge?); auch Trembley bedient sich dieser Methode. Sei 


dy+ My=N, 
wo d eine endliche Differenz andeuten soll, die gegebene Gleichung’) 
und P+dP der Multiplikator. Die linke Seite der Gleichung 
(P+dP)dy+(P+dP)My=(P+dP)N 
wird dann wegen 
dPy)=Pdy+ydP+dPdy=(P+dP)dy+yadPp 
eine totale Differenz, wenn 


ydP=(P+dP)My, 
d. h. 
dp 


Prap 


Die letztere Gleichung geht aber mit Hilfe der Substitution P= e in 
1 
er 
über; daraus folgt 
1 
 za—M) 
wo z ein Produkt von lauter Faktoren 1— M bedeutet. Trembley 
erhält unschwer 





v-4-W (CH): 


wo M’ den auf M folgenden Funktionswert, J; eine Summation be- 


deutet; er verweist übrigens auf Lagrange, welcher diese Aufgabe 
schon im ersten Bande der Turiner Miszellen integriert hatte. Auch 
Näherungsmethoden*), sowie die Variation der Konstanten sind auf 
Differenzengleichungen übertragen worden. 

Ehe wir zu den Methoden übergehen, die für spezielle Gleichungs- 
typen ausgebildet worden sind, haben wir eine nicht unwichtige Unter- 
scheidung zu erwähnen; während nämlich die ersten Untersuchungen 
über Differenzengleichungen die Differenz Ar konstant annehmen, hat 
man später auch den Fall betrachtet, daß Ar von x abhängig ist, 


') Memorie di Mat. e Fis. Soc. It., t. I, 1782, p. 418 ff. ?) Ebenda, 
t. IV, 1788, p. 464. °) Nouveaux M&moires de l’Acad&mie de Berlin 1799/1800 
(1803), p. 18. *, Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1782 (1785), p. 31f. 


Differenzen- und Summenrechnung. 1057 


die x selbst also keine arithmetische Reihe 1. Ordnung bilden. Diese 
Möglichkeit hat anscheinend zuerst Monge berücksichtigt, der durch 
seine Untersuchungen über die willkürlichen Funktionen bei partiellen 
Differentialgleichungen auch auf die angeblich von Euler entdeckten 
willkürliehen Funktionen bei Differenzengleichungen geführt wird. 
Hierbei stellt sich Monge die Aufgabe!), die Gleichung 


Ay+Ay+B=0 


vollständig zu integrieren, wenn Az 1. konstant =a:; 2. =a+ ba; 
3. = ax" — x ist. Im ersten Fall ergibt sich 


T . TE TE 
Ay+B=(1—-A4) > p (sin ”® & cos =), 


wo 9 eine willkürliche Funktion von zwei Veränderlichen ist; im 
2. und 3. Fall sind die Integralgleichungen wesentlich komplizierter; 
Monge benutzt zu ihrer Herleitung die Substitutionen 


a+bz=e, d.h. Au=1lg(b-+1), 
bzw. 


“=e", dh Au=(n—N)o+nlga, 


die Logarithmen ins Resultat einführen. Ausführlicher und allgemeiner 
ist die Voraussetzung variabler Ax von Lorgna behandelt, der Ax 
gleich irgend einer Funktion X von x setzt?) und die Folgen dieser 
Annahme eingehend untersucht. Die Reihe y, y’, y”,... ist dann da- 
durch definiert, daß jeder Term aus dem unmittelbar vorhergehenden 
durch Substitution von + X an Stelle von x hervorgeht. Analog 
gehe in der Reihe X, X’, X”,... jedes Glied aus dem vorhergehen- 
den dadurch hervor, daß man x durch den „Modul“ & + X ersetzt. 
Dann kann, wie leicht ersichtlich, y” auch unmittelbar, d. i. ohne 
Zuhilfenahme der Terme y”-», ... aus y erhalten werden, indem 
man für x die Summe 


stX + X’+r:...4+ Xe-D 
substituiert. Lorgna findet noch andere Beziehungen; so stellt er 


die y” und mit deren Hilfe schließlich auch die Differenzen von 
y beliebiger Ordnung durch 


z+tX+X’+...4+ Xe-N 


‘) Memoires presentes par divers Savans, t. IX (1780), p. 357. Dieser Auf- 
satz wurde 1774 der Akademie vorgelegt. ?) Memorie di Mat. e Fis. Soc. 
It., t. I, 1782, p. 376. 


1058 Abschnitt XXVL. 


dar, was bei Benutzung des Taylorschen Satzes leicht gelingt. Er 
benutzt die betr. Formeln zur Integration der linearen Gleichung 


g=Ay+By+Cy’+---,') 


in der @ eine Funktion von x bedeutet, bei variablem Ar —=X. 
Pietro Paoli, der Lorgnas Arbeiten kennt und auch zitiert, be- 
handelt ebenfalls den Fall variabler Ax. Sei eine Gleichung M = 0 
zwischen &, y, und deren Differenzen gegeben, ferner 


Axz=gy(x) — x.?) 
Paoli verlangt nun <=p, und 9(X) =p,,,, woraus 


P;+ı ii. p(P,)- 


Aus dieser Gleichung kann aber bei gegebenem @ die Funktion p,—=& 
ermittelt, somit & und seine Differenzen durch 2 ausgedrückt werden; 
dadurch geht y, in eine Funktion Z, von z und die ursprüng- 
liche Gleichung M =0 in eine neue zwischen ?Z und z über, wobei 
jetzt die Differenz von 2 konstant und zwar gleich 1 ist. Paoli hat 
damit nachgewiesen, daß der Unterscheidung von variablen und kon- 
stanten Ax keine prinzipielle Bedeutung zukommt. 

Von speziellen Gleichungen wurde naturgemäß zuerst die lineare 
Gleichung in Angriff genommen. Hier ist an erster Stelle ein Auf- 
satz von Lagrange aus dem Jahre 1759 zu nennen.?) Bezüglich der 


Gleichung“ 
Ay+yM=N, 


wo wir A statt d geschrieben haben, und wo M und N Funktionen 
von & bedeuten, erinnert Lagrange an die Integration der Differential- 


gleichung 
dy+yXdx = Zds, 


die er nach folgender Methode behandelt: er setzt y=uz und 


spaltet in 
zdu+u2zXde=0 und udz= Zdx; 


daraus ergibt sich 


Z Sxax, 
u= e-SXd2 und vau-ufl de _Je A 


u eSX dx 








Auf dieselbe Weise läßt sich auch 

!) Memorie di Mat. e Fis. Soc. It., t. I, 1782, p. 409. Lorgna verweist 
auf die entsprechende Integration bei konstantem Ax durch’ Lagrange in den 
Turiner Miszellen und den Berliner Memoiren. 2) Memorie di Mat. e Fis. 
Soc. It., t. IV, 1788, p. 455. ®) Miscellanea Taurinensia, t. I? (1759), p. 33 ff. 


Differenzen- und Summenrechnung. 1059 
Ay+tyM=N 
integrieren. Aus y= uz folgt 
Ay=uAz + zAu+ Aufz; 
Lagrange spaltet in 
z2Au+uzM=0(0 und uAz+AuAz=N 


und schreibt die erste Gleichung in der Form 


a, 


U 
woraus mittels u = e‘ wegen Au = e’(e?'— 1) die neue Gleichung 


Au 
u 


=e''—1=—-M 


hervorgeht. Hieraus folgt 


At=Il(1—M), 
also 


t= DZ UI-M) wd u=-e=a(l—M), 


wo x das Produktzeichen ist. Mit Hilfe dieses Resultats kann jetzt 
auch die zweite Gleichung 
N 
A: = uw+Au 


leicht integriert werden; es ergibt sich 


y=r(l-M)x(A+ ) 


wo wir Be statt des Zeichens N: geschrieben haben, und wo M! den 


auf M folgenden Wert bedeutet. Im folgenden!) geht Lagrange 
zur Gleichung beliebiger Ordnung mit konstanten Koeffizienten über. 
Er erinnert zu diesem Zweck an eine Methode von d’Alembert, 
die in den Memoiren der Berliner Akademie und im zweiten Band 
des Caleul integral von Bougainville für die entsprechende Diffe- 
rentialgleichung 


dy d’y x 
riecht X 


entwickelt ist; X bedeutet hierbei eine Funktion von x. Die Sub- 
stitutionen 

a 

da Pi da 1 


') Miscellanea Taurinensia, t. I? (1759), p. 36. 
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 68 


1060 Abschnitt XXVII. 


führen bei Anwendung eines Multiplikatorensystems «a, b, ec, - 
die Gleichung 


dy dp 
yriäarJarBrHNS. ar arm, 


Hierin ist 
y+At+ap+(B+b)ga+:-- 
ein exaktes Vielfaches von 


Saay +dap +), 


wenn 


dy+(A+a)dp+ (B+b)dg +: =dy+Zdp+ldg+: 


ist. Durch Koeffizientenvergleichung erhält man hieraus 


L 
A+a=—; B+b=—-; usw.; 


pe; 


- auf 


der letzte Koeffizient werde gleich O0 angenommen. Aus diesen 
Gleichungen ergibt sich aber jetzt durch allmähliche Elimination von 


b,e... die Gleichung 


a” ..- Aar-! + Ba" -? + .- 0, 
wo n die Ordnung der Differentialgleichung ist. Aus 
y+A+tap+(B+b)ga+-. =: 

folgt sodann 

A 

Da ee y 
also 

1 (dan 
e ae“ 

die n Werte von a liefern dann n Werte Z/, ZY,... von 2; y ergibt 


sich endlich aus den entsprechenden n linearen Gleichungen 


y+Atap+ (B+ba+. -—z 


mit den Unbekannten y,9,9g,.... Diese Methode wendet Lagrange 


‚auf die Gleichung 
y+4AAy+BAy+--—-X 


an; auch die Gleichung 


y’+ Ay" + By "+... =X, 


die, wie er sagt, auf die erstere reduziert werden kann, behandelt 


er auf ähnliche Weise. Die Substitutionen 


Differenzen- und Summenrechnung. 1061 


ER RT 11 PIEREN RR 5 
97 ER EERREPLIEPEETT BIT RG. Si 


ergeben nämlich 


yY+A+ap+(B+b)g’ +---—ayl bp — eg! —...= X. 
Die Gleichungen 

Ata=/; B+b=-—;... 
liefern wieder 

a" + Aa"! + Ba"? +... —( 


’ 


und die Transformation 
vtrldtap+(B+bd+-..-z 


a — as! = X; 


führt zu 


die n Werte von a liefern wieder » Integrale z, und y selbst ergibt 
sich wieder aus » linearen Gleichungen. Laplace, der sich auf 
Condorcets allgemeine Untersuchungen über Differenzengleichungen 
und Eulers Integralrechnung beruft!), behandelt sodann die Gleichung 


X? = Mey? + V2Ay° + PAyı... 


mit nichtkonstanten Koeffizienten und überträgt auf sie, nachdem er 
sie mittels der Relationen 


Ay” a gr Ki, y; A?y® u ver “ii Zyr +! + y; usw. 
auf die Form 


X=y’+BHR-ytlL'Be.yptUı... 


gebracht hat, seine Methode für die entsprechende Differentialgleichung 
(vgl. 8. 931); die Aufgabe reduziert sich auch hier auf die Integration 
einer Gleichung nächstniederer Ordnung und eines Systems von 
Gleichungen der Form 

ary® rt! + y" 7. 


Letztere Gleichung läßt sich aber auch y+!— R’y+Z°, d.i. als 


Rekursionsformel für y schreiben; durch sukzessive Substitution 
ergibt sich endlich 


Puh: FB... 2-1 [ 2 se Se 2 ) 
u: RR (AtztERt+ ta)" 
Laplace stellt diesen Ausdruck mit Hilfe der Zeichen & und Y für 
Summe und Produkt dar und bemerkt, daß auch für Differenzen- 


') Miscellanea Taurinensia, t. IV®, 1766/69, p. 300 ff. 
68* 


1062 Abschnitt XXVH. 


oleichungen das „Theorem von Lagrange“ gilt, d. h. daß die Inte- 
gration der Gleichung 


0=yf"+Hytr!+.-.. 


hinauskommt.!) Bald darauf behandelt Laplace die Aufgabe noch 
einmal; er zeigt zuerst, daß die konstante Differenz zwischen den x 
unbeschadet der Allgemeinheit immer gleich 1 genommen werden 
kann.?) Zur Vorbereitung der Aufgabe integriert er 


y„= Hr Y.-ı ur X, 


mittels der Substitution 
ee Pe VH, 


auf die von 


die sofort auf 


X 
u,—U,-1 + IH 
und damit auf 
Ai 


c+i1 


führt. Laplace wählt diese wenig motivierte Substitution wohl des- 
halb, weil sie am raschesten zu dem schon längst bekannten Resultat 
führt. Die Gleichung 

Y. = BR; Yes # EURE FLIRT a = RR = x X, 


bewältigt er mit Hilfe der Annahme 
Y,— 4, Y-1 % 1. 


«, und 7‘, sind einstweilen noch unbestimmt. Diese Gleichung liefert 
mit den gleichwertigen 


7 
Ye-1 ae 0._1 x Ya 2 ze I ED Yo-nıı ee &._n+1 Yan + Tazäsa 


nach Multiplikation bzw. mit 1, — 1ß, — ?ß,... und Addition die 
Beziehung 


 ] Bes [a ‘ß] Y.-ı * [* "Ba,_; En B] : Y._2 ns er u Ku_n+1 Yen 
+ 4; Bl BT, 1 - BT.-3 Br RR $ 2.0 


In dieser Gleichung werden jetzt die Größen 'ß,?ß,... so bestimmt, 
daß Glied für Glied mit der gegebenen Differenzengleichung über- 
einstimmt. Dann ergeben sich neben 


!) Miscellanea Taurinensia, t. IV®, 1766/69, p. 309. °) Me&moires presentes 
par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 40. 


Differenzen- und Summenrechnung. 1063 
ii Ei PL, + "BT,_3 + Aha ” BT iz + X, 
noch n Bestimmungsgleichungen für die n — 1 Größen 


BB." 'B, 
und man erhält durch ihre Auflösung nach ß der Reihe nach: 
4-H,-«, 
B='"H,—-0,_,'H,- 0,0, 


EAN 1 : > en A ? 
p= 7 Re TR DB, ; 0-2 H, Guy _1' 2 


-19 _ rn-2 .n—8 Br ; 
n ß A? =, — _n+2 H, E My %-1- 
Die nte Gleichung war 


. _.n—1i . 
un Bi! I; 


so daß *-18 auf zweierlei Arten dargestellt werden kann; durch Ver- 
gleichung ergibt sich 
B ıH, 24H sig 
0=1— — — nn - 


x 
x Rn RL a 7 ER 2 Ent 


Ist aus dieser Gleichung ein Wert von « ermittelt, so lassen sich 
die ß unmittelbar angeben; dann ist noch 7, aus der oben an- 
geführten Differenzengleichung zu bestimmen, die bezüglich ihrer 
Ordnung um 1 Grad niederer ist als die ursprünglich gegebene. 
Laplace bringt als Beispiele die bekannten Aufgaben, den Sinus 
eines vielfachen Arguments durch die Potenzen des ÖCosinus des ein- 
fachen Arguments auszudrücken, sowie das Bildungsgesetz der höheren 
Differentialquotienten von arcsin« zu entwickeln.) In einem Auf- 
satz?) in den Berliner Memoiren vom Jahre 1775, an den später 
u.a. Malfatti anknüpft?), beschäftigt sich endlich Lagrange speziell 
mit der Gleichung mit konstanten Koeffizienten 


Ay, + By; +: + Nun; 


d. i. mit dem sogenannten Problem der rekurrenten Reihen, bringt 
die diesbezüglichen Gleichungen in bequeme, handliche Form und 
berücksichtigt auch den Fall mehrfacher Wurzeln der charakteristischen 
Gleichung 

A+Bae+-.-+Nd"=0; 


diesen Fall betrachtet er übrigens auch noch in einer späteren Ab- 





') M&moires presentes par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p 65 bzw. 68. 
?”) Oeuyres de Lagrange, t. IV, p. 151ff. »), Memorie di Mat. e Fis. Soc. It. 
t. III, 1786, p. 571 ff. 


1064 Abschnitt XXVII. 


handlung von einem neuen Gesichtspunkt aus.!) Die Behandlung der 
Gleichung mit konstanten Koeffizienten bei variablem A, durch 
Lorgna haben wir bereits erwähnt; außer der linearen Gleichung 
konnte hier keine andere höherer Ordnung oder höheren Grades (vgl. 
das Beispiel von Monge 8. 1054) Beachtung finden.?) 

Für die Untersuchungen auf dem Gebiet der partiellen 
Differenzengleichungen wurde eine Arbeit von Laplace grund- 
legend; dieser ist nach eigener Aussage?) durch Aufgaben aus der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung auf das Problem der „rekurro-rekurrenten 


Reihen“, wie er sich ausdrückt, geführt worden. Seien folgende 
Gleichungen gegeben :*) 


®+A y-!+B Le=?2L...- N=0 
YVHAYiLBpAL. EN 

RB 3 io Apr % M’” 1ye—1 + 2 ie +... 
ae + A p-1 + Bsp? LI LN” | 

HEY HUT IR 


(1) nr + A" la + 7 2 on au + ern, + N" | 
Roh Hır- Ip + M* u ir +. P" rer} = Ra 2 


Laplace zeigt nun, daß man (1), die letzte dieser Gleichungen, 
stets auf folgende Form bringen kann: 


(2) y — 7 al "are + br re? 4 pe’ + ER + u”; 


hierbei sind a”, b”, c*,... u“ Funktionen von n. Aus (2) ergeben sich 
sodann die speziellen Gleichungen 


H* rap Be AR(arir iger + br-1 NE IyerR . cz + ur!) 
M" ar ae Be! N ee + et + RE .n wen 
Te luiahe ehr 2 I TAER + > ck, + 8 rn ur!) 


Addition und Anwendung von (1) liefert 


‘) Oeuvres de Lagrange, t. V, p. 627ff. (Berliner Memoiren 1792/93). 
”) Man vgl. die Notizen von Monge in dem bereits zitierten Aufsatz Histoire 
de l’Acad&mie des Sciences 1783 (1786), p. 725ff. (gelesen 1785) und Trembley, 
Nouveaux M&moires de l’Acad&mie de Berlin 1799/1800 (1803). ®) Me&moires 
presentes par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 39. Hier findet sich ein 
kurzer Überblick über die Geschichte der Differenzengleichungen. Man vgl. 
auch Histoire de l’Academie des Sciences 1779 (1782), p. 207 ff. #) Me&moires 
presentes par divers Savans, t. VI (1774), p. 354. 


Differenzen- und Summenrechnung. 1065 


2 a del ae en we he 
— ar mai 4 7 ... + N®) 
+ a + ehe +: 3 N”) 
: 
+ ur- (Hm + Mr 4 Pr.. ur 

Soll diese Gleichung mit (2) identisch sein, so muß: 

a1 _ A" 

br — br-1 1 anr-14r _ Br 

EL 5 Eh er ar-i Br — 0" 


ur er u, mt ne bi —...), 


Das Problem ist damit, genauer nach Bestimmung der a”, 5”, c*, ..: u”, 
auf die Integration des Systems der Gleichungen (2), d. i. eines 
Systems gewöhnlicher Differenzengleichungen zurückgeführt, die keine 
prinzipielle Schwierigkeit mehr bietet. In einer späteren Abhandlung‘) 
behandelt Laplace das spezielle System (equation rentrante en 
elle-möme) 


yi+4Ayi, +'Ayi,+t oe By’! + \Buit? + IByst2r- ., 


wo i von 1 bis » läuft, und für y”+! wieder y! zu setzen ist; er 
untersucht sodann kompliziertere Annahmen und bringt Anwendungen 
auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Von späteren Arbeiten auf 
dem Gebiete der partiellen Differenzengleichungen sei, abgesehen von 
Lagrange?), nur noch eine Abhandlung?) von Paoli erwähnt, der 
als Beispiel die Frage untersucht, wie oft sich eine gegebene Zahl 
als xgliedrige Summe von Termen der natürlichen Zahlenreihe oder 
überhaupt einer arithmetischen Reihe darstellen läßt.*) 

Endlich sind noch Gleichungen zu erwähnen, die zu gleicher 
Zeit Differentialquotienten und endliche Differenzen enthalten; fder- 
artige Gleichungen treffen wir bei Laplace,°’) Lorgna°®) und Paoli’) 
In gewissem Sinne kann man auch eine Aufgabe®) von Euler hierher 


t) M&moires presentes par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 79. Im Text 
wurden die einzelnen Gleichungen des Originals durch einen Index ? zusammen- 
gefaßt. 2) Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 165ff. ®) Memorie di Mat. e 
Fis. Soc. It., t. II, part. 2, 1784, p. 787 ff. *) Ebenda, p. 817 bzw. 829. 
®, Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1779 (1782), p. 302. Hier sind die 
fonctions generatrices benutzt. °) Memorie di Mat. e Fis. Soc. It., t. IV, 1788, 
p. 156ff. 7) Ebenda, t. V, part. 2, 1790, p. 575. Hier ist auf die Laplacesche 
Methode der erzeugenden Funktionen verwiesen. °%) Novi Commentarii Aca- 
demiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 140#f. : 


1066 Abschnitt XXVL. 


rechnen, eine Kurve von der Eigenschaft zu finden, daß die Halbierungs- 
linie des Winkels, den eine beliebige Kurventangente mit einer festen 
Geraden bildet, eine Kurvennormale ist (vgl. S. 515); auf die Euler- 
sche Behandlungsweise kann hier nicht eingegangen werden. 


Variationsrechnung. 


Die Variationsrechnung hatte durch Euler einen gewissen 
Abschluß gefunden, doch verdient sie in diesem Zustand den Namen 
Rechnung noch nicht, weil geometrische Überlegungen zu sehr im 
Vordergrund der Untersuchung stehen, die ganze Behandlungsweise 
auch noch nicht einheitlich, umfassend genug ist, um auf jedes 
Problem sofort angewandt werden zu können. Diesen Übelstand 
überwand erst Lagrange mit Hilfe eines neuen Algorithmus, der 
eine vollkommen gleichartige, systematisch rechnerische Behandlung 
aller Variationsprobleme ermöglicht. Der Fortschritt war so be- 
deutend, daß Lagrange die Grenzen der Integrale als variabel an- 
sehen und auch Doppelintegrale behandeln konnte. Lagrange teilte 
nach eigener Aussage seine Methode schon 1755 Euler mit und fand 
dessen Beifall;') veröffentlicht hat er sie erst 1762.?) Nach kurzem 
geschichtlichen Überblick entwickelt Lagrange seinen Grundgedanken, 
daß nämlich die Variationsrechnung kein anderes Prinzip erfordere 
als den Gebrauch der Differential- und Integralrechnung (wie die ge- 
wöhnliche Maxima- und Minimaberechnung auch), nur habe er, damit 
die beiden auftretenden Variationen (die infolge der Maximalbedingung 
und die bereits vorhandenen Differentiationen) nicht verwechselt 
werden, eine neue „Charakteristik“ ö eingeführt. So stelle dZ eine 
Änderung von Z dar, die nicht das Nämliche sei wie dZ, aber doch 
nach denselben Regeln gebildet werde; neben einer Gleichung 
dZ=möx (verdruckt für dx) bestehe also in gleicher Weise 
öZ=möx. Ohne weitere Ausführung oder Begründung schreitet 
Lagrange sofort zu folgender Aufgabe: Z sei eine Funktion von 


x%,y,2,dx,dy, da, d’x, d’y, d’z,..., 


man soll die Bedingung finden, daß $2 ein Maximum oder Minimum 
wird. Nach der „bekannten Methode“ der Maxima und Minima hat 





‘) Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69, p. 163. Vgl. hierzu Cantor, 
Zeitschrift für Math. u. Phys. (2) 23 (1878), hist.-lit. Abtlg. 1. ?) Miscellanea 
Taurinensia, t. II?, p. 173—195. Diese Abhandlung mit der von 1770 und der 
Legendres von 1786 in Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften 
Nr. 47; diese Ausgabe wurde im folgenden wiederholt benutzt. | 


Variationsrechnung. 1067 


man, sagt Lagrange, das gegebene Fi Z zu „differentiieren“, wobei 
die Größen 


2,yY,2, da, dy,da, d’x, d’y, d’2,... 


als variabel anzusehen sind, und das so entstehende Differential gleich 
Null zu setzen; bezeichnet man diese Variationen mit Ö, so erhält 
man zunächst 


2) Z=0 ’ 
oder, was dasselbe ist, 
j8Z=0. 


