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PROF. DR. GASTON RAPHAEL (PARIS)
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Seine Gedanken und Entwürfe zu einer Wirtschafts-
organisation auf philosophischer und national-
ökonomischer Grundlage nebst einer Blutenlese der
fundamentalsten Thesen aus seinen gesamten Schriften
In
deutscher Bearbeitung
und mit kritischen Anmerkungen
Oetsehen von Dr. Rudolf Berger (Berlin)
Korresp. Mitglied d. Französischen
Akademie d. Wissenschaften
und Künste zu
Arras
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VERLAG
ERNST LITFASS' ERBEN, BERLIN C19
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Vorrede des französisch. Bearbeiters
VY/ alther Rathenau ist für das französische Publikum
* * kein Unbekannter. Bekanntlich hat er als einer
der ersten Großindustriellen Deutschlands auch im Kriege
eine ganz hervorragende Rolle gespielt. Bekanntlich hat
er auch zahlreiche Schriften über die wirtschaftlichen
Fragen veröffentlicht. Auch unsere Zeitschriften und
Tagesblätter haben sich beeilt, eine kurze Charakteristik
seiner Ansichten zu geben, ja sogar schon manches zu-
sammenhängendere volkswirtschaftliche Werk hat seine
Theorien herangezogen und zur Erörterung gestellt1).
Die Ueberraschung darüber wird vielleicht ebenso
lebhaft sein wie die, daß schon jetzt eine Studie über
diese bedeutende deutsche Persönlichkeit und deren Zu-
kunftspläne erscheint. Haben wir die Deutschen wirklich
dazu eben bekämpft, um uns schon jetzt wieder in ihre
Schule zu begeben? Wollen wir schon wieder mit ihnen
anfangen, ehe noch die Waffen endgültig niedergelegt zu
sein scheinen? Und warum nun noch dazu diesen Mann
wählen, auf dem fraglos der Vorwurf lastet, die schreck-
liche Plünderung Belgiens und Nordfrankreichs reglemen-
tiert zu haben? Und was soll es wohl auch, in unsere
schon so bitteren wirtschaftlichen Streitigkeiten nun
noch den preußischen Feldwebelstandpunkt zu bringen,
den er im Rufe steht, so gut zu vertreten?
') S. namentlich verschiedene Kapitel in dem gediegenen und nütz-
lichen Werke von Antoine de Tarle „La Preparation de la Lutte Econo-
mique par l'Allemagne" (Payot, Paris 1919).
Im folgenden kurz die Gründe, die uns gleichwohl
bestimmt haben, diese Arbeit zu unternehmen.
Deutschland ist besiegt und hat auch für die voraus-
sichtliche nächste Zukunft seine überwiegende Stellung
in der Welt eingebüßt; wir können uns dazu gar nicht
genug Glück wünschen. Aber wir dürfen auch nicht
seinen vorher so glänzenden Aufschwung vergessen, dem
es Eigenschaften verdankt, die unmöglich in einem einzi-
gen Tage verschwunden sein können. Es wird sich ver-
kleinern, aber nicht vom Erdboden auszulöschen sein! Die
eifrigsten Anstrengungen von 60 Millionen Einwohnern
werden danach streben, ihm sobald wie möglich wenigstens
einen Teil seines verlorenen Glückes wiederzugeben; die
Wahlen, die Erörterungen der Nationalversammlung zu
Weimar, die Bekämpfung der Förderer der Unordnung,
insbesondere des bösen Willens in der Ausführung der
wirtschaftlichen Klauseln des Waffenstillstandes und dann
des Friedensvertrages beweisen deutlich, daß dieses Volk
vor allem wünscht, seine Industrie- und Handelstätigkeit
wiederaufzunehmen. Ob wir es wünschen oder nicht,
wir werden doch bald wieder diesem gefährlichen Kon-
kurrenten ins Auge sehen müssen. Es handelt sich nun
etwa nicht darum, uns über seine Lebenskraft und seine
Methoden in Aufregung zu versetzen und sie um jeden
Preis mechanisch nachbilden zu wollen, sondern es
kommt vor allem darauf an, daß wir wissen, daß Deutsch-
land täglich und stündlich diesen Nachkrieg mit derselben
Sorgfalt und demselben Ehrgeiz vorbereitet, wie es das
in dem eigentlichen Kriege getan hatte1). Es gilt um
unserer Zukunft willen, uns das ohne Zögern ernstlich
klar zu machen.
*) Ein deutscher Volkswirtschaftslehrer S. Herzog hat über diese Frage
ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Der Handelskriegsplan Deutsch-
lands" veröffentlicht, ein Werk, das bereits von A. de Tarle* ins Französische
übersetzt ist (Payot, Paris 1919).
Den deutschen Kriegsbrandschatzungen und anderen
deutschen Gewalttätigkeiten gegenüber, wie sie im Kriege
vorgekommen sind, ist kein Schwanken möglich; wir
teilen die Entrüstung und das Entsetzen, das sie bei allen
Menschen, die überhaupt noch ein Gewissen haben,
erregen. Ein auf Grund des Friedensvertrages einzu-
setzender besonderer Gerichtshof wird wohl auch mög-
licherweise über einen Walther Rathenau abzuurteilen und
ihn dann entweder zu verdammen oder die Rechtfertigung,
die er bereits jetzt der Oeffentlichkeit zu geben begonnen
hat, als völlig begründet anzuerkennen haben. Wir Fran-
zosen nun sind soweit davon entfernt, über diese Ver-
handlungen hinweggleiten zu wollen, daß wir sie im Ge-
genteil immer wieder bekanntgeben werden. Sollten sie
etwa dazu geschaffen erscheinen, die Sympathie zu er-
sticken, so laden sie doch hinwiederum auch andererseits
ein, einen solchen Gegner zu studieren und ihm um so
freier ins Gesicht zu schauen, je gefährlicher er anzu-
sehen ist.
Aber auch unter einem anderen Gesichtspunkte
darf die Haltung Walther Rathenaus während des Krieges
nicht von der Prüfung seiner Theorien ablenken. Es
wäre wirklich recht ungeschickt, seine persönliche Be-
fähigung in Zweifel ziehen zu wollen. Es ist doch zu
bedenken, daß hier derjenige, der uns etwas über wirt-
schaftlichen Wiederaufbau zu sagen hat, gleichzeitig auch
der Leiter von industriellen Unternehmungen ist, die zu
den ersten Deutschlands zählen, und ein Mann, der die
Dinge und die Menschen zu beobachten, nachzudenken,
seine Blicke über das alltägliche industrielle Leben hin-
wegschweifen zu lassen und die materiellen Fragen unter
einem philosophischen Gesichtspunkte zu betrachten ver-
steht. Seine sehr ausgedehnte Tätigkeit stammt nicht
erst von heute und gestern, sondern bereits von langer
Zeit her. Er hat nicht erst die durch den Krieg hervor-
gerufenen unnormalen Schwierigkeiten abgewartet, um
nun auch von sich aus eine Lösung für die großen sozialen
Probleme bringen zu wollen. Seine bedeutendsten Werke
sind schon vor dem Jahre 1914 entworfen, geschrieben
oder veröffentlicht worden.1) Der Wert seiner Reform-
pläne übersteigt um ein beträchtliches den Wert der
vielen kleinen Notbehelfe, wie sie sich aus den jeweiligen
zufälligen Bedürfnissen der Stunde und des Tages ergeben.
Als Geisteserzeugnisse eines Fachmannes und Denkers in
einer Person haben sie die doppelte Eigenart: nämlich
einmal eine allgemeine Bedeutung zu haben und dann
wieder: nicht etwa bloß im Gebiete der Theorie stecken
zu bleiben. Möge das Werk Walther Rathenaus in einem
vollen oder teilweisen Umfange bereits morgen oder auch
erst später zur Durchführung kommen, es trägt höchst-
wahrscheinlich in wirksamer Weise zum Wiederaufbau
Deutschlands bei und ermöglicht ihm ebenso wahr-
scheinlich seinen wirtschaftlichen Kampf aufs neue erfolg-
reich bestehen zu können. Wie sollte es da von uns
ignoriert werden dürfen?
Doch sein preußischer Feldwebelstandpunkt? Nun,
den können wir ihm ruhig gönnen! Es tut wenig für uns,
wenn auch selbst in seinem Werke hiervon etwas spuken
sollte. Wir können uns für seine Ideen inter-
essieren, ohne uns deshalb seiner Methode zu beugen.
Walther Rathenau gilt auch im eigenen Lande nicht etwa
als Prophet: eine ganze Partei lehnt sich hier gegen die
diktatorische Art auf, mit der er, wenn wir den Vor-
würfen seiner Gegner glauben dürfen, gar zu gern vor-
gehen möchte, ja bekämpft selbst seine Lehre leiden-
') „Zur Kritik der Zeit" stammt aus dem Jahre 1912, „Zur Mechanik
des Geistes" aus dem Jahre 1913. „Von kommenden Dingen" erschien
erst 1917, doch die beiden ersten Kapitel dieses Buches waren bereits
zur Zeit des Kriegsausbruches abgefasst. Walther Rathenau nahm es im
Jahre 1916 wieder auf, um es noch in demselben Jahre zur Vollendung
zu bringen. Im wesentlichen auf Grund dieser drei Werke wollen wir
im folgenden seine Theorien darlegen, immer bestrebt ihm möglichst oft
und möglichst in seiner Sprache persönlich das Wort zu erteilen.
G
schaftlich und versteigt sich sogar zu der Behauptung,
daß Deutschland seine Rettung auf Bahnen suchen müsse,
die den seinen gerade zuwiderlaufen! Sollten wir uns
durch die bloße Auseinandersetzung seiner Theorien
mehr binden als die Deutschen selbst? Keineswegs!
Doch wir können so folgern: Der Krieg hat die sozialen
Schwierigkeiten außerordentlich verschärft; sie verlangen
eine Lösung bei uns ganz ebenso, wie bei allen gesitteten
Völkern. Was dabei einzusetzen ist, fällt schwer genug
in die Wagschale, als daß nicht jede einzelne Entschei-
dung mit der ernstesten Erwägung gefaßt werden müßte.
Von einem Manne von der Bedeutung eines Walther
Rathenau haben wir ein Urteil zu erwarten, das stets an
erster Stelle in Betracht gezogen zu werden verdient.
Wir werden niemals sein Urteil einfach ohne jede Erör-
terung hinnehmen! Doch warum sollten wir es nicht
anhören, und zwar mit um so größerer Aufmerksamkeit,
je leidenschaftlicher und verwirrter unsere eigenen
Debatten werden.
Der französische Verfasser
(G. R.)
Vorrede des deutschen Bearbeiters
YY/ as haben die Franzosen über unseren neuen Wieder-
** aufbauminister den Präsidenten der „Allge-
meinen Elektrizität s- Gesellschaft" und
hervorragenden volkswirtschaftlichen, politischen, kultur-
historischen und philosophischen Schriftsteller, den führen-
den deutschen Elektrotechniker und Großindustriellen
von Weltruf, Dr. Walther Rathenau zu sagen?
Auch ein französischer nationalökonomischer Fachmann
der Pariser Universität, Prof. Dr. Gaston Raphael, sieht
die in W. Rs. Schriften dargelegten volkswirtschaft-
lichen Lehren für das gesamte Wirtschaftsleben
Europas und der Welt nach dem Kriege (bei aller
strengen, unparteilichen, ja unerbittlichsten Kritik ge-
genüber einigen dem Pariser Schriftsteller als , .Ent-
gleisung" erscheinenden kriegsorganisatorischen Maß-
nahmen des Berliner Volkswirtschaftlers) als so vorbild-
lich an, daß er Rathenaus Biographie nebst Darstellung
seiner Lehren eine beides ausgezeichnet zusammen-
fassende kritische Monographie gewidmet hat! Was
könnte im gegenwärtigen Augenblick, aber auch für die
weiteren Jahrzehnte des Wiederaufbaues unseres Wirt-
schaftslebens ein größeres Interesse beanspruchen als
eine deutsche Bearbeitung dieses französischen Werkes?
Den deutschen Bearbeiter durchbebte beim Studium der
zahlreichen und voluminösen Bände Rathenaus, grad
ebenso wie augenscheinlich den französischen Kollegen,
8
eine himmlische Wonne, wie sie der deutsche Bearbeiter
ähnlich nur beim einsamen Lesen der Bergpredigt und
wohl auch einiger weniger prophetischer Stellen des
Alten Testamentes sowie einiger ursprünglicher buddhisti-
scher Ausführungen empfunden zu haben glaubt. Ja, es war
eine himmlische Wonne zu empfinden, wie dieser „dezi-
dierte" ,,Jude" Walther Rathenau, wenn er eine Grund-
lage für den Aufbau deutscher wie internationaler Kultur
und Wirtschaft sucht, sich überall laut und offen zur An-
schauung der Lehre seines großen Stammesgenossen, des
sich nicht mit dem alltäglichen engen Horizonte seines
kleinen Völkchens begnügenden Nazareners schon in
jenen Unglücksjahren 1914 — 1918 bekannte, wo die An-
schauung vom Auserwähltentume beim gegenwärtigen
Volke Rathenaus genau so verhängnisvoll gewirkt hat,
wie vor nun bald zweitausend Jahren die Lehre des Na-
zareners bei dessen einstiger und Rathenaus ursprüng-
licher Volksgemeinschaft! Möge mir der tiefe Denker
Walther Rathenau verzeihen, wenn auch ich mir bei
meinen bescheideneren Ansprüchen an mich selbst vom
Standpunkte meiner mir gewiß schwer, doch unabänder-
lich erworbenen und durch die Erfahrungen des Welt-
krieges besiegelten Weltanschauung aus, die übrigens
zum mindesten in den allerletzten Zielen mit der Walther
Rathenaus weithin übereinstimmt, doch ebenso, wie unser
so deutschfreundlicher und deutschempfindender Franzose,
nun auch als Deutscher, der nun einmal auch schon für die
Gegenwart als um ein ganz bedeutendes, .radikaler" bezeich-
net zu werden beansprucht und darin einen vielleicht unbe-
rechtigten persönlichen Stolz empfindet, in der bescheide-
nen Form kritischer Anmerkungen einige Einwendungen
gegen Walther Rathenau, soweit sie die Sozialdemokratie
in ihrer heutigen Anschauung angehen, zu machen erlaubt
habe. Letzten Endes ist ja dieser „Demokrat" auch schon
für die Gegenwart auf weiten Strecken sozialistisch und
wird das gar nicht bestreiten! Darauf aber, sich mit Ra-
tbenaus tiefgründigen Ausführungen und Auffassungen
sachlich auseinanderzusetzen muß auch der überzeugte-
ste Nationalist von rechts den größten Wert legen, wenn
anders er Anspruch macht, sich als einen wahren Deut-
schen, Christen und Menschen bezeichnen zu dürfen und
nicht als heilloser Fanatiker gelten will!
Berlin, Sonntag, den 3. Juli, bei — ach! — jetzt so seltenem
Sonnenschein.
R. B.
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10
Werke von Walther Rathenau
Im Jahre 1918 hat Walther Rathenau eine Gesamt-
ausgabe seiner Werke in fünf Bänden erscheinen lassen.
Sie umfaßt seine bedeutendsten Schriften und auch die
sei es in, sei es vor dem Kriege erschienenen gelegent-
lichen Broschüren oder Artikel, die er eines Platzes in
derselben gewürdigt hat. Unsere Angaben sind auf Grund
dieser Ausgabe unter Anwendung folgender Abkürzungen
gemacht:
Band I: Zsir Kritik der Zeit (K. I.)
Band II: Zur Mechanik des Geistes . . . (M. II.)
Band III: Von kommenden Dingen .... (D. III.)
Band IV: Aufsätze. Frühere Schriften
Band V: Reden und Schriften aus der Kriegszeit:
Deutschlands Rohstoffversorgung (R. V.)
