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VORLESUNGEN
ÜBER
GESCHICHTE DER MATHEMATIK
HERAUSGEGEBEN VON
MORITZ CANTOR
UNTER MITWIRKUNG DER HERREN
V. BOBYNIN, A. v. BRAUNMÜHL, F. CAJORI, S. GÜNTHER, V. KOMMERELL,
G. LORIA, E. NETTO, G. VIVANTI, C. R. WALLNER.
VIERTER BAND: , .
VON 1759 BIS 1799°- +
"MIT 100 IN DEN TEXT GEDRUCKTEN FIGUREN.
&
LEIPZIG,
DRUCK UND VERLAG VON B.G. TEUBNER.
1908.
" CAJORI
ALLE RECHTE,
EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN.
Vorwort.
_®
Wäre es nicht landläufige Übung, einem neu erscheinenden Bande
einige, wenn auch nur kurze, ankündigende Worte vorauszuschicken,
so würde ich am liebsten von jedem Vorworte Abstand nehmen.
Fehlt mir doch die dem Verfasser innewohnende Berechtigung, den
der Öffentlichkeit übergebenen Band als mir angehörend zu bezeichnen.
Die Herren Günther, Cajori, Netto, Bobynin, v. Braunmühl,
Kommerell, Loria, Vivanti, Wallner als Verfasser der Abschnitte
XIX bis XXVII haben viel stärkere Beiträge als der Verfasser des
kurzen XXVIII. Abschnittes geliefert und könnten beanspruchen, ihre
Arbeit einzuführen. Wenn mir gleichwohl von Anfang an überlassen
blieb, ein Gesamtvorwort zu schreiben, so betrachte ich mich dazu
als mit einer dreifachen Legitimation versehen, 1. als Verfasser der
drei ersten Bände, 2. als Mittelsperson der Bearbeiter dieses IV. Bandes,
3. als der den Jahren nach Älteste unter den an der Entstehung des
Bandes beteiligten Persönlichkeiten.
Unser IV. Band wird der Art seiner Fertigstellung entsprechend
unzweifelhaft wesentlich von den ihm vorhergegangenen Bänden ab-
weichen. Die Einheitlichkeit wird ihm fehlen, dagegen wird man
den einzelnen Abschnitten zu ihrem Vorteile anmerken, daß deren
Verfasser ihre ganze Geistesarbeit auf ein eng umgrenztes Gebiet be-
schränken durften. Möge der freundliche Leser diesem letzteren Vor-
zuge zu Liebe den ersteren verhältnismäßig geringeren Mangel ent-
schuldigen.
Heidelberg, März 1908.
Moritz Cantor.
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XIX.
XX.
XXL
XXI.
XXIII.
XXIV.
XXV.
Inhaltsverzeichnis.
Geschichte der Mathematik von S. Günther . . . . ....
Arithmetik. Algebra. Zahlentheorie von F. Cajori. .
Arithmetik WE Ba ER OR ER
BEL: 2,2 ER PP BER
Zahlentheorie Ei
MORE 2... ..,..
Kombinatorik. Wahrscheinlichkeitereohnung. Reihen. Ima-
ginäres von E. Netto
Kombinatorik . : i
Wahrscheinlichkeitsr Gesung ’
Reihen , .
Imaginäres .
Elementare Geometrie von V. Bobynin
Lehrbücher der Elementargeometrie. . . . 2.2... .
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst) . . 2.2 222.
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. ..... .
Parallelenlehre.
Verbesserungen
Trigonometrie. Yolysoramitrii, Tafeln von A. v. Binksmahl
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen
Zeitgenossen und Nachfolger
Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Vermiche einer mög-
lichst einfachen Begründung derselben.
Tetragonometrie. Polygonometrie und Polyedrometrie
Trigonometrische und andere Tafeln. Zyklometrie. rn
metrische Reihen,
Analytische Geometrie der Ebene und des EEE von V.Kom-
merell... EEE IE
Allgemeine Koßelschnitte . RER
Höhere ebene Kurven
Raumkurven und Flächen.
Verbesserungen . . . . .
Perspektive und darstellende RER von @. Loria. .. .
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahr-
en SEE
Die goldene Periode der TEE Forssablise
a nn i
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie . .
199—318
201
221
257
303
319—402
321
360
375
388
402
403—450
405
424
430
VI Inhaltsverzeichnis.
XXV1. Infinitesimalrechnuag von G. Vivanti
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung . . .
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung . . . .
Differentiation und Integration
1. Differentiation.
2. Integration . .
. Prinzipien der nalen zn sihie-
denartige Fragen... . ... ... :
. Integration von rationalen Pehlkühnen
. Integration von irrationalen Funktionen. . .
. Integration von transzendenten Funktionen . .
. Reihenintegration, angenäherte Integration .
. Differentiation und Integration unter dem Inte-
gralzeichen. .... .
G. Vielfache Integrale .
Bestimmte Integrale . 5
Analytische Anwendungen der Ininitesiunireiien
1. Maxima und Minima.
. Unbestimmte Formen.
3. ee der Inßnitesimsirschmung auf die
Reihenlehre.. es
Transzendenten. Elliptische Its, ;
1. Verschiedene Transzendenten .
er
SsDak
2. Elliptische Integrale ....:. ..usr.ontanisn.
A. Beziehung ES Big eines und desselben
Kegelschnittes .
B. Beziehungen zwischen Bögen verschiedener
Kegelschnitte x
C. Vermischte Fragen .. ... : . ..
XXVII. Totale und partielle Dierk ae Pike
und Summenrechnung. Variationsrechnung von Ü. R.
Wallner. i
Totale und RE. Differmlini sie himgtn ;
Differenzen- und RE RE
Variationsrechnung.
XXVIII. Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799 von M. Cantor
Verbesserungen und Zusätze zu den Abschnitten XXI und XXVI von
F. Müller. . era er Bi Ba Ta a
iBber.. 35 © VE
Seite
639—869
641
670
695
695
702
702
710
716
724
733
737
738
741
770
770
779
780
790
790
794
195
835
366
871—1074
873
1047
1066
1075—1096
1097—1098
1099 —1113
ABSCHNITT XIX
GESCHICHTE DER MATHEMATIK
VON
S. GÜNTHER
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. » 1
keschichte der Mathematik in selbständigen Werken, monogra-
phischen Arbeiten und Biographien; Wörterbücher; Ausgaben,
Bearbeitungen und Wiederherstellungen von Klassikern.
Man hat das XVII. Jahrhundert nicht selten das „philosophische“
genannt, wogegen dem XIX. das Verdienst zuerkäant- werden ‘sollte,
das „historische“ zu sein. Diese Gegenüberstellung ist. gewiß nicht
ganz unberechtigt, allein in den zwischen 1760 ’und '1800 gelegenen
vier Jahrzehnten nimmt doch auch schon das geschichtliche Interesse
merklich zu, und nicht allein im Bereiche der im engeren Sinne hier
in Betracht kommenden Disziplinen ist dieser Fortschritt wahrzu-
nehmen, sondern auf allen Gebieten menschlichen Wissens macht sich
die gleiche Erscheinung geltend. So hat denn auch das Studium der
Geschichte der exakten Wissenschaften einen namhaften Aufschwung
genommen, wie die folgenden Zeilen dies im einzelnen a
werden.
Als ein wesentlich unterstützendes Moment darf wohl das be-
zeichnet werden, daß sich in dem uns jetzt beschäftigenden Zeitraume
die Gelegenheiten zu Veröffentlichungen stetig mehren und verbessern.
Wenn die bis dahin verfaßten Werke über Geschichte der Mathe-
matik und Astronomie noch gar viel zu wünschen übrig ließen, so
daß auch da eben — von Weidler!) und Montucla?) abgesehen —
meist nur ganz schwache Anfänge vorhanden waren, so mag ein
sehr bestimmender Grund für diese Unvollkommenheit in dem Um-
stande erkannt werden, daß es noch fast ganz an Spezialarbeiten
mangelte, jeder Autor also fast allein auf sich selbst und seine eigenen
Hilfsmittel angewiesen war. Anders wurde dies, als einerseits die
Veröffentlichungen der gelehrten Gesellschaften, RT die vor-
her noch so seltenen Zeitschriften in immer steigender Zahl rührigen
Schriftstellern sich zur Verfügung stellten. Und gerade hier ist in
der zweiten Hälfte unseres laufenden Jahrhunderts, zumal von 1780
an, sehr viel geleistet worden.
' Val. diese Vorlesungen III?, S.497. ?) Ebenda III®, S. 500 ff.
1*
A Abschnitt XIX.
Eine vortreffliche Zusammenstellung der mathematischen Zeit-
schriftenliteratur, dieses letztere Wort im allerweitesten Sinne ge-
nommen, verdankt man Rogg'), obwohl dieselbe, bei allem vom Ver-
fasser aufgewendeten Fleiße, noch immer nicht als ganz vollständig
betrachtet werden kann?). Diese Liste führt für unsere vier Dezen-
nien periodische Herausgabe gelehrter Arbeiten von folgenden Kor-
porationen an: Amsterdam, Basel, Berlin, Bologna, Boston, Breslau,
Brüssel, Caleutta („Asiatic Researches“), Cortona (in Toscana), Danzig,
Dessau, Dijon, Dublin, Düsseldorf, Edinburgh, Erfurt, Genf, Göttingen,
Halle a.S., Harlem, Kopenhagen, Leipzig, Lissabon, London, Madrid,
Mainz, Manchester, Mannheim, Middelburg (in den Niederlanden),
Modena, München, Nancy, Neapel, Padua, Paris, St. Petersburg, Prag,
Philadelphia, Rotterdam, Siena, Stockholm, Turin, Upsala, Wien,
Züsieh. Vor gar möncher Hpene Städte wäre der Name mehrmals
‚ZU DENAEn;. :xO. kommen. z. B. von Berlin die Akademie der Wissen-
““schäffeh: taid die. N Naturforschenden Freunde“ als Herausgeber in Be-
tracht. Vergleicht man das Verzeichnis mit demjenigen, welches sich
für die erste Jahrhunderthälfte oder gar für noch frühere Zeiten her-
stellen ließe, so gewinnt man erst eine wirkliche Einsicht in die ge-
waltige Zunahme der gelehrten Produktion, welche mit den Anfängen
des gewöhnlich als Aufklärungszeitalter gekennzeichneten Zeitab-
schnittes eingesetzt hat. |
Von Zeitschriften im eigentlichen Wortsinne besaß vorher Deutsch-
land nur die „Acta Eruditorum“, die ja auch eine reiche Fundgrube
für den Historiker darstellen, und in Frankreich besaß das „Journal
des Savants“ in den hundertundsiebenundzwanzig Jahren seines Be-
stehens (1665—1792) einen begründeten Ruf. Fachzeitschriften für
die Mathematik und die zu ihr in Beziehung stehenden Wissenszweige
gab es außer für die allerelementarsten Gebiete überhaupt noch nicht.
Das Verdienst, eine solche geschaffen zu haben, kommt dem Leipziger
Professor Karl Friedrich Hindenburg (1741—1808), dem Be-
') Handbuch der mathematischen Literatur vom Anfange der Buchdrucker-
kunst bis zum Schlusse des Jahres 1830, 1. Abteilung, Tübingen 1830, $. 282 ff.
”) Es fehlen u. a. die beiden Publikationen der Universität Erlangen („Erlanger
Gelehrte Anzeigen“; „Fränkische Sammlungen von Anmerkungen aus der Natur-
lehre, Arzeneygelahrtheit und Ökonomie“), sowie das inhaltreiche „Journal de
Trevoux‘ (kleine Stadt nördlich von Lyon). Auch Florenz ist in gewissem Sinne zu
nennen, denn dort blühte längere Zeit die in der Geschichte der experimentellen
Befragung der Natur einflußreich gewordene „Versuchsakademie“. Vgl. hierzu
G. Targioni-Tozzettis (1712—1783) vierbändiges Werk (Notizie degli aggra-
dimenti delle scienze fisiche, accaduti in Toscana nel corso di anni sessanta
nel secolo XVII, Florenz 1780), Ferner sind noch die Memorie dell’Accademia
Virgiliana von Mantua und die Memorie della Societä Italiana delle scienze von
Verona zu bemerken.
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 5
gründer der kombinatorischen Analysis, zu. Derselbe gab zusammen
mit dem Astronomen Johann Bernoulli!) von 1786—1788 das
„Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik“ heraus,
nachdem er zuvor zusammen mit anderen Redakteuren, nämlich dem
Physiker Christlieb Benedikt Funck (1736—1786) und dem Kame-
ralisten Nathanael Gottfried Leske (1751—1786) bei der Heraus-
gabe einer von 1781—1785 in Gang erhaltenen Vierteljahrsschrift von
verwandtem Charakter, bei dem „Leipziger Magazin für Naturkunde,
Mathematik und Astronomie“ beteiligt gewesen war. Für sich allein
leitete Hindenburg sodann von 1795 bis 1800 das „Archiv für die
reine und angewandte Mathematik“ (11 Hefte), ein Organ von reichem
und vielseitigem Inhalte, an dem auch die Geschichtsforschung, wie
dieses Kapitel noch zeigen wird, nicht achtlos vorübergehen darf.
Selbstverständlich darf diese auch nicht übersehen, was die der
Physik und Astronomie gewidmeten Zeitschriften enthalten. - Für
erstere ist als Bahnbrecher anzusehen der Abbe Francois Rozier
(1734—1793), der in Paris die „Observations et Memoires sur la
physique, l’'histoire naturelle et les arts“ ins Leben rief?) und sie von
1773—1793 im Rufe eines geachteten Fachblattes zu erhalten wußte.
Nach seinem Tode ging die Schriftleitung über in die Hände der
beiden Naturforscher Henri Marie Ducrotay de Blainville
(1778— 1850) und Jean Claude Delametherie (1743— 1817);
letzterer hatte auch früher bereits Rozier seine Unterstützung ge-
liehen, während in den Jahren 1779—1785 der Abbe Jean Andre
Mongez°) (1751—1788) als Mitherausgeber tätig gewesen war. Der
Titel wurde in „Journal de physique“ umgewandelt, und als solches
dauerte es von An II (1793) bis zum Jahre 1828. Die Entstehung
eines deutschen Konkurrenzorganes, welches jedoch die physikalische
Tendenz noch etwas schärfer betonte, fällt erst in die letzte Zeit des
uns hier beschäftigenden Zeitraumes. Im Jahre 1799 nämlich be-
gannen unter der Ägide des damals in Halle angestellten und 1811
nach Leipzig berufenen Professors Ludwig Wilhelm Gilbert
(1769—1824) die „Annalen der Physik“ zu erscheinen, welche als
Fortsetzung zweier noch nicht zu gleicher Bedeutung gelangten Unter-
nehmungen des Chemikers Karl Friedrich Adolf Gren (1760 bis
%) Der dritte Träger dieses Namens in der berühmten Mathematikerfamilie
(diese Vorlesungen III?, 8.325). °) Die beiden ersten Jahrgänge (1771—-1773)
führen eine etwas abweichende Bezeichnung, nämlich diese: „Introduction aux
observations sur la physique et l’histoire naturelle“. ®) Mongez war wissen-
schaftlicher Begleiter der unglücklichen Expedition des Kapitäns Jean Frangois
De la Peyrouse, welche 1785 Frankreich verließ und niemals wiederkehrte,
weil die beiden Schiffe an einer pazifischen Koralleninsel scheiterten und fast
spurlos untergingen.
6 Abschnitt XIX.
1798) zu treten bestimmt waren („Journal der Physik“, 1790—1794;
„Neues Journal der Physik“, 1795—1798). Gilbert hatte eine glück-
liche Hand und brachte die „Annalen“ bald zu fröhlichem Gedeihen,
so daß sie seinen Tod überdauerten und bis zum heutigen Tage,
dank den glänzenden Namen Poggendorff, W.und E. Wiedemann,
ihre Führerstellung, nicht bloß für die Grenzen des Vaterlandes, sich
bewahrt haben. Als eine dritte wertvolle Sammlung zeitgenössischer
Arbeiten hat zu gelten Lodovico Gasparo Brugnatellis (1761
bis 1818) in seinem Wohnorte Pavia veröffentlichte „Biblioteca fisica
d’Europa“ (1788—1791), an welche sich das „Giornale fisico-medieo“
anschloß; auch dieses hat nachher seinen Namen mehrfach gewechselt.
Gasparo BrugnatelliÄ, Brunacei und Configliacchi unter-
stützten den Vater des Erstgenannten bei der Herausgabe, und erst
1827 endigte die ganze Zeitschriftenserie.
‘Den deutschen und auswärtigen Vertretern der Sternkunde stellte
zuerst der Berliner Astronom Johann Elert Bode (1747—1826)
ein Organ für gelegentliche Veröffentlichungen zur Verfügung, indem
er seinen Ephemeriden („Astronomisches Jahrbuch für die Jahre
1776—1829“, Berlin 1774—1826; dazu vier Supplementbände) noch
einen für Aufsätze und Mitteilungen aller Art bestimmten Anhang
beifügte. Wichtiger unter dem hier in Betracht kommenden Gesichts-
punkte wurden die Zeitschriften Franz Xaver v. Zachs (1754 bis
1832), welche reich an geschichtlichen Originalabhandlungen und Be-
richten sind. Auf die kurzlebigen, in Verbindung mit Bertuch in
Weimar herausgegebenen „Geographischen Ephemeriden“ (1798—1799)
folgte die noch jetzt unentbehrliche, in Gotha gedruckte „Monatliche
Korrespondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde“ (1800
bis 1813). Deren spätere Fortsetzung fällt nicht mehr in den Rahmen
dieses Kapitels.
Gar manche ihn näher berührende Notiz findet der die literarische
Tätigkeit jener Tage Verfolgende auch in periodischen Schriften von
mehr allgemeinem, teilweise auch populärem Gepräge, für die sich be-
sonders der aus England herübergekommene Name „Magazin“ einge-
bürgert hatte. Es gab eine ganze Reihe von Wochen- und Monats-
schriften mit diesem Namen („Bremisches Magazin“, mit Fortsetzung
von 1760—1766 reichend; „Göttingisches Magazin“ von Lichtenberg
und Georg Forster, seit 1780; „Hamburger Magazin“, mit Fort-
setzung von 1745—1784; „Stralsundisches Magazin“, 1767—1776).
Der berühmte Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1744 bis
1799) ließ nachmals das „Magazin für das Neueste aus der Physik
und Naturgeschichte“ (Gotha 1784—1799) erscheinen, welches unter
der Redaktion des früheren Mitarbeiters Johann Heinrich Voigt
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 7
(1751—1823) als „Magazin für den neuesten Zustand der Naturkunde
in Rücksicht auf die dazu gehörigen Hilfswissenschaften“ (1799 —1806)
neu auflebte.e Nur ganz kurz hielt sich des in Göttingen dozierenden
Chemikers Johann Friedrich Gmelin (1748—1804) „Journal der
Naturwissenschaften“ (Göttingen 1797—1798). Zwei nicht ganz wert-
lose Sammelwerke sind die folgenden: „Physikalische Bibliothek“,
Rostock-Wismar 1754—1761; „Monatliche Beiträge zur Naturkunde“,
Berlin 1752—1765; beide herausgegeben von dem Wismarer Rektor
Johann Daniel Denso (1708 — 1795). Auch einzelne Gelehrte
suchten ab und zu dem bestehenden Bedürfnis, vor die Öffentlichkeit
treten zu können, durch Veranstaltung von Sammelschriften entgegen-
zukommen. So gibt es zwei Veröffentlichungen des bayerischen Aka-
demikers Franz v. P. Schrank („Abhandlungen einer Privatgesell-
schaft von Naturforschern und Ökonomen in Oberteutschland“, München
1792; „Sammlung naturhistorischer und physikalischer Aufsätze“,
Nürnberg 1796). Eine populärwissenschaftliche, zu ihrer Zeit sehr
geachtete Zeitschrift hatte ihren Sitz in Holland („Allgemeener Konst-
en Letter-Bode“, 1788—1818). Von englischen Organen, die zugleich
die Wissenschaft fördern und Wissen in weitere Kreise zu tragen be-
stimmt waren, seien „Ihe Lady’s Diary“ und „The Penny Cyelo-
paedia“ namhaft gemacht. Über den Einfluß, den die zahlreichen
italienischen Literaturjournale auch auf den Entwicklungsgang der
exakten Wissenschaften während des XVIII. Jahrhunderts ausübten,
verbreitet sich sehr anregend G. Loria (Il „Giornale de’ Letterati
d’Italia“ di Venezia e la „Raccolta Calogerä come fonti per la storia
delle matematiche nel secolo XVIIL, Cantor-Festschrift, 1899, 5. 241 ff.).
Die Möglichkeit, Studienfrüchte viel leichter als früher einem
großen Publikum vorlegen zu können, kommt naturgemäß darin zum
Ausdruck, daß kleinere Veröffentlichungen häufiger, dickleibige Bücher
seltener zu werden anfangen. Auch die Geschichte der mathematı-
schen Wissenschaften muß sich der in den Verhältnissen begründeten
Regel unterordnen. Es sind nur verhältnismäßig wenige neue Werke,
die uns in den vier Jahrzehnten zwischen 1760 und 1800 entgegen-
treten, und man kann nicht behaupten, daß das, was geliefert ward,
allen Ansprüchen vollkommen entsprach. Es läuft viel Mittelgut mit
unter, wenn auch in manchen Fällen, wie sich gleich zeigen wird,
die objektiver gewordene Anschauung der neuesten Zeit manches
allzu herbe Urteil der Vergangenheit wenigstens einigermaßen richtig-
stellen mußte.
Wir haben hier vor allem das einzige selbständige Werk aus der
Feder eines deutschen Schriftstellers im Auge, welches in das hier
zur Besprechuug stehende Intervall gehört. Es stammt her von dem
8 Abschnitt XIX.
bekannten, schon im dritten Bande mehrfach genannten Abraham
Gotthelf Kaestner'), entstand aber leider erst, und zwar in der
äußerlich sehr stattlichen Gestalt von vier Bänden ?), in dem letzten
Lebensabschnitte des bereits in das hohe Greisenalter eingetretenen,
außerordentlich produktiven Gelehrten. Man begnügte sich späterhin
nur zu leicht bei dem absprechenden Urteile eines allerdings durch
scharfen kritischen Geist ausgezeichneten Historikers?), welches für
diesen besonderen Fall völlig einem die ganze Tätigkeit des Mannes
treffenden Sarkasmus des Princeps Mathematicorum zu entsprechen
schien‘). „Von einem Eingehen in die Wissenschaft“, heißt es da,
„ist fast nirgends die Rede. Das Einzige, was man aus dem Buche
lernen kann, ist einige Bücherkenntnis. Aber auch hierin scheint den
Verfasser mehr der Zufall, als irgend ein bestimmter Plan geleitet zu
haben. Mit einem Worte, das Buch ist alles mögliche, nur keine Ge-
schichte der Mathematik.“ Da heutzutage weit weniger mehr als
früher Veranlassung dazu gegeben ist, von dem Werke nähere Ein-
sicht zu nehmen, und da es wohl keine große Zahl von Fachmännern
gibt, die sich das Zeugnis geben können, eine solche Einsicht wenig-
stens angestrebt zu haben, so möchte eine etwas eingehendere Wür-
digung des „sonderbaren Buches“ gerade an dieser Stelle am Platze
erscheinen.
Im XIX. Jahrhundert sind zumal auf einem nahe verwandten
Gebiete verschiedene geschichtliche Gesamtdarstellungen ans Licht ge-
treten, von denen man sagen kann, sie stellten das biographische
Moment allzusehr in den Vordergrund; manche „Geschichte der
!) Über die Persönlichkeit des Mannes ist das Notwendige schon früher
beigebracht worden (diese Vorlesungen III?, 8. 576). Eine gerechtere Würdi-
gung derselben greift immer mehr Platz. Recht dankenswerte Beiträge zu einer
solchen bietet auch die für die mathematische Hochschulgeschichte überhaupt
viel Interessantes enthaltende Göttinger Dissertation von C. H. Müller (Studien
zur Geschichte der Mathematik; insbesondere des mathematischen Unterrichtes,
an der Universität Göttingen im XVII. Jahrhundert, Leipzig 1904, 8. 50ff). Auch
früher einmal ist ein darauf abzielender Versuch zu verzeichnen (Günther,
Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften,
Leipz. 1876, Kap.I,Anhang). °)Kaestner, Geschichte der Mathematik, Göttingen,
1. Band 1796, 2. Band 1797, 3. Band 1799, 4. Band 1800 (erschienen im 'Todes-
jahre des Autors). °)G. H. F. Nesselmann, Die Algebra der Griechen, Berlin
1842, S. 24 ff. ‘) Gauß, der Kaestner noch selbst gekannt hat, dessen Vor-
lesungen aber begreiflicherweise keinen Geschmack abgewinnen konnte, soll ein-
mal geäußert haben, derselbe habe immer Geist und Witz an den Tag gelegt,
wenn er von ptudnelchen anderen Sachen redete; ganz hätten ihn diese seine
Eigenschaften auch dann nicht verlassen, wenn er von Mathematik im allgemeinen
sprach; nur bei seinen eigentlich mathematischen Arbeiten hätten ihn jene
völlig im Stiche gelassen.
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 9
Physik“ ist in Wirklichkeit eine „Geschichte der Physiker“. Nicht
das biographische, wohl aber das bibliographische Element über-
wuchert nun allerdings bei Kaestner die Entwicklungsgeschichte in
einem auch für die billigste Beurteilung tadelnswerten Maße. Allein
da doch nun einmal, seltene Ausnahmen abgerechnet, die geistige
Arbeit eines Zeitalters in seinen Preßerzeugnissen ihren natürlichen
Ausdruck findet, so ist das Übel doch nicht so”sehr groß, und wer
es einmal über sich gewonnen hat, den senilen Stil des Verfassers,
seine Neigung zu oft sehr unangebrachten Scherzen, das Hereinziehen
fremdartigster Dinge als gegebene Tatsachen hinzunehmen, der kann
— und hier liegt für uns ein bewußter Gegensatz im Verhältnis zu
der oben verlautbarten Geringschätzung vor — aus den vier Bänden
doch sehr viel Nützliches lernen. Die zahlreichen Buchauszüge sind
teilweise verständnisvoll gearbeitet und bringen dem modernen Leser
durch Einkleidung älterer Methoden in das neuzeitliche Gewand das
Wesen der ersteren doch oft weit näher, als dies für den Fernerstehen-
den auch beim eifrigsten Studium der Originale erreichbar ist. Und
wer sich die Mühe gibt, die Spreu vom Weizen zu sondern, der findet
manches wertvolle Korn, dessen Besitz ihn für die aufgewandte Mühe
entschädigen mag.
Der erste Band geht aus von den Anfängen der Positionsarith-
metik und sucht deren Ausbildung durch Hervorhebung wichtiger
Etappen, durchaus nicht immer ungeschickt, ins richtige Licht zu
stellen; eine kurze Geschichte der Algebra reiht sich an. Die Lehr-
bücher und Bearbeitungen, welche der Bearbeitung unterstellt werden,
erschöpfen zwar nicht die Fülle des vorhandenen Stoffes, geben aber
doch ein ganz gutes Bild von der Literatur des XVI. Jahrhunderts,
und zumal die etwas umständliche Schilderung der Werke von Chri-
stoph Rudolf, Stifel und Cardano orientiert über deren reichen,
angesichts der Seltenheit dieser Werke den meisten unzugänglichen
Inhalt. Der Anhang „Gelehrter Tand von Zahlen“ wird jedem modernen
Leser unschmackhaft sein, entbehrt aber keineswegs einer gewissen
kulturgeschichtlichen Bedeutung. Die „Geschichte der theoretischen
Elementargeometrie“ sucht möglichst viele Nachrichten über Klassiker-
ausgaben und Übersetzungen, auch solche in die arabische Sprache,
zusammenzustellen; daß Kaestner nicht gar so unkritisch war, be-
weisen seine Bemerkungen über die angebliche „Katoptrik“ Euklids.
Dem dritten Paragraphen') wird kein Bibliophile das Lob einer ge-
nauen und verständigen Buchcharakteristik streitig machen, und auch
') Kaestner I, 8. 289ff. „Die erste gedruckte Ausgabe von Euklids Ele-
menten“,
10 Abschnitt XIX.
sachlich ist manche Einschaltung gar nicht wertlos, wie etwa die
Prüfung der Parallelentheorie des Nasir Eddin'). Mit den Quadra-
turversuchen des Nikolaus Cusanus befaßt sich Kaestner?) weit
gründlicher, als irgend sonst ein früherer oder späterer Geometer vor
der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts. Auch die „Geschichte der
Trigonometrie“ wird noch in der Jetztzeit von Historikern nicht un-
gerne zu Rate gezogen, weil sie in ihren Mitteilungen über die seltenen
Folianten und Quartanten eines Rheticus, Pitiscus, Broscius u. a.
treu und zuverlässig ist, so daß man über die abstruse Form leichter
hinwegsieht. Ebenso ist der Abriß der Geschichte der Feldmeßkunst
nicht arm an brauchbaren Einzelheiten.
An der Spitze des zweiten Bandes steht die Geschichte der Per-
spektive, und ihr folgt die „Geschichte der geometrischen Analysis
und höheren Geometrie“, in welch letzterer die Notizen aus Com-
mandino, Werner und Maurolico einen etwas höheren Standpunkt
einnehmen. Wenn auch eine Übersicht über die „Mathematica Col-
lectio“ des Pappus strenge genommen nicht an diese Stelle gehört,
so mußte sie?) doch damals, da die antike Mathematik noch zu den
recht wenig bekannten Dingen gehörte, einen erwünschten Bestandteil
des Werkes bilden. Auch über die Urgeschichte der Lehre von
asymptotischen Gebilden erfährt man Wissenswertes‘). Die Geschichte
der Mechanik legt zu viel Gewicht auf Nebensachen, z. B. die Maschi-
nenkunde, die doch nur sehr bedingt hierher gehört, und dasselbe
darf von der auf Optik bezüglichen Abteilung ausgesagt werden.
Dagegen darf der Geschichte der älteren Astronomie wiederum das
Lob sorgfältigen Eingehens auf bibliographische Seltenheiten —-
Nonius, Gemma Frisius, Reinhold und ganz besonders Tycho
Brahe — nicht abgesprochen werden, und auch für die Anregungen,
welche der reinen Mathematik aus der Himmelskunde zuflossen, fällt
mancherlei ab. Wer jemals die wissenschaftlichen Bewegungen des
Zeitalters, welches durch die Namen Coppernicus und Tycho ge-
kennzeichnet ist, im Zusammenhange zu durchforschen unternommen
hat, wird nieht anstehen, einzuräumen’), daß ihm die Kaestnersche
Materialiensammlung für seinen Zweck von entschiedenem Nutzen ge-
wesen sei.
Der noch jetzt brauchbarste Band ist ohne Zweifel der dritte,
der in der Hauptsache das XVII. Jahrhundert, d. h. dessen erste Hälfte,
abhandelt; über das Jahr 1650 wird nur insofern hinausgegangen, als
) Kaestner I, S. 374ff.; vgl. diese Vorlesungen I?, S. 734. 2°) Ebenda I,
8.400ff.; vgl. diese Vorlesungen II?, S.192ff. °) Ebendall, S.82ff. *) Ebenda II,
S. 94 ff.; vgl. diese Vorlesungen II?, 8.571. °) Es sei namentlich auf die Behand-
lung Maestlins (Kaestner II, S. 446ff.) hingewiesen.
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 11
die Publizierung älterer Schriften nach jenem Termine noch statt-
gefunden hat. Die Darstellung der Kreisrechnung in ihrer interessan-
testen, einen Ludolf, Metius, Adrianus Romanus aufweisenden
Periode'), die ins einzelne gehende Beschreibung der zu Raritäten
gewordenen Napierschen Logarithmenwerke?), die freilich selber oft
etwas ausschweifende Schilderung des ebenso genialen wie wunder-
lichen Faulhaber°), der vorher niemals geführte Nachweis*), daß
‘sich bei Gregorius a Sto. Vincentio bereits die Quadratur der
Hyperbel im Keime erkennen lasse, und eine Reihe anderer Para-
graphen sichern dem Bande eine auch bei Anlegung eines strengeren
Maßstabes nicht verschwindende Bedeutung. An der behaglich breiten
Auslassung über Visierkunst und Proportionalzirkel nimmt vielleicht
ein Leser, der sich von jenen Lieblingsobjekten der Vergangenheit
keine Vorstellung machen kann, einigen Anstoß; wer aber weiß, welche
Rolle diese geometrischen Anwendungen in damaliger Zeit spielten,
und daß ein Kepler, ein Galilei ihnen ihre vollste Beachtung
schenkten, der wird nichts dawider haben, hier ganz bequem in eine
Literaturgattung eingeführt zu werden, deren Bestandteile er sich sonst
mühsam zusammenzusuchen genötigt wäre. Daß Kaestner sich dann
gelegentlich verleiten läßt, auch von weniger bedeutenden Produkten,
wie z. B. von den auf einem ziemlich niedrigen Niveau stehenden
technischen Skizzen des Ingenieurs Furttenbach’), sehr ‚ausgiebig
Bericht zu erstatten, muß man mit in Kauf nehmen.
Wiederum der angewandten Mathematik gehört der vierte Band.
Hier bilden für Mechanik, Optik und Astronomie die beiden Dioskuren
des beginnenden XVI. Jahrhunderts recht eigentlich die Mittelpunkte,
und vornehmlich ist es Kepler, den der Verfasser gründlich durch-
gearbeitet hat. Daß er sich in ziemlich gleiehgültige Episoden in der
Lebensgeschichte seines Helden mehr als nötig vertieft, mag man mit
seiner berechtigten Vorliebe für den in der Geschichte der Mensch-
heit so einzigartig dastehenden Mann entschuldigen. Auch die durch
die Bekanntmachung der „drei Keplerschen Gesetze“ entfesselte Be-
wegung, deren Signatur die Polemik zwischen den Anhängern des
coppernicanischen und des tychonischen Weltsystemes darstellt, hat keine
üble Kennzeichnung erfahren, so daß neuere Schriftsteller, welche sich
) Kaestner II, 8. 50ff. °) Ebenda II, S.70ff.; vgl. diese Vorlesungen II?,
S. 730 ff. ®) Ebenda III, 8. 111 ff. 4) Ebenda III, S. 245. Vgl. diese Vor-
lesungen II®, S.896. °) Ebenda III, S.419ff. Wohl nirgendwo sonst machen
sich die Zerfahrenheit, der Mangel an Rücksicht auf die wirklich interessanten
Fragen und die Redseligkeit des Alters unangenehmer geltend, weil von allen
Furttenbachschen „Erfindungen“ höchstens die Anstellung ballistischer Ver-
suche über das platte Alltagsleben hinausgeht.
12 Abschnitt XIX.
diese Phase des Erkenntnisfortschrittes zum Studienobjekte ausersahen,
ohne Kaestner in Verlegenheit gekommen sein würden‘). Alles in
allem wagen wir zu behaupten: Auch dieser Band, von einem gebrech-
lichen Manne im einundachtzigsten Jahre seines Lebens mit letzter
Kraft niedergeschrieben, leistet dem Geschichtschreiber, der sich über
gewisse Punkte der großen Sturm- und Drangbewegung im Zeitalter
eines Cartesius, Galilei, Kepler zuverlässig unterrichten will, sehr
nützliche Dienste, und wenn auch der deutsche Mathematiker fraglos
nicht auf der Höhe eines Montucla stand, so muß man sich doch
hüten, an seinem Gedächtnis ein Unrecht zu begehen und über der
abstoßenden Außenseite das, was am Inhalt nutzbar und lobenswert
ist, ganz zu vernachlässigen. Diese kleine Ehrenrettung glaubte ein
Späterer, der seit mehr denn vierzig Jahren sich gar häufig Rats aus
dem vermeintlichen Sammelsurium erholt hat, dem oft verkannten
Literator Kaestner schuldig zu sein.
In Deutschland wurde von zusammenfassenden Schriften im übrigen
nichts mehr hervorgebracht, wenigstens wenn wir nur die reine Mathe-
matik ins Auge fassen. Höchstens die „Enzyklopädie“ von Rosen-
thal?) könnte noch der Vollständigkeit halber genannt werden, und
einem damals beliebten Lehrbuche?) ist ein kurzer historischer Abriß
beigegeben. Ein Schriftehen von Hollenberg*) ist ziemlich bedeu-
tungslos und scheint auch nur ganz wenig bekannt geworden zu sein?).
Die Inauguraldissertation®) des bekannten Physikers Gilbert (s. 8. 5)
weist der Geschichte von vornherein nur einen sekundären Platz an.
Dagegen soll nicht verschwiegen werden, daß für den geschicht-
lich arbeitenden Mathematiker sich auch mancherlei aus den deutschen
Schriften über Geschichte der Physik und Astronomie entnehmen läßt.
Die erstere wurde im fraglichen Zeitraum mit einem Werke”) be-
') Vgl. Günther, Die Kompromißweltsysteme des XVI., XVII. und XVII.
Jahrhunderts, Annales Internationales d’Histoire (Congres de Paris 1900), Paris
1908, 8.121. ?) @. E. Rosenthal, Enzyklopädie aller mathematischen
Wissenschaften, Gotha 1794—1797. 3) B. F. Moennich, Lehrbuch der Mathe-
matik, Berlin-Stralsund 1781—1784. Dieses Schaltkapitel, über welches Nessel-
mann (a. a. 0. 8.23ff.) nicht ganz ungünstig urteilt, führt den Titel: Kurze
Geschichte der Mathematik nach der Ordnung der Hauptstücke im Lehrbuche.
“) Hollenberg, Nachrichten von dem Leben und den Erfindungen der Mathe-
matiker, Münster-i. W. 1788. °) Außer bei Nesselmann (a. a. O., 8.24) fanden
wir es nirgendwo angeführt. 6% L. W. Gilbert, De natura, constitutione et
historia matheseos primae vel universalis seu metaphysices mathematicae com-
mentatio I et II, Halle a. S. 1794—1795. Vgl. dazu L. Choulant, Versuch über
Ludwig Wilhelm Gilberts Leben und Wirken, Ann. d. Phys., LXXVI (1824,
S. 463ff.). Danach soll Gilbert gewisse Aufstellungen seiner Erstlingsschrift
ausdrücklich wieder zurückgenommen haben. ?°) J. C. Fischer, Geschichte der
Naturlehre, Göttingen 1800—1808.
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 13
reichert, dem hohe Verdienstlichkeit nicht abgesprochen werden darf,
und welches man auch heute noch mit Vorteil zu Rate ziehen kann,
weil es durchweg einen bequemen und sicheren Zugang zu den Quellen
eröffnet. Stebt Fischer auch für seine Person noch auf einem etwas
beschränkten Standpunkte, wie ihm denn z. B. Huygens’ Begründung
. des Brechungsgesetzes aus der mathematisch eingekleideten Vibrations-
theorie des Lichtes gar nicht einleuchten will!), so hat er sich doch
redliche Mühe gegeben, in jedem Falle den verschiedenartigsten An-
schauungen gerecht zu werden. Sein Werk überragt weit dasjenige
des minder exakten Murhard (1779—1853)?), das denn auch, und zwar
ohne ersichtlichen Grund, ein Torso geblieben ist. Eine eigenartige
Schöpfung ist eine anonyme Geschichte der Sternkunde?), welche bis
zum Ende des XVII. Jahrhunderts reicht und manch brauchbare Nach-
richt enthält. Auch die deutsche Bearbeitung‘) einer älteren Schrift
von Cassini°) darf hier nicht vergessen werden; sehr ungleichmäßig
gearbeitet, so daß mancher Zeitabschnitt gar nicht zu seinem Rechte
gelangt, verbreitet sie sich, zumal in den Zusätzen des Herausgebers,
über viele wissenswerte Dinge, die anderwärts mehr in den Hinter-
grund treten und die hier sachkundige Erörterung finden.
Frankreich sah am Schlusse der uns hier beschäftigenden Periode
das grundlegende Werk von Montucla°®) in neuer, sehr vermehrter
Auflage erscheinen, deren Umfang sich auf vier Bände gesteigert
hatte; die beiden letzten hatte der Astronom Lalande bearbeitet,
ohne doch, wie an diesem Orte bereits ausgeführt ward’), die von
dem Begründer selbst hergestellten Teile zu erreichen. In Montuclas
Fußtapfen ist, teilweise allerdings nicht stets mit gleichem Glück,
später Ch. Bossut (1730—1814) eingetreten, dessen Werk freilich erst
dem XIX. Jahrhundert angehört und hier keiner Erwähnung teilhaftig
werden könnte, wenn nicht ein Vorläufer desselben, Bossuts Discours
») J. C. Fischer, Geschichte der Naturlehre II, Göttingen 1802, 8. 47.
®) F. W. A. Murhard, Geschichte der Physik, 1. Band, Göttingen 1798—1799.
°) Geschichte der Astronomie von den ältesten bis auf gegenwärtige Zeiten in
zwey Bänden, I, Chemnitz 1792.° Als Verfasser zeichnet unter der Vorrede ein ge-
wisser C. G. F., der sich hauptsächlich an Weidler (Historia Astronomiae,
Wittenberg 1741) gehalten hat. Die äußerst zahlreichen Druckfehler stören den
Leser in hohem Maße. *) J. L. Rost, Astronomisches Handbuch, neu heraus-
gegeben von G. F. Kordenbusch, I, Nürnberg 1771, 8. 1—120. Die Über-
setzung hatte schon früher J. P.v. Wurzelbau besorgt; Kordenbusch nahm
sie, die nicht in den Druck gelangt war, in die von ihm besorgte Neuauflage
des Rostschen Handbuches auf und bereicherte sie mit Anmerkungen, die auf
eine gute Sachkenntnis schließen lassen. °) Dom. Cassini, De l’origine et du
progres de l’astronomie et de son usage dans la g@ographie et dans la naviga-
tion, Paris 1709 (Recueil d’observations faites... par Messieurs de l’Academie
Royale des sciences). ®) Diese Vorlesungen IIl?, 8.500ff. °) Ebenda S. 501.
14 Abschnitt XIX.
preliminaire 1784 in der Eneyclopedie methodique erschienen wäre!).
Der gleichen Zeit etwa gehört Condorcet, Esquisse d’un tableau
historique des progres de l’esprit humain an, welche zahlreiche Auf-
lagen erlebt hat. Eine ganz schwache Leistung war die „Entwieklungs-
geschichte des menschlichen Geistes“ von Al. Saverien?) (1750—1805);
Nesselmann sagt?) von ihr, es sei unbegreiflich, daß noch acht
Jahre nach dem Erscheinen der Montuclaschen Schöpfung „eine
solche Mißgeburt“ habe das Licht der Welt erblicken können. Der
Vollständigkeit halber mag auch noch der geschichtliche Abriß in
E. M. J. Lemoine D’Essoies’ (1751—1816) Lehrbuche‘) namhaft
gemacht werden. Anerkennenswertes haben die Franzosen auf ge-
schichtlich-astronomischem Gebiete zutage gefördert. Den zeitgeschicht-
lichen Essay?) von Al. G. Pingre (1711—1796) würde man nur un-
gerne missen, und die zahlreichen Schriften®) des vielseitigen, auf dem
revolutionären Schafotte gefallenen J. S. Bailly (1736—1793) sind,
wenn auch die Vorliebe ihres Verfassers für kühne Geschichtskon-
!) Lediglich dieser Umstand veranlaßt uns hier dazu, einige einschlägige
Nachrichten einzuflechten. Von Bossuts Werke gibt es eine Doppelausgabe (Essai
sur l’histoire generale des mathematiques, Paris 1802; Histoire generale des
math@ömatiques, ebenda 1810). Nach der ersten Auflage sind die deutsche und
die englische Übersetzung gearbeitet; erstere lieferte Reimer (Hamburg 1804),
letztere Churchill — nicht Bonnycastle, wie man gemeiniglich liest —
(London 1803). Nun zitiert aber Rogg (S. 174 des 3.4 von uns erwähnten
Werkes) auch einen italienischen Bossut (Quadro dei progressi delle matema-
tiche, tradotto dal Francese, Mailand 1793). Nach Nesselmanns Vermutung
(a. a. O., S. 28) wäre das wahrscheinlich eine Übertragung des der Geschichte ge-
widmeten Abschnittes in Bossuts großem Kompendium (Cours de Mathema-
tiques, Paris 1782). ?) Saverien, Histoire des progres de l’esprit humain dans
les sciences exactes et dans les arts qui en dependent, savoir, l’arithmetique,
l’algebre, la geometrie, l’astronomie, la gnomonique, la chronologie, la naviga-
tion, l’optique, la mechanique, l’hydraulique, l’acoustique et la mousique, la
g6ographie, l’architecture, avec un abrege de la vie des auteurs les plus c6-
lebres dans ces sciences, Paris 1766. °) Nesselmann, a.a.0., 8.20. *) Le-
moine-D’Essoies, Traite el&mentaire des mathematiques, Paris 1778. ®)Pingre&,
Projet d’une histoire de l’astronomie du XVII® $iecle, Paris 1756. Als an der
Grenzscheide der hier zu behandelnden Periode stehend mag dieses Buch hier
ebenso eine Stelle finden, wie das nur zum Teile hierher gehörige, von Scheibel
(s. u.) gelobte von A. Y. Goguet (De l’origine des lois, des arts et des sciences,
et de leurs progres chez les anciens peuples, Paris 1758). Das letztere ist von
Hamberger (Jena 1760—1772) ins Deutsche übertragen worden. Esteves Pla-
giat an Weidler (s. $S. 3) (Histoire generale et particuliere de l’astronomie,
Paris 1755) wird durch diese Notiz vielleicht schon zu sehr geehrt. °) Bailly,
Histoire de l’astronomie aneienne depuis son origine jusqu’a l’etablissement de
l’ecole d’Alexandrie, Paris 1775; Histoire de l’astronomie moderne depuis la
fondation de l’&cole d’Alexandrie jusqu’äa l’&Epoche de 1781, ebenda 1779—1782;
Lettres sur l’origine des sciences et sur celles des peuples de l’Asie, ebenda 1777.
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 15
struktionen manche Störung mit sich bringt, doch für ihre Zeit von
großem Werte gewesen. Insbesondere die Monographie über die in-
dische Astronomie!) bietet auch für die reine Mathematik verschiedene
Anhaltspunkte.
Von anderen Ländern ist, soweit es sich um Schriften von mehr
allgemeinem Gepräge handelt, nur noch England in Betracht zu ziehen.
Es hat in 6. Costard (1710?—1782) einen tüchtigen Historiker der
Astronomie besessen, von dem wir noch weiter unten wiederholt zu
sprechen haben werden, und der auch mit einem größeren Werke?)
seine Spezialuntersuchungen beschloß. Dasselbe scheint keiner großen
Verbreitung teilhaftig geworden zu sein; selbst-Rud. Wolf kennt es
nur von Hörensagen?). Man hat es da nicht mit einer geschichtlichen
Darstellung im gewöhnlichen Wortsinne zu tun, sondern man würde
seinem Inhalte nur dann gerecht werden, wenn man es als „Lehrbuch
der Sternkunde auf geschichtlicher Grundlage“ bezeichnete. Der Ge-
brauch des Globus steht im Vordergrunde, und auf mathematische
Fragen wird nur gelegentlich eingegangen.
Den historischen Arbeiten haben sich, als eine notwendige Er-
gänzung, die bibliographischen anzureihen. ÖObenan steht hier das um-
fassende und verlässige Repertorium*) von-J. E. Scheibel (1736 bis
1809), welches, sobald älteres Schrifttum zu berücksichtigen ist, noch
jetzt einen unentbehrlichen Ratgeber abgibt. Recht brauchbar ist
auch des uns schon bekannten Murhard (s. S. 13) „Bibliothek“>),
der eine sehr geschickt gemachte Bibliographie einer physikalischen
Spezialdisziplin®) vorangegangen war. Die Astronomie hat in dem
bücherliebenden und bücherkundigen J. J. F. De Lalande (1732 bis
1807) einen Mann gefunden, der ihr ein literarisches Hilfsmittel von
hoher Brauchbarkeit zu liefern am besten geeignet war. Gehört das-
selbe auch bereits dem neuen Jahrhundert an’), so schließt es doch
die Geschichte der beiden letzten Jahrzehnte des vorhergehenden in
sich und durfte-folglich an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.
Enzyklopädien und Wörterbücher sind für unsere Zeitspanne nur
", Bailly, Histoire de l’astronomie indienne et orientale, Paris 1787.
°) Costard, The History of Astronomy with Application to Geography, History,
and Chronology, London 1767. °®) R. Wolf, Geschichte der Astronomie, München
1877, 8.785. #) Scheibel, Einleitung zur mathematischen Bücherkenntnis,
19 Teile, Breslau 1769—1798. °) Murhard, Bibliotheca mathematica oder Lite-
ratur der mathematischen Wissenschaften, Leipzig 1797—1805. °) Murhard,
Versuch einer historisch-chronologischen Bibliographie des Magnetismus, Kassel
1797. °) Lalande, Bibliographie astronomique, avec l’histoire de l’astronomie
depuis 1781 jusqu’en 1802, Paris 1803. Auch Lalandes großes, vierbändiges
Handbuch (Paris 1777—1781) ist reich an der Geschichte seiner Wissenschaft
dienendem Stoffe.
16 Abschnitt XIX.
in geringerer Anzahl anzuführen. An der Spitze stehen Diderots
Encyelopedie und die später herausgekommene Eneyelopedie methodique.
Das Sammelwerk!) des polyhistorisch veranlagten, doch aber mehr auf
volkswirtschaftlichem als auf exaktwissenschaftlichem Arbeitsfelde origi-
nellen J. &. Büsch (1728—1800) erhebt keine höheren Ansprüche. Sehr
hoch dagegen stand von Anfang an das Klügelsche Wörterbuch, dessen
hohe Wertschätzung seitens der Fachmänner sich klar in dem Umstande
offenbart, daß es noch bis tief ins XIX. Jahrhundert hinein fortgesetzt
ward. Wir würden seiner — und noch weniger der Fortsetzungen
von ©. B. Mollweide und J. A. Grunert — nicht zu gedenken
verpflichtet sein, weil erst im Jahre 1803 die Veröffentlichung begann,
wenn man es nicht mit einigem Rechte als Konsequenz eines anderen,
etwas älteren Werkes ansehen dürfte, welches Klügel im Bunde mit
C. 6. D. Müller und J. A. Renner herausgab?), und welches auch
in seinen Einzelbestandteilen verbreitet wurde. Das „Gehlersche
Physikalische Wörterbuch“?) war ebenso für Deutschland ein literarisches
Ereignis*). Von französischen Autoren hat J. Lacombe (1724—1811)
sich auf diesem Gebiete eifrig betätigt’). Auch Großbritannien lieferte
einige Beiträge zu dieser Literaturgattung. So ließ A. Rees) (1793
bis 1825) die ältere Sammlung von Chambers’) neu aufleben. In
zwei starken Bänden ließ Ch. Hutton (1737—1823) ein mathematisch-
physikalisches Lexikon?) erscheinen; und eben derselbe hat auch für
die mathematischen Unterhaltungsschriften durch Herausgabe der wohl
bedeutendsten Probe?) dieser — in neuester Zeit durch E. Lucas,
') Büsch, Enzyklopädie d. histor., philosoph. und mathem. Wissensch., Ham-
burg 1775. ?) Enzyklopädie oder zusammenhängender Vortrag d. gemeinnützigsten
Kenntnisse, Berlin 1782—1784. °) Gehler, Physikalisches Wörterbuch, Leipzig
1787—1795. *) Davon, daß dieses Nachschlagewerk seinen Zweck erfüllte, legt
am besten die Neubearbeitung Zeugnis ab, welche bedeutend später von Brandes,
Muncke, Horner, L. Gmelin, C. H. Pfaff und J. J. v. Littrow unternom-
men ward (Leipzig 1825—1844) und nunmehr statt der fünf Bände des Originals
(darunter ein Supplementband) deren zwanzig in Anspruch nahm. 5) Lacombe,
Dietionnaire encyclopedique des amusants des sciences mathömatiques et phy-
siques, Paris 1792. Poggendorff (Biogr.-Liter. Handwörterb. I, Sp. 1339) sagt
von ihm, es umfasse die auf ein ähnlich beschaffenes Ziel gerichteten Werke
von Macquer, Nollet, Ozanam, Guyot, Deeremps und Pinetti. Als
Nachtrag zum Kapitel der „mathematischen Ergötzungen“ (diese Vorlesungen II®,
8.768ff.; III?, S. 103) finde noch ein anderes Erzeugnis Lacombes hier einen
Platz: Dietionnaire des jeux mathömatiques, Paris 1799. °) Rees, Chambers’
Cyelopaedia, new Edition, London 1781—1786. In einer weiteren Auflage, die
von 1802 an herauskam, sind diese vier Bände auf dreißig angewachsen.
”) Diese Vorlesungen III?, S.510. ®) Hutton, A Mathematical and Philosophical
Dietionary, London 1795—1796. „Natural Philosophy“ ist nach englischem
Sprachgebrauche gleichbedeutend mit Physik. °) Hutton, Recreations in Ma-
thematics and Natural Philosophy, London 1803.
Geschichte d. Mathematik in.selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 17
Schubert, Ahrens u. a. zu neuem Leben erweckten — Art von
Seitenzweig der exakten Disziplinen Sorge getragen.
Wir wenden uns nun denjenigen Arbeiten zu, welche sich in der
Zeit zwischen 1760 und 1800 mit Einzelfragen aus dem Bereiche der
mathematischen Wissenschaften beschäftigen. An die Spitze wollen
wir diejenigen stellen, deren Gegenstand selbst wieder ein historischer
ist, und es versteht sich von selbst, daß hier auch das biographische
Moment, dessen Wertschätzung in der zweiten Hälfte des XVIIL Jahr-
hunderts eine immer ausgesprochenere wird, Beachtung finden muß.
Den Reigen mag L. Dutens (1730—1812) eröffnen, der sich in drei
starken Bänden!) bemühte, dem Altertum die Kenntnis so ziemlich
aller gewichtigeren Erfindungen und Entdeckungen der Folgezeit zu-
zuschreiben, der aber — ähnlich wie Bailly (s. S. 14) — diesem
seinem Streben die Regeln der Kritik ganz und gar zum Opfer
brachte?). Immerhin ein geistvoller Versuch, wie er von dem ersten
Herausgeber?) der Werke des großen Leibniz nicht anders zu er-
warten war. Die Schrift steht ziemlich vereinzelt da, wogegen an Lebens-
beschreibungen und Elogien durchaus kein Mangel ist. Ob die Übersicht,
die wir darüber im folgenden geben, eine vollständige ist, bleibe dahin-
gestellt; wichtigere‘Arbeiten dürften wohl kaum außer acht geblieben sein.
Bleiben wir vorerst bei Deutschland stehen, so fällt uns zuerst
R. E. Raspes (1736?—1794) Vorschlag‘) zu einer Herausgabe der
Leibnizschen Werke ins Auge, der freilich einstweilen keine Folgen
hatte. Äußerst eifrig auf diesem für den Historiker immer reizvollen
Gebiete erwies sich Kaestner, dem die Gedenkreden auf drei hoch-
verdiente Lehrer der Göttinger Hochschule zu danken sind®). Das
Jahr 1783 brachte aus der Feder deutsch schreibender Gelehrter drei
hierher gehörige Arbeiten, von denen zwei nur als Nekrologe zu
gelten haben®), wogegen die dritte”) sich als ein tief greifendes, auf
eigene Studien sich stützendes biographisches Denkmal für den Märtyrer
') Dutens, Recherches sur l’origine des decouvertes attribudes aux mo-
dernes, Paris 1766, 1776, 1812. ?°) Wir lesen darüber bei Poggendorff (Ge-
schichte der Physik, Leipzig 1879, S. 11): „Wohl zu merken ist indeß, daß,
während Dutens in dem Nachweise bekannter Thatsachen bei den Alten so
überaus glücklich erscheint, er doch nicht eine einzige neue, zu seiner Zeit noch
unbekannte bei ihnen aufzufinden weiß, wie wenn die Alten genau so viel ge-
wußt hätten und nicht mehr, als die neueren Physiker im Jahre 1766.“ °®) J. H.G.
Leibnitii Opera omnia, ed. Dutens, Genf 1769. ‘) Raspe, Programma
de edendis Leibnitii Operibus philosophicis et mathematieis, Nova Acta Erudi-
torum Lipsiensia, 1762, 8. 196ff. °) Kaestner, Elogium Tob. Mayeri, Göt-
tingen 1762; Elogium Albr. Ludov. Fr. Meisteri, ebenda 1789; Elogium G. Ch.
Lichtenbergi, ebenda 1799. ®) Al. David, Das Leben Newtons, Prag 1783;
N. v. Fuß, L’eloge de L. Euler, St. Petersburg 1783. °) C. J. Jagemann, Ge-
schichte des Lebens und der Schriften von Galilaeo Galilaei, Weimar 1783.
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 3
I tu Abschnitt XIX.
der neueren Naturforschung zu erkennen gibt!). Der wissenschaft-
liche Nachruf war damals in erster Linie Sache der Franzosen, deren
anerkanntes Geschick, gemeinverständlich und zugleich elegant zu
schreiben, sich besonders geltend machte, wenn es darauf ankam, mit
verhältnismäßig wenigen Worten viel zu sagen.
Besonders ragte unter ihnen hervor der Marquis M. J. A.N.C. De
Condorcet (1743—1794), selbst ein Analytiker von Ruf, den aber sein
Verdienst so wenig wie Lavoisier und Bailly vor dem revolutionären
Fallbeile schützen konnte, dem er nur durch Selbstmord sich entzog. In
einer stattlichen Reihe von Bänden?) hat er die Taten und Schicksale der
älteren Akademiker verewigt, unter denen nach damaliger Lage der Dinge
Mathematiker, Physiker und Astronomen besonders zahlreich sind. Von
Lalande haben wir eine Lobrede?) auf seinen unglücklichen Kollegen
Bailly. Eine reich fließende Quelle biographischer Nachweisungen liegt:
ferner in der jedem Bande der Pariser Denkschriften beigegebenen ‚„Hi-
stoire“ vor; eine lange Reihe von Namen, die unten aufgezählt werden),
') Durch Jagemann, der sich natürlich vorwiegend die damals energi-
scher einsetzende Forschung Italiens zunutze machte, wo Viviani das Andenken
seines großen Lehrers von den Schlacken der Verdächtigung zu reinigen suchte,
wurde auf deutschem Boden das Studium des Lebens und der Werke Galileis
erst begründet. Man bemerkt bei ihm (K. v. Gebler, Galileo Galilei und
die Römische Kurie, I, Stuttgart 1876, 8. 293) schon eine viel tiefere Einsicht in
die wahren Triebfedern des Inquisitionsprozesses, als bei viel späteren Schrift-
stellern. Doch konnte er noch nicht verwerten das erst ein Dezennium später
herausgekommene, an Originalmitteilungen reiche, posthume Werk des Senators
G.C. De Nelli (1661—1725). In ihm (Vita e commerecio di Galileo Galilei, Lau-
sanne 1793) wurde zuerst der unerschöpfliche Briefwechsel, den uns jetzt A. Fa-
varos glänzende Nationalausgabe vollkommen zugänglich gemacht hat, in seiner
großen Tragweite erkannt. 2°) Con dorcet, Eloge des acaddmiciens francais
morts depuis 1666 jusqu’en 1699, Paris 1773; Eloge des acad&miciens morts
depuis 1771—1790 (erst nach des Verfassers Tode erschienen), Paris 1799.
°) Lalande, Eloge de J. 8. Bailly, Paris 1768. #) Histoire de l’Academie
Royale des Sciences (avec les M&moires de Mathematique et de Physique). —
1750, 8.259—276. Eloge de M. De Maupertuis (diese Vorlesungen IIT®, S. 774).
— 1765, 8. 144—159. Eloge de M. Clairaut (a. a. O,, 111% 8.478), 1768;
8.144—154. Eloge de M. Camus (1699—1768; bekannt als Kenner der theo-
retischen Nautik und als einer der Teilnehmer an der lappländischen Grad-
messung). — 1768, S. 155 —166. Eloge de M. Deparcieux (a.:a. O., III®, $. 638).
— 1771, S.89—104. Eloge sur M. De Mairan (a. a. O., II®, 8. 628 £f.). — 1771,
S.105—130. Eloge de M. Fontaine (a. a. O.,I 8. 587). — 1771, 8. 143—157.
' Eloge de M. Pitot (a. a. O., III, 8. 445 ff.). — 1779, 8.54—70. Eloge de M. le
Comte D’Arcy (1725—1779; Astronom und Ballistiker, aber auch der reinen
Mathematik nicht fremd). — 1782, Eloge de M. D. Bernoulli (a. a. O,, IM
8.631). — 1783, Eloge de M. L. Euler (a. a. O,, III, 8. 549#f.). — 1783, Eloge
de M. Bezout (1730—1783; Begründer unserer heutigen Lehre von den Deter-
minanten). — 1783, Eloge de M. D’Alembert (a. a. O., III®, 8.510). — 1788,
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 19
tritt uns entgegen, und zwar nicht nur in aphoristischer, sondern zum
Teile in recht ausführlicher Schilderung von sachkundiger Seite. Ver-
dienstliche Beiträge zu dieser in jenen Jahren sehr geschätzten Lite-
raturgattung lieferten ferner auch Italiener. Halten wir uns an die
chronologische Reihenfolge, so stoßen wir auf Artikel über Rampi-
nelli'), Cavalieri?) — dem der gelehrte Frisi?) auch eine eigene
Abhandlung‘) widmete — und G@. Rocca (1607—1656)?). Mehrere
lesenswerte Erinnerungsreden haben auch in die Veröffentlichungen
der Akademie von St. Petersburg Aufnahme gefunden®). Großbritan-
nien ist, soweit die wissenschaftliche Biographie in Frage kommt, nur
durch ein einziges größeres Stück in unserer Periode vertreten, dem
aber großer Wert zukommt; es ist ein Essay”) über den ebenso
Eloge de M. Marschin (1717—1783; bekannter schwedischer Astronom). —
1786, Eloge de M. l’Abb& De Gua (a. a. O., II, S. 576 ff.).
) Elogio del R. P. Ramiro enipinelti Bresciano etc., Giornale de’
Letterati, Tomo per gli anni 1758 e 1759, S. 87ff. (Rom 1760). Rampinelli,
der folgeweise in Bologna, Mailand und Pavia Mathematik lehrte, wurde be-
rühmter, als durch eigene Schriften, durch seine Schülerin Gaetana Agnesi
(diese Vorlesungen III®, 8. 822ff). ®) Frisi, Elogio del B. Cavalieri, Nuovo
Giornale de’ Letterati d’Italia, XIV, S. 191ff. (Modena 1778); Aggiunte all’ Elogio
del Cavalieri, ebenda, XV, 8.280ff. (Modena 1778); Risposta a un’ Elogio di
Bonaventura Cavalieri, ebenda, XXIII, S. 116ff. (Modena 1781). > Pr, Frist
(diese Vorlesungen III®, 8. 822) wurde als Schriftsteller über astronomische, me-
chanische und meteorologische Probleme sehr geschätzt, hat jedoch in der zweiten
Hälfte seines Lebens auch mathematische Fragen behandelt. *) Dieselbe er-
schien 1778 in Mailand; ihre Überarbeitung ging, wie wir sahen, in die viel-
gelesene Zeitschrift über Lobreden auf Galilei und auf N ewton sind
gleichfalls zu nennen. Von Frisis geachteter Stellung zeugt eine auf ihn
verfaßte Gedächtnisschrift: Memorie appartenenti alla vita ed aglı studi del Sig.
Paolo Frisi ete., Mailand 1787. >) Lettere d’Uomini Illustri nel secolo XVII
a Giannantonio Rocca, filosofo e matematico Reggiano ete., Nuovo Gior-
nale ete., XXX, S. 1ff.; XXXII, S. 1ff.; XXXIV, 8. 1ff.; XXXVI, S. ıff. (Mo-
dena 1785, 1786, 1786, 1786). °) Nova Acta Academiae Scientiarum Imperialis
Petropolitanae. Historia ad annum 1783, N. Fuß, Eloge de M. Leonard Euler,
S. 159 ff. (vgl. 8. 17); Historia ad annum 1784, Preeis de la vie de M. Lexell,
S. 16ff.; Historia ad annum 1789, 8. 23ff., Preeis de la vie de M. Jacques
Bernoulli. A. J. Lexell (1740—1784) hat sich durch zahlreiche trigono-
metrische und andere Arbeiten, z.B. durch den nach ihm benannten Satz
der Sphärik ein dauerndes Denkmal gesetzt; Jakob Bernoulli II (1759
bis 1789) ist der zeitlich letzte Sproß der berühmten Baseler Mathematiker-
familie. ”) W. Minto, Dav. Stewart’s, Earl of Buchan, Account of the Life,
Writings and Inventions of John Napier of Merchiston, Edinburgh 1788. Die
Geschichte der Mathematik scheint von David Stewart nichts weiter zu wissen,
während seine Namensvettern John (gest. 1766) und Matthew (1717—1785)
wohl bekannt sind; vom letzteren (diese Vorlesungen III®, 8. 541 ff.) handelt aus-
führlich sein Landsmann John Playfair (1748—1819) (Account of M. Stewart,
Transact. of the Royal Society of Edinburgh, I, 1 (1788), S. 57ff.).
J2*
20 Abschnitt XIX.
genialen wie abstrusen Lord Napier, über dessen eigenartige Auf-
fassung der Logarithmen in diesem Werk!) eingehend berichtet worden ist.
In gewissem Sinne darf hierher wohl auch gerechnet werden: die
Herausgabe nachgelassener Schriften hervorragender Zeitgenossen. Das
„historische Jahrhundert“ hat es nicht an sich fehlen lassen, auch
nach der uns hier angehenden Seite hin sich seines Namens würdig
zu erweisen, denn daß derartige Sammlungen unter Umständen dem
späteren Erforscher der geschichtlichen Zusammenhänge noch bedeut-
samere Dienste leisten können, als bloße Berichterstattung, wird nicht
bezweifelt werden können. Der Physiker Liehtenberg brachte einen
Teil der von einem berühmten Göttinger Amtsgenossen hinterlassenen
Abhandlungen an das Licht?). Ebenfalls in Göttingen erschienen unter
der Obsorge von Wrisberg die großenteils noch ungedruckten Ar-
beiten?) des polyhistorisch veranlagten Arztes J. @. Brendel (1712 bis
1758), die auch in mathematischer Beziehung gar nicht belanglos
sind®). Endlich wollen wir auch noch kurz die mathematische Über-
setzungstätigkeit registrieren, die wir in Michelsen’) und Bul-
garis®) verkörpert finden.
Nunmehr sollen uns die geschichtlichen Untersuchungen über die
mathematische Entwicklung in einzelnen Ländern noch kurz beschäf-
tigen. Das Land Baden hat sich der Meteorologe J. L. Boeckmann
(1741—1802) für eine solche Darstellung”) ausersehen; man wird sich
nieht wundern, daß darin die Dinge, welche man ehemals als ange-
wandte Mathematik zusammenzufassen liebte, weitaus überwiegen. Aus
etwas früherer Zeit liegt F. J. Bucks (1722—1786) ganz brauchbare
Charakteristik der hier in Frage kommenden Mathematiker Altpreußens
vor°®). Viele Daten, die sonst schwer zu erlangen sind, vereinigte
St. Wydra (1741—1804) in seiner Geschichte der Schicksale, welche
!) Diese Vorlesungen II?, S.730ff. 2) Tob. Mayeri opera inedita, ed. G. Ch.
Lichtenberg, Göttingen 1774. °) Joh. Gottfr. Brendelii opera mathematici et
medici argumenti ed. H. A. Wrisberg, Göttingen 1769—1775. *) Betreffs der
Verwendung, welcher ein von Brendel in die Wissenschaft eingeführtes Prinzip
fähig ist, vgl. Günther, Parabolische Logarithmen und parabolische Trigono-
metrie, eine vergleichende Untersuchung, Leipzig 1882. °) Man hat von J. A.
C. Michelsen (diese Vorlesungen IIl?, S. 700, S. 749) deutsche Ausgaben Euler-
scher Werke (Einleitung in die Analysis des Unendlichen, Berlin 1788—1792;
Differentialrechnung, ebenda 1790—1793; Theorie der Gleichungen nach Euler
und Lagrange, ebenda 1795). °) Eugenios Bulgaris, dessen Personalver-
hältnisse anscheinend im Dunklen geblieben sind, übertrug in seine griechische
Muttersprache u. a. Segners „Klementa arithmeticae et geometriae“* (Leipzig
1793) und Schriften des Engländers Whiston (diese Vorlesungen III?, 8. 377,
394). ”) J.L.Boeckmann, Beiträge zur Geschichte der Mathematik und Natur-
kunde in Baden, Karlsruhe 1787. ®) Buck, Leben der verstorbenen preußischen
Mathematiker, Königsberg i. Pr. 1764.
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 21
die mathematischen Disziplinen in den Ländern der tschechischen Sprach-
gemeinschaft erfahren haben‘). Von M. Barbieri wurde eine analoge
Schrift über das Königreich Neapel verfaßt?), und mit dieser können
wir sachlich zusammennehmen die vorzügliche Behandlung, welche
G. Piazzi der sizilianischen Astronomie zuteil werden ließ?). Wenn
auch nicht in erster Reihe, so ist doch auch hier wohl am besten
unterzubringen ein Aufsatz von Johann Bernoulli®), der schon
durch seinen Titel?) verrät, daß die Zusammenstellung interessanter
zeitgeschichtlicher Notizen hauptsächlich beabsichtigt war; in größerem
Stile enthält solche das astronomische Handbuch‘) ebendesselben
Gelehrten.
Dieser Zeitraum ist auch aus dem Grunde bemerkenswert, weil
in ihn der erste Versuch fällt, sich über das Wesen der nach und
nach durch Forschungsreisende und Missionare bekannter gewordenen
indischen Mathematik zu orientieren. Der Schotte Playfair (s. S. 19)
hat sich der schwierigen Aufgabe mit Glück unterzogen’); für den
Anfang konnte sein redliches Bestreben als ein sehr erfolgreiches
gelten. Der anerkanntermaßen wertvollste Bestandteil des Geschichts-
werkes von A. Arneth°) geht der Anregung nach auf Playfairs
Vorarbeit?) zurück.
') Wydra, Historia matheseos in Bohemia et Moravia cultae, Prag 1778;
eine Art Anhang dazu ist: Vita Josephi Stepling, ebenda 1779. °) Barbieri,
Notizie istoriche dei matematici e filosofi del regno di Napoli, Neapel 1778.
®) Piazzi, Della specola astronomica de’ regj studj di Palermo, Palermo 1792
bis 1794, II, Einleitung. Eine sehr ins einzelne gehende Analyse des die Ent-
wiecklungsgeschichte der Wissenschaft auf der Insel darstellenden Abschnittes
hat v. Zach gegeben (Hindenburgs Archiv der reinen und angew. Mathe-
matik II, S. 357ff). *) Dieser Enkel des großen Johann Bernoulli (diese
Vorlesungen III?, 8. 325) (1744—1807) hatte sich wesentlich-der_Astrenomie_zu-
gewendet, wenngleich er auch mathematische Fragen ohne Rücksicht auf An-
wendung gerne in den Kreis seiner Beschäftigung zog. °) Bernoulli, Anec-
dotes pour servir & l’'histoire des math&matiques, Nouveaux M&moires de l’Acad.
de Berlin, 1799—1800 (erschienen 1803), S.32ff. °) Im ganzen können vier
Schriften Bernoullis als für die Geschichte der Astronomie in der zweiten
Hälfte des XVII. Jahrhunderts bemerkenswert bezeichnet werden, nämlich die
folgenden: Recueil pour les Astronomes, Berlin 1772—1776; Liste des Astro-
nomes connus actuellement, ebenda 1776; Nouvelles literaires de divers pays, avec
des supplemens pour la liste et le necrologe des Astronomes, ebenda 1776—1777;
Lettres &erites pendant le cours d’un voyage par l’Allemagne ete., ebenda 1777
bis 1779. °) Playfair, Remarks on the Astronomy of the Brahmins, Transact.
of the Royal Society of Edinburgh, II, Abteil. 2; Observations on the Trigono-
metrical Tables of the Brahmins, ebenda, II, Abteil. 4. °) Arneth, Geschichte
der reinen Mathematik in ihrer Beziehung zur Entwicklung des menschlichen
Geistes, Stuttgart 1852, S.140ff. °) Die Veröffentlichungen H. Th. Colebrookes
(1765-—1837) über altindische Mathematik und Astronomie, die weit über Play-
fair hinausgehen, gehören bereits dem XIX. Jahrhundert an.
23 Abschnitt XIX.
Jene von früher her erinnerlichen, etwas sonderbaren Geistes-
produkte, welche sich mit einer — schwer definierbaren — biblischen
Mathematik zu schaffen machen, fehlen auch dem Intervalle 1760 bis
1800 nicht gänzlich. Ein Däne A. N. Aasheim (1749—1800) hat
die Nutzbarkeit der Größenlehre für die Exegese der Heiligen Schrift
darzutun versucht‘). Vor allem aber war J. E. B. Wiedeburg (1733
bis 1789) ein eifriger Bearbeiter dieses Grenzgebietes zwischen Theologie
und Mathematik, auf dem er sich übrigens ganz und gar im Geiste
des herrschend gewordenen Rationalismus bewegte. Sein Buch’),
welches unvollendet blieb, gibt eine achtungswerte Probe von der
Gelehrsamkeit des Verfassers, dessen Vater schon für diese „Mathe-
matica sacra“ Neigung an den Tag gelegt hatte?). Auch kleinere
Arbeiten dieses Charakters würden sich bei fleißigem Suchen vielleicht
noch zahlreicher auffinden lassen, als dies in unserer Note?) zum Aus-
drucke kommt. |
Die elementare Arithmetik, Algebra und Zahlenlehre der Ver-
gangenheit fangen in diesen Jahren, da doch auch die philologisch-
antiquarische Forschung sich immer kräftiger zu rühren und vervoll-
kommnete Hilfsmittel der Untersuchung zur Verfügung zu stellen
beginnt, mehr und mehr die Gelehrten zu beschäftigen an. Den‘
Lehrbüchern werden, wie dies vor allem A. G. Kaestners (s. 8. 8)
mit Recht viel gebrauchtes, mehrbändiges Kompendium?) in zahllosen
!) Aasheim, De usu matheseos in explicandis phaenomenis in codice sacro,
Kopenhagen 1767. °) Wiedeburg, Natur- und Größenlehre in ihrer Anwendung
zur Rechtfertigung der heiligen Schrift, I, Nürnberg 1782. °) Diese Vorlesungen
Ill? S.523—524. *) Vielleicht ist es gestattet, der einschlägigen kurzen Darlegung
am vorerwähnten Orte einige Ergänzungen nachfolgen zn lassen. Besonderer
Beachtung hatte sich die Gestalt des „ehernen Meeres“ zu erfreuen (I. Buch der
Könige, VII, 23). Schon im XVII. Jahrhundert bildete dieses Sakralaltertum den
Gegenstand gelehrter Streitigkeiten, an denen sich sogar der geniale Philosoph
B. Spinoza beteiligte (Tractatus theologico-politicus, Hamburg 1670, 8. 22). Aus
dem laufenden Jahrhundert sind drei hierauf bezügliche Abhandlungen namhaft
zu machen: Nicolai Clausing, De symmetria maris aenei, Wittenberg 1717;
L. C. Sturm, Mare aeneum, Nürnberg 1710; Scheibel, Von der Gestalt des
ehernen Meeres, Leipziger Magaz. f. Math. ete., 1787, 8.477 ff. Die Frage, ob die
alten orientalischen Völker sich mit der rohen Annäherung #=3 (diese Vor-
lesungen I?, S. 100ff.) beholfen hätten, stand in diesem Falle im Vordergrunde.
°®) Angesichts der wirklich hohen Bedeutung dieser Reihe stufenweise aufsteigen-
der Lehrbücher, welche den Studierenden von den allerersten Anfängen bis
hinauf zu den höchsten Problemen zu führen bestimmt waren und welche in
der Didaktik des XVII. Jahrhunderts die bis dahin fast des Monopoles der
Alleinherrschaft sich erfreuenden Werke C.v. Wolfs ablösten, gehört hierher
ein kurzer bibliographischer Exkurs auf Kaestners Unternehmen. Es sind zu-
sammen zehn Oktavbändchen: Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie, ebenen
und sphärischen Trigonometrie und Perspektive, Göttingen 1758, 5. Aufl. ebenda
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 23
wertvollen Notizen ersehen läßt, geschichtliche Daten nicht bloß als
gelehrter Ballast, sondern als eine willkommene Unterstützung zur
Anregung und Vertiefung des Unterrichtes beigegeben. Mitunter fügt
sich dem theoretischen Lehrgange — ähnlich, wie wir dies (8. 8.12—13)
bei Bossut und Moennich kennen gelernt haben — auch bei solchen
Leitfäden, die nur ein engeres Stoffgebiet umfassen, ein zusammen-
fassender Überblick über die Geschichte der Disziplin an. So machte
es J. @&. Praendel!) (1759—1816) bei seiner für die kurbayerischen
Pagen ‚und Kadetten geschriebenen Algebra.
Ein tiefgelehrtes, ja bahnbrechendes Werk. über die Urgeschichte
eben dieses Zweiges der Mathematik förderte der in Parma als Hoch-
schullehrer tätige P. Cossali (1748—1815) zutage?). Es mache, so
meint der zum Lobe nicht allzu geneigte Nesselmann?), für die
zwischen 1200 und 1589, zwischen Fibonaecci und Bombelli liegende
Periode jede andere Geschichte der Algebra überflüssig und wisse die
leitenden Gedanken der Männer, welche sich um die F ortbildung der
Buchstabenrechnung und um die Auflösung der Gleichungen bemüht
haben, ihrem ganzen Wesen nach zu erschließen, ohne deshalb die
antike und arabische Wissenschaft zu vernachlässigen; höchstens könne
man ihm vorwerfen, daß es die früher angewandten Methoden etwas
zu sehr modernisiere.e. Und M. Cantor rühmt ebenso‘) Cossalis
Geschieklichkeit in der Klarlegung der verschlungenen Wege, die Car-
dano und Ferrari bei der Behandlung der Gleichungen vom dritten
und vierten Grade betreten haben. Steht diese glänzende Leistung
also auch etwas vereinzelt da, so nimmt doch mit ihr das Jahrhundert,
dem sie noch angehört, einen im hohen Maße befriedigenden Ausgang.
Zur Geschichte der elementaren Rechenkunst lieferte der uner-
müdliche Kaestner einen Beitrag), indem er bewies, daß die be-
1792, 6. Aufl. (posthum) 1800; Fortsetzung der höheren Rechenkunst, Geome-
trische Abhandlungen I, 1789; Geometrische Abhandlungen II, 1791; Anfangs-
gründe der angew. Mathematik in zwei Abteilungen (I, 1759, 3. Aufl. 1781, II,
ebenso); Anfangsgründe der Analysis endlicher Größen, 1759, 3. Aufl. 1794; An-
fangsgründe der Analysis des Unendlichen, 1761, 3. Aufl. 1798; Anfangsgründe
der höheren Mechanik, 1765, 2. Aufl. 1793; Anfangsgründe der Hydrodynamik,
1769, 2. Aufl. 1797; Weitere Ausführung der mathematischen Geographie, 1795.
Aus diesen sämtlichen Büchern kann der Historiker der exakten Wissenschaften,
wenn er zu suchen versteht, sehr viel lernen; nur gilt in der Hauptsache das
Nämliche, was oben (s. $. 12) über das große Geschichtswerk gesagt worden ist.
') Praendel, Algebra nebst ihrer literärischen Geschichte, München 1795.
*) Cossali, Origine, trasporto in Italia, primi progressi in essa, dell’ Algebra,
Storia eritica di nuove disquisizioni analitiche e metafisiche arricchita, Parma
1797—1799. ®) Nesselmann, a.a. 0., S.25ff. ® Diese Vorlesungen II?, S. 503;
8.509. ®) Kaestner, Die Kettenregel vor Graumann, Hindenburgs Arch.
d. reinen und angew. Mathem., 2. Band (1796— 1797), S. 334 ff.
24 Abschnitt XIX.
kannte Kettenregel, die zur gegenseitigen Umwandlung von Maßen,
Gewichten, Münzen usw. mit Vorteil angewandt wird, nicht — wie
man durchweg glaubte — von einem Hamburger Rechenmeister Grau-
mann, sondern aus Holland oder Frankreich stamme. Daß sie noch
vor J. van Dam, bis zu dem sie Kaestner zurückverfolgt hatte,
schon eine gewisse Rolle spielte, zeigte gleich nachher der früher
(s. S. 12) zitierte Rosenthal'); in Wahrheit ist ıhr Alter ein weit
ehrwürdigeres?). Dem eratosthenischen Siebe gewidmet ist eine Ab-
handlung?) von S. Horsley (1733—1806). Die Anfänge der Loga-
rithmenlehre suchte G@ehler (s. 5. 16) in historische Beleuchtung zu
rücken‘). Auch die Frage nach der Existenz der Logarithmen nega-
tiver Zahlen, die über ein Halbjahrhundert lang vielfach erörtert worden
war?), fand eine zusammenfassende Bearbeitung‘). Als Bestrebung,
sich in die Denkweise vergangener Zeiten zu versetzen, soll auch eine
Spekulation über die Cardanische Regel, d. h. über den bei deren
Auffindung vollzogenen gedanklichen Prozeß, ihre Stelle finden; F. Ma-
seres (1731—1824), der sich so in einer „Divination“ versuchte”), hat
auch sonst Sinn für geschichtlich-mathematische Studien an den Tag
gelegt®), z. B. in einer Monographie über Jak. Bernoullis wissen-
schaftliche Begründung der Permutationslehre und in seinem Loga-
rithmenwerke. Wegen eines kurzen Schaltkapitels über das Auf-
kommen der negativen Größen, als einer mit der positiven gleich-
berechtigten Zahlform, wollen wir auch eine im übrigen andere Zwecke
') Rosenthal, Die Kettenregel vor Jan van Dam, Hindenburgs Arch.
d. reinen u. angew. Mathem., 3. Band (1799), S. 81ff. °) Man kann (diese Vor-
lesungen II?, S. 15ff.) den Kettensatz bis auf das XII. Jahrhundert zurückführen;
Lionardo Pisano kennt dieses Auskunftsmittel, wennschon nicht ganz in der
uns jetzt geläufigen Form, als „figura cata“. Auch er ist jedoch nicht Erfinder,
sondern gibt, wie häufig, arabische Errungenschaften wieder. Späterhin begegnet
man jenem wieder (diese Vorlesungen II?, 8. 233, 399) bei J. Widmann von Eger
und bei Chr. Rudolff. Höchstens die übliche Manier, die zusammengehörigen
Zahlen durch einen Vertikalstrich voneinander zu trennen, also eine bloß äußer-
liche Veranschaulichung der Rechnungsprozedur, kann man somit als das Eigen-
tum einer späteren Zeit in .Anspruch nehmen, und sowohl Kaestner als auch
Rosenthal haben die Erfindung viel zu spät angesetzt. °) Horsley, The Sieve
of Eratosthenes, Philosophical Transactions, LXII (1772), 8.327ff. *)Gehler,
Dissertatio historiae logarithmorum näturalium primordia sistens, Leipzig 1776.
°), B. F. Thibaut, Dissertatio historiam controversise circa numerorum negati-
vorum et impossibilium logarithmos sistens, Göttingen 1797. ®) Vgl. diese Vor-
lesungen III?, 3.367 ff., 722ff. ”) Maseres, A Conjecture concerning the Method
by which Cardan’s Rule for resolution of the Cubie Equation 2? +gxz=r...
were probable discovered by Scipio Ferreus, Phil. Transact., 70. Band (1780),
S.221ff. ®) Maseres, James’ Bernoulli’s Doctrine of Permutation ete., London
1795; Seriptores logarithmici or a Collection of several curious Tracts on the
Nature and Construction of Logarithms, 6 Bände, London 1791—1807.
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 25
verfolgende Abhandlung!) W. Greenfields anführen. Zur Geschichte
der unbestimmten Analytik gehört, daß kein geringerer als G. E.
Lessing, der allerdings auch sonst sich für das Wissen und Können
der Antike interessierte und z. B. nach Spuren praktischer Dioptrik
bei Griechen und Römern suchte, jenes seitdem viel besprochene
arithmetische Epigramm dem Staube der Vergessenheit entriß?), welches
den späteren Mathematikern als „Problema bovinum“ bekannt ge-
worden ist?). Die Auflösung, welche der von Lessing zu Hilfe
gerufene, von fachmännischer Seite aber noch gar nicht gewürdigte
C. Leiste von der Aufgabe gab, war nach dem Urteile Nessel-
manns*) eine ganz befriedigende.
Als K. F. Hindenburg (1741—1808) die kombinatorische Ana-
lysis geschaffen hatte, deren Wert viele Zeitgenossen ebenso zu über-
treiben, wie manche Epigonen herabzusetzen beeifert waren, ging er
selbst darauf aus, festzustellen, welche Anklänge an sein neues System
sich schon bei einzelnen älteren Analytikern vorfanden?). Es war
ihm möglich, zu erweisen, daß zumal bei der Ermittlung der Nähe-
rungswerte eines Kettenbruches D. Bernoulli und Lambert dem,
was man nachmals „kombinatorische Involution“ genannt hat, ziem-
lich nahe gekommen waren®). Auch in dem von Hindenburg ver-
anstalteten Sammelwerke”) stößt, wer sich mit der Vorgeschichte des
zwar ‘ephemeren, aber darum doch keineswegs wirkungslos wieder
verschwundenen Wissenszweiges®) beschäftigen will, auf viele für ihn
sehr brauchbare Einzelheiten.
') Greenfield, On the Use of Negative Quantities in the Solution of Prob-
lems by Algebraic Equations, Transact. of the R. Soc. of Edinburgh, II, 1 (1788),
S. 131ff. °) Lessing, Zur Geschichte der Literatur, I, Berlin 1773, S. 421 ff.
») Was über das dem Archimedes fälschlich zugeschriebene Rätsel geschrieben
ward, haben, zusammen mit eigenen Untersuchungen, zusammengestellt Krumm-
biegel und Amthor (Zeitschr. f. Math. u. Phys., Hist.-lit. Abt., 25. Band [1880],
S.121ff., 153ff.). Vgl. auch diese Vorlesungen I?, $. 297. *) Nesselmann,
a. a. O., 9.482, ®) Hindenburg, Mehrere große Mathematiker sind der Er-
findung der kombinatorischen Involutionen ganz nahe gewesen, Arch. d. reinen
u. angew. Matbem., I (1795—1796), 8.319 ff. °) Genauer kann diese Sache, die
zugleich für die Vorgeschichte der kombinatorischen und der modernen niederen
Analysis in Betracht kommt, verfolgt werden bei Günther (Darstellung der
Näherungswerte von Kettenbrüchen in independenter Form, I, Erlangen 1873,
S.1ff.). ”) Hindenburg, Sammlung kombinatorisch-analytischer Abhandlungen,
Leipzig 1800. Vorgearbeitet hatte der Leipziger Mathematiker einer Geschichte
der von ihm eingeleiteten Neuerung bereits durch eine frühere Veröffentlichung
(Kritisches Verzeichnis aller die kombinatorische Analysis betreffenden Schriften,
Archiv etc., I, 8.357ff.). ®) Dankt man eben diesem Werke doch die systemati-
schen Anfänge des Rechnens mit Determinanten (Günther, Lehrbuch der De-
terminantentheorie, Erlangen 1877, 8. 14ff.),
96 Abschnitt XIX.
Auch für die Geschichte der höheren Analysis hat der in Rede
stehende Zeitraum einige Früchte getragen. Indessen wird vom
Standpunkte der Gegenwart aus nur noch Murhards Charakteristik!)
des ersten halben Jahrhunderts der Variationsrechnung höher gewertet
werden können. Kaestners zunächst theoretische Beleuchtungen des
Infinitesimalbegriffes?) berücksichtigen, wie bei ihm selbstverständlich,
auch das geschichtliche Element. Die Entstehungsgeschichte des
höheren Kalkuls hat mehrere Bearbeiter gefunden, von denen zwei,
J. W. Christiani?) und L.H. Tobiesen*) (1771—1839), eben auch
von Kaestner, nach dessen eigener Aussage’), zu diesem Thema hin-
geleitet waren; er selbst führt seine Auffassung des Prioritätsstreites
ziemlich umständlich bei dieser Gelegenheit aus und entscheidet sich
dahin, Leibniz und Newton wären als vollkommen gleichberechtigt
anzuerkennen®). J.J. Meyer andererseits tritt uns als Kämpe des
deutschen Bewerbers entgegen‘). Christianis Dissertation war eine
Beantwortung der 1782 von der Universität Göttingen gestellten
Preisfrage, inwieweit die Rechnung des Unendlichen ihre Wurzeln im
Altertum habe, und dementsprechend ging der Autor hauptsächlich
darauf aus, die großen Geometer des Altertums auf Andeutungen im
gedachten Sinne zu prüfen. Anhangsweise mag auch hier der Tat-
sache Erwähnung getan werden, daß De L’Höpitals Lehrbuch, das
— ob ganz selbständig oder mit starken Entlehnungen aus Joh. Ber-
noulli I entstanden®) — jedenfalls der Einbürgerung der neuen Metho-
den mächtigen Vorschub geleistet hatte, zweimal Kommentatoren ge-
funden hat?). |
ı) Murhard, Specimen historiae atque principiorum caleuli quem vocant
variationum sistens, Göttingen 1796. °) Die einschlägigen Abhandlungen enthält
ein Sammelband: Dissertationes mathematicae et physicae, Altenburg 1771. Dort
finden sich: De vera infiniti notione, S.35ff.; De lege continui in natura, S. 142#f.
®) Christiani, Commentatio, qua explicantur fundamenta calculi, quem ab in-
finito nominamus, et ostenditur, quomodo iis, quae tradiderunt Eucelides, Archi-
medes, Apollonius Pergaeus, innitatur caleulus infiniti, Göttingen 1792 (auch
in deutscher Sprache herausgekommen). Dem schloß sich an: Disputatio inaugura-
lis exhibens supplementa ad commentationem de fundamentis caleuli, quem ab
infinito nominamus, Kiel 1793. *) Tobiesen, Prineipia atque historia inventionis
caleuli differentialis et integralis nec non methodi fluxionum, Göttingen 1793.
°) Kaestner, Anfangsgr. d. Anal. unendl. Größen, 8.59. °) Ebenda, 8.49.
„Das billige Urteil ist! Jeder sey auf seine Methode für sich gekommen, zu-
länglich war hiebey Nachdenken über das Verfahren vorhergehender Mathema-
tiker. So urteilt auch Eduard Waring Meditationes analyticae, Cambridge
1785; man s. meine ‘Rezension Gött. gel. Anz. 1786, S. 700.“ 9 Meyer, De
fluxione fluxa sive de Leibnitio primo caleuli infinitesimalis inventore, Stettin
1773. Im gleichen Geiste ist selbstredend die nachstehend bezeichnete Schrift
gehalten: Leibnitii elogium, ebenda 1777. ®) Diese Vorlesungen III?, $. 244 ff.
°)A.H. Paulian, Commentaire sur l’Analyse des infiniment petits de 1’Höpital,
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 27
Indem wir zur Geometrie übergehen, dürfen wir wohl mit einer
‚an der Grenzscheide stehenden Schrift von Z. Nordmark!) den An-
fang machen, welche, ähnlich wie Christianis Arbeit (s. o.), Be-
ziehungen zwischen sonst und jetzt aufzudecken sich vorgesetzt hat.
Die feschichte der Elementargeometrie hat zunächst Akt zu nehmen
von jenen literarischen Erscheinungen, welche sich mit der Kritik
der Parallelentheorie befassen. Denn anders als auf historischem
Wege konnte da nicht vorgegangen werden, und so ist im Laufe der
Jahre eine gar nicht unbeträchtliche Literatur über dieses anscheinend
so wenig ausgedehnte Gebiet erwachsen. Zeitlich steht an der Spitze
Derer, die sich ihm zuwandten, @. 5. Klügel (s. S. 16), dessen Schrift?)
wiederum Kaestners Rate?) fire Entstehung zu danken hatte. N icht
weniger als 28 Versuche, das elfte che Axiom als beweis-
bedürftig und beweisfähig hinzustellen, wurden gewürdigt und aus-
nahmslos als unzureichend erkannt. Etwas später hat dann ©. F.M.
M. Castillon*) die Begründung der Planimetrie auf den von Euklid
aufgestellten, zweifelhaften Grundsatz auf das eingehendste untersucht’).
Zur Stereometrie ist nur weniges zu bemerken. Kaestner, dessen
Berechnung fremder Hohlmaße®) des antiquarischen Interesses nicht
entbehrt, hat als der erste die Flächenbestimmung des Kugeldreieckes
in ihren geschichtlichen Phasen studiert”) und dabei auch betont, wie
man nach und nach, vom ebenen Winkel ausgehend, auch den Be-
griff des körperlichen Winkels sich klar zu machen lernte; er lehrte
uns da auch den Polen Broscius®) als einen selbständigen Denker
kennen. Die Beschaffenheit sowohl wie die Herstellung der ägyp-
tischen Pyramiden?) besprach der Göttinger Mathematiker A. L. F.
Meister (1724—1788), dem wir noch öfter als einem auf seinem
Nimes 1768; L. Lefevre-Gineau, L’Höpital, Analyse des infiniment petits avec
des notes, Paris 1781. Das zuerst 1696 gedruckte Werk war nach des Autors
(1661— 1704) frühem Tode noch dreimal (1715, 1720, 1768) wieder aufgelegt
worden.
') Nordmark, De scriptis veterum analytieis dissertatio, Upsala 1776.
®) Klügel, Conatuum praecipuorum theoriam parallelarum demonstrandi recensio,
Göttingen 1763. °) Kaestner, Anfangsgründe der Belkkanekik und Geometrie,
Vorrede zur ersten Auflage. *) Diese Vorlesungen III?, S.508ff. 5) Castillon,
Premier memoire sur les parallöles d’Euclide, Nouv. ah de l’Acad. de Berlin,
1792, 8. 233 ff. ; Second m&moire sur les parallöles a’ Euclide, ebenda, 1793, S. 171 ff.
°%) Kaestner, Bestimmung des ägyptischen Kornmaßes, Deutsche Schriften d.
K. Soz. d. Wissehsch: zu Göttingen, I (1771), S.142ff. Zunächst handelt es sich
um ein Modell, welches C. Niebuhr aus Ägypten von seiner großen Orientreise
mit zurückgebracht hatte. °) Kaestner, Geometrische Abhandlungen II, S. 415 ff.
®) Diese Vorlesungen I, 8.651. °) Meister, De pyramidum Aegyptiacarum
fabrica et fine, Novi Comment. Gotting., V (1775), 8. 192 ff.
08 Abschnitt XIX.
eigenen Wege wandelnden Schriftsteller begegnen werden. Die Ele-
mentargeometrie als Ganzes ist endlich Kaestner dafür verpflichtet,
daß er die „Geometrie“ Gerberts, dieses merkwürdige Denkmal
altersgrauen Mittelalters‘), einem größeren Leserkreise zugänglich ge-
macht und in ihrer historischen Bedeutung festzulegen getrachtet
hat?), mag ihn auch die damals noch allgemein vermißte Erkenntnis
des- Wesens einer längst vergangenen Zeit nicht zu ganz triftigem
Urteile haben kommen lassen. Die Trigonometrie verzeichnet J. Ber-
noullis III. (s. 8.21) Bemerkungen?) über die großen Tafelwerke
des XVI. Jahrhunderts. J. M. Matsko (1721—1796) war auf die
Richtigstellung anderweiter Angaben über den ersten Gebrauch der
sogenannten Prosthaphaeresis bedacht‘). Und vor allem verdient
ehrende Erwähnung C.F. v. Pfleiderer (1736—1821), dessen Auf-
sätze) höchste Vertrautheit mit den Originalschriften bekunden.
Die höhere Geometrie kommt für uns in Betracht mit einer Ab-
handlung®) des schwedischen Mathematikers D. Melanderhjelm
(1726—1810) über Newtons Quadrierungsmethode und mit einer
noch jetzt recht häufig zitierten Dissertation?) von N. Th. Reimer
(1772—1832), welch letzterer sich nachher eine selbständige Schrift
über den gleichen Gegenstand®), das Delische Problem°), anschloß !9).
1) Diese Vorlesungen I?, 8.809. ?) Kaestner, Geometrische Abhandlgn. I,
S.1ff. ®) J. Bernoulli, Analyse de l’Opus Palatinum de Rheticus et du The-
saurus Mathematicus de Pitiscus, Nouv. Mem. de l’Acad. de Berlin, 1788, 8. 10 ff.
% Matsko, Programma, quo prosthaphaeresis inventori suo Chr. Rottmanno
vindicatur, Rinteln 1781. Vgl. dazu Kaestner (Gesch. d. Math. I, 8.566; II, S. 374)
und A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie I,
Leipzig 1900, 8.135ff.), wo die Auffindung dieses für die logarithmenlose Zeit so
wichtigen Rechnungsvorteiles ausführlich behandelt wird. °) v. Pfleiderer,
Geschichte der ersten Einführung der trigonometrischen Linien, Tübingen 1785,
1790. Aus dieser Einleitung heraus entstand jenes wertvolle Werk (Ebene Tri-
gonometrie mit Anwendungen und Beiträgen zur Geschichte derselben, Tübingen
1802), welches zwar, wenn das strenge chronologische Ausmaß zur Anwendung
gelangt, nicht mehr in den Rahmen dieses vierten Bandes gehört, als reife Frucht
jener Erstlingsschriften aber doch nicht ungenannt bleiben kann. Es wird von
maßgebender Seite (diese Vorlesungen II”, S. 182) betont, daß es „allzu selten zu
Rate gezogen“ werde; in diesem Worte mag die Entschuldigung der Über-
schreitung der Zeitgrenze gesucht werden. °) Melanderhjelm, Isaaci Newtoni
tractatus de quadratura curvarum .. . illustratus, Stockholm 1762. ”) Reimer,
Dissertatio exhibens specimen libelli tractantis historiam problematis de cubi
duplicatione, Göttingen 1796. °) Über die Frage, mit welchem Rechte die
Würfelverdoppelung den bekannten Beinamen erhielt, verbreitet sich v. Wi-
lamowitz-Moellendorff (Ein Weihgeschenk des Eratosthenes, Gött. Gel.
Nachrichten, 1894, Nr. 1). ®) Diese Vorlesungen T?, S. 198. %) Reimer,
Historia problematis de cubi duplicatione, Göttingen 1798. Nur als Plagiat
davon kann gelten: Biering, Historia problematis cubi duplicandi, Kopenhagen
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 29
Mit Umsicht und mit erfolgreichem Streben nach Vollständigkeit hat
Reimer so ziemlich alles zusammengebracht, was sich auf die ange-
näherte Darstellung von Y2 mittels mechanischer Hilfsmittel oder
mittels Kurvenkonstruktion bezieht. Einen recht brauchbaren Beitrag
zur Geschichte der krummen Linien bietet auch eine Preisschrift?)
von J.H.M.Poppe (1776—1854), welche allerdings nur die Ver-
wertung dieser Gebilde für praktische Zwecke sich zum Ziele gesetzt
hat, dabei aber natürlich doch nieht umhin kann, auch der Wissen-
schaft als solcher ziemlich umfassend Rechnung zu tragen. Eine
musterhafte Lösung der Aufgabe, mit modernen Hilfsmitteln in den
schwer verständlichen Sinn des Gedankenganges eines älteren Schrift-
stellers einzudringen, stellt sich uns dar in v. Pfleiderers?) Erläu-
terung der von Kepler in der „Stereometria doliorum“ (diese Vor-
lesungen II, S. 750 ff, S. 774 ff.) vorgenommenen, verwickelten Kuba-
turen.
Nicht wenige und teilweise auch bedeutende Arbeiten brachte
unser Zeitraum auf dem Felde der Geschichte der Mechanik, der theo-
retischen sowohl wie nicht minder der praktischen. Es ist bekannt,
daß J. L. Lagrange (1736—1813) jedem Kapitel seines Hauptwerkes
„Mecanique analytique“ (1. Aufl., Paris 1788), aber auch jeder seiner
Abhandlungen geschichtliche Einleitungen voranschickte, die zu dem
Besten gehören, was hierin geleistet worden ist. Obwohl A. Bürja
(1752—1816) nicht bloß diese Disziplin, sondern auch die reine Mathe-
matik im Auge hatte, als er das Mathematische bei Aristoteles einer
kritischen Besprechung unterzog?), so spielt doch bei ihm die Mechanik,
die immerhin auf den Stagiriten als den ersten Systematiker des Alter-
tums zurückgeht, die Hauptrolle*). Von des Göttinger Naturphilosophen
S. ©. Hollmann (1696—1787) Versuche über die Massenanziehung’)
wollen wir nur im Vorübergehen sprechen; weit mehr leisteten für die
selbst nach 100 Jahren noch nicht zum Gemeingute der Gelehrtenwelt
gewordenen klassischen Werke Newtons und deren Verbreitung der
1844. Dagegen ist es bei der Seltenheit der erstgenannten Schrift erfreulich,
daß OÖ. Terquem einen alles Notwendige enthaltenden Auszug aus ihr in die
von ihm herausgegebene Zeitschrift (Bulletin de bibliogr. et d’hist. des math&ma-
tiques, II, 8. 20ff.) aufgenommen hat.
") Poppe, Geschichte der Anwendung der Kreis- und anderen krummen Linien
in den mechanischen Künsten und in der Baukunst bis auf Dese artes, Göttingen
1800. °) v. Pfleiderer, Kepleri methodus solida quaedam sua dimetiendi illu-
strata ete. Tübingen 1795. °) Bürja, Sur les connaissances mathematiques d’Ari-
stote, I, II, M&m. de l’Acad. de Berlin, 1790—1791, 8. 257 ff., 266ff. *) Diese Vor-
lesungen 1?, S. 240 ff. Vgl. auch Poselger-Rühlmann, Aristoteles’ Mechanische
Probleme, Hannover 1881. °) Hollmann, De attraetionis historia, Comm, Soe.
Gott., 1795, 8. arıf.
30 Abschnitt XIX.
Böhme Tessanek!) (1728—1788) und der Engländer W. Emer-
son?) (1701—1782). Die zum öfteren bestrittene Begründung der
Lehre von der Bewegung flüssiger Körper, wie sie Joh. Bernoulli I?)
gegeben hatte, suchte gegen die Angreifer Kaestner‘) zu verteidigen.
Gewisse Maschinerien der Vorzeit auf Grund einer nicht immer durch-
sichtigen Beschreibung ihrer Wirkungsweise nach aufzuklären, ließ
sich Meister (s. 8. 27) angelegen sein°), der auch, wohl als der erste,
die von Porta‘) nur ungenügend abgehandelte Technik der Alten,
den Wasserdampf als Triebkraft auszunutzen, eingehender Prüfung
würdigte.) Im Anschlusse an eine ältere französische Publikation?)
beschäftigte sich J. E. Silberschlag®) (1721—1791) mit der antiken
Artilleriemechanik. Auch wollen wir nicht darauf verzichten, des
uns schon bekannten Poppe Studien über die Geschichte der Uhren!)
als einen guten Ratgeber für diesen Teil der maschinellen Praxis mit
aufzunehmen. Auch die deutsche Bearbeitung eines französischen
Werkes über die Uhren!!) ist wegen historischer Nachweisungen
schätzbar. |
Die antike Optik nennt wiederum Meister'?) als Objekt einer
seiner gelehrten Untersuchungen; indessen kommen hauptsächlich die
Perspektive und deren künstlerische Anwendung hier zur Geltung. In
dem selbst heute noch lesenswerten Werke von J. Priestley'?) (1733
bis 1804), welches Klügel (s. S. 16) mit voller Sachkunde be-
arbeitete!‘), wird auch Altertum und Mittelalter nicht vernachlässigt,
!) Tessanek, Philosophiae naturalis principia mathematica auctore Isaaco
Newton illustrata commentationibus, I, IH, Prag 1780, 1785. ?°) Emerson,
A short Comment to Sir J. Newton’s Prineipia, London 1770. Vgl. auch C. L.
Schübler, Newtons Scharfsinn, vor allem dessen Sagacität in der Analysis,
Leipzig 1794. °) Bernoulli, Hydraulica, Opera omnia, IV, Lausanne 1742,
Nr.186. *) Kaestner, Pro Jo. Bernoulli contra Dn. D’Alembert objectiones,
Novi Comm. Gott., I (1771), 8. 45ff.; Anfangsgr. d. Hydrodynamik, 8. 465ff.
5) Meister, Dissertatio de torculario Catonis.. ., Göttingen 1763; De vete-
rum hydraulo, Novi Comm. Gott., I (1775), S. 152ff. Die erstgenannte Vorrich-
tung ist eine Weinpresse (Kelter), die andere ein Wasserhebewerk. °) Porta,
Pneumaticorum libri III, Neapel 1601. ”) Meister, De Heronis fonte educendis
ex puteo aquis adhibito ..., Novi Comm. Gott., IV (1774), 8. 169. °) Opera
veterum mathematicorum, Paris 1693. ® Silberschlag, Sur les trois princi-
pales machines de guerre des anciens, savoir la Catapulte, la Baliste et l’Onagre,
Berlin 1760. !°%) Poppe, Geschichte der Entstehung und der Fortschritte der
theoretischen und praktischen Uhrmacherkunst, Leipzig 1797. *') J. Alexandre,
Trait6 des horloges, Paris 1734; deutsch von Ü. Ph. Berger, Lemgo 1758.
12) Meister, De optica veterum picetorum, sculptorum, architectorum sapientia
... pars prior, Novi Comm. Gott., V (1775), 8. 141ff.; pars posterior, ebenda, VI
(1776), 8. 129 ff. 1%) Priestley, History and present State of Discovery relating
to Vision, Light and Colours, London 1772. '‘) Klügel, Geschichte und gegen-
wärtiger Zustand der Optik, nach d. Englischen Priestleys bearbeitet, Leipzig 1776.
(Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 31
und insonderheit findet die Geschichte des Regenbogens, welche
Scheibel (s. 3.15) mit neuen Wahrnehmungen bereichert hatte!),
eine ausgiebige Berücksichtigung. Uber den archimedischen Brenn-
spiegel hat Dutens?) (s. 5. 17) eine besondere Abhandlung ge-
schrieben.
Von der alten Astronomie handelt F. Meinert (1757—1828)
in einer Monographie?), die auffällig wenig in das Publikum ge-
drungen zu sein scheint. Sehr wertvolle Aufschlüsse über geschicht-
liche Dinge finden sich in dem berühmten gemeinverständlichen
Werke des großen P. 8. Laplace; die erste Auflage desselben gehört
noch dem XVII. Jahrhundert an*). Gegen einige astronomisch -ehrono-
logische Noten von Costard (s. S. 15), welche in den „Phil. Trans-
act.“ der vierziger und fünfziger Jahre stehen und von einer Schrift?)
über die Meteorsteinfallprognose®) des Anaxagoras gefolgt wurden,
nahm J. Bernoulli III Stellung‘). Zur kometarischen Astronomie
der Vergangenheit äußerte sich Ch. Burney°) (1726—1814), zur
arabischen Astrognosie F. W. V. Lach?) (1772—1796), der sich haupt-
sächlich auf eine unlängst ans Licht getretene Beschreibung’) einer
künstlichen Himmelskugel mit arabischen Schriftzeichen stützte. Auch
die antike Gnomonik hat sich in H.G. Martini!!) einen Liebhaber
erworben, den jedoch J. F.van Beek-Calcoen!?) weit überragte.
Das ganze Mittelalter hatte, nachdem bereits die Griechen diese
U) Scheibel, De J. Fleischeri Vratislaviensis in doctrinam de iride meritis,
Breslau 1762. °) Dutens, Du miroir ardent d’Archim£de, I, Paris 1775, II,
ebenda 1778. °) Meinert, Über die Geschichte der älteren Astronomie, Halle a. S.
1785. Wir fanden das Buch nur ein einziges Mal zitiert, und zwar bei R. Wolf
(Gesch. d. Astron.) 8. 785. *) Laplace, Exposition du systöme du monde, Paris
1796. °) Costard, Use of Astronomy in Chronology and History, Oxford 1764;
eine Schrift, deren Tendenz sehr zu billigen ist, da.in der Tat die alte Geschichte
gar oft einzig und allein durch Nachberechnung gesicherter astronomischer Vor-
kommnisse zu einer gewissen Festigkeit ihrer Ergebnisse durchdringen kann;
das Hauptbeispiel ist allerdings nicht gerade glücklich gewählt. °) Vgl. hierzu
R. Wolf, a. a. O., S. 187; J. H. Maedler, Geschichte der Himmelskunde von
der ältesten bis auf die gegenwärtige Zeit, I, Braunschweig 1873, S. 37.
”) Bernoulli, Examen des remarques de M. Costard sur les Eclipses d’Ibn-
Jotnes, Nouv. M&m. de l’Acad. de Berlin, 1784, S. 293ff. °) Burney, An Essay
towards the History of Comets, London 1769. °) Lach, Anleitung zur Kenntnis
der Sternnamen mit Erläuterungen aus der arabischen Sprache und Sternkunde,
Leipzig 1796. 1°) Globus coelestis eufico-arabicus Veliterni Musei Borgiani a. S.
Assemano illustratus, Padua 1790. J. S. Assemani (1687—1768) hatte wahr-
scheinlich diesen Globus erworben; sein Neffe Simon (1752—1821) lieferte die
genannte Monographie. Vgl. auch Fiorini-Günther, Erd- und Himmelsgloben,
ihre Geschichte und Konstruktion, Leipzig 1895, S. 1öff. "")Martini, Abhand-
‘ lung von den Sonnenuhren der Alten, Leipzig 1777. 2) van Beek-Calcoen,
Tractatus de gnomonica veterum, Utrecht 1797.
32 Absehnitt XIX.
Anschauung vertreten, die Musik als eine mathematische Wissenschaft
betrachtet!), da durch Boethius und Öassiodorius das „Quadru-
vium“ als Kanon menschlichen Wissens zu beherrschender Stellung
erhoben worden war?). So möchten wir denn auch an den wertvollen
Quellenwerken?) Burneys und Forkels (s. o.) über Geschichte der
Musik bei dieser Veranlassung nieht schweigend vorübergehen.
Damit ist dann ein wichtiger Teil unserer Aufgabe zum Abschlusse
gelangt, und es verbleibt uns dem Programme gemäß noch die Be-
sprechung aller derjenigen literarischen Erzeugnisse, welche sich mit
dem unmittelbaren Studium der antiken Schriftwerke zu schaffen
machen. Dieselben können übersetzt, erläutert oder im gereinigten
Texte der Urschrift neu herausgegeben werden; dazu tritt aber im
gegenwärtigen Zeitraum weit entschiedener denn früher eine vierte
Form gelehrter Arbeit, der Wiederherstellungsversuch. Sind uns
doch leider so viele griechische Schriften — für die römischen trifft das
aus nahe liegenden Gründen weit weniger zu — nur in Bruchstücken
oder gar nur im nackten Titel erhalten geblieben; da war der Anreiz
gegeben, den Inhalt auf Grund der freilich oft nur sehr unsicheren
Andeutungen zu erraten, welche man von da und dort verstreut in der
Literatur antraf. Die gewaltige Entfaltung des philologisch-archäolo-
gischen Wissens in dieser durch die Namen Lessing, Winckel-
mann, F. A. Wolf, @. Hermann gekennzeichneten Epoche mußte
solchen Bestrebungen sehr zu statten kommen. Wir werden nach-
stehend den vorhin aufgestellten Normen folgen: Übersetzung, Kom-
mentar, Textausgabe mit oder ohne solchen und Rekonstruktion sollen
nacheinander an die Reihe kommen. Auffallen kann einigermaßen, daß
fast einzig und allein das klassische Dreigestirn Euklid, Archimedes,
Apollonius die für die Antike begeisterten Mathematiker beschäftigt.
Von ihnen abgesehen, ist es anscheinend allein der Byzantiner Anthe-
mius, der gelegentlich einiger Beachtung gewürdigt wird?).
Halten wir uns zuerst an die Übertragungen in unsere deutsche
Sprache, so können wir ein paar recht gelungene, heute noch ebenso-
‘) Diese eigentümliche Erweiterung der Mathematik, von welcher sich die
Neuzeit sehr mit Recht losgesagt hat, die aber von jedem, der den wissenschaft-
lichen Betrieb des Mittelalters erkunden will, wohl zu berücksichtigen ist, suchte
in diesem Sinne zu skizzieren Günther (Geschichte des mathematischen Unter-
richtes im deutschen Mittelalter bis zum Jahre 1525, Berlin 1887, S. ı10ff.).
?) Diese Vorlesungen I?, 8. 529ff. °®) Burney, General History of Music from.
the earliest Ages to the present Period, London 1777—1789; J. N. Forkel,
Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig 1788—1801. °) Dupuy, Fragment
d’un ouvrage grec d’Anthemius, Paris 1777. Übersetzung und Erläuterungen
sind beigegeben. Vgl. diese Vorlesungen I?, S. 468 und Gilbert, Annalen der
Physik, LIII, S. 248ff., sowie auch Poggendorff, Gesch. d. Phys., S. 22, 527.
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 33
gut wie damals verwendbare Leistungen vorführen. J. F. Lorenz
(1733— 1807) gab zwei deutsche Euklidübersetzungen heraus; zuerst
nur einen Teil!), nachher aber das vollständige Werk?). Geschätzter
Kompendiograph, wußte er den Ausdruck wo nicht elegant, so doch
klar und deutlich zu wählen. Die ersten sechs Bücher der „Elemente“,
welche nach lange gehegter Ansicht sozusagen den eisernen Bestand
des in das Studium der Mathematik eintretenden Jünglings darstellten,
verdeutschte auch J. K. F. Hauff?) (1766—1846). Erfreulich war,
daß unser Volk auch die „Data“') in bequemer Form zugänglich ge-
macht erhielt. Allerdings hatte J. C. Schwab (1743—1821), der
sich dieses Verdienst erwarb, nicht den Urtext vor sich, sondern er
hielt sich’) an die englische Bearbeitung des R. Simson‘). Daß er
von der starren Beibehaltung der griechischen Ausdrucksweise, wie sie
der britische Geometer für nötig erachtet hatte, sich frei machte und
mit den Proportionen so operierte, wie es uns nun einmal geläufig
ist, wird man nur billigen können. Doch ist zu bemerken, daß
Schwab nicht sowohl dem Eindringen in die Eigenart des griechisch-
geometrischen Geistes entgegenkommen, sondern mehr nur ein prakti-
sches Hilfsbuch für die geometrische Analysis liefern wollte”). Ein für
den Elementarunterricht besonders nützliches Werk des Archimedes
wurde von K. F. Hauber°) (1775—1851) deutsch wiedergegeben.
Einen englischen Euklid besorgte J. Bonnycastle°) (?— 1821), eine
in der gleichen Sprache gehaltene Ausgabe der archimedischen „Sand-
rechnung“ G@. Anderson!) (1760—1796).
Eine sehr gute, vollständige Ausgabe der „sroryeie“ rührt von
dem Wittenberger Professor G. F. Baermann!!) (1717—1769) her!?)
Die italienischen Gelehrten betätigten in dieser Zeit einen ganz
') Lorenz, Euclids sechs erste Bücher ... aus dem Griechischen, Halle
a.S. 1773. ?) Ders., Euclids Elemente, fünfzehn Bücher aus dem Griechischen,
ebenda 1781. °) Hauff, Euelidis Elementa, I—VI, aus dem Griechischen, Mar-
burg i. H. 1797. Später folgten (ebenda 1807) auch das elfte und zwölfte Buch
(d. h. die Grundlehren der Stereometrie). *) Diese Vorlesungen I?’, 8. 268 ff.
°) Euklids Data, verbessert und vermehrt von Robert Simson, aus dem Eng-
lischen übersetzt, und mit einer Sammlung geometrischer, nach der Analytischen
Methode der Alten aufgelöster Probleme begleitet von J. C. Schwab, Stutt-
gart 1780. ®) Diese Vorlesungen III?, S. 509. °) Die Vorrede des Schwabschen
Werkchens läßt diese Absicht in vollster Deutlichkeit erkennen. °) Hauber,
Archimeds zwei Bücher über Kugel und Cylinder ...., Tübingen 1793. °) Bon-
nycastle, Euclids Elements of Geometry, London 1789. !%) Anderson, The
Arenarius of Archimedes, translated, London 1784. !!) Baermann, Elemento-
rum Euelidislibri XV, Leipzig 1743. 1?) Es ist nicht ohne Interesse, Kaestners
Urteil über diese Edition kennen zu lernen. Nachdem er diejenige Barrows
(Cambridge 1675, Osnabrück 1676) gerühmt, fährt er fort (Anfangsgr. d. Arithm.
u. Geom., $. 445ff.): „Da Barrows Ausgabe in Deutschland doch nicht so häufig
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 3
34 Abschnitt XIX,
besonderen Eifer in Herausgabe und Übersetzung, doch sind ihre
Werke außerhalb ihres Landes nur zum kleineren Teile einigermaßen
bekannt geworden. Wir bescheiden uns damit, in einer Note!) nach
Riecardis mustergültiger Zusammenstellung?) die Namen der Bear-
beiter und die Erscheinungszeiten anzugeben. Hingegen ist von Ar-
chimedes nur eine einzige Ausgabe namhaft zu machen, diejenige
von 6. Torelli?) (1721—1781). Über sie berichtet Poggendorff?):
„Torelli hinterließ handschriftlich Archimedes’ Werke, griechisch
und lateinisch, mit einem Zusatz von sich De conoidibus et sphaeroi-
zu haben ist, so verdient als Handausgabe G. F. Baermanns gebraucht zu
werden ... Daß Baermann ein Schüler von Ernesti war, empfiehlt sie auch
wegen kritischer Richtigkeit.‘ Der hier genannte Leipziger Philologe (1707—1781)
besaß auch volles Verständnis für guten mathematischen Schulunterricht, wie sein
viel gebrauchter Lehrbegriff beweist (Initia doctrinae solidioris: pars prima, arith-
meticam, geometriam, psychologiam et ontologiam complectens, Leipzig 1734),
der noch 1783 einer siebenten Auflage sich erfreuen durfte. Kaestner erinnert
(a.2.0., 8.446) auch an die wenig bekannte Euklid-Ausgabe von J. J. Hench
(Philosophia Mathematica complectens methodum cogitandi ex Euclide restitu-
tam ..., Leipzig 1756), welche auch die ersten sechs Bücher enthält, dieselben
jedoch nicht sowohl deshalb aufgenommen hat, um die geometrische Unter-
weisung zu’ fördern, sondern vielmehr zu dem Zwecke, daß der Lernende sich
an diesen Musterbeispielen formalen Denkens in Logik und Metaphysik übe.
) Riccardi,a.a.0.II,S.44ff. 2) Es sind die folgenden Ausgaben und Über-
setzungen vorhanden: OÖ. Cametti (1760), L. Ximenes (1762), OÖ. Cametti
(1762), &. Accetta (1763), E. Ventretti (1766), O. Cametti (1767), G. A.
Ferrari (1767), G. Grandi (1767—1768), V. Caravelli (1770), OÖ. Cametti
(1772), @. F. Marquis De Fagnani (1773), F. Ventretti (1775), G. Grandi
(1780), A. N. Silicani (1782), J. Calisti (1785), A. Tamberlicchi (1789),
D. Paccanaro (1791), F. Ventretti (1792), F. Domenichi (1793), J. Calisti
(1797). Auch ein posthumes Werk des letzten Galilei-Schülers V. Viviani liegt
vor (1796). Unter diesen Schriftstellern sind nur einige, die sich auch sonst in
der Geschichte der Mathematik einen Platz gesichert haben. Was zuerst G.
Grandi (diese Vorlesungen 1II?, S. 365 ff.) anlangt, so hat man es ebenfalls bloß
mit einem Stück seines literarischen Nachlasses zu tun. Cametti (?— 1789)
schrieb über Hydrodynamik; Ximenes (1716— 1786) war ein geachteter Astronom;
von Caravelli (1724—1800) besitzt man noch eine einigermaßen hierher gehörige
Schrift (Theoremata Archimedis de dimensione circuli, sphaera et cylindro, faci-
liori methodo demonstrata, Neapel 1750). Der Marquis Fagnani, Sohn eines weit
berühmteren Vaters, war gleichfalls ein tüchtiger Forscher, von dem man lange-
zeit gar keine biographischen Daten zur Verfügung hatte (Poggendorff, Biogr.-
liter. Handwörterbuch, I, Sp. 715). Erst Fürst B. Bonecompagni brachte hier,
wie in so vielen anderen Dingen, die Aufhellung (Memorie concernenti il Marchese
Giulio Carlo de’ Toschi di Fagnano, Bull. d’istoria e di bibl. delle seienze
mat. e fis., III [1870], S. 10ff.). Nunmehr kennt man angenähert die Lebenszeit
(1715—1797) von Marquis Gianfrancesco di Fagnano (oder Fagnani), Ar-
chidiakonus in Sinigaglia. °) Archimedis quae supersunt omnia, cum Eutocii
Ascalonitae commentariis, ex recensione Jos. Torelli, Oxford 1792. *)Poggen-
dorff, a. a. ©. I, Sp. 1117.
Geschichte d. Mathematik in selbst. Werken, monograph. Arbeiten usw. 35
dibus, welches Manuskript von der Universität zu Oxford gekauft und
daselbst unter Aufsicht von A. Robertson gedruckt wurde.“ Einer
der besten Sachverständigen, E. Nizze, stellt!) der Tätigkeit Torellis
ein sehr, derjenigen des eigentlichen Herausgebers dagegen ein minder
günstiges Zeugnis aus. Immerhin war bis Heiberg (1880), also fast
hundert Jahre lang, wie auch von Poggendorff?) bestätigt wird,
dieser oxonianische Archimedes der beste, über den man verfügte,
auf den jedermann, der das Original zu verwenden gehalten war, zu-
rückgreifen mußte.
Als Kommentator des Euklid hat sich v. Pfleiderer ausge-
zeichnet, der in einer ganzen Anzahl von Schriften?) die von ihm bei
dem großen Systematiker wahrgenommenen Dunkelheiten aufzuhellen
bestrebt war. Alle diese Arbeiten verfolgen neben dem geschicht-
liehen auch einen ausgesprochen pädagogischen Zweck, der am be-
stimmtesten in der Bearbeitung des fünften Buches, deren soeben
Erwähnung geschah, zutage tritt.
Während die „Kegelschnitte“, das Hauptwerk des Pergäers, in
unserem Zeitabschnitte nicht näher betrachtet wurden, richtete sich
mehrseitiges Augenmerk auf dessen übrige, nur in ganz fragmenta-
rischem Zustande zu uns herabgelangte Schriften‘). Dem Traktate
„Von den Neigungen“ galten diejenigen von S. Horsley°) (s. 8. 24)
und R. Burrow®) (1747—1792); aus den uns gebliebenen Andeutungen
suchten die Schrift „Vom bestimmten Schnitt“ wieder aufzubauen
W. Wales!) (1734—1798) und R. Simson®). Auch P. Giannieri
versuchte in seinen Opuscula mathematica (Parma 1773) als Op. IH
) Nizze, Archimedes’ von Syrakus sämtliche Werke übersetzt und er-
klärt, Stralsund 1824, Vorrede. ?) Poggendorff, a.a.0. II, Sp.56. °)v. Pflei-
derer, Expositio et dilucidatio libri V elementorum Euclidis pars I, Tübingen
1782, pars II, ebenda 1790; Scholia in librum II elementorum Euclidis, pars I,
ebenda 1797, pars II, ebenda 1798, pars III, ebenda 1799; Scholia in librum VI
elementorum Euclidis, pars I, ebenda 1800, pars II, ebenda 1801, pars II,
ebenda 1802. Dazu gehört ein Exkurs über die euklidische Proportionenlehre
(Hindenburgs Arch., II [1798], 8. 257ff., 8. 440ff.). Erwähnenswert sind noch
folgende Schriften Pfeiderers: De dimensione circuli P. I (Tübingen 1787),
P. UI (Tübingen 1790), Propositionum de rationibus inter se diversis demonstra-
tiones ex solis Libri V. Elementorum definitionibus et propositionibus de-
ductae (Tübingen 1793). *) Vgl. diese Vorlesungen I?, 8. 327 ff.; H. G@.
Zeuthen, Geschichte der Mathematik im Altertum und Mittelalter, Kopen-
hagen 1896, 8.212ff. °) Horsley, Apollonii Pergaei inclinationum libri duo,
London 1770. °) Burrow, Restitution of the Geometrical Treatise of Apol-
lonius Pergaeus on Inclination, London 1779. °') Wales, The two Books of
Apollonius concerning Determinate Sections, London 1772. *) Bei Lebzeiten ließ
Simson (diese Vorlesungen III? S. 509) nichts hierüber erscheinen. „Im Jahre
1776 ließ Graf Stanhope“ — 1753—1816 — „nachfolgende von Simson
5*
36 | Abschnitt XIX.
eine Wiederherstellung des Buches des Apollonius vom bestimmten
Schnitt. Noch am ersten dürfte die schwierige Restitutionsarbeit ge-
glückt sein bei der Abhandlung „Uber die Berührungen“, der gegen-
über die Divinationstätigkeit am meisten festen Boden unter den Füßen
fühlen mochte. J. Lawson und J. @. Camerer (1763—1847), deren
Verdienst es ist, hier vorangegangen zu sein!), dürfte deshalb ihrem
Ziele vielleicht am nächsten gekommen sein.
Die Porismen des Euklides, über deren wahre Natur auch jetzt
noch die Akten nicht als gänzlich geschlossen gelten können?), haben
von jeher die Aufmerksamkeit der mit der Geometrie der Alten ver-
trauten Mathematiker auf sich gezogen. A. Girard, P. Fermat u. a.
wagten sich daran, auf wenige schwache Spuren hin das verschüttete
Gebäude wieder auszugraben®). In die Fußtapfen des letztgenannten
trat jener jüngere Marquis @. Fagnani*), der uns weiter oben als
Kenner des Euklides bereits begegnet ist.
Unsere Übersicht hatte in gebotener Kürze von einer stattlichen
Reihe literarischer Arbeiten Notiz zu nehmen, welche mittelbar oder
unmittelbar der Geschichte der exakten Wissenschaften Dienste zu
leisten bestimmt waren. Die vier Jahrzehnte, auf die sich die Nach-
forschung zu beschränken hatte, lassen eine erfreuliche Fortentwick-
lung des schon früher erwachten Geistes gerade auch auf diesem an
sich spröderen Gebiete erkennen.
hinterlassene Aufsätze drucken: 1) Apollonius Determinate Section; 2) A Trea-
tise on Porisms; 3) A Tract on Logarithms; 4) On the Limits of Quantities and
Ratios; 5) Some Geometrical Problems“ (Poggendorff, a. a. O. II, Sp. 938).
!) Camerer, Apollonii De tactionibus quae supersunt, ac maxime lem-
mata Pappi in hos libros graece nunc primum edita a codicibus mscptis,
cum Vietae librorum Apollonii restitutione, adjectis observationibus, compu-
tationibus, ac problematis Apolloniani historis, Gotha-Amsterdam 1795 (die
Jahresangabe bei Poggendorff [a.a. 0. II, Sp. 6] ist nicht richtig). Nach
eigener Aussage war für Üamerer von großem Werte eine Schrift des sonst
recht wenig bekannten Engländers Lawson: The two Books of Apollonius Per-
gaeus, concerning Tangencies etc., London 1771. Bezugnehmend auf Vieta,
Ghetaldi, Fermat und Th. Simpson kleidete Lawson die Hauptaufgabe
folgendermaßen ein: Wenn von Punkten, Geraden und Kreisen irgend zwei in
der nämlichen Ebene gegeben sind, so soll man den geometrischen Ort des
Kreises angeben, der durch beide Punkte geht oder durch einen dieser Punkte
geht und eine der übrigen Linien berührt oder endlich je zwei der genannten
Linien berührt. ?) Diese Vorlesungen I?, S. 264, 267, 392, 423, Chasles-
Sohncke, Geschichte der Geometrie mit besonderer Berücksichtigung der neueren
Methoden, Halle a. 5. 1839, Note II. ®) Diese Vorlesungen II?, S. 656ff.
“, J. F. De Fagnano, Porismata Euclidea, immo Fermatiana, demonstrata, Acta
Eruditorum, 1762, S. 481ff.
ABSCHNITT XX
ARITHMETIK - GLEICHUNGSLEHRE
ZAHLENTHEORIE
VON
F. CAJORI
Arithmetik.
Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war für Frankreich eine
Zeit der Aufklärung, in welcher kühne Schriftsteller neue Ideen ent-
falteten. Die französische Revolution zerstörte die Feudalinstitute
des Mittelalters in allen Gebieten der weltlichen Einrichtungen. Die
Wissenschaften und das Schulwesen wurden von diesen welthistori-
Schen Ereignissen tief beeinflußt. Die Schriften von Rousseau und
Condillae, von den Enzyklopädisten und von Condorcet brachten
neue Gedanken, nicht nur über philosophische Sachen ım allgemeinen,
sondern auch über die Erziehung und Mathematik im einzelnen. Ihr
Einfluß auf den Elementarunterricht in der Mathematik wurde gegen
das Ende des Jahrhunderts überwiegend. Diese Zeit weist in Frank-
reich neue Rechenbücher auf, deren Autoren sich auch mit der
höheren Mathematik beschäftigten. Dennoch finden wir, daß hier,
wie auch in anderen Ländern, veraltete Rechenbücher noch großen
Absatz fanden. Das bekannteste unter den letzteren war L’Arith-
metique du S’Barr&me .. augmentee .. de plus de 190 pages.
par N. Barr&me, Paris 1764, Rouen 1779. Die erste Auflage von-
Francois Barr&me erschien 1677. Nicolas Barr&me war „ein
Nachkomme des Autors“, wie wir aus der Auflage von 1715 ent-
nehmen, welcher den Umfang dieses populären Werkes verdoppelte
und deshalb erwähnt zu werden verdient.
Ein zweites Werk dieser Art war L’Arithmetique en sa
perfection..par F. Le Gendre, arithmeticien. Die erste Auf-
lage erschien in Paris 1646, eine zehnte 1691. Während des
18. Jahrhunderts wurden wenigstens sieben gedruckt. Eine erschien
zu Paris 1774, eine andere zu Limoges 1781. Eine Vergleichung
der Ausgabe von Lons le Saulnier 1812 mit denjenigen von 1774 und
1705 zeigt, daß die drei sich nur im Anhang voneinander unter-
scheiden und daß der Hauptteil während mehr als 100 Jahren ohne
nennenswerte Abänderungen beharrte. Ein solches Beharren beim
Alten in diesen und anderen Schulbüchern wirft ein düsteres Licht
auf die Schulverhältnisse damaliger Zeit.
40 Abschnitt XX.
Weder in Barr&me noch in F. Le Gendre findet man Dezimal-
brüche; dieselben wurden, soweit wir ermitteln können, in praktischen
französischen Rechenbüchern der Zeit beinahe ganz vernachlässigt.
Nur gegen Ende des Jahrhunderts, als das metrische System Auf-
nahme fand, wurden Dezimalbrüche auch in Werken für Geschäfts-
leute eingeführt. Citoyen Blavier veröffentlichte 1798 in Paris
en Barr&me decimal!) und die späteren Ausgaben von F. Le
Gendres Büchlein enthalten einen Anhang über Dezimalbrüche.
Ein Werk, welches in den höheren Schulen in Frankreich, und
durch Übersetzungen auch in anderen Ländern, während der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts weite Verbreitung erhielt! waren die 1741
in Paris gedruckten Legons @l&mentaires de mathematiques
des Astronomen Nicolas Louis de La Caille?) (1713 -1762). Der
erste Teil enthält eine kurzgefaßte, theoretische Arithmetik. Eine
verbesserte und erweiterte Ausgabe des La Cailleschen Werkes
wurde 1770 zu Paris von Abbe Marie, Professor der Mathematik an
dem college Mazarin, veranstaltet.
Unter den neu verfaßten arithmetischen Werken dieser Zeit sind
diejenigen der bedeutenden Mathematiker Bezout, Bossut und La-
eroix hervorzuheben. Etienne Bezout (1780-- 1783) wurde 1763
zum „examinateur des gardes de la marine“ ernannt. Man hat von
ihm zwei athenatech” Schulbücher, Cours de math@ematiques ä
usage des gardes du pavillon et de la marine, Paris 1764
bis 1769, und Cours de math&matiques ä l’usage du corps de
Vartillerie, Paris 1770—1772, die in mehreren Auflagen erschienen
und weite Verbreitung fanden. Der arithmetische Teil letzteren
Werkes ist demjenigen des ersten, mit Ausnahme einiger ausgelassener
Paragraphen, Wort für Wort gleich. Er wurde auch separat gedruckt.
Auf das kaufmännische Rechnen legt B&ezout wenig Nachdruck; er
gibt sich viel Mühe, die theoretischen Teile klar zu machen, ohne den
Schüler durch schwerverständliche Beweise abzuschrecken.
Charles Bossut (1730—1814) verfaßte einen Cours cöhlpiek
de math&ematiques, dessen erster Teil, ein Trait& el&mentaire
d’arıthmetique, 1772 erschien. Er enthält eine Vorrede über
die Grundideen der Arithmetik und der Algebra. Diese Arithmetik ist
in gedrängtem Stile geschrieben und enthält nur weniges über Ge-
schäftsrechnung. Daher fand es auch nur geringe Verbreitung.
Während in französischen Werken über das praktische Rechnen
') A. De Morgan, Arithmetical Books, London 1847, p. 75. 2) Vgl.
„Intorno ad un’ opera dell’ Abate Nicold Luigi de La-Caille“ in B. Boncom-
pagnis Bullettino, Tomo V, Roma 1872, p. 278—293.
Arithmetik. 41
Dezimalbrüche vernachlässigt oder ganz weggelassen werden, erhalten
sie in Kompendien der Mathematik gehörige Beachtung. So gibt
sich Lemoine in seinem Traite el&mentaire de math&matiques
pures, Paris 1790 (3° ed. 1797), Mühe dieselben gleich von Anfang
aufzunehmen und die Grundoperationen für ganze Zahlen und Dezi-
malbrüche nebeneinander zu entwickeln. Edm& Marie Joseph Le-
moine (d’Essoies) (1751—1816) war vor der Revolution Advokat,
Lehrer des jungen Adels und Professor der Mathematik und Physik.
Das obige Elementarwerk war für Schüler bestimmt, die Bezouts
Werke zu umfassend fanden.
Weitreichenden Einfluß auf das Studium aller mathematischen
Fächer hatte Sylvestre Francois Lacroix (1765—1843), welcher
großen Anteil an der Organisation der öffentlichen Erziehung und an
der Vorbereitung passender Schulbücher hatte. Im Jahre 1797 erschien
zu Paris sein Traite d’arithmetique, welcher für den Gebrauch in
der ecole centrale bestimmt war.
Gegen Ende des Jahrhunderts erschienen einige Arbeiten, welche
neue Gedanken philosophischer Natur über arithmetische Operationen
und die Sprache der Arithmetik und Algebra enthielten. Der erste
uns bekannte Versuch, neue Grundoperationen einzuführen, ist von dem
Marquis Fortia (1756—1843). Mit den Einschränkungen der
gewöhnlichen Arithmetik nicht zufrieden, sucht er in seinem Traite
d’arithmetique!), Avignon 1781, den Operationen der Addition,
Subtraktion, Multiplikation und Division eine unendliche Anzahl
höherer Operationen anzuschließen. Die sukzessive Multiplikation
einer Zahl mit sich selbst nennt er puissaneiation. Soll die
Summe von 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 gefunden werden, nennt er 1 den
multiplicande, 8 den multiplicateur, die Summe das produit,
mit dem Wort second hinzugefügt, um die multiplication
seconde von der gewöhnlichen zu unterscheiden. Die multiplieation
seconde gibt hier das produit 36. Dasjenige von 3 mit 8 gibt
108 (= 3+6+9+12+15+18+21+24). Ein Beispiel einer
puissanciation seconde hat man in der Auffindung des Produkts
der Zahlen 2, 4, 8, 16, 32, 64, welches sich als das Produkt der
ersten und letzten Zahl, puissaneie durch die Hälfte der Anzahl
von Zahlen, ergibt. Wenn in einer arithmetischen Progression
a+l(a+d)+(a+2d)+::-+(la+m— DA) nicht nur a=d,
sondern auch «= n ist, gelangt man zur multiplication troisieme.
Das produit troisieme, vn5mit2=5+(5+10+15+20+ 25)
= 80, vn 5 mt 3=5+(5+10+15+20+25)+(5+10+--+50)
) Uns liegt die zweite Auflage von 1790 vor.
42 Abschnitt XX.
-5+75+275-355 =5 +produit second von 5 mit 5 + pro-
duit second von 5 mit 10.
Man könne so fortfahren zu Operationen noch höherer Grade. Jede
derselben habe ihre umgekehrte Operation. Fortia definiert nun
eine num6ration seconde, worin die Einheit complexe und con-
tinue ist, complexe, weil sie aus Teilen bestehe, und continue,
weil die Anzahl dieser Teile unendlich sei. Mit sich selbst multipli-
ziert gebe die Einheit die Zahl 2; 2 mit 1 multipliziert gebe 3 usw.
Wenn die Einheit der nombres continus 2 ist, dann ist;der nombre
continu 2 gleich 4 und der nombre continu 3 gleich 8. Die ein-
fachste Operation der numeration seconde ist die Multiplikation,
welche der Addition in der gewöhnlichen Numeration entspricht.
Sollen die nombres continus 481 und 1321 miteinander multipli-
ziert ae so ist das Resultat 1802. Ähnliches für die Division.
3421 -- 2212 = 1209. Besteht die Einheit der nombres continus aus
3 ir Einheiten, dann ist der nombre continu 2=9, der
nombre continu 3=27 usw. Wird nun 2 puissancie@ durch 3, so
erhält man den nombre continu 6= 1729. In diese numeration
seconde könne man auch puissances secondes usw. einführen.
Fortia gibt dann weitere Auseinandersetzungen von nombres conti-
nus, deren Einheit 2 ist, und von höheren Numerationen. Es ge-
lingt ihm aber nicht, dem Leser die Vorzüge seiner neuen Operationen,
deren Formeln er der gewöhnlichen Algebra entlehnt, und seiner neuen
Sprache überzeugend darzulegen.
Eine Schrift über Arithmetik und Algebra, welche ein Versuch
einer Philosophie dieser Wissenschaften ist, wurde von Etienne
Bonnot de Condillac (1715—1780) verfaßt. De Condillac war
ein scharfsinniger Philosoph, ein Freund von Rousseau und Diderot.
Durch ihn fand der Sensualismus des englischen Freidenkers John
Locke Eingang in Frankreich und, über diesen hinausgehend,
weitere Ausbildung. Alle Theorien von angeborenen Ideen verwerfend,
nahm Condillae nur die Wahrnehmungen der fünf Sinne für Wahr-
heit an. Er erklärte die Funktionen des Denkens als Arten des
Empfindens, die durch Übung vervollkommnet werden, und führte alle
Verstandestätigkeit auf das Sprachvermögen zurück. Ohne Wörter
könnte man keine abstrakten Ideen haben. Uns interessiert sein La
Langue des Caleuls, & Paris, An VI (1798), welches achtzehn
Jahre nach seinem Tode veröffentlicht wurde. Seine metaphysischen
Lehren sollten hier auf Arithmetik und Algebra Licht werfen. „Un,
deux, trois usw., dies sind also die abstrakten Ideen der Zahlen;
denn diese Wörter stellen die Zahlen dar als auf alles anwendbar
und als auf nichts angewandt.... Wenn zum Beispiel, nachdem wir
Arithmetik. 43
un doigt, un caillou, un arbre gesagt haben, wir un sagen, ohne
etwas hinzuzufügen, haben wir in diesem Worte un die abstrakte
Einheit. Wenn Sie glauben, daß abstrakte Ideen etwas anderes als
Namen seien, bitte sagen Sie, wenn Sie können, was ist dieses‘
andere?“!) „Sprachen sind nicht Sammlungen zufällig aufgenommener
Ausdrücke.... Wenn der Gebrauch jedes Wortes eine Konvention
voraussetzt, setzt diese Konvention eine Ursache für die Annahme jedes
Wortes und eine Analogie voraus, die das Gesetz angibt, ohne welches
es unmöglich wäre dasselbe wahrzunehmen und welches keine absolut
willkürliche Wahl zuläßt.“®) In der Sprache des Rechnens zeigt sich
die Analogie klar. Das Zählen lernt man mit Hilfe der Finger. Man
zählt bis 10, nımmt dann 10 als höhere Einheit an, fährt dann fort
bis 100 usw. „Wenn wir uns aber nicht verirren wollen, müssen
wir die Zahlenreihen durch Namen bezeichnen, weshalb die Namen
im Rechnen so notwendig sind wie die Finger selbst.“”) Das Nume-
rationssystem, welches uns die Natur darbietet, zeigt uns jedesmal
wie eine Zahl zusammengesetzt ist. Unsere Sprachen haben aber die
Analogie nicht befolgt. „Zum Beispiel, wir sagen, soixante et
douze; die Finger sagen aber sept dix plus deux, ein Ausdruck,
den wir vorziehen, um der Analogie der von der Natur gegebenen
Sprache zu folgen.“) Condillac betrachtet die Operationsarten in
Arithmetik und Algebra im Lichte seiner Theorie von den Analogien.
Er findet, daß die Algebra nichts anderes als eine Sprache sei?).
Diese Ansicht hatte schon früher Clairaut in seinen El&mens
d’Algebre 1746 geäußert, und auch 38. F. Lacroix stimmt°) der-
selben bei. Condillac behauptet, daß die Erfindungsmethode nichts
anderes als die Analogie selbst sei‘).
Wie das besprochene Werk die letzte (unvollendete) Arbeit Con-
dillacs war, so ist das Büchlein Moyens d’apprendre & compter
surement et avec faeilite, par Condorcet, ä Paris, 1799°),
die letzte Schrift dieses berühmten Philosophen und Mathematikers.
Es wurde in den letzten Tagen seines Lebens geschrieben, als er, in
den Sturz der Girondisten verflochten, in der Nähe von Paris eine Zeitlang
umherirrte, bis er erkannt und verhaftet wurde. Condillacs philo-
sophische Studien trugen dazu bei, die Lehrmethode in neue Bahnen zu
leiten. Das Büchlein von Condorcet erzielte Ähnliches durch eine
klare, unkonventionelle Erklärung unseres Numerationssystems und
") Condillac, La Langue des Calculs, 1798, p. 50. ?) Ebenda, S. 1.
®) Ebenda, 8. 11. *) Ebenda, 8. 18. °) Ebenda, 8.47. °S. F. Lacroix,
Essais sur L’Enseignement en General et sur celui des Math@matiques en parti-
eulier, & Paris, An XIV, 1805, p. 235. °) Condillae, p. 232. *°) Zweite Auf-
lage erschien 1800.
44 Abschnitt XX.
der vier Rechnungsarten. De Morgan!) beschreibt das kleine Werk
als „eine der einfachsten Erklärungen der elementarsten Arithmetik,
die je erschienen ist“. Das Werkchen besteht aus zwei Teilen. Der
erste ist in leicht verständlicher Sprache für Kinder geschrieben. Der
zweite Teil enthält philosophische und pädagogische Anweisungen
für Lehrer. Manche seiner Ideen stimmen mit denen Condillaecs
überein. Für vingt setzt er duante und, um die Analogie nicht zu
brechen, führt er die alten Bezeichnungen septante, octante und
nonante ein. Eine englische Übersetzung des Büchleins wurde 1813
von Elias Johnston in Edinburgh veröffentlicht. Eine dritte eng-
lische Ausgabe erschien dort 1816.
Das Studium der praktischen Rechenkunst sollte sich nach und
nach durch die Einführung des metrischen Systems bedeutend ver-
einfachen. Als um die Zeit des Ausbruchs der französischen Revo-
lution der Drang nach Neuerungen in allen Richtungen immer stärker
wurde, machte man 1788 den Vorschlag, auch die Gewichts- und
Maßsysteme einer radikalen Umformung zu unterwerfen. Viele Städte
Frankreichs hatten durch ihre Deputierten um ein gemeinsames Maß
für das ganze Land gebeten. In der Sitzung der Pariser Akademie
vom 14. April 1790 schlug Brisson vor, ein neues System auf eine
natürliche Länge zu gründen, die immer wieder leicht aufgefunden
werden könne?). Nach einem Antrage von Talleyrand legte die
Nationalversammlung am 8. Mai 1790 dem französischen Könige die Bitte
vor, den König von England einzuladen, bei der allgemeinen Maß-
reform mitzuwirken und Kommissare zu ernennen, die in Gemeinschaft
mit den französischen die Reform durchführen sollten. Die National-
versammlung beauftragte zugleich die Pariser Akademie, die französi-
schen Kommissare zu wählen und die Länge des Sekundenpendels
unter dem 45. Breitengrade als natürliche Grundlage des Maßsystems
anzunehmen. Die Idee eines natürlichen Grundmaßes soll sich zuerst
in einem Werke Gabriel Moutons des Jahres 1670 finden’).
Durch die Mitwirkung Englands hofften die Franzosen zu er-
zielen, daß ein neues System in anderen Ländern bessere Aufnahme
finden würde. Diese großen kosmopolitischen Ideen sollten aber nicht
so bald ausländischen Beifall finden. England lehnte, wahrscheinlich
wegen der Hilfe, welche Frankreich den amerikanischen Kolonien in
ihrem Freiheitskampfe geleistet hatte, das gemeinsame Vorgehen ab.
ı) De Morgan, op. eit. 8. 82. ®) F. Rosenberger, Geschichte der
Physik, Dritter Teil, Braunschweig 1887, S. 94. 5) Gabriel Mouton, Ob-
servationes diametrorum solis et lunae apparentium ete., Lugd. 1670. V. De-
lambre, Base du systeme me6trique decimal I, 11 und Rudolf Wolf, Geschichte
der Astronomie, München 1877, S. 623.
Arithmetik. 45
Frankreich mußte allein an die Arbeit. Die französische Akademie
unternahm es zwei Hauptfragen zu entscheiden: 1) Welehe nume-
rische Skale sollte als Verhältnis sukzessiver Ober- und Unterein-
heiten dienen, 2) welche unveränderliche Größe aus der Natur sollte
als Einheit gewählt werden. Über die erste Frage stattete die fol-
gende Kommission am 27. Oktober 1790 Bericht ab: Borda, La-
grange, Lavoisier, Tillet und Condorcet!)., Für die Unter-
suchung der zweiten Frage ernannte die Akademie als Kommissions-
mitglieder Borda, Lagrange, Laplace, Monge und Condorcet?).
Was numerische Skalen anbelangt, hatten Schriftsteller seit
Leibniz öfters dem Binär-System Aufmerksamkeit geschenkt.
In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts findet man in
vielen Rechenbüchern kurze Besprechungen desselben. Georg Fried-
rich Brander schrieb zu Augsburg 1767 (2. Aufl. 1775) eine
Arithmetica binaria. Nicht selten findet man auch Angaben über
das von Erhard Weigel (Bd. III, S. 39, 40) hochgeschätzte tetra-
basische System. Das Duodezimalsystem hatte auch seine Anhänger,
wie zum Beispiel Comte de Buffon, der dasselbe in seinem Essai
d’Arithmetique morale?) (um 1760 geschrieben) bespricht.
Die französische Kommission hatte natürlich mit Verände-
rungen des Zahlensystems nichts zu tun. Selbst die französische
Revolution vermochte das dezimale Zahlensystems nicht umzu-
stürzen. Wohl aber mußte die Skale für das neue Maßsystem
erwogen werden. Öbschon die dezimale Einteilung leicht den Sieg
davontrug, weil dieselbe dem Numerationssystem zugrunde liegt,
scheinen die Mitglieder der Kommission darüber nicht ganz in Ein-
klang gewesen zu sein. Es ist wohlbekannt, daß Lagrange einer
der eifrigsten Verteidiger der reinen Dezimaleinteilung war. „Er
wollte“, sagt Delambre*), „das Dezimalsystem in seiner ganzen Rein-
heit habanı er konnte es Borda nicht verzeihen, daß dieser die Ge-
fälligkeit gehabt hatte, Viertelmeter machen zu lassen. Er legte auf
den Einwand, daß die Basis des Dezimalsystems so wenige Theiler
habe, keinen Werth. Er bedauerte beinahe, daß sie keine Primzahl
sey, wie 11, weil dann nothwendig alle Brüche einerley Nenner be-
kommen hätten. Man kann Dieses, wenn man will, für eine Über-
treibung halten, die wohl dem besten Kopfe im Eifer des Streits be-
') Hist. de l’Acad. pour 1788, Hist. p. 1—6. Vgl. G. Bigourdan, Le
Systeme mötrique des poids et mesures, Paris 1901, p. 17. 2°) G. Bigourdan
op. eit., p. 17. ») Buffon, Suppl. & l’Hist. nat. 4, Paris 1777, p. 116.
% „Nachricht von Lagranges Leben und Schriften“ in J. L. Lagranges Math.
Werke, deutsch herausgegeben von A. L. Crelle, 1. Bd., $. XLIX.
46 Absehnitt XX.
#
gegnet; aber er führte die Zahl 11 nur an, um die Zahl 12 abzu-
wehren, welche die kühneren Neuerer statt der 10 einführen wollten,
die überall die Basis des Zahlensystems ist“ Lagranges Vorliebe
für die Zahl 10 und ihre Potenzen zeigte sich schon in Berlin, als
er J. C. Schulze mitteilte, „daß es villeicht noch besser gethan seyn
würde, wenn man, statt die trigonomischen Linien und ihre Logarith-
men für Grade, Minuten und Secunden zu geben, dieselben in Graden
und deren tausendste Theile nach Gellibrand Trigonometria Britannica
an. 1633 berechnet lieferte“.')
Die Kommission für die Wahl einer Längeneinheit stattete am
19. März 1791 ihren Bericht ab. Sie entschied nicht für das von
der Nationalversammlung vorgeschlagene Sekundenpendel als Einheit,
sondern schlug vor, einem 1790 gemachten Vorschlage des Ingenieur-
Geographen Bonne folgend’), den zehnmillionsten Teil des Erd-
quadranten als Urmaß zu wählen. Die Pendellänge wurde verworfen,
weil sie von zwei ungleichartigen Elementen, der Schwere und der
Zeit, abhänge. Eine dritte Einheit, der Quadrant des Erdäquators,
wurde von der Kommission auch besprochen, wurde aber wegen der
Schwierigkeit der Messung in unwirtlichen Gegenden von Afrika und
Amerika unpassend gefunden.
Am 30. März 1791 wurde von der Nationalversammlung der
zehnmillionste Teil des Erdmeridians als Maßeinheit festgesetzt.
M&chain und Delambre begannen sogleich die hierzu nötige Grad-
messung zwischen Dünkirchen und Montjouy (nicht weit von Bar-
celona).’) Die Arbeit wurde 1792 durch Aufhebung der Akademie
eingestellt, aber bald wieder durch Ernennung einer neuen Kommission,
bestehend aus Laplace, Lagrange, Berthollet, Borda, Brisson,
Coulomb, Delambre, Hauy, Mechain, Monge, Prony und
Vandermonde, fortgesetzt. Die Urmaße wurden angefertigt und
1799 dem Archiv der Republik einverleibt?). Das Meter war nun
gleich 3 Fuß 11,296 par. Linien, oder etwas kürzer als der 1795 vor-
läufig angenommene Wert von 3 Fuß 11,44 par. Linien.
Um das neue System auch anderen Völkern annehmbar zu
machen, wählte man für die Ober- und Unterabteilungen Namen, die
nicht der französischen, sondern den neutralen griechischen und latei-
nischen Sprachen angehören.
Von großem Interesse sind die Elementarvorträge, welche 1795
ı) Johann Carl Schulzes Neue und Erweiterte Sammlung Logarithmi-
scher... Tabellen, I. Bd., Berlin 1778, Vorrede. 2) Rosenberger, op. eit.
S. 94. ®) G. Bigourdan, op. eit. p. 109—155. *%) Rosenberger, op.
eit. S. 94. -
Arithmetik. 47
auf der Ecole normale in Paris von Lagrange und Laplace!) ge-
halten wurden. Die fünf Vorlesungen von Lagrange behandeln nur
die Arithmetik und Algebra; Laplace berührt auch die Geometrie.
Beim Nachlesen dieser Vorträge kann man leicht verstehen, wie die
jüngeren Zuhörer auf der Ecole normale denselben nicht immer
folgen konnten, während Männer, wie $, F. Lacroix, der damals
schon selbst als Lehrer berühmt war, denselben mit Begeisterung zu-
hörten. Schon in der ersten Vorlesung erklärt Lagrange die Ketten-
brüche. Nachdem er im zweiten Vortrag die arithmetischen
Operationen auseinandergesetzt, schreitet er in den übrigen zur
Lösung der Gleichungen dritten und vierten Grades und der numerj-
schen Gleichungen, und zur Verwendung der Kurven bei der Lösung
der Probleme vor. Der Name „arithmetische Proportion“ scheint ihm
sehr ungeeignet, weil der Begriff der Proportion durch den Sprach-
gebrauch nur für geometrische Proportionen paßt. Man könnte
Zahlen wie 3, 5, 7, 9 äquidifferent nennen, ein Ausdruck, den La-
eroix in seine Arithmetik und Algebra aufnahm.
Die Ideen von Rousseau, Condillac, Condorcet und La-
grange fanden Ausdruck in der Arithmötique d’Emile, Paris
1795 (2. Aufl. 1802) des Schweizers Isaac Emmanuel Louis De-
veley*) (1764—1839). Er war aus Bretonniöre bei Payerne gebürtig,
studierte in Genf und war später Professor der Mathematik auf der
Akademie zu Lausanne. Das obgenannte Werk enthielt sorgfältige
Erklärungen der Grundprinzipien und das metrische System. Es
wurde 1799 von der französischen Regierung in die Liste von Rle-
mentarwerken für den Schulgebrauch gesetzt. In der zweiten Auflage
verweist es auf Schriften von Lagrange, Condillac und Condor-
cet. Das Werk enthält keine Aufgaben zur Übung.
In Italien sind für die Periode 1759—1799 keine nennenswerten
Fortschritte in der Methode des Rechenunterrichts aufzuzeichnen. In
kaufmännischen Werken wird nach gegebenen Regeln operiert. Die
besten Erklärungen der Arithmetik findet man in den Kompendien
der Mathematik von Odoardo Gherli?) und De la Caille Wie
früher angegeben, erschienen die Legons el&mentaires de math£-
matiques von De la Caille 1741 zu Paris. Mehrere Übersetzungen
dieser Arbeit wurden in Italien veröffentlicht. Im Jahre 1772 wurde
) Journal de l’&cole polytechnique, tome II, Paris 1812, p. 173—278
(Lagrange), p. 1—172 (Laplace). °) L. Isely, Histoire des sciences math6-
matiques dans la Suisse Frangaise, Neuchätel 1901, p. 174. ®) Gli elementi
teorico-pratici delle matematiche pure del Padre Odoardo Gherli, Domenicano,
professore di Teologia Dogmatica nell’ Universitä di Modena. Resi pubblici da
Domenico Pollera, Tomo I, Modena 1770.
48 Abschnitt XX.
zu Venedig eine lateinische Ausgabe dieser Lectiones „ad quintam
editionem Parisinam denuo exactae a C.S. e 8.J.“ (= Carolo
Scherffer, $. J.) herausgegeben. Ausgaben in italienischer Sprache
erschienen in Neapel 1761 und 17761), in Venedig 1775 und 1796
als eine Bearbeitung von Ruggero Giuseppe Boscovich, in Florenz
1781, 1782, 1787, 1791, 1796 und noch später. Selten hat ein aus-
ländisches Werk größere Gunst genossen als La Caille in Italien.
Daß Spanien und Portugal in engerem intellektuellen Verkehr
“ mit Italien und anderen Ländern als mit Frankreich standen, ersieht
man aus der Mathematik. Zum Beispiel im Lesen der Zahlen findet
die französische Definition der billion und trillion keine Gunst.
Nur gegen Ende des Jahrhunderts findet man Spuren französischen
Einflusses. Ich habe nur einen spanischen?) und einen portugiesi-
schen) Schriftsteller vorgefunden, welche im Zahlenlesen die drei-
zifferigen Perioden wählen.
Das im 18. Jahrhundert hervorragendste unter den älteren spani-
schen Rechenbüchern ist die Aritmetica practica y especulative
von Juan Perez de Moya, einem Mathematiker des 16. Jahrhunderts.
Die 13. und 14. Auflage dieses Werkes erschienen zu Madrid 1776
und 1784. Die 13. Auflage ist mit. der zu Salamanca 1562 heraus-
gegebenen Wort für Wort identisch. Das Werk ist ein Beispiel der
langen Lebensdauer, welche manche arithmetische Schriften genossen
haben.
Unter den neueren Rechenbüchern ist die Arismetica para
negociantes von Don Benito Bails, Madrid 1790, nennenswert.
Don Bails wurde 1743 zu Barcelona geboren, war Lehrer der
Mathematik an der Akademie von San Fernando und Mitglied der
Akademie der Wissenschaften und Künste zu Barcelona. Sein be-
deutendstes mathematisches Werk sind die Principios de mate-
matica, deren zweite Auflage 1788 zu Madrid erschien. Seine
Werke scheinen in Mexiko Eingang gefunden zu haben, denn 1839
wurden in der Stadt Mexiko die Principios de arismetica von
D. Benito Bails gedruckt. Bails war auch als Komponist bekannt.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts findet man in Portugal größere
mathematische Tätigkeit als in Spanien. Im Jahre 1772 wurde an der
Universität in Coimbra durch die Tätigkeit von Jose Monteiro da
Roche (1735—1819) und Jose Anastacio da Cunha (1744 bis
1787 2) neues Leben in den mathematischen Unterricht gebracht‘).
ei Bullettino Boncompagni, Tomo V, Roma 1872, p. 278—293.
®, Juan Gerard, Tratado completo de aritmetica, Madrid 1798. 3) Jose
Anastacio da Cunha, Principios Mathematicos, Lisboa 1790. *, R. Gui-
maräes, Les mathömatiques en Portugal au XIX® sieele. Coimbre 1900.
Arithmetik. 49
Ersterer gab sich mehr mit Astronomie ab, übersetzte aber aus dem
Französischen mathematische Werke von B&zout und mechanische
Schriften von Bossut und Marie. Da Cunha lehrte an der Uni-
versität bis 1778, zu welcher Zeit er wegen Anklagen des Inquisitions-
tribunals die Universität verlassen und zwei Jahre im Gefängnis zu-
bringen mußte Er wurde dann Direktor des collegio de Säo
Lucas und schrieb seine Principios mathematicos, Lisboa 1790,
deren letzte Druckseiten er am Abend vor seinem Tode korrigierte).
Demnach wäre er 1790 gestorben. Eine französische Übersetzung
wurde von seinem Schüler, J. M. D’Abren, zu Bordeaux 1811 heraus-
gegeben. Dieses Werk von nur 302 Seiten enthält in sehr gedrängter
Form Arithmetik, Geometrie, Algebra und Infinitesimalrechnung.
Überall sucht der Verfasser strenge Beweise einzuführen. Seine Er-
klärungen enthalten öfters neue und frische Ideen.
Ein Schüler von Da Cunha und Monteiro da Roche, namens
Jose Maria D’Antas Pereira, veröffentlichte zu Lissabon 1798 ein
Curso de estudos para uso do commercio, e da Fazenda.
Das Werk ist eine „arithmetica universal“ im Newtonschen Sinne,
welches Rechenkunst und Algebra lehrt. Hauptsächlich von franzö-
sischen Werken beeinflußt, hat Pereira ein ganz verdienstvolles Buch
verfaßt. Während Da Cunha eine Billion als 10° definierte, nimmt
Pereira dafür den in Portugal damals gebräuchlichen Wert 10% an.
In Dänemark und in Norwegen, letzteres damals eine dänische
Provinz, fand das 1680 in Kopenhagen veröffentlichte Rechenbuch
von S. Mathissen, Compendium arithmeticum eller Wegviser
hvor ved mand paa korteste og netteste maade kand ledsages
til Regnekonstens rette brug, großen Beifall. Während des
18. Jahrhunderts folgten mehrere Ausgaben davon’).
Ein verdienstvolleres Werk wurde von Ole Andersen Borreby
zu Kopenhagen 1765 unter dem Titel Mathesis puerilis eller
Dansk skole mathematik herausgegeben. Nur der erste Teil
wurde veröffentlicht, woraus man schließen darf, daß die im Buche
enthaltenen neuen Ansichten geringen Anklang fanden. Der Autor
widerspricht den alten mechanischen Lehrmethoden, macht an die
Denkkraft der Schüler einigen Anspruch und sucht das Prinzip der
Anschauung zur Anerkennung zu bringen. Sein Buch enthält aber
keine Aufgabensammlung?).
Unter den älteren Rechenbüchern, welche in Holland zu dieser
‘) Edinburgh Review, Vol. 20, 1812, p. 425; auch Fröres-Hoefer, Nouv.
Biogr. Generale. ?) S. A. Christensen, Matematikens Udvikling i Danmark
og Norge i det XVIII Aarhundrede, Odense 1895, S. 14—16. ®) Ebenda,
8. 30, 31.
CAnrtor, Geschichte der Mathematik IV. 4
50 Abschnitt XX.
Zeit weite Verbreitung fanden, war De vernieuwde Cyfferinge
von Willem Bartjens!) (1584—1645), vermehrt und verbessert
von Jan van Dam und von „weiteren Mängeln gereinigt“ durch
Klaas Bosch. Wir haben Ausgaben dieses Büchleins von 1771,
1779, 1792, 1794 angetroffen. Es werden darin das Übersichdividieren
und andere alte Operations- und Lehrmethoden angegeben.
Von neuen Werken verdienen besonders hervorgehoben zu
werden die Eerste Beginzelen der Reeken-Kunde, Rotterdam
1769, 1782, 1790, und die Institution du caleul numerique et
litteral, Haag 1770, von Jean Jacques Blassiere (1736—1791),
dem zu Haag geborenen Mathematiker und Schüler von Johann
Frederich Hennert, dem Autor der Elementa matheseos
purae, Trajecti ad Rhenum 1766—68.
Es war das Ziel Blassieres, die Theorie und Praktik der
Arithmetik zu vereinigen. Sein letztgenanntes Werk ist eine Uni-
versalarithmetik, deren zweiter Teil ganz der Algebra gewidmet ist.
Die Proportionenlehre wird sorgfältig entwickelt. Der Hauptsatz,
daß das Produkt des ersten und letzten Gliedes demjenigen der zwei
mittleren Glieder gleich sei, wird so bewiesen: In A:B=(:D ist
bewiesen, daß man homologe Glieder mit der gleichen Zahl multipli-
zieren darf, wodurch man AxB:B=0xB:D, und dann
AxB:4AxB=0x<B:AxD erhält. Da nun die zwei ersten
Glieder einander gleich sind, müssen es die zwei letzten auch sein.
Die Regeldetri und Gesellschaftsregel werden auf die Proportionen-
lehre gegründet und nach dem Reesschen Mechanismus gelehrt.
Der Reessche Ansatz hat also im Lande seiner Geburt auch Freunde
gefunden. | |
Im Reekenboek vor de Nederlandsche Jeugd, Leyden 1794,
von Henri Aeneae (1743—1812) wird die „Ketting-Regel“ ausein-
andergesetzt. Aeneae war ein Friesländer von Geburt, studierte
auf der Universität Leyden und war 1795 Mitglied der internationalen
Kommission für die Reform der Maß- und Gewichtssysteme.
Daß unter holländischen Lehrern bedeutendes Interesse für die
Mathematik herrschte, ersieht man aus der Tatsache, daß in Holland
das erste Journal der Elementar-Mathematik veröffentlicht wurde.
Die Maandelykse mathematische Liefhebbery wurde von 1754
bis 1765 von Jakob Oostwoud (einem Lehrer zu Oost-Zaandam,
in der Nähe von Amsterdam) zu Purmerend herausgegeben und von
) B. Boneompagni, Bullettino, Tomo 14, Roma 1881, p. 533. Man findet
eine „Bibliographie Neerlandaise Historico-Scientifique“ im Bullettino, Tomo 14,
p. 523—630; Tomo 15, p. 225—312, 355—440; Tomo 16, p. 393—444, 687— 718.
Arithmetik. 51
Louis Schut bis 1769 fortgesetzt. Im ganzen erschienen 17 Bände,
die hauptsächlich der Algebra gewidmet sind. Mathematische Auf-
gaben werden gestellt und aufgelöst. Diese Aufgaben wurden später
in drei Serien herausgegeben'). Es war auch Jakob Oostwoud,
welcher in den Niederlanden Interesse für die 1690 gegründete Ham-
burger Mathematische Gesellschaft erweckte. Von 1766-1790 traten
viele holländische Lehrer dieser Gesellschaft bei. Die Auflösung
dieser Beziehungen ist hauptsächlich der Gründung der Mathemati-
schen Gesellschaft in Amsterdam 1778 zuzuschreiben. Den Anstoß
hierzu gab Arnoldus Bastian Strabbe (1740—1805), ein Lehrer
und Staatseichmeister in Amsterdam?), welcher seit 1775 Mitglied der
Hamburger Gesellschaft war.
Wie schon früher (Bd. II, S. 513) hervorgehoben, hatten wäh-
rend unserer Zeitperiode die Philanthropen in Deutschland einen großen
Einfluß auf das Schulwesen. Von den Schriften Rousseaus stark
beeinflußt, wirkte Basedow in Dessau unermüdlich an der Verbesse-
rung der deutschen Erziehung. Zu seiner Zeit wird es üblicher,
Rechenbücher herauszugeben, die nicht allein für den Kaufmann,
sondern hauptsächlich für die Schulen bestimmt sind und die Schär-
fung des Verstandes bezwecken. Im Jahre 1763 erschien Basedows
Überzeugende Methode der auf das bürgerliche Leben an-
gewandten Arithmetik zum Vergnügen der Nachdenkenden
und zur Beförderung des guten Unterrichts in den Schulen,
und 1774 sein Werk Bewiesene Grundsätze der reinen Mathe-
matik (Leipzig), dessen erster Band der Zahlenkunst und Algebra
gewidmet ist.
Um die beweisende Lehrart zu betonen, suchte er den Ketten-
satz und die Reessche Regel, welche zur einfachen Beweisführung
für Elementarschulen nicht angelegt waren, durch eine neue Regel
zu ersetzen. So entstand die „Basedowsche Regel“. Wir benutzen
diese Gelegenheit, zu bemerken, daß die Reessche Regel (Bd. IIP,
S. 519, 520) in Deutschland, besonders im südlichen Teil, günstig
aufgenommen wurde. Joseph Tanzer glaubte, „daß die Reessche
Rechnung die größte Erfindung der gemeinen Arithmetik sey“?).
Allgemeinen Beifall genoß aber weder diese Regel, noch der Ketten-
satz. J. F. Lorenz, Professor an der Schule des Stifts und Klosters
') Festschr. herausgeg. v. d. Mathem. Gesellschaft in Hamburg, Erster Teil,
Hamburg 1890, 8. 79, 80. 2) Ebenda, S. 48, 81, 82. Vgl. D. Bierens de
Haan, Bouwstoffen voor de geschiedenis der Wis- en Naturkundige Weten-
schappen in de Nederlanden, 1878, 8. 63—81. ®) Joseph Tanzer, Mathe-
matisches Lehrbuch zum Gebrauche der churfürstlichen Lyceen, Erster Teil,
München 1780, S. 142.
4*
52 Abschnitt XX.
Berge, drückt sich folgendermaßen darüber aus!): „Die gemeinen
Rechenmeister pflegen überhaupt auch alle Proportionen, deren Lehre
gar nicht ihre Sache ist, nach Ähnlichkeit ihres Kettensatzes, mittelst
einer mechanischen Manier zu behandeln, welche unter dem Namen
der Reesschen Regel nur gar zu bekannt und gemein ist.“ J, @.
Prändel?) bemerkt, daß die Reessche Regel „auch wirklich in
Deutschland eine geraume Zeit bei Geringköpfen viel Aufsehens
machte“. In Holland wurde sie wenig gebraucht; in Frankreich und
England haben wir sie nicht angetroffen.
Die Basedowsche Regel erforderte einiges Nachdenken. Wenn’)
1200 Mann 2400 Zentner Mehl in 4 Monaten verzehren, wieviel Mann
kommen mit 4000 Zentner 3 Monate aus? Nach dem Basedow-
schen Verfahren schreibe man
1200 Mann 2400 Zentner 4 Monate
? 4000 A 3 „
”
und entscheide, ob die Glieder der zweiten Zeile zu Multiplikatoren
oder Divisoren werden. Es folgt das Schema:
? 1200
2400 4000
3 E
Unger hebt hervor, daß diese Regel den Übergang zu dem im
19. Jahrhundert beliebten Bruchsatz bildet.
Um die beweisende Rechenkunst zu fördern, gibt Johann
Tessanek in einer Betrachtung über die arithmetische Regel
zweyer falschen Sätze?) algebraische Beweise für diese allgemein
ohne Demonstration angeführte Regel, und hebt hervor, daß die
Methode auf Aufgaben höherer Grade unanwendbar sei.
Dem Mißbrauch, die Erfindung des größten gemeinschaftlichen
Maßes zweier ganzen Zahlen in Lehrbüchern ohne allen Beweis an-
zuführen, hat Karsten durch einen kurzen und bündigen Beweis
abzuhelfen gesucht’), während J. Pasquich einen zweiten Beweis
lieferte ®).
Die Philanthropen Christian Trapp (1745—1818) und Gott-
lieb Busse (1756—1835) betonten die Anschauung im Rechenunter-
ı) Johann Friedrich Lorenz, Grundriß d. rein. u. angew. Mathematik,
Erster Teil, Helmstädt 1798, S. 111. ?) Johann Georg Prändels Arith-
metik nebst einer kleinen Globuslehre, München 1795, 8. 236. %) F. Unger,
Die Methodik der Praktischen Arithmetik in historischer Entwickelung, Leipzig
1888, 8. 171. *) Abhandlungen einer Privatgesellschaft in Böhmen, 1. Bd.,
Prag 1775, 8. 125—140. ®) Lehrb. d. ges. Math., 1. Teil. 6) Leipziger
Magazin f. reine u. angew. Math., 1. Stück, 1787, 8. 97—103.
Arithmetik. 53
richt so nachdrücklich, daß man sie als Vorläufer der Pestalozzi-
schen Periode ansehen darf. Trapp sagt in seinem Versuch einer
Pädagogik!), 1780: „Addieren und Subtrahieren kann man schon
kleine Kinder an Nüssen usw. lehren, ohne daß sie Zahlen kennen;
bis auf einen gewissen Grad auch Multiplizieren und Dividieren“. In
Busses Gemeinverständliches Rechenbuch für Schulen, 1786,
und seiner Anleitung zum Gebrauche meines Rechenbuchs,
1786, werden qualitätslose Anschauungsmittel (Punkte, Striche) den
sinnenreizenden Gegenständen (Nüsse, Äpfel) vorgezogen. Künsteleien
und das Streben nach einer Universalregel, wie die Reessche, hält
er für unerlaubt. Unger?) nennt Busse den geschicktesten Rechen-
methodiker des 18. Jahrhunderts. Von weitreichendem Einfluß auf
die Reform des Dorfschulwesens war Eberhard Freiherr von
Rochow (1734—1805), der in seiner berühmten Schule in Rekahn
die Zahlenkunst als eine Verstandesübung lehrte, sowie Peter
‘ Villaume (1746 — 1806), der nicht nur die Anschauung betonte,
sondern auch die Beschränkung des Lehrstoffes und die Einführung
des Kopfrechnens forderte?). Das Kopfreehnen wurde unter anderen
auch von Friedrich Köhler in seiner Anweisung zum Kopf-
rechnen, 1797, empfohlen.
Von der alten Darstellungsweise verschieden waren auch die
Versuche in Socratischen Gesprächen über die wichtigsten
Gegenstände der Arithmetik von Johann Andreas Christian
Michelsen, Berlin, Erster Band 1784, Zweyter Band 1785,
Dritter Band 1786. Michelsen (1749-1797) war Professor der Mathe-
matik und Physik am Vereinigten Berlinischen und Kölnischen Gym-
nasium, hatte großen Erfolg als Lehrer und beförderte die Wissenschaft
durch die Übersetzung einiger Eulerschen Werke. Seine Socratischen
Gespräche sind weitläufig, zeigen aber einen großen Fortschritt gegen-
über von bloßen Regelsammlungen, die in unserer Periode noch viel-
fachen Absatz fanden. Michelsen führt hier und dort algebraische Sym-
bole und algebraische Auseinandersetzungen ein. Diesen Versuch,
für ältere Schüler die Arithmetik und Algebra miteinander zu ver-
schmelzen, findet man in mehreren deutschen Anleitungen zur Mathe-
matik, und derselbe darf gewiß als ein Fortschritt in der Methodik
bezeichnet werden. Die Lehre von den Verhältnissen und der Regel-
detri in der gemeinen praktischen Arithmetik hält er „nicht nur
für überflüssig, sondern auch für zweckwidrig“, weil man durch die
') Wir zitieren nach E. Jänicke und G. Schurig Geschichte des Unter-
richts in den math. Lehrfächern in der Volksschule, Gotha 1888, S. 44.
?) Unger, op. eit. $. 166, 167. °) E. Jänicke und G. Schurig, op. eit. S. 51
54 Abschnitt XX.
welsche Praktik ohne sie fertig werden kann, und weil sie nur durch
Umwege zum Ziele führt. Während Michelsen die Verhältnislehre
für den Elementarunterricht abschaffen möchte, sucht Johann Georg
Büsch in seinem Versuch einer Mathematik zum Nuzzen und
Vergnügen des bürgerlichen Lebens, Hamburg 1773 (dritte
Auflage 1790, vierte 1798) neue Definitionen einzuführen. „Die Art,
wie Zahlen und Größen auseinander entstehen, ist ihr Verhältnis.“
Es gibt zwei Arten. „Die erste Art, wenn aus einer Zahl durch
Hinzusetzung oder Wegnehmung einer andern Zahl eine neue Zahl
entsteht, ist das Arithmetische Verhältnis“, „Die zweite Art, wenn
eine Zahl durch wiederholte Zusammensetzung einer andern oder
eines Teils derselben entsteht, ist das Geometrische Verhältnis.“ Aus
der Lehre von den Verhältnissen könne man die Bruchrechnung licht-
voll erläutern. Seine früheste Schrift darüber, so erzählt er im Jahre
1798, sei eine Probeschrift des Jahres 1756, er kenne aber kein
Rechenbuch, in welchem seine Verhältnislehre ganz angenommen und
daraus die Bruchrechnung und die Regeldetri hergeleitet wären‘).
Büsch (1728—1800) wurde 1756 Lehrer der Mathematik am Ham-
burger Gymnasium und bekleidete diese Stelle 44 Jahre lang bis zu
seinem Tode. Er errichtete eine Handelsakademie in Hamburg und
zeichnete sich durch gemeinnütziges Wirken und unermüdliche schrift-
stellerische Tätigkeit aus. Unter den begeisterten Jünglingen, deren
Studien er in die rechten Bahnen zu lenken wußte, war der Astronom
J. E. Bode.
Wir werden die Entwicklung methodischer Ideen für den Rechen-
unterricht in Deutschland nicht weiter verfolgen, bemerken .aber,
daß gegen Ende des Jahrhunderts in dieser Hinsicht hier größere
Tätigkeit herrschte als in anderen Ländern’).
Büsch wurde im Jahre 1790, bei Gelegenheit der 100 jährigen
Jubelfeier der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg (Bd. II, S. 799),
zum Ehrenmitglied dieser Gesellschaft ernannt). Seit 1751 war
Johann Reimer (1731—1803) Mitglied der obigen Gesellschaft,
dessen schriftstellerische Tätigkeit wir kurz erwähnen. Bis 1783 er-
hielt jeder Eintretende einen Beinamen, und Reimer hieß „der Re-
creirende“. In den Jahren 1767--1769 gab Reimer eine Wochen-
schrift Der gemeinnützige mathematische Liebhaber heraus.
ı) Büsch, Mathematik zum Nutzen usw., 4. Aufl., 1798, S. 29, 30.
?) Weitere Auskunft über den Rechenunterricht in Deutschland findet man in
den oben angeführten Werken von Unger und Jänicke und Schurig, sowie
in M. Sterner, Geschichte der Rechenkunst, München und Leipzig 1891.
®) Festschr. herausg. v. d. Math. Gesellsch. in Hamburg a. i. 200 jährigen Jubel-
festes 1890, Leipzig 1890, 8. 50.
Arithmetik. 55
Diese hing mit der Gesellschaft nicht weiter zusammen, als daß der
Herausgeber ihr angehörte und daß andere Mitglieder sich anfangs
für die Schrift interessierten. Reimer begründet das Aufhören der
Wochenschrift im Jahre 1769 mit dem mangelnden Interesse vieler
Mitglieder. Diese Wochenschrift ist unseres Wissens die zweite ele-
mentar-mathematische Zeitschrift in der Welt. Nur Oostwouds
Monatsschrift war früher erschienen.
Die Wochenschrift war teils in deutscher, teils in holländischer
Sprache abgefaßt und enthielt Aufgaben und deren Auflösungen.
Diese waren durchweg sehr elementar, und meistens der Algebra, aber
auch der rechnenden Geometrie sowie der Astronomie entnommen.
Äußerst wenige waren originell. Die meisten sind aus Paul Halckes
Sinnenconfect (Bd. III, S. 412) abgeschrieben. Anderes ist ähn-
lichen Werken entliehen.
Die Hamburger Gesellschaft hatte mehr auswärtige Mitglieder
als einheimische. Im Jahre 1760 gab es neben 5 einheimischen 20
auswärtige Mitglieder. Im Jahre 1790 war die Zahl der auswärtigen
auf 32 gewachsen, welche von Regensburg bis Stockholm und von
Prag bis Amsterdam zerstreut waren. Von diesen waren 23 Holländer.
Nach 1790 nahm letztere Zahl schnell ab, was einerseits den da-
maligen Kriegsunruhen und andererseits der 1778 erfolgten Gründung
der Mathematischen Gesellschaft in Amsterdam zuzuschrei-
ben ist!).
Die Arithmetik des Leontius Philippovisth Magnitzky
(1669—1739) war beinahe das einzige Rechenbuch, welches während
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in russischen Schulen ge-
braucht wurde?). Es erschien 1703 und enthielt auch einiges über
Algebra und Geometrie. Während der Blütezeit des Regelrechnens
geschrieben, machte es keine Ansprüche an die Denkkraft der Schüler.
In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde es allmählich von
anderen Werken verdrängt. In der ersten Hälfte war das Gymnasium
der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg der einzige Ort,
wo neue Ideen über den Rechenunterricht aufblühten. Dort wurde
1740 die Adodouroffsche Übersetzung des ersten Teiles von Leon-
hard Eulers Einleitung zur Rechen-Kunst, zum Gebrauch
des Gymnasii bey der Kayserlichen Academie der Wissen-
schaften in Saint-Petersburg (erster Teil 1738; zweiter Teil
') Festschr., 8. 47,48. °) V. V. Bobynin, „L’Enseignement mathematique
en Russie‘* in L’Enseignement Mathömatique (C. A. Laisant et H. Fehr, Direc-
teurs), 1®re annde, 1889, p. 81. Unsere Angaben über die Rechenkunst und Al-
gebra in Rußland sind dieser Arbeit und der Russkaia Fiziko-Matematiches-
kaia Bibliografiia, sostavil V. V. Bobynin 1886—1900 entnommen.
56 | Abschnitt XX.
1740) herausgegeben und im Gymnasium studiert. Der zweite Teil
dieses Werkes, von Vasilii Kouznetzoff übersetzt, erschien 1760.
Es war Eulers Absicht, allesrecht deutlich zu erklären und zu beweisen.
Obschon der mathematische Unterricht auf dem St. Petersburger
Gymnasium unter der Lehrtätigkeit von Georg Wolfgang Krafft
(1701—1754) und Vasilii Evdokimovich Adodouroff (1709 bis
1778) eine durchgreifende Erneuerung erfuhr, erwirkte derselbe doch
nur geringen Einfluß auf andere Schulen Rußlands.
Ein anderes Werk, welches die alten dogmatischen Methoden
durch eine beweisende Lehrart zu ersetzen suchte, war die 1752 er-
schienene Algebra von dem Ingenieur Kapitän-Lieutenant Nicolas
Mouravief (1721—1770). Es war das erste Werk in russischer
Sprache ganz diesem Fache gewidmet. Dann erschien ein Buch,
welches der alle Beweise vermeidenden Darstellung folgte und viel
größeren Beifall als das Mouraviefsche Werk genoß. Dies war die
Universelle Arithmetik von Nicolas Kourganof (1725—1796),
Professor der Mathematik und Navigation am Korps der adeligen
Marinekadetten. In dieser Schule verdrängte dieses Werk die alte
Arithmetik von Magnitzky.
Während der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden haupt-
sächlich deutsche mathematische Werke gelesen. Dimitri Sergie-
viteh Anitchkof (1740—1788), ein Lizentiat der 1755 gegrün-
deten Universität von Moskau, wurde 1762 als Lehrer an der
Universität und den dazu gehörigen Gymnasien angestellt. Er gab
1765 eine Übersetzung aus der lateinischen in die russische Sprache
der verschiedenen Teile von Weidlers Institutiones Matheseos..,
editio quinta, Vitembergae 1759, heraus. Uns interessieren hier
nur zwei Teile, die Theoretische und Praktische Arithmetik,
deren zweite und dritte Auflage 1787 und 1795 erschienen, und die
Algebra, welche 1778 in zweiter Auflage herausgegeben wurde.
Diese Werke, sowie diejenigen, welche von Anitchkof selbst nach
dem Vorbilde der Weidlerschen und Wolffschen Werke geschrieben
wurden‘), brachten in russischen Elementarwerken der Mathematik
die demonstrative Methode in den Vordergrund.
In Großbritannien ist die Methodenentwieklung für den Rechenunter-
richt langsamer fortgeschritten als in Deutschland. Das Anschauungs-
prinzip kam gar nicht in Betracht, wohl aber wurde die Beweisführung
in den neueren Büchern dem bloßen Regelrechnen vorgezogen. Englische
Rechenbücher unterscheiden sich von denen des Festlandes hauptsäch-
‘) Theoretische und Praktische Arithmetik (Auflagen: 1764, 1775, 1786,
1793); Elemente der Algebra, oder litterale Arithmetik (1787).
Arithmetik. 57
lich darin, daß erstere den Dezimalbrüchen und der Sammlung von
Übungsaufgaben viel größere Aufmerksamkeit schenken. Englische
Bücher operieren mit größeren Zahlen. Ein Verfasser gibt z. B. eine
Aufgabe, welche die Berechnung von 2! erfordert, und diese wird
mit 44 Ziffern durchgeführt).
Zu dieser Zeit fanden Auflagen von den älteren Werken von
Edward Cocker, Thomas Dilworth, John Hill und Edmund
Wingate noch immer Absatz. Unter den verschiedenen Auflagen
von Cockers Arithmetik?) erschienen zwischen 1725 und 1767
mehrere von Mrs. Slack unter dem Namen „George Fisher“ heraus-
gegeben®). Mrs. Slack hat unter dem Pseudonym „George Fisher“
auch eine eigene Arithmetik geschrieben. Sie ist unseres Wissens
‚die erste Frau, welche arithmetische Bücher zu verfassen unternahm.
1760 gab James Dodson eine Ausgabe der ungefähr 1629
zuerst erschienenen Arithmetik von Wingate heraus. De Morgan
erklärt, daß Wingate, nach den in verschiedenen Auflagen vorge-
nommenen Abänderungen, sein Werk nicht wieder erkannt haben
könntet). Dodson war Lehrer der Mathematik zu Christ’s Hospital,
ein Freund De Moivres und ein Mitglied der Royal Society. Er ist
ein Urgroßvater August De Morgans?).
De Morgan zählt dreißig Rechenbücher auf, welche in Groß-
britannien während der Periode 1759—1799 geschrieben wurden).
Hervorragend unter diesen war A complete treatise on Praetical
Arithmetic and Book-Keeping von Charles Hutton. Die
5. Auflage soll 1778 gedruckt worden sein; die 8. erschien in London
1788. In diesem kurzen Werke wird der Dezimalpunkt gegen den
oberen Teil der Ziffer gesetzt, wie in 1'3, damit er nicht mit Satz-
zeichen verwechselt werden könne. Hutton bemerkt, daß er den
‘) John Hill, Arithmetic, 1772, p. 144. ?) Die erste Auflage erschien
1678, „perused and published by John Hawkins“. Wenigstens 112 Auflagen
sollen herausgegeben worden sein [V. Dietionary of National Biography]. Cockers
Werk hatte vor dem 1661 erschienenen Rechenbuch des James Hodder den
Vorzug, daß es Untersichdividieren, statt Übersichdividieren lehrte.
Beide Bücher gaben Regeln ohne Beweise. Beide genossen weite Verbreitung.
Näheres über Cocker findet man in De Morgans Arithmetical Books, S. 56
bis 62. Wohl zu verwerfen ist De Morgans Ansicht, daß Cockers Arithmetic
nicht von Cocker, sondern von John Hawkins geschrieben wurde, daß Haw-
kins, um größeren Absatz zu erlangen, sich den Namen Cockers beilegte.
°) G. Valentin, „Die Frauen in den exakten Wissenschaften“, Bibliotheca
Mathematica, N. F., 1895, 8. 75. #) A. De Morgan, op. eit. p. 73.
°) Memoir of Augustus De Morgan by his wife, Sophia Elizabeth De
Morgan, London 1882, p. 233, 234. 6%) De Morgan, op. eit. p. 73—82.
58 Abschnitt XX.
Wink für diese Schreibweise aus Tabellen von Newtons Optics er-
halten habe. |
Ein anderes Werk war The Scholar’s Guide to Arithmetic,
London 1780 (6. Auflage 1795), von John Bonnycastle (1750 [?]
bis 1821). Man findet darin Beweise für die Regeln, welche in
einigen Fällen in algebraischer Sprache dargestellt sind, aber immer
in kleinerem Druck in der Form von Anmerkungen, so daß sie ganz
bequem übergangen werden konnten. 1851 erschien die 18. Auflage
dieses Werkes. Bonnycastle war ein Autodidakt, stand einer Aka-
demie in London vor und wurde ungefähr 1782 Professor der Mathe-
matik an der königlichen Militärakademie bei Woolwich.
In Schottland stand die Arithmetie, Rational and Practical
von John Mair in großer Gunst. Die erste Auflage soll 1766 er-
schienen sein!), die fünfte wurde 1794 in Edinburgh herausgegeben.
Dies ist ein weitläufiges, vollständiges Werk, verständlich geschrieben,
obschon das Versprechen alles gründlich zu beweisen, nicht überall
durchgeführt ist. Mair war Lehrer in Ayr, später Rektor an der
Perth Akademie und Verfasser von Schulbüchern über verschiedene
Fächer. |
In Irland erschien 1759 die Praetical Arithmetic von einem
Quäker John Gough (1721—1791), Schriftsteller und Lehrer in
Cork und Dublin. Das Rechenbuch enthält Fragen und Antworten,
einige davon in Versen: „Q. What is subtraction? A. Subtraction
from a greater takes a less, and thereby shews the difference or
excess“. Nach De Morgan?) soll die zweite Auflage große Erwei-
terungen erfahren haben, während die späteren für Schulzwecke wieder
reduziert wurden. Der Name des Schriftstellers wurde in Irland ein
Synonym der Arithmetik, und als gegen Mitte des 19. Jahrhunderts
Thomsons Werk Eingang fand, erhielt es den Namen „Thomson’s
Gough“?).
Eines der brauchbarsten Bücher damaliger Zeit war The Tutor’s
Assistant von Francis Walkingame, dessen 28. Ausgabe in Lon-
don 1798 gedruckt wurde. Eine Ausgabe davon erschien‘) in Lon-
don 1844.
Englische Rechenbücher legen großes Gewicht nicht nur auf
Dezimal-, sondern auch auf Duodezimalbrüche. Ein Werk, The
Measurer’s Best Companion; or Duodeeimals brought to Per-
fection, von Thomas Sutton, 1785 in Great-Yarmouth gedruckt,
erklärt diesen Gegenstand mit großer Vollständigkeit. Es wird erzählt, daß
!) Allibones Dictionary of Authors. ?) Ebenda, $. 79, 80. *) Ebenda,
S. 80. *, Ebenda, 8. 80.
Arithmetik. 59
ein Lehrer am Pembroke College auf der Universität Cambridge einem
Studenten einmal folgenden Rat gab: „Vernachlässigen Sie keineswegs
die Duodezimalen. Ich wurde Senior Wrangler 1767 durch meine
Kenntnis der Duodezimalen.“!)
Das Rechnen mit periodischen Dezimalbrüchen, welche schon in
älteren englischen Büchern eine hervorragende Stelle erhielten, wurde
theoretisch 1768 von John Robertson (1712—1776), damals Biblio-
thekar der Royal Society, früher Lehrer der Mathematik in Ports-
mouth, in einem Artikel erklärt?). Die Werte periodischer Dezimal-
brüche werden durch Summation geometrischer Progressionen gefunden.
In einem anderen Aufsatz erläutert er zwanzig Fälle in der Zinses-
zinsrechnung, worin jede der fünf Größen (Annuität, Zeit, Prozent,
Betrag, Kapital) auf vier verschiedenen Wegen aus den übrigen her-
geleitet wird?). Diese Schrift führt er als die Vervollständigung
einer Arbeit des William Jones vor. Eine andere*) über die Kon-
struktion der Logarithmen durch Reihenentwicklung schreibt er ganz
diesem William Jones zu.
Eine mathematische Gesellschaft existierte zu S>pitalfields in
London von 1717 bis 1845. Sie war also jünger als die Hamburger
und älter als die Amsterdamer Gesellschaft. Sie war von Joseph
Middleton, einem Verfasser mathematischer Bücher, gegründet und
hatte Dolland, Simpson, Saunderson, Crossley, Parvissen und
Gompertz als Mitglieder. Anfangs waren die Mitglieder Arbeiter,
viele davon Seidenweber. Es wurde von jedem erwartet, daß er seine
Pfeife, seinen Krug und sein Problem mitbringe?).
Während des 18. Jahrhunderts gab es in England keine Journale,
welche sich ganz der Mathematik widmeten, wohl aber mehrere,
welche Abteilungen für Elementarmathematik enthielten. Die be-
rühmtesten unter diesen waren The Ladies’ Diary, gegründet 1704,
und The Gentleman’s Diary, welche 1840 vereinigt wurden.
Thomas Simpson war Herausgeber der Ladies’ Diary von 1754 bis
1760, und er rühmte von dieser Jahresschrift, sie hätte mehr zum
Studium und Fortschritt der Mathematik beigetragen als die Hälfte
der Bücher speziell für diesen Zweck geschrieben°).
1) C. Wordsworth, Scholae Academicae, 1877, p. 73. ®) Philosophical
Transactions (London), Vol. 58, for the year 1768, p. 207—213. 3) Ebenda,
Vol. 60, for the year 1770, p. 508—517. *, Ebenda, Vol. 61, for the year
1771, p. 455—461. 5) A. De Morgan, Budget of Paradoxes, p. 80, 232, 451;
S. E. Morgan, op. eit. p. 123; P. A. Mac Mahon, Address before Section A,
British Asia, Report 71, 1901. 6) Andere periodische Schriften, welche sich
teilweise der Elementarmathematik widmeten, waren The Palladium, 1749—1777
von Robert Heath als ein Rival der Ladies’ Diary veröffentlicht; Miscellanea
60 Abschnitt XX.
In den Kolonien von Nordamerika wurden im 18. Jahrhundert
hauptsächlich Rechenbücher von Großbritannien importiert‘). Die
erste amerikanische Auflage eines großbritannischen Werkes, welches
ganz dem Rechnen gewidmet ist, war die Arithmetick: or, That
necessary Art made most easie von James Hodder?), Boston
1719. 1779 erschien in Philadelphia ein Neudruck des populärsten
englischen Werkes des 17. Jahrhunderts, nämlich Edward Öockers
Arithmetick. Weitere Verbreitung als diese zwei hatte Thomas
Dilworths Schoolmaster’s Assistant, wovon wenigstens acht
amerikanische Auflagen gedruckt wurden?). Es wurden hier auch
die Rechenbücher von Daniel Fenning, John Gough und „George
Fisher“ gedruckt. |
Das erste Werk aus der Feder eines amerikanischen Schrift-
stellers ist die Arithmetick, Vulgar and Decimal, Boston 1729,
Das Buch ist anonym, wird aber Isaac Greenwood (1702—1745)
zugeschrieben*). Ungleich den obengenannten ausländischen Werken
setzt es die Kenntnis der Grundoperationen voraus und macht einigen
Anspruch an die Denkkraft der Schüler. Vielleicht aus diesen
Gründen fand es sehr geringe Verbreitung. Isaac Greenwood war
Professor der Mathematik und Naturphilosophie an der Universität
Harvard von 1727 bis 1738.
Scientifica Curiosa, Vol. I, 1766, mit Charles Hutton als Mitarbeiter; The
Scientific Receptacle, von Thomas Whiting 1791 in London gegründet; The
Stockton Bee: or Monthly Miscellany, 1793; The Gentleman’s Mathematical
Companion, von 1798 bis 1804 jährlich in London gedruckt. Diese Schriften
standen mir zu Washington in der Bibliothek des Herrn Dr. Artemas Martin
zur Verfügung. Es gab mehrere andere Journale gleicher Art, z. B. The Mathe-
matical Magazine and Philosophical Repository von G. Mitchell, T. Moss und
anderen, 1761; Huttons Mathematical Miscellany, The London Magazine, The
British Oracle. (Vgl. T.T. Wilkinson, Memoir of the Rev. John Lawson,
Manchester 1854; Bolton, Catalogue of Scientific and Technical Periodicals,
1665—1895, Washington 1897.)
!) Holländische Einwanderer des 17. Jahrhunderts brachten die Coffer-
Konst von Pieter Venema (+ 1612) mit. Dies Buch war so hoch geschätzt,
daß 1730 in New York eine englische Übersetzung davon gedruckt wurde
(F. Cajori, The Teaching and History of Mathematies in the U. $., Bureau of
Education Washington 1890, p. 13). ®) Die erste Auflage erschien in London
1661 (August de Morgan, op. eit. p. 46). ®) Philadelphia 1769, Hartford
1786, New York 1793 und 1806, New London 1797, Philadelphia 1805, Brooklyn
1807, Albany 1824. *, Eine ausführlichere Beschreibung des Werkes findet
man in „Notes on the History of American Text-books on Arithmetic“ by
JamesM.Greenwood and Artemas Martin in The Report ofthe Commissioner
of Education for 1897—1898, Washington, D.C., p. 802—805; Cajori, op-
eit. p. 14.
Arithmetik. 61
Erst über fünfzig Jahre später begegnen wir einem zweiten
amerikanischen Autor, dem Nicolas Pike, dessen New and Com-
plete System of Arithmetie 17838 in Newburyport gedruckt
wurde Nicolas Pike (1743—1819) absolvierte die Universität
Harvard und war während vieler Jahre Lehrer in Newburyport.
Seine Arithmetik enthielt auch ganz kurze Kapitel über Logarithmen,
Trigonometrie, Kegelschnitte und Algebra.
In der Beweismethode des arithmetischen und algebraischen
Teils galt ihm Bonnycastle als Vorbild. Alle Beweise erscheinen
als Anmerkungen in kleinerem Druck. Während dreißig Jahren wurde
das Werk viel gelesen; anfangs diente es als Text für den mathema-
tischen Kursus auf den Kollegien. Es wurde von Professoren mehrerer
amerikanischen Kollegien empfohlen und Georg Washington sandte
dem Autor einen Brief, worin er seine Anerkennung ausdrückte.
Als nach dem Revolutionskrieg die Vereinigten Staaten 1789 zu
der Verfassung gelangten, die sie noch heutzutage haben, und die
Früchte der erstrittenen Freiheit zu genießen anfingen, erhielt das
Schulwesen auch neuen Aufschwung. In dem Zeitraum 1739—1799
erschienen über ein Dutzend neuer Rechenbücher!), von denen The
Schoolmaster’s Assistant von Daboll, New London 1799, das
hervorragendste war. Es legt auf Dezimalbrüche viel größeres Ge-
wicht als damals üblich war. Nathan Daboll (ungefähr 1750 bis
1818) war Lehrer in Connecticut.
1792 wurde ein neues Münzsystem eingeführt. Seit dem ersten
Gepräge 1794 verdrängten dollars und cents allmählich die eng-
lischen pounds und shillings. Die Rechenbücher schlossen sich
der neuen Ordnung an. Durch diese Münzveränderung wurden
die ausländischen Schriftsteller Dilworth und Cocker aus amerika-
nischen Schulen allmählich verdrängt. Zu erwähnen ist noch, daß
The American Accomptant von Chauncy Lee, welches 1797 in
Lansingburgh erschien, das früheste Rechenbuch ist, worin das Dollar-
zeichen $ sich. vorfindet?). Nicolas Pike gab 1788 für mills,
cents, dimes, dollars folgende Abkürzungen: m, c,d, D. Lee schreibt,
ohne weitere Erklärungen, für mill /, cent //, dime 4%, dollar 4.
In Handschriften von Robert Morris, dem Finanzier der Revolution,
findet man das Dollarzeichen $ schon 1793. Gründliche Studien
über den Ursprung des Zeichens sind nicht vorgenommen worden;
man hat aber wenigstens sieben verschiedene Hypothesen darüber?).
') Vide Greenwood and Martin, op. eit. p. 809—814; Cajori, op. eit.
p. 46, 47. ?) Greenwood and Martin, op. eit. p. 812. 5) Vgl. Mal-
colm Townsend, U.S.; an Index to the United States of America, Boston
1890, 8. 420.
62 Abschnitt XX.
In dem Lesen der Zahlen und in der Ausführung der vier Rech-
nungsarten mit ganzen Zahlen sind während der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts keine neuen Methoden erschienen, wohl aber ist ein
Fortschritt zu größerer Übereinstimmung über den relativen Wert
der verschiedenen Methoden und ein allmähliches Verwerfen der kom-
plizierteren derselben wahrnehmbar. Die Wörter Billion, Trillion usw.
werden in allen europäischen Ländern, außer Frankreich, sowie
auch in den Staaten von Nordamerika, als 10%, 10% usw. definiert.
Den Gebrauch dieser Wörter im Sinne von 10°, 10'? usw. findet man
schon in der Arithmetique von G. Trenchant, Lyon 1566;
der Gebrauch wurde in Frankreich im 17. Jahrhundert allgemein').
Daß hier und dort ein Rechenbuch zu finden ist, welches die Wörter
Billion, Trillion, ja sogar das Wort Million noch gar nicht gebraucht,
ist nicht auffallend?). Das Alte läßt sich nicht so leicht verdrängen.
S. F. Laeroix?) bemerkt, daß man im Handel statt billion das
Wort milliard brauche. F. Legendre schreibt milliars. Wir
haben milliard in praktischen französischen Rechenbüchern allgemein
gefunden; Barr&me und Pierre Senebier*)schreiben auch milliasses
für trillions. In der Arithmetique raisonn@ee et demontre&e,
welche Leonhard Euler zugeschrieben wird’), heißt 10° milliard,
!) Encycelopedie des sciences math&matiques, Ed. Frangaise, Tome I, 1904,
u, 47. 2) Das Wort Million ist z. B. in De Vernieuwde/Cyfferinge van
Mr. Willem Bartjens, Herstelt, vermeerdert ende verbetert Door Mr. Jan
van Dam,... Amsterdam 1771, nicht zu finden. Dort ist 1000000 — Dupzend-
maal-Dunzend. Ähnliches findet man in J. C. Huths Die kürzeste, bequemste
und leichteste Art zu Rechnen, Halberstadt 1774 (wie wir aus der Geschichte
des Unterrichts in den mathematischen Lehrfächern in der Volksschule, bear-
beitet von E. Jänicke und G. Schurig, Gotha 1888, 8.17, entnehmen). In
dem Abbaco ovvero Pratica Generale Dell’ Aritmetica...esposto da Girolamo-
Pietro Cortinovis, maestro d’Aritmetica Pratica. Quarta Edizione. Venezia
1759, wird das Wort Billion nicht gebraucht, und 97600000000000 —=nove-
cento, e settantasei milioni, di milioni. 3) Traite el&mentaire d’arith-
metique, Paris 1807, p. 5. *), Senebier, Trait& d’arithmetique, Lausanne
1178, PT. 5) L’arithmetique raisonnde et d@montree, oeuvres posthumes de.
Leonard Euler, traduite en francois par Daniel Bernoulli, directeur de
l’Observatoire de Berlin ete. Corrigee et considerablement augmentee par M. De
la Grange, Berlin, chez Voss & fils et Decker & fils, 1792. Man glaubte zu-
nächst in diesem Werke eine französische Übersetzung von Eulers 1738—40
erschienenen, jetzt sehr seltenen Einleitung zur Rechenkunst zu sehen, aber P. H.
Fuß und G. Valentin sind der Ansicht, daß hier ein literarischer Betrug vor-
liegt, und daß Euler, Daniel Bernoulli und Lagrange kein Wort von
diesem Werke geschrieben haben. Fuß führt im Bull. Ac. Petrop. Classe math.
9, 1851, S. 340-341 die ersten Sätze des Werkes von 1738 und desjenigen von
1792 an und findet keine Ähnlichkeit zwischen beiden. Auch hebt er hervor,
daß Daniel Bernoulli nie directeur de l’observatoire de Berlin war und nicht
Arithmetik. 63
10"? billiard, 10% trilliard. Hätte sich diese Sprachweise erhalten,
wäre man heutzutage von Verwirrung frei; es würden 10°, 1012, 10%
milliard, billiard, trilliard, und 102, 10, 10% billion, trillion, qua-
drillion heißen.
Es ist bemerkenswert, daß das seit Anfang des 16. Jahrhunderts
in Spanien von Ciruelo und Ortega gebrauchte Wort euento für
10° (siehe Bd. IP, S. 386, 387) sich erhalten hat und von
Perez de Moya und Bails in ihren von uns früher angeführten
Werken dem Worte millone vorgezogen wird. Für 1012 schreibt
Bails bieuentos und Perez de Moya euento de cuento.
Die Ausführungen der Addition und Multiplikation waren mit
den jetzigen Methoden identisch. Im Multiplizieren fing man allge-
mein mit der niedrigsten Ziffer des Multiplikators an. Einige Autoren
aber machen darauf aufmerksam, daß vorteilhaft mit der höchsten
Ziffer des Multiplikators angefangen werden kann 1). Es werden drei
Arten des Subtrahierens gelehrt. Wenn eine Ziffer im Subtrahend
der Übersetzer von Eulers Algebra ist. In der Vorrede des Werkes von 1792
heißt es nämlich: „le fameux Bernoulli, traducteur de l’Algebre de ce savant
[Euler], a cru rendre service au public, en traduissant un Ouvrage.. .“*
Valentin hebt in der Bibliotheca Mathematica N. F. 12, 1898, S. 49 hervor,
daß in Qu&rards La France litteraire III, 1829, p. 233 ein Werk, L’arithme-
tique demontree, operee et expliquee von C. F. Gaignat de L’Aulnays de
Nantes, Paris 1770, angeführt wird, mit der Anmerkung: „Cet ouvrage a 6te
reimpr. en 1792 comme un ouvrage posthume de Leonard Euler, etc.“ (folgt
der obige Titel. Wir haben zwei verschiedene Ausgaben der Eulerschen
Arithmetik vom Jahre 1792 gesehen, die sich aber nur durch das Titelblatt,
einen Satz in der Vorrede und eine kurze Anmerkung unterscheiden. Der Titel
der anderen Ausgabe lautet: „L’arithmetique raisonnde et demontree, oeuvres
posthumes de L&onard Euler, traduite en francois par Bernoulli, directeur
de l’Observatoire de Berlin ete. (Berlin, chez Voss & fils et Decker & fils, 1792).
Der letzte Satz in der Vorrede der ersten Ausgabe, welcher sich auf Lagrange
bezieht, wird weggelassen. Auf $. 616 der zweiten Ausgabe wurde hinzugefügt:
„De l’Imprimerie de Grange, rue de la Parcheminerie“. Bisher ist es nie-
mandem möglich gewesen, alle in Frage kommenden Werke einsehen zu können,
weshalb die Geschichte des Werkes nicht definitiv bestimmt ist. In den Oeuvres
completes en Francois de L. Euler, publiees par M. M. Dubois et Drapiez
‚in Belgien wurde die Arithmetik des Jahres 1792 als echt angenommen und 1839
als dritter Band herausgegeben. Um sie den damaligen Schulbedürfnissen an-
zupassen, wurde sie so gründlich bearbeitet, daß sie mit dem Buche des Jahres
1792 beinahe keine Ähnlichkeit hat. Von nun an werden wir letzteres als
„Euler-Bernoulli“ zitieren.
') Z.B. W. J. G. Karsten, Lehrbuch der gesamten Mathematik. Der
Erste Theil, Greifswald 1767, S. 128; John Mair, Arithmetic, 1794, S. 59; La-
grange, Math. Elementarvorlesungen, deutsche Separatausg. von Dr. H. Nieder-
müller, Leipzig 1880, $. 22, 23.
64 Abschnitt XX.
größer ist als die darüber stehende, so wird in ungefähr dreiviertel
der Rechenbücher eine Einheit von der nächst höheren Ziffer ım
Minuend geborgt und wird dann vielleicht mit einem Punkte be-
zeichnet, daß letztere sodann um eins weniger gelte. Statt die
folgende Ziffer des Minuenden um eine Einheit zu verkleinern, wird
in der zweiten Methode die folgende Stelle im Subtrahenden um eins
vermehrt. Diese Erklärung findet man öfter in französischen und
italienischen als in deutschen Werken. Manche Schulbücher enthalten
beide Methoden. In den Vorlesungen von Laplace, 1795 auf der
Normalschule in Paris gehalten, werden beide Arten erklärt!). In
einem dritten Verfahren, welches selten erscheint, wird, wie früher
bei Riese und Rudolff, die untere Ziffer erst von der geborgten
10 abgezogen und die obere Ziffer hernach dazu addiert. Michelsen
gibt noch einen anderen Weg. Man ziehe die Ziffer des Minuenden
von der Ziffer des Subtrahenden ab, und subtrahiere den Rest von
neuem von 10, und lasse dann die folgende Ziffer des Minuenden
eins weniger gelten?). In allen von uns gelesenen Werken sagt man:
2 von 5 bleibt 3; niemals wird 2 und 3 macht 5 angegeben. Die
Operation geht beinahe immer von rechts nach links.
Division ist eine bedeutend schwierigere Operation, wofür zur
Zeit der Renaissance viele Methoden vorgeschlagen wurden. Gegen
Ende des 18. Jahrhunderts findet der Sturz der während zweier Jahr-
hunderte gemeinen Divisionsformen statt und größere Uniformität in
den Operationen tritt ein. Die Rechenmeister der Zeitperiode 1759
bis 1799 reden von zwei Hauptmethoden, die um die Herrschaft
kämpften, 1. das Übersich- oder Oberwärtsdividieren, oder die
Turmmethode, 2. das Untersich- oder Unterwärtsdividieren.
Diese Einteilung der damals bekannten Divisionsformen ist nicht
fundamental. Die Hauptfrage ist nicht, ob man oberwärts oder unter-
wärts fortschreiten solle; wohl aber, ob man die Teilprodukte sofort
abziehen solle oder nicht, ob im Bilden der Produkte man mit der
höchsten oder mit der niedrigsten Ziffer des Divisors anfangen solle,
und was überhaupt die anschaulichste Anordnung der Ziffern sei. Die
verschiedenen Divisionsarten, welche in dieser Zeitperiode gebraucht
wurden, lassen sich so anordnen, daß man stufenweise von einer ex-
tremen Form zur anderen fortschreiten kann. Unten machen '
wir dies an folgenden Beispielen klar:
ı) Journal de l’&cole Polytechnique ou Bulletin du Travail fait & cette
6cole, 7. et 8. cahiers, Tome II, A Paris 1812. Lecous de Mathematiques,
donnees A l’&cole normale, en 1795 par M. Laplace, p. 8. ?) Versuch in
Socratischen Gesprächen usw. von J. A. C. Michelsen, I. Bd., 1784, 8. 133.
Arithmetik, 65
AB ‚ DEFGH
abe
Wir haben hier zwei Anordnungen, ABCDEFGHundabeDEFGH.
Die Divisionsarten a, b, ce unterscheiden sich von A, B, C darin, daß
man in ersterer beim Bilden der Teilprodukte mit der ersten Ziffer
zur Linken anfängt und nach rechts geht, während in letzterer man
mit der ersten Stelle zur Rechten anfängt und nach links schreitet.
A. a.
u
2
32 PR
3188 Kies sor
BI5A 18 reste 328 19773
Bir). 56332 11818
35
A1866
AT
4
F. Le Gendret), 1774 Christian Pescheck?), 1759
(6754 : 357). (56331 : 476).
B. b.
A
32321
55553j2
| 090254
Diviseur 469] 387048 346 bee] 25859412
“ Produit 825 x+1861
242
1
„Euler-Bernoulli“, 1792, p. 173 Johann Friedrich Heynatz?),
(387046 : 469). 1780 (89473645 : 346).
') L’arithmetique en sa perfection, mise en en selon l’usage des
financiers, gens de pratique, banquiers, et marchands... par F. Le Gendre,
Arithmeticien, Derniere 6dition, corrigee..., Paris 1774, p. 0. 2) M. Christian
Peschecks.. Deutliche Erklärung deren: Kaufmann und öconomischen Rech-
nungen, als da sind: Thara- und Fusti-Rechnung; ..., Budissin 1759, S. 11.
®) M. Johann Friedrich Heynatz, Rektors zu Frankfurt an der Oder, Hand-
buch ..., Zweiter Theil, welcher ein ausführliches Rechenbuch enthält. Zweyte
vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1780, S. 106.
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. ö
66 Abe ax
C. 6,
Dividende Diviseur 89473645
4187. | er an | PORUDENE
103 1,01 090254
347 129 855532
4, 32321
EcE
„Euler-Bernoulli“, 1792, p.165 Johann Friedrich Heynatz,
(4787 :37). 1780, 8. 106.
D. E.
4 | 1212
203 | 426|7
171812 34726852137
123456 233 SR
105644 528 34
1888 102
| 238
Barr&me, 1764, p. 227 John Mair'), 1794
(123456 : 528). (72685 : 34).
F. G.
12634 -- 25942
28
56 Divisore Dividendo
166 7980. 1. 7980 | 148431
28 15960. 2. Quoz: 18
263 31920. 4. 68631
98 39900. 5. 63840
252 47880. 6.
R 55860. 7. Residuo 4791
fe 63840. 8.
119 71820. 9.
2 ;
Johann Georg Prändel?), 1795 Odoardo Gherli?), 1770
(72634 : 28). (148431 : 7980).
'") John Mair, Arithmetic, Rational and Practical, Edinburgh 1794, p. 89.
2) Johann Georg Prändels... Arithmetik... München 1795, 8.47. °) Gli
Elementi Teorieo-Pratici delle matematiche pure del Padre Odoardo Gherli,
Domenicano.... Tomo I, Modena 1770, p. 19.
Arithmetik. 67
H.
15347 ER
55... 1.142185
223
212
114
106
nr
53
34
Etienne B6zout!), 1797
(75347 : 53).
In A. und a. werden die Teilprodukte sofort abgezogen, die Reste
über den Dividend geschrieben, der Divisor unter den Dividend gesetzt
und nach rechts gerückt, und jede Ziffer durchgestrichen, sobald man
damit fertig ist. A. wird von „Euler-Bernoulli“ 1792, von
Pescheck 1741 und von Barr&me 1764 division ä l’Espagnole
genannt. a. heißt bei Pescheck die gemeine Art, bei Barr&öme
die division & la Francoise, bei „Euler-Bernoulli“ ä la
Frangoise brieve, bei J. F. Maler”) 1765 das Teutsche Divi-
dieren. Über die Divisionen aufwärts sagt Johann Georg
Prändel?): „Ihr Aussehen ist sehr geschmeidig; aber sie haben die
Beschwerlichkeit, daß sich ein begangener Fehler nicht so leicht ent-
decken läßt, wie beym Abwärtsdividieren, folglich meistens die Opera-
tion von Neuem angefangen werden muß“. „Ich bin überzeugt,“ sagt
Heinatz*) 1799, „daß die meisten Menschen darum nicht ordentlich
rechnen, weil ihnen die Turmmethode des Dividierens zu viel Schwie-
rigkeiten macht.“
In b. wird der Divisor links und nur einmal geschrieben, wäh-
rend in c. die Reste unten gesetzt werden. Letztere wird von
Pescheck die welsche Art und von „Euler-Bernoulli“ division
& la Francoise longue genannt. Schon über 200 Jahre früher er-
wähnt Rudolff diese französische Manier des Rechnens?).
In B. wird der Divisor nur einmal geschrieben. Divisor und
) Cours de Math6matiques, & l’usage du corps de l’Artillerie. Par M. Be&-
zout... Tome Premier, ... ä& Paris 1797, v. st. An V, p. 44. ®2) Kurzer und
deutlicher Unterricht zum Rechnen... Jacob Friderich Maler... zweite
und verbesserte Auflage, Carlsruhe 1765, 8. 62. °) Op. eit. S. 50. *) Jänicke
und Schurig, op. eit. $. 58. ö) Sterner, op. eit. S. 279.
5*
68 Abschnitt XX.
Quotient werden links gesetzt, und die Reste unter den Dividend.
Bei „Euler-Bernoulli“ heißt diese Art division ä l’italienne
longue. „Diese Art des Dividirens ist die kürzeste unter allen, und
ob sie gleich auch nicht leicht ist, so muß man doch um des daraus
zu hoffenden Nutzens. willen die auf ihre Erlernung zu wendende
Mühe nicht achten.“').
C. ist der vorigen Form sehr ähnlich. Der Divisor und Quotient
stehen rechts, und Ziffern werden nicht durchgestrichen. „Euler-
Bernoulli“, sowie Barr&me, nennen diese Art division ä l’ita-
lienne brieve.
In D. werden die vollständigen Produkte unter den Dividend und
die Reste über denselben gesetzt. Das sofortige Abziehen findet hier
nicht statt. „Euler-Bernoulli“ und Barr&öme geben dieser Form
den Namen division ä la Portugaise.
Eine ganz ähnliche Manier ist E., wo der Divisor links steht und.
Ziffern nicht durchgestrichen werden.
F. ist eine mit der heutigen beinahe identische Form, worin der
Divisor für jede Multiplikation wiederholt wird. Dieser Divisor wird
öfters in Klammern gesetzt oder weiter nach links geschrieben, um
bei der Subtraktion weniger im Wege zu sein. Diese Art wurde in
Deutschland viel gebraucht. Barr&me nennt sie division & l’ita-
lienne longue und Pescheck die französische Art?).
In @. wird durch Hilfe der Addition das zweifache, dreifache
usw. des Divisors gefunden, so daß man die Rechnung ohne Ein-
maleins, „ja sogar ohne Neppersche Stäbe“®) durchführen und
den Quotienten ohne Raten finden kann*). „Das Dividiren ohne Ein
mal Eins nennt man das Indianische‘“®). |
H. ist eine alte Form, die Ende des 18. Jahrhunderts in den
besten Werken alle anderen Arten verdrängt hatte Um Verwirrung
zu vermeiden, wird nach jeder Subtraktion die nächste Ziffer im
Dividend mit dieser zum gebliebenen Reste heruntergezogenen Ziffer
öfters mit einer geraden Linie verbunden; oder die Anzahl Ziffern,
die noch nicht heruntergezogen sind, wird nach jedem neuen Teil-
dividend durch Punkte angedeutet®).
ı) Heynatz, op. cit. 8. 114. 2) Sterner, op. cit. S. 330. ®) Hey-
natz, op. eit. 8. 116. *) Es ist bemerkenswert, daß diese Divisionsart schon von
Adrianus Romanus (1561—1615) in einer Schrift Nova Multiplicandi, Dividendi,
Quadrata componendi, Radices extrahendi ratio, multd quam pervulgata certior,
facilior, & majoribus maxim® numeris accommodatio, erklärt wurde. [Vide
H. Bosmans, 8. J., „La Methode D’Adrien Romain pour effectuer les caleuls
des grands nombres“ in Annales de la Soeiete Seientifique de Bruxelles,
T. XXVII, 2° partie.] ®) J. F. Maler, op. eit. S8. 62. 6) J. F. Maler, op.
eit. S. 63, nennt diese Methode die Portugiesische.
Arithmetik. 69
Um genauere Angaben über den Gebrauch der verschiedenen
Divisionsarten zu machen, bemerken wir, daß von den Werken, die
während der Jahre 1759—1799 gedruckt wurden und dem Übersich-
dividieren Aufmerksamkeit schenken, die meisten Ausgaben früher
erschienener Werke sind. Von 103 mathematischen Büchern, die
uns zur Einsicht vorlagen, sind Bartjens und Pescheck die einzigen,
die das Übersichdividieren ausschließlich benutzen. Die ersten Auf-
lagen beider Werke erschienen lange vor der Zeit, die wir jetzt be-
trachten. Nur 16 Bücher erklären das Oberwärts- sowohl als das
Unterwärtsdividieren. Die übrigen — ungefähr fünfsechstel der
ganzen Anzahl — erklären das Unterwärtsdividieren, nämlich eine
oder mehrere der Formen C, F, G, H; gewöhnlich ziehen sie eine der
Arten F, G, H der Form C vor.
Bei Dezimalbrüchen werden von etwa einviertel der Schriftsteller
dieser Zeit die abgekürzten Multiplikations- und Divisionsmethoden
erklärt. Die abgekürzte Multiplikation wird theoretischer- und prak-
tischerseits in einer Abhandlung von Isidoro Bernareggi (1735
bis 1808), Priester und Professor der Mathematik an der königlichen
Schule zu Lodi, behandelt!). Bernareggi untersucht die Anzahl der
Dezimalstellen in den Faktoren, welche notwendig sind, damit der
Fehler im Produkte eine vorgelegte Grenze nicht übersteige. In
der Ausführung der Multiplikation schreibt er die Ziffern des Multi-
plikators in entgegengesetzter Reihenfolge In seiner Aritmetica
rıformata, Milano 1797, werden diese Ideen für Schulzwecke dar-
gestellt.
Ein anonymes Werkchen über den gleichen Gegenstand, Essai
sur les nombres approximatifs, Paris, an VII— 1799, wird
Jean Antoine Frangois Massabiau (1765—1837) zugeschrieben?)
welcher ein eifriger Anhänger der Prinzipien von 1789 war und 1795
die Normalschule in Paris besuchte. In diesem Aufsatze stellt er
sich die Aufgabe, allgemeine Formeln für die durch Kombination an-
nähernder Zahlen entspringenden Fehler herzuleiten. Soll z. B. eine
solche Zahl N durch eine andere N’ dividiert werden, wo @ und ©
beziehungsweise die genauen Werte darstellen, so daß = N -+e und
Q@=N’+te, dann wird der Fehler (+ Ne+ Ne): N (N +e)).
Von den vier Werten, welche dieser Ausdruck annehmen kann, ist
(N’e+ Ne): N’(N’ — e‘) der größte. Wenn e=ed= x (10-”), und
+ die Entfernung vom Dezimalpunkte der höchsten Ziffer im Quotienten
1) Memorie di matematica e fisica della societä Italiana, Tomo VI, Verona
- 1792, p. 1—70. 2) Biogr. Universelle (Michaud).
70 Abschnitt XX.
N: N’ darstellt, während % dieselbe für 10”N’ repräsentiert, dann
hat man, für N>N, z=x+n+1-—y uwd, für N<N,
z=n+1-—y, wo der Fehler im Quotient kleiner als 10°:2(10”)
sein soll. Man soll z. B. die Anzahl Dezimalstellen finden, um, in
der Division von @ = 63.04545.... mit @’= .6666..., den Fehler
<- (10?) zu machen. Hier st =2, y=n, z2=n-—2, folglich
n—=5, die erforderliche Anzahl Dezimalstellen im Dividend und
Divisor.
Die Zeichensprache der Arithmetik und Algebra hatte in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutende Vollständigkeit und
Uniformität erlangt. Die Zeichen + und — findet man beinahe über-
all. In mehreren holländischen Werken und einem deutschen Werke!)
sind wir statt — dem alten Rudolffschen Zeichen — begegnet. In
- der Maandelykse mathematische Liefhebbery, 1754—69, wird
-- regelmäßig als Subtraktionszeichen geschrieben. Wie unten an-
gedeutet, galt -—- in England als Divisionszeichen und auf dem Fest-
lande als Symbol einer arithmetischen Progression. In dieser Lief-
hebbery findet man auch die eigentümliche Bezeichnung von
- 4225 —— ar zer -
V 5; als V4225 = 65, und PETER V als
+1) =-#+227+1.
Außer in der Proportionenlehre hatte = in allen Gebieten der
Rechenkunst als Zeichen der Gleichheit sich eingebürgert. Wäh-
rend der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verschwanden die letzten
Spuren?) des Descartesschen ». Auch in der Proportionen-
lehre war — in Deutschland üblich. Leibniz’ Sprache folgend
wurde dort beinahe immer für geometrische Proportion a:b=c:d
oder > 7 geschrieben, während in Frankreich, Spanien, Portugal,
Italien und England das Oughtredsche Zeichen :: allgemeinen Beifall
genoß und a:b::c:d die gewöhnliche Bezeichnungsart war. Über-
haupt herrschte damals bedeutende Verschiedenheit in der Zeichen-
sprache für arithmetische und geometrische Proportionen und Pro-
!) Arithmetisches Handbuch für Lehrer in den Schulen ... von Carl
Christian Illing, Dresden-Friedrichstadt 1793, S. 11. 2) M. Gallimard
in seiner Methode Theorique et Pratique D’Arithmetique, D’Algöbre et de G6o-
metrie..., Paris 1753, p. 26, sagt: —= signifie est egale ä, x signifie tout
ö > a : A R . 90
simplement, egal ä&, ou qui est-egalä. Er schreibt 8. 42: „Done x x te
Odoardo Gherli, op. eit., 1770, Tomo I, p. 6, erinnert den Leser daran, daß
„I Cartesio in vece di = usa il segno x“.
Arithmetik. 71
gressionen. Für die Regeldetri hatte man in früheren Jahrhun-
derten verschiedene Bezeichnungen. Als im 18. Jahrhundert diese
Regel mehr und mehr als eine Anwendung der Proportion, der Gleich-
heit zweier oder mehrerer Verhältnisse, aufgefaßt wurde, fand die
frühere Zeichensprache dieser Regel öfters Eingang unter den Pro-
elle guld. elle
portionssymbolen. Bartjens!) 1771 schreibt 4 — 9 — 16. Für
das unbekannte vierte Glied gibt er gar kein Symbol. Pescheck
1759 und viele andere tun desgleichen. Thomas Dilworth?) klagt,
daß einige Meister lange Striche statt Punkte gebrauchen, um die
Glieder zu trennen, was nicht recht sei, weil in a:b::c:d die:
zeigen, daß die zwei ersten und die zwei letzten Glieder in gleicher
Proportion seien, während das :: die zwei Paare trenne und zugleich
zeige, daß das zweite Glied zum dritten sich nicht wie das erste zum
vierten verhalte. Die Proportion als die Gleichheit zweier Verhält-
nisse ist von Dilworth noch nicht klar erfaßt. Rivard?’) schreibt
1768 eine geometrische Proportion - — 7 oder a.b::c.d. M.1’Abbe
Maries Auflage von De la Caille*) schreibt @.b::c.d oder
a:b::c:d; während die lateinische Auflage des De la Caille?)
1762 und die italienische Auflage von Boscovich°) 1796 a:b::c:d,
a:b=c:d, oder alb|jc|d enthalten. Die lateinische Übersetzung -
gibt auch @.b::e.d, und die italienische 5 = T
Die arithmetische Proportion deuteten Rivard, De la Caille
und Bezout‘) durch a.b:c.d an. In deutschen Büchern findet
man öfters a.b=c.d oder a—-b=c—d. Mit Recht klagt
Scheibel®), daß wenn «.b=c.d geschrieben wird, man den Punkt
mit dem Multiplikationszeichen leicht verwechseln könne.
Die geometrischen und arithmetischen Progressionen wurden noch
immer in die Rechenbücher aufgenommen. Allgemein brauchte man
- als das Symbol der geometrischen Progression (-1.2.4.8.16)
und, mit der Ausnahme von England, öfters —- als das Symbol der
t) Bartjens-Jan van Dam, op. eit. S. 36. 2, Thomas Dilworth,
op. eit., unter The Explication of some Marks used in this Compendium.
5) Elöments de Math&ömatiques par M. Rivard, Professeur de Philosophie en
l’Universit6 de Paris. Sixieme Edition, Revue et augmentde de nouveau par
l’Auteur. A Paris 1768, p. 135. *, Legons de Mathömatiques par M. l’Abb&
de la Caille, avec des augmentations par M. l’Abb& Marie, Paris 1770,
p. 148. 5) De la Caille, Lectiones... a C.[arolo] S.[cherffer] e S. J.
Viennae, Pragae, et Tergesti 1762, p. 76. °) Elementi ... del Padre Ruggero
Giuseppe Boscovich. Editione terza italiana... in Venezia 1796, p. 115.
7) Be&zout, op. cit., Tome I, p. 128. °) Einleitung zur Mathematischen Bücher
Kentnis, Breslau 1781, Bd. I, S. 679.
12 Abschnitt XX.
arithmetischen Progression (-3.6.9.12.15). In Großbritannien
gilt das ganz ähnliche von J. H. Rahn 1659 zuerst gebrauchte Sym-
bol -- statt : als Divisionszeichen; weshalb von Schriftstellern, welche
überhaupt für die arithmetische Progression die Notwendigkeit eines
Zeichens fühlten, -- gebraucht wurde. Diese Bezeichnung findet man
auch mitunter in deutschen Büchern‘, W. Emerson?) bezeichnet
eine harmonische Proportion durch .,.. und eine harmonische Pro-
gression durch ——.
Algebra.
Im Studium der Algebra war viel größerer Verkehr zwischen
den verschiedenen Ländern Europas als im Studium der Arithmetik.
Wegen der Abwesenheit einer streng provinziellen Behandlungsweise
der Algebra wird es nicht nötig sein, die Geschichte dieser Wissen-
schaft in jedem Lande einzeln zu verfolgen.
Einige Werke über Algebra, die während der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts, und zwar 1740—1748, verfaßt wurden, waren noch
während der zweiten Hälfte sehr einflußreich, nicht nur im Lande
ihrer Entstehung, sondern in ganz Europa, wo immer die Wissen-
schaft betrieben wurde. Von englischen Werken heben wir das Elements
of Algebra von Nicholas Saunderson (1682—1739) hervor, welches
1740 zu Cambridge in zwei Bänden erschien. Dieser blinde Mathe-
matiker stand als Jüngling im Briefwechsel mit Sir Isaac Newton
und war der Nachfolger von Whiston als Lucasian Professor der
Mathematik an der Universität Cambridge. Weite Verbreitung in
England fand der Auszug aus dem Originalwerk: Select parts of
Professor Saunderson’s Elements of Algebra for the use of
students at the Universities. Die 3. Auflage davon wurde 1771
in London veröffentlicht, die 4. Auflage 1776, die 5, von John
Hellins (?—1827) verbessert, 1792. Das Originalwerk wurde 1756
in französischer Übersetzung von Elie de Joncourt zu Amsterdam
und Leipzig in zwei Bänden herausgegeben. Eine deutsche Über-
setzung rührt von Johann Philipp Grüson, Professor am adelichen
Cadettencorps in Berlin, her. (Erster Teil 1798, Halle; zweiter Teil
1805.)
") Z.B. in der Unterweisung in den philos. u. math. Wissenschaften für
die obern Classen d. Schulen u. Gymnasien von Johann Jacob Ebert, Prof.
d. Math. zu Wittenberg. Dritte vermehrte u. verbesserte Auflage, Leipzig 1787,
S. 187. 2) The Doctrine of Proportion, Arithmetical and Geometrical ...,
London 1763, p. 2.
Algebra. 73
Ein anderer englischer Schriftsteller, den wir erwähnen müssen,
ist Thomas Simpson (1710—1761), Professor an der königlichen
Militärakademie zu Woolwich. Seine Treatise on algebra wurde
1745 in London gedruckt; eine dritte Auflage 1767, eine fünfte 1782,
eine achte 1804. Die erste amerikanische Ausgabe erschien 1809 in
Philadelphia. Eine Übersetzung in französischer Sprache wurde 1771
in Paris veröffentlicht.
Ein drittes Werk wurde von dem schottischen Mathematiker
Colin Maeclaurin unter dem Titel Treatise of Algebra 1748 zu
London veröffentlicht, wovon die 4. Auflage 1779 erschien.
Die weite Verbreitung von De La CÜailles Lecons el&emen-
taires de mathematiques nicht nur in Frankreich, sondern auch
in Italien, ist von uns schon früher hervorgehoben worden (S. 47, 48).
Eine lateinische Übersetzung durch „CE. 8. e 8. J“ (= Carolo
Scherffer, $. J.) erschien 1762 zu Wien, Prag und Triest. Scherffer
verfaßte eine Anzahl eigener Lehrbücher, von welchen die Institu-
tiones analyticae, Wien 1770, hier Erwähnung verdienen.
Das bedeutendste Werk dieser Zeit war aber das nach der
heuristischen Methode verfaßte El&ments d’algebre des Alexis
Claude Clairaut, Paris 1746.
Dieses berühmte Werk wurde 1752 von Christlob Mylius
(1678—1754) zu Berlin ins Deutsche übersetzt und an der Univer-
sität Göttingen gebraucht, bis es von Kästners Kompendien ver-
drängt wurde!). Clairauts Algebra erschien in holländischer Sprache
1760 zu Amsterdam, von Arnoldus Bastiaan Strabbe übersetzt.
Eine 5. französische Ausgabe in zwei Bänden von S. F. Lacroix er-
schien 1797 in Paris. Diese enthält Anmerkungen und Nachträge
über Gleichungstheorie, Kettenbrüche und Logarithmen, den Vor-
lesungen von Lagrange und Laplace an der Normalschule ent-
nommen, und eine einleitende Elementarschrift über Arithmetik, die
in der Vorrede als größtenteils die Arbeit des jungen Jean Baptiste
Biot (1774—1862) bezeichnet wird. Lacroix schrieb an Pietro
Paoli von Pisa, diese Ausgabe sei doppelt so umfangreich als die
früheren und enthalte Theorien, die vorher nie in Elementarwerken
erklärt worden seien?). Die 6. Auflage (1801 zu Paris) ist vom
Citoyen Jean Guillaume Garnier (1766—1840), Professor an der
») C. H. Müller, „Studien z. Gesch. d. Math.... an der Univ Göttingen“,
Abh. z. Gesch. d. math. Wiss., 18. Heft, Leipzig 1904, $. 113. Eine zweite Auf-
lage, Berlin 1778, enthielt Zusätze von G. F. Tempelhof. 2) Memorie della
regia accademia di secienze, Modena, Serie III, Tom. I, 1898, Sezione di Scienze,
p. 109.
74 Abschnitt XX.
handlung von Charles Marie Simon Theveneau (1759—1821)
Clairauts Algebra wurde von Mathematikern hoch geschätzt.
Lambert schien in seinen ersten Schriften Forschungsergebnisse, die
nicht im Clairaut zu finden waren, als neu und deshalb der Ver-
öffentlichung würdig anzusehen.
Im Jahre 1758 erschien in Halle der zweite Teil des Cursus
mathematici von Johann Andreas Segner (1704—1777), damals
Professor an der Universität Halle. Dieser Teil führte den Titel
Elementa analyseos finitorum und behandelte die Algebra. Ob-
schon Segner einer der besten Mathematiker und Physiker ın
Deutschland war, fand sein Kursus nicht viele Leser. Segner schrieb
in Latein und stellte auch an die Fähigkeiten seiner Schüler hohe
Ansprüche. Von 1735—1754 war er Professor der Naturlehre und
Mathematik in Göttingen. Sein Nachfolger an dieser Universität war
Abraham Gotthelf Kästner, welcher 1760 in Göttingen unter dem
Titel Anfangsgründe der Analysis endlicher Größen ein Werk
verfaßte, welches den Bedürfnissen des Universitätsunterrichts ın
Deutschland entsprach und zugleich die Lehren der großen Mathe-
matiker seiner Zeit so erfolgreich popularisierte, daß es lange Zeit
das beliebteste Kompendium war. Eine zweite Ausgabe erschien 17067;
eine sechste vor dem Schlusse des Jahrhunderts.
Als zweite, während der Periode 1759—1799 verfaßte Schrift
nennen wir den algebraischen Teil des schon früher (S. 40) angeführten
Cours de mathematiques & l’usage des gardes du pavillon
et de la marine, 1764—1769, von Bezout, worin eine elementare
Darstellung der von Bezout 1764 veröffentlichten berühmten Ab-
handlung über die Auflösung von Gleichungen (8. 98) gegeben ist.
In seinem Cours de mathömatiques ä& l’usage du corps de
l’artillerie, 1770—1772, wird diese Darstellung weggelassen, wahr-
scheinlich weil die Sache für Anfänger zu schwer war. Sonst ist
die Algebra von 1770—1772 mit der früheren beinahe identisch.
Der zweite Teil eines achtbändigen Werkes, betitelt Lehrbegrif
der gesamten Mathematik von Wenceslaus Johann Gustav
Karsten (1732— 1787), erschien 1768 zu Greifswald. Karsten
lehrte seit 1760 an der neuen Universität Bützow. Durch sein Werk
erhielten die auf Mittel- und Hochschulen eingeführten Kompendien
von Wolf, Segner, Kästner eine gefährliche Konkurrenz').
Ohne Zweifel das einflußreichste Buch über Algebra im 18. Jahr-
hundert ist die Vollständige Anleitung zur Algebra von Leon-
hard Euler (erste deutsche Ausgabe 1770 in St. Petersburg). Die
t) Allg. Deutsche Biographie (Art. v. Günther).
Algebra. 75
Entstehungsweise des Werkes ist interessant. Euler schrieb in der
Gazette litt. de Berlin, 1768, fol. 245, ich „nehme mir die Frei-
heit, Ihnen von meinen Arbeiten Nachricht zu ertheilen, mit welchen
ich mich seit dem Verlust meines Gesichtes beschäftigt habe, der von
Herrn Krafft und meinem älteren Sohne dadurch ersetzt worden,
daß sie meine Ideen ausgearbeitet uhd öfters durch ihre eigne An-
sichten weiter ausgeführt haben“'). Bestimmtere Auskunft findet
man im Vorbericht zur Ausgabe von 1770: Um das Lehrbuch zu
verfertigen, „erwählte er sich einen jungen Menschen, den er mit sich
aus Berlin zur Aufwartung genommen hatte, und der ziemlich fertig
rechnen, sonsten aber nicht den geringsten Begriff von der Mathe-
matik hatte: er war seines Handwercks ein Schneider, und gehörte
was seine Fähigkeit anlangt, unter die mittelmäßigen Köpfe. Dem
ohngeachtet hat er nicht nur alles wohl begriffen, was ihm sein großer
Lehrer vorsagte, und zu schreiben befahl, sondern er wurde dadurch
in kurzer Zeit in den Stand gesetzt die in der Folge vorkommende
schwere Buchstaben-Rechnungen ganz allein auszuführen.“
Im Vorbericht der Ausgabe von 1770 wird auch mitgeteilt, daß
„schon vor zwey Jahren eine russische Uebersetzung zum Vorschein
gekommen ist“. In etwas kleinerem Druck als die erste deutsche
Ausgabe erschien 1771 eine zweite, welche als Verlagsort in vielen
Exemplaren Lund, in anderen St. Petersburg angab. Eine Übersetzung
ins Französische wurde von Johann Bernoulli III, Direktor an
der Sternwarte zu Berlin, angefertigt und von Joseph Louis La-
grange mit Zusätzen über die unbestimmte Analysis versehen. Diese
berühmte Ausgabe erschien 1774 zu Lyon. Andere französische Aus-
gaben erschienen zu Lyon 1795 (an III), St. Petersburg und Paris
1798, Paris 1801?).
Valentin?) nennt zwei holländische Ausgaben, Amsterdam 1773,
Dordrecht 1807.
Eine lateinische Ausgabe, mit den Zusätzen von Lagrange,
wurde 1790 in Venedig gedruckt. In den Jahren 1796—1797 ver-
öffentlichte Johann Philipp Grüson zu Berlin die erste deutsche Aus-
gabe nach der von 1771, obgleich 1789 ein Auszug von Eulers Algebra
von Johann Jacob Ebert, Professor der Mathematik zu Witten-
berg, in Frankfurt am Main geliefert worden. Eine andere deutsche
Ausgabe erschien in St. Petersburg im Jahre 1802. Es ist auffallend,
1) Scheibel, Einl. zu Math. Bücherkentnis, Breslau 1781, Bd. I, $. 102.
®) G. Valentin in Bibliotheca Mathematica, N. F. 12, 1898, S. 42. °) Ebenda,
S.42. Hier werden auch einige andere, von uns nicht angeführte Ausgaben an-
gegeben.
76 Abschnitt XX.
daß vor 1797 keine englische Übersetzung angefertigt wurde. In diesem
Jahre gab John Hewlett unter der Mitwirkung seines Schülers
Francis Horner zu London eine solche aus dem Französischen,
wovon die zweite Auflage 1810, die dritte 1822 und die fünfte 1840
erschien. In der zweiten schreibt der Herausgeber überall x? statt
des früher gebräuchlichen &. x, und #° statt x.x.x. Im Jahre 1818
gab John Farrar, Professor der Mathematik an der Harvard Uni-
versität zu Cambridge in Massachusetts, einen Auszug heraus, welcher
den Titel führt An Introduction to the Elements of Algebra,
. Selected from the Algebra of Euler.
In Italien schrieb Padre Odoardo Gherli 1771 zu Modena den
zweiten Teil des schon auf 8. 47 angeführten siebenbändigen Kom-
pendiums, Gli elementi teorico-pratici delle matematiche
pure, worin die Algebra mit großer Vollkommenheit erklärt
wird. In der Vorrede zum letzten Bande wird ein Gratulations-
schreiben von Lagrange an Gherli angeführt, worin Lagrange
den Autor auch auf seine eigenen Abhandlungen über die Auflösung
von Gleichungen in den Berliner Memorien der Jahre 1770 und 1771
(veröffentlicht 1772 und 1773) aufmerksam macht. Es folgt dann
ein Auszug dieser Abhandlungen. Gherlis Bücher fanden in Italien
nur geringen Absatz, was vielleicht ihrem unpassenden Quartoformat
zuzuschreiben ist. |
Pietro Paoli, Professor an der Universität Pisa, gab 1794
ein Werk mit dem Titel Elementi d’algebra in drei Bänden
heraus, deren erster der Algebra von endlichen Größen gewidmet ist.
Obschon die Elementarteile eher kurz gefaßt sind, wurde das Werk
von Mathematikern hoch geschätzt.
Im Jahre 1799 (an VII) erschien in Paris die erste Auflage der
El&mens d’algebre von Sylvestre Francois Lacroix, ein
Werk, welches nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa und
in den Vereinigten Staaten großen Einfluß auf den Unterricht aus-
übte. Im gleichen Jahre veröffentlichte James Wood in Cambridge
seine Elements of Algebra, die auf den englischen MHRERBROIURLON
lange Zeit als „standard work“ galten!).
Nachdem wir nun die bedeutenderen Lehrbücher über Algebra,
welche während der Zeit gedruckt wurden, aufgezählt haben, werden
wir die damalige Darstellung von Grundprinzipien dieser Wissenschaft
unserem Studium unterziehen. Wie wurde der Zahlbegriff aufgefaßt?
Inwieweit wurde die Algebra logisch entwickelt? Wir machen die
einleitende Bemerkung, daß die Mathematik noch allgemein als die
) W.W.R.Ball’s Mathematics at Cambridge, 1889, p. 110.
Algebra. 77
Wissenschaft von der Größe definiert wurde. Man findet diese De-
finition z. B. in den Werken von Christian Wolfft), Kästner’),
La Oaille?), Sauri (1741—1785)*), Bezout?), D’Alembert®), Abel
Bürja’), Georg Vega (1756—1802)°), Johann Georg Büsch’),
Johann Friedrich Lorenz’), Georg Metzburg!!), Johann
Heinrich Voigt"), Pietro Paoli"), In keinem Lehrbuch sind
wir einer wesentlich verschiedenen Definition begegnet. Sie ist alt,
kann aber kaum griechischen Ursprungs sein, denn die Griechen
hatten eine Geometrie, worin Probleme vorkamen, wie dasjenige, zu
entscheiden, ob vier Punkte auf einer Ebene liegen. Solche Probleme
hatten mit Größenbestimmungen nichts zu tun. Im 17. und 18.
Jahrhundert fand der Ausdruck, Mathematik „die Wissenschaft von
der Größe“, wenig Anstoß. Immanuel Kant war mit demselben
nicht einverstanden. Einige Ideen von Lagrange, die in seinen
Untersuchungen über Gleichungen enthalten sind und die Keime der
Substitutionstheorie sind, passen in diese Auffassung der Mathematik
nicht hinein. Dennoch war sie bei Mathematikern beinahe universal.
Wenn aber Mathematik die Wissenschaft von der Größe ist,
dann muß der einfachste mathematische Akt — das Zählen — not-
wendig als eine Messung und die Zahl als ein Verhältnis angesehen
werden. Dieser Schluß wurde aber unseres Wissens in Wirklichkeit
nicht gezogen, obschon viele Autoren dem Beispiel von Newton
folgten und die Zahl als ein Verhältnis betrachteten. An den Begriff
der meßbaren Größen anknüpfend, drückt sich Christian Wolff so
aus: „Zahl ist dasjenige, was sich zur Einheit verhält wie eine gerade
Linie zu einer gewissen anderen Geraden“ #4). “Bei Ausmessungen
kommt es darauf an, sagt Leonhard Euler®), „daß man bestimme, in
was für einem Verhältniß die vorgegebene Größe gegen dieses | Einheits-]
Maaß stehe, welches jederzeit durch Zahlen angezeigt wird, so daß
') Mathemat. Lexicon, Leipzig 1716, Artikel „Mathematik“. ?) Anfangsgründe
d. Arithmetik, Geometrie usw., Göttingen 1758, S. 3. Dieses Werk wurde später
mit neuen Teilen unter dem Titel Anfangsgründe der Mathematik zusammen-
begriffen. ®) Lecons &lömentaires de math@matiques, Paris 1770, p. 1. *) Cours
complet de math@matiques par M. ’Abbe Sauri, ancien professeur de philosophie
en P'universit€ de Montpellier, T. I, Paris 1774, p. 1. 5), Cours de math&ma-
tiques A l’usage du corps de l’artillerie, Paris 1797, p. 1. 6) Enceyelopedie
methodique, „Math&matique“. ”) Der selbstlernende Algebrist, I. Teil, Berlin
und Libau 1786 (Vorrede). ®) Vorles. ü. d. Mathematik, I. Bd., 3. Aufl., Wien
1802, S. 2. °») J. G. Büsch, op. eit. 8. 1. 10%) J. F. Lorenz, op. eit., Bd. I,
1798, S. II. *") Anleitung zur Mathematik, I. Teil, Wien 1798, S.1. !?) Grund-
lehren d. reinen Math., Jena 1791, 8. 1. 18) Paoli, op. eit. T.L S. 1.
14, Elementa matheseos universae (Elementa arithmeticae) Halae 1710, art. 10.
‘*) Anleitung zur Algebra, I. Teil, St. Petersburg 1770, 8. 5.
18 Abschnitt XX.
eine Zahl nichts anders ist als das Verhältniß, worinnen eine Größe
gegen eine andere, welche für die Einheit angenommen wird, steht.
Hieraus ist klar, daß sich alle Größen durch Zahlen ausdrücken
lassen, und also der Grund aller mathematischen Wissenschaften darin
gesetzt werden muß, daß man die Lehre von den Zahlen... genau in
Erwegung ziehe, und vollständig abhandele.“ Hier ist der Gedanken-
gang dem von uns oben angedeuteten entgegengesetzt. Die quanti-
tative Idee wird der Zahl zugeschrieben und daraus der Schluß ge-
zogen, daß Mathematik die Wissenschaft von der Größe sei. Dann
und wann findet man auch in anderen Lehrbüchern dieser Zeit die
Zahl ausdrücklich als ein Verhältnis erklärt. „Das 1 selber ist eine
Zahl: denn 1 hält eine Verhältnuss zu eins“, sagt einer!). „Das Ver-
hältnis irgend einer Größe zu einer gleicher Art, die als Einheit er-
wählt ist, wird eine Zahl genannt, und man nennt Arithmetik die
Wissenschaft von solchen Verhältnissen“?). Gewöhnlich wird aber
der Begriff des Verhältnisses oder des Messens nicht so scharf her-
vorgehoben, so daß man im Zweifel ist, ob das Zählen als ein wirk-
liches Messen aufgefaßt wurde. „Eine Menge von Dingen einer Art
heißt eine ganze Zahl“, sagt Kästner?). Diese Definition der Zahl
ist der Euklidischen, „eine aus Einheiten bestehende Menge“, ganz
ähnlich und hat keine notwendige Verknüpfung mit Verhältnissen.
Bei Euklid waren Verhältnisse keine Zahlen. Bei Bezout*) scheint
der Meßbegriff vorzuherrschen, denn er sagt: „le nombre exprime de
combien d’unites, ou de parties d’unites, une quantite est composee“
und „lunite est une quantit6 que l’on prend .. pour servir de terme
de comparaison & toutes les quantites d’une m&me espece“. Andere
Schriftsteller führen unbedeutende Wortänderungen ein. „Mehrere
gleichnamige Einheiten machen eine Zahl aus“’). „Mehrere solche
zusammengestellte Einheiten geben eine ganze Zahl“®). Ob bei diesen
und ähnlichen Ausdrücken, die in Lehrbüchern allgemein vorkommen,
die Zahl ausschließlich als ein Verhältnis anzunehmen ist oder nicht,
hängt davon ab, ob die Schriftsteller stillschweigend den Gedanken-
gang von Newton und Wolf oder von Euklid befolgten.
J. F. Heynatz’) macht die Bemerkung: „Einige leugnen, daß
Eins oder die Einheit eine Zahl sey, und lassen nur das, was durch
die Wiederholung der Einheit herauskömmt .. für eine Zahl gelten“.
1) Jacob Friederich Maler, Unterricht zum Rechnen, Carlsruhe 1765,
8. 23. 2) E. Develey, Arithmetique D’Emile, 2. Ed., Paris 1802, p. 2.
») Kästner, op. cit.8. 21. *) B&zout, op. cit. T.I,p. 2. °) Matthias Haußer,
Analytische Abhandlung der Anfangsgründe d. Mathematik, I. Teil, Wien 1778,
8.1. 6) Johann Georg Prändels Arithmetik, München 1795, S. 3
”, Heynatz, op. eit. 8.3.
Algebra. 79
Condillac') hebt hervor, daß wenn eine Zahl als eine Menge von
Einheiten angenommen wird, 1 keine Zahl sei. Gherli?) sagt aus-
drücklich: „Vunitä non & numero“.
Kästner nennt einen Bruch eine ganze Zahl, deren Einheit ein
Teil der ursprünglichen Einheit ist und so viele Einheiten hat, als
der Zähler anzeigt. Irrationalzahlen oder surdische Zahlen lassen sich
nach Kästner „weder durch ganze Einheiten noch durch Theile der
Einheit vollkommen richtig ausdrücken“).
Einen ganz neuen Zahlbegriff, welchem die Mathematiker des
18. Jahrhunderts gar keine Aufmerksamkeit schenkten, gab Immanuel
Kant 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft®), worin er sich
so ausspricht: „Das reine Schema der Größe aber (quantitatis), als eines
Begriffes des Verstandes ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die
die suecessive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammen
befaßt; also ist die Zahl nichts anderes als die Einheit der Synthesis
des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch
daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge“,
Erst im 19. Jahrhundert wurde dieser auf die Vorstellung der Zeit
gegründete Zahlbegriff von einigen Mathematikern (z.B. W.R. Hamil-
ton) freundlich aufgenommen.
Die Erweiterung des Zahlbegriffs durch die Einführung negativer
Zahlen war die Folge des Bedürfnisses, die Subtraktion allgemein aus-
führen zu können. Eine solche Allgemeinheit wurde in der Ent-
wicklung der Algebra schon früh als eine große Bequemlichkeit er-
kannt. Zur Einführung negativer Zahlen durch die Not gedrungen,
war es den Mathematikern nie gelungen, die Theorie derselben von
störenden Paradoxien zu befreien. In der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts wurden die allgemeinen Erklärungen negativer Zahlen und
ihrer Operationsregeln allmählich als unzureichend erkannt, ohne daß
aber im 18. Jahrhundert eine strenge Entwieklung der logischen Vor-
aussetzungen erreicht wurde. Gegen Ende des Jahrhunderts begegnet
man Forschern da und dort, die den Zahlbegriff auf positive Zahlen
beschränken möchten, um dadurch die „Pfuschereien“ in der Mathe-
matik zu vermeiden. Der Einwand gegen imaginäre Zahlen war noch
stärker als gegen die negativen, obschon alle Mathematiker ersten
Ranges von beiden ohne Bedenken beständigen Gebrauch machten.
Ein Schriftsteller, welcher während der letzten vierzig Jahre des
Jahrhunderts in England eine Reaktion gegen den Gebrauch von
') La langue des calculs, p.42. ?) Gherli, op. eit. T.I,p.2. °) Kästner,
op. eit. 8. 102. *, Kants sämtl. Werke, herausgeg. von Hartenstein, III,
S. 144.
80 . Abschnitt XX.
negativen und imaginären Größen in der Algebra hervorzurufen
suchte und bei einigen gewissenhaften Mathematikern nicht ersten
Ranges auch Anerkennung fand, war Francis Maseres (1731 bis
1824). Schon früher hatte Robert Simson, welcher 1711 zum Pro-
fessor der Mathematik an der Universität von Glasgow ernannt wurde
und während beinahe fünfzig Jahren diese Stelle bekleidete, negative
Zahlen in der Algebra verworfen‘), Maseres schrieb 1758 zu
London eine in der Gleichungstheorie weiter zu besprechende Dis-
sertation on the use of the negative sign etc. Er war damals
„fellow of Clare-Hall“ in Cambridge. In dieser und in späteren
Schriften sucht er negative, sowie imaginäre Größen aus der Algebra
zu verbannen, durch welche die sonst klare und elegante Wissenschaft
bewölkt worden sei. Eine negative Größe definiert er als eine Zahl,
die von einer größeren abgezogen werden soll. Der Ausdruck a — b
habe keinen Sinn, wenn b>a ist; (-5)(—5)=-+ 25 bedeute nur,
daß 5>=<5=25, ohne Rücksicht auf Zeichen, oder es sei lauter
Unsinn. So lange er nur im Bereich der positiven Zahlen zu rechnen
unternahm, mußten natürlich alle wirklich negativen Zahlen sinnes-
widrig erscheinen.
Die Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie und
ebenen und sphärischen Trigonometrie von A. G. Kästner,
welche im gleichen Jahre (1758) zu Göttingen erschienen, enthalten
eine wirkliche Erweiterung des Zahlbegriffs, obschon die Exposition
noch immer mangelhaft ist. „Entgegengesetzte Größen heißen Größen
von einer Art, die unter solchen Bedingungen betrachtet werden,
daß die eine die andere vermindert“ (I. Cap., Art. 90). „Man kann die ver-
neinende Größe als etwas, das von der bejahenden abgezogen werden
muß, ansehen, und also mit dem Zeichen — bezeichnen, wenn die
bejahende + hat“ (Art. 92). „Die verneinende Größe kann die be-
jahende übertreffen“ (Art. 95). „Dieses Negative, das übrig bleibt,
ist eine wirkliche Größe, nur der, die als positiv betrachtet wird,
entgegengesetzt“ (Art. 94). Die Auffassung, daß eine verneinende
Größe „abgezogen werden muß“, :hat bis in das 19. Jahrhundert ge-
dauert.
Von Kästner beeinflußt, verfaßte Immanuel Kant 1763 eine
Schrift, Versuch den Begriff der negativen Größen in die
Weltweisheit einzuführen?). „Einander entgegengesetzt ist, wo-
von Eines dasjenige aufhebt, was durch das Andere gesetzt ist.
) C. Wordsworth, Scholae Academicae: Some Account of the Studies at
English Universities in the 18. Century, 1877, p. 68. 2) I. Kant, Sämmtliche
Werke, herausg. v. G. Hartenstein, Bd. II, Leipzig 1867, 8. 71—79,
. Algebra. 81
Diese Entgegensetzung ist zwiefach; entweder logisch durch den
Widerspruch, oder real, d. i. ohne Widerspruch“ „Es sind die
negativen Größen nicht Negationen von Größen, wie die Ähnlichkeit
des Ausdrucks ihn hat vermuten lassen, sondern etwas an sich selbst
wahrhaftig Positives, nur was dem andern entgegengesetzt ist.“ Seine
Exposition der Zeichen + und — ist nicht so gewandt. „Da die
Subtraetion ein Aufheben ist, welches geschieht, wenn entgegenge-
setzte Größen zusammengenommen werden, so ist klar, daß das —
eigentlich nicht ein Zeichen der Subtraction sein könne, wie es ge-
meiniglich vorgestellt wird, sondern das + und — zusammen nur zu-
erst eine Abziehung bezeichnen. Daher —4—5=-—9 gar keine
Subtraetion war, sondern eine wirkliche Vermehrung und Zusammen-
thuung von Größen einerlei Art. Aber +9 —5=4 bedeutet eine
Abziehung, indem die Zeichen der Entgegensetzung andeuten, daß
die eine in der anderen, soviel ihr gleich ist, aufhebe.“
Um den Gedankengang in Lehrbüchern in größerer Kürze dar-
stellen zu können, werden wir die Erklärungen in Eulers Voll-
ständige Anleitung zur Algebra (1770) vorführen und sie kurz
mit denen anderer Autoren vergleichen. Das Werk ist in populärem
Stile geschrieben. Was logische Entwicklung von Grundprinzipien
anbelangt, kann es aber mehreren anderen Werken dieser Zeit nicht
vorgestellt werden. Der Ruhm dieses Lehrbuches scheint uns eher
dem zweiten Teile, über die unbestimmte Analysis, als dem ersten
Teile zuzuschreiben zu sein.
In Art. 8 sagt Euler: „Wann zu einer Zahl eine andere hinzu-
gesetzt oder addiert werden soll, so wird solches durch das Zeichen +
angedeutet, welches der Zahl vorgesetzt und plus ausgesprochen wird“.
Art. 11: „Wann hingegen von einer Zahl eine andere weggenommen
werden soll, oder subtrahirt wird, so wird solches durch das Zeichen —
minus angedeutet, welches soviel als weniger ist, und derselben
Zahl, welche weggenommen wird, vorgesetzt wird“. Nach dieser Ein-
führung von + und — als Operationszeichen liest man folgendes in
Artikel 16: „Hier kommt also die Hauptsache darauf an, was für ein
Zeichen eine jegliche Zahl vor sich stehen hat; daher pflegt man in
der Algebra die Zahlen mit ihren vorstehenden Zeichen als einzelne
Größen zu betrachten, und diejenigen, welche das Zeichen + vor sich
haben, bejahende oder positive Größen zu nennen, diejenigen aber, welche
das Zeichen — vor sich haben, werden verneinende oder negative
Größen genennet“. Sind nach dieser Erklärung die Zeichen + und
— noch immer überall als Operationszeichen zu betrachten? Hat
man in den gewöhnlichen Rechenbüchern nicht auch negative Zahlen
an Stellen, wo das Zeichen — benutzt wird? Kann eine negative Zahl
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV, 6
32 Abschnitt XX.
zu einer anderen addiert werden? Darüber gibt der Autor keine
genügende Auskunft.
Die Zeichen + und — in der Algebra immer nur als Operations-
zeichen ausdrücklich zu erklären, und sie hernach ohne zulängliche
Auseinandersetzungen auch zur Bezeichnung positiver und negativer
Zahlen zu gebrauchen, war ein allgemeines Verfahren in Lehrbüchern
damaliger Zeit. Man findet es in den Werken von Clairaut,
Maclaurin, Thomas Simpson, W. Emerson, William Trail!),
Bezout, Sauri, Blassiere, Büsch, Bürja, Prändel, Karsten,
Gherli, Paoli, Da Cunha und Bossut. Daß bei diesem Verfahren
die Erschaffung einer neuen Zahlengattung für die Verallgemeinerung
der Subtraktion nicht klar hervortritt, ersieht man aus der Bemer-
kung von Thomas Simpson, daß —a in einem Sinne so unmög-
lich sei wie VY-— b, da es nicht möglich sei, a von nichts abzuziehen,
und der Begriff oder Irrglaube einer Größe weniger als Nichts sinnes-
widrig sei. Trail behauptet, eine negative Größe an sich sei uner-
klärlich. In einer Pariser Promotionsschrift des Jahres 1774 heißt
es”): Keine absolute Größe kann — — a; weshalb die Zeichenregel in
der Multiplikation nur für Polynomien gilt. Daß die Möglichkeit
negativer Zahlen von vielen geleugnet wurde, ‘erhellt auch aus einer
Promotionsschrift gleichen Jahres an der Universität Kopenhagen,
worin negative Größen durch Beispiele erklärt werden?).
In einigen Lehrbüchern werden + und — zuerst zur Bezeich-
nung entgegengesetzter Zahlen angewandt und dann später still-
schweigend auch als Operationszeichen gebraucht. Dieses ist z. B. bei
Saunderson‘), Le Blond und Haußer der Fall. Die zweifache
Bedeutung von + und — wird aber in einigen wenigen Schriften
recht sorgfältig erklärt, z. B. in der Trait& &lömentaire de l’ana-
Iyse mathematique, Paris 1797, von Jacques Antoine Joseph
Cousin (1739—1800), Professor an dem College de France. Das
Werk wurde von ihm zur Zeit der Schreckensherrschaft im Gefäng-
nis geschrieben.
Bei der Multiplikation ist folgendes bei Euler (Artikel 32) von
Interesse: „Wir wollen erstlich —a mit 3 oder +3 multiplieiren;
') Elements of Algebra for the Use of Students in Universities, 3”4 Ed.
1789 (1° Ed. 1778). Im Dict. of the anonymous and pseudonymous literature
of Great Britain, by S. Halkett and J. Laing, Edinburgh 1882, p. 238, wird
dieses Werk dem Rev. William Trail, Professor der Mathematik am Marishal
College .zu Aberdeen, zugeschrieben. ’) Theses mathematicas demonstrabit
Theodorus Anna Bourree de Corberon, 1774 „Nulla quantitas absoluta est
—= — a; hine in solis polynomiis obtinet signorum regula“. ®) 8. A. Chri-
stensen, op. eit. S. 180. %) Saundersons Algebra, übersetzt von Grüson,
Halle 1798, I. Teil, S. 102, 123.
Algebra. 83
weil nun — «a als eine Schuld angesehen werden kann, so ist offen-
bar, daß wann diese Schuld 3mal genommen wird, dieselbe auch
3 mal größer werden müsse, folglich wird das gesuchte Product — 3a
seyn.“ Nicht so klar ist der nächste Ausspruch, daß „wann eine
positive Größe mit einer negativen multiplieirt werden soll, das Pro-
duct negativ werde“, da der Fall, wo +a mit —b multipliziert
werden soll, gar nicht besprochen wird. Euler fährt fort (Art. 33):
„Nun ist also noch dieser Fall zu bestimmen übrig: nämlich, wann —
mit — multiplieirt wird, oder —a mit —b. Hierbey ist zuerst
klar, daß, das Product in Ansehung der Buchstaben heißen werde,
ab: ob _ aber das Zeichen + oder — dafür zu setzen sey, ist noch
ungewißr so viel aber ist gewis, daß es entweder das eine, oder
andere seyn muß. Nun aber, sage ich, kann es nicht das Zeichen —
seyn? Dann —a mit +5 mult. giebt — ab, und also — a mit — b
mult. kann nicht eben das geben, was — a mit +b giebt, sondern
es muß das Gegentheil herauskommen, welches nehmlich heißt, + ab.
Hieraus entsteht die Regul, — mit — multiplieirt giebt + eben so
wohl als + mit +.“ Diese Aussprüche soll der Leser augenscheinlich
als einen Beweis der paradoxischen Zeichenregel akzeptieren, obschon
man dieselben kaum eine Demonstration nennen darf. Euler hätte
beinahe ebenso gut behaupten können, das Produkt sei — ab, weil
es eben nieht das geben kann, was +.a mit +5 gibt; ein Schluß,
den wir später (S. 85) bei Daniel Porro wirklich vorfinden.
Euler sucht gar nicht zu entscheiden, inwieweit die Operationsregeln
einfach auf Voraussetzungen beruhen und inwieweit sie wirklich be-
wiesen werden können.
Die Beweisführungen dieser Regel in anderen Lehrbüchern
weichen gewöhnlich von der Eulerschen bedeutend ab. „Um zu be-
weisen,“ sagt Saunderson!), „daß +4 multiplizirt mit —3, — 12
macht, multiplizire man + 4 nach einander mit + 3, O0 und — 3, und
die Produkte machen eine arithmetische Progression; die zwey ersten
sind 12 und 0, das dritte also — 12, und das Produkt von +4 mit
— 8 gleich — 12.“ Schreibt man hier überall —4 und +12, statt
+4 und — 12, hat man Saundersons Nachweis, dß — — =+.
Der Leser muß dabei mit dem Satze „bekannt gemacht worden seyn“,
daß wenn Zahlen in arithmetischer Progression durch einen Multipli-
kator, oder wenn eine Zahl durch jede Zahl einer arithmetischen
Progression multipliziert wird, die Produkte ebenfalls eine arithme-
tische Progression bilden. Dieser ohne Beweis angenommene Satz
birgt aber wichtige Voraussetzungen in sich.
) Saunderson, Aufl. Grüson, 1798, I, S. 113,
6*
34 Abschnitt XX.
Die Nachweise von Segner'), Karsten?) und Da Cunha?) ruhen
auf einem unbewiesenen Satz und setzen zu gleicher Zeit stillschwei-
gend voraus, daß 1-+bdb=+bund1-—b=—b ein Teil dessen,
was die Autoren beweisen wollen. Der Satz lautet: Wenn in einer
Proportion die zwei ersten Glieder gleiche (oder ungleiche) Zeichen
haben, müssen die zwei letzten auch gleiche (oder ungleiche) Zeichen
haben. Es it 1:a——b:a(—b), 1:—a=b:(—-a)b,
l:a=b:a.b, 1:—a=—b:(—a)(—b). Also müsse +4-— b und
—a:+b=—ab, aber ta-+b und —a:-—b=+tab sein.
Clairaut betrachtet in seiner Algebra (Art. 43, 44, 45, 60) das
Produkt (a—b)(e—d), wo (a— b) so viel mal zu nehmen, ist, als
in (c— d) Einheiten sind. Man hat (a—b)e=ac—bc. Um aber
das richtige Resultat zu erlangen, muß man (a—b)d oder ad — bd
abziehen, wodurch man das wahre Endresultat ac —be—ad+bd
erhält. „Es erhellet folglich zugleich, daß das Glied bd,... das
Zeichen + hat, da indessen die Buchstaben 5b und d,... das Zeichen
— haben.“ Damit ist aber Ölairaut nicht zufrieden. Man muß
noch. sehen, „ob, wenn zwo negative Größen, als —b und —d, keine
positive Größe vor sich haben, ihr Produkt noch bd sey“. Zu dem
Zweck setzt er a=c=( und erhält —b:-— d=-+bd. Thomas
Simpson geht nicht so weit; er betrachtet das Produkt von
(a — b)(ce— d), ohne am Ende a=c=0 zu setzen, und erkennt einen
Vorzug seines Verfahrens darin, daß Multiplikator und Multiplikand
beide zusammengesetzte Größen sind. Einfache Größen, wie —b
und — ce, unabhängig von anderen, seien unmögliche Größen, wegen
der Unmöglichkeit, Etwas von Nichts abzuziehen. Es sei deshalb
lächerlich durch wirkliche Demonstration zeigen zu wollen, was das
Produkt von —b und —c oder von Y—b und Y—c sein muß,
wenn man von den Werten der zu multiplizierenden Größen keine
Idee habe.
William Frend?) kritisiert das Clairautsche Verfahren a=c=0
zu setzen, weil Clairaut das Zeichen — als Subtraktionszeichen
definiert habe, und die Subtraktion, in der Abwesenheit eines Minuenden,
keinen Sinn habe, also —b und —d nicht selbständig existieren
können. Der Beweis, den wir von Simpson entnahmen, wird von
Bezout, Sauri, Lhuilier°) und vielen anderen Autoren angegeben.
Eine zweite weitverbreitete Beweismethode entnehmen wir aus
) Segner, op. cit. I, 8.43. 2?) Karsten, op. cit. I, 8. 77, 79, °) Da
Cunha, Principios mathematicos, Lisboa 1790, p. 101. *, Principles of Al-
gebra, London 1796, p. 514—518. °) Anl. zur Elementaralgebra, 1. Teil, Tübingen
1799. Lhuilier war seit’1795 Professor in Genf.
Algebra. 85
den Vorlesungen von Laplace!) 1795. „Cette regle“, sagt er, „pre-
sente quelques difficultes.“ Das Produkt von — a mit b— b ist +0,
dasjenige von —a mit +b ist —ab, weshalb —a-—b den Wert
+ ab annehmen muß. Diesen Nachweis gaben auch W. Emerson?),
Maclaurin (5. Auflage), Basedow und Paulus Mako.
In den zwei letzten Demonstrationen wird die Natur der still-
schweigend vorausgesetzten Gesetze leichter wahrgenommen. In beiden
sollte das distributive Gesetz als logischer Vordersatz angeführt sein.
In allen „Beweisen“ der Zeichenregel für die Multiplikation, welche
im 18. Jahrhundert gegeben wurden, werden Schlüsse gezogen, welche
auf kein Grundgesetz zurückgeführt werden und deshalb in Wirklich-
keit keine Deduktionen, sondern bloß Expositionen einer in der Praxis
nützlich gefundenen Verfahrungsweise sind.
Ein Werk, welches der Unklarheit in der Auseinandersetzung
der Grundprinzipien der Algebra seinen Ursprung verdankt, wurde
von Francois Daniel Porro (1729—1795) von Besancon anonym
unter dem Titel L’Algebre selon ses vrais principes, ä& Londres,
& Paris et & Besancon 1789, veröffentlicht. Früher erschien von ihm
Exposition du caleul des quantites negatives, Avignon (Be-
sangon) 1784. Der Autor klagt, in der gewöhnlichen Darstellung
.der Algebra hätten die Zeichen + und — je vier Bedeutungen. Das
Symbol — bedeute 1) Subtraktion, 2) negative Größe, 3) Division,
wie in a'°, 4) Multiplikation, wie in „; = 1x a?, parce que la
quantite a? precedee du signe —, devient facteur du num£rateur en
changeant son signe“. Auch sei die Multiplikationsregel, — - — gibt +,
zu verwerfen, denn diese Regel sei die Ursache des Streits über
negative Größen, Imaginäres, den irreduktiblen Fall und Logarithmen
negativer Größen. Dieses Übel könne man dadurch beseitigen, daß
man annehme +-+ gibt + und —-— gibt — Diese zwei Prin-
zipien gäben zwei Kalkülssorten, deren jede ihre eigenen Regeln
hätte. In diesen Schriften hervorzuheben ist wohl der Gedanke des
Autors, daß Grundoperationen in Algebra hauptsächlich Voraus-
setzungen sind, und daß verschiedene Annahmen verschiedene Arten
der Algebra liefern.
Die Theorie negativer Größen wird auch von einem Professor
der Mathematik an dem College national de Toulouse, Gratien
Olleac, in einer Schrift, Sur des the&ories nouvelles des
nombres opposes, des imaginaires et des &quations du
3 Journal de l’6&cole polytechnique. Septieme et huitiöme cahiers. T. II,
Paris 1812, p. 30. ?) Treatise of Algebra, London 1780.
86 Abschnitt XX.
troisieme degre, ä Toulouse, an IT (1794) behandelt. Man solle
die Wolfsche Idee der Heterogenität entgegengesetzter Zahlen, der
zufolge sie miteinander keine Verhältnisse haben können, als absurd
fallen lassen und die Descartessche Idee der Realität der negativen
sowohl als der positiven Zahlen annehmen.
An der Universität Cambridge sowie auch auf anderen Hoch-
schulen in England hatte Baron Maseres’ arithmetische Auffassung
der Algebra gegen Ende des Jahrhunderts viele Nachfolger, denn nur
durch die Fortschaffung negativer Zahlen glaubte man die Algebra zu
den auf strenge Beweise gegründeten Wissenschaften zählen zu
dürfen.
Uns ist nur eine Schrift bekannt, worin der Standpunkt von
Maseres kritisiert wird. In einer Schrift On the use of negative
quantities in the solution of problems by algebraie equa-
tions!) beklagt William Greenfield, Pfarrer der St. Andrewskirche
und Professor der Rhetorik an der Universität Edinburgh, daß
Maseres sein Geschick der Umstürzung, statt der Befestigung,
der Theorien des Negativen zugewandt habe. Er selber versucht eine
Erklärung, indem er das Zeichen — immer nur als Subträktions-
zeichen ansieht. Wenn ein Problem es erlaubt, eine Unbekannte x
in zwei entgegengesetzten Lagen anzunehmen, dann wird die @lei-
chung, welche die Bedingungen ausdrückt, die x in einer seiner
Lagen verlangt, und deren positive Wurzeln die Werte von & für
dieselbe Lage geben, zu gleicher Zeit auch, durch ihre negativen
Wurzeln, die Werte von x für die entgegengesetzte Lage liefern.
Ähnliches schließt Greenfield für den Fall, wo eine bekannte
Größe entgegengesetzte Lagen einnehmen kann. Die Rechtfertigung
negativer Größen beruht also bei Greenfield auf der Kenntnis, daß
wirklich zwei Probleme auf einmal gelöst werden, und man für beide
richtige Resultate erreicht.
Um den Einfluß von Maseres auf Lehrer der Mathematik zu
erkennen, braucht man nur die Lehrbücher von Nicolas Vilant?),
Professor der Mathematik an der Universität St. Andrews zu Edin-
burgh, von Thomas Manning?) in Cambridge, von W. Ludlamt),
„tellow of St. John’s College“ in Cambridge, zu durchblättern. Be-
sonders in der Exposition der Gleichungstheorie kommt Maseres’
Standpunkt stark zum Vorschein. Ludlam lehrt, daß entgegengesetzte
‘) Trans. of the Roy. Soc. of Edinburgh, Vol. 1, Edinburgh 1788, p. 131
bis 145. *) Elements of Mathematical Analysis, Edinburgh 1798. ®) Intro-
duction to Arithmetic and Algebra, Cambridge 1796. _*) Rudiments of Mathe-
matics designed for the use of students at the Universities, 5t* Ed., Lon-
don 1809.
Algebra. 87
Größen kein Verhältnis hätten. Die Proportion —1:1=1:—1 werde
als eine wunderbare Paradoxie angeführt, da — 1 (eine Zahl weniger
als O und deshalb weniger als 1) zu einer größeren sein sollte, wie
diese größere zur kleineren. In diesen Verhältnissen dürfe man aber
nur die absoluten Werte in Betracht ziehen').
Nach Maseres war der bekannteste Gegner des Negativen in
England zu dieser Zeit William Frend (1757—1841). Er promo-
vierte 1780 an Christ’s College in Cambridge als zweiter „wrangler“.
Nachdem er ein halb Dutzend Jahre lang als Tutor der Mathematik
an der Universität gewirkt hatte, wurde er durch die Paradoxien,
über „Zahlen weniger als Nichts“, über —a-—b=-+ab, über
imaginäre Zahlen, deren Produkt die Einheit ist, zur Verwerfung
aller negativen und imaginären Zahlen und zur Vorbereitung eines
Lehrbuches einer streng arithmetischen Buchstabenrechnung ge-
führt. So entstand sein Werk, Principles of Algebra, London
1796, mit einem Appendix über Gleichungen von Franeis
Maseres.
Die Argumente, welche diese Gegner der Algebra vorbrachten,
waren unanfechtbar. Der Ausdruck, negative Zahlen sind „weniger
als Nichts“ oder, nach Newton, „nihilo minores“, war nicht gehörig
definiert und deshalb paradoxisch. Negative Zahlen, definiert als
solche, die „abgezogen werden müssen“, waren gewiß sinneswidrig,
sobald der Subtrahend größer als der Minuend angenommen wurde.
Man versuchte in den Lehrbüchern das Unmögliche zu tun, nämlich
negative Zahlen aus positiven Zahlen abzuleiten, ohne die Operation
der Subtraktion ausdrücklich zu erweitern oder den Begriff „weniger
als Nichts“ zu beleuchten. Eine solche Erweiterung oder Beleuchtung
hätte die Verallgemeinerung des Zahlbegriffs erfordert. In keinem
Lehrbuche erschienen aber negative Zahlen in klarem Lichte, als
eine willkürliche Erweiterung des Zahlbereichs, oder als eine Annahme
(Voraussetzung), welche mit der Annahme positiver Zahlen auf
gleicher Stufe stand und in der Definition selbst die Existenz nega-
tiver Zahlen begründete.
Die besprochene Reaktion ist eine eigentümliche Erscheinung in
der Geschichte der Mathematik. Gewiß fehlte es dem Robert
Simson, Maseres und Frend an Einsicht, an einem ins Innere ein-
dringenden Erkennen. Sonst, statt negative und imaginäre Zahlen,
welche nie falsche Resultate lieferten und eine große Ökonomie im
mathematischen Arbeiten erzielten, zu verwerfen, wären sie tiefer ın
die Theorie derselben gedrungen, um ihre logischen Grundlagen zu
!) Rudiments of Mathematics, 8. 31.
88 . Abschnitt XX.
entdecken. Der erste, der an der Universität Cambridge dieses ver-
suchte und die Opposition gegen die Erweiterung des Zahlbereichs zu ent-
fernen strebte, war Robert Woodhouse, welcher 1801 in den
Philosophical Transactions eine Abhandlung über Algebra ver-
öffentlichte. Eine 1806 dort gedruckte Arbeit über imaginäre Größen
vom Abbe Bu&e soll dem Lesen von Frends Algebra seinen Ursprung
verdanken. Ein Brief von Bude an Frend führt auf diese Ver-
mutung!).
In Deutschland Sbaaliken 1795 ein Artikel Über die Lehre von
den entgegengesetzten Größen?) von Georg Simon Klügel
(1739—1812), Professor zu Halle, worin der Verfasser nahe daran
war, einen wichtigen Schritt in der Exposition der Algebra vorzu-
nehmen. Er führt acht Vorschriften für die gemeinen Operationen
der Buchstabenrechnung an, welche das distributive Gesetz aus-
drücken. Z.B. VII:
(a+b)\(e - NM =-ale—dM+b(le—d)=ac—-ad+be—bd.
Es findet sich hier ein Versuch vor, die Formalgesetze der Algebra
festzusetzen. Es wird aber angenommen, daß in der Formel VII der
Subtrahend kleiner als der Minuend sei. Jeder Rest und Quotient
wird ursprünglich als positiv angesehen. Aus VII erhelle es, daß ein
Produkt aus zwei Faktoren das Zeichen — erhält, wenn die Faktoren
verschiedene Zeichen haben.
So lange über negative Zahlen keine klaren Begriffe existierten,
ist nicht zu verwundern, wenn imaginäre Größen allgemein als un-
möglich angesehen wurden. Euler drückt sich in seiner ‘Algebra
(Art. 143, 144) so aus: „Weil nun alle mögliche Zahlen, die man
sich nur immer vorstellen mag, entweder größer oder kleiner sind
als 0, oder etwa O0 selbst; so ist klar, daß die Quadratwurzel
von Negativ-Zahlen nicht einmal unter die möglichen Zahlen können
gerechnet werden.... Von diesen behauptet man also mit allem
Recht, daß sie weder größer noch kleiner sind als nichts; und auch
nicht einmahl nichts selbsten, als aus welchem Grund sie folglich für
ohnmöglich gehalten werden müssen.“ Eine andere Auffassung findet
man in einem Werke, El&ments de mathematiques ä l’usage
des ecoles nationales, Toulouse et Paris 1781 (nouv. Ed,, Paris,
an X) von Roger Martin (?— 1811), welcher sich viel Mühe nimmt,
die Grundprinzipien deutlich darzulegen. Nach Euklid definiert er
die Einheit als den abstrakten Begriff dessen, was irgend ein einziges
') A. De Morgan, Trigonometry and Double Algebra, London 1849, p. V:
?) Archiv d. r. u. a. Math. (Hindenburg), Bd. I, 1795, S. 309—319, 470—481.
Algebra. 89
Dasein vorstellt, und die Zahl als eine Menge gleicher Einheiten.
Irrationale und imaginäre Größen seien auch Zahlen. Nehme man
V-1 als Einheit, könne man 2Y— 1, 3Y—1 durch Wiederholungen
erlangen, was für den Begriff einer Zahl genüge. „Rien n’empäche
done de mettre les imaginaires au rang des nombres.“
In einer Schrift, On the arithmetie of impossible quan-
tities') gibt John Playfair (1748—1819), der schottische Mathe-
matiker und Physiker, eine naive Erklärung, warum der Gebrauch
von imaginären Größen zu richtigen Resultaten führe. Operationen
mit imaginären Schriftzeichen, obschon in sich selbst unsinnig, seien
Kennzeichen für andere, welche Sinn mit sich führen. Dies werde bei
der Berechnung von Sinus und Kosinus in bezug auf den Kreis und
die Hyperbel besprochen. Wenn Untersuchungen, die mit imaginären
Größen durchgeführt werden, ebenso erfolgreich zur Wahrheit leiten,
als solche mit reellen Größen, so könne dieser Umstand nur einer
Analogie zugeschrieben werden, welche zwischen den untersuchten
Gegenständen existiere, eine Analogie, die so eng sei, daß jede Eigen-
‚schaft des einen auf den anderen Gegenstand übertragen werden
könne. Demnach könne jeder Ausdruck, den er beim Kreise abgeleitet
habe, durch Substitution von Yl für Y— 1, in einen für die Hyperbel
gültigen Ausdruck umgeändert werden. Die mit imaginären Symbolen
durchgeführten Operationen, obschon an sich absurd, dienen als Weg-
weiser zu solchen, welche verständlich seien. Diese Abhandlung
Playfairs machte großen Eindruck in England, und 1801 fand
Robert Woodhouse?) es noch nötig, die Unzulänglichkeit dieser
Erklärung hervorzuheben.
Eine eigentümliche Angabe findet man in W. Emersons Trea-
tise of Algebra, welcher 1780 zu London erschien. Auf $. 67 heißt
es: „Wenn imaginäre Wurzeln miteinander multipliziert werden, geben
sie immer —, sonst würde ein reelles Produkt von unmöglichen Fak-
toren entspringen, was sinneswidrig wäre. Also V- axVY—-b=YV-alb,
und V-a=—_ Y-b=— V- ab, ete. Auch Y-a=Y-a=-.a,
und V-ax<-—- Y-a=+ a, etc.“ Diese widersprüchlichen Angaben
werden nicht weiter erklärt oder angewandt. Überhaupt ist die Ent-
wicklung fundamentaler Begriffe bei Emerson sehr mangelhaft.
_ In Huttons Mathematical and Philosophical Dictionary,
London 1796, wird im Artikel „Imaginary“ hervorgehoben, daß man
über die Arithmetik imaginärer Größen noch keine Übereinstimmung
") Phil. Trans., Vol. 68 for the year 1778, Pt. I, p. 318—343. ?) Phil.
Trans., 1801, S. 89.
90 Abschnitt XX.
erreicht habe. Euler schreibe- in seiner Algebra (Y—-3)’—- 3,
setze aber V-1-Y—4=Y4=2. Wie könne die Gleichheit oder
Ungleichheit der Faktoren die Zeichen beeinflussen? Er schreibe
auch Te n_ — V— 1, woraus Y-1-Y—1=Y-+1 zu ziehen
sei. Über die Behauptung von Emerson, daß das Produkt imagi-
närer Größen selbst imaginär sein müsse, bemerkt Hutton, daß
die Schriftsteller in ihren Ansichten hierüber ziemlich gleich geteilt
seien.
Imaginäre Zahlen werden in der Geschichte der Gleichungs-
theorie sehr oft auftreten. Auch spielen sie in der Diskussion über
Logarithmen von negativen Zahlen eine hervorragende Rolle.
Wir lassen nun einige Einzeluntersuchungen folgen.
Die Zerlegung eines Bruches in Partialbrüche wird von Nicolaus
Fuß in seinen Meditationes circa resolutionem fractionis
a” (2 — a)(0 — b)(x — c)(x — d) ete. in fractiones simplices, ubı
simul demonstratio insignis theorematis arıthmetici oceur-
rit?!) durch einen von dem Verfahren Eulers in seinen Institutiones
caleuli integralis verschiedenen Vorgang ausgeführt. Fuß setzt
(I), (2 /(x — a)(@ — b)(ete.) = a/2 — a+ P/& —b-+:--, multipliziert
nun mit (x — a) und nimmt «= a, woraus « = a*/(a — b)(a— c)(ete.)
hervorgeht. Die gleiche Methode ergibt die Werte von ß,7,..
Multipliziert man beide Seiten von (I) mit x, und setzt x —= , hat.
man 1=«+ß+::-., wenn m-+1 der Anzahl Faktoren » gleich
ist; wenn aber m +1 <n ist, ergibt ssch0O= «+ ß + - -- Letztere
Formeln enthalten den im Titel angedeuteten arithmetischen Satz.
Eine neue Bruchvereinfachungsmethode wurde von Euler in der
Abhandlung Nova methodus fractiones quasconque rationales
in fractiones simplices resolvendi?) auseinandergesetzt. Wir
wählen das einfache Beispiel eines Bruches = dessen Nenner den Faktor
z2— 4a) hat. Man setze z=a-+ 0» und gebe dem Bruch die Form
g
A Bo (do? ... 4 4;
a ee,
woraus sich « = ee B= = _ = ‚. ergibt. Die Methode ist auch
auf transzendente Funktionen anwendbar. In der Behandlung des
sin ® i
tan® — cos®
Bruches werden, im Laufe der Analysis, imaginäre
1) Acta Acad. scient. imp. Petr. pro anno 1777, pars prior. Petropoli 1778,
p. 91—104. ?) Ebenda. 1780, pars prior. Petropoli 1783, p. 32—46.
Algebra. 91
Winkel eingeführt, die von der Unerschrockenheit, mit welcher Euler
imaginäre Größen zu gebrauchen gewöhnt war, Zeugnis geben.
Einen Satz über Mittelwerte teilt Johann Nikolaus Tetens
(1736— 1807), Professor in Kiel, in einer Schrift, Beweis eines
Lehrsatzes von dem Mittelpunkte der Coeffiecienten in den
Polynomien') mit. Er sei darauf bei der Berechnung von Leib-
renten gekommen. Hat man P=a+bxz-+ca? +.... +12” und
ula+b+c+--+)=b+2c+3d+---+mt, auch IT=«
+ße +ya?+--- 2”, wo v(e+ß+. +N)=-ß+2y+--- +mr,
dann hat man in PI=A+Bx+--- + Ta"", (u+v)(A+B+---+T)
=B+2C+:::mnT. Dann folgen Betrachtungen über das Durch-
schnittsglied.
Burja?) schlägt für den Elementarunterricht eine Methode zur
" Logarithmenberechnung vor, welche direkter sei als die älteren
Methoden und geringere Kenntnisse voraussetze als die Reihen-
methode. Sie besteht in der sukzessiven Ausziehung der Quadrat-
wurzel von 10, der 5. Wurzel dieser Quadratwurzel, der Quadrat-
wurzel des letzten Resultats usw., um dadurch die Zahlen zu finden,
deren Logarithmen 0,5, 0,1, 0,05, 0,01, 0,005 usw. sind. Durch Kom-
bination dieser Resultate kann irgend ein Logarithmus im Briggschen
Systeme gefunden werden. In einer anderen Schrift, Essai d’un
nouvel algorithme des logarithmes?) schlägt er den Logarithmus-
kalkül als eine den sechs primitiven Operationen der Arithmetik
(Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Potenzierung, Wurzel-
. i . . . . a
ausziehung) anzureihende Operation vor, und bezeichnet mit zoom
eine Zahl a, deren Logarithmus, zur Basis b, m ist.
Christian Kramp (1760—1826) entwickelt in einer Abhand-
lung, Fraetionum Wallisianarum Analysis‘, einen Kalkül für
die Berechnung der Werte von Brüchen wie der von Wallis ge-
brauchte Ausdruck von =. Kramp schreibt a(a+v)(a+2»):..
(a+nv—v) so a”, wo x an dieser Stelle nur als Separations-
zeichen dient. Er erhält a” - (a+nv)"""= ar” (a + mw)’
| Rn Be
und, wenn a+tnv=b, amt mm a” ——-(a-+mo)
Nimmt man b— a«—=d und m unendlich groß, dann wird a(a+v)
d
: Be £
(a+2») ete. in inf.--(a+d)(a+d-v)ete. in nf. =—a’" - (oo v)”.
‘) Leipziger Magazin für r. u. a. Math. (Hindenburg), 1787, S. 55—62.
?) N. M&moires de l’acad.roy. des sciences, 1786—1787, Berlin 1792, p. 433—478.
°) Ebenda, 1788 et 1789, Berlin 1793, p. 300—325. *, Nova Acad. Elect.
Moguntinae scient. utilium, ann. 1797—1799, Erfurti 1799, p. 257— 292.
02 Abschnitt XX.
Nun wird a®”’ in die Reihe entwickelt a” (1 + Aa='v+ Ba’? +
etc, wo A=m(m+1)= (m — 1)+-2(m+1), 2B+-(m—D(m+1)
= A(m—-1)-2(m+1-— . ‚ ete., oder, wenn diese divergiert, in
die Reihe U(l + Au+BwW+:-), wo u=v-(a+nv) und
| 2-.2:4:4-6-6
— gmav Wil nnV
U = a””’ (a + nv)" -- (a + mv)*””. Auf den Bruch — 5.5.5.7
etc. angewandt, wird dessen Wert 93”? .273”° berechnet. Wenn
man in
sin ma m i1—m 14m 2%2—m 2-m
etc.
sin nz ” TER IH ITHi2rn
für n, = —n, und für m, - — m schreibt, hat man einen ähnlichen
Bruch, der, für m =n, einen Ausdruck für tan mx liefert, welcher
Kramp neu zu sein glaubt, da dem berühmten Pfaff, in seinem Werk
Beiträge zur Summationslehre, die Herleitung einer solchen
Form nicht gelungen sei.
Wichtige Untersuchungen wurden von Waring in England vor-
genommen.
Edward Waring (1734—1798)!) wurde bei Shrewsbury ge-
boren, ging 1753 auf das Magdalen College in Cambridge, wo er 1757
promovierte und „senior wrangler“ ward. Er wurde 1760, bevor er
durch Erlangung der Magisterwürde sich qualifiziert hatte, zum
Lucasianprofessor der Mathematik in Cambridge erwählt. Franeis
Maseres war sein Rivalkandidat. Wegen seiner Jugend fand Warings
Kandidatur Opposition. Um seine Fähigkeiten zu zeigen, sandte er
vor der Wahl das erste Kapitel seiner Miscellanea Analytica
herum, welches von William Samuel Powell wegen einiger unbe-
deutender Fehler angegriffen wurde. Es erschienen mehrere: Streit-
schriften. Waring wurde in diesem Streite von seinem Freunde, John
Wilson vom Peterhouse College, unterstützt. Seine Miscellanea
analytica deaequationibus algebraicis et curvarum proprie-
tatibus wurde 1762 zu Cambridge veröffentlicht, seine Meditationes
algebraicae 1770, seine Proprietatis algebraicarum curvarum
1772, seine Meditationes analyticae 1776. Diese Werke ent-
halten viel Neues, sind aber in der Darstellungsmethode sehr mangel-
haft. Er soll in Cambridge keine Vorlesungen gehalten haben. Seine
tiefen Untersuchungen waren zur Mitteilung durch Vorlesungen nicht
geeignet, sagt Dr. Parr. Waring soll gestanden haben, daß er in
England, außer in Cambridge, von niemandem je gehört habe, der
seine Schriften gelesen und verstanden habe. Mit Mathematikern des
ı) Dietionary Nat. Biog. (L. Stephen).
Algebra. 93
Festlandes scheint er wenig in Briefwechsel gewesen zu sein. Im
Jahre 1782 bemerkte er, daß er 1763 ein Exemplar seiner Miscel-
lanea an L. Euler, und 1770 Exemplare seiner Meditationes
algebraicae an D’Alembert, Bezout, Montucla, Euler, La-
grange und Frisi geschieht abe: Aber nur Frisi habs den Empfsug
des Werkes bestätigt!). in seinen Schriften erwähnte aber La-
grange 1771 die Verdienste Warings. Die Meditationes alge-
braicae seienein „ouvrage rempli d’excellentes recherches“?). Waring
wurde 1763 als Mitglied der Royal Society of London aufgenommen,
aber schon 1757 schickte er, wie er selber erzählt?), einige Unter-
suchungen ein, welche er zur Zeit seiner Kandidatur 1759 drucken
ließ. Unter diesen soll eine Methode, die Anzahl imaginärer Wurzeln
in der Quartic und Quintie und in =” + Aa" + B=0 zu finden, ge-
wesen sein‘). Es ist wahrscheinlich letztere Mitteilung, welche 1764
von der Royal Society gedruckt wurde’). Ohne Beweis führt er dort
Sätze über die Anzahl komplexer Wurzeln der Gleichungen
xt + ga? —- r +s=0, +ga®—r® +se—-t=0 an. Ist in der
Quartie der Ausdruck 2565? — 128 9?5?+ (144r?g + 16!) s — 27
r* — 4r?gq? negativ, so existieren zwei es Wurzeln; ist dieser
Ausdruck positiv, und entweder —g oder — 4s negativ, dann sind
alle Wurzeln u; verschwindet dieser Ausdruck, und ist ent-
weder — q oder 9’ — 4s negativ, so sind die zwei ungleichen Wurzeln
imaginär. Ähnliche, aber viel weitläufigere Ausdrücke sind für die
Quintie angegeben‘). Waring war der erste, ein solches Kriterium
für die Quintie abzuleiten. Dieses ist durch eine von ihm erfundene
Transformation erzielt worden, wodurch eine Gleichung deduziert wird,
deren Wurzeln die Quadrate der Wurzeldifferenzen der vorgelegten
Gleichung sind, um dadurch notwendige, sowie auch hinreichende Be-
dingungen für das Vorhandensein imaginärer Wurzeln zu erhalten.
In den Miscellanea analytica, 1762, 8. 17, werden die drei ersten
Glieder der allgemeinen transförmierten Gleichung ohne Ableitung an-
gegeben. Wenn die Zeichen derselben beständig abwechseln, habe
die vorgelegte Gleichung keine imaginären Wurzeln. Dieses berühmte
Verfahren hat später Lagrange unabhängig ausgearbeitet. In seinen
nachfolgenden Werken hat er aber Warings Priorität angezeigt’).
ei Waring fängt in den Miscellanea analytiea mit der Ab-
') Meditationes algebraicae, Ed. tertia, 1782, p. XXI. 2) Lagrange,
Oeuvres, T. II, p. 370. ®) Med. alg. 1782, p. XXVIL. *) Phil. Trans. (London),
Vol. 77, 1787, p. 71. Vgl. Med. alg. 1782, p. 91. °) Phil. Trans., Vol. 53. For
the year 1763, London 1764, p. 294—298. 6%, Abgedruckt in Med. alg. 1782,
p- 85, und in Lagrange, De la r6sol. des dquat. num. Note IH. )Dela
resolution des &quations num6riques, Paris, An VI, Note II.
94 Abschnitt XX.
leitung seiner Formel für die Potenzsummen der Wurzeln an. Sie
unterscheidet sich von den Newtonschen dadurch, daß statt durch
rekurrierende Darstellung eine Summe s, durch Summen niedrigeren
Grades, 8,_4, $,_g, - - -, zu berechnen, sie die Summe ganz unabhängig
von früheren Ergebnissen darstellt. Auch führt Waring eine Formel
für die Darstellung eines Koeffizienten der Gleichung durch die
Potenzsummen s$,, $,... an. Gleichfalls als Waringsche Formeln
bekannt sind diejenigen‘), mittels welcher man beliebige ganze sym-
metrische Funktionen mit Gliedern «“ß?y°0?s° usw. direkt als Funk-
tionen der @leichungskoeffizienten ausdrücken kann. Er skizziert
dann das Verfahren, mittels symmetrischer Funktionen eine Gleichung
zu finden, deren Wurzeln irgend eine gegebene Relation zu den
Wurzeln einer oder mehrerer gegebenen Gleichungen haben. Durch
A:
die Annahme 9» = x" könne man dasselbe zur Wegschaffung von
1
Radikalen x” anwenden. Um imaginäre Wurzeln einer Gleichung
ar — paar + ga"? — ra”? tete. —0 zu entdecken, gibt er
ohne Nachweis die Regel S. 18: Man eliminiere v aus den zwei Glei-
chungen 2nv?*-t— (2n — 1)pv?"-? + (2n — 2)qu?"? — etc. = 0
und v2” — pv?r-1 + qu?”-?—ete.=w; wenn in der resultierenden
Gleichung w?”=1— Pw?"-?-+ Qw?”-*—.ete. = 0, P, Q, etc. alle positiv
sind, habe die vorgelegte Gleichung keine reellen Wurzeln. Um die
Grenzen von Wurzeln zu bestimmen, transformiert er die gegebene
Gleichung in eine andere, deren Wurzeln die reziproken Wurzel-
differenzen 1/(@ — ß), 1/(« — y), 1/(@ — Ö), ete. der vorgelegten Glei-
chung sind. Diese Methode wurde später von Lagrange wieder er-
funden?).
* Waring nimmt Wurzelformen wie
«-Va+y-» +Va-yY-®
an, und berechnet durch Wegschaffung der Radikalen die entsprechende
Gleichung. Mit einer solehen Auflösungsmethode hatte Euler schon
1732 (Bd.IIB, 8.574) experimentiert. Für die Quarticmachte Waring die
Annahme?) = Vae+Yß+Yy und leitet die kubische Gleichung
zur Bestimmung von «, ß,y ab. Für die Quintie macht er die ganz
ähnliche Voraussetzung‘) = Ya + YB+YVy+Yod und läßt dann
die unklare Bemerkung folgen: „Ich habe durch Berechnung gefunden,
daß die biquadratische Gleichung, deren Wurzeln «, ß, y, ö sind, not-
t) Misc. analyt., p. 8. 2) Lagrange, op. eit., Note III. ®) Misc.
analyt., p. 45. *, Ebenda, p. 47.
Algebra. 95
wendig irrationale Größen habe, und daß die vorgelegte Gleichung
durch diese Methode nicht auflösbar ist“!), Was sollen irrationale
Größen hier bedeuten? Waren nach der Ansicht des Verfassers
Irrationale anderer Natur als Radikale? Oder gründete er seinen
Einwand gegen irrationale Koeffizienten der Quartie auf die schein-
bare Unmöglichkeit dieselben zu berechnen? Daß die Auflösung von
Gleichungen gewöhnlich auf der Lösung von Hilfsgleichungen höherer
Grade beruht, davon hat sich Waring durch seine Beispiele von
Gleichungen, welche vorgelegte Wurzelformen haben, überzeugt?). *
Waring schlägt aber noch eine andere Wurzelform vor, welche
einige Jahre später auch Euler und B6zout benutzten. Mit lako-
nischer Kürze sagt Waring°): „Aufzulösen 2 — ayp+byVp
te VP+ AV... AVpt 4 BYpr5 + 0 Ypr3 4 DYpr-i. Man
rotte die irrationalen Größen aus und erhalte
=" —nxaD+bO+cB+dA, ete. #"-? + ete. — 0.
Daraus kann man die Auflösung kubischer Gleichungen entnehmen.“
Letztere Lösung wird durchgeführt.
Im 18. Jahrhundert beschäftigte sich die Pariser Akademie der
Wissenschaften dreimal mit der Bestimmung der Anzahl imaginärer
Gleichungswurzeln. Das erstemal 1743, als de Gua eine Ab-
handlung mitteilte; das zweitemal, als Fontaine seine Resultate vor-
legte, und das drittemal, als 1772 du Sejour seine Studien veröffent-
liehte. Die Untersuchungen von de Gua und die erste Schrift von
Fontaine sind schon im dritten Band dieser Geschichte besprochen
worden. Eine zweite Arbeit des Fontaine, L’art de resoudre les
equations, wurde 1764 veröffentlicht‘). Es ist ein langer Aufsatz,
welcher die Methoden seiner ersten Schrift auch auf Gleichungen
4. und 5. Grades anzuwenden sucht. Er zählt für quartische Glei-
‘ chungen 617 mögliche Fälle auf. Sein Verfahren ist für praktische
Zwecke ungeeignet und von theoretischer Seite, wie Lagrange°) her-
vorgehoben hat, unbefriedigend.
In einer Abhandlung De funetionum algebraicarum integra-
rum factoribus trinomialibus realibus commentatio®) nimmt
Franz Ulrich Theodor Aepinus (1724—1802) die Wurzelexistenz
stillschweigend an und zeigt, daß, wenn -+m-+n V-1 ein Faktor
') Man sehe auch Meditationes algebraicae, 1782, p. 182, 183. °) Miscel-
lanea analyt., p. 47. °) Ebenda, p- 44. *) Me&moires donnes A l’acad. roy. des
sciences, non imprim6s dans leur temps. Par M. Fontaine, de cette academie,
Paris 1764, p. 432—588. °) De la r6sol. des equat. num.,(Note VI.) °®) Novi
Comm. acad. Sc. imp. Petropolitanae, Tom. VII, 1760 et 1764, Petropoli 1763,
p. 169—180,
96 Abschnitt XX.
von a” taa@”+!+t..., ee ze +m-—nYV-—1 auch ist. Dabei wählt
er für m +nYV- 1 die trigonometrische Form « (cos® + sin® Y— 1),
so daß
2” = a’ (cosv® + sinv® V— 1).
Dureh Substitution des Wertes von x ergibt sich die Gleichung
P+Q0y-1=0 und P=Q=0, worauf dann folgt, daB =
&(cos® — sin®Y— 1) die Relation P— QY-1 liefert und des-
halb eine Wurzel der vorgelegten Gleichung ist.
In der Abhandlung De Resolutione aequationum cuiusvis
gradus!) macht L. Euler einen seiner Abhandlung?) von 1732 ähn-
lichen Versuch, die allgemeine Auflösung algebraischer Gleichungen
zu finden. Wie vor dreißig Jahren, so glaubt er jetzt aus der Tat-
sache, daß eine quadratische Gleichung durch die Ausziehung von
Quadratwurzeln, eine kubische Gleichung durch Ausziehung von
Quadrat- und Kubikwurzeln, und eine Gleichung vierten Grades durch
Ausziehung biquadratischer Wurzeln gelöst werden kann, annehmen
zu dürfen, daß sich die Wurzelform einer Gleichung n“" Grades
durch Radikale nicht höher als n“" Ordnung ausdrücken lasse.
Statt aber, wie 1732, für eine solehe (vom zweiten Gliede befreite)
Gleichung die Wurzelform von n — 1 Gliedern
a—-Va+VB+Yr+--
anzunehmen, stellt er jetzt einen allgemeineren, gewisse Schwierig-
keiten der älteren Form vermeidenden Ausdruck auf,
z=w+4AVv+BYVv%+---+QVw-t,
wo w eine rationale Zahl ist, und „A, B,..., @ entweder rationale
Größen oder mindestens keine n‘° Wurzel enthalten“. Er hoffe, daß
diese Form allen Anforderungen genüge, da die übrigen Wurzeln da-
durch bestimmt sind, daß man für Yv nacheinander alle Werte von '
Y1YVv einsetzt. Die Voraussetzung, daß A, B,..., Q im allgemeinen
algebraische Zahlen seien, ist in unserer Zeit als unmöglich anerkannt.
Euler zeigt, daß die Wurzeln der Gleichungen der ersten vier Grade
sich auf diese Weise ausdrücken lassen. Durch die Tatsache, daß
alle damals bekannten, auflösbaren Gleichungen diese Wurzelform
besaßen, ist Euler von der Richtigkeit seiner Annahme überzeugt.
„Aus diesen Gründen“, sagt er, „ist die neue Wurzelform zur höchsten
Wahrscheinlichkeit erhoben.“ Bemerkenswert ist es noch, daß Eulers
Form in etwas präziserer Fassung die Grundlage des Abelschen Be-
ı) N. Comm. Petr., T. IX, pro annis 1762 et 1763, p. 70—98, 2) Diese
Vorlesungen, Bd. III, 2. Aufl., S. 574.
Algebra. 97
weises der Unmöglichkeit der algebraischen Auflösungen höherer
Gleichungen bildet!). In der Auflösung der vom zweiten Gliede be-
freiten biquadratischen Gleichung setzt Euler = AV» + BY?
+ (CYVo® und findet dann die Gleichung vierten Grades, welche diese
Wurzelform hat. Quadriert man beide Seiten von &— BYv = AYv
+0 Yo, so erhält man #2 —2BxYv + Bro = A!Yv +2 A0Qv
+CvYv oder #? + (B?—2AC)v = 2BaYv + (A? + Oo) - Vo.
Quadriert man abermals, so erhält man die rationale Gleichung
x = 2(B?+24AC0)va? + 4(A? + Oo) Box + Atv — Biv? + Otv? +
4AB0v?! — 2420”. Wem a=y-1,b=-—-1,c=—-Y-1, dann
sind die drei übrigen Wurzeln dieser Gleichung x — AaYv + BbYv?
+Ceyv, = AbYv +BYv! +Cbyv, z=Acyv + BbYor +
CaYv°. Ist nun die gegebene Gleichung x&!—= A’x?+ B’z+(',so kann
man die Werte von A, D, ©, v durch die Gleichungen A =2(B?+2AC)v,
B=4(4?+ (0) Bv, = (A?+ Ov)?v — (B? +2 A0YV?+8AB Or
bestimmen. Setzt man B=1, so erhält man die kubische Gleichung
für die Bestimmung von »v, nämlich,
"740 +2(C 4 AP)» .B?=0.
Die vier Wurzeln gibt Euler in dieser Form:
z=YVv+- 7 VByo +2 Av — Av,
Bl, VBy +2 Av — Av,
= Vo +5; V-BVo+240- 40,
= -VE-.V-ByorH2 dr ie
2yv
Euler wendet diese Methode auf die Gleichung fünften Grades
x = A’a®+ Ba? + (x + D’ an. Die angenommene Wurzelform ist
nun &= AYv + BYv? + C Yo? +DYv. Das obige Verfahren be-
folgend, bildet er vier Gleichungen für die Bestimmung der Werte
von A, B, C, D, v. Die Elimination von A, B, C, D führt er aber
nicht durch. Er hätte eine Gleichung des vierundzwanzigsten Grades
in » gefunden. Es folgen nun Bemerkungen, die wir in deutscher
ı) Vgl. J. Pierpont, „Zur Geschichte der Gleichung des V. Grades (bis
1858)“ in Monatsh. f. Math. u. Phys., VI. Jahrg., Wien 1895, S. 23.
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 7
98 Abschnitt XX.
Übersetzung wiedergeben: „Wenn nun gegenteilig die Größen A, B,
0, D, sowie der Buchstabe v, durch die Koeffizienten AB,
bestimmt werden könnten, hätte man die allgemeine Auflösung aller
Gleichungen fünften Grades. Aber gerade darin liegt die größte
Schwierigkeit, da kein Weg offen steht, die Buchstaben A, B, 0, D,
von welchen zwar einer nach Willkür angenommen werden kann,
nacheinander so zu eliminieren, daß eine Gleichung mit einer ein-
zigen Unbekannten v und den gegebenen Werten A’B’0’D’ entstehe,
die auch keine überflüssigen Wurzelzeichen einschließe. Wir dürfen
gewiß vermuten, daß, wenn diese Elimination richtig durchgeführt
ist, man endlich eine Gleichung vierten Grades erhalten wird, welche
den Wert von v selbst festsetzt. Denn wenn die Gleichung einen
höheren Grad erreichte, dann würde der Wert von v selbst Wurzel-
zeichen desselben Grades enthalten, was verstandeswidrig erscheint.“
Auf Spezialfälle übergehend nimmt er 1) C=D=0 an und er-
hält die auflösbare Gleichung # = 5 Pa? +5Q02+% + 7. 2) B-
C=0 an und erhält die Gleichung #=5Pa°—5P®?x + D, deren
Auflösung schon früher De Moivre gezeigt hatte, 3) die Koeffizienten
A’, b, 0, D als gewisse rationale Funktionen fünf neuer Größen
an und erhält eine Gleichung, deren Wurzeln bekannt sind.
Diese Abhandlung wurde 1785 von Graf Franz Schafgotsch!)
und 1791 von J. A. ©. Michelsen?) in das Deutsch übersetzt. Ein
mühevoller Versuch Schafgotschs, die von Euler angedeutete Resol-
vente zu finden, blieb ohne Erfolg.
Ungefähr zu gleicher Zeit erschien eine andere hervorragende
Arbeit, Sur Plusieurs Classes d’ Equations de Tousles Degres,
qui admettent une solution algebrique?°), aus der Feder von
Etienne Bezout. Er geht von der Idee aus, daß alle binomischen
Gleichungen auflösbar sind. Wenn es deshalb möglich wäre, alle
Gleichungen in binomische zu transformieren, hätte man das Ziel er-
reicht. Er erklärt seine Methode durch kubische Gleichungen und
nimmt dann das Studium derjenigen n!® Grades auf. Es sei
a + pa? + qx% +r = 0 die vorgelegte Gleichung. Man setze „P-+h=0
und («+b)y=x#+.a. Letztere Gleichung wird so gewählt, daß die
Elimination von y zwischen den zwei letzten eine kubische Gleichung
gibt, die mit der vorgelegten verglichen werden kann. Man erhält
') Abh. d. Böhmisch. Gesellsch. d. Wiss., Prag 1785, 8. 177—236, 1. Abteil.
?) Theorie der Gleich. aus den Schriften der Herren Euler u. de la Grange,
Berlin 1791. °) Histoire de l’Acad. Roy. des Sciences, Annde 1762, Paris 1764,
p. 17—73.
Algebra. 99
: } 3 351 3a? +3b®h a®+ b°’h ner
auf diese Weise p—= an ‚g= Er tr in . Eliminiert
man h, dann hat man p(a+b)—3ab=gq und p(a+ab+ 2)
— Bab(a + b)=3r, woraus man weiter erhält «+ b = 5 an und
PR = 8pr
en Es sind nun a und 5b die zwei Wurzeln der Glei-
A
—9r ® — 3pr : Be
chung a? — A 37 2 De g5 —=0. Man hat jetzt Y=- —h— u
und <= un, woraus sich endlich
:=—-,2+5zV [Ba -p@b-p)+zV [8a -p)@b — p)?]
ergibt. Diese Methode verfolgend, sucht er nun die Bedingungen
dafür, daß die Gleichung x‘ Grades sich in eine binomische transfor-
za
mieren lasse. Er nimmt y” +h= (0 und y= ar a, und eliminiert
y. Er erhält eine Gleichung »* Grades in x, worin er das zweite
Glied gleich Null setzt und so h=— , erhält. Alle Koeffizienten
der resultierenden ‚Gleichung sind rationale Funktionen von @ und b.
Es können deshalb die zwei Koeffizienten des dritten und vierten
Gliedes willkürlich angenommen werden, wonach sich alle übrigen
als Funktionen dieser zwei ausdrücken lassen. Dies sind die ge-
suchten Bedingungen. In der Auflösung einer Gleichung n" Grades,
welche diesen Bedingungen entspricht, löse man anfangs eine quadra-
tische Gleichung, deren Wurzeln a und b sind. Dann können A und
y berechnet werden, sowie x. Die allgemeine algebraische Auflösung
von y„” +h=0( kannte Bezout nicht; er verfolgte die De Moivre-
sche trigonometrische Behandlungsweise. Er untersucht dann die
Gleichungen, deren Wurzeln die Form x — Var-15 + VYar-2?, n< 8,
haben, und zeigt, daß der irreduktible Fall, wo a und b imaginär
sind, für x reelle Werte gibt.
Bezout setzt seine Untersuchungen in einer zweiten Abhand-
lung, Sur la resolution generale des equations de tous les
degres!) fort. Unterdessen ist ihm Eulers Arbeit von 1762 bekannt
‚geworden. Sein jetziges Verfahren läßt sich aus seiner Behandlung
der biquadratischen Gleichung ersehen. Er setzt Y„— 1-0 und
ay’+by?+cy+x=0. Multipliziert man letztere mit BR
erhält man
') Histoire de l’Acad. Roy. des Sciences Annde 1765, Paris 1768, p. 533
bis 552.
7*
100 Abschnitt XX.
ap +byP +cy+x—=0,
byte? +tayta=0,
YyP+ayp+ay+b=0,
say tay+tby+tce=0,
aus welchen sich durch Elimination von y?, y?, y eine Gleichung
vierten Grades in x ergibt. Vergleicht man deren Koeffizienten mit
P,g,rin#+p@+qge-+r=(0, so hat man die Bestimmungsglei-
chungen 4ac+2%” = —p, 4ab+4bd=g, t +d— bt — 2a8c
+4ab’e=—r. Sucht man nun a und ce zu berechnen, so erhält
man eine Gleichung des 24'” Grades; sucht man aber zuerst b, dann
hat man eine des 6'® Grades, die als eine kubische angesehen werden
kann. Die Werte von x erhalten die Form
= —a—b-c,
s=+ta—b-+e,
z-t+ay-Ii+rb—- eyZu,
z=-—-ay-1i1+rb+cyV-1.
Wenn der Exponent n eine zusammengesetzte Zahl ist, wird ein
zweites, etwas kürzeres Verfahren beschrieben. Die Bestimmungs-
gleichungen für den Fall n—=5 findet Bezout abschreckend. „Ob-
schon ich diese letzten Gleichungen auf mehrere Weisen verändert
und verschiedene Mittel zur Abkürzung der Elimination gefunden
habe, bin ich doch noch nicht imstande, die Schlußresultate anzu-
geben.“ Auch sagt er: „Durch den Vergleich von Eulers Abhand-
lung mit der meinigen sieht man, daß, obschon beide Methoden zu
den gleichen Resultaten führen, wir voneinander bedeutend abweichen
in der Schätzung des Grades der Gleichung, auf welcher die Auf-
lösung der vorgelegten Gleiehung beruht. Dieser gelehrte Analyst
glaubt, dieser Grad sei immer niedriger als der der vorgelegten Glei-
chung; ich glaube im Gegenteil, er ist immer viel höher, daß aber
die Gleichung keine anderen Schwierigkeiten als jene aller niedrigeren
Grade umfaßt.“ Der Grad dieser Resolventen sei n(» —1)---2-1,
und der Exponent der Unbekannten jedes Gliedes sei ein Vielfaches
von n. Die Größen a,b, c,.... nennt Bezout eoöfficiens ind6ter-
mines, ohne eine Meinung zu äußern, ob sie algebraisch seien.
Die Eliminationsmethode, welche heutzutage die Eulersche ge-
nannt wird, ist in seiner Schrift Nouvelle methode d’eliminer
Algebra, 101
les quantites inconnues des @quations') erklärt. Er zeigt den
Gedankengang zuerst an den speziellen N 2? +Pz+. = 0
-@—- w(@+4) und 2 +p2?+g4z+r=0=(2 my (er +02+b),
wo w die gemeinsame Wurzel und A, a, b alliesinignip: re jzienten
sind. Daraus folgen ”» 20% 3
(+ Pze+Q)(® +a2+b)= (?+p2+gz+r)(e+ A),
und die Bestimmungsgleichungen P+a=p+A Q+Pa+b=
q+pA, Pb+Qa=gA+r, Qb=rA, welche durch Elimination
von A, a, b das erwünschte Resultat liefern.
Wilhelm Otto Reitz (1702—1768), ein Lehrer in Rotterdam
und Middelburg, veröffentlichte eine Schrift?) über die Auflösung der
Quartik, worin er Kunstgriffe angibt, um Fälle zu lösen, wo durch
Addition eines Trinoms a2?+2abx + b? zu beiden Seiten, die Seiten
Quadratformen annehmen können.
Bezouts Untersuchungen über die algebraische Auflösung von
Gleichungen führten ihn zu dem Eliminationsproblem. Er fand, daß
Newtons Eliminationsmethode, durch Aufsuchung des größten ge-
meinschaftlichen Teilers, öfters fremde Lösungen gibt, daß das Ver-
fahren von Euler und Cramer, durch symmetrische Funktionen,
nur auf zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten auf einmal anwend-
bar ist. Im Falle mehrerer Gleichungen müsse man sie paarweise
nehmen und die Endgleichung sei höheren Grades als notwendig ist.
In einer Abhandlung Sur le degre des @quations resultantes de
l’evanouissement des inconnues?) fängt Bezout mit einem
Lemma an, um die Resultante von » linearen Gleichungen mit n Un-
bekannten zu finden. Sind a, b, c, d,... die Koeffizienten der ersten
Gleichung, a,b’, cd,d,... und a”, b”, ce”, d’,... diejenigen der zweiten
und dritten Gleichung usw., dann bilde man die Permutationen ab,
ba und schreibe ab — ba. Mit diesen zwei und c bilde man alle
möglichen Permutationen und beachte einen Zeichenwechsel, wenn c
in ab oder ba seine Stelle ändert. Man hat abe — acb + cab — bac
+bca— cba. Auf gleiche Weise verfahre man mit dem Buchstaben
d und den übrigen Koeffizienten der ersten Gleichung. Setzt man
den letzten Ausdruck gleich Null, so hat man die Bedingung, daß die
vorgelegten Gleichungen simultan seien. Diese Polynomen sind
Determinanten, die durch eine einfache Regel niedergeschrieben
werden können. B&zout schreitet dann zur Elimination zweier Un-
') Histoire de l’acad. roy. des sciences, annde 1764, Berlin 1766, p. 91 bis
104. ?) Verhandelingen uitgegeeven door de Hollandsche Maatschappye der
Weetenschappen, te Haarlem, IX Deels III. Stuk 1767, S. 1—43. ®) Histoire
de l’acad. roy. des sciences, annde 1764, Paris 1767, p. 288— 338.
102 Abschnitt XX.
bekannten aus zwei Gleichungen m'® und m’t" Grades, indem er die
erste. Gleichung mit einem Polynom M’a”’-14 Na®-21... multi-
pliziert und die. zweite mit einem Polynom Ma”"-14 Nam-2ı...
und die Prodakte addiert. Der Koeffizient jeder Potenz von x in
dieser Summe wird nun —0 gesetzt. Sind z. B. die vorgelegten
Gleichungen A + Ba +0C=0, Ax®+Bx+0C=0, mültipliziert
man beziehungsweise mit M&+ N, M’z+ N, und läßt die Koef-
fizienten von x in der Summe der Produkte verschwinden, dann hat
man AM +AM=V, BM+BM+HAN+AN=0, 0M+COM
+BN+BN=0, ON+CON=0. Man darf hier den willkür-
lichen Koeffizienten M gleich A’ setzen, dann wird M=—.A.
Durch Elimination von N, N’ erhält man einen Ausdruck, den man
leichter durch die Formeln obgenannten Lemmas niederschreiben
kann. Dies Verfahren läßt sich, wie Bezout erklärt, auf drei oder
mehrere Gleichungen ausdehnen. Um die Operationen abzukürzen,
schlägt er vor, daß man bei den Gleichungen Ax”" + Ba"-1+...
+T7T=0, 4x" + Ba"-!+...7’=0, ım Falle m = m’, die erste
nacheinander mit A’, Ax+BD, Ax”’+Dx+0C,---, und die zweite
nacheinander mit A, Ac+B, Aa?+Bx-+0,--- multipliziere und
jedesmal die Differenz der entsprechenden Produkte niederschreibe.
Man erhalte auf diese Weise m Gleichungen m — 1‘ Grades. Man
soll dann jede Potenz von x als eine Unbekannte betrachten, und
das Lemma liefere die Bedingung für die simultane Existenz dieser
m Gleichungen. Die Frage, ob die Werte der verschiedenen Potenzen
von & bei der Annahme, daß sie verschiedene Unbekannte vorstellen,
miteinander verträglich seien, wird nicht berührt. Das Endresultat
erkennt man als eine symmetrische Determinante. Ist m’ < m, dann
multipliziereman die zweite Gleichung mit Aa ""', Aa +1 Bmw’...
und verfahre wie oben. Der Grad der Resultante wird achtsam unter-
sucht und nicht größer als das Produkt der Ordnungsexponenten der
zwei Gleichungen gefunden.
In der Schrift Nova criteria radices aequationum imagi-
narias dignoscendi') erklärt Euler, daß die damals aufgestellten
Kriterien für imaginäre Wurzeln die Existenz solcher Wurzeln in
einer Gleichung wie # +42? —82°—242x+108=(2?+82+18).
(<” — 42 +6)=0 nicht kund machen. Clairauts Algebra und die
Veröffentlichungen von Waring aus den Jahren 1762 und 1764 waren
ıhm also nicht bekannt. Euler stellt drei Prinzipien auf: Erstens,
sind alle Wurzeln einer Gleichung reell, dann hat die Gleichung,
deren Wurzeln die Quadrate derjenigen der vorgelegten Gleichung
ı) N. Comm. Petr. Tom. XIH, pro anno 1768, Petropoli 1769, p. 89—119.
Algebra. 103
sind, lauter positive Wurzeln, und die Zeichen ihrer Koeffizienten
wechseln ee ab. Zweitens, in der Gleichung 2” — aa”-!
+ba"=?+---=( mit reellen Wurzeln muß die Summe der er
drate der Wurzeldifferenzen positiv sein und folglich a? > re
Drittens, hat die Gleichung =" + aa"! +ba""?+...—0 ger
reelle Wurzeln, dann haben die zwei davon abgeleiteten Gleichungen
n — 1‘ Grades auch lauter reelle Wurzeln: na”-!+ (n —1)ax"-?
+(n — 2)ba"? +. —=0, aa®"14+2ba"r=?+ 3c2"-°+...—=0. Den
Nachweis er, zieht er aus der Kurventheorie. Für die erste be-
- trachtet er -—. — 0, und für die zweite setzt er erst = 1/2. Durch
Wiederholung der Operation fließen aus den zwei Gleichungen
n — 1‘ Grades drei Gleichungen n — 2'” Grades und vier Glei-
chungen n — 3‘ Grades usw., bis man endlich auf quadratische Glei-
chungen kommt, deren Wurzeln leicht erkennbar sind. Es ist zu
beachten, daß von diesen drei Kriterien keines hinreichend ist, und
keines die Anzahl imaginärer Wurzeln anzeigt, im Falle, daß solche
sich vorfinden. Die zwei ersten Prinzipien findet man schon in
Newtons Arithmetica universalis.
Das dritte Prinzip Eulers wird auch von J. H. Lambert in
seinen Observations sur les &quations d’un degr& quelconque!)
hergestellt. Um die Bedingung für die Existenz gleicher Wurzeln
einer Gleichung 2 +a2+bz+k=0 zu bestimmen, findet Lam-
bert den größten gemeinschaftlichen Teiler zwischen 2? + a2? +bz
+k und 32? +2az-+b, und setzt den letzten Rest gleich Null. In
einer zweiten Abhandlung des gleichen Jahres?) bemerkt Lambert,
daß Analysten wenig Hoffnung hegen, die allgemeine Auflösung
algebraischer Gleichungen zu erzielen, weshalb es wünschenswert sei,
Kunstgriffe für die Auffindung der Wurzeln für Spezialfälle zu ent-
decken. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit numerischen Glei-
chungen. Nach einem seiner Vorschläge bilde man eine*zweite Glei-
chung, deren Wurzeln die Summe je zweier Wurzeln der vorgelegten
Gleichung sind. Diese Hilfsgleichung lasse sich öfters in rationale
Faktoren zerlegen und liefere die erwünschte Lösung.
Franeiseo de Toschi a Fagnano untersucht in einer Schrift,
De infinitarum aequationum resolutione, quarum radices
sub eadem forma exhibentur, qua radix cubica, quae diei-
tur Cardani°) Gleichungen, die mit 2° + 2 + , —=( oder
') Histoire de l’acad. roy. des sciences, annde 1763, Berlin 1770, p. 278 bis
291. ?) Ebenda, S. 292—310. ») Nova Acta Eruditorum, 1770, p. 200—227.
104 Abschnitt XX.
ö
er + 2ayt— a0 (wo 2 =t— - gesetzt ist) verwandt sind.
Statt dieser Gleichung 6° Grades nehme man Pr + Zar-ipny — ad"
— 0, worin n eine ganze oder gebrochene, positive oder negative, ja
sogar eine irrationale Zahl sein möge. In jedem Falle habe man
1i—n 1
1
2a" <= (-y+Yy+ ar —(y+ Vy’+ a®)". Jede Gleichung,
die sich auf die Form der obigen 2n'® Grades reduzieren läßt, zeigt
Wurzeln der Cardanschen Art. Wenn n eine gerade Zahl ist
und man bei + das untere Zeichen nimmt, sei die Wurzel durch Ima-
ginäres verunstaltet; ist aber n ungerade, sei es gleichgültig, welches
Zeichen man nimmt. Durch Differentiation der Wurzelform und
Kombination erhält er BR.2. uch — Tr ER:
Verta@ yyrtar
und Transformation wird
. Dann durch Integration
2a ıy=(2-+ Var + a)" — (-2+ Va + ad)",
eine Gleichung, die die Cardansche Wurzelform besitzt. Indem man
r ER OR
für 2 t— 7 einsetzt, gelangt man zur ursprünglichen Gleichung
2n‘® Grades. Dann folgen geometrische Betrachtungen, aus welchen
hervorgeht, daß die Konstruktion aller dieser Gleichungen durch die
Seiten rechtwinkliger Dreiecke nach der Cotes’schen Methode für
Kubikgleichungen erzielt werden kann.
Ein durch leichtfaßliche Darstellung für den Unterricht geeig-
netes Werk über Gleichungstheorie wurde von Mako unter dem
Titel De arithmetieis, et geometrieis aequationum resolutio-
nibus liber duo 1770 in Wien veröffentlicht. Paul Mako de
Kerek Gede (1724? —1793) war ein ungarischer Jesuit, welcher
durch seine Lehrtätigkeit in Mathematik und Physik an der Theresia-
nischen Akademie in Wien Geschmack für die Mathematik erweckte.
Der Pariser Astronom und Physiker Achille Pierre Dionis
du Sejour (1734—1794) veröffentlichte!) einen Beweis, daB 2° — px
+g=0 für den irreduktiblen Fall, 4p? > 27 q°, keine Wurzel von
der Form a+byV—1 haben kann, und, da D’Alembert gezeigt
habe, daß alle imaginären Wurzeln diese Form annehmen, müssen
alle drei Wurzeln reell sein. Dieser Gedanke wird in einer Abhand-
lung Pour determiner le nombre des racines reelles et des
racines imaginaires...?) weiter entwickelt und auf Gleichungen
dritten und vierten Grades angewandt. Er setzt voraus, daß jede
») Histoire de l’acaddmie royale des sciences, annde 1768, Paris 1770,
p. 207, 208. *) Ebenda, annde 1772, II. Partie, Paris 1776, p. 377—456.
Algebra. 105
Wurzel sich in der Form a +bY— 1 ausdrücken lasse, wo a reell
ist, b aber diesmal entweder reell oder eine durch Y— 1 nicht teil-
bare imaginäre Größe ist. Für x substituiert er «+bYV-—1 und
bildet aus dem Resultate zwei Gleichungen, wovon die eine aus den
mit dem Faktor Y— 1 behafteten Gliedern besteht und die andere
alle übrigen Glieder enthält. Erhält nun a in einer dieser Glei-
chungen einen willkürlichen Wert, dann läßt sich der korrelative Wert
von b bestimmen. Setzt man diese Werte von a und 5b in die
andere Gleichung ein, so erhält man Ausdrücke für die Bestimmung
der Spezialgleichung desselben Grades, welche z— a—bV—1 als
Faktor enthält. Stellt sich b als eine durch Y —1 nicht teilbare
imaginäre Größe heraus, dann ist dieser Faktor imaginär, in anderen
Fällen ist er reell. Setzt man z. B. in der Gleichung @ +px +g=0
den Wert «+bY-—1 für x, dann erhält man nach obiger Anweisung
die zwei Gleichungen (a) a — 3ab? + ap+qg=0, (ß) 3a —p=0.
Eliminiert man #, so wird (y) 2a(4a+p)—g=0. Der kleinste
Wert, den a? in (8) annehmen kann, ist 0. Setzt man in («)
a=0 und b=+Yp, so wird g=(, und + V—-p=0 ist ein
Faktor der Gleichung. Aus (ß) zieht man b= + Y3a?+p; für
Werte von p>— 3a? ist b also immer reell und zwei Wurzeln der
Kubik sind immer imaginär; b = 0 ist der Grenzwert. Setzt man in
(«)b=0 unda=+ —*, so wird 4p°+27q?=0, in welchem Falle
+ V =(. Nun kann 5b nicht reell sein, wenn y in der Glei-
chung (1) 3a +p—y=0 nicht positiv ist. Diese Gleichung, in
Verbindung mit («) und (ß), liefert 49° +27 = 4Ay(4y— 3)”, woraus
zu ersehen ist, daß die vorgelegte Gleichung nur dann imaginäre
Wurzeln haben kann, wenn y positiv, und folglich 4p? + 274?
positiv ist. Sejour läßt eine ausführliche Besprechung der Quartik
und die geometrische Deutung seiner Resultate folgen. Lagrange
drückte sich über Sejours Verfahren anerkennend aus!), möchte
aber dasselbe auf die Quintik übertragen sehen. Dies soll Sejour
kurz vor seinem Tode wirklich erzielt haben; die neue Abhandlung
sei aber verloren gegangen’).
Die Hauptresultate über Gleichungen in der Miscellanea ana-
lytica, 1762, wurden von Waring in etwas veränderter Form in
‘) Lagrange, Oeuvres, T. XIV, p. 71. ?) Michaud, Biogr. univ.; La-
place, „Lecons de math. donnedes A l’&cole normale“, Journ. de l’&cole polyt.
T. I, Paris 1812, p. 44.
106 _ Abschnitt XX.
den Meditationes algebraicae, 1770, wiedergegeben. Letzteres
ist aber ein größeres Werk und enthält vieles, was sich im ersten
nicht vorfindet oder dort nur ganz kurz angedeutet ist. Die ein-
schlagenden Neuerungen finden sich aber alle schon im ersten
Werke. |
Er zeigt unter anderem folgende Methode, die Grenzwerte
von Wurzeln festzusetzen: Hat (A) =” — pa”"'+ete.—0 die reellen
Wurzeln «, ß, y, ete, ww a>ß>y>:--, dann hat (B)na*"' —
(n — 1) px"”?+ ete. = 0 die reellen Wurzeln z, og, 6,..., welche be-
züglich zwischen « und ß, ß und y ete. liegen; auch liegen die
Wurzeln von hA+mB=(, wenn h und m gleiche Zeichen haben,
bezüglich zwischen «& und m, ß und o ete.; wenn aber A und m
entgegengesetzte Zeichen haben, ist eine Wurzel vonhA+mB=V0
größer als «, während die übrigen bezüglich zwischen x und ß, @
und y etc. liegen. Wenn h und m gleichzeichig sind, liegt eine
Wurzel von hA+mB=0 zwischen der kleinsten positiven und
Null, und eine andere zwischen der kleinsten negativen und Null von
der Gleichung A= 0. Nun leitet er mehrere Regeln ab, welche an-
nähernd die Anzahl imaginärer Wurzeln einer Gleichung angeben'),
die aber wegen ihrer komplizierten Natur keine Aufnahme gefunden
haben. Ist die vorgelegte Gleichung?) « — pa” "'+q@""’— etc. = (),
so eliminiere man x zwischen derselben und na”"1— (n — 1)pa”?
+ ete. =» oder zwischen 2” — pa*""!+ete.=v und na”"!— (n—]1)
px”-?-+ete.=(0, und man kann aus der Gleichung v* — Av""'+
Bv"-2+...+&$=0 immer die genaue Anzahl imaginärer Wurzeln
in einer Kubik, Quartik und Quintik entnehmen, und in einer höheren
Gleichung entscheiden, ob sich imaginäre Wurzeln vorfinden. Das
letzte Glied entscheidet ferner, ob die Anzahl solcher Wurzeln 2, 6,
10 ete. oder 0, 2, 8 ete. ist. Um Descartes’ Zeichenregel nachzu-
weisen, wird hervorgehoben, daß bei Multiplikation des Polynoms
durch (x — a) die Anzahl der Zeichenwechsel um 1 oder 3 oder 5 etc.
vermehrt wird. Die Diskussion komplexer Wurzeln nimmt 80 Seiten
von Warings Quarto-Werke ein.
Es wird?) eine Methode vorgeführt, Annäherungen zu imaginären
Wurzeln zu finden. Ist «+bV-—-1 ein Näherungswert, so kann
man größere Genauigkeit durch die Substitution von 2=4a+ a+
(b +5) Y—-1 in die vorgelegte Gleichung und die Festsetzung der
beiden Werte, @ und b’, durch Auflösung der erfolgten Bestimmungs-
gleichungen erlangen. Dann wird ein Verfahren skizziert, um aus
1) Meditationes algeb., ed. tertia, 1782, p. 68, Problem IX ff. ?) Ebenda,
p. 87, Problem XIII, XIV. ®, Ebenda, p. 268.
Algebra. 107
Inkrementen der Koeffizienten die Inkremente der Wurzeln zu be-
rechnen. Endlich wird nach der Anzeige in der Vorrede!) „bewiesen,
daß jede Gleichung reelle oder imaginäre Wurzeln von der Form
«+ BYV-—1 habe“. Jede Gleichung?) 2° — px"=!+ ete. = 0 könne
in irgend eine andere @«*— Pa”-! X ete. = (0 durch beständige Ad-
dition von Größen — pa"! + g’ar-?_— ete. (wo p', d’,... möglich
kleinste Größen sind, so gewählt, daß mehr als zwei Wurzeln niemals
einander gleich werden) transformiert werden. Deshalb müsse irgend
.eine Wurzel der Gleichung &”— Pa”-!1ete—=0 in der Formel
&@+ßY-—1 enthalten sein. Es ist diese eine der Stellen in Warings
Schriften, so allgemein und kurz gefaßt, daß sie beinahe wertlos sind.
James Wood, ein Verehrer Warings, gesteht, daß der Verfasser
hier den Leser über die Wurzelexistenz im Zweifel lasse. Uns scheint
die Wurzelexistenz stillschweigend vorausgesetzt; Waring wollte
wahrscheinlich nur nachweisen, daß sogar die sogenannten unmög-
lichen Wurzeln immer in der Form «+ Y--1ß enthalten sind.
Die Theorie der Gleichungen wird nun von Lagrange, dem
größten Mathematiker des 18. Jahrhunderts, mit einschlagenden Ab-
handlungen bereichert. Wir halten einige Augenblicke inne, kurz
seinen Lebenslauf zu schildern. Joseph Louis Lagrange?’) (1736
bis 1813) wurde zu Turin am 25. Januar geboren. Sein Urgroßvater)
war ein geborener Pariser und war als Kavalleriekapitän im Dienste
Königs Emanuel II. nach Sardinien gegangen, der ihn durch Ver-
heiratung mit einer Dame Conti an Turin fesselte. Lagranges
Vater war Kriegszahlmeister und seine Mutter die Tochter eines
') Ebenda, p. XLI. ?) Ebenda, p. 272. ®) Wir benutzen folgende
Schriften: 1) Nachricht von Lagrange’'s Leben und Schriften, vorgelesen von
Delambre am 3. Januar 1814 in der Akademie der Wissenschaften zu Paris
[Memoires de la classe des sciences mathematiques et physiques de l’institut de
France, annde 1812], übersetzt von A. L. Crelle und gedruckt in J. L. La-
grange’s mathematische Werke, herausgegeben von A. L. Crelle, Erster Band,
Berlin 1823. 2) Preeis Historique sur la vie et la mort de Jo seph-Louis
Lagrange, par MM. J.J. Virey et Potel, Paris 1813. 3) Intorno alla vita
ed alle opere di Luigi Lagrange. Discorso letto nel R. Liceo Galilei di Pisa
dal Cav. Angelo Forti, Roma 1869. 4) Notizen von Guyton Morveau in
A.L. Crelle, op. eit. I, p. LXIX—LXXI. 5) Einige Zusätze zu vorstehenden
Nachrichten von Lagrange’s Leben von A.L. Crelle in op. eit. I, p. XCV bis
XCIX. 6) Joseph Bertrand, Eloges Academiques, nouvelle serie, Paris 1902,
p. 291—311 (Extrait du Journal des Savants, septembre 1888). 7) A. Harnack,
Gesch. d. K. Preuß. Ak. d. Wiss. zu Berlin, 1900. 8) Cossalis Elogio di L.
Lagrange war uns nicht zugänglich. *) Nach Forti, op. eit. S. 8, und
Virey et Potel, op. eit. p. 4, wurde er am 30. Januar geboren; nach Forti
war sein Großvater, nicht sein Urgroßvater, im Dienste Emanuels II. von
Sardinien,
108 Abschnitt XX.
reichen Arztes zu Cambiano. Durch gewagte Unternehmungen verlor
der Vater sein Vermögen. Der junge Lagrange interessierte sich
anfangs für Cicero und Virgil; erst später zeigte sich Neigung für
Mathematik. Zuerst studierte er die Geometrie der Griechen, dann
erregte eine Abhandlung des Astronomen Halley, worin die Vorzüge
der Analysis hervorgehoben wurden, in ihm großen Eifer für die
Analysis. Er machte so ausgezeichnete Fortschritte, daß er vor
seinem 20. Jahre!) die Stelle eines Professors der Mathematik an der
Königlichen Artillerieschule zu Turin bekleiden konnte. In Verbin-
dung mit einigen seiner Schüler gründete er die Turiner Akademie.
Zu dieser Zeit bearbeitete er seine neuen Methoden für die Maxima
und Minima, schrieb über rücklaufende Reihen und Wahrscheinlich-
keitsrechnung. In der Abhandlung über die Fortpflanzung des
Schalles behandelte er einen schwierigen Gegenstand, an welchem
Newton, Taylor, Daniel Bernoulli und D’Alembert gearbeitet
hatten, und trat gleichsam als Schiedsrichter auf, der jedem zeigte,
worin er in diesem Streite recht oder unrecht hatte. Lagranges Ar-
beiten veranlaßten Euler ihn in die Berliner Akademie aufnehmen
zu lassen. ° Am 2. Oktober 1759 meldete Euler seine Aufnahme an.
Lagrange sehnte sich die Pariser Gelehrten, mit denen er in
Briefwechsel war, persönlich kennen zu lernen. Er nahm eine Ein-
ladung seines Freundes Carraccioli an, mit ihm über Paris nach
London zu reisen. In Paris wurde er von D’Alembert, Clairaut,
Condorcet, Fontaine, Nollet, Marie und anderen gut aufgenommen.
Plötzlich erkrankt, konnte er seinem Freunde nicht nach London
folgen. Nach Turin zurückgekehrt, widmete er sich mit neuem Eifer
der Mathematik. Als Euler sich entschied, Berlin zu verlassen, um
nach St. Petersburg zu gehen, bot Friedrich der Große die Prä-
sidentenstelle seiner Akademie D’Alembert an. D’Alembert hatte
aber keine Lust Paris zu verlassen und schlug Friedrich vor, La-
grange an Eulers Stelle zu setzen. Diesen Vorschlag hatte schon
Euler selbst gemacht. Lagrange wurde berufen. Sein Aufenthalt
zu Turin hatte ihm wenig mehr gefallen. Er fand dort niemand, der
Mathematik mit Erfolg studierte Er schrieb: „Je suis determine ä
me tirer d’iei ä quelque prix que ce soit.“?)
Lagrange nahm die Stelle in Berlin am 6. November 1766 an.
Während seines zwanzigjährigen Aufenthaltes in Berlin lebte er so
ganz seiner Wissenschaft, daß ihm die Händel der Welt beinahe un-
bekannt blieben.
') Nach Virey im 15., nach Delambre im 16., nach Forti im 18. Jahre.
”) Vide Bollettino di Bibliografia e Storia delle Seienze Matematiche, Editore
Carlo Clausen, Torino, T. IV, 1901, p. 4.
Algebra. 109
Veranlassung zur Verlegung seines Wohnortes nach Paris waren
der Tod Friedrichs des Großen und die Veränderungen, welche da-
nach in Preußen stattfanden oder befürchtet wurden. Mit der Be-
dingung, daß er der Berliner Akademie noch einige Memoiren liefere,
nahm er Abschied und kam 1787 in Paris an. Er wurde mit Wohl-
wollen empfangen und ihm eine Wohnung im Louvre zugeteilt. Aber
von dieser Zeit bis zur Gründung der Polytechnischen Schule verlor
er den Geschmack an mathematischen Untersuchungen; er war zer-
streut und schwermütig, Zwei Jahre lang lag seine Me&ca-
nique analytique, 1788 von Legendre herausgegeben, ungeöffnet
auf seinem Schreibtische. Metaphysik, Medizin, Botanik, Chemie teilten
sich in seine Muse. Lavoisiers Chemie fand er „so leicht wie
Algebra“.
Die Hinrichtung Lavoisiers versetzte ihn in große Trauer.
„Sie haben nur einen Augenblick gebraucht,“ sagte er zu Delambre,
„um diesen Kopf fallen zu machen, und hundert Jahre vielleicht werden
nicht hinreichen, einen ähnlichen hervorzubringen.“ Zu dieser Zeit
sank das französische Papiergeld im Werte, und Lagrange geriet ın
drückenden Mangel. Durch die Vermittlung eines seiner deutschen
Freunde wurde ihm aus Preußen eine Pension von 300 Talern pro
Jahr für die ganze Zeit seit seiner Abreise von Berlin zugeschickt.
Bei der Gründung der Normalschule in Paris wurde er zum Lehrer
ernannt, die ephemere Existenz derselben ließ ihm aber kaum Zeit,
die Grundsätze der Arithmetik und Algebra vorzutragen. Es war die
Polytechnische Schule, welche Lagrange der Analysis wiedergab.
In der Unterhaltung war er sanft und beinahe schüchtern. Seine
Rede begann gewöhnlich mit einem „Ich weiß nicht“. Von den Ver-
diensten anderer sprach er mit größter Achtung. Auf die Frage, wie
die Mathematik am besten zu studieren sei, verwies er auf Eulers
Schriften. Er war zweimal verheiratet. In Berlin vermählte er sich
mit seiner Cousine, deren früher Tod ihn tief betrübte. In Paris
heiratete er 1794 die junge Tochter des Astronomen Lemonnier,
die ihm ihre schönsten Jahre widmete und sein Leben versüßte.
Euler verfaßte seine Abhandlungen in Latein, aber Lagrange
benutzte die allgemeiner verständliche französische Sprache. Während
Euler mit naiver Schaffensfreudigkeit und großer Begeisterung alle
Teile der Mathematik entwickelte und Wichtiges und Unwichtiges
mit gleicher Weitläufigkeit darlegte, so daß seine Schriften zu einem
kaum zu überwältigenden Umfange anwuchsen, schrieb Lagrange mit
größerer Sorgfalt, nahm sich mehr Mühe allgemeine Gesichtspunkte
zu erreichen und seine Resultate in knappe und elegante Form zu
bringen. Eulers Schriften lesen sich „wie Novellen“; diejenigen
110 Abschnitt XX.
Lagranges sind mehr abstrakt, dringen tiefer und zeigen größere
Präzision der Darstellung.
Lagrange machte einen neuen Angriff auf das Eliminations-
problem in einer Schrift, Sur l’elimination des inconnues dans
les &quations!). Wenn zwischen zwei simultanen Gleichungen 0O=1+
2 +3 +...ud0=1+4r+BR+.. = (l-am)(1-Be)--;,
bezüglich m‘ und n'" Grades, x eliminiert werden soll, ist es klar,
daß das Produkt T=(l+ac+bae +: )1+aß+bp+:-.)---
—=( sein muß. Der Logarithmus dieses Produktes II liefert n
Glieder, log(1l+a« + aa? +:--)-+ etc, wovon jedes in eine Reihe
entwickelt wird. Dann zieht er die Theorie der symmetrischen
Funktionen zu Hilfe und erhält eine Reihe I-1-9+%—--,,
welche // als eine Funktion von a,b, c,... und A, B, (,... aus-
drückt. Die Gleichung //= 0 hat kein Glied, worin die a,b, ce...
zusammen die Dimension m, und die A, 5, (©, ... zusammen die
Dimension n übersteigen. Das Verfahren ist schwerfällig und hat
keine weite Annahme gefunden.
Die bedeutendste Abhandlung über Gleichungstheorie des 18. Jahr-
hunderts ist wohl die Arbeit von Lagrange, Reflexions sur la
resolution algebrique des equations’), denn darin, wie in keiner
anderen, werden allgemeine Gesichtspunkte erreicht und die Grund-
lagen der Methoden gelegt, auf welche später Ruffini, Abel und
Galois weiter bauten. Er fängt mit der kubischen Gleichung an
und zeigt, daß ihre Lösung von einer Resolventen-Gleichung sechsten
Grades abhängt, die er reduite derjenigen dritten Grades nennt.
Sind a, b,c die Wurzeln der kubischen Gleichung, y eine Wurzel
der reduite und «, ß die imaginären Werte von V— 1, so hat man
3y=a+eb+Bßec. Da der Wert des y nicht direkt von a, b, c,
sondern von den Koeffizienten der kubischen Gleichung abhängt, in
denen die drei Wurzeln gleichförmig eintreten, so ist klar, daß man
in dem Ausdruck für 3y die drei Größen a, b, c willkürlich ver-
tauschen kann, wodurch man sechs verschiedene Werte für 3y erhält.
Wenn nun Aa + Bb + (ec einen Wert von y darstellt, worin A, DB,
Cvona, b, c unabhängig sind, so kann man a, b, c auf alle mögliche
Weisen vertauschen und so die sechs Wurzeln und endlich die Re-
solvente selbst herleiten. Er erklärt die Tschirnhausensche Auf-
!) M&moires de l’acad. roy. des sciences, annde 1769, t. 25, Berlin 1771,
p. 3083—320 —= Oeuvres, T. III, p. 141—154. 2) N. m&moires de l’acad. roy.
des sciences, annde 1770, Berlin 1772, p. 134—215; annde 1771, Berlin 1773,
p. 138— 254 = Oeuvres, T. II, p. 205—421.
Algebra. 111
lösungsmethode und zeigt, daß diese, sowie alle anderen, die Auf-
findung von Resolventen, deren Wurzeln entweder +2" a+x” a2
oder («+ x2”«+x”a2)® sind und deren Grad entweder der sechste
oder der zweite ist, erfordern.
In diesen Untersuchungen hatte Lagrange Gelegenheit, die Kri-
terien abzuleiten, damit zwei Gleichungen mehr als eine Wurzel mit-
einander gemein haben. Sind P— 0, Q@=0 die zwei Gleichungen,
nehme man P=y und schaffe x aus beiden Gleichungen weg. Man
bekommt y"-+ ay® Ir... +pYP® +qy+r=0. Danunr=0 sein
muß, damit P=0 und Q=0 eine gemeinschaftliche Wurzel haben,
so wird zu zwei gemeinschaftlichen Wurzeln r — 0, 2 —=(, und zu
2
; .— 0 und za =(, ete. erfordert, wo & das letzte
Glied der einen von den gegebenen Gleichungen ist.
Zur Gleichung vierten Grades schreitend, bespricht Lagrange
die Methoden von Ferrari, Descartes, Tschirnhausen, Euler,
Bezout und zeigt den Zusammenhang und die gegenseitige Abhängig-
keit derselben. Er gibt die a priori Gründe an, warum einige da-
von auf Resolventen dritten, andere auf solche sechsten Grades führen,
die aber zum dritten erniedrigt werden können. Die Wurzeln dieser
Resolventen sind Funktionen der Größen x, x”, x”, x'V, solcher Art,
daß, wenn alle möglichen Permutationen der vier Größen stattfinden,
nur drei verschiedene Werte entspringen, wie bei a” + x” a'Y, oder
sechs Werte, von denen je zwei entgegengesetzte Zeichen aber
gleichen absoluten Wert haben, wie bei +2” — x” — av ,‚ oder
auch sechs Werte, die in drei solche Paare verteilt werden können,
daß, wenn man die Summe oder das Produkt der Werte jedes Paares
bildet, diese drei Summen oder drei Produkte, bei irgend einer Per-
mutation der x, x”, x”, &'!Y immer unverändert bleiben. Auf der
Existenz solcher Funktionen ruht die allgemeine Auflösung biquadra-
tischer Gleichungen.
Lagrange kennt zwei Methoden, durch deren Hilfe man viel-
leicht die allgemeine Auflösung der quintischen Gleichung erwarten
dürfe: die Tsehirnhausensche Methode und diejenige von Euler
und Bezout. Diese ergeben eine allgemeine und einheitliche Lösung
der kubischen und biquadratischen Gleichungen, erfordern aber bei der
Quintik die Lösung einer Gleichung des 24: Grades, die gewiß nicht
auf einen niedrigeren als den 5" Grad reduziert werden kann.
Lagrange sucht a priori die Tragweite dieser Methoden zu er-
mitteln. Um die Gleichung
dreien r = 0
2" + mat nat pam dr... (0
112 Abschnitt XX.
nach Tsehirnhausen zu lösen, setzt man + fair ga? -
+9y= 0, worin f, 9, . . . unbestimmte Koeffizienten sind, und erhält
yu + Ay“=t+ Bye=?+ Oyt®?+.. =0, wo A, B, C,... rationale,
ganze Funktionen von f,g,... sind. Man daf A=B=(=--- -0
setzen, so daß y“+ V=0. Ist u zusammengesetzt und=»vo, so erhält man
im allgemeinen eine Resolvente des (Grades ut. en ein
o
Wenn u prim ist, ist sie des Grades 1.2.3: -- (u — 1), kann aber
immer in 1.2.3... (w— 2) Gleichungen u — 1‘ Grades, mit Hilfe
einer Gleichung 1.2.3: (u — 2)” Grades, zerlegt werden. Für
uw=5 ist der Grad letzterer Gleichung 6; für u=7 ist er 120.
Wie hoch aber auch der Grad 1.2.3:-:-(w— 2) sein mag, bietet
ihre Lösung keine Schwierigkeiten dar, die man nicht zugleich in
der vorgelegten Gleichung u‘ Grades findet, denn die |u — 2-Wurzeln
sind bekannte Funktionen der u Wurzeln #, &”, &’...., und deshalb
nieht unabhängig voneinander, sondern durch |u — 2 — u Beziehungen
miteinander verbunden. Resolventen der gleichen Grade ergeben sich
im allgemeinen aus Eulers und Bezouts Methoden. Eine zweite
Auflösungsmethode von Bezout wird untersucht. Dieselbe liefert
für die Gleichung 6” Grades eine Resolvente des 10t®® Grades, die,
Bezouts Vermutung zuwider, nicht in zwei Gleichungen zerlegt
werden kann.
Mit diesen kurzgefaßten Auseinandersetzungen des dritten Teils
der Lagrangeschen Schrift schreiten wir zum letzten Teil, wo er
zeigt, daß alle bekannten Auflösungsmethoden sich auf das gleiche
allgemeine Prinzip reduzieren lassen. Dieses besteht darin, Funktionen
der Wurzeln der vorgelegten Gleichung zu finden, solcherart, daß
1) die Gleichung oder Gleichungen, von denen diese Funktionen die
Wurzeln sind, von niedrigerem Grade als dem der vorgelegten sind,
oder wenigstens in solche zerlegt werden können, 2) man die ge-
suchten Wurzeln auf bequeme Weise herleiten kann. Die Auf-
lösungskunst besteht also in der Entdeckung solcher Funktionen. Ist
es möglich, für u>4 solche Funktionen zu finden? Dies sei im
allgemeinen sehr schwer zu beantworten. Für n<5 sei «+ ya”
2a” +... + yt 1a) die allgemeine Form der einfachsten Funktion
der Wurzeln &, x”,..., wo y eine imaginäre uw Einheitswurzel ist.
Da für nZ5 diese Funktion nicht zum Ziele führt, müsse die Auf-
lösung durch neue Funktionen erfolgen, wenn sie überhaupt möglich
sei. Bisher habe er solche Funktionen nur a posteriori gesucht,
nun wolle er zeigen, wie rationale Funktionen a priori zu finden
seien.
Sind (8 95) &, a”, «”,.... die Wurzeln der vorgelegten Glei-
?