Diese Stelle ist von großer Wichtigkeit; sie erklärt, warum Lagrange 
keine eingehendere Begründung seines Algorithmus bringt: Er erblickt 
darin keine neue, von der gewöhnlichen Maximabestimmung prinzi- 
piell verschiedene, sondern die schon längst geübte, „bekannte“ Me- 


thode; nur enthält eben der Ausdruck sk Z bereits Differentiale, und 


es müssen daher, lediglich um „Verwechselungen“ zu vermeiden, die 
neuerdings notwendigen Differentiationen anders, also etwa durch das 
Zeichen Ö ausgedrückt werden. Diese Auffassung erklärt auch, warum 
Lagrange den im folgenden oft benutzten Satz von der Ver- 
tauschbarkeit der Symbole d und Ö nicht beweist: d und Ö sind zwei 
verschiedene Differentiationen, die ganz unabhängig nebeneinander 
hergehen. Ist nun Z so beschaffen, sagt Lagrange, daß 


oZ=ndze+pdde+gdd®ce+rödc-+--- 
+ Nöy+ Pödy + Qödy+---+vde+nddz+yödz+ -- - 
so kommt 
Inox + /poda + fgd@x+--- 
+/Nöy + / Poay + [Q5a2y te. 
F vöz + [a0dz + [rö@z + el. 
Aber man sieht leicht 
öde = dda, Ida = d’dx usw.; 
überdies findet man durch partielle Integration 
pasy = »60% — [apda; Sadox — ydör — dgqöx + [@g92; usf. 


Damit wird 


1068 Abschnitt XXVIL. 


Sin - ap +d@qg - @r+.:)d0+ [(N-dP+ @Q-a@R+:-.)öy 


+/@ da +d@y—dg+:-)de 
+(p—dg+d’r — .- )öc+(g— dr +. )dda+(r— --)Edc+:-- 
+(P-dQL@R-::)öy+(Q—-dR+::.)döy 
+(R-:.- )döy+--- 
+ — dı+doe—:--)dö2+(y—-de+--:)döz 
Fl a N 


Lagrange trennt diese Gleichung in zwei; die erste „unbestimmte“ 
Gleichung erhält alle Glieder, die unter Integralzeichen vorkommen, 
die andere bestimmt alle übrigen Glieder. Letztere Gleichung bringt 


Lagrange mit den Grenzen des Integrals 4 Z in Zusammenhang; um 
die gefundenen Gleichungen von den Größen dx, dy,... zu befreien, 
hat man zu prüfen, ob der Natur des Problems nach zwischen ihnen 
eine Beziehung besteht;!) sind sie dann mit deren Hilfe auf die 
kleinste Zahl zurückgeführt, so sind die Koeffizienten der noch vor- 
handenen Größen dx,öy,... gleich Null zu setzen. Sind sie voll- 
ständig unabhängig voneinander, so kommt 


n— dp+dg— Ör+::: =(0; 
N—-dP+dQ-—-d@’R+-::=0; v—da+dy— do+:::=d. 


Nach Untersuchungen über die Brachistochrone überhaupt und 
diejenige auf einer gegebenen Oberfläche weist Lagrange nach, daß 
von den letzterwähnten drei Gleichungen immer eine die Folge der 


beiden andern ist?), und wendet sich sodann der Aufgabe zu, fe Z zu 
einem Maximum oder Minimum zu machen, wenn Z außer den 
Variabeln x, y, 2 und ihren Differentialen auch noch das Integral 
I fi Z’ enthält, wo Z’ aus den nämlichen Veränderlichen und ihren 


Differentialen sich zusammensetzt. Diese Aufgabe, sowie das Problem 


der Maxima-Minimabestimmung von fi Z, wo Z durch eine Differential- 


gleichung 1. Ordnung definiert ist, hat schon Euler behandelt und 
gelöst, was Lagrange ausdrücklich anerkennt, der auch den Fall 
einer Differentialgleichung 2. oder höherer Ordnung für Z bespricht. 


') In der Mecanique analytique von 1788, p. 45—46 hat Lagrange den 
Fall von Nebenbedingungen durch Einführung unbestimmter Multiplikatoren auf 
das Problem ohne solche reduziert. ®) Miscellanea Taurinensia, t. II?, p. 182. 


Variationsrechnung. 1069 


Um die Brauchbarkeit seiner Methode zu erläutern, leitet Lagrange 
die Bedingungen her, daß eine Fläche von allen denen, die denselben 
Umfang oder aber gleiches Volumen haben, die kleinste ist, und be- 
weist!) den Cramerschen Satz, daß das flächengrößte Polygon von 
gegebenen Seiten einem Kreise einbeschrieben ist, aufs neue, des- 
gleichen zeigt er, daß unter allen Polygonen gleichen Umfangs?) das 
reguläre den größten Inhalt besitzt. Eine weitere Abhandlung?) 
bringt Anwendungen der Variationsrechnung auf die Dynamik; hier 
findet sich gleich zu Beginn der Eulersche Satz, daß das Integral 
der in das Bahnelement multiplizierten Geschwindigkeit eines Massen- 
punktes ein Maximum oder Minimum ist, auf ein Massensystem aus- 
gedehnt, doch ist der dabei vorzunehmende Variationsprozeß nicht 
genau definiert, was in der Folge zu Mißverständnissen Anlaß gab‘). 
Überhaupt fand der neue Kalkül außer bei Euler zunächst wenig 
Verständnis; in einer schon erwähnten Abhandlung?) erhob Borda 
verschiedene Bedenken gegen die Behandlung des Brachistochronen- 
problems durch Lagrange, die diesen zu einer nochmaligen ge- 
naueren und allgemeineren Auseinandersetzung in seiner sogleich zu 
erwähnenden zweiten Abhandlung veranlaßten; ganz ungerechtfertigt 
sind die Angriffe von Fontaine‘), der seine eigene Methode, die 
nur Eulersche und Lagrangesche Ideen in höchst unübersicht- 
licher Weise mit den Punkten der Fluxionsrechnung und dem Zeichen d 
nebeneinander ausdrückt, allen anderen überlegen hält. Euler hat 
in verschiedenen Abhandlungen die Lagrangesche Methode ausführ- 
lich auseinandergesetzt, und neben der Regel dd = dö verschiedene 
alte Sätze (vgl. S. 904) neu bewiesen”); interessanter ist sein Versuch 
einer geometrischen Deutung des Variationsprozesses®) und die darauf 
beruhende Herleitung der betr. Rechnungsregeln. Die Variations- 
rechnung — dieser Name stammt von Euler —, sagt er, scheint 
zunächst eine völlig selbständige Rechnungsart zu sein, und dem- 


') Hierbei kommt Lagrange auf die Variationsrechnung für endliche 
Differenzen zu sprechen; an diese Stelle hat dann Condorcet wieder an- 
geknüpft. ®) Über isoperimetrische Probleme handelt u.a. ein Aufsatz von 
Paolo Frisi, Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. VII, 1658/59 
(1761), p. 227ff. Der Lagrangesche Algorithmus ist hier noch nicht benutzt. 
®, Miscellanea Taurinensia, t. II?, p. 196—298. *, Wegen der Geschichte des 
Prinzips der kleinsten Wirkung vgl. man ÖstwaldsKlassiker a.a. O., Anmkg. 9, 
ferner Suter, Geschichte der mathematischen Wissenschaften, Zürich, 2, Teil, 
8. 373 ff. °) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1767 (1770), p. 5ö1ff. 

6, Ebenda, p. 588 ff. °”) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. X, 
1764 (1766), p. 94ff. (Ebenda, p. 156ff. über die Tautochrone im widerstehenden 
Mittel.) Endlich Institutiones caleuli integralis, vol. III, Anhang, p. 461—596. 
®) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 35ff. 


1070 Abschnitt XXVI. 


gemäß führt auch Lagrange ein eigenes Zeichen Ö ein, zum Unter- 
schied von der Differentiation, die durch d bezeichnet wird. Euler 
stellt sich die Aufgabe, die Variationsrechnung auf die Prinzipien 
der Infinitesimalrechnung allein zurückzuführen und zwar durch Ein- 
führung einer Hilfsvariabeln f, die als Parameter einer Kurvenschar 
mit den laufenden Koordinaten x und y gedeutet wird. Er denkt 
sich mit anderen Worten y als Funktion von x und der neuen 


Variabeln t; dx (32) stellt dann die eigentliche Differentiation dy, dt (%) 


die Variation dy von y dar; Variation ist also nichts als partielle Dif- 
ferentiation nach t. Im folgenden führt Euler die wichtigsten Auf- 
gaben der Variationsrechnung auf Grund seiner neuen Auffassung 
auf wirkliche Differentiationen nach i zurück und befreit sich dann 
von der Variabeln # schließlich wieder in geschickter Weise durch 
partielle Integration); die Endresultate treten in der gewöhnlichen 
Form auf wie sonst auch. Von Anwendungen der Variationsrechnung 
seien eine Abhandlung Eulers von 1779 über Raumkurven mit einer 
Maximal- oder Minimaleigenschaft?), ferner Untersuchungen desselben 
Forschers über Brachistochronen, wenn die wirkenden Kräfte nicht 
in einer Ebene liegen, und über Brachistochronen im widerstehenden 
Mittel erwähnt?). 

In einer Abhandlung vom Jahre 1770*) ist Lagrange wieder 
auf die Variationsrechnung zurückgekommen; er geht von allge- 
meinen Gesichtspunkten aus, die alle Spezialuntersuchungen seines 
ersten Aufsatzes gleichzeitig umfassen. Es sei g die Funktion, von 
der man die Variation dp finden will; @ soll durch eine Differential- 
gleichung von irgend einer Ordnung zwischen 9, &, Yy, 2,... und 
den Differentialen dieser Variabeln gegeben sein. Heißt diese Glei- 
chung ®=0, so wird d® = 0; ö® wird gebildet, indem man jede 
der Größen p,2,Y,...dgp,dx,dy,...,aus denen sich die Funktion ® 
zusammensetzt, als besondere Veränderliche ansieht. Indem Lagrange 
die Operation der Variation wirklich ausführt, kommt er nach Multi- 
plikation mit einer nachträglich passend bestimmten Hilfsgröße $ 
und partieller Integration auf eine Gleichung der Form 


II + [w- const., 


welche die Grundlage der weiteren Untersuchung bildet. Hierbei ıst 





') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 42, 
43. ?®) In den Me&moires de l’Acad&emie Imperiale des sciences de St. Peters- 
bourg, t. IV, 1811 (1813). 3) Ebenda, t. VIII, 1817/18 (1822), p. 17—28 bzw. 
p- 41—45. (Aus dem Jahre 1780.) *) Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69, 
p. 163—187. 


Variationsrechnung. 1071 


= Pöpg+Qdz+Röy+Sde+---, 
wo die Koeffizienten P,@, R, S,... sich in bestimmter Weise aus ® 
berechnen lassen. Die Bedingung dg=0 für das Maximum oder 
Minimum von g führt nun nach einigen Überlegungen bezüglich 


der Grenzen des Integrals nÄ % auf die Gleichung 
Qd52 + Röy+Sd2+:. —=0, 


die je nach Zahl der Relationen zwischen den Öx,öy,öz,... ın 
weniger oder mehr Einzelgleichungen zerfällt. Lagrange bringt 
späterhin!) einen einfachen Beweis seines Theorems, daß eine dieser 
Einzelgleichungen immer die Folge aller übrigen sei. Er benutzt 
hierzu den Umstand, daß in der gegebenen Differentialgleichung ® = 0 
der Ausdruck ® immer auf die Form ® = dx” gebracht werden 
kann, wo 3 eine. Funktion der Veränderlichen g,x,y,2,... und 
ihrer Abgeleiteten nach x bedeutet. Dann ist 


öoD = m Ada" -!öda + da" 62; 
wegen ® = 0 ist aber auch 2= 0, also do® — da"öF%. Sei nun 


dy 
VE ‚dp m; dx 
3—- andy +nd, rd. rt 
; dy 
PER % [Z d 
og dt 
dz 45 
+ 602 +00. +0 Jeree 
+r0dr, 
so wird man nach Multiplikation mit &dx” und partieller Integration 
(wobei nur die Größen dx,öy,dz,... unter dem Integralzeichen 


bleiben dürfen) wieder auf den Ausdruck IT + f % stoßen. Lagrange 


zeigt nun, daß der Ausdruck /Z identisch Null wird, wenn man das 
Zeichen ö durch d ersetzt; er betrachtet zu diesem Zweck die ein- 
zelnen Glieder von Ö2. zöp ist keiner partiellen Integration der 
verlangten Art fähig, es wird daher ganz unter dem Integralzeichen 


bleiben. Das Glied w'0°7 wird zuerst #(° = _ a); nach Mul- 
tıplikation mit &dx”, Vertauschung von ddp, öÖödx mit dög bzw. 
döx und partieller Integration erhält man als Glied außerhalb des 
FRE 
da dx? 





Integralzeichens den Ausdruck Ea’dar( r der, wie un- 





') Miscellanea Tauriuensia, t. IV?, 1766/69, p. 175. 


1072 Abschnitt XXVI. 


mittelbar ersichtlich, bei Verwandlung von ö in d identisch ver- 
schwindet. Gleiches ergibt sich für die übrigen Glieder von Ö2, 
d. h. es wird, wenn man Ö in d verwandelt, IT immer zu Null und 


damit / W— const., also #=0. Ersetzt man also in dem Ausdruck 


Y— Pöp+Qdx + Rödy+S8dz+--- das Zeichen Ö durch d, so 
wird identisch Pdp + Qd@ + Rdy+Sdz+:-:=(0, d.h. eine von 
den Maximum-Minimumbedingungen ist eine Folge der andern. 
Lagrange knüpft hieran die Bemerkung, daß die Möglichkeit, & in 
der Form dx” vorauszusetzen, für den Beweis wesentlich war, und 
weist darauf hin, daß bei Differenzengleichungen diese Voraussetzung 


im allgemeinen nicht zutrifft. Endlich wird die Aufgabe, 9 — fi Z 
zu einem Maximum oder Minimum zu machen, wenn Z selbst wieder 
Integralzeichen enthält, mit Hilfe der vom Integralzeichen freien 
Differentialgleichung für p gelöst, und das Problem der Brachisto- 
chrone nochmals eingehend behandelt. 

Die Frage, ob im einzelnen Fall ein Maximum oder ein Minimum 
vorliegt, wurde nach einem mißglückten Versuch von Laplace!) von 
Legendre behandelt, aber erst Jacobi gelang es, hinreichende Kri- 
terien hierfür aufzustellen. Als einfachsten Fall untersucht Legendre 
„die Variation zweiter Ordnung“?) von 4 vdxz, wo v eine Funktion 
von %, Yy und 9 = > allein ist. Er findet unter der Annahme dx =0 
mit Hilfe des Taylorschen Satzes 


a er ee, u ODRÄKLUE 
a fan az (Gy W + a0yon 20yOr + 2a OP), 
wofür zur Abkürzung 


[ax (Pöy®+ 2Q8yöp + Röp) 


gesetzt wird. Dann ist identisch 





0) Ivda — const. — «dy? 


+ far I(? # or + 2(Q + )öydp + Röp*|, 


wo « beliebig ist. Legendre nimmt nun « so an, daß sich der Aus- 


") Nova Acta Eruditorum 1772, p. 293. ?) Histoire de l’Academie des 


Sciences 1786 (1788), p. 9. Kurz zuvor unterscheidet Legendre zwischen 2 


0x 


als dem Koeffizienten von dx in dem Differential von » und = ‚d.i.dem durch 


dx geteilten vollständigen Differential von v. Vielleicht hat Jacobi, der diese 
Unterscheidung einbürgerte, diese Stelle gekannt. 


Variationsrechnung. 1073 


druck unter dem Integralzeichen in zwei gleiche Faktoren spalten 
läßt, wozu. die Gleichung 
d 
(P+Z)R-(Q+ 0) 
erforderlich ist. Dann ergibt sich bei festen Integrationsgrenzen 
9 [vdz — (ad?) — (wöy?)! + [Raz (69 + "5° y) 
und hierin kann man, da sich ja « aus einer Differentialgleichung 


bestimmt, also eine willkürliche Konstante enthält, « immer so an- 
nehmen, daß («dy?)’ — (a«öy?)’ entweder Null ist, oder dasselbe Vor- 


zeichen wie R hat; daraus folgt aber, sagt Legendre, dab [vdz 


ein Maximum ist, wenn 


2 
’ 


en 

20p? 

negativ, ein Minimum hingegen, wenn dieselbe Funktion positiv ist. 
Legendre geht sodann zw dem Fall über, daß v eine Funktion von 
%, y, p und q ist, wo 


gg 


dy=pdx und dp = qdy. 


Die Variation der 1. Ordnung ist Null, die 2. Ordnung läßt sich auf 
die Form bringen 


d [vdz— [da(Möy’+2Nöyöp + Qop* 
+2Pöyög+ 2Röpdög 


+ So), 
wofür Legendre schreibt 


I /vdz— (andy? +2Bdyöp-+ yop?)’— (“öy?+2Bdydp+yop?) 


. fe: (+ + 2 (N+ + Ge) övör+ ur Mdrdg| 


| +(@+26+ 2%) op + B+p)öpöa+sor | 


x 


Der Ausdruck unter dem Integralzeichen soll sich wieder in ein 
Quadrat zerfällen lassen; aus der Annahme, der Inhalt der geschweiften 
Kammer sei gleich 
S(ög + udp + Ady)", 

ergeben sich aber fünf Bedingungsgleichungen für «, ß, y, u, 4. Man 
erkennt, daß bei ihrer Integration drei willkürliche Konstante auf- 
treten, die so gewählt werden können, daß die außerhalb des Integral- 
zeichens stehende Differenz Null ist oder dasselbe Vorzeichen wie S 
besitzt. Legendre schließt wieder, daß damit das Vorzeichen von 8 
für die ganze zweite Variation maßgebend und für die Existenz eines 
Maximums oder Minimums entscheidend ist, gibt sodann die Verall- 


1074 Abschnitt XXVII. 


gemeinerung für den Fall, daß v Differentialquotienten beliebiger Ord- 
nung enthält, und behandelt noch einige ähnliche Fragen unter der 
Annahme, daß x nicht konstant, also dx von Null verschieden ist. 
Von den praktischen Beispielen, die Legendre untersucht, seien das 
Problem des Körpers von kleinstem Widerstand, der Kettenlinie und 
der Brachistochrone erwähnt. Herleitung und Ergebnis der vorer- 
wähnten Kriterien sind bekanntermaßen unvollständig. Die ersten Be- 
denken äußerte Legendre selbst!); in einer späteren Abhandlung 
sucht er die stillschweigende Voraussetzung, daß die Hilfsgrößen «, ß, y 
immer reell bestimmt werden können, sowie die Möglichkeit, die 
Differenz | 
(«öy? + 2Bdydp-+yop?) — (aöy? +2Böydp+ yop?) 

zum Verschwinden bringen zu können, durch Reihenentwicklungen zu 
erweisen; der Nachweis ist indessen für beide Behauptungen, von 
denen die erste richtig ist, unzureichend. Den Haupteinwand hat 
jedoch Lagrange erhoben?): das Integral kann das Vorzeichen 
wechseln, wenn auch der Ausdruck unter dem Integralzeichen dies 
nicht tut, wie an dem Beispiel 


& dx 


1—x (1— x)? 

ersichtlich ist. Das Theorem von Legendre gilt nur, solange der 
Ausdruck unter dem Integralzeichen endlich bleibt; um aber darüber 
zu entscheiden, braucht man die Funktionen «&, ß, y selbst, und die 
Erkenntnis ihrer Existenz allein genügt noch nicht. Immerhin be- 
deutet Legendres Versuch, die schwierige Frage zu lösen, und die 
Art seines Vorgehens einen großen Fortschritt. | 


t, Histoire de ’Academie des Sciences 1787 (1789), p. 348. 2, Öeuvres, 
t. IX, p. 308. Vgl. Ostwalds Klassiker a. a. Ö., Anm. 12. 


ABSCHNITT XXVII 


ÜBERBLICK ÜBER DIE ZEIT 
VON 1758 BIS 1799 


VON 


M. CANTOR 


CAnToR, Geschichte der Mathematik IV, 69 


$ Fer 
Ba FE: 
Be 


2 


> 
Ye 





Überbliek über die Zeit von 1758 bis 1799. 


Die Abschnitte XIX bis XXVII dieses Bandes haben die 
Geschichte der einzelnen Teilgebiete der Mathematik in ähnlich 
ausführlicher Weise wie die drei früher erschienenen Bände 
bis zum Ende des 18. Jahrhundert weiter geführt. Die Zeit, 
welche behandelt wurde, war eine wesentlich kürzere als in dem 
III. Bande, der selbst schon eine kleinere Zeitspanne als der II. Band 
umfaßte, von den vielen Jahrhunderten zu schweigen, durch welche 
der I. Band als Führer dienen wollte, und dennoch ist der Umfang 
dieses IV. Bandes weit über den der ihm vorhergehenden gewachsen. 
Welche Gründe diese Erscheinung hervorgebracht haben, ist leicht 
ersichtlich. Je mehr wir der Jetztzeit uns nähern, um so reichlicher 
fließen die Quellen unseres Wissens. Sie sind überdies gefaßt, wenn 
das Bild der Quelle beibehalten werden soll. Die Akademieschriften 
und Zeitschriften vermehren sich (vgl. S. 4—7) und sammeln, was in 
einzelnen Rinnseln da oder dort hervorquillt. Ihre Herausgeber sind 
weitherzig in der Aufnahme von Beiträgen auch von solchen Ver- 
fassern, welche nicht gerade einer Akademie angehören. Und diese 
Leichtigkeit das, was der Einzelne für veröffentlichungswert hielt, 
tatsächlich an die Öffentlichkeit zu bringen, mußte eine Stoffvermeh- 
rung zur Folge haben. Manches davon verdiente nicht, geschichtlich 
aufbewahrt zu werden und ist in diesem Bande mit Fug und Recht 
übergangen, aber Anderes hat, zur Zeit seiner Entstehung kaum be- 
achtet, nachträgliche Bedeutung erhalten. Einzelne besonders begabte 
Männer haben wie in früheren Zeiten auch im Verlaufe der letzten 
Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts in der Mathematik ihre Lieblings- 
wissenschaft gefunden, haben sich ihr ganz oder doch vorzugsweise 
gewidmet, und mit einer riesigen Arbeitskraft neue Gebiete urbar 
gemacht. Wir brauchen nur auf die einzelnen Abschnitte dieses 
IV. Bandes zu verweisen, welche die hier ausgesprochenen Sätze des 
Näheren belegen. Den Bearbeitern der einzelnen Abschnitte gestaltete 
sich so eine dankbare Aufgabe in der Schilderung des Wachstums der 
einzelnen Teilgebiete, aber was bei der Feststellung des allgemeinsten 


Planes zum IV. Bande in den Augusttagen des Jahres 1904 schon 
69* 


1078 - Abschnitt XXVII. 


vorausgesehen wurde, bewahrheitete sich: der Zusammenhang zwischen 
den einzelnen Abschnitten lockerte sich. Sogar die Tätigkeit eines 
einzelnen Verfassers zu verfolgen, ist schwierig geworden, geschweige 
daß die Einwirkung genügend hervorträte, welche jeder auf seine Zeit 
ausübte. Dazu ist ein Überblick erforderlich, welcher das zeitliche 
Nebeneinanderauftreten wichtiger Gedanken bemerkbar mache, und 
diese Aufgabe soll der XXVIII. und letzte Abschnitt dieses Bandes 
zu lösen suchen. | 

Schon damals, als wir den XXVII. Abschnitt bearbeiten zu dürfen 
uns erbaten, schwebte uns ein Gedanke vor, den wir im folgenden 
zur Ausführung bringen. Gewiß ist die Schlußfolgerung irrig, das in 
der Zeit Frühere müsse zu dem Späteren den Anstoß gegeben haben, 
aber soviel steht fest, daß der Anstoß zu einem Späteren, wenn er 
stattfand, nur von einem Früheren gegeben sein kann. Man muß da- 
her vor allen Dingen und unbekümmert um den besonderen Gegen- 
stand der einzelnen Untersuchung sämtliche besonders hervorragende 
Leistungen in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge zur Anschauung bringen, 
und das ist es, was die nachfolgenden Seiten bezwecken. Wenn da- 
bei auf einige wenige Dinge hingewiesen ist, von denen die Verfasser 
der Abschnitte, in welche jene gehören, schwiegen, so liegt darin der 
Beweis, daß die Ansichten über Beachtenswertes und nicht Beachtens- 
wertes verschieden sind, und daß bei der Selbständigkeit, mit welcher 
die Bearbeiter der einzelnen Abschnitte von vornherein ausgestattet 
waren, es nur zu verwundern ist, wenn nicht häufigere Meinungs- 
verschiedenheiten dem Leser begegnen. Gleicherweise sind wir darauf 
vorbereitet, daß dieser oder jener Leser nicht mit uns übereinstimme 
und Dinge erwähnt wünsche, über welche wir schwiegen, dagegen von 
uns Erwähntes als ganz unerheblich betrachte. 