Probleme der Friedenswirtschaft (P. V.)
Eine Streitschrift vom Glauben . (S. V.)
Vom Aktienwesen (A. V.)
Die neue Wirtschaft (W. V.)
Darüber hinaus sind auch noch zwei Streitschriften
nach Veröffentlichung der oben erwähnten Gesamtaus-
gabe erschienen. Es sind:
Zeitliches ( 85 S.)
An Deutschlands Jugend (127 S.)
11
Kapitel I.
Ein Idealist unter den Industriellen
Die einflußreiche „Allgemeine Elektrizi-
iäts-Gesellschaf t'V) die gegenwärtig unter der
Leitung von Walther Rathenau steht, ist im Jahre 1883
von seinem Vater, Emil Rathenau, begründet worden.
Einige Zahlen mögen genügen, den Eindruck ihres
geradezu märchenhaften Aufstieges bis zum Jahre 1914
anschaulich zu machen.
Das ursprüngliche Kapital belief sich auf 5 Millionen
Mark. Durch dauernde Erhöhungen, die von 1897 an
besonders stark gewesen sind, ist es im Jahre 1914 bis
auf 189 Millionen gestiegen. Unter Zurechnung der
durch die Obligationen und die anderen Hilfsquellen ge-
währten Kapitalien verfügt die Gesellschaft für ihre ver-
schiedenen Unternehmungen über Summen, die über
die 400 Millionen hinausgehen.
Ursprünglich war die Aufgabe der Gesellschaft die
Herstellung der elektrischen Lampen nach dem System
Edison. Sie war vertraglich mit der Firma Siemens
& Halske verbunden, die sich den Bau der Maschinen
und Apparate vorbehielt. Seit 1884 interessierte sie sich
für die Anlagen elektrischer Straßenbahnen und
gründete in den verschiedenen deutschen Großstädten
Baubüros. Im Jahre 1894 wurde der Vertrag gelöst, und
Emil Rathenau konnte seine Tätigkeit nunmehr auf das
gesamte Gebiet der Elektrizität ausdehnen. Heute stellt
*) Meist abgekürzt „A.E.G." genannt.
13
die Gesellschaft nicht nur einfache elektrische Lampen
und Apparate, sondern auch ganze Kabel, Turbinen,
Lokomotiven, Eisenbahnsignale, Motore (123 162 allein
in den Jahren 1913 — 1914, die insgesamt eine Kraft von
1 840 273 Kilowatts darstellen), Heizapparate in ihren
zehn großen Riesenwerkstätten her, Werkstätten, die
insgesamt eine Fläche von über eine Million Quadrat-
meter bedecken. Doch sie ist nicht einmal dabei stehen
geblieben. Sie unternimmt auch den Bau von elek-
trischen Eisenbahnen in Deutschland wie in allen Teilen
der Welt, und wir finden sie ganz ebenso in den Straßen-
bahnen von Berlin, Hamburg, Jassy wie in der Hoch- und
Untergrundbahn von Berlin oder in den Eisenbahnen des
Teufelshörnerhochgebirges, des Lötschberges von Turin,
des Borinage-Bezirkes, von Japan oder auch von Pampe-
lona. Ihre verschiedenen Büros oder Filialen beliefen
sich auf die Zahl 47 für Deutschland und 148 für die ge-
samte übrige Erde, nicht zu reden von ihrer Beteiligung
an zahlreichen anderen Gesellschaften. In den letzten
Jahren endlich hat sie noch das Feld ihrer Tätigkeit aus-
gedehnt; so baut sie seitdem auch Schreibmaschinen,
Automobile, Marinemotoren — sie hat im Jahre 1916
ganz riesige Seewerften erworben — und Flugapparate.
Ueber 66 000 Arbeiter und Angestellte fanden im Jahre
1914 insgesamt bei diesen Arbeiten Beschäftigung.
Es ist möglich, daß Unternehmungen, wie die von
Krupp, Thyssen und in Frankreich Schneider-Creusot
in bezug auf den Umfang der von ihnen hergestellten
Erzeugnisse, die von einem solchen Betriebe benötigten
Arbeitskräfte und die diesen Erzeugnissen vorbehaltene
Verwendungsmöglichkeit einen noch weiteren Weltruf
haben. Die A. E. G. scheint ihnen jedoch in den großen
Wettrennen dicht auf den Fersen zu folgen, wenn nicht
gar sie zu überholen, wenigstens, was die Höhe ihrer
Geschäfte betrifft, die jährlich über eine volle Milliarde
hinausging. Tausende und aber Tausende von kleinen
14
Objekten rechnen schließlich auch; jedenfalls haben sich
die deklarierten Gewinne der Gesellschaft für das Rech-
nungsjahr 1914—1915 auf 21298 115 Mark und für das
Rechnungsjahr 1915—1916 auf 27 193 409 Mark erhöht.
Wie sich nun auch in Zukunft das Schicksal der A. E. G.
gestalten sollte, es erübrigt sich nach alledem noch ein-
mal besonders die beruflichen Fähigkeiten hervorzu-
heben, die der Chef eines Hauses von solcher Aus-
gedehntheit möglicherweise besitzen konnte, wie auch
notwendigerweise mußte.
Wer übrigens die wesentlichen Züge aus dem Ge-
samtbilde einer Persönlichkeit wie Walther Rathenau
herauszufinden und auf die Ursprünge seiner Theorien
zurückzugehen sucht, für den kommt es weniger darauf
an, der Entwicklung des Weltunternehmens der A. E. G.
nachzugehen, als vielmehr jenen eigenartigen Charakter
kennen zu lernen, den diesem Unternehmen Emil Ra-
thenau und auch sein Sohn allmählich aufgedrückt
haben.
Emil Rathenau hat den Anfang einer Autobiographie
hinterlassen, in der er den ersten Teil seines Lebens
erzählt. Wiewohl sein Vater nur ein einfacher Berliner
Handeltreibender war, gehörte er doch schon damals
einer recht namhaften Industriellenfamilie an. Sein
Großvater Liebermann rühmte sich mit Stolz, mit einem
englischen Monopol ein für allemal gebrochen zu haben,
indem er in seinem Vaterlande Preußen die mechanische
Bedruckung von Kattunstoffen mit den verschiedensten
Mustern heimisch machte und stellte sich eines Tages
dem Könige Friedrich Wilhelm IV. mit folgenden Worten
vor: ,,Ich bin der Liebermann, der die Engländer vom
Kontinent verjagt hat!" Sein Oheim setzte Hüttenwerke
bei Sprottau in Betrieb. Sein Vetter, Karl Liebermann,
sollte der Einführer der Anilinindustrie in Deutschland
werden, während er selbst ja, wie bekannt, der Schöpfer
der deutschen Elektrizitätsindustrie werden sollte.
15
Aber es geschah das nicht auf einen Schlag ohne
lange Tastversuche und vielfache Schwierigkeiten. Kurz
nach Emil Rathenaus Geburt i. J. 1838 hatte sich sein
Vater vom Geschäft zurückgezogen. Gleichwohl ließen ihm
seine weltlichen Zerstreuungen nicht die Muße, sich um
die Erziehung seines mehr begabten als lernbegierigen
Sohnes zu kümmern. Die Revolution des Jahres 1848
machte einen tiefen Eindruck auf das Gemüt des zehn-
jährigen Knaben, der aus dem Hause davongelaufen war,
nur um dem Bau der Barrikaden und dem Kampfe auf
dem Monbijouplatze beizuwohnen. Die Wahl eines Be-
rufes beunruhigte ihn wenig. Auf die Einladung seines
Onkels trat er in das Hüttenwerk von Sprottau ein. Nach
Verlauf von vier und ein halb Jahren wurde er dieser
rein praktischen Tätigkeit überdrüssig und gab sie auf,
um nunmehr das Polytechnikum zu Hannover zu be-
ziehen. Die Zusammenstöße zwischen den Preußen und
den Weifen veranlaßten ihn, nachdem er in Studenten-
versammlungen, um seine Kommilitionen zur Verteidigung
ihrer Freiheit zu ermutigen, das Wort ergriffen hatte,
sich nunmehr an dem Polytechnikum zu Zürich imma-
trikulieren zu lassen. Obgleich er an den Festlichkeiten
der Stadt einen reichen Anteil nahm, verfertigte er doch
eine Diplomarbeit, für die er die beste Note erhielt. Nun
nimmt er eine Anstellung in den Borsigschen Werk-
stätten für Metallkonstruktion mit einem Monatsgehalte
von 25 Talern an. Er würde sich schon damit begnügt
haben, wenn ihm seine Beschäftigung nicht so furchtbar
theoretisch erschienen wäre; immer nur schematische
Zeichnungen und geradezu ein Verbot, die Werkstätten
zu betreten, die ihn doch gerade anziehen. Er begibt
sich nach London, wo ihn „der riesenhafte Verkehr buch-
stäblich elektrisiert** und wo er in mehreren Häusern
arbeitet, deren eines die erste Maschine mit einer
Spannung von 1000 Pferdekräften für das englische
16
Kriegsschiff „Bellerophon" erbaut und von denen ein
anderes sich mit Erfindungspatenten beschäftigt.
Zwei Jahr später kommt er wieder nach Berlin zu-
rück, fühlt sich in seiner Vaterstadt wohl und sucht sich
hier eine Zukunft aufzubauen. In Gemeinschaft mit einem
Jugendfreunde gründet er eine kleine Maschinenfabrik.
Die Räumlichkeit, ein ehemaliger Tanzsaal, dient den bei-
den Anfängern gleichzeitig als Wohnstätte; die Einrichtung
ist dürftig; ein im Keller aufgestellter Dampfkessel liefert
die erforderliche Kraft; es gibt keinen anderen Schorn-
stein als den einen für das ganze Haus gemeinsamen.
Schon bei der Maschine, die er herstellt, hat er die Idee
gehabt, sie nach einem einfachen normalisierten Typus zu
bauen. Der Verkauf geht gut. Alle Verdienste werden
in die kleine Werkstatt gesteckt, und bald schon erwischt
er ein Gelände von 20 Morgen zu Moabit im Weichbilde.
Es war in diesen Jahren, die dem zuströmenden Fünfmilli-
ardensegen unmittelbar folgten, eine Periode fieberhafter
Bewegung in ganz Deutschland und eine Periode aben-
teuerlicher und voreiliger Unternehmungen, die schnell
mit den scheußlichsten Krachen endigten. In derselben
Zeit, in der sich Emil Rathenau seine neue Werkstatt
erbaut, erhält er wiederholte Anerbietungen von Geld-
männern, die ihm vorschlagen, eine Aktiengesellschaft zu
gründen. Er hat das größte Mißtrauen gegenüber diesen
Projektenmachereien, ja gradezu ein Schauer vor den
„Aktien" und vor allem das feste Verlangen, sich seine
ganze Unabhängigkeit zu bewahren. Es gelingt ihm, von
Privatleuten das Kapital zu erlangen, das er braucht, um
nicht in die Klauen von Spekulanten zu geraten. „Und
doch entgeht er nicht seinem Schicksal." Er verkauft
gegen bare Bezahlung das Besitzrecht an seinem Unter-
nehmen an eine Bank, nimmt aber selbst keine Aktie,
obwohl er sich verpflichtet, zugleich mit seinem bis-
herigen Teilhaber in der Direktion zu bleiben. Es tritt
der finanzielle Zusammenbruch ein Die davon sehr mit-
2 17
genommene Bank kann die Obligationen nicht unter-
bringen und sich auch keine Hypotheken verschaffen.
Schnell werden die Bauten vollendet, die Gläubiger not-
dürftig abgefunden, doch die beiden Direktoren nehmen
ihren Abschied und die Gesellschaft macht bankrott.
Emil Rathenau geht in der Schilderung seines Lebens
schnell über die nun folgenden Jahre hinweg, die für
ihn Jahre der Ernüchterung und der Untätigkeit, aber
auch Jahre des Nachdenkens und einer Reihe von Plänen
waren, die nicht aufhörten, sein rastlos arbeitendes Ge-
hirn zu beschäftigen. Er besucht die Weltausstellung zu
Philadelphia vom Jahre 1876 und empfindet wieder von
neuem einen tiefen Eindruck von angespannter Tätigkeit.
,,Es schien mir," sagt er, ,,daß ich nur mit vollen Händen
aus dem menschlichen Leben zu schöpfen brauchte, um
mir die Fabrikation, die mich interessierte, zu sichern,
und ich war überzeugt, daß sie ganz ebenso auf dem
Boden meines Vaterlandes gedeihen könnte!" Die Werk-
zeugmaschinen und die Lokomotiven von Baldwin fesseln
ihn ganz besonders. Er bemerkt mit Scharfblick sogleich
die Bestrebungen der großen modernen Betriebe.
,,Sie verfügten," sagt er, ,,über ziemlich dürftige
Räumlichkeiten und legten mehr Wert auf zeit-
sparende Maschinen als auf hygienische, helle und luftige
Arbeitsräume. Die strenge Zucht und Organisation, die
namentlich auch in neueren Betrieben herrschen, werden
durch den Ehrgeiz von Leuten ausgefochten, die so sehr
sie auch daran interessiert sind, Geld zu verdienen, sich
gleichwohl bemühen, die Firma, bei der sie arbeiten, in
einem günstigen Lichte zu zeigen. Aber die geniale Er-
leuchtung, die ihn zu Vermögen führen sollte, kam ihm
in Paris gelegentlich der Elektrizitätsausstellung vom
Jahre 1881. Er sah hier in der Tat zum ersten Male die
Edisonsche Glühlichtlampe, der gegenüber sich die Fach-
männer recht skeptisch zeigten. Sie gaben im Vergleich
mit ihr der Bogenlampe einen bedeutenden Vorzug, weil
18
ihnen diese zu einer weit größeren Zukunft berufen schien
als jene. Doch Rathenau entschloß sich auf der Stelle für
die neue Edisonsche Lampe. Nach Berlin zurückgekehrt,
setzte er es durch, daß mit Hilfe einiger Banken sogleich
eine „Studiengesellschaft" gebildet wurde, die
das Patentausbeutungsrecht für Deutschland erwarb und
im Jahre 1883 die „Deutsche Edison g eseli-
sch a f t" ins Leben rief, die im Jahre 1887 den Namen
„A llgemeine Elektrizitäts-Geseilschaft"
annahm. Emil Rathenau hat nun annähernd das 50. Le-
bensjahr erreicht, hat 30 Jahre lang seinen Weg gesucht
muß aber auch jetzt noch immer furchtbare Kämpfe mit
den konkurrierenden Firmen bestehen. Derjenige unter
diesen Kämpfen, den er mit der im Elektrizitätsgeschäfte
bis dahin allmächtigen Firma Siemens & Halske durchzu-
machen hatte, nahm eines Tages einen so stürmischen
Charakter an, daß Werner von Siemens ihm seine Zeugen
schickte. Es kam zum Vergleich, und so wurde aus dem
Duell nichts. Emil Rathenau hatte den Erfolg von* nun
an für sich.
Welchen Verdiensten verdankte er nun diesen Er-
folg? Worin lag wohl ihre Eigenartigkeit? Die Ant-
wort auf diese Frage gibt die kurze Gedächtnisrede, die
sein eigner Sohn Walther Rathenau am Grabe des
Vaters hielt. In Gegenwart von schon alten Mitarbeitern
und Freunden vermochte er ihm vier große Tugenden
zuzuerkennen: „Die höchsten Gaben, die der Ewige Geist
den Menschen spendet, die er liebt, die er mit Leiden
segnet und denen aufs Haupt er die Verantwortung der
Welt bürdet, nämlich die Einfalt, die leidenschaftliche
Liebe zur Wahrheit, die Gabe geistiger Vision und des
Schauens und die Gabe der Liebe."1)
Vielleicht ist unter diesen vieren der Gabe der gött-
lichen Eingebung und Ahnung bei Emil Rathenau der erste
-> V, 12.