Algebra. 113
chung, f rationale Funktionen dieser Wurzeln, und nimmt man im all-
gemeinen das Produkt von so vielen Faktoren
- FIN), EN). -
FAIRE EN--
als Versetzungen unter den Wurzeln &, x”, ... möglich sind, näm-
lich © = IM Faktoren, so ist IM die Anzahl Wurzeln von einer irredu-
ziblen Gleichung © = t" — Mi®-!+ Nte?—...=0, wo M die
Summe aller Funktionen, N die Summe aller Produkte je zweier
Funktionen etc. darstellt. Es folgt, daß M, N,... rationale Funktionen
der Koeffizienten sind, welche, wie schon Cramer und Waring gezeigt
hatten, direkt berechnet werden können. Wenn nicht jede Permutation
ungleichförmige Funktionen liefert, und man gleiche Funktionen aus-
schließt, stellt sich @==0 von niederem Grade heraus. Es ergibt
sich das Resultat ($ 99), daß 1) alle gleichartigen Funktionen von
c,&,... (nämlich Funktionen von denselben Wurzeln, die bei einer
gewissen Permutation sich gleichzeitig ändern oder sich nicht ändern)
durch Gleichungen von gleichem Grade bestimmt sind; 2) daß
dieser Grad der Anzahl verschiedener Werte der Funktion gleich ist
und immer |u oder ein Teiler von u ist, 3) daß diese Funktionen be-
rechnet werden können. Eine solche Funktion kann rational durch
eine gleichartige Funktion ausgedrückt werden. Hat man zwei
rationale Funktionen, y und ft, solcher Art, daß sich ? für jede Wurzel-
permutation verändert, welche zugleich in y eine Variation hervor-
bringt, dann läßt sich y rational durch # und den Koeffizienten der
vorgelegten Gleichung ausdrücken. Lagrange erkennt diesen Lehr-
satz als einen der wichtigsten in der Gleichungstheorie ($ 100).
61 Jahre später erhielt dieser Satz eine allgemeinere Formulierung
durch Evariste @alois. Die Eigenschaften dieser rationalen Funk-
tionen werden durch die Kombinationsrechnung („caleul des eombi-
naisons“) untersucht. Man findet darin die Keime der großen Sub-
stitutionstheorie. Lagrange sagt ($ 109): „Dies sind, wenn ich
nicht irre, die wahren Gründe von der Auflösung der Gleichungen,
und der eigentliche Weg, welcher uns dahin führen kann.“ In der
_Vorrede des dritten Abschnitts sagt er: „Aus diesen Betrachtungen
erhellet, daß es äußerst zweifelhaft ist, ob die Methoden, von welchen
wir geredet haben, zu einer vollständigen Auflösung der Gleichungen
vom fünften Grade, und noch viel mehr der höheren Grade führen
können.“
Kurz nach Lagranges Abhandlung erschien eine andere wich-
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 8
Ed
114 Abschnitt XX.
tige Arbeit, Memoire sur la resolution des &quations!)
von Alexandre Theophile Vandermonde (1735—1796)2), einem
Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften und seit 1782
Direktor des Üonservatoire pour les arts-et-metiers. Die Unter-
suchungen von Waring, Lagrange, Marguerie (8.118), Condorcet
wurden ihm erst nach der Einreichung seines Memoires bekannt.
Vandermonde hebt hervor, daß die wesentliche Bedingung für die
allgemeine Auflösung der Gleichungen darin bestehe, eine Funktion
der Summe der Wurzeln, der Summe der Produkte je zweier ihrer
Wurzeln, der Summe der Produkte je dreier ihrer Wurzeln ete. zu
finden, die gegen irgendwelche Wurzel indifferent sei. Diese Unter-
suchung zerfalle in drei Teile: 1) eine Funktion der Wurzeln zu
finden, die solchen dieser Wurzeln, die man wünscht, gleich sei,
2) dieser Funktion eine Form zu geben, daß sie auch der Vertau-
schung der Wurzeln unter sich indifferent sei, 3) darin die Werte
der Summe der Wurzeln, der Summe der Produkte je zweier ihrer
Wurzeln ete. einzusetzen. Er fängt mit 5) an und berechnet Tafeln, die
die Werte symmetrischer Funktionen, durch die Gleichungskoeffizienten
ausgedrückt, angeben. Eine Funktion der in 1) verlangten Art ist
— a+b+c+ete+YVea +nb +nc4-:)"
+ Vatnbrniet. Pt. + Veh rn
die a, b oder c etc. indifferent gleich ist, wo a,b, c,... die Wurzeln
der gegebenen Gleichung und 1,r7,, 73, r3,... die n" Einheits-
wurzeln sind. Ist na=3, hat man
a=4latd+)+la+nd+n0)+(a+nd +10),
= =-[(a "% b+)+rlatrnb+trod)H+r?(a+r?’b+rzc)],
= la +b+)+nlatnb+n)+r2latrtb+ no).
Ferner (a +rb+r,c?’=a+b+e+babe+dr, (ab +bc+ ca)
+ 3r, (a?c + b?a + c?b), welcher Ausdruck nun leicht als eine Funktion
der Koeffizienten der vorgelegten Gleichung ausgedrückt werden kann.
Desgleichen für (a+r,?b+r,?c)’”., Auf diese Weise folgt nun die
Auflösung. Vandermonde sucht nun seine Methode auf die Quintie
und höhere Gleichungen anzuwenden. Hier stößt er auf Schwierig-
!) Histoire de l’acad. roy. des sciences, annde 1771, Paris 1774, p. 365 bis
416. ®2) Über Vandermondes Vornamen sehe man H. Simon in Zeitschr.
f. Math. u. Physik, 41. Jahrg., Hist.-Lit. Abth.
Algebra. 115
keiten, die obige Bedingung 2) zu erfüllen. Er schließt, daß die
Auflösung der Quintie sich auf die einer Gleichung sechsten Grades
stütze, deren Koeffizienten rationale Funktionen derjenigen der vor-
gelegten Gleichung seien. Für die Gleichung sechsten Grades ent-
deckt er Resolventen 10. und 15. Grades. Man substituiere in den
letzten die obgenannten Funktionen. Wenn diese Gleichungen sich
dann nicht auf solche vierten oder niedrigeren Grades reduzieren
lassen, suche man die Resolventen der Gleichungen 10. und 15. Grades
auf ete. Sei die allgemeine Quintic überhaupt lösbar, dann komme
man endlich zum Ziele. Für die Quintie entdeckte er auch eine
Resolvente fünften Grades. Er hat keine der angeführten Resolventen
wirklich berechnet. Er ist der erste, der eine algebraische Lösung
für 21 —-1=0 angab.
In der Vandermondeschen, sowie in einigen Teilen der voran-
gehenden Lagrangeschen Abhandlung findet man eine Auflösungs-
methode, welche den Namen Kombinationsmethode erhalten hat!).
Die älteren Verfahrungsarten von Tartaglia, Tschirnhausen,
Waring, Bezout werden zum Unterschiede Substitutionsmethoden
genannt. Auch Lagrange hat diese gebraucht. In ersterer werden
a priori eine oder mehrere einfache Kombinationen der Wurzeln an-
genommen und Resolventen zur Bestimmung dieser Kombinationen
abgeleitet. Vandermondes Annahme dient als Beispiel. In der
Substitutionsmethode substituiert man für x eine Funktion von einer
oder mehreren neuen Unbekannten, die zu Resolventen mit möglichst
einfachen Wurzelformen führen. Als Beispiel solcher Funktionen
führen wir die Wurzelformen von Euler, Waring, Bezout und
Lagrange und die Cardansche Annahme für kubische Gleichungen,
%2=y+2, oder die Tschirnhausensche, y=a+bx + ca, an.
Die Newtonsche Formel für die Potenzsummen der Wurzeln
wird von Kästner in einer 1757 verfaßten, aber erst 1771 gedruckten
Schrift?) nach der Methode der vollständigen Induktion bewiesen. Die _
unvollständige Induktion sei in der Mathematik zu meiden. Auch in
seinen Anfangsgründen der Algebra, $ 316, klagt Kästner, daß
viele Schriftsteller Gesetze allgemein annehmen, welche nur bei be-
sonderen Fällen als richtig erwiesen sind, wie z. B. beim binomischen
Lehrsatz. Es werde berichtet, „Reyneau habe Harriots Lehrsatz
aus seiner Analyse demontr&e weggelassen, weil er die Regeln der
Algebra demonstriren wollte“. „Ich hatte eben so viel Eifer die
Regeln zu demonstriren, als Reyneau kann gehabt haben, und in
’) L. Matthiessen, op. eit., p. 238, 789. ?°) Dissertationes math. et phys.
quas soc. reg. scient. Gottingensi annis 1756—1766 ete., Altenburgi 1771, p. 1—8.
8*
116 Abschnitt XX.
der That wäre es eine Schande für einen Deutschen, wenn er da nicht
demonstriren wollte, wo selbst ein Franzose dieses unternimmt.“ Die
Franzosen seien von der Euklidischen Beweisschärfe abgewichen, um
Leuten das Studium der Mathematik zu erleichtern.
An eine Arbeit von Gabriele Manfredi anknüpfend, gab
Gianfrancesco Malfatti in einem bedeutenden Artikel, De aequa-
tionibus quadrato-cubieis disquisitio analytica') die Lösungen
quadratischer, kubischer und biquadratischer Gleichungen, und über-
trägt dann seine Methode auf Gleichungen fünften Grades. Der
Arbeiten von Waring und Bezout tut er keine Erwähnung.
Wie Euler und B&zout nimmt er als Wurzelform der Gleichung
2 —- Bar +5” +5ec +d=0
x + mV +pVP+aVP +nVf=0,
wo f= 1 genommen wird, und erhält
2° — B(mn +pq)a? +5 (m?qg +n?p + mp? + ng?) #?
— 5(m’p + n’qa + mg?’ + np? — men? + mnpg - PP)zE+m’ +
+ pP? +? +5 (mn — pg) (mp? + ng? — m’g — n’p) =.
Malfatti setzt mn=y, pg=u, mg+npy=r, mP+ngd=t.
Zur weiteren Abkürzung schreiben wir m’p+n’g=v und mg’
+np®=w. Malfatti erhält nun w=rt— yw, vuv=ru+ty
— 4u?y?, und aus diesen letzten Zuv—=rt+s, 2yw=rt—s, wo
s= Vr?t — 4r2u?y — APuy? + 16u°y?. Dann wird vr = (m? + n?)u
+y?t, wt= (pP +q°)y+ w’r. Durch Elimination von v und w
folgen 2u(m’ +nd)= (rt +s)r —2tuf und 2 (P+gQ)=rt
— 2ru?y— ts. Durch Vergleichung der Koeffizienten der vorgelegten
und der derivierten Gleichung hat man
ytu=a r+t=b,
ty rWHW—NS
2uy
+? —-uytW= 6,
Ra
Die dritte Relation gibt s(u— y) = rt(y +.u) — 2uy’+2uy? — 2u’y
+2cuy. Setzt man hierin =b— r und quadriert, so erhält man
Be
1) Atti dell’ Accademia delle Scienze di Siena detta de’ Fisio-eritici,
L’anno 1771, T. IV, p. 129—184.
Algebra. 117
rt 2br° + @yP — Yu ya +2W— cy— cu +b)r?
+ (3b +4byPu—2byu?— bu’+bey+beu)r + yu— 6yfu?+11yPu?
6byut+yW—2ceyu+2eyu—2ceu’y+eyu+b’y— 2b? yu + biyu= 0
und, für s seinen Wert in der vierten Bestimmungsgleichung ein-
setzend,
| (y-+ u) r? — (by — 2bu) r?
+ (2,4 — 12yPu + 22 yPu? — 12yu? + 2ut + bu — ey? — cu’)r — by*
— 6byPu — 11by?u? + 6byu? — but + beu? — dy?u + dyu? = 0.
‚Eliminieren wir nun r, sagt Malfatti, so werden wir die lang-
ersehnte Resolvente erhalten. Er schreibt 23uy=z+5a?’ — .
und setzt die Resolvente in die Form
+ a + bd) + 00 Me + Fade
[ — 52 (30° — gr
5b + 1datbd+ Zbed+ ad) + (.- 20 - 20).
(dt + 30 abd? — 108 a?d? + 180 a?cd? — 80 ac?d? + 165 a?b?d?
+ 90b?ed? — 360 atbed + 560 atbed — 160be?d — 80 a?b’d
+ 630 ab?ed — 108b°d + 400 atc? — 640 a?c* + 256 ce?
+ 100a?b?e? — 720 ab?e? — 135 bie?) = 0.
Man wird gewiß zugestehen, daß Malfatti seine Elimination
sehr scharfsinnig durchgeführt hat. Vor ihm hatte niemand dieses
Ziel erreicht. Da die Gleichungen des 2., 3., 4. und 5. Grades Re-
solventen des O., 1., 3., 6. Grades besitzen, spricht Malfatti die Ver-
mutung aus, daß eine Gleichung n + 2'” Grades eine Resolvente
5 (m? + m) Grades besäße.. Er äußerte aber diese Ansicht mit
Schüchternheit, besonders da Euler den Resolventengrad niedriger
als den Gleichungsgrad zu stellen schien. Da Malfatti seine Re-
solvente sechsten Grades nicht allgemein lösen kann, sucht er Spezial-
fälle aufzulösen. Er erkennt das Vorhandensein rationaler Faktoren
der Resolvente als genügende Bedingung, und findet nicht nur alle
vor ihm als auflösbar bekannten Fälle, sondern auch noch neue Fälle.
In der Tat entdeckt er alle auflösbaren Fälle, denn es ist von
E. Luther!) gezeigt worden, daß die hinreichenden Bedingungen auch
zugleich notwendig sind’).
) Crelle, Bd. 34. ?) Vgl. J. Pierpont, loc. eit., S. 36; auch Francesco
Brioschi, ,„Sulla risolvente di Malfatti...“ in Memorie del reale istituto
Lombardo di scienze, lettere ed arti, Vol. 9, terzo della serie seconda, p. 217 bis
223, 224— 227.
118 Abschnitt XX.
In einer Abhandlung, Sur les equations resolues par M. de
Moivre!) behandelt de Castillon die früher von Euler und
Bezout besprochene De Moivresche Gleichung
a=- "ne Vi + n/a _ aaa ana, n- 63/6
7
in na MT) n-33/78 — etc
Verviezent ever) als Wurzel hat. De
2
Moivre gab keinen Beweis; Euler verifizierte die Lösung für
n<5. Castillon beobachtet das Bildungsgesetz der Glieder dieser
Gleichungen, mit Hilfe dessen das Resultat der Substitutionen viel
leichter gefunden wird, und bespricht die irreduktiblen Fälle.
Im Jahre 1773 erschien ein M&moire sur la resolution des
equations en general, et particulierement sur l’&quation du
5° degre?) von Jean-Jacques de Marguerie (1742—1779), einem
jungen, aus Mondeville bei Caen gebürtigen Schiffsleutnant. Auf
einer Fahrt nach Rußland machte er die Bekanntschaft von L. Euler.
Er beteiligte sich am nordamerikanischen Freiheitskampf und starb
in einer Seeschlacht der Franzosen gegen die Engländer. Seine
mathematischen Schriften sind uns nur durch die Angaben von La-
grange und seinem Biographen°)'bekannt. Lagrange pries die Talente
des jungen Mannes®) und schrieb an ihn’): „Ihre Methode die Re-
solventengleichung irgendwelchen Grades zu finden gefällt mir. Sie
hat den Vorzug diese Gleichung in der einfachsten Form zu liefern...
Ich bewundere, wie Sie durch geeignete Substitutionen Mittel ge-
funden haben, den Eliminationskalkül zu vereinfachen und besonders,
wie Sie sich von nutzlosen Faktoren befreien, die den Grad der End-
gleichung viel höher machen als er sein sollte. Ich glaube Sie sind
der erste, welcher das Resultat der Elimination für den 5. Grad ge-
geben hat.“
In seinen Reflexions sur la forme des racines des
equations determindes, la r&duetion et la solution de ces
&quations®) gibt Le Marquis de Condorcet allgemeine Über-
legungen, die er bei der Durchsicht der Arbeiten von Euler, B&zout,
die z=
‘) Nouveaux me&moires de l’acad. roy. des sciences et belles-lettres, annde
1771, Berlin 1773, p. 254—272. ?) Memoires de l’acad. roy. de marine, T. 1,
Brest 1773, p. 1. ®) Prosper Levot in Biographie universelle (Michaud),
N. Ed. #) Lagrange, Oeuyres, T. XIV, p. 17, Brief an Condorcet vom
24. Febr. 1774. °) Ebenda, p. 270. °) Melanges de Phil. et de Math. de la
Soc. Roy. de Turin, pour les anndes 1770—1773, Classe Math., p. 1—7.
Algebra. 119
Waring, de Marguerie, Lagrange und Vandermonde machte.
Er geht von der unsicheren Annahme aus, daß die Wurzeln einer
Gleichung n*"® Grades ganze algebraische Funktionen ihrer
Koeffizienten sein müssen und keine Radikale höherer als n‘ Ord-
nung zulassen. Er nimmt dann die ältere Eulersche Wurzelform
EIFRFEVBETICH- - - an, bespricht den Grad und die Reduk-
tibilität der Gleichung für die Bestimmung von A und zieht den
Schluß, „daß die Methode für die Auflösung der Gleichungen 2., 3,
4. Grades sich auf höhere Grade ausdehnen lasse und daß die Schwie-
rigkeit, welche von der Höhe der Gleichung oder der Wurzelform
entspringt, nur die ungeheure Komplikation der Berechnung betreffe,
welehe dann die Auflösung der Aufgabe erfordere; daß man aber
immer zur gesuchten Lösung gelange“. Condorcet veröffentlicht im
gleichen Bande!) Nouvelles recherches, worin er seine Ideen
weiter entwickelt und sie soweit modifiziert, daß er die Existenz un-
lösbarer Gleichungen nicht als unmöglich, wohl aber als unwahr-
scheinlich erklärt. Wenn eine Gleichung keine allgemeine und end-
liche Wurzelform besitze, werde man dieses dadurch herausfinden, daß
man in den von ihm vorgeschlagenen Operationen auf eine andere
Gleichung n‘® Grades geführt werde, die keine rationalen Divisoren
enthalte, wenn n eine Primzahl ist; oder wenn % nicht prim ist,
daß man auf eine Gleichung komme nicht niedrigeren Grades als
(n—2)(n—3)...3.2.1. Diese Ideen werden von ıhm auch im
Artikel „Equations Determindes“ in der Encyclopedie methodique
(Mathematiques) erklärt.
In der Abhandlung Sur la forme des racines imaginaires
des equations?) gibt Lagrange einen Beweis des Satzes, daß jede
imaginäre Wurzel einer Gleichung auf die Form A+DB V-1 ge-
bracht werden kann. Nachdem er D’Alemberts auf der Kurven-
theorie beruhenden Nachweis (1746), Eulers Nachweis (1749) und
de Foncenex’ (1759), über welchen im XXI. Abschnitte be-
richtet werden wird, kurz besprochen und ihre Schwächen aufge-
deckt hat, schreitet er zur Ausfüllung der Lücken in Eulers Be-
weise. Lagrange nimmt im allgemeinen die Wurzelexistenz ohne
Beweis an. Auch wird als bewiesen vorausgesetzt, daß jede Gleichung
von ungeradem Grade und mit reellen Koeffizienten wenigstens eine
reelle Wurzel habe. Er erklärt, daß das Eulersche Verfahren, um
eine Funktion f(x) vom Grade 2m, m>1, in zwei reelle Faktoren
1) Melanges de Phil. et de Math. de la Soc. Roy. de Turin, pour les annedes
1770—1773, Classe Math., p. 236— 264. 2) N. m&moires de l’acad. roy. des
sciences, annde 1772, Berlin 1774, p. 222—258 —=Lagrange, Oeuvres, T. OI,
p. 479—516.
120 Abschnitt XX.
zu zerlegen, nicht immer zum Ziele führt, da dasselbe auf
Formeln für die Bestimmung der Koeffizienten führt, die in gewissen
Fällen unbestimmt, = sind. Es gelingt Lagrange, diesen Einwurf
gegen die Methode Eulers und de Foncenex’ zu beseitigen, indem
er hier seine in den Reflexions sur la resolution des &quations,
Sektion IV, n. 100, entwickelte Permutationstheorie anwendet, welche
den Wert einer rationalen Funktion y der Wurzeln zu berechnen
lehrt, sobald man den Wert einer ahderen Funktion t kennt, solcher-
art, daß ? für alle Permutationen sich ändert, wofür sich y ändert.
Gauß äußerte sich anerkennend über diese Arbeit. Der große La-
grange habe die Sache „so tief durchforseht, daß nichts Weiteres zu
wünschen bleibt; abgesehen davon, daß vielleicht bei seiner voraus-
gehenden Behandlung der Eliminationstheorie, auf welche sich die
gesammte Untersuchung stützt, einige zweifelhafte Punkte zurück-
bleiben“!).
De Foncenex’ Beweis wird von Louis Bertrand in Schutz
genommen’). Bertrand behauptet, daß das Verfahren des Verfassers
nur in sehr seltenen Fällen mißlinge. In diesen könne man eine
Gleichung, deren Wurzeln die Quadrate der Wurzeln der vorgelegten
Gleichung seien, als Hilfsgleichung ableiten, welche zum Ziele führe.
Diese Aussage wird nur für die Quartic bewiesen. Wenn Lagranges
Einwurf gegen «* — Aa’ + Be — 0x + D=0 gelte, gelte er gegen
a — (#—-2B®+(BR—-24AC+2D)&®—-(®—-2BDc«+D=0
nicht. Da nun die Quadratwurzeln einer Größe a +bY —1 von der
gleichen Form wie dieselbe sind, sei der Satz für die Quartic bewiesen.
Auch bei Bertrand wird die Wurzelexistenz ohne weiteres voraus-
gesetzt.
In einer Schrift, Sur des irrationnelles de differens ordres
avec une application au cercle?), entwiekelt Vandermonde eine
neue Darstellungsweise der Irrationalen, indem er eine Verallgemeine-
rung des Symbols 9 —=p.p.p... (n Faktoren) annimmt, worin die
zweiten statt der ersten Differenzen der Faktoren Null sind. Er
schreibt |p" =p(p - 1)(p— 2)... (p—n+1) und entwickelt die
Öperationsregeln dafür. Er findet
p+m+n’ol "= [pP +m+ np” —=1 + [m][o)' of lol"
+ [m] [on Ip’ + >,
) C. F. Gauß, „Neuer Beweis des Satzes...“, $12 in Ostwalds Klassiker,
Nr.14. 2)L. Bertrand, Developpement nouveau de la partie el&mentaire des
math&matiques, T. II, & Geneve, 1778, p. 499, °) Histoire de l’academie royale
des sciences, annde 1772, Premiere Partie, Paris 1775, p. 489—498.
Algebra. 121
wo [p”"=1:[p + m]“ ist, und nimmt ohne weiteres an, daß diese
Ausdrücke sich für Bruchwerte von m und n bewähren. In der
Formel [a [pP] "= [a + r"[p + r]* [pl [al ":[p + n]"[g— n]-”
läßt er r unendlich werden und erhält dadurch das unendliche Produkt
la lpl "= [pl *lol*: [op + ng n])*
=p+n+YDW-n+N)p+n+NY)@-n+2)...
:P+Yda+YD(P+DY)@+2)...
Die Anwendung seiner Resultate auf den Kreis ergibt die Ausdrücke
17 a na... A ER
a er aan T: wiyam 2 [5] nous:
nalen Formen zweiter Ordnung [q]”[p]-* lassen sich, wiegezeigt wird, öfters
auf rationale Zahlen oder auf einfachere irrationale Größen reduzieren.
2. B. Bi [- Er — = ’ er I- Zn —Y2. Kriterien der ver-
schiedenen Irrationalitätsarten werden aber nicht entwickelt.
In den Nova acta eruditorum gibt Fagnano eine Demon-
stratio theorematis Studeniani pro reductione aequationum,
quae radiceshabent aequales!). Der Satz heißt: Wenn die Glieder
einer Gleichung, deren m Wurzeln einander gleich sind, mit den
Gliedern irgendwelcher arithmetischen Progresssion je multipliziert
werden, behält die neue Gleichung m — 1 der gleichen Wurzeln bei.
Fagnano beweist zuerst den Satz für Gleiehungen mit lauter gleichen
Wurzeln. Werden die Glieder von (2 + a)”—= 0 mit den entsprechen-
den Glieden von 9, p+q,p+ 2q,... multipliziert, erhält man
(pl®+a]-+nga) (x + a)"-'=0. Dieses Resultat wird nun auf
(b+cec+da-+.. )a+a"=b(c + a" +cx(x + a)”--- angewandt,
wo die Glieder von b(2 + a)”, ex(x + @)”,--- mit den entsprechenden
Gliedern von ep, p+q,..,p+ 9,P+2g,..., multipliziert werden.
Nun folgt die Abhandlung Vandermondes, M&emoire sur l’&limi-
nation?), worin er für » Gleichungen ersten Grades eine Eliminations-
formel von sehr gedrängter Form entwickelt und seine Schreibart auf
Elimination zwischen zwei Gleichungen höherer Grade anwendet; sie ist
eine für die Determinantentheorie besonders wichtige Schrift. Vander-
monde erfindet eine Bezeichnung, welche mit der später von Syl-
') Nova acta eruditorum, 1776, p. 1—11. „Studeniani“ sollte „Hudeniani‘
heißen. Man findet Huddes Satz in der Ausgabe der Descartesschen Schrift
Geometria & Renato des Cartes, Amsterdam 1659 (welche auch Arbeiten von
Hudde und anderen niederländischen Mathematikern enthält), S. 435.
*) Histoire de l’acad. roy. des sciences, annde 1772, II. Partie, Paris 1776, p. 516
bis 532. Vgl. Thomas Muir, op. eit., 8. 15— 28.
122 Abschnitt XX.
vester aufgestellten umbral notation wesentlich übereinstimmt.
Koeffizienten werden wie früher bei Leibniz durch zwei Buchstaben
(oder Zahlen) 2 dargestellt, deren einer die Gleichung, worin der Koef-
fizient vorkommt, und der andere den Ort desselben in der Gleichung
bezeichnet. Was Leibniz durch 12 oder 1, bezeichnete, wird von
Vandermonde a geschrieben. Ferner schreibt Vandermonde
ep u Pr“ ß
ab 0:2
“ipyY ee SBir ,@,.Plyr ‚way
a)b|e a 1:98 ie alb?’
rege Ph ae my IR RT ee
alb|celed a bjejd b c|d|ja ce dja|b d albje i
Diese Ausdrücke enthalten die Definition einer Funktionenklasse und
deren Rekursionsgesetz, die mit der von B&ezout gebrauchten De-
finition identisch ist. Werden die Unbekannten «, y, 2 aus drei
Gleichungen ö + Y - 52 —= 0 (r=1,2,5) eliminiert, so stellt eh
das Resultat dar. Vandermonde erklärt, daß, statt der unteren
Buchstaben a, b, c,..., man die oberen «, ß, y,... permutieren könne,
ohne das Endresultat zu ändern, daß die Anzahl Glieder der Anzahl
Permutationen von a, b, c,.... gleich sei, wovon die Hälfte negative
Zeichen haben. Wir illustrieren durch ka — — %_P den von ihm
a,b ba
für spezielle Fälle verifizierten, aber allgemein auf zwei von ihm un-
bewiesenen Hilfssätzen gegründeten Lehrsatz, daß die Permutation
von zwei Buchstaben im gleichen Alphabet einen Zeichenwechsel,
sonst aber keine Änderung hervorbringt. Daraus zieht er den
Schluß, daß Far araRes —(, wenn zwei Buchstaben im gleichen
| %
Alphabet einander gleich sind. Davon wird nun die Regel für die
Auflösung simultaner Lineargleichungen abgeleitet. Wenn |
ı 1 ER 112 112
Pe 273 ur
erg wird ,= 5, = 715°
at, tz>0 i® i2
Die Schreibweise für den allgemeinen Fall von » Gleichungen wird
angegeben. Bei der Elimination zwischen zwei Gleichungen m" Grades,
1 2 2 Ei : :
Lam 47 ri rete—o, ah art etc. = (, führt er die weiteren
Isar 3
Ra 3 12 Fe IE
er ab «Bß
a|d Een ER
Abkürzungen a|b für abl«ß für
Algebra. 123
a a . f . .
+5 a, etc. ein, woraus sich Transformationsformeln dieser Art
ala-b|ß =ablaß—aß|ab ergeben. Die Eliminanten für die
Fälle m = 2, 3, 4 werden niedergeschrieben. Für n=3 erhält er
ME anal 8 (0 9)
I
— 5 2/4 .2]j4
ee
Bei der Ableitung einer ähnlichen Form der Eliminante für den Fall
m—=5 stößt er auf Schwierigkeiten, die sich in der Reduktion der
Eliminante auf die kleinste Anzahl Glieder zeigen. Nachdem der Aus-
druck so weit entwickelt ist, daß derselbe in Faktoren der Form
a|b umgesetzt ist, sucht Vandermonde Vereinfachungen durch eine
Formel des Fontaine, welche in Vandermondes Schreibweise
ab-eld-ale.Bd+ald.de-o
lautet, zu erzielen, ohne aber das Ziel völlig zu erreichen. Das End-
resultat sollte auf 120 Glieder reduziert werden, bevor es in die Form,
welche denen für die Fälle m = 2, 3, 4 analog ist, gesetzt werden
kann. Vandermonde erhält 124 Glieder und bemerkt, daß, nach
einer persönlichen Mitteilung, de Gua durch ein anderes Verfahren
auf die gleiche Anzahl gestoßen sei.
Im gleichen Bande findet man eine Abhandlung von Laplacet),
Recherches sur le ealeul integral et sur le systeme du
monde, worin die Determinantentheorie berührt wird. Der Name
resultant wird hier zum erstenmal für das Resultat der Elimination
bei n linearen homogenen Gleichungen gebraucht. Er schreibt dafür
das Symbol (!a.°b.®c). Der Lehrsatz über den Zeichenwechsel, durch
die Transposition zweier Buchstaben hervorgerufen, wird hier auf
befriedigendere Weise als bei Vandermonde bewiesen. Simultane
lineare Gleichungen werden nach dem jetzt gebräuchlichen Verfahren
gelöst. Um die Berechnung der Resultante zu vereinfachen, führt er
eine Methode ein, die wir in Spezialfällen schon bei Vandermonde
vorfanden, und die nun als die Laplacesche Entwicklung von Determi-
nanten bekannt ist. Die Regel für diese Entwicklung wird aber nicht
in einer Form ausgesprochen, daß sie auf andere Fälle leicht an-
gewendet werden könnte.
Beiläufige, isolierte Resultate über Determinanten hat Lagrange
') Hist. de l’acad. roy. des sciences, annde 1772, 2° pt., Paris 1776, p. (267
bis 376), 294—304. Vgl. T. Muir, op. cit., p. 23—33.
124 Abschnitt XX.
in zwei Abhandlungen des Jahres 1773 gegeben. In der ersten,
Nouvelle solution du probleme du mouvement de rotation ete.')
sind fünf Identitäten, die wir jetzt als Beispiele der Multiplikation
und Addition von Determinanten ansehen. Andere Identitäten fin-
den sich in der zweiten Abhandlung, Solutions analytiques de
quelques probl&mes sur les pyramides triangulaires?).
Von einer Mitteilung Condorcets angeregt, untersuchte Euler
in einem Artikel De formulis exponentialibus replicatis?) die
Grenzwerte der Zahlen «, ß, 7,..., wo ß=r“%, y=r?,... Damit
diese Größen nicht ins Unendliche wachsen, muß ein Glied, welches
die Grenze berührt hat (attigerit), dem nächstfolgenden gleich sein,
1
d. h. r® = o, oder r—= »”. Wenn log @—=1, erreicht r sein Maximum
1 1
et — 1,4447 .... Istil<r< e®, gibt es zwei Größen ® und WY,
welche die Bedingungen = ®, r? = Y erfüllen. Setzt man Y=»p®,
1
Ki .
dann wird ®=p?-!, Y=p?-\ Man kann also p beliebig wählen
1
und die zugehörigen Werte von ®, Y, r finden. Wenn r>ee, können
nur imaginäre Zahlen die Bedingung r” = » erfüllen. Der Fallr <i
wird auch untersucht.
In einem Artikel, Observations on the limits of algebraical
equations; and a general demonstration of Des Cartes’s
Rule...*) hebt Isaac Milner (1750—1820), „fellow“ an Queen’s
College in Cambridge, hervor, daß der Satz in Maclaurins Algebra,
demzufolge die Wurzeln der Gleichung (B)
(+nm)"— (+ {n— 1im)pa""'+ (l+ In— 2) m)gaa”?—..-=(0
als Grenzen zwischen den Wurzeln der Gleichung (A) x” + 9x”!
+ 92"? — ...—= (0 liegen, nicht allgemein richtig sei. Z.B. die Wur-
zeln 2+ Y13 von © — 4x — 9 = 0 liegen nicht zwischen den Wur-
zeln 3 und —1 der Gleichung #—-22—3=0. Der Satz gelte
nur, wenn alle Wurzeln gleiche Zeichen haben, was Maclaurin nicht
deutlich hervorgehoben habe’). Milner habe 1775 auch Waring
mitgeteilt, daß der Maclaurinsche Satz, daß die Wurzeln von (C)
na" — (n — 1)px”"?+ (n — 2)g2” 7° —---=0 Grenzen der Wurzeln
von(A) seien, einer Einschränkung bedürfe, da es möglich sei,daß keine der
Wurzeln von (C) zwischen der kleinsten positiven und der größten nega-
') N. mem. de l’acad. roy. des sciences, annde 1773, Berlin 1775, p. 85 bis
120—=Lagrange, Oeuvres, T. III, p. 579—616. ?, Ebenda, p. 149—176 —
Öeuvres T. II, p. 661—692. Vgl. T. Muir, op. eit. p. 33—41. °) Acta acad.
scient. imp. Petropolitanae, pro anno 1777, Pars 1, Petropoli 1778, p. 38—60.
*) Philos. Trans., Vol. 68, for the year 1778, London 1779, p. 380—388. °) Vide
Maclaurin in Phil. Trans. (London) Vol. 36, auch seine Algebra, Art. 44, 45—50.
Algebra. 125
tiven Wurzel von (A) liegen. Denn setze man diese zwei Wurzeln
in (C) ein, so möge das Polynom (C) Werte gleichen Zeichens er-
halten, weshalb keine Wurzel von (C) zwischen den zwei Wurzeln
von (A) liegen würde. Daß ein solcher Fall wirklich eintreten kann,
ist natürlich nicht bewiesen.
Milner gibt folgenden Beweis der Descartesschen Zeichen-
regel. Sind alle Wurzeln von (D)I+ ma +na®+---+2"=0 reell,
dann sind diejenigen von (E) m +2nx + ---nx”"-'!= (0 Grenzen der
Wurzeln von (D). Es sind deshalb nicht weniger +-Wurzeln in (D)
als in (E), denn da jede Wurzel von (E) zwischen verschiedenen
Wurzeln von (D) liegt, kann die Anzahl positiver Wurzeln nicht
kleiner sein. Sind 7 und m beide positiv, muß die Anzahl +-Wur-
zeln in (D) und (E) gerade sein, und die Anzahl in (D) kann also
die in (E) nicht durch die Einheit übersteigen. (D) hat aber eine
Wurzel mehr als (E), welche gewiß — sein muß. Ähnlich behandelt
er den Fall, wo ! und m beide negative, und den Fall, wo diese
entgegengesetzte Zeichen haben.
In der Abhandlung Sur la determination du nombre des
racines imaginaires dans les equations literales!) entwickelt
Lagrange anfangs die bekannten Kriteria für die Bestimmung der
Natur der Wurzeln von © — Br +C=0; alle Wurzeln sind reell,
wenn 4 B? > 270°; zwei sind einander gleich, wenn 4B’— 270 =;
zwei Wurzeln sind imaginär, wenn 45b?<27C?. Zu Gleichungen
n“® Grades übergehend, bemerkt Lagrange, daß Newton und an-
dere Forscher Bedingungen für die Existenz lauter reeller Wurzeln
aufgestellt haben, die.nicht hinreichend seien. Der Grund dafür liege
darin, daß diese Bedingungen nicht durch die direkte Betrachtung der
reellen und imaginären Wurzeln abgeleitet wurden, sondern bloß
aus gewissen Bedingungen, welche befriedigt sein müssen, wenn alle
Wurzeln reell sind. Wenn die Wurzeln reell sind, muß z. B. die
Summe der Quadrate aller Wurzeln, oder der Quadrate ihrer Diffe-
renzen, positiv sein; man darf aber nicht schließen, daß eine positive
Summe das Vorhandensein lauter reeller Wurzeln nachweist. La-
grange hebt nun hervor, daß man die Frage, ob es imaginäre
Wurzeln gibt oder nicht, sicherlich dadurch beantworten kann, daß
man ermittelt, ob die linke Seite der Gleichung durch einen oder
mehrere Faktoren = — ax +b, wo b> . teilbar ist oder nicht. In
demjenigen Divisionsrest, welcher keine höheren Potenzen von x als
die erste enthält, setze man deri Koeffizienten von x, sowie auch den
») Nouveaux memoires de l’acad. roy. des sciences, annee 1777, Berlin 1779,
p. 111—139; Lagrange, Oeuvres, T. IV, p. 343—374.
126 Abschnitt XX.
von % freien Teil gleich Null. Man erhält auf diese Weise zwei
Gleichungen, und eine dritte durch die Annahme 2 —b=u, aus
welchen man die unbestimmten Größen a und 5 eliminieren soll.
Die Größe u stellt sich hier als das Quadrat der Halbdifferenz irgend
eines Wurzelpaares der vorgelegten Gleichung heraus. Ist letztere
m (m — ı)ten
2
Endgleichung « negative Werte hat, sind in der vorgelegten Glei-
chung imaginäre Wurzeln vorhanden, sonst nicht. Ob u negative
Werte habe oder nicht, lasse sich durch Descartes’ Zeichenregel
entscheiden. Gibt es in der Reihe der Koeffizienten lauter Zeichen-
wechsel, so hat die vorgelegte Gleichung keine imaginären Wurzeln;
sind Zeichenfolgen vorhanden, dann sind imaginäre Wurzeln gewiß
vorhanden. Lagrange erklärt, daß die Anzahl von imaginären
Wurzelpaaren nicht größer als die Anzahl Zeichenfolgen sei, weshalb
man wisse, daß sich imaginäre Wurzelpaare vorfinden, nieht aber
deren Anzahl. Um diese Anzahl näher zu untersuchen, berechne man
eine zweite transformierte Gleichung, deren Wurzeln die Quadrate
der Halbdifferenzen zwischen der Summe zweier Wurzeln und zweier
anderer Wurzeln der vorgelegten Gleichung sind. Hat diese neue
Gleichung keine negative Wurzel, dann hat die vorgelegte Gleichung
nur zwei imaginäre Wurzeln. Daß eine negative Wurzel wenigstens
vier imaginäre Wurzeln der vorgelegten Gleichung andeuten würde,
Be 3 En *) für die Wurzeln
der transformierten Gleichung. Sind a und b, c und d zwei konjugierte
imaginäre Wurzelpaare, so muß obiger Ausdruck einen negativen Wert
annehmen. Um herauszufinden, ob nicht mehr als vier imaginäre
Wurzeln existieren, bilde man eine dritte Gleichung, deren Wurzeln
die Quadrate der Differenzen zwischen der Summe von drei Wurzeln
und der Summe dreier anderer Wurzeln sind. Hat diese dritte Glei-
chung eine negative Wurzel, dann besitzt die vorgelegte Gleichung
wenigstens sechs imaginäre Wurzeln. Wenn notwendig, könne man
noch weitere Transformationen unternehmen. Lagrange bemerkt,
daß ıhm kein allgemeines Kriterium zur Bestimmung der Anzahl
negativer Wurzeln einer Gleichung bekannt sei. Diese Methode für
die Bestimmung der Anzahl imaginärer Wurzeln führt immer zum
Zaele. Sie ist der Glanzpunkt der Resultate, welche man im 18. Jahr-
hundert über diesen Gegenstand erreicht hat.
Endlich leitet Lagrange noch die Beziehungen zwischen den
Koeffizienten einer Quartic, welche die Natur ihrer Wurzeln bestim-
men, ab, und bemerkt, daß schon früher Waring in seinen Medi-
m‘®® Grades, muß erstere Grades sein. Wenn nun in der
ersieht man aus dem Ausdrucke (
Algebra. 127
tationes algebraicae diese Resultate mitgeteilt habe, ohne aber
den Nachweis dafür zu veröffentlichen.
Das 1779 zu Paris erschienene Werk Theorie generale des
equations algebriques von B6zout zeichnet sich aus durch das,
was es enthält, sowie durch das, was es wegläßt. Von der algebraischen
Auflösung von Gleichungen f (2) =0 verschiedener Grade, oder der
Auflösung durch Annäherung, oder der Transformation von f(z)=0
in eine neue Gleichung, deren Wurzeln oder Koeffizienten bestimmte
Beziehungen zu denen der vorgelegten Gleichung haben, davon wird
nichts gesagt. Das ganze Werk ist dem Eliminationsproblem ge-
widmet. Die Elimination ohne Einführung fremder Faktoren hatten
Euler und Be&zout bisher nur für zwei Gleichungen höheren Grades
mit zwei Unbekannten erzielt. Um für den allgemeinen Fall fremde
Lösungen zu vermeiden, erkannte Bözout schon früher‘), „daß nicht
eine allmähliche, sondern nur eine gleichzeitige Elimination von (m — 1)
der m Variablen zum richtigen Grade der Endgleichung oder der
Eliminante führen könne“. Diese Sache wird nun weiter entwickelt.
Nach einer Einleitung über Differenzenrechnung folgt die allgemeine
Theorie von Gleichungen irgendwelchen Grades und mit mehreren
Unbekannten. Ein vollständiges Polynom des Grades 7 mit n Un-
bekannten wird durch (w...n)? bezeichnet; dessen Gliederzahl, durch
N(w...n)” symbolisiert, ergibt sich gleich |"+n/n|T. Bezout
jeitet einen Ausdruck ab für die Berechung der Anzahl derjenigen
Glieder in diesem Polynom, welche durch keine der Größen ur, a, y", 2’
teilbar sind, und wird durch denselben zum Lehrsatz geführt: Der
Grad der Endgleichung, welche aus einer Anzahl n von vollständigen
Gleichungen irgendwelcher Grade mit n» Unbekannten hervorgeht,
ist dem Produkte der Grade der vorgelegten Gleichungen gleich.
Nur für den Spezialfall von zwei Gleichungen war dieser Satz früher
bekannt. Im Falle unvollständiger Polynome mag der Grad des End-
resultats niedriger sein. Bezout unterwirft dieselben einer ein-
gehenden Untersuchung. Im zweiten Teile des Werkes wird die Eh-
mination selbst durchgeführt. Ohne Nachweis gibt er zur Berech-
nung der Unbekannten von linearen Gleichungen eine scheinbar will-
kürliche Regel, welche gleichgültig auf literale und numerische, all-
gemeine und spezielle Gleichungen anwendbar ist. Wir erläutern sie
an einem Beispiele aus 8200. Sind @x-+t by+cdz+d=0 üi=0,1,2),
nehme man stillschweigend ? als Unbekannte der absoluten Glieder
an. Man hat dann ax + b’y+cz+dt=0. Im Produkte zyzt
setze man nacheinander bezüglich a, b, c, d an die Stelle von x, y, 2, t.
') Cours de math, & l’usage des Gardes du Pavillon, 1764/69, p. 209. Vgl.
Eneyklopädie der math. Wiss., Bd. I, 8. 261.
128 Abschnitt XX.
Man erhält, nach einem Zeichenwechsel für jede ungerade Vertauschung,
die erste Linie, ayzt— bxzt +cayt— dayz. In dieser ersten
Linie setze man ähnlicherweise, nacheinander, bezüglich a’, b’, c‘, d’
statt x, y, 2, t. Man erhält die zweite Linie. Darin setze man be-
züglich a”, b”, c”, d” statt x, y, z, t, und man erhält die dritte Linie.
Der Wert von x ergibt sich dann durch Division des Koeffizienten
von x mit dem des Koeffizienten von t; d.h.
= — !(be — Ve) d” — (bd — b’d)c” + (cd — ed d)b”)
: !(ab’ — db)e" — (ad —ac)b" + (be -beo)a”!.
Ähnliches für y und z. Warum mit xyzt angefangen wird, und
was dieses Produkt eigentlich bedeutet, wird nicht erklärt. Man sieht,
daß hier Determinantenausdrücke vorkommen und daß die Methode
auch zur Resultantenbestimmung dient. Die Regel wird an Beispielen
angewendet, wo einige Koeffizienten Null sind, oder eine Linie ver-
schwindet, oder eine der Unbekannten in der letzten Linie wegbleibt.
Bezout gibt auch eine bessere Regel, die Laplacesche Entwicklung
niederzuschreiben').
Bezout geht dann zu Gleichungssystemen höherer Grade über
und bewirkt die Elimination nach einer Methode von unbestimmten
Koeffizienten. Jede der vorgelegten Gleichungen wird mit einem un-
bestimmten Polynom multipliziert, so daß in der Summe dieser Pro-
dukte alle Unbekannten mit Ausnahme einer einzigen verschwinden.
Durch eine Konstantenabzählung und die Auflösung von linearen
Gleichungen lehrt er Polynome dieser Art zu finden. Das Werk
wurde von Lagrange?) und Laplace?) sehr hoch geschätzt. La-
grange sagte: „je le mets dans le petit nombre de ceux qui sont
veritablement utiles aux progres des sciences“. Und doch scheinen
Bezouts Resultate teilweise in Vergessenheit geraten zu sein, denn
Jacobi und Minding leiteten solche über ein halbes Jahrhundert
später von neuem ab, ohne Bezout als Vorgänger zu nennen‘).
B&zouts Eliminationsregel für lineare Gleichungen wurde von
C. F. Hindenburg in seiner Vorrede zu einem Werke von (. F.
Rüdiger, Specimen analyticum de lineis curvis ete,, Leipzig
1784, ins Lateinische übersetzt. Hindenburg selbst gab eine Regel,
welche zugleich -die Gliederbildung und die Zeichenordnung in Deter-
minanten lieferte°).
1) Vgl. T. Muir, op. eit., p. 41—53. *) Oeuvres, T. XIV, p. 276: Brief an
Be&zout, 12. Juli 1779. s) Ebenda, p. 80: Brief an Lagrange. *) A. Brill
und M. Noether, Jahresb. d. Deutsch. Math. Ver., 3. Bd., 1892—1893, S. 143
bis 147. 5) T. Muir, op. eit., p. 53—55.
Algebra. 129
Vor dem Abschlusse unserer Angaben über Determinanten be-
merken wir noch, daß in den Schriften von Vandermonde und
Francois Marie Riche de Prony') (1755 — 1839) die ersten
Spuren von Alternanten vorkommen’).
Der Mathematiker und Astronom John Hellins (?— 1827),
1779—1783 Pfarrer zu Constantine in Cornwall, schlug eine Methode
zur Berechnung von zwei gleichen Wurzeln vor, welche für die
kubische Gleichung so lautet?): Wenn #— pa?+qx2=—r=0 zwei gleiche
Wurzeln hat, finde man durch Division den gemeinschaftlichen Faktor
zwischen dieser Gleichung und 32? — 2px-+g=0. Man erhält da-
durch x = (pq — 9r):(29— 6g). Hatnun © +52? — 322 +36=0
zwei gleiche Wurzeln? Man findet (pq — 9r):(2p® — 69) =2. Dieser
Wert, <=2, genügt der vorgelegten Gleichung und muß also die
doppelte Wurzel sein. Diese Methode wird auf die Quartic und
Quintie angewendet.
Ungefähr zu gleicher Zeit wurden Studien über Gleichungen
auf den schwedischen Universitäten zu Upsala und Lund vor-
genommen; in Upsala von Mallet, in Lund von Bring. Fried-
rich Mallet (1728—1797) stammte von einer Familie, die aus
Frankreich nach Schweden auswanderte. Nachdem er einige Jahre
in England, Frankreich und den Niederlanden zugebracht hatte, wurde
er 1757 Assistent für Astronomie und später Professor der Mathe-
matik an der Universität Upsala. Zwischen 1777 und 1784 hat er
vier Schriften über Gleichungen der ersten vier Grade geschrieben.
Drei sind von Matthiessen angeführt?); eine vierte, De Aequatione
biquadratica (Resp. J. Norderling) erschien in Upsala 1782 und
ist geschichtlichen Inhalts. Er eröffnete einen neuen Gesichtspunkt
durch sein Verfahren, die Unbekannte zu variieren und die Koef-
fizienten der erhaltenen Gleichung gewissen Bedingungen zu unter-
werfen. Bei +4Ax°’+Bi?+Cz:+D=0 setzt er’) =y+E
und erhält “+ab? +6 +AE+DyY+ab’y+b!=0, wo
= E'+AEP+BE+CE+D, ab=4E+A, a’ =4E’+53AE?
+2BE-+ 0. Daraus folgt die kubische Gleichung
(4° —4AB+SC)E+(2#2B+24A40—4B+16D)E
| +(4?C+8AD—-ABO)E+42?D- ?=0
für die Bestimmung des E. Es sind dann a, b, c®=6E?+3AE+B
1) Journ. de l’&c. polyt. I, p. 264, 265. °) T. Muir, ‚The Theory of Alter-
nants in the Historical Order etc.‘ in Proceed. roy. Soc. of Edinburgh, Vol. 23,
1899—1901, p. 93, 9. ®, Phil. Trans. 1782 London, p. 417—425. *) Mat-
thiessen, op. eit. S. 340, 438, 545, 621, 977. 5, Nov. Act. Soc. Scient. et
Litt. Ups., Vol. II, p. 253, auch De aequatione biquadratica, Upsala 1782,
‚16, 17.
E CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 9
130 Abschnitt XX.
bekannt. © Die erhaltene Gleichung ist nach Saundersons Methode
leieht zu lösen, denn | |
+ aby+ cp + abby+ 0 — (+ eby + B)-(y + fDy ta),
wo e +f= a, e—f ER VR—4c+8.
' De aequatione, cujus radices sunt binarum datae aequa-
tionis radieum summae!') ist eine Untersuchung von Sebastiano
Canterzani (1734—1819), Professor der Mathematik in Bologna
und Verfasser mehrerer Lehrbücher und Abhandlungen. Er war
auch Sekretär des Instituts von Bologna. Er hebt hervor, daß
Waring in seinen Meditationes algebraicae die Herleitung einer
Gleichung besprochen habe, deren Wurzeln irgend eine algebraische
Funktion der Wurzeln einer gegebenen Gleichung seien, daß aber die
Bestimmung der Glieder einer allgemeinen Gleichung nn‘ Grades
nicht leicht sei. Lagrange habe 1767 die Gleichung, deren Wurzeln
die Differenz je zweier der vorgelegten Gleichung sind, hergeleitet.
Nun soll die Summe je zweier Wurzeln in Betracht kommen. Die
Methode ist hier nur sehr kurz erklärt. Sind a’, a”, a”,... die
Koeffizienten der vorgelegten Gleichung m” Grades und A’, 4”,
nen RM
2
A ı,
ah Di
diejenigen der gesuchten Grades, dann sei
KR
A — Da A2-! Fa" 4er... AN) + (m — IN ar,
wo in der durch _ angedeuteten Summe m die Variable ist. Obschon
im nächsten Bande die Sache weiter auseinandergesetzt wird, ist, sie
doch nicht mit genügender Klarheit dargestellt.
Ein sorgfältig verfaßtes Werk, betitelt Analysis aequationum,
Dublin 1784, erschien aus der Feder von William Hales (1747 bis
1831), Tutor zu Trinity College, Dublin, und Professor der orienta-
lischen Sprachen an der dortigen Universität. Es ist reich an Lite-
raturangaben.. Lagrange soll an den Autor aus Berlin ein Lobschreiben
‚gerichtet haben’).
Unter den wichtigen Ergebnissen, welche während der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts in der 'Gleichungstheorie hervorgebracht
wurden, muß man auch eine kleine Schrift des oben angeführten
schwedischen Mathematikers Bring nennen. Während 75 Jahre
blieb dieselbe den Mathematikern unbekannt; die Resultate derselben
wurden von dem englischen Mathematiker Jerrard 1834 neu ent-
| ») De Bononiensi Scientiarum et Artium Instituto atque Academia Com-
mentarii, T. VI, Bononiae 1783, Comm. p. 107. _?) Dictionary of National Bio-
graphy een und Lee).
Algebra. 131
deckt: ‘Sie betrifft die Transformation der allgemeinen Gleiehung
5. Grades in die Form y„P +Gy+ H=0 und erschien unter dem
Titel B. cum D. Meletemata quaedam mathematica eirca
transformationem aequationum algebraicarum, quae ...in
Regia Academia Carolina praeside D. Erland Sam. Bring,
Hist. Profess. Reg. & Ord. publico eruditorum examini
modeste subjieit Sven Gustaf Sommelius...1786, Lundae.
Man könnte diesem Titel zufolge veranlaßt sein, Soemmelius für den
Verfasser zu halten, besonders da auch die Dedikation seine Namens-
unterschrift trägt, und er darin von diesen seinen Erstlingsfrüchten
(„primitias“) redet. Auf eine Anfrage des Hm. Felix Klein teilt
aber Hr. Bäcklund in Lund mit, „daß dies jedenfalls unzu-
treffend sein würde, indem die Promotionsschriften damals durch-
gängig von den Vorsitzenden des Examens verfaßt wurden und den
Examinanden nur als Substrat der Disputation dienten“.!)
Schon früher hatten C. Hill (1861) aus Lund und Ebbe Sam.
Bring, ein Neffe unseres Bring (ungefähr 1824), diese Dissertation
ihm zugeschrieben. Ja schon 1798 enthält der Titel einer Tegman-
schen Dissertation den Ausdruck „methodus Bringiana“. Auch muß
bemerkt werden, daß Bring sich viel mit Gleichungen beschäftigte,
während der siebzehnjährige Sommelius sich später nicht wieder
mit mathematischen Studien abgab und 1790 eine Promotionsschrift
historischen Inhalts verteidigte. Die Verdienste von Erland Samuel
Bring wurden 1861 von Hrn. €. Hill in Lund ausführlich gewürdigt,
der die Arbeit mit eigenen Bemerkungen begleitete?). Es ist merk-
würdig, daß die Bringsche Arbeit nicht früher allgemein bekannt
wurde, denn, wie schon bemerkt, erschien 1798 eine Dissertation mit
Brings Namen im Titel. Ferner hob Brings Neffe ungefähr
1824, bei der Inauguration des Physikers J. C. Hill in Lund, den
großen Wert seiner Gleichungsuntersuchungen scharf hervor und
1837 wurden Auszüge dieser Mitteilungen in einem wohlbekannten
schwedischen biographischen Lexikon gedruckt?). Erland Samuel
Bring (1736—1798) studierte in Lund Rechtswissenschaft, wurde
1762 Dozent, später Professor Historiarum und 1790 Rektor der
Akademie. Mathematik war für ihn ein Lieblingsstudium, aber nur
wenige seiner Arbeiten wurden veröffentlicht. In der Bibliothek der
4 F. Klein, Vorles. ü. d. Ikosaeder, Leipzig 1884, 8. 143. ®, Öfversigt
af Kongl. Vetenskaps-Akademiens Förhandlingar 1861, Stockholm 1862, p. 317
'bis 355. Ein Auszug von Brings Schrift mit Bemerkungen erschien in Grunerts
Archiv, Bd. 41, 1864, S. 105—117; Bd. 40, 1863, S. 55; auch in Quarterly Journ.
of Mathematics, Vol. VI, 1864, p. 38—47, ®) Biographisk Lexikon öfver
Namnkundige Svenska män Tredje Bandet, Upsala 1837, p. 83—84.
g*
132 Abschnitt XX.
Universität in Lund sind acht handschriftliche Bände seiner mathe-
matischen Abhandlungen und Kommentarien zu Euler, Wolf,
Palmquist, Hospital und anderen. Er schrieb über Algebra, Geo-
metrie, Differentialrechnung, Gleichungen, Theorie der homogenen
Funktionen, Chronologie und Astronomie!).
In seiner Dissertation wendet Bring die Tschirnhausensche
Transformation an. Er fängt mit der quadratischen Gleichung
2+mze+n=0 an, setzt z2=y—a, dann -—2a+m=0 zur Be-
2
stimmung des a und erhält „= _— n. Durch ein ähnliches
Verfahren wird die kubische in eine binomische Gleichung transfor-
miert. Dann folgt eine interessante Diskussion der Quartie, z* + nz?
+p»2+9g=0. Durch Hilfsgleichungen zweiten Grades 2 +bz+a
+y=0 wird diese auf die Form „+ Ay? + B=0 gebracht. Um,
wenn möglich, alle dazwischenliegenden Glieder der vorgelegten
Quartie zu beseitigen, nimmt er ?+c®+bz+a+y=(0 an, eli-
miniert 2 und setzt die Koeffizienten y?, y?, y gleich Null. Die Elı-
mination von b führt ihn zu einer Gleichung sechsten Grades in e.
Ohne diese Sache weiter aufzuklären schreitet er zur Quintie.
Um die Quintie ?+p2?+g2+r=0 von dem Gliede 2? zu
befreien, nimmt Bring ?+d?+c?+bz+a+y=0 an und elı-
miniert 2. In der neuen Quintie P+ Dt HEY +FyY +: =0
setzt er D=0, E=0, F=0. Von D=O erhältera=(3pd-+4g):5,
dessen Wert er n E=0(0 und F=0 setzt. Versucht man nun b, e
oder d zu eliminieren, so bekommt man eine Gleichung sechsten
Grades. Dieses vermeidet Bring aber durch die Annahmen b = «ad
+& und c=d-+y. Die Gleichung E=(0 nimmt nun die Form
einer Quadratie in d an, deren drei Koeffizienten er gleich Null setzt.
Das Verschwinden des ersten Koeffizienten liefert ihm durch Auf-
lösung einer Gleichung ersten Grades den Wert von «, dasjenige des
zweiten Koeffizienten gibt ihm & als eine lineare Funktion von y,
dasjenige des dritten Gliedes bringt ihm y durch Auflösung einer
Quadratie, als eine Funktion von 9,9, r. Setzt man nun n !=0
für a, b, ce die Werte (3pd + 49):5, ed+&,d-+y ein, so erhält man
eine Gleichung in d, die nicht höheren als dritten Grades sein kann.
Auf diese Weise transformiert Bring die allgemeine Quintie in die
Form y’ + Gy + H=0, ohne aber in seiner Dissertation zu zeigen,
ob eine weitere Änderung zur Binomialform y° + I=0 unmöglich
wäre?). Diesen bedeutenden Leistungen sind in Schweden keine
weiteren Untersuchungen gefolgt, außer zwei Dissertationen der Jahre
!) Biographisk Lexicon ete., S. 84. ®, Eine Kritik der Bedeutung von
Brings Transformation findet man in F. Klein, op. cit. 8. 143, 144, 207—209, 244.
Algebra. 133
1798 und 1799 von Tegman, Regula Cardani et methodus
Bringiana radices inveniendi cubicas inter se collatae, und
De aequatione biquadratica, worin die Gleichungen dritten und
vierten Grades etwas eingehender behandelt werden, als bei Bring der
Fall war!). Pehr Tegman (1757—1810) war Professor der Mathe-
matik an der Universität zu Lund?)-
J. H. Lambert sagt in einem Aufsatze Über die Verwand-
lung und Auflösung der Gleichungen?), daß Waring einen dem
seinigen ganz ähnlichen Versuch gemacht habe, die Sache aber so
sehr abstrakt vornehme, daß er die Vorteile, welche besondere Fälle
darbieten, gar nicht sehen konnte. Lambert bestimmt die Grenzen,
in welchen alle Wurzeln einer Quartic entweder unmöglich oder reell
sind. Die Auflösung einer solchen Quartie hängt von einer kubischen
Gleichung mit lauter reellen Wurzeln ab, die sich auf die Dreiteilung
eines Kreisbogens reduzieren läßt. Eine bequeme Auflösungsform
wird angegeben. Auch behandelt er die Aufgabe, aus zwei Glei-
chungen 0 = 2" — aa" "!+-.., O=y"— aa”! ---, ohne diese
vorerst aufzulösen, eine dritte Gleichung 0 = #* — Az”! +... her-
zuleiten, so daß z= x + y ist.
Sebastiano Canterzani sucht in einer Schrift Della riduei-
bilitä di ogni quantitä immaginaria algebrica alla forma
A-+ BY-—1*) einen für elementare Lehrbücher geeigneten Beweis
darzulegen. Es ist dem Verfasser aber nicht gelungen, den Beweis
dieses schweren Satzes von Übelständen verschiedener Arten zu be-
freien.
In einer Schrift, Von der cubischen und biquadratischen
Gleichungen bejahten, verneinten und unmöglichen Wur-
zeln®), gibt Gustaf Adolph Leijonmark (1734—1815), Bergrat
beim schwedischen Bergkollegium, eine weitläufige Erklärung von
Konstruktionen, um die Natur von kubischen und quartischen Glei-
chungen geometrisch zu bestimmen. In späteren Artikeln untersucht
er quartische Gleichungen, die sich in zwei quadratische Faktoren
zerlegen lassen und quintische Gleichungen, die sich in quadratische
und kubische Faktoren zerlegen lassen®‘).
In einem Artikel On finding the values of algebraical quan-
) C. Hill, loc. eit. 8. 319. >) J. C. Poggendorff, Handwörterb. z,
Gesch. d.' exact. Wiss., Bd. II, Leipzig 1863, 8. 1074. °) Beyträge z. Gebrauche
d. Math. u. deren Anwend. Zweyter Theil, Berlin 1770, S. 184—249. *, Me-
morie di Matematica e Fisica della Societä Italiana, Tomo II, Pt. II, p. 720 bis
731. ’) Neue Abhandl, d. K. Schw. Akad. d. Wiss. für das Jahr 1785, aus
dem Schwedischen übers. von A. G. Kästner, Leipzig 1786, S. 3—15, nebst
fünf Fortsetzungen. °) Ebenda, Bd. 9, 1788; Bd. 16, 1795.
134 Abschnitt XX.
tities by converging serieses, and demonstrating and ex-
tending propositions given by Pappus and others!) betrachtet
Edward Waring den Ausdruck
V(+#V+A+Y+B+VY+Ü+ ete)),
Sind «+4, «a +3%4,... I’+ fi respektive Wurzeln von = F1=0,
a® F$1=0,...2" F1=0 (Waring schreibt Y—1 statt ö), und
Br 1 1 1
+ P=+4Ara + Brad +, +Q=+4r1 + Br X +-:-, dann wird
obiger Ausdruck, wo P statt +P und P>®,
4 1 r
Be a an a en
1 Q 1 1i—r 1-2r 9 je ap N
(sn Reh a BR rung bl: va. Ana nes
Aue a
° zum
in welchem Falle L und M konvergieren. Sodann ist (T+:i4J)
-(+L+iM) eine Wurzel der vorgelegten Größe. Er nimmt ferner
—P statt +P, hbemach P<Q@, P=+0. Die Wurzeln von
x +1= 0 könne man algebraisch finden, wenn b<11 (Vander-
mondes Auflösung von z!!—1=0 von 1774 war ihm also nicht
bekannt), oder wenn b = 2!:3”...10” wo 1,V...’ ganze Zahlen sind.
Auflösbare Gleichungen höheren Grades werden von Euler in
der 1776 eingereichten Schrift Innumerae aequationum formae,
ex omnibus ordinibus, u resolutio exhiberi potest?)
behandelt. Der Bruch x = (5 _ — a): (1 a wo ve n ver-
schiedene Werte annimmt, ist Wurzel der Gleichung Ge) — E ;
welche in entwickelter Form
b WW b? N- 5
ee ab‘ >) 7a a ab (“= =)? +:
wird, wenn n’,n”,... den zweiten, dritten ete. Koeffizienten eines 'zur
nr Pötehz Bitch Binoms andeutet. Es ist auffallend, daß in
dieser Abhandlung gar kein Hinweis auf die Arbeiten von B&zout,
Lagrange und Malfatti vorkommt. Seine jetzigen Ansichten
über die allgemeine Lösbarkeit von Gleichungen stimmen mit denen,
die er 1 und 1762 geäußert hatte, ganz überein. Obiges Resultat
2 Phil. Trans. Vol. 77, for the year 1787, Pt. I, London 1787, p. 71-88.
”) Nova acta acad. scient, imp. Petropolitanae, T. VI, ad annum 1788, Petro-
poli 1790, p. 25—35.
+ - Algebra. 135
wird von ihm als eine Bestätigung seiner früheren Mutmaßung, daß
eine Gleichung =” = pa”? +q2”"”° +++» die Wurzelform = y«
+YBß-+--- besitze, wo a, ß,... Wurzeln einer Resolvente n — 1
Grades darstellen, angesehen. |
In der Abhandlung De radicibus aequationis infinitae
4 ®
On Im n(n +1) r nn tn +Dn +3 mn...n +5 2; etc.) zeigt
Euler, daß für n=1, ?=-+7, erg fürn-2, tz,
+22,..; firn=3, +22, +42,.... Während in diesen
Fällen eine unendliche Anzahl reeller Wurzeln existiert, sind für
n = 4 alle Wurzeln imaginär, weil die Summe —" —;— der unend-
lichen Reihe für keine reellen Werte von x verschwinden kann.
Euler schließt nun ohne Beweis, daß höhere ganzzahlige Werte von
n ebenfalls nur imaginäre Wurzeln besitzen. Ist »<3 und ein
Bruch, so gibt Daniel Bernoullis Methode der rekurrierenden Reihen
ET
Wert von x bezw. 0.909, 0.687, 0.572. Die verschiedenen Wurzeln,
welche sich für Bruchwerte von n oder für ganzzahlige Werte von
n>3 ergeben, lassen sich nicht auf einfache Weise durch x aus-
drücken.
Wir erwähnen hier ein uns nicht zugängliches Werk, Opusecules
mathematiques contenant de nouvelles theories pour la
resolution des &quations de deux, trois et quatre degres
(Leyde et Paris 1794) von Louis Bourguet (1678—1742), welcher
in den letzten Jahren seines Lebens Professor der Philosophie und
Mathematik in Neuenburg war”).
In einem Büchlein über Analytische Entdeckungen in der
Verwandlungs- und Auflösungskunst der höheren Glei-
chungen von Hulbe, Berlin und Stralsund 1794, werden, wie der
Autor sich ausdrückt, „weitere Gesichtslinien gezogen“. Adam Ehre-
gott Leberecht Hulbe (1768 —?) wurde zu Berlin geboren und
bekleidete dort gegen Ende des Jahrhunderts die Stelle eines könig-
lichen Lotteriesekretärs. Sein wertvolles Werkehen wurde von
Kästner, dem es zugeeignet ist, erwähnt; sonst blieb es lange un-
bekannt°). Er zeigt wie man eine Gleichung nach # in eine andere
nach y durch die Annahme y= x” transformieren kann, Wenn man
Näherungswerte. Setzt man n = dann wird der kleinste
1) Nova acta acad. scient. imp. Petropolitanae, T.IX, ad annum 1791.
Petropoli 1795, p. 19—40. 2) Michaud, Biogr. univ. »). Allgemeine Bio-
graphie, Art. von S. Günther.
136 Abschnitt XX.
also die allgemeine kubische Gleichung „+ y? + Ry— - u
1X
die Gleichung 2 + (@R—- 9)2 + (R? % 7 ): — z — (0 verwandelt,
= _ er) BE
eliminiert R mittels der zwei letzten Gleichungen, so erhält man die allge-
meine quartische Gleichung «+q@°+r2+s=0. Folglich erhält man
auch umgekehrt durch Auflösung der kubischen Gleichung von z die
Wurzeln dieser quartischen Gleichung‘). Hulbe lehrt auch Glei-
chungen mit ganzen und gebrochenen Exponenten, wenn diese Ex-
ponenten auch nicht alle positiv sind, in Gleichungen mit ganzen
positiven Exponenten zu verwandeln, sowie aus der Summe der Potenzen
mit ganzen positiven Exponenten der Wurzeln, die Summen der
Potenzen mit ganzen positiven und negativen Exponenten der Pro-
dukte von gleich vielen ihrer Wurzeln zu finden, wodurch jede Gleichung
in eine andere verwandelt werden kann, worin die Wurzeln den Pro-
dukten von gleich vielen Wurzeln dieser Gleichung, zu Potenzen mit
ganzen positiven oder negativen Exponenten erhoben, gleich sind.
Um die Wegschaffung der Wurzelgrößen aus den Glei-
chungen zu erzielen, gibt ©. G. Fischer, Professor am Kölnischen
Gymnasium, drei Methoden?). Soll nach der ersten eine Gleichung
in eine andere, deren Exponenten sämtlich z. B. dreimal so groß sind,
verwandelt werden, so bringe man die Gleichung auf die Form — a= bx
+ c#°, wo a, b, c entweder gar keine, oder bloß solche Potenzen von
% enthalten, deren Exponenten durch 3 teilbar sind. Man erhält
dann — a’ = b’a? + 3b?cat + 3b? + a, — var? = abat + «ca.
Das willkürlich angenommene « läßt sich nun so bestimmen, daß in
der Summe der Seiten dieser Gleichungen die Glieder, welche x* und
x? enthalten, Null werden; also «= — 3bc, und man hat das Resultat
0=a’+b’%? + ca® — Babe. In der zweiten Methode, wenn die ge-
gebene Gleichung #” + aa”-!+..-—= 0 und die gesuchte
re Axrt-dBn Li. 0
ist, dividiere man letztere durch erstere bis im Quotienten ein Glied
vorkommt, das kein & mehr hat, dann muß der rgliedrige Rest,
Glied für Glied, Null sein. Man hat also r Gleichungen für die
Bestimmung der r Größen A, B,... Die dritte Methode ist tri-
gonometrisch.
In einem Aufsatze, De inventione divisorum?) werden von
worin 2= y, und man setzt 2R— 2? = 5 ‚R+
)Hulbe, 8.135. Vgl.Matthiessen, Grundz.d. Ant.&Mod. Alg.d.Litt. Gleich.,
S. 331, 433, 568. ?) Archiv d. r. u. a. Mathem. (Hindenburg), 2. Bd., 1798,
S. 180—195, 426—440. 3) Nova acta scient. imp.- Petropolitanae, T. XI, ad
annum 1793. Petropoli 1798, p. 172—182. no
Algebra. 137
dem Astronomen Friedrich Theodor v. Schubert (1758 — 1825)
aus Helmstedt die Regeln in Newtons Arithmetica universalis
für die Auffindung linearer und quadratischer Faktoren eines Polynoms
F(&) = Ax" + Ba"! +... angegeben und auch eine allgemeine
Regel, um rationale Faktoren f(x) = ax” + ba"-!ı... höheren
Grades aufzufinden, abgeleitet. Diese Arbeit scheint von Mathe-
matikern übersehen worden zu sein, denn noch 1882 äußerte Kronecker
das Bedürfnis einer allgemeinen Zerlegungsmethode!). Schubert
gründet sein Verfahren auf folgendes durch mathematische Induktion
bewiesene Lemma: Gibt man dem & in X = x” nacheinander die In-
kremente 1, 2,3,..., so ist die n® Differenz PX =1.2.3...n.
Für jeden ganzzahligen Wert z, von x ist der Wert von F (z,) ein
‚ganzes Vielfaches des Wertes von f(z,). Man trage nun für x nach-
einander die Werte ...2,1,0, —1,—2... ein. Für jeden der-
selben zerlege man den Zahlenwert von F(x) in seine ganzzahligen
Teiler. Wenn man jeden dieser Teiler für irgendeinen Wert von 2, von a@”
abzieht, muß, wenn ein Faktor f(x) überhaupt vorhanden ist, unter
den verschiedenen Resten der Wert von aa” — f(x) sich vorfinden.
Wenn man jetzt in der Berechnung von
Alaa" — fo), - -... 1"? (aa" — f(x)
für die oben angedeuteten Werte von z alle möglichen Kombinationen
von Minuenden und Subtrahenden macht, wird es möglich sein, für
1°7?(a2” — f(a)) Werte zu erhalten, die eine arithmetische Reihe
bilden. Ist dieses nicht möglich, so kann F(x) nicht in Faktoren zer-
legt werden. Im Verfahren Kroneckers werden statt der Differenzen-
methode Interpolationsformeln gebraucht. Sonst sind die zwei
Methoden ganz ähnlich.
Einen interessanten Versuch nachzuweisen, daß Gleichungen von
geradem Grade in lauter reelle trinomische Faktoren zerlegt werden
können, machte Laplace 1795 in seinen Vorlesungen auf der
Normalschule?). Die Wurzelexistenz wird stillschweigend voraus-
gesetzt. Ist der Grad der vorgelegten Gleichung 2'S, und S eine
ungerade Zahl, und sind a, b, e,... die Wurzeln, so soll man eine
neue Gleichung vom Grade 2i-18(2?S$ — 1) bilden, deren Wurzeln
a+b-+mab sind, wo m verschiedene bestimmte Werte annehmen
') Journal f. r. u. a. Mathematik, Bd. 92, S. 10. *) Seances des &coles
normales, an III (1794—1795) = Journal de l’&cole polytechnique 7. et 8, cahiers,
T.D, 1812, p. 56, 57. Vgl. G.Loria, Il teorema fondamentale della teoria
delle equazioni algebriche, Rivista di matematica, 1891, p. 185—248; G. Loria,
Esame di aleune ricerche concernenti l’esistenza di radiei nelle equazioni alge-
briche, Bibliotheca mathematica 1891, p. 99—112.
138 Abschnitt XX.
darf. Wenn i=1, so ist ihr Grad ungerade und sie hat wenigstens
eine reelle Wurzel, welchen Wert m auch haben möge. Es kann
aber m beliebig viele Werte annehmen, weshalb es beliebig viele
Gleichungen letztgenannten Grades gibt, welche je wenigstens eine
reelle Wurzel von dem Typus «+b+mab haben. Unter diesen
Gleichungen sind gewiß zwei, welche dasselbe Wurzelpaar enthalten
und reelle Werte für « +b + mab liefern: Sind’ diese reellen Werte
a+b+mab und «+b+m’ab, dann sind a + b und ab auch reell,
sowie der Trinom #2 — (a+b)x + ab, welcher ein Faktor der vor-
gelegten Gleichung ist. Wenn © = 2, so hat eine Gleichung des Grades
2-15, wie eben gezeigt worden, einen quadratischen Faktor. Es
gibt beliebig viele Faktoren des Typus a +b-+ mab, welche Werte
von der Form e-+gY-— 1 annehmen, woraus geschlossen wird, daß
a-+b und ab gleichfalls diese Form haben, und daß die vorgelegte
Gleichung einen reellen quartischen Faktor enthält. Für >2 ist
das Verfahren ähnlich.
In einer Schrift, On the roots of equations') gibt James
Wood (1760—1839), damals Fellow in St. John’s College, ein ein-
flußreicher Mann auf der Cambridge Universität, einen Beweis, daß
eine Gleichung n“" Grades n Wurzeln von der Form a + V-+b be-
sitze. Der Eulersche Beweis dieses Satzes sei nicht allgemein,
während Warings Auseinandersetzungen zu kurz und schwer ver-
ständlich seien. Wood demonstriert den Satz, daß zwei Wurzeln
einer Gleichung 2m*® Grades durch die Lösung einer” Gleichung
m (2m — 1)” Grades gefunden werden können. Wenn möglich, seien
2+v und z—v zwei Wurzeln der vorgelegten Gleichung. Man er-
hält durch Substitution dieser Werte und Addition und Subtraktion
der erlangten Ausdrücke zwei Gleichungen, die sich durch y= v? in
y®r+byrin...=0 und Ay®-i+ By"-?+-..=0 reduzieren.
Letztere haben einen gemeinschaftlichen Faktor y+Z, wo Z eine
Funktion von z und bekannten Größen ist. Diesen Faktor findet er
nach der bekannten Divisionsmethode, indem er den von % freien
Rest gleich Null setzt. Dieser Rest ist m (2m — 1)” Grades in 2.
Existiert nun ein Wert von 2, dann existieren auch Z und der ge-
meinschaftliche Faktor y+ Z, sowie zwei Wurzeln 2+ V+Z der
vorgelegten Gleichung. Nach dieser Vorbereitung nımmt Wood an,
daß jede Gleichung ungeraden Grades wenigstens eine reelle Wurzel
‚habe, und deshalb auf eine 2m" Grades erniedrigt werden könne.
Ist m eine ungerade Zahl, so ist es auch m (2m — 1), weshalb z
!) Phil. Trans. Vol. 88, for the year 1798, London 1798, p. 369—377.
Algebra. . 139
und v* reell sein können. Die vorgelegte Gleichung 2m" Grades
hat demnach den reellen quadratischen Faktor 2 — 222 + 2 — 2 =0,
Wenn m gerade und z ungerade sind, dann hat die Hilfsgleichung
in 2, wie eben bewiesen, zwei reelle Wurzeln oder zwei von der
Form a+ V— 1b; v hat die Form e+dyY-—1. Daraus zieht er die
Folgerung, daß die vorgelegte Gleichung einen quartischen Faktor
a +pa’+gq@®+r2+s— 0 mit reellen Koeffizienten besitzt, welcher
in zwei reelle. quadratische Faktoren zerteilbar ist und deshalb Waur-
zeln von der Form a + Y-— 1b besitzt. Man fahre so fort für die
Mm mM
a ke
macht von den verwandten Arbeiten von Foncenex und Lagrange
keine Erwähnung. Gegen den Beweis von Wood und auch gegen
diejenigen von Euler, Foncenex, Lagrange und Laplace gilt
der Einwurf, daß dieselben nicht zum Ziele führen ohne die Wurzeln,
deren Existenz zu beweisen ist, vorher auf irgendwelche Weise vor-
zuführen. Was die Mathematiker des 18. Jahrhunderts hauptsächlich
im Auge hatten, war der Nachweis, daß alle Wurzeln von Gleichungen
mit rationalen Koeffizienten entweder reelle Größen oder Größen
Fälle, wo ungerade ganze Zahlen sind. Wood
vom Typus « +by—1 seien.
Zakarias Nordmark (1751—1828), Professor der Physik zu
Upsala, veröffentlichte eine Schrift Expressio uniuscujusque
radicis aequationis cubicae in casu irreductibili, ope trium
radicum e casu reductibili simul adhibitarum!), worin er
% —-(Yp 2. Vq .. Vr) setzt und die Koeffizienten der kubischen
Gleichung, welche diese Wurzel hat, den Koeffizienten der vorgelegtn
Kubik © — 392 —2h=0 bezw. gleich setzt. Danach erhält er
eine Gleichung, deren Wurzeln », q, r sind und die für den irreduk-
tiblen Fall (9° > h?) der vorgelegten Gleichung nur eine reelle Wurzel
hat und deshalb durch Del Ferros Formel numerisch lösbar ist.
Es kann also jede Wurzel von © — 392 —2h=(0, für den Fall
g°>h?, durch drei Wurzelgrößen einer reduktiblen Kubik ausgedrückt
werden. Diese Untersuchung muß denen von besonderem Interesse
gewesen sein, die mit D’Alembert glaubten, der irreduktible Fall ent-
springe aus den unschicklichen Annahmen in der Del Ferroschen
Auflösung. Nordmarks neuer Angriff des Problems mußte aber
doch den Glauben an die Unmöglichkeit, imaginäre Ausdrücke zu
vermeiden, bedeutend stärken.
Die 1799 veröffentlichte Teoria generale delle equazioni
von Paolo Ruffini ist die erste von mehreren wichtigen Schriften
) Nova Acta Reg. Soc. Seien. Upsaliensis, Vol. VI, 1799, p. 203—210,
140 Abschnitt XX.
Ruffinis über die Unlösbarkeit der Quintic und gehört deshalb einer
späteren Zeitperiode an. Nach Poggendorff und Matthiessen
wurde das eben zitierte Werk 1798 gedruckt. Alle Exemplare, die
wir gesehen haben, tragen aber die Jahreszahl 1799).
Zu Berechnungsmethoden der Wurzeln durch Annäherung über-
gehend, fangen wir mit einer Schrift, Observationes variae in
mathesin puram?), von J. H. Lambert an, welche die Gleichungs-
theorie berührt. Formeln für die Berechnung von Summen der
Wurzelpotenzen und der Wurzeln selbst werden hergeleitet. In
0= a" — Aa"! + Ba”? —..:.—- Ic +K setze man für x nach-
einander die Wurzeln «, ß, y,..., dann wird durch Addition dieser
Ausdrücke fer — A JM _ Bfre: +...4+ I r— mK, wo fr"
die Summe der m*" Potenzen der Wurzeln bezeichnet und m nach-
einander die Zahlen 1, 2,3,... vorstellen kann. Um Lamberts
Näherungsmethode zu kennzeichnen, setze man n O=a—bx + ca?
— ...+9a”, 2—=k-+ y und verwerfe alle Glieder, die „2, y°,... ent-
a— ck?+2dk®—.--— (m— 1)pk”
b— 2ckh + 3dk?—.- — mpk"=!
erhält. Wenn % irgend eine Zahl ist, gebe diese Formel eine Zahl,
welche ein Näherungswert für die dem % nächstliegende Wurzel sei.
Sind alle Wurzeln positiv, dann setze man — %k gleich dem Koef-
fizienten von z”=!, und man erhalte einen Näherungswert für die
größte Wurzel, während = 0 einen für die kleinste liefert.
Lambert erwähnt noch eine zweite Näherungsmethode als eine
sehr natürliche und einfache. Es sei @+px=q, dann ist q>pa,
<<: A<P:, FREIE PFERD DEI FI
>: 2 rer
+p2<g 2<g:p— $:p° +29: p? — pt:p',ete. Auf diese Weise
erhält er obere und untere Grenzen für x in der quadratischen und
auch in der allgemeineren Gleichung a2” + bx*—=d, welche sich auf
die Form x” +px=g reduzieren läßt. Für 2" +px==g schließt
er dann, daß
halten, wodurch man <=k+y=
an wen.
s "a 2 RT 1 ete.,
ee 1:Pp — g" # anails E er ER Per
eine Reihe, die konvergiere, wenn (m — 1)” 19" > m" g"-1. Also
konvergiere diese Reihe für den irreduktiblen Fall von #" +px = q.
Nun läßt Lambert die Bemerkung folgen: „Qui casus praeeise illum
complecitur, qui hactenus nullo modo perfecte solvi potuit. V. Cel.
Clairaut, Elem. Algebr. P. V. $ 8“ woraus zu ersehen ist, daß
!) Man sehe auch E. Bortolotti, „Paolo Ruffini“, Annuario della R. uni-
- vwersitä di Modena 1902—1903, p. 12; Carteggio in Mem. d. Soc. ital. d. Scienze,
S. 3%, T. XIV, 1906. *) Acta Helvetica, Basileae, Vol. III, 1758, p. 128—168.
Algebra. 141
Lambert 1758 zwischen einer algebraischen Auflösung und solcher
durch Näherungsmethoden noch keine scharfe Grenze zog. Obige Reihe
für die Wurzeln trinomischer Gleichungen führt den Namen Lamberts.
Im Jahre 1759 veröffentlichte Johann Andreas v. Segner
einen Methodus simplex et universalis, omnes omnium
aequationum radices detegendi!), welcher die Kurve der Glei-
chung graphisch zu erhalten lehrt. Soll z. B. die Kurve der kubischen
Gleichung Az? + B2?+Cz+ D=y gefunden werden, dann ziehe
man PO, TS, RO auf MN senk- 4 a
recht, wo OQ=1 und 08=z. h
Die Koeffizienten D, C, B, A der |
Gleichung sind durch die Strecken
OD, DC, CB, BA dargestellt.
Man ziehe Aa || MN, dann ziehe
man Ba, und durch den neuen
Punkt b pe | MN. Durch Ce er-
hält man den Punkt d und
ge| MN. Auf ähnliche Weise
_ erhält man die Linie De und den y__0 >) Q
ie
P
sa wa W
IS
Punkt f. Es ist nun fS=y und |
fein Punkt der Kurve; denn durch 2 7 A
die Betrachtung ähnlicher Dreiecke Fig. 1.
findet man leicht pr =4Az2+B,qD=A2?+Bz+(, fS= Ar?
+ Bz?+0Cz+D. Für jeden neuen Wert von z oder OS erhält
man einen neuen Punkt der Kurve. Wo diese Kurve die Linie MN
schneidet, hat man eine reelle Wurzel der Gleichung Az? + Bz?+ (z
+ D=0; wo sie eine Minimum-Ordinate zeigt, ohne an dieser Stelle
die Linie MN zu erreichen, wird eine imaginäre Wurzel angezeigt,
ohne jedoch deren Wert anzudeuten. Es wäre wünschenswert, sagt
Segner, solche Kurven mechanisch beschreiben zu können. Die Er-
findung eines solehen Verfahrens scheine ihm aber so schwer, daß er
es nicht versucht habe.
Die numerische Auflösung der Gleichungen ist ein Gebiet, wofür
Lagrange sich sein Leben lang interessierte. Seine erste Arbeit
darüber führt den Titel Sur la resolution des equations nume-
riques?). Den Satz für die Bestimmung des ganzzahligen Näherungs-
wertes einer Wurzel, daß zwischen p und q wenigstens eine reelle
Wurzel einer Gleichung f(x) = 0 liegt, wenn f(p) und f(gq) entgegen-
gesetzte Zeichen haben, beweist er ohne den damals üblichen Hinweis
ı) Novi Comm. Acad. Sceient. Imp. Petropolitanae, T. VU, pro annis 1758
et 1759, p. 211—226. 2) M&moires de l’acad. roy. des sciences, annde 1767,
Berlin 1769, p. 311—352 = Lagrange, Oeuvres, T. 2, p. 539— 578.
142 Abschnitt XX.
auf die Kurventheorie, indem’ er in dem Ausdruck (« — e)(£ — ß)---
—( (e, ß,... Wurzeln), «»—=p, dann #—g setzt und die’ zwei Er-
gebnisse vergleicht. Substituiert man für & die Glieder der Pro-
gression 0, D,2D,..., wo D kleiner als die kleinste Wurzeldifferenz
sein muß, so ist man imstande die Lage aller reellen Wurzeln zu
bestimmen. Das Schwierigste ist, den Wert von D zu berechnen,
Lagrange hat dafür drei Methoden angegeben; eine 1767, eine
andere 1795, die dritte 1798. Die erste stützt sich auf die Gleichung,
deren Wurzeln die Quadrate der Wurzeldifferenzen von f(x) = 0 sind.
Von dieser Hilfsgleichung leitet er die Anzahl von imaginären Wurzeln
ab. Man wird sich erinnern, daß schon früher Waring diese wichtige
Hilfsgleichung abgeleitet hatte; Lagranges Exposition ist aber
viel eleganter. Warings Schriften waren Lagrange 1767 noch
nicht bekannt.
Gleiche Wurzeln werden durch die Divisionsoperation zur Ent-
deckung des größten gemeinschaftlichen Teilers von f(x) und f’(z)
bestimmt. Allgemeine charakteristische Beziehungen zwischen den
Koeffizienten von f(x) = 0 für den Fall, daß f(x) und f’(x) einen
gemeinschaftlichen Teiler haben, oder f(x) eine . vorgeschriebene
Anzahl mehrfacher Wurzeln besitzt, werden von Lagrange weder
hier noch in späteren Schriften entwickelt. Hätte er sein beliebtes
Werkzeug, die symmetrischen Funktionen, auf die Vervollkommnung
der Theorie der mehrfachen Wurzeln angewandt, so wäre er nach
der Ansicht Sylvesters!) auf einem Rückwege sehr wahrscheinlich
auf die Entdeckung des Sturmschen Satzes gekommen. Die Be-
rechnung der negativen Wurzeln in der Gleichung für die Quadrate
der Wurzeldifferenzen liefert Lagrange die Werte ß, welche in den
imaginären Wurzeln &-+iß der vorgelegten Gleichung erscheinen.
Um « zu finden, setzt er in die vorgelegte Gleichung 2 = «+ if, und
erhält durch Trennung der reellen und imaginären Glieder zwei Glei-
chungen, die für denselben Wert von ß einen gemeinschaftlichen
Teiler haben. Setzt man denselben gleich Null, so kann man « berechnen.
Es ist bemerkenswert, daß Lagrange die Kettenbrüche mit
Vorliebe als ein Mittel zur Wurzelberechnung von bestimmten, sowie
unbestimmten Gleichungen angewandt hat. Für erstere beschreibt er
eine ganz neue Näherungsmethode. Ist p der‘ erste Näherungswert
einer Wurzel « von f(x)=(, setze man 7=p+ : ‚ dann m der
resultierenden Gleichung fy)=0, y=4+ z ,‚ ferner ın | I(2) Be
z=r+ I usw.. .Es ergibt sich daraus ein Kettenbruch für den
t) Philosophical Magazine, Vol. 18, 1841, p. 249.
Algebra. 143
Wert von x, welcher alternierend zwei Arten von Näherungsbrüchen
des x liefert. Die Werte der einen Art sind alle > «, die der anderen
Art sind alle <«. Die Eigenschaften dieser Ausdrücke werden mit
Meisterhand entwickelt. Bei einer rationalen Wurzel wird der Ketten-
bruch endlich und liefert den genauen Wert derselben. Bei einer
irrationalen Wurzel kennt man bei jeder einzelnen Annäherung die
Größe des Fehlers, was bei der Newtonschen Methode bekanntlich
nicht der Fall ist. '
Um diese Schrift zu ergänzen und seine Methode zu vereinfachen,
schrieb Lagrange Additions au m&moire sur la resolution
des equations nume6riques‘). Die Gleichung der quadrierten
Wurzeldifferenzen wird vollständiger besprochen. In derselben kann
‚die Anzahl imaginärer Wurzelpaare die Anzahl Zeichenfolgen nicht
übersteigen. Durch bloße Besichtigung der Zeichen kann man ent-
scheiden, ob die Anzahl reeller Wurzeln eine der Zahlen 1, 4, 5, 8,
9, 12, 13,..., oder ob sie eine von 2, 3, 6, 7, 10, 11,... ist. Dieses
genügt, die ganze Anzahl von reellen und von imaginären Wurzeln
in allen Fällen zu entscheiden, wo’ der Gleichungsgrad nicht höher
als 5 ist, und wo für höhere Grade man im voraus weiß, daß nicht
mehr als 4 imaginäre Wurzeln vorkommen.
Es folgen Anwendungen auf die vier ersten Grade. Bei der
Kettenbruchentwicklung der numerischen Wurzeln wird hervor-
gehoben, daß auch ein unendlicher Kettenbruch den genauen Wurzel-
wert liefert, wenn nur dieser Bruch periodisch ist. Daß jeder perio-
dische Kettenbruch auf eine quadratische Gleichung zurückgeführt
‚werden kann, war längst bekannt; der inverse Satz wird aber hier
zum erstenmal demonstriert. Den Spezialfall, 2—=c, hatte Euler
früher?) ohne Nachweis angeführt, wo Ve zu einem periodischen
Kettenbruch entwickelt wurde.
Obschon die Näherungsmethode von Lagrange theoretisch vor-
trefflich ist und vor älteren Methoden den Vorteil besitzt, immer
mit Sicherheit zum Ziele zu führen, so daß Lagrange mit Recht be-
haupten konnte, „cette methode ne laisse, ce me semble, rien ä
desirer“, besaß sie für praktische Zwecke geringen Vorteil, denn die
Wurzel wird in der Form eines Kettenbruchs ausgedrückt und die
Berechnung derselben ist mühsam. |
Ein Werk, Trait& de la resolution des &quations en
general, von J. Raym. Mourraille in Marseille 1768 herausgegeben,
behandelt hauptsächlich die Auflösung von Gleichungen durch An-
näherung. Während vierzehn Jahren, bis 1782, war Mourraille
) M@moires de’ l’acad. roy. des sciences, annde 1768, T. 24, Berlin 1770,
p. 111—180 = Oeuvres, T. 2, p. 581—652. 2), N. Comm. Petr. XI, 1765.
144 Abschnitt XX.
Sekretär de la elasse des sciences der Akademie von Marseille.
Zur Zeit der Revolution wurde er zum Bürgermeister der Stadt er-
nannt und später verschiedener Verbrechen angeklast!). Sein Werk
über Gleichungen ist eigentümlich. Von zu großem Umfange und
für den Anfänger zu abstrakt in der Behandlungsweise scheucht es den
Fachmann durch die Unbündigkeit vieler seiner Beweise zurück.
Dennoch ist es nicht ganz ohne Verdienst. Außer einer Rezension
im Journal des Scavans in Amsterdam, März 1769, haben wir gar
keine Äußerungen darüber finden können. Unter Mathematikern
blieben das Werk und .der Name des Autors ganz unbekannt. Der
Verfasser gesteht, daß er sich keine Mühe gegeben habe, sich über die
Literatur seines Faches zu orientieren. Nur englische Schriftsteller
vor Waring und der Franzose Reynau werden von ihm genannt.
Newtons Annäherungsmethode ist der Hauptgegenstand seines
Werkes und wird von ihm nicht analytisch, sondern aus den allge-
meinen Eigenschaften der Kurven entwickelt. Auf .diese Weise sei
es ihm möglich geworden, die Mängel der Newtonschen Methode
zu heben. Er verhütet das Mißlingen der Operation dadurch, daß er
erst die Kurve beschreibt und dann den ersten Annäherungswert A
der Wurzel & so wählt, daß die Kurve für die Strecke =« bis
xt = A gegen die X-Achse konvex ist. Man wird beachten, daß auch
andere Mathematiker dieser Zeit zur Geometrie und dem Kurven-
zeichnen Zuflucht nehmen, um die analytischen Mängel ihrer Nähe-
rungsmethoden zu ersetzen.
Angeregt durch Segners Aufsatz aus dem Jahre 1759 ver-
öffentlichte John Rowning?), ein „fellow“ von Magdalenen College
in Cambridge und später Pfarrer an diesem Üollege?), einen Artikel,
Direcetions for making a Machine for finding the Roots of
Equations universally, with the Manner of using it.) Wenn
die verschiedenen Linien in Segners Figur (8. 141) durch Lineale mit
Rinnen dargestellt werden, und PO, R®, Aa, Ba, sowie die Punkte
A,B,C,D unbeweglich gemacht werden, während pe und ge sich
nur MN parallel bewegen können, und Üc, De beweglich sind, dann
kann man die Linie $7 parallel nach rechts oder links stoßen, ohne
die Konstruktion der Figur zu vernichten. Wenn nun TS eine Lage
annimmt, wo fs=0, dann ist OS eine reelle Wurzel, die negativ
ist, wenn OS nach links weist. Rowning gibt eine Abbildung
seiner interessanten Maschine.
) A. Fabre, Histoire de Marseille T. II, Marseille et Paris 1829, p. 409,
482, 496, 499. 2) 1701?— 1771. 3) Dietionary of National Biography.
*, Philos. Trans. Vol. 60, for the year 1770, p. 240—256.
Algebra. | 145
In einer Untersuchung, Observationes eirca radices aequa-
tionum!), leitet L. Euler eine Reihe ab, welehe die größte Wurzel
einer Gleichung 1 = = + = ausdrückt, und erhält dann durch In-
duktion die entsprechende Reihe für 1=—, +5 —. Er schreitet nun
zu quadrinomischen und endlich zu en ‘Gleichungen und
zeigt, daß. nicht nur irgend ein Wurzelwert, sondern auch irgend eine
Potenz eines solchen durch Reihen dargestellt werden kann.
In der Abhandlung, Observations analytiques?), erzählt
Lambert, daß er seine 1758 in den Acta Helvetica gedruckte Be-
handlung von trinomischen Gleichungen bei seiner Ankunft in Berlin,
1764, Euler und später auch RER mitteilte, worauf. Euler
diese Resultate auf quadrinomische Gleichungen 0 = 2” + ax"
+ baP +c übertrug und Lagrange auch die allgemeinere Gleichung
«— 2+9(2) =0 (wo p(x) irgend eine Funktion ist) untersuchte?).
Dieses Thema führt nun Lambert weiter fort. In einer Gleichufte
y(y)=v(x,y) soll & oder irgend eine Funktion von x oder von x
und % mittels der Differentialrechnung in Reihenentwicklung dureh
% bestimmt werden.
In der ersten von den zwei 1776 eingereichten Abhandlungen‘)
spricht Euler anerkennend von der Lambertschen Reihenentwick-
lung der Wurzelwerte einer trinomischen Gleichung. Die zwei Ab-
handlungen stehen in enger Verbindung mit der letzten von uns an-
geführten Eulerschen Schrift Observationes circa radices
aequationum. Hier wie dort sollen nicht nur die Wurzeln selbst,
sondern auch irgendwelche Potenzen derselben durch Reihen dar-
gestellt werden; die Reihenentwicklung sucht er nun zu verein-
fachen und zu präzisieren und von allem Mysterium zu befreien.. Die
Schriften von Lagrange über Auflösung der Gleichungen durch
Reihen erwähnt Euler nicht.
In dem Aufsatze Eulers, Nova ratio quantitates irratio-
nales proxime exprimendi,) nee rasch konvergierende Reihen
R m
entwickelt, um Irrationalgrößen N’ = (@+br=arll+ = u
) N. Comm. Petr. T. XV pro anno 1770. Petropoli 1771, p. 51—74.
®) N. m&moires de ‚l’acad. roy. des sciences, annde 1770. Berlin 1772, p. 225— 244.
») Man sehe „Nouvelle methode pour r&soudre les &quations litterales par le
moyen des series“. Me&moires de Berlin t. 24, 1770 = Lagrange, Üeuvres
t. II, p. 5—73 und. „Sur le probleme de Kepler“ ebenda, t: 25, 1771 — Oeuvres
t. I, p. 113-138. ‘N. Acta Petr. IV, 1786, p. 55-73, p. 74—95.
°») N. Comm. Petr. T. XVIIE pro anno 1773. Petropoli 1774, p. 186—170.
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 10
146 Abschnitt XX.
berechnen. Wenn die Binomialentwicklung von (1-+2)” durch
1 — «x multipliziert wird, erhält man }
(1+2)”®"=(1+4Ax+ Ba? + .-):(1—oR).
. ne 1
Setzt man nun A= (0, wird «—=n und der Näherungswert =
I_nz'
u
“ und der Näherungs-
Setzt man statt dessen B=0, wirde ="
2 + (nn +1)x
2 — (n—1)x
er statt 1— «x den Nenner 1— «x + x? und später noch irgend
eın Polynom nimmt. Die Brauchbarkeit der errungenen Formeln
wird durch Aufgaben in der Wurzel-, Logarithmen- und Exponential-
berechnung erläutert.
In einer Abhandlung, Methodus generalis investigandi radices
omnium aequationum per approximationem?), die Euler schon
1776 einreichte, soll eine Wurzel z der Gleichung Z=0 berechnet werden.
Sgtzt man für 2 den Näherungswert v ein, so erhält man einen Aus-
druck Z= V, wo V eine bekannte Funktion von » ist, welche für
v—z verschwindet. Umgekehrt ist v eine Funktion von V, also
etwa v—=T:V. Nun ist T: V+aJ)=v+ap+ za +r,.W0
d 1? £ ’ }
»- 77 g= wi + Wenn a=—V, so erhält man die Reihe
wert = usw. Euler verfährt auf ähnliche Weise, indem
2=v—pV + „qV® — +++, welche in der Berechnung von Wurzeln
anwendbar ist. Die Konvergenz der Reihe wird nicht untersucht.
Ein Nachteil der Methode besteht darin, daß man nicht weiß, welchen
Grad der Genauigkeit man erreicht hat.
In den Riflessioni sul Metodo di risolver lVequazioni
numeriche proposto dal Sig. De-la-Grange?) hebt der Padre
Stanislao Canovai (1740—1811) hervor, daß die. Hauptteile der
Lagrangeschen Theorie schon früher von Waring und anderen
entwickelt worden und versucht dann eine einfachere Entwicklung
dieser Theorie zu geben. |
Lagrange schrieb 1777 an Lorgna,’) daß seine Untersuchung
über die numerische Auflösung der Gleichungen aus den Jahren 1767.
und 1768 von Mathematikern größere Aufmerksamkeit verdiene als
sie wirklich erhalten habe. Nach der Veröffentlichung seiner Schrift
De la resolution des. &quations num6riques de tous les
degres, Paris, an VI (1798), schickte Lagrange ein Exemplar an
') N. Acta Petr. T. VI, ad-ann. 1788. Petropoli 1790, p.16—24. *) Atti
dell’ accademia delle scienze di Siena detta de’ Fisio-Critici, Tomo VII, 1794,
p- 29—45. ®) Lagrange, Oeuvres T. XIV, p. 253.
Algebra. 147
Pietro Paoli mit der Bemerkung: „Es enthält meine alten Memoiren
über die Auflösung numerischer Gleichungen, ... mit mehreren Noten
über diese Memoiren, sowie auch über andere Punkte der Gleichungs-
theorie. Ich fügte jene Noten bei, um die Aufmerksamkeit von Mathe-
matikern auf diesen wichtigen Gegenstand der Analyse zu richten,
welchen sie beinahe verlassen zu haben scheinen.“!) Die zwei ersten
Noten enthalten Verbesserungen in den Beweisen der Fundamental-
sätze, 1) daß zwischen a und 5b, wo fa)=+ und fb)=-—,
wenigstens eine reelle Wurzel liegt, (2) daß, wenn eine reelle Wurzel
zwischen a und b liegt, f(a) und f(b) entgegengesetzte Zeichen
haben. Einen ähnlichen Zweck hat Note III; worin er die Gleichung
der Wurzeldifferenzen behandelt. Hier werden die Arbeiten von
Waring erwähnt und daraus die Gleichung, deren Wurzeln die
quadrierten Wurzeldifferenzen der Quintik sind, entnommen. Lagrange
selber hatte die Koeffizienten dieser Gleichung nie berechnet. Es
wird dann in Note IV das Problem weiter untersucht, eine Zahl D
zu finden, die kleiner als die kleinste Wurzeldifferenz ist. Die erste
Berechnungsweise von D wurde von ihm 1767 erklärt; die zweite
wurde 1795 in Vorlesungen auf der Normalschule vorgetragen.?) Die
dritte ist eine Modifikation der zweiten und nicht ganz so schwer-
fällig. Die Annäherungsmethoden von Newton und Raphson
werden in Note V kritisch untersucht. Es stellt sich heraus, daß
Newtons Methode mit Sicherheit nur zur Berechnung der größten
oder kleinsten reellen Wurzeln derjenigen Gleichungen dient, ın
welchen der reelle Teil « jeder imaginären Wurzel «+:ß zwischen
der größten und der kleinsten reellen Wurzel liegt. Zunächst werden
die Annäherung durch rekurrente Reihen und die Fontainesche
Auflösungsmethode untersucht. Er zeigt, daß Fontaines Verfahren
selbst für Gleichungen niedrigen (z. B. dritten) Grades nicht immer
zum Ziele führt. Es folgen dann Noten mit historischen Angaben
über Wurzelgrenzen, die Reellität der Wurzeln und die Möglichkeit,
alle imaginären Wurzeln einer Gleichung in der Form a+ Y 15
. auszudrücken. Note X betrifft die Zerlegung eines Polynoms in
reelle Faktoren, Note XI weitere Approximationsformeln zur Berech-
nung der Wurzelwerte. Die letzte Note behandelt Transformationen,
welche Gleiehungen liefern, in denen alle x enthaltende Glieder
einerlei Zeichen haben und das absolute Glied das entgegengesetzte
Zeichen besitzt. Ä
i) Memorie della regia accad. di scienze in Modena, Serie III, T. I, 1898,
p- 109. 2) Seances des &coles normales, T. 3, p. 466 = H. Niedermüller,
op. eit., ps 90—97.
10*
148 Abschnitt XX.
' Eine geometrische Methode, die -Wurzeln. von Gleichungen zu
bestimmen, wird: von Teodoro Bonati’ (1724— 1820), einem in
Ferrara gebürtigen italienischen Arzte, beschrieben 1). Die Natur und
Lage der Wurzeln soll durch die Gleichungskurve bestimmt werden.
Um diese zu zeichnen, wird die Gleichung anfangs durch Trans-
formation von dem vorletzten Gliede befreite Hat man z. B.
2° — Bast+5e® — Dh +i=0 und setzt man u = 0, so hat
man auch x —= (0 und man hat auf der Y-Achse einen Maximum- oder
Minimumpunkt der Kurve, welcher zur bequemeren Zeichnung der
Kurve dient. Die übrigen solcher Punkte werden durch Verschiebung
der Y-Achse nach rechts oder links gefunden. ?)
Unter den Spezialuntersuchungen über Gleichungstheorie bringen
wir in erster Linie die Diskussion über den irreduktiblen Fall in der
Lösung von Kubikgleichungen. Zahlreiche Schriften über diesen
(egenstand wurden verfaßt, besonders in Italien. Obschon keine
neuen Resultate gewonnen wurden, war die Diskussion doch nicht
ohne Erfolg, denn viele Mathematiker überzeugten sich allmählich
von den Vorteilen, welche imaginäre Größen in der Gleichungstheorie
gewähren. Lagrange schrieb an Lorgna 1777 aus Berlin:°) „Als
einen der wichtigsten Schritte, welche die Analyse in letzter Zeit
genommen hat, erachte ich, daß sie durch imaginäre Größen nicht
länger in Verlegenheit gesetzt wird, und daß dieselben der Rechnung
unterzogen werden, eben wie reelle Größen.“
Allgemeine Gesichtspunkte werden nicht ohne Mühe erreicht.
Als Beispiel dient die Äußerung, die in dieser Zeit gelegentlich ge-
macht wurde, daß die Algebra keine allgemeine Auflösung kubischer
Gleichungen kenne). | |
Ein bloßer formaler Ausdruck, wie die Del Ferrosche Formel
für den irreduktiblen Fall, welcher numerische Wurzelwerte zu be-
rechnen nicht gestattete, wurde nicht selten von algebraischen
Lösungen ausgeschlossen. Blassiere ist der Ansicht, daß, obschon
eine allgemeine Lösung von © +qgx-+r=0 nicht möglich sei, er
die Möglichkeit einer allgemeinen Lösung von x? + pa? +g2+r= Kb
doch nicht leugnen möchte.
.D) Memorie di Matamalich e Fisica della Societä Italiana, Tomo VII, Pt. i
Modena 1799,. p. 231—272. ?) Abhandlungen von P. Franchini u
T. V. de Caluso in Memoires de l’acad. de Turin, annde 1792 ü 1800, T. VI
werden hier ausgelassen, weil erst 1800 gedruckt. ?) Lagrange, Oeuvres,
T. XIV, p. 261. *) Z.B. Paoli Frisii operum tomus primus algebram et
geometriam analyticam continens, Mediolani.1782, p. 269, und J. J. Blassiöre in
Verhandel. uitgegeeven door de Hollandsche Maatschappye der Weetensch. te
Haarlem, VIII. Deels I. Stuk, 1765, S. 197— 220.
r
Algebra. 149
' Ein schon früher erwähntes Werk 'von Franeis Maseres, be-
titel A -dissertation on the use of the negative sign in
algebra ... showing how quadratie and cubie equations
may be explained, without the consideration of negative
roots, erschien 1758 in London. Negative Wurzeln verwerfend, be-
hauptet Maseres, die Gleichung 2? — xp =r habe nur eine Wurzel.
Bei der Gleichung #+p2°?+gx2=r bespricht er die sieben Fälle,
die man erhält, wenn nicht mehr als zwei Glieder auf der linken
Seite das — Zeichen erhalten und zählt die Anzahl Wurzeln jeden
Falles auf. Er teilt die kubischen Gleichungen in solche erster,
zweiter und dritter Art, je nachdem kein Glied, das dritte oder das
zweite Glied fehlt. Er zeigt, wie die übrigen Auf solche dritter Art
transformiert werden können und erklärt die Auflösung jeden Falles.
Alles ist mit langweiliger Weitläufigkeit auseinandergesetzt. Die
große Anzahl spezieller Fälle, welche seine Auffassung der Algebra
erfordert, bezeugt, wie sehr bequem und zeitersparend negative Größen
wirklich sind, indem sie alle Fälle in einen einzigen einschließen.
Maseres ist aber gewissenhaft. Die Möglichkeit einer solchen
Algebra sieht er nicht ein und er zieht die Logik der Einfachheit
vor, so lange er nicht beide gleichzeitig haben kann. Der irreduk-
tıble Fall für P" —cy=d, wo d< = hänge in seiner Auflösung
von cy—y’=d ab. Letztere Gleichung habe zwei Wurzeln, die
ınan. durch Dreiteilung eines Kreisbogens erhalten könne. Wenn
p
x? — px? +gx=r Wurzeln hat, setze man x = 3, y und finde die
kleinste durch Auflösung von y? — Y— d, wo d . C —r 55
d an, ae? —r. Die zwei übrigen erhalte man durch die Berech-
nung der zwei Wurzeln von cy— y’=d und «= . +yY.
In den Artikeln in Diderots Encyclop&die über den irreduk-
tiblen Fall!) erklärt D’Alembert, daß die Cardansche Formel nicht
bloß eine Wurzel, wie gewisse Mathematiker (z. B. Clairaut) be-
haupten, sondern gleichzeitig alle drei darstellen. Der Übelstand
beim irreduktiblen Fall bestehe darin, daß man 2 —=y-+z setze, wo
y und z unbestimmt sind, und dann zugleich — 3y2=g annehme,
wodurch y und z imaginär werden. Diese Annahme sei nicht nötig
und werde gemacht, nur um die Werte von y und z leichter abzu-
leiten. Es sei aber sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, diese An-
3) Man sehe auch die Hnoyelopödie methodique ih eiekaqueh; Partb
1784, Art. „Cas irreductible“.
150 Abschnitt XX.
nahme durch eine bessere zu ersetzen. Daß das Del Ferrosche Ver-
fahren schon von Anfang falsch sei, behaupten auch Frisius!) und
Francesco Domenico Michelotti?).. Der Aufsatz Sur lex-
pression de certaines quantites imaginaires?) von D’Alem-
bert dient als Ergänzung seiner Artikel in Diderots Eneyelopedie.
Er hebt unter anderem hervor, daß aus (1+hY — 1)"=(1—hy — 1)"
man nicht schließen dürfe 1 + hY—1=1-hyY-1, wo h nicht
Null sei. In dieser paradoxen Gleichung nimmt er h=tanA =
tan(®+2n)x an und, um die Gleichung cos m A + sinmA-V—1
sol mA=-+uz, wo u eine ganze Zahl ist, weshalb m(® +2n)= + u
ist und die Werte von m festgesetzt sind.
Ein vielsagender Kommentar über den Scharfblick gewisser Ver-
fasser von Schriften, sowie der Herausgeber der Nova acta erudi-
torum sind zwei anonyme Artikel‘), worin gezeigt werden soll, daß
kubische Gleichungen, die drei reelle Wurzeln haben
(wie #2 —52°+62—2=0),
zugleich,noch drei imaginäre Wurzeln besitzen mögen.
Jean-Francois-Mauro-Melchior Salvemini de Castillon
(1709—1791), aus Toskana gebürtig, tut einen reaktionären Schritt
in der Erklärung’), daß die Del Ferrosche Formel nur auf arith-
metische Gleichungen Bezug habe; Gleichungen, die sich auf geo-
metrische Aufgaben beziehen, lassen sich durch geometrische Kon-
struktion leicht erledigen. Viele Algebristen trauen der Algebra
hlindlings. Für das Problem, zwei Zahlen zu finden, deren jede das
Quadrat der anderen sei und deren Summe dem Kubus einer von
' ihnen gleich sei, liefere die Algebra Ausdrücke, obschon der gesunde
Menschenverstand die Unmöglichkeit derselben leicht erblicke. Diese
Bemerkung wurde durch die Äußerung Lagranges hervorgerufen,
daß 2 2 V-3 das Quadrat von ie Ba —3 sei; La-
granges Autorität hatte bei Castillon weniger Gewicht als bei
anderen Mathematikern, weil letzterer ein Mitbewerber für die Stelle
als Nachfolger von Euler an der Berliner Akademie gewesen war
und zu Lagrange in gespannten Beziehungen stand°).
", Atti dell’ accademia delle scienze di Siena detta de’ Fisio-Critici, T.IV,
1771, p. 20—24. ?) Antologia Romana T. IV, 1778, p. 300—302. ®) Opus-
cules math&matiques T. V, Pt. I, p. 1853—215. #) Anni 1775, p. 60—84,
104—116. °) N. memoires de l’acad. roy. des sciences, annee 1783, Berlin 1785, _
p- 244—265. 6) Lagrange, Oeuvres, T. XIII, p. 79, 89, 202, 205.
Algebra. 151
' Die Entwicklung des Cardanschen Ausdruckes, wie man allge-
mein zu sagen pflegte, in Reihen, von Nicole schon 1738 vor-
geschlagen, wurde später von mehreren angeraten. Maseres ver-
öffentlichte A method of extending Cardan’s rule for solving
one case of a eubick equation of this form @°%+* — gr =r, to
the other case of the same equation, which it is not natu-
rally fitted to solve, and which is therefore often called
the irreduceible case!), worin die Entwicklung der Wurzelwerte
durch die Binomialformel in Reihen gegeben wird.
Kästner äußerte sich 1794 so: „Sonderbar ist, daß man in
Italien noch in neueren Zeiten sich mit dieser Untersuchung viel zu
tun gemacht hat.“ Er selber habe seine Betrachtungen in dem 1757
herausgegebenen Programm Formulam Cardanı aequationum
eubicarum radices omnes tenere cet. vorgetragen.
Schriften von den Italienern Frisi und Michelotti haben wir
schon angeführt. Francesco Maria Zanotti (1692 — 1777) zeigt?),
daß, wenn r +? = VA +YV—B, dann sei auch r —i = Zr V-B,
wodurch leicht zu ersehen sei, wie der Gardansche Ausdruck für
die Wurzeln im irreduktiblen Fall reell sein kann. Ähnliche Nach-
weise findet man bei mehreren Mathematikern.
In einem Aufsatze, De casu irreductibili tertii gradus et
seriebus infinitis, Verona 1776 (?)°), gibt Antonio Maria
Lorgna®) (1735—1796) von der Militärschule zu Verona eine Aus-
einandersetzung der hHeihenentwicklung von den Cardanschen
Wurzelausdrücken und der Zurückführung von der Summation dieser
Reihen auf die Integralrechnung. In einem Briefe an ıhn gibt
Lagrange?°) eine Berichtigung betreffs einer Elimination. Malfattı
kritisierte die Reihenbehandlung.
In einem Aufsatze des Jahres 1782, Dell’ Irreducibilitä
della Formula Cardanica a forma finita, algebraica, e
libera da aspetto immaginario®), sucht Lorgna einen kürzeren
Beweis als den des Jahres 1776 vorzuführen. Er zeigt, daß die
Cardansche Formel für den irreduktiblen Fall der Gleichung
2° —px2—qg=0 nicht gleich x +YVv oder Vv oder xVv oder einer
ı) Phil. Trans. Vol. 68 for the year 1778, Pt. II, London 1779, p. 902— 949.
2) De Bononiensi Scientiarum et Artium Instituto atque Academia Commentarii
Tomi Quinti Pars Prima, 1767, p. 145—151. 3) Über das Datum sehe man
Bullettino Boncompagni, T'. VI, Roma 1873, p. 101 ff. *) Man sehe
Bullettino Boncompagni, T. X, p. 1—74, 5) Lagrange, Oeuvres, T. XIV,
p. 261. 6) Memorie di Matematica e Fisica .della societü Italiana. Tomo I,
Verona 1782, p. 707— 746.
152 Abschnitt XX.
größeren endlichen Anzahl solcher reellen Glieder sein kann, wo x
und v rational angenommen werden und Gleichungen mit en
Wurzeln ausgeschlossen sind. In der Anwendung dieser Ergebnisse
kommt ‚aber ein unheilbarer Fehlschluß vor. Diese Abhandlung
wurde der Akademie zu Padua, die 1781 eine Preisfrage über den
irreduktiblen Fall gestellt hatte, eingereicht. Durch den Einfluß eines
der Schiedsrichter, Nicolai, wurde der Preis vorenthalten !).
In Paulli ‚Frisii operum tomus primus, 1782, wird im
10. Kapitel der irreduktible Fall eingehend besprochen. Im folgenden
Jahre erschien in Padua eine Abhandlung Della possibilitä della
reale ,soluzione analitica del caso irredueibile von Lorgnas
Gegner Giämbatista Nicolai (1726—1795), Lehrer der Mathe-
matik an der Universität zu Padua. Durch Operationen, die nicht
alle mit Y—-1-Y—1=-—1 im Einklang sind, leitet Nieolai die
Paradoxie ab (1+Y1—g):1—-V1—g= 1—-V1i—-gN:1+Y1-g).
Durch ähnliche Fehlschlüsse ergibt sich ihm das Resultat, daß der
ırreduktible Fall von imaginären Größen befreit werden Ka 3
Dieser Aufsatz entflammte einen langen Streit. Sebastiano
Ganterzani schrieb drei Aufsätze, um heterodoxe Ideen dieser Art
zu widerlegen’). | |
Petronio Maria Caldani (1735—1808), Professor zu Bologna,
schrieb einen Brief an Padre Jaequier, worin er Nicolais Fehl-
schluß im se daß
sei, hervorhebt. N icolai schreibe — y—1 era ı Fra: q. ,
anstatt +y1—g*). Es erschienen noch mehrere Streitschriften über
diesen Gegenstand in italienischen Journalen, welche die Frage, ob
das Produkt von — y—1-y—1 BEStBnN oder negativ sein soll,
diskutieren).
Es erschienen auch Abhandlungen von den Brüdern Vincenzo
und Giordano Riccati®),
Eine klare Diskussion des irreduktiblen Falles gab Lagrange’)
in seinen Vorlesungen des Jahres 1795. . Er ‚hebt hervor, daß das
') Bullettino Boncompagni, T. VI, 1873, p. 122, 123. ?) Näheres auch
in De studiis philosophieis, et. mathematieis, Matriti 1789, von Juan Andres,
p-153—181. °) Man sehe Antologia Romana, Tomo XIV, 1788, p.114. *) Anto-
logia ‘Romana, Tomo X, 1784, p. 33—37. . ®) Antologia Romana, Tomo X,
p. 61-62, 313—317, 401—405; Tomo ‘XI, p. 33—46, 49-54, 57--62. Giornale
de’ confini d’Italia 1783, num. 43; 1784, num. 13. .®) Nuovo Giornale,
Modena, T, 24, p. 170—205; T.:28,.p. 256. 7) Seances des &coles normales,
an III, 3. Vorlesung = H. Niedermüller, op. eit., p 48—69. 0,3
Zahlentheorie. 153
Imaginäre in der Gardanschen Wurzelform von der Annahme
z=y-+ z unabhängig sei.
Als Einzeluntersuchung über Gleichungen ist noch anzuführen
eine Schrift, De aequationibus indefinitis, deque methodo
indeterminatarum‘), von Gregorio Fontana, über die Aufgabe
in Eulers Anleitung zur Algebra?), eine reelle Wurzel der
Gleichung mit unendlichen Exponenten 2°— 2°! 2%? —...— 10
zu finden. Man schreibe die Gleichung #” + (1 — 2”): (2 — 1) =0
oder z°+!—-2r7”+1=0, oder 7-2 +0 und es sei dann
klar, daß = 2 sei. Die Lösung der Gleichung 1+2xr+32°+.--
+(»+1)2"=0 hänge von der Lösung der Trinomialgleichung
(n+1)a”"+?— (n+2)a"t!+1=0 ab, wie aus der Division
1:(1— x)? zu ersehen sei.
Zahlentheorie.
Am Anfange unserer Zeitperiode ist L. Euler noch immer der
einzige hervorragende Mathematiker, welcher sich mit der Zahlen-
theorie beschäftigte. Die erste seiner hierher gehörigen Schriften
gibt die Auflösung der simultanen Gleichungen + y+2z= uf,
sy+2z+yz=v, zy2=w??”) Euler bemerkt, daß er an der
Auflösung dieses Problems beinahe verzweifelte, so viel Mühe habe
ihm dieselbe gekostet. Wie wir bald sehen ah hat er später
diese Aufgabe auf vier Zahlen x, y, z, s ausgedehnt und noch andere
bedeutend schwierigere unbestimmte Gleichungen dieser Art gelöst.
Die kleinsten von Null verschiedenen ganzen Zahlenwerte für x, y, z
im gegenwärtigen Problem sind
x = 1633780814400, y = 252782198228, z = 3474741058973.
Wenn diese durch 2315449? dividiert werden, erhält man Bruchwerte
von %, %, 2
Im gleichen Bande kehrt Euler in der Schrift Theoremata
arıthmetica nova methodo demonstrata®) zum Studium der
Potenzreste zurück, die er schon ein Vierteljahrhundert früher bei
Betrachtungen über den Fermatschen Satz untersucht hatte. Er
erforscht die durch Division der sukzessiven Glieder arithmetischer
"). Atti dell’ accademia delle scienze di. Siena, T. VI, p. 184—191.
2) 2. TI., 1. Absch., Kap. 16, $ 239. -®»).N. Comm. Petr. VII, 1760—61,
p- 64—73 = Comm. Arith. I, p. 239. ..% N. Comm. Petr. VII, 1760—61,
p. 74—104 — Comm. Arith. I, p. 274. \
154 Abschnitt XX.
und geometrischer Reihen erhaltenen Reste, und erhält den wohl-
bekannten Ausdruck für die Anzahl der Zahlen, die prim zu einer
gegebenen Zahl und nicht größer als dieselbe sind. Ist die gegebene
Zahl das Produkt dreier ungleichen Primzahlen p,g,r, dann ist diese
Anzahl = (p— 1)(g — 1L)(r —1). Dieser Ausdruck, dessen Verallge-
meinerung Euler andeutet, wird öfters die „Eulersche Funktion“
genannt. Am Ende der Schrift findet er folgende Erweiterung des
von ihm in früheren Jahren schon zweimal bewiesenen Fermatschen
Lehrsatzes: Wenn N prim zu x ist und » die Anzahl der Zahlen
bezeichnet, die prim zu N und nicht größer als N sind, so ist = — 1
immer durch N teilbar.
In einer dritten Arbeit über Zahlentheorie in diesem Bande, nämlich
Supplementum quorundam theorematum arithmeticorum,
quae in nonnullis demonstrationibus supponuntur!) sind die
Eigenschaften ganzer Zahlen von der Form a? + 3b? entwickelt und
auf das Problem angewandt, drei Kubikzahlen zu finden, deren
Summe eine Kubikzahl ist, sowie auf die Vervollständigung seines
Beweises des berühmten Fermatschen Unmöglichkeitssatzes über
x” +y"=2", für den Fall »=3. Man wird sich erinnern, daß
schon zweiundzwanzig Jahre früher Euler, für den Fall»= 4, den
Unmöglichkeitsbeweis geliefert hatte. (Bd. IP, S. 613.)
Im Aufsatze De resolutione formularum quadraticarum
indeterminatarum per numeros integros?) wird die Auffindung
rationaler oder ganzzahliger Werte von x und y der Gleichung
2” +Pßx+Yy=y” betrachtet, ohne daß allgemeine Gesichtspunkte
erreicht würden. Großes Gewicht legt Euler auf folgenden Satz:
Wenn die Gleichung ex +p=y? für =a und y=b, und die
Gleichung &®+g9=y für =c, y=d erfüllt sind, dann sind
x£=bce-+.ad und y=bd-+ «ac Lösungen von az? +pq = y”. Wäre
Euler die Zahlentheorie der Inder zugänglich gewesen, würde er
diesen schönen Satz schon in den Arbeiten von Bhaskara gefunden
haben).
In seiner Schrift De numeris primis valde magnis') ver-
gleicht er die Auffindung des Gesetzes der Verteilung der Primzahlen
‚mit dem Problem der Quadratur des Kreises: beide gehen über unsere
Fassungskraft. Daß die Fermatsche Formel 2?” +1 immer Prim-
zahlen darstelle, hatte Euler in seinem allerersten 1732—33 ‚er-
») N. Comm. Petr. VII, 1760 et 1761,-p. 105—128 = Comm. Arith. I,
p- 287. ®) N. Comm. Petr. IX, 1762-63, p. 3—39 = Comm. Arith. I,
p:- 297. ®) H. Hankel, Gesch. d. Math. in Alterth. u. Mittelalt., Leipzig 1874,
S. 200. %) N. Comm. Petr. IX, 1762—63, p. 99—153 = Comm. Arith. 1,
p. 356.
Zahlentheorie. 155
schienenen Aufsatze über Zahlentheorie!) widerlegt. Nun zeigt er,
daß es keine algebraische Funktion X=«+ ßxz+y2°? + --- gebe,
welche nur Primzahlen darstelle; denn, wenn z=a und
A=za«a+ßa+ya?+---, erhält man im Falle z=nA+a für X
einen Wert, der durch A teilbar ist. Die Schrift endet mit mehreren
Tabellen. Die erste enthält alle Primzahlen nicht größer als 1997
und von der Form 4» + 1, jede als die Summe zweier Quadrate .aus-
gedrückt, sowie die Werte von a, welche das Binom a? +1 durch
diese Zahl teilbar macht. Drei andere Tabellen folgen. Diese zeigen,
welches fleißige empirische Studium Euler der Zahlentheorie widmete
und wie es Euler möglich wurde, viele Lehrsätze durch bloße An-
schauung zu entdecken.
- Um die Lehre von den Kettenbrüchen leichter darzustellen und,
im besonderen, um Gesetze zu entdecken, welche die Auffindung
irgend eines Näherungswertes ohne die Berechnung aller voran-
gehenden gestatten, schuf Euler in einer Schrift, Specimen
algorithmi singularis?), einen eigenen Algorithmus und dazu
passende Rechnungsregeln, welcher er sich in einer drei Jahre später
gedruckten wichtigen zahlentheoretischen Schrift, De usu novi
algorithmi, bediente?) Ein Kettenbruch a + FT
C
wird durch das
Symbol es dargestellt; ein unendlicher Kettenbruch durch
{a,b,c,d,e etc.)
(b, c,d, e etc.) « Man hat hier (a, b, C, d, e) "re (a, b, C, d) + (a, b, e), auch
(a,b,c,d,e)= (e,d,c,b,a). Da nun (a,b,c,d) (b,c,d,e) — (b,c,d) (a,b, c,d,e)
= (a,b,c, d)e(b,c,d)-+ (a,b, c,d,e)(b,c) — (b,c,d)e(a,b,c,d) — (b,c,d)(a,b,c)
= — [(a,b,e)(b,c,d)— (b,c)(a,b,c,d)} =+1, weil (a)(b)— 1(ab)=—1
ist, läßt sich der Nachweis führen, daß die sukzessiven Näherungs-
brüche sich dem wahren Werte des Kettenbruchs mehr und mehr
nähern. Denn man hat a — - =— ir a — a =+ ©) ” 5 USW.
Zieht man letztere Gleichungen zusammen, so hat man die Entwicklung
des Kettenbruchs in einer Reihe. Euler erhält durch Induktion
Formeln dieser Art (a,b, c,d) (ef,9,h) — (ab,c,d,,f,g,h)l =
— (a,b,c) (f,9,h), (a,b,6,d,e) (6, d,e,f,9,h) — (a,b,c,d,e,f,9,h) (c,d,e) =
+ (a)(g,h) und lehrt derartige Formeln in beliebiger Anzahl hinzu-
1) Comm. Petr., VI, 1732—33, p. 103 = Comm. Arith. I, p. 1; Cantor,
Bd. HI? S. 611. 2) N. Comm. Petr. IX, pro annis 1762 et 1763. Petropoli
1764, p. 53—69. Vergl. $S. Günther, Nüherungswerthe von Kettenbrüchen,
Erlangen 1872, S. 1—10. 5) Ebenda, T. XI, pro anno 1765, Petropoli 1767,
pvp: 28.
156 Abschnitt XX.
schreiben. Er wendet seinen neuen Algorithmus auf die Bestimmung
der Differenz ‘zweier beliebiger Näherungswerte an. Wie Günther
hervorgehoben hat!), bedient sich Euler „zur Zerlegung seiner
Symbole eines Verfahrens, welches ganz dem Zerfällen einer Deter-
minante in ihre Unterdeterminanten entspricht“.
Wichtiger ist Eulers nächste Arbeit, De usu novi algorithmi
in problemate Pelliano solvendo?), welche eine neue Auflösung
der Fermatschen Gleichung 2 — Dy?=1 (irrtümlich die Pellsche
Gleichung genannt) gibt. Diese berühmte Gleichung, zuerst von den
Griechen betrachtet, dann von den Indern aufgelöst und wieder von
neuem durch Fermat, Brouncker, Wallis entwickelt, wird in der
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts von Euler und
Lagrange weiteren Untersuchungen unterworfen®). Nachdem in dem
gegenwärtigen Artikel Euler gezeigt hat, daß die Auflösung nicht
nur der Gleichung 12? + mx + n = y?, sondern auch der allgemeineren
Gleichung zweiten Grades A + 2Bzy+ (0? +2Dx+2Ey+F=0,
wo B?> AC angenommen wird, von der Auflösung der Gleichung
der Form p?=1g? +1 (l positive ganze Zahl) abhänge und dadurch
die Wichtigkeit der letzten Gleichung betont hat, erklärt er, wie die
Auflösung von p® —=!q? +1 durch die Entwicklung von Y! in einen
Kettenbruch bedeutend erleichtert werden könne. Ohne Beweis nimmt
er an, daß, wenn ar, der Bruch a eine Annäherung zum irratio-
nalen Werte VI liefere, die nieht überstiegen werden kann, ohne
größere ganze Zahlen für p und qg in Anwendung zu bringen. Er
erklärt die Kettenbruchentwicklung zuerst an numerischen Beispielen,
dann im allgemeinen wie folgt:
Ve=rto
+1
c+1
d+ ete.
wo die Indizes: a, b, c, d etc. |so nennt Euler die Teilnenner] durch
sukzessive Operationen gefunden werden. Wenn Yz=v+ "und
Vs+A_YVe+A
Far &
v= A, dann wird = =
‚woa=z2—4?”. Da nun
1.8. Günther, op. eit., 8.59. 9 N. Comm. Petr. XI; 1765, p. 283—66
—= Comm. Arith. I, p.'316. - - -°) Man lese H. Konen, Gesch. d. Gleichung
t?— Du?’—=1, Leipzig 1901. e
Zahlentheorie. 157
V: Aus +4
oder er ist, hat man a< - r u a
a die größte ar Zahl in
Setzt man en =4 +7 ‚ dann wird, da g=-at+ 4 k
_.Ve—A+tae _Vz+B
YTi7I2aA-ae B:
wo B=a«a—- A und ßB=1+a(4-—B). Weil b die größte ganze
Baer
in y enthaltene Zahl ist, hat man b<-— Setzt man drittens
y-b + und fährt in ähnlicher. Weise fort, so erhält man die
folgende Tabelle von Euler:
Capiatur | tum vero . eritque
4 er | a=2—- A’=z2— 0 | az
I. B=o.a—A4A B-’=®"=-1+a(4-B) <’+2
IL C=ßb —B re © I
IV. D-ye-C | 0-7 -B+e(C—D os a2
V.E=40-D ee, | <rtE
ete.
Wenn in der letzten Kolumne die Brüche in Wirkliehkeit ganze
Zahlen vorstellen, dann soll das Zeichen < durch — ersetzt werden.
Da A=v und e _ so hat man B=a«— A<zv, BF>1,;
b<=2v. Folglich ist auch O=bß — B<Zv ete. Durch die Indizes
a,b,c,d etc. erhält man also die ganzen Zahlen A, B,C, D ete.,
welche alle <Z» sind, sowie die ganzen Zahlen «, ß, y, d etc., welche
alle 1 sind. Aus der letzten Kolumne ersieht man nun, daß jeder
Index a,b,c,d ete. <2v sein muß. Euler erklärt, daß, nachdem
der Index 2» erreicht wird, die Werte a, b,c, d ete. sich wiederholen
und die Entwicklung von neuem beginnt. Er gibt aber keinen
Beweis, daß der Index 2» notwendig existiert. Er zeigt an Bei-
spielen, daß die Indizes a,b,c,d etc. und die Zahlen «, ß, y, d etc.
sich periodisch wiederholen. Nur für die Form z=n?+1 und
sieben andere ähnliche Formen werden allgemeine Werte für die
Indizes und für die griechischen Buchstaben angegeben.
158 Abschnitt XX.
Um nun p= Vlg? +1 in ganzen Zahlen aufzulösen, werden aus
den Indizes Näherungsbrüche = nach dem in folgenden zwei Reihen
ersichtlichen Gesetze entwickelt:
Indizes v, a, b, e, a ey
= 1 0 041 (ab+Do+b MON nNtM
4:05.10 a? ab+1 P’:Q’..nd+P.
Dann wird ein abgekürzter Algorithmus für r eingeführt wie folgt:
1 (v) (v, a) (v, a, b) (v,a,b, ec) (v,a,b,c,d). t
0 I? 94>r ab’ abo bed
vn (Wa)=aw)+1; (v,a,b) ns b(w,a)+(v); (v,a,b,c)=c(v,a,b) + (v,a)
(d)=al+0; (05) b(a)+1; (05,0) = e(a,5) + (a)
Euler teilt ferner mit, daß er folgende Transformationen bewiesen
habe:
oO
(v,a,b,c,d,e) = v(a,b,c,d,e) + (b,c,d,e)
(v,a,b,c,d,e) = (v,a)(b,c,d,e) + v(c,d,e)
(v,a,b,c,d,e) = (v,a,b)(c,d,e) + (v,a)(d,e)
(v,a,b,c,d,e) = (v.a,b,c)(d,e) + (v,a,b)(e).
Durch diese Formeln kann man sich die Berechnung beinahe der
Hälfte der Näherungsbrüche ersparen. Sind nämlich »,a,b,c,c,b,a,2v
die Indizes einer Periode und nimmt man mit Euler als bewiesen
an, daß (a,b,c) = (ce,b,a) und bezeichnet die Näherungsbrüche durch
g> 2
lYı Balyay +++, Xelys, WO Rlyı = ' \st, so erhält man = 2,1, + 244,
Yy= Yy au Yr, wo = (%, a,b, ec), 4 = (v, d, b), %.7 (a, b,c) a (6, 4, b),
y,=(a,b)=(b,a). Man braucht x,,x2, und %,,%, gar nicht zu be-
rechnen).
Es wird nun gezeigt, dab
z=]1
wenn | ann =zyP-+J1,
y=0
\
0 Ir ee
SP] > seen
g' H. Konen, a. a. O., S. 56, hebt hervor, daß diese abgekürzte Methode
von G. W. Tenner ee Merseburg 1841) unabhängig ausgearbeitet und
von einigen Schriftstellern ihm zugeschrieben worden ist.
Zahlentheorie. 159
wenn | er \ dann = zy?’ —y,
. Men (a, b) )
= (v,a,b, e) 2 2 '
— Ö,
„ | y us (a, b, ce) ” & zy Tr I
[ x = (v,a,b,c,d) | 32 2
R | Ag (a, b,c, d) : a |
ete.
Wird nun einer der Buchstaben ß,0 ete.— 1, so hat man eine Auflösung
der Gleichung 2° — zy’—=1. Aber keiner dieser Buchstaben kann
+ 1 werden, wenn nicht zugleich der entsprechende Index 2» wird.
Wenn deshalb irgend eine Periode, die wir in der Anordnung der
Indizes finden, den Wert 2v enthält und wir x und y den Näherungs-
werten, welche der ersten Periode entsprechen, gleichstellen, erhalten
wir 2° = zy? + 1 unter der Bedingung, daß die Anzahl der Indizes in
einer Periode gerade ist, und 2?=zy? — 1, wenn diese Anzahl un-
gerade ist. Im ersteren Falle haben wir direkt die gesuchte Lösung;
im letzteren Falle soll man entweder zwei Perioden weiter gehen, wo
der Index 2v gerade ist und für x und y die Näherungswerte in der
dritten Periode wählen, oder man soll p=2#°+1 und y=2xy
setzen. Dieses Verfahren liefert auf bequeme Weise die kleinsten
Lösungen von 2 — zy?=1. Da aber nirgends bewiesen ist, daß der
Index 2v notwendig vorkommt, ist man nicht sicher, daß die Gleichung
außer z—=1 und y=( wirklich Lösungen hat. Der englische Zahlen-
theoretiker H. J. S. Smith drückt sich über diese Abhandlung so
aus: „Buler beobachtete, daß notwendigerweise ein Näherungswert
von Yz ist, weshalb es genügt, um die Zahlen p und g zu erhalten,
Vz in einen Kettenbruch zu entwickeln. Es ist aber sonderbar, daß
ihm die Notwendigkeit nie eingefallen ist, zur Vervollständigung der
Theorie zu beweisen, daß die Gleichung auch immer auflösbar sei
und daß durch die Entwicklung von Yz alle Lösungen gegeben
seien. Sein Memoir enthält alle für den Beweis nötigen Elemente;
hier aber, wie in anderen Stellen, ist Euler mit einer Induktion ohne
strengen Beweis zufrieden“!).
Dieser Aufsatz Eulers enthält zwei Tafeln. Die erste gibt die
Entwicklung aller Zahlen unter 121, mit Ausnahme der Quadrat-
zahlen, in Kettenbrüchen an; die zweite enthält für jeden nicht
en
) H. J. S. Smith, British Assn. Report 1861, p. 315 — Üolleeted works,
Vol. I, Oxford 1894, p. 192.
160 Abschnitt XX.
quadratischen Wert von z zwischen 1 und.100 den kleinsten Wert
von & und %, welcher eine Lösung der Gleichung x? — zy? =1 ist.
In dem Aufsatze Quomodo numeri praemagni sint explo-
randi, utrum sint primi, nec ne!) fährt Euler mit der Betrach-
tung der Primzahlen fort und entwickelt Methoden zur Entscheidung,
ob eine Zahl von der Form 4» + 1 prim ist oder nicht.
Wie früher (Bd. IIP, 5. 617, 618, 719—721) klar gemacht wurde,
verdankt man Euler die ersten Arbeiten über analytische Zahlen-
theorie. Dieser Gegenstand wird nun in der Abhandlung De par-
titione .numerorum in partes tam numero quam specie
datas?) fortgesetzt. Aus seinen Ergebnissen heben wir nur hervor,
daß er mit Hilfe der erzeugenden Funktion 1/(1 — x°y“) (1 — a’y?)
(1—xy’)(1— x'y’) etc. und der erzeugten Reihe 1+4Aar'y:
+ Bry' + Cx'y'+ ete. die Folgerung zieht, daß, wenn darin .ein
Glied Nx”y’ vorkommt, es N Lösungen der simultanen Gleichungen
ap+bgq-+erete.—=n, «ap+Pßgq-+ yrete. =» gibt, wenn aber dieses
Glied fehlt, keine positiven ganzzahligen Werte für »,q,r ete. existieren.
Die Entscheidung über die Anzahl Lösungen solcher Gleichungen ist
somit auf das Studium der. Koeffizienten N von x”y’ zurückgeführt.
Euler bemerkt, daß vormals Lösungen durch die regula virginum’)
erhalten wurden. |
In einer Abhandlung, Observationes variae in mathesin
puram), teilt J. H. Lambert unter anderem Sätze über rekurrierende
Dezimalbrüche mit. Er beweist, daß bei teilerfremden Zahlen eine
Division mit einer Primzahl, außer 2 oder 5, stets einen periodischen
Dezimalbruch liefert, und daß alle periodischen Dezimalbrüche aus
rationalen Brüchen entspringen, weshalb keine irrationale Größe durch
einen periodischen Bruch dargestellt werden kann. In seinen
Adnotata quaedam de numeris eorumque anatomia?) setzt er
diese Studien fort, gibt einen Beweis des schon früher von Leibniz
und Euler bewiesenen Fermatschen Satzes und zieht daraus weitere
Resultate. Ist a eine Primzahl, aber nicht — 2 oder 5, dann stellt
(10°-1—1):a eine ganze Zahl dar; ist (10”"—1):a eine ganze Zahl,
dann ist entweder m durch «—1 oder «— 1 durch m teilbar;
weshalb g nicht prim sein kann, im Falle daß ; einen Bruch mit
ı) N. Comm. Petr. XII, 1768, p. 67—88 = Comm. Arith. I, p. 379.
2. N. Comm. Petr. XIV, I, 1769, p. 168&—187 = Comm. Arith. I, p. 391.
3) Regula virginum — regula coecis — regula potatorum.. ‘Man sehe
Chr. Peschecks Deutliche Erklärung derer Kaufmann- und öconomischen
Rechnungen etec., Budissin 1759, S. 440. ® Acta Helvetica, Vol. III, Basileae
1758, p. 128—168. °, Nova Acta Eruditorum, Lipsiae.1769, p. 107—128.
Zahlentheorie. 161
mzahliger Periode liefert und 9—1 durch m nicht teilbar ist.
Lambert zieht auch die Folgerung, daß, wenn g—1 Periodenzahlen
vorliegen und g ungerade ist, 9 prim sein muß. Setzt man a — 2m +1,
so ist (10”"-+1):a eine ganze Zahl qg und (10?” — l):a=10rg— g.
Ist m nicht prim, so kann man es durch einen gewissen seiner Faktoren
ersetzen. Nimmt man a=13 und m=3, so wird (10°? +1): 13
— 77, 771000 — 77 — 716923, weshalb . — 0, 076923, 076923 ete.
Wenn a nicht prim ist und 2 die Periodenzahl 2» gibt, dann
haben a und 10” +1 einen gemeinsamen Faktor. Es folgen dann
einige ähnliche aber längere Sätze, die zur Entscheidung, ob eine Zahl
prim sei oder nicht, Anwendung finden können. ‚Mehrere derselben
sind nicht nur auf Dezimalbrüche, sondern gleichzeitig auf Brüche
anderer Systeme anwendbar. Die Auffindung der Teiler einer Zahl
wird von Lambert auch in einem Briefe an Oberreit besprochen).
Soweit ist Euler der einzige große Mathematiker des 18. Jahr-
hunderts, der sich eingehend mit der Zahlentheorie beschäftigt hat.
Nun erscheint die erste Arbeit von Lagrange auf diesem Gebiete.
Am 20. September 1768 vollendete er in Berlin seine Abhand-
lung Solution d’un problöme d’arithmetique?). Darin wird
zum erstenmal ein strenger Beweis von der Lösbarkeit der Gleichung
#”—ay’=1 gegeben. Er kannte zu dieser Zeit die Arbeiten von
Wallis über dieses Problem, aber nicht diejenigen Eulers. Um zu
zeigen, daß die Gleichung immer ganzzahlig lösbar ist, entwickelt er
Va in einen unendlichen Kettenbruch
Va
dit g’ Sn
wo q,9,q" --- ganzzahlig und positiv sind und erhält die Näherungs-
R 1 M EHE "36; . ; ,
brüche FE —, N —, > —r, ya, woinm=q4,M=qgm+1,
m=q’"M+m,---,, n=1, N=gan Ww=gqg’N+n,--- und
u” ET ch 1 (r)2 (r)2 r) )
Ta>Va > RE r=0,1,2,... Er zeigt, dB MN? _-aNN:= Zm>(
2m. ara
und < 2775 ist, weshalb die unendliche Anzahl positiver, ganz
?
zahliger Werte Z, Z’, Z”,... nur eine endliche Anzahl untereinander
verschiedener Zahlen darstellen. Auch hat man m")? — an)? — N,
') J. H. Lamberts Deutscher gelehrter Briefwechsel Bd. II, Berlin 1782,
S. 378—382; Bd. V, 1785, $. 323325. ®) Miscellanea Taurinensia, tome IV,
1766—1769 = Oeuvres de Lagrange, tome I, Paris 1867, p. 671— 731.
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 11
162 Abschnitt XX.
, SER 92 (r) a ‘ “N
wo 2" <Ö und —.N< I +1, so daß 2,2',2?, ... eine unendliche
Anzahl ganzzahliger, negativer Zahlen sind, wovon wie oben die
Anzahl verschiedener Werte endlich ist. Es gibt also unendlich viele
Zahlen x, «,... und Y, Y,..., welche die Gleichung 2 — a =R
befriedigen, wo R irgend ein Wert Z”) oder 2” ist. An dieser Stelle
untersuchte nun Euler die Werte ZW, 2”); Lagrange schlägt aber
einen anderen Weg ein und benutzt das schon den Indern bekannte
Lemma: Das Produkt von #2 — ay? und #? — ay? ist («a + ayy')®
— a(zy + yx)’. Man hat also
| (A), R?= (aa +ayy)) — alay + ya),
(B), Ry?— y?) = (ay’ + ya’) (ay' — ya’).
Ist nun R prim, so muß nach (D) entweder xy’ + yx’ oder xy’ — ya’
durch R teilbar sein; es sei 2 +y@’=qR, dann gibt (A),
auch
R= (ax +ayy’ —agR,
und &2° + ayy' ist durch R teilbar. Wenn z@’+ayy =pR, so er-
folgt sogleich 1=p?— ag’. Für den Spezialfall, A prim, ist also
die Lösbarkeit erwiesen. Dieses ist aber nur ein kleiner Teil der
Untersuchung für den Fall, daß R und «a teilerfremd sind. Gemein-
teilige Werte von R und «a sind einer besonderen Diskussion unter-
worfen. Die zwei Fälle bieten bedeutende Schwierigkeiten dar; der
. Beweis, daß = —ay=1 (wo a keine Quadratzahl ist) lösbar ist,
wird aber allgemein erzwungen. Zu gleicher Zeit ist das Verfahren,
eine Lösung zu finden, angedeutet.
Der zweite Schritt besteht darin, aus der kleinsten Lösung von
x?” — ay: = 1 alle anderen abzuleiten. Ist p,g ein Wertpaar, so wird
1 (p? — ag)" = (p + Vag)" (p — Vagq)" = (x + Yay) (a — Yay),
und
„ e+aVa)”"+P-aVa)"
2
_(p+aVya)"— (p—qVa)”
2 Ya
Setzt man nun m —=1,2,3,..., so hat man eine unendliche Anzahl
Lösungen. Es folgt der Beweis, daß, wenn p und g die kleinsten
Lösungen sind, m=2 die nächst größeren liefert usw., so daß in.
obigen Ausdrücken für x und y alle Lösungen eingeschlossen sind.
... Der dritte Sehritt ist der Beweis, daß alle Werte von x und %,
welche der Gleichung 2° — ay’—=1 genügen, unter den Zahlen
Y
‚ Zahlentheorie. 163
M;M’, ...: und: N; N, ... zu finden sind, daß also: 2 immer einer
der Näherungsbrüche ist. Es wird nämlich gezeigt, daß die Annahme
MN <p< Met), NO9<g< Ne+t) auf einen Widerspruch führt.
Daraus stammt eine zweite Lösungsmethode, der zufolge man die
Näherungsbrüche für Ya berechnet und nacheinander die Zähler für
x und die Nenner für y setzt. Eine unendliche Anzahl dieser Zähler
und Nenner werden der Gleichung «? — ay? —=1 genügen.
Lagrange ließ seiner am 20. September 1768 vollendeten
Lösung der Gleichung &?— ay? = 1 bald eine noch wichtigere Schrift
folgen. Schon am 24. November gleichen Jahres legte er der Ber-
liner Akademie die neue Abhandlung Sur la solution des pro-
blemes indetermines du second degr&!) vor. Es wird hier die
unbestimmte Gleichung 4 — u? — Bt?, die obige als Spezialfall ein-
schließt, gelöst. Aus der Einleitung geht hervor, daß nun Lagrange
die zwei Abhandlungen Eulers über diese’Sache in den Petersburger
Kommentarien der Jahre 1738 und 1764 gelesen hatte, aber Eulers
De usu novi algorithmi des Jahres 1765 noch immer nicht kannte.
Lagrange betont die Wichtigkeit der Gleichung A = u? — BE&, in-
dem er zeigt, daß jede Gleichung zweiten Grades mit zwei Unbe-
kannten auf diese Form reduziert werden kann. Er liefert zuerst die
Auflösung dieser Gleichung, wenn « und t ganze oder gebrochene
Zahlen sein können, dann die wichtigere Auflösung, wenn w und £
ganze Zahlen sein sollen. In der letzteren Auflösung wird zuerst
bemerkt, daß, wenn A einen quadratischen Faktor 0° hat, man
=op, t=og, A=o’a setzen kann, wodurch die vorgelegte
Gleichung in die Form a = p? — Bg? übergeht, wo p und q teiler-
fremd sind. Wenn man alle möglichen teilerfremden Werte von
.p und g in a=p?— Bgq findet, so kann man daraus mittels
“=op,t=og alle überhaupt vorhandenen Lösungen von A= u?
— Bf herleiten. Es sei also die Gleichung A = p? — BqQ vorgelegt,
in der p und g ganze teilerfremde Zahlen sein sollen. Man hat zwei
Fälle, B positiv und B negativ. Für den Fall B positiv und zugleich
A>YB, multipliziere man A = p® — Bq? mit A, = pP? — Bq,, wo
P, —-P,9=+1 und a=pp, — Bgq, angenommen wird. Man er-
hält AA, = «®— B. Nun sei — der in der Kettenbruchentwicklung
von - dem = unmittelbar vorausgehende Näherungsbruch, dann wird
‘) Mem. de l’academie roy. des sciences, annde 1767, Berlin 1769, p. 165
bis 310 —Lagrange, Oeuvres, Tome II, Paris 1868, p. 377—-535. Vgl. Nettos
Ausgabe, Ostwalds Klassiker Nr. 146, Leipzig 1904.
3.7
164 Abschnitt XX.
pr, =uptm ,=uq+Nn, wo u irgend welche ganze Zahl sein kann.
Es folgt «= u(p® — BqQ?) + (pm — Bqan) =uA-+a, wenn a=mp
— Bgqn ist. Man kann Pe machen, und es wird A, Br Es
muß dann @® — B durch A teilbar sein und einen Quotienten von der
Form 2° — Bag liefern, sonst ist die vorgelegte Gleichung unlösbar.
Gibt es dagegen eine solche Zahl, so hat man eine neue Gleichung
A, = pP” — Bq, aufzulösen, wo A, <A ist. Ist letztere Gleichung
lösbar, so kann man aus den bekannten Werten von p, und q, die
Werte von » und g durch die Gleichungen &=pp, — Bgq, und
Ph —-P9=+]X bestimmen. Sind p und q ganze Zahlen, dann
ist die vorgelegte Gleichung lösbar; sonst nicht. Um alle Lösungen
zu erhalten, muß man alle Zahlen & aufsuchen, die < &
«@® — B durch A teilbar machen. Auch muß jede der entstehenden
Gleichungen A, = p,? — Bq,° einzeln untersucht werden. Es wird
dann erklärt, wie man aus einem den Bedingungen genügenden Werte
von « alle anderen bestimmen kann. Es stellt sich heraus, wenn
die Anzahl teilerfremder Faktoren von A, die Primzahlen oder Prim-
zahlpotenzen sind, gleich » ist, daß die Anzahl der Werte von «
gleich OÖ oder gleich 2”-! ist. Unter Faktoren mit gemeinsamen
Teilern braucht man nur solche zu nehmen, deren größter gemein-
schaftlicher Teiler 2 ist. Es wird ferner die Gleichung A, = p,? — Bg
genau so behandelt, wie es bei A=p? — Bgq? der Fall war. Ihre
Lösung wird auf A, = p,? — Bg,” zurückgeführt, letztere auf A, = p,?
— Bag,’ et. Kann man nun irgend eine dieser Gleichungen lösen,
etwa A,—»,’— Bq,’, so kann man zu Werten » und q aufsteigen,
welche die vorgelegte Gleichung lösen. Es wird dann die Gleichung
A,=»,° — Dq,? einer eingehenden Untersuchung unterworfen, worin
die Kettenbrüche wieder eine hervorragende Rolle spielen, und alles
darauf zuspitzt, ein Glied einer Reihe E, E,,... zu finden, das gleich
eins wird. Es ergibt sich endlich, dad A =»? — Bg? bei positivem
B, wenn sie überhaupt lösbar ist, eine unendliche Anzahl von Lösungen
hat. Der Fall, wo B negativ ist, wird leichter gefunden. Die ganze
Abhandlung ist die erste vollständige und strenge Auflösung von un-
bestimmten Gleichuugen zweiten Grades mit zwei Unbekannten durch
ganze Zahlen. Wie schon bemerkt, tritt die von Lagrange in seiner
ersten zahlentheoretischen Abhandlung gelöste Gleichung +1=r?
— bs’, hier als ein Spezialfall auf. Lagrange sagt nun darüber:
„Die eben gegebene Methode ist direkter und einfacher; zudem hat
sie noch den Vorzug, zu zeigen, daß die gegebene Gleichung für jedes
B lösbar ıst. Dies konnte ich damals nur auf einem ziemlich großen
Umwege dartun.“ Am Schlusse der Abhandlung wird auch die
sind, und
Zahlentheorie, 165
Fermatsche Unmöglichkeit »" +5”—gq", n>2 berührt, ohne jedoch
zu den Eulerschen Ergebnissen etwas beizutragen.
Lagrange verfaßte 1770 eine dritte Schrift über die Auflösung
von unbestimmten Gleichungen, betitelt Nouvelle m&thode pour
resoudre les problemes indetermines en nombres entiers!)
worin er Methoden entwickelt, welche auf Gleichungen höherer Grade
anwendbar sind und die Behandlung der Gleichung zweiten Grades,
die er in zwei früheren Abhandlungen auseinandersetzte, bedeutend
vereinfachen. Die Theorie der Kettenbrüche, wie er sie in dem
Memoire sur la resolution des equations num6riques und in
den Additions dazu entwickelt hatte, findet hier Anwendung. Die
Transformation von A= Bir + Cr -!u + Der +... 4 Ku”, wo
alle Koeffizienten ganze Zahlen und A und « teilerfremd sind, in die
Gleichung 1 = Pu” + Qu”-!y-+ --- 7y” wird durch die Annahme
t= ud — Ay (0 und y ganzzahlig) erzielt. Die Berechnung von 6,
erfolgt durch die von ihm schon früher angewandte Differenzmethode?).
Sind « und y in der transformierten Gleichung ganze Zahlen, so
müssen P, Q,... V, sowie u und y selbst, teilerfremd sein. Man setze
= = und es wird Pa” + Qx”"!+...+V=y”"=z Wennz= 0,
so drücke man eine positive Wurzel « mit Hilfe zweier Reihen von
Konvergenzwerten aus, welche die Kettenbruchentwicklung liefert.
In der ersten Reihe sind alle Bruchwerte größer, in der zweiten Reihe
alle kleiner als die entsprechende Wurzel a. Es folgt dann der
Nachweis, daß unter den Brüchen der einen oder der anderen Reihe
sich der Bruch S vorfindet, und daß man auf diese Weise alle ganz-
zahligen Werte von « und y aufsuchen kann. Die Operation, welche
den Kettenbruch für die Berechnung von a hervorbringt, liefert also
zu gleicher Zeit die Zahlen « und y. Die Auflösungen bestimmter
und unbestimmter Gleichungen können demnach durch das gleiche
Werkzeug, die Kettenbrüche, erledigt werden. Nachdem die Einzel-
heiten ausgearbeitet sind, schreitet Lagrange zur Anwendung seiner
Ergebnisse auf unbestimmte Gleichungen des ersten und zweiten
Grades. Seine jetzige Methode der Auflösung von A=t? — Au?
nennt er „tres-simple‘ et tres-elegante“, seine frühere „ä la verite un
peu longue et compliquee“.
Lagrange gesteht, daß seine arithmetischen Abhandlungen ihm
viel Mühe gekostet hätten. Am 15. August 1768 schreibt er an
') M&m. de l’acad. roy. des sciences, tome XXIV, annde 1768, Berlin 1770,
p: 181—250 = Lagrange, Oeuvres, tome II, p. 655—726. *) M&moire sur la
resolution des &quat. num., scolie du no. 13.
166 y Abschnitt XX.
D’Alembert!): „Ich versichere Ihnen, daß ich viel mehr Schwierig-
keiten gefunden habe, als ich vermutet hätte. Hier ist z. B. eine,
welche ich nicht ohne große Anstrengung habe überwinden können:
Es sei irgend eine ganze, positive, nicht-quadratische Zahl n gegeben,
eine ganze Quadratzahl x? zu finden, so daß nz? +1 ein Quadrat
wird. Dieses Problem ist von großer Wichtigkeit in der Theorie von
(uadratzahlen, die der Hauptgegenstand der diophantischen Analysi
ist.“ In späteren Briefen drückt er sich ähnlich aus?). Ä
Es ist ein merkwürdiger Umstand, daß L. Euler und La-
grange in der Theorie der unbestimmten Gleichungen einander wenig
beeinflußten. Wie schon bemerkt, kannte Lagrange die wichtigste
Arbeit Eulers nicht. Als Lagrange seine Schriften veröffentlichte,
war Euler blind. Am 9./20. März 1770 schrieb er an Lagrange°):
„lch ließ mir alle Operationen vorlesen, die Sie über die Formel
1 = p® — 153g? vorgenommen, und ich bin von ihrer Richtigkeit völlig
überzeugt; da ich aber nicht selber lesen und schreiben kann, muß
ich Ihnen gestehen, daß meine Einbildungskraft nicht die Grundlage
aller Ihrer Ableitungen hat fassen und die Bedeutung aller Buchstaben,
die Sie eingeführt haben, nicht im Gedächtnis hat halten können.“
So fuhr Euler mit seinen eigenen Untersuchungen fort, ohne die
Arbeiten Lagranges genau zu kennen. Am 30. September 1771 .
schrieb Lagrange an Öondorcet‘): „Sie sind, glaube ich, der Einzige,
der mir diese Ehre erwiesen hat“ (seine Arbeiten zu lesen).
Die unbestimmte Analytik wird im zweiten Teile von L. Eulers
Anleitung zur Algebra, 1770, behandelt. Die Popularität dieses
Werkes unter Wackärtärinern ist hauptsächlich diesem zweiten Teile
zuzuschreiben’). Eulers Interesse scheint sich in der Zahlentheorie
konzentriert zu. haben, denn er widmet derselben 322 Seiten, während
alle anderen Zweige der Algebra nur 560 Seiten erhalten. Euler
fängt mit sehr einfachen, beinahe kindlichen Beispielen von unbe-
stimmten Aufgaben an. Im 2. Kapitel werden Fragen angeführt, die
in gemeinen Rechenbüchern damaliger Zeit nach der „Regel-Ooeci*
aufgelöst wurden. Z.B., „30 Personen, Männer, Weiber und Kinder,
verzehren in einem Wirths-Hauss 50 Rthl. Daran zahlt ein Mann
3 Rthl, ein Weib 2 Rthl. und ein Kind 1 Rthl., wie viel Personen
sind von jeder Gattung gewesen?“ im 4. und 5. Kapitel löst Euler
die Gleichung a+bx+ca2?=y*. In der Behandlung von a +b=y},
ı) Lagrange, Oeuvres, T. 13, p. 118. 2) Ebenda, T. 13, p. 121, 301.
®) Ebenda, Tome 14, p. 219. *) Ebenda, T. 14, p. 4. 5) Lagrange
schrieb am 26. August 1770 an D’Alembert: „Elle ne contient rien d’interessant
qu’un Traite sur'les questions de Diophante, ‘qui est, ä la verite, enge eh
grange, Oeuvres, T. 13, p. 181, 191).
Zahlentheorie. 167
im 6. Kapitel, ist er von Lagranges Untersuchungen nicht beein-
‘Hußt worden und die Auflösung ist unvollständig. Es „ist unum-
gänglich nötig“, sagt Euler, „daß man schon einen Fall in ganzen
‚Zahlen wisse oder errathen habe“. Merkwürdig ist es, daß er im
nächsten Kapitel für die Fermatsche Gleichung an? + 1 = m? nicht
seine eigene, in seiner Schrift De usu novi algorithmi 1765 ent-
‚wickelte Methode, sondern die Auflösungsmethode von Wallis dar-
stellt. Die drei folgenden Kapitel enthalten Lösungen von
a+be+c+d=y, a+be+c®+d+et—y,
a+bz + ca + da = y°.
Im 13. Kapitel wird bewiesen, daß weder die Summe, noch die Diffe-
renz zweier Biquadraten jemals eine Quadratzahl werden könne. Die
Unmöglichkeit dieser Fermatschen Sätze und mehrerer ähnlicher
diophantischer Ausdrücke wird dadurch nachgewiesen, „daß wann
auch in den größten Zahlen solche Werthe für x und y vorhanden
wären, aus denselben auch in kleinern Zahlen eben dergleichen
Werthe geschlossen werden könnten, und aus diesen ferner in noch
kleinern usf, da nun aber in kleinen Zahlen keine solche Werthe
vorhanden sind...so kann mann sicher schließen, daß auch in größern
».. keine solche Werthe von x und y vorhanden seyn können“. Im
15. Kapitel wird die Fermatsche Unmöglichkeit «&° + y?= 2? nach-
gewiesen.
Der gegenwärtige Zeitpunkt (um 1770) ist in der unbestimmten
sowohl als in der bestimmten Gleichungstheorie durch große schöp-
ferische Tätigkeit gekennzeichnet. Während Euler und Lagrange
die schon besprochenen Arbeiten hervorbrachten, war auch Waring
in England tätig. In seinen Meditationes algebraicae, 1770,
werden einige neue zahlentheoretische Sätze angegeben. Ohne Beweis
gibt er folgende Theoreme an!): „Jede ganze Zahl ist entweder eine
Kubikzahl oder die Summe von 2, 3, 4, 5, 6, 7, S oder 9 Kubikzahlen’?);
entweder eine Biquadrate, oder die Summe von 2, 3 ete. oder 19 Bi-
quadraten.“ Der Beweis hiervon läßt noch immer auf sich warten. An
anderer Stelle schreibt Waring ohne Nachweis hin®): „Jede gerade
Zahl ist die Summe zweier Primzahlen, und jede ungerade Zahl ist
eine Primzahl oder die Summe von drei Primzahlen.“ Der Satz über
gerade Zahlen ist allgemein als der „@oldbachsche Erfahrungssatz“
bekannt, wurde aber zuerst von Waring gedruckt. @oldbach') teilte
?) Medit. algebraicae, 3. Ed. 1782, p. 349. 2) Vgl. C. G. J. Jacobi, Ges.
Werke, Bd. VI, 8. 322—354. ®) Medit. algebraicae, 3. Ed. 1782, p. 379.
*) Corresp. math. (Fuß) I, p. 127, 135. Vgl. Nouvelles. Annales, T. 18, 1859;
Bull. de Bibl., D’Hist. p. 2.
168 Abschnitt XX.
ihn 1742 Euler brieflich mit (Bd. III, 2. Aufl., 8. 610), die
Korrespondenz wurde aber erst 1843 veröffentlicht. An gleicher
Stelle!) führt Waring ohne Beweis noch andere Lehrsätze über Prim-
zahlen an: Bilden drei Primzahlen eine arithmetische Progression,
dann ist ihre Differenz durch 6 teilbar, wenn nicht 3 eine der drei
Primzahlen ist. Ein ähnlicher Satz lautet: Sind fünf Primzahlen in
arithmetischer Progression, dann ist die Differenz durch 30 teilbar,
wenn nicht 5 ein Glied der Progression ist. Und im allgemeinen:
Es haben 3, 5, 7, 11, 13 oder 17 ete. Primzahlen in arithmetischer
Progression Differenzen, die bezüglich durch 1-2- 8, 1-2-.3-5,
1:2:9-D.1, 1-2-8:DsL AR, 1-2-3-5-7-11-13, oder
1.2.3-.5-7-.11-13.17, ete. teilbar sind, wenn nicht bezüglich
3,5, 7,11,13 oder 17 ete. ein Glied der Progression ist.
Der berühmteste der neuen Sätze, die Waring anführt, ist fol-
gender?): „Ist n eine Primzahl, dann wird
1x2 x3x4... Rn xn—)+1
N
eine ganze Zahl“ Er fügt dann hinzu: „Diese sehr elegante Eigen-
schaft von Primzahlen hat der ausgezeichnete, in mathematischen
Sachen weit bewanderte Joannes Wilson Armiger entdeckt ....
Der Nachweis von Sätzen dieser Art wird deshalb sehr schwer sein,
weil keine Notation erfunden ist, welche Primzahlen ausdrückt.“ Im Werke
von Waring erscheint also der berühmte Wilsonsche Satz ohne Demon-
stration®). Sir John Wilson‘) (1741—1793) wurde in Westmoreland
geboren, besuchte Peterhouse College in Cambridge und hatte schon
als Student den Ruf, auf der Universität nächst Waring der beste
Algebraist zu sein. Im Jahre 1761 war er „senior wrangler“. Eine
Jeitlang war er Tutor der Mathematik, dann widmete er sich der
Rechtswissenschaft. Er wurde 1786 zum Ritter ernannt. Waring
führt ihn in seinen Werken öfters an. In seinen Meditationes
analyticae nennt er ihn seinen einstmaligen Beschützer, und als
den Mann, von dem er in seinen mathematischen Untersuchungen den
größten Beistand erhalten habe.
Der Artikel Demonstration d’un theor&me d’arithmetique?’)
‘) Medit. algebr., 3. Ed., p. 379. ?) Ebenda, 1770, p. 218, 3. Ed., p. 380.
*) Eine Angabe von W. W.R. Ball (Mathematics at Cambridge, 1889, p- 102),
derzufolge Waring den Satz vor 1770 in einer Antwort auf eine Kritik der
Miscellanea analytica gedruckt haben soll, beruht auf einem Irrtum, wie mir
Herr Ball brieflich mitteilt. *#) Dietionary of National Biography; De
Morgan, A Budget of Paradoxes, London 1872, p. 132; Nouvelle correspondance
mathematique 2, 1876, p. 110—114, 32—34; Bibliotheca mathematica, 3. Folge,
Bd. 3, p. 412, und Bd. 4, 1903, p. 91. °) N. Memoires de l’acad. roy. des
Zahlentheorie. 169
enthält den Lagrangeschen Beweis des von Diophant an einigen
Stellen stillschweigend vorausgesetzten und von Bachet zuerst aus-
gesprochenen Satzes, daß jede Zahl als Summe von vier oder weniger
Quadraten dargestellt werden kann. Sich auf einige Resultate Eulers
stützend, zeigt Lagrange, daß, wenn die Summe von vier Quadraten
durch eine Primzahl größer als die Quadratwurzel dieser Summe teil-
bar ist, diese Primzahl selbst die Summe von vier Quadraten ist.
Eine oder zwei der Quadrate im Dividend dürfen auch Null sein.
Dann wird bewiesen, daß p und q so gewählt werden können, daß
p®+g°+ 1 durch irgend eine vorgelegte Primzahl teilbar wird. Da-
durch ist der Bachetsche Satz für Primzahlen sicher gestellt.. Aus
dem Eulerschen Theorem, daß das Produkt von zwei oder mehreren
Zahlen, deren jede die Summe von vier Quadraten ist, selbst die
Summe von vier Quadraten ist, kann dieses Ergebnis leicht auf jede
zusammengesetzte Zahl ausgedehnt werden.
Eine interessante Leistung ist die Demonstration d’un
theoreme nouveau concernant les nombres premierst),
worin Lagrange zwei Beweise des von Waring veröffentlichten
und von seinem Freunde John Wilson entdeckten Lehrsatzes über
Primzahlen gibt. Der erste Nachweis beruht auf Eigenschaften der
Koeffizienten der gleichen Potenzen von & in
@+l)&+2) -(e+n)= (x +1" +4 (+ Dt +... 4e-d(g+1)
‚= +n+ Na"! + nA +A)a" tt. +nAe-D,
Daraus zieht Lagrange auch einen Beweis des Fermatschen Satzes.
In dem zweiten Beweise wird umgekehrt der Fermatsche Satz vor-
ausgesetzt und davon der Wilsonsche abgeleitet. Es folgen dann
die Beweise der zwei ersten von uns angeführten Sätze von Waring
über Primzahlen in arithmetischer Progression.
Ohne von den Untersuchungen Lamberts Kenntnis zu haben,
veröffentlichte Johann Bernoulli III. (1744—1807) einen Aufsatz
Sur les fraetions decimales periodiques?), worin er nach einer
summarischen Übersicht der Arbeiten von Wallis, Euler und John
Robertson Bemerkungen über die am Ende seines Aufsatzes ge-
druckte Tafel macht. Diese Tafel enthält die Perioden aller aus 7,
entspringenden Dezimalbrüche, wo D nacheinander alle Primzahlen
außer 2 und 5 bis 199 vorstellt. Die Ziffern in einer Periode
sciences de Berlin, annee 1770, Berlin 1772, p. 123—133 = Lagrange, Oeuvres,
Tome III, 1869, p. 189-201.
") N. M@moires de l’acad. roy. des sciences Berlin, annde 1771, Berlin 1773,
p- 125—137 = Lagrange, Oeuvres, Tome III, p. 425—438. *, Ebenda, annee
1771, Berlin 1773, p. 273—304.
170 Absehnitt XX.
liefert In, wo s die kleinste ganze Zahl ist, welche 10° — 1 durch
D teilbar macht. Es sei ihm nicht gelungen, das Gesetz für die Be-
stimmung des. s aufzufinden, weshalb seine Tabelle wertvoll sein
dürfte. In der Fortsetzung derselben könnte man sich vielleicht
durch Anwendung der von Rallier des Ourmes') vorgeschlagenen
‚Divisionsmethode Zeit ersparen, welche, wenn man zum voraus weiß,
daß die Division ohne Rest herauskommt, den Quotienten durch eine
von rechts nach links fortschreitende Operation liefert. Bernoulli
beobachtete, daß, wenn bei der Division von 1 mit D einer der Reste
te
D-—-1 ist, dieser der Rest ist. Dann folgen einige Beobach-
2
tungen über Brüche, worin D das Produkt zweier Primzahlen ist.
Lambert machte den Bernoulli auf seine eigenen Arbeiten der
Jahre 1758 und 1769 über diese Sache aufmerksam, worauf Ber-
noulli in Additions au me&moire preeedent?) eine Übersicht
derselben gab und sie mit einigen Bemerkungen über die Fort-
setzung seiner Tafeln begleitete.
Mit den eben besprochenen Abhandlungen eng verbunden ist die
folgende von Johann Bernoulli IL: Recherches sur les divi-
seurs de quelques nombres tres grands compris dans la
somme de la progression geometrique 1+10 +10? + 10°
+...107— 8) Er zeigt, daß diese Frage sich auf die Bestimmung
der primen Teiler von 10°+ 1 reduziert. Er stützt sich auf Theoreme
Eulers*) und berechnet eine Tabelle, welche die primen Teiler von
S, für die Werte 1,2,...30 von ?t angibt. Auch tabelliert er
Primzahlen von der Form 16%» + 1, bis auf die Primzahl 21601, so-
wie Primfaktoren von Zahlen der Form a? -+ 10b5?. Diese Abhand-
lung wurde von Euler gelesen und er teilte Bernoulli brieflich
Kriteria mit’), die zur Entscheidung dienen, welche der Zahlen,
10? — 1 oder 10? + 1, durch eine Primzahl 2p +1 teilbar sei. Ist
2p+1=4n-+1, so braucht man nur die Teiler der drei Zahlen »,
n+2,nZz6 zu betrachten. Wenn man bei diesen die zwei Fak-
toren 2 oder 5 oder keine derselben findet, ist 10? — 1 teilbar; findet
man aber nur den Faktor 2 oder den Faktor 5, ist 10? + 1 teilbar. Ist
z.B.n=13,2p +1=55, dann sind keine der Faktoren bei 13, 11,7
!) Memoires de math. et phys., presentes a l’acad. roy. des sciences, par
divers savans, T. V, 1768, p. 550—574. ®) N. Memoires de l’acad. roy. des
scien. et b. l., annde 1771, Berlin 1773, p. 305—317. ®) Ebenda, annee 1771,
Berlin 1773, p. 318—337. *, Comm. Petr. T. XIV, Theo. 31; N. Comm. Petr.
T.I, 838, T. VO, Theo. 13, $ 57, T. VII, T.IX, 85 u. 6; Lagrange in einer
damals noch ungedruckten Arbeit. °) N. me&moires de l’acad roy. des sciences,
annee 1772, Berlin 1774, p. 35, 36 = Comm. Arith. I, p. 584.
Zahlentheorie. 171
vorhanden, und 10° — 1 ist durch 53 teilbar. Euler bemerkt, daß
diese Regeln auf Prinzipien beruhen, deren Nachweis noch mangelt.
Die größte Zahl, von der man sicher weiß, daß sie Primzahl ist, sei
die Fermatsche Zahl 2° — 1 = 2147483647. Bemerkenswert sei
der Ausdruck 41 — x + x°, weil seine ersten 40 Zahlen alle prim seien.
L. Eulers Anleitung zur Algebra sollte in den späteren
Auflagen drei große Namen mit sich tragen — Euler, Bernoulli,
Lagrange. Im Jahre 1774 erschien nämlich zu Lyon eine von
Johann Bernoulli III. besorgte französische Übersetzung mit Zu-
sätzen von Lagrange. Diese Zusätze!) beziehen sich auf die un-
bestimmte oder diophantische Analysis. Die methodische Behand-
lung dieser Sache in Eulers Algebra suchte er durch neue Zusätze
zu vervollständigen. Lagrange fängt mit Kettenbrüchen an und
sucht seine 1767 und 1768 in den Berliner Abhandlungen entwickelte
Theorie der periodischen Kettenbrüche den Mathematikern bekannt
zu machen. Dann geht er zu neuen und wichtigen Methoden zur Bestim-
mung der ganzen Zahlen über, die Minima der unbestimmten Formen
mit zwei Unbekannten ergeben. Die Auflösung unbestimmter Glei-
chungen zweiten Grades wird vereinfacht, aber in nicht ganz so voll-
ständiger Form wie in seinen früheren Abhandlungen dargestellt.
Betreffs der Fermatschen Gleichung p® = Ag? + 1 sagt er in $ VII:
„Ich glaube mithin der erste zu sein, der eine vollständig strenge
Lösung gegeben hat; man findet sie in Band IV der Miscellanea
societatis taurinensis; aber sie ist sehr umständlich und sehr indirekt;
die vorstehend in Nr. 37 gegebene ist den wahren Grundsätzen der
Frage gemäß und läßt, wie mir scheint, nichts zu wünschen übrig.“
Am Ende beschreibt Lagrange die Art, algebraische Funktionen
aller Grade zu finden, die, miteinander multipliziert, stets ähnliche
Funktionen erzeugen. Diese Zusätze trugen viel dazu bei, La-
granges Untersuchungen über unbestimmte Analysis dem mathe-
matischen Publikum genauer bekannt zu machen.
Lagranges Zusätze übten auf Euler geringen Einfluß. In
einem Briefe vom 24. September (5. Oktober) 1773 an Lagrange?)
drückt er sich über dieselben anerkennend aus, schreitet aber sogleich
zur eingehenden Besprechung seiner eigenen diophantischen Probleme.
Daß der blinde und greise Mathematiker sich eine Lagrangesche
Strenge der Beweise aneignen würde, dürfte wohl niemand erwarten.
Euler arbeitete noch immer in seiner alten naiven Weise. Sein
Arbeitsverfahren in der Zahlentheorie hat öfters mit der induktiven
1) Lagrange, Oeuvres, T. VII, Paris 1877, p. 158. Deutsche Übersetz. von
H. Weber in Ostwalds Klassiker, Nr. 103, Leipzig 1898. *) Lagrange,
Oeuvres, T. 14, p. 235.
172 Abschnitt XX.
Methode eines Charles Darwin größere Ähnlichkeit als mit der
strengen Deduktion eines Lagrange. Und noch in seinen letzten
Jahren sollte er durch einfache Induktion zur Entdeckung eines der
größten Gesetze, nämlich des Reziprozitätsgesetzes, geführt werden.
Wir erwähnen nun sechs Abhandlungen L. Eulers über dio-
phantische Probleme, die mit großer Geschicklichkeit und Unermüd-
lichkeit behandelt werden, aber wegen der Abwesenheit allgemeiner
Methoden dennoch geringen Einfluß auf den Fortschritt der Zahlen-
theorie gehabt haben. Die erste derselben!) gibt die Auflösung, in
rationalen Werten von A und D, der simultanen Gleichungen
AB+A+B=0D, AB+A-b=0O, Ab-A+DB=L,
AB-A-DBb=L.
Die zweite?) löst drei Aufgaben, deren eine die Auffindung von neun
rationalen Zahlen verlangt, welche zwölf Gleichungen genügen. Die
zwei anderen Aufgaben sind gleicher Natur. Die Auflösungen der-
selben beruhen auf eleganten Kunstgriffen in Koordinatentransfor-
mationen. Die dritte Abhandlung’) gibt die Auflösung (1) der
simultanen Gleichungen
NER -D, HN) +) -n,
(2) der Gleichung
(2x: + u?) (Wr + By) = OO,
(3) der simultanen Gleichungen |
Petr 0, rd,
Die vierte Abhandlung) löst unter anderem die simultanen Gleichungen
x+y+2z+s=0D, zy+az+as+yze+ys+2zs=L,
zyz+ays+x22s+y2s=UQ,: ays=L,
während die fünfte?) die Gleichung At + bt—= ©* + D* in rationalen
sowie auch in ganzzahligen Werten erzielt. Die sechste Schrift ist
geometrisch: Dreiecke zu finden, deren Seiten und Mittellinien rational
sind®). Sind 2a, 2b, 2c die drei Seiten und f, 9, deren Mittel-
linien, dann fordert dieses Problem die Lösung der Gleichungen
2% +22 —- ®=f, 22 +2 =, 2° +29? — ?—=#.
ı) N. Comm. Petr. XV, 1770, p. 29—50 = Comm. Arith. I, p. 414. PN,
Comm. Petr. XV, 1770, p. 75—106 = Comm. Arith. I, p. 427. ») N. Comm.
Petr. XX, 1775, p. 48 — Comm. Arith. J, p. 444. #) N. Comm. Petr. XVII,
1772, p. 24—63 = Comm. Arith. I, p. 450. N. Comm. Petr. XVII, 1772,
p- 64—69 —= Comm. Arith.:I, p. 473. °% N. Comm. Petr. XVII, 1773, p. 171
— Comm. Arith. I, p. 507. |
Zahlentheorie. 173
In dem Aufsatze Demonstrationes circa residua ex divi-
sione potestatum per numeros primos resultantia!) entwickelt
L. Euler Lehrsätze über die bei Division einer Progression 1, a, a®,
a?, ... durch eine Primzahl P erhaltenen Reste, und wird zur wich-
tigen Frage geführt, ob es geometrische Progressionen gibt, welche
eine vollständige Reihe von Resten 1,2,3,..., P—-1 liefern. Die
Zahlen a, welche dieses tun, werden primitive Wurzeln (radices primi-
tivas) von P genannt. Euler hat keinen strengen Beweis von der
Existenz solcher Zahlen gegeben. Ihr Vorhandensein voraussetzend,
gelingt es ihm aber, ihre Anzahl genau zu bestimmen. In Gauß'
Disquisitiones arithmeticae, Art. 56, wird Eulers Existenz-
beweis angegriffen.
Der Eulersche Aufsatz Novae demonstrationes circa reso-
lutionemnumeroruminquadrata°) wurde durch denLagrangeschen
Beweis (1770) des Bachetschen Satzes hervorgerufen. Euler war
weder mit seinem eigenen früheren Beweise, noch mit dem La-
granges zufrieden. Letzterer war zu „abstrusus et prolixus“. Des-
halb wird dieser Gegenstand aufs neue bearbeitet. Die Darstellung
von Zahlen durch die Formen +9, 2°?+ 29%, 2? +32, 2? + y?
+2? -+ u? wird auf die Eigenschaften von Divisoren dieser Ausdrücke
gegründet, und Euler zeigt, daß das Produkt zweier solcher ähn-
lichen Funktionen eine ihnen ähnliche Funktion ist.
Eine durch die Irrationalentheorie erzielte Lösung der Gleichung?)
As®+2Bxy+CyP +2Dz+2Ey+F=0 darf ohne weitere Er-
klärungen übergangen werden, da Euler noch immer die Existenz
einer Lösung voraussetzt. Die gleiche Voraussetzung wird von ihm
auch noch in einer durch Kettenbrüche erlangten Auflösung dieser
Gleichung gemacht‘).
In der Schrift Problema diophanteum singulare?°) löst
L. Euler die simultanen Gleichungen 2y+22=0D, ay+yz =D.
Bald nachher beschäftigte sich Euler wieder mit Primzahlen und be-
rechnete sich eine Tafel von Primzahlen bis zur Primzahl
1001989, sowie von zusammengesetzten Zahlen mit ihren kleinsten
Divisoren®).
Über die Zerlegung von Zahlen in Summanden haben auch
) N. Comm. Petr. XVII, 1773, p. 85—135 = Comm. Arith. I, p. 516—537.
*) Acta Erud. Lips. 1773, p. 193 —= Acta Petrop. I, II, 1775, p. 48 = Comm.’ Arith.
I, p. 538—548. °) N. Comm. Petr. XVII, 1773, p. 185—197 = Comm. Arith. I,
p. 549—555. *, N. Comm. Petr. XVDI, 1773, p. 218—244 — Comm. Arith. I,
p- 570—583. °), N. Comm. Petr. XIX, 1774, p. 112—131 = Comm. Arith. IH,
‘pP. 53—63. 6%) N. Comm. Petr. XIX, 1774, p. 132—183 = Comm. Arith. I,
p. 64-91,
174 Abschnitt XX.
italienische Mathematiker geschrieben. Deren Schriften sind uns aber
nicht zugänglich. Major P. A. MacMahon!) berichtet, daß Paoli
(vor 1800?) und andere daran arbeiteten ohne große Fortschritte zu
machen. Gianfrancesco Malfatti verfaßte einen Aufsatz?) Lotto,
worin. die „Soluzion d’un problema sulla partizione de’ numeri“ ge-
geben ist, weldher von Italienern hoch gepriesen wird?).
Nicolas de Beguelin (1714—1789), Mitglied der Berliner
Akademie der Wissenschaften, veröffentlichte Recherches sur les
nombres triangulaires relativement au theoreme general de
Mr. Fermat RR les nombres polygonaux*), worin er
nachweist, daß —_- (+ y) auf wenigstens zwei Weisen alle ganzen
Zahlen N Sa kann, während =“ (?+y)+ = (y? +2) dieses
j £ } 1 1 1
auf wenigstens vier Weisen und „@’+yJ)+; WW +2)+z@+u)
wenigstens auf sechs Weisen erzielen kann. Der nächste Teil des
Beweises, daß auch die drei Dreieckszahlen
@+0)+ +W+z(@+2)
alle Zahlen vorstellen mögen, ist aber nicht klar genug auseinander-
gesetzt. Der Autor muß dieses selber gefühlt haben, denn er be-
merkt, daß die Demonstration alle Gewißheit besitze, die eine „meta-
physische“ Schlußfolgerung zulasse°).
Gleiche Urteile müssen wir über Beguelins Ableitung des
Bachetschen Satzes von obigem Fermatschen Satze, und umgekehrt
des obigen Fermatschen Satzes vom Bachetschen, fällen ®).
Beguelin schlägt für die binäre Arithmetik von Leibniz einen
abgekürzten Algorithmus’) — einen exponential algorıtmus — vor,
dessen Idee aus ein paar Beispielen klar wird. Die Zahlen 48 und
60, die im gewöhnlichen binären Algorithmus 110000 und 111100
geschrieben werden, werden im exponentialen Algorithmus durch 4-5
!) London Math. Soc., Vol. 28, 1896/97, p. 17. ®) Prodomo della nuova
eneiclopedia italiana, Siena 1779, p. 69—95. Vgl. Bullettino Boncompagni IX,
p. 374. °) Bullettino Boncompagni VI, 1873, p. 128. *) N. m&moires de l’acad. roy.
des sciences, annde 1773, Berlin 1775, p. 203—216. °) Einen früheren Versuch,
den allgemeinen Fermatschen Satz zu beweisen, daß jede Zahl die Summe von
1, 2,...n n-Eckszahlen ist, machte Beguelin in dem Aufsatze „Application du
prineipe de la raison suffisante & la d&monstration d’un theor&me de M. Fermat
sur les nombres polygonaux, qui n’a point encore ete demontre“ in den N.
Memoires de l’acad. roy. des sciences, annde 1772, Berlin 1774, p. 387—413.
6) Ebenda annde 1774, Berlin 1776, p. 312—369. °) Ebenda, annde 1772, Berlin
1774, p. 296—352. |
Zahlentheorie. 175
und 2.3.4.5 ausgedrückt.. Es sind nämlich 100000 — 25 und
10000 — 2%, Beguelin leitet die Operationsregeln für die neue
Schreibart ab. In zwei späteren Abhandlungen!) wendet er seinen
Algorithmus auf die Bestimmung der Faktoren von Zahlen 9” +1
und 4» +3 an, ohne aber dadurch bedeutende Resultate zu er-
zielen.
In einer Solution particuliere du probleme sur les
nombres premiers?) entwickelt Beguelin eine Methode, Primzahlen
von der Form 42? +1 zu finden. Das Resultat dieser Arbeit ist dem
Eulerschen in den Petersburger Memoiren der Jahre 1762,63, Bd. IX,
p- 99—153 ähnlich; die Methode ist aber ganz verschieden. Beguelin
wählt als Grundlage den Eulerschen Satz, daß alle Zahlen, welche
nur ein einziges Mal in der Formel x? + y? enthalten sind, wo x und
y teilerfremd sind, entweder Primzahlen oder das Doppelte von Prim-
zahlen sind. In einem an Beguelin gerichteten Briefe, datiert: Mai
1778 macht ihn Euler?) auf die Tatsache aufmerksam, daß die all-
gemeinere Formel nx? + y? die nämliche Eigenschaft besitze, und bei
geeigneter Wahl des n nur Primzahlen liefere. Zur Wahl von n
diene folgende Regel: Wenn eine Zahl in der Form n + y? enthalten
ist, kleiner als 4» ist (wo y und n teilerfremd sind) und entweder
eine Primzahl » oder 2» oder p? oder eine Potenz von 2 ist, dann
ist die Zahl », welche diesen Bedingungen genügt, eine geeignete
Zahl. Z. B. 60 ist eine solche Zahl, denn 60 + 1%: 60 #73, 604 118,
60 +13? sind’alle Primzahlen. Euler entdeckte 65 verschiedene
Zahlen n, konnte aber keine finden, welche 1848 überstieg. Die
Form 1848 x? + y? ermöglichte es ihm mehrere große Primzahlen (z.B.
18518809) zu entdecken. Eine vollkommenere Mitteilung dieser
Arbeit wurde nach dem Wunsche Eulers von N. Fuß in einem
Briefe vom 19./30. Juni 1778 an Beguelin gemacht®).
In einer Abhandlung Recherches d’arithmetique?) untersucht
Lagrange die verschiedenen Formen, welche die Teiler einer ganzen
Zahl von der Form Bt? + Ctu + Du? annehmen können. Es stellen
alle Buchstaben dieses Ausdrucks ganze Zahlen dar, die auch negativ
sein dürfen; B, C, D sind zum voraus bestimmte, # und « unbe-
stimmte, teilerfremde Zahlen. Es wird zuerst bewiesen, daß jeder
Teiler A die Form A—= Ls? + Msx + Na? hat, wo s und x gleich-
falls teilerfremd sind, und wo 4LN— M=4BD- ©. Um dieses
ı) N. Me&moires de l’acad. roy. des sciences, annde 1777, Berlin 1779, p. 239
bis 264, 265310. ®) Ebenda, annde 1775, Berlin 1777, p. 300-322.
°) Ebenda, annde 1776, Berlin 1779, p. 337—339. *) Ebenda, p. 340—346.
#) Ebenda, annde 1773, Berlin 1775, p. 265—312 — Lagrange, Oeuvres, T. III,
p- 696— 795.
176 Abschnitt XX.
zu beweisen, lasse man Aa = Bf? + Ctu+ Du? Ferner setze man
a=bc, u=bs, wo c und s teilerfremd sind, und es folgt aus
Abc= Bt?+ Obts + Db?s?, daß B=Eb und Ac= Ef +Cts+ Dbs?.
Da 0s +cx irgend eine ganze Zahl sein kann, schreibe man t=9s
+ cz und eliminiere . Man ersieht dann, daß E60? ++ 09 + Db durch
c teilbar, also = Le ist. Wenn 2E0+C= MM, Ec= N genommen
wird, erhält man A= Ls’+ Msx + Na?, sowie 4LM — M?’=4BD
— (%, und der grundlegende Satz der Abhandlung ist bewiesen. Ist
nun M numerisch größer als L, wird durch die Annahme s=mx-+s’
eine neue Form A = L’s?+ M’s’x’ + N’x’” abgeleitet, wo numerisch
M'<M und 4LU’N — M?=4ALN — M? ist.
Durch eine endliche Anzahl von Wiederholungen dieser Operation
erhält man A= Py? + Qyz + Rz?, worin numerisch O<P,Q<H,
4PR—- @®=4BD—(C und y und z teilerfremd sind. Wenn
4 BD — (0? positiv ist, dann muß also Ve Ei sein; wenn
4BD — (? negativ ist, so muß 0 < ve nei u sein. Durch diese
Relationen sind die möglichen Werte von @ bedeutend eingeschränkt.
Überdies ist Q gerade oder ungerade, je nachdem ( gerade oder un-
gerade ist. Sobald nun @ festgesetzt ist, erhält man PR durch die
Relation 4 PR— W9=4BD— (C?, und man kann irgend zwei Fak-
toren von PR, welche nicht kleiner als Q sind, als Werte von
P und R wählen. Aus obigem sieht man, daß die Bestimmung von
P, Q@, R nur von dem Werte 45bD— 0?=-+K (K positiv) abhängt.
Bemerkt man überdies, daß (Bt? + Ctu + Du?) 4B = (2Bt + Cu)’
E: (4 BD — 0?) u?, so Bee es klar, daß Teiler von Bt? + Ctu + Du?
auch Teiler der einfacheren Formel &?+ Ku? sind. Betrachtet man
? + au? (a irgend eine ganze positive Zahl) als einen Spezialfall von
Bt? + Ctu+ Du, worin B=1, C=0, D=a, wo also K=4a,
Q=-+2g (q positiv), dann werden qg< Y® und PR=a+g. Ist
nun PR=pr, wo p>2gq, r>2g, dann ergibt sich py? + 2qyz2 + re?
als der allgemeine Ausdruck für die Teiler von ?+au?. Füra=1
wird der Teiler y„? + 2°, für a=2 wird er y’ + 22°, füra=3 wird
jeder ungerade Teiler „’ +32°?. Die Resultate für diese drei Werte von a
hatte früher Euler durch eine ganz verschiedene, auf höhere Werte
von a nicht verwendbare Methode ausgearbeitet'). Die Methode von
Lagrange ist allgemein und wird von ihm bis auf «= 12 ange-
wandt. Bei der Ausbeutung der Resultate für ?? — au? ist das Ver-
N. Comm. Petr., T. IV, VI, VID.
Zahlentheorie. 177
fahren von Lagrange ganz ähnlich.. Er stößt aber auf die Unbe-
quemlichkeit, daß dann und wann sich scheinbar mehr Teilungsformeln
herausstellen, als wirklich existieren, daß also gewisse unter denselben
einander äquivalent sind. Z.B, wenn a= 12, so findet man die
Teiler 12z?— y? und 3y?— 42°. . Letzterer reduziert sich auf den
ersteren durch die Substitution y=4y' +7, z=3y +7. Diese
Erscheinung veranlaßt ihn zu einer Untersuchung, und diese
führt zur Entdeckung einer Regel, wodurch man einander iden-
tische Formeln leicht erkennen kann. Auch konstruiert er zwei
Tafeln, welche die Werte von p, q, r der ungeraden Divisoren der
Zahlen ? + au? und ? — au? für die sukzessiven Werte 1,2,3,...31
der Konstanten a angeben.
Diese große Untersuchung Lagranges wird in den Berliner
Memoiren des Jahres 1775 fortgesetzt!).
Für Zahlen von der Form ?{-+ au? wurde im eben besprochenen
Teil der Abhandlung die allgemeine Divisorsformel
X=py-+2qyz + re
abgeleitet. Im zweiten Teil wird dieser Divisor in die einfachere
Form 4na + b transformiert, wo » irgendwelche ganze Zahl ist,
a=pr + g°, und b durch die Zahlen p, q, r bestimmt wird. Wenn
X ein ungerader Teiler ist, muß entweder p oder x ungerade sein.
Es sei p ungerade. Man kann schreiben
pX=-(py+g) ra#=y’tar,
wo y=py+gz Istp=Ppd a=rpe, wo P und r teilerfremd
sein sollen, dann muß "= Pr + q?p‘. wo g=gp’e, und wo P und
p' teilerfremd sind, sowie auch P und p’r. Es muß also „= pex
sein, und man erhält PX =pa?+r'2?. Setzt man weiter pr’ =a),
dann läßt sich PX durch eine lineare Transformation von x und z
auf die Form 4a’n + b’ reduzieren, wo 5’ positiv oder negativ und
numerisch < 2a’ ist. Nun können in der Gleichung ersten Grades
PX=4a'n-+ b die unbestimmten ganzen Zahlen X und » immer
berechnet werden, und man erhält X = 4a’n’ + ab’, wo n’ irgend eine
ganze Zahl, und « der Zähler des vorletzten Näherungsbruches für
4 f . ’ ‚ . ‚
den Wert von — ist. Wenn nun «=«ace=a, dann ist + ab’=b
und X hat die erwünschte Form; wenn dies nicht der Fall ist, muß
man noch n —= ne? + setzen (y<c?), und es wird
) N. Mömoires de l’acad. roy. des sciences, annee 1775, Berlin 1777, p. 323
bis 356 —Lagrange, Oeuvres Ill, p. 759—795.
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 12
178 Abschnitt XX.
X—=4ant eb’ +4ay,
wo also b— +ob’ +4ay. Lagrange berechnet nun zwei Tafeln,
die für jeden Wert von a (< ee und von » die passenden Werte von
b_ für Teiler von au?” angeben, und zwei andere Tafeln,
welche die Werte von b für Nichtteiler liefern. Um z. B. Teiler von
10001 zu finden, beachte man, daß 10001 = (100) +1, daß also
a=]1, wofür die Tafeln b=1 angeben, weshalb jeder Teiler die
Form 40 +1 hat. Es ist aber auch 10001 = (101)? — 2 (10)2. Für
a— 2 liefern die Tafeln b= 1, — 1, weshalb die Teiler eine der zwei
Formen Sn +1 und 8n— 1 haben müssen. Von den Primzahlen
unter 100 genügen nur 17, 41, 73, 89, 97 diesen zwei Bedingungen.
Durch Division ermittelt man, daß 73 ein Teiler ist. Die Abhand-
lung endet mit einer Untersuchung über Primzahlen von der Form
4na + b, welche zu gleicher Zeit die Form u?° + at? annehmen. Zu
diesem Zwecke braucht er sieben Lemma, welche, in Verbindung
mit seinen Tafeln, ihm 36 Lehrsätze über Primzahlen von der Form
4» — 1 und 13 Lehrsätze über Primzahlen von der Form 4n +1
einbringen. Man findet hier den Nachweis von sechs Fermatschen
Sätzen. Der erste von diesen sagt, daß alle Primzahlen von der
Form 4» +1 auch die Form y? + 2°? annehmen. Vier andere Fer-
matsche Sätze betreffen bzw. die Formenpaare
6n +1, y’ +32; 8Sn +1, y +22; 8n +3, y’ + 228;
8n +1, — 28.
Für. die zwei ersten Fermatschen Sätze hatte Euler schon früher
Beweise veröffentlicht. Vier andere Sätze hatte Euler früher durch
Induktion entdeckt!). Sie ‚betreffen bzw. die Formen 20% +1,
20n +9 und y’ +52’; 24n +1, 24n+T und „+62; 24n +5,
24» +11 und 2y? + 32°; 283%» +1, 28n +9, 283% +11, 283% +15,
28n +23, 28n +25 und y?-+ 72°. Lagrange bemerkt, daß es ihm
nicht gelungen sei, den Fermatschen Satz, daß das Doppelte einer
Primzahl 8» — 1 die Summe eines Quadrates und das Doppelte eines
Quadrates sei, nachzuweisen. Auch kündigt er den von ihm durch
Induktion entdeckten, aber noch unbewiesenen Satz an, daß alle Prim-
zahlen von der Form 4» — 1 die Summe einer Primzahl von der
Form 4» +1 und das Doppelte einer Primzahl dieser Form sind.
" "Eine Methode, die vollkommenen Theiler einer gegebenen
Zahl zu finden?) von Johann Tessanek (1728—1788), Lehrer
4) N. mdmoires Petr. VI, p. 221, VII, p. 127. *) Abh. einer Privat-
gesellsch. in Böhmen, 1. Bd., Prag 1775, S. 1—64.
Zahlentheorie. 179
der höheren Mathematik an der Prager Hochschule, enthält drei
Regeln, je eine für Zahlen, deren rechtsstehende Ziffer 1, 3 oder 7
ist. Eine Zahl ersterer Art kann so ausgedrückt werden: 100« + 105
+1, wo b die Zahl der Zehner andeutet. Ist sie keine Primzahl, so
ist sie entweder
— (1002 +10f+1)(1002+10g9 +1) oder (100& + 10f+ 3)
(1002 +109 +7) oder (1002 + 10f+ 9) (1002 + 109 + 9).
Daher ist erstens
(1004 + 105 + 1): (1002 + 10f+1) = 1002 + 109 +1;
woraus man erhält
(10a +b— 102 — f):(1002x+10f+1)= 10: +9
und
(10a + b— 102 — f — 10092 — 10fy — 9) : (1002 + 10f-+1) = 10z,
weshalb b— f— g mit 10 teilbar sein muß, d.h.b=f-+g oder aber
b+10=f-+g. Man erhält
(a — x — 10bx + 10fx —bf + f?): (1002 + 10f+1)=z
oder z+ 1. Wenn man von der Quadratwurzel von 1004 + 10b +1
die zwei rechtsstehenden Zahlen abschneidet, und die übrige Zahl
m nennt, und man 100 +10f-+ 1 kleiner als die Quadratwurzel
nimmt, kann & nicht größer und z nicht kleiner sein als m. Es
folgt, daß 2+ 1— m und 2— m positive Zahlen sein müssen und
daß
(a — m — z[100 m + 105 + 1] — f[10m +5 — 10x — f])
:(1002+10f+1)=z2— m oder z+1— m.
Aus dieser Hauptformel erhält man zehn besondere Formeln,
eine für jeden Fall des Wertes von b. Auf ähnliche Weise werden
die zwei anderen Faktorenformen behandelt, von denen
(1002 + 10f + 3) (1002 + 109 + 7)
zwei Hauptformeln liefert. Im ganzen -hat man 40 besondere
Formeln für Zahlen, deren rechtsstehende Ziffer 1 ist. Solche,
deren Endziffer 3 oder 7 ist, werden nach der gleichen Methode be-
handelt.
Die 1775 gedruckte Abhandlung!) über diophantische Probleme
») N. Comm, Petr. XX, 1775, p. 48—58 = Comm, Arith. I, p. 444—449,
13°
180 Abschnitt XX.
wurden von L. Euler schon 1771 eingereicht. Es werden erstens
die simultanen Gleichungen
HERUM, (#4): (war tey)- Pr,
zweitens (#2? + u?y?) (ur? + Py?)—= V?, drittens die Gleichungen
Pa? + uy — U? By?’ + u?a?—= V? aufgelöst. Ein ähnliches Kunst-
stück ist die Resolution jeder der zwei folgenden Gleichungen!):
e+yf+ + — 20? — 2a? — Ay
+22? +2 P? +22 = 0,
+++ vr 20y — 202? — 2av?
— 2y?2? — 2? — 220°? = 0
’
sowie die Lösung der simultanen Gleichungen’):
22 + y + 22? Eu u, x?y? + 222g? + y?2? — 9%.
Sein ältester Sohn Johann Albrecht Euler (1734—1800),
schrieb einen Kommentar über die Lösung des letzten Problems?).
In der Abhandlung Sur quelques problömes de l’analyse
de Diophante*) geht Lagrange von dem Fermatschen Problem
aus, ein rechtwinkliges Dreieck zu finden, dessen Hypotenuse, sowie
die Summe der Katheten, Quadratzahlen sind. Wenn also p und q
die Katheten sind, sollen p+g=y, e+qg=at. Setzt man
P— q= 2, so erhält man pP — 2pg +®= = 2x — y. Kennt man
also Lösungen von 22° — y*=2?, dann sind die Katheten durch die
Relationen 2p=y?+2, 2q=y?—z bestimmt. Es können = 13,
y=1, z2=239 sein, woraus sich p= 120, q=— 119 ergeben.
Sollen aber p und q beide positive ganze Zahlen sein, dann versichere
Fermat, daß keine kleineren Wertsysteme existieren als
x = 2165017, y = 2372159, z = 1560590745759,
p = 1061652293520, q = 4565486 027 761.
Um diese Äußerung zu beweisen und um überhaupt eine allgemeine
Auflösung der Gleichung 22* — y! = 2? zu finden, erfindet Lagrange
eine Methode, welche der berühmten Fermatschen Methode, die Un-
möglichkeit von x — y*=2? zu beweisen, ähnlich ist. Fermat
') Acta Petrop. 1778, II, p. 85—110, eingereicht 1780 = Comm. Arith. I,
p-366—379. °) Ebenda, 1779, 1,p.30—89, einger. 1780— Comm. Arith.II,p.457—461.
°) Ebenda, 1779, Pt. I, p. 40—48. *) N. memodires de l’acad. roy. des sciences,
annee 1777, Berlin 1779, p. 140—154 = Lagrange, Oeuvres IV, p. 377—398.
Zahlentheorie. 181
zeigte, daß man aus der Voraussetzung, daß ganzzahlige Werte von
x, Y, 2 existieren, immer nachweisen kann, daß es noch kleinere ganz-
zahlige Werte von #, y, z gibt, die der Bedingung z* — y* — 2? ge-
nügen. Durch Wiederholung dieser Operation kommt man auf kleine
Werte von z, y, z herab, die der Gleichung genügen sollten. Da in
Wirklichkeit es keine solche kleinen Werte gibt, ist die Annahme
der Lösbarkeit falsch. Lagranges Modifikation dieses Kunstgriffes
ist wie folgt: Aus der Voraussetzung, daß es ganzzahlige Werte von
x und y gibt («>1, y>1), die der Bedingung 22° — y'=T ge-
nügen, soll gezeigt werden, daß es noch kleinere Werte von x und
y gibt, die dieser Bedingung genügen. Es soll zu gleicher Zeit eine
allgemeine Methode entwickelt werden, um letztere Werte aus den ersteren
abzuleiten. Wenn man nun für x und y ihre Minimum-Werte angibt,
nämlich <= 1, y=1, kann man durch Wiederaufsteigen alle höheren
Werte in der Reihenfolge ihrer Größe berechnen. Dieses Programm
wird mit großer Geschicklichkeit erfolgreich durchgeführt. Erstens
wird bewiesen, daß die Auflösung von 22° — y'—=z? sich auf die
Auflösung von s* + 8t!—= u? durch kleinere Zahlen reduziert, und daß
eine Lösung letzterer Gleichung stets durch die Relationen
m:n = (u — Bst): (S? — 81),
m und n teilerfremd,e= ms + nt, y= ms — nt eine Lösung der ersteren
einbringt. Zweitens wird die Auflösung von s’ + 8f— u? auf die Lösung
von der Gleichung 29*— r*=s? oder der Gleichung g* — 2r! = s®
reduziert, so daß von den Werten g, r, s, welche der einen oder der
anderen dieser Gleichungen genügen, durch die Hilfsgleichung = qr
Lösungen von st + 8t!—= u? abgeleitet werden können. Drittens wird
die Auflösung von 9 —2r!=s? von der Lösung der Gleichung
q? = n! + 8p* abhängig gemacht, wo r—=2pn, s—=n* — 8p‘, und die
ganzen Zahlen n,p kleiner sind als q,r. Die Gleichung n‘+8p'=gq°
hat aber die gleiche Form wie !+8t!=.u?; folglich ist das Problem
gelöst. Diese Untersuchung ergibt also nicht nur die Lösung von
22° — y*=D, sondern auch von #— 2 =D und “+3yf'=L.
Es wird nun gezeigt, wie die Auflösung aller Gleichungen von
der Form xt + ayt = 2°, wo a irgend eine gegebene Zahl ist, durch
die Lösung einer gleichförmigen Gleichung mit kleineren Zahlen-
werten erzielt werden kann; es wird aber betont, daß die hier er-
klärte Methode nicht notwendig alle möglichen Lösungen liefert.
In der Eulerschen Abhandlung De mirabilibus proprietati-
bus numerorum pentagonalium!) werden aus dem Ausdrucke
t) Acta Petr. 1780, I, p. 56—75 —= Comm. Arith. I, p. 105—115.
182 Abschnitt XX.
A-)A-MA- Det. - 1-2 ++ — aa + ete,
wo die Exponenten von x in der Reihe Pentagonalzahlen von der Form
en, d. h. die Zahlen 0, 1, 2, 5, 7, 12, 15, 22 ete. sind, und wo
z"=1(n=1, 2, 3, 4 oder 5) ist, schwankende und divergente Reihen
abgeleitet. Die Summe solcher Reihen wird nach der damals noch
üblichen formalen Behandlungsweise ermittelt. Euler schreibt
1-1+1—-1+1ee-3 ud -?-245+7 219 - ee. —0.
Vom Standpunkte der analytischen Zahlentheorie betrachtet, enthält
diese Schrift Ergebnisse, die Euler schon früher veröffentlicht
hatte!). |
Die Anzahl Zahlen, welche kleiner als N und zugleich mit N
teilerfremd sind, wird von L. Euler in einer Schrift des Jahres?)
1780 durch die Formel N = mn olsrrk ausgedrückt, wo
N=p*gPrY. Dies ist eine verallgemeinerte Form der Formeln,
welche Euler 1760/61 in der Abhandlung Theoremata arithmetica
nova methodo demonstrata bekannt machte.
In dem Aufsatze De inductione ad plenam certitudinem
evehenda?) zeigt L. Euler, daß jede Zahl sich als in vier Quadrat-
zahlen und in drei Dreieckszahlen zerlegbar erweist, sobald man an-
nimmt, daß jede Zahl 4n + 2 in zwei Primzahlen der Form 4» +1
zerlegbar sei. Letzterer Satz wird durch Induktion untersucht und
als Erfahrungssatz aufgestellt.
Im Jahre 1781 wurden Auszüge aus Briefen Eulers an Con-
dorcet veröffentlicht®), worin unter anderem bewiesen wird, daß die
Summe der Quadrate der Koeffizienten in der Binomialentwicklung
von (1 +2)” dem Ausdrucke gleich ist
2..:& 10 1% 4n — 2
a ee SE EEE nz
Die vollständige Abhandlung Eulers erschien in St. Petersburg unter
dem Titel De mirabilibus proprietatibus unciarum, quae in
evolutione binomii ad potestatem quamcungque evecti oc-
1
N 2 in de
eurrunt°). Diese Werte werden vom Integral _-- 2?” ee Yip
yv1ı—x-x
v
!) Intr. in analys. Pt. 1V, Chap. 16; N. Comm. Petr. 1750/51, p. 155; ebenda,
1754/55, V, p. 59—94; Corresp. math. (Fuß) II, p. 467. 2) Acta Petr. IV, I,
1780, p. 18—30 = Comm. Arith. II, p. 127—133. °) Ebenda, p. 38—48 = Comm.
Arith. II, p. 134—139. *) Histoire de l’acad&mie royale des sciences, annde 1778,
Paris 1781, p. 606. ®) Acta Petrop. pro anno 1781 pars prior. Petropoli 1784,
p. 74—111. {
‚Zahlentheorie. 183
geleitet. Euler betrachtet auch Bruchwerte von n mit dem Nenner
2 und erhält für n = - als Summe der unendlichen Reihe =, für
n=— “ eine unendliche Zahl. Euler schreibt
„ei ‚ w@a—ı1)
BE y> ß en warf
und erhält mit Hilfe der Integralrechnung die Werte der Reihe
1+oca+PßPß +:-- für ganze und gebrochene Werte von n und »‘.
Diese interessante Untersuchung wird in der Schrift De insignibus
proprietatibus unciarum binomii ad uneias quorumvis poly-
nomiorum extensis!) auf Koeffizienten von Polynomen übergeführt,
und die Resultate werden durch Induktion abgeleitet.
Ein vom Grafen Franz Schaffgotsch von Prag (1743—1809)
‘entdecktes Gesetz, welches zur Fortsetzung der bekannten
'Pellischen Tafeln dienet?), wird am gleichen Orte von Beguelin
und von Tessanek bewiesen. Schaffgotsch stand mit dem Astronomen
Bernoulli in Berlin in Korrespondenz und wurde durch ihn und die
Schriften von Beguelin und Lambert angeregt, die Faktorentafeln zu
erweitern. Sobald er aber vernahm, daß Hindenburg in Leipzig
sich mit dergleichen beschäftigte, unterbrach er die vorgenommene
Arbeit. Er veröffentlichte aber sein Gesetz, wodurch er Faktoren-
tafeln, die alle durch 2, 3, 5 teilbare Zahlen ausschließen, ohne Be-
rechnung fortsetzen konnte. Eine solche Zahlenreihe ist von der Form
30r + 1, 30r + 7, 30r + 11, 30r + 13, 30r + 17, 30r + 19,
| 30r + 23, 30r + 29,
wo r=0,1,2,3,... In einer Tabelle gibt Schaffgotsch alle
Primzahlen von 7—449 und für jede derselben gibt er acht Zahlen
zur Anwendung seiner Methode Z. B. für die Primzahl 7 hat er
7,4, 7,4,7,12,3,12. Um nun in obgenannter Zahlenreihe alle
durch 7 teilbare Zahlen, die größer als 7? sind, zu finden, nehme man
nach 49 die siebente (30r + 17 = 77), die nächstfolgende vierte (91),
dann die siebente (119), die vierte (133), die siebente (161), die zwölfte
(203), die dritte (217), die zwölfte (259). Dann fange man von
neuem an und nehme die siebente ete. Noch zu beachten ist, dab
die Summe der zu einer Primzahl p gehörigen Zahlen immer 8p ist.
Die Abhandlung?) Novae demonstrationes eirca divisores
1) Acta Petrop. pro anno 1781 pars posterior, Petropoli 1785, p. 76—89.
®) Abh. einer Privatgesellsch. in Böhmen, 5. Bd., .Prag 1782, S. 354382. Man
sehe einen zweiten Aufsatz von ihm für das Jahr 1786, S. 123—159. N.
Acta Petrop. I, 1783, p. 47—74 = Comm. Arith. U, p. 1659—173.
184 Abschnitt XX.
numerorum formae @2-+ny? ist eine von drei Schriften?)
L. Eulers, welche im 18. Jahrhundert gedruckt wurden und eine
bedeutende Anzahl Lehrsätze über Teilbarkeit von 2? + ny? enthalten.
Den naturgemäßen Weg, Kettenbrüche abzuleiten, sie. nämlich
aus trinomischen Gleichungen abzuleiten, hatte Euler schon 1739
angedeutet”). Er wird nun in der Schrift De formatione fractio-
num continuarum?) weiter geführt. Die rekurrierenden Gleichungen
fA=g9B+bC,fB=gC+WD,... ergeben
Ars: hc fh fB rd ‚ 0%
= N Fra Az BO Orr on: Ya
woraus sich der Kettenbruch & =9g+ A OR leicht herleiten
g” + ete.
läßt. Ist z.B s= (a — Br — y®°), so wird s=(, wenn «= ßx
+73 oder aa" — Bart! + yart3 won=1, 2,3,... Für die Reihe
A,B,C,... kann man hier 1,2, ... und statt 9, h,... die
nad 4
P+ery e
ß-+ ete.
Zahlen «, ß, y,... setzen. Daraus wird — —=ß+ wo
«= B+VR + Eey
Im Jahre 1783, dem Todesjahre L. Eulers, erschien in St. Peters-
burg der erste Band seiner Opusecula analytica, wovon der zweite
Band 1785 herausgegeben wurde. Diese zwei Bände enthalten mehrere
Abhandlungen über Zahlentheorie, die Euler ungefähr zehn Jahre
früher verfaßte. In einer derselben‘) werden die Kriteria für die
ganzzahlige Auflösung von fx? + gy? = hz? hergeleitet. Für vorgelegte
Werte von f und y werden Zahlen h gefunden, wofür Lösungen der
Gleichung möglich oder unmöglich sind. In einer anderen Schrift?)
Nova subsidia pro resolutione formulae aa? +1= y? wird ein
wiederholter Angriff auf die Fermatsche Gleichung, die er selber
und auch Lagrange früher eingehend behandelt hatten, gemacht.
Er stellt Regeln auf, welche in der Konstruktion von Tabellen zur
Erleichterung der Rechnungen dienen.
In der Abhandlung Miscellanea analytica‘), welche 1773 ver-
faßt wurde, gibt Euler unter anderem einen Beweis des früher von
') Comm. Petr. XIV, 1744/46, p. 151; Opuscula analytica II, 1785, p. 275
—= Comm. Arith. I, p. 35. II, p. 140. ?) Ebenda, T. XI, ad annum 1739, Petro-
poli 1750, p. 32—81. °) Acta acad. sceient. imp. Petr. pro anno 1779, pars
prior, Petropoli 1782, p. 3—29. ) Opuseula analytica I, p. 211—241 = Comm.
Arith. I, p. 556—569. °) Ebenda, I, p. 310-328 — Comm. Arith. II, p. 35—43.
©) Ebenda, I, p. 329—344 — Comm. Arith. II, p. 44—52.
N
Zahlentheorie. 185
Lagrange demonstrierten Satzes von John Wilson‘). Euler
erzielt dieses durch die von ihm entdeckten primitiven Wurzeln. Ist
9 eine primitive Wurzel der Primzahl p, so enthält die Periode von
alle Zahlen 1,2, 3,...(?—1). Es gehört nun 9 zu der geraden Zahl
p— 1, weshalb
1-2- 3: (op 1) #1
durch p teilbar ist.
Ein anderer Aufsatz?) L. Eulers enthält Beobachtungen über
den Fermatschen Polygonalzahlsatz, welche auf der Entwicklung der
Potenzen der Reihe 1+2°+2°+:--, wo &,ß,... Polygonalzahlen
sind, beruhen. Eine zu gleicher Zeit veröffentlichte kleine Schrift?)
Eulers lehrt die kleinsten Werte von «, ß,y zu finden, die annähernd
der unbestimmten Gleichung ersten Grades «A = + PB 1 yC genügen,
wo A, B, © gegebene Zahlen sind, die im allgemeinen auch irrationat
sein dürfen. Ä
In der Abhandlung Speculationes super formula integrali
= —— 7.7 Ubi simul egregiae observationes circa
y (aa—2bxr-+cxx ee
fractiones continuas occurrunt*) leitet Euler durch Integral-
rechnung die Werte verschiedener Kettenbrüche ab. Er erhält z. B.
aac
Tg Kane
* b+Yb?’— a:e > dx . \
wo, für N er Mrs u Pe A B— y(aa—2bz-Lexa) y „ein Ausdruck
welcher“, wie er sagt, „deshalb denkwürdiger ist, weil bisher kein Weg
offen stand, den Wert dieses Kettenbruchs a priori zu finden“. Es
\ p nm
werden logi, log an BE
g
aretan °?
BT
Wir verdanken Euler die Entdeckung eines fundamentalen Lehr-
satzes der Zahlentheorie, des sogenannten Reziprozitätsgesetzes. Un-
gefähr 140 Jahre früher hatten die binomischen Kongruenzen zweiten
Grades die Aufmerksamkeit des großen Mathematikers Fermat erregt.
Ohne Beweise anzugeben, hatte er die Bedingungen, unter welchen
in Kettenbrüche entwickelt, sowie
') Vgl. Eulers Brief an Lagrange vom 24. Sept. (5. Okt.) 1773 in La-
grange, Oeuvres XIV, p. 285, und Opera posthuma (Euler) I, p. 583.
”) Opuscula analytica II, p. 3 = Comm. Arith. II, p. 92—98. °) Ebenda, II, p. 91
— Comm. Arith. II, p. 99—104- #, Acta acad. scient. imp. Petr. pro anno
1782, pars posterior, Petropoli 1786, p. 62—84.”
‚186 Abschnitt XX.
+1, +2, + 3,5 quadratische Reste oder Niehtreste von ungeraden
insählen sind, aufgestellt). |
Euler mkhrsunlie in zwei Abhandlungen, die ERRIEEEN
beide 1772 verfaßt wurden?), die Reste, welche entstehen, wenn
Quadrate und höhere Potenzen mit Primzahlen dividiert werden. In
der ersten dieser zwei Schriften drückt er das Gesetz in vollendeter
Form, aber ohne Beweis aus. Diese berühmte Abhandlung führt den
"Titel Observationes circa divisionem quadratorum per
ınumeros primos.
Kronecker macht die interessante Mitteilung”), daß Euler bei-
nahe 40 Jahre früher, in einer Abhandlung aus den Jahren 1744 bis
1746, als Resultat von Beobachtungen eine Reihe von Lehrsätzen und
Beobachtungen gibt, welche im wesentlichen das Reziprozitätsgesetz
‘enthalten*). Natürlich dürfen diese Aussprüche nicht als eine Ent-
deckung des Gesetzes angesehen werden.
Die entwickelte und allgemeine Auffassung des Reziprozitäts-
gesetzes wird von Euler in der Schrift des Jahres 1783 zuerst in.
vier Theoremen aufgestellt, dann in der neuen Form eines einzigen
Lehrsatzes ausgesprochen. Die vier Theoreme beziehen sich auf die
Division der Quadratzahlen durch Primzahlen und lauten wie folgt?):
Si divisor primus fuerit formae Ans + (22 + 1)?, existente
s numero primo, tum in residuis occurrent numeri +5
et —s.
Si divisor primus fuerit formae 4ns — (2x +1)?, existente
s numero primo, tum in residuis oceurret numerus +5; at
— s erit in non-residuis.
Sı divisor primus fuerit formae 4ns—4z—1, excludendo
omnes valores in forma 4ns — (22 +1)? contentos, existente
s numero primo, tum in residuis oceurret —s, at +s erit
non-residuum.
Si divisor primus fuerit forma 4ns +42 +1, excludendo
omnes valores in forma 4ns + (22 +1)? contentos, existente
s numero primo, tum tam +s quam —s in non-residuis
occurret.
Euler läßt nun die Bemerkung folgen, daß er diese Lehrsätze
Oswald Baumgart, Ueber das Quadratische Reciprocitätsgesetz, Leipzig
1885, 8.3. 2?) Opuscula analytica I, p. 64—84 = Comm. Arith. I, p. 477—486;
ebenda. p. 122—156 = Comm. Arith. I, p. 487—506. ®) Monatsb. d. K. Akad.
d. Wiss. zu Berlin, 1875, S. 268. 4) Comm. Petr. XIV, 1744, p. 151 = Comm.
Arith. I, p. 35—49. Das Reziprozitätsgesetz hätte nach Kronecker namentlich
aus Theorema 27 und -den Annotationes 3, 4, 7, 13, 14 und 16 geschlossen
werden können. °) Comm. Arith. I, p. 484, 485.
Zahlentheorie. 187
hinzufüge, damit jedermann, der an Spekulationen dieser Art Ver-
gnügen findet, ihren Beweisen nachspüren möge, denn dadurch werde
die Zahlentheorie gewiß wichtige Erweiterungen erhalten. Zum Schluß
sagt er dann, daß die vier Sätze in folgender Weise recht übersicht-
lich dargestellt werden können:
Existentes numero quocunque primo, dividantur tantum
quadrata imparia 1, 9, 25, 49, ete. per divisorem 4s, notentur-
que residua, quae omnia erunt formae 49 + 1, quorum quod-
vis littera « indicetur, religquorum autem numerorum, formae
49 +1, qui inter residua non occurrunt, quilibet littera A
indicetur, quo facto si fuerit
divisor numerus
| tum est
primus formae |
Ans+ « | +s residuum et —s residuum,
Ans — 0 | +s residuum et —s non-residuum,
Ans + A + s non-residuum et —s non-residuum,
Ans — A + s non-residuum et —s residuum.
Wenn wir hier den quadratischen Charakter von — s außer Betracht
lassen und die Primzahlen 4ns + « und 4ns + A durch p bezeichnen,
so ist es nicht schwer, die Eulersche Formulierung des Rezipro-
zitätsgesetzes mit der folgenden jetzt üblichen Form zu identifizieren:
Sind p und s zwei positive Primzahlen, von denen mindestens
eine die Form 4» +1 hat, so ist s quadratischer Rest oder Nicht-
rest von p, je nachdem » quadratischer Rest oder Nichtrest von s
ist; haben aber beide Primzahlen p und s die Form 4n + 3, so ist s
quadratischer Rest oder Nichtrest von p, je nachdem p quadratischer
Nichtrest oder Rest von s ist.
An die Arbeit von Johann Bernoulli III. des Jahres 1771 an-
knüpfend, untersucht Anton Felkel (1750—?) die Verwandlung
der Bruchperioden nach den Gesetzen verschiedener
Zahlensysteme!). Der im Dezimalsysteme 0,076923 . .: = Ei
geschriebene Bruch heißt im Systeme von der Grundzahl 6 nach
Felkel: 0,024340531215---- + +g+g +: Er nemt
eine Bruchperiode eines Primteilers p eine vollständige, wenn sie
?—1 Stellen hat (wie bei p=[), eine unvollständige, wenn sie
1) Abh. d. Böhmischen Gesellsch. d.. Wiss. auf das Jahr 1785, Prag, S. 135
bis 174, 1. Abteil.
188 Abschnitt XX.
weniger Stellen hat (wie bei =), und zeigt unter anderem durch
Beispiele, daß unvollständige Perioden nach verschiedenen Zahlen-
systemen verschiedentlich in vollständige und in unvollständige Perioden
übergehen können. Felkel war Lehrer an der k. k. Normalschule in
Wien, 1785 Direktor von Schul- und Armenanstalten in Böhmen,
später Vorsteher einer deutschen Schule in Lissabon. Er erfand eine
gemeine Rechenmaschine, und schrieb ein großes Tabellenwerk, wo-
von die ersten Teile gedruckt wurden. Beinahe die ganze Auflage
wurde aber vor Ausbruch des Türkenkrieges 1788 zu Infanterie-
patronenpapier verwendet').
In den Adversaria analytica miscellanea de fractionibus
continuis?) setzt Daniel Bernoulli den zu bestimmenden Wert
eines unendlichen Kettenbruches gleich S, schreibt dann
Era.
m+1
m + ie
S= d
1
Een
a m + V4 + m?
- Er a
wenn m positiv ist,
' —- m — V4ı+-m?’
se VER,
wenn m negativ ist. Merkwürdig erscheint ihm der Fall m=0(,
welcher S=1 und auch S= — 1 liefert. Man müsse hier zwischen
der absoluten Null und dem unendlich Kleinen unterscheiden. Erstere
Anschauung liefere en letztere +1. Für den unendlichen Bruch
n D . . 1 ie 2 2 re
Er ergibt sich die Summe +, (-m+Ym?-+4n), wo man
m
nur für negative Werte von m — . nimmt, und nur für negative
Werte von » — 4n schreibt. Daraus ersieht man, daß die Multi-
plikation der einzelnen Zähler und Nenner eines Kettenbruches durch
eine Zahl m dessen Wert ändert. Ist » negativ und numerisch größer
m?
re
n=—1 sind die Näherungswerte — 1, — %,0, —1, — @©,0, etc,
die gegen keinen bestimmten Wert konvergieren, weshalb es nicht
sonderbar sei, daß die Formel imaginäre Resultate ergebe. Das Be-
1 i
en
Aa ul
le, Eu:
!) Allgemeine Deutsche Biographie VI, 612 (Canton). ®) N. Comm. Petr.,
Tom. XX, pro anno 1775, Petropoli 1786, p. 3—23.
als so liefert die Formel eine imaginäre Zahl. Für m=1,
streben, eine Darstellung des Wertes des Kettenbruches
Zahlentheorie. 189
zu finden, hatte seinen Ausgang in einer zweiten Abhandlung, Dis-
quisitiones ulteriores de indole fractionum continuarum!)
worin Bernoulli die Auffindung eines independenten Gesetzes für
die Bildung eines beliebigen Näherungswertes im Auge hat, aber im
Falle willkürlicher „Indices“ - : r ‚In dem allgemeinen Ketten-
a
bruch «&+d nicht weiter kommt, als aus zwei nacheinander fol-
PERL eh |
genden Näherungsbrüchen ,, Q und dem nächsten Index z den
P®-+ Mf
QO+Nf
welches er als ein vorzügliches Kompendium charakterisiert. Ohne
' sich des Eulerschen Algorithmus zu bedienen, vervollkommnet und
vereinfacht Bernoulli die bisher angewandten Darstellungsmethoden
der Näherungswerte. Er geht von einem allgemeineren Kettenbruch
aus, als es bei Euler der Fall war.
In einer Schrift, Arithmetische Betrachtung?), behandelt
Johann Tessanek die Gleichung dn’+1=e?, ohne aber die Ar-
beiten Lagranges anzuführen.
Tessanek bestimmt den Wert von » bei gewissen Zahlen d
verschiedener Formen, und zeigt, wie unendlich viele Formen gefunden
und bei diesen die Werte für n allgemein bestimmt werden können.
Er schreibt d=.a?-+b und findet e>an, also e=an+p,; auch
findet er n>p, also n=p,+9,. Dann betrachtet er den Fall
b>a, p>P, M<2p, und seit 1 =m+Pp, mM=P+P,,
Ps <2p,, etc. Für p, findet er einen allgemeinen Ausdruck
hierauf folgenden Näherungswert zu ziehen, ein Verfahren,
(Ph; 7 Ve@+ b)pFrı 4,9,) 9;
woh,=b—-ag=b, , =2a—b+1T, und
hazı =9g,—h, ri 2, - 5 t+%-:-
Nimmt man nun ,=1 und p,,,—=0, dann wird p,=1 und man
kann 9,_,, P;_g,---,% ausrechnen. Z.B. nimmt man ;=35, dann
hat man
»=-1,92,=-0, 9» =-1,n,=23,n=3, , =12a—9+4=]1,
a=3c—1, b=4c—1, wo c irgend eine positive ganze Zahl ist.
Endlich folgt (&c— 1”? +4c—1}3?+1=(9ce— 1)” Die Auf-
') N. Comm. Petr., Tom. XX, pro anno 1775, Petropoli 1786, p. 24—47;
vgl. S. Günther, op. eit., p. 8—10. ?) Abh. d. Böhmischen Gesellsch. der
Wiss. auf das Jahr 1786, p. 160—171.
190 Abschnitt XX.
fassung des sogenannten Pellschen Problems ist hier der von La-
grange und Euler ganz fremd. Statt d als eine gegebene Kon-
stante zu betrachten und die dazu gehörigen Werte von n und e zu
untersuchen, werden hier verschiedene Formen der Zahl d genommen
und dazu passende Zahlen » gefunden.
Die Zerfällung zusammengesetzter Zahlen wird auch von G@. S.
Klügel zu Helmstädt besprochen. Er nimmt das Produkt
(30r + m) (30r + n)
und untersucht die Werte, die mn annehmen kann!). An gleicher
Stelle erschien über diesen Gegenstand eine Schrift von Johann
Andreas von Segner, die er schon 1777 als eine ‚Briefbeilage an
Hindenburg versandt hatte”). Jede Zahl, die sich nicht durch 2
oder 3 teilen läßt, besitzt die Form 6» — 1 oder 6» +1. Von diesem
Lehrsatze ausgehend, stellt Segner Regeln für die aufzusuchenden
Faktoren der Zahlen. Wie ©. F. Hindenburg in seinen Anmerkungen
über diese Abhandlung?) sagt, werden diese Regeln immer zusammen-
gesetzter, je mehr Teiler man von Anfang an ausschließen will.
Das 18. Jahrhundert brachte drei große Forscher im Gebiete der
Zahlentheorie hervor, nämlich Euler, Lagrange und Legendre.
Die erste Arbeit Legendres ist Recherches d’analyse indeter-
minde*). Diese hervorragende Leistung betrifft vier Probleme zahlen-
theoretischen Inhalts, wovon das erste die ganzzahlige Auflösung der
linearen Gleichung Ay = ax" + ba”=' +.ca”7? +. -- behandelt. Vom
Lagrangeschen Satze?), daß « nicht mehr als n Werte annehmen
kann, und vom Fermatschen Satze ausgehend, zeigt Legendre erst,
wie man Ay= x” — B lösen kann, und wendet dann die so er-
haltenen Resultate auf die allgemeine Gleichung an. Im zweiten
Problem wird die unbestimmte Analysis zur Zerlegung eines Poly-
noms in Faktoren benutzt. Es werden aber keine Kriterien entwickelt,
welche die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Zerlegung dartun.
Der dritte Abschnitt entwickelt den Satz, daß aa? + by? = c2?, wo
a, b, c positiv, teilerfremd und von quadratischen Faktoren frei sind,
lösbar ist, wenn drei ganze Zahlen A, u,v von der Art existieren, daß
ER BR 2 der “ ganze Zahlen sind. Der vierte Abschnitt
behandelt Primzahlen und ist bei weitem der bedeutendste dieser Ab-
handlung. Er enthält nichts weniger als das große Reziprozitäts-
1) Leipziger Magazin d. r. u. a. Mathem., 1. Stück, 1787, 5. 199— 216.
2) Ebenda, S. 217—225. °) Ebenda, 8. 226—244. ° *) Histoire de l’acad. roy.
- des sciences, annde 1785, Paris 1788, p. 465-559. °) Berliner Memorien 1768
und 1775. |
Zahlentheorie, 191
gesetz, welches zwei Jahre früher in Eulers Schriften schon ge-
druckt war. Legendre ist der zweite Entdecker dieses Satzes. Ob-
schon er damals Schriften Eulers über Zahlentheorie durchmustert
und einige Teile von Eulers Opuscula analytica (Bd. I) ge-
lesen hatte, wär ihm die Arbeit des Schweizers über das Reziprozitäts-
gesetz nicht bekannt. Später machte Gauß eine ähnliche Erfahrung.
Von ihm wurde der Satz zum drittenmal entdeckt, bevor er von
Legendres Untersuchungen Kenntnis hatte. Eulers Aufstellung
des Satzes haben Gauß und Legendre nie gekannt. Erst Kronecker
hat die Mathematiker auf diese Leistung aufmerksam gemacht!),
In Legendres Untersuchung ist das Reziprozitätsgesetz auch
bewiesen, aber der Beweis ist unvollständig. In dem Ausdrucke
c—1 r
d? soll nach Legendre angenommen werden, daß alle Vielfachen
c—1
der Primzahl ce verworfen sind; dann hat man entweder d? —1 oder
c—1
d? =—1, wo d irgend eine ganze Zahl, nur kein Vielfaches von c,
sein darf. Nach Legendre seien A, a Primzahlen von der Form
4n-+ 1, und B,b Primzahlen von der Form 4» + 3; dann stellt er?)
acht Theoreme auf, die zusammen das große Gesetz ausmachen. Die
Ausdrucksweise derselben ist aus den zwei ersten ersichtlich, nämlich
—ı b—-1
I. Wenn 52 =1, dann folgt a? =1.
db—1 a—1
Legendre faßt nun alle acht Fälle in folgendem Ausspruch zu-
sammen: „cetd etant deux nombres premiers, les expressions
d-1 c-1
e?2,d: ne seront de differens sıgnes que lorsque c et d
seront tous deux de la forme 4n— 1; dans tous les autres
cas, ces expressions auront toujours le möme signe.“
In seinem sinnreichen Beweise geht Legendre von der Gleichung
Aa” + ay’= bz2? aus. Dieselbe kann nicht durch ganze Zahlen gelöst
werden, da die linke Seite von der Form 4» -+1 oder 4n +2 und
die rechte Seite von der Form 4» oder 4n—1 ist. Nach einer
Methode von Lagrange sollte diese Gleichung aber stets lösbar sein,
6 A ET ober
wenn gleichzeitig die drei Bedingungen a? b?—-1,4°b?=1,
b—1 b—-1 a-ı
A?’ a°®=—1 erfüllt wären. Wenn A =1 ist, so sollte 5b? =1,
“ #”) Monatsb. d. K. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 1875, $. 267—275. 2) Loc.
eit., $. 516, 517.
192 Abschnitt XX.
db—1
a? —-—1 sein. Da dies aber unmöglich ist, zieht Legendre aus
a—1 b—-1
b—-1 a—1
a2 —=—1 die Folgerung b ?=—1. Soweit ist der Beweis voll-
B-i
ständig; auch zieht Legendre den strengen Schluß, dß b? =1,
ade
des Beweises anbelangt, sagt Legendre selbst: „Dans cette demon-
stration, nous avons suppos6 seulement qu’il y avoit un nombre premier
b de la forme 4n — 1, qui pouvoit diviser la formule x? + Ay?“
Gauß hat den Legendreschen Beweis einer eingehenden Kritik unter-
worfen!) und hat hervorgehoben’), daß zur Vervollständigung des-
selben es erwiesen werden sollte, daß zu einer jeden Primzahl von
der Form 4n +1 eine Primzahl von der Form 4» + 3 gefunden
werden kann, in Beziehung auf welche jene quadratischer Nichtrest
ist. Dieses Postulat mag von dem Satze abhängig gemacht werden,
daß jede arithmetische Reihe, in welcher nicht alle Glieder einen ge-
meinschaftlichen Faktor haben, notwendig Primzahlen enthalten muß.
Dirichlet hat später diesen Satz bewiesen?).
Legendre hat die Wichtigkeit des Reziprozitätsgesetzes völlig
erkannt und mehrere Sätze über Primzahlen daraus abgeleitet. Mit
demselben könne man alle Sätze, die Euler durch Induktion auf
S. 176, 281, 295 usw. des ersten Bandes der Opuscula analytica
aufgestellt habe, beweisen; man könne zeigen, daß, wenn fx?’ +gy?
— he? lösbar ist, fa tgyP = (h+fgn)e® es auch ist, solange
(h + fgn) prim bleibt. Letzterer Satz enthält als Spezialsatz einen
ähnlichen, von Euler durch Induktion entdeckten Satz. Legendre
berechnet vier Tafeln, welche die verschiedenen Formen, die Teiler
von #?-+ au? annehmen können, enthalten, worin die Primzahl a, be-
ziehungsweise die Form 8n — 3, 8n +1, 8n +3, 3» — 1 hat. Diese
Tafeln dienten nicht nur um viele schon bewiesene Sätze deutlicher
hervortreten zu lassen, sondern auch um neue Sätze zu enthüllen.
Legendre nennt z. B. den von ihm durch Induktion erhaltenen Satz,
daß, wenn a—=8n— 3, es ebenso viele Teiler von der Form 4n— 1
als von der 4n +1 gibt, und daß diese Anzahl der Anzahl verschie-
dener Zerlegungen von a in die Summe dreier Quadrate gleich ist.
Z.B, wenn a=109, so hat ?+au? zwei Teiler von der Form
4n +1, nämlich 4? + 1092, 5y? + 2yz2 + 2222, und zwei ähnliche
1) Disq. Arith., Artikel 151, 296, 297 und Additamenta. ?) Additamenta.
>) Kummer in Math. Abh. d. K. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 1859, 8. 19, 20.
Zahlentheorie. 193
von der Form 4n— 1; es kann nun 109 genau auf zwei Arten,
10° +3? +0%, 8°+6°+3°, in die Summe dreier Quadrate zerlegt
werden. Einige Sätze über Primzahlen, welche Lagrange in den
Berliner Memorien der Jahre 1773 und 1775 bewiesen hatte, werden
von Legendre auf neue Art abgeleitet.
L. Euler behandelt in einem Memoir') den früher von ihm und
Lagrange untersuchten Gegenstand über ähnliche Funktionen und
Minimalwerte.e Wenn N=a?+nb?, soll erstens N? N®,... durch
die gleiche Form «?-+ny? dargestellt werden, und zweitens sollen
die Minimalwerte von & oder von y gefunden werden.
Eine andere Abhandlung?) L. Eulers gibt die Fälle an, in
welchen die Formel #*+ka?’y? + y‘ ein Quadrat ist, und tabuliert
die ganzzahligen Werte von k zwischen — 100 und + 100, und die
dazu gehörigen Verhältniswerte von a welche Quadrate liefern.
2 5
i BER 1 EM u
Man hat z.B. k= 16, a und rc
1,3, 4,5, 6, 9,... sein kann.
Die Zahl 1000009, welche L. Euler in seiner De tabula
numerorum primorum des Jahres 1774 unter die Primzahlen setzte,
wird von ihm 1778 in einem separaten Aufsatz?) untersucht und als
eine zusammengesetzte Zahl mit dem kleinsten Divisor 293 erkannt.
Euler findet 1000009 — ©? — 2352 wo x = — 972 ist, sowie
1000009 = 1000? + 3? = 972? + 235°. Daraus wird 1000? — 235?
2 R 1235 969 19
— 972° — 3°, 1235 . 765 = 969.975 und „, = 5” ab
also 19? + 15°? — 293 ein Divisor von 1000009.
In der 1777 verfaßten Schrift De novo genere quaestionum
arıthmeticarum, pro quibus solvendis certa methodus ad-
huc desideratur‘) untersucht L. Euler das Problem, alle ganzen
Zahlen N zu finden, so daß A?-+ BD? und 4?-+ N B? zu gleicher Zeit
Quadratzahlen vorstellen. Er setzt
A="—y, B=2ıy 2+ND= 2?
Es ergibt sich, daß %k nicht
ist
und erhält N = [2? — (2? — y?)?) :4a°y?, wo also z so zu wählen ist,
daß N ganzzahlig wir. Man nehme z=a?+2axy? +y? oder
z= 0 + 2ary? — y?, woraus
N=(u®+1l)(ey +1) odr = (aa? —1)(ey +1)+1
1) N. Acta Petr. IX, 1791, p. 3—18 = Comm. Arith. II, p. 174—182.
2) Ebenda, X, 1792, p. 27—40 = Comm. Arith. II, p. 183—189. $) Ebenda,
p. 683—73 = Comm. Arith. II, p. 243— 248. *) Ebenda, XI, ad annum 1793,
p. 78—93 = Comm. Arith. U, p. 190—197, |
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 13
194 ‚Abschnitt XX,
wird. Erhält hier & verschiedene ganzzahlige und Bruchwerte, so er-
geben sich 41 ganze Zahlen N, die kleiner als 100 sind. Euler gibt
nun‘ an, daß es ihm nicht gelungen sei, das Gesetz zu entdecken,
welches die Zahlen N von anderen ganzen Zahlen unterscheidet, auch
sei das Problem noch nicht allgemein gelöst, alle Zahlen N zu finden,
welche in den Formen N = (+ 1)(y? +1) und N= (2 —- 1)? — 1),
wo x und % Integral- oder Bruchzahlen sein mögen, enthalten sind.
Dies ist die letzte Abhandlung von L. Euler über Zahlentheorie,
welehe vor 1800 gedruckt wurde. In den von uns öfters zitierten
Leonhardi Euleri commentationes arithmeticae collectae
(P.H. Fuß et Nicolaus Fuß, 1849) werden im ganzen 96 Ab-
handlungen angegeben, von denen 33 nach 1799 erschienen und des-
halb hier nicht besprochen werden können. Weder der Verlust
seines Gesichts noch sein hohes Alter vermochten Eulers Arbeits-
liebe zu erschöpfen. Sein Versprechen, der Petersburger Akademie
sö viele Abhandlungen zu liefern, daß sie auf zwanzig Jahre nach
seinem Tode hinreichen sollten, hat er gehalten. Er starb 1783 und
1830 erschien ın den Petersburger Memorien ein Aufsatz von ihm
über die unbestimmte Analysis.
In einem Aufsatze De decomposer: les nombres entiers
non-carres en: deux, trois ou quatre carres!) werden von
Christian Friedrich Kausler (1760—1825) aus Tübingen Rech-
nungsregeln abgeleitet, um eine ganze Zahl, die keine Quadratzahl
ist, in die Summe von zwei, drei oder vier ganzen Quadratzahlen zu
zerlegen. Dabei spielen die pronischen Zahlen, d. h. Zahlen von der
Form m(m + 1), eine hervorragende Rolle. In einer Tabelle werden
alle pronischen Zahlen bis 50850 aufgezählt.
Im Jahre 17983 (an VI) veröffentlichte Legendre in Paris sein
berühmtes Werk Essai sur la theorie des nombres. Eine zweite
Auflage erschien 1808, eine dritte, mit dem Titel Theorie des
nombres, 1330. Während der zweite Teil von Eulers Algebra,
mit den Lagrangeschen Zusätzen, viele der höheren Resultate der
‘ Jahlentheorie unberührt läßt, bringt Legendre alles, was er finden
konnte, in seinem: Werke zusammen. Seine eigenen Untersuchungen
von 1785 sind hier in vollendeter Form wiedergegeben. Ein 'ge-
regeltes Werk darf man es aber nicht nennen. Es fehlt der leitende
Faden allgemeiner Methoden. Dessenungeachtet war es hoch ge-
schätzt und während mehrerer Dezennien waren dieses und Gauß’
Disquisitiones arithmeticae die einzigen Bücher über die höheren
Teile der Zahlentheorie. Auf S. 186 führt er die jetzt als das
') N. Acta Petr., ad annum 1793, Petropoli 1798, hist. p. 125—156.
Zahlentheorie. 195
„Legendresche Symbol“ bekannte Bezeichnung () ein, die den Rest
c—-1
+1 oder — 1 ausdrückt, den man bei der Division von N ® durch
die Primzahl ce erhält. In diesem Werke wird zum erstenmal der
Name „Reziprozitätsgesetz“ gebraucht. Er drückt nun „la loi de r£-
eiproeite“ in eleganter Form so aus (8. 214): „Quels que soient les
nombres premiers m et n, sils ne sont pas tous deux de la forme
m
4x — 1, on aura toujours (4) u (=), et s’ils sont tous deux de. la
forzme 4r — 1, on aura (7) = — (=). Ces deux cas generaux sont
m=ilsna-l
”)- Es ist Le-
gendre hier nicht gelungen, die Mängel im Beweise dieses Satzes,
den er 1785 gab, zu heben, obwohl er es möglich fand, die früheren
unbewiesenen Voraussetzungen über die Existenz gewisser Primzahlen
einigermaßen einzuschränken.
Im Rückblick sieht man, daß durch die Untersuchungen von
Euler, Lagrange und Legendre die Zahlentheorie energisch ge-
fördert wurde. Diese Forscher richteten ihre Kräfte auf folgende
Themata: Die Teilbarkeit der Zahlen, die Sonderung der Primzahlen,
das Studium der quadratischen Reste (welches in der Entdeckung des
Reziprozitätsgesetzes gipfelte), die Betrachtung der höheren Potenz-
reste, die öfters auf Grund von Identitäten erlangte Lösung oder Auf-
lösbarkeit verschiedener unbestimmter Gleichungen oder Gleichungs-
systeme, die Zerfällung von Zahlen in ihre Summanden, die Betrachtung
von binären, ternären und anderen quadratischen, kubischen oder
quartischen Formen, die Darstellbarkeit bestimmter Zahlen in Formen
dieser Art und die Auffindung der möglichen Teiler derselben.
Unter den Einzeluntersuchungen über Zahlentheorie während des
Zeitraumes 1759—1799 ist erstlich eine interessante Schrift von
Elie de Joncourt, betitelt De la nature et des principaux
usages de la plus simple espece de nombres trigonaux, ä la
Haye, 1762, zu nennen. Er war Professor der Philosophie und
Prediger zu Bois-le-Due. Er gibt eine Tafel der Trigonal- und der
entsprechenden natürlichen Zahlen, zeigt wie diese zur Auffindung
des Produktes zweier Zahlen der Quadrat- und‘ Kubikwurzel einer
Zahl verwendet werden kann, und bemerkt an einer Stelle, daß Log-
arithmen keine einfachere Rechnungsmethode liefern.
Albrecht Euler, der älteste Sohn Leonhard Eulers, ver-
öffentlichte eine Schrift, Beantwortung einiger arithmetischen
Fragen!), worin das Problem gelöst wird, durch eine Formel die
) Abhandl. d. Churbayerisch. Akad., Bd. II, 2. Teil, 3. 5—36, 1764.
13*
compris dans la formule (4) — (— 1) 2 a (
196 Abschnitt XX.
Anzahl Ziffern auszudrücken, welche erforderlich sind, eine Zahl 5b
von einer größeren Zahl a nach der gewöhnlichen Art so oft abzu-
ziehen, bis ein Rest übrig bleibt, welcher kleiner als b ist. Dann
werden Modifikationen dieses Problems betrachtet, wie z. B, « und b
so zu bestimmen, daß die Anzahl der erforderlichen Ziffern gleich «a ist.
In einem Aufsatze, De proprietate numerorum divisibilium
per 11, 111, 1111 ete.!) setzt Giannantonio Andrea ÜÖastelvetri
(? —1766) von Bologna frühere Untersuchungen fort?) und findet für
11, 111, 1111,... Eigenschaften. welche denen von 9 und 3 analog
sind. Um zu sehen, ob 83976426643 durch 111 teilbar sei, nehme
man die Summe der dreizifferigen Perioden, so 643 + 426 + 976
+ 83 = 2128, dann die Summe 128+2=130. Da nun 130:111
den Rest 19 gibt, ist die vorgelegte Zahl durch 111 nicht teilbar
und 19 bleibt bei der Division übrig, Die Zahl 93297809286 ist
durch 1111 teilbar, denn 9286 + 9780 + 952 = 19998, 9998 +1
— 9999, und letztere Summe ist durch 1111 teilbar. Eine zweite
Eigenschaft erklärt sich durch zwei Beispiele. Ob die Zahl
73486529466 durch 111 teilbar sei, kann man so ausfinden:
66 +29 +86 + 73 = 254, (4A+5+4)11= 143, 254 — 143 = 111,
deshalb ist die gegebene Zahl durch 111 teilbar. Die Zahl
321490128211 ist durch 1111 nicht teilbar, denn 211 + 012 + 214
— 457, (3+9+8)111= 2220, 437 — 2220 = — 1783, — 1783 + 1111
x2=439, und 439 ıst der bei der Division erhaltene Rest.
Castelvetri bemerkt, daß für die Zahl 11, der „doctissimus Pater
G. H.“ diese Eigenschaft hergeleitet habe.
In einem Aufsatze Methode pour resoudre plusieurs pro-
blemes indetermines?) löst De la Bottiere vier Aufgaben, deren
?) De Bononiensi Scientiarum et Artium Instituto atque Academia Commentarii,
T. V, Pars altera, Bononiae 1767, p. 108—119. °) In einer vor Anfang unserer
Zeitperiode veröffentlichten Abhandlung De quadam generali numerorum pro-
prietate (De Bononiensi Scientiarum et Artium Inst. atque Acad. Comm., T. IV,
Bononiae, 1757, Opuscula, p. 242—259; Commentarii, p. 113—144) zeigt er, daß
die Eigenschaften der einfachen Zahlen (d. h. der Ziffern), die Fontenelle in der
Histoire de l’Academie Roy. des Sciences, Paris 1728, gefunden, und Frederie
Sanvitali, S. J., in der Storia Letteraria d’Italia, T. VI, p. 761, bewiesen habe,
sich auf alle ganzen Zahlen verallgemeinern lassen. Diese Arbeiten veranlaßten
Francisco Maria Zanotti, die Zahlen 9 und 3 näher zu betrachten (De
Bononiensi Scientiarum etc., T. IV, Commentarii, p. 113—144), den Satz zu er-
weitern: Si numerus quispiam multiplex sit numeri 9, ac figurae ejus omnem
in unam summam conferantur, erit haec quoque summa multiplex numeri 9,
und seine Resultate, in Bezug auf 9, auf die Ziffer 3 anzuwenden. °) Me&moires
de math. et de phys. presentes...par divers savans, Tome IV, Paris 1763, p. 33
bis 65.
Zahlentheorie. 197
drei aus Saundersons Algebra entnommen sind und auf der Auf-
lösung unbestimmter Gleichungen ersten Grades beruhen. In der
ersten sollen Vielfache von zwei ungleichen ganzen Zahlen a, b, deren
Differenz eine Minimalzahl »n sei, gefunden werden. Die Minimalzahl
wird durch den Algorithmus des größten gemeinschaftlichen Divisors
gefunden; dann wird ax —by= + m aufgelöst. Die zweite Aufgabe,
zwei positive ganze Zahlen zu finden, die durch zwei Divisoren d’
und d” dividiert die Reste »’ und r” lassen, wird auf Kalenderfragen,
betreffend Sonnen- und Mondzykeln, angewandt.
Jean Joseph Rallier des Ourmes (1701—1771) von Rennes,
welcher arithmetische Artikel für die große französische Enzyklopädie
schrieb und Regeln zum Aufsuchen von Primzahlen vorschlug'),
‚schrieb auch einen Aufsatz?), worin er eine schnelle Methode, n ganze
Zahlen zu finden, angibt, wenn man das Produkt einer jeden mit der
Summe der übrigen kennt. Hat man z.B.
2y+9)-9, ya+9)—4, sat),
won=3 ist, soll man die »n— 1 kleineren Zahlen in Faktorenpaare
Se BE A a Ma
a ED ie
diejenigen Faktorenpaare aus, deren Faktoren eine gleiche Summe
zerlegen, so: für 24 Nun suche man
i . 3.8 i e en :
haben.. Diese sind 12? 9. Pie kleineren Faktoren 2 und 5 sind zwei
der gesuchten Zahlen, und die dritte ist 14—2—-5-—7. Man hat
also z=T,y=5,:=2.
Der Astronom Joseph Stepling (1716—1778) führt Beweise
einiger Eigenschaften des Neuners?) an. Er zeigt z. B., daß
wenn n irgend eine Ziffer ist, die Ziffern des Produktes 9» die Summe
9 haben.
Im Jahre 1788 veröffentlichte A. G. Kästner die Lösung der
folgenden unbestimmten Aufgabet): Drei Bäuerinnen (A, 5, ©) haben
je eine gegebene, von der andern unterschiedene Anzahl Eier (a, b, e).
Jede verkauft ihre Eier auf zweimal, das erstemal eine so teuer als
die andere (m), und so auch das zweitemal (rn). Am Ende hat eine
soviel gelöst wie die andere. Wieviel von ihren Eiern hat jede das
erstemal verkauft (x y, 2)? Und wie verhalten sich die Preise des
_ ersten und des zweiten Verkaufs ()? Man erhält die Gleichungen
met+nla—a)=my+n(b —y)=mz+n(e— 2) wo a,b,c,2,y, 2,
") M&moires de math. et de phys. ... Tome V, 1768, p. 485—499.
®) Ebenda, Tome V, Paris 1768, p. 479—484. ®) Abh. einer Privatgesellsch.
in Böhmen, 1. Bd., Prag 1775, S. 141—144. *) Leipziger Magazin f. d. r.
a. angew. Mathematik, Leipzig 1788, S. 215—227.
198 Abschnitt XX.
(a— x), (b— y), (ce — z) positiv und ganzzahlig sind. Kästner leitet
‚Gleichungen ab, so daß für irgend eine Voraussetzung für x die zu-
gehörigen Werte von 9,2, m, n durchgezählt werden können. In
einer zweiten Tlössifemethede braucht er die Symbole da und d« für
dx Er
„Änderungen von endlicher Größe“, wo —— positiv oder negativ ist
- da: ug F
je nachdem der Preis wächst oder abnimmt. Diese Rechnungsaufgabe
ist eine Verallgemeinerung einer Aufgabe, die Johann Prätorius
in seinem Abentheuerlichen Glückstopf (1669) löste.
Ein andermal nimmt Kästner ein Exempel aus Lilles Amuse-
mens mathematiques, 1749, wo ein Blinder augenblicklich das
Produkt von 999...(n — 1 Ziffern) mit 666...(n — 1 Ziffern) zu
finden weiß, und leitet die Regel abt), die das Produkt liefert. Von.
der rechten Hand gegen die linke hat man folgende Ziffern: 4,33 ...
(n — 1 Ziffern), 5,66...(n — 1 Ziffern). Dann folgt die Regel für
irgend eine Ziffer statt 6 und die Auflösung eines Problems in der
arıthmetica divinatoria.
In einer Jugendarbeit On the resolution of indeterminate
problems%) sucht John Leslie (1766—1832) größere Uniformität
in die Auflösung unbestimmter Probleme einzuführen. Ist A.B
—(.D, m eine rationale Zahl, und nimmt man in A.mB=(.mD,
A=mD an, dann folgt m B= C. Dieses Prinzip wird auf 14 Probleme
angewandt. Das 13. heißt: Eine Kubikzahl zu finden, die dem Pro-
dukte eines Quadrats und einer gegebenen Zahl gleich sei. Man hat
a°=ay’ oder x.2°—=a.y’. Nun setze man = ma und y? = ma®.
Dann y? = m?a?, und y.y= ma.m®a. Durch eine zweite Annahme
hat man y=pma und m’a=py. Da aber e—ma, so wird y=-px
m2 ;
= = ‚2=ap,y=ap?”. Wenn nun «=3,p=2, dann ist
ı=302)”=-12 und y=3 (2) = 24.
') Archiv d. r. u. angew. Mathematik, 1799, S, 204—208. ”), Trans.
Roy. Soc. of Edinburgh, Vol. II, Pt. II, 1790, p. 193 212.
Verbesserungen.
. 39 2. 6 v. u. statt Lons le Saulnier lies Lons le Saunier.
48 2. 5 statt Ruggero lies Ruggiero.
49 Z. 10 statt D’Abren lies D’Abreu.
53 Z. 14 statt Rekahn lies Reckahn.
57 2. 9 statt Arithmetik lies Arithmetick.
61 Z. 30 statt Chauncy lies Chauncey.
62 Z. 10 statt G. Trenchant lies J. Trenchant.
Bun nmnı
ABSCHNITT XXI
KOMBINATORIK
WAHRSCHEINLICHKEITSRECHNUNG
REIHEN - IMAGINÄRES
VON
E. NETTO
Kombinatorik.
In den früheren Bänden dieser Vorlesungen wurde gezeigt, daß
die Begründung der wissenschaftlichen Kombinatorik sowie die der kom-
binatorischen Analysis für Leibniz in Anspruch genommen werden
muß, der seiner philosophischen Anlage gemäß die hohe Bedeutung
und die vielversprechende Zukunft dieser im Werden begriffenen
mathematischen Disziplinen, wenn auch nicht scharf erkannte, so
doch mit dem sicheren Takte des Genies ahnte.e Es wurden dann
die Fortschritte dargelegt, die dieser neue Zweig der Wissenschaft den
Arbeiten der Bernoullis, eines Moivre, eines Euler verdankt.
Nach diesen Ergebnissen kommen wir zu einer merkwürdigen Epoche,
zu der der sogenannten kombinatorischen Schule Die aus-
gesprochene Absicht der sie begründenden und fördernden Männer
war, neben die gewöhnlichen Operationen der Arithmetik, Algebra
und Analysis die kombinatorischen Operationen als gleichberechtigt
und gleichwertig zu stellen und für sie das Bürgerrecht zu erwerben.
Durch diese Erweiterung der Hilfsmittel sollte sich, wie sie meinten,
die Darstellung vereinfachen und das Forschungsgebiet vergrößern.
Diese Schule faßte trotz ihrer großen Ziele und Absichten nur in
Deutschland Boden und trug auch hier nur bescheidene Früchte; von
großen Forschern im mathematischen Bereiche gehörte ihr keiner an.
Das erklärt sich wohl daraus, daß sie ganz in Formeln und in For-
malismus aufging. Zwar beherrschte sie eine Zeitlang den deutschen
Markt; aber das meiste von dem, was sie brachte, sank bald in eine, nicht
immer ganz gerechte Vergessenheit!).
Der Begründer der kombinatorischen Schule war Karl Fried-
a ————
') In seinem, von Napoleon I. veranlaßten „Rapport historique sur les
progrös des sciences mathematiques depuis 1789“ (Paris 1810) sagt J. B. Joseph
Delambre: Die kombinatorische Analysis beschäftigt noch immer die deutschen
Mathematiker; aber in Frankreich hat sie keine Gunst erringen können, weil ihr
Gebrauch zu beschränkt ist, und besonders weil sie auf die Zweige der Wissen-
schaft nicht anwendbar erscheint, deren Förderung uns vorzüglich am
Herzen liegt.
CAntor, Geschichte der Mathematik IV. 14
202 Abschnitt XXI.
rich Hindenburg, Sohn eines Kaufmanns in Dresden, am 13. Juli
1739 daselbst geboren. Nachdem er das Gymnasium zu Freiberg
in Sachsen absolviert hatte, studierte er in Leipzig Medizin, Physik
und Mathematik und kam dann durch Gellerts Vermittlung als Er-
zieher in das Haus eines Herrn von Schönberg, in dessen Sohne
sich schon früh ausgesprochene mathematische Talente zeigten.
Ihn begleitete Hindenburg auf die Universität Leipzig, wo er sich
von da ab, ebenso wie später in Göttingen, mehr und mehr mit
mathematischen Studien beschäftigte. Dort, in Göttingen schloß sich
Hindenburg hauptsächlich an Abraham Gotthelf Kästner an.
Im Jahre 1771 habilitierte er sich in Leipzig, ward dort 1781 außer-
ordentlicher Professor der Philosophie, 1786 ordentlicher Professor
der Physik und starb am Orte seiner Wirksamkeit am 17. März 1808.
In der ersten Zeit nach seiner Ernennung zum Professor der Physik
widmete er sich eingehend dieser Wissenschaft. Eine Arbeit über
Wasserpumpen stammt aus dieser Periode. Seinen ersten mathematischen
Untersuchungen entstammt ein im Jahre 1776 verfaßtes Büchlein:
„Beschreibung einer ganz neuen Art, nach einem bekannten Gesetze
fortgehende Zahlen durch Abzählen oder Abmessen bequem und sicher
zu finden“. Sie kommt im wesentlichen auf die Darlegung der Idee
hinaus, durch mechanische Mittel (Abzählen oder Anlegen eines
Winkelmaßes) das bekannte Schema des „Siebes des Eratosthenes“,
mittels dessen die Folge der Primzahlen hergestellt wird, zur Ab-
lesung der Glieder arithmetischer Reihen zu benutzen. Hinden-
burgs Vorliebe für Superlative in der Abschätzung der eigenen Ver-
dienste kommt schon hier unverhüllt zum Ausdruck. Von diesen
„Hindenburgschen Zahlenbogen“ ist mehrfach in Lamberts deut-
schem gelehrten Briefwechsel (herausgeg. von Joh. Bernoulli, Berlin
1785) die Rede, da ein österreichischer Mathematiker, Anton Felkel,
der eine ähnliche Erfindung gemacht und bei der Berechnung von
Faktorentafeln benutzt hatte, sie Lambert vorlegte. Zu seinen ersten
kombinatorischen Arbeiten kam Hindenburg 1778; sie beziehen sich
auf den polynomischen Satz, oder wie die damalige Ausdrucksweise
lautete, auf die Potenzierung des Infinitinoms.
Wir müssen hier eine kleine Einschiebung machen.
Die Potenzierung des Binoms und die Beweise der binomischen
Formel wurden früher bereits eingehend besprochen. Aber für
unsere Zeitperiode kommen auch noch Beweise in Betracht; von ihnen
seien diejenigen kombinatorischer Natur hier erwähnt.
Fr. Ulr. Theod. Aepinus, 1724 zu Rostock geboren, zuerst
Privatdozent zu Rostock, dann 1755—1757 Professor der Astronomie
in Berlin und später in Petersburg, zuletzt in Dorpat privatisierend,
Kombinatorik. 203
wo er 1802 starb, beweist den binomischen Satz auf Grund folgender
Beziehungen?): Ist
+" -a,+be+c®+da0+e0t+:::,
so hat man, wie gezeigt wird, für die Koeffizienten die Relationen
“ RE RAR d db _ 1 Ön_ 5 ne 6u.b,_1-d,_9-du [3 BR
ne Mer ran u 1.2.3.4 A.
und daraus folgen die Werte der Binomialkoeffizienten nach Bestim-
mung von b,, wo fürb,,,=b,+b,=(r+s)b,=(r-+) gilt. |
Jan Hendrik van Swinden, 1746 im Haag geboren, zuerst Pro-
fessor der Physik, dann zu Amsterdam auch Professor der Mathe-
matik, nahm 1798 an der Beratung über die Einführung des metrischen
Maß- und Gewichtssystems teil; starb 1823 zu Amsterdam. Er benutzt
zum Beweise der binomischen Formel die Relationen?)
„en baue, =, —b, ta,
Bi ww n
d,_ =, —c,+b,—4,::.:.
Auch Euler beschäftigte sich mehrfach mit der Frage nach dem
Gültigkeitsbereiche der Newtonschen Binomialformel. Zunächst im
Jahre 1774°).
Hier geht er von der interessanten Bemerkung aus, daß eine
Gleichung, in der ein Parameter » vorkommt, wohl für alle positiven
Werte von » richtig, für die übrigen aber falsch sein könne, so daß
also die Richtigkeit der binomischen Formel für ganzzahlige positive
Exponenten noch keine weiteren Schlüsse auf ausgedehntere Gültigkeit
erlaubt. Als Beispiel gibt er die Gleichung
"1-08 W(isar) (1 —a"-}) B (1—a”)(1 aD) —ar-2)
er Pa FAR 1—.a? 1— a?
+»,
die er für ganzzahlige positive n beweist, aber für andere Werte von
n als unrichtig erkennt“). Aus diesem Beispiele erhellt, daß die für
') Nov. Comment. Petxop. 1760, 1761, VIIL, p. 169-180. ?2) Verhandl. Maatsch.
Haarlem 1770, XII, p.334—358, °) Nov. Comment. Petrop. 1774, XIX, p. 1083—111.
‘) Hiermit im Zusammenhange steht folgende Stelle eines Briefes von Euler an
Daniel Bernoulli vom 16. Februar 1734 aus Petersburg datiert (Bibliotheca
mathematica, dritte Folge, VII, p. 136; 1906): „Ich vermeinte neulich, daß nach-
folgende Series
m—1 (m—i1)m—10) (m— 1)(m — 10)(m — 100)
gar? 990 + 999 000
(m — 1)(m — 10) (m — 100) (m — 1000)
B 9.999 000.000 Eu
(alwo (!) die Anzahl der Nullen im Numeratore und Denominatore einander
3 14*
204 Abschnitt XXI.
ganze positive Exponenten n kombinatorisch sofort beweisbare Glei-
chung
A+aP-1+7 tx ns ai
aa + ee
noch nicht die Gültigkeit für we Exponenten n verbürgt. Nun
setzt Euler
| 1+76+
nn —1) , n(n — 1) (n — 2) >: $
Br N er ee.
dann gilt also für positive ganze »n die Gleichung [»] = (1 + x)”.
Kombinatorisch wird nun gezeigt, daß [»]: [m] = [» + m] sei, und
daraus ergibt sich [an] = [n]* für alle beliebigen Werte von n und
alle ganzen positiven Werte a. Ist nun [*| vorgelegt, wo p und gq ganz
und positiv sind, so findet man F i m zn —=|[p]=(1+ x) und also
Ed .
er —(1+%)?. Ahnlich wird der Beweis für negative Exponenten
geliefert.
In der zweiten, auf den binomischen Satz kerniiden Arbeit, die
‚ dreizehn Jahre später erschienen ist!), setzt Euler voraus, daß bei
beliebigem Exponenten » Entwicklungen der Form
(l1+2”"=1+Ar+B®?+02°+--.,
(1+z2t!=-1+Ax+B?+(0a°+---
möglich seien, und daß für n—= 0 alle Koeffizienten A, B, C,... ver-
schwinden. Dann leitet er die Rekursionsformeln
4-4=-1 B-BeA:. 0-0 Bil EN Mi
ab. Setzt man N=a«n, also N=«(n+1), so wird M=«. Um-
gekehrt folgt aus M = « durch Integration der Funktionalgleichung
N=.an+ c, woceine Konstante ist; da fir»a=0, N=0 sein muß,
so ist N=an die für diesen Fall allgemeine Lösung. Ebenso: ist
N=an(n—1) also N=an(n+1)n, so ist M=2an, und um-
gekehrt folgt aus M=«n allgemein N = —an(n — 1) usf. ° Auf
diese Weise wird das Gesetz der Koeffizienten festgelegt; da der An-
fangskoeffizient = 1 ist, so folgt die Newtonsche Form. /
Auch einer hierher gehörigen Arbeit von Joh. Andr. v. Segner
gleich sind, im Übrigen ist die Lex klar) den Logarithmum communem ipsius m
exprimere, dann ist m =1, so ist die gantze Series = 0, ist m—=10, so kommt 1,
ist m = 100, kommt 2, und so fortan. Als ich nun daraus den Log. 9 finden
wollte, bekam ich eine Zahl, welche weit zu klein war, ohngeacht diese Series
sehr stark convergirte.“
ı) Nov. Act. Petrop. V, 1887, p. 52.
Kombinatorik. 205
sei gedacht), in der die Binomialform ohne Berücksichtigung der
Konvergenzfrage allgemein bewiesen werden soll. Segner setzt
1er derer -s
wo n eine ganz beliebige Größe bedeutet, beweist kombinatorisch die
Gleichung 8,-8,—= S8,„,,, darauf direkt $ —=1-+e und dann der
Reihe nach 8, = (1 + e)” für ganze positive, für gebrochene positive,
für negative und endlich als Grenzfall für irrationale Zahlen. Von
e sagt Segner, er werde „im allgemeinen“ kleiner als 1 angenommen.
Man erkennt leicht die Ähnlichkeit seiner Schlüsse mit denen des
ersten Eulerschen Beweises.
Wir kehren von dieser Einschaltung zu unserem eigentlichen
Thema zurück.
Die Aufgabe der Potenzierung des Infinitinoms?) fordert die Be-
stimmung des allgemeinen Gliedes in der Entwicklung einer der
Formen
(a+b+c+d+--)”" und l+o2+Pß2+yz? +: - +)”,
deren zweite nach Potenzen von z geordnet zu denken ist. Über
die Behandlung dieser Probleme durch A. de Moivre, Leibniz,
Jak. Bernoulli wurde früher bereits berichtet. Die erste darauf
bezügliche Untersuchung Hindenburgs bezieht sich auf die erste
dieser Formen, die zweite Untersuchung auf die letzte, und die dritte
Veröffentlichung ist im wesentlichen nur ein Abdruck der beiden
ersten nebst einigen Erweiterungen und einer voraufgeschickten, sehr
ausführlichen Geschichte des Problems®). Wir gehen etwas näher auf
die Besprechung dieser drei Arbeiten ein.
Durch die Benutzung der Permutationen oder der Kombinationen
hatte man den Ausdruck für die Polynomialkoeffizienten in
(a+b+c+:-..)”
für jedes Aggregat a“bPer... ohne weiteres aufschreiben können.
Aber diese Methode hatte den nicht zu unterschätzenden Nachteil im
Gefolge, daß die Gültigkeit der Formel sich auf ganze positive Ex-
ponenten beschränkte. Um diesem Mangel abzuhelfen, hatte eben
. ') Nouy. M&m. de Berlin 1777, p. 37. ?) Dieser Ausdruck stammt nach
Pfaff, „Bemerkungen über eine besondere Art von Gleichungen‘ (Der polynomische
Lehrsatz, p. 150 Anm.) von Ernst Gottfried Fischer. °) I. Infinitinomii
dignitatum indeterminarum leges ac formulae. Gotting. 1778. II. Methodus
nova et facilis serierum infinitarum exhibendi dignitates exponentis indeterminati.
Gotting. 1778. II. Infinitinomii dignitatum exponentis indeterminati historia,
leges ac formulae, editio pluribus locis aucta et passim emendata. Gotting. 1779.
206 Abschnitt XXI.
jener junge Mann, dessen wissenschaftliche Ausbildung Hindenburg
leitete, Karl Friedrich von Schönberg, den Versuch gemacht,
das Polynomialtheorem aus dem Binomialtheorem herzuleiten, um
jenem den gleichen Gültigkeitsbereich zu geben, wie diesem, nämlich
den für gebrochene und für negative Exponenten; weiter gingen kaum
weder für das eine noch für das andere Problem die Bestrebungen
jener Zeit. Hindenburg folgte seinem Schüler in seiner ersten
Arbeit auf diesem Wege, aber ohne Neues oder Besseres zu bieten.
Die zweite Abhandlung beschäftigt sich mit der Form
(1 rTesrPper is
In ihr bringt Hindenburg die Anfänge seiner komplizierten Be-
zeichnungsweise, die er von nun an weiter entwickelt und im Jahre
1796 abschließend einheitlich vorträgt!). Wir wollen zunächst auf
diese Bezeichnungsart näher eingehen.
Bei Hindenburg bedeuten die Symbole
m, "2y, u ,
oder in der ersten Zeit auch nur
4288,
die einzelnen Binomialkoeffizienten erster, zweiter, dritter, vierter, ....
Ordnung von m Elementen, nämlich |
my — m my — m(m — 23 7 mis — m(m — 1)(m — 2)
1 ?
WIrg 1,88 fa
Hindenburg behält also, wie auch noch viel später L. Euler?), die von
Leibniz aus guten Gründen wenigstens zum Teil verlassene Methode,
die alphabetische Reihenfolge der Buchstaben als Anordnungs- und
ı) „Höchst wichtiger Einfluß der Combinationslehre auf die Analysis.“
VI. Abhandlung mit dem vollständigen 12 Zeilen langen Titel in dem Sammel-
werke: „Der polynomische Lehrsatz, das wichtigste Theorem der ganzen Ana-
lysis“. Herausgegeben von C. F. Hindenburg, Leipzig 1796.
— 2) Euler benutzt zur Bezeichnung der Binomialkoeffizienten (>) und
[= Das erste im Jahre 1778; die Abhandlung erschien erst 1806 in den Nov.
Act. Acad. Petrop. XV, 1806, p. 33; das zweite im Jahre 1781, Act. Acad. Petrop.
V (1784), pars prior, p. 84. Die jetzt gebräuchliche Bezeichnung ( stammt von
Andreas von Ettingshausen (1796— 1878), ee über höhere Mathe:
matik, Bd. I, S. 38 (Wien 1827). | 3
Kombinatorik. 207
Abzählungsprinzip zu verwenden, hier und später, trotz ihrer Unüber-
sichtlichkeit und Unbequemlichkeit noch bei. Ähnlich bezeichnet
er generell die Polynomialkoeffizienten durch
wi en. .;
die Buchstaben haben hier, je nach den Potenzprodukten, mit denen
sie verbunden sind, verschiedene zahlenmäßige bei gleicher begriff-
licher Bedeutung. So ist z. B.
4! 4!
dat +ay+tayz tayzut )=egttgn®Y
4! 4!
ni 2 = Kg
+ nan?V? + ppm ry2u tr
7 5! 5!
e(a? — ey + a’y® — z?y2 + ay?2 +... -) EM a + ey
Une ,, ee
try tz? 92 tr gan year
Man sieht, daß ein Symbol wie h allerlei bedeuten kann, indem z. B.
haryb — Barys, Hay = Cody, hatt = Dat, ...
wird, so daß also eine deutliche Inkongruenz zwischen der Bezeichnung
bei den Binomial- und der bei den Polynomialkoeffizienten zutage tritt.
Die Bezeichnung der verschiedenen Klassen bei Kombinationen
und Variationen geschieht in ähnlicher Weise. Dabei unterscheidet
Hindenburg die Kombinationen und Variationen „an sich“, d.h.
ihre Gesamtheit, und die „zu bestimmter Summe“ der als Zahlen
genommenen Elemente. Zugleich ist zu bemerken, daß es sich dabei
nicht um bloße Anzahlbestimmungen handelt, sondern daß die be-
zeichnenden Symbole die Aufstellung aller geforderten Komplexionen
selbst andeuten sollen. Darin beruht eine Ergänzung früherer Unter-
suchungen der Bernoullis und Eulers, die den Kombinatorikern
besonders wichtig erschien.
-. Bei Hindenburg bedeuten
"A, 'B, 'C, D,... Kombinationen erster, zweiter, dritter, ... Klasse
ohne Wiederholungen,
A’, B, C/, D’,... Kombinationen erster, zweiter, dritter, ... Klasse
mit Wiederholungen,
A, ’B,’C, ’D,... Variationen erster, zweiter, dritter, ... Klasse
ohne Wiederholungen,
4A/, B,0,D,... Variationen erster, zweiter, dritter, ... Klasse
mit Wiederholungen.
Es ist also zu setzen
208 Abschnitt XXI.
B=ab, ac, ad, be, bd, cd,...
B=aa, ab, ac, ad, bb, be,...
B=ab, ba, ac, ca, ad, da, ...
B = aa, ab,'ba, ac, ca, bb,....
Die zugehörigen Anzahlen der Komplexionen werden durch ein vor-
gesetztes N PR = numerus specierum = Anzahl der Komplexionen
bezeichnet; das A Glied der gut geordneten Komplexionen durch
nachgesetztes k. So ist bei vier Elementen a, b, c, d
B4=be, B4=ad, 'B5=ad, 'Bl=aa.
Handelt es sich um Kombinationen oder Variationen zu bestimmter-
Summe m, so wird "A, ”B,..., "A, "B,... geschrieben. Die Ele-
mente sind dabei als Zahlen gedacht, etwa als die natürlichen Zahlen.
1,2,3,4,... Dabei wird z.B.
C= 115, 124, 133, 223;
"C= 115, 124, 133, 142, 151, 214, 223, 232,
241, 313, 322, 331, 412, 421, 511.
Wenn es notwendig wird, die Zahlen durch Buchstaben zu ersetzen,
dann wird diese Art der Substitution durch einen Zeiger oder einem:
Index angegeben. Also bedeutet ”C unter Verwendung des Index
a)
abcde
aae, abd, acc, bbe;
und i75) bedeutet bei den drei Indizes
(12345 Ber 9 | ee
Bl) = (apy8. BE HOERR abcde
den Komplex der Kombinationen
die Kombinationen
ae, aßd, ayc, bpe.
Hindenburg bezeichnet ferner gegebene Glieder und Koef-
fizienten (dati) durch gewöhnliche Buchstaben,
ABC U TUT RR. ,
e+ße+y®+-.- =r,
und angenommene, als unbekannt angesehene (fieti) durch Buch-
staben mit darüber gesetzten Punkten‘). Endlich werden noch
ı) Nach Leibniz: „coefficientes ficti, qui assumuntur tamquam dati“*.
Gegen diese Bezeichnung wendet sich Klügel (Der polynomische Lehrsatz usw.
herausg. von Hindenburg; Leipzig 1796, p. 61): „nicht coefficientes ficti,
Kombinatorik. 209
Lokalausdrücke oder Lokalzeichen eingeführt; sie werden als Ab-
kürzung des Anfangsbuchstabens von „terminus“ mit # oder 1 be-”
zeichnet, in der Weise, daß
pAn = ptn, pqAn, An |
bzw. den n‘® Term der Reihe p, des Produktes pg, der dritten Potenz \
von g bedeutet. — Ferner bedeutet x den Koeffizienten, also pxn —
den nt” Koeffizienten der Reihe p; so für p=a«+Pßxr+ya?+da?---
| »x2=ß pıl=y, Pal=o,...
Hindenburgs wissenschaftliche Bestrebungen gingen vor allem
auf die Benutzung der kombinatorischen Komplexe aus, und deshalb
stellte er auch, als Erster, einfache Regeln für die Bildung von Per-
mutationen, von Kombinations-')- und von Variationsklassen auf, um
bei der Herstellung von Tafeln die Möglichkeit von Auslassungen
oder von Wiederholungen auszuschließen. Weitere Beschäftigung mit
diesem für ihn grundlegenden Problem führte ihn 1794 zu seinen
kombinatorischen Involutionen und Evolutionen?), d. h. zu
demjenigen Verfahren bei der Herstellung von Tabellen, nach dem
aus den niedergeschriebenen kombinatorischen Komplexionen für n
Elemente durch Hinzufügung nach einfachen Regeln die Komplexionen
PS 3 ale
4#33:211
a
BE 2)
re
" 7, Er
5 Be Gr
u Er
€
Be en ZU |
u 2: 7:3
u Gr
a ee’
u er
>. 1: 234
für (a + 1) Elemente gefunden werden können, und umgekehrt durch
einfaches Abstreichen jene aus diesen.
sondern incogniti oder assunti. Die unbekannte Größe in einer Gleichung
ist keine erdichtete Größe‘. |
1) Während man früher Kombinationen, Konternationen,... (Con 2 ationen,
Con 3 nationen,....) unterschied, nimmt durch Hindenburg der Ausdruck „Kom-
bination‘‘ die umfassende, jetzt übliche Bedeutung an und verdrängt das bis
dahin gebräuchliche „Complexion“. ®) „Über eombinatorische Involutionen und
Evolutionen“, Archiv f. reine u. angew. Math., herausgeg. von Hindenburg
(1794), Bd. I, p. 13—46.
210 Abschnitt XXI.
Bei den Permutationen stellt sich der involutorische Aufbau so
dar, wie die vorstehende Probe zeigt. Im kleinsten Winkelhaken,
rechts oben, steht 1. Davor wird dann 2 geschrieben und darunter
die Vertauschung 2, 1. Die erlangten beiden Permutationen der Ele-
mente 1, 2 werden in den Winkelhaken bb eingeschlossen. Vor jede
Permutation innerhalb bb wird das neue Element 3 geschrieben,
darunter ein zweiter Komplex von ebensovielen Zeilen, die aus dem
ersten Komplexe durch Vertauschung von 2 und 3 entstehen; darunter
ein dritter Komplex, der aus dem zweiten durch Vertauschung von
l und 2 entsteht. So hat man alle Permutationen von 1, 2,3 erlangt;
sie werden in den Winkelhaken ce eingeschlossen. Weiter wird allen
Permutationen aus ce das neue Element 4 vorgesetzt. Darunter schreibt
man einen zweiten Komplex, der aus dem ersten durch Vertauschung
von 3, 4 entsteht; darunter einen dritten, der aus dem zweiten durch
Vertauschung von 2, 3 entsteht, und darunter endlich einen letzten
vierten, der aus dem dritten durch Vertauschung von 1, 2 entsteht.
So hat man die Gesamtheit der Permutationen aus den vier Elementen
1, 2,3, 4 usf.
Als zweites Beispiel geben wir die Herstellung der Tabelle der
Kombinationen (nicht „an sich“, sondern) mit den „Lokalsummen“
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, gebildet aus den natürlichen Zahlen. In dem
innersten Winkelhaken, oben rechts, steht die 1, als einzig mögliche
Zerlegung der Summe 1. In die Spalte vorher, links, wird 1, 2 unter-
einander gesetzt; diese beiden Zerleguugen der 2 werden in den Winkel-
haken bb eingeschlossen. Um das allgemeine Fortschrittsgesetz der
involutorischen Bildung zu zeigen, denken wir uns den Winkel-
ee ee A x a
111[|1[J1 144
li lı ll»
ılılılrla b
ılıltız 2
111 731%
ı1lıle 3: e
11115 :
1132.98 N
ıl2 4
1488
1l6 3
2. :
25
3 4
7 A
haken ee bereits ausgefüllt und zeigen nun die Herstellung von ff.
Dabei enthält ee alle Zerlegungen von 5. Vor jede dieser Zerlegungen
Kombinatorik. 211
in ee schreiben wir 1; darunter sovielmal 2, als Zerlegungen in d
(von 4) mit 2 oder einem höheren Elemente beginnen und hinter
die Zweien die erwähnten Zerlegungen der 4 selbst. In die neue Spalte
schreiben wir unter die Zweien die 3 so oft, als Zerlegungen in c (von 3)
mit 3 oder einer höheren Zahl vorkommen und hinter die Dreien diese
Zerlegungen selbst usf. Das Gesetz ist leicht kenntlich.
In ähnlicher Weise werden die Variationen behandelt.
Die Auffindung solcher involutorischen Anordnungen schien
Hindenburg ein ganz besonderer Ruhmestitel zu sein. Das klingt
recht naiv aus seinem Aufsatze heraus: „Mehrere große Mathematiker
sind der Erfindung der combinatorischen Involutionen ganz nahe ge-
wesen“; Archiv f. reine u. angew. Mathematik I (1795), p. 319—331.
Euler, Lambert, Daniel Bernoulli werden dabei mit einer ge-
wissen herablassenden Anerkennung erwähnt, sie seien der Lösung
schon hübsch nahe gekommen.
In dem Aufsatze „Die Kombinationslehre ist eine selbständige
Wissenschaft usw.“ (12 Zeilen)!) führt Hindenburg besondere Be-
zeichnungen für involutorisch geordnete Kombinationen und Variationen
durch seltsam geschlungene Buchstabenformen ein; das übergehen wir
berechtigterweise, da es keinerlei Bedeutung für die Entwicklung der
Mathematik gehabt hat. Dagegen weisen wir gleich hier auf eine
ähnliche involutorisch angelegte Darstellung der Zähler und der
Nenner von Kettenbrüchen hin, die Hindenburg gleichfalls gegeben
hat?). Nach dem bisher Besprochenen sieht man sofort, wie man die
Nenner von 1/a,, 1/a,+1/a,, 1/a, + 1/a,+ 1/a,,---, d.h. die Ausdrücke
a, 4a, +1, a,a,a, + A, + a,,:-- aus der Buchstaben- und Zahlenanord-
nung in den einzelnen Winkelhaken entnimmt, und wie diese Anord-
nungen hergestellt werden können. Hindenburg bespricht a. a. O.
a,la,|e, | lo
a, \a,|a, | 1
a.lale,
1%
ai 1
a:
%
u
die zugehörigen Regeln in der allerbreitesten und ausführlichsten Form.
Seine Resultate preist der Erfinder mit überschwenglichen Worten.
‘) In dem Sammelwerke: „Der polynomische Lehrsatz, das wichtigste
Theorem der ganzen Analysis“, Leipzig 1796, p. 303. ?2) Archiv f. reine u.
angew. Math. Hindenburg (1794), p. 47—69; p. 154—19%4.
212 Abschnitt XXI.
Er ist ein Mann der Superlative; er läßt keine Gelegenheit vorüber-
gehen, ohne sich selbst und seine Involutionen in das strahlendste
Licht zu setzen; er hat die unbedingteste Hochachtung vor den Er-
gebnissen und den Fortschritten, die ihm die Wissenschaft verdankt.
Bei der Potenzerhebung von Reihen setzt Hindenburg
"= lt +++ "—(l + Y)”
und führt dadurch die Frage auf die Herstellung der Potenzen
(2 +WPR+ae+::)
zurück; denn q” besitzt als Faktor der Potenz 2* das Aggregat
Yyak +" ByIkk — 1) +"CyiIk—2)+. = (l+Yy"rlk+1).
Das ist eine sogenannte Lokalformel, die die Lösung vermittelt.
Von ihr aus muß man zu den rein kombinatorischen Formeln über-
gehen; denn!) „das Direktorium führt die Analysis. Diese läßt ihre
Verordnungen durch Lokalformeln ergehen und überläßt die Voll-
ziehung derselben den combinatorischen. Die Analysis kann nicht
deutlicher und vernehmlicher sprechen als in Lokalformeln; ihre Be-
fehle können nicht pünktlicher und prompter vollstreckt werden, als
durch combinatorische“. — „Die Analysis zeigt, was zu tun sei; die
Kombinatorik, wie es zu tun sei.“?) |
Um von der Lokalformel zur kombinatorischen Formel zu ge-
langen muß
yalysartg®taget:::)
hergestellt werden. Bei unserer (von der Hindenburgschen schwer-
fälligen etwas abweichenden) Bezeichnung wären alle Produkte
0,0
ig
&
GG > . . [2 & .
1, 13 in?
bei denen
ut Fa +: > +1
ist, herzustellen. Bei Hindenburg tritt wegen der Schreibweise
y=zaz+ß?+y+ör+---
der Zeiger oder Index
aßyd...
kr 23 4,. )
in Kraft, um die Frage auf die Kombinationen n“* Klasse mit der
1) „Höchst wichtiger Einfluß“ usw. siehe oben, p. 308. ?) „Novi syste-
matis permutationum, combinationum et variationum ... primae lineae‘“, Lips.
1781, p. IV: „Analysis ostendit, quae sunt agenda; ars combinatoria, quomodo
sint agenda“.
Kombinatorik. 213
Lokalsumme A zu übersetzen. So beantwortet er denn die Frage
durch das auszuführende Symbol für Kombinationen, in dem N die
n"® Klasse generell repräsentiert,
aa...
N # Py°.. Ä ;
Von diesen Kombinationen kommt er durch Hinzufügung des Zeichens
für Polynomialkoeffizienten zu den Variationen, und die Lösung der
Aufgabe wird durch y"14 = wNz* vermittelt. Für die Koeffizienten
von q” gilt die Gleichung
g"a(k +1) ="UatA +BbB He CH--;;
in ihr ist das Hauptresultat der Hindenburgschen Untersuchungen
enthalten. Sie gibt also ein mechanisches Verfahren, um den Koef-
fizienten von 2* m (l+«2+ ßz2?+-- :)" zu bestimmen.
Ist eine Summe a+bx +cx? + dx?’ + --- vorgelegt, in die für
x zu substituieren it 1# a2 + ß2?+yz?+---, so ist nach der Be-
stimmung von 2°, x°,... die Substitution in den einzelnen Summanden
vorzunehmen. Das nennt Hindenburg „die Methode der Potenzen“.
Auf sie ist er besonders stolz.
Die besprochene Verwendung der Kombinatorik bei Potenz-
erhebung zeigt uns, wie Hindenburg zu seinen Untersuchungen ge-
führt wurde!). „Bisher hatte man sich in der Kombinationslehre fast
nur allein um die Menge und Anzahl der Verbindungen und Ver-
setzungen gegebener Dinge gekümmert?), ihre wirkliche Darstellung
aber, die für die Analysis so wichtig ist, fast ganz übergangen oder
nur jener Zahlen wegen in Betrachtung gezogen. Hier war also noch
viel zu tun übrig; und es ist in der Tat unbegreiflich, wie ein so
großes, fruchtbares Land so lange hat unbebaut liegen bleiben
können.“
Zur Untersuchung der Variationen führte ihn das Problem der
Multiplikation von verschiedenen Reihen, wie ihn die von gleichen
Reihen auf das Studium der Kombinationen geleitet hatte. Ist etwa beı
p=ax+ba +ca +. , geas+ßatye+t:-;,
r=a2x +b2? +02? +---
das Produkt pgr zu bilden und nach Potenzen von x zu entwickeln,
so gilt für den Koeffizienten von x” der kombinatorische Ausdruck
!) Leipz. Magazin f. reine u. angew. Math. (1786), Heft 3, p. 323. *) Vgl.
jedoch diese Vorlesungen, Bd. III?, S. 342 angeführte Tabelle des Franciscus
van Schooten.
214 Abschnitt XXI.
par
r
mit den Zeigern
138.,, Inn... i9%,,,
2 (> = (ve,..)> rl)
deren erster, zweiter, dritter die Übersetzung der ersten, zweiten,
dritten Elementenzahl der Variationen dritter Klasse zur Summe A in
die entsprechenden Lettern vermittelt. : |
Befremdlich mag es bei den obigen Darlegungen erscheinen, daß
die kombinatorische Schule den Schritt: von der Verwendung von
Buchstaben zu Zahlen nur so langsam und gewissermaßen wider-
‘ strebend hat tun können; daß sie die Einführung von „Zeigern“ nicht
\ durch die Benutzung von Zahlindizes überflüssig gemacht hat. “Und
ar
—
dabei war Hindenburg bereits 1783 zu der Erkenntnis gekommen
und hatte sie im $ III der oben angeführten „lineae“ zum Ausdruck
gebracht, daß die Verwendung von Zahlen als Elemente der von
Buchstaben weit überlegen sei. Allein zu der nötigen Folgerung
drang er nicht vor.»
In der gleichen Abhandlung „novi systematis primae lineae“
wird die Reihe der Anwendungen der Kombinatorik auf die Analysis |
ausführlich angegeben ($ IV). Es wird angeführt: 1) Multiplikation
von Reihen; 2) Division von Reihen; 3) Potenzieren und Radizieren
von Reihen; 4) Substitution von Reihen in Reihen; 5) Elimination;
6) Rationalisierung irrationaler Ausdrücke; 7) Interpolation; 8) Trans-
formation; 9) Umkehrung von Reihen; 10) Darstellung von trigono-
metrischen und anderen transzendenten Funktionen durch Reihen. —
Alle diese Probleme, oder genauer nur ihre formale Seite, bespricht
Hindenburg 1. ce. ausführlich und gibt am Schlusse der Abhandlung
zu jedem Problem zugehörige Tabellen mit den fertigen Resultaten der
einfachsten Fälle.
Als Beispiel geben wir eine Formel von J. K. Burekhardt (1773
bis 1825), einem unter v. Zach zum Astronomen ausgebildeten Ge-
lehrten. Sie gehört zur Anwendung 10) und lautet?)
"Atanga — "CL tang’a +”"Etang’« — *
1— "Btang’« + "Diang’«a —--
tangna =
Das am meisten, am eingehendsten und mit dem größten Erfolge
behandelte Problem war das der (formalen) Umkehrung unendlicher
Reihen „reversio serierum“. Ist die Reihe
Vena ut ep
') „Nova acta Academ. electoralis Moguntiae scientiarum utilium, quae
Erfurti est“. I, Erf. 1799, p. 295—316.
Kombinatorik. 215
gegeben und wird daraus die Entwicklung
Pr B(y+9) ß(y+29)
allen #7 Auf 120.07 70 207 A117 Be EEE 227
gesucht (wobei die oben angegebene Schreibweise über den A,, A,,...
als „angenommenen“ Koeffizienten eigentlich noch Punkte gefordert
hätte), so erhält man rekurrierende Formeln für die A,, A,, As, :-.
durch die Lokalformeln
Arnsi=1, Arpx2 + A, Prl=0,
A,px3 + A,p?#»2 + Ar’rl=0,...
Eine independente Formel für die Lösung des Umkehrproblems
fand zuerst Eschenbach. — Hieron. Christoph Eschenbach
war 1764 zu Leipzig geboren; er hatte dort unter dem Einflusse der
Hindenburgschen Schule gestanden; seit 1790 als Ingenieur-Kapitän
im Dienste der holländisch-ostindischen Kompagnie, wurde er weit in
der Welt umhergeworfen; er starb 1797 zu Madras in Vorderindien
als englischer Kriegsgefangener. In seiner 1789 zu Leipzig erschienenen
„Dissertatio de serierum reversione, formulis analytico-combinatoribus
exhibita“ stellt er das allgemeine Glied der Entwicklung von x’ nach
Potenzen von y mit Hilfe kombinatorischer Operationen her. Seine
Ergebnisse waren aber insofern unbefriedigend, als diese Formel nur
durch unstrenge Induktion erlangt war und eines Beweises ermangelte;
dann aber auch dadurch, „daß die Harmonie in den einzelnen
Gliedern der Formel vermißt wurde, wo ungleichnamige Buchstaben
mit einander verbunden sind, A mit bB, und ® mit (©, u. s. w.“),
Dem letzten Mangel half Hindenburg ab?’), der vollkommen sym-
metrisch und in der geforderten harmonischen Darstellung die allge-
meinere Aufgabe löst, aus der Relation
ad batrdi rear r... — ay* N By +9 E% yyr+2d +...
die Darstellung einer beliebigen Potenz x° von x als Potenzreihe von
y herzuleiten. Den ersten Mangel jedoch beseitigte erst 1793 ein
Schüler Hindenburgs, Heinr. August Rothe, der, 1773 zu
Dresden geboren, dort die Kreuzschule besuchte, in Leipzig Dozent
und a. o. Professor war, darauf von 1800—1804 als Privatmann in
Freiberg lebte, dann als o. Professor der Mathematik an der Univer-
'sität zu Erlangen wirkte, 1823 in den Ruhestand trat und 1842 starb.
Er führt den Beweis der Formel auf doppelte Art; einmal auf rein
ı) H. A. Töpfer, „Combinatorische Analysis und Theorie der Dimensions-
zeichen in Parallele gestellt“. Leipzig 1793, S. 170. 2) Problema solutum
maxima universale ad serierum recursionem formulis localibus et combinatorio-
analyticis absolvendum paralipomenon. Lips. 1793.
-
216 Abschnitt XXI.
kombinatorischem Wege durch den Schluß von » auf (a +1) und
einmal mit Hilfe der Differentialrechnung!),. Rothe gibt der
Eschenbachschen Formel den Ausdruck in Lokalzeichen
. _yt+nd Bw+nd)
gain +1) Pe „n+l)y ° ,
wobei
p = yP — ax. + ba +3 $ ex +29 +...,
PY PY+9) B(y+29)
= AIE TBU N er
zu setzen ist?). In Worten heißt dies: „das (n + 1)' Glied der Reihe
für «7 ist gleich dem Produkte des (n + 1)'%® Koeffizienten der Potenz
_Y+nd { h i P(y+nd)
» “ der Reihe für y? in die Größe Be MITTEN
Dieses elegante Resultat verknüpft die Umkehrung der Reihen
mit dem Polynomialtheorem. Das mag wohl den mit keinem allzu
weiten Blick begabten Hindenburg zu der Meinung geführt haben,
es sei „der polynomische Lehrsatz das wichtigste Theorem der ganzen
Analysis“.
Durch die Eschenbach-Rothesche Formel wurde für die Kombi-
natoriker die Untersuchung und die Benutzung der Lokalzeichen in
den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Ihnen wurde nun eine ganze
Reihe von Arbeiten gewidmet. Rothe selbst versucht durch Auf-
stellung von Lokalformeln für Produkte aus Potenzen von Reihen
diese Lokalzeichen von den kombinatorischen Zeichen unabhängig zu
__machen?). Es gelang ihm, aus seiner Formel die bekannte, von La-
\ grange 1768 ohne Beweis gegebene für die Umkehrung von Funk-
| tionen herzuleiten, d.h. die, durch die eine willkürliche Funktion
(x) der durch 2=y-+zf(y) bestimmten Variablen x in eine nach
Potenzen von z fortschreitende Reihe entwickelt wird*). Hier setzt
eine Arbeit Pfaffs ein. Johann Friedrich Pfaff wurde 1765 zu
Stuttgart geboren; er zeigte schon als Zögling der Karlsschule seine
hervorragende Begabung für Mathematik; auf Veranlassung des Her-
zogs Karl studierte er in Göttingen, ging 1787 als Astronom zu
Bode nach Berlin, von da bald darauf nach Wien und ward 1788
als Professor der Mathematik nach Helmstädt berufen. Von der
westfälischen Regierung wurde er 1800 als Professor nach Halle a. S.
1) Formulae de serierum reversione, demonstratio ete., Lips. 1793.
2) Oder (nach Rothescher Bezeichnung), wobei die beiden Skalen gelten
p(a,b,e,..) und g(4,B,0,...). |
®) Archiv f. reine u. angew. Mathem. I (1794), p. 220—223, 223—232. *) Ibid.
I (1794), p. 442.
Kombinatorik. 217
versetzt, wo er 1825 starb. Pfaff schlägt in der oben erwähnten
Arbeit den umgekehrten Weg ein wie Rothe: er gibt zunächst
einen Beweis für den Lagrangeschen Satz und folgert aus ihm die
Lokalformel für die Umkehrung der Reihen). Von Pfaff erwähnen
wir hier gleich noch das Werk: „Disquisitiones analyticae maxime ad
caleulum integralem et doctrinam serierum pertinentes“, Helmstädt
1797, I (einziger Teil. In dem hierin befindlichen „Traetatus de
reversione serierum sive de resolutione aequationum“ werden die
Untersuchungen über die Lagrangesche Reihe und die Rothesche
Formel zusammengestellt; weiter findet sich in ihm ein Überblick
über die Kombinationslehre und eine Ableitung des polynomischen
Satzes.
Große Aufregung wurde in den Reihen der Kombinatoriker
durch das Erscheinen eines Buches hervorgerufen: „Theorie der
Dimensionszeichen nebst ihrer Anwendung auf verschiedene Materien
aus der Analysis endlicher Größen, Teil 1 und 2, Halle 1792“. Diese
Schrift stammte von Ernst Gottfried Fischer, der 1754 in Hohen-
eiche bei Saalfeld geboren war, zunächst in Halle a. S. Lehrer am
Pädagogium der Franckeschen Stiftungen wurde, dann seit 1787
Professor der Physik und Mathematik am grauen Kloster zu Berlin
und der gleichzeitig der Akademie der Wissenschaften angehörte. Er
starb 1831 zu Berlin. Die durch seine Veröffentlichung hervor-
gerufene Aufregung grenzte an Empörung. Und das ist erklärlich;
denn die Schrift enthielt, als eine Erfindung Fischers, die Theorie
der kombinatorischen Analysis, wie sie von Hindenburg ausgearbeitet
worden war, in, so schien es, nur oberflächlich, und nicht einmal zu
ihrem Vorteile verändertem Gewande! Es kommt in ihr in der Tat
wenig Neues vor, abgesehen von einer eigentümlichen Bezeichnungs-
_weise, aus der, wie zu glauben nahe lag, die Absichtlichkeit in der
Verschiedenheit allerorten herausbliekte. Hindenburg selbst hielt sich
dieser Veröffentlichung gegenüber mit seiner Meinung vornehm zurück
und erwähnt nur ganz gelegentlich die „Dimensionszeichen“; seine
Schüler, zumal Rothe und Heinrich August Töpfer traten um
so entschiedener und lauter für ihren Lehrer gegen den „Plagiator“
auf. Töpfer war 1758 zu Leisnig in Sachsen geboren; er wuchs in
ärmlichen Verhältnissen auf und wurde Schreiber beim Appellations-
rat v. Schlieben. Dieser ward auf seine hervorragende Begabung
aufmerksam und setzte ihn in den Stand, an der Universität Leipzig
Mathematik und Physik zu studieren. 1798—1828 lebte er als Lehrer
an der Fürstenschule zu Grimma und starb im Ruhestand 1833 zu
') Archiv f. reine u. angew. Math. I (1794), p. 81—84, 85-—88.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 15
218 Abschnitt XXI.
Dresden. Er veröffentlichte 1793 zu Leipzig als Sachwalter Hinden-
burgs eine geharnischte Schrift: „Combinatorische Analytik und
Theorie der Dimensionszeichen in Parallele gestellt“, in der er das
Fischersche Buch als ein „Beispiel von Dreistigkeit hinstellt, wie es
in den Geschichtsbüchern der Wissenschaften vielleicht ohne seines
Gleichen ist“. H. A. Töpfer versucht es, Belege dafür beizubringen,
daß Fischer die Hindenburgschen Untersuchungen gekannt habe.
Zu seiner Verteidigung veröffentlichte G@. Fischer 1794 die
Schrift: „Über den Ursprung der Theorie der Dimensionszeichen und
ihr Verhältnis gegen die combinatorische Analytik des Herrn Pro-
fessor Hindenburg“, in der er den Nachweis zu liefern unternimmt,
daß die Übereinstimmung eine naturgemäße Folge der Behandlung
von gleichen Problemen (der Umkehrung der Reihen, sowie der Poten-
zierung von Polynomen) sei. Über seine Kenntnis der Hindenburg-
schen Arbeiten äußert sich Fischer: „Ich versuchte mehr als einmal,
diese Schrift“ (das Nov. Syst.) „durchzulesen, aber ich gestehe auf-
richtig, daß mir immer die Geduld ausging, ehe ich noch mit den
Definitionen, welche zwölf Quartseiten füllen, fertig war“). In dem
Sammelbande der Königlichen Bibliothek zu Berlin, der die Fischer-
sche Antwort-Schrift enthält, sind ihr zwei Manuskripte vorgeheftet;
das erste ist eine kurze Verteidigung von Fischer selbst; das zweite
rührt her von Abel Bürja, Professor der Mathematik an der Academie
militaire zu Berlin und Mitglied der Akademie der Wissenschaften.
Er, „ayant soigneusement examine“ Fischers Verteidigungsschritft,
tritt unbedingt für ihn ein. Mancher andere tat das gleichfalls; alleın
die Männer der kombinatorischen Schule konnten sich weder zufrieden
geben, noch mochten sie ihre Angriffe einstellen. So blieb die An-
— gelegenheit bis zum September 1802 in der Schwebe. Da erschien
in Nr. 169 des „Intelligenzblattes der allgemeinen Litteraturzeitung‘“
eine, durch ein anonymes Schreiben an die Redaktion vom Jahre 1800
veranlaßte Erklärung von W. Pfaff, der damit „eine erwünschte Ge-
legenheit ergriff, etwas zur Ehrenrettung Fischers beizutragen“. Es
stellte sich heraus, daß Pfaff im Besitze mehrerer Briefe Fischers
sich befand, die sich auf den Gegenstand des Streites bezogen; die
Existenz dieser Briefe hatte Pfaff vergessen; durch die anonyme An-
frage wurden sie in sein Gedächtnis zurückgerufen. Und diese Briefe
zeigten durch Inhalt und Datierung unwiderleglich, daß von einem
Plagiat keine Rede sein konnte! Hindenburg erklärte denn auch
in Nr. 193 des Intelligenzblattes: „So nehme ich nun weiter keinen
Anstand, unaufgefordert, aus freier Bewegung Fischer von jenem
1, S. XIH der Einleitung.
Kombinatorik. 219
Verdachte frei zu sprechen“. Damit war die unerquickliche An-
gelegenheit beendet.
Unter den Vertretern der um Hindenburg gescharten kombina-
torischen Schule haben wir bereits Eschenbach, Rothe, Töpfer
uud Pfaff angeführt. Neben ihnen sind noch Kramp und Klügel
zu nennen. Christian Kramp wurde 1760 zu Straßburg i. E. ge-
‘boren und starb daselbst 1826; er führte ein unstetes Leben, durch-
zog Deutschland und die Nachbarländer, war Mediziner, Hebammen-
‚meister, Physikus, Professor der Chemie und Physik zu Köln und
endlich, nachdem er sich als Liebhaber mit der Mathematik beschäftigt
hatte, Professor der Mathematik zu Straßburg. Er schrieb eine Fieber-
lehre nach mechanischen Grundsätzen, eine Kristallographie des
Mineralreiches, eine Geschichte der Aerostatik, über eine geometrische
Analyse der Kristalle u. a.; seine Untersuchungen über Infinitinome
lassen ihn als zu den Kombinatorikern gehörig erscheinen. — Georg
Simon Klügel, 1739 zu Hamburg geboren, 1812 zu Halle gestorben,
Professor zu Helmstädt und dann zu Halle, mehr vielseitig als tief,
‚hat in seinem mathematischen Wörterbuche die Artikel, die der Kom- \
binatorik gewidmet waren, besonders eingehend behandelt.
® In seinen Schriften beruft sich Hindenburg oft darauf, daß
Leibniz an die Entwicklung der Kombinatorik die größten Er-
wartungen geknüpft und von ihr weittragende Resultate erwartet und
vorausgeahnt habe. In der Tat spricht sich Leibniz häufiger in
diesem Sinne aus; das eine Mal (vgl. diese Vorlesungen 111°, S. 112)
an einer Stelle, an der er sich über die Einführung eines Algorithmus
äußert, den wir jetzt als Determinantenbildung bezeichnen. Er sagt
dort: „Man sieht hieraus, daß die Vervollkommnung der Algebra von
der Kombinatorik abhängt“. Um so auffälliger ist die geringe Beteili-
gung der kombinatorischen Schule am Ausbau der Determinanten, des
mächtigsten und wichtigsten kombinatorischen Hilfsmittels. Hinden-
burg ist der Einzige, der sich gelegentlich einmal mit diesem Zweige
der Wissenschaft befaßt; aber freilich ohne neues zu geben. Er
referiert‘) über Cramers und B&zouts Resultate. Das einzig Selb-
ständige dieser Arbeit war die Übertragung der Determinanten-
entwicklung in kombinatorische Zeichen. —
Über die weitere Entwieklung der Determinanten in unserem
Zeitraum wird bei der Behandlung der linearen Gleichungen die
Rede sein. —
Von Euler, dessen weit fassender Geist keinem Zweige der
') Praefatio zum „Specimen analytieum de lineis eurvis secundi ordinis“,
Lipsiae 1784.
| 15*
220 Abschnitt XXI.
Mathematik fern blieb, ist auch bei der Behandlung der Kombinatorik
Erwähnung zu tun. Es gehören zwei Arbeiten hierher, die er beide
im Titel als „merkwürdige Fragen“ bezeichnet; die erste: „Solution
d’une question curieuse qui ne parait soumise ä aucune analyse“ er-
schien 1766 in der Histoire de l’Acad. ä Berlin für 1759; p. 310—337.
Sie behandelt die zufällig an Euler herangetretene Aufgabe des
Rösselsprunges, d. h. die, einen Springer in seiner eigentümlichen
Fortbewegungsart so über das ganze Schachbrett von 64 Feldern zu
führen, daß jedes der Felder einmal und nur einmal besetzt wird.
Zu dieser einfachsten Aufgabe können noch komplizierende Forde-
rungen treten; so etwa, daß vom letzten besetzten Felde ein einziger
Springerzug wieder auf das Ausgangsfeld zurückführt; oder daß, wenn
die der Reihe nach besetzten Felder mit fortlaufenden Nummern
1,2,3,... 63, 64 bezeichnet werden, die Differenz der Nummern je
zweier zur Mitte symmetrischer Felder stets 32 betrage. Auch an
die Zahl der Felder des Schachbrettes. ist das Wesentliche des Pro-
blems nicht geknüpft; die entsprechende Forderung kann für ein Recht-
eck von a-b Feldern aufgestellt werden, die sich in a Zeilen und
b Spalten verteilen. Euler behandelt die Frage derart, daß er einen
Rösselsprungweg aufs Geratewohl vornimmt und ihn so weit als
möglich fortführt; ist eine Fortsetzung nicht mehr möglich, sind da-
bei aber noch freie Felder des Schachbrettes vorhanden, dann wird
der Rösselsprungweg in zwei Teile zerlegt, die, anders miteinander ver-
knüpft, einen neuen Rösselweg geben, der alle früheren Felder umfaßt und
einen neuen Endpunkt hat; von ihm aus ist möglicherweise ein noch
freies Feld zu erreichen. Daß durch solche Methode bei geschickter
Zerlegung die Aufgabe gelöst werden kann, scheint durch die ge-
gebenen Beispiele gewährleistet; bewiesen wird es nicht.
Die zweite „merkwürdige Frage“ wurde am 18. Oktober 1779
von Euler vor der Petersburger Akademie behandelt, aber erst
28 Jahre nach dem Tode des Verfassers veröffentlicht: Balrtie quae-
stionis curiosae ex doctrina combinationum“, Mem. de St. Peters-
burg III (1811), p. 37—64. Es ist die, bereits von P. R. de Mont-
mort und Nicolas I. Bernoulli als „Jeu de treize“ oder „Jeu de
rencontre“ untersuchte (vgl. auch diese Vorlesungen IIP, S. 357), die
bei Euler in der Fragestellung auftritt: bei wievielen der n! Permu-
tationen unter » verschiedenen Dingen steht mindestens eins der Ele-
mente an seiner ursprünglichen Stelle?!) Auf die gleiche Frage war
Johann Heinrich Lambert gestoßen?); sie steht bei ihm im Zu-
) Vgl. auch Euler, M&m. de Berlin 1751 (1753), p. 255—270. 2) Ibid.
1771 (1773), p. 411—420.
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 291
sammenhang mit den Wetterprophezeiungen und ihrer Richtigkeit,
wobei es sich darum handelt, zu untersuchen, wie oft das willkürlich
prophezeite Wetter mit dem wirklich eintreffenden übereinstimmt,
Waring behandelte, wie Lambert, die gleiche Aufgabe als Wahr-
scheinlichkeitsproblem!').
Endlich gehört hierher noch die ee wishung einer Arbeit von
Gaspard Monge, die der Besprechung eines „Kartenkunststückes“?),
genauer der einer Mischungsmethode für Karten. gewidmet ist. Sind
m Karten gegeben, so findet eine erste Mischung so statt, daß Karte 2
auf Karte 1, Karte 3 unter 1 gelegt wird; dann 4 auf die obere
5 unter die untere; 6 auf die obere, 7 unter die untere usf. Bei 10 Karten
entsteht z. B.
aus der ersten Lage 1 2 3 4 5 G 1.8-9 10
als zweite Lug 108642153579.
Von dieser neuen Anordnung kommt man auf die gleiche Weise zu
einer weiteren; hier
a Lahn 2.307
usf. zu den aufeinander folgenden Lagen
2045918635
9 9 4 2 (30 5.1 6
WE : FOR Gr San > Pe Zune: ae Ui BR |
En Be ee
Wie in diesem Beispiele, so kommt man stets zu der ursprüng-
lichen Anordnung zurück. Monge untersucht die hierbei eintretenden
Umstände und Gesetzmäßigkeiten. Er zeigt, daß wenn zwei Spalten
in einem Elemente übereinstimmen, sie dann in allen übereinstimmen,
und daß die Folgen in vertikaler Richtung zyklisch die gleichen sind.
Dabei können kleinere Perioden eintreten, wie hier bei 2, 8, 5 und
auch bei 4. Er berechnet die Anzahl der Mischungen, die notwendig
; sind, um die anfängliche Lage herbeizuführen.
Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Der bisherigen, wohlbegründeten Gepflogenheit dieses Werkes gemäß
wenden wir uns nach der Besprechung der Kombinatorik zur Wahrschein-
1) „An essay on the principles of human knowledge“, Cambridge 1794
(Addenda). 2) M&m. Acad. pres. p. div. Savans, Paris 1773 (1776), VII,
p. 390—412.
222 Abschnitt XXI.
lichkeitsrechnung, als dem hauptsächlichsten Anwendungsfelde kombina-
torischer Methoden und Resultate. Der Zeitraum, auf den wir ein-
zugehen haben, ist gerade in diesem Gebiete reich an bemerkenswerten
Fortschritten; neue Methoden der Untersuchung werden aufgefunden,
neue Forschungsgebiete erschlossen; die Wissenschaft tritt in engste
Beziehung zur Praxis, zur Völkerwohlfahrt.
Gleich zu Anfang dieser Periode entbrennt ein Kampf um oder,
vielleicht genauer, ein Angriff gegen die Prinzipien der Wahrschein-
lichkeitsrechnung, in dem sich d’Alembert als leidenschaftlicher
Rufer im Streite zeigt. Auf seine Plänkeleien in den Artikeln „eroix
ou pile“ und „gageure“ der Enzyklopädie wurde, der Zeit ihrer
Entstehung gemäß, bereits eingegangen (III, S. 639). Auch in seinen
späteren Schriften kommt er ausführlich auf die Frage zurück, wie
groß die Wahrscheinlichkeit sei, mit einer Münze in zwei Würfen
mindestens einmal „Kopf“ zu werfen. D’Alembert hatte als Mög-
lichkeiten angenommen: entweder es fällt auf den ersten Wurf Kopf,
und dann ist das Spiel bereits entschieden; oder es fällt Schrift und
dann Kopf; oder endlich zweimal Schrift. Von diesen drei Fällen
sind zwei günstig, also ist die Wahrscheinlichkeit, mindestens einmal
Kopf zu werfen w = = Auf den Widerspruch hin, den diese An-
schauung von hervorragenden Seiten erfuhr, schwankt d’Alembert
zwischen der Meinung, daß diese drei Möglichkeiten gleich berechtigt
seien, und der, sie seien es nicht. Im zweiten Bande seiner „Opus-
cules Math&matiques“ heißt es auf S. 21: „Gleichwohl möchte ich die
drei Fälle, um die es sich handelt, nicht ın aller Strenge als gleich
möglich ansehen“; dann wieder im vierten Bande, $. 289: „Je mehr
ich darüber nachdenke, desto mehr scheint es mir, daß diese drei
Fälle, mathematisch gesprochen, gleich möglich sind.“ Ebenda be-
streitet er mit ganz nichtigen Behauptungen den schlagenden Einwurf,
man könne statt zweimal hintereinander mit nur einem, auch
gleichzeitig mit zwei Geldstücken werfen; dabei ergibt sich nämlich
zweifellos w = 2 An der ersterwähnten Stelle finden sich seine
Angriffe gegen die geltende Lehre in dem Aufsatze „Reflexions sur
le caleul des Probabilites“, p. 7—26, Paris 1761 im Zusammenhange
dargelegt. Er behandelt zuerst den Begriff der mathematischen Er-
wartung (diese Vorlesungen III’, S. 631), demzufolge, wenn 9,, Ps,
Pa, ... die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens verschiedener, mit den
bezw. Gewinnen 9,, 99, 93, - .. verknüpften Ereignisse sind, die mathe-
matische Erwartung den Wert 9,9; + 98Pg + 9595 +: habe. Das
Petersburger Problem (ibid. 5. 633) muß als Sturmbock gegen die
Regel dienen, den Einsatz dieser Größe gleich anzunehmen: Paul solle
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 223
dem Peter 1 geben, wenn dieser bei seinem ersten Wurfe mit einer
Münze Kopf werfe, dagegen 2, 4, 8, 16,..., wenn Kopf erst beim
zten, Bien, 4ten, Hin ,„.. Wurfe erscheine. Peters Einsatz müßte
1 1 1 1
VS 0 le a RT sine
und so ohne Ende weiter, müßte also oo sein. Das widerspricht dem
gesunden Verstande; wer würde selbst nur eine mäßige Summe
als Einsatz bei diesem Spiele wagen? Zur Erklärung dieses Dilemmas
‘wurden am angegebenen Orte zwei Versuche angeführt, der von Cramer
und der von Daniel Bernoulli; hier stoßen wir auf einen dritten.
D’Alembert schließt, daß wenn die Wahrscheinlichkeit eines Ereig-
nisses sehr klein ist, sie gleich Null gesetzt werden muß; man dürfe
diese Wahrscheinlichkeit also nicht, wie die Theorie es vorschrieb,
mit dem erhofften Gewinne multiplizieren, um die mathematische Er-
wartung, d. h. die Höhe des Einsatzes zu finden. Übrigens war
d’Alembert nicht der Erste, der auf diese Idee kam; Nicolas I.
Bernoulli hatte 1709 ähnliches, aber ‚vorsichtiger ausgesprochen
(Vorlesungen III?, 8. 336, Anm. 3); und Buffon schließt in
seinem „Essai d’Arithmetique morale“ (Nr. VIII) aus der Betrach-
tung der menschlichen Handlungen im gewöhnlichen Leben, daß man
jede Wahrscheinlichkeit, die nicht größer als Zoos ist, gleich Null
setzen kann und muß; für einen gesunden Mann von 56 Jahren sei die
Wahrscheinlichkeit, binnen 24 Stunden zu sterben, gleich Zn;
Mensch aber rechne mit dieser Wahrscheinlichkeit; jeder setze sie
einfach =0. Diese Anschauung wird von Condorcet (Essai sur
application ete.; Preliminaire p. CVIII) einer kritischen Prüfung
unterzogen und widerlegt. Buffon teilte seine Auffassung von kleinen
Wahrscheinlichkeiten 1762 Daniel Bernoulli mit, der sie unter
vorsichtiger Einschränkung als „moralische Wahrscheinlichkeit“ gut-
hieß. D’Alembert ist sich selbst über die Grenze, unterhalb deren
die Wahrscheinlichkeit gleich Null gesetzt werden soll, nicht im
klaren.
‚Es mag hier gleich erwähnt werden, daß Condorcet, über
dessen tragische Lebensschicksale wir später berichten werden, in der
„Histoire de l’Acad. de Paris“ 1781, p. 707 auf eine Analyse der
mathematischen Erwartung 9,9, + 939, + 959, +: :- genau eingeht.
Zuerst macht er darauf aufmerksam, daß dieser Wert nur als Mittelwert
kein
Geltung hat. Ist p, = — 9, = 1, so ist die mathematische Erwartung
1 ; EIRE > .
5 , trotzdem nur Gewinne O oder 1, aber nie 5 vorkommen können. Die
224 Abschnitt XXI.
Regelung der Einsätze muß billigerweise so geschehen, daß 1. der
Fall, in dem weder Gewinn noch Verlust für einen Spieler eintrifft,
der wahrscheinlichste ist; daß 2. die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen
oder zu verlieren, für beide Spieler — e wird. Man könnte noch
fordern, daß 3. mit der Anzahl der Spiele die Wahrscheinlichkeit
wächst, daß der Gewinn- oder Verlustbetrag eine gegebene Größe
nicht überschreitet, oder daß 4. das Verhältnis dieses Betrages zum
höchsten Gewinn oder Verlust ein beliebig kleines werde. Es zeigt
sich, daß durch die Gleichsetzung der mathematischen Erwartungen
beider Spieler die ersten beiden Bedingungen nebst der vierten erfüllt
werden, und nur dadurch; daß dagegen 3. überhaupt durch keine An-
nahme erfüllbar ist. — Die Wirkung dieser Gleichsetzung tritt aber
erst in der Folge vieler Spiele hervor. Ist die Wahrscheinlichkeit
klein, so muß die Anzahl stark vergrößert werden. Besteht für A bei
kleinerem Gewinn größere Gewinnaussicht, für B bei größerem Gewinn
kleinere Aussicht, so wird bei Wiederholung des Spieles für 5 mit
wachsender Gewinnaussicht der Gewinnbetrag sich vermindern und für
A das Umgekehrte eintreten. Aus seinen Untersuchungen schließt
Condorcet, daß beim Petersburger Problem die Gleichsetzung der
mathematischen Erwartungen beider Spieler unstatthaft sei, weil ihre
Anwendbarkeit erst bei o0%-maliger Wiederholung des Spieles eintrete.
— Um den Unterschied eines einzelnen Falles vom Durchschnitte
einer Reihe von Fällen zu illustrieren, macht Condorcet darauf auf-
merksam, daß ein verständiger Mann es sehr wohl ablehnen kann,
eine Summe Db, für die Wahrscheinlichkeit p, eines Gewinnes von 9,
zu geben, ablehnen kann, wenngleich b, <p,9, ist; während er ande-
rerseits für eine Summe b, die Wahrscheinlichkeit 9, eines Gewinnes 9
erkauft, trotzdem b, > p,9, ist; dazu würde ausreichen, daß p, sehr
klein und p, sehr groß ist. Eine kleine Wahrscheinlichkeit gleich
Null zu setzen, geht nach Condorcet nicht an; es würde der gleiche
Fehler sein, als wolle man eine entfernt berührende Tangente mit
einer Asymptote verwechseln. — Ähnliche Darlegungen gibt Con-
dorcet in dem Werke, auf dessen Besprechung wir bald eingehen
werden, dem „Essai sur lapplieation de l’Analyse ä la probabilite des
deeisions rendues ä la pluralit des voix“, Paris 1785; Discours pre-
liminaires p. LXXIlff. und im Werke selbst p. 138ff. In diesen kri-
tischen Beleuchtungen beschäftigt er sich besonders mit den oben
erwähnten Anschauungen Buffons, die er zurückweist. Was für die
wirklichen Werte der Wahrscheinlichkeiten falsch ist, das könne
nicht dadurch richtig werden, daß man den wirklichen Werten falsche
substituiere, Ä
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 225
Mit dem Petersburger Problem beschäftigt sich auch Georg
Christoph Lichtenberg, jüngstes unter 18 Kindern eines Predigers
bei Darmstadt, 1742 geboren. Er studierte in Göttingen unter
Kästner Mathematik und wurde daselbst 1770 außerordentlicher Pro-
fessor. Er betätigte sich vielfach schriftstellerisch, hauptsächlich als
Satiriker. Körperliche Leiden verdüsterten seine letzten Lebensjahre;
er starb am 24. Februar 1799. Im Jahre 1770 veröffentlichte er
einen kleinen, populär geschriebenen Aufsatz: „Betrachtungen über
einige Methoden, eine gewisse Schwierigkeit in der Berechnung der
Wahrscheinlichkeit beim Spiele zu heben“'). In ihm legt er die Be-
deutung und die Erklärungsversuche des Petersburger Problems dar.
Er tritt ganz auf Bernoullis Seite und nimmt gegen d’Alembert
Partei, über dessen Ansichten er sagt: „Herrn d’Alembert entgegen-
setzen, daß nach den Regeln der Combinationen kein Fall wahrschein-
licher sei als der andere, kommt mir nicht viel besser vor, als einem
gelehrten Verteidiger der Dreieinigkeit die Beweise der Multiplikation
entgegensetzen wollen“. Neues enthält der Aufsatz nicht.
Wir kehren zu dem Berichte über d’Alemberts Anschauungen
zurück: Spielt Peter mit Paul unter der Bedingung, daß Peter
210 Mark gewinne, wenn beim Werfen einer Münze die Kopfseite
erst auf den 100° Wurf fällt, so müßte der Einsatz gemäß der mathe-
matischen Erwartung gleich 1 Mark bemessen werden; trotz dieser
geringen Summe wird Peter ihn nicht wagen, weil die Kopfseite
nicht notwendig, aber doch sicher bereits vorher fallen wird. Des-
halb muß man nach d’Alemberts Meinung zwischen dem unter-
scheiden, was metaphysisch möglich ist, und dem, was physisch
möglich ist. Zum ersten Begriffe gehört alles, was nicht widersinnig
genannt werden kann, zum zweiten alles, was nicht allzu weit aus
dem gewöhnlichen Laufe der Dinge heraustritt. So gehört es zu den
metaphysischen Möglichkeiten, mit zwei Würfeln hundertmal hinter-
einander „Sechs—sechs“ zu werfen; physisch dagegen ist es unmög-
lich, weil es noch niemals geschehen ist und niemals geschehen wird.
Mit dieser Unterscheidung hängt folgendes zusammen. Die
Theorie nimmt bei der Wiederholung von Ereignissen jede Kom-
bination als gleich möglich und als gleich wahrscheinlich an, z. B.
beim 1O0maligen Werfen einer Münze das 1Omalige Auffallen von
Kopf als so wahrscheinlich wie einen beliebigen Wechsel von Kopf und
Schrift. Ist das berechtigt? D’Alembert glaubt es nicht: ist schon
9mal Kopf gefallen, so ist es wahrscheinlicher, daß das nächste Mal
!) Auch abgedruckt in Lichtenbergs physikalischen und mathematischen
Schriften, Göttingen 1806, Bd. IV, S. 3—46.
296 Abschnitt XXI.
Schrift fällt als wieder Kopf. Man sieht, daß dabei ein Einfluß
angenommen würde, den das voraufgehende Ereignis auf das fol-
gende ausübt. Dieser Ansicht, die d’Alembert durch Scheingründe
stützt, war schon von de Montmort widersprochen worden; „die
Vergangenheit entscheidet nichts für die Zukunft“ (diese Vorlesungen
III®, S. 335). Euler drückt sich (Opuseula analytica I, 1785, p. 331
bis 346) noch drastischer aus: dann müßte auf jeden folgenden
Wurf jeder vorhergehende, wenn er auch vor hundert Jahren und an
irgend welchem Orte geschehen wäre, von Einfluß sein, „ungefähr das
Absurdeste, was man überhaupt ausdenken kann“.
Den angenommenen Einfluß früherer Würfe auf folgende kann
d’Alembert natürlich nur hypothetisch angeben. Das tut er (Opus-
cules IV, p. 73) bei erneuter Behandlung des Petersburger Problems,
indem er die Wahrscheinlichkeit dafür, erst beim »*® Wurfe Kopf
fallen zu sehen, nicht = ns sondern ganz willkürlich = ri + En)
1
oder auch = - ——— setzt; noch wunderlicher ist die Annahme
le 4 eh
=) ‚ wo B und K Konstanten und g eine ungerade
(K—n)2
ganze Zahl bedeuten. Ein andermal (Öpuscules VII, p. 39) nimmt er
für das Auffallen von Kopf beim 1!, 2ten, Zten, gem ... Wurfe die
Wahrscheinlichkeiten
1 1+a 1+a+b 1+a+b-+te
9? FE, 2 ? 2 Sr
an
an, wo a,b, c,... kleine positive Größen sein sollen, deren Summe
die Einheit nicht erreicht. Diese Hypothesen sind nur darauf be-
rechnet, den Einsatz beim Petersburger Problem zu einem endlichen
zu machen. Wissenschaftlichen Wert haben sie nicht.
Noch einen anderen Punkt hebt d’Alembert kritisierend hervor.
Sieht man auf einem Tische Buchstaben nebeneinander liegend, die
das Wort „Constantinopolitanensibus“ bilden, oder die alphabetisch auf-
einander folgen, so wird kein Mensch annehmen, daß sie durch Zufall
so angeordnet seien, trotzdem die Wahrscheinlichkeit der beiden An-
ordnungen aus den auftretenden Buchstaben nach den Schulanschau-
ungen nicht geringer sein soll, als die einer willkürlichen, regellosen
Aufeinanderfolge. In den ersten Fällen erkenne man eine Absicht,
und eine solche müsse auch bei regelmäßigem Fallen der Münze an-
genommen werden. Mehrfaches Aufwerfen von Kopf hintereinander
sei unwahrscheinlicher als Wechsel in den Flächen der Münze.
Solchen ketzerischen Ideen gegenüber verhielt sich die Mehrzahl
der Mathematiker jener Zeit kühl ablehnend; sie erachtete es wohl der
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 297
Mühe nicht für wert, darauf einzugehen. D’Alembert beruft sich
häufig auf die Zustimmung „bedeutender Männer“, „berühmter Ge-
lehrten“, „hervorragender Mathematiker“, in deren Gesellschaft ihm
aber selber mitunter nicht recht behaglich ist, wenn sie z. B. durch
seine Einwürfe die ganze Lehre der Wahrscheinlichkeitsrechnung als
„zugrunde gerichtet“ ansehen; aber Namen verschweigt er dabei. Da-
gegen verschweigt er nicht, daß seine revolutionären Meinungen auch
vielen Widerspruch gefunden haben, daß sie „absurd“ und von Daniel
Bernoulli „lächerlich“ genannt worden sind. Wuchtig absprechend
drückt sich L. Euler aus in den Opuscula analytica I, 1785, p. 331:
„Mich schrecken“ (bei solchen Untersuchungen) „die Einwürfe
d’Alemberts nicht zurück, der diesen Kalkül zu verdächtigen ver-
sucht hat. Zuerst nämlich hat dieser bedeutende Geometer die mathe-
matischen Studien beiseite gelegt; jetzt scheint er sie sogar zu be-
kämpfen, indem er unternommen hat, eine Reihe von Grundsätzen
umzustürzen, die auf das sicherste begründet sind. Den Laien mögen
seine Einwürfe gewichtig erscheinen, doch die Furcht liegt fern, daß
die Wissenschaft selbst Schaden durch sie erleide.“
Daher ist es denn nicht verwunderlich, daß d’Alemberts Ruf so
ziemlich ohne Nachklang verhalltee Von den wenigen, die seinen Be-
denken geneigtes Ohr liehen, sei der Direktor der physikalischen Klasse
der Berliner Akademie Nic. de Beguelin erwähnt. Er war 1714
im Kanton Basel geboren, wurde Hofmeister des nachmaligen Königs
Friedrich Wilhelm II. und starb 1789 zu Berlin. Er hat sich
mit den metaphysischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung
in zwei Aufsätzen der Memoires de lAcad. ä Berlin 1765 (1767),
p- 231, und 1767 (1769), p. 381 beschäftigt. In dem ersten spricht
er seine Ansicht aus: „Die Wahrscheinlichkeitsrechnung gehört eben so
sehr, ja vielleicht in höherem Maße zur Metaphysik als zur Mathe-
matik; diese liefert die Behandlung durch Rechnung, jene die Grund-
lagen, auf welche die Rechnungen sich gründen“. Im zweiten Auf-
satze behandelt er eingehend, aber ohne begründete Resultate das
Petersburger Problem; er gibt eine ganze Reihe von Lösungen, die
das Gemeinsame haben, völlig willkürlich zu sein. Daß Kopf erst
beim A" Wurfe auffalle, soll beispielsweise die Wahrscheinlichkeit
er:
@yır1 haben.
Auch der Marquis de Condorcet ging, wie wir bereits erwähnt
haben, auf eine Prüfung der d’Alembertschen Bedenken ein. Im
zweiten Abschnitte der oben angeführten Abhandlung!) geht Condorcet
t) Hist. Acad. de Paris, 1781, p. 707.
228 Abschnitt XXI.
auch auf die Frage nach den regulären Anordnungen gegebener Elemente
ein. Er betrachtet die beiden Reihen
2 8 A: 62.28 0
1.93, 9240.143, 98 31 87. 160.
beide sind nn jedes Glied a,,, der ersten ist nach dem Gesetze
G,.2=2°qa,,,— a, gebildet, jedes Glied b,,, der zweiten nach dem
Gesetze b,,5 = bu, + bu + b,_ı + b„_s- Gesucht wird der Quotient
der Wahrscheinlichkeiten dafür, daß bei einer Fortsetzung der Reihen
um g Glieder dieselben Gesetze sich zeigen werden. Wie man sieht,
ist die Frage merkwürdig unbestimmt gehalten; die Behandlung des
Problems durch Condorcet ist nicht minder unbestimmt. Wenn ın
einer Reihe je e aufeinanderfolgende Glieder einem Gesetze unterworfen
„erberdeh
e+Yyda+a+2
Quotienten geben. Fragt man nach diesem Quotienten bei g= —®,
sind, in einer zweiten je e,, dann sol den gesuchten
d.h. bei den ins Unendliche fortgesetzten Reihen, dann soll ri,
herauskommen, in unserem obigen Beispiele also wegen e=2, ,=4
der Wert = .
Wie er, so trat Laplace, dem die Wahrscheinlichkeitsrechnung
viel zu danken hat, kritisch an d’Alemberts Bedenken. Pierre Simon
Marquis de Laplace, 1749 zu Beaumont-en-Auge geboren, ent-
stammte einer einfachen Familie. Er hatte die Schwäche, sich seiner
Herkunft zu schämen; nur ungern sprach er von seiner Jugend. In
der Ecole militaire zeigten sich schon früh seine mathematischen
Anlagen. Er wurde zuerst Lehrer zu Beaumont, dann Professor an
der Eeole militaire und 1794 an der Ecole normale. 1795 gehörte
er dem Bureau des longitudes an. „Er bot das traurige Schauspiel
politischer Schmiegsamkeit und Mantelträgerei, die an Kriecherei
streifte, und deren Anzeichen bis in die Vorreden seiner Werke
drangen, die bei jedem Regierungswechsel geändert wurden“ (La
grande Eneyelopedie). Bonaparte übertrug ihm das Portefeuille des
Innern, entzog es ihm wegen mangelnden Verwaltungssinnes nach
sechs Monaten: „er trug in die Geschäfte den Geist des Unendlich-
Kleinen“ — und machte ihn zum Mitgliede des Senats. Unter
Louis XVII. wurde er Pair de France und Marquis. Er starb im
März 1827 zu Paris.
In einer Abhandlung der M&moires de math. Acad. R, Paris a
1773), p. 37—232, deren zweiter Teil der Wahrscheinlichkeitsrech-
nung gewidmet ist (p. 113—163) geht Laplace auf die d’Alembert-
schen Bedenken ein. Daß beim Würfeln frühere Ergebnisse auf fol-
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 229
gende beeinflussend wirken sollen, weist er von der Hand. Auf eine
spätere, scheinbare Einschränkung kommen wir bald zurück. — Über
das „Constantinopolitanensibus“, das sich bei ihm in das Wort „In-
finitösimal“ umgewandelt hat, äußert er sich folgendermaßen: Wo
wir Symmetrie bemerken, glauben wir an die Wirkung einer Ab-
sicht, da sie für die Hervorbringung der Symmetrie wahrscheinlicher
ist als der Zufall. Ist En die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses, falls
es ein Zufall, - seine Wahrscheinlichkeit, falls es eine Absicht her-
vorgerufen hat, so ist die Wahrscheinlichkeit des Bestehens und
Wirkens einer Absicht?)
1:n a 1 i
1l:n+1:m i+n:m’
sie wächst also mit m. Nicht weil die Symmetrie geringere Wahr-
scheinlichkeit hat als ein unsymmetrisches Ergebnis, suchen wir eine
Absicht bei Eintreffen der Symmetrie, sondern weil der Zufall un-
wahrscheinlicher ist, als die Absicht. Hätte das Wort „Infinitesimal“
in keiner Sprache eine Bedeutung, so würde das dazu nötige Arrange-
ment der Buchstaben weder wahrscheinlicher, noch unwahrscheinlicher
sein, als es jetzt ist; und gleichwohl würden wir bei der Zusammen-
stellung keine besondere Ursache vermuten. Da das Wort aber in
Gebrauch bei uns ist, so ist es unvergleichlich mehr wahrscheinlich,
. daß eine Person die Lettern zusammengelegt hat, als daß ein Zufall
sie so zusammenfügte, wie wir sie sehen.
Ein weiteres Eingehen auf die philosophischen Grundlagen der
Wahrscheinlichkeitsrecehnung müssen wir uns versagen. —
Nach diesem Berichte über den Sturm gegen die Prinzipien
gehen wir zu der Besprechung einer Bereicherung der Untersuchungs-
methoden über, zumal da diese zeitlich mit der Periode beginnt, die
wir behandeln. Daniel Bernoulli gehört das Verdienst, die Infini-
tesimalrechnung den Zwecken der Wahrscheinlichkeitsrechnung dienst-
bar gemacht zu haben. Bis zu ihm hatte ausschließlich das Fermat-
sche Vorgehen Geltung gehabt, als Wahrscheinlichkeit den Quotienten
aus der Zahl der günstigen durch die Zahl der möglichen Fälle zu
- nehmen, wobei man bei verwickelteren Aufgaben auf bedeutende kom-
binatorische Schwierigkeiten stieß. Für diesen Quotienten substituiert
Daniel Bernoulli den Quotienten aus den unendlich kleinen In-
ı) Diese Rechnung benutzt "die später zu behandelnde Bayessche Regel
über die, aus ihren Wirkungen zu erschließenden Ursachen, die Laplace in
Bd. VI der M&moires de l’Acad. de Paris dargestellt hatte.
230 Abschnitt XXI.
krementen oder Dekrementen jener beiden Größen, und ihn behandelt
er dann nach den gewöhnlichen Regeln und Vorschriften der Analysis.
Natürlich ist dieses Verfahren nicht allgemein bei jeder Aufgabe an-
wendbar. Bernoulli sagt darüber‘): „Man kann mit Nutzen die In-
finitesimalrechnung verwenden, wenn nur die Aenderung, die eintreten
kann, als unendlich klein angesehen werden darf“. Das tritt z. B.
ein, wenn aus einer Urne, die eine große Anzahl von Kugeln enthält,
einzelne gezogen werden; „denn dann kann die Einheit als unendlich
kleines Element betrachtet werden; und man stützt sich auf die
gleiche Hypothese, deren sich die Mathematiker vor der Entdeckung
der Differential- und Integral-Rechnung bedienten“. In der angeführten
Abhandlung bespricht Bernoulli als Beispiel ein Problem, das er für
andere Zwecke braucht. Er behandelt es zuerst nach der alten und
dann nach der bequemeren neuen Methode. Es scheint uns geraten,
erst später dieses etwas komplizierte Problem mitzuteilen, und die
Methode lieber an einem anderen, einfacheren darzulegen’).
In einer Urne sind n weiße, in einer anderen » schwarze Kugeln.
Aus jeder wird eine Kugel gezogen und in die andere Urne gelegt;
die Ziehungen erfolgen gleichzeitig. Dieselbe Operation wird von
neuem und im ganzen rmal gemacht. Wie groß ist hinterdrein die
wahrscheinliche Anzahl x der weißen Kugeln in der ersten Urne?
Die Verwendung der gewöhnlichen Methode gibt «= 2 n|1 + =)
2 77
Für ein großes n kann man dies Resultat durch das bequemere
2r
= z|ı an a
ersetzen. Hierauf führt die neue Methode direkt. Es werden x und
r als stetig veränderliche Größen betrachtet; dr, d. h. die Einheit, sei
das Inkrement von r; es fragt sich, wie groß dz:dr ist. Die, mit
der Wahrscheinlichkeit — erfolgende Entnahme einer weißen Kugel
aus der ersten Urne liefert das Dekrement (— 1) für dx; das mit der
Wahrscheinlichkeit -—-
in die erste Urne liefert das Inkrement (+ 1) für dx; folglich wird
da _
dr
erfolgende Hineinlegen einer weißen Kugel
dx BL:
31 —nNn N
—1:.—+1:7Z£, d.h.
n
Diese Differentialgleichung liefert dann bei richtiger Bestimmung der
Integrationskonstante wieder den Wert
") Novi Comment. Acad. Petrop. XII, 1766, 1767 (1768), p. 87—98. ?) Ibid.
XIV, 1769 (1770), p. 2-25.
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 231
2r
= sn E + en.
Die Aufgabe wird nach der Richtung hin erweitert, daß » Urnen mit
je n Kugeln vorhanden sind, und daß jede gezogene Kugel in die fol-
gende der zyklisch angeordneten Urnen gelegt wird. Durch ein Miß-
verständnis wurde Malfatti!) zu einer unberechtigten Kritik dieser
Arbeit verleitet; nur in einem Punkte müssen wir ihm beipflichten,
daß nämlich das angeführte Bernoullische Problem nicht mit einem
anderen identisch ist, von dem Bernoulli es behauptet. Malfatti
selbst behandelt 20, aus der Bernoullischen Annahme folgende Pro-
bleme auf elementarem Wege.
Es sei noch erwähnt, daß D. Bernoulli sich der gleichen
Methode bedient, um näherungsweise gewisse numerische Rechnungen,
die infolge der Höhe der eintretenden Zahlen unbequem und langwierig
sind, durch bequemere und kürzere zu ersetzen. So verfährt er in
der „Mensura sortis“ usw. (Novi Comment. Acad. Petrop. XIV, für 1769,
(2n}! ’
ande. gr und findet, je nachdem er n
durch »n +1 oder durch n — 1 ersetzt,
p. 26) mit dem Ausdrucke q =
eg gan Ei gan ,
dqd=-— int? und d=-— FRE
er nimmt die arithmetische Mitte der rechten Seiten, erhält
d=-— gan
2n-+ 7:
und kommt durch Integration auf
gq= cst. Re
Vın+1
Das eben erwähnte allgemeine Approximationsproblem war bei
der Behandlung der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie sie in unserem
Zeitraum geübt wurde, ein sehr naheliegendes und notwendig zu be-
handelndes, Dies erkannte auch Laplace nach Bernoulli, wie es
Stirling vor diesem erkannt hatte. Mit ihm beschäftigt sich La-
place eingehend in dem „Me&moire sur les approximations des formules
qui sont fonctions de tres-grands nombres“ (Histoire de l’Academ. ä
Paris 1782). Wir kommen später auf diese Arbeiten zurück.
| Wenden wir uns wieder zu Daniel Bernoulli, so ist noch zu
erwähnen, daß er die erste Anwendung der Infinitesimalrechnung in der
Wahrscheinlichkeitslehre bergits vor der prinzipiellen, 1766 erfolgten
Ankündigung und Darlegung schon 1760 in dem Aufsatze „Essai
) Memorie mat. e fis. Soc. Ital. I (1782), p. 768.
232 Abschnitt XXI.
d’une nouvelle analyse de la mortalite causee par la petite verole ete.“
(Histoire de l’Acad. ... ä Paris 1760 [1766], p. 1-45) gegeben hat;
und als Kritiker dieser Arbeit wendet auch d’Alembert (Opuscules
II, p. 26—95) dieselbe Methode an.
Wir wenden unsere Aufmerksamkeit nunmehr den Arbeiten zu, die,
sozusagen, noch im Pascalschen Boden wurzeln und nach elementarer
kombinatorischer Methode eine Reihe von Problemen behandeln, die
den Mathematikern in den Glücksspielen entgegen traten. Es ist
natürlich nicht unsere Aufgabe, jede kleinste derartige Arbeit zu be-
sprechen; es reicht aus, die bedeutenderen unter ihnen hervorzuheben.
Hinsichtlich der Spiele, die nicht allein vom Zufall, sondern auch
von der Geschicklichkeit der Spieler abhängig sind, macht Laplace
(Histoire de l’Academ. Paris [1778], p. 230) folgende Bemerkungen:
Es sei überaus unwahrscheinlich, daß beide Spieler die gleiche Ge-
schicklichkeit besitzen; die des einen sei 1-+«, die des anderen
1— e«. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß der stärkere Spieler die
beiden ersten Partien gewinnen wird, - (1 + «)”, die, daß der
- . . 11 h
schwächere sie gewinne = (1 «). Nun weiß man von vorn-
herein nicht, wer von den beiden Spielern der stärkere ist; danach
wird die Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmter unter ihnen beide
ersten Partien gewinnt, gleich dem mittleren Werte, d. h.
u ee)
Ohne Berücksichtigung der Geschicklichkeiten würde sich e ergeben.
Es ist also nach diesen Überlegungen wahrscheinlicher, daß einer der
beiden Spieler beide ersten Partien gewinnt, als daß der eine die erste,
der andere die zweite gewinnt.
Über den Wert von & weiß man zu Beginn der Spiele nichts.
Das gibt nach mehreren Richtungen hin zu Untersuchungen Anlaß
(1. e. 8. 238ff.). Kennt man für « die Grenzwerte (0,..., g) und zu-
gleich die Wahrscheinlichkeit Y(«) dafür, daß ein bestimmtes « auf-
trete, dann ist der obige Ausdruck durch das Integral _
7
Siv@ (1+o°)da
ö
zu ersetzen, wobei %(«) so beschaffen sein muß, daß f: vle)dae=1
0
ist. Es möge ein für allemal hier daran erinnert werden, dab diese
Schreibweise der Integralgrenzen in unserem Zeitraume noch nicht
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 233
eingeführt ist. — Somit weist dieses Resultat darauf hin, das „Gesetz
der Fehler“, d. h. die Funktion y(«) zu bestimmen. Das unternimmt
Laplace im weiteren Fortgange seiner Untersuchungen. Wir werden
davon bald ausführlich zu sprechen haben.
Die zweite Untersuchungsrichtung, auf die wir auch erst später
eingehen können, ist die folgende: Die anfängliche Unkenntnis der
Geschicklichkeiten der Spieler wird im Verlaufe der Spiele einer
größeren und größeren Kenntnis dieser Geschicklichkeiten durch den
Ausfall der Spiele selbst Platz machen. Hierzu gehört die Möglich-
keit, aus einem Ereignis auf seine Ursachen zu schließen. Das ist
ein Problem, das in unserer Epoche zum ersten Male aufgestellt und
behandelt worden ist.
Es möge noch bemerkt werden, daß Laplace in diesem „Me-
moire“ nicht bei zwei Spielern und zwei von ihnen zu spielenden
Partien stehen bleibt, sondern die Anzahl sowohl der Spieler wie der
Partien beliebig groß annimmt. Wir verlassen diese Fragen und
gehen auf andere hierher gehörige Probleme ein.
Schon früher wurde (Bd. II, S. 338) erwähnt, daß Moivre
1708 die Aufgabe erledigte, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen,
daß mit einem gewöhnlichen Würfel in 8 Würfen mindestens 2mal
die 1 geworfen werde. Das Problem wird in unserer Epoche wieder
aufgenommen, in erweiterter Form behandelt und gelöst. Lagrange,
der sich im zweiten Abschnitte seines Aufsatzes: „Recherches sur les
suites recurrentes... ou sur lintegration des &quations lineaires aux
differences finies et partielles; et sur l’usage de ces öquations dans la
theorie des hasards“ (Nouv. M&m. de l’Acad....ä Berlin 1775 [1777],
p- 183—272) mit verschiedenen Aufgaben der Wahrscheinlichkeits-
theorie beschäftigt, stellt die Fragen allgemein so: Wie groß ist die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein Ereignis, dessen Eintreffen bei einem
Versuche die Wahrsch£inlichkeit p hat, in k Einzelversuchen genau
amal eintritt? — oder mindestens amal? Ferner: es kann bei einem
Versuche dreierlei eintreffen: entweder, mit der Wahrscheinlichkeit p,
das Ereignis A; oder, mit der Wahrscheinlichkeit q, das Ereignis B;
oder, mit der Wahrscheinlichkeit 1—p— g, keins von beiden; wie
groß ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß in % Versuchen A min-
destens amal und B mindestens bmal auftritt? oder, daß A eher amal
eintritt als B seinerserts bmal? — Der Titel der Lagrangeschen
Abhandlung zeigt deutlich die Hilfsmittel an, auf die sich die Lösungen
der Aufgaben stützen, nämlich die rekurrierenden Reihen und die Dif-
ferenzengleichungen. Hier knüpfen die Arbeiten Trembleys an.
Einer angesehenen Schweizer Familie entsprossen, war er, Jean, ge-
boren 1749 in Genf, nicht der erste unter ihren Mitgliedern, der sich
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 16
234 Abschnitt XXI.
wissenschaftlich einen Namen errang. Jean sollte Jurist werden;
allein, durch Mallet beeinflußt, wendete er sich dem Studium der
Astronomie und der Mathematik zu, ging 1794 nach Berlin, wo er
Mitglied der Akademie der Wissenschaften wurde, und starb 1811
bei Verwandten in Südfrankreich. Er empfand es als unnötige
Erschwerung, daß Lagrange und Laplace bei der Behandlung relativ
einfacher Aufgaben der Wahrscheinlichkeitsrechnung Hilfsmittel ver-
wendeten, .die — wie er sich ausdrückt — „aus den tiefsten
Eingeweiden der Integral-Rechnung“ entnommen sind, und er
stellt sich die Aufgabe, dieselben Fragen allgemein und elementar
„methodo elementari“ zu behandeln. Das tut er in der „disquisitio
elementaris circa ealeulum probabilium“, Comm. Soc. Gotting. XI,
1793—1794 (1796), p. 99—136. Wir gehen nicht näher darauf ein,
da kaum etwas Neues geboten wird, und da die Nachteile elemen-
tarer Behandlung meistens ihre Vorteile überwiegen, indem sie er--
müdend lang und unübersichtlich ist.
Auch das Teilungsproblem findet sich unter den Problemen
wieder, an die man in unserer: Epoche herantritt. Die Frage kommt
schon in der Ars conjeetandi vor; sie lautet allgemein: ein Spiel
wird vor seiner Beendigung abgebrochen; wie sind gerechtermaßen die
Einsätze zu verteilen? Bei der Untersuchung eines solchen Pro-
blems') kommt Nie. Fuß zu einem Resultate, das von dem durch
Jak. Bernoulli erhaltenen wesentlich abweicht. Es zeigt sich aber 2),
daß dieser Unterschied von einer nicht scharfen Fassung der Aufgabe
herrührt, so daß in Wirklichkeit beide Forscher durchaus ver-
schiedene Aufgaben behandelt hatten. Fuß selbst klärt dies auf. —
Eine andere häufig behandelte Aufgabe ist die nach der Dauer
von Spielen. De Montmort gab die Anregung dazu; und auch hier
ist de Moivre als erster zu nennen, der sich mit entschiedenem Er-
folge des Problems annahm. Wir geben ihm folgenden Ausdruck:
A besitzt a Marken, B deren b, und es besteht für A die Wahrschein-
lichkeit p, im Einzelspiele zu gewinnen, für B die Wahrscheinlichkeit
gq=1-—p. Der im Einzelspiele Verlierende zahlt dem Gewinnenden
eine Marke. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß in %k Spielen
einem der Spieler durch den Verlust aller seiner Marken die Fort-
setzung des Spiels unmöglich gemacht wird? In wieviel Spielen ist
es gleich wahrscheinlich, daß diese Beendigumg eingetreten, oder dab
sie nicht eingetreten ist? Auch hier haben Lagrange und Laplace
allgemeine Lösungen geliefert. Die Lagrangesche Arbeit, im der
das geschehen ist, haben wir bereits erwähnt.
1) Act. Petrop. 1779, II, p. 81--92. °) Ibid. 1780, II, p. 91—96.
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 235
Die Entstehung des @enueser Zahlen-Lotto ist bereits oben (Bd. III?,
S. 336) besprochen und seine Einrichtung mitgeteilt; wir erwähnen
dabei, daß „Laplace (Mem. de Paris VI, 1774, p. 365) dieses Spiel
als „Lotterie der Militär-Schule“ bezeichnet, ohne einen Grund für diese
Benennung anzugeben: Aus 90 mit den fortlaufenden Zahlen 1 bis
90 bezifferten Marken werden 5 Gewinnmarken herausgegriffen. An
diese Einrichtung der Genueser Zahlen-Lotterie knüpfen sich mehrere
interessante Fragen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Das Erscheinen
von 2 aufeinander folgenden Zahlen unter den Gewinnmarken heißt eine
Sequenz oder eine Folge. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß
bei einer Ziehung eine Sequenz auftritt? Euler hat dieses Problem
in dem Aufsatze: „Sur la probabilit€ des sequences dans la loterie
genoise“, Histoire de VAcad. ... & Berlin 1765 (1767), p. 191-230
aufgeworfen und erledigt. An gleichem Orte p. 271—280 und im An-
schlusse an diesen Aufsatz behandelt Beguelin die gleiche Frage in
der Arbeit: „Sur les suites et les sequences dans la loterie de Gönes“.