Was die äußere Form der nun folgenden nach den Jahreszahlen 
geordneten Liste betrifft, so bemerken wir, daß die eingeklammerten 
Seitenzahlen sich auf den vorliegenden Band beziehen und die Stellen 
angeben, wo von den in der Liste genannten Arbeiten die Rede ist. 
Außerdem haben wir über die Art uns zu äußern, in welcher Eulers 
Leistungen verwertet sind. Euler ist bekanntlich 1783 gestorben, 
und unser geschätzter Mitarbeiter H. Vivanti hat daraus (S. 700 
Anmerkung;) gefolgert, alle nachgelassenen Schriften Eulers gehörten, 
weil vor 1783 verfaßt, in diesen Band. Wir haben eine davon ab- 
weichende Meinung. Wer eine Monographie über Euler herauszu- 
geben wünscht, wird sicherlich das Todesjahr des großen Mathema- 
tikers als Endpunkt seiner Leistungsmöglichkeit zu betrachten haben 
und wird für jenes Jahr in Anspruch nehmen, was immer aus Eulers 
Kopfe stammend, nach 1783 gedruckt worden ist. Anders scheint 


Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1079 


uns die Sache zu liegen, wenn die Geschichte der Mathematik der 
Behandlung unterworfen is. Was handschriftlich in den Auf- 
bewahrungsräumen einer Akademie verschlossen liegt, kann nun und 
nimmermehr als wirksam in dem Sinne betrachtet werden, daß es 
sich befruchtend und fördernd erwiesen habe, und demzufolge ist 
für die Geschichte der Mathematik unserer Ansicht nach erst das 
Druckjahr einer Abhandlung ihr Geburtsjahr, und diese Ansicht war 
für uns bei Anfertigung unseres Verzeichnisses maßgebend. 


1758. 


Hamilton, Treatise of conic sections bedient sich streng eukli- 
discher Form und vermeidet sogar das Gleichheitszeichen (8. 462). 

Kaestners Arithmetik betrachtet nicht nur die negative Zahl 
als eine Zahl besonderer Art (S. 80), sie ist auch das erste Werk, in 
welchem näher begründet ist, daß und warum man mit Irrational- 
zahlen rechnen dürfe. 

Lamberts angenäherte Gleichungsauflösung mittels Reihen 
(S. 140). 

Lambert über periodische Dezimalbrüche (S. 160). 


1759. 


Braikenridge über Konoide, insbesondere über das hyperbolische 
Paraboloid (S. 556). 

Daviet de Foncenex versucht den Fundamentalsatz der Algebra 
zu beweisen und äußert sich über das Imaginäre (S. 306). 

Hube, Abhandlung über Kegelschnitte in durchaus analytischer 
Form (8. 454). 

Lagrange gibt Extremwerte von Funktionen mehrerer Ver- 
änderlichen (8. 772). 

Lagranges Aufsatz, in welchem man die Fouriersche Reihe 
hat finden wollen (S. 984). 

Lambert, Freie Perspektive in 1. Auflage, eine 2. Auflage 1774 
(8. 607). 


1760. 

Eulers Beweis, daß z°-+ y?T 2°? (8. 154). 

Eulers Bewußtsein von den Vorzügen seiner trigonometrischen 
Bezeichnungen (3. 405). 

Eulers Satz über die Krümmungshalbmesser der Normalschnitte 
einer Fläche (S. 545). 

Joh. Kies betrachtet das ebene Dreieck als Grenzwert des sphä- 
rischen mittels snA=4, cs A=1,t8g4=4A (S. 408). 


1080 Abschnitt XX VII. 


Lacailles Tafeln, deren spätere Auflagen (1781—1832) von 
Lalande herausgegeben wurden (8. 434). 


Lagrange findet mittels Variationsrechnung die Gleichung der 
Minimalflächen (8. 550). 


1761. 
D’Alembert verteidigt die Behauptung log (— a) = log (a) 
(S. 308). 


Lagrange findet die Richtigkeit der Infinitesimalrechnung in 
der Ausgleichung von Fehlern (5. 644). 


1762. 
Euler schlägt für die Wurzel der Gleichung »‘® Grades die 
Form w+ AYov + BYo® + --- + QYor-! vor (8. 96). 
Lagranges erste Abhandlung über Variationsrechnung, welche 
Euler seit 1755 handschriftlich bekannt war (S. 1066). 
Waring, Miscellanea analytica (S. 93). 
Waring, Proprietates algebraicarum eurvarum (8. 467, 472). 


1763. 


Basedow, Überzeugende Methode der Arithmetik ist eines der 
ersten und besten Schulbücher (S. 51). 

Bayessche Regel für die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die aus 
gegebenen Versuchen ermittelte Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses 
zwischen gegebenen Grenzen liege (S. 240). 

Euler sieht in den trigonometrischen Funktionen nicht mehr 
Linien, sondern Verhältnisse von Linien (S. 405). 

Euler beginnt mit Transformationen elliptischer Integrale 
(8. 836). 

G@. B. Fagnano beweist den 1754 von Euler vorgeschlagenen 
Satz (S. 820). 

Klügel, Geschichte der Parallelenlehre (S. 385). 

Mauduit zeigt zwei Scharen von Geraden auf dem hyperbolischen 
Paraboloid (8. 556). 


1764. 
Bayes bestimmt aus dem Eintreten eines Ereignisses dessen 
Wahrscheinlichkeit (8. 240). 
Bezouts Abhandlung über Gleichungen (S. 98). 
Eulers Kettenbruchalgorithmus (8. 155). 
Landen, Residual analysis (S. 661). 


Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1081 


1765. 


‘ Euler macht auf die später nach ihm benannte Gerade aufmerk- 
sam, welche den Höhenschnittpunkt, den Schwerpunkt und den Mittel- 
punkt des Umkreises eines ebenen Dreiecks enthält. 

Lambert faßt in seinen „Beiträgen zum Gebrauche der Mathe- 
matik“ die Neperschen Regeln so auf, daß die Fälle gruppenweise 
geordnet sind. Er bedient sich zum Beweise derselben unbewußt der 
Gruppentheorie (S. 409). 

Vine. Riceati und Saladini geben zwei Bände Institutiones 
analyticae heraus, in welchen analytische und geometrische Betrach- 
tungsweisen angewandt werden, und in welchen zum großen Entsetzen 
der Zeitgenossen Differentiationen und Integrationen vereinigt vor- 
getragen sind (8. 677). 


1766. 

Daniel Bernoulli über Sterblichkeit bei Pocken (8. 232, 237). 

Euler über den Rösselsprung (S. 220). 

Euler will Kegelschnittbögen in die Analysis eingebürgert wissen, 
wie man es schon mit Kreislinien gemacht habe (S. 836). 

Euler erblindet auch auf dem zweiten Auge. 

Lagranges Adjungierte (S. 928) und seine Lehre von den linearen 
Differentialgleichungen (S. 930). 


1767. 

Bezouts Aufsatz über den Grad der Resultante von Gleichungen 
mit mehreren Unbekannten (S. 101). 

D’Alembert betrachtet das Unendliche als Grenze (S. 642). 

Euler benutzt den 1764 veröffentlichten Kettenbruchalgorithmus 
(8. 156). 

Euler über Bevölkerungszunahme (S 239). 

Euler über die Gestattung unstetiger Funktionen in der Ana- 
lysis, besonders bei der Integration partieller Differentialgleichungen 
(S. 790). 

Lagrange benutzt die Wurzeldifferenzen einer Gleichung als 
Wurzeln einer neuen Gleichung (8. 130). 

Lambert über die Irrationalität von x (8. 447). 


1768. 


Daniel Bernoulli wendet Infinitesimalrechnung auf Fragen der 
Wahrscheinlichkeit an (S. 238). 
D’Alembert über Reihenkonvergenz (S. 261). 


1082 Abschnitt XX VIII. 


Euler integriert die Gleichung 


dx dy 
VA+ Ba+0x’+Da°’+ Bat YVA+By+Cy+ Dy°+ By‘ 
(8. 804). 
Eulers Integralrechnung, Band I. 
Lagranges Umkehrungsformel (S. 258). 
Lambert benutzt Hyperbelfunktionen (8. 411). 
Vine. Riceati über rekurrente Reihen (S. 261). 














1769. 


Eulers Integralrechnung, Band Il. 

Euler sucht Flächen, deren über demselben Stücke der zy- Ebene 
stehende Flächenstücke einander gleich sind (S. 550). 

Lagranges „Resolution des equations numeriques“ (8. 141). 

Lagranges erste zahlentheoretische Veröffentlichungen in den 
Turiner und in den Berliner Akademieschriften (8. 161). 

Lagrange über die Eulersche (vgl. 1768) Differentialgleichung 
dx  dy 
Vx ty = (0 (8. 807). 

1770. 

Daniel Bernoulli, das Geschlechtsverhältnis bei Geburten 
(8. 239). 

Bezout, Cours de mathematiques (8. 676). 

D’Alembert gibt Integrabilitätsbedingungen ($. 873). 

D’Alembert behandelt eine Randwertaufgabe (S. 883). 

Eulers Integralrechnung, Band Ill. 

Eulers Algebra erscheint in erster Auflage. 

Euler führt mehrfache Integrale ein, und zwar zunächst Doppel- 
integrale, welchen er den Namen formula integralis dwplicata beilegt 
(8. 738). | 

G. B. Fagnano löst die 1754 von Euler vorgeschlagene Auf- 
gabe (S. 829). 

Klügel erfindet den Namen trigonometrische Funktionen und de- 
finiert sie, einem Eulerschen Gedanken (vgl. 1763) folgend, als 
Quotienten (S. 413). 

Lagrange wendet Kettenbrüche bei der Behandlung bestimmter 
Gleichungen an (S. 143). | 

Lagranges zweite Abhandlung über Variationsrechnung (vgl. 
(1762). In ihr kommt schon eine den Lagrangeschen Multiplikator 
zur Behandlung von Extremwerten impliziter Funktionen anbahnende 
Betrachtung vor (S. 1070). 


Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1083 


 Lamberts Anlage zur Tetragonometrie (8. 430). 

Lamberts Tafeln (8. 435). 

Waring, Meditationes algebraicae. Aus ihrem reichen Inhalt 
sei der @oldbachsche Erfahrungssatz und der Wilsonsche Satz er- 
wähnt (S. 106, 167). 

| 1771. 

Eulers Abhandlung De solidis, quorum superficiem in planum ex- 
plicare licet handelt von abwickelbaren Flächen und nimmt x, y, z als 
Funktionen von zwei Variablen £, u (8. 529). 

Landens erste Arbeiten über elliptische Transzendenten ($. 844). 

Malfattis Resolvente (vgl. den von Bortolotti herausgegebenen 
Briefwechsel zwischen Ruffini und Paoli) (S. 117). 


1772. 


Bossuts großer Cours de Mathematiques beginnt zu erscheinen. 

Lagrange, Reflexions sur la resolution algebrique des &quations 
(5. 110). 

Lagrange, Sur l’integration des &quations aux differences par- 
tielles du premier ordre (S. 966). 

Lagrange gebraucht symbolische Bezeichnungen wie z. B. 


af usw. (8. 1048). 


Waring, Proprietates algebraicarum curvarum (S. 467, 618 Note). 


1773. 

Euler führt das Wort Primitivwurzel ein (S. 173). 

Lagrange über Divisoren quadratischer Formen (S. 175). 

Lagrange über Berechnung von Beobachtungen unter Berück- 
sichtigung der Fehlerwahrscheinlichkeit (8. 247). 

Lagrange, Solution analytique de quelques problemes sur les 
pyramides triangulaires (S. 523). 

Lagrange handelt von dreifachen Integralen (S. 740). 

De Marguerie muß sich erfolgreich mit der Auffindung von 
Gleiehungsresolventen und mit dem Eliminationsprobleme beschäftigt 
haben (8. 118). 

Monge über die Bestimmung der willkürlichen Funktionen, 
welche bei der Integration partieller Differentialgleichungen vorkommen 
(S. 882). 

Monge spricht sich in einer 1771 der Pariser Akademie vor- 
gelegten, aber erst 1773 gedruckten Abhandlung dahin aus, daß sich 


für Mp+Ng=0 (wo p—= et g= u und M, N Funktionen von 


1084 Abschnitt XXVIIL. 


&, y, 2 sind) dieselbe Integralgleichung ergebe, ob man z als Konstante 
oder als Variable betrachte (S. 950). 


1774. 


Condorcet stützt sich bei dem Beweise des Satzes, daß, unter 
der Voraussetzung einer homogenen Gleichung m*®” Grades zwischen 
x und y, ydx sich auf die Form Pd& + Qdy bringen lasse mit ratio- 
nalem P und Q, und daß überdies Pdx + Qdy ein exaktes Diffe- 
rential sei, auf die Methode der Konstantenabzählung, von deren 
Sicherheit er aber selbst nicht überzeugt ist. Ganz ähnliche Zweifel 
hegt auch Lagrange (S. 724). 

Euler dehnt den Gültigkeitsbereich des Binomialsatzes auf ge- 
brochene und negative Exponenten aus, wis Newton es schon ge- 
wagt hatte, ohne einen Beweis dafür zu haben ($. 203). 

Lagranges Zusätze zu Eulers Algebra von 1770 (8. 171). 

Lagrange gibt die Grundzüge seiner Infinitesimalrechnung be- 
kannt (8. 644). 

Lagrange erkennt Entstehung und Bedeutung des singulären 
Integrals einer Differentialgleichung (S. 885, 890, 896, 969). 

Lambert veröffentlicht seine Freie Perspektive (vgl. 1759) in 
zweiter Auflage. In den Zusätzen befindet sich eine Geometrie des 
Lineals (S. 607). 

Laplace über die Wahrscheinlichkeit von Ursachen. In der 
gleichen Abhandlung wird gegen die Anwendung des arithmetischen 
Mittels bei der Beobachtungsberechnung Stellung genommen (S. 241, 
249). 

Monge, Memoire sur les proprietes de plusieurs genres de sur- 


faces courbes (S. 535). 
1775. 


Euler führt die Differentiation und Integration unter dem Inte- 
gralzeichen ein (8. 737). 

Karstens Optik unter wesentlichem Einflusse von Lamberts 
Freier Perspektive von 1759, wenn nicht von 1774 (8. 614). 

Lagranges Fortsetzung der Abhandlung von 1773 über Divi- 
soren quadratischer Formen (8. 177). 

Landens zweite (1771 schon angekündigte) Abhandlung über 
elliptische Transzendenten, in welcher die Landensche Transformation 
und die Darstellung eines EITBOBBABFE? durch zwei Ellipsenbögen 
vorkommt (3. 846). 

Laplace wendet ee Reihen bei Wahrscheinlichkeits- 
aufgaben an (S. 236). 


Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1085 


Laplace unterscheidet solution partieuliere von integrale parti- 
culiere (8. 888). 

Laplace bedient sich der Variation der Konstanten (S. 920). 

‚Laplace über Funktionalgleichungen (S. 1051). 

Lexell schafft die Polygonometrie (S. 431). 

Monge benutzt zum ersten Male das Schlußverfahren: sind p 
undg unter einer gewissen geometrischen Voraussetzung konstant, unter 
einer anderen wieder konstant, aber von anderem Werte, dann muß 
p eine Funktion von q sein oder umgekehrt q eine Funktion von p 
(8. 536, 561, 948). 

Die Pariser Akademie faßt den Beschluß, künftighin Einsen- 
dungen, welche eine genaue Quadratur des Kreises, Dreiteilung eines 
beliebigen Winkels mittels Zirkel und Lineal oder das Perpetuum 
mobile herzustellen verheißen, nicht mehr anzunehmen (8. 377). 


1776. 

Euler behauptet, keine Kurve lasse sich durch Kreisbögen rekti- 
fizieren (8. 488), vgl. 1781. 

Eulers Abhandlung De methodo tangentium inversa ad theoriam 
solidorum translata vom 2. September 1776 über partielle Differential- 
gleichungen (8. 551). 

Eulers Abhandlung über Kurven, deren Rektifikation sich durch 
Parabelbögen vollzieht (S. 489). 

Felkels Faktorentafeln (S. 435). 

Lagrange verwertet Kettenbrüche zur Integration von Diffe- 
rentialgleichungen (S. 916). 

Laplace gebraucht das Wort Resultante (S. 123). 

Vandermondes der Pariser Akademie 1772 vorgelegte Deter- 
minantenbezeichnung erscheint im Drucke (S. 122, 791). 

Waring, Meditationes analyticae (S. 275). 


1777. 


Eulers Arbeit über die Ellipse kleinsten Inhaltes durch vier 
gegebene Punkte (S. 469). 

Euler lehrt flächentreue und winkeltreue (konforme) Abbildung, 
letztere unter Anwendung komplexer Größen. Abbildung in der 
allgemeinsten Bedeutung des Wortes heißt bei ihm repraesentatio 
(S. 573). 

Lagrange äußert sich in einem an Lorgna gerichteten Briefe 
über die ungemeine Wichtigkeit der nunmehr unbeanstandeten Be- 
nutzung imaginärer Größen in der Analysis (S. 148). 


1086 Abschnitt XXVII. 


Lagrange wendet rekurrierende Reihen und Differenzenrechnung 
auf Wahrscheinlichkeitsaufgaben an (S. 233). 

Lagrange benutzt die Variation der Konstanten bei dem Über- 
gang von der unvollständigen zur vollständigen linearen Differential- 
gleichung ($8. 932). 

Laplace, Recherches sur le caleul integral aux differences partielles 
(5. 964). 

Laplace Über lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung 


(8. 999). 
1778, 


D. Bernoulli über Berechnung von Beobachtungen unter Ein- 
führung einer Fehlerkurve (S. 248). | 

Bertrand, Developpement nouveau de la partie el&mentaire des 
mathematiques (8. 332, 390). 

Hindenburgs erste kombinatorische Arbeit über den poly- 
nomischen Lehrsatz (S. 205). 

Schulzes Tabellen (S. 436). 


1779. 


Bezout gibt eine Eliminationsmethode für Gleichungen mit mehr 
als zwei Unbekannten (8. 127). 

Eulers Abhandlung vom 25. Januar 1779 De linea brevissima 
in superficie quacumque ducenda behandelt die drei Koordinaten eines 
Punktes in symmetrischer Weise (S. 538, 540). 

Lagrange über die Anzahl imaginärer Wurzeln einer Gleichung 


(S. 125). 


1780. 


_ Landen, Mathematical memoirs I (8. 711), vgl. 1789. 
Nieuport über parallele Kurven (S. 510). 


1781. 


Euler findet durch Kreisbögen rektifizierbare Kurven ($. 491), 
vgl. 1776. 
Kant gründet den Zahlbegriff auf die Zeit (8. 79). 


Laplace findet ferrat Pa Ye (8. 767). 
0 
Waring, Meditationes analyticae mit modernen Anschauungen 
über Reihenkonvergenz. Insbesondere lehrt er die Benutzung des 
Gliederquotienten und weiß er, daß 


Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1087 
1 1 1 
1+ 5n + zn 7 qn 7; 


konvergiert (divergiert), sofern n 21 (8. 275). 


1782. 


Euler, Methodus facilis symptomata linearum curvarum non in 
eodem plano sitarum investigandi ist zur Grundlage der heutigen Theorie 
der Raumkurven geworden, insofern s als unabhängige Variable dient 
und die sphärische Abbildung benutzt wird (S. 525). 

Laplace benutzt erzeugende Funktionen (3. 273, 1050). 


1783. 


Eulers Veröffentlichung des Reziprozitätssatzes, welchen er schon 
1746 geahnt hatte (S. 186). 

Euler bedient sich des von ihm durch S bezeichneten sphärischen 
Exzesses (S. 416). 

Euler 7. 

Vegas kleinere Tafeln. 


1784. 


Euler, De mirabilibus proprietatibus unciarum (8. 183). 

Fontana bedient sich des Namens equazione polare (8. 513). 

Laplace sucht Werte von Formeln zu ermitteln, in welche sehr 
große oder sehr viele Faktoren eingehen (8. 281). 

Waring verbreitet sich weiter über Reihenkonvergenz und deren 


Notwendigkeit (8. 286), vgl. 1781. 


1785. 


Boscowich gibt die vier Fehlergleichungen der Trigonometrie 
(8. 420). 

Charles gibt Beispiele von Unstetigkeiten (S. 881). 

Condorcet über die nach Stimmenmehrheit erfolgten Entschei- 
dungen (S. 253). 

Euler, Opuscula analytica. 

Huttons Tafeln ($. 439). 

ER 


nr 
Laplaces Differentialgleichung mt öy +375#=0 08. 943). 
Legendre führt Kugelfunktionen ein. Laplace gelangt nur 
wenig später zu den gleichen Funktionen und stellt deren Differential- 


gleichung zweiter Ordnung auf (8. 792). 
Meusniers Satz von den Krümmungen einer Fläche; in der 


1088 Abschnitt XXVII. 


gleichen Abhandlung sind zwei Minimalflächen behandelt, ebenda auch 
das Schmiegungsparaboloid (8. 547). 

Monges schon 1771 der Pariser Akademie übergebene Abhand- 
lung: Sur les developpees, les rayons de courbure et les differents- 
genres d’inflexion des courbes ä double courbure erscheint im Drucke 
(S. 531). 

1786. 


Bring führt mittels Gleichungen niedrigeren Grades die Gleichung 
fünften Grades auf die Form 


Y”’+@Gy+H=0 

zurück (8. 131). 

Cagnolis Trigonometrie (3. 418). 

Charles überträgt den Begriff des singulären Integrals auf 
Differenzengleichungen (8. 1052). 

Lambert über Parallellinien (S. 399). 

Lhuilier, Exposition elementaire des principes des calculs 
superieurs (S. 645). 


1787. 

Eulers zweite Abhandlung über den allgemeinen binomischen 
Lehrsatz (S. 204), vgl. 1774. 

Fuß untersucht sphärische Kegelschnitte (5. 387). 

Hutton, Elements of conic sections enthalten die formal wich- 
tige Neuerung, daß die vorkommenden Gleichungen aus dem Texte 
heraustretend stets auf neue Zeilen gedruckt sind (S. 465). 

Legendres Satz vom sphärischen Dreieck mit kleinen Seiten, 
welches als eben behandelt wird, nachdem jeder Winkel um den 
dritten Teil des sphärischen Exzesses vermindert worden ist (S. 423). 