19
Rang einzuräumen. Er gehörte zu denen, die Möglichkeiten
entdecken, die dem gewöhnlichen Blick entgehen, und die
bereits Dinge als einleuchtend betrachten, die weder der
Vergangenheit noch der Gegenwart angehören, sondern
erst ihre richtige Zukunft vor sich haben. Sein sofortiges
Vertrauen auf die Glühlichtlampe ist nur eines von vielen
Beispielen. Er hatte ebenso die Erleuchtung von den
Zukunftsmöglichkeiten der neuen Maschinen, der Tur-
bine, des Starkstromes durch Hochspannung, der Fern-
übertragung der Kraft und der Elektrizität als motorische
Kraft wie auch so mancher Einzelartikel, deren wahr-
scheinliche Blüte oder Mißerfolg er vorauszusehen
wußte. Seine Einbildungskraft schwelgte in solchen Ent-
würfen, wie sie heute als phantastisch angesehen und
morgen schon ausgeführt zu werden pflegen: dachte er
nicht bereits ganz Berlin mit elektrischem Strome zu ver-
sehen, um in jedem Hause ganz gleichmäßig Heiz- wie
Kühlapparate funktionieren zu lassen? Von einer in-
stinktmäßigen Selbstsicherheit in diesen Träumereien, war
er zugleich von einem glühenden Optimismus, der ihm die
Energie gab, unaufhörlich neue Pläne zu entwerfen, und
zu verwirklichen.
Seine Einfachheit ebenso wie seine leidenschaftliche
Liebe zur Wahrheit hinderten ihn, auf Abwege zu ge-
raten. Sie offenbarten sich schon in seiner ganzen
Lebensführung. Emil Rathenau erhielt sich immer jene
Einfachheit der Sitten und Bräuche, die bis um das Jahr
1880 herum das ganze preußische Volk charakterisierte
und die nicht um ein bißchen weniger als die Prahlerei
und Protzsucht auch eines der Merkmale des jüdischen
Charakters ausmacht. Die bedeutendsten Summen aufs
Spiel zu setzen fähig, wenn es sich um das Interesse
seiner Gesellschaft handelte, konnte er umgekehrt aufs
ernstlichste in Zorn geraten, wenn drei Diener dazu be-
stellt wurden, den Aktionären die Überzieher ausziehen
zu helfen, wo vielleicht schon zwei genügt hätten, oder
20
auch wohl, wenn ihm einmal die unnütze Anschaffung
einer Schreibmaschine vorgeschlagen wurde. Er gab erst
wenige Jahre vor seinem Tode seine alte Berliner Woh-
nung an einem Ausladeplatz der Stadt auf, um nach dem
Westen zu ziehen, und mehr als einmal haben ihn seine
Mitbürger für seinen Gang zur Fabrik die Straßenbahn
seinem Automobil vorziehen sehen. Es hieß, für ihn
zähle das Geld nur bis 300 Mark und dann erst wieder
von 3 Millionen an. Im Verkehr sprach er ohne Um-
schweife und ohne Hintergedanken. Er wurde wohl auch
bisweilen betrogen, weil er alles glaubte, was ihm gesagt
wurde. Die Kunst des Diplomaten war ihm völlig ver-
sagt; er enthüllte immer sein Spiel zu schnell und drückte
sich stets mit einer Offenheit aus, die nur zu leicht einen
Bruch herbeiführte; sehr früh schon mußte sein Sohn
Walther peinliche Verhandlungen übernehmen oder zum
allermindesten einleiten oder wohl auch das Wort er-
greifen, wenn die Aktionärversammlungen einmal zu stür-
misch wurden. Und diese Eigenschaften fanden sich auch
in seinem Denken wieder. Außerstande, irgendein ver-
wickelteres Problem zu verstehen, studierte er gleich-
wohl alle Fragen, die er so lange drängte und preßte,
bis sie auf eine völlig einfache Form zurückgeführt
waren. So wurden durch ihn alle diese Fragen von
ihren sämtlichen unklaren Elementen befreit, so daß sie
nicht mehr irgendwelchen Anlaß zu Irrtümern geben
konnten. Seinem ersten Optimismus folgte dann stets
ein Pessimismus, der alles, was Entwurf hieß, einer pein-
lichen Kritik unterwarf. Es war das keineswegs ein Fall
krankhafter Zweifelsucht, und Mutlosigkeit, sondern eine
beherzte Prüfung, die der Wahrheit ins Gesicht zu
schauen wagte und nicht zögerte, eine bereits fest gefügte
Vorstellung zu zerstören, um eine einfachere und genauere
Lösung zu entdecken.
Bei seines Vaters Fähigkeit zu lieben verweilt Wal-
ther Rathenau mit besonderer Freude. „Seine Liebe zum
21
Menschen", so sagt er, „war stark, aber sie war nicht
sanft, sie war nicht hingebend, und sie war nicht weich,
aber sie umfaßte den, den sie liebte, und sie zog ihn an
sich empor. Und das stärkste, was starke Liebe wirken
kann, das wirkte sie: sie entfachte Liebe!"1) Unter all
seinen Vorzügen scheint dieser der einzige gewesen zu
sein, in bezug auf den Emil Rathenau manche Einschrän-
kung über sich ergehen lassen mußte. Und nicht ohne
Grund machten ihm doch alle Menschen seine Strenge
und seine unerbittliche Härte zum Vorwurf. Aber viel-
leicht lag in diesem seinem Auftreten mehr augenblick-
liche Stimmung als nachtragende Böswilligkeit. Jeden-
falls war er einer großen Hingebung für die Seinen fähig
und verstand es auch, eine kleine Zahl von Freunden
um sich zu scharen, deren Treue sich ihm in keiner Lage
verleugnet hat. Ebenso war er einer unbedingten Hin-
gabe an seine Tätigkeit fähig. Er widmete ihr seine
ganze Zeit, während er dem gesellschaftlichen oder dem
öffentlichen Leben nur ein ganz schwaches Interesse
entgegenbrachte, ja, er opferte ihr sein ganzes Leben.
Die Anhäufung von Geld ließ ihn persönlich ganz gleich-
gültig, wohl aber lag ihm daran, seine Gesellschaft zu
Vermögen zu bringen.
Und so gestaltete er sie nach seinem Bilde, indem er
sich seine eigenen Erfahrungen aus der Vergangenheit zu-
nutze machte. Ohne selbst ein Erfinder oder auch nur
verdienter Ingenieur zu sein, interessierte er sich immer
und in erster Linie für das Problem der Fabrikation.
Seine Tage vergingen fast bis an sein Lebensende in den
Fabrikräumen und insbesondere in den Experimentier-
werkstätten. Sein Grundsatz war, sich ganz ebenso von zu
theoretischen Untersuchungen wie von zu empirischen
Übungen fernzuhalten. Kein Stagnieren, aber auch keine
gewagten Neuerungen. Jedes neue Projekt mußte von
M V, 17—18.
22
seinen Ingenieuren in allen seinen Erscheinungsformen
studiert und hin- und hergewendet werden, ja in Augen-
blicken der Krise ließ Rathenau seine Leute bis zur Er-
schöpfung arbeiten und nicht eher rasten, bis die Arbeit
vollkommen erledigt war. War eine solche erst einmal
angenommen, so wurde sie auch rüstig und rasch bis zu
Ende geführt. Ein zweiter Grundsatz ist der bekannte
Grundsatz, auf dem das eigentliche Wesen der gesamten
modernen Großindustrie beruht: die Serienfabrikation.
Rathenau war allerdings nicht der einzige Industrielle
seiner Generation, der sie zur Anwendung brachte, wohl
aber machte er sich mit einem Scharfblick und einer
Willenskraft ohne gleichen an sie. Verschiedenartige
Gegenstände und Stücke, die aus den Werkstätten der
A. E. G. hervorgehen, werden nach Hunderten gezählt,
es wird aber jeder einzelne Artikel in Tausenden oder
Millionen Exemplaren fabriziert. Bei jeder Gelegenheit
ersetzen die Maschinen die Menschenarbeit, möglichst
leistungsfähige und vervollkommnetste Maschinen, unge-
heure Turbinen zu Rummelsburg oder Kondensatoren der
Dampfmaschinen, wie sie für jedermann in den hellen
und sauberen Sälen der Erdgeschosse der Berliner Werk-
stätten zu sehen sind und wo anders in dunklen Keller-
räumen ein verborgenes Dasein führen müssen. Achtzig
Schreiber leisten eine Tätigkeit, die dereinst Hundertc
erforderte; fast die ganze Arbeit der Konstruktion von
elektrischen Apparaten kann Frauen anvertraut werden,
und das Haus befreit sich sozusagen von jeder Abhän-
gigkeit gegenüber Facharbeitern. Die Betriebskosten
werden auf ein Minimum reduziert, und so ist die erste
Voraussetzung für den Erfolg völlig gesichert.
Charakteristischer noch war die Handels- und Fi-
nanzpolitik von Emil Rathenau. Das Geschäft an und
für sich übte keine Anziehungskraft auf ihn aus; ohne
natürlich den Verkauf völlig zu vernachlässigen, ließ er
sich doch keineswegs regelmäßig über den Geschäftsgang
23
auf dem laufenden halten und wälzte gern die Sorge für
die Überwachung des wirklichen Außenverkehrs auf an-
dere Schultern ab, also, was da ist: Eröffnung von neuen
Absatzmärkten, Suche nach Kunden, Einrichtung von
Zweigstellen, Reklame usw. Er beschränkte sich seiner-
seits auf die Ausfindigmachung einer Möglichkeit für
eine billigere Preisfestsetzung erstklassiger Ware als sie
seine Konkurrenten für eine solche zu leisten imstande
waren, von der Ueberzeugung ausgehend, daß nur dann
ihr Absatz sicher sei. Von ihm rührt jener so viel bewun-
derte und in den industriellen Annalen der Zeit einzig
und allein dastehende so lächerlich geringe Unterschied
zwischen den Herstellungskosten und dem Verkaufspreise
in der ,,A llgemeinen Elektrizitäts-Gesell-
s c h a f t'\ Die verschiedenen Werkstätten unterhalten
keinen unmittelbaren Verkehr mit dem Publikum; sie
geben ihre Erzeugnisse an eine zentrale Verkaufsstelle
ab, die sie ihnen zum Herstellungspreise abkauft und
einzig damit betraut ist, sie mit einem bestimmten Nutzen
zu verkaufen und gewisse Wünsche der Kundschaft an
die Werkstätten, wenn Gelegenheit dazu ist, falls diese
glauben, ihnen stattgeben zu müssen, zu übermitteln. Von
ihm rührt auch jenes eigenartige Verhältnis der A. E. G.
zu ihren Filialen her. Anstatt sie als einfache Organis-
men zu betrachten, die dazu bestimmt sind, Aufträge zu
schaffen, behandelt er sie als selbständige Unternehmen
und geht darin sogar soweit, sie zu ermächtigen, sogar
von Konkurrenten beziehen zu dürfen, wenn sie dort
billiger einkaufen können oder wenn die Gesellschaft in-
folge eines Übermaßes von Arbeit die Artikel, deren sie
bedürfen, nicht rechtzeitig liefern kann.
Aus seinen Streitigkeiten mit den Banken hatte der
alte Rathenau die Lehre gezogen, daß er um jeden Preis
seinem Unternehmen eine völlige finanzielle Unabhän-
gigkeit geben und dahin wirken müsse, daß dessen finan-
24
zielle Verfassung stark genug wäre, allen Stürmen wider-
stehen zu können. Von Anfang an betrachtete er das
Geld, das er und andere in die Gesellschaft gesteckt
hatten, nicht sov/ohl als sein Eigentum, über das er nach
seinem freien Willen verfügen konnte, wie vielmehr als ein
Vermögen, dessen verantwortlicher Verwalter er nur war.
Millionen daran zu wagen, die Werkzeuge umzugestalten,
eine neue Fabrikationsart einzuführen und ein Konkur-
renzunternehmen zu erdrosseln, nahm er keinen Augen-
blick Anstand, und er hätte nicht geduldet, daß seine
Autorität in Entscheidungen dieser Art angefochten
würde. Doch es gab niemanden, der ihn je hätte spielen
oder spekulieren sehen, und vielleicht schuldet er dieser
Tatsache nicht zum wenigsten seinen Ruf eines großen
Finanzgenies.1) Die Interessen der Gesellschaft gingen
für ihn denen der Aktionäre vor. Sicher hatte er diesen
gegenüber Achtung und Furcht, und seine xMitarbeiter
hörten ihn wohl oft in einem Augenblicke, in dem es eine
schwerwiegende Maßnahme zu fassen galt, die bange
Frage stellen: ,,Was werden hierzu unsere Aktionäre
sagen?" Doch er wies es stets zurück, ihnen übermäßig
hohe Vorteile zu gewähren, mochten die Geschäfte auch
noch so blühend und die Einsprüche in den Generalver-
sammlungen auch noch so stürmisch sein. Er zog es vor,
in einer bisher unbekannten Ausdehnung der anderen
Unternehmungen Reserven zu schaffen, die auf Banken
als Guthaben und in jederzeit verfügbarem Gelde ange-
legt wurden. An dem Tage, an dem diese Reserven die
Hälfte des eingeschriebenen Kapitals, d. h. über 90 Milli-
onen Mark erreichten, fühlte er sich glücklich, weil er
nunmehr die Gesellschaft, sein Werk, erst für alle Zeit
dauernd gesichert hielt.
l) Die Gründung der mit der A.E.G. eng verbundenen „Elektrobank"
zu Zürich ist eine blosse Finanzoperation zum Zwecke der Beschaffung
von Geldmitteln neuer Art für die Gesellschaft; im übrigen ist sie wahr-
scheinlich dem Einflüsse von Walther Rathenau zu verdanken.
25
Suchen wir ein besonders rühmliches, unterscheiden-
des Merkmal der A. E. G. vor anderen ähnlichen Riesen-
unternehmungen in Deutschland, so finden wir dasselbe
etwa keineswegs in ihrer Haltung gegen die Arbeiter.
Sic hat beispielsweise nichts, was sich mit den philan-
tropischcn Einrichtungen des Direktors der optischen
Werkstätte Carl Zeiß zu Jena Professor Ernst Abbe oder
mit den Werken patriarchalischen Charakters der Be-
triebe von Krupp vergleichen ließe. Ohne Zweifel haben
die hygienischen Arbeitsbedingungen auch hier schon
eine bedeutende Besserung erfahren und wird die
deutsche Sozialgesetzgebung auch hier streng durch-
geführt; die Arbeiterinnen können fast überall ihre
Arbeit sitzend verrichten, und die 24 000 Eingezogenen
haben Unterstützungen erhalten, die sich in ihrem Ge-
samtbetrage in den Jahren 1914 — 1915 auf eine Summe
von 4 600 000 Mark und in den Jahren 1915—1916 sogar
auf eine von 7 550 000 Mark beliefen. Nichtsdestoweniger
waren die sozialen Fragen noch einem Emil Rathenau
etwas völlig Unbekanntes. Die Arbeiter waren in seinen
Augen nicht bloße Werkzeuge, wie es seine Verkleinerer
verkündet haben, wohl aber Handwerker in Arbeiter-
Stellung. Er gab ihren Forderungen nur nach, wenn er
sich dazu gezwungen fühlte. Ja, er versuchte es wohl
aucn einmal mit der List. Gelegentlich eines großen
Streiks in der Berliner Maschinenindustrie bestand eine
große Befürchtung, daß die Elektrizitälsarbeiter diesen
Streik ihrerseits durch Abschneidung des elektrischen
Lichtes und der elektrischen Beförderungsmittel ver-
schärfen würden. Er versammelte seine Arbeiter und
verstand ihnen vorzureden, daß sie eine unaufschiebbare
Arbeit mit jeder ihnen nur möglichen Beschleunigung
leisten müßten, und sie dafür zu gewinnen, zu diesem
Zwecke für ein paar Tage die Werkstätten nicht zu ver-
lassen. In vierundzwanzig Stunden brachte er alles zu-
sammen, was nur irgend zur Unterbringung und Be-
26
köstigung von Tausenden von Personen nötig war. Auch
die allerhöchste Gnade blieb natürlich in jenen Tagen
zu Berlin nicht aus und der König verlieh ihm nach be-
endetem Streik irgendwo einen Hohenzollernschen
Ordensstern.