Der Unterschied zwischen beiden ist nur der, daß Beguelin auch
die Nummern 90, 1 als Sequenz auffaßt, also eine kreisartig ge-
schlossene Folge der Nummern annimmt. Johann II. Bernoulli
nimmt in einer schon früher verfaßten, aber erst später veröffentlichten
Arbeit: „Sur les suites ou sequences dans la loterie de Gönes“
(ibid. 1769 [1771], p. 234—253) den gleichen Standpunkt ein wie
Beguelin. Werden allgemein »n Nummern angenommen, von denen r
gezogen werden, so ist die Wahrscheinlichkeit bei der Eulerschen
Annahme ent Sr (.) für das Nichtauftreten einer Sequenz und
in; 2 - (r) bei der Bernoulli-Beguelinschen. Beguelin
gibt eine mechanische Aufstellung der möglichen Ziehungen ohne
Sequenz, die an die Hindenburgschen kombinatorischen Regeln er-
innert und „involutorisch“ genannt werden kann. Wir wollen an
einem Beispiele zeigen, in welcher Weise Beguelin vorgeht. Für
n—=6 und r=2 seien die sequenzlosen Ziehungen gegeben. Es sind
13, 14, 15, 16, 24, 25, 26, 35, 36, 46.
Um die füra—=7 undr=3 zu erhalten, behalten wir aus den so-
eben aufgestellten alle bei, die nieht mit 1 beginnen, also die sechs
letzten, erhöhen jede eingehende Nummer um 1, so daß 35, 36, 37,
46, 47, 57 entsteht, und schreiben eine 1 vor Sal dieser Komilere
Das gibt alle die sequenzlosen Kombinationen firn=7,r—=3, die
mit einer 1 beginnen:
135, 136, 137, 146, 147, 157.
Unter jede dieser, allgemein mit a, b, c bezeichneten Kombinationen
16*
236 Abschnitt XXI.
wird nun +1, b-+1, c-+ 1 geschrieben; unter die so entstehenden
in eine dritte Zeile a +2, b+2, c+ 2, usf. bis in der letzten, dritten
Nummer des Tripels die höchste Zahl 7 erreicht wird. Die vollstän-
dige Tabelle lautet dann 1
135, 136, 137, 146, 147, 157,
246, 247, 257,
357.
Das sind unter der Eulerschen Annahme die 10 sequenzlosen Kom-
binationen; die 7 Bernoullischen erhält man durch Tilgung der
dritten, fünften und sechsten dieser 6 Spalten. Wie es sein muß, ist
den obigen Formeln entsprechend
10 „1.) und Tr sl de
Laplace hat im „Memoire sur les suites recurrentes et leurs
usages dans la theorie des hasards“!) Probleme behandelt, die
Euler in Zusammenhang mit der Genueser Zahlenlotterie bringt und
in folgender Fassung vorträgt (Opusc. analyt. II, 1785, p. 331—346):
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß nach Beendigung einer ge-
gebenen Anzahl von Ziehungen alle 90 Nummern als Gewinnummern
zum Vorschein gekommen sind, oder gerade 89 von ihnen, oder 88,
oder weniger? Wie groß ist die Anzahl der Ziehungen, nach denen
die -Wahrscheinlichkeit, daß alle 90 erschienen sind, ebenso groß ist
wie die, daß sie nicht erschienen sind? Bei der ersten angegebenen
Problemreihe fügt Euler noch als erschwerenden Zusatz das Wörtchen
„wenigstens“ ein: wenigstens 89, wenigstens 88. Ist » die Anzahl
der Nummern, r die Anzahl der jedesmal gezogenen, %k die Anzahl
der Ziehungen, dann ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß in &
Ziehungen jede der n Nummern erscheint
k NE — ak k
Wr rin ah
Aus der Bedeutung dieses Ausdruckes schließt man den arithmetischen
Satz, daß der Dividend den Wert Null besitzt, sobald n>r-k ist.
Hierher gehört auch die folgende Aufgabe: Wie groß ist die
Wahrscheinlichkeit dafür, mit einem Würfel von » Flächen in q
Würfen einmal der Reihe nach die Zahlen 1,2, 3,...» zu werfen?
J. Trembley behandelt diese Frage?) und gibt die Lösung induktiv
ohne Beweis: Ist » die gesuchte Wahrscheinlichkeit, so findet er
!) Me&m. pres. p. div. Savans ä l’Acad. de Paris VI, 1775, p. 353. ?) Arch.
f. reine u. angew. Math. herausgeg. v. Hindenburg, 1799, Heft 10, 8. 123
bis 137.
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 237
1-uvw= ee: wo (g) der Koeffizient von x in der, nach steigenden
N
1
1i—nz+.”
ist. Auch Laplace hat das gleiche Problem behandelt!) und die
Differenzengleichung hergeleitet, von der seine Lösung abhängig ist.
g+1
PA
bleyschen Resultate übereinstimmt. Der Laplacesche Aufsatz be-
handelt in seinem zweiten Teile noch mehrere andere auf Spiele, ihre
Dauer und ihr Abbrechen bezügliche Probleme.
Von der Behandlung der Lotterien führt ein kleiner Schritt zu
den sozialwissenschaftlichen Zweigen, die sich auf die Statistik stützen
und der Mathematik als Hilfswissenschaft bedürfen. Wir können nur
in größter Kürze auf diesen Gegenstand eingehen; behufs weiteren
und tieferen Eindringens verweisen wir auf die Schrift „Histoire du
calcul des probabilites depuis ses origines jusqu’ä nos jours“ par
Charles Gouraud, Paris 1848, die gerade auf diese, der reinen
Mathematik ferner liegenden Partien liebevoll eingeht.
Eine Anzahl von Abhandlungen befaßt sich mit den verderblichen
Wirkungen der Pocken und mit der Schutzimpfung gegen sie.
Daniel Bernoulli kommt in der Abhandlung: „Essai d’une nouvelle
analyse de la mortalit@ causee par la petite verole et les avantages
de l’inoculation pour la prevenir“ Hist. de l’Acad. ä Paris 1760
(1766), p. 1—45 auf diese, für die damalige Zeit eminent wich-
tigen Fragen, und der Hauptzweck seiner Arbeit ist der, die durch
die Pocken hervorgerufene erhöhte Sterblichkeit in den verschiedenen
Lebensaltern zahlenmäßig festzulegen. Das hätte durch eine sorgfäl-
tige Statistik ohne besondere Schwierigkeiten geschehen können; aber
es mangelte gerade an den notwendigen statistischen Daten, und
diese Lücke sucht D. Bernoulli durch Formeln auszufüllen, die auf
Grund theoretischer Betrachtungen über Wahrscheinlichkeit aufgestellt
werden. Bernoulli nimmt an, daß von je » Personen 1 von den
Pocken befallen werde, und daß von je m Befallenen 1 daran sterbe.
Die Zahlen m und n betrachtet er als konstant, d. h. als vom Alter
der in Frage stehenden Personen unabhängig, und zwar setzt er
n—8 und m=8. Diese Annahmen schienen besonders für das frühe
Alter bis zu 25 Jahren durch die Erfahrung so ziemlich gesichert
zu sein, boten aber der Kritik d’Alemberts willkommene Angriffs-
punkte.
Nun mögen von einer Generation & Personen das Alter x er-
Potenzen von x fortschreitenden Entwicklung des Bruches
Fürn=2 gibtecw=1— als Lösung, was mit dem Trem-
') Memoires... Paris VII, 1773, p. 37-232.
238 Abschnitt XXI.
reichen, und unter ihnen s, die nicht von den Pocken befallen waren;
dann stellt Bernoulli nach der oben dargelegten Infinitesimalmethode
eine Differentialgleichung zwischen &, x und s her, die durch In-
tegration auf das Resultat
mE
| (m ye'*+1
führt. Bedeutet z die Zahl der unter den & Personen im Alter x
noch Lebenden unter der Annahme, daß die Pocken nicht vorhanden
wären, dann folgt die Bestimmung
Bam ms een,
(m — Ne" +1
so daß also z2=s- e”'* wird. Diese Formeln für s und z ermöglichen
die Herstellung der gewünschten Tabellen, sowie den Schluß auf die
Nützlichkeit der Pockenimpfung, durch die das durchschnittliche
Leben der Bevölkerung verlängert werde. Auch hier setzt die Kritik
d’Alemberts wieder ein und stellt, ohne den Nutzen der Impfung
zu leugnen, dem Interesse der Gesamtheit das des Einzelnen entgegen,
der leicht durch die Impfung geschädigt werden könne!).
Seinem Programm gemäß geht J. Trembley unter Aufrecht-
erhaltung der Hypothesen Daniel Bernoullis mit elementaren
Mitteln an dieselben Untersuchungen in der Arbeit „Recherches sur
la mortalit6 de la petite verole“ (Mem. de l’Acad....ä Berlin 1796
[1799], p. 17—38).
Für die Frage nach der mittleren Dauer der Ehen lag ebenso-
wenig ausreichendes statistisches Material vor. Auch hier mußte die
Theorie aushelfen. Daniel Bernoulli führt das Problem ın seiner
einfachsten Gestalt — gleiches Alter der Gatten und gleiche Sterb-
lichkeit für beide Geschlechter — auf folgende Aufgabe der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung zurück („De usu algorithmi infinitesimalis
in arte conjectandi speeimen“; Nov. comment, ..... Petrop. XI,
1766, 1767 [1768], p. 87—98): In einer Urne befinden sich 2%
Karten; zwei von ihnen sind mit 1 bezeichnet, zwei mit 2,... zwei mit
n. Es werden m Karten gezogen. Welches ist die wahrscheinlichste
Zahl von Paaren, die vollständig in der Urne zurückbleiben? Er findet
en— man—m—1)
Die Übertragung auf das Problem der Ehe-
2(2n—1)
dauer ist naheliegend; Bernoulli führt es ın der Arbeit: „De dura-
tione media matrimoniorum ...“ Nov. comment. ... . Petrop. XII, p. 99
— 126 in jener einfachsten, sowie in allgemeinerer Form durch. Mit
1) Opuseules II, p. 26—95: Sur l’application du caleul des probabilites de
l’inoculation de la petite verole. — Ibid. IV, p. 283—341: Sur les calculs relatifs
& Vinoculation.
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 239
ähnlichen Gegenständen beschäftigt sich Johann III. Bernoulli in
der Histoire de l!’Acad....ä Berlin 1768 (1770), p. 384—403.
In ähnlicher Weise behandelt D. Bernoulli die Frage nach dem
Verhältnis der Geburten von Knaben und Mädchen, der schon de
Moivre in seiner „doctrine of chances“, p. 243—254 näher getreten
war. Bernoulli macht zuerst die Hypothese, daß das Überwiegen
der Knabengeburten lediglich Wirkung des Zufalls sei; dann die, daß
in ihr ein Naturgesetz in Erscheinung trete: „Mensura sortis ad
fortultam successionem rerum naturaliter contingentium applicata“
Nov. comment. .... Petrop. XIV, 1, 1769 (1770), p. 1—25 und „Con-
tinuatio argumenti....“ ibid. XV, 1770 (1771), p. 3—28; seine Unter-
suchungen zeigen, daß die größere Wahrscheinlichkeit auf seiten der
_ zweiten Annahme steht, d. h. daß eine natürliche Ursache für die
größere Anzahl der Knabengeburten vorhanden sei.
Euler fragt nach der Sterblichkeit und nach der Bevölkerungs-
zunahme (Hist. de l’Acad....ä Berlin 1760 [1767], p. 144—164);
hierauf gründet er Formeln zur Berechnung von Leibrenten, ein
Thema, das ihn ibid. p. 165-175 beschäftigt. Es ist nicht möglich,
noch angängig, in einer Geschichte der Mathematik alle, auf diese
statistischen Fragen bezüglichen Arbeiten zu besprechen, bei denen es
sich hauptsächlich um die Herstellung von Tabellen handelt, die
praktischen Zwecken dienen sollen. Nur ihrer Verfasser wegen er-
wähnen wir noch zwei Arbeiten; die eine von Lagrange: „Memoire
sur une question concernante les annuites“; Me&m. de l’Acad.... ä
Berlin 1792, 1793 (1798), p. 225—246; sie behandelt folgende Frage:
Wieviel muß ein Vater jährlich, so lange er lebt und mindestens eins
seiner Kinder noch minorenn ist, als Prämie einzahlen, damit nach
seinem Tode, aber nur so lange bis alle seine Kinder majorenn sind,
eine bestimmte Summe jährlich den Kindern ausgezahlt werde? Die
andere Arbeit, auf die wir hinweisen wollen, stammt von de Con-
dorcet: „Suite du m&moire sur le caleul des probabilites“, Histoire
de l’Acad.... ü Paris 1782 (1785), p. 674. Sie behandelt die fol-
gende Frage: Auf einem Grundstück lasten Pflichten in Gestalt von Ab-
gaben, die nicht zu bestimmten Zeiten fällig sind, sondern beim
Eintritte von Ereignissen fällig werden, die in gewisser Weise vom Zu-
falle abhängig sind; dazu gehört z. B. der Übergang des Besitzes in andere
Hände, sei es durch Verkauf, sei es durch Erbschaft. Diese Ereig-
nisse können demnach entweder nur möglicherweise eintreten oder
auch notwendigerweise. Es soll der Ablösungswert einer solchen Last
bestimmt werden.
Wir kommen nun zu der Darstellung eines weiteren, wichtigen
Prinzips, das der Wahrscheinlichkeitsrechnung neue Bahnen eröffnete.
240 Abschnitt XXI.
Jakob Bernoulli hatte gezeigt, daß, wenn bei einem Versuche eins
der beiden sich ausschließenden Ereignisse A, B eintreffen muß; wenn
ferner die Wahrscheinlichkeit des ersten dabei gleich p und die des
zweiten gleich g=1-—p ist; wenn endlich bei (m + n) Versuchen
A gerade mmal und B gerade nmal eingetroffen ist: daß dann der
Quotient - sich bei wachsendem (m + n) dem Quotienten 2 ohne
Aufhören nähert. De Moivre hatte noch einen Schritt weiter getan,
indem er die Differenz der beiden Quotienten zwischen bestimmte
Grenzen einschloß, die einander um so näher rücken, je größer die An-
zahl der Beobachtungen ist. Bisher war also die Wahrscheinlich-
keit des Ereignisses das Gegebene gewesen, aus dem Schlüsse über
das Eintreffen des Ereignisses sich ziehen ließen. Jetzt wird die um-
gekehrte Frage aufgeworfen: kann man aus dem Eintreffen eines Er-
eignisses seine Wahrscheinlichkeit bestimmen? Implizite ist diese
Frage bereits bei der Aufstellung von Geburtstabellen von Daniel
Bernoulli (siehe oben) gestreift worden; mit vollster Klarheit wurde
sie von dem Engländer Bayes aufgeworfen und behandelt. Laplace
schreibt darüber‘): „Bayes’ hat direkt die Wahrscheinlichkeit dafür
bestimmt, daß die roh bereits vollzogene Versuche gegebenen Mög-
lichkeiten zwischen gegebenen Grenzen liegen. Er gelangt dazu auf
elegante und sehr geistreiche Art, die freilich ein wenig verwickelt
ist.“ Über Thomas Bayes’ Lebensumstände haben wir nichts in
Erfahrung bringen können, außer daß er Mitglied der Royal Soeiety
zu London war und vor Ende November 1763 starb. Seine Ab-
handlung: „An essay towards solving a problem in the doctrine of
chances“ wurde nach seinem Tode unter hinterlassenen Papieren ge-
funden und durch Vermittlung seines Freundes Richard Price
(1723—1791), der sich durch Aufstellung von Lebensversicherungs-
berechnungen als Fachmann bekannt gemacht hatte, in den P. T.
LIII, 1763, p. 370°) veröffentlicht; Price selbst schrieb eine Ein-
leitung, Erläuterungen und Beweise zu dieser Abhandlung.
Bayes beginnt mit der Fixierung des Problems: „Es ist bekannt,
wie oft bei einer Anzahl von Versuchen ein Ereignis eingetroffen
und wie oft es ausgeblieben ist; gesucht wird die Wahrscheinlichkeit
dafür, daß die Wahrscheinlichkeit seines Eintreffens in einem einzelnen
Versuche zwischen zwei gegebenen Grenzen liege“.
Die Behandlung des Problems geschieht auf geometrischem Wege.
Auf eine rechtwinklige Tafel ABCD von der Länge AD=a wird
eine Kugel geworfen, die in @ zur Ruhe kommt; ihre Entfernung
ı) Theorie analytique des probabilites, 3=° edit. Paris 1820, p. CXXXVI.
2) Nebst Supplement P. T. LIV (1764), p. 296.
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 241
von AB sei <= AF= BH. Alle Werte vonx=0 bis z=a seien
für die Ruhelage der Kugel gleich wahrscheinlich, Nun wird eine
zweite Kugel auf die Tafel geworfen; ihre Ruhelage habe von AB
die Entfernung & Der Wurf der zweiten Kugel finde (m + n) mal
statt. Es soll, bevor die erste Kugel ge-
worfen ist, die Wahrscheinlichkeit dafür Ä
bestimmt werden, daß x zwischen zwei BR
gegebene Grenzen b=AK und c=AN | K erh
fällt, und daß sich dann mmal &<x und i
nmal E>x bei den Würfen mit der ae;
zweiten Kugel herausstellt. Bayes zeichnet | | j
B zZ H0 c
über AD eine Kurve mit der Ordinate
y=a’(a— x)? und zeigt, daß die gesuchte
Wahrscheinlichkeit, abgesehen von einem konstanten Faktor,
= KJMNK
wird. Nimmt man b=(, c=a, so wird die Wahrscheinlichkeit
= AJEMDNKA.
Da diese Wahrscheinlichkeit = 1, d. h. Gewißheit wird, so bestimmt
sich dadurch der konstante Faktor. Daraus folgert Bayes: Wissen wir,
daß bei den (m +n) Würfen der zweiten Kugel mmal &<x und
nmal &> x gewesen ist, dann wird die Wahrscheinlichkeit dafür, daß
b<x@<.c ist gleich dem Quotienten der Flächen KJMNK und
AJEMDA, oder in unserer Schreibweise
fr« — ı)!dz
b
Fi (a — aylda
0
Man kann Laplace nur beistimmen, wenn er diese Schlüsse ein
wenig verwickelt nennt.
Laplace stellt seinerseits das Prinzip, auf das sich die Unter-
suchung der Wahrscheinlichkeit von Ursachen aufbaut, an den Beginn
seiner Abhandlung!). Er gibt ihm die Form: Ist ein Ereignis A die
Folge einer der n Ursachen B,, B,,..., B,, derart daß jedes B, dem
Eintreffen von A die Wahrscheinlichkeit w, erteilt, dann ist die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß B, das Eintreffen von A hervorgerufen
hat, w,:2w,. Laplace erklärt dies Prinzip an einem Beispiele: Es
") Memoires ... Acad. des sciences ä& Paris VI (1774), p. 621.
242 Abschnitt XXI.
seien zwei Urnen B, und B, vorhanden; B, enthalte p weiße und
q schwarze Kugeln; B, enthalte p’ weiße und g’ schwarze. Aus einer,
aber unbekannt aus welcher Urne werden (f+h) Kugeln gezogen;
dabei sind f weiße und A schwarze herausgekommen. Wie groß ist die
Wahrscheinlichkeit, daß sie aus D,, wie groß die, daß sie aus B, ge-
zogen wurden? Das Ziehen der f weißen und h schwarzen Kugeln ist
das Ereignis A; die Wahl von B, oder die von B, die Ursache; w, wird
die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses, wenn es aus der Wahl von
B, stammt, und w,, wenn es aus der von B, stammt; also ist, wie
Laplace angibt,
_f+hb!e+a-f-—hiptla!
+! — f)!@—h!f!h!
ee FE EB Mip!a!
Pt! -N!@—h!f!h!
Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß B, die Ursache des Ereignisses
%,
ww
Laplace geht darauf zu der Aufgabe über: wenn eine Urne un-
endlich viele weiße und schwarze Bälle in unbekanntem Verhältnis
enthält, und wenn bei der Ziehung von (p+g) Kugeln p weiße und
q schwarze erschienen sind, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß
eine neue Ziehung eine weiße Kugel liefern wird? Hier ist die An-
zahl der möglichen Ursachen, dem unbekannten Verhältnisse ent-
sprechend, unendlich groß. Als Resultat ergibt sich für die gesuchte
Wahrscheinlichkeit _? 1 _. — Unter den gleichen Verhältnissen
P+4r2
können die Zahlen » und q so hoch genommen werden, daß mit einer
an Gewißheit streifenden Wahrscheinlichkeit behauptet werden kann,
das Verhältnis der weißen zu sämtlichen Kugeln der Urne liege
w,
und ebenso
war, ist dann
zwischen Te — o und ae +0, wo © beliebig klein gemacht
werden kann. — Auf diesen wichtigen Satz war auch Price (I. c.
LIV, p. 317 Anm.) schon gekommen; da Laplace in seiner ersten
Publikation 1774 weder Bayes noch Price erwähnt, läßt sich wohl
annehmen, daß ihm ihre Untersuehungen damals noch unbekannt
waren; zum ersten Male werden beide englische Mathematiker im Zu-
sammenhange mit Laplace in der Inhaltsangabe erwähnt, die der
Arbeit des französischen Forschers in der Histoire de l’Acad. ...
Paris 1778 (1781), p. 43 vorausgeschickt ist. Die Arbeit ist von
1780 datiert. Zu ähnlichen Resultaten gelangt auch Condorcet,
auf dessen Leistungen wir bald genauer einzugehen haben werden, in
einem Aufsatze der Hist. de l’Acad.... Paris 1783 (1786), p. 539. —
J. Trembley hat sich ebenfalls mit diesen Fragen beschäftigt, wieder
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 243
in der Absicht, ohne Verwendung der höheren Mathematik die Re-
sultate abzuleiten, wie wir das schon früher erwähnten. Seine Arbeit
„De probabilitate causarum ab effectibus oriunda“ findet sich in den
Comm. Soc. Reg. Gotting. XIH, 1795—1798 (1799), p. 64—119; sie
vermeidet tiefer liegende Hilfsmittel nur auf Kosten der Kürze und
Übersichtlichkeit.
Im vierten Abschnitt seines „Me&moire sur le calcul de probabilites“
Histoire de l’Acad. des sciences ä Paris 1783 (1786), p. 539 stößt auch
Condorcet auf diese Fragen. Er macht auf folgendes aufmerksam.
Wenn bei 100000 Versuchen das Ereignis A 51000mal und das Ereig-
nis 5 49000 mal eingetreten ist, so wird das Problem über die Wahr-
scheinlichkeit des Ausfalls der weiteren Ziehungen verschieden sein,
je nachdem jene 51000 Ereignisse stattgefunden haben; wenn nämlich in
je 100 aufeinander folgenden Versuchen durchschnittlich 5lmal A und
49 mal B erschienen ist, so wird der gesunde Verstand andere Er-
wartungen über die folgenden Ereignisse hegen, als wenn in den
ersten Serien von je 100 Versuchen A stark überwogen hat, dann
dieses Überwiegen aber abnahm, und dafür allmählich das Ereignis B
häufiger und häufiger auftrat. Bei beiden Annahmen gibt die Bayes-
sche Formel jedoch das gleiche Resultat. Sie erscheint daher nur
dann anwendbar, wenn die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses A
wenigstens durchschnittlich den gleichen Wert beibehält. Auf die
Fälle, in denen das nicht eintrifft, wendet Condorcet seine Aufmerk-
samkeit. Er stellt analog der Bayesschen Formel zwei andere
auf; die eine bezieht sich auf den Fall, daß die Wahrscheinlichkeit
des Ereignisses A zwar veränderlich ist, jedoch nicht von der Folge
der Versuchsausfälle abhängig erscheint; die zweite Formel läßt die
Wahrscheinlichkeit auch von der Folge der Ereignisse abhängig sein.
Die Wahrscheinlichkeiten stellen sich als Quotienten aus vielfachen Inte-
gralen dar. Sie liefern z. B. das Resultat: Ist A dreimal eingetreten,
dann ist die Wahrscheinlichkeit eines vierten Eintretens z —= 0,8,
wenn die Wahrscheinlichkeit konstant ist; =
veränderlich, allein von der Folge der Ereignisse unabhängig ist;
1799
3000
lichkeit wirkend angesehen wird.
In der Abhandlung „M&moire sur les probabilites“ datiert vom
19. Juli 1780 in der Hist....& Paris für 1778 macht Laplace
darauf aufmerksam, daß in gewisser Art, aber anders als d’Alembert
es sich dachte, künftige Ereignisse von früheren abhängig erscheinen,
insofern nämlich als durch den Ausfall der früheren die Anschauung
— 0,607, wenn sie zwar
0,599, wenn die Folge des Ereignisses als auf die Wahrschein-
244 Abschnitt XXI.
und die Kenntnis der Wahrscheinlichkeit des Eintreffens der späteren
korrigiert und erweitert werde. Im Artikel XIV dieser Abhandlung
heißt es bei der Besprechung des Ausfalles fortgesetzter Spiele zweier
Personen, daß man durch die Folge der Ereignisse neue Aufschlüsse
über ihre Geschicklichkeiten erhalten könne, derart daß sie bei un-
endlich vielen Spielen genau bekannt werden. „Unter diesem Gesichts-
punkte läßt sich nicht bezweifeln, daß frühere Ereignisse auf die
- Wahrscheinlichkeit späterer Einfluß haben.“
Das gibt Laplace Veranlassung, diesen Einfluß zu untersuchen
und so zu der Bayesschen Regel zu gelangen. Die dazu nötigen
Schlüsse hat Laplace wiederholt vorgetragen. Wir gehen sofort
darauf ein; nur erwähnen wir erst noch, daß in Artikel XVI der
besprochenen Abhandlung dieser Einfluß an dem Beispiele zweier Spieler
erläutert wird: B hat die erste Partie gewonnen, wie groß ist die
Wahrscheinlichkeit, daß A die beiden folgenden gewinnt? Es stellt
sich heraus, daß unter Berücksichtigung der Verschiedenheiten der
Geschicklichkeiten diese Wahrscheinlichkeit kleiner als . ist.
Laplace kommt in seinem „Memoire sur les approximations des
formules qui sont fonctions de tres-grands nombres“, Art. IV (Hist.
de l’Acad....& Paris 1783 [1786], p. 423), auf die Begründung der
Bayesschen Regel zurück und leitet sie mit größter Einfachheit ab.
Er geht dabei folgenden Weg: Bezeichnen e und E zwei Ereignisse,
p und W ihre Wahrscheinlichkeiten, und hat das gleichzeitige Ein-
treffen von e und von E die Wahrscheinlichkeit v, so ist v=p-V;
‚2 7 „Die gesamte Theorie der Ursachen und der zukünftigen Er-
eignisse, erschlossen aus den bereits eingetretenen, fließt mit großer
Leichtigkeit aus dieser Formel“ (p. 428). Nämlich so:
Es möge E Folge eines der Ereignisse e,, &, &,..., €, Sein; e,
gebe dem Erscheinen von E die Wahrscheinlichkeit a,. A priori
mögen alle e, gleiche Wahrscheinlichkeiten, d. h. jedes die Wahr-
scheinlichkeit n haben; dann hat das Zusammentreffen von e, und E
die Wahrscheinlichkeit =, und daraus folgt für die Wahrscheinlich-
keit von E |
1
‚- a +%+%+:::+9)
Bezeichnet p, die Wahrscheinlichkeit, daß e, die Ursache von E war,
und bedenkt man, daß a die Wahrscheinlichkeit des Zusammen-
treffens von e, und E, also gleich v, ist, so wird nach der obigen
Elementarformel
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 245
a
.: a,
ag +a+:.-+a
%
ee
(+9 +::+@,)
Das ist die Bayessche Regel.
Auch hier gibt Laplace ein sehr treffendes Beispiel: Eine Urne
enthält drei Kugeln, schwarze oder weiße. Es wird blindlings eine
Kugel gezogen; diese wird wieder in die Urne getan und dann eine
neue Ziehung vorgenommen. In m aufeinander folgenden Ziehungen sind
nur weiße Kugeln zum Vorschein gekommen. Wie groß sind die
Wahrscheinlichkeiten dafür, daß die Urne nur weiße, oder 2 weiße
und 1 schwarze, oder 1 weiße und 2 schwarze Kugeln enthält?
Nimmt man für e,, &,e, diese 3 Möglichkeiten, so wird a, =1,
N j\m
„= (5) ‚= (3) ,‚ und
> gr Bol m u 1»
14m’ PT, mm BTÜLLmLm
Laplace bemerkt weiter, daß die genaue Wahrscheinlichkeit der
meisten einfachen Ereignisse uns unbekannt, also für uns jedes Wertes
zwischen O0 und 1 fähig sei. Sie heiße x; die Wahrscheinlichkeit
von E unter der Geltung von & sei f({x)dx; dann geht die obige Formel
für p, nach Erweiterung mit dx über in
_ foada
u I
je
[r@az
0
pP,
x
und die Wahrscheinlichkeit, daß x zwischen den beiden Grenzen ®
und 9, liegt, ist gleich dem Quotienten
Sie) dx ffeoaa.
0 und 9, werden nahe dem Werte a, diesen einschließend, ge-
wählt, wo 2= a die Funktion f(x) zu einem Maximum macht; und
dann läßt sich zeigen, wie die Wiederholung einfacher Ereignisse
durch ihren Ausfall Schlüsse auf ihre Wahrscheinlichkeit ermöglicht.
Laplace wendet dann die erhaltenen Theoreme auf das Problem
der Knaben- und Mädchen-Geburten an (vgl. S. 239) und benutzt für
die wirkliche Berechnung der unbekannten Wahrscheinlichkeiten die
in dem früheren Teile des M&moire (Hist.... Paris 1782, p. 1—883)
hergeleiteten Näherungsformeln für die Integrale der angegebenen
Formen.
246 Abschnitt XXI.
Dann geht er auf weitere theoretische Untersuchungen darüber
ein, wie aus dem Vorkommen früherer Ereignisse auf das Eintreten
späterer Schlüsse möglich sind. Ist p(z) die Wahrscheinlichkeit des
zukünftigen Ereignisses, a priori betrachtet, und P die, aus den be-
obachteten früheren Resultaten erschlossene Wahrscheinlichkeit, so
ergibt sich
P - Sta) (x) da [fo da.
Auch diese Formel wird auf das typische Beispiel vom Ziehen einer
Kugel aus einer Urne angewendet: ist einmal eine weiße Kugel ge-
zogen, dann ist die Wahrscheinlichkeit für das weitere Erscheinen
von n schwarzen Kugeln
1 1
2
0
Von der Methode der Bestimmung zukünftiger Ereignisse durch
den Ausfall früherer macht Laplace auch in dem Aufsatze „Sur les
naissances, les mariages et les morts ä Paris“ (Hist. de !’Acad. 1773
[1776], p. 693— 702) Gebrauch, um die Ergebnisse von Volkszählungen,
die in einzelnen Distrikten Frankreichs vorgenommen wurden, ver-
allgemeinernd zu verwerten. Aus ihnen sollte die Bevölkerung des
ganzen Reiches bestimmt werden. Das konnte mit Hilfe von Geburts-
tabellen für das gesamte Gebiet geschehen, wenn das aus jenen
Distrikten erhaltene Verhältnis zwischen Geburten und Lebenden für
das ganze Reich Gültigkeit beanspruchen darf. Laplace erörtert,
mit welcher Wahrscheinlichkeit man eine solche Annahme machen
dürfe. Er reduziert sie auf das Urnenschema: In einer Urne befinden
sich unendlich viele schwarze und weiße Kugeln in unbekanntem Ver-
hältnisse. In einer ersten Ziehungsserie werden p weiße und q
schwarze Kugeln gezogen; in einer zweiten g, schwarze, wieviel weiße
ist unbekannt. Dabei ist es am naturgemäßesten, anzunehmen, daß
die Zahl », der weißen das Verhältnis befriedigt p:q=p,:9, also
pM= 2 wird. Es wird nun die Wahrscheinlichkeit P dafür bestimmt, -
daß für den wahren Wert », die Eingrenzung
A-o)<n<Y (te)
bei kleinem ® gilt. Bis auf Größen der Ordnung »* wird
2 % x
Pe VL 12 BB» Pgg9,® z
vajä (« ee,
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 247
Auch in dem Aufsatze der Histoire de l’Acad.... Paris 1778, p. 227
geht Laplace auf das Problem des Geburtsverhältnisses von Knaben
und Mädchen ausführlich ein.
Eine weitere Frage zieht, sowohl wegen der Untersuchungen, zu
denen sie in unserem Zeitraume selbst Anlaß gab, als auch wegen
ihrer praktischen Wichtigkeit unsere Aufmerksamkeit auf sich. Zu-
dem gab sie den ersten Anstoß zur Theorie der Beobachtungs-
fehler. Ist eine Größe mehrfach beobachtet, dann werden die Re-
sultate der einzelnen Beobachtungen i. a. nicht miteinander überein-
stimmen, so z. B. wenn die Länge einer Strecke oder die Größe eines
Winkels gemessen worden ist. Als das wahrscheinlichste Resultat
hat man dann, wenn die Beobachtungen als gleichwertig eingeschätzt
werden, das arithmetische Mittel der Einzelbeobachtungen angesehen.
Es ist die Frage, mit welchem Rechte das geschieht. Davon war
(diese Vorlesungen III, S. 640—641) im Anschluß an eine Abhand-
lung von Th. Simpson schon die Rede; Lagrange nimmt (Mis-
cellanea Taurinensia V, 1770—1773, p. 167—232)*), wahrscheinlich ohne
Kenntnis jener früheren Untersuchung zu haben, das Problem wieder
auf und führt die Behandlung ähnlich wie Simpson durch. Er setzt den
wahren Wert der zu beobachtenden Größe und die begangenen Be-
obachtungsfehler als gegeben voraus, kann daraus das Mittel der Be-
obachtungen berechnen und darauf hin bestimmen, mit welcher Wahr-
scheinlichkeit das Mittel den genauen Wert gibt, und mit welcher
Wahrscheinlichkeit bei seiner Annahme ein Fehler von gegebener
Größe begangen wird. Liegen z. B. Fehler nur von den Größen
+1, 0, — 1 vor, gilt gleiche Wahrscheinlichkeit für das Eintreten
von jeder der drei Sorten, und hat man n Beobachtungen gemacht,
dann ist für die Annahme
ER EBRTRE
’ 5074 es
er M3 2%43 139 171 153 14
die Wahrschein]l SEO ne te ar: Scherer
nlichkeit — 755, 7997 799 729? 729’ 729°
dafür, daß das Mittel den wahren Wert gibt. Es scheint auf Grund
dieser Zahlen unvorteilhaft, die Anzahl der Beobachtungen über 2
steigen zu lassen; allein, wenn man nach der Wahrscheinlichkeit fragt,
daß der bei der Annahme des Mittels gemachte Fehler den Betrag
3 nieht übersteigt, dann findet sich für die Annahme
na Fe Ve er
a .%M3 567 513 639 603 673
die Wahrscheinlich = 0, you aa Fan many **
, ha) Tag Tag 7a
Es ist also in Wirklichkeit vorteilhaft, » als große und als gerade
') Oeuvres publ. p. Serret, II, Paris 1868, p. 171.
243 Abschnitt XXI
Zahl anzunehmen. In den ersten acht der zehn Probleme, mit denen
seine Abhandlung sich beschäftigt, behandelt Lagrange den Fall,
daß eine endliche Anzahl diskreter Fehler begangen sei; von da aus
macht er den Übergang zu der, in der Natur begründeten Annahme,
daß unendlich viele Fehlermöglichkeiten innerhalb gewisser Grenzen
vorliegen. Am Schlusse der Abhandlung geht Lagrange direkt auf
diesen natürlichen Fall ein. Dabei führt er den Begriff der Fehler-
wahrscheinlichkeit ein, und stützt diesen auf die gemachten Be-
obachtungen; ist x die Größe des Fehlers, so ist die Fehlerwahr-
scheinlichkeit y hierfür gleich der Anzahl der Male, in denen x auf-
getreten ist, dividiert durch die Gesamtzahl der Beobachtungen. In
den gegebenen Beispielen wird einmal y als Konstante, einmal als
y= cst.(p? — x”) angenommen, so daß hier die beiden Grenzen der
Fehler —p und +p sind. Die zweite Hypothese für y erklärt La-
grange für die einfachste und naturgemäßeste, die man erdenken
könne. Ein letztes Beispiel nimmt y= cst. cosz an. Auf eine theo-
retische Annahme, die zu der jetzt üblichen Fehlerwahrscheinlichkeits-
funktion führen könnte, geht Lagrange nicht ein.
Von ganz anderen Gesichtspunkten läßt sich Daniel Bernoulli
in seiner „Dijudicatio maxime probabilis plurium observationum dis-
crepantium atque verisimillima inductio inde formanda“ (Act. Acad.
Petrop. 1777 [1778], p. 3—23) leiten. Kommen, so überlegt er,
große Abweichungen unter den Beobachtungen vor, so werden mit
einem gewissen Rechte die extremen Resultate weggelassen; das arith-
metische Mittel verliert in solchem Falle seine Gültigkeit als wahr-
scheinlichster Wert. Vor allem ist ein Gesetz für die Wahrschein-
lichkeit der Fehler, als eine Funktion ihrer Größe, aufzusuchen. Falls
x& die Größe des Fehlers und % die Wahrscheinlichkeit seines Ein-
treffens ıst, findet Bernoulli folgende Annahmen über y nötig:
a) y muß für +x und — x gleichen Wert haben; b) mit wachsendem
x muß y abnehmen; c) im höchsten Punkte der Fehlerkurve y=f(«)
muß die Tangente parallel der x-Achse laufen; d) y=f(x) muß auf
der x-Achse enden; e) die Tangenten in diesen Endpunkten müssen
senkrecht auf der x-Achse stehen. Über d) und e) kann man ge-
teilter Ansicht sein; jedenfalls haben diese Hypothesen sich im Ver-
laufe der weiteren Entwicklung nicht durchgesetzt. Als Fehler-
funktion y= f(x) wählt der Verfasser einen Halbkreis y = ce. Vr?— x,
dessen Radius bei jeder Untersuchung experimentell dadurch zu be-
stimmen ist, daß —r und + r als Grenzen für mögliche negative und
positive Fehler genommen werden. Es kommt ferner noch auf die
Lage des Halbkreises, d.h. auf die seines Mittelpunktes an, der so
festgelegt wird: A, A+a, A+b,..., die nach steigender Größe
Wahrscheinlichkeitsreehnung. 249
geordneten Beobachtungen sind gegeben; z ist die Entfernung des
Mittelpunktes von A; dann ist die Wahrscheinlichkeit des gleich-
zeitigen Vorkommens der Fehler x, «—a, 2 —b,... proportional zu
dem Produkte Yr? — 2°: Yr? —- (2 —- a): Vr — (2 —b%...=YVQ.
Nun wird folgender Schluß gewagt: Da diese Fehler ja wirklich ein-
getroffen sind, so ist ihre Wahrscheinlichkeit, wie Bernoulli be-
hauptet, ein Maximum; man findet also x dadurch, daß man Q zu
einem Maximum macht. Das führt bei n Beobachtungen auf eine
Gleichung des Grades (2n—1). Bei n=1 und 2 liefert diese
das arithmetische Mittel; bei n = 3 schon nicht mehr.
In seinen Bemerkungen zur eben besprochenen Abhandlung greift
Euler (ibid. p. 24—33) die eben hervorgehobene gewagte Behauptung
D. Bernoullis an. Er selbst umgeht durch eine geistreiche Wendung
die Auflösung der Gleichung des Grades (2» — 1) und zeigt, wie die
einer Gleichung dritten Grades in allen Fällen ausreicht.
Auch Laplace nimmt in der oben erwähnten Untersuchung
(Memoires de l’Acad. des Sciences, Paris VI[1774], p.621) Stellung zu der
Frage nach dem arithmetischen Mittel aus einer Reihe von Beobach-
tungen. Er erklärt (p. 639), die Annahme, die auf das arithmetische
Mittel führt, sei „wenig natürlich“ und hält es für notwendig, bei
feineren Untersuchungen von einer anderen Methode Gebrauch zu
machen. Laplace setzt die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers von
der Größe x gleich f(x); dabei fordert er, daß f(+2)=f(—x) sei;
ferner daß die x-Achse eine Asymptote der Kurve y=(x) werde,
und daß die von der z-Achse und der Kurve y= f(x) begrenzte Fläche
die Größe 1 besitze. Mit Hilfe einer ganz willkürlichen Annahme
wird f(x) = mem: gefunden. Merkwürdigerweise übersieht La-
place dabei, daß die erste seiner, für f(x) aufgestellten drei Forde-
„me ”® nieht befriedigt wird. Zur weiteren Be-
handlung der Frage verwendet er das von ihm aufgestellte Prinzip iiber
die Wahrscheinlichkeit der Ursachen und kommt auf einem, schon
für drei Beobachtungen recht komplizierten Wege zum Ziele. Die
Bestimmung des Mittels ist selbst in diesem so einfachen Falle von der
Lösung einer Gleichung 15'" Grades abhängig. Einer kleinen von
Laplace berechneten Tafel entnehmen wir folgende Resultate: Sind
die drei beobachteten Punkte A, B, C; wird stets AB=1 gesetzt
und dann BU =g; hat endlich das Laplacesche Mittel M die Ent-
fernung AM = x von A, so ergibt sich für
rungen durch y=
Ber; 01 ;02 MOB OFT OT 0; ri
© —= 0,860; 0,894; 0,916; 0,932; 0,944; 0,955; 0,965; 0,975; 0,984; 0,992; 1
CANToR, Geschichte der Mathematik IV, 17
250. Abschnitt XXI.
Auf mehr als drei Beobachtungen geht die Abhandlung bei der
Schwierigkeit der Rechnungen nicht ein. |
Auch in seinem „Memoire sur les probabilites“ vom Jahre 1785
(Histoire de l’Acad.... Paris, 1778) behandelt Laplace diese Fragen.
Er löst dabei zuerst das folgende Problem: „Es seien » positive,
stetige Variable t,, 4, ..., 4, mit der festen Summe s gegeben. Das
Gesetz der Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen jedes einzelnen t,
sei bekannt. Es soll die Summe der Produkte aller Werte einer ge-
gebenen Funktion Y(t,, tz, ..., £,) in die Wahrscheinlichkeit des Auf-
tretens des betreffenden Wertes ermittelt werden.“ Damit hängt aufs
engste das, wie wir.3.248 sahen, schon von Lagrange behandelte Problem
zusammen: „Die Wahrscheinlichkeit dafür zu finden, daß die Summe
der Fehler bei mehreren ‚Beobachtungen zwischen gegebenen Grenzen
liegt, wenn das Fehlergesetz durch eine rationale ganze Funktion ge-
geben ist.“ Auf die Entdeckung dieses Fehlergesetzes geht nun La-
place (l. c. S. 254; art. XII) aus. Er nimmt an, daß keine Fehler
von höherem absoluten Betrage als « vorkommen; ferner daß gleich
große positive und negative Fehler mit gleich großer Wahrscheinlich-
keit auftreten; endlich daß die Wahrscheinlichkeit bei stetig wachsen-
der Fehlergröße stetig abnimmt. Hierauf teilt er die Strecke, auf der
die » Fehler als Abszissen repräsentiert werden, von O bis a in n
gleiche Teile und errichtet in der Mitte eines jeden Teils ein Lot, das
die entsprechende, zur Abszisse gehörende Wahrscheinlichkeit dar-
stellt. Da die Fehlerkurve mit der Achse eine Fläche von konstantem
Inhalte 1 bildet, so muß auch die Summe der errichteten Ordinaten
konstant sein: diese Summe denkt sich jetzt Laplace auf alle mög-
lichen Weisen in » ihrer Größe nach geordnete Längenteile zerlegt;
dann entspricht jeder solchen Zerlegung eine Fehlerkurve oder ge-
nauer ein Fehlerpolygon. Von allen möglichen, so konstruierbaren
wird ein „mittleres“ Polygon genommen; und diese Annahme wird
dureh die Gleichberechtigung aller konstruierten Fehlerkurven be-
gründet. Läßt man dann » ins Unendliche wachsen, so gelangt man
zu der Kurve, die das Fehlergesetz mit der größten Wahrscheinlich-
keit darstellt. Laplace findet für diese Kurve die Gleichung
y-;.lg4-
Dabei ist jedoch anzunehmen, ic für negative x in den Nenner des
Logarithmus-Arguments die entgegengesetzt gleiche positive Größe
eingetragen wird. Über die bei der Abszisse x = 0 auftauchende
Schwierigkeit geht Laplace hinweg; ebensowenig stört ihn der Um-
stand, daß für «> a reelle negative y auftreten.
‚Die erhaltene Lösung benutzt Laplace am Schlusse, seiner um-
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 251
fangreiehen Abhandlung bei der Bestimmung des vorteilhaftesten
Mittelwertes, der aus mehreren Beobachtungen zu nehmen. ist, also bei
dem 8. 248, 249 besprochenen, schon von Laplace selbst, dann von La-
grange, von D. Bernoulli und Euler behandelten Probleme. Hier
macht Laplace die erschwerende Voraussetzung, daß die » einzelnen
Beobachtungen eines Phänomens von n verschiedenen Personen her-
rühren, also auch verschiedenen Fehlergesetzen unterliegen. Diese
Gesetze seien durch y= 9, (2), y= 9(2#),..., y= Y,(x) repräsentiert;
die Beobachtungsresultate seien in steigender Größe angeordnet, und
die Differenz des zweiten Resultats gegen das erste, des dritten gegen
das zweite, usw. seien 95, Ps, -- -, 2,„. Dann bezeichnet Laplace die
Kurve
2 = Pıl@) Pla —®) -- - Pu(lPn — &)
als Kurve der Wahrscheinlichkeiten, „courbe des probabilites“, und
bestimmt als vorteilhaftesten Mittelwert den Wert x, der die zwischen
der x-Achse und dieser Kurve gelegene Fläche halbiert. Dabei macht
Laplace ausdrücklich darauf aufmerksam, daß der Begriff „Mittel-
wert“ durchaus nichts fest Bestimmtes ist, indem „das mittlere Re-
sultat“ einer Reihe von Beobachtungen auf unendlich viele Arten
definiert werden kann. — Die einzelnen p unterscheiden sich nur durch
die Werte des a voneinander, so daß man hat
de, ee lo
Setzt man alle a gleich oo, so gelangt man zum arithmetischen
Mittel. Das Gleiche tritt auch in einem allgemeineren Falle ein, den
wir aber als zu verwickelt übergehen.
Die vorgetragene Theorie wird endlich auch noch zur Ableitung
einer Regel für die Korrektion von Beobachtungsinstrumenten be-
nutzt. —
Wir gehen nunmehr zu der Anwendung der Wahrscheinlichkeits-
rechnung auf soziale Fragen über, auf Fragen über die Richtigkeit
von Urteilssprüchen, über Einführung von Gesetzen, über Einrichtung
von Gerichtshöfen, über Wahlen. Dieser ganze Zweig wurde haupt-
sächlich von dem französischen Mathematiker Condorcet geschaffen
und gepflegt, dessen wir bereits mehrere Male gedenken mußten. Da
seine Leistungen hauptsächlich auf diesem Gebiete der Wahrschein-
lichkeitsrechnung liegen, so haben wir den Bericht über seinen
Lebenslauf bis hierher aufgeschoben. Marie-Jean-Antoine-Nico-
las-Caritat marquis de Condorcet wurde am 17. September 1743
in der Picardie als Sproß einer altadligen Familie geboren. Seine
Mutter erzog ihn, nach dem frühzeitigen Tode des Vaters, in frömmsten
17:
252 Abschnitt XX1.
Anschauungen; acht Jahre hindurch trug er zu Ehren der Jungfrau
Maria Mädchenkleider; sein Erzieher war ein Jesuit. Im College von
Navarra widmete er sich mathematischen Studien und erhielt, sech-
zehnjährig, in Paris seinen akademischen Grad. Durch seinen „Essai
sur le caleul integral“ (1765) und sein „Memoire sur le probleme des
trois corps“ (1768) gelangte er zu hohem Ansehen. 1769 wurde er
zum Mitglied der Academie des sciences gewählt. Turgot und Vol-
taire waren ihm eng befreundet; mit dem ersten betrieb er national-
ökonomische Untersuchungen; mit dem zweiten behandelte er litera-
rische Fragen. 1782 wurde er Mitglied der Academie frangaise. Es
beseelte ihn eine durchaus liberale, für die Fortschritte der Menseh-
heit begeisterte, für die Verbesserung ihrer Lage eintretende Ge-
sinnung. Unter und mit Turgot hatte er für Reformideen gekämpft, hatte
gegen die Sklaverei der Neger, gegen die Zurücksetzung der Calvı-
nisten geschrieben; er hatte öffentlich gegen ungerechte Entschei-
dungen des Parlaments, gegen ungerechte Verurteilungen der Gerichte
protestiert. 1789 schloß er sich der Revolutionspartei an. Er wurde 1791
zum Kommissar der Schatzkammer ernannt, dann in die gesetz-
gebende Versammlung gewählt und 1792 sogar Präsident derselben.
Im Prozeß gegen den König stimmte Condorcet für die härteste
Strafe nach der Todesstrafe. Er stand auf der Seite der Girondisten
und flüchtete, um der Verhaftung zu entgehen, 1793 nach ihrem Sturze.
Acht Monate hindurch lebte er in einem Verstecke in Paris und ver-
faßte dort mehrere sozial-wissenschaftliche Schriften. Durch einen
anonymen Brief gewarnt, verließ er sein Asyl im April 1794, fand
den Schutz, den er erhofft hatte, nicht, irrte zwei Tage lang umher
und wurde als verdächtig in Clamart angehalten. Im Verhör legte
er sich einen falschen Namen bei. Unerkannt wurde er nach Bourg
la Reine transportiert und dort im Gefängnisse am nächsten Tage
tot aufgefunden; wahrscheinlich hatte er Gift genommen. Mehrere
Monate hindurch blieb infolge des falschen Namens seiner Familie
sein Geschick unbekannt; nur dank einer, beim Gestorbenen aufgefun-
denen Uhr konnte seine Person festgestellt werden.
Charakteristisch für ihn ist das Wort d’Alemberts, das ihn
als „un volean couvert de neige“ bezeichnete. Auch für seine wissen-
schaftlichen Bestrebungen gilt d’Alemberts Ausspruch. Gondoreet
war von heiligem Eifer für das Wohl der gesamten Menschheit
durehglüht und von ihrer unbeschränkten Vervollkommnungsfähigkeit
überzeugt, auf ethischem wie auf wissenschaftlichem Gebiete. Von
diesen Gesichtspunkten aus ist sein Hauptwerk zu betrachten und zu
beurteilen; ihm dient die Mathematik darin als Mittel, die Wohlfahrt
und die Wahrheit zu fördern. Es trägt den Titel: „Essai sur Y’applı-
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 253
cation de analyse & la probabilite des deeisions rendues ä la plura-
litE des voix“ und ist im Jahre 1785 zu Paris erschienen. Es be-
steht aus einem „Discours preliminaire“ von 191 Seiten und dem
eigentlichen Werke von 304 Seiten. Der „Discours“ liefert eine, deın
Werke parallel laufende, eingehende und erläuternde Inhaltsangabe
unter Ausschaltung der mathematischen Ableitungen, die das Werk
selbst gibt. Eine kurze Einführung in die Grundsätze der Wahrschein-
lichkeitsrechnung bildet den Anfang des Discours. Das eigentliche
Werk zerfällt in vier Teile.
Bei der Wahrscheinlichkeit von Entscheidungen beachtet CGon-
dorcet folgende Hauptpunkte: 1) die Wahrscheinlichkeit, daß eine
Versammlung keine falsche Entscheidung abgibt; 2) die, daß sie eine
richtige abgibt; 3) die, daß sie überhaupt eine abgibt; 4) die, daß
eine abgegebene Entscheidung richtig ist. Der Unterschied von 1) und
2) liegt darin, daß 1) auch den Fall umfaßt, in dem keine Entschei-
dung erfolgt.
Im ersten Teile werden diese Fragen unter verschiedenen An-
nahmen über den Abstimmungsmodus untersucht. Es wird der Reihe
nach vorausgesetzt: 1) die Anzahl der Abstimmenden ist ungerade;
man sucht die Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Urteils,
wenn nach absoluter Majorität beschlossen wird; 2) wenn eine vor-
geschriebene Majorität von (2q, + 1) Stimmen zum Beschluß nötig
ist; 3) wenn bei gerader Anzahl der Abstimmenden eine Majorität von
2q, Stimmen gefordert wird; 4) wenn die Majorität einen vorge-
schriebenen Prozentsatz der Anzahl der Abstimmenden erreichen,
oder 5) wenn die Majorität die Minorität um eine vorgeschriebene
Anzahl übertreffen muß; 6) wenn die Abstimmung so lange wieder-
holt wird, is man eine vorgeschriebene Majorität erhalten hat;
7) wenn die Entscheidung von den aufeinander folgenden Ab-
stimmungen einer Anzahl von Körperschaften abhängig gemacht
wird, usw.
Um ein Bild dieser Untersuchungen zu geben, knüpfen wir an
die erste Annahme an. Es sind (29 + 1) Abstimmende vorhanden;
alle haben gleiche Geistesschärfe, sind von gleichem Gerechtigkeits-
gefühle beseelt und die Abstimmung jedes einzelnen geschieht un-
beeinflußt von der der übrigen. Die Wahrscheinlichkeit, daß das Ur-
teil des einzelnen mit der Wahrheit übereinstimmt, sei gleich ®
(verite); daß es falsch sei, gleich e (erreur); also v+e=1. Die
Wahrscheinlichkeit, daß bei der Abstimmung mindestens (q +1)
Stimme sich für die Wahrheit ausspricht, sei V,; daß das Gegenteil
eintrete, E,. Dann wird, wie sofort ersichtlich ist, der Wert von V,
bestimmt als
254 Abschnitt XXI.
v, = yaıtrııyı Be “ ve2e + Gi ') vie... + ') virlen;
und daraus leitet Condorcet den Ausdruck her
V,=v+ @— [ve + (5) e+ (et: + ‚wel.
Ist v>e, so wächst V, zugleich mit q und wird gleich 1 für g=
Ist v<e, so nimmt V, bei wachsendem g ab und wird gleich O für
q=%. Das rechtfertigt den Schluß: „eine rein demokratische Ver-
fassung ist bei Abstimmungen über Dinge, die den Horizont gewöhn-
licher Leute übersteigen, unter allen Verfassungen die schlechteste“;
denn bei ae Mehrzahl des Volkes ist a e>v.— Für v=e wird
V,=E = =
V, und E, geben die Wahrscheinlichkeiten für die Richtigkeit
und die Unrichtigkeit eines abzugebenden Urteils. Ist die Entschei-
dung aber schon gefällt und die Majorität, mit der sie eintrat
— 2q, + 1 bekannt, dann berechnet sich die Wahrscheinlichkeit für
die Richtigkeit des lgegsbenar Urteils folgendermaßen: für die Rich-
tigkeit sprechen
Be \ortg tie,
44
dagegen sprechen |
Di ee ) vet +1
g—q
Chancen, also ist die Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit und die
Unrichtigkeit des gefällten Urteils bezw.
ur er
und .
vurtten ti Pa ah Ep FEL:E.
In ähnlicher Art wird das Problem unter der zweiten Annahme
behandelt, daß eine Majorität von 2q, + 1 Stimme zum Beschluß
nötig ist. Dabei stellt sich heraus, daß bei 9» >e die Werte von V,
zwar im allgemeinen mit wachsendem q zunehmen, daß aber bei
kleinen Werten von g Abweichungen von dieser Regel vorkommen
können. So liefert bei o-,, e- - und ,=3 der Wert g=19 den
kleinsten Betrag für V,; diesen kleinsten Betrag, der eine Funktion
von g ist, bezeichnet Condorcet durch M. Es ist bei diesem Ab-
stimmungsmodus also nicht stets geraten, die Anzahl der Abetinimen:
den zu vermehren. die
Im ersten Teile geht Condorcet auch auf Untersuchungen über
die Richtigkeit von Wahlen ein und zeigt, daß eine durch Stimm-
zettel erfolgende Wahl eines unter drei Kandidaten sehr wohl. den
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 255
Ansichten der Majorität der Abstimmenden direkt entgegengesetzt
sein kann. Condorcet war nicht der erste, der auf diese Kompli-
kationen hinwies; Jean Charles de Borda hatte seinen Ideen
darüber schon 1770 vor der Akademie Ausdruck gegeben. In der
Histoire de l’Acad....ä Paris wurde 1781 eine von ihm verfaßte,
darauf bezügliche Abhandlung gedruckt (8. 617: Memoire sur les
elections au serutin). Das folgende Beispiel mag die Schwierig-
keiten, die bei der Wahl auftreten können, erläutern. Von den drei
‘Kandidaten A, B, € soll durch Abstimmung einer gewählt werden.
Es sind 12 Wähler vorhanden, die einzeln die drei Kandidaten in
folgende Reihenfolge der Würdigkeit bringen |
Wäleer I IuoJju vw v/vmivu/jwmx|x|xılxa
AA a eh ee Bi | Ele
Bis; BJ] 0 0 0). | ie: c A| BB
Ol Gb BideBilatkiar | Ach A FEB. -4:|22A
Hat jeder der Wähler nur einem der Kandidaten seine Stimme zu
geben, so erhält A 5 Stimmen, B 4 und © 3; somit ist A gewählt.
‚Legt man aber der dritten Stelle das Gewicht « bei, der zweiten das
Gewicht & + ß und der ersten das Gewicht «+ ß + y, so besitzt A das
Gewicht 12&« +6ß +5»; B das Gewicht 12&« +8ß + 4y und Ü end-
lich das Gewicht 12« + 108 +3». Je nach den Werten, die «, ß, y
erhalten, kann man A oder Ü an erste Stelle bringen. So müßte
für ö= y der Kandidat C gewählt sein. = y ist Bordas Annahme,
die offenbar ihrer Willkür halber die Schwierigkeit nicht beseitigt. Con-
dorcet beschäftigt sich eingehender mit der Hebung der Schwierigkeit,
indem er die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeiten der Gruppierungen
heranzieht. Aber auch er scheitert an der Lösung des vollkommenen
Widerspruches, der bei solchen Abstimmungen auftreten kann; wenn
sich z. B. bei der Abschätzung von je 2 der 4 Kandidaten. unter sich
eine Majorität für jede der 6 Anordnungen findet, in denen das
> Zeichen die Überlegenheit andeuten soll:
a>B:4>0;4>D; Bu6 DaB: 05 B,
so sind die drei letzten Beziehungen unvereinbar. |
Der zweite Teil des Essay liefert eine Umkehrung der Aufgaben
des ersten Teils; dort waren v, q, q, bekannt, und es wurden V. ,„ und
M gesucht. Hier nimmt man die letzten Größen als bekannt an und
bestimmt aus ihnen die ersten. Um diesem Zwecke zu genügen,
werden die Formeln des ersten Teils näherungsweise aufgelöst. Der
Verfasser beschäftigt sich dann eingehend mit philosophischen Fragen
über die Grundgesetze der Wahrscheinliehkeitsrechnung und wieder-
holt seine Kritik 8. 223, 244 der Buffonschen Annahmen.
256 Abschnitt XXL
Im dritten Teile werden zwei Probleme behandelt: durch Ver-
suche soll die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit abgegebener Urteile
bestimmt werden; und zweitens soll die Wahrscheinlichkeit festgelegt
werden, die notwendig zu fordern ist, damit ein Urteil als gerecht
angesehen werden könne. Für die Erledigung des ersten Punktes ist
es nötig, die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses, das eintreten soll,
aus dem vorhergehenden Verlaufe des Eintretens dieses Ereignisses
zu bestimmen; und dies führt direkt auf die Bayessche Theorie.
. Sie findet sich denn auch in dreizehn Problemen erläutert. Wir
führen die ersten derselben an. Von zwei Ereignissen, die so be-
schaffen sind, daß bei jedem Versuche immer nur eins eintreten
kann, aber auch eins eintreten muß, ist bei (m + n) Versuchen das
erste A mmal, das zweite BD nmal eingetreten; mit welcher Wahr-
scheinlichkeit ist bei einem neuen Versuche A zu erwarten, wenn
die unbekannten Wahrscheinlichkeiten & und 1—x von A und B
entweder I. konstant; oder II. veränderlich sind; oder III. wenn über
ihre Konstanz oder Veränderlichkeit nichts bekannt ist? — Bei der
Besprechung des zweiten Punktes stellt Condorcet, ähnlich wie
Buffon, ein Maß auf für die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit
von Urteilen, mit der man sich begnügen müsse; er kommt durch
merkwürdig verzwickte, an die Lebenshoffnung geknüpfte Betrach-
144 767
. tungen zu dem Werte u
— M. Setzt man eine Versammlung
von 2q +1 = 61 Abstimmenden voraus, für deren jeden v = ni ist,
so reicht eine Mehrheit von 2q, +1= 9 Stimmen, um die Wahr-
scheinlichkeit des Spruches > M zu machen.
In der Einleitung zum vierten Teile des Werkes gesteht Con-
dorcet ein, daß die für Abstimmungen gemachten allgemeinen An-
nahmen: unverändertes v, gleiche geistige Stellung, gleiche Wahr-
heitsliebe, Freiheit von Beeinflussungen der Abstimmenden untereinander
— sich allzuweit von der Wirklichkeit entfernen, und er unternimmt
es, die wirklichen Verhältnisse mehr, als dies bis dahin geschehen
war, in die Rechnung zu bringen.
An vier ausführlich besprochenen Beispielen versucht endlich
der fünfte und letzte Teil die Anwendung der aufgestellten Grund-
sätze zu zeigen. Die Durchführung ist so wenig mathematisch, daß
eine weitere Darlegung zu sehr aus dem Rahmen dieser Vorlesungen
heraustreten würde.
Es ist schwer, zu dem Werke Condorcets gerechte Stellung zu
nehmen: „Bewundert viel und viel gescholten“. Rein mathematisch
betrachtet bietet es schon so manchen Angriffspunkt; sein Haupt-
mangel aber liegt in der Grundansicht, es könne das verwickelte
Reihen. 257
Leben sich unter so einfache Annahmen einschnüren lassen, wie sie
hier aufgestellt werden; einen anderen Mangel finden wir in der
Dunkelheit seines Stils und in der Unklarheit seiner Ideen. Manche
Beurteiler haben gemeint, Condorcet sei es gelungen, die Lücke
auszufüllen, die der vierte Abschnitt der „ars conjectandi* Jakob
Bernoullis aufweist. Dieser geniale Mann wurde durch den Tod
gehindert, die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechung auf bürger-
liche, moralische und wirtschaftliche Verhältnisse zu liefern, was er
beabsichtigte; Condorcet habe nach 72 Jahren die Gedanken Ber-
noullis durchgeführt. Andere Beurteiler finden Condorcet eher phan-
tastisch als streng, eher enthusiastisch als wissenschaftlich scharf.
Wir müssen noch einen Blick auf die letzten beiden Artikel
eines Condorcetschen Aufsatzes über die Wahrscheinlichkeitsrech-
nung werfen, deren erste Artikel bereits S. 243 besprochen sind.
Diese beiden übrigen Artikel handeln über die Wahrscheinlichkeit außer-
ordentlicher Ereignisse (Histoire de l’Acad. des sciences...ä Paris
1783, p. 553, und 1784, p. 454) und über die Glaubwürdigkeit dahin
gehender Zeugenaussagen. Die Ausführungen des ersten werden im
zweiten zurückgenommen, weil sie zu hypothetisch, zu schwierig, zu
wenig dem gesunden Verstande entsprechend seien. Neue, ziemlich
unverständliche Betrachtungen werden an ihre Stelle gesetzt und
zu einer Untersuchung über die wahrscheinliche Regierungsdauer der
sieben Könige von Rom benutzt! Man könnte es wirklich verstehen,
wenn jemand solche Anwendungen als einen recht schlechten Scherz
auffaßte, nur dazu angetan, die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu dis-
kreditieren.
Reihen.
Wir gehen jetzt zur Theorie der Reihen über. Dabei macht
sich eine, in der Natur der Sache liegende Schwierigkeit fühlbar,
mehr als in den früheren Epochen. Sie betrifft die Anordnung des
Stoffes. Die Verwendung der unendlichen Reihen findet jetzt näm-
lich nahezu in allen Gebieten der Analysis statt und nimmt an
‚prinzipieller Wichtigkeit mehr und mehr zu; Differential- und Inte-
gralrechnung, Differenzenrechnung, Funktionentheorie, Algebra wären
ohne die Theorie und die Praxis der unendlichen Reihen eines weit-
tragenden Hilfsmittels beraubt. Eine Darstellung dieser Gebiete, die
die Reihen gänzlich ausschlösse und auf eine Sonderdarstellung ver-
wiese, wäre kaum denkbar. So muß es denn in gewissem Maße dem
Belieben überlassen bleiben, ob die eine oder die andere Arbeit hier
258 Abschnitt XXI.
unter der Theorie der Reihen oder an einer anderen Stelle besprochen
wird, wohin sie dem Stoffe nach oder aus anderen Gründen gehört.
Ein Beispiel für das soeben Gesagte möge genügen: Lagrange
hat 1768!) eine „neue Methode“ gegeben, um die literalen Gleichungen
mit Hilfe von Reihen aufzulösen. Dabei gelangt er, ohne einen Be-
weis für sein Resultat zu geben, zu der wichtigen Formel, die als „La-
grangesche Umkehrungsformel“ seinen Namen trägt. Er bringt
die Gleichung mit der Unbekannten x auf die Form a—z+y(x)=0.
Ist dann p eine Wurzel dieser Gleichung, Y{p) eine Funktion von
p und %’(z) die Ableitung von »(x), dann wird nach seiner Formel
2 3
up) = ua) + Y(a)p (a) + 1
va yR] , AED]
Agarn ı7 ar 7
’
falls nach dem Differenzieren x überall durch «a ersetzt wird. Diese
Formel gehört ihrem Wesen nach zur Infinitesimalrechnung, ihrer
Anwendung und Entstehung nach zur Algebra, ihrer Form nach zur
Reihentheorie und ihrer Herleitung nach (wie wir früher $. 216
sahen) auch wohl zur Kombinatorik. — Dies mag gleichzeitig zur
Erklärung dafür dienen, daß wir die, auf den binomischen Satz be-
züglichen Untersuchungen vereint an den Beginn der Besprechung
über die Kombinatorik gesetzt haben; daß dort auf die Potenzierung
des Polynoms und auf die formelle Umkehrung der Reihen eingegangen
wurde.
Was die Grundlegung der Theorie der unendlichen Reihen be-
trifft, so können wir uns, ebenso wie im 109. Kapitel des dritten
Bandes der Überzeugung nicht verschließen, daß bei außerordentlich
angewachsenem Reihenmaterial die Begründung der Reihentheorie
und zwar besonders die Begriffe von Konvergenz und Divergenz in
Hinsicht auf Strenge noch fast alles zu wünschen lassen. Selbst
Geistern wie Euler und Daniel Bernoulli war es nicht vergönnt,
sich zu korrekten Anschauungen durchzuarbeiten; sie gerieten auf die
seltsamsten Abwege.
Hinsichtlich des Stoffes mag gleich hier erwähnt werden, daß in
unserer Epoche die Reihen, die nach dem Sinus oder dem Kosinus
der Vielfachen eines Winkels fortschreiten, besonders die Aufmerk-
samkeit der Mathematiker auf sich ziehen und ein bevorzugtes Objekt
der Untersuchungen werden: wir stehen eben in der vorbereitenden
Epoche für die Entdeckungen Fouriers.
Es möge nun die Besprechung der einzelnen, wichtigeren Arbeiten
'; Histoire de l’Acad. de Berlin 1768, p. 251, insbesondere p. 274.
Reihen. 259
folgen. — Wir beginnen mit einer Arbeit von John Landen‘), der
1760 eine Methode angibt, gewisse Reihen zu summieren. Sie be-
ruht auf der gliedweisen Integration einer Reihe, deren Summe be-
kannt ist, nebst zugehöriger Bestimmung der Integrationskonstanten.
Landen knüpft dabei an die bekannte Entwicklung von
log(1+«)
an. Er findet Beziehungen zwischen Reihen von der Form
ar EPU 2
a er
bei verschiedenen x. Bezeichnet wird
1 1 1 1 1 1
x) — AR iD TER RER () — Ba a
Se Bett ; ®& re er Euer en ;
1 1 1
ER Berg be ni: BEE
q 1 9% 52 5% 7% ag ı
dann beweist Landen, was Euler schon auf Ann JAHR in 2
„Introductio in analysin“ hergeleitet hatte, daß PD — 7 , 0W —
3
gm — Er ist. Weiter liefert er Formeln wie
Ama 4
a 0 bpın ı 0 _ bt PD + 3.32 Br...
3-.4-5-6-7 ...
2
worn ? = — = ist. Auch Reihen von der Gestalt
1 1 1 DA
Pets tramtrtengnd
1 1 1 3? 1
Feat yeetremet tn
werden bestimmt.
Eine große Anzahl von Abhandlungen mehr oder weniger be-
deutenden Inhalts über Reihen liefert Euler in seiner Unermüdlich-
keit und seinem nie versiegenden Ideenreichtum.
Durch einen gewissen geometrisch-asymptotischen Prozeß hatte
Descartes die Quadratur des Kreises konstruktiv geliefert. Euler
überträgt ihn ins Gebiet der Analysis?) und gelangt dabei zur Sum-
mation der Reihe
tangp +. tang ı- Th 7 tang ı- FRUR RER
nn,
*; Ph. Tr. (London), Vol. 51; part II; p. 553. ®) Nov. Comment. Petrop.
1%
. VII, pro 1760, 1761, p. 157.
260 Abschnitt XXI.
die er dann auch, wie ähnliche Formeln, rein rechnerisch und
elementar herleitet.
In einem anderen kleineren Aufsatze entwickelt Euler!) Be-
ziehungen wie
1
A tang + A tang TAB .+:+ Atang 4...
= A tang , +4 tang -- A tang „, +...
1 7
+ A tang 7, Fi er £:
In diesen Formeln bedeutet, wie auch anderswo zu dieser Zeit,
Atangg so viel wie unser aretang .
Im Jahre 1765 beschäftigte u Euler?) mit der Eitnieklang
der Potenz (1 +x-+ x°)” und insbesondere mit dem darin auftretenden
Koeffizienten der Potenz x”. Bezeichnen wir ihn durch a,, so ist
10 I) 5 Irb)l 2 ee
die Binomialkoeffizienten in moderner Schreibweise angeben. Es
gilt die Rekursionsformel (n + 1)a,,; = (2n+1)a,,, ie Ina,.
Daraus folgt ya +2 +, +, +: = (1-28 + 322) ” . End-
lich wird die allgemeinere Potenz (a + ® + cx?)” in ähnlicher Weise
behandelt und auch bei ihr der Koeffizient von x” untersucht.
Im Jahre 1767 veröffentlichte der Italiener Francesco Luino
oder Luini zwei Werke: „Delle progressioni e serie“ und „Sulla
interpolazione delle serie e suo uso all’ astronomia“ ’), die mehr ihrem
Titel als ihrem Inhalte nach hierher gehören. Das erste beschäftigt
sich eingehend mit der elementaren Arithmetik und Algebra, führt
die Behandlung der positiven und negativen, der reellen und der ima-
ginären Größen durch, löst die Gleichungen der niederen Grade, be-
spricht die endlichen arithmetischen und geometrischen Reihen und geht
dann zu den unendlichen Reihen über. Dabei verwertet Luino eine
von Vincenzo Riccati stammende Idee*). Die Summe der m ersten
Glieder einer unendlichen Reihe sei $, die Summe ihrer (m — 1)
ersten Glieder s, und das allgemeine m‘® Glied heiße 7. Dann ist
T=S-—s. Hat man andererseits ’=A-—.a, wo A dieselbe Funktion
von m, wie a von (m — 1) ist, so braucht A noch nicht gleich S zu
sein, man kann aber leicht $ finden. Bedeuten nämlich 7’ und 4A’
ı) Nov. Comment. Petrop. IX, pro 1763, p. 40. ?) Ibid. XI, pro 1765, p. 124;
vgl. den Aufsatz in den Opuscula analytica I; Petrop. 1783, p. 48. ®), Luino
oder Luini (1740—1792). Beide Werke erschienen 1767 zu Mailand. *) Annali
dei letterati d’Italia; vol. I. Modena 1756.
Reihen. 261
die Werte, die T und A für m=1 annehmen, und setzt man ’— A =b,
dann ist S=4A-+b. Riceati und Luino nehmen nun S als ge-
gebene Funktion und bilden daraus das allgemeine Glied T— 8S— s.
Dies gehört dann als allgemeines Glied zu einer Reihe mit bekannter
Summe. Als die praktisch wichtigsten Reihen werden die arith-
metischen mit T=a+bm-+ cm? + ---+ dm”, die geometrischen
mit T=e* und die gemischten mit 7T= (a+bm+---+ dm’)e"
behandelt. Die Methode trägt aber weiter, wie an dem Beispiele
Lm-+ Mm?+---+ Rm’
= (AL Bm)\AFBm—N)...AFBm—p+N1)
gezeigt wird.
Nahm Luino die Riceatische frühere Arbeit als besonders
wichtig in seine Darstellung auf, so veröffentlichte Riecati selber im
gleichen Jahre neue Untersuchungen über rekurrente Reihen'). Schon
1756 hatte er das allgemeine Glied einer rekurrenten Reihe aus der
zwischen ihren Gliedern geltenden Rekursionsformel bestimmt. Hier er-
ledigter das gleiche Problem für allgemeinere Reihen, für „rekurrente mit
Appendix“. Bei solchen unterscheidet sich die Rekursionsformel da-
durch von der für gewöhnliche rekurrierende Reihen, daß eine addi-
tive Konstante als Appendix hinzutritt. So gehört die Reihe 0, 1,1,
2, 4, 9, 21, 50, 120,... zu den rekurrenten Reihen mit Appendix, da
für sie a,—2a,_,+q,_g—1 ist; das Glied — 1 ist der Appendix.
Auch für solche Reihen bestimmt Rieeati das allgemeine Glied.
Dabei geht er schrittweise vor, indem er zuerst Reihen „erster Ord-
nung“ oder „ersten Grades“, d. h. solche behandelt, bei denen die
Rekursionsformel a,—=ta,_,+« ist. Für sie findet er als allge-
n—1
meines Glied a,=at""'+a : m. Dann geht Riccatı zu
Reihen zweiter Ordnung oder zweiten Grades über, d. h. zu solchen,
bei denen a,=ta, ,+sa,_,+ «a gilt, wo t, s, a konstant sind, so
daß jedes Glied aus den beiden vorhergehenden berechnet werden
kann. Die Bestimmung von «a, in independenter Weise wird auf die
bei gewöhnlichen rekurrenten Reihen zurückgeführt, wobei dann eine
quadratische Gleichung zu lösen ist. Induktiv ergeben sich weiter
die Resultate für rekurrente Reihen mit Appendix beliebigen Grades.
Im ersten Teile des zweiten Bandes der „Opuscules mathema-
tiques“ von d’Alembert?) findet sich als 35. M&moire ein Aufsatz
über die Reihen, deren erster Paragraph von Konvergenz und Divergenz
unendlicher Reihen handelt, und sich insbesondere auf die Entwick-
1) Möm. presentes p. div. Sav. Paris 1768, V, p.153—174 und auch Comment.
Bonon. V, 1767. ®) Paris 1768, p. 171.
262 Abschnitt XXI.
lung von (1-+ u)” für willkürliche m bezieht. Nach d’Alembert
konvergiert (divergiert) eine Reihe an einer Stelle, wenn der Betrag
jedes folgenden Gliedes kleiner (größer) ist, als der des vorhergehenden;
er bemerkt dabei aber ganz zutreffend, daß die Reihe im Unend-
lichen konvergieren müsse, um richtige Resultate zu geben, und gibt
für diese eigentliche Konvergenz als Kriterium an, daß der Betrag
von u kleiner als 1 sein müsse; „sonst liefert sie falsche Resultate,
auch wenn sie bei |u| > 1 anfänglich konvergiert. Eine solche an-
fängliche Konvergenz kann sehr weit hinaus bestehen, z. B. bei
(1 + m wo die Divergenz erst mit dem 300*® Gliede beginnt“.
Er betrachtet eine Reihe als „vollkommen“, wenn ihre Glieder gleich
vom ersten an abnehmen, und wenn sie sämtlich das gleiche Vor-
zeichen haben. Er zeigt, wie man bei (1+ u)” stets die erste Forderung
verwirklichen kann, indem man z.B. (1+ 1)? = pi -- 7 setzt;
i ' x ar, ie
oder indem man bei der Reihe ine =-, — 3, +37: für große
x besser (x — 2nz) einsetzt, wo n so gewählt wird, daß der Klammer-
wert möglichst klein ist.
Im Jahre 1769 beschäftigte sich Euler mit der Summation von
Reihen, deren Koeffizienten mit den Bernoullischen Zahlen eng zu-
> ER
.. $ r I wu BE Er
sammenhängen!). Statt der Bernoullischen Zahlen 5.200 Gr Zu
Be: 691 7
66° 3730? 6, betrachtet Euler ihre Produkte mit bez. den Zahlen
6, 10, 14, 18, 22, 26, 30,...; er benennt diese Produkte Y, 8, €, D,
&%,6,..., so daß
691
1
1-1,8-;,C-5 ‚De; E-,,8- 105°
G=355, .:
wird, und geht von ihnen zu einer neuen Reihe von Zahlen
A= 4,4 B-280-%5%D-79,E- €
RE BT TR RAR I De 1A.
über. Für A, B, C,... bestehen zwei Sorten von Rekursionsformeln; einmal
1 2 1 1 3
A= zn Be adoan OB gt
1 1 1 4
D- „zer ghrndng
und andererseits auch B5B=24?%, TC=4AB, 9D=4AC+2B?,
') Nov. Comment. Petrop. XIV, pro 1769, p. 129—167. (Auf dem Titelblatt
steht irrtümlich 1759.)
Reihen. 265
1lE=4AD-+4B(,... Euler sucht nun die Summe E von
Reihen zu bestimmen, die die Form haben
«Aa? + BBat + y0a+6Da®+---,
wo @, ß, y, 6, .... gegebene Größen sind. Nimmt man z. B.
a-ß=-y-8=-..--1,
so folgt
Z2=4Ax+Brt+la+. = Het ne-)
1: 1 1 1
:(i- get gt): ,„, w eotgz,
1
und daraus erhält man A— B+0—- D+.- = Fir
Ferner gibt dieselbe Formel durch Differentiation das Resultat
1 1 1 6 SE) FE ur BR
54x + ; Br + ; 08 +: Re 2 log =
Eine andere Quelle für summierbare Reihen liefert die Formel
(Bd. III, S. 678 dieser Vorlesungen)
. AdX Bd’X CdX
28-2 [Kat X a tag
hier ist „das summatorische Glied“ X (ibid. S. 657) eine Funktion von
<, und $ ist = EX, wo die Summe über die Werte @—1,2,5,...@
erstreckt wird. Zunächst setzt Euler X = = bei »>1; dann wird
x
8-14. 4445 und man erhält
%c
1 1 nA n(n +1) (n + 2)B
... a IE u sn. 2 Muss
2«" (n— 1)a" 7! ati tr gt." r?
nn +1): -n+NC, nn -+1)...(n + 6)D
_ Ba re en Fr
2°x 2’x
In dieser Formel ist O die Integrationskonstante, die durch besondere
Annahmen bestimmt wird. Für »=2 z.B. erhält man
ma AB; ld
a a Fr yize
1
— = 09° —-ı + —ıS
x
a? E 1
= u ne >
5 * 2 > ( '=)-
1
|
Für n=4 ergibt sich
P4
HA... B 8 TR |
EB WERE SEN. nn Bes 9 a, Br See
- Fr raue 3!Ba'x 3:— 22 6x 8 =)
1
264 Abschnitt XX1.
Setzt man den „terminus summatorius“ X = logx, so ergibt sich
A aB 20 nD
1 95 AB 97
+. =1— 5 1log2x.
Dies dürfte zur Charakterisierung der Abhandlung ausreichen. —
Euler hatte bereits in Kap. XIV der „Introductio“ Reihen von
der Form
sina+sin(a+b)+sin(a +2b)+---+sin(a+nb)
oder
cosa + cos(a+b) + cos(a +2b)+---+ cos(a + nb)
summiert. Der Abbe Charles Bossut!) löste im Jahre 1769
vierzehn derartige Aufgaben wie DI(cosvg)* für »—1, 2,3, 4;
v=4 n
D(eosvqsinvg)* usw. Diese Arbeit würde kaum erwähnenswert
v=1
sein, wenn sich nicht weitere, wichtigere Untersuchungen an sie
angeschlossen hätten, auf die wir bald eingehen werden.
Condorcet veröffentlichte im gleichen Jahre und im gleichen
Bande?) einen Artikel „sur la nature des suites infinies“. Bedürfte
es noch der Bestätigung für unsere, oben (S. 257) ausgesprochene
Ansicht, daß Condorcet ein zwar ideenreicher, aber unklarer Kopf
gewesen sei, so würde diese Arbeit sie liefern können. Es gibt, wie
der Verfasser meint, drei Arten von Reihen, solche wie
a+bz+c® +de’-++--
für x <1, bei denen der Rest unendlich klein wird; die gleichen für
x >], bei denen der Rest unendlich groß wird, und solche wie
a+becose+ccos2%+dcosd3c+:--,
bei denen der Rest endlich bleibt. Im ersten Falle ist die Reihe
gleich der Funktion, aus deren Entwicklung sie entsteht, im zweiten
Falle nicht?). Für diesen zweiten Fall gibt Condorcet als Beispiel,
daß A+.+2+ + t+sta+) nicht durch
1 a |
+; 1 u ha
=
ersetzbar ist, sondern nur durch
ie ae a
ER ER eg
c—1 1 z—1
Be |
ne &
t, Histoire de !’Acad. a Paris 1769, p. 453. ®) Ibid. p. 83. ®) Die
‘erste Anschauung trifft sich mit der Eulers, der sie aber auf alle Reihen be-
Reihen. 265
Der dritte Fall ist der, daß eine gewisse endliche Anzahl von Funk-
tionen durch ihre Entwicklung die Reihe gibt; ihre Summe dividiert
durch ihre Anzahl liefert den Wert der Reihe. — Vollkommen un-
klar sind die Darlegungen über Transformation divergenter Reihen in
konvergente. — Des weiteren integriert Condorcet Differential-
gleichungen wie dyY1l— x°”= dx oder Funktionalgleichungen wie
(2 +g)=y(x) in Reihenform durch die Methode der unbestimmten
Koeffizienten, wobei er darauf aufmerksam macht, daß die als Lösung
vorausgesetzten Reihen mit den zu bestimmenden Koeffizienten die
allgemeinste Form der Lösung haben müssen, wenn man die Auf-
gabe umfassend behandeln will. Hat eine Differential- oder eine Funk-
tional-Gleichung mehrere, ihrer Form nach verschiedene Lösungen, so
müssen alle diese Formen berücksichtigt werden.
Wir knüpfen hieran die Erwähnung, daß Condorcet 1770 einen
kurzen Beweis für die oben (8. 216, 258) besprochene Lagrangesche
Umkehrungsformel gab!). Eine Verifikation des gleichen Satzes stammt
von Andr. Joh. Lexell?).
Wir kommen nun zu drei Arbeiten von Daniel Bernoulli?),
die gleichfalls die Prinzipien der Reihentheorie behandeln. Der Titel
der ersten lautet: „De summationibus serierum quarundam incongrue
veris earumque interpretatione atque usu“. Dieses „incongrue verum“
ist ein charakteristischer Verlegenheitsbegriff, der sich glücklicher-
weise nicht adäquat ins Deutsche übersetzen läßt. Reihensummen
können „in concreto“ falsch, „in abstraeto“ richtig sein, indem sie
durch legitime Schlüsse hergeleitet werden. So kann die Gleichung
:
1-1+1-1+4...=-Z
als falsch aufgefaßt werden, da bei fortlaufender Summierung immer
nur 1 oder OÖ herauskommt; — aber auch als richtig, da aus der
richtigen Gleichung „ se -=1l1—-ı +? —-2?+--- für 2=1 jenes
Resultat entspringt; genau wie bei der, ohne Determination als richtig an-
genommenen Gleichung — = 008% +00820 + cos3x +: fürn.
2
Setzt man endlich 1-1+1—1+-:-=S$, so wird1— S=S$ also
wieder $S = =. Unterstützt wird der Glaube an die Richtigkeit dieser
zieht; die dritte mit der sofort zu besprechenden Daniel Bernoullis (vgl.
Band III®, S. 693).
!) Miscell. Taurin. V, 1770, p. 7—9. *) Nov. Comment. Petrop. XVI pro
1771, p. 220. ») Nov. Comment. Petrop. XVI pro 1771, p. 71; ibid. XVII pro
1772, p. 3; ibid. XVIII pro 1773, p. 3.
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 18
266 Abschnitt XXI.
Überlegungen dadurch, daß man aus solchen Reihen richtige Resultate
1
1+x
den richtigen Wert von log2 gibt, und da „ex falso verum numquam
‚legitime deduci potest“. Bernoulli leitet dann
herleiten kann, wie die Reihe für z. B. nach Integration bei —1
1=1+0+1-1404-. 5,
dagegen
A ea a
her; aus der Entwicklung
Bi. OBER, ge: Bi A ern
d-a) 1 — 22 + 32° — 42° +
bestimmt er
1
usf.
Im zweiten Aufsatze geht Bernoulli von der Reihe, wie Euler
sie summiert hatte (siehe Band III?, S. 717)
cos © + 00820 + 00832 +. --— I
aus, kommt durch Integration auf
; I: BE 1
sind he 2 HG nA
und bestimmt die Konstante der Leibnizschen Reihe für x = z als
= —; (<= 0 liefert einen unrichtigen Wert für ©). In ähnlicher
Art geht es weiter auf
1 1 ; _ 1 1
csc + 50827 + co 837 +. = — M — —nı + —a,
2 3 Ü 2 4
usw. Die a. a. O. erwähnte Reihe
— ginx
sınz + sın 2x + sın 3& +... = Fran
liefert durch Integration
1 1 1 x
SC + co 2% +7 co5xc+:: = + su
usw.
Erst nach der Veröffentlichung dieser Arbeit hatte Daniel Ber-
noulli die oben (S. 264) besprochene Arbeit Bossuts kennen ge-
lernt, in der die Summen D’cosxg, Dsinxg, ... abgeleitet waren,
“er k=1
und untersucht in der dritten Arbeit, wie man vom Resultate Bossuts
Reihen. 267
sing +sin2qg+---+sinng = sing[1-+ nn cos(n + 1)g]
bei der Annahme n = oo zu dem Eulerschen Resultate
} sin
2 q
sing +sin2g +: =
1— cosq
kommen könne. Er fragt sich: Was ist für sin 009, was für c0os00g, usw.
zu setzen, wo doch kein bestimmter Wert mit Notwendigkeit sich dar-
bietet? Und er antwortet: „Gemäß der Natur des Unendlichen muß ein
Wert genommen werden durch die Forderung, die gesunden metaphy-
sischen Grundsätzen entspricht, daß alle möglichen Werte in der gleichen
Weise berücksichtigt werden: der wahre Wert muß daher gleich der
Summe aller möglichen Werte, dividiert durch ihre Anzahl, sein, also
—=(. Das ist rein metaphysisch, nicht geometrisch.‘“ In der Tat
geht durch diese Annahme der Bossutsche Wert in den Eulerschen über.
Diese Theorie beruht nach Bernoulli auf zwei Voraussetzungen; zu-
erst, daß die Glieder der unendlichen Reihe in Perioden geteilt werden
können, die sich unendlich oft in gleicher Gliederfolge wiederholen;
zweitens, daß die Summe der Glieder einer, also jeder Periode gleich
0 ist. Die erste Annahme ist bei den Reihen (sin x9)‘, I (c0sxg)*
erfüllt; denn wenn auch g kein aliquoter Teil eines Vielfachen der
Peripherie ist, „so kann doch die Periode als aus unendlich vielen
Gliedern bestehend angesehen werden“. Die zweite Annahme ist
nicht immer erfüllt, z. B. dann nicht, wenn (sin 009)?, (cos oog)? auf-
tritt. Bernoulli stützt sein Vorgehen auf die Analogie mit der
Wahl eines Mittelwertes in der Wahrscheinlichkeitsreehnung.
In einer unmittelbar sich anschließenden Abhandlung!) behandelt
auch Euler, aber von anderem Standpunkte aus die Summen
(sin p) + (sin2p) +. -- + (sinng)
(08 P)? + (60829)? +: + (cosng),
die er durch Einführung von Exponentialgrößen statt der Winkel-
funktionen umformt und für 4 — 1,2, 3, 4 wirklich herstellt. Dann
($ 9) geht auch er zu n= oo über. Dabei wahrt er Bernoulli
gegenüber seine eigenen Anschauungen über die unendlichen Reihen.
„Der berühmte Verfasser der vorstehenden Abhandlung gibt in diesem
Falle die Summen sehr geistvoll auf Grund metaphysischer Über-
legungen an, bei denen wir uns in der Analysis durchaus beruhigen
könnten. Ich habe schon früher, auf allerstärkste Gründe gestützt,
') Nov. Comment. Petrop. XVIII, 1773, p. 24.
und
18*
268 Abschnitt XXI.
darauf hingewiesen, daß in diesen Fällen dem Ausdrucke „Summe“
eine andere, der Analysis angemessenere Bedeutung beigelegt werden
müsse. Diese neue Bedeutung muß meiner Ansicht nach so fest-
gestellt werden, daß als Summe jeder unendlichen, konvergenten oder
divergenten Reihe die analytische Formel angesehen wird, aus deren
Entwicklung die Reihe entspringt.“ Auf die Fragen, ob stets eine
und ob auch nur eine solche analytische Formel vorhanden ist, geht
Euler nicht ein. Daß übrigens Euler doch nicht so ganz von der
Richtigkeit seiner Anschauungen über die Reihen überzeugt war, läßt
sich aus einer Stelle einer anderen Arbeit!) entnehmen, in der er
1—-V2+YV3—YV4+ Y5 —--- = 0380317... berechnet. Da heißt
es dann, „daß diese Gleichungen absolut richtig seien, möchte ich
weder hartnäckig noch mit Zuversicht behaupten“.
Am Schlusse zeigt Euler, wie man aus der bekannten Summe
einer Reihe a2 +bz2?+cz2?+---+ h2” durch Einführung von
2=x(cosp+YV-—1sinp)
die Summen
ax cosp + ba? cos2p +: + ha" cosnp
und
axsinp + ba?sin2p +: --+ hx" sinn
herleiten kann und wendet dies Verfahren auf a =b=c=-:--=h=]1
1 1 1
und au a=1,b=--., u Senden, ir
Wie Euler, so richtete sich auch Anders Johann Lexell, der
gleichfalls Mitglied der Petersburger Akademie war, gegen die An-
sichten D. Bernoullis?). Er bestreitet, daß von Perioden die Rede
sein könne, wenn q zu x in irrationalem Verhältnis stehe, und meint,
daß selbst wenn cosng für n = © gleich Null gesetzt werden dürfe,
doch cosng + eos(n + 1)q nicht auch gleich Null sei, wie Ber-
noulli es angenommen hatte. Im letzten Punkte übersieht er aber
wohl die Begründung, die Bernoulli seiner Annahme beifügte.
Aus dem gleichen Jahre stammt noch eine Abhandlung Eulers,
die erwähnt werden mag?). Euler setzt
1/ b 1 b 7
s(e+7)@+avm+ 3(e-7)@-aVr- m
und stellt dann den Ausdruck [» + 2v] durch [» + v] und [»] her;
ferner den von [2%] durch [»] usf. Ist [»]’ der Wert, der aus [n]
entsteht, wenn a und b durch andere Werte a’ und b’ ersetzt: werden,
dann besteht eine quadratische Beziehung zwischen [rn] und [n].
1) Nov. Comment. Petrop. XVII, 1772, p. 173. ?) Ibid. XVII, 1773, p. 37.
®) Ibid. XIVIOL, 1773, p. 198.
Reihen. 269
Der italienische Mathematiker Ant. Mar. Lorgna veröffentlichte?)
1775 eine Arbeit, in der er eine große Anzahl von Reihen gewissen
Charakters summieren lehrte. Die Reihenglieder besteben nämlich aus
Brüchen, deren Zähler und Nenner Produkte aus Faktoren von der
Form (a + bz) sind; dabei sind a und 5 für alle Glieder der Reihe
konstant, während z die Ordnungsziffer des Gliedes bedeutet, so daß
also 2=1,2,3,... zu setzen ist. Die Abhandlung teilt sich in fünf
Kapitel. Das erste beschäftigt sich mit Reihen von der Form
1 1 1 1
es pr ar eu en We
das zweite mit Reihen
ee) =:
wobeı nacheinander r — 2, 3, 4,... gesetzt wird. Als Beispiel diene die
; 1 1 1 1 i ;
Reihe a RT EM eryug ua ui: Im dritten Kapitel
| 2
handelt es sich um Ze oe vierten Kapitel tritt
noch ein zweiter linearer Faktor (b+z) in den letzten Zähler. Das
fünfte Kapitel behandelt die Summen 1+ 2 + — a an 2 Besen:
Een
Die Berechnung seiner Summen gründet Lorgna darauf, daß er das
allgemeine Glied der Reihe als Integral darstellt, die Summe der Inte-
grale bildet und das Resultat nach Möglichkeit vereinfacht. Dieser
Methode werden wir noch mehrfach begegnen.
Im gleichen Jahre 1775 gibt Euler die Summation gewisser
Reihen von besonderer Gestalt?). Es sind dies Reihen
erretntsliietete)tn
y
die er der Abkürzung wegen durch Es Fe) bezeichnet. Ähnlich
77
setzt er auch z =1+ a — je = +++. Es gelten für sie Re-
e
lationen von der Form
ul Sole fa
SS SE Se Sa
') Specimen de seriebus convergentibus. Verona 1775. — Giomale dei
Letterati d’Italia XXIV, p. 79. ?®) Nov. Comment. Petrop. XX, 1775, p. 140.
270 Abschnitt XXI.
Zum Teil beweist Euler diese Formeln, zum Teil stützt er sie nur
auf unstrenge Induktion.
Da früher die Behandlung der Kettenbrüche mit der der Reihen
zusammengenommen wurde (III, S. 693), so müssen wir uns, diesem
' Prinzipe treu, jetzt zu einer Abhandlung von Lagrange wenden!), die
sich auf die Verwertung der Kettenbrüche bei der Integration von
Differentialgleichungen bezieht. Die Verwertung von unendlichen
Reihen zu diesem Zwecke ist näherliegend; Lagrange benutzte sie
schon früher; sie hat aber den Übelstand, daß auch rationale Lösungen
in die Form unendlicher Reihen treten. Das fällt bei Kettenbrüchen
fort. Ist eine Differentialgleichung zwischen & und y gegeben, so be-
stimmt Lagrange zunächst das Anfangsglied & der Entwicklung
von y nach a. vom © bei kleinen Werten dieser Variablen;
dann setzt er y= —"— in die vorgelegte Gleichung ein und erhält
rn
dadurch eine Gleichung ee x und y,; diese wird in gleicher Weise
behandelt; sie führt auf y, = ,
2
zuy=&/1+&/1+8&/1+8/--:. Die & treten in der Form
ax“ auf; der Exponent & wird durch eine Methode bestimmt, die
als analytische Form des Newtonschen Parallelogramms bezeichnet
werden kann; a wird durch Lösung einer i. A. linearen Gleichung
gefunden. Als Beispiel behandelt Lagrange die Integration von
uf. Man kommt sonach
my+(1l+%) =Y —=() und kommt zur Kettenbruch-Entwicklung
d+ar-14m 1-9
2-3
+ 1-9 u hereh-
Daraus ergeben sich weiter Kettenbrüche für Z!(1 +x),e” usw. Das
Beispiel 1= (1 + )9% führt auf
aretange— 14, 145 =jı+2 fıtrsftr
Wenden wir den Blick nach England auf die Veröffentlichungen
in den Philosophical Transactions der Londoner Royal Society, so
stoßen wir auf drei Arbeiten über Reihen, die der Zeit nach hierher ge-
hören. Ch. Hutton?) gibt bequeme, schnell konvergierende Entwick-
lungen zum Zwecke der Berechnung von x, die sich auf die Formel
3 5
arctangx = = — = + u. — +... stützen und die Zerlegungen
1) M&m. de Berlin 1776, p. 236. *) Phil. Trans. London 1776, VI, part II,
p- 476.
Reihen. 271
1
arctgl = arctg = + arc tg — Zarctang, + arc tang — =...
benutzen. Diese Art von Zerlegungen wird eingehend untersucht; sie
hängt von den Werten in
Fr. Maseres!) wandelt die Reihe a br +c®— da’ +er!—:--
ar: bzx Da" >» D:"z*
ie a ee er
kannten D’, D”, D”,...um; er willdamit, woına>b>c>d>...;
a—b>b—-c>c—d,..;a—2b+c>b—2c+d>... usf, und
x©<1l ist, eine raschere Konvergenz der Reihe erzielen. Für die
D',D", D’”,... findet er die Differenzen erster, zweiter, dritter,.... Ordnung
- mit unbe-
b—c,b—-2c+d,b—-3ce+B3d-e,---.
Von dieser Umformung macht er eine Anwendung auf die eben be-
sprochene arctang-Reihe, sowie auf die Pendel-Schwingungsdauer.
Eine zweite Arbeit?) von Fr. Maseres läuft darauf hinaus, daß er für
die harmonische Reihe 2 + = + = + = + = ++ als Annäherung
Beh
den Wert b[(1—x)’— 1] bei sehr großen b benutzt. Für b setzt
der Verfasser der Abhandlung 10"? ein.
Bossut gibt?) ohne theoretische Begründung eine praktische
Anweisung für die angenäherte Umkehrung von Reihen. Ein Beispiel
wird am besten sein Verfahren erläutern: aus der Gleichung
t=xz+nsinz soll x durch eine Reihe
x—=t+Asint+ Bsin2?+Csindt+Dsin4t+---
dargestellt werden. Bossut bricht die Reihe nach den hingeschrie-
benen 5 Gliedern ab und bildet von der so entstehenden, als angenähert
richtig angenommenen Gleichung die 1., 3., 5. und 7. Ableitung; die-
selben Ableitungen erhält er aus der vorgelegten Gleichung als
de _ 1 43
dt 1+ncox
-
1—n cosz + n? cos?x — n? cos®x + nt costx —-:- -,
wo auch die weiteren Glieder unterdrückt werden. Dann liefert = x — 0
vier lineare Gleichungen, die zur Berechnung von A, B, C, D ausreichen.
In dem gleichen Bande der Histoire de l’Acad. Paris*) findet sich
eine Abhandlung von Laplace, die sich mit Differenzenrechnung und
mit Reihen beschäftigt. Ist u eine Funktion von «&, &, &..., und
‘) Phil. Trans. London 1777, vol. 67, part I, p. 187. °) Ibid, 1778, vol. 68,
p. 895. ®») Hist. de l’Acad. Paris 1777, p. 52. *, Ibid., p. 9.
212 Abschnitt XXI.
wird “= (u) + ago + go +: + ‘tkm t+t::: ge
setzt, wo (u) den Wert von u fre=,=%,=::-=( angibt, so
findet man durch Differentiationen den Wert
1 ( AEG )
Imnm T nimiml... \dorda da...
Wenn dann etwa u=g(le+t, o,+t,%-+t,,...) genommen wird,
so ist offenbar die letzte Klammergröße gleich
ee) BE je er
dt" dt" dt,”... BEE Wear
man kommt somit auf die Taylorsche Reihenentwicklung.
Nimmt man « als Funktion einer Größe x an, die durch die
Differentialgleichung = = en definiert wird, in der z eine beliebige
Funktion von x bedeutet, dann kommt man auf ähnliche Art zu der
Lagrangeschen Reversionsformel. Nach derselben Methode lassen sich
viele andere, zur Ditferenzenrechnung gehörige Formeln herleiten, die
bereits Lagrange aufgestellt!) und zum Teil bewiesen hatte.
Das Studium der Lambertschen algebraischen Arbeiten führte
Euler zu der Aufgabe, die Lambertsche Reihenentwicklung der
Wurzel einer trinomischen Gleichung zu verifizieren’).
Es mußte dabei folgendes gezeigt werden: Wenn x eine Wurzel
der ‘trinomischen Gleichung (« — B)v - x+?= x*— x bedeutet, so
gilt für jedes »n die Gleichung
@—1l+no+sn n+« «+ B)v’+z nn + +0@+2Pß)(n+2« + B)v®
+ nn +a+3Pß)(n+2« +2B)(n+3a +) +...
Euler geht bei dem Beweise folgendermaßen vor. Er betrachtet die
rechte Seite der zu beweisenden Gleichung als Funktion von », setzt
sie gleich S(n) und zeigt, daß S(n — B) — S(n — «) = (a — B)vS(n)
wird. Diese Funktionalgleichung läßt sich integrieren und führt zu
dem Schlußergebnis, daß S(n) = x” ist.
| Für «= ß geht die trinomische Gleichung über in logx = va.
Man erhält für «=1
a et Tr... und:
N 1) 2!
a"
org re au
MA. PER Ines AR
1) Mem. ‚Acad. Berlin 1772. 2) Nov. Comment. Act. Petrop. XX, 1775,
pars II, p. 29.
Reihen. 2753
Aus dem Jahre 1779 stammt eine umfangreiche, das Gebiet der
Differenzenrechnung nahe berührende Arbeit von Laplace!). Ist
y, eine Funktion von #, so heißt u=y + yt! + yP + +y,+
die erzeugende Funktion von y,. Bezeichnen wir die Differenzen
Yarı — Ya = AV; Ayzyı — Ay, — A’y,; ... und setzen
Vy,=ay, + 0DYrıt CYera: + Warn
1
s-a+tb- te at +0;
dann ist utf”s* (+) die erzeugende Funktion von A’V*y,_,. Insbe-
sondere gehört Viy, zur erzeugenden Funktion us‘. Wird negativ,
so treten Summen I" statt der Differenzen A’ auf; «(1 — —y
ist die erzeugende Funktion von D"y,. Hieraus folgt, daß Viy,
durch einfache Entwicklung algebraischer Funktionen gefunden werden
kann. Bildet man z.B. u: f=u ((1 + =) — 1) und entwickelt die
rechte Seite, so entsteht i
Ya u + a + ya FF a, +
Dadurch, daß der Wert von y,,, auf diese Reihen-Form gebracht ist,
hat man die Möglichkeit, für i gebrochene Werte einzuführen; das
gibt also die Lösung der Interpolationsaufgabe für y,. Laplace
leitet auf diese Art sowohl bekannte, wie auch neue Formeln her. —
In großer Ausführlichkeit werden in den Nummern UI bis VIII be-
sonders wichtige Fälle behandelt. In Nummer IX folgt die Trans-
formation von Reihen; ihre Besprechung würde uns zu weit führen.
— Auch auf Reihen von zwei Variablen geht Laplace ein. Er
nimmt y,, als Funktion von u und v an und behandelt die „rekurro-
rekurrenten“ Reihen in ähnlicher Weise, wie er die von einer
Variablen behandelt hatte.
Die nächste, der Zeit wie dem Stoffe nach zu erwähnende Arbeit
stammt wieder von Euler?). Sie beschäftigt sich mit der Reihen-
entwicklung des Produktes
1-1 - )1—-aA)(1l—ı):.--
! | 1a tritt at _gör...,
Hierin haben auf der rechten Seite die Exponenten die Form
1 aan)
und der zugehörige Koeffizient ist gleich (— 1)”. Diese merkwürdige Be-
') Hist. de "Acad. Paris 1779 (1782), p. 207. ®) Act. Petrop. IV, 1780,
pars I, p. 47.
274 Abschnitt XXI.
ziehung hatte Euler schon früher in den Nov. Comment. Acad. Petrop. III,
1750—1751, p. 155 induktiv hergeleitet und das Resultat in das
Kap. XVI, $ 323 der „Introductio in Analysin“ aufgenommen. Später
hat er es in den Nov. Comment. Acad. Petrop. pro 1754, 1755, p. 75
bis 83 bewiesen. Jetzt, 25 Jahre später, modifiziert er jenen Beweis.
Jacobi beschäftigte sich 1840 eingehend mit derartigen Reihen, bei
denen die Exponenten eine arithmetische Folge zweiter Ordnung
bilden. Er stieß auf solche Entwicklungen in der Theorie der ellip-
tischen Funktionen. Jacobi nimmt dabei!) ausdrücklich Bezug auf
diese Eulerschen Untersuchungen, und gibt als interessante Ergän-
zung zu dem Eulerschen Satze noch die folgende Entwicklung der
dritten Potenz der rechten Seite unserer letzten Gleichung
(1-1: - ++ — 2? — +.)
=1-32 +50? — 72° +92 - 112° +». .;
hier haben die Exponenten der rechten Seite die Gestalt (ne + n);
die zugehörigen Koeffizienten sind (— 1 (2n +1).
In einer anderen Arbeit des gleichen Jahres?) dehnt Euler die
Formel Ä x Ä
n n\? 2.6-.10...4n— 2
sw)=($) =) +6) ee Ber=
auf gebrochene Werte von » aus; es handelt sich also dabei um eine
Interpolationsaufgabe. Er findet mit Hilfe der Integrale, die von
Legendre als Eulersche Integrale zweiter Gattung bezeichnet
worden sind,
A 4 3 4.18 5 4 8-16 7 4 8.16 - 24
s5)-5 sG)=-5 35: s)-2 55 SG)
Ebenso wird für gebrochene n, p, q auch
Dicke Er
behandelt. Das behandelte Problem gehört als Interpolationsproblem
einer Reihe von Aufgaben an, die den meisten Forschern der da-
maligen Zeit sehr am Herzen lag.
Von den „Mathematical Memoirs“ von J. Landen?) haben wir
das fünfte „eine neue Methode, um die Summen gewisser Reihen zu
erhalten“ in unsere Besprechungen zu ziehen. Nach einigen analytischen
Vorbereitungen geht Landen so vor: Aus den Entwicklungen von
1+u) und (1 + =) folgert er ohne Konvergenz-Bedenken
u=(u— u) (7) + (Wu) en
t) Jacobis Werke VI, p. 281. ®) Act. Petrop. IV, 1780, pars I, p. 74.
®) London 1780.
Reihen. 275
hierin trägt er u—=zy-—1 ein und erhält
2 sin zZ sin 22 sin 32
„7014 ar
In diese Formel setzt er zur Herleitung spezieller Resultate
7T
ki=<ı =
3 4
usw. Die Integration der Formel liefert
2? cos 2 cos 22 cos 32 2
u 12 ee any 32 reLTTDY
wp =1-— er + e- _ e +... ist; dies wird mittels eines Kunst-
griffes — = bestimmt. In entsprechender Art leitet Landen die Formeln
sin ir sin .; sin 2
2] F} D} m? a 1
ne = (+3 - 5) singz — 22. 00852
317-9? arg rt 8?.4°
2 2
und
c08 n cos ”) cos 6
2 2 2 BE n° 5
7a tyra tg + = 2@— oinge+(G—me+ 58 3)
her. Aus diesem letzten Resultate folgt
* 1 1 1
as sel setnpt,
Im folgenden Jahre veröffentlichte Ed. Waring') seine „Medi-
tationes analyticae“, deren drittes und viertes Buch uns hier inter-
essiert. Waring zeigt zum Teil schon moderne Anschauungen über
Konvergenz und Divergenz; er sagt: „streben n atb+c+d+e+--
die Summen a+b, a+b+c, a+b+c+d, ... einer endlichen
Größe zu, an die sie näher herankommen als eine beliebig gegebene
Differenz, so konvergiert die Reihe“. — „Die Reihe
1 1 1
44 Fi + zur m u 5
konvergiert für n>1, und für » <1 divergiert die Reihe. Ist für
beliebige endliche x und n = oo das unendlich ferne Glied a, < —
dann und nur dann konvergiert die Reihe ww +, +% ++.
Wenn für unendlich großes » der Quotient a,:a,,, kleiner (größer)
als 1 ist, so divergiert (konvergiert) die Reihe.“ Wir stoßen also hier
auf das bekannte Konvergenz-Kriterium. In die Reihen
') Cantabrigiae 1781.
276 Abschnitt XXI.
al ete- tr
Farm ate trat
Fatal et rare
setzt Waring zwar «= 1 und erhält dabei verschiedene Werte für
1—-1+1-1+1-—1+:-; aber er setzt bei diesen Herleitungen
ausdrücklich hinzu (S. 355): „in Wahrheit kann diesen Reihen keine
Summe zugesprochen werden“. -
Waring ist in erster Linie Algebraiker; das zeigt sich auch hier
darin, daß die Untersuchung gern auf das Gebiet der Gleichungen
übertritt. So werden die Wurzeln «, ß, y, d, ... der „infiniten“
Gleichung für x von der Gestalt O= a — bz + ca? — da? + ex —
in Zusammenhang mit den Koeffizienten gebracht:
1: no c 1 1 1
eat gtst Paar Tea Taken ai ac
und die Reihe liefert in Faktoren aufgelöst
(1) -2a-3).0
wie das schon in den Eulerschen Untersuchungen benutzt ist. — Im
vierten Buche geht Waring ausführlich auf Beziehungen ein, die
zwischen dem »'" Reihengliede, der Summe der » ersten Glieder und
der Ordnungsziffer n selbst bestehen können; ebenso vergleicht er
Reihen, zwischen deren Partialsummen vorgeschriebene Relationen be-
stehen. Ausgiebigen Gebrauch zur Herstellung summierbarer Reihen
macht er von dem Kunstgriff, die Summe zu geben und die Reihen
daraus herzustellen. Auf weitere Einzelheiten des umfassenden Werkes
hier einzugehen, müssen wir uns versagen; über einige Nachträge zu
den „Meditationes algebraicae“ werden wir an gehöriger Stelle zu
berichten haben.
Aus dem Jahre 1781 sind noch zwei Eulersche Arbeiten zu be-
sprechen. Des besseren Zusammenhanges wegen behandeln wir sie in
der umgekehrten Folge ihres Erscheinens.
Die zweite, kleinere Arbeit Eulers!) dehnt die S. 274 behandelte
Summations-Formel für
Kerl ehren ine he
auf andere Symbole
Dllassbelleeuanr
D) Act. Petrop. IV, 1781, II, p. 76.
Reihen. 277
aus, wo 5 durch die Gleichung
A+.+ 2 + 414er er let
erklärt wird.
Die erste, größere Arbeit!) beschäftigt sich mit Umwandlungen
der harmonischen Reihe
& D
tn
1 A B
rt
in der, verschieden von früherer Bezeichnung (vgl. S. 262),
1 1 a
1
Amon d-.' Sr Din a:
die Bernoullischen Zahlen sind, und € = 0,5772 156649... die Kon-
stante bedeutet, die später die Bezeichnung „Eulersche Konstante“
erhalten hat. Setzt man
1 Et 1
u wimeß, riet
wobei die Summen von n=1 bis n= oo erstreckt werden, dann
findet Euler
0 Ed EDtZE-Dr--
ferner
1 1 1 3
ebenso
1 1 1
Blatt, attzeitt
und andere Beziehungen mehr. Euler gewinnt dabei den Anschluß
an bereits früher von ihm angestellte Untersuchungen (Band III?,
S. 657) und liefert hier den Beweis für die, dort in der Gestalt
daX d’X
S-—/[XdotoX+B2 +y dx? +.
gegebene Summenformel. Dabei ist X eine Funktion von x etwa X (x)
und S(2) = X(a) +X(@e +1) + X(&+2)+::: oder, wie Euler
kürzer schreibt, S=- X+-X' + X" + X” +...,
Ein ähnliches Problem beschäftigt Euler auch weiterhin.) Er
fragt nach der Summe S- X —- X +X”’—- X” +.... Ist 5° die-
selbe Summe, in der nur # durch («+ 1) ersetzt wird, so hat man
S+S’= X und erkennt daraus, daß in erster Näherung $ — =X
und, bei noch unbekannten Koeffizienten «, ß, y, ..., weiter
') Act. Petrop. IV, 1781, II, p. 45. ”) Nov. Act. Acad. Petrop. II pro
1784, p. 46. |
278 Abschnitt XXI.
1 dX d?’X d’X
ar a trerI zr
wird. Die «, ß, y, --- kann man nun mit Hilfe von Reduktions-
formeln bestimmen, und zwar am bequemsten durch die Einführung
einer Funktion
s-Stet+ßR +yP+ötH....
Euler bezeichnet s — = = v und findet als Bestimmungs - Gleichung
| 1 1
av
dt 4’ ee‘
Hieraus ergeben sich dann die gesuchten Koeffizienten «, ß, 9, ...,
die in enger Beziehung zu den Bernoullischen Zahlen stehen. Ist
1
3 5 691
’ A =, d=
Ta du all Gel; A
a=1, b=
| m
-(Introductio in analysin infin. Cap. X, $ 168), dann wird
2?— 1a dX 2?— 1b d’X 2°—1c dX
3! 2 de I 2 de 112 de
282 —_1d dX
+ Ya a Pr
1
Für diese Entwicklung gibt Euler dann noch einen zweiten Beweis.
Ferner behandelt er die Summationen der beiden Reihen
"X—mtHıIX mtr X” —mwtX” +...
und
2!X — (+)! + +2)IX” — (+53) N” +.
Die Arbeit wurde erst nach dem am 7. September 1783 (A. St.) zu
Petersburg erfolgten Tode Eulers publiziert. Bei seinen Lebzeiten waren
von ihm allein 473 Abhandlungen erschienen; über 200 andere hinterließ
er. Bis zum Jahre 1830, also beinahe noch 50 Jahre, nachdem
Euler die Augen geschlossen hatte, dauerten die Publikationen ihres
größten Mitgliedes seitens der Petersburger Akademie fort.
Wir kehren zum Jahre 1782 zurück und erwähnen einen Aufsatz
von Nic. Fuß’), der sich auf folgendes stützt. Es seien A, B, C,
D,... X,... beliebige Größen 1A, AB, AC,.... die Reihe ihrer
ersten Differenzen, 1A, PB, IC, ... die ihrer zweiten Diffe-
renzen usf.; dann hat man bekanntlich
RmA+ AS Ba N pl en.
Daraus folgt
') Act. Petrop. 1782, II, p. 96.
Reihen. 279
X— A
lim = 1A-PA+ SPA TSAH-;
z=0
die linke Seite tritt dabei unter der Form 0:0 auf. Gelingt es, den
wahren Wert dieses Quotienten zu bestimmen, so liefert derselbe die
Summe der rechtsstehenden Reihe. So findet Fuß
-3 I a
+ )-U+l Hl
2°. : ‚ee — 1) (© — 2)
=.
auldr I Be Er
aus der Annahme X =/(1-+ x); und
29 cosp = 2singp- cos2p + ,2sin’ sindp — „2’sin’g cos4gp
— 2*sin‘ sindp+ -2’sin’g cos6p + ---
aus der Annahme X = sin(1 + 2x)p.
Von dem schon erwähnten Italiener Lorgna stammt eine um-
fangreiche Untersuchung über Reihensummen.!) Wir können sie aber
gleichwohl kurz behandeln, da ihr Inhalt im wesentlichen mit dem
der früheren Arbeit übereinstimmt. In zehn Kapiteln werden ver-
schiedene Arten von summierbaren Reihen besprochen. Als neu heben
wir hervor aus Kap. VI die Reihe 1!+2!+3!+4!+---+x!, allgemeiner
(s+b)!+ (a + 2b)! + (a + 3b)! + ---
und
(m + 1)(m + 2° + (m+1)(m +2) (m + 3°
ev (m +1) (m + 2) (m + 3) (m + 4) (m + 4)
12 +(13— 212) + (14— 3-13 + 312) + (15 —414 + 615 — 412) + --;
aus Kap. VIII
2», _%Map+b) Blaptbp+b Lap+2bp+b.
a (a+b)(i+p) (a+2b)(1+2p) (a+3b)(1+3p)
u 2(ap+2b) 3(lap+bp+2b) 4lap+2bp+ 2b) ER
2a (a+b)2?+p) (a+2b)(2?+2p) (a+3b)(2 + 3p) f
aus Kap. IX die Doppelreihe
I-.+H-2+)+1-3+5-0 +)
++ at )t
Die Ben Summationsmethoden sind die gleichen wie in dem
N Memor. mat. fis. Soc. Ital. 3 1782, p. 268.
280 Abschnitt XXI.
oben (S. 269) besprochenen Aufsatze des Verfassers. — Wir wollen
gleich hier eine dritte Abhandlung Lorgnas erwähnen, trotzdem sie
erst 1784, also zwei Jahre später erschienen ist.') In ihr handelt es
sich um die Summierung der Reihe
1 ER 1 1 REN
a Vol eu a ne,
wo K die Basis der hyperbolischen Logarithmen bezeichnet. Sie wird
durch die Substitution >
sin ma = en Krro _ K-"ae) (ao —-YV-— 1)
geleistet. Dadurch wird
K”+1=20oK”sin—:(K° — 1)
und
K*—1=20K*sin—:(K” +1),
so daß in jedem Reihengliede die Summe aus dem Nenner ın den
Zähler geschafft werden kann. — Weiter beschäftigt sich Lorgna mit
anderen Reihen und erhält z. B. die Resultate
11 1 1 1 1
Borg ug
1 5 1 1 1 1
02-552 nr ee a a a N war Same ar A:
Wir gehen nunmehr zu einer, ganz anderen Anschauungskreisen
angehörigen Arbeit von Laplace über.?) Bei seinen eingehenden
Forschungen im Gebiete der Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihrer
praktischen Verwertung bei national-ökonomische Fragen war Laplace
häufig auf Formeln gestoßen, die zur Berechnung ganz ungeeignet
sich zeigten, weil sehr große oder sehr viele Zahlen in sie eintraten.
Handelt es sich z. B. bei hohem Werte des s um die Berechnung von
25s-2s— 1):-(2s—2)...(s+1)
a
so wird dies selbst bei der Benutzung von Logarithmen sehr müh-
selig. In diesem Falle hatte Stirling eine bequeme Formel zur an-
genäherten Berechnung jenes Binomialkoeffizienten aufgestellt; in
anderen Fällen war, wie wir oben sahen, D. Bernoulli in ähnlicher
Weise vorgegangen (vgl. S. 231). Laplace greift hier die Frage
fundamental an und bringt sie zur Lösung. Seine umfangreiche Ab-
t) Memor. mat. fis. Soc. Ital. II, 1784, p. 210. %\ Hist. Acad. Paris, 1782,
p. 1, und 1783, p. 423 (vgl. S. 231).
Reihen. 281
handlung ist aber in derartigem Maße von Formeln durchsetzt, daß
eine Darlegung der Entwicklung hier nicht möglich erscheint. Wir
müssen uns auf die Angabe des Zieles der Untersuchung und auf die
Mitteilung einiger Resultate beschränken. Das Problem, dem Laplace
seinen Scharfsinn widmet, zerfällt in zwei Teile. Zunächst wird eine
Integration durch unendliche Reihen für solche Integranden hergeleitet,
die in hohe Potenzen erhobene Faktoren enthalten. Die hierfür ge-
gebenen Reihen konvergieren äußerst schnell. An zweiter Stelle
werden Funktionen, von welchen man angenäherte Werte sucht, auf die
angegebene Integralgestalt gebracht, deren Entwicklung soeben be-
sprochen wurde. Diese Behandlung umfaßt alle Funktionen, die durch
‚gewöhnliche oder partielle Differenzen- oder Differentialgleichungen
definiert werden.
Bei solehen Untersuchungen treten Integrale von der Gestalt
[es]
er
fP* u
0 E
auf. Laplace bestimmt außer dem schon vor ihm bekannten Integrale
er
/ ed ;Vr
i 0
noch andere wie z. B.
” 3
feeraı —-n*: (4) 2y2.7'),
N
wo x" die Stirlingsche Konstante 1,311023777.... bedeutet, die zur
Länge der elastischen Kurve in enger Beziehung steht. Der dritte
Abschnitt der Laplaceschen Abhandlung liefert Anwendungen der
erhaltenen Resultate auf schwierigere Probleme der Wahrscheinlich-
keitsrechnung.
Ein Aufsatz, der vielfach an die Arbeiten von Lorgna erinnert,
stammt von üeen. Engländer Samuel Vince.!) Im ersten Teile geht
der Verfasser von der Bemerkung aus, daß die Integration von IF
durch Logarithmen und Kreisfunktionen ausführbar sei, und daß
andererseits die Reihenentwicklung des Bruches mit nachfolgender,
von OÖ bis 1 erstreekter Inlssnlien die Summe
1 1 1
TEE BIT AU
ergebe. Daher kann die Summe S dieser Reihe durch die angegebenen
Transzendenten ausgedrückt werden; S wird als bekannt angesehen.
') Phil. Transact. London, for 1782, p. 389.
CAxrtor, Geschichte der Mathematik IV. 19
282 Abschnitt XXI.
Auf diese Reihe werden andere dadurch reduziert, daß Glieder zerlegt
oder in eins zusammengezogen werden. So findet Vince
a Er a—b a—+ 2b a+3b
IWF EFVer nt erFn@etn erFiGrH)
- ,(Zra—(r + 2)b]|S—ra+(r+1)b}.
Bei der Annahme 2ra = (r + 2)b fällt S weg. So erhält man z.B.
RN 9 13 1
FE et bar vr ra rar.
Andere, in ähnlicher Art summierte Reihen sind
m SR mn m 2n
IF Der FH + er Fer Var +" ar FNor Fler F
ferner
m mn
Der Fer +) T Br fNar+Nor+))
mt 2n
Tee FDer+N
m m+n
Gr For Fidr +) T WHDer +Nor+n
m 2n
T (er FDar Fer +N
Dann folgen solche, deren Nenner vier derartige Faktoren enthält usw.
Durch Spezialisierung kann man auch mitunter das transzendente 5
aus den Formeln entfernen. Man findet u. a.
oe.
1 1 1 1
1-@r-+1) + @r +l(Ar-+1) E 4r +1)6r +1) Kr
Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Summierung von Reihen,
die die Form haben
p FR q
n(n + m)...(n + rm) (n + m)(n + 2m)...n+[r+ 1]m)
r
a5 (n + 2m)(n + 3m)...(n + [r + 2]m)
in der p, 9, 7,... eine arithmetische Reihe beliebiger Ordnung bilden
Von den erlangten Resultaten führen wir an
+:..3
3 6 10 15 11
te Tan lag we Be
1:2 2.8 3.4 4:5 1
£.8,-5,7 1 554758 + em Be
hr + 8° Ei 59 + en 1° = BR
1-4.7.10 4-7:.10-13 7.10-13-1 10.13-16.19 7° 2268
Reihen. 283
Im dritten Teile geht Vince von der Bemerkung aus, daß in
einer unendlichen Reihe, deren Glieder nach Null konvergieren und
abwechselnde Vorzeichen haben, aufeinander folgende Glieder in eins
zusammengefaßt werden dürfen, wie bei
1 1 1 1 1 1 1 1
aa
1 1 1 1
ee Te Be a
daß dies aber bei Reihen, deren Glieder nach einer endlichen Größe
+0 konvergieren, nicht erlaubt sei; daß also nicht
1 2 3 4 5 6 1 1 1
BEE ae Te a nt
1 1 1
ERW e
Es müssen also bei solcher Zusammenfassung noch Ergänzungsglieder
beigefügt werden. Das erklärt sich (an den obigen Beispielen) so: Die
; 1 1 1
Ay ARee Er Tuer Sen Te as
Glieder 0, 0, --- werden; die Reihe > +2 — 2 _... „geht im
Unendlichen noch fort“, da sie die Gestalt 1—-1-+1-—1-.. annimmt.
Die Wahrung der Gleichheit fordert also, daß man zum Ausdrucke
1 1 . i
2 De Wer ce noch 1—_1+1-—1+-+... hinzufüge. Und das
+ „hört im Unendlichen auf“, da ihre
hat „bekanntlich“ den Wert - Genau aus den gleichen Gründen
. 243 1 1 “. Hair
wird bei 1atz3at56+::: das Ergänzungsglied
-1+1-1+1-..-—1
sein. Es ist interessant zu sehen, welche wilden Schößlinge die Lehre
von den divergenten Reihen treibt, und wieviel Scharfsinn auf das
Dogma von der Summe solcher Reihen aufgewendet wurde.
In dem Eulerschen Werke, dessen erster Teil 1783, in des Ver-
fassers Todesjahr, dessen zweiter 1785 zu Petersburg erschien und den
Titel „Opuscula analytica“ trägt, finden wir Reihen-Untersuchungen.
Gleich die erste Abhandlung (p. 3) des ersten Bandes gehört hierher.
Das in ihr behandelte Problem ist etwas unbestimmt gedacht und
ausgedrückt: Eine Reihe von Zahlen 4: Bu GD. RK F,... ist ge-
geben, und eine andere a, b, c, d, %, f, 9, + soll gefunden werden, so
dB ab=A; be=B; cd = C; d=D;ef=E,; f9=@; --- wird.
Offenbar hängt alles von der Bestimmung des a ab, und dies a bleibt
ganz willkürlich. Euler sucht nun, ohne es ausdrücklich anzugeben,
284 Abschnitt XXI.
einen solchen Wert des a, für den die Reihe a, b, c, d, --- möglichst
‘einfach sich gestaltet. Er findet für diese, auch so noch unbestimmte
Aufgabe, da der Begriff der „Einfachheit“ unbestimmt ist,
A-CC-EE-G
2 AR
"—-ASBDDFrF'‘'
und stellt daraus bei besonderen Annahmen über A, B, C, --- das a?
durch Integrale dar. Andererseits entwickelt er a? in einen Ketten-
bruch und erhält durch Gleichsetzung beider Lösungen merkwürdige
Beziehungen, von denen wir wenigstens eine anführen wollen, nämlich
——-1+2/3+1-3/4+3.5/4+5-1/4 + 7.944...
Die zweite Abhandlung dieses Bandes führt Eulers frühe Unter-
suchungen (8. 260) über die Potenzerhebung von (1 +x+ 2°), ins-
besondere über den Koeffizienten von x” in diesem entwickelten Po-
lynome weiter, in der ausgesprochenen Absicht, verschiedene analy-
tische Kunstgriffe darzulegen, und andererseits zu zeigen, wie vor-
sichtig man mit Induktionsschlüssen sein müsse.
Der vierte Aufsatz (p. 85) beschäftigt sich mit Kettenbrüchen
und steht in gewissem Zusammenhange mit dem zweiten Teile des
ersten Aufsatzes. Mit Hilfe eigentümlicher Relationen werden Glei-
chungen zwischen gewissen Kettenbrüchen hergestellt, aus denen
durch Spezialisierung folgendes Resultat hervorgeht. Setzt man
D=m+n/(m +) +R+YD/m +) +mn+2)/m+3)+:-;,
so wird | |
n—1):p=1+m-m-2)/m+d)+m—- m—3)/m+3)t--
Daraus folgt der Wert von p für n=m+2, m+3, m+4,::-.
Auch für n=m-+1 gelingt, freilich auf andere Weise, die Bestim-
mung. Setzt man in diesem Falle » = en — 1, so wird
1 1 1
TH TED mat m Em TE Er
%
= n e’z”da2.
0
Im sechsten Aufsatze (p. 157) wird die Aufgabe behandelt, die
Koeffizienten der Reihe
y= Az + Bx(a? — a?) + Ca(@? — a?) (a? — B°)
+De(® - ad)? —- (a? —)+:--
so zu bestimmen, daß y für 2=a,b,c,d, --- die Werte 9,4,7,5,°:'
annimmt. Für a, b, c, d,--- werden dann irgendwelche Kreisbögen
Reihen. 285
(beim Kreis-Radius 1) und für 9, 9, r, 5, --- ihre Sinus eingetragen;
dabei wird allgemein y= sin«. Das liefert
a?b?
1= She u at)
a’q b’e® SEN 3p38,
- alt te 0) 05T 1:
und führt durch Spezialisierung auf interessante Formeln.
Auch der zweite Band der Opuscula liefert Bemerkenswertes.
Im siebenten Aufsatze (p. 102) wird die Ba transzendenter
Brüche in unendliche Reihen geliefert. Ist — dieser Bruch, dessen
7
Nenner eine transzendente Funktion von 2 ist; ist a eine Wurzel
des gleich Null gesetzten Nenners, so wird der Zähler « des
Gliedes a, das in n als Partialbruch eingeht, durch
_ Pde+(e—a)dP
dQ
gegeben. Diese Bestimmung der Zähler wird auf N, auf
sın z
2 e 2? cos 2 1 1 1
a re Dr re re ee EN
sin 2 sın 2 sin 2 sınz? cos& — cosz sın2*’ sinz
angewendet.
Die nächste Abhandlung beschäftigt sich mit der Umwandlung
von Reihen in Kettenbrüche (p. 138) in der Gestalt
| or a,
eyleheldt. - - 45 - Beten - Det
So wird aus der Reihe 1 — = + 2 — . +: =12 hergeleitet
1:12=1+1?/1 + 22/1 + 32/1 +
und aus 1 — - + > +... = = folgt die Brounckersche Ent-
wicklung 4:2 —=1+ 12/2 + 32/2 + 5°/2++--. Hier mag gleich bemerkt
werden, daß Euler auch ) die umgekehrte Aufgabe löste: den Broun-
essken Kettenbruch in die Leibnizsche Formel umzuwandeln.
; 2. 1 1 1 '
Ferner folgt für s— u, . ar - der reziproke Wert
1
er N HEN) +:
und aus s= — 2 + re — ++ ergibt sich allgemeiner
') Nov. Act. Petrop. II, 1784, p. 33.
286 Abschnitt XXI.
et) + Ba tr) +:
und dgl. mehr.
Das gleiche Thema wird in einer späteren Abhandlung (p. 217)
fortgesetzt. Euler erledigt dabei den Fall, der den früheren Me-
thoden nicht zugänglich war; daß alle Teilzähler gleich 1 sind, wäh-
rend die Teilnenner eine arithmetische Reihe bilden. Die Lösung
wird durch die Integration einer Differentialgleichung vermittelt.
In der zehnten dieser Arbeiten (p. 240) handelt es sich, ohne daß
erwähnenswerte Resultate zutage gefördert werden, um die Summe der
Reihe
& 1 1 1
a Er Re
1-5 75,7. Deu soraiBarnen
Die elfte Arbeit des zweiten Bandes (p. 257) gibt eine neue Ab-
leitung der Summen 1 + =; + ir + 7. + = #.--, die sich auf
die Entwicklung der beiden Formeln
7 2 2 2
mn ee
n sin —
n
und
P17 er 2 2 2
er "—1 am®—1 9n—1
ntg —
stützt.
Nach der Besprechung der auf Reihen bezüglichen Arbeiten in
Eulers Sammelwerke „Opuscula analytica“ gehen wir zu einem Auf-
satze von E. Waring über‘) Waring betrachtet hauptsächlich
Reihen, deren allgemeines Glied eine rationale Funktion des Stellen-
zeigers oder, wie sein Ausdruck lautet, der Entfernung vom Anfangs-
gliede ist. Er geht davon aus, eine gegebene Summe A(x) in eine
nach Potenzen von x fortschreitende Reihe sich entwickelt zu denken.
Setzt man den Nenner von A(x) gleich Null, so liefert die, ihrem
absoluten Betrage nach kleinste Wurzel dieser Gleichung die obere
Grenze für die Konvergenz der Reihe. Das ist also eine bereits voll-
kommen moderne Auffassung; bemerkenswert ist, daß hier bei einer
komplexen Wurzel a +bY-—1 statt des absoluten Betrages Ve +
die kleinere der beiden Größen |a — b|, |a-+ b| genommen wird. —
ag" be" +...
@+9@+e+D.-@+e+n-—1)
mit m<n—2, so kann es in ein Aggregat
y ö a
@Foetet)te+o..-@reFHT e+or..(c+e+3)
Hat das allgemeine Glied die Form
!) Phil. Transact. R. Soc. London 74 (1784), p. 385.
Reihen. 287
umgewandelt werden, und als Reihensumme ergibt sich daher
Y d e no
ste tseFo@terntserg- gefragt"
In ähnlicher Weise werden Reihen behandelt, deren Glieder mit
Nennern der verwickelteren -Form
+9: (e+e+n-D-(e+N). etttn-D-e+N
.+g9+n—1)---
behaftet sind. Die Bestimmung der Reihensumme kann auch mit
Hilfe der Methode der unbestimmten Koeffizienten geliefert werden,
da durch die eben besprochene Überlegung die Form der Summe be-
a ET u
@+oa@te+b. @+tern—])
a Bet tr...
@+Ö@+e+nD:-@te+n—)
Waring behandelt dann auch den Fall, daß zum angegebenen all-
gemeinen Gliede ein Exponentialfaktor g° hinzutritt. — Des weiteren
bespricht er das folgende Verfahren zur Herstellung summierbarer
Reihen: Ist “,, %,, %, - - - eine unendliche Reihe von, nach der Null als
Grenze konvergierenden Zahlen, so hat die Reihe mit dem allgemeinen
Gliede (eu; + Burza + Yu, +. .), falls aß + y+ = 0 ıst,
eine leicht angebbare Summe. — Ferner bildet Waring aus einer Reihe
mit bekannter Summe =>qa,+ X + a,2? + a,2® + -- durch Multi-
plikation mit #” und Differentiation
kannt ist; zum allgemeinen Gliede
z. B. gehört nämlich eine Summe
u= „ae = re" +r+Da2 tr +2)a0t’+-;
d(ua’”") ER
ea let Nart'+:--
usf. — Wie man sieht, geht Warings Absicht darauf hinaus, Regeln
zu bilden, die zur Herstellung summierbarer Reihen führen. — Den
Schluß des Aufsatzes bilden Prioritätsreklamationen gegenüber Euler
und Lagrange hinsichtlich algebraischer Entdeckungen. So nimmt
Waring die Behandlung der Wurzeln einer auflösbaren Gleichung
in der Gestalt y=aYp-+byp + cVYp°-+--- gegen Euler für sich
in Anspruch; Bestimmungen der Anzahl komplexer Wurzelpaare einer
Gleichung gegen Lagrange. Für die damalige Zeit, die noch nicht
im Zeichen des Verkehrs stand, sind derartige Fälle durchaus nicht
überraschend; Waring behandelt sie auch demgemäß: „er habe an
Euler eine Arbeit geschickt; ob der sie je empfangen habe, könne
er nicht sagen“.
288 Abschnitt XXI.
Die zeitliche Folge leitet uns nunmehr zu einem Aufsatze von
Carlo Gianella über!). In vier Paragraphen werden Fragen be-
sprochen, die sich auf die Theorie der Reihen beziehen. Im ersten
2 3
Paragraphen wird Z=1 — 5 t 5. _ T +... zur n!® Potenz er-
hoben. ‘Dabei findet sich die Relation, deren Richtigkeit evident ist,
n&cZ n?x*? Z? n?x°® Z°
d+jp-1 2 gay red,
3!
Im zweiten Paragraphen wird die Reihe A+B10+... =% D:
V?r
summiert, wo die einzelnen Glieder A, B, C,... durch die Gleichung
1” Ym Zm 1 meh Re 1 m A m-—1i
+2" +5" +. +N EN + mAn
+ nn 1) Bnw-24 m(m _. — 2) Onm-3L...
bestimmt sind. Der dritte Paragraph beschäftigt sich mit einem
Symbole d, für das da”= na”! ist. Dadurch kürzen sich manche
Formeln in ihrer Schreibweise wesentlich ab; man erhält z. B.
2 = In—1_ B2r 7 20-3 u re Fa .;
und im vierten Paragraphen wird das gleiche Symbol d für die Trans-
formation und die Iteration von Reihen ausgenützt.
Ein kleiner Streit spielt sich um diese Zeit ab. Euler hatte,
unbekümmert um Konvergenz-Notwendigkeiten, die Gleichung
1 1 1 1 1 1 1 1
Da a re ee
aufgestellt). Greg. Fontana?) greift die Ableitung der Gleichung
an; Nik. Fuß verteidigt sie‘). Auch über die Eulersche Behauptung,
1 1 1 PR
daß artumgst tr teams für n= 00 werde,
R+1)n
herrschen verschiedene Meinungen. G. Fontana erwähnt übrigens
den bereits verstorbenen Euler bei seinen Angriffen nirgend. Es ist
ein „Verfahren gegen Unbekannt“, das er einschlägt. Fuß weist
aber nach, daß nur Euler bei den Angriffen gemeint sein kann.
Aus der Fußschen Abhandlung heben wir hier gleich noch eine
interessante Formel heraus, die in den letzten Paragraphen der Arbeit
) Mem. Acad. Turin I, 1784—1785, p. 391. *) Comm. Petrop. IX (1737),
1744, p. 188. °) Mem. mat. fis. Soc. Ital. II, 1784, p. 133. *) Nov. Act. Petrop.
VII, 1790, p. 201. |
Reihen. 289
Ihr Beweis ist ja sehr
abgeleitet wird; es ist DD =
v=2
einfach. -
Aus demselben Jahre 1784 stammt von dem eben erwähnten
G. Fontana eine zweite Arbeit!) über unendliche Reihen, in der er
wiederum gelegentlich Eulers Schlüsse angreift. Der Hauptinhalt
der Abhandlung liegt in der Benutzung der Integralrechnung für die
Summierung von Reihen. Als Beispiel Be ee. dienen: um
#1 = .—- = ++. zu finden, leitet er ee FR S her und inte-
=
griert diese Differentialgleichung. Ähnlich behandelt er
gti a15
IHatatatsn rratet
3 * ac? 0? > ge?
eier Ara tarıs trennt 5;
er kommt auch auf Bossuts Theoreme (vgl. $. 264).
Aus dem im Jahre 1785 erschienenen letzten Bande des Brief-
wechsels Lamberts interessieren uns hier zwei Stellen?), in denen
Ludwig Oberreit über eine Reihentransformation berichtet, die er
und schon vor ihm Lambert gefunden hatte. Von Oberreit werde
erwähnt, daß er 1734 zu Lindau geboren wurde und 1803 zu Dresden
als Finanzbeamter starb. Die erwähnte Transformation von
y- ac" — bam+n .n eg +?n + Aue
geht so vor sich, daß die Gleichung zunächst mit « + ba” multi-
pliziert wird. Dadurch fällt das Glied mit x” +” fort, und man hat
(a + ba”) y — a?" — a amr+r2n _ b’ gm +3n + Camt+in _.. “
durch Multiplikation mit (a’ + b’a”) wird das Glied mit am+3” weg-
geschafft usw. Dieses Vorgehen liefert
a?" a2. +?n a’ gm rin
Tor (area kV) "(ar e)la LP) a He) t
Wendet man diese Transformation auf die Reihen für die Logarithmen,
für die Quadrat- und die Kubikwurzeln an, so*erhält man sehr Sur
konvergierende Entwicklungen.
Im Jahre 1786 veröffentlicht A. M. Lorgna wieder eine Reihen-
BE RRSEUREN, Er summiert
') Mem. mat. fis. Soc. Ital. II, 1784, p. 886. ®) Lamberts gelehrter
_ deutscher Briefwechsel, herausgeg. von Job Rernoulli, Band V (1785), p. 304
und p. 354. °) Mem. Acad. sci. Turin III, 1786—1787.
290 Abschnitt XXI.
1 . 1 | 1 1
sin(p+Dp — sin(p+2N9 ' snp+3gg = = sinp-tnggp
(und die entsprechende Reihe für die Kosinus) durch Benutzung des
tim
Integrals fi a für endliche und für unendlich große n. Bei-
x
V
spielsweise wird für g = . gefunden
1 1 Ne 3,1
sin p 7 sin2g % insg -y3 . m
G. Fontana gibt ohne Beweise!) 37 Theoreme über Reihen-
summen; wir führen, um eine Anschauung zu vermitteln, einige an:
1 1-3 1-.3-5
itsus fast
a als. 2
Teen sang
1 1? 12.3: 12.32.52
2
ae ra Pte
Das genüge!
Mit rekurrenten Reihen beschäftigt sich Gian. Franc. Mal-
fatti?). Er knüpft an Lagranges grundlegende Untersuchungen
an. Ist Ay, + By,,ı ++ Ny,,„= 0 die Relation, die je +1)
aufeinander folgende Reihenglieder verbindet, dann ist
y„=a@®+bR+ep+:--
das allgemeine Reihenglied, wobei «, ß, Y,.... die Wurzeln der Glei-
chung A+ Bt+.--+ Nt"=0 sind. Dabei werden «a, ß, y,.... von-
einander verschieden angenommen. Die Behandlung gleicher Wurzeln
hatte Lagrange geliefert; aber Malfatti findet sein Verfahren in-
korrekt, zeigt den Fehler an einem Beispiele und ‘ersetzt es durch
ein anderes, das er im Falle zweier und dreier gleichen Wurzeln er-
läutert (vgl. aber auch S. 295). —
Eine eigentümliche, der Differentiation, und eine andere der
Integration ähnliche Rechnungsart bespricht Euler?) in einem kurzen
Aufsatze. Ihn ist aufgefallen, daß die Formeln für die Reihensummen
1” +2” +5” +...+ 2” bei aufeinander folgenden ganzzahligen
Werten von » in engem Zusammenhange stehen. So kann man aus
1+22+... + = Er + ar 4 Sa +0.°— . durch Inte-
!) Mem. mat. fis. Soc. Ital. III, 1786—1787, p. 174. 2) Ibid. III, 1786,
p. 571. °) Nov. Act. Acad. Petrop. VI, 1788, p. 3.
Reihen. 291
gration der rechten Seite und gleichzeitige Multiplikation mit 5 herleiten
+24... + litt de +cst. In
ähnlicher Weise geht er von n auf (n— 1) zurück. Größere Wich-
tigkeit können wir dieser gelegentlichen Bemerkung nicht zu-
sprechen. —
Aus dem Jahre 1787 ist kaum etwas beizubringen. Denn die
Arbeit von E. Waring'), deren Titel auf Reihen hinweist: „Werte
algebraischer Größen ausgedrückt durch konvergente Reihen“, ist in
Wahrheit algebraischer Natur; sie rechtfertigt ihren Titel nur durch
eine ungerechtfertigte Benutzung des binomischen Lehrsatzes für ge-
brochene Exponenten. Am Schlusse gibt sie eine historische Über-
sicht über die bis zur damaligen Zeit unternommenen Versuche, die
Anzahl der positiven und der negativen Wurzeln einer algebraischen
Gleichung zu bestimmen.
Wir haben jetzt auf eine umfangreiche, in Buchform erschienene
Schrift von Johann Friedrich Pfaff einzugehen?): „Versuch einer
neuen Summationsmethode nebst anderen damit zusammenhängenden
analytischen Bemerkungen“.
Pfaff beginnt mit einer Reihe literarischer Notizen. Im zweiten
Abschnitte setzt er seine Methode auseinander, die als Hilfssätze die
bedenklichen Gleichungen
Ri
1-1+1-1+-..=— und 17 —- 27 +3” —- 4" 4... =0
benutzt. Handelt es sich nun z. B. um die Reihe
sinp—sin2p++sin3p—---,
so setzt Pfaff für jedes Glied die Potenzentwicklung nach dem Bogen
ein und faßt die Glieder von gleichen Exponenten in p zusammen.
So entsteht mit Benutzung der obigen fragwürdigen Resultate
9:d-1+1—-1+4-.)-Fl1-28+9—-24+..)
5 1
+++.) 9,
also merkwürdigerweise etwas Richtiges. Ähnlich wird
} sin 2p sin 3 sing” sin?2p” sin3g”
zuch EFF 77 r 77 re Sea und m am En a: N
behandelt. Im letzten Falle ist die Summe nur dann angebbar, wenn
‘) Phil. Transact. Lond. 1787, p. 71. ®) Berlin 1788.
292 Abschnitt XXI.
r und m zugleich gerade oder zugleich ungerade us Pfaff findet
für die letzte Summe 0, wenn m <r; dagegen + — gm, wenn m=r
ist. Ebenso werden Reihen
l sinn Icosn
ve a und SE
untersucht und mittels der Substitution A = uyY— 1 umgeformt. Auf
weitere Einzelheiten gehen wir nicht ein, da die Grundlagen seiner
Beweisführung zu wenig fest sind.
Aus dem A ahre 1789 haben wir eine kleinere Arbeit Eulers zu er-
wähnen'), in der er darauf aufmerksam macht, daß die Substitution
x =r(cosp + Y-—1sing) von der Summe der Reihe
| A+Bx+0(2°+Da-+...
auf die Summen der beiden Reihen führt
A-+ Br cos p+ Cr? cos2p + Dr? cosd3p + --
und
Brsinp+ Cr?sn2p + Drsind3p-+---
(vgl. S. 268). Diese Methode verwendet Euler auf die binomische
Formel. Unter Vernachlässigung der Konvergenzfrage stößt er dabei
auf Resultate wie
1—4cosp + 10 c0829 — 20 00889 +. -— 0829: (16 cos 5)
und 1-3+5—-7+9—...—(, 1
Unter den Veröffentlichungen der Petersburger Akademie im
Jahre 1790 befinden sich zwei Abhandlungen Eulers®) deren erste
an eine frühere des Jahres 1781 anknüpft (vol. S. 276). Es handelt
sich um die Summen
m\/n m N m N _ (mtn
VIE
die für ganze Werte von m, n, p bewiesen werden und die auf be-
liebige Werte von m, n, p ausgedehnt werden sollen; also auch
hier wieder um eine Interpolationsaufgabe. Der Wert von = für
1
beliebige 9, g wird mit Hilfe von 3; (1) da = »! definiert, und dann
0
‘) Nov. Act. Petrop. VII, 1789, p. 87. ”) Ibid. VIII, 1790, p. 32.
a Te en ee En 00 ER A BEER Ze ne Be
EN = WE ER e
IE re Be
” Reihen. 293
die RED? Summe als ein bestimmtes Integral dargestellt. Setzt
ir le: A ch ei
1
= ZA, 0 a+b mr to —HE
Ir+ BT; BRETT a+2b+e 164.6;
0
und das leitet zur Lösung hin. Auch mit Aufgaben folgender Art
beschäftigt sich Euler in dieser Arbeit: Er setzt
1-2) ’=1+42+Ba® +02” +--
und
Gsy F_1+AP+ Bee + Cz”+-
und bestimmt die Summen der Koeffizienten-Aggregate
1+AA+BB+---, AHAB+BC+---, BHAC+BD+---.
Sebastiano Canterzani untersucht!) die Umkehrung der Reihe
y-azs+ta’z+a”r+---, mag die rechte Seite dabei bis ıns
Unendliche gehen oder im Endlichen abbrechen. Er findet
zbyibp4b"p+--- -
y: ob ba” _ ba”
mt -4, 17 - 77,0 -0% ‚..- und gibt die
a a
Regel für die Bildung der Zähler an. Die erhaltenen Resultate ver-
wendet der Verfasser bei der Lösung der Gleichung
0=— y+tar+adr+---
Konvergiert die Reihe für z, dann konvergiert sie, wie dem Verfasser
„scheint“, nach der, dem absoluten Werte nach, kleinsten Gleiehungs-
wurzel, falls diese reell ist; das hatte bereits E. Waring angegeben.
Von den Eulerschen Untersuchungen über Reihen gehören zwei
ins Jahr 1791. Die eine?) liefert für das, durch Rektifikation ‚der
gleichseitigen Hyperbel geometrisch erlangte Resultat
i
B
:
2
-4
3
=
*
2
:
1 1-5 : 1 72 es 1
ru zumt r
einen sehr einfachen direkten Beweis. Euler leitet auf dem gleichen
a a+ß BERENCEFO a
Wege RE Br Ga a sowie
2) Mem. mat. fis. Soc. Ital. V, 1790 *) Nor. Act. Petrop. IX, 1791, p. 41.
294 Abschnitt XXI. ”
a a b b € a
PURE euErSiu ruhen Dee)
her.
Die andere!) knüpft an folgende Tatsache an. Setzt man
2c0osp=x%, so wird für positive ganze n, die > 2 sind
2c8ng= a" — nd" ?+ eo. u
a ga
5F 1:2.3-.4 ah
falls man sich auf die nicht negativen Potenzen von x beschränkt.
Für n=0,1 und alle negativen und gebrochenen n ist die Formel
aber falsch. Wie erklärt sich das? Euler setzt cosp oder sing
gleich z und cosngp bezw. sinnp=s. Dann gilt
d@s(1l— 2) — zdzds + n?sd2? = 0.
Die Integration liefert, wenn f, g willkürliche Konstanten bedeuten,
-f-(e+ VE 1 +9: (Va D".
Die dem Problem entsprechenden Werte von f, 9 werden durch Reihen-
entwicklungen gefunden. So erhält man
s- ("77 n— ee +)
+ ("+4 nn, zwar. -)
als richtige und allgemein gültige Formel; bei positivem, ganzen
n>2 fallen die Potenzen mit negativen Exponenten von selbst fort.
An diese Arbeit knüpft Nik. Fuß einige Untersuchungen?), in
denen er die Eulersche Formel herleitet durch Entwicklung von
y+Vy?— 1r = Ayt — By? + Oyrt— Dyrti+...
Eine andere Arbeit Eulers aus dem Jahre 1760 (siehe $. 259)
gab Pfaff, der sich mit der Herausgabe von Eulers hinterlassenen
Schriften beschäftigte, Veranlassung zu weiteren Forschungen?) Die
Reihe > aretang?®) oder in damaliger Schreibart SAtang” läßt
k=i
f@)--f@+%
1+f@- f@e+1)
der einzelnen Summanden in (Atangf(&) — Atangf(« + 1)) summieren.
Man erhält dabei als Summe Atangf(1) — Atangf(z +1). Wird
«= +4 ZT und az _ 4 esetzt, dann ist eine solche
> + be -+e 5 4
sich leicht unter der Annahme {® =
durch Zerlegung
Darstellung von {@ möglich, und man erhält
t) Nov. Act. Petrop. IX, 1791, p. 54. ?2) Ibid. p. 205. ® Ibid. X,
1792, p. 123.
Reihen. 295
2ax
a
Dr AST — Atang SID@LDFR
1
ET . ’ f(«) — f(& + r) .
=) Ber . ai
Ahnlich läßt sich die Form 2 | f( ) fi | r) bei ganzzahligem 7 be
handeln. Hierbei kann z.B. f® =
genommen werden, falls
a
i a" +bc+ec
4«k=b°+ ni — r? gesetzt wird. Pfaff wendet diese Methode noch
weiter an, um im zweiten Kapitel allgemeinere Fälle summierbarer
Reihen aufzustellen. So berechnet er 2
a
E’+b-E*°-+e'
wenn
b
A PER a 1 IE Di
;- BE j: 2. oe 18 ist; die Größen 5 = + © yilden dabei
nach Riccatischer Bezeichnung (S. 261) eine „rekurrente Reihe mit
Appendix“.
Wir besprachen oben (5.290) eine Arbeit Malfattis, der einen
Punkt in Lagranges Untersuchungen über rekurrente Reihen als
falsch erkannt und verbessert hatte. Lagrange selber war auf
diesen Fehler schon bei der Drucklegung seines Aufsatzes gestoßen; er
gibt nun jetzt!) eine neue Bearbeitung der Frage nach gleichen
Wurzeln, und gestaltet sie direkter und übersichtlicher als Malfatti.
Seine Resultate für Wurzeln zweiter, dritter, vierter Multiplizität treten
in verschiedener Form auf; am Schlusse der Abhandlung wird eine
für alle Wurzel-Multiplizitäten gemeinsame Form den Mathematikern
zum Beweise vorgelegt.
Eine wunderliche Arbeit Jean Trembleys stammt aus dem
Jahre 1794.?) Der Verfasser knüpft an den vierten, über Ketten-
brüche handelnden Aufsatz der Opuscula Eulers (vgl. S. 284) an, und
bringt zunächst eine Reihe Eulerscher Resultate auf die elegante Form
l/—-n+2/(- n +1) +3/ na +2) +4 n+3)+:-:-=-n+1.
Für den Beleg der Gültigkeit aber begnügt er sich mit einem un-
strengen Induktionsbeweise; und er macht sogar eine Methode aus
dieser Art von Beweisen. Er setzt z. B. als Annäherung
1+4Axr+ Bx?’+ 0x?
| 1+ax-+ba’+ex??’
wobei er die Konstanten in Zähler und Nenner der rechten Seite
dazu benutzt, die Glieder der rechten Entwicklung so weit als mög-
lich mit denen der linken Seite in Übereinstimmung zu bringen. Dann
wandelt er den Bruch rechts durch sukzessive Divisionen in einen
Kettenbruch um und kommt vermutungsweise so auf das (Gesetz,
(+ 2)" =
‘) Mem. de Berlin 1792, p. 247. ?) Ibid. 1794, p. 109.
296 s Abschnitt XXL
nach dem wohl die Kettenbruch-Entwicklung der linken Seite fort-
schreiten kann. Auf diese Art leitet er voller Stolz, immer mit Be-
tonung der Einfachheit seiner Methode, Lagrangesche und Lam-
bertsche Resultate her, die natürlich auf minder einfachem Wege
von ihren Entdeckern erhalten worden waren.
Pietro Paoli (Petrus Paulus) beginnt eine zur Reihentheorie
gehörige Abhandlung!) mit folgender Angabe: „Lagrange hat be-
merkt, daß das allgemeine Glied rekurrenter Reihen von der Integra-
tion einer (endlichen) Differenzen-Gleichung abhängt. Bisher hat nie-
mand wahrgenommen, daß auch die Summation einer rekurrenten
Reihe durch die Integration einer ähnlichen Differenzen-Gleichung ge-
leistet werden kann.“ Kennt man das allgemeine Glied einer rekur-
renten Reihe, so kann man auf verschiedene Arten ihre Summe
finden; die Paolische Methode kann aber auch ohne diese Kenntnis
auskommen. Die Reihe sei %, Y, Ya, *" Ya, "5; es bestehe für
jedes x die Relation ay, +by,_ı+'':+PY,_„=0. Dann ist
y,= Am” + A,m”’ + A, mg? +++,
wo m, My, Mg," die Wurzeln von at" + bi"! ...+9=0 sind.
Setzen wir die Summe 2, = y,+Yyı *%+:':'+Y, so folgt
ET Ye Re TFart Rr Ya 3
und wenn man diese letzten Gleichungen der Reihe nach mit a,b, c, ...
multipliziert und zueinander addiert, so entsteht
aa,+b—-a)s, te). t'"—P2%,_m-ı 0.
Demnach bilden auch die z, eine rekurrente Reihe; man hat also die
Gleichung au”"+!+(b— a)u”" +(c— b)u"i+...-— p=0 aufzu-
lösen; aber offenbar sind ihre Wurzeln gleich 1, m, m,, M,, :: , und
daher ist 2,= 0, + Cm? + O,m” + C3Mmg” +. Die CO lassen sich
nun leicht aus linearen Gleichungen bestimmen, die aus den Anfangs-
werten 2,, 23, *'- hervorgehen. —
Hier ist vielleicht der beste Platz für die Besprechung einer
Arbeit, die sich zwar nicht auf Reihen, sondern auf fortgesetzte Pro-
dukte bezieht, aber doch wegen deren Umwandlung in unendliche
Reihen nicht ganz unangemessen an dieser Stelle untergebracht werden
kann. Es handelt sich um einen Aufsatz von Chr. Kramp über die
Wallisschen Brüche?); sie ist der Ausgangspunkt der Untersuchungen
über „Fakultäten“. Kramp setzt
a(a+r)(a+2r)---(a+[n — 1]r) = a”;
!) Mem. Acad. Mantova I, 1795, p. 121. ?) Nov. Act. Acad. Elect. Mogunt.
sci. quae Erfurti est; I, 1797 (1799), p. 257.
Beihen. 297
dann gelten die Formeln
am+n)aer — gmar, (a + meer
und
amar s (a + nr er — qrar. (a + mr""r,
© setzt, so ergibt sich
Wenn man hierin » — =
b-a b—-a
TOTEN änr
armr:hret—=a! :(a+mr)’ ;
für m —= oo wird jeder Faktor des letzten Divisors gleich (x - r), und
bei b—a=d entsteht daher die Gleichung
a(a-+r)(a+2r)(a-+3r)::- FE REN
@+d)\aHd+r)a+d+?2r)(atd+3r).-- e:
(er) 7
Durch diese Formel meint Kramp den Wert der linken Seite be-
stimmt zu haben; er übersieht dabei, daß die rechte Seite nur eine Be-
zeichnung ist. Er geht dann zur Umwandlung der Fakultät
amar — qM 1 Aa”-1y + Ba" -?yr? + (ar 373 -. RR
in eine Reihe über und bestimmt die ersten Koeffizienten
A u—1 1 2B DE ey Mm,
mm+1) m+ı 2’ m—i1)(m+1) m+1 2 12?
30 m—1 1 m—1
>=. _B_ "4...
m— 3 m+1) m+ti1 2 12
Die erhaltenen Resultate werden auf die Entwicklungen
sinm®m m(1—m)(1-+ m) (2 — m) (2 tm)---,
sinnz *" ni—n)i1-+ n)(2—n)@-+n)... ?
2n (2 —2n) (2 +2n)---
coonz (1—2n) 1+2n) 8 — 2m)...
angewendet. An und für sich bedeutet die Arbeit nicht viel; sie ist
jedoch historisch interessant als Ausgangspunkt der Fakultäten-Lehre.
Im Jahre 1798 wurden die letzten Eulerschen Arbeiten über
Reihen, die in unsere Epoche fallen, von der Petersburger Akademie
veröffentlicht. Die beiden ersten dieser Abhandlungen!) beschäftigen
sich mit der Entwicklung einer Funktion, die er in der damaligen
Funktional-Bezeichnung T': o schreibt, in eine Reihe von der Form
A+ Beosp + Ceos2p + Deos3p + oder, nach Euler, um
T:9=(0)+(1)ecosp + (2) cos 2p-+ (B)c0s3p +: +.
Die zweite Bezeichnungsweise wählt er, weil bei der ersten „bald das
ganze Alphabet erschöpft sein würde“. Soll die Funktion rF: p
stetig sein, so müssen, wie Euler behauptet, die Koeffizienten sehr
sinnz
') Nov. Act. Petrop. XI, 1793 (1798), p. 94 und p. 114.
CANTOR, Geschichte der Mathematik IY. 20
298 Abschnitt XXI.
schnell abnehmen, da sonst z. B. bei der Vermehrung des Arguments
p um die kleine Größe ,..,; das Glied (1000) cos 1000 in
(1000) eos (x + 1000) = — (1000) eos (1000 p)
übergehen würde, was die Stetigkeit geführden könnte. Die späteren
Koeffizienten dürfen demnach gegen die früheren vernachlässigt
“werden. Nun bildet Euler, um A zu bestimmen,
+T:0+7T:a=A+0+E+64J +:
=);
dann
17:04217:34+—T:2a=-A+E+J+N+.-
-+ ++
und
lv. ei REF
st:04 07: Hr Dat
-A+I+R+ = (VE) + (6) +.
Im letzten Resultat ist (0) schon als hinreichend genauer Wert der
rechten Seite anzusehen, so daß die Summe der linken Seite = A = (0)
gesetzt werden kann. Die weiteren Koeffizienten in ähnlicher Art zu
berechnen, würde viele Mühe machen. Euler wendet daher andere
Methoden an, die sich auf die Summation von
1+cosp + c0s29 +:::-+ 00509
stützen, wo np ein Vielfaches von x sein soll. Dabei erlangt er
das Resultat, daß, wenn Ä
1 An 114
D/=-zT:0+0s 0:7 + cos
gesetzt wird, die Bestimmung
2 D-()+@n-Mı+@nty+ An Mranti)t-
folgt.
So interessant diese Arbeit auch ist, so können wir uns doch
nicht gegen ihre Mängel verschließen, die zum Teil in unbewiesenen
Annahmen über die Konvergenz sowie über die Größe der Koeffi-
zienten, dann über die nur näherungsweise erfolgende Auflösung des
Problems beruht. Für die Zwecke der Astronomie, die bei der
Untersuchung an erster Stelle in Betracht kommen, bedeutet das Re-
sultat eine beträchtliche Rechnungs-Vereinfachung.
Ein ungemeiner Fortschritt wird durch die unmittelbar fol-
gende Abhandlung repräsentiert, die am gleichen Tage, dem 26. Mai
1777, wie die erste Arbeit der Akademie vorgelegt wurde. Hier tritt
ah 2 1
er ci. zeosAal:x
Reihen. 299
zum ersten Male die gebräuchlich gebliebene Koeffizienten-Bestimmung
durch Integrale
. P44 rt
1 3
4=-()-4[T-49 und = | T-dp:cosng
) 0
auf. Dieses Resultat benutzt Euler dann zur Transformation von
T:9=(0) + (l)eosp + (2) cos 29 et
in die Reihe, die nach Potenzen von cosg fortschreitet, und die wir
etwas abweichend von der Bezeichnung der Original-Arbeit
= [0] + [1Jeosp + [2] (cos 9)? + [3] (eos p)’ + - - -
schreiben. Dabei kommt es natürlich auf die Berechnung von In-
tegralen > c08%p -(cosp)’dp an. Es ergibt sich:
0
9-04 214 ll +,
und wenn n >6O ist:
4
rim) [n]-+ an: [n +2] + (n + en [n +4]
++) m+%)
+ 4.8.12 Lese
Die beiden letzten Aufsätze Eulers!) beschäftigen sich mit
Zyklometrie, d.h. mit der Frage nach expediter Berechnung des
Wertes der Zahl x. Euler gibt zunächst eine kurze historische
Übersicht über die Resultate von A. Shar p,;, J. Machin und
G. de Lagny (vgl. Band III®, S. 668—669); dabei erklärt er die
Arbeit des letzteren, der die Berechnung auf 100 Stellen durchführte,
für eine mehr als herkulische Leistung.?) Danach stellt er eine neue
Formel auf, die bedeutende Vorzüge gegen die Leibnizsche Formel
hat. Bedeutet s den zur Tangente t gehörigen Bogen, so wird
t 2 & 2 4 e? n 246 e ,
a, el! 73 1) +35 (iF®) KsııT (i+®) $ ku
Auf verschiedenen Wegen, einmal durch eine Reduktionsformel, einmal
durch eine Integral-Transformation, wird die Richtigkeit dieser Be-
ziehung nachgewiesen. Die einzelnen Glieder lassen sich deswegen
') Nov. Act. Petrop. XI, 1793 (1798), p. 133 und p. 150. ®) Euler über-
sieht hierbei eine Arbeit, auf die im Briefwechsel von Lambert IV, p. 480
(Schreiben von Wolfram an Lamb ert) aufmerksam gemacht wird: B. Lamy
hat = bis auf 128 Ziffern geliefert. |
20*
300 Abschnitt XXI.
bequemer entwickeln als bei der Leibnizschen Formel, weil jedes
durch eine einfache Multiplikation aus dem vorhergehenden abgeleitet
werden kann. Ein weiterer Vorzug liegt darin, daß alle Glieder von
gleichem Vorzeichen sind, so daß Sir Addition = Glieder genügt. Wird
die neue Formel bei x = 4Atang +44 tang ı „ verwendet, so entsteht
2.73 2 FAR. 8 6 /2\3
lt) tr se) task) +]
2
4
5
HEHE) +
noch bessere Formeln erhält man für x = 8 Atang; + 4Atang 7,
16
ap le
da Er auf den zweiten Summanden ee Reihe ia: Potenzen
von _ fortschreitet, und für x = 20 Atang 8 Atang 79, wo die
144
700000. erfolgt.
Der Ausgangspunkt der letzten Abhandlung (ibid., p. 150) ist die
Integralgleichung
En. _ - (aAtang;t,
dx x? da
el a Je
Nimmt man die Grenzen der Integrale gleich O und x, so wird ihr
entsprechende Entwicklung nach Potenzen von
Wert gleich Atang en ; dies Integral bezeichnet Euler mit dem
astronomischen Zeichen für die Sonne und ähnlich die drei Integrale
rechts mit den Zeichen für Saturn, Jupiter und Mars:
dx dx "ad
Kr, je =. =:
Er schreibt also o= 25 +24 +7 = Atang Nun ist die Ent-
4
wicklung des Nenners der Integrale nach Potenzen von jr. leicht. Die er-
langten Reihen werden für =1,2 = 4 und 2 = = benutzt, wodurch
man auf Atangl, Atang und Eee kommt. Die beiden letzten
1
Reihen, die nach Potenzen von — j bezw. ar TE fortschreiten, konver-
gieren recht gut und liefern den "Wert für
1 1
T —=2Atang, + Atang,
mit ziemlicher Leichtigkeit als Aggregat von sechs unendlichen Reihen.
Reihen. 301
Im gleichen Bande der Petersburger Veröffentlichungen kommt
Nik. Fuß!) auf ein, früher von Euler behandeltes Thema zurück
(s. 5. 294). Es handelt sich um die Entwicklung von cosnp = s nach
Potenzen von cosp—=z, und bei sinnp=vY1-— 2? um die von v
nach Potenzen von z. Fuß stellt die schon von Euler angegebene
Differentialgleichung d?s(2’—1)+zdzds—n’sd2?=0 auf und integriert
sie mit Hilfe unbestimmter Koeffizienten in Gestalt einer Reihe, die
nach steigenden Potenzen von z fortschreitet, statt nach fallenden,
wie bei Euler. Dabei wird das Eintreten von Ausnahmefällen ver-
mieden. |
Wir haben unsere Blicke jetzt wieder nach England zu richten,
wo uns die Transactions von Edinburgh und die von London einiges
Bemerkenswerte bieten. Da sei kurz einer Arbeit von James Ivory?)
gedacht, der eine Formel schneller Konvergenz für den Umfang einer
Ellipse aus der Entwicklung der Potenz (a? + b? — 2abcosgp)” her-
leitet. Auf den Kreis angewendet liefert diese Formel
ir. 12.15.88 Kruftegech
4 y ı
I! rettete teen rt
als besonderen Fall.
Vier Aufsätze von John Hellins?) beschäftigen sich mit kon-
vergenten Reihen. Der erste leitet eine Hilfsformel für die Trans-
formation gewisser Reihen her. Durch zwei verschiedene Integrations-
m—1
Ausführungen von wird die Gleichung
N
ge gg +n ge +2n ze n ge +n
m mn % m+2%n RE m (1 — x”) R n(m + n)(1— x”)°
m+?2n m+3n
Nn-2n-3Enx
er m(m + n)(m + 2n)(1 — «")? m (m + n)...(m + 3n)(1 — a”)
Nn-2n-x
gefunden; durch sie wird dann die zyklometrische Formel
7c
alt ge) VG ee
in CT ee
umgestaltet, indem die Hilfsgleiehung sich auf jede der vier Klammer-
Ban ar a rn )
') Nov. Act. Petrop. XI, 1793 (1798), p. 155. ?) Transact. R. Soc. of
Edinburgh IV (1798), p. 177. °) Transact. R. Soc. of London 84 (1794), p. 217;
86 (1796), p. 135; 88 (1798), p. 183 und p. 527.
302 Abschnitt XXI.
reihen anwenden läßt. Die entstehenden Reihen schreiten etwa wie
: 1
die Potenzen von =. fort.
Die gleiche Transformation wird in dem zweiten Aufsatze ver-
wertet, der sich die Aufgabe stellt, den log10 möglichst expedit zu
berechnen. Es wird log10 =3log2 + et ® durch drei Reihen her-
gestellt, die ungefähr nach Potenzen von = fortschreiten. Noch be-
quemere Reihen werden durch log 10 = 10 log Fan 3log1n5 erlangt.
Im dritten Aufsatze wird die Reihe
ac+b?r +ca+da+er®+:--,
die bei mäßig abnehmenden positiven Koeffizienten a, b, ce, ... und
einem x, welches nur wenig kleiner ist als 1, sehr gering konvergiet
in die nn zweier Reihen
(au bar +c— dat +ea® —--)+2(ba?+dt+fae + --.)
zerlegt. Die erste Reihe kann nach der Methode von F. Maseres
(vgl. S. 271) behandelt werden; und die zweite Reihe, die offenbar
schon für sich besser konvergiert, gestattet die gleiche weitere Be-
handlung, wie sie bei der ursprünglichen Reihe vorgenommen wurde.
Die Wirksamkeit dieser Methode soll durch das Beispiel
RN für 2 = -
das recht ausführlich behandelt wird, klar gestellt werden.
| Der letzte Aufsatz von Hellins beschäftigt sich mit einer Auf-
gabe der Störungstheorie: Der reziproke Wert von (a — bcoszx)” ist
in die Reihe A+ Beosxz + Ücos2x + Deos3x2 + --- zu entwickeln.
Der Weg führt über Summationen mäßig konvergierender Reihen.
Der Verfasser bemüht sich, sie in besser konvergierende umzu-
wandeln.
Im Bande 86 (1796) der Ph. Tr. Lond. befindet sich auch ein
französisch geschriebener Aufsatz von Simon L’Huilier!), in dem
die Reihen für die Exponentialfunktionen, für die Logarithmen und
für die Kreisfunktionen auf elementarem Wege abgeleitet werden; vor
allem wird die Verwendung des Unendlichen dabei vermieden. Bei
den Herleitungen fällt dem Verf. die Analogie zwischen den Loga-
rithmen und den trigonometrischen Funktionen in die Augen.
') Transact. R. Soc. of London 86 (1796), p. 142.
Imaginäres. 303
Imaginäres.
Man hätte der Ansicht sein können, daß über die Meinungsverschie-
denheit, die zwischen Leibniz und Johann Bernoulli in betreff der
Natur der Logarithmen negativer Größen bestand, durch die geniale
Arbeit Eulers, die im Band III?, S. 722 ausführlich besprochen
wurde, endgültig entschieden sei. Dem war nicht so! Und der
Grund dafür lag nicht zum mindesten in der freien Art und Weise,
mit der Euler in der Sitte seiner Zeit das unendlich Große und das
unendlich Kleine verwendet hatte; freilich auch darin, daß er in seiner
Arbeit nicht darauf eingegangen war, alle früheren falschen Be-
hauptungen auf ihren wahren Wert zurückzuführen, und alle auf-
gestellten Paradoxa aufzuklären. Diese tauchten daher wieder und
immer wieder auf. —
D’Alembert veröffentlichte 1761 in seinen „Opuscules mathe-
matiques“ I, Paris, einen schon mehrere Jahre früher geschriebenen
Aufsatz „Sur les logarithmes des quantites negatives“, in dem er für
Bernoullis und gegen Leibniz’ Anschauungen eintrat. Er führt
eine Reihe von Gründen dafür an, daß log(—a)=log(+.) oder
nach der damaligen Schreibweise, daß !-—a=1!-+a sei. In erster
Linie beutet d’Alembert dabei eine etwas unbestimmte, von Neper
herrührende Definition des Logarithmenbegriffs aus: „Logarithmen
sind eine beliebige Folge von Zahlen in arithmetischer Progression,
die einer beliebigen Folge von Zahlen in geometrischer Progression
entsprechend zugeordnet sind; nur mit der Einschränkung, daß der Null
der arithmetischen Progression stets die Einheit der geometrischen
entspricht“. Man hat also nach dieser Auffassung als
4 B
Logarithmen ..., — 2a, —a, 0, a, 2a, 3a, ...,na,...
x 1
Numeri ..., ch ee... 89:
bei beliebigen positiven oder negativen Zahlen a und b. Davon
macht d’Alembert häufig nicht ganz einwandfreien Gebrauch: Be-
hauptet Euler unter der stillschweigenden Voraussetzung einer posi-
tiven Basis, die Logarithmen negativer Größen seien „unmöglich“,
d. b. komplex, so nimmt d’Alembert b negativ an und erhält dabei
für gewisse negative Zahlen auch reelle Logarithmen. Schließt Euler,
aus der Bernoullischen Annahme log (+ a) = log (— a) müsse not-
wendig für jedes a folgen log(a) = 0, so erklärt d’Alembert, das
berge keinen Widerspruch, denn man brauche ja in dem oben ge-
gebenen Systeme nur a= (0) zu setzen, um ein Logarithmensystem zu
304 Abschnitt XXI.
haben, das aus lauter Nullen bestehe. Ja! d’Alembert faßt (l. ce.
p. 185) das Schema |
34, 20, a, 0, —a,—2a,..,—na,
; x 1 1 1
Be a re b’ a wre
3.08, .5, 000, 7720, 0,0, 0, 20,
1 1 1
vonin Omr san. wer Marien Sehe
als einheitliches logarithmisches System auf, trotzdem es in der Mitte
der Beziehungsreihe die Basis wechselt; und das, um log(+A)—=log(—k)
zu erhalten. — Aus (+1? = (— 1) wird log(+1)=log(— 1) er-
schlossen. — In der Eulerschen Gleichung, die zur Berechnung von
y= log(— 1) führt (vgl. Vorles. II?, 8. 725 Z.9 v. u.),
1+ 2 = 008% 2 u men
setzt d’Alembert A=n und Be zu
1 ne ES
1 +2 = cos 2-)r+V-1sin(?- )r= L;
also zu log(—-1)= 0, statt daß er auf beiden Seiten gleichzeitig ii
nach Null führt und dann die richtige Gleichung log(—1)= + Y-—1:-x
erlangt.
Muß d’Alembert zugeben, daß man im ersten, oben angeführten
Schema für Logarithmen und Numeri durch keine Fortsetzung oder
Interpolation auf (— b), (— b?), (— 0°), ... kommen könne, so schiebt
er metaphysische Gründe vor, um diesen Übergang herzustellen. Er
behauptet, es sei nicht zu verstehen, wie der Logarithmus einer, vom
Positiven durch Null zum Negativen gehenden Veränderlichen durch
negative Werte und das negative Unendliche ins imaginäre Größen-
gebiet übertreten könne. Er seinerseits läßt deshalb die Logarithmen
vom negativ Unendlichen ins positive Gebiet treten. Wir können
nicht auf alle Einzelheiten eingehen, müssen aber jedenfalls zwei
‚ Punkte hervorheben, um die sich
_ vielfach der Streit drehte. Es han-
[6
7
PERLE
Bi “delt sich dabei um die geometrische
PPE 4 Fassung der Frage nach den Loga-
rithmen negativer Zahlen.
| & 5 Ist y=c*, also z=logy:loge,
| so heißt die hierdurch repräsentierte
5% Kurve die „Logistica“ oder die „loga-
Fig. 8. rithmische Linie“. Der Bequemlich-
keit wegen setzen wir lege =1.
Zur Abszisse © = 0 gehört die Ordinate y=1 und uxr=|1
Imaginäres. 305
gehört y=c. Die von O aus gerechnete Abszisse ist also der
Logarithmus der zugehörigen Ordinate. Bernoulli behauptete nun,
die Logistica habe noch einen zweiten Linienzug y= —.c”, eine
„Gefährtin“ (comes), das Spiegelbild des ersten Zuges an der x-Achse.
Leibniz leugnet dies. D’Alembert tritt auf die Seite Bernoullis
und gibt folgenden Beweis: Ist in der obigen Figur AQ=@P, so
ist die zu @ gehörige Ordinate =Y AB: PM = + QS8. Hier stoßen
wir also auf den oben erwähnten Fehlschluß, daß aus a?=b? auch
a=b folge Das Gleiche beweist d’Alembert analytisch auch fol-
gendermaßen: Die Gleichung y = c” gibt für unendlich viele Werte
von & einen doppelten Wert von y, sobald nämlich x ein rationaler
Bruch mit geradem Nenner ist; also hat die Logarithmica auf der
negativen Seite der Achse unendlich viele, vielleicht diskrete Punkte
An zweiter Stelle =
handelt es sich um B
die Bernoullische sr
Darstellung der Loga-
rithmen mittels einer
gleichseitigen Hyber- EN ne
bel y= —, die auf 6 — Mm
ihre Asymptoten als en S
Achsen bezogen wird.
Ist AN=1, AR=y,
dann wird die Fläche
NPSR = logy. Ei
Diese Beziehung zwi-
schen der Ordinate ur
AR und der trapezartigen Fläche NPSR wird jetzt auch für den
oberen Teil der Hyperbel als gültig angesehen, so daß z. B. zu der
Ordinate Ar als Fläche
NPQOA+ AGpn + npsr
gehört. Dann wird behauptet, es sei AGpn bei An—= AN gleich
dem negativen Betrage von NPQOA und npsr gleich NPSR;
daraus folge dann, daß zu Ar die Fläche NPSR gehöre, d. h. das
gleiche Flächenstück wie zu AR; somit sei
log(AR) = log(Ar) = log (— AR).
Es ist auffallend, daß diese Schlüsse auf alle möglichen Weisen
bekämpft worden sind, nur nicht dadurch, daß die Gleichung
306 Abschnitt XXI.
AGpn =— NPQO0A
der Behauptung oo — x = (0) äquivalent wäre.
Gegen die d’Alembertschen Anschauungen und Behauptungen
erhob ein italienischer Chevalier, Daviet de Foncenex seine Stimme!),
Sein Aufsatz ist hauptsächlich durch den Versuch eines Beweises der
Wurzel-Existenz algebraischer Gleichungen bekannt, den €. F. Gauß
in seiner Inaugural-Dissertation eingehend kritisierte. Wir wollen
einem früher (Band IV, 8. 119) gegebenen Hinweise folgen, und neben
dem weiteren Inhalte des Foncenexschen Aufsatzes über die imagi-
nären Größen auch diesen besonderen Beweis in den Bereich unserer Be-
sprechungen ziehen; dazu sind wir um so mehr berechtigt, als es sich
beim Foncenexschen Beweise nicht eigentlich um die Existenz der
Wurzeln, als vielmehr darum handelt, zu zeigen, daß die als existie-
rend vorausgesetzten Wurzeln einer jeden algebraischen Gleichung die
Gestalt A+ BY—1 besitzen. Die Frage nach der Existenz der Wur-
zeln selbst war zu damaliger Zeit noch nicht mit der nötigen Schärfe
gefaßt worden.
In $5 der Abhandlung zeigt Foncenex zunächst, daß die Wur-
zeln einer quadratischen Gleichung mit reellen oder komplexen Koef-
fizienten in die Form c+dY-—1 bei reellen c und d gebracht werden
können. Dann betrachtet er eine algebraische Gleichung in z des
Grades r, wo r in seine verschiedenen Primzahl-Potenz-Faktoren zerlegt
ist; er versucht nun einen quadratischen Faktor (2? — uz + M)- des
vorgelegten Gleiehungspolynoms herzustellen. Dabei hängt « von
einer Gleichung des Grades 2”-1P.(2"P — 1) ab, da u die Summe
je zweier Wurzeln der vorgelegten Gleichung darstellt, also
Sr -(r— 1) Werte hat. Die Gleichung in u ist daher vom Grade
2”=!P,, wo P, ungerade wird. Für dieses neue Gleichungspolynom
in u wird wieder ein quadratischer Faktor (u® — u,u + M,) gesucht;
dabei hängt u, von einer Gleichung des Grades 2”? P, - (P,2”-1 1)
ab. So geht man weiter, bis man nach m Schritten auf eine Glei-
hung ungeraden Grades für «,_, in dem Faktor
(Um-2 —Un1' Um- 3 2 Mu)
des vorhergehenden Polynoms stößt. Eine solche Gleichung un-
geraden Grades hat, wie Foncenex aus Stetigkeitsbetrachtungen her-
‘) Miscellanea Philosophico-mathematica Societatis privatae Taurinensis I,
1759, p. 113 (der zweiten Numerierung).
Imaginäres. 307
leitet, immer mindestens eine reelle Wurzel; «,_, ist also reell.
Aber auch M,„_ı;5 Foncenex sagt nämlich: „M,_, ist, wie man
weiß, durch «,_, und durch die Koeffizienten der gegebenen Glei-
chung in z ohne Wurzelausziehung darstellbar“. Folglich hat
uU. '%,.s HM, ; = 0
eine Wurzel m +nYV-— 1 bei reellen m und n. Setzt man sie in
Uns —Un_ 3 Ws + M,.; = 0
ein, so bestimmt sich M,,_, durch rationale Operationen!); also hat
auch diese Gleichung Wurzeln von der Form p+gY-—1 usw. bis
man zu 22— uz+ M= 0 kommt, deren Wurzeln dann auch die Form
A+ BY-—1 haben. Damit wäre gezeigt, daß die vorgelegte alge-
braische Gleichung r‘" Grades in z das Trinom (2 —2Az+ 4°?+ B?)
als Faktor besitzt, also die Wurzel A+ BY—1 hat.
Wir haben schon hervorgehoben, daß diese Folgerungen die
Wurzelexistenz algebraischer Gleichungen nicht beweisen, sondern vor-
aussetzen; daß sie also nur den Zweck haben könnten, den Satz zu
begründen, jede algebraische Größe stehe unter der Form A + BY-1.
Aber selbst dieser Zweck wird nicht erreicht. Denn, wie Gauß in
$ 11 seiner Dissertation zeigt, ist die Behauptung, die Größe M_,
sei durch «,„_, und die Koeffizienten rational darstellbar, nicht allge-
mein richtig. Gauß faßt sein Urteil dahin zusammen, es wäre ein bei
weitem tieferes Eindringen in die Theorie der Elimination nötig,
um den Foncenexschen Beweis zu einem strengen zu machen.
Gehen wir zur Besprechung des weiteren Inhalts der Arbeit
über! Hinsichtlich der imaginären Gleichungslösungen äußert sich
der Verfasser noch nicht sehr weitblickend ($ 6): „Die imaginären
Wurzeln haben keine geometrische Darstellung. In welchem Sinne
man sie auch nehme, man kann keinen Nutzen aus ihnen ziehen. Man
muß bestrebt sein, sie soviel als möglich aus den Endgleiehungen zu
entfernen.“
Foncenex unternimmt es, die Eulerschen Resultate auf neuem
und sichererem Wege herzuleiten und zugleich die Schwierigkeiten, die
Bernoulli in der Theorie der Logarithmen gefunden hatte, zu be-
seitigen. Sein erstes Ziel erreicht er leicht mit Hilfe der Glei-
chungen des Kreises und der Hyperbel; er fügt hinzu, daß der ge-
gebene Beweis von Lagrange ihm mitgeteilt sei.
Hinsichtlich der Schlüsse, die Bernoulli an die Betrachtung der
1) „par de pures preparations algebriques“,
308 Abschnitt XXI.
ein, daß zwar die beiden entgegengesetzten Zweige der Hyperbel ge-
mäß dem Gesetze der Stetigkeit miteinander im Unendliehen zu-
sammenhingen, daß dies jedoch für die oben konstruierten Flächen
der Hyperbel nicht gelte. Denn das Differential der Fläche für
eine unendlich kleine Strecke Aa sei ja zdy = > = m —=] für ein
positives y und gleich = - 1 für ein negatives y. Es ge-
( 'schehe also beim Übergange von positivem unendlich Kleinen zu
\\negativem unendlich Kleinen ein endlicher Sprung, der sich mit
stetiger Fortsetzung der Flächen nicht verträgt. Foncenex gibt
den Anhängern Bernoullis die Existenz eines zweiten Zweiges
der Logarithmica zwar zu, sagt aber, daß beide reell, voneinander
isoliert, zwar transzendent miteinander verbunden, dagegen algebraisch
voneinander unabhängig seien.
Diese Ansichten bekämpft nun wieder d’Alembert in dem „Sup-
pl&ment“t) des oben erwähnten „Memoire“. Auf den Einwurf be-
treffs der Unstetigkeit des Flächenübergangs erwiderte d’Alembert
mit Recht, daß für negative, unendlich kleine y folge Be = 1,
Auch seine übrigen Behauptungen verteidigte er mit Beharrlichkeit.
Die Schrift hatte den Erfolg, daß Foncenex sich in einigen
Punkten für überzeugt erklärte?) Er trat der Anschauung bei, daß
. die Logistica aus zwei, algebraisch zusammenhängenden Zweigen be-
stehe; andererseits versucht er die Eulersche Formel mit den d’Alem-
bertschen Ansichten zu verknüpfen. Für die Existenz zweier Zweige
der Logistica bringt Foncenex jetzt selbst einen neuen Beleg bei:
bedeuten ? und « Abszisse und Ordinate der Evolute der Logistica,
so gilt v= +Y(t— 1)-'; das doppelte Zeichen führe mit Notwendig-
keit auf die beiden Zweige.
Hier möge noch folgendes im Anschluß an die besprochenen
Aufsätze von Daviet de Foncenex erwähnt werden. J. B. J. De-
lambre teilt in seinem „Eloge de Lagrange“ mit und wiederholt
es in seiner, den Werken Lagranges vorgedruckten „Notice sur la
vie etc.“ p. XI, daß Lagrange seinem Schüler und späteren Freunde
Foncenex eigene Forschungen in der Form fertiger Resultate über-
ließ, die dann dieser, weiter ausgeführt und begründet, unter eigenem
Namen veröffentlichte. Ob diese Mitteilung richtig ist, mag dahin-
gestellt bleiben; jedenfalls stand die Abhandlung „sur les logarithmes
des quantites imaginaires“ (Misc. Taur. I), wie Foncenex selbst an-
gibt, unter Lagranges Einfluß. Das Verlassen des hierin eingenom-
ı) Opuscules I, 1761, p. 210. 2, Miscell. Taurin. III, p. 337.
Imaginäres. 309
menen Standpunktes in den „Eelaireissements“ (Mise. Taur. II)
spricht dagegen weniger für eine Mitwirkung von Lagrange.
Um die Arbeiten d’Alemberts auf diesem Gebiete gleich hier
zu erledigen, erwähnen wir einen im fünften Bande der „Opuscules“
gegebenen Aufsatz!) über die Mehrdeutigkeit der Ausdrücke von der
Form Va + bVY— 1. Seine Darstellung der Wurzeln ist völlig kor-
rekt. — Ferner stammt aus dem Jahre 1778 ein Artikel über Loga-
rithmen?) von ihm; er vertritt durchaus noch seinen früheren, von
uns oben dargelegten Standpunkt. —
Im Jahre 1768 erschien unter dem Titel „Von den Logarithmen
verneinter Größen“ eine sehr umfangreiche Arbeit von W. J.G. Kar-
sten.?) Sie liefert eine gute historische Darstellung der Frage und
eine eingehende mitunter etwas breit gehaltene Kritik der Darlegungen
und Beweise d’Alenberts (sie!. Karsten steht völlig auf der
Seite Eulers. Den Hyperbel-Beweis, durch den Bernoulli die
Existenz der beiden Zweige der Logarithmica dartun will, sucht
Karsten dadurch zu entkräftigen, daß er die dabei benutzten Be-
griffe der positiven und der negativen Flächenstücke kritisch prüft
und ihre Anwendung auf das vorliegende Problem als unstatthaft er-
klärt. Die Unhaltbarkeit des ersten oben gegebenen Beweises (3. 304)
tut Karsten dadurch dar, daß er ihn auf eine beliebige Kurve
anwendet, indem er deren Gleichung y= f(x) durch y’= f(x)? er-
setzt. — Im ersten Teile seines Aufsatzes geht Karsten auch aus-
führlich auf die Natur und den Begriff der negativen Zahlen ein.
Er erklärt sie als Richtungs-Größen und bekämpft die Meinung, es
seien negative Größen solche, die „kleiner als die Null“ seien. Sonst
würde ja (vgl. Bd. III?, S. 367) aus der unzweifelhaft richtigen Pro-
portion 1:(—1)=(—1):1 folgen, daß sich das Größere zum Klei-
neren verhalte, wie das un zum Größeren.
Die Zeitenfolge nötigt uns, auf eine andere Frage einzugehen,
die auch ein wesentlicher Bestandteil der Theorie des Imaginären ist.
Es ist die Frage, ob alle imaginären Größen in der Gestalt
A+By-1
darstellbar sind, wo A und B reelle Größen bedeuten. Über die Un-
bestimmtheit, um nicht zu sagen die Unklarheit der Fragestellung
setzten sich die Mathematiker der damaligen Zeit um so leichter hin-
weg, als die Begriffe des Imaginären und des Unmöglichen noch immer
ineinander spielen. D’Alembert hatte 1747 durch die Benutzung
') Opucules V, 1768, p. 183. ?) Encyelopedie XX, Geneve 1778, p. 234.
°) Abhandl. der churfürstl. Baierischen Akad. d. W. V, 1768, p. 3.
310 Abschnitt XXT.
unendlich kleiner Größen den Beweis dafür zu liefern gesucht, daß sich
die „unmöglichen“ Wurzeln algebraischer Gleichungen in der Form
A+ BY-1 darstellen lassen; Bougainville hatte in seinem „Traite
du caleul integral“, Paris 1752, diesen Beweis recht übersichtlich
reproduziert. Auch Foncenex lieferte (]. e.) einen Beweis dieses be-
sonderen Satzes zugleich mit einer Kritik des d’Alembertschen Ver-
suches; d’Alembert kritisiert dann seinerseits den Foncenexschen
Beweis in dem „Supplement“ (siehe $. 308). Euler hatte 1749 durch
eine Reihe von Beispielen den allgemeineren Satz überaus wahr-
scheinlich gemacht.
Nach gleicher Richtung geht eine Arbeit des italienischen Ge-
lehrten Pietro Paoli; sie findet sich als drittes „Opuseulum“
seiner Opuscula analytica!). Paoli legt Gewicht darauf, seine Ab-
leitungen unter Vermeidung der Infinitesimal-Rechnung zu geben, und
benutzt, um das zu ermöglichen, durchgehend das Prinzip der unbe-
stimmten Koeffizienten als Hilfsmittel für die Herleitung der nötigen
Formeln. So liefert er die Entwicklungen von a*, log(1-++ x), sinz, cosz,
tang, arctangz. Nach diesen Vorbereitungen geht der Verfasser zu
einer Reihe von Beispielen über. Er beginnt mit dem Logarithmus
von (a+b- V—1); diesen stellt er mit Hilfe der zuerst vorgenommenen
Entwicklung in der Form einer unendlichen Reihe dar und findet
log (a + by-1)= loegYya® +5 + By—-1, wo = arc tang ist.
Für «= 0 gibt er noch als besonders erwähnenswert das J. Ber-
noullische Resultat
Fe:
2 Pat
an. Dann folgt die Behandlung von
log[log(a + b-Y—1)], log[logllog(a +b-V—1)]},
usw. In gleicher Weise wird
pers VA, rev,
auf die Form A+ BY-—1 gebracht; dann
(a +d-V-1)r, (a +5. yZh" +" 97
usf. Hierauf kommen die goniometrischen und die zu ihnen inversen
Funktionen an die Reihe. Und den Schluß bilden die Kettenbrüche
mit imaginären Teilzählern und Teilnennern. Die abbrechenden lassen
sich sofort durch Aufrechnung erledigen; die ins Unendliche fort-
laufenden werden zunächst in unendliche Reihen verwandelt.
‘) Liburnum (Livorno) 1780, p. 131.
Imaginäres. 311
Auch Nik. Fuß beschäftigt sich!) mit der Frage nach der Dar-
stellung imaginärer Größen. Dabei macht er ganz wunderliche
Sprünge. Wenn z eine variable imaginäre Größe, a, b, c,... reelle Kon-
stanten bedeuten, dann umfassen die beiden Formen «-+2z und b-z
bei der willkürlichen Bedeutung von a, b, z unendlich viele imagi-
näre Größen. Die Größen der beiden Formen «+2 und bz können
einander nur gleich sein, wenn a=0 und b=1 ist. Die allgemeinere
Größenform a & bz umfaßt unendlich vielmal mehr Größen als a +2,
da in ihr auch b alle reellen Zahlen durchlaufen kann; deshalb um-
faßt sie „wahrscheinlich“ alle imaginären Größen; somit auch jede
C . . .
von der Form ei „Demnach kann man, wie es scheint, als sicher
s C . . .
annehmen, daß jedes — gleich einem a +bz sei, und zwar nur auf
eine Art“ Aus a+bz= - folgt die Gleichung
b?+az—-c=0 und z=«+ßYy—1,
wo « und ß reell sind; dadurch wäre der Satz über die Darstellung
imaginärer Größen allgemein bewiesen.
Euler wird diesen Beweis von Fuß schwerlich als vollgültig
und überzeugend anerkannt haben; sonst hätte er wohl kaum 1783
im zweiten Teile der „Opuscula analytiea“ p. 81 unter anderen For-
derungen an die Forschung auch die eines strengen Beweises für
diesen Fundamentalsatz aufgestellt.
Mehrere andere Mathematiker versuchten sich, wie d’Alembert
und D. de Foncenex, um das Theorem in der Weise, daß sie es
mit dem Problem der Wurzelexistenz algebraischer Gleichungen ver-
quickten, sich also die Aufgabe stellten, die Form der, noch nicht
als vorhanden bewiesenen Wurzeln festzustellen. Wir können solche
verfehlten Untersuchungen, wie die von Seb. Canterzani?) hier
übergehen. —
An dem Leibniz-Bernoullischen oder, wenn man will, dem
Euler-d’Alembertschen Widerstreite der Meinungen beteiligte sich
auch der Italiener Greg. Fontana.?) Er steht auf Eulers Seite,
findet aber, daß Eulers Herleitung der unendlich vielen Werte von
log (cosp + sinpyY—1) durch die Benutzung des Unendlich-Großen
und des Unendlich-Kleinen an Übersichtlichkeit und an Überzeugungs-
kraft verliert. Deswegen schlägt Fontana einen anderen Weg ein.
Er beweist die entscheidenden Formeln einmal durch Integration von
!) Act. Petrop. 1781, pars II, p. 118. 2) Mem. Soc. ital. II, 1784.
®, Ibid. I, 1782, p. 183.
312 Abschnitt XXI.
Differential-Ausdrücken, dann aber auch ohne Integrierung durch Sub-
stitution von = tangp-VY—1 in die Entwicklung
1
log = Matze te tet);
dadurch gelangt er zu der gewünschten Eulerschen Formel
gYy—1 = log (cos p + sing v1);
die die unendlich vielen Werte des Logarithmus vermittelt.
In aller Kürze sei noch ein Aufsatz von Fr. Mallet erwähnt"),
der den Zwist schlichten will, aber in seinem elenden Küchenlatein
kaum über die historische Darstellung der Meinungsverschiedenheiten
hinauskommt.
Einige Darlegungen von J. A. Chr. Michelsen führen uns zu
der Logarithmenfrage zurück. Michelsen gab 1788 die Übersetzung
der „Analysis infinitorum“ Eulers heraus und versah sie mit An-
merkungen zweifelhaften Wertes. Die zum siebenten Kapitel gehörigen
beschäftigen sich mit der Eulerschen Logarithmen-Theorie und be-
kämpfen sie. Natürlich knüpft Michelsen an die Verwendung des Un-
endlichen an. Er sagt S. 500—501: „Euler betrachtet die Formel
logx = limn(Yx— 1)
als allgemein gültig. Setzt man für x irgendeine negative Zahl und
für n nach und nach immer größere positive ungerade Zahlen, so
findet man für Yx außer den unmöglichen Werten auch allemal einen
reellen negativen Wert, und es sollte folglich jede negative Zahl
außer den imaginären auch einen reellen und zwar negativen Loga-
_ rithmen haben, der mit dem Logarithmen der gleichgroßen positiven
Zahl verglichen, größer sein würde. Ferner setze man für n nach
und nach immer größere positive aber gerade Zahlen und lasse x
positiv sein. Alsdann hat Yx zwei einander entgegengesetzte sonst
gleiche Werte, und es müßte demnach logx einen doppelten, sowohl
den Zeichen als der Größe nach verschiedenen Wert haben.“ Zu
weiteren Angriffspunkten führt die Allgemeingültigkeit der Gleichung
aa", wie dies ja schon bei Bernoulli und d’Alembert zu
verzeichnen war, die ihre darauf gegründeten Einwände geometrisch
formuliert hatten.
Seine Ansicht ist (8. 503) die folgende: „Zu jeder Größe,
» Nov. Act. Upsal. IV, 1784, p. 205.
Imaginäres. 315
sie mag nun positiv oder negativ, reell oder imaginär sein, gehört ein
möglicher Logarithmus und nicht mehrere.“
Ferner sei noch erwähnt, daß Pietro Franchini in seiner
„Teoria dell’ Analisi“ Roma 1792, I fünf Beweise für die Richtigkeit
der Formel log(—2)=log (+ z) publiziert, freilich ohne neue Ideen bei-
zubringen; und daß Malfatti!) eingehend untersucht, ob die Logistiea
einen oder zwei Zweige besitze.
Auch Kästner findet, wie so mancher vor und nach ihm, daß die
von Euler beliebte Benutzung der höheren Analysis das Eindringen in
die Natur der Logarithmen erschwere. Kästner erkennt an?), daß
Hilfsmittel der höheren Mathematik notwendig seien, um „die Mannig-
faltigkeit der unmöglichen Logarithmen zu kennen und zu brauchen“,
aber er meint, daß sich schon „aus den ersten gemeinen Lehren von
den Logarithmen dartun lasse, daß jede bejahte Zahl einen möglichen
Logarithmen hat und nur einen möglichen, und daß verneinte Zahlen
keinen möglichen Logarithmen haben“. Der Standpunkt ist, wie man
sieht, ein noch ziemlich beschränkter. Um den Nachweis elementar zu
liefern, erklärt Kästner jede „bejahte“ Zahl als abgekürzten Ausdruck
ihres Verhältnisses zur Einheit und setzt, um das anzudeuten, + a
—(1:a). Dann wird für ganze positive m die Potenz a” — m-(1 :a),
d. h. das Resultat des m-fachen Verhältnisses (1:a), (a:a?),
(a"=*:a"); die gleiche Erklärung soll für gebrochene positive Expo-
nenten m— = gelten, „da das Verhältnis (1:4) in q Teile geteilt
wire RER von denen dann p genommen werden, um = -(1:a)
zu geben“. So sei (1:8)=3-(1:2), also f
51:9) (1:2) und 21:8) (1:4).
„Das Verhältnis (1:— a) läßt sich mit keinem Verhältnis zwischen
ein Paar bejahter Zahlen vergleichen.“ Ist bei konstantem positiven c
und bei positivem y das Verhältnis (1:y) das x-fache des Verhält-
nisses (1:c), also (l:y)=x-(1:c) oder ® —y, so liefert das ein loga-
rithmisches System mit der Basis c. Ist x ein Bruch - a -, dann
könnte y zwar einen verneinten Wert annehmen; aber diene Annahme
würde besagen, das Verhältnis zwischen 1 und einer verneinten Zahl
sei ein Vielfaches des Verhältnisses (1:c). „Und das findet nicht
statt.“ Den Grund bleibt Kästner uns schuldig. Denn das soeben
') Mem. R. Acad. Mantova, 1795. p. 3. ?) Leipz. Magaz. f. r. u. a.
Mathem., Stück IV, 1786, p. 531.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. „» 21
314 Abschnitt XXI.
in Anführungszeichen Gesetzte ist doch sicher kein Grund für diese
Behauptung.
Paolo Frisi hatte in seiner Algebra!) eine Unterscheidung
zwischen der reellen und der
imaginären Null gemacht und
die Behauptung aufgestellt, es
sei nicht 0:Y—1= 0; denn
daraus würde die unrichtige
Proportion folgen
1:V—-1=0:0.
Er meint, die imaginäre Null
zeige eine reelle Größe an.
Fig. 5. Diesen vermeinten Unter-
schied hatte G. Riccati?) durch
geometrische Gründe zu stützen versucht. Es sei HD@G...JbE. .. eine
Konchoide; AB=FE=AD=FG=::-=a; 0A=c und c>a.
Dann bestehe zwischen den Koordinaten x, y jedes Kurvenpunktes
e-wVe—y
.
ya. VILLE:
C
E=(«|y) die Gleichung « =
Für y=c ergebe das
Aber für y=c existiere nach der Definition der Kurve kein Kurven-
punkt; demnach könne & nicht gleich Null sein.
F. Th. Schubert?) weist diesen Einwurf ganz richtig zurück:
Der Punkt C besteht tatsächlich als isolierter Kurvenpunkt, als
„punetum conjugatum“.
Ohne Kenntnis von dem Aufsatze Schuberts zu haben, auf den
er sonst hingewiesen hätte, tut Greg. Fontana das Gleiche.*) Dabei
wendet er sich polemisierend gegen die soeben besprochenen Aus-
führungen Frisis: Wäre 0.Y—1 von 0 verschieden und etwa = 4
+bYV-—1, wo a, b reelle Größen bedeuten, so würde daraus das
offenbar unrichtige Resultat Y—_1= — z folgen; die von Frisi be-
anstandete Proportion 1:Y—1=0:0 weise wegen der Unbestimmt-
heit der rechten Seite gar nichts Widersinniges auf. :
Franc. Pezzi°) sucht die Frage zu beantworten, warum Euler
in seinen Formeln stets die Gestaltung cosp + sinp-V—1 statt der
ebenso naheliegenden und scheinbar ebenso berechtigten
!, Mailand 1782. 2) Memorie mat. fis. Soc. Ital. IV, 1788, p. 116.
s) Nov. Act. Petrop. VIII, 1790, p. 171. 4) Memorie mat. fis. Soc. Ital. 1799,
VIH, p. 174. 5, Ibid. 1790, V.
sn,
Imaginäres. 315
sing + cosp-Y—1
genommen habe. Er kommt zu dem Schlusse, dies sei erfolgt, weil
die Darstellung der Potenzen des Ausdrucks bei der ersteren Form
einem einfacheren Gesetze unterworfen sei, als bei der zweiten.
B. Fr. Thibaut!) gibt in einer historischen Arbeit eine kurze,
gedrängte Übersicht über die wichtigsten Phasen der Entwicklung der
Lehre von den imaginären Größen. Er fügt einige kritische Be-
merkungen an, mit denen er sich in dieser Frage ganz auf die Seite
von L. Euler stellt.
Wir nahen uns dem Schlusse; haben aber zunächst eine historische
Bemerkung zu machen, die sich auf die Bezeichnung der imaginären
Einheit bezieht. Im vorhergehenden haben wir diese, dem Gebrauche
der damaligen Zeit entsprechend, mit Y— 1 bezeichnet; das jetzt
meist übliche „“ hatte noch kein Bürgerrecht erlangt. Von wem
stammt die Einführung dieses „2“? Wohl von Euler! Im vierten
Bande der zweiten Auflage der Eulerschen „Institutiones Calculi
integralis“?) findet sich als viertes „Supplementum“ erstmalig ge-
druckt eine Abhandlung des Verfassers „De integratione formularum
angulos sinusve angulorum implicantium“ und als ihre erste Nummer:
„L- De formulis differentialibus...M.S. Academiae exhibit. die 5 Maii
1777“. Darin heißt es: Pyoßleine 1: ‚Proposita formula diffe-
0peosp
Veosng
investigare. Solutio: Quoniam mihi quidem alia adhuc via non
patet istud praestandi, nisi per imaginaria procedendo, formulam
rentiali ,‚ ejus integrale per logarithmos et arcus circulares
V-1 littera ö in posteriorem designabo, ita ut it ö@=-—1,
1
ideoque — — — i.” Auf einen ‚früheren Gebrauch des Zeichens i sind
a nee ur
Te nen ae ee
wir nirgends gestoßen.
Den Schluß unserer Darlegungen liefert eine Abhandlung von
großer Bedeutung, der wir das Motto geben möchten: „habent sua
fata libelli“. Sie eilte ihrer Zeit voraus; sie blieb unbeachtet; sie
wurde nach 100 Jahren der Vergessenheit entrissen und anerkannt.
‚Die Abhandlung trägt den Titel: „Om direktionens analytiske Beteg-
ning“; ihr Autor ist Caspar Wessel.) Zunächst heben wir aus
einer Besprechung seitens des Herrn Valentiner einleitend folgendes
heraus.®)
!) Dissertat. inaugur. Gotting. 1797. ?) Petropol. 1792—1794, 4 vol. 4°,
(während die erste Auflage nur 3 Volumina aufweist). ®) Danske Selsk. Skr.
N. Samml. V, 1799. *) Jahrb. Fortschr. Math. 23 (1897), p. 499.
i 21*
316 Abschnitt XXI.
Diese Abhandlung, welche vermutlich die älteste ist, die eine
vollständige Theorie der imaginären Zahlen enthält, wurde am 10. März
1797 der Kgl. Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen vorge-
legt. Der Verfasser, 1745 in Norwegen geboren, kam 1763 nach
Dänemark, wo er später sein ganzes Leben als Feldmesser verbrachte.
Er starb 1818. In seinem Berufe war er sehr geschätzt; einen großen
Teil der Triangulation und der genauen Aufnahme des Königreichs
hat er besorgt. Im Jahre 1815 wurde er Ritter des Danebrog; dies
wird nur deshalb angeführt, weil es sicher damals für einen Feld-
messer eine außergewöhnliche Ehrenbeweisung gewesen ist. Von
seinen Fähigkeiten als Mathematiker haben wir gar keine Nach-
richten. Die Tradition schweigt ganz davon. Nichtsdestoweniger
ist das in Rede stehende Werk eine sehr bemerkenswerte Leistung.
Mit den eigenen Worten des Verfassers werde der Zweck des
Werkes angegeben. Er sagt:
Diese Abhandlung hat zum Gegenstande die Frage, wie kann
die Richtung analytisch dargestellt werden, das heißt, wie kann man
die Abschnitte von Geraden darstellen, wenn man mittels einer ein-
zigen Gleichung zwischen einer unbekannten Strecke und anderen be-
kannten Strecken einen Ausdruck finden wollte, welcher auf einmal
die Länge und die Richtung der unbekannten Strecke darstellt.
Weiter sagt er: Was mir die Veranlassung gegeben hat, diese
Abhandlung zu schreiben, ist, daß ich eine Methode suchte, welche
mir erlaubte, die unmöglichen Rechnungen zu vermeiden. Nachdem
ich sie gefunden habe, habe ich sie dazu verwendet, mich der allge-
meinen Gültigkeit einiger wohlbekannten Formeln zu versichern.
— Soweit Valentiner. —
Wessel geht von geometrischen Betrachtungen aus und definiert
die Addition zweier Strecken folgendermaßen: „man läßt die eine
von dem Punkte ausgehen, in dem die andere endet; dann verbindet
man durch eine neue Strecke die beiden Endpunkte der so erhaltenen
gebrochenen Linie; die neue Strecke heißt dann die Summe der
beiden gegebenen“ ($ 1). „Das Produkt zweier Strecken muß in
jeder Hinsicht aus dem einen Faktor in der gleichen Weise gebildet
werden, wie der andere Faktor aus der positiv oder absolut genom-
menen Einheitsstrecke gebildet ist“ ($ 4). Dabei ist es notwendig,
daß die Faktoren solche Richtungen haben, die mit der Einheits-
strecke in einer Ebene liegen, und die Worte „in jeder Hinsicht“ be-
ziehen sich auf die Länge sowie auf die Richtung des Produktes.
„Durch + 1 wird die geradlinige positive Einheitsstrecke bezeichnet,
durch & eine andere, auf der ersten senkrechte, mit gleichem An-
fangspunkte“ ($ 5). Aus der Definition der Multiplikation folgt so-
Imaginäres. / 317
fort &=YV— 1. Es werden dann Strecken a + sb eingeführt und
mit ihnen die Operationen der Addition, der Multiplikation, der Po-
tenzierung und der Radizierung vorgenommen. Als Anwendung
wird der Beweis des Satzes von Öotes gegeben (Bd. III”, S. 410—411)
und die Bestimmung aller Elemente eines Polygons geliefert, von
dem die nötige Anzahl von Bestimmungsstücken bekannt ist.
Um zu einer analytischen Bestimmung der Lage von Punkten
im drei-dimensionalen Raume zu gelangen, nimmt Wessel zu den
beiden Einheitsstreecken +1 und +. eine dritte mit gleichem An-
fangspunkte, auf 1 und z senkrecht stehende + an, für die auch
7=—1 ist, und gibt die Form «+ ny-+ sz als allgemeinen Aus-
druck einer „Geraden“, d. h. eines Strahles vom Anfangspunkte bis
zum Punkte mit den Koordinaten x, y, z. Das Hauptproblem besteht
in. der analytischen Bestimmung der Rotation. Wessel zerlegt eine
beliebige Rotation in zwei, deren eine die n-Achse, die andere die
&-Achse zur festen Drehungs-Achse hat. Soll sich «+ ny-+ ez) um
die n-Achse durch einen Winkel « drehen, so drückt er dies durch
die Bezeichnung
(2 +ny + 82) » (cosa + esina)
aus, und ähnlich die Drehung um die g-Achse durch den Winkel b
durch die Bezeichnung (« +ny-+ &2) (cosb + nsinb). Es ist, wie
Wessel zeigt,
Ser (cosa + esina) = (zcosa — zsin a)
+ny+ e(2sina + 2cosa);
(2 +ny+ 82)" (cosb + nsinb) = (#cosb — ysin b)
+ n(@sindb + ycosb) + ez;
(2 +ny + 82) » (cosa + esina) » (cosc + esine)
= (2 +ny+ e2)»(cos[a +c] +esin[a + e]).
Auf die kurz gefaßte T'heorie der Drehungen um die Achsen der
n und & folgt als Anwendung die Behandlung der sphärischen Polygone,
die im wesentlichen auf eine sphärische Trigonometrie hinausläuft. T.-N.
‚Thiele, einer der beiden Herausgeber der ins Französische übersetzten
Abhandlang'), macht auf den merkwürdigen Umstand aufmerksam,
daß Wessel bei seinen Untersuchungen nicht auf die Gleichungen
von Gauß oder Delambre gestoßen sei, denen er doch so nahe war.
Ebenso bedauert Thiele, daß der Verfasser die Behandlung der
Drehung um die reelle Achse unterlassen hat; dieser eine Schritt hätte
ihn ohne Zweifel zur Entdeckung der Quaternionen geführt. Wenngleich
') Essai sur la representation analytique de la direction par ©. Wessel
avec preface de H. Valentiner et T. N. Thiele. Copenhague 1897.
318 Abschnitt XXI. Imaginäres.
der Gedanke Wessels also nicht vollkommen von ihm selbst ausge-
schöpft erscheint, so genügt doch der Inhalt der Arbeit, um die Prio-
rität der Darstellung komplexer Größen Argand zu entziehen und
Wessel zuzuerkennen. Argand, der 1806 seinen „Essai sur une
maniere de representer des quantites imaginaires“ veröffentlichte, hat
zweifellos von der Idee des dänischen Mathematikers nichts gewußt —
wie die ganze damalige wissenschaftliche Welt nichts mehr von ihr
wußte; auch der „Essai“ Argands wurde vergessen, hatte aber den
„Direktionens analytiske Betegning“ gegenüber das Glück, früher!)
wieder entdeckt zu werden; so konnte Argand langezeit für den Ent-
decker gelten.
!) Annales de Gergonne 1813.
ABSCHNITT XXI
ELEMENTARE GEOMETRIE
VON
V. BOBYNIN
Lehrbücher der Elementargeometrie.
Ihre schon längst begonnene sowohl quantitative als auch qualitative
Entwicklung fortsetzend, bereicherte sich im Laufe der zu betrach-
tenden 40 Jahre die lehrende elementargeometrische Literatur mit
einer sehr ansehnlichen Anzahl neuer Errungenschaften. Infolge des
unvollständigen bibliographischen Materials, das uns zu Gebote stand,
sind die deshalb zum Teil verminderten und nur annähernd richtigen
Ziffern, die die oben erwähnte Anzahl ausdrücken, folgende: 55 Ge-
samtlehrbücher, welche neben den Teilen, welche allen oder auch
einigen Abteilungen der elementaren Mathematik gewidmet sind, auch
Teile, die ausschließlich die elementare Geometrie betrachten, ent-
halten, 35 spezielle elementargeometrische Lehrbücher, 35 Über-
setzungen der Elemente des Euklid und 10 Übersetzungen der Werke,
die im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen sınd.
Folgende Tabelle stellt die Verteilung dieser Ziffern in den Haupt-
ländern Europas dar:
Lehrbücher ‚ Übersetzungen der
Eee eoBen | der Euklids | Schriften der
FREE | Elementar- Elemente |1.Hälfted. 2.Hälfted.
| geometrie '18.Jahrh. | 18. Jahrh.
| a ee |
Deutschland....... | 24 | 10 13 1, 1
BR 2, | 1 | 3 8 | — =
PranktMich ........ 13 | 4 3 — —
A RESENRNFERE 5 | 3 2 | 1 1
Niederlande....... 2 | 9 3 | 2 _
nn RE 8 | — 1 | 2 3
Rußland ..........| 2 | 6 2 | 3 6
Schweden......... | — | = 3 | 2 _
Einige der hier angegebenen Bücher sind mehrmals verlegt worden.
Zur Ergänzung und Erklärung dieser Tabelle ist folgendes zu be-
merken. Werke der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, deren Über-
setzungen in der Tabelle angegeben sind, waren folgende: Christian
Wolffs Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften (Halle
1710) waren ins Holländische, Polnische, Russische und Schwedische
übersetzt. Clairaut, Elements de geometrie (Paris 1741) waren ins
Schwedische, Holländische und Polnische übersetzt. Georg Wolf-
322 Abschnitt XXIL
gang Krafft, Kurtze Einleitung zur theoretischen Geometrie, zum
Gebrauche der studirenden Jugend in dem Gymnasio bey der Aca-
demie der Wissenschaften in St. Petersburg (1740). Weidlers In-
stitutiones mathematicae (Wittenberg 1718). Diese beiden Werke
waren nur ins Russische übersetzt. Das letzte Werk, ebenso auch
das obengenannte Buch Wolffs sind mehrmals auch bei sich in
Deutschland verlegt worden. Zu den Übersetzungen des Werkes
Wolffs in der Tabelle ist auch die 2. italienische Auflage des
Buches Christiani Wolfii!) Elementa Matheseos universae®) mit
eingerechnet. Als Werke, die in einiger Beziehung zu den Elementen
des Euklid stehen, obwohl sie in die Tabelle nicht eingeführt sind,
sind folgende anzugeben: in England R. Simson, The Elements of
Euelid. Notes eritical and geometrical (Glasgow 1762 und 1781)
und The philosophical and mathematical Commentaries of Proclus,
surnamed Plato’s Successor, on the I Book of Euclids Elements
and his life by Marinus etc. (London 1788); in Deutschland Euclid’s
Data verbessert und vermehrt von R. Simson, übersetzt von Ch.
Schwab (Stuttgart 1780, 8%). In England, Deutschland und Frank-
‘reich beansprucht die vollständige Abwesenheit der übersetzten Werke
aus anderen Sprachen besondere Beachtung. In Frankreich und Eng-
land war nicht eine einzige Übersetzung vorhanden. In Deutschland
nur eine, nämlich die Übersetzung aus dem Holländischen des Werkes
von Swinden, Anfangsgründe der Meßkunde Die größte Zahl der
Übersetzungen erschien in den am wenigsten zivilisierten Ländern,
nämlich in Rußland, und schon in geringerem Maße in Polen. In
diesen beiden Ländern trifft der Forscher wohl fast zum erstenmal
Übersetzungen an, die nicht nach gedruckten Ausgaben, sondern nach
Handschriften angefertigt sind. Als derartige Übersetzungen sind an-
zugeben: in Rußland Eulers Geometrie?) und das bereits oben an-
geführte Werk Kraffts und in Polen „Geometrie“ von Lhuilier*).
Die wichtigste der Angaben, die die angeführte Tabelle dem
Forscher liefern, ist diejenige, welche die Beziehung der „Elemente“
des Euklid zu dem Fache des Unterrichts der Geometrie in den
verschiedenen Ländern Europas bezeichnet. Aus dieser Tabelle ist
ersichtlich, daß die „Elemente“ des Euklid ihre uralte Stellung, als
\ der einzigen Lehrbücher der Elementargeometrie, nur in England ın der
t) Diese Vorlesungen III”, S. 529— 531. ®) Editio secunda veronensis.
Veronae 1788—98, vol. 5; 4°. ®) Leonh. Eulers Geometrie, zum Gebrauche
in dem Gymnasio bei der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. Aus
dem Lateinischen. 1765. *#, Geometrie für die Volksschulen. 1. Teil.
Warschau 1780. 2. Teil. Krakau 1781.
Lehrbücher der Elementargeometrie. 325
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts behalten haben. Ungeachtet
dessen, daß Deutschland nach der Anzahl der Ausgaben der Werke
des Euklid alle anderen Länder übertrifft, kann dennoch von dem
vorherrschenden, geschweige dem ausschließlichen Gebrauch beim
Unterricht der Elementargeometrie keine Rede sein. Das bezeugen
uns mit voller Deutlichkeit die noch viel bedeutenderen Zahlen der
Lehrbücher, die von einheimischen Autoren verfaßt und verlegt worden
sind. Was Frankreich anbetrifft, kann der direkte Gebrauch der
„Elemente“ des Euklid beim Unterricht der Elementargeometrie jetzt
als vollständig aufgehoben betrachtet werden. Die übrigen Haupt-
länder Europas endlich nehmen Mittelstellungen zwischen Deutschland
und Frankreich ein, dennoch näher an Frankreich stehend. Auf diese
Weise erreichte das Bestreben, die „Elemente“ des Euklid beim
Unterricht der Elementargeometrie durch zweckentsprechendere Lehr-
bücher zu ersetzen, was der Philosoph Ramus als erster aus-
gesprochen und im Laufe der Zeit sich immer verstärkt hatte, in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutende Resultate. Zur selben Zeit
macht auch das Verständnis der Ursachen des obengenannten Be-
strebens Fortschritte, obgleich in geringerem Maße. Da die haupt-
sächlichsten dieser Gründe sehr tief im Wesen der Sache selbst liegen,
war das Verständnis derselben in der zu betrachtenden Zeit noch
nicht erreicht. Man hatte bloß Zeit, diejenigen ihrer Folgen kennen
zu lernen, die ohne tiefe und umfassende historische Kenntnisse dem
unmittelbaren Beobachter zugänglich waren.
In demjenigen Lande, wo die zu betrachtende Strömung sich am
meisten kundgegeben hat, und deshalb beinahe ihr Ziel voll erreicht
ist, nämlich in Frankreich begegnet der Forscher der Angabe dieser
Na
oder jener Ursache bei vielen Schriftstellern. Nach den Worten %
d’Alemberts') sind die Beweise des Euklid, ungeachtet ihrer Ge-
nauigkeit, dem Verständnis so schwer zugänglich, daß es vielen be-
rühmten Mathematikern nicht gelungen ist, ihrer vollständig Herr zu
werden. Bouillau z. B. gestand offen, daß er sie niemals gut ver-
stand, und der noch berühmtere Vieta verdächtigte ihn des Para-
logismus, was nur aus mangelhaftem Verständnis zu erklären ist. Im
Diseours preliminaire zu derselben Ausgabe?) sagt Bossut, daß viele,
vollkommen die Vorzüge des prachtvollen Werkes des Euklid an-
erkennend, ihm doch Vorwürfe machen wegen zu großer Anzahl von
Bestimmungen und scholastischen Einteilungen, wegen zu strenger
und verfeinerter Beweisführung von Wahrheiten, die schon an und
') Encyclopedie methodique. Mathömatiques, Tome II, p. 129. *) Ebenda,
Tome I, p. IX.
324 Abschnitt XXII.
für sich vollkommen klar sind. Man ist geneigt, anzunehmen, be-
merkt er weiterhin, daß es den spitzfindigen und kleinlichen Methoden
griechischer Sophisten gelungen ist, auch in die exakten Wissen-
schaften einzudringen. Später, in seiner Histoire generale des mathe-
matiques'), die den erweiterten und ergänzten Discours darstellt,
spricht derselbe Autor vom Charakter und den Eigenschaften der Be-
weise des Euklid. Letztere verursachen nach seinen Worten An-
/ fängern große Schwierigkeiten, weil sie indirekt, nicht selten lang
‚ und verwickelt sind. Gerade diese Eigenschaften zwangen viele ae
) neuesten Gelehrten bei der Herausgabe der „Elemente“ des Euklid
| leichtere und einfachere Beweise anzuführen. Andere jedoch
fanden es am nützlichsten, in ihren eigenen Aufsätzen sich ganz und
gar von der Methode des Euklid zu entfernen. Die bedeutendsten
aus der Zahl der ersten, die Bossut beim Namen nicht anführt, waren
selbstverständlich in England: Robert Simson mit seinem Werk
The Elements of Euclid. Notes critical and geometrical?) und
James Williamson mit seiner Ausgabe The Elements of Euelid,
with dissertations®) und in Deutschland Lorenz mit seiner vollen
Ausgabe der „Elemente“ des Euklid*) und der teilweisen: der sechs
ersten Bücher°), des elften und zwölften®), und der ersten acht Bücher
mit dem elften und zwölften‘). Montuela, dieser überzeugte An-
hänger der „Elemente“ des Euklid, verweilt besonders in der ihnen
geweihten Apologie bei der Unzufriedenheit vieler Geometer über die
Verteilung des Gegenstandes®). Die Verteidigerrolle, die Montucla
in bezug auf die „Elemente“ des Euklid auf sich genommen hatte,
verhinderte ihn jedoch nicht, am Ende seiner Apologie den Nutzen
der Werke, die von den neuesten Autoren als Ersatz derselben verfaßt
"worden sind, anzuerkennen. Sich der Meinung der Gelehrten, daß
die Erlernung der Geometrie nach den „Elementen“ des Euklid für
Anfänger sehr schwierig sei, anschließend, findet er es für nötig, die
Geometrie für Anfänger zugänglicher zu machen, hauptsächlich den-
_ jenigen, die nicht beabsichtigen, Geometer von Fach zu werden.
Von den Geometern der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, die be-
sonders scharf ihre Unzufriedenheit über die Verteilung des Materials
in den Elementen aussprachen, genügt es auf Lacroix hinzuweisen,
welcher in seinem Werk „Essais sur l’enseignement“ diese Verteilung
als unordentlich kennzeichnet. Als Beispiel nimmt er übrigens nur
') Hist. gen. d. math., Tome I, p. 29. ?) Glasgow 1762, 1781 usw.,
8 Auflagen, 8°. ») Oxford 1781—90; 2. vol. 4°. *, In 15 Büchern, Halle
1781; 2. Aufl. 1798, 8°, 5) Halle 1773. 6%) Halle 1781, 8°. ‘) Halle
1798, 8°. ®, Histoire des math&matiques I, p. 218—222.
Lehrbücher der Elementargeometrie. 325
eines, dafür jedoch besonders wichtiges, nämlich Euklids Folgerung
des Grundsatzes der Theorie der proportionalen Linien aus der Ver-
gleichung der Flächen der Dreiecke.
Womit Laeroix in unmittelbare Berührung kam, und was ihn
dabei besonders unangenehm berührte, waren die durch die „Elemente“
des Euklid und durch ihre seit Jahrhunderten erworbene Autorität
in der Wissenschaft und im Unterricht hervorgerufenen Schwierig-
keiten für die neueren Autoren der Elemente der Geometrie. Diese
Schwierigkeiten sieht er erstens in der Konkurrenz mit den Werken
des Euklid, welche immer sehr gefährlich für die neuesten Autoren
ist, ungeachtet jeden Beweises ihrerseits zugunsten des gewählten
Planes; zweitens in der Notwendigkeit, nach dem Beispiel des Euklid
und überhaupt der griechischen Geometer sich der synthetischen
Methode zu bedienen auf einem Gebiete, wo alle anderen Teile sich
der analytischen bedienen, wodurch sie dem Lernenden zugänglicher
und geläufiger werden; und drittens in der drohenden Möglichkeit, zu
jeder Zeit Vorwürfe sowohl von den Anhängern als auch den Gegnern
des Euklid zu erhalten. Von ersteren für die Unzulänglichkeit in
der Strenge der Beweise, die von den Alten festgesetzt sind, und
von letzteren für die Unterwerfung dieser Forderung, welche klein-
liche, nur den Verstand verwirrende Formen verursachen, als auch für
die Beseitigung der analytischen Prozesse, welche die Methode der
Erfindung darstellen.
Das kritische Verhalten zu den „Elementen“ des Euklid, welches
sich in den Kreisen der Mathematiker festgestellt hatte, und welches
eine große Anzahl Arbeiten, die der Erörterung der Elemente der
Geometrie gewidmet sind, hervorgerufen hatte, mußte vor jeden philo-
sophischen Denker die Frage stellen, was eigentlich die Elemente der |
Geometrie seien. Woraus soll sich ihr Inhalt bilden? Die Aufsätze
d’Alemberts in der Encycelopedie me&thodique!) waren in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wohl nahezu die bedeutendsten
Versuche, diese Frage zu lösen.
D’Alembert unterscheidet in jeder Wissenschaft, darunter auch
in der Geometrie, zwei Arten von Elementen. Wenn man in einer
Wissenschaft alle Sätze oder Wahrheiten, welche die Grundlage zu
allen anderen bilden, absondert, und sie in ein Ganzes vereinigt, er-
hält man die Elemente der ersten Art. Sie bilden sozusagen den
Keim, aus welchem alle Teile samt ihren Details entwickelt werden
können, was daraus folgt, daß sie alle allgemeinen Wahrheiten und
1) Elömens des sciences. Mathematiques, Tome I, p. 617—625. Des ele-
mens de Geometrie. Ebenda, Tome II, p. 133—136.
ei
326 Abschnitt XXI. if
Sätze, welche die Elemente bilden, wenn auch nicht augenscheinlich,
alle anderen Wahrheiten enthalten. Daraus folgt also, daß in ihren
Elementen erster Art jede Wissenschaft in ihrem vollen Umfang ent-
halten ist. In der Geometrie würden nicht nur diejenigen Sätze
solche Elemente sein, die die Prinzipien der Ausmessung und der
Eigenschaften der ebenen Figuren enthalten, sondern auch diejenigen,
die die Prinzipien der Anwendung der Algebra auf Geometrie und
der Differential- und Integralrechnung bei krummen Linien ent-
halten.
Wahrheiten oder Sätze, die die Wissenschaft bilden, können auch
von einem anderen Standpunkt aus betrachtet werden. Einige von
ihnen können in sich selbst oder auch in ihren Folgerungen den
Gegenstand auf die einfachste Art betrachten. Die Gesamtheit solcher
Wahrheiten oder Sätze samt ihren genau angeführten Folgerungen
stellen die Klemente der zweiten Art dar, zwar allgemein gebräuch-
licher, jedoch vom Standpunkt der Philosophie aus den Elementen
der ersten Art viel nachstehend. Dieselben stellen folglich die’ de-
—tailliertere Betrachtung der einfachsten Teile des Gegenstandes dar.
In der Literatur der Geometrie bilden sie die Elemente der gewöhn-
lichen Geometrie, welche nichts weiter betrachtet, als die Eigen-
schaften der ebenen Figuren und des Kreises, und deshalb, wenn auch
mit allen Einzelheiten, dennoch den einfachsten Teil des Gegenstandes
enthalten.
Weiterhin die einzelnen Stadien der Entwicklung jeder Wissen-
schaft betrachtend, dargestellt erstens durch die Anhäufung neuer
Kenntnisse, und zweitens der sie ablösenden Systematisierung dieser
Kenntnisse, erklärt d’Alembert das Unzureichende der Traktate, die
die ersten Versuche genannter Systematisierung darstellen, damit,
daß die Autoren gewöhnlich nicht zu den Erfindern und Erschaffern
der Wissenschaften gehören. Jeder Traktat einer Wissenschaft, ob
voll oder bloß ihre Elemente darstellend, muß nach seiner Meinung
derjenigen Richtung folgen, nach der nr ee Bu da einzig
nur diese Richtung als fähig erklärt werden kann, den Zusammen-
hang der Wahrheiten oder Sätze der Wissenschaft in ihrem natür-
lichen Zustand darzustellen. D’Alembert vergißt dabei nicht, auch
auf diejenigen Fälle hinzuweisen, in denen der Erfinder selbst nicht
imstande erscheint, den schon durchgegangenen Weg wieder einzu-
schlagen, was jedesmal geschieht, wenn er während seiner Forschungen
sich einer gewissen Art Instinkt überläßt, anstatt der Spekulation?).
Nach weiteren vier Seiten?) kehrt d’Alembert zu dem gleichen
1) Flömens des sciences, p. 618—619. *) Ebenda, p. 622—623.
Lehrbücher der Elementargeometrie. 327
Gegenstand zurück: Nachdem er die Frage stellt, ob es ratsam ist,
sich beim Auslegen der Elemente der Reihenfolge, an welche sich
die Erfinder hielten, anzuschließen, spricht er folgende Gedanken aus:
Zweifellos ist diese Reihenfolge überhaupt die vorteilhafteste, als die
am meisten dem Gedankengang entsprechende. Die Vernunft lehrend,
klärt sie auf, weist den Weg, welcher weiter zu verfolgen ist, und
gibt die Möglichkeit, auf diesem Wege jeden folgenden Schritt vorauszu-
sehen. Diese Reihenfolge ist es nämlich, die als analytische
Methode bezeichnet wird, die von zusammengesetzten zu abstrakten
Ideen führt, aufsteigend von bewußten Schlußfolgerungen zu un-
bewußten Prinzipien, und die Entwicklung der letzten durch die Ver-
allgemeinerungen der ersten erreicht,
Für die Elemente der Geometrie schlägt d’Alembert fol-
genden Plan vor. Indem er ihre gewöhnliche Teilung in Longi-
metrie, Planimetrie und Stereometrie als nicht zutreffend er-|
klärt, weil sie neben der Betrachtung der geraden Linien und
der Ebene die Betrachtung der Kreislinie und der sphärischen
Figuren vergißt, teilt er sie in die Geometrie der geraden Linien
und der Kreislinie, Geometrie der Flächen und Geometrie der
Körper. Der erste dieser drei Teile zerfällt in zwei Abteilungen.
In deren erster werden die Linien ihrer Lage nach betrachtet, und in
der zweiten ihre Beziehungen zueinander. Ungeachtet dessen, dab
die gerade Linie unvergleichlich einfacher ist, als die Kreislinie,
müssen beide in den Elementen dennoch zusammen betrachtet werden,
und nicht jede besonders, da die Eigenschaften der Kreislinie ungemein
nützlich sind beim Beweise dessen, was zur Vergleichung der geraden
. Linien ihrer Lage nach dient. Der Satz von der Ausmessung des
Winkels mittels des Kreisbogens, beschrieben aus seinem Scheitel
als Zentrum, und das Prinzip der Kongruenz bilden zusammen-
genommen die Basis des ganzen ersten Teils der Geometrie der
Linien in den Elementen, da mit ihrer Hilfe alle ihre Sätze bewiesen
werden können. Die Erörterung dieses ersten Teiles abschließend,
muß der Verfasser zur Auslegung des zweiten Teiles übergehen, als
dessen Grundsatz, nach d’Alemberts Meinung, das Theorem von der
Teilung der Seiten des Dreiecks in proportionale Teile durch eine
seiner Basis parallele Linie dient. Um dieses Theorem zu beweisen,
genügt es zu zeigen, daß wenn die erwähnte Parallele durch die
Mitte einer der beiden Seiten des Dreicks geht, sie auch durch die
Mitte der anderen geht, weil danach leicht zu beweisen sein wird,
daß im Falle der Kommensurabilität des Abschnittes mit der ganzen
Seite die erhaltenen Abschnitte proportional sind. Was den entgegen-
gesetzten Fall anbetrifft, bleibt nur übrig, mittels der apagogischen
328 Abschnitt XXI.
Methode zu beweisen, daß das eine von den betrachteten Verhält-
' nissen weder kleiner noch größer sein kann als das andere, es ihm
folglich gleich sein muß. Die apagogische Methode sowohl in diesem
als auch in den meisten anderen Fällen, wo es sich um inkommen-
surabele Größen handelt, wird an Stelle der direkten Beweise, welche
hier nicht anwendbar sind, aus folgenden Gründen gebraucht. In
den Begriff der inkommensurabelen Größen gehört, wenn auch nicht
augenscheinlich, auch die Idee der Unendlichkeit, welche sich uns
immer als negativer Begriff der Endlichkeit darstellt, was auch als
natürliche Folge hat, daß alles, was die mathematische Unendlichkeit
anbetrifft, unmöglich direkt und a priori zu beweisen ist. In voll-
kommener Anerkennung der Schwierigkeiten, welche die inkommen-
surabelen Größen Anfängern verursachen, gibt d’Alembert den Rat,
sie wegen ihrer Wichtigkeit in der Geometrie und besonders in der
Theorie der Proportionen der Linien lieber früher als später in die
Elemente einzuführen. Dabei ist es unmöglich, ohne den einzigen Satz
auszukommen, den die Theorie der inkommensurabelen Größen ver-
langt und der die Grenzen der Größen behandelt. Dieser Satz lautet
' folgendermaßen: Größen, welche die Grenzen einer und derselben
Größe bilden, oder Größen, welche eine und dieselbe Grenze haben,
sind einander gleich.
Die Geometrie der Flächen behandelt, nach d’Alemberts An-
sicht, ihre Ausmessung, ebenso wie die Geometrie der Körper die
Ausmessung des Rauminhalts behandelt. Als Grundprinzip ‚beim
Ausmessen der ersten dient das Prinzip der Ausmessung des Recht-
ecks, und in der zweiten das Prinzip der Ausmessung des recht-
winkligen Parallelepipedons. Die Schwierigkeit, die wir in der Geo- -
metrie der Körper antreffen und der keine in der Geometrie der‘
Flächen entspricht, liegt in dem Satze von dem Inhalte der Pyramide,
der den dritten Teil des Inhalts eines Parallelepipedons darstellt,
welches mit der Pyramide gleiche Grundfläche und Höhe hat. Um
diesen Satz zu beweisen, ist es notwendig, zuerst den Satz von der
Volumengleichheit der Pyramiden, die gleiche Grundfläche und Höhe
haben, zu beweisen, was leicht zu bewerkstelligen ist mittels der
Exhaustionsmethode. Der gleichen Methode oder der Methode
der Grenzen muß man sich in der Geometrie der Flächen bedienen,
beim Messen des Flächeninhalts des Kreises und in der Geometrie
der Körper beim Berechnen der Oberfläche und des Inhalts der Kugel.
Zu diesem Zweck muß man z. B. im ersten Fall zeigen, daß die
Grenze des Flächeninhalts beim eingeschriebenen oder umgeschriebenen
Vieleck das Produkt des Umfanges in die Hälfte des Radius ist, und
danach, weil augenscheinlich die Fläche des Kreises als dieselbe
Lehrbücher der Elementargeometrie. 329
Grenze erscheint, endgültig daraus schließen, daß die Fläche des
Kreises das Produkt des Umfanges mit dem halben Radius ist, oder
des Radius mit dem halben Umfang.
Von der Methode der Grenzen spricht d’Alembert auch in
den Abhandlungen Differentiel') und Limite?). In der zweiten Ab-
handlung, deren Hauptteil dem Abbe de la Chapelle?) gehört, be-
müht sich d’Alembert, dessen Definition der Grenzen klarer und
strenger zu machen. De la Chapelle gab folgende Definition: Eine
Größe ist dann die Grenze einer anderen Größe, wenn die zweite/
der ersten näher als jede gegebene Größe kommen kann, wie klein |
der Abstand auch vorausgesetzt würde, dabei aber auf solche Weise,
daß die sich annähernde Größe niemals diejenige übertreffe, der sie‘
sich nähert; die Differenz zwischen einer solchen Größe und der,
Grenze erscheint auf diese Weise absolut undefinierbar. D’Alembert \
ergänzt diese Definition dahin, daß die Grenze niemals zusammen- |
fällt, oder niemals gleich wird mit derjenigen Größe, als deren
Grenze sie erscheint; daß sie jedoch, sich ihr immer mehr nähernd,
sich von ihr so wenig als nur möglich unterscheiden kann. Der
' Kreis z. B. ist die Grenze der eingeschriebenen und umschriebenen
Vielecke, weil er niemals mit ihnen zusammenfällt, obgleich dieselben
sich ihm bis zur Unendlichkeit nähern können. Danach, um an
einem Beispiel die Bedeutung dieser Bemerkung zur Beleuchtung
einiger mathematischen Sätze zu zeigen, verweilt er bei der Unter-
suchung des Ausdruckes der Summe der unendlich abnehmenden geo-
metrischen Progression. Überhaupt räumt d’Alembert der Theorie
der Grenzen wichtige Bedeutung ein, weil er in ihr die Grundlage
der wahren Metaphysik der Differentialrechnung sieht. In der Ab-
handlung Differentiel führt d’Alembert, sich des ersten der beiden
von de la Chapelle angeführten Grundsätze der Methode der Grenzen __
bedienend, zugleich auch seinen Beweis an, in welchem er sich der
apagogischen Methode bedient. Dieser Satz und der ihm beigefügte
Satz von de la Chapelle sind in seiner Schrift folgendermaßen dar-
gestellt: 1. Wenn jede von zwei Größen die Grenze ein und derselben
(Größen darstellt, so sind diese Größen einander gleich. 2. Wir nehmen
an, daß A>< .B das Produkt zweier Größen A, B ist. Nehmen wir
ferner an, daß C die Grenze der Größe A, und D die Grenze der
Größe B ist, so folgt weiter, daß das Produkt CO >< D unbedingt die
Grenze von A>< B, dem Produkt zweier Größen A, b, sein wird.
Den Beweis dieser Sätze führt der Verfasser nicht an, den Leser an
') Eneyclopedie methodique. Mathematiques I, p. 520—526. ®) Ebenda
II, p. 309—310. °) Ebenda I, p. 521.
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 22
330 Abschnitt XXL.
sein Werk „Institutions de Geometrie“ verweisend, um sich mit ihm
vertraut zu machen. Was jedoch den erwähnten Beweis d’Alem-
berts des ersten Satzes anbetrifft, so besteht er aus folgendem: Wir
nehmen an, daß Z und X die Grenzen ein und derselben Größe Y
sind, ich sage X = Z, denn wenn zwischen ihnen irgend eine Diffe-
renz V wäre, so wäre X—=Z-+ V. Aber nach Voraussetzung kann
die Größe Y sich beliebig an X nähern, d. h. die Differenz
zwischen X und Y kann beliebig klein sein. Da jedoch Z sich von
X um die Größe V unterscheidet, so folgt daraus, daß Y sich nicht
mehr als bis zur Größe V dem Z nähern kann, und folglich ist Z
nicht die Grenze von Y, was der Voraussetzung widerspricht!).
Dem Abbe de la Chapelle gehört auch in der Encyelopedie
der Artikel über die Exhaustionsmethode an?). Er definiert sie als
Mittel zum Beweise der Gleichheit zweier Größen, indem man auf-
deckt, daß ihre Differenz kleiner als jede darstellbare Größe ist, und
ebenso beim Gebrauch der apagogischen Methode. Aus dem Grunde,
daß ungeachtet der Einfachheit des Prinzips der Exhaustionsmethode
deren Anwendung nicht selten die Beweise sehr lang und kompliziert
' macht, schlägt d’Alembert vor, sie durch das Prinzip des unend-
lich Kleinen zu ersetzen, indem er die völlige Identität der beiden
Prinzipien zeigt, von denen das zweite bloß der verkürzte Ausdruck
des ersten ist.
Um beim Verteilen des Materials strenger in der Reihenfolge
und dem System zu sein, sollte die Behandlung der Kugelfläche zur
Geometrie der Flächen gerechnet werden. Gleichzeitig gibt d’Alem-
bert den Rat, die Theorie der Proportionen der Linien mittels des
geometrisch bewiesenen Satzes, daß bei vier proportionalen Linien
das Produkt der beiden äußeren dem Produkt der beiden inneren
gleich ist, ebenfalls der Geometrie der Flächen näher zu bringen.
Den Gebrauch der algebraischen Rechnung beim Beweis dieses
Satzes, ebenso wie auch in allen anderen Fällen findet d’Alembert
für die Elemente der Geometrie vollständig überflüssig, wegen der
völligen Unfähigkeit dieser Rechnung, in irgend einem Maße bei
deren Darstellung zur Erleichterung beizutragen. Als ein sehr nütz-
liches, zur Entwicklung und Stärkung des Verstandes des Lernenden
dienendes Resultat der zu betrachtenden Annäherung erscheint die
Beobachtung, wie zwei einzeln betrachtete Theorien im Beweise ver-
schiedener Sätze zusammentreffen, wie z. B. der Satz von dem Quadrate
der Hypotenuse.
Nachdem d’Alembert seinen Plan für die Elemente der Geo-
1) Encyel. meth. I, p. 521. ?2) Ebenda I, p. 703—704.
Lehrbücher der Elementargeometrie. 331
metrie dargelegt hat, bemerkt er, daß sowohl diese Darlegung als
auch die allgemeinen Erwägungen, die im Artikel El&öments des
Sciences ausgesprochen sind, alle beweisen, daß es nicht einen
Geometer gibt, von dem gesagt werden könne, daß er erhaben
über die Aufgabe sei, die Elemente der Geometrie zu verfassen;
daß diese Zusammenstellung nur von einem Mathematiker ersten
Ranges gut verfaßt werden kann, und daß endlich diese Aufgabe der
Verfassung der bestmöglichen Elemente der Geometrie als würdig
solcher Kräfte erscheine wie Descartes, Newton, Leibniz, Ber-
noulli und anderer. Als Gegensatz zu diesen idealen Forderungen
spricht d’Alembert folgende unerbittliche Kritik der traurigen
Gegenwart aus: Es gibt womöglich keine einzige Wissenschaft in”
der Gegenwart, von der Zukunft schon nicht zu reden, in der so
viele den Elementen gewidmete Arbeiten erschienen sind als in der
Geometrie. Und diese Werke sind größtenteils von mittelmäßigen '
Mathematikern verfaßt, deren geometrische Kenntnisse nicht über die
Grenzen des Inhalts ihrer Schriften gehen, und die deshalb absolut
‚nicht imstande sind, ihrem Gegenstande gerecht zu werden. Zu alle-
dem ist es notwendig, noch hinzuzufügen, daß es beinahe keinen
einzigen Autor der Elemente der Geometrie gibt, der in seinem Vor-
wort nicht mehr oder weniger schlecht spreche über seine Vorgänger
in diesem Fache.
Die Bemerkungen, die dazu dienen, die Elemente der Geometrie
nach Möglichkeit zu vervollkommnen, treffen sieh nicht nur in der
Darlegung des Planes derselben an, sondern auch im Schlußteil des
ihnen gewidmeten Aufsatzes, ebenso auch in einigen anderen Auf-
sätzen von d’Alembert, die sich in der Eneyclopedie methodique
befinden (z. B. „Axiome“, „Courbe“). Axiome sind vollständig nutz-
los, sowohl für alle Wissenschaften im allgemeinen, als auch im
einzelnen für die Geometrie. Was für eine Notwendigkeit z. B. kann
in dem Axiom vom Ganzen und seinen Teilen sein, um zu sehen,
daß die Hälfte einer Linie kleiner als die ganze Linie ist? Das Fest-
legen von Axiomen soll überhaupt nicht in den Elementen der Geo-
metrie stattfinden. Völlig verboten soll auch die Auslegung von
Definitionen werden, dieses besonders notwendigen Teiles. Definitionen \
sofort im Anfang anzuführen ohne besondere Art der Analyse be-
deutet nicht nur gegen die gesunde Philosophie handeln, sondern
auch vollständig entgegen dem natürlichen Gang der Gedanken. Ist
es z. B. am Platze, direkt zu sagen: Die Fläche ist die Grenze eines |
Körpers, der keine Dicke hat? Ist es nicht besser, anfangs den
Körper zu betrachten so wie er wirklich ist, und erst darnach zu
zeigen, wie man mit Hilfe einer Reihenfolge von Abstraktionen zur
| 22*
332 Abschnitt XXII.
Vorstellung von einem Körper, als von einem räumlichen Gebilde,
und danach erst durch eine neue Reihe von Abstraktionen zur auf-
einander folgenden Betrachtung von Oberfläche, Linie und Punkt
kommen kann? Endlich sind auch solche Fälle anzutreffen, be-
sonders in vollen Kursen der Geometrie, bei welchen die De-
finition eines Gegenstandes erst nach seiner Analyse gegeben werden
kann, d.h. wenn sie als Resultat derselben erscheint. Die gerade
und die krumme Linie dürfen überhaupt nicht in den Elementen
definiert werden, hauptsächlich aus dem Grunde, weil ihre Begriffe
gar nicht auf noch einfachere Ideen zurückgeführt werden können.
Das Streben zur Genauigkeit darf niemals zu einem Hasten nach
pseudoidealer Genauigkeit werden. Den Raum z. B. soll man als
solchen darstellen, wie ihn alle Menschen verstehen. Sich seinethalben
nach Beispiel der Sophisten Schwierigkeit erschaffen, ist vollständig
unnütz. Auch um nur gewöhnlich scheinende Genauigkeit zu er-
langen, soll man sich nieht grober unvollkommener physischer Formen
bedienen, zum Ersatz abstrakter mathematischer Hypothesen, wie
2. B. ein Zeitgenosse d’Alemberts zum Ersatze des Begriffes einer
geraden Linie sich der Vorstellung eines straff gespannten Fadens
bediente.
Außer d’Alembert beschäftigten sich. mit der Vervollkommnung
der Elemente der Geometrie auch viele andere Gelehrte, sowohl in
separaten Werken, als auch in Aufsätzen in Zeitschriften. Louis
Bertrand!) (1731—1812), in Genf geboren, war bis zur Revolution
Professor der Mathematik an der Akademie zu Genf, und vor diesem
Amte lebte er längere Zeit in Berlin, wo er Mitglied der dortigen
Akademie der Wissenschaften geworden war. In den Sitzungen der-
selben verlas er einige von seinen mathematischen Arbeiten und von
den Mitgliedern stand er Euler am nächsten. In seinem für An-
fänger bestimmten Kursus der elementaren Mathematik, Developpe-
ment nouveau de la partie el&mentaire des math&matiques,
prise dans toute son ötendue?), macht er sie zum Hilfsgegen-
stand für die Theorie des Kreises und der geraden Linie, als dem
Hauptgebiet der Elemente der Mathematik. Den ganzen ersten Band’)
der Arithmetik und der Algebra bestimmend, widmet er den größten
Teil‘) des zweiten Bandes’) den Elementen der Geometrie, die er
ebenso wie d’Alembert in drei Teile teilt: der erste „Von der ge-
raden Linie und Kreislinien“®), der zweite „Vom Ausmessen der
Stücke der Ebene, die von geraden Linien und Kreisen begrenzt sind“)
ı) Poggendorff, I, 8. 171. 2) 2 vol. Gendve 1778. 4. 1 + XXXU
46768. %388 8. 9%) 1646 S, und XIX Tafeln. ®) 1608. 7) 161—19 8:
Lebrbücher der Elementargeometrie. 333
und der dritte Teil, der sich mit dem Ausmessen krummer Flächen
und Körper beschäftigt, die vom Kreise und von der geraden Linie
abhängen!). Sieben Kapitel bilden den ersten Teil. Das erste handelt
von der Ebene, von geraden Linien und von Winkeln; das zweite
von den Bedingungen, die die Dreiecke bestimmen; das dritte von
der Ähnlichkeit der Dreiecke und einiger ebener Figuren; das vierte
von der relativen Lage der Geraden und der Kreislinie, ebenso auch
von zwei Kreislinien; das fünfte von der Lösung von 19 Aufgaben
auf Grund der Prinzipien, die in den vorhergehenden Kapiteln dar-
gelegt sind; das sechste von den eingeschriebenen und umschriebenen
Vielecken und von der Rektifikation der Kreislinie und das siebente
von der Krümmung der Kurven und Kreislinien. Zwei Kapitel, die
den zweiten Teil bilden, enthalten folgendes: das erste die ebenen
geradlinigen Flächen, und das zweite den Flächeninhalt des Kreises
und seiner Teile. Endlich von den sechs Kapiteln, die den dritten
Teil bilden, handelt das erste von der Begegnung der geraden Linien
und Ebenen; das zweite von den Körpern, regulären Körpern und
von der Kugel; das dritte von den Prismen, Pyramiden, Kegeln und
Zylindern, ebenso auch von einigen Definitionen, die die Kugel be-
treffen; das vierte vom Ausmessen der Oberflächen der Zylinder, ge-
raden Kegel, der Kugel und ihrer Teile; das fünfte von den Volumen
der Prismen, Pyramiden, Kegel, der Kugel und ihrer Teile und das
sechste von der Ähnlichkeit der Körper. Bezüglich des zweiten
Teiles bemerkt Bertrand, daß man das Kapitel aus dem dritten
Teil von den krummen Oberflächen, zu deren Ausmessung die Kennt-
nisse von den Eigenschaften des Kreises und der geraden Linie ge-
nügen, übertragen könne. Mit demselben Rechte müßte man es aus
dem dritten Teil in den ersten übertragen, der da handelt von der
Begegnung gerader Linien und Ebenen mit alle dem, was sich zur
Konstruktion regelmäßiger Körper und den Abständen ihrer Mittel-
punkte von den Seiten und Scheiteln der Ecken, ebenso auch den
Querschnitten der Prismen, Zylinder, Pyramiden usw. von Ebenen,
welche zu ihren Grundflächen parallel sind, bezieht. Er unternimmt
aber weder das eine, noch das andere, weil er dadurch mit der an-
erkannten Sitte in Widerspruch geraten würde, und welches vollständig
dadurch gerechtfertigt ist, daß beide erste Teile nichts weiter ent-
halten, als die Ebene.
Die Idee d’Alemberts von der gleichzeitigen Behandlung der \
geraden Linie und der Kreislinie in dem ersten Teil der Elemente
der eometrie finden wir im Buch von Bertrand vollkommen verwirk- /
ı) 195—388 8.
334 Abschnitt XXIL
licht, besonders im ersten Kapitel. Was jedoch seine andere Idee an-
betrifft, nämlich die der Einteilung desselben ersten Teiles in zwei
Abteilungen, so ist sie vollkommen bloß in den ersten drei Kapiteln
anzutreffen, von denen die beiden ersten vollkommen der ersten Ab-
teilung angehören, und das dritte der zweiten. In den nächsten drei
Kapiteln sind die beiden Abteilungen schon in gemischtem Zustand
vorhanden. So enthalten von den drei Teilen, die das vierte Kapitel
bilden, der erste Teil die Sätze von der relativen Lage der Geraden
und der Kreislinie und zweier Kreislinien, der zweite das Vermessen
der Winkel im Kreise, und der dritte die sich mit dem Kreise in
Beziehung befindenden proportionalen Linien. Ebenso auch in der
Sammlung der Aufgaben, welche das fünfte Kapitel bilden, gehören
die einen zur einen Abteilung, die anderen zur anderen.
Das Bestreben, die Elemente der Geometrie zu vervollkommnen,
welches das Werk Bertrands durchdringt, äußert sich vor allem in
den von ihm gegebenen Definitionen der Ebene und der ge-
raden Linie Der Raum ist unendlich und homogen oder mit
anderen Worten, ist sich selbst gleich zu jeder Zeit und an jedem Ort.
Und wirklich, wenn wir seiner Ausdehnung Grenzen angeben wollten, so
müßten wir es auf seiner ganzen Ausdehnung tun, das würde aber
bedeuten, daß die angegebenen Grenzen ihn nicht begrenzen. Was
seine Homogenität anbetrifft, so äußert sie sich darin, daß der Teil
des Raumes, der von einem Körper an irgend einer Stelle eingenommen
wird, sich in nichts unterscheidet von einem anderen Teil, welcher
von demselben Körper an einer beliebigen anderen Stelle eingenommen
wird; dazu ist hinzuzufügen, daß der Raum, welcher den Körper an
einer Stelle umgibt, derselbe ist wie der Raum, der denselben Körper
an einer anderen Stelle umgibt. Aus diesem Begriff vom Raum folgt,
daß man sich den Raum in zwei solche Teile geteilt vorstellen kann,
von denen man nichts von dem einen sagen kann, was nicht auch von
dem anderen gesagt werden könnte, und daß ihre allgemeine Grenze
zu einem jeden von ihnen ein und dasselbe Verhältnis hat, mag man
sie im ganzen oder in ihren Teilen betrachten. Diese Grenze, die
den Raum in zwei Teile teilt, ist dasjenige, was man die Ebene
nennt. Die Ebene wie auch den Raum kann man sich in zwei solche
Teile geteilt vorstellen, von denen man nichts von einem sagen kann,
was nicht auch vom anderen gesagt werden könnte, und daß ihre
allgemeine Grenze außerdem zu einem jeden von ihnen ein und die-
selben Verhältnisse hat, beliebig betrachtet im ganzen oder in seinen
Teilen. Diese Grenze, die die Ebene in zwei Teile teilt, ist das, was
man die gerade Linie nennt. Mit Hilfe dieser Definitionen beweist
Bertrand folgende Sätze von geraden Linien, die ohne sie nicht
Lehrbücher der Elementargeometrie. 335
bewiesen werden können und deshalb gewöhnlich als Axiome angenommen
werden: „Aus einem Punkt der Ebene zum anderen kann man nur
eine gerade Linie führen.“ „Zwei Punkte der Ebene bestimmen die
gerade Linie“ „Zwei sich auf einer Ebene schneidende Linien
schneiden sich nur in einem Punkte.“ Späterhin werden dieselben
Sätze auch auf eine andere Weise bewiesen mit Hilfe der von La- -
place im Journal des scances de l’Eeole Normale gegebenen Definition
der geraden Linie.
Indem Bertrand im allgemeinen mit d’Alembert ziemlich
übereinstimmt in der Beweisführung von Sätzen, welche von Über-
gängen von den kommensurabelen Größen zu den inkommensurabelen
und von den geraden Linien zu den krummen handeln, gibt er bloß
einer größeren Verbreitung der apagogischen Methode Platz. Er be--
dient sich dieser Methode in allen Sätzen nicht nur in der ersten
von den angegebenen zwei Gruppen, sondern auch in den beiden
der zweiten Gruppe, welche sich mit der Bestimmung des Flächen-
inhalts des Kreises und der Oberflächen des Zylinders und des Kegels
beschäftigen, obwohl dank ihrer Eigenschaften er auch dabei nicht
ohne die Exhaustionsmethode auskommen kann. Der Exhaustions-
methode bedienen sich alle anderen Beweise der Sätze in der zweiten
Gruppe und ebenso auch der Satz von der Gleichheit der dreiseitigen
Pyramiden mit gleichen Grundflächen und Höhen.
Das Bestreben Bertrands zur größtmöglichen Verkürzung der
Anzahl einzelner Sätze tritt besonders stark in dem 5. Kapitel des
3. Teiles hervor, wo eine ganze Reihe von Sätzen durch eine Reihe
entsprechender Aufgaben ersetzt erscheint, die in folgendem einen
Satze vereinigt sind: Es sollen ausgemessen werden das Prisma, die
Pyramide, die abgestumpfte Pyramide, der Zylinder, der Kegel, der
abgestumpfte Kegel, die Kugel, der Kugelsektor, das Kugelsegment,
das abgekürzte Kugelsegment. Der Rauminhalt der abgestumpften
Pyramide (bez. des abgestumpften Kegels) wird hier als Differenz
zwischen den Rauminhalten der vollen Pyramide (bez. des Kegels)
und der Ergänzungspyramide (bez. des Ergünzungskegels) gekenn-
zeichnet. Der Rauminhalt des Zylinders wird ausgemessen mit Hilfe
des Theorems: Das Verhältnis der Zylinder zu den Prismen ist gleich
dem zusammengesetzten Verhältnis ihrer Höhen und Grundflächen,
und das Ausmessen des Inhalts des Kegels und der Kugel wird auf
das Ausmessen des Inhalts des Zylinders zurückgeführt.
Indem das Buch Bertrands in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts als eines der inhaltsreichsten und tiefsinnigsten Werke in
der elementaren Mathematik im allgemeinen und der Geometrie im
—
besonderen erscheint, ist es trotz seiner geringen Verbreitung nicht —_
336 Abschnitt XXI.
ohne wesentliche Wirkung auf die nachfolgende Literatur in diesem
Fache geblieben, was aus der von Lacroix gerichteten Einladung
an diejenigen seiner Leser, welche sich in die Prinzipien der Ana-
lysis und der Elementargeometrie zu vertiefen wünschen, zu ersehen
ist, sich an das Werk Bertrands zu wenden, welchem Lacroix
- selbst viele wichtige Ideen verdankt.
Außer den betrachteten sind noch zwei Werke Bertrands im
Druck erschienen: Renouvellements periodiques des continents ter-
restres!) und Sur une question du calcul des probabilites.”) Aus den
Memoiren, die er in der Berliner Akademie der Wissenschaften ver-
lesen hatte und die nicht im Druck erschienen sind, ist bekannt
Sur le developpement des puissances d’un binome, dont les exposans
sont des fraetions ou des nombres negatifs.
Aus den Schriften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die
den Elementen der Geometrie gewidmet sind, waren am allerver-
breitetsten, besonders während des ganzen nachfolgenden 19. Jahr-
hunderts, die Elements de geometrie; par A. M. Legendre, die in
Paris im Jahre 1794 erschienen waren. Im 19. Jahrhundert hatten
sie viele Ausgaben, in Frankreich und Belgien, und außerdem
waren sie fast in alle europäische Sprachen übersetzt worden. Die
Einkünfte aus denselben waren so bedeutend, daß sie vollständig
ihrem Autor die Existenz sicherten. Sie würden noch in einer
größeren Anzahl von Exemplaren erschienen sein, wenn sie daran
nicht gehindert worden wären durch die in großer Anzahl erschie-
nenen Lehrbücher, die nach ihnen in allen Sprachen zusammengestellt
waren und oft nur ihre Wiederholung darstellten. Ihr Verfasser,
Adrien Marie Legendre (1752—1833), von Geburt ein Pariser,
lernte in dem College Mazarın, wo er nach Beendigung der Huma-
nitätsstudien die Vorlesungen über Mathematik des zu seiner Zeit
sehr bekannten Lehrers, des Abbe Marie, besuchte Die Fähig-
keiten Legendres lenkten auf ihn die Aufmerksamkeit des Lehrers,
der zu seiner wissenschaftlichen Entwicklung viel beigetragen hat.
Die Resultate im Studium der Mathematik, die Legendre zu jener
Zeit erreicht hatte, äußerten sich in einzelnen Kapiteln, die er ım
Auftrage seines Lehrers für dessen Werk Traite de me&canique aus
dem Jahre 1774 geschrieben hat. Indem sie zu den bemerkens-
wertesten des Buches gehörten, traten sie besonders im Kapitel von
den beschleunigenden Kräften in der Klarheit und Strenge der Dar-
stellung hervor, so daß sie den Beifall von Lagrange ernteten. So-
wohl in praktischer, als auch in wissenschaftlicher Beziehung war
!) Hamburg 1799. ?) Memoires presentes par divers Savans etrangers.
Lehrbücher der Elementargeometrie. >31
wichtig seine Bekanntschaft mit d’Alembert, die er zu dieser Zeit
geschlossen hatte, und der ihn als Gelehrten richtig zu schätzen
wußte. Mit dem Beistand d’Alemberts gelang es ihm im Jahre
1775 eine Lehrstelle der Mathematik an der Pariser Kriegsschule zu
erhalten, welche er alsdann bis 1780 inne hatte. Durch diese Stel-
lung in materieller Hinsicht gesichert, begann Legendre mit großem
Fleiße die Werke berühmter Geometer zu studieren, hauptsächlich
Eulers, der ihm seitdem als Muster in allen Arbeiten und Forschun-
gen diente. Als erstes wissenschaftliches Werk Legendres erschien
im Druck im Jahre 1782 und erhielt die volle Prämie der Berliner
Akademie der Wissenschaften sein Memoire: Recherches sur la tra-
jeetoire des projectiles dans les milieux resistants.!) Nach diesem
Aufsatze folgte bald ein anderer mit dem Titel Sur l’attraction des
spheroides homogenes?), der der Pariser Akademie der Wissenschaften
im Jahre 1783 vorgelegt wurde Die günstige Meinung, die La-
place von diesem Werke, welches ihm und d’Alembert zur Be-
urteilung übergeben wurde, aussprach, veranlaßte die Pariser Aka-
demie der Wissenschaften den Verfasser in demselben Jahre 1783
zum Adjunkten der Akademie zu ernennen an Stelle von Laplace,
der den nächsten höheren akademischen Grad erhielt. Im Jahre
1787. wurde Legendre zum Mitglied der Kommission ernannt, deren
Aufgabe es war, die geodätischen Arbeiten zu verrichten, um das
Pariser Observatorium und das Observatorium zu Greenwich in Zu-
sammenhang zu bringen. Sich mit der tätigen Beteiligung an der
praktischen Seite dieser Operationen, welche aus täglichen Beobach-
tungen und logarithmischen Berechnungen bestanden, nicht begnügend,
trug Legendre auch zu deren Theorie viel bei. Als er bemerkte,
daß die Dreiecke auf der Erdoberfläche, die zum Bau des geodäti-
schen Netzes gehörten, nicht als eben angesehen werden konnten, wie
es früher geschah, entdeckte er den wichtigen Satz, der unter dem
Namen des Legendreschen Theorems bekannt ist. In diesen seinen
Arbeiten führte er zum erstenmal in die Wissenschaft ein die Definition
der geodätischen Linien, als den kürzesten von allen, die auf einer
Oberfläche gezogen werden können. Zum Studium dieses Gegenstandes
und im einzelnen zur Theorie der geodätischen Linien auf den Flächen
zweiter Ordnung kehrte er öfters zurück nach mehr oder weniger be-
deutenden Zeitabschnitten. Sowohl diese als auch andere weniger
bedeutende Entdeckungen und Neuerungen waren im berühmten Werke
!) Berlin. ?) Memoires de mathematique et de physique, presentes ä
’Academie Royale des Sciences par divers Savans, et lüs dans’ ses Assemblees,
T.X, 1786.
338. Abschnitt XXII.
des Autors Sur les operations trigonometriques, dont les resultats de-
pendent de la figure de la terre!) dargestellt, zu der auch seine Suite
du calcul des triangles qui servent ä determiner la difference de lon-
gitude entre l’Observatoire de Paris et celui de Greenwich?) in un-
mittelbarer Beziehung stand. In seiner Teilnahme an den Arbeiten
der Kommission ging Legendre viel weiter als es verlangt wurde.
Er berechnete nicht nur alle Dreiecke, die sich in Frankreich be-
fanden, sondern auch die, welche das Ufer Englands mit Greenwich
verbanden. Um diesen letzten Teil seiner Arbeit auszuführen, mußte
er sich nach London begeben, wo er mit großen Ehren emp-
fangen und sofort zum Mitglied der Royal Society ernannt wurde.
Dem Bericht über die praktischen Arbeiten Legendres und der anderen
Mitglieder der Kommission ist das Buch Expose des operations faites
en France en 1787 pour la jonction des observatoires de Paris et de
Greenwich par Cassini, M&chain et Legendre?) gewidmet.
Im Jahre 1791 wurde Legendre zum Mitglied der Kommission
ernannt, welche zur Bestimmung der Grundlagen des neuen Systems
der Maße und Gewichte gebildet wurde, und zur Berichtigung der
Ausmessung des Bogens des Meridians zwischen Dünkirchen und Bar-
celona, was mit ersterem in Zusammenhang stand. Nach Beendigung
der Arbeiten dieser Kommission hörte die unmittelbare Teilnahme
Legendres beim Erschaffen des neuen Systems der Maße und Ge-
wichte auf, bis zu seinem Eintritt in die internationale Kommission,
welche zur Berichtigung der Arbeiten auf diesem Gebiete bestimmt
war. Er unterschrieb im Jahre 1799 den Bericht, welcher von der
Kommission der Akademie erstattet wurde, worauf diese endgültig
beschloß, das metrische Maßsystem anzunehmen.
Auch nach Beendigung der praktischen geodätischen Arbeiten
setzte Legendre die Bearbeitung des theoretischen Teils der Geodäsie
fort. So druckte er im Jahre 1798 sein Memoire analytique pour la
determination d’un arc du meridien bei der Herausgabe des gleich-
namigen Werkes Delambres. In dem Memoire Analyse des triangles
traces sur la surface d’un spheroide*) verallgemeinerte er die von ihm
früher angegebenen Methoden und besprach im allgemeinen Überblick
alle hauptsächlichsten geodätischen Operationen.
Die Beschäftigung mit der Theorie der Anziehung führte E
gendre zur Himmelsmechanik und die geodätischen Arbeiten zur
Astronomie. Der ersten widmete er zwei Memoiren mit dem gemein-
samen Titel Sur la figure des planetes°), in welchen er das Theorem
ı) Histoire de ’Academie Royale des Sciences 1787, p. 352 et suiv.
2) Ebenda 1788, ®) Paris 1791, 4°. *, Memoires de l’Institut 1806.
°) Histoire de l’Acad&mie des Sciences, 1784 et 1789.
ri li sin > u»
Lehrbücher der Elementargeometrie. 339
bewies, daß, wenn die Figur einer flüssigen Masse sich wenig von
einer sphärischen unterscheidet, sie bloß ein Umdrehungsellipsoid sein
kann. Von den homogenen Sphäroiden, für die der Satz im Jahre
1784 bewiesen wurde, erweiterte er ihn im Memoire des Jahres 1789
auf die ungleichartigen Sphäroide. Am Schluß dieses zweiten Me-
moires bestimmte er die Diehtigkeit der Erde, die er als fünfmal die
Dichtigkeit des Meerwassers übertreffend bezeichnete.
Mit dem Verlassen der Pariser Kriegsschule hörte die direkte
und indirekte Beteiligung Legendres am Unterricht der mathemati-
schen Wissenschaften nicht auf. Nach dem Eröffnen der Pariser Nor-
malschule im Jahre 1795 wurde er, wenn auch nicht sofort, dort zum
Professor ernannt. Noch später wurde er dem Lehrpersonal der poly-
technischen Schule als Examinator einverleibt. Bei Eröffnung der
Universität im Jahre 1809 wurde Legendre zum Ehrenrat ernannt
und noch später zum Mitglied der Kommission des öffentlichen Unter-
richts. Im Jahre 1812 trat Legendre an Stelle von Lagrange
ins Bureau des Longitudes ein.
Die Abfassung der El&ments de g6eometrie von Legendre
wurde durch das Bestreben, das Fach dieses Werkes zu vervoll-
kommnen, hervorgerufen. Wie das lange Vorwort zeigt, welches
seiner ersten Auflage vorausgeschickt ist, erkennt Legendre nur
einen von den zahlreichen und verschiedenen Vorwürfen an, welche
den existierenden Lehrbüchern der Elementargeometrie gemacht werden,
nämlich den Mangel an Genauigkeit. Auf die Beseitigung dieses>
. Mangels konzentrierte er sein ganzes Bestreben, alles andere über-
sehend. Dieses Verhalten zu seiner Aufgabe blieb vor allem nicht
ohne Wirkung auf die Anordnung des Gegenstandes, welche in ihrer
Unordnung den zum Muster genommenen Elementen des Euklid nicht
nachsteht. Im Buche von Legendre ist auch nicht die Spur von)
der Sorge um die Harmonie und das System des Planes der Elemente
der Geometrie, die die soeben betrachteten Werke d’Alemberts und.
Bertrands kennzeichnen, anzutreffen. Nicht nur, daß er den ganzen
Gegenstand in Teile nicht teilt, er erwähnt auch darüber nichts.
Dieser Gegenstand zerfällt bei ihm von selbst, seiner Natur gemäß,
in zwei Teile: die Geometrie der Ebene und die Geometrie des
Raumes. Ganz äußerlich ist sein Werk in acht Bücher geteilt.
Das erste, „Die Prinzipien“ betitelt, beginnt nach Beispiel der Ele-
ınente des Euklid mit einer Sammlung von Definitionen und Axiomen,
zu denen der Verfasser noch die Erklärung der Ausdrücke und Zeichen
beifügt. Weiter folgen die Betrachtungen der Eigenschaften der sich
schneidenden geraden Linien, der Gleichheit und der anderen Eigen-
' schaften der Dreiecke, der Eigenschaften der senkrechten, schiefen und
m
340 Abschnitt XXI.
parallelen Linien, und am Schlusse der Parallelogramme. Den Inhalt
des zweiten Buches bilden der Kreis und die Ausmessung der Winkel;
des dritten die Proportionalität von Figuren; des vierten die regel-
mäßigen Vielecke und das Ausmessen des Kreises; des fünften die
Ebenen und die körperlichen Winkel; des sechsten die Polyeder; des |
siebenten die Kugel und die sphärischen Dreiecke und des achten
die drei runden Körper: der Zylinder, die Kugel und der Kegel. Den
Schlußteil des Buches unter dem Titel „Notes sur les elements de
geometrie“ bilden eine Menge von Ergänzungsartikeln. Die Unord-
nung und besonders, nach seinem eigenen Ausdruck, das „Verwechseln
der Eigenschaften der Linien mit den Eigenschaften der Flächen“
gesteht er selbst ein, sich mit dem Beispiel des Euklid entschuldigend,
sowie mit der Behauptung, daß eine Anordnung nicht als schlecht
angesehen werden kann, wenn die einzelnen Sätze darin gut mitein-
ander verbunden sind. |
Der von Euklid eingeführte Gebrauch, jedem Buch der Elemente
eine Sammlung der darin enthaltenen Definitionen vorauszuschicken,
wurde von Legendre nicht nur in seinem ersten Buche der Ele-
mente, wie oben angeführt, sondern auch in allen anderen beibehalten,
ungeachtet der strengen Verurteilung seitens der .philosophischen
Kritik. Die Definitionen der Linie und der Fläche sind bei ihm die-
selben, wie bei Euklid. „Die Linie ist eine Länge ohne Breite.“ „Die
Fläche ist das, was Länge und Breite hat, jedoch ohne Höhe oder
Dicke.“ Die gerade Linie, die Ebene und der Winkel werden von
ihm schon anders definiert. „Die gerade Linie ist die kürzeste Ent-
fernung von einem Punkte zu einem anderen.“ „Die Ebene ist eine
solche Fläche, auf der jede gerade Linie vollkommen aufliegt, welche
zwei beliebig auf dieser Fläche genommene Punkte verbindet.“ „Wenn
zwei gerade Linien AB und AC sich begegnen, so wird jede mehr
oder weniger bedeutende Größe, um die sie ae voneinander
entfernt sind, der Winkel genannt.“
Beim Bowäiße der Theoreme, die von dem Übergang von den
kommensurabelen Größen zu den inkommensurabelen handeln, be-
dient sich Legendre der apagogischen Methode, zeigend, daß das
bras der beiden Verhältnisse, deren Gleichheit zu beweisen ist, weder
‚größer noch kleiner sein kann, als das andere.
Beim Beweise der Sätze, die vom Übergang von den geraden
Linien zu den krummen handeln, gebraucht Legendre die von Archi-
medes angegebene Form der Exhaustionsmethode in etwas verän-
\dertem Zustande. Die wenig bedeutende Änderung dieser Form, die
er sich erlaubt, bestand im Gebrauch der zwei folgenden Hilfssätze:
Wenn die Fläche eines Kreises größer ist, als irgend eine andere
Lehrbücher der Elementargeometrie. 341
Fläche, so kann in diesen Kreis immer ein regelmäßiges Vieleck ein-
geschrieben werden, dessen Fläche ebenfalls größer sein wird als die
gegebene Fläche. Wenn die Fläche eines Kreises kleiner ist, als
irgend eine andere Fläche, so kann man diesem Kreis immer ein
regelmäßiges Vieleck umschreiben, dessen Fläche ebenfalls kleiner sein
wird als die genannte Fläche. Anstatt diese beiden Hilfssätze einzeln
zu entwickeln, führt Legendre in seinem Buche folgenden sie zu-
sammenfassenden Hilfssatz an: Wenn zwei konzentrische Kreise ge-
geben sind, kann man immer in den größeren von ihnen ein regel-
mäßiges Vieleck einschreiben, ohne daß seine Seiten den kleineren
schneiden, ebenso kann man auch um den kleineren Kreis ein regel-
mäßiges Vieleck umschreiben, dessen Seiten den größeren Kreis nicht
schneiden; auf diese Weise werden im einen sowohl wie im anderen
Falle die Seiten des konstruierten Vielecks zwischen den beiden
Kreisen eingeschlossen sein. Dieser Hilfssatz sowohl als dessen scharf-
sinnige Benutzung in der Exhaustionsmethode stellen nicht die Er-
findung von Legendre dar. Er befindet sich im 16. Satze des
12. Buches der Elemente des Euklid, und dessen erste Benutzung in
der Exhaustionsmethode gehört Maurolycus an, wie aus der Aus-
gabe seiner Übersetzung der Werke des Archimedes zu ersehen ist.')
In seinem Vorwort sagt Legendre, daß er im Anfang, an Stelle
der Exhaustionsmethode, oder, nach seinen Worten, der Methode des
Archimedes, die Methode der Grenzen anwenden wollte, weil sie als>
vorzügliche Vorbereitung zur Erlernung der Differentialrechnung er-
scheine. Später aber ließ er dies Vorhaben fallen, weil in die Theorie,
der Grenzen einige allgemeine Anfangsgründe, die eher den Gegen- \\
stand der Algebra, als der Geometrie bilden, hineingehören, und weil \
zweitens die Anwendung dieser Theorie zum Besprechen einer unend-
lichen Reihe von eingeschriebenen und umschriebenen Figuren führt,
was Länge der Auseinandersetzung und verschiedene Schwierigkeiten
nach sich zieht. Es ist übrigens zu bemerken, daß der erste dieser
Gründe mit der Aussage des Verfassers in demselben Vorwort, daß
er beim Leser seines Buches Kenntnisse der Arithmetik, und wenigstens
des anfänglichen Teils der Algebra, voraussetzt, im Widerspruch steht.
Aus den Neuerungen, die Legendre in den Elementen der Geo-
metrie gemacht hat, ist das Heranziehen des Prinzips der Sym-
metrie in die Zahl der Prinzipien der Elementargeometrie hervor- __
zuheben. Die direkte Anwendung dieses Prinzips finden wir bei ihm
‘) Admirandi Archimedis Syracusani monumenta omnia mathematica quae
extant, ex traditione D. Franc. Maurolici, ete. Panormi 1685, in-fol., p. 5
et suiv.
342 Abschnitt XXI.
dort, wo zum Beweise der Gleichheit das Prinzip der Kongruenz sich
als unzulänglich erweist, nämlich beim Betrachten der Körper. Er
nennt zwei solche Polyeder symmetrisch,') von denen bei gemein-
schaftlicher Basis der eine unter und der andere über dieser Basis
konstruiert sind, bei der Bedingung, daß die Scheitel der homologen
körperlichen Winkel auf gleicher Entfernung von der Grundfläche
und auf dem Perpendikel zur selben Grundfläche gelegen sind. Diese
Definition erklärt er am Beispiel zweier Pyramiden SABC und
TABC, die eine gemeinschaft-
4 liche Basis ABC haben und
deren Spitzen $ und 7 auf dem
Er Perpendikel ST zur selben
Basis gelegen sind, wobei der
e: a Perpendikel sich im Schnitt-
S' Ö T punkt O mit der Basis in zwei
Fig. 6. gleiche Teile teilt. Nachdem er
alsdann im II. Satz des sechsten
Buches bewiesen hat, daß jedes Polyeder nur ein symmetrisches
Polyeder haben kann, führt er in die Elemente der Geometrie eine
neue Art von Gleichheit ein, die manches Mal die Gleichheit von
Körpern durch Symmetrie genannt wird. Sie ist im folgenden Satz
erhalten: Wenn zwei Körper a und b symmetrisch dem dritten e sind,
so sind sie kongruent.
Das Einschlagen des Weges, der ihn zu dieser Neuerung führte,
verdankt er Robert Simson, welcher in seinen „Kritischen und
geometrischen Bemerkungen“ zu seiner Ausgabe der Elemente des
Euklid?), als erster auf die 9. und 10. Definitionen im XI. Buche der
Elemente des Euklid hinwies (die Definition ähnlicher Körper; die
Definition gleicher und ähnlicher Körper), als auf solche, die nicht
als Definitionen angesehen werden können und deshalb als Theoreme
bewiesen werden müssen. Die Richtigkeit dieser Bemerkung an-
erkennend, und zu gleicher Zeit diese Definitionen in die Zahl der
Theoreme nicht einführend, mußte Legendre, ebenso wie Robert
Simson, zum Auffinden neuer Beweise zu solchen Theoremen sich
anschicken, die Euklid auf die oben erwähnten Definitionen gründete.
Dabei mußte auf den 28. Satz des XI. Buches der Elemente des
Euklid acht gegeben werden, der aus dem Theorem über die Teilung
eines Parallelepipedons in zwei gleiche Teile bestand. Robert
Simson betrachtete diesen Satz als Folge des von ihm vorher be-
D) 8. livre VI, XVI. definition. ?) The Elements of Euclid by Robert
Simson, p. 388sqgq.
a a a a a in a u nn nos
Lehrbücher der Elementargeometrie. 343
wiesenen Theorems: die n-seitigen Prismen, welche von gleichen,
ähnlichen und entsprechend gelegenen Seiten begrenzt sind, sind
einander gleich. Was jedoch Legendre anbetrifft, so beweist er in
seinen Elementen vor diesem Satz folgendes Theorem!): eine Ebene,
welche durch zwei entgegengesetzte und parallele Kanten geht, teilt
das Parallelepipedon in zwei dreiseitige, einander symmetrische Prismen.
Diesen Satz selbst jedoch faßt er in Form eines Theorems zusammen):
zwei symmetrische dreiseitige Prismen, in die ein Parallelepipedon
sich teilen läßt, sind volumengleich.
Aus allem Gesagten über die Elemente von Legendre folgt, daß
sie durchaus den Forderungen der Zeit, die die philosophische Kritik
stellte, nicht entsprachen. Indem sie sich als Vorbild Euklid und |
Archimedes nahmen, hauptsächlich den ersteren, teilten sie mit ihm |
auch alle seine Mängel. Wie soll man aber in diesem Fall ihren |
kolossalen Erfolg erklären? Die Erklärung dazu finden wir teils in
einigen Bedingungen jener Epoche, hauptsächlich aber im Vorhanden-
sein wirklicher wichtiger Verdienste neben den Mängeln. Aus den
Bedingungen der Epoche, die zum Erfolg des Buches von Legendre
beitrugen und hauptsächlich im Anfang, sind folgende aufzuweisen:
Die Anforderungen seitens der philosophischen Kritik in bezug auf
Elemente der Geometrie wurden lange nicht von allen Zeitgenossen
gestellt. Viele von ihnen, wie wir es schon früher gesehen, hielten
es als unbedingte Pflicht der Autoren solcher Werke, die den Elementen
der Geometrie gewidmet waren, den Werken der alten Griechen als
Vorbildern zu folgen. Was die erwähnten Verdienste des Buches von
Legendre anbetrifft, äußerten sie sich in der bemerkenswerten Klar-
heit der Darstellung und der vom Autor erreichten außerordentlichen
Genauigkeit. Zum Erfolg des Buches von Legendre trugen auch
viel die beigefügten Noten bei, von denen viele sogar in Beziehung
zur Wissenschaft sich als wertvoll erwiesen. Mit einigen von ihnen
werden wir noch späterhin zu tun haben.
Obwohl Legendre im Zusammenstellen der Elemente der
(Geometrie nicht auf der Höhe derjenigen Forderungen der zeitgemäßen
Wissenschaft stand, die die voranschreitenden Kräfte der Wissenschaft
ihnen stellten, mußte er dennoch Kind seiner Zeit bleiben. Und |
wirklich war er nicht imstande, die Methode der alten Griechen in
der Elementargeometrie in ihrem reinen Zustand vollständig frei von
dem Einfluß der arithmetisch-algebraischen Richtung wiederherzu-
stellen. Schon die Forderung der arithmetischen und algebraischen
Kenntnisse, die er den Lesern seines Buches stellt, beweist seine
") Der 6. Satz des VI. Buches. ?) Der 8. Satz desselben Buches.
344 Abschnitt XXI.
Absicht, die Darstellung der Elemente der Geometrie von den arith-
metischen Prozessen der neuesten Analysis abhängig zu machen. Diese
Absicht wurde auch von ihm in vollem Maße ausgeführt. Überall in
seinem Buche setzte er die geometrische Größe, als durch eine Zahl
ersetzt, voraus. In seiner Darstellung spricht er z. B. vom Produkt
der Linien oder vom Produkt der Linien und Flächen. In den
Beweisen, welche die Anwendung der Proportionen fordern, wendet
er zur Proportion der Linien direkt arithmetische Theoreme an, die
nur für die Proportion der rationalen Zahlen bewiesen sind. Auf
diese Weise erscheint d’Alembert, dieser beste Darsteller der den
Elementen der Geometrie gestellten zeitgemäßen Forderungen in der
von ihm ausgesprochenen Ansicht über die Unnützlichkeit der Algebra
für die Beweise in dem Gebiet der Elementargeometrie, als dem
wahren Verständnis des Geistes der altgriechischen Methoden der
Geometrie viel näher stehend, als Legendre, der sich die genaue
Befolgung dieser Methoden als Ziel setzte.
u
Von den Lehrbüchern der Elementargeometrie in der zweiten |
Hälfte des 18. Jahrhunderts stand seiner Verbreitung nach neben den
„Elements de g6ometrie“ von Legendre ein gleichnamiges Lehrbuch,
dessen Autor Sylvestre Francois Lacroix!) (1765—1843) war,
ein Pariser von Geburt. Sein ganzes Leben war dem Unterricht der
Mathematik gewidmet, was er als Professor an der Marineschule zu
Rochefort seit 1782, an der Kriegsschule in Paris seit 1757 und an
der Artillerieschule zu Besancon seit 1788, als Examinator der Aspi-
ranten und Zöglinge des Artilleriekorps vom Jahre 1793, als Adjunkt-
professor der beschreibenden Geometrie an der Normalschule, als Pro-
fessor der Mathematik an der Zentralschule der vier Nationen, als
Professor der Analysis an der Polytechnischen Schule vom Jahre 1799,
als Professor der transzendenten Mathematik bei der Fakultät der
Wissenschaften und seit 1815 auch am College de France durch-
führte. Außerdem war er vom Jahre 1794 an Vorsitzender des Bureaus
der Kommission zur Reorganisation des öffentlichen Unterrichts. Seine
literarische Tätigkeit war ebenfalls beinahe ausschließlich dem Unter-
richt der Mathematik gewidmet. Diese Richtung zu verändern zu-
'gunsten der Ausarbeitung speziell wissenschaftlicher Fragen erwies
sich selbst Laeroix, dessen Ernennung zum Mitglied der Akademie
im Jahre 1799 erfolgte, nicht imstande. Seine wissenschaftliche Tätig-
keit als Mitglied dieser Anstalt kennzeichnete sich beinahe ausschließ-
lich durch Berichte über Werke, die ihm zum Durchsehen von der
Poggendorff, I, S. 1340. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der
Mathematik, III?, S. 506.
Lehrbücher der Elementargeometrie. 345
Klasse der Wissenschaften vorgelegt wurden, später genannt „Die
Akademie der Wissenschaften“.
Die Bestimmung als Elementarlehrbücher hatten folgende Werke
von Lacroix: „Essais sur les plans et les surfaces“'); „Introduction
ä la geographie mathematique et eritique et ä la geographie phy-
sique“?); „Essais de geometrie sur les plans et les surfaces courbes“?);
„Traite elementaire du caleul des probabilites“*); „Manuel d’arpen-
tage“°); „Introduction & la connaissance de la sphere“.°) Die erste
und dritte dieser Schriften und ebenso auch das „Complement des
Elsmens de Geometrie ou El&mens de Geometrie descriptive“?) haben
als erste ihren Gegenstand, die darstellende Geometrie, allgemein zu-
gänglich gemacht und zu diesem Zweck ihre Prinzipien entwickelt.
Der Popularisierung seines Gegenstandes waren auch das vierte Werk
und die Artikel im „Dietionnaire des sciences naturelles“ und „Bio-
graphie universelle“ gewidmet. In der letzteren ist besonders be-
merkenswert der Artikel über Euklid, welcher eine wertvolle Analyse
seiner Elemente enthält. |
Das umfangreiche Werk Lacroix’ in der lehrenden Literatur
war der am Anfang in sieben Bänden erschienene „Cours de Mathe-
matiques & l’usage de l’Ecole centrale des Quatre-Nations“ in den
Jahren 1796—1799. Die einzelnen Überschriften jedes Bandes dieses
Werkes waren: „Trait6 el&mentaire d’Arithmetique“; „Elemens d’Al-
gebre“; „Elemens de Geometrie“; „Traite elementaire de Trigono-
metrie reeti-ligne et spherique, et d’application de l’Algebre ä la
Geometrie“; „Complement des El&mens d’Algebre“; „Complement des
El&mens de Geometrie, ou El&mens de Geometrie descriptive“; „Traite
elementaire de Caleul differentiel et de Caleul integral“ Von der
französischen Regierung als Leitfaden in den Lyzeen und mittleren
Lehranstalten angenommen, bekam es sofort nach seinem Erscheinen
eine sehr große Verbreitung, die sogar in der neuesten Zeit nicht ein-
gebüßt ist, was aus seiner fünfundzwanzigsten Ausgabe im Jahre 1897
zu ersehen ist. Es erschienen im Druck auch dessen Übersetzungen
in andere Sprachen, wie zum Beispiel in die deutsche, russische
und polnische. Die ausführliche Kritik seines Werkes und den Be-
richt über die gemachten Vervollkommnungen in den Elementen der
Mathematik gab Lacroix sechs Jahre nach dem Erscheinen des
letzten Bandes in der Schrift „Essais sur l’enseignement en general,
et sur celui des mathematiques en particulier“®), wo ihnen der $ III
") 1 vol. 8°, Paris 1795. ?) 8°, Paris 1811. ®») Paris 1812. 0°,
Paris 1816. °, 12°, Paris 1825. 6) 18°, Paris 1832. ”) 8°, Paris 1796.
®) Paris 1805, 8°, 398 8.
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 23
346 Abschnitt XXI.
in der zweiten Abteilung, „Analyse du Cours elementaire de Mathe-
matiques pures ä usage de ’Eeole Centrale des Quatre-Nations“!) be-
titelt, gewidmet ist. Zur großen Verbreitung der Lehrbücher Lacroix’
trug die Art der Darstellung bei, welche sich durch Klarheit, Ge-
‚nauigkeit und Einfachheit ee
In dem elementargeometrischen Teile des Kursus von Lacroix,
welcher dem angenommenen Plan des Autors gemäß verfaßt ist,
worüber er sich übrigens in seinem Bericht wenig aufhält, wird die
Elementargeometrie in zwei Teile geteilt, welche nicht mit bikini
Überschriften versehen sind. Die Übersicht ihres Inhalts jedoch zeigt
[ klar, daß der erste Teil die Elementargeometrie der Ebene genannt
werden soll, und der zweite die Elementargeometrie des Raumes. Mit
der Einführung dieser Einteilung der Elemente der (Geometrie wich
Lacroix der Unfolgerichtigkeit aus, in die Bertrand verfiel, indem
er die Einteilung d’Alemberts annahm und zu gleicher Zeit es nicht
wagte, aus dem zweiten Teil eine richtige Geometrie der Flächen zu
Tusche Seinen ersten Teil verteilt er folgendermaßen: die erste Ab-
teilung „Von den Eigenschaften der geraden Linien und der Kreis-
linien“ und die zweite „Von dem Flächeninhalt des Vielecks und des
Kreises“. Die zweite Abteilung hat keine Unterabteilungen. In der ersten
befinden sich folgende Artikel: „Definitionen und vorläufige Begriffe“;
„Von senkrechten und ah Linien“; „Theorie der parallelen
Taniege: : „Von den Vielecken“; „Von der Geraden und der Kreislinie“;
„Von den eingeschriebenen und umschriebenen Vielecken“. Die I
Fehlen d’Alemberts über die gleichzeitige Betrachtung der geraden
' Linie und der Kreislinie und über die Unterabteilung der ersten Ab-
' teilung des ersten Teiles in zwei Hälften werden bei Laeroix über-
“haupt nicht verwirklicht. Über den zweiten Teil endlich genügt es
zu bemerken, daß er ebenfalls in zwei Hälften geteilt ist, von denen
die erste betitelt ist „Über Ebenen und Körper, die von bei be-
grenzt sind“ und aus den Artikeln besteht: „Über Ebenen und Gerade“;
„Über durch Ebenen begrenzte Körper“; „Über das Ausmessen des
Reinminhaltet und die zweite Hälfte unter dem Titel „Von den runden
Körpern“ außer dem Artikel gleichen Namens noch den Artikel „Über
die Vergleichung runder Körper“ enthält. :
Der Bericht von Lacroix über den angenommenen Plan der
Elemente der Geometrie ist sehr kurz und bezieht sich hauptsächlich
auf die Geometrie der Linien. An den Anfang der letzten setzt er die
Betrachtung der geraden Linien bezüglich der Vergleichung ihrer
Längen und erst danach schreitet er zur Betrachtung ihrer relativen
SER
») p. 254—390.
Lehrbücher der Elementargeometrie. 347
Lage. In diesem zweiten Teil seiner Darstellung der Geometrie der
Linien vereinigt er vor allem alle Sätze, die über die Ahnlichkeit und
Gleichheit der Dreiecke handeln, aus dem Grunde, daß die Dreiecke
als Elemente aller andern Figuren erscheinen und außerdem am ein-
fachsten die Lage der Punkte und Linien auf den Ebenen bestimmen.
Danach geht er zur Ähnlichkeit und Gleichheit der Polygone über,
und zum Schluß der Abteilung setzt er die Artikel über den Kreis
und die in Verbindung mit ihm stehenden geraden Linien. Aus der
Verteilung der Sätze in der ersten Abteilung der Elementargeometrie
kann man leicht den Schluß ziehen über ihre Verteilung in den andern
Abteilungen, die dem Ausmessen der Flächeninhalte, den Ebenen und
den Eigenschaften der Körper gewidmet sind, mit Hilfe der zwischen\
allen diesen Teilen existierenden Analogie, deren Anwendung im Unter- |
richt Lacroix großes Gewicht beilegt, als Mittel das Gedächtnis und‘
die Gewohnheit zur Verallgemeinerung der Ideen des Lernenden zu
stärken. Wenn die Analogie beim Beweise einiger Sätze nicht durch-
geführt werden kann, wie es manchmal vorkommt, so muß sie dennoch,
wenn auch nur im Verteilen der Sätze und in der Art der Darstel-
lung aufrechterhalten werden. Aus den Sätzen der Elementargeometrie
gehören, nach der Meinung von Lacroix, bloß zwei Arten von
Sätzen in die Elemente der Geometrie, erstens die zum Verständnis
des Ganges des Denkens erforderlichen Sätze, beim Betrachten der
Figuren mit Hilfe der synthetischen Methode, und zweitens solche,
die aus praktischen Operationen der Geometrie folgen, wie zum Bei-
spiel das Reißen, Vermessen usw. Was übrigens die Sätze der zweiten
Art anbetrifft, findet es Lacroix für notwendig zu bemerken, daß aus
ihnen nur solehe gewählt werden sollen, die als wirklich bequem und
anwendbar anerkannt werden können. Seinen Plan der Elemente vo
Geometrie hält Lacroix auf Grund seiner langjährigen pädagogischen
Erfahrung für natürlich und streng.
Da er im Worte „die gerade Linie“ den direkten Ausdruck der
unmittelbaren Resultate der Tätigkeit der Gefühle sieht, nämlich der
Vorstellung des kürzesten Weges, der zu verfolgen ist, um von einem 1
Punkt zum andern zu gelangen, führt Lacroix die Definition der
geraden Linie auf den Ausdruck dieser einzigen Eigenschaft zurück.
Die Definition des Begriffs in diesem Falle erhält er auf diese Weise
mit der Definition der Bedeutung des Wortes, welche in folgendem
Satze enthalten ist: der kürzeste Abstand zwischen zwei Punkten wird
die gerade Linie genannt. Indem er die Ansicht über die Punkte,
Linien und Flächen, als abstrakte Begriffe, die außerhalb uns selbst
keine Objekte haben, verneint, findet er, daß sie wirklich existieren,
wenn sie auch, getrennt vom Körper, dem sie angehören, nicht ge-
23*
348 Abschnitt XXI.
dacht werden können. Jeder Körper muß in Wirklichkeit abgegrenzt
sein, sonst wird er sich vom unendlichen Raume nicht unterscheiden.
Solche Grenzen sind eben die Flächen, die ihrerseits wieder als Grenzen
die Linien haben, und diese letzten — die Punkte. Alle diese Grenzen
existieren nicht nur in Wirklichkeit, sondern stehen auch gerade
unseren Sinnen vor, weil diese ohne ihre Hilfe keine Figuren der
Körper kennen würden. Von der Darlegung dieser Ansichten muß
auch die Darlegung der Elemente der Geometrie anfangen. Lacroix
führt es auch wirklich in seinem Lehrbuche durch, indem er seinem
ersten Teil die der oben genannten Auslegung gewidmete Stelle voran-
schickt, nämlich den „Hauptbegriff der Ausdehnung“.
Alle Axiome in Form einer Sammlung an den Anfang der Eiemente
zu setzen, findet Lacroix nutzlos, sogar lächerlich, weil ihrer
Natur nach sich keine Hindernisse in den Weg stellen können, sich
ihrer bei Beweisen dort zu bedienen, wo es als notwendig erscheint.
Als Definition, die besonderer Aufmerksamkeit wert ist infolge ihrer
völligen Unzulänglichkeit bei Euklid und die überhaupt ernste Schwie-
Crigkeiten bietet, findet Lacroix die Definition des Winkels. Um diese
zu umgehen, schlägt er sogar vor, überhaupt keine Definition zu
' geben, sondern sich mit der Bekanntmachung mit dem Winkel oder
\direkt durch den Gegenstand selbst zu begnügen. In seinem Lehr-
buche führt er dieses jedoch nicht durch und begnügt sich, nach
seinen eigenen Worten, mit der ungenügenden Definition des Winkels,
als eines unbestimmten Raumes, eingeschlossen von zwei geraden
Linien, die sich in irgend einem Punkte treffen, und die man sich als
beliebig verlängert vorstellen kann. Derselben Definition bedient sich
auch Bertrand, jedoch in folgendem viel genauerem Satze: Ein
Winkel ist der Teil einer ebenen Fläche, eingeschlossen von zwei
geraden sich schneidenden Linien, die im Punkte ihrer Begegnung
endigen.
Verhältnismäßig viel Platz, wie es eigentlich auch sein soll,
widmet Lacroix in seinem Berichte dem in verschiedenen Teilen der
Elemente der Geometrie sich antreffenden Übergang vom Endlichen
zum Unendlichen. Solcher Fälle, die denselben augenscheinlich oder
nichtaugenscheinlich darstellen, existieren drei: 1. der Übergang vom
Kommensurabelen zum Inkommensurabelen, der in der Theorie der
proportionalen Linien gemacht wird; 2. der Übergang von geraden
Linien zu krummen, der beim Ausmessen des Kreises und der runden
Körper vorkommt; 3. das Auftreten der Gleichheit des Rauminhaltes
von Körpern in Fällen, wo das Prinzip der Kongruenz unanwendbar
' ist, was als Folge davon erscheint, daß der Körper eine Größe von
drei Dimensionen ist. Als einfachstes Mittel in solchen Fällen, dieser
Lehrbücher der Elementargeometrie. 349
Betrachtung vom Unendlichen auszuweichen, bezeichnet Lacroix die
Grenzen. Die beim Gebrauch dieses Mittels angewandten Prinzipien,
als gemeingültig für Sätze dieser Art, müssen getrennt von ihnen und
unabhängig von den Linien dargestellt werden, als Prinzipien, die
nicht nur auf Größen, die in den Elementen der Geometrie betrachtet
werden, anwendbar sind, sondern auch auf andere Größen. Dank
diesen Folgerungen stellt Lacroix die erwähnten Prinzipien in fol-
genden Formen dar: 1. Wenn bewiesen werden kann, daß die Diffe-
renz zweier unveränderlicher Größen kleiner ist, als jede gegebene
Größe, wie klein sie auch wäre, so folgt daraus, daß die beiden ersten
Größen einander gleich sind. 2. Wenn von drei Größen eine sich
verändernde und dabei immer größere, als die beiden anderen, die
_ unveränderlich bleiben, sich gleichzeitig einer jeden von ihnen nähern
kann, so nahe wie nur wünschenswert, so sind die beiden unveränder-
lichen Größen einander gleich. Indem er diese beiden Theoreme als
Ausdruck, wenn auch nicht als offenbaren, der ersten Gründe der
Grenzmethode ansieht und die angenommene Form des zweiten sich
zuschreibt, spricht er die Überzeugung aus, daß diese letzte besonders
die Eigenschaft besitzt, alle ihrer bedürftige Beweise zu vereinfachen,
bedeutend zu verkürzen und sie symmetrischer zu machen. In seinen
Elementen der Geometrie setzt er das erste Theorem an den Anfang
des Artikels über die Rektifikation des Kreises und das zweite an —
den Anfang des Artikels vom Ausmessen des Flächeninhaltes des
Kreises. Zu zeigen, daß je mehr sich die geradlinigen Figuren den
krummlinigen nähern, sich auch das Maß der ersten dem Maße der
zweiten nähert — das sei die Hauptsache, auf die nach Laecroix’
Meinung die Aufmerksamkeit gerichtet werden muß, bei Anwendung
dieser beiden Theoreme zum Übergang von geraden Linien zu krummen.
Als Erfindung kann hier bloß die Methode der Annäherung angesehen
werden, die am Ende mit Hilfe der Induktion die gesuchte strenge
Bedeutung der betrachteten Größe offenbart.
Laeroix gibt den Rat, die apagogische Methode nur zum Be- \
weis der einfachsten Sätze anzuwenden. In allen komplizierten Fällen |
jedoch muß man seiner Meinung nach dieser Methode ausweichen,
weil sie den Verstand überzeugt, ihn jedoch nicht erleuchtet. Zu
diesen Ansichten und ebenso auch zur oben angeführten Überzeugung
von der Möglichkeit, die Methode der Grenzen in allen Fällen des Über-
gangs vom Endlichen zum Unendlichen anzuwenden, gelangte La-
eroix augenscheinlich nach dem Erscheinen der ersten Ausgaben
seiner Elemente der Geometrie. In ihnen benutzte er wirklich bei
Beweise der Sätze, die vom Übergang von den kommensurabelen N‘
inkommensurabelen Größen handeln, in Übereinstimmung mit d’Alem- )
350 Abschnitt XXI.
| bert und Bertrand die apagogische Methode Von diesem
anfänglichen, von ihm gewählten Wege zugunsten seiner er-
wähnten Überzeugung abzugehen, findet er übrigens auch in
allen folgenden Ausgaben seiner Elemente der Geometrie nicht
für nötig.
Dem Bestreben zur Verminderung der Anzahl der einzelnen Sätze,
das so klar bei Bertrand ausgedrückt ist, bleibt auch Lacroix nicht
fremd. Als Anlaß dazu dient ihm die Erwägung, daß es nötig sei,
die Ausführlichkeit zugunsten der Forderungen der Wissenschaft an
den Unterricht, die sich infolge des Fortschritts immer vergrößern,
zu opfern und zugleich das existierende Verhältnis zwischen dem Um-
fang und der gegebenen Zeit des Unterrichts aufrecht zu erhalten.
Als die bemerkbarste Folge des betrachteten Bestrebens in den Ele-
menten der Geometrie von Lacroix erscheint das Auslassen. des
Satzes über das Zerlegen des Rauminhaltes der abgestumpften Py-
ramide und ebenso auch des abgestumpften Kegels. Indem er vor-
‘schlägt, in Beziehung auf diese Sätze dem von Bertrand eingeschla-
\genen Weg zu folgen, bemerkt Lacroix in seinem Bericht, daß aus der
Auslassung der eigenartigen Art des Beweises dieser Sätze keine Un-
bequemlichkeit entstehen kann, weil dieselbe Art der Beweisführung
auch beim Beweise des Theorems über das Zerlegen des abgestumpften
dreiseitigen Prismas angewandt wird, welches niemals ausgelassen
werden darf.
Zum Schluß seiner Bemerkungen vom Übergang vom Endlichen
zum Unendlichen in den Elementen der Geometrie bleibt Lacroix
bei der Darstellung der Bedeutung der Arbeiten von Robert Simson
stehen, die sie nach seiner Meinung in der Literatur der Elementar-
geometrie hatten, welche mit seiner Ausgabe der Elemente des Euklid
in Verbindung standen, und bei dem oben erwähnten Werk von
/Bertrand. Indem er auf diese Ausgabe Simsons, als auf eine
\ wichtige Erscheinung in der Geschichte der Geometrie hinweist,
ebenso auch auf das Werk Bertrands, sagt er, daß sie die geringe
Anzahl von Sätzen enthalten, die ar sind, um die richtigen An-
sichten in allen schwierigen Stellen der Elementargeometrie mit Hilfe
der Mittel allein, die uns die Werke der Alten liefern, festzustellen.
Nach Erscheinung dieser beiden Bücher kann seiner Meinung nach
in den Elementen der Geometrie keine Veränderung mehr, außer der
Anordnung des Inhaltes, vor sich gehen.
Die in den eben erwähnten Meinungen von Lacroix geäußerte
Ansicht über die Grundbedeutung der Vervollkommnung der Bearbei-
tung der Sätze, die vom Übergang vom Endlichen zum Unendlichen
handeln, teilt auch vollkommen der russische Gelehrte Simeon Gu-
Lehrbücher der Elementargeometrie. 351
rief!) (1766—1813). Er war in den Jahren 1778—1784 in Peters-
burg Schüler im Artillerie- und Ingenieurkadettenkorps. Infolge der
schon hier sich kundgebenden Neigung zur Beschäftigung mit der
Mathematik mußte er die Grenzen des elementaren Kursus dieser Wissen-
schaft überschreiten. Nachdem er das Korps im Range eines Ofhi-
ziers verlassen hatte, widmete er seine Tätigkeit nieht dem Militär-
dienst, sondern dem Unterricht der Mathematik und gelehrten Arbeiten
in dieser Sphäre. Anfangs war er Lehrer der Navigation und Artillerie
in dem griechischen Kadettenkorps in Petersburg, Der Mangel
an Werken über Navigation, die der zeitgemäßen Lage der Wissen-
schaft entsprachen, in der russischen Literatur bewog Gurief, den
sechsten Teil des „Cours de mathematiques“ von Bezout, der diesem
Gegenstand gewidmet war, ins Russische zu übersetzen und ihn unter
dem Titel „Nautische Untersuchungen“?) herauszugeben. In dieser
Ausgabe fügte er viele eigene Ergänzungen bei, von ihnen als wich-
tigste die in russischer Sprache zum ersten Male gelehrte Differential-
und Integralrechnung.?°) Im Jahre 1792 machte Gurief eine Reise
nach England, um dort die hydraulischen Arbeiten zu studieren. Nach
der Rückkehr im Jahre 1795 wurde ihm die Vorlesung der physico-
- mathematischen Wissenschaften und der Artillerie für die Offiziere
der Ruderflotte anvertraut, und seine umfangreichen Kenntnisse in der
reinen und angewandten Mathematik, die er durch das Studium der
besten Autoren erworben hatte, lenkten auf ihn die Aufmerksamkeit
der Akademie der Wissenschaften in Petersburg, die ihn am 26. Mai
1796 zum Adjunkten der physico-mathematischen Wissenschaften er-
nannte. Sehr bald nach dieser Ernennung, nämlich im Jahre 1798
am 31. Januar, wurde er zum ordentlichen Akademiker befördert. Die
ersten wissenschaftlichen Arbeiten von Gurief, die er der St. Peters-
burger Akademie der Wissenschaften bis zum Jahre 1800 vorlegte,
waren folgende: „Memoire sur la resolution des prineipaux problemes
qu’on peut proposer dans les courbes dont les ordonndes partent
d’un point fixe.“*) „Essai de d&montrer rigoureusement un theor&me
fondamental des equations de condition de la differentielle des fone-
tions & plusieurs variables, et du caleul des variations“.’) „Obser-
vations sur le theoreme de Taylor, avec sa demonstration par la
methode des limites; application de ce theor&me, ainsi d&montre, ä la
‚demonstration du binome de Newton, dans le cas oü l’exposant est
une quantite fractionnaire, negative et incommensurable avec l’unite;
') Memoires de l’Academie Imp6eriale des sciences de St. Petersbourg, VI
(1818). Histoire, p. 4—6. — Poggendorff, I, 8. 380. °) 2 Bände, St. Peters-
burg 1790—91, 4°. °) 598. *) Nova Acta Academiae Scientiarum Imperialis
Petropolitanae, T. XII, p. 176—191. 5), Ebenda, T. XII, p. 154—165.
352 Abschnitt XX1.
suivie de la resolution d’un probleme qui concerne la methode in-
verse des tangentes, par le moyen de ce theoreme“.!) Eins der Resultate
der literarischen Berühmtheit, die Gurief dank seiner wissenschaftlichen
und lehrenden Tätigkeit erlangte, war seine Ernennung am 1. Septem-
ber 1800 zum Mitglied der Russischen Akademie zu St. Petersburg.
Die Reform des Lehrfaches und das Eröffnen einiger neuen
höheren Lehranstalten im Anfange des 19. Jahrhunderts in Rußland
eröffneten Guriefs Begabung als Lehrer neue Gebiete zur Tätigkeit.
Im Jahre 1800 wurde er zum Professor der Mathematik an der Schule
der Schiffsarchitektur ernannt, im Jahre 1809 in der geistlichen
Akademie zu St. Petersburg und im Jahre 1810 im Institut des Korps
der Ingenieure der Kommunikationswege. Bei Eröffnung der zweiten
dieser Lehranstalten verlas er die später gedruckte „Abhandlung über
Mathematik und ihre Zweige“.?) In den Ausgaben der Akademie der
Wissenschaften waren 23 Schriften und Abhandlungen gedruckt, die
er in ihren Sitzungen vom Jahre 1800 an verlas. Als Mitglied einiger
Kommissionen, die von der Akademie der Wissenschaften zum Durch-
sehen der ihr vorgelegten Arbeiten und Erfindungen gebildet wurden,
beteiligte sich Gurief an der Zusammenstellung zweier Berichte. Die
Hauptgegenstände der wissenschaftlichen Arbeiten von Gurief, welche
in den Ausgaben der Akademie der Wissenschaften gedruckt wurden,
waren Mechanik, Geometrie und Differentialrechnung.
Die Zwischenstellung in den wissenschaftlichen und lehrenden
Arbeiten von Gurief nahmen ein: „Die Grundlagen der Differential-
rechnung mit deren Anwendung auf Analytik“.?) „Grundlagen der
transzendenten Geometrie der krummen Flächen“.*) „Grundlagen der
Mechanik“.°) Rein lehrende Arbeiten von Gurief, die im 19. Jahr-
hundert erschienen, und die ausschließlich der Elementarmathematik
gewidmet waren, waren folgende: „Der erste Teil des nautischen Lehr-
kursus, die Grundlagen der Geometrie enthaltend“®); „Das erste Buch
der Zahlenlehre, die Grundlagen der Arithmetik enthaltend“”); „Grund-
lagen der Geometrie“.?)
Aus der gelehrten Tätigkeit von Gurief ist als charakteristisch
zu bezeichnen sein besonderes Interesse für festere Begründung der
schon bekannten Wahrheiten und der schon festgestellten Prinzipien.
Seinem methodischen Verstande, welcher von der Verehrung der
strengen Methoden der altgriechischen Geometrie durchdrungen war,
waren die Arbeiten in dieser Richtung kostbarer, als die Aufdeckung
!) Nova Acta Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, T. XIV,
p. 306—335. ?) 4°, St. Petersburg 1809. ®) 4°, St. Petersburg 1811.
4) 4°, ib. 1806. >) 8°, ib. 1815. ©) 4°, ib. 1804—1807, 2 Bände. ?) 4°, ib,
1805. ®) 8°, ib. 1811.
Lehrbücher der Elementargeometrie. 353
neuer Wahrheiten. Außer den Arbeiten über die Differentialrechnung,
die dieser Riehtung angehörten, und einigen anderen gehören dazu
noch einige Arbeiten, die, obgleich nicht gedruckt, so doch der Aka-
demie der Wissenschaften vorgelegt waren, wie zum Beispiel das von
ihr am 26. Mai 1796 handschriftlich erhaltene Werk „Anfangsgründe
der transzendenten Geometrie und der Differentialrechnung, abgeleitet
aus der wahren Natur ihres Gegenstandes“, oder des von ihm im Jahre
1797 verlesenen Manuskripts „Versuch der Begründung der Mathe-
matik auf festen Gründen“.
Die ersse seiner Arbeiten dieser Art, die im Druck erschien, war
„Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geo-
metrie“!). Direkte Ursache zum Verfassen dieses Werkes war der Ver-
such, die Beweise der Theoreme, die über den Übergang vom Endlichen
zum Unendlichen handelten, von dem verbreiteten Gebrauch der Unteil-
baren von Cavalieri und der Unendlichkleinen von Guldin zu befreien.
Um der Geometrie ihre Genauigkeit und Klarheit wiederzugeben, die sie
nach der Meinung des Autors, infolge des Gebrauches dieser Größen,
oder, was dasselbe ist, infolge der Einführung der von ihnen dar-
gestellten Methode der Unteilbaren eingebüßt hat, stellt er an Stelle
der letzteren die Methode der Grenzen, die er aus den obengenannten
Werken d’Alemberts und des Abbe de la Chapelle entnimmt.
Indem er jedoch die darin gegebene Definition der Grenze als un-
genügend und unbestimmt findet, stellt er sie, um die darin befind-_
lichen Mängel zu beseitigen, in folgender Form dar: „Wenn irgend
eine Größe durch irgend eine bestimmte bis in die Unendlichkeit
dauernde Operation sich vergrößert oder vermindert, und dadurch
sich einer anderen unveränderlichen Größe so nähert, daß sie sich
von ihr weniger unterscheidet als um irgend eine willkürlich ge-
nommene Größe derselben Art und mit alledem sie doch niemals er-
reicht, so ist diese andere unveränderliche Größe dasjenige, was man
die Grenze der ersten sich vergrößernden oder vermindernden
Größe nennt.“?) Indem er als Grundsatz der Methode der Grenzen
den ersten der beiden von de la Chapelle anerkannten Sätze an-
nimmt, stellt Gurief den Beweis, den d’Alembert diesem Satz gab,
in folgender veränderter Form dar: „Nehmen wir an, daß X die sich
vermehrende Größe ist und A, B ihre beiden Grenzen sind, so sind
sie, wenn nicht einander gleich, die eine größer als die andere.
Nehmen wir an, daß A größer ist als B um eine unveränderliche
Größe D, so wird infolgedessen, daß A und B zwei unveränderliche
Größen sin, A=B+D sein. Da aber X immer kleiner ist als B,
N) St. Petersburg 1798, 4°, 264 S. mit 5 Tafeln. 2) Gurief, Ver-
such, S. 34.
—ı
354 Abschnitt XXIL
so kann der Unterschied zwischen X und B+ D niemals kleiner
werden als D, kann auch folglich nicht kleiner werden als jede willkür-
lich gegebene Größe, und dB+D=A ist, so kann auch die Diffe-
renz zwischen X und A nicht kleiner werden als jede willkürlich ge-
gebene Größe und A ist folglich nicht die Grenze von X, was der Vor-
aussetzung widerspricht, folglich usw.“!) Dieses Satzes bedient sich
Gurief in allen Fällen im ersten Kapitel seines Werkes, welches dem
Übergang vom Endlichen zum Unendlichen gewidmet ist, außer dem
Fall des Übergangs vom Kommensurabelen zum Inkommensurabelen,
welchem das zweite Kapitel bestimmt ist. Der Inhadt des ersten
Kapitels wird vom Verfasser als „Sätze, in denen die Gleichheit zweier
Größen aus drei Arten von Dimensionen begründet werden“, bezeichnet.
Als zweiten Grundsatz der Methode der Grenzen, deren er sich aus-
schließlich im zweiten Kapitel bedient, wo er auch angeführt wird,
nimmt Gurief folgendes an: „Wenn zwei sich vergrößernde oder ver-
mindernde Größen X und Y, die als Grenzen A und B haben, sich so ver-
halten, wie zwei unveränderliche Größen © und D, so werden sich auch
ihre Grenzen A und B so verhalten, wie diese unveränderlichen Größen C
und D“?). Die Sätze, „deren genauer und klarer Beweis“ den Gegen-
stand des zweiten Kapitels bilden, werden in dessen Überschrift als
solche charakterisiert, „in denen die Proportionalität zweier Größen
aus drei Arten von Dimensionen zu zwei anderen Größen derselben
oder einer anderen einfachen Dimension gesucht wird“?). Diese
beiden Kapitel in Verbindung mit den Elementen des Euklid bilden,
nach der hochmütigen Meinung ihres Autors, das vollständig ge-
nügende Material für die Elemente der Geometrie, so wie sie sich
d’Alembert wünscht, und zu deren Zusammenstellung nach der
Meinung des letzteren die Kräfte der größten Geometer, wie Des-
cartes, Newtons, Leibniz’ und Bernoullis erforderlich sind.
Den Plan solcher Elemente, den d’Alembert zusammengestellt hatte,
sah Gurief nicht als den’ auserwähltesten an, und zog ihm den von
Euklid angenommenen vor. Über Gurief kann man sagen, daß er
zu dem in Rußland sehr verbreiteten Typus gebildeter Leute ge-
hörte, die große Ehrfurcht für die alten Autoren fühlen, und gleich-
zeitig sehr ungenügende Kenntnisse von ihnen besitzen. Die authen-
tischen Werke der alten Geometer und besonders die des Euklid
und Archimedes kannte er so oberflächlich, daß er mit Gewißheit
zu behaupten wagte, daß die Exhaustionsmethode von der Methode
Newtons der ersten und letzten Verhältnisse herstamme, und daß
sie bei den alten Geometern gar nicht gebraucht worden seit). Diese
!) Gurief, Versuch, S. 35. 2) Ebenda, 8. 152. 3) Ebenda, S. 105.
4) Hbenda, $. 26—27.
Lehrbücher der Elementargeometrie. 355
Behauptung sprach er zum Zwecke der Widerlegung der entgegen-
gesetzten Meinung des Abbe de la Chapelle aus. In demselben
Werk gibt Gurief, wenn auch einen sehr umfangreichen, jedoch
lange wicht den ganzen Gegenstand erschöpfenden kritischen Überblick
der Elemente der Geometrie von Legendre.
Unter den Lehrbüchern der Elementargeometrie, die in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen, nennen wir auch das
Lehrbuch, welches eingeschlossen war in dem umfangreichen Werk
des Mitgliedes der Pariser Akademie der Wissenschaften Bezout,
„Cours de mathömatiques“'), das alle Abteilungen der Wlaniertar-
eiliknintil, Mechanik und Navigation umfaßte. Außer den Über-
setzungen in viele europäische Sprachen erschienen die Ausgaben
der einzelnen Teile dieses Kursus während der ganzen ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts?). Beim Zusammenstellen der in diesem Kursus
befindlichen Elemente der Geometrie bemüht sich der Verfasser, so-
weit es in seinen Kräften stand, den obengenannten Anweisungen und
_dem Plan d’Alemberts zu folgen. Dieses gut durchzuführen, gelang
ihm jedoch nicht. Sein Werk, wie es schon von der zeitgemäßen
_Kıitik bemerkt wurde, zeichnete sich durch Mangel an Strenge aus.
Vieles, was er voraussetzte und als augenscheinliche Folge benannte,
bedürfte-des_Beweises. Einer der Hauptgründe des Mißlingens, das
Bezout traf, war sein Verfolgen einiger Nebenzwecke, wie z. B. das
Bestreben, das Examen sowohl dem Examinator, als auch dem Exami- |
nanden zu erleichtern.
Wenn die bis jetzt betrachteten Schriften über die Elementar-
geometrie im vollen Sinne des Ausdrucks als Elemente der Geometrie
sich erwiesen, die von d’Alembert genau festgestellt waren, so ist
der der Geometrie gewidmete zweite Teil der „Anfangsgründe der
Arithmetik, Geometrie, ebener und sphärischer Trigonometrie und
Perspektive“®) von Kästner‘) Muster eines anderen Typus der Ele-
mente der Geometrie, der außer den allgemeinen auch spezielle Ziele
verfolgt. Dieser Typus hat dank der ihn reichlich vertretenden
Werke schon lange sein Bürgerrecht bekommen. Aus den angewiesenen
verschiedenen Formen in dem Aufsatz „Des elemens de Geometrie?)
) 80%, 6 Bände, Paris 1764—69. ?) Es wurde bis zum Jahre 1852 in
vielen neuen Ausgaben verlegt, und in Übersetzungen in der deutschen, russischen
und polnischen Sprache. Mit der Umarbeitung einiger seiner Teile, die zum
Zweck hatte, einige darin enthaltene Unvollkommenheiten zu beseitigen, be-
schäftigten sich Baron Reynaud, Garnier, Reboul und Peyrard. A
Göttingen 1758, 6. Aufl., ib. 1800. *%, Cantor, Vorlesungen über Geschichte
der Mathematik IIT®, S. 576. 5) Eucyclopedie methodique. Mathe&matiques
II, p. 136.
356 Abschnitt XXII.
von d’Alembert, in denen die Elemente der Geometrie dargestellt
werden können, je nach den Forderungen, die von verschiedenen Gruppen
von Lesern an sie gestellt werden, nähert sich das Werk von Kästner
am nächsten der Form eines Traktates über die praktische Geometrie,
das von Spekulationen begleitet wird, welche bis zu einem gewissen Grade
die praktischen Operationen zu erleuchten imstande sind, und verhindern,
daß man sich mit der blinden Routine allein begnüge. Der erste Teil
/ der Geometrie von Kästner besteht aus der Geometrie der Ebene und der
\ Anwendung der in ihr vorgelegten Regeln zur praktischen Geometrie.
Unmittelbar nach dem ersten Teile folgt die Darstellung der ebenen
‚ Irigonometrie, welche auf diese Weise den Charakter eines Anhangs
' oder sogar eines Schlußteils des Traktats über die praktische Geo-
metrie der Ebene bekommt. Den zweiten Teil der Geometrie von
Kästner stellt die Geometrie des Raumes dar, wonach unmittelbar
als Ergänzung oder ihr Schlußteil die sphärische Trigonometrie folgt.
Die theoretische Abteilung des ersten Teiles enthält die Geometrie
der geraden Linie und der Kreislinie. Die Reinheit seiner Darstellung
wird durch die Einführung zweier Theoreme aus der Geometrie der
Flächen gestört: des Theorems des Pythagoras und des Theorems
über das Verhältnis der Flächeninhalte von Dreiecken mit gleicher
Höhe. Die Abteilung beginnt mit der Erklärung von Definitionen,
Postulaten und Axiomen. Von den Definitionen, die Kästner gibt,
genügt es, folgende anzuführen: „Die gerade Linie ist eine solche,
deren Punkte gerade nach einer Seite hin liegen.“ „Die Kurve jedoch
ist eine Linie, in welcher zwischen zwei möglichst nahe aneinander
gelegenen Punkten sich immer einige Punkte befinden, die nicht mit
ihnen zusammen auf einer geraden Linie liegen.“ „Die Ebene ist
eine Fläche, von deren jedem Punkt zu ihren anderen Punkten man
gerade Linien führen kann, so daß alle ihre Punkte sich auf derselben
Fläche befinden werden.“ „Ebener Winkel ist die gegenseitige
Neigung zweier Linien, die auf einer Ebene liegen, und welche nicht
eine gerade Linie bilden.“ Folgende Sätze sieht Kästner als Axiome
an: 1) Durch jede zwei Punkte geht nur eine gerade Linie. 2) Wenn
zwei gerade Linien zusammentreffen, ohne eine Gerade zu bilden, so
“werden sie außer einem Punkt nichts gemeinschaftlich haben.
3) Größen, die so aufeinander gelegt werden können, daß die Grenzen
der einen und was zwischen ihnen enthalten ist, zusammenfallen mit
den Grenzen und allem was zwischen ihnen sich befindet, der anderen sind
einander gleich und ähnlich. 4) Gleiche gerade Linien und gleiche
Winkel decken einander. 5) Alle rechten Winkel sind einander
gleich, weil sie sich gegenseitig decken. 6) Der Durchmesser teilt
den Kreis in zwei ähnliche und gleiche Teile. 7) Die Peripherie
Lehrbücher der Elementargeometrie. 357
des Kreises um das Zentrum ist eine ununterbrochene Kurve. 8) Eine
unbestimmte gerade Linie teilt eine unbestimmte Ebene, auf der sie
gelegen ist, in zwei Teile, die auf den ihnen entgegengesetzten Seiten
gelegen sind. Mit Ausnahme der zwei angeführten Theoreme ist die‘
‚ganze Geometrie der Flächen und mit ihr das Ausmessen des Kreis- |
umfanges von Kästner in die Abteilung der praktischen Geometrie)
zugerechnet. Als auf eine bemerkenswerte Eigenartigkeit der Geo-
metrie von Kästner ist auf die Einheit der Mittel der Beweisführung
von Sätzen, die vom Übergang vom Endlichen zum Unendlichen
handeln, hinzuweisen. In beiden Fällen dieses Überganges, d. h. ebenso
wie beim Übergang von den kommensurabelen zu inkommensurabelen
Größen, ebenso auch beim Übergang von geraden Linien zu krummen
wird in ihr gleichförmig dieselbe Methode gebraucht, nämlich die”
Exhaustionsmethode.
Von den anderen Lehrbüchern der Elementarmathematik, die in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verlegt worden sind, waren
in der Heimat ziemlich verbreitet, und sogar außerhalb derselben
einigermaßen bekannt, die Werke des Professors der Mathematik und
Physik an der Universität zu Rostock, zu Bützow und zu Halle
Wenceslaus Johann Gustav Karsten (1732—1787)!) „Lehrbegriff
der gesammten Mathematik“?); „Anfangsgründe der mathematischen
Wissenschaften“?) und „Auszug aus den Anfangsgründen und dem
Lehrbegriff der mathematischen Wissenschaften“*). Als bemerkens-
werte Eigenschaft des den Elementen der Geometrie gewidmeten
Teiles dieses Werkes erschien die vollkommene Beseitigung der An-
forderung an den Leser, anfängliche Kenntnisse der Arithmetik und
Algebra zu besitzen. Um diesen Umstand vielleicht stärker zu be-
tonen, fängt die Darstellung der Teile der Be a NOIR. mit
der 6 asia an. Urs; sm: &
“Der Wunsch d’ Alemberts, als Autoren .- Elemente der Geo-
metrie Geometer vom ersten Raupe zu sehen’), wurde in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts von Euler und Legendre erfüllt. Je-
doch bekam das obenerwähnte Werk Eulers gar keine Bekanntheit Qua
und außerhalb Rußlands gar keine Verbreitung. Was das Werk von
Legendre anbetrifft, so entsprach es überhaupt den Forderuugen \
d’Alemberts nicht, bei Darlegung der Elemente der Geometrie dem
Weg zu folgen, dem die sie erschaffenden Forscher in ihren Ent-
deckungen folgten, d. h. eben derjenigen Forderung, welche d’Alem-
) Poggendorff, I, S. 1224—1225. ?) 8 Bücher, 8°, Greifswald 1767—77,
2. Aufl. 1782—91. ») 3 Bücher, 8°, Rostock 1780. *) 2 Bücher, 8°, Greifs-
wald 1781, 2. Aufl. ib. 1785. °) Encyclopedie methodique. Math@matiques II,
p. 135—136.
\
1
j
)
et
358 Abschnitt XXI.
bert zwang, Mathematiker vom ersten Range zum Zusammenstellen
der Elemente der Geometrie zu bewegen. Sogar Euklid, wenn nicht
in der Beweisführung, so im Verteilen des Inhalts einiger Teile seines
Buches, stand den Anforderungen d’Alemberts näher als Legendre. ——
Und überhaupt kann man an der Fähigkeit und der Möglichkeit für
‘Mathematiker vom ersten Range den Anforderungen d’Alemberts
ver genügen, stark zweifeln, sie sogar absprechen. Auf einen der
Gründe dieser Zweifel, nämlich auf das Vorhandensein unbewußter
schöpferischer Prozesse oder, nach dem Ausdruck d’Alemberts, auf
/den Fall, wenn der Forscher sich mehr von einer Art des Instinktes
\als von Vernunftschlüssen leiten läßt, weist d’Alembert schon selbst
hin. Aber außer diesem Grunde, und schon nicht allein zum Zweifel,
sondern zum Verneinen, können auch andere angeführt werden.
Gegen die Möglichkeit, für Mathematiker vom ersten Range der
neuen und neuesten Zeiten auf die Wege zurückzukehren, auf denen
die Schöpfer der Elementargeometrie bei ihrem Erschaffen gingen,
sprechen noch folgende Verhunftschlüsse. Das Erschaffen der grie-
chischen Geometrie, durch die Elemente von Euklid dargestellt, als
Resultat der im Laufe großer Zeiträume sich entwickelnden Kollektiv-
arbeit solcher Schöpfer, welche einer langen Reihe von aufeinander
folgenden Generationen und dabei so verschiedenen Nationen, wie
der ägyptischen, griechischen und den mehr oder weniger bekannten
anderen angehörten, ging bei vollständig anderen Umständen und Be-
dingungen vor sich, als die Arbeiten der Forscher der neuen Wissen-
schaft. Um sich von der Gerechtigkeit der eben ausgesprochenen
Behauptung zu überzeugen, genügt es der Erinnerung, daß Euler,
Legendre und andere europäische Mathematiker des 18. Jahrhunderts
und überhaupt der neuen Zeit, infolge ihres Standpunktes auf der
arithmetisch-algebraischen Richtung der Inder, Analytiker waren, abge-
sehen von dem Unterschiede, der unumgänglich hervorgerufen wird
durch den Fortschritt der weit vorgerückten Wissenschaft im Ver-
gleich zum grauen Altertum, während solche hervorragende Kräfte in
der Elementargeometrie, wie die griechischen Mathematiker des fünften
und der folgenden Jahrhunderte vor Christi Geburt, als reine Geo-
meter angesehen werden müssen, weil sie immer auf dem Grunde rein
geometrischer Richtung standen, welcher so schroff die indische
Mathematik von der altgriechischen unterscheidet.
Was jedoch die Fähigkeit der Mathematiker vom ersten Range der
neuen Zeit anbetrifft, die Wege wiederherzustellen, auf denen beim Er-
schaffen der Elementargeometrie ihre Schöpfer gingen, so genügt es in
dieser Beziehung, um den Einzelheiten beim Betrachten dieses Gegen-
standes auszuweichen, die Aufmerksamkeit auf folgenden Umstand zu
Lehrbücher der Elementargeometrie. 359
lenken. Als d’Alembert die Mathematiker vom ersten Range zum Zu-
sammenstellen der Elemente der Geometrie aufforderte, dachte er, daß es
für sie genügend sein würde, beim Wiederherstellen der Wege der an-
fänglichen Schöpfung dieser Elemente, ihren eigenen Wegen, die sie
während ihrer eigenen Entdeckungen gingen, zu folgen, d. h. mit
anderen Worten, mit der Wiederherstellung dieser eigenen Wege
wieder anfänglich zu beginnen. Können sie das aber bei den herr-
schenden Bedingungen und Arten der schaffenden wissenschaftlichen
Arbeiten in der neuen und neuesten Zeit in den mathematischen
Wissenschaften? Um eine neue Entdeckung zu machen, hält sich der
Gelehrte bei den Wegen, die seine Idee wandelt, und bei den einzelnen
Stadien ihrer Entwicklung in seinen Gedanken nicht auf, sondern
bemüht sich, so schnell wie möglich zu seinem Ziel zu gelangen.
Gewöhnlich gibt er sich über dieselben nicht nur keine klare, sondern
überhaupt gar keine Rechenschaft. Nachdem er sein Ziel erreicht
und eine neue Entdeckung gemacht, gibt sich der Gelehrte Mühe, oft
mit großer Anstrengung, dieselbe in den ihm selbst gewohnten Formen
darzustellen, in denen gewöhnlich in der gelehrten Literatur und im
Unterricht die Wahrheiten und ihre Beweise dargestellt werden.
Dasjenige, mit dessen Hilfe er seine Entdeckung erreichte, erscheint
ihm in dieser seiner neuen Arbeit nicht als Beistand, sondern direkt
als Störung und Hemmung. Er ist bemüht, sich davon zu befreien,
es zu vergessen. Dieses Bestreben gelangt zu seiner höchsten Ent-
wieklung, die sich bis zur absichtlichen Vernichtung aller Spuren
der anfänglichen schaffenden Arbeit steigert, bei solchen Gelehrten,
die ihre unmittelbaren Resultate, als unelegant und manchesmal als
Fehler enthaltend, finden. Als Resultat aller eben angeführten Um-
stände und Bedingungen, bei denen die schöpferische Arbeit der Ge-
lehrten in der neuen und neuesten Zeit vor sich geht, erscheint seine
Lage augenscheinlich als sehr nahe angrenzend an diejenige, in der
der Gelehrte sich bei der unbewußten schöpferischen Arbeit befindet,
oder nach dem Ausdruck d’Alemberts im Falle, daß er dem Instinkt
mehr folgt als dem Vernunftschluß.
Wer kann eigentlich die Anforderungen von d’Alembert be-
friedigen, wenn sogar die Mathematiker vom ersten Range der neuen
und neuesten Zeit es zu tun nicht imstande und sogar dazu unfähig
sind? Das kann nur die Geschichte der Mathematik erfüllen, oder in
engerem Sinn, die in dieser Richtung von ihr gemachten Forschungen.
Leider entbehrt sie solcher Forschungen nicht nur in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts, sondern auch in der Gegenwart. Folglich konnten
und können nicht, nicht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts,
sogar jetzt nicht diejenigen wahren Elemente der Geometrie zusammen-
360 Abschnitt XXL.
gestellt werden, welche d’Alembert vorschwebten, und die seinem
Gedanken nach eine Verbindung der Wahrheiten in ihrem natürlichen
Schein darstellen sollten, indem sie zwischen ihnen eine in Wirklich-
keit existierende und keine künstliche Kette bilden sollte, und die
außerdem von derjenigen Ausdrucksform befreit sein sollte, welche
sich im Laufe der Jahrhunderte in der Wissenschaft ausgearbeitet
hatte, teils dazu, um ihr etwas Geheimnisvolles zu verleihen, teils um
ihren Gebrauch in der Praktik zu vereinfachen.
‘ Eine besonders wichtige Bedeutung muß das Zusammenstellen
solcher wahren Elemente der Geometrie zum Erlernen der letzteren
haben, wenn man diese Elemente als Leitfaden oder sogar direkt als
Lehrbuch ansieht. Und wirklich, nur nach der Reinigung der Elemente
der Geometrie von allem Künstlichen und allem, was der Natur
der menschlichen Vernunft und den Gesetzen der Entwicklung
der menschlichen Kenntnisse widerspricht, werden sie für Menschen,
die über mittleren Verstand verfügen, zugänglich werden, das heißt
für die Mehrzahl der Menschheit, und ihr Erlernen von dieser Mehr-
zahl wird ein wirkliches und kein scheinbares werden, wie jetzt und
auch früher. Nur bei einer solchen Befreiung der Elemente der
Geometrie von allem Fremden und von außen Eingeführten kann der
königliche Weg der Erlernung der Geometrie geschaffen werden, über
dessen Abwesenheit in den Elementen des Euklid einstmals der weise
König Ptolemäus dem Autor bitter klagte.
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst).
Außer den Lehrbüchern der Elementargeometrie, welche, gleich
dem oben besprochenen Lehrbuch von Kästner, die, in der Über-
schrift nieht bezeichnete, Verbindung der theoretischen Geometrie mit
der praktischen darstellten, erschienen in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts nicht wenige solcher Lehrbücher, deren Benennungen
auf diese Vereinigung als auf den Gegenstand des Werkes hinwiesen.
„Geometria theoretica-practica“!) oder „Trait& de g&ometrie theorique
et pratique“?), das waren ungefähr die allgemeinen Überschriften der
Werke dieses Typus, in einzelnen Fällen mehr oder weniger variierend.
Das Erscheinen einer bedeutenden Anzahl solcher Werke in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wies klar auf die Verbreitung in
ieser Epoche des von d’Alembert bezeichneten Typus von Lesern
der elementargeometrischen Werke, die bei deren Erlernung nur prak-
!) Florian Dabuz, Mogunt. (Mainz) 1767. 5 Seb. Le Clere,
Paris 1764.
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 361
tische Ziele verfolgten. In der größten Anzahl erschienen Werke des \
betrachteten Typus entweder in den am wenigsten kultivierten Ländern,
wie Rußland und Polen, die dementsprechend über fünf und neun
solcher Werke verfügten, oder in Ländern, die sich in der vorherrschend
praktischen Richtung auszeichneten, wie Holland, wo es deren fünf
gab. In den anderen Hauptländern Europas gab es ungefähr ın Eng-
land und Italien je eins, in Frankreich zwei, und in Deutschland vier
solche Werke.
In den Inhalt dieser Werke wurden verschiedene Artikel aus ver-
schiedenen Teilen der praktischen Geometrie eingeführt, wie die Artikel
über die Maße, von den Mitteln der Messung und von den dabei ge-
bräuchlichsten Vorrichtungen (Astrolabium und Mensula), von der Ab-
steckung und Messung der Strecken und Winkel auf dem Felde und
auch der Entfernungen und Höhen, vom Ausmessen der Felder, von
der Grundrißaufnahme, von verschiedenen in der Praktik vorkommen-
den Fällen des Ausmessens der Rauminhalte (unregelmäßige Körper,
Kornhaufen, Holzstapel, Fässer, Krüge, Kanonenkugeln). In einigen
von solchen Werken wurden ebenfalls Artikel über Nivellierungen
und sogar über Refraktion eingeschoben.
Außer den Werken des betrachteten Typus wurden im Laufe der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch Werke herausgegeben, die
der Darstellung der praktischen Geometrie allein gewidmet waren.
Nach den zurzeit sehr unvollkommenen bibliographischen Berichten
erschien in dem angegebenen Zeitraum je ein solches Werk in Eng-
land und Rußland, vier in Deutschland und zwei in Polen. Das her-
vorragendste von ihnen war das Werk Mayers des Sohnes „Gründ-
licher und ausführlicher Unterricht zur praktischen Geometrie“'). In
großem Gebrauch in der betrachteten Epoche waren einige Werke
über die praktische Geometrie, die im Laufe der ersten Hälfte des
15. und sogar im 17. Jahrhundert erschienen waren. Von ihnen hatten
eine sehr große Verbreitung folgende Werke: Chr. Clavius?), Geo-
metria practica®); Daniel Schwenter, Geometria practica nova®);
Nicolas Bion, Trait€ de la construction et des prineipaux usages
des instruments de math&matiques®); J. F, Penther, Praxis geo-
.») 3 Teile, 8°, Göttingen 1778—83, 4. Aufl. 1814—18. ®) Cantor, Vor-
lesungen II?, S. 555—557. *°) Opera mathematica, II, fol. Mogunt. 1612. Cantor
Vorlesungen II®, 8. 579—581. *) 2 tom., 4°, Nürnberg, 1618. Cantor, Vorlesungen
II?, S. 666—670. °) 8°, Paris 1709. Poggendorff, I, S. 194—195. Erschien
in mehreren Ausgaben in Frankreich und war außerdem in einige andere Sprachen
übersetzt worden. Besonders bemerkenswert war die deutsche Übersetzung von
Doppelmayr, weil sie viele Ergänzungen enthielt. Sie erschien im Jahre 1713
in Nürnberg unter dem Titel „Mathematische Werkschule“, und danach von
neuem herausgegeben 1717 und 1723; in-4°,
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 24
362 Abschnitt XXTI.
metriae!); Johann Bayer, Vollkommene Visier-Kunst?); Pezenas,
Traite du Jaugeage?).
Für die praktische Geometrie, ebenso wie für alle Wissenschaften,
die über Maße handeln, stellt die große Anzahl der letzteren im
Leben große Hindernisse und Unbequemlichkeiten in den Weg. Be-
sonders bemerkbar war es in Frankreich, wo nicht nur verschiedene
Provinzen verschiedene Maße hatten, sondern einzelne Städte in ein
und derselben Provinz. Das Feststellen der Einheit der Maße oder
die Gebrauchseinführung eines allgemeinen Maßes für die ganze Mensch-
heit wurde hier früher, und vielleicht mit einer größeren Klarheit ein-
gesehen, als in den anderen Ländern Europas. Als erster trat mit
einem bestimmten Vorschlag in der Wissenschaft über diesen wichtigen
Gegenstand Gabriel Mouton*) hervor. In seinem Werk „Obser-
vationes diametrorum solis et lunae apparentium ete.“?) schlug er vor
als allgemeines, Maß den geometrischen Fuß, „virgula geometrica“,
der im Erdgrad 600000mal enthalten war, anzunehmen. Um die
Möglichkeit zu haben, die wirkliche Länge dieses Fußes zu jeder Zeit
zu finden, bestimmte er die Zahl der Schwingungen des einfachen
Pendels derselben Länge während einer halben Stunde, die sich als
die Zahl 3959,2 erwies- Dieselben Gedanken wurden im nächsten
Jahre (1671) von Picard ausgesprochen und 1673 von Huygens; sie
fanden sogar in der Royal Society solchen Anklang, daß diese sich ihnen
öffentlich anschloß. Am Anfang des 18. Jahrhunderts fing man an
direkt die schnelle Durchführung in der Wirklichkeit zu fordern, was
in ihren Werken als erste Amontons®) und Bouguer‘) taten. Da-
nach stellte der Akademiker du Fay dem Minister das Projekt des
Reglements vor, welches die Einführung eines allgemeinen Maßes durch
ein Gesetz feststellte. Die Annahme dieses Projekts verhinderte der
Tod des ihm sympathisierenden Ministers, und ebenfalls des Autors
selbst. Auf derselben Neuerung bestand auch de la Condamine in
seinem Memoire®), in dem er zu zeigen sich bemühte, daß das natür-
lichste und am wenigsten die Eifersucht verschiedener Länder her-
vorrufende Maß, dem deshalb auch der Vorzug gegeben werden müßte,
das Äquatorialpendel erschien, welches die Länge von 36 pariser Zollen
und 7,21 Linien besitze, wenn man sich der Toise, die für Aus-
messungen in Peru angefertigt worden war, bediente. Bei Einführung
1) 1732, neue Auflage, 2 Teile, fol. Augsburg 1755. Cantor, Vorlesungen
III?, S. 528—529. 2) 4°, Frankfurt a. M. 1603. °) 4°, Marseille 1742. Seconde
edition, donnde en 1778 par les soins de M. de la Lande. Poggendorff,
II, 8. 422—423. #) Cantor, Vorlesungen III?, 8.76. 5) 4°, Lugd. 1670,
p. 433. 6) Histoire de l’Acaddmie des sciences de Paris, annee 1703, p. 51.
”) Ebenda, p. 300. °) Ebenda, annee 1747, p. 189.
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 363
dieses Maßes würde die pariser Toise um 14,42 Linien länger
werden, und der pariser Breitengrad würde 56132 astronomische
Toisen enthalten anstatt 57069 solcher pariser Toisen, die im Grad
des Meridians zwischen Paris und Amiens enthalten waren.
Am Ende des 18. Jahrhunderts, am Anfang der französischen
Revolution, wurde die Forderung der Einführung eines allgemeinen
Maßes nicht nur von wissenschaftlichen Anstalten und einzelnen Ge-
lehrten ausgesprochen, sondern auch von weiten Kreisen der Gesell-
schaft. So legte am Anfang des Jahres 1790, dem allgemeinen Wunsch
entsprechend, der Bürger vieler Städte, Talleyrand-Pe&rigord, welcher
damals Bischof von Autun war, der Nationalversammlung den Bericht
von der Notwendigkeit, ein allgemeines Maß durch das Gesetz festzu-
stellen, vor, wozu man sich eines von den vorgeschlagenen natürlichen
Maßen bedienen konnte, und am besten der Länge des Sekundenpendels
auf der geographischen Breite von 45°. Da sich die Nationalver-
sammlung nicht als kompetent genug fühlte, um eine so wichtige
Frage endgültig zu bestimmen, wandte sie sich mit einer entsprechenden
Anfrage an die Pariser Akademie der Wissenschaften. Die Ausarbeitung
der Antwort auf diese Anfrage vertraute die letztere einer zu diesem
Zweck besonders erwählten Kommission an, welche aus den Akademikern
Borda, Lagrange, Laplace, Monge und Condoreet bestand. Die
Ergebnisse der Arbeiten dieser Kommission waren in dem in ihrem
Namen gemachten vom 19. März 1791 datierten Berichte „Sur le
choix d’une unite des Mesures“!) enthalten. |
Die Länge des Sekundenpendels auf dem 45. Breitengrade als
allgemeines Maß anzunehmen, fand die Kommission als unbequem,
weil es in das System der Maße eine Ungleichartigkeit einführt, in-
dem es die Bestimmung der Länge dem Vermessen der mit ihm so
ungleichartigen Größe, wie die Zeit, unterwirft, oder, was gleich-
bedeutend ist, der Größe der Schwere, und außerdem, was noch
wichtiger ist, ein Element der Willkür hineinbringt, weil es sich eines
so willkürlich gewählten Zeitteiles bedient, wie die Sekunde. Die
Längeneinheit im allgemeinen Maßsystem muß nach der Meinung der
Kommission auf der Erde selbst gefunden werden, weil nur eine
solche Einheit von keiner andern Größe abhängig sein wird, und
außerdem, ihrem Ursprung nach, die Analogie mit allen anderen, von
der Menschheit gebrauchten Längeneinheiten bewahren wird. Von
diesem Standpunkt aus würde es natürlicher sein, die Abstände der
Orte auf der Erde auf das Viertel eines der Erdkreise zurückzuführen,
') Histoire de l’Acad6mie royale des sciences, annde 1788 (Paris 1791),
p. 7—16,.
24*
364 Abschnitt XXI.
als auf die Länge des Pendels. Als solcher Kreis muß der Äquator
oder Meridian angenommen werden, und nur der Meridian, weil er
aus vollkommen begreiflicher praktischer Erwägung dem von den
Völkern Europas dargestellten zivilisierten Teil der Menschheit die
größten Bequemlichkeiten darbietet. Als wirkliche Maßeinheit muB
der vierte Teil des Erdmeridians gewählt werden, und die im prak-
tischen Leben gebrauchte Einheit ihr 10000000. Teil sein. Im Ein-
klang mit dem eingeführten Dezimalsystem in der Arithmetik muß
das System der Einteilung dieser Einheiten nicht ein sexagesimales,
wie früher, sondern ein dezimales werden. Der Bericht hält sich nicht
bei den Erwägungen auf, welche die Kommission zwangen, das Dezimal-
system vorzuziehen, aus dem Grunde vielleicht, daß dieser Gegenstand
schon früher einer genauen Betrachtung im „Rapport fait a ’Academie
des Sciences par MM. Borda, Lagrange, Lavoisier, Tillet et
Condorcet, le 27 Oetobre 1790“?) unterzogen war. Dieser „Rapport“
war entstanden infolge des Wunsches der Nationalversammlung, die
Meinung der Akademie über die Frage zu wissen: „sil convient de
fixer invariablement le titre des metaux monnoy@s, de maniere que
les especes ne puissent jamais &prouver d’alteration que dans le poids,
et „il n’est pas utile que la difference toleree sous le nom de remede,
soit toujours en dehors. Elle a charge en möme temps l’Academie
d’indiquer aussi l’&chelle de division qu’elle eroira la plus convenable,
tant pour les poids que pour les autres mesures, et pour les mon-
noies? Die Messungen des Meridians, die zur Bestimmung dieser
Einheiten notwendig sind, müssen als Ziel die Bestimmung der Länge
des Bogens des Erdmeridians haben, welche dem 10000000. Teil des
Bogens des Himmelsmeridians — 90° entsprechen würde, und so ge-
legen wäre, daß seine eine Hälfte nach Norden und die andere nach
Siiden von der Parallele 45° sich befinde. Um dieses Ziel in Wirk-
lichkeit zu erreichen, schlug die Kommission vor, den Bogen des
Meridians von Dünkirchen bis Barcelona unmittelbar auszumessen,
welcher etwas mehr als 9/,° einschloß. Als die Hauptvorteile, welche
dieser Bogen darstellte, wies die Kommission auf die hinlängliche
Größe seiner Ausdehnung und auf seine Teilung durch die Parallele
45° in folgende Teile: den nördlichen Teil = 6° und den südlichen
— 31/,0, und auf das Befinden seiner Endpunkte auf der Höhe der
Meeresfläche hin. Außer diesem Bogen konnte ebenso vorteilhaft sein
der Bogen, der noch westlicher lag und vom Ufer Frankreichs bis zum
Ufer Spaniens ging. Jedoch der Vorzug mußte dem ersten gegeben
1) Histoire de l’Academie royale des sciences, annde 1788 (Paris 1791),
p. 1—6.
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 365
werden, weil er schon zum Teil nämlich zwischen Dünkirchen und Per-
pignan ausgemessen war und deshalb ein kostbares Mittel der Prüfung
der sich ihm anschließenden neuen Vermessungen und Beobachtungen
besaß. Als Operationen, die zur Ausführung der ganzen Arbeit über
das von der Kommission vorgeschlagene allgemeine Maß notwendig
waren, erkannte sie folgende an: 1. Die Bestimmung der Längen-
differenz zwischen Dünkirchen und Barcelona, und überhaupt das Aus-
führen auf dieser Linie aller astronomischer Beobachtungen, welche
als nützlich anerkannt werden könnten. 2. Die Vermessung der früheren
Basen, deren man sich bei der Messung des Grades, in Paris aus-
geführt, bediente, und bei den Arbeiten der Zusammenstellung der
Karte von Frankreich. 3. Die Prüfung, durch eine neue Reihe von
Beobachtungen der Dreiecke, die früher zur Messung des Meridians
gebraucht wurden, und ihre Verlängerung bis Barcelona. 4. Die
Ausführung von Beobachtungen unter 45° geographischer Breite zum
‚Feststellen der Zahl der Schwingungen im luftleeren Raume, am
Meeresstrande, im Laufe eines Tages, bei der Gefriertemperatur, eines
einfachen Pendels, dessen Länge dem 10000000. Teile des Bogens des
Meridians gleich sein würde. 5. Die Prüfung durch neue, sorgfältig
ausgeführte Experimente des Gewichts eines gegebenen Volums de-
stillierten Wassers, welches sich im luftleeren Raum bei der Gefrier-
temperatur befindet. 6. Die Zurückführung auf irgend welche neueste
Maße, zum Beispiel auf die pariser Toise oder das Pfund oder alle
andern im Handel gebräuchlichen Längen-, Flächen-, Kubik- und Ge-
wichtsmaße mit der Bedingung, daß nach der Bestimmung der Ein-
heiten des neuen allgemeinen Maßsystems alle ihre Ausdrücke auf die
früheren Maße durch einfache Regeldetri zurückzuführen sind. In
Beziehung auf die vierte von den aufgezählten Operationen wurde im
Bericht bemerkt, daß die aufgefundene Zahl der Schwingungen, einmal
bekannt geworden, die Möglichkeit geben wird, die Einheit der Länge
selbst von neuem zu finden mit Hilfe der Beobachtungen über das
Pendel. Damit wird die Vereinigung der Vorteile des Systems der
Maße, welche von der Kommission vorgeschlagen, mit den Vorteilen
des Systems, welche als Einheit die Länge des Pendels annimmt, er-
reicht. Nach der Erstattung dieses Berichts in der Nationalversamm-
lung wurde er von ihr am 26. März 1791 angenommen und bekam
danach die Kraft des Gesetzes. Die Pariser Akademie der Wissen-
schaften, der die Leitung aller obengenannten Operationen anvertraut
war, mußte, dem Vorschlag des Berichts entsprechend, für dieselben
einzelne Kommissionen bilden, deren erste Arbeit das Vorlegen des
allgemeinen Planes der bevorstehenden Arbeiten sein mußte. Als Mit-
glieder dieser Kommissionen für die erste und dritte Operationen er-
366 Abschnitt XXI.
wählte die Akademie Cassini, Mechain und Legendre, für die
zweite Monge und Meusnier, für die vierte Borda und Coulomb,
für die fünfte Lavoisier und Haüy und für die sechste Tillet,
Brisson und Vandermonde.!)
Die Benennung „Metrisches System“ bekam das neue System der
Maße und. Gewichte zum erstenmal im „Rapport fait & l’Academie
des Sciences, sur le systeme general des Poids et Mesures, par les
Citoyens Borda, Lagrange et Monge“*). Dieser von der Akademie
angenommene Bericht wurde in ihrem Namen der gesetzgebenden
Versammlung vorgelegt als „derjenige zweite Bericht, welcher nach
dem im ersten Bericht gegebenen Versprechen den vollen Plan des
neuen Systems darstellen mußte. Als Darstellung dieses Planes in
Beziehung auf die Längen- und Kubikmaße dienen folgende im Be-
richt angeführte Tabellen:
Seconde Premiere
nomenclature. nomenclature.
Quart Quart toises
du meridien du meridien.... 5132430
Mesurea. göogr. 1 Döckdle su... u. .2 ln as 513243
et nautiques Deere a Bes 51324
Menaros TPORBE- no a ee 5132
itineraires Mile. Sean, = BREER u 20 513
pieds pouces lignes
Morures 1 Stade: . 2... RR AR ER 11 4
agraires Ben a ee er 30 9 6,4
BIDERB in Male. nord 3 0 11,44
Mesures }Palme..,....:--+-... Dec-mehra.. .. . 25... 3 8,34
usuelles | Doigt............... Centi-mötre ........... 4,43
RE Be ee Milli-metre............ 0,44
Seconde Premiere Valeurs en Valeurs en
nomenclature nomenclature pintes de Paris boisseaux
pintes boisseaux
aa | Tonneau ER ER Muid. 3.5, 226 25 1051"), 78,90
cubique
Böklerzii, uni Deci-muid.. issues > 105'/, 7,89
Boisseau........ Oonti-mnid ;: ui sure 10%), 0,789
kalme | Pinte VETETENT: Eislä .iseuih uruıkh 1Y,, 0,0789
cubique
Zum Ausdruck der neuen Maße in den alten wurde in der ersten
dieser Tabellen das Viertel des Meridians als gleich der 90 mal ge-
1) Expose des travaux de l’Academie, sur le projet de l’uniformite des
mesures et des poids. Histoire de l’Academie royale des sciences, annde 1788
(Paris 1791), p. 17—20. ?) Ebenda, annde 1789 (Paris, l’an II de la Republique),
p. 1—18.