Monges Aufsatz, in welchem .Berührungstransformationen benutzt 
sind (8. 982, 1037). 


1788. 

Lagrange, Mecanique analytique. In ihr ist auf S. 45—46 der 
Gedanke des Lagrangeschen Multiplikaters (vgl. 1770) abermals be- 
nutzt (S. 1068). | 

Legendres erste zahlentheoretische Abhandlung, in welcher 
schon der Reziprozitätssatz vorkommt (S. 190), vgl. 1783. 

Legendre erkennt die Wichtigkeit der Landenschen Entdeckung 
von 1775, daß ein Hyperbelbogen zu zwei Bögen zweier Ellipsen in 
Beziehung gesetzt werden kann (S. 847, 857). 

Legendre untersucht die zweite Variation (S. 1072). 

Pfaff, Versuch einer Summationsmethode (S. 291). 


Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1089 


1789. 


Eneyelopedie methodique erscheint im Drucke. 
Eschenbach über Reihenumkehrung (S. 215). 
Landen, Mathematical memoirs II (3. 711), vgl. 1780. 
Lhuiliers erstes Lehrbuch der Polygonometrie. Als Ausgangs- 
punkt wird die Bestimmung des Flächeninhaltes benutzt (S. 432). 
Schubert benutzt erstmalig den Namen konforme Abbildung 
(S. 575). 


1790. 


Brissons erster Vorschlag, der zum metrischen System führte. 

Kaestner, Geometrische Abhandlungen, Bd. I, S. 463—464 ist 
zuerst die geometrische Wahrheit Ab + BA= 0 ausgesprochen, vgl. 
1798. 

Mascheronis Anmerkungen zu Eulers Integralrechnung, Bd. 1. 
Unter vielem anderem ist bemerkenswert, daß auf S. 731 die Behaup- 


tung ausgesprochen ist, eine imaginäre Kurve könne eine reelle Länge — 


besitzen, was damit zusammenhängt, daß man damals über den Gel- 
tungsbereich von Funktionen noch im Unklaren war (S.485), vgl. 1792. 


1791. 
Arbogast unterscheidet discontinwite von discontiguite (5. 880). 
Gesetz vom 30. März über Einführung des metrischen Systems 
in Frankreich. 


1792. 


Fischer (Ernst Gottfried) veröffentlicht seine Dimensionszeichen, 
wegen derer eine heftige Polemik geführt wird (S. 217). 

Lotteri über Parallelkurven (S. 510). 

Mascheronis Anmerkungen zu Eulers Integralrechnung, Bd. II, 
vgl. 1790. 

Maskelynes Regel zur Auffindung von log sin x und log tg z, 
wenn x < 5° 3% (8. 422). 


1793. 


Eulers bereits 1777 vollendete Abhandlung, in welcher die 
Hauptformeln zwischen partiellen Differentialquotienten, welche der 
Riemannschen Funktionentheorie zugrunde liegen, bereits angegeben 
sind, erscheint im Drucke (8. 711). 

Kaestner über Parallelkurven (S. 510). 

Lagranges Interpolationsformel (S. 1048). 

Legendres sehr seltenes Memoire sur les transcendantes ellipti- 


1090 Abschnitt XX VII. 


ques, in welchem drei Typen elliptischer Integrale unterschieden sind 
(S. 860). 
Rothes Reihenumkehrung (S. 216). 


1794. 
Eulers Integralrechnung, Bd. IV. Darin auch die Anwendung 


von ö um Y— 1 zu bezeichnen (8. 315). 

Hulbe lehrt Gleichungsumformungen, welche unter Umständen 
zu deren Auflösung führen (S. 135). 

Legendre, Elements de geometrie. Darin treten erstmalig 
symmetrisch gleiche Gebilde auf (S. 336, 381, 393). 

Pronys Tabellenberechnung angefangen (S. 439). 

Vega, Thesaurus (S. 438). 


1795. 
Callets Tafeln (8. 438). 


Eeole Normale wird in Paris gegründet. In ihr wurde erst- 
malig Darstellende Geometrie durch Monge gelehrt, und Lagrange 
und Laplace hielten an ihr elementararithmetische Vorlesungen 
(S. 625). 

Monge, Fewilles d’analyse, in welchen neben zahlreichen anderen 
Dingen auch die Entdeckung der Krümmunsgslinien enthalten ist (S. 559). 
Paoli über rekurrente Reihen (8. 296). 


1796. 
Hindenburgs kombinatorisches Hauptwerk (S. 206). 


1797. 


Carnot, Reflexions sur la metaphysique du calcul infinitesimal 
(3. 647). 

Lacroix, Traite d’arithmetique (S. 345). 

Lacroix, Traite du caleul differentiel et du caleul integral 
8. 694). | 

Lagrange, Theorie des fonctions (8. 688). 

Legendre über singuläre Integrale (S. 896). 

Wessel gibt die geometrische Deutung des Imaginären (S. 315). 


1798. 


Bossut schafft in Anschluß an D’Alembert (1757) eine Klein- 
kreistrigonometrie ($. 408). 
Busse berücksichtigt, jedenfalls in Anschluß an Kaestner (vgl. 


Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799, 1091 


1790), die Vorzeichen der Strecken bei geometrischen Untersuchungen 
(8. 479). | 

Condillac, Langue des caleuls (8. 42). 

Euler gebrauchte in einer in diesem Jahre gedruckten Abhand- 
lung astronomische Zeichen © 5 4 J als Abkürzungen für gewisse 
Funktionen (S. 300). 

Legendre, Essai sur la theorie des nombres (2. Auflage 1808, 
3. Auflage 1330). Der Essai enthält den Namen Reziprozitätssatz (vgl. 
1783) und das Legendresche Symbol (S. 194). 

Monge, Geometrie deseriptive (8. 626). 

Schubert beschäftigt sich mit der Zerlegung von Polynomen in 
reelle Faktoren (S. 137). 

1799. 

Kramps Abhandlung, welche die Grundlage der Lehre von den 
Falkultäten bildet (S. 296). 

Lhuilier gründet die Polyedrometrie (S. 432). 

Ruffinis erste Arbeit über Gleichungen fünften Grades ($. 139). 


Betrachtet man diese Zusammenstellung, so ist, wie uns scheint, 


eine Tatsache hervorstechend: die überwiegende Zahl der Leistungen, er 


für welche auf Euler und auf Lagrange verwiesen ist, gegenüber | 
von der Erwähnung anderer Schriftsteller. Sind doch, wenn wir 
richtig gezählt haben, 34 verschiedene Schriften Eulers und 32 ver- 
schiedene Schriften Lagranges in unserer Übersicht genannt, Zahlen, 
mit welchen kein anderer Schriftsteller in Wettbewerb treten kann. 
Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, daß unter den einfach gezählten 
Schriften Eulers seine zweibändige Algebra, seine zweibändigen Opus- 
cula analytica, seine vierbändige Integralrechnung enthalten ist, von 
welcher letzteren wir vielleicht eine ganz gedrängte Inhaltsangabe 
hier einschalten dürfen, weil in den vorhergehenden Abschnitten das 
große Werk bald hier bald dort als Quelle genannt ist, ohne daß 
sich Gelegenheit bot, ein übersichtlicheres Gesamtbild zu entwerfen, 
als es 5. 679 geschah. 

Eulers Integralrechnung setzt sich aus vier Bänden zu- 
sammen. Der I. Band (1768) lehrt zuerst die Ausführung von Inte- 
grationen, sei es in endlicher Form, sei es angenähert mittels unend- 
licher Reihen oder Faktorenfolgen. Dann werden Differential- 
gleichungen erster Ordnung ersten Grades integriert, wobei besonderes 
Gewicht auf die Lehre vom integrierenden Faktor gelegt wird. Auch 
singuläre Lösungen kommen zur Sprache, über deren Entstehung und 
Sinn sich Euler freilich nicht klar ist. Man weiß, daß erst Lagrange 
(1774) diesen gewaltigen Fortschritt vollzog. Endlich werden Diffe- 


CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 70 


1092 Absehnitt XX VII. 


ventialgleichungen erster Ordnung aber höheren Grades behandelt. 
Der Inhalt des II. Bandes (1769) läßt sich als Integration von Diffe- 
rentialgleichungen von höherer als der ersten Ordnung zwischen zwei 
_ Veränderlichen bezeichnen. Die Gleichungen zweiter Ordnung sind 
vorzugsweise berücksichtigt, und unter denen höherer Ordnung die 
linearen Differentialgleichungen, namentlich die mit konstanten Koef- 
fizienten. Bezüglich der zur Integration benutzten Methoden betont 
Euler wiederum die Anwendung integrierender Faktoren. Auch von 
bestimmten Integralen ist mehrfach die Rede. Der III. Band (1770) 
ist seinem Hauptteile nach den partiellen Differentialgleichungen ge- 
widmet, und zwar solchen, in welchen zuerst von Funktionen zweier, 
dann von Funktionen dreier unabhängiger Veränderlichen die Rede 
ist. In beiden Fällen sind Differentialgleiehungen erster Ordnung 
von solchen höherer Ordnung unterschieden. Darauf folgt ein An- 
hang von der Variationsrechnung, endlich ein Supplement, das fast 
= = FE (X und Y sind Polynome 
4. Grades in x bzw. y) handelt, die schon im 1]. Bande integriert 
worden war. Der IV. Band (1794) setzt sich aus einzelnen teilweise 
schon vorher im Drucke erschienenen Abhandlungen zusammen, welche 
als Ergänzungen der drei ersten Bände dienen sollen. Von ihrem 
allgemeinen Inhalte seien bestimmte Integrale genannt, deren Diffe- 
rentiation unter dem Integralzeichen, elliptische Transzendenten und 
einzelne Differentialgleichungen sowohl zweiter als erster Ordnung. 
Unter den letztgenannten tritt wieder die Gleichung ae 

? V x vY 
vor. Den Schluß des Bandes bildet eine Ergänzung zu Eulers Ar- 
beiten über die Variationsrechnung. 

Wir würden dem ganzen Werke nicht gerecht werden, wenn wir 
nicht an zwei Tatsachen erinnerten, welche den Lesern dieses Bandes 
zwar genugsam bekannt sind, aber doch ins Gedächtnis zurückgerufen 
werden sollen: Euler, der 1735 sein eines Auge eingebüßt hatte, ıst 
seit 1766 auf beiden Augen blind gewesen, er ist 1783 gestorben. 
Die drei ersten Bände sind also entstanden, ohne daß Euler eine Zeile 
derselben im Manuskript oder im Drucke selbst lesen konnte, an dem 
vierten Bande war überhaupt seine irgendwie geartete Mitwirkung 
ausgeschlossen. Damit erklärt es sich, wenn im II. Bande $$ 1163 
und 1179 Euler Selbstentschuldigungen gemachter Fehler ausspricht, 
wenn er im III. Bande Differentialgleichungen für nicht integrierbar hält, 
welche er selbst schon im Jahre 1730 integriert hat ($. 1033— 1034). 

Wie Eulers Integralrechnung, sind auch mit dem Namen La- 
srange als Verfasser Arbeiten vorgekommen, welche einzeln einen 





au sschließlich von der Gleichung 


her- 





Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1093 


ganzen Band erfüllten, und über welche man an den Stellen nach- 
lesen mag, wo jene Schriften besprochen wurden. Freilich ist dieses 
bezüglich der Mecanique analytique von 1788 untunlich, da, dem 
Plane unseres Geschichtswerkes entsprechend, von der Mechanik als 
solcher abgesehen wurde und Lagranges Meisterwerk nur nebenbei 
erwähnt wurde, weil Lagrange in ihm, wie bereits in der Abhand- 
lung von 1770 über Variationsrechnung, von dem in neuerer Zeit 
nach Lagrange benannten Multiplikator zur Ermittelung von Extrem- 
werten impliziter Funktionen Gebrauch macht. 

Es hält schwer die beiden hier in den Vordergrund gestellten 
Persönlichkeiten einem bestimmten Lande zuzuweisen, dem ihre Ent- 
deckungen zur Ehre gereichen. Der in der Schweiz geborene Euler 
hat seine Werke abwechselnd in Petersburg, in Berlin, dann wieder 
seit 1766 in Petersburg verfaßt. Der in Italien geborene Lagrange 
wirkte vorzugsweise in Berlin (1766—-1787) und in Paris (seit 1787), 
und was beide, was Euler und Lagrange, geschrieben haben, das ward 
alsbald schulebildend für ganz Europa. Man könnte, man sollte vielleicht 
die beiden großen, soeben vereint genannten Gelehrten jeder besonderen 
Nationalität entkleiden und sie als europäische Mathematiker bezeichnen. 

Nach ihrem Ausschlusse bleiben unter den häufiger genannten 
Mathematikern folgende, deren Namen wir die Ziffern beifügten, 
welche zählen, wie oft der Name in unserem Überblieke vorkommt: 
Laplace (12), Lambert (10), Legendre (9), Monge (8), Waring 
(7), Deutsche Kombinatoriker seit 1778 (6). Unzweifelhaft liegt 
hier ein erhebliches Übergewicht auf französischer Seite und verlangt 
die unumwundene Anerkennung, daß innerhalb der in unserem Bande 
behandelten vier Jahrzehnte Frankreich die erste Stelle unter Europas 
Völkern einnimmt, soweit mathematische Leistungen in Frage kommen. 

Neben den von uns hervorgehobenen Zahlen, welche immerhin 
einem wenn auch eigentümlichen Zufalle ihre Entstehung verdanken 
könnten, reden gewisse, wir könnten sagen offizielle, Tatsachen die 
gleiche Sprache. 

Im Jahre 1775 faßte die Pariser Akademie den Beschluß, künf- 
tighin keine Einsendung mehr anzunehmen, welche eine elementare 
Quadratur des Kreises oder eine ebensolche Dreiteilung eines 
beliebigen Winkels oder die Herstellung eines Perpetuum mobile 
zusagte. Mag man auch auf den schon 1767 durch Lambert versuchten 
Beweis der Irrationalität von x abheben, so ist mindestens fraglich, ob die 
in Berlin gedruckte Abhandlung den Mitgliedern der Pariser Akademie 
bekannt war, da eine Einwirkung derselben auf irgendwelche Zeit- 
genossen nicht nachweisbar erscheint, und jedenfalls war es doch die 


Pariser und nicht die Berliner Akademie, welche den erwähnten Be- 
70* 


1094 Abschnitt XXVII. 


schluß faßte und die Ablehnung von als fruchtlos erkannten Ver- 
suchen über die Kreisquadratur hinaus auf zwei andere Aufgaben 
ausdehnte, welche zu oft die Geduld der ihre vermeintlichen Auf- 
lösungen Prüfenden auf harte Proben gestellt hatten. 

In Frankreich war in den Jahren 1751—1781 nach englischem 
Muster, aber dieses weit hinter sich lassend, die große Eincyclopedie 
entstanden (Bd. III?, S. 510). In Frankreich empfand man aber auch 
die Unhandlichkeit des nur zu umfangreich angelegten Werkes und 
ließ ihm 1789 die Encyclopedie methodique folgen, die dazu bestimmt 
war, die Bestandteile des großen Sammelwerkes nach Wissenschaften 
zu ordnen, und deren drei mathematische Bände bald auch außerhalb 
Frankreichs in den Bibliotheken der Fachgelehrten zu finden waren. 

In Frankreich wurde 1791 durch Gesetz das metrische System 
eingeführt. Der Gedanke, ein allgemein verwertbares, der Natur ent- 
stammendes und eben dadurch natürliches Maßsystem zu ermitteln, 
war ja keineswegs neu. Huygens hat daran gedacht, in England 
sind Versuche in dieser Richtung aufgetaucht, ein Italiener Buratini 
hat 1675 den Sekundenpendel als allgemeine Einheit empfohlen, aber 
über den Gedanken ist man nirgend hinausgekommen. Es bedurfte 
einer kühn veranlagten gesetzgebenden Behörde, eines von dieser Behörde 
gefaßten Beschlusses, um jene Gedanken in eine Tat umzusetzen, und dazu 
schwang sich das revolutionäre Frankreich 1791 auf, ein Jahr bevor das 
Todesurteil über den unglücklichen König Ludwig XVI. gefällt wurde. 

Der Verurteilung des königlichen Paares folgten seit 1792 die 
Revolutionskriege. Französische Heere zogen über die Grenzen Frank- 
reichs hinaus und wußten das Mutterland jahrelang vor den unmittel- 
baren Verwüstungen des Krieges zu schützen. In dieser Zeit ent- 
wickelten sich neue mathematische Lehren, entstanden Anstalten, an 
welchen sie vorgetragen werden konnten. Das Jahr 1795 ist das Ge- 
burtsjahr der Ecole Normale wie der Ecole Polytechnique in 
Paris. An ihnen lehrten Lagrange, Laplace, Monge. 

Das sind die Tatsachen, an welche wir dachten, als wir das 
Übergewicht Frankreichs in den letzten vier Jahrzehnten des 18. Jahr- 
hunderts, soweit es um Mathematik sich handelt, als feststehend er- 
klärten. Wir können diese Erklärung jetzt um so zuversichtlicher 
aussprechen, allerdings mit der gleichen Einschränkung, welche wir 
am Anfang dieser Erörterung vorausschickten, und welche sich auf 
Euler und Lagrange bezog: Die in diesem Bande erzählte Geschichte 
der Mathematik ist in erster Linie die Geschichte der Entdeckungen 
von Euler und Lagrange. An zweiter Stelle treten französische 
Mathematiker auf, in die dritte Stelle erst teilen sich Mathematiker aus 
den sonstigen Ländern Europas. Da finden wir in unserer Übersicht unter 


Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1095 


Einhaltung der alphabetischen Reihenfolge der Länder sowohl als der 
Schriftsteller den Dänen Wessel, die Deutschen Kästner, Lambert, 
die Engländer Landen, Maskelyne, Waring, den Finländer Lexell, 
die Italiener @. F. Fagnano, Malfatti, Mascheroni, Ruffini, den 
Schweden Bring, die Schweizer Daniel Bernoulli, Bertrand, 
Lhuilier, von welchen Bernoulli lange in Rußland lebte. 

Stellen» wir nach der Frage nach den Persönlichkeiten und den 
Ländern, welchen sie angehören, die sachlich wichtigere Frage nach 
den bearbeiteten Gebieten, so können wir uns die Antwort bequem 
machen, indem wir sagen: alle damals vorhandenen Gebiete der 
Mathematik wurden bearbeitet von den niedersten bis zu den höch- 
sten; dessen sind sämtliche Abschnitte dieses Bandes ebensoviele 
Zeugnisse. Sehen wir jeden einzelnen Abschnitt uns besonders an, 
so wird uns in denselben das Wachstum der einzelnen Teilgebiete 
erzählt, und werfen wir einen Blick in die von uns angefertigte Zu- 
sammenstellung, so erkennen wir einen Wechsel zwischen den be- 
handelten Gegenständen, der nicht bunter sein könnte. Es war da- 
mals so wie es früher war, wie es bis heute geblieben ist. Ganz 
besonders veranlagte Schriftsteller wußten neue überraschende Ge- 
danken zu äußern, die sich sofort als fruchtbar erwiesen und dadurch 
das Interesse und die Mitarbeit der ähnlich begabten Zeitgenossen 
auf sich zogen. Andere nicht minder fruchtbare Gedanken mußten 
warten, bis vielleicht erst nach Jahrzehnten ein anderer sie wieder 
aufnahm oder in unabhängiger Weise abermals dachte. 

Wenn Euler immer und immer wieder auf die Benutzung eines 
integrierenden Faktors, den er Multiplikator zu nennen pflegte, zurück- 
kam, so fällt es schwer nicht die Meinung zu hegen, Lagrange 
möge davon beeinflußt gewesen sein, als er 1770, mithin zwei Jahre 
nach dem Erscheinen des I. Bandes der Eulerschen Integralrechnung, 
abermals einen Multiplikator unter Benutzung des gleichen Kunst- 
ausdruckes in der Lehre von den Extremwerten anwandte. Wahr- 
scheinlicher ist allerdings noch, daß Lagrange diese Methode dem 
VI. Kapitel der Eulerschen Methodus inveniendi von 1774 entnahm, 
in welcher sie, wie H. Stäckel bemerkt hat, schon angewandt ist. 


Wenn Euler 1768 die Differentialgleichung == = ne mittels 
algebraischer Funktionen integrierte, so war dieser Anstoß für La- 
grange genügend, ihn zu Untersuchungen über die gleiche Differen- 
tialgleichung anzuspornen, und Lagranges Arbeit von 1769 reizte 
wiederum Euler zur erneuten Behandlung der merkwürdigen Gleichung. 

Wenn Euler in dem I. Bande der Integralrechnung Beispiele 
von singulären Lösungen vorführte und Lagrange 1774 Sinn und 


1096 Abschnitt XXVIH. 


Entstehung solcher Lösungen zu erklären wußte, so liegt der Zu- 
sammenhang auf der Hand. 

Wenn, um nicht immer wieder nur die beiden Männer anzu- 
führen, welehen ohnehin der Löwenanteil an dem Inhalte dieses 
Bandes gehört, Hutton 1787 zum ersten Male dem mathematischen 
Drucke die Anordnung geben ließ, daß Gleichungen stets auf neue 
Zeilen gesetzt wurden, so verbreitete sich diese Sitte überall hin, 
vielleicht ohne daß die meisten wußten, wem sie nachfolgten. 

Wenn Kästner 1790 die geometrische Wahrheit AB+bA=0 zu- 
erst aussprach, wenn Busse 1793 sicherlich nicht ohne Kenntnis von 
Kästners Geometrischen Abhandlungen, welche damals, gleich allen 
Kästnerschen Schriften, von jedem deutschen Mathematiker gelesen 
wurden, die Vorzeichen der Strecken berücksichtigte, und 1801 in 
seinem Buche: Neue Erörterung über das Plus und Minus, I. Ab- 
teilung (Köthen 1801) darauf zurückkam, so ist hier ganz gewiß eine 
Abhängigkeit vorhanden, während es — wenn man uns gestattet über 
die Zeitgrenze dieses Bandes noch weiter hinauszugehen — schon 
zweifelhafter ist, ob Moebius in seinem Barycentrischen Caleul von 
1827 nicht eine selbständige Nacherfindung machte, was man ganz 
gewiß dem noch erheblieh späteren mit der deutschen Sprache voll- 
ständig unbekannten Chasles wird zugestehen müssen. 

Der Einfluß, welchen Monges darstellende Geometrie, die sich 
soweit über alle ihr vorausgegangenen annähernd ähnlichen Schriften 
erhob, daß man von einer Neuerfindung zu reden berechtigt ist, so- 
fort bei ihrem Erscheinen ausübte, ist unverkennbar. 

Nicht minder plötzlich und zugleich nachhaltig wirkten Monges 
Arbeiten auf dem Gebiete der Flächentheorie und der partiellen Diffe- 
rentialgleichungen. 

Daniel Bernoullis kühne Neuerung von 1768, Infinitesimal- 
betrachtungen in die Wahrscheinlichkeitsrechnung einzuführen, wurde 
dagegen erst ganz allmählich Gemeingut. Und ganz zum Schlusse 
dürfen wir nieht unterlassen auf Gedanken hinzuweisen, deren volle 
Bedeutung über das Verständnis der Zeit, in welcher sie entstanden, 
vielfach über das Verständnis derjenigen, welche sie äußerten, hinausging. 
Die Funktionentheorie des XIX. Jahrhunderts hat ihre Keime in dem 
vorhergehenden Jahrhunderte. Man vergleiche doch, was in unserer Über- 
sicht 1758 von Kaestner, 1759 von Daviet de Foncenex, 1767 von 
Euler, 1777 von Euler und von Lagrange, 1785 von Charles, 1787 
von Monge, 1791 von Arbogast, 1793 von Euler, 1797 von Wessel 
berichtet ist, und man wird begreifen, wie wir diesen Ausspruch meinen. 

Ihn ausführlicher zu erörtern sind diejenigen berufen, welche 
vielleicht weitere Bände dieses Werkes zu schreiben unternehmen. 


„> 
“- 





Verbesserungen und Zusätze zu den Abschnitten XXI und XXVI. 