Umgekehrt ist aber vor allem die Einrichtung und
die Arbeitsweise des Direktorenausschusses rühmlich her-
vorzuheben. Es ist nicht zu weit gegangen, zu glauben,
daß, wenn ein Emil Rathenau auf seinem Wege nicht den
Männern begegnet wäre, die die Fähigkeit besäßen, ihm
zur Seite zu stehen, er seinem neuen Unternehmen sicher
nicht jene Ausdehnung gegeben hätte, die es nachher
genommen hat. Er fand sie fast alle gleich zu Anfang,
verband sich mit ihnen unverbrüchlich und lebte lange
Jahre in dem einen Stockwerke eines Hauses, dessen
andere von zweien dieser seiner Arbeitsgenossen be-
wohnt wurden. Wer auch nur einen Augenblick ver-
mutet hätte, daß Mamroth, Deutsch, Jordan oder Pro-
fessor Klingenberg jemals der A. E. G. den Rücken
kehren könnte, würde, so hieß es, für verrückt erklärt
werden, so eng ist die innige Vereinigung zwischen ihrem
und seinem Dasein. In der Firma hat jeder von ihnen
seine fest umgrenzten Befugnisse und Verantwort-
lichkeiten. Deutsch ist sozusagen der Minister der Aus-
wärtigen Angelegenheiten; er hat sich um das richtige
Ineinanderarbeiten der dreihundert über die ganze Welt
verteilten bisherigen Filialen, um die Schaffung neuer,
um die Einrichtung der größeren privaten elektrischen
Stationen und schließlich noch um die Aufstellung der
jährlichen Bilanz, abgesehen von der Rechnungsbilanz,
des Jahresabschlusses abzüglich der Rechnungslegung, zu
kümmern. Mamroth fällt das Ministerium des Innern, also
die Handelsgeschäfte, die Buchführung, die Kasse, die
Geld- und Reserveanlagen sowie die Aufsicht über die
anderen ähnlichen Betriebsgesellschaften zu. Jordan wird
mit den sozialen Fragen und dem Arbeitsbetriebe, also
27
der Leitung der großen Werkstätten, mit Ausnahme des
Kabelwerkes und den mit außerdeutschen Betrieben in
Beziehung stehenden Werkstätten, sowie mit dem Ver-
kehre mit den Arbeitern betraut. Klingenberg ist der
Ingenieur der Gesellschaft und baut die elektrischen Zen-
tralen nach dem Anschlag der A. E. G. oder auch der
einzelnen Kunden, während ein anderer Ingenieur Pforr
als seinen Geschäftskreis den Bau der Eisenbahnen mit
elektrischem Betriebe hat. Natürlich behielt darum Emil
Kathenau gleichwohl die allgemeine Leitung der Gesell-
schaft und hatte also die gesamte finanzielle und indu-
strielle Politik sowie die Schaffung neuer Werkstätten
unter sich. Seit dem Tode seines Sohnes Erich, eines an
der Spitze des Kabelwerkes stehenden Ingenieurs, hatte
auch er diese seine Nachfolge aus reiner Familienanhäng-
lichkeit übernommen. Sein zweiter Sohn Walther stand
ihm zur Seite, um vor allem die Verhandlungen mit den
anderen Gesellschaften zu führen und die finanziellen
Fragen zu regeln.
Nach allem Voraufgegangenen kann es nicht Wunder
nehmen, daß sich der zuletzt genannte in seinen Schriften
des Beispieles jener Männer erinnern sollte, die so für die
A. E. G. leben, wie diese durch jene Männer lebt. Ein
wahrhaftes Direktorium bildend, leiten sie diese Gesell-
schaft selbstherrlich, und die Aktionärversammlung wird
höchstens dazu einberufen für irgendeine Sache ihre for-
male Genehmigung zu geben. Man könnte gewisser-
maßen von einem Familienrate reden, der von inneren
Zwistigkeiten frei ist und dessen Mitglieder sich solida-
risch verantwortlich fühlen und ein ungeteiltes Erbe aufs
beste verwalten. Die A. E. G. trägt etwa das Gepräge
eines jener um 1848 geborenen großen Pioniere der
modernen Industrie, nämlich einer sich besonders in aller-
hand Neuerungen betätigenden, doch vorsichtigen und
autoritären Regsamkeit, einer kühnen, doch mehr um die
auf industriellem als auf kommerziellem Gebiete liegen-
28
den Leistungen besorgten Verwaltung sowie einer gleich-
zeitig ehrgeizigen und sich bescheidenden, doch einzig
auf die Entfaltung der kleinen Gemeinschaft beschränkten
dauernden Hingabe.
Es war Walther Rathenau vorbehalten, so schwierig
das auch wohl sein mochte, der AllgemeinenElek-
trizitäts-Gesellschaft immer größere Ausdeh-
nung zu geben und eine mindestens ebenso bemerkens-
werte, wenn nicht noch weit bemerkenswertere indu-
strielle Anlage zu offenbaren.
Von Hause aus ist Walther Rathenau ein hervorragen-
der Ingenieur. Am 29. September 1867 zu Berlin geboren,
machte er unter mehrfachem Schulwechsel die verschie»
denen Gymnasialklassen durch und absolvierte dieselben
bereits mit einem Alter von nur siebzehn Jahren, d. h.
zwei Jahre vor dem Durchschnittsalter seiner
deutschen Kameraden. Er tritt in die mathematisch-
naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen
Fakultät der Universitäten Berlin und Straßburg ein, wo
er sich dem Studium der Experimentalphysik und
mathematischen Physik, der Chemie und gleichzeitig
der Philosophie widmet. Im Jahre 1889, d. h. im Alter
von zweiundzwanzig Jahren, doktoriert er mit einer
Dissertation über die Absorption des Lichtes durch die
Metalle. Eine noch ganz junge Wissenschaft, die Elektro-
chemie zieht ihn jetzt an. Er setzt seine Studien, ja man
kann wohl sagen: seine Forschungen fort. Nach einem auf
dem Polytechnikum zu München der angewandten Chemie
und dem Maschinenbau gewidmeten Jahre tritt er als
Techniker in die Aluminium-Industrie A. G. Neuhausen
in der Schweiz ein. Es gelingt ihm, ein Verfahren zu ent-
decken und zu bezeichnen, das durch, Elektrolyse Chlor
und verschiedene Alkalien zu gewinnen ermöglicht und im
Jahre 1S93 erlebt er die Begründung der Gesell-
29
schaft für elektrische Unternehmungen
die seine Erfindung ausbeuten sollte. Die Direktion der-
selben wird ihm anvertraut. Er baut große Werke in
Deutschland zu Bitterfeld, in der Schweiz zu Rheinfelden,
sowie auch in Polen und Frankreich. Die anfänglichen
Schwierigkeiten spornen seine Schaffenskraft erst
recht an. Bitterfeld entwickelt sich. Der junge Direk-
tor häuft nur so die Patente für seine neuen Produktions-
methoden für Kieseleisenerz (ferrosilicium), Chrom, So-
dium und Magnesium. Im Jahre 1899 scheidet er aus
seinen verschiedenen neugegründeten Werken aus, um
wenigstens einer kurzen Ruhe zu pflegen. Sein Vater
bietet ihm eine Stelle in dem leitenden Ausschusse der
A. E. G. als einer ihrer Direktoren an. Er folgt dem
Rufe und wird der Leiter der Abteilung für den Bau von
Elektrizitätszentralen. So leitet er die Arbeiten zu Man-
chester und Amsterdam, zu Buenos Aires und zu Baku.
Doch die Aufgabe des Ingenieurs befriedigt nicht das
Bedürfnis eines Walther Rathenau nach einer weiten und
mannigfaltigen Tätigkeit. Er hat durchaus nicht die Ab-
neigung seines Vaters für die Finanzoperationen. Sie
reizen im Gegenteil sein höchstes Interesse. Schon seine
Gesellschaft vom Jahre 1893 war unter Mitwirkung meh-
rerer Großbanken begründet worden. Im Jahre 1902 tritt
er nach einem Gewinnausfalle aus der Allgemeinen Elek-
trizitäts-Gesellschaft aus, um die Verwaltung der Züricher
Elektrobank zu übernehmen, die insbesondere die
Bestimmung hatte, alle möglichen Sorten von Elektrizi-
tätsbetrieben zu unterhalten, anzukaufen oder neu ins
Leben zu rufen. Gleichzeitig nimmt er eine ehrenvolle
Einladung von Karl Fürstenberg an, der ihn an seine
Seite in das Direktorium der Berliner Handels-
gesellschaft beruft. Von den verschiedenen Indu-
strie- und Handelsunternehmen räumt ihm nun eins nach
dem andern einen Platz in ihrem Verwaltungsrate ein, so
daß die Zahl dieser Berufungen in kurzem fast die hun-
£0
dert erreicht. Eine für Wallher Rathenau hervorragend
ersprießliche Arbeit, der, meist damit betraut in schlecht
gehende Geschäfte wieder Ordnung zu bringen, auf diese
Weise eine tiefe Kenntnis der Bedingungen des wirt-
schaftlichen Lebens in Deutschland und im Auslande ge-
winnt! Wohl bleibt ihm schließlich nichts v/eiter übrig als
auf einen Teil seiner Aemter zu verzichten, doch nur auf
einen Teil, und so gibt er insbesondere nicht die E 1 e k -
t r o b a n k auf. Doch sein Ruf ist auch jetzt schon so
weit verbreitet, daß die amtlichen Kreise es für angemes-
sen halten, ihn für die öffentlichen Angelegenheiten her-
anzuziehen. In den Jahren 1907 und 1908 ordnet ihn der
Reichskanzler Fürst von Bülow dem Kolonialstaatssekre-
tär Dr. Bernhard Dernburg bei mit der besonderen Auf-
gabe, an Ort und Stelle eine Umfrage über die Zukunft
von Deutsch-Ostafrika und dem deutschen Südwest zu
erheben sowie die englischen Kolonien Südafrikas zu be-
sichtigen1).
Gleich bei Waither Rathenaus Wiedereintritt in die
A. E. G. gibt ihm sein Einfluß, der ja hier von Anfang an
und sogar noch während seiner Abwesenheit fühlbar ge-
wesen war, einen neuen Antrieb. Die alten Gebäude wer-
den niedergerissen und durch Monumentalbauten ersetzt,
die Peter Behrens, ein wirklich genialer Vertreter der
modernen Baukunst aufrichtet: sehr geräumige, von einer
eleganten Einfachheit, wenn auch von einer gewissen
Kühle zeugende, lichterfüllte und mit allem Komfort aus-
gestattete Monumentalbauten. Eine unglaubliche Knick-
rigkeit in den kleinen Ausgaben aber herrscht in diesen
Räumen. Allerdings hat sich mittlerweile eine größere
Nachgiebigkeit gegenüber den Arbeitern, deren Zahl
immer mehr gewachsen ist, geltend gemacht, und küm-
') Die amtlichen Berichte wurden von Walther Rathenau entworfen.
Derjenige unter ihnen, der Ostafrika behandelt, hat in sein Werk „Re-
flexionen" (Leipzig, S. Hirzel) Aufnahme gefunden und ist bereits amtlich
im Jahre 1908 veröffentlicht worden.
31
mert man sich sorgfältiger um die sozialen Ver-
pflichtungen. Nichts hat sich an dem aufopfernden
Geiste und dem autoritären Standpunkte der Direktion
von früher her verändert, außer daß sich jetzt vielleicht
noch ein um eine Schattierung gröberer Ton der Mißach-
tung hineinmischt. Eines Tages, als sich die Einwürfe
der Aktionäre, die eine höhere Dividende wünschten, be-
sonders lebhaft gestalten, ruft Walther Rathenau aus:
,,Sind Sie denn, meine Herren, so von aller Phantasie ver-
lassen, daß Sie von uns glauben, wir hätten nicht fast alle
Ihre Einwürfe vorausgesehen und auch alle unsere Ant-
worten darauf vorbereitet?" Es verdient hervorgehoben
zu werden, daß eine der Abteilungen des Unternehmens,
die sich von allen am meisten entwickelt, die ist, die die
Aufgabe hat, eine stets im Wachsen begriffene Zahl von
Oertlichkeiten und Räumlichkeiten mit elektrischem Licht
und elektrischer Kraft zu speisen. Es ist das ein ge-
mischtes Geschäftsverfahren, eine Art Mittelweg zwi-
schen privater Ausbeutung und öffentlicher Verwaltung,
ein Geschäftsverfahren, das von nun an nicht mehr ver-
gessen werden sollte.
Damals entwickelt sich alles, und so wächst auch die
A. E. G., die aus kleinen Anfängen allmählich immer grö-
ßer geworden ist, nunmehr bald ins Unermeßliche. Es
unterliegt keinem Zweifel, daß der Sohn schon von An-
fang an den Ehrgeiz hatte, das Werk seines Vaters noch
zu überbieten. Wenn er auf der Universität seine Wahl
auf die Elektrochemie lenkte, so geschah das deshalb,
weil sie, wie er später selbst sagt, „das einzige Gebiet
war, auf das sein Vater noch nicht seine Hand ausge-
streckt hatte." Sein Leben ist leichter und mannigfal-
tiger gewesen als das seines Vaters, aber seine Ziele um-
fassender und höher. Der Köder persönlicher Vorteile
treibt ihn weniger als der Wunsch, ohne jedes Bedenken
ein geliebtes Unternehmen auf Grund gewisser Gedanken,
deren Verwirklichung er für berechtigt und notwendig
32
hält, zu erweitern. Zur lebhaften Befriedigung von Wal-
ther Rathenau hatte nun auch die Allgemeine Elek-
trizitäts-Gesellschaft begonnen, sobald sie erst
einigermaßen fest auf den Füßen zu stehen vermochte, auf
der einen Seite eine immer größere Zahl von Filialen
zu gründen und auf der anderen, sei es auf freundschaft-
lichem Wege, sei es durch Zwang, das Mitbestim-
mungsrecht über konkurrierende Gesellschaften zu
erwerben. Gern beteiligte er sich an derartigen Unter-
handlungen, und, wenn er im Jahre 1902 so plötzlich aus
der A. E. G. austrat, so geschah das nur, weil er bei dem
Verwaltungsrat seinen Entwurf zur Verschmelzung mit
den Schuckert-Werken noch nicht durchsetzen konnte.
Es läßt sich wohl denken, daß sich nach seiner Rück-
kehr die Operationen dieser Art noch vervielfachen.
Mehrere Firmen werden so langsam der Sphäre der All-
gemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft einverleibt, so die
Berliner Gesellschaft ,,U n i o n" im Jahre 1904 und die
Frankfurter Firma „Lahmeyer" im Jahre 1909, um
nur die hauptsächlichsten Beispiele anzuführen. Was
macht das wohl aus, wenn ihnen wirklich ein Schein von
Unabhängigkeit gelassen wird: als im Jahre 1915 Walther
Rathenau als Nachfolger seines Vaters an die Spitze der
A. E. G. tritt, beherrscht diese bereits alle ihre Rivalinnen
auf der ganzen Welt mit Ausnahme einer oder zweier, die
sie überhaupt nicht mehr zu fürchten hat. Das neue Haupt
kann sich als ein äußeres Zeichen seiner Macht den unge-
wöhnlichen Titel eines „Präsidenten der Allgemeinen
Elektrizitäts-Gesellschaft" anmaßen.