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 367
nommenen 57027. Toise angesehen, die der Länge des 45. Breiten-
grades auf dem Meridian, welcher über Frankreich geht, nach den
Angaben des Abbe de la Caille!) auf Grund der Vermessungen, welche
von früheren Astronomen der Akademie ausgeführt waren, entsprachen.
Das zweite der geographischen und nautischen Maße bekam seine Be-
nennung als Grad aus dem Grunde, weil nach der Bestimmung der
Akademie in dem neuen Maßsystem der 100. Teil des Viertels des Kreis-
umfanges als Grad angenommen wurde. Er stellte folglich die Länge des
Erdgrades dar, „mille“, oder sein 100. Teil die Länge der dezimalen Erd-
minute („minute deeimale terrestre“) und „perche“, als 100. Teil dieser
letzten, die Länge der dezimalen Erdsekunde (seconde deeimale ter-
restre). „Stade“ stellte die Seite eines Quadrats dar, welches im neuen Maß-
system als neuer Morgen Landes angenommen wurde, welcher beinahe um
das Doppelte den früheren französischen Morgen übertraf. Die zweite
Nomenklatur parallel der ersten anzunehmen, hielt sich die Akademie
für gezwungen infolge der Unvollkommenheiten, die der letzteren
eigen waren: die Länge der Benennungen, die Kompliziertheit der von
ihnen ausgedrückten Begriffe und der Möglichkeit, die eine Benennung
mit der andern zu verwechseln, wegen ihrer gleichen Endungen. Zur
Erläuterung der angezeigten Kompliziertheit der Begriffe durch ein
Beispiel bleibt der Bericht auf der Benennung „Deci-metre“ stehen, in
welchem er die Vereinigung dreier Begriffe sieht: der metaphysischen
Idee des Zehntels, der metaphysischen Idee eines bestimmten Maßes -
und endlich die Anwendung der ersten Idee auf die zweite. Um auf
diese Weise zum ausgedrückten physischen Maß zu gelangen, muß
der Verstand drei Operationen verrichten. Als Benennungen in der
zweiten Nomenklatur bemühte sich die Akademie, solche zu wählen,
die sich durch Eigenschaften auszeichneten, die den Mängeln der ersten
Nomenklatur entgegengesetzt waren und aus der existierenden Metro-
logie entnommen waren: der französischen, wie decade, degre, poste,
perche, und der alten, wie stade, palme, oder aus den Benennungen
von Gegenständen, die an eine- entsprechende Länge erinnern, wie
doigt, trait. Dieselben Überlegungen gaben die Anleitung beim Aus-
arbeiten der zweiten Nomenklatur der Kubikmaße, die in dem neuen
Maßsystem dieselben wie für Flüssigkeiten ebenso auch für Körner
sein sollten. Für die Zurückführung der neuen Maße in frühere bei
Zusammenstellung der zweiten Tabelle benutzte die Akademie „pinte
de Paris“ als das zu jener Zeit gebräuchliche Flüssigkeitsmaß und
„boisseau“ als das ebenso gebräuchliche Kornmaß.
Die begonnenen Arbeiten zur Einführung des metrischen Systems
‘) Histoire de l’Acad&mie des sciences, annde 1758,
368 Abschnitt XXI.
wurden von den Umständen der Revolutionszeit sehr aufgehalten. Die
nach Beendigung dieser Arbeiten erfolgte offizielle Einführung des
metrischen Systems in Frankreich konnte erst im Jahre 1795, am
22. Dezember zustande kommen (1 nivöse de !’an IV de la Republique).
Etwas früher, nämlich den 31. Juli 1793 (13 thermidor de lan I de
la Republique), wurde das Dekret von der Annahme des Meters als
Grundmaß erlassen. Um das metrische System vollkommener zu
machen und ebenso auch, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich
möglichst weit über andere Nationen zu verbreiten, wurde im Jahre 1797
in Paris die internationale Kommission zusammengerufen, welcher
Lorenzo Mascheroni angehörte, der dem Gegenstand ihrer Beschäf-
tigung sein Werk „Notizie generali del nuovo sistema dei pesi e
misure de dotte dalla grandeza della terra“) widmete.
Derjenige Teil der praktischen Geometrie, welcher als Gegen-
stand die Kunst des Messens der Felder hatte, wurde von der Feld-
meßkunst dargestellt. Sie wurde in drei Teile geteilt. Der erste
Teil, oder die Feldmeßkunst im eigentlichen Sinne des Worts, be-
schäftigte sich mit der Messung der Dimensionen des Feldes, ebenso
wie mit der Verrichtung der dabei erforderlichen Beobachtungen in
diesem Felde selbst. Der zweite Teil, oder die Grundrißaufnahme
genannt, hatte als Ziel die gefundenen Größen und die Ergebnisse
der gemachten Beobachtungen auf das Papier zu bringen. Gegenstand
- des dritten Teils endlich war die Bestimmung des Flächeninhalts
des Feldes. Der erste Teil wurde der eben gegebenen Definition
seines Gegenstands gemäß seinerseits wieder in folgende zwei Unter-
abteilungen geteilt: das Messen der Entfernungen und die Beobach-
tungen der Winkel. Als gebräuchliche Vorrichtungen im ersten Teil
dienten entweder die Meßkette oder der Wegemesser, im zweiten das
@raphometer, Meßtisch, Boussole, Meßscheibe usw. Die Bestimmung
des Flächeninhalts des Feldes im dritten Teil der Feldmeßkunst wurde
durch das vorhergehende Teilen derselben in Dreiecke, Quadrate,
Parallelogramme, Trapeze und hauptsächlich Dreiecke erzielt, wonach
die Bestimmung ihres Flächeninhalts und deren Summierung folgte.
An den dritten Teil der Feldmeßkunst schloß sich unmittelbar
der besondere Teil der praktischen Geometrie an, der sich mit der
Teilung der Länder und der Felder und mit deren Verteilung zwischen
ihren Besitzern beschäftigte. Indem man sie als selbständigen Teil
der praktischen Geometrie betrachtete, nannte man sie, sich an die
Etymologie des Wortes haltend, die Geodäsie im engen Sinne dieses
Wortes. Der im weiteren Umfang verstandene Sinn der Benennung
') Milano, anno VI (1798).
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 369
„Geodäsie“ umfaßte dagegen nicht nur die Feldmeßkunst, sondern auch
solche, höherstehende geometrische und trigonometrische Operationen,
wie das Zusammenstellen von Karten und das Messen der Grade des
Meridians, oder überhaupt irgend welcher seiner Teile.
Die Grundfrage der Geodäsie, im obengenannten engen Sinne
des Wortes verstanden, war die -Frage, irgend eine Figur in eine be-
stimmte Anzahl von Teilen zu teilen, was in den meisten Fällen auf
Teilung des Dreiecks in gegebenem Verhältnis zurückgeführt wurde,
welches darum auch mit allen Details betrachtet wurde, in vielen,
diesem Gegenstand gewidmeten Werken, aus denen angeführt zu
werden verdienen: „Application de lalgebre & la geometrie“ par
Guisnee!) und „Pratique de la geometrie sur le papier et sur le
terrain“?) par Le Clerec. In ihnen wurde diese Frage in den Fällen
betrachtet, wenn die Gerade, die das Dreieck in gegebenem Verhältnis
teilte, durch den Punkt ging, 1) der mit der einen seiner Spitzen
zusammenfiel, 2) der auf einer seiner Seiten lag, 3) der inwendig im
Dreieck lag, 4) welcher sich außerhalb befand. In denselben vier
Vällen wurde auch die allgemeine Frage von der Teilung einer Figur
in gegebenem Verhältnis betrachtet. Im Falle, daß verlangt wurde,
irgend eine Figur in einem gegebenen Verhältnis durch eine Gerade
zu teilen, welche durch einen gegebenen Punkt gehe und der ge-
gebenen Geraden parallel sei, wurde die Figur zuerst durch Gerade
geteilt, die aus den Spitzen ihrer Winkel parallel der gegebenen Ge-
raden geführt, sie in Trapezoide teilte. Im Falle einer krummlinigen
Figur wurde die sie begrenzende Linie in Teile geteilt, die ohne
fühlbaren Fehler als geradlinig angesehen werden konnten, was die
Möglichkeit gab, die ganze Figur als geradlinig anzusehen, und folg-
lich solche Methoden anzuwenden, die für Figuren solcher Art aus-
gearbeitet waren.
Unter den Fragen der Feldmeßkunst, die hauptsächlich
durch ihre Ausführung Wichtigkeit gewannen, lenkte die besondere
Aufmerksamkeit im Anfang der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts die Frage auf sich, ob beim Messen eines geneigten Feldes
. dessen wirklicher Flächeninhalt, oder der Inhalt seiner horizontalen
Grundfläche zu nehmen sei? Wie wichtig diese Frage auch vom
ökonomischen und praktischen Standpunkt aus betrachtet wäre,
kann sie jedoch nicht als direkt zur Geometrie gehörend betrachtet
werden. Und wirklich, wie man sich auch entscheiden würde, in der
Praktik müßte man immer nur eine und dieselbe Größe ausmessen,
die Grenzen des Feldes nämlich und ihre Neigung zum Horizont,
") Paris 1705; 2° edition, ib. 1753, 4°. 2) Amsterdam 1691, 12°.
370 Abschnitt XXIIL
und welchen Flächeninhalt man dann bestimmen würde, den wirk-
lichen oder den der horizontalen Grundfläche, das Endresultat würde
immer eine und dieselbe Größe darstellen, nämlich die Ausdehnung
des Feldes. Bei den französischen Feldmessern wurde die Methode,
welche bei der Messung des Feldes sich ihrer horizontalen Grund-
fläche bediente, „methode de cultellation“, und die andere, die sich
ihrer wirklichen Fläche bediente, „methode de developpement“ genannt.
In Deutschland lenkte die im Jahre 1766 in der Danziger
Physischen Gesellschaft für Bewerbung um die Prämie des Fürsten
Jablonowsky vorgelegte Frage: „einen unzugänglichen und undurch-
sichtigen Wald oder Morast auf die beste Weise auszumessen, aufzu-
nehmen und zu vertheilen“ einige Aufmerksamkeit auf sich. Außer
den beiden Autoren Auer und Wilke?), deren Werke mit der Prämie
gekrönt wurden, beschäftigten sich mit der Lösung derselben Frage
auch einige ER deutsche Gelehrte.
Als bemerkenswerteste Arbeit in wissenschaftlicher Hinsicht, die
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Fragen der Feldmeß-
kunst gewidmet war, ist das Werk von Lorenzo Mascheroni,
Problemi per gli agrimensori con varie soluzioni?) zu nennen, welches
1805 in die französische Sprache übersetzt wurde. Besondere Be-
achtung verdienen darin die Aufgaben, die mit Hilfe bloß eines Lineals
gelöst werden oder, nach der später angenommenen Terminologie,
mit Hilfe der ehmelrie des Lineals.
Von den Teilen der praktischen Geometrie stand ihrer Entwick-
lung nach in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am niedrigsten
die Kunst der direkten Ausmessung des Inhalts der Gefäße,
welche in Frankreich Jaugeage und in Deutschland Visierkunst
genannt wurde. Ungeachtet der großen praktischen Wichtigkeit dieser
Kunst besonders in den Ländern, in denen die Steuern und Zölle auf
Getränke und andere Flüssigkeiten den Hauptteil der staatlichen und
öffentlichen Einkünfte bildeten, erreichte die Willkür in der Wahl
der theoretischen Grundlagen der Ausmessung und die damit bedingte
Fehlerhaftigkeit der Resultate in keinem anderen Fach als in an
einen so hohen Stand der Entwicklung. Das Faß wurde z. B. bald
‘) Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik III®, S. 556. Das
mit der Prämie gekrönte Werk Wilkes, „Abhandlung über die Fürstl. Jablo-
nowskische Preisaufgabe aus der Erdmeßkunst ete.“ (32 S. mit 1 Tafel), war in
der Sammlung „Solutiones problematum a celsissimo principe Jablonovio ex
historia polona, Geometria et oeconomia propositorum quas societas Physica
Gedanensis 1766 praemiis Jablonovianis coronavit“ (Danzig 1767), herausgegeben
von der Danziger Physischen Gesellschaft, gedruckt. In derselben Sammlung
war auch das Werk Auers abgedruckt worden (32 S. mit 1 Tafel). a:
Pavia 1793.
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 37:
als abgekürztes Ellipsoid betrachtet, bald als Zylinder, dessen Diameter
gleich ist der halben Summe der Diameter der Grundflächen des ab-
gestumpften Kegels, der dieselbe Höhe hat, bald als zwei abgestumpfte
Kegel, die an beiden Seiten der gemeinschaftlichen großen Grundflächen
gelegen sind. Die Resultate der Ausmessung in der ersten Voraus-
setzung erschienen im Vergleich zur Wirklichkeit stark vergrößert,
bei den beiden anderen jedoch im Gegenteil stark verkleinert. In
vollem Einklang mit der Ungenauigkeit und Fehlerhaftigkeit der
theoretischen Gründe der Ausmessung des Inhalts von Gefäßen
standen die dazu in der Praktik gebrauchten Instrumente; als solche
dienten die Stäbe, Velten, pytometrische Lineale, Ruten, Rohre,
Gerten, Bänder und eine Menge verschiedener Visiere mit 4, 6
und 8 Seiten, die eine bedeutende Anzahl von Skalen enthielten, die
nach verschiedenen und dabei gewöhnlich fehlerhaften Methoden kon-
struiert waren, Die Folgen eines so traurigen Zustandes der für das
praktische Leben so wichtigen Kunst sind nicht schwer vorauszusehen.
Der reiche Kaufmann Bruni aus Marseille erlitt einen Schaden von
40000 Franken wegen der fehlerhaften Ausmessung des Inhalts der
Fässer mit dem zugestellten Öl aus dem Osten. Bei der Ausmessung
eines Fäßchens mit Branntwein, das aus Orleans gesandt war und in
Wirklichkeit 58 Pinten enthielt, mußte in Paris im Jahre 1783 für
16 Pinten Einfuhrzoll bezahlt werden.
Aus den Versuchen, die Visierkunst auf eine möglich höchste
Stufe zu bringen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ge-
macht wurden, erregte wenigstens in Frankreich die größte Aufmerk-
samkeit das Werk, welches dem königlichen Professor der Mathematik
an der königlichen Kriegsschule, Dez, gehörte. Seinen Erfindungen
und Forschungen auf diesem Gebiete weihte er sein, von der Pariser
Akademie der Wissenschaften gedrucktes „Me&moire sur la theorie
du jaugeage“') und den umfangreichen Artikel „Jauger“ in der
Eneyelopedie methodique?). Der Vorzug des von ihm erfundenen
Apparates zum Ausmessen des Inhaltes der Fässer vor anderen solchen
Apparaten wurde durch zahlreiche Versuche, die am 22. Februar 1776
in der Steuerverwaltung in Gegenwart von Mitgliedern der Kom-
mission, die zu diesem Zweck von der Pariser Akademie der Wissen-
schaften ernannt war, festgestellt. Auf Grund des Berichtes, den diese
Kommission vorlegte, nahm die Regierung in Person des Ministers
Turgot diese Erfindung von Dez an und beschloß sie zum Ge-
brauche seiner Beamten einzuführen. Die Anerkennung der Erfindung von
‘) Memoires de mathematique et de physique, presentes & l’Academie
Royale des sciences par divers Savans et lüs dans ses Assemblees, annde 1773,
p- 383—389,., °) Mathematiques II, p. 245—257.
312 Abschnitt XXI.
Dez wurde von der Regierung auch schon früher durch die ihm
am 22. Dezember 1775 bewilligten Patente über diese Erfindung aus-
gesprochen.
Zu seimer Erfindung wurde Dez durch die von ihm an-
genommene Methode zur Ausmessung der Fässer von Camus ge-
bracht, welche erklärt und gedruckt war im Jahre 1744 im Memoire
des Autors „Sur un instrument propre & jauger les tonneaux et
les autres vaisseaux qui servent ä contenir des liqueurs“', Camus
betrachtete das Faß als einen
Körper, der gebildet wird durch
P Umdrehung um die Achse AH
einer gemischten Linie, die aus
dem Bogen einer Parabel m BM
in ihrem Scheitel B und zweier
Tangenten mK und MF in den
> zz Hadpunkten dieses Bogens m und
z e q M besteht. Die aus diesen beiden
Punkten auf die Achse gefällten
Perpendikel MQ und mq teilen
- N ihre beiden Hälften HC und hC
Di in gleiche Teile. Wenn man da-
\ a nach den Diameter des Fasses BD
Br 5 bei ihrer Biegung oder, was das-
selbe ist, bei ihrer Mitte durch 5
bezeichnet, mit f den Diameter FN des Bodens des Fasses und mit
l die innere Länge Hh, so bekommt man für den Inhalt des Fasses
oder, was dasselbe ist, für das darin enthaltene Volum der Flüssig-
keit den Ausdruck
64b? 37b 34f?
(1) al: ( e ren,
So yo
dessen sich Dez auch bediente.
Camus erhielt diese Formel folgendermaßen. Sind HO=|1,
BC=a, FH=b, so ist BL=a-—b und nach der Voraussetzung
MQ, = —1 Man verlängere danach MF bis zum Schnitt O mit der
Achse der Parabel. Dann sind
1
Q,L=Q,0 und QB=;Q40-ZQL
und folglich
: a
QB=;BL="—--
ı) Histoire de l’Acad&mie Royale des sciences, annee 1741, p. 385—402.
Praktische Geometrie (Feldmeßkunst). 373
Das parabolische Segment M@, B wird auf diese Weise
2 1
; MU: Brz
a—b
1°.
Der Punkt P der Achse, der dem Schwerpunkt P des Segments ent-
spricht, gibt
a—b
und folglich
und der Umkreis, der vom Punkte P um den Punkt O, als Zentrum,
umschrieben wird, wird gleich 2x- Bau Der Inhalt des Körpers
welcher durch die Rotation des Segments MQ,B gebildet wird, wird
auf diese Weise durch die Formel ausgedrückt
= (8a? — bab — 253).
Der Inhalt des Zylinders, welcher durch die Rotation des Rechtecks
MC um die Achse Hh gebildet wird, ist x- MQ, - (MQ)”. Weil jedoch
MQ=-41und UQ-°°?, so wird damit dieser Inhalt durch
die Formel bezeichnet
Vo za
u BE
Endlich ist der Inhalt des abgestumpften Kegels, gebildet durch die
Rotation des Trapezes FHQM um die Achse Hh,
x. Z2.(uQ®+MQ- FH+ FH)
oder
al 4a?-+10ab + 13b?
= 5
Das Addieren der Inhalte dieser drei Körper gibt folglich den Inhalt
des ganzen Fasses, welcher durch die Formel ausgedrückt wird
64a?-+ 37ab + 34b°
(2) Re 135 l
aus der durch Einführung an Stelle von BC des ganzen Diameters
BD, an Stelle von FH des ganzen Diameters des Bodens des Fasses
FN und an Stelle von HC der ganzen Länge des Fasses Hh, die
Formel (1) erhalten wird, welche Dez gebraucht.
Vollkommen bestätigt durch eine Menge von Versuchen und
Vergleichen der Resultate der nach der Formel berechneten mit den
374 Abschnitt XXI.
wirklich in den verschiedensten Gefäßen vorhandenen Flüssigkeiten
erwies sich jedoch die Formel des Camus, ihrer Kompliziertheit
wegen, als unbequem für den Gebrauch in der Praxis, besonders
wenn man den geringen Stand der Kenntnisse und der Entwicklung
des Verstandes der Leute in Betracht zieht, denen gewöhnlich das
Ausmessen der Fässer und anderer Gefäße anvertraut wurde. Diese
Formel in einfacherer Art darzustellen und sie dadurch bequemer
zur Anwendung zu machen, half Dez die Beobachtung, daß in Wirk-
lichkeit die Differenz zwischen dem Durchmesser des Fasses an der
Stelle seiner Biegung und dem Durchmesser seines Bodens sehr un-
bedeutend ist. Diese Differenz mit « bezeichnend und in der
Formel (1) auf Grund des Ausdrucks
e—=b—f
die entsprechenden Substitutionen ausübend und in den erhaltenen
Zahlen unbedeutende Veränderungen zulassend, die nicht zu irgend
fühlbaren Fehlern führen, brachte Dez die Formel (1) in folgender
einfachen Form
1 3 E
(ze),
4
oder nach der Transformation der letzten zur Formel
(3) mu rn).
Der Fehler, der durch diese Vereinfachung der anfänglichen Formel
entsteht, ist sehr unbedeutend. Und wirklich beträgt die Differenz
zwischen den Formeln (1) und (3), was nicht schwer zu ersehen ist,
4 #1(0,11122 - « — 0,0277.) - @,
was kaum den 20 Teil des Inhalts des Fasses ergibt, sogar wenn
3 R ie R
man «= -,b annimmt, nämlich nach der Versicherung des Autors
beim ungünstigsten der Fälle, vor dessen Begegnung man sich in der
Praxis hüten muß.
Es würde zu weit führen, die Beschreibung des Visiers, das von
Dez nach der Formel (3) konstruiert wurde, zu schildern. Wir
finden es für genügend, uns mit der Bemerkung zu begnügen, daß
die Hauptbedeutung in diesem Apparat zwei Skalen haben, von denen
die eine, nach der Benennung des Autors, die Skala der Längen
(echelle des longueurs), zum Ausmessen der Länge Il des Fasses
dient, und die andere, oder die Skala der Durchmesser (6chelle des
diametres) zur Ausmessung des Multiplikators
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 375
1 b+f 1 5
zer. tel IN.
Demjenigen, der sich dieses Visiers bediente, blieb nur übrig, um
das Endresultat der vollzogenen Ausmessung zu erhalten, die An-
zeigen der beiden Skalen zu multiplizieren.
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen.
Ebenso wie früher, vielleicht auch noch in größerem Maße, war
die Aufmerksamkeit einiger Spezialisten und überhaupt vieler Leute,
die dem aufgeklärteren Teile der Gesellschaft angehören, im Laufe der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf das Vermächtnis des Alter-
tums, die berühmten Aufgaben der Dreiteilung eines Winkels,
Quadratur des Kreises und der Verdoppelung des Würfels,
gerichtet. Als auf sehr bedeutende Zeichen der Aufmerksamkeit auf
diese Aufgaben seitens der Spezialisten ist auch auf das Erscheinen in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Werken, die der Geschichte
dieses Gegenstandes gewidmet waren, hinzuweisen. Es gab drei
solche Werke. Als erstes erschien das schon früher erwähnte!) Werk
Montuclas „Histoire des recherches sur la quadrature du cerele“?),
das im letzten 6. Kapitel einen kurzen historischen Überblick der Auf-
gaben über die Verdoppelung des Würfels und die Dreiteilung eines
Winkels enthielt. Die beiden anderen Werke, die ausschließlich der -
Aufgabe der Verdoppelung des Würfels gewidmet waren, gehörten
Nikolaus Theodor Reimer?) (1772—1832), der im Jahre 1796
Privatdozent an der Universität in Göttingen war, und später, vom Jahre
1801, Professor der Mathematik an der Universität zu Kiel. $. oben
5.28 im XIX. Abschnitte.
Die Aufmerksamkeit auf diese berühmten Aufgaben seitens der
Mitglieder der gebildeten Gesellschaft kennzeichnete sich durch das
Erscheinen einer bedeutenden Anzahl von Versuchen dieselben zu
lösen. Die Aufgabe der Quadratur des Kreises beschäftigte übrigens
die gebildete Gesellschaft mehr als die beiden anderen. Besonders
viel beschäftigte man sich mit ihr, nach der gedruckten Literatur zu
urteilen, in Polen, wo ihr 15 Werke gewidmet waren, und in Frank-
reich, wo es 7 solcher Werke gab. EIf der Werke über die Quadra-
tur des Kreises, die in Polen erschienen, gehörten einem Autor, dem
‘) Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, III®, S. 506.
2) Paris 1754. ») Poggendorff, II, S. 596.
376 Abschnitt XXII.
Vizeoberst Eugenius Innocentius Corsonich, der darin bewies,
daß z= 3 sei.!) Sowohl dieses Resultat, als auch dessen in den-
selben Werken versuchter Beweis waren, seinen Worten nach, von
vielen Mathematikern und von sieben Akademien gutgeheißen. Und
wirklich wurde der von ihm zusammengestellte genaue Bericht über
seine sechsjährige Beschäftigung mit den entsprechenden Gegenständen
außer in Warschau, wo er im Jahre 1779 erschien, noch in den
„Nova Acta eruditorum“?) gedruckt unter dem Titel „Quadratura
lunulae, ceireuli et segmenti, nee non curvatura sphaerae a V.-Col.
E. Corsonich, ope 4 propositionum fundamentalium inviete demon-
strata, et judicio Academiarum celeberrimarum subjecta“®). Jedoch
nicht alle, die mit den Arbeiten von Öorsonich bekannt waren, be-
friedigten sich mit seinen Beweisen. Als Opponent in der Heimat
des Autors trat in der Literatur der Warschauer Professor Johann
Koe vor. Die Polemik über einige im Druck erschienene Versuche
der Lösung dieser berühmten Aufgaben entstand auch in anderen
Ländern. So herrschte in Italien, wo man sich mehr mit der Drei-
teilung eines Winkels und der Verdoppelung des Würfels beschäftigte,
als mit der Quadratur des Kreises, nach der Literatur zu urteilen,
eine heiße Polemik zwischen Francesco Boaretti einerseits und
Vincenzo Dandolo und Antonio Romano andererseits, in den
Jahren 1792—93 über den vom ersteren gegebenen Versuch, diese
beiden Aufgaben mit Hilfe des Zirkels und Lineals zu lösen.*)
Die Literatur über die Lösung dieser drei berühmten Aufgaben
erschöpfte sich jedoch nicht mit den Werken, die im Druck er-
schienen. Der bedeutend größere Teil der Versuche, diese Aufgaben
zu lösen, blieb in Manuskripten und in diesem Zustande den Aka-
demien und gelehrten Gesellschaften vorgelegt, belästigte er sie äußerst,
da er zu seiner Durchsicht eine vollständig nutzlose Anwendung von
Mühe und Zeit beanspruchte Aus den zahlreichen Durchsichten in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war nur ein einziger Fall,
der der Wissenschaft einen neuen interessanten Satz gab. Er be-
‚schäftigte die Pariser Akademie der Wissenschaften, und wurde
im Artikel „Memoire sur la Quadrature de la partie bfd du cercle
ahrbda“ (par M. Bourrand°’)) des von ihr im Jahre 1774 ge-
druckten 6. Bandes der „Memoires de mathematique et de phy-
sique, presentes ä l’Academie Royale des Sciences, par divers Savans“
) Dra Teofila Zebrawskiego Bibliografija pismiennietwa polskiego z.
dziatu Matematyki i fizyki oraz ich zastösowan. W Krakowie 1873. ?) Anno
1776. ») p. 108—124. *) @. Valentin, Eine seltene Schrift über Winkel-
dreitheilung. Bibliotheca mathematica, VII (1893), S. 113—114. °) p. 400.
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 377
dargestellt. Der Gegenstand dieses Artikels war folgender neue Satz:
Wenn wir im Kreise rba eine Sehne ba ziehen, die die Endpunkte
des Bogens von 120° verbindet, und den Durchmesser hd, der den
Teil bd von 30° von diesem Bogen ab-
teilt, so stellt der Sektor cbd den
= Teil des Kreises rdba dar. Wenn d
danach mit der Sehne ad, die die End-
punkte des Bogens von 90° verbindet, „
um den Punkt a, als um das Zentrum,
der Bogen fd beschrieben wird, so wird
der Sektor fsad, der zum Zentriwinkel
“SD
A
a von 15° gehört, den 2 Teil des 4
Kreisss bilden, dem er angehört, und Fig. 8.
welcher doppelt so groß ist, als
der gegebene Kreis rba. Dieser Sektor wird folglich den = Teil des
Kreises rba darstellen, und deshalb dem Sektor cbd gleich sein.
Diese beiden Sektoren aber haben den gemeinschaftlichen Teil fsd
und deshalb
Asda = Acsb + bfd.
Es stellt sich auf diese Weise heraus, daß die Differenz zwischen den
Flächen der Dreiecke sda und csb durch die Fläche des Teiles bfd
des gegebenen Kreises ausgedrückt wird, worin eben der Beweis dieses
Satzes besteht.
Die sich immer vergrößernde Anzahl der der Pariser Akademie
der Wissenschaften vorgelegten Erzeugnisse der Kreisquadrierer und
anderer Personen, die sich mit anderen berühmten Aufgaben, wenn
auch in geringerem Maße, beschäftigten, erreichte endlich einen solchen
Umfang, daß die Akademie anfing ernstlich darüber nachzudenken,
ihre Mitglieder von der nutzlosen Anwendung der Zeit und der Mühe
bei dem Durchsehen dieser Erzeugnisse zu befreien. Zum Erreichen
dieses Zieles wurde das entschiedenste Mittel gewählt. Im Jahre
1775 veröffentlichte die Akademie folgende Erklärung: „L’Academie
a pris, cette annee, la r&solution de ne plus examiner aucune solu-
tion des Problemes de la duplication du cube, de la triseetion de
angle, ou de la quadrature du cercle, ni aueune machine annoncee
comme un mouvement perpetuel“.') Der beständige Sekretär der
Akademie, Condorcet, motivierte diese Erklärung durch folgende
Betrachtungen: Von der Aufgabe der Verdoppelung des Würfels ist
‘) Histoire de l’Academie Royale des sciences, annde 1775, p. 61.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 25
918 Abschnitt XXI.
alles, was nur möglich ist von ihr zu wissen, bekannt. Bekannt sind
' die einfachsten Methoden der Lösung; bewiesen ist, daß es nutzlos
sein würde, deren Lösung mit Hilfe nur eines Kreises und einer ge-
raden Linie zu machen. Die Analyse des Problems der Dreiteilung
eines Winkels ist so vollständig, daß sie schon seit langer Zeit nichts
mehr zu wünschen übrig läßt. Auf diese Weise kann es keinem
Zweifel unterliegen, daß diejenigen, die zur Lösung dieser Aufgabe
nur den Zirkel und das Lineal gebrauchen, ein fehlerhaftes Resultat
erhalten müssen. Diejenigen von ihnen, die zu richtigen Resultaten
gelangen, erreichen sie durch den unbemerkten Gebrauch auch anderer
Kurven zusammen mit dem Kreise und der geraden Linie, wodurch
ihre Lösungen sich von den schon bekannten nicht unterscheiden
können, und aus diesem Grunde wird deren Betrachtung vollständig
nutzlos. In einer ganz anderen Lage befindet sich die Aufgabe der
Quadratur des Kreises, Angenäherte Lösungen sind schon in großer
Anzahl gefunden, und die Akademie erkennt in vollem Maße den Wert
der Arbeiten in der Richtung der Vervollkommnung der Methoden
soleher Lösungen an. Die Kreisquadrierer jedoch suchen nicht die
angenäherten Lösungen, sondern die genauen. In Beziehung auf diese
letzten zerfällt. die Aufgabe der Quadratur des Kreises in zwei selb-
ständige Aufgaben: in der ersten wird die Quadratur des ganzen
Kreises gesucht, in der anderen die Quadratur irgend eines Teiles,
dessen Sehne als bekannt angesehen wird. Die Unmöglichkeit der
ersten Aufgabe wurde von solchen Autoritäten anerkannt, wie Gre-
gory und Newton, ist von vielen Geometern bewiesen, und am
besten von Johann Bernoulli. In betreff der zweiten Aufgabe
herrscht zwischen den Geometern keine solche Einstimmigkeit über
die Unmöglichkeit ihrer Lösung, infolge der häufig vorkommenden
Möglichkeit in besonderen Fällen die Größen zu bestimmen, was im
allgemeinen Fall unmöglich ist. Infolge dieser Lage der Sache fand
Condorcet zur Rechtfertigung der Erklärung der Akademie im be-
trachteten schwierigen Falle nichts besseres, als an ihre 70jährige Er-
fahrung zu appellieren, welche klar die vollkommene Nutzlosigkeit
für die Wissenschaft der Prüfung der ihr zugestellten eingebildeten
Lösungen dieser Frage gezeigt hat, als Erzeugungen von Autoren, die
mit der Natur und den Schwierigkeiten dieser Frage nicht bekannt
seien, und deshalb solche Methoden anwenden, die zur Lösung dieser
Frage nicht führen können, sogar in dem Falle, wenn sie möglich
wäre.
Es gab auch noch andere Aufgaben aus der Zahl der von der alten
griechischen Geometrie gestellten, für welche sich die Geometer in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts interessierten. So gaben
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 379
Lambert, Euler!) und Fuß?) neue Lösungen der Aufgabe über die
Konstruktion eines drei gegebene Kreise berührenden Kreises. Be-
sonderer Beachtung unter solchen Aufgaben erfreute sich die Auf-
gabe des Pappus von Alexandria von der Einbeschreibung in den
Kreis eines Dreiecks, dessen Seiten durch drei auf einer geraden Linie
gegebene Punkte gehen, welche von Cramer im Jahre 1742 in fol-
gender allgemeineren Formulierung dargestellt wurde: In einen Kreis
ein Dreieck einzuschreiben, dessen Seiten durch drei gegebene Punkte
gehen müssen. Diese, in der anfänglichen besonderen Form sehr ein-
fache Aufgabe stellte in der verallgemeinerten Form einige Schwierig-
keiten dar, die auch die Aufmerksamkeit der Geometer auf sie lenkten.
Als erster löste sie in dieser Form Castillon®), dem sie von Öramer
vorgelegt wurde. In demselben Bande der Memoiren der Berliner
Akademie der Wissenschaften gab auch Lagrange seine Lösung dieser
Aufgabe. Im Jahre 1780 erschienen drei neue Lösungen von Euler‘),
Fuß°) und Lexell®). In noch allgemeinerer Form und dabei end-
gültig wurde die Aufgabe des Pappus von Alexandria dargestellt
und gelöst von den italienischen Geometern: A. Giordano’) aus
Ottaiano, der diese Arbeit mit bemerkenswerter Einfachheit im Alter
von 16 Jahren verrichtete, und Malfatti.®) Die Aufgabe des Pap-
pus von Alexandria hatte in ihrer endgültigen allgemeinen Form
folgende Darstellung: In einen Kreis ein Vieleck einzuschreiben, dessen
Seiten in einer beliebigen Anzahl genommen durch eine gleiche An-
zahl von Punkten gehen müssen, welche in der Ebene des Kreises
willkürlich gelegen sind. Die letzte dieser Aufgabe gewidmete Arbeit
„am Ende des 18. Jahrhunderts war das Werk von Lhuilier®), welches
‘) Solutio facilis problematis, quo quaeritur circulus, qui datos tres circulos
tangat. Nova Acta Academiae Scientiarum Petropolitanae, VI, p. 95—101,
’) Solution du problöme de trouver un cercle, qui touche trois cercles donnes
de grandeur et de position. Ebenda, p. 102—113, °) Sur un problöme de
geom6trie plane, qu’on regarde comme fort diffieile. Nouveaux M&moires de
l’Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres, & Berlin, annde 1776, p. 265
bis 283. ‘) Problematis cujusdam Pappi Alexandrini constructio. Acta Aca-
demiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, 1780, I, p. 91—96. °) Solutio
problematis geometrici Pappi Alexandrini, ebenda, p. 97—104. 6) Solutio
problematis geometrici in Actis Academiae Scientiarum Berolinensis, pro Anno
1776, a celeb. Castillon propositi, ebenda, 1780, II, p. 70—90. ”) Con-
siderazioni sintetiche sopra di un celebre problema piano, e risoluzione di al-
quanti problemi affin. Memorie mat.-fis. della Societä Italiana delle scienze,
IV, 1788, °) Soluzione generale di un problema geometrico di Pappo Ales-
sandrino, ebenda, IV, 1788: °) Solution algebrique du probleme suivant: A
un cerele donne, inscrire un polygone dont les cötes passent, par des points
donnes. Nouveaux Memoires de l’Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres,
ä Berlin, annde 1796 (publie 1799), p. 94—116.
25*
380 Abschnitt XXI.
einige Änderungen in die Lösungen der italienischen Geometer hinein-
brachte.
Ebenso als Beendigung der Arbeiten, die schon früher ange-
fangen waren, nämlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts '),
erschien das Werk von Mascheroni La Geometria del compasso?),
das im Jahre 1797 erschien. Sein Gegenstand, wie schon aus dem
Titel ersichtlich, besteht aus der Lösung ausschließlich nur mit Hilfe
des Zirkels aller Aufgaben, die gewöhnlich mit dem Zirkel und Lineal
gelöst werden. Sich mit den Aufgaben der Elementargeometrie nicht
begnügend, zeigt Mascheroni in seinem Werke, daß die (reometrie
des Zirkels leicht zur angenäherten Lösung der Aufgaben von den
Kegelschnitten und sogar von noch höheren Teilen der Geometrie an-
gewandt werden kann. Lorenzo Mascheroni?) (1750-1800), ein
Abbe, beschäftigte sich am Anfang seiner wissenschaftlich-lehrenden
Tätigkeit mit Poesie und Belletristik. Aber nach einigen Jahren des
Vortrages der humanistischen Wissenschaften und der griechischen
Sprache in Bergamo und Pavia fühlte er sich zur Mathematik hin-
gezogen. Nachdem er sich ihrem Studium vollständig gewidmet hatte,
wurde er so bald ihrer Herr, daß er schon nach einem kurzen Zeit-
raum imstande war den Vortrag der Geometrie auf sich zu nehmen,
anfangs im Marienkollegium in Bergamo und danach im Archigym-
nasium in Tieino. Späterhin wurde er Professor der, Elementarmathe-
matik an der Universität in Pavia, Korrespondent der Akademie von
Padua und Mitglied der italienischen Gesellschaft der Wissenschaften.
Als überzeugter und heißer Anhänger der Revolution kam er mit
Enthusiasmus den Veränderungen in Italien entgegen, die die Armeen .
der ersten französischen Republik in ihr politisches Leben hinein-
brachten. Nach Gründung der zisalpinischen Republik wurde er zum
Mitglied des gesetzgebenden Körpers erwählt und begab sich bald
darauf nach Paris, um an der internationalen Kommission teilzunehmen,
die zur Ordnung des metrischen Systems der Maße und Gewichte zu-
sammengerufen war. Während seines Aufenthaltes in Paris und kurz
vor seinem Tode wurde er zum Mitglied des Stadtrats in Mailand er-
nannt.
ı) Die ersten Arbeiten dieser Art waren Cardanos und Tartaglias
Lösungen einiger Aufgaben der Geometrie von Euklid mit Hilfe eines Lineals
allein oder eines Lineals und Zirkels, der jedoch immer unveränderte Öffnung
hat. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, H?, S. 526—529
und häufiger.. ) Pavia, 8°, VIIT-+ 264 pp., 14 tavole. In das Französische von
Carette (Paris 1798) übersetzt und später von Gruson (Berlin 1825) ins
Deutsche. 5) Poggendorff, II, S. 71—72. Biografia di Lorenzo Mascheroni
di Camillo Ugoni, Bergamo 1873. Bibliografia mascheroniana per Giuseppe
Ravelli, Bergamo 1881.
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 381
Durch das Einführen der Algebra in die Elemente der Geometrie
in Widerspruch mit den altgriechischen Geometern geraten, setzte
Legendre denselben Weg fort. In seinen Arbeiten gab er den analy-
tischen Methoden einen weiten Zugang in der Lösung der Fragen der
Elementargeometrie. So gibter im V. Anhang zu seinen „Elementen“
analytische Lösungen der Aufgaben, die da handeln von Dreiecken,
in einen Kreis eingeschriebenen Vierecken, Parallelepipeden und der
dreiseitigen Pyramide. Bei der Wahl eines Beispiels aus ihnen für
unsere Darstellung genügt es an der Bestimmung des Radius des
Kreises, der um ein Viereck umschrieben ist, und an dessen Fläche,
als Beispiele, in denen der Autor die
Theorie des eingeschriebenen Vierecks er-
gänzt hat und welche deshalb eine selb-
ständige Bedeutung haben.
Es seien die gegebenen Seiten des \ n
\ ce
B
dem Kreise eingeschriebenen Vierecks
ABCOD A
AB=a BC=b, CD=c DA=d,
D
und seine unbekannten Diagonalen AC=, Fig. 9
BD=y. Dann werden auf Grund-
lage der Theoreme über das Produkt der Diagonalen eines eingeschrie-
benen Vierecks und über ihr Verhältnis
&y=ac+bd und Per
y ab+cd’
daraus folgt, daß
Geb (ac + bd) (ad + be) a (ae+bd)(ab+cd)
Mn sn
ab-+cd e ad-+be
Wenn man sich danach der bekannten Darstellung des Radius eines
umschriebenen Kreises des Dreiecks durch die drei Seiten und die
Fläche des letzteren bedient, so erhält man für den gesuchten Radius,
als den Radius eines umschriebenen Kreises des Dreiecks ABC, den
Ausdruck
abx
= — —
Via?b?— (a + b?— x)?’
welcher sich nach Ersetzen des x durch seinen eben gefundenen Wert
und ferner nach Zerlegung der erhaltenen Resultate in Faktoren in
den endgültigen Ausdruck verwandelt
"pi V 0 (ae+ba)(adtbo)ab+c
a+b+ce—dy(a+b+d— g)la+ctd=b)b+c+d—a
382 Abschnitt XXL.
Auf Grundlage derselben Darstellung des Radius eines einem Dreieck
umschriebenen Kreises durch dessen drei Seiten und seine Fläche
werden die Flächen der Dreiecke ABC und ADC sich in folgenden
Ausdrücken darstellen
5 1
— ab& — edz
AABO= " _— und AADO=--<-
und folglich wird die ganze Fläche des dem Kreise eingeschriebenen
Vierecks sein
AB
oder nach Ersetzen des x und des 2 durch ihre Werte
ABCD
-— , Va +b+e-d)(a+tb +d—o$latetd-dotc+d-a),
und bei p= —(a+b+c+d)
ABOCD=-Yp-p-)P-A(P—d).
Wenn eine so weite Anwendung der analytischen Methoden in
den elementar-geometrischen Untersuchungen von Gelehrten zugelassen
wurde, welche überzeugte Anhänger der altgriechischen Geometer
waren, so ist es nicht schwer sich vorzustellen, wie in solchen Fällen
Gelehrte, die sich anders zu den Alten verhielten, handelten. In
ihren Schriften haben die synthetischen Methoden vollständig den
analytischen den Platz geräumt. Diese Erscheinung ist unmöglich
außer acht zu lassen, als sehr charakteristische für die elementar-
geometrischen Untersuchungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts.
Die sphärische Geometrie bis in die zweite Hälfte des
18. Jahrhunderts überschritt fast gar nicht die engen Grenzen ihres
kleinen Teils, den sie mit der sphärischen Trigonometrie teilte und
die sich mit den sphärischen Dreiecken beschäftigte. Dieser Teil,
durch die Bedürfnisse der Astronomie und nachher als notwendig für
die Navigation und Geodäsie ins Leben hervorgerufen, entsprach un-
geachtet der erreichten hohen Entwicklungsstufe nur demjenigen
kleinen Teil der Geometrie der Ebene, der zum Gegenstand die gerade
Linie und das Dreieck hat. Alle anderen Teile der sphärischen Geo-
metrie jedoch, die den viel größeren Teilen der Geometrie der Ebene
entsprachen, harrten noch ihrer Forscher. Als erster erschien in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der schon oben erwähnte Anders
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 383
Johann Lexell (1740—1784)!). Er wurde in der Stadt Abo geboren und
fing seine wissenschaftlich-lehrende Tätigkeit an der Universität als Dozent
der Mathematik in derselben Stadt an. Im Jahre 1769 wurde er Mitglied
der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften, und im Jahre 1771
war er daselbst schon Professor der Astronomie und ordentlicher
Akademiker. Er wurde ebenfalls zum Mitglied der Akademie der
Wissenschaften in Stockholm ernannt. Da in Petersburg die Astro-
nomie das Hauptfach Lexells wurde, so gehörten ihr alle seine
Schriften, die in einzelnen Ausgaben erschienen und der größte Teil
derer, die in den Veröffentlichungen der Akademien in Petersburg und
Stockholm und in den „Philosophical Transactions“ enthalten waren.
Von den Abhandlungen Lexells in der Mathematik gehörten sechs
der Geometrie an, acht der Integralrechnung, je zwei der Differential-
rechnung, der Trigonometrie und der Geodäsie, vier der theoretischen
Mechanik und je eine der Algebra und den Reihen. Von den astro-
nomischen Arbeiten Lexells waren am bekanntesten seine Schriften
über die Sonnenparallaxe und ihrer Bestimmung, die sich in den Ver-
öffentlichungen der Petersburger und Stockholmer Akademien befanden.
Als auf die wichtigste von ihnen ist auf die im Jahre 1772 in Peters-
burg als Sonderausgabe erschienene „Disquisitio de investiganda vera
quantitate parallaxeos solis, et transitu Veneris ante discum solis
anno 1769“?) hinzuweisen, in welcher der Autor, die Berechnungen
nach den Methoden Eulers führend, die Sonnenparallaxe gleich 8”,68
fand. |
Die erste Arbeit Lexells, die der sphärischen Geometrie ge-
widmet war, war der Artikel „De epieycloidibus in superfieie sphaerica
descriptis“®), der, wie aus dem Titel zu ersehen, sich mit Gegen-
ständen beschäftigte, die schon früher von den Geometern berührt
worden waren. Als vollständige Neuheit, dem Gegenstand der Er-
forschung nach, traten folgende drei Arbeiten Lexells hervor, welche
in den Jahren 1781 und 1782 erschienen „Solutio problematis geo-
metrici ex doctrina sphaericorum“*), „De proprietatibus eireulorum in
superficie sphaerica descriptorum“?) und „Demonstratio nonnullorum
theorematum ex doetrina sphaerica“.°) Als Hauptgegenstand ihrer
Betrachtung erscheinen die Eigenschaften von Kreisen, die auf der
') Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch, I, S. 1444
bis 1446. Precis de la vie de M. Lexell. Nova Acta Academiae Seientiarum
Imperialis Petropolitanae, II. Historia Academiae ad annum 1784, p. 16—19.
®2) 4°, 131 S., mit 1 Tafel. ») Acta Academiae Scientiarum Imperialis Petro-
politanae pro Anno 1779, pars I, p. 49—71. *, Ebenda, pro Anno 1781,
pars I, p. 112—126. °) Ebenda, 1782, pars I, p. 58—103. °) Ebenda 1782,
pars II, p. 85—95.
384 Abschnitt XXI.
Kugel konstruiert sind. In der Geometrie der Ebene werden folglich
analog zu diesem Gegenstande Eigenschaften von Kreisen, welche in
der Ebene konstruiert sind, vorhanden sein.
Als der am meisten bemerkenswerte Satz aus diesem von Lexell
gewählten Gebiet der sphärischen Geometrie erkennt man gewöhnlich
das schöne Theorem über die Linie, die den geometrischen Ort der
Spitzen der sphärischen Dreiecke darstellt, welche eine gemeinschaft-
liche Basis und gleiche Oberfläche haben. Angenommen, ABC sei
eines der sphärischen Dreiecke, deren gemeinsame
Basis AB= e ist und die gegebene Oberfläche
A+B+U-x=S. Es sei ferner JPK der
unbestimmt verlängerte Perpendikel, der auf AB
in der Mitte errichtet ist. Dann wird, wenn JP
ein Quadrant ist, der Punkt P der Pol des Bogens
ADB sein und der Bogen PÜD, der durch die
Punkte P und (gezogen ist, perpendikular zu Ab
sein. Es sei weiter JD=p»p, ÜD=g, dann wer-
den die rechtwinkligen Dreiecke AUDund BCD,
a in welchen AU=b, BUÜ=a, AD=p +36,
BD=» en ist, geben
%
Cosa — COSQ COS (p — > c)
cosb = cosgq cos (p +50):
Setzt man jetzt in die schon früher gefundene Formel
1+cosa—+ cosb + cosc
1
ct,8 = sina-sinb- sine
die Werte
1
cosa + cosb — 2c08 9: 008P-C085 €
ol
1 + cosce = 2co08s?— c
i N . ; a | 1 i
sinb sin O=sinc-sinB= 2sinZc-cos. c-sinB,
so bekommt man:
1
cos 3r# CO8P-Cosgq
4
cot 8 —
r sina-sinnc-sin B
Außerdem ist noch in dem rechtwinkligen Dreieck BOD
sina-sinD= sing
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 385
und folglich
1
cos —C-+ c08 P-cosq
re. 2
ct, 8 —
in —c - sin
sin z ing
oder
rt 1
(1) c08p-cosg — cot,S-sin„c- sing — 0856,
was endlich auch jene Beziehung zwischen » und g vorstellt, die die
Linie bestimmen muß, auf der alle Punkte ( gelegen sind.
Wenn man jetzt JP um die Größe PK=x verlängert und
KO=y zieht, so läßt sich die Seite KXC des Dreiecks PKC, in
welchem PC = on — q und der Winkel KPC=x—p aus der
Formel
cos KÜ = cos KPÜ:sin PK-sın PÜ-+ cos PK cos PC
oder
COS y = SING: C0OSC — SINT-COSIG-COSP
bestimmen. Man erhält nach Substitution des nach der Formel (1)
gefundenen Wertes von c0osg:-cosp
: 1 : 1 en
cos y = sın®-cos,c+ sin q (cos — sın cot,. S-sin, c)-
Man sieht daraus, daß wenn man annimmt
i 1: rt
Cost — sin x-cob8-sin„c— 0
oder
1 $
or = cot,S-sinzc,
alsdann gefunden wird
(2) cos y = sin@- 6085 c
und folglich wird der Wert y eine Konstante werden.
Erriehtet man also auf der Basis AB in der Mitte den Perpen-
dikel JP und nimmt auf der andern Seite des Pols den Bogen PK
so, daß
ct PK = cot , S-sinze,
so werden alle Spitzen der Dreiecke, die eine gemeinschaftliche Basis C
und gleiche Oberfläche S$ haben, auf dem kleinen Kugelkreise EC.
gelegen sein und alle Punkte dieses Kreises EC denselben nach der
Formel
cos KÜ = sin PK-cos , e
gefundenen Abstand XC von dem Pol K haben.
386 Abschnitt XXI.
Die Bedeutung, die Lexell selbst diesem Theorem gab, oder, wie
er es nannte, diesem Problem, ist daraus ersichtlich, daß er ihm einen
besonderen Artikel widmete, nämlich die schon oben erwähnte „So-
lutio problematis geometriei ex doctrina sphaerieorum“. Legendre
stellte am Ende seiner Bemerkung X!) zu seinen „El&ments de gE0-
metrie“ die Lösung dieses Theorems in einer gedrängteren Weise dar,
als der Autor. In dieser Form ist sie auch von uns dargestellt.
Nach dem Tode von Lexell übernahmen die Fortsetzung der
von ihm unternommenen Ausarbeitung der sphärischen Geometrie
zwei andere Mitglieder der Petersburger Akademie der. Wissenschaften
Nikolaus Fuß und Friedrich Theodor Schubert. Der erste von
ihnen legte die Resultate seiner Untersuchungen in diesem Gebiet in
den im Jahre 1788 erschienenen zwei Memoiren: „Problematum quo-
rundam sphaericorum solutio“?) und „De proprietatibus quibusdam
ellipseos in superficie sphaerica descriptae“.?) In dem ersten von ihnen
löste Fuß folgende drei Aufgaben: Auf gegebener Basis zwischen zwei
gegebenen größten Kugelkreisen ein Dreieck zu konstruieren, an dessen
Spitze der Winkel ein Maximum sei; ein Dreieck zu konstruieren,
an dessen Spitze die Summe zweier Seiten ein Minimum sei; ein
Dreieck zu konstruieren, dessen Fläche ein Maximum sei. Da die
Lösung der ersten Aufgabe zu einer kubischen Gleichung führt, so
untersucht der Autor zuerst die Bedingungen, bei denen die Aufgabe
drei Wurzeln zuläßt. Diese Untersuchung findet mit Hilfe der Drei-
‚teilung des Winkels statt und wird von Berechnungen begleitet, die
einem bestimmten Fall angehören. Danach folgt die Betrachtung des
Falles, bei dem die beiden größten Kugelkreise aufeinander senkrecht
stehen und welcher die kubische Gleichung zur Gleichung vom zweiten
Grade bringt. Obwohl die zweite Aufgabe nicht schwer erscheint,
führt dennoch der Gebrauch gewöhnlicher Mittel zu ihrer Lösung zu
solchen Gleichungen, deren Lösung große Schwierigkeiten in den Weg
setzen. Der Autor umgeht sie, indem er die Spitze des Dreiecks um
einen unendlich kleinen Bogen ändert, als Resultat erscheint eine
äußerst einfache Lösung. Außer dem Memoire von Fuß, und sogar
früher als dessen Erscheinung, erschien die dritte Aufgabe im zweiten
Heft des „Leipziger Magazins für reine und angewandte Mathematik“
von J. Bernoulli und Hindenburg, was darauf hinweist, daß die
deutschen Gelehrten an den Untersuchungen über die sphärische Geo-
metrie, die von den Petersburger Akademikern ausgeführt wurden,
ı) Note X. Sur l’aire du triangle spherique. ?) Nova Acta Academiae
Scientiarum Imperialis Petropolitanae, II, p. 70-83. ®) Ebenda, II, p. 90
bis 99.
Elementargeometrische Einzeluntersuchungen. 387
ebenfalls teilzunehmen anfingen. Ungeachtet, daß die Lösung dieser
Aufgabe schwieriger erscheint, als die der zweiten, gelang es Fuß mit
Hilfe der Methode, die der Methode der zweiten Aufgabe ähnlich ist,
einen viel schöneren Ausdruck der Lösung der dritten Aufgabe zu
finden, welcher dabei geometrisch auf der Kugel konstruiert werden
kann. Sein zweites Memoire widmete Fuß den Eigenschaften der
bekannten sphärischen Ellipse, d. h. der Kurve, die den geo-
metrischen Ort der Spitzen der Dreiecke darstellt, in denen bei ein
und derselben Basis die Summe der zwei andern Seiten konstant ist.
Zu der Untersuchung dieser Eigenschaften, die den Eigenschaften der
ebenen Ellipse analog sind, wurde Fuß durch die zweite Aufgabe des
ersten Memoires veranlaßt. Als Resultat dieser Untersuchung erschien
die Schlußfolge, daß die zu betrachtende Kurve eine Durchschnitts-
linie der Kugel mit dem Kegel zweiten Grades sei, dessen Spitze in
dem Mittelpunkt der Kugel liegt. Anders ausgedrückt: die sphärische
Ellipse ist die Krümmungslinie der Kegel zweiten Grades. Sie kann
auf der Kugel konstruiert werden, ebenso wie die Ellipse in der Ebene,
d. h. mit Hilfe eines Fadens, welcher von einem sich bewegenden
Stifte stets straff gespannt wird und dessen Enden in zwei Brenn-
punkten befestigt sind. Wenn man die Abszisse dieser Kurve auf
dem größten Kugelkreise nimmt,
der durch die Punkte A und B
geht, in denen die Enden des
Fadens befestigt sind, indem
man aus der Mitte Ü zwischen
ihnen ausgeht, und diese Abszisse
mit x bezeichnet, die Ordinate
auf dem größten Kugelkreise Fig. 11.
(z. Be YX), der senkrecht
zum größten Kugelkreise ACB steht, mit y bezeichnet, die Länge
des Fadens A Y_B mit 2c und den Bogen des größten Kugelkreises AB
mit 2a, so kann man mit Hilfe der sehr bekannten Transformationen
und Reduktionen bei dem Kalkül der Sinusse eine Gleichung erhalten
Vin? e — sin?a) (sine — sin?x)
sine. cose ’
tangy =
welche die Natur der sphärischen Ellipse ausdrücken wird. Die An-
wendung dieser Gleichung auf den speziellen Fall, in welchem die
Länge des Fadens 2c gleich der halben Peripherie des größten Kugel-
kreises ist, führte den Autor zu folgendem bemerkenswerten Resultat.
Wenn die Länge des Fadens der halben Peripherie des größten Kugel-
kreises gleich ist, so ist die mit ihrer Hilfe konstruierte Kurve immer
388 Abschnitt XXI.
ein größter Kugelkreis, wie groß auch die Entfernung zwischen den
beiden Punkten, in denen der Faden befestigt ist, sein mag.
Schubert beschäftigte sich in seinem der Petersburger Akademie
der Wissenschaften im Jahre 1798 mitgeteilten Memoire „Problemata
ex doctrina sphaerica“!), welches der Ausarbeitung der sphärischen
Geometrie gewidmet war, mit der Lösung der vier Fragen über die
geometrischen Orte der Spitzen der Dreiecke, in denen bei der ge-
gebenen Basis folgendes in den einzelnen Fällen gegeben wird: im
ersten das Verhältnis der Sinusse der beiden andern Seiten, im zweiten
das Verhältnis ihrer Kosinusse, im dritten das Verhältnis der Sinusse
der Hälften derselben Seiten und im vierten das Verhältnis der Ko-
sinusse derselben Hälften. Der Autor zeigt, daß der gesuchte geo-
metrische Ort in der ersten Frage dargestellt wird durch den Durch-
schnitt der Kugel mit dem Kegel, dessen Grundfläche eine Ellipse
ist, welche sich auf die Ebene der gegebenen Basis projiziert und als
Projektion die Hyperbel hat. Der erwähnte Durchschnitt stellt eine
Kurve doppelter Krümmung dar. Der geometrische Ort in der zweiten
Frage ist der zur Basis senkrechte größte Kugelkreis. Endlich sind
die gesuchten geometrischen Orte in der dritten und vierten Frage
durch zwei kleine Kugelkreise dargestellt, die untereinander gleich
und parallel sind und senkrecht zur gegebenen Basis stehen.
Parallelenlehre.
Beständig wachsend erreichte das Interesse an der Parallelenlehre
bei den Gelehrten im betrachteten Zeitraum von 1759 —1800 ein
solches Maß, das bedeutend dasjenige übertraf, welches in gleichen
Zeitabschnitten der vorhergehenden Periode erreicht wurde. In diesem
Zeitraum erschienen 67 Werke, die in ihrem ganzen Umfang, oder
einigen ihrer Teile, der Parallelenlehre gewidmet waren, während in
der ganzen vorhergehenden Periode, von Euklid angefangen, nur
55°) solcher Werke existierten. Der größte Teil der erwähnten
') Nova Acta Academiae Petropolitanae, XII, p. 196—216. 2) Engel
und Stäckel, Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauß, Leipzig
1895, 8. 287—316. Stäckel, Zur Bibliographie der Parallelentheorie. Biblio-
theca Mathematica. Neue Folge, XII, 8. 47—48. Zur Angabe der in diesen
beiden Werken bezeichneten Schriften sind noch zwei in Rußland erschienene
Arbeiten hinzuzufügen: das aus. dem Vorhergehenden bekannte Werk von
Gurief, „Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geometrie“ und der
Artikel „Theorie des lignes paralleles“, mitgeteilt in der Sitzung der Petersburger
Akademie der Wissenschaften im Jahre 1799 (24. Oktober). Nova Acta Academiae
Scientiarum Imperialis Petropolitanae, XV, p. 77—78.
Parallelenlehre. 389
Schriften, nämlich 44, gehörten Deutschland an. Was die andern an-
betrifft, so gehörten 7 Frankreich, ebenfalls 7 Italien, 4 England,
2 Rußland und je 1 der Schweiz, Schweden und Holland an.
Einer und vielleicht der wichtigste von den Gründen, welche die
soeben in Zahlen angegebene hohe Entwicklung des Interesses an der
Parallelenlehre in Deutschland hervorriefen, war das Erscheinen der
Dissertation „Conatuum praecipuorum theoriam parallelarum demon-
strandi recensio, quam publico examini submittent Abrah. Gotthelf
Kaestner et auctor respondens Georgius Simon Klügel“') im
Jahre 1763. Der Gegenstand dieser Dissertation bestand aus’ der
Geschichte der Parallelenlehre und der Kritik der ihr gewidmeten
30 Arbeiten. Die Idee zu diesem Werk, ebenso auch das dazu er-
forderliche Material, wurde dem Autor wahrscheinlich von Kästner
gegeben, der sich für die Parallelenlehre während seiner ganzen ge-
lehrten Tätigkeit interessierte. Indem er in seinen eigenen Unter-
suchungen auf diesem Gebiet nicht zu genügenden Resultaten gelangte,
suchte sie Kästner bei den anderen Autoren und stellte deshalb mit
Sorgfalt eine Sammlung derselben zusammen, welche am Ende seines
Lebens ziemlich bedeutenden Umfang erreichte. Diese Sammlung benutzte
natürlich Klügel bei seinen Arbeiten. Einige Angaben aus der Ge-
schichte der Parallelenlehre waren ebenfalls in dem Artikel von
Castillon „Sur les paralleles d’Euelide“?) enthalten.
Dank seiner Autorität und Popularität trug d’Alembert viel
dazu bei, das Interesse an der Parallelenlehre in Frankreich und
anderen Staaten Europas hervorzurufen und zu unterhalten. „Die
Erklärung und die Eigenschaften der geraden Linie sowie der paral-
lelen Geraden sind die Klippe und sozusagen das Ärgernis der Ele-
mentargeometrie“, hatte er in einem bemerkenswerten Aufsatze über
die Elemente der Geometrie 1759?) ausgerufen und hatte hinzugefügt,
man könne allerdings parallele Gerade als solche erklären, die auf
eirfer dritten Geraden senkrecht stehen, dann aber sei unbedingt er-
forderlich, zu beweisen, daß der Abstand der beiden Geraden immer
gleich dem gemeinsamen Lote sei. Später in dem im Jahre 1785
gedruckten Artikel „Parallele“*) in der Encyelopedie methodique
sagte er: „Der strenge Beweis der Theorie der Parallellinien ist viel-
leicht in der Elementargeometrie die schwerste Aufgabe. Wie es mir
scheint, ist die wahre und dabei die reinste Definition der parallelen
') Göttingen, 4°, 30 8., mit 1 Tafel. 2) Nouveaux me&moires de l’Aca-
demie royale de Berlin, annede 1786—1787, Berlin 1792, p. 233—254, anndes
1788— 1789, ib. 1793, p. 171—202, 4°. 3), D’Alembert, Melange de Litte_
rature, d’Histoire et de Philosophie. Nouvelle edition. T. V. Amsterdam, 8°.
*) T. II, 3° partie, p. 520. Mathömatiques.
390 Abschnitt XXI,
Linie, welche überhaupt gegeben werden kann, diejenige, welche sagt,
parallel seien Gerade, wenn zwei Punkte der einen gleichweit von
zwei Punkten einer anderen Geraden entfernt sind. Zwei Punkte an-
zuführen ist vollkommen genügend, weil zwei Punkte die gerade Linie
bestimmen. Danach muß bewiesen werden (und das ist das Schwerste),
daß alle anderen Punkte der zweiten Geraden gleichweit enifernt sind
von der gegebenen Geraden und daß folglich sich diese Linien niemals
schneiden werden. Zu sagen, daß die parallele Linie eine solche ist,
deren Punkte alle gleichweit von einer anderen Linie entfernt sind
oder eine solche, welche bei der Verlängerung sich niemals mit ihr
schneidet, heißt das, wonach gefragt wird, voraussetzen. Den großen
Geometern gleich zu sagen, daß zwei parallele Linien zwei gerade
Linien sind, die in einer unendlichen Entfernung oder in einem un-
endlich entfernten Punkte sich schneiden, das heißt einem vollkommen
einfachen Gegenstande eine äußerst metaphysische und abstrakte De-
finition geben.“ |
Wie auch früher, waren die Anstrengungen der Geometer der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sich mit der Theorie der
Parallellinien beschäftigten, auf die Entdeckung eines strengen Be-
weises der fünften Forderung des Euklid, oder, was dasselbe
ist, seines elften Axioms gerichtet, welches, wie bekannt, folgenden
Satz darstellt: Wenn eine Gerade zwei Gerade trifft und mit ihnen
auf derselben Seite innere Winkel bildet, die zusammen kleiner sind
als zwei Rechte, so müssen die beiden Geraden, ins Unendliche ver-
längert, schließlich auf der Seite zusammentreffen, auf der die Winkel
liegen, die zusammen kleiner sind als zwei Rechte. In der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts waren zwischen den, wie die oben an-
geführten Zahlen zeigen, zahlreichen Versuchen, den Beweis dieses
Satzes zu liefern, sehr wenig solche, die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich lenkten und die als vollkommen genügend angesehen in Lehr-
bücher übergingen. In der chronologischen Reihenfolge ihrer Er-
scheinung muß man vor allem bei dem Beweise von Bertrand stehen
bleiben, welchen er in seinem aus der früheren Darstellung bekannten
Werke „Developpement nouveau de la partie elömentaire des mathe-
matiques“!) gab.
Seinem Beweise der fünften Forderung schickte Bertrand fol-
genden Satz voraus: Zwei Gerade, welche von einer dritten Geraden
derart geschnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel, welche
auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, zwei Rechte be-
trägt, schließen einen solchen Teil der Ebene ein, der in der ganzen
') Tome II, p. 19—20.
Parallelenlehre. 391
Ebene unendlich vielmal enthalten ist. Und wirklich, wenn man auf
der Geraden @.H, die den angegebenen Bedingungen genügende zwei
gerade Linien AB und OD schneidet, die Strecke LM gleich der
Strecke KL macht und danach
durch den Punkt M die Linie EF G
zieht, die mit @H den Winkel /
F ML, gleich dem Winkel DLK,
bildet, so wird bei der Verschie- C
bungdes Streifens AC.D B, dieden
Punkt K zur Übereinstimmung
mit dem Punkt Z und die Strecke
KL mit der Strecke LM bringt, Fig. 12.
dieser Streifen mit dem Streifen
CEFD übereinstimmen, was daraus folgt, daß die Winkel DLM
und BKL, als den Winkel DLK bis zu zweien Rechten ergänzend,
einander gleich sein müssen. Da aber die Anzahl solcher Streifen,
wie OEFD, gleich der Anzahl der nacheinander in der Linie GH
eingetragenen Strecken LM ist, so wird bei der augenscheinlich un-
endlichen Zahl dieser Streeken auch die Anzahl dieser Streifen un-
endlich sein. Nachdem Bertrand auf diese Weise seinen vorläufigen
Satz bewiesen hat, geht er zur fünften Forderung über. Angenommen,
E
IS
ie erg
{
D
M L N
inf
A + B
Fig. 13.
daß die Geraden AB und CD, welche von einer dritten Geraden XL
derart geschnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel, welche
auf derselben Seite der schneidenden Geraden KL liegen, zwei Rechte
nicht beträgt. Es sei ebenso
LBKL+LDLK>2R,
dann
LAKL-+LCOLK<2R.
Wenn man nun die Gerade LM zieht, die den Winkel OLM bildet,
welcher so viel Grade, Minuten und Sekunden enthält, als der Summe
LAKL+LCLK fehlen, daß sie 2R gleich werde, so kann man
auf Grund des vorhergehenden vorläufigen Satzes sagen, daß die ganze
Ebene eine unendliche Anzahl solcher Streifen enthält, wie der Streifen
392 Abschnitt XXIL
MLKA. Dasselbe kann man jedoch vom Winkel MLC nicht sagen,
da er im Gegensatz zum Streifen MLKA in der ganzen Ebene eine
endliche Zahl mal enthalten sein wird, nämlich 360 mal bei der
Größe von 1 Grad, 21600mal bei der Größe‘ von einer Minute,
1296000 mal bei Größe von einer Sekunde usw. Aus diesem Grunde
wird die Voraussetzung, daß die Gerade LÜ sich auf der Seite von
A nicht mit der Geraden KA begegnet, zu einer Absurdität, da sie
zu dem Schlusse führt, der Winkel MLO, der in der ganzen Ebene
eine endliche Anzahl mal enthalten ist, sei im Streifen MLKA ent-
halten, welcher in der ganzen Ebene eine unendliche Anzahl mal ent-
halten ist oder, was dasselbe ist, bilde einen Teil von ihm. Also
ist es unmöglich, daß die Gerade LC sich mit der Geraden AK in
der Seite von A nicht trifft, oder, überhaupt gesagt, ist es unmög-
lich, daß sich zwei Gerade nicht treffen, die von einer dritten Ge-
raden derart geschnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel,
welche auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, zwei
Rechte nicht beträgt.
Um dem Leser die Kraft dieses Beweises verständlicher zu
machen, führt Bertrand zum Schluß folgende strengere Darstellung
seiner Gründe an. Wie klein oder wie groß ein Winkel auch sein
würde, dessen Scheitel im Zentrum des Kreises liegt, welcher mit
irgend einem endlichen Radius beschrieben ist, wird er immer ent-
weder zu einem Bogen gehören, der irgend eine Größe hat, oder zu
einem Bogen, der gar keine Größe hat. Im zweiten Falle werden
seine Schenkel zusammenfallen und folglich wird er kein Winkel
mehr sein. Was jedoch den ersten Fall anbetrifft, so wird, da die
Peripherie des Kreises selbst eine endliche Größe besitzt, das Verhält-
nis des Bogens, der dem Winkel gehört, zur ganzen Peripherie des
Kreises notwendig das Verhältnis einer endlichen Größe zu einer end-
lichen Größe sein, und folglich wird sich auch der Winkel selbst zur
ganzen Winkelgröße am Zentrum, wie eine endliche Größe zu einer
anderen endlichen Größe verhalten, was daraus folgt, daß die Zentri-
winkel sich zur ganzen Winkelgröße am Zentrum verhalten wie die
Bogen, die zu ihnen gehören, zur ganzen Peripherie des Kreises. Aber
zur gleichen Zeit wird derjenige Teil der Ebene, welcher von zwei
Geraden eingeschlossen ist, die von einer dritten Geraden derart ge-
schnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel, welche auf
derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, zwei Rechte beträgt,
sich zur ganzen Ebene nicht wie eine endliche Größe zu einer anderen
endlichen Größe verhalten, sondern wie eine endliche Größe zu
einer unendlichen. Der Streifen ACDB z. B. verhält sich zur
ganzen Ebene, dessen Teil er bildet, wie eine endliche Gerade KL
Parallelenlehre. 393
l
zu einer unendlichen Geraden KG. Also wie klein ein Winkel auch
sein wird, er wird immer den Teil einer Ebene übertreffen, welcher
eben mit dem Ausdruck „Streifen“ bezeichnet worden ist. Die Be-
hauptung, daß ein Streifen einen Winkel enthält, schließt folglich.
einen Widerspruch ein. Ebenso schließt auch die Behauptung einen
Widerspruch ein, daß zwei Gerade, welche von einer dritten Geraden
derart geschnitten werden, daß die Summe der inneren Winkel, welche
auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, zwei Rechte
nicht beträgt, sich bei der Verlängerung auf der Seite, wo diese
Summe kleiner als zwei Rechte ist, nicht treffen werden.
Einer großen Bekanntheit, die die Bekanntheit der angeführten
Beweisführung Bertrands bedeutend übertraf, erfreuten sich die dem-
selben Gegenstand gewidmeten Arbeiten Legendres hauptsächlich
dank der Verbreitung seiner Elöments de g&omötrie, in denen er sie
anbrachte. An Stelle der fünften Forderung selbst bewies er in diesen
seinen Arbeiten einige andere Sätze, auf denen die ganze Theorie der
Parallellinien ebenso streng begründet werden konnte, wie auf diese
Forderung. Ein solcher Satz war in der ersten Ausgabe der „Ele-
ments“ im Jahre 1794 der folgende: Wenn die gerade Linie BD das
Perpendikel zu AB ist und
eine andere Gerade AC mit D
derselben Linie AD einen
spitzen Winkel BAC bildet, E
so begegnen sich die Linien F
AC und BD bei genügender E C
Verlängerung. Legendre F
beweist diesen Satz auf fol- x
gende Weise: Der Punkt @,,„ __ 7 r
der Fußpunkt des Prpn 74 urn a)
dikels, der auf die Gerade AB ei
von irgend einem Punkte
F auf der Linie AC gefällt ist, kann nicht auf den Punkt A fallen,
noch auf irgend einen anderen Punkt auf der Linie AL. Die erste
Voraussetzung ist unmöglich, weil der Winkel BAF kein rechter ist.
Was jedoch die zweite Voraussetzung anbetrifft, so erweist sich seine
Unmöglichkeit aus folgenden Erwägungen. Wenn der Fußpunkt G
des Perpendikels zum Beispiel auf den Punkt H fallen würde, so
würde sich das angenommene Perpendikel FH im Punkte K mit dem
anderen Perpendikel AE, das auf der Geraden AB in dem Punkte A
errichtet ist, schneiden, dann würden von dem Punkte X aus auf die
Gerade AB zwei Perpendikel gefällt worden sein, was unmöglich ist.
Also kann der Punkt @, der Fußpunkt des Perpendikels FG, nur
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 26
394 Abschnitt XXII.
auf irgend einen Punkt der Linie AJ fallen. Auf Grund derselben
Erwägungen kann man weiterhin behaupten, daß der Fußpunkt M
des Perpendikels, der auf die Gerade AB von dem Punkte Ü aus ge-
fällt ist, nicht in den Punkt @ fallen kann und nicht in irgend einen
anderen Punkt der Linie @L, da der Punkt C auf der Geraden AU
in der Entfernung AC, die AF' übertrifft, genommen ist. Ebenso
kann auch der Fußpunkt N des Perpendikels, der auf die Gerade AB
von dem Punkte 7 aus auf der Geraden AC in der Entfernung von
AP genommen, die AC übertrifft, gefällt ist, nicht auf den Punkt
M, nicht auf irgend einen anderen Punkt der Linie ML fallen usw.
Also können die Fußpunkte M, N usw. der Perpendikel sich nur
bez. auf den Linien @J, MJ usw. befinden auf Entfernungen vom
Punkte A, die bez. die Entfernungen AG, AM usw. übertreffen. Auf
diese Weise werden nach der allmählichen Entfernung der Punkte der
Linie AC vom Punkte A, von denen Perpendikel auf die Linie AB
gefällt werden, auch diese Perpendikel sich vom Punkte A entfernen.
Dabei eine Grenze der Vergrößerung des Abstandes (z. B. AN) des
Fußpunktes des Perpendikels vom Punkte A bei der gleichzeitigen
Vergrößerung des Abstandes vom Punkte A desjenigen Punktes (z. B.
P), von dem das Perpendikel gefällt ist, vorauszusetzen, wäre absurd.
Und wirklich, nehmen wir an, daß das letzte oder das am meisten
vom Punkte A entfernte Perpendikel UM sei, so könnten wir, indem
wir auf der Verlängerung von AC den Punkt P nehmen würden, auf
dieselbe Weise, wie auch früher, beweisen, daß der Fußpunkt des
Perpendikels PN auf die Linie M.J fallen muß und folglich von A
auf einer Entfernung, die die Entfernung AM übertrifft, sein muß,
was der Voraussetzung widerspricht. Also können die Fußpunkte der
Perpendikel, die von den verschiedenen Punkten der Linie AC aus
auf AJ gefällt sind, in beliebig großen Entfernungen vom Punkte A
liegen, folglich wird auch unter ihnen ein solcher Fußpunkt sein, der
mit B zusammenfallen wird, oder, was dasselbe ist, das ihm ent-
sprechende Perpendikel wird mit BD zusammenfallen, woraus direkt
folgt, daß die Linien AC und BD bei genügender Verlängerung ein-
ander treffen werden.
Dieser Beweis ist nicht genau, da die Behauptung von der Ab-
surdität der Voraussetzung, daß es eine Grenze der Entfernung gäbe
zwischen dem Fußpunkt des Perpendikels und dem Punkte A, nicht
richtig ist. Und diese Ungenauigkeit ist der Aufmerksamkeit der
Zeitgenossen nicht entschlüpft. Gurief hat schon in seiner oben er-
wähnten kritischen Analyse der „Elements“ von Legendre folgende
Einwände diesbezüglich gemacht.) Wenn auch zusammen mit der
!) Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geometrie, 8. 189—190.
Parallelenlehre. 39
Entfernung des Punktes C von A der Abstand AM des Perpendikels
CM von demselben Punkte A wirklich eine unendliche Anzahl Zu-
wächse bekommen kann, so folgt noch lange nicht daraus, daß die
Voraussetzung von der Möglichkeit der Existenz einer Grenze für die
Entfernung AM absurd ist. Der Beweis Legendres setzt dabei nur
die Unmöglichkeit der Existenz des letzten der Perpendikel fest, die
von dem auf AC genommenen Punkte aus auf AB gefällt werden,
beweist jedoch in keinem Falle die Unmöglichkeit der Existenz einer
Grenze für den Abstand AM. Es kann jedoch kein Zweifel bezüg-
lich des ersteren herrschen, deshalb ist auch sein Feststellen nicht als
Beweis des betrachteten Satzes anzusehen. Was jedoch die Unrich-
tigkeit der Ansicht, daß die Voraussetzung der Existenz einer Grenze _
des Abstandes AM absurd sei, anbetrifft, so deckt sie G@urief mit
Hilfe folgender Betrachtungen auf. Da uns beim Beweise des Grundsatzes
der Theorie der Parallellinien noch nicht bewußt ist, ob den gleichen
Längen AF, FC, CP usw., die auf AP genommen, ebenso unter-
einander gleiche Größen entsprechen, nämlich AG, GM, MN usw,
die auf der Linie A.J durch die gefällten Perpendikel von den Punkten
F, C, P usw. abgetrennt sind, so entsteht die Möglichkeit zu sagen,
daß die Zuwächse des Abstandes AM z..B. der Reihe folgen
1 1 1
1 1
en 7 er ee 1er re
Da aber die Summe der Glieder dieser Reihe immer kleiner als 2 ist,
wie weit man sie auch fortsetzt, so folgt daraus direkt, daß, wie weit
der Punkt © sich vom Punkte A auch entfernen mag, das von ihm
aus gefällte Perpendikel CM auf der Linie AJ immer eine um zwei-
mal kleinere als die genommene Größe AG von ihr abschneiden
wird. Die verdoppelte Größe AG wird auf diese Weise zur Grenze
der Entfernung AM.
Den Beweis Legendres auf diese Weise widerlegend, gab Gu-
rief in demselben Werke!) seinen eigenen Beweis der fünften For-
derung, der mit dessen Teilung in drei Fälle anfing. Als ersten Fall
beweist er den, in welchem von den beiden inneren Winkeln, welche
auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen, der eine ein
spitzer, der andere ein rechter ist. Beim Beweise des zweiten, in
welchem beide innere Winkel, welche auf derselben Seite der schnei-
denden Geraden liegen, spitze Winkel sind, benutzt er den ersten Fall.
Was jedoch den dritten Fall anbetrifit, in dem der eine der inneren
Winkel, welche auf derselben Seite der schneidenden Geraden liegen,
') Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geometrie, S. 236—239.
26*
396 Abschnitt XXI.
ein spitzer und der andere ein stumpfer ist, so führt er dessen Be-
weis direkt auf den ersten Fall zurück. Der Beweis, den Gurief
dem ersten Fall gab, welcher den Fall darstellt, den Legendre zu
beweisen versucht, wurde Gurief durch das Durchsehen der Arbeit
des letzteren eingeflößt, wie er es selbst eingesteht, indem er mit dem
ihm eigenen Eigendünkel sagt: „Wie schwach und unbegründet dieser
Beweis des Herrn Legendre auch sei, er gab mir die Gelegenheit
diese Sache zu beendigen, auf die so viel Mühe verwandt worden ist,
wie im Altertum, so auch in der neuen Zeit, von den berühmtesten
Männern.“!) Dieser Beweis ist ebenso ungenau, wie der Beweis Le-
gendres, weil @urief unbemerkbar für sich selbst denselben Fehl-
tritt getan hat wie Legendre.
Indem Legendre von der Kritik Guriefs keine Vorstellung
hatte, da dieselbe in russischer Sprache erschien, war er selbst von
seinem Beweise nicht befriedigt. In der dritten Ausgabe seiner
„El&ments“, die im Jahre 1800 erschien, ebenso auch in allen folgen-
den bis zur achten einschließlich, bewies er an Stelle des Satzes, den
er als Grundsatz der Theorie der Parallellinien in der ersten Ausgabe
annahm, schon einen anderen, nämlich den Satz von der Gleichheit
der Winkelsumme eines Dreiecks mit zwei Rechten, welcher infolge
seines engen Zusammenhanges mit der Theorie der Parallellinien als
Grundsatz dieser Theorie ebenso streng angenommen werden kann,
wie der erstere Satz und wie die fünfte Forderung selbst.
Nach einer Reihe mißlungener Versuche, den direkten Beweis
dieses Satzes zu finden, war Legendre gezwungen bei dem indirekten
Beweise stehen zu bleiben, nämlich bei den Sätzen, daß die Winkel-
summe eines Dreiecks nicht größer sein kann als zwei Rechte, und
daß dieselbe Summe nicht kleiner sein kann als zwei Rechte. Für
den ersten dieser Sätze gab er folgenden vollkommen strengen Beweis.
Wenn es möglich ist, so sei das Dreieck ABO ein solches, bei dem
B D F' ZH K M oO @
2 a RE ar Pau ze Se Er |
Fig. 15.
die Winkelsumme größer als zwei Rechte ist. Indem man dann auf
der Verlängerung von AC die Strecke OE = AC nimmt, den Winkel
ECD=(CAB konstruiert, auf seiner Seite die Strecke CD= AB
') Versuch einer Vervollkommnung der Elemente der Geometrie, $. 190.
Parallelenlehre. 397
macht und sodann die entsprechenden Punkte durch die Linien DE und
BD verbindet, so bekommt man ein Dreieck ODE, das gleich dem
Dreieck ABC ist, da sie übereinstimmen in zwei Seiten und dem
eingeschlossenen Winkel. Aus der Gleichheit dieser Dreiecke folgt,
daß der Winkel OED= ACB ist, der Winkel ODE= ABC und
die dritten Seiten ED und BC gleich sind. Da die Linie ACE eine
Gerade ist, so ist die Summe der Winkel ACB, BCD und DCE
zwei Rechten gleich, und folglich laut der Voraussetzung, daß die
Winkelsumme des Dreiecks ABC größer als zwei Rechte ist,
CAB+ABC+BCA>ACb+BCD+DCE.
Indem man von beiden Seiten dieser Ungleichheit den gemeinsamen
Winkel ACB subtrahiert und ebenso die gleichen Winkel CAB und
ECD, bekommt man
ABCO>BCD;
und da die Seiten AB und BC des Dreiecks ABC gleich den ent-
sprechenden Seiten OD und CB des Dreiecks BCD sind, so wird die
dritte Seite AC größer als die dritte Seite BD sein. Wenn man sich
danach die Linie AE als unbegrenzt verlängert denkt, ebenso die auf
ihr konstruierte Reihe von gleichen und ähnlich liegenden Dreiecken
ABO, CODE, EFG, GHJ usw., so wird zu gleicher Zeit durch die
Verbindung der anliegenden Spitzen durch die Geraden BD, DF, FH,
HK usw. eine Reihe dazwischen liegender Dreiecke BCD, DEF,
FGH usw. erhalten, die alle untereinander gleich sein werden, als
solche, die übereinstimmen in zwei Seiten und dem eingeschlossenen
Winkel. Aus der Gleichheit dieser Zwischendreiecke folgt, daß
BD=-DF=-FH=MHK us.
Weil ACU>BD ist, sei die Differenz zwischen ihnen A0O— BD=D.
Dann wird 2D die Differenz zwischen der Geraden ACE, die gleich
2AC ist, und der geraden oder der gebrochenen Linie BDF sein,
die gleich 2.BD ist und ebenso AG — BH=3D, AJ— BK=4D usw.
Aber wie klein auch die Differenz D wäre, ist es augenscheinlich,
daß sie, genügend wiederholt, größer werden kann, als irgend eine
mögliche gegebene Größe, infolgedessen kann man immer voraus-
setzen, daß die Reihe der Dreiecke so weit fortgesetzt ist, daß
AP—BQ>2AB ode AP>BQ+2AB.
Andererseits jedoch dieser Folgerung widersprechend, muß die Gerade
AP kürzer sein als die gebrochene Linie ABQP, weil sie mit ihr
die gemeinsamen Endpunkte A und P hat, d. h. es muß immer sein
AP<AB+BQ+QP ode AP<BQ+2AB.
398 Abschnitt XXI.
Die Voraussetzung, von der man ausging, erweist sich auf diese Weise
als absurd, folglich kann die Winkelsumme des Dreiecks ABC nicht
größer als zwei Rechte sein. |
Dem zweiten Satze gab Legendre den Beweis, dessen Mangel-
haftigkeit er später selbst anerkannte'), indem er sagte, daß „dieser
zweite Satz, obwohl das Prinzip seines Beweises gut bekannt ist, uns
Schwierigkeiten stellte, die wir nicht vollends beseitigen konnten“.
Zu Legendres Versuchen des direkten Beweises des Satzes über
die Gleichheit der Summe der Winkel eines Dreiecks mit zwei Rechten
ist auch der Beweis dieses Satzes zu rechnen, welcher in der ersten
Ausgabe der „El&ments de g&ometrie“ angeführt wird, obwohl er auch
nicht mit der Absicht gegeben war, diesen Satz als Grundsatz der
Theorie der Parallellinien anzugeben. Ungeachtet dessen, daß dieser
Beweis in dem eben angeführten Memoire von Legendre?) wieder-
holt war, befriedigte er den Autor nicht, weil er sich nicht mit dem
Gebrauche der Mittel begnügte, die vom ersten Buche der Elemente
des Euklid geboten wurden, und teils synthetisch, teils analytisch war.
Hier ist dieser Beweis.
Indem wir unmittelbar durch Auflegung ohne Anwendung irgend
eines vorläufigen Satzes beweisen, daß zwei Dreiecke kongruent sind,
wenn sie übereinstimmen in einer Seite und den beiden anliegenden
Winkeln, bezeichnen wir die erwähnte Seite mit dem Buchstaben p,
die ihr anliegenden Winkel mit A und B und den dritten Winkel
mit ©. Es ist nötig, daß der Winkel C vollkommen bestimmt ist
im Falle, wenn die Winkel A und B und die Seite p bekannt sind,
weil im andern Fall den drei gegebenen Größen A, B, p einige
Winkel C entsprechen könnten und es ebenso viel verschiedene Drei-
ecke geben würde, die übereinstimmen in einer Seite und den beiden
anliegenden Winkeln, was unmöglich ist. Also muß der Winkel C
eine bestimmte Funktion der drei Größen A, B, p sein, was auf
folgende Weise dargestellt werden kann ÜO=g (A, B, p).
Wenn als Einheit der rechte Winkel genommen wird, so werden
die Winkel A, B, C durch Zahlen ausgedrückt werden können, die
zwischen 0 und 2 liegen; da aber ÖO=g (A, B, p), so erhalten wir
die Möglichkeit zu behaupten, daß die Funktion p die Linie p nicht
enthalten kann. Und wirklich, wenn dank der Eigenschaft des ©
durch die gegebenen Größen A, B, p allein vollkommen bestimmt
zu werden, irgend eine Gleichung zwischen A, B, C, p existieren
") Legendre, R£flexions sur differentes manieres de demontrer la theorie
des parallöles ou le th&eoreme sur la somme des trois angles du triangle.
Memoires de l’Academie Royale des sciences de l’Institut de France XII (1833),
p. 371. *) Ebenda, p. 372—374.
Parallelenlehre. 399
könnte, so könnte man aus ihr den Ausdruck der Größe p ableiten
in der Abhängigkeit von den A, B, ©, woraus folgen würde, daß die
Seite p einer Zahl gleich sein würde, was absurd ist. Also kann die
Funktion die Seite p nicht enthalten, und folglich ist O=g
(A, B).
Diese Formel weist gerade darauf hin, daß wenn zwei Winkel
eines Dreiecks zwei Winkeln eines andern Dreiecks gleich sind, so
auch die dritten Winkel gleich sind. Wenn aber das bewiesen ist, so
ist es nicht ‚schwer, auch das Theorem selbst über die Gleichheit der
Summe der Winkel eines Dreiecks mit zwei Rechten zu beweisen.
Zuerst nehmen wir ein rechtwinkliges Dreieck ABC mit dem
rechten Winkel bei A und fällen ein Perpendikel AD von diesem
Punkt A auf die Hypotenuse. Dann werden a:
die Winkel B und D des Dreiecks ABD den D
Winken B und A des Dreiecks BAC gleich
sein, und folglich wird, nach dem eben Be-
wiesenen, der dritte Winkel BAD dem dritten
Winkel C gleich sein. Auf Grund derselben Er-
wägungen wird der Winkel DAU=B sein, und folglich BAD+DAC
oder BAC=B-+C. Aber der Winkel BAC ist ein rechter, folglich
werden die beiden spitzen Winkel eines rechtwinkligen Dreiecks zu-
sammen einen rechten Winkel bilden.
Nehmen wir jetzt irgend ein Dreieck BAC, in dem die Seite BC
nicht kleiner ist, als jede der beiden andern Seiten. Wenn wir von
dem Scheitel des Winkels A, der der Seite
BC gegenüberliegt, auf diese Seite der
Perpendikel AD fällen, so wird dieses
Perpendikel im Innern des Dreiecks BAC
verlaufen und dasselbe in zwei recht- z
winklige Dreiecke BAD, DAC teilen.
Im ersten werden die beiden Winkel
BAD und ABD einen rechten Winkel bilden, ebenso auch im
zweiten die beiden Winkel DAC, ACD. Bei der Vereinigung
jedoch aller dieser vier Winkel werden sie die drei Winkel bilden
BAC, ABO, ACB, oder ebenfalls zwei Rechte. Also ist die Summe
der Winkel in jedem Dreieck zwei Rechten gleich.
Die Hauptarbeit in der Theorie der Parallellinien in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts und, wenn man die Arbeit von
Saccheri ausschließt, auch in der ganzen vorhergehenden Zeit, war
das Werk Lamberts „Theorie der Parallellinien“t). Es war schon
A £
Fig. 16.
Fig. 17.
') Magazin für die reine und angewandte Mathematik, herausgegeben von
400 Abschnitt XXII.
im September 1766 verfaßt, jedoch befriedigte es den Autor nicht
und wurde auch deshalb während seiner Lebzeiten nicht verlegt.
( Diese Pflicht bezüglich der wichtigen Arbeit fiel dem Direktor der
\ Königlichen Sternwarte zu Berlin, Johann Bernoulli (1744—1807),
Ye ‚ dem die Berliner Akademie der Wissenschaften den Nachlaß
Lamberts „unter annehmlichen Bedingungen“ überließ, „damit er
einen für das gelehrte Publikum nützlichen Gebrauch davon machen
sollte“.
In seinem Werk ging Lambert, Saccheri gleich, vom Viereck
ABDC, in welchem die Winkel A und B Rechte sind, aus. Wenn
in ihm ebenso auch der Winkel C ein
B D Rechter sein wird, so werden AB
und CD einander nicht begegnen
_ und die Frage wird auf den Winkel
Be ern “ BDc zurückgeführt, in Beziehung
zu welchem man drei Voraussetzungen
zulassen kann: _BDO = %0°%, LBDC>W%°, LBDUÜ<MW.
Nach der Durchsicht einer jeden dieser Voraussetzungen im ein-
zelnen unter den entsprechenden Titeln: „Erste Hypothese“!), „Zweite
Hypothese“?) und „Dritte Hypothese“?) kommt Lambert hin-
sichtlich der ersten zum Schluß, daß sie mit der Annahme des
fünften Euklidischen Postulats gleichbedeutend ist, und die zweite
Hypothese auf einen Widerspruch führt. Endlich macht er bei
der dritten Hypothese stillschweigend eine mit dem zu beweisenden
Postulate gleichbedeutende Annahme. Dieser letzte Umstand war
auch wahrscheinlich einer der Gründe, und vielleicht auch der Haupt-
grund der Unzufriedenheit des Autors mit seiner Arbeit, die ihn an
deren Druck hinderte. Die schwachen Seiten des Werks von Lam-
bert verhinderten ihn jedoch nicht bei seiner weiteren, viel weiter als
bei Saccheri gehenden Betrachtung von der zweiten und dritten
Hypothese zu einigen bemerkenswerten Resultaten zu gelangen. So
findet er, daß wenn eine von jenen beiden Hypothesen stattfände
ein absolutes Maß der Länge vorhanden wäre. Als letztes und vielleicht
als wichtigstes Resultat erscheinen die Betrachtungen über den Flächen-
inhalt des Dreiecks, die Lambert zeigten, daß dieser Flächeninhalt
bei der zweiten und dritten Hypothese der Abweichung der Summe
der Winkel des Dreiecks von zwei Rechten proportional ist. Dieser
Schluß bringt ihn zur folgenden wichtigen Bemerkung: „Hierbey
Bernoulli und Hindenburg, Leipzig 8°, Jahrgang 1786, 2. Stück, S. 137 bis
164; 3. Stück, $. 325—358. Engel und Stäckel, Die Theorie der Parallel-
linien von Euklid bis auf Gauß, Leipzig 1895, S. 152—207.
1) 8. 180-185. 2) 9.186—192. °) $. 192207.
Parallelenlehre. 40]
scheint mir merkwürdig zu seyn, daß die zwote Hypothese statt hat,
wenn man statt ebener Triangel sphärische nimmt, weil bei diesen
sowohl die Summe der Winkel größer als 180 Gr. als auch der
Überschuß dem Flächenraume des Triangels proportional ist. Noch
merkwürdiger scheint es, daß, was ich hier von den sphärischen
Triangeln sage, sich ohne Rücksicht auf die Schwierigkeit der Parallel-
linien erweisen lasse, und keinen andern Grundsatz voraussetzt, als
daß jede durch den Mittelpunkt der Kugel gehende ebene Fläche die
Kugel in zween gleiche Theile theile. Ich sollte daraus fast den
Schluß machen, die dritte Hypothese komme bey einer imaginären
Kugelfläche vor. Wenigstens muß immer etwas seyn, warum sie sich
bey ebenen Flächen lange nicht so leicht umstoßen läßt, als es sich
bei der zwoten tbun ließ.“')
Als er, wie die Bemerkung zeigt, erfuhr, daß die zweite Hypo-
these sich auf der Kugel verwirklicht, ging Lambert weiter und
sprach die für seine Zeit außerordentlich kühne Vermutung aus, dab
zu demselben für die dritte Hypothese die imaginäre Kugelfläche
führe. Damit schaute er weit in die Zukunft, weil die Richtigkeit
seiner Vermutung erst ein ganzes Jahrhundert nachher bewiesen werden
konnte. Vollkommen möglich ist es, daß er zu seiner Vermutung ge-
langte, indem er den Radius der Kugel r durch den Wert Y—-1-r
in der Formel
r(A+B+C-n)
ersetzt, die zum Ausdruck des Flächeninhaltes des sphärischen Drei-
ecks mit den Winkeln A, B, C dient. Als Resultat dieser Ver-
tauschung mußte er den Ausdruck
(a —A—B-(C)
bekommen, was dem Forscher zeigte, daß auf der imaginären Kugel,
ebenso wie auf der wirklichen, der Flächeninhalt des Dreiecks der
Abweichung der Winkelsumme des Dreiecks von zwei Rechten pro-
portional ist und daß dieselbe Summe nicht größer sein kann als
zwei Rechte, d. h. alles das, was den Inhalt der dritten Hypothese
bildet.
Mit der Theorie der Parallellinien beschäftigte sich ebenfalls
Lagrange. Er war, ebenso wie Lambert und Legendre, von den
erhaltenen Resultaten nicht befriedigt, was aus folgenden übrigens
sehr ungenügenden Auskünften zu ersehen ist. Nach der Mitteilung
Leforts, von Hoüel?) dargestellt: „Lagrange hatte erkannt, dab
) Engel und Stäckel, Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis
| auf Gauß, Leipzig 1895, S. 202—203. ®, Hoüel, Essai ceritique sur les prin-
26 **
402 Abschnitt XXI.
die Formeln der sphärischen Trigonometrie von dem elften Axiome
unabhängig sind, und hoffte hieraus einen Beweis dieses Axioms zu
gewinnen. Alle anderen Beweisversuche betrachtete er als ungenügend.
So hat er sich in seinen Unterhaltungen mit Biot ausgedrückt.“ Und
nach der Erzählung von de Morgan!): „Lagrange verfaßte am
Ende seines Lebens eine Abhandlung über die Parallellinien. Er be-
gann sie in der Akademie zu lesen, aber plötzlich hielt er inne und
sagte: ‚Il faut que j’y songe encore‘; damit steckte er seine Papiere
wieder ein.“
cipes fondamentaux de la geometrie el&mentaire ou commentaire sur les XXXII
premieres propositions des El&ments d’Euclide p. 76.
') Engel und Stäckel, Die Theorie der Parallellinien usw., $. 212.
Verbesserungen.
S. 58 2. 2 v. u. statt 2) Ebenda, 8.79, 80 lies 2) A. De Morgan, op. eit. 8. 79, 80.
3. 59 2. 4 v. u. statt S. E. Morgan lies $. E. De Morgan.
ABSCHNITT XXIII
TRIGONOMETRIE : POLYGONOMETRIE
UND TAFELN
VON
A.v. BRAUNMÜHL
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 27
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeit-
| genossen und Nachfolger.
Die definitive Umgestaltung der Trigonometrie war 1753 durch
den ersten grundlegenden Aufsatz Eulers angebahnt worden (vgl. IIT?,
S.560—561 und 867—869), obwohl derselbe seine praktische Be-
zeichnungsweise der trigonometrischen Funktionen schon viel früher
in seinen zahlreichen Abhandlungen sowie in der „Introduetio“ an-
gewendet hatte. Diese Bezeichnungsweise, die in der Hauptsache der
noch jetzt gebräuchlichen entspricht, war auch von einigen der her-
vorragendsten Mathematiker, wie von den Franzosen Clairaut und
d’Alembert, alsbald mit Glück gebraucht worden, während andere
und darunter namentlich die Engländer sich noch ziemlich lange teils
der älteren Abkürzungen!) bedienten, teils überhaupt keine Formeln
schrieben. Die Wichtigkeit seiner Schreibweise für die ganze Mathe-
matik hat Euler selbst mit folgenden Worten hervorgehoben?): „Wenn
dies (nämlich die Einführung der trigonometrischen Funktionen in
den Kalkül) auch nicht von großer Wichtigkeit scheinen möchte, da
es hauptsächlich auf der von mir in die Rechnung einge-
führten Bezeichnungsweise dieser Größen beruht...., so hat
doch eben diese Art der Bezeichnung nachmals der ganzen Analysis
so große Hilfsmittel verschafft, daß dadurch ein fast neues Feld er-
schlossen wurde .. .“
Ferner hat Euler”), wenn er dies auch nirgends ausdrücklich her-
vorhob,“ die trigonometrischen Funktionen nicht mehr allein als
Linien, wie es bisher stets geschehen war, sondern fast durchweg als
Verhältnisse aufgefaßt. Dies geht aus verschiedenen Stellen seiner
Schriften auf das deutlichste hervor und war schon durch den Um-
') Vgl. z.B. die Bezeichnung bei F. C. Maier, III?, S. 559. Ausführlicheres
hierüber in: A. v. Braunmühl, Die Entwicklung der Zeichen- und Formel-
sprache in der Trigonometrie. Bibl. math. (3) III, 1902, p. 64—74. 2, Subsidium
caleuli sinuum. Novi Comment. Acad. sc. Petrop. ad annos 1754/55, erschienen
1760, V,p.164—165. ®) So z. B. in „Annotationes in locum quendam Cartesii ad
eirculi quadraturam spectantem“. Novi Comment. Acad. Petrop. 1760/61 (er-
schienen 1763), VIII, p. 159 ff.; ferner in „Trigonometria sphaerica universa“. Acta
Acad. Petrop. 1779, I, p.73. Vgl. auch die Übersetzung von E. Hammer, Ost-
walds Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 73, p. 41.
27°
406 Abschnitt XXIII.
stand gefordert, daß er sie als Winkelfunktionen in die Ana-
lysis einführte‘). Simon Klügel, auf den wir weiter unten noch
ausführlich zu sprechen kommen werden, hat diese Neuerung mit
folgenden Worten gekennzeichnet?): „Nach der alten Ansicht der go-
niometrischen Funktionen waren es bloße Linien, die man unter sich
und mit dem Halbmesser zu Gleichungen verknüpfte..., und hier den
Halbmesser zur Einheit nehmen, war nur Ersparung im Schreiben,
welche die Gleichartigkeit (Homogeneität) der Glieder zerstörte. Nach
der neuen, durch Euler eingeführten, sind sie Zahlgrößen,
welche die Gleichartigkeit der Glieder nicht aufheben, ...“ Aber
obwohl schon Eulers Arbeiten den Vorteil dieser Auffassung ins
Licht setzten, und später Klügel und andere für sie eintraten, dauerte
es noch bis tief in das 19. Jahrhundert hinein, bis dieselbe auch ın
der elementaren Trigonometrie durchgriff und überall festen Fuß faßte.
Ähnlich ging es auch mit jenem so einfachen und in seiner
Tragweite doch so wichtigen Gedanken Eulers, die Seiten der ebenen
und sphärischen Dreiecke mit a, b, ce und die gegenüberliegenden
Winkel mit den an den Eeken stehenden Buchstaben A, B, © zu be-
zeichnen, ein Gedanke,‘ den er schon in jener Abhandlung von 1753
über die kürzeste Linie zur vollkommen symmetrischen Gestaltung
der sphärischen Formelsysteme ausgenützt hatte. Obwohl das Vor-
teilhafte dieser Bezeichnung auf der Hand lag, fand auch sie nur
ziemlich langsam allgemeine Verwendung. |
Sehen wir uns um, was von Rulers Zeitgenossen und Nach-
folgern sowie von ihm selbst von 1759 ab neues in der Trigono-
metrie geleistet wurde, so müssen wir um einige Jahre zurückgreifend
einen Aufsatz des Engländers Franeis Blake (1718—1780) mit dem
Titel „Spherical Trigonometrie reduced to
Plane“®) besprechen, der deshalb nicht
übergangen werden kann, weil die darin
angewandte Methode nachmals wiederholte
Verwendung fand. Den Schlüssel zur Be-
handlung der sphärischen Dreiecke bot ihm
Fig. 19. der Fall, einen Winkel aus den drei Seiten zu
bestimmen, den er folgendermaßen löste. Um
<a in Aabd (Fig. 19) zu bestimmen, seien af und ae die Tangenten
') Er sagt im Subsidium caleuli sinuum a. 0. a. O.: „Ebenso (wie Johann
Bernoulli die Logarithmen zu analytischen Größen machte) glaube ich die
Sinus und Tangenten der Winkel zuerst in den Kalkül eingeführt zu haben, so
daß man sie wie andere Größen behandeln und mit ihnen alle Operationen
ohne jedes Hindernis ausführen kann“. 2) Mathem. Wörterbuch, Il, 1805»
p- 618. s, P.T. XLVII, 1752, p. 441 ff,
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 407
der Bögen ad und ab und c sei das Zentrum der Kugel, dann ist
ce=secab, cef—secad und Xc-=arcbd bekannt. Somit ergibt
sich aus Acef die Seite ef, und da af=tgad, ae=tgab ebenfalls
bekannt sind, so findet man aus dem ebenen Aaef den Keaf= a.
Im Grunde genommen ist Blakes Verfahren nur eine Vereinfachung
der schon von den Arabern und Regiomontan ausgebildeten Me-
thode.!)
Im Jahre 1756?) versuchte ferner der Franzose Alexander-
Gui Pingre (siehe XIX. Abschnitt, $. 14), der sich durchweg der
Formelschreibweise Eulers bediente, die Nepersche Regel für recht-
winklige sphärische Dreiecke auf schiefwinklige auszudehnen, indem
er die längst bekannten Sätze, welche sich durch Fällen eines senk-
rechten Bogens von einer Ecke eines Dreiecks auf die Gegenseite er-
geben, in zwei Regeln zusammenfaßte, die nur auf jene beiden Auf-
gaben, in welchen drei Seiten oder drei Winkel gegeben sind, keine
Anwendung fanden. Dieser Umstand veranlaßte später (1798) den
Sehotten Walter Fisher, Pingres Regeln zu verbessern’), indem er
sie durch vier in allen Fällen anwendbare Theoreme ersetzte, die je-
doch wenig Verwendung fanden.
Jean Francois de Castillon kennen wir bereits als Heraus-
geber von Newtons kleineren Schriften (II2, $.508). Durch das
Studium der Werke des letzteren wurde er offenbar zur Abfassung
zweier Abhandlungen veranlaßt, die er 1764 und 1765 der Berliner
Akademie vorlegte‘) und in denen er eine neue Begründung einiger
Sätze der ebenen Trigonometrie versuchte So gab er eine geome-
trische Ableitung des Halbwinkelsatzes und zeigte, wie aus diesem
sieben Theoreme fließen, die schon Newton in seiner Arithmetica
universalis aufgestellt hatte)
Eulers analytische Formeln wurden mit Glück verwendet in
einer Dissertation aus dem Jahre 1760, die unter dem Präsidium von
Johann Kies (1713—1781), Professor in Tübingen, von den Kan-
didaten des Magisteriums Hoffmann und Jäger verteidigt wurde.
Sie führt den Titel „Trigonometria methodo plana et facili exposita“
und gibt die goniometrischen Formeln sehr vollständig, ohne jedoch
die trigonometrischen Funktionen als Verhältnisse zu definieren. Dann
werden die zehn Hauptgleichungen zwischen drei Stücken eines recht-
') Vgl. A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigono-
metrie I, 1900, p. 68 und 129. ?) Me&m. de l’Acad. de Paris 1756 (erschienen
1762), p. 301. » P. T. I 2, 1758, p. 538—543. *, Propositions de G&o-
metrie et de Trigonometrie &lömentaire, d&montrees d’une maniere nouvelle.
Mem, de l’Acad. de Berlin 1766 (publiziert 1768), p. 354—364. °), Arith-
metica univ., Cap. XIII, Problemata geometrica.
408 Abschnitt XXIII.
winkligen sphärischen Dreiecks abgeleitet und auch die weniger be-
kannten Relationen zwischen vier Stücken aufgestellt, woran sich die
Ableitung der Sätze für das schiefwinklige Dreieck mit Einschluß der
Neperschen Analogien anreiht. Bemerkenswert ist die polare Grup-
pierung der sechs Dreiecksfälle zu zweien, die trotz Vietas Vorgang!)
selten genug zu finden war. Die Formeln für das ebene Dreieck ge-
winnt Kies, wie das später noch oft geschah, durch Grenzübergang
aus jenen für die Kugel, indem er sinA=A, tg4A=4A, cosA=1 setzt.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde auch zum ersten Male
die Notwendigkeit einer Kleinkreistrigonometrie auf der Kugel von
d’Alembert betont. Nachdem derselbe bereits in seinen Reflexions
sur la cause des vents, Paris 1757, durch eine ziemlich umständliche
Rechnung gezeigt hatte, wie man eine Relation zwischen den Seiten
eines Dreiecks herstellen kann, dessen Basis aus einem Kleinkreis-
bogen und dessen Schenkel aus Großkreisbögen bestehen, löste er
einige Jahre später?) die Hauptaufgaben, den Neigungswinkel eines
Klein- und eines Großkreises, welche dieselbe Sehne haben, zu be-
stimmen, die zwischen zwei solchen Kreisen liegende Fläche aus-
zudrücken und endlich den Winkel der Ebenen zweier Kleinkreise an-
zugeben. Seinem Wunsche, andere möchten diese seine Ideen weiter
ausführen, kam 1798 Charles Bossut nach, indem er sowohl mit
Integralrechnung den Inhalt eines von drei Kleinkreisen gebildeten
Dreiecks bestimmte, als auch einen elementaren Weg hierzu angab.’)
Bedeutende Förderung fand die Trigonometrie durch verschiedene
Arbeiten Johann Heinrich Lamberts. Lambert?) ist am
25. August 1728 in der damals schweizerischen Stadt Mülhausen im
Öberelsaß geboren und als Mitglied der Berliner Akademie und Ober-
baurat am 25. September 1777 gestorben. Aus einer unbemittelten
Schneidersfamilie hervorgegangen, mußte er sich frühzeitig sein Brot
als Schreiber verdienen, brachte es jedoch als Autodidakt sich fort-
bıldend bald zum Hauslehrer bei dem Reichsgrafen Peter von Salis,
wo er seinen Studien weiter obliegen konnte. Da aber Studieren und
Produzieren bei ihm Hand in Hand ging, so bereitete er schon da-
mals die wichtigsten seiner Werke vor. Nachdem er diese, nämlich
die Photometrie, eine Schrift über die Kometenbahnen und die Kos-
mologischen Briefe zu Augsburg hatte erscheinen lassen, wurde er
Mitglied der bayerischen Akademie der Wissenschaften mit S00 Gulden
Gehalt, löste jedoch dieses Verhältnis bald wieder und kam nach ver-
ı) Vgl. A. v. Braunmühl, Gesch. der Trig. I, p. 180—181. ?) Recherches
mathem. sur differents sujets. Miscellanea Taurin. IV, 1766—69,$1,p. 127,2. Zählung.
®) Traites de calcul differentiel et integral, an VI, 1797/98, U, p. 522—531.
*) Allgem. deutsche Biographie XVII, p. 552—556.
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 409
schiedenen Versuchen eine dauernde Lebensstellung zu finden, die ihm
Muße zu seinen wissenschaftliehen Arbeiten böte, endlich 1764 nach
Berlin, wo er auf Veranlassung der dort herrschenden Schweizer
Sehule mit einem Gehalt von 500 Talern, der sich später auf 1100 Taler
erhöhte, in die Akademie aufgenommen wurde. Seine wissenschaft-
liche Tätigkeit war eine äußerst fruchtbare und erstreckte sich so-
wohl auf die reine Mathematik, als auch auf alle mit der Praxis in
Beziehung stehenden Anwendungen derselben. Alle seine Arbeiten
sind, wenn auch nieht immer so bedeutend wie die Eulers und La-
granges, reich an originellen und fruchtbaren Gedanken und zeichnen
sich durch eine in jener Zeit seltene Strenge der Beweisführung aus.
Die gleiche Originalität zeigt sein Stil, der derb und oft schrullenhaft
wie seine Persönlichkeit, doch nie die nötige Klarheit und Prägnanz
vermissen läßt.
Für unser engeres Wissensgebiet kommen von seinen Publika-
tionen zunächst die „Beiträge zum Gebrauche der Mathematik und
deren Anwendung“!) in Betracht. Im ersten Bande derselben spricht
er sich (8. 369 ff.) über die Art und Weise, wie die Trigonometrie zu
fördern sei, eingehend aus, indem er hauptsächlich drei Gesichtspunkte
«im Auge hat: einmal, sagt er, könne man die Auflösung der einzelnen
Dreiecksfälle durch Berechnung passender Tafeln vereinfachen, dann
könne durch Benutzung der Algebra viel erspart werden und endlich
könne man in der Verwendung der Trigonometrie zur Integralrech-
nung noch bedeutend weiter gehen.
Vorerst wandte sich nun Lambert der Neperschen Regel zu,
indem er an Stelle des bisher durch einen Induktionsschluß bewerk-
stelligten Beweises derselben einen anderen setzte, der mehr das Wesen
dieser merkwürdigen Regel aufdeckte und auf dem gleichen Gedanken
beruhte, den schon Neper angewendet, aber nur angedeutet hatte.
Christian von Wolf hatte in seinen Anfangsgründen der Mathe-
matik?) den Wortlaut der Regel zum ersten Male in der Weise aus-
gesprochen, wie er heute noch allgemein angegeben wird. An ihn
schloß sich Lambert an, indem er die Katheten des rechtwinklig
sphärischen Dreiecks durch ihre Komplemente ersetzte und zeigte,
daß die fünf zirkulären Stücke in fünf Dreiecken liegen, die sich in
einem Zyklus um die Kugel aneinanderschließen, wie dies Fig. 20 ver-
anschaulichen möge. Daselbst stellen AadF und ADc@ zwei Groß-
kreise dar, deren Pole P und ® sind, durch die der Kreis cQ Pa
geht. Ferner ist dPC irgend ein anderer Kreis durch P, welcher
') 4 Bände, 8°, Berlin 1765— 1772. ®, Im 3. Teile, zweite Ausgabe von
1717, p. 144 und 152; die erste Ausgabe von 1710 enthält dieselbe noch nicht.
410 Abschnitt XXIII.
den ersten in Ü rechtwinklig schneidend das AABO vollendet. Zieht
man endlich noch Kreis @HQb durch Q, so daß seine Ebene auf De
| senkrecht steht, so entstehen die
fünf schraffierten Dreiecke, von denen
Lambert aus ihrer Entstehung nach-
weist, daß sie die verlangte Eigen-
schaft haben, dieselben fünf zirku-
' lären Stücke zu besitzen. So ist
'2.B. <A inl1 gleich 90°— PD in
II, gleich PQ in II, gleich 90° — FQ
in IV und endlich wieder gleich A
in V, und allgemein behalten ein
Mittelstück und zwei anliegende Stücke
sowie ein Mittelstück und zwei gegen-
überliegende diesen Charakter in allen
fünf Dreiecken bei. Zeichnet man daher mit Lambert die beiden
stereographischen Figuren (Fig. 21), in denen die kleinen Buchstaben
die Komplemente der Katheten be-
deuten, so liefern die beiden dar-
=. unter stehenden Gleichungen, für
\ ein Dreieck bewiesen, die sämt-
“t. \ lichen zehn Fälle der Neperschen
Regel.
cosC=sinAsinB cosC= cotA.cotB Man wird aus dem Vorstehen-
yes den erkannt haben, daß Lambert
wirklich den wahren Grund der Neperschen Regel aufdeckte, indem
er bei Aufstellung seines Beweises unbewußt mit dem Begriff der
Gruppe operierte.t)
An die Behandlung der Neperschen Regel schließt Lambert
eine Zusammenstellung der wichtigsten goniometrischen Formeln an
und gibt dann die Vorschriften zur Berechnung der schiefwinkligen
sphärischen Dreiecke, die er mittels einer Höhe in zwei rechtwinklige
zerspaltet. Die Anwendung jener Regel auf die beiden Teildreiecke
und die Verbindung der Formeln zu einer einzigen Schlußformel führt
ihn dann selbstverständlich wieder zu den schon längst bekannten
Hauptgleichungen für das schiefwinklige Dreieck.
Da Lambert stets die praktische Verwendbarkeit der Formeln
im Auge hatte, so stellte er auch eine Umformung des sphärischen
Fig. 20.
') Vgl. 0. Pund, Über Substitutionsgruppen in der sphärischen Trigono-
metrie usw. Mitteilungen der mathematischen Gesellschaft in Hamburg II,
1897, p. 7, und N. OÖ. Lovett in Bulletin of the American Math. pink
2. Bares; IV, 1898, p. 252.
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 411
Kosinussatzes, wie der Kotangentenformel für logarithmische Rech-
nung her, indem er z. B. im ersteren Falle in
ß } eh
cos A = cosBcosÜ + sinBsin Ccosa, cosa—=1-— 2sin =
und
BB 6) 93
2snBsnc ug
setzte, wodurch er die elegante Formel
cos A = 2 sin Bsin Ü sin en sin
erhielt.!) |
Ferner muß noch erwähnt werden, daß Lambert ebenso wie
Euler die trigonometrischen Funktionen als Verhältnisse
auffaßte, wenn er dies auch ebensowenig wie jener ausdrücklich her-
vorhob; dies beweist die Schreibweise seiner Formeln für die recht-
winkligen ebenen Dreiecke, wie
k=hsna=hcosb, c=hceosa=hsinb usw,
wo h die Hypotenuse, k und c die beiden Katheten. bezeichnen.
Noch von einer anderen Seite her suchte Lambert die Trigono-
metrie zu bereichern, indem er nämlich die Hyperbelfunktionen
für sie verwertete. Schon Gregor von St. Vincentio, David Gre-
gory und John Craig hatten durch die Quadratur der gleichseitigen
Hyperbel, wenn auch unbewußt, die Grundlagen für diese Funktionen
geschaffen, bei Newton traten dann bereits Vergleiche zwischen Kreis
und gleichseitiger Hyperbel auf, und De Moivre hatte schon ziem-
lich deutlich erkannt, daß durch Vertauschung des Reellen mit dem
Imaginären Kreisaufgaben in solche für die gleichseitige Hyperbel
übergehen. Der erste aber, welcher eine Theorie der Hyperbelfunk-
tionen begründete, war der von Lambert selbst genannte Graf Vin-
cenzo Riceati (vgl. BIII, S. 474), der sie mit Hilfe geometrischer Be-
trachtungen entwickelte®), während Lambert 1768 zuerst auf den
Gedanken kam, sie zur Behandlung trigonometrischer Probleme zu ver-
werten.°)
Ist (Fig. 22) ODQ ein Kreisquadrant, der den Ast Qq einer
gleichseitigen Hyperbel in @ berührt, q ein beliebiger Punkt der Hy-
perbel, gP| QC, PQ und gP LQC, X<PCQ=o der sogenannte
) a. a. O., p. 41öff. — Eine etwas andere Umgestaltung hat W. Croswell,
Lehrer der Schiffahrtskunde, durch eine Regel ausgedrückt, gegeben: Memoirs
of the American Academy of Arts and Sciences II, part I, 1780 (veröffentlicht
1793), p. 18—20. ”) Vgl. S. Günther, Lehre von den Hyperbelfunktionen,
Halle 1880, Kap. I. ®) Observations trigonometriques. Histoire de l’Aca-
demie de Berlin 1768, 24, p. 327.
412 Abschnitt XXIIL
„transzendente“ und XgCQ=9 der „gewöhnliche“ Winkel, dann
folgt aus der Figur: 1. tg9 = sino, OP=seco—=(Cp= cosh u und
PQ=tgo = pq= sinhu, wenn der zu Win-
kel g gehörige Hyperbelsektor QÜgq mit
D «w bezeichnet wird. Hieraus folgt dann
,„_ _dUgYp)
p leicht ul A a
2. u = logtg (45° +2). Somit kann man
9 | zu jedem Winkel $ den entsprechenden
e LQP Hyperbelsektor berechnen, indem man sich
ER der beiden Gleichungen 1.und 2. bedient. Damit
konstruiertenun Lamberteine kleine Tabelle,
welche in der ersten Spalte links die Werte des Winkels » von 0° bis 90°
enthält und zu ihnen die entsprechenden Hyperbelsektoren, den sin-
hyp., den coshyp., die Logarithmen derselben, die tg. und logtg.
des gewöhnlichen Winkels und endlich in der letzten Spalte diesen
selbst gibt. Wie er dieselbe zur Vereinfachung trigonometrischer
Rechnungen anwandte, erkennt man am besten aus einem Beispiel.
Es soll für ein sphärisches Dreieck abe aus dem Winkel ce und der
Seite B!) eine Tabelle berechnet werden, die zu jedem Winkel c den
zugehörigen Winkel a gibt. Dazu hat man
und daraus hinwieder
sin Betg A = coscecos B+ sincctga
i ctg a ‚ ‚
und hieraus _ .g —tghsece —tgce, wenn tsk=tgBetgA und
c = 90° — c ist. Sind nun die den Winkeln % und c entsprechenden
Hyperbelsektoren x und y, so hat man ciga — Dr sinh(# — y),
coshx
wodurch die Rechnung auf eine einzige Analogie gebracht ist und
zwar auf die einfache Addition des konstanten Logarithmus. von
cos B:coshx zu dem Logarithmus von sinh(# — y).
Dadurch, daß Euler die trigonometrischen Linien als „BRech-
nungsgrößen“, wie er sagte, in die Analysis eingeführt hatte, hatte
sich zunächst vielfach eine Trennung der elementaren Trigono-
metrie, die nur zur Berechnung der Figuren in der Ebene und auf
der Kugel dient, von der heute nach Klügels Vorgang”) als Konio-
metrie bezeichneten Lehre von den Winkelfunktionen vollzogen. Dies
läßt sich am deutlichsten aus zwei Schriften erkennen, die der preu-
Bische Offizier Georg Friedrich von Tempelhof (1737—1807)
1) Lambert bezeichnet durchweg die Seiten mit den großen, die gegen-
überliegenden Winkel mit den kleinen Buchstaben des lateinischen Alphabetes.
®) Mathematisches Wörterbuch II, p. 504.
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 413
unter dem Titel „Anfangsgründe der Analysis endlicher Größen“
(Berlin 1769) und „Anfangsgründe der Analysis des Unendlichen“
(Berlin und Stralsund 1770) veröffentlichte. Während nämlich in
dem ersten Werke nur die wichtigsten goniometrischen Formeln so-
wie die Periodizität der trigonometrischen Funktionen geometrisch
abgeleitet werden, und bei sämtlichen geometrischen Anwendungen
sogar wieder der Radius r mitgeschleppt wird, indem die Funktionen
durch Linien ersetzt werden, sind in das zweite Werk ganz verschieden
hiervon die analytischen Formeln Eulers zur Dreiecksberechnung in
ihrem vollen Umfange aufgenommen. Eine Vereinigung der beiden
getrennten Gebiete wurde erst dadurch ermöglicht, daß Simon Klü-
gel in seiner „Analytischen Trigonometrie“ (Braunschweig 1770) das
Wesentliche in Eulers Auffassung erkannte, indem er -die trigono-
metrischen Größen ausdrücklich als Verhältnisse der Seiten eines
rechtwinkligen Dreiecks definierte und sie zum ersten Male als tri-
gonometrische Funktionen bezeichnete.!) Das Buch Klügels weist
aber außerdem noch andere bemerkenswerte Verdienste auf. Das
wichtigste ist wohl die Erkenntnis, daß die Additionstheoreme für
die Sinus- und Kosinusfunktion allein „alle Lehrsätze über die Zu-
sammensetzung der Winkel“ enthalten?), was durch direkte Entwick-
lung aller einschlägigen Formeln aus diesen Theoremen gezeigt wird.
Weitere Verdienste Klügels sind, daß er in diesem Buche die Ab-
leitung der sechs Grundformeln des rechtwinkligen sphärischen Drei-
ecks auf Dreiecke mit Seiten, die einen Quadranten überschreiten, aus-
dehnte, die hervorragende Verwendbarkeit der Neperschen Analogien
für praktische Rechnungen hervorhob und nachwies, wie man mit
Hilfe des Supplementardreiecks zu jeder Formel eine Polarformel an-
geben kann. Klügels Buch hat jedenfalls viel dazu beigetragen,
Eulers analytische Behandlungsweise der Trigonometrie in weiteren
Kreisen bekannt zu machen. |
Aber auch Kästner (vgl. II, S. 576),*der immer bestrebt war
die neuesten Erscheinungen der mathematischen Literatur den Lesern
seiner zahlreichen Schriften auf seine etwas breite und umständliche
Weise zugänglich zu machen, bediente sich frühzeitig der Eulerschen
Formelrechnung und veröffentlichte in seinen Astronomischen Ab-
handlungen (I. Sammlung Göttingen 1772), ähnlich wie Kies und
Klügel, eine elementare Ableitung der hauptsächlichsten Formeln der
sphärischen Trigonometrie. Auch gab er hier, wie in den Göttinger
’) 2.2.0, p.4 heißt es: „Ich will diese Verhältnisse mit einem allge-
meinen Namen: trigonometrische Funktionen der Winkel nennen, als deren
Stelle sie in der Rechnung vertreten‘. ?) Ebenda, p. 35.
414 Abschnitt XXIH.
Dissertationen!) und in seinen geometrischen Abhandlungen (2 Samm-
lungen, Göttingen 1790—91) und noch anderwärts?) vielfache An-
wendungen auf astronomische, physikalische und geometrische Fragen,
wobei er die trigonometrischen Formeln mit Gewandtheit handhabte,
wenn auch die Eleganz seiner Lösungen durch das fast beständige
Mitschleppen des Sinus totus beeinträchtigt wird.
Neun Jahre nach dem Erscheinen von Klügels Buch kam auch
Euler noch einmal auf die sphärische Trigonometrie zurück®), deren
Formelsystem er bereits vor 26 Jahren mit Hilfe höherer Rechnung
abgeleitet hatte. Offenbar befriedigten ihn die inzwischen über diesen
Gegenstand erschienenen Abhandlungen und Bücher nicht, und er
wollte daher zeigen, wie man das ganze Formelsystem, das auch noch
einiger Ergänzungen bedurfte, auf elementare Weise aus einer ein-
zigen Figur ableiten könne. Als solcher bediente er sich des zum
schiefwinkligen sphärischen Dreieck A.BÜ gehörigen
Dreikants, dessen Spitze im Mittelpunkt O der
B N Kugel mit dem Halbmesser 1 liegt (Fig. 23). In den
„ Ebenen COa und OOb (a liegt auf OA und b auf
OB) seien Ca und Cb senkrecht zu OC errichtet,
ferner sei bp_L Ca, bq _L 0a, dann ist <bqp
der Neigungswinkel von < Da, ferner ist X C’Oa
— Seite b, < COb= Seite a und X aOb = Seite €
des sphärischen Dreiecks. Aus der Figur folgt
dann unmittelbar:
Fig. 28. Ca=tgb, Oa=secbh, Cb=tga, Ob= seca.
Hieraus folgt bq = Obsinc = ed Ogqg = Obcose = u,
cos a cosa.
ferner <a0Cb=< 0 des Dreiecks ABC ist, so hat man
1) Dissertationes mathematicae et physicae, quas Societati reg. sci. Got-
tingensi annis 1756—1766 exhibuit etc. Altenburgi 1771. Besonders zu be-
merken sind darunter Nr. 7: Gnomonica universalis analytica 1762, eine Um-
arbeitung der Gnomonica analytica von 1754, hervorgerufen durch seine erweiterten
Kenntnisse trigonometrischer Formeln; dann Nr. 9: „Quot sphaerae aequales
mediam et se mutuo tangere possint“, woselbst sich eine elegante Ableitung
der Fläche eines sphärischen Dreiecks mit höherer Rechnung findet. 2) So
findet sich in Novi Comm. Soc. Gotting. VII ad annum 1776 (publiziert 1777),
p. 92—141 bei Behandlung des optischen Problems von Alhazen (vgl. 1”, S. 744)
eine näherungsweise Auflösung einer trigonometrischen Gleichung von der Form
sinp— Btgp= 4A und in Hindenburgs Archiv der reinen und angewandten
Mathematik II, 1798, p. 174 wird die Wertänderung der beiden Seiten des Aus-
druckes seccpgttgp=tg (45° + 2) diskutiert und in Einklang gebracht, wenn
p von 0° bis 90° wächst. °) Trigonometria. sphaerica universa ex primis prineipiis
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler’ und dessen Zeitgenossen. 415
bp= CbsinC—=tgasinC und Cp=Cb-.cosÜ—tga cosQ;
und da < (a0 = 90° — b ist, so folgt noch:
ap= C(a— Cp=tgb—tgacos (0, pgq—=apeosb=sinb— tga cosb.cosC
und
sinb?
ag=apsnd= , tg“ sinb cosÜ oder — —=cosb+tgasinb cos Ü
und hieraus endlich
c0oSC = eosacosb + sinasinbcos(.
Ähnlich liest man aus der Figur unmittelbar die Gleichung des Sinus-
sinC _sinA
satzes —— = — und die in dieser Form neue Gleichung
sin € sina
cosasinb — sinacosbcos Ü
291 _c0osA= k
bq sin e
ab. Diese drei Gleichungen umfassen, wie Euler sagt, die ganze
sphärische Trigonometrie, und in der Tat gelang es ihm durch ein-
fache Rechnung aus ihnen alle jene Formeln abzuleiten, die heute den
eisernen Bestand der sphärischen Trigonometrie bilden.
Auch die Existenz und die Eigenschaften des Supplementardrei-
ecks, für das Euler jedoch keinen eigenen Namen hat, wurden in
einem „Iheorema“ hervorgehoben, während eine Nebeneinanderstel-
lung der Polarformeln nur für die Kosinus- und Kotangentensätze
durchgeführt wurde — in diesem Punkte war Klügel bereits weiter
gegangen. Dagegen erkannte Euler hier zuerst die sechs möglichen
Formen der dritten Hauptgleichung, das Prinzip der zyklischen Ver-
tauschung aber war ihm, wie seine Formelschreibung zeigt, entgangen.
Euler hat von seinen trigonometrischen Formeln den vielseitig-
sten Gebrauch gemacht in rein mathematischen und mechanischen,
wie in astronomischen und physikalischen Untersuchungen. Wir
wollen hier auf die wichtigsten hinweisen, die zur ersten Gruppe ge-
hören. In den Petersburger Akten für das Jahr 1778!) hatte er
bereits gezeigt, wie man die trigonometrischen Funktionen zur Lösung
einiger schwieriger diophantischer Gleichungen benutzen könne und
ebenda?) eine Abhandlung über die Messung der Körperwinkel durch
die Inhaltsbestimmung sphärischer Figuren gegeben, bei welcher Ge-
breviter et dilueide derivata. Acta Acad. Petrop. 1779 (erschienen 1782), 1,
p-. 72—86.
') De casibus quibusdam maxime memorabilibus in Analysi indeterminata
etc. Acta Acad. Petrop. ad annum 1778, pars II (erschienen 1781), p. 85—110.
”) De mensura angulorum solidorum. Ebenda, p. 31—54.
416 ‘ Abschnitt XXTI.
legenheit er die trigonometrischen Funktionen des sphärischen Exzesses
S eines Dreiecks in den Seiten desselben durch elegante Formeln aus-
drückte. Diese wurden noch in einer erst nach seinem Tode 1792
erschienenen Abhandlung weiter ergänzt, die ebenfalls aus dem Jahre
1778 stammte.‘) Die in der ersteren Abhandlung mitgeteilte Formel
f 8 _ Vi cosa* — cosb? — cosc? + 2cos a cos b cos c
8% 1-+cosa + cosb + cosc
des Dreiecks sind, hat De Gua 1783?) wieder entwickelt, ohne jedoch
Euler zu erwähnen. Endlich erschien 1786 ebenfalls posthum ein älterer
Aufsatz von ihm°?), in welchem er mit alleiniger Benutzung des Ko-
sinussatzes die Relationen zwischen den sechs Linien, die vier Punkte
in der Ebene verbinden, aufsuchtee Dabei wurde auch die Frage
behandelt, wie man ein Kreisviereck bestimmt, dessen Seiten und Dia-
gonalen durch rationale Zahlen ausgedrückt werden.
Mit besonderer Eleganz handhabten die Eulerschen Formeln
bald sein Schüler Andreas Johann Lexell, sein Gehilfe Nikolaus
Fuß und der Petersburger Astronom Friedrich Theodor Schubert-
Der erste, auf den wir noch weiter unten eingehend zu sprechen
kommen werden, hat in mehreren Abhandlungen?) eine ganze Reihe
von wichtigen Theoremen über die Geometrie der Kugelkreise ent-
wickelt, die geradezu die Grundlagen für alle späteren auf dieses Ge-
biet bezüglichen Arbeiten wurden. So wies er nach, daß die Spitzen
aller sphärischen Dreiecke von gleicher Fläche, die über derselben
Grundlinie stehen, auf einem Kleinkreise liegen’), berechnete in ele-
ganten Formeln die sphärischen Radien des einem Dreieck umge-
schriebenen und des ihm eingeschriebenen Kreises aus den Seiten, bzw.
Winkeln desselben, gab ein Analogon zum Ptolemäischen Satze vom
ebenen Sehnenviereck für das einem Kleinkreis eingeschriebene Vier-
eck, berechnete den Radius von jenem aus den Seiten von diesem
und löste die entsprechenden polaren Aufgaben. Auch übertrug er
den Satz vom harmonischen Kreis auf die Kugel (Lexellsche
Kreis). |
Auch Nikolaus Fuß (vgl. III, S. 551) hat interessante Aufgaben
der Kugelgeometrie behandelt‘), die wir in folgender Form kurz zu-
‚wo a,b, c die Seiten
') Variae speculationes super area triangulorum sphaericorum. Nova Acta
Acad. Petrop. X, ad annum 1792 (erschienen 1797), p. 47—62. 2) Memoires
de l’Academie de Paris 1783, p. 358. °) De symptomatibus quatuor punctorum
in eodem plano sitorum. Acta Acad. Petrop. ad annum 1782 (erschienen 1786),
pars I, p. 3ff. *) Acta Acad. Petrop. ad annum 1781, pars I (erschienen 1784),
p. 112—126, und ebenda, 1782, pars I (erschienen 1786), p. 58—106 und pars Il,,
p. 85—95. 5) Einen Beweis dieses Satzes hatte Euler schon 1778 gegeben;
posthum erschienen 1797 in Nova Acta Acad. Petrop. X, ad annum 1792.
6%, Nova Acta Acad. Petrop. I, ad annum. 1784 (erschienen 1788), vorgelegt 1786,
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 417
sammenfassen können: Ein sphärisches Dreieck mit gegebener Basis
so zu bestimmen, daß seine Spitze auf einem gegebenen größten
Kreise liegt und der Dreieckswinkel an derselben oder die Fläche des
Dreiecks ein Maximum oder die Summe der Schenkel ein Minimum
wird. Auch fand er!) als Ort der Spitze eines sphärischen Dreiecks
über gegebener Basis, für das die Summe der Schenkel konstant ist,
eine „sphärische Ellipse“, welche mit der ebenen Figur gleichen
Namens viele Eigenschaften gemein hat.
Endlich hat Schubert, durch diese Arbeiten angeregt, 1786 und
1798 ähnliche Fragen untersucht, indem er?) z. B. das größte und
kleinste sphärische Dreieck mit gegebener Basis und Höhe bestimmte
und die geometrischen Örter eines Punktes auf der Kugelfläche be-
handelte?), für welchen das Verhältnis der Sinus oder der Kosinus
der ganzen oder halben kürzesten Entfernungen von zwei festen
Kugelpunkten konstant ist.
Auch der große Lagrange beschäftigte sich vorübergehend mit
trigonometrischen Fragen. Außer einer Abhandlung über eine neue
Begründung der sphärischen Trigonometrie, auf die wir weiter unten
noch zu sprechen kommen, veröffentlichte er 1774 „Solutions de
quelques problemes d’Astronomie spherique par le moyen des series“t),
worin er die Auflösung der transzendenten Gleichung tgx = mtgy nach
& durch die Reihe = y-—0Osin2y+ ,0sindy— 0sin6y+---
‚darstellte, in welcher 0 = ı—Z® pedeutet. Indem er diese Gleichung
1i-m
sowohl mit jenen drei Fundamentalgleichungen des sphärischen Drei-
ecks, in denen Tangenten vorkommen, als auch mit den Neperschen
Analogien verband, gelangte er zu mehreren, namentlich in der Astro-
nomie und Geodäsie sehr brauchbaren Lösungen trigonometrischer
Aufgaben. So erhielt er z. B. zur Bestimmung der Winkel ß und y
eines sphärischen Dreiecks, von dem die Seiten b, ce und der Winkel «
gegeben sind mit Benutzung der erwähnten Analogien, die Reihen-
entwicklungen:
b RN; 1 2 b2 DA.
tg, (dez +tg,)sine— tg 5 (eig; tg, )sin2a+--,
»
p: 70; auch Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik, 1786,
p. 241—245.
') Nova Acta Acad. Petrop. III, ad annum 1785 (erschienen 1788), vorge-
legt 1787, p. 90—99. ?) Ebenda, IV, ad annum 1786 (erschienen 1789), vor-
gelegt 1786, p. 89—94. °») Ebenda, XII, ad annum 1794 (erschienen 1801),
vorgelegt 1798, p. 196—216. *) Nouveaux Memoires de l’Acad. de Berlin,
annee 1776 (erschienen 1779), gelesen 1774, p. 214ff. Oeuvres, Ed. Serret, IV,
p. 275—298.
418 . Abschnitt XXIH.
ß = 180’ — «+ tg (tg — ctg ) sin «
= Zi &2 (te. — eig ) sin2«+:--,
welche nach Lagranges Bemerkung um so konvergenter sind, je
kleiner c ist und je näher b an 90° liegt. Auch zeigte er, daß die
Verwendung des Imaginären, durch welche er diese Formeln gefunden
hatte, noch ähnliche Gleichungen komplizierterer Form zu lösen ge-
stattet. Lambert hat 1777 ebenfalls ähnliche Gleichungen durch
Reihen gelöst!), und desgleichen finden sich in Delambres großer
Arbeit über die Bestimmung des Meridianbogens zwischen Dünkirchen
und Barcelona?) trigonometrische Gleichungen mit Reihen behandelt,
die mittels der Methode der unbestimmten Koeffizienten erhalten
werden.
Bedeutende Verdienste um die Ausbildung der elementaren Tri-
gonometrie in Eulerschem Sinne, sowie um die systematische Aus-
gestaltung derselben erwarb sich der Italiener Antonio Cagnoli
(1743—1816). Cagnoli?), zu Zante geboren, zog sich bald von der
zuerst gewählten diplomatischen Laufbahn zurück, lebte dann in
Verona als Privatmann, wo er sich eine Sternwarte erbaute und wurde
nach Gründung der cisalpinischen Republik von Napoleon an das
Observatorium in Mailand berufen. Später wurde er Professor der
Astronomie an der Kriegsschule in Modena. Er gehörte der von Lorgna
gegründeten Societä Italiana delle scienze an, welche Mathematiker, wie
Malfatti, V. Riceati, Ruffini und Ferroni zu den ihrigen zählte,
und wurde nach Lorgnas Tode Präsident dieser gelehrten Gesell-
schaft. Seine Trigonometria piana e sferica, welche 1786 italienisch
und in französischer Übersetzung von N. M. Chompre in Paris in
erster Ausgabe erschien, wurde 1804 in 2. Auflage italienisch zu Bo-
logna und 1808 abermals französisch zu Paris publiziert und ist das
vollständigste und umfassendste Handbuch jener Zeit, in dem man
manches auch heute noch Interessante und Lesenswerte findet. Wenn
auch Öagnoli noch immer ausschließlich mit trigonometrischen Linien
rechnete, so nahm er doch die Einheit als Radius an und bediente
sich der Eulerschen Funktionszeichen, denen er nur merkwürdißer-
weise die abkürzende Bezeichnung der Dreiecksseiten durch die Buch-
staben des kleinen lateinischen Alphabets nicht zugesellte Cagnolis
Hauptverdienst liegt darin, daß er wie Klügel die analytische Formel-
") Bode, Astronomisches Jahrbuch für 1780, p. 67. ?) Methodes ana-
lytiques pour la determination d’un arc du meridien, an VII (1798/99), Paris, 4°,
p. 64 und 111. °) Poggendorff, Literarisch-biographisches Handwörterbuch, _
T, p. 359/60.
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 419
rechnung in den Vordergrund stellte und nur die notwendigsten Sätze
aus Figuren ableitete. Auch bei Behandlung von komplizierten Drei-
ecksaufgaben, die er in eleganter Weise zu lösen verstand, setzte er
sich stets die Herstellung einer allgemeinen Endformel zum Ziele.
Wesentlich Neues in bezug auf die ebene Trigonometrie war da-
mals nicht mehr zu bringen; so ergibt denn die Durchsicht von Cag-
nolis Werk sowie einer ergänzenden Abhandlung!) vom Jahre 1794
als erwähnenswert nur eine Umgestaltung der Formel des ebenen
Kosinussatzes für logarithmische Rechnung, aber auch hierin war ihm
schon 1777 Johann Tobias Mayer?), der jüngere, zuvorgekommen.
Zudem sei noch erwähnt, daß er auch die sogenannten Mollweide-
schen Gleichungen entwickelte und verwenden lehrte.?)
Aus seinen Ergänzungen zur sphärischen Trigonometrie ent-
nehmen wir die fundamentale Formel
sincsina + cosceosacos B= sin AsinÜ — cos AcosC cos b
als die erste Relation, welche zwischen den sechs Stücken eines sphä-
rischen Dreiecks gegeben wurde.) Ferner teilte er eine praktische
Umgestaltung des sphärischen Kosinussatzes für logarithmische Rech-
nung mit?), abweichend von jener, die Lambert gegeben hatte (8. 411)
und entwickelte Formeln, um die Stücke rechtwinklig sphärischer
Dreiecke eventuell bis auf Zehntel-Sekunden genau erhalten zu können,
Auch die Proportionen, zu welchen die Betrachtung zweier Dreiecke
dieser Gattung führt, wenn sie einen Winkel oder die Hypotenuse ge-
meinsam haben, wurden von Cagnoli aufgestellt und außerdem
wurden die Formeln abgeleitet, welehe den Zusammenhang der Ele-
mente eines sphärischen Dreiecks mit denen des zugehörigen Sehnen-
dreiecks geben.°) In der eleganten Behandlung der trigonometrischen
Gleichung acos A+bsinA=n aber war ihm schon Kästner 1772
zuvorgekommen.”)
Wichtige Fortschritte machte in dem von uns betrachteten Zeit-
abschnitte auch die für die Astronomie und Geodäsie so notwendige
') Cose trigonometriche. Memorie della Societä Italiana, VII, 1794, p. 35ff.
*) Gründlicher und ausführlicher Unterricht zur praktischen Geometrie, Göttingen
1777, 4 Bände, 8°, I, p. 12—13. ®) Trigonometria, 1. Aufl. p. 122. *) Diese
Formel findet sich allerdings erst in der Ausgabe von 1808, Nr. 1139, p. 326.
°) Diese Umformung steht schon in Cose trigonometriche, Nr. VI der sphä-
rischen Probleme. °) Kap. VIII der ersten, Kap. er der Auflage von 1808.
Die elegante Formel cos4’ = cos A 08 2 cos © - + sin — sin 5 gibt z. B. den
Winkel 4’ des Sehnendreiecks, der dem Winkel A im cn Eos
‘) Astronomische Abhandlungen 1774, p. 13—15.
CAnTorR, Geschichte der Mathematik IV. 28
420 ’ | ‚Abschnitt XXII.
Fehlerrechnung, bei welcher es sich um die Bestimmung der Ver-
änderungen handelt, welche die Stücke eines Dreiecks erleiden, wenn
gewisse derselben um sehr kleine Größen zu- oder abnehmen. Nach-
dem Cotes in seiner Aestimatio errorum 1722 dieselbe eingeführt
(III, S. 360 und 412—414) und die wichtigsten Sätze geometrisch ent-
wickelt hatte, publizierte De la Caille 1741 einen „Calcul des difie-
rences dans la trigonomätrie spherique“!), in welchem er Cotes’
18 Theoreme in 24 Formeln vereinigte, die er auf astronomische
Aufgaben anwandte. Später haben sich namentlich Klügel, Kästner,
Boscovich und Cagnoli mit Ausbildung dieses Wissenszweiges be-
schäftigt. Ersterer widmete ihm das 8. Kapitel seiner analytischen
Trigonometrie und einen Aufsatz mit dem Titel „Trigonometrische
Variationsrechnung zum Gebrauche bei Berechnung der Sonnen- und
Mondfinsternisse“?) und behandelte die vier wichtigsten Fälle, indem
er ein Dreiecksstück konstant ließ und die endlichen Variationen der
anderen untersuchte. Die beiden Hauptformeln, welche er erhielt,
sind: Aa = cosCAb + cos BAc und
AB: AC = (sincAb — cosasinbAc): (sinb Ac — cosasincAb),
die sich aus dem Kosinussatze und aus der Kotangentenformel er-
geben. Kästner gab im ersten Bande seiner „Astronomischen Ab-
handlungen“?) ebenfalls eine analytische Ableitung der Cotesschen
Theoreme und teilte auch Differentialformeln für ebene Dreiecke mit,
aber das Verdienst, aus den vielen in der sphärischen Trigonometrie
möglichen Relationen die vier Hauptgleichungen
da = cos Cdb + cos Bde + sin Bsin cdA,
sin Bda — coscsin Adb= sinedA + sinacos BdC,
etgada — ctgbab = ctg AdA — etg Bab,
dA = sinbsin Oda — eoscdB — cosbd(,
die man heute als Fehlergleichungen bezeichnet, ausgewählt und
in dieser Form geschrieben zu haben®), gebührt dem auch sonst ver-
dienten Jesuiten Roger Boscovich (1711—1787). Dieser war in
Ragusa geboren, wurde 1740 Professor der. Mathematik und Philo-
sophie am Collegium Romanum, dann Professor in Pavia, dann Direc-
teur de l’optigue de la marine in Paris, kehrte aber 1783 nach Italien
zurück, wo er in Mailand starb. Aus Boscovichs Formeln folgen
1) Memoires de l’Academie de Paris 1741, p. 238 ff. 7 Bodo; Astro-
nomisches Jahrbuch für 1793, Berlin 1790, p. 178—182. 5) A. a. O., p. 95
bis 107. 4) Opera IV, 1785, 4°, p. 316—394, wo er auch die entsprechenden
Formeln für ebene Dreiecke angibt (p. 322). ;
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 421
alle anderen, weshalb es ziemlich überflüssig war, daß Cagnoli noch
1798 eine Zusammenstellung von 139 Proportionen angab'); aller-
dings sind unter diesen auch die Formeln für endliche Variationen
en thalten.
In Beziehung zu diesen Betrachtungen stehen auch die Methoden,
welche anzuwenden sind, wenn in trigonometrischen Rechnungen die
Logarithmen der Sinus von Winkeln, die nahe an 90° liegen, oder
die der Kosinus sehr kleiner Winkel vorkommen, oder wenn direkt
Funktionen kleiner Winkel zu bestimmen sind. Israel Lyons (1739
bis 1775), Rechner beim Board of Longitude in London, schlug hierzu
ein Verfahren ein?), das wir an einem von ihm gegebenen Beispiel
erläutern wollen. Ist in dem bei B rechtwinkligen sphärischen Drei-
eck ABC AB=c und BC=a (klein gegen c) gegeben, und soll
die Hypotenuse b berechnet werden, so setzt erdb=c+ £, nimmt
eosb = cos @cosc = cos(C + $) = cosc — sin csin & — coscsinvers$
und erhält hieraus
sin & = cetgesinversa — ctge sinvers?.
Nun berechnet er mit alleiniger Benutzung des ersten Gliedes auf
der rechten Seite einen Näherungswert für & und mit diesem dann
als Korrektur das zweite Glied.
Anders verfuhren Lambert und Cagnoli, die für solche Fälle
die Ersetzung der zu berechnenden Formeln durch andere gleich-
wertige, aber brauchbarere vorschlugen. Ist z.B. die Entfernung «
zweier sehr nahe beieinander gelegener Örter auf der Erde oder
zweier Sterne aus ihren Entfernungen vom Pol ce und x und dem
Unterschied A der Längen oder Rektaszensionen zu bestimmen, so
ersetzt Lambert?) die Formel cos® = c0sccosx + sinesinxcos4
’ ; r RR; NETT RE ©
durch die gleichwertige sin -V sin 5= + sinesin«sin , für
die man, falls c— x und A wenig von 1 oder 2 Graden verschieden
sind, die Näherungsformel x =YA?’sinesinx + (c— x)? nehmen kann.
Ähnlich verfuhr Cagnoli®), sprach aber das allgemein richtige Prin-
zip aus, daß man am sichersten rechnet, wenn man den gesuchten
Winkel durch eine Tangente oder Kotangente bestimmt. So ge-
brauchte er z. B. für die Gleichung cosa = un im Falle b und ec
!) Memorie della Societä Italiana VII, 1, p. 214—218, vorgelegt 1798, und
Trigonometria, 2. Aufl., p. 360—378. »), P.T. LXV, 2, 1775, p. 470—484.
») Bodes Astronomisches Jahrbuch für 1778 (erschienen 1776), p. 205— 210.
*) Trigonometria, 1. Aufl. p. 250, 2. Aufl. p. 296.
28”
422 Abschnitt XXIII.
nahezu gleich sind, die aus den Neperschen Analogien entstehende
Formel tgl - Vie ee De,
Übrigens Le ein auch, daß man sich zur Bestim-
mung der Sinus, Kosinus, Tangenten und Sekanten sehr kleiner
Winkel der gewöhnlichen Tafeln der natürlichen goniometrischen
Funktionen bedienen könne!), wenn man die Kotangenten und Ko-
sekanten zu Hilfe nimmt. Will man z.B. sin1’ und cos1’ berechnen,
2 1
so setzt man sinl’= ———- und
cosec 1
st Ye RTREHRFEBILL 0 ©
cosec 1’? 2 cosec 1’? 8 cosee 1’?
Hat man dann cosec1’ auf 5 Dezimalen, so bekommt man hieraus
sinl’ und mit Hilfe der Reihe auch cos1’ bis auf 12 Dezimalen
genau.
Auch Kästner hat Formeln mitgeteilt, welche zur Berechnung
sphärischer Dreiecke mit kleinen oder nahezu gleichen Stücken dienen),
und in dem Tafelwerk von Gardiner?), auf das wir unten noch zu
sprechen kommen, finden sich bereits solche Formeln zusammen-
gestellt.
Dem Gedanken, zur Berechnung der Funktionen eines sehr kleinen
Winkels zu Reihenentwicklungen zu greifen, entsprang auch eine noch
heute viel verwendete Regel zur Bestimmung von logsinz und logtg,
die der Greenwicher Astronom Nevil Maskelyne (1732—1811) her-
leitete und die seinen Namen erhalten hat.) Vernachlässigt man
in den Reihen für sinz und cosz die Glieder vom 4. Grade an, so
27
oder da ( ey
a*
innerhalb derselben Genauigkeitsgrenze » 1 — — ist,
H : 2: a’
erhält man sinz x (1 — =)» cszw1— —
sin © 2 (cos x)3
und hieraus logsinzwlogx + a log cosx; genau ebenso folgt für
log tg x » logx — - log cos «.
Die Regel ist, wie man leicht sieht, bequem zur Berechnung der
t) Bodes Astronomisches Jahrbuch für 1778 (publiziert 1776), p. 209.
?) Acta Acad. Elect. Moguntinae 1778—79 (erschienen 1780), p. 181—190.
5) W. Gardiner, Tables de Logarithmes; Ausgabe von Pezenas, Dumas und
Blanchard, 1770, 4°. 4) Maskelyne hat dieselbe mitgeteilt in der Ein-
leitung zu seiner Ausgabe der Tables of Logarithms von Michael Taylor,
London 1792, 2°, Problem II, p. 21—22, ohne eine Begründung zu geben. Diese
gab erst 1804 Tralles, Abhandl. der Berliner Akademie, 1804—1811, p. 17.
Die Ausbildung der Trigonometrie durch Euler und dessen Zeitgenossen. 423
Logarithmen von sinx und tgx für Winkel bis zu 5°33, wenn in
einer Logarithmentafel die Werte von
rn logesz=S und — = log csz=T
notiert sind, was zum erstenmal in der 7stelligen Tafel von Callet
1795 der Fall war. Von ihr aus gingen die Zahlen $ und 7 in die
neuen vollständigen Logarithmentafeln über.
Mit einigen Worten sei auch noch auf die Näherungsformeln
hingewiesen, welche infolge der Verfeinerung der astronomischen Be-
obachtungen und der geodätischen Messungen notwendig wurden.
Man hatte sphärische Dreiecke mit sehr kleinen Winkeln lange Zeit
wie ebene Dreiecke behandelt, bis J. L. Lalande (III?, S. 500) zuerst
1763 darauf aufmerksam machte, daß dies nicht immer statt-
haft sei, ohne sich erheblichen Fehlern auszusetzen'), und durch eine
allerdings nicht einwandfreie Rechnung fand, daß man dem ebenen
Winkel B des bei A rechtwinklign AABO die in Sekunden ausge-
drückte Größe 2 BC? sn2B(3— cos2.B) hinzufügen muß, um den
entsprechenden sphärischen Winkel zu erhalten. Auch ergab sich ıhm
der Unterschied zwischen der geradlinigen und der sphärischen Hypo-
ee
8 BC
Weit praktischer aber griff Adrien Marie Legendre die
Sache an, als an ihn bei Gelegenheit der Feststellung der gegen-
seitigen Lage der Greenwicher und Pariser Sternwarten?) die Not-
wendigkeit herantrat,' verhältnismäßig kleine Dreiecke auf der Erd-
kugel zu behandeln. In seiner berühmten Abhandlung „Sur les
operations trigonometriques, dont les resultats dependent de la figure
de la terre“ 1787?) sprach er den nach ihm benannten Satz aus), daß
ein sphärisches Dreieck, dessen Seiten gegen den Kugelradius klein sind,
wie ein ebenes mit denselben Seiten berechnet werden kann, wenn
man von seinen Winkeln je den dritten Teil des sphärischen Exzesses
in Abrechnung bringt. Lagrange erkannte den Vorteil und die
Notwendigkeit einer solchen Berechnung darin, daß die vollen tri-
gonometrischen Formeln für Dreiecke mit so kleinen Seiten, wie sie
tenuse zu
‘) Memoires de l’Acad. de Paris 1763, p. 347—353. ?2) 1787 wurde auf
Betreiben Cassinis de Thury eine Kommission von französischen und eng-
lischen Gelehrten zur Ausführung dieser Arbeit gewählt, welcher auch Le-
gendre angehörte. ®) Me&moires de l’Acad. de Paris 1787, p. 352 ff.
*) A. a. O., p. 858.
424 | Abschnitt XXIII.
hier in Betracht kommen, gar keine exakte Rechnung gestatten, und
gab!) einen kurzen und sehr übersichtlichen Beweis des schönen
Theorems.
Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Versuche einer möglichst
einfachen Begründung desselben.
Obwohl uns das Vorhergehende ein Bild von der theoretischen
Entwicklung der Trigonometrie in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts gab, dürfte es doch nieht überflüssig erscheinen, sich die
Frage vorzulegen, wie rasch und in welchem Umfang die allmählich
angewachsene Summe von neuen Kenntnissen in der Lehrbücher-
literatur Verwertung fand, da gerade sie zur Ausbreitung der Wissen-
schaft in weiteren Kreisen dient und dadurch ihrerseits wieder auf
das Wachstum jener befruchtend einwirkt. Wir wollen daher diese
Frage durch den folgenden kurzen Überblick zu beantworten suchen.
In allen, auch den gelehrtesten Kompendien jener Zeit, mit ein-
ziger Ausnahme von Klügels Analytischer Trigonometrie, wurden die
trigonometrischen Funktionen noch als Linien definiert, und dement-
sprechend wurde auch der Sinus totus oder Radius x mitgeführt. Nur
zur Vereinfachung der Formeln setzten ihn manche Schriftsteller, wie
Karsten?), Kästner und Cagnoli gleieh 1. Eulers Bezeichnungs-
weise der Funktionen dagegen fand ziemlich rasche und umfassende
Verbreitung, während der alte Gebrauch, die Lehrsätze in Proportionen
zu schreiben, mit großer Zähigkeit festgehalten wurde.°)
Die Aufstellung der Funktionen für alle 4 Quadranten wurde
seit der Veröffentlichung von Eulers „Introduetio“ allgemein als not-
wendig erkannt, geschah aber immer noch, selbst für die Tangenten
und Kotangenten, an der Figur, wodurch Irrtümer in den Zeichen
nicht immer vermieden wurden. Durch die Beachtung der längst
bekannten Gleichung tge — — , oder wie sie damals stets ge-
cos &
schrieben wurde: tge:r=sin«:cos«, brach sich jedoch die Erkennt-
nis des Richtigen allmählich Bahn, so daß man a posteriori eine
Übereinstimmung mit der geometrischen Interpretation suchen konnte).
') De quelques problemes relatifs aux triangles spheriques avec une analyse
complete de ces triangles. Journal de l’Ecole Polyt., 6. cah., 1798/99, p. 293
bis 296. *) Wenzeslaus Johann Gustav Karsten hat zwei hier einschlägige
Werke geschrieben: Mathesis theoretica elementaris atque sublimior, Rostock
1760, 8°, und Lehrbegriff der gesammten Mathematik, 2. Teil, 2. Aufl., Greifs-
wald 1786, 8°. ®) Vgl. z.B. Legendres El&ments de Geometrie noch in der
14. Aufl. von 1832. *) Segner, Elementa Arithmeticae Geometriae et Caleuli
Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Versuche einer Begründung dess. 425
Auch die Funktionen negativer Argumente wurden wenigstens in den
umfassenderen Werken, wie bei Karsten und Legendre, in den Kreis
der Betrachtung gezogen und richtig bestimmt. Die Ableitung der
goniometrischen Formeln wurde trotz Euler und Klügel (vgl. S. 413)
immer noch einzeln geometrisch vollzogen, das vollständigste Formel-
system hat wohl Oagnoli aufgestellt. Dagegen beschränkte man
sich in den größeren Kompendien') nicht mehr nur auf die Ableitung
der elementaren Formeln, sondern man nahm auch aus der „Intro-
ductio“ die trigonometrischen und zyklometrischen Reihen und den
Satz von Moivre in sie auf, ja selbst die Teilungsgleichungen wurden
zuweilen mit in den Kreis der Betrachtung gezogen.
Die Berechnung der ebenen Dreiecke hatte durch den Gebrauch
der Formeln wohl etwas an Leichtigkeit gewonnen, aber infolge der
beständigen Beibehaltung des Sinus totus ihre Vollendung noch
nicht erreicht?), wozu noch der Umstand beitrug, daß Eulers prak-
tische Bezeichnungsweise der Seiten und Winkel des Dreiecks von
den meisten seiner Zeitgenossen, ja selbst von Oagnoli und Louis
Bertrand in der ebenen Trigonometrie so wenig wie in der sphä-
rischen angewendet wurde; eine rühmliche Ausnahme hiervon machten
Kästner?) und Klügel. Daß die sämtlichen Sätze zur Berechnung
der ebenen Dreiecke, wie wir sie jetzt benützen, damals bereits in
Gebrauch waren, braucht kaum bemerkt zu werden; in ihrer Gresamt-
heit, selbst mit Einschluß der sogenannten Mollweideschen Glei-
ehungen®) zusammengestellt und in unserer Art abgeleitet finden wir
sie jedoch nur in Cagnolis Trigonometrie.
Geometriei in neuer Auflage Halae Magdeb. 1756; Abbe Sauri, Cours complet
de math&matiques, t. I, Paris 1774, 8°, und Institutions mathömatiques, Paris
1786, 4. Aufl., p. 206, wo ein kurzer Auszug der Trigonometrie aus dem Cours
steht; P. ©. Scherffer (8. J.), Institutionum geometricarum pars sec. sive Tri-
gonometria plana. Vindob. 1770, 4°. Deutsche Übersetzung von einem Unge-
nannten, Halle 1782. Scherffer bemerkt, wie später auch Cagnoli, daß beim
Durchgang durch Null und durch Unendlich ein Zeichenwechsel eintreten muß.
1) So nahm z.B. Louis Bertrand, ein Schüler Eulers, in sein zwei-
bändiges Werk „Developpement nouveau de la partie el&ömentaire des mathe-
matiques, Geneve, II, 1778, 4°, alle Entdeckungen Eulers, die sich auf die Tri-
gonometrie beziehen, auf. Ähnlich verfahren Mauduit in seinen Prineipes de
l’Astronomie spherique ou traitE complet de trigonometrie spherique“, Paris
1765, 8°, und Karsten in den o. a. Werken. ?, Vgl. La Caille, Legons
elömentaires de mathömatiques, Paris 1764, und Sauri in derschon angeführten
Schrift, Etienne B6zout in seinem Cours de mathematiques, Paris, pars II,
1772, usw. ®) In den späteren Auflagen seiner „Anfangsgründe der Arith-
metik, Geometrie, ebenen und sphärischen Trigonometrie“ sowie in seinen
„Geometrischen Abhandlungen“, 1790—1791. *) Schon in der 1. Aufl. von 1786
stehen diese Gleichungen aus dem Sinussatze abgeleitet p. 122, übrigens finden
426 Abschnitt XXIII.
Bezüglich der Behandlung der sphärischen Trigonometrie muß
man die graphischen und rechnerischen Methoden auseinander-
halten. Die ersteren, die sich in der alten Astronomie schon einer
großen Beliebtheit erfreut hatten!), waren durch die Trigonometriae
sphaericae constructio, Romae 1737, 4°, des uns schon bekannten
Boscovich wieder neuerdings in Gebrauch gekommen. Sie be-
ruhten in der Hauptsache auf der Orthogonalprojektion und wurden
zur näherungsweisen Auflösung der sphärischen Aufgaben, vereinzelt,
wie bei Mauduit, auch zur Ableitung der trigonometrischen Haupt-
sätze verwendet”), Antoine Remi Mauduit (1731—1815) war zu-
erst Professor der Mathematik an der Ecole des ponts et chaussees, dann
Professor der Geometrie am College de France in Paris und hat in seinen
Prineipes d’astronomie spherique ein reichhaltiges Werk geschaffen.
Die ausführlichste Schrift aber, welche ohne Kenntnis der geschicht-
lichen Entwicklung der Jahrhunderte alten Methode alles längst Be-
kannte wieder neu fand und in organischen Zusammenhang brachte,
war eine Schrift”) des Mathematiklehrers zu Montauban Simeon
Fagon Valette (1719—1801) aus dem Jahre 1757, sie baut un-
mittelbar auf Boscovich auf, der jedoch nirgends genannt wird.
Auch der Abbe Tommaso Valperga di Caluso (1737—1815), der
erst Offizier auf der Flotte des Malteser-Ordens, dann Priester in
Neapel und Turin war, woselbst er Professor der griechischen und
orientalischen Sprachen und Direktor der Sternwarte wurde, hat noch
1786 eine ähnliche Arbeit, allerdings nieht in Form eines Lehrbuches
veröffentlicht).
Die weit wichtigere rechnerische Behandlung der sphärischen
Trigonometrie, welche die Lehrbücher fast ausschließlich brachten,
wurde damals im Gegensatze zu Eulers Methode, die er in seiner
Abhandlung von 1779 befolgte, in der Weise vorgenommen, daß zuerst
die Sätze für das rechtwinklige und dann jene für das schiefwinklige
Dreieck als Folgerungen aus ersteren gebracht wurden. So leiten
z. B. Segner, dessen vielbefolgte Bezeiehnungsweise aus der
nachfolgenden Figur 24 erhellt, und ebenso Sauri und Bosco-
vich sowie viele andere auf diese Weise die folgenden fünf Glei-
chungen ab:
sie sich auch in Mauduits o.a. Werke p. 83 und 84 ohne Beweis aus den
Neperschen Analogien der sphärischen Trigonometrie geschlossen.
') A.v. Braunmühl, Gesch. d. Trig. I, Kap. 2, $1, Kap. 3, 8 2, Kap. 4,
$ 2, Kap. 7, $1, Kap. 8, $6. Ferner Zeuthen, Bibl. mathem. 1900, p. 20—27.
2) A.2.0., p. 6öfl. ’) Trigonometrie spherique resolue par le moyen de la
Regle et du Compas, Bourges 1757, 8°. *) De l’utilit@ des projections ortho-
graphiques. M&moires de l’Acad. de Turin II, 1786, p. 291—327.
Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Versuche einer Begründung dess. 427
1) sin: sinh = sinm : sin M; 2) sin B:sinb = ctg M:: etgm;
3) sinN:sinn = cos M:cosm; 4) cosN:cosn = «tg H:ctgh;
5) cos B:cosb = cos H: cosh
und fügen ihnen noch die beiden durch korrespondierende Addition
und Subtraktion aus 3) und 5) hervorgehenden Formeln:
N+n M-+m
eig E) : tg Aa = tg nr . tg ar Sa
B+b H—+h ar h B-—-b
Rede te] : tg or ae a EEE dern
hinzu‘). Die Methode, mit diesen 7 en alle Dreiecksaufgaben
zu behandeln, war damals sehr verbreitet, wenn auch manche Autoren
noch nebenbei die allgemeinen Formeln
für das schiefwinklige Dreieck entwickel-
ten, indem sie die Hauptsätze aus dem
Dreikant ableiteten und aus diesen dann
die übrigen durch Rechnung gewannen. |
Andere wieder, wie Cagnoli, Scherffar, ui | \
Karsten und Mauduit stellten sich als er
Grundlage ihrer Formeln den Kosinus-, 2 £
den Sinussatz und die Kotangentenformel reeh
mit Hilfe der Sätze des rechtwinkligen
Dreiecks her. Auch die Neperschen Analogien kommen bei den
genannten Autoren vor, die auch ihre praktische Verwendung ausein-
andersetzten. Dagegen wird die Methode, das ganze Formelsystem
durch Anwendung des Supplementardreiecks zu verdoppeln, merk-
würdigerweise nirgends ausschließlich angewendet.
Wenn wir im vorhergehenden die hauptsächlichsten Methoden
kennen gelernt haben, nach denen die Trigonometrie für den Unter-
richt entwickelt wurde, so müssen wir noch der am Ende des Jahr-
hunderts auftretenden Versuche gedenken, welche dahin zielten, das
ganze trigonometrische Lehrgebäude auf die einfachst-
mögliche Grundlage zu stützen. Ohne diese bestimmte Absicht
auszusprechen, leitete Kästner?) die Hauptformeln der ebenen Tri-
gonometrie rechnerisch aus dem Sinussatze und der Winkelbeziehung
4+B5+0C=180° ab, und noch viel früher?) hatte der Oberberg-
') Diese waren schon im 17. Jahrhundert von Thomas Baker (1625 bis
1690), Pfarrer in Bishop-Nymmet in Devonshire, mitgeteilt worden. Siehe A.
v. Braunmühl, Gesch. d. Trig. II, p. 48. ®) Anfangsgründe der Arithmetik,
Geometrie und Trigonometrie, z. B. 3. Aufl. 1774, p. 418; 4. Aufl. 1786, p. 505.
Kästner wollte eigentlich nur eine „Vergleichung der Seiten des Dreiecks und
eines seiner Winkel‘ finden. ») A. v. Braunmühl, Gesch. der Trig. U,
p. 97—100. Oppels Schrift heißt: Analysis triangulorum 1746, 2°.
428 _ Abschnitt XXI.
hauptmann Friedrich Wilhelm Oppel in Freiberg (1720—1769)
gezeigt, daß sich aus der Kenntnis des Sinus- und Kosinussatzes die
sämtlichen Formeln der sphärischen Trigonometrie gewinnen lassen.
Damit nicht zufrieden suchte De @ua de Malves (III, S. 576—577)
zu zeigen'), daß die Kosinusformel allein zu diesem Aufbau genüge.
Diesen Gedanken, den übrigens, wie De Gua selbst bemerkt, schon
der Petersburger Akademiker F. C. Maier (III?, 5. 558—559) aus-
gesprochen hatte, führte er in der Abhandlung „Trigonometrie
spherique deduite tres brievement et completement de la seule
solution algebrique du plus simple des ses problemes generaux ete.“
1783 aus. Dabei hatte er die unglückliche Idee für seine neu auf-
gebaute Trigonometrie auch eine neue Funktionsbezeichnung einzu-
führen, die durch ihre Schwerfälligkeit die Lektüre seiner sonst ver-
dienstlichen Abhandlung sehr unangenehm macht. Da sie jedoch
keine Nachahmung fand, gehen wir auf dieselbe nicht weiter ein.
De Gua leitet nun zunächst den Kosinussatz
cos ad — cosb cosc + sinb since cos A
geometrisch ab, indem er sich derselben Figur bedient, die wir bei
F. Blake (S. 406) antrafen, und berechnet aus dieser Formel
sin A= Yl — cosa? — cosb? — cosc? + 2 cosa cosb cosc:: (sind sine).
Da man aus der Symmetrie dieser Form erkennt, daß sin B und sin O
denselben Zähler erhalten müssen, so folgt unmittelbar
1 1 1
sin A : sin B: sin ( = — —— : ——— : — ——— — sina;anhbi mine,
sın b sınc SINCSIıIna sına sın b
also der Sinussatz. Durch sehr umfangreiche Rechnungen ergeben
sich dann der Kosinussatz für die Winkel, die Kotangentenformel
und noch 10 andere recht komplizierte Gleichungen, welche zu prak-
tischer Verwendung zum Teil sehr wenig brauchbar sind.
Die abschreckenden Rechnungen De Guas veranlaßten Lagrange
in der schon erwähnten Abhandlung „De quelques Problemes relatifs
aux triangles spheriques avec une Analyse complete de ces triangles“?)
eine einfachere Ableitung zu geben. Kosinus- und Sinussatz erhält
er wie De @ua, inderm er aber dann den ersteren für die Seiten «a und c
ansetzt, mit Hilfe der zweiten dieser Formeln eose aus der ersten
eliminiert und since=sinasinC:sin A einführt, ergibt sich ihm als
dritte Gleichung ctga sind=ctgAsinÜ+cosbcosC. Vor der
| !) Memoires de l’Acad. de Paris 1786, p. 291—343, vorgelegt 1783.
2) Journal de l’Ecole Polytechnique, ceahier 6, 1798/99.
Das Lehrgebäude der Trigonometrie. Versuche einer Begründung dess. 429
eben erwähnten Einführung von sine hatte sich Eulers Formel
cosa sinb—= cosb sina cosÜ + sinecos A ergeben; indem er nun in
dieser a mit b und folglich auch A mit 5 vertauschte und den hier-
durch erhaltenen Ausdruck für cosb sina in sie einführte, ergab sich
mit Hilfe der Beziehung sin c = sin b sin Ü: sin B leicht der Kosinus-
satz für die Winkel als vierte Hauptgleichung. Obwohl diese Formeln
genügen, wie Lagrange sagt, um alle auf sphärische Dreiecke be-
züglichen Aufgaben, zu lösen, so leitet er dennoch aus ihnen die be-
kannten 6 Gleichungen für das rechtwinklige Dreieck sowie die
Sätze zur Bestimmung der Seiten aus den Winkeln und der Winkel aus
den Seiten ab und verschafft sich die Neperschen Analogien, indem
er in beiden Fällen auch das Supplementardreieck verwendet.
Da Lagranges Arbeit unmittelbar an De Guas Gedanken an-
knüpfte, mußten wir ihre Besprechung gleich hier anfügen und
können erst nachträglich noch auf eine Abhandlung des uns schon
bekannten Schubert hinweisen, die schon 1796 erschienen war!) und
denselben Gegenstand behandelte, ohne jedoch jener Lagranges au
Übersichtlichkeit, Einfachheit und Eleganz gleichzukommen. Fried-
rich Theodor Schubert (1758—1825), geboren zu Helmstädt, be-
gann seine Tätigkeit als Hauslehrer, wurde dann Revisor des hapsal-
schen Kreises in Esthland, beschäftigte sich aber hauptsächlich mit
geographischen und astronomischen Studien, die ihm die Pforten der
Akademie in Petersburg eröffneten, woselbst er Aufseher der Biblio-
thek und des Münzkabinetts dieser Anstalt wurde, Stellungen, die er
bis zu seinem Tode inne hatte. Mit den Schriften der Alten wohl-
vertraut kam er auf den Gedanken, aus dem Satze des Menelaus’),
mit dem schon Ptolemäus die sphärische Trigonometrie behandelt
hatte, das ganze bekannte Formelsystem der Trigonometrie abzuleiten.
Zunächst gewann er aus diesem Theorem die 6 Formeln für die
rechtwinkligen sphärischen Dreiecke?), dann den Sinussatz und durch
beständige Anwendung der gefundenen Formeln auf die Figur jenes
Transversalensatzes von Menelaus die beiden Kosinusregeln, aus
denen sich dann als einzige noch notwendige Regeln die Formel
sin A sine
ET oa eb kin Bohr
und ihre polare ergaben. Auch dieses schöne System gründet die
ganze sphärische Trigonometrie auf einen einzigen Satz, die hierzu
notwendigen Rechnungen stehen aber jenen Lagranges an Einfach-
heit bedeutend nach. Beachtung hat dasselbe wenig gefunden.
') Trigonometria sphaerica e Ptolemaeo. Vorgelegt am 22. Dezember 1796,
publiziert 1801 in Nova Acta Acad. Petrop. XII, p. 165—175. ?) Vgl. dieses
Werk I?, p. 386. ») Vgl. I?, p. 392—393.
430 Abschnitt XXIII.
Tetragonometrie, Polygonometrie und Polyedrometrie.
Nachdem infolge der Ausbildung der Formelsprache und der da-
durch gewonnenen Geschmeidigkeit der analytischen Rechnung die
Behandlung aller auf ebene Dreiecke bezüglichen Fragen eine Leich-
tigkeit geworden war, regte sich der Wunsch, auch für unregelmäßige
Vierecke und allgemeine Polygone, deren typische Formen schon
Stevin und Girard unterschieden hatten‘), Formeln zu besitzen,
welche eine Berechnung derselben direkt, d. h. ohne vorherige Zer-
schneidung in Dreiecke gestatten würden. Lambert war der erste,
der in seiner „Anlage zur Tetragonometrie“?) diesen Gedanken ver-
folgte, um überflüssigen Rechnungen zu begegnen. Er gab ohne Be-
weis die vier Beziehungen an, welche zwischen je 6 Stücken eines
ebenen Vierecks bestehen müssen. Da man jede von diesen nach
einem der sechs Stücke auflösen kann, so ergeben sich 24 Fälle,
von denen jedoch nur 14 verschieden sind, da mehrere Auflösungen
dasselbe sagen, und drei Winkel bereits den vierten bestimmen, Um-
stände, die Lambert nicht berücksichtigt hat. Nimmt man noch
eine Diagonale hinzu, so vermehren sich die möglichen Fälle, deren
unvollständige Abzählung durch Lambert später Björnsen und Lexell
ergänzten, während Johann Tobias Mayer in seine Inauguraldissertation
von 1773°) Lamberts Irrtümer herübernahm. Der schon früher ge-
nannte J. T. Mayer war als Sohn des berühmten Astronomen gleichen
Namens 1752 in Göttingen geboren, studierte und habilitierte sich
daselbst, wurde dann Professor der Mathematik und Physik in Alt-
dorf und Erlangen und starb als Professor der Physik in Göttingen
1830. In der genannten Schrift bemühte er sich hauptsächlich, loga-
rithmisch brauchbare Gleichungen in der Tetragonometrie zu erhalten,
was seine, wenn auch mangelhafte Abhandlung immer noch vorteil-
haft von dem Buche unterscheidet, das der Düne Stephan Björnsen
(1730—1798), Kalkulator der dänischen Landesvermessung, 1780
herausgab‘). Dasselbe ebenfalls an Lambert anschließend bietet
wenig elegante Formeln, wenn es auch Mayers Schrift an Vollstän-
digkeit übertrifft, indem es noch die Fälle, welehe mit Hinzunahme
einer Diagonale entstehen, analytisch behandelt, geometrische Kon-
struktionen ableitet und die auftretenden Doppelwerte erklärt.
| Der erste, welcher den geringen Wert solcher Detailuntersuchungen
1) Vgi. dieses Werk II?, p. 665—666 und Bibliotheca math. 1900, I, p. 271.
2), Beiträge zum Gebrauche der Mathematik II, 1770, p. 175—134. ®, Tetra-
gonometriae specimen I, Göttingen 1773. *% Introduetio in Tetragonometriam
ad mentem Lambert. Hauniae 1780, 8°.
Tetragonometrie, Polygonometrie und Polyedrometrie. 431
erkennend eine allgemeine Methode zur Berechnung beliebiger
Polygone entwickelte, war der schon genannte Petersburger Mathe-
matiker Lexell. Andreas Johann Lexell, 1740 zu Abo in
Finland als Sohn des dortigen Bürgermeisters geboren, kam 1766
auf Grund einer Abhandlung über die Auffindung von Kurven aus
den Eigenschaften ihrer Krümmung als Lektor an die Universität
und als Professor an die Marineschule in Upsala. Als er 1768 an
die Petersburger Akademie eine Abhandlung einsandte, in welcher er
eine neue Methode zur Integration gewisser Differentialgleichungen
auseinandersetzte, wurde Euler auf ihn aufmerksam und veranlaßte
sofort seine Berufung nach Petersburg, der er auch Folge leistete
und sich als Eulers treuer Mitarbeiter namentlich an dessen neuer
Mondtheorie auszeichnete. Als der letztere 1783 starb, erhielt Lexell
seine Stelle in der Akademie, in die er schon früher aufgenommen
worden war, hatte sie jedoch nur mehr ein Jahr inne, indem er schon
1784 seinem Meister im Tode nachfolgte.
Lexell hat der Polygonometrie zwei Abhandlungen gewidmet,
in denen er diesen Zweig der Trigonometrie eigentlich erst schuf!).
Er löste darin die Aufgabe aus 2» — 3 Stücken eines n-Ecks, die
dasselbe bestimmen, die übrigen zu berechnen, indem er das Poly-
gon auf zwei zueinander senkrechte Linien, wovon er die eine mit
einer Seite zusammenfallen ließ, orthogonal projizierte. Die beiden
hierdurch sich ergebenden Gleichungen sind in seiner Schreibweise:
asne+bsin(e +ß)+esn(e+ß+yp)+---
+isn(a+ß+Y+.+)=-0,
acosa+bceos(e+P)+eceos(@+ß+yY)+---
+lese +ß+Yy+::+4)=(,
wobei a, b, c,... I die Seitenlängen und «, ß,y,... A die Außenwinkel
des Polygons bedeuten, und die Beziehung besteht:
a+ß+Y+:::+2— 3600.
Die beiden Gleichungen werden auch noch dadurch verallgemeinert,
daß die Projektion des Polygons auf zwei beliebige sich in einer
Ecke schneidende rechtwinklige Achsen vorgenommen wird; auch wird
ihre allgemeine Gültigkeit für überschlagene Polygone und solche mit
einspringenden Ecken an Beispielen dargetan, wobei nur zu beachten
ist, daß die Summe der Außenwinkel in solchen Fällen ein Vielfaches
von 2x beträgt.
Als spezielle Anwendungen zeigt Lexell, wie sich aus seinen
') De resolutione polygonorum rectilineorum. Novi Comm. Acad. Petrop.
XIX, 1774, p. 184—236 und XX, 1775, p. 80—122, publiziert 1775, resp. 1776.
432 Abschnitt XXII.
Gleichungen die Grundformeln der Trigonometrie und der Tetragono-
metrie ergeben und fügt noch die entsprechenden für die Fünf- und
Sechsecke hinzu. Diese Detailuntersuchungen, namentlich insoweit
sie sich auf das Viereck beziehen, werden dann in der zweiten Ab-
handlung noch weiter ausgearbeitet, wobei eine vollständige Klassi-
fizierung aller möglichen Fälle, auch jener, die mit Hereinziehung
einer und zweier Diagonalen entstehen, vorgenommen wird.
Auf einer anderen Grundlage hat Simon L’Huilier eine Poly-
gonometrie aufgebaut!). An ihre Spitze stellte er folgenden Satz:
„Läßt man eine Seite des Polygons weg, bildet aus allen anderen die
Produkte aus je zweien und multipliziert jedes Produkt mit dem
Sinus des von den betreffenden Seiten gebildeten Winkels, so ist die
Summe dieser F*ZVR ZI Produkte gleich dem doppelten Inhalt des
5)
u
Polygons“. Da man nun immer andere Seiten des Polygons weg-
lassen kann, so erhält man n Ausdrücke für den Polygonsinhalt, die
einander gleichgesetzt die fundamentalen Beziehungen zwischen den
Seiten und Winkeln des Polygons liefern. Außer dieser Formelgruppe
verschafft sich L’Huilier aber noch zwei Fundamentalformeln, die
identisch sind mit Lexells Projektionsformeln?), indem er den Poly-
gonsinhalt einmal in der obigen Weise und dann als Summe eines
durch eine Diagonale abgeschnittenen Eckdreiecks und des übrig-
bleibenden Polygons von n — 1 Seiten bildet. Den übrigen Inhalt des
Buches machen allgemeine und spezielle Anwendungen dieser Sätze aus.
Außerdem hat L’Huilier über seine Vorgänger hinausgehend
noch ın einer dem Institut national 1799 eingereichten Abhandlung
„Iheoremes de Polyedrometrie“, Paris 1805, seine Sätze auf Raum-
polygone ausgedehnt und den Hauptsatz der Polyedrometrie auf-
gestellt, daß jede Seitenfläche eines: Polyeders gleich der Summe der
übrigen ist, wenn man jede mit dem Kosinus des Winkels multipliziert,
den sie mit der ersten bildet. Doch wurden die notwendigen Be-
dingungen, unter denen allein dieser Satz gültig ist, weder von
L’Huilier noch von Carnot?), der sich bald nach ihm mit Sätzen
der Polyedrometrie und der Raumpolygone beschäftigte, angegeben.
Die Bauptsätze der Polygonometrie fanden in den Lehrbüchern
merkwürdig schnell Eingang, so in Prändels vielbenutzter „Geo-
metrie und ebene 'Trigonometrie“, München 1793, die einen eigenen
Abschnitt darüber enthält.
') Polygonometrie ou de la mesure des figures rectilignes ete., Geneve 1789,
4°. Es scheint dies das erste Lehrbuch der Polygonometrie zu sein. Masche-
ronis „Metodo di misurare i poligoni“, Pavia 1787, konnten wir nicht einsehen.
?) Dieselben stehen a. a. ©. p. 18 und 20. ?°) Geometrie de position,.1803, p. 306,
Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 433
Zum ‘Schlusse dieses Kapitels möge noch auf spezielle Unter-
suchungen über Vierecke und Polygone hingewiesen werden, mit
denen sich Nik. Fuß am Ende des Jahrhunderts beschäftigte. In
einer ersten Abhandlung von 1794!) löste er auf trigonometrischem
Wege Aufgaben, welche sich darauf bezogen, aus gewissen gegebenen
Stücken ein Viereck zu konstruieren, dem man einen Kreis um-
schreiben und einen anderen einschreiben kann und berechnete die
Radien dieser Kreise, den Abstand. ihrer Mittelpunkte und die noch
fehlenden Stücke solcher Vierecke. In der zweiten Abhandlung von
1798?) dehnte er diese Untersuchungen auf symmetrisch irreguläre
Polygone aus, womit er solche Polygone bezeichnete, denen man einen
Kreis um- und einen anderen einschreiben kann und die so beschaffen
sind, daß sie durch den gemeinsamen Durchmesser dieser beiden
Kreise in zwei kongruente Hälften geteilt werden?). Auch hier werden
alle Einzelaufgaben trigonometrisch behandelt und die Konstruktionen
aus den Formeln abgeleitet. Der Zielpunkt der Arbeit ist die Lösung
des allgemeinen Problems: einem gegebenen Kreis ein n-Eck einzu-
schreiben, dem selbst wieder ein Kreis eingeschrieben werden kann.
Direkt gelöst wurde jedoch diese Aufgabe nur bis zum 8-Eck ein-
schließlich, indem man, wie er sagte, hieraus bereits ersehen könne,
wie man bei höherer Eckenzahl verfahren müsse.
Trigonometrische und andere Tafeln. Zyklometrie.
Trigonometrische Reihen.
Nachdem bereits Isaak Newton auf die Benutzung der unend-
lichen Reihen zur Berechnung logarithmisch-trigonometrischer Tabellen
hingewiesen, und der unermüdliche Abraham Sharp‘) zu Beginn
des 18. Jahrhunderts mit ihrer Hilfe darauf bezügliche Rechnungen
in großer Zahl ausgeführt hatte, wurden die letzteren von Gardiner
in einer Neuauflage von Sherwins Logarithmentafel 1741 publiziert.
Die zahlreichen Auflagen dieser zuerst 1705 erschienenen Mathematical
tables von Sherwin, von denen Gardiners weitere Ausgabe von
1742 die korrekteste sein soll’), laufen bis 1771 fort, wo die fünfte
') Nova Acta Acad. Petrop. 1792, X (erschienen 1797), p. 103—125.
®) Ebenda, 1795/96, XII (erschienen 1802), p. 166—189. ®) J. Steiner stellte
(Journal für Math. und Phys. II, 1827, p. 96 und 289) die Relation zwischen den
Radien der erwähnten Kreise und der Distanz ihrer Mittelpunkte für das Fünf-,
Sechs- und Achteck auf, C. G. Jacobi aber wies (ebenda, III, p. 376) nach, daß
diese Formeln mit den von Fuß gegebenen zusammenstimmen müssen, da dieser
ohne es zu bemerken, den allgemeinsten Fall bereits behandelt hatte. ) Über
ihn vgl. dieses Werk, III?, S. 86. °) Tables of Logarithms for all numbers
from 1 to 102100, and for the Sines and Tangents etc., London 1742.
434 Abschnitt XXIIL
Auflage derselben erschien, und enthalten die Briggschen Logarithmen
aller Zahlen bis 99 und die Logarithmen der Primzahlen von 100
bis 1097 auf 61 Stellen nach Sharps Rechnungen!) sowie sieben-
stellige Logarithmen aller Zahlen bis 1000 und von 10000 bis 101000.
Außerdem finden sich darin Tafeln für die Sinus, Tangenten, Sekanten
und Sinus versus und ihrer Logarithmen für alle Bogenminuten eben-
falls auf 7 Stellen. Eine Neuauflage von Gardiners Tafelwerk in
französischer Sprache wurde 1770 von dem Jesuiten Esprit Pezenas
(1692— 1776), Direktor der Sternwarte in Avignon, besorgt, der hierzu
die von Gabriel Mouton (vgl. IP, 5. 77) mit dessen Differenzen-
methode?) berechneten Zahlen benutzte, ohne jedoch seine Tafeln
aller Logarithmen der trigonometrischen Funktionen für die Sekunden
der ersten und letzten 4 Grade zu veröffentlichen. Lalande, der
dies lebhaft bedauerte, setzte in einer Abhandlung von 1761?) ein
Interpolationsverfahren zur Berechnung solcher Tafeln auseinander
und veranstaltete 1781 und noch später Neuausgaben der 1760 zum
erstenmal erschienenen Tables des Logarithmes pour les Sinus, Tan-
gentes ete. von Lacaille. Diese Tafeln waren wegen ihrer Hand-
lichkeit (Duodezformat) und Exaktheit sehr beliebt und blieben langezeit
im Gebrauch; 1832 wurden sie noch einmal von Köhler herausgegeben).
Eine der wichtigsten Tafelsammlungen, die in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts erschienen, enthielten Lamberts „Zusätze zu
den logarithmisch trigonometrischen Tabellen zur Erleichterung und
Abkürzung der bei Anwendung der Mathematik vorfallenden Be-
rechnungen“, Berlin 1770, 8°. Diese auf eine Anregung Lagranges
entstandene Tafelsammlung?) wurde 1788 von dem mit Lambert
im Briefwechsel stehenden und von ihm vielfach unterstützten Anton
Felkel (geb. 1740) in Lissabon in lateinischer Sprache neu aufgelegt.
Wir wollen auf die wichtigsten Tafeln dieser Sammlung hinweisen.
Lambert hatte schon im Il. Bande seiner Beiträge zur Mathematik
die Teiler aller Zahlen von 1 bis 10200 gegeben, ferner hatte Hein-
rich Ajema 1767 eine Tafel der Teiler aller Zahlen von 1 bis 10000
!) Zuerst veröffentlicht in seiner Geometry improved, London 1717.
2) Mouton hat sein Verfahren zuerst angewendet in „Observationes dia-
metrorum solis et lunae“, Lugd. 1670, 4°, und damit die Logarithmen
der Sinus und Tangenten auf 10 Dezimalen berechnet. Das diese Tafeln
enthaltende Manuskript reichte er der Pariser Akademie ein, und Pezenas
konnte es benutzen. ) Sur les interpolations ou sur l’usage des differences
secondes, troisitmes etc. Me&moires de l’Acad. de Paris 1761, p. 125—139.
4) Glaisher, Report of Mathematical Tables in Report of the British Asso-
ciation, London 1874, p. 1—175 [künftig nur als „Glaisher“ zitiert], p. 153.
5) Brief an d’Alembert vom 4. April 1771. Lagrange, Oeuvres, Ed. Serret,
XIH, p. 195.
Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 435
zu Löwen veröffentlicht und sowohl im Dietionnaire enceyclopedique wie
auch in Harris Lexikon der Künste und Wissenschaft war je eine
solche Tafel für alle nicht durch 2, 3, 5 teilbaren Zahlen von 1 bis
100000 nach John Pell (vgl. II#, S. 713) mitgeteilt worden; diese
dehnte Lambert unter Vornahme der nötigen Korrekturen auf alle
Zahlen bis 102000 aus (Tab. I) und fügte noch Tafeln für die Prim-
zahlen bis 101977%) bei (Tab. II und VI), zu deren Bildung er in
der Einleitung eine Reihe von Sätzen mitteilt. Felkel hat die
Teilertafel fortgesetzt, indem er 1776 in Wien eine sehr praktisch
eingerichtete Tabelle erscheinen ließ, die die Divisoren bis 336000 ent-
hielt (vgl. S. 202). Nach Angabe von Gauß hatte er seine Rechnung so-
gar bis 2000000 getrieben, jedoch ist der Rest nicht mehr im Druck er-
schienen. Auch die Tafel der Primzahlen wurde 1772 von Marecıi
bis 400000 fortgesetzt, während Johann Neumann zu Dessau
1785 Tabellen der Primzahlen und der zusammengesetzten Teiler
aller Zahlen bis 100100 mitteilte und Vega eine Faktorentafel bis
400000 in seinen Vorlesungen (1793) drucken ließ.
Außer den Primzahltafeln enthält Lamberts Sammlung noch
kleinere Tabellen der Quadrat- und Kubikzahlen, der Potenzen von
2 bis 2, von 3 und 5 bis zur 50°‘ Potenz, eine Tafel für die Werte
der -Exponentialfunktion e-*, von 2=0,1 bis x = 10, nebst den Ent-
— (e + 1), log(a + x) usw. in Reihen und Ketten-
brüche, dann eine Tafel der siebenstelligen hyperbolischen Logarithmen
der Zahlen von 1 bis 100 (Tab. XIII) und eine ebensolche der Zahlen
von 1,01 bis 10 in Intervallen von 0,01. Bemerkenswert ist die
XIX. Tafel, welche die Werte der Sinus von 3° zu 3° in algebraischen
Ausdrücken zusammenstellt, um gegebenenfalls verschiedene Rech-
nungen mit aller Schärfe vornehmen zu können. Über die Auf-
stellung dieser Tabelle verbreitete er sich in seinen Beiträgen zur
Mathematik II (5. 133—139) und zeigte, daß die einzelnen Funktions-
werte aus 15 verschiedenen Wurzeln durch Addition und Subtraktion
allein zusammengesetzt sind?). Außerdem enthält Lamberts Samm-
wieklungen von e*,
) J. @. Krüger hatte schon 1746 zu Halle im Magdeburgischen eine Prim-
zahltafel bis 100999 gegeben, die er nach Aussage Lamberts von Peter Jäger
erhalten hatte, und von Giuseppe Pigri (1728 etwa —1804) waren 1758 Nuove
tavole degli elementi dei numeri dall’ 1 al 10000 in Pisa veröffentlicht worden.
Diese Tafeln enthalten alle Zahlen innerhalb der gegebenen Grenzen durch Prim-
zahlprodukte dargestellt und sollten nach des Autors sanguinischer Hoffnung die
Benutzung der Logarithmen überflüssig machen. Eine Methode zur Aufsuchung
der Primzahlteiler hat auch Johann Tessanek in Abhandlungen einer Privat-
gesellschaft in Böhmen, I, Prag 1775, p. 1—64 angegeben und mit derselben
eine Tafel von 1 bis 1000 berechnet (p. 53—60). ?) Eine Ableitung derselben
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 29
436 Abschnitt XXI.
lung noch eine Tafel (XXI), in welcher die hauptsächlichsten tri-
sonometrischen Formeln zusammengestellt sind, die zur Berechnung
der ebenen und sphärischen Dreiecke dienen, Tafeln für die Längen
der Kreisbögen auf 27 Dezimalen von 1° bis 100°, von da ab in
Intervallen von 30° und endlich für Minuten und Sekunden; ferner
Tabellen zur Berechnung der trigonometrischen Funktionen kleiner
Winkel, zur Bestimmung der Sinus aller Grade mit ihren ersten
9 Vielfachen auf 5 Dezimalen usw. Zum Schlusse mag noch auf die
Tafeln zur Erleichterung der Auflösung höherer Gleichungen, wie
der Gleichungen 3. und 4. Grades, und endlich auf die Tafel der
hyperbolischen Logarithmen (Tab. XXXIJI) aller ganzen Winkelgrade
des 1. Quadranten hingewiesen werden. Im ganzen umfaßte die mit
großer Sachkenntnis zusammengestellte Sammlung Lamberts 45 Tafeln
in einem sehr: handlichen Oktavbändchen.
Ein wichtiges Tabellenwerk war damals auch die „Neue und er-
weiterte Sammlung logarithmischer, trigonometrischer und anderer
Tafeln“ von Johann Karl Schulze (1749—1790), einem Schüler
Lamberts, welche 1778 in Berlin in zwei Oktavbänden erschien.
Außer den siebenstelligen Briggsschen Logarithmen der Zahlen von
1 bis 101000 finden sich daselbst die hyperbolischen Logarithmen
der Primzahlen von 1 bis 10000, die der holländische Artillerieoffizier
Wolfram auf 48 Dezimalen berechnet hatte, ferner eine Tafel für
die Logarithmen der Sinus und Tangenten kleiner Bögen von 0°
bis 2° von Sekunde zu Sekunde berechnet, dann im II. Bande Tafeln
der Sinus, Tangenten und Sekanten mit den zugehörigen Briggsschen
und hyperbolischen Logarithmen für die 4 ersten und 4 letzten Grade
in Intervallen von 10”, für den übrigen Teil des Quadranten aber von
Minute zu Minute berechnet. Auch die Längen der „Zirkulbögen“
für alle Grade auf 27 Dezimalen, ferner für alle Minuten und Se-
kunden sind für den Radius 1 angegeben, und außerdem ist noch eine
Interpolationstafel aufgenommen. Auch findet sich darin eine Tafel
für rationale Trigonometrie, die nach Lamberts Angaben berechnet
wurde. Sie gibt für 100 rechtwinklige Dreiecke die Seiten, für
welche die Tangente des halben spitzen Winkels > 25 ist. Hier mag
erwähnt werden, daß Lambert auf die sogenannte rationale Trigono-
metrie, mit welcher sich schon Vieta!) und De Lagny”) beschäftigt
hat Cagnoli 1794 in „Cose trigonometriche‘“, Mem. della Soc. Italiana VI, p. 2
bis 3 gegeben.
1) Canon mathematicus seu ad triangula cum appendieibus, Lutetiae 1579
in fol. Darin: Canonion triangulorum Laterum rationalium. Vgl. die Beschrei-
bung desselben bei Hunrath in Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik,
Heft 9, p. 221—225. ®) Sur le caleul analytique et indefini des Angles
Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 437
hatten, durch einen Brief aufmerksam geworden zu sein scheint, den
ihm ein gewisser Pater Simon Baum vom St. Salvatororden am
15. Oktober 1773 schrieb; darin teilte er ihm mit, daß er 223 Sinus-
werte in rationalen Zahlen bestimmt habe und noch 20000 zu be-
rechnen gedenke, welche zur Behandlung von Dreiecken dienen, deren
Seiten und Inhalt rational sind. In seiner Antwort auf diesen Brief
am 14. Dezember des gleichen Jahres teilte ihm Lambert mit,
er habe eine Tafel für alle Brüche, deren Nenner 100 ist, berechnet,
und aus dieser Tafel könne man schon 200 rationale Sinus finden,
was völlig genüge. Ferner sei allgemein tg« — r gesetzt, so folgt
Tab BER
: & a 3
und hieraus z.B. für — = —
. b ıE
1 33 56 0 ’ „
sin2a= 5, cos2a«—,,, «= 30°30'27”.
Diese Überlegungen waren es jedenfalls, die die Entstehung der
Schulzeschen Tafel verursachten, nur war dieselbe leider mit so
vielen Fehlern behaftet, daß sie Bretschneider 1841!) noch einmal
berechnen mußte.
Schulzes Werk scheint jedoch das Bedürfnis nach Logarithmen-
tafeln nicht befriedigt zu haben, weshalb Georg Freiherr von Vega
(1756—1802) sich mit der Herausgabe ähnlicher Werke befaßte, die
bald sehr populär wurden. Vega, in Zagarika in Krain geboren,
trat früh in die österreichische Armee, war als Hauptmann zugleich
Professor der Mathematik beim Bombardierkorps in Wien, machte
die Feldzüge gegen die Türken 1788 und gegen Frankreich 1793 bis
1797 mit, in denen er sich sehr auszeichnete, und stieg bis zum
Oberstleutnant. 1802 wurde er entseelt in der Donau gefunden:
später ergab sich, daß er von einem Müller ermordet worden war?).
Während er seine Professur inne hatte, veröffentlichte er zunächst
„Logarithmische, trigonometrische und andere zum Gebrauche der
Mathematik eingerichtete Tafeln und Formeln“, Wien 1783, 8°, die
in zahllosen Neuauflagen und Bearbeitungen bis heute im Gebrauche
blieben. Das Werk umfaßte die siebenstelligen Logarithmen der
des triangles ete. Memoires de l’Academie de Paris 1729, insbesondere
p- 318.
‘) Archiv für Mathematik und Physik I, p. 96—101. ®) K. Döhlemann,
Georg von Vega. Zeitschrift für Mathematik und Physik 1894, XXXIX, p. 204
bis 211.
29 *
438 Abschnitt XXIIL.
Zahlen und der trigonometrischen Funktionen sowie die gonio-
metrischen Funktionen selbst, die Längen der Kreisbögen und ver-
schiedene den Kreis und die Berechnung der ebenen und sphärischen
Dreiecke betreffende Formeln. 1794 erschien dann in Leipzig
„Logarithmisch-trigonometrisches Handbuch“ und im gleichen Jahre
Vegas vollständigstes und bedeutendstes Werk in dieser Richtung,
der „Thesaurus logarithmorum completus ex Arithmetica logarithmica,
et ex Trigonometria artefieiali“, Lipsiae 1794, 2%. Die erste Tafel
desselben, der „Magnus Canon logarithmorum vulgarium“ enthält die
10stelligen Logarithmen der Zahlen von 1 bis 1000 ohne Differenzen
und von 1000 bis 100999 mit Differenzen, die 2. Tafel, der Magnus
Canon logarithmorum vulgarium trigonometricus gibt die 10 stelligen
Logarithmen der Sinus, Kosinus, Tangenten und Kotangenten und
zwar zwischen 0° und 2° in Intervallen von 1” und für die übrigen
Winkel von 10” zu 10” mit Angabe der Differenzen. Außerdem
findet man noch darin Tafeln für Kreisbogenlängen, eine umfassende
Sammlung trigonometrischer Formeln und Wolframs hyperbolische
Logarithmen der Primzahlen. Vegas Thesaurus war, wie er selbst
sagt, eine Neuberechnung von Vlacks Tafeln (IP, 5.443 ff.), und er
glaubte die Fehler jener Tabellen so verbessert zu haben, daß er für jeden
ihm angezeigten Fehler einen Dukaten zu zahlen versprach. Doch ge-
nügte, wie nachmals Gauß in einer Besprechung. des Werkes nach-
wies!), die Tafel II der Anforderung, die Tabulargröße dürfe niemals
um mehr als eine halbe Hinheit der letzten Dezimalstelle von dem
wahren Werte abweichen, keineswegs.
Ein Jahr nach dem Erscheinen des Thesaurus kam in Paris die
Tafelsammlung von Francois Callet (1744—1798) heraus, die. wir
schon S. 423 anführten?). Sie umfaßte im ganzen 11 wichtige
Tafeln in einem nicht übermäßig dieken Oktavband und berücksich-
tigte neben der alten Teilung des Quadranten auch die Hundertteilung
desselben. Die Haupttafeln enthalten 7stellige Logarithmen der
Zahlen wie der trigonometrischen Funktionen, doch sind auch die
gewöhnlichen und hyperbolischen Logarithmen der Zahlen von 1 bis
1200 und von 101000 bis 101179 sowie die gewöhnlichen und
hyperbolischen Antilogarıthmen von 0,00001 bis 0,00179 in Inter-
vallen von 0,00001 und von 0,000001 bis 0,000179 in Intervallen
') Astronomische Nachrichten 1851, Nr. 756, Werke II, p. 257—264.
Vgl. dagegen die Ansicht von Leber „Tabularum ad faciliorem interpolationis
computationem utilium Trias“, Vindob. 1897. ?, Tables portatives de loga-
rithmes 1795, 8°. Die umfangreiche Einleitung (118 Seiten) enthält eine genaue
Angabe der Berechnung der Tafeln. Neudrucke erschienen 1827, 1829,
1853, 1890.
Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 439
von 0,000001 sämtlich auf 20 Dezimalen mitgeteilt und die ersten,
zweiten und dritten Differenzen angegeben. Außerdem ist noch eine
Tafel bemerkenswert, die die Sinus und Logarithmen derselben auf
15 Dezimalen für je 10° des hundertteiligen Quadranten gibt. Was
die Berechnung der natürlichen Sinus in diesem Werke betrifft, so
hat sie Callet wahrscheinlich durch Interpolation aus der „Trigono-
metria arteficialis“ von Vlack vollzogen').
Von den um jene Zeit in England erschienenen Tafelsammlungen
haben wir die trefflichen Mathematical Tables, London 1785, 8°, zu
nennen, die Charles Hutton (siehe Abschnitt XIX, S. 16), seit
1773 Professor an der Militärakademie zu Woolwich, herausgab.
Sie erlebten bis 1858 Neuauflagen unter beständiger Verbesserung.
Die ersten sechs derselben enthalten eine äußerst wertvolle Einleitung
über die Geschichte der Logarithmen. Außerdem finden sich in
dieser Sammlung Antilogarithmen, d.h. die Zahlen zu den Logarithmen
von 0 bis 0,00149 in Intervallen von 1 Hunderttausendstel auf 20 Dezi-
malstellen berechnet, und logistische Logarithmen, d. h. die Werte
von log 3600” — log, von &=1" bis x = 5280” in Sekundeninter-
vallen auf 4 Dezimalen.
Ein bedeutendes Werk ist auch die dreibändige von Michael Taylor
(1756—1789), einem Rechner für den Nautical Almanac, in London
1792 in-4° herausgegebene Tafelsammlung mit einer Vorrede von
Nevil Maskelyne, dem wir schon begegneten. Unter den durch-
weg Tstelligen Tafeln befindet sich eine (die III.) von 450 Seiten
mit nahe 32 Millionen Ziffern; sie enthält die Sinus, Kosinus, Tan-
genten und Kotangenten und wurde durch Interpolation aus Vlacks
10stelliger Tafel mit Kürzung auf 7 Stellen berechnet. Außerdem
hat Taylor noch 1780 eine Sexagesimaltafel publiziert.
Als man in Frankreich in den ersten Jahren der großen Um-
wälzung, welche die Revolution auf allen Gebieten hervorgerufen
hatte, auch die Maße und Gewichte reformierte, indem man überall
das Dezimalsystem einführte, lag es nahe, den schon früher vereinzelt
aufgetauchten Gedanken der Dezimalteilung des Winkels wieder auf-
zunehmen und dafür neue logarithmisch-trigonometrische Tafeln zu
schaften, ähnlich wie sie einst Briggs berechnet hatte (vgl. II, S. 743),
Die Anregung hierzu ging von Carnot, Prieur und Brunet aus,
und mit der Leitung des Unternehmens, welches in großem Maßstabe
angelegt wurde, ward 1794 der zum Vorstande des Katasterbureaus
(1791) ernannte Ingenieur Gaspard de Prony (1755—1839) betraut.
') Glaisher, a.a. O., $S. 93 nach Hoberts und Idelers Angabe (1799).
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Wekbemaiili am dür- Aeadämie- mililisire- im Berlin, Mei Biorjas Sene
E 39) veröffentlichte: 1786”) zwei seiche Werhodem zur (direktem Be-
reehnumg der Loganihmen: Die erste bemiite (iarauf,. dab er due
aliweehseindes Ziehen der zweiten: nd. ler üintten Wurzei aus 10 ums.
dem hieredurein entstehenden Zahlen die zw dem Loganısımem
82... Re: AO, MORE _... MR: OOa, O,OME, _.. OO LEE.
Numer: bildete, dann üe ersten '* Vieifnchen: dieser Zalilem
iereelinste: umsl: alles. im einer Taiel vereinigte, im welcher (ie Loga-
zikmem vom: zpöllbem. zum kleinsten abnehmen. Diese „Eilfstaisl“
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man. din Fälterem. vom. 10%. 1095. I09M& _. im jener Tadek aui-
schlägt und miieinander mullipliziers, was dnrei: die Vieifachen ım
zo m Tabl ie niumes - Tuner, amggmambinn ci: publiges, pa J. Bi].
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n Isite den. Rare Tnelen: RORT- im. dam ri Vak: DER Ne. 3a,
440 Abschnitt XXII.
Dieser teilte seine Hilfsarbeiter in drei Gruppen. Die Herstellung
der für die Rechnung notwendigen Formeln lag in den Händen be-
rühmter Mathematiker, wie Delambre und Legendre, die zweite
Gruppe bestand aus Rechnern, die mit der Analysis vertraut waren,
während die Mitglieder der dritten Sektion, zu denen man hauptsäch-
lich die durch das neue Regime brotlos gewordenen Perückenmacher
heranzog, nur die Additionen und Differenzenreehnungen auszuführen
hatten. Dabei vollzog man!) die Berechnung der Sinus von 10° zu
10° mittelst der Reihe, die Sinus der zwischenliegenden Bögen wurden
von Grad zu Grad mit der Formel
sin(a+b)=2cosasinb + sin(a— b)
bestimmt, und alles übrige wurde durch eine geschickt angelegte
Differenzenrechnung ausgefüllt, deren auf Moutons Methode be-
ruhende Einrichtung man hauptsächlich Legendre verdankte?). Das
Werk umfaßt handschriftlieh 17 Bände in Folio und enthält neben
einer ausführlichen Einleitung über die Herstellung usw. der Tafeln
die natürlichen Sinus für jeden 10000*" Teil des Quadranten auf
25 Dezimalen, um sie sicher auf 22 zu haben, mit Angabe von 7 oder
5 Kolonnen Differenzen, ferner die Logarithmen der Sinus und der Tan-
genten für jedes Hunderttausendstel des Quadranten auf 14 Dezimalen
mit 5 Differenzen, dann die Logarithmen der Verhältnisse der Sinus
und der Tangenten zu ihren Bögen für die 5000 ersten Hundert-
tausendstel des Quadranten in 14 Dezimalen, weiter die Logarithmen
der Zahlen von 1 bis 10000 auf 19 Dezimalen und die der Zahlen
von 10000 bis 200000 mit 14 Dezimalstellen und 5 Differenzen. Das
begonnene Riesenwerk war also wirklich dem Plane gemäß zu Ende ge-
führt worden, blieb aber leider unveröffentlicht, da der bereits angefangene
Druck wegen der Zerrüttung der Finanzen eingestellt werden mußte.
Übrigens hat dasselbe an Wert bedeutend verloren, da die Hundert-
teilung des Quadranten in der Folge keinen Eingang -fand, obwohl
sie Legendre in seiner vielbenutzten Trigonometrie den Rechnungen
zugrunde legte, und auch bald kleinere Tafeln, wie die „Tables tri-
gonometriques decimales“ von Borda?) in Frankreich und die „Nou-
') Memoires de l’Institut V, an XII, p. 56—66: Rapport sur les grandes
tables trigonometriques decimales du cadastre par Lagrange, Laplace et De-
lambre und Bulletin de la Societe Philomathique de Paris III, 1811, Bericht von
denselben. Vgl. auch Comptes rendus de l’Acad. de Paris 1858, XLVI, p. 911
bis 912; ferner Annales de l’OÖbservatoire imperial de Paris IV, 1858, p. 123 bis
150, endlich Nouvelles Annales XIV, 1855, p. 14—17 des historischen Teils.
2) Connaissance de temps 1817, p. 219-—233. 3) Tables trigonometriques deei-
Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 441
velles tables trigonome6triques“ von Hobert und Ideler') in Deutsch-
land erschienen, die sich dieser Teilung bedienten. In der Vorrede
zu letzterem Werk, welches das erste war, das in Deutschland die
zentesimale Teilung des Quadranten einzuführen suchte, wird der
Differenzenmethode zur Berechnung der Tafeln das Wort geredet und
in der Tat hatte die Herstellung der „Tables du Cadastre“ das Über-
gewicht dieser Methode über die direkte Berechnung auf das schlagendste
dargetan.
Obwohl man sich, wie schon am Anfang dieses Abschnittes er-
wähnt, zur Berechnung der Logarithmen stets der unendlichen Reihen
bediente, machte sich doch am Ende des Jahrhunderts das Bestreben
geltend, elementare Methoden herzustellen, mit denen eine solche Be-
rechnung wenigstens für die Zahlenlogarithmen möglich wäre. Der
Prediger der französischen Gemeinde und nachmalige Professor der
Mathematik an der Academie militaire in Berlin, Abel Bürja (siehe
S. 29) veröffentlichte 1786?) zwei solche Methoden zur direkten Be-
rechnung der Logarithmen. Die erste beruhte darauf, daß er durch
abwechselndes Ziehen der zweiten und der fünften Wurzel aus 10 und
den hierdurch entstehenden Zahlen die zu den Logarithmen
0,1, 02, ... 09; 0,01, 0,02, ... 0,09; 0,001, 0,002, ... 0,009 usw.
gehörigen Numeri bildete, dann die ersten 9 Vielfachen dieser Zahlen
berechnete und alles in einer Tafel vereinigte, in welcher die Loga-
rithmen vom größten zum kleinsten abnehmen. Diese „Hilfstafel“?)
hat er bis zu „. fortgeführt. Den zu einem gegebenen Logarith-
10
mus, z. B. zu 0,463... gehörigen Numerus findet man dann, indem
man die Faktoren von 10%. 109% . 109093, ,, in jener Tafel auf-
schlägt und miteinander multipliziert, was durch die Vielfachen in
der Tafel erleichtert wird. Auch die umgekehrte Aufgabe läßt sich,
wie Bürja zeigt, mit der Hilfstafel leicht lösen).
Die zweite Methode, die er mitteilte, diente dazu, jeden Loga-
males ou Tables des logarithmes ... revues, augmentees et publiees, par J. B. J.
Delambre, Paris, an IX (1800/1), klein-8°.
') Nouvelles tables trigonometriques caleulees pour la division decimale du
quart de cercle, Berlin 1799, 8°. ( 2) Der selbstredende Algebraiste 1786 und
Memoires de l’Acad. de Berlin 1786/87 (publiziert 1792), p. 433—478, und kürzer
im Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik von J. Bernoulli
und Hindenburg 1786, p. 90—105. °) A.a. O., p. 456—478. Das Verfahren
ist wahrscheinlich Long nachgebildet, der es in P. T. 1714, XXIX, Nr. 339,
p: 52—54 gab. *) Dem Gedanken, wenn auch nicht der Form nach dieselbe
Methode hatte schon Brook Taylor 1717 in den P. T. Vol. XXX, Nr. 352,
p- 618—622, entwickelt.
442 Abschnitt XXIII.
rithmus einer Zahl ohne Tafel zu finden und beruhte auf der Dar-
stellung desselben durch einen Kettenbruch. War z. B. der Loga-
rithmus von 262144 zur Basis 128 zu bestimmen, so setzte man
1
128”" 2 — 262144, daraus folgt sofort p—2, und hiermit leicht
16? — 128; ist jetzt = r +, so folgt wieder »—1 und hiermit
8 — 16 usw., so daß sich schließlich der gesuchte Exponent in der
Form 2+ . = ei darstellt. Fast genau die gleiche Methode
ui
hat 1795 der Amerikaner David Rittenhouse (1732—1796) ge-
geben!), ob mit oder ohne Kenntnis von Bürjas Abhandlung, läßt
sich wohl nicht mehr feststellen.
In allen Tafelwerken jener Zeit wurde natürlich, wie auch heute
noch, der Zahl x gedacht; so finden sich z. B. in Lamberts Samm-
lung (Tafel XXIV) m, log, E ‚Vrx auf 18 Dezimalen angeführt,
und Vega gab in seinem Thesaurus (p. 633) x auf 140 Stellen an,
von denen 136 richtig sind. Die Methoden, mit denen man x be-
rechnete, beruhten hauptsächlich auf dem Kunstgriff, den zuerst
Machin angewendet hatte (vgl. II, $. 364—365), nämlich 7- in die
Summe zweier oder mehrerer Bögen mit rationalen Tangenten zu
zerlegen, die dann einzeln mit der Arkustangensreihe berechnet
wurden. Euler war es, der zuerst diesen Gedanken wieder aufgriff
und auf das vollkommenste ausbeutete, indem er schon 1737?) durch
Einführung spezieller Zahlenwerte in die allgemeine Formel
arctg = arcig — + arctg —; AI MRCOrE
solche Zerlegungen vornahm und außerdem die Reihe
Br
archg —— arctg = arctg + arctg +.
y+x Fe ee
herstellte, die z. B. für = =], .a,b,c,...:gleich den ungeraden
Zahlen der Zahlenreihe die Reihe
!) Method of raising the common Logarithm of any Number immediately
(gelesen am 12. August 1795). Transactions of the American philosophical Society,
IV, Philadelphia 1799, p. 69—71, Nr. IX. 2) De variis modis eirculi quadra-
turam numeris proxime exprimendi. Comment. Acad. Petrop. IX, 1737 (er-
schienen 1744), p. 100.
Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 443
_ = aretg I # arctg ;, + arctg — "a tep arctg —— . et’
lieferte. Auf solche auch vom analytischen Standpunkt interessante
Reihen kam er später (1762/63) noch einmal zurück"), indem er sich
mit ihrer Summation beschäftigte Daran anschließend hat dann
Johann Friedrich Pfaff (1765—1825), Universitätsprofessor zu
Helmstädt und dann zu Halle, diese Reihenkategorie von allgemeinerem
Standpunkt systematisch untersucht?) und zu den schon von Euler
summierten Reihen auch noch solche hinzugefügt, deren Summe durch
einen Bogen ausgedrückt wird, dessen Tangente transzendente Größen
einschließt.
Eulers Formeln wurden vielfach zur Berechnung von x benutzt (vgl.
S.299,300). So hatz.B. Vega das oben angeführte Resultat aus derEuler-
schen Formel er = 5 aretg — + 2arctg = gewonnen, wozu er noch
zur Kontrolle = = 2 aretg — + arctg nahm, und Karl Buzen-
geiger (1771—1835), zuerst Magister in Ansbach, dann Professor
der Mathematik in Freiburg im Breisgau, gab die auf ähnliche Weise
gebildete neue Formel:
1 1
— —=8 arctg 0 tareig 0; — arg ag")
an, die auf sehr rasch konvergente Reihen führt. Ebenso teilte
Ch. Hutton, dem wir schon wiederholt begegneten, drei ähnliche
Zerlegungen von I mit®), bereehnete aber die Teilbögen nicht mit
der gewöhnlichen Arkustangensreihe, sondern mit der viel rascher
konvergenten Reihe:
a
die er durch Transformation aus ersterer erhielt. Euler hatte
übrigens diese Reihe schon 1755 in seiner Differentialrechnung auf-
gestellt?) und teilte sie 1779 der Petersburger Akademie mit, indem
er durch Einführung derselben in die Formel
') De progressionibus arcuum circularium, quorum tangentes secundum
certam legem procedunt. Novi Comment. Acad. Petrop. IX, 1762/63 (er-
schienen 1764), p. 40—52. ?) De progressionibus arcuum eircularium etc.,
wie bei Euler, Nova Acta Acad. Petrop. X, 1792 (vorgelegt 1795, erschienen
1797), p. 123—184. °) Klügel, Wörterbuch I, p. 666. *) P. T. 1776, p. 476.
Vgl. über die weitere Geschichte dieser Reihe, die wiederholt neu gefunden
wurde, Glaisher in Messenger of Mathematics II, 1873, p. 119ff. 5, Pars II,
Kap. 2, p. 318.
444 Abschnitt XXIII.
1 3
x — 2laretg + Barcig
die äußerst bequeme Formel:
m 28 2.7: 2.4/2\2 |
nt ten +)
30366 2 / 144 2:4 / 144 \2
7 100000 (1 a Se ie en, N
erhielt. Mit ihr berechnete er, nach seiner Angabe, x in einer Stunde
auf 20 Dezimalen!).
In einer anderen Abhandlung vom 17. Juni desselben Jahres?)
bildete Euler die leicht zu beweisende ae
& da x«?’dx
ni Se fra fr Jar
. : + a 1 1
entwickelte diese oc in Reihen, setzte »=-— und dann =-.
n 1 1 ABER
und erhielt dadurch Reihen für aretg- und aretg—, welche in die
ß 1 . e
Gleichung 7 — 2arctg-,; + aretg-, eingesetzt ebenfalls einen zur Be-
rechnung von x brauchbaren Ausdruck lieferten.
Zu einer anderen interessanten Abhandlung über das hier einschlägige
Gebiet wurde Euler durch einen von Descartes gemachten Versuch der
Kreisrektifikation veranlaßt?) erg. 8. 259, 260). Zu diesem Zweck hatte
Descartes an das Quadrat bf (Fig. 25) das Rechteck cg, dessen vierte
% Eeke or der Diagonale liest und dessen Fläche
7
2 gleich — des Quadrates ist, CR an dieses
7
a ein Rechteck dh = = des vorhergehen-
den usw. Dadurch warerschließlichzu einem Grenz-
punkt x gelangt, der so liegt, daß ax dem Durch-
messer des gesuchten Kreises gleich wird. Dabei
a 5 2 “ hatte er angegeben, daß ab der Durchmesser des
0 dem Quadrate eingeschriebenen Kreises, ac der
Durchmesser des dem Achteck eingeschriebenen,
ad jener des dem Sechzehneck eingeschriebenen Kreises usw. ist, so
!) Investigatio quarundam serierum, Nova Acta Acad. Petrop. XI, 1793,
p. 133ff., gelesen am 7. Juni 1779 (erschienen 1798), p. 133. In einem anderen
Aufsatze, der erst 1862 in den Opera posthuma L. Euleri von P.H. Fuß et
Nic. Fuß I, p. 288 veröffentlicht wurde, wird diese Reihe noch auf einem etwas
anderen Wege abgeleitet. Dort findet sich obige Angabe für die Zeit der Be-
rechnung. ?) Nova Acta Acad. Petrop. XI, p. 150. °) Oeuyres de Descartes
Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 445
daß endlich ax der Durchmesser des dem Polygon mit unendlich
vielen Seiten eingeschriebenen Kreises, d. h. der gesuchte Kreisdurch-
messer selbst wird. Euler beweist nun zunächst die Richtigkeit
dieser Konstruktion und leitet dann aus ihr die Formel
ce 1 ac 1 ac 1 61 4
wotrstustientsnt Oz
U
ab. Diese Reihe gibt ihm aber sofort Veranlassung, die Summe der
allgemeineren Reihe tgp + i- tg I + n tg I +... zu suchen, die
er auch leicht in der Form — 2etg2p findet. Aus dieser Glei-
chung wird dann unter anderem auch die Faktorenfolge gewonnen:
Ya a Bi.
a A (05 9 C08 — 608 7 008 5 ):
die im speziellen für = . jene schon Vieta bekannte Beziehung
liefert (vgl. II, S. 595), welche als das erste unendliche Produkt gilt w;
Auch Eulers jüngerer Zeitgenosse Lambert hatte schon 1758 an
die Quadraturversuche des Gregoriusa St. Vincentio (1l?, Kap.S1) an-
knüpfend eine Ableitung dieser Faktorenfolge in einer Abhandlung‘)
gegeben, auf deren Inhalt wir, soweit er unser Gebiet betrifft, noch
kurz eingehen wollen. Er sagt daselbst, da die Länge eines Kreis-
bogenstückes AM =v (Fig. 26) zwischen 7
dem Sinus AS=y und der Tangente AF a
liegt, so wird es auf der Verlängerung des Q\__\yy
Durchmessers AB=2 einen Punkt P in ©
der Entfernung AP=z geben, der mit M x
verbunden, einen Punkt ® auf AF liefert, 4
der zwischen S und F liegt. Bezeichnet \
man MS mit & = sinversv, so ergibt sich in dt
leicht die Beziehung z = ee! Wenn man
Fig. 26.
in dieser © und y durch die bekannten
Reihen ersetzt, so findet man zunächst für z die Reihe
Ed. Cousin, XI, p. 442—443. Eulers Abhandlung führt den Titel: Annotatio-
nes in locum quondam Cartesii ad eireuli quadraturam spectantem. Nov. Comment.
Acad. Petrop. VII, 1760/61, p. 157ff. (erschienen 1763). Später gab auch J.Fr.
de Tuschio a Fagnano in Acta Eruditorum 1771,p. 406—418 einen Beweis der
Konstruktion.
!) Übrigens hat Euler diese Formel von anderen Betrachtungen ausgehend
schon früher gefunden: Comment. Acad. Petrop. IX, 1737 (erschienen 1744),
p. 234—235. Sie tritt auch wieder auf in Opuscula analytica L. Euleri, Petro-
poli 1783, 4°, p. 345. ?) Observationes variae in mathesin puram. Acta
Helvetica III, Basileae 1758, $ 10, p. 132.
446, Abschnitt XXIII.
In et
durch welche P so bestimmt wird, daß AQ=vist. Nimmt man
ferner 2=5 an, so ergibt der hierdurch bestimmte Punkt P eine
sehr einfache und genaue Methode zur Rektifikation des Bogens
v= AM=4Q. Lambert weist die Richtigkeit seiner Behauptung
dadurch nach, daß er mit seiner Formel eine kleine Tabelle berechnet
und die Unterschiede der gefundenen und der wahren Werte bestimmt,
Weiter ergibt sich aus der Figur die Proportion
0S:SF=(1-2):8—x),
aus welcher für sehr kleine z («=0) folgt, daB FQ=2S8Q oder
tgv — v=2(v— sinv) ist, woraus
32
tgo + 2sinv
180° te vu’ — 2sinv®
arcv—- gv +?
unc u nn
n nd z „5 r
sich viel genauer ergibt, als wenn man, wie gewöhnlich, das arith-
metische Mittel zwischen tgv und sin», oder den Seiten der um- und
eingeschriebenen Polygone bildet.
Nieht unerwähnt wollen wir auch die Versuche lassen, welche
im fernen Japan in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gemacht
wurden, um die Zahl x auf eine größere Anzahl Dezimalen zu be-
stimmen, und welche beweisen, daß die Japaner damals im Besitze
von Methoden waren, die im Abendlande der Erfindung des Infini-
tesimalkalküls unmittelbar vorhergingen.
Japans berühmtester Mathematiker Köwa Scki (vgl. III, S. 669)
gilt als der Erfinder einer solchen Methode, und aus der von ihm
gegründeten Schule gingen mehrere Mathematiker hervor, die seine
Erfindung ausbauten. Bemerkenswert sind einige unendliche Reihen
für aresinx, welche sich bei verschiedenen japanischen Mathematikern
finden. So wurde in dem Werke Ho en san Kyo von Yoshihide
Matsunaga von 1739 der Wert von x auf 50 Stellen für «= =
aus der gewöhnlichen Arkussinusreihe berechnet, die Newton (Ill?
S. 74) in seiner Analysis per aequationes abgeleitet hatte!). Ajima
(oder Yasujima?)?) aber (etwa 1737—1797) gab außer jener Reihe
auch noch die zwei folgenden:
p=»
= (arssine +tzVl—— M)-r— a ;
ß=1
1:8 a) zaR+1
2. 2B
5.
4- 6.
1) Sie steht übrigens auch bei Wallis „De Algebra Tractatus“, Opera II,
ÖOxoniae 1693, p. 383. ?2) Vgl. über diese Lesart den Aufsatz von Y. Mikami
im Jahresbericht der Mathematikervereinigung, 1906, p. 254.
Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 447
und
P=*
. ER Ei“ 2.4.6...2B 23+11
arsne=y1l—x BE aan? 7
ER Fre
Außerdem finden sich in japanischen Schriften aus jener Zeit auch
Darstellungen der Zahl x durch Näherungswerte von Kettenbrüchen?).
So stammt von Y. Arima aus dem Jahre 1766 der auf 12 Stellen
; } 5419351
richtige Näherungsbruch Be: und der auf 30 Stellen zutreffende
428224593349304 = 5
en LT TTSTITTIT ET während G. Kurushima (7 1760)
98548
> AR fer
ar angab.
Versuche, den Charakter der Zahl x zu ergründen, waren
schon von De Lagny (III, S. 120) gemacht worden. Derselbe war
bereits 1719 zu dem wichtigen Satze gelangt?), den er allerdings
nicht beweisen konnte, daß, wenn die Tangente eines Bogens
eine rationale Zahl ist, der Bogen selbst irrational sein
muß, und hatte daraus die Folgerung gezogen, daß die Kreisrektifikation
durch Radius und Tangente geometrisch unmöglich sei*). Dieser
Satz war es, der Lambert zum Ausgang seines Beweises für die
Irrationalität von x im Jahre 1767 diente?), und den er „außerordentlich
scharfsinnig und im wesentlichen einwandfrei“ gestaltete®).
Lamberts Zeitgenossen scheinen allerdings entweder seine Arbeit
nicht beachtet oder die Bedeutung des Schrittes, den er in der Er-
kenntnis des Charakters der Zahl x durch diesen exakten Beweis ge-
) Auf die hier mitgeteilten Reihen ist von P. Harzer: „Die exakten
Wissenschaften im alten Japan‘, Rede gehalten zu Kiel am 27. Januar 1905, hin-
gewiesen worden (p. 33—34). Daselbst werden auch die Quellen, aus denen
Harzer geschöpft hat, genau angegeben. °) Harzer, a.a. 0., p. 29, Anmerk. 5.
Vgl. auch T. Hayashi, The values of x by the japanese mathematicians of
the 17'® and 18'% centuries. Bibliotheca math. 1902, p. 273—275. ?°) M&moires
de l’Acad. de Paris, 1719, p. 141. *, Ebenda, 1727, p. 124—125. °®) Me-
moire sur quelques proprietes remarquables des quantites transcendentes circu-
laires et logarithmiques. Lu en 1767. Histoire de l’Acad. de Berlin 1761 (sic!),
p- 265—322, und in populärer Darstellung in den Beiträgen zum Gebrauche der
Mathematik II, p. i40—169. °%) Man sehe über den Wert von Lamberts Be-
weis: A. Pringsheim, „Über die ersten Beweise der Irrationalität von e und x“;
Sitzungsberichte der math.-phys. Klasse der k. bayr. Akad. der Wissensch. 1898,
XXVLUIL, Heft 2, p. 325—337. Hierzu sei noch bemerkt, daß Lambert in seiner
Erkenntnis noch weiter ging, indem er in einem Briefe an Holland (Lamberts
deutscher gelehrter Briefwechsel, herausgegeben von J. Bernoulli, I, p. 254)
sagt: „Die Art, wie ich dies bewiesen habe, läßt sich so weit ausdehnen, daß
zirkuläre und logarithmische Größen nicht Wurzeln von rationalen Gleichungen
sein können“.
448. Abschnitt XXI.
tan hatte, nicht erkannt zu haben, sonst hätte nicht selbst Euler
noch 1771 seine ziemlich unfruchtbaren Spekulationen über die Mög-
lichkeit oder Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises, die er bereits
in der Introductio!) an die Lösung transzendenter Gleichungen, wie
s= 088, s—sin2s usw. angeknüpft hatte, wiederholen können’).
Der ganze Charakter von Lamberts auf absolute Exaktheit zielender
Beweisführung steht eben so ganz außerhalb der fast nur auf for-
male Erweiterung der Mathematik hinzielenden Tätigkeit seiner Zeit-
genossen, daß eine Nichtbeachtung derselben wohl verstanden
werden kann.
Haben wir uns mit der Besprechung der Methoden zur Berech-
nung der Zahl x bereits einen Übergriff in das Gebiet der Analysis
erlaubt, so müssen wir auch noch in kurzem der übrigen Errungen-
schaften auf diesem Gebiete gedenken, die mit den trigonometrischen
Funktionen in Zusammenhang stehen. Wir erinnern uns (III?, S. 716
bis 717), daß Euler schon in der Introductio 1748 und noch früher
(1743)°?) die Summe einer endlichen Zahl von Sinus oder Kosinus,
deren Argumente in arithmetischer Progression fortschreiten, auf nicht
einwandsfreie Weise gewann, indem er sich divergenter unendlicher
Reihen bediente. Die einfachen und stichhaltigen Ableitungen, deren
wir uns heute noch bedienen, haben erst Klügel?), Cagnoli’) und
später wieder Francesco Pezzi°) (f 1813), Ingenieur und Professor
der Mathematik an der Universität Genua, gegeben, und Cagnoli
hat auch noch die Summen der n‘“® Potenzen der Sinus und Kosinus
solcher Winkel berechnet, nachdem schon 1748 Gregorio Fontana
(1735—1803), der Nachfolger Boscovichs an der Universität Pavia
war, eine Ableitung dieser Summen mit Hilfe des Imaginären mit-
geteilt hatte‘), Aber auch diese Gelehrten glaubten noch alle die
Reihen ohne Rücksicht auf Konvergenz oder Divergenz ins Unend-
liche fortsetzen zu dürfen.
Auch für die längst bekannten Formeln, welche den Sinus und
den Kosinus ganzzahliger Vielfachen eines Winkels durch die Potenzen
der Sinus und Kosinus oder einer dieser Funktionen allein ausdrücken,
haben Klügel®), Cagnoli?) und andere neue Ableitungen gegeben,
1) B, H, Kap. 22. °) Considerationes ceyclometricae. Novi Commentarii Acad.
Petrop. XVI, p. 160ff. °) Miscellanea Berolinensia VII, p. 129. *) Analytische
Trigonometrie 1770, p. 39—43. °) Trigonometria, 2. Aufl., p. 117—118.
6% Memorie della Societä Italiana XI, 1803, p. 21f. ”) Ebenda, II, 1784,
p. 424 ff. °) Analytische Trigonometrie 1770, p. 46—65. °) Cose trigonometriche,
Memorie della Societä Italiana VII, 1794 und Trigonometria, p. 104—108, wo-
selbst übrigens wieder kritiklos unendliche Reihen benutzt werden. In demselben
Kapitel IX werden auch die umgekehrten Formeln für sin «” und cos x” mittels
des Imaginären abgeleitet.
Trigonometr. und andere Tafeln. Zyklometrie. Trigonometr. Reihen. 449
von denen die des Irländers John Brinkley (1797)!) die vollständigste
ist, da derselbe das Koeffizientengesetz mittels des Schlusses von n
auf n + 1 bewies.
Für ein ganzzahliges gerades oder ungerades » liefern diese
Entwicklungen bekanntlich direkt die Teilungsgleichungen der tri-
gonometrischen Funktionen. Nun wußte man schon seit Wallis, daß
im ersteren Falle 2», im letzteren » Wurzeln vorhanden sind, auch
hatten bereits Euler 1748 (vgl. III?, S. 716) und noch viel ein-
gehender Kästner 1756?) Untersuchungen über Zeichen und Gruppie-
rung dieser Wurzeln angestellt, dennoch glaubte D’Alembert 1763
noch einmal auf diese Fragen zurückkommen zu müssen?) und
Klügel, Karsten und andere folgten ıhm nach. Der erstere der
beiden zuletztgenannten Männer schloß an seine Überlegungen auch
die Produktdarstellung von sinnz und cosnz für ein ganzzahliges n
an und fügte‘) noch eine stichhaltige Ableitung des Satzes von
Cotes bei, die als eine Erweiterung und Vereinfachung des schon
von Johann Bernoulli mitgeteilten Beweises?) angesehen werden muß.
Was die Ableitung der Potenzreihen für sinz, cosz, tgz anlangt,
so wurde gewöhnlich die uns schon aus Ill? S. 708 bekannte Methode
Eulers angewendet, oder man bestimmte in der mit unbestimmten
Koeffizienten angenommenen Reihenform die Koeffizienten mit Diffe-
rentialrechnung; L’Huilier‘), der so elementar als möglich verfahren
wollte, verwendet hierzu die Differenzenrechnung. Eine elementare
Ableitung gab auch 17987) Jakob de Gelder (1765—1848), Pro-
fessor in Leyden. In umfassendster Weise aber hat den analytischen
Teil der Trigonometrie Pietro Ferroni mit Hilfe des Infinitesimal-
') Transactions of the R. Irish Academy VII, 1800, p. 27ff. Brinkley er-
wähnt hier, daß Waring in seinen Curvarum algebraicarum proprietates, 1772,
Theor. 26 für ein ungerades n mit seinem Satze über die Potenzsummen zuerst
einen exakten Beweis gegeben habe, daß diese Methode aber für ein gerades n
versage. ?) Unde plures insint radices aequationibus seetiones angu-
lares definientibus, Dissertatio 1756, Altdorfii 1771. Über die algebraische Auf-
lösbarkeit der einen speziellen Fall bildenden Kreisteilungsgleichungen sah man
damals noch sehr unklar; so sagt Mosdorff, Acta Erud. 1751, man werde wohl
kaum jemals dazu kommen, zu untersuchen, wann sich diese Gleichungen alge-
braisch lösen lassen, und Klügel betont ebenfalls a. a. O., p. 66, daß die tri-
gonometrischen Tafeln die Auflösung der Teilungsgleichungen geben, welche
die Algebra bis jetzt nicht allgemein geben kann. °) Opuscules V, p. 222—227.
*, Analytische Trigonometrie, Kap. 4, Nr. XXXL >) Opera IV, p. 67. ®%P.T.
1796, p. 142 und Prineipiorum calculi differentialis et integralis expositio ele-
mentaris. Tubingae 1795, 4°, Kap. 3. '?), Over de reeksen, dienende om de
rapporten van de cirkelbogen tot derzelver sinussen etc. zoonder behulp der
differentiaal- och integraal-rekening afteleiden. Verhandelingen van het Genot-
schap te Rotterdam XII, 1798.
450 Abschnitt XXIL.
kalküls in seinem großen Werke „Magnitudinum exponentialium
logarithmorum et trigonometriae sublimis theoria nova miethodo per-
traeta“. Florenz 1782, 49,1) behandelt. Der Autor hat gehalten, was
er im Titel seines Werkes versprochen, indem er eine vollständige °
Theorie der Exponential- und trigonometrischen Größen entwickelte,
wobei er die entsprechenden Formeln für Kreis- und Hyperbelfunk-
tionen stets nebeneinander stellte.
Die Reihendarstellungen der ersteren erhielt er von der Reihe
für 2’” ausgehend, wo er zunächst dem z einen ganz beliebigen Wert
erteilte und dann z2=e oder = setzte, wie er die Basis des natür-
lichen Logarithmensystems bezeichnete. Dadurch erhielt er die seit
Euler bekannten Darstellungen des Sinus und Kosinus durch die
Exponentialfunktion und die Fundamentalformel e’ = cos£e +isinzg
die ihn für sinz=»v, cos = Y1-— v? zur Gleichung
wi = log(iv+ Vl1— vM)
führte. Indem er dann für die Wurzel die binomische Reihe einführte
und den Logarithmus durch die bekannte Reihenentwicklung ersetzte,
gewann er auch die Reihe für aresinv. Bei Ableitung dieser Reihe, deren
Koeffizientengesetz übrigens nicht bewiesen wird, findet sich auch
der Versuch, die Konvergenz mittels des Quotienten zweier aufein-
ander folgender allgemeiner Glieder zu bestimmen, ein Beweis dafür,
daß am Ende des 18. Jahrhunderts die Erkenntnis der Notwendigkeit,
die Bahn rein formaler Entwicklungen zu verlassen, sich allmählich
einstellte.
») Kap. 5—8.
ABSCHNITT XXIV
ANALYTISCHE GEOMETRIE
DER EBENE UND DES RAUMES
VON
V. KOMMERELL
“CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 30
sesammor V
Allgemeines. Kegelschnitte.
Nach dem glänzenden Aufschwung, den die analytische Geometrie
der Ebene durch die Erfindung des mächtigen Hilfsmittels der In-
finitesimalrechnung, durch die Arbeiten eines Newton, Maclaurin,
de Gua, Clairaut, Euler u. a. genommen hatte, kann man unseren
Zeitraum, die letzten 40 Jahre des 18. Jahrhunderts, als eine Periode
verhältnismäßigen Stillstands bezeichnen; neue Gedanken und Methoden
von großer Tragweite, die auf das ganze Gebiet befruchtend einwirken,
treten kaum auf!); die Tätigkeit der Mathematiker erstreckt sich mehr
auf Spezialuntersuchungen. Dagegen wuchs die analytische Geometrie
des Raumes, die bis dahin nur schwache Ansätze gezeigt hatte, zu
einem stattlichen Baum empor, als dessen Krone Monges geniales
Werk: „Feuilles d’analyse appliquee ä la geometrie“ gelten kann.
Was die Behandlungsweise der Probleme in unserem Zeit-
raum betrifft, so ist besonders bemerkenswert das Hervortreten des
Gegensatzes zwischen analytischer und synthetischer Methode,
von denen die letztere im allgemeinen mehr in England und Italien,
die erstere in Deutschland und Frankreich gepflegt wurde. Es handelt
sich dabei nicht bloß um den Unterschied zwischen rechnerischem
und konstruktivem Verfahren, sondern unter analytischer Methode wird
vielfach eine Behandlungsweise verstanden, die man heute vielleicht
eher als „heuristisch“ oder „genetisch“ bezeichnen würde, eine solche
nämlich, die den Gedankengang des Verfassers, die Überlegungen,
durch welche er seine Resultate gefunden hat, klar erkennen läßt ?),
während der Synthetiker seine Sätze fertig mitteilt, und im Beweis
seinen eigenen Weg eher zu verdecken, als darzulegen sucht. Ver-
schiedene namhafte Mathematiker haben sich über diesen Gegenstand
ausgesprochen. Der Zeit nach steht voran eine aus dem Jahre 1759
stammende Vorrede Kästners zu dem kleinen Buch von Hube:
‘) Es wäre denn, daß man die Anfänge der Theorie der elliptischen Inte-
grale und Funktionen hierher rechnen wollte, die allerdings von analytisch-geo-
metrischen Untersuchungen über die Rektifikation der Kegelschnitte ausgegangen
sind, aber doch eigentlich in Abschnitt XXVI gehören. 2) Als geradezu
klassische Beispiele hierfür sind die Arbeiten Eulers anzuführen.:
30*
454 Abschnitt XXIV.
„Versuch einer analytischen Abhandlung von den Kegelschnitten“
(Göttingen 1759), das auf Kästners Veranlassung verfaßt wurde.
Dieser führt hier über die Vorzüge der analytischen Behandlung etwa
folgendes aus: Sie ermöglicht dem „Lehrling“ eine selbständige
Lösung von Aufgaben, während er bei der synthetischen Methode,
die ihm nur die Sätze und Beweise fertig mitteilt, stets auf die Lippen
des Lehrers sehen muß. „Das größte Vergnügen aber, das wir kennen,
ist die Wahrheit durch uns selbst zu finden.“ Ein weiterer Vorteil
ist die größere Allgemeinheit und Sicherheit der Ergebnisse, wogegen
sie allerdings etwas an „Schönheit“ (wir würden heute vielleicht sagen:
an Eleganz) verliert. Kästner macht hierzu die originelle, man
möchte fast sagen, etwas philisterhafte Bemerkung: „Würde es wohl
ein Fehler sein, wenn der Mathematikverständige, wie Männer, die
ökonomisch denken, bei gleicher Jugend weniger Schönheit mit mehr
Reichtum wählet“. Als Vorzug des synthetischen Verfahrens wird
anerkannt, daß es eine vorzügliche Denkübung ist, weil hier stets
mit den Begriffen selbst operiert wird; dementsprechend wird vor,
einer rein mechanischen, gedankenlosen Anwendung der Buchstaben-
rechnung gewarnt, im übrigen aber der Vorwurf zurückgewiesen, daß
das analytische Verfahren rein mechanisch sei. Vielmehr, sagt
Kästner, überhebt es uns bloß einer beträchtlichen Denkarbeit; denn
nachdem einmal die Aufgabe in die Sprache der Analysis übersetzt
ist, läßt sich das Resultat mit einfachen, und zwar immer mit den-
selben Hilfsmitteln finden. Wer also diese besitzt, ist befähigt, eine
Menge von Kenntnissen zu erlangen. „Der Analyst“, schließt er,
„gleicht einem Manne, der viel Geld hat, und dafür allemal die Güter
haben kann, die er verlangt, und insofern sie für Geld feil sind.“ —
Den entgegengesetzten Standpunkt vertritt Malfatti in der Einleitung
zu seiner Schrift: „Della curva Cassiniana“ (Pavia 1781); er verkennt
zwar die Vorzüge der Analysis durchaus nicht, gibt aber doch der
Synthese den Vorzug wegen ihrer größeren Eleganz, und weil sie
den Geist zwingt, mit steter Aufmerksamkeit bei der Aufgabe zu
- bleiben, Hilfssätze zu suchen, die zum Hauptsatz in Beziehung stehen,
und so allmählich das Ziel zu erreichen. Auch Malfatti sucht die
Sache durch ein hübsches Bild zu veranschaulichen. Er vergleicht
den Synthetiker mit einem Reisenden, der nur überhaupt ans Ziel
kommen will, dabei aber oft an Ruhepunkten Halt macht, um alles
Schöne zu genießen, das sich ihm bietet; diese Ruhepunkte würden
den Neben- und Zwischenresultaten im Beweis entsprechen, von denen
aus sich ein Ausblick auf weitere Beziehungen eröffnet. Der Ana-
lytiker dagegen, sagt er, gleicht einem Reisenden, der sich in einen
Wagen einschließt, und sich durch dessen Mechanismus (der also dem
Allgemeines. Kegelschnitte. 455
Mechanismus der Rechnungen verglichen wird) ans Ziel führen läßt.
„Er kommt vielleicht früher ans Ziel, aber er hat weniger gesehen.“
— Eine besondere, eingehende und geistvolle Untersuchung hat
Klügel dieser Frage gewidmet mit einer kleinen Schrift: „De ratione
quam inter. se habent in demonstrationibus mathematicis methodus
synthetica et analytica“. Helmstädt 1767. Es wird darin zunächst
der Unterschied zwischen synthetischer und analytischer Methode
klar und scharf angegeben, der nicht sowohl darin besteht, ob Kon-
struktion oder Rechnung benutzt wird, sondern „ex interiore veritatum
natura, et ratione quam in eruendis illis et deducendis sequuntur,
petendum est“. Als charakteristisch für die synthetische wird an-
‚gegeben, daß sie „die Quelle der Erfindung verdecke“ und die etwas
malitiöse Bemerkung beigefügt, die Synthetiker (die Engländer, unter
anderen Newton und Maclaurin werden genannt) tun dies, „um
aus der Schwierigkeit der Beweise eine größere Berühmtheit ihres
Geistes zu erlangen“; als weiterer Grund wird indes noch angegeben,
daß sie „diese Methode allein als der Geometrie und der Mathematik
überhaupt würdig, und der größten Strenge fähig ansehen“. Es wird
dann weiter ausgeführt, daß bei der synthetischen Methode jeder Satz
für sich aufgestellt und bewiesen werde; daher komme es, daß die
Geometrie manchem „horrida et sterilis“ erscheine, daran schließt sich
die ganz richtige Bemerkung, daß die Evidenz der geometrischen Be-
weise dazu verleite, diese Methode auf andere Wissensgebiete zu über-
tragen, für die sie nicht passe. Die synthetische Methode sei auch
zur Entdeckung neuer Wahrheiten weniger geeignet, außer in den
Händen des Genies, was auch Kästner in der erwähnten Vorrede
einmal sagt. Ferner wird hervorgehoben, daß die synthetische Methode
immer nur Einzelfälle ins Auge fassen und jeden für sich beweisen
müsse, während die analytische Formel einer vollständigen Allgemein-
heit sich erfreue. Ein Beispiel für die Richtigkeit dieses letzteren
Satzes bietet die synthetische Untersuchung der Kegelschnitte, wo
jede der drei Kurven für sich betrachtet wird, während bei der ana-
lytischen Behandlung in der Regel ein. Zeichenwechsel genügt, um
einen für die Ellipse gefundenen Satz auf die Hyperbel zu übertragen
Demgegenüber werden die Vorzüge der Analysis entwickelt, wobei
noch ein Gedanke ausgesprochen wird, den wir nicht unerwähnt
lassen wollen, nämlich: „Wenn uns jemals die Fähigkeit gegeben
werden könnte, die Wirkung jeder Ursache mit ihren Folgen für alle
übrigen für sich zu betrachten und mathematisch zu formulieren, so
würde die ganze Natur, soweit sie meßbar ist („quanta quanta est“),
in einem einzigen, aber gewaltigen analytischen Problem bestehen“.
Es ist hier offenbar die Idee, die der sogenannten Laplaceschen
456 Abschnitt XXIV.
„Weltformel“!) zugrunde liegt, vollständig klar ausge-
sprochen. — Der synthetischen Methode wird eingeräumt, daß sie
bei Lagebeziehungen den Vorzug verdiene, ferner zugegeben, daß
eine einseitige Benutzung der Analysis ein Nachlassen der Schärfe
des geometrischen Geistes bewirke, was sich bei den Franzosen be-
merkbar mache. Den Schluß bildet der gewiß richtige Satz: „Es
scheint, als ob ohne Schaden öfter, als es geschieht, wenn die Arbeit
des Rechnens und Beweisens getan ist, einige kurze, philosophische
Bemerkungen über den Ursprung und Zusammenhang der Wahrheiten,
und den Weg, auf welchem man zu ihnen gelangt ist, beigefügt werden
könnten“.
Die Opposition gegen die einseitige Anwendung der synthetischen
Methode wird begreiflich, wenn man bedenkt, welche Schwierigkeiten
ein derart geschriebenes Werk dem Verständnis bereitet. Speziell in
England scheint sich diese Vorliebe für eine schwer verständliche
Ausdrucksweise in einzelnen Fällen beinahe zum Spleen gesteigert zu
haben, wenigstens kommt man auf diesen Gedanken, wenn man Sätze,
wie den folgenden liest?): „A conice hyperbola being given, a point
may be found, such that if from it there be drawn straight lines to
all intersections of the given curve, with an infinite number of para-
bolas, or hyperbolas, of any given order whatever, lying between
straight lines, of which one passes through a given point, and the
other may be found, the straight lines so drawn, from the point
found, shall be tangents to the parabolas or hyperbolas“. — Man wird
darin nicht so leicht den einfachen Satz wiedererkennen: Zieht man
von einem gegebenen Punkt an alle Kurven der Schar y= px” (wo
p ein variabler Parameter, n eine Konstante ist) die Tangenten, so
liegen die Berührpunkte auf einer Hyperbel.
Der zu Anfang erwähnte Charakter unserer Epoche als eines
gewissen Ruhestadiums in der Entwicklung zeigt sich auch darin,
daß in größerer Anzahl Werke veröffentlicht werden, die nicht sowohl
der Bekanntmachung neuer Ergebnisse dienen, sondern sich die Auf-
gabe stellen, systematisch zusammenzufassen und zu ordnen,
was die Forschung im Laufe der Zeit ergeben hatte, also Lehrbücher
über größere Gebiete der Mathematik. Dahin gehört Kästners
ausführliches Werk: „Anfangsgründe der Mathematik“, von dem
die 1. Auflage 1758, die 2. 1770 erschien, und das in etwas breiter
!) Essai philosophique sur les Probabilites. Seconde &dition (1814), p. 2f.
Vgl. Dubois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, 1872, wo auch
in Anm. 5 auf eine Stelle ähnlichen Inhalts bei Leibniz aufmerksam gemacht
ist. ?) Brougham, General Theorems, chiefly Porisms, in the higher Geo-
metry. Phil. Trans. Vol. 88 (1798), p. 378—396.
Allgemeines. Kegelschnitte. 457
Darstellung auch das Wichtigste aus unserem Gebiet bringt. Es
kommen in Betracht aus der ersten Hälfte des 3. Teiles die $$ 322
bis 623, in denen zunächst die Gerade ($$ 340—348), die Kegel-
schnitte (88 349—466) und einige höheren Kurven (Cissoide, Konchoide,
88 467—496) behandelt werden, wie auch Fragen allgemeinerer Natur:
Anzahl der Schnittpunkte einer Kurve mit einer Geraden, Anzahl der
zur Bestimmung einer Kurve notwendigen Punkte, Zeichnung von
Kurven, die durch ihre Gleichung gegeben sind. Daran schließen
sich (88 514-611) die Grundzüge der analytischen (Geometrie des
Raumes, beginnend mit der Frage: „Wie die Natur der Flächen,
welche Körper begrenzen, durch Gleichungen ausgedrückt werde“
(88 514—519). Der Ausdruck ist bezeichnend für die Betrachtungs-
weise der Flächen in dieser Zeit, insofern diese fast immer als Be-
grenzung von Körpern erscheinen, nicht von diesen losgelöst als
gewissermaßen selbständige Gebilde, eine Anschauung, die erst seit
Gauß allgemein geworden zu sein scheint. Betrachtet werden nament-
lich Kegelflächen („deren Gleichungen gleichartige sind“, 88 529— 544),
sodann „runde Körper“ (d. h. Rotationsflächen im heutigen Sprach-
gebrauch, 8$ 545—548), deren allgemeine Gleichung aufgestellt wird
(= 2? +9, Z=f(e)), mit der Bemerkung, sie stelle einen „Körper“
dar; ferner Schnitt einer Fläche mit einer beliebigen Ebene ($$ 549
bis 570), die stets durch ihre Spur in der xy-Ebene und ihre
Neigung gegen diese gegeben gedacht wird. Das Verfahren wird
dann auf den Rotationskegel angewendet und die hier auftretenden
Möglichkeiten diskutiert. Den Schluß dieses Abschnitts bildet die
Betrachtung einiger „transzendentischen, krummen Linien“ (Spiralen,
Zykloiden, 88 571—623), von denen gesagt wird, daß ihre Ordnung
„unendlich“ sei.
Die zweite Hälfte des dritten Teiles ist der Anwendung der
Infinitesimalrechnung auf die Geometrie gewidmet, sowohl in recht-
winkligen, als in Polarkoordinaten; bei den letzteren wird an Stelle
des Winkels der Bogen eines Kreises von gegebenem Radius benutzt.
Dieser Teil enthält: Tangente und Normale ($$ 63—-107), Asymptote
(s$ 108—119), Wendepunkte ($$ 112, 532—537), Quadratur ($$ 205
bis 212), Rektifikation ($S$ 266— 272), Krümmungskreis ($$ 538—556),
Evolute und Evolvente ($$ 563--577), alles für ebene Kurven. Den
Schluß bilden Betrachtungen über Kurven, die ihren Evoluten ähn-
lich sind ($$ 578—592), Kubaturen und Komplanationen usw. ($ 609
bis Schluß).
Vollständig, klar und eingehend findet sich die Anwendung der
Analysis auf die Geometrie dargestellt in dem zweibändigen Werk:
„Institutiones analyticae a Vincentio Rieeato et Hieronymo Saladino“
458 Abschnitt XXIV.
(Bologna 1765), (Girolamo Saladini, 1731—1813, Professor der
Mathematik in Bologna) für das namentlich die glückliche Verbin-
dung von analytischer und geometrischer Betrachtungsweise charak-
teristisch ist. Der erste Band bringt zunächst eine historische Ein-
leitung, sodann im ersten Buch („De algorithmo et de aequationibus
primi et secundi gradus“) die Definition der Koordinaten und das
Wichtigste über die Gerade; im zweiten Buch („De lineis seu loeis
secundi gradus et de aequationibus tertii gradus, et quarti“) werden
die drei Kegelschnitte nacheinander behandelt und ihre Haupteigen-
schaften zusammengestellt; besonders wird auf die Verwendung der
Schnittpunkte zweier Kegelschnitte zur graphischen Darstellung der
Wurzeln von Gleichungen 3. und 4. Grades eingegangen. — Das
dritte Buch (,De locis tertii et superiorum graduum et de aequatio-
nibus excedentibus gradum quartum“) beschäftigt sich mit Kurven
höherer Ordnung, ihren Berührungen (zwei- und mehrpunktig),
Asymptoten, singulären Punkten, oskulierenden Parabeln und dergl.;
auch der Verzeichnung einer Kurve auf Grund ihrer Gleichung ist
ein Kapitel gewidmet (Kap. 10), das allerdings nur die Fälle behandelt,
wo die Gleichung nach einer der Variablen auflösbar ist, und für
alle anderen Fälle bemerkt: „nulla suppetit methodus cognoscendi, qua
figura praedita sit curva in finito spatio“. Auch hier ist (Kap. 11)
von der Verwendung von Kurven zur Darstellung von Gleichungs-
wurzeln die Rede, wobei die richtige Bemerkung fällt, daß es
sich nicht darum handle, Kurven von möglichst einfacher Gleichung
zu finden, sondern solche, die möglichst genau, am besten mechanisch,
gezeichnet werden können. Das 13. Kapitel beschäftigt sich mit
Kurven von der Eigenschaft, daß zwischen den verschiedenen Ordi-
naten, welche zur gleichen Abszisse gehören, Beziehungen bestehen;
ist z. B. deren Summe konstant, so muß der Koeffizient des zweit-
höchsten Gliedes in y konstant sein, u. ä.
Der zweite Band, dem ebenfalls eine historische Einleitung voran-
geht, bringt eine erschöpfende Darstellung der Infinitesimalrechnung
und ihrer Anwendung auf die Geometrie. Aus dem 1. Buch, betitelt:
„De quantitatibus infinitesimis et de integratione formularum, quae
unam tantum variabilem continent“, kommen für unser Gebiet haupt-
sächlich in Betracht: die Quadratur (Kap. 5) und Rektifikation
(Kap. 11) der Kurven; die Komplanation der Rotationsflächen, und
Kubatur der Rotationskörper. |
Das 2. Buch: „De methodo tangentium directa et imversa, de
separatione indeterminatarum et de constructione earum aequationum,
in quibus indeterminatae separari non possunt“, beginnt mit der Be-
stimmung der Tangente, Normale, Subtangente und Subnormale ebener
Allgemeines. Kegelschnitte. 459
Kurven, und bringt im Anschluß daran die Theorie der Maxima und
Minima mit Anwendungen, des weiteren die Lehre von der Integration
der Differentialgleichungen nach dem damaligen Stand der Wissen-
schaft („Methodus tangentium inversa“ im Sprachgebrauch jener Zeit).
Hier ist auch die im Bd. III, S. 786 erwähnte Abhandlung V. Ric-
catis: „De usu motus traetorii in constructione aequationum differen-
tialium SEREREENE (1752) in ihrem wesentlichen Inhalte angegeben
(Kap. 14 und 15).
Das 3. Buch handelt De caleulo et usu bertähehrin diffe-
rentialium altiorum graduum, also von Differentialen höherer Ordnung,
und verbreitet sich zunächst über Integrationsmethoden für Differential-
gleichungen höherer Ordnungen. Kap. 11 bringt eine nieht uninter-
essante Herleitung des Ausdrucks für den Krümmungsradius og durch
folgende einfache differential-geometrische Betrachtungen: Ist MN
ein Kurvenbogen, der unendlich klein von der ersten Ordnung .ist,
und errichtet man in M und N die Normalen, die sich in Ü’ schneiden,
so ist die Differenz COM — CN unendlich klein von der dritten Ord-
nung. Daraus wird geschlossen, daß die Krümmung der Kurve mit
der des Kreises übereinstimmt, der um U mit Radius ÜM be-
schrieben wird; für OM wird dann, ebenfalls geometrisch, die
Formel hergeleitet:
ds?
dyd’x — daxd’y u
Auf die Besprechung der Evoluten folgt die Ableitung des Ausdrucks
für den Krümmungsradius in Polarkoordinaten, dann verschiedene
Beispiele. Das 12. Kapitel ist den von Joh. Bernoulli untersuchten
kaustischen Linien gewidmet. Kap. 13 und 14 enthalten Anwendungen
und einige Problemata inversa, das 15. handelt von singulären
Punkten, unter welchen jedoch nur Wende- und Rückkehrpunkte ver-
standen sind (also nicht Doppelpunkte). Außerdem werden hier
einige Bemerkungen darüber gemacht, inwieweit eine Kurve durch
geradlinige Elemente ersetzt gedacht werden darf. Das 16. Kapitel
ist überschrieben: De trajeetoriis. Hierbei werden unter „Trajektorien“
einer Kurvenschar ganz allgemein Kurven verstanden, quarum con-
structio peragitur per quantitatem quam sectio curvarum determinat;
d. h. also Kurven, die nach irgend einem Gesetz von Schnitten der
gegebenen Kurvenschar abhängen, ein Begriff, der sonst nicht üblich
zu sein scheint!). Ein Beispiel (das 4. des Kapitels) mag erläutern,
um was es sich handelt. Die gegebene Kurvenschar werde gebildet
") Vgl. Klügel, Mathematisches Wörterbuch, V, S. 92.
460 Abschnitt XXIV.
von konzentrischen Kreisen, die von einer Sekante und einem zu ihr
parallelen Durchmesser geschnitten werden. Ein zweiter Durchmesser
stehe auf dem ersten senkrecht und schneide (Fig. 27) einen Kreis
der Schar in A. Trägt man dann auf der Tangente des
Punktes A ein Stück AC gleich dem
Hear Bogen BD des Kreises zwischen der
Sekante und dem ihr parallelen Durch-
Ic messer ab, und wiederholt diese Kon-
struktion für jeden Kreis der Schar, so
A bildet der geometrische Ort der Punkte
a C eine „Trajektorie“ der Kreisschar in
diesem Sinn. In der zweiten Hälfte des
Kapitels werden Trajektorien im üblichen
Sinn (rechtwinklige und schiefwinklige)
a behandelt, sowie die sogenannten „rezi-
proken“ Trajektorien, von welch letzteren
Klügel!) mit Recht sagt, daß in den Lehrbüchern sehr wenig dar-
über zu finden sei. Da auch Euler?) sich mit diesen Kurven be-
schäftigt hat, so sei ihre Definition hier kurz angegeben. Eine rezi-
proke Trajektorie hat folgende Eigenschaft: wird sie um eine
in ihrer Ebene liegende Achse umgeklappt, und dann längs dieser
Achse parallel verschoben, so schneidet die umgeklappte Kurve die
ursprüngliche überall unter demselben Winkel. Ist dies nicht bloß
für eine bestimmte Achse, sondern auch für jede Parallele dazu der
Fall, so heißt die Kurve nach Joh. Bernoulli?) „Pantagonia“; auch
diese wird besprochen. Den Schluß (Kap. 17 und 18) bildet ein Aus-
zug aus Eulers „Methodus inveniendi“.
In Karstens großem Werk: „Lehrbegriff der gesammten Mathe-
matik“ kommt für unser Gebiet nur der VII. Teil, „Perspektive“
(1775) in Betracht, der in systematischer und eingehender Weise die
Kegelschnitte als Zentralprojektionen des Kreises behandelt, und da-
her bei der projektiven Geometrie in Abschnitt XXV näher besprochen
werden wird.
Auch bei Bossut, „Traites de caleul differentiel et de caleul inte-
gral“ (Paris 1798) sind verschiedene Kapitel des I. Bandes der An-
wendung der Analysis auf die Geometrie gewidmet, Kap. 2 gibt eine
kurze Übersicht über die analytische Geometrie: ebene Kurven (bei
denen die „courbes geometriques ou algebriques“ von den „courbes meca-
niques“ unterschieden werden), krumme Flächen, Raumkurven. Kap. 3
enthält die Tangente und Normale ebener Kurven in rechtwinkligen
ı) Klügel, Mathematisches Wörterbuch, V, 8. 136. 2) 8. u. 8. 509.
®) Opera, T. II, p. 600 (nach Klügel).
Allgemeines. Kegelschnitte. 461
und Polarkoordinaten, Kap. 5 und 6 die Bestimmung der Maxima
und Minima, Kap. 7 Wende- und Rückkehrpunkte, Kap. 8 Krümmungs-
radius, Kap. 9 Krümmung der Flächen mit Hinweis auf Eulers
„Mömoire sur la courbure des surfaces“ (s. p. 545 ff.). Aus der Inte-
gralrechnung ist hauptsächlich der Bericht über die Arbeiten von
Fagnano, Euler u.a. über die Rektifikation der Kegelschnitte zu er-
wähnen.
Endlich gibt Vega in seinen für das K. K. Artilleriekorps be-
stimmten „Vorlesungen über Mathematik“ (1786—1802) im II. Band,
6. Hauptstück, 1. Abschnitt, $$ 620—625 das Wichtigste aus der
Kurvenlehre und Anwendung der Infinitesimalrechnung auf ebene
Kurven, und im 2. Abschnitt, 88 630—674 eine Darstellung der Kegel-
schnitte. Bemerkenswert ist, daß diese hier durch ihre Fokaleigen-
schaften definiert werden, die sonst in den einschlägigen Werken
dieser Zeit nicht besonders hervortreten. Im ganzen Werke steht,
seinem Zweck entsprechend, die praktische Anwendung im Vorder-
grund.
Gehen wir nun zur Darstellung der Fortschritte über, die auf
den verschiedenen Gebieten der analytischen Geometrie in den Jahren
1759—1799 gemacht worden sind, so hat die wissenschaftliche
Forschung in bezug auf die Kegelschnitte nicht gerade viel Neues
von Bedeutung produziert. Auch die Behandlungsweise schließt sich
meist an die von Euler (Introductio Il, Kap. 5) gegebene an; als
Fundamentalsätze erscheinen gewöhnlich die auch von Euler als
solche bezeichneten (vgl. III?, S. 779/780), nämlich: 1) daß der Ort
der Mittelpunkte paralleler Sehnen eine Gerade ist, und 2) der Satz
von den Abschnitten paralleler Sehnenpaare: Wird ein Kegelschnitt
von zwei Paaren paralleler Sehnen
geschnitten, so ist (s. Fig. 28):
4,0,:B,0, _ 4,0,:B,0,
C, 0, D, 0, "7 0,0, D,0, ’
gleichgültig, ob die Durchschnitts-
punkte O0, und O0, innerhalb oder
außerhalb des Kegelschnitts liegen.
Diese beiden Sätze bilden in der
Regel den Ausgangspunkt, von dem
aus die weiteren bekannten Eigen-
schaften der Kegelschnitte abgeleitet
werden. Gleich am Anfang unserer
Periode stehen zwei Werke, die für den oben erwähnten Gegensatz
zwischen synthetischer und analytischer Behandlungsweise charak-
teristisch sind. Das eine ist: Hamilton: „Treatise of conie sections“
462 Abschnitt XXIV.
(1758) (Hugh Hamilton, 1729—1805, war eigentlich Theologe,
starb als Bischof von Ossory), das andere das $. 454 genannte
kleine Buch von Hube. Hamiltons Werk ist ganz in streng
euklidischer Form abgefaßt, und vermeidet auch in Äußerlichkeiten
peinlich alles, was nur von ferne an algebraische Behandlung erinnern
könnte, sogar das Gleichheitszeichen, das durch die Wendung „is equal
to“ ersetzt wird; das Produkt zweier in einem Endpunkt A zusammen-
stoßenden Strecken AB und AC heißt „the rectangle under BAC“
usw. Angenehm für die historische Betrachtungsweise ist, daß der
Autor die von ihm neugefundenen Sätze als solche bezeichnet. —
Der Grundgedanke des ganzen Werkes ist, die Eigenschaften der
Kegelschnitte aus denen des Kegels abzuleiten, der hier, wie über-
haupt meist in der damaligen Zeit, als schiefer Kreiskegel definiert
ist!). Die streng synthetische Darstellung nötigt den Verfasser, seine
Sätze meist für jeden der drei Kegelschnitte besonders zu formulieren
und zu beweisen, wodurch die Schreibweise etwas ins Breite geht,
und worunter namentlich die Kürze und Klarheit der Formulierung
leidet. So erscheint z. B. der zweite der oben (8. 461) erwähnten
Fundamentalsätze (I. Buch, Satz 18) in folgender Form:
„If two right lines meeting each other be always parallel to
two right lines given in position; according as they both touch or
cut, or one of them touches and the other cuts a conice section or
opposite sections (d. h. die beiden Äste einer Hyperbel); the squares
of the segments of the tangents, or the rectangels under the seg-
ments of the secants between the point of concours of the two lines, and
the section, or sections, will be in a constant ratio to each other,
wheresoever the point of concours of the right lines be taken.“
Das Buch erschöpft seinen Stoff vollständig und ist klar ge-
schrieben, nur die harmonischen Eigenschaften kommen kurz weg;
der Autor bemerkt in der Vorrede über De la Hires Methoden (vgl.
III, S. 120#f.): „this expedient has rather embarrassed the doctrine of
eonie sections“. Verschiedene Eigenschaften hat der Verfasser neu
entdeckt; bemerkenswert ist, daß der sogenannte Dandelinsche Satz?)
schon bei ihm auftritt (II. Buch, Satz 37), allerdings in etwas anderer
Fassung; er lautet so: „Let @VH (s. Fig. 29) be a right cone, and
PAR a conie section in its surface, and LNO a cirele which does
not meet the section: let its distance AL from the vertex (Scheitel)
of the section be equal to AF, the distance of the same vertex from
the focus F nearer to this eirele; I say, that the interseetion of the
plane of this cirele with the plane of the section will be its
N) Vgl. S. 465. ®) Nouv. M&m. de l’Acad. de Bruxelles 1822, T. II, p. 172.
Allgemeines. Kegelschnitte. 463
direetrix, and that PN a side (Mantellinie) of the cone intercepted
between this eirele and any point P in the section will be equal to
a right line drawn from the same point to the focus F' nearer to
this eirele“.
Der Verfasser sagt, er habe diesen Satz gefunden bei dem Ver-
such, den Ursprung der Leitlinie, dem Grundgedanken gemäß, aus der
Natur des Kegels herzuleiten. Der Beweis ist charakteristisch für die
. ganze Darstellungsweise, und sei daher hier kurz wiedergegeben.
Fig. 29.
E, sei die Ebene des Kegelschnitts, E, die des Kreises, s ihre
Schnittgerade; Ebene GV H sei senkrecht s und schneide s in D,
E, nach AB, E, nach LO, so daß AB die große Achse des Kegel-
schnitts ist; C sei sein Zentrum, durch © sei eine Ebene senkrecht
zur Kegelachse gelegt, die aus dem Kegel den Kreis MK aus-
schneidet; dieser treffe den Kegelschnitt in P und R. Durch die
Spitze V des Kegels sei eine Parallele zu AB gezogen, die die Ebene
des Grundkreises in $ trifft. Dann ist
1) zu beweisen, daß s die Direktrix des Kegelschnitts ist.
Nun ist nach einem vorher bewiesenen Satz vom Kegel:
AC-BC:MC:.CK=V83:HS-GS,
aber:
AC-BC=AC; MC.CK=(P:.
Durch Einsetzen dieser Werte folgt:
C4?:CP®=-V9:HS-.@8
464 Abschnitt XXIV.
und daraus:
04?:(CA?— CP?) _ v8: (VS? — HS:G$)
04°: 0F?=-V9:V@*.
oder:
Nun ergibt sich aber durch ähnliche Dreiecke:
VS:V@G@=(04A:CM;
also nach der letzten Gleichung:
AM=CF
Ferner ıst:
AM:CA=LA:DA,
also, dd AM = CF und LA= FA (nach Voraussetzung):
OF:CA=FA: DA,
oder auch:
CF:FA=(4:D4.
Daraus folgt aber:
CF:CA=CA:CD.
Darnach ist aber D der Schnittpunkt der Achse mit der Direktrix
und da s__ AD ist, so ist s die Direktrix, q. e. d.
2) ist zu beweisen, daß die Entfernung eines beliebigen
Punktes des Kegelschnitts vom Brennpunkt F gleich dem
Stück seiner Mantellinie zwischen dem Kreis LO und dem
Punkt ist. Als dieser beliebige Punkt wird der schon vorher defi-
nierte Punkt P benutzt, so daß auch C nicht mehr der Mittelpunkt,
sondern einfach der Fußpunkt des Lotes von P auf AB ist, was
aber nicht bemerkt wird; es ist also zu beweisen, daß PF=NP.
Zu diesem Zweck wird durch P eine Parallele zu AB gezogen, die
s in E trifft, dann ist PE= (CD. Fermer, da DE Direktrix ist:
PF;PE= AF: AD.
Aus dem Proportionallehrsatz folgt:
ML:CD=LA:DA.
Da PE=CD und LA= AF ist, ergibt sich aus den beiden letzten
Proportionen:
ML=PF,
und dd ML=PN, so ist:
PE=NF,
g. e. d.
Allgemeines. Kegelschnitte. 465
Die übrigen vom Verfasser neu gefundenen Sätze sind von ge-
ringerer Bedeutung.
Von Hubes Buch (Joh. Michael Hube, 1737— 1807; Professor am
Kadettenkorps in Warschau) war oben schon die Rede. Der Verfasser
will, von Kästner veranlaßt, die Eigenschaften der Kegelschnitte auf
analytischem Weg herleiten und geht demgemäß aus von der allge-
meinen Gleichung 2. Grades, indem er daraus ähnlich wie Euler
(vgl. II, a. a. O.) die erwähnten beiden Haupteigenschaften her-
leitet. Ebenso werden die übrigen, bekannten Eigenschaften der
Kegelschnitte durch Rechnung entwickelt; man kann indes nicht
sagen, daß Hubes Schrift der analytischen Methode zu einer beson-
deren Empfehlung gereichen würde; der Gang der Rechnung ist recht
unübersichtlich; man sieht nicht ein, wie der Verfasser zu seinen
Herleitungen kommt; dazu erschweren viele Druckfehler das Ver-
ständnis. |
Von weiteren zusammenfassenden Werken ist Karstens „Lehr-
begriff der gesammten Mathematik“ schon genannt. Hier sei nur im
Zusammenhang mit den Kegelschnitten eine Bemerkung über den
Kegel erwähnt, aus der hervorgeht, daß die Identität des schiefen
Kreiskegels und des geraden elliptischen Kegels damals noch nicht
bekannt war. Am Schlusse des XV. Abschnittes (Bd. VII, $ 269)
führt Karsten an, daß Euler Schnitte eines senkrechten Kegels mit
elliptischer Grundfläche betrachte, und knüpft daran die Bemerkung:
„Unter diesem Begriff sind nicht alle Apollonischen schiefen Kegel
enthalten, weil es schiefe Kegel gibt, wovon die senkrechten Schnitte
Kreise sind.... Ob und inwieweit dieser elliptische Kegel mit dem
Apollonischen einerlei sei, würde eine besondere Untersuchung er-
fordern.“
Von Charles Hutton (1737—1823, Professor der Mathematik an
der Militärakademie zu Woolwich, später ER EREN am Kollegium der
englisch-ostindischen Kompagnie zu Addiscombre, vgl. S. 16) stammt ein
Werk: „Elements of conic sections“ (1789), das nach der Vorrede für die
Royal Military Academy bestimmt ist. Montucla nennt es in seiner Ge-
schichte der Mathematik): „un modele de precision et de clarte“, ein Urteil,
das namentlich in bezug auf die Form der Darstellung sehr berechtigt
ist. Hutton hat nämlich hier, zum erstenmal, wie er angibt, jede
Gleichung auf eine besondere Zeile drucken lassen, was natürlich sehr
zur Übersichtlichkeit beiträgt. Das Buch enthält übrigens nicht bloß
Kegelschnitte, sondern am Schluß noch eine Reihe praktischer Auf-
gaben über Körper- und Flächenberechnung, Geodäsie, Mechanik,
Ballistik u. a.
») 2, Aufl., 1IT. Bd, 8. 13.
466 Abschnitt XXIV.
Auch Fergolas Buch: „Le sezioni coniche“ (1791), über das ich
nur nach Loria!) berichten kann, bringt nichts wesentlich Neues,
hebt aber die Analogie zwischen den drei Kurven in der Art hervor,
daß die entsprechenden Sätze einander gegenübergestellt werden. Das
Gleiche ist über die Schrift von Riche de Prony, die rein analytisch
verfährt, zu sagen: „Exposition d’une nouvelle methode pour con-
struire les &quations indeterminees, qui se rapportent aux sections
coniques“ (1790).
Die Abhandlungen über Einzelheiten aus der Lehre von den
Kegelschnitten sind natürlich ziemlich zahlreich, aber viel Neues,
Bemerkenswertes ist nicht zutage gefördert worden. Freilich ist
ein Gebiet der Mathematik, das späterhin eine damals noch un-
geahnte Ausdehnung gewann, die Theorie der elliptischen Integrale
und Funktionen, von Untersuchungen über die Rektifikation der Kegel-
schnitte ausgegangen, speziell von Sätzen über Ellipsenbögen, deren
Summe oder Differenz sich algebraisch ausdrücken und daher geo-
metrisch konstruieren läßt.
Euler hat, wie es scheint, die Wichtigkeit und Tragweite der-
artiger Sätze erkannt; er suchte die Aufmerksamkeit der Mathematiker
auf dieses Gebiet zu lenken, indem er 1754 in den Leipziger Annalen
anonym den Satz zum Beweis vorlegte, daß die Differenz gewisser
Ellipsenbögen rektifizierbar sei, und gab dadurch den ersten Anstoß
zu weiteren Untersuchungen. Da jedoch diese ganze Frage in den
XXVI. Abschnitt gehört, werden die einschlägigen Arbeiten dort
besprochen werden. Hier sei in diesem Zusammenhang nur noch eine
Note von Euler aus dem Jahre 1773 erwähnt: „Nova series infinita
maxime convergens perimetrum ellipsis exprimens“?), worin er für den
Ellipsenquadranten die gut konvergierende Reihe herleitet:
ern 1:1-n?
= i1-
? 1-1-8-5-nt-1-3 1-1-3-5-7.9-n® 1-3-5
v2 2.4-6-8
2.4-2 3747-279. 1:6: 8.-10.208
nn)
(= +b; np
Eine Anzahl von Untersuchungen befassen sich mit Maximal-
oder Minimalaufgaben, die zu den Kegelschnitten in Beziehung stehen.
» NicolaFergola ela scuola di matematica che lo ebbe a duce (Genua 1892).
2) N.C. P. XVII, $. 71—84. Da wir die Veröffentlichungen der St. Petersburger
Akademie in diesem Abschnitt oft zu zitieren haben, mögen sie mit folgenden
Abkürzungen bezeichnet werden:
N.C.P. — Novi Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae,
A.P. = Acta Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae,
N. A. P. — Nova Acta Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae,
M.P. = Memoires de l’Acaddmie Imperiale des Sciences de St. Petersbourg.
Allgemeines. Kegelschnitte. 467
Hierher gehört eine Reihe von Sätzen, die Edward Waring!) in seinem
eigenartigen Buch: „Proprietates algebraicarum curvarum“ (Cambridge
1762), meist ohne Beweis, angibt. Es ist ein geistreiches, vielseitiges Werk,
durchaus original gedacht, und jedenfalls eine der bedeutendsten Erschei-
nungen der ganzen Epoche auf diesem Gebiet, leider aber durch die knappe
Ausdrucksweise und überhaupt durch die ganze Darstellung nicht
leicht verständlich. Das Buch scheint wohl aus diesem Grunde
den Zeitgenossen, wenigstens auf dem Kontinent, ziemlich unbekannt
geblieben zu sein; in den zahlreichen Abhandlungen unseres Zeit-
raumes, ebenso bei Klügel (Mathematisches Wörterbuch) konnte ich
es nicht erwähnt finden?); auch sind die von Waring angegebenen
neuen Gedanken und Gesichtspunkte, soviel ich sehe, nicht weiter
verfolgt worden. — Das Werk ist in 4 Bücher eingeteilt, von denen
hier hauptsächlich das vierte Buch in Betracht kommt. Das von
Waring ausgedachte Prinzip, aus dem er seine Sätze herleitet, wird
folgendermaßen formuliert: „quantitates, quae ad singulum curvae
‚puncetum recipiant maximum vel minimum, perpetuo evadunt inter se
aequales“ Der Sinn dieses in seiner Kürze nicht recht klaren
Satzes ist etwa folgender: Man kann die Bedingungen aufstellen,
unter welchen irgend eine Größe für einen Kurvenpunkt einen extremen
Wert annimmt (so ist z.B. für einen Punkt P einer beliebigen
Kurve die Summe seiner Entfernungen von zwei festen Punkten F,
und F, dann ein Minimum, wenn PF, und PF, mit der Kurven-
tangente gleiche Winkel bilden). Wenn es nun eine Kurve gibt, wo
diese Bedingung für jeden Kurvenpunkt erfüllt ist (also in dem ange-
führten Beispiel die Ellipse), so ist für diese Kurve die betreffende
Größe konstant. Dieses Prinzip wird nun z. B. in folgender Weise
benutzt: Es wird bewiesen, daß ein Vieleck, das einem geschlossenen
Oval so umbeschrieben ist, daß seine Seiten von den Berührpunkten
halbiert werden, unter allen dem Oval umbeschriebenen Vielecken
von gleicher Seitenzahl den kleinsten Inhalt hat. Daraus wird nun
geschlossen, daß alle solche Vielecke, die demselben Oval umbeschrieben
sind, gleichen Inhalt haben. Ob es aber überhaupt mehrere solche
gibt, und wie man sie findet, diese Frage wird gar nicht berührt.
Solche und ähnliche, für beliebige Ovale geführte Beweise werden
dann auf Kegelschnitte angewendet und liefern Sätze wie die folgenden:
Sind einer Ellipse zwei Polygone von gleicher Seitenzahl so um-
beschrieben, daß jede Seite von ihrem Berührpunkt halbiert wird, so
haben sie gleichen Flächeninhalt (Theorem 19).
Verbindet man die Ecken (oder Berührpunkte) beider Polygone
1) 8. 92ff. *) Dagegen ist bei Chasles, Apercu historique, p. 153, das
Buch erwähnt.
CAnNToR, Geschichte der Mathematik IV. 31
470 Abschnitt XXIV.
stimmten Werte in a, b,c, d... einzusetzen sind. Euler zeigt noch,
daß diese Gleichung mindestens eine reelle Wurzel hat und macht
eine Anwendung auf den Spezialfall des Parallelogramms.
In einer zweiten Abhandlung, die am gleichen Tage vorgelegt
wurde, löst Euler dieselbe Aufgabe für das Dreieck. Sie ist betitelt:
„Solutio problematis maxime curiosi, quo inter omnes ellipses, quae
eirca datum triangulum eircumseribi possunt, ea quaeritur ceujus area
sit omnium minima“!). Da sich hier von den fünf unabhängigen
Konstanten der allgemeinen Ellipsengleichung nur drei bestimmen
lassen, so hängt der Flächeninhalt noch von zwei unabhängigen
Variabeln ab. Nimmt man zwei Seiten des gegebenen Dreiecks, etwa
a und c, als Koordinatenachsen, so lautet die Gleichung der gesuchten
Ellipse:
ca +acay+tayp — ad — acy—=V.
Aus dieser Gleichung leitet Euler her, daß der Mittelpunkt der
Ellipse in den Schwerpunkt des Dreiecks fällt, und daß die Tan-
gente in jeder Ecke des Dreiecks der Gegenseite parallel ist. An die
erste dieser beiden Arbeiten knüpft Fuß in einer Note vom
31. August 1795: „Dilueidationes super problemate geometrico de ellipsi
minima per data quatuor puneta ducenda“?) an und diskutiert die dort
gefundene Gleichung 3. Grades eingehender mit dem Resultat, daß
von den drei Wurzeln derselben eine eine Ellipse, die beiden andern
Hyperbeln bestimmen, die natürlich dem Problem in der Eulerschen
Fassung nicht genügen, wohl aber, wie Fuß bemerkt, dem allgemei-
neren: „Inter omnes lineas curvas secundi ordinis per data quatuor
puncta transeuntes eas invenire, in quibus rectangulum ex semiaxibus
factum sit omnium minimum“. Fuß berechnet ein Zahlenbeispiel und
wendet seine Resultate auch auf den Fall an, daß statt zwei Punkten
einer mit seiner Tangente gegeben ist.
Um Eulers Arbeiten über Kegelschnitte hier vollends zu be-
sprechen, sei noch eine Untersuchung von ihm erwähnt: „Solutio trium
problematum difficillimorum ad methodum tangentium inversam per-
tinentium“. Die Arbeit wurde am 12. November 1781 eingereicht,
aber erst 1826 veröffentlicht?). Die späte Veröffentlichung erklärt
sich damit, daß Euler vor seinem Tode den Wunsch geäußert hat,
die Veröffentlichungen der Petersburger Akademie möchten noch
20 Jahre nach seinem Tode Arbeiten von ihm enthalten‘), ein Wunsch,
den die Akademie in Ehren gehalten hat (s. die Vorrede zu M. P. XI).
Die drei Aufgaben, die Euler hier behandelt, sind:
) N. A. P. IX, p. 146-153. >) Ebenda, XI, p.187—212. 9)M.P.X,
p. 16—26. “, In den M.P. ist sogar von 40 Jahren die Rede. F
Allgemeines, Kegelschnitte. Höhere ebene Kurven. 471
1) Alle Kurven zu finden von der Bigenschaft, daß die von zwei
festen Punkten nach einem beliebigen Kurvenpunkt gezogenen Strahlen
mit der Tangente gleiche Winkel machen.
2) Gegeben eine Gerade und auf ihr ein Punkt A. Von A ist
nach einem beliebigen Kurvenpunkt ein Strahl AP gezogen, der nach
seiner Reflexion an der Kurve die Gerade in O schneidet. Alle
Kurven von der Eigenschaft zu finden, dad AP + PO konstant sei.
3) Alle Kurven von der Eigenschaft zu finden, daß die von zwei
festen Punkten auf eine beliebige Tangente gefällten Lote ein kon-
stantes Produkt haben.
Die Untersuchung liefert das bemerkenswerte Resultat, daß sich in
allen drei Fällen nur Kegelschnitte ergeben, daß es also außer diesen
keine Kurven gibt, die eine der genannten drei Eigenschaften besitzen.
In den A.E. (1771), p. 131ff., leitet ein Anonymus einen nicht
uninteressanten Satz her, den er selbst als „Theorema elegantissimum“
bezeichnet, nämlich: Zieht man in einem Kegelschnitt von einem
Brennpunkt O aus drei Radienvektoren OF, 0G, OH und beschreibt
um O einen Kreis mit dem Radius r=YOF-0G:0OH, der den
Kegelschnitt in F”, @’, H’ schneidet, so ist:
p AFGH
r AFGH
2
wo p der Parameter des Kegelschnittes ist (p = —)
Endlieh untersucht Fuß in einer Arbeit vom 19. April 1798,
betitelt: „Observationes circa ellipsin quandam prorsus singularem“!),
die Kurve, die entsteht, wenn man in einem Kreis um den Koordi-
natenursprung jede Ordinate um ihre Abszisse verlängert. Die Kurve
ist eine Ellipse, von der eine Reihe merkwürdiger Eigenschaften
nachgewiesen werden, z. B. gilt für ihre Halbachsen a und b: ab=rf;
a—b=r (r— Radius des Kreises); die vier lunulae, die von dem
Kreis und der Ellipse gebildet werden, haben gleichen Inhalt; die
Differenz zwischen dem Umfang der Ellipse und dem des Kreises ist
nahezu gleich den von der Ellipse eingeschlossenen Kreisbögen, u. a.
Höhere ebene Kurven.
Wie schon in der Einleitung bemerkt wurde, sind in der Theorie
der höheren ebenen Kurven keine wesentlich neuen Ideen von allge-
meinerer Bedeutung zu verzeichnen; die meisten einschlägigen Arbeiten
» N.A.P. XV, p. 11-87.
472 Abschnitt XXIV.
sind Spezialuntersuchungen über einzelne Kurven und Kurveugattungen,
die freilich manches Interessante zutage gebracht haben, aber meist
isoliert stehen und wenig Zusammenhang miteinander zeigen. Da-
durch ist natürlich die Übersicht über diesen Zweig der Mathematik
und seine Entwicklung erschwert; immerhin lassen sich wenigstens
einige Gruppen verwandter Untersuchungen zusammenfassen. — Die
Literatur ist meist in Akademieschriften zerstreut; größere Werke,
die sich speziell mit den ebenen Kurven befassen, sind wenig er-
schienen. Zu nennen ist hier hauptsächlich das schon 8. 467 an-
geführte und charakterisierte Buch von Waring: „Proprietates alge-
braicarım curvarum“. Über das auf die Kegelschnitte bezügliche
vierte Buch ist oben schon berichtet worden. Hier ist nun der In-
halt der beiden ersten Bücher in der Kürze anzugeben.
Das 1. Buch enthält allgemeine Sätze über algebraische Kurven
beliebiger Ordnung und beginnt mit einer Definition der Durch-
messer, von denen Waring verschiedene Ordnungen unterscheidet.
Deren Definition läßt sich am einfachsten folgendermaßen angeben:
Wenn in einem schiefwinkligen Koordinatensystem zu jeder Abszisse
n+1-—i Ordinaten einer Kurve n‘” Ordnung gehören, deren al-
gebraische Summe verschwindet, so heißt die Abszissenachse ein Durch-
messer '" Ordnung der Kurve Es werden die analytischen Be-
dingungen hierfür angegeben; für einen Durchmesser 1. Ordnung muß
z. B. in der Kurvengleichung:
Ay" +(a+ba)y"!+(c+dae+te)y"’+.. =0
das 2. Glied mit „*=!1 verschwinden. Daran schließen sich Formeln
für Koordinatentransformation; mit Hilfe derselben wird z. B. untersucht.
ob eine Gerade ein Durchmesser ist, indem sie einfach als Abszissen-
achse eingeführt wird. Ferner wird die Anzahl der Durchmesser
1. Ordnung bestimmt, die ihre Ordinaten unter einem gegebenen
Winkel « schneiden, und gezeigt, daß diese Zahl höchstens = 2n
sein, für «= 90° aber höchstens = n sein kann. Weitere Sätze, die
sich hier anschließen und die der Verfasser als neu bezeichnet, sind:
Eine Kurve, deren Durchmesser alle parallel sind, hat keine
hyperbolischen Äste, außer wenn die Asymptoten auch alle parallel
sind, und keine parabolischen, wenn nicht alle nach derselben Rich-
tung konkav oder konvex sind (Theorem 2).
Es gibt nicht mehr als nn Richtungen paralleler Ördinaten,
welche die Kurven in (na — m) Punkten schneiden (Theorem 5).
Es wird aus der Kurvengleichung eine Beziehung für die Ab-
stände eines Kurvenpunktes von 2, 3, 4 usw. festen Punkten herge-
leitet (Problem 7).
Höhere ebene Kurven. 473
Schneidet eine um einen festen Punkt rotierende Gerade die
Kurve, so gibt es für jede Lage einen Punkt so, daß die algebraische
Summe der Abstände aller Schnittpunkte von diesem verschwindet.
Der Ort dieser Schnittpunkte ist eine Kurve von höchstens n‘" Grad.
Eigenschaften, die nur von den Gliedern n‘* und (n — 1)** Ord-
nung abhängen, sind für zwei Kurven, die in diesen Gliedern über-
einstimmen, dieselben; also hat z. B. eine Kurve mit ihren Asymptoten
(diese als zerfallende Kurve n‘* Ordnung betrachtet) alle Durchmesser
gemein, ebenso alles, was von den Durchmessern abhängt, z. B. die
Mittelpunkte (Mittelpunkt heißt bei Waring ein Punkt eines Durch-
messers von der Art, daß die algebraische Summe der Abstände aller
Schnittpunkte dieses Durchmessers von dem Punkt verschwindet),
ferner die „eurva diametralis“, die Waring definiert als: „locus ulti-
marum diametrorum intersectionum“. Was damit gemeint ist, ist nicht
recht klar; vielleicht die Enveloppe der Durchmesser?
Von besonderem Interesse ist das 10. Theorem, welches behauptet,
daß keine algebraische Kurve, die ein Oval ohne Doppelpunkt
hat, allgemein quadriert werden könne, oder, wie Waring
sagt: „Nulla datur algebraica curva, quae habet ovalem sese in dato
puncto haud intersecantem, quae generaliter quadrari potest“. Es ist
dies ‚offenbar derselbe Satz, der bei Newton, Principia I, Lemma 28,
so lautet: „Nulla extat figura ovalis, cuius area, rectis pro lubitu
abscissa, possit per aequationes numero terminorum ac dimensionum
finitas generaliter inveniri“, und an den sich eine Kontroverse geknüpft
hat!). Der Beweis bei Waring ist so charakteristisch für dessen
prägnante Ausdrucksweise, daß wir ihn hier im Wortlaut anführen
wollen: „Inveniatur enim generalis expressio ad aream, e.g. terminis
abscissae x, fiat haec expressio vel area impossibilis, cum x fiat « vel
x, et ovalis continetur intra valores abseissae « et x; inveniatur fluxio
datae expressionis, sed methodus fluxiones inveniendi eadem est ac
methodus inveniendi aequationes, quarum radices sint limites inter
radices & et x datarum aequationum; et si radices « et x datarum
aequationum sint possibiles, possibilis etiam erit radix inter eas posita;
ergo necessario ovalis se intersecabit“.
) Vgl. Brougham (ist der schon S. 456, Fußnote, genannte Mathematiker)
and Routh, Analytical View of Sir Isaac Newtons Principia (1855), p. 73. Dort
wird behauptet, der Satz sei falsch, da jede Kurve von der Form:
y" = nor 1)m (a” A «*)
quadrierbar sei. Zeuthen hat darauf hingewiesen, daß diese Kurve gar kein
eigentliches Oval darstellt, sondern im Koordinatenursprung einen Selbstberüh-
zungspunkt hat. (Sur quelques critiques faites de nos jours ä Newton; Bulletin
de l’Acad&mie de Copenhague, 1895.)
474 Abschnitt XXIV.
Der Gedankengang scheint mir etwa folgender zu sein. Ist
y= f(x) die Gleichung der Kurve, die das Oval bildet, und ist das-
selbe zwischen den Ordinaten eingeschlossen, deren Abszissen « und x
sind; ist ferner F(x) = f f(z)dx, so wird sowohl f(x) als F(x) außer-
halb der Grenze « und x imaginär, Dann muß aber F(z), wenn es
eine algebraische Funktion sein soll, zwischen « und x ein Maximum
oder Minimum haben, und es wird dann F’(@)=f(x)=0, d.h. das Oval
schneidet die Abszissenachse. Daraus schließt nun Waring, wenn ich den
Schluß des obigen Beweises recht verstehe, ohne weiteres, daß das Oval
sich selbst schneide. Dabei müßte aber doch angenommen sein, daß die
Abszissenachse ein Durchmesser des Ovals ist; das wird aber nirgends
gesagt, ebensowenig wird eine scharfe Definition des „Ovals“ gegeben;
auch was die „radices datarum aequationum“ sind, ist nicht recht klar;
namentlich aber scheint mir nicht genügend berücksichtigt, daß wegen
des Ovals f(x), und damit auch F(x), eine doppeldeutige Funktion
sein muß, also noch mit einer Irrationalität behaftet ist.
Als eine „proprietas maxime elegans“ aller Archimedischen Parabeln
(d. h. Kurven mit lauter parallelen Durchmessern) wird folgender
Satz angeführt: Ist
"tray +lbten)y"?r+.. — 0
die Gleichung einer solchen Kurve, so ist deren Subtangente:
Tr tRn-Yay'tm—Nbtedy" +.
ER a JE" WE
Gibt man 7 einen konstanten Wert, so gibt es n? Kurvenpunkte, zu
denen dieselbe Subtangente gehört, und für alle diese ist die Summe
der Ordinaten konstant.
Ferner:
Ist die Gleichung einer Parabel:
yzal +bar Ir...
und sind %,%s, --- %,_, die Ordinaten der Maximal- und Minimal-
punkte, 2, 2, ... 2, die Abszissen der Schnittpunkte mit der x-Achse,
so ist:
YıYaYs »--%-ı a”
(X, — 2): er (%, — 3%)” (Kg — 4)”: En (X 20: 79) gas = (-1 a3 [is n"
Zu diesen und ähnlichen Untersuchungen bemerkt Waring mit be-
rechtigtem Stolz, daß auch die algebraischen Sätze, die ihnen zu-
grunde liegen, von ihm selbst gefunden seien. Der letzte Satz zeugt
z. B. von dem Kenntnis einer wesentlichen Eigenschaft der Dis-
kriminante.
Höhere ebene Kurven. 475
Das 2. Buch handelt von „Kurvoiden“ Die Bezeichnung ist
nach Analogie von „Cykloide“ gebildet, und bedeutet eine Verallge-
meinerung dieser Kurve, d. h. eine „Kurvoide“ wird von einem festen
Punkt einer Kurve beschrieben, wenn diese auf einer Geraden abrollt.
Rollt sie, statt auf einer Geraden, auf einer anderen Kurve ab, so
entsteht eine „Epikurvoide“. Behandelt werden insbesondere Aufgaben
über Rektifizierbarkeit und Quadratur der Kurvoiden, deren Lösung von
der Rektifizierbarkeit der rollenden Kurve abhängt. Auch wird der Satz
aufgestellt, daß alle Kurven, die durch eine aequatio fluxionalis bestimmt
sind, durch Kurvoiden und Epikurvoiden konstruiert werden können.
Das 3. Buch beschäftigt sich mit Raumgeometrie und wird im
nächsten Kapitel besprochen werden.
Unter den kürzeren Abhandlungen allgemeineren Charakters seien
zunächst einige aufgeführt, die sich mit den Formeln für den Krümmungs-
radıus, für Wende- und Rückkehrpunkte beschäftigen. Die erste ist eine
nicht ganz einwandfreie Schrift von Johann Jakob Hentsch (1723
bis 1764, Professor der Mathematik in Helmstädt): „De eurvis punetum
inflexionis vel regressus habentibus“!). Schon die Definitionen, bzw. die
Begründungen. seiner Bezeichnungen, die Hentseh gibt, passen nicht
für alle Fälle, wie man leicht sieht; sie lauten:
für den Wendepunkt: „punetum inflexionis ob mutatam curvae
faciem, rectae assumtae vel puncto fixo obversam“,;
für den Rückkehrpunkt: „punetum regressus ob mutationem
motus, qui ordine fit retrogrado et versus prineipium, aquo eurva moveri
coeperat, respieit“.
Abgesehen von der mangelnden Klarheit gilt z. B. die erste
nicht, wenn die recta assumta die Wendetangente ist. — Hentsch
folgert nun daraus weiter:
1) Für einen Wendepunkt ist der Abschnitt der Abszissenachse
zwischen dem Ursprung und der Kurventangente ein Minimum oder
Maximum.
2) Für einen Rückkehrpunkt ist die Abszisse ein Maximum oder
Minimum. (Dies ist aber offenbar auch der Fall, wenn die Kurven-
tangente parallel der Ordinatenachse ist.)
Die analytischen Bedingungen, die Hentsch für Wende- und
Rückkehrpunkte herleitet, sind zum Teil sonderbar ausgedrückt, und
lassen eine Verwechslung von Differential und Differentialquotient er-
kennen. Er sagt z. B., in einem Punkt mit vertikaler Tangente sei
dy= © (!), die Bedingung für einen Wendepunkt sei entweder
d’y=(, oder, bei vertikaler Wendetangente, d’y = (!), — Die
!) Nov. Act. Erud., 1762, p. 256.
476 Abschnitt XXIV.
Betrachtungen werden dann auch auf den Fall ausgedehnt, „sı in
Curva Semiordinatae a puncto fixo ducantur“, d. h. auf Polarkoordi-
naten.
Aus dem gleichen Jahre stammt eine Arbeit von Fontana')
über Kurven in Polarkoordinaten, nämlich: „De invenienda formula
radii osculatoris in eurvis ad umbilicum relatis ex data formula eius-
dem in eurvis relatis ad axem, eruendisque inde eurvarum evolutis“?).
Es handelt sich also um Übertragung der Formeln für Krümmungs-
radius und Evolute von rechtwinkligen (z,y) auf Polarkoordinaten
(& P)-
Ist du = zdp, so bestehen die Beziehungen:
2+yp=2%; da+ dy = du? + de.
Führt man mit Hilfe dieser Gleichungen z und u an Stelle von &
und y in den bekannten Ausdruck für den Krümmungsradius g ein,
so ergibt sich:
(de + du
9 zdzdtu — dud!e) + dulde’ + du)
Ist nun (s. Fig. 31) O der Koordinatenursprung, sind P und »
zwei konsekutive Kurvenpunkte,
C und e die ihnen entsprechenden
Punkte der Evolute, ist ferner auf
Op eine Strecke OR= OP und
auf Oc ebenso OD= OU abge-
tragen, endlich von O0 auf PC das
Lot OF gefällt, so ist wegen der
Ähnlichkeit der Dreiecke PRp,
PFO und OFC, CDe:
PP: - PZ Rp
—
==
PO PF FO
und
Fig. 31. DD: 08°
!) Den Bericht hierüber verdanke ich einer gütigen Mitteilung des Herrn
Vivanti, der ursprünglich der Anwendung der Infinitesimalrechnung auf die
Geometrie ein besonderes Kapitel im XXVI. Abschnitt zu widmen gedachte.
Da jedoch die meisten hierher gehörigen Arbeiten schon im XXIV. Abschnitt
besprochen werden, hat Herr Vivanti nach einem Vorschlage des Herrn Heraus-
gebers mir sein Manuskript in überaus dankenswerter Weise zur Verfügung ge-
stellt, damit nicht derselbe Stoff in zwei verschiedenen Abschnitten behandelt
würde. Die Stellen, die von Herrn Vivanti herrühren, werden überall durch
Verweisung auf diese Fußnote als solche bezeichnet werden. ?2) Analyseos
sublimioris opuscula (Venedig 1763), Op. III, p. 120—136.
Höhere ebene Kurven. A7TT
woraus sich ergibt:
PO:PR zdu
u: ren Vaz’ + du®
und: re #
ze. kp a 202
a er perl
OF:.Ce 2dz Ce
097500,” Yarıam 00°
also ist: 3
ZAU
FC=PC-PF= Fan ART,
Setzt man nun O0O=Z; CD=dT, so ist nach dem Obigen:
2?dz? zdu 2
Z=00=-YV0OF+FO- Ver +(e un)
und, da Üc= de ist:
=. 6D- RER
Vz?dz® + (g Vdz?+ du? — zdu)?
Aus diesen Gleichungen in Verbindung mit der Kurvengleichung
f(, w) = ergibt sich durch Elimination von z und « die Differential-
gleichung der Evolute.
Euler entwickelt die Formel für den Krümmungsradius auf
elegante Weise in seiner Arbeit: „Methodus facilis investigandi radıum
osculi ex princeipio maximorum et minimorum petita“!) (11. Septem-
ber 1776). Der Inhalt ist kurz folgender: Ist O ein Punkt auf der
Normalen eines Kurvenpunktes Y, und ändert sich OY nicht, wenn
man zum zweiten konsekutiven Kurvenpunkt weitergeht, d.h. OY
zweimal differenziert, so ist OÖ der Krümmungsmittelpunkt. Daraus
ergeben sich die bekannten Formeln für den Krümmungsradius.
Eine übersichtliche Zusammenstellung der Formeln für Polarkoor-
dinaten findet sich bei Gurief?): „Memoire sur la resolution des prin-
cipaux problemes, qu’on peut proposer dans les courbes, dont les
coordonnees partent d’un point fixe“®) (22. Mai 1797). Gurief
führt für die Koordinaten folgende Bezeichnungen ein (vgl. Fig. 32):
Radiusvektor FM =z; ABFM=o,
ferner werden benutzt der Winkel der Tangente gegen die Achse
LMTF=9; das in F auf FM errichtete Lot bis zur Tangente FR,
das als Subtangente bezeichnet wird; die rechtwinkligen Koordinaten
) N.A.P. VII, p. 88-86. 8. 351. s N.A.P. XIL p. 176—191.
478 Abschnitt XXIV.
des Punktes M sind BP=x; MP=y; ferner ist PF=v, endlich
das Bogenelement ds. Damit wird nun abgeleitet:
zdo z’do
dy=dz.sino+2zcoswodo; de= — dz coso +zsinodo.
2/2
RR
ARTE Verr.
Krümmungsradius: R=
daraus ‚die Bedingung für Wendepunkte:
d? dz\?
274 2(5,) =.
Ferner ergibt sich:
2
Flächenelement: ® 2 =
Volumelement des Rotationskörpers: np sinodo,
Oberflächenelement des Rotationskörpers: 2x2 sinoY2?do? + d2?.
Diese Formeln werden auf einige Beispiele angewendet. — Die
Arbeit ist hauptsächlich darum bemerkenswert, weil hier klar und
konsequent überall Winkel
und Radiusvektor verwendet
werden, während sonst viel-
fach statt des ersteren Kreis-
bögen von irgend einem Radius
auftreten.
Einige andere Arbeiten
beschäftigten sich mit sonsti-
B 7 = gen Fragen aus der Kurven-
lehre. Die erste stammt von
Kästner, nämlich: „Deminimo
in reflexione a curvis“'). Dort
wird, wohl zum erstenmal, ein
Fig. 32. rein geometrischer Beweis des
Satzes geführt: Wenn ein von
einem Punkt O ausgehender Lichtstrahl an einem Kurvenpunkt M
so reflektiert wird, daß er durch einen anderen Punkt P geht,
so ist OM + MP ein Minimum. Die ins Unendliche verlaufenden
Äste einer Kurve behandelt eine kleine Schrift eines württembergischen
aM,
AR
I) Dissert. math. et phys. Altenburgenses 1758.
Höhere ebene Kurven. 479
Theologen, J. @. Pfeiffer (geb. 1766, gest. als Pfarrer in Steinheim
a. d. Murr): „De eurvarım algebraicarum asymptotis tam rectilineis
quam curvilineis earumque investigatione“ (Tübingen 1764). Sie bietet
inhaltlich gerade nichts Neues, gibt aber einen klaren Überblick
über die verschiedenen Methoden zur Aufstellung der geradlinigen
Asymptoten und asymptotischen Kurven einer gegebenen algebraischen
Kurve, Ä
Endlich ist eine Arbeit von Busse (Friedrich Gottlieb
von Busse, 1756—1835, Professor der Mathematik und Physik in
Freiberg) zu nennen: „Formulae linearum subtangentium et sub-
normalium, tangentium et normalium castigatae et diligentius, quam
‚fieri solent, explicatae“ (Leipzig 1798). Das Wesentliche daran ist,
daß bei den genannten Strecken nicht bloß, wie dies sonst üblich
war, der absolute Wert, sondern auch das Vorzeichen berücksichtigt
wird. Insbesondere wird die damals gebräuchliche Formel für die
Subnormale S = Ir als falsch bezeichnet, und durch die richtigere
S=— A ersetzt. Als Kuriosum sei noch eine Bemerkung des Ver-
fassers angeführt, welche zeigt, daß mathematische Schriften schon
damals sich keines allzugroßen Absatzes zu erfreuen hatten. Er sagt
nämlich, er hätte diese Sachen schon längst veröffentlicht, „nisi biblio-
polae eiusmodi scripta a me redimere et typis vulgare mirifice dubi-
tassent, seilicet emtorum qui talia sibi comparare soleaut, non tam
paucitatem, quam tarditatem in hac temporum inconstantia constanter
timentes“.
Gehen wir nun zu den Einzeluntersuchungen über, so ıst zu
bemerken, daß weitaus die meisten Arbeiten sich mit Aufgaben be-
fassen, bei denen es sich darum handelt, die Gleichungen von Kurven
mit bestimmten Eigenschaften aufzustellen, und zwar sind sie meist
derart, daß sie auf Differentialgleichungen führen; im Sprachgebrauch
der damaligen Zeit sind dies „Problemata ex methodo tangentium
inversa“, So heißen ganz allgemein Aufgaben, die auf Integration
von Differentialgleichungen führen, auch wenn es sich gar nicht um
Eigenschaften der Tangente, sondern z. B. des Krümmungsradius handelt.
Hierbei macht sich eine gewisse Unklarheit über die Bedeutung der Inte-
grationskonstanten bemerkbar; es fehlt meist das volle Verständnis der
Tatsache, daß eine Differentialgleichung nicht bloß eine Kurve, sondern
eine ganze Schar definiert. Selbst Euler läßt in die Differentialgleichung
einer Kurvenschar fast immer noch den variablen Parameter eingehen.
Wie sehon bemerkt, ist es schwierig, die große Menge von Abhand-
lungen, die in den verschiedensten Zeitschriften zerstreut sind, nach
einheitlichen Gesichtspunkten zu ordnen; doch lassen sich wenigstens
480 Abschnitt XXIV.
einige solche herausfinden. Die Arbeiten, die ganz isoliert stehen,
werden dann eben in chronologischer Reihenfolge aufgeführt werden.
Eine erste Gruppe von Abhandlungen beschäftigt sich mit der
Bestimmung von Kurven, deren Bogenlängen irgend einer Be-
dingung genügen sollen. Wir führen zunächst zwei Arbeiten von
Euler an, in denen ein heute wenig mehr gebrauchter Begriff eine
Rolle spielt, nämlich die Amplitude eines Kurvenbogens, eine von
Joh. Bernoulli eingeführte Bezeichnung. Man versteht darunter
den Winkel der beiden Normalen (oder Tangenten) in den Endpunkten
des Bogens. Dieser Winkel ist in den meisten der folgenden Unter-
suchungen als Parameter eingeführt. Nimmt man die eine der beiden
Normalen als x-Achse, so ist, wie man leicht sieht:
de=ds-sing; dy=ds cos.
Diese Darstellung ermöglicht es nun, eine große Klasse von
rektifizierbaren Kurven zu finden. Ist nämlich v eine beliebige
; ds d?v ; x ;
Funktion von , und setzt man reger + das, 50 ist damit eine
Kurve bestimmt, für welche sich sowohl die Koordinaten als die
Bogenlänge einfach in v und p ausdrücken lassen. Es ergibt sich
nämlich durch Integration der obigen Gleichungen: |
— 1! np —vco8g; Eh + Ing;
pe p 9 9-7, 0pre-ang;
s= | vd — .
es Pr
Ist also das Integral [vap ausführbar, so läßt sich die Kurve
rektifizieren, und soll sie sonst noch einer Bedingung unterworfen sein,
so handelt es sich nur um eine geeignete Bestimmung der Funktion v.
Diese oder ähnliche Überlegungen liegen den meisten Arbeiten
Eulers über die Bogenlängen von Kurven zugrunde. Die erste der
beiden Eulerschen Abhandlungen heißt: „De arcubus curvarum aeque
amplis earumque comparatione“!). Es handelt sich hier um die Auf-
gabe, Kurven so zu finden, daß die Bogenlängen ihren Amplituden
proportional sind, daß also:
FT —
b..
x?
S|o
oder
a
&
Ste
8|»
ist. Es ist klar, daß der Kreis jedenfalls zu den gesuchten Kurven
» N. 0. P. XII (1766/67), p. 17—41.
Höhere ebene Kurven. 481
gehört; es fragt sich aber, ob nicht noch andere Kurven diese
dem Kreis zukommende Eigenschaften haben. Fragen dieser Art
sind in jener Zeit öfters behandelt worden; wir werden später
noch einige hierher gehörigen Untersuchungen anzuführen haben;
Hier findet Euler außer dem Kreis noch weitere Kurven durch einen
Kunstgriff: er fügt nämlich zu @ eine Funktion V hinzu, die
sieh nicht ändert, wenn g um « wächst; 7 muß dabei einfach
27 I } B
— und cos —— sein. Nimmt man nun
eine Funktion von sin
den einen Endpunkt des Kurvenbogens als Koordinatenanfangspunkt,
seine Normale als x-Achse, so findet man die Gleichung der gesuchten
Kurve in der Form:
= —(1 — c08 p) + /singaV; y= — sin + JcospdV.
Hieraus folgt für den Krümmungsradius der Ausdruck:
= m + dp a
Die nähere Untersuchung zeigt, daß die Kurve aus lauter kongruenten
Stücken von der Länge a besteht.
Die zweite Arbeit (vom 19. August 1776) ist betitelt: „De duabus
pluribusve curvis algebraieis, in quibus, si a terminis fixis aequales
arcus abscindantur, earum amplitudines datam inter se teneant
rationem“!).
Hier handelt es sich also um zwei verschiedene Kurven und die
Amplituden gleicher Bögen sollen nicht mehr gleich sein, sondern in
einem gegebenen Verhältnis stehen. Euler findet für die eine
Kurve die folgenden Gleichungen, in welchen « und ß Konstanten
sind, derart, daß das Verhältnis der Amplituden =«:ß ist, und in
welchen » eine Funktion von @ bedeutet:
3, d?
1 dv 1 d’v 1
sin«p — — sp + 5, Fr “sin ep — — 70 „, 6059),
a dp
1 dv . 1 d’v
V-arg Way +g snap+ ale „er 00sap + —
en
2
d’v
dg5 sin «p).
Die Gleichungen der zweiten Kurve ergeben sich hieraus durch Ver-
tauschung von « und ß, Sollen die beiden Kurven algebraisch sein,
so müssen « und ß rationale Zahlen und muß v eine algebraische
Funktion von sinp und cosp sein. Das Beispiel v—= cosp wird
durchgeführt und ergibt Epizykloiden; außerdem wird die Aufgabe
) N.A.P. VI, p. 68—76,
482 Abschnitt XXIV.
auf 3, 4 usw. Kurven verallgemeinert, deren Amplituden bei gleichen
Bögen ein vorgeschriebenes Verhältnis haben sollen.
Mit der Rektifikation von Kurven haben sich die Mathematiker
in unserem Zeitraum mehrfach beschäftigt’. Schon früher hatte
Hermann?) die Aufgabe vorgelegt, die Quadratur einer Kurve auf
eine Rektifikation zurückzuführen, die dann von N. Bernoulli?) und
Euler*) behandelt wurde. Saladini nahm die Frage wieder auf in
seiner Abhandlung: „Methodus Bernoulliana de reducendis quadraturis
transcendentibus ad longitudinem curvarum algebraicarum, a quibus
inutilis saepe redditur, imaginariis quantitatibus liberatur atque eius-
dem reductionis innumerae aliae viae indigitantur“®). Er gab einen
Beweis des Bernoullischen Satzes, nach welchem die Fläche einer
Kurve y= f(x) durch
le De
x- 2 v-I 0 (1)
bezeichnet. Um aber die Einführung der für y? > 1 vorkommenden
imaginären Größen zu vermeiden, stellt er folgenden Satz auf:
Man hat:
(va: ee - + [varzaxz,
wenn i
2 4P 2
ER Gr
y - ; Kst an 4%
Ist die vorgegebene Kurve algebraisch, so ist es auch die Kurve (1);
es läßt sich also die Quadratur jeder algebraischen Kurve.auf die
Rektifikation einer algebraischen Kurve zurückführen. Da aber die
Linie (1) öfters kompliziert ausfällt, so schlägt Saladini eine andere
Methode zur Auflösung des Problems vor. Setzt man z. B.
Rue Y-%+ms, (2)
X—!|
Yy ?
wo m konstant ist, während P, @ Funktionen von y bezeichnen, so
lautet die Bedingung dafür, daß dS?= dX?+dY? ein vollständiges
Quadrat sei:
| uch un FE
Q P
‘) Für den Bericht über die im folgenden erwähnten Arbeiten von Sala-
dini, d’Alembert, Mascheroni, Gratognini, Contarelli vgl. Fußnote
S. 476. ?) Acta Erud. 1719. °) Ebenda, 1720. *) Comment. Acad. Petrop.
MN. °) Comment. Bonon. T. V, P.H, p. 120—138 (1767).
Höhere ebene Kurven. 483
Nimmt man dann für @ eine solche algebraische Funktion von y,
daß "44 ein logarithmisches ‚Differential ist, so ist P eine alge-
Q
braische Funktion von y, und man hat:
hr 2? | N% AP\2 d 3 pP: “
ar VE HE he EFE-5
wo 5 den Bogen der Kurve (2) bezeichnet.
Schon im Ill. Bande der Denkschriften der Berliner Akademie
(1747) hatte d’Alembert aufein Paradoxon hingewiesen, das aus der
Betrachtung der Kurven entsteht, die durch die Differentialgleichung:
dy-daV( nt — 1 (3)
definiert ist. Zwanzig Jahre später nahm er den Gegenstand wieder
auf in einer Schrift: „Extrait de plusieurs lettres de l’auteur sur
differens sujets ecrites dans le courant de l’annee 1767“!). Integriert
man (3) mit der Bedingung, daß für 2=0 auch y=(0 werden soll
so erhält man:
’
5
y-l1-(a-ailt; (4)
ferner ist:
ds=dsVi -Dt- (1 "tar, (5)
also unter der Bedingung s= 0 für 2= (0:
3 | 2
s- 11-41-2093]. (6)
Aus (4) ergibt sich die Ge- A | RR 2
stalt der Kurve; es ist y-1l | N, De
für z= 1, dann nimmt y ab für e 47%
wachsendes und abnehmendes z, Y ir
und es wird y=0 für 2=0
und x=2. Für £<0 und für
#2>2 ist y imaginär. Ferner
hat y für jeden Wert von & zwei
gleiche und entgegengesetzte
Werte, so daß die Kurve die aus _A c z
% Fig. 3% ersichtliche Gestalt ABOD
hat; es ist die seit Leibniz be-
kannte reguläre Astroide?),
deren Gleichung durch die Trans-
formation z=1+2; y=y sich
auf die Form:
D
‘ Fig. 33.
| ') Opuseules math&matiques T. IV, p. 65—68 (Paris 1768). ;M) Vgl.
Loria, Spez. Kurven, $. 227,
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 32
484 Abschnitt XXIV.
INT Bar («2 + y'? — 1)? + 272°y?=0
bringen läßt.
Sind nın M und M’ zwei den Zweigen AB, bzw. BC an-
gehörige, in bezug auf die y-Achse symmetrische Kurvenpunkte, P
und P’ ihre Projektionen auf die x-Achse und setzt man
O0P=-0OP =2,
so folgt aus (6)
‚ 3 3
ac AM = a ABM -(1- )<Z,
_ während are ABb= = ist, ferner are ABO=0. Es nimmt also die
Bogenlänge vom Punkte B an fortwährend ab, was absurd ist. Und
d’Alembert schließt: „Voilä done encore iei le caleul en defaut“.
Eine weitere Bemerkung ist folgende: Nimmt man, wie es still-
schweigend vorausgesetzt worden ist, dy in (3) positiv an, so muß y
immer zunehmen; also ist die Fortsetzung der Linie über B hinaus
nicht BC, sondern der zu BC in bezug auf die durch B parallel zu
AC gezogene Gerade symmetrische Zweig BC“.
Diese Schwierigkeiten, auf welche d’Alembert keine Antwort
gab, reizten den Scharfsinn Mascheronis'), welcher sich die Auf-
gabe stellte, die Angriffe von d’Alembert gegen die Analysis zu
widerlegen („Injuria tamen aceusatur caleulus“). Durch Reiheninte-
gration findet er
a | Se u: ° 1 3 8 1-3 3
y-B-283+4+5:7% Hase taı gt Bm
wo B eine Konstante ist. Hieraus ersieht man, daß y für zund —z
denselben Wert annimmt, so daß die Fortsetzung von AB nicht
BC, sondern BC ist. Nimmt man aber die in (8) vorkommende
Wurzelgröße mit doppeltem Zeichen an, so erhält man
y=B+u
so daß die ganze Kurve aus den vier Zweigen AB, BC, AB, BC
gebildet ist. Die Gleichung (5) läßt sich schreiben:
ds=+ 2 °dz
und aus derselben folgt durch Integration:
3
s-+,8,
!) Adnotationes ad caleulum integralem Euleri P. I, 1790.
4
Höhere ebene Kurven. 485
vorausgesetzt, daß s=0 für z=0 ist. Betrachtet man also den
Bogen BA als positiv, so muß man den Bogen BC als negativ an-
sehen.
Hierdurch wird jedoch d’Alemberts Bedenken keineswegs er-
ledigt; aber noch mehr: Mascheroni entdeckt ein neues Paradoxon.
Für <>2 ist die Kurve imaginär; aber die Bogenlänge ist auch
für diese Werte von & reell. Die Erscheinung ist nicht vereinzelt:
jedesmal wenn = reell und <1 ist, hat man eine reelle Bogen-
länge bei imaginärer Kurve; denn es ist dann (22) — (£) —1<ß(,
also TE imaginär. Diese Bemerkungen von Mascheroni, welche im
Jahre 1790 veröffentlicht wurden, gaben noch in demselben Jahre
Veranlassung zu einer Antwort von seiten eines gewissen Giovanni
Gratognini (1757—1836), Professor an der Universität in Pavia.
Seine Schrift führt den Titel: „Esame analitico d’un paradosso
proposto ai geometri dal sign. D’Alembert e della soluzione
datane dal Ch. sign. Don Lorenzo Mascheroni“ (Pavia 1790); sie
gibt eine eigentümliche Lösung des Rätsels. Gratognini sagt näm-
lich: „die Formel für die Bogenlänge kann längs des Zweiges BU
nicht gelten; sie würde nämlich den Bogen BC, gegen seine Natur,
durch eine negative Größe ausdrücken. Man muß vielmehr den Aus-
druck für ds in (5) für AB mit positivem, für BC mit negativem
Vorzeichen versehen. Desgleichen kann für £>2 der in (5) an-
gegebene Wert dem Bogen nicht angehören, weil sie von der Glei-
chung ds? = da? + dy? abgeleitet wurde, welche, da im betrachteten
Falle dy fehlt, etwas Chimärisches und Bedeutungsloses darstellt.“
Einen ähnlichen Gedanken hat Contarelli in einem Brief!) an
Paolo Cassiani, Professor in Modena, ausgesprochen. Er sagt
nämlich, daß bei der Berechnung der Bogenlänge der Bogen CD
notwendig als negativ angesehen werden müsse, da ja Ü ein Rück-
kehrpunkt sei, und fügt bei, daß Giordano Riccati dieser An-
schauung zugestimmt habe. |
Daß alle diese Deutungen ganz ungenügend sind, ist klar. Die her-
vorgehobenen Schwierigkeiten konnten nicht überwunden werden, so-
lange man den Begriff des Veränderlichkeitsbereichs einer algebraischen
Funktion ‘nieht vollständig beherrschte. Heutzutage haben die
d’Alembertschen Paradoxa für uns nichts Verwunderliches mehr.
Da die Funktion y von x durch eine Differentialgleichung von der
Form dy= Pdx definiert wird, so ist sie, von einer bloß additiven
") Continuazione del nuovo giornale dei letserati, T. 21.
82”
486 Abschnitt XXIV.
Konstanten abgesehen, bestimmt, und daher sind sowohl A’BC als
ADC Zweige der Integralkurve. Ferner ist die Ordinate y, nachdem
sie durch Angabe ihres Wertes für x —= 1 bestimmt worden ist, eine
sechswertige Funktion von x; dasselbe kann man von s sagen, da die
rechte Seite von (6) mit doppeltem Vorzeichen behaftet werden muß,
Die Bogenlänge s bildet eine auf der die Funktion y von x dar-
stellenden Riemannschen Fläche reguläre Funktion; 2=1 ist ein
Verzweigungspunkt dieser Fläche, und an diesem Punkte kann der
Übergang von einem zu einem anderen Funktionszweige sowohl von
y als von s stattfinden. Dadurch kann man sich von allen schein-
baren Unregelmäßigkeiten Rechenschaft geben.
Die Schwierigkeiten, welche die Rektifikation der meisten Kurven
bietet, scheinen Euler dazu veranlaßt zu haben, Kurven zu suchen,
deren Bogenlänge sich angeben, oder wenigstens durch diejenige be-
kannter Kurven ausdrücken läßt, oder, wie Euler sagt, die durch
die Bogenlängen bekannter Kurven „meßbar“ sind. Dieses Problem
kann!) als eine Verallgemeinerung der gewöhnlichen Rektifikation
angesehen werden, bei der es sich ja einfach um eine „Meßbarkeit“
durch geradlinige Strecken handelt. Euler hat solchen Fragen ver-
schiedene Abhandlungen gewidmet; die erste heißt: „De innumeris
curvis algebraicis, quarum longitudinem per arcus parabolicos metiri
licet“?). Die analytische Formulierung dieser Aufgabe ist: x und y
als Funktionen eines Parameters v so darzustellen, daß:
ds = Yda? + dy? = dvy1 + v
wird. Euler nimmt zunächst die allgemeine Aufgabe in Angriff,
daß das Bogenelement ds dem Differential einer beliebigen Funktion
von v gleich werden soll, also ds = Vdv, und versucht, ob folgende
Gleichungen das Problem zu lösen vermögen:
de _PYAFU—QyB-V, PyB-U+Qy4A+U a)
dv VA+B VA+B
wo P, Q, U Funktionen von v, A und B Konstanten sind. Dies ist
der Fall, wenn
day _
dv
P+Qg=V | (2)
ist. Dieser Gleichung müssen also P und @ genügen, und dann ist
U so zu bestimmen, daß die Gleichungen (1) integrabel werden.
Zu diesem Zweck führt man statt U einen Winkel p, der also gleich-
falls eine Funktion von v ist, ein, und setzt:
t) Nach einer Bemerkung von Herrn Vivanti, vgl. Fußnote S. 476.
2) N. A. P. V, p. 59—70. .
Höhere ebene Kurven. 487
= = Psinp+ Q 089; 2 = P eosp — Qsing. (3)
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen wird wieder auf die spezielle
Aufgabe, wo also V = V1 + v? sein soll, zurückgegriffen, und gezeigt,
daß diese Forderung erfüllt ist, wenn in (1) U eine beliebige ganzzahlige
Wurzel von v ist; die Beispiele U=v, U= Vv werden durchgeführt.
Ebenso läßt sich aus (3) eine spezielle Lösung herleiten, wenn P=1,
Q=v gesetzt wird; es ergibt sich so:
dx = dvsinpg + vdvcosp; dy= dv cosp — vdv sıny.
Setzt man hier noch v® = sind, so macht die Beziehung g = 4% die
Gleichungen integrabel und liefert algebraische Kurven, wenn A eine
rationale Zahl ist: Schließlich wird noch eine dritte, allgemeinere
Lösung hergeleitet, nämlich
42 = — 00s(@ +9) + __ cos[« + (A +2)%]
= VL gos[a + (1 — 2)8];
4y-—- sin(@ +49) + a: sin[@« + (4 +2)9]
= wer sin[@ + (4 — 2) 9],
wo « ein beliebiger Winkel, A eine rationale Zahl exkl. + 2 ist.
Die gleiche Aufgabe hat Euler in einer späteren Arbeit vom
20. August 1781 wieder aufgenommen, über die deshalb auch gleich hier
berichtet werden möge. Sie heißt: De innumeris curvis algebraieis
quarum longitudo arcui parabolico aequatur!). Er gibt dort folgende
elegante Konstruktion einer solchen Kurve: Es sei Ab= BUÜ=2a
der doppelte Parameter der
Parabel AC, AD eine zu ihr 2
symmetrische, die mit ihr Z c
Achse und Scheitel gemein V me |
hat; » sei eine _—. Zahl.
Mache nun FG = —; GV R\ |
Im
parallel der Achse ns Sn F re p;
einer beliebigen Ordinate X Y; Fig. 34.
AVFG sei =9%. Lege in
Fan AF einen Winkel=n% an, und trage auf dem Schenkel desselben
») M. P. XI (1830), p. 100—101.
488 Abschnitt XXIV.
FZ=FX ab, dann ist der geometrische Ort von Z eine Kurve der
gesuchten Art, deren es also unendlich viele gibt, da » beliebig an-
genommen werden kann. Der Beweis ergibt sich leicht aus der an-
gegebenen Konstruktion.
Eine weitere Abhandlung vom 10. Juni 1776 behandelt dieselbe
Aufgabe für Ellipsenbögen; sie heißt: „De innumeris curvis algebraicis
quarum longitudines per arcus ellipticos metiri licet“'). Hier soll also
das Linienelement von der Form sein
day er, ag
179°
Dieser Forderung wird genügt, wenn:
tom, 4, _ Pod (5
—yaato’ ” yaa-o) e
ist, wobei p und q Funktionen von v sind, derart, daß
”+qQ—-2pgv=1+(n?— 1).
Dadurch werden die Gleichungen (4) integrabel und liefern alge-
braische Gleichungen. Z. B. ergeben die Werte p=1;qg=v(n+1)
eine Kurve 6. Ordnung. Auch hier lassen sich durch Einführung
von Winkeln die Gleichungen umformen, und Euler ermittelt fol-
gende Lösung der Aufgabe:
dx
20? sin[(2 +19] - 7 sin[A — 1)Q],
-141
2y = 13 e0[( +19] - 7 sn[a — Dp)],
wo 4 eine rationale Zahl sein muß, wenn die Kurven algebraisch
sein sollen. Die durch (6) dargestellten Kurven sind Epi- und Hypo-
zykloiden. Auffallend ist das Resultat für »—=1; in diesem Fall
stellt (4) das Linienelement des Kreises dar, (6) aber den Kreis
selbst. Euler sah sich dadurch veranlaßt, den Satz auszusprechen,
daß es außer dem Kreis selbst keine Kurve gebe, deren
Bogen sich durch Kreisbögen messen lasse (vgl. unten S. 491),
unterließ es aber nicht, die Aufmerksamkeit der Mathematiker auf
das S. 486 formulierte allgemeine Problem zu lenken. Auch führt
er am Schluß dieser Abhandlung noch an, daß es ihm nicht ge-
lungen sei, diese Aufgabe wie für Ellipsenbögen, so auch für
Hyperbelbögen zu lösen. Dies leistete später Fuß in einer Abhand-
lung vom 28. Juni 1788: „De innumeris curvis algebraieis qua-
(6)
» N.A.P. V, p. 71-88.
Höhere ebene Kurven. 489
rum longitudinem per arcus hyperbolieos metiri licet“') durch Ein-
führung hyperbolischer Funktionen. — Auch diesmal hat Euler
der Aufgabe später (20. August 1781) eine zweite Arbeit ge-
widmet: „De curvis algebraieis, quarum longitudo indefinita arcui
elliptico aequatur“?). Er knüpft hier an die Formeln (6) an, und be-
merkt mit der liebenswürdigen Offenheit, mit der er stets seinen Ge-
dankengang klarlegt, daß er zufällig (casu) darauf gekommen sei.
Die Arbeit besteht im wesentlichen in einer Verallgemeinerung der
vorher gefundenen Resultate. Auch einen schwierigeren Fall des all-
gemeinen Problems ds — Vdv hat Euler behandelt (17. Juni 1776):
„De innumeris curvis algebraieis, quarum longitudo exprimitur hac
mi
formula integrali rer Kae] Das Problem wird gelöst und aus-
er,
gedehnt auf den allgemeineren Fall
ve
—1
= (na + born + ont + at + ..) dv.
Vi -v
1 —_v
Wieder einer Aufgabe allgemeinerer Natur, die in diese Gruppe
gehört, sind zwei Arbeiten von Euler gewidmet, nämlich: „De binis
curvis algebraieis inveniendis, quarum arcus indefinite inter se sint
aequales“*) (20. Juni 1776) und: „De binis curvis algebraieis eadem
rectificatione gaudentibus“°) (20. August}1781). Jede der beiden löst
die Aufgabe auf zwei verschiedene Arten. In der ersten nimmt
Euler die beiden Kurven in Parameterform gegeben an:
X=p»(z) +g(2); = p(2) — (2);
Y=r()—s(); y=r(2)—s(e)
Die Forderung, daß die Linienelemente beider Kurven gleich
seien, ergibt für die vier Funktionen p,g,r, s die Bedingungsgleichung:
vg Fe rs.
Um dieser Gleichung zu genügen, führt Euler zwei neue Funk-
tionen % und » von z ein, die mit den ersten durch die Glei-
chungen verbunden sind:
q v uv
gar =; s= r Se I"
r ? p u’ u 4
u =
Damit ist die Bedingungsgleichung erfüllt, und Koordinaten der beiden
Kurven sind dargestellt durch:
ı) N. A. P. XIV (1805), p. 111—138. *) M.P. XI (1830), p. 95—99.
S N.A.P. VI, p. 36—62. ‘) Ebenda, IV, p. 96-108. 5°) M.P. XI (1830),
p. 102—113.
490 Abschnitt XXIV.
v v
Ar Tth ef
uv uv
re Bu de
Sind q, r, v algebraische Funktionen, so sind beide Kurven alge-
braisch.
Die zweite Lösung legt die Bedingungsgleichung in der Form
Hr = er. zugrunde, und führt zu einer einfachen geometrischen Kon-
struktion, nämlich (vgl. Fig. 35): Es seien zwei beliebige Kurven mit:
derselben Abszissen-
6 ‚achse und den Koordi-
\ naten 9,85 und q,r ge-
B geben. Man ziehe
Z
BP OR parallele Tangenten an
a die beiden Kurven, die
sie in Sund @ berühren,
so ergeben sich die Koordinaten X, Y und «,y der beiden gesuchten
Kurven aus den Gleichungen (vgl. Fig. 35)
X=-BP+RQ; «= BP—.RQ;
Y=UR-—-PS; y=ÜR+P8S.
In der zweiten Abhandlung ist zunächst eine Lösung mit Be-
nutzung von Winkelgrößen gegeben. Der Forderung der Aufgabe
wird genügt durch die beiden Gleichungen:
dAX=dxcosp + dysing,
dAY=daxsinp — dycosg,
wo x und y noch als Funktionen von p so zu bestimmen sind, daß
diese Gleichungen integrabel werden und algebraische Funktionen er-
geben. Euler führt zu diesem Zweck zwei Funktionen P und @
von ein, derart, daß -
dp . d
= Zap + TE cosg,
dp d 5
y-— 4, 008p + 5% sing,
dann wird |
dQ. Si
Sind hierbei P und @ algebraische Funktionen von sing und
c0o8@, so werden die Gleichungen integrabel, und ergeben algebraische
Höhere ebene Kurven. 491
Kurven. Die zweite Lösung, die gegeben wird, benutzt keine Winkel-
größen, ist aber in ihrem Resultat nicht wesentlich von der ersten
verschieden, die auch für die Anwendung bequemer ist. Setzt man
z.B. @= 0, so ergeben sich Kurvenpaare von der Eigenschaft, daß
der Radiusvektor der einen Kurve gleich der Ordinate der anderen
ist. Dies wird angewendet auf Parabel und Ellipse. Aber auch hier
ergibt sich durch Spezialisierung für den Kreis als zweite Kurve
eben wieder der Kreis. Trotzdem gelangte Euler später im Zu-
sammenhang mit diesen Untersuchungen zu einer Lösung der
früher (s. 8.488) vonihm für unmöglich gehaltenen Aufgabe,
Kurven zu finden, deren Bögen sich durch Kreisbögen aus-
drücken lassen, abgesehen vom Kreise selbst. Seine Arbeit hier-
über: ist am gleichen Tag wie die letztere der beiden vorigen der
Akademie vorgelegt worden. Sie führt den Titel: „De curvis algebrai-
cis quarum omnes arcus per arcus circulares metiri licet“'). In der
Einleitung kommt Euler auf seine früher (s. 5. 489) aufgestellte
Behauptung zurück, daß es keine solchen Kurven gebe, und gesteht
mit der für ihn charakteristischen Offenheit ein, der Hauptgrund für
jene Behauptung sei gewesen, daß es ihm trotz aller Anstrengungen
nicht gelungen sei, solche zu finden; er nimmt sie hiermit feierlich
zurück („solemniter retractans“). Sein Verfahren, um Kurven der ge-
nannten Art zu finden, ist nun folgendes: Es sei w ein Bogen eines
Kreises vom Radius =1; die Gleichung der Kurve soll in Polar-
koordinaten (2, @) aufgestellt werden; dann muß sein
de? + 2?dp? = dw?
—_ 1/4w? — da?
dp = Dr
Die Aufgabe ist also einfach, z in Funktion von p so zu bestimmen,
daß das Integral der rechten Seite einen Kreisbogen ergibt, d.h. sich
durch zyklometrische Funktionen ausdrücken läßt. Dies ist nun sehr
einfach möglich, wenn z=b-+ cosw gesetzt wird, wo b eine beliebige
Konstante ist. Hierdurch erhält man:
oder
dw cosw
d
b-+cosw
Um dies Integral auszuführen, setzt man t= tg und erhält:
gy=w— m — arctg t went 4
Diese Gleichung in Verbindung mit t= tg — und z=b+ cosw stellt
1) M. P. XI (1830), p. 114—124.
492 Abschnitt XXIV.
eine
nun die gesuchte Kurve dar; sie ist algebraisch, wenn A
rationale Zahl ist. An diese Formeln schließt sich eine Diskussion
der. Kurve, die als wichtigste Resultate folgende ergibt: der Krüm-
b-+ cosw
mungsradius istr= Sa daraus folgt, daß ein Wende-
punkt auftritt für cosw = — =; also 2= 8 (Daraus folgt, daß
ein solcher nur auftreten kann, wenn b<2 ist, weil sonst z<b—1
würde, was nicht möglich ist.) Die Amplitude!) ist e=w-+ 9.
Auf Grund der entwickelten Formeln wird noch ein Zahlenbeispiel
Dr berechnet, und der Verlauf der Kurve gezeichnet; sie hat
v3 |
etwa die Gestalt einer Lemniskate mit ungleichen Schleifen. SchlieB-
lich wird noch bemerkt, daß der von einem bestimmten Punkt ab
gemessene Bogen gleich dem Arkus des Winkels zwischen dem Radius-
vektor und der Tangente im Endpunkt des Bogens ist.
Während es sich in den Arbeiten, über die vorstehend berichtet
wurde, um Vergleichung von Bogenlängen verschiedener Kurven
handelt, sind nun einige Abhandlungen zu nennen, in denen Be-
ziehungen zwischen Bogenlängen und Tangenten, Normalen usw.
einer und derselben Kurve untersucht werden. Unter diesen ist
der Zeit nach die erste eine Veröffentlichung von Pio Fantoni
(1721—1804, Wasserbaumeister in toskanischen Diensten, Mitglied
des Instituts von Bologna): „De problemate quodam algebraico, deque
evolutione mechanicae euiusdam curvae inter infinitas hypermechanicas,
quae determinatae aequationi satisfaciunt“?). Die Aufgabe, die Fan-
toni als „Problema algebraicum“ bezeichnet, ist folgende: Eine Kurve
so zu finden, daß das Stück der Tangente zwischen dem Berührpunkt
und dem vom Koordinatenanfangspunkt auf sie gefällten Lot kon-
stant sei. Als Differentialgleichung der gesuchten Kurve ergibt sich:
d dx?” + dy?
u r ee
Die Integration wird zunächst in rechtwinkligen Koordinaten aus-
geführt, wobei der Differentialquotient als Parameter auftritt; es
ergibt sich eine ziemlich komplizierte Formel, die sich aber wesent-
lich vereinfacht dadurch, daß als Koordinaten der Radiusvektor 2,
und der von ihm und der &-Achse begrenzte Bogen u eines Kreises
von gegebenem Radius = a eingeführt werden, also Polarkoordinaten
1) Vgl. 8.480. *) Phil. Trans. Vol. 57 (1767), p. 338—371.
u .
Höhere ebene Kurven. 493
besonderer Art. Setzt man nämlich noch Y®—a?=1t, so er-
gibt sich
uv=t— aarctg - .
Es wird dann noch gezeigt, daß diese Kurven Traktorien der
Archimedischen Spirale sind.
Auch Euler hat sich mit derarligen Fragen beschäftigt und
folgendes „Problema geometricum ob singularia symptomata imprimis
memorabile“!) gelöst (10. Februar 1777): Eine Kurve so zu be-
stimmen, daß der Sektor AUZ=2 dem Quadrat des Bogens
AZ=s proportional sei. Dabei
ist angenommen, daß A zugleich
Tangente an die Kurve in A sei,
und daß die Achse OB auf AC
senkrecht stehe. Es soll also
sein:
—=4n2. (1)
Dieser Gleichung genügt, wie 4
man leicht sieht, die logarith- A
mische Spirale um C, wenn
2
sin 28
ist, wo & den konstanten Winkel 2
des Radiusvektor gegen die Tan- Fig. 36.
gente bedeutet. Dies ist aber
schon deshalb nicht die allgemeinste Lösung, weil hier n>2 sein
muß. Für die allgemein gefaßte Aufgabe gibt Euler drei Lösungen;
die erste benutzt den Winkel @ der Normalen gegen die Achse und
drückt das vom Ursprung auf die Normale gefällte Lot OD=t, und
das Stück ZD der Normalen =p in Funktion dieses Winkels aus.
Hierbei zeigt sich zunächst, daß p dem Bogen s, t dem Krümmungs-
radius r proportional ist, nämlich
B
sen r=nt, | (2)
was Euler als „proprietates insignes“ dieser Kurven bezeichnet. Weiter
ergeben sich die Differentialgleichungen:
dt d’t “ dp
N.A.P. VII, p. 87—116.
494 Abschnitt XXIV.
Die Integration liefert unter Berücksichtigung der Anfangsbedin-
gungen:
t=
(wer — Ber); ar fig = zer e), (4)
wo die vom Ursprung an die Kurve gezogene Tangente CA = a ist,
und « und ß den Gleichungen genügen:
e+ß=n; aß = 1.
Die Reellität von « und ß hängt also davon ab, ob n22 ist. Es
sind also bei der Diskussion der Kurve drei Fälle zu unterscheiden:
1) n>2, « und ß sind reell (Fig. 37). Für wachsende Werte
von @ wird t und damit nach (2) auch r immer größer; die Kurve
zieht sich also in immer weiteren Windungen um den Punkt © herum.
Nimmt p ab und wird negativ, so gibt es schließlich einen Wert, nämlich
— 2log«
a—ß
wo t, und damit r, verschwindet. Daraus ergibt sich, daß der
entsprechende Kurvenpunkt E ein Rückkehrpunkt ist (dar =0),
dessen Normale durch Ü geht (da t=0). Von diesem Punkte ab
nähert sich die Kurve asymptotisch dem Ursprung (C,
und es ist Bogen ÜE= Bogen AE. In der Nähe von
C und im Unendlichen nähert sich die Kurve der loga-
rithmischen Spirale. Denn ist #® der Winkel des Radius-
vektor gegen die Kurventangente, so ist‘
7A
Ei ee _ ef P
de Et aeP® _ Ber’
also lim tg9 = ß, und lim tg9# = «.
BR 9y=nR
2) Falln=2. In diesem Fall ist «= ß; aus (3)
E folgt t=a(l+gQp)e; p=ayp:e; Wem Im
( Rückkehrpunkt ist = — 1. Die logarithmische Spirale,
Fig. 37. der sich die Kurve asymptotisch nähert, hat den Win-
kel 45°.
3) Fall n< 2. Hier werden « und ß konjugiert imaginär und
an Stelle der Exponentialfunktion treten goniometrische Funktionen.
Setzt man = u-+ iv; B=u-— iv, so wird:
a:e"?sinvgp
v
= er? (m sinvp+vcosvp); Pp=
Die Bedingung für den Rückkehrpunkt (t=0) ist hier tgvp= — = ; diese
ist aber für unendlich viele Werte von p erfüllt, also hat die Kurve
unendlich viele Spitzen.
Höhere ebene Kurven. 495
Die beiden anderen Lösungen geben die Gleichung der Kurve in
Polarkoordinaten (z, w) und in rechtwinkligen Koordinaten (2, Y),
nämlich:
=
ayitea—at of ngdq
2a) h A+HdA—nga +)’
(ga — B* =?
w
wo der Parameter q = er ist; und
x = 00°? (« sing — 08 p) — ae?? (B sing — c0Sp),
y= ae? (sinp + «cosp) — ae’? (sing + PB cosp).
Endlich gehören hierher noch zwei Abhandlungen von Fuß,
nämlich: „Exereitatio analytico-geometrica circa lineam curvam singu-
lari proprietate praeditam“!) und: „Disquisitio analytico-geometrica de
variis speciebus linearum eurvarum singulari proprietate praeditarum“?).
In der ersten werden Kurven folgender Eigenschaft gesucht: Ist ©
ein Punkt der Normalen, 7 ein Punkt
der Tangente eines Kurvenpunktes A
und Y der Schnittpunkt von CT mit
der Kurve, so sol AT=arce AY sein. x
Setzt man AC=1, und nimmt AC als r %
Abszissenachse, (C als Ursprung (also
0X =x, X Y=y), so wird AT=%,
2
xc
die Differentialgleichung der Kurve lautet:
A
4(z)=ds Ar C
oder Fig. 38.
dy _ ytaeVarty'—e‘
AR ix: 2(1— x) l
die sich jedoch nicht integrieren läßt, auch nicht durch Einführung
von Polarkoordinaten. Fuß nimmt nun AT als x-Achse, also
AX=xz, XY=y, zieht ferner in Y die Tangente YV, und führt
’
den _TVY=9 und den Bogen ÄY=s ein. Dann ist:
dx = ds c0S p;
dy= — ds sing;
AT=-s=- ——.
Ar;
Hieraus ergibt sich
z=?sinp+scospg; y=1-—ssinp — 008SYp;
= 1 TUE TEE
Ss ayang J de Vene.
1) A. P. 1780, II, p. 49—69. *) Ebenda, 1781, I, p. 127—146
496 . Abschnitt XXIV.
Hieraus folgt für den Krümmungsradius:
d 1
= -j;(l — Ss ctgp).
Für s wird noch folgende Reihenentwicklung angegeben:
Sr 1 1100-4) 1-3 singt 1:3...20—1 sing”
s-sinp (5 Tem ran ee.
Die zweite Abhandlung bringt eine Verallgemeinerung der vorigen
Aufgabe, insofern jetzt an Stelle der Tangente eine beliebige Gerade
aD. tritt. Es soll also (s. Fig. 39)
% arcmn= MN sein. Hierbei
wird der spezielle Fall be-
handelt, daß die Kurve durch
© gehen und in © eine ge-
gebene Neigung « gegen die
x-Achse (das Lot von ( auf
MN) haben soll. Auch hier
MY... . ;
* führt die Aufgabe auf ein In-
tegral von ähnlicher Form,
Zt wie vorher, nämlich:
A n Süsve»9;
Fig. 39. i | DENE
es wird auch hierfür eine Reihe
entwickelt, die zur Berechnung von Kurvenpunkten für Spezialwerte
von « dient. | |
In verschiedenen Aufgaben der hiermit erledigten Gruppe han-
delte es sich um Kurven, die gewisse Eigenschaften mit dem
Kreis gemein haben. Es lag nahe, eine derartige Fragestellung
noch weiter zu versuchen. Euler selbst hat dies ja für die charak-
teristischen Eigenschaften der Kegelschnitte getan (s. 8. 471), und
sich auch weiterhin mit ähnlichen Untersuchungen beschäftigt.
Schubert und namentlich Fuß sind speziell vom Kreis ausgegangen.
An derartige Fragen schlossen sich naturgemäß sonstige Aufgaben
über Krümmungsradien, und deren Beziehungen zu den
Koordinaten, zu Tangente, Bogenlänge usw. Die erste Abhand-
lung auf diesem Gebiet wurde von Euler der Petersburger Akademie vor-
gelegt am 16. Januar 1777: „Evolutio problematis, cuius solutio ana-
lytica est diffieillima, dum synthetica per se est obvia“!). Es handelt
sich darum, eine Kurve zu finden, deren Krümmungszentra alle
auf einem gegebenen Kreis vom Radius —=a liegen. Es ist
ohne weiteres klar, daß dieser Bedingung genügen:
») N. A. P. VIII, p. 73886,
Höhere ebene Kurven. 497
1) alle Kreise, deren Mittelpunkte auf dem gegebenen Kreis liegen,
also auch die Punkte dieses Kreises selbst.
2) alle Evolventen des gegebenen Kreises.
Die Abhandlung ist mehr wegen der darin angewandten Integrations-
methoden bemerkenswert, als wegen der gefundenen Kurven, die ja
nichts Neues bieten. In ersterer Beziehung handelt es sich um eine
Differentialgleichung zweiter Ordnung, wobei Integrale verschiedener
Art auftreten, darunter auch der Kreis selbst als singuläres Integral.
Von Interesse ist hier eine Bemerkung Eulers über die Unter-
suchungen von Lagrange (Nouveaux m&moires der Berliner Aka-
demie 1774) über diesen Gegenstand, an denen Euler die nötige
Klarheit vermißt: „Nullum autem est dubium, quin vir Illustrissimus
(d.h. Lagrange) mentem suam non satis exposuerit aut quasdam
rationes ad intelligendum necessarias reticuerit, quas equidem supplere
non valeo, unde uberior explicatio super hoc prineipio, in quo ll.
Auctor adeo insigne supplementum Caleuli integralis constituit, maxime
foret optanda“. Es handelt sich hier wieder hauptsächlich um
die Bedeutung der Integrationskonstante (s. 5. 479). Das jedem
Band dieser Serie von Publikationen vorausgeschickte „Extrait histo-
rique“ bemerkt dazu: „Il y a lieu de croire que M. Euler n’a pas bien
saisi lidee de M. de la Grange, aussi parait-il dispose lu m&me ä
mettre ses doutes sur le compte de quelque malentendu“.
Auf höchst merkwürdige Kurven wurde Euler geführt durch
seine Untersuchungen: „De
curvis, quarum radıi osculi
tenent rationem duplicatam
distantiae a puncto fixo,
earumque mirabilibus pro-
prietatibus“!) (20. August
1781). Die Aufgabe ist also,
eine Kurve so zu bestimmen,
daB der Krümmungs-
radıus r dem Quadrat
des Radiusvektor z pro-
portional ist, also r = er
Daß der Kreis vom Radius «a
dieser Gleichung genügt, ist
ohne weiteresklar; es gibt aber
auch noch andere Kurven. Um diese zu finden, werden Polarkoordi-
Fig. 40.
) M. P. IX (1824), p. 4756.
498 Abschnitt XXIV.
naten (2, 9) eingeführt, ferner das Lot P vom Pol © auf die Tan-
gente =p, und der Winkel ÜZP des Radiusvektor gegen die Tan-
gente = % (vgl. Fig. 40). Es ist dann:
2.dz u
’m dp ’ (1)
OELL, 2
gUv TE ( )
also:
dee 5 3
nn (3)
Diyr—= rn ‚ folgt aus (1) durch Integration, wobei die Konstante
= 1 gesetzt wird: |
p = alogs, (4)
und somit ist nach (3): |
alogzdz (5)
de
ig 2y 2°” — (a? log z)?
Hieraus läßt sich ds bestimmen und integrieren; es ergibt sich
s— ap = Ve? — (alogz)’+e,
also, wenn c=( gesetzt wird (vgl. Fig. 40):
apg=AZ—PZ.
Aus der Figur folgt noch:
siny--—,
a |R8
also nach (4):
siny = = (6)
Die Integration von (5) ist nicht ausführbar, daher versucht
Euler durch eine scharfsinnige Diskussion dieser Gleichungen den
angenäherten Verlauf der Kurve herzuleiten. Zunächst ist zu be-
merken, daß sich zwei wesentlich verschiedene Fälle ergeben, je nach-
dem a größer oder kleiner als die Basis e des natürlichen Loga-
rithmensystems ist. Euler behandelt zunächst den
1) Fall: a<e.
In diesem Fall gibt es nur einen Wert von 2, der den Radi-
kanden 2? — (alogz)’ zum Verschwinden bringt; denn der Faktor
2— alogz kann in diesem Fall überhaupt nicht verschwinden. Be-
zeichnet man jenen Wert von z mit f, so ist also f+alogf=(.
Beispielsweise ist für a=1 angenähert f.= = Dieser Wert ist,
=
. 1
wie Euler bemerkt, nahezu = ——-, woraus er vermutet, daß
Vr'
; . Höhere ebene Kurven. 499
Tr der genaue Wert sei. Trägt man nun (vgl. Fig. 41) auf der
7c
Achse ein Stück OF=f ab, so wird für diesen Wert von z nach
(6) sind = — 1; die Kurve steht also auf der Achse senkrecht. Nun
schließt Euler aus (5), daß dp zunächst negativ sei, solange z<e,
da ja dann logz negativ ist. Hier liegt nun offenbar ein Versehen
vor; denn die Wurzel im Nenner hat ja ein Doppelzeichen, also muß
die Kurve zur Achse symmetrisch sein. — Euler zeigt nun, daß die
Kurve von F ab mit wachsendem z unter die Achse herunter geht,
bis für z=1 dp=0, und y=(0 wird; d.h. die Kurve berührt hier
den Radiusvektor. Für weiter wachsende 2 nimmt siny zu, erreicht
sein Maximum für 2=e, und nimmt von da an immer ab. Der
2
Krümmungsradius nimmt gemäß der Gleichung r = T mit wachsen-
dem z sehr rasch zu. Den Verlauf der Kurve für sehr große Werte
von 2 bestimmt Euler durch etwas gewagte Schlüsse dahin, daß sie
__.a(1+logk)
3 k
zu einer Geraden, die mit der Achse einen Winkel
bildet (wo %k eine sehr große Zahl ist), ähnlich verläuft, wie die
Parabel zu ihrer Achse. Vielleicht ist es richtiger, daß die Kurve
Fig. 41.
für sehr große Werte von 2 in rasch größer werdenden Spiralen um
den Pol läuft. Auf Grund dieser Überlegungen bestimmt Euler für
a=1 die Gestalt der Kurve in der durch Fig. 41 angedeuteten
Weise, wobei der von ihm nicht gezeichnete symmetrische zweite Zweig
der Kurve gestrichelt beigefügt ist.