1097 


Verbesserungen und Zusätze zu den Abschnitten XXI und XXVI 
von F. Müller. 


Ss. 


nun m m mm 


. 254 


. 235 


. 236 
. 240 


. 243 


. 248 
. 252 


. 255 
. 259 


202 2.2 v.o. „1741 statt „1739“. 
Z.14 v. u. „Berlin, 5 Bde., 1782 
— 1734, 


. 204 Z.15 v.o. „vierzehn‘‘ statt „drei- 


zehn“. 
Z.1 v.u. „1787“ statt „1887“. 


.205 Z.2v.u. „Lips.“ statt „Gotting.“. 
. 415 2. 16 v.o. „combinatoriis* statt 


combinatoribus“. 

Z.2 v. u. „maxime“ statt „maxi- 
ma“ 

„reversionem‘ statt „recursio- 
nem“, 


.218 Z. 11 v.u. „J. Fr.“ statt „W.“., 


219 Z.9 v.u. „Bezout‘ statt „Bezout“. 


2820 2.9 v.u. „57“ statt * 37“. 


Z.1v.u. „Hist. Mem.“ statt, ,Mem.“. 
228 2.4 v.u. hinter „math.“ fehlt 
„pres.“. 


. 229 Z.1 v.u. hinter „Me&moires“ fehlt 


„pres.“. 


. 230 Z.1 v. u. hinter „1770“ fehlt „P.I“, 
. 231 2.15 v.o. hinter „1769“ fehlt „P. I“. 


Ya Fan fehlt 
„[1785]*. 

2. 12 v. 0. „Commentat.“ statt 
„Comm.‘“, 

2. 13 v. o. hinter „1796 
Da ’ Se 

2.3 v. o. hinter „M&m.“ 
„pres.“. 

„[1774]“ statt „1774*. 

Z. 14 v.o. „231“ statt „271%. 
7.3 v.u. „[1774]* statt „1775. 
Z.2 v.u. hinzuzufügen „Vgl. auch 
Fußnote zu S. 229“, 

2. 4 v. 0. „Gommentat.“ statt 
„Comm.“. 

hinter „1799“ zuzufügen „P. II“, 
Z.21 v.o. hinter „1777 zuzu- 
fügen „P. I*. 

2.18 v. u. vor „April“ zuzufügen 
„März oder“. 

2.6 v. u. „657 statt ‚617. 
2.12 v.o. „auf anderen Wegen 
bewiesen hatte: 1. in den Comm. 
Acad. Petrop. 7, 1734/5, p. 123— 
134 [1740]; 2. in einem Briefe 
an Joh. Bernoulli v. 27. Au- 
gust 1737, dann 3. in der ‚In- 
troductio‘, — daß“. 


hinter „1782 


fehlt 


fehlt 


S. 
8. 
S. 272 2.14 v.u. lies „In einer späteren“ 


un 


. 275 
. 276 


. 277 2. 


nnnnnnu 


262 Z.2 v.u. hinter „1769 fehlt „P.I“. 
265 2.2 v. u. „230° statt. „220°. 


statt „In der zweiten“. 

Z.2 v. u. vor „Mem.“ zuzufügen 

„Nourv.“., 

lies: „2) Act. Acad. Petrop. 3; 

1779, P. II, 29—51 [1783]. 

Z.1 v. u. lies „1773, 1784, 1785. 

2.1 v.u.:lies „V*. statt „IV“. 

2. 11 v. u. lies „analyticae“ statt 

„algebraicae‘. 

2 v. u. lies „V‘ statt „IV“. 

278 2.12 v. u. lies „300° statt „200%, 

284 2. 10 v.o. lies „Bandes, p. 48°, 

285 Z.1 v. u. lies „36“ statt „33“, 

288 Z.2 v. u. lies „123“ statt „133%. 

289 Z.3 v. u. lies „386“ statt „886“. 

645 Z. 19 v. u. lies „Name“ statt 
„Namen“. 


.655 Z.1v.u. Rogg, Handb. d. math. 


Lit., Tüb. 1830, $. 569 hat eben- 
falls „Milano 1770*. 


Zu 8. 667 (Anm. 2): 


S. 


James Glenie, The gene- 
ral mathematical laws which 
regulate and extend propor- 
tion universally; or a method 
of comparing magnitudes of 
any kind together, in all the 
possible degrees of increase 
and decrease.. Phil. Trans. 
Lond. 1777, p. 450. 

James Glenie, The doc- 
trine of universal comparison 
or general proportion. London 
1789. 4°, 

James Glenie, The ante- 
cedental Caleulus: or a geo- 
metricalmethodus ofreasoning, 
without any consideration of 
motion or veloeity, applicable 
to every purpose to which 
fluxions have been or can be 
applied, with the geometri- 
cal principles of inerements. 
London 1793. 18 p. 4°. 

667 Z. 15 v. u. Pasquich, Erste 
Gründe einer neuen Exponential- 
rechnung. Neuere Abh. Böhm. 
Ges. 3, Phys., S. 46. 


1098 Verbesserungen und Zusätze zu 


S. 6712.18 v. u und 26 vu 


S. 


nn 


(ep) 


672 


. 675 


. 679 


. 680 


. 684 


. 684 


. 700 
. 703 


Wr 


. 716 


„Die 
Bücher von Mako von Kerek 
und von Rohde befinden sich in 
der Stadtbibliothek zu Hamburg, 
Speersort. 

2.3 v. u. „1788“ statt „1786“. 
‚Analysis und höhere Geometrie‘ 
ist II, 2 des ‚Lehrbegriff der ge- 


sammten Mathematik‘, 8 Teile, 
Rost. u. Greifsw. 1767 -— 1777; 
2. Aufl. 1786—1795. 

Karsten schrieb auch: ‚Bei- 


träge zur Aufnahme der theo- 
retischen Mathematik‘, 4 Stücke 
8°, Lpz. u. Rostock. St.1I, p. 1: 
ein Versuch, worin man die 
Grundsätze der Diff.- u. Int.-R, 
so vortragen könne, daß auch 
in diesem Theile der theoretischen 
Mathematik die alte geometrische 
Evidenz herrsche. St. IL, p. 91: 
Fortsetzung der Abhandlung von 
den Grundsätzen der Diff.- u. 
Int.-R. 


Z. 1 v. u. lies „Bezout‘* statt 
„Bezout“. 
2.15 v.o. hinter „denen“: „in 


der 2. Aufl. von 1792 —1794“. 
2.13 v. u. „1770% statt „1769“. 
Der Titel heißt: „Anfangsgründe 
der Analysis des Unendlichen“. 
Im Jahre 1769 erschienen: „An- 
fangsgründe der Analysis end- 
licher Größen‘. 

2.6 v. u. „Bd. I. Arithmetik und 
Algebra, erschien 1782, Bd. I. 
Geom., Trig., Kegelschnitte, Diff.- 
u. Int.-R. erschien 1784“. 

Z.8 v. o. Die späteren Auflagen 
enthalten 4 Bände: II. Die 
Mechanik der festen Körper. 
IV. Hydrodynamik. 

2.3 v. u. streiche „Nova“. 


2.2 v. u. lies „IV (1784)* statt 
ee, 
Anm. 1. „Siehe P. Stäckel, 


Integration durch imag. Gebiet. 
Bibl. math. (8) 1, 1900, p. 109 
— 128“. 

2.11 v. u. hinter „1780, p. 3— 
31“ fehlt „[1783]*. 


den Abschnitten XXI und XXV]. 


S. 


723 2.2 v. u. lies „Hist. Mem.“ statt 
„Mem.“., 


. 725 2.3 v.u. lies „XII, a. 1756 [1758]. 
. 738 Z. 3 v. u. vor „p. 72—103“ fehlt 


„pP. IE. 


. 740 Z.1 v.u. lies „a. 1773, p. 122— 


148 [1775]“. 


. 749 Z. 3 v. u. hinter „p. 3—28“ fehlt 


„[1780]“. 


. 766 Z.1 v.u. lies „Hist. Mem.“. 
. 767 2.5 v. o. Die erste Tafel der 


Integralwerte N; e”dt gab Ch. 


0 
Kramp, Analyse des refractions 
astron. et terr. Straßb. u. Lpz. 
1797. Von ihm rührt auch das. 
Wort ‚Fakultät‘ her. 


Zu 8. 772. Als fernere Lit. über Max. 


u. Min.: 

J. Ch. de Borda, Sur la 
methode de trouver les courbes, 
qui jJouissent de quelque pro- 
priet6e du maximum et mini- 
mum. Hist. Mem. Ac. Paris 
a. 1767, H. 90, M. 551 [1770]. 

A. Fontaine, Addition & 
la methode pour la solution 
des problemes de maximis et 
minimis, ib. H. 90, M. 588. 

G.A.Lejonmark, Et sätt at 
söka maximum och minimum. 
Nya Handl. Svensk. Vet. Ak. 
a. 1794, p. 134. 


. 775 Z.4 v. u. lies „a. 1773, p. 150— 


176 [1775]«. 


. 790 Z.5 v.u. Fontana, Memoria..., 


erschien Pavia, 1793. (8. Rogg, 
Hdb. d. m. Lit., S. 499). 


.799 Z.1v.u „enrtesische‘ statt ‚Karl 


tesische‘. 


‚804 Z.4 v. u. lies „Hist. M&m.“. 
.815 Z. 1 v. u. hinter „p. 20—57“ fehlt 


„[1780]«. 


818 Z.1 v.u. lies „1827“ statt „1802“. 


(Der Band erschien besonderer 
Umstände wegen sehr spät.) 


.866 Z.11 v.u. lies „XXV, a. 1769 


[1771]. 


. 869 Z.4 v.u. lies „1897“ statt „1802. 


BE» 


——"Abwickelbare Flächen 


Ta 


vr 


- Abwicklung des 


Register, 


A. 


Aasheim (A. N.) 22. 

Abbildung 572—576. 1036. 

Abel (Niels) 110. 835. 

Abgekürzte Division s. Division (abge- 
kürzte). 

Abgekürzte Multiplikation s. Multipli- 
kation (abgekürzte). 

Abreu (Joao Manuela de) 49. 

521. 529—532. 

534 - 536. 540. 550. 565. 960. 980. 1029. 


— Abwickelbarkeit (Bedingung) 529. 530. 


540. 

schiefen Kreiskegels 
520. 521. 

Abwicklung eines ebenen Zylinderschnitts 
521. 

Accetta (G.) 34. 

Achsenabschnitte einer Ebene 528. 

Adodouroff (Vasilii Endokimovich) 55. 56. 

Additionstheoreme 799—8304. 834. 862. 
937. 

Adjungierte (Lagranges) 910. 928. 930, 
1030. 

Ahnlichkeitspunkte 629. 

Aeneas (Henri) 50. 

Aepinus (Fr. Ulr. Theod.) 95. 96. 202. 
203. 

Agnesi (Gaetana) 19. 676. 

Ahrens 17. 

Aiguillon 587. 593. 

Ayjema (Heinrich) 434. 

Ajima 446. 

Akademieschriften 3—4. 

Alberti (Andreas) 592. 

Alberti (Leon Battista) 580. 

Alexandre (J.) 30. 

Alfieri (Vittorio) 6683. 

Alhazen 414. 

Allibone 58. 

Allodi (Gaetano) 684. 

Alternanten 129. 

Amontons (Guillaume) 362. 

Ampere 1010. 

Amplitude eines Kurvenbogens 480—482. 

Amthor 25. 

AnalytischeGeometrieder Ebene 453— 521. 

Analytische Geometrie des Raumes 457. 
458. 461. 521—576. 

Analytische Methode 453—456. 


Anasxagoras 31. 
Andersen (G.) 33. 


- Anitchkof (Dimitri Sergievitch) 56. 


Anthemius 32. 

Antoni (Aless. Vittor. Papacino de) 671. 

Apollonius 32. 35. 36. 465. 

Arago (F.) 623. 

Arbogast (L. F. A.) 667. 880. 1089. 1096. 

‚Archimedes 25. 31. 32. 33. 34. 35. 340. 
341. 343. 354. 474. 493. 593. 

Argand (Jean Robert) 318. 

Arima 447. 

Aristoteles 29. 

Arneth (A.) 21. 

Assemani (J. S.) 31. 

Assemani (Simon) 31. 

Astroide 483. 

Asymptoten 10. 471. 515. 693. 

Auer 370. 

Azxonometrie 589. 


B. 


Bachet de Meziriac 169. 174. 

Bäcklund 131. 

Baermann (G. F.) 33. 34. 

Bailly (3. S.) 14. 15. 17. 18. 

Bails (Benito) 48. 63. 

Baker (Thomas) 427. 

Ball (W. W.R.) 76. 168. 

Ballistische Kurven 504. 505. 

Barbaro (Daniele) 583. 587. 

Barbieri (M.) 21. 

Barozzi (Jacopo) 581. 583. 

Barröme (Francois) 39. 

Barreme (Nicolas) 39. 40. 62. 66. 67. 68. 

Barrow (Isaak) 33. 

Bartjens (Wilhelm) 50. 62. 69. 71. 

Basedow (Joh. Bernh.) 51 85. 1080. 

Basedowsche Regel 51. 52. 

Baum (Simon) 437. 

Baumgart (Oswald) 186. 

Bayer (Johann) 362. 

Bayes (Thomas) 229. 240—245. 256. 
1080. 

Beaugrand 586. 

Beck (Dominiecus) 671. 

Beck-Calwen (J. F. van) 30. 

Beguelin (Nicolas de) 174. 175. 183. 227. 
235. 

Belgrado (Jacopo) 651. 


1100 


Bellacchı 794. 

Bendavid (Lazarus) 659. 660. 

Benedetti (Giambattista) 584. 

Beobachtungsberechnungen 247-—251. 

Berger (C. Ph.) 30. 

Bergmann (Josef) 671. 

keley 644. 649. 656. 

Bernareggi (Isidoro) 69. 

Bernoulli (Daniel) 18. 25. 62. 63. 108. 
135. 188—189. 203. 207. 211. 223. 
225. 227. 229. 230. 231. 237—240. 
248. 249. 251. 258. 265—268. 280. 
516. 621. 662. 879. 915. 942. 
946. 1081. 1082. 1085. 1095. 

Bernoulli (Jakob) 24. 201. 205. 
234. 240. 257. 262. 867. 

Bernoullische Zahlen 262. 277. 

Bernoulli (Jakob II) 19. 662. 663. 

Bernoulli (Johann) 21. 26. 30. 201. 207. 
303. 305. 307. 308. 312. 331. 354. 
378. 406. 449. 459. 460. 480. 509. 510. 
514. 519. 595. 621. 710. 726. 1097. 

Bernoulli (Johann II) 662. 


Bernoulli (Johann II) 5. 21. 28. 31. 75. 


202. 235. 
447. 


169. 170. 171. 183. 187. 
236. 239. 289. 386. 400. 441. 
654. 703. 

Bernoulli (Nikolaus) 220. 223. 

Bernoulli (Nikolaus II) 482. 

Berthelot (Claude Frangois) 671. 

Berthollet (Claude Louis) 46. 

Bertolini (J. B.) 617. 

Bertrand (Jos.) 107. 914. 
Bertrand (Louis) 120. 332—336. 339. 
346. 348. 350. 390—393. 425. 1095. 

Berührungen 692. 

Berührungstransformation- 901. 942. 980 
—984. 1013. 

Bessel 912. 

Betafunktion s. Eulersche Integrale. 

Bevölkerungszumahme 239. 

Bezout (Etienne) 18. 40. 49. 67. 71. TA. 
717. 78. 82. 84. 93. 95. 98-—102. 111. 
112. 115. 116. 127. 128. 154. 219. 351. 
355. 425. 624. 670. 676. 687. 829. 
831—834. 1080. 1082. 1086. 1097. 1098. 

Bhaskura 154. 

Biblische Schriften: s. Mathesis biblica. 

Bierens de Haan 51. 

Biering 28. 

Bigourdan (G.) 45. 46. 

Binomialkoeffizienten 182—183. 784. 

Binomische Integrale 721—123. 

Binomischer Lehrsatz 203—205. 
336. 351. 686. 699. 

Bion (Nicolas) 361. 

Biot (Jean Baptiste) 73. 402. 

Björnsen (Stephan) 480. 

Blainville (Henri Marie Ducrotay de) 5. 

Blake (Francis) 406. 407. 428. 

Blanchard 422. 

Blassiere (J. J.) 50. 82. 148. 

Blawvier 40. 


262. 


945. 


207. 


Register. 


Boaretti (Francesco) 376. 

Bobynin (V.) 55. 319—402. 

Bode (Johann Elert) 6. 54. 216. 418. 
420. 421. 422. 1048. 

Boeckmann (J. L.) 20. 

Boethius 32. 

Bogenlängen, Aufgaben über — 480— 
496. 

Bolton 60. 

Bombelli 23. 

Bonati (Teodoro) 148. 

Boncompagni (Bald. Fürst) 34. 40. 50. 

Bonne (Rigobert) 46. 

Bonnycastle 14. 33. 58. 61. 

Borda (Jean Charles de) 45. 46. 255. 
363. 364. 366. 440. 504. 505. 1010. 
1069. 1098. 

Borreby (Ole Andersen) 49. 

Borremans 686. 

Bortolotti (E.) 140. 1083. 

Bosch (Klaas) 50. 

Boscovich (Ruggiero Giuseppe) 48. 71. 
420. 426. 448. 656. 701. 1087. 

Bosmans (Henry) 68. 

Bosse (Abraham) 590—592. 619. 

Bossut (Charles) 13. 23. 40. 49. 82. 264. 
266. 271. 289. 323. 324. 408. 460. 829— 
831. 1083. 1090 

Bouache 631. 

Bougainville (Louis Antoine de) 310. 1059. 

Bougquer 362. 

Bouillau (Ismael) 323. 

Boulanger (A.) 860. 

Bourgoing (Charles) 592. 

Bourguet (Louis) 135. 

Bourrand 376. 377. 

Bradwardin 579. 

Brahe (Tycho) 10. 

Braikenridge 555. 556. 1079. 

Brander (Georg Friedrich) 45. 

Brandes 16. 

Braunmühl (A. v.). 28. 403—450. 
914. 917. 935. 1033. 

Brendel (Joh. Gottfr.) 20. 

Brennlinie 519. 

Brennlinie der Parabel 520. 

Bressius 10. 

Bretschneider (Karl Anton) 437. 

Briggs (Henry) 91. 433. 436. 439. 

Brill (Alexander) 128. 559. 

Bring (Ebbe Samuel) 131. 

Bring (Erlund Samuel) 129. 130-—132. 
1087. 1094. 

Brinkley (John) 449. 

Brioschi (Francesco) 117. 

Brisson (B.) 627. 633. 634. 

Brisson (Mathurin Jacques) 44. 46. 366. 
1088. 

Broscius 27. 

Brougham (Lord Henry) 456. 473. 

Brouncker (Lord) 156. 285. 

Brugnatelli (Gasparo) 6. 

Brugnatelli (Lodovico Gasparo) 6. 


901. 


Register. 


Brunacei (Vincenzo) 6. 
Brunet 439. 

Bruni 371. 

Buck (F. J.) 20. 

Buee (Abbe) 88. 


Bürja (A.) 29. 77. 82. 91. 218. 441. 442. 


Büsch (J. G.) 16. 54. 77. 82, 
Buffon 45. 223. 224. 255. 
Bulgaris (Eugenios) 20. 
Buratini 1094. 

Burckhardt (J. K.) 214. 


Burkhardt (H.) 880. 942. 944. 989. 1007. 


1018. 1024. 
Burney (Ch.) 31. 32. 
Burrow (R.) 35. 
Busse (Friedr. Gottlieb) 52. 
1090. 1095. 1096. 
Buzengeiger (Karl) 443. 


C 
Cagnazzi 510. 


Oagnoli (Antonio) 418—421. 424. 425. 


427. 436. 448. 1087. 
Cajori (Florian) 37—198. 


Caldani (Petronio Maria) 152. 685. 686. 


Calisti (7.) 34. 
Callet (Francois) 423. 438. 439. 1089. 


Caluso (Tommaso Valperga di) 148. 426. 


662— 664. 880. 

Camerer (J. G.) 36. 

Cametti (V.) 34. 

Camus (Charles Etienne Louis) 18. 372 
—574. 

Canovai (Stanisl.) 146. 


Canterzani (Sebast.) 130.133.152.293.311. 


Cantor (Georg) 658. 
Caraceioli 108. 671. 680. 
Caravelli (V.) 34. 684. 


Cardano (Girolamo) 9. 23. 24. 103. 104. 


115. 149. 150. 151. 153. 380. 
Carette 380. 


Carnot (Lazare Nicolas Marguerite) 432. 


439. 625. 642. 647—650. 1090. 
Casali 511. 
Cassiani (Paolo) 485. 
Cassini (Dom.) 13. 338: 366. 
Cassini de Thury 423. 
Cassinische Kurve 454. 
Cassiodorius 32. 
Castelvetri Giannantonio Andrea) 196. 


'astillon (G. F. M. M.) 27. 118. 150. 379. 


389. 407. 
Cauchy 712. 877. 
Cavalieri (Bonav.) 19. 353. 662. 674, 
Chambers (Ephraim) 16. 


Chapelle (Abbe de la) 329. 330. 353, 


355. 
Charakteristik 561—564. 569. 570. 


Charles (Jacques) 881. 972. 1049—1054. 


1087. 1096. 
Charpit 976—977. 979. 


Chasles (M.) 36. 467. 584. 587. 593. 612. 


1096. 


53. 479. 


1101 


Chatillon 631. 

Chiminello 685. 

Chompre (N. M.) 418. 

Choulant (L.) 12. 

Christensen (3. A.) 49. 82. 

Christiani (J. W.) 26. 27. 

Churchill 14. 

Ciruelo 63. 

Clairaut (Alexis Claude) 18. 43. 73. 74. 
82. 84. 102. 108. 140. 149. 321. 405. 
453.885. 886. 895. 942. 943. 980. 1032. 

Clavius 361. 646. 


' Clemm (Heinrich Wilhelm) 671- 


Clousing (Nicol.) 22. 

Cocker (Edward) 57. 60. 61. 

Colebrooke (H. Th.) 21- 

Colletta (P.) 661. 

Colletti (Nicolao) 700. 

Colson (John) 597. 

Commandino 10. 582. 583. 

Condamine (de la) 362. 

Condillac (Etienne Bonnot de) 39. 42. 
43. 44. 47. 79. 1091. 

Condorcet (Marie Jean Antoine Nicolas 
Caritat de) 14. 18. 39. 43 44. 45. 47. 
108. 114. 118. 119. 124. 182. 223— 
224. 227. 228. 239. 242. 243. 251— 257. 
264. 265. 363. 364. 377. 671. 723. 724. 
878. 880. 833. 890. 899. 904. 905. 908. 
913—915. 917. 998. 1019. 1029. 1051. 
1054. 1055. 1067.”1069. 1083. 1087. 

Configliacchi (Pietro) 6 

Contarelli 482. 485. 686. 

Corsonich (Eugen Innocentius) 376. 

Cortinovis (Girolamo Pietro) 62. 

Cossali (P.) 23. 107. 

Costard (G.) 15. 31. 

Cotes (Roger) 104. 317. 420. 449. 710. 

Coulomb (Charles Augustin) 46. 366. 

Cousin (Jacques Ant. Jos.) 82. 687. 688. 
915. 951—956. 1004. 1023. 1031. 

Craig (John) 411. 

Cramer (Gabriel) 101. 
379. 1069. 

Crelle (A. L.) 45. 107. 

Cremona L8) 579. 600. 612. 613. 

Orossley 

Feel W, 411. 

Cunha (Jose Anastacio da) 48, 49. 82. 84. 

Curabelle 588. 591. 

Cusanus (Nicolaus) 10. 


D. 


Daboll (Nathan) 61. 

Dabuz (Florian) 360. 