Der Krieg sollte ihm ermöglichen, noch immer höher
emporzukommen. Nicht nur dehnt dieser Herrscher
im Reiche der Elektrizität jetzt seine Tätigkeit auf den
Bau von Apparaten aus, die die Erde, das Meer oder die
Lüfte durchkreuzen, sondern er wird auch, zum minde-
sten eine Zeitlang der Diktator des gesamten industri-
ellen und handeltreibenden Deutschlands. Er selbst hat
83
erzählt, wie er den Plan zu der kolossalen Organisation
faßte, die die Versorgung Deutschlands mit Rohstoffen
trotz der allgemeinen Land- und Seesperre gewährleisten
sollte, und einen Vorschlag zu ihrer sofortigen Durchfüh-
rung machte. „Drei Tage nach der englischen Kriegs-
erklärung trug ich die Ungewißheit unserer Lage nicht
länger; ich ließ mich melden bei dem Chef des Allgemei-
nen Kriegsdepartements. — Ihm legte ich dar, daß unser
Land vermutlich nur auf eine beschränkte Reihe von
Monaten mit den unentbehrlichsten Stoffen der Kriegs-
wirtschaft versorgt sein könne. Die Kriegsdauer schätzte
er nicht geringer ein als ich selbst, und so mußte ich an
ihn die Frage richten: Was ist geschehen, was kann ge-
schehen, um die Gefahr der Erwürgung von Deutschland
abzuwenden1)?" Der Minister läßt sich überzeugen und
beauftragt Walther Rathenau, die notwendige Organisa-
tion zu schaffen. Dieser stimmt mit freudigem Stolze zu.
Sein Vaterland aus einer vorläufig noch unsichtbaren Ge-
fahr retten, das ganze deutsche Wirtschaftsleben ganz so,
wie bisher die A. E. G., lenken und meistern, die von den
Heeren besetzten Gebiete aussaugen, die Neutralen an-
zulocken suchen, welch großartiger Traum. ,,Vor meinem
Fenster breitete ein wundervoller Ahorn seine Aeste aus
und überschattete das Dach. Unten lag der schöne Gar-
ten des Kriegsministeriums, darin schritt eine Wache
langsam auf und ab; zwei alte Kanonen standen auf dem
Rasen in der Sonne. Und hinter dieser friedlichen Stelle
ein hoher Schornstein; der deutete auf das Riesengebiet
der deutschen Wirtschaft, das sich jenseits ausbreitete
bis zu unseren flammenden Grenzen. Dieses Gebiet der
donnernden Bahnen, der rauchenden Essen, der glühen-
den Hochöfen, der sausenden Spindeln, dieses unermeß-
liche Wirtschaftsgebiet dehnte sich vor dem geistigen
Auge, und uns war die Aufgabe gestellt, diese Welt, diese
l) R. V, S. 27, Sep.-Ausg. S. 8.
34
webende und strebende Welt zusammenzufassen, sie dem
Kriege dienstbar zu machen, ihr einen einheitlichen Wil-
len aufzuzwingen und ihre titanischen Kräfte zur Abwehr
zu wecken1)."
Nur eine sehr kurze Spanne Zeit arbeiteten die
„Kriegs-Rohstoff-Abteilung" und die „Ein-
kaufsgenossenschaften" unter Bedingungen, auf
die wir noch zurückzukommen haben werden. Am
1. April 1915 übergab Walther Rathenau seinem militä-
rischen Nachfolger sein Werk; Ränke, die durch seine
Schroffheit, seine politischen und sozialen Ansich-
ten, die gegen ihn einen beträchtlichen Teil der deutschen
Industrie- und Handelswelt aufbrachten, sowie durch
seine jüdische Abstammung veranlaßt waren, trugen an
seinem freiwilligen Abgange aus dem Kriegsministerium
die Schuld. Er erscheint wieder in halbamtlichen
Funktionen zu Bern im Jahre 1916. Deutschland hat dort
in kürzester Zeit zwei Handelsgesellschaften m. b. H. förm-
lich aus dem Boden gestampft, nämlich die Gesell-
schaft „Met all um" und die Gesellschaft „M i 1 i -
taria", deren Aufgabe die Zentralisierung und
Verteilung der Aufträge und die Zuweisung der
Metalle an die Schweizer Fabriken ist, die an
Deutschland Munition liefern. Walther Rathenau ge-
staltet sie in Rieseninstitute um, in denen alsbaid sieben-
hundert Ingenieure und Angestellte unter seiner Leitung
arbeiten. War die öttentlich angegebene Aufgabe wirk-
lich das einzig erstrebte Ziel, auch wenn man einigen
französischen Beurlaubten oder Fahnenflüchtigen zum
Lohne für ihre Aufschlüsse heimliche Zuwendungen von
Brucheisenabfällen machte? Nicht ohne einen gewissen
Anspruch auf Wahrscheinlichkeit sind noch zwei andere
Dinge als Aufgaben dieser Gesellschaft angegeben wor-
den. M e t a 1 1 u m hat erstrebt von der Schweizer ßun-
') R. V, S.20, Sep.-Ausg. S.U.
3* 35
desregierung, die zu jener Zeit den Mittelmächten ziem-
lich günstig gesinnt war, die Konzession für die Elektri-
sierung aller Schweizer Bahnen und auf diesem Um-
wege die Beschlagnahme aller der unerschöpflichen Ener-
giequellen, die die Wasserkräfte der Flußläufe des Lan-
des darstellen, zu erlangen. M e t a 1 1 u m sah
gleichzeitig die Schwierigkeiten voraus, mit denen
die deutschen Kaufleute nach dem Kriege zu
kämpfen haben würden und kaufte insgeheim eine
möglichst große Zahl von Schweizer Handelshäusern
an, deren alten Besitzern sie die Verpflichtung
auferlegte, denselben ihren bisherigen Namen zu lassen
und auch weiter ihre Verwaltung zu führen. Sicher war
diese Aufgabe weniger glanzvoll als die vorhergehende.
Aber sie entspringt jenem Temperament, das den Industri-
ellen Walther Rathenau zu einem so gefährlichen Gegner
macht. Man erkennt darin denselben reichen Taten-
drang, dieselbe ebenso durch ihre klare Erkennt-
nis, der Gegenwart wie durch ihre weite Voraussicht der
Zukunft bemerkenswerte Intelligenz, dieselben zeitlich
und räumlich so ins Endlose schweifenden Entwürfe, den-
selben Willen, der allen Hemmnissen gegenüber nur ein
Biegen oder Brechen kennt und die gleiche völlige Hin-
gabe nicht mehr bloß, wie früher, an die kleine engere
Gemeinschaft, sondern, wie nun schon seit Kriegsanfang,
an die große und weite Gemeinschaft der Nation.
Wer nur einmal einen flüchtigen Blick auf Walther
Rathenau, und wäre es auch nur im Bilde, geworfen hat,
wird sich sofort klar darüber sein, daß in diesem Manne
nicht bloß ein Industrieller und Ingenieur steckt. Seine
äußerst scharfen Gesichtszüge, seine von so viel Tatkraft
sprechenden Lippen, sein kurz geschnittener Schnurrbart,
sein nicht allzu umfängliches, aber ganz glatt rasiertes
Kinn, verraten den ruhigen und zähen Willen des Mannes
86
der Tat. Doch von seiner Nase mit ihren kleinen Löchern,
von seiner hohen und kahlen Denkerstirn, vor allem auch
von seinen unter den starken Augenbrauen funkelnden
und scheinbar immer in die Weite schweifenden Augen,
von seiner sogar auf der Photographie erkennbaren, so
guten und hochherzigen allgemeinen Gesichtsphysiono-
mie geht der Eindruck aus, daß offenbar noch andere
besondere Gaben, andere Gedanken und andere Neigun-
gen in der Seele des Trägers eines solchen Antlitzes
schlummern müssen oder vielmehr in den beiden Seelen,
die er doch dann haben muß.
Er selbst hat die beiden in ihm lebenden Seelen fol-
gendermaßen definiert: „Ich bin ein Deutscher jüdischen
Stammes. Mein Volk ist das deutsche Volk, meine Hei-
mat ist das deutsche Land, mein Glaube der deutsche
Glaube, der über den Bekenntnissen steht. Doch hat die
Natur, in lächelndem Eigensinn und herrischer Güte die
beiden Quellen meines alten Blutes zu schäumendem
Widerstreit gemischt: Den Drang zum Wirklichen, den
Hang zum Geistigen. Die Jugend verging in Zweifel und
Kampf, denn ich war mir des Widersinns der Gaben be-
wußt. Das Handeln war fruchtlos und das Denken irrig,
und oftmals wünschte ich, der Wagen möchte zerschel-
len, wenn die feindlichen Gäule auseinanderstürmend sich
ins Gebiß legten und die Arme erlahmten. Das Alter
sänftigt. Noch immer ist der überschüssige Wille nicht
ganz gebrochen, noch immer stehe ich im praktischen
Handeln, doch nicht um eigener Ziele willen. Und manch-
mal scheint es mir, als sei aus diesem Handeln auch etwas
in meinem Denken befruchtet worden, als habe die Natur
mit mir den Versuch vorgehabt, wie weit betrachtendes
und wollendes Leben sich durchdringen können1)."
In der Tat hat Walther Rathenau von der Natur
Gaben eines Künstlers und zugleich solche eines Gelehr-
') An Deutschlands Jugend (Berlin. S. Fischer, 1918) S. 9.
37
ten empfangen. Beim Verlassen des Gymnasiums
schwankt er in bezug auf seine Laufbahn. Soll er Malerei,
Literatur oder Naturwissenschaften studieren? Nichts von
alledem, da er sich für das praktische Leben entscheidet.
Aber schon bald vermißt er sehnsuchtsvoll jene freien
Künste, die ihn bisher immer so anzogen. Seine Abende
wenigstens sollen ihnen gehören. So unterbricht er die
industrielle Arbeit im Laufe der Zeit zweimal, um doch
wenigstens für einen flüchtigen Augenblick als Literat
leben zu dürfen. Künstler und Dichter sollten seine
Freunde werden; er duzt Maximilian Harden, der seine
ersten Aufsätze in der Zeitschrift „Die Zukunft" auf-
nehmen sollte, und Gerhart Hauptmann, dem eins seiner
Werke gewidmet ist1); er schreibt zwei Bände „Erleb-
nisse" und „Reflexione n2)" ; er schreibt talmu-
dische Geschichten, kritische Artikel und eine Dichtung
zur Jahrhundertfeier vom Jahre 1813:i). Er hat sich im
Grunewald bei Berlin angekauft und hier eine bekannte
Villa erworben, die früher als vorübergehendes könig-
liches Hoflager gedient hatte. An dieser so herrlichen und
doch bei allem Luxus so einfachen Wohnstätte liebt er es,
einen kleinen Kreis weniger auserwählter Freunde zu
versammeln. Für gewöhnlich lebt Walther Rathenau, der
unverheiratet geblieben ist, hier als alter Junggeselle mit
seiner hochbetagten Mutter, die er mit pietätvoller Liebe
umgibt. Beide widmen sich der Musik. Seine Urteile in
seinen Schriften sind gerade darum so sicher und selb-
ständig ausgefallen, weil er stets bestrebt gewesen ist,
die Werke der großen Künstler aller Zeiten verständnis-
') ,Zur Kritik der Zeit" (Berlin, S. Fischer 1919, auch in der Gesamt-
ausgabe, K. I nach unserer Bezeichnung). 2) Da Walther Rathenau nicht
für nötig befunden hat ihnen in der neuen Gesamtausgabe seiner Werke einen
Platz anzuweisen, haben auch wir sie im allgemeinen nicht in den Rahmen
dieser Studie gezogen. Immerhin sind auch schon die „R ef 1 exi o n en"
im Separatdruck bei S. Hirzel in Leipzig in den verschiedensten Auflagen
erschienen. Vergl. hier S. 25, Anm. 1. s) Diese so verschiedenartigen
Schriften von W. R. sind in Band IV der Gesamtausgabe vereinigt.
38
voll zu genießen und die Werke der großen Schriftsteller
und Philosophen aller Länder wirklich zu lesen.
Seine Fähigkeiten und seine Entwicklung auf wissen-
schaftlichem Gebiete sind wirklich nicht unbedeutend.
Nach seinem eigenen Ausspruche hat er die sämtlichen
Wissenschaften viel zu gründlich getrieben, um nicht das
Eindringen der Laien in ihr Reich dämmen zu wollen, und
die Physik viel zu praktisch ausgeübt, um nicht allen spe-
kulativen Hypothesen gegenüber einen kräftigen Wider-
willen zu empfinden. Zwischen diesen beiden Extremen
findet er sein Ziel, das dahin geht, die Wissenschaften so
zu beherrschen und zu begreifen, daß er in der Lage ist,
alle philosophischen und sozialen Probleme in eine klare
Form zu bringen, um sie alsdann mit Hilfe der Aufschlüsse
und der großen Vorstellungsbilder, die ihm diese Wissen-
schaften verschaffen, zu lösen zu suchen. Ein paar Seiten
mit dem Titel „Physiologisches Theorem1)"
sind in dieser Hinsicht bezeichnend. ,,Seit Jahren hat
kein neues Buch mich so ergriffen und erfüllt wie Fran-
ces2) botanisches Werk „Das Leben der Pflanz e."
Einen katalogisierenden Wissenszweig, der trocken und
farblos, wie die armseligen Mumien seiner Herbarien, mir
von der Schule her verleidet war, sah ich verwandelt in
eine blühende und phantasievolle Wissenschaft. Die
Pflanzen hatten Leben gewonnen; und nicht dies allein:
sie gaben sich selbst ihre Formen und Gesetze, sie paßten
sich an, schützten und verteidigten sich, wanderten,
kämpften mit Verfolgern und Konkurrenten, schlössen
Bündnisse mit Freunden und Feinden, luden sich Gäste
und Hausfreunde ein, traten in Tausch- und Geschäfts-
beziehungen. Aber noch mehr: die ganze organische
Welt schloß sich mit ihren Arten und Formationen zu
l) Abgedruckt in „Zur Kritik der Zeit", S. 256—260 (K. I), aber auch
in der Gesamtausgabe an anderer Stelle: Band IV, S. 249—251. *) Im
Augenblicke des Kriegsausbruches, Leiter des Physiologischen Institutes
zu München.
39
einer Einheit zusammen, die aus äußeren und inneren
Gesetzen ein höchstes, alles beherrschendes Gleichge-
wicht normierte, So war, wie im Zeichen des Erdgeistes
erschaut1), aus organischem Leben das Kleid der Gott-
heit gewoben."
„Daß bei dieser Betrachtung die Gesetze der
Symbiose, der Assoziation der Organismen zu gemein-
samem Leben und wechselweiser Unterstützung den
stärksten Eindruck machen mußten, ist nicht verwunder-
lich. — Es erscheint mir bei eingehenderer Erwägung
denkbar, jeden höheren Organismus aufzufassen als eine
Lebensgemeinschaft verschiedenartiger, in gegebenen
Proportionen auftretender, selbständig lebender Organis-
men, die sich wechselseitig unterstützen, unter Umstän-
den auch bekämpfen, die zum Teil an diese Symbiose
gebunden sind, zum Teil aber auch unter anderen Asso-
ziationen ein selbständiges Leben führen können." Was
soll wohl diese Hypothese mit den von ihrem Verfasser
an sie geknüpften Schlußfolgerungen? Nun, es wird Sache
der Gelehrten sein, sich hierüber auszusprechen. Aber
jedenfalls nimmt diese Auffassung der lebenden Organis-
men und ihrer Stellung innerhalb ihrer Welt einen Haupt-
platz in dem Denken von Walther Rathenau ein, wird sie
doch von ihm weiter auf die menschlichen Individuen und
ihre Gruppierungen in Gemeinschaften übertragen.