2. Fall: a>e. Hier erhalten die Kurven eine wesentlich
andere Gestalt. Es gibt nämlich jetzt drei Werte von 2, die den
Ausdruck 2? — (a logz)? zum Verschwinden bringen: einmal den schon
im 1. Fall genannten, für den z+alogz2=0 ist, und der wieder
mit f bezeichnet wird, und dann noch zwei weitere, g und h, für
welche z— alogz=0 ist, und von denen der eine zwischen 1 und
e, der andere zwischen e und ® liegt. Die Werte g und h genügen
dabei noch der Gleichung:
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 33
500 Abschnitt XXIV.
Für Werte von z zwischen g und h wird die Kurve imaginär, ebenso
für z2<f. Die Kurve zerfällt also in zwei getrennte Zweige, von
denen der eine außerhalb des Kreises mit Radius Ah, der andere
zwischen den Kreisen mit den Raden f und g liegt. In den Punkten,
woz=f,2=9,2=h ist, steht der Radiusvektor auf der Tangente
senkrecht; für z= 1 berührt er die Kurve.
Auf Grund ähnlicher Überlegungen wie im ersten Fall findet
Euler die in Fig. 42 angedeutete Gestalt der Kurve, wobei g= Y3
h=3YV3; a ns und f angenähert = er ist. Hierbei ist also
OF=f, Cg=(0G=g; CH=h; CE=e; OA=]1. Die Symmetrie
oN zur Achse wird diesmal berücksichtigt. Der
BR pt \ äußere Zweig verläuft ähnlich, wie die Kurve
a im 1. Fall für große Werte von 2. Die An-
N € zahl der Windungen des inneren Kurven-
zweiges hängt vom Verhältnis der X EÜg
AD ” - ir zu 360° ab. Euler bemerkt noch, daß dieser
j & Winkel um so kleiner sei, je mehr f und g
SS Y / sich dem gemeinsamen Wert 1 nähern, und
/ um so größer, je mehr sich g und h dem
N / gemeinsamen Wert e nähern, und folgert
.* B% daraus, daß für «= e, in welchem Fall auch
Fi g und A=e werden, dieser Winkel EÜg
unendlich groß werde, d. h. daß die Kurve
erst nach unendlich vielen Umdrehungen den Kreis mit Radius e er-
reiche, um dann in den äußeren Zweig überzugehen. Schließlich
macht Euler darauf aufmerksam, daß der Kreis mit Radius a, der
ja offensichtlich der Gleichung 2= — genügt, gar nicht auftritt, und
bemerkt: „istum casum quasi per divisionem e caleulo expulsum fore“.
Die hier behandelte Frage ist ein spezieller Fall eines allgemei-
neren, die Fuß untersucht in einer Arbeit vom 24. April 1788:
„Solutio problematis ex methodo tangentium inversa“'), Fuß knüpft
hier an ein Paradoxon an, nämlich daß alle Kurven, deren Krüm-
mungsradius gleich dem Radiusvektor ist, sich rektifizieren
lassen, und daß dies für den Kreis (der doch sicher auch zu
diesen Kurven gehört), bekanntlich nicht zutrifft. Er sucht nun
zu einer Lösung dieses Paradoxons zu gelangen, indem er sich die
Aufgabe stellt, alle Kurven zu finden, deren Krümmungsradius eine
gegebene Funktion des Radiusvektor ist?).
ı) N. A. P. IV, p. 104—128. 2) Mit dieser Aufgabe hat sich auch schon
Jacopo Riccati beschäftigt. S. Loria, Spez. alg. u. transcerd. Kurven, S. 530.
Höhere ebene Kurven. 501
Der Gang der Untersuchung ist im ganzen ähnlich wie in der
Arbeit von Euler, die Bezeichnungen sind indes etwas anders ge-
wählt. Fuß führt außer Polarkoordinaten (2, ) ebenfalls das vom
Pol auf die Tangente gefällte Lot 2 und ee —=p ein. Die Funktion
von 2, die dem Krümmungsradius gleich sein soll, heißt Z. Es werden
dann, meist auf differentialgeometrischem Wege, folgende Relationen
hergeleitet:
ad2 _ — px
hr = Yı+p’ (1)
tdz |
2
wye—# a 2)
Setzt man in (2) für t seinen Wert aus (1) ein, so ist die Auf-
gabe auf die Ausführung von zwei Quadraturen zurückgeführt. Nun
werden Spezialfälle behandelt, und zwar
1) Z= nz. Die Integration wird bewerkstelligt durch Einfüh-
rung des Winkels, den die Tangente eines Kurvenpunktes mit dem
in diesem Punkt auf dem Radiusvektor errichteten Lot bildet, und
der mit 2% bezeichnet wird. Es ergibt sich dann (mit a und C als
Integrationskonstanten):
2dy
a
ac +n cos ae en 02% + 1+ncos2%?’ (3)
und für den Bogen s
£, n?a - sin 2% $ Re
9° 7 —ndA Encon2y) 4 (9 +29 — 0) (4)
Aus (4) folgt, daß diese Kurven rektifizierbar sind. Das Integral
in (3) nimmt verschiedene Formen an, je nachdem n=1,n<I1,
n>1 ist, nämlich:
fürn=1
g=0—-2U +tgV,
für n<1l
Mi: 2 1—-n
ee Vin: Vizt tv],
fürrn>1
27
9— 204, 1o Via 2,
N
Bu Vi: ev
Diese Fälle werden der Reihe nach entwickelt; am interessan-
testen ist eigentlich der erste, weil hierunter auch der Kreis fällt.
Es ergibt sich eine Kurve, welche die zweite Evolvente eines
Kreises vom Radius a ist. Beschreibt man nämlich (Fig. 43)
einen Kreis mit Radius a (Mittelpunkt A), konstruiert dessen Evol-
33*
502 Abschnitt XXIV.
vente ER von E aus, trägt auf der Tangente des Anfangspunktes
ein Stück EC = 5 ab, und wickelt nun einen über die Evolvente
gespannten Faden, von ( beginnend, ab, so beschreibt das freie Ende
die gesuchte Kurve. Es ist jedoch auch hier, wie bei Euler, nicht
berücksichtigt, daß die Kurve zur Achse symmetrisch sein muß, und
daher nur der in der Fig. 43
ganz ausgezogene Teil der
Kurve angegeben. Für die
Bogenlänge s ergibt sich in
diesem Fall
1 a
— „V2a2z— a?
* (2a2 — as)’
6a?
Fig. 43. "
also ist die Kurve rektifizier-
bar. Damit kommt Fuß auf das zu Anfang erwähnte Paradoxon
zurück, daß der Kreis mit Radius =a, der doch auch zu diesen
Kurven gehört, nicht rektifizierbar ist. Die Lösung findet Fuß darin,
daß für z— «a der Ausdruck für das Linienelement die unbestimmte
0)
Form - = annımmt.
Nachdem auch noch die beiden anderen Fälle m<1,n>1)
entwickelt sind, werden die Kurven betrachtet, für welche
2)r=Z pen ist. Hier ergibt sich aus (1) mit Vernach-
lässigung der Integrationskonstante:
gaım
Zr ger‘;
und daraus
A
"Van (m — 1)
Es zeigt sich nun, daß diese Formeln für m=1 und m = 2
versagen; für m = 2 findet Fuß den Ausdruck für die Bogenlänge,
der auch bei Euler vorkommt, und bekennt: „hie subsistere sumus
eoacti“ m=3 ergibt eine gleichseitige Hyperbel. Von Interesse ist
noch die Schlußbemerkung, daß Fuß erst nachdem er seine Untersuchung
„iam ad umbilicam paene“ durchgeführt hatte, die vorher (9.497 ff.) be-
is lheirs Arbeit des schon verstorbenen Euler entdeckte (die damals
noch nicht gedruckt war), wo die Diskussion des 'schwierigsten Falles
m—=2 „per mera ratiocinia* durchgeführt sei.
Dem in den beiden letzten Arbeiten erwähnten Paradoxon be-
Höhere ebene Kurven. 503
züglich des Kreises hat Schubert eine eigene Untersuchung gewidmet:
„Solutio dubii eirca reetificationem eurvarum“!) (30. Juni 1791). Er
bemerkt einleitend, daß solche Paradoxa meist daher kommen, „quod
Analysta ad caleulum nimis attentus, minus inquisiverit, an, quae
calculo supponit, cum rei natura consentiant“, und knüpft dann an die
eben besprochene Arbeit von Fuß an. Die Untersuchung trifft aber den
eigentlichen Kern der Sache auch nicht, nämlich, daß r = const. ein
singuläres Integral der Differentialgleichung ist. Schubert bemerkt
nur, daß sich für den Kreis durch Anwendung des allgemeinen Ver-
fahrens eine identische Gleichung ergebe. Interessant ist an der
Arbeit auch eine Zwischenbemerkung; Schubert glaubt nämlich in
der Tatsache, daß sich der Bogen des Kreises durch das allgemeine
Verfahren nicht berechnen läßt, einen Beweis dafür zu finden, daß er
überhaupt nicht rektifizierbar sei, während bisher die „irrecti-
fieabilitas“ des Kreises schwerlich je streng bewiesen worden sei.
Kurz vorher (18. Oktober 1790) hatte Schubert in einer Note
(„Problemata e methodo tangentium inversa“?) sich, ausgehend von der
Eigenschaft des Kreises, daß der Krümmungsradius gleich der Nor-
malen ist, die Aufgabe gestellt, eine Kurve zu finden, für welche der
Krümmungsradius gleich der negativen Normalen ist; daß die von
ihm ermittelte Kurve die längst bekannte Kettenlinie ist, scheint ihm
dabei entgangen zu sein.
Auch Fuß hat sich später noch einmal mit derartigen Fragen
beschäftigt, und zehn Aufgaben über den Krümmungsradius, wo Be-
ee
© A au @ N
Fig. 44.
ziehungen zwischen diesem, dem Radiusvektor, der Bogenlänge usw.
gegeben sind, gelöst („Decas problematum geometricorum ex methodo
tangentium inversa, radium osculi speetantium“®?) (13. Juni 1799).
») N.A.P.IX, p. 190—204. °) Ebenda p.166—189. °)M.P.1(1809), p.88—118.
504 Abschnitt XXIV.
Dieselben lauten in den durch Fig. 44 angedeuteten Bezeichnungen
(m, n bedeuten gegebene Zahlen, a, c gegebene Strecken, R das
Krümmungszentrum):
l)s=r. 2) Aua y-
a)r—2—a. 4) =
r 1 RN:
ER er RT ER
7) +: 8) mir? +? 2.
)mr+ns = at. 10) m?s? — n?r? = c?.
Endlich gehört noch hierher eine Arbeit von Platzmann (1760 bis
1786), einem Schüler von Lexell und Adjunkt der Petersburger Aka-
demie?): „Solutio problematis ex methodo tangentium inversa“?). Hier
soll der Krümmungsradius in einem konstanten Verhältnis zur Summe
der Abszisse und Subnormale stehen, es ist also dieselbe Aufgabe, die
Fuß später in seiner Decas als Nr. 2 behandelt hat.
Eine dritte, kleinere Gruppe von Abhandlungen befaßt sich mit
Kurven, die durch irgendwelche mechanische Eigenschaften
definiert sind. Die erste dieser Arbeiten ist von Saint Jacques de
Guillaume de Silvabella (1722—1801, Direktor der Sternwarte
zu Marseille); sie handelt: „Du solide de la moindre resistance“?) und
sucht die Kurve, deren Rotationskörper bei einer Bewegung
in der Richtung der Achse im widerstehenden Mittel den
geringsten Widerstand erfährt‘) Silvabella betrachtet zuerst
den Widerstand des Rotationskörpers eines Kreisbogens, stellt die
Bedingung dafür auf, daß dieser ein Minimum wird, und leitet daraus
die Differentialgleichung der Kurve her, nämlich:
3ydady dy — ydydz — dyda=0.
Ein erstes Integral lautet, wenn = — u gesetzt wird:
x
. Beung — (1 2 u?).
Die ballistische Aufgabe, die Bahnlinie der Geschosse mit Be-
rücksichtigung des Luftwiderstandes zu finden, behandelt Jean
Charles Borda?°) (1733—1799, Ingenieur der französischen Flotte,
ı) Vesselofski, Einige Materialien zur Geschichte der Akademie der
Wissenschaften M. P. LXXIIIl, Anhang Nr. 2 (in russischer Sprache). ER
1781, II, p. 90—103. °) Mem. div. Sav. III (1760), p. 638—649. *) Loria,
Spezielle Kurven, S. 585 f. °) Hist. de l’Acad. Avec les m&moires math. et
phys. 1769, p. 247--271
Höhere ebene Kurven. 505
später Divisionschef im Marineministerium) unter der Voraus-
setzung, daß der Luftwiderstand R dem Quadrat der Geschwindigkeit
u proportional ist, also R = < . Die entstehende Differentialgleichung
dy.
lautet, wenn 2 = er ist:
‚X
adz azdz
1 ET Y = EZ .
ie ee
Um die Integration dieser Gleichungen bewerkstelligen zu können,
nimmt Borda an, daß die Dichtigkeit der Luft nicht konstant sel,
sondern eine Funktion von x sei. Durch passende Wahl derselben
werden die Gleichungen integrabel. Durchgerechnete Zahlenbeispiele
ergeben, daß die Bahn erheblich von der parabolischen abweicht
ferner, daß die wirkliche Schußweite
hinter der theoretischen zurückbleibt,
und daß sie ihr Maximum nicht
bei 45°, sondern etwa bei 30° er-
reicht.
Mit einer elastischen Kurve hat
sich Euler in einer Abhandlung: i
„De miris proprietatibus curvae elasti-
: x? dx
cae sub aequatione Yy= | ———
contentae“?) beschäftigt. Er bemerkt
einleitend, daß die Kurve periodisch
verlaufe, und beweist nun folgende merkwürdige Eigenschaften von
ihr, wobei (vgl. Fig. 45) AD (Abstand eines Maximalpunktes von der
y-Achse) = 1; ferner
CD=a;: arclA=c; CP=x; PM=y; aeCM=s
Fig. 45.
ist; nämlich:
die Normale MN=-; 1 f de
® V
is ar’
; AB-arc AO= AD. 7.
e|S
2
* r 1
Krümmungsradius = — =
2%
Bedeutet ferner //(z) die Funktion : a so zeigt sich, daß
—2
d
y = Il(x) unsere Kurve darstellt, ist ferner &(z) = er so daß
) A. P. 1782, II, p. 34—61.
506 Abschnitt XXIV.
©(&) die Bogenlänge bedeutet, sind endlich x, y, z drei Abszissen
derart, daß
9(2) = 9a) + 0(y) :
IT(e) = I(a) + II(y) + aya.
Die A. E. 1769 enthalten eine Arbeit von Lambert: „Solutio
problematis ad methodum tangentium inversam pertinentis“, über
die Verfolgungskurve, mit der Angabe, daß die Aufgabe von
Vincenzo Riecati stamme?); nach dessen Aussage sei sie ihm
(Riecati) gesprächsweise von einem „viro in rebus analytieis satis
versato“ vorgelegt worden, der aber offen zugab („ingenue aiebat“) keine
Lösung zu wissen. Lambert bemerkt dazu, daß ihm dieselbe Auf-
gabe schon lange wie ein „lusus ingenii“ in den Sinn gekommen sei.
Die Kurve muß nun
die Eigenschaft haben,
daß ein Kurvenbogen MD
in einem konstanten Ver-
hältnis steht zu dem Stück
TG, das die in seinen
Endpunkten gezogenen
Tangenten auf einer ge-
a Fig. 46. r gebenen (eraden abschnei-
den, also
areMD:TG =n:l.
Nimmt man die gegebene Gerade als «-Achse und GT als positive
Richtung derselben, und bezeichnet den / MTG mit w, so ist
ist, so ist: |
ay
user 7
und die Differentialgleichung der Kurve heißt:
d
Fr y —= yd(ctgw).
Nimmt man als Anfangspunkt den Punkt, wo die Kurventangente
auf der x-Achse senkrecht steht, und den Abschnitt dieser Tangente
als Einheit, so ergibt die Integration:
1 1 1 1
Be ng tag +)
Ist n=1,d.h. die Geschwindigkeit des Verfolgers gleich der
des Verfolgten, so versagt diese Gleichung. Ein Zurückgehen auf die
ursprüngliche Differentialgleichung ergibt in diesem Fall:
‘) Loria, Spezielle Kurven, S. 608, zeigt, daß die Aufgabe älter ist.
Höhere ebene Kurven. 507
27 = a
Eine Aufgabe verwandter Art behandelt Nieuport (Charles
Francois lePrudhomme d’Hailly, Vicomte de Nieuport, 1746
bis 1827, Malteser Ritter, von 1815 an Mitglied der 2. Kammer und
der Akademie in Brüssel) in einer vom 16. September 1777 datierten
Arbeit: „Memoire sur les courbes que decrit un corps qui s’approche
ou s’eloigne en raison donnee d’un point qui parcourt une ligne
droite“?). Es handelt sich dabei um folgendes: Ein Punkt bewegt sich mit
gegebener Geschwindigkeit
v von einem festen Punkt A
aus, ein zweiter ebenso mit
der Geschwindigkeit w von
B aus, der letztere auf
einer Geraden. Bezeichnen
C und D eine beliebige
Lage der beiden Punkte, KK D on =
so kann man die Aufgabe
stellen, die Bahnkurve des Punktes © so zu bestimmen, daß die Ent-
fernung CD der beiden Punkte eine gegebene Funktion der Koordi-
naten des Punktes C sei. Die Lösung ist folgende: Es sei (Fig. 47)
BK=z; CK=y; BD=2; are AC=s, so ist
z=2—- VCD— y; 2.
©
Daraus folgt als Differentialgleichung der Kurve
äugs d(z Te veD: — 9?) ’
wo also ÜD eine gegebene Funktion von « und y ist. Dies wird an
dem einfachsten FallOD= «a durchgeführt, wobei also die Entfernung
der beiden Punkte und das Verhältnis ihrer Geschwindigkeiten kon-
stant ıst. Ist letzteres = h, so ergibt sich:
ame + ViV ıh a ER
wo W"—1= 9 ist.
Für A=1 erhält man mit Weglassung der Integrationskon-
stanten:
ds: w
RL TEUER N Arnd Arch
rn a+ Va’—y?
") Memoires de l’Acad. Imp. de Bruxelles, T. II (1780), p. 139—151.
508 Abschnitt XXIV.
Es wird dann noch der schwierigere Fall untersucht, daß die
Geschwindigkeiten veränderlich sind. Bezeichnet man diese mit P
und @, so ist 2= F .. also wird die Differentialgleichung:
e - - de - dVODY.
| Fr Pe Bi ;
Als Beispiel dient a ve *; OD=y, wobei sich die Wurfparabel
a,
ergibt. Auf diesem Weg läßt sich auch leicht die Leibnizsche
Isochrone herleiten, indem OD=y; P=Yg; Q=Y« gesetzt wird.
Man erhält so die Neilsche Parabel.
Mit allgemeinen Traktrixkurven!) beschäftigt sich Euler in zwei
Abhandlungen aus dem Jahr 1775, „Commentatio de curvis traetorlis“,
und „De eurvis traetorlis ecompositis“.?) Die erste stellt die Differential-
gleichung für den allgemeinen Fall auf, daß der ziehende Punkt sich
auf einer beliebigen Kurve bewegt, integriert und rektifiziert sie für
den Fall, daß diese Kurve ein Kreis ist. Euler versucht auch, die
Aufgabe unter Berücksichtigung der Reibung zu lösen, mit dem Re-
sultat, daß diese Aufgabe die Kräfte der Analysis übersteige. In der
zweiten Abhandlung wird der Fall untersucht, daß mehrere Punkte
hintereinander an demselben Faden befestigt gedacht sind; doch ge-
lingt auch hier die Lösung nicht.
Endlich ist noch zu bemerken, daß Malfatti in der schon er-
wähnten Schrift: „Della curva Cassiniana“, wo alle Eigenschaften durch
synthetische Überlegungen hergeleitet werden, von der Lemniskate
die folgende nachweist: Steht eine Doppelpunktstangente vertikal, so
durchfällt ein schwerer Punkt, der im Doppelpunkt seine Bewegung
beginnt, einen Kurvenbogen und seine Sehne in der gleichen Zeit.
Als vierte Gruppe lassen sich einige Arbeiten über Trajek-
torien und Parallelkurven zusammenstellen; den ersteren sind
verschiedene Abhandlungen von Euler gewidmet, nämlich: „Conside-
rationes de traieetoriis orthogonalibus“°), „Digressio de traiecetoriis tam
orthogonalibus quam obliquangulis“*) und „Considerationes super traiec-
toriis tam rectangulis quam obliquangulis“°) (3. Juni 1775). Gerade
bei diesen Arbeiten ist wieder auf die S.479 gemachte Bemerkung
über eine gewisse Unklarheit in betreff der Integrationskonstanten
hinzuweisen. Zunächst ist stets nur von einer Trajektorie die Rede®).
Es ist nämlich fast immer angenommen, daß die Differentialgleichung der
ı) Vgl. Kästner, Gesch. d. Math. IV, 8. af. ®, N.A.P. IH, p. 3—27,
p- 28—35. 5 N.C.P. XIV (1769), p. 46—71. *, Ebenda, XVII (1772),
p. 205—248. S% N.A.P. I, p. 3—46. 6, So übrigens auch bei Klügel in
dem betr. Artikel, V, p. 92#f.
Höhere ebene Kurven. 509
Kurvenschar, deren Trajektorie gesucht wird, den Parameter noch ent-
hält; in der zweiten der oben genannten Abhandlungen sagt Euler
sogar geradezu, eine Kurvenschar könne definiert sein durch eine
Differentialgleichung mit einem Parameter. — Unter dieser Annahme
untersucht Euler die verschiedenen Fälle, die sich ergeben, je nach-
dem die Gleichung der Kurvenschar nach einer der Variabeln oder
nach dem Parameter auflösbar ist. Die Theorie selbst wird jedoch
in keinem wesentlichen Punkte weiter gefördert, nur der Satz tritt
wohl hier zum erstenmal auf, daß die Bedingung für die Orthogona-
lität zweier Kurvenscharen F(x, y, p)=0 und ®l(z, y, yJ=0O ge-
geben ist durch die Gleichung ie + ir =(); um die hier auf-
tretenden Differentialquotienten bilden zu können, sind aus den Glei-
chungen der Kurvenscharen x und y als Funktionen der Parameter p
und g auszudrücken.
Einen entschiedenen Fortschritt gegenüber diesem Standpunkt
"bedeutet die Arbeit von Trembley (1749—1811, erst Jurist, dann
Mathematiker, von 1794 an in Berlin, Mitglied der Akademie): „Ob-
servations sur le probleme des Trajectoires“.!) Hier wird die Aufgabe mit
voller Klarheit angefaßt und durchgeführt, unter Bezugnahme auf Eulers
Veröffentlichungen, die Trembley als einen „calcul assez prolixe“ be-
zeichnet. Er macht auch auf den Hauptfehler aufmerksam, nämlich auf
die falsche Auffassung des Parameters, bzw. der Integrationskonstanten,
und zeigt, wie man aus der Gleichung einer Kurvenschar F(z, y,«) = 0
mit dem Parameter « ihre Differentialgleichung findet, indem
man sie differenziert und den Parameter eliminiert, was freilich bei
der praktischen Ausführung manche Schwierigkeiten bietet. Aus der
Differentialgleichung ergibt sich dann die der Orthogonaltrajektorien,
r d ; d i ; Er
indem man er mit — er vertauscht. Die Methode wird an einigen
Beispielen durchgeführt und auf schiefwinklige Trajektorien ausgedehnt.
„De traiectoriis reciprocis tam reetangulis quam obliquangulis“ ist
der Titel einer Abhandlung von Euler in den A. P. 1782, II, p.3—33.
Die hier betrachteten Kurven sind von etwas anderer Art, als die
Isogonaltrajektorien. Es handelt sich nämlich darum, eine Kurve zu
finden, die, um eine Gerade umgeklappt und parallel mit dieser ver-
schoben, ihre ursprüngliche Lage immer unter demselben Winkel
schneidet. Euler behandelt hier die schon von Joh. Bernoulli und
von ihm selbst gelöste Aufgabe?) in allgemeiner Weise, und leitet
algebraische Kurven dieser Art her.
‘) Nouyeaux Memoires de l’Acad. de Berlin (1797), p. 36—83. ®, Siehe
Klügel, V, p. 113ff.
510 Abschnitt XXIV.
Zu den Trajektorien kann man in gewissem Sinn auch die Pa-
rallelkurven rechnen, sofern sie die ÖOrthogonaltrajektorien einer
Schar von Geraden sind. Sie entstehen bekanntlich dadurch, daß man
auf allen Normalen einer Kurve in derselben Richtung gleiche Stücke
abträgt und die Endpunkte verbindet; sie heißen auch äquidistante
Kurven. Leibniz!) hat zuerst auf sie aufmerksam gemacht; in un-
serem Zeitraum hat sich zuerst Nieuport damit beschäftigt in einem
„M&moire sur les codeveloppees des courbes“”). Er nennt sie hier „code-
veloppees“ und stellt ihre allgemeine Gleichung auf, die er dann speziell
auf die Parallelkurven der Parabel anwendet. Bemerkenswert ist, wie
er sie zu veranschaulichen sucht, nämlich durch eine Fläche, die ent-
steht, wenn man jede Parallelkurve im Abstand ce um die Strecke c
über die Koordinatenebene hebt. Es entsteht so ein „solide fort com-
plique“, nämlich, um die Sache im heutigen Sprachgebrauch auszu-
drücken, eine Regelfläche, deren Mantellinien alle die gegebene Kurve
schneiden, mit deren Ebene einen X 45° bilden und sich auf diese.
Ebene als die Normalen der Kurve projizieren. — Fast gleichzeitig
und, wie es scheint, unabhängig voneinander, haben Kästner und
Angelo Luigi Lotteri (1760—1840, Professor der Mathematik zu
Pavia) die Parallelkurven untersucht. Merkwürdig ist auch, daß beide
durch eine Aufgabe aus der Praxis darauf geführt worden sind, näm-
lich eine elliptische Mauer von überall gleicher Dieke zu konstruieren.
Kästners Arbeit „De curvis aequidistantibus“ steht in den Commen-
tationes Goettingenses 1793, Lotteris (Memorie sulle eurve parallele)
im Giornale fisico-medico de Pavia (1792). In dieser Zeitschrift findet
sich im Jahrgang 1795 ein Bericht über Kästners Arbeit, sowie
über eine frühere von Cagnazzi über denselben Gegenstand, die
schon 1789 ‚der R. Soc. delle Scienze di Napoli übergeben wurde.
Die wichtigste, von Kästner und Lotteri unabhängig gefundene
Eigenschaft bezieht sich auf die von: zwei Kurvennormalen und den
zwischen ihnen liegenden Bögen der Parallelkurven eingeschlossene
Fläche. Sie ist nämlich gleich dem Inhalt eines Trapezes, dessen
parallele Seiten gleich den beiden Parallelkurven sind, und dessen
Höhe gleich dem Abstand derselben ist; dieser Satz tritt bei Kästner
allerdings in etwas anderer Form auf. Es ist nämlich angenommen,
daß die eine der begrenzenden Normalen die x-Achse ist; ist nun
are AM =s der Bogen einer Kurve, are FH der einer Parallelen
im Abstand h, und & der Winkel der Tangente im Punkt M gegen
die x-Achse, so ist zunächst
FH= s — h(90°’ — $)}),
») Bd. II2, 8.212. 2) Mem. de l’Acad. de Bruxelles, T. 4, p. 1-16.
®) Wird Joh. Bernoulli zugeschrieben.
Höhere ebene Kurven. 511
und daraus
AFMH = hs — 4+12(%° — 8).
Es folgt dann eine ausführliche Diskussion der verschiedenen
Fälle, die auftreten, namentlich dann, wenn der Abstand der auf der kon-
kaven Seite liegenden Parallelkurve u
größer oder gleich dem Krümmungs-
radius ist; im letzteren Fall hat die I
Parallelkurve einen Rückkehrpunkt. |
Auch daß die Parallelkurven alle die-
selbe Evolute haben, wird bemerkt,
und den Schluß bilden einige Anwen-
dungen. Die Parallelkurven der
Ellipse speziell hat Prasse in
einer Schrift: „De ellipseos evoluta et aequidistantibus“ (Leipzig 1798)
behandelt.
Zum Schluß dieses Kapitels sind nun noch eine Anzahl von Ar-
beiten aufzuführen, die untereinander in keinem engeren Zusammen-
hang stehen. Wir beginnen mit einer Untersuchung von Üasali
(1721—1802; Professor in Bologna) über den Ort der Brennpunkte
einer Schar von Kegelschnitten, deren Ebenen alle durch eine ge-
gebene zur Grundkreisebene parallele Tangente gehen. Sie ist be-
titelt: „De conicarum seetionum focis“ und steht in den Comment.
Bonon. T. IV (1757). Casali findet als den gesuchten Ort eine Kurve
dritter Ordnung, die sogenannte Pteroides Torricellanea'); sie liegt in
der zur gegebenen Tangente senkrechten Meridianebene, hat die eine
der in dieser liegenden Mantellinien zur Asymptote, berührt die andere
im Berührpunkt der gegebenen Tangente, und hat einen Doppelpunkt
in dem Fußpunkt des Lotes, das von diesem Punkt auf die Achse
gefällt wird.
Aus dem Jahr 1764 ist eine Arbeit von Euler zu nennen: „De
insigni promotione methodi tangentium inversae“?). Es handelt sich
hier um eine Kurve, die zunächst durch eine diskontinuierliche Reihe
von Punkten bestimmt ist. Die Aufgabe ist nämlich, eine Kurve so
zu finden, daß die Normale eines Punktes der Ordinate des
Endpunktes dieser Normalen gleich werde. Die Herstellung einer
Differentialgleichung ist nieht ohne weiteres möglich. Zunächst wird
gezeigt, daß die Subnormalen der verschiedenen auf diese Weise ge-
4 F'
Fig. 48.
') Nach Loria (Spez. Kurven, S. 60) stammt diese Kurve jedoch nicht von
Torricelli, sondern von einem französischen Mathematiker des 17. Jahrhun-
derts, vielleicht Roberval. 2», N.C.P. X, p. 135—153.
512 Abschnitt XXIV.
wonnenen Kurvenpunkte gleich sind, daß aber das Umgekehrte nicht
gilt, d.h. daß die Kurven mit konstanter Subnormale der gestellten
Bedingung nicht entsprechen. Bezeichnet man nun diesen konstanten
Wert der Subnormalen mit {, so können die Abszissen der ein-
zelnen Punkte so ausgedrückt werden: 207 +Z, wit wdT
Funktionen von sing und cos g bedeuten; wächst also g um 2x, so
wächst x um i. Da nun ? die Subnormale bedeutet, so ist = =t3
also v-2] tda, während de = u +.dT ist. Setzt man
diesen Wert ein, so folgt: „= . - = Pag +2 [tar In ähn-
licher Weise werden dann noch andere Aufgaben dieser Art behandelt,
z.B. daß QR?— JQ? konstant sein soll; daß die Subnormalen eine
arithmetische oder geometrische Progression bilden sollen.
Eine Kurve, von der sich ebenfalls zunächst bloß diskrete Punkte
bestimmen lassen, ist y=x! Dieser hat Euler eine Abhandlung
gewidmet: „De curva hypergeometrica hac aequatione expressa:
y=1:-:2-3-4-.-2“") Die Gleichung ergibt zunächst nur Ordinaten-
werte für ganzzahlige Abszissen; für gebrochene ist sie so umzu-
formen, daß sie für beliebige Abszissen brauchbar ist, und natürlich
für ganzzahlige mit der ursprünglichen Gleichung übereinstimmt.
Hierbei ist die Bemerkung von Wert, daß mit einer beliebigen Ordi-
nate auch diejenige bekannt ist, die zu einer um 1 größeren oder
kleineren Abszisse gehört, wie ja leicht zu sehen ist. Es genügt also,
den Verlauf der Kurve im Abszissenintervall O0 bis 1 festzustellen.
Euler gibt hierfür verschiedene Entwicklungen, die zur Bestimmung
von Tangente, Normale, Krümmungsradius usw. benutzt werden. Als
Koordinaten eines Minimalpunktes ergeben sich durch ein Annähe-
rungsverfahren: x = 0,46163214471; y = 0,8856031945, wozu Euler
bemerkt, es sei nicht gelungen, irgendwelche Beziehungen dieser Werte
zu bekannten irrationalen oder transzendenten Zahlen aufzufinden.
Eine dritte Abhandlung über derartige Kurven, von denen zu-
nächst nur diskrete Punkte gegeben sind, rührt von Fontana her:
„Sopra lequazione d’una curva. Sopra la falsita di due famosi Teo-
remi, e sopra la serie armoniche a termini infinitamente piecioli“.?)
Hier interessiert uns nur der erste Teil der Abhandlung, der folgen-
der Aufgabe gewidmet ist: Auf dem einen Schenkel eines Winkels
QAB ist in B ein Lot errichtet, das die Halbierungslinie des Winkels
» N.C.P. XII (1768), p. 3—66. 2, Mem. mat. fis. Soc. Ital. (1784),
ee DR Be |
Höhere ebene Kurven. 513
in C schneidet; auf AC ist m © wieder ein Lot errichtet, das die
Halbierungslinie des Winkels Q@AC in D schneidet usf. Führt man
diese Konstruktion unendlich oft aus, so erreicht man schließlich die
Gerade AQ in einem Punkte #7. Gesucht ist nun 1. die Strecke AH,
2. die Gleichung der Kurve B, C, D...H. — Ist AD=z der Ra-
A Q
Fig. 49.
diusvektor eines beliebigen Kurvenpunktes D, und <QAD=u, so
ist für den nächsten Punkt E der Radiusvektor AE= —°
usw., SO
OB
z
daß schließlich:
AH = Im
a 6. cos = cos as cos
2 4 8 3n
F7
?
oder nach einem trigonometrischen Satze:
uU'2
Aue;
Bezeichnet man diesen Wert mit a, so ist umgekehrt die Gleichung
der Kurve:
a-sin“%
g = .
U
Zu bemerken ist noch, daß für diese Gleichung, wohl zum erstenmal,
der Ausdruck equazione polare gebraucht wird. Sonach scheint
das Wort „Polargleichung“ und damit zusammenhängend: „Polar-
koordinaten“ aus Italien zu stammen. — Die Kurve selbst liegt sym-
metrisch zur Achse AQ und besteht aus einem herzförmigen Zweig
mit der Spitze in A und unendlich vielen immer kleiner werdenden
Övalen, die AQ in A beiderseits berühren.
Zwei weitere Arbeiten Eulers beschäftigen sich mit der Be-
ziehung einer Kurve zu ihren Evoluten. In der ersten: „Demonstratio
theorematis Bernoulliani quod ex evolutione curvae euiuscunque rect-
angulae in infinitum tandem eyeloides nascantur“') wird ein Satz von
ı) N.C.P. X (1764), p. 179—198.
514 Abschnitt XXIV.
Bernoulli bewiesen, wonach ein Kurvenstück von der Amplitude
= 90° durch fortgesetzte Evolutenbildung schließlich in eine Zykloide
übergeht, und zwar zunächst durch eine Art Anschaulichkeitsbeweis,
dann in streng analytischer Form, wobei gezeigt wird, daß für die
letzte Kurve zwischen dem Bogen s und seiner Amplitude v die Be-
ziehung besteht: 2= A sinv, welche die Zykloide definiert. Die
zweite heißt: „Investigatio curvarum, quae similes sunt suis evolutis
vel primis vel secundis vel adeo ordinis euiuseunque“!) (11. Dez. 1775).
Zunächst wird eine elegante Beziehung zwischen dem Krümmungs-
radius r, der Amplitude und dem Krümmungsradius r(” der nten
Evolute hergeleitet, nämlich: 9 — a. Sollen nun zwei Kurven
7
ähnlich sein, so müssen ihre Krümmungsradien in entsprechenden
Punkten proportional sein, d.h. für unseren Fall muß »« "= (.r,
oder
sein. Die Gleichung ist leicht zu integrieren; sie liefert
r=4A-.0®,
1=yC
ist. Dieses Resultat wird auf Spezialfälle angewendet.
In den Phil. Trans. 57 (1767), p. 28—43 untersucht George
Witchell (1728—1785, Privatlehrer der Mathematik in London, von
1767 an Headmaster of the Royal Naval Academy Portsmouth) die
Frage nach dem Schatten eines Rotationsellipsoids (A general in-
vestigation of the nature of a Curve formed by the shadow of a pro-
late spheroid upon a plane standing at right angles to the axıs ‚of
the shadow). Der Verfasser glaubt, gewisse Unregelmäßigkeiten in
der Verfinsterung der Jupiterstrabanten damit erklären zu können,
daß der Jupiter keine Kugel, sondern stark abgeplattet ist. Er sucht
nun den Kernschatten dieses Planeten auf einer Ebene, die auf der
Achse dieses Schattens senkrecht steht, wobei die Aufgabe sich wesent-
lich dadurch vereinfacht, daß die Achse des Jupiter nahezu auf seiner
Bahnebene senkrecht steht, so daß die Aufgabe auf die einfachere
zurückgeführt werden kann: Gegeben eine leuchtende runde Scheibe,
und eine elliptische, die beide auf der Verbindungslinie der Mittel-
punkte senkrecht stehen; gesucht der Kernschatten der letzteren auf
einer dritten Parallelebene. Es ergibt sich eine Art Lemniskate, die
wo
» N.A.P. I, p. 75—116.
Höhere ebene Kurven. 515
entsteht, wenn man auf allen Halbmessern einer Ellipse von der
Peripherie aus gleiche Stücke abträgt.
Es folgen nun in chronologischer Ordnung wieder einige kleinere
Arbeiten von Euler. Die erste: „Problematis cuiusdam geometrieci
prorsus singularis evolutio“!) sucht eine Kurve so zu bestimmen, daß
die Normale den Winkel zwischen der Tangente und einer festen
Geraden halbiert.
Die zweite heißt: „De curvis hyperbolieis quae intra suas asym-
totas spatium finitum ineludunt“?) (13. Februar 1777). Sie geht aus
von der Bemerkung, daß keine Hyperbel von der Form 2” y” = c die
im Titel genannte Eigenschaft besitzt, und untersucht nun, ob dies
vielleicht für Kurven von der Form ax°y? +ba’y’=c der Fall sei.
Vorausgeschickt wird ein Hilfssatz aus der Theorie der bestimmten
Integrale, nämlich daß das Integral ; | Pe,
0 |
nk>(m+1)>0 ist. Dieser wird auf zwei Arten bewiesen und
bildet die Grundlage für die Herleitung folgender Resultate:
Alle hyperbolischen Kurven von der spezielleren Form:
endlich ist, wenn
axyP + bary— ce
schließen zwischen ihren Asymptoten einen endlichen Raum ein, wenn
folgende drei Bedingungen erfüllt sind: 1. a, db, c müssen alle drei
positiv sein, 2. « und ß müssen beide positiv sein, 3. « darf nicht
= ß sein.
Für Kurven von der allgemeineren Form
azy’ + bar = c
gilt dasselbe, wenn 1. a, b, c alle positiv sind, 2. wenn «, ß, y, Öö
alle positiv sind, 3. wenn von den Brüchen nn und = der eine >1,
der andere <1 ist.
Für Kurven der ersten, spezielleren Form gelingt unter den an-
gegebenen Bedingungen die Bestimmung des in Rede stehenden Flächen-
inhalts, wenn «@+ß=1; er beträgt nämlich: une
Die dritte heißt: „De insigni paradoxo, quod in analysi maximo-
rum et minimorum occurrit“®) (31. Mai 1779). Es handelt sich darum,
eine Kurve zu finden, für welche f dsYx ein Minimum wird. Die-.
selbe wird nach den Methoden der Variationsrechnung bestimmt, wo-
N. O..P. ZVI (1771), ps 140—159. 2», N; A, P. VHL p- 116—139.
s) M. P. III (1811), p. 1625. |
: CAntor, Geschichte der Mathematik IV. 34
516 Abschnitt XXIV.
bei sich das scheinbare Paradoxon herausstellt, daß es eine Kurve
gibt, für welche dieses Integral einen noch kleineren Wert annimmt.
Euler findet die Lösung darin, daß jenes Minimum nur ein relatives
sei, ebenso wie etwa ein Minimalpunkt einer Kurve nur den kleinsten
Wert gegenüber den benachbarten Ördinaten, nicht den kleinsten
Wert überhaupt bestimmt.
Die vierte ist betitelt: „Solutio problematis ob singularia caleuli
artifieia memorabilis“!) (22. März 1779). Hier ist die Aufgabe, eine
Kurve so zu bestimmen, daß das Integral über dem Produkt aus dem
Linienelement und einer beliebigen Funktion des Radiusvektor z, also
fi ds: f(z) ein Minimum oder Maximum wird. Setzt man
dv d
fe)=v 5,5 =D
so ergibt sich als Differentialgleichung:
_.. v2dp
g(1+P?)
Die „singularia artificia“ bestehen nun darin, daß die Größen
ydz — xzdy
x dz
a er
eingeführt werden, wodurch sich ergibt:
dz
zVn®v?z?—1
dp =
(n ist Integrationskonstante). Charakteristisch für Euler ist die
Schlußbemerkung, daß er nie auf diese artificia gekommen wäre, wenn
er nicht die Lösung schon auf anderem Weg gehabt hätte, nämlich
durch Einführung von Polarkoordinaten.
In einer fünften Abhandlung: „De dupliei genesi tam epieyeloidum
quam hypoeycloidum“?) beweist Euler einen von Dan. Bernoulli°)
herrührenden Satz, daß jede solche Kurve auf doppelte Art erzeugt
werden kann. Ist nämlich a der Radius des festen, b der des rollenden
. ; . a C
Kreises, so kommt, für b <a, dieselbe Kurve heraus, wenn b= —,
c
und b= >. ist, wo c eine beliebige Strecke <a ist. Ist b>a,
so wird bei innerer Berührung für b=a-+ ec dieselbe Kurve be-
schrieben, wie bei äußerer für b= c.
Über eine 1779 erschienene Schrift von Nicola Fergola
» M.P. II (1810), p. 3—9. 2, A. P. 1781, I, p. 48—39. s) Nach
Loria (Spez. Kurven, $. 483). S. dort auch näheres hierüber.
Höhere ebene Kurven. 517
(1752—1824, Professor der Mathematik an der Universität Neapel
und Gründer einer Schule von italienischen Mathematikern) kann ich
nur nach Loria!) berichten. Es findet sich dort die Notiz, daß
Fergola die schwierige Aufgabe gelöst habe, eine Kurve von der
Eigenschaft zu finden, daß das Stück ihrer Tangente zwischen zwei
festen Geraden gleich dem Krümmungsradius des Berührpunktes sei.
Eine interessante Klasse von Kurven hat Euler in einer Arbeit:
„De eurvis triangularibus“?) untersucht. Er versteht darunter Kurven
mit drei Rückkehrpunkten (vgl.
Fig. 49). Sie sind sowohl in
der Optik, wo sie als Brennlinien
auftreten, wie wegen ihrer Evol-
venten von Interesse. A, B, ©
seien die drei Spitzen; a, b, ce die
gegenüberliegenden Kurvenbögen.
Trägt man nun z. B. auf der
Tangente von A ein Stück
AF=f
ab und läßt die Tangente auf
der Kurve abrollen, bis sie in z
B berührt, so ist der die Evol- Fig. 50.
vente beschreibende Punkt in g
angekommen und es ist Bg=c+f. Kommt dieser Punkt der Reihe
nach in die Lagen H, f, G@, h, so ist leicht zu sehen, daß
CH=Bg—a=c+f-a; Af=b+CH=b+c+f-a;
BG=Af—c=b+f-a; Ch=BG+a=b+f usw.
Daraus folgt:
FFf=Gg9g=Hh=2f+b+c-—a.
Dies gilt aber für das Stück Xx jeder beliebigen Tangente, das inner-
halb der Evolvente fällt; ist nämlich S der Berührpunkt, so ist
SX=SC+CH; St-AS+AF;
also
X=S8SX+Sı=b+c+f-a+f=2f+b+ce—a.
Die Evolvente hat also die merkwürdige Eigenschaft (die
sonst nur dem Kreis zukommt), daß jede Normale eines belie-
bigen Kurvenpunktes X in ihrem zweiten Schnittpunkt x
) Niccolo Fergola & la scuola di Matematici che lo ebbe ä duce, 1904,
p- 78/4. 9 A.P. 1778..IL p: 8-80, |
34*
518 Abschnitt XXIV.
mit der Kurve wieder auf dieser senkrecht steht, und daß
Xzx konstant ist. Euler nennt deshalb diese Kurven „orbiformes“.
Um nun die Gleichung einer dreispitzigen Kurve aufzustellen,
geht Euler aus von der Gleichung einer orbiformis und nimmt eine
beliebige Normale Ff zur x-Achse; die konstante Länge Ff wird mit
2f') bezeichnet. Ist nun Mm eine beliebige zweite Normale, und sind
von M und m die Lote MM, und mm, auf Ff gefällt, ist ferner:
FM,=X; MM=YT; Fm=: mm=y;
endlich
aY u
arg
so ist zunächst P=p. Ferner läßt sich leicht zeigen, daß:
r 2f 2fp
Y-y=-——; ı- IX=
| "vie Vitr
Setzt man:
X+x=-20; Y+y=2R,
so wird
fp f
® is 4 vi+rP® 1)
f
=0+ =R— —+ 2
tum Vraree “
Da (1) und (2) sich nur durch das Vorzeiehen der Wurzel
unterscheiden, und dieser Unterschied verschwindet, sobald rational
gemacht wird, so können (1) und (2) als gleichwertig angesehen
werden. Differenziert man (1) oder (2), und setzt man dJY=pdX
und dy=pdz ein, so ergibt sich dR=pdVQ, also
R=/paQ. " | (3)
Ist also @ eine beliebige Funktion von p, für welche die Inte-
gration in (3) ausführbar wird, so stellt (1) oder (2) in Verbindung
mit (3) die Koordinaten einer orbiformis als Funktionen des Para-
meters p dar. — Um nun die Gleichung der dreispitzigen Kurve, d.h.
der Evoluten zu finden, werden die Gleichungen durch eine Hilfs-
funktion S = e* Qdp etwas vereinfacht. Man erhält nämlich aus (2):
_dS fp Be ne Be
ap 'yıyp' ? 0 Vi+r:
Da die Kurve geschlossen sein soll, x und y also keinen unend-
lichen Wert annehmen können, so darf auch $ nicht unendlich werden.
Ist also z.B. S von der Fb
_ WFAPFuPF'+a,9"
&u+rbp+bp’ +. +b,n" ’
ı) f hat also hier eine andere Bedeutung als vorher.
Höhere ebene Kurven. 519
so darf der Nenner keine reellen Linearfaktoren haben, und es muß
m<n sein. Die Aufstellung der Evolute wird nun vereinfacht durch
die Bemerkung, daß diese für alle Werte von f immer die gleiche
bleibt; man kann also f=0 setzen und erhält für die Koordinaten
(t, w) des Krümmungsmittelpunkts:
5 daS d’S
en 0 (1+P); u=8— Pop ltr)
Hieraus Zen sich für den ne n- ;(1+ + p)®.
Schließlich wird das Beispiel S = - en —-, durchgeführt, Br die Auf-
gabe gelöst, eine dreispitzige Kurve so zu bestimmen, daß die Spitzen
in drei gegebene Punkte fallen.
Zu einigen bemerkenswerten Resultaten über die Brennlinie
der Parabel gelangt Fuß in einer Publikation vom 26. Januar 1791:
„De novis quibusdam causticae parabolae proprietatibus“.') Er löst
zunächst die (schon von Joh. Bernoulli und de l’Höpital behandelte)
Aufgabe, die Brennlinien zu finden, die durch Reflexion paralleler
Strahlen an einer beliebigen Kurve entstehen. Fuß nimmt die Ab-
szissenachse senkrecht zu der gegebenen Strahlenrichtung an, führt den
Winkel p der Kurventangente gegen die Ordinate ein und findet als
Koordinaten X, Y eines Punktes der Brennlinie:
dssing- sin 2
Fr ns I
ds sing cos2
i=-ı+ yT 2dyp
Dies wird angewendet auf die Parabel „= 2px. Als Brennlinie
ergibt sich:
er 3 X 2pX
ihn)
Von dieser Kurve werden nun folgende Eigenschaften hergeleitet
SID
a
a,
a
om
Fig. 51.
' N. A. P. VII, p. 182—200.
520 Abschnitt XXIV.
die sich am kürzesten an Fig. 5l ablesen lassen (AC ist die Ab-
szisse der Punkte mit horizontaler Tangente, Al= AU = 2)
1) are AZ+ ZY=s+y=3 2?
3
2) DN—- DZ=3p»
3) IT+TZ=2arc AZ =2s.
Fuß untersucht nun, ob es noch andere Kurven gibt, denen eine
dieser drei Eigenschaften zu-
F; kommt, und findet, daß dies
nicht der Fall ist, daß also nur
die Brennlinie der Parabel diese
Eigenschaften besitzt. Dagegen
r gelingt es ihm, Kurven zu fin-
den, die durch eine Verall-
4 D gemeinerung definiert sind,
nämlich so, daB IT+-TZ ın
einem gegebenen Verhältnis zur
Bogenlänge stehen, daß also,
wenn DY eine solche Kurve
Fig. 52.
ist (Fig. 52),
AV+VY=n-are DY.
Er findet als Bogenlänge
f) gr—i
El Bey
Sr — 4?
und für den Krümmungsradius
ae
Am Er
wo A eine Integrationskonstante ist. Die Kurven sind algebraisch
und rektifizierbar.
Mit Kurven, die bei Abwicklung von Kegel und Zylinder auf-
treten, haben sich Euler und Schubert beschäftigt. Ersterer kommt
in einer Note über die Oberfläche des schiefen Kreiskegels: „De super-
ficie coni scaleni, ubi imprimis ingentes difficultates, quae in hac in-
vestigatione oceurrunt, perpenduntur“!)(12.September 1786) auch auf die
Abwicklungsfigur des Grundkreises und stellt für deren Krümmungs-
radius die Formel auf r = — “2. Hierbei ist c der Radius des
e—+bcosgp
Grundkreises, b der Abstand des Mittelpunktes von der Projektion
der Spitze auf die Grundkreisebene, » die Mantellinie eines beliebigen
ı) N. A. P. II, p. 69-89.
Höhere ebene Kurven. — Raumkurven und Flächen. 521
Punktes, p ihr Winkel (in der Abwieklungsfigur) mit der größten
Mantellinie. — Sehubert (De evolutione seetionum eylindri?), 25. Ok-
tober 1798) untersucht die Abwieklungsfigur eines ebenen Zylinder-
schnittes durch Rechnung und Konstruktion. Die Gleichung der Kurve ist:
y-atge(l— 00),
wo a der Radius des Zylinders, « die Neigung der Schnittebene gegen
die Grundkreisebene ist.
Raumkurven und Flächen.
Wie wir gesehen haben, ist für die analytische Geometrie der
Ebene in unserem Zeitraum über das Entstehen und Wachsen neuer,
fruehtbarer Gedanken und Methoden von allgemeiner Bedeutung nicht
viel zu berichten; die Mathematiker zeigen sich auf diesem Gebiet
mehr mit Einzeluntersuchungen von Kurven beschäftigt, und es tritt
namentlich die Neigung hervor, neue Kurven und Kurvengattungen
von gegebenen Eigenschaften aufzusuchen. Gerade umgekehrt ist das
Verhältnis in der analytischen Geometrie des Raumes: Hier liegen
wenig Untersuchungen über spezielle Kurven und Flächen vor, da-
gegen sind eine ganze Reihe bahnbrechender Arbeiten zu nennen, die
teils ganz allgemeine, wichtige Eigenschaften von Kurven und Flächen
behandeln, teils die Methoden und Theorien in einer Weise fördern,
daß die analytische Geometrie des Raumes sich von bescheidenen An-
fängen zu der Höhe erhob, die durch Monges Werk: „Feuilles d’Ana-
lyse appliquee ä& la G&ometrie“ bezeichnet wird. — Wir werden zu-
nächst einige Arbeiten über Raumgeometrie überhaupt, Koordinaten
usw. besprechen, hierauf die Raumkurven und abwickelbaren Flächen,
dann die krummen Flächen behandeln und schließlich über die Feuilles
d’Analyse berichten. Als eine Art Anhang werden dann noch einige
Bemerkungen über die Fortschritte der Kartographie folgen, soweit
die mathematische Seite daran in Betracht kommt.
Als einen Beweis dafür, wie ungelenk selbst bedeutende Mathe-
matiker am Anfang unseres Zeitraumes noch die räumlichen Probleme
anfaßten, führen wir einiges aus dem III. Kapitel des mehrfach er-
wähnten Werkes von Waring, „Proprietates algebraicarum curvarum“
an. Hier werden die „proprietates algebraicorum solidorum“ betrachtet.
Zunächst sei an die schon früher (3. 457) gemachte Bemerkung erinnert,
daß fast immer nur von Körpern die Rede ist, und daß die Flächen
ı) N. A. P. XIII, p. 190-204.
522 Abschnitt XXIV.
nur als Begrenzung von Körpern, nicht als selbständige Gebilde auf-
treten. Waring stellt nun die Gleichung einer Rotationsfläche auf,
indem er die Schnittkurve einer beliebigen Ebene ermittelt. Er be-
nutzt dazu (s. Fig. 53) die zur Schnittebene senkrechte Meridianebene,
ın der die kung ae Meridiankurve in rechtwinkligen Koordinaten
(AP=x, PM=y) gegeben ist.
Die Schnittebene trifft die Achse
(Abszisse) in L, die Ordinate
MP in p; in der Schnittebene
wird wieder ein rechtwinkliges
Koordinatensystem angenommen,
mit dem Ursprung ZL, der Ab-
szisse Lp=z, der Ordinate
pm=v. Die Lage der Schnitt-
ebene zur Achse ist bestimmt durch
AL=a, und das Verhältnis
Lp r “2
ip; das = s gesetzt wird.
Waring bezeichnet AL als
prima abscissa, Lp als secunda absceissa, mp als ordinata secundae
abscissae. Es ergeben sich nun leicht die Beziehungen:
Fig. 53.
| =-a+-; y + er
In Verbindung mit der Gleichung der Meridiankurve stellen diese
Gleichungen bei Waring den Rotationskörper dar. Er folgert daraus
einige Bemerkungen über die Rotationsflächen 2. Ordnung, über den
Ort der Zentra und der Brennpunkte einer Schar von Parallelschnitten.'
Die Zahl der unabhängigen Konstanten einer Fläche nt" Ordnung
wird zu ante +®_] bestimmt. Weiter folgen Sätze über
Durchmesserebenen, die denen über die Durchmesser ebener Kurven
analog sind, und es scheint, daß Waring im Besitze einer Reihe von
Sätzen über algebraische Raumkurven und Flächen war, ähnlicher
Art wie die von ihm über ebene Kurven gefundenen; er bemerkt
hierüber: „Hie adjiei possunt propositiones ad algebraica solida et
curvas duplicis curvaturae, quae consimiles sunt fere omnibus propo-
sitionibus capite primo traditis de curvis simplieis curvaturae; sed
taedet has disquisitiones ulterius promovere“. Auch mit Zentralpro-
jektion von Kurven und Körpern beschäftigt er sich, und stellt hier-
bei den Satz auf: „Nulla curva projiciet eurvas superiorum sibi ipsi
ordinum“, | |
Einen wesentlich anderen Charakter zeigt die Abhandlung von
Raumkurven und Flächen. 523
Lagrange: „Solution analytique de quelques problemes sur les pyra-
mides triangulaires“.') Der eigentliche Zweck ist, Oberfläche, Inhalt,
einbeschriebene und umbeschriebene Kugel, Schwerpunkt usw. für
ein Tetraeder durch seine sechs Kanten auszudrücken. Hierzu wird
ein rechtwinkliges Koordinatensystem so angenommen, daß eine Ecke
(S) in den Ursprung fällt, die AZ
drei anderen (M,, M,, M,)
durch ihre Koordinaten ge-
geben sind. Infolge dieser Be-
handlungsweise, die ganz sym- Da
8 D g y
metrisch und mit bewunderns-
werter Eleganz durchgeführt | I,
wird, ergeben sich eine Reihe 2
fundamentaler Sätze über [+
Punkte und Geraden im ee
Raum. Um sie kurz anführen te AN Hi
zu können, benutzen wir die
Bezeichnungen Lagranges, L ä
wobei jedoch die Striche Fig. 34.
durch Indices ersetzt sind, und
von drei durch zyklische Vertauschung sich ergebenden Formeln immer
nur eine angeschrieben wird. Es sei also (Fig. 54)
SM’=a=-2’+y’+2°
bh = %g%g + Yaya + 2925
M,M’=ca=4a,+% — 2b,.
Ferner: |
= —bi; A=bb— ab M,SM;= y,.
Dann ist:
erg . b,
SM,=Va,; M,M,=YVa; cos y = ——
V% 4,
AMSM,=-3Yya,,—b’-4}Vo;
AM,M,M,=E=4yZa«a+22B.)
Es wird nun die Gleichung der durch M,, M,, M, gelegten
Ebene hergeleitet, allerdings nicht ganz symmetrisch. Lagrange
') Nouveaux M&moires de l’Acad&mie Royale des Sciences et Belles-Lettres
& Berlin 1773, p. 149—177. Vgl. Loria in den Verhandlungen des III. Mathe-
matikerkongresses (zu Heidelberg 1904), S. 571. ?°) Das Zeichen £ bedeutet im
folgenden die Summe der drei Glieder, die durch zyklische Vertauschung der
Indices 1, 2, 3 entstehen.
524 Abschnitt XXIV.
nimmt nämlich ihre Gleichung in s, f, « als laufenden Koordinaten
in der Form an:
u=l+ms+nt,
und bestimmt die Koeffizienten !, m, n, wobei zur Abkürzung gesetzt
wird: |
NY N; M— Als Ni = Days 7 Yalısi
es wird dann:
ZE — 4. ] A
METZ NT
wobei A die (natürlich nicht in der heutigen Form geschriebene)
Determinante
%ı, Yı 2% |
Be |
|% % %
ist. Für das Lot A vom Ursprung ergibt sich:
2 A r A
VEH+ En)’ +(Z9 VZEa+2zB'
daraus der Inhalt des Tetraeders:
N ga Geht Ka
3 BB
A = Vo,0y0, +28, BB; — Ze, ßı?.
Es wird sodann die Aufgabe gelöst, das Tetraeder von größtem
Inhalt zu finden, wenn die vier Seitenflächen dem Inhalt nach ge-
geben sind. Für die folgenden Überlegungen von großer Wichtigkeit
ist die Aufgabe, die Diagonale einer dreiseitigen Doppelpyramide durch
ihre neun Kanten auszudrücken. Eine solche erhält man, wenn ein
beliebiger Punkt P (p», q, r) des Raumes mit M,, M,, M, verbunden
wird. Ist PS?=f, PM,’= 9, usw., und zur Abkürzung gesetzt:
kp, +tqay+r2,
so Ist:
,=aı+rf-—2k,
oder:
En. Ge m Beet
k, = . 2 -:
und:
hs, „Zu, „Ah
Es A ’ a A ’ a A ’
und daraus:
Af= Zu,k? + 22ß, kalz-
Dies ist eine Gleichung 2. Grades für f, wie es ja auch sein muß, da
Raumkurven und Flächen. ; 525
die beiden Pyramiden auf derselben oder auf entgegengesetzten Seiten
der gemeinsamen Grundfläche liegen können. Aus den zuletzt aufge-
stellten Gleichungen erhält man Radius und Mittelpunkt der umbe-
schriebenen Kugel, indem man f=9,= 9 9; setzt, und die zu-
gehörigen Werte von p, 9, r berechnet. Es ist in diesem Fall
a,
k, u 3.
also ergibt sich für den Radius (Vf) und die Mittelpunktskoordinaten
p, , r
(D, 9 ) _2%0’+22P,00,, an u
f Fax ; Ja USW.
In ähnlicher Weise werden Radius und Mittelpunkt der einbe-
schriebenen Kugel ermittelt, indem man zunächst die von P auf
die vier Seiten des Tetraeders gefällten Lote berechnet. Das Lot o,
auf M,SM, wird
0, = ak, ++ P, k, Pi 5m thr
Ayo, Ve,
und das Lot x auf M,M,M,;,
_A-w2+gaintr2d),
VZe+22B
Damit wird zunächst die Aufgabe gelöst, den Punkt P so zu
bestimmen, daß die vier Pyramiden, welche die Spitzen in P und die
Tetraederflächen als Grundflächen haben, in einem vorgeschriebenen
Verhältnis hinsichtlich des Inhalts stehen. Dann wird
TT
EEPTT ET Os
gesetzt, wodurch sich für den Radius (Yf) und die Mittelpunktskoor-
dinaten der einbeschriebenen Kugel die Werte ergeben:
FOR. he Buben Va, Si; Ex, Ve,
(Vo+zYa® ° * Vatzya’
o=2«4+22P.
wo
Schließlich wird noch in ähnlicher Weise der Schwerpunkt bestimmt.
Den Übergang zu den Raumkurven mag eine hervorragende Ab-
handlung von Euler bilden, die ebenfalls noch allgemeinerer Natur
und insofern von großer Bedeutung ist, als darin die Grundzüge
der allgemeinen Theorie der Raumkurven in ihrer heutigen
Gestalt entwickelt sind. Sie heißt: „Methodus facilis omnia sympto-
mata linearum curvarum non in eodem plano sitarum investigandi“.')
ı) A. P. 1782, I, p. 19-57.
526 Abschnitt XXIV. i
Euler geht hier darauf aus, die durch „figurae tantopere complicatae
et propemodum inextricabiles“ hergeleiteten Formeln auf einfacherem
Wege zu gewinnen, wobei die Hilfsmittel der sphärischen Trigono-
metrie benutzt werden. Um keine der drei Achsen zu bevorzugen,
wird die Bogenlänge s der Kurve als Parameter eingeführt und
mit 9, q, r die Ableitungen der Koordinaten nach diesem Parameter
bezeichnet, so daß:
da=pds; dy=gqds; dz=rds
ist. Es muß dann sein:
P+f+r=l; pdp+gdga+rdr=0. (1)
Ferner, wenn ds als konstant angesehen wird:
Px=dpds; dy=dqads; dz = drds.
Euler denkt sich nun (Fig. 55)
um einen Kurvenpunkt Z(z, y, 2)
eine Kugel vom Radius =1
beschrieben, die von der Tangente
in z geschnitten wird, während die
durch Z gehenden Parallelen zu
den Achsen einen Oktanten a, b, c
bestimmen. Es ist dann
co8a2=Pp;
sinaz=VYVl—-#®=Vf+r. (0)
Das sphärische Lot vonzaufbe ist
das Komplement von az, und zugleich
ii der Neigungswinkel der Tangente
BR gegen die yz-Ebene. Ferner ist
Ku nach bekannten Sätzen der Tri-
gonometrie:
sin baz = ——,
ö Vr’+a
Beh
q
cos baz = ware 8)
Es sei nun durch Z auch noch eine Parallele zur Tangente des
Nachbarpunktes gezogen, welche die Kugel in z° schneidet, dann ist
X 2Zz' der Kontingenzwinkel (im heutigen Sprachgebrauch), der
Krümmungsradius R= a und die durch den Bogen 22’ gelegte
TREE
Raumkurven und Flächen. 527
Ebene die Schmiegungsebene der Kurve. Diese Betrachtungsweise
zeigt, daß Euler das Verdienst gebührt, die sogenannte sphä-
rische Abbildung in die Mathematik eingeführt zu haben,
was gewöhnlich Gauß zugeschrieben wird. — Um nun die Neigungs-
winkel der Schmiegungsebene gegen die Koordinatenebenen zu be-
stimmen, setzt Euler az=«, so daß also a’=«+ de wird. Es
ist also nach (2):
dp
de = f 4
"yet .
Bezeichnet man <baz mit ®, so wird:
<xba’=o+ do,
also: |
- X za = do.
Nun ist:
q
tg N 7?’
also: ; }
__qdr—rdq
do — re
Ist ferner zs_L az’, so ist:
ji 2s=do-sinas; sz= de; (5)
also:
gdr— rdg,
an’ ©
ferner:
zer,
also nach (1), (5) und (6):
22? = dp?+ dq?’ + dr? (7)
und:
Hi RE MM = Ä (8)
Veap’+dg’+dr? Yid’a)’+ (d’y)’ + (d*2)
Ist ds nicht konstant, so ist: he
ds?
v2 ERDN ;
V(d?’x)? + (d’y)* + (d?2)’— (d?s)?
Euler bemerkt hierzu: „quae formula per analysin communem
demum post calculos maxime perplexos est eruta“.
Ferner folgt aus (5) und (6)
‚.__rdq— qdr
tg227s = u
Verlängert man 27’ bis zum Schnitt mit den Oktantenseiten in
528 Abschnitt XXIV. _
pP, 9, r (natürlich nicht zu verwechseln mit den Differentialquotienten
p, 9, Y), so ergibt eine einfache Rechnung:
gqdr—rdgq
Vap! + dg? + dr?’
womit der Winkel der Schmiegungsebene gegen die yz-
Ebene bestimmt ist; die beiden anderen werden hieraus durch zyk-
lische Vertauschung abgeleitet, obgleich natürlich diese Bezeich-
nung nicht auftritt. Danach wäre auch die erste klar bewußte An-
wendung dieses Verfahrens Euler zuzuschreiben. Ist ferner R der
Schnittpunkt des Krümmungsradius mit der Einheitskugel, so ist:
cos zpb =
cosaZR= dp
Vap?+dg’+dr®
Die aus dem Bisherigen sich ergebenden bemerkenswerten Sätze
der sphärischen Trigonometrie werden formuliert, und dann auf eine
zweite Art die Gleichung der Schmiegungsebene hergeleitet. Sind
nämlich «, v, w ihre Achsenabschnitte, so ist ihre Gleichung
& Yy N
ee
Auch diese Form der Ebenengleichung dürfte hier zum
erstenmal auftreten. Da in der Schmiegungsebene drei konseku-
tive Punkte liegen, so ist auch:
cstHdx | y+dy , z+d? _
ern Te
oder:
und ebenso:
dp ,dgq dr
u * v F Pr 0.
Hieraus folgt mit Einführung eines Proportionalitätsfaktors ?:
EI EC usw.,
% t
und hieraus als Gleichung der Schmiegungsebene:
z(rdgq — qdr) + y(pdr — rdp) + z(gdp + pdg)=1t,
wo t noch durch die Bedingung bestimmt wird, daß die Schmiegungs-
ebene durch einen gegebenen Kurvenpunkt geht. Daraus werden nun
wieder die schon oben gefundenen Formeln entwickelt und schließlich
die Resultate in die elegante Form gebracht:
Raumkurven und Flächen. 529
Hat man ein rechtwinkliges Parallelepipedon, dessen Kanten den
Achsen parallel sind, und sind die Kantenlängen
1. x, y, 2, so gibt die Diagonale die Richtung und Größe des
Radiusvektors an;
2. sind sie p, q, r, — die Richtung der Tangente;
3. sind sie — er. R 7 — Richtung und Größe des Krüm-
mungsradius;
; i _ _ dp— pd u ö
4. sind sie BEZ, Prmrdh 2 #— g: so steht die Diago-
nale auf der Schmiegungsebene senkrecht.
Damit sind wir nun schon auf dem Gebiet der Raumkurven
und der damit eng zusammenhängenden abwickelbaren Flächen
angelangt, ein Zusammenhang, der auch erst in unserem Zeitraum
genauer studiert und klar erkannt worden ist. Auch hier war Euler
der erste, der sich mit diesen Beziehungen beschäftigt und dabei
sogleich wichtige Resultate gefunden hat. Seine Arbeit, die sehr be-
achtenswert ist, ist betitelt: „De solidis, quorum superficiem in planum
explicare licet“.!) Zu bemerken ist hier, daß Euler zwar noch in den
Anschauungen seiner Zeit befangen erscheint, insofern er von „solidis“
spricht?), daß er aber doch den ersten Schritt zur heutigen Betrach-
tungsweise der Flächen als selbständiger Gebilde tut, indem er die
Koordinaten der Flächenpunkte als Funktionen zweier Pa-
rameter £, « darstellt, und untersucht, welchen Bedingungen diese
genügen müssen, wenn die Fläche in eine Ebene abwickelbar sein
soll. Euler geht aus von der abgewickelten Fläche, nimmt t und «
als rechtwinklige Koordinaten eines Punktes der Ebene, und be-
trachtet in dieser Ebene ein unendlich kleines rechtwinkliges Dreieck,
dessen Ecken die Koordinaten (t, u); (+ dt, u); (t, u + du) haben,
und das wegen der Abwickelbarkeit dem entspreehenden Dreieck auf
der Fläche selbst kongruent sein muß. Er bezeichnet nun die par-
tiellen Ableitungen von &, y, z nach t und u mit I, A; m, u; n, v
(also — =m; er —4 usw.). Dann sind die Koordinaten der Ecken
des entsprechenden Dreiecks auf der Fläche x, y, 2; x +1dt, y-+ mdt,
zrndt; a+Adu, y+udu, z+vdu, und aus der Kongruenz der
Dreiecke ergeben sich für 1, m, n; A, u,v die drei Bedingungs-
gleichungen:
?+m®+n-1; 2+ + VW-1]; A+mu+nv-(0.
Dies sind also die analytischen, notwendigen und hinreichen-
») N. CP. XVI. 1771, 9.8284. 2) Vgl. S. 457.
530 - . Abschnitt XXIV.
den Bedingungen der Abwickelbarkeit. Man sieht leicht, daß
Euler damit nichts anderes gezeigt hat, als daß, modern ausgedrückt,
das Linienelement der Fläche mit dem der Ebene überein-
stimmen muß. Analytisch betrachtet, handelt es sich also um die
Aufgabe, drei Funktionen von t und u so zu bestimmen, daß _ ihre
partiellen Ableitungen den aufgestellten Bedingungen genügen. Diese
werden gefunden durch eine geometrische Behandlung des Pro-
blems. Euler entwickelt nämlich die Beziehungen der abwickelbaren
Flächen zu den Raumkurven, und zeigt, daß die Tangenten einer
beliebigen Raumkurve stets eine abwickelbare Fläche be-
stimmen; die Koordinaten eines beliebigen Punktes einer solchen
werden nun folgendermaßen dargestellt (vgl. Fig. 56). AT, TU, UV
Z seien die Koordinaten t, u, v
eines Punktes Y der Raum-
kurve, $ der Schnittpunkt
seiner Tangente mit der
xy-Ebene, M der Schnitt-
punkt von SU mit der
x-Achse. Die entsprechenden
f: | Größen für einen Nachbar-
21 M _ m_„y punkt v sind mit kleinen
Buchstaben bezeichnet, so
daß z. B. At=t+dt ist,
usw. Ist ferner _MUT=|5$,
LUVS=#, und sind u=f{t)
undv =g(t) die Gleichungen
J
Ss = der Raumkurve, so ist:
me tg: Uu rn
dv = Uu ne tere
Daraus folgt für das Kurvenelement: V/v = ee Sind nun z,
y, 2 die Koordinaten eines beliebigen Punktes Z auf der Tangente Vs,
und ZV=s, so hat man:
z=t—ssnd.- sn; y=-u—s-sind-cosf; 2=V—8C08%,
wobei durch die Gleichungen
5 dt , ‚
die Winkel &£ und &® in Funktion von ? bestimmt, also die Koordi-
naten x, y, z eines Punktes einer beliebigen abwickelbaren Fläche als
|
__Polachse (axe des pöles) eines Kreisbogens; er versteht darunter
Raumkurven und Flächen. 531
Funktionen der beiden Parameter s und £ dargestellt sind. Die Be-
ziehungen zwischen den Winkeln & und # und den früher benutzten
Größen /!, m, n, A, u, v ergeben sich durch Einführung des Kontin-
genzwinkels Svs—= do, für welche Euler zunächst die Gleichung
herleitet: do® = d9? + d&sin?®. Es ist dann:
!-sino+4coso=sin&sin®; msino + ucoso — c08s$ sin®;
n»sino +vcoso = cos®#
und:
; _ ‚(dsin$sin®)| , 65% i __ d(cos# sind),
l.cosoo—A-sno= 7 ; Mesa — usina— —,, -
; dcos®#
N C0S® -—vsno = .
do
Damit sind /, m, n, A, u, v durch & und 9 ausgedrückt; es läßt sich
noch die bemerkenswerte Beziehung nachweisen:
dl dm dn
Dr green
Schließlich wird gezeigt, daß der Schatten, den ein leuchtender '
Körper von einem dunkeln erzeugt, ein solches „solidum“ darstellt,
und daraus ebenfalls die Gleichung der abwickelbaren Fläche her-
geleitet.
Ungefähr in dieselbe Zeit fällt die erste Untersuchung von
Monge über diesen Gegenstand, die sich in etwas anderer Richtung
bewegt, nämlich ein „M&moire sur les Developpees, les Rayons de
courbure et les differents genres d’inflexion des courbes ä double
courbure“, das schon im Jahre 1771 der Akademie eingereicht, aber
erst im 10. Band der Mem. div. Sav. (1785), p. 511—550, veröffentlicht
und später von Monge seinen „Feuilles d’Analyse“ als Schlußkapitel
einverleibt wurde. Schon dieses erste Werk zeigt alle Vorzüge von
Monges Darstellungsweise, vor allem eine eminente Sicherheit des
räumlichen Anschauungsvermögens; man muß geradezu sagen, daß
Monge mit bloß vorgestellten räumlichen Gebilden ebenso leicht
operiert, wie ein anderer mit gezeichneten Figuren in der Ebene.
Dazu kommt eine ungemeine Eleganz in der Beweisführung und
eine staunenswerte Gewandtheit in der analytischen Formulierung
differential-geometrischer Beziehungen. — Monge schiekt zunächst
einige Hilfsaufgaben über Punkte, Geraden und Ebenen voraus,
die er in den F. d’A. in der Einleitung behandelt, und erläutert
dann einen für das Folgende wichtigen Begriff, nämlich den der
den geometrischen Ort der Pole, d.h. der Punkte, die von allen
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV, 35
532 Abschnitt XXIV.
Punkten des Kreisbogens gleichweit entfernt sind; d. h. die Polachse
ist das im Mittelpunkt eines Kreisbogens auf seiner Ebene errichtete
Lot. Unter Benutzung dieser Bezeichnung ist also die Polachse
für ein durch drei konsekutive Punkte bestimmtes Bogenelement einer
Kurve die Schnittgerade zweier konsekutiver Normalebenen.
Die Gesamtheit aller dieser ( Geraden ergibt den Ort der Pole (surface des
_ pöles) 5) für alle 'Bogenelemente ‚der ganzen Kurve. Es ist eine abwickel-
bare Fläche und auf ihr liegen auch die sämtlichen Evoluten der Kurve;
eine solche wird von Monge in anschaulicher Weise definiert als der
Ort der Schnittpunkte konsekutiver Normalen; er zeigt, wie man zu einer
beliebigen Normale geometrisch die Nachbarnormale findet, die sie
schneidet, zu dieser ebenso eine dritte usf. Er hat also damit nicht bloß den
< Begriff der Evolute einer Raumkurveneu eingeführt, sondern auch
gezeigt, daß jede Raumkurve unendlich viele Evoluten hat,
daß alle auf der surface des pöles liegen und wie sie konstruiert
werden. — Monge zeigt dann sofort, daß der Ort der Krümmungs-
centra auch auf der Polarfläche liegt, aber, im Gegensatze zu den
ebenen Kurven, keine Evolute darstellt, außer eben bei einer solchen
Kurve. Ferner beweist er, ebenfalls rein geometrisch, den interessanten
Satz, daß die Evoluten geodätische Linien (in moderner Aus-
a, der Polarfläche sind. Monge drückt sich folgender-
maßen aus: „on aura une developpee, si, par un de ses points, on
mene une tansehte & la surface d6veloppable qui est le lieu de ses pöles,
* et si !’on plie librement sur cette surface le prolongement de cette
\
\
Ba mi
s
S
I x
x
”.
Fig. 57.
tangente“. Die Beweisführung, die auf
dem hier von Monge benutzten Ver-
fahren des „plier librement“ beruht,
ist so charakteristisch für die Ge-
wandtheit und Eleganz, mit der
Monge im Raum operiert, daß wir
wenigstens die Grundgedanken kurz
andeuten wollen: er vergleicht die
oben erwähnte Tangente mit einem
unendlich dünnen Band, das über
eine Keilkante gelegt wird, hier also
über eine der Mantellinien, längs der
zwei konsekutive Elemente der ab-
wickelbaren Fläche zusammenstoßen,
und zeigt, daß die beiden Teile
derselben AB und BC (s. Fig. 57) mit der Keilkante gleiche Winkel
!) Daher die heutige Bezeichnung: „abwickelbare Polarfläche“.
Raumkurven und Flächen. 533
machen, daß also LABO=LO BC ist. Dies trifft aber auch für
jede Evolute auf Grund der von Monge gegebenen Definition zu.
Daraus folgt dann sofort, daß ABC in eine Gerade ABC’ übergeht,
wenn die zweite Ebene um O0’ gedreht wird, bis sie mit der ersten
zusammenfällt, d.h. daß bei Abwicklung der Polarfläche in eine
Ebene die Evoluten in Gerade übergehen, daß sie also kür-
zeste Linien d: der. Polarfläche sind. Dieser geometrischen Her-
leitung folgt dann der analytische Beweis, sowie eine differential-
geometrische Herleitung der goodktistkeh Linien für beliebige
(also nicht abwickelbare Flächen), die in den Feuilles d’Analyse)
fehlt und die auf der für abwickelbare Flächen gegebenen fußt.
Monge betrachtet nämlich ein Element Mm einer geodätischen
Linie ML und legt
durch M und m Ebenen
parallel der yz-Ebene, =
welche die Tangential- A
ebenen in M und m nach
GT und gt schneiden. |@
Q und g sind die Pro- ER
jektionen von M und
m auf die zy-Ebene, | |
ferner ist
Mn | 90; QM | QM,
MN | @9;
der Winkel M’Mm ist
mit v» bezeichnet, und
es ist dann nach be-
kannten Formeln der
sphärischen Trigono-
metrie
cosv = cos Q’ Qg - cos M'MN . cosm Mn + sin M'MN sınm Mn.
Nun ist oben gezeigt worden, daß für geodätische Linien
LMmt=gmL=v+ dv
ist; die beiden Winkel v» und v»+dv sind also nur verschieden durch
die Änderung des Winkels M’MN; das Differential von cos» ist
also — (0, wenn man bei der Differentiation den _ M'MN als kon-
stant ansieht. Bildet man also das Differential unter dieser Voraus-
setzung und drückt dabei die Winkelfunktionen durch die Differentiale
35*
534 Abschnitt XXIV.
von %,y,2 aus, so erhält man die Differentialgleichung der geo-
dätischen Linien, nämlich:
ds 1 de) d@y = [ayds — °*]atz
q ?
wo ds? = da? + dy?, und wo die Differentiale von 2 vermöge der
Flächengleichung durch x, y und ihre Differentiale auszudrücken sind.
Daran schließt sich eine Anwendung auf ebene und sphärische
Kurven: für erstere ist die Polarfläche ein Zylinder, der auf der
Kurvenebene senkrecht steht, und dessen Basis die gewöhnliche
Evolute der Kurve ist; für letztere ist es ein Kegel, dessen Spitze im
Mittelpunkt der Kugel liegt. - Es folgen einige allgemeine Bemer-
kungen geometrischer Natur über abwickelbare Flächen überhaupt
und ihre Rückkehrkante, für welche Monge den Namen „ar&te de
rebroussement“ eingeführt hat. Die analytische Behandlung geht aus
von der Kurvengleichung in der Form y=g(#); 2=y(#), und es
werden nacheinander die Gleichungen der Normalebene, der abwickel-
baren Polarfläche, ihrer Rückkehrkante und einer beliebigen Evolute
aufgestellt. Dann kommen Bemerkungen über die zwei Arten von
Wendepunkten einer Raumkurve, die Monge als „points de simple
inflexion“ und „points de double inflexion“ unterscheidet. Die ersteren
sind Stellen, >wo vier konsekutive Punkte in einer Ebene liegen;
hier werden zwei konsekutive Polarachsen parallel, die Rückkehr-
kante der Polarfläche hat einen unendlichen fernen Punkt, oder, in
moderner Ausdrucksweise: die Torsion der Kurve ist=(0. Als
Bedingung für solehe Punkte findet Monge:
Letztere, die „points de double inflexion“ sind Stellen, wo.drei kon- _
sekutive Punkte in einer Geraden liegen, d. h. wo die Krümmung
der Kurve=0, und der Krümmungsrädius unendlich wird. Um
solche Punkte zu bestimmen, wird zunächst für den Krümmungs-
radius die Formel entwickelt
IR E 2 42% 2 LE
V9”’+w"?+@ u" — vg”)
Daraus ergibt sich als Bedingung für einen solchen Punkt: po —=0;
‘%”=0. Den Schluß bilden Betrachtungen über die Developpee einer
\ abwickelbaren Fläche; es ist dies_die abwickelbare Fläche, die heute
die, rektifizierende heißt. Von dieser weist Mangs folgende
Eigenschaften nach:
1. Wird die Developpee in einer Ebene sngöhäkelt so geht die
Raumkurve in eine Gerade über. Monge drückt allerdings diesen
Raumkurven und Flächen. 535
Satz etwas anders aus, er sagt nämlich: wenn eine der rektifizierenden
Ebenen mit der in ihr liegenden Kurventangente auf der Developpee
rollt, so beschreibt diese Tangente die abwickelbare Fläche, die von
den Tangenten der Raumkurve gebildet wird.
2. Jedes Element einer abwickelbaren Fläche (d. h. der Streifen
zwischen zwei konsekutiven Mantellinien) kann angesehen werden als
Flächenelement eines Kegels, dessen Spitze der Schnittpunkt der
beiden Mantellinien, und dessen Achse die zugehörige Erzeugende der
Developpee ist.
3. Ist die Developpee ein Zylinder, so haben alle Mantellinien
der abwickelbaren Fläche gleiche Neigung gegen dessen Mantellinien.
Der Zeit nach folgt nun Tinseau (Offizier im Geniekorps) mit
einer Arbeit: „Solution de quelques problemes relatifs ä la theorie des
surfaces courbes et des courbes & double courbure“!) (1774). Hier
kommt nur der zweite Teil in Betracht, wo er von Raumkurven
spricht, die Gleichung der von den Tangenten gebildeten abwickel-
baren Fläche aufstellt, und die zwei Arten von Wendepunkten, ganz
wie Monge, unterscheidet, und zwar als „points d’inflexion lineaire“
(Krümmung — 0) und „points d’inflexion plane“ (Torsion — 0) unter-
scheidet. Er stellt weiter die Gleichung der Schmiegungsebene auf,
. wobei sich, wohl zum erstenmal, der Satz findet, daß die Ortho-
gonalprojektion einer Raumkurve auf eine Ebene dann einen
Wendepunkt hat, wenn die Schmiegungsebene auf der Pro-
jektionsebene senkrecht steht. Endlich werden noch Formeln
entwickelt für die Komplanation einer abwickelbaren Fläche und für
“die Kubatur des Raums, der von ihr, der &y-Ebene und den beiden
Ebenen begrenzt wird, welche zwei beliebige Mantellinien auf die
xy-Ebene projizieren.
Eine zweite, größere Abhandlung von Monge, die nach der
ersten, vorhin erwähnten, eingereicht (1775), aber vor ihr veröffent-
licht?) wurde, heißt: „Sur les Proprietes de plusieurs genres de Sur-
faces courbes, particuliörement sur celles des Surfaces developpables,
avec une Application & la Theorie des Ombres et des P&nombres“.
Monge erwähnt darin seine eigene frühere Arbeit®), sowie diejenige
Eulers‘“) mit der Bemerkung: „je suis parvenu ä des r&sultats, qui me
semblent beaucoup plus simples“. “Die Arbeit bringt also keine wesent-
lich neuen Ergebnisse, aber eine einfachere und elegantere Her-
leitung. Zunächst wird scharf unterschieden zwischen abwickelbaren
Flächen und allgemeinen Regelflächen mit der Bemerkung, daß der
a —
‘) Mem. div. Sav. IX, 1780, p. 593—624. ?) Ebenda, p. 382 —440.
®) Siehe 8. 531 ff. *) Siehe S. 529 ff.
536 Abschnitt XXIV. |
„auteur de la coupe de pierres“ (also wohl Fr&zier) sich hierüber
nicht ganz klar sei; die abwickelbare Fläche wird definiert durch die
Eigenschaft, daß sie sich ohne Faltung und Zerreißung in eine
Ebene ausbreiten lasse, und ihre Gleichung auf drei verschiedene
Arten und in drei verschiedenen Formen hergeleitet, nämlich:
1. in endlicher Form, indem die Koordinaten eines beliebigen
Punktes auf der Tangente der Raumkurve aufgestellt werden. Hier-
bei treten zwei, die Raumkurve bestimmende, willkürliche Funktionen
auf; diese werden durch zweimaliges Differenzieren eliminiert, was die
Differentialgleichung rt — s? = 0 liefert.
2. Diese wird direkt gewonnen durch Aufstellung der Schnitt-
geraden zweier konsekutiven Tangentialebenen und Berücksichtigung
der Tatsache, daß für eine abwiekelbare Fläche, und nur für eine
solche, diese Schnittgerade dieselbe bleibt, gleichviel ob bloß x oder
bloß y sich ändert.
3. Längs eines Flächenelements (= Streifen zwischen zwei kon-
sekutiven Mantellinien) sind p und g beide konstant; wenn man
zum nächstfolgenden übergeht, so ändern sich beide gleichzeitig.
Nun kommt der in seiner Neuheit überraschende Schluß: p und q
sind also „constants ensemble et variables ensemble, donc on doit avoir
p=9(q)“, d.h. p muß Funktion von q sein (oder umgekehrt). Da-
mit ist zugleich ein erstes Integral der Differentialgleichung
rt— !=0
gefunden.
Ähnlich wie bei Euler (s. 8.531), aber weiter ausgeführt, folgt nun
eine Anwendung der Theorie der abwickelbaren Flächen auf die „ombres
et penombres“. Sind zwei Körper, ein leuchtender und ein dunkler,
gegeben, so zeigt Monge, daß die Grenze zwischen Kern- und Halb-
schatten gebildet wird von einer abwickelbaren Fläche, welche die
beiden Körper berührt; das Gleiche gilt für die Grenze von Halb-
schatten und Licht; die Rückkehrkante liegt im letzteren Fall zwischen,
im ersteren außöckäfb der beiden Körper. Es wird dann zunächst
der einfachste Fall erledigt, daß der leuchtende Körper ein Punkt ist.
Sind a, b, ce die Koordinaten a A ist z=K(zx, y) die Glei-
chung der Fläche und hieraus > ——/P, a — (, so ergibt die Glei-
chung: 2—- c= (x -a)P+(y-— er Q in Verbindung mit z=K(«, y)
durch Elimination von 2 die Horizontalprojektion der Licht- und
Schattengrenze oder der Berührkurve des von dem Punkt an die
Fläche gelegten Tangentialkegels. Damit ist zugleich die erste
Polarfläche des Punktes in bezug auf die Fläche aufgestellt, wenn-
gleich diese Bezeichnung natürlich nicht auftritt. Es wird dann noch
Raumkurven und Flächen. 537
die Gleichung des Tangentialkegels angegeben und bemerkt, daß da-
mit zugleich die Aufgabe gelöst ist, den scheinbaren Umriß der
Fläche in Zentralperspektive zu bestimmen.
Daran schließt sich die Lösung der allgemeineren Aufgaben, did
gemeinsame Developpable zweier Flächen zu finden, und durch zwei
gegebene Kurven eine abwickelbare Fläche zu legen. Monge stellt
die Tangentialebene für beide Flächen
4=K(a,y) und 3=K,(%, %)
auf, nämlich:
KK =-n@—-2)+4,Y-N)
:—- R-9 le —-2)t+%RlY—-%)- (1)
Soll nun eine Ebene beide Flächen berühren, so müssen diese beiden
Gleichungen identisch sein, d. h. es muß sein:
Pr =P; 1 =G K-ma- NR mi Mh. (2)
Eliminiert man aus diesen drei Gleichungen und einer der Gleichungen
(1) drei der Größen &,, %,, 23, Y5, so erhält man die Gleichung einer
Ebene,
und
z= Ar +Bby+(, (3)
wo die Koeffizienten A, B, C Funktionen der vierten, nicht eliminierten
Variabeln, z. B. x,, sind, die also hier als Parameter auftritt. Diffe-
renziert mau (3) nach diesem Parameter, und eliminiert ihn, so ergibt
sich die Gleichung der gemeinsamen Developpabeln; sie stellt ins-
besondere einen Kegel dar, wenn
dc
4 ‘(2) &
— I =
(5)
ist. — Im Anschluß daran werden verschiedene analytische Probleme
erledigt, deren Lösungen im vorstehenden enthalten sind, um zu zeigen,
„que l’Analyse peut tirer de tres-grand secours de la connaissance des
proprietes de l’&tendue“. Endlich folgt die Aufstellung der Diffe-
rentialgleichungen der surfaces gauches, d. h. der allge-
meinen Regelflächen, und die Lösung der Aufgabe, durch drei
gegebene Kurven eine Regelfläche zu legen.
Nur kurz erwähnen wir eine Arbeit von Euler vom 8. März 1779:
„De lineis eurvis non in eodem plano sitis quae maximi vel minimi
proprietate sunt praeditae“!). Sie enthält eine Anwendung des Metho-
dus inveniendi, d. h. der Variationsrechnung auf Raumkurven, und sucht
die Gleichungen y=f(z), 2=g(x) einer solchen so zu bestimmen,
) M.P. IV, p. 18—42.
538 Abschnitt XXIV.
daß # Vdx ein Maximum oder Minimum wird, wo V eine Funktion
von &, y, 2 und den Differentialquotienten von y und z nach & ist.
Die Auflösung ist folgende: Euler setzt zunächst
dy dp dq
ES rn ER Fi
de © 0: SB er
de rd ee
Ferner
oV oV oV 1
u
oV FIN 2 4 oV ‚
EL ET
und findet als Bedingungen:
Q_ ER ur
tan
d’R
ee 22.0
Treten nur die Differentialquotienten erster Ordnung p und p’ in
V auf, so reduzieren sich diese Gleichungen auf:
dp ‚ ap
N md; Naeh
Diese Methoden werden auf einige Beispiele angewendet.
Unter den Arbeiten, die sich auf Flächenkurven (d. h. Raum-
kurven, die auf einer gegebenen Fläche liegen) beziehen, ist die be-
deutendste die von Euler über geodätische Linien: „Accuratior evo-
lutio problematis de linea brevissima in superficie quacumque du-
cenda“!) (25. Januar 1779). Es werden keine wesentlich neuen
Resultate gefunden, da ja Euler die Aufgabe selbst schon früher ge-
löst hat (III, S. 817 ff), bemerkenswert ist aber die Herleitung der
Differentialgleichung und namentlich ihre Integration. Zunächst werden
folgende Bezeichnungen eingeführt: |
dze=fdaz+ gay; df=ada + Pdy; dg= Pdx + ydy,
so daß das Linienelement ds einer beliebigen auf der Fläche gezogenen
Kurve die Form erhält:
ds = Yda? + dy? + (fdx + gdy)',
oder, wenn dy=pdx gesetzt wird:
ı) N.A.P. XV, p. 44-54.
Raumkurven und Flächen. 539
ds=dayi+p?+(f+ gP)°.
Es soll nun das Integral
s- [deyi+p+(f+gp)
zu einem Minimum gemacht werden. Die Anwendung der von Euler in
der Methodus inveniendi aufgestellten Regeln führt auf die Differential-
gleichung dp(1+f?+9) +(g— fp)(df + pdg) =. Dies ist eine
Differentialgleichung zweiter Ordnung. Eine erste Integration leistet
Euler durch einige Substitutionen; er setzt nämlich
ED th, Msbsorauuiif: ti.
® f+gp’ f +9 hr; f k; B 1+h?
Es ergibt sich so
ds dk
It a+a)yı+ Rn?
so daß wenigstens die Variable s isoliert ist.
Es ist von Interesse, daß die hier eingeführte Größe s eine einfache
geometrische Bedeutung hat; ist nämlich « der Winkel, den eine
geodätische Linie mit den Kurven z — const. bildet, so ist s=tgw;
dieser Hinweis fehlt allerdings bei Euler, aber immerhin ist es be-
merkenswert, daß Gauß die Integration der geodätischen Linie auf
ähnliche Weise angegriffen hat!), nämlich durch Einführung des
Winkels, den sie mit den Parameterkurven bilden. — Des weiteren
ist bemerkenswert, daß Euler hier, wohl zum erstenmal, eine sym-
metrische Behandlung der drei Koordinaten eines Flächenpunktes
und einer für sie abgeleiteten Differentialgleichung unternimmt, die er
mit den Worten einleitet: „Universam hanc quaestionem 'ita tractare
mihi est visum, ut omnes formulae pari ratione tres coordinatas
%, y, 2 involvant, quo pacto speculationi potius consulatur quam
usui; hancque ob rem investigationes sequentes subjungam“. Er nimmt
nun die Differentialgleichung der Fläche ın der Form an:
pda +gdy+rd=(,
und erhält als Differentialgleichung der geodätischen Linien:
d?x(gdz — rdy) + d’y(rda — pdy) + d’z(pdy — qda) = (,
die er noch in die Form setzt:
ds gqgd’e—rd’y rd’z— pd’y pd’y—qgd’x
ds gde—rday Has pdz pday—gds
') Disquisitiones generales circa superficies curvas, Art. 18.
540 Abschnitt XXIV.
Schließlich wird die Integration für Rotationsflächen durchgeführt,
—
deren Gleichung in der Form Se +f(z)=(0 angenommen wird,
so dß p=x, q=y wird, woraus durch eine erste Integration mit
der Konstanten A folgt:
Ads = xdy — yda.
Durch Einführung von Polarkoordinaten in der xy- Ebene
(e=v:0089 Yy=vsinp)
folgt:
r? v2
Bl an ’
wo r eine Funktion von v ist, de den Meridian der Rotationsfläche
bestimmt.
Es wird dem Ruhm und den Verdiensten von Gauß keinen Ein-
trag tun, wenn wir hier darauf hinweisen, daß verschiedene der
Gedanken und Methoden, von denen er in den „Disquisitiones
generales“ mit so glänzendem Erfolg Gebrauch macht, sich
(allerdings zum Teil in spezieller Form, oder nicht ausdrücklich for-
muliert) schon bei Euler finden, z. B. die sphärische Ab-
bildung (8. 527), die Darstellung der Flächen in Parameter-
form (8. 529), die Übereinstimmung des Linienelements als
Bedingung für die Abwickelbarkeit (8. 530) und endlich
die Behandlung der Differentialgleichung der geodätischen Linien
mit Hilfe des Winkels, den sie mit einer auf der Fläche be-
findlichen Kurvenschar bilden (8. 559).')
Die im vorigen Kapitel besprochenen Arbeiten Eulers über die
Rektifikation von Kurven stehen in gewissem Zusammenhang mit
Untersuchungen über rektifizierbare Kurven auf Flächen, sofern
er auch hier die S.480 angegebene Methode anwendet.) Für die
erste der hierher gehörigen Abhandlungen trifft dies allerdings nicht
zu, wohl aber für die übrigen. Jene handelt: „De curva rectificabili
in superficie sphaerica“?), bringt aber keine vollständige Lösung der
Aufgabe, sondern leitet nur für das Bogenelement den Ausdruck her:
a wo r der sphärische Krümmungsradius, s der Bogen der Evo-
lute ist. Die zweite Abhandlung heißt: „De lineis rectificabilibus in
superficie sphaeroidiea quacunque geometrice ducendis“*) (4. Juli 1776).
Es sollen also hier auf einem Rotationsellipsoid rektifizierbare Kurven
gefunden werden. Der Weg zur Lösung ist der, daß in der xy-Ebene
!) Vgl. auch Euler, Opera posthuma I, p. 491—496, und Lagrange,
Oeuvres XIV, p. 217, 221. S. Stäckel in Biblioth. Mathem. (3) II (1901), p. 123.
®) Stäckel, Leipziger Berichte 1902, p. 102. s, N.C.P. XV (1770), p. 196 .
bis 216. *#, N. A. P. IH, p. 57—68.
Raumkurven und Flächen. 541
nach dem angegebenen Verfahren eine rektifizierbare Kurve bestimmt,
und der Bogen der gesuchten Flächenkurve der z-Koordinate propor-
tional gesetzt wird, also:
s=n2 ds=n-da.
Bezeichnet man das Bogenelement der Kurve in der xy-Ebene mit
do, so daß:
do’= da? + dy?
ist, so ist:
ds?
mn?’
d?—= de? +dy+d?=do’+
oder:
BT ey T,
Rn
Zi ,ym—1i.
os"
Die Gleichungen der Kurve in der xy-Ebene sind nun nach
S. 480:
de: . : a ;
TR er Pa ee
und der Bogen 6 ist dann:
dv
6= dp + vdp.
Ist nun die Gleichung des Ellipsoids:
2=-e21- ?-M)=e 1 (5) |;
so hat man nach den vorangehenden Gleichungen:
+ vdp = eVı ZEN En ('ym-1.
Um diese Gleichung integrabel zu machen, setzt Euler:
v=cos(/p + «),
wobei sich für A die Bedingung ergibt:
1—14?
I, ee -- 1)
und die Horizontalprojektion der gesuchten Kurve die Form erhält:
z=—c089:-cos(Ap+e)—Asinpsin(Ap-+ «),
y= sinp-cos(Ap+ea)—Acospsin(Ap-+ «);
für A ist hierbei noch der aus der vorangehenden Gleichung sich er-
gebende Wert einzusetzen. Da über c keinerlei Voraussetzung ge-
542 Abschnitt XXIV.
macht ist, so gelten die Resultate für jedes Rotationsellipsoid, also
auch für die Kugel, sowie für das Rotationshyperboloid.
In einer dritten Arbeit: „De curvis rectificabilibus in superficie
coni reeti ducendis“!) leitet Euler rektifizierbare Kurven auf dem
Rotationskegel her; die Höhe ist = a, der Grundkreisradius = b, die
Mantellinie =c, und rektifizierbare Kurven lassen sich nur finden,
wenn c:b ein rationales Verhältnis ist, Der Gang der Lösung ist
ganz analog wie im vorigen Fall, nur ist der dort mit @ bezeichnete
Hilfswinkel hier =% gesetzt. 6 bedeutet eine beliebige Funktion
d
’ d»
suchten Kurve:
von 9; 2° ist mit n bezeichnet; dann sind die Gleichungen der ge-
C FR 5; i
ah 0 ee
b sinn sinn ’ sinn
für die Bogenlänge s ergibt sich
ar)
Mit verschiedenen sphärischen Kurven haben sich Lexell,
Schubert und Fuß beschäftigt. Ersterer behandelt sphärische Epi-
zykloiden in einer Abhandlung: „De epicyeloidibus in superficie sphae-
rica descriptis“?), ermittelt ihre Gleichung, die sphärische Tangente,
das Bogenelement und den sphärischen Krümmungsradius. Schuberts
Note: „De eurva loxodromica“?) (14. August 1786) löst die Aufgabe,
den loxodromischen Winkel für die Loxodrome zu finden, die zwei durch
ihre sphärischen Koordinaten gegebene Punkte verbindet; sie hat
mehr vom Standpunkt der Nautik Interesse. Fuß endlich untersucht,
wohl zum erstenmal, die sphärischen Kegelschnitte in einer
vom 25. Oktober 1787 datierten Abhandlung: „De proprietatibus quibus-
dam ellipseos in superficie sphaerica descriptae“‘) Es wird der
Ort der Punkte Y gesucht,
für welche die Summe der
sphärischen Entfernungen von
zwei festen Punkten A und B
' konstant ist. Zu diesem Zweck
B wird von Y das sphärische Lot
A YX auf AB gefällt, und mit
Fig. 59. | y bezeichnet, AX ist =z,
Ab=2a AY+BY=2ec ge-
8
2) A. P. 1781, I, p. 60-73. 2) Ebenda, 1779, 1.p.49-11. ®9)N.A.P.
IV, p. 95—101. #) Ebenda, III, p. 90—99, vgl. auch S. 387.
Raumkurven und Flächen. 543
setzt. Hierauf werden mit Hilfe sphärischer Dreiecke die Beziehungen
hergeleitet:
won sin € C08 €
y Veos ce? sin a? + cos ©?(cos a? — cos c?)
’ cos @® — cos c?) (cos ©? — cos €
ea \ )
Veos e? sin a? + cos x?(cos a? — cos c?)
Als „proprietas maxime memorabilis“ hebt Fuß hervor, daß für
c= 90° die sphärische Ellipse ein Großkreis wird, gleichviel, wie
die Brennpunkte A und B liegen. Er berechnet sodann die beiden
Halbachsen; die eine ist natürlich = c, für die andere, die mit g be-
zeichnet ist, ergibt sich: |
Vsin e®— sin a?
ig.9 Ir c08 C
(Daß diese Gleichung sich auf die einfache Form bringen läßt:
und daß hiernach c die Hypotenuse eines sphärischen rechtwinkligen
Dreiecks mit den Katheten a und b ist, wird nicht bemerkt.) Durch
Einführung von 9 nimmt die Kurvengleichung die Form an:
tg y= . Vsin & — sin @?.
Ferner wird von der sphärischen Ellipse bewiesen, daß die Brenn-
strahlen AY und BY mit der Kurventangente in Y gleiche Winkel
machen, und schließlich gezeigt, daß die Projektion der sphärischen
Ellipse auf die zu ihrem Mittelpunkt als Pol gehörige Äquatorebene
eine Ellipse ist, daß aber die Brennpunkte derselben nicht die Pro-
'jektionen der Brennpunkte der sphärischen Ellipse sind.
Als letzte Abhandlung über Raumkurven ist endlich zu nennen:
„Kästner, Cylindrorum rectorum se decussantium sectiones ad geo-
metriam fornicum relatae“.') Es handelt sich also um die Durch-
dringung zweier Kreiszylinder, wie sie in der Architektur bei der
Durchkreuzung zweier zylindrischen Gewölbe auftritt. Hier wird nur
der Fall erörtert, daß die Achsen der beiden Zylinder sich schneiden.
Ist ihr Winkel = 2«, sind die Radien der Zylinder « und b, und
nimmt man die Halbierungslinien des Winkels 2« und seines Neben-
winkels als Koordinatenachsen, so ist die Gleichung der Projektion
der Schnittkurve auf die Ebene der Achsen: xy = , also eine
') Comment. Goetting. X (1791), p. 30—54.
544 Abschnitt XXIV.
gleichseitige Hyperbel, woraus sich leicht die Gleichungen der Schnitt-
kurve selbst herleiten lassen.
Wir verlassen nun die Raumkurven und wenden uns zu den
krummen Flächen, dem Gebiet, in welches die hervorragendsten
Leistungen unserer Periode fallen. Gleich bei den Arbeiten allge-
meinerer Natur haben wir von zwei der schönsten Entdeckungen zu
berichten; wir meinen die bekannten Sätze von Euler und Meusnier
über die Krümmung der Oberflächen, und diesen werden sich nachher
bei der Besprechung der Feuilles d’Analyse noch weitere anreihen,
Vorher müssen wir jedoch noch einmal auf die schon früher (8. 535)
erwähnte Arbeit von Tinseau: „Solution de quelques problemes ete.“
zurückkommen, da sie einige interessante Bemerkungen auch über
Flächen enthält. Tinseau stellt zunächst die Gleichung der Tangen-
tialebene in einem Flächenpunkt «, y, z auf mit =, y, © als laufen-
den Koordinaten, und zwar in der eigentümlichen Form:
dz d
(2 — a)dy (7) de + (y— y)dx En dy— (2 — o)dady—=(,
wobei die Klammern nach der damals üblichen Schreibweise eine par-
tielle Differentiation andeuten. Diese Gleichung wird nun sofort um-
gedeutet, indem den Koordinaten =, p, ® feste Werte a, b, c erteilt
werden. Sie stellt dann zusammen mit der Flächengleichung die Be-
rührungskurve des vom Punkt a, b, c an die Fläche gelegten Tan-
gentialkegels dar. Es liegt also ein ganz ähnlicher Gedankengang
vor, wie bei Monge (s. 8.537), für den aber Tinseau die Priorität
gebührt, da seine Arbeit zeitlich vorangeht. — Die Gleichung des
Berührungskegels selbst wird gewonnen, indem man z, y, z aus den
Gleichungen der Berührkurve und den beiden Gleichungen einer durch
den Punkt (a, b, c) gehenden Geraden eliminiert. Tinseau macht
auf die Bedeutung dieser Überlegungen für die Perspektive aufmerk-
sam, gibt auch einen einfachen Beweis für den Satz vom Fluchtpunkt,
daß die Horizontalprojektionen einer Schar von parallelen Geraden sich
in einem Punkte schneiden, und bemerkt dazu: „Voiei une demon-
stration bien simple de ce prineipe, dont les auteurs de perspective ont
jusqwici cherch6 la preuve, les uns dans la metaphysique, les autres
dans des eonsiderations sur Vinfini“ — Diese Betrachtungen werden
ebenso wie für den Kegel, auch für den Zylinder angestellt. Außer-
dem hat Tinseau in dieser Arbeit bewiesen, daß zwischen den
Neigungswinkeln «, ß, y einer Ebene gegen die Koordinatenebenen die
Beziehung besteht:
cos «+ cos BP? + cos y’=1,
») Die letzte Bemerkung Tinseaus ist übrigens unrichtig. Vgl. S. 585,
Fußnote.
Raumkurven und Flächen. 545
und daraus den bemerkenswerten Satz hergeleitet, daß das Quadrat
eines ebenen Flächenstücks gleich der Summe der Quadrate
seiner Projektionen auf drei zueinander senkrechte Ebenen
ist; auf die Analogie dieses Satzes mit dem pythagoreischen Lehr-
satz wird ausdrücklich hingewiesen. Der Rest handelt von einigen
speziellen Regelflächen, und wird weiter unten, wo wir über die Einzel-
untersuchungen berichten, nochmals zu erwähnen sein.
Eulers berühmter Satz über die Krümmungsradien der Nor-
malsehnitte einer Fläche steht in seinen „Recherches sur la cour-
bure des surfaces“.!) Die Untersuchung ist durch ziemlich umständ-
liche Rechnungen geführt, von denen wir nur die Hauptresultate
angeben. Euler betrachtet die Schnittkurve der Fläche mit einer
beliebigen Ebene z=ay— ßx-+y, und findet für den Krümmungs-
radius o dieser Kurve den Ausdruck:
? _ [et +ß—2ag+2Pp+(er + 9’ +P’+ @]"
le —D’r+Pß+Dtr2e— DP+tpslu °
wo p, 9, r, s, t die bekannten Differentialquotienten sind, und zur
Abkürzung vi+pP+4q4 — u gesetzt ist. Hieraus wird nun der
Krümmungsradius r (natürlich nicht zu verwechseln mit dem
Differentialquotienten r) eines beliebigen Normalschnitts herge-
leitet, und zu diesem Zweck der Neigungswinkel 9 der Schnittebene
gegen die «y-Ebene, und der Winkel &, den ihre Spur in dieser
Ebene mit der x-Achse macht, eingeführt. Es ergibt sich dann ein
ziemlich komplizierter Ausdruck; mit Hilfe desselben werden zunächst
die Krümmungsradien der Schnittebene, welche durch die z- Koordinate
geht, und der zu ihr senkrechten Ebene berechnet, die Euler als
„sections prineipales“ bezeichnet. Nun wird der Winkel p eingeführt,
den die Ebene des beliebigen Normalschnritts mit der eines der Haupt-
schnitte bildet. Hierdurch ergibt sich:
et
rP—gtgy-W’+tga+ptgp-wW’+2s(p—gtgp u (a+ptgp-W’
also ein Ausdruck von der Form:
l
ZL+Meos2p + N sin2p’
wo L, M, N Funktionen der Differentialquotienten p, q, r, s, t sind,
die sich leicht angeben lassen. Aus dem letzten Ausdruck folgert
nun Euler die wichtigen Sätze:
1. Die Krümmung zweier Flächenelemente stimmt überein, wenn
Vz
r
') Hist. de l’Acad. Royale d. Sciences et Belles-Lettres ä& Berlin 1760,
p. 119143.
546 Abschnitt XXIV.
L, M, N für beide denselben Wert haben, oder durch Veränderung
des Winkels p (d.h. durch Drehung des Elements um seine Normale)
ineinander übergeführt werden können.
2. Kennt man drei Werte von r, so kann man L, M, N, und
damit alle übrigen bestimmen.
3. r nimmt einen größten oder kleinsten Wert an, wenn
2:
tg 29 = — Mm
ist. Diese extremen Werte (d. h. die Hauptkrüämmungsradien im heu-
tigen Sprachgebrauch) werden mit f und g bezeichnet.
4. Die Richtungen, in welche diese beiden extremen Werte fallen,
stehen aufeinander senkrecht.
5. Für den Fall, daß einer von den extremen Werten von r in
z 1
die durch = 0 bestimmte Ebene fällt, ist r = tg A
6. Kennt man f und g, so kennt man alle Werte von r; stimmen
also die Hauptkrümmungsradien für zwei Flächenelemente überein, so
haben diese dieselbe Krümmung („on peut prononcer hardiment, que
ces deux el&ments sont doues de la m&me courbure“‘).
. ie 1 z
7. Die Eulersche Formel: Führt maninr = RS ee die
Werte f und g ein, so ergibt sich:
BE 2/9
f+g9+(f—g) c0829Y
Nur in dieser Form, nicht in der jetzt gebräuchlichen:
1 c0o8Yp? sing?
(fr a PT )
tritt die Gleichung bei Euler auf. Den Schluß bildet eine auf obiger
Formel beruhende geometrische Konstruktion des Flächenelements,
wobei noch bemerkt wird, daß r=(0 und r= oo nicht als extreme
Werte gelten können.
Neben dieser Arbeit steht ebenbürtig die von Meusnier über
die Krümmungsradien schiefer Sehnitte, die merkwürdigerweise die
einzige mathematische Publikation irn Mannes geblieben ist.
Jean Baptiste Marie Charles Meusnier, geb. 1754, war
Oberstleutnant im Geniekorps der französischen Armee, bald darauf
Divisionskommandeur und Mitglied der Pariser Akademie. Er fand
den Heldentod bei der Verteidigung von Mainz gegen die belagernden
Preußen, wo er schwer verwundet wurde und bald darauf starb (1793).
Den schönen Satz, der heute noch seinen Namen trägt, hat er schon
mit 22 Jahren entdeckt, und in einem „M&moire sur la courbure des
Raumkurven und Flächen. 547
surfaces“!) im Jahr 1776 der Akademie vorgelegt. Es enthält neben
dem sogenannten Meusnierschen Theorem noch die Entdeckung einer
fundamentalen Eigenschaft der Minimalflächen, nämlich, daß
ihre Hauptkrümmungsradien überall gleich und entgegengesetzt sind,
sowie die ersten speziellen Minimalflächen. Auch der glückliche
Gedanke, eine Fläche in der Umgebung eines ihrer Punkte zu ersetzen
durch eine Annäherungsfläche 2. Grades (jetzt Schmiegungspara-
boloid genannt), taucht in dieser Arbeit zum erstenmal auf. Meusnier
beginnt nämlich seine Untersuchung eines Flächenelementes damit,
daß er die Flächengleichung auf ein Koordinatensystem (u, v, £) be-
zieht, dessen uv-Ebene die Tangentialebene und dessen t-Achse die
Normale des betr. Punktes ist. Dann gibt es eine Fläche von der
Form: t= een ” welche dieselbe Krümmung hat, wie. das
Flächenelement. Wird nun das Koordinatensystem um einen Winkel
Par bestimmt ist, um die Normale gedreht, so
nimmt die Gleichung der Annäherungsfläcke die Form an:
2t= Auw’+ Bv’?’, wo w und v’ die neuen Koordinaten sind und A
und BD von c, e, f und dem Winkel p abhängen. Damit beweist nun
Meusnier folgenden Satz:
Jedes Flächenelement kann angesehen werden als er-
zeugt durch Rotation eines Kreises um eine zur Tangential-
ebene des Elementes parallele Achse. Ist r der Radius des
Kreises, og der Abstand der Rotationsachse von der Tangentialebene,
so sind r und g durch die Gleichungen bestimmt:
1 _ec+ftVe-NHt4E 1_c+FVe-NFtie
p, der durch tgyp =
r @ 2
Meusnier wählt das obere Vorzeichen, und er nennt r und o
die „rayons decourbure“ des Flächen- ‚2
\
elementes. Es ist dies wohl das erste
Vorkommen dieses Ausdrucks in
der Flächentheorie; ih Eülers Ab-
handlung?) findet er sich noch nicht. L
Daran schließt Meusnier zwei wich- 2 ae
tige Folgerungen, die sich durch
Berechnung des Krümmungsradius eines
schiefen Schnittes ergeben. Als al“ ü
Achsen des Koordinatensystems (Fig. 60)
nimmt er die Flächennormale AD,
und die Richtungen AG und AL, in welche ‚die „rayons de
Fig. 60.
') Mem. div. Sav. 1785, p. 477—510. e Siehe S. 545.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 36
548 Abschnitt XXIV.
courbure“ r und o fallen. Ist nun AQ die Schnittgerade einer belie-
bigen, durch A gehenden Schnittebene mit der xy-Ebene, ® ihr
Neigungswinkel gegen dieselbe, <@AQ=x, so erhält man für den
Krümmungsradius R dieses Schnittes:
ER rosino Fer 2resino
Da on TTS ER eye (1)
Setzt man » = 90°, so ergibt sich der Krümmungsradius R’ eines
Normalschnittes, nämlich:
wa 2ro
re enrtr (2)
Der Vergleich dieser Gleichung mit der Eulerschen Formel
(8.546) zeigt, daß r und o nichts anderes sind, als die von Euler
berechneten extremen Werte der Krümmungsradien der Nor-
malschnitte. Das ist die erste der beiden Folgerungen. Die zweite
ist das aus (1) und (2) sich sofort ergebende Meusniersche Theorem:
R=FRsino, (3)
das Meusnier in folgende geometrische Form kleidet:
„Si l’on eoupe un elöment de surface par un plan qui lui soit
perpendieulaire, qu’on imagine une sphere qui lui soit tangente, et
dont le rayon soit egal au rayon de courbure de la section, dont
nous venons de parler, qu’on fasse par linterseetion du plan coupant
avec le plan tangent un autre plan quelconque, il fera, dans la sphere,
et dans l’elöment de surface des sections d’egale courbure.“
Mit Zugrundelegung der Formel (2) wird nun die Art der Wöl-
bung des Flächenelementes, und ihre Abhängigkeit vom Vorzeichen
der Radien r und oe diskutiert, die Richtung bestimmt, für welche R
unendlich groß wird, und der Spezialfall, daß » oder g unendlich
wird, erörtert. Sodann wird auf ein beliebiges Koordinatensystem
übergegangen, und die Größen c, e, f, und damit auch die Haupt-
krümmungsradien durch die partiellen Ableitungen erster und zweiter
Ordnung von z nach x und y ausgedrückt. Es folgt noch eine An-
wendung auf Rotationsflächen, und die Bestimmung der Flächen, für
welche r—= eo ist, was natürlich auf die Kugel führt.
Der oben (8.547) aufgestellte Satz über die Erzeugung eines
Flächenelementes durch Rotation eines Kreises wird nun angewendet,
um die wichtigste Eigenschaft der Minimalflächen. herzuleiten, näm-
lich, dd r+o=0 ist. Meusnier berechnet unter Zugrunde-
legung dieser Erzeugungsweise den Inhalt eines Flächenstückchens
von gegebener Begrenzung, und stellt die Bedingung dafür auf, daß
dieser ein Minimum wird.
Raumkurven und Flächen. 549
Er verfährt dabei folgendermaßen: Das Flächenelement entstehe
durch Rotation eines unendlich kleinen Kreisbogens AmB, dessen
Halbierungspunkt m und ‘dessen Sehne =
AB=2o ist, um eine Achse HK, TE 79
die der Sehne AB parallel ist, und ei |
von ihr den Abstand AH=a hat. |
Der Radius r des Kreisbogens ist ' |
dann der eine, der Abstand mg des
Mittelpunktes m von HK der andere
Hauptkrümmungsradius o des Ele-
mentes. Ist nun 9 der Schwerpunkt
des Bogens AmB, so muß wegen der | | |
Guldinschen Regel das Produkt
gI- AmbB
AB
ein Minimum werden. Hierfür ergibt
sich unter der Voraussetzung, daß ®
sehr klein ist, daß also:
7,5 54 K
AmB- 20 +%-
gesetzt werden kann:
N [2e = ea].
Zwischen den beiden Variabeln r und go besteht aber die leicht her-
zuleitende Beziehung:
w?
e=4ar;,'
Unter Berücksichtigung dieser Gleichung ergibt sich durch Differen-
tiation als Bedingung dafür, daß das Flächenelement ein
Minimum werden soll, r+o=(0.
Man verdankt also Meusnier den Satz, daß in jedem
Punkt einer Minimalfläche die Hauptkrümmungsradien
gleich und entgegengesetzt gerichtet sind. Auf Grund hiervon
kann die Differentialgleichung der Minimalflächen leicht auf-
gestellt werden, da ja r und o in Funktion der Differentialquotienten
P, 9, r, s, t (für die drei letzteren schreibt Meusnier: m, n, s) be-
kannt sind. Hierbei ergibt sich die bekannte Gleichung:
HM) +tl+P) —- 2pgs=0.
Meusnier bemerkt, daß man außer der Ebene noch keine Fläche
kenne, welche dieser Gleichung genüge. Er findet nun zwei partikuläre
Integrale, das eine dadurch, daß er die Gleichung zerlegt nr +1= 0
36*
550 Abschnitt XXIV.
und rg? + tp?— 2pgs = 0. Die zweite lehrt, wie Monge gezeigt hat'),
daß die Fläche erzeugt wird durch Bewegung einer Geraden parallel
der zy-Ebene. Mit Zuziehung der ersten ergibt sich die windschiefe
Schraubenfläche Ein zweites Integral findet er, indem er die Rota-
tionsflächen sucht, die zugleich Minimalflächen sind; dies führt auf
das Katenoid. Meusnier ist also auch der Entdecker der ersten
speziellen Minimalflächen.
In sehr eleganter Weise wird dann noch die Differentialgleichung
der abwickelbaren Flächen aus der Bedingung abgeleitet, daß r oder
o unendlich wird, und schließlich gezeigt, daß für alle Regelflächen,
die nicht abwickelbar sind, r und og verschiedenes Vorzeichen haben.
Damit sind die allgemeinen Untersuchungen über die Theorie
der Flächen erledigt, und wir wenden uns nun zu einer Gruppe von
Arbeiten, die sich damit befassen, die Gleichungen von Flächen
mit gegebenen Eigenschaften aufzustellen. Hierher gehören ja
eigentlich die abwickelbaren Flächen auch schon als besonderer Fall.
Zuerst steht hier Lagrange mit seinem berühmten „Essai d’une nou-
velle methode pour determiner les Maxima et les Minima des Formules
integrales indefinies“?), wo nach den Methoden der Variationsrechnung
die Differentialgleichung der Minimalflächen in der bekannten Form
aufgestellt wird: r 1 +) +t(1l+p9)—2pgs—0. Dann folgt
Euler mit einer interessanten Abhandlung: „Evolutio insignis para-
doxi eirca aequalitatem superfieierum“.?) Es handelt sich hier um die
Aufgabe, zwei Flächen zu finden, so daß die über demselben
Stück der x&y-Ebene stehenden Flächenteile gleich sind. Euler
kommt zunächst darauf zu sprechen, daß hier ein wesentlicher Unter-
schied zwischen ebenen Kurven und Flächen besteht, insofern zwei Kurven,
bei denen zu gleichen Abszissen gleiche Bögen gehören, stets kon-
gruent sind, während dies bei zwei Flächen der oben genannten Art
nicht zuzutreffen braucht. Dies ist das Paradoxon, von dem der Titel
spricht. Es läßt sich nun leicht zeigen, daß der obigen Forderung
genügt wird, wenn p?-+ g? für beide Flächen denselben Wert haben.
Daß dies für zwei verschiedene Flächen überhaupt möglich ist, zeigt
Euler an dem Beispiel der beiden Paraboloide
2 2
SEM ea
2a a
2a
Zwei Flächen dieser Art nennt er kongruent, und die Aufgabe, alle
Flächen zu finden, die einer gegebenen „kongruent“ sind, kommt dar-
auf hinaus, die Gleichung p+ g9?= f(x, y) zu integrieren, was Euler
I) Siehe S. 365. 2) Miscell. Taurin. 1760. s» N.C.P. XIV, Pars I,
769, p. 104—128.
3
a
Raumkurven und Flächen. 551
als ein „problema diffieillimum“ bezeichnet. Doch gelingt ihm die
Lösung wenigstens für die Ebene z=a+mz + ny. Hier ist also
P+g@=m?+n?. Diese Gleichung integriert Euler auf folgendem
Wege: er setzt
08.2 2 122 08, : 9-78
ri © YV m rn”, dy sın oYVm 4ın
und findet nun durch partielle Integration:
her
—cı
2 — Ym’+n?|(@ cos 0 + ysin ®) + f(@ sin @ — Y cos ®) do|-
Er macht nun folgenden Schluß, der in derselben oder in ähn-
licher Weise öfters bei ihm wiederkehrt: Soll das Integral ausführbar
sein, so muß zsin@— ycos eine Funktion von ® sein, die er mit
2 bezeichnet; so ergibt sich also die Flächengleichung durch Elimi-
nation von & aus den beiden Gleichungen:
2 — Vm® + n?| (@ -6c08@ + ysin ®) + [@do]|, 2=xsin@ —YCOSw.
Es sind dies abwickelbare Flächen, die sich als Enveloppen einer
Schar von Ebenen mit gleicher Neigung gegen die xy-Ebene er-
geben. Denselben Satz samt Umkehrung hat Monge später in der
oben (s. S.535ff.) besprochenen Arbeit bewiesen und in die Feuilles
d’Analyse aufgenommen (s. $. 563).
Mit derartigen Aufgaben hatte Euler ein bis dahin noch wenig
bearbeitetes Gebiet der Analysis, nämlich die Integration partieller
Differentialgleichungen, betreten, und es war natürlich, daß er sich
Fe pls: KinleraneRängen, deren große Wichtigkeit er wohl er-
kannte, noch weiter beschäftigte. Er formulierte das Problem allge-
meiner mit dem Titel seiner nächsten Arbeit hierüber: „De methodo
tangentium inversa ad theoriam solidorum translata“!) (2. Sept. 1776).
In der Einleitung hebt er die Bedeutung derartiger Forschungen her-
vor, und bemerkt, daß sie himmelweit (,„toto coelo“) von der Behand-
lung der Funktionen einer Variabeln verschieden seien. Er nimmt
dann gleich eine spezielle Aufgabe vor, nämlich die Flächen zu be-
stimmen, für welche das Stück ZN der Normalen zwischen Fläche
und xy-Ebene einen konstanten Wert a habe; diese Aufgabe erscheint
ihm deshalb besonders geeignet, weil hier die Resultate der analyti-
schen Lösung, die „ob novitatem“ manchem nicht ganz einwandfrei
(suspeeta) erscheinen könnten, geometrisch ohne weiteres einleuchten.
Evident ist, daß die zwei Parallelebenen zur xy-Ebene im Abstand a,
sowie die Kugeln und Rotationszylinder, die beide berühren, der For-
derung genügen. Deren analytischer Ausdruck ist:
» N. A.P. VI, p. 77-9.
552 Abschnitt XXIV.
zyl+pP+gQ=a.
Sie wird auf zwei Arten hergeleitet, zuerst geometrisch, dann analy-
tisch auf Grund der Überlegung, daß ZN konstant bleibt, sowohl
wenn x als wenn y allein variiert. Die Integration dieser Gleichung
beruht auf einem ganz ähnlichen Gedanken wie in der vorigen Arbeit.
Da nämlich:
so kann man setzen:
. Yarzi Ver:
een Er
- sin p;
setzt man diese Werte in dz2=pdx-+ gdy ein, so folgt durch teil-
weise Integration mit © als Integrationskonstante:
VER pi
Soll die rechte Seite auch integrabel sein, so muß x sin — y cos-p
eine Funktion von ® sein, also
zsımp —ycosp=®.
Damit ist die Aufgabe eigentlich gelöst; denn man braucht bloß für
® irgend eine Funktion von @ einzusetzen, so ergibt die Elimination
von p aus den beiden letzten Gleichungen eine Fläche der verlangten
Art. Der geometrische Charakter derselben wird jedoch deutlicher
durch eine Umformung der Gleichungen. Euler setzt nämlich:
Ve— 2=v; cos p | Bdp — Bsingp=1;
sin ® | Ddp+ Boosy=u,
so dab also ? als eine willkürliche Funktion von « angesehen werden
kann. Dadurch ergeben sich die Gleichungen:
z=t—vco8p y-u+tvsiny z=Va?— v.
Diese lassen eine einfache geometrische Deutung zu: sind nämlich f
und % rechtwinklige Koordinaten einer in der xy-Ebene willkürlich
gezogenen Kurve, so- entsteht die Fläche durch Bewegung eines Kreises
vom Radius a, dessen Mittelpunkt auf der Kurve fortrückt, während
seine Ebene stets normal zu der Kurve bleibt. Die Flächen sind also
die später so genannten Kanal- oder Röhrenflächen. Euler hebt
besonders hervor, daß bei derartigen Aufgaben nicht bloß willkürliche
Konstanten, sondern willkürliche Funktionen auftreten, und daß
N
Raumkurven und Flächen. 553
diese auch wirklich ganz beliebig, sogar diskontinuierlich!) an-
genommen werden können. — Auf die analytische folgt eine geo-
metrische Lösung, als einfachstes Beispiel von Flächen dieser Art
nennt Euler die Ringfläche, von der er sagt, daß sie wie eine Wurst
aussehe („fareiminis figuram mentiens“), und schlägt schließlich vor, die
hier gefundenen Flächen als „gekrümmte Zylinder“ (eylindri incurvati)
zu bezeichnen. In derselben Abhandlung wird noch eine allgemeinere
Aufgabe gelöst, nämlich daß das Stück ZN der Normalen nicht konstant,
sondern eine Funktion Z von z sein soll, so daß also die Differential-
gleichung der Fläche in diesem Fall ist:
evi+P+Q=-Z
Die Integration wird auf ganz analogem Wege bewerkstelligt und
führt auf die Gleichungen:
2d2
ee
ZZ _— 2?
z=t+v0008p9 y=u-+v-singp; o—[-
wo wieder £ eine willkürliche Funktion von « ist.
Auch die geometrische Deutung ist eine ähnliche: es ist einfach
an Stelle des Kreises eine beliebige, durch Z definierte Kurve. ge-
treten, d.h. eine Ebene, in der diese Kurve liegt, bewegt sich senk-
recht zur xy-Ebene so, daß ein in ihr fest angenommener Punkt eine
willkürliche Kurve beschreibt, und eine feste, durch diesen Punkt
gehende Gerade stets in die Normale der Kurve fällt; dann beschreibt
die in der beweglichen Ebene liegende Kurve eine Fläche der ge-
suchten Art, die man wohl als „Gesimsflächen“ bezeichnet hat. Beide
Flächenfamilien, die Kanal- und die Gesimsflächen hat Monge unter
anderen Gesichtspunkten später auch untersucht, wie wir weiter unten
sehen werden. Auch Euler hat sich noch einmal mit beiden Arten
von Flächen beschäftigt in den beiden Abhandlungen: „Investigatio
superficierum, quarum normales ad datum planum productae sint
omnes inter se aequales“?) (28. Dezember 1777) und „De corporibus
eylindrieis incurvatis“®) (21. September 1778). Was diese Neues bieten,
ist im wesentlichen der Satz, daß für beide Arten von Flächen In-
halt und Oberfläche nach der Guldinschen Regel berechnet
werden kann, und daß dies auch dann noch gilt, wenn die Leit-
kurve nicht eine ebene, sondern eine Raumkurve ist.
Ebenfalls auf eine partielle Differentialgleichung erster Ordnung
führt eine Aufgabe, die auch durch Übertragung eines Problems von
') Ob_solche zulässig seien, war eine in jener Zeit mehrfach diskutierte
Streitfrage. S. Abschn. XXVI. 2 N.A.P. X, p. 41—46. 5) Ebenda, XII,
p. 91—100. ke
554 Abschnitt XXIV.
der Ebene auf den Raum entsteht, nämlich Flächen zu finden, die
eine gegebene Schar überall rechtwinklig schneiden. Sie bildet den
Gegenstand einer Abhandlung von Euler aus seinen letzten Lebens-
jahren: „De problemate Trajectoriarum ad superficies translato“!)
(12. August 1782). Euler verfährt auch hier symmetrisch: für die
gegebene Flächenschar (secandae) sei:
pdz+gdy+rdz=0
die differenzierte Flächengleichung, für die gesuchte:
Pdx + Qdy+ Rdz =.
Dann ist die Bedingung der Orthogonalität:
pP+qgQ9+rR=(.
Daneben besteht die allgemeine Integrabilitätsbedingung:
(7-0) + (On) Hm Pi)
Nimmt man die Flächengleichungen nach z aufgelöst an, so ist die
Bedingung der Orthogonalität:
»P+gQ+1=0.
Euler behandelt nun den allgemeinen Fall derart, daß er zwei Inte-
grale, « und v, sucht, die je eine Variable nicht enthalten, so daß
also z.B. u nur x und y, v nur y und z enthält. Dann heißt z.B.
für « die Bedingungsgleichung:
ou ou
922 + PEN a=$,
die nach der gewöhnlichen Methode behandelt werden kann, sofern
auch » und q von 2 frei sind. Ist so «, und auf dieselbe Weise v
bestimmt, so genügt auch jede Gleichung von der Form
v= ®@(u)
der Differentialgleichung. Euler nennt sie das „integrale completum“;
ihre Herleitung geschieht jedoch in den meisten Beispielen, die er
gibt, mit Hilfe des S. 551 erwähnten Schlusses. So ist für die
Kugeln:
e+yP+2#—d=-0; P-Z; 94-5,
also die Differentialgleichung der gesuchten Flächen:
») M.P. VII, p. 33—60.
Raumkurven und Flächen. 555
1- PZ—-03=0.
Daneben ist:
dz = Pdx + Qdy.
Die Elimination von @ ergibt:
ydz — zdy = P(ydz — ady), -
4) Pa)
-Jr6G)
Nun muß wieder, wenn die Integration ausführbar sein soll, P Funk-
tion von S sein. Dann ist aber auch f Pd (2) eine solche, also ist
‚-G)
wo F' noch eine willkürliche Funktion ist. Damit ist das „integrale
completum“ gefunden. Diese Methoden werden noch auf verschiedene
Beispiele angewendet.
‘Nur kurz erwähnen wir hier eine Arbeit von Monge: „Sur l’ex-
pression analytique de la generation des surfaces courbes“'), da ihre
wesentlichen Resultate den Feuilles d’Analyse an verschiedenen Orten
einverleibt sind, und daher dort darüber berichtet werden wird.
Monge zeigt an einer Reihe von Beispielen, daß eine Flächengattung,
deren endliche Gleichung » willkürliehe Funktionen enthält, durch
eine partielle Differentialgleichung. n'” Ordnung definiert wird, die
sich durch sukzessive Differentiation und schließliche Elimination her-
leiten läßt.
Die Einzeluntersuchungen über Flächen bieten, wie schon
in der Einleitung zu diesem Kapitel hervorgehoben wurde, nicht ge-
rade viel Bemerkenswertes. Verschiedene befassen sich mit der Kom-
planation und Kubatur bestimmter Zylinder- und Regelflächen, andere
mit speziellen Regelflächen, wobei die Terminologie von der heute
üblichen wesentlich verschieden ist.?) Die erste Untersuchung hier-
über stammt von Braikenridge (vgl. III, S. 761): „Letter to Earl
oder
also
') Mem. de l’Acad. Roy. de Turin, 2. serie, 1. partie, 1784/85, p. 19—30.
?) Nach Klügel (III®, S. 98ff.) entsteht ein Konoid dadurch, daß eine Kurve,
deren Ördinaten beständig zunehmen, und die die Abszissenachse nicht schnei-
det, um diese Achse rotiert. Das Konoid im heutigen Sinne dagegen bezeichnet
er als Conocuneus (ib. 8. 302), das hyperbolische Paraboloid als kegelförmige Keil-
fläche. S. dagegen Tinseau, S$. 556.
556 Abschnitt XXIV.
of Marchmont concerning the section of a solid, hitherto not consi-
dered by Geometers“!) (1759). Es handelt sich um Flächen, die man
heute als Konoidflächen bezeichnet, und die Braikenridge folgender-
maßen entstehen läßt: Gegeben eine Gerade und eine Kurve (direetrix).
Eine Ebene, die beide schneidet, bewegt sich parallel mit sich selbst; die
Verbindungslinie ihrer Schnittpunkte mit der Geraden und der Kurve
beschreibt dann die Fläche. Wird diese von einer beliebigen Ebene
geschnitten, so ist die Schnittkurve im allgemeinen von einer doppelt
so hohen Ordnung, als die Direktrix. Am ausführlichsten wird der
Fall behandelt, daß auch die Direktrix eine Gerade ist, d.h. das
hyperbolische Paraboloid. Dieselbe Fläche tritt auf bei Mauduit
(Antoine Rene Mauduit, 1731—1815, Professor der Geometrie am
College de France); seine Arbeit führt den langen Titel: „Memoire sur
la cubature des corps gauches, oü l’on explique leur formation, la
maniere de les toiser sans &tre oblige de les d&composer; et les diffe-
rents proprietes de ces corps par rapport aux courbes que l’on peut
y trouver par lintersection d’un plan“?) (1763). Ein solches „corps
gauche“ ist begrenzt von den Ebenen, die die vier Seiten eines wind-
schiefen Vierecks ABCD auf eine durch eine Ecke A gehende Ebene
projizieren, ferner von dieser Ebene und endlich von einer Fläche,
die von einer Geraden beschrieben wird, welche an zwei Gegenseiten, .
z.B. AB und CD so hingleitet, daß sie beide in derselben Zeit
durchläuft. Der Inhalt des so definierten Körpers wird durch eine
Integration ermittelt, ferner die Gleichung seiner Oberfläche für den Fall
hergeleitet, daß die Projektionen von BC und AD (und damit auch die
Projektion sämtlicher Lagen der erzeugenden Geraden parallel sind. Für
diesen Fall (hyperb. Paraboloid) wird nachgewiesen — und das ist wohl
das Bemerkenswerteste an der ganzen Arbeit —, daß auf der Fläche
noch eine zweite Schar von Geraden sich befindet. Diese
Entdeckung wird also Mauduit zuzuschreiben sein. Aus der Existenz
dieser beiden Scharen von Geraden auf der Fläche zieht er dann den
merkwürdigen Schluß, daß sie „le moins ecourbe possible“ sei, d. h. daß
sie sich am meisten der Ebene nähern. Auch Tinseau untersucht
in seiner mehrfach erwähnten Arbeit im 2. Teil solche Flächen, die
durch Bewegung einer Geraden entstehen, welche, stets einer Ebene
parallel bleibend, an zwei gegebenen Kurven hingleitet. Er nennt
diese Gattung von Flächen Paralleloide. Zuerst wird der Fall
untersucht, daß die eine der Leitkurven eine auf der Richtebene senk-
rechte Gerade („Achse“) ist, d. h. das gerade Konoid, das von Tin-
») Phil. Trans., Vol. 51, P. I, p. 446—457. ?, Mem. div. Sav. IV, p. 623
bis 634.
Raumkurven und Flächen. 557
seau auch so bezeichnet wird. Von dieser Fläche weist er folgende
Eigenschaften nach:
1) Die ebenen Schnitte parallel der Achse sind bezüglich des
Inhalts proportional ihrer Entfernung von der Achse.
2) Das Volumen des von einem solehen Schnitt abgeschnittenen
Stücks des Konoids ist gleich dem halben Produkt aus der Schnitt-
fläche und ihrem Abstand von der Achse.
3) Zieht man durch den Schwerpunkt des in 2) beschriebenen
Körpers eine die Achse schneidende Gerade parallel zur Richtebene,
so wird diese vom Schwerpunkt im Verhältnis 1:2 geteilt. Weiter
ist die Rede von quadrilateres gauches, worunter wieder das hyper-
bolische Paraboloid verstanden ist, dessen Gleichung hier in der Form
auftritt Xy= zz. Von den allgemeinen „Paralleloiden“ werden dann
noch ähnliche Sätze nachgewiesen, wie vom Konoid.
Mit Schraubenflächen haben sich u. a. Fergola und Kästner
beschäftigt. Ersterer (La vera misura della volte a spira!), 1785)
hat den, übrigens schon von Euler (s. S. 553) gefundenen Satz be-
wiesen, daß die Guldinsche Regel sich auch auf Schraubenflächen
ausdehnen läßt, und in folgende Form gekleidet: Es ist Inhalt und
Oberfläche eines durch Schraubenbewegung eines beliebigen Meridians
um eine gegebene Achse erzeugten Körpers — Inhalt und Oberfläche
des Rotationskörpers, der durch Umdrehung desselben Meridians um
dieselbe Achse erzeugt wird. Kästner (Ad theoriam eochleae pertinens
observatio geometrica)?) hat darauf aufmerksam gemacht, daß die üb-
liche Ausdrucksweise, eine Schraubenfläche entstehe durch Aufwick-
lung einer schiefen Ebene auf einen Zylinder, falsch ist. Dies ist
ohne Zerreißung („elementa hiatu dirimuntur“, sagt Kästner) nicht
möglich, da ja die windschiefe Schraubenfläche nieht zu den abwickel-
baren Flächen gehört. Kästner stellt in dieser Arbeit auch die
Gleichung der Schraubenlinie auf und zeigt, daß die Schmiegungs-
ebene eines Punktes (der Ausdruck selbst kommt natürlich noch nicht
vor) stets das Lot von dem Punkt auf die Achse enthält, und daß
die Schnittgerade konsekutiver Schmiegungsebenen die Tangente der
Kurve ist.
Zu erwähnen sind noch vier kleinere Arbeiten von Fontana°). In
der ersten: „Sopra un errore che si commette da molti nell’ assegnare la
misura delli iperboloidi“*) berichtigt er einen von früheren Autoren
begangenen Fehler, indem er bemerkt, daß der Inhalt des durch
') Atti Acad. Napoli 1787. ?) Dissert. math. et phys. Altenburg. 1771,
p- 38 ff. °) Für den Bericht hierüber s. Fußnote 8. 476. *) Mem. Soe. It.,
T. II, p. 507—509 (1786): Ricerche analitiche sopra diversi soggetti, Art: III.
558 Abschnitt XXIV.
Umdrehung der Linie x” y”" = a"+” um die &-Achse erzeugten Hyper-
boloids, von 2=a bis 2—= ® nicht nur für n= 2m, sondern auch
für n> 2m unendlich ist; auf denselben Gegenstand bezieht sich die
vierte (der Zeit nach) Schrift: „Sopra i conoidi asimtotieo-iperboliei“!).
In der zweiten: „Sopra la misura d’aleuni solidi e superficie rotonde“?)
wird der folgende, von Parent”) ohne Beweis ausgesprochene Satz
nachgewiesen: Rotiert ein Kreissegment vom Zentriwinkel 90° um den
zu seiner Sehne parallelen Durchmesser, so hat der dadurch erzeugte
ringförmige Körper gleichen Inhalt und gleiche Fläche mit der den-
selben von innen berührenden Kugel. — In der dritten: „Sopra la
massa di una sfera composta di materia eterogenea, la cui densitä
varie da uno strato sferico all’ altre in ragione d’una qualunque
potenza della distanza dal centro; e sopra qualche paradosso,
che quindi deriva“*) berechnet Fontana die Masse M einer Kugel
vom Radius r, unter der Voraussetzung, daß die Dichtigkeit einer
Kugelschicht einer beliebigen Potenz n ihres Radius proportional sei.
Er findet M=- et ; ("+9 — 0*+®), wo 4 die Dichtigkeit an der
(n+3)r"t |
Oberfläche ist. Die Masse m ist endlich, logarithmisch unendlich
>
oder algebraisch unendlich, je nachdem en 3 ist. Das darf uns
nicht befremden, da für ein negatives n die Dichtigkeit in unendlicher
Nähe des Mittelpunktes unendlich groß ist. Daß nichtsdestoweniger
M für —3<n<o endlich ist, hängt damit zusammen, daß der Inhalt
einer Kugel von unendlich kleinem Radius unendlich klein von der
dritten Ordnung ist, während die Dichtigkeit unendlich groß ist von
der Ordnung —n<3. Für n=—5 hat diese unendlich kleine
Kugel endliche Masse, und es ist daher keineswegs unverständlich,
daß die ganze Masse unendlich groß ausfallen kann.
Verschiedene Arbeiten befassen sich, von praktischen Gesichts-
punkten ausgehend, mit der Ausmessung der Oberfläche und des In-
halts von Gewölben, Fässern usw., meist auf elementarem Wege. Wir
gehen hierauf nicht weiter ein, wollen jedoch als curiosa zwei Stellen
aus Kästner, „Über die Ausmessung bauchichter Körper, nebst An-
wendung auf die Visierkunst‘“?) -(1787) anführen. Er bespricht darin
ihre Entstehung durch Rotation der Kurve um eine Achse, der sie
die konkave Seite zuwendet; ist sie konvex gegen die Achse, so ent-
steht ein „negativer Bauch“; als Beispiel für ein derartiges Gebilde
!) Memorie matematiche, Pavia 1796, Mem. III. 2) Ricerche sopra di-
versi punti concernente l’analisi infinitesimale et la sua applicazione alla fisica,
Pavia 1793, Art. IV. °, Bd: 1? 8. 399, *) Memorie matematiche, Pavia
1796, Mem. I. 5) Leipziger Archiv für reine und angewandte Mathematik
1787, 8. 1-24.
Raumkurven und Flächen. 559
führt er — die Schnürbrust an. Er polemisiert dann gegen Lam-
bert, der für die Inhaltsberechnung der Fässer eine bloß angenähert
richtige Formel angebe!), und bemerkt, daß bei „unrichtiger Verwal-
tung dieses Verfahrens (d. h. der Berechnung des Faßinhalts) jeder
leidet, der nieht bloß Wassertrinker ist“.
Und nun kommen wir zu dem Werk, das unstreitig unter allen
bisher besprochenen den ersten Rang einnimmt, nämlich Monges
„Feuilles d’Analyse“. Der volle Titel lautet: Feuilles d’Analyse appliquee
ä la Geometrie & l’usage de l’Ecole Polytechnique, publiees la premiere
annee de cette Ecole (an 3 de la Republique), Paris. Das Exemplar,
nach dem ich berichte?), trägt die Zeitangabe: Thermidor, an 9, ist
also sechs Jahre später gedruckt. Wie der Titel besagt, ist das Werk
kein systematisches Lehrbuch, sondern besteht aus losen Blättern (das
mir zu Gebote stehende Exemplar ist nicht einmal paginiert), hervor-
gegangen teils aus Monges Vorlesungen an der polytechnischen
Schule, teils aus früher erschienenen Abhandlungen, die nun hier ge-
sammelt der Öffentlichkeit übergeben werden. Aber diese Blätter
enthalten eine Fülle hochbedeutsamer Gedanken und Entdeckungen
in einer geistvollen, durchweg originalen Darstellungsweise, bewun-
dernswert in erster Linie durch das phänomenale räumliche Anschau-
ungsvermögen, das dem „Vater der darstellenden Geometrie“ zu Gebote
stand; man hat den Eindruck, daß die Geraden und Ebenen, die
Kurven und Flächen, um die es sich handelt, mit geradezu greifbarer
Deutlichkeit vor Monges geistigem Auge standen; dazu kommt die
fast verblüffende Sicherheit, mit der die analytischen Hilfsmittel aus
einem vorher noch wenig bearbeiteten Gebiet, der Theorie der par-
tiellen Differentialgleichungen, auf die Raumgebilde und deren Ele-
mente angewendet werden, wobei umgekehrt jene Theorien durch
diese räumliche Interpretation eine wesentliche Förderung und Ver-
anschaulichung erfahren. Fügen wir noch hinzu die Eleganz der
Entwicklungen, die sich von umständliehen Rechnungen fast ganz
fernhalten, so haben wir wenigstens die Hauptvorzüge des hervor-
ragenden Werkes genannt. Freilich macht die oft überraschende
Originalität von Monges Gedankengang das Studium des Werks
nicht gerade leicht, aber der Leser wird durch die Früchte dieses
Studiums für die.gehabte Mühe reichlich entschädigt. — Versuchen
wir in möglichster Kürze eine Vorstellung von dem reichen Inhalt
zu geben.
Die drei ersten Nummern enthalten so ziemlich die ganze ana-
') Leipziger Archiv für reine und angewandte Mathematik, 1786, 8. 425
bis 446. ?) Aus der Bibliothek des Herrn Prof. Dr. v. Brill in Tübingen.
560 Abschnitt XXIV.
lytische Geometrie der Ebene und der Geraden im Raum
und die Lösungen aller vorkommenden Fundamentalaufgaben, also:
Ziehen von Parallelen, Fällen von Loten, Bedingungen des Senkrecht-
stehens von Geraden und Ebenen, kürzeste Entfernung zweier wind-
schiefen Geraden, Neigungswinkel gegen die Koordinatenebenen, alles
in einer, man möchte sagen, klassischen Form dargestellt, über die
man eigentlich bis heute nicht wesentlich hinausgekommen ist.
Namentlich ist hervorzuheben die Verwendung der Elimination zur
Herleitung von Schnittpunkten und Sehnittpunktsbedingungen, an
mehreren Stellen scheint es auch, als ob die Aufgaben und Methoden
der deskriptiven Geometrie von Einfluß auf die Behandlungsweise ge-
wesen wären, so namentlich bei den Aufgaben über das Fällen von
Loten auf gegebene Ebenen.
Mit Nr. 4 beginnt die Behandlung der Flächenfamilien, die
durch eine gemeinsame Eigenschaft definiert sind. Dieser Begriff ist
eigentlich erst durch Monge in die Wissenschaft eingeführt und zur
vollen Klarheit durchgearbeitet worden. Die Untersuchungen über
diese Dinge nehmen auch den größten Raum in dem ganzen Werk
ein, und bilden sozusagen dessen Grundidee, wenn man bei einem
so überreichen Inhalt überhaupt von einer solchen sprechen kann.
— Zunächst werden Tangentialebene und Normale aufgestellt, erstere
in der Weise, daß einer beliebigen durch den betreffenden Flächen-
punkt gehenden Ebene die Bedingung auferlegt wird, noch durch
jeden beliebigen Nachbarpunkt zu gehen. Nachdem so die Tangential-
ebene bestimmt ist, wird nach den in Nr. 1—3 entwickelten Methoden
leicht die Normale hergeleitet, die Monge außerdem noch durch den
Sehnitt zweier Normalebenen bekommt; letztere gewinnt er durch zwei
Kugeln mit gleichem Radius, von denen die eine ihren Mittelpunkt
in dem betreffenden Punkt, die andere in einem Nachbarpunkt hat.
Die Ebene des Schnittkreises ist dann eine Normalebene der Fläche.
Dabei wird der Übergang zum Nachbarpunkt einfach durch Diffe-
renzieren ausgeführt, ein Verfahren, das Monge im ganzen Werke
vielfach anwendet.
Daran schließt sich die Aufstellung der Gleichung der Zylinder-
flächen, und zwar wird zunächst ihre partielle Differentialgleichung
sehr einfach dadurch hergeleitet, daß man der vorher aufgestellten
Tangentialebene einer allgemeinen Fläche die Bedingung auferlegt,
einer gegebenen Geraden parallel zu sein. Hieraus ergibt sich sofort
die gesuchte partielle Differentialgleichung: ap + bg = 1. Dann wird
die allgemeine Gleichung in endlicher Form aufgestellt, und auch
hier ist die Schlußweise überraschend einfach: Monge geht aus von
den allgemeinen Gleichungen einer Geraden:
Raumkurven und Flächen. 561
z=a2 +03 y=bz+P.
Soll diese Gerade einer gegebenen Richtung parallel sein, so müssen
a und b konstant sein, dagegen sind « und ß beliebig. Sie haben
aber beide für alle Punkte einer bestimmten Geraden konstante
Werte, und ändern beide zugleich ihre Werte, wenn man zu einer
anderen Geraden übergeht. Und nun kommt wieder der einfache
Sehluß!): Ces deux quantites sont done constantes ensemble et
variables ensemble, done elles sont fonctions l’une de Y’autre. Man
hat also ß=y(e«e), und damit (y—bz)=gy(x —.az) als allgemeine
Gleichung der Zylinderfläichen. Monge bemerkt hier ausdrücklich,
daß @ nicht notwendig eine analytisch ausdrückbare Funktion zu
sein brauche, da sie ja von der ganz willkürlichen Leitlinie abhängt,
die auch unstetig (non soumis & la loi de continuite) sein könne?).
Es folgt die Lösung der beiden Aufgaben, eine Zylinderfläche zu
finden, 1) die durch eine gegebene Raumkurve geht, und 2) die eine
gegebene Fläche berührt. In ganz analoger Weise werden in Nr. 5
die Kegelflächen und die Rotationsflächen untersucht. Bei ersteren
wird auch die Aufgabe gelöst, die Fläche zu finden, die den geo-
metrischen Ort der Berührkurven aller Tangentialkegel bildet, die man
von einem festen Punkt als Spitze an alle Flächen einer einfach un-
endlichen Schar legen kann. Bei letzteren wird die Rotationsfläche
bestimmt, die bei Umdrehung einer gegebenen Fläche um eine mit
ihr fest verbundene Achse als Enveloppe sämtlicher Lagen der ge-
dachten Fläche entsteht. Ebenso werden (Nr. 6) die Flächen behan-
delt, die durch Bewegung einer Geraden entstehen, welche stets
parallel einer gegebenen Ebene bleibt, und dabei eine feste, auf dieser
Ebene senkrechte Gerade schneidet, also die senkrechten Konoidflächen
im heutigen Sprachgebrauch. Monge macht hier auch auf das Vor-
kommen solcher Flächen in der Technik (z. B. windschiefe Schrauben-
fläche) aufmerksam. Von besonderem Interesse ist Nr. 7 und 8, wo
von der Enveloppe einer Flächenschar die Rede ist. Monge führt
hier den in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen so
wichtig gewordenen Begriff der Charakteristik ein. Die wesent-
lichen Punkte seiner Überlegungen sind folgende: Enthält die Gleichung
einer Fläche F(z, y, 2, «, ß)=0 zwei variable Parameter, « und ߣ,
die durch eine Gleichung ß— gp(«) verbunden sind, so erhält man
durch Variation von « eine einfach unendliche Flächenschar. Diese
besitzt eine Enveloppe, deren Gestalt natürlich von der Funktion p
abhängt. Alle diese Enveloppen nun, die durch Abänderung der
") Vgl. S. 536. ®) Vgl. Fußnote !) S. 553.
562 Abschnitt XXIV.
Funktion entstehen, haben, wie Monge sich ausdrückt, un caractere
general, une propriet€ commune, une möme generation, unabhängig
von der Natur der Funktion 9; dieser gemeinsame Charakter kann
durch eine partielle Differentialgleichung ausgedrückt werden,
der sämtliche Flächen dieser Art genügen, und die von p ganz frei ist,
während die endliche Gleichung natürlich eine willkürliche Funktion
enthält. Hier spielt nun eine wichtige Rolle die Charakteristik;
Monge versteht darunter die Schnittkurve zweier Flächen, deren Para-
meter nur um eine unendlich kleine Größe sich unterscheiden, d. h. die
Schnittkurve der Flächen F"=0 und - 0. Die Enveloppe ist der
geometrische Ort der Charakteristiken und ergibt sich durch Elimi-
nation von « aus diesen beiden Gleichungen. Ebenfalls wichtig ist
der Ort der Schnittpunkte dreier konsekutiven Flächen einer
Schar; d. h. die Kurve, die definiert ist durch die drei Gleichungen
cF 0F
CE A be 0.
F=0;
Diese Kurve wird von sämtlichen Charakteristiken berührt, ist also
die Enveloppe derselben; Monge nennt sie arte de rebroussement.
Diese Überlegungen werden durch ein geeignetes Beispiel illustriert,
nämlich durch die Kanalflächen mit ebener (in der xy-Ebene liegender)
Leitkurve. Als Differentialgleichung derselben!) ergibt sich
2(+pP +) a.
Die Charakteristiken sind Kreise, deren Mittelpunkte auf der Leit-
kurve liegen und deren Ebenen normal zu derselben sind. Als
Ditferentialgleichung der Charakteristiken ergibt sich:
pdy—qdıe=(,
und als Differentialgleichung der Rückkehrkanten (ardtes de rebrousse-
ment):
2? (da? + dy? + dz?) = a?(dx? + dy?).
Daran schließt sich die Lösung einiger Aufgaben über Kanalflächen,
z.B. eine solche Fläche derart zu bestimmen, daß sie durch eine gegebene
Raumkurve geht, oder eine gegebene Fläche längs einer Kurve be-
rührt. Im folgenden Blatt (Nr. 9) behandelt Monge in derselben
Art die Flächen, für welche die Linien größten Gefälls Geraden mit
konstanter Horizontalneigung sind. Er zeigt, daß sie als Enveloppen
einer Schar von Kreiskegeln angesehen werden können, deren Achsen
t) Sie ist schon von Euler (s. S. 552f.) angegeben worden.
Raumkurven und Flächen. 563
auf der (als Horizontalebene angenommenen) xy-Ebene senkrecht
stehen, und deren Mantellinien stets dieselbe Horizontalneigung haben.
Es sind dieselben Flächen, die Euler als „kongruent“ mit einer
Ebene von derselben Horizontalneigung bestimmt hat'!). Ihre Charak-
teristiken sind eben die Geraden, welche die Linien größten Gefälls dar-
stellen, die Rückkehrkanten demnach Raumkurven, deren Tangenten stets
dieselbe Horizontalneigung haben (Schraubenlinien eines beliebigen,
auf der xy-Ebene senkrechten Zylinders). An dieses Beispiel knüpft
Monge noch eine wichtige Bemerkung, nämlich daß die Differen-
tialgleichung der Charakteristiken direkt aus der partiellen
Differentialgleichung der betreffenden Flächenfamilie her-
geleitet werden kann. Ist diese nämlich
F(«, Y, %, P; gq)=0
und ist
EHER, FL} I
op ur ) q he Q,
so ist die Differentialgleichung der Charakteristiken:
Pdy— Qdxr=0.
Als letztes Beispiel für Flächenfamilien, die durch eine partielle
Differentialgleichung 1. Ordnung definiert sind, folgen in Nr. 10 die
Flächen, welche durch Translation einer gegebenen Fläche längs einer
Raumkurve, die auf einer gegebenen Fläche liegt, also noch durch
eine willkürliche Funktion bestimmt wird, als Enveloppen entstehen.
Von Nr. 11 ab werden Flächenfamilien behandelt, die durch eine
partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung definiert sind, und
zwar zuerst die Regelflächen, deren Mantellinien alle einer gegebenen
Ebene Ax + By+(Cz=0 parallel sind. Zur Definition der Fläche
sind zwei Raumkurven (Leitkurven) nötig, die von jeder Mantellinie
geschnitten werden. Monge stellt nun die Gleichung der Fläche in
drei verschiedenen Formen auf:
1. Unabhängig von den Leitkurven; hierbei ergibt sich eine
Differentialgleichung 2. Ordnung, die er sehr elegant folgendermaßen
herleitet: die Mantellinie eines Punktes P(x, y, 2) liegt erstens in
der Tangentialebene der Fläche, also besteht für die Koordinaten
x,y,2' eines ihrer Punkte die Gleichung:
p@—2)+94W-Y)-@—2)-0. (1)
Sie ist aber auch zweitens parallel der Richtebene ‚ also hat man:
_ı 4@-m)+BYy-N)+lE-n)-0 @&
') Siehe 8. 550.
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 37
564 - Abschnitt XXIV.
Dieselben Gleichungen gelten aber auch für einen auf derselben Mantel-
linie liegenden Punkt P’(x + dx, y-+ dy, 2+ dz); unter Berücksich-
tigung von (1) und (2) ergibt sich:
(rda+sdy)(a—a)+ dr +id)y-N)-0 Q)
Adz + Bay + C(pda« + gdy) =. (4)
Die Elimination von 2— x, y— y', 2—z aus (1) — (4) ergibt dann
sofort die gesuchte partielle Differentialgleichung 2. Ordnung, nämlich:
(Cg + Br -—2(Cg + B)(Cp + AN)s + (Cp + Nt=0.
Ehe die beiden anderen Gleichungsformen hergeleitet werden, zeigt
Monge (Nr. 11), wie man in diesem Fall aus der Differentialgleichung
der Flächen die der Charakteristiken finden kann. Ist nämlich die
erstere: |
und:
De, Y,2,P, 4, 7, 5, t) ao 0,
00 _ 7, 60
Pe Be?"
und ist:
=»; 2 et,
so heißt die Differentialgleichung der Charakteristiken:
| | Rax: — Sdxdy + Ta =0.
Sie zeigt, daß in jedem Flächenpunkt die Charakteristik einen Doppel-
punkt hat, außer in dem Fall, wo die Differentialgleichung in zwei ratio-
nale Linearfaktoren zerfällt, wo also zwei Scharen von Charakteristiken
auf der Fläche vorhanden sind. In dem vorliegenden Beispiel ergibt
sich als Differentialgleichung der Charakteristiken:
(Adz + Bay+ Cd”? =0,
d.h. ein vollständiges Quadrat, so daß man nur eine Schar von
Charakteristiken erhält, nämlich eben die Mantellinien der Fläche.
2. Um die partielle Differentialgleichung 1. Ordnung zu finden,
welche diesen Flächen zukommt, geht Monge wieder aus von den
Gleichungen (1) und (2), die eine Mantellinie der Fläche darstellen.
Deren Projektion auf eine der Koordinatenebenen, z. B. die x2-Ebene,
sei « = ßz2’ +y. Dann ist, wenn zur Abkürzung
| Az +By+(z=«
gesetzt wird,
ER u ee a BAT
Bp—4q’ Bp— 4q
Nun haben für eine bestimmte Mantellinie die drei Größen «, ß, y
einen bestimmten Wert, oder, wenn eine dieser drei Größen konstant
ist, so sind es auch die beiden anderen; geht man aber zu einer
anderen über, so ändern alle drei ihren Wert, sie sind also zugleich
Reumkirven und Flächen. 565
konstant und zugleich veränderlich, folglich müssen je zwei durch
eine Gleichung verbunden sein, z.B. ß=y(e«). Man hat also als
pimbene Differentialgleichung 1. Ordnung:
C B
ng = gp(Ax + By+ Ce).
Stellt man dieselbe Überlegung für die beiden anderen Projektionen
an, so findet man noch zwei weitere Gleichungen, also im ganzen
drei, von denen jede eine Folge der beiden anderen ist. Wendet man
auf irgend eine derselben das oben zur Herleitung der Charakteristiken
aus einer partiellen Differentialgleichung 1. Ordnung angegebene Ver-
fahren an, so findet man wieder:
Adz + Bdy+(Cdz=V0.
3. Endlich läßt sich leicht die endliche Gleichung aufstellen,
nämlich:
z=3:p(Ax + By+Cz)+y:-v(Ax+ By+ (2).
Sie enthält zwei willkürliche Funktionen und ist von derselben All-
gemeinheit, wie jede der beiden ersten Formen, deren gemeinsames
Integral sie darstellt.
Auch hier schließt Monge einige Aufgaben über solche Flächen
an, nämlich eine zu bestimmen, die durch zwei gegebene Kurven geht,
oder eine, deren Mantellinien sämtlich zwei gegebene Flächen be-
rühren; ferner eine Spezialisierung (Nr. 13) für den Fall, daß die
Mantellinien alle der «y-Ebene parallel sind und die z-Achse treffen.
Hier ergibt sich die Differentialgleichung, von der Meusnier Ge-
brauch gemacht hat!), nämlich:
r® —2pgs+tP®=0.
Den Schluß bildet eine Bemerkung über das Vorkommen solcher
Flächen in der Technik.
In Nr. 14 kommt sodann eine ausführliche Darlegung der Eigen-
schaften der abwickelbaren Flächen. Durch analoge Überlegungen
wie vorher wird die sie definierende Gleichung in drei verschiedenen
Formen aufgestellt: 1. Als partielle Differentialgleichung 2. Ordnung,
2. als eine ebensolche 1. Ordnung mit einer willkürlichen Funktion,
3. als endliche Gleichung mit zwei willkürlichen Funktionen; und es
werden wieder die zwei gleichen Aufgaben wie oben für ke
Flächen gelöst. Übrigens deckt sich der Inhalt dieses Blattes im
wesentlichen mit der schon besprochenen Abhandlung von Monge
über diesen Gegenstand’).
') Siehe S. 550. ?) Siehe S. 535 ff.
87*
566 Abschnitt XXIV.
Nr. 15 behandelt nach denselben Methoden die Flächen, welche
durch Translation einer gegebenen Fläche längs einer ganz beliebigen
Raumkurve (die also nicht mehr, wie in Nr. 10, auf einer gegebenen
Fläche angenommen wird) als Enveloppen entstehen. Die partielle
Differentialgleichung derselben ist von der Form:
HS) RT-)—rR—-2s8 -tT+1-0.
R, S, T sind dabei gegebene Funktionen, die folgendermaßen mit der
transferierten Fläche zusammenhängen: ist diese bestimmt durch
An Fa, y),
so kann man die beiden Gleichungen p = Er und q -5 nach %
und y aufgelöst denken, so daß also 2=-f\ (m, ):y=f,(P, q) Ist.
Monge zeigt nun zunächst, daß A = r ist, daß also f, und f, als
partielle Ableitungen einer Funktion von p und g, die er mit I’ be-
zeichnet, angesehen werden können. R, $, T sind dann die partiellen
Ableitungen 2. Ordnung von I’ nach p und q. — Ähnlich erledigt
sich die Aufgabe, die Flächen zu bestimmen, die durch Translation
einer Raumkurve längs einer anderen Raumkurve erzeugt werden; am
Schluß wird noch darauf hingewiesen, wie die entwickelten Methoden
umgekehrt zur Integration einer partiellen Differentialgleichung dienen
können, welche die obige Form hat.
Nr. 17 und 18 bringen eine der schönsten Entdeckungen von
Monge, nämlich die Krümmungslinien einer Fläche. Dieser
Teil kann unbedenklich als der Glanzpunkt des ganzen Werks be-
zeichnet werden, sowohl in bezug auf die hohe Bedeutung der Resul-
tate, wie in bezug auf die Eleganz, Präzision und Klarheit der Ent-
wieklung. Wir versuchen Monges Gedankengang in Kürze anzugeben.
Er geht aus von den schon früher aufgestellten Normalengleichungen:
-N)+(@-)p-I9 W-Y)+@—-2)4-),
und sucht die Bedingung dafür, daß diese von der Normalen eines
Nachbarpunktes (x + dz, y+ dy, 24 pdx + qdy) geschnitten wird.
Unter Berücksichtigung der obigen Gleichungen sind die Gleichungen
dieser Nachbarnormalen:
da + p?dxz +pgdy + (2 — Z)(rdx + sdy)=0,
dy + pgda + Ydy+ (2 — z)(sdx + tdy) =.
Die Bedingung, daß diese Normale die erste schneidet, findet man
durch Elimination von (2 — 2), (y—y), (ze — 2’) aus den vier Glei-.
chungen der beiden Normalen. Da indes die letzten beiden nur noch
Raumkurven und Flächen. 567
z2— z' enthalten, genügt es, z— z' zu eliminieren, wodurch man er-
hält:
2 d
(32) [U+g@)s-pail+7,[A+Nr-A+P))-A+p)stpar=0. (1)
%
Eliminiert man umgekehrt E so ergibt sich:
x
(«-2)\(rt—8)+@-2)[A+D-2rgs+Al+P)i+l+P+g—0. (2)
Die beiden letzten Gleichungen werden nun geometrisch gedeutet.
Die erste, die quadratisch in — ist, sagt, daß es zu jedem Flächen-
punkt P zwei Nachbarpunkte P, und P, auf der Fläche gibt, deren
Normalen die des Punktes P schneiden. Die Projektionen der Rich-
tungen PP, und PP, auf die «y-Ebene sind durch die Gleichung (1)
bestimmt, aus der auch die bemerkenswerte Eigenschaft folgt, daß
PP,ı_PP, ist. Die zweite liefert zwei Werte von z—7’, also in
Verbindung mit den Gleichungen der Normalen zwei Punkte auf
dieser, wo sie von den Normalen der Punkte P;, und P, geschnitten
wird und die als „centres de courbure‘‘ bezeichnet werden. Die Ab-
stände dieser beiden Schnittpunkte ergeben sich als die Wurzeln der
quadratischen Gleichung in R:
gR+hkR+KM=0,
wo:
gert—-H, Keil+pfr+gd; A-M+Mr—2ras+1l+ Mt.
Die beiden sich ergebenden Werte nennt Monge „rayons de cour-
bure“; daß es die von Euler!) gefundenen extremen Werte der
Krümmungsradien der Normalschnitte sind, wird nicht bemerkt. Nun
folgt die geometrische Konstruktion der beiden orthogonalen Scharen
von Krümmungslinien, die man erhält, indem man von jedem
Flächenpunkt zu den beiden Nachbarpunkten weitergeht, deren Nor-
malen die seinige schneiden, von diesen ebenso zu dritten Punkten usf.
Man erhält so zwei Scharen von Kurven, deren Projektionen auf die
xy-Ebene der Gleichung (1) genügen. Diese ist also die Differen-
tialgleichung der Krümmungslinien. Sie läßt sich auch in die
Form setzen:
dp(dy + qdz) = dq(dx + pdz).
Es wird dann durch geometrische Überlegungen gezeigt, daß die
Flächennormalen längs jeder Krümmungslinie eine abwiekelbare Fläche
bilden; daß also für jede Fläche zwei Scharen von solchen Flächen
ı) Vgl. S. 546.
568 Abschnitt XXIV.
existieren, und daß diese sich ebenfalls überall rechtwinklig schneiden.
Davon wird nun sofort eine praktische Anwendung auf den Gewölbe-
bau gemacht: nämlich man solle die hierzu erforderlichen Steine der-
art wählen, daß ihre Fugen die Krümmungslinien der Gewölbefläche
bilden. Des weiteren wird dann entwickelt, daß jede dieser Flächen
eine Rückkehrkante hat, die den Ort aller Krümmungszentra der
Fläche längs der betr. Krümmungslinie darstellt. Die Gesamtheit
aller dieser Rückkehrkanten bildet also eine aus zwei Mänteln be-
stehende Fläche, die der Ort aller Krümmungszentra der gegebenen
ist, und von der zunächst die merkwürdige Eigenschaft nachgewiesen
wird, daß die scheinbaren Umrisse der beiden Mäntel, von wo
aus man sie auch betrachtet, sich rechtwinklig schneiden. Diese,
rein geometrisch abgeleitete Bemerkung zeigt schon für sich allein,
welche Sicherheit der räumlichen Anschauung Monge zu Gebote
stand. Auch daß die Rückkehrkanten geodätische Linien dieser Zentra-
fläche sind, ergibt sich rein geometrisch.
Nun ist aber ein kleines Versehen zu erwähnen, das Monge
passiert ist. Er stellt nämlich die Bedingung auf, daß die beiden
Krümmungsradien gleich sein sollen, und findet (vgl. S. 567)
MW —Alg-0.
Diese Gleichung, sagt er, definiere eine Kurve (eourbe spherique) auf
der-Fläche, für deren sämtliche Punkte die beiden Hauptkrümmungs-
radien denselben Wert haben; der Ort der zugehörigen Krümmungs-
zentra wäre dann die Schnittkurve der beiden Mäntel der Zentrafläche.
Dabei hat er jedoch nicht bemerkt, daß h?— 4%?g sich als die Summe
zweier Quadrate darstellen läßt, daß daher %®—4g—=0 eine
imaginäre Fläche mit reeller Doppelkurve darstellt, woraus
folgt, daß esnur einzelne reelle Punkte auf einer Fläche, nicht eine
ganze Kurve gibt, für welche die beiden Krümmungsradien gleich
sind. Dies stellt sich auch nachher an dem Beispiel heraus, das
Monge betrachtet, nämlich am dreiachsigen Ellipsoid (Nr. 19 u. 20).
Er stellt für diese Fläche die Differentialgleichung der Krümmungs-
linien auf, integriert sie und findet die bekannten Resultate; hier
zeigt sich nun, daß es keine Kurve, sondern bloß vier Punkte gibt,
für welche die beiden Krümmungsradien gleich sind. Auch hier weiß
Monge sofort seinen theoretischen Entwicklungen eine praktische
Gestalt zu geben. Er schlägt nämlich vor, dem zu erbauenden Saal
für die gesetzgebenden Versammlungen eine elliptische Gestalt und
der Decke die Form eines Ellipsoids zu geben. Die Kreispunkte
wären durch helle Lampen zu markieren, die Krümmungslinien sollten
an der Decke als „nervures de la voüte“ eine geschmackvolle Dekora-
Raumkurven und Flächen. 569
tion geben; die Zwischenräume würden Licht- und Luftöffnungen dar-
stellen. Ob dieser Vorschlag jemals praktisch ausgeführt worden ist,
ist mir nicht bekannt. — Als Anwendung der hier entwickelten
Theorie der Krümmungslinien betrachtet Monge folgende Beispiele:
1. Die Flächen, für welche die eine Schar von Krümmungslinien von
ebenen Kurven gebildet wird, deren Ebenen alle parallel sind
(Nr. 21—23). Es sind die schon von Euler in anderem Zusammen-
hang!) gefundenen Gesimsflächen; Monge gibt noch verschiedene Er-
zeugungsweisen dieser Flächen an; 2. die Flächen, für welche der
eine Krümmungsradius konstant ist (Nr. 24 und 25). Hier er-
geben sich die Röhrenflächen mit einer beliebigen Raumkurve als
Leitkurve; der spezielle Fall, daß diese eine ebene Kurve ist, ist ja
schon in Nr. 8 erledigt worden. 3. Die Flächen, für welche die
Krümmungsradien gleich und gleichgerichtet sind (Nr. 26).
Als einzige Fläche ergibt sich die Kugel, scheinbar allerdings noch
eine Fläche, die folgendermaßen entsteht: Es sei eine Raumkurve und
eine ihrer Evolventen gegeben; beschreibt man dann um jeden Punkt
der Kurve eine Kugel, deren Radius gleich dem Stück der Tangente
zwischen Kurve und Evolvente ist, so hat die Enveloppe aller dieser
Kugeln die verlangte Eigenschaft. Diese Enveloppe reduziert sich aber
bei genauerem Zusehen auf die Evolvente selbst, indem jede Kugel
von der nachfolgenden nicht geschnitten, sondern einschließend be-
rührt wird. Die Enveloppe ist dann der Ort dieser Berührpunkte,
d.h. eben die Evolvente. 4. Das Beispiel, das die wichtigsten Ergeb-
nisse liefert, nämlich die Flächen, für welche die Krümmungsradien
gleich und entgegengesetzt gerichtet sind (Nr. 27 und 28).
Die Bedingung hierfür ist nach den früheren Untersuchungen’) h = 0,
d.h.
A+f)r—2pgs+Al+P)t-0, (1)
d. h. dieselbe Gleichung, die der „eitoyen Lagrange“ für die Minimal-
flächen gefunden hat.) Meusnier wird nicht erwähnt; da seine
Arbeit erst 1785 gedruckt wurde, hat Monge sie vermutlich noch
nicht gekannt.
Er stellt nun zunächst nach der früher (S. 564) angegebenen
Methode die Differentialgleichung der Charakteristiken auf und findet:
A+P)ay’+2pgdady+(l + P)de— 0. (2)
Nimmt man dazu die beiden Gleichungen: |
dp=rdz +sdy, dgq=sdax-+tdy
und die Differentialgleichung der Fläche, so können r, t und 2 eli-
ı) Siehe 9.553. ®) Siehe $. 567. ®) Siehe S. 550.
570 Abschnitt XXIV.
miniert werden, wobei s von selbst mit herausfällt. Es bleibt dann
eine gewöhnliche Differentialgleichung 1. Ordnung in p und q, nämlich:
(A+gaM)dap — 2pgdpdgqa + (1 +PM)dg=0.
Diese ist leicht zu integrieren und ergibt, wenn « die Integrations-
konstante ist:
A+e)+(P-ag=0, (3)
d. h. eine Gleichung 2. Grades; die Fläche hat also zwei Scharen von
Charakteristiken, die durch die beiden Linearfaktoren von (3) definiert
sind. Bezeichnet man die Konstante für die eine Schar mit «, für
die andere mit ß, so lauten die Gleichungen:
p—ag=iVl+ta; p-PBg=-—-iyViI+ß. (4)
Setzt man die aus (4) sich ergebenden Werte von p und q in
(2) ein, so ergibt sich die Differentialgleichung der Charakteristiken mit
den Konstanten « und ß an Stelle von p und g. Vorher macht Monge
noch darauf aufmerksam, daß (2), da:
pdxz +qgdy= dz
ist, sich auch in die Form setzen läßt:
de? +dy+d2?=0,
d.h. er hat gefunden, daß die Linien von der Länge Null (in
heutiger Bezeichnung) die Charakteristiken der Minimalflächen
sind. — Stellt man nun nach (4) die Differentialgleichung der Charak-
teristiken auf, so zeigt sich, daß sie in die beiden linearen Gleichungen:
dy+ade=0 und dy+Pßda=0
zerfällt, von denen jedoch die erste mit der zweiten Gleichung (4),
die zweite mit der ersten zusammengehört, so daß die Differential-
gleichungen der beiden Scharen von Charakteristiken schließlich sind:
p—-og=iVl+o; dy+ßde=0; | 6)
p—Bq=—-iyV1+Pp; dy+ade—0
Die Integration dieser Gleichungen ist schwierig, da im ersten
Paar ß, im zweiten « nicht als konstant betrachtet werden kann;
durch ein scharfsinniges Verfahren wird sie aber doch ausgeführt, und
so ergibt sich schließlich die allgemeine Gleichung der Minimal-
flächen mit zwei willkürlichen Funktionen ® und Y, allerdings in
imaginärer Form, indem die Koordinaten eines Punktes sich folgender-
maßen durch die beiden Parameter « und ß ausdrücken:
Raumkurven und Flächen, 571
= — Pla) +YP); |
y=-0@)+u0(e) + WB) —BV(); N
z=i/[®(w)VI+ada+ifw’(p)yi a)
Eine geometrische Darstellung dieser Flächen vermag Monge
jedoch nur in der Weise zu geben, daß er sie Element für Element
zusammensetzt.
Damit werden die partiellen Differentialgleichungen zweiter Ord-
nung verlassen und Beispiele für solche der dritten Ordnung in An-
griff genommen. Monge beginnt mit den allgemeinen Regel-
flächen (Nr. 29 und 30), und stellt, durch ganz analoge Betrach-
tungen wie früher, die sie definierende Gleichung in vier verschiedenen
Formen auf, nämlich:
1. als partielle Differentialgleichung dritter Ordnung, wobei zur
Abkürzung
erpeorn
a t
gesetzt wird. Die Gleichung heißt dann:
DE 0% a
zit d@ 62°0Y +3« 0x.0y? EL öy: >
2. als partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung mit einer
willkürlichen Funktion, und zwar auf drei verschiedene Arten:
p+egq=yla); y-aexz=yYla); z—-(p+tag)=x(e),
wo « dieselbe Bedeutung hat wie vorher, und g, y, x willkürliche
Funktionen sind;
3. als partielle Differentialgleichung erster Ordnung mit zwei
willkürlichen Funktionen. Man erhält die Gleichung durch Elimination
von « aus irgend zwei der in 2. aufgestellten drei Gleichungen, so
daß also noch zwei von den drei Funktionen p, v, x in die Gleichung
eingehen;
4. in endlicher Form mit drei willkürlichen Funktionen, nämlich:
y-er=Yla); 3-2: ple)—=x(e),
wo « ein variabler Parameter ist, durch dessen Elimination aus den
beiden Gleichungen die Fläche in die Form F(«, y, z) = 0 gebracht
werden kann.
Zunächst wird dann gezeigt, wie man aus der partiellen Diffe-
rentialgleichung dritter Ordnung ganz ebenso wie bei denen erster
und zweiter Ordnung die Differentialgleichung der Charakteristiken
572 Abschnitt XXIV.
finden kann, und daß diese Methode auf Gleichungen beliebig hoher
Ordnung anwendbar ist, die linear in den Differentialquotienten höch-
ster Ordnung sind. Als zweites Beispiel werden noch die Flächen
behandelt, die als Enveloppen einer Kugel von veränderlichem
Radius entstehen, deren Mittelpunkt sich auf einer gegebenen Raum-
kurve bewegt (Nr. 31). Den Schluß des Ganzen bildet die schon
früher (S. 531 ff.) besprochene Untersuchung der Evoluten und Krüm-
mungsverhältnisse einer Raumkurve (Nr. 32—34).
Zum Schluß berichten wir noch kurz über die Fortschritte der
Kartographie in unserem Zeitraum, soweit die mathematische Seite
daran in Betracht kommt. Auch hier hat Euler die erste allgemeine
Stellung und Lösung des Problems gegeben. Voran gehen einige Arbeiten
von Kästner?), die sich jedoch nur mit der stereographischen und
gnomonischen Projektion befassen, sowie ein Abschnitt aus dem III. Band
von Lambert, Beyträge zum Gebrauch der Mathematik und deren
Anwendung (Berlin 1772), S. 105—192. In der Einleitung wird ein
klarer Überblick über die verschiedenen Forderungen gegeben, die an
eine Karte zu stellen sind (Winkeltreue, Flächentreue usw.) und ge-
zeigt, inwieweit die verschiedenen Projektionsarten denselben genügen,
und wie die Erfüllung einer Forderung die Vernachlässigung einer
anderen nach sich zieht. Eine allgemeine Lösung der Aufgabe, die
Kugel konform auf die’Ebene abzubilden, gibt jedoch Lambert nicht,
dagegen folgende Formeln für die stereographische Projektion:
Me De RR DREI
cos
_.ndp
cos p
Hierbei bedeutet p die geographische Breite, A die geographische |
Länge, m und n die partiellen Ableitungen von 2 und y nach A. Die
Arbeit verfolgt im weiteren Verlauf mehr praktische Zwecke; von
Interesse ist jedoch noch die Bemerkung, daß die Mitteilung der
obigen Formeln an Lagrange diesen zu seinen Untersuchungen über
diese Fragen (s. 5. 575ff.) veranlaßt habe.
Euler entwickelt seine Methoden in einer Abhandlung: „De re-
praesentatione superficiei sphaericae super plano“?), und bemerkt ein-
leitend, daß es sich um die Aufgabe handle, die Koordinaten eines
Punktes «, y der Ebene als Funktionen der sphärischen Koordinaten
(t= geogr. Länge, u = geogr. Breite) so darzustellen, daß die hierdurch
bestimmte Abbildung gewissen Forderungen genüge.
!) Theoria projectionis stereographicae horizontalis. Diss. math. phys.
Altenburg. 1771, p. 88ff. (1766). Additio ad theoriam proj. ster. hor. Novi
Goetting. Commentarii, T. 1, p. 138—193 (1770). Theorias projectionis super-
ficiei sphaericae in planum tangens, oculo in centro posito. RP RTITT, 5,
p- 107—132,
Raumkurven und Flächen. 573
Zunächst werden nun die Bedingungen der Kongruenz durch
analytisch-geometrische Betrachtungen entwickelt und gezeigt, daß es
nieht möglich ist, diese zu erfüllen. Da also hiernach auf die Kon-
gruenz verzichtet werden muß, kann man andere Bedingungen stellen,
und deren analytischen Ausdruck entwickeln. Sollen z. B. Meridiane
und Parallelkreise sich als zwei orthogonale Kurvensysteme abbilden,
so muß:
0202 , oyoy __
Dune Fäude®
sein; sollen sie insbesondere in die Parallelen zu den Koordinaten-
achsen übergehen, so muß:
«=f(l); y= p(u)
sein. Dies wird auf die Merkatorkarte angewendet. Weiter wird
eine Abbildung gesucht, bei der jedes Stück der Kugel sich als ein
Stück der Ebene von gleichem Flächeninhalt abbildet, also die
flächentreue Abbildung. Da das Flächenelement der Kugel
—= dudt cos u, das der Ebene = dxdy ist, so ist diese Forderung jeden-
falls erfüllt, wenn:
zetby=smu
ist. Hierbei ist das Bild der Erdoberfläche ein Rechteck, und natür-
lich in den Polargegenden sehr stark verzerrt.
Nach diesen Einzelbeispielen wird nun die „Hypothesis, qua
regiones terrae per similes figuras exhibentur“, d.h. die winkeltreue
oder konforme Abbildung im heutigen Sinne eingehend behandelt.
Da hierbei das Gradnetz der Erde sicher in zwei orthogonale Kurven-
systeme übergeht, so ist jedenfalls notwendig, daß, wie oben,
0x0x Oydy 26
du dt * ouöt
ist. Euler setzt nun zur Abkürzung:
EL; Br MR
0% 0x _ ey ey
eig SEA Tara SHARE 7 dt
r; = Ss.
Dann ergibt sich als notwendige und hinreichende Bedingung
der Winkeltreue:
de =pdu +rdtcosu; dy=rdu— pdt cos u.
Die Integration dieser Gleichungen wird auf doppelte Art —
Methodus partieularis und Methodus generalis — geleistet. Die erstere
ist etwas umständlich, die zweite dagegen sehr bemerkenswert, weil
hier zum erstenmal komplexe Größen zur konformen Abbil-
574 Abschnitt XXIV.
dung benutzt werden. Euler sucht nämlich eine lineare Kombi-
nation dieser Gleichungen so zu finden, daß die rechte Seite in ein
Produkt übergeht, um dann die von ihm so oft mit Erfolg‘) be-
nutzte Schlußweise anwenden zu können. Eine solche ist, wie d’Alem-
bert gezeigt hat, dx + idy.
Hierdurch ergibt sich:
dx + idy = (p + ir) (du — idt cos u).
Euler setzt nun:
s— 1g(45° +5); g=1gs—it,
so daß:
du
cos U
— idt.
de="° + idt-
Es ist dann also:
de +idy= (p+ ir) cos udz,
und wenn die Integration ausführbar sein soll, muß (p + ir). cos«
Funktion von z, nach ausgeführter Integration also auch x + iy eine
Funktion von z sein, die mit 2I’(z) bezeichnet wird, so daß:
T’(2)=(p-+ir)-cosu
ist. Dann ist also:
z+iy=2T()=2T(lgs— it),
woraus sofort folgt: |
z—iy=2T(lgs + it).
Hiernach sind also:
z=T(lgs— it) + T(lgs-+it),
iy= T(lgs — it) - T(lgs + it)
die Gleichungen, welche die allgemeinste winkeltreue Ab-
bildung definieren. x und y sind dabei stets reell. Die Gleichungen
lassen sich noch etwas umformen, indem s an Stelle von z eingeführt
wird vermöge der Gleichung
e—= 5° (cos at — isin ct),
wo « eine beliebige Konstante bedeutet. Die Funktion I’ von z geht
natürlich hierbei auch in andere Funktion von s über, die mit A be-
zeichnet wird. Man erhält so:
x = Als“(eos at — i sin «t)] + Als“(cos «t + sin «i)],
iy = Al[s“(cos «t — i sin «t)] — Als“(cos at +isin «t)].
Das ist, wie Euler bemerkt, die allgemeinste Lösung der Aufgabe,
eine Kugel so auf die Ebene abzubilden, daß die kleinsten Teile
(figurae valde exiguae) ihren Bildern ähnlich werden. Wir möchten
») Vgl. 8. 551, 552, 555.
Raumkurven und Flächen. 575
nicht unterlassen, noch einmal hervorzuheben, daß die ungemein
fruchtbare Idee, zur Lösung dieser Aufgabe komplexe Größen
zu verwenden, Eulers Eigentum ist.
Auch die Aufgabe, eine flächentreue Abbildung der Kugel auf
die Ebene herzustellen, ist von Euler gelöst worden, und zwar für
den Fall, daß das Gradnetz in zwei orthogonale Kurvensysteme über-
geht; hier gibt allerdings Euler nur spezielle Lösungen. In einer
unmittelbar folgenden Note („De projeetione Geographica superfieiei
sphaericae“!) zeigt er noch, wie die stereographische Projektion einen
Spezialfall der von ihm aufgestellten allgemeinen Formeln für die
konforme Abbildung darstellt.
Sehr eingehend hat sich Lagrange in einer längeren Abhand-
lung: „Sur la construction des Cartes geographiques“?) mit der winkel-
treuen Abbildung beschäftigt. Zwar geht die Aufstellung der Ab-
bildungsformeln nicht wesentlich über das von Euler Geleistete hin-
aus; sie lauten nämlich bei Lagrange:
x tiy=-furit; z-iy-plWu—il),
wo f und g noch willkürlich sind, aber natürlich eine reelle Abbil-
dung nur dann ergeben, wenn sie konjugierte Funktionen sind. Da-
gegen tritt hier eine ganz neue Fragestellung auf, nämlich wie f und
p gewählt werden müssen, damit Meridiane und Parallelkreise
in bestimmte, vorgegebene orthogonale Kurvensysteme der
Ebene übergehen. Diese Frage wird für verschiedene besondere
Fälle gelöst. Neu ist ferner, daß Lagrange das Vergrößerungs-
verhältnis in Betracht zieht; wird dies mit m bezeichnet und ist das
Linienelement der Kugel:
d?— du + Pat,
so ist:
ER 1
U tHdÜ—
Er erörtert hierbei auch die Frage, wie der Meridian der Erde be-
schaffen sein müßte, wenn m konstant sein sollte, und findet natür-
lich, daß in diesem Fall die Meridiane gerade Linien sein müßten.
Die weiteren kartographischen Arbeiten von Schubert, Lorgna,
Kästner u.a. haben mehr geographisches oder nautisches, als speziell
mathematisches Interesse. Nur aus einer Abhandlung von Schubert:
„De projectione sphaeroidis ellipticae geographiea“?) ist einiges bemer-
kenswert; zunächst, daß dort von einer projectio figurae ellipticae
conformis die Rede ist, was wohl das erste Vorkommen des Wortes
Mm
») A.P. 1777, IL p. 188-148. ?) Nouveaux memoires de l’Academie
Royale des Sciences et Belles-Lettres ä Berlin 1779, p. 161—210. RER
p. 130—146.
576 Abschnitt XXIV.
„konforme Abbildung“ sein dürfte. Die Arbeit beschäftigt sich
mit der Frage, welchen Fehler man begeht, wenn bei der Karten-
projektion die Erde als Kugel angenommen wird. Hierbei wird ein
nicht uninteressanter Satz bewiesen: wird ein Rotationsellipsoid von
einem Punkt des Äquators aus auf eine zum Radius dieses Punktes
senkrechte Ebene projiziert, so gehen sowohl die Meridiane, als die
Parallelkreise in Ellipsen über, die dem Meridian des Ellipsoids ähn-
lich sind. Der Satz ist bemerkenswert durch seine Analogie mit dem
bekannten Satz über die stereographische Projektion, daß jeder ae
kreis wieder in einen Kreis übergeht.
_ Verbesserungen zu Abschnitt XXIV.
. 461 letzte Zeile statt: of lies: on.
. 494 Z. 14 statt: und damit r lies: und damit nach 2) r
S. 508 Z. 2 v. u. ist der Satz „Zunächst ist... Rede‘ zu streichen. Das Zitat ®)
gehört zu dem Worte „angenommen“ auf Z.1 v.u.
S. 537 Z. 6 v. u. beizufügen: Auch diese Abhandlung wurde in ihren wesent-
lichen Bestandteilen später in die F. d’A. aufgenommen.
. 544 2.6 v. u. an „linfini“ das Zitat !) beizufügen.
. 549 2. 8 statt: mg lies: mJ.
. 550 Fußnote !) statt: S. 365 lies: S. 565.
552 Z. 14 statt: eine Funktion von ® lies: eine Funktion ® von g.
556 Z. 12 v. u. hinter Fläche beizufügen: (die in diesem Fall ein hyper-
bolisches Paraboloid ist).
S. 559 Z. 7 statt: bisher Be lies: bisher in diesem Abschnitte be-
sprochenen. |
an
NnUnNnmn m
ABSCHNITT XXV
PERSPEKTIVE
UND DARSTELLENDE GEOMETRIE
VON
GINO LORIA
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende
des 17. Jahrhunderts.
Unter dem Namen „Perspektive“ (von perspicere = klar sehen)
haben die Alten die Grundbegriffe und Grundlehren der geometrischen
Optik zusammengestellt; dies ergibt sich hauptsächlich aus einem
Werke des Euklid, das wir noch besitzen'). Diese Lehre wurde in
Europa von Ibn Alhaitam gelehrt und verbreitet (I, S. 744). Sehr
bald wurde sie ein Unterrichtsfach in den mittelalterlichen Universi-
täten; infolgedessen fand Johann Peckham, Bischof von Canterbury,
es für notwendig, eine für die Schulen bestimmte Behandlung der-
selben zu schreiben (1I?, S. 98); Bradwardin hat dann dieselbe ver-
schlimmert (S. 111); auf ähnlichen Grundlagen ist eine Perspektive
des berühmten Witelo aufgebaut (8. 93).
Aber mit der Zeit und mit der Entwicklung der Kultur hat sich
die Bedeutung jenes Wortes gänzlich verändert. Da der Seh-
prozeß sich durch geradlinige Lichtstrahlen vollzieht, welche von den
verschiedenen Punkten des Objektes bis zu den Augen des Beob-
achters gehen, so ist jeder Augapfel der Mittelpunkt eines „Seh- oder
perspektivischen Kegels“. Man stelle sich nun vor, daß zwischen die
Augen und das Objekt eine durchsichtige Fläche („Tafel“) gesetzt
werde, daß man den Punkt bestimme, wo dieselbe von jedem Seh-
strahl geschnitten wird, und daß endlich dieser Schnittpunkt mit der-
Anmerkung zu Abschnitt XXV. Über die Geschichte der Perspektive
ist die beste Quelle die „Histoire de la perspective ancienne et moderne‘ (Paris
1864), von M. Poudra, mit den Zusätzen, welche L. Cremona (,„Sulla storia
della prospettiva antica e moderna“ in der Rivista italiana di scienze, lettere
ed arti, t. V, 1865, p. 226—231, 241—245) dazu gemacht hat, und P.Riccardi („Di
alcune opere di autori itali@%1i ommesse nella Histoire de la perspective di
M. Poudra“; Bibl. math. 1889, p. 39—42). Über dasselbe Thema und die Ge-
schichte der darstellenden Geometrie sehe man auch den I. Bd. von Chr.
Wiener, „Lehrbuch der darstellenden Geometrie“ (Leipzig 1884).
') „Euclidis Opera omnia“, vol. VII, Lipsiae 1895; vgl. das IV. Kap. des
III. Buches des Werkes von @. Loria, „Le scienze esatte nell’ antica Grecia‘
(Mem. della R. Acc. die Modena, II. Reihe, XII. Bd., 1900).
CAntor, Geschichte der Mathematik IV. 38
580 Abschnitt XXV.
selben Farbe versehen werde, welche der entsprechende Objektspunkt
hat, so wird man eine Punktgruppe bekommen, welche im Auge die-
selbe Empfindung hervorruft wie das gegebene Objekt. Nun bildet
eben gerade die Bestimmung dieser Punktgruppe auf der Tafel den
Zweck der modernen Perspektive. Diese besteht aus zwei Teilen: der
„Linearperspektive“, welche die Schnittpunkte der Lichtstrahlen auf
der Tafel geometrisch zu konstruieren lehrt, und der „Luftperspektive“,
welche den Zweck hat, die Farben der verschiedenen Punkte des
Bildes zu bestimmen. Nur die erstere kann als ein Teil der Mathe-
matik betrachtet werden; daher werden wir hier nur auf die Werke,
welche sie betreffen, eingehen. Ferner werden wir auch von unserer
Analyse alle für Künstler oder von Künstlern bearbeiteten Werke aus-
schließen, welche nur empirische Zeichnungsvorschriften enthalten; sie
werden von einigen als zur „praktischen Perspektive“ gehörig betrachtet.
Es erhellt aus dem eben Gesagten, daß die Perspektive die
wissenschaftliche Grundlage der Malerei bildet; daher ist es wohl
natürlich, daß die Maler die ersten waren, welche sich damit be-
schäftigt haben. Unter ihnen sind diejenigen, welche mit Euklid
vertraut waren, zu endgültigen Schlüssen und rationellen Methoden
gelangt. Um das zu beweisen, genügt es, daran zu erinnern, daß
Johann van Eyck (1395 —1440), welcher in Deutschland als Lehrer
der Lehrer der Malerei betrachtet wird, den Ruf eines vortrefflichen
Geometers genießt!). Andere Beweise derselben Behauptung liefert
die ganze Geschichte des ersten Entwicklungsstadiums der in Rede
stehenden Lehre. So verdanken wir dem vielseitigen Genius des Leon
Battista Alberti (II?, S. 292)?) den Grundbegriff von der „Perspek-
tive eines Objektes“ als dem Durchschnitt der Tafel mit dem ent-
sprechenden Sehkegel oder -Pyramide. Nach ihm begegnen wir
Pier dei Franceschi, gewöhnlich della Francesca genannt (1406
oder 1416 geboren, 1492 gestorben), welcher, wahrscheinlich im Jahr-
zehnt 1470—1480, ein vollständiges Handbuch der Perspektive schrieb,
das erste, welches in Italien, vielmehr in der Welt, das Licht er-
blickte; ein Handbuch, welches handschriftlich von vielen ausgenutzt
oder besser geplündert wurde, und das erst vor sieben Jahren ge-
ı) S. Günther, „Geschichte des math. Unterrichts im deutschen Mittel-
alter bis zum Jahre 1525“ (Berlin 1887), 8. 331. Wach G. J. Kern („Die Grund-
züge der linear-perspektivischen Darstellung in der Kunst der Gebrüder van Eyck
und ihrer Schule“, I. Bd., Leipzig 1904) hat Johann van Eyck die Existenz
des Fluchtpunktes gekannt und denselben verwertet; aber diese Behauptung
wurde von K. Döhlemann im Aufsatze Die Perspektive der Brüder van
Eyck (Zeitschrift f. Math. und Phys., III. Bd., 1905, S. 419—425) als unbegründet
bewiesen. 2) Vgl. G. Loria, „Per L. B. Alberti‘‘ (Bibl. math. 1895, p. 9—12).
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 581
druckt wurde!),. Um über ein solches Thema zu schreiben, war
der berühmte Maler vortrefflich vorbereitet, da er als Jüng-
ling die Geometrie gründlich studiert hatte; in der Tat sagt Vasari
von ihm, daß er „raro nelle difficoltä dei corpi regolari e nell’ arit-
metica e nella geometria“ war, und daß „i libri meritamente gli
hanno acquistato nome del miglior geometra che fusse nei tempi
suoi“. In seinem Lehrbuche über die „Perspective“ hat Piero den
Albertischen Begriff von der „Perspektive eines Körpers“ benutzt
und weiterentwickelt; ferner hat er zuerst Verfahren angewandt,
welche ihre volle Entwicklung viel später in der darstellenden Geo-
metrie fanden (z. B. die Anwendung der Drehung der objektiven
Figuren, um die Perspektive leichter zeichnen zu können) oder welche
gewöhnlich unter dem Namen anderer gehen; endlich war er der
erste, welcher, um die Perspektive eines Körpers zu erhalten, die
entsprechenden Projektionen einer Reihe ebener Schnitte derselben
betrachtete, und, bevor Leibniz den Begriff der Einhüllenden einer
Kurvenschar noch im allgemeinen festgestellt hatte, sehr klar sah,
daß alle die Kurven jener Reihe den Umriß des Körpers berühren.?)
Als dritten in dieser Gruppe von Italienern, welche zugleich
Maler und Geometer waren, finden wir Lionardo da Vinei, den
Verfasser eines hinterlassenen „Trattato della pittura* (Rom 1651),
welches trotz des Titels kein organisches Werk, sondern nur eine
Sammlung vereinzelter Bemerkungen ist, wo mehrmals ein „Trattato
dı prospettiva“ zitiert wird, welcher aber verloren gegangen zu sein
scheint. Unter diesen Bemerkungen werden wir nur die folgende an-
führen: „Die Linearperspektive bezieht sich auf die Linien, um das
Maß zu untersuchen, wie viel die zweite Sache kleiner sei als die
erste, und die dritte als die andere, und also von Grad zu Grad bis
zu der letzten Weite der sichtbaren Objekte. Ich habe durch die
Erfahrung gefunden, daß wenn das andere Objekt ebensoweit
von dem ersten entfernt ist, als das erste vom Auge absteht, gleich-
wohl das andere um die Hälfte kleiner als das erste sein wird, ob
sie schon einerlei Größe unter sich haben. Und wenn das dritte
') „Petrus Pietor Burgensis, De prospectiva pingendi, herausg. von
Dr. Winterberg‘ (Straßburg 1899); vgl. eine Mitteilung von G. Pittarelli in
„Atti del congresso internazionale di scienze storiche, vol. XII, Rom 1904, p. 251
bis 266; Libri hat in der Note III des IV. Bd. seiner „Histoire“ eine klare Übersicht
über die in Rede stehende Arbeit gegeben. ?®) Nach Ignazio Danti (vgl.
das Vorwort seiner Auflage von Barozzi, von der wir später sprechen werden)
und G. Pittarelli ist Piero auch der Verfasser des Buches „Über die regel-
mäßigen Polyeder“, welches Luca Paciuolo als sein Eigentum in seine „Divina
proportione‘“ eingeschoben hat (vgl. II®, S. 341).
38*
582 Abschnitt XXV.
Objekt in gleicher Weise von dem anderen entfernt ist, wird es um
- kleiner sein, und also von Grad zu Grad durch gleichen Abstand
allezeit eine proportionale Verminderung statthaben“ Ist es nun
nicht überraschend, daß man diese empirische Bemerkung durch
einfache geometrische Überlegungen als vollkommen richtig beweisen
kann?!)
Von einem letzten berühmten Maler müssen wir noch sprechen:
von Albrecht Dürer, dessen geometrische Werke schon gründlich
studiert wurden (Il®, S. 459—468)?). Darin findet man viele die
Perspektive betreffende Stellen (sie wurden wahrscheinlich von Pietro
dei Franceschi inspiriert) und die Beschreibung eines neuen und
zwar des ältesten Apparates, um eine Perspektive mechanisch zu
zeichnen. Ist das etwa hinreichend, um schließen zu können, daß
Dürer „die erste darstellende Geometrie in deutscher Sprache ge-
schrieben hat“?®). Oder ist es nötig und genügt es, um zu dieser
Folgerung zu kommen, die zahlreichen deutschen Werke anzuführen‘),
welche von Dürers Werk inspiriert wurden und es zum Modell
nahmen?
Aus den Händen der Künstler ist die Perspektive in die der
Mathematiker übergegangen infolge einer der vornehmsten Arbeiten
des Federico Commandino (ll, S. 553)°). Es ist der Band des
berühmten Kommentators, welcher die Überschrift trägt: „Ptolemaei
Planisphaerium, Jordani Planisphaerium, Federici Commandini Urbi-
natis in Planisphaerium eommentarius, in quo universa scenographices
ratio quam brevissima traditur ac demonstrationibus confirmatur“
(Venetiis 1558). Das Werk von Ptolemäus, um welches es sich
hier handelt, enthält bekanntlich die Grundzüge der sogenannten
„stereographischen Projektion“; das Buch von Jordanus Nemorarius
behandelt dasselbe Thema ausführlicher. Der Kommentar Comman-
dinos ist ein kurzer Traktat über die Linearperspektive, welcher zu
dem Zweck geschrieben wurde, die Prinzipien festzustellen, welche
der große griechische Astronom als Grundlagen seiner Projektions-
methode gewählt hat. Um diesen Zweck zu erreichen, setzt Com-
mandino voraus, daß die betrachteten Figuren auf zwei zueinander
orthogonale Ebenen bezogen werden (eine horizontale und eine verti-
') Lambert, „Die freye Perspective“, II. Aufl., II. Bd., S. 17- ?) Vgl. auch
Günther, a.a. O., S. 354—370. ®) Gerhardt, „Geschichte der Mathematik
in Deutschland“ (München 1877), S. 25. *) Kästner, „Geschichte der Mathe-
matik‘, II. Bd., Göttingen 1797, 8.9. °) Man sehe auch: Tiraboschi, „Storia
della letteratura italiana‘, Vol. VII, Venezia 1796, p. 479—481; Libri, „Histoire
des sc. math. en Italie“, t. III, p. 118.
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 583
kale), daß die Tafel zu beiden rechtwinklig sei und daß das Auge sich
auf der Vertikalebene befinde; die Tafel wird auf die Vertikalebene
umgelegt vermittels Drehung um ihre Vertikalachse. Unter Annahme
solcher Voraussetzungen gelangte Commandino zu zwei sehr be-
merkenswerten Konstruktionen der Perspektive eines beliebigen
Punktes der Horizontalebene, welche er sodann anwendet, um die
Perspektive der Kreise einer Kugel zu finden. Eine der erwähnten
Konstruktionen war schon bei: den Praktikern im Gebrauch; aber
Commandino kannte sie sicher nicht, denn er scheint die früheren
Werke über die Perspektive nicht studiert zu haben, weil er ihre innige
Verbindung mit den ptolemäischen Untersuchungen nicht bemerkt
hatte. Diese Arbeit des großen Kommentators schien und war in der
Tat auch zu einseitig und wissenschaftlich; die Maler und die Archi-
tekten, welche dieselbe benutzen wollten, fanden sie unvollständig
und zu schwer; daher hielt es ein gelehrter Prälat, Daniele Bar-
baro (1513—1570)!), für der Mühe wert, ein neues Lehrbuch über
die Perspektive zu schreiben, welches zugleich dem Bedürfnisse
der Praktiker und den Forderungen der Theoretiker genügte. Nach-
dem er sich daher mit Unterstützung eines gewissen Johann Zam-
berti mit jener Lehre genügend vertraut gemacht hatte, schrieb er
ein Buch über: „La pratica della prospettiva; opera molto profitte-
vole a pittori, ‚seultori et architetti“ (Venezia 1559). Es ist ein
Werk, welches hält, was es in seinem Titel verspricht; daher verdiente
es die freundliche Aufnahme, welche es wegen seines reichen Inhalts
allgemein fand. Der Geschichtschreiber darf aber nicht unterlassen,
darauf hinzuweisen, daß Barbaro?), nicht nur vieles von Piero della
Francesca sich aneignete, sondern auch versuchte, das ganze Werk
desselben in Mißkredit zu bringen, um von dem Leser den Verdacht
eines Plagiats möglichst fern zu halten.
Auf Daniele Barbaro folgt der Zeit nach ein berühmter
Künstler: Jacopo Barozzi aus Vignola, als Gesetzgeber in der
Architektur unter dem Namen „Vignola“ allgemein bekannt (1507
bis 1573), welcher das Glück hatte, in einem sehr bedeutenden Mathe-
watiker, Egnatio Danti?) (1537—1586), einen gewissenhaften Ver-
leger und geistreichen Kommentator zu finden. Das in Rede stehende
') Biographische Nachrichten über diesen Gelehrten findet man bei: Maz-
zucchelli, „Gli serittori d’Italia“, T. II, P.I, p. 247; Tiraboschi, a. a. O.,
p. 474. ”) Vgl. das Vorwort zu dem Werke von Vignola-Danti, von dem
wir sogleich sprechen werden, und Pittarelli in der o. a. Mitteilung, S. 262. °) Vgl.
Libri, t. IV, p. 37; Tiraboschi, a. a. O., p. 456—459, wo auch über andere
Mitglieder der Familie Danti, die sich mit den Wissenschaften beschäftigten,
berichtet wird.
584 Abschnitt XXV.
Werk!) wurde 1530 verfaßt, ging handschriftlich dureh viele Hände
und wurde vom Verfasser mehrmals durchgesehen und umgearbeitet;
der Sohn Vignolas übergab nach dessen Tode die letzte Bearbeitung
Danti zur Veröffentlichung. — Vignola setzt, den Gewohnheiten
seiner Zeit folgend, immer voraus, daß die Tafel vertikal sei, und
daß man eine Horizontalebene als Träger aller betrachteten Figuren
habe; von jedem Punkt des Körpers nimmt er die Orthogonal-
projektion auf dieser Ebene und die entsprechende Höhe als gegeben
an; und um die Perspektive dieses Punktes zu finden, beginnt er mit
der Bestimmung der Perspektive seiner Orthogonalprojektion. Die so
entstehende Beziehung zwischen der Horizontalebene und der Tafel
ist?) eine Homologie, die vom Verfasser auf zweierlei Weise kon-
struiert wird. Mindestens eine von diesen Konstruktionen ist neu.
Die Erläuterungen Dantis sind sehr bemerkenswert, nicht nur wegen
ihres streng euklidischen Stils und wegen der wertvollen geschicht-
lichen Nachrichten, welche sie über die Untersuchungen der älteren
Perspektiveforscher enthalten, sondern auch weil sie den Beweis von
der in einigen besonderen Fällen vorhandenen Existenz der sogenannten
„punti di concorso“ enthalten, die ein wenig später ihren siegreichen Ein-
zug in unsere Wissenschaft halten sollten. Diese vortrefflichen Kommen-
tare und der große Wert des Originals selbst verschafften der Arbeit
einen ungeheuren Erfolg; sie wurde mehrmals neu aufgelegt, ferner
ins Lateinische, Französische, Englische, Deutsche und Russische über-
setzt; man sagt sogar, daß Peter der Große es nicht verschmäht
habe, dieselbe zu kommentieren!?)
Auch Giambattista Benedetti (II?, S. 565)*) muß unter den
Mathematikern aufgeführt werden, welche sich mit der Perspektive
beschäftigten; denn der II. Teil seines Werkes „Diversarum spe-
culationum mathematiearum et physicarum liber“ (Taurini 1585) ist
betitelt „De rationibus operationum perspectivae“ und scheint den
Zweck zu haben, einige bei den Malern übliche Verfahren zu berich-
tigen. Schon vor Benedetti hatte zwar Danti bereits die Notwen-
digkeit erkannt, derartige Berichtigungen zu geben; aber der Weg,
welchen Benedetti einschlägt, um zum Ziele zu gelangen, ist zum
Teil neu. Es möge noch bemerkt werden, daß der Verfasser für
jedes Problem eine „figura corporea“ und eine „figura superficialis“
ı) „Le due regole della prospettiva pratica di M. Jacopo Barozzi da
Vignola, con i commentari di Egnatio Danti“, Roma, I. ed. 1583; II. ed. 1644.
?) Eine Bemerkung von Chasles („Apergu historique“, II. Aufl., 1875, p. 348).
s) Tiraboschi, „Biblioteca modenese“, T. I (Modena 1781), p. 1761. Tram on-
tini, „Elogio di G. Barozzi* (Modena 1825). *) Man sehe auch Libri, T. III,
p. 121 und Note XXV.
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 585
(d. h. eine schematische und eine wirkliche Figur) gibt, ein System,
welches von dem hochbedeutenden Gelehrten Guido Ubaldo del
Monte (1545—1607) (vgl. II?, 3. 568)!), zu dem wir uns jetzt
wenden, beständig verfolgt und ausgeführt wird.
Die hohe Bedeutung der Arbeiten del Montes über die Mechanik
wurde von Lagrange und den nachfolgenden Historikern vollkommen
erkannt (II, S. 568ff.).. Einen nicht minder hervorragenden Platz
verdient er in der Geschichte der Geometrie als Verfasser der „Per-
spectivae libri sex“ (Pisauri 1600), eines Werkes, das nicht nur als
einer der glänzendsten Edelsteine der italienischen Literatur, sondern
auch als eines der höchsten Produkte des menschlichen Geistes über-
haupt betrachtet werden muß. Alle diejenigen, welche es genauer
kennen lernten, haben es sehr bewundert. Und wenn die Verehrer-
zahl nicht sehr groß ist, so beruht das darauf, daß viele Mathematiker
es mit Unrecht für ein Werk hielten, das nur den Künstlern gewidmet
sei, und diese hingegen zum größten Teil ein im reinsten euklidischen
Stil geschriebenes Werk schwierig fanden. Um die außerordentliche
Wichtigkeit der „Perspective“ del Montes zu beweisen, genüge es,
darauf hinzuweisen, daß im I. Buch der Satz in seiner All-
gemeinheit bewiesen ist, daß die Zentralprojektion eines Systems
paralleler Geraden im allgemeinen ein Büschel ist, eine Tatsache,
welche man zwar schon vorher empirisch festgestellt hatte, dessen
rationelle Erklärung aber nicht einmal versucht worden war?). Daß
der Verfasser sich der Bedeutung dieser Entdeckung wohl bewußt
war, erhellt aus dem Titelblatt seines Bandes, wo man die neben-
stehende Fig. 62 sieht
mit dem Motto: „eitra
dolum fallimur“. Del
Monte verdanken wir
auch die Benennung
„punetum coneursus“ für
den Mittelpunkt des
Büschels, welches die
Projektion einesSystems
paralleler Geraden ist,
eine Bezeichnung, wel-
che die nachfolgenden
Schriftsteller einstimmig annahmen. — Im II. Buch wird die Theorie
') Vgl. Tiraboschi, a. a. O., p.475—478. ) Als eine nicht uninteressante
Kuriosität möge das Folgende erwähnt werden (vgl. 8. 544): In Tinseaus Abhand-
lung „Solutions de quelques problömes relatifs ä la theorie des surfaces courbes
586 Abschnitt XXV.
von den Konkurspunkten auf die Konstruktion der Perspektive von
Punkten der Horizontalebene angewandt (die Tafel immer vertikal
vorausgesetzt); der Verfasser setzt zuerst die Konstruktion mittels
einer Raumfigur auseinander, stürzt dann die Tafel auf die Horizontal-
ebene um und gelangt so zu einer vollständig ausführbaren Kon-
struktion. Diese wird dann in nicht weniger als 23 verschiedenen
Formen dargestellt, und der Verfasser fügt noch hinzu, daß andere
nur der Kürze wegen nicht mitgeteilt wurden. Alle sind bemerkens-
wert, schon allein deswegen, weil der moderne Leser darin viele Be-
griffe, welche der Lehre der Homologie angehören, unbewußt ange-
wandt finden wird. Ohne uns bei alien Anwendungen aufhalten zu
wollen, welche der Verfasser von diesen Konstruktionen macht, be-
merken wir nur, daß del Monte auch einige besondere Fälle der
umgekehrten Aufgabe der Perspektive betrachtet hat, wie z. B. die
folgenden: „einen Punkt zu bestimmen, dessen Perspektive man kennt“;
„die Lage der Augen zu finden, wenn die Perspektive einer gegebenen
Geraden bekannt ist“. — Der Zweck des IH. Buches ist die Kon-
struktion der Perspektive der Höhen (über der Horizontalebene) der
Raumfiguren zu zeichnen; der Verfasser betrachtet zuerst die Pro-
jektionen von Figuren, die in Ebenen liegen, welche zur Horizontal-
ebene parallel sind, dann diejenigen, welche beliebigen Ebenen an-
gehören, macht sodann viele Anwendungen davon und betrachtet
schließlich die Perspektive auf nicht ebene Bildtafeln. Aus dem Inhalt
des III. Buches ersieht man, daß es, um die Perspektive einer belie-
bigen Figur zu finden, notwendig ist, ihre Orthogonalprojektion auf
die Horizontalebene („ae trito vocabulo plantam nos Itali appellamus“)
zu kennen und von jedem Punkt die entsprechende Höhe. Und nun
ist der Hauptzweck des IV. Buches des in Rede stehenden Werkes
der, beides für eine geometrisch definierte Figur zu bestimmen. Was
der Verfasser lehrt, gibt sogleich die Darstellung jener Figuren durch
die Methode der kotierten Ebene (wır gebrauchen diese moderne
Ausdrucksweise, um klarer zu sein) und mit wenigen anderen Bemer-
kungen befähigt er uns auch, die Vertikalprojektion derselben zu
finden. Bemerkenswert sind die Anwendungen auf die regelmäßigen
Polyeder und den Kreis. — Im V. Buch wird ausführlich bewiesen,
et des courbes ä double courbure“ (M&m. pres. par divers savants, T. IX, 1780,
p. 593—642) findet man einen sehr einfachen Beweis des Satzes: „die Projek-
tionen mehrerer paralleler Geraden gehen alle durch den Schnittpunkt der Tafel
mit dem Strahle, welchen man vom Auge parallel zu jenen Geraden ziehen
kann“, ein Prinzip, sagt Tinseau, „dont les auteurs de perspective ont jusquw’ici
cherch® la preuve, les uns dans la meötaphysique, les autres dans les conside-
artions sur l’infini“. Tinseau kannte gewiß nicht das Werk del Montes!
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 587
wie man das Gesagte auf die Zeichnung der Schatten anwenden
kann (die Lichtquelle im Endlichen vorausgesetzt). — Das letzte Buch
behandelt ein Gebiet, welches ein großes praktisches Interesse besitzt
und daher die Aufmerksamkeit der Gelehrten von den Griechen bis
Daniele Barbaro auf sich gezogen hatte: wir meinen die Zeichnung
der Theaterbühnen. Auch für die zu diesem Zweck geeigneten Ver-
fahren gelingt es del Monte, eine wissenschaftliche Grundlage zu
geben. Daher behält seine „Perspective“ bis zum Ende den Wert,
welchen sie bereits auf den ersten Seiten hatte, und welcher ihn
würdig machen würde, unter den Klassikern der exakten Wissen-
schaften zu erscheinen.
Wir müßten jetzt über das Werk „ÖOpticorum Libri VI“ berichten,
das von Fr. d’Aiguillon in Antwerpen im Jahre 1613 veröffent-
licht wurde; aber was über dieses vorzügliche Werk bereits gesagt
wurde (II?, S. 695), ist wohl hinreichend, um sich eine klare Vor-
stellung von seinem Inhalt und Zweck bilden zu können.
Ungefähr um dieselbe Zeit beschäftigte sich mit der Perspektive
ein anderer und zwar sehr berühmter belgischer Geometer, Simon
Stevin (II, S. 572). Sein „Traite d’optique“ enthält seine diesbe-
züglichen Entdeckungen, über welche Chasles urteilt‘): „... mais
nous nous etonnons que l’on passe sous silence Stevin qui... avait
aussi innove dans cette matiere, qu’il avait traite en geometre pro-
fond, et peut-&tre plus completement qu’aucun autre, sous le rapport
theorique. Ainsi nous ne trouvons que dans cet auteur la solution
geometrique de cette question, qui est linverse de la perspective:
etant donnees, dans un plan et dans une position queleonque /’une
par rapport & Jautre, deux figures qui sont la perspective l’une de
Y’autre, on demande de les placer dans l’espace de maniere que la
perspective ait lieu, et determiner la position de l’euil. Stevin, il
est vrai, ne resout que quelques cas partieuliers de cette question,
dont le plus diffieile est celui oü l’une des figures est un quadrilatere
et la seconde un parallelogramme....“ Chasles hätte auch hinzufügen
können, daß Stevin den folgenden Fundamentalsatz der Methode der
Zentralprojektion entdeckt und bewiesen hat: „Wenn sich die Bildtafel
um ihre Schnittlinie mit der Horizontallinie dreht, und wenn sich zu-
gleich der Beobachter um seine Füße dreht, und zwar so, daß er
beständig parallel zur Tafel bleibt, so wird die Perspektive zwischen
Horizontal- und Bildebene nicht gestört; sie bleibt auch dieselbe,
wenn die genannten Ebenen zusammenfallen“?). Durch einige ge-
!) „Apergu historique“, p. 347. ?) „Oeuvres de Stevin“; ed. Girard, p. 533.
Vgl. G. Loria, „Vorlesungen über darstellende Geometrie“, I. Bd., Leipzig 1907,
8. 131.
588 Abschnitt XXV.
schickt gewählte Anwendungen beweist Stevin die Nützlichkeit
dieses schönen Satzes.
Girard Desargues, welcher eine so hervorragende Stellung in
der Geschichte der theoretischen Geometrie einnimmt (I, S. 674—678),
behauptet diese Stellung nicht minder in derjenigen der verschiedenen
Zweige der Ingenieurwissenschaft. Ja vielmehr könnte man behaupten,
daß die theoretischen Arbeiten Desargues’ nichts anderes als Neben-
produkte seiner Bemühungen seien, um einigen praktischen bei Archi-
tekten und Malern üblichen Verfahren eine wissenschaftliche Grund-
lage zu geben. Eine solche Hypothese erscheint wohl gerechtfertigt,
wenn man bedenkt, daß er im reifen Alter (Oktober 1647) erklärt
hat: „je n’eus jamais de goust ä l’estude ou recherche, n’y de la
physique, n’y de la geometrie, sinon en tant qu’elles peuvent servir
ä l’esprit, d’un moyen d’arriver ä quelques sorte de connaissance des
causes prochaines des eflets de choses qui se puissent reduire en acte
effectif, au bien et commodite de la vie qui soit en usage pour
V’entretien et conservation de la sante“!). Die älteste gedruckte Arbeit
von Desargues ist eine „Methode universelle de mettre en perspec-
tive les objets donnes reellement ou en devis, avec leurs proportions,
mesures, eloignements sans employer aucun point qui soit hors du
champ de l’ouvrage“ (Lyon 1636; Oeuvres, I, p. 53—84). Sie fängt
mit einem Verzeichnis neuer Namen an, um die Grundelemente der
Lehre der Perspektive zu bezeichnen, Namen, welche von den Zeit-
genossen des Desargues als überflüssig, schlecht gewählt und daher
tadelnswert angesehen wurden?). Wenn diese in dieser Beziehung
vielleicht nicht ganz unrecht haben, so haben sie es dagegen gewiß,
als ihre Pfeile sich gegen die von ihm ersonnenen Methoden richteten,
Methoden, deren Quintessenz die folgende ist: Eine beliebige Figur
ist vollkommen bestimmt in bezug auf ein rechtwinkliges Trieder,
dessen Kanten OX, OY, OZ seien, falls von jedem ihrer Punkte die
Entfernungen von den Ebenen YOZ, ZOX, XOY gegeben sind.
Ein Ähnliches gilt für eine ebene Figur. In beiden Fällen kennt man
von den betrachteten Punkten die Cartesischen Koordinaten; um-
gekehrt kann man, wenn man von einem Raumpunkte P die Car-
tesischen Koordinaten x, y, 2 kennt, die Lage des Punktes wie folgt
finden: Mau trage auf OX die Strecke OÖOM=x ab, man ziehe von
M die Strecke MN =y parallel zu OY, endlich die Strecke NP=z
parallel zu OZ. Um nun die Perspektive von P zu finden, schlägt
1) „Oeuvres de Desargues“; ed. Poudra, Paris 1864, I. Bd., p. 487.
?) Vgl. die Urteile von Beaugrand und Curabelle in den „Oeuvres de Des-
argues“. II. Bd., p. 355 und 388,
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 589
Desargues vor, diese Konstruktion vom Raume auf die Bildtafel zu
übertragen (d. h. „de pratiquer la perspective conformement au ge£o-
metral“). Der Leser wird hier gewiß den Grundgedanken der neueren
Axonometrie klar ausgedrückt finden. In der Entwicklung desselben
setzt Desargues voraus, daß die gegebene Horizontalebene als
xy-Ebene angenommen werde, und deren Schnittlinie mit der Tafel
als «-Achse sowohl auf der Tafel, als auch im Raume. Die zu
OX parallelen Geraden haben als Projektionen eben andere zu OX
parallele Geraden, während die zu OY oder OZ parallelen zwei
Büschel nicht paralleler Geraden geben. Zwei Skalen äquidistanter
Punkte auf OY und OZ („echelles de petits pieds“) geben auf der
Tafel zwei nicht-reguläre, aber konstruierbare Punktreihen. Mittels
dieser und der obigen Büschel kann man, wie leicht ersichtlich ist,
die Perspektive einer beliebigen Figur zeichnen.
Nicht nur ihre Neuheit ließ die Methode des Desargues
den Zeitgenossen so schwierig erscheinen, sondern auch der Um-
stand, daß er sich damit begnügt hatte, seine Idee nur anzu-
deuten und auf ein besonderes Beispiel allein angewandt ausein-
anderzusetzeg. Man muß noch hinzufügen, daß er keinen Ge-
brauch von den Konkurspunkten gemacht hat, deren Theorie del
Monte. schon festgestellt hatte; aber in einem den „contemplatifs“
gewidmeten Anhang lehrte er die Transformation durch Projektion
eines Systems paralleler Geraden in ein eigentliches Büschel, wie auch
die (übrigens von Stevin schon beobachtete) umgekehrte Transfor-
mation, die stattfindet aus einem Büschel, dessen Mittelpunkt auf
einer Parallelen liegt, die vom Auge auf die Tafel gezogen wird. In
dieser Gruppe von Theoremen hat Desargues „une fourmilisre de
grandes propositions“ erkannt. Zum Schlusse hat er versichert, in
der Lage zu sein, das folgende wichtige Problem aufzulösen: „In der
Ebene eines Kegelschnitts, dessen Perspektive man sucht, die Geraden
zu bestimmen, welche in die Achsen dieser letzteren sich projizieren“.
Im Jahre 1640 veröffentlichte Desargues ein anderes Werkchen
mit dem Titel: „Brouillon-projet d’exemple d’une maniere univer-
selle touchant la practique du trait ä preuves pour la coupe des
pierres en l’architeeture; et de l’eclaireissement d’une maniere de
reduire au petit pied en perspective comme en g&ometral et de tracer
tous quadrans plats d’heures @gales au soleil“ (Oeuvres I, p. 303 ff.).
In dem Teil, welcher in diesem Augenbliek allein uns interessiert,
hat sich Desargues die Aufgabe gestellt, die Augen sowohl den-
jenigen zu öffnen, welche seinen Methoden jeden Wert ableugneten,
da sie dieselben nicht verstanden hatten, als auch denjenigen, welche
ihnen jede Originalität absprachen. Wenn man auch zugeben muß,
590 Abschnitt XXV.
daß die zweite Veröffentlichung Desargues’ weniger bündig ge-
schrieben ist, als seine erste, so zeichnet sie sich doch nicht durch
allzu große Klarheit aus, so daß man bezweifeln kann, ob er den
ersten Zweck erreicht hat; es muß indessen bemerkt werden, daß er
mehrere Personen nennt, welche imstande waren, seine Methoden
anzuwenden. Unter diesen finden wir den „graveur“ Abraham Bosse
(1611—1678), welcher im Jahre 1648 ein Lehrbuch der Perspektive
herausgab!), in dem man eine wertvolle Note findet (vgl. Oeuvres de
Desargues I, p. 303—358). Sie bildet eine wichtige Ergänzung zur
ersten Broschüre Desargues’, da man in derselben einige wichtige
Hilfssätze zur Perspektive und Vorschriften für den Gebrauch des
„optischen oder Proportionszirkels“ beim perspektivischen Zeichnen
findet. Wir haben die Pflicht, zu bemerken, daß die Priorität der
Anwendung desselben Desargues in einem „Abrege ou Racourei de
la perspective par liimitation“ (Paris 1643) von Vaulezard abge-
stritten wurde, ein Werk, das in seiner sehr langen Überschrift
unsern Geometer als „celui qui se vante d’avoir l’unique secret et les
manieres de la perspective“?) bezeichnet.
A. Bosse, von dem wir soeben gesprochen haben, ist der-
jenige, welcher mehr als alle anderen sich bemüht hat, den Ideen
des Desargues zum Siege zu verhelfen. Unter seinen zu diesem
Zweck geschriebenen Werken führen wir noch zwei andere an:
das Buch „Moyen universel de pratiquer la perspective sur les
tableaux ou surfaces irregulieres“ (Paris 1653; vgl. Oeuvres de
Desargues, II, p. 16—33), auch eine Frucht des Desarguesschen
Unterrichts, dessen Thema schon von del Monte gestreift worden
war?), und den „Traite des pratiques geometrale et perspective
enseignes dans l’Academie royale de peinture et seulpture“ (Paris
1656; Oeuvres de Desargues, II, p. 35—47), welcher zwar nach Des-
argues’ Tod erschienen ist, aber dessen Methoden zur Konstruktion
von Basreliefs auseinandersetzt, Methoden, welche Desargues die
Würde des Begründers der Relief-Perspektive sichern. Es mag
zuletzt noch bemerkt werden, daß mit den Untersuchungen des
!) „Manitre universelle de M. Desargues pour pratiquer la perspective par
petits pieds comme le geometral, ensemble les places et les proportions, touches,
teintes et couleurs“, Paris 1648. 2) Poudra, „Histoire de la perspective“,
p. 310. Aus dem hier gegebenen Bericht erhellt, daß das „Abrege“ eine
wissenschaftlich geschriebene Arbeit ist, welche die erste Andeutung des
Problems gibt, eine Figur zu bestimmen, von der mehrere Perspektiven ge-
geben sind (Hauptaufgabe der neueren theoretischen Photogrammetrie).
. ®) Darin befindet sich der Umriß einer Ringfläche als die Einhüllende der Pro-
jektionen der Kreise der Fläche („Oeuvres de Desargues“, II. Bd., p. 22).
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 591
Desargues über die Perspektive im allgemeinen wahrscheinlich die
geheimnisvollen und jetzt verlorenen „Legons de tenebres“ in engem
Zusammenhang stehen, wo die Kegelschnitte als von einem erleuch-
teten Kreise geworfene Schatten betrachtet waren, das Licht im End-
lichen vorausgesetzt, um keine Kurve auszuschließen.
Eine andere Schrift, in welcher die Methoden des Desargues
erklärt und entwickelt sind, ist die „Perspecetive adressee aux theo-
riciens“, die Poudra am Ende der Bosseschen „Perspective“ einge-
schaltet fand (Oeuvres de Desargues, I, p. 439—462); sie hat den
Zweck, die Angriffe zurückzuweisen, welche gegen Desargues in dem
Werke „La perspective speculative et th&orique. De lYinvention du
feu Sieur Alleaume“ (Paris 1634) gerichtet worden waren.')
Einen ganz anderen Standpunkt Desargues gegenüber, dem von
Bosse ganz entgegengesetzt, nahm Curabelle ein, dessen heftige
und unbegründete Kritiken wahrscheinlich einer verdienten Vergessen-
heit anheimgefallen wären, wenn Poudra nicht in seiner Ausgabe
der Werke des Desargues die Erinnerung an dieselben wieder auf-
gefrischt hätte. An diese gewissenhafte Publikation verweisen wir
diejenigen unserer Leser, welche die Einzelheiten dieser sonderbaren
Streitigkeiten kennen zu lernen wünschen, in deren Verlauf unter
anderem auch eine Herausforderung erfolgte, nach der jeder der Wider-
sacher dem anderen 100 Pistolen versprach für den Fall, daß es ihm
gelänge, ihn von seinem Unrecht zu überzeugen. Um Curabelle
jedoch teilweise zu entschuldigen, wollen wir auch bemerken, daß im
Jahre 1642 ein Buch von Pater du Breuil ans Licht kam?), in dem
die Ideen Desargues’ in vollkommener Entstellung dargestellt sind
von einem, der sie nicht verstanden hatte. Die von du Breuil be-
gangenen Irrtümer wurden von Desargues selbst vor der Öffentlich-
keit mit großer Heftigkeit zurückgewiesen; so entstand ein hart-
näckiger Streit, welcher ungefähr 40 Jahre dauerte, und infolgedessen
Bosse, der treue Beschützer des Desargues, seinen Lehrstuhl an
der Akademie der schönen Künste verlassen mußte.
Als der Kampf immer heftiger wurde, setzte Desargues, um
ihm ein Ende zu machen, einen Preis von 1000 Franken für den-
jenigen aus, welcher neue Verfahren zur Ausführung von Perspek-
e
‘) Aus dem Berichte, welchen Poudra („Histoire“, p. 288—309) über dieses
Werk gegeben hat, erhellt, daß darin eine Auflösung des Problems enthalten ist,
die Perspektive einer Figur zu finden, deren Seiten und Ecken gegeben sind.
?) „La perspective pratique necessaire ä tous... par un Parisien, religieux
de la Compagnie de Jesus“; vgl. Poudra, a. a. O., p. 271—287, wo auch über
die folgenden verbesserten Auflagen berichtet wird und darin enthaltene Andeu-
tungen über die Militär- oder Kavalierperspektive angegeben sind (s. $S. 283).
592 Abschnitt XXV.
tiven erfinden würde, die denjenigen des Desargues vorzuziehen
wären; diese Zusage ist in einem an Bosse gerichteten Briefe ent-
halten, welcher das Datum des 25. Juli 1657 trägt und der Pariser
Aueh Arie vier Tage später mitgeteilt wurde und so weite Verbreitung
in der Öffentlichkeit fand. Und nun schrieb „pour esrege au prix
que M. Desargues, homme savant et genereux, a propose“, Pater
Charles Bourgoing die „Perspective affranchie“ (Paris1661), in welcher
viele bemerkenswerte, auf die Anwendung der Konkurspunkte gegrün-
dete Konstruktionen ausgeführt werden. Wenn man bedenkt, daß
Desargues die Hilfe der Konkurspunkte abgelehnt hatte, so muß
man zugeben, daß der Verfasser in der Wahl seines Krbeitepäbiiteh
äußerst geschickt war. Er versucht die Überlegenheit seiner eigenen
Methoden über diejenigen von Desargues in sechs Punkten zu be-
weisen und nimmt zufrieden mit seiner Ausführung von seinem Buche
mit den folgenden Versen Abschied:
„Parcourez lunivers banissant toute crainte,
Le monde ni l’enfer n’auront sur vous atteinte,
Car les plus grands efforts de la t&merite
Mettent bas les armes devant la verite.“
Das 17. Jahrhundert, welchem die Wissenschaft von der Perspek-
tive Forscher ersten Ranges, wie delMonte, Stevin und Desargues,
verdankt, hat auch noch eine große Anzahl von sonstigen Bearbei-
tungen und Einzelbeiträgen hervorgebracht. Alle zu nennen ist un-
möglich und wäre auch zwecklos; die wichtigsten aber verdienen
wenigstens erwähnt zu werden.
So enthält der V. Band des „Cours mathematique“ von Peter
Herigone eine kurze Auseinandersetzung der uns beschäftigenden
Lehre (Paris 1654, p. 190—217), wo auch die originelle Symbolik
angewandt wird, deren Schöpfer er ist (vgl. Bd. II?, S. 656).
Ver Herigone (1633 oder etwa 1614) veröffentlichte zu Amster-
dam Samuel Marolais die lateinisch geschriebenen „Prinzipien der
Optik und der Perspektive“, welche bemerkenswert sind, weil sie den
ersten Versuch darstellen, die Aufgaben der Perspektive arithmetisch
zu lösen. Gerade unter diesem Gesichtspunkt erinnert diese Arbeit
an eine spätere mit der Überschrift „Andreae Alberti duo libri, prior
de perspectiva cum et praeter arithmeticam inventa, posterior de
umbra ad eam pertinente“ (Norimbergae 1671), in welcher ausgeführt
wird, wie man die Koordinaten des Bildes eines Punktes, dessen Ko-
ordinaten bekannt sind, bestimmen kann.
Mit Rücksicht auf den großen Ruhm, den ihr Verfasser genießt,
wollen wir weiter die Arbeit des Pater Niceron (1613—1646) „La
perspective curieuse“ (Paris 1671) anführen, eine hinterlassene und
Die Perspektive vom Mittelalter bis zu Ende des 17. Jahrhunderts. 593
von unbekannter Hand stammende Bearbeitung des „Thaumaturgus.
optieus seu admiranda“, ein Werk, dessen Druck am 2. August 1646
vollendet wurde; sie ist denjenigen zu empfehlen, die sich für die
von der Zentralprojektion verursachten Verzerrungen interessieren.
Die verzerrende Gewalt jener Öperation scheint von Andreas
Tacquet (1612—1660) wahrgenommen und überschätzt worden zu
sein, da man auf dem Titelblatt der 2. Auflage (1707) des präch-
tigen Bandes seiner „Opera mathematica“ einen durch die Sonne er-
leuchteten rechtwinkligen Rahmen sieht, welcher als Schatten
einen Kreis wirft, und diese sonderbare Figur „mutat quadrata
rotundi“ als Motto trägt. Die Figur selbst dient als symbolischer
Hinweis auf das II. Buch („Syllabus propositionum opticae“) der
„Opera“, wo die Grundbegriffe der Perspektive bewiesen werden, um
sie dann auf die Astronomie anzuwenden.
Zum Schluß dieser flüchtigen Musterung der Beiträge, welche
das 17. Jahrhundert zur Perspektive gegeben hat, mag zweierlei be-
merkt werden:
Erstens daß das großartige Werk von Guarini (vgl.
Vorl., III? S.14)') nieht nur in seinem XXXIIL Abschnitt ein
Kapitel unserer heutigen darstellenden Geometrie enthält, welches,
wie Chasles?) hervorhob, „traittE de la projeetion sur des
plans des lignes qui proviennent de l’intersection de la sphere, du cöne
et du eylindre entre eux et du developpement, sur un plan, de ces courbes
a double courbure“, sondern daß auch sein XVI. Abschnitt zu derselben
Lehre gehört. Dieser Abschnitt behandelt nämlich unter dem Titel
De projeeturis die früheren Arbeiten von Vitruv und Aiguillon,
die Orthogonalprojektion auf eine Ebene und die stereographische
Projektion einer beliebigen Figur. Der Vollständigkeit wegen soll
auch gesagt werden, daß das in Rede stehende Werk kein Kommentar
zu den Elementen Euklids ist, da es nicht nur von den klassischen
Theorien der Geometrie, welche man bei Euklid, Archimed und
Pappus findet, handelt, sondern auch die modernen, auf den Ge-
brauch der Trigonometrie und der Logarithmen gegründeten arithme-
tischen Methoden, um die geometrischen Probleme aufzulösen, um-
') Sein vollständiger Titel ist der folgende: „Euclides adauctus et metho-
dicus mathematicaque universalis Car. Em. II dicata, quae ne dum propositionum
dependentiam, sed et rerum ordinem observat. Et complectitur ea omnia, quae
de quantitatae tum discreta; tum continua abstracta speculari queunt. Resectis
superfluis demonstrationibus, et requisitis omnibus profuse coadunatis. Singulis
quoque Tractatus novis propositionibus adaucti sunt, et aliqui etiam ex integro
adornati. Omnesque tum figuris, tum verbis clare, dilucideque propositi.“
Augustae Taurinorum, MDCLXXI. ?) „Apergu hist.“, Note XVII.
594 Abschnitt XXV.
faßt; daher findet man am Schluß desselben eine Tafel von: den Si-
nussen und Tangenten.
Unsere zweite Schlußbemerkung betrifft das Werk von Milliet-
Dechales, von dem schon zweimal gesprochen wurde (III?, 5. 4—6
und S. 15—18), welches sechs Bücher über die Perspektive enthält.
Unter den dort bewiesenen Sätzen findet man auch den folgenden
bemerkenswerten, oft zu Unrecht dem Lambert zugeschriebenen
Lehrsatz: „Zwei parallele Geraden AC, BD werden von einer Trans-
versale AD geschnitten. Durch einen Punkt ( einer dieser Geraden
zieht man die Geraden OD, CI,... bis. sie die andere Gerade schneiden.
Man bestimmt dann ihre Schnittpunkte F, E,... mit der Transver-
salen Ab. Wenn man nun die beiden gegebenen Parallelen um die
Punkte A, B rotieren läßt, so daß sie beständig parallel bleiben und
den Punkt X, der dem Punkt © entspricht, mit den Punkten D, ],...,
welche den Punkten @, H,... entsprechen, durch Gerade verbindet,
so werden die Geraden KG, KH,... noch durch die Punkte F, E,...
gehen.“ Es ist unmöglich, alle Anwendungen aufzuzählen, welche der
Verfasser von diesem Satz macht; aber wir können nicht umhin, einige
der wichtigen Probleme, welche er löst, wenigstens zu erwähnen; z.B.
die Bestimmung des Fluchtpunktes aller Geraden auf der Tafel, welche
rechtwinklig auf einer anderen Geraden dieser Tafel stehen, die Auf-
suchung der Geraden, welche zwei untereinander rechtwinklige Gerade
rechtwinklig schneidet, usw. |
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive.
So mannigfaltig und wichtig die Beiträge sind, welche das
17. Jahrhundert zur Perspektive geliefert hat, so sind nicht weniger
bedeutend diejenigen, welche wir dem nächsten verdanken, in dessen
Verlaufe diese Wissenschaft eine Höhe erreichte, über die wir heute
noch nicht hinausgekommen sind. Der erste bedeutende Gelehrte,
dem wir begegnen'), ist Wilhelm Jacob s’Gravesande, geboren
am 27. September 1688 und als Leydener Universitätsprofessor am
28. Februar 1742 gestorben, der als Herausgeber der Werke von
Huygens und Newton unseren Lesern schon bekannt ıst (III,
) Wir haben im Text Ozanams (vgl. III?, S. 102 und 270) keine Er-
wähnung getan, weil seine „Perspective theorique et pratique“ (Paris 1711)
nichts Neues, aber viel Falsches enthält. Zu bemerken ist ferner, daß in seinen
wohlbekannten „Recreations math&ematiques et physiques“ (III. &d., Paris 1700
‚ einige ,„Problemes d’optique“ enthalten sind, welche unsere Wissenschaft be-
treffen.
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 595
S.278 und 394). Die Arbeit, mit der er seine Laufbahn als Schrift-
steller begann, ist eben diejenige, welche ihm einen Ehrenplatz in
der Geschichte der Perspektive sichert; es ist der „Essai de perspec-
tive“ (La Haye 1711), in welchem Johann Bernoulli sofort „plu-
sieurs regles fort ingenieuses et tres-commodes pour la pratique, qu’on
ne trouve pas ailleurs“!) entdeckte. Das I. Kapitel dieses Werkes
enthält zuerst eine Abhandlung, in der er die Nützlichkeit der Per-
spektive zu beweisen sucht und dann die Erklärungen der Grundbe-
griffe derselben gibt. Das II. Kapitel lehrt ihre wissenschaftlichen
Grundlagen. Zuerst beweist der Verfasser, daß „eine zur Tafel paral-
lele Gerade auch zu ihrer Projektion parallel ist“, und daß „eine Figur,
deren Ebene parallel zur Tafel ist, ihrer Perspektive ähnlich ist“.
Dann folgt die wichtige Bemerkung, daß, „wenn eine Gerade die Tafel
in einem eigentlichen Punkte schneidet, ihre Perspektive die Verbin-
dungslinie dieses Punktes mit demjenigen ist, in welchem die Tafel
von der Parallele geschnitten wird, welche man vom Projektionszen-
trum jener Geraden ziehen kann“. So gelangt er zur Bestimmbarkeit
einer beliebigen Geraden durch ihre Spur- und Fluchtpunkte (vgl
auch Kapitel III, 3. Probl.); daraus folgt ferner, daß die Lage der
Perspektive einer Geraden keine Veränderung erleidet, wenn das Pro-
jektionszentrum auf einer zu jener parallelen Geraden sich bewegen
läßt. Im III. Kapitel werden die so gefundenen Prinzipien auf die
Konstruktion der Perspektive von Figuren angewandt, welche in einer
Horizontalebene liegen, die Tafel ursprünglich vertikal vorausgesetzt,
und dann durch Drehung auf die Horizontalebene umgelegt. Unter den
sieben Verfahren, welche der Verfasser auseinandersetzt, wählen wir
die folgenden als Beispiele. In Figur 63 ist Y der Projektionsmittel-
punkt und O der Fußpunkt der Senkrechten,
welche von ihm auf die Tafel gefällt wird; L |
P ist ein beliebiger Punkt der Horizontal- Y Ye 2
ebene und H ihre Orthogonalprojektion auf Y |
die Tafel. Dann ist augenscheinlich die Per- AN |
spektive von P der Schnittpunkt P’ der Nr .
Geraden VP und OH; daher teilt er die 2 N #
Strecke OH in dem Verhältnis VO: PH. / BEL N
Aus dieser Beobachtung leitet s’Gravesande v | yRN y,
die erste seiner Methoden ab. Es sei (Fig. 64) / / e:
t die „ligne de terre“ (Schnittlinie der Ho- ae
rızontal- und Bildebenen) und o die Parallele, welche zu ihr durch
O gezogen ist; die Strecke OV sei zu o senkrecht und an Länge der
') Poudra, „Histoire“, p. 484.
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 39
596 ' Abschnitt XXV.
Strecke VO in Fig. 63 gleich; die Geraden OH und V_P schneiden
sich dann augenscheinlich im gesuchten Punkte P'. Beschreibt man
nun die Kreise, welche P resp. V als Mittelpunkte und die Strecken
PH und UO als Halb-
messer haben, so wird
P’' gewiß einer ihrer
Ähnlichkeitspunkte
sein; daher (IV. Me-
. thode) kann man P’
° auch finden als Schnitt-
punkt zweier den beiden
£ Kreisen gemeinschaft-
lichen Tangenten. Be-
trachtet man nun (VI.
Methode) einen zweiten
Punkt @ der Horizontal-
ebene,um Q’ zu finden, so
kann man sich die Tat-
sache zunutze machen, daß die Geraden p Q und P’Q auf der Geraden £
sich schneiden; man bestimme nämlich den Punkt PQ.t und verbinde
ihn mit P’,; die so entstehende Verbindungslinie wird VYQ in ©
schneiden. Betrachtet man nun, nachdem man P’ und Q bestimmt
hat, einen dritten Punkt R der Horizontalebene, um R’ zu finden, so
kann man den Umstand benutzen, daß PQR und P’Q’R perspek-
tivische Dreiecke sind, mit V als Zentrum und t als Perspektivachse.
Um auch noch über die letzte der Methoden s’Gravesandes zu be-
richten, erwähnen wir, daß die von ihm angenommene Bildtafel recht-
| winklig zur Horizontalebene
steht und auf diese umgelegt
wird; daher ist das, was
s’G@ravesande die Projektion
einer Figur F' nennt, eher das,
was wir als Umlegung (F')
derselben zu bezeichnen
pflegen, während seine ‘(der
Horizontalebene angehörige)
objektive Figur unseren Augen
als eine Horizontalprojektion F’
von F' erscheint; und die von
ihm gelöste Aufgabe kommt
der Ableitung von F’ aus (F)
gleich: nun ist die von ihm vorgeschlagene Konstruktion von der-
Fig. 64.
Fig. 65.
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 597
jenigen nicht verschieden, welche heutzutage in der Methode der Zen-
tralprojektion angewandt wird, und an die wir durch die Fig. 65 unsere
Leser erinnern wollen. Der Verfasser wendet seine Methoden auf die
Bestimmung der Perspektive von Polygonen an und lehrt dann vier
weitere Methoden zur Auffindung der Perspektive eines beliebigen
Raumpunktes; unter diesen Methoden ist die erste besonders bemer-
kenswert, da sie von der Betrachtung der Orthogonalprojektion des
Punktes unabhängig ist. Das IV. Kapitel beginnt mit der Voraus-
setzung, daß das Projektionszentrum von der Tafel sehr weit entfernt
sei, so daß die Projektionsstrahlen als parallel angesehen werden
können. Das V. Kapitel handelt von der Perspektive auf schiefe
Ebenen, das folgende von derjenigen auf Ebenen, welche dem Horizont
parallel sind, und das VII. von den Schatten. In dem folgenden kehrt
der Verfasser zu den Problemen zurück, welche er im Anfange be-
trachtet hat, um zu zeigen, wie die dort angegebenen Auflösungen
zu vereinfachen sind, und im letzten wendet er die. erhaltenen Resul-
tate auf die Gnomonik an, wobei er zu neuen und einfachen Kon-
struktionen gelangt. Nun, das Wenige, das wir hier über diese Jüng-
lingsarbeit des hervorragenden niederländischen Gelehrten gesagt haben,
scheint uns zu genügen, um zu beweisen, daß er dem Zweige der
Mathematik, dessen Entwieklungsstadien wir hier verfolgen, eine
außerordentliche Förderung gebracht hat.
Nicht minder wichtig und ersprießlich wurde die Wirkung, welche
auf die Entwicklung der Perspektive ein großer Analyst ausübte,
welcher auch eine große Rolle zur Zeit der Geburt der Infinitesimal-
rechnung spielte; wir meinen Brook Taylor (1685—1731; vgl. III,
S. 378). — Im Jahre 1715 veröffentlichte er eine kurze Arbeit über
die „Linear-Perspektive“, welche vier Jahre später in verbesserter Auf-
lage unter dem Titel „New principles of linear Perspective“ erschien;
aber der zu gedrängte Stil des Verfassers verhinderte, daß die Künstler,
an die das Werk in erster Linie gerichtet war, es verstanden; daher
veröffentlichte nach Taylors Tod John Colson (1680—1760) —
eine andere der Personen in dem Drama, in dem Leibniz und
Newton die Protagonisten waren! — eine neue mit Berichtigungen
und Zusätzen versehene Auflage, deren vollständiger Titel lautet:
„New principles of linear perspective: or the Art of Designing in a
Plane, the representation of all sort of Objeets, in a more and general
simple Method, than has been hitherto done“ (London 1749). Die
Lektüre dieses kurzen, aber vortrefflichen Werkes bereitet dem mo-
dernen Leser eine der angenehmsten Überraschungen, da man, um es
ganz kurz zu sagen, darin alle Grundbegriffe (nur etwa den „Distanz-
kreis“ ausgenommen) und alle Methoden der Zentralprojektion vor-
89*
598 Abschnitt XXV.
findet, wie man sie z. B. in dem klassischen Lehrbuch von W.Fiedler
angeführt findet‘) Zwar finden sich einige von diesen bereits in
älteren Arbeiten über die Perspektive; es scheint aber, daß diese
Arbeiten Taylor ganz unbekannt waren, und daß er nur die em-
pirischen von den Malern befolgten Regeln kannte.
Um seine Ideen klar auseinanderzusetzen, sah sich unser Ver-
fasser gezwungen, ein ganz neues System von Fachausdrücken zu
schaffen, von dem wir glauben, hier eine kleine Probe geben zu
müssen, um sie mit der modernen Nomenklatur zu vergleichen. Nach
ihm ist die Linearperspektive die Kunst, eine beliebige Figur auf
einer beliebigen Ebene genau zu zeichnen. Was er „point of sight“
nennt, ist das „Projektionszentrum“, während unser „Hauptpunkt“ von
ihm „centre of the pieture“ genannt wird; die durch diese Punkte
begrenzte Strecke wird von ihm, wie auch heute noch, „Distanz“ ge-
nannt. Zieht man durch das Projektionszentrum die zur Tafel paral-
lele Ebene („direeting plane“ = „Verschwindungsebene“), so heißen
ihre Schnittpunkte mit einer beliebigen Geraden oder Ebene „direc-
ting point“ (oder kürzer „direetor“) resp. „direeting line“. Die „inter-
section“ einer Geraden oder einer Ebene ist die entsprechende Spur,
während das Beiwort „vanishing“ unseren Fluchtelementen entspricht.
Schon Taylor machte darauf aufmerksam, daß die „direeting“ und
„vanishing“ Geraden einer Ebene untereinander parallel sind. End-
lich versteht er unter dem „seat“ eines Punktes oder einer Geraden
die entsprechende Orthogonalprojektion auf die Bildebene. Nachdem
der Verfasser diese Definitionen vorausgeschickt hat, stellt er vier
Lehrsätze ohne Beweis auf, die zwar nicht ohne weiteres evident sind,
aber nicht zu seinem Thema gehören.) Sie werden sogleich auf die
Grundsätze der Perspektive angewandt; unter diesen erwähnen wir
den Lehrsatz, nach welchem die Geraden, welche unter sich, aber
nicht zur Tafel parallel sind, denselben Fluchtpunkt haben?), und dab
dieser Punkt mit dem Hauptpunkt zusammenfällt, wenn jene Geraden
die Tafel rechtwinklig schneiden; wenn aber mehrere Geraden unter
sich und zur Tafel parallel sind, so sind auch ihre Projektionen unter-
einander parallel. Diese Sätze und die obigen Begriffe bilden die
) Daß dieses Zusammentreffen „une rencontre qui n'est pas un rendez-vous“
ist, erhellt daraus, daß das Taylorsche Werk bis nach dem Jahre 1858 Fiedler
ganz unbekannt blieb. Man sehe den Aufsatz desselben „Meine Mitarbeit an
der Reform der darstellenden Geometrie in neuerer Zeit‘‘ im Jahresbericht der
Deutschen Math.-Ver., 1905, 8. 493. . ?) Der dritte dieser Sätze ist nicht ganz
richtig, da drei Geraden, wenn sie sich je paarweise schneiden, entweder in
einer Ebene liegen, oder durch denselben Punkt gehen. °) Es ist im Grunde
genommen der Satz del Montes über den Konkurspunkt.
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 599
gesamten Werkzeuge, deren Taylor sich bedient, um alle beliebigen
Perspektive-Aufgaben zu lösen, d.h. nicht nur die rein deskriptiver
Natur, sondern auch diejenigen, in welchen man Orthogonalitätsbe-
dingungen begegnet'), wie auch diejenigen, bei denen sich unter dem
Gegebenen oder Gesuchten auch die Größen von Strecken oder Win-
keln befinden.) Daß man auf diese Weise im Besitz der nötigen
Mittel sei, um die Perspektive jeder Figur zu zeichnen, wird von
Taylor an mehreren ziemlich verwickelten Beispielen gezeigt. In
einem Anhang wird dann noch bewiesen, daß vieles von dem, was er
auseinandergesetzt hat, auch seine Gültigkeit behält, falls die Tafel
nicht eben ist.?)
Der zweite Teil des besprochenen Werkes ist sehr kurz, aber
sehr bemerkenswert, insofern er in einigen Fällen die umgekehrte
Aufgabe der Perspektive mit Erfolg angreift. Um unseren Lesern
eine Idee der Grenzen und der Ordnung des behandelten Stoffes zu
geben, möge es genügen, die von ihm betrachteten Probleme anzu-
führen: I. Es sind die Projektionen A, B, C dreier Punkte einer Ge-
raden gegeben, wie auch der Fluchtpunkt der Geraden; es soll das Ver-
hältnis AC: BC bestimmt werden. I. Es sind die Projektionen
dreier Punkte A, B, C einer Geraden und das Verhältnis AC: BO
gegeben; der Fluchtpunkt der Geraden ist zu bestimmen. III. Man
kennt die Projektion eines Dreiecks, die Fluchtgerade seiner Ebene,
den Hauptpunkt und die Distanz; gesucht ist die Art des Dreiecks.
IV. Gegeben ist die Projektion und die Art eines Dreiecks, ferner die
Fluchtgerade seiner Ebene; der Hauptpunkt und die Distanz sollen
bestimmt werden. V. Die Projektion eines Trapezes gegebener Art
ist bekannt; man soll die Fluchtgerade seiner Ebene, den Hauptpunkt
und die Distanz finden. VI. Man kennt die Projektion eines recht-
winkligen Parallelepipedons; der Hauptpunkt, die Distanz und die Art
der Raumfigur sind zu bestimmen. |
Wir halten es für überflüssig, die Auflösungen dieser Aufgaben
nach Taylor zu geben, da sie von den heute üblichen nicht ver-
schieden sind. Lieber wollen wir bemerken, daß, während die Mathe-
matiker Taylor in den Himmel hoben, weil er es verstanden habe,
so viel Gutes und Neues auf nur 80 kleine Seiten zusammengedrängt
zu haben, die Künstler nicht mit ihm zufrieden waren, weil sie sein
') Hier eine stillschweigende Anwendung der Antipolarität in bezug auf
den Distanzkreis. *) Der von Taylor angewandte Kunstgriff besteht in der
Umlegung der betrachteten Ebene auf die Bildtafel, d. h. es ist der auch von
uns angewandte. °) Ein anderer von Newton inspirierter Anhang gehört
zur Physik.
600 Abschnitt XXV.
Werk zu schwierig und zu wenig praktisch fanden!) Um
nun aber seinen Fachgenossen die Anwendung der Taylorschen
Methoden leichter zu ermöglichen, schrieb der Maler Josuah Kirby
(1716—1774) ein zweibändiges Werk mit dem langen Titel: „Dr. Brook
Taylors Method of Perspective made easy both in theory and prac-
tice. In two books. Being an Attempt to make the Art of perspec-
tive easy and familiar to adapt it entirely to the art of design; and
to make it an entertaining study to any gentleman who shall chose
so polite an amusement“ (Ipswich 1754). Wir wissen nicht, welche
Aufnahme diese Arbeit gefunden hat, und ob der Verfasser seinen
Zweck erreicht hat. Dagegen ist es aber zweifellos, daß jeder Mathe-
matiker, der das Werk mit demjenigen Taylors vergleicht, finden
wird, daß es einen entschiedenen Rückschritt gegen jenes bedeutet,
da man die sehr schätzenswerten Eigenschaften von Allgemeinheit
und Bündigkeit, denen wir beim Autor begegnet sind, beim Kommen-
tator vergebens suchen wird. Allerdings hat Kirby das Verdienst,
die älteren Perspektivmethoden im Zusammenhang dargestellt und
die Anwendung derjenigen Taylors zur Bestimmung der Schatten
auseinandergesetzt zu haben.?)
Einen ähnlichen Zweck hat der „Traite de perspective line&aire“
(Paris 1771) von S. N. Michel; er ist aber praktischer und elemen-
tarer als das Werk von Kirby, da er nur Definitionen und Beispiele
enthält. |
Der Beifall, mit welchem das Werk Taylors in der mathema-
tischen Welt begrüßt wurde, findet seine Bestätigung in einigen Er-
scheinungen, welche der Geschichtsschreiber nicht unerwähnt lassen
darf. Zuerst das monumentale Werk „Stereography or a general
Treatise of Perspective in all its Branches“ (London 1748) von
H. Hamilton, welches viele Erörterungen über die Taylorschen
Methoden enthält. Dann kann die italienische und französische
Übersetzung des Taylorschen Werkes erwähnt werden. Der Ver-
fasser der letzteren Arbeit?) ist uns unbekannt; der der ersteren aber
b Vgl. Poudra, „Histoire“, p. 529. 2) Wollte man sich von der Pflicht
befreien, der chronologischen Ordnung getreu zu folgen, so konnte man außer
den im Texte angeführten Ereignissen noch ein anderes erwähnen, daß nämlich
ein großer Geometer wie L. Cremona es nicht unter seiner Würde hielt, die
Taylorschen Methoden in die moderne Sprache der Wissenschaft zu übersetzen ;
man sehe den Aufsatz „I principi della prospettiva lineare secondo Taylor“,
welcher mit dem Anagramm Marco Uglieni im III. Bd. (1865) des „Giornale di
matematiche‘“ veröffentlicht wurde. ®) „Nouveaux principes de la perspective
lineaire; traduction de deux ouvrages: l’un en anglais du “docteur-Brook
Taylor, l’autre en latin de M. Patrice Murdoch“, Amsterdam 1759.
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 601
ist ein Franzose, der Pater Jacquier (1711—1788; vgl. III, S. 841),
wegen eines vortrefflichen Kommentars zuden Newton schen „Prineipia“
wohlbekannt, welchen er in Gemeinschaft mit Pater Lesueur (1703 bis
1770) geschrieben hat. Auch seineBearbeitung des Taylorschen Werkes +)
ist mit schätzbaren Anhängen versehen, von denen einige auch für
uns in Betracht kommen, da sie mathematischer Natur sind. Der,
welcher die Nr. 3 trägt (die Numerierung folgt der des Originals),
bezieht sich auf die Erniedrigungserscheinung, welche die Höhe eines
Gegenstandes darbietet, falls er sich von dem Auge des Beschauers
entfernt, und die Bestimmung der Kurve (Hyperbel), auf welche man
die gleich hohen Gegenstände einer Reihe verteilen muß, damit sie
einem Beschauer als von gleicher Höhe erscheinen. Die folgende
"Anmerkung handelt von den verzerrenden Projektionen (Anamor-
fosi), welche entstehen, wenn der Gegenstand sich zwischen den
Augen und der Tafel befindet; Jacquier zeigt den Zusammenhang
dieser Lehre mit derjenigen von den Brennlinien. Der Sinn des Wortes
„Schatten“, welchem man in der Überschrift und im Text der V. Note
begegnet, ist derselbe, wie der von Newton (vgl. III, 5.423) ange-
nommene, da es sich bei Jaequier um Projektionen von Figuren han-
delt; mit jenem großen Mathematiker schließt er folgendermaßen: „Si in
planum infinitum a puneto lueidum illuminatum umbrae figurarum
projieiuntur, umbrae sectionum conicarum semper erunt sectiones co-
nicae. Quaemadmodum cireulus umbra projiciendo generat omnes
sectiones conicas, sic parabolae quinque divergentes umbris suis gene-
rant et exhibent alias omnes secundi generis curvas.“ Um zu diesem
wichtigen Resultate zu gelangen, bestimmt unser Verfasser die Carte-
sische Gleichung der Kurve, die man erhält, wenn man einen Kegel
durch eine Ebene schneidet. Dasselbe Thema wird in der folgenden
Note behandelt, welehe die Überschrift „Von der Projektion der
Kurven“ trägt; in der letzten endlich werden die Eigenschaften der
ın der Astronomie angewandten Projektionen vorgetragen, d.h. die
Projektionen einer Kugelfläche auf eine Ebene von einem Punkte der
Oberfläche („stereographische“ Projektion) oder von ihrem Mittelpunkt
(„gnomonische“ Projektion) aus; beiläufig gibt der Verfasser eine neue
Auflösung der folgenden schon von Descartes und de l’Höpital
behandelten Aufgabe: „die Kreisschnitte eines Kegels zu bestimmen,
dessen Mittelpunkt und kegelschnittförmige Basis gegeben sind“. Aus
alledem geht klar hervor, daß Pater Jacquier den Einfluß, welchen
die Zentralprojektion auf die Geometrie auszuüben bestimmt war, ın
)) „Elementi di prospettiva secondo li prineipi di Brook Taylor con varie
aggiunte spettanti all’ ottica e alla geometria‘“, Roma 1755.
602 Abschnitt XXV.
seiner vollen Bedeutung erkannt hat. Ja, er hat sogar zu sehen ge-
glaubt, daß ihr Bereich sich bis auf die Analysis erstrecken könnte,
wie aus den folgenden Sätzen, mit denen er seinen Band schließt,
ersichtlich ist: „Ich möchte dieses Buch mit der Bemerkung schließen,
daß die Projektionsmethode auch bei den höchsten Rechnungen sehr
nützlich sein kann. Die Projektion von Kurven und krummen
Flächen bringt oft überraschende Vereinfachungen in ihrer Quadratur
hervor. Aber dieser Gegenstand erfordert eine besondere Abhandlung,
welche ich ans Licht zu bringen hoffe.“ Leider wurde dieses Ver-
sprechen nie gehalten!
Dem 18. Jahrhunderte verdanken wir ein anderes Werk über
die Perspektive, das sich an Bedeutung mit der Taylorschen Per-
spektive messen kann, Lamberts „Freye Perspective“. Seinem Er-
scheinen aber gingen einige andere Arbeiten voraus, die unerwähnt
zu lassen, unrecht wäre.
Edmond Sebastian Jeaurat (1724—1803), zuerst „Ingenieur-
geograph“, dann Professor an der Pariser Kriegsschule, ist der Verfasser
eines „Traite de perspeetive“ (Paris 1750), aus dem ein kompetenter Fach-
mann!) wertvolle neue Konstruktionen mitteilt. Später richtete er seine
Gedanken auf die Astronomie und gedachte auf dieselbe die Methoden
der Wissenschaft anzuwenden, mit der wir uns jetzt beschäftigen; so
entstand die Abhandlung „Projection des Eclipses de soleil, assujetie
aux regles de la perspective ordinaire“ (Mem. de math. et phys. pres.
par divers sav., T. IV, Paris 1763, 5. 318—335); aber in dieser Ab-
handlung findet der Geometer nichts, was ihn interessieren könnte,
und auch die Astronomen lernten darin kein neues Verfahren von
praktischem Wert kennen’).
Einem anderen Astronomen, Nicolas Ludwig la Caille
(1713—1762), verdanken wir die „Lecons elementaires d’optique“,
von denen wir nicht weniger als fünf Auflagen (Paris 1750,
1756, 1764, 1808, 1810) und eine lateinische Übersetzung
kennen (Venedig 1774). Für uns hat gegenwärtig nur der III. Teil
dieses Werkes Interesse, weil darin die Elemente der Perspek-
tive mit Hilfe der Rechnung auseinandergesetzt sind. Der Ver-
fasser nimmt drei orthogonale Koordinatenebenen, von denen die
xz-Ebene mit der vertikal vorausgesetzten Tafel zusammenfällt; die
xy-Ebene ist die durch das Auge geführte Horizontalebene; die 2-
Ebene endlich geht auch durch das Auge, steht aber zu den zwei
1) Poudra, „Histoire“, p. 501. ®) R. Wolf erwähnt wohl Jeaurat in
seiner „Geschichte der Astronomie“ (München 1877), sagt aber von jener Ab-
handlung kein Wort. |
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 603
anderen rechtwinklig. Auf der Tafel wird ebenso ein rechtwinkliges
Koordinatensystem festgestellt, dessen x-Achse mit derjenigen des
Raumsystems zusammenfällt. Dann sind die Koordinaten x, y, z
eines beliebigen Raumpunktes mit denjenigen #, y' seiner Projektion
durch Gleichungen folgender Art gebunden:
“=ad:(d+y); Y=zd:(d+y);
wo d die Entfernung des Projektionszentrums von der Tafel bedeutet.
»Marolais (s. oben) hatte diese schon gefunden; la Caille drückte sie
in Worten als Proportionen aus.
Einen ähnlichen Zweck verfolgt die Programmabhandlung „Per-
spectivae et projeetionum theoria generalis analytica“ (Leipzig 1752)
des berühmten Professors A. G. Kästner (1719—1800). Dasselbe
gilt von dem „Essai sur la perspective pratique par le moyen du
ealeul“ (Paris 1756) von Ü. Roy, „graveur en taille douce“. Roy
weiß sehr wohl, daß schon vor ihm die Perspektive analytisch be-
handelt worden ist, bemerkt aber, daß „il est etonnant quil ne se
trouve nulle application du calcul dans les traites de perspective
donnes au publie depuis quelques annees, et quil faille recourir ä
celui de P. Tacquet, 1618, ou du P. Lamy“. Wir müssen nun
aber bemerken, daß man wohl mit Recht daran zweifeln darf, daß
der Verfasser die von ihm angeführten Werke gekannt habe; denn
Taequet war im Jahre 1618 erst sechs Jahre alt, konnte daher
weder Pater noch Autor sein; und außerdem ist in seinem uns bereits
bekannten Buch über die Perspektive von Rechnungsanwendung über-
haupt keine Rede; weiterhin bemerkt Montucla!) von dem „Traite
de perspeetive“ Lamys (1640—1715), daß er „est plus fait pour les
peintres, et plus relatif au coloris, que propre aux geometres“. Alles
das glaubten wir nicht unbemerkt lassen zu dürfen, um die Ver-
breitung irrtümlicher Ansichten über die Geschichte der Anwendung
der Rechnung auf die Perspektive zu verhindern.
Eine bedeutendere Originalität besitzt die Abhandlung „De perspec-
tiva in theorema unum redacta“ (Bonon. Comment. III. Bd. 1755, p. 169
bis 177). Man verdankt dieselbe Eustachius Zanotti (1709—-1782),
einem Schüler des Eustachius Manfredi (1674—1739) und zugleich
Nachfolger desselben auf dem Lehrstuhle der Astronomie an der
Universität zu Bologna. Indem Zanotti sich den Gebräuchen seiner
Zeit anschließt, betrachtet er zwei Grundebenen MS und LF (Fig. 66),
‚die erste horizontal, die zweite (die Tafel) vertikal; er setzt ferner voraus,
daß die Tafel zwischen dem Beschauerauge O und dem zu betrach-
tenden Punkte N liege. Die Gerade NO schneidet die Tafel in dem
') „Histoire des mathematiques“, T. I, 2. Aufl., p. 711.
604 ädschniit: IXY:
Punkte X der Projektion von N; wenn nun weiter OF und NI zur
Tafel rechtwinklig sind, so wird X auf der Strecke IF liegen und
dieselbe im Verhältnis OF: NI teilen. Diese Bemerkung, eine Ver-
allgemeinerung derjenigen, die wir schon bei s’Gravesande fanden,
führt zu einer ebenen Konstruktion des gesuchten Punktes X. Um
zu derselben zu gelangen, ziehen wir durch N die zur Horizontal-
ebene rechtwinklige Gerade NM und eine beliebige Hilfsgerade, die
die Ebene MS in H schneiden möge; so entsteht ein rechtwinkliges,
Dreieck MHN, dessen spitzer Winkel MHN die Neigung « jener
Hilfsgeraden zu der Horizontalebene darstellt. Ist ferner ML zur
Tafel rechtwinklig, so ist ILMN ein rechtwinkliges Parallelogramm
und daher MN = IL. Nehmen wir nun zuletzt noch an, daß die
Fig. 66. Fig. 67.
Tafel auf die Horizontalebene umgelegt werde, so wird die Fig. 67
entstehen. In dieser ziehen wir nun die zu LQ parallele Gerade FA
und durch M die zu LQ rechtwinklige Gerade ML; ferner verlängern
wir die Gerade ML so weit, bis die Verlängerung LI gleich der
gegebenen Höhe des Punktes ist; der gesuchte Punkt X wird dann
augenscheinlich auf die Gerade FI fallen. Es sei nun ferner @ der
Schnittpunkt von MH mit der Grundlinie LQ und ferner die Strecke
QU=QH. Durch U ziehen wir weiter die Gerade UC, so daß der
Winkel UCQ=« wird, und durch F rechtwinklig zu FA die
Strecke FP, die gleich der gegebenen Entfernung zwischen dem
Auge und der Tafel sein soll. Die Gerade PA sei zu MQ parallel
und die Strecke AG—= AP. Zuletzt sei die Gerade AB zu PF
"parallel und die Gerade @B zu CU. Die Geraden FI und BC
schneiden sich dann in dem gesuchten Punkte X. Um sich
dessen zu vergewissern genügt es, festzustellen, daß X die Strecke
FI in dem bereits angegebenen Verhältnis teilt. Zanotti beweist
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 605
dies in einer langen Erörterung euklidischen Stils, die hier wieder-
zugeben wir für überflüssig halten. Nur sei bemerkt, daß die obige
Konstruktion eine beträchtliche Vereinfachung erfährt, falls der
gegebene Punkt auf der Horizontalebene liegt; in diesem Falle wird
sie mit einer schon von s’G@ravesande vorgeschlagenen identisch.
Gerade von diesem besonderen Falle geht nun Zanotti in
seinem „Trattato teorieo-pratico di prospettiva“ (Bologna 1766) aus,
welcher, nach einem Biograph Zanottis!) eine siegreiche Kon-
kurrenz mit demjenigen von Taylor-Jacquier bestand. In diesem
findet sich nach einem Abschnitte, „welcher die Erklärungen enthält“,
ein zweiter mit der Überschrift „von der Ikonographie“, und
wo die oben angeführte Konstruktion s’Gravesandes durch die
folgende ersetzt wird: Auf der Ge-
raden, welche durch F (Fig. 68) zur
Grundlinie („linea della terra“) ge-
zogen ist, trage man FD = der
Entfernung der Augen von der
Tafel ab und auf der Grundlinie
selbst LO = LM; die Geraden LF
und D®@ schneiden sich dann in
dem gesuchten Punkte Z, da er
die Strecke LF in dem oben an- \
gegebenen Verhältnisse teilt. Von \ |
dieser Konstruktion leitet Zanotti Es
in seinem III. Abschnitte („Von Fig. 68.
der ÖOrthographie“) eine andere ab,
um die Perspektive eines beliebigen Raumpunktes N zu finden, die
einfacher ist als die in seiner vorigen Abhandlung von 1755 aus-
einandergesetzte, und die daher eine Erwähnung verdient. Wir be-
merken nämlich, daß aus der Fig. 66 die Proportion folgt
NM:XZ=FL:FZ,
und daß die Projektionen der Punkte M, N auf eine zur Grundlinie
rechtwinklige Gerade fallen werden. Kehren wir nun zur Fig. 68
zurück und tragen wir auf der Verlängerung von ML’ die Strecke
LN= der Höhe des objektiven Punktes ab und verbinden F mit N,
dann wird die Gerade FN die Gerade, welche durch Z parallel zu
MLN gezogen wird, in der gesuchten Perspektive X von N schneiden.
Der Kürze wegen wollen wir den Beweis für die Richtigkeit dieses
') Man sehe den ursprünglich lateinisch geschriebenen „Elogio“ von
L. Palcani, welcher, ins Italienische übersetzt, als Einleitung zu der 2. Aufl.
(Milano 1825) des in Rede stehenden ‚Trattato“ dient.
606 Abschnitt XXV.
Verfahrens hier nicht angeben und nur bemerken, daß Zanotti auch
die Modifikationen zeigt, welche jene Konstruktion erfordert, wenn
das Objekt zwischen das Auge und die Tafel fällt. — Der IV. Ab-
schnitt des betreffenden „Trattato“ enthält die bekannten, schon von
del Monte und Stevin angeführten Sätze über die Transformation
eines Systems paralleler Geraden durch Projektion in ein eigentliches
Büschel oder umgekehrt. Der V. Abschnitt betrifft die Schatten, der
VI. Abschnitt die Perspektive von Kurven mit besonderer Berück-
sichtigung des Kreises, der VII. Abschnitt die Perspektive der regel-
mäßigen Polyeder und der VIII. Abschnitt, welcher rein praktischer
Natur ist, die Perspektive der Zimmerdecken und der Bühnen. Die
zwei letzten Abschnitte sind dagegen wieder theoretisch; der eine
enthält eine Methode zur Zeichnung der Perspektive ohne Zuhilfe-
nahme des Grundrisses!), während der andere sich mit der Wieder-
herstellung einer Figur beschäftigt, von der eine Perspektive be-
kannt ist. Das Werk schließt mit einem Nachworte „über ver-
schiedene, die Perspektive betreffende Fragen“, welche nur für Künstler
Interesse hat.
Mit Rücksicht darauf, daß es zweckmäßiger war, alle Bei-
träge, welche Zanotti zur Perspektive geliefert hat, im Zusammen-
hang zu betrachten, haben wir uns leider gezwungen gesehen, die
chronologische Ordnung für einen Augenblick zu verlassen. Denn
schon vor dem Erscheinen des „Trattato teorico-pratico di prospettiva“
war in Deutschland ein sehr originelles Werk veröffentlicht worden,
dessen Verfasser Johann Heinrich Lambert (1728—1777)?) war.
Während seines fast ein halbes Jahrhundert dauernden Lebens hat
‚Lambert viele wertvolle mathematische und philosophische Arbeiten
geschrieben, wobei er sich beständig bemüht, die Anwendungen der
exakten Wissenschaften in das gehörige Licht zu setzen. Eine große
und wohlverdiente Berühmtheit erlangte die Abhandlung „Insigniores
orbitae cometarum proprietates“ (Wien 1761; Augsburg 1771),
welche mindestens eine Erwähnung in jeder Geschichte der Geometrie
verdiente, weil darin der schöne Satz (heute „Lambertscher Lehr-
satz“ genannt) dargelegt wird: „In jeder parabolischen Bahnkurve
eines Punktes hängt die Zeit, in welcher ein beliebiger Bogen be-
schrieben wird, nur von der entsprechenden Sehne und der Summe
der Radiusvektoren der Bogenextreme ab“. Dieser Satz hat ein
Analogon in dem folgenden, welchen man ebenfalls Lambert ver-
!) Wurde beim Schreiben dieses Abschnittes Zanotti etwa von Lambert
beeinflußt, von dem wir gleich sprechen werden? ?) Seine Biographie be-
findet sich im XXIII. Abschnitt, S. 408.
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 607
dankt: „Betrachtet man in zwei Ellipsen, welche einen gemeinsamen
Brennpunkt haben, zwei Bogen, in welchen die Sehnen und die
Radiusvektoren gleich sind, so ist das Verhältnis der entsprechenden
Ellipsensektoren gleich der Quadratwurzel des Verhältnisses der ent-
sprechenden Parameter“ Lagrange und Laplace, auf die die
Schönheit dieser Resultate großen Eindruck machte, haben versucht,
dieselben analytisch zu begründen. Es gelang ihnen. Lagrange
aber hat dabei gewissenhaft anerkannt, daß in diesem Falle die Geo-
metrie Siegerin über die Analysis geblieben war.
„Die freye Perspective, oder Anweisung jeden perspectivischen
Aufriß von freyen Stücken und ohne Grundriß zu verfertigen“!'),
das Werk, welches Lambert einen Ehrenplatz in der Geschichte der
Perspektive und der modernen Geometrie sichert, zeigt auch den-
Jenigen, welche die wissenschaftliche Physiognomie des Verfassers
nicht kennen, deutlich, daß dieser zugleich Mathematiker und Physiker
war, und daß er in seinen wissenschaftlichen Studien stets seinen
Blick auf die praktischen Anwendungen richtete. Sein Hauptziel
war, das Zeichnen von Perspektiven unabhängig von einer vorher-
gehenden Zeichnung einer Orthogonalprojektion zu machen; es war
ein natürlicher und wohlberechtigter Wunsch, den wir schon bei
anderen angedeutet fanden, und den auch schon Taylor in seinem
Werk erfüllt hatte Lambert kannte wahrscheinlich dieses Werk
nicht, jedenfalls gab er einen neuen Weg an, um jenes Ziel zu er-
reichen.
Diese allgemeine Bemerkung vorausgeschickt, wollen wir nun
die acht Abschnitte des Lambertschen Werkes durchgehen, um
ihren Inhalt kennen zu lernen:
I. Abschnitt. „Von den Gründen der Perspektive, und den
Gesetzen, nach denen ebene Flächen und darauf stehende Körper
entworfen werden.“ Als Erfahrungstatsachen nimmt Lambert
die folgenden an: a) das Licht verbreitet sich geradlinig, b) die
Tafel vertikal vorausgesetzt, haben die Vertikallinien eben solche
Geraden als Projektionen. Er setzt ferner ein Beziehungs-
system als gegeben voraus, dessen Ebenen die Tafel, die ge-
gebene Horizontalebene und eine durch den Gesichtspunkt (oder
das „Auge“) gehende und zu den zwei anderen rechtwinklig stehende
' Ebene seien. Die Schnittlinie der Tafel mit der Horizontalebene
nennt er Fundamental- oder Grundlinie („ligne de terre“ in der fran-
zösischen Übersetzung). Die Entfernung (Fig. 69) des Auges O von
') L Aufl., Zürich 1759; II. Aufl., ib. 1774. Man sehe auch „La perspec-
tive affranchie de l’embarras du plan geometral“, Zurich 1759.
608 Abschnitt XXV.
der Horizontalebene O8, heißt die „Höhe des Auges“, der Fußpunkt
P des von O auf die Tafel gefüllten Lotes ist der „Augenpunkt“
und die Länge der Strecke OP die „Entfernung“; endlich nennt er
die durch den Augenpunkt gehende horizontale Gerade die „Horizon-
tallinie“. @ sei der vierte Eckpunkt des rechtwinkligen Parallelo-
gramms POSQ, C ein beliebiger Punkt der Horizontalebene und ce
die Projektion desselben. Ist qg der Schnittpunkt der Geraden US
mit der Grundlinie, so wird q offenbar die Horizontalprojektion von
c sein. Wir ziehen nun durch C in der Horizontalebene eine belie-
bige Hilfsgerade, welche die Grundlinie in M schneiden möge, und
durch O die zu OM parallele Gerade, welche die Tafel in dem auf
der Horizontallinie gelegenen Punkte p schneidet; p M wird die Pro-
jektion von IM sein. Alle zu CM parallelen Geraden haben als
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Fig. 69. Fig. 70.
Projektionen Geraden, welche durch p gehen, einen Punkt, welcher
nur von dem Winkel « abhängt, welchen sie mit der Grundlinie, oder
von demjenigen ß = u — a („Deklination“ genannt), welchen sie mit
einer zur Grundlinie rechtwinkligen Geraden bilden. Um eine dieser
Geraden festzustellen empfiehlt es sich (Fig. 70) den Punkt zu geben,
in dem sie die Gerade SQ schneidet. Dann bemerken wir als Folge
der dargelegten Konstruktion, daß Winkel POp=QCM=Pß und
deshalb auch Pp= OPtangß is. Wenn nun ß bekannt ist, so -
können wir von P aus auf der Horizontallinie die Strecke OP
tang 8 abtragen. Wir erhalten so zwei Punkte, durch deren einen @
die Projektionen aller Geraden der Horizontalebene, welche mit der
Grundlinie den Winkel 8 bilden, gehen. Setzt man ferner voraus,
daß OP=P®Q sei, so werden die Dreiecke PQp, POp kongruent
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 609
sein und infolge dessen auch die Winkel PQp, POp und ß. Be-
schreibt man dann auf der Tafel einen Kreis mit @ als Mittelpunkt
und QP als Halbmesser und zieht durch g die auf der Tafel liegenden
Geraden, welche mit @P die Winkel von 1°, 2%... bilden, so wird
auf der Horizontallinie eine Reihe (,Skala“) von Punkten entstehen,
welche wir entsprechend mit 1°, 2°,... bezeichnen wollen. Mit Hilfe
dieser Skala (welche sich schon bei la Caille vorfindet) kann man
viele Konstruktionen auf der Tafel ausführen, sobald man bemerkt
hat, daß zwei Gerade, deren Deklinationen 8 und ß’ sind, unterein-
ander den Winkel ’— ß bilden. Aus dieser Beobachtung ergibt
sich, daß, wenn zwei Geraden der Horizontalebene untereinander den
Winkel y bilden, ihre Projektionen durch zwei Punkte obiger Skala
gehen, deren Zahlen den Unterschied 7 haben. An dieser Stelle
führt Lambert eine nur ihm eigentümliche Nomenklatur ein, die
aus den folgenden Sätzen erhellt: I. Zwei Gerade der Tafel, welche
durch denselben Punkt der Horizontallinie gehen, werden „parallele“
genannt (weil sie die Projektionen paralleler Geraden sind). II. Eine
auf der Horizontallinie rechtwinklig stehende Gerade heißt perpen-
dikular (weil sie die Projektion einer Vertikallinie ist). III. Jedem
Winkel auf der Tafel wird die Geradenanzahl zugeschrieben, welche
der entsprechende Winkel der Tafel enthält. IV. Endlich behält auch
das Bild jeder Strecke das Maß ihrer Länge auf der Horizontalebene
bei. Mit Hilfe dieser Nomenklatur (welche die Grundlage einer
„perspektivischen Geometrie“ bildet) wird die Bedeutung folgender
von Lambert aufgelösten Aufgaben klar werden: I. Durch einen
gegebenen Punkt eine Gerade zu ziehen, welche einer gegebenen
Geraden parallel ist. II. Durch einen auf einer Geraden gegebenen
Punkt eine andere Gerade zu ziehen, welche mit der ersteren einen
gegebenen Winkel bildet. III. Wenn die Seiten einer Figur und ihre
Lage nebst den Winkeln gegeben sind, die Figur zu entwerfen.
IV. Die Perspektive eines Kreises zu konstruieren, von dem man eine
Sehne kennt, die einem Bogen von gegebener Größe entspricht.
Betreffs der Lösung der metrischen Fragen bemerkt Lambert, daß,
wenn A’B’C’D’ ein Viereck auf der Tafel ist, und wenn A’B’ und
C’D’ in der Horizontallinie sich schneiden, während A’C’ und B’D’
untereinander parallel sind, AbBCD ein Parallelogramm sein "wird
und daher Ab=CD, AC=BD, AD=BC sind. Kennt man
daher eine Skala, deren Träger eine zur Grundlinie parallele Gerade
ist, so ist es leicht, jede zu derselben parallele Strecke zu messen.
Die analoge Frage in bezug auf eine beliebige Strecke ist
schwieriger; ihre Lösung gibt Lambert mit Hilfe des folgen-
den Problems: „Gegeben auf der Tafel ein Winkel, dessen Seite
610 Abschnitt XXV.
8’Q’ horizontal ist. Der Punkt $’ ist derart zu bestimmen, daß
RS= RQ sei“.
II. Abschnitt. „Von der geschickten Lage des Auges und der
Entfernung der Tafel von demselbigen.“ Bemerkungen und Ratschläge
für die Künstler bestimmt.
III. Abschnitt. „Von verschiedenen Instrumenten, dadurch die
Ausübung der Perspektive verkürzt wird.“ Das hauptsächlichste Instru-
ment, dessen Gebrauch von Lambert angeraten wird, ist der „op-
tische“ oder „Proportionszirkel“, dessen Anwendung, wie wir gesehen
haben (8.590), die Veranlassung zu einem Streit zwischen Desargues
und Vaulezard um die Priorität der Erfindung gab. Lambert
scheint diese Vorgänger nicht gekannt zu haben. Aber er war so
überzeugt von dem Nutzen des Proportionszirkels, daß er ıhn zum
Gegenstand einer besonderen Publikation machte.!)
IV. Absehnitt. „Die Ausübung obiger Regeln in ausführlichen
Exempeln.“ Hier werden die im I. Abschnitt gegebenen Vorschriften
auf die Zeichnung der Schatten angewandt.
V. Abschnitt. „Von der Entwerfung schiefliegender Linien und
Flächen, und dessen, was darauf vorkommt.“ In diesem wichtigen
Teil seines Werkes hat sich Lambert die Aufgabe gestellt, die Er-
gebnisse des I. Abschnitts in der Weise zu modifizieren, daß sie auch
für den Fall anwendbar sind, daß die Tafel nicht vertikal ist. Unter
den von ihm eingeführten Begriffen mögen diejenigen von der Spur-
(„Knotenlinie“ nach Lambert) und der Fluchtlinie („Grenzlinie“ nach
Lambert) einer Ebene ($$ 165—167), und der Begriff der ent-
sprechenden Punkte einer Geraden angeführt werden. Für den Fall,
daß die Orthogonalprojektion des Gesichtspunktes auf der Horizontal-
ebene auf die Grundlinie fällt, gibt Lambert die Anweisung, auf der
Horizontallinie der Tafel eine Skala zu entwerfen, analog derjenigen,
welche im I. Abschnitt konstruiert und benutzt wurde. Unter den
zahlreichen von ihm aufgelösten Aufgaben wollen wir diejenige er-
wähnen, welche die Gerade zu zeichnen versucht, die eine Ebene
rechtwinklig schneidet, um den Leser darauf aufmerksam zu machen,
daß das Lambertsche Verfahren sich vom unsrigen weiter entfernt,
als das von Taylor angewandte.
VI. Absehnitt. „Verschiedene Anmerkungen und Beispiele, so
zu Erläuterung dessen dienen, was erst von der Zeichnung schief-
liegender Flächen gelehrt worden.“ Den Praktikern gewidmet!
1) „Kurzgefaßte Regeln zu perspektivischen Zeichnungen vermittelst eines zu
deren Ausübung so wie auch zu geometrischen Zeichnungen eingerichteten
Proportionalzirkels“, Augsburg; I. Aufl. 1768; II. Aufl. 1770.
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 611
VII Abschnitt. „Von der perspektivischen Entwerfung aus
einem unendlich entfernten Gesichtspunkt.“ Die so entstehende Pro-
jektion wird von Lambert (nur in der 1. Auflage) „orthographisch“,
„militär“ oder „kavalier“ genannt. Er bemerkt, daß es dasselbe sei,
eine endliche Figur von einem unendlich entfernten Mittelpunkt aus
oder eine unendlich kleine Figur von einem endlich entfernten Zentrum
aus zu projizieren. Die Wichtigkeit dieser Beobachtung für die
Lehre von den Schatten wird ausführlich dargelegt, für den Fall, dab
die Lichtquelle im Unendlichen liegt.
Der VII. (letzte) Abschnitt behandelt die „Umgekehrten Auf-
gaben der Perspektive“, ein Thema, welches, wie wir sahen, schon
von del Monte und Vaulezard gestreift wurde, und dessen theo-
retische wie praktische Wichtigkeit außer Zweifel steht. Es handelt
sich hier darum, die Bedingungen zu bestimmen, unter welchen eine
gegebene Perspektive entworfen wurde, d.h. die Lage des Gesichts-
punktes und der Tafel zu finden. Im gewöhnlichen Leben pflegt man
diese Untersuchung durch praktische Versuche anzustellen, wenn man
ein Gemälde betrachtet. Die Tatsache, daß Lambert jene Frage
“ rationell lösen und ferner zwei orthogonale Projektionen eines Körpers
aus einer Projektion ableiten wollte, hat dazu geführt, daß man
ihn zu den Begründern der heutigen Photogrammetrie rechnet.)
Ausdrücklich sagt er zwar nicht, daß jene Aufgabe unbestimmt ist;
stillschweigend aber wird diese Unbestimmtheit zugestanden und
durch Hinzufügung neuer Angaben vermindert.’) In zahlreichen und
interessanten Beispielen wird von Lambert die Auffindung der Lage
des Gesichtspunktes in bezug auf die vertikal vorausgesetzte Tafel
ausgeführt. Die Lösung des obigen Problems ist keine erschöpfende
und konnte es auch nicht sein, da die Erscheinungsformen, unter
denen es einem begegnen kann, unendlich sind; die Fälle aber, welche
Lambert betrachtet und behandelt, sind sehr geschickt gewählt und
behandelt.
Eine Fortsetzung, gewissermaßen einen Anhang zu diesen
Abschnitten der „Freyen Perspective“ bildet eine von Lambert
hinterlassene Abhandlung mit dem Titel: „Die vornehmsten und
brauchbarsten Grundsätze der Perspeetive, aus Betrachtung einer geo-
metrisch gezeichneten Landschaft abgeleitet“ (Hindenburgs Archiv 1799).
Dieser Titel könnte den Glauben erwecken, daß diese Arbeit rein
ı) Vgl. die schöne Rede von J. Schur, „J. H. Lambert als Geometer‘‘;
Jahresber. der Deutschen Mathem.-Ver., Bd. XIV, 1905, 8.196. ?) Z. B. setzt
er an einer Stelle voraus, daß ein auf der Tafel gezeichnetes Viereck die Per-
spektive eines Quadrates oder eines Rechtecks gegebener Art sei.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 40
612 Abschnitt XXV.
didaktischer Natur wäre; aber der folgende Auszug wird zeigen, daß
ihr Zweck ein ganz anderer war, denn, um der Schlußkette Lamberts
folgen zu können, ist es unbedingt notwendig, schon die Prinzipien
der Perspektive zu kennen. Er bemerkt zunächst, daß die Maler die
Regeln der Perspektive nicht befolgen; daher schlägt er eine Unter-
scheidung zwischen „Landschaft“ und „Prospekt“ vor, indem er den
letzteren Namen den Landschaften vorbehält, bei denen jene Prinzipien
streng befolgt werden. Indem er sodann einen (aus einem Turm
und einem Haus bestehenden) Prospekt als gegeben voraussetzt, be-
stimmt er mit Hilfe desselben. und durch ein sehr geistreiches Ver-
fahren den „Horizont“ und den „Augenpunkt“; dieses Verfahren
hängt seiner Natur und seinem Zweck nach mit dem letzten Ab-
schnitt der „Freyen Perspective“ eng zusammen. Lambert schließt
die Darlegung derselben durch die folgende Bemerkung: „Das bloße
Augenmaß ist bei Zeichnungen von Aussichten etwas sehr Mißliches,
und so sehr man auch den Malern die Übung desselben einschärft
und den Gebrauch des Zirkels untersagt, so sehr könnten die Käufer
und Liebhaber sich ausbitten, daß wenigstens bei Zeichnungen von
Landschaften und Aussichten der Gebrauch des Lineals und Zirkels
nicht nur gestattet, sondern als etwas schlechthin Unentbehrliches
gefordert werde“ Wurden diese vernünftigen Ratschläge von den
Künstlern und ihren Mäcenaten befolgt? Wir haben Gründe genug,
um daran zu zweifeln!
Fünfzehn Jahre nach der Veröffentlichung der „Freyen Perspec-
tive“ machte sich das Bedürfnis nach einer Neuauflage fühlbar.
Lambert beschränkte sich dabei auf einige kleinere Verbesserungen
des Textes.!) Jedoch fügte er zu dem alten Bande einen neuen hinzu,
welcher wichtige „Anmerkungen und Zusätze“ enthält. In dem ersten
dieser Zusätze gibt Lambert, mit freier Benutzung der Geschichts-
werke des Montucla und Saverien, eine flüchtige Übersicht über
die wichtigsten Arbeiten über Perspektive. In einem anderen gibt
er kleine Zusätze zu der behandelten Lehre, welche sehr wohl auch
im Text selbst hätten Platz finden können. Bei zwei längeren Zu-
sätzen müssen wir einen Augenblick verweilen. In dem einen Zusatz
(zu $ 12) setzt Lambert die zahlreichen Verfahren zum Entwerfen
von Perspektiven auseinander, welche vor ihm bereits durch Dürer,
Danti usw. empfohlen worden waren; andere werden von ihm selbst
hinzugefügt. Der zweite wichtige Zusatz reiht Lambert zu den
Begründern der „Geometrie des Lineals“”) Da wir keinen Raum
1) Die Vermehrung der Paragraphen von 310 auf 315 ist nur scheinbar und
die Folge eines Versehens, da dem $ 310 der $ 315 folgt. ?) Chasles, „Apergu
historique“, p. 186; Cremona, „Geometria projettiva‘, Torino 1873, p. 123.
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 613
haben, um den Inhalt desselben hier ausführlich wiederzugeben, wollen
wir uns damit begnügen, die behandelten Aufgaben wiederzugeben
und zu bemerken, daß ihre Auflösungen auf denselben Prinzipien
beruhen, welche Lambert zur „perspektivischen Geometrie“ (m. s.
S. 609) geführt haben:
I. Durch vier gegebene Punkte, die nicht in gerader Linie liegen,
sondern von denen jeder außerhalb des von den drei übrigen gebil-
deten Dreiecks liegt, vermittels des bloßen Lineals mehrere Punkte
zu bestimmen, die mit den vier gegebenen in dem Umkreis einer
Ellipse liegen. (Lambert bemerkt ausdrücklich, daß die Aufgabe
unbestimmt ist, daß sie aber durch Hinzufügung eines fünften Punktes
aufhört, unbestimmt zu sein, und so gelangt man zu einer sehr
leichten Konstruktion des durch fünf Punkte bestimmten Kegel-
schnittes.) II. Wenn ein Parallelogramm gegeben ist, bloß mit einem
Lineal durch einen gegebenen Punkt eine Linie zu ziehen, die mit
einer gegebenen Geraden parallel ist!) II. Ein Kreis nebst seinem
Mittelpunkt ist gegeben; auf eine gegebene Gerade von einem Punkt
die Senkrechte mit bloßem Lineal zu ziehen. IV. Eine Linie sei in
zwei gleiche Teile geteilt; dieselbe mit bloßem Lineal in eine beliebige
Anzahl gleicher Teile zu teilen?) V. Es sind zwei Linien gegeben,
welche sich in einem Punkte außerhalb der Tafel schneiden; mit
bloßem Lineal und ohne Verlängerung dieser Linien durch einen ge-
gebenen Punkt eine Linie zu ziehen, welche durch den Schnittpunkt
der gegebenen Linien hindurchgeht. (Die von Lambert empfohlene
Konstruktion ist noch heute in Gebrauch; sie stützt sich auf die har-
monischen Eigenschaften des vollständigen Vierecks.) VI. Zwei Linien
sind beide in zwei gleiche Teile geteilt; zu einer gegebenen Geraden
eine Parallele zu ziehen. VII. Den Pythagoraeischen Lehrsatz mit
bloßem Lineal perspektivisch zu zeichnen. VIII. Ein Kreis und dessen
Mittelpunkt ist gegeben; einen beliebigen Bogen desselben in zwei
gleiche Teile zu teilen. IX. Zwei Strecken AC und BD mögen sich
im Punkte E derart schneiden, daß AE= E C, ED=2BE ist. Es
soll mit bloßem Lineal ein Parallelogramm gezeichnet werden.
X— XI. Zeichnung von Parallelen mit anderen Systemen von Daten.
XII. Wenn der Winke] ABE gleich dem Winkel EBF ist, mit
bloßem Lineal auf EB durch B die Senkrechte zu ziehen.)
') Cremona, a. a. O., p. 57. ”) Ebenda, p. 58. ®) Wollte man alle
Beiträge aufzählen, welche Lambert zur Perspektive gegeben hat, so müßte
man auch- die kurze Arbeit „Sur la perspective aörienne“* (Nouv. Mem. de
l’Acad. de Berlin, annee 1774, p. 74—80) erwähnen, wo die Anwendung der
Mathematik auf die „degradation de la couleur des objets par rapport & leur
eloignement et ä la constitution de l’atmosphere‘“ versucht wird; im Text haben
40*
614 “ Abschnitt XXV.
Um unseren Lesern eine Idee der von Lambert angewandten
Verfahren zu geben, möge die Auflösung der V. Aufgabe dienen:
„Sind AC und BD die Geraden, die in einem Punkte außerhalb der
Tafel zusammenlaufen, und E der gegebene Punkt; durch E ziehe
man zwei Geraden AH, GB und dann Ab, GH, bis zu ihrem Durch-
schnitt X; aus K ziehe man die Gerade KCD und dann CH und
GD; ist F der Durchschnittspunkt der letzteren, so ist EF' die ge-
suchte Gerade.“
Die Ideen und Methoden Lamberts, welche, wie wir sahen (8.606),
wahrscheinlich schon auf E. Zanotti einen Einfluß ausübten, blieben
ohne jegliche Wirkung auf einen italienischen Architekten, Maler und
Professor Baldassare Orsini (1732—1810), welcher hier eine bei-
läufige Erwähnung verdient als Verfasser eines dreibändigen Werkes
„Della geometria e prospettiva pratica“ (Rom 1773), in dem wir nichts
Neues gefunden haben. Dagegen haben jene Ideen und Methoden einen
warmen Bewunderer an einem deutschen Universitätsprofessor Johann
Gustav Karsten (1752—1787) (vgl. S. 357) gefunden, der aus ihnen
die Anregung zur Abfassung eines Teils seines kolossalen (achtbän-
digen) Werkes „Lehrbegriff der gesamten Mathematik“ (Greifswald
1767 — 1777) schöpfte, das er während seines Professorats in Halle a.S.
herausgab.!) Es ist der vorletzte Band (1775) dieses Handbuchs
(„Die Optik und die Perspektive“), noch genauer sein II. Teil (3. 110
bis 928), wo der auch vom Verfasser zugestandene Einfluß von
Lambert unverkennbar ist”) Aber Karsten hat, wenn er auch
Begriffe und Verfahren auseinandersetzt, die nicht sein Eigentum
waren, in dieselben ein Element eingeführt, dessen Hilfe Lambert
abgelehnt hatte, nämlich die Rechnung; auf diese Weise gelang es
ihm, zu den Resultaten seines Vorgängers manches hinzuzufügen.
Nicht alle Kapitel der genannten Karstenschen Arbeit verdienen
eine besondere Erwähnung in einer Geschichte der Linearperspektive;
keines aber darf von dem außer Betracht gelassen werden, der eine
wir derselben keine Erwähnung getan, da sie eher zur Physik als zur Geometrie
gehört (vgl. S. 580).
1) Mit Recht bemerkt Karsten, daß die von Lambert vorgeschlagenen
Konstruktionen so einfach sind, daß sie nicht von der Kritik betroffen werden,
die die Inauguraldissertation A. L. F. Meisters (1724—1788) „Instrumentum
scenographicum, cujus ope ichonographia et orthographia invenire scenographiam
exponit‘* (Göttingen 1753) enthält. ?) Die Perspektive in das System der ge-
samten Mathematik einzufügen, entspricht einer Gewohnheit, die man bis auf
das Mittelalter zurückführen kann, und welcher sich, schon vor Karsten, A. G.
Kästner (1719—1780) in seinem Unterricht getreulich anschloß; man sehe (vgl.
S. 355) seine „Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie, ebene und sphärische
Trigonometrie und Perspektive“ (I. Aufl, Göttingen 1758).
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 615
klare Idee von der Arbeit sich oder anderen verschaffen will. Indem
Karsten der Gewohnheit seiner Zeit folgt, geht er zunächst von der
Voraussetzung aus (Il. Abschnitt), daß die Tafel vertikal, und daß
ferner eine horizontale Ebene gegeben sei, auf welche alle betrach-
teten Figuren orthogonal projiziert werden; er weist sofort darauf
hin, daß, wenn man die Perspektive der Punkte jener Horizontal-
ebene zu finden weiß (Problem der „perspektivischen Ichonographie“),
es dann auch leicht- ist, diejenige eines beliebigen Punktes zu zeichnen
(Problem der „Scenographie“). Nachdem er so die Wichtigkeit der
perspektivischen Ikonographie außer Zweifel gesetzt hat, wendet sich
der Verfasser zu ihrer Entwicklung und Anwendung (Abschnitt II
bis IV) — wobei er interessante historische Nachrichten gibt — und
den Gebrauch des Proportionszirkels erklärt, dessen Anwendung auf die
Perspektive er auf Desargues zurückführt. Im V. Abschnitt werden
in einfacher Weise die Formeln gefunden, welche die Cartesischen or-
thogonalen Koordinaten x, y der Horizontalebene mit den Koordinaten
t, u ihrer Perspektive verbinden; in ihrer einfachsten Form lauten
diese Formeln folgendermaßen:
t=Dxr:L—-x, u=Dy:L—x,
deren Ähnlichkeit mit den bereits von Marolais und la Caille
(s. 8. 603) gefundenen augenscheinlich ist; D und L sind gewisse
Konstanten der Aufgabe. Im VI. Abschnitt werden die Prinzipien der
Szenographie gelehrt und in dem folgenden die Vorschriften zur Aus-
führung der Perspektive auf eine nicht vertikale Tafel. Hier verall-
gemeinert der Verfasser unter anderem auch die obigen Formeln und
erweitert so bedeutend ihr Anwendbarkeitsgebiet; z. B. lernt man so
alle Prinzipien zur Zeichnung der Schatten, Prinzipien, welche im
XI. Abschnitt, unter der Überschrift „Allgemeine Theorie der Seia-
graphie“'), entwickelt sind. Nicht der Wissenschaft, sondern der
Kunst sind die Abschnitte IX und X gewidmet. Hier werden die Vor-
schriften gegeben, nach welchen die Lage des Augenpunktes "gewählt
werden muß. Weiter wird auf die Übelstände hingewiesen, die ent-
stehen, wenn man eine Perspektive von einem Punkte aus betrachtet,
der mit dem vom Zeichner der Perspektive gewählten Augenpunkte
nicht zusammenfällt. Um nun aber solche Übelstände vermeiden zu
können, sind Normen nötig, die dazu befähigen, die Lage des Augen-
punktes für eine gegebene Perspektive zu finden; sie werden im
') Nach Karsten wurde dieser Name zum ersten Male in der Abhandlung
von J. M. Hase (1684—1742), „Sceiagraphiae integri tractatus de constructionis
mapparum omnis generis“ (Lipsiae 1717) gebraucht.
616 Abschnitt XXV.
XII. Abschnitt gelehrt, welchen man, wie den VII. Abschnitt der „Freyen
Perspective“, als einen Teil der heutigen Photogrammetrie ansehen
kann. In der weiteren Erörterung geht Karsten von der Voraus-
setzung aus, daß das Projektionszentrum in das Unendliche rücke,
und bestimmt die Modifikationen (Abschnitt XIII und XIV), welche
die vorigen Konstruktionen, Formeln und Sätze erleiden; wir müssen
dazu bemerken, daß unser Geometer, dem Beispiel Lamberts (I. Auf-
lage) folgend, den Namen „orthographisch“ auf alle Parallelprojek-
tionen anwendet. Die Abschnitte XV—XVI enthalten eine inter-
essante Theorie von den Kegelschnitten als Perspektiven des Kreises
betrachtet. Als eine Fortsetzung derselben können die AbschnitteXX VIII
bis XXX angesehen werden, wo die Projektionen der Kegelschnitte
untersucht werden und insbesondere die Frage behandelt wird, welche
Lage man dem Augenpunkt geben muß, um von einem gegebenen
Kegelschnitt eine Projektion gegebener Art zu erhalten. Die übrigen
Abschnitte XIX—XXVII behandeln einen Gegenstand, welchen man
heute lieber der mathematischen Geographie oder der Geodäsie zu-
rechnet, nämlich die verschiedenen Arten der Projektion einer Kugel
auf eine Ebene: stereographische, orthographische und Zentralprojek-
tion. Es hat keinen Zweck, hier dabei zu verweilen.
Der Erfolg des Karstenschen Werkes erhellt daraus, daß sehr
bald der Wunsch nach einer zweiten Auflage laut wurde. Diese Neu-
auflage wurde nach einem etwas anderen Plan hergestellt und trägt
auch den Titel „Anfangsgründe der mathematischen Wissenschaften“
(1778—1786). Hier wird im IV. Band, betitelt „Die optischen Wissen-
schaften“ (1780), die Perspektive behandelt; aber während ihr in der
1. Auflage 818 Seiten gewidmet waren, muß sie sich in der zweiten
mit ungefähr 100 Seiten begnügen. Die Abschnitte über die Kegel-
schnitte und die Kugelprojektionen fehlen hier nämlich; indem so
die Behandlung von diesen ihr fremden und hinderlichen Bestandteilen
. befreit wird, wird sie zugleich einfacher und nähert sich den modernen
Behandltingen dieser Disziplin. |
Das wichtigste der elementaren Verfahren zur eindeutigen
Darstellung einer Kugelfläche auf der Ebene wurde kurz darauf
von einem berühmten Lehrer behandelt in seiner Antrittsvorlesung
an der Universität Halle. Wir meinen die Abhandlung „Eine
geometrische Entwicklung der Eigenschaften der stereographischen
Projektion“ (Halle 1788), in der Georg Simon Klügel die
Überlegenheit der Geometrie über die Analysis beweisen wollte in
Fragen, welche kurz vorher Karsten mit Hilfe der analytischen
Trigonometrie behandelt hatte. Um seinen Zweck zu erreichen, hat
der Verfasser nicht nur die charakteristischen Eigenschaften der ste-
Die goldene Periode der theoretischen Perspektive. 617
reographischen Projektion geometrisch abgeleitet, sondern auch, durch
Anwendung dieses Verfahrens, die Hauptfragen der sphärischen
Trigonometrie und der Gnomonik ohne Zuhilfenahme der Rech-
nung gelöst.
Im Monat März desselben Jahres (1788) erschien in Verona das
Büchlein „I. Torelli Veronensis, Elementa perspectivae libri II. Opus
postumum recensuit et edidit J. B. Bertolini“. Sein Verfasser ist Joseph
Torelli!), welcher in Verona am 3. November 1721 geboren wurde,
die juristische Doktorwürde in Padua erhielt und sich dann vollständig
der Literatur und den Wissenschaften widmete. Außer einem an Poleni
gerichteten Briefe, welcher „De rota sub aquis eireumacta“ (Verona
1747) handelt, hat er eine Arbeit philosophischer Natur „De nihilo
geometrico“ (Verona 1758; vgl. Absch. XXVI) und eine andere in
euklidischem Stil „Geometrica“ (Verona 1769) geschrieben, in welcher
die folgenden drei Probleme aufgelöst sind: I. Durch zwei in der
Ebene eines Kreises gelegenen Punkte einen anderen Kreis durchgehen
zu lassen, welcher den ersten berührt. II. Gegeben zwei geradlinige
Strecken; über denselben zwei ähnliche Kreissegmente zu beschreiben,
deren Bogen sich berühren. UI. In einem Punkte der Quadratrix
des Dinostratus?) die Tangente zu ziehen?). Torelli starb in
seinem Vaterlande am 18. August 1781. Die Früchte seiner lang-
jährigen Forschungen über die archimedischen Handschriften wurden
von der Universität Oxford angekauft und durch A. Robertson ver-
öffentlicht; so entstand ein prächtiger Folioband, welcher Torellı
die Unsterblichkeit sichert. Handschriftlich hinterließ Torelli auch
einige Kapitel über die Perspektive, wozu er als Einleitung eine Ab-
handlung schreiben wollte, um zu beweisen, daß diese Lehre bereits
den Alten wohl bekannt war. Sie bilden kein eigentliches Lehrbuch,
da sie Erklärungen, aber nicht Methoden enthalten; man darf auch
nicht verschweigen, daß die häßlichen Figuren den Text eher ver-
dunkeln, als ihn erläutern und dazu beigetragen haben werden, das
Buch bei den Künstlern in Mißkredit zu bringen.
) Vgl. die Lobrede, welche der berühmte Dichter Pindemonte auf
Torelli schrieb, und die im III. Bd. der „Mem. della Soc. It. delle Scienze‘“ (1784)
veröffentlicht wurde. ®, Die als „quadratrice scalena‘“ bezeichnete Kurve ist
von der gewöhnlichen Quadratrix nicht verschieden. ®, Torelli gibt den
griechischen Text (und die lateinische Übersetzung) des Passus der „Colleetiones
mathematicae“ von Pappus, welcher jene Kurve betrifft, nach einer Vatikan-
Handschrift, welche wahrscheinlich dieselbe ist, welche Hultsch benutzte;
er schlug einige Varianten vor, welche dieser Gelehrte nicht gekannt zu
haben scheint.
618 - Abschnitt XXV,
Die Vorläufer Monges.
Die „perspektivische“ Literatur des 18. Jahrhunderts, welche
unter so guten Auspizien mit s’Gravesande begann, erreichte ihren
höchsten Glanzpunkt mit Taylor und Lambert, fand in Zanotti
und Karsten würdige Fortsetzer, offenbart aber dann in Torelli
unzweideutige Zeichen eines Verfalles). Wenn auch noch einige der
späteren Werke sich bedeutend über das Niveau der Arbeit Torellis
erhoben haben, so kann man doch sagen, daß die Ära der Perspek-
tive mit dem eben besprochenen Jahrhundert ihr Ende erreicht hat.
Das hat seinen Grund darin, daß gerade an der Wende des 18. Jahr-
hunderts ein neuer Zweig der Mathematik eine bis dahin ungeahnte
Blüte und einen gewaltigen Ertrag hervorbrachte, welcher den bisher
von der Perspektive eingenommenen Platz eines „Verbindungsstriches“
zwischen der Mathematik und den Zeichenkünsten einnehmen sollte.
Um aber die Quelle dieses neuen mächtigen Gedankenflusses aufzu-
decken, müssen wir um einige Jahrhunderte zurückkehren. Und,
während wir in der Malerei die Ursprünge der modernen Perspektive
gefunden haben, müssen wir uns nun zur Architektur wenden, um
die Genealogie der neuen Lehre zu bestimmen und ihre Geburts-
urkunde zu erlangen.
Zu diesem Zweck möge zunächst bemerkt werden, daß Vitruvius,
der berühmte Baumeister der Epoche des Julius Cäsar und Augustus,
im I. Buch seiner „Architectura“, von der „ichonographia“ und „ortho-
graphia“, d.h. dem „Grundriß“ und „Aufriß“ eines Gebäudes, als
Hilfsverfahren zur Darstellung desselben, spricht; er hat diese
Methoden wahrscheinlich von den Griechen entlehnt, hat aber das
Verdienst, sie allgemein verbreitet zu haben, so daß seine Nachfolger
sie ohne Ausnahme anwandten. Aber diese Urform einer sehr be-
kannten Methode der darstellenden Geometrie gibt zwar eine leichte
und bequeme Art an, um die dreidimensionalen Figuren darzustellen,
zeigt aber den Weg nicht, um auf dieselben die gewöhnlichen Operationen
der Geometrie anzuwenden. Und zwar lehrt sie es deshalb nicht, weil der
reine Architekt dessen nicht bedarf. Aber der praktische Archi-
tekt: muß auch die Handwerker bei der Bearbeitung des Materials,
beim Holz- und Steinschnitt anleiten; daraus erwuchs die Notwendig-
') Ein im 18. Jahrhundert erhaltenes Resultat rein theoretischer Natur ver-
dient hier noch angeführt zu werden; wir meinen den Satz, daß die Ordnung
einer Kurve durch Projektion nicht erhöht werden kann: vgl. Waring, „Pro-
prietates curvarum algebraicarum‘ (Cantabridgae 1772), Prop. 24—26. Vgl.
S. 522.
Die Vorläufer Monges. 619
keit einer neuen Hilfswissenschaft, der „Stereotomie“. Empirische
Vorschriften dieser Lehre sind im „Traite d’architecture“ zu finden,
welchen im Jahre 1757 Philibert de Lorme, ein Almosenier
Heinrichs II, herausgab, ferner in den „Secrets d’architecture“ (La
Fleche 1642) von Maturin Jousse, und vollständiger in dem Werk
„Architeeture des voütes ou lart de trait et coupe des pierres“
(Paris 1634) von Pater Derand, dessen Regeln in den Abschnitt
„De lapidum sectionum“ des berühmten „Mundus mathematicus“
(1674) von Milliet-Dechales übergegangen sind. Derjenige aber,
welcher zuerst auch diesen Teil der Ingenieurwissenschaft streng
wissenschaftlich zu behandeln begann, ist wiederum Desargues, von
dem wir noch ein Werkchen über den Steinschnitt besitzen (Oeuvres
de Desargues, €d. Poudra, I. Bd., p. 303—362); aber da er auch
bei dieser Gelegenheit sich damit begnügte, seine Gedanken nur un-
klar an einem Beispiele auseinanderzusetzen, so blieb er fast un-
verständlich und daher ohne Einfluß, auch nachdem Bosse seinen
verehrten Lehrer kommentiert hatte!); wer heute die Methoden von Des-
argues kennen zu lernen wünscht, wird im Poudraschen Kommentar
(Oeuvres de Desargues, I. Bd. p. 362—382) eine wertvolle Hilfe
dazu finden, vermittels deren er leicht ihre Analogie mit denjenigen
wahrnehmen wird, welche unsere darstellende Geometrie anwendet,
um die Aufgaben von den mehrkantigen Ecken und den Polyedern
aufzulösen.
Das, was Desargues und Bosse nicht erreichen konnten, näm-
lich der Stereotomie eine beständig rationelle Richtung zu geben, ge-
lang ein Jahrhundert später Amedee Francois Frezier. Dieser,
1682 in Chambery geboren, war von seiner Familie zum Studium
der Jurisprudenz bestimmt; aber seine Abneigung gegen die Pandekten
war so groß, daß er im Jahre 1700, gegen den Willen seiner Eltern,
in die französische Infanterie eintrat; sieben Jahre später wurde er
gewürdigt, in das Ingenieurkorps einzutreten; die französische Regie-
rung vertraute ihm mehrere wichtige Missionen an (unter anderen
eine nach der Insel St. Domingo im Jahre 1719); zuletzt (1740)
wurde er Direktor der Festungswerke der Bretagne; im Jahre 1746
wurde er zur Ruhe gesetzt und starb am 26. Oktober 1773. Gerade
nun auf seiner Rückkehr von Amerika faßte er die Idee, das große
Werk zu schreiben, welches seinem Namen einen Ehrenplatz auch
') „Oeuyres de Desargues“, I. Bd., p. 470 und II. Bd., p. 4. „Bosse donna
un systeme tout different qu’il tenoit de Desargues, lequel, par son ob-
scurite et la nouveaute de son language, ne fut pas gout&“, bemerkt Fr&zier
in der Einleitung eines Werkes, von dem wir bald sprechen werden.
620 Abschnitt XXV.
in der Geschichte der Geometrie sichern sollte. Es ist „La theorie
.et la pratique de la coupe des pierres et des bois, pour la con-
struction des voutes et autres parties des bätiments ceivils et militaires,
ou Trait& de stereotomie & Yusage de Yarchiteeture“!) (vgl. III,
S. 793) mit dem folgenden Satz des Vitruvius als Motto: „geo-
metria plura praesidia praestat architecturae“. Frezier sieht, diesem
Grundsatz folgend, von einer mechanischen Betrachtung vollständig
ab und betrachtet den Steinschnitt ausschließlich vom geometrischen
Standpunkt; infolgedessen besteht nach ihm diese Lehre aus folgenden
Teilen: I. Untersuchung der Kurven, die entstehen, wenn Körper
durch ebene oder nicht-ebene Flächen geschnitten werden; dieser Ab-
schnitt der Stereotomie heißt „Tomomorphie“. II. Beschreibung von
Kurven auf gegebenen Flächen; dies ist das Ziel der „Tomographie*,
III. Untersuchung einfacher Methoden, um die Körper und ihre
Schnitte auf einer Ebene darzustellen; diese Methoden, welche er
‚unter dem Namen „Stereographie“ zusammenfaßt, sind: a) die Ikono-
'graphie und die ÖOrthographie; b) die Abwicklung der krummen
‘Flächen auf eine Ebene, oder „Epipedographie“?); e) die „Goniographie“.
IV. Anwendung des Vorigen auf die Bestimmung der Flächenschnitte,
die für den Stein- und Holzschnitt am wichtigsten sind („Tomotech-
nik“). Diese vier Hauptteile der Stereotomie werden der Reihe nach
in den vier Büchern des Werkes von Frezier behandelt, dessen In-
halt wir jetzt kurz durchgehen wollen. Ä
Das I. Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste handelt von den
ebenen Schnitten einiger Körper, wie Kugel, Kegel, Zylinder und
„regulär-irregulärer“ Figuren (Quadriflächen, Ringflächen, Helikoiden).
In der Einleitung zum zweiten Teile des I. Buches bemerkt Fr£zier,
daß Pater Courcier (1604—1692) in seinem Werke „De sectione
superficiei sphaericae per superficiem sphaericam, cylindricae per
cylindrieam et conieae per conicam“ (Divionae 1662) den Namen
„eurvitegae“ den von ihm untersuchten Kurven gegeben hat; Frezier
hat es dagegen vorgezogen, denselben Namen zu geben, welche aus
„imbrex“ (= hohler Dachziegel) abgeleitet sind; so entstanden fol-
gende Neologismen: „eieloimbre, ellipsimbre, ellipsoidimbre, para-
boloidimbre, hyperboloidimbre“, Namen, welche ein moderner @eometer
») Straßburg, t. I, 1737; t. II, 1738; t. II, 1739; 4°. 8. XVI+ 424 + 503
+ 417 + 65, mit 27 + 68-69 lith. Tafeln. Eine II. Auflage trägt das Datum
1769; trotz wiederholter Versuche konnten wir uns diese nicht verschaffen. Im
Jahre 1759 wurde ein Auszug dieses Werkes, betitelt „Elements de ster&otomie
& l’usage de l’architecture“, veröffentlicht. °) Dieser Name wurde von Lagny
(1660—1734) vorgeschlagen; man sehe die dritte seiner Abhandlungen über „La
goniom6trie“ in den Pariser Mem. 1727.
Die Vorläufer Monges. : 621
wieder in Gebrauch gebracht hat!). Von diesen Kurven, welche alle
besondere gewundene Linien vierter Ordnung der I. Art sind, setzt
Frezier die Grundeigenschaften auseinander.
Der erste Teil des II. Buches lehrt, wie man den Kreis, die
Kegelschnitte, die spirischen Linien und einige Spiralen beschreiben
kann, ferner die Zusammensetzung von Kurven, welche die Form
einer Ellipse oder Spirale haben; endlich die Auflösung von Auf-
gaben, welche sich auf die Normalen von Kegelschnitten oder anderer
geometrischer Kurven beziehen. Der zweite Teil dieses Buches han-
delt von der Beschreibung von Kurven auf krummen Flächen; man
begegnet hier vor allem der Definition von der orthogonalen Pro-
jektion und der Beziehung, die zwischen einer Strecke und ihrer
Projektion statthat, endlich die Auflösung einiger Probleme, von
denen wir die folgenden anführen wollen: auf einer Kugelfläche einen
Kreis zu beschreiben; die Kreisschnitte eines Kegels oder Zylinders
zu finden?); auf einer Kegelfliche Kegelschnitte von vorgeschriebener
Art zu zeichnen; usw. Im dritten Teil beschäftigt sich der Verfasser
mit den unebenen Linien, die Schnittlinien von Kugel-, Kegel- oder
Zylinderflächen sind, wobei er seine Aufmerksamkeit besonders auf
ihre Beschreibung lenkt, welche er mittels eines Systems paralleler
Ebenen ausführt. Wie bekannt ist dies dasselbe Prinzip, das man noch
heute in der darstellenden Geometrie anwendet, um die Schnittlinie
zweier Flächen zu konstruieren; aber diese Methode ist auf die
Schraubenlinien („limaces“) nicht anwendbar, welche man auf einen
Zylinder, einen Kegel oder eine Kugel zeichnen kann; und da
diese Kurven sehr wichtig in der Theorie und Praxis sind, so
lehrt Frezier, wie man sie nach besonderen Methoden beschreiben
kann.
In direktem Zusammenhang mit der darstellenden Geometrie
steht das III. Buch, wo der allgemeine Begriff „Projektion“ auf die
Darstellung vermittels der Ikonographie und Orthographie der Ge-
wölbe angewandt wird; es erhellt daraus die Notwendigkeit, zwei
Projektionen einer Figur zu betrachten, um dieselbe eindeutig darzu-
stellen; über die Perspektive bemerkt unser Ingenieur (T.], S. 271),
daß „on n’en peut tirer aucun secours pour la coupe des pierres,
parce qu’elle change les mesures des solides representez, en diminuant
les parties qui s’eloignent du devant du tableau“. Alles das bildet
‘) La Gournerie, „Recherches sur les surfaces reglees tetra&drales syme-
triques“, Paris 1867. ”) Für einen besonderen Fall dieses Problems gibt
Frezier zwei Lösungen, welche ihm Johann und Daniel Bernoulli mit-
geteilt hatten.
622 Abschhitt XXV.
den Inhalt der vier ersten Kapitel des genannten Buches; das fünfte
ist der Abwicklung auf einer Ebene der Oberflächen von polyedrischen,
konischen und zylindrischen Körpern und der Bestimmung der ent-
sprechenden Gestalt, welche gegebene Linien infolgedessen annehmen,
gewidmet. Ein letztes Kapitel löst die Aufgabe, die Diöder eines
durch seine Flächen bestimmten Trieders zu finden; Frezier gibt
zwei Auflösungen, die eine vermittels Umlegungen, während die
andere von der Betrachtung des Tetraeders ausgeht, welcher entsteht,
wenn das Trieder durch eine Hilfsebene geschnitten wird.
Das IV. Buch, welches die zwei letzten Bände füllt, gehört eher
der Praxis als der Theorie an, da es zum Gegenstand die „Tomotech-
nik“ hat; dessenungeachtet finden sich im Anfang desselben einige
Betrachtungen über die Flächen, welche diejenigen interessieren
werden, welche die Höhe der Entwicklung, welche in jener Zeit die
Flächentheorie erreicht hatte, kennen lernen, oder ein Verzeichnis
der besonderen, damals bekannten Flächen aufstellen wollen!) Wir
müssen noch bemerken, daß es Frezier gelang, die Richtigkeit und
Nützlichkeit der Desarguesschen Methoden zu beweisen (T.II, S. 191);
eine gründlichere Prüfung des IV. Buches des „Traite“ von Frezier
würde ferner mit voller Klarheit zeigen, daß in ihm ein ausgedehnter
Gebrauch von Hilfsebenen, Umlegungen usw. gemacht ist, was seinen
Wert noch beträchtlich in unseren Augen erhöht.
„Je sais bien“ (bemerkt traurig unser Verfasser, S. IX des
I. Bd.) „qwaujourd’hui la geometrie lineaire n’est plus gueres & la
mode, ä que pour se donner un air de science, il faut faire parade
de l’analyse“; heute ist nun kein Zweifel mehr daran, daß zu der
Umwälzung der öffentlichen Meinung zugunsten der Geometrie, welche
an dem Ende des 18. Jahrhunderts erfolgte, Frezier das Seinige
beigetragen hat; aber das Hauptverdienst daran gebührt doch
dem unsterblichen Mathematiker, zu dem wir uns jetzt wenden
wollen.
1) Bemerkenswert ist, daß Frezier als „schiefe Flächen“ diejenigen be-
trachtet, welche man folgendermaßen erzeugen kann: 1. durch die Bewegung
einer Geraden, welche beständig parallel zu einer Ebene bleibt und zwei feste
Geraden schneidet (.planolime“); 2. und 3. durch die Bewegung einer Geraden,
welche immer eine Gerade und eine Kurve („mixtilime‘“) oder zwei Kurven
(„doliolime“) schneidet; 4. durch die Bewegung einer Kurve, welche zwei feste
Linien schneidet („sphericolime‘*).
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 623
6. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie.
Jakob Monge war ein armer umherziehender Kaufmann aus
Beaune, einer kleinen Stadt des Departement de la Cöte d’or (Bur-
gund), dessen ganzes Streben danach ging, seinen drei Söhnen den
Unterricht angedeihen zu lassen, welchen das Kollegium seiner Vater-
stadt ihnen geben konnte. Alle drei entsprachen in reichem Maße
den Erwartungen ihres Vaters; unter ihnen aber war es der älteste,
Gaspard, geboren am 10. Mai 1746, welcher den Namen Monge
unsterblich machen sollte‘) Kaum 14 Jahre alt, erregte er schon die
Bewunderung seiner Umgebung, indem er eine Feuerpumpe herstellte,
und im Alter von 16 Jahren durch die Zeichnung eines prächtigen
Planes seiner Vaterstad. Die Kunde von seiner hohen Begabung
gelangte auch bis zu den Ohren der Öratoristen von Lyon, welche
dem hoffnungsvollen Knaben den Unterricht in der Physik in ihrem
Kollegium anvertrauten, wobei sie ihn zugleich für ihren Orden zu
gewinnen suchten. Jakob Monge riet seinem Sohn ab und suchte
ihn dafür zu bestimmen, die Unterstützung eines Oberstleutnants
anzunehmen, welcher jenen Plan von Beaune voller Bewunderung
kennen gelernt hatte und nun versuchte, dem Autor den Eintritt in
die Militärschule des Geniekorps zu M&zieres zu verschaffen. Aber
die niedrige Herkunft erlaubte dem jungen Monge nicht, den Offiziers-
degen zu tragen; daher mußte er sich mit einer Stelle in der Unter-
sektion jener Schule, die für Praktiker bestimmt war, begnügen (1765).
In dieser Stelle hatte er sich besonders mit einer Operation zu be-
schäftigen, welche man „defiler un fort“ nannte. Die geistreichen
Modifikationen, welche er an den alten und sehr mühsamen Verfahren,
nach welchen jene Operation bisher vollzogen wurde, vornehmen
‘) Von Monge sprechen, mehr oder minder ausführlich, alle Geschichts-
werke über das Kaiserreich und das Konsulat, wie auch die Derkschriften
jener Zeit (vgl. z. B. „M&moires de Madame Roland“ Paris 1884, II. Bd., p. 286).
Aber die ergiebigste und beste Quelle über sein Leben ist die geistreiche
Lobrede, welche Arago am 11. Mai 1846 an der Pariser Akademie hielt
(„Oeuvres completes de F. Arago“, II. Bd., Paris 1854, $. 427 ff... Man muß
auch den „Essai sur les services et les travaux scientifiques de @. Monge“
(Paris 1819) von ©. Dupin heranziehen, obgleich in ihm die politische Leiden-
schaft der Epoche sich bemerkbar macht. Andere Quellen sind im Inter-
mediaire des math&maticiens, Bd. XII, 1905, p. 47—48, Bd. XIII, 1906,
p. 118—119, 202—203, und Bd. XIV, 1907, p. 11—13. Diejenigen, welche die
ganze Familie Monge, von dem Urgroßvater des großen Geometers bis zu den
letzten Nachkommen, kennen lernen wollen, mögen auf die „Genealo gie de la
famille de Gaspard Monge“ (Dijon et Paris 1904) von L. Morand verwiesen
werden.
624 Abschnitt XXV.
wollte, Modifikationen, welche im Keime bereits die Grundbegriffe
der darstellenden Geometrie enthielten), begegneten zuerst dem hef-
tigsten Widerspruch seitens seiner Vorgesetzten; allein ihr Wert wurde
endlich doch anerkannt, und nun erhielt unser Mathematiker dafür
den Platz eines Repetitors. Gerade in diesen Jahren (1770—1773) faßte
Monge zuerst seine epochemachenden Ideen über die Anwendung der
Analysis auf die Geometrie (vgl. Abschn. XXIV\, bearbeitete und veröffent-
lichte sie, damit sie ihm, in einer Zeit der Oberherrschaft der Algebra,
als Reisepaß in das Rech der Mathematiker dienen sollten; und in
der Tat soll, nach einer sehr verbreiteten Erzählung, n.. nach
der Lektüre dieser Arbeiten Monges ausgerufen haben: „avec son
application de lanalyse ä& la repr@sentation des surfaces, ce diable
d’homme sera immortel!“ Nachdem so Monge den ersten Schritt
in der Lehrlaufbahn, allerdings nicht ohne Mühe, getan hatte, wurden
ihm die folgenden bedeutend leichter. Im Jahre 1768 erhielt er die
Professur für Mathematik und drei Jahre später wurde ihm auch der
Lehrstuhl für Physik anvertraut. 1780 übernahm er den Unterricht
in der Hydraulik im Louvre, mit der Verpflichtung jedes Jahr sechs
Monate in Paris zu wohnen; zugleich öffnete ihm die Akademie der
Wissenschaften ihre Tore. Endlich wurde er, als Bezout starb, zu
seinem Nachfolger als „Examinateur“ der Marineschüler gewählt; in-
folgedessen siedelte er nun vollständig von Mezieres nach der Haupt-
stadt über.
Es ist natürlich, daß Gaspard Monge, welcher aus dem Volke
stammte und seinen Weg durch Kastenvorurteile zur Genüge versperrt
gesehen hatte, sich mit ganzer Seele für die Prinzipien der fran-
zösischen Revolution begeisterte. Ein glühender und schwärmerischer
Charakter, warf er sich blindlings in den revolutionären Strom. Er
war Mitglied der berühmten Kommission, welche der Welt ein all-
gemeines, auf vernünftiger Grundlage aufgebautes System der Maße
und Gewichte gab, und wurde, nach dem 10. August 1792, Marine-
minister im zweiten Ministerium Roland; nachdem er die Verwaltung
reorganisiert hatte, wollte er sich zurückziehen (12. Februar 1793),
er mußte aber auf jenem Posten bis zum folgenden 10. Mai ausharren.
Von den Regierungsgeschäften befreit, widmete Monge seine ganze
wunderbare Arbeitskraft der Fabrikation von Kanonen- und Flinten-
ı) Will man das Datum für die Entstehung dieser Lehren festsetzen, so
sei darauf hingewiesen, daß in dem „Memoire sur les proprietes de plusieurs
genres de surfaces usw.“, welches Monge am 11. Januar 1775 der „Academie
des Sciences“ vorlegte, die folgenden Sätze enthalten sind (p. 435—436): „les deux
plans, l’un horizontal et l’autre vertical, auxquels on rapporte tout ce qui est
dans l’espace par des projections orthogonales“.
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 625
pulver, weil sein Vaterland damals einen großen Mangel daran hatte!),
und der Gründung und Organisation zweier berühmter Schulen, der
Normalschule?) und der polytechnischen Schule®?), in denen er einer
der beliebtesten Lehrer war; in der ersteren konnte er endlich die dar-
stellende Geometrie öffentlich vortragen. Auch an der zweiten blieb er bis
1809 eine der größten Zierden. Von seinem Anteil an der Reorganisation
des „Institut de France“ müssen wir brevitatis causa schweigen und
nur daran erinnern, daß Monge nach Italien gesandt wurde, um die
Auswahl der Gemälde und Statuen, welche nach Paris geschickt werden
sollten, zu leiten; bei dieser Gelegenheit lernte er den General Bona-
parte kennen, mit dem ihn von da an eine Freundschaft fürs Leben
verband. Von Bonaparte wurde er mit der Überbringung des
Vertrages von Campo-Formio nach Paris betraut; mit Napoleon
ging er dann auch nach Ägypten, wo er das ERIRER d’Egypte“
gründete und leitete; nach Frankreich zurückgekehrt wurde er Senator
(1799) und dann Graf von Pelouze.
Als Bewunderer des Genies Napoleons verzieh der alte Republi-
kaner ihm die Annahme der Kaiserkrone, und beim Lesen des berühmten
XXIX. Bulletins des russischen Krieges erlitt er einen Schlaganfall.
Aber er erholte sich schnell, und so finden wir ihn während der
„hundert Tage“ wieder an der Seite Napoleons. Es blieb der
zweiten Restauration vorbehalten, sein Ende herbeizuführen. Als er
nämlich das Dekret erfuhr (21. März 1816), das ihn nebst Carnot
aus der Akademie ausstieß, verfiel er in einen Zustand der Apathie,
aus dem ihn nicht einmal der Klang der „Marseillaise“ erwecken
‘konnte, und in dem er bis zu seinem am 18. Juli 1818 erfolgten
Tode RR Die damalige französische Regierung vermochte es
nicht zu verhindern, daß die Ecole polytechnique und die Akademie
der Wissenschaften ihm glänzende Ehren erwiesen.
Aus obiger biographischen Skizze erhellt, daß die mathematischen
Arbeiten Monges in zwei Teile zerfallen, welche man, obgleich sie
beträchtliche Beziehungen zueinander haben, doch getrennt betrachten
') Vgl. Monge, „Description de l’art de fabriquer les canons“ (Paris, an IM.
*) Diese durch ein Dekret des 9. Brumaire des II. Jahres der Republik
(30. August 1794) gegründete Schule blieb nur während der vier ersten Monate
des folgenden Jahres am Leben; Lagrange und Laplace lehrten an ihr Mathe-
matik, Monge, mit Hilfe von Lacroix und Hachette, die darstellende Geo-
metrie. Vgl. den prächtigen Band „Le centenaire de l’Ecole normale“ (1795 bis
1895), Paris 1895. °) Vgl. Jacobi, „Über die Pariser polytechnische Schule“
(Werke, VII. Bd., Berlin 1891, 8. 335—370). Der Organisationsplan dieser be-
rühmten Anbei ist im III. Cahier des „Journal de l’Eeole polytechnique“ zu
finden.
626 Abschnitt XXV.
muß; der eine umfaßt die Arbeiten über die darstellende Geometrie,
der andere diejenigen über die Anwendung der Analysis auf die
Geometrie, worüber man im vorigen Abschnitte ausführlich be-
richtet hat.
Zu Beginn unseres Berichtes über die Arbeiten der ersten Gruppe
muß man daran erinnern, daß Monge auf dieselben durch die An-
wendungen geführt wurde, welche man mit der neuen Methode auf
die militärische Topographie machen konnte. Und hier liegt auch
der Grund zu dem Verbot der Veröffentlichung der neuen Methoden,
welches bis 1795 (Gründung der Normalschule) aufrecht erhalten
blieb. Diese Methoden verbreiteten sich über die Grenzen Frank-
reichs hinaus in der ganzen gelehrten Welt, als er drei Jahre später
das Werk veröffentlichte: „Geometrie descriptive. Lecons donnees aux
Ecoles normales, ’an 3 de la Röpublique. Paris, an VIL“)
In dem „Programm“, womit dieser Band beginnt, wird die neue
Lehre, welehe Monge ihren Namen und die Würde einer Wissen-
schaft verdankt, als eins der Mittel hingestellt „pour tirer la nation
francaise de la dependence oü elle a etE jusqu’a present de industrie
trangere“?); in Wirklichkeit aber wird sie, gemäß den Zwecken der
Schule, an welcher Monge lehrte, in der Sprache der reinen Wissen-
schaft auseinandergesetzt. Diese erhabene Richtung zeigt sich schon
klar auf den ersten Seiten, wo der Verfasser, nachdem er die zwei
Ziele der darstellenden Geometrie (Darstellung der dreidimensionalen
Figuren auf einer Ebene, Ableitung der Eigenschaften einer Figur
aus einer Darstellung derselben) aufgestellt hat, sich zur Methode der
doppelten Orthogonalprojektion wendet, indem er sich die Frage stellt,
welches die besten Beziehungselemente seien, um die Lage eines Raum-
punktes zu bestimmen. Können drei Punkte dazu dienen?- Nein,
weil zwei Punkte existieren, welehe gegebene Entfernungen von drei
gegebenen Punkten haben. Können drei Geraden dazu dienen? Nein,
weil acht Punkte vorhanden sind, welche gegebene Entfernungen von
drei Geraden haben.) Können drei Ebenen dazu dienen? Ja! Denn,
wenn es auch acht Punkte gibt, welche gegebene Entfernungen von
1) Die „Geometrie deseriptive“, welche ins Deutsche von G. Schreiber
frei übersetzt wurde („Lehrbuch der darstellenden Geometrie nach Monges
Geometrie deseriptive vollständig bearbeitet‘; Karlsruhe und Freiburg 1828),
wurde kürzlich in die Sammlung „Ostwalds Klassiker der exakten Wissen-
schaften‘ (Nr. 117) aufgenommen; die (treue) Übersetzung und die Noten gehören
R. Haußner an. 2) Anderswo (Journal polytechnique, T. I, p. 1) wird sie als
„une espece de langue necessaire ü tous les artistes‘‘ bezeichnet. °) In einer
Note am Ende des Bandes wird die Existenz solcher Punkte erklärt, aber nicht
bewiesen.
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 627
drei Ebenen haben, so kann man durch eine geschickte Vorzeichen-
wahl doch alle diese auf einen reduzieren: es ist das System, welches
die analytische Geometrie des Raumes gewöhnlich anwendet. „Mais
dans la geometrie deseriptive, qui a ete pratiquee depuis beaucoup
plus longtemps par un beaucoup plus grand nombre d’hommes, et
par des hommes dont le temps &tait precieux, les procedes se sont
encore simphfies; et au lieu de la consideration des trois plans, on
est parvenu, au moyen des projections, ä n’avoir plus besoin expli-
citement que de celle de deux.“ Und hier stellt nun der Autor den
Begriff der „Orthogonalprojektion“ auf und beweist die Nützlichkeit
der Anwendung zweier untereinander rechtwinkliger Projektionsebenen,
einer horizontalen und einer vertikalen, welche man durch Drehung
um ihre Schnittlinie') zusammenfallen läßt. Die zwei Projektionen
eines beliebigen Punktes fallen infolgedessen immer auf eine zu dieser
Schnittlinie rechtwinklig stehende Gerade; und Monge gibt eine vor-
teilhafte und noch heute angewandte Methode zur Bestimmung der
Entfernung zweier Punkte, deren Projektionen bekannt sind. Nach-
dem die Methoden festgestellt sind, nach denen man die Punkte und
die Geraden darstellen kann, müßte man mit denjenigen sich beschäf-
tigen, welche man auf die Polyeder anwenden könnte; dafür aber
existiert kein allgemeines Verfahren, eine Tatsache, bemerkt Monge,
ähnlich derjenigen, die die Algebra darbietet, in der es keine sichere
und allgemeine Methode gibt, um eine Aufgabe in eine Gleichung
umzusetzen; dies ist nicht der einzige Berührungspunkt zwischen den
beiden Wissenschaften, und daher gibt Monge den Rat, die beiden
gleichzeitig zu studieren.
Kein neues Prinzip ist nötig, um durch zwei Projektionen eine
Kurve darzustellen. Um aber eine Fläche darzustellen, muß man
seine Zuflucht zu ihrer (unendlich vieldeutigen) Erzeugbarkeit durch die
Bewegung einer (i. A. auch in der Form veränderlichen) Kurve nehmen.
Um daher eine Fläche darzustellen, stellt man ein System ihrer
Kurven dar; ja, es ist sogar nützlicher, zwei solcher Systeme darzu-
stellen, die man derart wählen soll, daß durch jeden Punkt der Fläche
eine Kurve jedes Systems geht. Die konischen, die zylindrischen
und die Rotationsflächen bieten interessante Erklärungen dieser Dar-
') Diese Gerade wird nicht von Monge „ligne de terre“ genannt, wie
Chr. Wiener (o. a. W., 1. Ba., S. 25) meint; sie wird immer durch die Buch-
staben LM bezeichnet. Wir wollen noch bemerken, daß die zwei Projektionen
eines Punktes P von Monge mit pP, P bezeichnet werden; das jetzt übliche
System P’, P” findet sich schon bei Lacroix und Brisson in ihren sogleich
zu nennenden Veröffentlichungen.
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 41
628 Abschnitt XXV.
stellungsmethoden; dasselbe gilt von den Regelflächen, deren Erzeu-
gung durch die Bewegung einer Geraden, welche drei feste Direktrizen
beständig schneidet, im I. Anhang zur 1. Auflage der „Geometrie de-
scriptive“ gelehrt wird. Das Verfahren zur Darstellung der Erzeugen-
den einer solchen Fläche war von Monge schon 20 Jahre vorher in
der Abhandlung „Memoire sur les proprietes de plusieurs genres de
surfaces courbes“ (p. 435) bekannt gemacht; es ist zu bedauern, daß
dieses Verfahren nicht nach Verdienst bekannt geworden ist, da es
in einer Arbeit enthalten ist, welche scheinbar mit der darstellenden
Geometrie nichts zu tun hatte.
Die einfachste aller Flächen ist die Ebene, welche man durch
die Bewegung einer Geraden erzeugen kann, die eine andere Gerade
immer schneidet und einer dritten parallel ist; als bestimmende Ge-
rade einer Ebene ist es ratsam, diejenigen zu wählen, in welchen die
betrachtete Ebene die Projektionsebenen schneidet; sie bilden die
„traces“ (Spuren) der Ebene, ein von Monge vorgeschlagener und
allgemein angenommener Name.
Diese Begriffe erlauben, eine große Menge wichtiger Probleme
aufzulösen; unter den unendlich vielen, die man behandeln könnte,
wählt Monge die neun folgenden aus: Durch einen Punkt die
Gerade zu ziehen, welche einer anderen parallel ist oder eine
Ebene rechtwinklig schneidet, oder die Ebene, welche einer anderen
parallel ist oder eine andere Gerade rechtwinklig schneidet (I—IV);
die Schnittlinie zweier Ebenen zu finden (V); den Winkel zweier
Ebenen, zweier Geraden oder einer Ebene mit einer Geraden zu be-
stimmen (VI—VII); einen Winkel am Horizont zu reduzieren (IX).
Wenn man auch über die Reihenfolge und die Auswahl solcher Fragen
einen gewissen Vorbehalt machen kann (da nicht immer die schwie-
rigeren den einfacheren folgen, und man nicht verstehen kann, warum
z. B. die Bestimmung der Schnittlinie zweier Ebenen ex professo behan-
delt wird, während dies für den Schnittpunkt einer Ebene mit einer
Geraden nicht geschieht), so muß man doch anerkennen, daß die Auf-
lösungen so geistreich und von so wunderbarer. Einfachheit sind,
daß die Epigonen Monges i. A. keine besseren zu finden ver-.
mochten; die schönste unter allen scheint uns die allgemein bekannte
des VI. Problems zu sein.
Mit dieser Aufgabe schließt der I. Abschnitt. Der II. Abschnitt
handelt von den Berührungsebenen und den Normalen der Flächen.
Die Berührungsebene in einem Punkt einer Oberfläche ist bestimmt
durch die Tangenten in jenem Punkte an die entsprechenden zwei
Erzeugenden (s. 0.) derselben; daß die Ebene von der Wahl der Er-
zeugenden unabhängig ist, wird von Monge nicht bewiesen, ja nicht
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 629
einmal gesagt!); daß der Begriff der Berührungsebene auch bei der
Anwendung nützlich sei, wird an zwei Beispielen gezeigt, von denen
er das eine aus der Malerei, das andere aus der Gewölbekonstruktion
entlehnt. Dann wendet er sich zu der Konstruktion von Berührungs-
ebenen an zylindrischen, konischen und Rotationsflächen mit vertikal
vorausgesetzter Achse; von den Tangentenebenen der Regelflächen
handelt der III. Anhang zur 1. Auflage. Es folgt dann die Bestim-
mung der kleinsten Entfernung zweier schiefen Geraden, welche
Monge durch die Berührungsebene eines Kreiszylinders ausführt; die
Ausführung einer elementaren Konstruktion dieser Entfernung wird
dem Leser als Übung überlassen.
Der Verfasser wendet sich dann zur Bestimmung von Berührungs-
ebenen, deren Berührungspunkt nicht gegeben ist. Die erste Aufgabe
dieser Art versucht die Ebenen zu finden, welche durch eine gegebene
Gerade gehen und eine gegebene Kugelfläche berühren; Monge gibt
zwei Auflösungen: 1. durch Umlegung der Ebene, welche senkrecht
zur Geraden ist und durch den Kugelmittelpunkt geht, oder 2. durch
Betrachtung des Kegels, welcher diese Kugel von einem Punkt
jener Geraden aus projiziert. Mit dieser zweiten Auflösung wird die
Darlegung der Haupteigenschaften der Polaren in bezug auf Kreise,
Kegelschnitte und Quadriflächen verbunden?). Auf das obige Problem
können diejenigen zurückgeführt werden, welche darin bestehen,
durch einen Punkt die Ebene zu ziehen, welche entweder zwei Kugel-
flächen oder drei Kugelflächen berührt: An das letztere knüpft
Monge die Darlegung der charakteristischen Eigenschaften der Ähn-
lichkeitspunkte von Kreisen?) oder Kugeln‘) an. Die Bestimmung
der Ebenen, welche durch einen Punkt gehen und einen Kegel oder
Zylinder berühren, ist der Zweck der zwei folgenden Aufgaben, wäh-
rend der inhaltsreiche Abschnitt mit der Konstruktion der durch
eine gegebene Gerade gehenden Berührungsebenen einer Rotations
fläche mit Vertikalachse schließt. Diese Aufgabe wird von Monge
wie noch heute, durch Benutzung der Fläche aufgelöst, die durch
Drehung der gegebenen Geraden um die Achse der Fläche er-
zeugt wird.
') Der erste Versuch, die Existenz der Berührungsebene geometrisch zu be-
weisen, findet sich bei C. Du pin, „Developpements de g&om6trie“ (Paris 1813), p. 7.
) Vgl. E. Kötter, „Die Entwicklung der synthetischen Geometrie“; Bd. V
des Jahresber. der Deutsch. Math.-Ver., S. 48, 88 und 112. »s, Nach N. Fuß
(Nova Acta Petrop., T. XIV, 1805) wurde Monge von d’Alembert inspiriert.
*) In den diesbezüglichen Sätzen findet man einige Unrichtigkeiten, da Monge
die Ebenen nicht betrachtete, von denen jede zwei innere und vier äußere Ähn-
lichkeitspunkte enthält.
41*
630 Abschnitt XXV.
„Die Schnittlinien krummer Flächen“ bilden das Thema des IV.Ab-
schnittes unseres Werkes. In der Einleitung zu demselben verweist
Monge auf die bereits früher von ihm skizzierten Ideen betreffs der
vollkommenen Übereinstimmung, welche zwischen den Operationen
der Algebra und denen der darstellenden Geometrie besteht, und
schließt mit der folgenden Bemerkung: „I faut que l’eleve s’accou-
tume de bonne heure & sentir la correspondance qu’ont entre elles
les operations de l’analyse et celle de la geometrie; il faut quil se
mette en etat, d’une part, de pouvoir &crire en analyse tous les
mouvements qu'il peut concevoir dans l’espace, et, de l’autre, de se
representer perpetuellement dans l’espace le spectacle mouvant dont
chacune des operations analytiques est l’@criture“. Nach diesen allge-
meinen Betrachtungen setzt er die allgemeine Methode auseinander,
um die Schnittlinie zweier Flächen F” und F” punktweise zu zeichnen;
der von Monge vorgeschlagene Kunstgriff ist derselbe, dessen wir uns
heute noch bedienen; er besteht darin, daß man die gegebenen Flächen
durch eine Reihe von Hilfsflächen F' schneidet und die Kurven
FF’ und FF”, wie auch deren Schnittpunkte bestimmt. Wechselt
man F' so wechseln auch diese Punkte, und so wird die verlangte
Kurve F’F” erzeugt. Im allgemeinen empfiehlt es sich, als Hilfs-
flächen horizontale oder vertikale Ebenen zu wählen; wenn aber F’
und F” Kegel oder Zylinder sind, so ist es vorteilhafter, andere
Ebenen zu wählen; und wenn die Achsen zweier Rotationsflächen sich
schneiden, so ist es das beste, F' kugelförmig anzunehmen. Die von
Monge untersuchten Fälle dieses aflgemeinen Problems beziehen sich
auf die Schnittlinien von Kegeln, Zylindern und Rotationsflächen, die
sich entweder untereinander oder mit Ebenen schneiden; von den so ent-
stehenden Kurven werden nicht nur die Projektionen der Punkte und
Tangenten bestimmt, sondern, wenn es sich um Schnitte durch Ebenen
handelt, auch die wahre Form und Größe (durch Umlegungen), oder
ihre Abwicklung, falls sie auf Kegeln oder Zylindern beschrieben
sind. Im allgemeinen ist dies alles in die folgenden Lehrbücher der
darstellenden Geometrie ohne wesentliche Veränderungen übergegangen.
Zu bemerken ist noch, daß Monge mehrmals von der Veränderung
der Projektionsebenen spricht, ohne aber eine Anweisung zu geben,
wie man dieselbe ausführen kann. Zum Schluß des besprochenen
Abschnittes legt Monge die Robervalsche Tangentenmethode dar,
ohne die Grenze ihrer Anwendbarkeit zu bestimmen); er versucht
auch, sie auf den Raum auszudehnen; die Kurve aber, welche er
) Vgl. Duhamel, „Note sur la methode des tangentes de Roberval‘
(Mem. des Sav. Etr., t. V, Paris 1838, p. 257—266).
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 631
als Beispiel wählte, ist nicht gewunden'!) und die Anwendung selbst
bedeutungslos!
Die Nützlichkeit obiger Konstruktionen für die Auflösung von
Aufgaben von besonderem theoretischen und praktischen Interesse
wird von Monge im IV. Abschnitte seines Werkes klar bewiesen,
wo drei rein theoretische und drei praktische Aufgaben elegant auf-
gelöst werden. :
Die ersteren haben zum Zweck die Bestimmung der Mittel-
punkte der Um- und Inkugel eines Tetraeders und die Bestim-
mung der Punkte, deren Entfernungen von drei gegebenen Punkten
gegeben sind (das analoge Problem der Bestimmung der Punkte,
welche gegebene Entfernungen von drei gegebenen Geraden haben,
wird dem Leser zur Übung aufgegeben).
Die übrigen drei Aufgaben betreffen die Vervollständigung einer
topographischen Karte durch Winkelbeobachtungen von Bodenpunkten
oder einem Ballon aus; gewiß sind sie während Monges Aufenthalt
in Mezieres entstanden. Bei diesen Aufgaben zeigt sich Monge mit
der Methode der kotierten Projektionen in ihrer Anwendung auf die
Topographie sehr vertraut, was nicht verwundern kann, da jene Me-
thode in der Schule zu M&zieres allgemein bekannt sein mußte. In
der Tat ist es zwar wahr, daß der Geograph Ph. Bouache
(1700— 1773) die Niveaukurven (1738) einführte?), aber es war doch
Chätillon?), der erste Direktor jener Schule, der auf die Idee kam,
die bemerkenswerten Punkte eines Bodenstückes durch ihre Ortho-
gonalprojektionen und ihre entsprechenden Höhen zu bestimmen; es
war ferner ein anderer Genieoffizier, Milet de Mureau, welcher auf
den Einfall kam, durch ein ähnliches Verfahren die Vertikalschnitte
des Bodens darzustellen. Es sei zuletzt noch bemerkt, daß die Unter-
suchungen von Monge über die Tangentialebenen topographischer
Flächen L.G@.Dubuat-Nancay (1732—1787) dazu führten, die Ebenen
durch ihre Geraden größter Neigung darzustellen; Monge selbst hat
diese Darstellungsmethode auf beliebige Flächen ausgedehnt.
Nach dieser Abschweifung über die erste Entwicklungsstadie der
Methode der kotierten Ebenen wollen wir zu unserem Hauptthema
zurückkehren und bemerken, daß Monge jene praktischen Probleme
auf die Bestimmung der Punkte zurückführt, welchen, drei Rotations-
kegel oder drei Ringflächen mit parallelen Achsen gemeinschaftlich
sind; die letzte Aufgabe, von der Monge irrtümlich annahm, daß sie
') Eine Bemerkung von R. Haußner; vgl. $. 626, Fußnote 1. 2, J. de
la Gournerie, „Discours sur l’art du trait et de la geometrie descriptive“, Paris
1855, p. 22. °) Das Folgende ist aus dem o. a. „Essai“ von Dupin entnommen,
632 BR Abschnitt XXV.
64. Grades sei, wurde im nächsten Jahrhundert der Gegenstand längerer
und fruchtbarer Untersuchungen in der Schule von Nicola Fer-
gola.t)
Mit dem IV. Abschnitt endet der Teil des Mongeschen Werken;
welcher streng genommen zur darstellenden Geometrie gehört und,
wie der Verfasser richtig bemerkt, in allen höheren Schulen gelehrt
werden müßte; das übrige ist ein Abriß der Häupteigenschaften der
Kurven, Developpabeln und beliebigen Flächen. Hier bemüht sich
Monge die Bekanntschaft der Begriffe zu verbreiten, welche er in
dem „Mö&moire sur les developpdes, les rayons de courbure et les
diff6rents genres d’inflexion des courbes & double courbure“ (Mem.
pres. par div. savants, T. X, 1785; vgl. oben S. 531) und in den
anderen Abhandlungen festgestellt hatte, die die Grundlage seiner
„Application de lanalyse ä la geometrie* bilden (vgl. den. vorigen
Abschnitt). Mit sichtbarem Vergnügen verweilt er bei den Haupt-
eigenschaften der Krümmungslinien der Flächen‘), um dann auch
die Anwendungen bekannt zu machen, welche man davon beim Stein-
schnitte (Gewölbekonstruktion) machen kann.