D’Alembert (Jean le Rond) 18. 30. 77. 
93. 104. 108. 119. 139. 149. 150. 166. 
222 —223. 225—227. 228. 232. 237. 
238, 243. 252. 261. 303. 304—306. 
309—312. 323. 325—333. 335. 337. 339. 
341. 344. 346. 349. 350. 353— 360. 389. 
390. 405. 408. 434. 449. 467. 482— 485. 
574. 629. 643. 644. 662. 687. 714. 


113. 219. 223. 


1102 Register. 
715. 728. 768. 838—840. 851. 873. Dilworth (Thomas) 57. 60. 61. 71. 
879. 880. 883. 885. 890. 899—901. Dinostratus 617. 
917. 925. 927—928. 931. 935. 958. Dionis du Sejour (Achille Pierre) 95. 
959. 984—986. 988. 990. 998. 1018. 104—105. 


1029. 1030. 1031. 1036. 1059. 1080— 
1082. 

Dam (J. van) 24. 50. 52. 71. 

Dandelin 462. 

Dandolo (Vincenzo) 376. 

Danti (Ignazio) 581. 583. 584. 612. 

D’Arcy (Graf) 18. 

Darstellende Geometrie 618#. 

Darwin (Charles) 172. 

David (Al.) 17. 

Dawviet de Foncenex s. Foncenex. 

Dechales (Milliet) 594. 619. 

Decrempo 16. 

De la Bottiere 197. 

De la Hire (Philipe) 462. 

Delambre (Jean Baptiste Josef) 44. 45. 
46. 107. 108. 109. 201. 308. 317. 338. 
418. 440. 441. 

Delametherie (Jean Claude) 5 

Del Ferro 139. 148. 150. 

Della Francesca (Piero) 580—583. 

Del Monte (Guido Ubaldo) 585—587. 
590. 592. 598. 606. 611. 

De Lorme (Philibert) 619. 

Denso (Johann Daniel) 7 

Deparcieux (Antoine) 18. 

Derand 619. 

Desargues (Girard) 588--592. 610. 615. 
619. 622. 

Descartes (Rene) 12. 70. 86. 111. 121. 
259. 331. 354. 444. 588. 601. 

Descartes’ Zeichenregel 106. 124. 125. 

Determinanten 101—192. 121—124. 219. 
524. 705. 

Determinationes (das Wort) 913. 
Develey (Isaak Emanuel Louis) 47. 78. 

 Developpable, gemeinsame zweier Flächen 
536. 537. 

Dez 371—375. 

Dezimalbrüche 40. 57. 58. 59. 160. 161. 

Dickstein (3.) 667. 

Diderot 16. 42. 149. 150. 

Differentialgleichungen 265. 281. 
294. 479. 483. 497. 873—1047. 

Differentialgleichungen zweiter Ordnung 
794. 

Differentialgleichungen höheren Grades 
939— 942. 

Differentialgleichungen, (partielle) 551— 
555. 560. 562—572.° 790. 893—896. 
897. 913— 915. 942—1029. 1041 —1045. 

Differentialgleichungen (partielle auf to- 
tale zurückgeführt), 947. 951. 963. 972. 
986. 1009. 

Differentiation und Integration unter 
dem Integralzeichen 737. 738. 758. 
Differenzenrechnung 271. 273. 278. 279. 
281. 296. 781. 784. 878. 880. 882. 926. 

1047 —1066. 


286. 


Diophant 169. 180. 

Dirichlet 192. 

Discontiguite von Discontinuite unter- 
schieden 880. 

Diskriminante 474. 

Division 64—69. 

Division (abgekürzte) 69—70. 

Dodson (James) 57. 


'Döhlemann (K.) 437. 580. 


Dollond 59. 

Domenichi (R.) 34. 
Doppelmayr 361. 

Drapiez 68. 

Dreispitzige Kurven 517—519. 
Dubois 63. 

Dubois-Reymond (Emil) 456. 
Du Breuil 591. 
Dubuat-Nangay (L. G.) 631. 
Dürer (Albrecht) 582. 612. 

Du Fay 362. 

Duhamel (J. M. C.) 630. 

Dumas 422. 

Duodezimalbrüche 58. 59. 69. 70. 
Dupin (Ch.) 623. 631. 636. 
Dupuis 634. 

Dupuy 32. 

Durchmesser 412. 473, 

Dutens (L.). 17. 31. 


E. 


Ebert (Joh. Jak.) 72. 75 

Ehernes Meer 22. 

Einhüllende 551.561—563. 566. 886. 1041. 

Eisemann 633. 

Elastische Kurve 505. 

Elimination 101—102. 110. 
127. 128. 

Ellipse, kleinste durch 3 oder 4 Punkte 
469. 470. 

Elliptischer Kegel 465. 

Elliptische Transzendenten 466. 790. 794 
— 8569. 937. 
Emerson (W.) 30. 72. 82. 85. 89. 90. 

675. 678. 
Eineyclopedie 16. 149. 150. 
Enneyclopedie methodique 14. 16. 928. 
Engel (Friedrich) 388. 400—402, 
Enneper 794. 847. 867. 
Enveloppe s. Einhüllende. 
Ennzyklopädisten 39. 
Epikurvoiden 475. 
Epizykloiden 481. 516. 
Eratosthenes 24. 202. 
Ernesti 34. 
Erzeugende Funktion 273. 1050. 1065. 
Eschenbach (Hieron. Christoph) 215—216. 
219. 1088. 
Esteves 14. 


121—123. 


a Register. 


Eittingshausen (Andr. von) 206. 

Euklid 9. 27. 32. 33—34. 35. 36. 78. 88. 
116, 321—325. 339 —343. 345. 348. 
350. 354. 358. 360. 380. 383. 390. 462. 
579. 580. 593. 

Euler (Johann Albrecht) 180. 195. 663. 

Euler (Leonhard) 17. 20. 53. 55. 56. 62. 
63. 74. 75. 77. 81. 83. 88. 90. 91. 93 
—103. 108. 109, 111. 115. 116. 118. 
119. 120. 124. 132. 184. 135. 188; 
139. 343. 145. 146. 150. 153—163. 
166. 167. 169 —176. 178. 180—187. 
189—195. 201. 203—205. 206. 207. 
211. 219—220. 226. 227. 235. 236. 
239. 249. 251. 258—260. 262 — 264. 
266. 268—270. 273. 274. 276—278. 
283—295. 297—301. 303, 304. 308— 
315. 322. 332. 337. 357. 358. 379. 383. 
405—407. 409. 411—416. 418. 424— 
426. 429. 431. 442 —445. 448. 449. 
450. 453. 460. 461. 465. 466. 469 — 
471. 477. 479—482. 486—493. 496— 
502. 505. 508. 509. 511—520. 525 — 
531. 585. 537—542. 544-546. 547. 
550—555. 557. 562. 563. 567. 569. 
572 —575. 634. 655. 658. 663. 679. 
680. 688. 695. 699. 700. 704—707. 
710—714. 716—719. 721. 725. 728— 
731. 733—735. 737 —766. 772. 776. 
778. 780—784. 788—790. 794—807. 
815—819. 829. 831. 833— 840, 847 — 
851. 854. 866—869. 874. 877—880. 
882. 883. 885—891. 899—904. 910— 
913. 916-919. 925. 927—931. 935 — 
937. 939. 940. 944—946. 950. 957 — 
969. 984. 989— 1000. 1007. 1008. 1010. 
1016—1018. 1023—1028. 1050—1036. 
1048. 1057. 1061. 1065. 1066. 1069. 
1070. 1078—1092. 1094—1096. 

Euler-Bernoulli 63. 65—68. 

E nk | : dx dy 
ulers Differentialgleichung —— + —- 

er 
796—798. 804—818. 902. 937. 938. 

Eulersche Integrale 274. 758—760. 763 
—765. 

Eulersche Konstante 277. 

Evoluten 477. 511. 513. 514. 518. 519. 

Evoluten einer Raumkurve 532. 533. 

Evolventen 497. 501. 502. 517. 939. 

Existenzbeweis 877. 


F. 

Fabre (A.) 144. 

Fabroni (A.) 656. 

Fagnano (Gianfrancesco di) 34. 36. 103. 
104. 121. 445. 721. 726—729. 775— 
777. 794. 

Fagnano (Giulio di) 461. 701. 726. 794. 
795. 802. 819. 821. 840. 845. 851. 
1080. 1082. 1094. 

Faktorenfolge (unendliche) 445. 

Faktorielle 91 —92, 120—121. 791. 


1103 


Fakultäten 296. 297. 791. 1098. 

Fantoni (Pio) 492. 

Farrar (John) 76. 

Faulhaber (Johann) 11. 

Favaro (A.) 18. 

Fehlerrechnung 420. 

Fehlerwahrscheinlichkeit 248—251. 

Feldmeßkunst s. Praktische Geometrie. 

Felkel (Anton) 187. 188. 202. 434. 435. 
1085. 

Fenning (Daniel) 60. 

Fergola (Nicola) 466. 516. 517. 557. 632. 
Fermat (P. de) 36. 153. 154. 156. 160, 
167. 169. 171. 174. 178. 180. 190. 

Ferrari (G. A.) 34. 

Ferrari (Lud.) 23. 111. 

Ferroni (Pietro) 418. 449 —450. 682 _ 
683. 858 —860. 905. 

Fibonaceci 23. 24. 

Fiedler (W.) 598. 

Fiorentino (N.) 649. 661. 662, 

Fiorini 31. 

Fischer (©. G.) 136. 

Fischer (Ernst Gottfried) 205. 217. 218, 
1089. 

Fischer (J. C.) 12—13. 

Fisher (George) Pseudonym von Mrs. Slack 
57. 60. 

Fisher (Walter) 407. 

Flächen s. Oberflächen. 

Flächenfamilien 560. 

Flächenkurven 538. 541. 621. 627. 

Fluchtpunkt 544. 580. 


Foncenex (Francois Daviet de) 119. 
120. 139. 306—308. 310. 311. 1079, 
1096. 

Fonetion generatrice s. erzeugende 
Funktion. 

Fontaine (Alexis) 18. 95. 108. 147. 671. 
735. 899. 1069. 1098. 

Fontana (Gregorio) 153. 288—290. 311. 
312. 314. 448. 476, 477. 512. 513. 
557. 558. 687. 699— 701. 710. 723. 72£. 


731. 769. 772. 790. 1047. 1087. 1098. 
Fontenelle (Bernard Le Bovier de) 196. 
Forkel (J. N.) 32. 

Formen (quadratische) 169. 173. 178. 

Forster (Georg) 6. 

Forti (Angelo) 107. 108. 

Fortia (Marquis de) 41. 42. 

Fourier (Jean Baptiste Joseph) 258. 
984. 985. 

Franchini (Pietro) 148. 313. 687. 688. 

Frend (William) 84. 87. 88. 

F'rezier (Ame&dee Francois) 536. 619—622. 

Friedrich der Große 108. 109. 

Friedrich Wilhelm II. 227. 

Frisi (Paolo) 19. 93. 148. 150. 151. 152, 
314. 674. 675. 681. 682. 723. 772. 
1069. 

Funck (Christlieb Benedict) 5. 

Fundamentalsatz der Algebra 133. 137 
—159, 306, 





1104 


Funktionaldeterminante 953—956. 1029. 

Funktionalgleichung 265. 1051. 1052. 

arg (Josef) 11. 
Fuß (N. v.) 17. 19. 90. 194. 234. 
279. 288. 294. 301. 311. 379. 386. 
416. 433. 444. 469—471. 488. 
496. 500—504. 519. 520. 542. 
629. 700. 734. 767. 768. 848. 
1020. 1088. 

Fuß (P. H. v.) 62. 194. 444. 


G. 


Gaignat de L’Aulmays (C. F.) 

Galile: 11. 12. 17. 18. 19. Eu) 

Gallimard 70. 

Galois (Evariste) 110. 113. 

Gammafunktion s. Eulersche Integrale. 

Gardiner 422. 433. 434. 

Garnier (Jean Guillaume) 73. 355. 

Gaudio (Francesco Maria) 681. 

Gauß (Karl Friedrich) 8.120.173.191.194. 
306.307.388.317.435. 527. 540.869. 942. 

Gaußsche Differentialgleichung 937. 

Gebler (K. v.) 18. 

Gehler (Johann Samuel Traugott) 16. 24. 

Gelder (Jakob de) 449. 

Gellert 202. 

Gellibrand (Henry) 46. 

Gemma-Frisius 10. 

Geodäsie (das Wort) 368. 

Geodätische Linien 532—534. 538. 540. 

Geometrie (Lehrbücher der elementaren) 
321—360. 

(reometrie des Lineals 370. 612—614. 

Geometrie (sphärische) 382—388. 

Gerard (Juan) 48. 

Gerbert 28. 

@Gerdil (H. S.) 643. 644. 

Gerhardt (C. J.) 582. 

@reschlechtsverschiedenheiten bei Geburten 
239. 245. 247. 

Gesimsflächen 553. 569. 

Gherli (Odoardo) 47. 66. 70. 
656. 657. 681. 

Grhetaldi 36. 

Gianella (Carlo) 288. 681. 722. 

Giannini (P.) 35. 

Gilbert (Ludwig Wilhelm) 5. 6. 12. 

Giordano (Annibale) 379. 

Girard (A.) 36. 430. 708. 

Girault de Keroudou 671. 

Glaisher 434. 439. 443. 

Gleichungen 3. Grades 94. 96. 98—99. 
110. 114..115. 116. 117. 132. 133. 
139. 148. 

Gleichungen 4. Grades 93. 94. 95. 96. 
97. 99 —100. 101. 111. 116. 117. 120. 
129—130. 132. 133. 136. 

Gleichungen 5. Grades 93. 95. 97. 98. 
100. 111. 113. 114. 115. 116. 117. 
118. 131—132. 140. 

Gleichungen höherer Grade 93. 94. 95. 
96. 99. 114. 115. 118. 119. 120. 124. 


278. 
387. 
495. 
543. 
937. 


76. 79. 82. 


723. 


Register. 


130. 
710. 
Gleichungen (numerische) 140—147. 
Gleichungen geometrisch aufgelöst 141. 
144. 148. 
Gleichungen durch eine Maschine auf- 
gelöst 144. 

Gleichungen (unbestimmte 2. 
156. 159. 162—164. 171. 
Gleichungen (unbestimmte 3. Grades) 

154. 167. 
Gleichungswurzeln, mehrfache 129. 142. 
Grlenie (James) 667. 1097. 

Gmelin (Johann Friedrich) 7. 

Gmelin (L.) 16. 

Goguet (A. Y.) 14. 

Goldbach 167. 

Goldbachscher Erfahrungssatz 167—168. 
Gompertz 59. 

Goniometrie (das Wort) 412. 

Gough (John) 58. 60. 

Gouraud (Charles) 237. 

Grandi (G.) 34. 

Gratognini (Giovanni) 482. 485. 787. 
Graumann 23. 24. 

Green 942. 

Greenfield (William) 25. 86. 

Greenwood (James M.) 60. 61. 
Greenwood (Isaac) 60. 

Gregory (David) 711. 

Gregory (James) 378. 

Gren (Karl Friedrich Adolf) 5 

Grüson (Johann Phil.) 72. 75. 82. 83., 

380. 655. 667— 670. Gr Wand 
Grunert (Johann August) 1 
Gua de Malves (Jean Paul ie 95. 416. 

428. 429. 455. 708—710. 

Guarini 593. 
Günther (Siegmund) 1—36. 74. 135. 155. 

156. 189. 411. 580. 582. 

Guwimaraes (R.) 48. 

Guisnee 369. 

Guldin (Paul) 353. 

Guldinsche Regel 553. 557. 

Gurief (Simeon) 350—355.388.394—396. 

477. 478. 699. 

Guyot 16. 


133. 154—135. 146. 287. 291. 


Grades) 


Guyton de Morveau 107. 


H. 
Hachette (J. N. P.) 625. 632—634. 
Hajashi 447. 
Halcke (Paul) 55. 
Hales (William) 130. 
Halkett (8.) 82. 
Hamberger 14. 
Hamilton (Hugh) 461—464. 1079. 
Hamilton (W. R.) 79. 


Hammer (E.) 408. 


Hankel (Herm.) 154. 
Harnack (Axel) 107. 
Harprecht (J. C.) 699. 
Harriot (Thomas) 115. 


re 


Register. 


Harris (John) 435. 

Harzer (P.) 447, 

Hase (J.M.) 615. 

Hattendorf (K.) 985. 

Hauber (K. F.) 33. 

Hauff (J. K. F.) 33. 647. 

Haußer (Matthias) 78. 82. 

Haußßner (R.) 626. 631. 

Hauy (Rene Just) 46. 366. 

Hawkins (John) 57. 

Heath (Robert) 59. 

Heiberg (J. L.) 35. 

Heine 794. 

Heinrich II. 619. 

Hellins (John) 72. 129. 301. 302. 

Hench (J. J.) 34. 

Hennert (Johann Friedrich) 50. 

Hentsch (Johann Jakob) 475. 476. 

Herigone (Pierre) 592. 

Hermann (G.) 32. 

Hermann (Jakob) 482. 

Hewlett (John) 76. 

Heynatz (Johann Friedrich) 65. 66. 68. 
78 


Hierta (©. D.) 768. 

Hül (C.) 131. 133. 

Hill (J. C.) 131. 

Hill (John) 57. 

Hindenburg (Karl Friedrich) 4. 5. 25. 
128. 183. 190. 201—202. 205—216. 
217. 218. 219. 235. 386. 400. 414. 441. 
667. 1086. 1090. 

Hobert 439. 441. 

Hodder (James) 57. 60. 

Hoffmann 407. 

Holland (Georg Jonathan Freiherr von) 
447. 654. 703. 

Hollenberg 12. 

Hollmann (8. C.) 29. 

Horner (Francis) 76. 

Horner (Joh. Kaspar) 16. 

Horsley (8.) 24. 35. 

Hoüel 401. 

Hube 453. 454. 462. 465. 1079. 

Hudde (Johann) 121. 

Hulbe (A. E. L.) 135—136. 1089. 

Hulten (Andreas) 722. 772. 

Hultsch 617. 

Hunrath 436. 

Huth (J. C.) 62. 

Hutton (Charles) 16. 57. 60. 89. 90. 270. 
439. 443. 465. 1087. 1088. 1095. 1096. 

Huygens (Christian) 13. 362. 594. 1094. 

Hydrodynamilk 942. 943. 947. 

Hydrodynamische Probleme 944. 
1024. 1027. 

Hyperbelfunktion 411. 412. 489. 

Hwyperbolisches Paraboloid (2 Scharen 
von Geraden) 556. 

Hwyperelliptische Integrale 805. 824. 

Hypergeometrische Kurve 512. 

Hyperlogarithmus s. Integrallogarithmus. 

Hyperzykloiden 516. 


990. 


1105 


I. 


i als Zeichen für V—1 315. 

Ibn Alhaitam 579. 

Ideler 439. 441. 

Illing (Christian) 70. 

Imagıinäre Fläche 568. 

Imaginäre Gleichungswurzeln 102—107. 
125—126. 147. 286. 287. 

Imaginäres 88—90. 91. 303—318. 418. 
573. A74. 688. 712—715. 729 —731. 

Infinitinom 205. 

Integrabilitätsbedingung 904—907. 926. 
952. 954. 960. 966. 1032—1038. 1047. 
1054. 1055. 

Integral (allgemeines) 883. 

Integral (bestimmtes) 232. 241. 245. 246. 
281. 290. 292. 293. 299. 515. 741— 
770. 782—786. 927. 1007. 

Integral (partikuläres) 883. 886. 888. 
908. 915. 929. 931. 932. 937. 968. 

. 1006. 1007 1016. 1017. 1025. 1027. 
1032. 

Integral (singuläres) 503. 883. 885—898. 
908. 924. 942. 972. 1037. 1052—1054. 

Integrallogarithmus 734. 792. 873. 

Integration von irrationalen Funktionen 
716— 724. 878. 

Integration von rationalen Funktionen 
710—1715. 

Integration von transzendenten Funk- 
tionen 724—733. 

Integration (angenäherte) 733—736. 877. 
916—918. 926. 1054. 1056. 

Integration von Differentialgleichungen 
durch bestimmte Integrale 927. 1007, 

Integration von Differentialgleichungen 
durch Reihen 910—916. 989. 992. 995. 
1003. 1025. 

Integrierender Faktor 806. 899—903. 
907. 908—910. 929. 931. 962. 963. 
977. 984. 986. 988. 991. 1024. 1030. 

.. 1051. 1035. 1036. 1056. 1062. 1068. 
1095. 

Interpolation 1048—1050. 

Irreduktibler Fall der kubischen Glei- 
chung 148. 149. 150. 151. 152. 153. 

Isochrone 508. 

Iteration 288. 

Ivory (James) 301. 866. 


J. 


Jablonowsky (Fürst Joseph Alexander) 
370. 

Jacobi (C. G. J.) 167. 274. 433. 625. 
1072. 

Jacquier (Francois) 152. 601. 605. 679. 
685. 686. 

Jäger 407. 

Jäger (Peter) 435. 

Jänicke (E.) 53. 54. 62. 67. 

Jagemann (C. J.) 17. 18. 

Jamitzer (W.) 633. 


1106 


Japanische Mathematiker 446—447. 
Jaugeage 362. 370—372. 

Jeaurat (E. 8.) 602. 

Jerrard 130. 

Joncourt (Elie de) 72. 195. 

Jones (William) 59. 

Jordanus Nemorarius 582. 

Jousse (Maturin) 619. 


K. 


Kaestner (Abraham Gottlieb) 8—12. 17. 


22. 23. 24. 26. 27. 28:30, 33. 73. 74. 
T.:°"08, 779.80. EX. - IMB: 
151. 197. 198. 202. 225. 313. 355 — 
357. 389. 413. 414. 419. 420. 422. 424. 
425. 427. 449. 455—456. 465. 478. 
508. 510. 543. 544. 557—-559. 572. 
573. 582. 603. 614. 642. 643. 659. 672. 
707. 708. 732. 771. 772. 779. 780. 
1079. 1088. 1089. 1094—1096. 

Kanalflächen s. Röhrenflächen. 

Kant (Immanuel) 77. 79. 80. 1086. 

Karl (Herzog von Württemberg) 216. 

Karl Emanuel IV. 644. 

Karsten (Wenceslaus Joh. Gust.) 52. 63. 
74. 82. 84. 309. 357. 424. 425. 427. 
449. 460. 465. 614—616. 618. 646. 
647. 671. 672. 722. 724. 1084, 1098. 

Kartographie 521. 572—576. 

Kaufmännisches Rechnen 40. 51. 52. 

Kausler (Christian Friedr.) 194. 

Kawalierperspektive 591. 

Kegelflächen 561. 

Kegelschnitte 454. 455. 458. 461—471. 
794—804. 819— 821. 824—860. 

Kepler 11. 12. 29. 776. 

Kern (G. J.) 580. 

Kettenbrüche 142—143. 155—161. 165. 
171. 184. 185. 1883. 189. 270. 284. 
285. 295. 296. 310. 442. 447. 916. 

Kettenlinie 503. 

Kettensatz 24. 52. 


Kies (Johann) 407. 408. 415. 671. 1079. 


Kirby (Josuah) 600. 

Klein (Felix) 131. 132. 869. 

Klügel (Georg Simon) 16. 27. 30. 88. 
190. 208. 219. 389. 406. 412—-415. 


418. 420. 424. 425. 443. 448. 449. 
925. 


455. 459. 467. 508. 555. 619. 
1033. 1048—1050. 1080. 1082. 
Koc (Johann) 376. 
Köhler (Friederich) 53. 
Köhler (H. G.) 434. 
Kötter (E.) 629. 
Kombinatorik 24. 25. 201—221. 235. 
Kombinatorische Schule 201. 
Kommerell (V.) 451—576. 
Konen (H.) 156. 158. 


Konforme Abbildung (das Wort) 575. 576. 


Konkurspunkt 585. 592. 
Konoid 556. 557. 561. 
Koppernikus 10. 
Kordenbusch (@. F.) 13. 


135. 


Register. 


Kotierte Ebene 586. 

Kourganof (Nicolas) 56. 

Kouznetzoff (Vasilii) 56. 