Doch Walther Rathenau ist vor allem übrigen ein
ganzer Idealist. Im folgenden finde hier das Glau-
bensbekenntnis eine Stätte, das er nach langem
Hin- und Herschwanken in einem seiner letzten Werke2)
abgelegt hat:
„Ich glaube, daß unsere schwache Einsicht und un-
sere wenigen und zufälligen Sinne uns von der wahren
*) Anspielung auf den Auftritt im Goetheschen Faust, wo der Held
den Erdgeist beschwört, in dem die Seele unseres Planeten zu sehen ist.
2) „An Deutschlands Jugend", S. 69-71.
40
Welt nicht viel mehr offenbaren als dem Geschöpf, das
zwischen Stamm und Borke eines Baumes lebt. So hat
Spinoza gelehrt, daß von den unendlichen Attributen des
Seienden uns zwei nur erkennbar sind: Räumlichkeit und
Bewußtsein.
Ich glaube, daß die sinnliche Welt das Buch ist, aus
dem wir Bilder und Gleichnisse der Betrachtung schöpfen,
und der Kampfplatz, auf dem unser Wille die Laufbahn
von der Kindlichkeit der Begierde bis zur reifenden Ein-
kehr durchmißt.
Ich glaube, daß der Geist unendliche Stufen durch-
läuft, von undenklicher Zersplitterung bis zum Geist des
Aetheratoms, vom Geist des Minerals der organischen
Substanz, der Zelle, der Pflanze und des Tieres bis zum
Geist des Menschen, und abermals in undenkbarer Folge
aufwärts. Diese Welt der Geister ist die wahre Welt,
von ihren Gesetzen wissen wir wenig, doch die wunder-
bare Mannigfalt des Gesetzmäßigen fügt es, daß unter
unseren Augen geistige Gebilde mit eigenem Bewußt-
sein entstehen, Zellenstaaten, Ameisenhaufen, Bienen-
schwärme, Menschenstädte und Menschennationen.
Jede Geistesstufe bildet sich eine Erscheinungswelt
aus dem, was sie zu fassen vermag; die Welt, die der
Granit begreift, ist eine andere als die Zelle; die mensch-
liche, von Geist und Sinnen erschaffene Welt ist eine an-
dere als die des Regenwurmes.
Die Geistesformen, die hinter uns liegen, gipfeln in
einem einzigen Willen: zur Selbsterhaltung und Art-
erhaltung. Dieser Wille hat sich ein stets verfeinertes
Werkzeug geschaffen, das wir auf menschlicher Stufe In-
tellekt nennen; der grobe, unmittelbare Wille zur Erhal-
tung aber hat sich zugespitzt zum mittelbaren Willen;
dessen Gegenstand nennen wir Zweck.
Intellekt und Zweck beherrschen die ganze orga-
nische Stufenfolge bis zum Menschentum; vom Geist der
41
Alge bis zum Geist des Staatsmannes sind sie nur grad-
weise verschieden.
Der Mensch aber ist ein Geschöpf der Grenze. In
ihm endet die zweckhaft-intellektuelle Geistesform und
entsteht eine höhere. Im Menschen erwachen Gefühls-
reihen, die nicht mehr der Erhaltung dienen, ja ihr ent-
gegenwirken können. Ideen und Ideale, Liebe zum Näch-
sten, zur Menschheit, zur Schöpiung, zum Ueberwelt-
lichen erfüllen das Leben des Menschen und sind zweck-
frei; sie dienen uns nicht, sondern wir dienen ihnen und
sind bereit, für sie uns zu opfern.
Hier beginnt das nächsthöhere Geistesreich, das
Reich der Seele. Seiner sind wir nicht stärker teilhaftig,
als etwa die Zelle des intellektualcn Reichs teilhaftig ist.
In diesem Reich und seiner Anschauungswelt sind wir
unmündige, stammelnde Kinder. Deshalb können wir
seine Welt, die nicht mehr die Welt der raumzeitlichen
Vorstellungen und Begriffe ist, nur ahnen, nicht erfassen.
Von dieser Grenze aus scheidet sich alles beiendc.
Die durchlaufenen Welten erscheinen als die Weltseite
der Schöpfung; was ihnen angehört, wird im Sinne der
Einsicht zum Unwesentlichen, im Sinne der Ethik zur
Sünde. Der Gottseite der Schöpfung, dem Kommenden,
das uns als Vollendung erscheint, und das der Beginn
neuer unendlicher Stufenfolge ist, streben wir entgegen,
und es steht bei uns, wieweit wir in uns und um uns das
kommende Reich schon im irdischen Dasein verwirk-
lichen.
Dies ist die Sendung des Menschengeschlechts: die
mittlere Reihe der Schöpfung zu vollenden und die höhere
Reihe der Welten zu beginnen, und dies ist seine Ver-
antwortung: aus niederem Geist göttlichen Geist zu ver-
klären. Erlösung aber bedeutet, daß diese Verklarung aus
eigener Kraft nicht möglich ist, daß dem guten Willen die
rettende Kraft zu Hilfe kommt.
42
Guter Wille, Vertrauen und Liebe öffnen unsere Her-
zen den göttlichen Strahlen, die uns allerwärts umfließen,
und helfen die Herzen unserer Brüder öffnen. Hierin ist
alle Glaubens- und Sittenlehre beschlossen; es gibt kein
Tun und Vollbringen, das selig macht, selig macht nur die
Gesinnung. Es gibt kein sittliches Handeln, sondern einen
sittlichen Zustand, der unrechtes Handeln ausschließt. Es
gibt keine absoluten Werte außer jenen dreien, die uns
dem Reich der Seele entgegenführen; alle anderen irdi-
schen Güter sind bestenfalls Mittel.
Ich glaube, daß im vollendeten Reich der Seele alle
Erscheinungen und Kategorien der intellektualen Welt
beendet sind, mit ihnen die kämpfende Individualität, die
Vergänglichkeit und die intellektuale Einsicht. Hier liegt
die Grenze unserer Sprache und Vorstellungskraft. Es
versagen alle Symbole1)."
Also ein doppelter Idealismus: ein geistiger und ein
sittlicher. Die wahre Welt ist die der Geister und nicht
die materielle, in der wir leben. Ein ununterbrochener
Fortschritt lockt das Universum seit seinen zurück-
gclegensten Offenbarungen immer weiter mit sich in
der Richtung einer stetig zunehmenden Vergeistigung.
Schon heute können wir in jedem Augenblicke feststellen,
daß in ihm eine regelrechte Verkettung aller Phänomene
herrscht. Keines von ihnen ist in seiner Vereinzelung für
sich durch rein mechanische Gründe erklärbar. ,,Jede
Frage, die wir zu Ende denken, führt ins Ueberirdische.
Von jedem Punkt, auf dem wir stehen, ist nur ein Schritt
bis zum Mittelpunkt der Welt. Die Dinge des Tages ver-
') Anm. des Bearbeiters: An Deutschlands Jugend, S. 69— 71. „Die
Weltseite der Schöpfung" in ihrer Vergänglichkeit im Gegensatz zu
deren „Gottseite'4 hat in wunderbarer Symbolik Charles Richet in seinem
Gedichte: „Vergänglichkeit" (in der Sammlung „Leit-, Zeit- und Streit-
fragen". In deutscher Nachdichtung von dem Bearbeiter dieses Dr. Rudolf
Berger (Berlin) und Armand Hoche. Berlin, Gebr. Paetel 1914*), S. 119—121,
künstlerisch behandelt.
43
gleichen sich dem Spiegelbild auf einer Glaskugel: im en-
gen Bezirk, dem Auge zunächst, scheinen die Gegenstände
deutlich und wirklich; im Umkreise löst sich das Bild in
verschwimmende Flächen1)." Andererseits ist die sitt-
liche Welt absoluten Gesetzen unterworfen, die nicht aus
dem Reiche des Empirismus herstammen. ,,Wir wollen
das Gute, wir glauben an das Künftige, wir verlangen Ge-
rechtigkeit, wir anerkennen das Allgemeingültige, wir
verehren das Ewige auch in der kleinsten unserer Hand-
lungen, soweit sie nicht rein tierisch ist; somit leben und
wirken wir unablässig im Gebiet des Transzendenten1)."
Eine andere Vorstellung von den Dingen zu haben, scheint
Walther Rathenau einfach unmöglich; ohne sie würde das
Leben in seinen Augen jeden Wert verlieren. „Unfaßbar
und unausdenkbar ist es, diese Welt, in der ein nie er-
hörtes Maß von geistigen Kräften kreist, preisgegeben
sich vorstellen zu müssen den zufälligen Konstellationen
materieller Bedürfnisse, physischer Gleichgewichte, majo-
risierender Bestrebungen, ohne das Gegengewicht einer
einigen, unerschütterten ethischen Triebkraft. Ohne die
Ueberzeugung eines absoluten Gutes, das nottut. Ohne
Glauben an ein gemeinsames Ziel, das Leben und Tod
umschlingt. Ohne eine gültige Wertung, die sagt: dies ist
gut und jenes böse2)."
„Wenn wir nicht glauben dürfen, daß Erkenntnis und
sittlicher Wille erworbenes Laster lösen und ererbte
Sklavenmoral tilgen kann, so bleibt dem Sittenträumer
nur die Wahl, sich still und hastig aus der Welt zu
retten3)."
Doch ist dieses Ideal, dieses Absolute so beschaffen,
daß wir zu ihm gelangen oder auch nur uns von ihm
einen Begriff machen können? Der Skeptiker sind Legion,
und ihre Beweisführung scheint wirklich auf einer festen
') M. II. S. 11. °) D. III. S. 166, Sep. Ausg. S. 154. 3) D. III. S. 190,
Sep.- Ausg. S. 177 178.
44
Grundlage aufgebaut zu sein. Einige zweifeln an allem,
sogar an den Urgrundlagen der Dinge selbst. „Was ist
wirklich? Es gibt nur täuschende Erscheinung. Was ist
erstrebenswert? Es gibt keine absoluten Werte. Was
ist ein Ziel? Ein Zustand, von dem man, sobald er er-
reicht ist, zu neuen Zielen hinwegstrebt — oder eine un-
erträglich süße, falsche Seligkeit. Was sind menschliche
Triebkräfte? Genuß und Macht. Was ist Tat und Opfer?
Zwang unfreien Willens. Was ist Sittlichkeit? Eine
Konvention des Zeitalters und der Umwelt. Was ist Ge-
schichte? Die wechselnde Ausdrucksform des Nahrungs-
kampfes. Was ist Dasein? Eine Verirrung des Absoluten,
aus dem es nur ein Ausweg gibt in Traum und Nichts1)."
Andere Skeptiker — und zu ihnen gesellt sich Walther
Rathenau — zweifeln an der Allmacht unseres Intellekt.
Wer bisher geglaubt hat, daß die Wissenschaft uns über
alles, was in der Welt vorgeht, belehren und uns zu
zu Herren dieser Welt machen könne, wieviel muß nicht
ein solcher jetzt von dieser seiner Illusion aufgeben?
,,Die Wissenschaft selbst beginnt jetzt zu erkennen,
daß ihr vollkommenstes Gewebe dem Willen nichts
anderes sein kann als dem Wanderer eine vortreff-
liche Landkarte ist. Gewiß, sie gibt ihm die nötigen An-
weisungen: hier liegt ein Gebirgszug, ein Fluß, eine Stadt,
ein Meer; wende ich mich rechts, so gelange ich hierhin,
links dorthin; dieser ist der kürzere Weg, jener der
ebenere; hier herrscht Fülle, dort weht Bergluft; hier
liegt Freiland, dort Zivilisation. Welcher Pfad mir aber
vorgeschrieben ist, wohin mein Herz, meine Pflicht mich
zieht, kann ein Kartenblatt mir nicht sagen. Wissen-
schaft mißt und wägt, schreibt und erklärt, aber sie wertet
nicht, es sei denn nach dem Maßstabe konventioneller
Satzung-)."
>) „An Deutschlands Jugend" S, 24. 2) D. III. S. 16-17, Sep.-Aus-
gabe S. 14 15.
45
Nicht anders steht es mit der Ohnmacht der Philo-
sophie. ,, Pflichtgetreu und bekümmert machte immer er-
neut die Philosophie sich ans Werk, die zerrinnenden
Fäden zu sammeln, ewige Richtungen, Gesetze, Impera-
tive zu ersinnen. Vergeblich! Jede kritische Frage hatte
sie sich gestellt, an Begriffen und Welt, an Gott und Da-
sein zweifeln gelernt, und dennoch war sie aus reiner Ver-
nunft an der einfachsten Vorfrage blind vorbeigeschritten:
ob nämlich der denkende, messende, vergleichende Intel-
lekt, die Kunst des Einmaleins und das Warum die ein-
zige dem Ewigen Geist verliehene Kraft sei und bleibe,
um Menschlichgöttliches zu durchdringen. Sie blieb In-
tellektualphilosophie. Sie benahm sich, als wollte ein
Schwingungstheoretiker mit Kurven und Diagrammen das
Erlebnis der Symphonie ergründen, als wollte ein Mete-
orologe mit Wetterkarten die Stimmung eines Frühlings-
morgens erschöpfen, als wollte ein Hydrauliker das Ur-
empfinden der Meeresbrandung errechnen. — Sie er-
staunte nicht über die Armseligkeit und Kahlheit ihrer
Definitionen, wenn sie sich an die inneren Gewalten der
Liebe, der Natur, der Gottheit wagte. Sie fragte nicht,
warum allen ihren sittlichen Lehren die zwingende Macht
der absoluten Verbindlichkeit fehle, sie fragte noch weni-
ger, auf welchen Voraussetzungen eine absolute Ver-
bindlichkeit überhaupt beruhen könne. Denn auf den
Nachweis der allgemeinen Nützlichkeit hat jeder das
Recht zu antworten: ich verzichte, und auf jede theore-
tische Pflichtkonstruktion: ich schließe mich aus und
nehme die Folgen auf mich. Logisches Denken kann
Recht begründen und Sitte, niemals aber eine absolute,
jedem Einwand enthobene Wertsetzung und Sittlich-
keit1)/*
Die Religionen endlich, unsere scheinbaren natür-
lichen Führer zu einer übersinnlichen Welt haben ihre
») D. III. S. 224, Sep.-Ausg. S. 209/210.
46
Aufgabe nicht erfüllt. Sie sind Kirchen- und Staatseinrich-
tungen geworden, die sich vor allem der Erhaltung der
materiellen Welt gewidmet haben. „Religionslehrer und
Kirchen mögen sich fragen, ob sie so viel getan haben,
als nötig war, um die Menschen über das wahre Ver-
hältnis des Eudämonismus zum Glauben aufzuklären, ob
sie nicht gelegentlich die alte Nützlichkeitsseite des
Glaubens willkommen hießen, gleichviel ob als Erzie-
hungsmittel oder um die Gläubigen bei der Stange zu
halten1)." Nebenbei gesagt können die religiösen Her-
zensergüsse von einstigen Nomadenstämmen unmöglich
noch heute zeitgemäß sein und es ist eine Selbsttäu-
schung, sich ihnen noch immer hartnäckig hinzugeben in
der Hoffnung, sie aufs neue beleben zu können. Daher
schwanken heute auch die besten Geister, ohne sich fest
entscheiden zu können, ob sie die ehrwürdigen, aber ver-
alteten Dogmen oder die modernen Lehren eines faden
empirischen Rationalismus zu Führern nehmen sollen.