Aus diesem Berichte über das erste Lehrbuch der dar-
stellenden Geometrie erhellt, daß es nach unseren heutigen
Besriffen nicht vollständig genannt werden kann?); in einigen seiner
Teile erscheint es dessenungeachtet als durchaus vollkommen, indem
es u.a. die Keime aller Lehren enthält, welche später in diesem
Zweige der Mathematik aufgetaucht sind. Aber der, welcher glaubt,
daß es eine erschöpfende Darstellung der Kenntnisse Monges
in demselben sei, würde einen groben Irrtum begehen. In
der Tat hat Monge, nach Hachettes Bericht?), die alte Aufgabe
der „kürzesten Dämmerung“ verwandelt in die Untersuchung der
Ebenen, welche zwei konzentrische Kegel zugleich berühren. Ferner
findet man in dem Aufsatz, mit welchem das „Journal polytechnique“
(Mois de Germinal, an III) beginnt, mehrere andere Probleme er-
wähnt, welche den Schlag der arten Ecole polytechnique zur
Auflösung vorgelegt wurden, z. B. die Aufgaben über das Trieder
) Vgl: G. Loria, „Nicola Fergola e la scuola di matematici che lo ebbe a
duce“, $5 des IV. Kap. 2) Man sehe auch den berühmten Aufsatz „Sur les
liones de courbure de Vellipsoide“ (Journ. de l’Ec. pol., II. Cah., p. 145—165),
wo solche Krümmungskurven sorgfältig gezeichnet sind. ®) ai unvollständig
erschien sie Hachette, welcher die Notwendigkeit der „Suppl&ments‘ erkannte,
die er dann in den Jahren 1811 und 1818 herausgab. *) „Du plus petit crepus-
cule‘“ (Corresp. sur l’Ee. pol, T.I, p. 148—151). Vgl. K. Zelbr, „Das Problem
der kürzesten Dämmerung“, Zeitschr. f. Math. u. Phys., 41. Bd., 1896, Hist.-lit.
Abt., insbesondere S. 153 —156.
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 633
„ce qui comporte toute la trigonometrie spherique“!); weiter die Dar-
stellung des regulären Dodekaeders?) und die Konstruktion der Ge-
raden oder Ebenen, welche durch einen gegebenen Punkt gehen und
gegebene Neigungen zu den Projektionsebenen haben; endlich die-
Rotationsflächen, welche im Monges Buch immer durch die Rotation
ebener Kurven erzeugt werden, werden im Aufsatz durch beliebige
Kurven beschrieben. Zu den behandelten Flächen gesellen sich noch
die Quadriflächen, die Konoiden und einige Helikoiden. Andere Pro-
bleme findet man in den Nachrichten über die Mongeschen Vor-
lesungen, welche man Eisemann’) verdankt‘). Es handelt sich
hier um neue Fälle der Aufgabe, die Schnittkurve zweier Flächen
zu finden, einige neue Schraubenflächen (z. B. die Schraube von
St. Giles) und einige elementare Aufgaben, welche man vermittels der
Flächendurchschnitte auflösen kann. Aus diesen Nachrichten er-
sieht man, daß in jenen Vorlesungen auch Fragen der angewandten
darstellenden Geometrie behandelt wurden, wie z. B. die Schatten-
lehre und die Perspektive; die von Monge dazu angewandten Me-
thoden fanden sich auf einigen Blättern kurz skizziert, die nach
Monges Tod glücklicherweise in die Hände seines bedeutenden und
von ihm sehr geliebten Neffen und Schülers B. Brisson. (1777 bis
1827) fielen; dieser hat sie einer genauen Durchsicht unterzogen und
dann in die 4. Aufl. (1820) der „Geometrie deseriptive“ aufgenommen.
Es ist unsere Pflicht, etwas darauf einzugehen.
Setzt man voraus, daß die Lichtquelle ein Punkt O sei, und daß
alle zu betrachtenden Körper undurchsichtig seien, so kann man, wenn
sie Polyeder sind, die Aufgabe der von diesen Körpern auf Ebenen ge-
worfenen Schatten durch Anwendung der Grundaufgaben der dar-
stellenden Geometrie leicht auflösen; auf dem Körper ist der beleuch-
tete Teil von dem dunklen durch ein schiefes Polygon abgesondert,
welches man bestimmen kann auf Grund der Lage des Polyeders in
bezug auf 0. Wenn es sich aber um einen durch eine krumme
Fläche begrenzten Körper handelt, so ist die Trennungslinie eine
sehr wichtige Kurve, welche Monge in einer Abhandlung des Jahres
1775 schon betrachtet, und der er auf p. 694 seines „M&moire sur la
theorie des deblais et de remblais“ (Mem. de. Paris 1781) den
') Vgl. auch Hachette, „Solution complete de la pyramide triangulaire‘
(Corresp. sur l’Ec. pol., T. I, p. 41—51). ?) Es mag hier erinnert werden, daß
die Perspektive der regulären (konvexen wie auch Stern-) Polyeder sich schon
(1568) bei W. Jamitzer (Bd. II?, S. 582) findet. ®) Es ist der Gelehrte, dem
man eine partielle Ausgabe von Pappus (vgl. Pappus ed. Hultsch, S. XVID
verdankt. *) Journal de l’Ee. pol., II. Cah., p. 100—106, III. Cah., p. 440—442,
IV. Cah., p. 619-622.
634 Abschnitt XXV.
Namen „ligne de contour apparent d’une surface“ gegeben hatte,
welchen sie beibehalten hate. Um diese Linie zu konstruieren,
zieht man von O Ebenen o, welche wir der Bequemlichkeit halber
auf einer Projektionsebene normal annehmen wollen; jede schneidet
die Fläche in einer Kurve, welche konstruierbar und darstellbar isty die
Berührungspunkte der von O an I’ geführten Tangenten gehören dem
gesuchten Umrisse an. Läßt man o um OÖ herumgehen, so wird dieser
punktweise beschrieben. Alles das besteht auch, wenn O unendlich
entfernt liegt. Wenn aber die Lichtquelle nicht ein Punkt, sondern
eine Fläche ist, so müssen beträchtliche Modifikationen vorgenommen
werden, von denen Euler schon in seiner großen Abhandlung „De
solidis, quorum superficiem in planum explicare licet“ (Nova Comment.
Petrop., T. XIV, 1772) gesprochen hatte (vgl. S. 531) und womit sich
Monge schon, unabhängig von Euler, in dem „Memoire sur les pro-
prietes de plusieurs genres de surface courbes, partieulierement sur celles
des surfaces developpables, avec une application ä la theorie des ombres
et des penombres“ (Mem. pres. par divers sav., T. IX, 1780, p. 382 bis
420) beschäftigt hatte (vgl. 5.537). Diese großen Geometer stimmen
darin überein, daß es notwendig sei, die zwei Schalen der Developpabeln
zu betrachten, welche aus den Ebenen besteht, welche die leuchtende
und die beleuchtete Fläche zugleich berühren; so entstehen im Raume
eine Schatten- und eine Halbschattenregion, und auf der betrachteten
Oberfläche zwei Umrisse. Alles das wird evident klar in dem Falle,
daß beide betrachteten Flächen Kugeln sind, ein Fall, welcher von
Monge und Brisson eingehend untersucht wird. !)
Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die Perspektive.
Monge geht von der Voraussetzung aus, daß die objektive Figur F’
und das Auge OÖ durch ihre Orthogonalprojektionen bestimmt und
daß die Tafel beider Grundebenen normal sei. Infolgedessen (Fig. 71)
kann man die Projektionen des Punktes P,, welcher die Perspektive
von P ist, sogleich zeichnen; um aber die wahre Form der erhaltenen
Perspektive der gegebenen Figur F' zu erhalten, muß man die Tafel
in eine andere Lage bringen, was (Fig. 72) mittels der Koordinaten
leicht geschehen kann. Ein ähnliches Verfahren kann in dem Falle
angewandt werden, daß die Tafel nur auf der Horizontalebene normal
', Man sehe auch: Monge und Hachette, „Sur la theorie des ombres et
de la perspective; sur les points brillants des surfaces courbes“ (Corresp. sur l’Ee.
pol., T. I, p. 295—305). Es möge noch der „Memoire sur la determination geo-
metrique des teintes dans les desseins“ (Journ. de l’Ec. pol., I. Cah., p. 167— 183)
als ein Produkt des Mongeschen Unterrichts angeführt werden; er wurde von
Dupuis bearbeitet auf Grund der verschiedenen von den „chefs de brigade‘*
der polytechnischen Schule gegebenen Materialien.
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 635
ist. Beide Fälle sind als Anwendungen der neuen von Monge
geschaffenen Wissenschaft interessant; an Umfang und Allgemein-
heit können sie sich gewiß mit denjenigen Taylors und Lam-
berts nicht messen. Um die Ausführung der Perspektive zu er-
leichtern, weist Monge noch darauf hin, daß es überflüssig ist,
die Perspektive der Punkte zu zeichnen, welche von dem Augen-
punkt aus unsichtbar sind, daß die Perspektive einer Geraden eine
Gerade ist, und daß endlich die Perspektiven paralleler Geraden
ein eigentliches Büschel bilden. Ist die Tafel uneben, so kann man
(bemerkt Monge) die Aufgabe der Perspektive gleichwohl durch
Anwendung der darstellenden Geometrie lösen. Monge (oder
Brisson?) bemerkt weiter, daß man eine Raumfigur durch zwei
Perspektiven bestimmen kann; andere
Beobachtungen über die Luftperspek-
u TRUE 0” tive sind unserem Gegenstand fremd;
| nur sei der folgende Satz wieder-
| gegeben: „In jedem Punkte einer
| Fläche ist die Lichtstärke dem Sinus
7
wi =; [24-0
&
RB-NP"
BE
ie)
t
3
Fig. 71. Fig. 72.
des Winkels direkt proportional, welchen der einfallende Strahl mit
der Berührungsebene bildet und dem Quadrat der Entfernung vom
leuchtenden Punkt umgekehrt proportional“.
Zum Schluß unseres Berichtes über die Werke Monges über
die darstellende Geometrie möge nicht unerwähnt bleiben, daß mit
diesem großen Geometer die Wiedererweckung des Interesses der
Mathematiker für die reine Geometrie zusammenhängt; ein solches Er-
gebnis verdanken wir nicht nur seinen unsterblichen Schriften, sondern
auch seinem unübertrefflichen Unterricht an der Eeole polytechnique,
welcher mehrere Hunderte von Studenten förmlich elektrisierte, so
daß infolgedessen mehrere von ihnen bedeutende Gelehrte wurden.
Jetzt müssen wir noch bemerken, daß der Band „Geometrie
descriptive“ von Monge später gedruckt worden ist, als die „Essais
de geometrie sur les plans et les surfaces eourbes“ (Paris 1796)!) von
') Unser Bericht stützt sich auf die Seconde &dition revue et augmentee,
Paris an X (1802).
636 Abschnitt XXV.
S. F.Lacroix (1765—1843) (vgl. 5.344), der der Reihe nach Professor der
Mathematik an der Artillerieschule von Besancon (1788), an der
Normalschule von Paris (1795) und an der dortigen polytechnischen
Schule (1799)_.war. Sein Buch soll gewiß kein Kommentar zu den
Mongeschen Vorlesungen sein, ist aber auf jeden Fall von denselben
nicht ganz unabhängig. Die Geschichte seiner Entstehung erzählt
C. Dupin folgendermaßen!): Lacroix war einer der Zuhörer der
freien Vorlesungen über Geometrie, welche Monge im Louvre hielt;
in diesen sprach Monge oft von den wunderbaren Beziehungen,
welche zwischen den Operationen der Algebra und denjenigen der
Geometrie existieren, wobei er sich beklagte, daß es ihm verboten
sei, seine geometrischen Entdeckungen vorzutragen. „Tout ce que
je fais par le calcul“, sagte er, „je pourrais l’executer avec la regle
et le compas; mais il ne m’est pas permis de vous reveler ces
seerets.“ Diese Andeutung hat die Neugierde von Lacroix stark
erregt; er versuchte die Analysis von Monge in geometrische Kon-
struktionen zu übersetzen, überzeugte sich dabei selbst von der
Wichtigkeit der Projektionsmethode, und auf diesem Wege gelang es
ihm, die Fundamentalaufgaben der darstellenden Geometrie aufzu-
lösen. Der angeführte Band bildet nun die Frucht dieser Unter-
suchungen. Das Werk führt auch den Nebentitel „Complements de
geometrie“, und dieser komplementäre Zweck seines Buches wird
ausdrücklich vom Verfasser auch in seiner Vorrede hervorgehoben, wo man
die Bemerkung findet, daß, während die Auflösungen der planimetri-
schen Probleme vollkommen ausführbar sind, die der stereometrischen
einen rein theoretischen Charakter besitzen, welchen man in der
Praxis ihnen unbedingt nehmen muß. Eben dies ist der Zweck der
von Lacroix dargelegten Methoden.
Der erste Abschnitt seiner „Essais“ enthält die Grundlagen der
Methode der doppelten Orthogonalprojektion und der Anwendungen
derselben auf Punkte, Geraden, Ebenen und Kugeln. Die Art der
Darstellung ist bei Lacroix minder glänzend, aber etwas methodischer
als bei Monge und ist der heute von uns angewandten ähnlicher,
als der älteren. Im zweiten Abschnitte sind die Hauptprobleme über
die krummen Flächen aufgelöst (Durchschnitte und Tangentenebenen),
mit besonderen Anwendungen auf zylindrische, konische, Rotations-
und Regelflächen. Zuletzt beschäftigt sich der Verfasser mit der
Perspektive unter einem Gesichtspunkt, der dem von Monge ge-
wählten ganz ähnlich ist; seine Behandlung ist aber allgemeiner und
ı) Vgl. den o. a. „Essai“. Diese Geschichte wird in der Vorrede des
„Cours de geometrie descriptive“ (I. Partie, Paris 1852) von Th. Olivier anders
erzählt.
/
G. Monge als Begründer der darstellenden Geometrie. 637
verschieden von der älteren, da Lacroix nur annimmt, daß die Tafel
auf einer der Grundebenen normal sei, und sich, um die wahre Figur
der Perspektive zu finden, einer Umlegung bedient. Aber er deutet
auch ein anderes Verfahren an, zum Entwerfen einer Perspektive,
welches demjenigen Lamberts ähnlich ist und übrigens auch
nicht als neu hingestellt wird. Zum Schluß findet sich die Bemer-
kung, daß die darstellende Geometrie auf die Gnomonik anwendbar
ist, wenn man diese Lehre wie Montucla definiert!); diese Anwendung
wurde später durch einen Schüler Monges vollständig entwickelt?).
In ‘einem eingehenderen Bericht über die „Essais“ würde auch der
vortrefflichen pädagogischen Bemerkungen Erwähnung getan werden
müssen, welche sie enthalten, und welche gewiß nicht wunder
nehmen werden bei einem der besten Schriftsteller der mathematischen
Pädagogik.
Dies sind die Anfänge der neuen Lehre, mit der der Name
Monge für immer verbunden sein wird; die Geschichte ihrer weiteren
Entwicklungsstadien gehört dem 19. Jahrhundert an.
') „Histoire des math&ematiques“, 2. &d., T. I, p. 725. 2) Lefrancois,
„Memoire sur la gnomonique“ (Journ. de l’Ec. pol., XI. Cah., p. 261—271).
BEER:
ABSCHNITT XXVI
INFINITESIMALRECHNUNG
VON
G. VIVANTI
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung.')
In dem vorhergehenden Zeitabschnitte wohnten wir einem der
wichtigsten Ereignisse der Geschichte der Mathematik, der Geburt
der Infinitesimalrechnung, bei. Die mit diesem Namen bezeichnete
Lehre unterscheidet sich dadurch von allen übrigen Teilen der Mathe-
matik, daß sie sich, wenigstens in der Form, in der sie von ihren
Hauptbegründern, Leibniz und Newton, vorgetragen wurde, auf
nicht echt mathematische Prinzipien stützt. Newton geht von dem
Geschwindigkeitsbegriffe aus; Leibniz verlangt, man dürfe, ja man
solle gewisse nicht verschwindende Größen vernachlässigen. Suchen
wir eine Erklärung darüber in ihren Schriften, so finden wir bei
Newton so gut wie nichts; Leibniz sagt zwar wiederholt aus, seine
eigene Methode sei von der Archimedischen nur der Form nach
verschieden, aber einen Beweis seiner Behauptung finden wir nirgends.
Auch seine unmittelbaren Nachfolger besorgten eher die Entwicklung
der Rechnungsmethoden als die Grundlegung der Theorie. Der Ver-
fasser des III. Bandes konnte ja den Gegenstand in einigen wenigen
Seiten erledigen. |
Der Periode der Schöpfung folgt aber, wie gewöhnlich, eine
Periode, in welcher das Werk der Schöpfer geordnet und vervoll-
kommnet wird, eine Periode, die, wenn auch etwa nicht so glänzend,
doch ebenso wichtig und fruchtbar ist als die frühere?), denn aus
dieser Anordnungsarbeit entsteht, wenn sie von genialen Geistern ge-
leistet wird, wohl manches wesentlich Neue und Wertvolle; so z. B.
die Theorie der elliptischen Funktionen.
Eine Aufgabe der neuen Periode sollte selbstverständlich die sein,
die Prinzipien der Infinitesimalrechnung auf einen festen Boden zu
gründen. In dieser Hinsicht zeigen sich zwei entgegengesetzte Ten-
denzen; einerseits bestrebt man sich, die Stichhaltigkeit der Infini-
tesimalrechnung nachzuweisen, andererseits versucht man, die Leib-
nizsche Methode durch andere, vermeintlich strengere zu ersetzen.
') Siehe Vivanti, Il econcetto d’infinitesimo ela sua applicazione
alla matematica, 2. Aufl., Napoli 1901. ?) Siehe Marie, Hist. des sc.
math. et phys., VIII, Paris 1886, p. 67.
642 Abschnitt XXVI.
Als Hauptvertreter der ersten Tendenz kann man d’Alembert und
Carnot, als Hauptvertreter der zweiten kann man Lagrange nennen.
D’Alembert (1717—1783, diese Vorl., III®, S. 510) behauptet!),
das Unendliche der Analysis sei nichts ‚anderes «| als die Grenze, welcher
“das Endliche sich unbeschränkt nähert, ohne dieselbe jemals zu er-
reichen. Sagt man also, die Größe:
1+2+4+35+---
sei unendlich, so ist damit nur gemeint, daß man stets so viele
Glieder der Folge annehmen kann, daß die Summe derselben eine be-
liebig vorgeschriebene Größe übertrifft. Auf analoge Weise wird das
Unendlichkleine erklärt. Die Differentialrechnung setzt sich vor, die
Grenzwerte der Verhältnisse je zweier endlichen, durch bestimmte
Gesetze verbundenen Größen auszuwerten; sie hat nur mit endlichen
Größen zu tun; das Unendliche und das Unendlichkleine sind bloß
Kunstwörter, die die Mathematiker erfunden haben, um die Ergebnisse
ihrer Forschungen kürzer und einfacher aussprechen zu dürfen.
Dem d’Alembertschen Begriffe, nach welchem dieInfinitesimalrech-
nung nur eine Grenzrechnung ist, schließt sich Kästner (1719— 1800,
diese Vorl. III, S. 576, IV, S. 456)?) an. Nimmt » unbeschränkt
an b
an
zu, so hat die Einheit zur Grenze; das läßt sich aber dadurch
ausdrücken, daß man sagt, es dürfe die endliche Größe b gegen die unend-
liche Größe an vernachlässigt werden. Aufähnliche Weise lassen sich die
unendlichen und die unendlichkleinen Größen der verschiedenen Ord-
nungen rechtfertigen. Ist Z eine Funktion von z, welche für den Wert
z-+e von z den Wert Z+ E annimmt, so heißt die Grenze, welcher‘
sich = bei abnehmenden E und e unbeschränkt nähert, das „Ver-
hältnis der Differentiale“ von Z und z; E und e heißen die „Diffe-
rentiale“. Auf Grund dieser Definition ergibt sich, unter der Voraus-
setzung, daß n eine ganze positive Zahl bezeichnet und Z = 2 ist:
u:
lim — = n?"!;
e
diese Formel läßt sich auf jeden reellen Wert von n erstrecken.
Weiter unten mischt aber Kästner in die Definition des Differentials
den Geschwindigkeitsbegriff ein. Die Differentiale dZ, dz von Z, 2,
sagt er, sind nicht die wirklichen Zuwächse dieser Größen, sondern
die Zuwächse, welche dieselben in einer bestimmten Zeit erhalten
ı) Melanges de litt., d’hist. et de philos., Nouv. €d., T. 5, Amster-
dam 1767, p. 239 —252; Encyclopedie m&thodique, Paris 1785, art. „Diffe-
rentiel‘“. ®) Anfangsgründe der An. des Unendl., Halle, 1. Aufl. 1761,
2. Aufl. 1770. |
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 643
würden, wenn sie sich diese ganze Zeit hindurch mit den Anfangs-
geschwindigkeiten veränderten; das Verhältnis e ist also gleich dem
Verhältnis der Geschwindigkeiten, es möge die Zeit endlich sein oder
nicht, und wenn man die Zeit als unendlichklein ansieht, so geschieht
das nur, um die Geschwindigkeiten als konstant betrachten zu dürfen.
Die so verstandenen Differentiale sind nichts anderes als die New-
tonschen Fluxionen. Man kann aber nach Maeclaurin zeigen, daß
das Verhältnis der Fluxionen von 2” und von z gleich nz”! ist; es
stimmen also die Resultate der Fluxionsrechnung mit denjenigen der
Leibnizschen Rechnung vollkommen überein, und man kann diese
letztere mit Zuversicht gebrauchen.
Dieselben Ideen finden sich in Kästners Dissertation über das
Unendliche!) wieder. Das Unendliche und das Unendlichkleine sind
keine Größen; sie drücken bloß die Möglichkeit einer unbeschränkten
Zu- oder Abnahme aus. Wenn wir sagen, das letzte Glied der Reihe:
1 1 1
a)
sei O und ihre Summe sei 1, so verstehen wir darunter nur, daß die
Glieder der Reihe unbeschränkt abnehmen, und daß ihre Summe sich
der 1 unbeschränkt nähert. Der Quotient zweier Funktionen einer Ver-
änderlichen & nähert sich bei zunehmendem n dem Quotienten der
Glieder höchster Ordnung; die Sache verhält sich daher ganz so, als
wenn man alle übrigen Glieder unterdrückte.
Unter den Anhängern von d’Alembert muß auch Gerdil ge-
nannt werden. Hyacinth Sigismund Gerdil, Barnabit, geboren
am 23. Juni 1718 zu Samoens in Savoyen, war der Sohn eines Notars.
Kaum 19 Jahre alt, wurde er zum Professor der Philosophie an der
Universität zu Macerata ernannt; später war er Professor der Philo-
sophie und dann der Moraltheologie an der Turiner Universität. Der
Ruhm seiner Gelehrsamkeit, Wohltätigkeit und Frömmigkeit ver-
') Dissertationes mathematicae et physicae quas Societati
Regiae Scientiarum Gottingensi annis 17561766 exhibuit A. G. Käst-
ner, Altenburg 1771 (vgl. diese Vorlesungen, IV, 8. 26), Diss. V: De vera in-
finiti notione (p. 35—38). Siehe auch Diss. XI: De trauslatis in dietione geo-
metrarum (p. 79—88), Diss. XII: De lege continui in natura (p. 142—149), wo
ein früheres Inauguralprogramm des Verfassers mit dem Titel: De cautione
in neglectu quantitatum infinite parvarum observanda (Leipzig 1746)
zitiert wird. — Auf Kästners Ideen bezieht sich Ludolphus Hermannus
Tobiesen (1771-1839) in seiner schon oben S. 26 erwähnten Schrift:
Principia atque historia inventionis calculi differentialis et inte-
gralis nee non methodi fluxionum, Göttingen 1793.
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 42
644 Abschnitt XXVL
breitete sich mehr und mehr. Der König wählte ihn zum Lehrer
seines Sohnes, des späteren Karl Emanuel IV.; viele Akademien
zählten ihn unter ihren Mitgliedern. Im Jahre 1777 wurde er Kar-
dinal, und beim Tode von Pius VI. hätte er den päpstlichen Thron
bestiegen, hätten sich nicht politische Gründe dagegen geltend ge-
macht. Er starb zu Rom am 12. August 1802. Seine Schriften sind
sehr zahlreich und betreffen meistens Theologie und Philosophie.
Gerdil!) geht noch weiter als d’Alembert, indem er nicht nur
behauptet, daß die unendlichen und unendlichkleinen Größen für die
Infinitesimalrechnung entbehrlich sind, sondern auch, daß das absolut
Unendliche unmöglich ist. Die sieben von ihm angeführten Beweise
dieser Behauptung sind weder bündig noch wesentlich neu, und bieten
für uns wenig Interesse dar.
Die Abhandlung von Gerdil gab zu einer ganz kurzen, aber
interessanten Note Lagranges?) Veranlassung. In dieser Note be-
‚ merkt Lagrange, daß man in der Infinitesimalrechnung von unrich-
\ tigen Voraussetzungen ausgeht, daß aber andere in der Rechnung
begangene Fehler die Unrichtigkeit aufheben; so z. B. ist es eine
falsche Annahme, daß die Tangente die Verlängerung einer Seite eines
Unendlichvieleckes sei; da man aber während der Rechnung Größen
als verschwindend vernachlässigt, die bloß unendlichklein sind, so
werden beide Unrichtigkeiten sich gegenseitig tilgen. Erst nachdem
man bewiesen hat, daß eine solche Aufhebung wirklich stattfindet,
sei man berechtigt, das Unendlichkleine als eine wirkliche Größe zu
betrachten.
Der. Begriff von der Ausgleichung der Fehler war nicht neu, er
kommt schon ein Vierteljahrhundert früher bei Berkeley (diese
Vorl, IIZ, S. 741ff.) vor, ob es gleich keinen Beleg dafür gibt, daß
Lagrange dessen Schriften gekannt hat. Merkwürdig ist es, daß
Lagrange, gleich zu Anfang seiner glänzenden Laufbahn, auf die
Diskussion von der Stichhaltigkeit der Prinzipien der Infinitesimal-
rechnung geführt wurde, ein Gegenstand, der ihn bis zu seinen letzten
Jahren beschäftigte und auf welchen er nach mehr oder minder langen
Intervallen wiederholt gekommen ist. Während er aber anfangs die
Strenge der Infinitesimalrechnung zu verteidigen suchte, kam er später
auf den Gedanken, diese Rechnung durch eine strengere zu ersetzen.
Einen Grundriß seiner neuen Methode gab er in einer Abhandlung
von 1772°), aber erst 1797 entwickelte er dieselbe in seinen berühmten
1) De l’infini absolu consid6ere dans la grandeur, Misc. Taur., T. I,
1760—61, P. III, p. 1—45. ®) Note sur la mötaphysique du calceul in-
finit6simal, Misc. Taur., T. II, 1760—61, P. II, p. 17—18; Oeuvres, T. VI,
Paris 1877, p. 597—599. 3) Sur une nouvelle esp£ce de calcul relatif
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 645
Vorlesungen über analytische Funktionen!). In der Zwischenzeit
(1784) hatte er durch die Berliner Akademie, deren Vorsitzender er
—
war, die Gelehrten der ganzen Welt aufgefordert, das hochwichtige |
Problem aufzulösen; woraus erhellt, erstens, daß er damals mit seiner
eigenen Lösung nicht ganz zufrieden war, zweitens, daß, wenn auch
die Akademie eine der vorgelegten Abhandlungen krönte, die darin
vorgeschlagene Methode seinen Geist so ‚wenig befriedigte, daß er bald
‚seine alten Ideen wieder aufnahm.
Über die erwähnte Preisfrage müssen wir etwas ausführlicher
berichten. Man verlangte?) „eine lichtvolle und strenge Theorie
dessen, was man Unendlich in der Mathematik nennt“. „Die höhere
Geometrie“, lautete die Aufforderung, „benutzt häufig unendlichgroße
und unendlichkleine Größen; jedoch haben die alten Gelehrten das
Unendliche sorgfältig vermieden, und einige berühmte Analysten
unserer Zeit bekennen, daß die Wörter unendliche Größe wider-
spruchsvoll sind. Die Akademie verlangt also, daß man erkläre, wie
aus einer widersprechenden Annahme so viele richtige Sätze entstanden
sind, und daß man einen sicheren und klaren Grundbegriff angebe,
welcher das Unendliche ersetzen dürfe, ohne die Rechnungen zu
schwierig oder zu lang zu machen.“
Der Preis wurde der Exposition el&mentaire des prineipes
des caleuls superieurs (Berlin 1786)?) erteilt. Verfasser dieser
Abhandlung war Simon Antoine Jean Lhuilier, geboren in Genf
1750, gestorben daselbst 1840, seit 1795 Professor der Mathematik
an der Akademie in Genf, dessen Namen in mehr als einem Ab-
schnitte dieses Bandes erscheint (s. o. $. 84, 432).
Lhuilier erhebt wohlbekannte Bedenken gegen den Unendlich-
keitsbegriff. Es zerlegt z. B. eine Ebene den Raum in zwei gleiche
Teile‘), und dasselbe tut eine der ersteren parallele Ebene; jedoch ist
a la differentiation et A l’integration des quantites variables, Nour.
Mem. Berlin, 1772 (publ. 1774), p. 186—221; Oeuvres, T. III, Paris 1869, p. 441
bis 476.
') Theorie des fonctions analytiques, eontenant les principes
du Calcul differentiel, degages de toute consid&eration d’infini-
ment petits, d’&vanouissants, de limites et de fluxions, et reduits &
l’analyse algebrique des quantites finies, 1. Aufl., Paris 1797, 2. Aufl.,
Paris 1813 (wieder abgedruckt in Oeuvres, T. IX, Paris 1881). Siehe auch: Dis-
cours sur l’objet de la th6orie des fonctions analytiques, Journ. Ee.
Polyt., VI. Cahier, T. II, 1799; Oeuvres, T. VII, Paris 1877, p. 325—328,
®) Nouy. M&m. Berlin 1784 (publ. 1786 pi 1-18, ®») Eine lateinische _
pP P be
Bearbeitun erschien 1795 in Tübingen unter dem Titel: Prineipiorum
calculi differentialis et integralis expositio elementaris.
%) »- . . telles qu’on ne puisse rien dire de l’une qu’on ne puisse egalement dire
de l’autre“,
42*
646 | Abschnitt XXVI.
von den beiden letzteren Halbräumen der eine größer, der andere
kleiner als einer der ersteren. Ferner kann der unendliche Raum
keine Figur aufweisen; eine Figur setzt nämlich eine gewisse Ein-
richtung der Grenzen voraus, das Unendliche aber läßt keine Grenzen
zu. Noch unbegreiflicher ist das Unendlichkleine; es sollte dieses
eine jedes Größencharakters entbehrende Größe sein. In der Infini-
tesimalrechnung wird das Unendlichkleine bald als verschwindend,
bald als nicht verschwindend betrachtet; jedoch gleichen sich die
Rechnungen von selbst aus, da, was vernachlässigt wird, nicht unver-
gleichbar, sondern genau gleich Null ist. Es empfiehlt sich also, die
Infinitesimalrechnung durch die Grenzmethode zu ersetzen, ohne je-
doch die Ausdrucksweise und die Bezeichnungen der ersteren zu ver-
lassen. Ob und wie Lhuilier seinen Gedanken ausgeführt hat,
werden wir weiter unten sehen.
Die Berliner Preisfrage gab auch zu einer anderen Schrift Ver-
anlassung, die aber der Akademie nicht vorgelegt wurde. Wenzeslaus
Johann Gustav Karsten (s.0.S5.74,357), Professor der Mathematik
und Naturlehre in Halle, geboren 1732, gestorben 1787, war damals mit
der Abfassung seines Handbuches der Analysis und höheren
Geometrie beschäftigt und wurde natürlich dazu geleitet, die auf-
geworfene Frage zu berücksichtigen. Hieraus entstand die erste seiner
Mathematischen Abhandlungen, welche den folgenden Titel
trägt: Vom Mathematisch-Unendlichen mit Rücksicht auf
eine im Jahre 1784 aufgegebene Preisfrage. Wenn der Mathe-
i Hi ”
matiker sagt, es sei ——-—() für m — 00,50 bedeutet das nach Karsten,
daß - bei zunehmendem m beständig abnimmt, und daß die Glei-
1 r . N
chung — — 0 nur dann gelten würde, wenn m einen Wert erhielte,
den es nicht erreichen kann, so lange man fortzählt. Auch das Un-
endlichkleine ist bloß eine Redensart; die Regeln der Infinitesimal-
rechnung lassen sich durch die Grenzmethode rechtfertigen, so daß
es nutzlos erscheint, neue Methoden zu bilden, wie es.die Akademie
verlangt. Dieselben Begriffe, wenn auch unter einer etwas veränderten
Form, finden sich in der fünften Abhandlung!) wieder, deren Titel
ist: Vom Berührungswinkel und Krümmungskreise. Von den
beiden entgegengesetzten Meinungen, deren Hauptvertreter Clavius
1) Die Titel der drei übrigen Abhandlungen lauten: 2. Von den Parallel-
linien,und den neuerenBemühungen,die Theorie davon zu ergänzen;
3. Über eine Stelle in des Herrn Lamberts Briefwechsel, von ver-
neinten und unmöglichen Wurzelgrößen; 4. Von den Logarithmen
der verneinten und unmöglichen Größen.
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 647
und Le Peletier sind!), schließt sich Karsten derjenigen des letzteren
an, indem er behauptet, der Berührungswinkel sei genau gleich Null.
Er zeigt aber, daß diese Behauptung nicht im mindesten hindert, die
Verschiedenheit der Krümmungsmasse der eine gemeinschaftliche Tan-
gente besitzenden Linien zu begreifen.
Der Berliner Preisfrage verdanken wir vermutlich auch Carnots
Reflexions sur la metaphysique du ealeul infinit@simal, die
zwar erst im Jahre 1797 erschienen, die aber, wie der Verfasser in
seiner Vorrede angibt, schon lange fertig standen’).
Lazare Nicolas Marguerite Öarnot, geboren am 13. Mai 1753
zu Nolay in Frankreich, wurde Genieoffizier, dann Mitglied der
Assemblee nationale und des Konvents (1791), wo er für das
Todesurteil des Königs stimmte. Als Mitglied des Comite de salut
public (1793) verdiente er den ehrenvollen Beinamen eines organi-
sateur de la vietoire. Später war er Minister unter Napoleon;
als dieser aber die Kaiserkrone annahm, trat Carnot ins Privatleben
zurück. Nach dem unglücklichen russischen Feldzuge bot er wieder
seine Dienste dem Vaterlande an, und zeichnete sich bei der Ver-
teidigung von Antwerpen aus. Er war wieder Minister beim hundert-
tägigen Kaisertum Napoleons, und wurde nach dessen Falle in
eine Proskriptionsliste einbegriffen; er erhielt seinen Wohnsitz in
Magdeburg angewiesen, wo er am 22. August 1823 starb.
In seinen Reflexions unternimmt es Carnot, nachzuweisen,
daß die Infinitesimalmethode ganz streng ist, und daß es daher
keinen Grund dafür gibt, auf diese Methode zu verzichten. Dazu unter-
sucht er zunächst, wie der menschliche Verstand zu dem Grundbegriffe
dieser Methode gelangt sein möge. Die Unmöglichkeit, eine genaue
Auflösung gewisser Probleme zu erhalten, führte, meint er, zum Ver-
suche, dieselben annäherungsweise aufzulösen, indem man die Daten
der Probleme durch andere ersetzte, die von diesen so wenig ver-
schieden wären, daß man die in den Endresultaten entstehenden
Fehler vernachlässigen dürfte. Carnot führt das folgende Beispiel
an: Es solle die Tangente MT zu einem Kreis MBD in einem
Punkt M geführt werden (Fig. 73). Sei « der Radius, € der Mittel-
punkt, BD ein Durchmesser, MP die zu BD senkrechte durch M
gehende Gerade; man setze:
DP=z, MP-y,
‘) Bd. II® u. III® passim; Vivanti, a. a. O. 2) Eine deutsche Über-
setzung mit sehr interessanten Noten ist von J. K. Hauff herausgegeben worden
unter dem Titel: Betrachtungen über die Theorie der Infinitesimal-
rechnung (Frankfurt a. M. 1800). Auch eine italienische Übersetzung von
G. B. Magistrini (Pavia 1803) liegt vor.
648 Abschnitt XXVI.
und suche, die Subtangente TP zu bestimmen. Dazu betrachte man
den Kreis als ein Vieleck, und es sei NM eine Seite desselben, NO
die Senkrechte zu DB durch N, MQ die Senkrechte zu NO durch
M; die Verlängerung von NM gibt an-
näherungsweise die Tangente an, so daß
die angenäherte Beziehung stattfindet:
“ji
MQ9 TP
1 er ah
(1) „0%
Andererseits ist:
yP=2ax— x,
= NO?=2a- DO — DO};
Q j diese letzte Gleichung läßt sich schreiben:
Y+NQ’—-2a@+ MV)
Sr (X +M 2),
B und wenn man die erste Gleichung ab-
Fig. 73. zieht:
2y:NQ + NQ@=2(a—2)MQ — MY),
oder:
MQ 2938
NG 2(a—x)— MV’
also wegen (1):
2y+N®
(2) TE =-Yza_9=Mm0'
Nun sind MQ und NQ kleiner als MN, folglich vernachlässigbar,
und man hat annäherungsweise:
Par.
A ei
Es ist aber überraschend, daß diese Lösung nicht angenähert, son-
dern streng richtig ist. Woher kommt das? Da wir von einer
ungenauen Voraussetzung ausgegangen sind, so ist die Gleichung (2)
notwendig ungenau; sie ist es aber um so weniger, je kleiner MN
ist, und wird ganz genau, wenn MN und somit M@ und N ver-
schwinden. Es hat hier eine gegenseitige Aufhebung der Fehler statt-
gefunden); und dasselbe geschieht in allen Fällen. Wie kann man
2) Es kommt hier der Begriff von der Ausgleichung der Fehler vor, welchen
man schon bei Berkeley und bei Lagrange gefunden hat; ob Carnot seine
en ”
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 649
aber erkennen, daß die Fehler sich aufgehoben haben? Die in den
Rechnungen vorkommenden Größen sind teils bestimmt, wie TP,
MP, BP, teils unbestimmt, wie MN, MQ, NQ; die letzteren schleichen
sich in die Rechnungen ein, wenn wir zur Erleichterung gewisse
Grössen durch andere ersetzen, die von diesen wenig verschieden sind,
und von diesen ausschließlich hängen daher die Fehler ab, mit welchen
die Resultate behaftet sind. Sobald also sämtliche willkürliche Größen
aus den Rechnungen entfernt worden sind, können wir mit Sicherheit
annehmen, daß die Fehler sich aufgehoben haben.
Kann eine willkürliche Größe (wie NO) so wenig verschieden
von einer bestimmten (wie MP) angenommen werden, als man will,
so sagt man, die letztere sei die Grenze der ersteren, und die Diffe-
renz (nämlich N@) sei unendlichklein; eine unendlichkleine Größe
ist also eine willkürliche Größe, welche die Null zur Grenze hat.
Die ungenauen Gleichungen (wie (2)) werden zu genauen, sobald man
die in denselben vorkommenden willkürlichen Größen durch deren
Grenzen ersetzt. Dadurch erklärt sich, wie die scheinbar ungenaue
Regel von der Vernachlässigung der unendlichkleinen Größen zu ge-
nauen Resultaten führen kann.
Will man aber die Unbequemlichkeit vermeiden, mit ungenauen
Größen zu tun zu haben, so kann man die unendlichkleinen Größen
als streng verschwindend betrachten, mit der alleinigen Vorsicht, die
etwa vorkommenden Verhältnisse je zwei soleher Größen durch
deren Grenzen zu ersetzen.
Wird also gefragt, ob man die unendlichkleinen Größen als
verschwindend betrachten muß oder nicht, ein Dilemma, das zu vielen
Diskussionen Veranlassung gegeben hat, so läßt sich antworten: man
kann nach Belieben ebenso den einen wie den anderen Standpunkt
behalten.
Ist so die Strenge der Infinitesimalreehnung gesichert, so bleibt
nur noch übrig, zu bemerken, daß sie die Grenzmethode, mit wel-
cher sie in den Resultaten übereinstimmt, an Einfachheit weit über-
trifft, insofern sie sich vorsetzt, jeder Grenzbestimmung zu entbehren
und mit bloß algebraischen Rechnungen zu verfahren. Wird man
also, fragt Carnot, auf die unermeßlichen Vorteile verzichten, die
die Infinitesimalmethode darbietet, aus Furcht, sich auf einen Augen-
Vorgänger gekannt hat oder nicht, möge dahingestellt bleiben. Einem anderen
Vorgänger, N. Fiorentino, werden wir weiter unten begegnen. Es möge hier
auch die Aussage von Segner (s. u.) erwähnt werden, daß das Gleichheitszeichen
in einer Differentialgleichung nicht die Gleichheit, sondern das Streben nach
Gleichheit bedeutet.
650 Abschnitt XXVI.
blick von dem genauen Verfahren der Elementargeometrie zu ent-
fernen? Wird man einem ebenen und bequemen Wege einen dor-
nigen Pfad vorziehen, auf welchem es so schwer ist, sich nicht zu
verirren?
Der Standpunkt von Carnot ist richtig, aber sein Verfahren ist
weder so einfach, als es sein dürfte, noch ganz vollständig. Um nachzu-
weisen, daß die ungenauen Gleichungen sich durch Vertilgung der
unendlichkleinen Größen in genaue verwandeln, braucht man nur die
unendlichkleine Größe als eine willkürliche Größe zu definieren; denn,
da nach dieser Definition die unendlichkleinen Größen sich so klein
annehmen lassen, daß die aus deren Vertilgung hervorgehenden Fehler
kleiner sind als jede beliebig vorgegebene Größe, so sind diese Fehler
genau gleich Null. Es findet also wirklich eine Aufhebung der
Fehler statt, nicht aber durch gegenseitige Ausgleichung („compen-
sation des erreurs“), wie Carnot meint, sondern dadurch, daß jeder
Fehler für sich selbst zu Null wird. Es ist ferner zu beachten, daß
sich Carnot mit der Bestätigung der Tatsache von der Fehlerauf-
hebung begnügt, ohne nach deren Grunde zu suchen; hätte er das
getan, so hätte er den Grund darin gefunden, daß, wie soeben gesagt,
jeder Fehler für sich verschwindet.
Manche andere Schriftsteller bemühten sich, mit größerem oder
kleinerem Erfolg, die Strenge der Leeibnizschen Methode außer
Zweifel zu legen.
Nach Johann Andreas von Segner (diese Vorl., ILI?, S. 609, IV,
S. 74)!) ist der Unendlichkeitsbegriff bloß ein negativer Begriff, denn
unendlich ist was keine Grenzen hat; um auszudrücken, daß zwei
parallele Linien nicht zusammentreffen, sagt man, sie schneiden sich
im Unendlichen. Man kann aber dem Unendlichen eine positive
Bedeutung geben. Behauptet man, zwei parallele Geraden haben
einen im Endlichen liegenden gemeinschaftlichen Punkt, so begeht
man einen desto kleineren Fehler, je größer der Abstand des Punktes
ist; wäre also der Abstand größer als jede angebbare Größe, so würde
der Fehler verschwinden. Bezeichnen wir mit M den Ozean, mit P
einen Tropfen Wasser, so ist es uns unmöglich, das Verhältnis „ von
1 ü s ‘ ; .
-„ zu unterscheiden, wenn sie auch voneinander sachlich verschieden
sind, denn unser Begriff von M und von M + P ist ganz derselbe;
das zeigt, daß wir fähig sind, das Verhältnis r gewissermaßen zu
I) Segner, Elementa analyseos finitorum, Halle 1758; Elemen-
torum analyseos infinitorum Pars prima, Halle 1761, Pars secunda,
Halle 1763.
-
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 651
begreifen. Die Gleichung E = = ist nur dann möglich, wenn a be-
liebig zunehmen darf; sie drückt aus, daß die Gleichung nn = 4 für
1
0?’
heißt a unendlich in bezug auf b; ist b eine endliche Größe, so
schreibt man «= &, und es folgt:
keinen nicht verschwindenden Wert von n besteht. Ist 5 = so
SED = 00,
wodurch sich alle Regeln der Differentialreehnung rechtfertigen lassen.
Jacopo Belgrado, Jesuit, geboren zu Udine 1704, gestorben
daselbst 1789, Verfasser mehrerer mechanischer und physikalischer
Schriften, veröffentlichte in höchst eleganter Ausstattung ein dem elf-
jährigen Herzog von Parma gewidmetes, zweibändiges Werk, welches
über 200 meistens mechanische Probleme enthält.') In der Einleitung
zum zweiten Bande spricht Belgrado seine Meinung über das Un-
endliche aus. Die Linie, sagt er, besteht aus Punkten und wird durch
das Fließen eines Punktes erzeugt; der Punkt ist ein Unendlichkleines
in bezug auf die Linie. Das Unendlichkleine ist also kein bestimmter
eil des Endlichen, es ist kleiner als jeder noch so kleine Teil. Hier-
aus folgt, daß zwei Größen einander gleich sind oder als solche be-
trachtet werden dürfen, wenn ihre Differenz unendlichklein ist. Nach
Belgrado sind die Antworten von Leibniz auf die Angriffe
Nieuwentijts (diese Vorl, II, S. 254) keineswegs überzeugend; er
schließt sich den von Torelli in seinem Werke De nihilo geo-
metrico auseinandergesetzten Begriffen an.
Da der letztgenannte, von seinen Zeitgenossen sehr geschätzte
Mathematiker im III. Bande nicht berücksichtigt worden ist, so möge
es uns erlaubt werden, hier diese Lücke auszufüllen.
Giuseppe Torelli (diese Vorl., IV, S. 34 und 617) ?), geboren zu
') Belgrado, De utriusque analyseos usu in re physica,
2 Bde., Parma 1761—62. Der erste Band (De analyseos vulgaris usu in
re physica) umfaßt 113 Probleme über Hydraulik (23), Mechanik (14), Astro-
nomie (12), Optik (10), Ballistik (4), Zentrobarik (2), Pneumatik (6), Architektur
(9), Meteorologie (2), Hygrometrie (1), Bewegung (8), Pendel (6), Stoß (4), Ko-
härenz (4), Akustik (1), Nautik (1), Geographie (1), Gnomonik- (1), Zinse und
Glücksspiele (4). Der zweite Band (De analyseos infinitorum usu in re
physica) umfaßt 100 Probleme über Nautik (13), Hydrostatik (3), Hydraulik (9),
Mechanik (7), Dynamik (14), Ballistik (3), Atmosphärik (8), Geographie (3),
Architektur (2), Zentripetalkraft (14), Optik (9), Fortpflanzung der Bewegung (5),
Schwingungsbewegung (6), Widerstände (9). *) Siehe drei Nachrufe von Ippo-
lito Pindemonte (1753—1828) in dessen Werken; einer von diesen ist aus
den Mem. Soe. It. (1) II, 2 (1784), p. III—XXXIV abgedruckt.
nn
De
ß
652 Abschnitt XXVI.
Verona am 3. November 1721, gestorben am 18. August 1781, war Dichter,
Philosoph und Mathematiker. Sein Hauptwerk, welches neulich aus
der Vergessenheit durch O. Stolz!) hervorgerufen wurde, ist: De
nihilo geometrico libri duo (Verona 1758). Nach Torelli ist
‚ die Differentialrechnung nichts anderes als eine Rechnung mit Nullen.
Man muß aber die metaphysische und die geometrische Null unter-
scheiden; die zwei Begriffe werden vom ersten bzw. zweiten Teil der
folgenden Definition bestimmt: „Nihilum est, per quod unumquodque
eorum, quae non sunt, dieitur nihilum. Dieitur autem unum non
esse, quod antea cum esset, non esse amplius coneipitur“. Die geo-
metrische Null steht zu sich selbst in demselben Verhältnis wie die
Einheit zur Einheit. Die Vergleichung zweier gleichdimensionaler
Größen ist „ejusdem generis“ oder „diversi generis“, je nachdem die
beiden Größen von Null verschieden sind, oder eine derselben gleich
Null ist. Auf diese Grundlagen sich stützend, beweist Torelli im
ersten Buche eine Reihe von Sätzen, welche meistens die Vergleichung
von Nullen oder von Unendlichen betreffen. Wird eine beliebige
Größe von sich selbst subtrahiert, so entsteht die (geometrische)
Null; denn dadurch hört auf zu sein, was früher war. Die Null
1— 1, welche aus der Subtraktion der Einheit von sich selbst ent-
steht, heißt „nihilum ordine primum“; und e st — z=a(1-—]).
Bezeichnet x eine zweidimensionale Größe, und subtrahiert man jede
ihrer Dimensionen von sich selbst, so ist das Produkt beider Diffe-
renzen £(1— 1)°; daher ist die Vergleichung der aus Subtraktion
entstehenden Null «(1 — 1) mit der aus Subtraktion und Multiplika-
tion entstehenden x (1 — 1)? eine „comparatio diversi generis“, da man
dabei x mit x, 1—1 mit 1—1 und 1 mit 1— 1 vergleichen muß.
Aus der Division von 1 mit OÖ entsteht ©. Es ist nämlich:
s1-D+i=2,
was beweist, daß man durch Division von x mit 1 — 1 als Quotienten
und als Rest x erhält; da aber der Rest dem Dividenden gleich ist,
so kann die Division ohne Ende fortgeführt werden, und der Gesamt-
quotient ist eine Größe, welche keine Grenzen hat, d.i. eine unend-
liche Größe („quod autem nullos habet fines, illud infinitum esse
dieitur“). — Daß die Torellische Methode nichts anderes ist als die
maskierte Grenzmethode, erhellt aus den geometrischen Anwendungen,
' welche den Stoff des zweiten Buches bilden. Bezeichnen wir der
Kürze wegen mit 0, die aus der Größe « entstehende Null «(1—1),
so ist allgemein:
ı) Größen und Zahlen, Leipzig 1891.
ie),
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 653
ar Ya
BA
Ist insbesondere y die Ordinate, v die Subtangente einer Kurve, so
hat man:
da aber zur Bestimmung der Tangente (d. i. derjenigen Geraden,
welche früher die Kurve in zwei Punkten schnitt, jetzt aber sie nicht
mehr schneidet) nötig ist, das Verhältnis > zu kennen, so kann man
sich statt dieses vorsetzen, das Verhältnis De zu bestimmen. Diese
v
Bestimmung geschieht für die Parabel folgendermaßen. Es seien
(Fig. 74) A der Scheitel, F, E
zwei beliebige Punkte der Er
Kurve, BF, IE die zugehöri-
gen Ordinaten, D der Durch-
schnitt von /E mit der durch 7 -
F parallel zur Achse gezoge-
nen Geraden, H, @ die a u; vr
Schnittpunkte der Sehne FE an
und der Tangente in F' mit
der Achse, AO das latus reetum. Dann ist:
AC:AI=-IE®
oder:
AC(AB+BN=(ID+ DE)= (BF + DE)%,
ferner:
AC-AB= BF?
also:
AC:-BI=2BF.DE+ DE,
oder:
AC(HI— Hb)=2BF(IE— BF) + (IE— BF).
Fällt E mit F zusammen, so ist:
HI—- HB=GB—- GB=0, IE- BF=-BF—-BF=0,
also:
A0-0,=2BF:0,+0,%
Da aber die Vergleichung der beiden Glieder rechts eine comparatio
diversi generis ist, so erhält man durch Vernachlässigung von 0,?
(„neglecto ab altera parte nihilo orto ex BF in semetipsum ducto“):
BEER URS
® RERBER 1: #2)
v
654 | Abschnitt XXVI.
Weitere Anwendungen seiner Methode hat Torelli in einer spä-
teren Schrift mit dem Titel Geometrica (Verona 1769) gegeben,
wo er einige geometrische Probleme zuerst durch die reine Geometrie,
dann durch die Nullrechnung auflöst. Diese Schrift bietet nichts
Merkwürdiges dar, ausgenommen etwa einen kuriosen Fehler (s. o.
S. 617); Torelli meint, eine neue Quadratrix (quadrataria scalena)
erfunden zu haben, und bemerkt nicht, daß diese mit der gewöhnlichen
Quadratrix übereinstimmt.
Eine lange Diskussion über die Prinzipien der Infinitesimalrech-
nung enthält der höchst interessante Briefwechsel zwischen Lambert
und von Holland äus den Jahren 1765 und 1766.) Beide sind
_ darüber einig, daß das Unendlichkleine bloß eine Fiktion ist. Der
Infinitesimalbegriff gibt aber, wie von Holland bemerkt, der Mei-
nung Veranlassung, die Differentialrechnung sei nur eine Annähe-
rungsmethode; besser ist, Null zu nennen, was Null ist. Man muß
jedoch zwischen verschwundenen und verschwindenden Größen unter-
scheiden; die ersteren sind sämtlich gleich, die letzteren dagegen
können auch verschieden sein, je nach der Geschwindigkeit, mit wel-
cher die Größen nach Null streben. So ist z.B.:
für = a. Die Vernachlässigung von dx? rechts in der Formel:
d(x?) = 2xdx + da?
geschieht nicht precario modo, sondern notwendig; es ist nämlich:
d(x2) = 2xde + d® = (22 + 0)0 = 2x: 0 = 2uda.
Ist = —1 für A=-C=(, so kann man, „so oft von letzten
Verhältnissen die Rede ist“, A statt C und Ü statt A nehmen; so
z.B. kann man den Bogen durch die Sehne ersetzen, was zum un-
genauen und dem Stetigkeitsprinzip widersprechenden Begriffe einer
aus unendlich vielen Strecken bestehenden Kurve geführt hat. Nicht
minder fiktiv als das Unendlichkleine ist das Unendliche, welches ein
negativer Begriff ist und eine Unmöglichkeit ausdrückt. Diese Un-
möglichkeit ist aber, wie von Holland scharfsinnig bemerkt, von
soleher Beschaffenheit, daß man sich derselben unbeschränkt annähern
darf, während man das Gleiche von der Unmöglichkeit ay—1 nicht
sagen kann; wollte man in positiver Form ausdrücken, daß Gott un-
ı) Lamberts deutscher gelehrter Briefwechsel, herausgegeben von
Johann Bernoulli, 5 Bde., Berlin 178i—87; Ba. I, S. 11ff. re
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 655
sterblich ist, so könnte man sagen, er sterbe nach der Zeit aY—1,
nicht aber, er sterbe nach der Zeit .
Der später als „Prinzip von der Ersetzung der Infinitesimal-
größen“ bezeichnete Grundbegriff ist in das klarste Licht gesetzt
worden von Riceati und Saladini in ihren noch weiter unten zu
besprechenden Institutiones analyticae(2Bde.,Bolognal765—1767).
Vincenzo Riecati (vgl. diese Vorl., III?, 5.474, IV, 5.457), Jesuit, Sohn
des berühmten Jaeopo Riccati, geboren den 11. Januar 1707 zu Castel-
franco bei Treviso, gestorben daselbst den 17. Januar 1775, war Pro-
fessor der Literatur und Rhetorik zu Piacenza, Padua und Parma,
‘dann Professor der Mathematik zu Bologna; er schrieb über Mathe-
matik, Physik und Mechanik, und beschäftigte sich auch mit hydrau-
lischen Fragen. Girolamo Saladini, Cölestinermönch, geboren zu
Lucea 1731, gestorben zu Bologna den 1. Juni 1813, lehrte an der
Universität zu Bologna erst Geometrie, dann Astronomie, dann höhere
Mathematik. Die Grundlagen der Infinitesimalmethode, so lehren
Riceati und Saladini, lassen sich auf ein einziges Lemma redu-
zieren, daß nämlich zwei Größen, deren Unterschied kleiner werden
kann als jede vorgegebene Größe, zuletzt einander gleich werden.
Haben wir also mit zwei derartigen Größen zu tun, so können wir
dieselben der Kürze wegen einander gleich setzen; dadurch wird
gar nichts vernachlässigt, da unendlich kleine Differenzen weglassen
nichts anderes ist als genaue Gleichungen zwischen den Grenzen
schreiben.
Die Ideen von Euler über das Unendlichkleine sind schon be-
kannt (diese Vorl., III?, S. 749) und kommen auch in seiner Integral-
rechnung (1768) wieder vor; dieselben zu rechtfertigen und ihre Über-
einstimmung mit dem Grenzbegriff zu zeigen, bestrebt sich sein
Kommentator Johann Philipp Grüson (s. o. S. 72)!), Professor
der Mathematik am Kadettenkorps in Berlin, dann an der Bau-
akademie und an der Universität, geboren zu Neustadt-Magdeburg
am 2. Februar 1768, gestorben zu Berlin am 16. November 1857,
der aber seinerseits, sonderbar genug, die Notwendigkeit fühlte, die
Leibnizsche Methode durch eine neue Methode zu ersetzen (siehe
unten).
Auch eine kleine Schrift von Luino vom Jahre 1770?) ist, trotz
') Grüson, Supplement zu L. Eulers Differenzialrechnung, worin
ausser den Zusätzen und Berichtigungen, auch noch andere nützliche
analytische Untersuchungen, welche grösstentheils die combinato-
rische Analysis betreffen, enthalten sind, Berlin 1798. 2) Oggetto
e principii del metodo flussionario, Milano 1770, nach Poggendorff.
656 Abschnitt XXVI.
ihres Titels, der Verteidigung nicht nur der Fluxions-, sondern auch
der Infinitesimalmethode gegen die Angriffe von Berkeley (diese
Vorl., IP, 8. 737 ff.) gewidmet. Francesco Luino, Jesuit, geboren
zu Lugano am 25. März 1740, gestorben zu Mailand am 7. Novem-
ber 1792, lehrte Astronomie und Mathematik zu Mailand, dann an der
Universität zu Pavia; mußte aber wegen seiner zu kühnen philoso-
phischen Ansichten diese Stadt verlassen und wanderte nach Mantua,
wo er eine philosophische Schule stiftete. — Luino sagt, er hätte
von seiten Berkeleys einen Lobspruch der Mathematik und zugleich
des Glaubens erwartet, sowie auch den Schluß, daß die Prinzipien der
Mathematik freilich begreiflicher sind als die des Glaubens, daß aber‘
die Klarheit der ersteren nicht größer ist als die Glaubwürdigkeit der
letzteren, und daß die menschliche Vernunft so wenig verletzt wird’
durch Aneignung der dunkelsten Dogmen, als durch Anerkennung
der überzeugendsten mathematischen Beweise. Nach dieser Vorbe-
merkung kommt Luino zu seinem Hauptgegenstande, wobei er aber
zur Klarlegung der Prinzipien der Differentialrechnung keinen wesent-
lichen Beitrag liefert. Er erwähnt eine Schrift von Boscovich!):
De natura etusuinfinitorum, etinfinite parvorum (Rom 1740),
in welcher gezeigt wird, daß sich die Fehler, die man dadurch begeht,
daß man Größen durch andere ersetzt, die sich von diesen um Größen
niederer Ordnung unterscheiden, während der Rechnung gegenseitig
aufheben.
Auch Odoardo Gherli, Dominikaner, Professor der Theologie
und Mathematik, geboren zu Guastalla bei Reggio 1730, gestorben
zu Parma am 6. Januar 1780, spricht in seinen Elementi?) analoge
Riccardi (Bibl. mat. it.) sagt, daß diese Schrift keine typographische Angabe
enthält, und auch das von mir durchgesehene, der Universitäts-Bibliothek zu
Pavia gehörende Exemplar trägt weder Druckort noch Datum.
t) Der Abt Ruggiero Giuseppe Boscovich (s. o. 8. 420),
geboren zu Ragusa am 18. Mai 1711, war zugleich Philosoph, Dichter,
Geodät, Astronom und Archäolog. Er wurde oft vom Papst über tech-
nisch e und ökonomische Fragen zu Rate gezogen, beschäftigte sich mit
einer Gradmessung im päpstlichen Staat, machte lange Reisen und ent-
deckte die Trümmer von Troja. Er lehrte in Pavia, Mailand und Pisa,
worauf er nach Frankreich übersiedelte als Direktor der optischen Abteilung
der Marine. Später war er wieder in Italien, um die Drucklegung seiner Werke
zu besorgen, welche in Bassano in fünf Bänden erschienen; aber der Schmerz,
dieselben nicht so sehr gesucht zu sehen, als er hoffte, trübte seinen Geist, und
nicht viel später starb er in Mailand, am 13. Februar 1787 (A. Fabroni,
Elogio dell’ Ab. Ruggiero Giuseppe Boscovich, Mem. Soc. I. 1) IV
(1788), p. VO—XLVD. ?), Gli elementi teorico-pratici delle matema-
tiche pure, 7 Bde., Modena 1770—1777 (s. o. 8. 47, 76).
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 657
Ideen aus. Die veränderlichen Größen werden als aus dem Fließen
eines erzeugenden Elementes entstanden gedacht. Die zwischen O0
und einem endlichen Zuwachse liegenden Größenstufen heißen, wenn
sie kleiner sind als jede angebbare Größe, unendlichklein. Solche
Gebe Errmen in de Difererkierechuung vor; diese ist aber nicht
auf dieselben begründet, sondern bedient sich dieser Größen, um die
Grenzen veränderlicher Größen zu bestimmen, so daß die Differential-
rechnung nichts anderes ist, als die Methode von den letzten Ver-
hältnissen. Da also bei der Berechnung dieser Verhältnisse die un-
endlichkleinen Differenzen der veränderlichen Größen verschwindend
sind, so dürfen sie vernachlässigt werden.
Nur der Vollständigkeit wegen erwähnen wir eine kleine Schrift
von H.W. J. von Stamford'), geboren zu Bourges, gestorben zu
Hamburg am 16. Mai 1807, Hauptmann im preußischen Ingenieur-
korps, welche nichts Interessantes darbietet.
Mit den Grundlagen der Infinitesimalrechnung beschäftigte sich
lange und wiederholt Johannes Schultz?), Hofprediger und Professor
der Mathematik in Königsberg, geboren zu Mühlhausen am 11. Juni
1739, gestorben zu Königsberg am 27. Juni 1805, welcher auch ein
') Versuch, die Grundsäzze des Differential- und Integral-
kalkuls vorzutragen, ohne die Begriffe von den unendlich-
kleinen Größen hineinzubringen, Berl. Mag. der Wiss. und Künste,
I 1 (1784), 8. 3—36. °) De geometria acustica seu solius auditus ope
exercenda, Diss. prima, Königsberg 1775; De geometria acustica necnon
de ratione 0:0 ceu basi caleuli differentialis, Diss. secunda, Königs-
berg 1787. — Versuch einer genauen Theorie des Unendlichen, Königs-
berg-Leipzig 1788. — Anfangsgründe der reinen Mathematik, Königs-
berg 1790. — Kurzer Lehrbegriff der Mathematik, 3 Bde., Königsberg
1797—1806. — Da der Titel der ersten dieser Schriften den Leser wohl stutzig
machen kann, so halten wir es für angemessen, etwas davon zu sagen.. Schultz
setzt sich als Zweck vor, die Probleme der Feldmessungskunst mit alleiniger
Hilfe des Gehörs aufzulösen. Will man drei Punkte B, C, D mit einem unsicht-
baren Punkte A verbinden, so kann man aus der Kenntnis der Zeiten, in welchen
ein und derselbe in A geschehene Schuß in B, C, D gehört wird, die Differenz
der Abstände AB, AC, AD entnehmen; es kommt also alles auf das folgende
geometrische Problem an: Die Abstände AB, AC, AD zu bestimmen, wenn
BC, BD, BoD, AB— AO, AC— AD gegeben sind. Liegen die zu betrach-
tenden Punkte nicht sämtlich in einer Ebene, so muß man vier Stationen B, C,
D, E annehmen, und es entsteht das Problem: Die Kanten AB,AC, AD, AE
einer viereckigen Pyramide zu bestimmen, wenn die Differenzen dieser Kanten
und die Basis BODE gegeben sind. — Gehören im ersten Problem B,C,D
einer und derselben Geraden an, so kommt AB in der Form r vor, was dem
Verfasser die Gelegenheit darbietet, ein langes Scholium den Prinzipien der
Differentialrechnung zu widmen. damen E
658 Abschnitt XXV1.
besonderes Werk diesem Gegenstande widmete. Schultz denkt die
_Infinitesimalgrößen als genau gleich Null, und die Differentialrech-
nung als eine Rechnung mit Nullen, welche die Bestimmung der
letzten Verhältnisse der Inkremente de Zweck hat; man erhält die-
selben dadurch, daß man in den Verhältnissen der Inkremente die
Inkremente selbst gleich Null setzt, woraus folgt, daß die Differential-
rechnung ganz streng ist. Das von Null verschiedene Unendlichkleine
ist blok eine Fiktion, welche aus der Analysis verbannt“werden muß.
Daß 2 einen verschwindenden, endlichen oder unendlichen Wert an-
| nehmen kann, läßt sich wie folgt beweisen. Betrachtet man rn als
ein Verhältnis, so gelten die Relationen:
a:b
0:07: 388° L,
0:a
weil:
:0=-a-0, 1.02 80
betrachtet man dasselbe als einen Bruch, so gelten die Relationen:
a
0 b
0-'. ep
0
weil:
a
7.09 ©.0-0, 0.09=0.
. e.% nT dx _2y a0 ;
Leitet man aus 2 =y? die Relation € ab, so ist dieses
nichts anderes als ni = Er die Nullen dz, dy sind der Quantität
nach gleich, der Qualität nach ‚verschieden. Die Ähnlichkeit mit den
_Eulerschen und Torellischen Nullen i ist einleuchtend.
Weiter verbreitet sich Schultz über den "Begriff vom Unend-
lichen. Einige von seinen Bemerkungen über diesen Gegenstand ver-
dienen hervorgehoben zu werden, da sie manche Ideen im Keime
enthalten, deren Entwicklung der G. Cantorschen Mannigfaltigkeits-
lehre vorbehalten war. Das absolut Unendliche hat eine reelle Existenz;
die absolut unendlichen Größen sind nicht sämtlich gleich und lassen
sich untereinander vergleichen. Die „allereinfachste und erste“ un-
. endliche Menge ist 1+1-+---; sie kann durch © bezeichnet werden.
Dann ist auch 2+2+:--= ©, denn jedes 2 kann durch 1+1
ersetzt werden. In anderer Beziehung ist aber 2 +2 +:.::=2®,
denn man kann die Reihe2+2 +... indie zweiReihen1+1-+---,
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 659
1-+1-+:+- spalten. Welcher von den beiden Standpunkten der
richtige sei, hängt von der Natur der in jedem besonderen Falle zu
behandelnden Frage ab. Hat man mit einer Linie zu tun, so kann
2+2-+.:.. nichts anderes als 1+1---- bedeuten (m. a. W., es
kommt auf dasselbe hinaus, ob man auf eine Gerade unendlich viele
Strecken von der Länge 1 oder von der Länge 2 nimmt); bewegt
man sich dagegen in der Ebene oder im Raume, so kann man die
Reihe in andere zerlegen, so z.B. kann man die Strecken 1+1-+-..
auf einer Geraden und die Strecken 1+1---- auf einer anderen
nehmen, woraus 2+2-+-:-—=2oo folgt. In analogem Sinne kann
man schreiben: |
1+53+5+:--.: = 002
Der Satz, daß das Ganze größer ist als jeder Teil, besteht nicht
unbedingt für unendliche Größen, wie sich leicht aus der Bemerkung
folgern läßt, daß alle Halbstrahlen einander kongruent sind.
Die zweite Abteilung des Versuches ist der „Meßkunst des
Unendlichgroßen“ gewidmet. Es ist kaum nötig hervorzuheben, daß
dieser Gegenstand jedes Interesses entbehrt; der Verfasser selbst
schließt, nachdem er sich bemüht hat, einen unendlichen Kurvenast
zu rektifizieren, daß die Länge eines solchen Astes immer o0y ist,
wo y eine endliche Größe bezeichnet, so daß die Rektifikation nutz-
los erscheint.
Eine andere mehr philosophische als mathematische Schrift ist
der J. Schultz gewidmete Versuch von Bendavid.!) Lazarus |
Bendavid, geboren zu Berlin am 18. Oktober 1762, gestorben da-
selbst am 28. März 1832, ist wohl bekannt als eifriger Kantianer; er
hatte aber eine so ausgezeichnete mathematische Bildung, daß Käst-
ner von ihm sagte, er wäre würdig, jeden Lehrstuhl Deutschlands,
mit alleiniger Ausnahme des von ihm selbst innegehabten, zu be-
steigen. |
Bendavid wirft sich drei Fragen vor: Was ist das mathema-
tische Unendliche? Darf man hoffen, in der Rechnung mit unend-
lichen Größen eine gleiche Evidenz zu erreichen, wie in der Elementar-
geometrie? Welchen Einfluß hat die Klarheit der Prinzipien auf die
Stichhaltigkeit der Resultate? — Unendlich heißt eine Größe, wenn
sie nicht meßbar ist; das Unendliche stellt also nicht eine Quantität,
sondern eine Eigenschaft dar. Die Unmeßbarkeit kann entweder vom
Fehlen jeder Quantität herrühren (wie z.B. für einen Punkt), oder
von der Unmöglichkeit, die Quantität vollständig anzugeben (wiez.B.-
') Versuch einer logischen Auseinandersetzung des mathema-
tischen Unendlichen, Berlin 1789,
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 43
660 Abschnitt XXVI.
für tang =); im ersten Falle heißt die Größe unendlichklein, im
zweiten unendlichgroß. Das Unendliche fällt, als Gegenstand der
Arithmetik betrachtet, mit der Null zusammen. Diese sonderbare
Behauptung wird wie folgt bewiesen. Jede Größe kann, vom
arithmetischen Standpunkte aus, nur in bezug auf eine Maßeinheit
gedacht werden; nur die Null läßt sich absolut denken; da also das
Unendliche nicht meßbar ist und daher nur absolut gedacht werden
kann, so muß es mit der Null übereinstimmen. Dies festgesetzt,
fragt sich Bendavid, wie ein solcher Begriff in der Arithmetik
Platz finden kann. Diese Frage, welche aus den Prämissen ganz
logisch folgt, hätte wohl Bendavid von der Unhaltbarkeit seiner
Ideen überzeugen sollen; dagegen beantwortet er sie dadurch, daß er die
mathematischen Resultate auf den Gewißheitsgrad von Analogieschlüssen
herabsetzt. Es gibt, sagt er, physische und metaphysische Begriffe,
die wir nur unvollständig besitzen, und aus welchen wir zwar nicht
apodiktische, wohl aber problematische Sätze ableiten können; man
kann z. B. aus der zwischen der Erde und dem Monde stattfindenden
Ähnlichkeit schließen, daß es auch im Monde Berge, Flüsse, lebende
Wesen gibt. Auf gleiche Weise verfährt man in der Mathematik.
Die Ausdrücke © +a, de -+ a, wo oo das Unendlichgroße, dx das
Unendlichkleine bezeichnet, haben für sich selbst keine Bedeutung;
denn man kann nieht eine Eigenschaft und eine Größe zusammen-
addieren, Von den zwei Summanden muß also einer wegfallen. Im
ersten Fall verschwindet der zweite Summand, da das Unendliche
nicht mehr unendlich wäre, wenn es sich durch Hinzufügung einer Gröbe a
vermehren ließe; im zweiten Fall ergibt sich de+a=a durch Ana-
logie mit den sehr kleinen Größen. Das Produkt no drückt die
Wiederholung eines und desselben Begriffes aus, wie z. B. Tangenten
von rechten Winkeln; als Summe betrachtet ist noo = ©. Daß
“© — dx, folgt aus Analogie; man kann auch bemerken, daß — eine
00 ©
auf ein unendliches Maß bezogene endliche Größe darstellt. Auf ähn-
liche Weise lassen sich andere infinitäre Ausdrücke, wie re dc + dx,
ad usw. deuten. Aus dem Gesagten schließt Bendavid, daß die
Theorie des Unendlichen als eine „unmathematische Wissenschaft“
angesehen werden darf, welche keineswegs die Evidenz der Elementar-
mathematik besitzen kann; daß aber dennoch ihre Schlüsse ganz
streng sind, da der Begriff vom Unendlichen widerspruchsfrei ist.
Wir möchten fast sagen: je unmathematischer die Bendavidsche
Theorie des Unendlichen ist, desto unphilosophischer ist sein
Schlußsatz!
TREE Se rau
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 661
Nachdem wir die Verteidiger der Infinitesimalmethode besprochen
haben, kommen wir auf diejenigen, welche diese Methode durch an-
dere bekannte oder neue zu ersetzen versuchten.
Noch am Anfang unserer Periode begegnen wir einem englischen
Gelehrten, mit dessen Namen eine merkwürdige, am passenden Orte
zu besprechende Entdeckung im Gebiete der elliptischen Integrale
verbunden ist, John Landen, Mitglied der Royal Society, geboren
am 23. Januar 1719 zu Peakirk bei Peterborough, gestorben am
15. Januar 1790 zu Milton. In seiner Residual analysis!) nennt
Yı
er Spezialwert des Quotienten u, wobei %, y, ähnliche Funk-
tionen von &, x, darstellen, den Wert dieses Quotienten für 2, —=z;
er bezeichnet den Spezialwert von = mit [£ — y]. Die Berech-
1
nung solcher Ausdrücke, oder die residual division, geschieht aber
selbstverständlich durch Grenzübergang, so daß die Landensche Me-
thode nichts wesentlich Neues darbietet.
Ein hierher gehöriger, nicht sehr bekannter italienischer Schrift-
steller ist Niccola Fiorentino. Geboren in Unteritalien, war er
ÖOberaufseher der königlichen Schulen zu Bari, dann Advokat und
Professor der Mathematik zu Neapel, und starb an dem Galgen am
12. Dezember 1799, ein Opfer der damals in dem neapolitanischen
Königreich wütenden Reaktion?) Im Jahre 1782, bei Gelegenheit
einer in Neapel stattgefundenen Öffentlichen Diskussion über eine
mechanische Frage, gab er ein kleines Buch heraus mit dem Titel:
Saggio sulle quantitä infinitesime e sulle forze vive e
t) Der ausführliche Titel ist: The residual analysis, & new branch
ofthe algebraic art, of very extensive use, both in pure mathe-
matics, and natural philosophy, Book I (vereinzelt), London 1764.
?) Es möge uns erlaubt sein, sein Todesurteil (5. Dezember 1799) hier wieder-
zugeben: „Niccola Fiorentino, ch’era stato da Sua Maestä degnato per molti
anni dei governi regi; per aver spiegato nell’ entrata dei Francesi il suo carat-
tere diametralmente opposto al suo benefattore, per aver dato alla luce due
proclami in istampa, uno diretto ai giovani cittadini studiosi, relativo al van-
taggio del governo repubblicano e l’imposture contro le sacre persone, e l’altro
contenente un ragionamento sulla tranquillitä della repubblica, per esser stato
autore di un Inno a S. Gennaro per la conservazione della libertä, pieno di
scostumatezze; per esser stato autore delle note in stampa alla costituzione
della repubblica; e finalmente per esser stato ascritto nell’ elenco della Societä
popolare, con aver aggiunto al suo nome e cognome di essere vero demo-
eratico; & stato condannato a morir sulle forche colla confisca dei beni, con
essersi disposta l’esecuzione della sentenza‘“ (A. Sansone, Gli avvenimenti
del 1799 nelle Due Sieilie, Palermo 1901, p. 274). — Siehe auch:
P. Colletta, Storia del reame di Napoli, Capolago 1834, Bd. II, p. 166
bis 168.
43*
ABA L ri
ER
662 Abschnitt XXVI,
morte'), wobei der eigentlichen Behandlung des Hauptgegenstandes
ein langer Abschnitt über unendlichkleine Größen vorangeht, welcher
allein uns interessiert. In bezug auf die in der höheren Analseie an-
" züwendenden Methoden ist Fiorentino Eklektiker. Die beste Methode,
\sagt er, ist die Cavalierische; sie ist lichtvoll, gedrängt, elegant,
und gibt zu keinem Bedenken Veranlassung. Da aber nicht alle mit
dem, was aus der Indivisibilienmethode abgeleitet wurde, zufrieden sein
werden, und da andererseits auch die Fluxionsmethode sicher und
elegant ist, so hält es Fiorentino für gut, die Infinitesimalmethode
vermittels der Fluxionsmethode zu prüfen. Vergleicht man die nach
den beiden Methoden gegebenen Beweise der Formel für die Ablei-
tung eines Produktes xy, so bemerkt man, daß der als eine unendlich-
kleine Größe zweiter Ordnung zu vernachlässigende Bestandteil dzdy
eigentlich aus dem Grunde vernachlässigbar ist, daß er der Fluxion
von xy nicht angehört. Von der Infinitesimalrechnung darf man nur
das behalten, was sich durch die Fluxionsmethode nachweisen läßt;
das übrige ist unsicher. Daß dennoch die Infinitesimalrechnung zu
richtigen Resultaten führt, rührt davon her, daß die Fehler sich gegen-
seitig aufheben.
Auch Jakob II. Bernoulli erklärt sich für die Fluxions-
.methode?); er äußert aber den Wunsch, daß die langen und pein-
lichen Maclaurinschen Beweise ohne Beeinträchtigung der Strenge
vereinfacht werden mögen. :J. Bernoulli gehört einer Familie an,
die in der Geschichte der Infinitesimalrechnung eine Hauptrolle ge-
spielt hat. Sein Vater war Johann II. (diese Vorl., IIP, 8. 325).
wurde am 17. Oktober 1759 in Basel geboren, war Substitut seines
Onkels Daniel von 1780 bis zu dessen Tode (1782) am Lehrstuhl
der Physik, konnte aber seine Nachfolge nicht erhalten. Er war in
Italien als Sekretär des österreichischen Gesandten in Venedig, und
machte Bekanntschaft mit manchen italienischen Geometern. Nach
Lexells Tode (1786) wurde er zum Adjunkten an der Petersburger
) Das Buch trägt weder Datum, noch Druckort. Der Verfasser sagt aber,
er habe zu Neapel „im vergangenen November“ von einer dort geschehenen
Diskussion gehört, über welche d’Alembert und Lagrange um ihre Meinung
gefragt worden wären, und man findet in Lagranges Briefwechsel (Oeuvres
T. XIV, Paris 1892, p. 279—282) ein Schreiben vom 13. Oktober 1781, welches
sich unzweifelhaft auf denselben Gegenstand bezieht, so daß man mit Sicherheit
schließen kann, das-Buch_ sei zu Neapel-im-Jahre_17 782 gedruckt worden.
"®) Essai d’une nouvelle manidre d’envisager les differences ou les
fluxions des quantitds variables, par M. Bernoulli, M&em. Acad. Turin
1784—85 (publ. 1786), Mem- des corresp., p. 141—153; es folgt eine Addition
von Caluso (p. 158—159). Daß der Verfasser Jak. II. Bernoulli ist, erhellt
aus einer Note zu einer alsbald zu besprechenden Abhandlung von Caluso.
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 663
Akademie ernannt; später wurde er ordentlicher Akademiker und Pro-
fessor der Kadetten (1788). Im Jahre 1789 heiratete er eine Tochter
von Johann Albrecht Euler, Sohn Leonhard Eulers; zwei
Monate später, am 3. Juli 1789, während er sich in der Newa badete
wurde er vom Schlag gerührt, und starb bald darauf. Seine Schriften,
welche in den Nova Acta Acad. Petrop. erschienen sind, be-
treffen sämtlich die Mechanik, mit alleiniger Ausnahme der soeben
angeführten.!) ’ |
Wie J. Bernoulli uns erzählt, lehrte ihn sein Vater die Größen
nicht als zu- oder abnehmend, sondern als mit der „Anlage“ („dis-
position“) zu- oder abzunehmen behaftet zu betrachten; so sind da,
dy die Anlagen von x, y. Die Anlagen sind, wie Bernoulli erkennt,
von den in der Fluxionsrechnung vorkommenden Geschwindigkeiten
nicht wesentlich verschieden; andererseits wird die durch den neuen
Begriff zu erzielende Vereinfachung ganz auf Kosten der Strenge er-
halten. Sehen wir zu, wie Bernoulli die Anlage eines Produktes
%y berechnet. Wäre nur x veränderlich, so wäre ydaz die Anlage
von %y; wäre nur y veränderlich, so wäre sie xdy; sind also x und
y zugleich veränderlich, so finden beide Anlagen zugleich statt, und
die Gesamtanlage ist ydx+ xdy. Aber auch die vermeinte Einfach-
heit verschwindet, sobald schwierigere Aufgaben vorliegen, und Ber-
noulli selbst bekennt andererseits, daß sich die von ihm bei der
Auflösung dieser Aufgaben befolgte Methode mit der Grenzmethode
deckt.
Auch der schon genannte Caluso ist unter die Anhänger der
Fluxionsmethode zu rechnen. Tomaso Valperga di Caluso, ge-
boren 1737 in Turin, gehörte einer angesehenen Familie an. Nach-
dem er seinem König als Marineoffizier gedient hatte, zog er sich als
Geistlicher nach Neapel zurück, von wo er später (1769) nach seinem
Vaterlande zurückkehrte. Dort war er Sekretär der Akademie der
Wissenschaften, Direktor der Sternwarte und Professor der orientali-
schen Sprachen an der Universität. Er starb am 1. April 1815.
Seine zahlreichen Schriften beziehen sich auf Philosophie, Sprach-
wissenschaft und Literaturgeschichte; auch ist er Verfasser von ita-
lienischen, lateinischen und griechischen Dichtungen. Seine Freund-
schaft mit Vittorio Alfieri ist allbekannt; der berühmte Tragödien-
schreiber sagte, er verdankte es Caluso, wenn er sich der Unwissen-
heit entzogen habe, in welche er bis zu seinem 27. Jahre getaucht
gelegen war.
7
.) Preeis de la vie de M. Jacques Bernoulli, Nov. Acta Acad. Petrop.
VI, 1789 (publ. 1793), Hist., p. 23-32.
664 Abschnitt XXVL
Caluso widmet eine lange Abhandlung!) der Verteidigung der
Fluxionsmethode; er bekämpft besonders die Meinung, der Geschwin-
digkeitsbegriff sei ein der reinen Analysis fremdartiges Element. Er
versucht aber auch, den Grund der Richtigkeit der durch die Infini-
tesimalmethode erhaltenen Resultate aufzudecken. Dazu bedient er
sich der Rechnung mit unmöglichen Größen — so nennt er die
unendlichen und die unendlichkleinen Größen. Ist:
ya +bar it... + AR,
und dividiert man mit x”, so ıst für = ©:
y b Ars;
a ar
es ist aber: _
b A
ee ’y Zu
folglich:
Y-a
& .
Dividiert man dagegen mit x, so ist für 2=0:
2 =a.#1+5.00024..-+4A=A.
Hieraus folgt die Regel, daß man für «—= © nur das Glied mit
dem größten, für &—= 0 nur dasjenige mit dem kleinsten Exponent
beibehalten muß.
Es ist schon oben erwähnt worden, daß Lagrange den Versuch
machte, die Infinitesimalmethode durch eine neue Methode zu ersetzen.
Es ist jetzt Zeit, seine Ideen auseinanderzusetzen.
Lagrange befolgt einen Weg, der dem gewöhnlichen umgekehrt
ist. In der Infinitesimalreehnung geht man nämlich von der auf
" Grenzbetrachtungen sich gründenden Definition der Ableitungen der
ersten und der höheren Ordnungen aus, um zum Beweis der Taylorschen
Reihenentwicklung zu kommen, deren Koeffizienten die mit Zahlen-
faktoren behäfteten Ableitungen aller Ordnungen der zu entwickelnden
Funktion sind. Ließe sich daher, so denkt Lagrange, die Taylorsche
Entwicklung einer Funktion direkt auffinden, so könnte man aus der-
selben sämtliche Ableitungen der Funktion ohne weiteres ablesen.
Nun gibt aber die Reihentheorie eine Entwicklung von der Form:
fe +9=- fa) tpita®+:-:.
1) Des diff6rentes manieres de traiter cette partie des mathe-
matiques que les uns appellent calcul differentiel et les autres
m6thode des fluxions, Mem. Acad. Turin, 1786—87 (publ. 1788), p. 489
bis 590.
EROERRN ’
ESEL Kali ei tn neh.
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 665
Um indessen nichts unbewiesen zu lassen („mais pour ne rien
avancer gratuitement“), will Lagrange vor allem zeigen — was
niemand vorher getan habe —, daß die Reihe, ausgenommen für be-
sondere Werte von x, keine gebrochenen Exponenten enthalten darf.
m
Käme nämlich eine gebrochene Potenz öi” von i vor, so müßte sie
von in f(x) existierenden Wurzelgrößen herrühren; f(x) wäre also
eine mehrwertige Funktion, und die Ersetzung von & durch +;
würde weder die Anzahl, noch die Beschaffenheit dieser Größen um-
ändern, so daß f(x) und f(x + i) für jedes Wertepaar x, eine gleiche
Anzahl von verschiedenen Werten erhalten würden. Andererseits ließe
sich jeder Wert von f(x) mit jedem Werte von öi* kombinieren, so
daß sich eine weit größere Anzahl von Werten für f(x + i) ergeben
müßte, woraus der Widerspruch.
Dieses vorausgeschickt, muß man beachten, daß, da sich f(x + i)
für «= 0 auf f(x) reduziert, die Differenz f(x +) — f(a) für i= 0
verschwindet, also eine positive Potenz von ‘ als Faktor enthalten
muß („... sera ou pourra &tre censee multipliee par une puissance
positive de ;“), deren Exponent nach dem Gesagten notwendig ganz-
zahlig ist. Man kann also schreiben:
fa+)=f(@a) +iP.
Eine analoge Schlußweise ergibt:
P=p+iQ, Q=qg+iR, Rer+iß,...,
also:
(3) fe +9=-f@)+ir+Ög+tört+:::.
Die Bestimmung von 92, q,r,... läßt sich entweder durch direkte
Berechnung, oder durch Fortschaffung der etwa vorkommenden Wurzel-
größen, oder endlich durch die Methode der unbestimmten Koeffizienten
bewerkstelligen. Ein Beispiel mag die Anwendung der drei Methoden
erleuchten, wobei wir uns freilich, der Kürze wegen, auf die Berech-
nung von p beschränken.
Es sei f(«)=Yx. Man hat:
R rag“ br i
a) A A Ka a Te
also:
br 1
und für =: Kate
1
2 aye’
b) Veti=ya+ip,
666 Abschnitt XXVI.
also: d
2 +i=x+2iPyx + W@P,
oder:
1=2Pyz+iP:
woraus für i= (0 abermals folgt:
1
* Ahr 2YVx’
co) Veti=-Ve+ip+ig+t:--,
also:
a +i= (Vatip+ gt) =a+2ipye+®(2gVe+P)+t,
und hieraus durch Vergleichung der beiderseitigen Koeffizienten der
ersten Potenz von ®:
1
Payye
Ist so die Reihe (3) ermittelt worden, so muß man sehen, ob
sie konvergent ist. Betrachtet man ö als die Abszisse, :P als die
Ordinate einer Linie, so geht diese durch den Koordinatenursprung,
und so lange dieser kein singulärer Punkt ist, nähert sich die Linie
beständig der Abszissenachse; es läßt sich folglich © so klein an-
nehmen, daß öP kleiner sei als eine beliebig vorgegebene Größe. Es
ist also z. B. für hinreichend kleine Werte von ?:
iP<f(@),
und man kann analog erhalten:
iQ<p, iR<g .-.,
oder:
ET
Es ist aber:
iP=iwH+VWqa+ter-+---,
BQ=-lgdtÜrt+---,
R=Ür+:-:,
man kann also ö so klein annehmen, daß für diesen Wert und um so
mehr für alle kleineren Werte von i jedes Glied der betrachteten
Reihe größer ausfällt als die Summe aller darauffolgenden Glieder,
womit die Konvergenz nachgewiesen ist.
tungen einer Funktion durch rein algebraische Operationen zu erhalten.
Die Lagrangesche Methode erlaubt uns also, sämtliche an
Leider gibt sie zu manchen Bedenken Anlaß, auf deren Erör-
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 667
terung wir hier verzichten müssen.!) \Merkwürdig ist es, daß Lagrange
seiner Aussage, auf eine Funktion „insofern als sie in eine Reihe ent-
wickelbar ist“ (‚„autant que cette fonetion est susceptible d’ötre reduite
en une serie“) angewandt werden kann.
Analoge, aber bei weitem nicht so bekannte neue Methoden sind
der antecedental caleulus von James Glenie (Glenie oder
Glennie, geboren zu Fyfe 1750, gestorben zu Chelsea am 23. No-
vember 1817, Artillerieoffizier im amerikanischen Kriege, dann Pro-
fessor der Mathematik an der Militärschule der East India Company),
die Exponentialrechnung von Johann Pasquich (Geistlicher,
Professor und Astronom zu Ofen, geboren zu Wien 1753, gestorben
daselbst am 15. November 1829), und der caleul d’exposition von
dem schon oben erwähnten J. Ph. Grüson.?)
Der antecedental calculus stimmt, wie der Erfinder selbst sagt,
mit der Fluxionsrechnung überein; der antecedental einer Funk-
tion ist ihre Ableitung, der antecedent ist ihr Integral.
Pasquich hält jede Rechnung, welche die Differentialrechnung
zu ersetzen zum Zwecke hat, für ganz entbehrlich; andererseits aber
denkt er, seine Methode verdiene wegen ihrer „Einfachheit, Gründlich-
keit und Allgemeinheit“ eine größere Beachtung als jede andere ana-
') Siehe S.Dickstein, ZurGeschichte der Prineipien der Infinitesi-
malrechnung. Die Kritiker der „Theorie des fonctions analytiques“
von Lagrange in der Cantor-Festschrift (Leipzig 1899), 8.65—79. 2 Glenie,
A_short paper on the prineiples of the antecedental calculus,
Trans. R. Soc. Edinburgh, IV (1798), p. 65—82. Von zwei früheren, in dieser
Schrift zitierten Arbeiten von Glenie, Universal comparison und Ante-
cedental calculus, konnte ich keine Kenntnis haben. — Pasquich, An-
fangsgründe einer neuen Exponentialrechnung, Archiv der reinen und
angew. Math. II (1798), 8. 385—424. Siehe auch eine Anmerkung des Heraus-
gebers des Archives (Hindenburg), wo eine im Intelligenzblatt der Allg. litt.
Zeit. 1798, Nr. 99 erschienene Nachricht von Pasquich über seine neue Rech-
nung und desselben Unterricht in der mathematischen Analysis und
Maschinenlehre angeführt wird. — Grüson, Le caleul d’exposition\\
invente par J. Ph. G., Mem. Acad. Berlin 1798 (publ. 1801), p. 151—216, 1799 )
und 1800 (publ. 1808), p. 157—188. — Ein anderer Versuch, die Leibnizsche
Methode zu verdrängen, rührt von L. F. A. Arbogast (1759—1803) her, der im
Jahre 1789 der Pariser Akademie eine Schrift vorlegte mit dem Titel: Essai
sur des nouveaux principes de caleul differentiel et integral, ind6&-
pendants de la theorie des infiniment petits, et de celle des limites,
Da aber die Abhandlung nicht veröffentlicht wurde, und die Arbogastsche
Methode erst 1800 im Druck erschien (Arbogast, Caleul des derivations,
Strasbourg 1800), so möge die Besprechung dieser Methode dem Verfasser des \
V. Bandes überlassen werden.
668 - Abschnitt XXVI.
loge. Er geht von diesem Postulat aus: Jede Funktion y von x läßt
sich unter der Form: |
y=Ax+Be+---
annehmen, sei es, daß sie wirklich diese Form besitzt, oder daß sie
. auf dieselbe durch Reihenentwicklung gebracht werden kann. Setzt
man nach der heutigen Schreibweise: |
y- As“,
so heißt die Funktion:
ey = ZaAx"
das Exponential von y, y die exponentiierte Funktion von ey.
Aus dieser Definition ergeben sich von selbst die Regeln für die Be-
stimmung des Exponentiales einer Summe, eines Produktes, einer
Potenz und eines Quotienten; es folgt dann die Binomialreihe und
die Taylorsche Entwicklung. Dieser letzteren bedient sich Pasquich
zur Auffindung des Exponentiales einer beliebigen Funktion. Aus der
Entwicklung:
Ay N + I Adt+.: =
2!x
wo allgemein:
a Ey
ie Fuel
ist, folgt nämlich:
xAy ey
As. ar +5 ‚As +:
dieses on nähert sich bei unbeschränkt abnehmendem Az dem
Werte Y ‚ sodaß &y die Grenze von a ist. Findet man allgemein
für ein beliebig kleines Ax sowohl:
ud FPYAcH
als
zAy
so ist notwendig &y=Z. Das mag wohl genügen, um den Leser zu
überzeugen, daß Pasquich nur neue Namen für altbekannte Sachen
eingeführt hat.
Eine auffallende Ähnlichkeit, selbst in der Nomenklatur, mit der
Pasquichschen Methode zeigt die Grüsonsche').
) In der oben erwähnten Nachricht bemerkt Pasquich, daß Grüson
in der Vorrede zur Übersetzung der Lagrangeschen Funktionentheorie seinen
neuen Exponierungscalcui voranmeldet; er versichert aber, er sei seit
neun Jahren im Besitz seiner Exponentialrechnung, und habe dieselbe vor fünf
Jahren dem Prof. Kraft in St. Petersburg ee dann einigen deutschen Gelehrten
mitgeteilt.
Die Grundlagen der Infinitesimalrechnung. 669
Nach Grüson ist seine Methode, die er noch vor der Heraus-
gabe des Lagrangeschen Werkes erfunden habe, einfacher und licht-
voller als die der Infinitesimalrechnung, da sie sich nur wohlbekannter
algebraischer Prinzipien bedient. Man kann aber voraussehen, daß
die Einfachheit auf Kosten der Strenge erhalten wird. Wie es scheint,
nimmt Grüson als selbstverständlich an, daß jede Funktion sich
in eine Reihe von ganzen oder gebrochenen Potenzen der Veränder-
lichen entwickeln läßt. Sein Verfahren ist folgendes. Ist F eine
Potenzreihe von x mit ganzen positiven Exponenten, so findet offen-
bar dasselbe für F” für jedes ganze und positive m statt; es läßt
sich ferner nachweisen, daß auch 5, und folglich Em; in eine solche
Reihe entwickelbar ist. Grüson will zeigen, daß F'* dieselbe Form
hat wie F. Da F" und F” gleiche Form haben, so muß dasselbe, sagt er,
von F* und F folgen. Da aber, fügt er am Ende seiner zweiten
Abhandlung hinzu, mein Beweis einige Zweifel im Geiste der Geo-
meter nachgelassen hat, so gebe ich einen zweiten an, der nichts zu
wünschen übrig läßt. Enthielte die Entwicklung einer Funktion f
eine gebrochene Potenz von &, so würde diese Potenz ebenfalls in f”
vorkommen, welche auch die ganze Zahl r sei. Nimmt man nun:
N
[=F", r=m
an, so folgt f"= F”; es würde sich dann ergeben, daß F” eine ge-
brochene Potenz von x enthalten sollte, was unmöglich ist. Das
Resultat kann auch auf irrationale Potenzen einer Funktion F er-
‚streckt werden, freilich aber auf Grund der folgenden Hilfssätze, die,
wie leicht zu sehen, wesentlich der Grenztheorie angehören: Können
%, y kleiner gemacht werden als jede angebbare gleichartige Größe,
und ist:
A<BbB+x, A>B-y,
so st A=B. Ist:
U=. ta ++ :--,
V=-b,+b2+ba+:--,
W=o+4a2% +920°+:--,
ferner:
Hi mc. =,
wo n eine bestimmte Zahl bezeichnet, und ist V für alle Werte von
x zwischen U und W enthalten, so folgt:
=, bea,-.., =,
Aus dem Gesagten läßt sich schließen, daß jede algebraische
670 . Abschnitt XXVL
oder transzendente Funktion von x nach ganzen positiven Potenzen
von x entwickelbar ist.
Ist dieses festgestellt, und bezeichnet F+AF den Wert der
Funktion:
F= Ax+BaP+...:
für den Wert + Ax von &, so ergibt sich sogleich:
F+AF=F+ (Aaat+ BBat +. )2E + QAar.
Grüson schreibt: |
IF= Aaux®+ Bpaf+---,
und nennt diese Größe das Exponential (l’exponentielle) von F‘
Die Methode, welche lehrt, das Exponential einer Funktion zu finden,
oder umgekehrt von dem Exponential einer Funktion zur Funktion
selbst wieder emporzusteigen, heißt Expositionsrechnung (caleul
d’exposition).
Zum Schluß sei noch bemerkt, daß nicht alle, die sich mit In-
finitesimalrechnung beschäftigten, es für nötig hielten, sich über die
logischen Grundlagen derselben aufzuhalten; wir führen unter anderen
in dieser Hinsicht die Lehrbücher von Saladini!), Marie und Bezout
usf. an.
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung.
Als wir versuchten, den allgemeinen Charakter unseres Zeitab-
schnittes in bezug auf den von uns zu behandelnden Zweig der Ma-
thematik zu schildern, sagten wir, es sei diese eine der Anordnung
und Vervollständigung der früher ermittelten Resultate besonders ge-
widmete Periode gewesen. Ein Zeugnis dafür ist die ungemeine Fülle von
Lehrbüchern der höheren Analysis oder der gesamten Mathematik, die
unserer Periode ihre Entstehung verdanken. Wir wollen eine rasche
Übersicht dieser Werke übernehmen, die wir, bei der Unmöglichkeit
jeder systematischen Anordnung, chronologisch durchmustern werden.
Unsere Aufmerksamkeit werden wir vorläufig nur auf den Allgemein-
plan jedes Buches und auf die darin befolgte Methode lenken, wäh-
rend wir uns vorbehalten, das etwa vorkommende wissenschaftlich
Neue an den gebührenden Orten zu besprechen. Wir schmeicheln
uns keineswegs, ein vollständiges Verzeichnis der in unserer Periode
erschienenen Lehrbücher unseren Lesern vorzustellen; das aber dürfen
wir mit Sicherheit behaupten, daß das Unterlassene nicht imstande
ı) Elementa geometriae infinitesimorum, Bononiae 1760.
a
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 671
sein kann, die Umrisse unseres wissenschaftlichen Bildes auch im min-
desten zu verändern.')
Heinrich Wilhelm Clemm, Professor und Prediger zu Beben-
hausen bei Tübingen, dann Professor zu Stuttgart und Tübingen, ge-
boren zu Hohen-Asperg am 13. Dezember 1725, gestorben zu Tübingen
am 27. Juli 1775, gab zu Stuttgart im Jahre 1759 ein Lehrbuch der
Mathematik mit dem Titel: Erste Gründe aller mathematischen
Wissenschaften heraus, von welchem wir nur eines zu bemerken
haben, daß nämlich der Verfasser die Infinitesimalrechnung nach der
Fluxionsmethode, aber mit der Ausdrucksweise der Leibnizschen
Methode behandelt.
Ebenfalls im Jahre 1759 erschien die Geometria algebrica
von Giambattista Caraccioli, geboren zu Rom am 29. Dezember
1695, gestorben daselbst 1765.) Der zweite Band dieses Werkes
behandelt die Elemente der Infinitesimalrechnung und deren Anwen-
dung auf Kurvenlehre auf Grund der beiden L’Hospitalschen Po-
stulate.
Aus dem Jahre 1760 haben wir ein ausführliches Handbuch von
Karsten?), welches aber nichts Merkwürdiges darbietet.
1) Trotz der außerordentlichen Güte und Bereitwilligkeit der italie-
nischen und ausländischen Bibliotheksdirektoren, welchen wir hier unseren
wärmsten Dank ausprechen, waren uns die folgenden Werke unzugänglich:
Martin, Institutiones mathematicae, London 1759; Müller, Traite
analytique des sections coniques, fluxions et fluentes, Paris 1760;
Mormoraj, Elementa analyseos, Pisa 1761; Berthelot, Cours de mathe-
matiques, Paris 1762; Bergmann, Lectiones mathematicae, Prag 1765;
Condorcet, Trait& du calcul integral, Paris 1765; Kies, Analyseosin-
finitorum quaedam specimina, Tübingen 1765; Beck, Praelectiones
mathematicae, Salzburg 1768—1780; Mako von Kerek, Calculi diffe-
rentialis et integralis institutio, Wien 1768; Sauri, Cours complet
de math&matiques, Paris 1774; Wydra, Primae calculi differentialis
rationes, Prag 1774; Schmiedel, Institutiones calculi differentialis
et integralis, Breslau 1775; Fontaine, Nouveau plan des mathema-
tiques, Annecy 1777; Girault de Keroudou, Lecons analytiques du
calcul des fluxions et des fluentes, Paris 1777; Antoni, Prineipii
di matematica sublime, Torino 1779; Beck, Institutiones mathema-
ticae, Salzburg 1781; Langsdorf, Ausführung der Erläuterungen
über die Kästnersche Analysis des Unendlichen, Gießen 1781; Rauch,
Elementa sectionum conicarum et caleuli infinitesimalis, München
1790; Minzele, La grandezza discreta analizzata nelle sue
finite ed infinitesime funzioni, Napoli 1798; Rohde, Anfangs-
gründe der Differentialrechnung, Potsdam 1799. ?) Der ausführliche
Titel ist: Geometria algebrica universa quantitatum finitarum, et
infinite minimarum. Adjectus in fine est commentarius de curv&
cochlea, Romae 1759. Eine biographische Skizze über Caraccioli von
G. Loria liest man in Boll. bibl. st. se. mat. VI, 1903, p. 33—88. °) Mathesis
672 Abschnitt XXVI.
Im Jahre 1761 erschien der erste Teil der schon erwähnten
Elementa analyseos finitorum von Segner. Als „Differential-
16! gleichung“ einer gegebenen Gleichung zwischen X und Y bezeichnet
d\ Segner diejenige Beziehung, die sich dadurch ergibt, daß man X, Y
\- durch X + x bzw. Y-+y ersetzt; in einer solchen Gleichung bedeutet
" = nicht _die_Gleiehheit, sondern das Streben nach Gleichheit. Die
\ Elementa behandeln, wie fast alle gleichartigen Werke dieser Z eit,
nicht nur die EEE, sondern auch die Anwendung
Su wmtt derselben auf ebene Kurven und auf algebraische Gleichungen.
Ebenfalls im Jahre 1761 erschienen die schon erwähnten An-
fangsgründe der Analysis des Unendlichen von Kästner. Bei
diesem Buche haben wir uns im vorigen Kapitel ziemlich lange auf-
gehalten. Nur eins wollen wir hier anführen: ein Verfahren zur Ab-
leitung des Differentiales eines Logarithmus, welches, von seinem geome-
trischen Gewande entblößt, folgendermaßen lauten mag. Es sei y= e,
und bezeichnen wir mit m, n die gleichzeitigen Zuwächse von z und
y, so hat man:
n= e@("— 1).
1 h er
Setzen wir m—=—-, wo r eine ganze positive Zahl bezeichnet,
ferner:
1
A er — 1,
so ist:
n=eg=yg,
folglich:
ym m
Tg
Es ist aber > von y% unabhängig und von Null verschieden; be-
zeichnen wir diese konstante Größe mit a, so ist:
Mm
2 =4d,
oder:
u
er ER ;
Aus demselben Jahre stammen die Analyseos infinite par-
vorum sive caleuli differentialis elementa (Pisa 1761) von
Ranieri Bonaventura Martini (1723—1774), Arzt und Professor
theoretica elementaris atque sublimior in usum academicarum
praelectionum, Rostock und Greifswald 1760. — Ein anderes didaktisches Werk
von Karsten ist: Mathematische Analysis und höhere Geometrie,
Greifswald 1786. Siehe auch: K. Rohde, preußischer Lieutenant, Erläute-
rungen über Herrn Karstens mathematische Analysis und höhere
Geometrie, Berlin 1789.
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 673
der Philosophie aus Pisa. Einer kurzen Entwicklung der Grundsätze
der Differentialrechnung folgt in diesem Buche eine ausführliche Aus-
einandersetzung der Infinitesimalgeometrie der ebenen Kurven. Der
Verfasser geht von der Definition des Unendlichkleinen als einer Größe
aus, die als über jede Grenze abnehmend gedacht werden kann. Er
handelt mit unendlichkleinen und unendlichgroßen Größen mit einer
Freiheit, die freilich im 18. Jahrhundert üblich war. So zum Bei- _
spiel bemerkt er, daß die Subtangente in einem vielfachen Punkte die
Form 2 annimmt und folglich unendlich ist; selbstverständlich ist
Tr
er genötigt, hinzuzufügen, daß man nicht hieraus schließen darf, daß
die Subtangente wirklich unendlich ist, sondern daß es mehrere Sub-
tangenten gibt. Daß. . = (Martini schreibt dafür 00), wird wie
folgt nachgewiesen. Es sei (Fig. 75) ACB ein Kreisquadrant, AD
4
‚A
D E
) c
G 2: c B E c
Fig. 75. Fig. 76.
eine Sehne desselben, @ der Schnittpunkt von AD mit BC, E die
Projektion von D auf AC, F die auf BC, und setzen wir AC=a,
DE=y; dann ist:
.DF a? — y?
a-— Va?—y
ist nun y=(, so wird AG parallel zu BC, und es ist:
FG= =.
Es ist merkwürdig, daß Martini dieses Ergebnis als ganz allgemein
betrachtet, während der Begriff von den verschiedenen Ordnungen des
Unendlichkleinen ihm offenbar nicht fremd war, da er an einem an-
deren Orte bemerkt, daß, wenn in einem Dreieck ABC (Fig. 76) die
Basis BC unendlich klein von der ersten Ordnung ist, AB und AC
als parallel betrachtet werden dürfen, und EC = dy unendlich klein
von der zweiten Ordnung ist; daß ferner, wenn A unendlich weit ist,
N
-
num
674 Abschnitt XXVI.
die Seiten „fient inter se magis parallela“, und dy = = daß, wenn
daneben BU = a dann dy = ne ist.
oo 00
Noch im Jahre 1761 begegnen wir einem bekannteren italieni-
schen Gelehrten, Paolo Frisi (siehe oben 8.19), Barnabiten, ge-
boren zu Mailand am 13. April 1728, gestorben daselbst am 22. No-
vember 1784. Seit seiner ersten Jugend widmete sich Frisi der
Mathematik gegen den Willen seiner Vorgesetzten, die beabsichtigten,
aus ihm einen Theologen zu machen, und die erst dann davon ab-
standen, seine Neigung zu bekämpfen, als sein Wert von der gelehrten
Welt öffentlich anerkannt wurde. Er lehrte Mathematik zu Pisa,
dann zu Mailand; die ersten Akademien und Gesellschaften von ganz
Europa zählten ihn unter ihre Mitglieder, Fürsten und Könige er-
teilten ihm die höchsten Ehren. Den großen Ruhm, dessen er sich
erfreute, verdankt Frisi besonders seinen astronomischen und hydrau-
lischen Schriften; wohlbekannt sind auch seine Lobreden auf Galilei
und Cavalieri. Auf die reine Mathematik bezieht sich eine Abhand-
lung über die F luxionsmethode, welche den zweiten Teil des
1761 erschienenen zweiten Bandes der Dissertationum variarum!)
bildet. Wie der Verfasser angibt, ist diese eine Erweiterung einer
vor neun Jahren in Mailand herausgegebenen Schrift.) Frisi setzt
sich als Zweck vor, die Maclaurinschen Methoden zu vereinfachen;
sein Verfahren ist aber eine Vermischung der Fluxions- mit der In-
‚finitesimalmethode, und zwar finden wir neben der Definition der
Fluxion die des Differentials, welches der Unterschied zweier Ordi-
"naten oder Bögen usw. ist, wenn diese einander unendlich nahe sind,
so daß man den Unterschibd als unendlich klein und die ÖOrdinaten
oder Bögen als einander gleich ansehen darf. Die Abhandlung be-
steht aus zwei Abteilungen, deren erste die Theorie behandelt, wäh-
rend die zweite den geometrischen Anwendungen gewidmet ist. Die
Entwicklung der Theorie beschränkt sich auf die Bestimmung der
Fluxion eines Produktes, einer Potenz mit rationalem Exponenten und
eines Polynoms. Um die in der zweiten Abteilung befolgte Methode
zu charakterisieren, mag es. hinreichen, darauf hinzuweisen, daß der
1) Der erste Band (Lucca 1759) enthält eine Dissertation über die Prä-
zession der Nachtgleichen, eine über die Atmosphäre der Himmelskörper und
eine über die Natur des Äthers, von denen die erste von der Berliner, die
zweite von der Pariser Akademie gekrönt wurde. Der zweite Band (Lucca 1761)
enthält eine Dissertation über die Unregelmäßigkeiten der Bewegungen der
Planeten, eine über die Fluxionsmethode und eine dritte mit dem Titel: Me-
ditationes quaedam metaphysicae. ?) De methodo fluxionum geo-
metricarum et ejus usu in investigandis praecipuis curvarum affec-
tionibus dissertatio, Mailand 1753.
Be Bi 4.
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 675
Ausdruck der Subtangente aus der Ähnlichkeit der beiden rechtwink-
ligen Dreiecke erhalten wird, deren Katheten einerseits die Subtangente
und die Ordinate, andererseits de und dy sind. Gegenstand dieser
Abteilung ist die Bestimmung der größten und kleinsten Ordinaten,
der singulären Punkte und des Krümmungsradius einer ebenen Linie
und der Fläche des durch die Schraubenbewegung einer ebenen Figur
erzeugten Körpers.
Im Jahre 1762 erschien in London ein Büchelchen mit dem /76'
Titel: Mathematics, dessen Verfasser, Rev. William West, am
1. Oktober 1760, 53 Jahre alt, gestorben war. Herausgeber war /h ie
John Rowe, der, wie sich aus dem Vorwort ergibt, selbst ein Werk /
mit dem Titel: An introduction to the doctrine of fluxions
verfaßt haben soll, dessen zweite Auflage damals soeben erschienen
war. Das Büchelchen zerfällt in zwei Kapitel, deren zweites (Mi-
scellaneous questions) der Infinitesimalrechnung fremd ist, während
das erste (Fluxions) der Theorie der Maxima und Minima gewidmet
ist (was an seinem Orte besprochen werden soll), mit Ausschluß der
ersten fünf Seiten, die einen ganz kurzen Abriß der Fluxionsrech-
nung darbieten. Während aber der Verfasser von der üblichen Defi-
nition der Fluxionen ausgeht, bemerkt er zu unserer Überraschung
bei der Aufsuchung der Fluxion von xy, daß man in dem Zuwachse
@y+zy+.y den Term xy‘ vernachlässigen darf („may be rejec-
ted“), weil #° und y’ unendlich klein („infinitely little“) sind.
Im Jahre 1763 gab Emerson zu London sein Werk: The
method of increments heraus. William Emerson (s.o. 5.30), Sohn
eines Schulmeisters, geboren zu Hurworth am 14. Mai 1701, gestorben
daselbst am 20. Mai 1782, war ein sehr sonderbarer Mann; er machte
sich einen Ruhm daraus, sich roh und schmutzig zu zeigen, und man
erzählt, er habe dieselben Kleider 20 Jahre hindurch gebraucht; er
war in der theoretischen Musik sehr gewandt, aber so unglücklich in
der Praxis, daß es ihm nicht einmal gelang, die Violine zu stimmen.
Emerson ist Verfasser von zahlreichen mathematischen Werken, deren
eins soeben erwähnt wurde, während andere an den passenden Orten
besprochen werden sollen.
Im folgenden Jahre erschien die schon oben besprochene Residual
analysis von Landen, welche als ein Lehrbuch der Differential-
rechnung und ihrer geometrischen Anwendungen angesehen werden darf.
Noch in demselben Jahre begegnen wir einem Namen, der in der
Mathematik eine dauernde Stelle eingenommen hat. Etienne Bezout (8.0.
3.74)') geboren zu Nemours am 31. März 1730 aus einer armen Familie,
') Eloge de M. B&zout, Hist. Acad. Paris 1783 (publ. 1786), p. 69— 75.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IY. 44
r
Kö Funeme
- .
676 Abschnitt XXVI.
widmete sich gegen den Willen seines Vaters der Mathematik. Er
wurde Mitglied der Akademie 1758, Examinator der Marinegarden
1763, und als solcher war er mit der Abfassung eines Lehrbuches
der Mathematik beauftragt, welches im folgenden Jahre erschien.')
Im Jahre 1768 wurde er Examinator der Artillerie, und einige Jahre
später (1770) gab er eine neue Auflage seines Cours heraus, wobei
er die alten Anwendungen seinem neuen Berufe gemäß durch andere
ersetzte. Zugleich beschäftigte er sich mit denjenigen Untersuchungen
über algebraische Gleichungen, welchen sein Name anhaftet. Als Bei-
spiel seines Mutes und seiner Gewissenhaftigkeit erzählt man, daß er
einige Kandidaten, die zu Toulon an den Blattern krank waren, an
ihrem Bette examinierte, um ihnen den Schaden zu ersparen, den der
Aufschub des Examens verursachen würde. Er beschloß sein ruhiges
und glückliches Leben am 27. September 1783.
Der Cours de mathematiques”) besteht aus fünf Teilen:
Arithmetik, Geometrie und Trigonometrie, Algebra und analytische
Geometrie, Mechanik und Infinitesimalrechnung, Schiffahrt. Daß wir
„Mechanik und Infinitesimalreehnung“ und nicht umgekehrt gesagt
haben, ist nicht ein Versehen von unserer Seite, sondern entspricht
der im vierten Bande des Cours befolgten Anordnung; es ist aber
zu beachten, daß die Mechanik mit lauter elementaren Mitteln ent-
wickelt wird. Die Behandlung der Infinitesimalrechnung bietet nichts
Besonderes, als daß Bezout durchgängig mit Differentialen arbeitet,
so daß man die Definition der Ableitung in seinem Lehrbüche-um--
sonst suchen würde.
Es ist bekannt, welchen Beifall die 1748 erschienenen a
zioni analitiche von Maria Gaetana Agnesi (diese Vorl., ILI?,
S. 822) in und außer Italien fanden. Es war aber nunmehr ng
dieses Lehrbuch durch ein anderes zu ersetzen, welches die inzwischen
erreichten Resultate umfassen sollte. Diesen Zweck setzten sich Riccati
und Saladini mit ihren mehr als 1100 Quartseiten starken Institu-
tiones analyticae (vgl. S.457ff.) vor. Welche Fortschritte dieses Lehr-
buch gegenüber dem Agnesischen darbietet, ergibt sich aus den
Vorworten zu den zwei Bänden, von denen der erste der endlichen,
der zweite der unendlichen Analysis gewidmet ist. Als uns interessie-
rende Zusätze sind folgende zu bezeichnen: Begriff des Unendlich-
kleinen, Gebrauch der Reihen in der Infinitesimalrechnung, Beweis
der ehe der Integralrechnung auf Grund der Reihen, Integration
!) Cours de math&matiques ä l’usage de la marine. ?) Die uns
vorliegende Auflage (von den Jahren IX und X des republikanischen Kalenders)
ist eine Verschmelzung der beiden Cours und enthält sowohl die Anwendungen
auf Schiffahrt als die auf Artillerie.
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 677
von Kreis- und Hyperbelfunktionen, Rektifikation der Kegelschnitte.
Der erste dieser Punkte ist schon oben berührt worden; auf andere
werden wir weiter unten wieder kommen. Aus dem Vorwort ent-
nehmen wir auch, welchen Anteil jeder der beiden Verfasser an dem
Werke hatte, und welche ihre Arbeitsweise war!) Vom methodolo-
gischen Standpunkte aus bieten die Institutiones eine wichtige
Neuigkeit dar, die Verschmelzung der Differential- mit der‘
F
Integralreehnung; das erste Buch (des II. Bandes) enthält die ele-/
mentaren Differentialformeln, denen die bezüglichen Integralformeln
gegenüberstehen, und die Integrationsmethoden mit Anwendung auf
Quadraturen und Rektifikationen; das zweite behandelt die direkte
und inverse Tangentenmethode; das dritte betrifft die Differentiale
höherer Ordnung nebst den bezüglichen geometrischen Anwendungen,
und die Variationsrechnung. |
Es möge auch bemerkt werden, daß unsere Autoren den ur-
sprünglichen Integralbegriff wieder aufgenommen haben (was sie da-
durch ausdrückten, daß sie die Prinzipien der Integralrechnung auf
die Reihentheorie begründeten). In der Vorgeschichte der Infinitesi-
malrechnung war, was wir jetzt als Integral bezeichnen, eine Fläche,
also eine Summe unendlich vieler Elemente. Nachdem man aber die
folgenreiche Entdeckung machte, daß Differentiation und Integration
umgekehrte Operationen sind (diese Vorl., III, S. 156, 165), bezeich-
nete man als Integral einer Funktion f(z) diejenige Funktion, deren
Ableitung f(x) ist. Was die Wissenschaft dieser Entdeckung ver-
dankt, ist niemandem unbekannt; es ist aber noch immer interessant,
zu zeigen, daß gewisse Integrationen sich auch auf Grund der ur-
sprünglichen Definition des Integrals als einer Summe ausführen lassen.
Dazu geben Riecati und Saladini drei Methoden, welche auf die
durch die Gleichungen:
TI u en, rg”
definierten Funktionen y von & angewandt werden.?)
') „Totius operis methodum Riecatus diposuit; conscribenda vero capita
amice divisa sunt. Quae magis subobscura, magisque erant diffieilia, Riccatus
magno studio clara, perceptuque reddidit facilia; quin etiam antequam in
lucem proferret, ea adolescentibus quibusdam suis auditoribus addiscenda
tradidit, atque experientia comperit, ea perquam facillime pereipi, ac penetrari.
Caetera vero Saladinus collegit, explicavit, ac multum de suo addidit. Is scripta
deferebat amico socio, quibus perpensis, atque approbatis, illud tantum addebat
quod necessaria operis connexio postulabat. Stilum vero, si leetor identidem
mutatum cernat, plurimos hune librum latine reddidisse sciat.“ ?) Vgl.:
V. Riecati, De quadratura eurvarum tradita per summas generales
serierum, Comm. Acad. Bon. V 2, 1767, p. 432—445.
44*
Y
Br
IR
u
®
” ,
u
NN
673 Abschnitt XXVI.
Die Institutiones analyticae, von welchen Saladıni zehn
Jahre später einen Auszug in italienischer Sprache herausgab'), boten
zu lebhaften Diskussionen Gelegenheit. Im Jahre 1773 erschien im
Giornale de’ letterati ein ausführlicher Bericht von dem Abt Gio-
acchino Pessuti?), wo das Werk als eines der besten und vollstän-
digsten Lehrbücher der Analysis bezeichnet wird, aber einige „kleine_
_Flecken“ hervorgehoben werden, deren einer die Verschmelzung der
Differential- und Integralrechnung ist. Ein Schreiben von V. Riccati
an Pessuti vom 29. August 1773, welches eine heftige Verteidigung
seiner Reform enthält, wurde erst nach V. Riccatis Tode von dessen
Brüdern veröffentlicht”) Pessuti erwiderte darauf mit seinen Ri-
flessioni analitiche (Livorno 1777), welche wiederum eine lange
Antwort von seiten eines ungenannten Verfassers hervorriefen.*)
Im Jahre 1767 kommt ein schon bekannter Name wieder vor,
der von Emerson, als Verfasser eines kleinen Buches: The
arithmetie of infinites, and the differential method;
illustrated by examples (London 1767). Die „arithmetic of
infinites“, oder die Indivisibilienmethode, ist die Kunst, die Potenzen
der Glieder einer arithmetischen Reihe von unendlichkleiner Differenz
zu summieren. Sie wird besonders auf die Berechnung von geo-
metrischen Größen angewandt, welche als aus unteilbaren Elementen
zusammengesetzt betrachtet werden; es ist aber zu beachten, daß diese
Elemente nicht wirklich unteilbar sind, und nur „by reason of simi-
litude“ unteilbar genannt werden. Die „differential method“ ist die
Difförenzen- und Interpolationslehre.
\ Im Jahre 1768 erschienen die El&mens du caleul integral
von Leseur und Jacquier, den beiden Minoriten, welchen man einen
) Instituzioni analitiche del conte V. Riccati compendiate da
G. Saladini, Bologna, I. Bd. 1776, I. Bd. 1775. ®) Institutiones analy-
ticae di V. Riccati e J. Saladini (Rezension ohne Namen des Verfassers),
Nuovo Giornale de’ letterati d’Italia (Modena) 1773, I, p. 30—73, II, p. 219
bis 287, III, p. 78—123. Daß Pessuti der Verfasser ist, ergibt sich aus p. 144
des XV. Bandes des Giornale. ®) Lettera all’ autore della rela-
zione delle Istituzioni analitiche dell’ Ab. Co. Vincenzo Ric-
cati, inserita nel Nuovo Giornale de’ letterati d’Italia, Tomo I, II
e II, Nuova Raccolta d’Opuscoli scientifiei e. filologiei XXX, 1776,
Op. IH, p. 8—25. — Den auf die im Texte berührte Frage sich be-
ziehenden Teil dieses Schreibens kann man lesen in Loria, Il Giorn.
de’ Lett. d’Italia ete., Cantor-Festschrift, Leipzig 1897, S. 241—274.
* Risposta alle Riflessioni analitiche del Sig. Ab G. Pessuti sopra
una lettera scrittagli dal Sig. Ab.Co.V.Riccati, N. Giorn.lett. XV, 1778,
p. 144—204. Nach Riccardi ist Verfasser derselben Giordano Riccati,
Bruder von Vincenzo (aus Treviso, 1709—1790, siehe diese Vorl. III?, S. 474).
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 679
bekannten Kommentar zu den Principia von Newton verdankt.
- Thomas Leseur, geboren zu Rethel 1703, gestorben zu Rom am
22. September 1770, war zusammen mit Frangois Jacquier (1711
bis 1788; diese Vorl., II?, S. 841) Professor der Mathematik und
der Theologie zu Rom; beide wurden im Jahre 1763 nach Parma
berufen als Lehrer des Infanten, welchem sie ihr Lehrbuch der Inte-
gralrechnung widmeten. Von diesem aus mehr als 1100 Seiten be-
stehenden Werke wollen wir nur sagen, daß es für eins der besten
Lehrbücher seiner Zeit gehalten wurde, und daß dieses Urteil nach
unserem Ermessen ganz richtig ist.
Das Jahr 1768 zeichnet sich aber besonders durch die Erscheinung
eines der wichtigsten Werke unserer Periode, der Institutiones caleuli
integralis (Petersburg 1768, 1769, 1770) von L. Euler (1707—1783;
diese Vorl., III?, S.549) aus. Dieses großartige Werk besteht aus
drei starken Quartbänden, denen ein vierter nach des Verfassers Tode von
der Petersburger Akademie 1794 hinzugefügt wurde. Bei der außerordent-
lichen Wichtigkeit desselben halten wir es für nötig, den allgemeinen
Plan in seinen Hauptlinien wiederzugeben:
Erstes Buch (Liber). Integration der Funktionen einer Va-
riabeln.
I. Abteilung (Pars). Untersuchung der Beziehungen, in welchen
nur Differentiale erster Ordnung vorkommen.
1. Abschnitt (Sectio). Integration der Differentialformeln.
2. Abschnitt. Integration der Differentialgleichungen.
3. Abschnitt. Auflösung der Differentialgleichungen, in welchen
die Differentialgrößen nicht linear auftreten.
II. Abteilung. Untersuchung der Beziehungen, in welchen Diffe-
rentiale höherer Ordnung vorkommen.
1. Abschnitt. Differentialgleichungen zweiter Ordnung (mit zwei
Variabeln).
2. Abschnitt. Differentialgleichungen von höherer Ordnung.
Zweites Buch. Integration der Funktionen mehrerer Varıabeln.
I. Abteilung. Funktionen von zwei Variabeln.
1. Abschnitt. Untersuchung der durch eine Relation zwischen
ihren ersten Differentialen definierten Funktionen von zwei Variabeln.
2. Abschnitt. Dasselbe für die zweiten Differentiale.
3. Abschnitt. Dasselbe für die höheren Differentiale.
II. Abteilung. Funktionen von mehr als zwei Variabeln.
Anhang (Appendix). Variationsrechnung.
Zusatz (Supplementum). Entwicklung einiger besonderer
Fälle der Integration von Differentialgleichungen.
Wir wollen ferner die Verteilung der Kapitel des 1. Abschnittes
2‘
680 Abschnitt XXVI.
der I. Abteilung des 1. Buches anführen, welcher allein unseren Ab-
schnitt betrifft:
1. Kap. Rationale Funktionen.
2. „ Irrationale Funktionen.
3. „ Reihenintegration.
4. ,„ Logarithmische und exponentiale Funktionen.
5. „Aus Winkeln oder Sinussen gebildete Funktionen.
6. ,„ Entwicklung der Integrale nach Sinussen und Kosinussen
von vielfachen Bögen.
7. „ Angenäherte Integration.
8. „Bestimmte Integrale.
9. ,„ Entwicklung der Integrale in unendliche Produkte.
Der vierte Band enthält 29 teils schon erschienene, teils der
Petersburger Akademie vorgelegte, aber noch nicht herausgegebene
Abhandlungen, welche elf Supplemente zu den einzelnen Kapiteln der
ersten drei Bände bilden.
Was den Stoff des Werkes betrifft, so werden wir öfters Gelegen-
heit haben auf denselben zurückzukommen. Hier begnügen wir uns
damit, die Eulersche Definition des Integrals anzuführen: WE Xdx ist
diejenige veränderliche Größe, deren Differential Xdx ist. Selbstver-
ständlich behält‘ Euler auch hier seinen Begriff von dem _ strengen
Nullsein_der in bestimmten gegenseitigen Verhältnissen uynee
Differentiale bei (diese Vorl., III, 8. 749); er bemerkt, daß der Ge-
brauch des Zeichens £ welches summa bedeutet, von einem unan-
€
gemessenen („parum idoneo“) Begriffe herrührt, nach welchem ein
Integral als die Summe sämtlicher Differentiale zu betrachten wäre;
was mit nicht besserem Rechte zugegeben werden darf, als daß die
Linie aus Punkten bestehen möge.
Dem Jahre 1769 gehören die Anfangsgründe der Analysis
der unendlichen Größen (Berlin) an von Georg Friedrich
Tempelhoff, einem preußischen Artillerieoffizier, geboren zu Tramp
am 17. März 1737, gestorben zu Berlin am 13. Juli 1807, der die
große Ehre hatte, im Jahre 1778 den von der Berliner Akademie
für eine Arbeit über die Kometen bestimmten Preis mit Condorcet
zu teilen.
In den Jahren 1769—1771 gab der schon oben erwähnte Carac-
cioli seine Introduzione alla matematica per mezzo del calcolo
universalet) heraus, deren vierter und letzter Teil der Infinitesimal-
1) Zwei Bände, Velletri 1769 und 1771. Eine lateinische Ausgabe war
früher unter dem Titel: Isagoge in universam mathesin zu Neapel er-
schienen.
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 681
rechnung gewidmet ist. Den Ausgangspunkt bildet das Newtonsche\
Lemma, nach welchem zwei veränderliche Größen, deren Differenz
kleiner als jede angebbare Größe ist, endlich einander gleich werden.
Das Datum 1770 trägt der erste Band eines schon oben besprochenen
Werkes, welches gewissermaßen als eine Enzyklopädie der Mathematik
bezeichnet werden darf: Gli elementi teorieo-pratiei delle mate-
matiche pure (Modena 1770—1777) von O. Gherli. Die Ele-
menti zerfallen in sieben Quartbände, von welchen der erste die
Arithmetik, der zweite die Algebra, der dritte die Geometrie, der
vierte die analytische Geometrie, der fünfte die Differentialrechnung,
die zwei letzten die Integralrechnung behandeln. Sie geben alles da-
mals Bekannte in ausführlicher Entwicklung wieder; wesentlich neues
tragen sie nicht hinzu.
Ein ganz kleines und unerhebliches Büchlein ist die Pertractatio
elementorum caleuli integralis discentium bono typis com-
missa (Prag 1771) von Johann Tessanek (s. o. 8. 30), Jesuit
und Professor der höheren Mathematik, geboren in Böhmen 1728,
gestorben zu Prag 1788.
Einem anderen italienischen Gelehrten, Franceseo Maria Gaudi 0,
geboren zu S. Remo bei Genua 1726, gestorben 1793, gehört ein dem
von Gherli verfaßten analoges Werk, die Institutiones mathema-
ticae, deren vier Oktavbände in Rom in den Jahren 1772—.1779
gedruckt wurden.
Wieder in Italien erschien eine Dissertation!) von Carlo Fran-
cesco Gianella, Jesuit, geboren zu Mailand am 13. Juni 1740, ge-
storben am 15. Juli 1810, Mitglied der Turiner Akademie seit ihrer
Stiftung und Professor zu Mailand und zu Pavia. Gianella geht
_vom Begriff der Fluxion aus, bedient sich aber der Leibnizschen
Bezeichnung, und lehrt zuletzt, wie die Infinitesimalmethode als ein
„compendium“ der Fluxionsmethode angesehen werden darf.
Der schon erwähnte Paolo Frisi gab in den Jahren 1782—1785 FI,
seine Werke?) in drei Bänden heraus, von denen der erste, der Ar
gebra und analytischen Geometrie gewidmet, uns allein interessiert,
während die zwei übrigen Mechanik und Kosmographie betreffen. Die
Kapitel 11—15 des ersten Bandes behandeln die Infinitesimalrechnung
und ihre Anwendung auf Kurvenlehre; Frisi erwähnt seine nunmehr
30 Jahre alte Schrift über Fluxionen, und fügt hinzu, er habe seit-
) De fluxionibus earumque usu Dissertatio a Carolo Fran-
cisco Gianella 8. J. Phys. Prof. proposita a D. Rocco Marliani
propugnata, Mailand 1777. ) Pauli Frisii Opera, Mailand 1782,
1783, 1785.
De
682 Abschnitt XXVI.
x De
dem gefunden, daß alles auf ein einziges Axiom ankommt: Zwei ver-‘
änderliche Größen, welche von einander um weniger als jede vorge-'
gebene Größe verschieden sind, werden schließlich einander gleich; |
was mit einer Bekehrung von der Fluxions- zur eigentlichen Grenz-
methode gleichbedeutend ist. ee
Ebenfalls in Italien erschien das Werk (s. o. 8. 450): Magni-
tudinum exponentialium logarıithmorum et trigono-
‚metriae sublimis theoria nova methodo pertractata
(Florenz 1782) von Ferroni. Pietro Ferroni, geboren zu
Florenz am 22. Februar 1744, gestorben daselbst im Novem-
ber 1825, war kaum 20 Jahre alt Professor der Mathematik an
der Universität zu Pisa; später lehrte er in Florenz und wurde
Mathematiker, d. h. Bau- und Flußoberaufseher des Großherzogs
von Toskana. Er beschäftigte sich vorzüglich mit angewandter
Mathematik, und gab wertvolle Studien über die Theorie der
Gewölbe heraus. Von dem oben erwähnten Werk betrifft nur ein
kleiner Teil die Infinitesimalrechnung, nämlich das 10. Kapitel, welches
sich auf das Integral f = bezieht, und das 8. Kapitel, wo Ferroni
lehrt, wie man die Differentialquotienten der logarithmischen und ex-
ponentialen Größen ohne Gebrauch der Geometrie berechnen kann.
Es ist zu beachten, daß die Formel:
dgex 1
data
damals häufig aus der Betrachtung der logarithmischen Kurve abge-
leitet wurde. Dagegen bedient sich Ferroni der Reihenentwicklung:
a
woraus folgt:
dige= del - @-VD+@-1%- =.
Er verfährt auch so: aus:
ergibt sich:
dge=®:_x° ae
x
xC
Was die Exponentialfunktion betrifft, hat man:
x” lg a?
.-
E ne GR
a=]1+
also:
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 683
d-a=1lga: au(1+°,4° Er... )=arlga:da;
oder auch:
il x lg a\”
a -(1+7 ) ’
woraus folgt:
da = oo (1 + ER (1 +? 8°) Igadz = arlgadı.‘)
O0
Nach diesen aus Italien herrührenden Werken müssen wir zwei
in Österreich erschienene Schriften erwähnen, die Vorlesungen über
!) Um besser zu zeigen, mit welcher Unbefangenheit Ferroni mit unend-
lichen und verschwindenden Größen handelt, wollen wir noch einige Formeln
aus Kap. 10 entnehmen. Aus:
EN, NO nr m? log x?
m m 6
folgt für m=0:
x
a dx 1
0
1 0=--(1+,+3, +)
Es ist auch:
also:
x
da _
14 +3 + +lga 14 ++
0
x—1 («—1)?
Aaar ER BR
Aus:
I r (1 .. m? log x?
i a” dx x ( = E= 51 +)
—a+—-elege+, log +:
m?
— ME RE Erd el
+ m’x 4...
=ı(l—m+m’— tele (+: )
m?
+ aloe (5 )+:
folgt für m— — 1:
Rn ooxl log?
fe "dan 000 — IE Br — ++ B=ooxe !®"ıB
1 1
z<®+B=BtU+E@— 1)
usw,
684 Abschnitt XXV1.
Mathematik!) von Vega, und die Elementa caleuli differen-
tialis et integralis (Prag und Wien 1783) von Stanislaus
Wydra (1741—1804, s. o. 8.20), Professor der Mathematik an der
Universität zu Prag.
Georg Freiherr von Vega (s. o. 8. 437) ist weitbekannt als
Verfasser eines noch heute in Gebrauch bleibenden logarithmisch-
trigonometrischen Handbuches. Seine Vorlesungen zerfallen in
zwei Bände, von welchen der erste die Rechenkunst und Algebra,
der zweite die theoretische und praktische Geometrie, die geradlinige
und sphärische Trigonometrie, die höhere Geometrie und die Infini-
tesimalrechnung enthält. Wie der Verfasser selbst in seiner Vor-
rede erkennt, enthält sein Werk nichts wesentlich Neues; es möge
nur bemerkt werden, daß die Integration von:
®
z"dıe(e + Br + ya):
für ganzzahlige m und p, und von:
"dx (ae + Ba” + yx°”)
m—+1
für ganzzahlige —,— und » dadurch erzielt wird, daß man die Tri-
2
2
nome in Binome durch die Beziehung:
% -:- 5 oder "-n-£
umformt. Ä
Die Elementa von Wydra sind, ihrem Titel gemäß, ein ele-
mentares Lehrbuch der Infinitesimalrechnung und ihrer Anwendungen,
wobei die Infinitesimalmethode durchgängig gebraucht wird.
Zwei andere ganz elementare Schriften sind die Brevi elementi
di calcolo differenziale (Milano }1784) von Gaetano Allodi,
Adjunkt am Observatorium zu Mailand, und das Lehrbuch der Infini-
tesimalrechnung von Vito Caravelli (aus Montepeloso in Basilicata,
1724—1800, s. 0. 8.34) und Vincenzo Porto.?)
Ein Werk, von welchem in Italien weit mehr gesprochen wurde, als
es dies verdiente, ist das zweibändige, mehr als 1200 Quartseiten starke
Lehrbuch von Nicolai: Nova analyseos elementa”) Giovanni
ı) Der ausführliche Titel ist: Vorlesungen über Mathematik sowohl
überhaupt zu mehrerer Verbreitung mathematischer Kenntnisse in
den K.-K. Staaten, als auch insbesondere zum Gebrauche des K.-K.
Artillerie-Corps. Das Werk, dessen erste Auflage das Datum. 1782 trägt, ist
dem Artillerie-Corps gewidmet. Uns liegt eine spätere Ausgabe (Wien 1891)
vor, die aus der vierten Auflage des ersten Bandes und aus der sechsten des
zweiten gebildet ist. 2) Trattato del calcolo differenziale di Vito
Caravelli, e del calcolo integrale di Vincenzo Porto, per uso del
regale Collegio Militare, Napoli 1786. °) T.I, Pars prima, Patavii 1786;
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 685
Battista Nicolai, geboren zu Venedig am 30. März 1726, gestorben
zu Schio bei Vicenza am 15. Juli 1795, war Schüler von Jacopo
Rieccati, lehrte zu Treviso und dann an der Universität zu Padua.
Nicolai denkt, die gemeine Analysis sei ganz wertlos, was davon
herrühre, daß man nicht genau wisse, was „Einheit“ bedeutet. Die
Einheit ist, wie er uns lehrt, dem Werte, der Natur, der Dimension,
dem Systeme, der Lage nach unbestimmt; jede Zahl kann als Einheit
angenommen werden. Von dieser trivialen Wahrheit ausgehend, ver-
wickelt er sich in ein solches Netz von Unsinn, daß wir zu viel
Raum verschwenden müßten, wollten wir unseren Lesern eine genaue
Idee davon geben. Aus den ungemein weitschweifigen Entwicklungen
von Nicolai die Quintessenz entnehmend, können wir folgendes sagen:
Da die Einheit willkürlich ist, so kann man das Negative auf eine
negative Einheit beziehen, wodurch dasselbe als positiv erscheint; es
ist also —1=1.') Ja noch mehr, jede Zahl ist jeder anderen Zahl
gleich”) Dadurch wird das Imaginäre aus der Analysis verdrängt,
da sowohl YAB als YBA (wo AB eine Strecke bezeichnet) einen
reellen Wert hat.
Derartige Ideen konnten nicht umhin, die höchste Verwunderung
überall zu erregen, um so mehr, als sich Nicolai, wie es scheint, der
allgemeinen Achtung erfreute Die Elementa und die früheren
Riflessioni sulla possibilitä della reale soluzione analitica
del caso irreducibile (Padua 1783) wurden von allen Seiten heftig
bekämpft?), und Silio, der freilich die tiefste Verehrung gegen
T. I, Pars altera (nach des Verfassers Tode vom Abt Vincenzo Chiminello,
Adjunkt am Observatorium zu Padua, herausgegeben), Patavii 1793. Lag es
etwa im Sinne des Verfassers, noch einen zweiten Band hinzuzufügen?
‘) Wir wollen hier wenigstens ein Beispiel von dem Übergange vom Posi-
tiven zum Negativen anführen:
a 1 0 1—1 —1-+1,
= En 3 SER ar et ı RERREN SlER N Rue a RS 1
Berpernn in ae er 5 ke
0 —1-1
5-9 - (TE) NW) —a
(Bd. I1, p. 29). Die Gleichheit der positiven und der negativen Größen wurde
von Chiminello in seinen Riflessioni su la veritä di alcuni paradossi
analitici verteidigt. °) „1°(19)P = g°(g®)’ ut quisque facile videt. Sed
j 0
1’) = 1(19)%; ergo erit etiam 1-1) = 1t!= 1(y)—=g () =gg)=g'*r!,
sive 11-10-9004 (Bd. 12, p. 57). ®) Lettera del Sig.
Petronio Maria Caldani (s.o. 8.152) al Rev. Padre Jacquier,
Antol. Romana X, 1784, p. 33—37. — Lettera del Sig. P. M. Caldani al
686 Abschnitt XXVI.
Nicolai zeigt, sagt, seine Elemente sollten besser analytische Rätsel
oder analytisches Labyrinth betitelt werden.
Von der 1786 erschienenen Exposition von Lhuilier haben
wir schon oben gesprochen'); es möge hier nur weniges hinzukommen.
‚Lhuilier bezeichnet als das Differentialverhältnis > von zwei
veränderlichen Größen P, x die Grenze des Verhältnisses ihrer gleich-
zeitigen Zuwächse, wobei 2 nicht als ein wirkliches Verhältnis, son-
dern als ein unzerlegbarer Ausdruck gelten muß. Er beweist dann,
auf Grund der Binomialformel, daß das Differentialverhältnis von x”
und & durch nx”=! gegeben ist, und bemerkt, daß dieses Ergebnis
ganz allgemein ist, da die Binomialformel sich für jeden beliebigen
Exponent algebraisch nachweisen läßt. Demnach kann man das Diffe-
rentialverhältnis einer jeden algebraischen Funktion von x (in bezug
auf x) bestimmen, da jede solche Funktion in eine Potenzreihe ent-
wiekelbar ist. Was die transzendenten Funktionen betrifft, benutzt
Lhuilier die Taylorsche Entwicklung.
Wir begegnen nunmehr wieder einem italienischen Schriftsteller,
dem Pater Angelo Luigi Lotteri, Mönch aus dem Orden der
Sig. N.N., ebenda, p. 61—62.— Lettera d’un dilettante d’analisi ad un
suo amico sulla risposta inseritas nel giornale no. 37 da’ confini
d’Italia alla lettera del Sig. P.M. Caldani al P. Jacquier intorno ai
calcoli delSig. Ab. Nicolai, ebenda, p. 249—254. — Risposta al Sig. prof.
diCamerino autoredelle riflessioni (stampate nel giornale letterario
dai confini d’Italia no. 43) sulla lettera del Sig. P. M. Caldani di-
retta al P. Jacquier, ebenda, p. 313—318. — Riflessioni del prof. di
matematica nell’ universitä di Camerino alla risposta data al suo
articolo inserito nelnum. 13, 1784 del giornale letterario da’ confini
d’Italia, ebenda, p. 401—405, 409—414. — Postille alle Riflessioni del
prof. di matematica etc., Antol. Romana XI, 1784, p. 33—40, 41—46, 49
bis 54, 57—62. — Lettera del Sig. Co. Giordano Riccati al Sig. Ab.
Contarelli intorno alle Riflessioni su la veritä di alcuni paradossi
analitici, ereduti comunemente paralogismi, contenute nel n.1 e
2 del Giornale letterario dai confini dell’ Italia 1784, Nuovo Giorn.
Lett. (Modena) XXVII, 1784, p. 256—266. — Antonio Eximeno Valentini
(Jesuit, 1732—1798), De studiis philosophicis et mathematicis insti-
tuendis (angeführt in einem Flugblatt von 12 Seiten s. 1. et a. mit dem Titel:
Lettera ad un amicv del Sig. Arciprete Nicolai professore di analisi
nella Universitä diPadova). — Guglielmo Silio Borremans (aus Sizilien),
professore di analisi nella R. Accademia Militare, Osservazioni critiche su
i nuovi elementi di analisi dell’ abate Nicolai, Napoli 1787. — Was das
Giornale letterario dai confini d’Italia ist, habe ich nicht ermitteln können.
!) Einen ausführlichen Bericht über dieses Werk findet man in: Vivanti,
Il concetto d’infinitesimo etc.
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 687
Hierosolymiten. Geboren zu Bollate bei Mailand am 24.November 1760,
war er 1787 Repetitor, 1798 Professor an der Universität zu Pavia.
Als im Jahre 1799 die Studien an dieser Universität unterbrochen
wurden, ging er nach Como als Professor am dortigen Lyceum, kam
aber im nachfolgenden Jahre, bei der Wiedereröffnung der Universität,
nach Pavia zurück als Substitut von Gregorio Fontana, welcher
als Mitglied des Corps legislatif der zisalpinen Republik von Pavia
ferngehalten wurde, bis er später zum Professor der Einleitung in -
die Infinitesimalreehnung ernannt wurde. Er starb zu Mailand am
23. Januar 1839. Die Die Geschichte seines Lehrbuches der Infinitesimal-
rechnung!) erzählt er ı »r wie e folgt. Nachdem d’ 'Alembert, sagt Lotteri, <
den Spuren Newtons folgend, die To kneiheds durch die
_ Grenzmethode ersetzte, wodurch die Analysis viel lichtvoller geworden
ist, sind z: zahlreiche ‘Lehrbücher _ der Infinitesimalrechnung in allen
-Tändern erschienen. Unter diesen zeichnet sich ein von einem un-
genannten preußischen Offizier?) zum Gebrauche der Ingenieure und
der Artillerie verfaßtes kleines Buch aus. Lotteri fing an, dasselbe
zu übersetzen, sah aber bald ein, daß manche Berichtigungen und
Zusätze nötig waren, und daher zog er es vor, das Werk in eine
etwas verschiedene Form zu bringen; dazu bediente er sich zum Teil
selbständiger Forschungen, entnahm aber die Theorie der Krümmung
und der singulären Punkte dem Lehrbuche von Cousin (s.u.), die Integral-
rechnung dem von Bezout. Vier Zusätze von Fontana betreffen
den Integrallogarithmus, eine Differentialgleichung zweiter und eine
dritter Ordnung, und die Ausdehnung der Taylorschen Formel auf
Funktionen von mehreren Veränderlichen.
Von zwei Lehrbüchern von Schultz haben wir schon früher
gesprochen; wenn auch in ihnen der Begriff vom Unendlichen vor-
kommt, so beschäftigt sich doch keins von beiden mit der Infinitesi-
malrechnung.
Ein Werk von nicht ganz entschiedenem Charakter ist die Teoria
dell’ analisi®) von Pietro Franchini(s.0.8.313), geboren zu Parti-
gliano bei Lucca am 24. April 1768, gestorben zu Lucca am 26. Januar 1837,
Professor der Philosophie am bischöflichen Seminar zu Veroli bei
Rom. Es besteht aus vier Abschnitten: I. Theorie der Rechnungen,
') Prineipj fondamentali del caleolo differenziale e integrale
appoggiati alla dottrina de’ limiti, Pavia 1788. 2, War er etwa der
schon oben erwähnte Tempelhoff? oder von Massenbach, Verfasser der: An-
fangsgründe der Differential- und Integralrechnung zum Gebrauch
der Ingenieurs und Artilleristen, von einem K. Pr. Offizier, Halle 1784?
°’) Teoria dell’ analisi da servire d’introduzione al metodo diretto,
ed inverso de’ limiti, 3 Bde., Roma 1792—93.
688 Abschnitt XXVI.
oder der vier arithmetischen Operationen; II. Von den Quellen der
Analysis; es sind 15 Theorien, nämlich: 1. Faktoren eines Monoms.
2. Kombinationen. 3. Potenzen. 4. Wurzeln. 5. Proportionen, Pro-
gressionen, Reihen. 6. Kettenbrüche. 7. Teilbrüche. 8. Logarithmen.
9. Kreisfunktionen. 10. Polygonometrie. 11. Endliche Differenzen.
12. Grenzwerte. 13. Maxima und Minima. 14. Endliche und unend-
lichkleine Größen. 15. Stetige Funktionen; III. Theorie der Glei-
chungen; IV. Von der Analysis im allgemeinen (endliche bestimmte
und unbestimmte Analysis).
Der oben genannte Cousin hatte zu Paris im Jahre 1777 ein
Werk mit dem Titel: Lecons de ealeul differentiel et de caleul
integral herausgegeben, welches neu bearbeitet im Jahre 1796 unter
dem veränderten Titel: Traite du caleul differentiel et du cal-
cul integral erschien. Jacques Antoine Joseph Cousin, ge-
boren zu Paris am 29. Januar 1739, gestorben daselbst am 28. De-
zember 1800, führte bis zu seinem 50. Jahre ein ruhiges Leben als
Professor der Mathematik und Physik; in den trüben Zeiten der Re-
publik nahm er an den Staatssachen auf die ehrenhafteste Weise teil
und starb als Mitglied des Senates und des Institut national. Es ist
kaum nötig zu sagen, daß er ein Anhänger von d’Alembert ist; als
Grundlagen zu seiner Tnlckignr der Infinitesimalrechnung TER die
wohlbekannten Prinzipien der Grenztheorie.
Das Jahr 1797 ist für uns besonders wichtig, da in diesem Jahre
die Theorie des fonctions analytiques von Lagrange heraus-
gegeben wurde. Wir haben schon oben versucht, den Standpunkt
von Lagrange zu schildern; wir wollen nunmehr sehen, wie er von diesem
aus zu Werke geht. Seine Methode zur Auffindung der Ableitungen
ist, wenn man die Exponentialreihe als bekannt voraussetzt, auf die
Funktionen 2”, a”, lg x sehr leicht anwendbar; für die trigonometri-
schen Funktionen bedient er sich der Eulerschen Formeln (diese
Vorl, III, 3. 708), welche diese Funktionen mit der Exponential-
funktion in Verbindung setzen.
Mit gleicher Leichtigkeit ergibt sich die Ableitung einer Summe,
eines Produktes, eines Quotienten von Funktionen; ist z. B.:
y=»g,
so erhält man:
yvrytr = rw) trieltr rettete dt
also:
v=pd+rP. |
Die Ableitung einer Funktionsfunktion y=/fyp(x) erhält man
folgendermaßen. Es ist:
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 689
a A Er 2 2
a Ba a a
-/W)+@W+- dt. -- Fa +Wf@W)+---,
Y=pf'(p).
Ist nunmehr y=f(p, gq), und setzt man + statt x in p, so
wird die Funktion:
also:
Er ieh we
setzt man dagegen © + statt x in q, so erhält man:
u Aria
es a sich folglich durch die a Einsetzung von © +i
in p und in g:
rl A a
also:
y BER ur, ..- BR
Ist y=f(x) eine implizite, durch die Gleichung:
F (&, y) N
definierte Funktion von &, und setzt man:
F(&, f@)) wo; («),
so erhält man aus p(x) nach Ersetzung von x durch «+ i:
ya)tip(a)t;
es ist aber p(x) = 0 für jeden Wert von x, folglich ist @ (<)—=0 oder:
F, + ur, DEN 0,
woraus sich ergibt:
Die Regel von L’Hospital wird folgendermaßen bewiesen. Es sei:
5 f(a) = F(a)=
yF(&) = f(&)
yYF(«)+yF(e)=f(«),
und hieraus für x = a:
aus:
ergibt sich:
‘) Lagrange bezeichnet die partiellen Ableitungen von f(p, g) nach p, g,
wo p, q Funktionen von x sind, mit f’(p), f(q), dagegen die Ableitungen von
f(x, y) nach «, y mit f’(«, y), f(«, Y).
690 Abschnitt XXVI.
Ar
Re.
Wäre auch:
f (a) Das F'(a) ar 0,
so würde man erhalten:
a
a F’” (a) ’
usw.; und es ist nicht zu befürchten, daß sämtliche Ableitungen ver-
schwinden mögen, denn es wäre dann:
fa+)=0, Flıa+tü)=0
für jeden Wert von i.
Darauf kommt Lagrange auf die Aufstellung der nach ihm be-
nannten Restformel und auf die Theorie der gewöhnlichen Differential-
gleichungen. f
Was die Funktionen von zwei Variablen betrifft, so nimmt La-
grange als selbstverständlich an, daß f(@-+i, y+ 0) sich überhaupt in
eine nach steigenden Potenzen von i, 0 fortschreitende Reihe ent-
wickeln läßt, deren erstes Glied f(x, y) ist. Um das Gesetz dieser
Reihe zu finden, setze man zuerst 2 +i statt x; dann ist:
Hs WR WHEN HELEN +
Setzt man jetzt y-+ o statt y, so folet:
fat, y +) y+) + y+o) + SL y +0)
Es ıst aber:
fa y+)- fa W+ or, W+ HR NM+
Ey tr) NM H+ohr NH,
fe. y+)- fe y)+t:°‘,
also:
fat, y+)-Ffa Wil y)+of,&W)+ Ztr2la %)
+ if) + Sn NMH+
Läßt man dagegen zuerst y um o, dann x um i zunehmen, so
wird man analog erhalten:
fat y +) = WHEN + or Y) + Eee y)
A NE
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 691
Aus dem Vergleich der beiden Entwicklungen folgt der bekannte
Satz (diese Vorl., III, S. 759, 881):
fzy(&, Y) = fyz(& Y).
Die Funktionen von mehr als zwei Variablen werden analog behan-
delt. Die erste Abteilung des Werkes schließt mit der Untersuchung
der partiellen Differentialgleichungen.
Die zweite Abteilung ist den geometrischen Anwendungen gewidmet.
Lagrange bemerkt, daß die Alten die Tangente als eine solche Ge-
rade definierten, daß zwischen derselben und der Kurve keine andere
Gerade liegen könne; später betrachtete man die Tangente entweder
als eine Sekante mit zusammenfallenden Schnittpunkten, oder als die
Verlängerung einer Seite eines Unendlichvieleckes, oder als die
Richtung der Bewegung, durch welche die Kurve beschrieben werden
könne. Hieraus entstanden einerseits die algebraischen, auf die Gleich-
heit der Wurzeln der Gleichungen gegründeten, andererseits die diffe-
rentiellen, die Verhältnisse von unendlichkleinen Differenzen oder von
Fluxionen benutzenden Methoden. Unser Verfahren, fährt Lagrange
fort, gestattet uns, die Begriffe und die Methoden der Alten wieder
aufzunehmen.
Es mögen:
y-fl@, y-F(e)
zwei Kurven darstellen. Damit sie einen gemeinschaftlichen Punkt
besitzen, muß sein (für einen gewissen Wert von ”):
f(@) = Fe).
Um die beiden Linien in der Nähe dieses Punktes untereinander zu
vergleichen, setzen wir © + statt x; der Unterschied der beiden
ÖOrdinaten ist dann:
fat) -Fe+)=-if@-Fa)+ilf@-F@)+:--;
er ist um so kleiner, je mehr Glieder rechts verschwinden. Es sei
nunmehr:
y=y(R)
eine dritte, durch denselben Punkt gehende Linie, so daß:
f@)=Fla)=p(a)
ist, und setzen wir:
D=-fla+)-Fa@+)=-i(f @)-F@a)+F(f’@+D—-F"a+j),
I=- far) - Pga+H) if) — pP’) + i FRtI-pacH)),
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 45
692 Abschnitt XXVI.
wo j in den beiden Formeln verschieden sein kann. Damit die dritte
Linie zwischen den beiden anderen liege, muß D für ein beliebig
kleines ö absolut größer sein als 1. Ist nun:
r(@)=F'(«) f(&=p(e),
so ıst:
D-,;(f@+)-F’@+9)),
und man kann : so klein annehmen daß 41 absolut größer als D
wird. Die dritte Linie kann also nur dann zwischen den beiden
anderen liegen, wenn f(x) = (x). Ist insbesondere:
F(x)=a+bs,
so daß y= F'(x) eine Gerade darstellt, so nehmen die Beziehungen:
fa)=Füa, F)=-F(&)
f«)=a+bz, f(a)=b
an, und die Gleichung der Geraden wird:
(1) q= fl) -ef(a) + Pf l@),
wo 9, q die laufenden Koordinaten bezeichnen. Ist die dritte Linie
ebenfalls eine Gerade, so daß:
p (x) = h,
und soll diese durch den betrachteten Punkt gehen, so muß sein in
diesem Punkte:
die Form:
f@=g+hs;
soll sie ferner zwischen den beiden ersten Linien liegen, so muß sein:
F(@)—h.
Hieraus ergibt sich aber:
9=n, h=b.
Es kann also keine Gerade zwischen der Linie g=f(p) und der
Geraden (1) liegen; und diese letztere ist die Tangente.
Ein analoges Verfahren kann auf die Untersuchung des Schmie-
gungskreises und überhaupt der Berührungen irgendwelcher Ordnungen
angewandt werden.
Setzt man ferner = statt x, und stimmen die Reihenentwick-
lungen von f (2). F(-) nach steigenden Potenzen von i in den
ersten, zweiten, ... Gliedern überein, so läßt sich beweisen, daß die
Lehrbücher der Infinitesimalrechnung. 693
Linie y=gy(x) in den Punkten, deren Abszissen x > z sind, zwischen
den beiden Linien y= f(x), y—= F(x) nieht liegen kann, wenn die
Reihenentwicklung von (>) nicht wenigstens in ebensovielen Glie-
dern mit den übrigen übereinstimmt, woraus sich der Begriff von
den Asymptoten ganz leicht ergibt.
Was wir bisher gesagt haben, ist wohl hinreichend, um dem
Leser einen klaren Begriff von dem Lagrangeschen Verfahren zu
geben, und wir dürfen daher über das übrige ziemlich rasch hinweg-
gehen. Die Bedingung dafür, daß der Abszisse & die größte oder
kleinste Ordinate zukommt, ergibt sich aus der Betrachtung, daß:
fa+)—f(«)
ein von dem Vorzeichen von i unabhängiges Vorzeichen besitzen muß.
Zum Zwecke der Berechnung der Fläche F(x) einer ebenen Linie
y—f(z), wo f(x) eine monotone Funktion bezeichnet, bemerkt La-
grange, dab F(x+i)— F(x) zwischen if(x) und if(x + i) liegen
muß; es ist aber:
ICE TORE JCH WE
Fa+9)=Fl@)+iF(a)+,F’(c+j3),
folglich liegt:
IF(@)+ FF (@+))
zwischen den Größen:
if(a), if) +Rf (a + j);
hieraus ergibt sich leicht:
F(e)= f(x). c
Bezeichnet f(x) die Fläche des ebenen
Schnittes eines Körpers, so ergibt F(x) dessen
Inhalt. E »
Die Rektifikationsformel wird folgender-
maßen erhalten. Nach Archimed ist der
Bogen AFB (Fig. 77) Jänger als die Sehne 4
AB und kürzer als AE + EB, wobei E den
Schnittpunkt der Tangenten AC, BD in A
und B bezeichnet; nun ist aber die Neigung
von AÜ gegen # Ördinatenachse Kielner die
von BD größer als die von AB, folglich:
AB>BD, AC>AE+EB,
45*
Fa)
694 | Abschnitt XXVI.
und endlich:
AC>AFB>BD,
oder:
iyI+f?(a)> AFD>iYVI + Fa +).
Hieraus ergibt sich, wenn ®(x) die Bogenlänge bezeichnet:
8 (0) -VIFF*@)
Es folgt dann die Theorie der Raumkurven und Oberflächen und der
Maxima und Minima der Funktionen von mehreren Veränderlichen,
die Variationsrechnung und die Theorie der Quadraturen und Kuba-
turen.
Die dritte Abteilung enthält die mechanischen Anwendungen, auf
welche wir nicht einzugehen brauchen.
Noch im Jahre 1797 erschien der erste Band des umfangreichen
und treffliehen Trait& du caleul diff&rentiel et du ealeul inte-
gral (Paris, an V, VI [1797—98], 2 Bde.) von Sylvestre Frangois
Laeroix, geboren zu Paris 1765, gestorben am 26. Mai 1843. Sohn
einer armen Familie, wollte sich Lacroix der Schiffahrt widmen;
bald aber erkannte er, daß sich diese Wissenschaft auf Mathematik
gründet, und gab sich daher mathematischen Studien eifrig hin.
Seine Mühe war von dem besten Erfolg gekrönt (s. o. 8. 344).
Als Zeugen seiner schriftstellerischen Tätigkeit liegen uns manche
Lehrbücher von hohem didaktischem Werte vor. Der Gedanke, ein
Lehrbuch der Infinitesimalrechnung abzufassen, wurde ihm durch die La-
‚ _grangesche Abhandlung von 1772 (8.0.9. 644) eingehbßt Im Jahre 1787
fing er an, den Stoff zu seinem Werke zu sammeln und einige
Fachmänner um Rat zu fragen. Man kann aber Lacroix nicht unter
die Anhänger Lagranges zählen. Freilich gibt er die Lagrangesche
Definition _der Ableitung an und bestimmt. _ dementsprechend die Ab-
“leitungen_ der elementaren Funktionen; aber er zeigt bald nachher, daß
die Ableitung die Grenze der a ee Zuwächse der Funktion
und der Veränderlichen ist, und bezeichnet als Gegenstand der Diffe-
rentialrechnung die Bestimmung der Grenzen der Zuwachsverhältnisse
von veränderlichen Größen, wenn die Beziehungen zwischen diesen
Größen bekannt sind. An einem anderen Orte bemüht _er sich zu be- _
‚weisen, daß _die Infinitesimalmethode nicht angenähert, sondern streng
‚genau ist, und dab Leibniz mit der Metaphysik der Infinitesimal-
rechnung ganz im reinen war.
Viel Neues bietet das Buch nicht dar; es mag daher genügen,
auf die Einteilung des Stoffes kurz en,
Der erste Band, der Differentialrechnung gewidmet, zerfällt in
eine Einleitung und fünf Kapitel. In der Einleitung werden die
Differentiation und Integration. 695
Definitionen von Funktion und Grenze gegeben, und die Grundsätze
der Grenztheorie aufgestellt. Das 1. Kapitel beginnt mit der La-
grangeschen Definition der Ableitung; es werden dann, wie schon
gesagt, die Ableitungen der elementaren Funktionen bestimmt und die
Hauptsätze der Differentialrechnung nachgewiesen, und es wird zum
Schlusse gezeigt, daß die Ableitung die Grenze des Zuwachsverhält-
nisses ist, was zur oben angeführten Definition der Differentialrech-
nung führt. Das 2. Kapitel behandelt die analytischen Anwendungen
der Differentialrechnung: Reihenentwicklungen, unbestimmte Ausdrücke,
Maxima und Minima. Bemerkenswert ist hier die Untersuchung
einiger Fälle, in welchen die Taylorsche Reihenentwicklung nicht
zulässig ist. Hat man:
f(«) Er (® af,
wo n positiv und kleiner als 1 ist, so enthält das erste Glied der
Entwicklung eine positive Potenz, die übrigen aber sämtlich negative
Potenzen von (x — a), und man kann also nicht a— 0 setzen. Das
rührt davon her, daß («e— a+k)* sich für <—=a auf k”, d.h. auf
eine nicht ganze Potenz von % reduziert, was mit der allgemeinen
Form der Entwicklung nicht verträglich ist. Ist f (x) allgemein
irrational, hört aber für = «a auf, es zu sein, so muß k in f(a-+ k)
irrational auftreten, und daher kann f (@+%) durch keine Entwick-
lung nach ganzen positiven Potenzen von dargestellt werden.
Das 3. Kapitel enthält eine Abschweifung über algebraische Kurven,
das 4. und 5. die Theorie der ebenen Kurven und diejenige der Raum-
kurven und Oberflächen.
Der zweite Band enthält die Integralrechnung und zerfällt eben-
falls in fünf Kapitel, nämlich: 1. Integration der Funktionen einer Ver-
änderlichen; 2. Geometrische Anwendungen der Integralrechnung;
3. Gewöhnliche Differentialgleichungen; 4. Funktionen von mehreren
Veränderlichen; 5. Variationsrechnung.
Differentiation und Integration.
1. Differentiation.
Die Differentialrechnung war in allen ihren wesentlichen Teilen
von Leibniz geschaffen worden und hatte noch am Sehlusse der
vorigen Periode in Eulers Lehrbuche eine erschöpfende Behandlung
erhalten. Es war also von unserer Periode kein beträchtlicher Bei-
trag zu erwarten. Und so ist es wirklich. Nur eines verdient als
ganz neu angezeigt; zu werden, die Einführung der symbolischen Be-
zeichnung in die Infinitesimalrechnung durch Lagrange.
696 Abschnitt XXVL
Lagrange!) schreibt die Taylorsche Entwicklung folgender-
maßen:
Ju ed=
und geht dann zur allgemeinen Formel über:
ALT 4
PR ee,
diese Formel läßt sich auch auf den Fall eines negativen A erstrecken,
so daß:
1
On ER ae) A?
(>: dy he},
wo 2*u durch die Beziehungen:
Zu=
A2u= 2m... JZu=u
definiert ist. Der Übergang von Au zu &*u, bemerkt Lagrange,
ist nicht auf ersichtliche und strenge Prinzipien gegründet, er ist
aber nichtsdestoweniger richtig, wovon man sich a posteriori zu
überzeugen imstande ist, und hängt mit der zwischen den positiven
Potenzen und der Differentiation einerseits, zwischen den negativen
Potenzen und der Integration andererseits obwaltenden Analogie zu-
sammen. Es wäre jedoch wohl schwierig, einen direkten analytischen
Beweis davon zu geben.
Betrachten wir, der Einfachheit wegen, den Fall einer einzigen
Veränderlichen. Da:
© 2
Ze Ziapol he 20 in Me
ist, so folgt:
(® — 1% = o(1+Anm +Bo?+.-.),
und hieraus durch logarithmische Differentiation:
( e” Er ar A+2Bo-+:::
PuleRE | oa) 1+40o+Bo?+---
oder:
1 ©
A+2Bo+--- 1 1 > ass eu
IF EBEN: Le ae 0 , @* £
we 31 ne era TER
woraus folgt:
') In der schon oben (S. 644) angeführten Abhandlung: Sur une nouvelle
espe&ce de calcul etc.
Differentiation und Integration. 697
h inR-+1 BEL 1?
AMT, B-5 = 4-;|-4t+5: en,
und:
1. 11 d**
Au rer n rye ER PR [+ Dar a. ee
Für negative Indices hat man dann:
i—1
4
a ’ 3
Zu; fudi ga fudrnt
es ist insbesondere für den Index — 1:
ZU= r ude + au + BET + Kin,
wo &,ß,... die Werte von A,B,... für 4= — 1 bezeichnen. Durch
diese Formel kann man die Summe einer Reihe angeben, deren all-
gemeines Glied bekannt ist.
Die Formeln von Lagrange sind von P. S. Laplace!) auf eine
andere Weise bewiesen worden.
Einiger kleineren Beiträge müssen wir hier Erwähnung tun.
Johann Friedrich Pfaff (s. o. S. 216) gibt in seinem Inau-
guralprogramm von 1788?) eine neue Methode zur Aufstellung der
Grundformeln der Differentialrechnung. Seinen Ausführungen liegen
die beiden folgenden Hilfssätze zugrunde: a) Sind x, y unabhängige
Veränderliche, P, @, P,, %, Funktionen von x, y, so folgt aus:
Pdz+0Qdy=P,dx + Q,dy
notwendig P=P,, Q=Q,; b) Sind X, Y ähnliche Funktionen von
x bzw. y, und ist X = Y, so folgt X = Y = const. — Will man nun
die Ableitung von logx ermitteln, so setze man —- =o(%);
folgt dann aus:
log (zy) = logx + logy
durch Differentiation:
play) (edy+ ydz) = yp(a)dz +yY(y)dy,
yplay) =Yp(a), zylay) = p(y),
also:
und hieraus:
') M&moire sur l’inclinaison moyenne des orbites des comötes,
sur la figure de la terre et sur les fonetions, Mem. Sav. Etr. VII, 1773
(publ. 1776); Oeuvres VIII, Paris 1891, p. 279—321. ®) Programma inau-
gurale in quo peculiarem differentialia investigandi rationem ex
theoria functionum dedueit; simulque praelectiones proximo se-
mestre hiberno habendas indieit J. F. Pfaff, Helmstädt 1788.
698 Abschnitt XXVI.
29 (2) = yg(y) — vonst,
oder p(x) = Ss Die Potenz x” und die Kreisfunktionen lassen sich
analog behandeln. Aber auch die soeben benutzte Formel:
d(ay) = ady + yda
kann durch diese Methode nachgewiesen werden. Es sei:
d(zy) = Pdx + Qdy,
P=o(2,y), %=yp(y, 2);
setzt man y+z=v, so ist:
wo:
ww=ay+%2,
also:
dzp(z, v) + (dy+ de) p(v, %)
= dap(a, y) + dyp(y 2) +dap (a, 2) + dzyp(z, 8).
Es folgt hieraus:
p(z, v) He p(%, Y) a p(z, 2), p(v, &) ao p(Y, %) u & (2, %),
also:
94 D)=v@), vWt)=rW)+u@);
aus dieser letzten Funktionalgleichung ergibt sich aber:
vy+)=VW)=VvVd)=O,
oder
v() Bone 0x,
daher ist:
d(xy) = C(ydz = xdy).
Setzt man schließlich y=1, so ergibt sich Ö=1, womit die
vorgelegte Formel bewiesen ist.
Man kann durch analoge Betrachtungen zur Taylorschen Reihen-
entwicklung gelangen. Setzt man dp(2) = v(z)dz, so ist:
dp(c+Yy)= va +y)(de+dy),
also:
0 0
va ty) ee Di nn
ER 2
ist umgekehrt — = yo folgt P=gp(x + y). Schreibt man dem-
nach:
A |
\) Pfaff schreibt n ee: 2 .d et DE
Differentiation und Integration. 699
gc+y)=r+tny+tRP+tRW +:
so hat man für y=(0:
ze p (X),
ferner:
ey + Y)
DIEB FDINT ;
ö
DE EINE ee
woraus folgt:
2 ’ 1 4 1 [24 h 1 ’ 1 [244
n=r=pyl@), mM-;5Pı =5P dh Buch 259 @),
und schließlich:
. y? ZZ
ya+W=- Pd) ++ tz rt
Andere, aber nichts wesentlich Neues enthaltende Beweise des
Taylorschen Lehrsatzes gaben Lhuilier'), Christoph Friedrich
von Pfleiderer (1736 —1821; s. o. $.28, 29, 35)?), Professor der Physik
und Mathematik an der Universität zu Tübingen, und Simon G@urieff
(1766—1813)°), Professor der Mathematik zu Petersburg. Lagrange‘)
brachte den Rest auf die nach ihm benannte Form; G. Fontana’)
dehnte die Taylorsche Formel auf Funktionen von mehreren Ver-
änderlichen aus.
Als eine Vervollständigung seines Lehrbuches der Integralrech-
nung kann man eine Schrift von Euler) ansehen, in welcher er eine ein-
1) A.2.0. ®) Theorematis Tayloriani demonstratio, Tübingen
1789. Es ist diese eigentlich eine Dissertation, welche unter von Pfleiderers Vor-
sitze von J. C.Harprecht und G. F. Seiz verteidigt wurde (s. 0.8.131). °)Obser-
vations sur le th6eor&me de Taylor, avec sa d&monstration par la
möthode des limites; application de ce th&or&me, ainsi d&emontre,
ä la d&monstration du binome de Newton, dans le cas oü l’exposant
est une quantite fraetionnaire, negative et incommensurable avec
l’unite; suivie de la resolution d’un probleme qui concerne 1a
möthode inverse des tangentes, par le moyen de ce th&or&me (1799),
Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797—98 (publ. 1805), p. 306—335. * Th.
des fonetions analytiques. 5) In Lotteri, a. a. O. 6) De trans-
formationefunctionum,duasvariabilesinvolventium, dum earum loco
aliae binae variabiles introducuntur (1779), M&m. Acad. St. Petersb. III, 1809
bis 1810 (publ. 1811), p. 43—56. Euler hatte in seinen letzten Lebensjahren der
Petersburger Akademie eine große Fülle von Abhandlungen vorgelegt; er hatte
auch den Wunsch geäußert, daß die Denkschriften der Akademie vierzig Jahre hin-
durch nach seinem Tode Schriften aus seiner Hand enthalten möchten (s. 0. S. 470).
Dieser Wunsch wurde pünktlich erfüllt. Euler starb 1783; und im Jahre 1830,
nachdem in allen von der Akademie herausgegebenen Bänden mehrere Abhand-
lungen von Euler aufgenommen worden waren, während andere ein besonderes
zweibändiges Werk ausgemacht hatten (Opuscula analytica, Petersburg 1783,
700 Abschnitt XXVI.
fachere Auflösung des folgenden Problemes entwickelt: Ist die Funktion
f(x, y) gegeben, und sind &, y bekannte Funktionen von t,«, so sollen
die Ableitungen jeder Ordnung von f(x, y) nach x, y durch t, u aus-
gedrückt werden.
Nicolao Colletti'), Geistlicher und Professor der Philosophie,
bemerkte die folgenden Analogien, die sich freilich aus der Definition
des Differentiales von selbst ergeben: Die m‘® Differenz von:
d(d+1)---(d+m-—1)
ist konstant; dasselbe findet für das m‘° Differential von:
x” aa” it... ta,
statt. Die m‘® Differenz der m*® Potenzen der natürlichen Zahlen
ist konstant; dasselbe geschieht vom m*®* Differentiale von x”. Die
m‘® Differenz von:
d(d+n)::-(d+m—1)n)
ist m!n”; das m‘ Differential von x” ist m!da”.
Zn Schlusse müssen wir einige Betrachtungen Eulers über
die unendlichkleinen und die unendlichgroßen Größen erwähnen?).
Euler bemerkt, daß es neben den unendlichgroßen Größen, welche
durch ganze und gebrochene Potenzen von x dargestellt werden, noch
1
andere gibt, deren Ordnung unendlich kleiner ist als die von x” für
jedes noch so große n. Eine solche ist logx, wie sich durch
L’Hospitals Regel nachweisen läßt; andere derartige Größen sind
log log x, logloglog x usw. Dagegen ist die Ordnung von a” größer
als die von «” für jedes noch so große n.
Das logarithmisch Unendliche nennt Fontana?) Arzt gi Or-
dinis semper infinitesimi oder infinitum paradoxum. Gre-
1785), enthielten die Archive der Akademie noch 14 ungedruckte Schriften,
die in einem Supplementband (Memoires XI) zusammen mit 4 Schriften von
Schubert und 13 von Fuß publiziert wurden. Selbstverständlich müssen wir
alle von Euler hinterlassenen Schriften als unserer Periode angehörig betrachten,
wenn sie auch viel später zum Druck gelangt sind.
! Colletti, Dissertazioni d’algebra, Torino 1787 (1. Dell’ uso dei
segni +, e — nel calcolo delle quantitä. 2. Consenso del calcolo differenziale col
calcolo delle quantitä finite. 3. Metodo per determinare nelle curve la ragione
delle coordinate, dalla ragione della differenza delle coordinate fra di loro, ovvero
dell’ una, o l’altra, o di amendue insieme coll’ arco corrispondente. Saggio nelle
sezioni coniche). ?®) Euler, De infinities infinitis gradibus tam in-
finite magnorum quaminfinite parvorum, Nova Acta Acad. Petrop. 1778,
P. I (publ. 1780), p.102-—118. °) Disquisitiones physico-mathematicae,
nunc primum editae, Pavia 1780. Disq. 13. De infinito logarithmico.
Differentiation und Integration. 701
gorio Fontana, geboren zu Nogarolo bei Rovereto in Tirol am
19. Oktober 1735, ein Mönch aus dem Orden der Scolopii, lehrte in
Sinigallia, wo die Freundschaft mit Giulio Fagnano (diese Vorl,
III, S. 485) die Neigung zur Mathematik in ihm erweckte. Im
Jahre 1764 wurde er Professor der Philosophie an der Universität
zu Pavia und Direktor der dortigen Bibliothek; vier Jahre später
wechselte er seinen Lehrstuhl mit dem von Boscovich (s. o. 3. 656)
freigelassenen der Mathematik und Physik. Im Jahre 1800 verließ
er die Universität als emeritierter Professor und zog nach Mailand
als Mitglied der legislativen Versammlung; früher war er von Napo-
leon zu einem Dezemvir der zisalpinen Republik ernannt worden.
Er starb zu Mailand am 26. August 1803%).
Genauer gesagt, nennt Fontana infinitum paradoxum das-
jenige, welches von einer unendlichkleineren Ordnung ist als das
„Unendliche erster Ordnung“ (1 +1-+:--: odr a+a+::-- oder
m oder =); er begründet die Existenz und bestimmt die Form
eines solehen Umendlichen auf folgende Weise. Setzt man:
1
147,
so kann y weder Null noch endlich sein, noch die Form . haben,
wo p endlich ist; es muß also notwendig sein:
1
RR RE
u a
wo » das infinitum paradoxum ist. Hieraus folgt:
4, nee
N logn = Fe he IE,
also p = logn.
!) In einem Dokumente derK. Polizeikommission zu Pavia liest man die folgende
Notiz über Fontana (Mem. e doc. per la storia dell’ Univ. di Pavia e
degli uomini illustri che v’insegnarono, Pavia 1877—78): „Fontana Gre-
gorio di Rovereto, delle Scuole pie, professore nella R. Universitä di Pavia, occulto
giacobino ed ateo anche prima dell’ ingresso dei Francesi in Lombardia, e
scellerato di professione, fu chiamato a Milano da Bonaparte appena giuntovi,
ove condusse seco certo Massa (rivoluzionario fuggito da Napoli), per la forma-
zione della costituzione cisalpina; avanti la resa di Mantova, e mentre si batteva
il Castello di Milano, intervenne ad un pranzo di molti Giacobini fattosi nella
sala di questo teatro, ove recitd alcuni suoi sonetti contro il pontefice da esso
chiamato Barionna, poscia si portarono tutti al Gravellona cantando canzoni
scellerate contro li Sovrani con gran scandalo del popolo; per di lui opera
furono impiegati l’Alpruni ed il detenuto Borletti di lui confidente, ed & noto
il pravo di lai genio dimostrato anche nel Corpo legislativo, di cui & sempre
stato individuo. Egli & a Milano.“
102 Abschnitt XXVI.
2. Integration.
Bei weitem länger werden wir uns bei der Integralrechnung auf-
halten.
Um systematisch zu verfahren, wollen wir den zu behandelnden
Stoff folgendermaßen einteilen:
. Prinzipien der Integralrechnung und verschiedenartige Fragen.
. Integration von rationalen Funktionen.
Integration von irrationalen Funktionen.
. Integration von transzendenten Funktionen.
Reihenintegration, angenäherte Integration.
Differentiation und Integration unter dem Integralzeichen.
Vielfache Integrale. |
aBsbanad>
A. Prinzipien der Integralrechnung und verschiedenartige
Fragen.
Vor allem müssen wir eine Schrift erwähnen, die alles in der
Integralrechnung früher Gemachte bekämpft, und eine Revolution in
diesen Wissenszweig bringen will. Daß aber das Interesse der Ab-
handlung nur im Namen des Verfassers liegt, einem Namen, der in
diesem Bande häufig vorkommen soll, wird der Leser bald von selbst
einsehen. ie trägt den Titel: Sur la mö&thode du calcul inte-
gral!) und rührt von der Feder Lamberts her. Nach Lambert
sind die Analysten, aus Ungeduld, neue Integrale zu berechnen, vor-
eilig, unsystematisch und sozusagen tappend fortgeschritten; man sollte
von vornherein nicht die Differentiale, sondern die Integrale klassi-
fizieren, und dann Symptome ableiten, nach welchen die Differentiale
klassifizierbar sein würden. Eine erste Klassifikation der Integrale ist
die in algebraische und transzendente. Eine algebraische Funktion
kann verschiedenen Typen angehören, von welchen Lambert die fol-
genden aufzählt: 1. Einfache rationale Funktionen, oder Poly-
nome; 2. Rationale Brüche; das Differential ist ebenfalls rational,
und sein Nenner ist, von eventuellen Reduktionen abgesehen, das
(Quadrat des Nenners des Integrals; 3. Wurzelgrößen; das Differential
enthält dieselbe Wurzelgröße, mit einem rationalen -Faktor multi-
pliziert; 4. Algebraische Summen von Wurzelgrößen; das Diffe-
rential zerfällt in mehrere Summanden; 5. Produkte und Quotienten
von Wurzelgrößen; 6. Summen von solchen Größen;
t. Produkte von Wurzelgrößen und rationalen Größen;
8. Summen von solchen Produkten; 9 Quotienten- von
solchen Summen, usw.
1) Hist. Acad. Berlin 1762 (publ. 1769), p. 441-484.
Differentiation und Integration. 703
Ein Beispiel mag die Anwendung dieser Klassifikation beleuchten.
Es liege ein rationales Differential vor, welches stets auf die Form:
dy= 7 da
gebracht werden kann, wo P, @ Polynome bezeichnen. Ist das Inte-
gral rational, so muß es die Form:
zZ
8
haben, wo z ganz und rational ist, so daß es der zweiten Klasse an-
gehört. Setzt man dann:
z2=4A+Bsae+0rf+---,
so wird man versuchen, die Größen A, B, ©... durch die Methode
der unbestimmten Koeffizienten zu erhalten; erweist sich das als mög-
lich, und ist nur eine endliche Anzahl von diesen Größen von Null
verschieden, so ist das Integral rational.
Was die nicht algebraischen Integrale betrifft, erkennt Lambert,
daß man den richtigen Weg eingeschlagen hat, da man mit den ein-
fachsten, durch Tabellen angebbaren Fällen angefangen und dann
versucht hat, die übrigen auf diese zurückzuführen. Es wäre aber
nötig, Reduzierbarkeitssymptome zu baben, aus welchen sich auch
die Reduktionsmethode ergeben möchte; und in dieser Hinsicht
schlägt Lambert eine Klassifikation der transzendenten Integrale vor,
auf welche wir unterlassen, näher einzugehen.
Aus dem schon oben angeführten Briefwechsel zwischen Lambert
und von Holland ergibt sich, daß sich auch der letztere um eine
Reform der Integralrechnung bemühte; so versuchte er (18. Juli 1765)
aus dem Verhältnis zweier Differentiale das Verhältnis der bezüg-
lichen Integrale herzuleiten, was ihm selbstverständlich nicht gelang;
später (6. Dezember 1767) zeigte er, wie sich alle Integrale der Diffe-
de ade a’d no —
rentiale nr i wu ; a ..., wo y= Vbx — 2°, durch eins derselben
ausdrücken lassen, und sagte, daß die Integralrechnung viel vollstän-
diger würde, wenn dies im allgemeinen möglich wäre.
Eine gründliche Erneuerung der Integralreehnung wurde auch
von Johann von Pakussi!) (oder Pacussi oder Pacassi, geboren
zu Görz im Dezember 1758, gestorben zu Wien am 8. Juni 1818,
Hofbaurat und Wasserbauinspektor) ersonnen. Er gibt diese Regel
') Pakussi, Abhandlung über eine neue Methode zu integrieren,
Wien1785.-- Versuch einer neuen Methode zu integrieren, Phys. Arbeiten
der einträchtigen Freunde (Wien) II, 1786. — Joh. Bernoulli in Lamberts
Briefwechsel III, p. 368—372. — Siehe die Einwürfe von L. Oberreit in Lam-
berts Briefwechsel V, p. 344 ff.
704 Abschnitt XXVI.
an: Liegt ein Integral f Pax vor, so quadriere man Pdx und teile
mit d(Pdx); dann setze man (man weiß nicht warum) dx? = zd?x;
das Resulttat ist der Wert des Integrales.. In Formeln:
A N
Pdz+Pda PI1Pxz
Für die Integrale:
[war + ady), ee
muß man auch die Relation dy’= yd?y berücksichtigen. Selbstver-
ständlich führt diese vermeintliche Integrationsmethode nur in ganz
besonderen Fällen zu richtigen Resultaten, und es ist sehr leicht, Bei-
spiele anzugeben, für welche sie nicht gelingt.
Samuel Vince (gest. 1821)!) gibt eine neue Methode, die er
continuation nennt, zur Herleitung von neuen aus bekannten Inte-
gralformeln; so z.B. drückt er:
f Bi ade N a" de ade rd %
Zara ae Vı — «®’
durch:
ns a de ne De
a” ur a+ ba" cam? 1— x’ e ed
aus,
Es gehören hierher vier Abhandlungen von Euler, welche
einige unbestimmte Fragen der Integralrechnung betreffen. ?)
Es seien?) einige, z. B. drei Funktionen », q, r von v gegeben;
man soll eine derartige Funktion x von v auffinden, daß pdx, gd«,
rdx& integrierbar sind. Setzen wir:
ae BE A
42%. a0 nd
nehmen wir ferner eine Funktion &” von v willkürlich an und
setzen:
# dx” 233% dx
CV = nie
I? = äg’ = dp ;
) A new method of finding fluents by continuation, Philos.
Trans. LXXVI, 1786, p. 432—442. °) Euler hat sich auch mit vielen anderen
analogen Fragen vom Standpunkte der Differentialgeometrie aus beschäftigt;
siehe Abschn. XXIV. °) Specimen singulare analyseos infinitorum in-
determinatae (1776), Nova Acta Acad. Petrop. II, 1785 (publ. 1788), p. 47 bis
56. — Solutio problematis ad analysin infinitorum indeterminatam
referendi (1781), M&m. Acad. St.-Pet. XI, 1830, p. 92—94.
Differentiation und Integration. 105
dann ist x die gesuchte Funktion. Es ergibt sich nämlich:
[pda = 0% — (zap = DE — [da = pa —K,
fadz = (8 — [xdq = gx — [ddr =q2 —g« + fa dg’
= q2 — ge + [da” =. — ge +,
[rdz = re — Iladr=rx — Irde =r2 — ri + [a dr
=-rı—rx + fr” da” - re — re +r — [a”dr"
- re re +r'x" — [da re — re +r a" —-.e”.
Euler berücksichtigt auch den Fall, in welchem verlangt wird,
daß einige der Quadraturen (pas, Sadz, ... bestimmten Typen an-
gehören mögen. Ein verwandtes Problem ist folgendes: Zwei solche
Funktionen g, z einer Veränderlichen ? zu finden, daß fadz algebraisch.
ist und ai = V?—1 sich durch einen Kreisbogen ausdrücken läßt.
Man nehme dazu eine willkürliche Funktion « von t, und setze:
du 0) 1
a Pe Eng VmSpdam pa — [rap pe —t,
dt
EEE _syitp,
e-Varr, gr,
dann findet man:
x ee 1 2
Jes- Ve, wet,
Man kann sich vornehmen‘), alle Differentiale d W zu bestimmen,
die mit zwei oder mehreren vorgegebenen Funktionen p, q,... multi-
pliziert algebraisch integrierbar werden. Für zwei Funktionen p, q
wird die Lösung des Problems durch:
dw — Pea@tv — dvd’d) + galdvd’p — dpd*o) + v(dpd?g — dgd?p)
(pdg — qdp)’ £
oder, nach der heutigen Schreibweise, durch:
Ei ing
x} ER | p g v Nr
| y’gv" q
') Euler, De formulis differentialibus, quae per duas pluresve
quantitates datas multiplicatae fiant integrabiles (1776), Nova Acta
Acad. Petrop. VII, 1789 (publ. 1793), p. 3—21.
706 Abschnitt XXVL.
gegeben, wo v eine willkürliche Funktion ist; man findet:
dv — vdp r gqdv—vdgq
dw =! ——-, fsaw-
J» pdq— gap’ pdq — qdp
Ein anderes Problem, dessen Lösung man Euler verdankt, ist
folgendes, welches in der Theorie der rechtwinkligen Trajektorien
einer Oberfläche vorkommt): Sind », q, P, @ Funktionen von 2, so
soll man eine solche Funktion IZ von x, y bestimmen, daß:
d _pde+Hgdy n-ı
1P+%
integrierbar ist.
Auch mit der Integration von Differentialen zweiter Ordnung
beschäftigte sich der unermüdliche Euler.) Er fand als die Inte-
grierbarkeitsbedingung für F Vap:
2Ndp+dM+rdN=0,
d Er y .
wo p= Tr V eine Funktion von x, y, p ist, und:
dAV= Mdx + Ndy+ Pdp,
und wandte das erhaltene Resultat auf die folgenden besonderen
Fälle an:
a) V=Px+ Qy, wo P, Q Funktionen von p sind; es muB
zwischen P und @ die Beziehung:
P+pQ+29=0
bestehen, worauf sich P durch Q oder Q durch P ausdrücken läßt.
b) V=(Mx+ Ny)Il, wo von den Funktionen M, N, II von p
die zwei ersten vorgegeben sind; man erhält:
C
H= KMHND
wo ( eine Konstante bezeichnet und:
Ndp
ER—) urn
1) Euler, Solutio problematis analytiei diffieillimi (1782), Mem.
Acad. St.-Pet. XI, 1830, p. 125—130. ?) Euler, De formulis differentia-
libus secundi gradus, quae integrationem admittunt (1777), Nova
Acta Acad. Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), p. 3—26.
Differentiation und Integration. 1707
c) V= (px — y)""4(Px + Qy), wo P, @ zu bestimmende Funk-
tionen von p sind; es ergibt sich:
P+pQ@+m+1Q=0.
d) V= (px — y)"-1(Mx& + Ny)II, wo M, N, II dieselbe Bedeu-
tung haben als unter b); es muß sein:
— C .
K"(M+Np)
II
Die Anwendung der Infinitesimalrechnung auf die Bestimmung
der Fläche eines sphärischen Dreiecks möge hier Platz finden. Der
Gedanke, die höhere Analysis auf die sphärische Trigonometrie anzu-
wenden, war nicht neu; Euler hatte sogar nachgewiesen, wie sich
diese ganz elementare Lehre aus den Prinzipien der Variationsrech-
nung herleiten lasse (diese Vorl., III?, S. 560, 867).
Kästner!) beschränkt sich darauf, die Fläche eines rechtwink-
ligen Dreiecks zu bestimmen, da jedes
Dreieck als die Summe oder die Differenz 2
zweier rechtwinkligen Dreiecke angesehen
werden darf.
Es sei (Fig. 78) AMP ein sphärisches
Dreieck mit einem rechten Winkel P;
der Pol von AP, D, muß auf der Ver-
längerung von MP liegen. Wir führen
durch D einen anderen, von DMP wn-
endlich wenig abweichenden größten Kreis Fig. 78.
Dmp, und durch M einen zu AP paral-
lelen kleineren Kreis MR. Dann ist MRpP das Element einer
Zone, und die Fläche von MRpP ist bekanntlich Pp-sin PM.
Setzen wir:
MAP=« AMP=ß, AP=,, cos AP=3;
5
8
r
”
dann ist:
Pp=— BEL t
Yı-z„ tang PM =sinytange, cosß — cosy sing,
also
sinPM—- _V!-"tange _Yi-zsina
ind: Vv1+(1—2) tang «°? V! — z*sin «®’
') Dissertationes mathematicae et physicae. Diss. IX. De quae-
stione, quot sphaerae aequales inter datam mediam poni possint, ut omnes illam
et eircumpositarum sibi vieinae, se mutuo tangant (p. 62— 75).
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 46
,
108 Abschnitt XXVL
dz sin «&
ee Vi -— 2? sin «a?
Es ist aber:
MRpP=MmpP=d:. AMP,
folglich:
AMP = const. — arc sin (cos 7 sin «),
und nach Bestimmung der willkürlichen Konstante:
AMP=«-—.aresin (oosnsine)=«+ B-7-
An einer anderen Stelle!) beschreibt Kästner Girards Ver-
fahren zur Bestimmung des Inhalts eines sphärischen Dreiecks mit
dem Zusatze, es sei sonderbar, daß hier Girards „Scharfsinnigkeit“
die Rechnung des Unendlichen übertreffe.
Dagegen behandelt Jean Paul de @ua de Malves (diese Vorl.,
III, 8. 576)?) direkt das allgemeine Dreieck. De Guas Verfahren
kann in der heutigen Bezeichnungsweise wie folgt geschildert werden.
Es sei (Fig. 79) ABC ein sphärisches
Dreieck, AC’ ein zu AC unendlich nahe
liegender, gleichlanger Bogen; man nehme
auf BC den Bogen BD= BC’, und ziehe
die zu AC bzw. BC senkrechten Bögen
von kleineren Kugelkreisen CC’, OD. DBe-
zeichnet man durch © die Fläche, durch
a,b, c, U, 8, & die Kosinusse der Seiten
und der Winkel des vorgegebenen Drei-
C ecks, so ist:
a
C’ — dS = Fläche BCC’ — Fläche A0C,,
Fig. 79.
oder auch, durch Vernachlässigung einer
unendlichkleinen Größe zweiter Ordnung:
— d© = Fläche BO’D — Fläche AC’C.
Es ist auch:
da
CD=d-arecst=—
ı) Kästner, Geometrische Abhandlungen II, Göttingen 1790, 8. 424.
2») Diverses mesures, en partie neuves, des ajires sphe@riques et
des angles solides, triangulaires et polygones, dont on est suppose&
connaitre des el&emens en nombre suffisant, avec des remarques
qu’on croit pouvoir contribuer ä simplifier les integrations de
plusieurs &quations differentielles & inconnues actuellement se&-
pardes, Hist. Acad. Paris 1783 (publ. 1786), p. 344—362.
Differentiation und Integration. 109
‚ So u We A
UD=CD-.tangl’CD= CD eotg AOD = rn 1 U
Co A TE Kinn
Br cos CD u sin ACD ea 1721 BR E?yı DEREN
Ferner ist sn ACO—=Y1-—b? der Radius des Bogens CC’, also:
wu, da
Vi V1- «yı— byi—c®’
andererseits ist bekanntlich 2x sinvers AC oder 2x(1 — b) die Fläche
der Kugelkalotte, deren Differential das Dreieck ACC ist, also:
ö : (1—b)da
= —— nd EEE eur ee
Fläche ACC’ = (1—b) (’AC Yi a 1-Byi_ ©
Man findet analog:
. ' d—a)Cda Cda
BED. —5” |
Asche V-eyi-efi-® dtayı®
Hieraus folgt:
= Cda ie (1 —b)da ®
A+a)y1—- yı-ayiı—- bWyı —&
Es ist aber wegen bekannter trigonometrischer Sätze:
ee ee RD
Vi-ayıp
[- &-VÜZDU-B-LR Zah? _Vizw-B—etiad:
Khza Vi1- a!yı 9 Vı—- ayı -# ’
also:
— _t—abda , d—bda _ da (b+dda
a wassıt, © Ta d-tead’
wo:
d-yl-®-#—- + 2abce=- VI ai — 5°) — (c — ab)2.
Nun ist, da nur a verändert worden ist, während b und c kon-
stant bleiben:
da
en Der zieren as junger
ö ln Gi d are cos Veräng ET nam a dare cos,
Ale)
dS = dare cos A + ee
Um das zweite Differential zu integrieren, erwägen wir folgendes.
Enthält dS den Summand d are cos YA, so muß es der Symmetrie
wegen auch dare cos® und dare cos & enthalten; es ist aber:
46 *
710 Abschnitt XXVI.
b—ca (e— ab)da
—dBdB=—d ==
we vi-&A-ad) VU-HA-dAL— an’
und analog:
s ee (b — ac)da
vya—-byA—-aNı — a9’
also:
dare cos®B = Tune dare cosC = et
darc cosB + dare cos — rd
und endlich:
dS = darc ecosA + darecos®B +darecsC =d(A+B+C),
oder:
S=-4A-+B-+HÜ+ const.
Zur Bestimmung der Integrationskonstante muß man bemerken,
daß für A+B+ (0 = - die Fläche des Dreiecks — ist. Es ergibt
sich hieraus:
const. = — z,
und schließlich:
S=-A+B+(Ü-—n.
B. Integration von rationalen Funktionen.
Diese Aufgabe war schon früher von Leibniz und Johann
Bernoulli (diese Vorl, III, 8. 272 ff.) vollständig aufgelöst worden.')
Es blieb also nur noch übrig, neue und elegantere Integrationsmetho-
den aufzustellen, und besonders interessante Spezialfälle zu behandeln.
Es möge uns daher erlaubt werden, auf die bezüglichen Schriften nur
ganz kurz hinzuweisen.
Von Fontana?) haben wir einen neuen Beweis des Cotesschen
Satzes und die Anwendung dieses Satzes auf die Berechnung des
N dz
Integrale |-
ntegrals (m kam)
') Freilich mußte dazu die Auflösbarkeit jeder algebraischen Gleichung
postuliert werden, während die bezügliche Frage damals noch nicht gelöst
worden war, was Euler in seiner Integralrechnung (I, p. 34) ausdrücklich
betont. Er fügt aber hinzu: „Hoc autem in Analysi ubique postulari solet, ut
quo longius progrediamur, ea quae retro sunt relicta, etiamsi non satis fuerint
explorata, tanquam cognita assumamus“., ?°) Analyseos sublimioris opus-
cula, Venedig 1763 (Op. 1. De formularum quarumdam trigonometricarum
integratione. Op. 2. De theoremate Rogerii Cotes, ejus usu, utilitate, praestantia.
Op. 3. De invenienda formula radii osculatoris in curvis ad umbilicum relatis
ex data formula ejusdem in curvis relatis ad axem, eruendisque inde curvarum
evolutis).
Differentiation und Integration. 711
Am Ende des ersten Bandes seiner noch oft zu erwähnenden
Mathematicalmemoirs (zwei Bände, London 1780 und 1789) veröffent-
lichte Landen (selbstverständlich mit den Bezeichnungen der Fluxions-
rechnung) ein sehr ausführliches Verzeichnis von Integralen, welche,
nach seiner Angabe, größtenteils neu sind; es kommen hier aber
auch die ganz bekannten rationalen Integrale:
Saraz, Sta + bar)par-1az
usw. vor.
Francesco Pezzi (s. o. S. 448), Genieoffizier und Professor der
Mathematik an der Universität zu Genua, gab in den Memorie di
matematica e fisica della Societä italiana delle seienze zwei Abhand-
lungen!) heraus, in welchen er sich vorsetzte, die Integrale:
(A+ Ba2)dz : # x !dz
(a? — 2abz cosp + b?z3)P ? (a+bxc-+ ca?
+egdz +94%
(a+bz+ ca? + fax?)P r +bxz+ca2?+ fx?’ + hat)?
ohne Hilfe von Rekursionsformeln zu berechnen.
Euler?) zeigte, wie man eine rationale Funktion ohne den Ge-
brauch von imaginären Größen integrieren kann, und wandte seine
Theorie auf das Integral / re an, wo P ein Polynom bedeutet,
und:
1 22%
oder:
9=1+2X8%cosn +x%
ist. |
Andererseits lehrte Euler), wie nützlich. die Einführung der
‘) Ricerca sopra l’integrazione sviluppata in una serie finita
(A+ Bz)dz
della formola (a — 2abzcosp + bizd# essendo p un numero qua-
lunque intero, Mem. Soc. It. IV, 1788, p. 577—588. — Integrazione in
serie finite delle formole
xt !dx xt rdx xt ?dx
(a+ba+ca)?" (a+batcatfeP’ (atbaetea fe hei’
essendo peg de’ numeri qualunque interi, Mem. Soc. It. VI, 1792, p. 256
bis 308. ®) Nova methodus integrandi formulas differentiales ratio-
nales sine subsidio quantitatum imaginariarum, Acta Acad. Petrop.
1781, P. I (publ. 1784), p. 3—47. — Siehe auch: De resolutione fractionum
compositarum in simpliciores (1779), M&m. Acad. St.-Pet. I, 1803—1806
(publ. 1809), p. 3—25. %) De integrationibus maxime memorabilibus
ex calculo imaginariorum oriundis (1777), Nova Acta Acad. Petrop. VII,
712 Abschnitt XXVI.
imaginären Größen bei algebraischen Integrationen ist. Es sei:
v- [Zds,
wo Z eine Funktion von 2 ist; setzt man:
z=2+iy, Z=M+HiN, V=P+ig
so ı1st:
P+iQ - /(M + iN)(dx + idy),
also:
P- [(Max— Nay), Q-/(Ndz + May).
Die Integrierbarkeitsbedingungen für diese Ausdrücke sind:
DM 0oN öN_oM
u I’ 94 908’
und man hat:
aD _ 29 an en
0% y’ Be:
Euler verifiziert diese Beziehungen an einigen einfachen Inte-
ogralen von rationalen Funktionen, und macht davon eine Anwendung
m—1i
auf die Berechnung von f Tr für z=v(cosp+isinp). Wird
ferner zwischen & und y eine Beziehung vorausgesetzt, so verwandeln
sich P und Q in Integrale einer einzigen Veränderlichen; läßt sich
dann V leichter als P und Q auswerten, so hat man in der Zer-
legung von V in seinen reellen und imaginären Bestandteil ein Mittel,
den Wert von P und @ zu erhalten. Es sei z.B.:
1789 (publ. 1798), p. 99—133. — Supplementum ad dissertationem prae-
v m—1
cedentem, circa integrationem formula | ei A casu quo ponitur
z=v(cosp + ising), ebenda, p. 134—148. — Ulterior disquisitio de for-
mulis integralibus imaginariis (1777), Nova Acta Acad. Petrop. X, 1792
(pabl. 1797), p. 3—19. — De insigni usu calculi imaginariorum in calculo
integrali (1777), Nova Acta Acad. Petrop. XI, 1794 (publ. 1801), p. 3—21. —
De integrationibus difficillimis, quarum integralia tamen aliunde
exhiberi possunt (1777), Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797—1798 (publ.
1805), p. 62—74. — Auf die beiden ersten Abhandlungen bezieht sich die
Schrift von Fuß: Enodatio diffieultatis ab Ill. Eulero in dissertatione
deintegrationibus memorabilibus ex calculo imaginariorum oriun-
dis geometris propositae (1790), Nova Acta Acad. Petrop. VII, 1789
(publ. 1793), p. 175—188.
1) Es ist fast überflüssig, daran zu erinnern, daß diese Gleichungen viel
später die Grundlage der Cauchy-Riemannschen Funktionentheorie ge-
worden sind.
Differentiation und Integration. 713
m—1
Jar
setzen wir 2= v(cos® +isin®), und betrachten # als konstant (was
mit der Voraussetzung x — const. gleichbedeutend ist); es ist dann:
de _ dv
2 07 |
a+ ber = a + bo" cosn® + ibv" sinn$ = s(cosp +isinp),
wo:
bv" sinn®
= a? + 2abv" cosnd + b?v?”, tangp=_ en n9’
folglich:
v - 7 [eos (m® — Ap) + i sin (md — A9Q)].
S
Es ergibt sich aber aus den obigen Beziehungen:
in asing _. asinnd
nnd gg’ ° innd—g’
also:
m
oo» is er
T gen sing" sn(n®—gp) " cos(md — Ay)dp,
nb" sinns?-!
all, RR zur.
= — sing" sinn®—g) " sin(m® —Agp)dy.
nb" sinns*!
Ist insbesondere } = 7) ,‚ so verwandelt die Substitution:
ei
(a + be") "
das Differential dV in ein rationales Differential; es ergibt sich
nämlich:
rat
Fe
Man hat andererseits in diesem Falle:
en m
siınpr cos (m# _ — o)
P= = "14
m m] sin (n® — p) P)
nb” sinn®#"”
') Für ein gebrochenes 4 gehört das Integral V eigentlich nicht hierher;
wir behandeln es aber des Zusammenhanges wegen an diesem Orte.
714 Abschnitt XXVI.
A m
sing” sin (md — 9)
0m 1 N Ze
m Mi. 2 sin (n®# — 9) 9
nb” sinn®#”
setzt man = no und bezeichnet mit «, ß, y, Ö konstante Größen,
so nehmen diese Integrale die folgende Form an:
(1) ; do «ein mo 4 Pos mm
n-m ysinno-— dcosno
sınna NR
Es ergibt sich also der Satz, von welchem Euler auch einen
direkten Beweis liefert: Jedes Integral vom Typus (1) ist durch ele-
mentare Funktionen ausdrückbar. Der Satz läßt sich wie folgt ver-
allgemeinern: Sind P, @ rationale Funktionen von x”, so ist:
pet #7 a
m
(a + bar)n
integrierbar; sind P, Q rationale Funktionen von sin2no, cos2no,
so ist:
dx
J (P sin mo + Q cosmo)d- sinn®*
integrierbar.
So nützlich aber die Theorie der imaginären Größen sein möchte,
so konnte sie nicht umhin, bei der bisher erreichten unvollständigen
Entwicklung, zu Paradoxen zu führen. So warnt d’Alembert!'), daß
man vorsichtig verfahren muß, so oft man mit imaginären Größen zu
tun hat. Es ist z.B.:
du du 1 Se 1-+ ui
= -/; iWd-ie) Tr ı. ring en) ar
Setzt man u=iv, so folgt übereinstimmend:
du i dv i 1+v 1— wi 1 1-+ wi
et HIT DT - ze; = en
setzt man dagegen u = — iv, so hat man:
du ; dv. 1+v
a,
woraus sich nur dann das frühere Resultat wiederum ergibt, wenn
statt v nicht — iu, sondern iu gesetzt wird.
ı) Opuscules math&ematiques, T. VI, Paris 1773 (Remarques sur le
m&moire: Suite des recherches sur la figure de la terre).
u nn
Differentiation und Integration. 115
Zu analogen Betrachtungen gibt das von d’Alembert schon
früher (Suite des recherches sur la figure de la terre) berück-
sichtigte Integral: }
rs ©»
d d
is aaa Nach d’Alembert ist Isar, nicht = Va , son-
dern = a denn Yx?— 1 positiv genommen ist gleich iV1 — a?
zu —
positiv genommen. Man könnte auch setzen:
Ve-1=-iVi-e;
dann wäre:
- vis
if. VE og IS
u 5 i i :
0
also:
> via
/ Via? 5 i en
log HI IE,
ein Resultat, welches mit dem unter der Voraussetzung:
V®—l=iy1-—a:
erhaltenen übereinstimmt. Dazu bemerkt Giuseppe, Contarelli in
einem viel längeren Brief, als es der Gegenstand verdiente‘), daß die
letzte Gleichheit unrichtig ist, und daß —1___ gieht gleich
* ic + V1— x?
%r 4 — @°, sondern gleich ie +iV1— a2) ist. 2)
C. Integration von irrationalen Funktionen.
Die Integration der einfachsten irrationalen Funktionen war seit
der früheren Periode her schon bekannt. Euler und seine Schüler
') Lettera del sig. Abate Giuseppe Contarelli al Sig. Avv. Paolo
Cassiani pubblico professore di filosofia e matematica nell’ Uni-
versitä di Modena, Nuovo Giorn. lett. It. (Modena) XIV, 1778, p. 237—262.
®) Über die Integration rationaler Funktionen siehe auch den Aufsatz von
Jacopo Riccati: Dei polinomi (Opere del conte Jacopo Riccati, 4 Bde.,
Lucca 1761—1765, Bd. II, p. 67—78), der aber schon früher in den Institu-
zioni analitiche von Maria Gaetana Agnesi (1748) gedruckt worden war.
716 Abschnitt XXVI.
beschäftigten sich damit, neue Differentialausdrücke direkt zu inte-
grieren oder auf schon behandelte Typen zurückzuführen. Aus dem
IV. Bande von Eulers Integralrechnung und aus dessen weiteren
Schriften entnehmen wir die folgenden:
a)1) /f(a, s)da,
wo f eine rationale Funktion bezeichnet und:
Vi oder s-Va+bVf ge
29) Iran, 2%
-1 a-+ ba" Li. n 2n
-VrS oder s= Ya + bar + car.
2+1
: FE ee Lea") ® n de
ec) ) Ta Bad ?
wo ı ganz, A ganz oder gebrochen ist.
d)*) ar ide
m?
(fa" — g)[r? a" — (fa — 9)?”
wo m, A, n ganze Zahlen bezeichnen, durch die Substitution:
%
ne
[I a*” a (fa” BR AR ah
)Supplementum calculiintegralis pro integrationeformularum
irrationalium, Acta Acad. Petrop. IV, P. I, 1780, p. 3—31; Inst. cale. int. IV,
p: 3—31 (unter dem Titel: De integratione formularum differentialium
irrationalium). au ®) De integratione formulae
deyıta*
1—- at °
aliarumque ejusdem generis, per logarithmos et arcus circulares,
M. S. Acad. exhib. 1776; Inst. cale. int. IV, p. 36—48. *) Memorabile genus
formularum differentialium maxime irrationalium, quas tamen ad
rationalitatem perducere licet, M. S. Acad. exhib. 1777; Inst. calc. int.
iD. er — Specimen integrationis abstrusissimae hac formula
ir 2 Var contentae (1777), Nova Acta Acad. Petrop. IX, 1791 (publ.
& u” —
1795), p. 98— 117.
Differentiation und Integration. 117
a pn (1Fx%)?dx Er
J ALNALsR+zYt
Setzt man für das obere Vorzeichen:
1 +6’ + =, p=-!T8, a-'—,
so folgt:
p+a-2, de",
also:
aprge@?
ar. v _ 4(p—gq)p? g’da _ 4p°’g?dx 4p?g?’dz
te +N) v’ip'—gN) v(pi—g) vi(p!— 49)
_ 2p?dp 2g°dgq
‘4 Br 9%. ee g* ’
wonach sich die Integration unmittelbar ausführen läßt. Für das
untere Vorzeichen kommt man zum ersteren Falle durch die Substi-
tution <= iy wieder.
‚ 3 + x.M)dx
um ze ® R
A+a)(+60°+ 0) 4
Setzt man:
1+y
1—y
—1,
so folgt:
v-2| (= ER + le ar rr+e
Durch die Substitutionen:
Er. ve t, Yıty en
u”du
Pl _9? ang BELDE
g)°) Eine Verallgemeinerung von f) bilden die zwei folgenden
Integrale:
erhält man:
‘) Integratio formulae differentialis maxime irrationalis,
quam tamen per logarithmos et arcus circulares expedire
liceat (1777), Nova Acta Acad. Petrop. IX, 1791 (publ. 1795), p. 118—126.
”) Evolutio formulae integralis J er
d+2)Yı+62+ 2%
rithmos et arcus circulares, Nova Acta Acad. Petrop. IX, 1791 (publ.
1795), p. 127—131. ®) Formae generales differentialium, quae etsi
nulla substitutione rationales reddi possunt, tamen integrationem
per logarithmos et arcus eirculares admittunt (1777), Nova Acta Acad.
Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), p. 27—77.
per loga-
718 Abschnitt XXVI.
M = JO In" M(A07" + Ba'")de
v"(0E"+ Dn”)
v_ [rar mL Bı"")dz
&n(c&" + Dr")
’
,
wo:
b=a+ym n—=ß+ön v=Yala+ yay'+b(B + da)",
und A, B, ©, D rationale Funktionen von (&)" sind. Setzt man:
u Pr sad &,
so folgt:
7 | n—1 m—1
u S u"idu : 1 7 Bu du =
j ah it + Dy(au" +b)n |
2% _(M, r M,),
a 1 (so Senne 47a |
reed = Cu” +D |
1
us: ae Fe N;),
wo A, B, C, D rationale Funktionen von u” sind. Wendet man dann
auf M,, N, die Substitution:
(au” + b)
auf M,, N, die Substitution:
1
n
U
=t
1
(au" +5)”
an, so ergibt sich:
dA ae ArN 2
— JaD-vcrHror, HT IR ZdYaD-I0H OR)’
Be’ 12)
M, = DLC-aD)i"? ne
S
wo A, B, C, D rationale Funktionen von ?* sind.
ne er Sys
") Integratio suceincta formulae integralis maxime memorabilis
dz
(1777), Nova Acta Acad. Petrop. X, 1792 (publ. 1797),
+2) Yı + 32°
Differentiation und Integration. 719
Setzt man für das obere Vorzeichen:
”=1+ 32, p-'t?, „tt,
so folgt:
2x(3 u 4
P+fP=2, „Pete, P-4-5,
v’d v?d
dam — a - a
also: i
92 ER
r 35t = Be,
und:
et Gere 2 ARROERR 3 Du k L OMENRRRRN..
Er 2(p° — q°)v? 2(p° — q°) 4(p® — 1) a. {a u.
Für das untere Vorzeichen setzt man x = iy.
Andere spezielle Integrale wurden von Andreas Johann Lexell
(s. o. 8.383) und von Etienne Rumowski (1732—1812, Schüler
von Euler, Professor der Astronomie zu Petersburg und Verfasser
eines in russischer Sprache erschienenen Lehrbuches der Elementar-
geometrie) berechnet:
))) r-[ tr EUREN >
(1— am)" Vaa" — ı
Schreiben wir:
dx ride
daV= PRIEENEEBL ver —
(1 a”) Yaar — 1 (1 a”) Vaart — 1
und setzen wir im ersten Integral:
RUE N
v2 a1
x 9
ım zweiten:
FERIEN
VPer—i1=z,
so erhalten wir:
EU ya ?dy gm—2 7,
Kr er) REaREe ur
9 = Ye ntde
p- 20—26. — Siehe auch: Rumowski, Integratio formula
dz
e
Ir — 2) Y 1+2?
aliarumque nonnullarum (1795), ebenda, p. 126—136.
) Lexell, Integratio formulae cujusdam differentialis per
logarithmos et arcus cireulares, Acta Acad. Petrop. 1781, P. II (publ.
1785), p. 104—117. ”) Rumowski, Integratio formularum
120 Abschnitt XXVI.
Dureh die Substitutionen:
V:’ —y3 _Vas®—1—Y3
ra PER
zer ve: 22 Var-ırys
erhält man:
83 2dz
23
10 36 2°dz _9e’de(V3 — VYAz®— 1)
4. (VE FH Ya 1) ... E-aR—1)
_9 sl +229)dz 93 2°dz
2 1—2)Aaz—1)) 2% 1 PyYar—ı
Um dieses letzte Integral zu berechnen, setze man:
Yı+w
"are 3
man hat:
9 y3 sd 1 Vıtudu er
a" (1 29)? Yaz°—1 FIRE S U % u? #
Das erste Integral wird durch die Substitution v— Yl-+ u®
rationalisiert (man erhält BR, das zweite geht durch die Sub-
stitution = in das erste über.
k)!) re avIFE
Durch die Substitution:
wo v3; a ?)
ergibt sich:
u ee u.
ER 2973 ;
@ nn rer ye|;
d Yı .
dx N % A
(1+2)Yı a? 1+%
(1795), Nova Acta Acad. Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), p. 213—219.
dz
8 — 2) Yı1+ 2°
nonnullarum, Nova Acta Acad. Petrop. X, 1792 (publ. 1797), p. 126—136.
?) Rumowski bewerkstelligt diese Substitution in drei Schritten, nämlich:
Vits=ta t=VYi—3y+3y%, 9-7 er
) Rumowski, Integratio formulae aliarumque
-H
Differentiation und Integration. 121
von diesen Integralen läßt sich das erste durch die Substitution:
an ag
berechnen, während das zweite in das erste durch die Substitution
ie übergeführt wird.
U
Noch andere, aber nichts wesentlich Neues darbietende Integrale
finden sich in dem oben angeführten Anhange zum ersten Bande der
Mathematical Memoirs von Landen.
Der unten noch öfters zu erwähnende @. F. Fagnano gab‘) einen
neuen Beweis des Satzes, nach welchem sich die Integration von
"dx
(c-+ ex)?’
auf diejenige von
wo m und n beliebig sind, p aber ganz und positiv ist,
a .. zurückführen läßt.
c-+ex
Eine Bemerkung Eulers?) verdient, trotz ihrer Einfachheit, her-
vorgehoben zu werden. Nicht alle Integrale, die durch elementare
Funktionen ausdrückbar sind, lassen sich durch eine Substitution
rationalisieren; es kommt zuweilen vor, daß ein Integral sich in eine
Summe von Integralen zerlegen läßt, deren jedes einer besonderen
Substitution bedarf, um rationalisiert zu werden. Dieser Umstand ist
in den oben behandelten Integralen wiederholt vorgekommen; ein
weiteres Beispiel ist:
a b €
Myte*vrstvra"
Auch die binomischen Integrale:
au
Sam-1(a + bar)’ da
waren schon von Newton (diese Vorl, III, S. 185—186) behandelt
worden; er hatte die beiden Fälle erledigt, wo — oder — + r ganz-
zahlig ist. Euler?) setzte sich vor, die Integrierbarkeitsfälle direkt
aufzufinden; er kam selbstverständlich auf die zwei Newtonschen
Fälle, und fügte hinzu: „Faeile autem intelligitur alias substitutiones
huie seopo idoneas excogitari non posse“. Es sollte aber noch ein Jahr-
hundert dauern, bevor diese Behauptung bewiesen werden konnte.‘)
Auf die binomischen Integrale bezieht sich das Schriftchen:
) Theorema caleuli integralis, N. Racc. d’opuscoli seientifici e filologiei
XXIL, 1772, op. II. 2) Supplementum caleuli integralis ete. (s. o. S. 716).
— Specimen integrationis etc. (ebenda). ®) Inst. calc. int. I, p. 67.
#) Bekanntlich wurde der Beweis zuerst von Tehebycheff erbracht (J. de Liou-
ville XVII).
7122 Abschnitt XXVI.
Dissertatio de comparatione fluxionum binomialium quam praeside
F. Mallet... pro laurea publice examinandam sistit Andreas Hulten
(Upsala 1785).
Karsten!) versuchte, die Integrationsmethode der binomischen
Differentiale auf polynomische zu erstrecken. Ist:
dy = x" da(a + ba” + cap,
so kann man schreiben:
m—p m+i1 m+tnp+tn+1l m+2np+2n+i\p
RB es Br en RR )
Setzt man:
m+1 m+np+n+i1 m+2np+2n+1
1 1 1 Z
axrtı! - ba Pr +ex » =%£,
so folgt:
m— m+np+n-—p
ac rg ot tet, 2.
p+1 p-+1
m+2np+2n—p
ME IOHIRTT nr E
+c Sa dx = dz,
und hieraus:
m—p m+np+n—p
BE Su ul, bmtnptnti, nrn2teeN
gp+idg am+ı) pr Er p+1 dx
ec m+t2np+2n+1 en
a m+1 '%,
folglich:
pri m+nptn-p
: dee red net ne ee
m+2np+2r—p
e m+?2np+2n+1 7
2: a m+1 e er er RerTih
y a et t famtn(a + bar + ca?"pdzx
In RE (ara + bar + ca®?")pda.
Auf gleiche Weise fährt man fort; bricht die Reihe nicht ab,
so erhält man dadurch einen angenäherten Ausdruck für das Integral.
Die polynomischen Differentiale lassen sich analog behandeln.
Mit der Integration der polynomischen Differentiale beschäftigte
!) Mathesis theoretica elementaris etc., $ 380.
Differentiation und Integration. 123
sich auch Carlo Francesco Gianella!) (s. o. 8.681). Er be-
handelte das Integral f: x" X"dx, wo:
X= far tga” ha” +, m>m>m’>:.-- für r>0;
Xeftga" ho” +..., m<m <--- für r<O,
und suchte erstens hinreichende Bedingungen dafür aufzustellen, daß
die Integration in geschlossener Form ausführbar sei, zweitens die
Gesetze zu bestimmen, denen die Koeffizienten der Reihe gehorchen,
durch welche das Integral im allgemeinen ausdrückbar ist. Daß aber
die von ihm angegebenen Bedingungen nicht hinreichend sind, läßt
sich leicht ersehen.
Lacroix?) bemerkte, daß einige Integrale, wie z. B.:
it
Jar-taa (a+ bar + ca" +...)?,
Rekursionsformeln zulassen, welche den für die binomischen Integrale
geltenden analog sind, und daß sich andere auf mehrere aufeinander-
folgende binomische Integrale zurückführen lassen. Es finden sich
auch Rekursionsformeln bei Fontana?) (s. u. $. 725), Lorgna®) und
Frisi?).
Es mögen schließlich einige Untersuchungen von Condorcet‘)
kurz erwähnt werden, welche eine größere Tragweite haben. Unter
den von Condorcet aufgestellten Sätzen heben wir den folgenden
als Beispiel hervor:
Ist:
Ay" + Ay =,
wo A, eine ganze rationale Funktion von x vom i'® Grade bezeichnet,
so läßt sich das Differential ydx auf die Form Pdx + Qdy bringen,
wo P, @ rationale Funktionen von z, y sind, und Pdx + Qdy ein
exaktes Differential ist; unter denselben Voraussetzungen läßt sich
eydxz auf die Form eines exakten Differentials & (Pdx + Qdy)
bringen.
Es ist aber zu beachten, daß Condorcets Beweise sich einzig
und allein auf die Abzählung der Konstanten stützen, eine Beweis-
) De integratione indefinitinomii, Misc. Taur. IV, 1766—1769, P. II,
p- 253—271. — De fluxionibus earumque usu, Mailand 1777, 8 68 ff.
*) Traite de caleul diff6rentiel, Art. 395 ff. ®) Analyseos subli-
mioris opuscula, Venedig 1763, Op. I. *) Opuseula mathematica et
physica, Verona 1770, Op. V. 5) Pauli Frisii Opera, Bd. I, Mailand 1782.
6%) Theor&mes sur les quadratures, M&m. Acad. Paris 1771 (publ. 1774),
p. 693— 704.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 47
124 Abschnitt XXVI.
methode, die bekanntlich niehts weniger als sicher ist. Das ist frei-
lich dem Verfasser selbst nicht entgangen. Er bemerkt nämlich, daß
die Unmöglichkeit, die Anzahl der Koeffizienten größer zu machen
als die der Gleichungen, die Unlösbarkeit der Aufgabe nicht not-
' wendig nach sich zieht, und verspricht, in einer späteren Arbeit eine
Methode anzugeben, welche in denjenigen Fällen, in welchen die
frühere versagt, zu genauen Ergebnissen führt. Auch Lagrange,
in einem an Öondorcet gerichteten Schreiben vom 1. Oktober 1774"),
erhob einige Bedenken gegen die Methode von der Konstantenabzäh-
lung, deren Unsicherheit er durch ein Beispiel nachwies.
D. Integration von transzendenten Funktionen.
Die Integration der transzendenten Funktionen war in unserer
Periode Gegenstand zahlreicher Untersuchungen.
Gleich am Anfang finden wir bei Karsten?) neben den Inte-
gralen:
far log a” dx, [verda, [eos «« sın Badz
noch einige andere, wie:
n
1 de ' e ewszsinzd«
fin log 4 je COSCALX, f ee usw.
e
In drei Briefen aus den Jahren 1760—1764 stellt V. Riccati
die folgenden Formeln auf?):
( m Jcosp"dp = (m — 1) feos gm-2dy + 08 p""'sin p,
m |sin g"dp = (m — 1) /sin gr-?dp — et 1cosy,
| (m + n) fsin g"=lcosp"t'dp
” — m | sin p""!cos g""!dp + sin 9" cos",
.(m-+ n) f eos p”=!sin p"+!dp
| N [eos p”"=!sin p"=Idp — cos p” sin g".
Riecati bemerkt, daß die ersten zwei Formeln den Wert von
1) Oeuvres XIV, Paris 1892, p. 29—30. 2) Mathesis theoretica ele-
mentaris etc., $ 400 ff. 5) Epistolae tres, quibus utilitas calculi
sinuum, et cosinuum in infinitesimorum analysi demonstratur,
Comm. Bon. V, P. II, 1767, p. 198—215.
Differentiation und Integration. 125
12 Je: nieht liefern können; er berechnet diese Integrale auf
osp’,/sing
anderem Wege, und beweist, daß seine Formeln mit den Eulerschen'):
dy 7 p dp
fer = log tang (Z + *) , Me gg log tang *- 2
übereinstimmen.
Die zu (2) analogen, für die Hyperbelfunktionen geltenden For-
meln finden sich in den Institutiones analyticae von Riccati
und Saladini?).
Noch bevor die Riecatischen Briefe an die Öffentlichkeit traten,
widmete Fontana das erste seiner oben angeführten Opuscula der
Untersuchung der vier folgenden Integrale, die, sagt er, soviel ich
weiß, niemand bisher betrachtet hat:
. n n
sin" 7 1 Cop" 7 f ne 2 f dp
m sın cos d .
S& p" P sin p" P ? Er sin p” cos p" ’
hier bezeichnen m und n positive, ganze oder gebrochene Zahlen.
Fontana schickt vier Rekursionsformeln voraus, welche:
2”dz
(1 + 2")?
beziehentlich mit:
f, 2"dz a a Rdz as 7 1 2"dz
(Hd Ilı asp’ Ilı -da"prt? GE Te) al
verbinden. Wendet man auf die vorgegebenen Integrale die Substi-
tution 2= cosp an, so lassen sich die dadurch erhaltenen Integrale
für ganzzahlige m, n vermittels der erwähnten Rekursionsformeln in
allen Fällen berechnen. Sind m, » nicht zugleich ganzzahlig, so ist
die Integration nicht immer ausführbar; Fontana erörtert aber einige
Fälle, in welchen die Berechnung der Integrale möglich ist.
Carlo Maj?) berechnet durch partielle Integration (ein Ver-
fahren, das er, mit Beschränkung auf die von ihm betrachteten Inte-
grale, ausführlich beschreibt) die Integrale:
fiog x"dxz und [at”loga”dk,
und leitet hieraus die Integration von f: x”dx ab; es ist nämlich:
n ei Recherches sur l’effet des moulins ä vent, Hist. Acad,
Berlin XII, 1856. ”) T. DO, p. 151. ®) Diversi metodi per l’inte-
grazione di alcune formole logaritmiche, Atti dell’ Accad. delle Scienze
di Siena detta dei Fisioeritiei III, 1767, p. 278—300.
47*
7126 Abschnitt XXVL
fear = far + 4 fe 1ogedr + d, x log dc +---
Eine kurze, aber inhaltsreiche Arbeit widmet Giovanni Francesco
Fagnano (1715—1797, Archidiakon von Senigallia, Sohn des berühmten
Giulio Fagnano, s. 0.8. 34) der Berechnung einiger transzendenten
Integrale.) Sein Hauptzweck ist, nachzuweisen, daß die Integrale
Je p? fr ie ge: er durch bloße Logarithmen aus-
drückbar sind, wie Johann Bernoulli in seiner Arbeit Continuatio
materiae de trajectoriis reciprocis von gewissen rationalen, in
diese unmittelbar transformierbaren Integralen behauptet hatte. Re
tangp=t, cotgp=u secpg=s, cosecpy=r,
csygy=X, Snyg=y suvesg=qgq=1-—z,
Absz. Kompl. p (d. i. die Projektion des Bogens x — p auf den Durch-
messer)=/1=2—g, Seheg=m= V29,
Sehne 2x — g)=p=Y2l,
und werden durch die gleichen größeren Buchstaben die entsprechen-
den Funktionen von np bezeichnet, so erhält Fagnano, von der Diffe-
rentialgleichung:
dt 1
(8) ae ri
ausgehend, die folgenden Relationen:
dT
ıi+7
T_ tar! -a-
(++ in"
_—,Q+it+lW-i)"
VE NEE
28"
(hi Ve zıP LG Ayo; Ya
2ir"
Ian na
-, (@e+iVI-<@)" +@-iVI-2®)),
ı) Integratio quarundam quantitatum differentislium, quae
originem habent a lineis, quae ad circulum referuntur, Nova Acta
eruditorum 1764—1765 (publ. 1767), p. 361—371, abgedruckt in Nuova Raccolta
d’opuscoli scientifici e filologiei XXII, 1772, op. I, 16 8.
Differentiation und Integration. 127
-, (ir + -(VI-F-iy)),
g-2-U-0+ Va) - d-0-Va=r
2 ,
„_?FU-1+iVI-P PER,
ge V2- ( — m I im Va — m‘ == ( — m? — im er
2
p-Va EN, er avee).
Aus (3) folgt auch:
le FE)
N 7 1+ 72)?
tangnp nn TA+T
und hieraus durch Integration:
1
dp Tr
fir = an
®
aaa
Ferner ergeben sich die folgenden Integralrelationen:
1
NEE —-log(1+ I,
Eu
d 1 un?”
first
® ug.
2 Aut IE er ;
(1+ + un?n
128 Abschnitt XXVL
d 1 1—- yı- 7.
Se - 4108 Er
‚fras--tyi=r,
dp _ 1 2-0
east
Saas -- VER + 0,
9. 1 yR-L
5 --V’
Strap - VL Zü+,
dp 1 2 — YA — M?
er Ya Ze;
Juw--2:yi-ı,
je -11g:4@=F
P N
’
Noch allgemeinere Integralformeln wurden von Euler in seiner
Integralrechnung!) betrachtet, nämlich:
iz log a”dx, S[Xaraz, fx arcsinz"dz,
wo X eine algebraische Funktion von x bezeichnet. Ferner integrierte
er, wohl unabhängig von seinen Vorgängern, sinp”cosgp"dgp, und
gab Rekursionsformeln für:
Fast gleichzeitig mit der Integralrechnung von Euler er-
schien eine Arbeit von d’Alembert?), worin er einige ziemlich all-
gemeine, für die Bildung rationalisierbarer Integrale nutzbare Prin-
zipien aufstellte. — Ist V eine rationale Funktion von Sinussen und
Kosinussen von pp +«, qp9 + Pß,..., oder von aPP+«, a2P+P, wo die
Verhältnisse von 9,9g,... rational sind, so ist VYdy integrierbar. Man
1) Art. 189 ff. 2) Recherches sur le calcul integral, Hist. Acad.
Paris 1767 (publ. 1770), p. 573-587; 1769 (publ. 1772), p. 73—146.
Differentiation und Integration. 129
kann aber allgemeinere Integraltypen erhalten, wenn man folgendes be-
achtet. Setzt man x = sing, so folgt:
d rer . eur
dp er csp=YVl1- a, sin2pg=zyl—a?-X,
cs2pp=X, sunßp+1l)p=zxX,, cos(2p+1)p —-V1-—-ıa?X,,
wo X, X,, X,, X, ganze rationale Funktionen von x? sind, so daß:
sin(2p+1)gp, cos2py, sin2ppdy, cos(2p +1)pdy
keine Wurzelgrößen enthalten.
Mit der Integration von transzendenten Funktionen beschäftigte
sich wiederum Fagnano in einer zweiten Arbeit), wo er, neben den
schon bekannten Integralen:
dx
dr ; a : Jerazsinz, farazcosz, ne ns;
sın x 08% cos
noch einige neue berechnete, nämlich:
/ 2" sin log ad, far coslogxdz,
sin 2dxz
; ; cos xdx e
und zeigte, wie sich - und — - durch Reihen integrieren
lassen.
Daß auch hier wie sonst überall der Name Eulers wiederholt
vorkommt, mag nicht befremden. Von ihm haben wir, was
transzendente Integrale betrifft, vier Abhandlungen aus den Jahren
17T6— 1777.
Euler benutzt für die Integration von:
Er. sinmpdgp
sinng
die Theorie der imaginären Größen.’) Setzt man:
t=cosp +ising,
so ist:
) Reductio functionum transcendentalium simplicium, quae
a circulo petuntur, et quarum universalior est usus, Nova Acta
erud. 1774 (publ. 1777), p. 385—420. Die erste Abteilung dieser Schrift wurde
in Nuova Raccolta d’opuscoli scientifici e filologiei XXI, 1772, op. II, 19 S.,
abgedruckt. ”) De summo usu calculi imaginariorum in analysi
(1776), Nova Acta Acad. Petrop. III, 1785 (publ. 1788), p. 25—46. — Vgl. oben
S. 711.
730 Abschnitt XXVI.
_ det” hr
id 7 > TS
sind m und » ganze Zahlen, so hat man nunmehr mit einer rationalen
Funktion zu tun.
Auch die weit komplizierteren Integrale:
pP [® (# + o) dv Q sin (# + o)dv
ee
wo:
Hi : sin 2$
tang 20 = 55 s= Vl — 202 00828 + vf,
werden mit Hilfe imaginärer Größen berechnet.!) Setzt man nämlich:
I — =aresinz=27+iy, z2=v(cos#® +isin®),
Vi — z°®
so folgt:
vcs®=tsinz(®!+e?), vsind—=tcoz(d!—e)),
woraus sich x und y leicht bestimmen lassen; ferner, unter der Vor-
aussetzung, daß ® konstant sei:
de i
art
P=z, V=yY.
also:
Für das Integral?):
174 (u: (FsinAp-+@Gcosig)
V(a cosnp + bsin np)”
wo ® eine rationale Funktion von tang np bezeichnet, setzt Euler:
cosp—+ising
zeid =XLX%L
Vacosnp + bsinng g
woraus folgt:
1— ax” dx
tang np = ,‚.dg=
ba’ — i 2ie (1 _ se a")
Bdg (cos + isin p) 1 e (=) Zidn
n er er i :
V(acosnp + bsinng) Bet ba"—i), _“ ee,
) De integrationibus diffieillimis quarum integralia tamen
aliunde exhiberi possunt (1777), Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797 und
1798 (publ. 1805), p. 62—74. ?) De formulis differentialibus angu-
laribus maxime irrationalibus, quas tamen per logarithmos et
arcus circulares integrare licet, M.S. Acad. exhib. 1777; Inst. calc. int.
IV, p. 183—194.
Beh dee
nn. er
Differentiation und Integration. 731
auf analoge Weise wird:
Ddy (cosp — isin p)*
7 Va cosnp—+ bsinn p)
berechnet, und aus p, q erhält man unmittelbar V.
Euler gibt auch den Ausdruck der Integrale'):
[sin (n + 2h + 1)9 sin p*-!dg,
[eos (n+2h-+1)p sin p""!dgy,
[sin (n + 2h + 1) eos p""1g,
[eos (n +2h+ 1)p cos p""!dy.
Im Jahre 1790 gab Mascheroni den ersten Teil seiner Noten
zu Eulers Integralrechnung?) heraus. Abt Lorenzo Mascheroni,
geboren zu Castagneta bei Bergamo am 14. Mai 1750, gestorben zu
Paris am 30. Juli 1800, war Dichter und Mathematiker (s. o. S. 380).
Außer den in den vorhergehenden Abschnitten erwähnten Schriften
verdankt man ihm noch einige Werke über Astronomie und an-
gewandte Mathematik. Unter seinen Gedichten ist eins allbekannt,
Invito a Lesbia, worin er in erhabener, dichterischer Form das
physikalische und naturgeschichtliche Museum der Universität von
Pavia beschreibt. Bei seinem Tode schrieb der berühmte Dichter
Vincenzo Monti als Nachruf ein kleines Poem, die Masche-
roniana.
Aus den Adnotationes entnehmen wir an diesem Orte nur
folgendes. In der Adn. II behandelt Mascheroni die Integrale:
fa sinzde, fa" cosxde,
ohne, wie es scheint, zu wissen, daß sie schon Gegenstand früherer
Untersuchungen gewesen waren; ferner berechnet er:
d A
I. cz ‚fersinde-araz, ‚fer oosbz araz.
a gx
Es werden dort auch vier Sätze von Gregorio Fontana mit-
geteilt, welche den Wert der Integrale:
‘) Quatuor theoremata maxime notatu digna in calculo inte-
grali (1776), Nova Acta Acad. Petrop. VII, 1789 (publ. 1793), p. 22—41.
”) Adnotationes ad Caleulum integralem Euleri in quibus nonnulla
problemata ab Eulero proposita resolvuntur, Pavia, P. I 1790,
P. II 1792.
132: Abschnitt XXVI.
dx dx |
sinz + sina’ c08 24 008 a
ergeben.
Hierher gehört eine Abhandlung von V.Riccati'), wo er neben.
schon bekannten Integralen auch die folgenden. berechnet:
fer sin qy°dg, ee? singp cosgqpdy, fer cos gg?dg;
Ser pr sin qy?dg, fer gr singqp cosgqpdp, Jergr eosgo’dg;
Sershqaypag, fer chapdg;
Ser shap’dg, ‚fer shaychaydg, Ser chay’ag;
Serp shapdy, Sergr ch aydp;
Serge sh ay?dg, Sergr sh ap chaydg, Ser gr chaydg;
| [er shap"-" chgyrdg.
Merkwürdig sind die Ausnahmefälle, die bei den Hyperbelfunk-
tionen enthaltenden Integralen auftreten. Es ist z. B.:
Ser nagap - 2 „(95hay — gchap),
fe shqgp?’dp
#7
= 2) ha? — 2ggshapchap + 2g’chag?];
diese Formeln versagen aber für 9=+g bzw. 9g= + 2q, in welchen
Fällen man die Integrale auf anderem Wege berechnen muß. Ein
analoges Vorkommnis findet für f ePshgp”"-"chggp”"dgp statt; die
Ausnahmefälle sind:
g=+mg, 9=+(m— 2) ----
Murhard?) (siehe oben $. 13) integrierte ein transzendentes
N
Differential, das sich in nr überführen läßt.
) De quarundam formularum exponentialium integratione,
Comm. Bonon. VII, 1791, p. 241—288. ?*) Exhibetur integratio formulae
valde complicatae, Göttingen 1796 (Festschrift zum Akademischen Jubiläum
von Kästner).
Differentiation und Integration. 183
Daniel Melanderhjelm‘) (1726—1810; siehe oben 5. 28) ver-
suchte den Ausdruck:
dV = e""a"(a+ba+:--)RPStdz,
wo:
R=c+fe+90&®°+:-:, S=h+tka+le+---
ist, dadurch zu integrieren, daß er:
V= er-ır+t!(A+ Ba + )Retiser!
und insbesondere:
ah 1Dp+1 1
a [erza" BrSıda — Actazmti Bor Her,
1 BER 2 Ppr+1Cg+1
b ferzan+ PrSıde = Ber amt Bp+istt!,
setzte, was aber, wie er anscheinend nicht bemerkte, im allgemeinen
nieht möglich ist.?) |
E. Reihenintegration, angenäherte Integration.
Die Reihenintegration wurde in unserer Periode um so häufiger
gebraucht, als man sie, ohne auf deren Zulässigkeit zu achten, als
ein ganz allgemeines Integrationsmittel betrachtete. Aber eben darum,
daß sie ohne jedes Bedenken angewandt wurde, gab sie zu keiner theo-
retischen Erörterung Anlaß; man beschränkte sich darauf, das allge-
meine Glied der Entwicklung in jedem besonderen Falle zu ermitteln.
Wir können uns also über diesen Gegenstand ganz kurz fassen.
Euler widmet der Reihenintegration ein besonderes Kapitel
seiner Integralrechnung, wo er rationale und irrationale Integrale
durch diese Methode berechnet; weitere Integrale werden auf gleiche
Y) Integratio formulae differentialis
Na” de(a +bxr + ca +kx + 1x + ete)(e + fx + gx?+ ete.)?
(h+r&+tx?-+ etc),
in qua N est numerus euius logarithmus hyperbolicus est unitas,
quantitates vero „nm a,b, c,k,l,e,f,g,h,r,t,p,q quaelibet datae
(1798), Nova Acta Acad. Petrop. XII, 1794 (publ. 1801), p. 114—124.
®) Sind nämlich R, $ Polynome von den Ordnungen r, s, so ist a”"R?S?
.
1
von der Ordnung m + rp+ sq, und folglich —; / ex" RPStdx von derselben
e
Ordnung, während ©” +'RP+!ga+! yon der Ordnung:
m+i+r@+1)+s@+1)
ist.
734 Abschnitt XXVI.
Weise an anderen Stellen ausgewertet. Ein anderes Kapitel beschäftigt
sich mit der Entwicklung der Integrale nach Sinussen und Kosinussen
von Vielfachen der Veränderlichen. Eine im IV. Band der Integral-
rechnung erschienene Abhandlung') betrifft die Reihenentwicklung
des Integrals Sar-'ar(a + x"), wo A eine Konstante bezeichnet.
Mascheroni beschäftigt sich in dem oben angeführten Werke
mit der Bestimmung der Konstante in der Gleichung:
2
dz 1 logz 1 logz?
Siez; = const. + log log z RE ya ar er + ...3
0g2
0
dazu bedient er sich aber ohne jedes Bedenken divergenter Reihen,
was übrigens zu jener Zeit geläufig war. Ferner berechnet er durch
Reihenentwicklung die Integrale:
Ba, AueR, a 4a | gen
log & 7 ’
dxzlogx * dx log x dx
De 2. 12; (cbe Veen
Auch mit angenäherter Integration beschäftigt sich Eulers In-
tegralrechnung. Ist:
y- /Xdz,
wo X eine Funktion von & bezeichnet, und ist:
y-b5,0,....,3:.X=4 4,4 ),.--
2
für:
! „
HR = q, A ’ Ad R . . . 7
so kann man X als konstant und gleich A, A’, A”,... in den Inter-
!) De resolutione formulae integralis fe" 'az(a + 2") in se-
riem semper convergentem. Ubi simul plurainsignia artifieia circa
serierum summationem explicantur, M.$. Acad. exhib. 1779; Inst. cale.
int. IV, p. 60—77. — Auf diese Arbeit bezieht sich die Schrift von Fuß: De
resolutione formulae integralis [a""'da(A +2") in seriem semper
convergentem; ubi simul serierum quarundam summatio directa
traditur (1797), Nova Acta Acad. Petrop. XV, 1799—1802 (publ. 1806), p. 55—70,
sowie die Schrift von Pfaff: Observationes analyticae ad L. Euleri
Institutiones caleuli integralis, Vol.IV, Suppl. II et IV (1797), Nova
Acta Acad. Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), Hist., p. 37—57, wo auch die folgende
allgemeine Entwicklung aufgestellt wird:
m ZZ, 1 m+l,,__ 1 a RE
Sr: mai > wiumtnı
Differentiation und Integration. 135
A 7 4
vallen aa, aa”, a’a”,... ansehen; man hat dann annäherungs-
weise:
b=b+A(d-—.a),
b’=b+A(d—a)+ 4a’ — a),
D"’=b+Al@—a)+A(a” — a)+A”’(a”— a”),
Will man eine größere Annäherung erreichen, so kann man
X= F Pdx setzen, wo P als konstant in jedem Teilintervall ange-
sehen wird; es ergibt sich so:
y-b+ X,@-W)+4P,@-a),
wo X,, P, die Werte von X, P für «= a bezeichnen.
Alexis Fontaine (diese Vorl, II2, 8. 587)') gibt ohne Beweis
die folgende Annäherungsformel:
far
Laplace wurde von seinen tiefgehenden Untersuchungen über
Wahrscheinlichkeitslehre zum Probleme geführt, das Integral:
5
Sww. ..pAX,
r
wou,%,...,9@ Funktionen von & bezeichnen und s, s’,... sehr große
Zahlen sind, in eine konvergente Reihe zu entwickeln. Die Erörte-
rung dieses Problems und die verwandten Untersuchungen füllen eine
Abhandlung von mehr als 130 Seiten aus?); wir müssen uns damit
begnügen, die Grundlage der Laplaceschen Behandlung wiederzu-
geben.
Setzen wir:
y=y(e)=wuw”...p, y@)=Y,
ydı / >
re NIE NEE Aue Aal
dann ist:
ER d’x vdv d"z _vd(vdw...dv))
a RR N nr Bee Ten de” Kar
) M&moires donn6s ä l’Acad&mie royale des sciences, non im-
prim&s dans leur temps, Paris 1764. 2) M&moire sur les approxi-
mations des formules, qui sont fonctions de tr&s grands nombres,
Mem. Acad. Paris 1782 (publ. 1785), p. 1—88, 1783 (publ. 1786), p. 423—467;
ÖOeuvres X, Paris 1894, p. 207—291, 293—338.
736 Abschnitt XXVI.
wobei dx rechts als konstant angesehen wird, ferner:
dee
ti? UdU., t Ud(UAUD)
- 94045 tn ae
woraus folgt:
da = Val + tt)
11d4$ "21 d®
und:
ung
Jmte= vr| fear sa, a ß erdt+:--|,
wo & den Nullwert von y bedeutet. Es ist aber:
[6 0)
Sera =1, frerat BEN
0 0
d(va U)
‚fre- oy|ı Hat urTcEe +).
Setzt man analog:
ye)=Y, v0) - U
folglich:
so hat man:
5
ko
=
Ja vr |ı Me Le Lee
0
folglich:
jr
„Jyda
ER d(UdD) ] y du’ | d(U’aU)) =
MR 1435 + as 1 |- erlag + PA
Da:
Br 1
ARE DE 1dp’
watt gan
so ist, wenn s, $,... sehr groß sind, v sehr klein; sind s, Be
gleicher Ordnung wie —, wo «a sehr klein ist, so ist v von der Ord-
TE ae
nung von @, und u, gg sind von den Ordnungen von «, @°,...,
was nach Laplace die Konvergenz der gefundenen Reihen sicher-
stellt.
Differentiation und Integration. 133
F. Differentiation und Integration unter dem
Integralzeichen.
Diese schwierigen Fragen, welche den Scharfsinn der gegenwär-
tigen Mathematiker geprüft haben, wurden von Euler ganz einfach
behandelt.') Ist P, sagt er”), eine Funktion von z, u, und setzt man:
[Pa - S,
so ist:
ER oP 08
man hat nämlich:
08 oPr_ 68
062’ 0u 0Oudz’
Pi
woraus (4) folgt. Es ist ferner:
(5) [sau — [az / Pau;
setzt man nämlich:
[sau = V,
so folgt:
oV 0?V 08
==S-[Pa, 2-5 -P,
also:
ig L Pdu,
02
woraus sich (5) ergibt.?)
Später stellte Euler die folgenden Sätze auf‘):
ı) Die Differentiation unter dem Integralzeichen wurde schon von Leibniz
gebraucht (diese Vorl., III?, S. 231). 2) Nova methodus quantitates
integrales determinandi, Novi Comm. Acad. Petrop. XIX, 1774 (publ. 1775),
p- 66—102; Inst. cale. int. IV, p. 260—294. ®). Fontaine (a. a. O.) beweist
diesen Satz wie folgt. Es ist:
[war — fude=a uda,
andererseits hat man:
[war — [ude— [(w da — uda) — [A(uda),
a (wda — (Ada),
*) Uberior explicatio methodi singularis nuper expositae, integralia
alias maxime abscondita investigandi (1776), Nova Acta Acad. Petrop.
IV, 1786 (publ. 1789), p. 17—54. — De insignibus proprietatibus formu-
larum integralium praeter binas variables etiam earum differen-
tialia cujuscunque ordinis involventium (1777), Nova Acta Acad. Petrop.
IX, 1791 (publ. 1795), p. 81—97.
also:
138 Abschnitt XXVI.
1. Es ist für jede Funktion PV:
(v) (u)
W)
(CF ar - 5 [var far [rap - far [ran
dp
2. Setzt man 9 = = EEE ist ferner Z eine Funktion
oe?
von &, Y, P, Q, -.., und:
VYan—-d2= 2 de+? „dy+s dp +52 dg +:
0oZ
- (+? Turner en
so folgt:
REBEL: a
dt = ;
ao og Arös 2 opögorös
fe LS Z 4 f getßt+tytö+te+lz ’
% A%
ge Bayer 1ngderds‘ Ba 92a ep Htog"or'ds
f- Derß+tytöte+tz e getß+r+dte+lz
dx | F_
oe rtartast +5 2 op Ag’ or+'ds 5
dx.
G. Vielfache Integrale.
Euler ist wohl der erste, der sich mit vielfachen Integralen be-
schäftigte. In einer im Jahre 1770 erschienenen Abhandlung!) stellt
er vor allem die Bedeutung der Bezeichnung RR [ Zixdy fest, wo Z
eine Funktion von &, y ist, und bemerkt, daß:
Sfzaxay-V+X+Y
ist, wo V eine bestimmte Funktion von &, y bezeichnet, während
X, Y willkürliche Funktionen von x bzw. y darstellen. Die Berech-
nung von V kann auf zweifache Weise geschehen; es ist nämlıch:
SJzaray = fax [Zay = fay f Zax.
Handelt es sich aber um die Berechnung einer krummen Fläche
oder eines Volumens (oder, wie man heute sagen würde, um die Inte-
gration über einen bestimmten Bereich), so muß bei der Auswertung
des Integrales unter der Form:
') De formulis integralibus duplicatis, Novi Comm. Acad. Petrop.
XIV, 1769 (publ. 1770), p. 72—103; Inst. cale. int. IV, p. 416—445. Freilich
hatte Euler auch früher Doppelintegrale betrachtet (diese Vorl., III?, S. 657,
855).
Differentiation und Integration. 139
Sax zay
die Integration nach y zwischen solchen Grenzen erstreckt werden,
die, den Fall eines rechtwinkligen Integrationsbereiches ausgenommen,
von x abhängig sind, und sich durch Auflösung der Gleichung
der Begrenzung nach y ergeben. Dagegen sind die Grenzen der
zweiten Integration konstant; sie sind die äußersten Werte von z,
und ergeben sich aus der soeben erwähnten Gleichung, wenn man
da—=0 setzt; mit anderen Worten, man muß, wenn f(z, y)=0
die Gleichung der Begrenzung ist, y zwischen f= 0 und a =( eli-
minieren und dann nach x auflösen.
Nachdem Euler auf diese Weise die Aehdiige der Theorie der
vielfachen Integrale gewonnen hat, kommt er auf das Problem von
der Transformation. Dazu bedient er sich, dem Wesen nach, derselben
Methode, die in den heutigen Lehrbüchern üblich ist. Er bemerkt,
daß, wenn man:
z=f+tm+uyVl—m, y=g+tyYl— m?— um
setzt, das Element der Basis (so nennt Euler den Integrationsbe-
reich), das früher dzdy war, jetzt durch dtdu dargestellt wird. Es
ist andererseits nicht dedy = dtdu; aber es gibt keinen Grund dafür,
daß die statt dxdy einzusetzende Größe den gleichen Wert haben
müsse Um nun die Transformation auszuführen, setze man zuerst
u anstatt y ein, so daß y als eine Funktion von x, u betrachtet wer-
den darf; es folgt hieraus:
(6) dy= Pdx + Qdu.
Da aber x während der Integration nach « als konstant anzu-
sehen ist, so reduziert sich dy auf Qdu, und es ist:
SI zaray = fax [ozau — [au [QZada.
Ersetzt man nun x durch seinen Ausdruck in #, u, und ist:
(7) dz = Rdt + Sau,
so ergibt sich, da « bei der Integration nach x konstant bleibt:
SI zaxay — [au [QZRat - /[oZRatau.
Ist aber:
(8) dy= Tdt + Udu,
so folgt wegen (7) aus dem Vergleich von (6) und (8):
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 48
740 Abschnitt XXVIL
PR=T, PS+Q=T,
und hieraus:
OR RU NE
[I zaxdy = [zZ RU- ST)atau.
Hätte man die Operationen in umgekehrter Ordnung ausgeführt,
so würde sich dasselbe Resultat, jedoch mit entgegengesetztem Vor-
zeichen ergeben; das ist aber nebensächlich, da es sich hier nur um
die Bestimmung von absoluten Größen handelt.
Das Problem von der Transformation der vielfachen Integrale
bot sich nicht viel später Lagrange!) dar; seine Erörterungen sind
den Eulerschen sehr ähnlich, man kann aber nicht entscheiden, ob
er die Arbeit von Euler kannte oder nicht. Ist:
dz = Adp + Bdgq + Cdr,
dy= Ddp + Edq + Far,
dz= Gdp + Hdq + Iar,
so muß man beachten, daß man bei der Berechnung der im Produkte
dxzdydz vorkommenden Größe dz die Größen x, y als konstant an-
sehen muß. Aus:
also:
Adp+Badqg+ (dr =,
Ddp+ Edq+Fdr =
folgt aber:
BF—-CE CD—AF
dy=- 75 En MU dEIBD
dr,
also:
dig _ EG®BF-CHH+ aD + I(AE—BD) ,,
Um dann dy zu berechnen, muß man de =dz=( setzen; es
folgt:
dr=0, Adp+Bdq=0,
also:
Bd AE—BD
Um endlich dx zu berechnen, muß man dy=dz=( setzen; es
folgt:
dqa=-dr—=0, da Adp.
Aus den erhaltenen Ausdrücken ergibt sich:
dadydz = [G\BF— CE) + H(CD— AF) + I(AE— BD)]dpdgar.
ı) Sur l’attraction des sph6roides elliptiques, Nouv. Mem. Berlin
1773; Oeuvres III, Paris 1869, p. 619—649.
BE.
Bestimmte Integrale. 741
Der absolute Wert der eingeklammerten Größe ändert sich nicht,
wenn man dz, dy, dz beliebig umsetzt; es ist also gleichgültig, in
welcher Folge man sich die Integrationen ausgeführt denkt.
Legendre') nahm das Problem wieder auf; er erkannte aber
selbst, daß sein Transformationsprinzip mit dem Lagrangeschen
übereinstimmt.
Kleinere Beiträge zur Theorie der vielfachen Integrale sind:
a) Die Eulersche Formel):
(u) 1
Ber 1 fi u—1
EI: Kar | =, ee re
welche ohne Zweifel aus der (von Euler freilich nicht angegebenen)
Rekursionsformel:
fü - a Xar= (1- a7 [Xda + v[(l - a)-tda [Xdr
abgeleitet ist;
b) die Frisischen Formeln°):
Sax [yda = x [yda — [ayda,
fax dx |ydı = = (yar _ & fayda - - yds,
USW.
Wollen wir die Ergebnisse des vorliegenden Kapitels in wenige
Worte zusammenfassen, so können wir sagen, daß unsere Periode
einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Integrationstheorie geliefert
hat, da wir ihr eine große Entwicklung der Integration der
irrationalen und transzendenten Größen und die Klarlegung des Be-
griffes vom vielfachen Integrale verdanken. Ein weit wichtigerer
Zweig der Integralrechnung wurde in dieser Periode geboren, aber
diesem soll ein besonderes Kapitel gewidmet werden.
Bestimmte Integrale.
Die bestimmten Integrale bilden nur einen speziellen Fall der
unbestimmten. Daß sie nichtsdestoweniger eine besondere Behand-
lung verdienen, hängt davon ab, daß manche Integrale, die nicht
«4 Memoire sur les integrales doubles, Hist. Acad. Paris 1788
(publ. 1791), p. 454 — 486. 2, Uberior explicatio etc. (s. o. S. 737).
®) Opera, I. Bd.
48*
742 Abschnitt XXVI.
durch elementare Funktionen ausdrückbar sind, sich dennoch, zwischen
gewissen Grenzen genommen, durch zweckmäßige Kunstgriffe be-
rechnen lassen. Euler hat sich mit der bestimmten Integration mit
Vorliebe beschäftigt, und sein Name wird so gut als vollständig das
gegenwärtige Kapitel ausfüllen.
Zunächst eine kleine Bemerkung. Die heutige Bezeichnung:
Sra)da
wird in unserer Periode noch nicht gebraucht (s. o. 5. 232); man sagt:
n fi f(x)dx von a bis b erstreckt“, oder: fi f(x)dx, wo das Integral
für = a Null ist, und nach der Integration x = b gesetzt werden muß“.
Eine andere Bemerkung, die allerdings fast überflüssig erscheint,
ist diese: Euler behandelt ohne jedes Bedenken als gewöhnliche
Integrale diejenigen, die wir heutzutage als uneigentliche Integrale
bezeichnen.
Bei der Unmöglichkeit, alle von Euler berechneten Typen von
bestimmten Integralen anzuführen, werden wir die interessantesten
unter ihnen erwähnen.
1.1) Das Integral:
H,= |a’"!da(l — a)"
läßt, wie man leicht beweist, die folgende Rekursionsformel zu:
Se 77 ng
Setzt man dann:
MH, tr - 7)
A
I, - (w-1dz (1 — a",
0
so folgt hieraus:
NER.
1I,= f+ng Fit
es ist aber I, = ri ‚ folglich:
eo g" 1-2-
n TIeSTE ERS
Ist 9 unendlichklein, so kann man setzen:
ı) Evolutio formulae integralis a’ "dx doga)*, integratione &
valorex=0 ad x—=1 extensa, Novi Comm. Acad. Petrop. XVI, 1771 (publ.
1772), p. 91—139; Inst. calc. int. IV, p. 78—121.
TR VEREEN
TEE AT TER
Bestimmte Integrale. 743
”=1-+glogz,
also:
1
„= Y’ Ja’ logrrde;
0
es ergibt sich daher:
1
pe log a” dx = (— 1)" re
0
2.) Man erhält durch Reihenintegration:
1
ee , n-iı 1 nt 1
: 140" m" 2n+m 2n—m !"intm in—mt:
Pi t 1 E ı
re are ee
oder, wegen bekannter Formeln aus der Reihentheorie:
j 7
1 ._ MU
gl „num-i Ber,
f ia“ de=! E
0 ntanı ” 5
| r a ae
Setzt man:
ü T 7 To
m=4h—o, = 214, S= .; T-;;tangz,,
24 008 27-
so ergibt sich?):
') De inventione integralium,. si post integrationem variabili
quantitati determinatus valor tribuatur, Miscell. Berol. VO, 1743,
p. 129. — De valore formulae integralis
m—1l n-m-1
& 5 de,
. 1 tz”
casu quo post integrationem ponitur 2—=1, Novi Comm. Acad. Petrop.
XIX, 1774 (publ. 1775), p. 3—29. — De valore formulae integralis
rar ira, “
a Ra
casu quo post integrationem ponitur z=1, ebenda, p. 30—65; Inst.
calc. int. IV, p. 122—154. — Siehe auch Lorgna, Mem. Soc. It. I. *) Eine
direkte Ableitung dieser Formel findet sich in: Euler, Nova methodus inte-
grandi formulas differentiales rationales sine subsidio quantitatum
imaginariarum, Acta Acad. Petrop. 1781, P. I (publ. 1784), p. 3—47.
744 Abschnitt XXVI.
%
| ae ann ER E
i 1+.°% Ei
Schreiben wir:
aim o—1 A+Hw—1i1
P(&)= -f: a = dx,
so daß P(1)= 8, so folgt:
BP si ee
0x ke 1.42% ’
3° P rn ai 0 — a
DE 1+ 221 log &,
also:
ET ra OT areas ö:P op.
ji. 2 log xdx Re dx na
und insbesondere:
1 i sin O0
(1) en joende — (>) on
0 1+@" ; a on Te
24
Man erhält analog:
1
| v 1-o0—1 A+w—1 9 1
(2) IE ac logede - = — (3) —
1—x 0@ „7m
f) : coB* 7
Für o=0 hat man aus (2):
+} 1°
Sr logede = - Sr
0
4 E
logadz m
er er |
0
und insbesondere:
Wendet man auf (1), (2) dieselbe Methode an, und so weiter, so
kann man das Integral:
4
i-w-—1 A+w—1
x %c
fi = 21 log x" dx
| ıi+%
0
für jeden ganzen positiven Wert von u berechnen.
Bestimmte Integrale. 145
Eine Verallgemeinerung eines soeben berechneten Integrales bildet
das folgende:
1
SB 5 fees 4)
(1—a”)"
0
Es ist:
1
rg 1 1
— — ZA -N)+zZU-NM+zA-a)+--]
/ ef" |
1
fi m—1,] a Fe: 1 1 EN ar 1 ae 07 |
=— s\(1- Fz1=9) Er, 2 Tl
0
Setzt man aber:
Ser-taz(ı — ar)? — A [am-1dz (1 — z")-14+ Bar (1 — ar),
so ergibt sich durch Differentiation:
Ai in B 1
m+ın? Rz; m-+ın?
also:
1 1
1 7 an = 24
ide a) — mm j "de (1 m)?-1,
0 )
Da nun:
1
m
eu 5 %
ideal a) Tepe
“sn —
- N
0
ist, so folgt, wenn man diesen letzten Wert der Kürze wegen mit A
bezeichnet:
1 1
m— nn nm m— „ir
f» !d«(1— x") au vr f: !dz(1— a”)
n—m 2n—m kn—m
0 TREE Te a.
also:
Rei n—m (n — m) (2n — m) (n — m) (2n — m) (3n — m)
5 al 7— er pn E7 n-An-3n-3n +].
') De integralibus quibusdam inventu diffieillimis (1780), Mem.
Acad. St.-P&t. VI, 1813—1814 (publ. 1818), p. 3058.
746 Abschnitt XXVI.
Setzt man:
et, IW-T
n-2n.-2n
so folgt:
SmAn
ferner:
‚To RR Nn—M m = man m) an |, em) En min Tan
dt N n-2n N-2n:3n
am (1 iss ur = 3;
also:
r- [#fa-9 1].
Für 1—- = w ıst:
1
n—1 m—1l
U — U
r-/ du.
1— u
0
3.) Es ist:
FF RE 200
f: du = EL
- :
San frau (5,
08%
N ö
5 get
Saas =,
1
"ED RREER ER
f dt = sr
0
1
Sau fardz —-logu+1)+C,
Ki)
folglich:
1
ug
(8) NE gu + 1 + 0.
0
Die willkürliche Konstante ist unendlich; setzt man aber nachein-
ander v= m, u=n, so erhält man:
!) Nova methodus quantitates integrales determinandi, Novi
Comm. Acad. Petrop. XIX, 1774 (publ. 1775), p. 66—102; Inst. cale. int. IV,
p. 260—294, — Speculationes analyticae, Novi Comm. Acad. Petrop. XX,
1775 (publ. 1776), p. 59—79.
Bestimmte Integrale. 747
a _ og" m+1
(4) 4 en dt=10g —.— '
0
Ist allgemeiner:
P(a)=Ar"+Bo+--.,
wo:
AB
oder:
PFD)=0,
so folgt:
1
ea log(e +1) + Blog(B+1)+---
0
Ein besonderer Fall dieser letzten Formel ist:
1
(e— 1)" dx
Tem =logn +1) — ( 1) logn + ( ) log(n — 1) —
Aus (4) folgt für m=ir, n=— ir:
1
l
F _ en 2) de= „log: nu — ler
0
Will man analog f nn 2) da erhalten, ss kann man die
ö oO
Reihenintegration anwenden; man erhält so‘):
1 1
cos (r log «) -/ı
je: a Marge joga tee VI + rS;
0 0 0)
wobei man beachten muß, daß das rechts vorkommende Integral un-
endlich ist. Es ergibt sich aber hieraus:
1
cos (n log ©) — cos (m log «) 1-+n?
ge log« de=z le 1-+m??’
0
1) Es ergibt sich:
cos (r log %) 1 r? r*
N as "Tune - —giloga +jloga'— |da;
es ist aber:
finger de=(—1N)"n!,
ö
woraus die im Texte angegebene Formel unmittelbar folgt.
748 | Abschnitt XXVI.
oder auch:
1
sin (p log «) - sin (q log x) L FIR.
E log x Zen 1 log 1+p+9°
0 h
Setzt man in (dA) m=s+tir, n=s-— ir, so folgt:
1
x” sin (r log «) 2
fi eg dx = aretg —— us =
0
Die Gleichung (3) läßt sich auch so schreiben:
1
x” da
1 _ logu + 0.
ö
Hieraus folgt durch abermalige Integration nach «:
1
“d
/ los En +Cu+G, =ulegu+(C—-N)u+O0,
0
1
"da
Sa -$. "+On+G,
0
und allgemein:
5) SE Lu logu + Aw + Aut A, u +4,
Da aber die willkürlichen Konstanten unendlichgroß sind, so muß
man dieselben fortschaffen; das geschieht durch zweckmäßige Kom-
bination der für n verschiedene Werte %,,%,...,u, von u geschrie-
benen Formel (5). Ist nämlich:
2 = (m —%) (U — U) (u — U),
a Zei “) (Ha T- u) " (Ug — %,),
U, = (Un — U) (Un — U) (in — ui) ,
so ergibt sich:
dx ac"
J ee
n
u u" logo u"? logu, a,
2 U, nr T, u
U,
n
”
u
ee
Bestimmte Integrale. 749
4.") Von der Formel:
die einen besonderen Fall einer schon besprochenen Formel bildet
(siehe oben 2.), gibt Euler drei Beweise, von denen nur einer hier
angeführt werden möge.
Setzt man:
V1-2°=y,
so ist:
EA Zu BB... 2%
va ya-p®
RER TTENER 2 4 6
lge=-lgVi-yY-- +4 +4 +..|,
folglich:
1 1
dxlogx _ dy y? y* y° ;
wer sitetrt]
0 0
es ist aber:
1
Yen, 1-3-5..-@h—1) x
.. 8:4-:6---2h 2’
vi
0
also:
Ka
dzlogx 1-3-5
a tlat tet]
Andererseits hat man:
— log(1 +yi-— =) > uf
und:
“= dz ar 43
alter)
oder:
dz dz 1 1-3
Sr Sr Hr terre +6
folglich:
-lgl + -M-grtz get +6,
und, wenn man 2=() setzt:
dx log x
Vvı— a?’
Acta Acad. Petrop. I, P.II, 1777, p. 3—28; Inst. cale. int. IV, p. 154—182.
Ein anderer Beweis findet sich in der oben ($. 745) angeführten Schrift: De
integralibus quibusdam ete.
‘) De integratione formulae abxz=0adr=1extensa,
750 Abschnitt XXVI.
C=—.log?2,
also:
2 RR © er
Bw 2 53? et
Setzt man 2=]1, so ergibt sich:
gest lat,
und folglich: *
1
dx log x
Sy
6
7T
u 2 log 2.
5. Eine Anwendung früherer Formeln ist die Berechnung des
Integrals?):
7 f GN,
log (1 — x" )
Euler bemerkt, daß die zu intsgrierende Funktion für n= 1
verschwindet, da der Zähler durch (1 — x)?, der Nenner aber durch
(1— x) teilbar ist; es folgt hieraus (vgl. oben unter 3.), daß bei
der Berechnung von:
ferne
(+ tr Hat". ) tet tert...)
2% ( + gotetn Lgdror:n Ln. -)]
die Integrationskonstante fortfällt. Benutzt man dann die unten
(S. 760) anzuführende Formel:
1 mon
Sata)
0 _m+nDamtr+matm
1 mon Pat otnmtatm
S #artı Me,
0
ON
so kann man schreiben, wegen (3):
I= log 5;
wo entweder:
a—1 b ec
dx(1 — 1—&
') De valore formulae integralis = = FW )
log (1 — x")
mino z=0 usque ad x=1 extensae, Acta Acad. Petrop. 1777, P. I (publ.
1780), p. 29—47.
a ter-
RE RE ans nn on cm 17
Bestimmte Integrale. 151
m=b p=aHte q=a,
oder:
m=6 p=a+b q=a
ist.
6.') Man soll eine Rekursionsformel für das Integral:
-
en ) ee - fd:
2: Ve’ —2bxt ca* / R
aufstellen, wobei & eine Wurzel der Gleichung R= 0 bezeichnet.
Setzen wir allgemein:
"da
Em F BR >
0
so ist vor allem zu bemerken, daß F, sich direkt berechnen läßt;
man findet nämlich:
für c>0,
1 b+aye
u A l
uL ve AN aba Lee’
für c<O,
F = ER OL Au 2 REN EEE.
Tr € | Vb* — a®e vb: a:
Führt man die neue Veränderliche:
u=R-a
ein, so ist:
—b d
dt, — ( ii &
also?):
(6) = —bF,+cr,
oder: '
b
FR=.R+%,
und folglich:
b
=. d-.:
n
; d:
') Speculationes super formula integrali F ee ubi
" Va—2bxc-+cx?
simul egregiae observationes circa fractiones continuas occurrunt,
Acta Acad. Petrop. 1782, P. II (publ. 1786), p. 62—84. Ein Teil dieser Schrift
wurde in Inst. cale. int. IV, p. 31—36 abgedruckt unter dem Titel: De inte-
gratione formulae irrationali Ind ?2) Die Int tie
nalis -
Var sinken ie Integrations
konstante in den Gleichungen (6), (7), (8) ist gleich Null, weil beide Seiten für
x=(0 verschwinden.
152 Abschnitt XXVI.
Führt man dagegen die Veränderliche:
= BR
ein, so ergibt sich:
hy 2_ 3b 20x?
dt = (R+ FT) an TE dr,
folglich:
(7) u =a@®’F,—3bF,+2cH,,
und insbesondere: |
0=a?d,—-3b9, +2c9,,
woraus folgt:
3b a? 3b’—ua?c „ 3ab
9, AIR ar Ar
Fährt man auf diese Weise fort, so findet man für jeden Wert
yon:
=2, Dt %-
Das Gesetz der Koeffizienten p,, q,„ läßt sich folgendermaßen er-
mitteln. Setzt man:
= o"R,
so ergibt sich:
de [ra R er = | dx
= H[natar-1— (2m + 1)bar + (u + L)ear+7]dz,
also:
(8) "R=t„=naF,_,—- (2@n+1)bF,+(n+1D)eF,;ı
und für = 8:
O=na®, ,— (2n+1)bd,+(n+1)e®,,ı
oder:
® I2n +1)b®d, —na®®,_,]
1
teer
:
<= „aylt2n + 1)bp,— na’p,_ı)D+ (2a + 1b, —natg,_,}],
woraus folgt:
Pası“ (2% + 1)bp,— na?p,_ı» RER Bey (2n + 1)bq„— na?q,_:-
7. Das Integral):
') Methodus facilis inveniendi integrale hujus formulae
da "+? _22” cos + a"?
EA" —_2a"cod +1
’
casu quo post integrationem ponitur vel@e=1vele—=% (1776), Nova
Acta Acad. Petrop. III, 1785 (publ. 1788), p. 3—24.
Bestimmte Integrale. 153
1
Der 2x0" coag-+ a"?
I) EoO Ar 29 +1
’
wo p<n, wird durch Zerlegung der zu integrierenden Funktion in
einfache Brüche berechnet, nachdem man bemerkt hat, daß die Null-
werte des Nenners durch:
9 9+22 9-+4x +2 (n— ln „,
TS, we PR; n
gegeben sind, wenn:
= (080 +isino
ist. Man findet ferner:
& 1
- Er? _ 2a" coag+ x"? ge: — 22" cos& + a"?
Er 20° coo$ +1 EC ar —_2R"cosd$ +1
Unter den interessanten Bemerkungen, zu denen dieses Integral
Anlaß bietet, möge eine hervorgehoben werden. Die zu integrierende
Funktion verändert sich nicht, wenn man ® durch $ +2kx ersetzt,
während der Wert des Integrales ein anderer wird. Welcher ist, fragt
sich Euler, der wahre Wert des Integrales? Alle sind es, antwortet
er, denn solche Integrale sind unendlichvieldeutige Funktionen, wie
sich aus dem Beispiel von 5 ersehen läßt.
8.') In einem Schreiben an Lagrange vom 26. Januar 1775
teilte ihm Euler die Formel:
L
w— dx
7 ge \ 88
0
mit. Lagrange bewies diese Formel und legte Euler die weiteren
vor:
b n
x" — x"da dy
22 -Sili —_ ayı 23
een
a m
(
tang . =
an
[}
@"—a")dx _
— hen
(1+2”)loge & tang er
0
') Lagrange, Oeuvres XIV, Paris 1892, p. 241, 242.— Euler, Observa-
tiones in aliquot theoremata illustris de la Grange, Opuscula anal.
II, Petersburg 1785, p. 16-41. — Siehe auch: Euler, De iterata integratione
formularum integralium dum aliquis exponens pro variabili assu-
mitur (1776), Nova Acta Acad. Petrop. VII, 1789 (publ. 1793), p. 64—82.
N Über dieses und einige damit verwandte Integrale siehe auch: Euler, Uberior
154 | Abschnitt XXVI.
Die erste Gleichung bewies Euler zunächst durch Reihenentwick-
lung, dann auf folgende Weise. Aus:
n
b
b’ — a? Fe |
vl]: = — Y =
f dx SH f dy ers,
a 0
n b b n
d
/ fau fe az - [%: [ray
Ö a [77 v
N. b
; diy_ ("—1
Jo - xlogx®
0 a
m b
dy ”—1
1 ZABBRNE Y ER -——-3 —[-- .-.
/)® @) Y & log x’
0 a
woraus die verlangte Formel unmittelbar folgt.
Was die zweite Lagrangesche Gleichung betrifft, geht Euler
von der Relation:
folgt:
Es ist analog:
ek
Sir dx _ B7
10. & ok. con 7
"Co8 ——
: 2k
aus. Integriert man nach n, so folgt:
a N
k+n k
[1 —ı dx 7 dan n n
= m — logtang _.ı
142° zloga 2k nn
c08 —
0 0 e*
setzt man hier statt k +n zuerst n+ 1, dann m + 1, statt 2% beide-
mal r, und subtrahiert, so ergibt sich die gesuchte Formel.
9.1) Wir begnügen uns damit, die Untersuchungen Eulers über
die Integrale:
explicatio methodi singularis nuper expositae, integralia alias
maxime abscondita investigandi (1776), Nova Acta Acad. Petrop. IV, 1786
(publ. 1789), p. 17—54.
gt — 1
dx
ı, Investigatio formulae integralis G+ ae casu quo post
integrationem statuitur = 00, Opuse. an. II, p. 42—54; Inst. cale. int. IV,
® Be
.346—357. — Investigatio valoris inte zalis | a ter-
: . 5 1— 2u* cos# ta”.
mino 2=0 usque ad 2 = ® extensi, Opuse. an. II,p. 55—75; Inst. cale. int.
IV, p. 358-378.
Bestimmte Integrale. 155
»
n
zu -1de f zguldz N)
; (+) ; 1— 22° cos9 + a”
nur kurz zu erwähnen. Mit seiner gewöhnlichen Gewandtheit faßt
Euler einerseits alle logarithmischen, andererseits alle zyklometrischen
Bestandteile jedes Integrals zusammen, zeigt, daß die ersteren eine
verschwindende Summe liefern, und berechnet die Summe der letz-
teren; dadurch findet er für m <k und für m < 2%k beziehungsweise:
on
m—i
a a — (s. o. unter 8),
ia NE 7 Wit
x k
9 2 ma) +
gulge zsin n
=... 2°
Ta eh ksin & sin -,-
3%
Setzt man ferner:
Pu Ax”" je
Br Neray
so ergibt sich durch Differentiation:
erden 3.4 m
(n — 1)k’ mn—ı)k’
folglich für m <k:
Zr ide - (1 2m )f "id
n ir n—1)k ’ ir
Durch wiederholte Anwendung dieser Formel erhält man wegen
der ersten Formel (9):
)
Fe = (1 = #) (1 E2 sr) >e (1 m ) WALD
| | k
0
10.?) In einer Arbeit mit dem Titel: Methodus inveniendi etc.
behandelt Euler gewisse Probleme, von denen wir eins als Beispiel
wiedergeben.
') Über das erstere Integral siehe auch: Mascheroni, Adnotationes etc.
?) Methodus inveniendi formulas integrales quae certis casibus
datam inter se teneant rationem, Öpuse. an. II, p. 178—216; Inst. cale.
int. IV, p. 378—415.
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 49
156 Abschnitt XXVL
Man verlangt, eine solche Funktion » von x zu finden, daß für
jeden Wert von n die folgende Relation besteht:
1 1
ont 146:
b
. Pn+
Wir setzen, der Einfachheit wegen, «= ß—=1 voraus. Wenn
die geschriebene Relation gelten soll, so muß sein:
(10) fear = nr feao »
wo YV eine Funktion von & bezeichnet, die für 2=0 und für «=1
verschwindet. Es ergibt sich hieraus durch Differentiation:
(n+b)rdv=(n+a)a”Idv+(n+b)dV,
woraus erhellt, daß dV den Faktor 2”! und folglich V den Faktor
x” enthalten muß. Setzt man daher:
n+b)V/=a"Q,
so ist:
(n+bedv=(n+a)dv+-nQda+xdQ,
eine Relation, die erfüllt wird, wenn man setzt:
(x — dv = Qda, (br — a)dv=xdN.
Hieraus folgt:
dQ (bz — a)dıx a b—a
2 Dee (2 — 1) - (+, =),
also: Ä
0 = Orr — 1%,
und:
V= Oate(g — 1)P-«,
eine Funktion, die, wenn b>a, fürz=0(0 und für <=1 wirklich
verschwindet; ferner:
Qdx
De |
dı= = (2° (x — 1)P=ride.
Die Rekursionsformel (10) wird also:
ferr@ 0 Iprarig:
+8 fanta- x — 1) a— idz + u ne a
woraus folgt:
Bestimmte Integrale. 157
& 1
fer — 1p- ide = Jar @ — 1? re -1de.
:
0
Das Problem läßt sich in zweifacher Richtung verallgemeinern,
indem man sich entweder die Relation:
1 1
z (en +a)(n+a) ([ n-ı
Jr@-| Bm + En + Bw,” son
oder die Relation:
nn 3 z
(11) (en+a) Serdv- (Bn-+ ) ztido+(yn+ ec) Sart?av
0 0 0
vorlegt. Beide Fragen werden von Euler in der angeführten Ar-
beit berücksichtigt; die zweite läßt eine Anwendung auf die Theorie
der Kettenbrüche zu. Ist nämlich der Kettenbruch:
YtrAR«-+a)
er toBeta)
rc,
y—-ß+b+
gegeben, und läßt sich ein Integral:
1
1,— Jardv
0
ermitteln, welches die Gleichung (11) erfüllt, so ist:
en,
J;
11.) Zur Berechnung von:
farb da er log )
gibt Euler fünf Methoden, auf welehe wir einzugehen nicht für nötig
halten.
i TS 1 1
') Evolutio formulae integralie (dal at jogz) a termino
x<=0 usque ad z=1 extensae (1776), Nova Acta Acad. Petrop. IV, 1786
(publ. 1789), p. 3—16.
49*
158 Abschnitt XXVI.
12.) Durch Differentiation und Integration unter dem Integral-
zeichen berechnet Euler die Integrale:
lgade (a da
a Azlogx?
0
1
af — a P logaede a — a? da
R A FEN A logx’
0 N
wo:
x" +2cos9® +",
As eK + x”) R
n 1 _.n
"+ lft+z)+2”
ferner:
1
f a de a ta Pde
Ve ke Ze
13. Eine Verallgemeinerung der sogenannten Betafunktion
1
(diese Vorl, II, 8.653) far-1(1 — z)-!da bildet das Integral:
(P, 9) sr a
welches sich auf. das frühere für n = 1 reduziert. Diesem Integrale
widmet Euler drei Abhandlungen.) |
') Innumera theoremata circa formulas integrales quarum de-
monstratio vires analyseos superare videtur (1776), Nova Acta Acad.
Petrop. V, 1787 (publ. 1789), p. 3—26. ?°) Observationes circa integralia
formularum Seas a)" posito post integrationem z«=1,
Misc. Taur. III, 1762—1765 (publ 1766), P. I, p. 156—177.— Comparatio va-
| ar !dz
.
VA ER a
x—=1 extensae, Nova Acta Acad. Petrop. V, 1787 (publ. 1789), p. 86—117;
Inst. cale. int. IV, p. 295—326. — Additamentum ad dissertationem prae-
ar !de
R
V( APR
ad @—=1 extensae, Nova Acta Acad. Petrop. V, 1787 (publ. 1789), p. 118 bis
129; Inst. calc. int. IV, p. 326—337.
a termino 2=0 usque ad
lorum formulae integralis
cedentem, de valoribus formulae integralis ab x=0
Bestimmte Integrale. 159
Es ist vor allem zu bemerken, daß man p und g kleiner als »
machen kann vermittels der Formeln'):
1) G+HnND-5 WM) Bıtm-,, Rd;
pP
ferner ist: |
1
(13) B&)-(ar, DBmW)-—, nN)-,
Durch wiederholte Anwendung der ersten Formel (12) ergibt sich:
p 4, ptar+Pp+4 z
(P, q) = +9) are
ee ı,, IT
ggg int Ytrba+tmdg)
wo j= 00. Desgleichen ist:
er. PET Dat g)
‘) Die Formeln (12), (13) lassen sich folgendermaßen ableiten. Es ist:
1
gan
en 4“;
(p+n, o+ warn | tie) : Hari an)" da
0
5
ı an
- [eu a [«"+(1—-2”)]da&= (p, N,
0
ap +. Dd+r(ma+m
[ur 4914-2" aa lea- ho
woraus sich die Formeln (12) unmittelbar ergeben.
Setzt man ferner in (p, g):
1
lg (1 a y")” ,
so folgt nach einfachen Umformungen:
pn re pn
(p, ea " dy=- ) MG y")" dy=(gP).
1 0
Endlich ist:
1
pl 1
‚Nn) = ta || en
(P, N) rs
1
(n, ) ze ‚N = —.
)= (q, n) -
760 Abschnitt XXVL
also:
(D, 9) BEA und un Kusm Sum 22.
nr) Pr+on+PmR-+r+gQ :
woraus die Relation:
ab __(e
a+cb5) (a+b,o’
unmittelbar folgt, die zu einer Fülle von weiteren, hier nicht anzu-
führenden Beziehungen Anlaß gibt.
Das Integral (p, g) läßt sich durch eine konvergente Reihe aus-
drücken; es ist nämlich:
1
Bi: ER
(P, q) - fol Han 4 "gan }...)da
0
a
p n n+p N 2n 2n-+p 0
Br n—q 1 n—q2n—q 1 ee
et n Er n 2n RB
Es ist aber von Interesse, eine rascher konvergierende Reihe zu
erhalten. Dazu muß man beachten, daß:
1
va
ed ei
(n,q)= Jar-1— ar) * de + Jr-U1— ar) * da
0 1
v3
ee
v |
En | pon |
ui 7 > A ae — x”) n de — ya-ı(1 — y") n dy?)
Ö 1
v3
vol |
S
lan) e de + ya) r is Zy
or 5
!
EEE es Ren 1 oe]
et" rt 2n 4n erte
n—p2n—p 1
toals er an n tat 2n 4n a BlBek,
t) Der Wert von ar war von Euler schon im 1. Bande seiner Integral-
rechnung angegeben worden. *) Siehe die vorletzte Anmerkung.
Bestimmte Integrale, 161
worin die Glieder der beiden Reihen rascher abnehmen als diejenigen
der Reihe:
I+s ++
14.!) Man erhält durch partielle Integration:
Fftos ı)Y aa — z(log 24 n [(1og ar;
es ergibt sich aber durch wiederholte Anwendung der l’Hospital-
schen Regel:
[e(081)]=0
1
1
f (108 4)" dıe=n ” (1084) dx,
0
also:
o
woraus folgt:
15.2) Ist:
®=a+4 689 +q,c082p+:=b,+b,cosp+b,cosp’+---,
so findet Euler durch Berechnung des Integrales:
1
[eos pg cos p2dp
die Beziehung: ö
2a, — 6,+ =. bura Ey ° S u) Dura ar
wo k=h oder k=h-—1, je nachdem h=0 oder h>O ist.
16.) Man findet leicht:
!) De vero valore formulae integralis far (s+)' a termino
x&—=0 usque ad terminum x—=1 extensae (1776), Nova Acta Acad. Petrop.
VIH, 1790 (publ. 1794), p. 15—31. ®) Disquisitio ulterior de seriebus
secundum multipla cujusdam anguli progredientibus (1777), Nova Acta
Acad. Petrop. XI, 1793 (publ. 1798), p. 114—132. ®) Theorema maxime
dgcosip
M.S.
memorabile circa formulam integralem \
A n+i
—+ a? — 2a cos p)
Acad. exhib. 1778; Inst. calc. int. IV, p. 194—217. — Disquisitio con-
dp cosip
+ ß eos gp)r ’
jeeturalis super formula integrali Se M.S. Acad.
162 . Abschnitt XXVI.
pi son kıazi «cosp+Pß
ee = AIG OB TB cos @ ;
also:
we En 2.4
een Ver — ß%’
0
a FREE
A=1-+a?’— 2a cospg.
und hieraus:
wo:
Es ist ferner identisch:
dp=(l ta) 2 En
woraus durch Integration folgt:
A ee re IE Pe ee 2
za
"cos pd 1+.a? 07 a
De J 44 Ir, 2
6
Man kann demnach vermuten, es sei allgemein:
T-
ji aaa a
2 A Darslig
0
Diese Formel läßt sich auf folgende Weise bestätigen. Nehmen
wir an, e8 sel:
i—1 4
ara ra
I. =
age
1— a?’ 2
Man hat identisch:
cosApdp — (A 2 3) cos ai: SA Pe: en pdy
cosigpd cos (A+ 1)pd cos (Ak — 1)pd
- (149) 2 ng N en B
und hieraus durch bestimmte Integration von O bis x:
m (1 P a?) I; Se al;}ı al;_ı
oder:
exhib. 1778; Inst. _cale. int. IV, p. 217—242. — Demonstratio theorematis
insignis per conjecturam eruti, circa integrationem formulae
dpesip
(1 +0: — 2acos pt!’
M. S. Acad. exhib. 1778; Inst. calec. int. IV, p. 242—259.
Bestimmte Integrale. 763
+1
In Fa? Ta
u a $
I,
ER, Orae
Diese Formel ist aber nur ein besonderer Fall einer anderen, die
Euler durch Induktion beweist:
ii. = a ll) ps > En 6%) a ]-
0
17.) Ein geometrisches Problem führte Euler zu den Inte-
gralen:
3 d sin d
14 ie pdp sin pgdp
( ) : VY ’ Be
Die Berechnung derselben gründet er auf die später als Euler-
sches Integral zweiter Gattung bezeichnete Funktion:
| fee rde = In).
0
Man findet leicht die Rekursionsformel:
(15) Ia+1)=nIl(n);
es ergibt sich ferner durch die Substitution x = ky:
fr 1 aym u
Die Größe %k darf nicht negativ, wohl aber imaginär sein. Ist
dann k=p-+ ig, und setzt man:
p=rcose, q=rsine,
oder:
VER, 0a,
so folgt:
pr YerPY(cosqy + isin gqy)dy = - em m (cosn« Fisinne),
Ptig 7
also:
') De valoribus integralium a termino variabilis x— 0 usque ad
“=00 extensorum, M. S. Acad. exhib. 1781; Inst. cale. int. ir, BT
bis 345.
764 Abschnitt XXVI.
Mr cos qydy = — cos ne,
(16) gi
we sin gydy = 2m sin ne.
r
09
Um die Integrale (14) zu erhalten, muß man bier setzen:
also:
beachtet man, daß:
ist!), so folgt:
"os pd singpd EEE EN. =
Eu Vom yE, fg = -Yrsin7- =
Man hat allgemeiner:
- emgade - Be: „e _Vr u
2 r 2
U
PR ui pn N PER
e singrdz ii ee
e Vx r 2 r 2
0
Nimmt man in (16) n=o an, wo @ eine unendlichkleine Größe
bezeichnet, und bemerkt man, daß:
1) Euler hat die Formel:
1
[v-rsrae-%
N
t
angegeben (diese Vorl., III?, 8. 656). Setzt man 2—=e „so folgt hieraus
irrt
J: via=r(z)- =
0
und daher, wegen Formel (15) im Texte:
n(=r:
Bestimmte Integrale. 765
1 1 1
cso«—=], sinw«—= wa = w arctg a
so erhält man:
nn n
en cos gedax 6: je singedx arctg I:
& & p
w;
0
fürp=0, qg=1 ergibt sich aus der letzten Formel:
sinzdx 7
x ae
0
2n
=
11+.:+V —- > 0%,
h=0
18.1) Ist:
so sucht Euler die Koeffizienten a,, durch bestimmte Integrale aus-
zudrücken. Er findet:
an | (14 2osg)rdp,
0
anni d +2c0sp)"cospdp,
0
| (1+2cosp)"cos2pdy,
j 0
Hieraus ergibt sich:
rt
1 a” cosrpd ve”
F pap PR A, nr — Fr .
7 1—x—27cosp ’ yi—-2x2— 32°
0 n
wo:
1— 2 — V1— 22 — 32?
vv —
2
Setzt man:
ul 5 E
Be Db+-b-+1’
so läßt sich die erhaltene Formel folgendermaßen schreiben:
‘) Disquisitiones analyticae super evolutione potestatis tri-
nomialis (1+x2=+x%” (1778), Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797—1798
(publ. 1805), p. 75—110.
166 Abschnitt XXVI.
PL4
cosrpdy Ar a
1—2bcsg+b? 1—b?
)
Einen, wenn auch unvergleichlich kleineren, doch nieht unbedeu-
tenden Beitrag zur Theorie der bestimmten Integrale lieferten auch
andere Schriftsteller.
Landen!) stellte einige bekannte Integrale durch unendliche
Produkte dar, und gab neue Methoden zur Berechnung von zwischen
bestimmten Grenzen genommenen Integralen vom Typus:
F «dx
ptae+re"+.-
Laplace?) begegnete im Laufe seiner Untersuchungen über Wahr-
scheinlichkeitslehre dem Integrale:
fme-rrau
Dieses Integral verschwindet für ein ungerades m; man kann
daher m = 2n setzen, in welchem Falle man hat:
ferea — 2 [time "dt.
i% ö
Es ergibt sich ferner ohne Schwierigkeit für r = 1:
je)
fe oe u e-® dt.
0 i Ö
Um dieses letzte Integral zu berechnen, geht Laplace von dem
Doppelintegrale:
1= [ Jet dsau
00
aus. Integriert man zuerst nach s, so ergibt sich:
n Sins
1) Specimen of a new method of comparing curvilineal areas;
by which many such areas may be compared as have not yet ap-
peared to be comparable by any other method, Phil. Trans. LVII, 1768,
p. 174—180. — Some new theorems for computing the areas of certain
curve lines, ebenda LX, 1770, p. 441—443. *) M&moire sur les probabi-
lit&s, Me&m. Acad. Paris 1778 (publ. 1781); Oeuvres IX, Paris 1893, p. 381—485.
Bestimmte Integrale. 767
setzt man dagegen uVYs=t und dann s= 5’, so folgt:
1- (fern fer ie. rar 2 feras. ferat
00 £ ö 4 ö 0
2
feel
ö
ferar-%.
0
also:
Für r=2 hat man:
D
fee}
F 1-5-.9...(4n — 3) ’
Bre-tdi — aa fra
4”
4"
Ansagengg _ Tann) feerar
o
— —
0
so daß alles auf die Bestimmung von:
erdt=C, feerrat=c
fra-e j
ankommt. Es ist:
ut | u? "du RE LEN
I- [fe a4 asdu = a
00 0
man erhält andererseits durch die Substitutionen uYs = ,s=s*:
je
dr fe Jera- 4 Jseras ferrat=a0c,
$
0 0 v
0
so daß:
= ne
as,
und die Berechnung des einen dieser Integrale auf die des anderen
zurückgeführt wird. Es ist aber unmöglich, jedes der beiden Inte-
grale durch elementare Transzendenten auszudrücken.
Nieolaus Fuß (geboren zu Berlin 1755, seit 1773 Hilfsarbeiter
des damals schon erblindeten Euler zu Petersburg, später Mitglied
und Sekretär der dortigen Akademie und Generalschuldirektor, ge-
768 Abschnitt XXYVI.,
storben daselbst 1826) gab zwei Methoden!) zur Berechnung des Pro-
duktes:
1 1
x "Id «td
a, BE
ee : EL "a en
0
Friedrich Mallet (s. o. $. 129)?) berechnete auf einem neuen
Wege das schon von d’Alembert?) betrachtete Integral:
27
dt (1 — 19)"
: Ni -e@te—tt
Giovanni Francesco Giuseppe Malfatti, geboren 1731 zu
Ala in Tirol, gestorben 1807 als Professor an der Universität zu
Ferrara, widmete eine lange Abhandlung‘) dem Integral:
welches er in das rationale Integral:
1 1 | j
m+n—1 n—i =
ren fer ei
u n Jiry
durch die Substitution & = y” überführte. Die Integration geschieht
dann durch Zerlegung in einfache Brüche.
Mascheroni?) gab einen neuen Beweis von der Formel:
je)
1
artridge P7
BB, te
1+% ee
0
) Gemina methodus investigandi valorem producti
a lde f zlde
n re zu Rn —-
Va a? J Yı-a')
dum ambo integralia a termino 2@=0 usque ad terminum &=1 ex-
tenduntur, Acta Acad. Petrop. 1778, P. II (publ. 1781), p. 111—134.
®) Dissertatio integrationem formulae & D’Alembertio propositae
sistens, quam praesideF.Mallet...publico examini subjieit Carolus
DiethericusHierta, Upsala 1781. °®)Rech.sur le syst. du mondeII, p. 166.
*) Essai analytique sur l’integration de deux formules diffe-
rentielles, et sur la somme generale des söeriesharmoniques ä& termes
rationnels, M&m. Acad. Turin 1788—1789 (publ. 1790), p- 53—112.
®) Adnotationes etc.
a a
Bestimmte Integrale. 169
Fontana!) berechnete einige von 0 bis 5 erstreckte Integrale.
Nachdem er gezeigt hat, daß:
z zt
| F\
[log sinzdx — flog coszde,
ö ö
geht er von der bekannten Relation:
s ; . 1 x
sine +sin2r +sndr +. = cotg
aus, die gliedweise integriert wird; dadurch ergibt sich:
1 1 ee
8% + —e827 +, c08382% +. —— logsin Z — C,
und die Konstante © wird durch Einsetzung von 2—= x bestimmt,
was ergibt:
C=1—-— +: =log2.
Es ist also, wenn man 2x statt x setzt:
co82% + n cos4x + „cos 6% +. = — logsinz — log 2.
Integriert man nochmals, so erhält man:
2 a 1
Hin: ii
5 psin2x+ 5 sindr+ 5,5; sin 6x +...
Se — flog sinzd«e — x«log2 +0;
erstreckt man von 2=(0 bis = —, so folgt:
a
2
‚fios sinedz = — 7 log2,
0
also auch:
nr
2
‚fios coszde = — Z log 2.
0
Hieraus ergibt sich:
') Ricerche sopra diversi punti concernenti l’analisi infinitesi-
male e la sua applicazione alla fisica, Pavia 1793,
770 Abschnitt XXV1.
ze zt
w 6:
‚fios sec 2dx - flog cosee dx = -. log 2,
ö ö
zt za
E35 #
[log tang da = flog eotgredz — 0.
N} ö
Es wäre wohl angemessen, dieser kurzen Zusammenstellung der
in unsere Periode fallenden Untersuchungen über bestimmte Integrale
eine Kritik derselben folgen zu lassen; wir verzichten aber darauf,
da die Bedenken, zu denen diese Untersuchungen Anlaß geben, meistens
von so elementarer Natur sind, daß sie für einen sachkundigen Leser
keiner besonderen Erörterungen bedürfen.
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung.
1. Maxima und Minima.
Die Aufsuchung der größten und kleinsten Werte der Funktionen
bildet eins der Hauptprobleme, denen die Infinitesimalrechnung ihre
Entstehung verdankt. Für uns bietet diese Frage ein besonderes
Interesse darum dar, weil sie den Gegenstand der ersten Schrift
Lagranges bildet, derjenigen nämlich, welche den Beginn unserer
Periode bezeichnet. Bevor wir aber diese Arbeit, die sich auf Ex-
tremwerte der Funktionen mehrerer Veränderlichen bezieht, besprechen,
wollen wir die wenigen erwähnen, die sich mit Extremwerten der
Funktionen einer einzigen Variabeln beschäftigen.
Diesem Gegenstand ist fast ausschließlich die erste Hälfte eines schon
oben (S. 675) besprochenen Büchelchens von West!) gewidmet. Der
Verfasser bemerkt, daß man die Extremwerte gewöhnlich durch Null-
setzung der ersten Fluxion erhält; da aber, fährt er fort, der Grund
dieses Verfahrens nicht so leicht zu verstehen ist, so mag wohl die
hier vorgeschlagene Methode eine günstige Beurteilung finden. Dar-
auf läßt er eine Reihe von 20 Problemen folgen, deren 14 erste nach
dem common way und nach dem new way gelöst werden, während
auf die sechs letzten nur die neue Methode angewandt wird. Wir
führen als Beispiel das zweite Problem an. Eine Strecke AB soll
ı) West, Mathematics.
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 7171
in C© derart geteilt werden, daB AC- CB’ größtmöglich sei. Setzt
man: wo
AB=a, AC=xz, OB=y=a—ı,
so hat man nach der gewöhnlichen Methode die Fluxion von z(a— x)?
gleich Null zu setzen, woraus sich ergibt:
0 = (a — 2)? — 2la— z)ca = (a — x)(a — 3r)r,
oder = -_ Dasselbe Resultat erhält man durch folgende Schluß-
weise. Lassen wir den beweglichen Punkt © von A nach B gehen.
Das Produkt xy? nimmt zu, solange das Verhältnis des Zuwachses
von x zu x das Verhältnis der Verminderung von y? zu y? übertrifft;
das Maximum kommt also dann vor, wenn diese beiden Verhältnisse
einander gleich sind, wenn nämlıch:
BR
zo y
ist. Es ist aber 2=y, da der Zuwachs von x der Verminderung
von y gleich ist, folglich y=2x, und hieraus wie oben r = -
Daß diese Methode im Grunde keine Neuheit darbietet, erkennt
West selbst in einem Scholium zum 14* Problem, wo er sagt, die
von ihm als neu gegebene Methode sei freilich schon früher von an-
deren angewandt worden, niemand aber habe den Grund derselben
so klar auseinandergesetzt als er selbst. Daß aber die neue Methode
einen Rückschritt bildet, ist kaum nötig zu erwähnen; während näm-
lieh die Infinitesimalrechnung darauf gerichtet ist, mechanische, all-
gemein gültige Regeln für die Auflösung der verschiedenen Probleme
zu liefern, nötigt uns West, eine besondere Gedankenfolge für jeden
besonderen Fall zu erfinden. Einen ähnlichen Irrtum würde derjenige
begehen, der sich bei geometrischen Problemen des Gebrauches der
analytischen Geometrie enthalten und die Geometrie der Alten be-
ständig anwenden wollte.
In seiner Dissertation: De minimo in reflexione a eurvis!)
bestätigt Kästner die Behauptung von Robert Smith (diese Vorl.,
IIl?, 5.377), daß die Reflexion auf einem Kreise auf vier Wegen ge-
schehen kann. Es seien nämlich @G, H (Fig. 80) zwei gegen einen
Durchmesser AB des Kreises symmetrisch liegende innere Punkte,
und man ziehe durch die Punkte @, H und den Mittelpunkt C einen
zweiten Kreis, welcher den ersten Kreis in E, F schneiden möge;
') Dissertationes mathematicae et physicae, Altenburg 1771,
Diss. III, p. 22—27.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 50
112 Abschnitt XXVL
dann werden die Strahlen @A, GB, GE, GF, wie sich leicht nach-
weisen läßt, beziehungsweise in AH, BH, EH, FH reflektiert. Für
die Punkte A, B ist der Weg ein Maximum, für die Punkte E, F
ein Minimum.
Fontana widmet die elfte seiner Disquisitiones!) der Theorie
der Maxima und Minima, fügt aber dem schon bekannten nichts Neues
hinzu.
Dasselbe läßt sich von
einer Abhandlung von Frisi?)
aussagen.
Es ist wohl hier der Ort,
zwei kleine Schriften von
Andreas Hulten?) (geboren
zu Suaflund in Schweden 1767,
Professor der Mathematik und
Astronomie und dann der Theo-
logie an der Universität zu
Fig. 80. Upsala, gestorben daselbst 1831)
zu erwähnen, deren Inhalt aus
I
dem Titel selbst erhellt.
Die Theorie der Maxima und Minima der Funktionen von meh-
reren Veränderlichen war zuerst von Euler, aber nur unvollständig
behandelt worden (diese Vorl., III, 8. 769— 770). Es war Lagrange
vorbehalten, die Auflösung des wichtigen Problems wesentlich zu
fördern.*)
Es sei Z eine algebraische Funktion von #, u, ...., und:
dZ=pdt+qgdu+::-.
Unerläßlich für jeden Extremwert ist bekanntlich:
dZ=0$,
') Disquisitiones physico-mathematicae, nune primum editae,
Pavia 1780. 2?) De quantitatibus maximis, minimis, isoperimetricis,
Atti Accad. Siena VI, 1781, p. 121—159. Die frühere Arbeit von Frisi: De
problematis quibusdam maximorum et minimorum exercitatio geo-
metrica, Atti Accad. Siena IV, 1771, p. 15—20, ist rein geometrischen Inhalts;
auf diese bezieht sich ein Brief von V. Riecati in N. Race. d’opuscoli scient.
e filol. XXX, 1776, op. II, p. 1—7. ») Dissertatio de aequationibus
radices aliquot aequales habentibus, Greifswald, P. I 1793, P. II 1796,
P. III 1797. — Methodus Huddenii de maximis et minimis cum cal-
eulo fluxionum comparata, Greifswald 1797. 4) Recherches sur la
methode de maximis et minimis, Misc. Taur. I, 1759; Oeuvres I, Paris
1867, p. 3—20.
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 173
oder:
pdt+gdu+:.:=(.
Da aber diese Beziehung, wegen der Unabhängigkeit der Ver-
änderlichen 4, u, ..., für jedes Wertsystem von dt, du, ... bestehen
muß, so folgt:
P=4=-.-0
ein Gleichungssystem, das die gesuchten Wertsysteme t, u, ... liefern
wird.
Man muß aber auf das zweite Differential d?Z acht geben. Ist:
dp = Adt + Bau + -:
so folgt:
,„ dg=Bdt+Cdu+-:--,:--
?
®Z= Adt?+ 2Bdtdu+ Cd +...
Hat man mit einer einzigen Veränderlichen zu tun ‚so hat @Z
das gleiche Vorzeichen wie A, und man hat ein Minimum oder ein
Maximum, je nachdem A z 0 ist.
Bei zwei Veränderlichen kann man schreiben:
BZ= Adf + 2Batdu + Ca®= A(dt+ 2 au) + (e- 5, ) aus.
Hier muß, wegen der Unabhängigkeit von dt und du, jedes Glied
rechts für ein Minimum oder für ein Maximum positiv bzw. negativ
sein; es folgt dann für ein Minimum:
ee een)
oder: i
(1) A>0, C>0O, AC>B,
für ein Maximum:
A<0, 0-2<0,
oder:
(2) EICH: BR
Hat man drei Veränderlichen t, u, v, und ist:
dp= Adt + Bdu-+ Dav,
dq= Bdt + Odu+ Edv,
dr = Ddt+ Edu + Fdv,
so folgt:
#Z= Ad? + 2Bdtdu + Cdu + 2Ddtdv + 2 Edudv + Far:
- Aldt+ Zau+? dv) +a (du + .do) + (e- 2) av,
50 *
774 Abschnitt XXVI.
Dim RENNEN.
a A? A
Es ist also für ein Minimum:
A>9 >08 m -Rı
oder:
DHPA>I CAST COLEDNFAFDYSTERN BD)%,
woraus folgt:
(4) A>D, OD: F>0O CAD SFADR
Diese letzten Bedingungen sind aber mit den (3) nicht gleich-
bedeutend, wie es gleich daraus erhellt, daß E in (3), nicht aber ın
(4) vorkommt; Lagrange unterläßt nämlich, die weitere Bedingung:
FÜ>E:
hinzuzufügen, welche der Symmetrie wegen ersichtlich hinzutreten
muß und sich auch wirklich aus (3) ableiten läßt.')
Nachdem Lagrange einige Worte der Ausdehnung seiner Unter-
suchungen auf Funktionen einer beliebigen Anzahl von Veränder-
lichen gewidmet hat, fügt er einige Bemerkungen hinzu, die insofern
zweckmäßig sind, als seine Theorie, wie er denkt, ganz neu ist („comme
je erois cette theorie entierement nouvelle...“).
Ist Z eine Funktion der zwei Veränderlichen i, «, so kann man
Z als die Ordinate einer Fläche ansehen. Die der Annahme % = const.
entsprechende Gleichung dZ = pdt stellt alle Schnitte der Fläche dar,
die in den der tZ-Ebene parallelen Ebenen liegen; für p=0 erhält
t) Setzen wir:
CA—B=«uM, FA-D=P’, «>0, B>0,
so wird die letzte Ungleichung (3):
aß? > (EA— BD),
woraus folgt, wenn |p| den absoluten Betrag von p bezeichnet:
|EA|<eß+|BD|,
E?A?<o®ß?+B’D’+2aß,BD|
— A!OF—ACD?— AFB?+2B?D?+2%oß| BD,
oder:
A(CF— EN >D°?(AC—BY)+B?(AF— DY)—2%aß| BD|
woraus sich ergibt: wei Ned
OCF- E:>0.
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 775
man die größte oder die kleinste Ordinate eines dieser Schnitte, je
nachdem AS 0. Die Gleichung p—=0 stellt also den Ort der Maximal-
und Minimalordinaten dar; diese bilden einen ebenen oder nicht ebenen
Schnitt der Fläche, der von den Gleichungen dZ=gdu, p=0 be-
stimmt wird. Die Maximal- und Minimalordinaten der Fläche stimmen
mit denjenigen dieses Schnittes überein; diese aber werden durch die
Gleichung q = 0 gegeben. Aus p = 0 folgt:
dp= Adt+ Bdu=0,
und daher:
„Ar
dg T—-du,
so daß man ein Maximum oder ein Minimum hat, je nachdem:
® B?
<>»
er
ist. Die Bedingungen für ein Maximum oder Minimum sind also:
re 4A S 0, cs .
oder:
(5) ASO0, A0C>B:
Wollte man mit « anstatt mit £ anfangen, so würde man er-
halten:
050, A0>B
welche, zusammen mit (5), die Bedingungen (1), (2) wiedergeben.
Der Fall von mehr als zwei Veränderlichen ließe sich analog
behandeln.?)
Die Arbeit Lagranges hatte, wie es scheint, keinen großen An-
klang; wenigstens finden wir, in den 20 darauffolgenden Jahren, keine
auf denselben Gegenstand bezügliche Schrift. Erst 1779 veröffent-
lichte @. F. Fagnano eine Abhandlung?), in welcher er einige Maxi-
mal- und Minimalaufgaben sowohl durch die Differentialrechnung als
durch die reine Geometrie behandelte. Es sind folgende:
a) Einen Punkt D innerhalb eines Dreiecks ABC derart zu be-
stimmen, daß DA+ _DB-+ DC ein Minimum wird.
') Einige Anwendungen der Theorie der Extremwerte finden sich in der
Abhandlung von Lagrange: Solutions analytiques de quelques pro-
blemes sur les pyramides triangulaires, Nouv. M&m. Berlin 1773;
Oeuvres III, 1869, p. 661-692. ”) Problemata quaedam ad methodum
maximorum et minimorum spectantia, Nova Acta Erudit. 1775 (publ.
1779), p. 281—303.
776 Abschnitt XXVI.
b) Einen Punkt D innerhalb eines Dreiecks ABC derart zu be-
stimmen, daß DA’ +DB’+ DOC" ein Minimum wird.
ec) Einen Punkt E innerhalb eines Vierecks ABOD derart zu
bestimmen, daß EA+ EB+ EC+ ED ein Minimum wird.
d) In ein spitzwinkliges Dreieck das Dreieck von kleinstem Um-
fang einzuschreiben.
e) Bezeichnen ©, F, f den Mittelpunkt und die Brennpunkte
einer Ellipse, so soll ein Punkt X des Umfanges derselben derart
bestimmt werden, daß die Differenz der WinkelOXF, OXf ein Maxi-
mum wird.
Diese Probleme gehören sämtlich, mit Ausschluß des letzten, der
Theorie der Maxima und Minima der Funktionen von mehreren Ver-
änderlichen an. Daß Fagnano die darauf bezüglichen Untersuchungen
von Euler und Lagrange kannte, ist sehr wahrscheinlich; jedoch
folgt er bei der Auflösung seiner Probleme nicht dem von der Diffe-
rentialrechnung vorgezeichneten methodischen Weg, sondern er bedient
sich in jedem Falle besonderer Kunstgriffe. Aus der Differential-
rechnung entnimmt er nur den Grundbegriff der Theorie der Maxima
und Minima, in derselben Form, in welcher er schon bei Kepler
vorkommt (diese Vorl., II®, S. 828), daß nämlich in der Nähe eines
Extremwertes die Veränderung der Funktion als gleich Null, die
Funktion selbst also als konstant anzusehen ist. Hat er dann mit
einer Funktion von zwei unabhängigen Veränderlichen zu tun, so
nimmt er zuerst die eine von diesen als konstant an, und sucht den-
jenigen Wert der anderen zu bestimmen, für welchen die. Variation
der Funktion verschwindet, was ihm eine Maximums- oder Minimums-
bedingung gibt; er setzt dann die zweite Veränderliche als konstant
voraus, und verfährt auf ebendieselbe Weise, wodurch er die zweite
Bedingung erhält.
Um dem Leser einen genaueren Begriff von Fagnanos Ver-
fahren zu geben, wollen wir die Auflösung des ersten seiner Probleme
anführen.
Man beschreibe um © mit dem Radius OD einen Kreisbogen
VDF (Fig. 81), und E sei ein unendlich nahe an D liegender Punkt
dieses Bogens; es muß sein, wegen des Minimumscharakters des Punktes
D („per minimi naturam“):
DA+DB+D(=- EA+ EB+ EG,
oder, dd DO = EC:
DA+DB=EA+EB,
oder auch, wenn man um A, B die Kreisbögen Ed, De zieht:
Dd= Ee.
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. IHN
Es folgt hieraus, daß die beiden unendlichkleinen rechtwinkligen
N N
Dreiecke DdE, EeD einander gleich sind, so daß eED=dDE. Ist
N
DO die Tangente zum Bogen VF im Punkte D, so ist, da BDe
ES 7
= BeD = er
N = Fan ar 2 Fa
BDO=_—eDE, eED=- Ein
folglich:
ER N 94°
BDO=eED=-dDE,;
N N
addiert man die rechten Winkel ODC bzw. EDC hinzu, so folgt:
N zer":
BDC=ADG.
Fig. 81.
Auf gleiche Weise erhält man: -
Er N
BDC=ADRB.
Die Minimumsbedingung ist also:
N N N e_
ADB=BDC=CDA=
Derselbe Gedankengang, den wir soeben zu schildern versuchten,
erscheint wieder, wenn auch unter etwas veränderter Form, in einem
schon oben (3. 687) erwähnten italienischen Lehrbuche, in den Prineipii
fondamentali del calcolo differenziale e integrale von Lotteri.
Es wird in diesem Werke vorgeschrieben, daß man im Falle von
mehreren Veränderlichen einige derselben als konstant ansehen möge.
Soll z.B. eine Zahl a in drei Teile von größtem Produkte zerlegt
werden, und sind zwei derselben x, y, so daß das zu untersuchende
Produkt durch:
fir, y) = aay — ary — zy?
778 Abschnitt XXVI.
ausgedrückt wird, so betrachtet man zunächst x als einzig veränder-
lich; das gibt durch Differentiation:
ay— 22y— =,
also:
2%, (a W)-L(a-y.
Differentiiert man jetzt nach y, so erhält man:
1
7 (a —-y)la—3y)—0,
woraus sich y= = und folglich x = 5 ergibt.
Um den Unterschied zwischen diesem und dem Euler-Lagrange-
schen Verfahren in wenigen Worten nach der heutigen Ausdrucks-
weise zusammenzufassen, können wir sagen: Nach Euler und Lagrange
ergeben sich die gesuchten Wertepaare x, y aus der Auflösung des
Gleichungssystems:
nr of(®, of(@,
2 Yen, Yon-o
Nach Lotteri muß man dagegen erst die Gleichung:
of(®,
@) u _g
nach x auflösen; ergibt sich hieraus:
Im y),
ey, yW)=IW).
so gibt die Auflösung der Gleichung:
und setzt man:
| dg(y)
8 —— —0
(8) r
die gesuchten Werte von y, die dann, in x = #(y) eingesetzt, die ent-
sprechenden Werte von # liefern.
Es ist leicht zu sehen, daß beide Wege zu demselben Resultate
führen. Man hat nämlich nach der Definition von #(y):
(9) ET Tee
ferner:
dgy) _EFEW,Y) gr fa y), y)
a eg 3
so daß sich (8), wegen (9), auf:
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 7179 -
2 Fam) _
(10) a are 0
reduziert, und das Gleichungssystem (7), (8) durch das na (9),
(10) ersetzbar ist, welches mit (6) übereinstimmt.
Es ist merkwürdig, daß Lagrange selbst in seiner Theorie
des foncetions analytiques ganz ähnlich wie Lotteri verfährt;
nur ist seine Behandlung insofern vollständiger, als er auch die
zweiten Ableitungen berücksichtigt.
2. Unbestimmte Formen.
Zur Bestimmung des wahren Wertes des Verhältnisses = geben
Riceati und Saladini in ihren Institutiones analyticae eine von
Riecati') ersonnene Methode, die aber von der gewöhnlichen nicht
wesentlich abweicht. Liegt das Verhältnis na vor, und ist:
so muß man f(x) und p(x) durch x — a so oft teilen, als wenigstens
‚einer der beiden Quotienten einen bestimmten Wert erhält. Kommen
in f(x) oder in (x) Wurzelgrößen vor, so muß man & durch a + dx
ersetzen und dann die Wurzeln „more neutoniano“ ausziehen (man
macht z. B. vi +/dce+::: =-1+ da +:-.); der Quotient der
Koeffizienten der ersten Potenz von dx liefert den wahren Wert des
Verhältnisses.
Es gehört wohl hierher eine Bemerkung von Kästner.) Es ist:
secp + tangp = tang (45° u 2) s
also:
2tanggp = tang (45° + 2) — tang (45° — =)
Hieraus folgt für p = 90°:
(11) see 90° + tang 90° = tang 90°,
und:
) Animadversiones in fractionem, cuius numerator et de-
nominator per certam determinationem nihilo aequales fiunt,
Comm. Bon. II, P. II, 1747, p. 173—193. ?) Summe und Unterschied
von Dangante und Secante, Arch. d. r. und angew. Math. I, 1797—1798,
S. 174—180.
780 Abschnitt XXVI.
tang (45 °+ 7)
lım n —)»
p=9%0° ang p
oder:
10 un; + tanggp =»
( ) p= 900 tang Y
Die Gleichungen (11), (12) stehen zueinander in Widerspruch. Man
muß aber erwägen, sagt Kästner, daß der rechte Winkel weder
Sekante noch Tangente besitzt, so daß (11) nur aussagt, daß zwei
nicht existierende Dinge zusammengenommen ein nicht existierendes
Ding ausmachen. Nur für diejenigen, fährt er fort, besteht
der Widerspruch, die das Unendliche als etwas Wirkliches be-
trachten.
3. Anwendungen der Infinitesimalrechnung auf die
Reihenlehre.
Diese Anwendungen erscheinen in unserer Periode um so häu-
figer, als man sich damals berechtigt glaubte, mit unendlichgroßen und
unendlichkleinen Größen und mit unendlichen Reihen ganz rücksichts-
los umzugehen. Eben darum aber bedürfen die bezüglichen Formeln
einer genauen Prüfung, und einige von ihnen haben nur eine — wie
man heute sagen würde — asymptotische Bedeutung. Solcher-
art ist gleich die erste, die wir anzuführen haben.
In die schon oben (3. 747) besprochene Formel:
1
I IE VOR.)
Ö
x log x 2
1
setzt Euler!) A 1) statt logx ein, wo j eine unendliche Zahl
bezeichnet; es ergibt sich:
und durch die Substitution £ = 2’:
4
ms nj
2 er Mm
ee dz=log
0
!) Speculationes analyticae, Novi Comm. Acad. Petrop. XX, 1775
(publ. 1776), p. 59—79.
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 781
ms nj
k F z zZ - #
Nehmen wir m >n an, und entwickeln —— „ ın Reihen,
£(2<—1)’ 2@—1)
so folgt nach Integration:
1 1 1 1
_— — en oO
EBERLE TR Ya j j log
oder:
1 1
m
— + ——
mw. m) — 2
1
Es mag hier bemerkt werden, daß die Entwicklung nach fallen-
den Potenzen von z im Intervalle O<2<{1 nicht konvergiert. Man
kann aber, wenigstens für ganzzahlige m und n, dieser Schwierigkeit
aus dem Wege gehen wie folgt. Es ist:
A zu) mn) _q
(
a u en er 0 anj-1(sm—n)j—1 (m—n)j—2 Pe
RR, 2 GE 2 (2 +2 — +1)
EL mi ne
= aM ITI gMIT IL +2 ;
woraus sich durch Integration wiederum ergibt:
1
a zZ" 1 1
1
FE Be eat,
0
Ein interessantes Problem der Differenzenrechnung ist folgendes!):
Aus der als bekannt vorausgesetzten Summe:
lH + en
die Summen:
fu) = Hi mr. Hart,
la) lr'+ 2unilL... {4 gr-1
abzuleiten. Dieses Problem löst Euler auf Grund einer von ihm
früher aufgestellten Formel, welche den Ausdruck von f,(x) unter der
Form einer ganzen rationalen Funktion von x von der (n + 1)ter Ord-
nung angibt. Man kann allgemeiner aus der Summe Iy(r) die
ri
Summen . / p(r)dr und > pr) ableiten.
r=1 v=1
Man hat oft versucht, die Summe einer Reihe durch ein be-
stimmtes Integral auszudrücken, wenn dieses auch manchmal nur
eine scheinbare Vereinfachung ist, insofern als die Berechnung eines
') Euler, De singulari ratione differentiandi et integrandi quae
in summis serierum occeurrit (1776), Nova Acta Acad. Petrop. VI, 1788
(publ. 1790), p. 3—15.
182 Abschnitt XXVI.
bestimmten Integrals nieht selten nur durch Reihenentwicklung ge-
schehen kann. Euler!) hat dieses Problem für die Summe:
1+ae?+9%°+-
gelöst, wo:
ba+2b h—1)b
-(-" )- ne, on )
ist. Man kann durch Differentiation bestätigen, daß:
ey = a [a "ya BR (a .- fat y dr,
wo:
1
y-(1-)°.
Hieraus folgt:
1 1
a
a+b—1,,—b ur a—1,,0—b
f yddz fe yddr,
0 0
1
ak
RE 16, DR HE ae a arb-1,0=b
fr y’dı-- le yertaz,.
0 0
1
1
b
Jerry az Be nerren ger Je va,
0
0
und analog:
also:
usw. Setzt man insbesondere c= b—.a, und beachtet, daß:
1
Jerraz - a
bsin —-
0
ein Wert, den wir mit A bezeichnen wollen, so erhält man:
4
Seriyreaz Di „A En.
0
1
[07 — —(A aa b
fr En te er ER
0
usw. Es ist aber:
!) Plenior expositio serierum illarum memorabilium, quae ex
unciis potestatum binomii formantur (1776), Nova Acta Acad. Petrop.
VII, 1790 (publ. 1794), p. 32—68.
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 183
1
1
Sa -'y-"°dz — /aetyredal +,” +a®’+--.)
0 0
1
1 1
ze iIyedc + a, [er y de + a art -Iyreda+- er
N 0 N
folglich:
1
Say dar -Altartar+--)),
0
und hieraus:
Die Summen:
[4 ’
lt, +9, +,
’
0 + aa ++
. [ * . . * . [3 .:
5 ":b : ;
wow,= (-° N ), lassen sich auf analoge Weise berechnen.
Ein Interpolationsproblem führte Euler!) dazu, die Größe:
PER A RE
Fra’f+3a’(f+ 5a’:
durch bestimmte Integrale auszudrücken. Aus:
1 3
5b a"ide el arde
n—k m mn n—k
- ER k + er
| k=a k=a
leitete er für im=f und fürım=f+a ab:
I n = 2a
1 1
I eye, | ed
FASERSGE 7 3 ff+?2a).- J Yı_a?®
ira dx (f+2a)(f+4a):- 2 joe
ER JE TER 2 21 2 E DEEee ]
also:
') De fractionibus continuis Wallisii (1780), M&m. Acad. St.-Pet. V,
1812 (publ. 1815), p. 24—44.
784 Abschnitt XXVI.
1
rer
Via
S
rıde
& Vı —.a#°
Ebenfalls mit der Differenzen- und Interpolationslehre hängt die
Eulersche!) Formel zusammen:
fe)+fae+l)+fe@+2)+---
A=f
wo dıe Zahlen:
1 1 1
En Bro een We
die nämlichen sind, welche in den Formeln:
14. +5 + = Amt,
ee ‚
+ getget = Bat,
Itatg+:- 02
vorkommen. Eine analoge Formel gilt für die Summe:
fe)-f@e+)+fe@+23-::- |
Endlich drückt Euler?) den Binomialkoeffizienten (3) durch
ein bestimmtes Integral aus:
Air
g JA ""ı — a tda
0
insbesondere ist:
0 1 sing
ie 1 gq”
q Sean az
0
') Methodus succincta summas serierum infinitarum per for-
mulas differentiales investigandi (1780), M&m. Acad. St.-Pet. V, 1812
(pukl. 1815), p. 45—56. 2) De unciis potestatum binomii earumgque
interpolatione (1781), Mem. Acad. St.-Pet. IX, 1819—1820 (publ. 1824),
p. 5776,
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung.
=]
nn
Qi
Mit der Auswertung der Reihen:
2)
Dt » \ 1
en 2 Grm
wert I:
“=... ı An
_ (p+am(r +sn)(t-+un)’ ; u (p+gan)(r+sn)..-?
IT (a+bn)etdn)
= otmetn.
durch bestimmte Integrale beschäftigt sich Lorgna'). Antonio
Maria Lorgna, geboren zu Üerea bei Verona am 18. Oktober 1735,
gestorben zu Verona am 28. Juni 1796, war Oberst des Geniekorps
und Professor an der Militärschule zu Verona und beschäftigte sich be-
sonders mit hydraulischen Fragen; er war der Stifter und der erste
Vorsteher der Societä Italiana delle Scienze und veröffentlichte
zahlreiche mathematische und hydraulische Werke und Abhandlungen.
Eine spätere Schrift von Lorgna?) bezweckt die Summierung der
ao
Reihe DIR Be ‚wo a>1. Setzen wir der Einfachheit wegen «= e
»=1
voraus. Es ist:
sin en
a2 2i ’
also:
1 ie”
aer _
2 sin er e 1
®
die Werte p= =, q=1 ein, so folgt:
1
n 1 n
a’ 2 '"da = ine"
Kae ne
} sin — e 1
i
0
') Specimen de seriebus convergentibus, Verona 1775. 2, Delle
progressioni reciproche delle potenze affette, Mem. Soc. It. sc. II, P. II,
1784, p. 210-236.
786 Abschnitt XXVI.
oder:
1
An Wen
oxı fer ae.
Line": 1+% x et
oder auch:
1 1
A > are 2
1 ee "any. feüre "ar|_ 1
2 mi 1+x 2. 1+x x pri
0 0
Diese Relation läßt sich folgendermaßen schreiben:
0
® . ie ER nr
„a _.®) dx x bg ir) dx
m ( Sn e ( Tag
1+20)\1—x'" 6 1+2)\1—x iz)
1 1
= ı et iR
u a aa ) dx x ee GB ei
za 1 Berge - TE
ee x ee ir)
1 1
b& nr:
nn 1 a: zgin ds zz in dx
2 mi m) & =) x
er: > ale
1 1
PO. _n+l1
er dx ge SM dx
“ / ee BRETT
: es in) e ea ir)
1 1
n n+t1i1
A a” 82.08 er dx
Br % 73 Tor : x:
s ne) u
1 1
PR. 1.» +1 4
= ; Ai ee dx
te N Sr n 325 Ya
eg ir) ee. ir)
Summiert man nach n von 1 bis oo, so erhält man nach leichten
Reduktionen:
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 187
»
1 1
” B. PERS
” a, : a" ar, ee dx
Pi 9m ( er ( a
n=1 ’ d+m\1-a'” A+D9lı—x '”
1
» L LM
in in
2 x #4 x dı
te $: En = x ’
eh ah is) : atalı_n!2 i)
eine Formel, welehe die Summe der beiden Reihen links durch be-
stimmte Integrale ausdrückt.
Auch Malfatti in einer schon oben angeführten Abhandlung!)
beschäftigt sich mit der Summierung von Reihen durch bestimmte
Integrale. Es ist:
n+m n+2m
my m _...6%
IF fa u
m+n 2Zm+n 3m+n
1 Be m m
x x x s
Ei ee...
mn 2m+n 3m+n
also:
1
E
ı farae_ 1 SEN
m 1+2 m+n 2mHtn 3m+tn
0
Man erhält analog:
3
N
1 x” dx 1 1 1
ı fe = + - +
m 1—x m+n 2m+tn 3m+n
0
Es ist zu beachten, daß dieses letzte Integral unendlich ist; führt
man nämlich die Substitution x = y” aus, zerlegt in einfache Brüche
und integriert, so kommt das Glied:
1 1
los (1-— N) oder Bar (1 _=)]
0
') Essai analytique sur l’int6gration de deux formules diffe-
rentielles, et sur la somme g&n6rale des series harmoniques ä
termes rationnels, M&m. Acad. Turin 1788—1789 (publ. 1790), p. 58—112.
Siehe auch: Gratognini, Saggio analitico sopra una svista comune nel
problema per la valutazione delle annuitä, e sull’ uso del Caleolo
differenziale ed integrale nel sommare le serie armoniche relativa-
mente a tale problema, Pavia 1782.
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 51
188 ; Abschnitt XXVI.
vor. Nichtsdestoweniger hat die Formel nach Malfatti eine Bedeu-
tung; es ergibt sich nämlich für jedes » und p:
1 1
Fr en Ei
1 Fa ge”
Aw da — “
m 1—ı. li—2. 5
0 0
1 1 1 1
—mtn Namlat/: mT BAT Vene,
und die links vorkommende Differenz ist endlich, weil die beiden
1
1
Glieder fiog (1 — „=)| sich gegenseitig aufheben.
0
Andere Schriften setzen sich als Zweck vor, die Summe einer
Reihe oder den Wert eines unendlichen Produktes in geschlossener
Form mit Hilfe der Integralrechnung zu ermitteln. Um auch hier
mit Euler zu beginnen, führen wir zunächst eine Schrift!) an, wo er
7
die schon bekannte unendliche Produktenentwicklung von cos ig
TESTER BE
vermittels Integrationen berechnet.
Ebenfalls Euler verdankt man die merkwürdige Formel:
(13) E44 + )+ 4444) 5 logrlogy,
wo&z+y=1?) Es sei:
d d
p - (1ogn, 1 fr 108,
p+q=logrelogy+C.
Man hat für c+y=!1:
woraus folgt:
0 [era fee |
X
oc?
-- +7 +5 +),
N Exereitatio analytica (1776), Nova Acta Acad. Petrop. VII, 1790
‘(publ. 1794), p. 69—72. ?, De summatione serierum in hac forma
contentarum:
a ar.
(1779), M&m. Acad. St.-Pet. III, 1809—1810 (publ. 1811), p. 26—42,
Analytische Anwendungen der Infinitesimalrechnung. 189
und analog:
ch 8
a-—-(F+ tt),
also:
Grrtstr )+ +++ )=0-logalogy.
Für =1 ist:
y=0, logelogy=0;
es folgt:
E a
rt #
woraus (13) sich ergibt.
Man kann auf analoge Weise die folgenden Beziehungen finden:
1 1 1 % - Ei _m® Y
ratar +45) rise,
w—y=];
x rg "2 DEE ERBEN: vos y°?
hretaat + TH rt)
+15 +5) =logelog”F — logx logy +”
ce c? c?
+-5+5-)
wo y+&+y=c.
Auch die Relation:
2 , } a ; Dee j
mosno— zsin5osino’+, sindosino®—...
22 4 96
2
a Aal 2 © sın @— 7 e08 4o sın oa + cos 60 sin w —...
wird von Euler!) auf Grund der Integralrechnung bewiesen. Es
mögen die beiden Seiten durch S bzw. 7 bezeichnet werden. Setzen
wir 2sinoa—=b und betrachten wir augenblicklich b, © als vonein-
ander unabhängig, so ist:
__ bsino b’sin3o _ b*cos2o b*cos4w RES
ER PEDTAUBNG Ink BIST, TIIBIUERT i
ds i j
I besw— bcos3o+---, 1 — b’ sin 20 + b*sindo—--,
woraus sich leicht ergibt:
') De seriebus memorabilibus quibus sinus et cosinus angulorum
multiplorum exprimere licet (1780), Mem. Acad. St.-Pet. V, 1812 (publ.
1815), p. 57-72.
b1*
790 Abschnitt XXVI.
45 1 L9p 4 2
75 (1 + 20° cos20 + b*) =b(1l +?) cos w,
aT 9 i 4 ..:
do A + 25° cos2o + b‘) = — b’ sin2o,
und durch Integration:
, 1+5b?+2bsino
8 EL sino’
T= 1 1log[(1 ++ 2b sino)(1 +’ 2b sino)],
also:
T-S=-log(l +b?— 2b sin o),
und durch Einsetzung des Wertes von b:
T=S8.
Verschiedene Methoden zur Auswertung von unendlichen Reihen
durch Integration wurden von Landen!) und Fontana?) entwickelt.
Transzendenten. Elliptische Integrale.
1. Verschiedene Transzendenten.
Bevor wir auf die elliptischen Integrale kommen, deren Behand-
lung beinahe das ganze Kapitel einnehmen wird, wollen wir uns
mit einigen anderen Transzendenten von weit geringerer Wichtigkeit
beschäftigen.
Nur wenige Worte werden wir einer Schrift Eulers über un-
stetige Funktionen?) widmen. Euler bezeichnet diejenigen Funktionen
als „unstetig“, die sich nieht durch einen einzigen analytischen Aus-
druck darstellen lassen; so ist z. B. eine Polygonallinie das Bild einer
unstetigen Funktion. Nun fragt sich Euler, ob man solche Funk-
tionen in der Analysis zulassen darf. Dazu bemerkt er, daß die Inte-
gration der partiellen Differentialgleichungen willkürliche Funktionen
einführt, und daß man sich folglich, wenn man alle Lösungen er-
) A new method of obtaining the sums of certain series, Math.
Mem. I, p. 67—118. 2) Memoria sopra la somma di alcune serie
(das mir zur Verfügung stehende, der Universitäts-Bibliothek zu Pavia an-
gehörende Exemplar trägt weder Druckort noch Datum). ?°) De usu func-
tionum discontinuarum in analysi, Novi Comm. Acad. Petrop. XI, 1765
(publ. 1767), p. 3—27.
‘ Transzendenten. Elliptische Integrale. 791
halten will, erlauben muß, als solche nicht nur stetige, sondern auch
unstetige Funktionen anzunehmen.
Vandermonde betrachtet in einer schon oben (S. 120) an-
geführten Schrift!) den später als „Fakultät“ oder „Faktorielle“ be-
zeichneten Ausdruck:
p"=p@—-1): (p—n+l1).
Er findet:
[ef= ©”, [pP= [p]"[p — m)”,
1
0 = 1 Mm DE gerne ”
[Ir] ’ Ir] [p A m)" ?
ferner:
(1) Ip +m+n][p]"
— 1 + [m]'[0] a]?! + [m]? [OT RP Ip]? +
und hieraus, da die rechte Seite in bezug auf m und n symmetrisch
ist:
ptrmtnf[p "= Ip tm+n] "Ip".
Die Formel (1) kann als Definition des Ausdruckes:
pP +m+n]"[pl"
für nicht ganzzahlige m und » dienen. Eine andere wichtige Formel
ist:
n [pl [a]
2 n ee u:
_@tr+DME+tRn +9. -Wor+Yda—rn+d:-
PHNPFD +YD@+2%:---
Die Binomialreihe läßt sich durch die hier eingeführte Bezeich-
nung schreiben:
(1 +27 =1+ [rP[O] 2x + [PO] +.
Man erhält demnach durch Reihenintegration:
1
I=»N [er @/Pde=1— „az [PPI0R
0
+ v5 [PPIOP +
— 1 + [PO] [— NYIN]'+ [PP[OJ- I— NPINT+---.
') M&moire sur les irrationnelles de diff&erens ordres avec une
application au cercle, Hist. Acad. Paris 1772, P. I, p. 489—498.
192 Abschnitt XXVL
Dieselbe Entwicklung ergibt sich aber auch aus der rechten
Seite von (1), wenn mn m—=—P,n=—N,p=Nodrm=-—.N,
n=P,p=N darin setzt; es ist also:
EL IELENT
oder wegen (2):
_ _[PFFINT® _(PHN+YP+N+N -- 1.2...
[P+N]T [7° FPrDP+2. NHDN+N-;
Ist insbesondere v=2, N = in ‚P=-— n ‚so folgt:
also:
en a a RE: - en
TEE +33 2.4.5 Ba 1 9 a 3 PEN
Eine andere merkwürdige Transzendente ist der „Hyperlogarith-
mus“, wie Mascheroni!) das Integral 1 en nennt. Diese Funktion
entwickelt er für jeden Wert von x in eine konvergente Reihe, und
zeigt, wie man mit Hilfe derselben andere Integrale berechnen kann;
es ist z. B.:
dx
Nios log xdx = x loglogx — re
Er versucht auch, x durch he = u auszudrücken; dazu setzt er:
z=K+4Au+BwW+---,
und bestimmt die Koeffizienten mit Hilfe der Relation:
d’z dx
Tu Au
Mascheroni betrachtet auch das Integral AR ae ale
log log x’
„hypersecundus Logarithmus“ bezeichnet wird.
Adrien Marie Legendre?) verdankt man die Einführung in
die Analysis der heutzutage „Kugelfunktionen“ genannten Polynome:
ı) Adnotationes ad Calculum integralem Euleri etc. ?) Re-
cherches sur l’attraction des sph6roides homog£nes, M&m. pres. par
divers savants X, 1785, p. 411—434. — Recherches sur la figure des pla-
netes, Hist. Acad. Paris 1784 (publ. 1787), p. 370—389. — Suite des recherches
sur la figure des plan&tes, Hist. Acad. Paris 1789 (publ. 1793), p. 372
bis 454.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 193
-1,
X=%,
X, ge = (e* — 3):
1.8.5." — 1) /, ne-l)-
At FETTE (a TI -N :
. nn In —- 2n—3) „-
t gaaR_ Manz? Admin
die aus der Reihenentwicklung:
1
a, x WER...
Vi1— 2x2 + 2°? a
entstehen. Über diese Polynome beweist er die folgenden Sätze!):
a) X, l)=1;
b) IX,Q@)I<1 für jel<l;
c) die Wurzeln der Gleichung X,(z2)=0 sind sämtlich reell,
kleiner als 1 und voneinander verschieden;
1
d) farx,de - nn —1)---n—r-+2)
0
tr Hat N. nr +3)
insbesondere:
1
Se"X,,de=0 für n<r;
0
1
e) SX.x,de =(0 für m+#n;
1
1
f) fi Kr
” 2n-+1’
Re
L
Xy,da 2 (— I)”
g) fi ; Int3 Bntı Int+i
(1+kad) (d+M ?
—1i1
Die erste Schrift von Legendre wurde der Pariser Akademie
im Jahre 1784 vorgelesen, und bot Laplace?) Gelegenheit dar, die
') Einige von diesen Sätzen wurden von Legendre zuerst für gerade,
später aber für beliebige Indizes aufgestellt. ®) Theorie des attractions
des spheroides et de la figure des planötes, Hist. Acad. Paris 1782
794 Abschnitt XXVI.
Theorie der Kugelfunktionen zu fördern und zu erweitern. Er führte
die von zwei Paaren von Veränderlichen 9, ®, #, ® abhängigen
Kugelfunktionen Y,, ein, stellte die Differentialgleichung auf, welcher
dieselben genügen, nämlich:
Ö OX RER a0 #
2la-9 52 |+ a7 +Ra+ Dr, =0,
wo u=c0s®; ferner entwickelte er Y, nach den Kosinussen der
Vielfachen von &© — ®’, und gab die Integralrelation:
I 27
S[SUr.dudo=0 für m+n.
-1 0
Die Untersuchungen von Laplace wurden von Legendre in
der zuletzt angeführten Abhandlung wieder aufgenommen und ver-
vollständigt.
2. Elliptische Integrale.')
Die Theorie der elliptischen Integrale, deren Geburt wir in der
vorhergehenden Periode beigewohnt haben, nahm in der gegenwär-
tigen einen unerwarteten Aufschwung infolge einer von Euler in
einer im Jahre 1754 herausgegebenen anonymen Schrift?) aufgewor-
fenen Frage. Es war eben diese Frage, die@. B. Fagnano dazu auf-
munterte, die Untersuchungen seines Vaters wieder aufzunehmen, und
dessen Prioritätsrechte zu behaupten, während für Euler selbst seine
eigene Frage der Ausgangspunkt einer Reihe von wichtigen Ar-
beiten war.
Um uns inmitten der großen Menge von uns vorliegenden
Schriften zu orientieren, werden wir versuchen, dieselben um zwei
Grundfragen zu gruppieren, nämlich:
A. Beziehungen zwischen Bögen eines und desselben Kegel-
schnittes (Eulersche Differentialgleichung, Additionssätze);
(publ. 1785); Oeuvres X, Paris 1894, p. 341—419. Daß die Priorität der Er-
findung der Kugelfunktionen Legendre zukommt, ist ganz unzweifelhaft; siehe
Heine, Handbuch der Kugelfunctionen, II. Aufl., Berlin 1878, Einleitung
zum ersten Bande.
!) Über die Geschichte der elliptischen Integrale führen wir zwei wertvolle
Werke an: Enneper, Elliptische Functionen. Theorie und Geschichte,
II. Aufl., Halle 1890; Bellacchi, Introduzione storica alla teoria delle
funzioni ellittiche, Firenze 1894. ?) Daß diese Schrift von Euler herrührt,
ergibt sich aus Nova Acta Erud. 1770, p. 433 und aus Novi Comm. Acad. Petrop.
VI, 1758—1759 (publ. 1761), p. 128.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 719
B. Beziehungen zwischen Bögen verschiedener Kegelschnitte
(Transformation, Normalformen).
Einige wenige Schriften, die zu keiner dieser Fragen in Be-
ziehung stehen, werden wir behandeln unter dem Titel:
C. Vermischte Fragen.
A. Beziehungen zwischen Bögen eines und desselben
Kegelschnittes.
Im Jahre 1754 erschien in den Nova Acta Eruditorum (p. 40) als
Aufforderung, einen Satz zu beweisen und ein Problem aufzulösen, die
soeben erwähnte anonyme Schrift Eulers.
Der Satz war: Ist (Fig. 82) O der Mittelpunkt, A’A die größere
Achse einer Ellipse und
sind PP, @'Q zwei konju- > 2
gierte Durchmesser dersel-
ben, V’, V die Projektionen ‚ Q
von @ Q auf PP, ver-
längert man P’P bis R, y oO
so dß OR= 0A, und
schneidet die zu A’A senk-
rechte Gerade RT die a
S'
Ellipse in $, so ist:
Bogen W’ PS — Bogen QAS A
ig. 82.
=-2:0V=V’YV.
Das Problem war: Auf einem Ellipsenquadranten einen Bogen
algebraisch zu bestimmen, dessen Länge die Hälfte der Länge des
Quadranten sein möge.
Unzweifelhaft hatte der Versuch, die Untersuchungen von Giulio
Fagnano zu verallgemeinern, Euler zu solchen Betrachtungen ge-
führt. Die Ergebnisse seiner Forschungen in diesem Bereiche ent-
wickelte Euler in einer Reihe von Abhandlungen, über welche wir
zunächst zu berichten haben.
In seinen berühmten Untersuchungen über die Rektifikation der
Kegelschnitte war @. Fagnano besonderen Differentialgleichungen von
der Form:
F(x)d« £ F(y)dy = 0
wiederholt begegnet (diese Vorl., III, S. 487), welche sich integrieren
lassen, während jedes Glied für sich selbst nicht integrierbar ist.
Nun setzt sich Euler’) das allgemeine Problem vor, Differential-
') Specimen novae methodi curvarum quadraturas et rectifica-
796 Abschnitt XXVI.
gleichungen von solcher Beschaffenheit direkt aufzufinden. Dazu geht
er von einer zweckmäßig gewählten Beziehung zwischen z und y
aus, welche das Integral der zu bildenden Differentialgleichung dar-
stellen soll.
a) Es sei erstens:
(3) e+r(®+y) +2dey—=0.
Setzt man:
ver X, VE=Py ar - Y,)
so erhält man aus (3):
PRRREP Sum, VrKrid
709 Y
’
oder:
(4) X=yy+6dn Y=yr+dy;
es ergibt sich andererseits durch Differentiation von (B):
Vet+sNda+lyy+Isr)dy=d,
also wegen (4):
dx , dy
(8) zz
Um diese Gleichung auf eine bessere Form zu bringen, setzen
wir:
a Re
es folgt: |
e=—p, G=VA(A+ON), X-YVAR(A+CH),
Y=YAR(A+ 09),
und wir erhalten aus (3), (5), wenn wir YA, VA+ Oy? mit nega-
tirem Vorzeichen annehmen:
(By? — AM+ Ala?+y) —2ayVAA+OD)—=0,
tiones aliasque quantitates transcendentes inter se comparandi,
Novi Comm. Acad. Petrop. VII, 1758—1759 (publ. 1761), p. 88—127. — Specimen
alterum methodi novae quantitates transcendentes inter se compa-
randi. De comparatione arcuum ellipsis, ebenda, p. 3—48. — Demon-
stratio theorematis et solutio problematis in Actis Eruditorum
Lipsiensibus propositorum, ebenda, p. 128—162.— Institutiones calculi
integralis, Bd. I, Art. 580 ff., Bd. III, p. 597, Supplementum: Evolutio casuum
prorsus singularium eirca integrationem aequationum differentialium.
!) Das Vorzeichen der hier und in der Folge auftretenden Wurzelgrößen
muß in jedem besonderen Falle gehörig bestimmt werden.
NE va
Transzendenten. Elliptische Integrale. 7197
7) dx % dy ;
( vA+Czı? YyA+Cy
Da k in (6), nicht aber in (7) vorkommt, so stellt es die will-
kürliche Integrationskonstante dar, und (6) ist das vollständige Inte-
gral von (7).
Man kann solche Funktionen f(x) finden, daß unter der Voraus-
setzung, daß zwischen x und y die Relation (7) besteht, die Gleichung:
faaz __fdy _
VA+Os Yazoy
gilt, wo V eine algebraische Funktion von x, y bezeichnet. Es muß
dann:
f(@)dz fy)ay
VA+ Ca? yA-+ Cy? oo
nur eine veränderte Form der Integralgleichung (6) von (7) sein. Ist
z.B. f(x) = x, so ergibt sich:
V= key + const.
b) Es sei: &
e+2Bla ty) t+rl@+y) +2day—0;
man erhält hieraus:
(®) 08-0
wo:
X=V(B’— ep) +2B(8 — ya + (0° — Par,
Y=V(ß’—ay) +28 — y)y + (9 Pyr.
ce) Ist:
e+m®+ny+2day—=0,
so erhält man wieder Gl. (8), wo:
X=V(®— mn)e—an, Y= V (6° — mn)y? — am;
ferner:
d d >
(9) re NE zn —-dV,
wo:
V=--—ıay für f(a)= ma, Y(y) = ny;
V=-ayla+day) für fa) — mat, ply) = ntye.
Hieraus folgt allgemein:
798 Abschnitt XXVI.
a-+ bmx? + cm?«* a+bny?’+ en?y*
.& X dx ns Y d
—= y|—b+ca+ cöxy] + const.
Für m=n hat man:
er «“ q de ee + cm? y*
= ay(—b+ca+cödxy) + const.,
unter den Voraussetzungen:
—. V(®?—- m)e®—am, Y=Y(d?— m?)y? —am,
e+m(@®+y) +2day=0.
d) Ist:
a+ ra? +y?) + 2day + Ey 0
so folgt wieder (8), wo:
X=- VER (a+yd)(y+L), Y-VRYP— (a+YyY)(y+EP)-
Es gilt ferner Gl. (9) für:
fia)= a, oy)=y’, Ar
und für:
fa), pw), V=-;,l20- rla+ 9?) + day).
Hieraus ergibt sich:
nn a en
Er _ +, ne -[2« Ru y(22+ y?) + day] + ceonst.
Von den vier behandelten Fällen gehört nur der letzte unserer
Frage eigentlich an; die in den drei übrigen Fällen auftretenden Inte-
grale lassen sich durch elementare Funktionen ausdrücken. |
Die ermittelten Resultate lassen wichtige geometrische Anwen- |
dungen zu.
Die Rektifikation des Kreises wird durch die Formel:
= arc sinz
dz
Vi —
0
geliefert. Bezeichnen wir dieses Integral mit /7z, und wollen wir
dasselbe mit dem unter ce) vorkommenden:
Transzendenten. Elliptische Integrale. 799
a + bmz?-+ cm?z*
(10) V (6? — m?)z? — «m u.
identifizieren, so müssen wir setzen:
b=c=-0, a=km «= — Km, d=—-my1l—K,
wo k eine willkürliche Konstante bezeichnet; dann ist die Relation:
(11) I1x — IIy = const.
mit der anderen:
(12) PB a2— y+22yVl-R=0
gleichbedeutend. Zur Bestimmung der willkürlichen Konstante in (11)
erwäge man, daß aus y=0 wegen (12) 2 = % folgt; es nimmt daher
(11) die präzisere Form an:
IIx — IIy= Ilk,
während sich aus (12) ergibt:
z=yyl-kR+Rkyl<y,
y=xYy1l-M-— kY1-— a,
k=zVl1-y-yVYi-a.
z=sinE y-sinn k=8iny,
Setzt man:
so lassen sich die obigen Formeln folgendermaßen schreiben:
Ss n=97
sin& = sinn cosy + siny cosn,
sinn = sin & cosy — siny cos,
sin y = sin & cosn — sinn cos$,
oder kürzer:
sin (u & v) = sin u cosv E sinv cos u,
eine Formel, welche den Additions- und Subtraktionssatz der
Sinusfunktion darstellt.
Betrachten wir nunmehr die Parabel:
2’,
EREE
Fr
wo 2, u kartesische Koordinaten bezeichnen; dann ist:
800 Abschnitt XXVI,
au 2 Sy tz
s +: dz ES
0 0
Um dieses Integral, welches ebenfalls mit //z bezeichnet werden
möge, mit (10) zu identifizieren, setzen wir:
a=|1, b=—h, c=Vd—; “=hk, er Zee m-—{;
es ist dann, nachdem die willkürliche Konstante wie oben bestimmt
worden ist:
IIx — IIy= IIk + kay,
unter der Voraussetzung:
RB 2-2 +2YV1+MRay-=0,
oder:
z=yYi+M+kyi+y,
N u El are
k=zyVl+yV—-yyYil+a.
Bezeiehnen wir mit o den Scheitel der Parabel, ferner allgemein
mit 3 den Kurvenpunkt, dessen Abszisse 2 ist; es folgt dann:
IIz=2},
also:
(13) yr=ol+kay,
wenn:
zyli+y—-yYl+ro=k.
Sind p,q zwei andere Punkte, deren Abszissen zu k in derselben
Beziehung stehen als x, y, so folgt:
oqp=pT + kpg,
also:
ap — ye—kipg — 89):
Diese Formeln liefern die Auflösung einiger geometrischer Pro-
bleme.
1. Sind zwei Kurvenpunkte r, f gegeben, so soll man einen
dritten Punkt $ derart bestimmen, daß sich 8 — of durch die Ab-
szissen r, % algebraisch ausdrücken läßt. — Setzen wir in (13) », s
statt y, x, so ist:
ww —of=hrs,
s=-kyYl+r+ryi+R®.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 801
Diese selben Formeln dienen dazu, f aufzufinden, wenn r und 8
gegeben sind; die letzte Gleichung kann in dieser Hinsicht die
Form:
k=sVl+r—ryi+3
erhalten. Diese Beziehung läßt sich auch schreiben:
s+VYl+s8=-(k+V1+R)(r+Vi+r).
2. Sind drei Punkte r, h, f gegeben, so soll man einen vierten
Punkt 3 derart finden, daß sich r8— hf durch r», h, k algebraisch
ausdrücken läßt. — Man bestimme zunächst einen solchen Punkt [,
daß:
be —ol=hkl=hk|kyl1 +M®—hyi+R2]
ist; dann wird der gesuchte Punkt 5 durch die Beziehung:
s=rVil+P+1y1i+r
bestimmt, und es ist:
rw —ol=Irs,
folglich:
18 —hi=I(rs — hR).
3. Sind drei Punkte r, h, £ gegeben, und ist n eine ganze posi-
tive Zahl, so soll man einen Punkt &, derart bestimmen, daß:
v8, — nhf
algebraisch angebbar ist. — Ist z. B.n = 2, so bestimme man 8, der-
art, daß es zu 3, b, f in derselben Beziehung stehe, in welcher 3 im
vorhergehenden Probleme zu r, h, £ steht; dann ist:
8%, —hi=1(ss,— hk),
= sVl+R+1yi+s,
1, — 2hE = (rs + 58, — 2hk),
wo:
und folglich:
Die Bogenlänge der Ellipse:
2? u?
Arm“!
ist:
ns Ans
- (Viza- —g—de= Ja,
0) 0
wo:
= an, Z=YV(4°— 2°) (A?— n2?).
802 Abschnitt XXVI.
Um I/z mit dem unter d) vorkommenden Integral:
f a+bz?-+cz* ;;
v92— (e+y2)y+ 329)
in Übereinstimmung zu bringen, setzen wir:
a= 4A, b=-—n ce=0, —uy= AM,
PH air Run
ferner, wenn <=k für y=( sein muß:
e+yk®=0;
es folgt dann, wenn Y(A?— 12) (A?— nk?) = K ist:
A? K nk
«= kA?, ci > ie 36, an
also:
Nz— INy— Ik"),
und:
A? — 2? —y) +nk?a?y + 2A’ Kay=O,
woraus folgt:
TC =
A’Ky+kY) A’Kxz—kX) i A’(Ye— yX)
At—nköy? ’ Ye A!—mk’x: ?’ k= A'—naty® i
Sind also die‘ Kurvenpunkte r, T gegeben, und ist a einer der
Punkte, für welche z= 0, so läßt sich ein Punkt 3 derart finden,
daß v5 — af algebraisch angebbar ist; man hat nämlich:
(14) 1 af-Is—- Ir Ik —r,
_4A’Kr+ Rh
(15) ee Lpae7y 77
Ist insbesondere r — A, und bezeichnet man mit b den ent-
sprechenden Kurvenpunkt (Fig. 83), so folgt R=(0, und:
A: "AH
(16) s- AV
ferner:
at—bs = ya: u.
— nk? ’
eine Gleichung, die mit einer von G. Fagnano gegebenen (diese Vorl.,
IIP, S. 490) übereinstimmt.
Man findet leicht, daß die rechte Seite der letzten Gleichung die
Länge der zwischen dem Berührungspunkte f und der Projektion p
Transzendenten. Elliptische Integrale. 803
des Mittelpunktes liegenden Strecke der Tangente in f angibt. Ist
ferner t der Schnittpunkt der Achse oa mit dieser Tangente, und
nimmt man auf derselben
tv = A, so ist der gesuchte
Punkt $ der Schnittpunkt
der Ellipse mit der durch
v gehenden Parallele zu oa.