Krafft (Georg Wolfgang) 56. 75. 322, 
668. 

Kräftefunktion 942. 

Kramp (Christian) 91. 92. 219. 296. 297. 
1091. 1098. 

Kronecker (Leopold) 137. 186. 191. 

Krüger (J. G.) 435. 

Krümmung 459. 461. 476. 477. 492. 496, 
497. 500. 503. 504. 514. 519. 520. 526. 
532. 534. 535. 545—548, 

Krümmungslinien 566—568. 632, 

Krümmungsmittelpunkt ebener Kurven 
477. 496. 51H. 

Krümmungsmittelpunkt von Raumkurven 
532. 

Krümmungsradius ebener Kurven 459. 
476. 47T. 

Krümmungsradius, Aufgaben über den — 
497 —504. 

Krümmungsradius von Raumkurven 534. 

Krümmungsradius von Flächen (Haupt- 
krümmungsradien) 535—550. 567. 569, 

Krummbiegel 25. 

Kugelfunktionen 792—794. 915. 943. 

Kummer (Ernst Eduard) 192. 

Kurushima 447. 

Kurven (höhere ebene) 471—521. 

Kurven zur Gleichungsauflösung benutzt 
141. 144. 458. 

Kurvoide 475. 


L. 


La Caille (Nicolas Louis de) 40. 47. 48. 
71. 73. 77. 367. 420. 425. 434. 602. 
603. 615. 1080. 

Lach (F. W.V.) 31. 

Lacombe (J.) 16. 

Lacroixs (Sylvestre Frangois) 40. 41. 43, 
47. 62. 73. 76. 324. 325. 336. 344—350. 
625. 627. 635—637. 694. 695. 723. 
976. 1090. 

Lagny (Thomas Fantet de) 299. 436. 
447. 620. 

La Gournerie (J. de) 621. 631. 

Lagrange (Louis) 20. 29. 45. 46. 47. 62. 
63. 73. 76. 77. 93. 94. 95.. 105. 107 
—115. 118. 119. 123—126. 1283. 130. 
134. 139. 141—143. 145—148. 150. 
151. 152. 156. 161—167. 169. 171. 175 
— 177. 180. 181. 185. 190. 193. 194. 
216. 217. 233. 234. 239. 247. 248. 
251. 258. 270. 272. 287. 290. 295. 
296. 307—309. 336. 363. 364. 366. 
379. 401. 402. 409. 417. 418. 423. 
428. 429. 434. 440. 497, 523—525. 
540. 550. 569. 572. 575. 585. 607. 
624. 625. 642. 644. 645. 649. 662. 
664—669. 688 —697. 699. 724. 740. 
741. 753. 772—776. 778. 779. 807 — 
815. 835. 340. 851—854. 866. 378— 


Register. 


880. 883 — 886. 890— 896. 899, 901. 908. 
910. 912. 914—921. 923. 925—933. 
935. 937—940. 942. 943. 945— 947. 
950. 951. 957. 964— 977. 982. 984— 992. 
1008—1010. 1024. 1025. 1029. 1030. 
1032. 1034. 1036. 1043. 1048—1050. 
1052. 1055—1060. 1062—1072. 1074, 
1079—1086. 1088— 1096. 

Lagranges Bezeichnung der Ableitungen 
689. 

Lagranges Multiplikator s. integrierender 
Faktor. 

Laing (J.) 82. 

Lalande (J. J. F. de) 13. 15. 18. 
425. 434. 1080. 

Lambert (Johann 
133. 140—-141. 
170. 183. 202. 
296. 299. 379. 


362, 

Heinrich) 25. 74. 103. 

145. 160. 161. 169. 

211. 220. 271. -289. 

399 —401. 408 —412. 
418. 419. 421. 422. 430. 434—437. 
442. 445—448, 506. 559. 572, 582. 
594. 602. 606—614. 618. 635. 637. 
654. 702. 703. 866. 1048. 1079. 1081. 
1082. 1084. 1087. 1093. 1095. 

Lamy (Bernard) 299. 603. 

Landen (John) 259. 274. 275. 661. 675. 
711. 721. 766. 790. 842—847. 857. 
1080. 1083. 1084. 1086. 1089. 1095. 

Landens Transformation 846. 

Landerbeck (Nils) 876. 

Langsdorf -(Karl Christian) 671. 

La Peyrouse (Jean Francois de) 5. 

Laplace (Pierre Simon de) 31. 45. 46, 
471. 64. 73. 105. 123. 128. 137. 138. 
139. 2238—229. 231—237. 240—247. 
249—251. 271. 273. 280. 281. 337. 
363. 440. 455. 607. 625. 697. 735. 736. 
766. 767. 793. 794. 875. 878. 880. 883. 
885—890. 900. 910. 920—925. 927. 
931. 932. 935. 940. 943. 944. 945. 947. 
951. 964— 966. 970. 972. 999— 1009. 
1015. 1018. 1030. 1031. 1037. 1048, 
1050. 1051. 1061-—1065. 1072. 1084— 
1087. 1089. 1093. 1094. 

Laplacesche Differentialgleichung 794. 943. 

Laplacesche Kaskadenmethode 935. 1001 
—1005. 1008. 

Lavoisier (A. L.) 18. 45. 109. 364. 366. 

Lawson (J.) 36. 60. 

Le Blond 82. 

Leclere (Sebast.) 360. 369. 

Lee (Chauncey) 61. 

Lefevre-Gineau (L.) 27. 

Lefort 401. 

Le Frangois 637. 

Legendre (Adrien Marie) 109. 190-195. 
274. 336—344. 355. 357. 358. 366. 
381. 382. 386. 393—399. 401. 423— 
425. 440. 741. 792—794. 847. 854— 858. 
3860—865. 886. 896—898. 937. 976. 
954. 1008. 1012—1014. 1018. 1020. 
1022. 1029. 1066. 1072—1074. 1087 — 
1091. 1093. 


CAnTtor, Geschichte der Mathematik IV. 


1107 


Legendres Theorem 337. 423. 

Le Gendre (F.) 39. 40. 62. 65. 

Leibniz (Gottfried Wilhelm) 17. 26. 70. 
122. 160. 174. 201. 205. 206. 208. 
219. 285. 299. 300. 303. 305. 311. 
331. 354. 456. 483. 508. 510. 58 
597. 641. 643. 651. 655. 667. 681. 
694. 695. 710. 737. 1034. 1049. 

Leijonmark (Gust. Ad.) 133. 1098. 

Leiste (C.) 25. 

Lemniskate 508. 823. 824. 

Lemoine d’Essoies (E. M. J.) 14. 41. 

Le Monnier (Pierre Charles) 109. 

Leseur (oder Lesueur, Thomas) 607. 679. 

Leske (Nathanael Gottfried) 5. 

Leslie (John) 148. 

Lessing (Gotthold Ephraim) 25. 32. 

Levot (Prosper) 118. 

Lexell (A. J.) 19. 265. 268. 379. 383— 
386. 416. 430—432. 504. 662. 719. 
840—842. 851. 904— 907. 1017. 1031. 
1032. 1084. 1095. 

L’Hospital (Marquis de) 26. 132. 519. 
601. 671. 689. 700. 

Lhuilier (Simon) 84. 302. 322. 379. 432. 
449. 645. 646. 686. 699. 1087. 1088. 
1091. 1095. 

Libri 582—584. 

Lichtenberg (Georg Christoph) 6. 17. 20. 
225. 

Lie (Sophus) 885. 983. 1013. 1029. 

Lille 198. 

Lineare Differentialgleichungen 
934. 936. 

Linearperspektive 597. 

Linienelement 530. 

Littrow (J. J. v.) 16. 

Locke (John) 42. 

Logarithmen 20. 24. 91. 302. 436—441. 

Logarithmen negativer Zahlen 303—309. 
312—315. 

Logarithmische Linie 304—306. 314. 

Lokalzeichen 209. 

Long 441. 

Lorenz (J. F.) 33. 51. 52. 77. 324. 

Lorgna (Antonio Maria) 146, 148, 151. 
152. 269. 279. 280. 281. 289. 418. 
575. 723. 743. 785—787. 838. 934. 
935. 937. 1055. 1057. 1058. 1064. 1065. 

Loria (Gino) 7. 137. 466. 483. 500. 504. 
506. 511. 516. 517. 523. 577—637. 
671. 

Lotteri (Angelo Luigi) 510. 686. 687. 
699. 777-—-779. 1089. 

Lovett (& 0.) 410. E 

Lucas (E.) 16. 

Ludlam (W.) 86. 

Ludolph van Ceulen 11. 

Ludwig XVIII. 228. 

Lwini (oder Luino, Francesco) 260. 261. 
655. 656. 

Luther (Eduard) 117. 

Lyons (Israel) 421. 


927 — 


71 


1108 


M. 
Machin (John) 299. 442. 


Maclaurin (Colin) 73. 82. 85. 124. 453. 
455. 643. 662. 674. 838. 851. 867. 942. 


Mac Mahon (P. A.) 59. 174. 
Macquer 16 

Maedler (J. H.) 31. 

Maestlin 10. 

Magistrini (@. B.) 647. 


Magnitzky (Leontius Philippovist) 55. 56. 


Maier (F. 0.) 405. 428. 
Mair (John) 58. 63. 66. 


Mairan (Jean Jacques d’Ordon de) 18. 


Maj (Carlo) 725. 
Mako (Paul) 85. 104. 671. 1098. 
Maler (Jakob Friedrich) 67. 68. 78. 


Malfatti (Gianfrancesco) 116—117. 134. 


151. 174. 231. 290. 295. 313. 379. 
418. 454. 508. 768. 787. 788. 850. 
851. 1063. 1083. 1095. 

Mallet (Friedrich) 129—130. 312. 722. 
768. 

Mallet-Favre (Jacques Andre) 234. 

Manfredi (Eustachio) 603. 

Manfredi (Gabriello) 116. 

Manning (Thomas) 86. 

Marei 435. 

Marguerie (Jean Jacques de) 114. 118. 
119. 1083. 

Marie (Abbe) 40. 49. 71. 108. 336. 670. 


Marie (M.) 641. 

Marolais (Samuel) 592. 603. 615. 
Martin (Artemas) 60. 61. 
Martin (Benjamin) 671. 

Martin (Roger) 88. 

Martini (H. G.) 31. 


Martini (Ranieri Bonäventura) 672—674. 
Mascheroni (Lorenzo) 368. 380. 432. 482. 
484. 485. 731. 734. 768. 792. 1088. 


1089. 1095. 


Maseres (F.) 24. 80. 86. 87. 92. 149. 


151. 271. 302. 


Maskelyne (Nevil) 422. 439. 1089. 1092. 


Massabiau (Jean Ant. Frang.) 69. 

Massenbach (von) 687. 

Mathematische Unterhaltungen 16. 

Mathematische Zeichen T0—72. 120. 
123. 195. 204. 205. 206. 207. 208. 
237. 260. 262. 268. 277. 288. 293. 
300. 315. 406. 412. 428. 523.(689. 
791. 793. 797. 798.)874. 884. 885. 
889. 953. 1012. 1019. 1048. 
1066. 

Mathesis biblica 22. 

Mathissen (S.) 49. 

Matsko (J. M.) 28. 

Matsunga 446. 

"Matthießen (L.) 115. 129. 136. 140. 


Mauduit (Antoine Remi) 425—427. 556. 


1080. 


Maupertwis (Pierre Louis Moreau de) 18. 


Maurolico 10. 341. 


Maxima und Minima 41T. 467. 469. 


1061. 


Register. 


470. 474. 478. 515. 516. 537—539. 
547 —550. 693. 770—779. 904. 1055. 
1066. 

Maxima und Minima bei 
Veränderlichen 694. 

Mayer (Johann Tobias) 17. 20. 430. 

Mayer (Johann Tobias II) 361. 419. 
430. 

Mechain (Pierre Francois Andre) 46. 
338. 366. 

Mechanisch definierte Kurven 504—508. 

Meinert (F.) 31. 

Meister (L. Fr.) 17. 27. 30. 614. 

Melanderhjelm (D.) 28. 733. 

Menelaus 429. N 

Mefßbarkeit von Kurven durch Kegel- 
schnittsbögen 486—489. 

Meßbarkeit durch andere Kurvenbögen 
489. 

Mejpßtvorrichtungen 361. 368. 

Methode der Grenzen 328—330. 

Methode der unbestimmten Koeffizienten 
265. 287. 310. 418. 

Methodustangentium inversa 459. 479.503. 

Metius 11. 

Metrisches System 
362—368. 1093. 

Metzburg (Georg) 77. 
Meusnier (Jean Baptiste Marie Charles) 
544. 546—550. 565. 569. 950. 1087. 
Meusnier de la Place (Jean Baptiste 
Marie Charles) 366. 

Meyer (J. J.) 26. 

Michelotti (Franc. Dom.) 150. 151. 

Michelsen (J. A. C.) 20. 53. 54. 64. 98. 
512. 

Middleton (Joseph) 59. 

Mikamı 446. 

Milet de Mureau 631. 

Milner (Isaac) 124. 125. 

Minimalflächen 547—550.569—571.1010. 
1013. 

Minto (W.) 19. 

Minzele 671. 

Mitchell (G.) 60. 

Mittelpunkte paralleler Sehnen 461. 473. 

Mittelwerte 91. 

Moebius (August Ferdinand) 1096. 

Moennich (B. F.) 12. 23. 

Moivre (Abraham de) 57. 98. 99. 118. 
201. 205. 233. 240. 411. 425. 

Mollweide (Karl Brandan) 16. 

Mollweidesche Gleichungen 419. 425. 

Monge (Gaspard) 45. 46. 221. 363. 366. 
458. 521. 531—537. 550. 551. 553. 
555. 559—572. 618. 623—637. 882. 
884. 885. 898. 900. 901. 940— 942. IKT — 
951. 977—984. 1009—1013. 1019— 
1023. 1028—1030. 1036—1047. 1051. 
1054. 1057. 1064. 1083. 1084. 1087 — 
1091. 1093. 1094. 1096. 

Monge (Jakob) 623. 

Mongeg (Jean Andre) 5. 


mehreren 


44—46. 203. 338. 


Register. 


Monteiro da Rocha (Jose) 48. 49. 
Monti (Vincenzo) 731. 
Montmort (P. R. de) 220. 226. 234. 


Montucla (Jean Eienne) 3. 12. 13. 98. 


324. 375. 465. 603. 612. 637. 899. 
Morand (L.) 623. 
Morgan (Aug. de) 40. 44. 57. 58. 59. 
60. 83. 168. 402. 
Morgan (Sophia Elisabeth de) 57.59, 
Mormoraj 671. 
Morris (Robert) 61. 
Mosdorff 449. 
Moß (T.) 60. 
Mowrraille (J. Raym.) 143—144. 
Mouton (Gabriel) 44. 362. 434. 440. 
Moya (Juan Perez de) 48. 63. 
Müller (2) 671. 
Müller (©. G. D.) 16. 
Müller (C. H.) 8. 73. 
Müller (Felix) 1097—1098. 


Muir (Thomas) 121. 123. 124. 128. 129. 


Multiplikation 63. 
Multiplikation (abgekürzte) 69. 


Multiplikation elliptischer Integrale 863. 


Muncke (G. W.) 16. 

Murawvief (Nicolas) 56. 

Murdoch (Patrick) 600. 

Murhard (F. W. A.) 13. 15. 26. 732. 
Mylius (Christlob) 73. 


N, 


Napoleon I. 201. 228. 418. 625. 647. 
Nasir Eddin 10. 

Negative Zahlen 79—88. 309. 

Neil 508. 

Nelli (G. C©. de) 18. 

Neper (John) 20. 68. 


Nepersche Analogien 408. 413. 417. 422. 


426. 427. 429. 
Nepersche Regel 407. 409. 410. 1081. 


Nesselmann (G.H.F.) 8.12.14. 23. 25. 94. 


Netto (Eugen) 199—318. 
Neumann (Johann) 435. 


Newton (Isaac) 17. 19. 26. 28. 29. 30. 
108. 
203. 
411. 
599. 
699, 


49. 58. 72. 77. 78. 87. 101. 103. 
115. 125. 137. 143. 144. 147. 
204. 270. 331. 351. 354. 378. 
446. 453. 455. 473. 594. 597. 
601. 641. 643. 679. 681. 686. 
721. 943. 1033. 1035. 1084. 

Nieeron 592. 

Nicolai (Giambattista) 152. 684—686. 

Nieole (Francois) 151. 

Niebuhr (C.) 27. 

Niedermüller (H.) 63. 147. 152. 

Nieuport (Vicomte de) 507. 510. 1086. 

Nieuwentijt 651. 

Niveauflächen 942. 

Niveaukurven 631. 

Nizze (E.) 35. 

Nöther (Max) 128. 

Nollet 16. 108. 

Nonius 10. 


1109 


Nordmark (Z.) 27. 139. 

Normalformen der elliptischen Integrale 
836. 860— 862. 

Normalstellen bei Permutationen 220. 


OÖ. 


Obereit (Ludwig) 161. 289. 703. 

Oberflächen 521. 544—572. 622. 694. 
1038. 1039. 

Olivier (Th.) 836. 

Olleae (Gratien) 85. 

Oostwoud (Jakob) 50. 51. 55. 

Oppel (Friedrich Wilhelm) 427. 428. 

Orbiformes, cuwrvae 518. 


 Ordnungserniedrigung von Differential- 


gleichungen 900. 928. 932. 1019. 1027. 
Orsini (Baldas.) 614. 
Ortega 63. 
Ostwald 966. 1066. 1069. 1074. 
Oughtred 70. 
Oval 467. 
Oval, nicht quadrierbar 473. 474, 
Ozanam 16. 594. 


P, 


na 121. 183. 270—271. 275. 284. 285. 
29399— 301. 375—378. 442 —445. 

Paccanaro (D.) 34. 

Paciuolo (Luca) 581. 

Pakussi (Johann von) 703. 704. 

Palcani (L.) 605. 

Palmquist (F.) 132. 

Pantagonia 460. 

Paoli (Pietro) 73. 76. 
310. 1047. 1056. 1058. 1065. 
1090. 

Pappus 10. 134. 379. 593. 617. 633. 

Parallelen 10. 27. 388— 402. 

Parallelkurven 508. 510. 511. 

Paralleloid 556. 557. 

Parameterdarstellung der Flächen 529. 
540. 

Parent 558. 

Parr 92. 

Partialbrüche 90. 285. 

Parvissen 59. 

Pascal (Blaise) 232. 859. 

Pasquich (Johann) 52. 667. 668. 1097. 

Paulian (A. H.) 26. 

Peckham 579. 

Peletier 647. 

Pell (John) 156. 183. 190. 435. 

Penther (Johann Friedrich) 361. 362. 

Pereira (Jos& Maria d’Antas) 49. 

Periodische Dezimalbrüche 160—161. 169 
—170. 187—188. 

Perspektive 579 ff. 634 ff. 

Pescheck (Christian) 65. 67. 68. 69. 160. 

Pessuti (Gioacchino) 678. 

Pestalozzi 53. 

Peter der Große 584. 

Petersburger Problem 222 


71° 


77. 82. 147. 296. 
1083. 


— 1226. 


1110 


Register. 


Petrus Pietor Burgensis 3. Della Fran- Prostaphaeresis 28. 


.  CESca. 

Peyrard (Frangois) 355. 
Pezenas (Esprit) 362. 422. 434. 
Pezzi (Frane.) 314. 448. 711. 
Pfaff (C. H.) 16. 


Pfaff (Joh. Friedr.) 92. 205. 216—219. 
734. 


291. 292. 294. 443. 697 —699. 
1088. 

Pfeiffer (J. G.) 479. 

Pfleiderer (C. F. v.) 28. 29. 35. 699. 

Photogrammetrie 611. 

Piazzi 21. 

Picard (Jean) 362. 

Pierpont (J.) 97. 117. 

Pigri (Giuseppe) 435. 

Pike (Nicolas) 61. 

Pindemonte 617. 651. 

Pinetti 16. 

Pingre (Alexandre Guy) 14. 407. 

Pitiseus 10. 

Pitot (Henri) 18. 

Pittarelli (G.) 581. 589. 

Pius VI. 644. 

Platzmann 504. 

Playfair (John) 19. 21. 89. 


Poggendorff (J. C.) 6. 16. 17. 32. 34. 35. 
133. 140. 332. 344. 351. 357. 361. 


362. 375. 380. 383. 1048. 
Polachse 531. 532. 
Polarfläche, abwickelbare 532. 533. 
Polarkoordinaten (das Wort) 513. 
Polarkoordinaten 461. 476—478. 516. 
Poleni 617. 
Pollera (Domenico) 47. 
Polyedrometrie 432. 
Polygonometrie 431—433. 


Polynomialsatz 205—206. 216. 260. 277. 


284. 
Poppe (J. H. M.) 29. 30. 
Porro (Daniel) 83. 85. 
Porta 30. 
Porto (Vincenzo) 684. 
Poselger 29. 
Potel 107. 
Potential 942. 


Poudra 579.588. 590. 591. 595. 600. 602, 


Powell (Will. Sam.) 92. 


Praendel (Joh. Georg) 23. 52. 66. 67. 


78. 82. 432. 
Praetorius (Johann) 198. 
Praktische Geometrie 360—375. 
Prasse (Moritz von) 511. 
Price (Richard) 240. 242. 
Priestley (J.) 30. 
Prieur 439. _ 
Primitivwurzeln (das Wort) 173. 
Primzahlenverteilung 154—155. 170. 
Pringsheim (Alfred) 447. 
Prinzip der Symmetrie 341—343. 
Proklus 322. 
Prony (Riche de) 46. 129. 439. 440. 
466. 1050. 1089. 


Ptolemaeus (Klaudius) 416. 429. 582. 
Ptolemaeus Euergetes 360. 

Pund (0O.) 410. 

Pythagoras 356. 


Q. 
Quadrateinesebenen Flächenstückes 545. 
Quadrate der Wurzeldifferenzen 93. 
Quadratrix 654. 

Quadratur 493. 

Quadratwurzel durch Kettenbrüche dar- 
gestellt 156. 161. 

Querard 63. 


R. 


Rahn (J. H.) 72. 

Rallier des Ourmes (Jean Joseph) 170. 
197. 

Rampinelli (Ramiro) 19. 

Ramus (Petrus). 323. 

Raphson (Joseph) 147. 

Raspes (R. E.) 17. 

Rationale Trigonometrie 436—437. 

Rationalisierung von Gleichungen 136. 

Rauch (Gregor) 671. 

Raumkoordinaten 521. 529. 

Raumkurven 521—544. 

Ravelli (Giuseppe) 380. 

Reboul 355. 

Reduite (das Wort) 110. 

Rees (A.) 16. 

Rees (Caspar Franz de) 50. 

Reessche Regel 50. 51. 52. 53. 

Regelflächen 535. 537. 545. 555. 571. 1021. 

Regiomontanus 407. 

Regula coecis 160. 166. 

Regula potatorum 160. 

Regula virginum 160. 

Reiff 985. 

Reihen 134. 135. 140. 145—146. 257 — 
302. 417. 418. 425. 442—447. 466. 
484. 496. 780—790. 874. 879. 888. 
910—917. 919— 924. 927. 930; s. auch 
Differentialgleichungen durch Reihen. 


. Reihenkonvergenz 261-—262. 264. 265— 


268. 275—276. 281. 285. 286. 293. 
298. 

Reihen (trigonometrische) 258—260. 
264—268. 271. 275. 279. 291. 292. 
297—299. 915. 945. 

Reihenumkehrung 214—217. 258. 265. 
272. 293. 

Reimer (Johann) 54. 55. 

Reimer (Nicolaus 'Theodor) 14. 28. 375. 

Reinhold (Erasmus) 10. 

Reitz (Wilh. Otto) 101. 

Rektifikation 482—492. 520. 526. 540— 
542. 693. 694. 794—804. 819—821. 
833. 

Rektifizierende Fläche 534. 

Reliefperspektive 590. 

Renner (J. A.) 16. 


Register. 


Rest der Taylorschen Reihe 690. 699. 