Doch Walther Rathenau ist weit entfernt, zu ver-
zagen. Für ihn ,,ist der Zweifel befruchtend, nicht nieder-
drückend2)." Weil er ein Mann des Handelns ist, ver-
schmäht er jede Gemeinschaft mit den Skeptikern und
den Pessimisten. Wären diese in der Tat ,,so ehrlich,
wie sie es nicht immer gewesen sind, so würden sie, wo
nicht auf Handlung, so auf Gültigkeit der Handlung ver-
zichten. Sie würden nicht versuchen, mit dürftiger und
verhohlener Anleihe, aus anderen geistigen Breiten eine
Hütte zu zimmern, in der man den ungeselligen, unbe-
quemen unmaßgeblichen Hausrat der Weltflucht oder In-
differenz, des Zynismus oder Epikuräertums stillschwei-
gend und verstohlen gegen wohnlichere Gerätschaften
vertauschen kann3)." Um gegen sich selbst logisch zu
sein, sollten sich Skeptiker und Pessimisten zur Passi-
\) .An Deutschlands Jugend", S. 50. 2) „An Deutschlands Jugend*,
S. 41. 8) .An Deutschlands Jugend', S. 24/25.
47
vität der Vernunft und des Herzens sowie des Willens
verurteilen. Aber sie vermögen es nicht. „Verdammen
wir diese Weltbühne des Werdens, so ist alles Denken
vergeblich, jedes höhere Gefühl irrational und alles Han-
deln Torheit; ja selbst ein Streben nach innerer Vollkom-
menheit bleibt Handlung und somit Wahn. Doch dieser
Ausgang widerlegt sich selbst; denn der heiße Drang der
Seele besteht; und mehr noch, er ist von allem Erleben
das Realste1)." Gutwillig oder gewaltsam sind sie zum
Handeln einfach gezwungen, ja werden wohl notgedrun-
gen zugeben müssen, daß in unserem Dasein die erste
Rolle nicht der Reflexion zufällt, sondern vielmehr gerade
umgekehrt überall vor der Intelligenz der Wille den Vor-
rang hat. ,, Jedem schrankenlosen Verehrer des intellek-
tualen Denkens sei es von früh bis spät wiederholt: Der
größere und edlere Teil des Lebens besteht aus
Wollen2)."
Nun liegt es in dem Charakter des Willens, seinen
Anteil am Absoluten zu suchen. Dem zum Trotze, was
wir gemeinhin glauben, mischt sich die Reflexion nur in
unbedeutender Weise in unsere Entscheidungen ein.
„Das Denken schafft keine Werte. Sie sind gegeben
oder sie sind es nicht. Wer ehrlich ist, weiß, daß er
manchmal Folgen mit dem Verstände abgewogen hat, nie-
mals Ziele. Er handelt, wie er handeln muß, nach innerem
Gesetz, und dies Gesetz ist tierisch oder es ist göttlich.
Wer Werte ergrübelt, ist hilflosen oder kranken Geistes
und nicht berufen. Die Gründe, die jemand nachträglich
für sein Handeln gibt, sind falsch. Niemand weiß, was in
irgendeinem Augenblick in ihm vorgeht; ein tausend-
fältiges Ich kreuzt seine widerspruchsvollen Fühlungen
und Wollungen, und sein Innerstes entscheidet3)." „Die
Richtkräfte unseres Lebens sind absolute Werte. Diese
») D. HI. S. 21, Sep.-Ausg. S. 19. 2) D. 111- S. 60, Sep.-Ausg. S. 54,
3) ,An Deutschlands Jugend", S. 44.
48
Werte können benannt, aber nicht begründet werden1)."
In Wirklichkeit ist jeder Willensakt eine Herzensregung
und zugleich ein Glaubensakt. „Was ist beweisbar?
Kaum das Vergangene, kaum selbst die Wahrheit der
euklidischen Geometrie; unsere Gefühle sind es nicht,
unsere Erlebnisse nicht und nicht unsere Voraussichten.
Jede geschäftliche Auffassung, jede organisatorische Maß-
nahme ist bestreitbar, und dennoch bleibt in der Welt
ein glaubendes Vertrauen zum Rechten2)." Unruhiges
Menschenkind du, fürchte dich nicht und schilt doch
nicht auf jenen heißen Drang deiner Seele, sondern fasse
doch Mut und ,,wage es doch lieber, jenen heißen Drang
und nicht das erdacht Absolute zur temporären Achse
unseres Erlebens zu wählen, und das Dasein gewinnt
seinen Sinn zurück. Das Denken zum Absoluten ver-
nichtet den Willen; die Andacht zum Transzendenten
aber gibt dem Denken adäquate Ziele, belebt den Willen
zur Liebe des Menschen, der Natur und der Gottheit
und erobert die Tat3)."
Was tut dann der Katzenjammer, den uns unser
schwaches Verständnis verursacht: der Wille hebt uns
hoch darüber empor und bahnt uns einen ersten besten
Weg zum Reiche der Seele. , .Alles Wollen ist unbeweis-
bares Lieben und Verlieben; es ist seelisches Teil, und
neben ihm steht der zählende, messende und wägende
Intellekt abseitig und selbstbewußt als Theaterkassierer
am Eingang zur Bühne der Welt. Was wir schaffen, ge-
schieht aus tiefstem, wissenlosen Drang; was wir lieben,
ersehnen wir mit göttlicher Kraft; was wir sorgen, gehört
der unbekannten künftigen Welt; was wir glauben, lebt
im Reiche des Unendlichen. Nichts davon ist beweisbar,
und dennoch ist nichts gewisser; nichts davon ist greifbar,
») „An Deutschlands Jugend", S. 43. 2) D. III. S. 21/22, Sep.Ausg.
S. 23. 3) D. III. S. 22, Sep.-Ausg. S. 19.
4 49
und dennoch geschieht jeder wahre Schritt unseres
Lebens im Namen dieses Unaussprechbaren1)."
Auch auf dem Gebiete des Gedankenlebens sind wir
nicht jeden Mittels bar, zur wahren Erkenntnis der Dinge
zu gelangen. Auch da ist der Skeptizismus ein ganz
arger Schwindel. ,,Ja, ein kahler Betrug! Denn nur der
Ernst der Welt, der Glaube an ihren Sinn und Zusammen-
hang rechtfertigt Betrachtung und Mitteilung; hoch-
mütiger Glaube an die Sinnlosigkeit und hoffnungslose
Verworrenheit des Bestehenden fordert in Konsequenz
ein ungeistiges Leben animalischen Genusses und die
Beschränkung alles sittlichen Bewußtseins auf die Furcht
vor der Polizei. Der Schaufensterdieb des Lebens leugnet
den Schweiß, den er verpraßt und entwertet. — Gewiß,
nicht erlernte Kenntnis und ersessene Bildung vermag die
harten Schollen unseres anvertrauten Feldes zu lösen;
hochmütiges Wissen und Besserwissen fruchtet nicht.
Doch ernst zu nehmen ist jedes echte irdische Ereignis;
Treue der Sinne und Hingabe des Geistes führen zum
inneren Ergreifen selbst des alitäglichen Geschehens
und verschmähen das Nippen an den Zeichen der Dinge2)."
Es ist nicht wahr, daß der Intellekt in völligem Aus-
sterben begriffen ist. ,,Hier liegt der naive Irrtum aller
Philosophie zutage, die sich vermaß, mit der Kraft des
Intellekts, der Logik, des Einmaleins alle Reiche zu durch-
dringen, ohne sich je zu fragen, ob denn diese intellek-
tuelle Denkkraft wirklich eine absolute sei, ja ob sie denn
die einzige Macht des Geistes bedeute3)." In der Tat
bezeichnet der Intellekt eine beachtenswerte Etappe in
der Entwicklung, die die Natur durchmacht, von der Ur-
zelle bis zur Seele. , .Damit die Menschheit dieses Reich
gewinne, muß sie alle Lebenskräfte zusammenraffen; sie
muß die Kraft des Intellekts, die einzige, über die sie in
l) D. III. S. 60, Sep.-Ausg. S. 54. *) D. S. 20, Sep.-Ausg. S. 17.
s) D. III. S. 164, Sep.-Ausg. S. 153.
50
Freiheit verfügt, nach Menge und Stärke aufs höchste
spannen. — - Denn der eine der Wege, die zur Seele
führen, geht durch den Intellekt; es ist der Weg der Be-
wußtheit und des Verzichts, der wahrhaft königliche Weg,
der Weg Buddhas1)." Wer sich nur die Ohnmacht des In-
tellektes in bestimmten Fällen klar macht und sich dar-
auf beschränkt, ihn ausschließlich auf adäquate Aufgaben
zu richten, der wird zugeben müssen, daß er ,,als Auf-
schwung der gewaltigste seit Ursprung des Planeten ist1)."
Es ist das aber nicht alles. Man suche nur in sich
selbst, und man wird zu seiner freudigen Überraschung
zur Erlangung der wahren Erkenntnis eine wirksamere
Kraft entdecken, als den Intellekt. „Steigen wir hinab
in die Schächte unseres unberührbaren innersten Bewußt-
seins, so finden wir die dunklen Tiefen nicht leer; wir
kehren heim mit der Gewißheit des Unendlichen, der
Gottseite der Schöpfung, mit der Verkündung des Be-
rufes unserer Seele, unserer überintellektualen Mächte,
und mit dem Geheimnis des Seelenreiches-)." Eine
solche Erkenntnis ist eine wirklich unfehlbare. ,,Die
Seele, welche nicht denkt, sondern schaut, ist des Irr-
tums nicht fähig. Wie das ungeschulte, aber gesunde
Auge beim ersten Anblick eines Bildes den perspek-
tivischen Fehler fühlt, der dem konstruierenden Zeichner
entgangen ist, so empfindet die Seele in vollkommener
Einfühlung die Übereinstimmung einer Denkfolge mit dem
Naturgesetz, und seine Verletzung empfindet sie als Disso-
nanz. Ohne zu argumentieren, ist sie ihres Glaubens
sicher; sie schmeckt und wittert gleichsam die Wahrheit,
den Irrtum und die Lüge3)." Diese Gewißheit drängt sich
uns in einer unwiderstehlichen Form auf, indem wir in
unmittelbarer Berührung die harmonische Ordnung des
sich in jedem seiner Elemente widerspiegelnden Univer-
') D. III. S. 33, Sep.-Ausg. S. 29. *) D. III. S. 15/16, Sep.-Ausg. S. 13.
s) M. II. S. 55, Sep.-Ausg. S. 58.
4* 51
sum und die zwischen unserem Innenleben und der Außen-
welt bestehende Übereinstimmung empfunden haben.
,,Alle Entwicklung ist Aufstieg des Geistes, und unser
inneres Erleben, rein empfunden und wunschlos gedeutet,
hat mikrokosmischen Anteil am Geschehenen der Welt.
Dies ist die Erklärung aller Prophetie; vom geschäftlich
nüchternen Erfassen einer Konjunktur bis zur adäquaten
Ausdeutung der politischen Notwendigkeit, von der ein-
fühlenden Erkenntnis eines menschlichen Schicksals bis
zur visionären Durchdringung des Weltbildes bezeichnen
alle Stufen des intellektualen und des intuitiven Mitklin-
gens den Parallelismus des erlebten und des objektiven
Geistes. Jedes organisierte Instrument erlebt in seiner
Stimme das Abrollen der Symphonie1)."
Aus dem Vorhergehenden ersieht wohl ein jeder,
weiches die Gegenstände sind, mit denen sich der Schrift-
steller Walther Rathenau beschäftigt! Das Leben des
ethischen Menschen, das des sozialen, das sind die Ge-
genstände seines Interesses, und mehr noch als alles dies:
das Gemeinschaftsleben, seine Organisation und sein
Verlauf. Diese Aufgabe erscheint ihm so schön, daß der
Nazarener selbst, wenn er heute lebte, seines Erachtens
keine andere wählen würde. „Er würde nicht wie ein
studierter Pastor in antiquarischer Sprache mit syrischen
Gleichnissen reden, sondern von Politik und Sozialismus,
von Industrie und Wirtschaft, von Forschung und Tech-
nik2)." Aus allen diesen Ausführungen Walther Rathenaus
spricht der Direktor der vielen großen Unternehmungen.
Doch wir dürfen darum nicht etwa von ihm glauben,
daß er einseitig und oberflächlich ausschließlich an
menschenfreundliche materielle Reformen denkt. Er
fährt an der letzterwähnten Stelle sogleich fort: „Jesus
») D. III. S. 25/26, Sep.-Ausg. S. 22/23. 2) D. III. S. 63, Sep. Ausg.
S. 57.
52
hätte diese Dinge freilich nicht als ein Reporter behan-
delt, dem sie an sich erfüllt und stupend sind, sondern
den Blick auf das Gesetz der Sterne gerichtet, dem unsere
Herzen gehorchen1)." Es sind das alles Zitate aus Walther
Rathenaus Werk: „Von kommenden Dingen2)."
Die herrliche Schrift beginnt folgendermaßen: „Dieses
Buch handelt von materiellen Dingen, jedoch um des
Geistes willen. Es handelt von Arbeit, Not und Erwerb,
von Gütern, Rechten und Macht, von technischem, wirt-
schaftlichem und politischem Bau, doch es setzt und
schätzt diese Begriffe nicht als Endwerte3)." Durchaus
nicht erstaunlich! Sträubt sich doch Walther Rathenau
mit Händen und Füßen zuzugeben, daß die Materie den
Vorrang vor dem Geist habe oder gar, daß die von der
Menschheit erstrebten Ziele ausschließlich materielle
seien. Unser Jahrhundert verdient gewiß die Bezeich-
nung eines Jahrhunderts der Maschine, es soll das aber
keineswegs bedeuten, daß der Mensch selbst zu einer
Maschine geworden ist. Eine Seele lebt unter der Bluse
jedes einzelnen Ingenieurs und jedes einzelnen Arbeiters.
Sie ist es, die gebietet und befiehlt: die stählernen Un-
geheuer gehen hin und her, surren, schnurren und arbeiten
nach dem Willen des Menschen, ihres Bändigers. Sie
haben wirklich Unrecht, die da behaupten, daß die Be-
stimmung des Menschen darin bestehe, das materielle
Wohlbefinden zu erjagen. „Wir sind nicht da um des
Glückes willen. Unser Wille ist nicht da, noch weniger
ist Entwicklung da, um unser Glück zu vergrößern. Wir
schreiten nicht den Weg der Beglückung, sondern den
Weg der Vervollkommnung, den Weg zur Seele, gleich-
viel, ob unser Glück darüber zugrunde geht. Und wir
schreiten diesen Weg nicht bloß, weil wir müssen, son-
dern weil wir wollen, weil es noch andere treibende
') D. III. S. 63. Sep.-Ausg. S. 57. -) Seinem Vater Emil Rathenau
gewidmet. •) D. III. S. 13, Sep.-Ausg. S. 11.
53
Kräfte gibt, die in uns selbst liegen1)." „Wir leben nicht
um unsertwillen, sondern nur des Gottes willen. — Nicht
Furcht und nicht Hoffnung sind die treibenden Gewalten.
Nicht das verständige Streben nach mechanischem Gleich-
gewicht, nicht Güte und selbst nicht Gerechtigkeit.
Sondern Glaube, der aus Liebe entspringt, tiefste Not
und Gottes Wille2)." Dieses erhabene Ziel ist sowohl der
gesamten Menschheit wie der einzelnen Persönlichkeit
gesteckt. ,,Es entscheidet das Bewußtsein, daß die ge-
heiligte Institution höher steht als die Notdurft des ein-
zelnen, die Ahnung, daß der Mensch nicht um eines
irdischen Glückes willen geschaffen ist, sondern in gött-
licher Sendung, der Glaube, daß die menschliche Gemein-
schaft nicht eine Zweckvereinigung bedeutet, sondern
eine Heimat der Seele3)." Und Walther Rathenau sollte
sich, als er zur Feder griff, die Aufgabe stellen, die Seele
einzuladen und zu ermutigen, Einkehr zu halten in sich
selbst.