Derselbe Wert für s ergibt
sich offenbar, wenn man
den zu of konjugierten IN r
Durchmesser oh bis [ derart
verlängert, daß ol=A ist, 2 u
und [ auf ob projiziert; die 6
zu den beiden Schnitt- 7
5
l
rn
S
punkten $, & der projizie-
renden Geraden mit der | 5
Ellipse gemeinschaftliche
Abszisse hat die durch (16) Fig. 83,
gegebene Größe. Man kann
also schreiben:
a bi=af—bi=pf,
oder:
ab—ti=pf;
ferner, wenn j die Projektion von f auf oh ist:
ab —fs’= pi.
Hieraus ergibt sich unmittelbar der Beweis des 1754 vor-
geschlagenen Satzes. Man hat nämlich (siehe oben Fig. 82):
BA—- QAS=0OV,
BA-OPS HOF,
und analog:
woraus folgt:
QPS-QAS=-VTV.
Setzt man in (14), (15) r—=%, und bezeichnet man mit 9 den
daraus entstehenden Wert von s, so folgt:
k?
an ee,
er 24°’kK
A'!—_ nk!
Aus (14), (17) ergibt sich:
2(at — 18) — (at 19) =" (2rs — kg),
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 52
804 Abschnitt XXVI.
oder: |
ag — 215 — ” (2rs— kg).
Soll rs = ag sein, so muß zwischen r, s, k, g die Beziehung:
2rs=kg
stattfinden, welche zusammen mit (15) und dem soeben angegebenen
Ausdrucke von g die Werte von r,s,k als Funktionen von g ergibt.
Es ist daher möglich, einen. Bogen algebraisch zu bestimmen, dessen
Länge die Hälfte der Länge eines gegebenen Bogens ist, ein Problem,
welches das 1754 vorgeschlagene als besonderen Fall einschließt.
Auf die Integration der nach ihm benannten Gleichung ist Euler
noch wiederholt gekommen.')
In einer 1768 erschienenen Schrift?) zeigt Euler, wie man die
Differentialgleichung:
d& rn dy
VA+Bxz+02:+Dxa’+Ext yA+By+Cy’+Dy’+ Ey‘
direkt integrieren kann. Man muß zunächst die ungeraden Potenzen
von &, y abschaffen, wonach die Gleichung die Form:
I
VA+Cz?+Dx‘ yA+Cy?+ Dy*
annimmt. Setzt man hier zuerst:
<= YVpq, y-V#,
Ge u V®—1,
dann:
endlich:
1 Ä ——r
u= jap“ C(A + Dp®) + (A+ Dp?)sV4AD — Q],
so erhält man die durch elementare Funktionen integrierbare Glei-
chung:
ı) Ein besonderer Fall dieser Gleichung wird integriert in der Schrift:
Problöme: Un corps 6&tant attire en raison r&ciproque quarree des
distances vers deux points fixes donn&s, trouver les cas oü la courbe
d&crite par ce corps sera algebrique. Resolu par M. Euler, Mem. Acad.
Berlin 1760 (publ. 1767), p. 228— 249. 2?) Integratio aequationis
dx ae dy
VA+Ba+0Ca+Da’+ Ex YVA+By+OyY+DyP+EY
Novi Comm. Acad. Petrop. XII, 1766—1767 (publ.-1768), p. 3—16.
. ‚erfüllen.
J
Transzendenten. Elliptische Integrale. 805
Ei 200 7 nella ZA
Vı+s Tan A— Dy?
Die oben angegebene Methode zur Bildung von algebraisch inte-
grierbaren Differentialgleichungen von der Form (5) oder (8) wurde
später von Euler verallgemeinert‘)., Er geht von der Integral-
gleichung:
18) a +2Bla+y)+yYlat+y?)+2day+ 2eayla+y) + Rp = 0
aus, und findet eine Differentialgleichung von der gewünschten Form.
Da ferner diese 4 Konstanten, (18) aber 5 enthält, so ist (18) das voll-
ständige Integral. — Interessant sind die Betrachtungen Eulers über
die Möglichkeit weiterer Verallgemeinerungen. Wäre es möglich, die
Gleichung (8), wo X? ein beliebiges Polynom der sechsten Ord-
nung bezeichnen möge, algebraisch zu integrieren, so wäre ins-
besondere:
(19) ds _ dy
wo P ein beliebiges Polynom der dritten Ordnung ist, algebraisch
integrierbar, was nicht immer stattfindet. Ist X? vom fünften Grade,
so geht die Gleichung durch die Substitution:
z=W+o, y-ÜV+o,
wo « eine passend gewählte Konstante ist?), in:
du dv
SER
über, wo U? ein Polynom vom vierten Grade in u? darstellt; wäre
aber diese Gleichung stets algebraisch integrierbar, so würde dasselbe
von (19) folgen, wenn P ein Polynom vom zweiten Grade in x?
wäre, was nicht immer wahr ist. Also ist (8) nicht im allgemeinen
algebraisch integrierbar, wenn die Ordnung von X? vier übertrifft.
Die algebraische Integration ist auch im allgemeinen unmöglich,
wenn X eine Wurzelgröße darstellt, deren Index > 2 ist.
") Evolutio generalior formularum comparationi curvarum inser-
vientium, Novi Comm. Acad. Petrop. XII, 1766—1767 (publ. 1768), p. 42—86.
®) Euler sagt einfach, daß man x*, y? statt x, y setzen muß. — Ist:
X—=A+Bx+02?+Dae’+ Ex! + Fa,
so muß die Konstante « die Bedingung:
A+Ba+(Ce®+Da’+ Eat + Fe—0
62*
806 Abschnitt XXVI.
In seiner Integralrechnung!) kommt Euler auf den wichtigen
Gegenstand wieder zurück. Er bemerkt, daß die von ihm behandelten Glei-
chungen dazu geeignet sind, die Vorzüge der Methode des integrierenden
Faktors gegenüber derjenigen von der Trennung der Veränderlichen
aufs beste zu zeigen; es ist nämlich leicht ersichtlich, daß das
Eulersche Integrationsverfahren wesentlich in der Auffindung eines
Multiplikators besteht. Es ist aber im allgemeinen nichts weniger
als leicht, zu einer gegebenen Gleichung (5) einen passenden Multi-
plikator M zu finden. Man kann sich umgekehrt fragen, welche
Gleichungen durch einen Multiplikator von gegebener Form integriert
werden können. — Es sei z. B.:
DR
MR rN®
wo X, Y zwei gleichartige Funktionen von & bzw. y bezeichnen
mögen; dann muß:
Ydxz-+ Xdy
e+Pe-+rW°
ein vollständiges Differential sein. Integriert man nach x, so findet
man:
— Y
SE FatBatrn Wi
integriert man dagegen nach y, so ergibt sich:
x
(21) Ye FBe try)
Durch Gleichsetzung der beiden Ausdrücke erhält man:
BX—-yY=PBrle+ße+tyy)ld@)- IW)].
Da, wegen der Form der linken Seite, alle x und y zugleich ent-
haltenden Glieder rechts verschwinden müssen, so ist notwendig:
+4(8).
A(z) = mßx + const, I'(y) = myy + const.,
wo m eine konstante Größe bezeichnet, folglich:
X=y[mPp?x? +ß(mae+n)c+p],
Y-PBlmyy+ymae—n)y+d)
wo N, ?, q konstante Größen sind, zwischen welchen die Beziehung:
PISTEN ;
besteht. Durch Einsetzung dieser Ausdrücke in (20) oder in (21)
!) An den $. 796 angeführten Orten.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 807
ergibt sich als Integral der betrachteten Gleichung, nach leichten Um-
formungen:
mBray — 5 (Br yy) -f=gle+Br+rYy)
wo f=p- = =g+ - ‚ und g eine willkürliche Konstante ist.
Geht man von komplizierteren Formen von M aus, so erhält
man die schon oben behandelten elliptischen Differentialgleichungen.
Die Arbeiten Eulers über die Differentialgleichung:
Er
erregten die Aufmerksamkeit Lagranges.') Ihm schien sonderbar
genug, daß eine Differentialgleichung mit separierten Veränderlichen,
deren Glieder einzeln nicht algebraisch integrierbar sind, sich nichts-
destoweniger algebraisch integrieren ließe; und er wollte die Sache
näher betrachten. Ebenso wie Euler ging er vom einfachsten
Falle aus:
dx dy
22 ie
( ) Yı—-aı: V-y
Das Integral dieser Gleichung ist:
arcsinz = aresin y + const. = arcsin y + arcsın a;
es läßt sich aber auch auf algebraische Form bringen, denn es folgt,
wegen bekannter trigonometrischer Sätze:
(23) a=zyl—- yP?—yyi- a.
Es wäre jedoch wünschenswert, zu diesem Integrale auf algebraischem
Wege direkt zu gelangen. Das läßt sich folgendermaßen erreichen.
Man schreibe die Differentialgleichung so:
Vvi-ydr=Y1-a?dy,
und wende auf beide Seiten die partielle Integration an; man erhält
die Gleichung:
zyl— y+ el + m + const,,
welche sich wegen (22) auf (23) reduziert.
%) Sur l’int6gration de quelques equations differentielles dont
les ind&ötermindes sont s6epardes, mais dont chaque membre en par-
ticulier n’est point integrable, Misc. Taur. IV, 1766—1769, p. 98—125;
ÖOeuvres II, Paris 1868, p. 5—33.
808 Abschnitt XXVL
Ist die Differentialgleichung:
d& dy
Vetßstra+ödarten YVarßytry’+oy’+eyt
gegeben, so verifiziert man leicht durch Differentiation, daß ihr
Integral die Form:
A+B(z+y)+0(a@ +) + Day + E(#y + 2%) + Fey = 0
hat; die Koeffizienten lassen sich durch «, ß, y, 6, & ausdrücken mit
Ausschluß eines einzigen, der als Integrationskonstante gilt, so daß
die letzte Gleichung das vollständige Integral der gegebenen Diffe-
rentialgleichung bildet. Diese Integration ist aber, wie Lagrange
sich ausspricht, nur zufällig; er versucht daher, eine direkte Inte-
grationsmethode für derartige Gleichungen zu finden. Seine Methode
ist auf folgendes Prinzip gegründet.
Liegt eine nicht integrierbare Differentialgleichung erster Ord-
nung vor, so differentiiere man sie, und sehe zu, ob es möglich
ist, aus der gegebenen und der durch Differentiation aus dieser er-
haltenen Gleichung eine neue Differentialgleichung erster Ordnung
durch Kombination und Integration abzuleiten; dann liefert die Eli-
mination von — aus den beiden Differentialgleichungen erster Ord-
nung das gesuchte Integral. Ist das nicht möglich, so kann man
zweimal differentiieren usw. |
Sehen wir zu, unter welchen Bedingungen die Methode auf die
Gleichung: |
ER
ea
anwendbar ist, wo X, Y zwei gleichartige Funktionen von x bzw. y
bezeichnen. Schreiben wir:
ye"yrnT
wo t eine Hilfsveränderliche, 7’ eine Funktion von t ist. Es folgt:
(24) dx LE) _ dt
dx\?2 dy\2
nm)-% 7) -%
und hieraus durch Differentiation:
05 2 TATdx +2 72x dX 2TdTdy+2T:dy dY
(25) de Ber de? ay'
Setzen wir nunmehr:
2+y=p, 2—y=q, dT= Map + Ndg;
Transzendenten. Elliptische Integrale. 809
es folgt dann, wegen (24), (25):
sT ort KX— Y)dt®
YM=-7' ei Fr dpdq = T? ’
2 Tap(Mdp+ Ndg+2T’dp _dX , aY
di? ag!
und hieraus:
a T(Mdpt + Tatp) _AX _ dY_2NK-N.
dt? u ee E
Betrachtet man p als konstant, so ist:
dX ,90X dY__90X
da og’ dy eq’
also:
AT’ 3 R
ıT(,, dp’ + Ta ») 22%) ax-naı
dt? vr öq 7 0q’
oder:
R dp]?
Zu Zar (&)
op Er öq a 5
Um 2 hieraus abzuleiten, muß man diese Gleichung derart um-
formen, daß sie nur p und g enthalten möge; das aber scheint mır,
sagt Lagrange, nur dann möglich, wenn:
a) T=PQ ist, wo P eine Funktion von p, @ eine Funktion
von g bezeichnet, so daß die letzte Gleichung die Form:
| [perl
(26) al u G 2 $
erhält;
b) die rechte Seite von (26) eine Funktion 2p(p) von p Ist.
Es folgt dann:
as
em) = 900) [Qda+ vo).
d
2
(Pr) -2 Je War +6;
da aber:
dr A 1
m ——— ————
dp _de day_ VA+YF _VX+VY
Sen sauren
ist, so erhält man schließlich das gesuchte Integral:
(28) VX+VY=QV2/p(o)dp + C.
Wie müssen X und Y beschaffen sein, damit (27) bestehen
kann?
810 Abschnitt XXVI.
Setzen wir:
X=a+ße+ty®+datet+tod+t::.,
ne
es folgt hieraus:
2 Y-al(p+ pp + 02h Pte
An aa % ]
- alle + w+ Er + + p+--)
+ (++ Se + )+el&+)+
Es muß also wegen (27) zunächst Q=g sein, ferner:
Brm+ gr ++ pt. = u),
+ir+p+ a - pp),
a le Ei u,
folglich: :
= =, vW)=B+Pp + +5P, 9W)=L+en,
und (28) reduziert sich auf:
VX+VY=gVC+öp+ ep,
oder:
VX+VY=(e-y)VC+slKC+Y)+eEea-ty)%,
wo:
X=a+ße+ya®+0da?+ sat, Y=a+ßy-+yy+oöy + ey.
Man kann auch versuchen, für X und Y nicht notwendig gleich-
artige Funktionen anzunehmen. Setzt man:
i=-d22)=Blp+g, F=- FAy)=-W(p-—g),
so folgt aus (27):
op+)- #w- = Q|ylo)fQdg +vW)].
Differentiiert man zweimal nach p oder nach 9, so kommt:
Transzendenten. Elliptische Integrale. 811
’(p+d- (p—g) = Q|P” (») fQda + W” (o|,
2 +)- "0 -9W)45(o ad) +vw) TE
also:
ale’ (0,f 9dg + v0 =) 45 (9 Qda) + um GE:
Da diese Gleichung identisch bestehen soll, so kann man zunächst
setzen:
Qu (0) - TE),
also:
d?Q
dg? = — m’ Q,
wo m eine Konstante bezeichnet, und folglich:
Q=Asin(mq +«),
v(p) = — m’v (p),
v(p) = Bsin (mp +P).
af aaa 7m) - 0) 4, (af 0x4)
y(@)=— 4m’p(p),
und hieraus durch Integration:
9 (p) = Csin2 (mp + y).
Durch Einsetzung der erhaltenen Ausdrücke ergibt sich, wenn
man:
ferner:
woraus sich ergibt:
Aus:
folgt dann:
20 AB
4m er a Digg
macht:
B (22) - PA2y)=dlkp+N- F(ir—g
= — 2csin2(mp + y)sin2(mq + «)
— 2b sin (mp + ß) sin (mq + «)
— c[eos2 (2m& +y+ a) — c0os2(2my+y— «)]
+ bl[eos(2m& + ß + «) — cos (2my+ß— «)],
und folglich, wenn a eine weitere Konstante bezeichnet:
X=P(22)=a+beos(2me +ß+a)+ccos22 mx +y+e),
Y= #l2y)=a+bceos (2my+B-— ae) +cc0os2(2my+y— «),
812 Abschnitt XXVI.
welche nach Lagrange die allgemeinsten durch seine Methode zu
erhaltenden Ausdrücke zu sein scheinen. Das Integral ist nach (28):
V®(22)+YyP(2y) = Asin(mqg + e) V#- & cos (2mp + y),
wo H die willkürliche Konstante ist. Setzt man:
cos2mz +isin2mxz=u, cos2my-+isin2my=v,
cos(B+@)=A, cos(P—e)=E,
cs2y+te)=B cs2y—eo)=F,
so folgt:
U Vv
au. 2
wo:
U=c(B- yR-1)+b(A-— VA?— 1)u + 2au?
+d(A+ VAR 1)wW+c(B+YB?— 1)ut,
V=c(F-yYRF-1)+b(E-YVE-—-1)
+2a” +b(E+VE—- 1)” +e(F+ YF—-1)v%,
und die Differentialgleichung nimmt die Form:
du dv
vo vv
an, welche etwas allgemeiner ist als die frühere, insofern als in der-
selben nicht 5, sondern 6 Konstanten vorkommen').
Zwei weitere Integrationsmethoden wurden von Lagrange in
seiner Theorie des fonctions analytiques entwickelt.
Man setze wie oben: |
p+4 2-4
m > ’ Yy ee DD) ’
ferner:
ae a9.
EN
wo:
X=a+ße+y® toten, Y=e+tßy+trYP Hof t en;
dann ist:
1) Die Konstanten sind zwar 7, nämlich A, B,E, F,a,b, ce; aber es findet
zwischen ihnen eine Relation statt. Es ist nämlich:
cs«—=AE-+Y1— A’yı— E}, 0082 — BF+yi—_Biyi— F,,
folglich:
It BF+ Vi Z-Byfi-PR=2[l4E+ yi-Lyi ER)”.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 813
dp 7 7 7 d? 7 [2 „
Zer-ı FH Er =% +,
2 d?’q 7 „ [Z
==. -y, TH pas at Be
2" = X = (B +2yr +30d0° + 4ea?)r,
2yy = Y=-(B+2yy+3dy + 4ey)y,
und hieraus:
p -B+ym+” °p +M)+z(e + 3pq°),
„ 30
d‘=-y4+zrI+5BPd+P),
pq - 1’ Y'- a. g €
{)
-Ba+Yypa + zZ EP +) + (Pd + PP),
folglich:
„ Pr Öö
a" —-Pd=-(5 + ep),
oder:
rar Ze _ ($+2:p)p,
woraus sich durch Integration ergibt, wenn a eine Konstante be-
zeichnet:
#3
2 =a+ dp -E Ep",
VX+VY=(e-Y)Yya+slac+y)+Eea+ y:.
Man kann auch die gegebene Differentialgleichung auf die
Form:
oder:
du Er dz
VA+DBeosu YVA+B cosz
bringen. Dann ist:
2Wu’=— Bsinu-wW, 2272” = — Bsinz: 7,
oder:
en sin en
Setzt man:
z-+u Z—U
e An 2 ’ . Kuna 2 ’
so folgt:
‚, zZ+w ır uw
ven 2 y q erg 2 ?
2” u B .
pP’ — 2 (sins+sinu) = — — sinp cosq,
„ . BU —U - B
q -"5% - 7 (sing sinu) = — 2 eosp sing,
814 - Abschnitt XXVI.
und hieraus:
9:8 2 — u’ B B. 1
Prd=— = 7 (e0s2 — cosu) = — 5 sinp sing,
also:
p” q"
-— = 60t —-, = c0t .
FZ 89; vg gp
Man erhält hieraus durch Integration:
p=asing, q=bsinp,
folglich:
bsnp-p=asing-g,
und durch abermalige Integration:
(29) bceosp=acosg+ 6,
wo a, b, c drei Konstanten bezeichnen.
It z2= m für = (0, so hat man entsprechend:
pP=4=-, !=YVA+Beosm=P, W“=YVA+B=Q,
Br FU.
folglich:
1
’ at PB d-—P-9
BB 2sin
= — W eotg I
P
und hieraus, wenn man — =cosM setzt, wegen
Q
(29):
(30) cos = cos cos, + sin > sin . cos M.
Diese Gleichung läßt eine elegante geo-
metrische Interpretation zu. Hat man auf einer
Kugel zwei größte Kreise (Fig. 84) ARB, ASB,
deren gegenseitige Neigung M sein möge, und
nimmt man auf diesen zwei Bögen:
Fig. 84. U RE
A AD“;
: m m Y
so ist ODD=-—. Ist auch DE=, und setzt man AE=,,
so ist:
| ed
C08 = 008 0085 + sin ‚an, cos M.
2; " ee en b
in a a a a u a
Bene
Transzendenten. Elliptische Integrale. 815
It EF= ._ und setzt man AF = - so hat man analog:
Wi et
cos. = 08, 008, + Sin „ sn, cos M,
usw. Die Gleichung (30) ist mit:
fa) = f(u) + f(m)
k dz
f@) - (75 cos 2
ö
ist. Man hat dann:
fa) = Fe) + fm) = Fu) + 2 fm),
fo) =) + fm) = flu) + 3f(m),
Erst später erfuhr Euler zu seiner Verwunderung'), dab La-
grange seine Differentialgleichung integriert hatte, ohne von der
Methode des integrierenden Faktors Gebrauch zu machen. Mit seiner
unermüdlichen Tätigkeit wollte er gleich das sich auf Differentiation
stützende Lagrangesche Verfahren beherrschen und erkannte, dab
dasselbe in manchen Fällen gute Dienste leisten kann. Ist z.B. die
Gleichung:
gleichbedeutend, wo:
vorhanden, wo:
X=a+2ße+ya, Y=a+2ßy+tyy,
so schreibe man:
8
|
x
<
-J,
>
t
woraus folgt:
d
Ga hate;
a RAT EN)
Setzt man 2 — y=q, 80 ist:
De rrerh
also:
) Dilucidationes super methodo elegantissima, qua illustris
de la Grange usus est, in integranda aequatione differentiali
dx 2 dy
cv
Acta Acad. Petrop. II P. 1, 1778, p. 20—57; Inst. calc. int. IV, p. 465—503.
816 Abschnitt XXVI.
Pic dy dq
dt dt dt | r
Dr
und durch Integration:
| log 4? Tr er 10g 03 — 2loggq + const,,
oder:
> dxdy ıF
g’dt? m. (2 — y)? ?
oder auch, durch Veränderung der willkürlichen Konstante:
A @+Ba+ytrey)
Io mie me @_g®
was sich einfacher schreiben läßt:
a une
EH
Die Gleichung:
EBERLE
X Re
wo X, Y die obige Bedeutung haben, kann auf ähnliche Weise be-
handelt werden.
Nach diesen ganz einfachen Beispielen kommt Euler auf die
Differentialgleichung:
(31) — + Te -0),
die er in den folgenden Fällen integriert:
X=a+ßae+ ya,
X=e+ßa+y®+dad+t ent,
X=a+ßa?+tyat + 6a.
Wir beschränken uns hier auf den zweiten Fall, auf welchen die
zwei übrigen zurückführbar sind. Euler setzt, nach Lagrange:
re ar Er Be Kae
ferner, wenn das untere Vorzeichen angenommen wird:
a
year
was darauf hinauskommt, daß er das Lagrangesche 7 gleich Eins
annimmt. Es ist dann:
dpd
wem ir alt + ter +n4H (+29),
Transzendenten. Elliptische Integrale. 817
ferner:
woraus folgt:
’ dX dyY 36
et) Shtmt ++ 3 (#’ +3p9),
also: :
d’p dpdgq
Zen (s ter)
Multipliziert man mit a ‚ und integriert, so erhält man wie
oben:
+ (32) = C+0p+ Ep,
oder:
VX+VY=(@-y)VC+I(a+Yy) + Ele + y)*.
Bestimmt man die willkürliche Konstante derart, daß x — %k für
y=(0 ist, so erhält man nach einigen leichten Umformungen:
(32) 2e+PfatNWt2ray+Ssryc+ty)+2exry H2yXY
(x — y)?
_ 2«+pßk+2YoK
a] 2 ,
wo:
K=a+ßk+yl2 +63 + ec.
Nimmt man in (31) das obere Vorzeichen an, so hat man nur YY
mit dem Minuszeichen zu behaften.
In dem besonderen Falle, wo:
A=(a+ba+c®—-R%, Y=(a+by+ cyp)— 8
ist, kommt das merkwürdige Ergebnis vor, daß das Integral von (31),
wenn das obere Vorzeichen angenommen wird, in eine Identität
übergeht. Man kann dennoch das Integral durch die folgende Methode
erhalten. Ä
Setzen wir:
X=R?’+4, Y=$°+4,
wo 4 beliebig klein ist; es folgt dann:
1 > 1
VX=R+,, VY=-5+4,5,
und das Integral, wo d=2bec, &= c* ist, nimmt die Form an:
h
(Bu Bytes.) |
Ey VOHBe@FNFe@EN,
818 Abschnitt XXVI.
oder:
| h
(b+cp) (1,53) — VC+2bep + dp?
Quadriert man beiderseits, so ergibt sich:
(b+cp) — (b + op), - C+2bep + Ep,
oder:
dep PO -
OT DE | -D,
wo D eine neue willkürliche Konstante bezeichnet. Hieraus folgt
nach einigen leichten Reduktionen:
Br RS „a _ bez Ze
D b+? ce eb+ep \b+ep’
wo uv=xy, also:
Ad — CU a t
BT onst.,
oder auch:
aactyNtbay _ EN
cay— a
In einer weiteren Abhandlung!) vereinfacht Euler sein Ver-
fahren, und zieht auch seine älteren geometrischen Interpretationen
wieder in Betracht.
Die Eulersche Methode kann auch dazu dienen?), um parti-:
kuläre algebraische Integrale gewisser Differentialgleichungen zu er-
halten, welche sich sonst wohl nicht leicht ermitteln ließen. Es er-
gibt sich z. B. aus Gleichung (32), wenn man:
2a+ßk+2YVeK
2K? —H
setzt:
VX=-,|[H@-y' - a E(a+y)—yay+ Sayatyy—ery],
und folglich wegen (31) (wo das untere Vorzeichen angenommen
wird):
I!) Methodus succinctior comparationes quantitatum transcen-
dentium in forma = contentaruminve-
VA+2Bz+ (02’+2Dz’+ Ez*
niendi,M.S. Acad. exhib.1777; Inst. cale. int. IV, p.504—524. ®)Euler, Exempla
quarundam memorabilium aequationum differentialium, quas adeo
algebraice integrare licet, etiamsi nulla via pateat variabiles a se
invicem separandi (1778), Nova Acta Acad. Petrop. XII, 1795—1796 (publ.
1802), p. 3—13.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 819
(e+ßBy+yy?+dy? + eyi)de
+ Here + y) + ray — Saya+y) +eyP)dy=0,
eine Differentialgleichung, welche (32) als partikuläres Integral besitzt.
Zwei andere Abhandlungen Eulers!) fügen dessen früheren
Leistungen nichts wesentlich Neues hinzu.
Die Aufforderung vom Jahre 1754 konnte nicht umhin, 6. B.
Fagnano zu interessieren, um so mehr als sein Vater damals noch
lebte. Und in der Tat be-
schäftigte er sich mit der &
Eulerschen Frage und Zn:
verwandten Gegenständen
in drei Schriften, welche 2
die Data 1763, 1768, 1770 2 e
tragen ?). Seinen Beweis
des Eulerschen Theorems Q
gründet er auf folgenden
von seinem Vater auf- =
gestellten Satz’): Sind: . V
Fig. 85.
AB=20 EF=2% |
U
(Fig. 85) die größere und die kleinere Achse einer Ellipse mit dem
Mittelpunkt (, COM=x, CP=z die Abszissen von zwei Kurven-
punkten X, 7, und besteht zwischen x und 2 die Beziehung:
')Pleniorexplicatiocircacomparationem quantitatuminformula
; j Zdz
integrali contentarum, denotante Z functionem
mz’+nz
quamcunque rationalem ipsius z°, Acta Acad. Petrop. 1781, P. II (publ.
1785), p. 3—22; Inst. calc. int. IV, p. 446—464. — Uberior evolutio com-
NE quam inter arcus seetionum conicarum instituere licet,
Acta Acad. Petrop. 1781, P. II (publ. 1785), p. 23—44. ” Demon-
stratio sh st aha tr Actis Lipsiensibus propositi ad
annum 1754, Nova Acta Erud. 1762 (publ. 1763), p. 458-466. — Nova
arcuum parabolae apollonianae, atque hyperbolae aequilaterae
mensura, Nova Acta Erud. 1766—1767 (publ. 1768), p. 27—35 (abgedruckt in
Nuova Race. d’opuscoli scientifici e filologiei XVO, 1768, op. V, 17 8.)
— Commentatio ad theorema paternum cui titulus: TER da
eui si deduce una nuova misura degli archi ellittiei, iperbolie? e
eicloidali, sive de arcuum sectionum conicarum, aliarumque cur-
varuım inter se comparatione, investigatio, Nova Acta Erud. 1770,
p- 433—506. °) G@. lett, it. 1716; diese Vorl., II? S. 489—490,
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. . 53
820 Abschnitt XXVI.
at 2?
z = — [1
a8 ce? x? ’
a?
wo c= Va? — b?, so ist: /
2 meinten
Bogen EX — Bogen AT = ln ieh
-5
Es ist leicht, das Eulersche Theorem auf Grund dieses Hilfs-
satzes nachzuweisen. Nimmt man nämlich auf der Verlängerung von
TP einen solchen Punkt V, daß OV=a, und schneidet CV die
Ellipse in Z, so sind COX, CZ konjugierte Durchmesser'). Ist nun
XQ die Normale in X, Q@ die Projektion von X auf CZ, L der
Schnittpunkt von XQ mit CA, so ist:
2 2 2
LM-: or. cu ne
a a a
OCH-CP ER a? — x?
u Ver:
RT
folglich:
Bogen EX — Bogen AT= OQ.
Ist H der zu X in bezug auf AB symmetrische Punkt, Y der
zu X entgegengesetzte Kurvenpunkt, S der Schnittpunkt von PV
mit der Ellipse, so ist:
EX=FH-=-YF XT=HS AT=.A4S,
folglich:
YFH—-TAS=20Q,
oder schließlich:
YFS— XA8=2(09,
was zu beweisen war.
Die größte Differenz der Bögen YF'S, XAS entspricht der
Abszisse:
aya |
"yatr'
es ist dann 2=x, so daß T mit X zusammenfällt, und:
») Aus:
ergibt sich:
£5 2
tang ACV= din =— de ,
a ya? — x? a’y
woraus bekanntlich folgt, daß OX und CZ konjugierte Durchmesser sind.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 821
YFS—- XA8=2(a —b).
In dir zweiten Abhandlung beweist Fagnano einige die Bögen
der Parabel und der gleichseitigen Hyperbel betreffende Sätze.
Die dritte Abhandlung ist der Auflösung des Eulerschen Pro:
blemes hauptsächlich gewidmet. Dazu stellt aber Fagnano mehrere
allgemeinere Sätze auf, bei deren Auffindung, wie er erzählt, die Rat-
schläge seines mehr als achtzigjährigen Vaters ihm zustatten kamen.
a) Besteht zwischen x und z die Beziehung:
(33) fha®r2?" + fl(a" +2) + gl=0,
oder:
(34) fha®"z?" + gh(a” +2) + gl=0,
so ist:
kai an ı 7 „en |
Fran er Hıfenias hr +
hx"s”
ne +0
Vhx” 2”
Es,
nV—9
Es folgt nämlich aus (33):
gi ve a Ve Uf2?" +9)
har" +) ’ fr" +) ’
also:
—ıIla" tax, "id;
X + Z = VF| zii + |
man erhält aber aus (33) durch Differentiation:
herr" Ida + har" zer -1dz + Ir ide + la -IAdg 0,
oder:
den. I (ar de+ wer-id) = — 2 d(arm),
z" # >%
folglieh:
Str J2-- 5
Die @l. (34) läßt sich analog behandeln.
53 *
822 Abschnitt XXVI.
b) Es ist unter denselben Voraussetzungen:
de 2
san Agent an
f Vfna*" + (fl + gh)a®”" + gl
N 1dz
He — -——=Ü,
YV rn*" + (fI+ gn) "+ gl
c) Ebenfalls unter den obigen Voraussetzungen hat man:
fe + [R = gdr— lix
Vrna'" + fl + gNyar" + gl
N „N
%.#
+ fl rrtgg- | nyer Be
Vrer Hrn" tn a,
ny— gh
d) Ist:
(35) p’(fha®r 22" + gl) — gl(a?" + 2°”)
F2r Vgl VD +) 0,
wo p eine Konstante bezeichnet, so folgt:
(36) [rz/v=e
und (35) ist die allgemeinste Beziehung, für welche (36) besteht.
e) Sex jr-- Mat
i Sn—1i
fh V gl«*" + (fI+ gh)a?” + fh
2 gle’""!dz _ PVgla':" _ (
5
fhVgle" + fine tm "f
aid
g) fF je -/[;
e Vola®" + (fI+ gh)a®” + fh
af Nn— ldz - C
Vor" + (fl + gh)a?" + fh
h) Jr» J2--"7 +6.
EIER TU TERN
Transzendenten. Elliptische Integrale. 823
A ah TE
1) fa#/v=f Idx Be?
leer -h 1a" 2"
+ wridE DE ereE + Ö.
a
gl(a?" + 22") + 20" 2" Vgl Vghp? + gl— gip? = 0,
so folgt:
ji + fo far- ldxz vr + fer-1as vr
hpa"z" 2"
= C.
nygl se
k) Ist g eine ungerade Zahl, und besteht die Beziehung (33),
so ist:
= Ir et.
ff a
“ Vrna" + (fI+ gh)a®" + gl
asie..
Vrne*" + (fl + gh)2?" + gl
eine algebraische Größe. Man hat nämlich:
+
d (a0 Vfhad” + (fl + gh)a®" + gl + zu" Yfht" + (fl + gh)2?" + gl)
„ atDrre"+aH DE + gha”" + ggl
= na"io er en
Vrnae" + (fI+ ghya®" + gl
+ agn-1ds AtDfRE" +a+DWI+gNz" +agl
Va" ++ gh)e" + gl
=n|[(g+ Dfh(W WEZZ)+t(@+NV(fi + gh\(W,_st+ Z,_,)
+IgAW._, EZ, _,)]
und W+£Z, ist fürg =——3 und für g=— 1 wegen der Sätze b),
e) algebraisch integrierbar.
Die obigen Sätze lassen zahlreiche geometrische Anwendungen
zu, die zwar nicht sämtlich neu sind, und von welchen nur einige
angeführt werden mögen.
a) Ist a die Halbachse einer Lemniskate, & der vom Doppelpunkt
ausgehende Vektorradius, so ist der Elementarbogen der Kurve:
a?dx
a a,
- Vat— x*
824 Abschnitt XXVI.
Man erhält aber dieses Differential aus T, wenn man setzt:
sl; f=--1l g=-l=d, h=];
es folgt also aus (33):
rt) — at,
vn
ge = iemunhmirnin tree „©
a?+x?
Ist daher CEB=x, ÜE=z, so folgt (Fig. 86):
oder:
Bogen OE + Bogen ÜB = const.
Zur Bestimmung der Konstante beachte man, daß z=a für r=0
van
Fig. 86.
ist. Die Konstante ist also der Bogen OA, und man hat:
Bogen ÜUE = Bogen BA.
Die Punkte E, B fallen zusammen, wenn:
vet Fe
en at-&x?
oder =aVy2—1 ist, eine Formel, welche das Mittel liefert, den
Lemniskatenquadranten zu halbieren.
b) Ist a die Halbachse, x der vom Mittelpunkt ausgehende Vektor-
radius einer gleichseitigen Hyperbel, so ist:
z’dx
ds u Vx* ae i
Um dieses Differential mit Q in Übereinstimmung zu bringen,
muß man setzen:
n=|1, f=h=]1, 9=— a, I= a};
es folgt dann aus (34):
HH) —- td,
Transzendenten. Elliptische Integrale. 825
oder: w.,
(37) z=4d 1
Ist also ObB=z, 0OE=z (Fig. 87), so folgt:
AB+AE=-TZ +0.
Ist B' ein anderer Kurvenpunkt, E’ der wegen (37) demselben
entsprechende Punkt, und be-
zeichnet man mit {, « die nach
B', E’ gehenden Vektorradien,
so ist:
AB+AE=Ü@+C.
Hieraus folgt:
AB+AE-—-AB-AF
oder:
‚ cz —tu
EE-BP= a
c) Setzt man:
a Life nl, g-i=-al
h=—d,
so ergibt sich:
> N u a
a RE 26
welches den Elementarbogen
der Ellipse darstellt, deren
Fig. 37.
Halbachsen a, Va?— c? sind,
ferner, wegen (35):
(38) ep + ap — a? — 2?) F2adrın = 0,
oder, wenn man das obere Vorzeichen annimmt:
_ re +pda
ad —_ cipta? ?
zZ
wo:
1 -V@-p)a- Ep), -Va-) a er),
826 Abschnitt XXVI.
ist dann (Fig. 8) CM=x, ON=z CQ=p, so folgt:
DR DEF es
Bestimmt man die Konstante auf die gewöhnliche Weise, so er-
hält man:
e?px2
DRTIW-7T7 1323,
oder:
DR-ST="#,
ein Ergebnis, welchem wir schon oben (Formel (14)) begegnet sind.
|
NL 7
Fig. 88.
Nimmt man dagegen das untere Vorzeichen, so erhält man:
(39) PP 2 eh m ..
a® — c?p?x? — c?x?2??
wo:
= Va’ — (at — 2);
=.
Fig. 89.
der Punkt 7 fällt zwischen S und D, und man hat (Fig. 89):
Transzendenten. Elliptische Integrale. 827
2
DR—-DS="2° —DT,
woraus wiederum die obige Beziehung folgt.
Fällt insbesondere R mit 7’ zusammen, so it a=p, &E=n, folg-
lich wegen der zweiten Gleichung (39):
azE= (a — Par + ade;
es ergibt sich andererseits aus (38):
et? — az +2anzE=0,
folglich: |
etz? — a2? + 20a — Pr? + add) = 0,
oder:
et — 20 ++ at,
woraus man erhält:
(40) = — Vla — Va? — 22] [a — Va — @2]a.
Ist also (Fig. %) C(M=&=p, CON=;z, so hat man:
D
u ; ;
(AD 7 GE
Fig. 9.
DR-RS="°? -! [a Va] [® Va er].
a*
’ aya
Für z=a findet man, wie oben, 2 — A und:
Va+?’
DR-RA=a-—b.
Nimmt man nun p, 2 statt &, p, und ist (Fig. 91) 2,=CN, der
entsprechende Wert von z, so hat man:
_ wz+p8) _ a’@d+x)
1 a® — c?p?z? En ad — ce! x? 2?’
ferner:
828 Abschnitt XXVI.
DR S8 € Da _er22,
a*
a* ?
und wenn man mit der oben gefundenen Gleichung summiert:
2DR- Ram,
wo x den Wert (40) hat.
Nimmt man nun z, statt 2, und ist 9», = CM, der den Werten
Fig. 91.
x, 2, entsprechende Wert von p, so hat man:
am +99
(41) 2, = a6 — e? x? p, ,
wo z, eine zu x analoge Bedeutung hat, ferner:
DR- RS, = ni de ;
a*
multipliziert man mit 2 und subtrahiert (DR — RS), so folgt:
2
DS—2RS = (2m A — 82).
Damit DS=2R,$, ist, muß die Beziehung:
(42) 29,2, = 22
bestehen. Setzt man nun in (38) 2,, ?, statt z, p, so erhält man:
(43) ep 22.+0(p? —- R—- 2) +2era,m, 0.
Aus (41), (42), (43) ergibt sich:
“ = 1, Verz=t +02? + ut a®xz
ef |
UY8 "u Fam tr en El
Transzendenten. Elliptische Integrale. ü 829
wo:
2a’xE
er
Fällt insbesondere S mit A zusammen, so wird:
aya ya
= a AB
za I=- Tan, & Are
also:
Ele - |Vba +30 +4Vala + b)
+Y5a +3b—AYa(a + b)|,
eine Formel, welche die Auflösung des Eulerschen Problems liefert.
Mit der Eulerschen Frage beschäftigten sich auch Charles
Bossut (geb. zu Tartaras bei Lyon am 11. August 1730, gest. zu
Paris am 14. Januar 1814) und Etienne Bezout.
Der Beweis von Bossut?) ist folgender.
B
P!
Y @
0 VAL ii
4 a IV
qQ'
<T
B’ R
Fig. 92.
Es sei (Fig. 92):
OP=n AN=2, AT=u NQ=y;
man hat dann:
und folglich:
ET dx Va®b? + 2actn — c’x? 3
ay2ar— a
40, au ed Haan u— c!u?
ay?au —
) Demonstration d’un th6eor&me de geomätrie Enonce dans les
Actes de Leipsick, annde 1754, M&m. pres. par div. sav. III, 1760, p. 314
bis 320.
830 Abschnitt XXVI.
Drücken wir alles durch n aus. Es ist bekanntlich:
09=Va?+b?—n?,
ferner:
B 1 :
09=-yVON+ NG -Va-a'+ty- Ve -2adr+ de;
durch Gleichsetzung der beiden Werte von OQ ergibt sich:
W "WI rg
s=a+. Ve—n,
und hieraus:
?
4-49 -d-419- -"®, 4.49 -d.419- 4.419 -"0"
wo:
R=Y(a? — n?)(n? — 2).
DBMR SER
ER r db?
Aus:
-1, 00° +MP=-n
erhält man andererseits:
0OM=- Vr?—»,
C
folglich:
2 a at 2 De ID 535
0T=Z-0M=- —_Vm—b, u=a— — Vm"—b,
und hieraus:
a?b?dn
4. AS=— n:R
Es folgt:
KQOPS- 049) =: 0 PA 4'942 20738
N?
Ist dieser Ausdruck das Differential einer algebraischen Funktion
von n, so hat diese notwendig die Form pn? R, wo p eine Konstante,
q eine ganze Zahl ist. Durch Differentiation ergibt sich p= 2,
g=—J1, also:
d(Q PS- QA)-2d%,
und wenn man integriert:
QPS- QAS=2%,
wobei die Integrationskonstante, wie man leicht bestätigt, gleich Null
zu setzen ist. e
ENTF
Transzendenten. Elliptische Integrale. 831
Es ist ferner, wegen einer bekannten Eigenschaft der konjugierten
Durchmesser:
n:-QV=al,
also:
- oV-Va+s m 8
und schließlich:
’
OPS—- QAB=2- OV..
Der Eulersche Satz ließe sich, wie Bossut bemerkt, auf fol-
gende Weise a priori entdecken. Setzen wir uns vor, zwei Ellipsen-
bögen anzugeben, deren Differenz algebraisch rektifizierbar sein möge.
Es sei A’BQ einer dieser Bögen, wo A’Q=x; dann ergibt sich wie
oben:
: n?’dn
a.ABN-—-7-,
wenn man setzt:
Veb” +2adr— da?=an,
woraus folgt:
& Aa TE —
z=a+ Ve— n°-
Da aber identisch:
n®dn a’b’dn a R
R "RR "Mm
a’b’dn
n®R
bogens bildet. Daß dieses wirklich stattfindet, bestätigt man durch
die Substitution n = 3, welche ergibt:
1
so ist das Problem gelöst, wenn das Differential eines Ellipsen-
ED rn BR
en; 3 AR,
wo:
ist R,= Y(a?— n,?)(n,?— d%)
ist.
Bezout!) stellt die folgenden drei Sätze auf:
a) Das Differential:
de un d gar (+27) :
e+fx"
läßt sich in zwei Differentiale von der Form:
') M&moire sur les quantites differentielles, qui n’&tant point
integrables par elles-mömes, le deviennent ndanmoins quand on
leur joint des quantites de möme forme qu'elles, Me&m. pres. par div.
savans III, 1760, p. 326—343.
832 - Abschnitt XXVI.
karidg ( + sich
e+ fx"
zerlegen. — Die Zerlegung findet auf folgende Weise statt:
q [92°” Be sah „ mreg (af—boc'""'dz (@ + “
e+ fa" f (e+ fx")? e+ fa"
mrbg .m-ı ee ba” A
+ er dx $
das zweite Glied rechts hat die verlangte Form, das erste wird auf
dieselbe durch die Substitution:
a+be® . b
e+fa” S
gm
gebracht, welche es in:
mrdg mg, (HE
7? dz en
überführt, so daß:
do — mrbg vm-14y = a, vcbg #217, Be
f e+ fa" f e+ fe"
b) Das Differential do läßt sich in zwei Differentiale von der
Form:
karn-1aa (2 +D=" ı,
e+ fx"
zerlegen. — Es ist nämlich:
m\r m\r—1
do = mrga""!dx (° a = + megibe ER ee (£ r —) :
e+ fa (e+f«")’ e+fz
das erste Glied hat die gewünschte Form, das zweite geht durch die
obige Substitution in:
rm—1i a+bz" s
mYg2 de(* a
über, so daß:
a+ bx"”
e+fx”
) +mrgs"1dz (ee):
do = mrgarntdz(
c) Das Differential:
dr = d|x”"""(a + ba”)’(e + fa”)”]
"läßt sich in zwei Differentiale von der Form:
ka"-ıda(a + ba”) Ile + far"!
Transzendenten. Elliptische Integrale. 833
zerlegen. — Es ist:
dt = — rmaea"""Ida(a + ba") !(e + far)r-!
+ rmbfar”""Adz(a + ba”) !(e + fa”)r-t;
das erste Glied hat die gewünschte Form, das zweite wird durch die
Substitution:
BL.
bfx"
auf dieselbe gebracht, wonach man hat:
dr = — rmaea""Idz(a + bare + fam)r-!
— rmaez""Idg(a + bez" I(e + famyr-1.
Diese Sätze lassen sich auf die Aufsuchung von Kurvenbögen
anwenden, deren Summe algebraisch rektifizierbar ist.
Das Differential des Ellipsenbogens ist:
a: — s?x?
ds- V“; 3 —r da,
zu<
wo «, ß die Halbachsen bezeichnen, und:
a —Bß?
Ze us
ist. Will man Satz a) verwerten, so muß man setzen:
1 2
m = 2, r-7., =, b=—1, e=d, f-—-8, 9-1;
ist also:
0? — x?
rn
so folgt:
RE aba aa 7 d2= d(a2),
eine Beziehung, welche den Beweis des Eulerschen Satzes liefert.
Für die Hyperbel ist:
ei? — 0?
= Va 00
wo «, ß die Halbachsen bezeichnen und:
Se
Er. ze
ist. Vergleicht man mit b), so muß man setzen:
834 Abschnitt XXVI.
ist also:
so folgt:
Satz c) kann auf die Kurven:
4t+1 4t—1
ei 41+5 == 4t+1
y—= Mit, Vo BET
angewandt werden, wo +0.
Die bisher besprochenen Untersuchungen sind nicht nur in histo-
rischer, sondern auch in sachlicher Hinsicht von außerordentlicher
Wichtigkeit. Ihr wesentlicher Inhalt läßt sich wie folgt zusammen-
fassen.
Bezeichnet IIx irgend eins von den betrachteten Integralen, also
ein Integral, welches die Quadratwurzel eines Polynoms der vierten
Ordnung als einzige Irrationalität enthält, und besteht zwischen z, y, a
eine gewisse algebraische Beziehung:
a=vy(t, Y),
IIx £ IIy = lla+ p(z, Y; a),
so ist:
wo. p(&, y, a) eine algebraische Funktion!) von x, y, @ bezeichnet; in
den einfachsten Fällen ist diese Funktion identisch Null, so daß:
Ix = IIy= IIa
ist. Mit anderen Worten: Die Summe oder die Differenz zweier
gleichartigen Integrale IT’x mit verschiedenen oberen Grenzen ist, von
einer algebraischen Funktion dieser Grenzen eventuell abgesehen, ein
Integral von eben derselben Form, dessen obere Grenze von den-
jenigen der vorgegebenen Integrale algebraisch abhängt.
Diese Eigenschaft der elliptischen Integrale hat man sich ge-
wöhnt als Additionstheorem zu bezeichnen; und Euler bemerkte auch,
wie schon (8. 805) gesagt, daß dieselbe den hyperelliptischen Integralen
Y) Erst gegen das Ende unserer Periode stellte sich, wie wir unten sehen
werden, der Fall von den Integralen dritter Gattung ein, wo p eine algebraisch-
logarithmische Funktion ist. | |
Transzendenten. Elliptische Integrale. 835
nicht zukommt, was später den Ausgangspunkt des Umkehrproblems
der Abelschen Integrale bildete.
Die Analogie mit den Kreisfunktionen entfiel weder Euler u
Lagrange; beide gingen, um eine Integrationsmethode für die ellip-
tische Gleichung aufzufinden, von der einfacheren Gleichung:
Be BE N
er I Ne >
aus, deren Integral sich unter den beiden gleichbedeutenden Formen:
zyl-yYtyYi—-&=a,
arcsin x £ aresin y = arcsin a
schreiben läßt. Setzt man:
xz=sint, y=sinu,
so erhält man hieraus, nach einer viel üblicheren Schreibweise:
sintYl—sin®+sinuy1l— sin # — sin (LE ,
eine Formel, welche aussagt, daß zwischen sin t, sin u und sin (t = u)
eine algebraische Bachs stattfindet. Es sollte ganz natürlich er-
scheinen, eine analoge Umformung in die liptieche Differential-
Sleichnig einzuführen; man hatte nur: .
Ix=w IIy=v IHa=c
zu setzen, und 2, %, a als Funktionen von u, v bzw. c:
= u, y ir, a= 1c
anzusehen, um schreiben zu können:
Alu +v) = Yl(Au, Av).
Man sieht hieraus, wie nahe die beiden großen Mathematiker
dem Begriffe der Bas der elliptischen Integrale kamen. Und
es mußten dennoch manche Jahrzehnte verfließen, ehe dieser Begriff
ans Licht kommen möchte!
x
B. Beziehungen zwischen Bögen verschiedener
Kegelschnitte.
Zu jedem beliebigen Bogen eines Kegelschnittes läßt sich, wie
schon gesehen, ein anderer Bogen desselben Kegelschnittes a an-
geben, daß die Differenz beider Bögen algebraisch ausdrückbar. ist.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 54
836 Abschnitt XXVI.
Es erhebt sich aber die Frage, ob es möglich ist, jeden beliebigen
Kegelschnittbogen durch Bögen eines Kegelschnittes von bestimmter
Art auszudrücken. Analytisch lautet die Frage, ob und wie man ge-
wisse Integrale auf eine bestimmte Form bringen kann. Diese Frage
enthält den Kern zweier Begriffe, die in der Theorie der elliptischen
Funktionen eine Hauptrolle spielen, der Transformation und der
Reduktion auf Normalformen.
Eigentliche Transformationen und Reduktionen sind die folgenden
Probleme, die Euler gleich zu Anfang unserer Periode unter-
suchte):
1. Das Differential:
dx te: dx
Ve+ßa+re+özi+en! YX
durch Kegelschnittbögen zu integrieren;
2. die Bedingungen aufzusuchen, unter welchen:
(P+4ay+ry’)dy
44 A
nr er.
auf die Form:
(pP+gez+rer)de
Ve+tya?+ ext
zurückführbar ist;
3.«.das Differential:
ptraed)dz
Vatzar+ en‘
durch Kegelschnittbögen zu integrieren, wenn das unter dem Wurzel-
zeichen stehende Polynom nicht in zwei reelle rein quadratische Fak-
toren f + g2%, h+ kx? auflösbar ist;
4. die Bedingungen anzugeben, unter welchen (44) sich auf die
Form:
prgetre)de
vV2ßx + yax:+ 202°
bringen läßt.
Eine mehr systematische Behandlung erfährt das allgemeine
Reduktionsproblem in einer späteren Schrift Eulers.’) Hier taucht
ein neuer und fruchtbarer Gedanke auf; ein Gedanke, der auch ge-
eignet war, zur „Umkehrung der elliptischen Integrale zu führen.
) Consideratio formularum, quarum integratio per arcus sectio-
num conicarum absolvi potest, Novi Comm. Acad. Petrop. VII, 1760 und
1761 (publ. 1763), p. 129—149. ®) De reductione formularum inte-
gralium ad rectificationem ellipsis et hyperbolae, Novi Comm. Acad.
-Petrop. X, 1764 (publ. 1766), p. 3—50.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 837
Euler will die Kegelsehnittbögen als neue Transzendenten mit dem-
selben Rechte in der Analysis einbürgern, mit welchem schon lange
her die Logarithmen und die Kreisbögen in derselben auftreten. Und
so wie man in der Trigonometrie den Radius = 1 annimmt, so nimmt
er den Halbparameter — 1 an, so daß die Gleichung des auf einen
Scheitel als Koordinatenursprung bezogenen Kegelschnittes lautet:
2
Y-2ı——,
wo 2a die Länge der durch den betrachteten Scheitel gehenden Achse
bezeichnet. Hier ist:
a>0 für die Ellipse:
a=1 für den Kreis;
a= 00 für die Parabel;
a<O0 für die Hyperbel.
Die Bogenlänge II,x!) ist:
a — 2a1 — ac +(1—a)x? ,
ne [V a(2ax — x?) dx;
Euler bringt dieses Integral auf die Form:
2?
Bi in de,
und unterscheidet zwölf für dieses letzte Integral mögliche Fälle,
je nach dem Vorzeichen und der relativen Größe der Koeffizienten,
wie aus folgender Tabelle erhellt, welche auch angibt, auf welche
Weise das Integral in jedem besonderen Falle durch Kegelschnittbögen
darstellbar ist:
ee
l ++ + + fk>gh alg.F. Ellipse und Hyperbel
2 + + + +. fk<gh Hyperbel
3+ ++ — Ellipse
4 + + — + alg. F., Ellipse und Hyperbel
5 + - ++ alg. F., Ellipse und Hyperbel
6 + —- + -— fk>gh Ellipse
+ —- + — fk<gh alg. F. und Hyperbel
‘) Euler schreibt IIx[a].
54*
838 Abschnitt XXVI.
ne. 6
8 + — — + fk>ogh alg.F. Ellipse und Hyperbel
9I- ++ + alg. F. und Ellipse
10 — + + — fk<gh alg.F. und Hyperbel
ll — + — + . fk>gh alg.F. und Ellipse
12 — + — + fk<ogh Hyperbel)
Das Problem der Zurückführung von Integralen .auf Kegel-
schnittbögen hatte schon früher (diese Vorl., II, S. 871) Maelaurin
und d’Alembert beschäftigt. Der letztere kommt auf den Gegen-
stand noch öfters wieder zurück. In seinen Opuscules mathema-
tiques?) beweist er, mit Hilfe früher erhaltener Resultate, daß:
f y’ay
Var FOyp+Dy+E
und andere ähnliche Integrale auf Kegelschnittbögen reduzierbar sind.
Die Berichtigung und Vervollständigung einiger Punkte dieser Arbeit
bildet den Zweck einer kurz darauf erschienenen Schrift.) Auch in
seinen schon oben (S. 728) besprochenen Recherches sur le caleul
integral gibt er einige auf Kegelschnittbögen zurückführbare Inte-
grale, wie:
a) /UVdv[A + Bsin(a+v)+Ccos(e+v)+Dsin(g +»)
+Feos(+v)+---]
wo n eine ganze Zahl, U eine ganze rationale Funktion von Sinussen
und Kosinussen von um konstante Größen vermehrten Vielfachen von
v bezeichnet;
m
b) FäolA + Bsinv)?(C+Dsinv+ Esinv®):,
wo m, n ganze Zahlen sind und U eine ganze rationale Funktion von
sin2p®V oder von cosqv er
') Eine analoge Untersuchung bildet den Inhalt von zwei Kapiteln (T. II,
L.], C. 12, 13) der mehrmals angeführten Institutiones analyticae von
Riccati und Saladini, wo die Frage auf Grund einer früheren Arbeit von
Riccati Opuronleruin ad res physicas et mathematicas pertinen-
tium, 2 Bde., Bononiae 1757—1762, T. II, Op. 2, p. 36—176) behandelt wird.
Einige auf Kegelschnittbögen reduzierbare Integrale wurden auch von Lorgna
(Opuscula mathematica et physica, Veronae 1770) angegeben.
”) T.1V, Paris 1768, .p. 225—253: Recherches de calcul integral, p. 254 bis
282: Suppläment au me&moire precedent. ®) Recherches math&ematiques
sur divers sujets, Misc. Taur. IV, 1766—1769, P. II, p. 127—161.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 839
ei
2
ie) Svarca + Ede) (g+hsinv?)?,
wo m und n ganzzahlig sind und U eine ganze rationale Funktion
von cosgv oder von singv bezeichnet;
d) J Udv(a + bsinv?)? (ce + dsin v?)? (e+ fsin v?)?,
wo m, n, r ganzzahlig sind und U eine ganze rationale Funktion von
sin gv ist;
‚e) [varca + bsinv + g sin v2)”,
wo 3n oder 4n eine ganze positive Zahl ist und U eine ganze ratio-
nale Funktion von sin2pv oder von cosgv bezeichnet;
+92)’ (p+q) D (+ ray?
wo o, A, 6 ganz und positiv sind, # ganzzahlig ist, und:
ganz und nicht negativ ist;
S on
8) / =
d_ay? (+50)? ?(e+ fa)?
wo $, q, p positive ungerade Zahlen sind, m ganzzahlig ist, und:
m...
ganz und nicht negativ ist.
d’Alembert ergreift die Gelegenheit, um seine Priorität hinsicht-
lich der Integration von v; er = durch Kegelschnittbögen Riecati')
gegenüber zu behaupten.
In einer späteren Schrift?) zeigt d’Alembert, wie sich die oben
angeführte Eulersche Klassifikation auf Grund seiner eigenen. älteren
Methoden aufstellen läßt. Er bemerkt, daß seine Resultate einige
Verschiedenheiten gegenüber den Eulerschen aufzeigen, insofern als ge-
wisse mem Euler auf Bögen und algebraische Funktionen reduzier-
% Riccati (Inst. an, T.IL, P.II, C. 12) sagte, ähänd vor ihm hätte
dieses geleistet. ?) Öpeweuler mathömatiques, T. VII, Paris 1780, p. 61 bis
101: Sur des differentielles reductibles aux arcs de sections coniques, p. 390:
Remarque pour la page 96.
340 Abschnitt XXVI.
bare Integrale von ihm selbst durch lauter Bögen ausgedrückt werden;
daß dieses aber keinen Widerspruch bildet, da die Fagnano-Euler-
schen Sätze in bestimmten Fällen das Mittel liefern, die Summe eines
Bogens und einer algebraischen Funktion durch einen Bogen zu er-
setzen.
Wiederum auf elliptische Integrale bezieht sich ein Schreiben
von d’Alembert an Lagrange vom Jahre 1781.!) Hier berichtigt
er eine Stelle seiner Schrift vom Jahre 1746 dadurch, daß er bemerkt,
daß das dort als auf zwei Hyperbelbögen und einen Ellipsenbogen.
reduzierbar angegebene Integral:
wo.
?+fe+b=(e+a)(2+ec), >09, 2>D,
durch einen einzigen Ellipsenbogen und eine algebraische Funktion
darstellbar ist, da die beiden Hyperbelbögen sich gegenseitig aufheben.
Ist dagegen:
?+fzr+b=(2-a)(2-— ec),
oder sind die Faktoren des Trinoms imaginär, so. findet diese Auf-
hebung nicht mehr statt.
Lexell?) gibt für die Eulersche Klassifikation eigene Beweise,
und leitet einige neue Sätze aus der Vergleichung der Ergebnisse
verschiedener Reduktionen eines und desselben Integrales ab. Ist z. B.
das Integral:
1+m 2" 1
I = ln +nz „
vorhanden, und setzt man:
e sin
mi tecosg
oder:
1 1-+ecosy
eV siny ?
wo:
VE
M—N
) Extrait d’une lettre de M. D’Alembert & M. de la Grange du
14 decembre 1781, Nouv. Mem. Berlin 1780 (publ. 1782), p. 376—378.
®) De reductione formularum integralium ad rectifieationem
ellipseos et hyperbolae, Acta Acad. Petrop. 1778, P.I (publ. 1780), p. 58
bis 101.— Ad dissertationem de reductione formularum integralium
ad reetificationem ellipseos et hyperbolae additamentum, Acta Acad.
Petrop. 1778, P. II (publ. 1781), p. 55—84.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 841
ist, so erhält man:
RER Rdy _ _VYm—n f(e+ cos»)? de.
YmJttecogp' m .) Ssiny?
wo:
R=1+2ecspg+e, S=1-+2ecosp +e.
Es gelten aber die Beziehungen:
E Rdgy u Rsing singp°’dg
(45) J/titecosp? (I-+ecosg)(e+cosp) „) (e+cospPR
Er (e+cosgp)R 1 *(e+ cos p)’dp
“Da Peak "PL. Rsin p®
e? singp(e + cos p) u: dp
7 e—-1(1-+tecosgy)R 3
e Er Rsing 1 (1+ecosp)’dg
(14 eeosgp)(e + cos p) * (e+cosp)?R
4 Rdy
(e + cos p)!
Bi Rsing = f Rdy
aeg (e+ cos 9)?
2 R® Rap
e’sinp(l-+ecosp)(e+ cosp) +; sing?
1 Rdy
e® ) @F os)"
__singp(e+ cosp) Rsing |
(1+ecosp)R + e*(l +ecosp)(e + cos 9)
sinp’dgp 1 f Rdp
ee RR e&,) (e+cosp)!
Vermittels der zweiten dieser Gleichungen hat man dann:
(e + cos y)’dy er 21 Sdy (e + cos y)S
np men ) (1+ecosw)? (1-+ecosy) sinvy’
folglich:
Ve [30
(1-+ecosp)! en (®—1) (1-+ ecos y)®
(e + cos y)S |
(i-ecosy) siny |’
oder:
842 Abschnitt XXV1.
Rdy R Sdw >:
(1-+ ecos p)? (1+ecosy)? (e?—1)(1-+ecosy)sin y
e(e+ c08Y)(e + cos p)
— (e® —1)(1+ecos y)(1-ecosp)’
eine Formel, welche eine selbstverständliche geometrische Interpreta-
tion gestattet, da die beiden Integrale links, von einem konstanten
Faktor abgesehen, die Bögen eines-auf den Brennpunkt bezogenen
Kegelschnittes darstellen.
In anderen Fällen muß man sich der übrigen Formeln (45) be-
dienen.
Weitere auf I zurückführbare Integrale sind:
. v2 a durch die Substitution z -.
1i+nx?’x??
z?dx a
Ir +mayEtne)! 97,9 ” z=yVl+na;
a yA+mad)(i+na)? ” 2 ” Br & )
Do :
FR da ” „ „ Be
mer yı +nı?
en ER aus
Vitmeittnn 7 ö Vitna”
C
ya
= dene Vitnz
Dagegen läßt sich:
&
en +mad)(1+nad
auf die Summe von zwei Integralen von der betrachteten Form zurück-
führen.
Die logische Folge hat uns von der chronologischen etwas abge-
wandt. Wir müssen jetzt um ein Jahrzehnt zurückgehen, um einiger
jenseits der See erschienenen, auf dem Festlande lange unbekannt ge-
bliebenen denkwürdigen Schriften Erwähnung zu tun. Ihr Ver-
fasser ist der schon genannte John Landen, Mitglied der Royal
Society of London.!) Selbstverständlich bedient er sich durchgängig
') A disquisition concerning certain fluents, which are assig-
nable by the arcs of the conic sections; where are investigated
some new and useful theorems for computing the fluents, Phil. Trans.
Be ET ud an a 2 al SR Dia Sinn zn Sale al nal dl nn eine a LEE ut a a nn A na u tn mann a
Transzendenten. Elliptische Integrale. 843
der Fluxionenmethode; wir werden aber seine Untersuchungen in die
übliche Schreibweise überführen. |
Landen will zunächst den Grenzwert A der negativ genommenen
Fig. 98.
Differenz zwischen dem Hyperbelbogen und der entsprechenden Tan-
gente bestimmen. Ist (Fig. 93):
x* y® 1
a |
a?
die Gleichung der Hyperbel, bezeichnen C, A, D, P den Mittelpunkt,
LXI, 1771, p. 298—309. — An investigation of a general theorem for
finding the length of any are of any conic hyperbola, by means of
two elliptic ares, with some other new and useful theorems dedu-
ced therefrom, Phil. Trans LXV, 1775, p. 283—289. — Math. Memoirs I,
London 1780, p. 23—36: Of the ellipsis and hyperbola. — Math. Memoirs I,
Appendix. ”
844 Abschnitt XXVI.
einen Scheitel, einen beliebigen Kurvenpunkt und den Fußpunkt der
aus ( auf die Tangente in D gefällten Normale, und setzt man:
so ergibt sich:
| Ba RE dzYVz
(46) DP-ADe 0,
a
Nennt man andererseits (,, A,, D,, P; die analogen Elemente
einer Ellipse, deren Halbachsen c=Ya?+ b?, b sind (Fig. 94), wo-
>
Fig. 94.
bei D, derjenige Ellipsenpunkt‘ sein möge, dessen Ordinate:
D,M-bY
ist, so ergibt sich:
a Aa
Ist nun F der Punkt der Hyperbel, dem der Wert:
A
“= Paz
von 2 zukommt, R der zu P analoge Fußpunkt, so folgt:
rr2är-2fe du Yu 5 “abs Ve—2da
) 2 Ya—wl’ ta) % ? Va tant
also:
Transzendenten. Elliptische Integrale. 845
DP-AD+FR- AF- [°*|- ee
” le Va—»)(b’+ az) # Vz (b’+ a2)?
+ const.
Die unter dem Integralzeichen stehende Größe ist aber d-D,P;;
also ist:
DP—-AD+FR-AF=D,P, + const.
Setzt man z2=(), so folgt:
DP-AD=4 u=a, FR-AF=0, DP,=(;
es ist also allgemein: |
DP—-—AD+FR-AF=DP, +4.
Ist insbesondere « = z, so fallen D und F mit einem und dem-
selben Punkte E zusammen, P, R gehen in @ über, und man hat:
b?(a — 2)
= pFaz
oder:
ya b(e — b)
ferner, wenn E,, Q, die zu E, @ entsprechenden, auf die Ellipse be-
züglichen Punkte sind:
E, Q, =c—b,
und schließlich:
= 2(EQ—- AE)— (c—b).
Aus (46) folgt:
1 -/% days
2 Ya—2)b’+as)'
also:
pp-AD-i- |: eV
) 2 Va—2)(0?+ a2)
und:
3
ve days Fi duyu “
)TVa-a@ta J3 Vase
u
womit die Differenz zweier Hyperbelbögen durch eine Strecke dar-
gestellt wird. Ä
Diese Resultate stimmen wesentlich mit den G. Fagnanoschen
überein. Am Ende seiner Abhandlung vom Jahre 1771 kündigt aber
846 Abschnitt XXVI.
Landen an, er habe einen allgemeinen Satz entdeckt, den er näch-
stens mitteilen werde. Die Mitteilung geschah jedoch erst 1775.
Setzt man:
so erhält man aus (46):
a? — ti?
0
ferner:
5 b? - as). Er
(48) BD = ug gi ne .- v3
a
Betrachten wir nunmehr eine zweite Ellipse (Fig. 95) mit den
Halbachsen:
a D und bezeichnen mit A,, B,,...
ee I r— die zu A,, B,,... analogen, auf
4, dieselbe bezüglichen Punkte. D
CM 2 dieselbe bezüg . Der
een Punkt D, werde auf dieser Ellipse
Fig. 9. derartig gewählt, daß:
D,P,=t
sei; setzt man:
00M,;-8,
so ıst:
VER
2£ Ei
DR=t=- Du
wo «=Yy? — ß.
Wir wollen t als neue Integrationsveränderliche in das Integral
B,D, einführen.) Es ist:
!) Spätere Untersuchungen haben der Substitution:
= arg Yy? — & ;
1Vrt—art® u
die man üblich als „Landensche Transformation“ bezeichnet, eine große Wich-
tigkeit erteilt. Setzt man:
$=ysing, t=sing,, een ame Vorne,
Transzendenten. Elliptische Integrale. 847
Vr& ;B ns art — ey?(@?+ £?)&? = yet
also
EB - Y[e + BP Ve 2 + PR +]
- le + ?-VI@ + M-Pll@ — BP Pl
- le + r-Ve-Ba@= Bl;
Differentiiert man, so ergibt sich:
Ela VSEr Vene,
folglich:
ce” nr a —it
2) al: + Vozr +Ve=s;
oder, wegen (47), (48):
ZEB-S3DPı BD ıDP- AD.
oder auch:
AD=BD,—-4B,D,+2D,P,+DP.
Ist also ein Hyperbelbogen vorgegeben, so kann man zwei zwei
verschiedenen Ellipsen angehörige Bögen auffinden, deren Differenz
sich von diesem Bogen nur um eine gerade Strecke unterscheidet.
Oder kürzer: Ein Hyperbelbogen ist durch zwei Ellipsenbögen rektı-
fizierbar.
Der Wert der Landenschen Entdeckung wurde zuerst von
Legendre in zwei Abhandlungen aus dem Jahre 1786 ans Licht
gesetzt. Bevor wir aber auf die Besprechung dieser wichtigen Ab-
handlungen kommen, müssen wir einige inzwischen erschienene
Schriften erwähnen.
Dem Probleme, algebraische Kurven anzugeben, welche durch
Kegelschnitte rektifizierbar sind, widmet Euler eine Reihe von
Araemewe‘), welche uns TER interessieren, als sie die Bil-
so nimmt die Transformation die Form:
t
(1-+K)sinpcosp
sing, = Fo
an (Enneper, a. a. O., p. 352), wo:
Ig=yVi1—kKsng!, K:=1—K*.
) De innumeris curvis algebraicis, quarum longitudinem per
arcus parabolicos metiri licet (1776), Nova Acta Acad. Petrop. V, 1787
848 Abschnitt XXVI.
dung von auf elliptische Integrale zurückführbaren Integralen be-
treffen. Von dem vorgestellten Problem gibt Euler, unter der Vor-
aussetzung, daß der betrachtete Kegelschnitt eine Ellipse mit den
Halbachsen 1, » ist, drei Lösungen.
1. Es muß sein:
Var + dy= = en
wo %, y die Koordinaten eines Punktes der gesuchten Kurve be-
zeichnen, während v die Abszisse des entsprechenden Punktes der
Ellipse ist. Man setze nun:
FR ae DEE d BEE a
ya Yo
dann ist:
Vde+ dp > re 2Pqv dv.
| Nimmt man also für p, q zwei solche ganze rationale Funktionen
von v, daß:
+ 2p—-1—- (1 me
ist, so sind die Differentialausdrücke dx, dy algebraisch integrierbar’),
(publ. 1789), p. 59—70. — De innumeris curvis algebraicis, quarım
longitudinem per arcus ellipticos metiri licet (1776), ebenda, p. 71
bis 85. — De infinitis curvis algebraicis, quarum longitudo in-
definita arcui elliptico aequatur (1781), Mem. Acad. St. Pet. XI, 1830, p. 95
bis 99. — De infinitis curvis algebraicis, quarum longitudo arcui
parabolico aequatur (1781), ebenda, p. 100—101.— De curvis algebraicis,
quarum omnes arcus per arcus circulares metiri liceat (1781), ebenda,
p. 114—124. — Mit diesen Schriften hängt die von Fuß zusammen: De in-
numeris curvis algebraicis, quarum longitudinem per arcus hyper-
bolicos metiri licet (1798), Nova Acta Acad. Petrop. XIV, 1797—1798 (publ.
1805), p. 111—138.
Y, Ist nämlich:
= Dar, g= Dr,
h h
und setzt man:
yı +t=!1,
so folgt:
p+a= I te, E_ -nat,
Yı-te
dz= Y2 Da, + b,) (? — Yrdt,
h
also:
woraus sich durch Integration ein Polynom in t, also eine algebraische Funktion
von v ergibt. Dasselbe findet für y statt.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 849
und ihre Integrale liefern die Parametergleichungen der gesuchten
Linie.
Einige einfachere Fälle sind folgende:
«) pr=1l qg=e.
Es ergibt sich«=1-+ n, also:
y
= zV2(1+W)[l-2n+(l+me],
y- V2d —v)[-1+2n+(1+n)o)
Br p=1+PpvV, q=av.
Es muß sein:
P— 20-0, @+2B-2u-— 14m,
also:
e=n—1, Bß=2(n-1),
und:
= v2 + v) [2 +3 —- (n—- 1)v+2n— 1)v?],
z ;
y=--VRA-W)[- 2% —-3+(n— 1) — 2(n — 1)02].
r) p=1+Pß%, g=av+yv.
Es folgt hieraus:
e=n+3, B=—2(n-+1),
p=1+ Bv?+ dv,
Es muß sein:
= —-4n +1).
Ö) g=av+yv.
®+2Bß—-20a=n—1, + 26 +20y—20ß —2y=0,
2Bö +? — 20 — 2 =0, 9 —2y0 = 0;
eine Lösung dieser Gleichnngen ist:
e=n—3, B=4n—2), y=—4n-—1), 6=—8(n—1).
2. Setzt man:
'v=sing,
also:
ds =Yeos p?+ n? sing? dg,
so kann man annehmen:
dx = (08 p cos® — n sing sino)dg,
dy= (cosp sin®o +nsin@ cos@)dy,
850 | Abschnitt XXVI.
wo'@ eine auf passende Weise zu wählende Funktion von @ be-
zeichnet. Nimmt man @=4g, wo A eine ganze von &1 verschie-
dene Zahl ist, so erhält man:
= Au: sin (A + 1) "sin (A — )p|,
y- n 71, 008 A+Dp+ ir
diese Gleichungen stellen eine algebraische Kurve dar.
3. Nehmen wir zunächst an, es sei n>1. Wir können setzen:
dx = (cosAp — msing sinAp)dp, dy=(sinAp + m sing cosAp)dp,
wo A die obige Bedeutung beibehält, und m’=n?— 1 ist; hieraus
folgt:
- m m i
x= —sinip — 2a) sin( —1)p+ sa rein (+ 1)9,
1
un en cos (A— 1)P — ar ‚eos(A + 1).
Ist dagegen n < 1, so setzen wir: “
de = (n sin Ap + m c08p cosip)dgp,
dy= (n cosAp — m cosp sinAp)dy,
wo m’=1-—.n?; es folgt dann:
= — 0084 en ‚sin(A—1)9+ sin (A+1)p,
Er
y- — sin Ip+; „cos —1)p+ cr 608 (A + 1)9.
Eine längere Abhandlung widmet der schon oben genannte
Malfatti!) den elliptischen Integralen. Nachdem er die Ellipse und
die Hyperbel durch Reihenintegration rektifiziert hat, bemerkt er, daß
zwar das Bogenelement dieser Linien die Form:
m nz?
FETT nd
hat, daß aber nicht umgekehrt jedes Differential von A Form
einen einzigen Kegelschnittbogen darstellt. Um die Differentiale von
dieser Beschaffenheit zu untersuchen, schickt er einige Hilfssätze vor-
t) Delle formole differenziali la cuiintegrazione dipende dalla
rettificazione delle sezioni coniche,' Mem. Soc. It. II, P.II, 1784, p. 749
bis 786! 7
-
Transzendenten. Elliptische Integrale. 851
aus, von denen die zwei ersten, ‚wie Malfatti selbst anerkennt,
V. Riccati angehören. |
a) mtna? ; np —mg)x’dx p+qr’dı
p+ge pYm+na)(p+gaN er
_mp—myVY—m+z’dz myYp-+gx°
de,
npVYnp— mg+.q2° pyYm+nx®
wo: i
er,
n
b) Setzt man:
so erhält man durch partielle Integration:
m+na , _ CE Je wer. VE
SVor5ae I zdu=2y p+gqr® % atgwtt
e) Setzt man:
p+ge°
N m tn
so folgt:
Par N& P-+q2° + Gene, k
SV pre VE SV na
Mit Hilfe dieser Sätze behandelt Malfatti die erener
Fälle des Integrales vr: tes dx, woraus eine Klassifikation entsteht,
die der Eulerschen ganz ähnlich ist. Es ist aber zu beachten, daß
die Eulerschen Schriften Malfatti wohl unbekannt waren; wenig-
stens tritt sein Name nicht unter den von Malfatti en
(Fagnano, Maclaurin, d’Alembert, Lexell, V. Riecati) auf.
Einen etwas eh Blendoankt nimmt Lagrange!) ein.
Er geht von einer zu integrierenden rationalen Funktion von 2 und
R aus, wo:
R=-YVa+bz+ca+ ren
und reduziert dieselbe zunächst auf die Form:
Nda
du= 2°,
') Sur une nouvelle möthode de calcul integral pour les diffs-
sentielles affectees d’un radical carre sous lequel la variable ne
passe pas le quatriöme degre, M&m. Acad. Turin Il, 1784—1785, Br 218
bis 290; Oeuvres II, Paris 1868, p. 253—312.
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 55
852 ihachnitt XEVE
wo N eine rationale Funktion von z ist. Kommt in R keine un-
gerade Potenz von x vor, und bringt man N auf die Form T+ Vz,
wo 7, V rationale Funktionen von x° sind, so läßt sich nn durch
elementare Funktionen integrieren, und es bleibt nur noch Im
allgemeinen Falle setzen wir:
= f(mtne+.®)m +nc+ &);
es ergibt sich:
ng e-+yh ‚_e—Yh
2f ’ v 2f F
b—cen-+en?— fn? , „b—en ten ?— fn”
e— 2fn Re e—2fn ni
Mm =
wo h die Gleichung:
%— (3 — Sef)h?+ (Bet — 16c®f+ 160°f? + 16bef?— 64af?)h
— (8bf?— 4cef+ ef = 0
erfüllen muß, welche offenbar stets eine reelle nicht negative Wurzel
besitzt. Setzt man demnach:
| m tn + x’
(49) arzt
so ergibt sich:
— (m + nz + 29)y,
und das Differential nimmt die Form:
Ndx
du mEna Fang
an. Es ist aber wegen (49):
dx
zyay = m+tnzc+
„tf@er +) — ve +n)],
oder:
dx 2dy
mFne+a)y 2elf— tere,
es folgt andererseits wiederum aus (49):
2 ar =) + ln fny)—=Va + By’+rY,
wo; |
el? — LA) B=-—2f(n" —2m— 2m), y-n"— 4m,
Be
Transzendenten. Elliptische Integrale. 853
2Ndy
du= =
Ve+Ppy®+ry‘
Da:
u rn Eeryatby’ try
2(f— y”)
ist, so erhält man:
N=g9Wy)+YVa+By try up),
wo g(y”), v(y?) rationale Funktionen von y? bezeichnen, so daß du,
von einem rationalen Differential abgesehen, in:
BEER a.
Va+ By°+ yy'
übergeht, wo @ eine rationale Funktion von y? ist.
Um dieses Differential behandeln zu können, muß man annehmen,
daß «+ ßy?+ yy‘ in zwei reelle Binome zerlegbar ist, daß nämlich
ß?>4ay. Ist dies nicht der Fall, so setze man:
— Y .
Ve+ßy'+yyt’
man erhält dann, nach Vernachlässiveung eines rationalen Differen-
2 oO eo,
tıales, einen Ausdruck von der Form:
Ldz >
vı—2B2°+ (P?— day)e‘
oder:
le Ldz
vi+Rz +2
wo:
P?—4y= 16ay>0
ist, da in dem betrachteten Falle 4«y positiv sein muß. Wir können
also in allen Fällen setzen:
Tax BURETE N DER ER
Va+ ber tea Vom ne) pt an’
wobei 7 eine zellnahh Funktion von x? bezeichnet und m, n, 2,q
reell sind.
Ist n=0 oder g=0 oder 7 = n ‚ so ist das Integral auf ele-
mentare Weise berechenbar; bestehen diese Bedingungen nur annähe-
rungsweise, so kann man einen angenäherten Wert des Integrales
durch Reihenentwicklung erhalten. Es ist aber immer möglich, das
vorgegebene Differential in ein anderes überzuführen, welches, = ver-
65*
854 Abschnitt XXVI
langten Bedingungen mit größerer Annäherung erfüllt. Nehmen wir
an, es sei (+) > (2), und setzen wir:
p
# m +n«®?
h Abuse =V+ qa®'
— nn mi? — m +my1+2(2np - ma)yP + m?’gyt],
wir erhalten hieraus:
und folglich, wenn L, M rationale Funktionen von y? bezeichnen:
Pdx z dy+ - Mdy
Vm tra ptae) Vi + 2(anp may’ + m’gty‘
Das biquadratische Polynom ist, unter der Voraussetzung:
n\2 q 2
SHE
1+[2np — mg + 2YVnp(np — mg) y?
zerlegbar; ferner sind die beiden in eckigen Klammern stehenden
Ausdrücke gleichbezeichnet, so daß man setzen kann:
in zwei reelle Faktoren:
np — mg + 2Vnpnp — mg)= +r},
np - mg F2Ynp(np -mq)= +8},
wobei die oberen Vorzeichen für np >0, die unteren für np<0O
gelten, r und s positiv sind und r >s ist. Das zu behandelnde Diffe-
rential ist also auf: 5 i |
Mdy
y utry)(t+s’y)
reduziert. Wendet man auf dasselbe das obige Verfahren an, So er-
hält man ein neues Differential:
M, day,
=»
ya En’ )ALEs’UuN)
wo:
„-r+Vr-s>r 3 =, VrZ S<8
ist. Auf gleiche Weise kann man fortfahren, bis s so klein geworden
ist, daß die Annäherungsformeln anwendbar sind.
Wie oben bemerkt, versuchte Euler die Ellipsenbögen ın die
Rechnungen als ein len zu den Kreisbögen einzuführen. Le-
gendre!) sprach auch den Wunsch aus, daß man Tafeln für Ellipsen-
1) M&moire sur les integrations par arces d’ellipse, Hist. Acad.
Transzendenten. Elliptische Integrale. 855
bögen verfertigen möge; und zu diesem Zwecke versuchte er, Reihen-
entwicklungen zu liefern, welche dazu geeignet wären, die Berechnung
solcher Bögen zu erleichtern.
Sind (Fig. 96): D
Z
CA=1, (B=d=-y1-d B Be
die Halbachsen der Ellipse, und ist:
z |
CP=x si PM=y=be |
| “=sing, | 1 Y c0o8 Q, > A r
so folgt: Fig. 96.
BM = E(c, g) = Napvi- einge,
ba i
AM=F(e y)= favyıi — c? c08 y?.
0
Aus diesen Formeln ergeben sich leicht die Werte von E(e, g),
Fe, y) unter der Form von konvergenten Reihen, wenn c nicht zu
nahe an 1 ist; im entgegengesetzten Falle kann man den Fagnano-
schen Satz Feesnähen:
Aus den obigen Formeln folgt:
F
Ee, p) - /Yı BE u cos ydg,
1)
ER Ai [v4 „sin u? dy.
Auf diese Formen sind:
Vv1—-e
se 4 BEER
JVFF 9 sin p?dg, SVI +9 e0s vay
N 6
zurückführbar; dasselbe läßt sich aber nicht von:
Y Y =
JVs es p°—fdg, JVf=3 sin p’ dp
0 0 y
Paris 1786 (publ. 1788), p. 616—643. — Second m&moire sur les inte-
grations par arcs d’ellipse, et sur la comparaison de ces arcs,
ebenda, p. 644—683,
856 Abschnitt XXVI.
Y
für 9>f behaupten. Übt man auf diese letzten Integrale die Sub-
stitution: x
sinp = sin« sin ®
u — arc cos VL,
9
und setzt man sin« = c, so folgt:
aus, wo:
? N
/Vs cosp? — fdp SV 9° — cosa?)dyp
0 0
y | . = 9%) A ;
= ‚yon e — sinp)dp=cYy Sr 2.
ce? sin »?
[ie
-eval [Veintda- ae [ een 1
Vi-— e’sino
oE(c, ®)
-Y9|eE(e, One) |:
Die Integrale:
[sin p° cosp’FAgp?"tidg,
wo:
N Bo
Ay’=1— esın of,
sind ebenfalls durch Ellipsenbögen ausdrückbar; sie lassen sich näm-
lich auf 2 Ag?’"+idgp zurückführen, welches für jedes positive oder
negative ganzzahlige m durch E und Zi ausdrückbar ist.
de
/ Die Rektifikation der Hyperbel
2 kann man von derjenigen der El-
u lipse abhängig machen. — Sind
” (Fig. 97):
AN CA=1, OB=b'
A i die Halbachsen einer Ellipse, und:
CF=c=-yV1—b, OB=b
diejenigen einer Hyperbel, wobei
- die beiden Kurven denselben Mittel-
C - "DPF An punkt und dieselbe Fokalachse
Fig. 97. haben; ist ferner CP’ die Abszisse
eines Hs mebelunäken M', X der
Schnittpunkt: des um C mit dem Radius CP’ gezogenen Kreises
mit der Scheiteltangente der Hyberbel, Z der Schnittpunkt von
-
_ Transzendenten. Elliptische Integrale. 857
CX mit dem um Ü mit dem Radius CA gezogenen Kreise, M der
Schnittpunkt der zu OA senkrechten Geraden ZP mit der Ellipse,
und setzt man ACZ=g, so ergibt sich leicht:
FM=-E=- | I ,V1- dcosg‘,
0
cosp?
p
AM=F= [Vi - cos gp!dg,
0
und hieraus:
E=-tgpVl - css —@F—Weh-
Das Integral:
a FBELOR
läßt sich in allen Fällen auf E, F und deren Ableitungen nach c
zurückführen; dasselbe folgt von: |
dz
N 31 02%’ SV EEBs RED FEr
Erst nachdem die erste Legendresche Abhandlung, deren
Inhalt wir soeben wiedergegeben haben, der Pariser Akademie
vorgelesen worden war, erfuhr ihr Verfasser, daß Landen den den
Hyperbelbogen betreffenden Satz aufgestellt hatte. Er setzte sich
dann vor, zu beweisen, daß sich der Landensche Satz aus seinen
eigenen Resultaten herleiten läßt, und daß man auch eine unendliche
Folge von Ellipsen auffinden kann, deren Rektifikation von derjenigen
von zwei derselben abhängig ist.
Es sei neben der schon oben betrachteten Ellipse noch eine
zweite vorhanden, deren Elemente c’, b’, F’ usw. sein mögen, und
setze man:
e*’sinp’cosp ide uch
Vi—-c*sing'° ( ”
= — p übereinstimmt; das ist nichts anderes
als die Landensche Transformation. Es folgt:
wo mit dem früheren
sinpg?= - [l+esinptcospAp|,
—b
woc= : ferner:
er
ame. Vi- 7 ? sin pidp’ x ce? sing cos pdyp 2sınp cosp dp.
Aa—d)sinpg — 7 a+osing
Nimmt man aber in der vorletzten Gleichung das untere Vor-
zeichen und differentiiert, so ergibt sich:
858 | Abschnitt XXVI.
e*singpcosp’dp
Ag
4 sing cos g do= 2e sing cospdy + singAgydp ni
es ist also: |
ec? cosgp’dg
Ay
b’dgp
—= 2ccospdp + 2Aydy — a
2(1+0dF=2ecospdpg + Aydyp+
und man erhält hieraus durch Integration:
(50) 2 +O)F=2esinpg+2F—b F =
— 2csing+2F— (F- en
= 2csnp ++ cd)F+
. Der Bogen der Ellipse mit der Exzentrizität ec wird also durch
den Bogen der Ellipse mit der Exzentrizität c und dessen Ableitung
nach c ausgedrückt, wobei: |
’ 2ye
= _—
ite
Es folgt aus (50) durch eine leichte Rechnung:
2UHNF-AHNF- SU(L+P)F- VL -d)sinp
| +2. sing‘,
wo F” den Bogen einer dritten Ellipse mit der Exzentrizität:
| ‚» _2Ve
5 1+c
bezeichnet. Fährt man auf gleiche Weise fort, so kann man eine
unbeschränkte Folge von Ellipsen erhalten, deren Rektifikation von
derjenigen von zwei derselben abhängig ist. Dac' >Yc> c, während
9'<9@, so bilden die Exzentrizitäten eine zunehmende, die Amplituden
dagegen eine abnehmende Folge.
Bevor wir die späteren Untersuchungen Legendres Bosurachei
müssen wir einige Worte einer hierher gehörigen Schrift des schon
erwähnten Pietro Ferroni!) widmen. Um das Integral:
(51) F 2 + ge Ie de
EP un
ne a LE Az ne
auf einen Ellipsenbogen zurückzuführen, befolgt er einen sehr langen
1) De caleulo integralium exercitatio mathematica, Florenz 1792.
Transzendenten. Elliptische Integrale, 859
Weg. Er bedient sich dazu des folgenden Pascalschen Satzes!):
Ist (Fig. 98) NA der Radius der Basis, XN die Höhe und XA die
Erzeugende eines schiefen Zylinders, beschreibt man einen Kreis um
N mit dem Radius NA und einen zweiten Kreis auf NA als Durch-
messer, und sind @, S zwei Punkte der beiden Kreise, deren Verbin-
X
Fig. 98.
dungslinie durch N geht, so ist die Oberfläche des von den durch A
und (@ gehenden Erzeugenden begrenzten Zylinderteiles gleich dem
Vierfachen der Summe aller von X nach den Punkten des Bogens
AS gehenden Strecken (d. i. des Integrales des Produktes einer solchen
Strecke mit dem Elemente des Bogens AS). Diese Summe, oder
dieses Integral, läßt sich auf die Form (51) bringen; da andererseits
die betrachtete Zylinderfläche von dem Produkt der Erzeugenden mit
einem Bogen des Orthogonalschnittes gegeben wird, und dieser Schnitt
eine Ellipse ist, so ergibt sich von selbst das verlangte Resultat.
Ferroni zeigt auch, daß man ein Integral von der Form:
mer
erhält, wenn man eine Ellipse oder eine Hyperbel auf die Fokalachse
bezieht; daß man dagegen:
PER 5,
si h+kx da
erhält, wenn man die Hyperbel auf die zweite Achse bezieht.
Er behandelt ferner das allgemeine Integral:
{ Vedz
v+ 2! + fz+b®’
wo 2 positiv ist und die Wurzeln des Trinoms als reell vorausgesetzt
menden, und stellt die ge Tafel der möglichen Fälle auf:
\ Pascal, Oeuvres V, La Haye 1779, p. 407. Der Pascalsche Satz
ist etwas allgemeiner.
8360 Abschnitt XXVI.
— — '— unmöglich
— Ellipse
Hyperbel
++
|
— — Hpperbel
ed
| +
+++
Hyperbel und Gerade
Hyperbel und Gerade
I N U pe DD m
+ ae:
S + + + Ellipse und Gerade.
Hyperbel, Ellipse und Gerade
Die Schrift von Legendre!), mit welcher wir uns nunmehr zu
beschäftigen haben, verdient wohl als die Grundlage der systema-
tischen Behandlung der elliptischen Integrale bezeichnet zu: werden;
und vielleicht hätte die Theorie dieser Funktionen am Einde des
18. Jahrhunderts einen rascheren Fortschritt aufgezeigt, wenn nicht
die Legendreschen Untersuchungen aus äußeren Umständen so gut
wie unbekannt geblieben wären, bis sie zwanzig Jahre später durch
die Exercices de calcul integral verbreitet wurden.
Manche analytische Fragen, sagt Legendre, die sich nicht durch
Ellipsenbögen auflösen lassen, führen zu Integralen von der Form
I — ‚wo P eine rationale Funktion von x, R die Quadratwurzel
eines Polynoms vierten Grades bezeichnet. Man kann aber nach-
weisen, daß solche Integrale auf drei Typen reduzierbar sind, deren
zwei ersten sich durch Ellipsenbögen ausdrücken lassen, während der
dritte von verwickelterer Art ist; daß aber die zwei ersten Typen
voneinander zu unterscheiden sind, hängt davon ab, daß der erste
auf den zweiten zurückführbar ist, während das Umgekehrte nicht
stattfindet.
ı) M&moire sur les transcendantes elliptiques, oü l’on donne
des möthodes faciles pour comparer et &valuer ces transcendantes
qui comprennent les arcs d’ellipse, et qui se rencontrent frequem-
ment dafs les applications du calcul integral, Paris, an II (1793). —
Diese Abhandlung, welche der Pariser Akademie im April 1792 vorgelesen
wurde, erschien im darauffolgenden Jahre als selbständige Schrift wegen der
inzwischen geschehenen Abschaffung der Akademie. Sie ist selbst in Frank-
reich sehr selten, und wir verdanken es der Freundlichkeit von Prof. A. Bou-
langer zu Lille, der die Gefälligkeit hatte, ‘einen äusführlichen Auszug nach
einem in der Bibliothek de la Sorbonne existierenden Exemplar für uns zu
liefern, daß es uns möglich ist, über diese wichtige Schrift zu berichten. Das
Wesentlichste des Inhaltes des M&moire wurde von Legendre in seine Exer-
cices de calceul integral (T.I, Paris 1811) einverleibt.
BE en) dm it Sn 2 = am
Transzendenten. Elliptische Integrale. 861
Die Reduktion des allgemeinen Integrales auf die erwähnten drei
Typen geschieht folgendermaßen.
Man kann vor allem R? in ein anderes nur gerade Potenzen der
Veränderlichen enthaltendes Polynom von gleicher Ordnung durch
eine lineare Substitution umwandeln; wir können also setzen:
R= «+ Ba? + yat.
Man kann ferner voraussetzen, P sei eine rationale Funktion von
x°; zerlegt man nämlich P in die Summe einer geraden und einer
ungeraden Funktion:
P=P,+P,
so ist Sf Be: bekanntlich ein elementares Integral. Es existiert
dann stets eine Substitution, die das Integral in nn überführt,
wo Ap=yY1l1-—esinp®, Q eine rationale Funktion von sin 9° be-
zeichnet, und die Zahl ce zwischen O und 1 liegt.
Ist nun @ zunächst eine ganze Funktion von sin p*:
k
1) — Da, sin @°*,
kh=0
und setzt man:
so folgt:
es ıst aber identisch:
Ag: cosp- sinp’’= (2h—3)Z7,_;,— (1 + c)(2h—2)Z,_,
+c(2h—1)Z,,
wonach sämtliche Z, durch Z, und Z, ausdrückbar sind. — Ist zwei-
tens Q gebrochen, so kommen auch Teilintegrale von der Form:
£) dp 5
Sarmanenas I
vor; setzt man aber augenblicklich sing = x, so folgt:
F A+neYyı—(lte)at+eizt
ein Integral, für welches die folgende Rekursionsformel gilt:
862 | Abschnitt XXVI.
i@yl — (1+)a2?+ cat nr ec?
(1 nad 1 = (2k — 2) (1 ex Be + =) II,
- ar 9142" + BE) ans t AH Er
— (2k— 5) II,_3,
wonach sämtliche //, durch IZ,, II, und II_,, oder, was dasselbe ist,
durch I1,, Z,, Z, ausdrückbar sind. — Die erhaltenen rag
subsumieren sich unter die Form:
ja (A+Bsing’)dp
(1-+nsinp’)Ag
Legendre unterscheidet aber drei Gattungen von elliptischen
Transzendenten, nämlich:
"_ [48,
h F= (22:
5 ' d
2. @= A+ Being) 25;
besondere Fälle dieser Gattung sind der Ellipsenbogen:
E= fa pdy
und der Hyperbelbogen:
ET 8 [eos s’dp,
—= Ag -tangp ®| As
Zwischen F und E besteht die Beziehung:
EEE REN le
oc
A+ B sing’ dp
1+nsinp’ Ay
. Für die Integrale erster Gattung hat man:
we F(9)Z F(w)=F(u),
wenn:
3. H=
coSsp cosy F sing siny Au —= cos u
ist; hieraus ergeben sich die Additionsformeln:
sin p cos yAy + sin v cos PAY
1— e?singp°sin y? ,
sin u =
c08 pcosy + sinpsinyAyAy |
1 — c?’sin g?sin y? e
cosu=
Transzendenten. Elliptische Integrale. 863
AypAy Te*sing sin cos p cos u
Kr re
1— c?sin p? sin y?
und als besonderer Fall die Multiplikationsformeln, aus welchen
sich die Teilungsformeln ableiten lassen. Das »-Teilungsproblem
hängt von einer algebraischen Gleichung der n?-ten Ordnung ab, die
iR
sich auf. eine der "— I .ten Ordnung. reduziert, wenn n ungerade
unddg= “ ist.
| Besteht zwischen p, % und u die Beziehung:
Fo)+FW)- Fü)
so folgt:
(DBF E(p) + E(w) — E(u) = € sin p sin y sin u,
(54) II() + I) — IL(u) = 7;aretg n Ye sin p sin y sin w
eg,
wo:
c?
Sara urnlırh)
1St.
In seiner re Abhandlung von 1786 wurde Legendre dazu
geführt, zwei Ellipsenbögen untereinander zu vergleichen, deren Ex-
zentrizitäten c, c' und deren Argumente p, @’ in den Beziehungen:
A = 2 e*’singp' cosp ar ER
= — =(c—Y1-e?)sin
ER, Yı-ec?sing® ze v ) =
zueinander stehen. Diese letzte Gleichung läßt sich einfacher
schreiben:
sin (29 — P) = (sing.
Hier dehnt Legendre diese Vergleichung auf Integrale aller
drei Gattungen aus. Es ergibt sich zunächst:
4 [4 1
Fe, p) = rk p);
wendet man diese Transformation wiederholt an, so folgt:
Dr 2ye EU 2ye ee
i+e? er
[70 [23 1+ [240 ‚ 1 2 ’ „
F(c', 9") = FE, p'), F(c,g”)= FERN),
") Die Formeln (52), (53), (54) gehören eigentlich der Abteilung A dieses
Kapitels an; wir haben dieselben aber hier des Zusammenhangs wegen an-
geführt.
864 la Abschnitt XXVI.
Wie schon bemerkt, bilden ce, c‘, c’, ... eine zu-, 9, @, @",..
eine abnehmende Folge. Man kann aber auch die Folge nach der
umgekehrten Seite hit fortsetzen. Ist nämlich:
2ya Bd 6 BER
i+@’ yet !
sin(29—9)=c,sing,, sin (29, — 95) = 6, sin 2 > Daher
(woraus sich ergibt:
tang (p, — P)=V1— dtangp, tang(9,— 9) =YV1— c’tangp,,--),
so hat man:
1 1 6
F(c, 9) = on F(c, 9), Fa, 9) = F(@, 9), °';
C, €, €, ... Ist eine ab-, @, @,, Pg, -. . eine zunehmende Folge. Ist
dann c, so klein, daß es vernachlässigt werden darf, so ist annähe-
rungsweise:
F (ec, p,) I: Pn3
==
bezeichnet also ® den Grenzwert, welchem sich die Folge p, a, a, .
unbeschränkt nähert, so ist:
F(9)=- Bl +) +9). = 02/4 2Va..._.Ko
4
Ist insbesondere p = —, so folgt:
Pi. 4 >
Er
3
also: |
F(e, 2) - F!(e) -KZ:
Setzt man ar
F d
G, - fa, + B, sin p,°) no A,p, = yi — 4’ sin p,°,
so hat man:
= 74(0,—% sin Q,), A=4A+5B, B, =, Ba.
Es ergibt sich analog:
1
= an (@ - sing), A=-A+5B, B,—=B,6;
i+e B, 1 1
G,= re (6; — Fein g,), A=-A+gB, B=-7B6;
u
Transzendenten. Elliptische Integrale. 865
Es ist zu bemerken, daß die Folge BD, B,, B,, ... rascher als
die Folge c, c,, @&,, ... abnimmt. Können B,, c, vernachlässigt wer-
den, so ist:
Gr, er A,9, er” 2” A, D,
wo:
B 6 6,6 GCg"-&n_4\,
u lt OREETITE TER AU ei 4);
bezeichnet also L den Grenzwert von A,, so folgt:
G = EL— 2 (Vasing, + V&& sing, + Va int. ):
_ Für 9=-- hat man G= KL? ei
Setzt man A=1, Ba @, so stellt. @ den Ellipsenbogen E
dar; es ist also:
E(,gJ)=KLö+- eva sing + Vet int...
>
ii
E (e, =) - E\(c()= KL:
Die Integrale dritter Gattung H lassen sich analog behandeln;
' man kann aber auch auf dieselben eine oder die andere der beiden
Substitutionen:
(l+e)sinp 0 21,200
sın op — 1 Le sing?’ sın op = ge Ay
anwenden.
Die Integrale:
IIRPRERR LM Ir 7A nn
TE a
‚fPazt« +ßx+y2?+ sat
Pdx
Ve+ßa+ ya? +ö0° + yat + ßr° taae’
| Pdx
VP+ya?+s2'+ ya° + Ba
wo P eine rationale Funktion von x bezeichnet, lassen sich auf ellip-
tische Transzendenten zurückführen; dasselbe gilt von dem Euler-
schen Integral erster Art:
wenn n = 3, 4, 6, 8, 12.
866 Abschnitt XXVL
C. Vermischte Fragen.
Unter diesem Titel wollen wir einige wenige Schriften kurz be-
sprechen, die sich keinem der beiden oben als Leitfaden angenom-
menen Hauptprobleme anschließen.
Vor allem erwähnen wir zwei Abhandlungen Lagranges mecha-
nischen Inhalts), wo besondere elliptische Integrale berechnet werden,
welche in elementare Integrale dadurch ‘übergehen, daß entweder das
Polynom vierter Ordnung einen zweifachen Faktor besitzt, oder eine
unter dem Integrationszeichen auftretende Konstante sehr klein ist.
Hierher gehört auch eine Schrift Eulers?), welche den Zweck
hat, eine stark konvergierende Reihe für den : der Ellipse auf-
zustellen (s. o. 8.466) Ist:
ae 2;
ge
die Gleichung der Ellipse, so setzt Euler:
aba Ka a er Sr
| Pe a SD
ferner:
2 2
EEE CB re,
a+b Pop: N.
Es ist dann, wenn s die Ellipsenquadrante bezeichnet:
+1 Ä
Ins; € "ds ( 1 1-1
— I—— (11l- en - —_?—-- )
alleı ap. | yı—’ 2 2-4
+1 +1 +1 :
a ” de 1 u ” 2de 1-1 » g?ds
ay2l, Pie 2 /yı-e ?4 Jyı-z
—1 —1
) Recherches sur le mouvement d’un corps qui est
attir6E vers deux centres fixes, Misc. Taur. IV, 1766—1769;
Oeuvres II, Paris 1868, p. 67—121. — Sur la force des ressorts
plies, M&m. Acad. Berlin XXV, 1771; Oeuvres II, Paris 1869, p. 77—110.
r. Nova series infinita maxime convergens perimetrum ellipsis
exprimens, Novi Comm. Acad. Petrop. XVII, 1773 (publ. 1774), p. 71—84. —
Weitere Reihenentwicklungen für elliptische Integrale finden sich u. a. in:
Lambert, Beyträge zum Gebrauche der Mathematik und deren An-
wendung III, Berlin 1772, p. 35—55; Ivory, A new series for the recti-
fication of the ellipsis; together with observations on the evolution
of the formula (a? +b*?— 2abcosp)” (1796), Trans. R. Soc. Edinburgh IV,
1798, p. 177—190; Trembley, Observations sur l’attraction et l’Equi-
libre des sph6roides, Hist. Acad. Berlin 1799—1800 (publ. ge R: 68
bis 109.
"Transzendenten. Elliptische Integrale. 867
Es ist aber:
+1 +1 +1 £E
} dz N [ 2dz 0 tr®dz IE A ar BEL
JVı— 2 "IA ng er I BATrwer
= 1 Ei A
a ahar: ER ui
575 2 2.4 4 2.4.6.8
2-88 1.1:0:8.2:0
7 2,4-623-4.6-8.10-18*% ne],
eine Reihe, welche sehr stark konvergiert.
Wichtiger ist die Abhandlung Eulers über die elastische Kurve r
(s. o. 8. 505£.):
> " 1°dz
fe
Ö
eine Linie, welche schon früher von Jakob Bernoulli und von
Maclaurin?) betrachtet worden war. Ist (Fig. 99):
CP=& PM=(0Q9=y, u
so ist die der Abszisse CB- 1 ent- ee
sprechende Ordinate: x
=.
x?dx D A
:
1
cD=-[, m
0
Die Kurve ist symmetrisch in be- Ä
zug auf die durch D zur x-Achse € we a
parallel gezogene Gerade DA. Man en
findet ferner, wenn MN die Normale in M, N ihren Schnittpunkt
mit der y-Achse, O den Krümmungsmittelpunkt bezeichnet:
) De miris proprietatibus curvae elasticae sub aequatione
x?dx
JVı=a
contentae, Acta Acad. Petrop. 1782, P. II (publ. 1786), p. 34—61. ?) Siehe
diese Vorl., III2, 8. 221; Enneper, a. a. O., p. 525.
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 56
y-
2 sy
868 Abschnitt XXVI.
Setzt man P=ys, so folgt:
Fi fon fa an ee
es ıst aber:
a
seat garten 1.9.8 er ae
2r 2.4.-:2r 4r+3?’
r=0
nr < 4
7 + 3- Sasse — 4) zirdx 5 4 5 3 Es (2r — 1) 1 nr
’ “.. . )
! 2.4 29 4r—+1
7 x
de 1 arte Be, / ide
Yvi-ıat 2’ Via A+2) yı-z
0 0 0
1
er ED 1
— Art 2)Ar—2)---10-6 Ta niidir Wi 22 28 re
0
folglich:
1
® a u 24 3
F n > 2 ER2 "dx
Er En 2.4...2r7 en vi—z
a) UV
1 1
E 2 @r+1)(4r +3)’
r=®%
E = “e-=1 .)
fir ci > ar — 1) 1 fee
AMr=0 r=0 2.4. 27 Ar +1 Vi1—x*
0 .
1 — 1
3 Ze Fvarty)
ER
und hieraus:
DO 1 uch 1 |
a > dr +1 r ih =? 4 (@r L1)(är +3) |
set r=0
art 1:7 rearcigehel ppekarirem Ri,
Dal I 13 4
230 r=0
Man kann selbstverständlich für die elastische Kurve alle Rekti-
fikationsprobleme auflösen, deren Behandlung für die Kegelschnitte
schon oben besprochen wurde. Bezeichnen &,, x, die Abszissen von
zwei Kurvenpunkten M,, M,, so ist:
% V 1 — %s a V ke, ?
142°,
Lg =
Transzendenten. Elliptische Integrale. 869
die Abszisse eines dritten Punktes M,, der zu den oberen in der Be-
ziehung:
CM,=CM,+CM,
steht. Sind ferner P, Q, R drei Kurvenpunkte, so läßt sich ein
vierter Punkt $ derart angeben, daß RS= PQ ist.
Unter den zahlreichen Schriften geometrischen Inhalts, welche
elliptische Funktionen berücksichtigen, erwähnen wir hier eine Ab-
handlung von Euler über die Oberfläche des schiefen Kegels (s. o.
5. 520)'), und eine von Schubert über die Abwicklung der ebenen
Schnitte eines Zylinders?) (s. o. 8. 521).
Wir können diesen Abschnitt nicht beschließen, ohne einen
Namen auszusprechen, der in der künftigen Periode eine Hauptrolle
spielen wird. Der princeps mathematicorum, Karl Friedrich
Gauß (1777—1855), beschäftigte sich seit seiner ersten Jugend mit
elliptischen Integralen, und es ist wohlbekannt, daß manche von den
wichtigsten Entdeckungen Jacobis und Abels ihm seit lange ange-
hörten. Leider hinterließ er von seinen jugendlichen Studien über
diesen Gegenstand nur einige handschriftliche Fragmente, welche erst
nach seinem Tode gedruckt wurden?), und aus welchen es nicht leicht
zu ersehen ist, wie tief er während unseres Zeitabschnittes in die neue
Theorie eingedrungen war. Wichtige Aufschlüsse hat jedoch das
Tagebuch von Gauß gegeben.®)
') De superficie coni scaleni, ubi imprimis ingentes difficul-
tates, quae in hac investigatione occurrunt, perpenduntur (1776),
Nova Acta Acad. Petrop. III, 1785 (publ. 1788), p- 69—89. Siehe auch die oben
besprochenen Schriften von Legendre von 1786 und 1793. ?) De evolu-
tione sectionum cylindri (1798), Nova Acta Acad. Petrop. XII, 1795—1796
(publ. 1802), p. 190—204. °») Gauß, Werke III, Göttingen 1866, S. 404—406
(1797), 433—435 (1799); VII, Göttingen 1901, $. 98—117. #) Über das von
P. Stäckel entdeckte Tagebuch vgl. F. Klein, Mathem. Annal. LVII, 1903,
p. 14—32.
56*
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ABSCHNITT XXVI
TOTALE UND PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
DIFFERENZEN- UND SUMMENRECHNUNG
VARIATIONSRECHNUNG
VON
C. R. WALLNER
Totale und partielle Differentialgleichungen.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts sehen wir die Theorie der
Differentialgleichungen bereits als eine selbständige mathematische
Disziplin vor uns. Während die Untersuchung von Differential-
gleichungen anfänglich nur Mittel zum Zweck war, während ihre
Lösung ursprünglich sozusagen nur als Nebenrechnung bewerkstelligt
wurde, war ihre Integration mittlerweile Selbstzweck geworden.
Auch die Problemstellung hat sich geändert. In den ersten Zeiten
werden Integrationen in geschlossener Form durch elementare Trans-
zendenten verlangt, bald beschränkt man sich auf bloße Quadraturen;
aber auch diese Forderung wird fallen gelassen; man ist zufrieden,
überhaupt die durch die gegebene Differentialgleichung definierte Ab-
hängigkeit diskutieren und womöglich durch unendliche Reihen oder
bestimmte Integrale ausdrücken zu können. Trotz dieses freiwilligen
Aufgebens zu hoch geschraubter Forderungen ist natürlich die Frage
nach Integrationen in endlicher, geschlossener Form nicht erloschen;
aber während man früher schlechthin für jede Differentialgleichung
ein derartiges Integral verlangte, fragt man jetzt umgekehrt nach
Gleichungen, welche eine Integration durch eine endliche Zahl ele-
mentarer Funktionen erlauben. Derartige Nachforschungen haben die
Entdeekung größerer Gruppen integrabler Typen zur Folge. Solche
enthält z. B. eine Arbeit von d’Alembert in den Memoiren der
französischen Akademie von 1767.!) D’Alembert sucht zuerst Aus-
drücke, die sich mit Hilfe der Exponentialfunktion, des Integral-
logarithmus, von Logarithmen und elliptischen Integralen integrieren
lassen. Im folgenden gibt er eine Reihe von eigentlichen Diffe-
rentialgleichungen, meistens 2. Ordnung, die aber viel zu speziell
sind, als daß wir hier darauf eingehen könnten, und Bedingungen
für ihre Integrabilität. Wie er diese Gleichungen erhalten hat, legt
er in einem späteren Aufsatze dar?): Seine Methode besteht darin,
') Histoire de l’Acad6mie Royale des Sciences (avec les M&moires de
Math@matique et de Physique) 1767 (1770), p. 573 ff. (s. o. S. 728, 838). Die
Seitenzahl bezieht sich hier, wie bei den Petersburger Akademieschriften, nur wenn
besonders bemerkt auf die Histoire selber. ?) Ebenda 1769 (1772), p. 73ft.
874 Abschnitt XXVIl.
aus einer integrablen Gleichung durch verschiedene Kunstgriffe wieder
neue abzuleiten. Ähnlich leitet Euler!) aus der Gleichung ddy = Yda°,
wo Y eine Funktion von y allein ist, und die mit Hilfe des Multi-
plikators 2 = integriert werden kann, neue Typen ab, indem er
z. B. x als abhängige Variable auffaßt. So ergibt sich
| dyd’ =— Yaz,
d. i. in unserer ne |
| Fe kiss Y(,). !
Eine neue Gleichung liefert die Einführung von
ds = Vda? + dy®
SSddz + SdSdz — aazda?’ = O
usw. Aus
leitet er?) durch Substitutionen wie z= “ und S= a wo P und
R Funktionen von & sind, neue eikhihgä und im Falle der Inte-
grabilität neue Fälle integrabler Gleichungen ab. Ähnlich erkennt
er, daß die Gleichung
I: (Ei) RR (=) MR re te
a\dt:) \dx? E%
ein endliches Integral besitzt.) Ein von Euler oft geübtes Ver-
fahren, in endlicher Form integrable Differentialgleichungen zu finden,
besteht darin, daß er die Bedingungen aufsucht, unter welchen die
das Integral darstellende unendliche Reihe abbricht (vol. S. 913, Pa
und 992). So per er die Gleichung
FL
ER E- amt 0
allgemein in der Form Ä
m+i1
Y ke? (1 — Ba?" + Da®" —.. -) sin ber + 0)
ME
m+1
— ka ? (Aa — Cam +... .) 608 ( +0
INK
%, Institutiones calculi integralis, vol. II, 1769, p. 25. 2) Ebenda, p. 142.
3) Miscellanea Taurinensia t. II, (der Index 2 deutet die 2. Paginierung an)
1762/65 (1766), p. 70. Die Klammern deuten, wie überall im folgenden, partielle
Differentialquotienten an. # Novi Commentarii Academiae Petropolitanae,
t. IX, 1762/63 (1764), p. 298. | Zu
Totale und partielle Differentialgleichungen. 875
wo k und # die Integrationskonstanten sind; er untersucht, für welche
Werte von m die Reihen abbrechen. Denselben Gedankengang wendet
Laplace auf die partielle Differentialgleichung 2. Ordnung an (vgl.
S. 1001).
Naturgemäß mußte sich bei eingehender Beschäftigung mit der
Theorie der Differentialgleichungen rasch eine Einteilung derselben
herausbilden: man schied in die zwei Hauptgruppen der totalen und
partiellen Gleichungen. Des weiteren wurden die Begriffe Ordnung!)
und Grad einer Differentialgleichung zur Abgrenzung einzelner Typen
herangezogen und zwar in der Weise, daß man bald Gleichungen
gegebener (meist 1. oder 2.) Ordnung aber beliebigen Grades, bald Glei-
chungen gegebenen (besonders 1.) Grades und beliebiger Ordnung
ins Auge faßte. Einen anderen Gesichtspunkt bildete die Zahl der
Variabeln, und hier ist es wieder die Gleichung mit 2 bzw. 3 Ver-
änderlichen, die am meisten untersucht wurde. Diese Art der Ein-
teilung ergibt sich als die natürliche, wenn man die Integration der
Differentialgleichungen als rein mathematisches Problem auffaßt, und
demgemäß werden auch die einfachsten Fälle, die sich bei dieser
Unterscheidung ergeben, wegen ihrer theoretischen Bedeutung eifrig
behandelt. Die Praxis freilich führt sehr häufig gerade auf viel
schwierigere und kompliziertere Fälle; Simultansysteme und große
Zahl von Variabeln sind in Astronomie und Mechanik Regel, und es
ist nichts Seltenes, daß alle die schönen Integrationstheorien der
reinen Mathematik vollständig versagen und man zu Kunstgriffen
seine Zuflucht nehmen muß. Trotzdem haben hierher gehörige Pro-
bleme wegen ihrer eminenten Bedeutung die hervorragendsten Geister
dauernd beschäftigt, und wir begreifen, daß die Weiterentwicklung
der Theorie der Differentialgleichungen der Verfolgung von zweierlei
Absichten zuzuschreiben ist: erstlich war es das Streben nach — so-
weit möglich — vollständigen und erschöpfenden Theorien für die
theoretisch interessanten Fälle; andererseits war es das Verlangen,
die aus der Anwendung hervorgegangenen Methoden und Kenntnisse
so allgemein und einheitlich als möglich zu gestalten. Diese An-
regung aus der Praxis, dies Verlangen nach Ausbau wichtiger theo-
retischer Fragen lösen sich fortwährend ab und fördern, sich gegen-
seitig beständig ergänzend, in gleicher Weise die schon gewonnenen
Resultate.
Indessen ist doch wenigstens zu Beginn des hier geschilderten
Zeitabsehnittes ein deutlicher Unterschied hinsichtlich des Objektes
dieser treibenden Momente zu konstatieren. Der Gesichtspunkt prak-
!, Im Lateinischen „gradus“,
876 Abschnitt XXVIL
tischer Verwertbarkeit kommt vorzüglich für partielle Differential-
gleichungen in Frage, während von den totalen Gleichungen hauptsäch-
lich solche behandelt werden, die formal, also vermöge Grad, Ordnung,
Variabelnzahl eine ausgezeichnete Rolle spielen. Doch bietet auch bei
totalen Gleichungen die Anwendung noch oft genug den Ausgangspunkt,
die Veranlassung zur Untersuchung; es sei hier nur auf das Vorkommen
der natürlichen Gleichungen bei Nils Landerbeck (1735—1810, Pro-
fessor zu Upsala) hingewiesen. In einer Abhandlung aus dem Jahre 1783
wird zunächst ein index variationis curvaturae T’= 77) wo R den
Krümmungsradius, dz das Bogenelement einer ebenen Kurve bedeutet,
[4
sowie eine Hilfsgröße p, die mit unserem DIR
vi+y®
finiert. Es werden nun Kurven gesucht, die durch eine Relation
zwischen 7 und p oder verwandten Gebilden definiert sind. Interesse
für uns besitzt nur ein Scholion?), das die Aufgabe enthält, aus einer
Gleichung zwischen 7 und R, also einer speziellen Gattung natür-
licher Gleichungen die betreffende Kurve zu ermitteln. Landerbeck
benutzt zur Integration einen Hilfssatz
identisch ist, de-
dR dp 5)
RT... yiep®
der sich leicht verifizieren läßt. Die Integrationen selbst bieten,
weil an ganz speziellen Beispielen vorgenommen, keinerlei mathe-
matisches Interesse. In einer Fortsetzung dieses Aufsatzes*) ist auf
die Möglichkeit hingewiesen, aus einer Relation zwischen 7 und 2
oder zwischen R und z die Gleichung der Kurve in x und % Koordi-
naten zu bestimmen. An die umgekehrte Aufgabe, eine gegebene
Kurve durch eine Gleichung zwischen R und z darzustellen, ist ın
keiner Weise gedacht; sind doch auch die erwähnten Probleme für
Landerbeck nur Aufgaben unter vielen anderen und in keiner Weise
ausgezeichnet.
Wir haben heutzutage für die Einteilung der Differentialglei-
chungen außer den oben genannten noch andere Gesichtspunkte mehr
funktionentheoretischer Natur, wie die Art der Unstetigkeiten des
Integrals (z. B. ob fest oder verschiebbar), das Verhalten im Un-
endlichen u. a. m. Derartige Untersuchungen kommen natürlich vor
Ausbildung der Funktionentheorie fast nicht vor, doch sei hier auf
!) Philosophical Transactions, vol. 73, 1783, p. 458. 2) Ebenda, p. 467
3) Das negative Vorzeichen rührt von geometrischen Betrachtungen her.
*, Philosophical 'Transactions, vol. 74, 1784, p..478, Schol. 2.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 877
eine Stelle bei Euler!) hingewiesen, an der gezeigt ist, wie eine
gewisse Methode der Integration durch Approximation infolge be-
stimmter Unstetigkeiten des Integrals hinfällig werden kann. Es ist
speziell von der Differentialgleichung
dd en ffyde’ _ 0
He act
die Rede, deren vollständiges Integral
y-Asin-( + «)
ist. Hier geht, sagt Euler, während x von O bis w, d. i. einer sehr
kleinen Größe, wächst, der Winkel n + « aus dem Unendlichen ins
Endliche über, so daß sein Sinus inzwischen alle Zwischenwerte von
+1 bis —1 unendlich oft annimmt.
Die Frage nach der Existenz der Integrale, die nach unserer
Ansicht den speziellen Untersuchungen voranzugehen hat, existiert
vor Cauchy überhaupt nicht. Einerseits war die Zeit für derartig
kritische Fragestellungen noch nicht reif, andererseits mochte die
geometrisch oder physikalisch evidente Existenz der Lösung von
Problemen, die aus der Praxis genommen waren, die Überzeugung
erwecken, daß auch der entsprechenden mathematischen Formulierung
der Aufgabe eine Bedeutung zukommen muß. Indessen findet sich
doch, wiederum bei Euler, eine Überlegung, die, wenngleich mit der
Frage nach der Existenz der Integrale in keinerlei Zusammenhang
stehend, doch Cauchy nachmals bei seinen Untersuchungen genützt
haben kann. Euler stellt nämlich an die Spitze eines Kapitels
seiner Integralrechnung, das speziell von der Integration durch Ap-
proximation handelt?), folgende Auslegung der Differentialgleichung
d
r
Nimmt x der Reihe nach die Werte a,«a’,a”, a”,... an, so nehmen,
wenn die Differenzen «@ —a, a” —a,... sehr kleine Zahlen sind,
y und V die Werte b, b', 6”, b”,... bzw. A, 4’, A”, 4’”,... an, wo
die a, b, A durch die Gleichungen
b’ ser b 4 A(a rt a); bh" a b’ + A (a” == a’);
le ER ur + vi (a ER3: a); :
= V, wo V eine gegebene Funktion von x und y ist (s. 0. 8. 734):
verbunden sind. Euler hat also hier ähnlich wie Cauchy ein Inte-
') Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 355. ”) Ebenda, vol. I, 1768,
p. 493,
878 Abschnitt XXVIL
grationsintervall ax in Teilintervalle aa’, a’ a”,... zerlegt und die
vorgelegte ‚Differentialgleiehung näherungsweise als Differenzenglei-
chung angesehen.
Unter der stillschweigenden Voraussetzung also, daß eine Inte-
gration immer möglich sei, war man zu verschiedenen Erkenntnissen
über die Natur der Integrale gelangt. Die Tatsache, daß in das
Integral der totalen Differentialgleichung »‘® Ordnung mit 2 Variabeln
immer n Konstante eintreten, ist längst bekannt'); über die Zahl der
willkürlichen Funktionen im Falle partieller Differentialgleichungen
finden sich Untersuchungen in den Memoiren der Pariser Akademie?).
Umgekehrt wird die Frage nach der Ordnung der Differentialglei-
chung, die durch Elimination von » Konstanten entsteht, behandelt.
So zeigt Lagrange?), daß aus einer Gleichung mit 3 Variabeln und
5 Konstanten immer eine partielle Differentialgleichung mit 3 Variabeln
und 5 Differentialquotienten hervorgeht, so daß also die gegebene
Gleichung einer partiellen Gleichung 2. Ordnung gleichwertig ist.
Einen größeren Reiz übte auf viele Mathematiker das Problen,
von vornherein, a priori, ganz allgemein den Bau, die analytische
Form der Integrale und die Natur der darin auftretenden Transzen-
denten zu bestimmen. Die betreffenden Mathematiker waren sich
natürlich der Schwierigkeit und Unbestimmtheit dieser Fragestellung
gar nicht bewußt; man denke nur, welche Hilfsmittel allein die
Theorie der Integrale von Funktionen mit ausschließlich algebraischen
Irrationalitäten erfordert, wie sie das abgelaufene Jahrhundert ge-
schaffen hat, und man wird die Zwecklosigkeit jener Versuche ein-
sehen. Insbesondere hat sich der Marquis de Condorcet mit
diesem Problem beschäftigt?), ohne allgemein giltige Resultate zu er-
halten; auch Laplace ist in dieser Hinsicht tätig, steckt sich aber
von Anfang an engere Grenzen. Er versucht von vornherein, ohne
wirklich Integrationen durchzuführen, lediglich auf Grund funktionen-
theoretischer, sehr interessanter, allerdings nicht ganz korrekter
Schlüsse die_Bo rm des Integrals dep partiellen Differentialgleichungen
1. und 2. Ordnung festzustellen’ °), d. h. die Art der Verknüpfung der
darin auftretenden willkürlichen Fünktionen zu bestimmen. Die Er-
gebnisse seiner Untersuchung bilden die wesentliche Grundlage seiner
Theorie der Integration der partiellen Differentialgleichung 2. Ordnung.
an ee m
.)) Siehe z. B. Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 367. 2?) Histoire
de l’Academie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 1 ff. ®) Oeuvres de La-
grange publ. par Serret, t IV, p. 89. *) Histoire de l’Acad&mie des Sciences
1772, part. 1 (1775), Histoire, p. 66. Viele spezielle brauchbare‘ Erkenntnisse:
Ebenda, Memoires, p. 1ft. 5) Ebenda 1773 (1777), p. 347ff.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 879
Ein wichtiges sich zwar nicht auf den äußeren Bau, so doch
ebenfalls auf die Natur der Integrale beziehendes Problem wirft man
mit der Frage auf, welcherlei Unstetigkeiten in den willkürlichen
Funktionen einer Integralgleichung auftreten dürfen. Wir wissen
aus dem vorigen Band‘), daß dieses Problem durch die Integration
der Differentialgleichung der Saitenschwingungen veranlaßt wurde und
ein Gegenstand lebhaften Streites unter den einzelnen Mathematikern
war. Der vorsichtige d’Alembert, welcher von seinen Zeitgenossen
am meisten Sion für Präzision und Exaktheit, für Strenge in der Rech-
nung zeigte, wollte, wie wir uns erinnern, nur solche Funktionen zu-
lassen, die nach Taylors Reihe entwickelbar sind, Euler glaubt diesen
Funktionen keinerlei Beschränkung auferlegen zu dürfen. Beide Forscher
bleiben bis zu Ende ihres Lebens hartnäckig auf ihrer Meinung bestehen
und geben ihrer Ansicht wiederholt bestimmtesten Ausdruck, d’Alem-
bert besonders in seinem Briefwechsel und in seinen Opuseules
mathematiques, Euler u.a. in seiner Integralrechnung?). Die will-
kürliche Funktion /, sagt dieser, kann so gewählt werden, daß die
durch 5=f(n) dargestellte Kurve mit freier Hand gezogen und aus |
Teilen verschiedener Kurven zusammengesetzt ist. Derartige Funk-
tionen nennt Euler „discontinuas sen nexu continuitatis destitutas“ -
die Fähigkeit, auch diskontinuierlich sein zu dürfen, bezeichnet er als
eine „vis praeeipua“ der willkürlichen Funktionen. Zur Begründung
für seine Behauptungen benutzt er gleich darauf das Beispiel der
schwingenden Saite: Die willkürlichen Funktionen des Integrals, heißt
es, stellen die Anfangsbedingungen dar im Fall, daß sie (analytisch)
bestimmt werden können; da diese Lösung allgemein sein muß, jedem
Anfangszustand genügen muß, ist sie notwendig auch für jene Fälle
tauglich, in welchen man der Saite zu Beginn der Schwingungen eine
ganz unregelmäßige, diskontinuierliche Form gibt, und die Integrations-
funktion muß sich auch diesen Fällen anpassen lassen.
Während nun Euler und d’Alembert, neben Daniel Ber-
noulli die Häupter der beiden Parteien, ihrer ursprünglichen Ansicht
unerschütterlich treu blieben, hat Lagrange, der den fast beruhigten,
weil aussichtslosen Streit durch seine beiden großen Aufsätze über
Natur und Fortpflanzung des Schalles neu entfachte und darin sich
auf die Seite Eulers stellte, sich von d’Alembert zwar nicht völlig
überzeugen, aber doch wenigstens zu dem Zugeständnis drängen
lassen, seine Lösung sei nicht von jeglicher Beschränkung frei, sondern
setze die Endlichkeit sämtlicher Differentialquotienten in allen
') Vgl. diese Vorlesungen, III?, S. 900 ff. ?) Institutiones calculi inte-
gralis, vol. III, 1770, p. 39.
880 Abschnitt XXVI.
Punkten der gegebenen Anfangsfigur implizite voraus!). Nach und
nach flaute die Debatte ab, da eine Einigung nicht zu erzielen war;
die späteren Forscher begnügten sich damit, gelegentlich zu der
Sache Stellung zu nehmen. Auf diese Weise wird ersichtlich, daß
Condorcet?) und Laplace mehr auf der Seite d’Alemberts standen,
insofern als auch sie die willkürlichen Funktionen gewissen Beschrän-
kungen unterworfen wissen wollten. So fordert Laplace für das
Integral einer Gleichung »'® Ordnung die Stetigkeit der Ableitungen
aber nur bis zur (n — 1)'® Ordnung einschließlich?) Für seine Auf-
fassung ist folgende Überlegung maßgebend: Man kann jede Diffe-
rentialgleichung als Spezialfall einer Differenzengleichung auffassen,
es sind lediglich die Differenzen unendlich klein geworden. Für die
Differenzengleichungen brauchen aber (wie durch geometrische Kon-
struktion der Integrale solcher Gleichungen gezeigt wird) die will-
kürlichen Funktionen durchaus nicht stetig zu sein. Die übrigen
Geometer nehmen fast alle Eulers Standpunkt ein. Der Streit hat
übrigens eine wichtige Unterscheidung der bei Kurven möglichen
Unstetigkeiten geschaffen; nach einer von der Petersburger Akademie
preisgekrönten Arbeit?) ist „discontiguite“, d. i. Unstetigkeit in unserm
Sinne (etwa durch Sprung), von „discontinuite“ zu trennen. Letztere
Art von Unstetigkeit besteht darin, daß die Funktion in verschiedenen
Intervallen verschiedenen Gesetzen gehorcht. Der Verfasser, L. F. A.
Arbogast (8. 667, Note 1), ist der Ansicht, daß beiderlei Gattungen
von Unstetigkeiten in den Integralgleichungen zuzulassen sind; die
Differentialgleichung verlange ja nur, daß ein Sprung des einen Diffe-
rentialquotienten durch einen analogen Sprung des übrigen kompen-
siert werde. Die Unstetigkeiten im zweiten Sinne werden überhaupt
von den meisten Mathematikern zugelassen; erwähnt sei z. B.
der Abbe T. Valperga di Caluso°) (1737—1825). Einen wirk-
—— Nach Burkhardt, Entwicklungen nach oseillirenden Funktionen,
Heft 1, \8/ 40. Dieser RD im folgenden einfach als Burkhardt zitiert,
findet sich in den Jahresberichten der deutschen Mathematikervereinigung; da-
selbst ist der ganze Streit bezüglich des Problems der schwingenden Saiten aus-
führlich dargestellt. Der Briefwechsel zwischen d’Alembert und Lagrange
in Oeuvres de Lagrange, t. XIII. Man vgl. auch d’Alembert, Opuscules mathe-
matiques, t. I, 1761, p. 65ff. ?) Histoire de l’Acad&emie des Seiences 1771 (1774),
p. 49 ff. und p. 69. Seine Schlüsse sind nicht streng, die Darstellung ist schwer-
verständlich. ®») Ebenda 1779 (1782), p. 299 ff. #, Vgl. Nova Acta Aca-
demiae Petropolitanae, t. V, 1787 (1789), Histoire, p. 5. Die Arbeit heißt Me-
moing sur la nature des fonctions arbitraires, qui entrent dans les integrales
des equations aux differentielles partielles, St. Petersbourg 1791. Vgl. auch
Burkhardt a.a. 0. ®) Nach Burkhardt, Heft 1, S. 44 Mem. Tor. 1786/87
(1788), p. 571.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 881
lichen und zwar hochwichtigen Fortschritt bedeutet eine Arbeit von
Jacques Charles (1746-1823, erst Beamter im französischen
Finanzministerium, später Professor der Physik am Üonservatoire
des arts et metiers und Mitglied der Academie des sciences).
Dieser unterscheidet zunächst zwischen Kurven, die vollkommen will-
kürlich, etwa aus freier Hand gezogen sind, die also, wie er sagt,
nicht durch analytische Formeln ausgedrückt werden können, und
Kurven, die in verschiedenen Abschnitten ihres Verlaufes verschiedenen
Gesetzen gehorchen. Von letzteren behauptet er, daß sie immer durch
‚einen einzigen analytischen Ausdruck dargestellt werden können und
behandelt auch die Aufgabe, 'ein gegebenes „Gemisch“ von Flächen,
Linien und Punkten durch eine einzige Formel auszudrücken. Als
Vorbereitung zu dieser Aufgabe gibt er umgekehrt analytische Aus-
drücke an, welche derartige Unstetigkeiten aufweisen. Ich bringe
hiervon nur folgendes Beispiel). Sei
z=9+ka+ [| — Sa er + R rn V(x a) (b— x),
bed u
a b
rd
wo @a<b. Charles untersucht diese Gleichung für den Fall
ui
Fz)=0
Für a<xz<b sind 1— und -—1 beide negativ und die Glei-
chung reduziert sich auf z2=g+kx. Liegt hingegen x außerhalb
dieses Intervalls, so ist eine von den Differenzen 1 — - und - —1
positiv, die andere negativ, die Gleichung reduziert sich auf
2=g+ks+Ylea@—a)(b— a);
dieser Ausdruck ist aber dann imaginär. Die Schnittlinie der Ebene
F (2 ) —=() mit der gegebenen Fläche ist demnach ein Geradenstück
mit der Gleichung z2=g+kx, wenn x von a bis b läuft. Analog
läßt sich eine Fläche angeben, die mit F (2) —=(0 ein Geradenstück
2=g' + k'x gemeinsam hat, wenn x von b bis c läuft. Das Produkt
all der erwähnten Gleichungen stellt schließlich eine Fläche dar, von
der F (2) = () einen gebrochenen Linienzug ausschneidet. Einzelne
Punkte stellt Charles analytisch dar, indem er sie als isolierte
Punkte von Kurven auffaßt.
') Memoires de math&matique et de physique presentes par divers Savans,
t. X, 1785, p. 586.
882 Abschnitt XXVII.
Als ganz entschiedener Anhänger Eulers ist endlich Monge zu
nennen, der von geometrischen Überlegungen geleitet wird. In einem
Aufsatz über die Bestimmung der willkürlichen Funktionen
einiger partieller Differentialgleichungen!) zeigt er, daß dies‘ Problem
bei gegebenen Anfangsbedingungen auch auf rein geometrischem Wege
durch Konstruktion der Integrale behandelt werden kann. Da ergibt
sich denn, daß unter Umständen diese Konstruktion, m. a. W. die geo-
metrische Lösung des Problems noch einen Sinn behält, wenn jene
willkürlichen Funktionen wegen auftretender Unstetigkeiten in den
Anfangsbedingungen nicht mehr angebbar (inassignable)?) geworden
sind (vgl. auch oben $S. 561). So ist ihm z.B. die Aufgabe, die will-
kürliche Funktion p in der Gleichung Z=g[V(x,y)} zu bestimmen,
wenn für ein gegebenes y—=A(x) gleichzeitig 2=Y(x) sein soll,
identisch mit der Forderung, diejenige Fläche einer gewissen Flächen-
familie zu finden, welche durch eine gewisse Raumkurve, nämlich
y=4A(&) und 2= (x), hindurchgeht. Die betreffende Konstruktion
wird sehr anschaulich und einfach durch Einführung der Schar von
Zylinderflächen
k (®, y) ee b, |
welche auf der gesuchten Fläche eine Schar von ebenen Kurven aus-
schneidet. Monge geht im folgenden zu Integralgleichungen mit
mehreren willkürlichen Funktionen über, immer an einzelnen speziellen
Aufgaben rechnerisches und konstruktives Verfahren erprobend. Dies
ist übrigens nicht der erste Aufsatz von Monge über diesen Gegen-
stand”), und auch später ist er wiederholt darauf zurückgekommen.®)
Er bringt indessen nichts wesentlich Neues mehr; zu den schwierigeren
späteren Aufgaben gehört z. B. folgende’): Ssiz=g(U)+vY(V), wo U
und V gegebene Funktionen von x und y sind; es sollen p und v
so bestimmt werden, daß für y= Fx von selbst z=fx und für
y—F’'x analog z=f’x wird. Die Schwierigkeiten der Konstruktion
von z2=M+Ngy(V)+Py(W)-+--: kann er nicht allgemein über-
winden‘®); die Konstruktion gelingt ihm nur, wenn die willkürlichen
Funktionen alle das nämliche Argument besitzen. Im ersten Fall
wird Monge zu Differenzengleichungen geführt (vgl. S. 1051). Im
Supplement zur Applikation kommt er endlich noch einmal auf diese
Aufgaben zu sprechen.
Die Bestimmung der willkürlichen Funktionen unter gegebenen
t) Miscellanea Taurinensia V?, 1770—1773, p- 16 ff. ?) Ebenda, p. 21.
®) Vgl. ebenda, p. 18: dans un me&moire preeedent, *) Memoires presentes
par divers Savans, t. VII?, 1773 (1776), p. 267ff. Vgl. auch p. XIII der Vorrede.
°) Ebenda, p. 306. °°) Ebenda, t. IX (1780), p. 345 ff. Der Aufsatz wurde 1774
der Akademie vorgelegt.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 333
Anfangsbedingungen tritt noch viel häufiger in der mathematischen
Physik auf, und hier hat Euler für eine Reihe spezieller Probleme
die Aufgabe rechnerisch gelöst. Die Erfüllbarkeit der gegebenen An-
fangsbedingungen schien, auch wenn sie in analytischer Form vor-
lagen, gemäß ihrer geometrisch-physikalischen Bedeutung bei allen
derartigen Problemen schon von vornherein gesichert und wurde des-
halb nie Gegenstand besonderer Untersuchungen.
Im Anschluß daran behandeln wir einen interessanten Fall einer
Randwertaufgabe bei d’Alembert.') Vom Problem der schwingenden
ungleichförmigen Saite ausgehend, kommt er zu der Gleichung
d?
Ze =ı1X. 5,
wo X eine gegebene positive Funktion von x bedeutet. Er fragt
nun, ob man den Parameter A so bestimmen kann, daß diese Glei-
chung eine Lösung zuläßt, welche in a und b verschwindet, ohne
identisch zu verschwinden. Um diese Frage zu beantworten, führt
er die obige Gleichung in eine Riccatische Gleichung über durch
,
Einführung der neuen abhängigen Veränderlichen z — G Durch
Untersuchung dieser Gleichung kommt er zu dem Resultat, daß die
gewünschte Parametervestimmung stets möglich ist, und zwar so, daß
die betr. Lösung zwischen a und b nicht verschwindet. Daß es aber
nur einen solchen Parameterwert gibt, wird nicht erwähnt, ebenso-
wenig ist von den unendlich vielen Parameterwerten die Rede, welche
man bekommt, wenn man Nullstellen zwischen a und 5 zuläßt.
Man hat ziemlich von allem Anfang an die Integrale in voll-
ständige (bzw. allgemeine) und partikuläre unterschieden. Dazu kam
dann später unser singuläres Integral hinzu.) Endlich unterschied
Lagrange bezüglich der Integrale partieller Differentialgleichungen
zwischen vollständigem und allgemeinem Integral (vgl. indessen $. 969
und 5. 972 Anm. 2).’) — Bezüglich des Integrals, das aus
dz
N dz ‚ Ä
VYa,y,23,a4ab)=0, b=y(a), tar) = 0)
‘) Histoire de l’Acad&mie de Berlin, t. XIX, 1763 (1770), p. 244. Nach dem
Artikel „Randwertaufgaben bei totalen Differentialgleichungen“ in der Enzyklo-
pädie der mathematischen Wissenschaften, II A 7a, 8.439. 2°) Eine Definition
des partikulären Integrals bei Euler, Institutiones caleuli integralis, vol. I,
sect. 2, cap. 4. Ferner bei Laplace, Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69,
p- 174 (verdruckt statt 274), Definition des singulären Integrals bei Condorcet,
ebenda, t. IV®, 1766/69, p. 6 (solution particuliöre); siehe auch Oeuvres de La-
grange, t. IV, p. 7. °) Die Benennung der verschiedenen Arten von Integralen
war jedoch beständigem Wechsel unterworfen. *) Wir haben bei den partiellen
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 57
884 Abschnitt XXVII.
durch Elimination von a und b hervorgeht, sagt Lagrange!), es sei
beaueoup plus generale als das vollständige Integral und nennt es
daher integrale generale. Bald darauf?) sagt er, das allgemeine Inte-
gral schließe die vollständigen Integrale ein comme des cas parti-
euliers. Lagrange beschäftigt sich auch mit dem Zusammenhang
zwischen vollständigem und allgemeinem Integral und sucht letzteres
im Falle der Differentialgleichung 2. Ordnung sowohl aus dem end-
lichen vollständigen Integral als aus ersten Integralen herzuleiten.
Er zeigt dabei?), daß das allgemeine Integral dieser Gleichung viel
leichter aus den beiden vollständigen ersten Integralen als aus dem
vollständigen endlichen Integral entwickelt werden kann und sucht
deshalb aus dem letzteren auf das erste Integral zu schließen. Durch
Einführung der partiellen Differentialquotienten 1. Ordnung geht aber
aus der vollständigen Integralgleichung mit 5 willkürlichen Kon-
stanten im allgemeinen eine Gleichung mit 3 Konstanten hervor, die
nicht als erstes Integral der ursprünglichen Gleichung angesehen
werden kann, da ein solches nur zwei Konstanten besitzen darf.)
Doch kann man durch geschickte Kombination der einZelnen Glei-
chungen in speziellen Fällen eine Gleichung mit bloß zwei Konstanten
erhalten, wie Lagrange an einigen Beispielen zeigt.
Auch Monge beschäftigte sich’) mit der: Aufsuchung erster In-
tegrale besonders für Differentialgleichungen, von denen zu seiner
Zeit wohl das endliche, aber nicht das erste Integral bekannt war;
von den Zwischenintegralen einer partiellen Differentialgleichung
2. Ordnung verlangt er®): sie dürfen keine Differentiationen 2. Ord-
nung aufweisen, müssen aber dafür eine willkürliche Funktion ent-
halten und sich durch einmalige totale Differentiation der Integral-
gleichung und nachfolgender Elimination einer der zwei willkürlichen
Funktionen samt ihrer Derivierten ergeben. J. Trembley (1749—1811)
kommt gelegentlich‘) auf die Ergebnisse von Monge zu: reden und
spricht dessen Gleichungen den Charakter von ersten Integralen ab.
Differentialgleichungen die Schreibweise des Originals durchweg beibehalten,
weil die sehr verschiedenartigen Manieren in der Bezeichnung das Suchen nach
einer vorteilhaften Schreibweise am besten erkennen lassen. Lagrange deutet
wie dies zum Teil noch heute üblich ist, die partielle Differentiation nicht be-
sonders an.
!) Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 74. Dieser Aufsatz stammt aus den
Memoiren der Berliner Akademie für 1774. ?) Oeuvres de Lagrange, t. IV,
p. 88. °») Ebenda, p. 101. *) Ebenda, p. 104. °’) In seinem großen Auf-
satz über Differentialgleichungen in der Histoire de l’Academie des Sciences 1784
(1787), der unten eingehend besprochen wird. ©) Ebenda, p. 135.
’) Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XI, 1793 (1798), p. 79.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 885
Eine gemischte Form des Integrals, die neben willkürlichen Funk-
tionen auch eine Integrationskonstante « enthält, will Monge zu-
lassen‘) Die Gleichung
2=gplax— y+Ylbz — y)]
ist Integral von
02 Ööz2 Ö2 021 002 „odz 02 _ 0%)
dyde® Lda A dxdy azdy!:. .../'
Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß Laplace auf die
Existenz trivialer Lösungen einer Differentialgleichung hingewiesen
hat, die nicht als Integrale zu betrachten sind.?) So wird
uMox-+uNcey=0
durch u —0 erfüllt; aber die „eigentliche“ Lösung muß die Gleichung
oy=p0x erfüllen, wo p eine Funktion von x und y ist. Eine ge-
naue Definition, was als Integral zu gelten hat und was nicht, läßt
sich bekanntermaßen bei Verwendung Monge-Liescher Vorstellungen
in besonders anschaulicher Weise geben.
Von größter Wichtigkeit sind die Untersuchungen, die sich auf
die Theorie der singulären Integrale beziehen. Clairaut®) und
Euler fanden auf diesem Gebiet zunächst keine Nachfolger; dieser
leitet 1768 für Gleichungen 1. Ordnung ein allerdings wenig allge-
meines Kriterium ab, durch das ein partikuläres Integral von einem
singulären unterschieden werden kann, ohne daß das vollständige In-
tegral der Gleichung bekannt ist. D’Alembert fügt in einer Ab-
handlung aus dem Jahre 17695) wenig Neues hinzu; höchstens kann
man sagen, daß er Eulers Überlegung strenger und schärfer macht.
Erst Laplace faßt 1772 das Problem bedeutend weiter. Er verlangt
ein für Gleichungen beliebiger Ordnung mit beliebiger Variabelnzahl
geltendes, dem Eulerschen ähnliches Kriterium; außerdem stellt er
die Forderung, es sollen sämtliche singuläre Integrale einer gegebenen
Differentialgleichung angegeben werden. Durch Laplaces Arbeit
angeregt, nimmt endlich Lagrange 1774 das Problem von neuem
vor; er erkennt als erster die wahre Natur des singulären Integrals
und seinen Zusammenhang mit dem vollständigen Integral. Die dar-
') Me&moires presentes par divers Savans 1773 (1776), p. 322. Auf eine
ähnliche Form des Integrals bei Monge (M&moires de Turin, t. V, p. 52) kommt
Trembley eingehend zu sprechen in Nova Acta Academiae Petropolitanae,
t. XIII, 1795/96 (1802), p. 134. ®) Wegen der Schreibweise vgl. 8. 1012 u. 1019)
°) Histoire de l’Acad6mie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 34. 5 Vgl.
diese Vorl., III?, $. 889. °) Histoire de l’Academie des Sciences 1769 (1772),
p. 85 ff.
57*
886 Abschnitt XXVIl.
auf gegründete Methode zur Bestimmung der singulären Integrale
durch Elimination der Konstanten der Integralgleichung ist der
Laplaceschen Herleitung an Eleganz, Sicherheit und Leichtigkeit
der Handhabung bedeutend überlegen und hat deshalb das ältere
Verfahren vollständig verdrängt. Die zweite, schon von Clairaut
und Euler geübte Methode wiederholter Differentiation, die nicht
vom Integral, sondern von der Differentialgleichung ausgeht, besitzt
Lagrange ebenfalls, auch gibt er erweiterte Kriterien. Endlich be-
handelt er die geometrische Deutung des singulären Integrals als
Enveloppe einer Kurvenschar'), und ist der Ansicht, daß ım allge-
meinen @ein "singuläres] Integral vorhanden ist. Daß ein Ort der
Spitzen oder anderer Singularitäten auftreten kann, ist ıhm dabei
entgangen; ebensowenig weiß er, daß es Integrale gibt, die zugleich
partikulär und singulär sind, d.h. geometrisch gesprochen, daß ein
Zweig der Enveloppe zu den Kurven der Schar gehören kann. 1774
dehnt Lagrange seine Untersuchungen auf Differentialgleichungen
höherer Ordnung und partielle Differentialgleichungen aus; endlich
sind noch die, Arbeiten von Trembley?’) und Legendre zu er-
wähnen.
Wir können uns nicht versagen, näher auf die Aufsätze von
Euler, Laplace, Lagrange und Legendre einzugehen. Euler
sucht3), wie schon erwähnt, ein Kriterium, das gestattet, ein singu-
läres oder partikuläres gegebenes Integral als solches zu erkennen.
In gewohnter Weise geht er allmählich von einfachen Fällen zu
schwierigeren über. So kommt er unter der Voraussetzung, das voll-
ständige Integral laute y= C + P, zu dem Schlusse, daß Z für -—a
nicht unendlich werden darf, wenn «= «a partikuläres und nicht sıin-
guläres Integral von dy = E sein soll. Es ist dabei natürlich an-
genommen, daß «= a die letztgenannte Differentialgleichung befrie-
digt. Er untersucht noch weitere Fälle, wie
Pdx Pdx
RE
vs Yon
und bildet an ihnen folgende Untersuchungsmethode heraus*): Sei’ |
Pdx
d a (7) ’
) Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 38. Die Deutung des singulären Inte-
grals partieller Differentialgleichungen: ebenda, p. 67. 2) M&moires de l’aca-
demie royale des sciences de Turin 1790/91. Ferner Nouveaux M&moires de
V’Academie de Berlin 1792/93 (1798), p. 341—416. Vgl. unten S. 908. '% In-
stitutiones calculi integralis, vol. I, p. 393. *) Ebenda, p. 402.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 887
wo Q für £=a verschwindet, P aber nicht. Man setze z=aT o,
und „betrachte ® als unendlich klein“, so wird Q die Form Ro? an-
nehmen; 2=a wird dann immer partikuläres Integral sein, außer
wenn A<1. Als Beispiel gibt er:
dx
V( —- c08 =)
wo sich der Nenner für <=4— o bei sehr kleinem » auf a
ayz
reduziert, wie durch Reihenentwicklung unmittelbar zu sehen ist.
Hier ist A= 1; hätte man aber statt der Quadratwurzel eine dritte
Wurzel im Nenner, so wäre offenbar 4<1. Im folgenden gibt
dy =
Euler die naturgemäße Erweiterung dieser Regel für Differential-
gleichungen der Form z = n wo X und Y Funktionen von x
bzw. y allein sind, und geht endlich ')zu dem Fall Pdxz = Qdy über,
wo P und @ irgendwelche Funktionen von x und y sind. Dieser
Gleichung genüge die endliche Auflösung y= X, wo X eine Funk-
tion von x allein. Euler sagt, man ersetze in der gegebenen Diffe-
rentialgleichung y durch X +» und bestimme = für unendlich
kleine ©. Es wird = —= Sdx werden, und y—= X ist ein Integral
[0]
oder nicht, je nachdem A>1 oder A< 1. Nach dieser Ausdrucks-
weise sieht es fast so aus, als ob Euler die singulären Integrale
nicht als Integrale gelten lassen wollte; Namen hat er keinen dafür.
Die oben beschriebene Methode führt z. B. bei
ady— adı = dxY(yy - vr),
weX=z, auf
Ber dc Y2x;. din A
yo 2
Hieran knüpft Euler die weitere Bemerkung?): das Integral der ge-
gebenen Differentialgleichung ist:
2 =
2ZayYo—=(+ 3 &V2x,
wo © nach Voraussetzung unendlich klein ist. Es wird ‚aber, heißt
es weiter, wie man auch die Konstante © bestimmen mag, ® einen
endlichen Wert erhalten, woraus notwendig folgt, daß die Gleichung
Y=% kein Integral sein kann.
Auf diese Abhandlung Eulers weist Laplace hin und sagt, sie
') Institutiones caleuli integralis, vol. I, p. 408. ”) Ebenda, p. 411.
8838 Abschnitt XXVII.
habe den Anstoß zu seinen eigenen Untersuchungen gegeben!). Zu-
nächst schafft er das, was Euler fehlt, nämlich eine besondere Benennung
für die singulären Integrale. Er definiert allgemein als „solution“?)
jede Gleichung, die eine gegebene Differentialgleichung befriedigt, be-
hält aber dann diesen Ausdruck mit dem Beiwort „particuliere“
speziell für unser singuläres Integral und spricht im Gegensatz dazu
von einem „integrale particuliere* bzw. „generale“ (auch „resolution
complete“). Sodann stellt sich Laplace die Aufgabe: Eine Lösung
von öy=»pöx ist bekannt; man soll feststellen, ob sie im allgemeinen
Integral enthalten ist oder nicht, ohne dieses zu kennen. Laplace
geht von der geometrischen Versinnlichung der Integralgleichung
aus. u=( sei die gegebene Lösung,
”— 9=0 das unbekannte vollständige
Integral. Man konstruiere die Kurve
HCM mit der Gleichung u—=0 und
ar‘ diejenige Kurve $=0, welche
25 durch einen gegebenen Punkt Ü von
HCM geht. Heißt sie LON, so
ist also LCN Repräsentantin eines
partikulären Integrals. Ist nun
u= (0 im allgemeinen Integral ent-
halten, so muß, behauptet La-
place, HCM Punkt für Punkt
mit LCON zusammenfallen. Indem er jetzt die Ordinaten von LON
mit Y, die zugehörigen Differentiale mit 2, die Ordinaten von HOM
mit y, die Differentiale mit Ö bezeichnet und Y und y für die Um-
gebung des Punktes © nach der Taylorschen Reihe entwickelt, er-
hält er als Bedingung für das Zusammenfallen beider Kurven, d. i.
als Bedingung dafür, daß HCM, also u = (0, ein partikuläres Integral
ist, folgendes System von Gleichungen:
ZA- 6’ Be;
>
A B Fr
Fig. 100.
44.04 u 0a az
dx: Daran data de
usw. Diese Relationen sind zunächst nur für den Punkt (, d. i. für ein be-
stimmtes Wertepaar x, y abgeleitet; nimmt man aber einen anderen
Punkt 0’ der Kurve HCM, deren Zugehörigkeit zu den partikulären
', Histoire de l’Acadömie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 343. Vgl.
auch die Zusätze p. 641 und die Histoire desselben Jahres, p. 67ff. Ferner eine
bereits früher veröffentlichte Notiz am Schlusse eines Aufsatzes über Wahrschein-
lichkeitsrechnung in den M&moires presentes par divers Savans, t. VI (1774),
p. 654. Daselbst ist noch auf einen Aufsatz in den Actes de Leipsie für 1771
hingewiesen, der indessen nach Laplaces eigenem Zugeständnis Fehlerhaftes
enthält. ®, Histoire de l’Academie des Sciences 1772, part. 1 (1775),
p: 344.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 889
oder singulären . Kurven in Frage steht, und legt durch (” die ent-
sprechende partikuläre Kurve), so erhält man dieselben Bedingungen;
demnach müssen letztere, wenn HÜUM ein partikuläres Integral dar-
stellen soll, für jedes x giltig sein.
Nun lassen sich aber die ö-Derivierten aus der gegebenen Diffe-
rentialgleichung leicht bilden; man erhält nämlich der Reihe nach.
Bu sinn OU (OD, (AP\0Y 2 Bp).L KaoN 2).
a (22) na (2) DEE ee) ” =) p uw.);
p ist hierbei eine gegebene Funktion von & und y. Andererseits
können auch die ö-Derivierten aus der bekannten Gleichung der Kurve
HCNM erhalten werden.
Laplace bemerkt sodann, daß natürlich die Gleichung
oy 0y
ox 0x
von selbst schon erfüllt ist; hierauf geht er zu subtileren Unter-
suchungen über, deren Gang und Ergebnisse hier nur kurz angedeutet
werden können. Er formt zunächst die ursprüngliche Differential-
gleichung so um, daß der Buchstabe u der gegebenen Integralgleichung
#= 0 darin auftritt, und erhält schließlich die Gleichungen:
cu = u"-höx
oder unter gewissen Voraussetzungen
(2)
— w'gir = sn dx + öy,
(ev)
wo h immer endlich, solange u=0. Diese Gleichung gibt er als
Kriterium für den Charakter von u—=0: im Falle »>1 handelt es
sich um ein partikuläres, im Falle an <1 um ein singuläres Integral,
So liefert die Gleichung
08. was
02 y—Vlex+yy— aa)
mit dem Integral
u=xcz+yy—aa=0O
unschwer
vertan vH yyyVeetwm-an)|
‘) Man beachte, daß Laplace nur immer einzelne Integralkurven LUN
und nie die ganze Schar ins Auge faßt, was ihn wahrscheinlich zu tieferer Ein-
sicht in das Wesen der singulären Lösungen geführt hätte. *) Die Klammern
bedeuten, wie immer, partielle Differentiation.
890 Abschnitt XXVII.
Da n = —< 1, so ıst das Integral ein singuläres. Die ganze Dar-
stellung hat vor der Eulerschen den Vorzug, daß sie nieht mit
bloßen Worten geschildert, beschrieben, sondern mit den Symbolen
p, u, © usw. wirklich rechnerisch durchgeführt ist. Beide Gedanken-
gänge betonen in gleicher Weise das Endlichbleiben oder Unendlich-
werden gewisser im Lauf der Untersuchung auftretender Ausdrücke.
Im folgenden!) zeigt Laplace, daß u, wenn u=0 ein singuläres
Integral von öy = pöx sein soll, gemeinschaftlicher Faktor von
(SE)
p+ a und er
( a) (03)
ist. Dieses Theorem verwertet er zur Bestimmung der singulären
Integrale, wenn nur die Differentialgleichung gegeben ist. Er behan-
delt speziell den Fall, daß u eine Funktion von x oder y allein ist.
Endlich geht Laplace zu Differentialgleichungen 2. Ordnung und
zu solchen mit 3 Variabeln über, welche die Integrabilitätsbedingungen
erfüllen. Als Kriterium für die Natur eines Integrals u=0 der
Gleichung dz = pdx + qdy gibt er die Regel: man bilde
je nachdem der kleinere der beiden Exponenten » und n’ >1 oder
< 1 ist, hat man ein partikuläres oder singuläres Integral vor sich.?)
Lagrange gibt zu Beginn seiner Arbeit?) einen kurzen ge-
schichtlichen Überblick über die Theorie der singulären Lösungen.
Er verweist auf Eulers Mechanik*) und Integralrechnung, auf d’Alem-
bert, Condorcet und besonders Laplace. Er definiert sodann inte-
grale partieuliere als unser singuläres Integral und verlangt ausdrück-
lich, daß es nicht durch Spezialisierung aus dem vollständigen Inte-
gral erhalten werde.’) Dann betrachtet er, in welcher Weise eine
Integralgleichung V(zx, y, a) = 0, wo a die Integrationskonstante be-
deutet, einer Differentialgleichung
Z (2, Y, 2) +0)
Genüge leisten kann, m.a. W. wie die Differentialgleichung aus der
‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 355.
?) Ebenda, p. 367. ®) Oeuvres, t. IV, p. 5ff. (Nouveaux Me&moires de l’Aca-
d&mie de Berlin 1774.) *) Lagrange selbst zitiert t. II, Artieles 268,
303, 335. °) Dies erkennt schon Euler, vgl. S. 887.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 891
Integralgleichung entstehen könne. Die Gleichung V = 0 gibt durch
Differentiation, sagt Lagrange, eine Gleichung
dy=p(a, y, a)da,
und die Gleichung Z= 0 folgt hieraus und aus V=0 durch Elimi-
nation von a. Hierbei ist der Wert von a vollkommen gleichgiltig.
Das Resultat der Elimination wird immer dasselbe, nämlich Z= 0,
bleiben, ob a konstant oder variabel ist, so lange nur die beiden El-
minationsgleichungen V=0 und dy=pdz heißen. Faßt man aber
den Fall eines variabeln a ins Auge), so erhält man aus V7 = 0 die
Gleichung dy=pdx + gda, wo p und q Funktionen von &, y und a
sind. Letztere Gleichung kann sich aber bei variablem «a nur dann
auf dy= pdx reduzieren, wenn g=() ist. Der Wert von a aus
day
ee)
berechnet und in V—0 substituiert, wird ein singuläres Integral
geben. Desgleichen wird 2 =( ein singuläres Integral liefern.
Lagrang: betrachtet auch den Fall, daß die Bestimmungsgleichungen
für a dieses a entweder nur in Verbindung mit Konstanten oder
überhaupt nicht enthalten; im ersten Fall, sagt er, haben wir kein
eigentlich singuläres Integral, im zweiten wird eine besondere Prü-
fung notwendig sein. Den Fall a= . weist er als unbrauchbar
zurück.
Nach dieser Voruntersuchung fragt er nach einer Methode, welche
die singulären Integrale ohne Kenntnis des vollständigen Integrals zu
finden gestattet. Er weist zunächst darauf hin, daß die singulären
Integrale einer Differentialgleichung Integrale der aus diesen abge-
leiteten Differentialgleichungen nur unter besonderen Bedingungen
sind, was für die Integrale einer auf niedrigere Ordnung reduzierbaren
Differentialgleichung höherer Ordnung von großer Wichtigkeit ist.
So hat z.B. die Gleichung xdz + ydy— dyYa®+yP—b=0 ein
singuläres Integral 2?+ y?— b?= 0; letzteres ist aber kein Integral der
Differentialgleichung 2. Ordnung xd’y — dydx = 0, von der jene Glei-
chung 1. Ordnung erstes Integral ist.?) Lagrange zeigt dann, daß,
wenn die erwähnten Bedingungsgleichungen
‘) Lagrange macht in der Bezeichnung totaler und partieller Differentiäl-
quotienten keinen Unterschied. ?) Schon Euler läßt den Parameter einer In-
tegralgleichung nachträglich variieren (vgl. 8. 925). ») Diese etwas ungewöhn-
liche Form erhält man aus dem ersten Integral, wie es sich zunächst ergibt,
bei Benutzung des vollständigen Integrals.
892 Abschnitt XXVI.
ay we a’y » .d’y 0
I
da 3 de Ne
(und analog, wenn x mit y vertauscht wird) alle bis ins Unendliche
erfüllt sind, d.h. wenn das in Frage kommende Integral sämtliche
aus Z — () durch Differentiation hervorgehenden Gleichungen befriedigt
dieses Integral kein singuläres, sondern nur ein partikuläres Integral
ist. Für den Fall eines singulären Integrals dürfen also diese Glei-
chungen nur bis zu einer bestimmten erfüllt sein; wie bei Laplace
ist der Charakter eines partikulären Integrals von unendlich vielen
Bedingungsgleichungen abhängig gemacht.
Diese Bemerkung dient nun als Grundlage zu der folgenden
Untersuchung, welche die Bestimmung der singulären Integrale un-
mittelbar aus der gegebenen Differentialgleichung bezweckt. Lagrange
sagt: da Z die Größe a nicht enthält, so ist zunächst ee 0. Nun
kann aber das in Z auftretende y gemäß der Gleichung V=0 als
Funktion von x und y angesehen werden; es ist demnach
dZz d’y day
da A ande + Para).
Handelt es sich jetzt um ein singuläres Integral, so ist fernerhin
a _g
da ?
und es ergibt sich
A Bir
dzda 0,
da 5 unter der Voraussetzung, daß Z eine ganze rationale Funktion
von x und = ist, nicht unendlich werden kann. Für den Fall, daß
2
A 0 ist, betrachtet Lagrange die höheren Ableitungen. Er
dxda I ” >
3
kommt zu dem Ergebnis, daß dann ee usw. gleich Null sein
x’da i
müssen. Da aber das Nullsein sämtlicher derivierten N, a ...
a xzda
nach dem Obigen den Charakter eines partikulären Integrals anzeigen
würde, so folgert Lagrange, daß für ein singuläres Integral A — 0
sein muß. Da aber
dZ= 4:d9 + Bay + Oda = 0,
so folgt
Bäy + Ode = 0;
d.h. im Falle des singulären Integrals muß der aus Z= 0 abgeleitete
Wert
Totale und partielle Differentialgleichungen. 393
dy
de Part
dr, . A 0
werden, und diese Gleichung wird umgekehrt als Bedingung für das
Auftreten eines singulären Integrals hingestellt. Sie liefert zwei Glei-
chungen, die mit Z= (0 simultan bestehen müssen.
Nach der geometrischen Deutung des singulären Integrals als
Enveloppe wendet sich Lagrange zu den totalen Differentialglei-
chungen 2. Ordnung. Lautet die Integralgleichung wieder V=0, wo
V eine Funktion von x, y und den Integrationskonstanten a und b
ist, so faßt Lagrange die Größe b zunächst als willkürliche Funktion
von a auf. Die Bedingungen für das Vorhandensein eines singulären
2
Integrals und: I - 0 verwandeln sich dann in
da dxda
dy db
d’y d’y db
AB, da) und + r
dy
l: 3, re Fa ET ER Frage
da
Durch Elimination von — ergibt sich
2 712
2 u A Me A N
da dadb dbdxda
Es ist ferner
dy = pda + s da + ab,
folglich
3. dy— pdı=(.
Dazu kommt noch die Integralgleichung
4. Vv=-(,
. h db ee
Aus diesen vier Gleichungen sind a, b und 7. 7u eliminieren. Durch
Vertauschung von x und y ergibt sich eine Reihe analoger Glei-
ehungen.
Später") gibt dann Lagrange eine Methode an, aus einem ersten
Integral der gegebenen Differentialgleichung 2. Ordnung, also aus
einer Differentialgleichung 1. Ordnung das singuläre Integral der ur-
sprünglichen Gleichung zu ermitteln, die dem Verfahren, das singuläre
Integral einer Differentialgleichung 1. Ordnung aus deren endlichem
Integral herzuleiten, völlig analog ist. Die Methode läßt sich en
Differentialgleichungen beliebig hoher Ordnung übertragen.?)
Wichtiger sind die Untersuchungen über die singulären Integrale
partieller Differentialgleichungen. Die zu einer Integralgleichung
', Oeuyres de Lagrange, t. IV, p. 58. ®) Ebenda, p. 59.
894 Abschnitt XXVH.
V’(x,y,2,a,b)=0
gehörige partielle Differentialgleiehung 7 = 0 entsteht nämlich durch
Elimination von a und b aus den Gleichungen Ä
wo p und q Funktionen von x, y, 2, a und b sind. Das Resultat
dieser Elimination wird dasselbe sein, ob a und b konstant sind oder
nicht, wenn nur die drei Gleichungen, aus denen a und b eliminiert
werden sollen, dieselben sind. Dazu ist aber im Fall variabler a
und b das Bestehen der Gleichung rda + sdb= (0 notwendig, wie
sich aus de = pdxz + gdy + rda + sdb ergibt. Die einfachste Manier,
dieser Gleichung Genüge zu leisten, sagt Lagrange, besteht darın,
daß man getrennt r— O0 und s=0 setzt. Während Lagrange so-
eben r und s für sich gleich Null setzte, leistet er der Gleichung
rda +sdb= 0 im folgenden allgemeiner dadurch Genüge, daß er die
Existenz einer Relation zwischen a und b annimmt und demzufolge
b= y(a) setzt. So wird er, von der Theorie der singulären Integrale
ausgehend, wieder zum allgemeinen Integral geführt. Um das singu-
läre Integral aus der Differentialgleichung selbst zu ermitteln, gibt
Lagranget) folgende Regel: Differentiiert man die Gleichung 7 = 0),
so erhält man
Ma°. + Na 1, + Pda + Ldy=0,
dz dz
wo M, N, P, L ganze Funktionen von &, %, 2, a sind, denn
dz kann vermöge der Relation
da q
dz = — - da = a ®
immer eliminiert werden. Man setze jetzt M, N, P, L jedes für sıch
gleich Null, was mit Z=(0 nach Elimination von = und. er drei
Gleichungen in x, y, 2 gibt, die gleichzeitig statthaben müssen Be-
sitzen sie einen gemeinschaftlichen Faktor, so ist dieser als das ge-
suchte singuläre Integral anzusehen. Reduziert sich dZ auf
AdTE + Ba‘, ia;
so hat man nur die drei Gleichungen Z=0, A=0, B=0, die
immer ein singuläres Integral liefern. Durch Besprechung dieses
Falles kommt er zu der Einsicht, daß dann das vollständige Integral
') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 71.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 895
Z=ax+by-+fla, b)
und die gegebene Differentialgleichung
= +3 ve+te 2.)
sein muß. Auf die Ähnlichkeit mit der Clairautschen totalen Glei-
ehung ist bei Lagrange nicht hingewiesen.
Weiterhin!) zeigt Lagrange, daß das singuläre Integral nicht
im allgemeinen Integral enthalten ist, an einem speziellen, in alle
Lehrbücher übergegangenen Beispiel und geht dann auf die geome-
trische Interpretation der Integrale partieller Differentialgleichungen
ein. Die durch das singuläre Integral dargestellte Fläche, sagt er,
berührt alle im vollständigen Integral enthaltenen Flächen; die durch
das allgemeine Integral bei Wahl eines bestimmten Wertes der will-
kürlichen Funktion g dargestellte Fläche berührt nur jene Flächen
des vollständigen Integrals, welche bei der speziellen Annahme b= (a)
herausgegriffen werden.
Auch über die singulären Integrale partieller Gleichungen 2. Ord-
nung macht Lagrange einige Angaben; um das singuläre Integral
aus dem vollständigen Integral V=0 zu finden, gibt er folgende
Regel an’): Man lasse in den Gleichungen
ATi dz dz
Abe 0; da Be dy eg
die fünf Integrationskonstanten a, b, c, g, h variieren und halte wäh-
renddessen &, y und z konstant, setze dV, dp und dg gleich Null
und eliminiere aus diesen drei Gleichungen zwei der fünf Differen-
tiale da, db, de, dg, dh. Endlich setze man in der Eliminations-
gleichung die Koeffizienten der übrigen drei Differentiale gleich Null.
Bei Kombination mit den oben angeführten drei Gleichungen
d
Vv=0; 7 p— 0 und an
dy
erhält man durch Elimination der Integrationskonstanten a,b, ce, g, h
eine partielle Differentialgleichung 1. Ordnung, die als singuläres Inte-
gral der gegebenen Gleichung 2. Ordnung aufzufassen ist. Ist hin-
gegen die Differentialgleichung allein, nicht aber ihr Integral gegeben,
so bilde man das vollständige Differential der gegebenen Gleichung
in der Form
Ma + Nd5, + Pd +0Qdx + Rday=V0
En
') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 79. ®, Ebenda, p. 91.
896 Abschnitt XX VI.
und setze die Koeffizienten M, N, P, Q, R für sich gleich Null. So
erhält man fünf Gleichungen, die mit der gegebenen Differentialglei-
chung zusammen bestehen müssen. Durch Elimination der drei par-
tiellen Differentialquotienten 2. Ordnung erhält man simultane Glei-
chungen in z, y, 2, u. und RR ein gemeinschaftlicher Faktor der-
selben ist als singuläres Integral aufzufassen; der Spezialfall 9 = 0,
R=0 ist wie bei der Gleichung 1. Ordnung von besonderem In-
teresse.
Lagrange charakterisiert den Unterschied zwischen seinen und
den Arbeiten seiner Vorgänger mit den Worten!): „Ich habe zuerst
die wahren Prinzipien dieser Theorie gegeben. Man hat Regeln mehr
oder weniger allgemeiner Art aufgefunden, ein gegebenes Integral von
vornherein als singuläres oder partikuläres zu erkennen, auch für die
Auffindung der singulären Integrale sind Regeln entdeckt worden.
Aber niemand hat meines Wissens den Ursprung dieser Integrale ent-
wickelt.“ Das berechtigte Selbstbewußtsein, den freudigen Stolz dieser
Worte wird wohl jeder nachfühlen, der Gelegenheit hat, den Ent-
wicklungsgang der Theorie aus den Originalarbeiten selbst kennen zu
lernen.
Legendre kommt zu seinen Resultaten durch Benutzung des
Prinzips, daß das singuläre Integral immer weniger willkürliche Kon-
stanten enthält als das vollständige; er stellt diese Eigenschaft als
Fundamentalsatz an die Spitze seiner Abhandlung. Von diesem Theo-
rem aus gelangt er folgendermaßen zur Bestimmung der singulären
Integrale aus der Differentialgleichung?): sei ein Wert von y, welcher
der Gleichung genügt, bekannt, ein benachbarter Wert y-+öy ge-
sucht. Zu diesem Zweck variiere man, sagt Legendre, in der ge-
gebenen Gleichung von der Ordnung » bei konstantem x die Größen
Y, S er ‚... und man wird wegen der Relationen
ödy == döy, Öddy= dddy usw.
eine lineare Gleichung der Form
d” 2 ge oy
A- —t Töy=0
dx 2% dar-! Tixaik J
erhalten, die als Differentialgleichung für öy aufgefaßt werden kann.
Nun läßt sich aber die Form dieser Größe öy aus der Integralglei-
chung erschließen; differentiiert man diese nämlich, indem man die
') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 585. ®) Histoire de l’Acadsmie des
Sciences 1790 (1797), p. 222.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 897
Integrationskonstanten a, b, c,.... variieren läßt, so ergibt sich eine
Beziehung:
y— SP da + SP 30 + 99 2det...ı
Diese Gleichung ist aber nach Auffassung das Integral
der vorerwähnten linearen Differentialgleichung für öy; die Größen
da, öb, öc,... sind hierbei die Integrationskonstanten. Wenn
nun y ein vollständiges Integral ist, wird die Zahl der Größen a,b,c,...
gleich n sein, öy enthält demnach ebenfalls » Integrationskonstanten,
und die Differentialgleichung für öy wird »‘!” Ordnung. In diesem
Falle kann der Koeffizient A von -— niemals Null sein. Im Fall
x
des singulären Integrals hingegen enthält y und damit dy höchstens
n — 1 Konstante, die Differentialgleichung für öy wird deshalb höch-
stens (n — 1)‘ Ordnung; es muß also jedenfalls A—= 0 sein, wobei
außerdem auch die Relationen B=0, 0=(,.,.. bestehen können.
So liefert die an age
vl +2y + —y-0,
indem man y und @ Zn variiert,
(v5 E+m)53 ernten
Setzt man den Koeffizienten von > ? gleich Null, so kommt y=0 —
und u +2=0. Letztere a gibt im Verein mit der vor-
gegebenen das singuläre Integral Y +2? — = 0,
Aus einer partiellen Differentialgleichung erster Ordnung!) erhält
d d
man durch Variation von z, 5, Fr nach Unterdrückung der Nenner
eine Relation der Form
484, +B8% + 08:0,
die als partielle Gleichung für dz SH werden kann. Soll sie
also ein singuläres Integral liefern, so müssen gleichzeitig A = 0 und
B=0 sein, da eine gegenteilige Annahme eine willkürliche Funktion
in den Ausdruck für öz einführen würde. Bei partiellen Gleichungen
2. Ordnung kann das singnläre Integral höchstens eine einzige will-
kürliche Funktion besitzen, die partielle Gleichung für öz daher
höchstens 1. Ordnung sein. Variiert man daher in der gegebenen
Differentialgleichung die Größen
') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1790 (1797), p. 236.
898 Absehnitt XXVL.
dd: ddz ddz dz dz
d2’N. day Say 42’ 0
so müssen im Falle eines singulären Integrals außer der gegebenen
Gleichung noch drei Relationen bestehen, die man durch Nullsetzen der
Koeffizienten von
27
‚ddz
ö ..dde ddz
da?’
Odaay’ Pay:
erhält. |
Wir sahen im vorhergehenden — bei der Konstruktion willkür-
licher Funktionen unter gegebenen Anfangsbedingungen durch Monge
sowie bei der Theorie der singulären Integrale — wiederholt geo-
metrische Vorstellungen zur Aufhellung der Theorie herangezogen.
Man muß sich aber hüten, den Einfluß solcher Hilfsmittel auf die
Entwicklung dieser Theorie zu überschätzen, zumal es sich um eine
vorwiegend analytische Epoche der Mathematikgeschichte handelt.
Monge kommt rückwärts von geometrischen Problemen aus zu seinen
Differentialgleichungen und gewinnt durch Übersetzung erprobter Ver-
fahren und Überlegungen geometrischer Natur in die Sprache der
Analysis viele seiner rechnerischen Methoden; aber es ist ihm nicht
umgekehrt darum zu tun, eine eigentliche geometrische Theorie der
Differentialgleichungen und ihrer Integrale zu entwickeln, d.h. eine
Theorie, welche in konsequenter Weise analytische Operationen durch
geometrische Konstruktionen ersetzt. Und wenn es auch manchmal
den Anschein hat, daß er Differentialgleichungen durch geometrische
Überlegungen löst, so darf man doch sicher sein, daß er in allen
diesen Fällen das Resultat schon vorher besessen und die betreffende
Differentialgleichung erst nachträglich aufgestellt hat. Es finden sich
demgemäß bei Monge Stellen genug, welche die geometrische Be-
deutung gewisser Gleichungen anschaulich und klar machen, und die,
zusammengetragen, eine geometrische Theorie der Differentialglei-
chungen liefern würden, aber Monge scheint selbst nicht an eine
solche Zusammenstellung zu denken. Die bedeutendsten Überlegungen
dieser Art vor dem Erscheinen der „Application de l’analyse & la
geometrie“ sind auf 8. 56lff. und S. 1037 ff. dargestellt. Schwierigere
Probleme dieser Art, wie wir sie heutzutage behandeln, so die Frage
nach der Gestalt der durch eine Differentialgleichung definierten
Kurven, oder die Untersuchung einzelner Punkte und ihrer Umgebung
werden naturgemäß überhaupt gar nicht aufgeworfen.
Wir wenden uns im folgenden zu den allgemeinen Methoden,
welche dem Charakter des jeweiligen Problems angepaßt in veränderter
Form auf die verschiedensten Gattungen von Differentialgleichungen
Anwendung finden. Dabei ist auch einiger Versuche zu gedenken,
einen unbedingt gangbaren Weg zu finden, auf dem sich alle Difie-
Totale und partielle Differentialgleichungen. 899
rentialgleichungen, gleichviel welcher Beschaffenheit, integrieren lassen.
Man möchte meinen, daß die Existenz von so vielen und dabei so
verschiedenen Lösungsmethoden, die Leichtigkeit der Integration in
den einen, die ungeheure Schwierigkeit in den anderen Fällen, es
hätte wahrscheinlich machen müssen, daß eine einheitliche, unter allen
Umständen zum Ziele führende EEE nicht existiert;
und dieser Vorwurf trifft den Marquis de Condorcet, der mit seinen
zahlreichen Arbeiten sich das Lob der Zeitgenossen, wie Lagranges
und d’Alemberts!) erwarb, aber doch gerade auf diesem seinem
Lieblingsgebiete keine wirklich lebensfähige Integrationsmethode in Um-
lauf zu setzen wußte, in viel höherem Grade als den bedeutend früheren
Fontaine (1705—1771), zu dessen Zeiten ein derartiger Versuch noch
nicht so aussichts- und zwecklos erscheinen mußte als später. Fon-
taines Abhandlung von 1738 erschien erst 1764 im Druck ®); sie enthält
eine eigenartige, von der herkömmlichen abweichende Bezeichnungs-
weise, die mir, da ich das Original nicht zur Verfügung hatte, nicht
“recht verständlich wurde.?) Condorcet sucht das ER eT
auf eine kanonische Reihe von Fundamentaloperationen, wie Diffe-
rentiation, Elimination, Substitution usw. zurückzuführen®) und er-
läutert seine Methode an einigen einfachen Beispielen; es ist aber
nicht recht einzusehen, was er mit seinen Spekulationen eigentlich
will, bis wieweit er seine Behauptungen für richtig hält, und in
welchem Umfang er seine Regeln für die Integration auch praktisch
anwendbar und ausführbar ansieht; auf die Arbeiten der anderen Mathe-
matiker sind gerade diese Untersuchungen Condorcets ohne allen
Einfluß geblieben.
Sehen wir von unmittelbar integrablen Gleichungen, wie dem
Fall separierter Wurzeln, oder anderen, durch Kunstgriffe zu behan-
delnden Gleichungen spezieller Form ab, so ist als eine der ältesten
Integrationsmethoden allgemeinerer Art die Reduktion auf integrable
oder wenigstens diskutable Gleichungen durch Einführung neuer
Variabeln zu nennen. In der ersten Zeit war überhaupt mehr oder
minder bewußt die Ansicht herrschend, daß in der Separation durch
Anwendung von Substitutionen „die Integrationsmethode“ zu erblicken
sei. Bald dachte man kühler. Euler zeigt, daß alle Fälle, in denen
Differentialgleichungen durch Trennung der Veränderlichen integriert
werden können, auch mittels Multiplikator integrabel sind, aber nicht
umgekehrt, und sieht deshalb im integrierenden Faktor die umfassen-
‘) Vgl. Nouvelle Biographie generale über Condorcet. ?) Vgl. diese Vorl.,
III®, S. 883. °) Einiges bei Montucla, Histoire des Math&matiques; t. TH,
p- 137. *) Du caleul integral 1765, Sect. II. Ferner Miscellanea Taurinensia,
t. IV?, 1766/69, p. 1ff.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 58
900 Abschnitt XXVI.
dere, allgemeinere Methode. Er weist ferner!) auf die Unmöglichkeit
hin, bestimmte Prinzipien für die Auffindung von Substitutionen, die
auf integrable Gleichungen führen, anzugeben, sowie auf das Versagen
der Separationsmethode bei Differentialgleichungen höherer Ordnung.
Die Auffindung von Substitutionen, welche Trennung der Variabeln
ermöglichen, erfordert, wie er sagt”), nicht weniger Scharfsinn als die
Integration selbst.
Wenn auch im allgemeinen bei einer beliebig gegebenen Diffe-
rentialgleichung jene Transformationen, welche eine Integration, sei
es durch vorgeschriebene Transzendenten, ermöglichen, nicht angegeben
werden können, weil die Angabe dieser Transformationen mit der In-
tegration der Gleichung selbst identisch wäre, so sind es doch Trans-
formationsverfahren, welche, selbst wenn sie nicht auf integrable
Typen führten, immer noch die theoretisch bedeutendsten Resultate
zeitigten. Viele Methoden der Ordnungserniedrigung, die Eulersche
und die Laplacesche Theorie der partiellen Differentialgleichungen
2. Ordnung, die Theorie der Eulerschen homogenen partiellen Diffe-
rentialgleichung, in gewissem Sinne auch die Methode der Variation der-
Konstanten beruhen auf solehen Verfahren. Schließlich dürfen Trans-
formationen höherer Ordnung nicht unerwähnt bleiben, welche auch
Differentialquotienten enthalten; es sei nur an die d’Alembertsche
Gleichung?) erinnert.
Die eben erwähnte Methode der Ordnungserniedrigung ist
im Grunde genommen die vorbildliche klassische Integrations-
methode für alle Differentialgleichungen höherer Ordnung und be-
liebigen Grades. Man hat entweder mit Hilfe von passenden Sub-
stitutionen oder mit Benutzung eines Multiplikators ein erstes Integral
zu finden, das dann ebenso weiter behandelt wird. Dieser allgemeine
Gedankengang liegt den meisten speziellen Integrationsmethoden zu-
grunde, und besonders Euler hat versucht ihn brauchbar zu machen;
freilich ist seine Durchführung in der Praxis im allgemeinen nicht
möglich. Aber man hat in Verfolgung dieser Idee wenigstens eine
Reihe von allgemeinen Gleichungstypen gefunden, auf die sie mit
Erfolg angewendet werden kann. Auf Ordnungserniedrigung durch
Substitution beruhen die Theorie gewisser zuerst von Monge be-
handelter partieller Gleichungen beliebiger Ordnung (vgl. S. 1019), die
Theorie des Zusammenhangs zwischen homogener linearer Gleichung
2. Ordnung und Riccatischer Gleichung, die Reduktion der totalen
Differentialgleichung 2. Ordnung, welche die unabhängige Variable
!) Institutiones caleuli integralis, vol. I, p. 290. °) Ebenda, vol. III, p. 600.
®) Vgl. diese Vorl., III? S. 897.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 901
nicht explizite enthält!), die Verwandlung von Differentialgleichungen
höherer Ordnung in ein Simultansystem von Gleichungen 1. Ord-
nung. So führt z. B. Euler‘) die Gleichung beliebiger Ordnung
dy ‚ddy
syhBeth Egah ::
durch die Substitutionen
dy=pda; dp= gdı; ...
in ein System linearer Gleichungen 1. Ordnung über, ohne gerade be-
sonderen Nachdruck auf die Bedeutung dieses Schrittes zu legen.
Hier sei noch folgende originelle Methode von Lagrange für
eine spezielle Gleichung erwähnt?): Ist
0 = fonct - 6 DEREN, .. ir
wo
y, dp, ag,
ee Fe Baar Pe ne re ee
so ergibt sich mittels der Substitutionen
ke RER A
x x t
der Reihe nach:
t-d(u-+t)
a ee Fre
t: dm -t ( du )
p=u+rt, q= . re = Ei Ra PnER Die
Setzt man diese Ausdrücke in die ursprüngliche Gleichung ein, so
ist die Ordnung um 1 Grad erniedrigt.
Im Anschluß an die Verwertung der Transformationen überhaupt
sei noch auf das Auftreten von Berührungstransformationen bei
Monge hingewiesen (vgl. S. 980 ff.).
Wie schon erwähnt hat Euler die Anwendung von Multipli-
katoren zwecks Ördnungserniedrigung der Integration durch Sub-
stitution vorgezogen und sich deshalb eingehend mit der Theorie
der Multiplikatoren als der „wahren und natürlichen Quelle aller
Integrationen“*) beschäftigt. Er geht dabei auf zwei gänzlich ver-
') Die Reduktion gelingt, wenn man den 1. Differentialquotienten der ab-
hängigen Veränderlichen als neue Variable einführt; & und y ergeben sich
dann als Funktionen dieser Variablen in Parameterdarstellung. Siehe Institu-
tiones caleuli integralis, vol. II, p. 40. ?) Ebenda, vol. II, p. 373. Diese Re-
duktion, nach einer gütigen Mitteilung von Herrn Prof. v. Braunmühl schon
bei d’Alembert, Histoire de l’Academie de Berlin, t. IV, 1748 (1750), p. 289,
°) Miscellanea Taurinensia, t. IV? p. 342. *) Institutiones calceuli integralis,
vol. I, p. 314.
58*
902 Abschnitt XXVL.
schiedenen Wegen vor; einmal sucht er Gleichungen, welche einen
Multiplikator von gegebener Form besitzen, das andere Mal sucht er
zu gegebenen Differentialgleichungen einen integrierenden Faktor zu
finden. Das erste, leichtere Problem ist in der Integralrechnung
ausführlich behandelt.!., Euler nimmt dabei die Form der Diffe-
rentialgleichungen bis auf gewisse unbestimmte Funktionen schon von
vornherein an, wozu natürlich viel Geschick und mathematischer Blick
gehören, damit die Aufgabe lösbar wird. Die Bestimmung der un-
bestimmt gelassenen Funktionen erfolgt natürlich mit Zuhilfenahme
der Integrabilitätsbedingungen; die Resultate sind aber viel zu speziell,
zu wenig interessant und übersichtlich, als daß wir darauf eingehen
könnten.
Auch Trembley sucht Differentialgleichungen
Rdz + Sdy=0,
die durch einen gegebenen Multiplikator M integrabel werden. Aus
der Bedingung
Ray) - 2a) (a) 0
folgt vermöge R= — nn > die Gleichung
(ar a
d. h. |
dam ) 9)
m S
- (@))ar = 0,
Auf diese Gleichung gründet Trembley seine Rechnung; ihre
Einzelheiten müssen hier übergangen werden; sie bietet, sagt
Trembley?), keinerlei Schwierigkeiten als ihre Länge. Und daran
ist ihm, wie wir noch sehen werden, gar nichts gelegen. Schwie-
riger ist die Aufgabe, zu einer gegebenen Differentialgleichung
einen et Faktor zu finden; so verlangt Euler?), die Glei-
chung = 6 m 0, die zunächst das Integral in transzendenter
Form liefert, mit Hilfe eines geeigneten Multiplikators unmittelbar
in algebraischer Form zu integrieren. Für Gleichungen x‘ Ordnung
verwendet Euler einen Multiplikator, welcher die Differentialquotienten
bis zum (n — 1)" einschließlich enthält. So versucht?) er z. B. für
die Gleichung
') Institutiones caleuli integralis, vol. I, p. 351 ff. ?), Nouveaux Memoires
de l’Academie de Berlin 1790/91 (1796), p. 328. °) Institutiones caleuli inte-
gralis, vol. III, p. 603ff. *) Ebenda, vol. II, p. 153.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 903
Ayda?
PAY T OH Da Rae ®
einen Multiplikator der Form
2Pdy+2Qyde,
wo P und @ Funktionen von x sein sollen, und zwar verlangt er
das Integral in der Form
Pdy +2Qydady-+ Vdxz = Const. da?,
wo V eine Funktion von x und y sein soll. Durch Anwendung der
Integrabilitätsbedingungen erhält er schließlich den Multiplikator
2dy(C+2Dx + Exx) — 2ydz(D+ Ex).
Besondere Eleganz und Übersichtlichkeit ist bei dieser Rechnung
allerdings nicht zu finden; Euler benutzt die Formel, um aus ihr
Spezialfälle abzuleiten. Für die Gleichung
yyddy + ydy? + Axda? = 0
wird, wie Euler sagt!), vergeblich der Versuch mit einem Multipli-
kator der Form
Ldy + Mdx
gemacht; möge also, fährt er fort, der Versuch mit der Form
3Ldy’ +2Mdady + Nda?
und dem Integral
Lyydy? + Myydady? + Nyyda?dy + Vda? = Cda?
gemacht werden. Es ergibt sich
L=y M=0, N=34Ar
mit
V’=— Ay’+ 44a?
als eine brauchbare Lösung. Die folgende Behandlung dieses Bei-
spiels, wobei von der Substitution . = Gebrauch gemacht wird,
ist nicht uninteressant. Übrigens sind wir .auf diese Beispiele nur
eingegangen, weil sie zeigen, welcher Art die Differentialgleichungen
sind, an die sich Euler wagt. Daß er schon früher einfachere Bei-
spiele behandelt hat?), wird niemand wundern.
Für die Theorie der Multiplikatoren von Differentialgleichungen
») Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 162. ?) Novi Commentarii
Academiae Petropolitanae, t. VII, 1758/59 (1761), p. 163 ff.
904 Abschnitt XXVIL.
höherer Ordnung wird ein Integrabilitätskriterium von höchster
Wichtigkeit, das Euler bei seinen Untersuchungen über die Variations-
rechnung nebenbei gefunden hat. Er fragt nach der Bedingung dafür,
daß hi Zdx ein Maximum oder Minimum werde und findet, wie schon
früher), dafür die Gleichung
Pr... eL
mITataten
wo
dZ= Mdx + Ndy+Pdp+0Qdgy-+---
und
d d
dert al Ce,
Am Schluß der betreffenden Abhandlung endlich erwähnt er?) ganz
kurz und ohne Beweis, daß die identische Erfüllung jener Maxi-
malbedingung die Integrabilität von Zdx zur Folge habe. Diese
Bemerkung blieb anscheinend unbeachtet; wenigstens knüpft Lexell,
der sich eingehend mit diesem Kriterium beschäftigt hat (vgl. unten),
erst an Eulers Integralrechnung an, deren 3. Band in einem Anhang
über Variationsreehnung den genannten Satz wieder enthält. Man
beachte, daß Euler nicht von vornherein nach einem Integrabilitäts-
kriterium für Zdx, wo Z Differentialquotienten beliebig hoher Ord-
nung enthält, gesucht hat; vielmehr ist er von ganz anderen Pro-
blemen aus zu jener Gleichung gelangt, nach deren tieferer Bedeutung
er sich nachträglich gefragt hat. Euler verwendet seinen Satz zur
Auffindung integrabler Zdx. So geht er einmal?) von dem Ausdruck
(@0x + yoy) Oyooz — Ox00y)
(2° + dyS?
aus, der ein Integral
YORE
Voz® + op)
besitzt und fragt nach ähnlichen integrablen Fällen. Er gibt dabei
dem zu integrierenden Ausdruck von vornherein schon eine bestimmte
Form und sucht die darin unbestimmt gelassenen Funktionen so zu
bestimmen, daß sie die Integrabilitätsbedingung erfüllen, ganz ähnlich
wie er früher Differentialgleichungen suchte, die einen Multiplikator
von gegebener Form zulassen.
Unabhängig von Euler beschäftigte sich Condorcet mit der
ı) Vgl. diese Vorl., III?, S. 863. ®, Novi Commentarii Academiae Petro-
politanae, t. X, 1764 (1766), p. 134. >) Nova Acta Academiae Petropolitanae,
t. XI, 1793 (1798), p. 3. Zu diesem Aufsatz steht ein anderer Artikel von Euler
aus dem Jahre 1777 in Beziehung: Ebenda, t. IX, 1791 (1795), p. 81ff.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 905
Frage nach der Integrabilität von Ausdrücken mit 2 Variabeln; er
kommt auf ziemlich mühsamen Wegen zu derselben Gleichung').
Am eingehendsten hat sich Lexell mit dieser Frage beschäftigt. Zu-
nächst verlangt er?) einen von den Prinzipien der Variationsrechnung
freien, rein analytischen Beweis des Eulerschen Kriteriums. Sei also
V eine Funktion von 2, 9,2,9,r,... und
dy=pda; dp=qda; dq=rda; ...; dt=uda,
und sei weiterhin
dAV= Mdx + Ndy+ Pdp+ Qdgqg +: + Udu.
Nun kann man, sagt Lexell, jedenfalls setzen:
Var =ude +vdy+ndp+::: + rdt
und demzufolge
V=u+tvp+tng+t:: +;
hieraus gewinnt man
daV=du+pdv+gdan +: + udr
+vdp+nrdg +: + rdu.
Vergleicht man diese Form mit der ursprünglichen, so ergeben
sich die Gleichungen:
u
ve
ET Eee
rettet
Bei allen Differentiationen sind dabei x, y, p,... u, wie vollständig
voneinander unabhängige Variable zu behandeln, so daß also z. B.
(32) und ähnliche Ausdrücke Null zu setzen sind. Soll jetzt VYdx ein
exaktes Differential sein, so müssen Gleichungen bestehen, wie
") Condorcet, Du calcul integral. Paris 17656. An Stelle dieses Werkes,
das mir leider nicht zur Verfügung stand, benutzte ich die eingehende zeit-
genössische Besprechung durch Pietro Ferroni in den Memorie di Mat. e Fis.
Soc. It., tomo V, 1790, p. 130 ff. 2) Novi Commentarii Academiae Petropoli-
tanae, t. XV, 1770 (1771), p. 128.
906 Abschnitt XXVI.
ee -:
usw. Dann wird aber
ut
net
Pet
Multipliziert man diese Gleichungen mit dx durch und berück-
sichtigt die Gleichungen
pde=dy; qda=dp,
usw., so erhält man
u /Mda; v— / Nas; x— )(P- v)da; = /(Q- da; ...
Daraus ergeben sich aber die u,»,a,... durch die M, P,Q,...
ausgedrückt und zwar in Form von Summen mehrfacher Integrale.
Diese Werte in
Vntvp +20 te Heu
eingeführt, ergeben in leicht verständlicher Bezeichnungsweise die
Gleichung
V-/Mda +p/Ndz + q( | Pax _ (Na.)
+r(/Qdz _ [Pax + [ Nas) +++:
(m—1) (m)
+u( [Pax +:.-+ [Pd F /Nax)
(2) (m)
Eee ern
(m —1)
+ [ofPdn nina.» free
+...
Nun ist identisch
Totale und partielle Differentialgleichungen. 907
Ndy-+ au [Nds == (pNda B= dp | Nda)
(2)
— (dp / Nax -r dq / Nds) ++:
7 (ae far + du f aa)
PN Er ne Fe
Ebenso ist
(m—1) (2) (m—1)
Pap+du| Pax—d.q/Par—d:r/Pdx+.::+d-u/ Pdz
(2) (m —1)
-a|a/Paa—r/Pan+:--+u/ Pan]
usw.
Durch Benutzung dieser Gleichungen folgt unmittelbar
dV= Mdx +Ndy+ Pdp-+-:: + Tdt
(m) . (m — 1) (m — 2)
Fdu(/Nax — [ Paz + [Qda+---F Tag).
Da aber nach Voraussetzung
dV = Mdx + Ndy+Pdp+:-:+ Udu,
so folgt
(m) (m—1)
U-F/Nds + [Pax F..:+ [Tde.
Hieraus endlich gewinnt man durch wiederholte Differentiation
und Umstellung als notwendige Bedingung für die Integrabilität von
Vdx die Gleichung
dP dd
N-r @8_....09,
Im folgenden sucht Lexell ähnliche Kriterien für den Fall dreier
Variabeln z, y, 2°); in einer späteren Abhandlung kommt er nochmals
auf das Problem zurück und rechnet?) auch ein praktisches Beispiel
durch, des weiteren kommt er auf die wichtige Frage eines Multi-
plikators für nichtintegrable Ydz zu sprechen. Wegen einer An-
wendung dieser Untersuchungen vgl. $. 1032.
') Wir sind gegen Schluß unwesentlich von der etwas unübersichtlichen
Darstellung des Originals abgewichen. ?) Novi Commentarii Academiae
Petropolitanae, t. XV, 1770 (1771), p. 193. ®) Ebenda, t. XVI, 1771 (1772),
p- 189.
908 Abschnitt XXVIL
Wir haben diese Fragen im Anschluß an die Theorie des inte-
orierenden Faktors gebracht; in dieser Hinsicht ist noch einiges zu
sagen. Schon Condorcet beschäftigt sich mit dem Zusammenhang
zwischen Integral und Multiplikator‘).. Euler zeigt”), daß jeder
Multiplikator M von Pdxe+0Qdy= 0 ein partikuläres Integral M = 0
liefert, sofern nicht einer der Koeffizienten P oder Q@ dadurch unend-
lich wird; analoges gilt von einem integrierenden Divisor. An anderer
Stelle hat er den leicht beweisbaren Satz?): Ist ZL ein Multiplikator
von Pdz + Qdy, so ist auch L- ®(Z) ein solcher, wo ® eine will-
kürliche Funktion bedeutet, und Z sich aus dZ= L(Pdx + Qdy)
bestimmt. Dieser Satz ist nur eine andere Form des bekannteren,
daß der Quotient zweier Multiplikatoren, einer Konstanten gleichgesetzt,
das vollständige Integral der Differentialgleichung gibt. Der Zusammen-
hang zwischen Partikulärintegral und Multiplikator hat für Trembley
großen Reiz; seine Absicht ist, aus einem bekannten partikulären oder
singulären Integral einen Multiplikator herzuleiten und mit diesem
das vollständige Integral zu ermitteln. Er braucht also vor allem
ein Integral, das er sich mit Hilfe unbestimmter Koeffizienten fol-
gendermaßen zu verschaffen sucht.‘) Ist die gegebene Differential-
gleichung dy + T=0, so bildet er zunächst den Ausdruck
> > de ,
(eu
In diesem Ausdruck, der eine Summe von Funktionen von x und y
sein wird, ersetzt er die Koeffizienten der einzelnen Summanden durch
Buchstaben, die er so zu bestimmen sucht, daß der ganze Ausdruck,
gleich Null gesetzt, die gegebene Differentialgleichung erfüllt. Ist
z. B.
day _ay® by _
dx c eyx
gegeben, so ist
ay? by?
U=— a
eyx
dann findet man
dU dU
(22) iz (75)
bis auf die Koeffizienten gleich
1) Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69, p. fl. Nach Lagrange auch
Du Caleul integral, p. 67. 2) Institutiones caleuli integralis, vol. I, p. 414
bzw. 416. °) Ebenda, vol. I, p. 329. Vgl. diese Vorl., III®, S. 883. Eine Verall-
gemeinerung des im Text erwähnten Satzes bei Condorcet: Miscellanea Tauri-
nensia, t. IV®, 1766/69, p. 14. *) Nouveaux M&moires de l’Academie de Berlin
1792/93 (1798), p. 341—416. Diesem Aufsatz geht ein Artikel ähnlichen Inhalts
in den Turiner Memoiren für 1790 voran. 5) Man vergleiche die Bedingungs-
gleichungen von Lagrange für das Auftreten eines singulären Integrals S. 893 oben.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 909
y"
rl De
Mit Unterdrückung des Faktors y?!) setzt Trembley:
Öö
EEE or
wer Vater
d® d®
FE ee
— so kann nämlich die ursprüngliche Differentialgleichung ge-
schrieben werden, wenn sie das Integral ®= 0 besitzt — gibt die
Gleichung :
3a« Pr (ee? ee). + (4 2%) ®
ce xc
Substitution in
y
V®
Daraus lassen sich mit Hilfe von
EEE EEE RE
D=ay m tughn =)
die Glieder mit y° und y* eliminieren; der Ausdruck wird dadurch
noch umfänglicher; es resultiert eine Gleichung, die sich von ® = 0
nur dadurch unterscheidet, daß an die Stelle der «, ß,... komplizierte
Funktionen dieser Größen getreten sind. Da aber die Schlußgleichung
bis auf einen Faktor mit ®=0 identisch sein muß, ist Koeffizienten-
vergleichung statthaft, und es ergibt sich schließlich
D = ay? ae 0.
Die Methode erfordert umfangreiche Rechnungen; weit einfacher hätte
Trembley gleich das vollständige Integral der gegebenen Differential-
gleichung
Gomera Fler),
V® V®
wo w, und w, die Wurzeln der Gleichung
a b 1
SET UT,
und «, ß,y leicht zu bestimmende Konstante sind, abgeleitet; das von
Trembley gefundene Integral läßt sich unschwer in der Form schreiben:
') Nouveaux M&moires de l’Academie de Berlin 1792/93 (1798), p. 343.
910 Abschnitt XXVII.
Oele
Trembley gibt noch zahlreiche andere Beispiele, die indes zum
großen Teil auf ganz ungeheuerliche Rechnungen führen; dann nimmt
er als Integralgleichung statt des einfachen ®=0 das kompliziertere
e"®=(), wo u und ® Funktionen von x und y sein sollen?); ja er
dehnt seine Methode auf totale Differentialgleichungen mit 3 Variabeln ?)
und auf Differentialgleichungen 2. Ordnung aus?). Auf das letzt-
genannte Problem kommt er in einem späteren Aufsatz*) zurück; er
rechnet hauptsächlich Beispiele, die Euler und andere schon behan-
delt haben, und sucht auch Multiplikatoren zu bestimmen. Endlich
geht er auf ein interessantes Paradoxon ein; man findet, sagt er?),
in den Beispielen bei Euler und Waring algebraische integrierende
Faktoren, die gleich Null gesetzt, kein partikuläres Integral der ge-
gebenen Differentialgleichung liefern, was der Theorie zu wider-
sprechen scheint. Aber diese Gleichungen werden in Wahrheit durch
Exponentialfunktionen integriert, und die von den genannten Autoren
gefundenen Faktoren sind das Resultat der Kombination zweier erster
Integrale, wobei sich die Exponentialfunktionen gegenseitig aufheben.
Den Satz, daß ein Multiplikator M gleich Null gesetzt ein partikuläres
Integral gibt, überträgt Trembley auf Gleichungen »‘” Ordnung.°)
Wirklichen Erfolg und praktische Bedeutung hat die Methode
des integrierenden Faktors nur in wenigen Fällen errungen; hier ist
in erster Linie ihre Anwendung bei der totalen linearen homogenen
Differentialgleichung n‘” Ordnung zwecks ÖOrdnungserniedrigung zu
nennen’); man wird hier zu der sogenannten Lagrangeschen Ad-
jungierten geführt, von der an einschlägiger Stelle die Rede sein wird
(vgl. 5. 928). Dann ist auf die Benutzung von Multiplikatorensystemen
bei Simultansystemen von Differentialgleichungen hinzuweisen; so sei
z.B. an die elegante Behandlung der Differentialgleichungen der Be-
wegung mit Nebenbedingungen mittels unbestimmter Multiplikatoren
erinnert.
Im Gegensatz zur Methode des integrierenden Faktors war die
Integration der Differentialgleichungen durch unendliche Reihen
stets von höchster praktischer Bedeutung°), sei es nun, daß man die
!) Nouveaux M&moires de l’Academie de Berlin 1792/93 (1798), p. 386.
», Ebenda, p. 391. °) Ebenda, p. 397. *) Ebenda, 1794/95 (1799), p. 3—68.
°®) Ebenda, p. 69. 6) Ebenda, p. 90. ”) Auch Euler behandelt die voll-
ständige lineare Differentialgleichung »!* Ordnung mit konstanten Koeffizienten
mittels eines integrierenden Faktors: Institutiones calculi integralis, vol. II,
p. 402. ®) Laplace z.B. stellt sich in der Histoire de l’Acad&mie des Sciences
Totale und partielle Differentialgleichungen. 911
gesuchten Reihen direkt oder erst durch sukzessive Annäherung be-
stimmte. Entwicklung nach Potenzreihen mittels der Methode der
unbestimmten Koefäzienten treffen wir in Eulers Integralrechnung;
besonders die Differentialgleichung 2. Ordnung ist dort eingehend be-
handelt.) Wie gewöhnlich ist von einfacheren Beispielen zu solchen
schwierigerer Art übergegangen. So behandelt Euler?) z.B. die Glei-
chung
ddy+ ax"yda? =.
Er setzt eine Reihenentwicklung mit steigenden Exponenten an:
y= Axt+ Bartr+2 2 Ogl+imt+4n...
und erhält durch Einsetzen in die gegebene Differentialgleichung zu-
nächst die Bedingung
AA —1V)=0.
Daraus folgt A=0 oder A=1, weshalb Euler die neue Reihe an-
setzt:
y-=A + Bart? Oarttr...
+ An + Bart? + Cats...
Die B, ©, ... und B, € drücken sich dann leicht durch die
beiden Integrationskonstanten A und X aus. Ein Ansatz mit abneh-
menden Exponenten führt, wie er sagt, zu keinem Ergebnis. Im
folgenden integriert er durch Reihen die Gleichung
vx(a + bar) ddy + x(c+ ea")dxdy + (f+ gar)yda? = 0,
und Spezialfälle davon, weil gerade bei ihr die Rekursionsformeln
für die Koeffizienten der Reihenentwicklung ganz besonders einfach
werden; es drückt sich näilich jeder Koeffizient durch den unmittel-
bar vorhergehenden aus. Diese Bemerkung veranlaßt Euler zur Be-
handlung des Problems?), alle linearen Differentialgleichungen 2. Ord-
nung von der Eigenschaft aufzusuchen, daß in den zugehörigen
Reihenentwicklungen jeder Koeffizient sich durch die zwei unmittel-
bar vorhergehenden Koeffizienten ausdrückt. Hier sei auch noch auf
das Auftreten der Zylinderfunktionen bei Euler hingewiesen; das
Problem der Schwingungen einer Membran führt ihn nämlich®) auf
die Differentialgleichung
1782 (1785), p.5 bzw. p. 31ff. die Aufgabe, Reihenentwicklungen für gewisse
Integrale zu finden, die durch starke Konvergenz für die Praxis brauchbar sind.
Vgl. o. 8. 735.
') Institutiones calculi integralis, vol. II. p. 182 ff. ?) Reihen mit un-
bestimmten Koeffizienten auch in Novi Commentarii Academiae Petropolitanae,
t. XVII, 1772 (1773), p. 129, und Institutiones caleuli integralis, vol. II, Sect. I,
cap. VII, VIII, IX. ®) Ebenda (Inst. cale. int.), p. 252. *) Novi Commentarii
Academiae Petropolitanae, t. X, 1764 (1766), p. 243.
912 Abschnitt XXVI.
ß? 1 du
I +,
die mit der bekannten Besselschen Differentialgleichung identisch
ist. Euler entwickelt in eine unendliche Reihe. Eine andere nicht
uninteressante Reihenentwicklung für die Gleichung
d?M m dM
Er sei
findet sich bei Lagrange.) Für m = (0 hat man das Integral
M= AsinxVY—k,
für m=2 aber
M= Asinz Y—k— Ax en
daraus läßt sich, sagt Lagrange, für m—=4, 6, .... auf die Form
M- Asina Vu Be er er
schließen, wo A, B, C, ... Funktionen von & sind. Durch Substitu-
tion in die gegebene Differentialgleichung ergibt sich eine Folge von
Differentialgleichungen zur Bestimmung von A, B,0,.... Lagrange
findet
A=f+ha"t,; B=— far — hat?
m m 4
CA 2) 4 er ante,
(m — 2) (m — 4) m+H9mt+e m+a.
an Dr ee Alm
usw.,
wo f und h Integrationskonstanten sind, und bemerkt hierzu: ist m
eine positive gerade Zahl > 2, so bricht die Reihe der mit f multi-
plizierten Terme ab, ist m negativ und gerade < — 4, so ist die An-
zahl der in A multiplizierten Terme eine endliche; man erhält dann
Integrale in endlicher Form, indem man h bzw. f gleich Null setzt;
für m=0 undm=— 2 wird die Formel unbrauchbar; Lagrange
macht dann hinsichtlich der Brauchbarkeit dieser Entwicklung eine
Reihe von Bemerkungen; insbesondere spricht er von einer Unan-
nehmlichkeit, die allen allgemeinen Integrationsformeln anhafte, daß
sie nämlich in gewissen Fällen, die dann eine Sonderuntersuchung
erfordern, ungiltig werden. Auch auf dem Gebiet der partiellen Diffe-
rentialgleichungen hat die Entwicklung nach unendlichen Reihen. oft
Dienste geleistet; Angaben über die Zahl der dabei auftretenden will-
1) Miscellanea Taurinensia, t. II?, 1760/61, p. 81ff. Vgl. auch 8. 930 dieses
Bandes.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 913
kürlichen Funktionen, die ja kleiner als die Ordnung der Differential-
gleichung sein kann, haben wir nicht gefunden. So behandelt Euler!)
die Gleichung
met (mar (+0;
er setzt das Integral in der Form
= Alk + yo) + Bat Wr) + Cat) + --
an und drückt die Koeffizienten B, C, D,... durch A aus. Die
Rekursionsformeln hierfür, die quadratische Gleichung
n+2mi+ii —-I=0
mit eingeschlossen, nennt er determinationes. Bei Vertauschung
von x mit y muß man wieder ein Integral haben; daraus ergibt sich
= Aut fa + FW) + Bat WHEN).
In die Gleichung für A setzt Euler
Am=-—1i
und erhält so
n=(m+i)(m —i—1);
durch passende Wahl von ö bricht dann die Reihe von selbst ab.
Im Anschluß daran behandelt Euler die Frage, wann sich die
Gleichung
(av) = ae) + Ra) + Ska) + Te 0
auf die eben integrierte Gleichung zurückführen läßt, und gewinnt so
viele Fälle integrabler Gleichungen.
Hier sei eine Aufgabe von Condorcet angefügt, der zur Lösung
der Gleichung
02 _ 02e1+% EB
öy 9Oxz1-+ty
die unendliche Reihe
F E
rt N,
ansetzt?), wo P, @, ... Funktionen von x und y sind. Durch Sub-
stitution in die gegebene Gleichung und Nullsetzen der Koeffizienten
') Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 262 ff. ®) Histoire de l’Aca-
demie des Sciences 1772 (1775), p. 40.
914 Abschnitt XXVII.
bzw. der 1., 2, .... Ableitung von F' erhält er eine Reihe von par-
tiellen Gleichungen. So liefert der Koeffizient von
o# oe
02 9
+9 en
mit dem partikulären Integral P=.zy. Die 2. Ableitung von F
ergibt
die Gleichung
Ö
Pr atn -Prz)ata-
wegen P= xy ist aber
0
7 (1 +) +y)=-ytay.
Diese Gleichung wird durch
O- =" y"
2
befriedigt. So kann man fortfahren; aber, wie leicht ersichtlich, die
unmittelbare Aufstellung des allgemeinen Integrals in endlicher Form
kostet weniger Zeit und Mühe als die Berechnung der von Condorcet
angegebenen Reihen. Wir sind dabei der größeren Deutlichkeit
halber von der Schreibweise des Originals abgewichen, indem wir
Klammern gesetzt haben, wo auch schon zu Condorcets Zeit solche
geschrieben wurden, und verschiedene Druckfehler verbessert haben.
Lagrange versucht a. bei der Integration von
Te Er +7 dt Een
eine Beihe
ih Di ae de nd ss
wo die 9, 9”, 9”, .... Funktionen von &, y, t, aber nicht von 2 be-
deuten; er erhält durch Einführung der Reihe in die vorgegebene
Differentialgleichung die PEBER
ar d’y’ d’p iv d?gp” d?p"
I. Ta a Fe ee
p und 9” bleiben hierbei unbestimmt und stellen die beiden will-
kürlichen Funktionen dar. Vielfach wird das Integrationsgeschäft
durch die Annahme komplizierterer Reihenformen sehr erleichtert;
hierbei können schon bekannte partikuläre Integrale mit Vorteil ver-
!) Mecanique analytique, 3. edit. par Bertrand, t. Il, p. 280. Nach einer
liebenswürdigen Mitteilung von Herrn Prof. v. Braunmühl.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 915
wendet werden; so beruht die eben angeführte Reihenentwicklung
von Euler auf der Kenntnis eines partikulären Integrals
ns (X +9Y)%,
die Integration der Gleichung der Saitenschwingungen durch trigono-
metrische Reihen ebenso auf der Einsicht, daß trigonometrische Funk-
tionen partikuläre Lösungen sind. In interessanter Weise verwendet
Condorcet die unendlichen Reihen!) für Differentialgleichungen wie
dz mdz ddz c’ddz
Flur sr Pokal 7.55
er integriert zunächst, wobei die Koeffizienten willkürlich bleiben,
und sucht sodann aus der Reihendarstellung das Integral, welches
willkürliche Funktionen enthält, in endlicher Form zu ermitteln.
Dieser Gedanke ist deshalb von Wichtigkeit, weil man mit seiner
Hilfe hätte schließen können, daß, wie schon D. Bernoulli behauptet
hatte, eine derartige Entwicklung mit unendlich vielen Integrations-
konstanten unter Umständen gerade so allgemein sein kann wie das
Integral mit willkürlichen Funktionen; man erinnere sich, daß Euler
z.B. die Integration der Gleichung der Saitenschwingungen durch
trigonometrische Funktionen, die nach Vielfachen des Arguments fort-
schreiten, für weniger allgemein als das sog. allgemeine Integral hielt ?)
(vgl. S. 995). Condorcets Methode besteht nun einfach darin, daß
er das Integral z. B. von
zunächst in der Form
z=a+ba+by+e+cday+clyY+:--
ansetzt, und aus
a+b(e+})+ («+ 4
wo a,b, c,... Integrationskonstante sind, dann auf
z=yp(e+2)+N
schließt (vgl. 5.998). Schließlich sind noch die Methoden von Cousin
zu erwähnen (vgl. S. 952ff.).
Auf Reihenentwicklungen nach bestimmten Funktionen, wie tri-
gonometrischen Funktionen, Kugelfunktionen, kann hier nicht einge-
‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1769 (1772), p. 193 ff. 2) Vgl.
diese Vorl., III?, S. 906. Wegen der Entwickelbarkeit einer Funktion nach Viel-
fachen des Arguments des Sinus vgl. man u. a. besonders Lagrange: Miscel-
lanea Taurinensia, t. III?, 1762/65 (1766), p. 221.
CAntor, Geschichte der Mathematik IV. 59
916 Abschnitt XXVIL.
gangen werden; wir verweisen deshalb auf den XXVI. Abschnitt
dieses Bandes.
Unter den Näherungsverfahren, welche nicht von vornherein
gleich die ganze Reihe bis auf gewisse erst zu bestimmende Koeffi-
zienten in Form der Taylorschen Reihe event. mit veränderlichen
Koeffizienten ansetzen, können wir zwei Gruppen unterscheiden, solche,
welche die gegebene Differentialgleichung ohne weiteres in der ge-
gebenen Form benutzen und lediglich durch beständige Korrektion
das Integral zu finden suchen, und solche, welche von vornherein
sich nicht der vollständigen Differentialgleichung, sondern nur einer
genäherten Form derselben bedienen, wobei natürlich die Schätzung
der erreichten Genauigkeit viel schwieriger wird. Das letztgenannte
Verfahren wird besonders häufig in der Astronomie geübt; unter den
ersten steht die Integration durch Kettenbrüche wegen ihrer Eleganz
und Allgemeinheit obenan. Hierzu bemerkt Lagrange!) in den
Berliner Memoiren für 1776, die Methode der Integration durch un-
endliche Reihen habe den Nachteil, daß rationale endliche Ausdrücke
als solche nicht erkannt werden; die Kettenbruchentwicklung habe
dagegen alle Vorteile der Reihenentwicklung und sei von dem letzt-
erwähnten Übelstand frei, da ein öndlicher und rationaler Wert des
betr. Ausdrucks als Kettenbruch von selbst abbrechen wird. Sein
Verfahren ist etwa folgendes: ein erster Näherungswert von y für
sehr kleine x sei &; setzt man jetzt
in die gegebene Differentialgleichung ein, so erhält man eine neue
Gleichung derselben Ordnung und desselben Grades zwischen x und y.
In derselben Weise sucht man jetzt für sehr kleine x einen Nähe-
rungswert 8 von y’, und setzt
V-{
1+y"
Die Größen &, 8°, &”,... müssen von der Form 42“ sein, und zwar muß
« (außer für die Größe & selbst) immer positiv sein. Die fortgesetzte An-
wendung dieses Verfahrens liefert den gewünschten Kettenbruch; die
Bestimmung von a und « bietet hierbei die einzige Schwierigkeit.
Mittels dieser Methode erhält Lagrange bei Differentialgleichungen,
die durch bekannte Transzendenten integrabel sind, die Kettenbruch-
entwicklung von Funktionen wie log, tg, arcetg, die übrigens schon
Euler gegeben hatte (vgl. S. 270).
') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 301.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 917
Auf die Entwicklung der übrigen Näherungsverfahren war die
theoretische Astronomie von großem Einfluß. Da die Exzentrizitäten
der Planetenbahnen, sowie ihre Neigungen meistens ziemlich klein
sind, nahm man seit d’Alembert die Kreisbahn als genäherte Lösung
an?) und suchte diese durch Korrektionen in der Weise zu verbessern,
daß man schließlich Reihen erhielt, welehe nach Potenzen dieser
kleinen Größen fortschritten. Die verschiedenen Methoden, deren
man sich hierzu bediente, charakterisiert Condorcet?), der sich selbst
sehr viel mit der Integration durch Reihen beschäftigt hat?): ent-
weder setzt man, sagt er, die Unbekannte gleich einem angenäherten
. Wert vermehrt um ein Korrektionsglied, dessen 2.,3.,... Potenz man
vernachlässigt. Diesen Ausdruck substituiert man in die ursprüng-
liche Gleichung, integriert und bestimmt das Korrektionsglied ange-
nähert. Mit dem so verbesserten Wert der Unbekannten wiederholt
man das Verfahren. Diese Methode ist vereinfacht von d’Alembert
in den Turiner Memoiren und in seinen Opuscules, auch von Euler
in seiner preisgekrönten Abhandlung über die Mondbewegung von
1770 benutzt. Bei der zweiten Methode vernachlässigt man nicht
alle höheren Potenzen des Korrektionsgliedes.‘) Endlich geht Con-
dorcet auf die Methoden von Lagrange und d’Alembert des
näheren ein. Von welcher Wichtigkeit diese Verfahren für die Praxis
sind, kann aus der großen Zahl von diesbezüglichen Abhandlungen
entnommen werden.
Unter den speziellen Näherungsverfahren, die wir hier genauer
darlegen wollen, sei zuerst eine Methode von Euler zur Integration
totaler Differentialgleichungen genannt. Die Gleichung 1. Ordnung
denkt sich Euler?) auf die Form
d
==V
gebracht, wo V eine Funktion von x und y ist. Für die höheren
Differentialquotienten ergibt sich leicht
ddy dV aV
a +)
d’y daV‘ aV\ /dV ddV dV\2 ddV
et) +2 Va) a) en
') Nach einer Arbeit, die mir Herr Professor von Braunmühl in liebens-
würdigster Weise im Manuskript zur Verfügung stellte. °) Histoire de l’Acad&mie
des Sciences 1771 (1774), p. 281. °) Vgl. auch den bereits erwähnten Aufsatz:
Ebenda 1769 (1772), p. 1983; ferner 1770 (1773), p. 191. *, Hierzu zitiert er
Lagrange, Miscellanea Taurinensia, t. II. Vgl. die drittnächste Anmerkung
und d’Alembert, Opuscules math&matiques, t. V. °, Institutiones caleuli
integralis, vol. I, p. 498. Vgl. auch o. 8. 734.
59*
918 Abschnitt XXVI.
Anwendung der Taylorschen Reihe liefert die gewünschte Reihen-
entwicklung. So führt die Gleichung
dy = da(a2” + cy)
auf
y=b+o(a”"+cb)+ 5.0°(ccb + ca” + na”-')
+ 2 0°(e’b + cca" + nca" "Inn — Dar-%)+---,
wo b der zux=a, y der zux=qa-+ » gehörige Wert von y ist.
Bei der Gleichung 2. Ordnung
wo dy=pdx, und V eine Funktion von &, y, p ist, seien die An-
fangswerte 2= a, y—=b,p=c. Für das Intervall
z=a bs z=a+to
ist
p=c+V(e —a) — [(@«- a)dV.
Die Größe dV ergibt sich aus der gegebenen Differentialgleichung zu
dV = Pdx + Qdy+ Rdp= (P+ Qp + RV)da.
Die Annahme, daß P+ Qp + RV in dem Intervall a bis x konstant
ist, führt auf
p=c+F&@-a)—-(P+ Qc+ RF) (x — a),
wo F den Anfangswert von V bedeutet. Integration dieser Gleichung
liefert endlich
y-b+c@—a)+ 3 F@-a®—4(P+ Qe+RF)(e-a).
Aus diesem Näherungswert von y läßt sich sodann derjenige eines
benachbarten y finden; auf diese Weise läßt sich allmählich das
Intervall zwischen dem gegebenen a und einem beliebig großen &
zurücklegen; auf das eventuelle Auftreten von Unstetigkeiten macht
Euler aufmerksam.
Ein sehr eigentümliches Verfahren wendet Lagrange an?): Die
partielle Differentialgleichung
t) Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 352. ?) Miscellanea Tauri-
nensia, t. II®, 1760/61, p. 118. Im Original ist aus Versehen in der ersten
Gleichung die Größe c weggelassen.
Totale ünd partielle Differentialgleichungen. 919
d? d?z 2dz 22
dt? WEGEN? de(c+2) Cz@+z)
führt er mit Hilfe von Reihen zurück auf
Indem er auf der rechten Seite nur die ersten zwei Klammer-
ausdrücke berücksichtigt, alle folgenden Glieder aber vernachlässigt,
ohne natürlich den Einfluß dieser Unterdrückung auf die Integral-
oleichung festzustellen, gewinnt er eine Gleichung, die er auf Grund
der Besonderheit, daß
| =
wer = 5) 0
ein totales Differential ist, weiter behandeln kann.
Im folgenden gehen wir auf die Integration einer Gleichung ein,
die für die Erfindung der Methode der Variation der Konstanten
von Wichtigkeit geworden ist. Lagrange behandelt‘) die für die
Astronomie wichtige Gleichung
I +Ky+ L+iMyP+PNyP+-- a
mit konstanten Koeffizienten X, L, M, ..., wo i eine sehr kleine
Größe ist. Es wird sich zeigen, daß die einzelnen Näherungsglei-
chungen immer die Form
Ex YLKıy+Lt+acosattbeosßt+--
annehmen. Das Integral dieser Gleichung ist aber
y=feosKt+ 4 sin Kt + 2 (cosKt— 1) +
in — —; (eos Kt — cosat)
-- Kg; (608 Kt — cos Bi) +. +,;
für den Fall — und der tritt gerade in unserm speziellen Problem
ein —, daß eine der Zahlen «, ß, ---=K wird, findet Lagrange
den Wert des dadurch unbestimmt werdenden Terms durch Grenz-
!) Miscellanea Taurinensia, t. III?, 1762/65 (1766), p. 262 ff.
920 Abschnitt XXVL.
übergang in bekannter Weise. Als erste Näherungsgleiehung nımmt
Lagrange
ze Hk Köyeck Do 0.
Das Integral hiervon kann aus der oben angegebenen allgemeinen
Formel entnommen werden, indem man a=b=:...—( setzt. So
ergibt sich als erste Näherung
y=feosKt+7 x sin Kt + 7 L_ (cos Kt — 1);
Lagrange setzt „der Einfachheit halber“ 9=0. Führt man diesen
Wert von y in das Schlußglied der zweiten Näherungsgleichung
Y+Kry+ L+iMy a;
ein, so ergibt sich als integrable Form der zweiten Näherungsgleichung.
L
.r (F® MLF
+ Kıy ++ +) - 1%
cos Kt
+3 a -co2Kt=(,
wo zur Abkürzung
f+ 75 =F
gesetzt wurde. Das Integral dieser Differentialgleichung kann wieder
aus der allgemeinen Formel entnommen werden, und man erhält nach
Auswertung des dabei auftretenden Terms - einen zweiten Nähe-
rungswert. Indessen geht bei Ausführung des Grenzübergangs ein
Summand von der Form AtsinKt in das Integral ein, und bei Fort-
setzung der Methode würden auch Glieder auftreten, die in #, # usw.
multipliziert sind. Dieser Umstand macht die gefundene Reihenent-
wicklung für die Praxis unbrauchbar. Lagrange sucht deshalb die
Reihe so umzuformen, daß sie derartige Terme nieht mehr enthält.
Sein Verfahren ist jedoch ziemlich mühevoll!): verständlicher ist eine
Abhandlung von Laplace über denselben Gegenstand.) Laplace
bezeichnet sein Verfahren als eine nouvelle methode d’approximation.
Sie besteht darin, sagt er, daß man die willkürlichen Konstanten in
den angenäherten Integralen variieren läßt und so womöglich die
Kreisbogen (er meint damit die Potenzen von £) zum Verschwinden
bringt. Diese Methode ist, fährt er fort, wenn ich mich nicht
') Das Schlußresultat Miscellanea Taurinensia, t. III®, 1762/65 (1766), p. 273.
?) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 651 ft.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 921
täusche, vollständig neu und von großer Fruchtbarkeit für die Rech-
nung. Diese Worte beweisen, daß sich Laplace der Neuheit, Eigen-
art und Wichtigkeit seiner Methode vollkommen bewußt ist. Zur
Integration von
_ 00y
wo « sehr klein und konstant ist, setzt Laplace ganz ähnlich wie
Lagrange zuerst
_ 00,
— 982 Ty=1,
woraus
y=l+psint+geost,
wo p und g zwei willkürliche Konstante sind. Setzt man jetzt
y=-li+psint+geost+e«z
in die ursprüngliche Differentialgleichung ein, wobei !, p, q, « kon-
stant sind und 2 eine Funktion von £ ist, vernachlässigt hierbei «?
und «° und dividiert mit « weg, so ergibt sich
= +2+1+9p°sın?? + 9? cost? + 2lp sint + 2lg cost
+ 2pgsinteost=(0).
Diese Gleichung liefert ein Integral
2=— en Mer — lgt sint + Ipt cost et 2 cos 2t + 1 sin 21.
Bis hierher unterscheidet sich das Verfahren von dem Lagranges
nicht wesentlich; um die mit £ behafteten Glieder unschädlich zu
machen, wird folgender Gedankengang benutzt: Substituiert man in
der ursprünglichen Differentialgleichung 7 +t, an Stelle von t, so
wird sie in ihrer Form nicht geändert. Man kann also das oben
abgeleitete Integral durch ein anderes ersetzen, in welchem statt p
und q die Konstanten "p und ’g, statt ? die Variable 7’ + ?, auftreten.
Nun ist der Umstand von Bedeutung, daß für T=0 und «=( die
Gleichungen p=p und 'g=g statthaben, woraus Laplace schließt,
daß '» und p bzw. 'q und q sich um Größen von derselben Ordnung
wie « unterscheiden. Er setzt demzufolge
p=p+odp und g=g+Jda.
Die beiden ee für y liefern dann bei Vernachlässigung
aller Größen, die mit «®, «®, ... gleiche Rangordnung haben, durch
Subtraktion
0= [dp + «lTq]: simt + (dq — elTp) - cost.
922 Abschnitt XXVII.
Diese Gleichung zerfällt aber, da t variabel und 7 konstant, in die
beiden folgenden
op=—alT:.q und dg=«lT.p.
Hieraus folgert Laplace
p=f-eosalT—h-sinelT und g9=f-sinalT’ +h. cos «lT.')
Später?) kommt Laplace noch einmal auf das Problem der Ent-
fernung der Potenzen von t zurück. Er geht jetzt von der allgemei-
neren Gleichung
I Hu Eur
oe
aus, wo Y eine ganze rationale Funktion von «, y und den Sinus
und Kosinus von ? sein soll. Ein Ansatz der Form
y-2+a!+ezT+odzl L...
liefert, wenn man die Terme gleicher Ordnung in « allemal gleich
Null setzt, die Gleichungen
0°2 0°z1
0-75 +ths+T; eh a a
2 zI1
Ur —_ +hzT4+ TI usw,
wo T® eine Funktion von 2, 2!, ...2®-®, sowie der Sinus und Co-
sinus von ? ist. Treibt man die Annäherung bis zur Ordnung von «“,
so hat man damit a» +1 Gleichungen, deren sukzessive Integration
aber im allgemeinen Kreisbogen in die Lösung einführt. Laplace
behandelt nun zunächst das spezielle Beispiel
Y= my cos 2t
nach dieser Methode und schließt aus der Form des Integrals, daß
im allgemeinen Fall die Lösung folgende Form besitzen wird:
y=|p+ At+BP+...|snht+[g + Mt+ NP+...]cosht+ R.
Hierbei sind A, B,....M, N, .... ganze rationale Funktionen von »,
q und «; R ist eine ganze rationale Funktion von p, 9, «, t und ver-
schiedenen Sinus und Cosinus, worunter jedoch sinht und cosht
sich nicht befinden. Laplace formt diesen Ausdruck so um, daß an
!) Macht man die Probe, so wird d« an Stelle von « auftreten. Eine
jener kleinen Ungenauigkeiten, wie sie in diesen für die Praxis geschriebenen
Aufsätzen häufig zu finden sind. ?) Histoire de l’Academie des Sciences 1777
(1780), p. 373ff. Vgl. auch die Histoire desselben Bandes, p. 55.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 923
Stelle der Potenzen von ? solche von t — ® auftreten, wo ® eine neue
Konstante ist. Trotzdem kann der Ausdruck, wie er sagt, dadurch
nicht allgemeiner werden, da er bereits die zwei Integrationskonstanten
p und g enthält. Auf Grund einer Überlegung, welche der oben aus-
einandergesetzten analog ist, findet Laplace endlich folgende Regel
zur Bildung eines Integrals, welches die Potenzen von Z nicht enthält:
Stellt man das Integral aus dem Gleichungssysten für 2, 2! usw.
nach gewöhnlichen Methoden in der vorerwähnten Form dar und
unterdrückt nachträglich alle Glieder, die { und seine Potenzen ex-
plizite enthalten, so hat man das Integral in der gewünschten Form,
sofern man nur für p und qg die Werte einsetzt, welche sich durch
Integration der Gleichungen
0 _ I
=, — A und Fr =
ergeben; das gesuchte Integral wird wieder zwei Integrationskonstanten
enthalten. Im folgenden zeigt Laplace!), wie sich seine Methode
auf ein in der Störungstheorie brauchbares Simultansystem ausdehnen
läßt. Dasselbe lautet:
0 0?y n2 T vun o’yl n12jl I yı
BEE NIELS DS ah en LT tar:..;
die 7, T!... sind hierbei ganze rationale Funktionen der Sinus und
Kosinus von t, die Y, Y!,... ganze rationale Funktionen derselben
Größen, sowie von « und den » Variabeln y, y!, .... Endlich über-
trägt Laplace seinen Gedankengang noch auf die Integration von
wo p eine Funktion von y, seinen Ableitungen nach t, Sinus, Cosinus,
Exponentialfunktionen mit dem Argument {, nicht aber den Potenzen
von £ ist.
Die Entfernung der Kreisbogen aus dem Integral, die Lagrange
und Laplace durch geistreiche Überlegungen bewerkstelligt hatten,
leistet Trembley, dem die Methode der Variation der Konstanten,
und nicht bloß in der Laplaceschen, sondern auch in der viel durch-
sichtigeren, weniger anfechtbaren Lagrangeschen Form von 1775
(vgl. S. 932), verdächtig erscheint, auf anderem Wege vermöge seiner
Geduld und Ausdauer im Rechnen.?) Trembley erkennt ganz richtig,
daß das Auftreten der Kreisbogen nur auf Täuschung beruht; denn
') Histoire de l’Academie des Sciences 1777 (1780), p. 384. ?) Nouveaux
Memoires de l’Acad&mie de Berlin 1786/87 (1792), p. 363 ff.
924 Abschnitt XXVII.
führt man die Rechnung soweit durch, daß das Fortschreitungsgesetz
der einzelnen Terme erkannt wird, so findet man, daß sich die Kreis-
bogen zu Potenzreihen zusammenfassen lassen, die durch Exponential-
funktionen summierbar sind. Da aber die Gleichung
dd
bzw. die Ableitung des von Laplace gegebenen von Kreisbogen
freien Integrals bei Trembley allein zehn Quartseiten erfordert,
zeigen wir sein Verfahren an einem einfacheren Beispiel. Sei gleich-
zeitig
d R d s
nr —=(1+2ix)z und Tr —= — (1 + 2ie)y,
wo i eine sehr kleine Größe bedeutet. “= 0 gibt zwei Näherungs-
gleiehungen, aus denen durch Kombination die Gleichung
ddy
dr +y=d)
folgt. Korrigiert man die daraus erhältlichen Näherungswerte von y
und z durch die Zusatzglieder iy' bzw. iz’, so ist
y= AeV-1+ BerV-1+iy,;
gs= AY— 1eVY-1- BY—-leV-!+i7.
Indem man B einstweilen gleich Null setzt, ergibt sich durch Sub-
stitution in das ursprüngliche System das genäherte System
day _ ee et,
35 = 24Aey—1ee +32; re — yY.
Man erhält hieraus y' und 2’ und hieraus verbesserte Werte von y
und z, die man sogleich wieder mit Zusatzgliedern @?y” und ?2” ver-
sieht. Fortgesetzte Anwendung dieses Verfahrens ergibt schließlich:
J A a A er u Veen
= Ay-1-eV-i(l+ Lay-i- ln, yZ1+-)
dh yoAeliretei, AV leeViHevn,
Ähnlich hätte man von vornherein statt B die Integrationskon-
stante A gleich Null setzen können; man hätte dann
y= B.e-V-1-i82V-1;, g=- — ByY—-1:- e-:V-i-iey-1
erhalten. Aus beiden partikulären Integralen läßt sich sofort das
Totale und partielle Differentialgleichungen. 925
vollständige Integral zusammensetzen. Im folgenden!) verbessert
Trembley eine von d’Alembert 1769 in den Pariser Memoiren ent-
wickelte Näherungsmethode, deren Grundgedanke darin besteht, daß
man eine gegebene Differentialgleichung wiederholt differentiiert und
die so erhaltenen Gleichungen derart zu kombinieren sucht, daß man
eine integrable Gleichung höherer Ordnung erhält, welche die ur-
sprüngliche näherungsweise zu ersetzen vermag.
Wir haben im vorausgehenden die Methode der Variation der
Konstanten zum erstenmal bei Laplace mit vollem Bewußtsein ihrer
Eigenart auftreten sehen; die Idee selbst, eine Größe zeitweilig als
konstant und dann als variabel aufzufassen, ist indessen schon lange
genug vorbereitet. Zunächst sei an die Bestimmung des Integrals
der totalen linearen Differentialgleichung »‘* Ordnung mit konstanten
Koeffizienten im Fall gleicher Wurzeln erinnert (vgl. S.928, Note 1), die
bewerkstelligt wurde, indem man den Wurzeln, d. i. in Wirklichkeit
konstanten Größen, sehr kleine, gegen Null abnehmende Differenzen
erteilte, ohne sich mit der Frage nach der Berechtigung eines solchen
Schrittes aufzuhalten. Euler behandelt?) folgende Aufgabe: Sei 7
eine gegebene Funktion von x und y, es soll das Differential von
Z=-/Vas,
wo die Integration bei konstantem y vorgenommen wurde, bestimmt
werden, wenn dabei auch y variabel angenommen wird. Euler erhält
unschwer
di Vaz+dy [di (Gr)
Kurz darauf stellt er die Aufgabe, aus einer gegebenen Differential-
gleichung, die einen Parameter enthält, jene Gleichung abzuleiten,
welche entsteht, wenn man die Integralgleichung so differentiiert, daß
dabei auch jener Parameter variabel ist. Die Störungsgleichungen
des Mondes werden von Euler und späteren mit Benutzung des Um-
standes abgeleitet, daß gewisse Bewegungsgleichungen sowohl bei
Konstanz als bei Variabilität bestimmter Bahnelemente bestehen
müssen. Nach ihm hat Lagrange dieselbe Methode in seiner Ab-
handlung über die Theorie von Jupiter und Saturn benutzt”) und
das Prinzipielle und Eigenartige dieser Methode noch besonders be-
tont; er ist es auch, der die Methode zuerst in weitestem Umfang
‘) Nouveaux Mömoires de l’Acaddmie de Berlin 1786/1787 (1792), p. 387.
Siehe auch p. 397. ?) Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 31. Vgl. auch
Klügels mathematisches Wörterbuch, I. Abtlg., unter „Differentialgleichung“,
S. 891. °) Miscellanea Taurinensia, t. III®, 1762/65 (1766). p. 323.
926 Abschnitt XXVI.
gebraucht hat. Von Variation der Konstanten kann man auch bei
Lagranges Herleitung des singulären Integrals aus dem vollständigen
Integral reden; in allen diesen Fällen handelt es sich jedoch nicht
um die uns geläufige Methode der Variation der Konstanten. Diese
besteht vielmehr darin, daß man statt einer gegebenen Differential-
gleichung eine andere, die aus der ursprünglichen entweder durch
Vernachlässigung einzelner Glieder oder dadurch, daß man einzelne
Variable konstant setzt, hervorgeht, behandelt, und in dem Integral
dieser Hilfsgleichung nachträglich die Integrationskonstanten oder
einstweilen konstant gesetzten Veränderlichen variieren läßt. In
diesem Sinne ist die Variation der Konstanten nur eine spezielle
Näherungsmethode, die durch passende Korrektion einen halbwegs
brauchbaren Wert genau richtig macht. Bierher könnte man z.B.
die Integration totaler Differentialgleichungen mit mehr als 2 Varia-
beln, welche die Integrabilitätsbedingungen erfüllen, rechnen, die man
bekanntermaßen dadurch vollzieht, daß man in der ursprünglichen
Gleichung nur 2 Variable variieren läßt, integriert und nachträglich
die Integrationskonstante als Funktion der konstant gelassenen Variablen
ansieht; diese Methode ist zu Beginn des hier behandelten Zeit-
abschnitts bereits bekannt. Ganz analog geht man bei partiellen Diffe-
rentialgleichungen vor, die nur die Ableitung nach einer Varıabeln ent-
halten, und wir werden sehen, daß Lagrange einen ähnlichen Gedanken-
gang in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen 1. Ordnung mit
großem Erfolg verwertet hat (vgl. S. 970). Die eleganteste Anwendung
der Variation der Konstanten hat Lagrange mit der Integration der
vollständigen linearen totalen Differentialgleichung und Differenzen-
gleichung »‘” Ordnung gegeben (vgl. S. 932). Derselbe geht auch
auf die Möglichkeit der Integration von
d’y
ee
n—|1
wo P und II Funktionen von x, Y, Y; ... Ge sind, mittels Va-
L
riation der Konstanten ein, falls das vollständige Integral von
VL P=0
dx
bekannt ist.') Ferner erwähnt er, daß die Methode der Variation der
Konstanten mit Vorteil auf die durch Vernachlässigung sehr kleiner
Größen erhaltenen angenäherten Integrale von Simultansystemen an-
gewendet werden kann?), daß jedoch für ein beliebiges vollständiges
!) Nouveaux M&moires de l’Academie de Berlin 1775 (1777), p. 192.
?) Ebenda, p. 195.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 927
Integral einer Gleichung 2. Ordnung dieselbe Methode plus eurieuse
qu’utile sei.')
In Verbindung mit der Methode der unendlichen Reihen ist die
Integration durch bestimmte Integrale zu nennen. Besonders
Euler hat sich mit dieser Aufgabe beschäftigt; und wie er in der
Theorie des Multiplikators die zu einem gegebenen integrierenden
Faktor gehörige Differentialgleichung sucht, geht er auch hier von
einem gegebenen Integral aus und fragt nach der äquivalenten Diffe-
rentialgleichung. Bezüglich der Integration der linearen Differential-
gleichung 2. Ordnung nach diesem Verfahren, per quadraturas curva-
rum, wie er sich ausdrückt, bemerkt er selbst?), es sei dabei zu be-
achten, daß die Wahl jenes Integrals nicht völlig von der Willkür
des Rechners abhängt, sondern von vornherein die Anlage haben
muß, bei der Entwieklung der zugehörigen Differentialgleichung auf
die 2. Ordnung zu führen; es stehe daher nicht zu hoffen, auf diesem
Wege jemals zu einer beliebig vorgegebenen Differentialgleichung zu
gelangen. Letzterer Aufgabe, eine gegebene Differentialgleichung
durch ein bestimmtes Integral zu integrieren, sucht Euler dadurch
beizukommen, daß er das Integral zuerst in Form einer unendlichen
Reihe entwickelt und diese nachträglich in ein bestimmtes Integral
verwandelt?); das Integral der auf Seite 911 erwähnten Differential-
gleichung erhält er auf diesem Weg in mehrfach verschiedener Form.
Dieselbe Methode wendet, wie wir sehen werden (vgl. S. 1006), La-
place auf die lineare partielle Differentialgleichung 2. Ordnung an;
er stellt das Integral als unendliche Reihe dar, die er in ein be-
stimmtes Integral umformt.
Mit der Schilderung dieser Methoden haben wir die Gesichts-
punkte, welche für totale wie partielle Differentialgleichungen in
gleicher Weise in Betracht kommen, ziemlich erschöpft und wir
wenden uns zunächst ausschließlich den totalen Differentialglei-
chungen zu. Hier ist es die lineare Gleichung, d.h. die Glei-
chung, deren Koeffizienten Funktionen der unabhängigen Variablen
allein sind, welche das Hauptinteresse der Mathematiker auf sich
gezogen hat, und ihrer Untersuchung ist eine ganze Reihe von Ab-
handlungen gewidmet. Auf diesem Gebiet hatten schon Euler und
d’Alembert viel geleistet; sie hatten zunächst die unvollständige,
dann aber auch die vollständige Gleichung mit konstanten Koeffizienten
‘) Oeuyres de Lagrange, t. IV, p. 101. Hier mag noch erwähnt werden,
daß auch Euler gelegentlich aus partikulären Integralen die vollständigen
durch Variation der Konstanten herleitet; man vgl. einen Aufsatz vom Jahre 1778
in Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XIII, 1795/96 (1802), p. 3 ff.
?) Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 308. °®) Ebenda, vol. II, p. 310 ff.
928 Abschnitt XXVL.
integriert, auch den Fall gleicher und komplexer Wurzeln der dabei
auftretenden Hilfsgleichung behandelt!) Den Fortschritt zu nicht-
konstanten Koeffizienten macht Lagrange?); er wird dabei zu einer
Gleichung geführt, die wir heutzutage die Lagrangesche Adjungierte
nennen. Multipliziert man die Gleichung
Iy+ M% N
wo L, M, N,...T Funktionen von t sind, mit zdt, wo 2 eine noch
zu bestimmende Funktion von f ist, und integriert, so erhält man
durch partielle Integration
1 Me at = Mey— | yat
Pan „Ay ah y+ Jar ya
dt? eat de
Setzt man diese Ausdrücke in die ursprüngliche Differentialglei-
chung ein, so kommt
(Me —° 7° a BE -
Ist der Klammerausdruck unter dem ne gleich Null —
eine Relation, die man als Differentialgleichung für z auffassen kann
— so bleibt eine Differentialgleichung für y stehen, deren Ordnung
im Vergleich zu der gegebenen Differentialgleichung um einen Grad
niedriger ist. Die Relation zur Bestimmung von z behandelt Lagrange
auf dieselbe Art weiter; er verlangt eine Funktion y von ? zu finden,
deren Kenntnis, genau wie vorher die der Funktion z, Ordnungserniedri-
gung ermöglicht. Er wird dabei auf eine Differentialgleichung für y
zurückgeführt, die sich von der Anfangsgleichung in y nur dadurch unter-
scheidet, daß die rechte Seite nicht 7, sondern 0 ist. Lagrange
wird damit zum Entdecker des Satzes, daß die Adjungierte der Ad-
jungierten die ursprüngliche unvollständige Gleichung ist; da er aber
für die Adjungierte keinen besonderen Namen hat, so hebt er diese
auffällige Tatsache nicht besonders scharf hervor. Euler kommt in
') Vgl. diese Vorl., III?, S. 892—895 bzw. 8.898. Den Fall gleicher Wurzeln
behandelt d’Alembert auch unter Tangentes im Dietionnaire des math&matiques
der Encyclopedie methodique. ?) Miscellanea Taurinensia, t. IIl?, 1762/65
(1766), p. 179#f.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 929
einer Abhandlung von 1778 wieder auf die Frage der Ordnungs-
erniedrigung, scheint aber die Resultate der Lagrangeschen Abhand-
lung, die er jedenfalls gelesen hatte, vollständig vergessen zu haben,
wenigstens hält er sein Ergebnis für vollkommen neu; er formuliert?)
folgendes Gesetz: Die Gleichung
p2+gdze +rddz + sd’z +tid!z +... = 0?)
wird ein totales Differential mittels eines Multiplikators Z, welcher
sich aus der „konjugierten Gleichung“
PZ+QdZ + R@® Z+ S®Z + THZ-+.:.—0
bestimmt, wo
P=p—dg+ddr — ds +dt—...
= — g+2dr — 3dds+4dt —...
R=r—3ds +6ddt—...
S-üis+tAdt—...
a: Be
Durch Auflösung dieser Gleichungen nach 9,9, r,... findet
Euler, daß diese Größen durch die P, @, R,... genau in derselben
Weise ausgedrückt werden, wie letztere durch jene; daraus schließt
er, daß von den beiden Gleichungen für 2 bzw. Z eine die konjugierte
der anderen ist. Eulers Darstellung bedeutet insofern einen Fort-
schritt gegenüber Lagrange, als in ihr erst die vollkommen gleiche
Bauart, die durchgehende Dualität zweier adjungierter Gleichungen
erkannt und durch eine übersichtliche Bezeichnungsweise (kleine und
große Buchstaben) angedeutet ist; Lagrange hatte nur beobachtet,
daß bei zweimaliger Anwendung seines Verfahrens schließlich die ur-
sprüngliche, aber unvollständige Gleichung resultiert.
Lagranges Hauptverdienst ist in der Aufstellung allgemeiner
Sätze über die Integrale der linearen Differentialgleichungen zu sehen,
m.a. W. in der Schaffung einer Theorie dieser Integrale; die Form
des vollständigen Integrals als Summe von unabhängigen, mit will-
kürlichen Konstanten multiplizierten Partikulärintegralen, der Zusam-
menhang zwischen vollständiger und unvollständiger Gleichung?), ins-
besondere aber die Einsicht, daß die Kenntnis von m Partikulärinte-
gralen (valeur particuliere) der letzteren eine Ordnungserniedrigung
') Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XIV, 1797/98 (1805), p. 58.
”) Die Potenzen des Differentials der unabhängigen Veränderlichen sind hier
einfach weggelassen. °) Für die Gleichung 2. Ordnung eingehend besprochen.
930 Abschnitt XXVII.
der ersteren um m Grad ermöglicht‘), sind nach meiner Ansicht die
vornehmsten Resultate der erwähnten Abhandlung. In der Praxis
muß natürlich Lagrange häufig zu Reihenentwicklungen seine Zu-
flucht nehmen; so setzt er?) z. B. für
at (+ +0,
auf welche Form er von
az?” +0
ausgehend kommt, die Reihe
z= AwW+ Bwt!+(Cwt?’+---
an und bestimmt die unbestimmten Koeffizienten in gewohnter Weise.
Die Lagrangesche Theorie der linearen Gleichung beliebiger Ord-
nung läßt sich sehr vorteilhaft auf die Gleichung
Ay+ B(h-+ kt) = "+ Ch + kt) u -T
anwenden, wo h, k, A, B,.... Konstante sind. Lagrange bildet?)
die Adjungierte und setzt versuchsweise deren Integral (h + kt)”.
Das gibt eine Gleichung für r, nämlich
A— Bir +) +CKR(r +Y(r +2): =.
Lagrange geht dann auf die Ermittlung des vollständigen Inte-
grals der ursprünglichen Gleichung ein. Als Anwendung bringt er“)
die Behandlung einer Gleichung, die eine unbekannte, zu bestimmende
Funktion enthält; das Problem führt mit Zuhilfenahme des Taylor-
schen Satzes auf eine Gleichung der erwähnten Art von unendlich
hoher Ordnung. Solche Gleichungen, allerdings nur mit konstanten
Koeffizienten, hatte schon Euler vor ihm behandelt (vgl. diese Vorl., III,
S. 896); in seiner Integralrechnung finden sich wieder eine Menge,
teils schon früher gelöster derartiger Gleichungen’), aber weder Euler
noch Lagrange erkennen oder erwähnen, daß in die Lösung dieser
Gleichungen, weil sie im Grunde genommen nichts als Differenzen-
oleichungen sind, eine willkürliche Funktion eingeht. Die unendlich
vielen Integrationskonstanten ihrer Lösung konnten sie deshalb nicht
zu dieser Einsicht führen, da ihnen die Darstellbarkeit einer beliebigen
Funktion durch trigonometrische Funktionen unbekannt war.‘) Glei-
!) Miscellanea Taurinensia, t. III?, 1762/65 (1766), p. 183. 2) Ebenda,
p. 187. ®) Ebenda, p. 190. *, Ebenda, p. 201. 5) Institutiones caleuli
integralis, vol. II, p. 459, 463, 476, 477, 480. °) Vgl. diese Vorl., III?, S. 207.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 931
f
chungen von unendlich hoher Ordnung mit nichtkonstanten Koeffi-
zienten behandelt Euler nicht, obwohl er z.B.
2
Bd DE za 1 Diese
für beliebige Ordnungen untersucht.
An die Möglichkeit der Ordnungserniedrigung bei Kenntnis von
Partikulärintegralen knüpft d’Alembert in einem Schreiben an La-
grange') wieder an und bringt einen neuen Beweis dafür; derselbe
Forscher gibt an anderer Stelle den bekannten Satz, daß das vollständige
Integral der vollständigen Gleichung aus zwei Teilen sich additiv zu-
. sammensetzt, nämlich aus einem Partikulärintegral der yollständigen
und dem vollständigen Integral der unvollständigen Gleichung.
Laplace behandelt die lineare Differentialgleichung?) nicht wie
Lagrange mit Hilfe eines einzigen Multiplikators, sondern bedient
sich gleich eines ganzen Multiplikatorsystems. Sei
L: day ‚ d’y n-1 8°
Beth ++ H dar’
wo X, H, H’,... Funktionen von x-sind. Laplace setzt
d
m) ty= T,
wo @ und 7 erst näher zu bestimmende Funktionen von x sind.
Durch Differentiation ergibt sich daraus
ddy dT
rer)
Berende are TE to dy_d"IT.
2 7 a En Fl
da" dat * a: ge
+1)
Diese Gleichungen multipliziert Laplace bzw. mit o@, ®”
und addiert unter Hinzuziehung von
ae
d
(m) pr +y=[T.
So ergibt sich eine Gleichung, die durch Vergleichung mit der ur-
sprünglichen auf folgendes System führt:
ED, Egeip
re re ai
‘) Miscellanea Taurinensia, t. III?, 1762/65 (1766), p. 381—396. Vgl. auch
die Pariser Memoiren für 1767 und 1769. ?) Ebenda (Misc. Taur.), t. IV?,
1766/69, p. 173 ff. (verdruckt statt 273).
Cantor, Geschichte der Mathematik IV.3 | 60
932 Abschnitt XXVI.
ooar-dB— Har-D
n—1
ar 9 + mr -dı 7
nn 0 Tria-n
dx
‚ ‚do
re
Diese Gleichungen gestatten aber die ©’, @, ... durch ® und
die 4’, H”, ... auszudrücken. Durch Substitution der so erhaltenen
Werte ın
d ‚do „dAdo
H=o+o+o,,+%W 7t'"'
und
3 Br
N -T+0 iz + ® ee
ergeben sich endlich zwei Differentialgleichungen für © und 7’; dabei
ist Ordnungserniedrigung erzielt worden. Hat man aus den letzt-
erwähnten beiden Gleichungen eine Reihe Partikulärlösungen ß,ß),...
von ® und die zugehörigen 7, 7’, .... gefunden, so erhält man mit
Hilfe von |
@ * +y=T
das Integral
y I? (or j2:/ 8. N SE SF an)a--
Auf die weitere Theorie der bei Anwendung dieser Methode auf-
tretenden Ausdrücke, insbesondere für den Fall konstanter H, H’,...')
kann hier nicht näher eingegangen werden, da die Resultate nicht
neu und die auftretenden Formeln alle ziemlich kompliziert sind.
Laplace behandelt speziell auch die Gleichung 2. Ordnung, welche
auf die allgemeine Riccatische Differentialgleichung führt.)
Der nächste bedeutende Fortschritt ist die Heranziehung der
Methode der Variation der Konstanten zur Nutzbarmachung des Zu-
sammenhangs zwischen vollständiger und unvollständiger Differential-
oleichungen durch Lagrange.’) Sei die lineare Gleichung n‘” Ord-
nung gegeben:
dy d?y ey
Py+ 97, + Ras ee le,
woX, P, Q, R,.... Funktionen von x sind. Im FallX=0 sei das
1) Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69, p. 295. 2) Ebenda, p. 297.
s) Nouveaux M&moires de l’Acad&mie de Berlin 1775 (1777), p. 190.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 933
vollständige Integral der Gleichung bekannt; dieses besitzt notwendig
die Form |
yzap+tbg+ter+t::;,
wo a, b, c,.... n Integrationskonstanten, p, q, r, ... ebensoviele par-
tikuläre Werte von y darstellen. Betrachtet man, fährt Lagrange
fort, die willkürlichen Größen a, b, c,... als unbestimmte Variable
und setzt in den Ausdrücken dy, d?y, ... d"-!y den Teil, der von
der Variabilität von a, b, c, ... herrührt, immer gleich Null, so er-
gibt sich
dy = adp +bdg : +cdr +
O= pda + gdb +rde +
®y=adp +bdg + cd?r +.
O=dpda + dgqdb + drde ..
d’-iIy = ad" ip + bdr-!g + cd" -!Iyr +...
0 = d" pda + d""’gadb +d"-rdc-+---
und endlich
V"y=adp+barg+tcd'r+:-:
+ da" Ipda + d"!gdb+d"-Irdc+---
Auf diese Weise erhalten also die Ausdrücke für dy, d?y,... driy
genau dieselbe Form, wie wenn a, b, c,... konstant wären, und auch
d”y unterscheidet sich von dem d”y im Fall konstanter Koeffizienten
nur durch das Zusatzglied d""!pda + d"-!gdb + d"-Irde+..:. Da
aber bei konstanten Koeffizienten die Ausdrücke für y, dy, ... dry
nach den Voraussetzungen über die Größen a, b, c,...9, 5, r,...
der unvollständigen Differentialgleichung Genüge leisten, so müssen
auch jetzt, im Fall der vollständigen Gleichung, bei Substitution
obiger Ausdrücke für y, dy, ... d"y alle Terme sich gegenseitig fort-
‚ heben, und nur das zu d”y gehörige Zusatzglied und der Term X
werden davon eine Ausnahme machen. Es resultiert also die Gleichung
dr ipda + d-'gdb + d"-Irde+ = K dan,
welche mit den » — 1 Bedingungsgleichungen
O=pda+gdb+rdc+-:-
0 = dA" pda + d"?gdb + d"-trdc+t:--
zusammen n Gleichungen zur Bestimmung der Differentiale da, db,
de, ... liefert.
60*
954 Abschnitt XXVI.
Von späteren Arbeiten!) über die lineare Gleichung sei nur noch
eine Abhandlung von Lorgna besprochen.) Lorgna geht zunächst
auf die vollständige Gleichung mit konstanten Koeffizienten ein; er
substituiert für die abhängige Variable y den Ausdruck
en fa fü PR
wo u und z neue Variable sind, während u konstant ist, und drückt
dy, ddy, ... durch z, u, y, du und das Differential dx der unab-
hängigen Veränderlichen x aus. Nach Einführung dieser Werte in
die ursprüngliche Differentialgleichung setzt er den Teil, welcher den
Faktor y besitzt, für sich gleich Null und erhält so zwei Gleichungen,
deren eine nur 2 und seine Ableitungen nach « enthält, also als Be-
stimmungsgleichung für 2 benutzt werden kann. Zugleich ist Ord-
nungserniedrigung erreicht. Interessanter sind die Untersuchungen
über die Gleichung 2. Ordnung’)
Mdx? = 7?(a + bar)ddy + x(e + fa")dady + (g+ ha”)yda,
von der uns der Fall M=0 schon wiederholt begegnet ist (vgl.
8. 911 und 927). Durch die Substitution y— — ergibt sich
zMd&’= x?’(a + bar)dde + x(— 2a+e+(— 2b + f)a”)dadz
+(2a—e+g9+%2b— f+ha”)zda, R
und diese Gleichung ist genau von derselben Form wie die ursprüng-
liche. Die wiederholte Anwendung analoger Substitutionen
rresllgft
ge = FR er a h
wird daher wieder eine Gleichung der alten Form hervorbringen,
nämlich
am M da? = x:(a + ba")ddem-d + x(e—2ma + (f—- 2mb)ar)dader -? |
+ ((m + ma — me +9 + (m + mYb — m(f + War)" Dada.
Ist nun das letzte Glied gleich Null, so wird die Differentialgleichung
bedeutend vereinfacht, und man kann ihr Integral leicht angeben.
Ein derartiges Verschwinden wird eintreten, wenn die Gleichungen
matmla—)+9=0 und mb+mb—f)t+h=0
1) Siehe auch Memorie di Mat. e Fis. Soe. It., t. VIII, 1799, parte I, p. 307 ff.
?») Ebenda, t. II, 1784, parte I, p. 177 ff. ®) Ebenda, p. 197.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 935
bei gegebenen Koeffizienten a, b, c,.... beide durch das nämliche
ganzzahlige m gelöst werden; dieses Kriterium hat die besondere
Eigentümlichkeit von n unabhängig zu sein. Die Methode erinnert
an die Laplacesche Kaskadenmethode für partielle Differentialglei-
chungen 2. Ordnung (vgl. S. 1001ff.). Auf dem nämlichen Wege leitet
Lorgna ein ähnliches Kriterium für die Gleichung beliebiger Ordnung
Mdx" = x"+!(a + bX)ydar + a”*+?(c + eX)dyda"-!
+ am +3(f+ gX)ddydar-?+--.
ab; die Substitution, die hier zum Ziel führt, ist
y V®
ze +1
Von den nichtlinearen Differentialgleichungen ist wegen
ihres Zusammenhangs mit der linearen Gleichung 2. Ordnung, sowie wegen
ihrer Bedeutung für die Flächentheorie, Physik usw., die Riccatische
Differentialgleichung wohl die interessanteste. Man versteht darunter
heutzutage die Gleichung
I = ala) + a2): y+@,(2)-y,
und es scheint, daß d’Alembert als einer der ersten den Namen in
weiterem Umfang als früher üblich gebraucht hat, wenn er die aus
dat _ ent
de? 2ale
jr
hervorgehende Gleichung als Riecatische bezeichnet.!) Spezielle
Formen der allgemeinen Gleichung treten natürlich viel früher auf
(vgl. Cantor III®, 3.880)?), aber Lagrange°) und Euler bezeichnen
gewöhnlich nur die Gleichung, die das Glied mit y? nicht enthält,
als Riccatische; allerdings sagt Lagrange‘) von der Gleichung
vermöge
2
u in
dx
x dx
(vgl. 8.912), sie falle unter „le cas general de Riecati“, sagt aber
‘) Histoire de l’Academie de Berlin, t. XIX, 1763 (1770), p. 242. 2) Nach
einer gütigen Mitteilung von Herrn Professor von Braunmühl schon 1738 bei
Euler: Commentarii Academiae Petropolitanae (1747), p. 46. ®) Z.B. Mis-
cellanea Taurinensia, t. III, 1762/65 (1766), p. 189. *) Ebenda, t. II?, 1760/61,
p- 81.
936 Abschnitt XXVL.
nicht, was darunter zu verstehen sei; die angegebene Gleichung führt
mittels |
Mor J z2dz
auf
dz se m m
dat? mike
doch ist die Substitution selbst an der betr. Stelle nicht angegeben.
Der Zusammenhang mit der linearen Gleichung
ddy + Pdady + Qyd?=(,
wo also P und Q Funktionen von x allein sind, sei hier im Anschluß
an Eulers Integralrechnung') dargestellt. Euler verlangt zunächst
Ordnungserniedrigung, schreibt in üblicher Weise
ga+Pp+Qy—V
und erhält mittels der Substitutionen p = uy und q = vy die Gleichung
v=— Pu —(.
Es ist aber
dy=uydz und udy-+ ydu = vyda.
Also
an
Y U
daraus folgt mit Hilfe von
v=—-Pu— 0
endlich
du +uudz + Pude + Qdz=O.
Aus dieser Gleichung folgt bei Anwendung der Transformation
RR...
BEN DE NG
eine Gleichung von der Form
dz + Pzdx + Rzzdz + Qde=V0$,
die sich von der vorhergehenden nur durch das Auffreten der Funk-
tion R unterscheidet; der am meisten ausgezeichnete Fall ist, sagt
Euler, die Rieceatische Gleichung
dz + 22dx = ar"dx.
Endlich ist zu erwähnen, daß Euler imstande ist, die Riccatische
Gleichung bei Kenntnis eines partikulären Integrals v durch die Sub-
‘) Institutiones calceuli integralis, vol. II, p. 88ff.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 937
stitution 2=v + wu”! in eine lineare Gleichung überzuführen!) und bei
Kenntnis zweier Partikulärlösungen durch Quadraturen zu erfüllen; der
Satz von der Konstanz des Doppelverhältnisses von vier partikulären
Integralen scheint. erst in jüngerer Zeit gefunden worden zu sein.?)
Von anderen speziellen Gleichungen, wie sie meist bei praktischen
Aufgaben auftreten, sei beispielshalber die von Euler behandelte
Gleichung
Andds Ads ns
5 RT a
angeführt?); Nikolaus Fuß schreibt?) über die Gleichung
1 + n._ I(4n — 6)t+n] + (nn —n)s = (),
welche einen Spezialfall der Gaußischen Differentialgleichung dar-
stellt, entwickelt s in eine Reihe nach Potenzen von ? und leitet aus
der ursprünglichen Differentialgleichung durch Transformation ver-
schiedene neue ab. Eine Gleichung, die sich von der Riccatischen
dadurch unterscheidet, daß die abhängige Variable auch in der 3. Po-
tenz auftritt, findet Euler gelegentlich eines mechanischen Problems.)
Auf eine Menge interessanter, spezieller Gleichungen 2. Ordnung kommt
Legendre ın einem Aufsatz über die Figur der Planeten zu sprechen.)
Ungleich mehr Interesse beansprucht die Theorie der Differential-
gleichung
dx dy
Very.
wo X und Y Polynome in x bzw. y sind, die allerdings im Zusam-
menhang mit der Theorie der elliptischen Integrale zu betrachten
ist (vgl. 8. 795 ff). Hier sei nur eine Untersuchung angeführt, welche
ausschließlich auf Methoden beruht, wie sie für Differentialgleichungen
in Anwendung gebracht werden. In einer Arbeit aus dem Jahre 1768,
die sich die Auffindung von Differentialgleichungen, welche ein Ad-
ditionstheorem zulassen, zur Aufgabe macht, behandelt Lagrange in
direktem Anschlusse an Eulers einschlagende Arbeiten (s. o. S. 807)
zunächst?) die Gleichung
') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. VIII, 1760/61 (1763),
p. 32ff. Ebenda, t. IX, 1762/63 (1764), p. 162. 2) Hier sei noch ein Aufsatz
von Lorgna über die Gleichung Qdx + Py?de-+dy=0 in Memorie di Mat.
e Fis. Soc. It., t. II, 1786 erwähnt. ®) Acta Academiae Petropolitanae 1780
(1784), pars II, p. 8. *, Ebenda 1782 (1785), pars I, p. 107. °) Ebenda,
1778, pars II, p. 162. Auf diese Gleichung geht Stephan Rumovski (1734
bis 1815) ebenda 1781 (1784), pars I, p. 147ff. wieder ein. Eine andere spezielle
Gleichung 1. Ordnung behandelt derselbe Nova Acta Acad. Petrop., t. XII, 1794
(1801), p. 192—195 (der Aufsatz stammt aus dem Jahre 1797). ®) Histoire
de l’Acad&mie des Sciences 1789 (1793), p. 372 ff. ‘, Miscellanea Taurinensia,
t. IV®, 1766/69, p. 104.
. 938 | Abschnitt XXVL.
dx | ih dy =
Ve+pßa+ye? Vet+py+ry?
Aus |
d dy? 5 K
m atßatye und mm e+Bitry
Eh er durch Differentiation und darauffolgender Division mit @ Fr n
bzw. 2 die Gleichungen
9 ®
2a -B+2ya ud 2 —-B+2rV.
Die Substitution + y= p liefert
u
2 73 = 2ß +2yP,
also
d e-
= Vk+2ßp + yp};
hierbei bedeutet k die Integrationskonstante. Mit Berücksichtigung von
dp dx+dy
dt .det
p=x+y und
folgt sofort die Gleichung
Va+BetrP)+Va+By tr) -VeR+ Bet N)trE+W],
welche den Zusammenhang zwischen x und y algebraisch ausdrückt,
Analog führt die Substitution 2 —-y=q zu
d? j
27-279
und damit zu
V(@ + Bx + ya) —V(e+ By + yy)=VIH+ Bea — WI:
Lagrange wendet seine Methode auch auf elliptische Integrale an
und behandelt dann!) allgemein die Gleichung
dx dy
ya yı
wo X und Y dieselbe ganze rationale Funktion beliebigen Grades
von & bzw. y darstellen; er probiert verschiedene mögliche Formen
der Integralgleichung?), führt aber die Untersuchung wegen ihrer
Schwierigkeit nicht zu Ende; nach seiner Ansicht ist die Entdeckung
weiterer Differentialgleichungen, die zunächst auf Transzendenten
führen, aber auch durch eine algebraische Gleichung integrabel sind,
nicht ausgeschlossen.
!) Miscellanea Taurinensia, t IV?, 1766/69, p. 111. ?) Ebenda, p. 114, 124,
Vgl. S. 810 dieses Bandes.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 939
Totale Differentialgleichungen höheren Grades finden sich in
Eulers Integralrechnung viel behandelt; der wichtigste Fall ist der-
jenige, in welchem die eine Variable nicht explizite in die Differential-
gleichung eingeht. Man erhält dann das Integral zunächst in Para-
meterdarstellung. So liefert?)
‚+p’= apa,
wop= = ‚ bei Anwendung der Substitution p = #x die Gleichungen
auu
und Liu
BU
1+w
also vermöge dy = pdx auch
ee
y-4 (1 + u?)? .
Die Schlußgleichung zwischen x und y, welche gerade bei diesem
Beispiel leicht aufzustellen ist, gibt Euler nicht an. Dagegen be-
merkt er, daß jede Gleichung zwischen &, y und p, die in x und y
homogen ist, eine derartige Integration in Parameterdarstellung ge-
stattet. Durch die Substitution y=ux wird nämlich die Gleichung
auf eine solche zwischen u und » reduziert; die beiden Gleichungen
dy=udae+azdu und dy=pdx
ergeben
pdx — udx = du,
1. (,".
p— u
folgt. Da sich aber p durch « ausdrückt, so ist damit x als Funk-
tion von u und wegen y=uzx auch y als Funktion von u gefunden.
Hier sei auch noch eine Gleichung behandelt, auf welche Lagrange?) bei
Gelegenheit der[Untersuchung der Evolvente einer ebenen Kurve stößt:
woraus
dy „(ay\®
Eee) + (2) ay|
+ ne er
dax® dx?
Er ersetzt das Argument von p durch p und erhält mittels der Sub-
stitution =, = 2 die Gleichungen
x
a home un
") Institutiones ealculi integralis, vol. I, p. 514. ?) Oeuvres de Lagrange,
t. IV, p. 594 ff.
940 Abschnitt XX VI.
Daraus folgt zunächst
y+2=o(p)
und durch Differentiation und Elimination von dz (mit Hilfe der
ersten der beiden Gleichungen)
An %
-— = (p)dp.
Hier hat man entweder dp=(, d.h. p ist konstant, was in Verbin-
dung mit
y+—t=g(p)
die Gleichung
@-P’+W—- go)’ =r
gibt. Im anderen Fall hat man die Gleichung
1 ‚
ae (2),
die sich auf die Form p = Z bringen läßt; Z ist hierbei eine Funk-
tion von 2. Dann läßt sich aber
Et 2r)2de _
2 FF en
in der Form
x—Z
a
schreiben, was
:V1- 2? Zd
Eee NO
E7 e 2? V1-+3°
gibt; berechnet man endlich 2 aus
y+,-—-9Z2
und setzt diesen Wert in die vorhergehende Gleichung ein, so ist das
Integral der ursprünglichen Gleichung gefunden.
Tiefer in das Wesen der Gleichungen höheren Grades und ihrer
Integrale dringt Monge ein.!) Er nimmt an, die algebraische Gleichung
0—= Ay" + Baym-! + Oay" +...
+ Asr:3 + B’ay"?4+
— A’ym-? +...»
| ') Histoire de l’Acad&emie des Sciences 1783 (1786) (Monge selbst zitiert
1782), p. 719—724. Ausführlicher: ebenda 1784 (1787), p. 164 ff.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 941
sei das „allgemeine“ Integral einer Differentialgleichung, diese selbst
sei gesucht. Monge zeigt, daß die auf normalem Weg, also durch
wiederholte Differentiation und Elimination der Integrationskonstanten
A, B,... entstehende Differentialgleichung in bezug auf den höchsten
darin auftretenden Differentialguotienten immer vom ersten Grad ist
und erläutert diese Ausführungen an dem Beispiel
Ax?+Bay+CyY=1,
das nacheinander die Gleichungen
2Axdx + B(zdy + ydax) + 20ydy = 0;
2 Ada? + B(xd?y + 2dady) + 20(dy? + ydy) = 0; usw.
liefert.) Aus dem Umstand, daß derartige Elimination der Integra-
tionskonstanten stets auf Gleichungen 1. Grades führt, folgert Monge,
daß Differentialgleichungen nur dann in bezug auf die höchste darin
vorkommende Derivierte von höherem Grade sein können, wenn die
zugehörige Integralgleichung nicht alle ihre willkürlichen Konstanten
in der 1. Potenz enthält, und man wird auch, wenn man die A, B,...
als Funktionen von neuen Konstanten a, b, ... ansieht, bei Elimina-
tion der a, b,... auf Gleichungen höheren Grades stoßen; das Gleiche
findet statt, wenn zwischen den A, B, .... irgendwelche Relationen
bestehen; darauf gründet er nun seine Integrationsmethode für Glei-
chungen höheren Grades: man ersetze letztere durch die zugehörige
Differentialgleichung ersten Grades und höherer Ordnung, integriere
und entferne die dabei auftretenden überzähligen Konstanten durch
Substitution des Integrals in die ursprüngliche Differentialgleichung.
Als Beispiel gibt Monge die Gleichung?)
dy?
d 2
ea) + 22Y T +?’— f=(.
Durch Differentiation folgt unmittelbar
d
(a? — 2) ddy+ ayday =.
Diese Gleichung ist in bezug auf den 2. Differentialguotienten vom
1. Grad; ddy=0 gibt e= — A. Setzt man diesen Wert in die ur-
sprüngliche Gleichung ein, so erhält man ohne weiteres
') Dasselbe Verfahren auf die weitaus einfachere Gleichung
Ax+By+Caıy=1i
angewandt hätte Monge auf die Schwarzsche Abgeleitete geführt.
®) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1783 (1786), p. 725.
942 Abschnitt XXVIIL.
Aa — 2) +2Ary+®d— Y=0;
überzählige Konstante tritt hier natürlich keine auf. Monge sagt
zwar nicht, daß sich die gefundene Gleichung in zwei Linearfaktoren
spalten läßt; gibt aber dafür die geometrische Bedeutung der Integral-
gleichung an. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß der andere
Faktor
(2) +2y= 0
in Verbindung mit der ursprünglichen Differentialgleichung deren
singuläres Integral (integrale particeuliere)
x? .n y? CH a?
liefert. Eine andere Methode, die Monge in Vorschlag bringt, wird
in Zusammenhang mit seiner Theorie der Berührungstransformationen
erörtert werden (vgl. S. 983).
Totale Differentialgleichungen mit mehreren Variabeln und Simultan-
systeme von totalen Gleichungen behandeln wir aus praktischen Gründen
erst nach den partiellen Gleichungen, zu deren Besprechung
wir hiermit übergehen. Wie schon erwähnt geht die Veranlassung
zur Untersuchung bestimmter partieller Gleichungen zu Beginn un-
seres Abschnitts, abgesehen von Fragen der Differentialgeometrie
(vgl. Abschnitt XXIV, bes. S. 550ff.), noch hauptsächlich auf die
Probleme der Praxis zurück; das rein theoretische Interesse er-
wacht erst viel später. Es sind hauptsächlich die Probleme der
Störungstheorie, der Potentialtheorie und der Hydrodynamik,
speziell der Saitenschwingungen, welche in diesem Sinne an-
regend gewirkt haben. Das Potential wurde schon lange vor Green
und Gauß benutzt, wenn auch anscheinend vor diesen beiden ein
Name dafür fehlt!); von der unter gewissen Umständen bestehenden
Möglichkeit, die Komponenten der auf einen Punkt wirkenden Kraft
als Differentialquotienten ein und derselben Funktion darzustellen,
wurde mit mehr oder minder deutlichem Bewußtsein von der Wichtig-
keit dieses Umstandes Gebrauch gemacht. Schon bei D. Bernoulli?)
und Lagrange?) tritt die Kräftefunktion auf, bei letzterem sogar für
kontinuierliche. Massen; Niveauflächen finden wir bei Maclaurin in
seinem Treatise of luxions 1742 und in der Figure de la terre 1743 von
Clairaut. Die berühmte Differentialgleichung 2. Ordnung, welcher
!) Nach einer gütigen Mitteilung von Herrn Prof. Stäckel findet sich der
Name schon in D. Bernoullis Hydrodynamik. ?2) Histoire de l’Acad&mie de
Berlin, t. IV, 1748 (1750), p. 361. Im folgenden wurden teils der vorerwähnte
Aufsatz von Burkhardt teils verschiedene Aufsätze der Enzyklopädie der
mathematischen Wissenschaften benutzt. 5) Oeuyres de Lagrange, t. IV,
p. 402 (aus dem Jahr 1777) und t. VI, p. 349.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 943
das Potential V eines beliebigen Körpers auf einen außerhalb ge-
legenen Punkt mit den Polarkoordinaten r, ® und ® gehorcht, ist
von Laplace 1782!) angegeben; dieser setzt für V in der Gleichung
oV 00V
E Fir N 1 (au) Y da
ou 1— uu ger
wo cos®# = u, eine Reihenentwicklung mit fallenden Potenzen von r
und bestimmt die Entwicklungskoeffizienten dieser Reihe. 1787 end-
lich gibt er auch die Gleichung in rechtwinkligen Koordinaten
Br Fin Ela
0x” oy? 02° ’
die nach ihm benannt ist.”) Letztere Gleichung tritt zwar schon
früher in der Dynamik inkompressibler Flüssigkeiten bei Lagrange?)
auf, aber nur nebenbei, zufällig, weil sie eben der Natur des behan-
delten Problems nach notwendig auftreten muß; bei Laplace hin-
gegen bildet die Bestimmung der Eigenschaften der Funktion Y den
Kernpunkt der Untersuchung, die Differentialgleichung ist bei ihm
mit voller Einsicht ihrer Bedeutung in den Vordergrund gerückt.
Den direkten Anlaß zu Laplaces Arbeit gab das Problem der Attrak-
tion der Sphäroide und das Problem der Erdfigur, mit dem sich auch
Legendre beschäftigt hat*). Die Untersuchungen auf diesem für die
Astronomie bedeutungsvollen Gebiet führten zur Benutzung wichtiger
Reihenentwicklungen und zur Verwendung der Kugelfunktionen?)
(s. 0. 5. 792); insbesondere die Gleichgewichtsfigur einer rotierenden
Flüssigkeitsmasse, deren Teilchen sich nach dem Newtonschen Gesetz
anziehen, war schon früher besonders von Clairaut in seiner Figure
de la terre behandelt. Es waren also Mechanik, Hydrodynamik und
Astronomie in gleicher Weise, welche auf die Einführung des Poten-
tialbegriffes hinwiesen. Auf die Untersuchungen über den Fall, daß
der Punkt u, $, ® innerhalb der anziehenden Masse liegt, auf das
Auftreten des logarithmischen Potentials und ähnliche Fragen kann
hier nicht eingegangen werden.
Die allgemeinen hydrodynamischen Gleichungen versucht La-
grange zu integrieren (vgl. S. 1024); es sind indessen begreiflicher-
weise nur speziellere Probleme, die zu brauchbaren interessanten Er-
‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1782 (1785), p. 135. Dieser Aufsatz
handelt von der Anziehung der Sphäroide und der Figur der Planeten. Man
vgl. hierzu auch: ebenda, 1783 (1786), p. 25. ”, Ebenda 1787 (1789), p. 252
in einer Abhandlung über die Saturnringe. ®) Miscellanea Taurinensia, t. II?,
1760/61, p. 273. Vgl. auch oben S. 914. *, Vgl. Histoire de l’Academie des
Sciences 1784 (1787), p. 370 ff. Ebenda 1789 (1793), p. 372 ff. °) Ebenda 1785
(1788), p. 64 ff.
944 Abschnitt XXVI.
gebnissen geführt haben. Um von der Art der untersuchten Probleme
eine Vorstellung zu gewinnen, seien einige Beispiele aufgeführt. Euler
behandelt das Problem der Fortpflanzung von Wellen, die von einem
Störungszentrum ausgehen, sowohl für die Ebene, wie für den Raum;
diese Aufgabe führt auf die Gleichung
1 /dds n (ds dds
son ar) = var) + ar)
wo V den Radius einer Welle bedeutet, und zwar ist n beim ebenen
Problem gleich 3, beim entsprechenden räumlichen Problem gleich 4
zu setzen. Die Fortpflanzung von Wellen an der Oberfläche eines
Kanals von konstanter Tiefe behandelt Laplace 1778") unter der
Voraussetzung, daß die Breite des Kanals nicht in Betracht kommt.
Seien X, Z die Koordinaten eines Flüssigkeitsteilchens zur Zeit t=0,
X-+ex, Z+ez die Koordinaten desselben Teilchens zur Zeit
(« eine sehr kleine Größe), ö die Dichtigkeit, p der Druck, g das
Gewicht des Teilchens, so findet Laplace:
0-(a+hz);
0=gd-(Ztad)+aoX-(&r) +02.) +;
d bedeutet dabei eine Differentiation, bei der t als konstant behandelt
wird. Die letztere Gleichung kann nur bestehen, wenn auch ihr
2. und 3. Glied zusammen ein vollständiges Differential in bezug auf
X und Z bilden. Aus der Bedingung hierfür erhält man durch
zweimalige Integration nach t die Gleichung
0% 02
2) 2)
und durch Kombination mit
0% 02
62) +62)
die beiden folgenden:
= 9X +2VY-N)+YIX-ZVeD)
= —-V(- 1) IglX+2YC-DI4+»R - ZVcHl;
dabei muß g(X)=— y(X) sein, da für Z=0, d.h. am Boden des
Kanals, 2 überall und beständig Null ist. Mit Hilfe dieser beiden
Gleichungen lassen sich z2 und x für alle Punkte der Flüssigkeit be-
und
1) Histoire de l’Acad6mie des Sciences 1776 (1779), p. 544 ff. Das Folgende
nach Burkhardt a.a. O.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 945
stimmen, sobald man ihre Werte an der’ Oberfläche kennt. Sei für
diese Z=1!-+ eu, wo u eine beliebige Funktion von X ist, so erhält
man unter Vernachlässigung höherer Potenzen von e«:
te:
Laplace begnügt sich mit der Angabe eines partikulären Integrals
dieser Gleichung. Lagrange beschäftigt sich nach sorgfältigen Lite-
raturstudien mit der Untersuchung der Wellenbewegung an der Ober-
fläche eines beinahe horizontalen Gewässers von sehr geringer Tiefe!)
und kommt zu dem Resultat, daß sie den Gesetzen. der Schallfort-
pflanzung in einer ebenen Luftschicht gehorcht. Das wichtigste hier-
her gehörige Problem ist aber das der schwingenden Saiten und über-
haupt der musikalischen Instrumente. Abgesehen von der physikali-
schen Bedeutung dieses Problems hat seine Behandlung nach den
verschiedensten Richtungen hin fördernd und fruchtbringend auf die
Mathematik eingewirkt. Der ganze Streit über die Art der in den
willkürlichen Funktionen einer Integralgleichung zulässigen Unstetig-
keiten, die intensive Beschäftigung mit den partiellen Differential-
gleichungen 2. Ordnung, die schließlich notwendig zu einer Theorie
dieser Gleichungen führen mußte, wurde durch die genannte Aufgabe
veranlaßt. Eben dieselbe führte — und das war, wenn man auch
das Geleistete nicht zu erkennen vermochte, immerhin ein bedeutender
Schritt — unbewußt zur Darstellung einer Funktion nach Vielfachen
von sinus und cosinus?); die Physik verdankt diesem Problem die
Erfindung des Prinzips der Superposition der Wellen durch D. Ber-
noulli®) und des Begriffs der Freiheitsgrade eines Systems, von dem
Euler bei Untersuchung einer nicht in einer Ebene, sondern räum-
lich schwingenden Saite Gebrauch macht‘) Um die in Frage kom-
menden, für die Probleme der bezeichneten Art charakteristischen Dif-
ferentialgleichungen der Bewegung bzw. deren Integral zu finden,
stehen zwei Wege offen; der eine geht von den Bewegungsgleichungen
einer kompressiblen Flüssigkeit aus, der andere bildet zunächst das
Gleichungssystem, das die Schwingungen einer endlichen Anzahl von
Massenpunkten darstellt, integriert sie und sucht dann durch Grenz-
übergang das für einen kontinuierlichen Komplex von Punkten gel-
!) Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 746 (Berliner Memoiren für 1781).
?) Vgl. diese Vorl., III?, S. 905 ff, ®) Histoire de l’Academie de Berlin 1753
(1755), p. 187, 189. Vgl. Journal des sgavans 1758, p. 158. *) Novi Com-
mentarii Academiae Petropolitanae, t. XIX, 1774 (1775), p. 340ff. Das Problem
der Schwingungen einer Saite mit Berücksichtigung ihres Gewichts: Acta Aca-
demiae Petropolitanae 1781 (1784), pars I, p. 178 #f.
946 | Abschnitt XXVI.
tende Integral daraus abzuleiten; den letztgenannten Weg schlägt als
besonders sicher und unanfechtbar Lagrange in seiner großen Ab-
handlung über die Fortpflanzung des Schalles ein, da er den An-
schauungen seiner Zeit gemäß die dem Grenzübergang innewohnenden
prinzipiellen Schwierigkeiten nicht erkennt. Euler behandelt Saiten
von ungleichmäßiger Dicke, und zwar will er von einer Saite, die
aus einer endlichen Anzahl von Stücken verschiedener Dicke zu-
sammengesetzt ist, zu der Saite mit kontinuierlich veränderlicher
Dicke übergehen.') Euler legte auf diese Untersuchungen viel Wert,
da er glaubte, mit dem Nachweis, daß bei derartigen Saiten im all-
gemeinen disharmonische Obertöne auftreten, die (gerade von der mo-
dernen Musiktheorie wieder aufgenommenen) Versuche widerlegen zu
können, welche Konsonanz und Dissonanz, überhaupt die Harmonie-
lehre mit der Anordnung der Obertöne in Zusammenhang bringen.?)
Die Theorie der Pfeifen wurde von D. Bernoulli sehr gefördert?),
der aus den Ergebnissen seiner Studien über die Verhältnisse an
offenen und geschlossenen Enden auf den Grundton offener und ge-
deckter Pfeifen schließt, auch den Satz findet, daß bei der gedeckten
Pfeife die Schwingungszahlen der Obertöne ungerade Vielfache der
Schwingungszahl des Grundtons sind; er behandelt auch das der Saite
von verschiedener Dicke analoge Problem einer Pfeife von veränder-
lichem Durchmesser. Pfeifen von nicht zylindrischer Form wurden
von verschiedenen Forschern untersucht®); eine Theorie der Blas-
instrumente für beliebige Gestalt der Begrenzungsfläche sucht La-
grange abzuleiten und die allgemeine Lösung durch Superposition
einfacher Schwingungen zusammenzusetzen.’) Endlich ist noch der
Theorie der Schwingungen von Lamellen, Membranen und Glocken
zu gedenken; die diesbezüglichen Differentialgleichungen werden an
Ort und Stelle angegeben werden. |
Aufalle hierher gehörigen Abhandlungen konnte hier nur dann einge-
gangen werden, wenn darin die eigentlich physikalische Seite desProblems,
obwohl ursprünglich Veranlasserin und Urheberin der ganzen Unter-
suchung, doch hinter den zur Lösung erforderlichen neuen Methoden
und Theorien in solchem Maße zurücktritt, daß ihr Inhalt mehr den
Mathematiker als den Physiker interessiert. So konnte z. B. die große
') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764), p. 271
und ebenda, t. XVII, 1772 (1773), p. 432ff. Endlich Miscellanea Taurinensia,
t. III?, 1762/65 (1766), p. 27—59. ?®) Vgl. auch D. Bernoulli in Novi Com-
mentarii Academiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 268. ») Histoire
de l’Acad&mie de Berlin 1753 (1755), p. 150. Histoire de l’Acad&mie des Sciences
1762 (1764), p. 431 ff. #) Ebenda, p. 470. 5) Wegen dieses Prineips beruft
er sich in den Miscellanea Taurinensia, t. II, 1760/61, p. 171 auf D. Bernoulli.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 947
Abhandlung von Lagrange über Natur und Fortpflanzung des Schalls
Berücksichtigung finden; des gleichen Verfassers Aufsatz über Hydro-
dynamik in den Berliner Memoiren von 178 ußte dagegen über-
gangen werden, da er inhaltlich wie auch äußerlich den ausgesprochenen
Charakter einer Untersuchung auf dem Gebiet der theoretischen Physik
besitzt; die darin auftretenden Gleichungen sind meistens zu speziell
und die zu ihrer Lösung benutzten Kunstgriffe bei allem Scharfsinn
zu wenig allgemein, als daß sie die Aufstellung rein mathematischer
Theorien hätten zur Folge haben können.
Was die Integration der partiellen Differentialgleichungen betrifft,
so erkannte man bald, daß das Vorkommen gerade der partiellen Dif-
ferentialquotienten in einer Gleichung auf die Integralgleichung keinen
anderen Einfluß ausübt, als daß in diese willkürliche Funktionen ein- _
gehen, so daß also das eigentliche Integrationsgeschäft keinerlei Ope- ER
_ rationen erf erfordert, die von den bei gewöhnlichen Differentialgleichungen
"notwendige: digen prinzipi piell_verschieden wären. Das Problem der Inte-
gration partieller Differentialgleichungen läßt sich demnach in zwei
voneinander unabhängige Aufgaben trennen, einmal in die Aufdeekung
der Art und Weise, wie die willkürlichen Funktionen in das Integral
eintreten, sodann aber in die Forderung, alle durch die ursprüngliche
Gleichung definierten eigentlichen Integrationen für sich allein, d. i.
durch Gleiehungen darzustellen, deren Lösung keine willkürlichen
Funktionen mehr in sich birgt; das sind eben totale Gleichungen.
Deshalb begnügen sich auch die Mathematiker, sofern es sich
nicht um spezielle Gleichungen handelt, meistens damit „ die_partiellen _
Differentialgleichungen auf _totale zurückzuführen und den Zusammen-
hang zwischen den _Integralgleichungen der partiellen und totalen. za
"Gleichungen a anzugeben. Diese Reduktion wird wiederholt als das
Grundprinzip. der Integration partieller Differentialgleichungen an-
gesprochen; Laplace sagt‘) klar und deutlich: Jje_regarde une equa-
tion aux differences partielles comme integree, lorsqwelle est ramenee
& l’integration d’une equation aux differences or BENmaERR. Wegen einer
ähnlichen Stelle bei Lagrange vergleiche man 8.972.
Diese Reduktion auf totale er eim Hat’am konsequen-
testen Monge in einer großen Abhandlung in den Pariser Memoiren von
1784 durchgeführt.) Er findet für die verschiedensten partiellen
Seinen die entsprechenden totalen dadurch, daß er die partiellen
Differentialquotienten mit Hilfe der Gleichungen, welche diese mit
den totalen Differentialen verbinden, so weit als möglich eliminiert
') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1773 (1777), p. 344. Vgl. auch die
Histoire desselben Jahres, p. 44. ?) Ebenda 1784 (1787), p. 118—192.
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV. 61
948 Abschnitt XXVIL
und die so erhaltenen Schlußgleichungen derart zerfällt, daß sie un-
abhängig von darin noch auftretenden partiellen Derivierten Geltung
haben. Sei z.B. die lineare Gleichung 1. Ordnung
Mp+Ng+L=0
zu integrieren, wo M, N, L gegebene Funktionen von &, y und 2,
p und q die partiellen Differentialquotienten von z nach x bzw. y
sind.‘) Diese Gleichung stellt, wie Monge sagt, lediglich eine Be-
ziehung zwischen p und g dar, aus welcher allein, d.h. ohne das
Hinzukommen einer weiteren Gleichung, p und g nicht jedes für sich
berechnet werden können. Eliminiert man also p bzw. q mit Hilfe
der immer bestehenden Gleichung
dz=pdx + gdy,
so ergibt sich
Mdz + Ldx = q(Mdy — Ndx)
und
Ndz+ Ldy=p(Mdy— Ndx);
damit das aber nicht zwei Bestimmungsgleichungen für g und p sind,
müssen nach Monge die drei Gleichungen
Mdz+Lde=0; Mdy— Nd«e=0; Ndz+ Ldy=0
gleichzeitig bestehen, die indes nur zwei voneinander unabhängige
Gleichungen darstellen. Genau denselben Gedankengang verwendet
Monge zur Behandlung aller anderen partiellen Gleichungen, wie wir
in den einzelnen Fällen an Ort und Stelle sehen werden; hier sei nur
mitgeteilt, wie Monge den Zusammenhang zwischen den Integralen
der partiellen und der totalen Gleichungen herstellt. Er betrachtet
es nämlich als wesentlich, daß, wenn wir das eben erwähnte Beispiel
beibehalten, von den beiden totalen Schlußgleichungen nicht jede ein-
zelne für sich, sondern beide zusammen statthaben, und kommt so-
dann durch eigentümliche Deutung des Wortes simultan zum Integral
(integrale complete) der gegebenen partiellen Gleichung. Er erklärt den
Begriff simultan folgendermaßen: Sind V=a und U=b die vollständigen
Integrale des der partiellen Gleichung äquivalenten Systems, so müssen,
wenn beide gleichzeitig bestehen sollen, nieht V und U jedes einzeln
konstant sein, sondern es muß U konstant sein, solange V es ist und um-
gekehrt; ist hingegen das eine variabel, so ist es das andere auch, ou autre-
ment... elles sont fonctions l’une de l’autre, sans rien statuer d’ailleurs sur
la forme de cette fonetion. (Vgl. o. S. 536 und 561.) Man kann
dieser glücklichen Dialektik, durch welche Monge die Gleichung
V=9(U) plausibel macht, nicht die Bewunderung versagen, wobei zu
" Histoire de l’Acad&emie des Sciences 1784 (1787), p. 121.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 949
bedenken ist, daß das Resultat, weil längst bekannt, niemanden in Er-
staunen setzte und deshalb auch einige Nachsicht bezüglich seiner Her-
leitung erwarten konnte. Verständlicher wird dieser ganze Gedanken-
gang, wenn man berücksichtigt, daß Monge die Bildung des Integrals
der partiellen Gleichung aus den Integralen der totalen Gleichungen
als die „operation inverse“ zur Elimination der willkürlichen Funktion
aus einer gegebenen Integralgleichung angesehen haben will. Um
diese Elimination möglichst einfach zu gestalten, verwandelt er z. B.
die Gleichung = g(U) mittels der Substitution U=a in die beiden
Gleichungen
U=a; V=oyla)=b,
die zu gleicher Zeit statthaben müssen und zwar in der Art, daß die
eine die notwendige Folge der andern ist. Aus dU=0 und dV=0
erhält er 2
(7) de + (7) dy=0
daV
dV
(a) + a) ar = 9,
woraus durch Elimination „der unbestimmten Größe“ = die partielle
aD 6
Statt T zu eliminieren, kann, wie Monge noch erwähnt, dieselbe
und
Gleichung folgt:
Schlußgleichung durch Elimination einer Unbestimmten &® aus zwei
anderen Gleichungen hervorgehen; letztere stellen dann ebenfalls ein
der Schlußgleichung äquivalentes System dar. Den hier entwickelten
Prozeß faßt dann Monge in folgende Regel zusammen: Man setze das
totale Differential des Arguments der in der Integralgleichung auf-
tretenden willkürlichen Funktion gleich Null, differentiiere sodann die
Integralgleichung selbst derart total, daß dabei die willkürliche
Funktion als Konstante behandelt wird und eliminiere endlich aus
den beiden so erhaltenen Gleichungen, sowie der Integralgleichung
die willkürliche Funktion = ‚ so erhält man die zur gegebenen Integral-
gleichung gehörige Differentialgleichung für den Fall, daß auch noch
die Differentialquotienten der willkürlichen Funktion in der Integral-
gleichung auftreten, ist wenigstens hingewiesen. Nun ist diese
Methode, aus dem Integral auf die Differentialgleichung zu schließen,
in einem anderen Aufsatz!) desselben Bandes der Pariser Memoiren
bereits ausführlich auseinandergesetzt und an Beispielen erläutert;
') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 85 ff.
61*
950 Abschnitt XXVLI.
sie bildet nach Monges eigener Aussage die Grundlage für den In-
halt der eben besprochenen größeren Abhandlung'), woraus zwar nicht
auf die zeitliche Abfassung der beiden Artikel, wohl aber auf die
Vorgeschichte des Gedankenganges, der Methode, die in den erwähnten
Aufsätzen bereits vollständig durchgebildet, sicher, abgerundet und klar
dargestellt und gehandhabt wird, ein Schluß gezogen werden kann.
In dieser ersten Abhandlung stellt sich nun Monge die Aufgabe,
irgendwelche geometrisch oder mechanisch erzeugten Flächentypen
analytisch, zunächst mit Zuhilfenahme willkürlicher Funktionen und
dann mit Hilfe partieller Differentialgleichungen, darzustellen; er ge-
winnt so, wie jedenfalls schon früher, rückwärts verschiedene kom-
plizierte und dennoch integrable Differentialgleichungen. Sehen wir
also in diesen Untersuchungen die Grundlage, den Ausgangspunkt für
die eigentlichen Forschungen Monges auf dem Gebiete der Diffe-
rentialgleichungen selbst, so können wir eine erste Entwicklungsreihe
für diese aufstellen: Beschäftigung mit Problemen der Flächen-
theorie?), Aufstellung der Gleichungen von Flächenfamilien, Über-
gang zu den gleichwertigen Differentialgleiehungen durch Elimination
der willkürlichen Funktionen jener Gleichungen, Vereinfachung
des Eliminationsprozesses, Umkehrung dieser Methode. Daneben ist
aber auch eine Anmerkung zu berücksichtigen, welche Monge dem
erwähnten Aufsatz über partielle Differentialgleichungen vorangeschickt
hat: Dieses Memoire sei durch einen Lehrsatz veranlaßt (a ete fait &
l’oecasion d’une proposition), den er der Akademie mitgeteilt habe;
nach seiner Vollendung habe man ihn darauf aufmerksam gemacht,
daß der Grundgedanke, allerdings nur in Anwendung auf Gleichungen
1. Ordnung, bereits in einem Memoire von Lagrange in den Berliner
Memoiren für 1779 veröffentlicht sei. Monge weist sodann auf einen
früheren, verwandten Gedanken hin, den er 1771 der Akademie vor-
gelegt und hernach in den Savans Etrangers für 1773 veröffentlicht
hatte, nämlich auf die Tatsache, daß sich für die partielle Gleichung
Mp + Ng=0, wo M und N Funktionen von x, y und z sind, die-
selbe Integralgleichung ergibt, ob man jetzt z als Konstante oder als
Variable behandelt. On y verra, fährt er fort, que cette proposition,
dont j'6tois des-lors fortement occupe, est le germe de ce qui fait
Vobjet du M&moire actuel, et qu’elle a dü me conduire aux resultats
que je prösente. In der zitierten Abhandlung sind aber wiederum
1) Tout ce que je me propose de dire sur cet objet, &tant fonde sur le
proc6de que j’ai expos6 dans le Me&moire preeedent. Histoire de l’Academie
des Sciences 1784 (1787), p. 118. _?) Hierbei empfing Monge u. a. mancherlei
Anregungen durch die diesbezüglichen Arbeiten von Euler und Meusnier,
die er auf p. 92 bzw. p. 106 zitiert.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 951
geometrische Überlegung und Behandlurgsweise in den Vordergrund
gerückt, ist geometrische Versinnlichung das Ziel der Untersuchung;
Monge konstruiert nämlich genau wie früher nichts als Flächen, die
durch eine gegebene Raumkurve hindurchgehen und eine gegebene
Integralgleichung erfüllen; bei Besprechung von einzelnen Beispielen
wird er dann zu dem erwähnten Satz geführt; er schreibt!) die
Differentialgleichung in der Form
Ö2 02
deutet hierbei durch die Symbole ö, ö, d die verschiedenen Differen-
tiationen an (vgl. S. 885) und erwähnt, daß sich statt des Integrals
z=g(V) auch z=g@(V + Yz) schreiben läßt. Nachdem er den Satz
auch analytisch bewiesen hat, weist er zum besseren Verständnis noch
auf die Gleichungen
dydz— adxoz=0; dydz— dxöoeze= (0; dydz — Zdxiz = 0
hin, wo Z eine Funktion von z ist; diese Gleichungen haben bzw.
die Integrale
= gplaz+y); z=plkxrt+y); 2=gp(Zı-+y),
so daß also die Variabeln z und Z auf dieselbe Weise in das Integral
eintreten wie die Konstante a.
Das allgemeine Prinzip der Behandlung pattieller Differential-
ach die Reduktion auf et Gleichungen, unbekümmert rer ob
diese integrabel sind oder nicht, hat Trembley ee er
betont nämlich — was nichts Neues ist —, daß die zwei totalen
Gleichungen, auf welche Lagrange die lineare partielle Differential-
gleichung 1. Ordnung zurückgeführt hat, ebenso schwierig zu inte-
grieren sind als die ursprüngliche Gleichung, und geht deshalb un-
mittelbar auf die partielle Gleichung selbst ein. An diese Unter-
suchung knüpft sich eine ganze Reihe anderer Aufsätze, die alle
dieselbe Methode in ungeheuren Rechnungen durchführen; wir werden
bei Gelegenheit der Gleichung 2. Ordnung darauf zurückkommen.
Auch Cousin, ‚zieht die direkte Behandlung der partiellen Differen-
tialgleichung der Diskussion der gleichwertigen totalen Gleichungen vor;
ja während die zeitgenössischen Mathematiker froh sind, die Pareen
Gleichungen auf totale reduzieren zu können, verwandelt er gerade
umgekehrt öhnliche. ‚Differentialgleichungen in partielle; er_und _
nach ihm Tre mbley suchen integrable Fälle, die sich in vorgegebener
‘) Memoires presentes par divers Savans 1773 (1776), p. 283 corollaire I.
952 Abschnitt XXVII.
Weise integrieren lassen, und gehen deshalb im allgemeinen von einer
gegebenen Integralgleichung aus. Die totale Differentialgleichung
2. Ordnung
Zn dz+u=V0
wo u eine Funktion von &, Y und 9? Fa a Cousin!)
durch die Substitution 2 = 2 vermöge dz = -_ da 4 „au in die
dx
Gleichung
l
ten tu- 0,
wobei die partielle Differentiation in der Schreibweise nicht besonders
angedeutet wird; er ersetzt also mit anderen Worten das Simultan-
system
Qu
dz Y
RE a Te
durch eine partielle Gleichung, während man gewöhnlich an Stelle
letzterer das erwähnte Simultansystem betrachtet. Ist jetzt z. B.
u=ae+pßety,
wo «, ß, y Funktionen von x und y allein sind, so setzt Cousin als
Integral die Gleichung an:
np le Ba ke Iyda e“ (B a; 6) dy]!’
Damit die hier angedeuteten Integrationen ausgeführt werden können,
müssen aber die Bedingungsgleichungen |
d da d d
tan? und Ro +)=gLter
bestehen; aus ihnen folgert Cousin die Gleichung
d’a d?ß d- Fr
een een
ui ee Er
dz dy
und besprieht auch den Fall, daß ihr Nenner Null ist. Interessanter
werden die Untersuchungen, die sich an die Annahme knüpfen, das
.. von
ı, Histoire de l’Acadömie des Sciences 1778 (1781), p. 442. Vgl. auch
Histoire, p. 42.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 953
= + 2 u
lasse sich in der Form
B+F(K)=0
darstellen, wo B und K Funktionen von &, y und z sind. Cousin
leitet aus dem Integral durch partielle Differentiation nach x bzw. y,
wobei z als Funktion von & und y zu gelten hat, und Elimination
von F’ eine Gleichung her, von der er verlangt, daß sie bis auf einen
Faktor ® mit der gegebenen Differentialgleichung übereinstimme.
Auf diese Weise ergibt sich
dKdB_dBaK_, dBadK_dKAB_,,
dz dy da FE ide Wie
dKdB dKAB
d2 du dyde PM
Durch Elimination von » folgen endlich die Gleichungen:
Br ann run
a EEE
Cousin nimmt nun spezielle Formen für B und K an, um inte-
grable Fälle aufzufinden; so setzt er
Bb=mz+n und K=Mz+N,
wo m, n, M, N Funktionen von x und y allein sind. Ist wieder
u=ar+Pßz+Y,
so folgen bei Substitution dieser speziellen Werte in (I) durch
Nullsetzen der Koeffizienten von z und z? Relationen zwischen m, n,
M und N, aus deren einer die Gleichung
m=M : gprı(«)
efoloert werden kann. Interessant ist nun, daß Cousin eine eicene
fee) ’ oO
Bezeichnung für die Funktionaldeterminante einführt, indem er!)
dm dM dm dM
mM ee
Ausdrücke echt Damit geht die Gleichung (f) mit Berücksich-
tigung von m= M-gı(«) in
und analoge Symbole an Stelle ähnlicher
— uM?yiı(&) = mM2?+ (mN+nM)z+nN
‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1778 (1781), p. 449.
954 Abschnitt XXVI.
über; es soll aber
u=a®+ße+Yy
sein. Durch geschickte Kombination der verschiedenen allmählich
aufgestellten Relationen und Integration erhält Cousin die Größen
m, n, M, N in ziemlich verwickelter Form ausgedrückt durch «, ß, 7,
sowie durch vier willkürliche Funktionen p,(%); P17(8); fr(@); fır(®);
da aber diese Größen teilweise unter Integralzeichen auftreten, müssen
noch gewisse Integrabilitätsbedingungen erfüllt sein, welche die prak-
tische Anwendung der ohnehin komplizierten Cousinschen Formeln
erschweren. Im folgenden!) geht Cousin zu Gleichungen höherer
Ordnung über; für die Gleichung
1 T
7,02+0e2°+ßZH+r=0d,
wo Z einen Differentialquotienten beliebiger Ordnung von y nach x
bedeutet, und die «, ß, y Funktionen von &,y,2 und sämtlichen Ab-
leitungen von 2 bis Z sind, versucht er ein erstes Integral von der Form
(mZ+n)+F(MZ+N)=0.
Endlich?) nimmt er
B=mz+n; K= Me” +Nz!+...,
was auf ganz ungeheure Ausdrücke führt. In einer späteren Abhand-
lung?), die vor der früheren größere Übersichtlichkeit voraus hat,
kommt er auf diese Untersuchungen zurück; er erwähnt, daß man
die beiden vollständigen ersten Integrale einer totalen Differential-
gleichung 2. Ordnung erhält, indem man in dem Integral der zu-
gehörigen partiellen Gleichung einmal die willkürliche Funktion selbst,
das andere Mal ihr Argument gleich einer Konstanten setzt. Ist
wieder B+F(K)=0 das Integral von
dz dz
dat Faytremd
so ergeben sich genau wie früher die Gleichungen (T') und (2).
Cousin nimmt jetzt allgemeiner
My
Pi
B=m:e+m +" 4: u
und
K-Me:+M+@4 24...
‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1778 (1781), p. 452. Die im Text
angeführte Gleichung p. 468. ?) Ebenda, p. 469. ®, Ebenda 1783 (1786),
p. 649 ff.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 955
und führt der Kürze halber Größen n, n,, n,,.... ein, wo
dM Amir. : dM, dm, 0
Ele re ie
dM, dm dm
m ——= — M—— mare — NM; :..
Es möge hier gestattet sein, die vielen einzelnen Gleichungen, die
Cousin angibt, um das Bildungsgesetz erkennen zu lassen, mittels
eines allgemeinen Index i in eine zusammenzufassen:
dM, dm, dM,_, dm,;_5
a re MG Mn + M dx
Bun er Zi 3
dm
- (i- Dm Sn +6 - DM ZT m
Diese Gleichung gilt in sinngemäßer Anwendung schon für i=0 und i=1.
Setzt man jetzt die unendlichen Reihen für B und K in die Gleichung
(TI) ein, wobei Bund K wie Funktionen von drei voneinander unab-
hängigen Variabeln &, y, z zu behandeln sind, so ergibt sich durch
Nullsetzen aller Koeffizienten der einzelnen Potenzen von z eine 2. Gruppe
von Ausdrücken für die Größen n, die wir wieder mit Hilfe des Buch-
staben > in eine Gleichung sammeln:
m" dM, M dm;_9 dM,_,
ae eg:
dm;_s dM,_3
ss ’s dy
-d- DU +E-YDm ni
unter n_,, das sich für <= 0 ergibt, ist hierbei die Zahl 0 zu verstehen.
Mit Hilfe der eben gefundenen Relationen folgt aber
dB aK dB dK
day de dedy “% rt, Bus
Führt man für die Funktionaldeterminante
dm dM dm dM
dy de dxdy
wieder das Symbol mM ein (Cousin läßt jetzt die Punkte eg), so
kann man schreiben
956 Abschnitt XXVI.
dBdK dBdKkK
Er 9er mM2?+ (m, M+mM,)e+m, M+m,M, +mM,
+ (m, M + m,M, +m, M, +mM,)2"'+---;
und setzt man endlich die zwei zuletzt erhaltenen Gleichungen in (1)
ein, so ergibt sich unter der Annahme, daß u von der Form
te tyt+ltst
ist, nachstehende Folge von Gleichungen:
mM= an;
m, M +mM, = en, + Pn;
m; M + m, M, + mM, = an, + Bn, + pn;
m; M + m, M, + m, M, + mM, = an, + Pn, + yn, +0n
usw. Mittels dieser Gleichungen berechnet nun Cousin sukzessive
die Größen m, m,, M,, m,, M, usw. Die Gleichung
dm dM
eh 5 Fügykude Fe
0,
die in der 2. Gruppe von Ausdrücken für die n, enthalten ist, liefert
nämlich m = M-x,, wo &, eine zunächst willkürliche Funktion von
x allein bedeutet. Mit Hilfe von n_,—=0 ergibt sich au mM = an
bei Berücksichtigung der Bedeutung von mM und n die Gleichung
dM
dy = «M,
d. h.
wel,
wo X, eine neue willkürliche Funktion von x allein bedeutet. »o
kann man fortfahren, indem man immer zuerst ein m, und dann das
zugehörige M, berechnet; es hat aber keinen Zweck, die sehr kom-
plizierten Formeln hier mitzuteilen. Die dabei auftretenden willkür-
lichen Funktionen &,, X,, %, Xg,... müssen dem jeweils vorgelegten
speziellen Problem entsprechend gewählt werden; ihre Bestimmung
erläutert Cousin an einem konkreten Fall, um sodann zur totalen
Gleichung 3. Ordnung, die auf eine partielle 2. Ordnung führt, über-
zugehen.
Wir wenden uns im folgenden zur partiellen Gleichung 1. Ord-
nung und beliebigen Grades mit drei oder mehr Veränder-
lichen. Da die Gleichung 2. Ordnung wegen ihrer physikalischen
Bedeutung anfänglich im Vordergrund des Interesses stand, so kam
Totale und partielle Differentialgleichungen. 957
es erst sehr spät zu einer eigentlichen Theorie der Gleichungen 1. Ord-
nung, und alles, was auf diesem Gebiet vor Lagrange geleistet
wurde, verdankt weniger planmäßiger Überlegung als Kunstgriffen
und geistreichen Versuchen sein Entstehen. So wird begreiflich, was
im ersten Augenblick wundernehmen muß, daß lange Zeit die
Gleichung 1. Ordnung nicht mehr Fortschritte machte als die Glei-
chungen höheren Grades: man integrierte eben, was man integrieren
konnte, und da lagen einfache Gleichungen höheren Grades oft viel
näher als komplizierte 1. Ordnung; allerdings sind die derart ge-
fundenen integrablen Typen meist wenig allgemein. Als erste Ab-
handlung haben wir einen Aufsatz von Euler zu nennen‘); die Frage-
stellung ist etwas kompliziert und die partielle Gleichung tritt nur
nebenbei verschleiert auf. So stellt Euler die Aufgabe
Pdx +0Qdy
zu einem totalen Differential dV zu machen, wenn gleichzeitig die
Relation
Px + Qy= 0
besteht; zur Lösung der Aufgabe schreibt er
dAV=Pdxz+0Qdy= Py- vera und erkennt daraus, daß V und
. % . 5 . . . .
Py Funktionen von $S=— sein müssen.?) Ziemlich nebenbei, im
Corollar 1?) tritt der eigentliche Charakter der Aufgabe deutlicher
hervor; es ist nämlich darauf hingewiesen, daß
2-42) mi 0-()
ist. In einer Menge von Einzelbeispielen behandelt Euler sodann
die allgemeinere Aufgabe, V aus
dV = Pda + Qdy
zu bestimmen, wenn P und @ durch eine beliebige Nebenbedingung,
wie z. B.
PP+QQ= ar + yy,)
verbunden sind. Der wichtigste Fall ist aber der, daß © eine Funktion
von P allein ist.) Ist
') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764),
. 17OR. ?) Diese Schlußweise ist durchaus nicht neu; vgl. Cantor II,
. 901. °) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764),
. 176. *) Ebenda, p. 196. °) Ebenda, p. 192.
en TE =
958 Abschnitt XXVI.
dQ— Rdp,
so muß, wie Euler findet,
+ Ry=II
sein, wo II irgend eine Funktion von P bedeutet, und es wird
V-Pa+Qy-— [IdP.
Auch Relationen zwischen V, P und @ nimmt Euler an, so
P=nV; V=mP&+nQy;
endlich verlangt er, daß V eine beliebige Funktion von P und ®
allein sei.) Es ist leicht, die zugehörigen Differentialgleichungen,
auf die diese Aufgaben im Grunde genommen hinauslaufen, anzugeben,
wenn man nur bedenkt, daß P und © eigentlich partielle Differential-
quotienten sind; nur die Fassung der Aufgaben ist für uns ein wenig
fremdartig: Euler faßt, wenn wir den Unterschied noch einmal aus-
einandersetzen sollen,
dV=Pdx + Qdy
als Ausgangsgleichung und die partielle Gleichung als Nebenbedingung,
während wir gerade umgekehrt letztere als Hauptproblem, erstere
als Hilfsgleichung ansehen.
Wenig systematischer und übersichtlicher sind die Bemerkungen
d’Alemberts über die lineare partielle Differentialgleichung; wie
Euler benützt er zur eigentlichen Integration totale Gleichungen. Die
Gleichung
++ 9-0,
wo A und © Konstante sind, verwandelt er?) mittels der Substitution
g=.e" in
Ado
Te a dz
+0=0;,
d. i, wenn
do = «dx + ßdz
gesetzt wird,
e +APB+C=0.
Da aber
«dx + ßdz
mit anderen Worten
Bdz — Cdx — Aßda
ein totales Differential, nämlich do, sein soll, muß
ı) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764), bzw.
p. 199, 203, 209. 2) Opuscules mathematiques, t. IV (1768), p. 236.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 959
B=9(@— Ar);
hieraus ergeben sich unmittelbar « und &. Die Gleichung
dq
TEE
in der & und »& Funktionen von x und z sind, geht vermöge
dz = dx + ßdz
e+5ß+o=0
über, und das Problem reduziert sich auf die Aufgabe,
Bdz — Eßdx — odz
zu einem vollständigen Differential zu machen. D’Alembert unter-
scheidet einzelne Fälle, in welchen ihm die Integration gelingt, wenn
nämlich ßdz oder &ßdx oder endlich dz — &dx vollständige Diffe-
rentiale sind. Kurz darauf untersucht er die Gleichung
d d
Et rd
die sich mittels g=.” auf den vorigen Fall reduziert, sowie die
Gleichung, die sich durch Addition einer weiteren Funktion ergibt.
Wie ungeordnet, unzusammenhängend und unübersichtlich die
Kenntnisse auf dem Gebiet der Gleichung 1. Ordnung waren, zeigt
der diesbezügliche Abschnitt in Eulers Integralrechnung. Trotzdem
ist daselbst wenigstens ein Versuch gemacht, die verschiedenen ge-
sammelten Resultate in eine gewisse Ordnung zu bringen und stufen-
weise vom Einfachen zum Schwierigeren vorzudringen. Der einfachste
Fall ist der, daß die Gleichung nur eine der beiden partiellen Ab-
leitungen enthält. Die Gleichung
)-°
integriert Euler dadurch, daß er das gleichwertige
dz = adx + gdy
nach den für totale Gleichungen mit 3 Variablen geltenden Methoden
behandelt. Er nimmt also zunächst y konstant an, woraus dy= 0
folgt, und erhält aus dz = adx die Gleichung
2= Axt + const.
Indem er jetzt die Integrationskonstante als Funktion von y auffaßt,
hat er das gesuchte Integral bereits gewonnen; durch Differentiation
erhält er nämlich rückwärts
960 Abschnitt XXVI.
dz = adı + dy- f(y)
und daraus (&) wie verlangt. Euler weist auch auf die Tatsache
hin, daß die Integrabilitätsbedingung für
dz = ad + qdy
nur dann erfüllt ist, wenn q eine Funktion von y allein ist. Nach-
dem er weiterhin die Gleichung
dz
(X
wo X eine Funktion von x und y bzw. von z und 2 oder gar von
allen 3 Variablen x, y, 2!) ist, genau auf dieselbe Weise in der Form
= I; Xdx +f(y)
integriert hat, wendet er sich zu Gleichungen, die beide Abgeleitete
dz dz
dr a (id
aber keine der 3 Variablen x, y, z enthalten, d. i. zu den Gleichungen
der abwickelbaren Flächen. p=g z.B. führt auf
dz=p(dz + dy)
und bei Anwendung der Substitution 2+y=u auf
de = pdu,
woraus folgt, daß p eine Funktion von u allein sein muß; daraus
ergibt sich endlich
:=f@ty)
er
behandelt Euler der vorigen analog durch Einführung von
Die Gleichung
Px —uy=u.
Partielle Integration zieht er in dem Beispiel pg =1 heran?);
dz=pdxz + gdy
gibt nämlich
z= pa +qy— | (edp + ydg)
(vgl. S. 1013) und damit
‘) Institutiones caleuli integralis, vol. II, bzw. p. 41, 55, 58. 2) Ebenda,
p: 74.
;
Totale und partielle Differentialgleichungen. 961
Ri ji SEHE we
ee de Sea dp).
Hier muß notwendig
Be
°—,,-f).
d. h. eine Funktion von p allein sein; das Integral — „solutio gene-
ralis“, wie Euler hier, oder „completa“, wie er bald darauf sagt —
besteht dann aus den zwei Gleichungen
-,r1.0) und = + Pf) Fo)
zwischen denen man sich p» eliminiert denken muß. Von den hierher
gehörigen Gleichungen sei noch
pp+gg=1
erwähnt, sowie der Fall, daß qg eine beliebige Funktion von p ist.
Enthält die gegebene Differentialgleichung außer p und g noch die
Variablen x, y und z, so unterscheidet Euler wieder verschiedene
Typen. Für die Behandlung der Gleichung P=@, wo P eine
Funktion von p und x, @ eine solche von g und y ist, gibt er fol-
gende Regel'): Man setze P= v und demzufolge auch Q = v, berechne
p als Funktion von x und v, qg als Funktion von y und v, bilde
ferner bei konstantem v die Integrale
/pdx- R und Jady =.
Diese Integrale liefern aber" rückwärts, wenn man jetzt auch v als
variabel ansieht, die Gleichungen
dk=pdx+YVdv und dS=gdy-+ Udv;
damit aber dann
dz=dR+dS—dve(V+UÜ)
integrabel werde, muß
V+U=f),
welch letztere Gleichung mit
2=R+S-—-f(v)
zusammen das gewünschte Integral darstellt. Das Verfahren beruht
im Prinzip auf der Variation der Konstanten. Den ganz allgemeinen Fall
') Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 130.
962 Abschnitt XXVL.
einer beliebigen Gleichung zwischen p, g, x, y und z erwähnt Euler
zwar"), weiß ihn aber natürlich nur in speziellen Fällen zu behandeln.
Um sich einen Begriff zu machen, wie er sich in solchen Einzel-
fällen zu helfen weiß, sei seine Integration?) von
Z=pP+gQ
kurz skizziert, wo Z eine Funktion von 2 allein ist, P und @ Funk-
tionen von x und % bedeuten. Ein Multiplikatorensystem L, M, N
liefert hier
Ldz = Lpd& + Lady; MZdx& = MpPdx + MaQda;
NZdy= NpPdy-+ NqQay;
durch Addition folgt
Ldz + Z(Mdxz + Ndy)=p((L+ MP)d« + N Pdy)
+ g((b + NQ)dy + MQda).
Euler verlangt jetzt das Bestehen der Proportion
L+MP:NP=MQ:L+Ng,
d.h.
= - MP NQ
und erhält so die Gleichung
— de(MP+ NQ)+Z(Mdx + Ndy) = (Mg — Np)(Qdx — Pdy).
Ein neuer Multiplikator R, der Qdx — Pdy integrabel macht, habe
die Gleichung
R(Qdx — PdyJ)=dU
Mdx + Ndy
MPALNO
durch geeignete Wahl von M und N immer erreicht werden kann.
Durch Einführung der Größen U und V in die umgeformte Diffe-
rentialgleichung ergibt sich endlich
(MP + NQ)(- ds + zav) = HIER ar,
zur Folge; ferner sei ebenfalls integrabel = dV, was
woraus ersichtlich wird, daß —, DEN 7) eine Funktion von U allein
sein muß. Diese Einsicht führt unmittelbar zu dem gesuchten Integral
dz
GERT
Aus den angeführten Beispielen geht hervor, wie Euler nach Bedarf
') Institutiones calculi integralis, vol. III, p. 142. 2) Ebenda, p. 168.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 963
die verschiedensten Hilfsmittel als Substitutionen, teilweise Integrationen,
Multiplikatoren zur Lösung heranzieht und durch die uneinheitliche
Behandlungsweise, die ihm selbstverständlich in keiner Weise zum
Vorwurf gemacht werden kann, nicht einmal den Gedanken an die
Möglichkeit einer allgemeinen Integrationstheorie aufkommen läßt;
das unausgesprochene Grundprinzip, das — abgesehen von den ersten
Beispielen, die nach der für totale Gleichungen dreier Variablen
üblichen Methode gelöst sind — bei allen seinen Aufgaben zur An-
wendung kommt, besteht darin, daß er die partielle Gleichung zu-
nächst in eine totale verwandelt, in dieser durch geschickte, dem ge-
gebenen Fall angepaßte Umformung einen größstmöglichen inte-
grablen additiven Teil absondert, und endlich aus dem Umstand, daß
ja auch der übrige Teil der Gleichung ein exaktes Differential sein
muß, Nutzen zu ziehen sucht.
Euler behandelt auch die Gleichung 1. Ordnung mit 4 Variablen.
Sei v die abhängige, &, y, 2 seien die unabhängigen Veränderlichen,
dv=pdz+gdy-+rda.
Dann geht z. B. die Gleichung
ep+ßg+yr=0')
ydv = p(ydx — adz) + g(ydy— Bda),
und daraus wird mittels der Substitutionen
über in
ye—o2=t und yy— ßBze=u
die Gleichung
ydv=pdt-+ gdu.
Euler folgert
v=TI(t&u)=I(yr — az&yy— ßz)
oder auch
Are),
Im folgenden behandelt er u. a. die Gleichungen
pc+qy+rz=nv+S,
wo S eine Funktion von &, y, z ist, und
pL+qM +rN=0(,
wo L, M, N Funktionen von & bzw. y bzw. z allein sind. Von Glei-
chungen höheren Grades seien
‘) Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 423.
CANTOR, Geschichte der Mathematik IV. 62
964 Abschnitt XXVI.
5
pgr=1 und pgqr = es
erwähnt!) (vgl. auch 8. 552); auf ihre Integration kann hier nicht
eingegangen werden. Euler macht sodann die besondere Annahme,
daß sich v, d.i. eine Funktion der 3 Variablen z, y, z, auch als
Funktion zweier Variablen von der speziellen Form = «x + ßz und
u=yy-+ de auffassen lasse, und drückt die Ableitungen von v nach
”x,y,2 durch diejenigen nach t und « aus. Unter der Voraussetzung,
daß die homogene Gleichung (vgl. S. 1025)
++
wo A, B, C Konstante sind, in die geschilderte Kategorie gehöre,
kommt durch Anwendung der beschriebenen Transformation die
Gleichung
(z (Aa + 0B)+ (2 2) (By + 00) = 0,
welche vermöge L = n— und —- a zur Identität wird.
Der Zeit .. vorgreifend gehen wir hier auf die Methode von
Laplace für die partielle Gleichung 1. Ordnung ein, um dann die
Lagrangeschen Arbeiten auf diesem Gebiet im Zusammenhang
bringen zu können. Zu Beginn seiner berühmten Abhandlung über
die Gleichung 2. Ordnung kommt Laplace auch auf die Gleichung
(ee
zu sprechen?), wo « eine Funktion von x und y, V eine solche von
x, y und z ist, und stellt sich ausdrücklich die Aufgabe, sie auf
totale Gleichungen zurückzuführen. Durch Einführung einer neuen
Variablen u, die eine noch zu bestimmende Funktion von x und y
sein soll, erhält er, indem er z einmal als Funktion von & und y, das
andere Mal als Funktion von x und w auffaßt:
u (
62 - (00 + (2) ou,
OU = (2) 08° + (>). OY.
!) ITnstitutiones caleuli integralis, vol. III, bzw. p. 428, 432, 435, 440
2)‘ Histoire de l’Academie des Sciences 1773 (1777), p. 344.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 965
Führt man die dritte dieser Gleichungen in die zweite ein, so erhält
man durch Vergleichung mit der ersten
DEE EEE
Demnach geht die vorgelegte Differentialgleichung über in
(+
Da « noch unbestimmt ist, so kann man trennen in
ou ou 6z\I
0 (+) ud 0-(},) + V
Die letzte Gleichung reduziert sich, wenn aus der vorletzten y als
Funktion von x und u bekannt ist, auf eine totale Gleichung (weil
man « während der Integration als konstant ansehen kann). Die
vorletzte Gleichung führt, wie Laplace sich ausdrückt, durch Kom-
bination mit ou = (2) 0% + (>) öy auf die Integration von
oy—ıaoı 0.
Um das Argument der willkürlichen Funktion der Integralgleichung
zu erhalten, braucht man, wie Laplace angıbt, nur das Integral der
letzten Gleichung nach der Integrationskonstanten aufzulösen. La-
place hat also im Grunde genau dieselben totalen Gleichungen wie
Lagrange, denn die zwei Gleichungen
10 (22): +V/ und öoy-eor—=0
sind, abgesehen von dem für die Integration unschädlichen Parameter ı
nichts als die bekannten Lagrangeschen Gleichungen
?
0%
1
02
Vv
°y
&
in etwas anderer Forın — und das ist nicht verwunderlich, da in
letzter Linie alle Integrationsmethoden auf dieses charakteristische
System zurückkommen werden; aber die klare, elegante, die Bedeutung
jenes Vereins von Gleichungen viel schärfer betonende Darstellung
von Lagrange zeigt deutlich, daß sich Lagrange seines Fort-
schritts, der die endgiltige Erledigung der in Frage stehenden Glei-
chung bedeutet, vollkommen bewußt war; auch ist bei Lagrange
von der Beschränkung des « Abstand genommen. Was das Entstehen
der Laplaceschen Methode anlangt, so weist sie deutlich auf die
Eulersche Behandlung partieller Differentialgleichungen durch Ein-
62*
966 Abschnitt XXVI.
führung neuer Variabler hin (vgl. $. 994); für die Gleiehung 2. Ord-
nung, die Laplace in dem nämlichen Aufsatz behandelt, gibt er
selbst Eulers Integralrechnung als Quelle an.
Von den Lagrangeschen Abhandlungen ist zuerst ein größerer
Aufsatz in den Memoiren der Berliner Akademie von 1772 zu nennen),
welcher der partiellen Gleichung 1. Ordnung beliebigen Grades ge-
widmet ist. Sei « eine Funktion von x und y allein, p = = und
= ne wobei die partielle Differentiation nicht besonders angedeutet
wird. Die Integration einer Gleichung beliebigen Grades zwischen
u, 2, y, p und g bedeutet dann nichts anderes als die Aufsuchung
eıner Gleichung zwischen u, & und y allein. Die. gegebene Diffe-
rentialgleichung gestattet nun, wie Lagrange sagt, etwa q durch
u,x,y,p auszudrücken; „die Größe » ist hierbei noch unbestimmt, und
die ganze Frage reduziert sich darauf, p derart zu bestimmen, daß die
Gleichung du = pdx + qgdy oder vielmehr du pda — gqdy=V in-
tegrabel wird.“ Lagrange verlangt also, daß M(du — pdx — qdy)
das totale Differential einer Funktion N von u, & und y wird. Das
ergibt sofort die drei Gleichungen
dN AN; dN
welche sich durch folgende drei ersetzen lassen
aM ___d(Mp), dM__AdMn. _d4Mm _ _aMm,
dx du ’ dy du ? ET dx
Die letzte Gleichung läßt sich aber auch in der Form
dy d&
FREE ar
schreiben, woraus durch Einführung der beiden ersteren Gleichungen
(2 2) - u 1g 2 ET;
dx
kommt. Daraus folgt endlich
dp an dp _
ar ip 58 a2 2+g Fri
Diese Gleichung, von der Lagrange noch eine zweite Herleitung
gibt, ist nichts anderes als die Integrabilitätsbedingung für die totale
Gleichung r : . |
u BOE TION
1) Oeuvres de Lagrange, t. IH, p. 519. Die Lagrangeschen Arbeiten
sind übersetzt in Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 967
mit den drei Variablen v,x und y und ist als solche längst bekannt,
wie Lagrange selbst mit den Worten „connue depuis longtemps“
zugibt; vollkommen neu ist indessen die Anwendung, die Lagrange
von ihr macht. Er denkt sich nämlich mit Hilfe der gegebenen
Differentialgleichung q (oder p) durch &, y, u und p ausgedrückt und
in die genannte Integrabilitätsbedingung eingesetzt; diese definiert
dann p als Funktion von «, x und y. Scheinbar ist damit wenig
erreicht, denn die neue Gleichung hat vier Variable u, x, y und p;
bedenkt man aber, daß die Gleichung linear ist, daß ferner eine parti-
kuläre Lösung, wenn sie nur eine willkürliche Konstante enthält, die
„solution generale et complete“ der ursprünglichen Differentialgleichung
liefert, so läßt sich schon ersehen, welche Bedeutung sie unter Um-
ständen erlangen kann. Um letztere Behauptung zu erweisen, ver-
wendet Lagrange einen auf der Variation der Konstanten beruhenden
Gedankengang. Sei « die Integrationskonstante, welche, wie verlangt,
in die partikuläre Lösung für p eingeht. Es ist dann
est.— [M (du — pdz — gdy) — N
das Integral der Gleichung
du— pde— qdy=(;
N ist eine Funktion von u, &, y und «. Läßt man jetzt « variieren,
so ist
N farcau — pdz — qdy) + “X ae;
da aber der Ausdruck unter dem ersten Integralzeichen ein vollstän-
diges Differential ist, so muß auch, wie Lagrange folgert, = da
ein solches sein, d.h. es muß a eine Funktion f’(«) von « allein
sein. Somit erhält Lagrange die beiden Gleichungen
dN ,
N — f(«) — est. und FR = PR («)
mit der willkürlichen Funktion f, zwischen denen man sich « eliminiert
denken muß; N bedeutet hierbei den durch Integration von
M (du — pdx — qdy)
bei konstantem « erhaltenen Ausdruck in u, @, y und «. Hier sei
bemerkt, daß Lagranges Gedankengang nicht völlig unvorbereitet
war. Wie schon gezeigt, führt Euler die Lösung von (2) = a und
einigen ähnlichen Problemen auf die Integration einer totalen Diffe-
968 Abschnitt XXVIIL.
rentialgleichung mit drei Variablen zurück, und es ist wohl nur die Ein-
fachheit dieser Beispiele daran schuld, daß er die Integrabilitäts-
bedingung dieser Gleichung nicht stärker betont und mit zur Integration
heranzieht (vgl. 5. 960 oben); in seinem Aufsatz von 1762 formuliert
er das Problem der Integration der partiellen Differentialgleichung
1. Ordnung als die Aufgabe, Pdx + Qdy zu einem totalen Differential
zu machen, wenn zwischen P und © eine Nebenbedingung besteht
(vgl. 8. 957), während Lagrange dasselbe von du — pdz — gdy
fordert; der Gedanke, die Integrationskonstante einer gegebenen Glei-
chung variieren zu lassen, findet sich endlich auch schon bei Euler
(vgl. S. 959 unten). Von den Beispielen, an denen Lagrange seine
Methode erörtert, sei nur eines mitgeteilt: Für g= P, wo P eine
Funktion von » allein, erhält man als Integrabilitätsbedingung
dp ‚d | Pyp
a ER 0.
Man findet leicht y=«, d.h. g= A und demnach
du — ade — Ady=O.
Daraus ergibt sich
IN ‚ ‚
N=u-ax— Ay; = -.:-Ay=l lo);
daraus ist « zu berechnen und in
u— 0x — Ay— f(e) = 0
einzusetzen. In dieser Weise zählt Lagrange noch eine ganze Reihe, im
ganzen neun, Fälle auf, in welchen man mit der erwähnten linearen Hilfs-
gleichung zum Ziele kommt; darunter befindet sich z. B. der Fall,
daß die gegebene Differentialgleichung eine der beiden Variablen x
oder y nicht enthält. Die erwähnte partielle Gleichung mit vier
Variablen benutzt er hierbei lediglich als Hilfsgleichung, die unter
Umständen, also etwa in den erwähnten neun Fällen, mit Erfolg be-
nutzt werden kann; daß durch sie allgemein die Integration der
Gleichung beliebigen Grades auf den linearen Typus zurückzuführen
ist, vermag er nicht einzusehen‘), und daran ist wohl die große All-
gemeinheit dieser Idee schuld. Dafür weiß er aber seine Methode,
aus einer Partikulärlösung („integrale particuliere“) das „integrale
complete“ herzustellen, ihrer vollen Bedeutung nach zu würdigen, in-
dem er sie als ein besonderes „Prinzip“ hinstellt.°) Endlich zeigt er,
') In seiner Abhandlung von 1785 (vgl. unten) gesteht er selbst zu, die
"allgemeine Gleichung höheren Grades nicht lösen zu können. ?) Oeuvres de
Lagrange, t. II, p. 571.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 969
daß statt eines partikulären Wertes von p oder q ein solcher von u
mit zwei willkürlichen Konstanten und allgemein für den Fall, daß
« eine Funktion der n Variabeln x, Y,2,... ist, ein partikulärer
Wert von « mit » Konstanten genau dieselben Dienste leistet.')
Diese Bemerkung ist sehr wichtig; Lagrange zeigt damit den Zu-
sammenhang zwischen vollständigem und allgemeinem In-
tegral einer partiellen Gleichung; dabei ist beachtenswert, daß er in
dieser Abhandlung den Wert von « mit » Konstanten noch nicht
als vollständiges Integral, sondern nur als partikuläre Lösung ansieht.
In seiner großen Abhandlung über die singulären Integrale vom
Jahre 1774 geht Lagrange, nachdem er den Zusammenhang von
vollständigem, singulärem und allgemeinem Integral ausführlich dar-
getan, wieder auf die Integration der partiellen Differentialgleichung
1. Ordnung und beliebigen Grades ein und zwar gibt er Integrations-
methoden für verschiedene ausgezeichnete Gleichungstypen. Ist z. B.
eine Gleichung der Form
Ma )-F(az o)
vorgelegt?), so setzt er?) genau wie Euler, der diese Gleichung auch
schon behandelt hat (vgl. Ss 961), f (2, x) gleich einer Konstanten a,
berechnet aus dieser Gleichung a als Funktion von £ und a und
integriert endlich bei konstantem a. So ergibt sich
z = X +,
wo X eine Funktion von x und a, # eine solche von y und a ist;
ganz analog führt
a=F (7 ; y)
auf eine Gleichung
er +5,
wo Y eine Funktion von y und a, #£ eine von x und a bedeutet.
Da aber bis auf eine additive Konstante = Y und $=X sein
muß, so ergibt sich
z=X+Y+rb.
Letztere Gleichung ist, weil sie die zwei Konstanten a und 5 enthält,
als das vollständige Integral der gegebenen Gleichung anzusehen. Die
Gleichung
') Oeuvres de Lagrange, t. II, p. 572. ?) Schon 1772, ebenda, p. 561.
®) Ebenda, t. IV, p. 80.
970 Abschnitt XXVII.
r(&: 2) 0
dz
führt mit Hilfe der Substitutionen Z = z und —
& dy
= aZ auf
z+tay= = +b,
wobei Z aus
f(Z, a2, ) =0
als Funktion von 2 und a berechnet werden muß. Von größter
Wichtigkeit ist das folgende Beispiel!), nämlich die auch von Laplace
behandelte Gleichung
2 V/E+Z
wo V eine Funktion von & und y, Z eine solche von z,y und 2 ist.
Lagrange multipliziert mit dx, addiert beiderseits n,ay, erhält da-
durch
de = (Vda + day), + Zda
und setzt, gewissermaßen versuchsweise,
Ver+dy=0.
Integriert man diese Gleichung, wobei die Integrationskonstante «&
auftritt, und differentiiert wieder, indem man jetzt « als variabel an-
sieht, so ergibt sich eine Gleichung
Vdx +dy= Ade,
wo A eine bekannte Funktion von &, y und « ist. Mit Benutzung
dieses Wertes ergibt sich aber
ae Az, des Zan;
Lagrange verlangt nun, daß man y durch x und « darstelle und
den betreffenden Ausdruck in die letzterwähnte Gleichung einsetze;
diese reduziert sich dann bei konstantem « auf die totale Gleichung
de = Zdx.
Die Integrationskonstante dieser Gleichung, fährt Lagrange fort,
') Ebenfalls schon 1772 behandelt, doch sind die der partiellen Gleichung
. entsprechenden totalen noch nicht erkennbar. Vgl. Oeuvres de Lagrange,
t. III, p. 562.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 971
fasse man als willkürliche Funktion von « auf, und hat somit, da
bereits « als Funktion von & und y durch das Integral von
Ver +dy=V
bestimmt ist, ohne weiteres das allgemeine Integral der gegebenen
Differentialgleichung. Hier sind also die beiden totalen Gleichungen
Ver+dy=0 und 2=Zdx
wirklich angeschrieben, wenn auch noch nicht in ihrer vollen Bedeu-
tung erkannt. Lagrange sagt aber nicht, die Gleichung
dz= (Vdx + dy) Fr + Zdx
ist jedenfalls erfüllt, wenn gleichzeitig
Vecs+dy=0 und 2= Zdr;
sein Gedankengang beruht vielmehr eher auf der Idee der Variation
der Konstanten, deren Anwendung hier, in einer Abhandlung über
singuläre Integrale, wo fortwährend Differentiationen nach Integra-
tionskonstanten auftreten, besonders nahe lag, oder, wenn man will,
auf der Einführung einer neuen Variablen «, die durch die Gleichung
Ver+dy=V0O
definiert wird. In ganz ähnlicher Weise behandelt Lagrange sodann
die Gleichungen
t=Vy+Z,
. ; ’ d k 1
wo V eine Funktion von . und 5 ‚„Z eine solche von eo
dx dy dx’ dy
EEE ELLI d
he dx YAy Ep
dz Y Z
f Präaal Abi
ö . ; dz ; dz
wo V eme Funktion von x und An Z eine solche von «, ds und
ge ist. Es ist noch darauf hinzuweisen, daß Lagrange der
dy ’
Gleichung
dz dz
eur
unter den angeführten Beispielen keine ausgezeichnete Rolle zuerkennt,
sondern sie einfach als einen integrablen Fall unter anderen inte-
grablen Fällen ansieht. Zur Beschäftigung mit diesen Beispielen
gaben wahrscheinlich folgende Umstände die Veranlassung: Lagrange
972 Abschnitt XXVII.
suchte das singuläre Integral einer partiellen Differentialgleichung
aus der Integralgleichung abzuleiten, fand, daß dies leichter ist, wenn
nicht das allgemeine, sondern das bereits früher von ihm entdeckte,
mittlerweile auch in seiner Bedeutung erkannte vollständige Integral
gegeben ist, und suchte demgemäß das vollständige Integral für ver-
schiedene Gleichungstypen zu bilden; dem ist nicht entgegen, daß er
in dem speziellen a
dz
.- “Inne
gerade auf das allgemeine Integral geführt wird.
Mittlerweile fällt Lagrange auf, daß er in der eben besprochenen
Abhandlung die partielle Differentialgleichung 1. Ordnung, in der die
Differentialquotienten nur linear auftreten, integriert hat; er erkennt
das Prinzipielle der Methode und gibt 1779 eine Verallgemeinerung
derselben. Wie Laplace formuliert er!) vorher die Aufgabe: „Man
weiß, daß die Kunst der Integration bei partiellen Differentialglei-
chungen nur in der Zurückführung dieser Integration auf die von
gewöhnlichen Differentialgleichungen besteht, und daß man eine
partielle Differentialgleichung dann als integriert betrachtet, wenn
ihre Integration nur mehr von derjenigen einer oder mehrerer totalen
Differentialgleichungen abhängt.“ Lagrange gibt sodann ohne weitere
Begründung folgende Regel: Ist
dz
wo P,@,...Z beliebige gegebene Funktionen von 5, tb... 2
sind und z selbst eine unbekannte Funktion von 2,9, t,... ist, so
bilde man die „Eequations particulieres“
dy— Pde=0; dt—- Qdı=0;...,;d2e— Zde=(0,
integriere und löse nach den Integrationskonstanten «, ß, y, ... auf.
Das gesuchte Integral der ursprünglichen Gleichung ist dann
e=gp(ß, RER
wo 9 eine willkürliche und unbestimmte Funktion ist; das Integral
wird „complete“?) sein, weil es eine willkürliche Funktion enthält.
') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 625. Im Anschluß an diesen Aufsatz
steht eine Bemerkung von Charles für den Fall, daß die gegebene Differential-
gleichung in den drei Variablen x, y%, z homogen ist: Histoire de l’Academie des
Sciences 1784 (1787), p. 348. ?) So schreibt Lagrange, obwohl er früher
zwischen allgemeinem und vollständigem Integral unterschieden hat.
ge:
Totale und partielle Differentialgleichungen. 973
Einen Beweis gibt Lagrange nicht an, sondern verweist einfach
auf seine Integration der Gleichung
dz dz
e ee Ar +Z.
Erst im Jahre 1785 kommt Lagrange wieder auf die lineare
Gleichung zurück, um einen Beweis für seine Methode zu geben.!)
Für den Fall von drei Variablen «, 2, y sei wie herkömmlich
du
— du —
dx
—=» und Er q
gesetzt; die gegebene Differentialgleichung sei
Xp+ Yg=T,
wo X, Y, U beliebige Funktionen von «, x und y sind. Es ist dann
von selbst
du = pda + qdy.
Durch Multiplikation beider Gleichungen folgt
(Xp + Yg)du = U(pda + qdy)
p(Xdu — Udx) + g(Ydu — Udy) = 0.
oder
Lagrange nimmt nun an, die beiden Gleichungen
XAdu— Ud<e=0 und Ydu — Tdy=0
seien in der Form integriert
ea=4A'ß=B
wo A und B bekannte Funktionen von u, x und y, ferner &, ß die
Integrationskonstanten sind. Lagrange führt jetzt statt x und Y
die eben bestimmten Ausdrücke A und B als neue Variable « und ß
indie ursprüngliche Differentialgleichung ein. Er erhält zunächst
dA . dA dia
de = iu du + 7, dr + FR dy
und ganz analog
dB dB dB
Für die hierin auftretenden Derivierten von A und B lassen sich
aber zwei bemerkenswerte Relationen aufstellen. Betrachtet man
nämlich die Funktionen A und B als Integrale von
‘) Oeuvres de Lagrange, t. V, p. 543#f.
974 Abschnitt XXVIL
Xdau— Ude=0 und Ydu— Udy=(,
sind also A und B konstant, so ist
en da +, dy= 0
und ebenso
dB dB a
d. h. es müssen die Gleichungen
dAX BATE aB X 3» 3
—=( und
trier Fri; Htraıtnr- 0
identisch bestehen, also auch wenn man A und B nicht mehr als
Integrale, d. i. als Konstante, sondern als neue Variable auffaßt. Aus
den letztangeführten Gleichungen kann man aber sofort ; und ei
berechnen; mit Hilfe der so erhaltenen Ausdrücke lassen sich dann
die Differentiale der Variablen « und ß in der Form schreiben:
da 5 3. (Udo — Xdu)+ zn, (Uay — Ydu);
dB= 4 5 (Uds— Xdu)+ 7 er (Day — Yau);
daraus ergibt sich
Xdu — Ude — (7, da 43 14a);
Yan - Uy-4(, Bern de),
wo zur Abkürzung
dAdB dBadäA
dy de dy da
gesetzt ist. |
Lagrange führt jetzt diese Ausdrücke in die der gegebenen
äquivalente totale Differentialgleichung
p(Xdu — Udx) + g(Ydu — Udy) = 0)
ein und erhält dadurch
Ay 2
dx ey,
det gurahe
Pdy 11x
wobei der Faktor 7, der, gleich Null gesetzt, unter Umständen auch
eine Lösung liefert, stillschweigend fortgelassen ist. Da diese Diffe-
rentialgleichung, fährt Lagrange fort, nur die beiden Differentiale
Totale und partielle Differentialgleichungen. 975
d« und dß enthält, so kann sie nur in der Art bestehen, daß der
Koeffizient von dß, wenn man für x und y ihre Wertein «, ß und «
einsetzt, wie sie sich au A=«, B=ß ergeben, eine Funktion von
« und ß allein ist, d.h. es muß nach ausgeführter Substitution u
von selbst herausfallen. Setzt man also diesen Koeffizienten gleich
einer beliebigen Funktion f(«, 8), so geht die Differentialgleichung
in die neue über
de + f(e, P)dB = 0,
die sich immer ın der Form
F(o, 8)—0
integrieren läßt. Ersetzt man endlich, sagt Lagrange, die Hilfs-
varlabeln « und 3 wieder durch ihre Werte in x, y und u, so ergibt
sich das Integral
und F' wird eine beliebige Funktion sein, da f eine solche ist. La-
grange führt den analogen Beweis noch für den Fall von vier Veränder-
lichen und weist darauf hin, daß er für noch mehr Variable in ähn-
licher Weise erledigt werden kann. Lagrange betrachtet sodann!)
den speziellen Fall
du du du
wo X, Y,Z,... Funktionen der unabhängigen Variablen x, y, z
allein, $ und 7 von allen Variablen außer « sind. Das System
Xdu—(S+Tu)da=0; Ydau— (S+Tw)dy=0;
Zdu —- (S+Tu)d=0;...
lese
liefert dann
Ydz— Xdy=0; Zde— Xdz=0;...
d. h. Gleichungen, in welchen « nicht mehr vorkommt. Hieraus er-
hält man die y,2,... durch x und die willkürlichen Konstanten
ß, 9, ... ausgedrückt. Endlich ist.
‚Tdx
Tax he:
ner Ra
u-e = x +,
so daß man nach Substitution der eben berechneten Ausdrücke für
Y, 2,... auch « durch x ausgedrückt erhält.
An die Abhandlungen von Lagrange aus den Jahren 1772 und
') Oeuvres de Lagrange, t. V, p. 554.
976 Abschnitt XXVI.
1774 über die nichtlineare Gleichung 1. Ordnung knüpft Legendre
an!); wichtiger erscheint hier der Hinweis auf eine Arbeit von
Charpit über denselben Gegenstand, in der die zwei Methoden von
Lagrange in glücklicher Weise vereinigt sind; Charpits Unter-
suchungen, der Akademie im Jahre 1784 überreicht, kamen nicht in
den Druck; alle Nachrichten über ihn und seine Methode verdanken
wir der Darstellung bei Lacroix.?) „La mort“, heißt es da, „enleva
ce jeune homme au moment oü ses talens donnaient de grandes
esperances“ Die Integrabilitätsbedingung für die totale Gleichung
dreier Variablen
dz = pdx + gqdy
ist, wie wir uns erinnern,
d d dp d
ea Pla A
wo p und g als Funktionen von &, y und z gedacht sind. Ist nun
eine Relation Z = 0 zwischen den fünf Größen z, y, 2, p und q gegeben,
so kann man mit ihrer Hilfe » oder q in die Integrabilitätsbedingung
einsetzen und hat damit eine lineare partielle Differentialgleichung
1. Ordnung mit vier Variablen gewonnen (vgl. S. 966ff.). Man erhält
nämlich durch Differentiation
dZ= Adx + Bdy + Cdz + Ddp + Edq= 0
und daraus
dq „dq
dp FF ä dp _ er
a FE ri Fa Eee: pas
Führt man diese Werte in die Integrabilitätsbedingung ein, so er-
gibt sich
dq ,.dq d
DoatEmy+tEatDn., +B+ Og=0,
d. i. die gesuchte lineare Gleichung, wenn man noch p mittels Z= 0
eliminiert denkt. Auf diese Gleichung wendet jetzt Charpit die
Lagrangesche Methode für lineare Gleichungen an (vgl. S. 972) und
erhält dadurch unmittelbar
Day— Edz=0; Ddz — (Eqg + Dp)da = 0;
Däg + (B+ Cq)de = 0,
wo » durch seinen Wert in z, y, 2 und q zu ersetzen ist. Wenn
‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1787 (1789), p. 337. 2?) Lacroix,
Traite du caleul differentiel et du calcul integral, 2. edit. Paris 1814, t. II,
p- 548.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 977
T=a, U=bund V = die Integrale dieser drei Gleichungen sind, so
ist V=g(T, U) das allgemeine Integral der linearen Gleichung, d.h.
eine zweite Relation zwischen x, y, 2,p und g, die mit Z= 0 zu-
sammen derartige Werte von p und g liefert, daß die Gleichung
dz=pdz + gqdy
eventuell mit Hilfe eines Multiplikators integrabel wird. Man schreibt
heutzutage seit Monge') etwas allgemeiner und übersichtlicher
ea ee
A+Cp B-+cg DB +4 Die BE
und wird so auf eine Relation zwischen x, y, 2,» und q geführt, die
neben Z= 0 besteht.
Auf die Behandlung der linearen Gleichung mit drei Variablen
durch Monge, die in einfachster Weise zu den Lagrangeschen
Gleichungen führt, sind wir bereits eingegangen (vgl. S. 948).
Die lineare Gleichung mit beliebig vielen Variablen behandelt
Monge nach derselben Methode?): Zurückführung auf totale Glei-
chungen mit Hilfe der Relationen, die partielle Differentialquotienten
und totale Differentiale untereinander verbinden. Zunächst ist auf
die Gleichung mit drei unabhängigen Variablen «, x, y und der ab-
hängigen Veränderlichen 2 eingegangen; hier ist
dz=pdu + gdz + rdy.
Die Differentialgleichung
Ap+Bg+Cr+D=0
verwandelt sich dann, je nachdem man eine der Größen p, q oder r
mit Hilfe des Ausdruckes für dz eliminiert, in eine der drei Gleichungen
Adz+Ddu= gqg(Adx — Bdu) + r(Ady— Cdu),
Bdz + Ddx = — p(Adx — Bdu) + r (Bay — Od),
Odz + Day= — p(Ady — Cdu) — q (Bay — Cde«).
Diese Gleichungen dürfen die Größen 9, q, r nicht bestimmen,
sondern müssen unabhängig von ihnen gelten; durch Nullsetzen ihrer
Koeffizienten erhält Monge sechs Gleichungen, von welchen aber nur drei
wesentlich verschieden sind. Lassen sich aus diesem System oder
einem daraus hergeleiteten gleichwertigen drei vollständige Integral-
‘) Applieation de l’analyse ä la geom6trie, Addition p. 437. ®, Histoire
de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 159.
978 Abschnitt XXVII.
gleichungen V=a, U=b und W=c mit den Integrationskonstanten
a, b, ce bilden, „so drücken diese drei Integrale zusammen (simultanees)
dasselbe aus wie die vorgelegte Differentialgleichung: sie bedeuten
nicht, daß die Größen V, U, W jede einzeln konstant sind, sondern
daß, sobald eine davon konstant ist, auch die beiden anderen es not-
wendig sind, oder daß diese eine von ihnen eine willkürliche Funktion
der beiden anderen ist; demnach bedeutet die Gleichung
VY=9(U&W)
dasselbe wie die gegebene Differentialgleichung und bildet ıhr voll-
ständiges Integral.“ Mit der Begründung: „Es ist leicht zu sehen, daß
die allgemeine lineare Gleichung mit beliebig vielen Variablen sich
gerade so und mit Hilfe einer ähnlichen Überlegung behandeln läßt“,
gibt Monge sodann kurz die entsprechende Integrationstheorie.