Resultante (das Wort) 123. 

Reynaud (Baron Antoine Andre Louis) 
355. 

Reyneau (Charles Rene) 115. 144. 

Reziprozitätssatz 172. 185—187. 190 — 
192. 

Rhaetieus 10. 

Riceardi (Pietro) 34. 678. 

Riccati (Giordano) 152. 314. 485. 678. 
686. 

Riccati (Jacopo) 500. 655. 685. 

Rieccati (Vincenzo) 152. 260. 261. 295. 
411. 418. 457. 460. 506. 655. 676— 
678. 724. 725. 732. 772. 779. 838. 839. 
591. 1081. 1082. 

Riccatische Differentialgleichung 843. 
883. 900. 932. 935. 936. 937. 989. 
990. 992. 996. 

Riemann 712. 985. 1089. 

Riemannsche Fläche 486. 

Riese (Adam) 64. 

KRingfläche 553. 

Rittenhouse (David) 442. 

Rivard 71. 

Robertson (A.) 35. 617. 

Robertson (John) 59. 169. 

Roberval 511. 630. 

Rochow (Freiherr Eberhard von) 53. 

Rocca (Giannantonio) 19. 

Röhrenflächen 552. 

Rösselsprung 220. 

Rogg (Ignatz) 4. 14. 1097. 1098. 

Rohde 671. 672. 1098. 

Roland 624. 

Roland (Mdme.) 623. 

Romano (Antonio) 376. 

Romanus s. Van Roomen. 

Rosenberger (F.) 44. 46. 

Rosenthal (G. E.) 12. 24. 

Rost (J. L.) 13. 

Rothe (August) 215—216. 217. 219. 1089. 

Rousseau (J. J.) 39. 42. 47. 

Routh 473. 

Rowe (John) 675. 

Rowning (John) 144. 

Roy (C.) 603. 

Rozier (Francois) 5. 

Rudolf (Christoph) 9. 24. 64. 67. 70. 

Rückkehrkante 562. 

Rüdiger (C. F.) 128. 

Ruffini (Paolo) 110. 139—140. 418. 1083. 
1091. 1095. 


Rumowski 719. 720. 937. 


Saccheri (Girolamo) 399—401. 

Saladıni (Girolamo) 457—460. 482. 655. 
670. 676—678. 725. 779. 838. 1081. 

Salis (Peter von) 408. 

Sansone (A.) 661. 

Sanvitali (Federigo) 196. 


1111 


Saunderson (Nicol.) 59. 72. 82. 83. 130. 
197. 

Sauri (Abbe) 77. 82. 84. 425. 426. 671. 

Saverien (Alexandre) 14. 612. 

Schaffgotsch (Graf Franz) 98. 183. 

Schattenlehre 531. 536. 683. 634. 

Scheibel (Johann POERERR) 14. 15. 22. 
31. 71. 75. 

Scherffer (Carolo) 48. 71. 73. 425. 427. 

Schlieben (von) 217. 

Schmiedel 671. 

Schmiegungsebene 527—529. 535. 

Schmiegungsparaboloid 547. 

Schönberg (von) 202. 206. 

Schooten (Franeiscus van) 213. 

Schrank (Franz von Paula von) 7. 

Schraubenflächen 557. 633. 

Schreiber (G.) 626. 

Schubert (Friedr. 'T'heod. von) 136—137. 
314. 586. 388. 416. 417. 429. 496. 
503. 520. 521. 542. 575. 576. 700. 869. 
1088. 1091. 

Schubert (Hermann) 17. 

Schultz (Johannes) 657—659. 687. 

Schulze (Joh. Carl) 46. 436. 437. 1086. 

Schur (J.) 611. 

Schurig (G.) 53. 54. 62. 67. 

Schut (Louis) 51. 

Schwab (J. C.) 33. 322. 

Schwarz (H. A.) 941. 

Schwenter (Daniel) 361. 

Sciographie 615. 

Segner (Joh. Andreas) 74. 84. 141. 144. 
190. 204—205. 424. 426. 649 —651. 
672. 

Seiz (G. F.) 699. 

Sejour s. Dionis du Sejour. 

Seki 446. 

Senebier (Pierre) 62. 

Sequenzen 235. 

s Gravesande (Wilhelm Jakob) 594— 597. 
604. 605. 618. 

Sharp (Abraham) 299. 433. 434. 

Sherwin 433. 

Süberschlag (J. E.) 30. 

Silicani (A. M.) 34. 

Silvabella (Guillaume de Saint Jacques 
de) 504. 

Simon (H.) 114. 

Simpson (Thomas) 36. 59. 73. 82. 84. 
247 


Simson (Robert) 33. 35. 80. 87. 
324. 342. 350. | 

Simultane Differentialgleichungen 
952. 984. 986. 1030. 1031. 

Singuläre Integrale S. Integrale (singu- 
läre). 

Singularitäten 475. 492. 494. 511. 
—519. 534. 535. 876— 882. 886. 

Slack (Mrs.) 57. 

Smith (H. J. S.) 159. 

Sommelius (Sven Gustaf) 131. 

Sphärik 382—388. 


322. 


901. 


517 


1112 


Sphärische Abbildung 527. 540. 

Sphärische Ellipse 387. 388. 417. 542. 
543. 

Spinoza (B.) 22. 

Stäckel (Paul) 388. 400—402. 540. 869. 
942. 1033. 1095. 1098. 

Stamford (H. W. J. v.) 657. 

Stanhope 35. 

Steiner (Jakob) 433. 

Stepling (Joseph) 197. 

Sterblichkeit 239. 

Stereotomie 619. 

Sterner (M.) 54. 67. 68. 

Stevin (Simon) 430. 
606. 

Stewart (David) 19. 

Stewart (John) 19. 

Stewart (Matthew) 19. 

Stifel (Michael) 9 

Stirling (James) 231. 280. 281. 

Stolz (O.) 652. 

Strabbe (Arnoldus Bastian) 51. 73. 

Sturm (L. C.) 22. 

Stwrmscher Satz 142. 

St. Vincentius (Gregorius von) 11. 411. 
445. 

Substitutionen als Integrationsmittel 899. 
900. 901. 


587. 588. 592. 


958. 960. 963. 986. 991. 993. 994. 
1008. 1013. 1020. 1024. 1046. 1057. 
1059. 1062. 


Substitutionstheorie 113. 

Subtangente (Vorzeichen) 479. 

Subtraktion 58. 63—64. 

Summenrechnung 1047—1066. 

Suter 1069. 

Sutton (Thomas) 58. 

Swinden (Jan Hendrik van) 203. 322. 

Sylvester (James Joseph) 121—122, 142. 

Symmetrisch gleiche Gebilde 341. 343. 

Symmetrische Behandlung der Raum- 
koordinaten 539. 

Symmetrische Wurzelfunktionen 94. 


T. 

Tacquet (Andreas) 593. 603. 

Tafeln (mathematische) 422. 423. 433 — 
442. 1048. 1098. 

Talleyrand 44. 363. 

Tamberlicchi (A.) 34. 

Tanzer (Josef) 51. 

Targioni-Tozzetti (G.) 4 

Tartaglia 115. 380. 

Taylor (Brook) 108. 271. 351. 441. 597 
—602. 605. 607. 618. 635. 664. 668. 
686. 687. 695. 696. 698. 699. 879. 
888. 916. 918. 930. 1058. 

Taylor (Michael) 422. 439. 

Taylors Reihe für mehrere Veränder- 
liche 690. 

Tehebycheff 721. 

Tegman (Pehr) 131. 133. 

Teilungsformeln elliptischerIntegrale 863. 


903. 934. 936. 938. 939. 


Register. 


ge ag (G. F.) 73. 412. 413. 680. 
687 


Tenner (G. W.) 158. 
Tessanek (Johann) 30. PP 
183. 189. 435. 681. 

Tetens (Joh. Nikol.) 91. 

Tetraeder 523—525. 

Tetragonometrie 430. 

Theveneau (Charles Marie Simon) 74. 

Thibaut (B. F.) 24. 315. 

Thiele (T. N.) 317. 

Thomson 58. 

Tillet (Mathieu) 45. 364. 366. 

Tinseau 535. 544. 545. 555. 556. 585. 
586. 

Tiraboschi 582—585. 

Tobiesen (L. H.) 26. 643. 

Töpfer (Heinr. Aug.) 215. 217—219. 

Toreli (G.) 34. 35. 617. 618. 651—654. 
658. 

Torricelli 511. 

Torsion 534. 535. 

Townsend (Malcolm) 61. 

Trail (William) 82. 

Trajektorie 459—460. 508— 510. 

Trajektorie im Raum 544. 555. 

Traktorien 493. 508. 

Tralles (Johann Georg) 422. 

Tramonti 584. 

Transzendenz von m 447—448. 503. 

Trapp (Christian) 52. 53. 

Trembley (Jean) 233. 234. 236. 237. 
238. 242. 243. 295. 509. 866. 884— 
886. 902. 908—910. 923—925. 951. 


178—179. 


952. 1014—1016. 1022. 1023. 1029. 
1030. 1056. 1064. 

Trenchant (J.) 62. 

Trigonometrie 317. 337. 405—429. 528. 


553. 707— 710. 

Trigonometrische Funktion (das Wort) 
413. 

Tschirnhausen (von) 110. 111. 112. 115. 
132. 

Turgot 252. 371. 


U. 
Ugoni (Camille) 380. 
Umdrehungsflächen 522. 540. 561. 
Umkehrproblem 835. 


Unbestimmte Formen 689. 700, 7179. 
780. 920. 
Unger (F.) 52. 53. 54. 


V 


Valentin (G.) 57. 62. 63. 75. 376. 

Valentiner 315— 317. 

Valentini (A. E.) 686. 

Valette (Simeon Fagon) 426. 

Valperga di Caluso (Tommaso) s. Caluso. 

Vandermonde (Alexandre Theophile) 46. 
114—115. 119. 120. 121—123. 129. 
134. 366. 791. 792. 1085. 

Van Eyck (Johann) 580. 


Register. 


Van Roomen (Adriaen) 11. 68. 
Variation der Konstanten 919—927. 
932. 961. 967. 971. 994. 1031. 1056. 

Variationsrechnung (das Wort) 1069. 

Variationsrechnung 515. 537. 538. 550. 
694. 707. 904. 1055. 1066—1074. 

Vaulezard 590. 610. 611. 

Vega (Georg v.) 77. 437. 438. 442. 443. 
461. 684. 1087. 1089. 

Venema (Pieter) 60. 

Ventretti (F.) 34. 

Verfolgungskurve s. Traktorie. 

Vertauschbarkeit der Differentiationsfolge 
691. 1067. 

Verzerrungen 593. 601. 

Vesselovski 504. 

Vielfache Integrale 738— 741. 

Vieta (Franc.) 36. 323. 408. 436. 445. 

Vignola s. Barozzi (Jacopo). 

Vilant (Nicolas) 86. 

Villaume (Peter) 53. 

Vince (Samuel) 281—2833. 704. 

Vinci (Lionardo da) 581. 

Virey (J. J.) 107. 108. 

Visierkunst 362. 370—375. 

Vitruwius 593. 618. 620. 

Vivanti (G.) 476. 486. 639—869. 1078. 

Viviani 18. 34. 

Vlack 438. 439. 

Voigt (Johann Heinrich) 677. 

Voltaire 252. 


W; 


Wahrscheinlichkeitsrechnung 221257. 

Wales (W.) 35. 

Walkingame (Francis) 58. 

Wallis (John) 156. 161. 167. 169. 296. 
446. 449. 1048. 

Wallner (C. R.) 871—1074. 

Wargentin 19. 

Waring (Edward) 26. 92—95. 102. 105 
—107. 113.114. 115. 116. 119. 124. 126. 
130. 133. 134. 138. 142. 144. 147. 
167. 168. 169. 275. 276. 285. 287. 
291. 293. 62 468. 472— 475. 521. 522. 
618. 910. 1049. 1080. 1082. 1083. 
1085—1087. 1093. 1095. 

Washington (George) 61. 

Weber (E. von) 980. 

Weber (Heinr.) 171. 

Weidler (Johann Friedrich) 3. 13. 14. 
56. 322. 

Weigel (Erhard) 45. 

Werner (Johannes) 10. 

Wessel (Caspar) 315—318. 1090. 1095. 
1096. 

West (William) 675. 770. 771. 

Whiston (William) 20. 

Whiting (Thomas) 60. 

Widmann (Joh. von Eger) 24. 


1113 


Wiedeburg (J. E. B.) 22. 

Wiedemann (E.) 6. 

Wiener (Christian) 579. 627. 

Wilamowitz- Möllendorff 28. 

Wilke (Christian Heinrich) 370. 

Wilkinson (T. T.) 60. 

Williamson (James) 324. 

Willkürliche Funktionen 552. 555. 565. 
570. 575. 790. 878—883. 898. 915. 
945. 947. 949. 978. 980 —982. 989 — 
992. 1000. 1004. 1007. 1014—1017. 
1019. 1023. 1025. 1027. 1040. 1057. 

Wilson (John) 92. 168. 169. 185. 

Wilsons Satz 168. 185. 

Winckelmann 32. 

Wingate (Edmund) 57. 

Winkelsumme des ebenen Dreiecks 396 
—399. 

Winterberg 501. 

Witchell (George) 514. 

Witelo 579. x 

Wörterbücher 16. 

Wolf (Christ. v.) 22. 56. 74. 77. 78. 86. 
132. 321. 322. 409. 

Wolf (F. A.) 32. 

Wolf (Rudolf) 15. 31. 44. 602. 

Wolfram 299. 436. 438. 

Wood (James) 76. 107. 138—139. 

Woodhouse (Robert) 88. 

Wordsworth (C.) 59. 80. 

Würfelverdoppelung 28. 

Wurzelbau (J. P. von) 13. . 

Wurzeldifferenzen 130. 142. 143. 147. 

Wurzelsummen 130. 133. 

Wydra (St.) 20. 21. 671. 684. 


ne 
Ximenes (L.) 34. 

u 
Yasujima 446. 

2. 


Zach (Franz Xaver von) 6. 21. 214. 

Zahlentheorie 24. 153—198. 236. 

Zahlwörter 43. 44. 62. 63. 

Zamberti (Johann) 583. 

Zanotti (Eustachio) 603—606. 614. 618. 

Zanotti (Franc. Maria) 151. 196. 

Zebrawskiego (Teofila) 376. 

Zeitschriften 3. 4—T. 50. 54. 55. 59— 
60 


Zelbr (K.) 632. 

Zentralprojektion 522. 537. 

Zeuthen (H. G.) 35. 426. 473. 

Zirkelgeometrie 380. 

Zurückweisung gewisser Arbeiten durch 
die Pariser Akademie 377—378. 

Zykloide 514. 

Zylinderflächen 560. 561. 

Zylinderfunktionen 911. 912. 








Druck von B. G. Teubner in Leipzig. 








Verlag von B. 6. Teubner in Leipzig und Berlin. 


Ahrens, Dr. W., in Magdeburg, mathematische Unterhaltungen und Spiele. 
b u. 428 S.] gr. 8. 1901. In Original-Leinwandband mit Zeichnung von 
.Bürck in Darmstadt. In Leinwand geb.n. 4. 10.— (Auch in Hälften brosch., 

jede n. # 5.—) 


Kleine Ausgabe. Mit einem Titelbild und 69 Figuren im Text. Band 170 
der Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen: „Aus Natur 
und Geisteswelt“. [VIu.118S.] 8. 1907. geh.n. #1.—, in Leinwand geb.n. 4.1.25. 


——  —— Scherz und Ernst in der Mathematik. Geflügelte und ungeflügelte 
Worte. [X u. 522 S.] gr. 8. 1904. In Leinw. geb. n. M 8.— 


— (0.6. J. Jacobi als Politiker. Ein Beitrag zu seiner Biographie. (Er- 
weiterter Sonderabdruck aus „Bibliotheca Mathematica“. 3. Folge. VII. Band.) 
[45 8.] gr. 8. 1907. geh. n. M. 1.20. 


Archimedes. Eine neue Schrift des Archimedes. Von Dr. J. L. Heiberg und 
Dr. G. H. Zeuthen, Professoren an der Universität Kopenhagen. (Sonderabdruck 
aus: Bibliotheca Mathematica. 3. Folge, VII. Band.) [II S. 321 bis S. 363.] Lex.-8. 
1907. geh. n. M. 1.60. 


Bonola, Roberto, Professor an der Scuola Normale zu Pavia, die nichteuklidische 
Geometrie. Historisch-kritische Darstellung ihrer Entwicklung. Autorisierte 
deutsche Ausgabe. Besorgt von Professor Dr. Heinrich Liebmann. Mit 
76 Figuren im Text. [VII u. 245 S.] 8. 1908. In Leinwand geb. n. #. 5.— 


Bopp, Dr. Karl, Privatdozent an der Universität Heidelberg, die Kegelschnitte 
des Gregorius a St. Vincentio in vergleichender Bearbeitung. 
A.u.d.T.: Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften 
mit Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor. XX Heft. 
2. Stück. Mit 329 Textfiguren. [III u. 228 S.] gr. 8. 1907. geh. n. # 10.— 


Diophantus, des, von Alexandria Arithmetik und die Schrift über Poly- 
gonalzahlen. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von G, Wertheim. 
x] u. 346 S.] gr. 8. 1890. geh. n. M. 8.— 


Euklid und die sechs planimetrischen Bücher. Mit Benutzung der Textausgabe 
von Heiberg. Von Dr. Max Simon, Professor an der Universität Straßburg ıi. E. 
A.u.d.T.: Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften 
mit Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor. XI. Heft. 
Mit 192 Figuren im Text. [VII u. 141 S.] gr. 8 1901. geh. n. M.5.— 


Galilei, Galileo, Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, 
das Ptolemäische und das Kopernikanische. Aus dem Italienischen übersetzt 
und erläutert von Emil Strauß. [LXXXIV u. 586 8.] gr.8. 1891. geh.n. 4 16.— 


Gauß, Carl Friedrich, und Wolfg. Bolyai, Briefwechsel. Mit Unterstützung der 
Kgl. Ungarischen Akademie der Wissenschaften herausgeg. von Franz Schmidt 
und PaulStäckel. [XVIu.2088.] 4. 1899. In Halbkalblederband n. 4. 16.— 


Leibniz, G. W., nachgelassene Schriften physikalischen, mechanischen 
und technischen Inhalts. Herausgegeben und mit erläut. Anmerk. versehen 
von Dr. E. Gerland, Professor an der Kgl. Bergakademie zu Clausthal. Mit 
200 Figuren im Text. [VI u. 256 S.] gr. 8. 1906. geh. n. M 10.— 


Lobatschefskij, N. IL, imaginäre Geometrie und Anwendung der imagi- 
nären Geometrie auf einige Integrale. Aus dem Russischen übersetzt 
und mit Anmerkungen herausgegeben von Dr. Heinrich Liebmann, Professor 
an der Universität Leipzig. A. u.d. T.: Abhandlungen zur Geschichte 
der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen. . Begründet 
von Moritz Cantor. Heft XIX. Mit 39 Figuren im Text und auf einer Tafel. 
[XI u. 187 S.] gr. 8. 1904. geh. n. M 8.— 


Verlag von B. G. Teubner Leipzig und Berlin. 


Loria, Dr. Gino, Professor der höheren Geometrie an der Universität Genua, die 
hauptsächlichsten Theorien der Geometrie, in ihrer früheren und 
jetzigen Entwickelung. Historische Monographie. Unter Benutzung zahl- 
reicher Zusätze und Verbesserungen seitens des Verfassers ins Deutsche über- 
tragen von Fritz Schütte, Oberlehrer am Gymnasium zu Düren. Mit einem 
Vorworte von Professor R. Sturm. [VI u. 132 8.) gr. 8. 1888. geh.n. #3.— 


Müller, Dr. Conrad H., in Göttingen, Studien zur Geschichte der Mathematik, 
insbesondere des mathematischen Unterrichts an der Universität Göttingen im 
18. Jahrhundert. Mit einer Einleitung: Über Charakter und Umfang historischer 
Forschung in der Mathematik. (Sonderabdruck aus dem XVIII. Heft der Ab- 
handlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer 
Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor.) [928.] gr.8. 1904. geh.n. 4.2. — 


Müller, Dr. Felix, Professor in Friedenau, Karl Schellbach. Rückblick auf sein 
wissenschaftliches Leben. Nebst zwei Schriften aus seinem Nachlaß und Briefen 
von Jacobi, Joachimsthal und Weierstraß. Mit einem Bildnis Karl Schellbachs. 
A. u. d.T.: Abhandlungen zur Geschichte der: mathem. Wissenschaften mit 
Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor. XX. Heft. 
[86 S.] gr. 8. 1905. geh. n. M 2.80. 


Neumann, Franz, gesammelte Werke. In 3 Bänden. I. Band. Bei der 
Herausgabe dieses Bandes sind tätig gewesen die Herren: E. Dorn (Halle), 
O.E. Meyer (Breslau), ©. Neumann (Leipzig), 0.Pape (früher in Königsberg), 
L.Saalschütz (Königsberg), K. Von der Mühll (Basel), A.Wangerin (Halle), 
H. Weber (Straßburg). Mit einem Bildnis Franz Neumanns aus dem 86. Lebens- 
jahre in Heliogravüre. [XVI u. 620 S.] gr. 4. 1906. geh. n. M. 36.— 


Rudio, Dr. F., Professor am Polytechnikum zu Zürich, Geschichte des Problems 
von der Quadratur des Zirkels von den ältesten Zeiten bis auf unsere 
Tage. Mit vier Abhandlungen (in deutscher Übersetzung) über die Kreismessung 
von Archimedes, Huygens, Lambert, Legendre. Mit Figuren im Text. 
[VII u. 166 S.] gr. 8. 1892. geh. n. M 4.—, in Leinwand geb. n. M. 4.80. 


Simon, Dr. Max, Professor an der Universität Straßburg i.E., über die Entwick- 
lung der Elementar-Geometrie im XIX. Jahrhundert. Bericht erstattet 
der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. A.u.d.T.: Jahresbericht der Deutschen 
Mathematiker - Vereinigung. Ergänzungsband I. Mit 28 Figuren im Text. 
[VII u. 278 S.] gr. 8. 1906. geh. n. M. 8.—, in Leinw. geb. n. M 9.— 


— Methodik der elementaren Arithmetik in Verbindung mit 
algebraischer Analysis. Mit 9 Textfiguren. [VI u. 108 S.] gr. 8. 1906. 
In Leinwand geb. n. M. 3.20. 


Urkunden zur Geschichte der Mathematik im Altertum. 1. Heft: Der Bericht 
des Simplicius über die Quadraturen des Antiphon und des Hippo- 
krates. Griechisch und deutsch von Ferdinand Rudio. Mit einem historischen 
Erläuterungsbericht als Einleitung. Im Anhange ergänzende Urkunden, verbunden 
durch eine Übersicht über die Geschichte des Problemes von der Kreisquadratur 
vor Euklid. Mit 11 Figuren im Text. [X u. 184 S.] 8. 1907. kart. n. #. 4.80. 


Verneri, Joannis, de triangulis sphaericis libriquatuor, demeteoroscopiis 
libri sex, cum prooemio Georgii loachimi Rhetici. I: De triangulis 
sphaericis libri quatuor, herausgegeben von Axel Anthon Bjoernbo in 
Kopenhagen. A.u.d. T.: Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen 
Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz 
Cantor. Heft XXIV, 1. Mit dem Titelbilde Joh. Wermers, 12 8. Wiedergabe 
der Einleitung der Originalausgabe von Cracau 1557 und mit 211 Figuren im 
Text, [II u. 184 S.] gr.8. 1908. geh. n. # 8.— 


Zeuthen, Dr. H. G., Professor an der Universität Kopenhagen, Geschichte der 
Mathematik im 16. und 17. Jahrhundert. Deutsch von Raphael Meyer. 
A. u. d. T.: Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften 
mit Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor. Heft XVII. 
[VIII u. 434 S.] gr. 8. 1903. geh. n. #. 16.—, in Leinw. geb. n. M. 17.— 


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