Hier sei angeführt, was derselbe Autor über die nichtlineare
Gleichung sagt. Die diesbezüglichen Ausführungen sind im Anschluß
an die analogen Untersuchungen über totale Gleichungen höheren
Grades gemacht (vgl. S. 940); Monge findet!), daß eine partielle
Differentialgleichung nur dann nichtlinear sein kann, wenn 1. die
willkürlichen Funktionen im Integral in verschiedenen Potenzen vor-
kommen, oder 2. wenn die Argumente dieser Funktionen nicht un-
mittelbar, sondern durch weitere Gleichungen gegeben sind, in denen
sie wieder als Argumente willkürlicher Funktionen und zwar nicht
alle linear auftreten. Wenn man nun, sagt Monge im folgenden, in
der Integralgleichung die verschiedenen Potenzen der nämlichen Größe,
durch deren Elimination die nichtlineare Differentialgleichung entsteht, als
ebensoviele verschiedene Größen auffaßt und eliminiert, so wird die
jetzt entstehende Differentialgleichung linear sein. Ist die Integral-
gleichung selbst nicht gegeben, so handelt es sich einfach darum,
aus der vorgelegten Differentialgleichung höheren Grades die ent-
sprechende lineare Differentialgleichung, die natürlich höherer Ord-
nung sein wird als die ursprüngliche, herzuleiten.
Sei nun die partielle Differentialgleichung 1. Ordnung W=V0
gegeben, wo W eine Funktion von &, y, 2, p und g ist. Durch Diffe-
rentiation ergibt sich
Adp + Bdg+0Cdxe + Day=0,
wobei dz mittels da=pdx + qdy eliminiert gedacht ist. Monge
nimmt nun willkürlich an, es sei etwa
Cdz + Ddy=d;
1) Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 167.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 979
dann ist von selbst
Adp+ Bbdy=V(\,
und es ergibt sich, indem man
dp=rdz+sdy; dq=sdz + tdy
setzt, durch Elimination von 23 die Gleichung 2. Ordnung
ADr + (BD— AO)s — BOt=0.
Monge verlangt von dieser Gleichung, daß sie nicht alle Konstanten
«der Gleichung W = 0 enthalte, und behandelt sie nach seiner Methode
für die partielle Gleichung 2. Ordnung, auf die wir noch zu sprechen
kommen (vgl. S. 1009); er erhält so das Simultansystem
ADdy® — (BD — AC)dxdy — BOda?= 0
und
ADdpdy — Bldgdz =.
Die erste Gleichung hat die beiden Wurzeln
Cdx+Ddy=0 und Ady— Badz=0,
deren erste nichts Neues gibt, deren zweite aber auf das Simultan-
system
Ady— Bdz=0; Cdq— Dadp=V0
führt; das sind aber, wenn man die Verschiedenheit der Schreibweise
bedenkt, zwei der Charpitschen Gleichungen. Lassen sich davon zwei
Integrale V= «a und U= gp(«) angeben, so erhält man das „integrale
complete“ der ursprünglichen Gleichung, indem man aus ihr und den
Gleichungen V=« und U= g(«) die Größen p und g eliminiert.
Verschwindet der Parameter «& dabei nicht von selbst, so ist das End-
ergebnis dieser Elimination noch partiell nach « zu differentiieren;
das Integral besteht dann aus zwei Gleichungen, zwischen denen man
sich & eliminiert denken muß. So führt die Gleichung
(ap — q)” +ax(ap+g)+ az = 0
ady— dz=0; adp+dq=d0;
auf
aus
ay—z=a und a+g=yle)=gplay— x)
ergibt sich dann sofort das „integrale complete“ in der Form
Iplay— za)? +2 play—-a)+2—0.
Wichtiger ist der Fall'), daß die gegebene Gleichung sich in irgend
') Histoire de ’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 172.
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 63
980 Abschnitt XXVL.
einer Weise aus den drei Größen p,q und M=2z— px —qy zusammen-
setzt; dann werden nämlich die Größen Ü und D beide notwendig
0, das Differential der ursprünglichen Gleichung wird von der Form
Mdp+ Naq=V(,
woraus Mongep=9(g) folgert, und das ist, wie er ausdrücklich be-
merkt, die Gleichung der abwickelbaren Flächen. Setzt man diese
Gleichung in die ursprüngliche ein, faßt q als Parameter auf und diffe-
rentiiert nach g partiell, so hat man zwei Gleichungen, die das ge-
suchte Integral repräsentieren. Bei dieser Gleichung, die als allge-
meine Clairautsche Gleichung aufgefaßt werden kann, ließe sich das
vollständige Integral noch leichter aufstellen.
Monge bemerkt sodann), daß die Annahme
Udz + Daday= 0
vollkommen willkürlich war, und daß jede andere derartige Annahme,
die auf eine bekannte Differentialgleichung 2. Ordnung mit einer
Konstanten weniger führt, ebenso berechtigt sei; diese Überlegung
habe ihn zu den folgenden merkwürdigen Resultaten geführt: Ist
F(L, M, N)=0
eine Differentialgleichung, wo L, M, N gegebene Funktionen von
x, y, 2, P, q sind mit der ganz speziellen Eigenschaft, daß aus zweien
der Gleichungen
dL=0, dM=-0, dN=0
von selbst mit Notwendigkeit die dritte folgt, so wird das Resultat
der Elimination von p, q und einer der willkürlichen Funktionen aus
den vier Gleichungen
L=«; M=oo; N=yau; Flo, pa, va) = 0
zusammen mit der partiellen Derivierten der Eliminationsgleichung
nach « das „integrale complete“ der gegebenen Differentialgleichung
bilden. Nach dieser Methode der Integration durch Berührungstrans-
formationen?), wie wir heutzutage sagen, behandelt, führt das Beispiel
al +) + (y+ N) +ele— =,
ei P=-1+pP+g4,
auf die drei Gleichungen
t, Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 174. 2) Auf
dieses Vorkommen der Berührungstransformationen hat zuerst E,. v. Weber,
Math. Enzyklopädie, Bd. II, S. 359, Anm. 224 aufmerksam gemacht,
Totale und partielle Differentialgleichungen. 981
(— «’+y—- Ye’ +(k— ve”’—h;
ae +bpga+cya=];
—- a+y—-ge)ya+l—voya=0;
da, wie verlangt, von den drei Gleichungen
hp hq h
d(@+7)-0; ay+79)=9; d(«—-z)=0
eine die Folge der beiden anderen ist. Monge gibt wie gewöhn-
lich auch die geometrische Deutung der Integralgleichungen; die erste
stellt eine Kugelfläche mit unbestimmtem Mittelpunkt dar, die zweite
verlangt, daß dieser Mittelpunkt auf der Ebene
ax+by+cez=]1
liegt, die dritte fordert, daß die Koordinaten x, y, z sich nicht ändern,
wenn « variiert; alle Gleichungen zusammen bedeuten demnach
die Enveloppe einer Schar von Kugeln mit dem Radius h, deren
Mittelpunkte auf einer beliebigen Kurve liegen, die man in einer ge-
gebenen Ebene gezogen hat. Nach zwei weiteren Beispielen mit den-
selben Größen L, M, N bringt Monge eine Verallgemeinerung seiner
Methode; sind die Größen L, M, N, P,... derart aus &, y, 2,p, q zu-
sammengesetzt, daß aus irgend zweien der Gleichungen
dL=0; dM=0; dN=0; dP=(,...
die anderen alle von selbst schon folgen, so wird eine beliebig aus
den Größen L, M, N, P,... zusammengesetzte Differentialgleichung
FM.N]P,.. 3:0
in der Weise integriert, daß man aus den Gleichungen
L=o; M=goa; N=yao P=aa,...
zunächst die Größen p und g eliminiert. Indem man jetzt aus den
überbleibenden Gleichungen und aus
F(o, pa, va,na,...)=0
alle willkürlichen Funktionen bis auf eine eliminiert, erhält man eine
Gleichung V=(, die nur &, y, 2,« und eine willkürliche Funktion
enthält; diese Gleichung bildet dann mit der durch partielle Diffe-
rentiation gebildeten 0 zusammen das gesuchte Integral. Eine
Verallgemeinerung dieses Satzes für beliebig viele Variable findet sich
63 *
982 Abschnitt XXVII.
in dem nämlichen Bande der Pariser Memoiren.') Monge weist end-
lich darauf hin, daß hierbei die Funktion F' auch willkürliche Funk-
tionen enthalten darf, d.h. daß die gegebene Differentialgleichung
Integral einer Gleichung höherer Ordnung sein kann.
Im folgenden?) stellt Monge die äußerst wichtige Behauptung
auf: Es gibt keine partielle Differentialgleichung 1. Ordnung, welche
nicht auf die betrachtete Form zurückführbar und nicht nach der
angegebenen Methode integrierbar wäre, wenn man nur einen Prozeß
hätte, die Größen L, M, N, P,... aufzufinden; aber ihre Aufsuchung,
fährt Monge fort, bringt im allgemeinen ebenso große Schwierigkeiten
mit sich als die Integration der partiellen Differentialgleichungen
selbst); und der Inhalt der letzten Ausführungen kann nur in sehr
speziellen Fällen nützlich werden; dessenungeachtet ist die Anzahl
von solchen Systemen Z, M, N, P,... unendlich groß. Nachdem er
noch zwei Beispiele von Wertetripeln Z, M, N gebracht hat, stellt
er sich‘) die Aufgabe, a priori ein System von drei Größen L, M, N
zu finden, welche, aus &, y, 2, p und q zusammengesetzt, die Eigen-
schaft haben, „daß eine beliebige von ihnen eine Funktion der beiden
anderen ist“. Man nehme, heißt es, eine beliebige Gleichung V = 0
E
zwischen &, %, 2 und drei Parametern, und berechne aus ihr und 2 ==)
und TE —= () die Werte dieser drei Parameter, so werden diese die ver-
langte Eigenschaft besitzen, d. h. werden die totalen Differentiale von
zweien derselben gleich Null gesetzt, so wird auch dasjenige des
dritten Parameters gleich Null. Monge gibt kein Beispiel’) und
auch keinen Beweis für seine Behauptung; indessen folgt, wenn wir
die erwähnten Parameter L, M und N nennen, aus den drei Gleichungen
oV eV oV oV Dar AR
+ AU + Get a Et zu AM + zn;
AV: er; oV 9. V oV
TR en en wer
de 0%
0
mit Berücksichtigung von
dz = pda + qdy
!) Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 557. Monge bringt
als Beispiel die Verallgemeinerung eines schon von Lagrange behandelten
Falles. ®, Ebenda, p. 183. 3) Mais cette recherche comporte en general
des diffieult6s aussi grandes que celles du calcul integral des &quations aux
differences partielles. *, Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787),
p. 185. 5) In dem obigen Beispiel war offenbar
V=-@—-D’+y—- M’+@—N’—M—0
zu setzen.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 983
unmittelbar h
oV oV Esel
DL N
Man erkennt leicht die Definition der Berührungstransformationen
wieder, wie sie Lie für den dreidimensionalen Raum beim Bestehen
einer einzigen Relation zwischen ursprünglichen und transformierten
Koordinaten aufstellt; nur hat Lie noch zwei weitere Ausdrücke p,
und q,, die, wenn L, M, N bzw. den Variabeln x, y, z entsprechen,
in der Mongeschen Schreibweise durch die Gleichungen
oV oV
autom)
+2 5-0 und
definiert wären. Doch fehlt Monge die Vorstellung, daß es sich bei
seiner Methode um eine Transformation handelt; um so mehr fehlt
natürlich die Kenntnis der geometrischen Eigentümlichkeit dieser
Transformation, die den Namen Berührungstransformation veranlaßt
hat. Monge wendet seine Theorie auch auf totale Gleichungen an
und integriert mit ihr die allgemeinen Gleichungstypen
F|p, (Y — pzx)]=0 und F(a -- Se ) (Y > mn; )) —(
Sucht man zwei Funktionen M und N von z,y und p= 2
der Art, daß aus der einen der beiden Gleichungen dM=0 und
dN=( auch die andere folgt, so hat man nach Monge eine
Funktion Y von &, y und zwei Parametern zu nehmen und aus
V=0 und dV =( die zwei Parameter zu berechnen. Die allgemeine
Theorie ist in folgendem Theorem enthalten!): Sind » Größen M, N
dy dp dq
u 7 SR A TEN 7 TAche
bis zu den Differentialquotienten (n — 1) Ordnung einschließlich zu-
sammensetzen, und folgen aus einer einzigen der Gleichungen
von
’
P, Q,... gegeben, die sich aus x, y, p
dAM=0, dN=0, dP=0, aQ=9....
alle übrigen, so wird eine totale Differentialgleichung (n — 1) Ord-
nung F(M, N, P,@,...)=0 zum endlichen und vollständigen In-
tegral die Gleichung besitzen, die sich durch Elimination der n — I
Größen 9,9, r,... und einer der willkürlichen Konstanten a, b, e, d, ...
aus den a + 1 Gleichungen
M=a; N-b; P=45; Q9=d;..., F(ab,o,d,..)=0
') Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 189.
984 Abschnitt XXVII,
ergibt; das Resultat dieser Elimination wird eine Gleichung zwischen
x, y und n willkürlichen Konstanten sein. Eine elegante Methode
für partielle Gleichungen 2. Ordnung, die auf Berührungstransfor-
mationen beruht, werden wir bei Legendre (vgl. S. 1013) antreffen.
Von den partiellen Differentialgleichungen 2. Ordnung
mit drei Variabeln wurde zuerst die Gleichung der Saitenschwin-
gungen behandelt. Im vorigen Bande sind bereits die Bemühungen
verschiedener Mathematiker um diese Gleichung geschildert; hier ist
Lagrange zu nennen, der in den Abhandlungen der Turiner Aka-
demie der Natur und Fortpflanzung des Schalles zwei eingehende
Untersuchungen widmet und an das erwähnte Problem von vornherein
mit der ganz bestimmten Absicht herangeht, Eulers Auffassung von
der Natur der willkürlichen Funktionen einwandfrei zu beweisen. Bei
dieser Gelegenheit hat Lagrange Ausdrücke aufgestellt, welche mit den
Formeln für die Koeffizienten einer Fourierschen Reihe überein-
stimmen, was zu der Behauptung Veranlassung gegeben hat, La-
grange habe bereits die Theorie der Fourierschen Reihe besessen;
in Wirklichkeit ist die Lagrangesche Entwicklung prinzipiell davon
verschieden; man könnte sie eher als eine Formel zur Interpolation
durch trigonometrische Funktionen auffassen. Lagrange geht aus
von einem Simultansystem®), das wir kürzer in die Gleichung
ZB — e(yi+D — 20 + ye-9)
zusammenfassen können, wenn i von 1 bis m — 1 läuft und y® und
y'9 beide Null sind; diese Gleichungen stellen die Schwingungen
einer endlichen Zahl von Massenpunkten dar. Die Integration wird
nach der d’Alembertschen Methode für derartige Simultansysteme
mit Hilfe unbestimmter Multiplikatoren bewerkstelligt, dabei gehen
auch die Geschwindigkeiten in die Rechnung ein. Nach ziemlich
weitläufigen Rechnungen ergibt sich endlich für die Koordinate y
des u‘ Massenpunktes ein komplizierter Ausdruck?), der überdies
von den Anfangsbedingungen abhängig ist. Aus dieser Formel erhält
Lagrange?°), indem er die Zahl der schwingenden Punkte unendlich
groß annimmt,
2 SL ste, FR 7.
y= 2 fau z (sin 9, en 5, 8 Ir
ee EEE mia; 4 2” Ht x )
BER 2a ’ 2a vun 3: .
') Miscellanea Taurinensia, t. I? (1759), p. 26. ?) Ebenda, p. 44.
®, Ebenda, p. 56.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 985
wozu noch ein additives Glied tritt, das er im folgenden gleich
Null setzt.
X und Y sind hierbei die Anfangskoordinaten, x und y die Ko-
ordinaten zur Zeit £, a die Länge der Saite und H eine bekannte
konstante Größe. Lagrange bemerkt hierzu, daß das Zeichen 7
nur ein Summenzeichen sei, sagt aber fast unmittelbar darauf, daß
die Integrationen bei variabeln X, Y und konstanten x, ? auszuführen
seien. Wesentlich ist nun, daß Lagrange die Reihe unter dem
Integralzeichen nicht etwa gliedweise integriert, sondern vor der
Integration diese Reihe zu summieren sucht, da er für y nicht eine
unendliche Reihe, sondern die schon bekannte Form mit zwei will-
kürlichen ag erhalten will. Zu diesem Zweck wird der Aus-
druck 2 sin > x c08 7, en in bekannter Weise durch die Sumnie
zweier Sinus a es ergibt sich:
4 £ X nn [mx m Ht
‘iz Y sin Fr >< sin ( are )
1 2 \a 81
5 WR nein (EEE
PW; 2 2
s di Ye = >< sin ® n E nn
5 2a " cos Be N en — COS X
2 va 4 2a
Da m unendlich groß ist, heißt es weiter, wird, was auch x und
b 2 Hu. l :
t sein mögen, m (- + T) immer eine ganze Zahl, der Sinus davon
und folglich die betreffenden Integrale Null sein. Eine Ausnahme
tritt nur ein, wenn gleichzeitig der Nenner Null wird; den Wert von
m bestimmt Lagrange durch Differentiation von Zähler und Nenner
und kommt schließlich zum gesuchten allgemeinen Integral. Die ganze
umständliche Ableitung des bekannten Resultats hat er hauptsächlich
unternommen, um zu zeigen, daß es sich ohne alle Voraussetzungen
über die Natur der darin auftretenden willkürlichen Funktionen ge-
winnen läßt; die Schwächen seiner Methode und insbesondere des be-
nutzten Grenzübergangs hat neben anderen d’Alembert klar gestellt!).
Noch ist zu bemerken, daß Spätere aus Gehässigkeit gegen Fourier
') Besonders in verschiedenen Bemerkungen im 1. und 5. Band seiner
Opuscules math@matiques. Man vgl. übrigens noch Riemann, Partielle Differen-
tialgleichungen, bearb. von K. Hattendorf 1869, S. 200, und Reiff, Geschichte
der unendlichen Reihen 1889, S. 132.
986 } Abschnitt XXVII.
dessen Reihen als Lagrangesche Formeln bezeichnet haben; man ist
indessen längst davon zurückgekommen.
Die partielle Differentialgleichung der Saitenschwingungen selbst
behandelt Lagrange auf eine ganz neue, eigenartige Weise; er führt
sie nämlich auf die Integration einer gewöhnlichen Differentialglei-
chung 2. Ordnung zurück, wenn er auch diese Reduktion nicht aus-
drücklich als Ziel seiner Methode hinstellt. Naturgemäß ist die er-
wähnte Reduktion auch ein wenig umständlich, und es ist z. B.
d’Alemberts Zurückführung des Problems auf ein Simultansystem
von totalen Gleichungen!) unzweifelhaft eleganter; nichtsdestoweniger
ist der Gedankengang Lagranges als äußerst geistreich und originell
zu bezeichnen; wir können hierbei, weil ihn sein Erfinder konsequent
für eine Reihe viel komplizierterer Gleichungen in Anwendung brachte,
sogar von einer wirklichen Methode sprechen. Die partielle Gleichung
d’z d’z\
(2) = ° (a2)
multipliziert Lagrange?) mit einer Funktion von x allein, die M
heißen soll. Zweimalige partielle Integration nach x ergibt sodann
GE Mao = [(1) a0 ()] + [> (da) a
Die physikalischen Anfangsbedingungen der Aufgabe verlangen, daß
2 für zwei Wertex=0 und 2 =a beständig, d.h. für jedes i, gleich
Null ist; das Gleiche verlangt Lagrange von der Funktion M. Wird
jetzt zwischen den Grenzen O0 und a integriert, was in der Schreib-
weise nicht besonders ausgedrückt ist, so ergibt sich die Gleichung
H&R) Mdı = E (53) de,
die auf Grund der Annahme
ea) ua
(k bedeutet hierbei eine Konstante) in
es Mdx = ke |» Mär
übergeht. Hieraus erhält man endlich mittels der Substitution
| zMdx = s
') Vgl. diese Vorl., II®, S. 901. ?) Miscellanea Taurinensia, t. II?, 1760/61,
p- 20.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 987
— wobei das Integral natürlich wieder zwischen den Grenzen x = 0
und z=a zu nehmen ist, so daß s eine Funktion von # allein dar-
stellt — die Gleichung
Sign)
welche, wie Lagrange sagt, zu integrieren ist, indem man die Zeit /
als einzige Variable ansieht. Damit ist die Integration der ursprüng-
lichen partiellen Differentialgleichung auf diejenige der beiden totalen
Gleichungen
d®M d’s
(Ga) tM und (7) = kes
zurückgeführt, die sich nur durch den konstanten Faktor ce unter-
scheiden; nach ihrer Integration ist nur noch z so zu bestimmen, daß
ai eMdx=s.
Lagrange führt nun zunächst die Gleichung
s=ScostY— ck— nn sintV— ck
: r /ds\
ein, wo 8 und R die Anfangswerte von s und (7)
bzw. N (E) Mdx bedeuten, und kommt dann mit Hilfe verschiedener
geschickter, allerdings nicht ganz korrekter und ausreichender Schlüsse
zu dem Integral
2(@+1yo)+2(@—ıyo) , JVae—fVde,
2 er7; z )
worin Z und P willkürliche Funktionen sind, die den Anfangs-
bedingungen entsprechend gewählt werden müssen; das erste Integral
f Ydx hat dabei die obere Grenze x©+tVe, das zweite c—tYe. Nach
derselben Methode behandelt Lagrange?) die Gleichung
(a) = (ie) + %
wo y eine beliebige Funktion von x und # ist; die Gleichung
a) a: (135) 10 (zz =) + 9°)
ersetzt er durch die beiden Gleichungen
d.ı. von j?Mdz
As=
dz du „au d’z
RE Te Pr re
') Miscellanea Taurinensia, t. II®, 1760/61, p. 27. ?) Ebenda, p. 104.
°») Ebenda, p. 110.
988 Abschnitt XXVI.
Er multipliziert die erste mit N, die zweite mit M, integriert partiell
nach & und addiert; so ergibt sich durch Nullsetzen aller Glieder,
die nicht unter dem Integralzeichen stehen, die Gleichung
Sin + 2%) ar= f(e I2 + [N 25 ]e) dx + | Myar.
Diese Gleichung werde erfüllt durch das Simultansystem
kN—cl% und EM-N-—-bI;
‚x dx
aus diesen beiden Gleichungen folgt dann durch Elimination von N
eine totale Gleichung für M, nämlich
PM +bRIO 0-0,
so daß also
M = Act 1 Berk
ist, wo m und »n die Wurzeln der Gleichung
1+by- ey?’ =0
sind. Lagrange verlangt nun, daß M für «=0 und z=a ver-
schwindet, was B=— A, sowie e"*« — e"*®=(), d. i. eine Bestim-
mungsgleichung für %k, ergibt; endlich wird
VER 2 zmkx 2 ,nkz
N = ck (m? et: — n?e"*?),
wobei A stillschweigend gleich 1 gesetzt ist. Sind solehermaßen die
Funktionen M und N bestimmt, so ist 2 aus der zwischen den
Grenzen O0 und « genommenen Gleichung
ke + Mu)da = s
zu bestimmen, wobei s selbst der Gleichung
dz du ds
In + MT)da= 7, —ks + [Myar
genügen muß. Die weitere Behandlung des Problems bringt keinen
neuen Gedanken herein. Lagrange vergleicht schließlich noch seine
Resultate mit denen von d’Alembert.
Das Problem einer schwingenden Saite von ungleichmäßiger
Dicke führt auf eine Gleichung, die sich von derjenigen der Saiten-
schwingungen dadurch unterscheidet, daß die Konstante e durch eine
Funktion von x ersetzt ist; Lagrange führt diese Gleichung
ex
Totale und partielle Differentialgleichungen. 989
auf die Integration von
d?M
zurück!) und zeigt den Zusammenhang mit der Riceatischen Glei-
chung für spezielle Fälle. Dieselbe Reduktion führt kurz darauf?)
Euler aus und verwandelt seine totale Gleichung durch die Sub-
stitution
p=e Sedz
in eine solche 1. Ordnung. Er setzt auch versuchsweise
y=v®dlu),
wo u eine Funktion von & und £, v eine solche von « allein ist, und
findet, daß v eine lineare Funktion von z,
"da
Oi a Een
X=-(Ü-.v und u + [7%
ist.) In einer anderen Abhandlung aus derselben Zeit‘) nimmt
Euler eine bestimmte Form des Integrals an, sucht aus ihr r als
Funktion von & so zu bestimmen, daß die Gleichung
„„iday\ __ (day
4 (2) - (Gr )
erfüllt wird, und erhält so verschiedene integrable Differentialglei-
chungen dieser Form. So führt ihn die Annahme
y=P.T(/ude+1t),
wo P und % Funktionen von & sein sollen, durch Einsetzen in die
Differentialgleichung auf simultane totale Differentialgleichungen für
P, u und r; es ergibt sich
1] 8 an
r (ee +P?
Im folgenden geht Euler zu Integralen der Form
P=ax+ß; u=
y- PT(/ udz + ı) + or (Sudz + ı) +.»
über, wo P, Q,..., u bestimmte Funktionen von x, I’ eine willkür-
liche Funktion und I”,.... ihre Ableitungen bedeuten; er behandelt
der Reihe nach Fälle, in denen das Integral 1, 2 und mehr Glieder
‘) Miscellanea Taurinensia, t. II®, 1760/61, p. 98. ?) Novi Commentarii
Academiae Petropolitanae, t. IX, 1762/63 (1764), p. 292. ® Burkhardt, a.a.O,,
Heft 2, S. 349, 355. *) Miscellanea Taurinensia, t. III®, 1762/65 (1766), p. 27
bis 59.
990 Abschnitt XXVI.
besitzt und erhält so Gleichungen, die in endlicher Form integrabel
sind; zu der Heranziehung der Derivierten der willkürlichen Funktion
mag wohl der Umstand mitgewirkt haben, daß Euler bereits früher
(vgl. unten S. 990) eine Gleichung integriert hatte, in deren Integral
die Differentialquotienten der willkürlichen Funktion auftreten. End-
lich ist noch d’Alembert zu erwähnen, der die Gleichung
d’y yd’y
de Age
durch eine Summe von Gliedern
Ant
g. C08
zu integrieren sucht, wo & eine Funktion von = allein ist!); er erhält
Ze —2m0Xt,
eine Gleichung, über deren Weiterbehandlung bereits berichtet wurde
(vgl. S. 883).
Das Problem der von einem Störungszentrum ausgehenden Wellen
führt Euler schon 1759 auf die partielle Gleichung mit veränder-
lichen Koeffizienten
ii dds u, m) B (Fr)
2gh ( 18) ER (a Pr av?
zurück, die er auf eine Riccatische reduziert; er findet daraus, daß
sich für das räumliche Problem, d.i. für n=4, die Aufgabe ele-
mentar lösen läßt und errät schließlich aus einigen partıkulären
Integralen die unten angegebene allgemeine Form des Integrals.
Kurz darauf behandelt er das Problem wieder in einem Brief an
Lagrange?) ohne neues zu bringen. Er verlangt, daß die Ge-
schwindigkeit in allen Punkten gleichen Abstandes von dem Zentrum
dieselbe ist, und erhält die Gleichung
1 /ddu — 2u 2 /du ddw
on (ae) vet rlan) + (are)
die aus der vorigen im Falle n=4 durch s= . entsteht. Apres
plusieurs recherches, sagt er, j’ai enfin trouve
!) Histoire de l’Academie de Berlin, t. XIX, 1763 (1770), p. 242. D’Alem-
bert verweist bezüglich der Methode auf seine Opuscules math&matiques.
?) Ebenda (Hist. Berlin), t. XV, 1759 (1766), p. 243. °) Miscellanea Taurinensia,
t. II, 1760/61, p. 1—10.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 991
A x Mn 79 „UN
u= pP +tY@am)—- ylV +tV@an)]
u Fulv —tY@gh)) - Zw [r -tV@gn],
wo @ und % willkürliche Funktionen, ’, d’ ihre Ableitungen be-
deuten. Lagrange behandelt die von Euler aufgestellte Gleichung
mittels seiner oben geschilderten Methode der Reduktion auf totale
Gleichungen, nachdem er sie auf die Form
(&
d’z d’z 7
(a er)
gebracht hat, und erhält so für den Multiplikator M die Hilfsgleichung
dM 2dM
da? zd«ı
=kM.
Diese Gleichung besitzt das für x = 0 verschwindende Integral
M= AlsineY—-k— xy-—- keosazY-— k). 1)
Nach den physikalischen Bedingungen des Problems soll M auch für
2 = a zu Null werden; das führt auf
aY—k=tgaY—k
als Bestimmungsgleichung für k. Lagrange bemerkt?) auch, daß
die gegebene Gleichung durch die Substitutionen
r dzx?
PL ERROEN = % a
dx
oder auch durch
dy
ER da
auf das Problem der Saitenschwingungen zurückgeführt wird, und
geht sodann zu der etwas allgemeineren Gleichung
‘)
d’z d?’z x
(ae) clan) + me (“:
über®); seine Methode führt hier zu der Gleichung
d?M m dM
Tan «M
deren Integration wir bereits besprochen haben (vgl. S. 912); der
') Miscellanea Taurinensia, t. II®, 1760/61, p. 58. ”) Ebenda, p. 74.
°) Ebenda, p. 81.
992 Abschnitt XX VII.
Übergang zum allgemeinen Integral der gegebenen partiellen Glei-
chung geschieht durch ähnliche Schlüsse wie beim Problem der
Saitenschwingungen und ergibt
_ „T@+ttVo) . Al@—tye) INRRS (+ Ve) Ve)
£
ers
wo I' und 47 willkürliche Funktionen, I", I”,..., I, 4”,... ihre
Abgeleiteten und A, B, C,... die Entwicklungskoeffizienten der La-
grangeschen Form des Integrals der Riccatischen Gleichung sind
(vgl. S. 912), wenn man in diesen —m durch m + 2 ersetzt. La-
grange knüpft daran auch die Bemerkung, daß die spezielle an-
gewandte Methode stetige Änderung von z zugleich mit x voraus-
setze, weshalb I’ und 4 nicht völlig beliebig seien.) Endlich be-
schäftigt sich Euler?) mit der Integration?) von
ddz\ _ ddz b Ei A
rt
diese Gleichung wird durch die Substitution 2 = 2*u in eine Gleichung
derselben Form übergeführt, was die Wegschaffung des Gliedes mit
’
T"(z ec) +2’ (a —tYVe
ee BASE 4 u
. durch passende Wahl von A ermöglicht. Euler setzt ein In-
tegral in folgender Form an:
2= Ax"T (2 +at) + Bet! (atat)+-- -*)
und findet als Bedingung für das Bestehen dieser Gleichung die
Relation
e=—n(n—]).
Ist n eine negative ganze Zahl, so bricht die Reihe von selbst ab,
und man gewinnt auf diese Weise wieder integrable Fälle. Euler
integriert die Gleichung auch in der Form, daß die willkürliche
Funktion statt differentiiert wiederholt integriert auftritt; interessanter
scheinen verschiedene Bemerkungen, welche zeigen, daß sich Euler
schon damals mit der Umformung partieller Gleichungen 2. Ordnung
durch Transformation, wenigstens in speziellen Fällen, beschäftigt hat.
So ist darauf hingewiesen, daß die Gleichung
!) Miscellanea Taurinensia, t. II?, 1760/61, p. 92. ?) Ebenda, t. III?,
1762/65 (1766), p. 60—91. °) Erwähnt sei folgende Ausdrucksweise: la solution
complete qui nous decouvre & la fois toutes les fonetions possibles (sc. welche
die Differentialgleichung erfüllen). Ebenda, p. 60. *) Das ist dieselbe Form,
die wir eben bei Lagrange getroffen haben; die beiden Resultate lassen sich
leicht ineinander überführen.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 993
Bus Hs
aadt? da xx’
ın der also das Glied mit 5 ;. fehlt, durch die Substitutionen
-.-1+yit&h; K=k+1+YV1+4k; TR
m
1 ddu ddu Ku
aadi? da xx
übergeführt wird. Setzt man k=0, so ergibt sich # —= 2, daraus
k"=6 usw. Fermer ist die Gleichung der Saitenschwingungen
(ar) = au (0)
vermöge der Substitution
(2) Hal)
-
Bu re}
das ganze Problem also auf die Integration zweier linearer partieller
Differentialgleichungen 1. Ordnung zurückgeführt, die durch Benutzung
der Gleichung
auf
du = dt(“ = + dx 2)
zunächst auf
u=I"’(z + at)
und damit zum allgemeinen Integral führen.
Gegenüber diesen Untersuchungen, die alle den Charakter des
Willkürlichen, Zufälligen an sich tragen, bedeutet die Behandlung
der partiellen Gleichung 2. Ordnung ‚in Eulers Integralrechnung
einen ganz wesentlichen Fortschritt. Euler schiebt nämlich nach
den Gleichungen 1. Ordnung, bevor er zu höheren Gleichungen über-
geht, ein eigenes Kapitel eis das nur von der Umformung der par-
tiellen Differentialgleichungen durch Einführung neuer Variablen
handelt, und zeigt so schon durch die ausgezeichnete Stellung, die er
diesen Untersuchungen einräumt, sowie durch die eingehende Behand-
lung der ganzen Frage, daß er die Integration der höheren partiellen
Gleichungen prinzipiell auf ihre Transformation in eine geeignete
kanonische Form gegründet wissen will. Die von Euler behandelten
Transformationen zerfallen in zwei Arten; die erste ersetzt nur die
abhängige Variable z durch eine neue v, während die unabhängigen
Veränderlichen & und y in der Gleichung belassen werden; hierher
994 Abschnitt XXVII.
gehören die Substitutionen z= Pv') und z=P-+v, wo unter P
und v Funktionen von x und y zu verstehen sind. Wichtiger ist die
Einführung neuer unabhängiger Variablen # und u an Stelle von x
und y; die Formeln, welche die Differentialquotienten nach x und
y in den neuen Veränderlichen ausdrücken, stellt Euler für den
späteren Gebrauch in übersichtlicher Weise zusammen. Der Behaup-
tung, Euler behandle die Gleichung 2. Ordnung methodisch, plan-
mäßig mittels Transformationen, scheint nun zu widersprechen, daß
er in den zunächst folgenden Beispielen die Methode der Reduktion
auf eine Normalform durch Einführung neuer Variablen nicht an-
wendet. Indessen handelt es sich hierbei um Beispiele, die sich eben
auf anderem Wege einfacher oder rascher erledigen lassen als durch
jene immerhin einen ziemlichen Formelapparat erfordernde Reduktion.
So behandelt Euler zuerst ausschließlich Gleichungen, welche nur
einen einzigen von den Differentialquotienten 2. Ordnung enthalten.
Ä ; dd
Die Gleichung in
tegriert E uler, indem er y als konstant ansieht und nachträglich
diese Beschränkung fallen läßt; er erhält schließlich
2 — [dx | Pdx + zf(y) + Fly).
(a) 2) +0
dx
— P, wo P eine Funktion von z, y und 2 ist, in-
Die Gleichung
läßt sich mittels der Substitution
dz
(22)
behandeln, wenn P und © die Variable 2 nicht enthalten. In
letzterem Fall hat man sich y als konstant zu denken und die totale
Gleichung
ddz = Pdxdz + Qdx?
mit dem Parameter y zu integrieren; das allgemeine Integral („integrale
completum“) ergibt sich, wenn man die beiden Integrationskonstanten
durch Funktionen von y ersetzt.) In der Gleichung
ddz ) Bee
ur; a)
setzt Euler
s = e_%% Y,
t) Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 194. ?) Ebenda, p. 209.
Man beachte, daß ein derartiges Ersetzen von Konstanten durch variable Größen
der Entstehung einer besonderen „Methode“ der Variation der Konstanten nur
günstig sein konnte. ®, Ebenda, p. 221.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 995
wo Y eine Funktion von y allein sein soll, und erhält so die totale
Gleichung
adY
y = ady
mit dem Integral !
ay
| Yes.
Daraus schließt Euler auf das Integral der ursprünglichen Gleichung
in der Form
a a
ax + — Pz+ „y
l
I e :,, +..-,
-bemerkt aber ganz im Einklang mit seinen früheren Ansichten über
die Entwickelbarkeit einer willkürlichen Funktion, daß diese Dar-
stellung mit unendlich vielen Integrationskonstanten dem Integral mit
zwei willkürlichen Funktionen deshalb nicht gleichwertig zu erachten
sei, weil man sie nicht beliebigen Anfangsbedingungen anpassen
könne.!) Euler sucht sodann das Anwendungsgebiet der eben be-
nutzten Substitution z= e**Y bzw. 2=e“Y!X, wo X eine ‚Funktion
von x allein ist, zu erweitern; insbesondere?) verwertet er sie für
die Gleichung
( ddz
dz dz‘
re) +0,
‚wo die Koeffizienten Funktionen von & allein sind. Den allgemeinen
Fall?), daß P,@, R,S Funktionen von x und y sind, unterwirft er
der Transformation z = e’v, wo V eine Funktion von x und y, v eine
noch zu bestimmende Größe ist; dieser Gleichungstypus ist von großer
Wichtigkeit. Gleichungen, die mehr als einen Differentialquotienten
2. Ordnung enthalten, behandelt Euler nur durch Transformation.
In die Gleichung der Saitenschwingungen
ddz‘ ddz
(ei) = u
setzt er*)
t=ex+ßy wund u=yr+by
und erhält so die neue Gleichung
(BB — auaa) (“r) + 2(B8 — ayaa)(,) + (88 — yyaa) (44) =,
wobei jetzt z als Funktion von ? und « aufzufassen ist. Die Annahme
e=1 y=1l, ß=-a, =—4a
liefert
ı) Vgl. 8. 915. *, Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 224.
®») Ebenda, p. 234. *) Ebenda, p. 225.
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 64
996 Abschnitt XXVIL
t=2+ay u=2-—-ay und (u) =().
Daraus folgt dann unmittelbar
:=f()+Flu)=-fl@+ay)+F(x — ay).
Nach einer kurzen Schilderung von d’Alemberts Methode!) bemerkt
Euler, daß man auch versuchsweise
(a
setzen kann; dann wird
(ar) = # (ana) = Ra)
Ein Vergleich mit der ursprünglichen Gleichung liefert
kera
und somit die zwei Gleichungen 1. Ordnung
dz dz
Fern,
Die Schwingungsgleichung der Saite von veränderlicher Dicke
ddz ddz
F „) mz (2=)
4m
führt Euler für
auf die Riceatische Gleichung
—4Am
dp + ppdaz = aa" -!dz
zurück?), die für positive oder negative ganzzahlige m mittels der Sub-
stitutionen
z=e’'v und v= er
integrabel ist, fügt aber hinzu: es ist fast nicht zu glauben, daß beide
(nämlich die partielle und die totale) Differentialgleichungen nicht in den-
selben Fällen integrabel sein können. Wie er behauptet, ist für m = oo
die Riceatische Differentialgleichung leicht zu integrieren, während
die entsprechende partielle Gleichung
(ar) = Az (a2)
") Vgl. diese Vorl., III?, S. 901. ?) Institutiones caleuli integralis,
vol. UI, p. 286.
. Totale und partielle Differentialgleichungen. 997
seiner Methode sich nicht fügt. Für diese Gleichung setzt er ein
Integral in der Form |
z= re" Yv(A+ elle + By)
an; u und — lassen sich hierbei durch A ausdrücken. Die Gleichung
ß
ddz
ddz dz
(a) + + Br
hatte Euler von einem hydrodynamischen Problem ausgehend schon
früher in einem speziellen Fall behandelt; jetzt verlangt er nur, daß
P, @, R Funktionen von x allein sind. Diese verallgemeinerte Glei-
chung soll nun mittels der Substitution
d
= n(7.) u Nv,
wo M und N Funktionen von x allein sind, wieder in die nämliche
Form
ddv ddv dv
le) + el) + Ho
übergeführt werden‘), wo auch M, N, F, G@, H Funktionen von x
allein sind. Durch geschickte Kombination erhält Euler drei Bestim-
mungsgleichungen für P, @, R, wenn F, G, H gegeben sind, nämlich
daF 2FadM
Be er er
und
22.2 @GdM dß FddäM 2Fds 2FadM? sdäfF dFamM,
Pag‘ Bag
Mäxz ' dz Mdx Ar MMdx? dx Mdx?
hierbei bestimmt sich das Verhältnis s= = aus der Gleichung
C=H—Gs—- FöE + Fss,
worin © eine willkürliche Konstante bedeutet. Ist also die transfor-
mierte partielle Gleichung mit der abhängigen Veränderlichen v in-
tegrabel, so ist es auch die Gleichung in z vermöge der Beziehung
z= a(s + (2).
Durch Spezialisierung der Funktionen F, G, H erhält Euler endlich
verschiedene integrable Gleichungen. Die partielle Gleichung
= + alter,
') Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 292.
64*
dueaıe
998 Abschnitt XXVI.
wo U und T Funktionen von x allein bedeuten, behandelt Euler
auch an anderer Stelle‘) in einer Abhandlung über die Luftbewegung
in Tuben nach seiner früheren Methode wel. S. 989), indem er nach
Integralen der Form
v=Lf(S+ed +Mf(S+et)+---
sucht.
Es wurde behauptet, daß Euler in der Integralrechnung bei
Gleichungen 2. Ordnung hauptsächlich durch Transformation, sei es
der unabhängigen oder der abhängigen?) Variabeln — oft allerdings
nur mittels mühsamer, weitschweifiger Rechnungen — zum Ziel kommt;
er selbst sagt”), seine Methode bestehe darin, die gegebene Gleichung
dureh Einführung neuer Variabeln auf die Form zu bringen
ddz dz
(aan) + Pla) + la) + Rr+ 8-0.
Diese Gleichung fällt aber unter die Kategorie derjenigen Gleichungen,
welche nur einen einzigen Differentialquotienten 2. Ordnung enthalten,
und ist mit diesen Gleichungen ausführlich behandelt worden. Es
ist sehr wesentlich, daß Euler das Methodische dieser Reduktion
betont; allerdings ist der Raum, den er diesem Gedanken gönnt, ge-
ing im Vergleich zu dem Platz, der anderen Anwendungen der Ein-
führung neuer Variabeln, wie der Reduktion auf die Ausgangsform
oder der Aufsuchung integrabler Fälle eingeräumt ist.
Condorcet nimmt als Integral der linearen Gleichung 2. und
3. Ordnung die Gleichung z = Ae”*+”Yy an und sucht von einer Reihe
mit unendlich vielen derartigen Gliedern auf die Darstellung mit will-
kürlichen Funktionen überzugehen.t) Die Gleichungen mit nichtkon-
stanten Koeffizienten sucht er mittels Reihen zu lösen.?)
D’Alembert behandelt®) neben anderen Gleichungen 2. Ordnung
den Fall
car ddq , bddq
&q ng + de? Zar 0,
wo & und & Funktionen von x, b eine Konstante bedeuten, und ver-
sucht ein ı Integral der Form
" Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 355.
”) Von letzterer Art sei noch die Substitution
(a) Helen)
wo r und s Funktionen von x allein sind, erwähnt, von der Euler Institutiones
caleuli integralis, vol. III, p. 323 Gebrauch macht. ») Ebenda, p. 261.
k =
Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 23 bzw, 30. _
°) Ebenda, p. 37. 6) Opuscules mathematiques. t. IV (1768), p. 243.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 999
X du , X’ddu
ee 7°,” °F
wo X, X, X”.,. passend zu bestimmende Funktionen von x sind.
Laplace hat die Eulersche Idee der Zurückführung der par-
tiellen Gleichung 2. Ordnung auf die eben angegebene kanonische
Form wieder aufgegriffen; er fragt daran anknüpfend nach Bedingungen,
unter welchen diese in endlicher Form integrabel ist. Für das Ent-
stehen seiner Abhandlung sind Eulers Vorarbeiten in verschiedener
Weise bedeutungsvoll geworden: die Transformation (transformation)
selbst, die Ausnahmen, die sie erleiden kann, das Auftreten der Diffe-
rentialquotienten oder Integrale der willkürlichen Funktion in der
Integralgleichung, dies alles hat, wie Laplace selbst zugesteht!),
schon Euler. Laplaces Verdienst ist, daß er die mögliche Form
des Integrals genauer festlegt, daß er nicht wie Euler nur Differen-
tialgleichungen sucht, die in geschlossener Form integrierbar sind,
sondern die Bedingungen hierfür in Form von Gleichungen angibt,
daß er endlich — und darauf legt er selbst großen -Wert — alles
analytisch, in bequemen Formeln darstellt. Laplace reduziert wie
Euler die Gleichung
002 002 a. [002 02 ‚ (02 "
te tert
in welcher alle Koeffizienten Funktionen von x und y, aber nicht
von 2 sind, durch Einführung neuer Veränderlicher © und ® auf die
Normalform
wo jetzt m, » und Z Funktionen von ® und 6 sind. Hierbei sind
die alten und die neuen Variabeln durch die Gleichungen verknüpft:
Ge) - @).[- «+ Vi @-9)]|
9-6) |-3°-VGe-9)|
Diese Gleichungen reduzieren sich, wenn gleichzeitig «= 0 und
B=0, auf (2) —=(0) und (2) —(, d.h. © und 9 sind Funktionen
von y allein; in diesem Fall, den auch Euler schon eingehend be-
handelt hat, ist, wie Laplace im folgenden findet?), ein „vollstän-
un
15
') Vgl. hierzu Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1773 (1777), Histoire
p. 45 ff. ”) Ebenda, p. 360. Vgl. auch M&moires presentes par divers Savans,
t. VI (1774), p. 656.
1000 Abschnitt XXVI.
diges“ Integral in endlicher Form nur dann möglich, wenn d — 0 ist;
das schließt natürlich nicht aus, daß oft partikuläre Integrale in ge-
schlossener Form angegeben werden können. Als zweiten Ausnahme-
fall nennt Laplace das Bestehen der Gleichung
1
ß en 4 a,
heutzutage als parabolischer Fall bezeichnet; hier sind die Gleichungen
für & und # nicht mehr unterschieden, man erhält nämlich
7)
Man kann aber, wie Laplace zeigt, diesen Fall auf den Typus « = 0,
ß = 0 reduzieren, wenn man aus
(0) 1 10)
=.
die Variable x als Funktion von & und y berechnet und den betr.
Ausdruck in die gegebene Differentialgleichung einführt, so daß also
eine Gleichung in z, ®, y entsteht.) Für die folgende Untersuchung
wird von Wichtigkeit, was Laplace über die Form der Integrale der
linearen Gleiehungen 2. Ordnung behauptet. Nach eigener Aussage
hatte Laplace beobachtet, daß die willkürlichen Funktionen im
Integral einer linearen Gleichung immer selber linear vorkommen.
Differentialquotienten und Integrale der willkürlichen Funktionen
zieht schon Euler zur Bildung des allgemeinen Integrals heran;
berücksichtigt man endlich noch die Arbeiten Condorcets auf
diesem (Gebiet, so ist damit aufgezählt, was Laplace über den
Gegenstand bekannt war. Auf die Methode, wie er sodann die Form
des Integrals von vornherein zu ermitteln sucht, kann, wenngleich
auf die mühsame Untersuehung eminenter Scharfsinn verwendet ist,
hier nicht eingegangen werden, da ihre Darstellung zu viel Platz be-
anspruchen würde, und der Wert der betr. funktionentheoretischen
Schlüsse wenigstens ohne Modifikationen und Ergänzungen verhältnis-
mäßig gering ist. Laplace kommt durch Überlegungen, die er für
die Gleichung 1. Ordnung ausführlich angibt, zunächst zu dem Re-
sultat, daß das Integral die willkürlichen Funktionen p und Y, wie
bereits beobachtet, linear und wiederholt differentiiert oder integriert
‘) Auf diesen Fall, der sich immer auf die Gleichung der Wärmeleitung
2
m 7 reduzieren läßt, ist Laplace später wieder zurückgekommen: Journal
de l’Ecole polytechnique, cah. 15, 1809, p. 235.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1001
enthält; des weiteren findet er, daß die Argumente von p und %
Funktionen von den Variabeln »® bzw. 6 allein sein müssen, ein Um-
stand, der eine ganz bedeutende Vereinfachung des Integrals zur Folge
hat, da sich Ausdrücke wie f: Eö0y(o) auf einfachere Formen, also
hier p(o®)- fi E96, reduzieren lassen.
Nach diesen Voruntersuchungen wendet sich Laplace der eigent-
lichen Aufgabe zu; er verlangt, daß die willkürliche Funktion nicht
unter dem Integralzeichen auftreten soll, setzt 7=0 und überdies
zur Vereinfachung auch v® = 0. Die einfachste Form, die das Integral
dann haben kann, ıst
z=A:gp(o).
Laplace substituiert diesen Ausdruck in die kanonische Differential-
gleichung und setzt — die Berechtigung hierzu ist leicht einzusehen
— den Koeffizienten von p(®) sowie den der Abgeleiteten p/(o)
gleich Null. Es ergibt sich so
0- Get ma ui 0- (tm hen rt
Aus dieser Gleichung lassen sich aber mit Hilfe der ersten und der
daraus durch partielle Differentiation nach hervorgehenden Gleichung
die Differentialquotienten von A eliminieren; man erhält nach Divi-
sion mit A die Bedingung
om
0-1- (ir) —nm,
von deren Bestehen die Existenzmöglichkeit eines Integrals der Form
2— Ay(o)
abhängt. Diesen Weg schlägt indes Laplace nicht ein, sondern sagt,
daß die Differentialgleichung
0 (Bu) tm) 4n +
mittels der Substitution
ID — (*2) + mz
in
0= (5) +n:D)+2- L = (=) = mn |
übergeht; unter der Annahme
2— 4. Y(o)
reduziert sich dann die Gleichung
1002 Abschnitt XXVI.
0%
N (# ) + mz2
auf
AO,
was die erwähnte Relation zwischen m, » und / liefert. Ist diese
Relation nicht erfüllt, so versucht Laplace die nächst einfache An-
nahme
= 4:9(o) + A’. pl);
es ergeben sich dann drei Gleichungen für A, nämlich
0- (95) + mA;
0 - (2) +m- E )+n- ke rar 5) +mAr;
0- (25,) + m) +n- e a) tl
Wie schon erwähnt, verwandelt die Substitution
BUT = (25) + ma
die ursprüngliche Gleichung in
1 (Oz!
0 lt
i
wo zur Abkürzung
| u=1— en — mn
do
gesetzt ist. Aus diesen Gleichungen erhält man nun durch geschickte
Kombination bei Benutzung der weiteren Substitutionen
Az ou
„0 m!; ee ee u
die Differentialgleichung
0 = ke + mm. ( +n = n) + Mg m,
die genau die Form der ursprünglichen Gleichung hat. Mit Berück-
sichtigung der Annahme
2 = Ay(o) + A’yı(lo)
geht aber die Gleichung
ID — (22) + mz
in
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1003
0 [E9) + mA]oo) + [&E) + mA]oıte
über, die sich wegen der für A geltenden Relationen auf
en - (4) + mAi]orlo
reduziert. Das heißt nichts anderes, als z) ist Integral einer kano-
nischen Differentialgleichung 2. Ordnung und enthält nur eine will-
kürliche Funktion p7,(®), aber keinen ihrer Differentialquotienten.
Dieser Fall ist aber als der einfachste bereits untersucht und die
Bedingungsgleichung für sein Bestehen aufgestellt; sie lautet
(2
= M — er \) — nm,
0o
Die kanonische Gleichung 2. Ordnung in z), m!, n, I! hat sich ganz
unabhängig von |der speziellen Annahme über die Form des Inte-
grals 2 ergeben; sie wird also auch Geltung haben, wenn
2=4A:9(o) + A!- lo) + AY- po).
Durch Substitution dieses Ausdrucks in die ursprüngliche Differential-
gleichung (mit der abhängigen Veränderlichen z) ergeben sich aber
Gleichungen für A, A’, AT, deren Berücksichtigung
AN — dien )+ mAt|. yo) + IC =) +m An| - Pır(®)
liefert. Und das heißt gar nichts anderes, als z7) enthält eine will-
kürliche Funktion p,(®) und deren erste Derivierte Yp1(@©), weshalb
auf die Differentialgleichung 2. Ordnung 27) die Überlegungen des
eben untersuchten Falles angewendet werden können.
So kann man weiter schließen. Die bei dieser Methode — Kas-
kadenmethode hat man sie später genannt — auftretenden Größen un),
m”, 19, z) mit dem Index r gehen aus den u, m, I, z mit dem
nr r — 1 genau in derselben Weise hervor, wie die u/, m!, I, a’
aus u, m, |, z selbst. Der Wert von z”) läßt sich indessen leicht
independent darstellen, da, wie Laplace zeigt, die Gleichung
(r)
0-(%, ) + nen)
mit dem Integral
') Diese Gleichung gilt natürlich nicht für einen beliebigen, sondern nur
für denjenigen Index r, der das Abbrechen der Reihe für & bewirkt.
1004 Abschnitt XXVIL
besteht. Die Bedingung, daß z keinen höheren als den rt“ Differen-
tialquotienten der willkürlichen Funktion p enthält, ist dann, wie
sofort ersichtlich,
01m _ 2) nme:
ist sie für kein endliches r erfüllt, so ist die Gleichung — vorausgesetzt, daß
die Laplaceschen Behauptungen über die notwendige Form des In-
tegrals richtig sind — auch nicht in endlicher Form integrierbar,
dieser Fall tritt z. B. im allgemeinen ein, wenn |,'m, n konstant sind).
Ganz die gleiche Methode würde am Platze sein, wenn man von vorn-
herein nicht %d, sondern g gleich Null gesetzt hätte; Laplace geht
deshalb gar nicht auf diese Frage ein, sondern wendet sich zur Be-
trachtung des Falles, daß 7 nicht identisch Null ist, welcher eine
analoge Behandlung gestattet.
Indem Laplace des weiteren die angegebene Bedingungsgleichung
für Integration in geschlossener Form als Bestimmungsgleichung für r
auffaßt, erhält er in endlicher Form integrable Fälle?) Auch ist noch
gezeigt, daß der Ausdruck für z, sobald er eine nur endliche Anzahl
von Integralzeichen enthält, immer auch durch willkürliche Funktionen
und deren Differentialquotienten allein dargestellt werden kann, oder,
wie Laplace sich ausdrückt, notwendig von Integralzeichen frei ist?);
endlich ist noch auf die Integration unter gegebenen Anfangs-
bedingungen eingegangen.) Daß mit der Integration einer einzigen
der Differentialgleichungen 2. Ordnung, die sich der Reihe nach er-
geben, die aller übrigen durch Quadraturen oder Differentiationen
gefunden wird, erwähnt Laplace, offenbar weil selbstverständlich,
nicht.
Später®) kommt Laplace auf seine Ergebnisse zurück und stellt
sie in folgender Form dar: Jede lineare partielle Differentialgleichung
2. Ördnung, sagt er, kann in der Form dargestellt werden
0 (er) rm ern)
wo m, n und l gegebene Funktionen der Variabeln s und s’ sind.
Versteht man unter g;(s) das Integral Jös -p(s), unter ,(s) das
Integral e| sp ı(8) usf., desgleichen unter %;(s’) das Integral fs’ u(st),
unter %,(s’) das Integral 2 es!wr(s!) usf., so ist
ı Histoire de l’Academie des Sciences 1773 (1777), p. 369. 2) Ebenda,
p- 380. 3) Ebenda, p. 382 ff., speziell p. 395. Auf die im Text angeführte
Behauptung kommt Cousin ebenda 1784 (1787), p. 420 zurück und stellt einen
entsprechenden Satz allgemein für Gleichungen »‘* Ordnung auf: ebenda, p. 429.
#, Ebenda 1773 (1777), p. 396. °) Ebenda 1779 (1782), p. 268 ff.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1005
u— Ag) +AD-) + AN: gl) +
+ B. vl) + BO ya) + BO ul) +;
p(s) und %(s’) sind hierbei zwei willkürliche Funktionen; für ihre
Koeffizienten gelten folgende Gleichungen:
0-()rma
0- (7) + mAn+ DA;
Wi Be + nB® ee DB;
0- (7) +nB9 + DB®,
Ergibt sich einer der Koeffizienten A® oder BW, wo u eine
positive ganze Zahl ist, zu Null, so bricht die Reihe für u ab. Im
folgenden gelangt Laplace zur Darstellung von u in Form von be-
stimmten Integralen. Er bezeichnet nämlich die Summe
PO) +Lples) + RP(2ES) + --- +1%°. p(s)
mit 7 und entwickelt u nach Potenzen von £. Dann wird der
Koeffizient von 2° gleich
[P(0) + Plös) + p(205) ++ gp(s)] - ös
gefunden; das ist aber nichts anderes als pı(s). Allgemein ist der
Koeffizient von £°* in der Entwicklung von 7(1— t)-“ös“ nichts
anderes als p,(s). Mit Hilfe dieser Beziehung läßt sich, wenn man
für T seinen Wert in p(0), p(ös), ... einsetzt, p,„(s) linear durch
') Wir haben uns hier der Übersichtlichkeit halber der modernen Bezeich-
nungsweise bedient, die statt der vorgelegten Differentialgleichung in « sym-
bolisch Du = 0 schreibt.
1006 Abschnitt XXVII.
die (0), p(ös),... und gewisse Koeffizienten ausdrücken, die be-
stimmt werden sollen. Der Koeffizient von p(rös) in dem Ausdruck
T1—trost ist P(l— Host; auf @,(s) trifft dabei nur der
Koeffizient von t*. Drückt man also p,(8) in angedeuteter Weise
dureh (0), p(ös),.... p(rös),... aus, so wird der Koeffizient von
s
y(rös) gleich dem Koeffizienten von t’* in der Entwicklung von
(1 — t)-*os“, d.i. gleich dem von {» " in der Entwicklung von
(1— t)-*os“ sein. Dieser ist aber gleich
S Ss S
Em A nl a endeten «>
1 : & 4
2 - etz
läßt man r so ins Unendliche wachsen, daß dabei rös Bogen einen
endlichen Wert z konvergiert, so geht er über in — os. Mit
Hilfe dieser Darstellung läßt sich jetzt auch das Integral u statt
durch 9, durch die g(0), p(ös), ... p(r&s), ... ausdrücken. Hier-
bei Be der Koeffizient von
p(rös) = p(2)
gleich
6 I au 9" )! U ORAATEN
u=1
DI) au = BET OR
setzt. Hieraus schließt Laplace auf die Gleichung
%
vw Jere — 2)p(2) + [Belle — 2) (2),
0
wo die Funktion IT analog der Funktion I, aber mit Hilfe der B
gebildet ist. Hierbei sind aber, wie aus den Gleichungen für die A
und B hervorgeht, T(s— z) und II(s’— z) selbst partikuläre Inte-
grale der gegebenen Differentialgleichung, von denen das erstere für
s= 2 der Anfangsbedingung
wenn man
%
ou
os!
das letztere für = 2 der Anfangsbedingung
+mu=0,
ou
tr m—0)
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1007
genügt. Durch dieses Ergebnis wird Laplace veranlaßt, den Aus-
druck
u — fpöz -p(2) + /plöz .ı(2),
genommen von einem konstanten Wert von z bis z— s bzw. z= sl,
zu untersuchen; er findet durch Differentiation, daß dieser Ausdruck
der Differentialgleichung genügt, sobald p und p7 partikuläre Werte
von u sind, die eine willkürliche Konstante z einschließen und für
2—s bzw. s’ in Funktionen P und P! von der Art übergehen, daß
0- (7) +mP und 0- (5) +mPr.
Da der Ausdruck für u zwei willkürliche Funktionen p(2) und %(z)
enthält, erklärt ihn Laplace für das allgemeine Integral. Endlich
sind noch verschiedene andere Darstellungen des bestimmten Integrals
angegeben; so erhält man vermöge der Substitutionen z — st bzw.
2—= s!t die folgende zusammengezogene Form
= Jör-isg- pl) + Sg Ylsh)),
wo zwischen den Grenzen 0 und 1 integriert wird, und q und g? aus
p und »7 hervorgehen. Besonders behandelt wird der Fall, daß !,m, n
konstant sind; hier ist I(s—z) gleich dem Produkt aus e-ms’-ns
und einer Funktion der einen Variabeln
0 = 5] (s —# );
die der gewöhnlichen Differentialgleichung
04 00
9-A-mn) 44 (5) +0: (5)
und den Anfangsbedingungen
y-1l, (22) =+mn—|
für d9=0 genügt; diese Funktion war übrigens schon Bernoulli
und Euler begegnet. Für
I—- mn = 0
reduziert sich das Integral auf
at TOR EROE
Der schon in der ersten Abhandlung besprochene Fall
') Größtenteils nach Burkhardt a.a. Ö., Heft 2, S. 398 ff.
1008 Abschnitt XXVII.
h
f RER, DEHEIR Nas SERBR. 23,
s+s!’ (s+ s!)?’
re
n
wo f, 9, h Konstante sind, wird nochmals vorgenommen; die bereits
von Lagrange behandelte Gleichung
DE En
durch die Substitutionen
stat=s und z—-at=s!
auf eine Gleichung der eben erwähnten Art, nämlich
reduziert.
Später!) überträgt dann Legendre die Laplacesche Kaskaden-
methode auf die lineare partielle Differentialgleichung 2. Ordnung in
ihrer ursprünglichen Form, d.h. er zeigt, daß die Transformation auf
die Euler-Laplacesche Normalform überflüssig ist. Legendre
führt hierbei die Integrale der Gleichungen
dy— pdz=0 und dy— Pdx=0
ein, wo p und P die Wurzeln der Gleichung
P—ap+b=0
dd
Pe
bzw. a der ge-
“2 ist gleich 1
gesetzt — bedeuten; auf die Darstellung seiner Methode kann, da sie
prinzipiell von der Laplaceschen nicht verschieden ist, hier ver-
zichtet werden.
Das Ziel der Laplaceschen Arbeit war die Aufsuchung eines
Kriteriums für die Möglichkeit einer Integration in geschlossener
Form; der hierbei eingeschlagene Weg führte nebenbei noch auf die
Lösung der Gleichung 2. Ordnung durch bestimmte Integrale. Von
anderen Gesichtspunkten gehen die Untersuchungen aus, denen wir
uns jetzt zuwenden. Lagrange, der Schöpfer der Theorie der par-
tiellen Gleichung 1. Ordnung, derselbe, der durch seine Arbeiten über
Natur und Fortpflanzung des Schalls das Interesse an der Gleichung
2. Ordnung so mächtig gefördert hat, ist später nur mehr gelegentlich
sind, und a und b die Koeffizienten von ae
? dxzdy
gebenen Differentialgleichung — der Koeffizient von
‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1787 (1789), p. 319.
Totale und partielle Differentialgleichungen. *-..47009
auf diese zurückgekommen; erwähnt sei von ihm die Behauptung‘),
daß man bei Kenntnis zweier verschiedenen vollständigen ersten Inte-
grale allgemein das vollständige endliche Integral finden könne, indem
22 sodann 92 aus jenen eliminiere und die durch par-
dx’ dy
tielle Integration nach x bzw. y gebildeten Integralgleichungen mit-
einander vergleiche.
Weiterhin ist Monge zu nennen, der abweichend von Laplace
unter einer linearen Gleichung 2. Ordnung jede Gleichung
Ar+Bs+(0t+D=0
man zuerst
versteht, wo r, s, £ ın üblicher Weise die partiellen Ableitungen
2. Ordnung bedeuten und A, B, C, D beliebige Funktionen von z, %,
z, p und q sind, der also nur verlangt, daß r, s und £ linear auf-
treten”) Das Verfahren ist genau dasselbe wie sonst: Reduktion auf
totale Gleichungen. Die Relationen
dp=rde+sdy und dg=sdr + tdy,
„die nichts Neues sagen“, gestatten zwei von den drei Größen r, s, t
zu eliminieren, und man erhält:
Bapdy + Cdgdy — Capdx + Day?= — r| Ady? — Bdxdy + Uda?)
Adpdy + Cdgdz + Daxdy = s[Ady? — Bdxdy + Cda?
Adpdx > Adqdy+ Badgdz + Dax’= — t! Ady? — Baxdy + Cda?).
Damit diese Gleichungen nicht r, s, f in z, y, z, p, q bestimmen
können, muß gleichzeitig
Ady?’ — Bdxdy + Oda? = 0
Adpdy+ Cdgdx + Daxdy= 0
Bapdy + C(dgqdy — dpdz) + Day? = 0
A(dpdx — dgqdy) + Bagdx + Dax?=0.
Von diesen vier Gleichungen sind zwei die Folge der beiden
übrigen; sie erfahren, wie Monge in seiner Application zeigt, mit
Hilfe der Charakteristikentheorie eine einfache geometrische Deutung.
Dieselbe Deutung des Wortes simultan, die schon früher den Zu-
sammenhang zwischen totalen und partiellen Gleichungen vermitteln
') Oeuvres de Lagrange, t.IV, p. 95. Der Aufsatz stammt aus dem
Jahre 1774. ”) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 126 ff.
Vgl. auch Me&moires de l’Academie de Turin 1784/85 (1786), p. 31 ff.; ferner
Histoire de l’Acadömie des Sciences 1783 (1786), p. 720, woselbst die speziellere
Gleichung Lr + Ms + Nt=0 auf totale Gleichungen reduziert, auch die Glei-
chung der Minimalflächen behandelt wird.
1010 Abschnitt XXVL.
mußte, führt auch jetzt zu dem Schluß, daß V= gp(U) ein erstes Inte-
oral (integrale premiere) der vorgelegten Gleichung ist, wenn V=a
und U=b die vollständigen Integrale zweier von den angegebenen
vier totalen Gleichungen oder zweier gleichwertigen sind. Sind zwei
derartige Gleichungen zwar integrabel, läßt sich aber keine von ihnen
auf den ersten Grad reduzieren, so ist besondere Vorsicht nötig, in
welcher Weise die betr. Integrale zu kombinieren sind, da nicht alle
Kombinationen brauchbare Resultate geben; Monge gibt diesbezüg-
liche Vorschriften.) Von Beispielen ist die Gleichung mit konstanten
Koeffizienten behandelt, außerdem die Differentialgleichung der Minı-
malflächen, letztere in wenig brauchbarer Form und fehlerhaft. Monge
schreibt diese Gleichung Borda zu, wohl weil dieser eine kurze Ab-
handlung über diesen Gegenstand gebracht hatte?); Borda selbst ver-
weist dort auf einen noch zu besprechenden Aufsatz in den Miscellanea
Taurinensia, in dem Lagrange seine Variationsrechnung bekannt
macht. Legendre zeigt?) von der Mongeschen Integration, dab die
darin auftretenden Integralzeichen sich über mehrere Variable er-
strecken, ohne daß die Integrabilitätsbedingungen erfüllt sind, und
findet die richtige Lösung durch einfache Änderung der Ver
als Beispiele bringt er den Rotationskörper, dessen Meridiankurve die
Kettenlinie ist, sowie die Minimalfläche zwischen zwei windschiefen
Geraden.*)
In der erwähnten Abhandlung behandelt Monge auch Gleichungen,
für welche sich nicht ein erstes Integral der Form V = (U), sondern
komplizierteren Baues ergibt; aber leider fragt er nicht nach den Be-
dingungen, unter welchen ein erstes Integral der Form Y/=gy(U)
existiert; er wäre sonst notwendig auf die allgemeinere sogenannte
Amperesche Form der Differentialgleichung 2. Ordnung geführt wor-
den, die noch ein additives Glied E(rt — s?) besitzt, aber trotzdem
prinzipiell nicht schwieriger zu integrieren ist als die von ihm be-
trachtete lineare Gleichung. Übrigens war Monge die Einsicht in
die Wichtigkeit der Verbindung rt — s® nicht verschlossen; dieser
Ausdruck, der schon 1760 in den Eulerschen Untersuchungen über
Flächenkrümmung auftritt, findet sich in verschiedenen von Monge
untersuchten Differentialgleichungen, wie
rtt—2+4A4A=0 und (te - P+4rs=(,
wieder. u
n Histoire de l’Academie des Sciences 1783 (1786), p. 143. *) Ebenda,
1767 (1770), p. 561ff. Borda bezeichnet die Aufgabe als Problem von La-
grange. 5) Ebenda 1787 (1789), p. 309ff. *) Vgl. diesen Band S. 550 oben
und S. 569. ») Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 89, 157,
endlich p. 561, 562.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1011
Monge behandelt!) auch nichtlineare Gleichungen 2. Ordnung,
indem er sie auf lineare Gleichungen höherer Ordnung zurückführt.
Sei W=0 eine beliebig aus x, y, 2, p, q, r, 5, t zusammengesetzte
Differentialgleichung. Durch Differentiation erhalte man hieraus mit
Benutzung der Relationen
dz=pda +gdy dp=rda+sdy; dgq=sdx + tdy
die Gleichung
-Adr + Bas+ Cdt+Ddz + Edy=V0.
Wenn jetzt, sagt Monge, auf Grund einer gewissen Annahme über
den Wert von = die partielle Gleichung 3. Ordnung, die man erhält,
%
eine Konstante weniger besitzt und linear oder doch von brauchbarer
Gestalt ist, und es ist möglich, zwischen den drei ersten Integralen
dieser Gleichung (und der ursprünglichen) die fünf Größen p, g, r,
s, t auf einmal zu eliminieren, so hat man in dem Resultat dieser
Elimination das gesuchte endliche Integral vor sich. Monge nimmt
speziell
Dax + Edy=0
d
an, berechnet daraus er und setzt diesen Wert in
Adr + Bds + Odt=0
a ! nn 02 d’z .
eın, wo man sich dr durch IE T aatay dy usw. ersetzt denken
muß; dadurch entsteht die lineare Gleichung 3. Ordnung
d’z .
AE BAR BE AD) gesar + (CE — BD) ar — CD55 - = (),
die nach der gewöhnlichen Methode auf totale Gleichungen reduziert
wird. Aus diesen folgert Monge mit Ausschaltung der Gleichung
Ddx + Edy=V(),
die wieder auf die ursprüngliche Gleichung führt, folgende zwei Glei-
chungen, welche die beiden anderen Integrale der Gleichung 3. Ord-
nung liefern:
Ady?— Bdxdy + Cda?’= 0
und
A Edydr + ds(ÜEdxz — ADdy) — ODdxdt =.
Monge gibt als Beispiel die Gleichung
‘) Histoire de l’Acad&mie des Seiences 1783 (1786), p. 190.
ÜANTOR, Geschichte der Mathematik IV, 65
1012 Abschnitt XXYII.
2bx(ar +2as+t)+aylar+2as+t)— 2ablap +g)=0,
welche auf
adr +2ads+dt=0; de — ady —=0
und damit auf das Integral
2= vl —ay) + xp — ay) + 2ba?[p(a — ay)]
führt. Es ist leicht, fügt er hinzu, ähnliche Überlegungen für die
Gleichungen höherer Ordnung anzustellen, aber man sieht auch, daß
mit wachsender Ordnung die Fälle, wo das geschilderte Verfahren
eine „vollständige“ Integration erlaubt, immer seltener werden.
Nach Monge ist Legendres Behandlung der speziellen Gleichung
ddz Br, 7, 77
u Pa Pr zn
ddz “e
ap
?
deren Koeffizienten A, B, © Funktionen von
Be a Mu
aa Pr
allein sind, zu erwähnen!) Auf einen sehr speziellen Fall dieser
Gleichung war schon Monge gestoßen, der erkannt hatte), daß die
Gleichung
döz . 0902 „002 02? 0202 BR.
A Br rn TA pr 9
77
Y
durch die Substitution z = e® in
006 ö0w 00o
de Aa a 8
übergeht; Monge findet
2= |p(Px - y))x[u(Px— Y)],
wo P und P’ die Wurzeln von
P?—- AP+B=0
sind, und im Fall gleicher Wurzeln
= |p(Pr— y)’Px[v(Pae —Y)].
Legendre behandelt nun die allgemeine Gleichung folgendermaßen:
‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1787 (1789), p. 314. ‘° ?) M&moires
presentes par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 323.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1013
statt 2, p, q als Funktionen von x und y aufzufassen, sieht er viel-
mehr umgekehrt x, y, z als Funktionen von p und g an; dann ist
zdp + ydgq ein exaktes Differential do und folglich
do do
u 1 de Pa at a
Man sieht leicht, daß diese Gleichungen eine Berührungstransformation
darstellen, die sich nach den Vorschriften von Monge oder Lie aus
2-24 +2, +tyy,=0
ergibt, wo der Übersicht halber 2), %, Yı Statt ©, 9, q geschrieben
sind; Legendre erkennt aber den Zusammenhang seiner Methode
mit der Mongeschen Theorie der Berührungstransformationen nicht.
Führt man nun ® als neue abhängige Veränderliche ein, so müssen
auch die Ableitungen von z nach x bzw. y durch die Differential-
quotienten von @ nach p und g ersetzt werden. Legendre erhält
auf diese Weise bei stillschweigender Unterdrückung eines Nenners
uud Reben 7
dp? dg? \dpda
) die neue Gleichung
ddo ddo ddo
Aa Bapagt ap 9
von der die Gleichung der Minimalflächen ein spezieller Fall ist.
Legendre behandelt!) auch einen speziellen Typus von Glei-
chungen höheren Grades, nämlich
r= F(s, t),
wo r, s und ? die übliche Bedeutung haben. Sein Gedankengang
ist ähnlich wie bei der eben behandelten linearen Gleichung; er fol-
gert aus
dp=rdz+sdy und dg=sde + tdy,
daß zdr + yds und zds + ydt exakte Differentiale sind, betrachtet
x und y als Funktionen von s und £ und setzt
zds + ydt= do;
dann ist
Dt do
vlta? FILE dee Fe
Durch Differentiation der gegebenen Differentialgleichung folgt aber
eine Gleichung
BEIDEN dr = Ads + Bdt,
') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1787 (1789), p. 317.
65*
1014 Abschnitt XXVIL.
wo A und .B bekannte Funktionen von s und ? sind; somit wird
zdr + yds = (Az + y)ds + Badt.
Da aber zdr + yds ein vollständiges Differential sein soll, so muß
ua en a de
Ber Es >
oder, mit Berücksichtigung von
dA dB
re
endlich
A BE.
+ BD
Setzt man hierin für z und y die oben angegebenen Ausdrücke
do do
er a rer
ein, so ergibt sich unmittelbar die lineare Gleichung 2. Ordnung
ddo ddo ddo
ar Ag Par 9
welche die 1. Ableitungen von ® nicht enthält.
Im Anschluß an frühere Arbeiten über die lineare partielle Diffe-
rentialgleichung 1. Ordnung‘) behandelt Trembley in ganz analoger
Weise die lineare Gleichung 2. Ordnung.) Ausgangspunkt für ihn
ist eine gegebene Form des Integrals; Ziel die Aufsuchung Na
Fälle. Zunächst nimmt er
z= IT. F(®) + II”. f(@”)
als Integralgleichung an, wo die //I und ® Funktionen der unab-
hängigen Variabeln x und y, die Striche aber natürlich keine Diffe-
rentiationen bedeuten. Bei Elimination der willkürlichen Funktionen
F und f, sagt Trembley, erhält man nur dann eine lineare Gleichung
2. Ordnung, wenn zwischen den II’, II" und ©, ®’ gewisse Rela-
tionen bestehen. Um diese zu finden, bildet Trembley die partiellen
Ableitungen 1. und 2. Ordnung von z, multipliziert sie mit unbe-
stimmten Funktionen @G, A, B,..., addiert und setzt
') Besonders Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. IX, Histoire p. 88ff.
(pres. 1794). *) Ebenda, t. X, 1792 (1797), Histoire p. 27—104. Die besprochene
Abhandlung ist 1795 der Akademie vorgelegt. Siehe auch ebenda, t. XI, 1793
(1798), Histoire p. 58 (pres. 1797).
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1015
A '02 02 ‚[00z 00z „[ 002\
62+4(5,)+ BC .) + 05) + Da +£ a5) =
Ersetzt man in dieser Gleichung die einzelnen Differentialguo-
tienten durch ihre aus der gegebenen Integralgleichung berechneten
Werte, so treten die willkürlichen Funktionen F und f nebst ihren
Derivierten in verschiedenen Verbindungen auf. Die Koeffizienten
dieser Kombinationen setzt Trembley, da die Gleichung keine will-
kürlichen Funktionen mehr enthalten soll, gleich Null und erhält so
6 Gleichungen für die ® und IT, wie z.B.
‚(0 ®\2 An CL AU CL An
c a +2 6; |+E (FE) Er ui
Aus diesen Gleichungen lassen sich zunächst die Verhältnisse der
Größen @, A, 5,... durch die ® und I/ ausdrücken; haben also
umgekehrt jene Verhältnisse diese Form, so ist die Gleichung sicher
durch
z = IT. F(®) + II”. f(®”)
integriert. Sind die @, A, B,... gegebene Funktionen, so besteht
die Aufgabe darin, die // und ® zu bestimmen. Trembley löst die
Aufgabe für spezielle Fälle. Zuerst nimmt er //’= II” an!) und be-
rechnet aus den erwähnten 6 Gleichungen die Ableitungen von II
und ® durch die G, A, B,... dargestellt. Für ® und ©” ergeben
sich, wie schon aus der einen angeführten Relation ersichtlich, die
Gleichungen
2 . (0 © — V(EE—4CD)| (0®
zen.
und
Pr 54 Re iR
en) -.
und das sind, wie es der Natur der Aufgabe nach nicht anders sein
kann, genau die Gleichungen, welche Laplace zur Transformation
der Gleichung 2. Ordnung auf die kanonische Form benutzte. Trembley
ersetzt beide Gleichungen durch die totale
[EFV(EE—-4CD)|öy—2Di2==0,
wobei also #, Ü und D als gegeben zu betrachten sind; des weiteren
stellt er Formeln auf, welche nach Berechnung von ®’ und ®” die
Funktionen //’ und /1” durch die Koeffizienten @, A, B,... der ge-
gebenen Differentialgleichung ausdrücken. Analog wird der Fall
o—®
') Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XI, 1792 (1797), Histoire p. 35.
1016 Abschnitt XXVII.
untersucht.) Noch mehr Gelegenheit zu rechnen gibt die Annahme?)
einer komplizierteren Integralgleichung
» = I109.[FO@) + fO@N)],
t= 0
wobei die F® und f® die Derivierten von F bzw. f bedeuten, und
die /I® nach einem gewissen Gesetz auseinander hervorgehen. Weiter-
hin geht Trembley von der Integralgleichung
d(z, Y, 2) m Il(«, Yy) ‘ F(D«, Yy))
aus°), die ihn zunächst auf eine komplizierte partielle Gleichung mit den
abhängigen Variabeln » und z und drei Bedingungsgleichungen führt.
Diese komplizierte Form vergleicht er sodann mit der allgemeinen
partiellen Gleichung 2. Ordnung, welche die ersten Ableitungen von z
in der 2. Potenz enthält, und stellt » durch die Koeffizienten der
letzteren dar. Ist nun eine derartige Gleichung 2. Ordnung gegeben,
so existiert, wenn d außerdem die erwähnten Bedingungsgleichungen
erfüllt, ein Integral der angegebenen Form. Ein Anhang*) bringt
eine Abänderung der besprochenen allgemeinen Methode. Endlich ist
zu erwähnen, daß Trembley eine Unmenge von Beispielen, besonders
aus Eulers Integralrechnung, nach seiner Methode rechnet, die nur
den Nachteil hat, daß man bei einer beliebig vorgelegten Differential-
gleichung von vornherein ersehen sollte, welche Form das Integral
haben wird.
Von den Gleichungen höherer Ordnung gesteht Euler in
seiner Integralrechnung?) zu, daß die Einführung neuer Veränderlicher
hier wegen der allzuverwickelten Formeln wenig zweckmäßig ist.
Euler beschränkt sich auf drei Typen von Gleichungen, deren erster
dadurch entsteht, daß man eine einzige Derivierte höherer Ordnung
gleich Null oder einer Funktion von x und y gleichsetzt.‘) Für die
Gleichung
d’z
(=
versucht Euler ein Integral
dz
2)"
das auf die Bedingung n°= a® führt und so drei partikuläre Integrale
der Form
') Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XI, 1792 (1797), Histoire, p. 42#f.
*) Ebenda, p. 83 ff. ») Ebenda, p. 101 ff. *) Ebenda, p. 105—109.
°) Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 348. 6) Ebenda, p. 351 bzw. 355.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1017
3 = e""I'(y)
mit der willkürlichen Funktion IT’ liefert; eine ähnliche Methode hat
Euler auch zur Integration der Gleichung der Saitenschwingungen
benutzt (S. 996). Als zweiter Fall ist die Gleichung behandelt, welche
die Ableitungen nach einer der beiden Variabeln x und y gar nicht
enthält. Man kann deswegen z.B. in der Gleichung
Br) +0,
wo P, Q, R,... Funktionen von & und y sind, y als konstant an-
sehen und integrieren; man hat lediglich für die Integrationskonstanten
nachträglich arbiträre Funktionen von y einzuführen. Euler be-
trachtet verschiedene integrable Gleichungen 3. Ordnung; hierauf die
Gleichung der Schwingungen elastischer Lamellen
'd’z ddz
(1) Brio (ge );
von der er als partikuläres Integral die Gleichung
E AR (4 )
mit der Bedingung b= + a angibt.!) Der dritte Typus, von Euler
als homogener bezeichnet, ist dadurch charakterisiert, daß die Diffe-
rentialgleichung nur Derivierte derselben Ordnung und kein Absolut-
glied besitzt. Für die Lösung der Gleichung
1(7,)+ Be) er ( +0,
wo A, B,C,... Konstante sind, gibt Euler die Regel an: man bilde
die algebraische Gleichung A'® Grades
An’+ Bn*-!+ On-?+..:=0
und bestimme ihre Wurzeln «, ß, y,...; dann ist das „vollständige
Integral“ der vorgelegten Gleichung
»=T(ytaa)+Ay+ßa)+Zy+trR)t
wo I, 4, Z,... willkürliche Funktionen sind. Im Fall gleicher
') Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 374. Die Schwingungen
elastischer Lamellen und Ruten unter verschiedenen Grenzbedingungen hat
Euler ausführlich Acta Academiae Petropolitanae 1779 (1782), pars I, p. 103 ff.
behandelt. Daran knüpft endlich ein Aufsatz von Lexell an: ebenda, 1781
(1785), pars II, p. 185 ff.
1018 Abschnitt XXVIL.
Wurzeln treten Faktoren x, #°, ... oder, was die Form des Integrals
nur scheinbar ändert, %, y?, ... auf; ein Resultat, das Euler dadurch
erhält, daß er die gleichen Wurzeln als unendlich wenig verschieden
annimmt und nach geeigneter Umformung zur Grenze übergeht. Ist
von den ersten Koeffizienten A, B, C,... eine Anzahl Null, so sind
ebensoviele Wurzeln » unendlich groß!),j und der entsprechende Teil
des Integrals lautet I) +yI(&) + yE(x) +: --
Dieser Gleichungstypus begegnet uns bereits bei Laplace?), der
indessen auf der rechten Seite statt der Zahl 0 eine gegebene Funk-
tion X von # annimmt. Laplace behandelt die Gleichung mit Hilfe
einer Methode, die derjenigen für die lineare totale Gleichung n'” Ord-
nung vollkommen analog ist (vgl. 8. 931); nach seiner Behauptung
hat sie schon d’Alembert im 4. Band seiner Opuscules integriert.
Man vergleiche hierzu auch die von Legendre behandelte Gleichung
2. Ördnung (vel. S. 1012).
Euler hat noch verschiedene spezielle Gleichungen höherer Ord-
nung integriert; als Integral von
(2) = aa (92) + 2ab (92) + bbz
gibt er?) an
ddz
Melia
und knüpft daran die Bemerkung, daß man a posteriori, d.h. vom
Integral ausgehend, noch weitere derartige Beispiele finden könne.
Das Problem der Schwingungen von Glocken behandelt Euler durch
Zerlegung der Glocke in Kreisringe und Betrachtung von deren Be-
wegung. Als Gleichung für die letztere erhält er-
ae
mit der partikulären Lösung
y= Asın ee + «) sın (et er Ya — 1) + v),
wo i jede ganze Zahl bedeuten, jeder Sinus durch einen Cosinus er-
setzt werden kann, und A, «, v willkürliche Größen sind. Aus den
Partikulärlösungen für die Kreisringe sucht er dann die Schwingungen
der ganzen Glocke zu konstruieren.
') Institutiones caleuli integralis, vol. III, p. 387. ?, Miscellanea Tauri-
nensia, t. IV?, 1766/69, p. 339. ®) Institutiones calculi integralis, vol. IL,
p. 377. *) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. X, 1764 (1766),
p- 269. Vgl. Burkhardt, a. a. O., Heft 2, S. 364.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1019
Monge behandelt!) durch sukzessive Ordnungserniedrigung einen
weiteren Typus, welcher allgemeiner Behandlung zugänglich ist, näm-
lich die Gleichung
0” ee
| z m— 1)
gm —— + Mm." 1 3:
YAar-iay
0" ?ddz
+ m:> % ” amt “ RT
— —— te =0(
de ..dy
da"
mit dem Integral
(Hr Hr) +),
Q
wo f, f,f‘,... g willkürliche Funktionen bedeuten. Monge sagt:
Setzt man
—1 ER; m — 2
ar —— + (m — 1)0”?y
dam!
"7 "de
da” 2] y
so ergibt sich mit Benutzung der vorgelegten Differentialgleichung
oV daV
u, tr am -YV/=0))
also
—oam-1l % x
_uy »(,)
Dann ist
rl, 2
a Be RE Ba
2 da! en Y e(‘,)
als int6grale premiere der gegebenen Gleichung aufzufassen und kann
ebenso weiter behandelt werden, ohne daß durch die willkürliche
Funktion g die Integration erschwert würde. Weiterhin behauptet
Monge, daß
z=g+k
das endliche und „vollständige“ Integral von
W=G+K
sei, wenn 2= 9 bzw. z2—% die endlichen vollständigen Integrale von
W=G bzw. W=K seien, wo W, @, K Ausdrücke obiger Art
sind. Mit Hilfe dieser Regel sucht er dann Gleichungen
W+AV+BV'’+..:=K
‘) Miscellanea Taurinensia, t. V?, 1770/73, p. 94. Auch bei Condorcet s
findet sich in einem Aufsatz über partielle Ditferentialgleichungen Histoire de |\
l’Acad&mie des Sciences 1770 (1773), p. 151ff. die Schreibweise #*d”Z, wo mit
d die Differentiation nach x, mit © diejenige nach y angedeutet ist. Siehe auch
ebenda 1772, part. 1 (1775), p. 14. ?) Ebenda (Misc. T.), t. V?, 1770/73, p. 89.
1020 Abschnitt XXVI.
zu behandeln, wo die W, V, V’,... Gebilde obiger Art mit ver-
schiedenen m bedeuten.
Nikolaus Fuß schreibt!) über die Integration der Gleichungen
Az+BP=0; A2+BP+C0Q9=0
usw., wo A, B, C,.. Konstante und
+)
usw. Legendre behandelt?) in seinem mehrerwähnten Aufsatz die
vervollständigte Gleichung dieser Art
; dv dv ’ ddv ddv
nu ltr re ae ae
)+
und gibt an, daß sie sich entweder durch Ordnungserniedrigung be-
handeln läßt oder mittels der Substitutionen
in die Gleichung
T= av +br% a
übergeht, deren Integration keinerlei Schwierigkeiten macht.
Die allgemeine lineare Gleichung 3. Ordnung mit drei
Variablen ist von Monge nach seiner bekannten Methode behan-
delt.?) Sei
dr=.ads + Pdy; ds—= PBdx-+ ydy,; dt=yda + sdy,
so daß also «, ß, y, & die vier partiellen Differentialquotienten 3. Ord-
nung sind, sowie
A«e+bß+Cy+D:+E=(0,
wo A, B, C, D, E gegebene Funktionen von &, %, 2, P, q, r, 5, t be-
deuten. Eliminiert man daraus drei von den vier Größen «, ß, y, &
so entstehen Gleichungen, welche, da sie die vierte der Größen «, ß,
y, & nicht bestimmen können, zerfallen müssen. So erhält Monge
durch Elimination von ß, y, & die zwei totalen Gleichungen
Ady?— Bay?da + Cdyda?’— Ddx’ = 0;
dy?(Bdr + Cds + Ddt) — dady(Cdr + Dds) + Dax®dr + Ed? =0.
‘) Acta Academiae Petropolitanae 1780 (1783), pars I, p. 76ff. 2) Histoire
de l’Academie des Sciences 1787 (1789), p. 336. °) Ebenda 1784 (1787), p. 155.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1021
Zwei Integrale
V=a und U=b
dieser Gleichungen liefern das erste Integral
V’=o(0)
der ursprünglichen Gleichung. Monge benützt diese Methode zur
Integration der Differentialgleichung der Regelflächen (vgl. S. 571), die
er in der Form
Pa + 3uß + B3tuy + Ws — 0
angibt, wo zur Abkürzung
LT ne
gesetzt ist. Die eben aufgestellten totalen Gleichungen lauten in
diesem Falle:
Pay? — 3Pudydx + 3tu?dyda? — wda’— 0;
dy’(3t’dr + 3tuds + u?dt) — dady(3utdr + u?ds) + udadr = 0.
Die erste dieser Gleichungen hat drei gleiche Wurzeln
tdy — udz = 0;
dadurch geht die zweite Gleichung in
wdt + 2utds + dr = 0
mit dem Integral
us {
t
über. Damit findet man aber aus
tdy — udz = 0
die Gleichung
y=azxz+b
und somit das erste Integral
-U U
mt):
Setzt man für « seinen Wert in
=(
ein, so kommt
r+2as+at=0
') Diese Gleichung läßt sich mit der vorhergehenden gleichartig schreiben,
nämlich #?.r + 2tu.s+u?.t=0.
1022 Abschnitt XXVII.
mit dem integrale complete
2=iV(ac —y) +rlax — y).
Monge erhält endlich die beiden simultanen Gleichungen
y=az+y(a) und z=xYla)+r(a),
aus denen man sich @ eliminiert zu denken hat. Nach einer Bemer-
kung, wie die einzelnen Wurzeln der erwähnten totalen Gleichungen
des allgemeinen Falles zu kombinieren sind, wenn jede dieser Glei-
chungen ungleiche Wurzeln besitzt, weist Monge darauf hin, daß
seine Methode auch auf Gleichungen höherer Ordnung anwendbar ist
und nennt den ihr zugrunde liegenden Gedankengang la v£eritable
metaphysique du caleul aux differences partielles.')
Legendre verwandelt?) die spezielle Gleichung 3. Ordnung, in
welcher die abhängige Variable v» höchstens einmal nach y differen-
tiiert auftritt, durch die Transformation
dv ‚
Iz +pvr=v
in eine Gleichung 2. Ordnung, wobei p eine einfache Differential-
gleichung zu erfüllen hat.
Trembley hat außer der Gleichung 1. und 2. Ordnung auch
diejenige 3. Ordnung aus dem gegebenen Integral konstruiert.”) Er
setzt
2 = Il(a, y): F(@@, y)
wo unter F eine willkürliche Funktion zu verstehen ist. Indem er
aus den partiellen Ableitungen von 2 die allgemeine Gleichung
3. Grades bildet, welche diese Ableitungen nur in der ersten Potenz
enthält, bekommt er vier Bedingungsgleichungen, von deren Erfüllt-
sein das Bestehen der Differentialgleichung 3. Ordnung bzw. der an-
genommenen Integralgleichung abhängt. Die eine dieser Bedingungs-
(1
gleichungen ist hinsichtlich der Unbekannten (®) vom 3. Grade und
ex
!) Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 158. Es mag hier
noch die Gleichung
(22:) (av) = (aavay) (azayı)
dx?/ \dy’} \da’dy) \dady?
erwähnt werden, die ebenda p. 567 kurz besprochen ist. ®) Ebenda 1787
(1789), p. 332. °) Nova Acta Academiae Petropolitanae, t. XII, 1795/96 (1802),
p. 101 ff. Aus dem Jahre 1798.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1023
liefert somit drei Werte von ®, die ®’, ©’, ®” heißen mögen. Hier-
mit ergibt sich das Integral
Bi I: F(®') T 11". f(®”) ni ; 7 Aa z(®"),
wo F, f, Z willkürliche, II’, 11”, 11” passend zu bestimmende Funk-
tionen sind. Die Methode hat den Nachteil, daß von vornherein nicht
zu ersehen ist, ob ein Integral der angenommenen Form existiert;
trotzdem scheut Trembley nicht vor der Berechnung der kompli-
ziertesten Ausdrücke und Formeln zurück.
Cousin ist, indem er die oben erwähnten Untersuchungen in
anderer Richtung weiter verfolgte, zu einem Theorem über die Inte-
gration der allgemeinen im Mongeschen Sinne linearen Gleichung
n“* Ordnung gekommen! ), das die Integrationsvorschriften von Monge
für die Gleichung 1., 2. und 3. Ordnung als Spezialfälle umfaßt. Sei
d"z d"z d"z d"z
a rd a ges, ag Ta ee Be Ar
dy" dy"Idx 7 dy" "de? + nu da” ?
wo «, ß, Y,..., tr Funktionen von x, y, 2 und den partiellen Ab-
geleiteten von 2, die der (» — 1)" Ordnung einschließlich, bedeuten.
Man berechne die Wurzeln der Gleichung
em" + Bm" + ym" +. +8=0
(vgl. Eulers homogene Gleichung S. 1017) und bilde die Größen
em +ß=ul, aAm+y=uau; aum+ö=uv
usw. Dann ergeben sich alle Integrale der ursprünglichen partiellen
Gleichung durch Integration folgender beiden totalen Gleichungen
mdy+dz=0 und am(dp+Adgq+udr +vds+:--)+rda=V,
u
wo 9,4 r, 5, ... die Differentialquotienten (n — 1)'” Ordnung ne ;
n—1l,
a ‚... bedeuten. Cousin betrachtet sodann speziell diejenige
dy" "da
Gleichung, welche keine Produkte oder Potenzen von Differential-
quotienten enthält, in der also sämtliche Abgeleitete linear auftreten;
er bezeichnet sie als lineare Gleichung, während Monge dabei nur
das Linearsein der Derivierten n'" Ordnung fordert.
Zu den frühest behandelten Differentialgleichungen von
mehr Variablen und höherer Ordnung — die 1. Ordnung sind
') Histoire de l’Academie des Sciences 1783 (1786), p. 688ff. Im Text ist
die Darstellung von ebenda 1784 (1787), p. 407 zugrunde gelegt.
1024 Abschnitt XXVI.
bereits an Ort und Stelle besprochen worden — gehören die Grund-
gleichungen der Hydrodynamik. Euler gibt, wie schon erwähnt, in
einem Brief an Lagrange die Gleichung
d
son (ae) — (ax) + (ar) + a2)
an und sucht partikuläre Lösungen von ihr aufzufinden.) Lagrange
sucht fernerhin die allgemeinen hydrodynamischen Gleichungen in
ihrer Lagrangeschen Form zu integrieren”) Durch Einführung der
Multiplikatoren L, M, N, wo L, M, N Funktionen der drei Variablen
(changeantes) X, Y, Z bedeuten, Addition und Integration über den
von der Flüssigkeit eingenommenen Raum erhält er zunächst die
Gleichung
d’x d’y d’z E
je: tzeH4t+ a NdXaYaz
d?x d’y d?’z d’y d?x
zn sr taxar! taxztt mt mx
d’z d’z d?x d’y
Die hier auftretenden dreifachen Integrale werden durch partielle
Integration umgeformt, so daß z. B.
d’x IR’ e dx dL
[daraxa Yaz (ei dXdYdZ fee — 253) dYdZ usw.
Lagrange zeigt, daß unter gewissen Bedingungen, die allerdings in
den meisten Fällen nicht angebbar sein werden, alle auftretenden
Doppelintegrale (Öberflächenintegrale) zum Verschwinden gebracht
werden können und reduziert dann durch die Festsetzungen
dL ..:deM d?N @M @L dN
am taxar t axuz tb Gm tayax taraz N
d?N d’L d?M
a2? T azax " dzaY
und die Substitution
s= [(eL+yM+zN)dXdYdz
—=kN
— das Integral genommen über den von Flüssigkeit erfüllten Raum —
die ursprüngliche Gleichung auf
') Miscellanea Taurinensia, t. II®, 1760/61, p. i—10. Vgl. auch Histoire
de l’Academie de Berlin, t. XV, 1759 (1766), p. 236 ff. 2) Miscellanea Tauri-
nensia, t. II?, p. 120. Mit Benutzung von Burkhardt, a.a. O., Heft 2, S. 365.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1025
= kes.
Bestimmt man daraus s und berücksichtigt die physikalischen An-
fangsbedingungen für = 0, so läßt sich damit, wie Lagrange an-
deutet, die Berechnung von z,y,z auf die an einfacheren Differential-
gleichungen 2. Ordnung auseinandergesetzten Methoden zurückführen.
Die Berechnung von L, M, N gelingt Lagrange nur in speziellen
Fällen; so führt die Annahme
L = AcdepX+a Yırz)Yk. DE BepX+gY+rz)Vk, N = (ePX+gY+rz)Vk
auf die Gleichungen
A=c(Ap’+ Bpg+Cpr); B=c(BQ?+ Apg + Org);
C=c(Cr’+ Apr + Bgr)
zur Bestimmung von »,q, r. Schließlich!) sind noch Reihenentwick-
lungen abgeleitet, die jedoch sehr viel Raum einnehmen.
Unter allgemeinen Gesichtspunkten sucht die Gleichungen von
mehr Variablen zuerst Euler zu behandeln. Er macht auch darauf
aufmerksam, daß bei drei unabhängigen Variablen die willkür-
liche Funktion der Integralgleichung eine Funktion von zwei Variablen
ist.) Er unterscheidet verschiedene Typen, die einer gleichartigen
Behandlung zugänglich sind. Ist eine einzige Derivierte von v einer
beliebigen Funktion der unabhängigen Variablen gleichgesetzt, so
findet man das Resultat, indem man bei jeder Integration alle Ver-
änderlichen bis auf eine konstant läßt und die Integrationskonstanten
durch willkürliche Funktionen dieser Variablen ersetzt. Die Anzahl
der willkürlichen Funktionen, bemerkt Euler ausdrücklich, ist immer
gleich der Ordnung der Differentialgleichung. Ist weiterhin die Diffe-
rentialgleichung von der Art, daß sie nur die Ableitung nach ein und
derselben Variablen, etwa x enthält, so kann man wieder die übrigen
Veränderlichen als konstant ansehen und nachher — wie wir sagen
würden — die Variation der Konstanten anwenden. Treten nur die
Ableitungen nach zweien der Variablen auf, so kann man wenigstens
die dritte als konstant betrachten und die Gleichung als Differential-
gleichung zweier unabhängigen Variablen behandeln.) Euler unter-
sucht außerdem speziell die „homogene“ Gleichung 2. und 3. Ord-
nung, d. i. jene Gleichung, welche nur die Differentialquotienten der
höchsten Ordnung und kein Absolutglied besitzt. Unter der Annahme,
daß v nur von
2‘ Miscellanea Taurinensia, t. II®, p. 127. ?) Institutiones caleuli inte-
gralis, vol. II, p. 397. °) Ebenda, bzw. p. 409, 416, 419.
1026 Abschnitt XXVLL.
t=ox +ß2 und uv=yy-+dz
abhänge, führt die Gleichung 2. Ordnung’)
1 (ai) + nlei) + older) Hann) + (ie)
+2F(2,a,) 0
durch Einführung von t und «u an Stelle von x, y, 2 zu den drei
Gleichungen
Ava +CBßß+2Eceß=0; 208 +2Day+2Ead +2FPßy=0
und
Byy +089 +2Fyd=0,
die sich zu der Bedingung
AFF+-BEE+ÜCDD=ABC+2DEF.
vereinigen lassen. Das ist aber, sagt Euler, die Bedingung dafür,
daß sich
Ax& + Byy+ Czz2+2Dxy-+ 2Exz + 2FYyz
in
(a® + by + ee) (fx + 9y + he)
spalten läßt. Nun lassen sich die Quotienten : und = durch die A,
B,C,..., diese selbst aber durch die a, b, c,... ausdrücken; so ge-
lingt es Euler, # und u (bis auf einen konstanten Faktor, der gleich-
giltig ist) durch die a,b, c,... darzustellen; beim Bestehen der er-
wähnten Bedingungsgleichung, welche, wie nebenbei?) gezeigt wird,
die homogenen Gleichungen 1. Ordnung
MEET EI te IrERTDE TE
im Gefolge hat, lautet dann das „vollständige“ Integral
»- Tl - Be en
wo I' und 7 willkürliche Funktionen sind. Euler behandelt sodann
die homogene Gleichung 3. Ordnung?) unter der Annahme, daß ein
Integral
et
') Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 447 ff. ?®, Ebenda, p. 451.
®) Ebenda, p. 453.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1027
existiert; diese Hypothese führt auf die Bedingung, daß ein gewisser
algebraischer Ausdruck 3. Grades, gebildet aus z, y, z und den Koef-
fizienten A, B,O,... der gegebenen Differentialgleichung, sich in drei
Linearfaktoren der Form a@+by-+ cz spalten läßt; ist diese Be-
dingung erfüllt, so kann das „vollständige“ Integral ohne weiteres
angegeben werden. Aber auch wenn vollständige Zerfällung in
Linearfaktoren nicht möglich ist, sondern — und dies gilt allgemein
auch für homogene Gleichungen höherer Ordnung — lediglich eine
Zerspaltung in Faktoren höheren Grades möglich ist), kann man noch
einen gewissen Nutzen aus dieser Faktorenzerlegung ziehen; denn es
ist dann wenigstens Ördnungserniedrigung anwendbar, so führt z. B.
ein Faktor xy — zz auf
ddv ddv
(Geay) aa) 0
Schließlich wird noch der Fall, daß eine der Größen a, b, c gleich
Null ist, an einem Beispiel erläutert. Endlich sagt Euler?) von der
hydrodynamischen Gleichung mit vier unabhängigen Veränderlichen
(ae) = (ee) + (ae) + (a2)
daß ihr vollständiges Integral zwei willkürliche Funktionen von je
drei Variablen haben müsse, und versucht ein Integral der Form
v=I(ex +ßy+yz+ bt).
Es ergibt sich die Bedingung
66=ua+PßPß + yYyY.
Ferner gibt Euler noch die Integrale
„ [dtVeertyytr), „_T@LVÜe—yy—e3)
Vaxrtyytz2) Vet —yy— 22)
sowie die beiden anderen an, welche sich durch Vertauschung von &
mit y und 2 hieraus ergeben.
An anderer Stelle behandelt Euler spezielle Gleichungen von
mehr Variablen; für die Schwingungen von Pauken stellt er?) die
Gleichung u (da) “ ea a (ee
ee\dt) \dx? day’
auf; hier findet man leicht
’
') Institutiones calculi integralis, vol. II, p. 457. ?) Ebenda, p. 458.
s) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae t. X, 1764 (1766), p. 252.
CANTOoR, Geschichte der Mathematik IV. 66
1028 Abschnitt XXVIL
2= dl(ax+By+ytb),
wo
+ BB=
ist. Er versucht!) auch für den Fall e=1 eine Lösung der Form
2 = sin («at + W) sin ( + 8) - sin (# + 6);
dann müssen die Konstanten «, ß, y der Bedingung
= ß?+y?
gehorchen. Euler erkennt diese Lösung als den Fall der Schwin-
gungen einer rechteckigen Membran, die an den Rändern ringsum
befestigt ist. Um weitere Lösungen zu finden, transformiert er auf
Polarkoordinaten und wird dabei schließlich auf unsere Zylinder-
funktion geführt.
Monge behandelt?) die lineare Gleichung 2. Ordnung mit drei
unabhängigen Variablen; man erhält sie aus der Eulerschen homo-
genen Gleichung, indem man ein Absolutglied hinzufügt und die
Koeffizienten als Funktionen der vier Variablen und der Derivierten
1. Ordnung auffaßt. Monge wendet sein oft bewährtes Verfahren
an, indem er die drei Gleichungen, welche die Derivierten 2. Ordnung
mit den totalen Differentialen der drei unabhängigen Variablen und
der drei Derivierten 1. Ordnung verknüpfen, einführt, mit ihrer Hilfe
drei Derivierte 2. Ordnung aus der ursprünglichen Gleichung eliminiert
und wie immer das Resultat der Elimination in einzelne Gleichungen
zerlegt. Er erhält so genau dieselbe Bedingungsgleichung wie Euler,
nur in etwas anderer Bezeichnungsweise, und sagt von ihr: „la pro-
posee n’est integrable que lorsque les coefficiens satisfont ä cette
condition“; daß sie die Bedingung für das Zerfallen eines gewissen
Ausdrucks in Linearfaktoren ist, braucht er deshalb nicht anzugeben,
weil er sie umgekehrt gerade aus diesen Linearfaktoren, die ihm
seine Methode zuerst liefert, herleitet. Monge deutet auch kurz die
Ausdehnung seines Verfahrens auf Gleichungen höherer Ordnung an;
er findet, daß die Anzahl der Bedingungsgleichungen — im Fall von
drei unabhängigen Variabeln natürlieh — immer gleich der Ordnung
der Differentialgleichung, vermindert um die Einheit, ist. Im An-
schluß daran erwähnt er wieder, daß seine totalen Gleichungen, auf
die er das Problem reduziert, von derselben Allgemeinheit (de la
me&me gen6ralite) seien wie die partiellen Gleichungen. „Le travail
') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. X, 1764 (1766), p. 248.
*”, Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 161.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1029
de Yintegration“, sagt er, „ne consiste done plus, lorsquelle est
possible, qu’ä transformer ces &quations en d’autres qui les com-
. portent toutes et qui soient integrables“. So eigentümlich diese Worte
beim ersten Lesen anmuten, man muß sich hüten, ihnen allzu große
Bedeutung beizumessen oder gar Liesche Ideen darin finden zu wollen;
Lie sagt ausdrücklich, Integration ist nichts anderes als Transfor-
mation; Monge unterscheidet genau zwischen Transformation und In-
tegration; was er verlangt, ist lediglich Transformation auf einen
integrablen Typus.
Auch Legendre untersucht!) die lineare Gleichung 2. Ordnung
ddv ddv ddv
er ar
verlangt aber im Gegensatz zu Monge, daß die Koeffizienten a, b,...
die abhängige Variable v nicht enthalten, also Funktionen von x, y, 2
allein sind. Als „notwendige Bedingung“ für die Existenz eines In-
tegrals, das nur eine endliche Zahl von Termen aufweist, bezeichnet
auch er die Möglichkeit, das Polynom »°+ axy+bxzz-+:-- in zwei
rationale Faktoren zerspalten zu können. Er behauptet, daß für
Gleichungen aller Ordnungen ein ähnliches Gesetz bestehe, und geht
dann?) endlich zu Gleichungen 2. Ordnung mit vier unabhängigen
Veränderlichen über, bei denen das Prinzip der Zerspaltung wieder
von Bedeutung wird.
Gleiehungen mit mehreren abhängigen Variablen treten im
allgemeinen nur bei Simultansystemen auf, wie sie schon frühzeitig
bei hydrodynamischen Problemen untersucht wurden; so haben La-
grange*) und d’Alembert*) das System
d d d d ’
FE za
integriert. Der Fall einer einzigen Gleichung mit mehreren abhängigen
Variablen findet sich bei Trembley, welcher die Gleichung
de\ /du de\ (du\ _
ya
durch eg = F(w) integriert°); die Beziehung ge = Fu) sieht Trembley
lediglich als Integral der gegebenen Differentialgleichung an, während
') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1787 (1789), p. 323. ?) Ebenda,
p. 331. °) Miscellanea Taurinensia, t. III®, 1762/65 (1766), p. 20. ‘#) Opus-
cules math&matiques, t. V, 1768, p. 41. °) Nouveaux Me&moires de l’Academie
de Berlin 1792/93, p. 386. Vgl. hierzu auch Condorcet, Histoire de l’Aca-
demie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 17. In obiger Form läßt sich be-
kanntermaßen auch die Gleichung der abwickelbaren Flächen rt— s?®—0
schreiben.
66 *
1030 Abschnitt XXVII.
wir heutzutage diese als notwendige und hinreichende Bedingung für
das Bestehen einer Relation zwischen o und u auffassen; Trembley
hat also, wenn man so sagen darf, nur das „hinreichend“ eingesehen.
Von den Differentialgleichungen mit drei oder mehr Veränder-
lichen haben wir bis jetzt nur die partiellen betrachtet. Simultan-
systeme wenigstens von totalen Gleichungen sind uns wiederholt
begegnet; wie wir uns erinnern, lag in ihrer Anwendung in zwei
wichtigen Fällen Methode und zielbewußte Absicht. Der eine dieser
Fälle ist die Reduktion einer totalen Gleichung »t“ Ordnung auf ein
System von n totalen Gleichungen 1. Ordnung. Eine besondere
Integrationsmethode für dieses Ersatzsystem wird indessen nirgends
entwickelt, wohl deshalb, weil das betreffende System da, wo es auf-
gestellt wird, nicht die Integration erleichtern, sondern anderen
Zwecken, wie z. B. der Herleitung irgend eines allgemeinen Satzes
(vgl. S. 905) dienen soll. Doch wird angeblich in speziellen Fällen
für n=2 und n=5 auch die Integration selbst durch Euler in
Angriff genommen und zwar mit Hilfe eines Multiplikatorensystems,
ohne daß jedoch deren allgemeine Existenz behauptet wäre.) Wich-
tiger ist die Heranziehung von simultanen totalen Gleichungen zur
Integration der partiellen Differentialgleichungen, wie sie von La-
place, Lagrange und Monge (vgl. insbes. S. 947, 972, 1009) geübt
wurde Monge selbst geht ja hierbei soweit, daß er den Verein
totaler Gleichungen nicht nur als ein Hilfsmittel zur Integration der
partiellen Gleichung, seine Integration nicht bloß als eine Aufgabe
ansieht, auf welche sich diejenige der partiellen Gleichung stets zu-
rückführen läßt, sondern den betreffenden Verein als ein der partiellen
Gleichung vollkommen gleichwertiges Gebilde ansieht, weshalb er den
Verein totaler Gleichungen selbst nicht durch eine Reihe einzelner
Integralgleichungen, sondern durch ein Integral mit willkürlichen
Funktionen integriert.
Speziellere Systeme hat zuerst d’Alembert integriert, dem man
überhaupt die systematische Untersuchung von Simultansystemen ver-
dankt.?) Interessant ist die Behandlung des Systems von Differential-
gleichungen der Schwingungen einer endlichen Zahl von Massen-
punkten durch Lagrange bei Gelegenheit seiner Untersuchungen
tiber Saitenschwingungen?); doch sind die Gleichungen zu speziell, als
daß hier darauf eingegangen werden könnte. In demselben Aufsatz,
der die Theorie der Adjungierten entbält, bringt Lagrange‘) ein
') Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften ITA 4b, S. 246.
?) Vgl. diese Vorl., II?, S. 898, 901. ®), Miscellanea Taurinensia, t. I? (1759),
p. 26. *) Ebenda, t. III®, 1762/65 (1766), p. 223.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1031
System von Gleichungen, auf das sich diese Theorie übertragen läßt;
die Verwendung seiner Variation der Konstanten auf ein spezielles
Gleiehungssystem haben wir bereits erwähnt (vgl. 5. 926), desgleichen
die Ausdehnung einer von Laplace herrührenden Näherungsmethode
auf ein System von Störungsgleichungen (vgl. S. 923). Auf ein
interessantes Simultansystem, das Cousin behandelt!), und seine
approximative Berechnung kann hier, da die betreffenden Entwick-
lungen allzu umfangreich sind, nicht eingegangen werden. Endlich
sei noch an die zahlreichen Simultansysteme, auf welche die Mechanik
z. B. im Dreikörperproblem führt, erinnert.
Wir charakterisieren hier nur die Integration des Simultansystems
ddx +udz +ßdy +yx +öy =;
ddy+«dde+Bdy+ye+Vy=0
durch Lexell?); dabei sind x und y als Funktion einer unabhängigen
Variablen « zu denken, deren Differentiale du, du? usw. der Einfach-
heit halber fortgelassen sind. Durch zweimalige Differentiation beider
Gleichungen ergeben sich vier weitere Gleichungen, die durch Ein-
führung eines Multiplikatorsystems oe, v, u, A, 1 und Addition auf eine
Gleichung 4. Ordnung führen. Bestimmt man hierin die Multipli-
katoren so, daß nur mehr x und seine Differentiale überbleiben, so
ergibt sich die Gleichung
Ec+(ce+P)Pr+lef -— a B+Yy+ö)dde
+ (a ds + By — Pry)de+ (dry —dy)x—=0,
wegen deren Integration auf Eulers Integralrechnung verwiesen
ist; ebensogut hätte man natürlich auch in der Gleichung y allein
belassen können?) Im folgenden betrachtet Lexell zwei lineare
Gleichungen 3. Ordnung, ebenfalls mit konstanten Koeffizienten und
stößt so auf eine Gleichung 6. Ordnung, welche nur x und seine Ab-
leitungen enthält. Sind die zwei Ausgangsgleichungen vierter Ord-
nung, so wird analog die Schlußgleichung 8. Ordnung usw. Lexell
nimmt sodann drei Gleichungen mit den drei abhängigen Veränder-
lichen , y, 2; hier treten in den Schlußgleichungen viel kompliziertere
Koeffizienten auf. Endlich ist das Problem mit der Frage der Inte-
grabilität durch Verwendung passender Multiplikatoren, auf die wir
für den Fall von bloß zwei Veränderlichen ausführlich eingegangen
') Histoire de l’Academie des Sciences 1783 (1786), p. 674. ?) Acta
Academiae Petropolitanae 1777 (1778), pars I, p. 61ff. Die Untersuchung ver-
dankt nach Aussage des Autors ihre Entstehung der Anregung durch d’Alem-
bert. ») Ebenda, p. 67.
10532 Abschnitt XXVIL
sind (vgl. 5. 905ff.), in Zusammenhang gebracht; ist V= 0 eine Glei-
chung zwischen 9,9, r,..., 2,9, r,..., wo
de=pdu; dde=gdu;.... dyy=pdu; ddy=gdu; ..
u
so ist das Integrabilitätskriterrum durch folgende Gleichungen ge-
ı
?
wenn
dV=Mdu+Nd«+Ndy+---
+ Pdp+Podp+---
+Qdg + Qdg+--
Durch Anwendung dieser Kriterien (vgl. S. 538) erhält Lexell schließ-
lich totale Differentialgleichungen für die gesuchten Multiplikatoren,
die den ursprünglichen Gleichungen sehr ähnlich sind; zur Integration
der letzteren genügen indes schon partikuläre Lösungen der ersteren.
Später hat Lexell diese Untersuchungen fortgesetzt.”)
Wir betrachten jetzt den Fall, daß eine einzige totale Glei-
chung mit mehr als zwei Variablen vorliegt, und zwar sollen
insbesondere die Differentiale aller dieser Veränderlichen vorkommen,
da der gegenteilige Fall keinerlei Schwierigkeiten macht. Die hierher
gehörigen Gleichungen 1. Ordnung und 1. Grades hat schon frühzeitig
Clairaut eingehend behandelt?) und die Bedingung ihrer Integra-
bilität, die event. mit Hilfe eines Multiplikators zu bewerkstelligen
ist, aufgestellt. Diese Bedingungsgleichung bringt Euler in seiner
Integralreehnung wieder?), woselbst sich auch das entsprechende Kri-
terium für die spezielle Gleichung
dz = Pdx + Qdy
findet, ohne daß Euler die wichtige Anwendung zu machen weiß,
die nachher Lagrange geglückt ist (vgl. S. 966). Letzterer Umstand
ist indessen sehr begreiflich, da Euler von der totalen Gleichung
ausgeht, bei der P und Q Funktionen bedeuten, die zumeist gegeben
sind oder doch bestimmt angebbar gedacht werden, während La-
grange eine gegebene Gleichung zwischen x, y, z, P, Q@ integrieren
will, in der P und Q nichts als die Symbole für partielle Differential-
quotienten, nichts als Zeichen, formale Gebilde sind. Ist die Integra-
') Acta Academiae Petropolitanae 1779 (1783), pars IL, p. 52ff. ®») Vgl.
diese Vorl., III? S. 885. °) Institutiones caleuli integralis, vol. II, p. 5.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1033
bilitätsbedingung nicht erfüllt, so ist die gegebene Differentialgleichung
nach Eulers Ansicht völlig sinnlos. Man sieht, heißt es, daß man
unendlich viele derartige Gleichungen mit drei Variabeln vorlegen
kann, denen keinerlei endliche Gleichung (d. i. Integralgleichung) zu-
kommt, und die außerdem absolut nichts bedeuten („nihil plane defi-
niant“ und an anderer Stelle „nihilque omnino declararet“); es wäre
lächerlich, ihre Integration zu versuchen, heißt es weiterhin.
Euler kann sich gar nicht genug tun in starken Ausdrücken,
„aequatio nihil significans absurda“ nennt er diesen Fall im Gegen-
satz zur „aequatio realis“!) Ähnlich sagt er gleich darauf von der
Gleichung 2. Grades mit drei Variabeln, sie sei überhaupt immer ab-
surd, wenn sie nicht durch Wurzelziehen?) auf die Form
Pdx + Qdy+ Rdz=0
gebracht werden könne. Diese Anschauung kann in Erstaunen setzen,
wenn man weiß, daß Newton bereits die Differentialgleichung
2dz + xdy— dz =
nicht allein durch die zwei Relationen
1;
Y=-z und = 22 +.0°
erfüllt, sondern sogar die viel allgemeinere Vorschrift gegeben hat,
eine Relation zwischen zweien der Variabeln willkürlich anzunehmen,
um mit ihrer Hilfe die gegebene Gleichung auf eine solche von nur
zwei Veränderlichen zu reduzieren.) Noch viel wunderbarer erscheint
aber die Tatsache, daß Euler schon lange vor dem Erscheinen der
Integralrechnung Gleichungen, die er später als absurd und sinnlos
bezeichnet, wirklich nach allen Regeln der Kunst integriert hat.
So löst er‘) schon 1730 die Gleichung
ds = Yda? + dy?
durch
2 y-px—P; s=-syl+P-Q,
wo
‘) Institutiones calculi integralis, vol. III, p. 4, 7, 9, 10. *) An Faktoren-
zerlegung im allgemeinen scheint er nicht zu denken. ®) Man vgl. eine
AbhandInng von Stäckel in den Leipziger Berichten 1902, ferner einen dies-
bezüglichen Aufsatz von v. Braunmühl in den Verhandlungen des III. inter-
nationalen Mathematiker-Kongresses in Heidelberg vom 8. bis 13. August 1904.
*) Commentarii Academiae Petropolitanae 1730/31. Nach Klügels mathema-
tischem Wörterbuch, Artikel Rectification. Siehe auch Institutiones caleuli inte-
gralis, vol. I, p. 525.
1034 Abschnitt XXVI.
9 Jyirn.
oder, wenn wir das Resultat nur ein wenig anders Dear durch
= 52, - Bene -p 5; „VIFr- Ar = ap,
wo P eine Funktion von 9» ee, Man darf nun nicht etwa
glauben, daß Euler mit den oben zitierten Ausdrücken diese früheren
Resultate widerrufen wollte; dazu hätte er sie doch wenigstens er-
wähnen müssen. Euler beruft sich aber in keiner Weise auf sie,
denkt auch offenbar gerade gar nicht an sie — denn sonst müßte er
den auffälligen Widerspruch doch merken; ja es macht beinahe den
Eindruck, als hätte er sie vollständig vergessen. Beinahe, sage ich;
denn mir erscheint viel wahrscheinlicher, daß Euler den Inhalt, die
Tragweite seiner früheren Entdeckung nicht in ihrem vollen Umfange
erkannt hat, ähnlich wie Lagrange nicht merkt, daß er die partielle
Gleichung 1. Ordnung beliebigen Grades integriert hat. Hätte sich
Euler seinerzeit klar und ausdrücklich die Aufgabe gestellt „ich will
jetzt die Gleichung
d?—= da? + dy?
integrieren“, wäre er von dieser Formulierung aus zu dem erwähnten
Resultat gekommen, so würde freilich nur die Annahme völligen Ver-
gessens jenen rätselhaften Widerspruch erklären. Dann bliebe aber
merkwürdig, daß Euler nicht wenigstens später, wo er wieder ähn-
liche Gleichungen behandelt und ähnliche Resultate erzielt, seinen
Irrtum eingesehen hat. Meiner Ansicht nach ist an allem in erster
Linie die Problemstellung schuld, wobei das Moment augenblicklichen
Vergessens mitgewirkt haben mag; man hat zu bedenken, daß die
betr. Gleichung nicht unmittelbar, von vornherein analytisch gegeben
war, sondern in irgend welche geometrische Aufgaben eingekleidet,
erst allmählich im Laufe der Untersuchung, scheinbar ganz zufällig
und nebensächlich, unter einem Gewirr von ähnlichen Gleichungen
unbemerkt auftauchte, ohne daß klar hervortrat, daß gerade sie das
betr. Problem völlig zu umschreiben, zu ersetzen imstande sei, daß
sie m.a. W. die analytische Fassung der Aufgabe vorstelle Ich er-
innere hier an Leibniz, der lange Gleichungen mit Differentialen prak-
tisch handhabte, ohne das diesen Gleichungen gemeinsame Prinzip zu
erkennen. Immerhin bleibt jener Widerspruch auffallend genug und
gıbt zu denken Anlaß. Und man sieht, wenn es wie hier geschehen
konnte, daß ein Autor zu einem hochwichtigen Resultat gelangt,
es explizite darstellt und doch nicht zu deuten weiß'), wie sehr. man
sich hüten muß, einem Forscher einen Gedankengang, eine Einsicht
') Vgl. auch S. 968 unten und $. 1043.
Totale und partielle Differentialgleichungen 1035
zuzuschreiben, die er nach Zeitcharakter und eigenem Wissen noch
nicht haben kann, und die erst Spätere, auch wenn sie dessen Vor-
arbeiten kannten, mit größter Anstrengung allmählich aufdeekten. Die
Lösung irgend einer mathematischen Aufgabe ist zwar ohne die Ein-
führung gewisser für sie charakteristiıscher Gedankengänge und Defi-
nitionen (z. B. des Grenzbegriffes) nicht möglich, man darf aber aus
der faktischen Herstellung der Lösung noch nicht schließen, daß auch -
die Prinzipien, welche allein die Lösung ermöglichten, erkannt worden
sind. Es ist ein Unterschied, ob man ein Theorem unbewußt anwendet
und ob man sich über seine Bedeutung klar ist, und Newtons Ver-
dienst liegt nicht so sehr darin, daß er das Gravitationsgesetz be-
hauptete, als daß er zeigte, wie sich die kompliziertesten himmlischen
Vorgänge mit seiner Hilfe erklären lassen. Der Nichthistoriker kann
ja sagen: wie leicht hätte Euler auf die allgemeine totale Gleichung
mit drei Variabeln dasselbe Verfahren anwenden können, wie auf die
spezielle Gleichung
dz = Pdx + Qdy,
wo P und @ durch eine Relation verbunden waren (vgl. S. 957 und
S. 963); hätte er doch wie sonst die ganze Gleichung bis auf ein
einziges Glied in ein exaktes Differential umgeformt, und den Koeffi-
zienten dieses Gliedes mit Zuhilfenahme einer willkürlichen Funktion
so bestimmt, daß die ganze Gleichung ein vollständiges Differential
geworden wäre! So naheliegend der Gedanke war, Euler hat ihn
eben gerade hier nicht gedacht, und das ist für den Historiker das
Wesentliche. In anderen Fällen hat er dann plötzlich die Fruchtbar-
keit der eben geschilderten Methode wieder eingesehen; die Gleichungen
dz=pdu+rdteosu und dy=rdu — pdt cosu,
auf die er gelegentlich eines Abbildungsproblems stößt!) (vgl. 5.573),
multipliziert er mit « bzw. ß, addiert und erhält auf Grund der Annahme
ea + BB = 09
die Gleichung
dz +dyY—1=cosulp+ry— 1) (-V- 1.dt).
du
Hier sagt Euler kurz und klar, dab ——, - — y= ldt ein vollstän-
diges Differential dz sei, weswegen cos u ” +ryV-—1) eine Funktion
von z sein müsse. Er erhält sofort
z+yY-1=2T(s—-ty-i),
wo zur Abkürzung
s= tg (45° + = u)
') Acta Academiae Petropolitanae 1777 (1778), pars I, p. 124.
1035 Abschnitt XXVIL
gesetzt ist, und ebenso, weil, wie er sagt, Y— 1 immer zwei Vor-
zeichen hat,
EEE
Daraus lassen sich jetzt unmittelbar x und yY— 1 berechnen. Hier
reiht sich gut die Integration von
de? + dy?—= m’(d?+ g’dtR),
wo qg eine Funktion von s ist, durch Lagrange in den Berliner
Memoiren von 1779 an.!) (Vgl. 8.575.) Die Substitutionen
d
T =du und mg=n
liefern
da? + dy? = n?(du? + di).
Führt man durch den Multiplikator
1 = sin’o + cos? o
eine Hilfsgröße »® ein, so wird
da? + dy?= n?(sin adu — cos wdt)’+ n?(coswodu + sin adt)?;
da © noch unbestimmt ist, kann man in
dz = n(sinodu — cosodt) und dy=n(coswdu + sin adt)
trennen. Wegen der Integration dieser Gleichungen verweist La-
grange auf d’Alembert; er findet
%
_ fa + Yy-Y)+FlW—ty-1),
D) ’
Y 9 Ver 1 ’
n = Fl + VEDrW eV)
q ’
wo f und F' willkürliche Funktionen bedeuten. Aus der Eigenschaft,
daß m nur von £ und u, d.i. von t und s abhängt, folgert Lagrange,
daß die Abbildung, die ihn auf die ursprüngliche Gleichung geführt
hat, winkeltreu ist.
Die Eulersche Ansicht über die totalen Gleichungen mit mehr
als zwei Variabeln war bis Monge die allgemein verbreitete; die An-
schauung „es sei lächerlich, im Falle des Nichterfülltseins der Inte-
grabilitätsbedingung eine Integration zu versuchen“, erklärt hinreichend
das Stillschweigen aller Mathematiker in betreff dieser Gleichungen;
') Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 643.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1037
kaum daß sich da oder dort eine Bemerkung darüber findet, wie bei
Laplace, der nach singulären Integralen von Gleichungen mit drei
Variabeln fragt und dabei auf die Integrabilitätsbedingungen zu
sprechen kommt.) Endlich 1784, gleichzeitig mit den beiden früher
erwähnten Aufsätzen über Differentialgleichungen (vgl. $. 949 u.), er-
scheint die große Arbeit von Monge?), die auf diese Fragen nicht
nur neues Licht wirft, sondern sie unter großen, allgemeinen Gesichts-
punkten behandelt und auch zu einem gewissen Abschluß bringt.
Einleitend bezeichnet Monge die Gleichung .
Mdx + Nday= 0
als Bestimmungsgleichung für die Tangentenrichtung der Integral-
kurven in dem Punkt (2, y) und deutet analog die entsprechende
Gleichung 2. Ordnung. Von den Gleichungen mit mehr Variabeln,
heißt es weiter, hält man die höheren Grades alle für absurd; von
den linearen alle jene, die nicht bestimmten Bedingungen genügen:
diese Bedingungen, an Zahl immer um zwei weniger als die Anzahl
der Variabeln, werden kurz besprochen. Nach solchen orientierenden
Bemerkungen kündet Monge den Inhalt seiner Untersuchung an?):
„ich nehme mir vor, zu zeigen, daß es keine absurde Differential-
gleichung gibt, absurd im Sinne von unmöglich, imaginär. Ich werde
zeigen, daß alle Differentialgleichungen reelle Eigenschaften ausdrücken,
ob sie jetzt den erwähnten Bedingungen gehorchen oder nicht; daß
sie alle einer wirklichen Integration fähig sind.“ Zum besseren Ver-
ständnis des folgenden bringt jetzt Monge folgende Überlegung: Von
allen Gleichungen 1. Ordnung mit zwei Variabeln, sagt er, gibt es
nur eine einzige nichtlineare, nämlich
M?dx?" . N?dy?"” nn 0,
wo unter M und N Funktionen von x und y zu verstehen sind; diese
Gleichung könne nichts Reelles bedeuten, außer wenn gleichzeitig
M=0 und N=(,
oder
dze=0 und dy=O®.
Das erste dieser zwei Ergebnisse könne nicht als Integral angesehen
werden, da es keine willkürliche Konstante enthalte; als wirkliches
Integral sei demnach der Verein der Gleichungen
id, y=Ib,
‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1772, part. 1 (1775), p. 368.
”, Ebenda, 1784 (1787), p. 502—576. °®) Ebenda, p. 504.
1038 Abschnitt XXVIL.
d.i. die Gleichung eines einzelnen Punktes anzusehen. Unter den
Differentialgleichungen 1. Ordnung gebe es also solche, deren Integral
aus einer bzw. zwei Gleichungen bestehe und eine bzw. zwei Integra-
tionskonstanten enthalte. Die besprochene Eigenschaft der Gleichung
höheren Grades sei schon früher beobachtet, aber als Ausnahme be-
trachtet worden, indessen sei sie nur der Anfang einer ungeheuren
Kette. Dieses Bild erklärt Monge durch folgende Ausführungen: die
totalen Gleichungen dreier Variabeln gehören, wenn die Integrabilitäts-
bedingung erfüllt ist, alle krummen Oberflächen an, und ihr Integral
besteht in einer einzigen Gleichung mit einer einzigen Integrations-
konstanten. Aber alle die unendlich vielen Gleichungen, die jener
Bedingung nicht genügen, gehören Raumkurven an, und ihr Integral
besteht aus zwei simultanen Gleichungen. Indessen habe eine einzige
von ihnen, nämlich
M?dx?" ..- N?dy?" + P?dz?" > 0,
die drei simultanen Gleichungen
Vz d, Y —— b, = [6
die zusammen einen Punkt darstellen, zum Integral. Nach Darlegung
der analogen Verhältnisse für vier Variable, wobei Monge natürlich
auf die geometrische Veranschaulichung verzichten muß, ist die neue
Auffassung ausgesprochen, die sogen. Integrabilitätsbedingungen hätten
nicht die Beurteilung, ob eine Integration möglich sei, sondern die
Entscheidung, aus wieviel simultanen Gleichungen sich das Integral
zusammensetze, zum Gegenstand.) An einigen Beispielen wird so-
dann das Gesagte erörtert; die Einschaltung dieser Aufgaben hat aber
für uns den großen Wert, daß wir aus ihnen wieder geometrische
Untersuchungen als Quelle von Monges Ideen über die Differential-
gleichungen, d.i. einen Zweig der Analysis, erkennen können, denn
die Behandlung dieser Aufgaben macht es fast unzweifelhaft, daß
Monge bei ausgedehnter Beschäftigung mit Problemen der Flächen-
theorie zuerst immer wieder auf derartige Gleichungen geführt wurde,
bis er sie endlich in ihrer vollen Bedeutung erkannte und nun um-
gekehrt zum Gegenstand einer Sonderuntersuchung machte. Das erste
dieser Beispiele ist
d2?’= a?(dx?+ dy?),
in dem a eine gegebene Konstante bedeutet. Es ist offenkundig,
sagt Monge, daß diese Gleiehung derjenigen doppelt gekrümmten
Kurve angehört, deren Elemente einen gewissen konstanten Winkel
') Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 506.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1039
mit der xy-Ebene bilden; deshalb sind speziell die Gleichungen aller
Geraden, die diesen Winkel mit der xy-Ebene bilden, Lösungen der
gegebenen Gleichung.
Diese Geraden sind aber
z=a2+ß; y-:V (4 - @) Yurs
wo «, ß, y drei willkürliche Konstanten sind. Nachdem sich Monge
dureh Differentiation überzeugt hat, daß diese beiden Gleichungen
zusammen wirklich eine Lösung darstellen, geht er dazu über, das
integrale complete zu finden. Elimination von «& gibt zunächst
>
@-M’+W—-NM-5,
und das ist die Gleichung aller Kegel, deren Spitzen in der xy- Ebene
liegen, und deren Erzeugende mit dieser Ebene den erwähnten kon-
stanten Winkel bilden. Die Annahme
»=9(ß)
scheidet hieraus alle jene Kegel aus, deren Spitzen auf der in der
xy-Ebene gezogenen Kurve
y=Yp(a)
liegen. Zwei konsekutive Kegel dieser Schar schneiden sich nun,
fährt Monge fort, in einer Geraden mit den Gleichungen
@-M+Y-yW=i; 2-B+W- HB) - 0,
deren zweite durch partielle Differentiation nach ß entstanden ist.
Auch diese Gerade bildet immer noch mit der &y-Ebene jenen kon-
stanten Winkel und ist daher eine Lösung der Differentialgleichung.
Betrachtet man aber die Schar (suite) von Kegelflächen, so ergibt
sich eine Reihe solcher Schnittgeraden wie die eben erwähnte. Da
sich aber von diesen Geraden, deren Lage nur von dem variabeln
Parameter (parametre variable) ß abhängt, immer zwei konsekutive
auf der nämlichen Kegelfläche befinden, so schneiden sie sich not-
wendig zu zweien konsekutiv und bilden folglich die Tangenten einer
doppelt gekrümmten Kurve, die wegen der konstanten N eigung ihrer
Elemente das vollständige Integral der gegebenen Differentialgleichung
darstellen wird. Nach ihrer geometrischen Entstehungsweise wird sie
dargestellt durch die drei Gleichungen
(+ y- PD) = 5;
-P+rr- WO) -0; —i— VA +Y— PB)P"(B) = 0,
1040 Abschnitt XXVI.
worin p als willkürliche Funktion aufzufassen ist. Durch ähnliche
Überlegungen integriert Monge die Gleichungen
(da? + dy’ + d2?) = a?(de? + dy?)
und
(vdy — ydz)’+ (ydz — zdy)’+ (ed — xd2)?—= a!(da?’+ dy?+ d2?)
und leitet, vielleicht durch die Form der hierbei auftretenden Inte-
grale zu tieferem Eindringen in deren Natur veranlaßt, einige allge-
meine Sätze ab. So erhält man, heißt es!), das integrale complete
der Gleichung
dx: dy |
Fig 2)
welche dıe Variabeln x, y, z selbst nicht enthält, durch Elimination
von « aus den drei Gleichungen
<—a Yy—yp(e) ; dF 5 ddF\ _
Bee, 0), (2-0, (in)
wo die 2. und 3. Gleichung durch partielle Differentiation der 1. bzw.
2. Gleichung nach « entstehen. Für den Beweis, sagt Monge, ist zu
beachten, daß man die 1. und 2. dieser Gleichungen differentiieren
darf, als ob « konstant wäre, da ja die partiellen Abgeleiteten dieser
beiden Gleichungen nach « Null sind. Führt man diese Differentiation
wirklich aus, so ergibt sich mit Benutzung der Abkürzungen
EC — BER ER:
Tr TE
2 R4
()-0
(1) +) re = 0
(7m) am + () an = 0;
(ame) + man) 9 9]am + Kaman) + (a) @]an =0
Diese beiden Gleichungen können aber nicht unabhängig von
dem Wert von F existieren, wenn nicht gleichzeitig
da sich die Gleichung
auch
schreiben läßt:
') Histoire de l’Acad&mie des Seiences 1784 (1787), p. 515. Auf den im
Text erwähnten Typus läßt sich die eben behandelte Gleichung
d2’= a? (dx’—+ dy?)
ohne weiteres zurückführen.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1041
dm=0 und dn=(,
u a a
IS
Qu
QÜ |
IS
x
ist. Die verlangte Elimination von « führt dann sofort auf
In ganz analoger Weise wird das Integral von
dX dy
F(2: 32)-9
wo X, Y, Z Funktionen von z, y, z sind, durch
X— —- o(
F(Z, ei; ze) =
und die beiden partiellen Ableitungen nach « dargestellt.
Im folgenden!) sucht Monge den Zusammenhang zwischen
totalen und partiellen Differentialgleichungen von drei Va-
riabeln darzustellen. Er bedient sich hierzu folgender Überlegung:
Ist eine Flächengleichung M = 0 gegeben, die einen Parameter & und
eine willkürliche Funktion @(«) dieses Parameters enthält, so werden
bei variablem « und festem g zwei konsekutive Flächen sich in einer
Kurve
dM\
M=-0,; (7,)-0
schneiden. Alle diese Kurven zusammen bilden eine Fläche, nämlich
die Enveloppe der Flächen M = 0. Man erhält die endliche, d. i. von
Differentialen freie Gleichung derselben durch Elimination von « aus
dM
M=-0 und (4) -0,
doch wird die Elimination im allgemeinen wegen der willkürlichen
Funktion p nicht ausführbar sein. Die Kurven, welche diese En-
veloppe zusammensetzten, besitzen aber selbst wieder eine Enveloppe,
die Monge die Grenzkurve (limite) der Enveloppe nennt; ihre end-
lichen Gleichungen erhält man durch Hinzunahme von
dadaM
(ar) N
zu den früheren beiden Gleichungen und Elimination von «. Monge
stellt nun die von @ freien Differentialgleichungen sowohl der En-
') Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 518.
1042 Abschnitt XXVI.
veloppe als der Rückkehrkante auf; um die Gleichung der ersteren
zu finden, differentiiere man nach & und y, wobei « wegen
dM
(5) en
als konstant betrachtet werden darf; Elimination von « und p(«) aus
den drei Gleichungen
dM dM
u-0 (0 (=
führt endlich auf die partielle Differentialgleichung Y = 0), welche
y nieht mehr enthält. Im zweiten Fall denkt sich Monge die für
die Gleichung
Bee
F7
angestellten Überlegungen wiederholt; wir haben bereits eingesehen,
sagt er, daß man durch totale Differentiation von
M=-0 wd (Ü.)=0,
(2) =0 vum. (ii)
wobei wegen
die Größe « wie eine Konstante behandelt werden kann, und Elimina-
tion von a, p(«), P(«) aus
dM dM
M=0;, (Ü2)=-0; dM=0; d: (I) =0
eine totale Gleichung 1. Ordnung höheren Grades U — 0 erhält, welche
die Integrabilitätsbedingung nicht erfüllt.
Nun läßt sich aber, wenn von den beiden Gleichungen F — 0
und T=0 die eine gegeben ist, die andere ohne Kenntnis der Inte-
oralgleichung daraus herleiten.') Ist nämlich die partielle Gleichung
V = 0 gegeben, so substituiere man hierin den Wert von p (oder gq)
aus der Gleichung
dz = pdx + qdy,
was eine Gleichung 7!=0 zwischen x, y, 2, da&, dy, de und q
(bzw. p) ergibt; die totale Gleichung U — 0 erhält man dann durch
Elimination von q aus
7) =
Y!=0 und er
Umgekehrt hat man, falls U=0 gegeben ist, hierin statt dz den
1) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1754 (1787), p. 520.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1043
Ausdruck pdx + qdy einzusetzen; das liefert eine Gleichung U’ = 0
zwischen z, %, 2, 9, q und za — o; Elimination von ® aus
. du!
U-0 ud (;)-0
gibt die gewünschte partielle Gleichung Y=0. Monge erläutert
diese Vorschriften wieder an dem speziellen Beispiel
, 2?
M=-(—- eo’ +(Yy— ya) — el
wo die Gleichungen
V=0 und U=0 bzw p+gQ=a! und dze=a?(da? + dy?)
lauten, und geht sodann zu ihrem allgemeinen Beweis über, der hier
übergangen werden kann.
Diese Beziehung zwischen den Gleichungen U—-0 und V=0
kann nun, wie Monge zeigt!), deshalb für ihre Integration, d.i. für
die Auffindung der Gleichung M = 0, bedeutungsvoll werden, da sich
die eine von ihnen oft unschwer integrieren läßt, die andere keiner
der bekannten Integrationsmethoden sich fügt. Dahin gehört das
dritte von den oben erwähnten Beispielen, das auf die partielle Glei-
chung
z—- pa — qy=ayY(l+p+qQ)
führt, die einem der von Lagrange integrierten Gleichungstypen
(vgl. S. 968) angehört und auf
M=z-—-.x — op(e) Yy — a? v +0@:+ (p («))?]
führt. Umgekehrt läßt sich, wie Monge, der die Lagrangesche
Arbeit von 1772 noch nicht in ihrer vollen Tragweite erfaßt, be-
hauptet, die partielle Gleichung
ba?r(2 + pa — qy)’ + aby’(z— px +qy)?+az(z+px + qgy)’= 0
nach keiner der bekannten Methoden integrieren; sie führt aber auf
eine totale Gleichung der Form
dX dy
Fiaz: 32) 9
und damit zu der Gleichung
‘) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1784 (1787), p. 526,
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV, 67
1044 Abschnitt XXVIL
woraus die Integrale sowohl der partiellen als der totalen Gleichung
in bekannter Weise abzuleiten sind.
Monge kommt sodann!) auf die linearen Gleichungen zu sprechen;
für die betr. Gleichung mit drei Variablen
Ld@ + Mdy+ Ndz =
sucht er zunächst die entsprechende partielle Gleichung genau nach
der eben hierfür aufgestellten Regel. Einführung von pdz + gdy an
Stelle von dz gibt
(L+ Np)d& + (M + No)dy =;
' partielle Differentiation nach ®, d. ı. > und Elimination von o
liefert die zwei simultanen Gleichungen
L+Np=0; M+Ng=V(.
Man integriere, heißt es weiter, die eine dieser Gleichungen, wobei %
bzw. x konstant betrachtet werden kann, und ergänze das Integral
durch eine willkürliche Funktion von y bzw. x; setzt man den aus
dieser Gleichung berechneten Wert von q bzw. p in die andere von
jenen simultanen Gleichungen ein, so erhält man eine Gleichung, die
keine Differentiationen mehr aufweist; man hat auf diese Weise zwei
endliche Gleichungen gewonnen, die einer Raumkurve angehören und
das Integral der ursprünglichen Gleichung darstellen. Nach einigen
Beispielen ist auf den Fall von mehr als drei Variablen eingegangen ’?);
man substituiere, sagt Monge, für dz seinen Wert
pdu+gde+rdy+:--
und differentiiere, indem man der Reihe nach immer nur eine einzige
von den Größen =, BEER
Anzahl von Gleichungen, die zur Elimination dieser Größen genügt.
Die sich ergebenden partiellen Schlußgleichungen sind sodann ganz
wie im Fall von drei Variablen weiter zu behandeln. Monge be-
hauptet sodann°®), daß die Zahl der Integralgleichungen nicht immer
um Eins kleiner ist als die Zahl der Variablen, sondern daß sie, wie
an dem Beispiel
als variabel ansieht; so erhält man eine
udu + xdz + xdy+ zdz = 0
gezeigt ist, auch geringer sein kann. Doch scheint er das Vorhanden-
sein von n— 1 Integralgleichungen bei » Veränderlichen für die
t) Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 528. ®) Ebenda,
p. 532. ®) Ebenda, p. 534.
Totale und partielle Differentialgleichungen. 1045
Regel anzusehen. Dazu stimmt auch die Äußerung‘), es hätte etwas
Absurdes an sich, wenn eine totale Gleichung mit mehr Variablen
sich durch eine einzige Gleichung integrieren lasse; so sei es z.B.
(eher) absurd, wenn die Differentialgleichung mit drei Variablen, wie
man bisher stillschweigend voraussetzte, einer Fläche angehöre; sie
gehöre vielmehr einer Raumkurve an, die sich zwar durch eine einzige
Differentialgleichung, aber bei Verwendung von endlichen Größen
allein nur durch zwei simultane Gleichungen darstellen lasse. Unter
der Überschrift „Gleichungen 2. Ordnung höheren Grades mit mehr
als zwei Variablen“ behandelt Monge dann zunächst die Aufgabe,
alle Raumkurven mit konstantem Krümmungsradius zu finden ?), zeigt
dann analog dem früheren die Integration von
dd. ddz
Eder aa) 0
usw. und überträgt endlich die diesbezüglichen Sätze für Gleichungen
1. und 2. Ordnung allgemeiner auf den Fall beliebig vieler Veränder-
licher.?)
Monge behauptet‘), daß auch partielle Gleichungen im allge-
meinen nicht Flächen, sondern Raumkurven angehören. Setzt man
in der Gleichung
p— Ay=y(q+ Ar),
wo A konstant und g eine willkürliche Funktion ist, zur Abkürzung
q+ArXr=u,
also
p— Ay=y(e),
so wird aus
dz = pdx + qdy
die neue Gleichung
dz = dxyp(e) + ady — Alxdy — yde).
Man kann hier « konstant betrachten, sagt Monge, integrieren und
die so gewonnene Integralgleichung nachträglich durch eine willkür-
liche Funktion von «@ zu der Gleichung M = 0 vervollständigen,
wobei dann
dM
(au) =
sein muß; da aber die eben aufgestellte totale Gleichung die Integra-
bilitätsbedingung nicht erfüllt, so komme die weitere Gleichung
') Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 535. ?) Ebenda,
p. 536ff. *) Ebenda, p. 547 bzw. 549. *) Ebenda, p. 551. Ähnliche Unter-
suchungen für Gleichungen 2. Ordnung ebenda, p. 568.
67*
1046 Abschnitt XXVIL,
rel)
hinzu, so daß man im ganzen drei Gleichungen habe, die sich bei Bli-
mination von « auf zwei Gleichungen zwischen z, y, 2 und einer
willkürlichen Funktion y reduzieren. Offenbar hat Monge geglaubt,
für die partiellen Gleichungen müsse dasselbe gelten wie für die
totalen. |
Endlich folgen noch einige Bemerkungen über partielle Differen-
tialgleichungen 1. und höherer Ordnung; hier sei folgendes Theorem
erwähnt): Ist
dz=pdu+gde+rdy:-- und F(z,pÜU,qX,rY,.-)=0
die gegebene Differentialgleichung, wo U, X, Y, .... Funktionen von
u, bzw. x, bzw. y, ... sind, so ergibt sich das Integral durch bloße
Quadraturen. Sei nämlich
»U=ur)Y; qgX=ßrY;.--,
wo «, ß, .., unbestimmte Größen sind, so wird durch Substitution
in die gegebene Differentialgleichung
Se, a, ß, LI IR
Aus dieser Gleichung läßt sich rY in der Form
rY=fl(e, u, ß, -- .)
berechnen und man erhält
»U = üfle, u. B, 2)? TR» Bfie ,B..., 5
so daß also
dz
FE.
wird. Integration bei konstanten «, ß,... ergibt unter Beifügung
einer willkürlichen Funktion eben dieser Größen «, ß,... eine Glei-
chung M=(, zu der noch die Gleichungen
dM aM
re:
hinzutreten; aus allen diesen Gleichungen hat man sich die «&, ß,...
eliminiert zu denken (vgl. S. 981). Endlich stellt Monge in einer
conclusion generale die Hauptergebnisse der ganzen Arbeit nochmals
übersichtlich zusammen und weist auf den großen Nutzen hin, den
_. adu Pdx dy
', Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 556.
Differenzen- und Summenrechnung. 1047
die Geometrie aus den darin niedergelegten neuen Gedanken und
Methoden ziehen kann.')
Außer der großen Arbeit von Monge findet sich wenig über
totale [Gleichungen mit mehr Variabeln; P. G. Fontana (vgl. Ab-
schnitt XXVI passim) versucht sich mit Multiplikatoren für derartige
Gleichungen?); bedeutender ist eine Arbeit von Pietro Paoli über
Differentialgleichungen, welche die Integrabilitätsbedingungen nicht er-
füllen.?) Paoli schließt sich im allgemeinen eng an sein Vorbild Monge
an; hier sei seine Integration der Gleiehung mit vier Variablen
Adu+ bBdz+Cdy+ Dd« = 0
mitgeteilt.*) Paoli nimmt zwei Gleichungn M=« und N= ß, wo
« und 8 Konstante bedeuten, zwischen x, y, z willkürlich an; aus
ihnen lassen sich z und y als Funktionen von & berechnen. Diese
Werte ergeben,. in die gegebene Gleichung eingeführt, eine totale
Gleichung zwischen u und x mit einem Integral P=y. Betrachtet
man jetzt in den Integralgleichungen
M=-4a N=fß, P=y
die Größen «, ß, y als variabel, so muß, wenn die gegebene Diffe-
rentialgleichung noch erfüllt sein soll, eine Gleichung der Form
mdy +nda« + pdß= 0
bestehen. Das ist aber eine totale Gleichung mit nur drei Variablen,
die im allgemeinen die Integrabilitätsbedingungen nicht befriedigen
wird, weshalb sie nach den für solche Gleichungen geltenden Methoden
weiter behandelt wird. Paoli geht im folgenden noch auf die Glei-
chungen mit fünf Veränderlichen, auf die höheren Grades und endlich
auf diejenigen 2. Ordnung ein.’)
Differenzen- und Summenrechnung.
Wir gehen zur Differenzen- und Summenrechnung über.
Den ersten Aufschwung verdankt diese Disziplin der Untersuchung
der arithmetischen Reihen höherer Ordnung, und die sich hierbei er-
gebenden Gesetzmäßigkeiten für den Zusammenhang zwischen Diffe-
renzen höherer und niederer Ordnung haben in mannigfacher Weise
') Histoire de l’Academie des Sciences 1784 (1787), p. 573 bzw. 574.
*) Memorie di Matematica e Fisica Soc. Ital. Verona, t. I, 1786, p. 516 #f.
°) Ebenda, t. VI, 1792, p. 501 ff. *) Ebenda, p. 509. °, Ebenda, p. 513,
517, 522.
1048 Abschnitt XXVL.
auf die Probleme der niederen Analysis befruchtend eingewirkt. Hier
sei eine Abhandlung von Euler') erwähnt, die sich die Umformung
von Reihen mit Hilfe endlicher Differenzen zur Aufgabe stellt. Wich-
tiger wurden die hierher gehörigen Untersuchungen für das Inter-
polationsproblem, das gewöhnlich im Zusammenhang mit der
Summen- und Differenzenrechnung behandelt zu werden pflegt. Hier
ist allerdings nur wenig darüber zu sagen, da die meisten diesbezüg-
lichen Methoden für eine ganz spezielle praktische Anwendung ge-
schaffen und gleich im Zusammenhang mit dieser behandelt wurden;
die meisten Notizen finden sich in großen Tafelwerken, astronomischen
und ähnlichen Abhandlungen der angewandten Mathematik.) Rein
mathematische Untersuchungen über das Interpolationsproblem im all-
gemeinen finden sich nur wenige; in speziellen Fällen wurde die Inter-
polation schon seit langem durch geistreiche Kunstgriffe geleistet, ich
erinnere hier aus früherer Zeit nur an die Berechnung der Logarith-
men, an das Wallissche Produkt und die Eulersche Interpolation
der Fakultät (vgl. auch S. 781ff.). Das allgemeine Problem behandelt
insbesondere Lagrange und kommt hierbei?) zu der bekannten, prak-
tisch allerdings wenig brauchbaren Formel
_@—-R)a =) @ — en) wa) =) @ —en),
(Mr — 3%) (X, — 4) ° + (&, — 2)”! (X — 4) (&; Er %,) + (og HR on)
wobei %,, Yg, - -- %, die Werte der Funktion y, für
n
md, Ag,
n
bedeuten. Von Lagrange stammen auch (aus dem Jahr 1772) die
eleganten symbolischen Formeln*)
Nu = (2a: _ ı): (Geb): = [log(1 + Au)f;
£}
a - / usw; Ar'=2 usw,
€
') Memoires de l’Academie Imperiale des Sciences de St. Petersbourg, t. IV,
1811 (1813), p. 88 ff. ®»), So z.B. Lambert, Über das Einschalten in den
„Beiträgen zum Gebrauch der Mathematik und deren Anwendung“, Berlin
1765/77, Bd. III, 85. Nach Klügels mathematischem Wörterbuch, Artikel Ein-
schalten. Ferner Lambert, Über das Einschalten beim Gebrauch der Epheme-
riden, Bodes Jahrbuch für 1776. Poggendorff I, 8. 1357. ®) Lagrange
gewinnt diese Formel durch Umformung des bereits 1775 aufgestellten Ausdrucks
für den allgemeinen Term einer rekurrenten Reihe bei bekannten Anfangstermen.
Nouveaux M&moires de l’Acadömie de Berlin, anndes 1792 et 1793. - Oeuvres,
t. V, p. 627 fl. ) Sur une nouvelle espece de calcul, Oeuvres de Lagrange,
t. III, bzw. p. 452, 457, 451. Auf diesen Aufsatz kommt Laplace, Histoire de
l’Acad&mie des Sciences 1777 (1780), p. 113 zurück.
Differenzen- und Summenrechnung. 1049
in denen nach Auswertung der auftretenden Klammern (mit Hilfe des
binomischen Lehrsatzes) und Ausführung der angedeuteten Multiplika-
; ö . 8 d EEE .
tion mit « die Symbole A, A?, AP’, ... und da’ da’ I, ;; . nicht
mehr Potenzen von A bzw. — sondern Differenzen und Differential-
quotienten höherer Ordnung bedeuten (vgl. S. 696). Bei Aufstellung dieser
Gleichungen mag sich Lagrange wohl der sogen. Leibnizschen Dar-
stellung der höheren Differentialquotienten eines Produktes erinnert
haben) Auch Edward Waring kommt in einem Aufsatz über
Interpolation zur Lagrangeschen Formel; er verwendet seine Formeln
aber nicht zur Einschaltung selbst, sondern zur Herleitung von Glei-
chungen, die der niederen Analysis angehören. So bringt er?) z.B.
den Satz, daß der Ausdruck
Pad ß”
-He-ne-d: Bon
rn ? wroRt
Null oder Eins ist, je nachdem
m<n—]1 oder m=n-—1
ist, wo »n die Anzahl der Größen «, ß, y, d,.... bedeutet. Von be-
sonderer Wichtigkeit sind später diejenigen Interpolationsmethoden
geworden, die trigonometrische Funktionen benutzen. Lagrange,
dessen früher erwähnte Behandlung des Problems der Schwingungen
einer endlichen Zahl von Punkten unschwer auf eine derartige Inter-
polationsformel führt, setzt später gelegentlich?) das allgemeine Glied
einer Reihe in der Form
y=asin(e+xp)+bsin( +ay)+esinpy+tau)+---
an, und zeigt, wie die Größen ,b,6...,B,9,...9,%%,...
aus gegebenen Werten von y bestimmt werden können; er wird hier-
bei auf rekurrente Reihen geführt. In anderer Weise verwendet
Charles die trigonometrischen Funktionen; ihm werden die Glei-
chungen
) Hier mag auch eine Methode von Lagrange aus dem Jahre 1783 Er-
wähnung finden, nach der er eine Funktion y=9p(x) näherungsweise durch
y=fß-+y5 (bzw. wenn y = 0 ist, durch ß-+ 08°) ersetzt, wo & eine sehr kleine
Zunahme von x bedeutet, wenn zwischen x und einer Funktion X von x und
ebenso zwischen p(x) und (X) zwei bekannte Relationen existieren. La-
grange zeigt die Anwendung seines Verfahrens für die Logarithmen Oeuvres,
t. V, p. 517ff. Man vgl. endlich Oeuvres, t. V, p. 663ff. °) Philosophical Trans-
actions, vol. 69, 1779, p. 64. °), Astronomisches Jahrbuch 1783, S. 41. Nach
Klügel, a.a. 0.
1050 Abschnitt XXVII.
_ _ asinn&® bsinz(& — 1)
Ela een Eat
= a sin bsinz(= —1) ;
FE ET ee
?y= (sinne)? = Fr rn 1): rat |
zugeschrieben, wo y für 2=(, 1,... die Werte a, b,... annimmt.')
Auch die rekurrenten Reihen sind im Zusammenhang mit dem Inter-
polationsproblem viel behandelt worden; indessen benutzen die meisten
Arbeiten über rekurrente Reihen die Integrationsmethoden für Diffe-
renzengleichungen, die weiter unten besprochen werden sollen. Von
mehr elementaren Arbeiten auf diesem Gebiet ist eine Untersuchung
von Lagrange zu nennen’), der das allgemeine Glied einer rekur-
renten Reihe mit den » ersten Termen 7, 7’, 7”, ... dadurch findet,
daß er zunächst eine gebrochene rationale Funktion in möglichst ein-
facher Weise so zu bestimmen sucht, daß die bei wirklicher Ausfüh-
rung der Division entstehende unendliche Reihe in der Form
T+Txz+T"?+--:
beginnt. Partialbruchzerlegung und Reihenentwicklung der einzelnen
Partialbrüche liefert dann sofort das gesuchte allgemeine Glied der
Reihe
T+.T7Tc:+T 2400:
In gewissem Zusammenhang mit diesen Problemen steht auch eine
Methode°?), die Laplace als calcul des fonetions generatrices be-
zeichnet (vgl. S. 273). Unter erzeugender Funktion ist nichts weiter
als die Summe einer Reihe einzelner nach demselben Gesetz entstandener
Größen zu verstehen. Die Abhandlung selbst enthält nichts wesentlich
Neues; sie behandelt Aufgaben wie z. B. : durch z auszudrücken, wenn
t (; — 1)- 2
ist, und löst sie mittels Reihenentwicklungen und Überlegungen, wie
wir sie an der geistreichen Koeffizientenbestimmung S. 1005 bereits
kennen gelernt haben.
) Nach Klügel a. a. O. finden sich diese Formeln angegeben bei Prony,
Nouvelle Architechnique hydraulique 1790/96, t. II, Anmkg. zu $ 1373. Die
letzte der angeführten Gleichungen steht auch Histoire de l’Acad&mie des Sciences
1788 (1791), p. 582. 2) Oeuvres de Lagrange, t. VI, p. 507. Die Abhand-
lung ist vom Jahr 1772, 3) Histoire de l’Academie des Sciences 1779 (1782),
p. 207 ff. ;
Differenzen- und Summenrechnung. 1051
Differenzengleichungen treten in Praxis und Theorie oft auf; so
im Zusammenhang mit der Bestimmung der willkürlichen Funktionen
der Integrale partieller Differentialgleichungen, wenn gewisse Be-
dingungen zu erfüllen sind; dies hat nach Charles!) zuerst Con-
dorcet bemerkt.”) Einen anderen Ausgangspunkt, der auf Differenzen-
gleichungen führt, bilden die Funktionalgleiehungen. So redu-
zıert Laplace?) die Gleichung
fonet. [p(2)] = H,- fonct. [v(x)] + X,,
wo 9, %, H und X gegebene Funktionen sind und die unbekannte
Funktion fonet. bestimmt werden soll, in folgender Weise auf eine
Differenzengleichung: er setzt
w=Y(a) und u,,,= pa),
berechnet aus der ersten dieser Gleichungen durch Umkehrung
7 Tu)
und erhält so
Y,,1= px) = II(u,).
Diese Rekursionsformel für «, definiert aber u, als Funktion von z;
somit können z£= I‘(u,) und damit auch H, und X, als Funktionen
von 2 dargestellt werden. Ersetzt man jetzt in der ursprünglichen
Gleichung x überall dureh z, so entsteht eine Gleichung der Form
| Keine,
wo Y, für fonet. [w,] geschrieben ist. Ist
|fonct. (2)? = fonct. (2x) + 2
gegeben‘), so setzt Laplace
w=%, U,,,=2%, also u,,=2u,
und erhält durch Anwendung der weiteren Substitution fonet. (w,) = t,
die Gleichung
lrı er (t,)? ne 2
mit dem Integral
') Memoires presentes par divers Savans, t. X (1785), p. 573#f. ?, Siehe
Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1771 (1774), p. 49ff. und 1772, part. 1 (1775),
p- 32 und p. 57. Man vgl. hierzu auch Monge in Me&moires presentes par
divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 322. ®) Ebenda (Mem. div. Sav.), p. 71.
Laplace behauptet, seine Methode stamme aus dem Jahre 1772, und verweist
auf die oben zitierte Abhandlung von Condorcet aus dem Jahre 1771. _
*) Ebenda, p. 74. Diese Gleichung findet sich schon Miscellanea Taurinensia,
t. II®, 1760/61, p. 320.
1052 Abschnitt XXVII.
:—1 4
= a? Br
wo a eine willkürliche Konstante ist; die weitere Untersuchung bietet
keine Schwierigkeiten. Auch Charles hat Funktionalgleichungen');
van +mae+n)— Pvb®+pe+)=RH,
wo P und R Funktionen von x und a, m, n, b, p, q Konstante sind,
geht, wenn
ar +ms+n=blao+Yp”+plao+yp)+gq
ist, wo © und @ zwei neue Konstante sind, unschwer in eine
Differenzengleichung über.
Die größte Anzahl von Arbeiten über Differenzengleichungen ver-
dankt jedoch nicht einem praktischen Bedürfnisse ihren Ursprung,
sondern vielmehr dem Umstand, daß sich sowohl alle allgemeinen
Gesichtspunkte als die meisten in weiterem Umfange brauchbaren
Integrationsmethoden, die bei Differentialgleichungen von Vorteil sind,
mühelos auf die Theorie der Differenzengleichungen übertragen lassen.
So sehen wir die Entwicklung der letzteren Theorie von den Fort-
schritten auf dem Gebiet der Differentialgleichungen abhängig, durch
diese bedingt; dieser Zusammenhang ist so innig, daß häufig einer
Abhandlung über Differentialgleichungen Bemerkungen über Diffe-
renzengleichungen anhangsweise beigefügt sind. Am geringsten ist
die Analogie bezüglich der singulären Integrale Charles hat
diesen Begriff zuerst auf Differenzengleichungen übertragen?) unter
Berufung auf die Erklärung ihres Wesens, wie sie Lagrange ge-
geben hat; er kommt zu dem Ergebnis, daß eine Differenzengleichung
zwei vollständige Integrale haben kann. Ist nämlich V=0 das Inte-
gral einer Differenzengleichung Z = 0, so erhält man letztere aus dem
Integral, indem man die Integrationskonstante a aus den Gleichungen
V=0( und öV eliminiert; ÖV entsteht hierbei durch Variation von
x und y bei konstantem a. Läßt man jetzt auch a variieren, so wird
AV=8V + RAa.
Ist nun R=0, so werden die beiden Gleichungen
V=0 und d7=0
wieder genau dieselbe Gleichung Z = 0 liefern, wie zuerst auch, und
es ist bei diesem Eliminationsprozeß ganz gleichgiltis, ob « konstant
‘) Histoire de l’Academie des Sciences 1786 (1788), p. 695. ?2) Ebenda,
1783 (1786), p. 560.
Differenzen- und Summenrechnung. 1053
ist oder nicht. Das singuläre Integral ergibt sich dann durch Eli-
mination von a au V=(0 und R=(. Bis hierher ist die Analogie
mit den Differentialgleichungen vollständig; jetzt kommt aber ein be-
deutsamer Unterschied: während man nämlich bei den Differential-
gleiehungen die Größe « unmittelbar aus R=(0 berechnen kann,
enthält diese Gleichung bei den Differenzengleichungen neben a im
allgemeinen auch noch die Differenz Aa. Um a eliminieren zu können,
ist daher die Integration von R=0 erforderlich; infolge dieses Pro-.
zesses geht aber eine willkürliche Konstante in das singuläre Integral
ein. Charles erläutert das Gesagte an einigen Beispielen. Das voll-
ständige Integral von
A 2
gy-ahy+,
wo Az, die Differenz von x, konstant und gleich y ist, lautet
g9y = 2nax + a”.
Daraus ergibt sich
Ay= 2na,
wenn a konstant ist, hingegen
Ay=2na+ 2. I2n(x +9) +2a+ Aal,
wenn «a ebenfalls variiert. Zur Bildung des singulären Integrals er-
hält man also die Bedingung
2n(c+g)+2a+Aa=0.
Hieraus folgt
a RE 1y>[4 +2 |,
wo b eine willkürliche Konstante bedeutet, und damit endlich
2.38
Charles weist auch noch darauf hin, daß man aus dieser Gleichung
bei Anwendung desselben Prozesses wieder
gy = 2nax + a?
erhalten würde, d.h. daß das singuläre Integral des singulären Inte-
grals das ursprüngliche vollständige Integral ist. Später sucht Charles
auch bei gewöhnlichen Differentialgleichungen, die er als Grenzfall
') Die Herleitung setzt voraus, daß "— -” eine ganze Zahl ist.
g I%
1054 Abschnitt XXVII.
der Differenzengleichungen auffaßt, ähnliche Verhältnisse, d. i. die
Existenz zweier vollständigen Integrale, von denen eins das singuläre
des anderen ist, nachzuweisen und sie durch einen Ausdruck zu inte-
grieren, der das singuläre Integral als Spezialfall enthält; seine Dar-
stellung ist indessen nicht recht verständlich.') Die erwähnte Eigen-
tümlichkeit ist auch Monge nicht entgangen; aus
| (Ay)’= b*
erhält er zunächst
2AyAAy+ (AAy’= 0
und hieraus
AAy=0 und 2Ay+AAy=(.
Der erste Fall gibt
bx
a
ER ee
der zweite aber
b =
y- A ea bo 1)*.
Monge behauptet?) dann, das vollständige Integral der gegebenen
Gleichung sei das Produkt der vier Gleichungen
y-A-+; y-A-—%;
b - b =
y-Actsi UN Aa
Die übrigen Untersuchungen zeigen mehr Analogie; Condorcet,
der wie bei den Differentialgleichungen die Integration auf die Aus-
führung einer ganz bestimmten Reihenfolge gewisser Operationen als
Multiplikationen, Substitutionen, Eliminationen, Umformungen und
Integrationen zurückführen will?), auch Näherungsmethoden für Diffe-
renzengleichungen bespricht?), hat sich eingehend mit der Integra-
bilität gegebener Differentialausdrücke beschäftigt; in Analogie dazu
sucht er die Bedingungen aufzustellen®), wann eine gegebene Funk-
tion V_ von 8, 9, 2,... Az, Ay, Az,... A?z, A?y, A?z,... vollstän-
dige Differenz einer ähnlich gearteten Funktion B der nächstniederen
Ordnung ist, so daß also VY=AB. Durch Benutzung der Glei-
chungen
dV_dAB dV _dAB dV_dAB
dz dx’ dAxz dArz’ Ay Se 2
!, Histoire de l’Academie des Sciences 1788 (1791), p. 115ff. Vgl. auch
p. 580 ff. ?) Ebenda 1783 (1786) p. 727. Die betreffende Abhandlung wurde
1785 gelesen. ®) Ebenda 1770 (1773), p. 123 ff. %) Ebenda, p. 135.
®) Ebenda, p. 110.
Differenzen- und Summenrechnung. 1055
wo die d partielle Differenzenbildung andeuten, findet er zunächst
daV dB
re 7%
dV dB dB db
77 AR a
dV dB dB dB
Ars hauen
und ähnlich gebaute Ausdrücke in ,2,.... Es ergibt sich schließ-
lich die Bedingungsgleichung
av dV ı nn—1) ,sdV „aV
Fre FF Se un Eee r
dv „dV „av
ra
„ dV „av
ragt A gan
dV
m 2
+ m, =)
und analoge Gleichungen in Y, 2, ....; hierbei ist n» der Exponent der
Ordnung der Funktion V. In derselben Abhandlung sucht Condorcet
auch die Variationsrechnung für endliche Differenzen abzuleiten),
was nach seiner Aussage bereits Lagrange in einem speziellen, aller-
dings alle Schwierigkeiten des allgemeinen Problems enthaltenden
Fall getan hatte. Soll £V ein Maximum oder Minimum werden,
sagt Condorcet, wo V eine Funktion von &, Y, 2,... und den end-
lichen Differenzen dieser Variablen bedeutet, so ist die Bedingung
dzV=0
gleichbedeutend mit
dEV
dzEV
dx mo 7
’ dAx 0;
ur
und ähnlichen Gleichungen in %, 2,...; Condoreet weist auch auf
die verwandten Bedingungen dafür hin, daß Y eine exakte Diffe-
renz ist.
Auch die allgemeinen Methoden der Differentialgleichungen
wurden auf Differenzengleichungen übertragen. So übt Lorgna die
Methode der Auffindung integrabler Gleichungen durch Ausgehen
vom Integral; er stellt sich die Aufgabe, alle Differenzengleichungen
mit variablen Koeffizienten zu finden, die ein vollständiges Integral
') Histoire de l’Academie des Sciences 1770 (1773), p. 119.
1056 Abschnitt XXVL.
von gegebener Form zulassen.') Die Verwendung von. Multiplikatoren
zwecks Integration von Differenzengleichungen faßt u.a. Pietro Paoli
ins Auge?); auch Trembley bedient sich dieser Methode. Sei
dy+ My=N,
wo d eine endliche Differenz andeuten soll, die gegebene Gleichung’)
und P+dP der Multiplikator. Die linke Seite der Gleichung
(P+dP)dy+(P+dP)My=(P+dP)N
wird dann wegen
dPy)=Pdy+ydP+dPdy=(P+dP)dy+yadPp
eine totale Differenz, wenn
ydP=(P+dP)My,
d. h.
dp
Prap
Die letztere Gleichung geht aber mit Hilfe der Substitution P= e in
1
er
über; daraus folgt
1
za—M)
wo z ein Produkt von lauter Faktoren 1— M bedeutet. Trembley
erhält unschwer
v-4-W (CH):
wo M’ den auf M folgenden Funktionswert, J; eine Summation be-
deutet; er verweist übrigens auf Lagrange, welcher diese Aufgabe
schon im ersten Bande der Turiner Miszellen integriert hatte. Auch
Näherungsmethoden*), sowie die Variation der Konstanten sind auf
Differenzengleichungen übertragen worden.
Ehe wir zu den Methoden übergehen, die für spezielle Gleichungs-
typen ausgebildet worden sind, haben wir eine nicht unwichtige Unter-
scheidung zu erwähnen; während nämlich die ersten Untersuchungen
über Differenzengleichungen die Differenz Ar konstant annehmen, hat
man später auch den Fall betrachtet, daß Ar von x abhängig ist,
') Memorie di Mat. e Fis. Soc. It., t. I, 1782, p. 418 ff. ?) Ebenda,
t. IV, 1788, p. 464. °) Nouveaux M&moires de l’Acad&mie de Berlin 1799/1800
(1803), p. 18. *, Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1782 (1785), p. 31f.
Differenzen- und Summenrechnung. 1057
die x selbst also keine arithmetische Reihe 1. Ordnung bilden. Diese
Möglichkeit hat anscheinend zuerst Monge berücksichtigt, der durch
seine Untersuchungen über die willkürlichen Funktionen bei partiellen
Differentialgleichungen auch auf die angeblich von Euler entdeckten
willkürliehen Funktionen bei Differenzengleichungen geführt wird.
Hierbei stellt sich Monge die Aufgabe!), die Gleichung
Ay+Ay+B=0
vollständig zu integrieren, wenn Az 1. konstant =a:; 2. =a+ ba;
3. = ax" — x ist. Im ersten Fall ergibt sich
T . TE TE
Ay+B=(1—-A4) > p (sin ”® & cos =),
wo 9 eine willkürliche Funktion von zwei Veränderlichen ist; im
2. und 3. Fall sind die Integralgleichungen wesentlich komplizierter;
Monge benutzt zu ihrer Herleitung die Substitutionen
a+bz=e, d.h. Au=1lg(b-+1),
bzw.
“=e", dh Au=(n—N)o+nlga,
die Logarithmen ins Resultat einführen. Ausführlicher und allgemeiner
ist die Voraussetzung variabler Ax von Lorgna behandelt, der Ax
gleich irgend einer Funktion X von x setzt?) und die Folgen dieser
Annahme eingehend untersucht. Die Reihe y, y’, y”,... ist dann da-
durch definiert, daß jeder Term aus dem unmittelbar vorhergehenden
durch Substitution von + X an Stelle von x hervorgeht. Analog
gehe in der Reihe X, X’, X”,... jedes Glied aus dem vorhergehen-
den dadurch hervor, daß man x durch den „Modul“ & + X ersetzt.
Dann kann, wie leicht ersichtlich, y” auch unmittelbar, d. i. ohne
Zuhilfenahme der Terme y”-», ... aus y erhalten werden, indem
man für x die Summe
stX + X’+r:...4+ Xe-D
substituiert. Lorgna findet noch andere Beziehungen; so stellt er
die y” und mit deren Hilfe schließlich auch die Differenzen von
y beliebiger Ordnung durch
z+tX+X’+...4+ Xe-N
‘) Memoires presentes par divers Savans, t. IX (1780), p. 357. Dieser Auf-
satz wurde 1774 der Akademie vorgelegt. ?) Memorie di Mat. e Fis. Soc.
It., t. I, 1782, p. 376.
1058 Abschnitt XXVL.
dar, was bei Benutzung des Taylorschen Satzes leicht gelingt. Er
benutzt die betr. Formeln zur Integration der linearen Gleichung
g=Ay+By+Cy’+---,')
in der @ eine Funktion von x bedeutet, bei variablem Ar —=X.
Pietro Paoli, der Lorgnas Arbeiten kennt und auch zitiert, be-
handelt ebenfalls den Fall variabler Ax. Sei eine Gleichung M = 0
zwischen &, y, und deren Differenzen gegeben, ferner
Axz=gy(x) — x.?)
Paoli verlangt nun <=p, und 9(X) =p,,,, woraus
P;+ı ii. p(P,)-
Aus dieser Gleichung kann aber bei gegebenem @ die Funktion p,—=&
ermittelt, somit & und seine Differenzen durch 2 ausgedrückt werden;
dadurch geht y, in eine Funktion Z, von z und die ursprüng-
liche Gleichung M =0 in eine neue zwischen ?Z und z über, wobei
jetzt die Differenz von 2 konstant und zwar gleich 1 ist. Paoli hat
damit nachgewiesen, daß der Unterscheidung von variablen und kon-
stanten Ax keine prinzipielle Bedeutung zukommt.
Von speziellen Gleichungen wurde naturgemäß zuerst die lineare
Gleichung in Angriff genommen. Hier ist an erster Stelle ein Auf-
satz von Lagrange aus dem Jahre 1759 zu nennen.?) Bezüglich der
Gleichung“
Ay+yM=N,
wo wir A statt d geschrieben haben, und wo M und N Funktionen
von & bedeuten, erinnert Lagrange an die Integration der Differential-
gleichung
dy+yXdx = Zds,
die er nach folgender Methode behandelt: er setzt y=uz und
spaltet in
zdu+u2zXde=0 und udz= Zdx;
daraus ergibt sich
Z Sxax,
u= e-SXd2 und vau-ufl de _Je A
u eSX dx
Auf dieselbe Weise läßt sich auch
!) Memorie di Mat. e Fis. Soc. It., t. I, 1782, p. 409. Lorgna verweist
auf die entsprechende Integration bei konstantem Ax durch’ Lagrange in den
Turiner Miszellen und den Berliner Memoiren. 2) Memorie di Mat. e Fis.
Soc. It., t. IV, 1788, p. 455. ®) Miscellanea Taurinensia, t. I? (1759), p. 33 ff.
Differenzen- und Summenrechnung. 1059
Ay+tyM=N
integrieren. Aus y= uz folgt
Ay=uAz + zAu+ Aufz;
Lagrange spaltet in
z2Au+uzM=0(0 und uAz+AuAz=N
und schreibt die erste Gleichung in der Form
a,
U
woraus mittels u = e‘ wegen Au = e’(e?'— 1) die neue Gleichung
Au
u
=e''—1=—-M
hervorgeht. Hieraus folgt
At=Il(1—M),
also
t= DZ UI-M) wd u=-e=a(l—M),
wo x das Produktzeichen ist. Mit Hilfe dieses Resultats kann jetzt
auch die zweite Gleichung
N
A: = uw+Au
leicht integriert werden; es ergibt sich
y=r(l-M)x(A+ )
wo wir Be statt des Zeichens N: geschrieben haben, und wo M! den
auf M folgenden Wert bedeutet. Im folgenden!) geht Lagrange
zur Gleichung beliebiger Ordnung mit konstanten Koeffizienten über.
Er erinnert zu diesem Zweck an eine Methode von d’Alembert,
die in den Memoiren der Berliner Akademie und im zweiten Band
des Caleul integral von Bougainville für die entsprechende Diffe-
rentialgleichung
dy d’y x
riecht X
entwickelt ist; X bedeutet hierbei eine Funktion von x. Die Sub-
stitutionen
a
da Pi da 1
') Miscellanea Taurinensia, t. I? (1759), p. 36.
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 68
1060 Abschnitt XXVII.
führen bei Anwendung eines Multiplikatorensystems «a, b, ec, -
die Gleichung
dy dp
yriäarJarBrHNS. ar arm,
Hierin ist
y+At+ap+(B+b)ga+:--
ein exaktes Vielfaches von
Saay +dap +),
wenn
dy+(A+a)dp+ (B+b)dg +: =dy+Zdp+ldg+:
ist. Durch Koeffizientenvergleichung erhält man hieraus
L
A+a=—; B+b=—-; usw.;
pe;
- auf
der letzte Koeffizient werde gleich O0 angenommen. Aus diesen
Gleichungen ergibt sich aber jetzt durch allmähliche Elimination von
b,e... die Gleichung
a” ..- Aar-! + Ba" -? + .- 0,
wo n die Ordnung der Differentialgleichung ist. Aus
y+A+tap+(B+b)ga+-. =:
folgt sodann
A
Da ee y
also
1 (dan
e ae“
die n Werte von a liefern dann n Werte Z/, ZY,... von 2; y ergibt
sich endlich aus den entsprechenden n linearen Gleichungen
y+Atap+ (B+ba+. -—z
mit den Unbekannten y,9,9g,.... Diese Methode wendet Lagrange
‚auf die Gleichung
y+4AAy+BAy+--—-X
an; auch die Gleichung
y’+ Ay" + By "+... =X,
die, wie er sagt, auf die erstere reduziert werden kann, behandelt
er auf ähnliche Weise. Die Substitutionen
Differenzen- und Summenrechnung. 1061
ER RT 11 PIEREN RR 5
97 ER EERREPLIEPEETT BIT RG. Si
ergeben nämlich
yY+A+ap+(B+b)g’ +---—ayl bp — eg! —...= X.
Die Gleichungen
Ata=/; B+b=-—;...
liefern wieder
a" + Aa"! + Ba"? +... —(
’
und die Transformation
vtrldtap+(B+bd+-..-z
a — as! = X;
führt zu
die n Werte von a liefern wieder » Integrale z, und y selbst ergibt
sich wieder aus » linearen Gleichungen. Laplace, der sich auf
Condorcets allgemeine Untersuchungen über Differenzengleichungen
und Eulers Integralrechnung beruft!), behandelt sodann die Gleichung
X? = Mey? + V2Ay° + PAyı...
mit nichtkonstanten Koeffizienten und überträgt auf sie, nachdem er
sie mittels der Relationen
Ay” a gr Ki, y; A?y® u ver “ii Zyr +! + y; usw.
auf die Form
X=y’+BHR-ytlL'Be.yptUı...
gebracht hat, seine Methode für die entsprechende Differentialgleichung
(vgl. 8. 931); die Aufgabe reduziert sich auch hier auf die Integration
einer Gleichung nächstniederer Ordnung und eines Systems von
Gleichungen der Form
ary® rt! + y" 7.
Letztere Gleichung läßt sich aber auch y+!— R’y+Z°, d.i. als
Rekursionsformel für y schreiben; durch sukzessive Substitution
ergibt sich endlich
Puh: FB... 2-1 [ 2 se Se 2 )
u: RR (AtztERt+ ta)"
Laplace stellt diesen Ausdruck mit Hilfe der Zeichen & und Y für
Summe und Produkt dar und bemerkt, daß auch für Differenzen-
') Miscellanea Taurinensia, t. IV®, 1766/69, p. 300 ff.
68*
1062 Abschnitt XXVH.
oleichungen das „Theorem von Lagrange“ gilt, d. h. daß die Inte-
gration der Gleichung
0=yf"+Hytr!+.-..
hinauskommt.!) Bald darauf behandelt Laplace die Aufgabe noch
einmal; er zeigt zuerst, daß die konstante Differenz zwischen den x
unbeschadet der Allgemeinheit immer gleich 1 genommen werden
kann.?) Zur Vorbereitung der Aufgabe integriert er
y„= Hr Y.-ı ur X,
mittels der Substitution
ee Pe VH,
auf die von
die sofort auf
X
u,—U,-1 + IH
und damit auf
Ai
c+i1
führt. Laplace wählt diese wenig motivierte Substitution wohl des-
halb, weil sie am raschesten zu dem schon längst bekannten Resultat
führt. Die Gleichung
Y. = BR; Yes # EURE FLIRT a = RR = x X,
bewältigt er mit Hilfe der Annahme
Y,— 4, Y-1 % 1.
«, und 7‘, sind einstweilen noch unbestimmt. Diese Gleichung liefert
mit den gleichwertigen
7
Ye-1 ae 0._1 x Ya 2 ze I ED Yo-nıı ee &._n+1 Yan + Tazäsa
nach Multiplikation bzw. mit 1, — 1ß, — ?ß,... und Addition die
Beziehung
] Bes [a ‘ß] Y.-ı * [* "Ba,_; En B] : Y._2 ns er u Ku_n+1 Yen
+ 4; Bl BT, 1 - BT.-3 Br RR $ 2.0
In dieser Gleichung werden jetzt die Größen 'ß,?ß,... so bestimmt,
daß Glied für Glied mit der gegebenen Differenzengleichung über-
einstimmt. Dann ergeben sich neben
!) Miscellanea Taurinensia, t. IV®, 1766/69, p. 309. °) Me&moires presentes
par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 40.
Differenzen- und Summenrechnung. 1063
ii Ei PL, + "BT,_3 + Aha ” BT iz + X,
noch n Bestimmungsgleichungen für die n — 1 Größen
BB." 'B,
und man erhält durch ihre Auflösung nach ß der Reihe nach:
4-H,-«,
B='"H,—-0,_,'H,- 0,0,
EAN 1 : > en A ?
p= 7 Re TR DB, ; 0-2 H, Guy _1' 2
-19 _ rn-2 .n—8 Br ;
n ß A? =, — _n+2 H, E My %-1-
Die nte Gleichung war
. _.n—1i .
un Bi! I;
so daß *-18 auf zweierlei Arten dargestellt werden kann; durch Ver-
gleichung ergibt sich
B ıH, 24H sig
0=1— — — nn -
x
x Rn RL a 7 ER 2 Ent
Ist aus dieser Gleichung ein Wert von « ermittelt, so lassen sich
die ß unmittelbar angeben; dann ist noch 7, aus der oben an-
geführten Differenzengleichung zu bestimmen, die bezüglich ihrer
Ordnung um 1 Grad niederer ist als die ursprünglich gegebene.
Laplace bringt als Beispiele die bekannten Aufgaben, den Sinus
eines vielfachen Arguments durch die Potenzen des ÖCosinus des ein-
fachen Arguments auszudrücken, sowie das Bildungsgesetz der höheren
Differentialquotienten von arcsin« zu entwickeln.) In einem Auf-
satz?) in den Berliner Memoiren vom Jahre 1775, an den später
u.a. Malfatti anknüpft?), beschäftigt sich endlich Lagrange speziell
mit der Gleichung mit konstanten Koeffizienten
Ay, + By; +: + Nun;
d. i. mit dem sogenannten Problem der rekurrenten Reihen, bringt
die diesbezüglichen Gleichungen in bequeme, handliche Form und
berücksichtigt auch den Fall mehrfacher Wurzeln der charakteristischen
Gleichung
A+Bae+-.-+Nd"=0;
diesen Fall betrachtet er übrigens auch noch in einer späteren Ab-
') M&moires presentes par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p 65 bzw. 68.
?”) Oeuyres de Lagrange, t. IV, p. 151ff. »), Memorie di Mat. e Fis. Soc. It.
t. III, 1786, p. 571 ff.
1064 Abschnitt XXVII.
handlung von einem neuen Gesichtspunkt aus.!) Die Behandlung der
Gleichung mit konstanten Koeffizienten bei variablem A, durch
Lorgna haben wir bereits erwähnt; außer der linearen Gleichung
konnte hier keine andere höherer Ordnung oder höheren Grades (vgl.
das Beispiel von Monge 8. 1054) Beachtung finden.?)
Für die Untersuchungen auf dem Gebiet der partiellen
Differenzengleichungen wurde eine Arbeit von Laplace grund-
legend; dieser ist nach eigener Aussage?) durch Aufgaben aus der
Wahrscheinlichkeitsrechnung auf das Problem der „rekurro-rekurrenten
Reihen“, wie er sich ausdrückt, geführt worden. Seien folgende
Gleichungen gegeben :*)
®+A y-!+B Le=?2L...- N=0
YVHAYiLBpAL. EN
RB 3 io Apr % M’” 1ye—1 + 2 ie +...
ae + A p-1 + Bsp? LI LN” |
HEY HUT IR
(1) nr + A" la + 7 2 on au + ern, + N" |
Roh Hır- Ip + M* u ir +. P" rer} = Ra 2
Laplace zeigt nun, daß man (1), die letzte dieser Gleichungen,
stets auf folgende Form bringen kann:
(2) y — 7 al "are + br re? 4 pe’ + ER + u”;
hierbei sind a”, b”, c*,... u“ Funktionen von n. Aus (2) ergeben sich
sodann die speziellen Gleichungen
H* rap Be AR(arir iger + br-1 NE IyerR . cz + ur!)
M" ar ae Be! N ee + et + RE .n wen
Te luiahe ehr 2 I TAER + > ck, + 8 rn ur!)
Addition und Anwendung von (1) liefert
‘) Oeuvres de Lagrange, t. V, p. 627ff. (Berliner Memoiren 1792/93).
”) Man vgl. die Notizen von Monge in dem bereits zitierten Aufsatz Histoire
de l’Acad&mie des Sciences 1783 (1786), p. 725ff. (gelesen 1785) und Trembley,
Nouveaux M&moires de l’Acad&mie de Berlin 1799/1800 (1803). ®) Me&moires
presentes par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 39. Hier findet sich ein
kurzer Überblick über die Geschichte der Differenzengleichungen. Man vgl.
auch Histoire de l’Academie des Sciences 1779 (1782), p. 207 ff. #) Me&moires
presentes par divers Savans, t. VI (1774), p. 354.
Differenzen- und Summenrechnung. 1065
2 a del ae en we he
— ar mai 4 7 ... + N®)
+ a + ehe +: 3 N”)
:
+ ur- (Hm + Mr 4 Pr.. ur
Soll diese Gleichung mit (2) identisch sein, so muß:
a1 _ A"
br — br-1 1 anr-14r _ Br
EL 5 Eh er ar-i Br — 0"
ur er u, mt ne bi —...),
Das Problem ist damit, genauer nach Bestimmung der a”, 5”, c*, ..: u”,
auf die Integration des Systems der Gleichungen (2), d. i. eines
Systems gewöhnlicher Differenzengleichungen zurückgeführt, die keine
prinzipielle Schwierigkeit mehr bietet. In einer späteren Abhandlung‘)
behandelt Laplace das spezielle System (equation rentrante en
elle-möme)
yi+4Ayi, +'Ayi,+t oe By’! + \Buit? + IByst2r- .,
wo i von 1 bis » läuft, und für y”+! wieder y! zu setzen ist; er
untersucht sodann kompliziertere Annahmen und bringt Anwendungen
auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Von späteren Arbeiten auf
dem Gebiete der partiellen Differenzengleichungen sei, abgesehen von
Lagrange?), nur noch eine Abhandlung?) von Paoli erwähnt, der
als Beispiel die Frage untersucht, wie oft sich eine gegebene Zahl
als xgliedrige Summe von Termen der natürlichen Zahlenreihe oder
überhaupt einer arithmetischen Reihe darstellen läßt.*)
Endlich sind noch Gleichungen zu erwähnen, die zu gleicher
Zeit Differentialquotienten und endliche Differenzen enthalten; fder-
artige Gleichungen treffen wir bei Laplace,°’) Lorgna°®) und Paoli’)
In gewissem Sinne kann man auch eine Aufgabe®) von Euler hierher
t) M&moires presentes par divers Savans, t. VII, 1773 (1776), p. 79. Im Text
wurden die einzelnen Gleichungen des Originals durch einen Index ? zusammen-
gefaßt. 2) Oeuvres de Lagrange, t. IV, p. 165ff. ®) Memorie di Mat. e
Fis. Soc. It., t. II, part. 2, 1784, p. 787 ff. *) Ebenda, p. 817 bzw. 829.
®, Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1779 (1782), p. 302. Hier sind die
fonctions generatrices benutzt. °) Memorie di Mat. e Fis. Soc. It., t. IV, 1788,
p. 156ff. 7) Ebenda, t. V, part. 2, 1790, p. 575. Hier ist auf die Laplacesche
Methode der erzeugenden Funktionen verwiesen. °%) Novi Commentarii Aca-
demiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 140#f. :
1066 Abschnitt XXVL.
rechnen, eine Kurve von der Eigenschaft zu finden, daß die Halbierungs-
linie des Winkels, den eine beliebige Kurventangente mit einer festen
Geraden bildet, eine Kurvennormale ist (vgl. S. 515); auf die Euler-
sche Behandlungsweise kann hier nicht eingegangen werden.
Variationsrechnung.
Die Variationsrechnung hatte durch Euler einen gewissen
Abschluß gefunden, doch verdient sie in diesem Zustand den Namen
Rechnung noch nicht, weil geometrische Überlegungen zu sehr im
Vordergrund der Untersuchung stehen, die ganze Behandlungsweise
auch noch nicht einheitlich, umfassend genug ist, um auf jedes
Problem sofort angewandt werden zu können. Diesen Übelstand
überwand erst Lagrange mit Hilfe eines neuen Algorithmus, der
eine vollkommen gleichartige, systematisch rechnerische Behandlung
aller Variationsprobleme ermöglicht. Der Fortschritt war so be-
deutend, daß Lagrange die Grenzen der Integrale als variabel an-
sehen und auch Doppelintegrale behandeln konnte. Lagrange teilte
nach eigener Aussage seine Methode schon 1755 Euler mit und fand
dessen Beifall;') veröffentlicht hat er sie erst 1762.?) Nach kurzem
geschichtlichen Überblick entwickelt Lagrange seinen Grundgedanken,
daß nämlich die Variationsrechnung kein anderes Prinzip erfordere
als den Gebrauch der Differential- und Integralrechnung (wie die ge-
wöhnliche Maxima- und Minimaberechnung auch), nur habe er, damit
die beiden auftretenden Variationen (die infolge der Maximalbedingung
und die bereits vorhandenen Differentiationen) nicht verwechselt
werden, eine neue „Charakteristik“ ö eingeführt. So stelle dZ eine
Änderung von Z dar, die nicht das Nämliche sei wie dZ, aber doch
nach denselben Regeln gebildet werde; neben einer Gleichung
dZ=möx (verdruckt für dx) bestehe also in gleicher Weise
öZ=möx. Ohne weitere Ausführung oder Begründung schreitet
Lagrange sofort zu folgender Aufgabe: Z sei eine Funktion von
x%,y,2,dx,dy, da, d’x, d’y, d’z,...,
man soll die Bedingung finden, daß $2 ein Maximum oder Minimum
wird. Nach der „bekannten Methode“ der Maxima und Minima hat
‘) Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69, p. 163. Vgl. hierzu Cantor,
Zeitschrift für Math. u. Phys. (2) 23 (1878), hist.-lit. Abtlg. 1. ?) Miscellanea
Taurinensia, t. II?, p. 173—195. Diese Abhandlung mit der von 1770 und der
Legendres von 1786 in Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften
Nr. 47; diese Ausgabe wurde im folgenden wiederholt benutzt. |
Variationsrechnung. 1067
man, sagt Lagrange, das gegebene Fi Z zu „differentiieren“, wobei
die Größen
2,yY,2, da, dy,da, d’x, d’y, d’2,...
als variabel anzusehen sind, und das so entstehende Differential gleich
Null zu setzen; bezeichnet man diese Variationen mit Ö, so erhält
man zunächst
2) Z=0 ’
oder, was dasselbe ist,
j8Z=0.
Diese Stelle ist von großer Wichtigkeit; sie erklärt, warum Lagrange
keine eingehendere Begründung seines Algorithmus bringt: Er erblickt
darin keine neue, von der gewöhnlichen Maximabestimmung prinzi-
piell verschiedene, sondern die schon längst geübte, „bekannte“ Me-
thode; nur enthält eben der Ausdruck sk Z bereits Differentiale, und
es müssen daher, lediglich um „Verwechselungen“ zu vermeiden, die
neuerdings notwendigen Differentiationen anders, also etwa durch das
Zeichen Ö ausgedrückt werden. Diese Auffassung erklärt auch, warum
Lagrange den im folgenden oft benutzten Satz von der Ver-
tauschbarkeit der Symbole d und Ö nicht beweist: d und Ö sind zwei
verschiedene Differentiationen, die ganz unabhängig nebeneinander
hergehen. Ist nun Z so beschaffen, sagt Lagrange, daß
oZ=ndze+pdde+gdd®ce+rödc-+---
+ Nöy+ Pödy + Qödy+---+vde+nddz+yödz+ -- -
so kommt
Inox + /poda + fgd@x+---
+/Nöy + / Poay + [Q5a2y te.
F vöz + [a0dz + [rö@z + el.
Aber man sieht leicht
öde = dda, Ida = d’dx usw.;
überdies findet man durch partielle Integration
pasy = »60% — [apda; Sadox — ydör — dgqöx + [@g92; usf.
Damit wird
1068 Abschnitt XXVIL.
Sin - ap +d@qg - @r+.:)d0+ [(N-dP+ @Q-a@R+:-.)öy
+/@ da +d@y—dg+:-)de
+(p—dg+d’r — .- )öc+(g— dr +. )dda+(r— --)Edc+:--
+(P-dQL@R-::)öy+(Q—-dR+::.)döy
+(R-:.- )döy+---
+ — dı+doe—:--)dö2+(y—-de+--:)döz
Fl a N
Lagrange trennt diese Gleichung in zwei; die erste „unbestimmte“
Gleichung erhält alle Glieder, die unter Integralzeichen vorkommen,
die andere bestimmt alle übrigen Glieder. Letztere Gleichung bringt
Lagrange mit den Grenzen des Integrals 4 Z in Zusammenhang; um
die gefundenen Gleichungen von den Größen dx, dy,... zu befreien,
hat man zu prüfen, ob der Natur des Problems nach zwischen ihnen
eine Beziehung besteht;!) sind sie dann mit deren Hilfe auf die
kleinste Zahl zurückgeführt, so sind die Koeffizienten der noch vor-
handenen Größen dx,öy,... gleich Null zu setzen. Sind sie voll-
ständig unabhängig voneinander, so kommt
n— dp+dg— Ör+::: =(0;
N—-dP+dQ-—-d@’R+-::=0; v—da+dy— do+:::=d.
Nach Untersuchungen über die Brachistochrone überhaupt und
diejenige auf einer gegebenen Oberfläche weist Lagrange nach, daß
von den letzterwähnten drei Gleichungen immer eine die Folge der
beiden andern ist?), und wendet sich sodann der Aufgabe zu, fe Z zu
einem Maximum oder Minimum zu machen, wenn Z außer den
Variabeln x, y, 2 und ihren Differentialen auch noch das Integral
I fi Z’ enthält, wo Z’ aus den nämlichen Veränderlichen und ihren
Differentialen sich zusammensetzt. Diese Aufgabe, sowie das Problem
der Maxima-Minimabestimmung von fi Z, wo Z durch eine Differential-
gleichung 1. Ordnung definiert ist, hat schon Euler behandelt und
gelöst, was Lagrange ausdrücklich anerkennt, der auch den Fall
einer Differentialgleichung 2. oder höherer Ordnung für Z bespricht.
') In der Mecanique analytique von 1788, p. 45—46 hat Lagrange den
Fall von Nebenbedingungen durch Einführung unbestimmter Multiplikatoren auf
das Problem ohne solche reduziert. ®) Miscellanea Taurinensia, t. II?, p. 182.
Variationsrechnung. 1069
Um die Brauchbarkeit seiner Methode zu erläutern, leitet Lagrange
die Bedingungen her, daß eine Fläche von allen denen, die denselben
Umfang oder aber gleiches Volumen haben, die kleinste ist, und be-
weist!) den Cramerschen Satz, daß das flächengrößte Polygon von
gegebenen Seiten einem Kreise einbeschrieben ist, aufs neue, des-
gleichen zeigt er, daß unter allen Polygonen gleichen Umfangs?) das
reguläre den größten Inhalt besitzt. Eine weitere Abhandlung?)
bringt Anwendungen der Variationsrechnung auf die Dynamik; hier
findet sich gleich zu Beginn der Eulersche Satz, daß das Integral
der in das Bahnelement multiplizierten Geschwindigkeit eines Massen-
punktes ein Maximum oder Minimum ist, auf ein Massensystem aus-
gedehnt, doch ist der dabei vorzunehmende Variationsprozeß nicht
genau definiert, was in der Folge zu Mißverständnissen Anlaß gab‘).
Überhaupt fand der neue Kalkül außer bei Euler zunächst wenig
Verständnis; in einer schon erwähnten Abhandlung?) erhob Borda
verschiedene Bedenken gegen die Behandlung des Brachistochronen-
problems durch Lagrange, die diesen zu einer nochmaligen ge-
naueren und allgemeineren Auseinandersetzung in seiner sogleich zu
erwähnenden zweiten Abhandlung veranlaßten; ganz ungerechtfertigt
sind die Angriffe von Fontaine‘), der seine eigene Methode, die
nur Eulersche und Lagrangesche Ideen in höchst unübersicht-
licher Weise mit den Punkten der Fluxionsrechnung und dem Zeichen d
nebeneinander ausdrückt, allen anderen überlegen hält. Euler hat
in verschiedenen Abhandlungen die Lagrangesche Methode ausführ-
lich auseinandergesetzt, und neben der Regel dd = dö verschiedene
alte Sätze (vgl. S. 904) neu bewiesen”); interessanter ist sein Versuch
einer geometrischen Deutung des Variationsprozesses®) und die darauf
beruhende Herleitung der betr. Rechnungsregeln. Die Variations-
rechnung — dieser Name stammt von Euler —, sagt er, scheint
zunächst eine völlig selbständige Rechnungsart zu sein, und dem-
') Hierbei kommt Lagrange auf die Variationsrechnung für endliche
Differenzen zu sprechen; an diese Stelle hat dann Condorcet wieder an-
geknüpft. ®) Über isoperimetrische Probleme handelt u.a. ein Aufsatz von
Paolo Frisi, Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. VII, 1658/59
(1761), p. 227ff. Der Lagrangesche Algorithmus ist hier noch nicht benutzt.
®, Miscellanea Taurinensia, t. II?, p. 196—298. *, Wegen der Geschichte des
Prinzips der kleinsten Wirkung vgl. man ÖstwaldsKlassiker a.a. O., Anmkg. 9,
ferner Suter, Geschichte der mathematischen Wissenschaften, Zürich, 2, Teil,
8. 373 ff. °) Histoire de l’Acad&mie des Sciences 1767 (1770), p. 5ö1ff.
6, Ebenda, p. 588 ff. °”) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. X,
1764 (1766), p. 94ff. (Ebenda, p. 156ff. über die Tautochrone im widerstehenden
Mittel.) Endlich Institutiones caleuli integralis, vol. III, Anhang, p. 461—596.
®) Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 35ff.
1070 Abschnitt XXVI.
gemäß führt auch Lagrange ein eigenes Zeichen Ö ein, zum Unter-
schied von der Differentiation, die durch d bezeichnet wird. Euler
stellt sich die Aufgabe, die Variationsrechnung auf die Prinzipien
der Infinitesimalrechnung allein zurückzuführen und zwar durch Ein-
führung einer Hilfsvariabeln f, die als Parameter einer Kurvenschar
mit den laufenden Koordinaten x und y gedeutet wird. Er denkt
sich mit anderen Worten y als Funktion von x und der neuen
Variabeln t; dx (32) stellt dann die eigentliche Differentiation dy, dt (%)
die Variation dy von y dar; Variation ist also nichts als partielle Dif-
ferentiation nach t. Im folgenden führt Euler die wichtigsten Auf-
gaben der Variationsrechnung auf Grund seiner neuen Auffassung
auf wirkliche Differentiationen nach i zurück und befreit sich dann
von der Variabeln # schließlich wieder in geschickter Weise durch
partielle Integration); die Endresultate treten in der gewöhnlichen
Form auf wie sonst auch. Von Anwendungen der Variationsrechnung
seien eine Abhandlung Eulers von 1779 über Raumkurven mit einer
Maximal- oder Minimaleigenschaft?), ferner Untersuchungen desselben
Forschers über Brachistochronen, wenn die wirkenden Kräfte nicht
in einer Ebene liegen, und über Brachistochronen im widerstehenden
Mittel erwähnt?).
In einer Abhandlung vom Jahre 1770*) ist Lagrange wieder
auf die Variationsrechnung zurückgekommen; er geht von allge-
meinen Gesichtspunkten aus, die alle Spezialuntersuchungen seines
ersten Aufsatzes gleichzeitig umfassen. Es sei g die Funktion, von
der man die Variation dp finden will; @ soll durch eine Differential-
gleichung von irgend einer Ordnung zwischen 9, &, Yy, 2,... und
den Differentialen dieser Variabeln gegeben sein. Heißt diese Glei-
chung ®=0, so wird d® = 0; ö® wird gebildet, indem man jede
der Größen p,2,Y,...dgp,dx,dy,...,aus denen sich die Funktion ®
zusammensetzt, als besondere Veränderliche ansieht. Indem Lagrange
die Operation der Variation wirklich ausführt, kommt er nach Multi-
plikation mit einer nachträglich passend bestimmten Hilfsgröße $
und partieller Integration auf eine Gleichung der Form
II + [w- const.,
welche die Grundlage der weiteren Untersuchung bildet. Hierbei ıst
') Novi Commentarii Academiae Petropolitanae, t. XVI, 1771 (1772), p. 42,
43. ?®) In den Me&moires de l’Acad&emie Imperiale des sciences de St. Peters-
bourg, t. IV, 1811 (1813). 3) Ebenda, t. VIII, 1817/18 (1822), p. 17—28 bzw.
p- 41—45. (Aus dem Jahre 1780.) *) Miscellanea Taurinensia, t. IV?, 1766/69,
p. 163—187.
Variationsrechnung. 1071
= Pöpg+Qdz+Röy+Sde+---,
wo die Koeffizienten P,@, R, S,... sich in bestimmter Weise aus ®
berechnen lassen. Die Bedingung dg=0 für das Maximum oder
Minimum von g führt nun nach einigen Überlegungen bezüglich
der Grenzen des Integrals nÄ % auf die Gleichung
Qd52 + Röy+Sd2+:. —=0,
die je nach Zahl der Relationen zwischen den Öx,öy,öz,... ın
weniger oder mehr Einzelgleichungen zerfällt. Lagrange bringt
späterhin!) einen einfachen Beweis seines Theorems, daß eine dieser
Einzelgleichungen immer die Folge aller übrigen sei. Er benutzt
hierzu den Umstand, daß in der gegebenen Differentialgleichung ® = 0
der Ausdruck ® immer auf die Form ® = dx” gebracht werden
kann, wo 3 eine. Funktion der Veränderlichen g,x,y,2,... und
ihrer Abgeleiteten nach x bedeutet. Dann ist
öoD = m Ada" -!öda + da" 62;
wegen ® = 0 ist aber auch 2= 0, also do® — da"öF%. Sei nun
dy
VE ‚dp m; dx
3—- andy +nd, rd. rt
; dy
PER % [Z d
og dt
dz 45
+ 602 +00. +0 Jeree
+r0dr,
so wird man nach Multiplikation mit &dx” und partieller Integration
(wobei nur die Größen dx,öy,dz,... unter dem Integralzeichen
bleiben dürfen) wieder auf den Ausdruck IT + f % stoßen. Lagrange
zeigt nun, daß der Ausdruck /Z identisch Null wird, wenn man das
Zeichen ö durch d ersetzt; er betrachtet zu diesem Zweck die ein-
zelnen Glieder von Ö2. zöp ist keiner partiellen Integration der
verlangten Art fähig, es wird daher ganz unter dem Integralzeichen
bleiben. Das Glied w'0°7 wird zuerst #(° = _ a); nach Mul-
tıplikation mit &dx”, Vertauschung von ddp, öÖödx mit dög bzw.
döx und partieller Integration erhält man als Glied außerhalb des
FRE
da dx?
Integralzeichens den Ausdruck Ea’dar( r der, wie un-
') Miscellanea Tauriuensia, t. IV?, 1766/69, p. 175.
1072 Abschnitt XXVI.
mittelbar ersichtlich, bei Verwandlung von ö in d identisch ver-
schwindet. Gleiches ergibt sich für die übrigen Glieder von Ö2,
d. h. es wird, wenn man Ö in d verwandelt, IT immer zu Null und
damit / W— const., also #=0. Ersetzt man also in dem Ausdruck
Y— Pöp+Qdx + Rödy+S8dz+--- das Zeichen Ö durch d, so
wird identisch Pdp + Qd@ + Rdy+Sdz+:-:=(0, d.h. eine von
den Maximum-Minimumbedingungen ist eine Folge der andern.
Lagrange knüpft hieran die Bemerkung, daß die Möglichkeit, & in
der Form dx” vorauszusetzen, für den Beweis wesentlich war, und
weist darauf hin, daß bei Differenzengleichungen diese Voraussetzung
im allgemeinen nicht zutrifft. Endlich wird die Aufgabe, 9 — fi Z
zu einem Maximum oder Minimum zu machen, wenn Z selbst wieder
Integralzeichen enthält, mit Hilfe der vom Integralzeichen freien
Differentialgleichung für p gelöst, und das Problem der Brachisto-
chrone nochmals eingehend behandelt.
Die Frage, ob im einzelnen Fall ein Maximum oder ein Minimum
vorliegt, wurde nach einem mißglückten Versuch von Laplace!) von
Legendre behandelt, aber erst Jacobi gelang es, hinreichende Kri-
terien hierfür aufzustellen. Als einfachsten Fall untersucht Legendre
„die Variation zweiter Ordnung“?) von 4 vdxz, wo v eine Funktion
von %, Yy und 9 = > allein ist. Er findet unter der Annahme dx =0
mit Hilfe des Taylorschen Satzes
a er ee, u ODRÄKLUE
a fan az (Gy W + a0yon 20yOr + 2a OP),
wofür zur Abkürzung
[ax (Pöy®+ 2Q8yöp + Röp)
gesetzt wird. Dann ist identisch
0) Ivda — const. — «dy?
+ far I(? # or + 2(Q + )öydp + Röp*|,
wo « beliebig ist. Legendre nimmt nun « so an, daß sich der Aus-
") Nova Acta Eruditorum 1772, p. 293. ?) Histoire de l’Academie des
Sciences 1786 (1788), p. 9. Kurz zuvor unterscheidet Legendre zwischen 2
0x
als dem Koeffizienten von dx in dem Differential von » und = ‚d.i.dem durch
dx geteilten vollständigen Differential von v. Vielleicht hat Jacobi, der diese
Unterscheidung einbürgerte, diese Stelle gekannt.
Variationsrechnung. 1073
druck unter dem Integralzeichen in zwei gleiche Faktoren spalten
läßt, wozu. die Gleichung
d
(P+Z)R-(Q+ 0)
erforderlich ist. Dann ergibt sich bei festen Integrationsgrenzen
9 [vdz — (ad?) — (wöy?)! + [Raz (69 + "5° y)
und hierin kann man, da sich ja « aus einer Differentialgleichung
bestimmt, also eine willkürliche Konstante enthält, « immer so an-
nehmen, daß («dy?)’ — (a«öy?)’ entweder Null ist, oder dasselbe Vor-
zeichen wie R hat; daraus folgt aber, sagt Legendre, dab [vdz
ein Maximum ist, wenn
2
’
en
20p?
negativ, ein Minimum hingegen, wenn dieselbe Funktion positiv ist.
Legendre geht sodann zw dem Fall über, daß v eine Funktion von
%, y, p und q ist, wo
gg
dy=pdx und dp = qdy.
Die Variation der 1. Ordnung ist Null, die 2. Ordnung läßt sich auf
die Form bringen
d [vdz— [da(Möy’+2Nöyöp + Qop*
+2Pöyög+ 2Röpdög
+ So),
wofür Legendre schreibt
I /vdz— (andy? +2Bdyöp-+ yop?)’— (“öy?+2Bdydp+yop?)
. fe: (+ + 2 (N+ + Ge) övör+ ur Mdrdg|
| +(@+26+ 2%) op + B+p)öpöa+sor |
x
Der Ausdruck unter dem Integralzeichen soll sich wieder in ein
Quadrat zerfällen lassen; aus der Annahme, der Inhalt der geschweiften
Kammer sei gleich
S(ög + udp + Ady)",
ergeben sich aber fünf Bedingungsgleichungen für «, ß, y, u, 4. Man
erkennt, daß bei ihrer Integration drei willkürliche Konstante auf-
treten, die so gewählt werden können, daß die außerhalb des Integral-
zeichens stehende Differenz Null ist oder dasselbe Vorzeichen wie S
besitzt. Legendre schließt wieder, daß damit das Vorzeichen von 8
für die ganze zweite Variation maßgebend und für die Existenz eines
Maximums oder Minimums entscheidend ist, gibt sodann die Verall-
1074 Abschnitt XXVII.
gemeinerung für den Fall, daß v Differentialquotienten beliebiger Ord-
nung enthält, und behandelt noch einige ähnliche Fragen unter der
Annahme, daß x nicht konstant, also dx von Null verschieden ist.
Von den praktischen Beispielen, die Legendre untersucht, seien das
Problem des Körpers von kleinstem Widerstand, der Kettenlinie und
der Brachistochrone erwähnt. Herleitung und Ergebnis der vorer-
wähnten Kriterien sind bekanntermaßen unvollständig. Die ersten Be-
denken äußerte Legendre selbst!); in einer späteren Abhandlung
sucht er die stillschweigende Voraussetzung, daß die Hilfsgrößen «, ß, y
immer reell bestimmt werden können, sowie die Möglichkeit, die
Differenz |
(«öy? + 2Bdydp-+yop?) — (aöy? +2Böydp+ yop?)
zum Verschwinden bringen zu können, durch Reihenentwicklungen zu
erweisen; der Nachweis ist indessen für beide Behauptungen, von
denen die erste richtig ist, unzureichend. Den Haupteinwand hat
jedoch Lagrange erhoben?): das Integral kann das Vorzeichen
wechseln, wenn auch der Ausdruck unter dem Integralzeichen dies
nicht tut, wie an dem Beispiel
& dx
1—x (1— x)?
ersichtlich ist. Das Theorem von Legendre gilt nur, solange der
Ausdruck unter dem Integralzeichen endlich bleibt; um aber darüber
zu entscheiden, braucht man die Funktionen «&, ß, y selbst, und die
Erkenntnis ihrer Existenz allein genügt noch nicht. Immerhin be-
deutet Legendres Versuch, die schwierige Frage zu lösen, und die
Art seines Vorgehens einen großen Fortschritt. |
t, Histoire de ’Academie des Sciences 1787 (1789), p. 348. 2, Öeuvres,
t. IX, p. 308. Vgl. Ostwalds Klassiker a. a. Ö., Anm. 12.
ABSCHNITT XXVII
ÜBERBLICK ÜBER DIE ZEIT
VON 1758 BIS 1799
VON
M. CANTOR
CAnToR, Geschichte der Mathematik IV, 69
$ Fer
Ba FE:
Be
2
>
Ye
Überbliek über die Zeit von 1758 bis 1799.
Die Abschnitte XIX bis XXVII dieses Bandes haben die
Geschichte der einzelnen Teilgebiete der Mathematik in ähnlich
ausführlicher Weise wie die drei früher erschienenen Bände
bis zum Ende des 18. Jahrhundert weiter geführt. Die Zeit,
welche behandelt wurde, war eine wesentlich kürzere als in dem
III. Bande, der selbst schon eine kleinere Zeitspanne als der II. Band
umfaßte, von den vielen Jahrhunderten zu schweigen, durch welche
der I. Band als Führer dienen wollte, und dennoch ist der Umfang
dieses IV. Bandes weit über den der ihm vorhergehenden gewachsen.
Welche Gründe diese Erscheinung hervorgebracht haben, ist leicht
ersichtlich. Je mehr wir der Jetztzeit uns nähern, um so reichlicher
fließen die Quellen unseres Wissens. Sie sind überdies gefaßt, wenn
das Bild der Quelle beibehalten werden soll. Die Akademieschriften
und Zeitschriften vermehren sich (vgl. S. 4—7) und sammeln, was in
einzelnen Rinnseln da oder dort hervorquillt. Ihre Herausgeber sind
weitherzig in der Aufnahme von Beiträgen auch von solchen Ver-
fassern, welche nicht gerade einer Akademie angehören. Und diese
Leichtigkeit das, was der Einzelne für veröffentlichungswert hielt,
tatsächlich an die Öffentlichkeit zu bringen, mußte eine Stoffvermeh-
rung zur Folge haben. Manches davon verdiente nicht, geschichtlich
aufbewahrt zu werden und ist in diesem Bande mit Fug und Recht
übergangen, aber Anderes hat, zur Zeit seiner Entstehung kaum be-
achtet, nachträgliche Bedeutung erhalten. Einzelne besonders begabte
Männer haben wie in früheren Zeiten auch im Verlaufe der letzten
Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts in der Mathematik ihre Lieblings-
wissenschaft gefunden, haben sich ihr ganz oder doch vorzugsweise
gewidmet, und mit einer riesigen Arbeitskraft neue Gebiete urbar
gemacht. Wir brauchen nur auf die einzelnen Abschnitte dieses
IV. Bandes zu verweisen, welche die hier ausgesprochenen Sätze des
Näheren belegen. Den Bearbeitern der einzelnen Abschnitte gestaltete
sich so eine dankbare Aufgabe in der Schilderung des Wachstums der
einzelnen Teilgebiete, aber was bei der Feststellung des allgemeinsten
Planes zum IV. Bande in den Augusttagen des Jahres 1904 schon
69*
1078 - Abschnitt XXVII.
vorausgesehen wurde, bewahrheitete sich: der Zusammenhang zwischen
den einzelnen Abschnitten lockerte sich. Sogar die Tätigkeit eines
einzelnen Verfassers zu verfolgen, ist schwierig geworden, geschweige
daß die Einwirkung genügend hervorträte, welche jeder auf seine Zeit
ausübte. Dazu ist ein Überblick erforderlich, welcher das zeitliche
Nebeneinanderauftreten wichtiger Gedanken bemerkbar mache, und
diese Aufgabe soll der XXVIII. und letzte Abschnitt dieses Bandes
zu lösen suchen. |
Schon damals, als wir den XXVII. Abschnitt bearbeiten zu dürfen
uns erbaten, schwebte uns ein Gedanke vor, den wir im folgenden
zur Ausführung bringen. Gewiß ist die Schlußfolgerung irrig, das in
der Zeit Frühere müsse zu dem Späteren den Anstoß gegeben haben,
aber soviel steht fest, daß der Anstoß zu einem Späteren, wenn er
stattfand, nur von einem Früheren gegeben sein kann. Man muß da-
her vor allen Dingen und unbekümmert um den besonderen Gegen-
stand der einzelnen Untersuchung sämtliche besonders hervorragende
Leistungen in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge zur Anschauung bringen,
und das ist es, was die nachfolgenden Seiten bezwecken. Wenn da-
bei auf einige wenige Dinge hingewiesen ist, von denen die Verfasser
der Abschnitte, in welche jene gehören, schwiegen, so liegt darin der
Beweis, daß die Ansichten über Beachtenswertes und nicht Beachtens-
wertes verschieden sind, und daß bei der Selbständigkeit, mit welcher
die Bearbeiter der einzelnen Abschnitte von vornherein ausgestattet
waren, es nur zu verwundern ist, wenn nicht häufigere Meinungs-
verschiedenheiten dem Leser begegnen. Gleicherweise sind wir darauf
vorbereitet, daß dieser oder jener Leser nicht mit uns übereinstimme
und Dinge erwähnt wünsche, über welche wir schwiegen, dagegen von
uns Erwähntes als ganz unerheblich betrachte.
Was die äußere Form der nun folgenden nach den Jahreszahlen
geordneten Liste betrifft, so bemerken wir, daß die eingeklammerten
Seitenzahlen sich auf den vorliegenden Band beziehen und die Stellen
angeben, wo von den in der Liste genannten Arbeiten die Rede ist.
Außerdem haben wir über die Art uns zu äußern, in welcher Eulers
Leistungen verwertet sind. Euler ist bekanntlich 1783 gestorben,
und unser geschätzter Mitarbeiter H. Vivanti hat daraus (S. 700
Anmerkung;) gefolgert, alle nachgelassenen Schriften Eulers gehörten,
weil vor 1783 verfaßt, in diesen Band. Wir haben eine davon ab-
weichende Meinung. Wer eine Monographie über Euler herauszu-
geben wünscht, wird sicherlich das Todesjahr des großen Mathema-
tikers als Endpunkt seiner Leistungsmöglichkeit zu betrachten haben
und wird für jenes Jahr in Anspruch nehmen, was immer aus Eulers
Kopfe stammend, nach 1783 gedruckt worden ist. Anders scheint
Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1079
uns die Sache zu liegen, wenn die Geschichte der Mathematik der
Behandlung unterworfen is. Was handschriftlich in den Auf-
bewahrungsräumen einer Akademie verschlossen liegt, kann nun und
nimmermehr als wirksam in dem Sinne betrachtet werden, daß es
sich befruchtend und fördernd erwiesen habe, und demzufolge ist
für die Geschichte der Mathematik unserer Ansicht nach erst das
Druckjahr einer Abhandlung ihr Geburtsjahr, und diese Ansicht war
für uns bei Anfertigung unseres Verzeichnisses maßgebend.
1758.
Hamilton, Treatise of conic sections bedient sich streng eukli-
discher Form und vermeidet sogar das Gleichheitszeichen (8. 462).
Kaestners Arithmetik betrachtet nicht nur die negative Zahl
als eine Zahl besonderer Art (S. 80), sie ist auch das erste Werk, in
welchem näher begründet ist, daß und warum man mit Irrational-
zahlen rechnen dürfe.
Lamberts angenäherte Gleichungsauflösung mittels Reihen
(S. 140).
Lambert über periodische Dezimalbrüche (S. 160).
1759.
Braikenridge über Konoide, insbesondere über das hyperbolische
Paraboloid (S. 556).
Daviet de Foncenex versucht den Fundamentalsatz der Algebra
zu beweisen und äußert sich über das Imaginäre (S. 306).
Hube, Abhandlung über Kegelschnitte in durchaus analytischer
Form (8. 454).
Lagrange gibt Extremwerte von Funktionen mehrerer Ver-
änderlichen (8. 772).
Lagranges Aufsatz, in welchem man die Fouriersche Reihe
hat finden wollen (S. 984).
Lambert, Freie Perspektive in 1. Auflage, eine 2. Auflage 1774
(8. 607).
1760.
Eulers Beweis, daß z°-+ y?T 2°? (8. 154).
Eulers Bewußtsein von den Vorzügen seiner trigonometrischen
Bezeichnungen (3. 405).
Eulers Satz über die Krümmungshalbmesser der Normalschnitte
einer Fläche (S. 545).
Joh. Kies betrachtet das ebene Dreieck als Grenzwert des sphä-
rischen mittels snA=4, cs A=1,t8g4=4A (S. 408).
1080 Abschnitt XX VII.
Lacailles Tafeln, deren spätere Auflagen (1781—1832) von
Lalande herausgegeben wurden (8. 434).
Lagrange findet mittels Variationsrechnung die Gleichung der
Minimalflächen (8. 550).
1761.
D’Alembert verteidigt die Behauptung log (— a) = log (a)
(S. 308).
Lagrange findet die Richtigkeit der Infinitesimalrechnung in
der Ausgleichung von Fehlern (5. 644).
1762.
Euler schlägt für die Wurzel der Gleichung »‘® Grades die
Form w+ AYov + BYo® + --- + QYor-! vor (8. 96).
Lagranges erste Abhandlung über Variationsrechnung, welche
Euler seit 1755 handschriftlich bekannt war (S. 1066).
Waring, Miscellanea analytica (S. 93).
Waring, Proprietates algebraicarum eurvarum (8. 467, 472).
1763.
Basedow, Überzeugende Methode der Arithmetik ist eines der
ersten und besten Schulbücher (S. 51).
Bayessche Regel für die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die aus
gegebenen Versuchen ermittelte Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses
zwischen gegebenen Grenzen liege (S. 240).
Euler sieht in den trigonometrischen Funktionen nicht mehr
Linien, sondern Verhältnisse von Linien (S. 405).
Euler beginnt mit Transformationen elliptischer Integrale
(8. 836).
G@. B. Fagnano beweist den 1754 von Euler vorgeschlagenen
Satz (S. 820).
Klügel, Geschichte der Parallelenlehre (S. 385).
Mauduit zeigt zwei Scharen von Geraden auf dem hyperbolischen
Paraboloid (8. 556).
1764.
Bayes bestimmt aus dem Eintreten eines Ereignisses dessen
Wahrscheinlichkeit (8. 240).
Bezouts Abhandlung über Gleichungen (S. 98).
Eulers Kettenbruchalgorithmus (8. 155).
Landen, Residual analysis (S. 661).
Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1081
1765.
‘ Euler macht auf die später nach ihm benannte Gerade aufmerk-
sam, welche den Höhenschnittpunkt, den Schwerpunkt und den Mittel-
punkt des Umkreises eines ebenen Dreiecks enthält.
Lambert faßt in seinen „Beiträgen zum Gebrauche der Mathe-
matik“ die Neperschen Regeln so auf, daß die Fälle gruppenweise
geordnet sind. Er bedient sich zum Beweise derselben unbewußt der
Gruppentheorie (S. 409).
Vine. Riceati und Saladini geben zwei Bände Institutiones
analyticae heraus, in welchen analytische und geometrische Betrach-
tungsweisen angewandt werden, und in welchen zum großen Entsetzen
der Zeitgenossen Differentiationen und Integrationen vereinigt vor-
getragen sind (8. 677).
1766.
Daniel Bernoulli über Sterblichkeit bei Pocken (8. 232, 237).
Euler über den Rösselsprung (S. 220).
Euler will Kegelschnittbögen in die Analysis eingebürgert wissen,
wie man es schon mit Kreislinien gemacht habe (S. 836).
Euler erblindet auch auf dem zweiten Auge.
Lagranges Adjungierte (S. 928) und seine Lehre von den linearen
Differentialgleichungen (S. 930).
1767.
Bezouts Aufsatz über den Grad der Resultante von Gleichungen
mit mehreren Unbekannten (S. 101).
D’Alembert betrachtet das Unendliche als Grenze (S. 642).
Euler benutzt den 1764 veröffentlichten Kettenbruchalgorithmus
(8. 156).
Euler über Bevölkerungszunahme (S 239).
Euler über die Gestattung unstetiger Funktionen in der Ana-
lysis, besonders bei der Integration partieller Differentialgleichungen
(S. 790).
Lagrange benutzt die Wurzeldifferenzen einer Gleichung als
Wurzeln einer neuen Gleichung (8. 130).
Lambert über die Irrationalität von x (8. 447).
1768.
Daniel Bernoulli wendet Infinitesimalrechnung auf Fragen der
Wahrscheinlichkeit an (S. 238).
D’Alembert über Reihenkonvergenz (S. 261).
1082 Abschnitt XX VIII.
Euler integriert die Gleichung
dx dy
VA+ Ba+0x’+Da°’+ Bat YVA+By+Cy+ Dy°+ By‘
(8. 804).
Eulers Integralrechnung, Band I.
Lagranges Umkehrungsformel (S. 258).
Lambert benutzt Hyperbelfunktionen (8. 411).
Vine. Riceati über rekurrente Reihen (S. 261).
1769.
Eulers Integralrechnung, Band Il.
Euler sucht Flächen, deren über demselben Stücke der zy- Ebene
stehende Flächenstücke einander gleich sind (S. 550).
Lagranges „Resolution des equations numeriques“ (8. 141).
Lagranges erste zahlentheoretische Veröffentlichungen in den
Turiner und in den Berliner Akademieschriften (8. 161).
Lagrange über die Eulersche (vgl. 1768) Differentialgleichung
dx dy
Vx ty = (0 (8. 807).
1770.
Daniel Bernoulli, das Geschlechtsverhältnis bei Geburten
(8. 239).
Bezout, Cours de mathematiques (8. 676).
D’Alembert gibt Integrabilitätsbedingungen ($. 873).
D’Alembert behandelt eine Randwertaufgabe (S. 883).
Eulers Integralrechnung, Band Ill.
Eulers Algebra erscheint in erster Auflage.
Euler führt mehrfache Integrale ein, und zwar zunächst Doppel-
integrale, welchen er den Namen formula integralis dwplicata beilegt
(8. 738). |
G. B. Fagnano löst die 1754 von Euler vorgeschlagene Auf-
gabe (S. 829).
Klügel erfindet den Namen trigonometrische Funktionen und de-
finiert sie, einem Eulerschen Gedanken (vgl. 1763) folgend, als
Quotienten (S. 413).
Lagrange wendet Kettenbrüche bei der Behandlung bestimmter
Gleichungen an (S. 143). |
Lagranges zweite Abhandlung über Variationsrechnung (vgl.
(1762). In ihr kommt schon eine den Lagrangeschen Multiplikator
zur Behandlung von Extremwerten impliziter Funktionen anbahnende
Betrachtung vor (S. 1070).
Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1083
Lamberts Anlage zur Tetragonometrie (8. 430).
Lamberts Tafeln (8. 435).
Waring, Meditationes algebraicae. Aus ihrem reichen Inhalt
sei der @oldbachsche Erfahrungssatz und der Wilsonsche Satz er-
wähnt (S. 106, 167).
| 1771.
Eulers Abhandlung De solidis, quorum superficiem in planum ex-
plicare licet handelt von abwickelbaren Flächen und nimmt x, y, z als
Funktionen von zwei Variablen £, u (8. 529).
Landens erste Arbeiten über elliptische Transzendenten ($. 844).
Malfattis Resolvente (vgl. den von Bortolotti herausgegebenen
Briefwechsel zwischen Ruffini und Paoli) (S. 117).
1772.
Bossuts großer Cours de Mathematiques beginnt zu erscheinen.
Lagrange, Reflexions sur la resolution algebrique des &quations
(5. 110).
Lagrange, Sur l’integration des &quations aux differences par-
tielles du premier ordre (S. 966).
Lagrange gebraucht symbolische Bezeichnungen wie z. B.
af usw. (8. 1048).
Waring, Proprietates algebraicarum curvarum (S. 467, 618 Note).
1773.
Euler führt das Wort Primitivwurzel ein (S. 173).
Lagrange über Divisoren quadratischer Formen (S. 175).
Lagrange über Berechnung von Beobachtungen unter Berück-
sichtigung der Fehlerwahrscheinlichkeit (8. 247).
Lagrange, Solution analytique de quelques problemes sur les
pyramides triangulaires (S. 523).
Lagrange handelt von dreifachen Integralen (S. 740).
De Marguerie muß sich erfolgreich mit der Auffindung von
Gleiehungsresolventen und mit dem Eliminationsprobleme beschäftigt
haben (8. 118).
Monge über die Bestimmung der willkürlichen Funktionen,
welche bei der Integration partieller Differentialgleichungen vorkommen
(S. 882).
Monge spricht sich in einer 1771 der Pariser Akademie vor-
gelegten, aber erst 1773 gedruckten Abhandlung dahin aus, daß sich
für Mp+Ng=0 (wo p—= et g= u und M, N Funktionen von
1084 Abschnitt XXVIIL.
&, y, 2 sind) dieselbe Integralgleichung ergebe, ob man z als Konstante
oder als Variable betrachte (S. 950).
1774.
Condorcet stützt sich bei dem Beweise des Satzes, daß, unter
der Voraussetzung einer homogenen Gleichung m*®” Grades zwischen
x und y, ydx sich auf die Form Pd& + Qdy bringen lasse mit ratio-
nalem P und Q, und daß überdies Pdx + Qdy ein exaktes Diffe-
rential sei, auf die Methode der Konstantenabzählung, von deren
Sicherheit er aber selbst nicht überzeugt ist. Ganz ähnliche Zweifel
hegt auch Lagrange (S. 724).
Euler dehnt den Gültigkeitsbereich des Binomialsatzes auf ge-
brochene und negative Exponenten aus, wis Newton es schon ge-
wagt hatte, ohne einen Beweis dafür zu haben ($. 203).
Lagranges Zusätze zu Eulers Algebra von 1770 (8. 171).
Lagrange gibt die Grundzüge seiner Infinitesimalrechnung be-
kannt (8. 644).
Lagrange erkennt Entstehung und Bedeutung des singulären
Integrals einer Differentialgleichung (S. 885, 890, 896, 969).
Lambert veröffentlicht seine Freie Perspektive (vgl. 1759) in
zweiter Auflage. In den Zusätzen befindet sich eine Geometrie des
Lineals (S. 607).
Laplace über die Wahrscheinlichkeit von Ursachen. In der
gleichen Abhandlung wird gegen die Anwendung des arithmetischen
Mittels bei der Beobachtungsberechnung Stellung genommen (S. 241,
249).
Monge, Memoire sur les proprietes de plusieurs genres de sur-
faces courbes (S. 535).
1775.
Euler führt die Differentiation und Integration unter dem Inte-
gralzeichen ein (8. 737).
Karstens Optik unter wesentlichem Einflusse von Lamberts
Freier Perspektive von 1759, wenn nicht von 1774 (8. 614).
Lagranges Fortsetzung der Abhandlung von 1773 über Divi-
soren quadratischer Formen (8. 177).
Landens zweite (1771 schon angekündigte) Abhandlung über
elliptische Transzendenten, in welcher die Landensche Transformation
und die Darstellung eines EITBOBBABFE? durch zwei Ellipsenbögen
vorkommt (3. 846).
Laplace wendet ee Reihen bei Wahrscheinlichkeits-
aufgaben an (S. 236).
Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1085
Laplace unterscheidet solution partieuliere von integrale parti-
culiere (8. 888).
Laplace bedient sich der Variation der Konstanten (S. 920).
‚Laplace über Funktionalgleichungen (S. 1051).
Lexell schafft die Polygonometrie (S. 431).
Monge benutzt zum ersten Male das Schlußverfahren: sind p
undg unter einer gewissen geometrischen Voraussetzung konstant, unter
einer anderen wieder konstant, aber von anderem Werte, dann muß
p eine Funktion von q sein oder umgekehrt q eine Funktion von p
(8. 536, 561, 948).
Die Pariser Akademie faßt den Beschluß, künftighin Einsen-
dungen, welche eine genaue Quadratur des Kreises, Dreiteilung eines
beliebigen Winkels mittels Zirkel und Lineal oder das Perpetuum
mobile herzustellen verheißen, nicht mehr anzunehmen (8. 377).
1776.
Euler behauptet, keine Kurve lasse sich durch Kreisbögen rekti-
fizieren (8. 488), vgl. 1781.
Eulers Abhandlung De methodo tangentium inversa ad theoriam
solidorum translata vom 2. September 1776 über partielle Differential-
gleichungen (8. 551).
Eulers Abhandlung über Kurven, deren Rektifikation sich durch
Parabelbögen vollzieht (S. 489).
Felkels Faktorentafeln (S. 435).
Lagrange verwertet Kettenbrüche zur Integration von Diffe-
rentialgleichungen (S. 916).
Laplace gebraucht das Wort Resultante (S. 123).
Vandermondes der Pariser Akademie 1772 vorgelegte Deter-
minantenbezeichnung erscheint im Drucke (S. 122, 791).
Waring, Meditationes analyticae (S. 275).
1777.
Eulers Arbeit über die Ellipse kleinsten Inhaltes durch vier
gegebene Punkte (S. 469).
Euler lehrt flächentreue und winkeltreue (konforme) Abbildung,
letztere unter Anwendung komplexer Größen. Abbildung in der
allgemeinsten Bedeutung des Wortes heißt bei ihm repraesentatio
(S. 573).
Lagrange äußert sich in einem an Lorgna gerichteten Briefe
über die ungemeine Wichtigkeit der nunmehr unbeanstandeten Be-
nutzung imaginärer Größen in der Analysis (S. 148).
1086 Abschnitt XXVII.
Lagrange wendet rekurrierende Reihen und Differenzenrechnung
auf Wahrscheinlichkeitsaufgaben an (S. 233).
Lagrange benutzt die Variation der Konstanten bei dem Über-
gang von der unvollständigen zur vollständigen linearen Differential-
gleichung ($8. 932).
Laplace, Recherches sur le caleul integral aux differences partielles
(5. 964).
Laplace Über lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung
(8. 999).
1778,
D. Bernoulli über Berechnung von Beobachtungen unter Ein-
führung einer Fehlerkurve (S. 248). |
Bertrand, Developpement nouveau de la partie el&mentaire des
mathematiques (8. 332, 390).
Hindenburgs erste kombinatorische Arbeit über den poly-
nomischen Lehrsatz (S. 205).
Schulzes Tabellen (S. 436).
1779.
Bezout gibt eine Eliminationsmethode für Gleichungen mit mehr
als zwei Unbekannten (8. 127).
Eulers Abhandlung vom 25. Januar 1779 De linea brevissima
in superficie quacumque ducenda behandelt die drei Koordinaten eines
Punktes in symmetrischer Weise (S. 538, 540).
Lagrange über die Anzahl imaginärer Wurzeln einer Gleichung
(S. 125).
1780.
_ Landen, Mathematical memoirs I (8. 711), vgl. 1789.
Nieuport über parallele Kurven (S. 510).
1781.
Euler findet durch Kreisbögen rektifizierbare Kurven ($. 491),
vgl. 1776.
Kant gründet den Zahlbegriff auf die Zeit (8. 79).
Laplace findet ferrat Pa Ye (8. 767).
0
Waring, Meditationes analyticae mit modernen Anschauungen
über Reihenkonvergenz. Insbesondere lehrt er die Benutzung des
Gliederquotienten und weiß er, daß
Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1087
1 1 1
1+ 5n + zn 7 qn 7;
konvergiert (divergiert), sofern n 21 (8. 275).
1782.
Euler, Methodus facilis symptomata linearum curvarum non in
eodem plano sitarum investigandi ist zur Grundlage der heutigen Theorie
der Raumkurven geworden, insofern s als unabhängige Variable dient
und die sphärische Abbildung benutzt wird (S. 525).
Laplace benutzt erzeugende Funktionen (3. 273, 1050).
1783.
Eulers Veröffentlichung des Reziprozitätssatzes, welchen er schon
1746 geahnt hatte (S. 186).
Euler bedient sich des von ihm durch S bezeichneten sphärischen
Exzesses (S. 416).
Euler 7.
Vegas kleinere Tafeln.
1784.
Euler, De mirabilibus proprietatibus unciarum (8. 183).
Fontana bedient sich des Namens equazione polare (8. 513).
Laplace sucht Werte von Formeln zu ermitteln, in welche sehr
große oder sehr viele Faktoren eingehen (8. 281).
Waring verbreitet sich weiter über Reihenkonvergenz und deren
Notwendigkeit (8. 286), vgl. 1781.
1785.
Boscowich gibt die vier Fehlergleichungen der Trigonometrie
(8. 420).
Charles gibt Beispiele von Unstetigkeiten (S. 881).
Condorcet über die nach Stimmenmehrheit erfolgten Entschei-
dungen (S. 253).
Euler, Opuscula analytica.
Huttons Tafeln ($. 439).
ER
nr
Laplaces Differentialgleichung mt öy +375#=0 08. 943).
Legendre führt Kugelfunktionen ein. Laplace gelangt nur
wenig später zu den gleichen Funktionen und stellt deren Differential-
gleichung zweiter Ordnung auf (8. 792).
Meusniers Satz von den Krümmungen einer Fläche; in der
1088 Abschnitt XXVII.
gleichen Abhandlung sind zwei Minimalflächen behandelt, ebenda auch
das Schmiegungsparaboloid (8. 547).
Monges schon 1771 der Pariser Akademie übergebene Abhand-
lung: Sur les developpees, les rayons de courbure et les differents-
genres d’inflexion des courbes ä double courbure erscheint im Drucke
(S. 531).
1786.
Bring führt mittels Gleichungen niedrigeren Grades die Gleichung
fünften Grades auf die Form
Y”’+@Gy+H=0
zurück (8. 131).
Cagnolis Trigonometrie (3. 418).
Charles überträgt den Begriff des singulären Integrals auf
Differenzengleichungen (8. 1052).
Lambert über Parallellinien (S. 399).
Lhuilier, Exposition elementaire des principes des calculs
superieurs (S. 645).
1787.
Eulers zweite Abhandlung über den allgemeinen binomischen
Lehrsatz (S. 204), vgl. 1774.
Fuß untersucht sphärische Kegelschnitte (5. 387).
Hutton, Elements of conic sections enthalten die formal wich-
tige Neuerung, daß die vorkommenden Gleichungen aus dem Texte
heraustretend stets auf neue Zeilen gedruckt sind (S. 465).
Legendres Satz vom sphärischen Dreieck mit kleinen Seiten,
welches als eben behandelt wird, nachdem jeder Winkel um den
dritten Teil des sphärischen Exzesses vermindert worden ist (S. 423).
Monges Aufsatz, in welchem .Berührungstransformationen benutzt
sind (8. 982, 1037).
1788.
Lagrange, Mecanique analytique. In ihr ist auf S. 45—46 der
Gedanke des Lagrangeschen Multiplikaters (vgl. 1770) abermals be-
nutzt (S. 1068). |
Legendres erste zahlentheoretische Abhandlung, in welcher
schon der Reziprozitätssatz vorkommt (S. 190), vgl. 1783.
Legendre erkennt die Wichtigkeit der Landenschen Entdeckung
von 1775, daß ein Hyperbelbogen zu zwei Bögen zweier Ellipsen in
Beziehung gesetzt werden kann (S. 847, 857).
Legendre untersucht die zweite Variation (S. 1072).
Pfaff, Versuch einer Summationsmethode (S. 291).
Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1089
1789.
Eneyelopedie methodique erscheint im Drucke.
Eschenbach über Reihenumkehrung (S. 215).
Landen, Mathematical memoirs II (3. 711), vgl. 1780.
Lhuiliers erstes Lehrbuch der Polygonometrie. Als Ausgangs-
punkt wird die Bestimmung des Flächeninhaltes benutzt (S. 432).
Schubert benutzt erstmalig den Namen konforme Abbildung
(S. 575).
1790.
Brissons erster Vorschlag, der zum metrischen System führte.
Kaestner, Geometrische Abhandlungen, Bd. I, S. 463—464 ist
zuerst die geometrische Wahrheit Ab + BA= 0 ausgesprochen, vgl.
1798.
Mascheronis Anmerkungen zu Eulers Integralrechnung, Bd. 1.
Unter vielem anderem ist bemerkenswert, daß auf S. 731 die Behaup-
tung ausgesprochen ist, eine imaginäre Kurve könne eine reelle Länge —
besitzen, was damit zusammenhängt, daß man damals über den Gel-
tungsbereich von Funktionen noch im Unklaren war (S.485), vgl. 1792.
1791.
Arbogast unterscheidet discontinwite von discontiguite (5. 880).
Gesetz vom 30. März über Einführung des metrischen Systems
in Frankreich.
1792.
Fischer (Ernst Gottfried) veröffentlicht seine Dimensionszeichen,
wegen derer eine heftige Polemik geführt wird (S. 217).
Lotteri über Parallelkurven (S. 510).
Mascheronis Anmerkungen zu Eulers Integralrechnung, Bd. II,
vgl. 1790.
Maskelynes Regel zur Auffindung von log sin x und log tg z,
wenn x < 5° 3% (8. 422).
1793.
Eulers bereits 1777 vollendete Abhandlung, in welcher die
Hauptformeln zwischen partiellen Differentialquotienten, welche der
Riemannschen Funktionentheorie zugrunde liegen, bereits angegeben
sind, erscheint im Drucke (8. 711).
Kaestner über Parallelkurven (S. 510).
Lagranges Interpolationsformel (S. 1048).
Legendres sehr seltenes Memoire sur les transcendantes ellipti-
1090 Abschnitt XX VII.
ques, in welchem drei Typen elliptischer Integrale unterschieden sind
(S. 860).
Rothes Reihenumkehrung (S. 216).
1794.
Eulers Integralrechnung, Bd. IV. Darin auch die Anwendung
von ö um Y— 1 zu bezeichnen (8. 315).
Hulbe lehrt Gleichungsumformungen, welche unter Umständen
zu deren Auflösung führen (S. 135).
Legendre, Elements de geometrie. Darin treten erstmalig
symmetrisch gleiche Gebilde auf (S. 336, 381, 393).
Pronys Tabellenberechnung angefangen (S. 439).
Vega, Thesaurus (S. 438).
1795.
Callets Tafeln (8. 438).
Eeole Normale wird in Paris gegründet. In ihr wurde erst-
malig Darstellende Geometrie durch Monge gelehrt, und Lagrange
und Laplace hielten an ihr elementararithmetische Vorlesungen
(S. 625).
Monge, Fewilles d’analyse, in welchen neben zahlreichen anderen
Dingen auch die Entdeckung der Krümmunsgslinien enthalten ist (S. 559).
Paoli über rekurrente Reihen (8. 296).
1796.
Hindenburgs kombinatorisches Hauptwerk (S. 206).
1797.
Carnot, Reflexions sur la metaphysique du calcul infinitesimal
(3. 647).
Lacroix, Traite d’arithmetique (S. 345).
Lacroix, Traite du caleul differentiel et du caleul integral
8. 694). |
Lagrange, Theorie des fonctions (8. 688).
Legendre über singuläre Integrale (S. 896).
Wessel gibt die geometrische Deutung des Imaginären (S. 315).
1798.
Bossut schafft in Anschluß an D’Alembert (1757) eine Klein-
kreistrigonometrie ($. 408).
Busse berücksichtigt, jedenfalls in Anschluß an Kaestner (vgl.
Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799, 1091
1790), die Vorzeichen der Strecken bei geometrischen Untersuchungen
(8. 479). |
Condillac, Langue des caleuls (8. 42).
Euler gebrauchte in einer in diesem Jahre gedruckten Abhand-
lung astronomische Zeichen © 5 4 J als Abkürzungen für gewisse
Funktionen (S. 300).
Legendre, Essai sur la theorie des nombres (2. Auflage 1808,
3. Auflage 1330). Der Essai enthält den Namen Reziprozitätssatz (vgl.
1783) und das Legendresche Symbol (S. 194).
Monge, Geometrie deseriptive (8. 626).
Schubert beschäftigt sich mit der Zerlegung von Polynomen in
reelle Faktoren (S. 137).
1799.
Kramps Abhandlung, welche die Grundlage der Lehre von den
Falkultäten bildet (S. 296).
Lhuilier gründet die Polyedrometrie (S. 432).
Ruffinis erste Arbeit über Gleichungen fünften Grades ($. 139).
Betrachtet man diese Zusammenstellung, so ist, wie uns scheint,
eine Tatsache hervorstechend: die überwiegende Zahl der Leistungen, er
für welche auf Euler und auf Lagrange verwiesen ist, gegenüber |
von der Erwähnung anderer Schriftsteller. Sind doch, wenn wir
richtig gezählt haben, 34 verschiedene Schriften Eulers und 32 ver-
schiedene Schriften Lagranges in unserer Übersicht genannt, Zahlen,
mit welchen kein anderer Schriftsteller in Wettbewerb treten kann.
Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, daß unter den einfach gezählten
Schriften Eulers seine zweibändige Algebra, seine zweibändigen Opus-
cula analytica, seine vierbändige Integralrechnung enthalten ist, von
welcher letzteren wir vielleicht eine ganz gedrängte Inhaltsangabe
hier einschalten dürfen, weil in den vorhergehenden Abschnitten das
große Werk bald hier bald dort als Quelle genannt ist, ohne daß
sich Gelegenheit bot, ein übersichtlicheres Gesamtbild zu entwerfen,
als es 5. 679 geschah.
Eulers Integralrechnung setzt sich aus vier Bänden zu-
sammen. Der I. Band (1768) lehrt zuerst die Ausführung von Inte-
grationen, sei es in endlicher Form, sei es angenähert mittels unend-
licher Reihen oder Faktorenfolgen. Dann werden Differential-
gleichungen erster Ordnung ersten Grades integriert, wobei besonderes
Gewicht auf die Lehre vom integrierenden Faktor gelegt wird. Auch
singuläre Lösungen kommen zur Sprache, über deren Entstehung und
Sinn sich Euler freilich nicht klar ist. Man weiß, daß erst Lagrange
(1774) diesen gewaltigen Fortschritt vollzog. Endlich werden Diffe-
CANToR, Geschichte der Mathematik IV. 70
1092 Absehnitt XX VII.
ventialgleichungen erster Ordnung aber höheren Grades behandelt.
Der Inhalt des II. Bandes (1769) läßt sich als Integration von Diffe-
rentialgleichungen von höherer als der ersten Ordnung zwischen zwei
_ Veränderlichen bezeichnen. Die Gleichungen zweiter Ordnung sind
vorzugsweise berücksichtigt, und unter denen höherer Ordnung die
linearen Differentialgleichungen, namentlich die mit konstanten Koef-
fizienten. Bezüglich der zur Integration benutzten Methoden betont
Euler wiederum die Anwendung integrierender Faktoren. Auch von
bestimmten Integralen ist mehrfach die Rede. Der III. Band (1770)
ist seinem Hauptteile nach den partiellen Differentialgleichungen ge-
widmet, und zwar solchen, in welchen zuerst von Funktionen zweier,
dann von Funktionen dreier unabhängiger Veränderlichen die Rede
ist. In beiden Fällen sind Differentialgleiehungen erster Ordnung
von solchen höherer Ordnung unterschieden. Darauf folgt ein An-
hang von der Variationsrechnung, endlich ein Supplement, das fast
= = FE (X und Y sind Polynome
4. Grades in x bzw. y) handelt, die schon im 1]. Bande integriert
worden war. Der IV. Band (1794) setzt sich aus einzelnen teilweise
schon vorher im Drucke erschienenen Abhandlungen zusammen, welche
als Ergänzungen der drei ersten Bände dienen sollen. Von ihrem
allgemeinen Inhalte seien bestimmte Integrale genannt, deren Diffe-
rentiation unter dem Integralzeichen, elliptische Transzendenten und
einzelne Differentialgleichungen sowohl zweiter als erster Ordnung.
Unter den letztgenannten tritt wieder die Gleichung ae
? V x vY
vor. Den Schluß des Bandes bildet eine Ergänzung zu Eulers Ar-
beiten über die Variationsrechnung.
Wir würden dem ganzen Werke nicht gerecht werden, wenn wir
nicht an zwei Tatsachen erinnerten, welche den Lesern dieses Bandes
zwar genugsam bekannt sind, aber doch ins Gedächtnis zurückgerufen
werden sollen: Euler, der 1735 sein eines Auge eingebüßt hatte, ıst
seit 1766 auf beiden Augen blind gewesen, er ist 1783 gestorben.
Die drei ersten Bände sind also entstanden, ohne daß Euler eine Zeile
derselben im Manuskript oder im Drucke selbst lesen konnte, an dem
vierten Bande war überhaupt seine irgendwie geartete Mitwirkung
ausgeschlossen. Damit erklärt es sich, wenn im II. Bande $$ 1163
und 1179 Euler Selbstentschuldigungen gemachter Fehler ausspricht,
wenn er im III. Bande Differentialgleichungen für nicht integrierbar hält,
welche er selbst schon im Jahre 1730 integriert hat ($. 1033— 1034).
Wie Eulers Integralrechnung, sind auch mit dem Namen La-
srange als Verfasser Arbeiten vorgekommen, welche einzeln einen
au sschließlich von der Gleichung
her-
Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1093
ganzen Band erfüllten, und über welche man an den Stellen nach-
lesen mag, wo jene Schriften besprochen wurden. Freilich ist dieses
bezüglich der Mecanique analytique von 1788 untunlich, da, dem
Plane unseres Geschichtswerkes entsprechend, von der Mechanik als
solcher abgesehen wurde und Lagranges Meisterwerk nur nebenbei
erwähnt wurde, weil Lagrange in ihm, wie bereits in der Abhand-
lung von 1770 über Variationsrechnung, von dem in neuerer Zeit
nach Lagrange benannten Multiplikator zur Ermittelung von Extrem-
werten impliziter Funktionen Gebrauch macht.
Es hält schwer die beiden hier in den Vordergrund gestellten
Persönlichkeiten einem bestimmten Lande zuzuweisen, dem ihre Ent-
deckungen zur Ehre gereichen. Der in der Schweiz geborene Euler
hat seine Werke abwechselnd in Petersburg, in Berlin, dann wieder
seit 1766 in Petersburg verfaßt. Der in Italien geborene Lagrange
wirkte vorzugsweise in Berlin (1766—-1787) und in Paris (seit 1787),
und was beide, was Euler und Lagrange, geschrieben haben, das ward
alsbald schulebildend für ganz Europa. Man könnte, man sollte vielleicht
die beiden großen, soeben vereint genannten Gelehrten jeder besonderen
Nationalität entkleiden und sie als europäische Mathematiker bezeichnen.
Nach ihrem Ausschlusse bleiben unter den häufiger genannten
Mathematikern folgende, deren Namen wir die Ziffern beifügten,
welche zählen, wie oft der Name in unserem Überblieke vorkommt:
Laplace (12), Lambert (10), Legendre (9), Monge (8), Waring
(7), Deutsche Kombinatoriker seit 1778 (6). Unzweifelhaft liegt
hier ein erhebliches Übergewicht auf französischer Seite und verlangt
die unumwundene Anerkennung, daß innerhalb der in unserem Bande
behandelten vier Jahrzehnte Frankreich die erste Stelle unter Europas
Völkern einnimmt, soweit mathematische Leistungen in Frage kommen.
Neben den von uns hervorgehobenen Zahlen, welche immerhin
einem wenn auch eigentümlichen Zufalle ihre Entstehung verdanken
könnten, reden gewisse, wir könnten sagen offizielle, Tatsachen die
gleiche Sprache.
Im Jahre 1775 faßte die Pariser Akademie den Beschluß, künf-
tighin keine Einsendung mehr anzunehmen, welche eine elementare
Quadratur des Kreises oder eine ebensolche Dreiteilung eines
beliebigen Winkels oder die Herstellung eines Perpetuum mobile
zusagte. Mag man auch auf den schon 1767 durch Lambert versuchten
Beweis der Irrationalität von x abheben, so ist mindestens fraglich, ob die
in Berlin gedruckte Abhandlung den Mitgliedern der Pariser Akademie
bekannt war, da eine Einwirkung derselben auf irgendwelche Zeit-
genossen nicht nachweisbar erscheint, und jedenfalls war es doch die
Pariser und nicht die Berliner Akademie, welche den erwähnten Be-
70*
1094 Abschnitt XXVII.
schluß faßte und die Ablehnung von als fruchtlos erkannten Ver-
suchen über die Kreisquadratur hinaus auf zwei andere Aufgaben
ausdehnte, welche zu oft die Geduld der ihre vermeintlichen Auf-
lösungen Prüfenden auf harte Proben gestellt hatten.
In Frankreich war in den Jahren 1751—1781 nach englischem
Muster, aber dieses weit hinter sich lassend, die große Eincyclopedie
entstanden (Bd. III?, S. 510). In Frankreich empfand man aber auch
die Unhandlichkeit des nur zu umfangreich angelegten Werkes und
ließ ihm 1789 die Encyclopedie methodique folgen, die dazu bestimmt
war, die Bestandteile des großen Sammelwerkes nach Wissenschaften
zu ordnen, und deren drei mathematische Bände bald auch außerhalb
Frankreichs in den Bibliotheken der Fachgelehrten zu finden waren.
In Frankreich wurde 1791 durch Gesetz das metrische System
eingeführt. Der Gedanke, ein allgemein verwertbares, der Natur ent-
stammendes und eben dadurch natürliches Maßsystem zu ermitteln,
war ja keineswegs neu. Huygens hat daran gedacht, in England
sind Versuche in dieser Richtung aufgetaucht, ein Italiener Buratini
hat 1675 den Sekundenpendel als allgemeine Einheit empfohlen, aber
über den Gedanken ist man nirgend hinausgekommen. Es bedurfte
einer kühn veranlagten gesetzgebenden Behörde, eines von dieser Behörde
gefaßten Beschlusses, um jene Gedanken in eine Tat umzusetzen, und dazu
schwang sich das revolutionäre Frankreich 1791 auf, ein Jahr bevor das
Todesurteil über den unglücklichen König Ludwig XVI. gefällt wurde.
Der Verurteilung des königlichen Paares folgten seit 1792 die
Revolutionskriege. Französische Heere zogen über die Grenzen Frank-
reichs hinaus und wußten das Mutterland jahrelang vor den unmittel-
baren Verwüstungen des Krieges zu schützen. In dieser Zeit ent-
wickelten sich neue mathematische Lehren, entstanden Anstalten, an
welchen sie vorgetragen werden konnten. Das Jahr 1795 ist das Ge-
burtsjahr der Ecole Normale wie der Ecole Polytechnique in
Paris. An ihnen lehrten Lagrange, Laplace, Monge.
Das sind die Tatsachen, an welche wir dachten, als wir das
Übergewicht Frankreichs in den letzten vier Jahrzehnten des 18. Jahr-
hunderts, soweit es um Mathematik sich handelt, als feststehend er-
klärten. Wir können diese Erklärung jetzt um so zuversichtlicher
aussprechen, allerdings mit der gleichen Einschränkung, welche wir
am Anfang dieser Erörterung vorausschickten, und welche sich auf
Euler und Lagrange bezog: Die in diesem Bande erzählte Geschichte
der Mathematik ist in erster Linie die Geschichte der Entdeckungen
von Euler und Lagrange. An zweiter Stelle treten französische
Mathematiker auf, in die dritte Stelle erst teilen sich Mathematiker aus
den sonstigen Ländern Europas. Da finden wir in unserer Übersicht unter
Überblick über die Zeit von 1758 bis 1799. 1095
Einhaltung der alphabetischen Reihenfolge der Länder sowohl als der
Schriftsteller den Dänen Wessel, die Deutschen Kästner, Lambert,
die Engländer Landen, Maskelyne, Waring, den Finländer Lexell,
die Italiener @. F. Fagnano, Malfatti, Mascheroni, Ruffini, den
Schweden Bring, die Schweizer Daniel Bernoulli, Bertrand,
Lhuilier, von welchen Bernoulli lange in Rußland lebte.
Stellen» wir nach der Frage nach den Persönlichkeiten und den
Ländern, welchen sie angehören, die sachlich wichtigere Frage nach
den bearbeiteten Gebieten, so können wir uns die Antwort bequem
machen, indem wir sagen: alle damals vorhandenen Gebiete der
Mathematik wurden bearbeitet von den niedersten bis zu den höch-
sten; dessen sind sämtliche Abschnitte dieses Bandes ebensoviele
Zeugnisse. Sehen wir jeden einzelnen Abschnitt uns besonders an,
so wird uns in denselben das Wachstum der einzelnen Teilgebiete
erzählt, und werfen wir einen Blick in die von uns angefertigte Zu-
sammenstellung, so erkennen wir einen Wechsel zwischen den be-
handelten Gegenständen, der nicht bunter sein könnte. Es war da-
mals so wie es früher war, wie es bis heute geblieben ist. Ganz
besonders veranlagte Schriftsteller wußten neue überraschende Ge-
danken zu äußern, die sich sofort als fruchtbar erwiesen und dadurch
das Interesse und die Mitarbeit der ähnlich begabten Zeitgenossen
auf sich zogen. Andere nicht minder fruchtbare Gedanken mußten
warten, bis vielleicht erst nach Jahrzehnten ein anderer sie wieder
aufnahm oder in unabhängiger Weise abermals dachte.
Wenn Euler immer und immer wieder auf die Benutzung eines
integrierenden Faktors, den er Multiplikator zu nennen pflegte, zurück-
kam, so fällt es schwer nicht die Meinung zu hegen, Lagrange
möge davon beeinflußt gewesen sein, als er 1770, mithin zwei Jahre
nach dem Erscheinen des I. Bandes der Eulerschen Integralrechnung,
abermals einen Multiplikator unter Benutzung des gleichen Kunst-
ausdruckes in der Lehre von den Extremwerten anwandte. Wahr-
scheinlicher ist allerdings noch, daß Lagrange diese Methode dem
VI. Kapitel der Eulerschen Methodus inveniendi von 1774 entnahm,
in welcher sie, wie H. Stäckel bemerkt hat, schon angewandt ist.
Wenn Euler 1768 die Differentialgleichung == = ne mittels
algebraischer Funktionen integrierte, so war dieser Anstoß für La-
grange genügend, ihn zu Untersuchungen über die gleiche Differen-
tialgleichung anzuspornen, und Lagranges Arbeit von 1769 reizte
wiederum Euler zur erneuten Behandlung der merkwürdigen Gleichung.
Wenn Euler in dem I. Bande der Integralrechnung Beispiele
von singulären Lösungen vorführte und Lagrange 1774 Sinn und
1096 Abschnitt XXVIH.
Entstehung solcher Lösungen zu erklären wußte, so liegt der Zu-
sammenhang auf der Hand.
Wenn, um nicht immer wieder nur die beiden Männer anzu-
führen, welehen ohnehin der Löwenanteil an dem Inhalte dieses
Bandes gehört, Hutton 1787 zum ersten Male dem mathematischen
Drucke die Anordnung geben ließ, daß Gleichungen stets auf neue
Zeilen gesetzt wurden, so verbreitete sich diese Sitte überall hin,
vielleicht ohne daß die meisten wußten, wem sie nachfolgten.
Wenn Kästner 1790 die geometrische Wahrheit AB+bA=0 zu-
erst aussprach, wenn Busse 1793 sicherlich nicht ohne Kenntnis von
Kästners Geometrischen Abhandlungen, welche damals, gleich allen
Kästnerschen Schriften, von jedem deutschen Mathematiker gelesen
wurden, die Vorzeichen der Strecken berücksichtigte, und 1801 in
seinem Buche: Neue Erörterung über das Plus und Minus, I. Ab-
teilung (Köthen 1801) darauf zurückkam, so ist hier ganz gewiß eine
Abhängigkeit vorhanden, während es — wenn man uns gestattet über
die Zeitgrenze dieses Bandes noch weiter hinauszugehen — schon
zweifelhafter ist, ob Moebius in seinem Barycentrischen Caleul von
1827 nicht eine selbständige Nacherfindung machte, was man ganz
gewiß dem noch erheblieh späteren mit der deutschen Sprache voll-
ständig unbekannten Chasles wird zugestehen müssen.
Der Einfluß, welchen Monges darstellende Geometrie, die sich
soweit über alle ihr vorausgegangenen annähernd ähnlichen Schriften
erhob, daß man von einer Neuerfindung zu reden berechtigt ist, so-
fort bei ihrem Erscheinen ausübte, ist unverkennbar.
Nicht minder plötzlich und zugleich nachhaltig wirkten Monges
Arbeiten auf dem Gebiete der Flächentheorie und der partiellen Diffe-
rentialgleichungen.
Daniel Bernoullis kühne Neuerung von 1768, Infinitesimal-
betrachtungen in die Wahrscheinlichkeitsrechnung einzuführen, wurde
dagegen erst ganz allmählich Gemeingut. Und ganz zum Schlusse
dürfen wir nieht unterlassen auf Gedanken hinzuweisen, deren volle
Bedeutung über das Verständnis der Zeit, in welcher sie entstanden,
vielfach über das Verständnis derjenigen, welche sie äußerten, hinausging.
Die Funktionentheorie des XIX. Jahrhunderts hat ihre Keime in dem
vorhergehenden Jahrhunderte. Man vergleiche doch, was in unserer Über-
sicht 1758 von Kaestner, 1759 von Daviet de Foncenex, 1767 von
Euler, 1777 von Euler und von Lagrange, 1785 von Charles, 1787
von Monge, 1791 von Arbogast, 1793 von Euler, 1797 von Wessel
berichtet ist, und man wird begreifen, wie wir diesen Ausspruch meinen.
Ihn ausführlicher zu erörtern sind diejenigen berufen, welche
vielleicht weitere Bände dieses Werkes zu schreiben unternehmen.
„>
“-
Verbesserungen und Zusätze zu den Abschnitten XXI und XXVI.
1097
Verbesserungen und Zusätze zu den Abschnitten XXI und XXVI
von F. Müller.
Ss.
nun m m mm
. 254
. 235
. 236
. 240
. 243
. 248
. 252
. 255
. 259
202 2.2 v.o. „1741 statt „1739“.
Z.14 v. u. „Berlin, 5 Bde., 1782
— 1734,
. 204 Z.15 v.o. „vierzehn‘‘ statt „drei-
zehn“.
Z.1 v.u. „1787“ statt „1887“.
.205 Z.2v.u. „Lips.“ statt „Gotting.“.
. 415 2. 16 v.o. „combinatoriis* statt
combinatoribus“.
Z.2 v. u. „maxime“ statt „maxi-
ma“
„reversionem‘ statt „recursio-
nem“,
.218 Z. 11 v.u. „J. Fr.“ statt „W.“.,
219 Z.9 v.u. „Bezout‘ statt „Bezout“.
2820 2.9 v.u. „57“ statt * 37“.
Z.1v.u. „Hist. Mem.“ statt, ,Mem.“.
228 2.4 v.u. hinter „math.“ fehlt
„pres.“.
. 229 Z.1 v.u. hinter „Me&moires“ fehlt
„pres.“.
. 230 Z.1 v. u. hinter „1770“ fehlt „P.I“,
. 231 2.15 v.o. hinter „1769“ fehlt „P. I“.
Ya Fan fehlt
„[1785]*.
2. 12 v. 0. „Commentat.“ statt
„Comm.‘“,
2. 13 v. o. hinter „1796
Da ’ Se
2.3 v. o. hinter „M&m.“
„pres.“.
„[1774]“ statt „1774*.
Z. 14 v.o. „231“ statt „271%.
7.3 v.u. „[1774]* statt „1775.
Z.2 v.u. hinzuzufügen „Vgl. auch
Fußnote zu S. 229“,
2. 4 v. 0. „Gommentat.“ statt
„Comm.“.
hinter „1799“ zuzufügen „P. II“,
Z.21 v.o. hinter „1777 zuzu-
fügen „P. I*.
2.18 v. u. vor „April“ zuzufügen
„März oder“.
2.6 v. u. „657 statt ‚617.
2.12 v.o. „auf anderen Wegen
bewiesen hatte: 1. in den Comm.
Acad. Petrop. 7, 1734/5, p. 123—
134 [1740]; 2. in einem Briefe
an Joh. Bernoulli v. 27. Au-
gust 1737, dann 3. in der ‚In-
troductio‘, — daß“.
hinter „1782
fehlt
fehlt
S.
8.
S. 272 2.14 v.u. lies „In einer späteren“
un
. 275
. 276
. 277 2.
nnnnnnu
262 Z.2 v.u. hinter „1769 fehlt „P.I“.
265 2.2 v. u. „230° statt. „220°.
statt „In der zweiten“.
Z.2 v. u. vor „Mem.“ zuzufügen
„Nourv.“.,
lies: „2) Act. Acad. Petrop. 3;
1779, P. II, 29—51 [1783].
Z.1 v. u. lies „1773, 1784, 1785.
2.1 v.u.:lies „V*. statt „IV“.
2. 11 v. u. lies „analyticae“ statt
„algebraicae‘.
2 v. u. lies „V‘ statt „IV“.
278 2.12 v. u. lies „300° statt „200%,
284 2. 10 v.o. lies „Bandes, p. 48°,
285 Z.1 v. u. lies „36“ statt „33“,
288 Z.2 v. u. lies „123“ statt „133%.
289 Z.3 v. u. lies „386“ statt „886“.
645 Z. 19 v. u. lies „Name“ statt
„Namen“.
.655 Z.1v.u. Rogg, Handb. d. math.
Lit., Tüb. 1830, $. 569 hat eben-
falls „Milano 1770*.
Zu 8. 667 (Anm. 2):
S.
James Glenie, The gene-
ral mathematical laws which
regulate and extend propor-
tion universally; or a method
of comparing magnitudes of
any kind together, in all the
possible degrees of increase
and decrease.. Phil. Trans.
Lond. 1777, p. 450.
James Glenie, The doc-
trine of universal comparison
or general proportion. London
1789. 4°,
James Glenie, The ante-
cedental Caleulus: or a geo-
metricalmethodus ofreasoning,
without any consideration of
motion or veloeity, applicable
to every purpose to which
fluxions have been or can be
applied, with the geometri-
cal principles of inerements.
London 1793. 18 p. 4°.
667 Z. 15 v. u. Pasquich, Erste
Gründe einer neuen Exponential-
rechnung. Neuere Abh. Böhm.
Ges. 3, Phys., S. 46.
1098 Verbesserungen und Zusätze zu
S. 6712.18 v. u und 26 vu
S.
nn
(ep)
672
. 675
. 679
. 680
. 684
. 684
. 700
. 703
Wr
. 716
„Die
Bücher von Mako von Kerek
und von Rohde befinden sich in
der Stadtbibliothek zu Hamburg,
Speersort.
2.3 v. u. „1788“ statt „1786“.
‚Analysis und höhere Geometrie‘
ist II, 2 des ‚Lehrbegriff der ge-
sammten Mathematik‘, 8 Teile,
Rost. u. Greifsw. 1767 -— 1777;
2. Aufl. 1786—1795.
Karsten schrieb auch: ‚Bei-
träge zur Aufnahme der theo-
retischen Mathematik‘, 4 Stücke
8°, Lpz. u. Rostock. St.1I, p. 1:
ein Versuch, worin man die
Grundsätze der Diff.- u. Int.-R,
so vortragen könne, daß auch
in diesem Theile der theoretischen
Mathematik die alte geometrische
Evidenz herrsche. St. IL, p. 91:
Fortsetzung der Abhandlung von
den Grundsätzen der Diff.- u.
Int.-R.
Z. 1 v. u. lies „Bezout‘* statt
„Bezout“.
2.15 v.o. hinter „denen“: „in
der 2. Aufl. von 1792 —1794“.
2.13 v. u. „1770% statt „1769“.
Der Titel heißt: „Anfangsgründe
der Analysis des Unendlichen“.
Im Jahre 1769 erschienen: „An-
fangsgründe der Analysis end-
licher Größen‘.
2.6 v. u. „Bd. I. Arithmetik und
Algebra, erschien 1782, Bd. I.
Geom., Trig., Kegelschnitte, Diff.-
u. Int.-R. erschien 1784“.
Z.8 v. o. Die späteren Auflagen
enthalten 4 Bände: II. Die
Mechanik der festen Körper.
IV. Hydrodynamik.
2.3 v. u. streiche „Nova“.
2.2 v. u. lies „IV (1784)* statt
ee,
Anm. 1. „Siehe P. Stäckel,
Integration durch imag. Gebiet.
Bibl. math. (8) 1, 1900, p. 109
— 128“.
2.11 v. u. hinter „1780, p. 3—
31“ fehlt „[1783]*.
den Abschnitten XXI und XXV].
S.
723 2.2 v. u. lies „Hist. Mem.“ statt
„Mem.“.,
. 725 2.3 v.u. lies „XII, a. 1756 [1758].
. 738 Z. 3 v. u. vor „p. 72—103“ fehlt
„pP. IE.
. 740 Z.1 v.u. lies „a. 1773, p. 122—
148 [1775]“.
. 749 Z. 3 v. u. hinter „p. 3—28“ fehlt
„[1780]“.
. 766 Z.1 v.u. lies „Hist. Mem.“.
. 767 2.5 v. o. Die erste Tafel der
Integralwerte N; e”dt gab Ch.
0
Kramp, Analyse des refractions
astron. et terr. Straßb. u. Lpz.
1797. Von ihm rührt auch das.
Wort ‚Fakultät‘ her.
Zu 8. 772. Als fernere Lit. über Max.
u. Min.:
J. Ch. de Borda, Sur la
methode de trouver les courbes,
qui jJouissent de quelque pro-
priet6e du maximum et mini-
mum. Hist. Mem. Ac. Paris
a. 1767, H. 90, M. 551 [1770].
A. Fontaine, Addition &
la methode pour la solution
des problemes de maximis et
minimis, ib. H. 90, M. 588.
G.A.Lejonmark, Et sätt at
söka maximum och minimum.
Nya Handl. Svensk. Vet. Ak.
a. 1794, p. 134.
. 775 Z.4 v. u. lies „a. 1773, p. 150—
176 [1775]«.
. 790 Z.5 v.u. Fontana, Memoria...,
erschien Pavia, 1793. (8. Rogg,
Hdb. d. m. Lit., S. 499).
.799 Z.1v.u „enrtesische‘ statt ‚Karl
tesische‘.
‚804 Z.4 v. u. lies „Hist. M&m.“.
.815 Z. 1 v. u. hinter „p. 20—57“ fehlt
„[1780]«.
818 Z.1 v.u. lies „1827“ statt „1802“.
(Der Band erschien besonderer
Umstände wegen sehr spät.)
.866 Z.11 v.u. lies „XXV, a. 1769
[1771].
. 869 Z.4 v.u. lies „1897“ statt „1802.
BE»
——"Abwickelbare Flächen
Ta
vr
- Abwicklung des
Register,
A.
Aasheim (A. N.) 22.
Abbildung 572—576. 1036.
Abel (Niels) 110. 835.
Abgekürzte Division s. Division (abge-
kürzte).
Abgekürzte Multiplikation s. Multipli-
kation (abgekürzte).
Abreu (Joao Manuela de) 49.
521. 529—532.
534 - 536. 540. 550. 565. 960. 980. 1029.
— Abwickelbarkeit (Bedingung) 529. 530.
540.
schiefen Kreiskegels
520. 521.
Abwicklung eines ebenen Zylinderschnitts
521.
Accetta (G.) 34.
Achsenabschnitte einer Ebene 528.
Adodouroff (Vasilii Endokimovich) 55. 56.
Additionstheoreme 799—8304. 834. 862.
937.
Adjungierte (Lagranges) 910. 928. 930,
1030.
Ahnlichkeitspunkte 629.
Aeneas (Henri) 50.
Aepinus (Fr. Ulr. Theod.) 95. 96. 202.
203.
Agnesi (Gaetana) 19. 676.
Ahrens 17.
Aiguillon 587. 593.
Ayjema (Heinrich) 434.
Ajima 446.
Akademieschriften 3—4.
Alberti (Andreas) 592.
Alberti (Leon Battista) 580.
Alexandre (J.) 30.
Alfieri (Vittorio) 6683.
Alhazen 414.
Allibone 58.
Allodi (Gaetano) 684.
Alternanten 129.
Amontons (Guillaume) 362.
Ampere 1010.
Amplitude eines Kurvenbogens 480—482.
Amthor 25.
AnalytischeGeometrieder Ebene 453— 521.
Analytische Geometrie des Raumes 457.
458. 461. 521—576.
Analytische Methode 453—456.
Anasxagoras 31.
Andersen (G.) 33.
- Anitchkof (Dimitri Sergievitch) 56.
Anthemius 32.
Antoni (Aless. Vittor. Papacino de) 671.
Apollonius 32. 35. 36. 465.
Arago (F.) 623.
Arbogast (L. F. A.) 667. 880. 1089. 1096.
‚Archimedes 25. 31. 32. 33. 34. 35. 340.
341. 343. 354. 474. 493. 593.
Argand (Jean Robert) 318.
Arima 447.
Aristoteles 29.
Arneth (A.) 21.
Assemani (J. S.) 31.
Assemani (Simon) 31.
Astroide 483.
Asymptoten 10. 471. 515. 693.
Auer 370.
Azxonometrie 589.
B.
Bachet de Meziriac 169. 174.
Bäcklund 131.
Baermann (G. F.) 33. 34.
Bailly (3. S.) 14. 15. 17. 18.
Bails (Benito) 48. 63.
Baker (Thomas) 427.
Ball (W. W.R.) 76. 168.
Ballistische Kurven 504. 505.
Barbaro (Daniele) 583. 587.
Barbieri (M.) 21.
Barozzi (Jacopo) 581. 583.
Barröme (Francois) 39.
Barreme (Nicolas) 39. 40. 62. 66. 67. 68.
Barrow (Isaak) 33.
Bartjens (Wilhelm) 50. 62. 69. 71.
Basedow (Joh. Bernh.) 51 85. 1080.
Basedowsche Regel 51. 52.
Baum (Simon) 437.
Baumgart (Oswald) 186.
Bayer (Johann) 362.
Bayes (Thomas) 229. 240—245. 256.
1080.
Beaugrand 586.
Beck (Dominiecus) 671.
Beck-Calwen (J. F. van) 30.
Beguelin (Nicolas de) 174. 175. 183. 227.
235.
Belgrado (Jacopo) 651.
1100
Bellacchı 794.
Bendavid (Lazarus) 659. 660.
Benedetti (Giambattista) 584.
Beobachtungsberechnungen 247-—251.
Berger (C. Ph.) 30.
Bergmann (Josef) 671.
keley 644. 649. 656.
Bernareggi (Isidoro) 69.
Bernoulli (Daniel) 18. 25. 62. 63. 108.
135. 188—189. 203. 207. 211. 223.
225. 227. 229. 230. 231. 237—240.
248. 249. 251. 258. 265—268. 280.
516. 621. 662. 879. 915. 942.
946. 1081. 1082. 1085. 1095.
Bernoulli (Jakob) 24. 201. 205.
234. 240. 257. 262. 867.
Bernoullische Zahlen 262. 277.
Bernoulli (Jakob II) 19. 662. 663.
Bernoulli (Johann) 21. 26. 30. 201. 207.
303. 305. 307. 308. 312. 331. 354.
378. 406. 449. 459. 460. 480. 509. 510.
514. 519. 595. 621. 710. 726. 1097.
Bernoulli (Johann II) 662.
Bernoulli (Johann II) 5. 21. 28. 31. 75.
202. 235.
447.
169. 170. 171. 183. 187.
236. 239. 289. 386. 400. 441.
654. 703.
Bernoulli (Nikolaus) 220. 223.
Bernoulli (Nikolaus II) 482.
Berthelot (Claude Frangois) 671.
Berthollet (Claude Louis) 46.
Bertolini (J. B.) 617.
Bertrand (Jos.) 107. 914.
Bertrand (Louis) 120. 332—336. 339.
346. 348. 350. 390—393. 425. 1095.
Berührungen 692.
Berührungstransformation- 901. 942. 980
—984. 1013.
Bessel 912.
Betafunktion s. Eulersche Integrale.
Bevölkerungszumahme 239.
Bezout (Etienne) 18. 40. 49. 67. 71. TA.
717. 78. 82. 84. 93. 95. 98-—102. 111.
112. 115. 116. 127. 128. 154. 219. 351.
355. 425. 624. 670. 676. 687. 829.
831—834. 1080. 1082. 1086. 1097. 1098.
Bhaskura 154.
Biblische Schriften: s. Mathesis biblica.
Bierens de Haan 51.
Biering 28.
Bigourdan (G.) 45. 46.
Binomialkoeffizienten 182—183. 784.
Binomische Integrale 721—123.
Binomischer Lehrsatz 203—205.
336. 351. 686. 699.
Bion (Nicolas) 361.
Biot (Jean Baptiste) 73. 402.
Björnsen (Stephan) 480.
Blainville (Henri Marie Ducrotay de) 5.
Blake (Francis) 406. 407. 428.
Blanchard 422.
Blassiere (J. J.) 50. 82. 148.
Blawvier 40.
262.
945.
207.
Register.
Boaretti (Francesco) 376.
Bobynin (V.) 55. 319—402.
Bode (Johann Elert) 6. 54. 216. 418.
420. 421. 422. 1048.
Boeckmann (J. L.) 20.
Boethius 32.
Bogenlängen, Aufgaben über — 480—
496.
Bolton 60.
Bombelli 23.
Bonati (Teodoro) 148.
Boncompagni (Bald. Fürst) 34. 40. 50.
Bonne (Rigobert) 46.
Bonnycastle 14. 33. 58. 61.
Borda (Jean Charles de) 45. 46. 255.
363. 364. 366. 440. 504. 505. 1010.
1069. 1098.
Borreby (Ole Andersen) 49.
Borremans 686.
Bortolotti (E.) 140. 1083.
Bosch (Klaas) 50.
Boscovich (Ruggiero Giuseppe) 48. 71.
420. 426. 448. 656. 701. 1087.
Bosmans (Henry) 68.
Bosse (Abraham) 590—592. 619.
Bossut (Charles) 13. 23. 40. 49. 82. 264.
266. 271. 289. 323. 324. 408. 460. 829—
831. 1083. 1090
Bouache 631.
Bougainville (Louis Antoine de) 310. 1059.
Bougquer 362.
Bouillau (Ismael) 323.
Boulanger (A.) 860.
Bourgoing (Charles) 592.
Bourguet (Louis) 135.
Bourrand 376. 377.
Bradwardin 579.
Brahe (Tycho) 10.
Braikenridge 555. 556. 1079.
Brander (Georg Friedrich) 45.
Brandes 16.
Braunmühl (A. v.). 28. 403—450.
914. 917. 935. 1033.
Brendel (Joh. Gottfr.) 20.
Brennlinie 519.
Brennlinie der Parabel 520.
Bressius 10.
Bretschneider (Karl Anton) 437.
Briggs (Henry) 91. 433. 436. 439.
Brill (Alexander) 128. 559.
Bring (Ebbe Samuel) 131.
Bring (Erlund Samuel) 129. 130-—132.
1087. 1094.
Brinkley (John) 449.
Brioschi (Francesco) 117.
Brisson (B.) 627. 633. 634.
Brisson (Mathurin Jacques) 44. 46. 366.
1088.
Broscius 27.
Brougham (Lord Henry) 456. 473.
Brouncker (Lord) 156. 285.
Brugnatelli (Gasparo) 6.
Brugnatelli (Lodovico Gasparo) 6.
901.
Register.
Brunacei (Vincenzo) 6.
Brunet 439.
Bruni 371.
Buck (F. J.) 20.
Buee (Abbe) 88.
Bürja (A.) 29. 77. 82. 91. 218. 441. 442.
Büsch (J. G.) 16. 54. 77. 82,
Buffon 45. 223. 224. 255.
Bulgaris (Eugenios) 20.
Buratini 1094.
Burckhardt (J. K.) 214.
Burkhardt (H.) 880. 942. 944. 989. 1007.
1018. 1024.
Burney (Ch.) 31. 32.
Burrow (R.) 35.
Busse (Friedr. Gottlieb) 52.
1090. 1095. 1096.
Buzengeiger (Karl) 443.
C
Cagnazzi 510.
Oagnoli (Antonio) 418—421. 424. 425.
427. 436. 448. 1087.
Cajori (Florian) 37—198.
Caldani (Petronio Maria) 152. 685. 686.
Calisti (7.) 34.
Callet (Francois) 423. 438. 439. 1089.
Caluso (Tommaso Valperga di) 148. 426.
662— 664. 880.
Camerer (J. G.) 36.
Cametti (V.) 34.
Camus (Charles Etienne Louis) 18. 372
—574.
Canovai (Stanisl.) 146.
Canterzani (Sebast.) 130.133.152.293.311.
Cantor (Georg) 658.
Caraceioli 108. 671. 680.
Caravelli (V.) 34. 684.
Cardano (Girolamo) 9. 23. 24. 103. 104.
115. 149. 150. 151. 153. 380.
Carette 380.
Carnot (Lazare Nicolas Marguerite) 432.
439. 625. 642. 647—650. 1090.
Casali 511.
Cassiani (Paolo) 485.
Cassini (Dom.) 13. 338: 366.
Cassini de Thury 423.
Cassinische Kurve 454.
Cassiodorius 32.
Castelvetri Giannantonio Andrea) 196.
'astillon (G. F. M. M.) 27. 118. 150. 379.
389. 407.
Cauchy 712. 877.
Cavalieri (Bonav.) 19. 353. 662. 674,
Chambers (Ephraim) 16.
Chapelle (Abbe de la) 329. 330. 353,
355.
Charakteristik 561—564. 569. 570.
Charles (Jacques) 881. 972. 1049—1054.
1087. 1096.
Charpit 976—977. 979.
Chasles (M.) 36. 467. 584. 587. 593. 612.
1096.
53. 479.
1101
Chatillon 631.
Chiminello 685.
Chompre (N. M.) 418.
Choulant (L.) 12.
Christensen (3. A.) 49. 82.
Christiani (J. W.) 26. 27.
Churchill 14.
Ciruelo 63.
Clairaut (Alexis Claude) 18. 43. 73. 74.
82. 84. 102. 108. 140. 149. 321. 405.
453.885. 886. 895. 942. 943. 980. 1032.
Clavius 361. 646.
' Clemm (Heinrich Wilhelm) 671-
Clousing (Nicol.) 22.
Cocker (Edward) 57. 60. 61.
Colebrooke (H. Th.) 21-
Colletta (P.) 661.
Colletti (Nicolao) 700.
Colson (John) 597.
Commandino 10. 582. 583.
Condamine (de la) 362.
Condillac (Etienne Bonnot de) 39. 42.
43. 44. 47. 79. 1091.
Condorcet (Marie Jean Antoine Nicolas
Caritat de) 14. 18. 39. 43 44. 45. 47.
108. 114. 118. 119. 124. 182. 223—
224. 227. 228. 239. 242. 243. 251— 257.
264. 265. 363. 364. 377. 671. 723. 724.
878. 880. 833. 890. 899. 904. 905. 908.
913—915. 917. 998. 1019. 1029. 1051.
1054. 1055. 1067.”1069. 1083. 1087.
Configliacchi (Pietro) 6
Contarelli 482. 485. 686.
Corsonich (Eugen Innocentius) 376.
Cortinovis (Girolamo Pietro) 62.
Cossali (P.) 23. 107.
Costard (G.) 15. 31.
Cotes (Roger) 104. 317. 420. 449. 710.
Coulomb (Charles Augustin) 46. 366.
Cousin (Jacques Ant. Jos.) 82. 687. 688.
915. 951—956. 1004. 1023. 1031.
Craig (John) 411.
Cramer (Gabriel) 101.
379. 1069.
Crelle (A. L.) 45. 107.
Cremona L8) 579. 600. 612. 613.
Orossley
Feel W, 411.
Cunha (Jose Anastacio da) 48, 49. 82. 84.
Curabelle 588. 591.
Cusanus (Nicolaus) 10.
D.
Daboll (Nathan) 61.
Dabuz (Florian) 360.
D’Alembert (Jean le Rond) 18. 30. 77.
93. 104. 108. 119. 139. 149. 150. 166.
222 —223. 225—227. 228. 232. 237.
238, 243. 252. 261. 303. 304—306.
309—312. 323. 325—333. 335. 337. 339.
341. 344. 346. 349. 350. 353— 360. 389.
390. 405. 408. 434. 449. 467. 482— 485.
574. 629. 643. 644. 662. 687. 714.
113. 219. 223.
1102 Register.
715. 728. 768. 838—840. 851. 873. Dilworth (Thomas) 57. 60. 61. 71.
879. 880. 883. 885. 890. 899—901. Dinostratus 617.
917. 925. 927—928. 931. 935. 958. Dionis du Sejour (Achille Pierre) 95.
959. 984—986. 988. 990. 998. 1018. 104—105.
1029. 1030. 1031. 1036. 1059. 1080—
1082.
Dam (J. van) 24. 50. 52. 71.
Dandelin 462.
Dandolo (Vincenzo) 376.
Danti (Ignazio) 581. 583. 584. 612.
D’Arcy (Graf) 18.
Darstellende Geometrie 618#.
Darwin (Charles) 172.
David (Al.) 17.
Dawviet de Foncenex s. Foncenex.
Dechales (Milliet) 594. 619.
Decrempo 16.
De la Bottiere 197.
De la Hire (Philipe) 462.
Delambre (Jean Baptiste Josef) 44. 45.
46. 107. 108. 109. 201. 308. 317. 338.
418. 440. 441.
Delametherie (Jean Claude) 5
Del Ferro 139. 148. 150.
Della Francesca (Piero) 580—583.
Del Monte (Guido Ubaldo) 585—587.
590. 592. 598. 606. 611.
De Lorme (Philibert) 619.
Denso (Johann Daniel) 7
Deparcieux (Antoine) 18.
Derand 619.
Desargues (Girard) 588--592. 610. 615.
619. 622.
Descartes (Rene) 12. 70. 86. 111. 121.
259. 331. 354. 444. 588. 601.
Descartes’ Zeichenregel 106. 124. 125.
Determinanten 101—192. 121—124. 219.
524. 705.
Determinationes (das Wort) 913.
Develey (Isaak Emanuel Louis) 47. 78.
Developpable, gemeinsame zweier Flächen
536. 537.
Dez 371—375.
Dezimalbrüche 40. 57. 58. 59. 160. 161.
Dickstein (3.) 667.
Diderot 16. 42. 149. 150.
Differentialgleichungen 265. 281.
294. 479. 483. 497. 873—1047.
Differentialgleichungen zweiter Ordnung
794.
Differentialgleichungen höheren Grades
939— 942.
Differentialgleichungen, (partielle) 551—
555. 560. 562—572.° 790. 893—896.
897. 913— 915. 942—1029. 1041 —1045.
Differentialgleichungen (partielle auf to-
tale zurückgeführt), 947. 951. 963. 972.
986. 1009.
Differentiation und Integration unter
dem Integralzeichen 737. 738. 758.
Differenzenrechnung 271. 273. 278. 279.
281. 296. 781. 784. 878. 880. 882. 926.
1047 —1066.
286.
Diophant 169. 180.
Dirichlet 192.
Discontiguite von Discontinuite unter-
schieden 880.
Diskriminante 474.
Division 64—69.
Division (abgekürzte) 69—70.
Dodson (James) 57.
'Döhlemann (K.) 437. 580.
Dollond 59.
Domenichi (R.) 34.
Doppelmayr 361.
Drapiez 68.
Dreispitzige Kurven 517—519.
Dubois 63.
Dubois-Reymond (Emil) 456.
Du Breuil 591.
Dubuat-Nangay (L. G.) 631.
Dürer (Albrecht) 582. 612.
Du Fay 362.
Duhamel (J. M. C.) 630.
Dumas 422.
Duodezimalbrüche 58. 59. 69. 70.
Dupin (Ch.) 623. 631. 636.
Dupuis 634.
Dupuy 32.
Durchmesser 412. 473,
Dutens (L.). 17. 31.
E.
Ebert (Joh. Jak.) 72. 75
Ehernes Meer 22.
Einhüllende 551.561—563. 566. 886. 1041.
Eisemann 633.
Elastische Kurve 505.
Elimination 101—102. 110.
127. 128.
Ellipse, kleinste durch 3 oder 4 Punkte
469. 470.
Elliptischer Kegel 465.
Elliptische Transzendenten 466. 790. 794
— 8569. 937.
Emerson (W.) 30. 72. 82. 85. 89. 90.
675. 678.
Eineyclopedie 16. 149. 150.
Enneyclopedie methodique 14. 16. 928.
Engel (Friedrich) 388. 400—402,
Enneper 794. 847. 867.
Enveloppe s. Einhüllende.
Ennzyklopädisten 39.
Epikurvoiden 475.
Epizykloiden 481. 516.
Eratosthenes 24. 202.
Ernesti 34.
Erzeugende Funktion 273. 1050. 1065.
Eschenbach (Hieron. Christoph) 215—216.
219. 1088.
Esteves 14.
121—123.
a Register.
Eittingshausen (Andr. von) 206.
Euklid 9. 27. 32. 33—34. 35. 36. 78. 88.
116, 321—325. 339 —343. 345. 348.
350. 354. 358. 360. 380. 383. 390. 462.
579. 580. 593.
Euler (Johann Albrecht) 180. 195. 663.
Euler (Leonhard) 17. 20. 53. 55. 56. 62.
63. 74. 75. 77. 81. 83. 88. 90. 91. 93
—103. 108. 109, 111. 115. 116. 118.
119. 120. 124. 132. 184. 135. 188;
139. 343. 145. 146. 150. 153—163.
166. 167. 169 —176. 178. 180—187.
189—195. 201. 203—205. 206. 207.
211. 219—220. 226. 227. 235. 236.
239. 249. 251. 258—260. 262 — 264.
266. 268—270. 273. 274. 276—278.
283—295. 297—301. 303, 304. 308—
315. 322. 332. 337. 357. 358. 379. 383.
405—407. 409. 411—416. 418. 424—
426. 429. 431. 442 —445. 448. 449.
450. 453. 460. 461. 465. 466. 469 —
471. 477. 479—482. 486—493. 496—
502. 505. 508. 509. 511—520. 525 —
531. 585. 537—542. 544-546. 547.
550—555. 557. 562. 563. 567. 569.
572 —575. 634. 655. 658. 663. 679.
680. 688. 695. 699. 700. 704—707.
710—714. 716—719. 721. 725. 728—
731. 733—735. 737 —766. 772. 776.
778. 780—784. 788—790. 794—807.
815—819. 829. 831. 833— 840, 847 —
851. 854. 866—869. 874. 877—880.
882. 883. 885—891. 899—904. 910—
913. 916-919. 925. 927—931. 935 —
937. 939. 940. 944—946. 950. 957 —
969. 984. 989— 1000. 1007. 1008. 1010.
1016—1018. 1023—1028. 1050—1036.
1048. 1057. 1061. 1065. 1066. 1069.
1070. 1078—1092. 1094—1096.
Euler-Bernoulli 63. 65—68.
E nk | : dx dy
ulers Differentialgleichung —— + —-
er
796—798. 804—818. 902. 937. 938.
Eulersche Integrale 274. 758—760. 763
—765.
Eulersche Konstante 277.
Evoluten 477. 511. 513. 514. 518. 519.
Evoluten einer Raumkurve 532. 533.
Evolventen 497. 501. 502. 517. 939.
Existenzbeweis 877.
F.
Fabre (A.) 144.
Fabroni (A.) 656.
Fagnano (Gianfrancesco di) 34. 36. 103.
104. 121. 445. 721. 726—729. 775—
777. 794.
Fagnano (Giulio di) 461. 701. 726. 794.
795. 802. 819. 821. 840. 845. 851.
1080. 1082. 1094.
Faktorenfolge (unendliche) 445.
Faktorielle 91 —92, 120—121. 791.
1103
Fakultäten 296. 297. 791. 1098.
Fantoni (Pio) 492.
Farrar (John) 76.
Faulhaber (Johann) 11.
Favaro (A.) 18.
Fehlerrechnung 420.
Fehlerwahrscheinlichkeit 248—251.
Feldmeßkunst s. Praktische Geometrie.
Felkel (Anton) 187. 188. 202. 434. 435.
1085.
Fenning (Daniel) 60.
Fergola (Nicola) 466. 516. 517. 557. 632.
Fermat (P. de) 36. 153. 154. 156. 160,
167. 169. 171. 174. 178. 180. 190.
Ferrari (G. A.) 34.
Ferrari (Lud.) 23. 111.
Ferroni (Pietro) 418. 449 —450. 682 _
683. 858 —860. 905.
Fibonaceci 23. 24.
Fiedler (W.) 598.
Fiorentino (N.) 649. 661. 662,
Fiorini 31.
Fischer (©. G.) 136.
Fischer (Ernst Gottfried) 205. 217. 218,
1089.
Fischer (J. C.) 12—13.
Fisher (George) Pseudonym von Mrs. Slack
57. 60.
Fisher (Walter) 407.
Flächen s. Oberflächen.
Flächenfamilien 560.
Flächenkurven 538. 541. 621. 627.
Fluchtpunkt 544. 580.
Foncenex (Francois Daviet de) 119.
120. 139. 306—308. 310. 311. 1079,
1096.
Fonetion generatrice s. erzeugende
Funktion.
Fontaine (Alexis) 18. 95. 108. 147. 671.
735. 899. 1069. 1098.
Fontana (Gregorio) 153. 288—290. 311.
312. 314. 448. 476, 477. 512. 513.
557. 558. 687. 699— 701. 710. 723. 72£.
731. 769. 772. 790. 1047. 1087. 1098.
Fontenelle (Bernard Le Bovier de) 196.
Forkel (J. N.) 32.
Formen (quadratische) 169. 173. 178.
Forster (Georg) 6.
Forti (Angelo) 107. 108.
Fortia (Marquis de) 41. 42.
Fourier (Jean Baptiste Joseph) 258.
984. 985.
Franchini (Pietro) 148. 313. 687. 688.
Frend (William) 84. 87. 88.
F'rezier (Ame&dee Francois) 536. 619—622.
Friedrich der Große 108. 109.
Friedrich Wilhelm II. 227.
Frisi (Paolo) 19. 93. 148. 150. 151. 152,
314. 674. 675. 681. 682. 723. 772.
1069.
Funck (Christlieb Benedict) 5.
Fundamentalsatz der Algebra 133. 137
—159, 306,
1104
Funktionaldeterminante 953—956. 1029.
Funktionalgleichung 265. 1051. 1052.
arg (Josef) 11.
Fuß (N. v.) 17. 19. 90. 194. 234.
279. 288. 294. 301. 311. 379. 386.
416. 433. 444. 469—471. 488.
496. 500—504. 519. 520. 542.
629. 700. 734. 767. 768. 848.
1020. 1088.
Fuß (P. H. v.) 62. 194. 444.
G.
Gaignat de L’Aulmays (C. F.)
Galile: 11. 12. 17. 18. 19. Eu)
Gallimard 70.
Galois (Evariste) 110. 113.
Gammafunktion s. Eulersche Integrale.
Gardiner 422. 433. 434.
Garnier (Jean Guillaume) 73. 355.
Gaudio (Francesco Maria) 681.
Gauß (Karl Friedrich) 8.120.173.191.194.
306.307.388.317.435. 527. 540.869. 942.
Gaußsche Differentialgleichung 937.
Gebler (K. v.) 18.
Gehler (Johann Samuel Traugott) 16. 24.
Gelder (Jakob de) 449.
Gellert 202.
Gellibrand (Henry) 46.
Gemma-Frisius 10.
Geodäsie (das Wort) 368.
Geodätische Linien 532—534. 538. 540.
Geometrie (Lehrbücher der elementaren)
321—360.
(reometrie des Lineals 370. 612—614.
Geometrie (sphärische) 382—388.
Gerard (Juan) 48.
Gerbert 28.
@Gerdil (H. S.) 643. 644.
Gerhardt (C. J.) 582.
@reschlechtsverschiedenheiten bei Geburten
239. 245. 247.
Gesimsflächen 553. 569.
Gherli (Odoardo) 47. 66. 70.
656. 657. 681.
Grhetaldi 36.
Gianella (Carlo) 288. 681. 722.
Giannini (P.) 35.
Gilbert (Ludwig Wilhelm) 5. 6. 12.
Giordano (Annibale) 379.
Girard (A.) 36. 430. 708.
Girault de Keroudou 671.
Glaisher 434. 439. 443.
Gleichungen 3. Grades 94. 96. 98—99.
110. 114..115. 116. 117. 132. 133.
139. 148.
Gleichungen 4. Grades 93. 94. 95. 96.
97. 99 —100. 101. 111. 116. 117. 120.
129—130. 132. 133. 136.
Gleichungen 5. Grades 93. 95. 97. 98.
100. 111. 113. 114. 115. 116. 117.
118. 131—132. 140.
Gleichungen höherer Grade 93. 94. 95.
96. 99. 114. 115. 118. 119. 120. 124.
278.
387.
495.
543.
937.
76. 79. 82.
723.
Register.
130.
710.
Gleichungen (numerische) 140—147.
Gleichungen geometrisch aufgelöst 141.
144. 148.
Gleichungen durch eine Maschine auf-
gelöst 144.
Gleichungen (unbestimmte 2.
156. 159. 162—164. 171.
Gleichungen (unbestimmte 3. Grades)
154. 167.
Gleichungswurzeln, mehrfache 129. 142.
Grlenie (James) 667. 1097.
Gmelin (Johann Friedrich) 7.
Gmelin (L.) 16.
Goguet (A. Y.) 14.
Goldbach 167.
Goldbachscher Erfahrungssatz 167—168.
Gompertz 59.
Goniometrie (das Wort) 412.
Gough (John) 58. 60.
Gouraud (Charles) 237.
Grandi (G.) 34.
Gratognini (Giovanni) 482. 485. 787.
Graumann 23. 24.
Green 942.
Greenfield (William) 25. 86.
Greenwood (James M.) 60. 61.
Greenwood (Isaac) 60.
Gregory (David) 711.
Gregory (James) 378.
Gren (Karl Friedrich Adolf) 5
Grüson (Johann Phil.) 72. 75. 82. 83.,
380. 655. 667— 670. Gr Wand
Grunert (Johann August) 1
Gua de Malves (Jean Paul ie 95. 416.
428. 429. 455. 708—710.
Guarini 593.
Günther (Siegmund) 1—36. 74. 135. 155.
156. 189. 411. 580. 582.
Guwimaraes (R.) 48.
Guisnee 369.
Guldin (Paul) 353.
Guldinsche Regel 553. 557.
Gurief (Simeon) 350—355.388.394—396.
477. 478. 699.
Guyot 16.
133. 154—135. 146. 287. 291.
Grades)
Guyton de Morveau 107.
H.
Hachette (J. N. P.) 625. 632—634.
Hajashi 447.
Halcke (Paul) 55.
Hales (William) 130.
Halkett (8.) 82.
Hamberger 14.
Hamilton (Hugh) 461—464. 1079.
Hamilton (W. R.) 79.
Hammer (E.) 408.
Hankel (Herm.) 154.
Harnack (Axel) 107.
Harprecht (J. C.) 699.
Harriot (Thomas) 115.
re
Register.
Harris (John) 435.
Harzer (P.) 447,
Hase (J.M.) 615.
Hattendorf (K.) 985.
Hauber (K. F.) 33.
Hauff (J. K. F.) 33. 647.
Haußer (Matthias) 78. 82.
Haußßner (R.) 626. 631.
Hauy (Rene Just) 46. 366.
Hawkins (John) 57.
Heath (Robert) 59.
Heiberg (J. L.) 35.
Heine 794.
Heinrich II. 619.
Hellins (John) 72. 129. 301. 302.
Hench (J. J.) 34.
Hennert (Johann Friedrich) 50.
Hentsch (Johann Jakob) 475. 476.
Herigone (Pierre) 592.
Hermann (G.) 32.
Hermann (Jakob) 482.
Hewlett (John) 76.
Heynatz (Johann Friedrich) 65. 66. 68.
78
Hierta (©. D.) 768.
Hül (C.) 131. 133.
Hill (J. C.) 131.
Hill (John) 57.
Hindenburg (Karl Friedrich) 4. 5. 25.
128. 183. 190. 201—202. 205—216.
217. 218. 219. 235. 386. 400. 414. 441.
667. 1086. 1090.
Hobert 439. 441.
Hodder (James) 57. 60.
Hoffmann 407.
Holland (Georg Jonathan Freiherr von)
447. 654. 703.
Hollenberg 12.
Hollmann (8. C.) 29.
Horner (Francis) 76.
Horner (Joh. Kaspar) 16.
Horsley (8.) 24. 35.
Hoüel 401.
Hube 453. 454. 462. 465. 1079.
Hudde (Johann) 121.
Hulbe (A. E. L.) 135—136. 1089.
Hulten (Andreas) 722. 772.
Hultsch 617.
Hunrath 436.
Huth (J. C.) 62.
Hutton (Charles) 16. 57. 60. 89. 90. 270.
439. 443. 465. 1087. 1088. 1095. 1096.
Huygens (Christian) 13. 362. 594. 1094.
Hydrodynamilk 942. 943. 947.
Hydrodynamische Probleme 944.
1024. 1027.
Hyperbelfunktion 411. 412. 489.
Hwyperbolisches Paraboloid (2 Scharen
von Geraden) 556.
Hwyperelliptische Integrale 805. 824.
Hypergeometrische Kurve 512.
Hyperlogarithmus s. Integrallogarithmus.
Hyperzykloiden 516.
990.
1105
I.
i als Zeichen für V—1 315.
Ibn Alhaitam 579.
Ideler 439. 441.
Illing (Christian) 70.
Imagıinäre Fläche 568.
Imaginäre Gleichungswurzeln 102—107.
125—126. 147. 286. 287.
Imaginäres 88—90. 91. 303—318. 418.
573. A74. 688. 712—715. 729 —731.
Infinitinom 205.
Integrabilitätsbedingung 904—907. 926.
952. 954. 960. 966. 1032—1038. 1047.
1054. 1055.
Integral (allgemeines) 883.
Integral (bestimmtes) 232. 241. 245. 246.
281. 290. 292. 293. 299. 515. 741—
770. 782—786. 927. 1007.
Integral (partikuläres) 883. 886. 888.
908. 915. 929. 931. 932. 937. 968.
. 1006. 1007 1016. 1017. 1025. 1027.
1032.
Integral (singuläres) 503. 883. 885—898.
908. 924. 942. 972. 1037. 1052—1054.
Integrallogarithmus 734. 792. 873.
Integration von irrationalen Funktionen
716— 724. 878.
Integration von rationalen Funktionen
710—1715.
Integration von transzendenten Funk-
tionen 724—733.
Integration (angenäherte) 733—736. 877.
916—918. 926. 1054. 1056.
Integration von Differentialgleichungen
durch bestimmte Integrale 927. 1007,
Integration von Differentialgleichungen
durch Reihen 910—916. 989. 992. 995.
1003. 1025.
Integrierender Faktor 806. 899—903.
907. 908—910. 929. 931. 962. 963.
977. 984. 986. 988. 991. 1024. 1030.
.. 1051. 1035. 1036. 1056. 1062. 1068.
1095.
Interpolation 1048—1050.
Irreduktibler Fall der kubischen Glei-
chung 148. 149. 150. 151. 152. 153.
Isochrone 508.
Iteration 288.
Ivory (James) 301. 866.
J.
Jablonowsky (Fürst Joseph Alexander)
370.
Jacobi (C. G. J.) 167. 274. 433. 625.
1072.
Jacquier (Francois) 152. 601. 605. 679.
685. 686.
Jäger 407.
Jäger (Peter) 435.
Jänicke (E.) 53. 54. 62. 67.
Jagemann (C. J.) 17. 18.
Jamitzer (W.) 633.
1106
Japanische Mathematiker 446—447.
Jaugeage 362. 370—372.
Jeaurat (E. 8.) 602.
Jerrard 130.
Joncourt (Elie de) 72. 195.
Jones (William) 59.
Jordanus Nemorarius 582.
Jousse (Maturin) 619.
K.
Kaestner (Abraham Gottlieb) 8—12. 17.
22. 23. 24. 26. 27. 28:30, 33. 73. 74.
T.:°"08, 779.80. EX. - IMB:
151. 197. 198. 202. 225. 313. 355 —
357. 389. 413. 414. 419. 420. 422. 424.
425. 427. 449. 455—456. 465. 478.
508. 510. 543. 544. 557—-559. 572.
573. 582. 603. 614. 642. 643. 659. 672.
707. 708. 732. 771. 772. 779. 780.
1079. 1088. 1089. 1094—1096.
Kanalflächen s. Röhrenflächen.
Kant (Immanuel) 77. 79. 80. 1086.
Karl (Herzog von Württemberg) 216.
Karl Emanuel IV. 644.
Karsten (Wenceslaus Joh. Gust.) 52. 63.
74. 82. 84. 309. 357. 424. 425. 427.
449. 460. 465. 614—616. 618. 646.
647. 671. 672. 722. 724. 1084, 1098.
Kartographie 521. 572—576.
Kaufmännisches Rechnen 40. 51. 52.
Kausler (Christian Friedr.) 194.
Kawalierperspektive 591.
Kegelflächen 561.
Kegelschnitte 454. 455. 458. 461—471.
794—804. 819— 821. 824—860.
Kepler 11. 12. 29. 776.
Kern (G. J.) 580.
Kettenbrüche 142—143. 155—161. 165.
171. 184. 185. 1883. 189. 270. 284.
285. 295. 296. 310. 442. 447. 916.
Kettenlinie 503.
Kettensatz 24. 52.
Kies (Johann) 407. 408. 415. 671. 1079.
Kirby (Josuah) 600.
Klein (Felix) 131. 132. 869.
Klügel (Georg Simon) 16. 27. 30. 88.
190. 208. 219. 389. 406. 412—-415.
418. 420. 424. 425. 443. 448. 449.
925.
455. 459. 467. 508. 555. 619.
1033. 1048—1050. 1080. 1082.
Koc (Johann) 376.
Köhler (Friederich) 53.
Köhler (H. G.) 434.
Kötter (E.) 629.
Kombinatorik 24. 25. 201—221. 235.
Kombinatorische Schule 201.
Kommerell (V.) 451—576.
Konen (H.) 156. 158.
Konforme Abbildung (das Wort) 575. 576.
Konkurspunkt 585. 592.
Konoid 556. 557. 561.
Koppernikus 10.
Kordenbusch (@. F.) 13.
135.
Register.
Kotierte Ebene 586.
Kourganof (Nicolas) 56.
Kouznetzoff (Vasilii) 56.
Krafft (Georg Wolfgang) 56. 75. 322,
668.
Kräftefunktion 942.
Kramp (Christian) 91. 92. 219. 296. 297.
1091. 1098.
Kronecker (Leopold) 137. 186. 191.
Krüger (J. G.) 435.
Krümmung 459. 461. 476. 477. 492. 496,
497. 500. 503. 504. 514. 519. 520. 526.
532. 534. 535. 545—548,
Krümmungslinien 566—568. 632,
Krümmungsmittelpunkt ebener Kurven
477. 496. 51H.
Krümmungsmittelpunkt von Raumkurven
532.
Krümmungsradius ebener Kurven 459.
476. 47T.
Krümmungsradius, Aufgaben über den —
497 —504.
Krümmungsradius von Raumkurven 534.
Krümmungsradius von Flächen (Haupt-
krümmungsradien) 535—550. 567. 569,
Krummbiegel 25.
Kugelfunktionen 792—794. 915. 943.
Kummer (Ernst Eduard) 192.
Kurushima 447.
Kurven (höhere ebene) 471—521.
Kurven zur Gleichungsauflösung benutzt
141. 144. 458.
Kurvoide 475.
L.
La Caille (Nicolas Louis de) 40. 47. 48.
71. 73. 77. 367. 420. 425. 434. 602.
603. 615. 1080.
Lach (F. W.V.) 31.
Lacombe (J.) 16.
Lacroixs (Sylvestre Frangois) 40. 41. 43,
47. 62. 73. 76. 324. 325. 336. 344—350.
625. 627. 635—637. 694. 695. 723.
976. 1090.
Lagny (Thomas Fantet de) 299. 436.
447. 620.
La Gournerie (J. de) 621. 631.
Lagrange (Louis) 20. 29. 45. 46. 47. 62.
63. 73. 76. 77. 93. 94. 95.. 105. 107
—115. 118. 119. 123—126. 1283. 130.
134. 139. 141—143. 145—148. 150.
151. 152. 156. 161—167. 169. 171. 175
— 177. 180. 181. 185. 190. 193. 194.
216. 217. 233. 234. 239. 247. 248.
251. 258. 270. 272. 287. 290. 295.
296. 307—309. 336. 363. 364. 366.
379. 401. 402. 409. 417. 418. 423.
428. 429. 434. 440. 497, 523—525.
540. 550. 569. 572. 575. 585. 607.
624. 625. 642. 644. 645. 649. 662.
664—669. 688 —697. 699. 724. 740.
741. 753. 772—776. 778. 779. 807 —
815. 835. 340. 851—854. 866. 378—
Register.
880. 883 — 886. 890— 896. 899, 901. 908.
910. 912. 914—921. 923. 925—933.
935. 937—940. 942. 943. 945— 947.
950. 951. 957. 964— 977. 982. 984— 992.
1008—1010. 1024. 1025. 1029. 1030.
1032. 1034. 1036. 1043. 1048—1050.
1052. 1055—1060. 1062—1072. 1074,
1079—1086. 1088— 1096.
Lagranges Bezeichnung der Ableitungen
689.
Lagranges Multiplikator s. integrierender
Faktor.
Laing (J.) 82.
Lalande (J. J. F. de) 13. 15. 18.
425. 434. 1080.
Lambert (Johann
133. 140—-141.
170. 183. 202.
296. 299. 379.
362,
Heinrich) 25. 74. 103.
145. 160. 161. 169.
211. 220. 271. -289.
399 —401. 408 —412.
418. 419. 421. 422. 430. 434—437.
442. 445—448, 506. 559. 572, 582.
594. 602. 606—614. 618. 635. 637.
654. 702. 703. 866. 1048. 1079. 1081.
1082. 1084. 1087. 1093. 1095.
Lamy (Bernard) 299. 603.
Landen (John) 259. 274. 275. 661. 675.
711. 721. 766. 790. 842—847. 857.
1080. 1083. 1084. 1086. 1089. 1095.
Landens Transformation 846.
Landerbeck (Nils) 876.
Langsdorf -(Karl Christian) 671.
La Peyrouse (Jean Francois de) 5.
Laplace (Pierre Simon de) 31. 45. 46,
471. 64. 73. 105. 123. 128. 137. 138.
139. 2238—229. 231—237. 240—247.
249—251. 271. 273. 280. 281. 337.
363. 440. 455. 607. 625. 697. 735. 736.
766. 767. 793. 794. 875. 878. 880. 883.
885—890. 900. 910. 920—925. 927.
931. 932. 935. 940. 943. 944. 945. 947.
951. 964— 966. 970. 972. 999— 1009.
1015. 1018. 1030. 1031. 1037. 1048,
1050. 1051. 1061-—1065. 1072. 1084—
1087. 1089. 1093. 1094.
Laplacesche Differentialgleichung 794. 943.
Laplacesche Kaskadenmethode 935. 1001
—1005. 1008.
Lavoisier (A. L.) 18. 45. 109. 364. 366.
Lawson (J.) 36. 60.
Le Blond 82.
Leclere (Sebast.) 360. 369.
Lee (Chauncey) 61.
Lefevre-Gineau (L.) 27.
Lefort 401.
Le Frangois 637.
Legendre (Adrien Marie) 109. 190-195.
274. 336—344. 355. 357. 358. 366.
381. 382. 386. 393—399. 401. 423—
425. 440. 741. 792—794. 847. 854— 858.
3860—865. 886. 896—898. 937. 976.
954. 1008. 1012—1014. 1018. 1020.
1022. 1029. 1066. 1072—1074. 1087 —
1091. 1093.
CAnTtor, Geschichte der Mathematik IV.
1107
Legendres Theorem 337. 423.
Le Gendre (F.) 39. 40. 62. 65.
Leibniz (Gottfried Wilhelm) 17. 26. 70.
122. 160. 174. 201. 205. 206. 208.
219. 285. 299. 300. 303. 305. 311.
331. 354. 456. 483. 508. 510. 58
597. 641. 643. 651. 655. 667. 681.
694. 695. 710. 737. 1034. 1049.
Leijonmark (Gust. Ad.) 133. 1098.
Leiste (C.) 25.
Lemniskate 508. 823. 824.
Lemoine d’Essoies (E. M. J.) 14. 41.
Le Monnier (Pierre Charles) 109.
Leseur (oder Lesueur, Thomas) 607. 679.
Leske (Nathanael Gottfried) 5.
Leslie (John) 148.
Lessing (Gotthold Ephraim) 25. 32.
Levot (Prosper) 118.
Lexell (A. J.) 19. 265. 268. 379. 383—
386. 416. 430—432. 504. 662. 719.
840—842. 851. 904— 907. 1017. 1031.
1032. 1084. 1095.
L’Hospital (Marquis de) 26. 132. 519.
601. 671. 689. 700.
Lhuilier (Simon) 84. 302. 322. 379. 432.
449. 645. 646. 686. 699. 1087. 1088.
1091. 1095.
Libri 582—584.
Lichtenberg (Georg Christoph) 6. 17. 20.
225.
Lie (Sophus) 885. 983. 1013. 1029.
Lille 198.
Lineare Differentialgleichungen
934. 936.
Linearperspektive 597.
Linienelement 530.
Littrow (J. J. v.) 16.
Locke (John) 42.
Logarithmen 20. 24. 91. 302. 436—441.
Logarithmen negativer Zahlen 303—309.
312—315.
Logarithmische Linie 304—306. 314.
Lokalzeichen 209.
Long 441.
Lorenz (J. F.) 33. 51. 52. 77. 324.
Lorgna (Antonio Maria) 146, 148, 151.
152. 269. 279. 280. 281. 289. 418.
575. 723. 743. 785—787. 838. 934.
935. 937. 1055. 1057. 1058. 1064. 1065.
Loria (Gino) 7. 137. 466. 483. 500. 504.
506. 511. 516. 517. 523. 577—637.
671.
Lotteri (Angelo Luigi) 510. 686. 687.
699. 777-—-779. 1089.
Lovett (& 0.) 410. E
Lucas (E.) 16.
Ludlam (W.) 86.
Ludolph van Ceulen 11.
Ludwig XVIII. 228.
Lwini (oder Luino, Francesco) 260. 261.
655. 656.
Luther (Eduard) 117.
Lyons (Israel) 421.
927 —
71
1108
M.
Machin (John) 299. 442.
Maclaurin (Colin) 73. 82. 85. 124. 453.
455. 643. 662. 674. 838. 851. 867. 942.
Mac Mahon (P. A.) 59. 174.
Macquer 16
Maedler (J. H.) 31.
Maestlin 10.
Magistrini (@. B.) 647.
Magnitzky (Leontius Philippovist) 55. 56.
Maier (F. 0.) 405. 428.
Mair (John) 58. 63. 66.
Mairan (Jean Jacques d’Ordon de) 18.
Maj (Carlo) 725.
Mako (Paul) 85. 104. 671. 1098.
Maler (Jakob Friedrich) 67. 68. 78.
Malfatti (Gianfrancesco) 116—117. 134.
151. 174. 231. 290. 295. 313. 379.
418. 454. 508. 768. 787. 788. 850.
851. 1063. 1083. 1095.
Mallet (Friedrich) 129—130. 312. 722.
768.
Mallet-Favre (Jacques Andre) 234.
Manfredi (Eustachio) 603.
Manfredi (Gabriello) 116.
Manning (Thomas) 86.
Marei 435.
Marguerie (Jean Jacques de) 114. 118.
119. 1083.
Marie (Abbe) 40. 49. 71. 108. 336. 670.
Marie (M.) 641.
Marolais (Samuel) 592. 603. 615.
Martin (Artemas) 60. 61.
Martin (Benjamin) 671.
Martin (Roger) 88.
Martini (H. G.) 31.
Martini (Ranieri Bonäventura) 672—674.
Mascheroni (Lorenzo) 368. 380. 432. 482.
484. 485. 731. 734. 768. 792. 1088.
1089. 1095.
Maseres (F.) 24. 80. 86. 87. 92. 149.
151. 271. 302.
Maskelyne (Nevil) 422. 439. 1089. 1092.
Massabiau (Jean Ant. Frang.) 69.
Massenbach (von) 687.
Mathematische Unterhaltungen 16.
Mathematische Zeichen T0—72. 120.
123. 195. 204. 205. 206. 207. 208.
237. 260. 262. 268. 277. 288. 293.
300. 315. 406. 412. 428. 523.(689.
791. 793. 797. 798.)874. 884. 885.
889. 953. 1012. 1019. 1048.
1066.
Mathesis biblica 22.
Mathissen (S.) 49.
Matsko (J. M.) 28.
Matsunga 446.
"Matthießen (L.) 115. 129. 136. 140.
Mauduit (Antoine Remi) 425—427. 556.
1080.
Maupertwis (Pierre Louis Moreau de) 18.
Maurolico 10. 341.
Maxima und Minima 41T. 467. 469.
1061.
Register.
470. 474. 478. 515. 516. 537—539.
547 —550. 693. 770—779. 904. 1055.
1066.
Maxima und Minima bei
Veränderlichen 694.
Mayer (Johann Tobias) 17. 20. 430.
Mayer (Johann Tobias II) 361. 419.
430.
Mechain (Pierre Francois Andre) 46.
338. 366.
Mechanisch definierte Kurven 504—508.
Meinert (F.) 31.
Meister (L. Fr.) 17. 27. 30. 614.
Melanderhjelm (D.) 28. 733.
Menelaus 429. N
Mefßbarkeit von Kurven durch Kegel-
schnittsbögen 486—489.
Meßbarkeit durch andere Kurvenbögen
489.
Mejpßtvorrichtungen 361. 368.
Methode der Grenzen 328—330.
Methode der unbestimmten Koeffizienten
265. 287. 310. 418.
Methodustangentium inversa 459. 479.503.
Metius 11.
Metrisches System
362—368. 1093.
Metzburg (Georg) 77.
Meusnier (Jean Baptiste Marie Charles)
544. 546—550. 565. 569. 950. 1087.
Meusnier de la Place (Jean Baptiste
Marie Charles) 366.
Meyer (J. J.) 26.
Michelotti (Franc. Dom.) 150. 151.
Michelsen (J. A. C.) 20. 53. 54. 64. 98.
512.
Middleton (Joseph) 59.
Mikamı 446.
Milet de Mureau 631.
Milner (Isaac) 124. 125.
Minimalflächen 547—550.569—571.1010.
1013.
Minto (W.) 19.
Minzele 671.
Mitchell (G.) 60.
Mittelpunkte paralleler Sehnen 461. 473.
Mittelwerte 91.
Moebius (August Ferdinand) 1096.
Moennich (B. F.) 12. 23.
Moivre (Abraham de) 57. 98. 99. 118.
201. 205. 233. 240. 411. 425.
Mollweide (Karl Brandan) 16.
Mollweidesche Gleichungen 419. 425.
Monge (Gaspard) 45. 46. 221. 363. 366.
458. 521. 531—537. 550. 551. 553.
555. 559—572. 618. 623—637. 882.
884. 885. 898. 900. 901. 940— 942. IKT —
951. 977—984. 1009—1013. 1019—
1023. 1028—1030. 1036—1047. 1051.
1054. 1057. 1064. 1083. 1084. 1087 —
1091. 1093. 1094. 1096.
Monge (Jakob) 623.
Mongeg (Jean Andre) 5.
mehreren
44—46. 203. 338.
Register.
Monteiro da Rocha (Jose) 48. 49.
Monti (Vincenzo) 731.
Montmort (P. R. de) 220. 226. 234.
Montucla (Jean Eienne) 3. 12. 13. 98.
324. 375. 465. 603. 612. 637. 899.
Morand (L.) 623.
Morgan (Aug. de) 40. 44. 57. 58. 59.
60. 83. 168. 402.
Morgan (Sophia Elisabeth de) 57.59,
Mormoraj 671.
Morris (Robert) 61.
Mosdorff 449.
Moß (T.) 60.
Mowrraille (J. Raym.) 143—144.
Mouton (Gabriel) 44. 362. 434. 440.
Moya (Juan Perez de) 48. 63.
Müller (2) 671.
Müller (©. G. D.) 16.
Müller (C. H.) 8. 73.
Müller (Felix) 1097—1098.
Muir (Thomas) 121. 123. 124. 128. 129.
Multiplikation 63.
Multiplikation (abgekürzte) 69.
Multiplikation elliptischer Integrale 863.
Muncke (G. W.) 16.
Murawvief (Nicolas) 56.
Murdoch (Patrick) 600.
Murhard (F. W. A.) 13. 15. 26. 732.
Mylius (Christlob) 73.
N,
Napoleon I. 201. 228. 418. 625. 647.
Nasir Eddin 10.
Negative Zahlen 79—88. 309.
Neil 508.
Nelli (G. C©. de) 18.
Neper (John) 20. 68.
Nepersche Analogien 408. 413. 417. 422.
426. 427. 429.
Nepersche Regel 407. 409. 410. 1081.
Nesselmann (G.H.F.) 8.12.14. 23. 25. 94.
Netto (Eugen) 199—318.
Neumann (Johann) 435.
Newton (Isaac) 17. 19. 26. 28. 29. 30.
108.
203.
411.
599.
699,
49. 58. 72. 77. 78. 87. 101. 103.
115. 125. 137. 143. 144. 147.
204. 270. 331. 351. 354. 378.
446. 453. 455. 473. 594. 597.
601. 641. 643. 679. 681. 686.
721. 943. 1033. 1035. 1084.
Nieeron 592.
Nicolai (Giambattista) 152. 684—686.
Nieole (Francois) 151.
Niebuhr (C.) 27.
Niedermüller (H.) 63. 147. 152.
Nieuport (Vicomte de) 507. 510. 1086.
Nieuwentijt 651.
Niveauflächen 942.
Niveaukurven 631.
Nizze (E.) 35.
Nöther (Max) 128.
Nollet 16. 108.
Nonius 10.
1109
Nordmark (Z.) 27. 139.
Normalformen der elliptischen Integrale
836. 860— 862.
Normalstellen bei Permutationen 220.
OÖ.
Obereit (Ludwig) 161. 289. 703.
Oberflächen 521. 544—572. 622. 694.
1038. 1039.
Olivier (Th.) 836.
Olleae (Gratien) 85.
Oostwoud (Jakob) 50. 51. 55.
Oppel (Friedrich Wilhelm) 427. 428.
Orbiformes, cuwrvae 518.
Ordnungserniedrigung von Differential-
gleichungen 900. 928. 932. 1019. 1027.
Orsini (Baldas.) 614.
Ortega 63.
Ostwald 966. 1066. 1069. 1074.
Oughtred 70.
Oval 467.
Oval, nicht quadrierbar 473. 474,
Ozanam 16. 594.
P,
na 121. 183. 270—271. 275. 284. 285.
29399— 301. 375—378. 442 —445.
Paccanaro (D.) 34.
Paciuolo (Luca) 581.
Pakussi (Johann von) 703. 704.
Palcani (L.) 605.
Palmquist (F.) 132.
Pantagonia 460.
Paoli (Pietro) 73. 76.
310. 1047. 1056. 1058. 1065.
1090.
Pappus 10. 134. 379. 593. 617. 633.
Parallelen 10. 27. 388— 402.
Parallelkurven 508. 510. 511.
Paralleloid 556. 557.
Parameterdarstellung der Flächen 529.
540.
Parent 558.
Parr 92.
Partialbrüche 90. 285.
Parvissen 59.
Pascal (Blaise) 232. 859.
Pasquich (Johann) 52. 667. 668. 1097.
Paulian (A. H.) 26.
Peckham 579.
Peletier 647.
Pell (John) 156. 183. 190. 435.
Penther (Johann Friedrich) 361. 362.
Pereira (Jos& Maria d’Antas) 49.
Periodische Dezimalbrüche 160—161. 169
—170. 187—188.
Perspektive 579 ff. 634 ff.
Pescheck (Christian) 65. 67. 68. 69. 160.
Pessuti (Gioacchino) 678.
Pestalozzi 53.
Peter der Große 584.
Petersburger Problem 222
71°
77. 82. 147. 296.
1083.
— 1226.
1110
Register.
Petrus Pietor Burgensis 3. Della Fran- Prostaphaeresis 28.
. CESca.
Peyrard (Frangois) 355.
Pezenas (Esprit) 362. 422. 434.
Pezzi (Frane.) 314. 448. 711.
Pfaff (C. H.) 16.
Pfaff (Joh. Friedr.) 92. 205. 216—219.
734.
291. 292. 294. 443. 697 —699.
1088.
Pfeiffer (J. G.) 479.
Pfleiderer (C. F. v.) 28. 29. 35. 699.
Photogrammetrie 611.
Piazzi 21.
Picard (Jean) 362.
Pierpont (J.) 97. 117.
Pigri (Giuseppe) 435.
Pike (Nicolas) 61.
Pindemonte 617. 651.
Pinetti 16.
Pingre (Alexandre Guy) 14. 407.
Pitiseus 10.
Pitot (Henri) 18.
Pittarelli (G.) 581. 589.
Pius VI. 644.
Platzmann 504.
Playfair (John) 19. 21. 89.
Poggendorff (J. C.) 6. 16. 17. 32. 34. 35.
133. 140. 332. 344. 351. 357. 361.
362. 375. 380. 383. 1048.
Polachse 531. 532.
Polarfläche, abwickelbare 532. 533.
Polarkoordinaten (das Wort) 513.
Polarkoordinaten 461. 476—478. 516.
Poleni 617.
Pollera (Domenico) 47.
Polyedrometrie 432.
Polygonometrie 431—433.
Polynomialsatz 205—206. 216. 260. 277.
284.
Poppe (J. H. M.) 29. 30.
Porro (Daniel) 83. 85.
Porta 30.
Porto (Vincenzo) 684.
Poselger 29.
Potel 107.
Potential 942.
Poudra 579.588. 590. 591. 595. 600. 602,
Powell (Will. Sam.) 92.
Praendel (Joh. Georg) 23. 52. 66. 67.
78. 82. 432.
Praetorius (Johann) 198.
Praktische Geometrie 360—375.
Prasse (Moritz von) 511.
Price (Richard) 240. 242.
Priestley (J.) 30.
Prieur 439. _
Primitivwurzeln (das Wort) 173.
Primzahlenverteilung 154—155. 170.
Pringsheim (Alfred) 447.
Prinzip der Symmetrie 341—343.
Proklus 322.
Prony (Riche de) 46. 129. 439. 440.
466. 1050. 1089.
Ptolemaeus (Klaudius) 416. 429. 582.
Ptolemaeus Euergetes 360.
Pund (0O.) 410.
Pythagoras 356.
Q.
Quadrateinesebenen Flächenstückes 545.
Quadrate der Wurzeldifferenzen 93.
Quadratrix 654.
Quadratur 493.
Quadratwurzel durch Kettenbrüche dar-
gestellt 156. 161.
Querard 63.
R.
Rahn (J. H.) 72.
Rallier des Ourmes (Jean Joseph) 170.
197.
Rampinelli (Ramiro) 19.
Ramus (Petrus). 323.
Raphson (Joseph) 147.
Raspes (R. E.) 17.
Rationale Trigonometrie 436—437.
Rationalisierung von Gleichungen 136.
Rauch (Gregor) 671.
Raumkoordinaten 521. 529.
Raumkurven 521—544.
Ravelli (Giuseppe) 380.
Reboul 355.
Reduite (das Wort) 110.
Rees (A.) 16.
Rees (Caspar Franz de) 50.
Reessche Regel 50. 51. 52. 53.
Regelflächen 535. 537. 545. 555. 571. 1021.
Regiomontanus 407.
Regula coecis 160. 166.
Regula potatorum 160.
Regula virginum 160.
Reiff 985.
Reihen 134. 135. 140. 145—146. 257 —
302. 417. 418. 425. 442—447. 466.
484. 496. 780—790. 874. 879. 888.
910—917. 919— 924. 927. 930; s. auch
Differentialgleichungen durch Reihen.
. Reihenkonvergenz 261-—262. 264. 265—
268. 275—276. 281. 285. 286. 293.
298.
Reihen (trigonometrische) 258—260.
264—268. 271. 275. 279. 291. 292.
297—299. 915. 945.
Reihenumkehrung 214—217. 258. 265.
272. 293.
Reimer (Johann) 54. 55.
Reimer (Nicolaus 'Theodor) 14. 28. 375.
Reinhold (Erasmus) 10.
Reitz (Wilh. Otto) 101.
Rektifikation 482—492. 520. 526. 540—
542. 693. 694. 794—804. 819—821.
833.
Rektifizierende Fläche 534.
Reliefperspektive 590.
Renner (J. A.) 16.
Register.
Rest der Taylorschen Reihe 690. 699.
Resultante (das Wort) 123.
Reynaud (Baron Antoine Andre Louis)
355.
Reyneau (Charles Rene) 115. 144.
Reziprozitätssatz 172. 185—187. 190 —
192.
Rhaetieus 10.
Riceardi (Pietro) 34. 678.
Riccati (Giordano) 152. 314. 485. 678.
686.
Riccati (Jacopo) 500. 655. 685.
Rieccati (Vincenzo) 152. 260. 261. 295.
411. 418. 457. 460. 506. 655. 676—
678. 724. 725. 732. 772. 779. 838. 839.
591. 1081. 1082.
Riccatische Differentialgleichung 843.
883. 900. 932. 935. 936. 937. 989.
990. 992. 996.
Riemann 712. 985. 1089.
Riemannsche Fläche 486.
Riese (Adam) 64.
KRingfläche 553.
Rittenhouse (David) 442.
Rivard 71.
Robertson (A.) 35. 617.
Robertson (John) 59. 169.
Roberval 511. 630.
Rochow (Freiherr Eberhard von) 53.
Rocca (Giannantonio) 19.
Röhrenflächen 552.
Rösselsprung 220.
Rogg (Ignatz) 4. 14. 1097. 1098.
Rohde 671. 672. 1098.
Roland 624.
Roland (Mdme.) 623.
Romano (Antonio) 376.
Romanus s. Van Roomen.
Rosenberger (F.) 44. 46.
Rosenthal (G. E.) 12. 24.
Rost (J. L.) 13.
Rothe (August) 215—216. 217. 219. 1089.
Rousseau (J. J.) 39. 42. 47.
Routh 473.
Rowe (John) 675.
Rowning (John) 144.
Roy (C.) 603.
Rozier (Francois) 5.
Rudolf (Christoph) 9. 24. 64. 67. 70.
Rückkehrkante 562.
Rüdiger (C. F.) 128.
Ruffini (Paolo) 110. 139—140. 418. 1083.
1091. 1095.
Rumowski 719. 720. 937.
Saccheri (Girolamo) 399—401.
Saladıni (Girolamo) 457—460. 482. 655.
670. 676—678. 725. 779. 838. 1081.
Salis (Peter von) 408.
Sansone (A.) 661.
Sanvitali (Federigo) 196.
1111
Saunderson (Nicol.) 59. 72. 82. 83. 130.
197.
Sauri (Abbe) 77. 82. 84. 425. 426. 671.
Saverien (Alexandre) 14. 612.
Schaffgotsch (Graf Franz) 98. 183.
Schattenlehre 531. 536. 683. 634.
Scheibel (Johann POERERR) 14. 15. 22.
31. 71. 75.
Scherffer (Carolo) 48. 71. 73. 425. 427.
Schlieben (von) 217.
Schmiedel 671.
Schmiegungsebene 527—529. 535.
Schmiegungsparaboloid 547.
Schönberg (von) 202. 206.
Schooten (Franeiscus van) 213.
Schrank (Franz von Paula von) 7.
Schraubenflächen 557. 633.
Schreiber (G.) 626.
Schubert (Friedr. 'T'heod. von) 136—137.
314. 586. 388. 416. 417. 429. 496.
503. 520. 521. 542. 575. 576. 700. 869.
1088. 1091.
Schubert (Hermann) 17.
Schultz (Johannes) 657—659. 687.
Schulze (Joh. Carl) 46. 436. 437. 1086.
Schur (J.) 611.
Schurig (G.) 53. 54. 62. 67.
Schut (Louis) 51.
Schwab (J. C.) 33. 322.
Schwarz (H. A.) 941.
Schwenter (Daniel) 361.
Sciographie 615.
Segner (Joh. Andreas) 74. 84. 141. 144.
190. 204—205. 424. 426. 649 —651.
672.
Seiz (G. F.) 699.
Sejour s. Dionis du Sejour.
Seki 446.
Senebier (Pierre) 62.
Sequenzen 235.
s Gravesande (Wilhelm Jakob) 594— 597.
604. 605. 618.
Sharp (Abraham) 299. 433. 434.
Sherwin 433.
Süberschlag (J. E.) 30.
Silicani (A. M.) 34.
Silvabella (Guillaume de Saint Jacques
de) 504.
Simon (H.) 114.
Simpson (Thomas) 36. 59. 73. 82. 84.
247
Simson (Robert) 33. 35. 80. 87.
324. 342. 350. |
Simultane Differentialgleichungen
952. 984. 986. 1030. 1031.
Singuläre Integrale S. Integrale (singu-
läre).
Singularitäten 475. 492. 494. 511.
—519. 534. 535. 876— 882. 886.
Slack (Mrs.) 57.
Smith (H. J. S.) 159.
Sommelius (Sven Gustaf) 131.
Sphärik 382—388.
322.
901.
517
1112
Sphärische Abbildung 527. 540.
Sphärische Ellipse 387. 388. 417. 542.
543.
Spinoza (B.) 22.
Stäckel (Paul) 388. 400—402. 540. 869.
942. 1033. 1095. 1098.
Stamford (H. W. J. v.) 657.
Stanhope 35.
Steiner (Jakob) 433.
Stepling (Joseph) 197.
Sterblichkeit 239.
Stereotomie 619.
Sterner (M.) 54. 67. 68.
Stevin (Simon) 430.
606.
Stewart (David) 19.
Stewart (John) 19.
Stewart (Matthew) 19.
Stifel (Michael) 9
Stirling (James) 231. 280. 281.
Stolz (O.) 652.
Strabbe (Arnoldus Bastian) 51. 73.
Sturm (L. C.) 22.
Stwrmscher Satz 142.
St. Vincentius (Gregorius von) 11. 411.
445.
Substitutionen als Integrationsmittel 899.
900. 901.
587. 588. 592.
958. 960. 963. 986. 991. 993. 994.
1008. 1013. 1020. 1024. 1046. 1057.
1059. 1062.
Substitutionstheorie 113.
Subtangente (Vorzeichen) 479.
Subtraktion 58. 63—64.
Summenrechnung 1047—1066.
Suter 1069.
Sutton (Thomas) 58.
Swinden (Jan Hendrik van) 203. 322.
Sylvester (James Joseph) 121—122, 142.
Symmetrisch gleiche Gebilde 341. 343.
Symmetrische Behandlung der Raum-
koordinaten 539.
Symmetrische Wurzelfunktionen 94.
T.
Tacquet (Andreas) 593. 603.
Tafeln (mathematische) 422. 423. 433 —
442. 1048. 1098.
Talleyrand 44. 363.
Tamberlicchi (A.) 34.
Tanzer (Josef) 51.
Targioni-Tozzetti (G.) 4
Tartaglia 115. 380.
Taylor (Brook) 108. 271. 351. 441. 597
—602. 605. 607. 618. 635. 664. 668.
686. 687. 695. 696. 698. 699. 879.
888. 916. 918. 930. 1058.
Taylor (Michael) 422. 439.
Taylors Reihe für mehrere Veränder-
liche 690.
Tehebycheff 721.
Tegman (Pehr) 131. 133.
Teilungsformeln elliptischerIntegrale 863.
903. 934. 936. 938. 939.
Register.
ge ag (G. F.) 73. 412. 413. 680.
687
Tenner (G. W.) 158.
Tessanek (Johann) 30. PP
183. 189. 435. 681.
Tetens (Joh. Nikol.) 91.
Tetraeder 523—525.
Tetragonometrie 430.
Theveneau (Charles Marie Simon) 74.
Thibaut (B. F.) 24. 315.
Thiele (T. N.) 317.
Thomson 58.
Tillet (Mathieu) 45. 364. 366.
Tinseau 535. 544. 545. 555. 556. 585.
586.
Tiraboschi 582—585.
Tobiesen (L. H.) 26. 643.
Töpfer (Heinr. Aug.) 215. 217—219.
Toreli (G.) 34. 35. 617. 618. 651—654.
658.
Torricelli 511.
Torsion 534. 535.
Townsend (Malcolm) 61.
Trail (William) 82.
Trajektorie 459—460. 508— 510.
Trajektorie im Raum 544. 555.
Traktorien 493. 508.
Tralles (Johann Georg) 422.
Tramonti 584.
Transzendenz von m 447—448. 503.
Trapp (Christian) 52. 53.
Trembley (Jean) 233. 234. 236. 237.
238. 242. 243. 295. 509. 866. 884—
886. 902. 908—910. 923—925. 951.
178—179.
952. 1014—1016. 1022. 1023. 1029.
1030. 1056. 1064.
Trenchant (J.) 62.
Trigonometrie 317. 337. 405—429. 528.
553. 707— 710.
Trigonometrische Funktion (das Wort)
413.
Tschirnhausen (von) 110. 111. 112. 115.
132.
Turgot 252. 371.
U.
Ugoni (Camille) 380.
Umdrehungsflächen 522. 540. 561.
Umkehrproblem 835.
Unbestimmte Formen 689. 700, 7179.
780. 920.
Unger (F.) 52. 53. 54.
V
Valentin (G.) 57. 62. 63. 75. 376.
Valentiner 315— 317.
Valentini (A. E.) 686.
Valette (Simeon Fagon) 426.
Valperga di Caluso (Tommaso) s. Caluso.
Vandermonde (Alexandre Theophile) 46.
114—115. 119. 120. 121—123. 129.
134. 366. 791. 792. 1085.
Van Eyck (Johann) 580.
Register.
Van Roomen (Adriaen) 11. 68.
Variation der Konstanten 919—927.
932. 961. 967. 971. 994. 1031. 1056.
Variationsrechnung (das Wort) 1069.
Variationsrechnung 515. 537. 538. 550.
694. 707. 904. 1055. 1066—1074.
Vaulezard 590. 610. 611.
Vega (Georg v.) 77. 437. 438. 442. 443.
461. 684. 1087. 1089.
Venema (Pieter) 60.
Ventretti (F.) 34.
Verfolgungskurve s. Traktorie.
Vertauschbarkeit der Differentiationsfolge
691. 1067.
Verzerrungen 593. 601.
Vesselovski 504.
Vielfache Integrale 738— 741.
Vieta (Franc.) 36. 323. 408. 436. 445.
Vignola s. Barozzi (Jacopo).
Vilant (Nicolas) 86.
Villaume (Peter) 53.
Vince (Samuel) 281—2833. 704.
Vinci (Lionardo da) 581.
Virey (J. J.) 107. 108.
Visierkunst 362. 370—375.
Vitruwius 593. 618. 620.
Vivanti (G.) 476. 486. 639—869. 1078.
Viviani 18. 34.
Vlack 438. 439.
Voigt (Johann Heinrich) 677.
Voltaire 252.
W;
Wahrscheinlichkeitsrechnung 221257.
Wales (W.) 35.
Walkingame (Francis) 58.
Wallis (John) 156. 161. 167. 169. 296.
446. 449. 1048.
Wallner (C. R.) 871—1074.
Wargentin 19.
Waring (Edward) 26. 92—95. 102. 105
—107. 113.114. 115. 116. 119. 124. 126.
130. 133. 134. 138. 142. 144. 147.
167. 168. 169. 275. 276. 285. 287.
291. 293. 62 468. 472— 475. 521. 522.
618. 910. 1049. 1080. 1082. 1083.
1085—1087. 1093. 1095.
Washington (George) 61.
Weber (E. von) 980.
Weber (Heinr.) 171.
Weidler (Johann Friedrich) 3. 13. 14.
56. 322.
Weigel (Erhard) 45.
Werner (Johannes) 10.
Wessel (Caspar) 315—318. 1090. 1095.
1096.
West (William) 675. 770. 771.
Whiston (William) 20.
Whiting (Thomas) 60.
Widmann (Joh. von Eger) 24.
1113
Wiedeburg (J. E. B.) 22.
Wiedemann (E.) 6.
Wiener (Christian) 579. 627.
Wilamowitz- Möllendorff 28.
Wilke (Christian Heinrich) 370.
Wilkinson (T. T.) 60.
Williamson (James) 324.
Willkürliche Funktionen 552. 555. 565.
570. 575. 790. 878—883. 898. 915.
945. 947. 949. 978. 980 —982. 989 —
992. 1000. 1004. 1007. 1014—1017.
1019. 1023. 1025. 1027. 1040. 1057.
Wilson (John) 92. 168. 169. 185.
Wilsons Satz 168. 185.
Winckelmann 32.
Wingate (Edmund) 57.
Winkelsumme des ebenen Dreiecks 396
—399.
Winterberg 501.
Witchell (George) 514.
Witelo 579. x
Wörterbücher 16.
Wolf (Christ. v.) 22. 56. 74. 77. 78. 86.
132. 321. 322. 409.
Wolf (F. A.) 32.
Wolf (Rudolf) 15. 31. 44. 602.
Wolfram 299. 436. 438.
Wood (James) 76. 107. 138—139.
Woodhouse (Robert) 88.
Wordsworth (C.) 59. 80.
Würfelverdoppelung 28.
Wurzelbau (J. P. von) 13. .
Wurzeldifferenzen 130. 142. 143. 147.
Wurzelsummen 130. 133.
Wydra (St.) 20. 21. 671. 684.
ne
Ximenes (L.) 34.
u
Yasujima 446.
2.
Zach (Franz Xaver von) 6. 21. 214.
Zahlentheorie 24. 153—198. 236.
Zahlwörter 43. 44. 62. 63.
Zamberti (Johann) 583.
Zanotti (Eustachio) 603—606. 614. 618.
Zanotti (Franc. Maria) 151. 196.
Zebrawskiego (Teofila) 376.
Zeitschriften 3. 4—T. 50. 54. 55. 59—
60
Zelbr (K.) 632.
Zentralprojektion 522. 537.
Zeuthen (H. G.) 35. 426. 473.
Zirkelgeometrie 380.
Zurückweisung gewisser Arbeiten durch
die Pariser Akademie 377—378.
Zykloide 514.
Zylinderflächen 560. 561.
Zylinderfunktionen 911. 912.
Druck von B. G. Teubner in Leipzig.
Verlag von B. 6. Teubner in Leipzig und Berlin.
Ahrens, Dr. W., in Magdeburg, mathematische Unterhaltungen und Spiele.
b u. 428 S.] gr. 8. 1901. In Original-Leinwandband mit Zeichnung von
.Bürck in Darmstadt. In Leinwand geb.n. 4. 10.— (Auch in Hälften brosch.,
jede n. # 5.—)
Kleine Ausgabe. Mit einem Titelbild und 69 Figuren im Text. Band 170
der Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen: „Aus Natur
und Geisteswelt“. [VIu.118S.] 8. 1907. geh.n. #1.—, in Leinwand geb.n. 4.1.25.
—— —— Scherz und Ernst in der Mathematik. Geflügelte und ungeflügelte
Worte. [X u. 522 S.] gr. 8. 1904. In Leinw. geb. n. M 8.—
— (0.6. J. Jacobi als Politiker. Ein Beitrag zu seiner Biographie. (Er-
weiterter Sonderabdruck aus „Bibliotheca Mathematica“. 3. Folge. VII. Band.)
[45 8.] gr. 8. 1907. geh. n. M. 1.20.
Archimedes. Eine neue Schrift des Archimedes. Von Dr. J. L. Heiberg und
Dr. G. H. Zeuthen, Professoren an der Universität Kopenhagen. (Sonderabdruck
aus: Bibliotheca Mathematica. 3. Folge, VII. Band.) [II S. 321 bis S. 363.] Lex.-8.
1907. geh. n. M. 1.60.
Bonola, Roberto, Professor an der Scuola Normale zu Pavia, die nichteuklidische
Geometrie. Historisch-kritische Darstellung ihrer Entwicklung. Autorisierte
deutsche Ausgabe. Besorgt von Professor Dr. Heinrich Liebmann. Mit
76 Figuren im Text. [VII u. 245 S.] 8. 1908. In Leinwand geb. n. #. 5.—
Bopp, Dr. Karl, Privatdozent an der Universität Heidelberg, die Kegelschnitte
des Gregorius a St. Vincentio in vergleichender Bearbeitung.
A.u.d.T.: Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften
mit Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor. XX Heft.
2. Stück. Mit 329 Textfiguren. [III u. 228 S.] gr. 8. 1907. geh. n. # 10.—
Diophantus, des, von Alexandria Arithmetik und die Schrift über Poly-
gonalzahlen. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von G, Wertheim.
x] u. 346 S.] gr. 8. 1890. geh. n. M. 8.—
Euklid und die sechs planimetrischen Bücher. Mit Benutzung der Textausgabe
von Heiberg. Von Dr. Max Simon, Professor an der Universität Straßburg ıi. E.
A.u.d.T.: Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften
mit Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor. XI. Heft.
Mit 192 Figuren im Text. [VII u. 141 S.] gr. 8 1901. geh. n. M.5.—
Galilei, Galileo, Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme,
das Ptolemäische und das Kopernikanische. Aus dem Italienischen übersetzt
und erläutert von Emil Strauß. [LXXXIV u. 586 8.] gr.8. 1891. geh.n. 4 16.—
Gauß, Carl Friedrich, und Wolfg. Bolyai, Briefwechsel. Mit Unterstützung der
Kgl. Ungarischen Akademie der Wissenschaften herausgeg. von Franz Schmidt
und PaulStäckel. [XVIu.2088.] 4. 1899. In Halbkalblederband n. 4. 16.—
Leibniz, G. W., nachgelassene Schriften physikalischen, mechanischen
und technischen Inhalts. Herausgegeben und mit erläut. Anmerk. versehen
von Dr. E. Gerland, Professor an der Kgl. Bergakademie zu Clausthal. Mit
200 Figuren im Text. [VI u. 256 S.] gr. 8. 1906. geh. n. M 10.—
Lobatschefskij, N. IL, imaginäre Geometrie und Anwendung der imagi-
nären Geometrie auf einige Integrale. Aus dem Russischen übersetzt
und mit Anmerkungen herausgegeben von Dr. Heinrich Liebmann, Professor
an der Universität Leipzig. A. u.d. T.: Abhandlungen zur Geschichte
der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen. . Begründet
von Moritz Cantor. Heft XIX. Mit 39 Figuren im Text und auf einer Tafel.
[XI u. 187 S.] gr. 8. 1904. geh. n. M 8.—
Verlag von B. G. Teubner Leipzig und Berlin.
Loria, Dr. Gino, Professor der höheren Geometrie an der Universität Genua, die
hauptsächlichsten Theorien der Geometrie, in ihrer früheren und
jetzigen Entwickelung. Historische Monographie. Unter Benutzung zahl-
reicher Zusätze und Verbesserungen seitens des Verfassers ins Deutsche über-
tragen von Fritz Schütte, Oberlehrer am Gymnasium zu Düren. Mit einem
Vorworte von Professor R. Sturm. [VI u. 132 8.) gr. 8. 1888. geh.n. #3.—
Müller, Dr. Conrad H., in Göttingen, Studien zur Geschichte der Mathematik,
insbesondere des mathematischen Unterrichts an der Universität Göttingen im
18. Jahrhundert. Mit einer Einleitung: Über Charakter und Umfang historischer
Forschung in der Mathematik. (Sonderabdruck aus dem XVIII. Heft der Ab-
handlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer
Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor.) [928.] gr.8. 1904. geh.n. 4.2. —
Müller, Dr. Felix, Professor in Friedenau, Karl Schellbach. Rückblick auf sein
wissenschaftliches Leben. Nebst zwei Schriften aus seinem Nachlaß und Briefen
von Jacobi, Joachimsthal und Weierstraß. Mit einem Bildnis Karl Schellbachs.
A. u. d.T.: Abhandlungen zur Geschichte der: mathem. Wissenschaften mit
Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor. XX. Heft.
[86 S.] gr. 8. 1905. geh. n. M 2.80.
Neumann, Franz, gesammelte Werke. In 3 Bänden. I. Band. Bei der
Herausgabe dieses Bandes sind tätig gewesen die Herren: E. Dorn (Halle),
O.E. Meyer (Breslau), ©. Neumann (Leipzig), 0.Pape (früher in Königsberg),
L.Saalschütz (Königsberg), K. Von der Mühll (Basel), A.Wangerin (Halle),
H. Weber (Straßburg). Mit einem Bildnis Franz Neumanns aus dem 86. Lebens-
jahre in Heliogravüre. [XVI u. 620 S.] gr. 4. 1906. geh. n. M. 36.—
Rudio, Dr. F., Professor am Polytechnikum zu Zürich, Geschichte des Problems
von der Quadratur des Zirkels von den ältesten Zeiten bis auf unsere
Tage. Mit vier Abhandlungen (in deutscher Übersetzung) über die Kreismessung
von Archimedes, Huygens, Lambert, Legendre. Mit Figuren im Text.
[VII u. 166 S.] gr. 8. 1892. geh. n. M 4.—, in Leinwand geb. n. M. 4.80.
Simon, Dr. Max, Professor an der Universität Straßburg i.E., über die Entwick-
lung der Elementar-Geometrie im XIX. Jahrhundert. Bericht erstattet
der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. A.u.d.T.: Jahresbericht der Deutschen
Mathematiker - Vereinigung. Ergänzungsband I. Mit 28 Figuren im Text.
[VII u. 278 S.] gr. 8. 1906. geh. n. M. 8.—, in Leinw. geb. n. M 9.—
— Methodik der elementaren Arithmetik in Verbindung mit
algebraischer Analysis. Mit 9 Textfiguren. [VI u. 108 S.] gr. 8. 1906.
In Leinwand geb. n. M. 3.20.
Urkunden zur Geschichte der Mathematik im Altertum. 1. Heft: Der Bericht
des Simplicius über die Quadraturen des Antiphon und des Hippo-
krates. Griechisch und deutsch von Ferdinand Rudio. Mit einem historischen
Erläuterungsbericht als Einleitung. Im Anhange ergänzende Urkunden, verbunden
durch eine Übersicht über die Geschichte des Problemes von der Kreisquadratur
vor Euklid. Mit 11 Figuren im Text. [X u. 184 S.] 8. 1907. kart. n. #. 4.80.
Verneri, Joannis, de triangulis sphaericis libriquatuor, demeteoroscopiis
libri sex, cum prooemio Georgii loachimi Rhetici. I: De triangulis
sphaericis libri quatuor, herausgegeben von Axel Anthon Bjoernbo in
Kopenhagen. A.u.d. T.: Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen
Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz
Cantor. Heft XXIV, 1. Mit dem Titelbilde Joh. Wermers, 12 8. Wiedergabe
der Einleitung der Originalausgabe von Cracau 1557 und mit 211 Figuren im
Text, [II u. 184 S.] gr.8. 1908. geh. n. # 8.—
Zeuthen, Dr. H. G., Professor an der Universität Kopenhagen, Geschichte der
Mathematik im 16. und 17. Jahrhundert. Deutsch von Raphael Meyer.
A. u. d. T.: Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften
mit Einschluß ihrer Anwendungen. Begründet von Moritz Cantor. Heft XVII.
[VIII u. 434 S.] gr. 8. 1903. geh. n. #. 16.—, in Leinw. geb. n. M. 17.—
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