Welche Form hat nun dieser Ruf an die Seele des
Menschen anzunehmen? Wie soll er die Kraft erhalten,
die einzelnen mit sich fortzureißen? Eines ist gewiß:
es kommt natürlich darauf an, sich unmittelbar an die
Seele selbst zu wenden. Es ist nicht etwa in die erste
Linie zu stellen, schon auf dieser Welt durch Umgestal-
tung der materiellen Institutionen ein besseres Leben er-
wecken zu wollen! Diese materiellen Institutionen hier
auf Erden sind und bleiben sekundär und können nie
darauf Anspruch erheben als etwas Ursprüngliches zu
gelten! „Echter Glaube stammt aus der Schöpferkraft
des Herzens, aus der Phantasie der Liebe; er schafft Ge-
sinnung, und ihr folgt willenlos das Geschehen4)." Soll ein
materieller Wechsel eintreten, muß ihm immer zuerst ein
durchgreifender Gesinnungswechsel voraufgehen. ,,Die
l) „An Deutschlands Jugend" S. 28 -) D. III. S. 18/19, Sep.-Ausg.
S. 16. 8) D. III. S. 52, Sep.-Ausg. S. 46/47. *) D. III. S. 17, Sep.-
Ausg. S. 15.
54
Gesinnungen warten auf diesen Anstoß. Aus sich selbst
haben sie zwar die Kraft, doch nicht die Neigung, ihre
Gleise zu verlassen; die Veraltung der Ziele drückt
sich nicht darin aus, daß die Gesinnungen sich mit
einem Schlage wandeln, sondern daß sie unsicher und
verzagt werden1)." Wird es denn nun in der Tat für eine
Erneuerung der Gesinnungen langatmiger wissen-
schaftlicher Darlegungen bedürfen? Ach, nein! Können
noch die Wissenschaften, so ersprießlich sie auch
für die Aufklärung des Verständnisses sein mögen, doch
niemals die innere Überzeugung des Herzens erobern.
,,Der Forscher steht nach seiner Wesensanlage im polaren
Gegensatz zum Tatmenschen! — Beim Handeln kommt
es nicht sowohl darauf an, ob eine Tatsache wahr sei,
sondern welche von zwei oder vielen wahren Tatsachen
oder Tatsachenkomplexen schwerer wiege. — Das letzte
Prinzip ist: Ziele in sich fühlen, die nicht von Suchen und
Lernen, sondern von einer bewußt oder unbewußt er-
schauten Weltauffassung gegeben sind. — Das Gebiet des
Handelns steht dem künstlerischen Schaffen unendlich
näher als der Gelehrsamkeit2)." Die Wissenschaften können
nichts weiter als nützliche Bundesgenossen im Kampfe
sein, die die Elitetruppen für den Sturmangriff immer
wieder mit frischem Proviant zu versorgen haben.
Gibt es dann überhaupt noch historische Beweis-
führungen, die imstande wären, die Menschen zu über-
zeugen? Kaum noch! Die Geschichte leidet heutzutage
bereits unter derselben unzulänglichen Überzeugungskraft
und hat zudem noch weitere Schwächen. Sie orientiert
uns ganz einseitig: „Vergessen wir doch nicht, daß die
Brücke der Erinnerung immer nur von Gipfel zu Gipfel
führt! Sie ermißt nicht, wie mächtig die Sohle der Täler
sich gehoben hat. Die Geschichte schweigt von den Zahl-
J) D. Hl. S. 141, Sep.-Ausg. S. 131. • ») D III. S. 239, Sep.-Ausg.
S. 223/224.
55
und Namenlosen; noch immer ist sie eine Chronik der
Sieger und Heroen1)." Sie nimmt keine Rücksicht auf ein
wesentliches Phänomen, dem Walther Rathenau die sehr
treffende Bezeichnung „Substitution des Grün-
d e s2)" gibt. MDie menschlichen Einrichtungen bleiben im
Namen und in wesentlichen Attributen sich selbst gleich
und vertauschen ihren Inhalt, ja selbst ihren Daseins-
grund; in der veralteten Schale schlägt ein neues Ge-
schöpf seine Wohnung auf2)." Es bleibt also stets bedenk-
lich, auf Grund alter Staatseinrichtungen, die den gleichen
Namen wie gewisse neuere trugen und nichtsdestoweniger
von ihnen von Grund aus verschieden waren, über diese
neueren Staatseinrichtungen, besonders auch über die
heutige Staatsform, räsonnieren zu wollen. Es ist letzten
Endes auch ganz ebenso bedenklich, die Überlieferung
zur Erklärung oder Rechtfertigung einer derartigen Po-
litik anzurufen; in der Tat ist denn auch die so viel
gepriesene Kontinuität, die es festzustellen und zu stützen
gilt, nichts weiter als eine hohle Illusion! „Das Bild der
Gegenwart ist fast so subjektiv wie das der Zukunft, und
die scheinbar so objektive Vergangenheit ist ver-
änderlich3)."
Nein, die Saiten einer Seele erklingen nur wieder
auf den Anruf einer anderen Seele. Walther Rathenau
sucht also nicht zu beweisen, sondern zu überzeugen.
Das Leben, das Studium, die Reflexion haben ihn gelehrt,
nichts von irgendwelchem abstrakten Wissen soll in seine
Werke übergehen, sondern nur seine Empfindungen und
die Ansichten, die er vertritt. „Die Dinge, die ich zu sagen
habe, mögen sie sich als alt oder neu, stark oder anfecht-
bar erweisen, sind nicht Konstruktionen, sondern gedeu-
tete Empfindungen und Erlebnisse, die mir, einem Men-
l) D. III. S. 23, Sep.-Ausg. S. 20. — Vgl. Ch. Richets Gedicht
„Traumbild" in der hier in der Anm. 1 zu S. 43 angeführten Gedicht-
sammlung S. 129/130 (Bearbeiter). 2) D. III. S. 79, Sep.-Ausg. S. 73.
8) D. III. S. 241, Sep.-Ausg. S. 226.
56
sehen, den ich nicht als leichtgläubig und vermessen kenne,
wahrer und fester gefügt erscheinen als die Begebnisse
und Bilder der Welt, an die wir zu glauben gewöhnt sind.
So bleibt denn nichts als das Wort Geständnisse1)". Er
spricht wie ein religiöser Schwärmer, dessen Herz über-
fließt: , .Verschließt ihr euch vor mir, so rede ich zu mir
selbst und meinem Schöpfer; denn reden muß ich und
darf nichts verschweigen, obwohl ich weiß, daß jedes
Wort mir neuen Unfrieden schafft bei denen, die mich
hassen und verfolgen. Dann werden andere kommen,
helleren Geistes, reineren Herzens, edlerer Art, die Glau-
ben erzwingen für das, was sie verkünden und was ich
nur stammle2)". Sein Bemühen will nicht etwa belehren,
ja vielleicht nicht einmal erbauen: durch unmittelbares
Erschauen hat er die Offenbarung des Reiches der Seele
gehabt, und so wird er zum Propheten dieses Reiches.
Er redet in einem unmittelbaren Rufe von Mensch zu
Mensch unablässig von neuem von dem Dasein jenes
Reiches der Seele und der Möglichkeit und Notwendig-
keit zu ihm zu gelangen, und gibt immer wieder dem Ge-
danken Ausdruck: „Daß Seelenrichtung des Le-
bens und D u r c h g e i s t u n g der mechanisti-
schen Ordnung das blinde Spiel der Kräfte
zum vollbewußten, freien und menschen-
würdigen Kosmos gestaltet3)"! Sein Werk
ist ein langes prophetisches Bekenntnis4)!
Doch woher soll wohl unserem Ingenieur-Philosophen
seine Kraft kommen, wenn er nicht den Beweis seiner
Behauptungen erbriagen will? 0, vor allem aus der Macht
jener Überredung, die aus der unmittelbaren Wahrheit
selbst fließt. Die Offenbarungen des lebendigen Er-
schauens sind frei von Irrtümern und drängen sich dem
l) M. II. S. 17, Sep.-Ausg. S. 19 2) „An Deutschlands Jugend" S. 8
3) D. III. S. 57, Sep.-Ausg. S. 50. *) Nach der genialen Art eines Friedrich
Nietzsche, besonders auch in dessen künstlerischem Stile und rhythmischer
Prosa. (Bearbeiter.)
57
Gedanken in einer zwingenden und unwiderstehlichen
Form auf. Sie tragen „das Merkmal der lebendigen Wahr-
heit: die Kraft, mit der diese an die Herzen schlägt.
Jedes echte Wort hat klingende Kraft und jeder Gedanke,
der nicht in den Labyrinthen des dialektischen Verstan-
des, sondern im blutwarmen Schöße der Empfindung ge-
boren ist, zeugt Leben und Glauben1)".
Ohne Zweifel wird unsere rein intellektuelle Sprache
mehr zur Verräterei als zur Förderin der passenden Aus-
drucksform für solche Wahrheiten. ,,Wer den Versuch
gewagt hat, ein erschautes Bild unsichtbarer Weltzusam-
menhänge in Gleichnisse und Denkformen des verein-
barten Lebens zu übersetzen, der kennt, wenn nicht eben
der göttliche Genius ihm diktierend über die Schulter zu
blicken pflegt, die Jahre der Sorge und des Zweifels, wo
keiner der strömenden Begriffe, keines der wechselnden
Zeichen und Symbole das unzweifelhaft, aber unaus-
sprechlich Erblickte. decken und erschöpfen will2)". Solche
Wahrheiten finden jedoch schließlich gleichwohl eine an-
nehmbare Form. Walther Rathenau hat die Schwierig-
keiten gekannt und auch häufig ihre erfolgreiche Über-
windung verstanden. Sein Bekenntnis geht Schritt für
Schritt dem Gange der Gedankenarbeit nach: weniger
logische Ableitung, eher einmal eine Folge kurzer sprü-
hender Aphorismen, eine sichtliche Unordnung und häu-
fige Wiederholungen einer und derselben Idee. Hier wird
eine Vorfrage aufgeklärt oder ein Einwurf zurück-
gewiesen, dort nimmt eine zusammenfassende Übersicht
die bereits erreichten Punkte wieder auf, doch überall
sprechen lange Erfahrungen und vorausgegangene Re-
flexionen aus dem Werke, das in gleichmäßigem Vor-
wärtsschreiten dem angekündigten Schlüsse zustrebt.
Oft sind die Sätze nicht von einer gezierten und affek-
tierten Spitzfindigkeit frei oder auch mit einem gefähr-
l) D. III, S. 61, Sep.-Ausg. S. 55. 2) M. II. S. 17, Sep.-Auig. S. 19.
53
liehen Netze von fußangelartigen abstrakten rvedevven-
dungen oder wissenschaftlichen Kunstausdrücken förm-
lich übersät, aber oft haben sie auch eine ebenso mar-
kige wie maßvolle Schlichtheit, durch die sein Gedanke
in voller Plastik und den schärfsten Umrissen zur An-
schauung kommt. Bilder und Vergleiche, die größtenteils
der Mathematik oder der Physiologie entlehnt sind, geben
den flüchtigen Intuitionen und Visionen Rathenaus eine
äußerst glückliche konkrete und greifbare Ausdrucks-
form, die sie dadurch erzielen, daß sie nicht nur „jene
geometrische Ähnlichkeit, die uns ohne sonstige Zutat
so kalt läßt1)", haben, sondern auch die Billigung unseres
Empfindens erfahren').
Die Voraussagen dieses Propheten aber ziehen weiter
ihre Kraft aus einer demütigen Selbstbescheidung.
Er strebt nicht etwa danach, uns durch den Glanz einer
völlig neuen Theorie zu blenden. Ganz im Gegenteil
weiß er, daß „die großen Glaubensformen der Menschheit
nichts Zufälliges sind; ihre Zahl ist beschränkt und mög-
licherweise geschlossen15)". Die Wahrheit einer Lehre ist
nicht sowohl an der Neuheit ihrer Grundlagen, als viel-
mehr an den bereits einmütig anerkannten besonderen
Wahrheiten zu erkennen, die, nachdem diese Lehre ihrer
unwesentlichen, mehr zufallsmäßigen zeitlichen und per-
sönlichen Elemente entkleidet ist, in ihr wiederzufinden
sind. Und auch je nach dem Maße, in dem sie mit dem,
was wir von der vorhandenen Realität der Dinge wissen,
übereinstimmt. Prophetie ist keine Träumerei. Das
Zukunftsbild muß sich auf einer hellseherischen Wahr-
nehmung der umgebenden Wirklichkeit aufbauen. „Man
glaube an keine Prophezeiung und keinen Propheten,
wenn nicht sein Zukunftsbild, wohlgemerkt, bei kühner
') M. II. S. 20, Sep.-Ausg. S. 21. 2) Vgl. in Ergänzung und teilweiser
Abweichung von dem franz. Beurteiler die Würdigung des prachtvollen
Nietzsche-Stiles des Schriftstellers W. R. durch den deutschen Bearbeiter
in der Anm. 4 auf der S. 57. *) M. II. S. 17, Sep.-Ausg. S. 21, No. 3.
59
und freier Betrachtung, schon aus dem Vorhandenen her-
vorleuchtet1)". Walther Rathenau fußt also auf den durch
die Arbeit der von ihm studierten Philosophen und Ge-
lehrten schon zum Allgemeingut gewordenen Wahrheiten;
eigenartige Zusammenstellungen und Gruppierungen, wie
sie Walther Rathenau mit so besonderer Meisterschaft zu
finden weiß, werden diesen Wahrheiten einen neuen Wert
unter seiner Feder geben. Und an seinem Sinn fürs
Reale kann wohl niemand zweifeln! So kühn auch immer
die Neuerungen erscheinen mögen, die Walther Rathe-
nau plant, gleichwohl müssen wir ihm glauben, daß er nie-
mals die Grenzen der Möglichkeiten überschreiten würde,
die uns die umgebende Wirklichkeit bietet. Die Be-
geisterung des Propheten wird von der Erfahrung des im
praktischen Leben stehenden Mannes gehalten, der den
Wert der Dinge kennt und in jedem Augenblicke aus
ihnen den besten Gewinn zu ziehen versteht. Häufig be-
gegnet uns die lebendige Flamme des Apostels, doch nie-
mals zerstörender Jähzorn und selten Verachtung oder
Ironie. Wohl aber sehen wir immer bei ihm ein reli-
giöses Streben nach einer vollkommeneren Zukunft, ohne
darum sein Gerechtigkeitsgefühl für die Gegenwart und
die Vergangenheit zu verlieren, von denen so manche
Elemente gar nicht so übel sind und sich vielleicht sogar
nützlich und ersprießlich verwenden lassen. Er will nicht
sowohl die unreinen Götzenbilder niederreißen als
vielmehr allmählich durch wahre Gottheiten ersetzen, zu
denen die Verehrung der besser geleiteten Gläubigen auf-
steigen soll. Er folgt, wo er irgend kann, dem Rate, den
er selbst jedem Propheten gibt: ,,daß der Fuß nie den
Boden, das Auge die Gesteine nie verliere2)".
l) M. II. S. 21, Sep.-Ausg. S. 23. s) D. III. S. 27, Sep.-Ausg. S. 24.
60
Kapitel IL
Die „Mechanisierung"
Der Hauptgegenstand von Walther Rathenaus Wer-
ken ist die Reform der gegenwärtigen sozialen Ordnung-
So ist denn auch natürlich seine erste größere Schrift, die
den Titel führt „Zur Kritik der Zeit. Mahnung
und Warnun g,"1) dem Studium dieser Ordnung, der
Erklärung der Unzulänglichkeiten, die einstimmig an ihr
festgestellt werden, und der Möglichkeit der Abhilfe ge-
widmet.
Nach ihm läßt das soziale Problem sich folgender-
maßen stellen: „Durch die Mitte des 19. Jahrhunderts" —
gerade das Jahr 1850 scheint gut hierfür gewählt werden
zu können — ..geht ein tiefer zeitlicher Einschnitt. Jen-
seits geht alte Zeit, altmodische Kultur, geschicht-
liche Vergangenheit, diesseits sind unsere Väter und wir,
Neuzeit, Gegenwart. Die drei Geschlechter — die unserer
Väter, unsere eigenen und noch die unserer Kinder — , die
seit 1850 aufeinander gefolgt sind, begreifen wir in ihrer
nicht mehr unterbrochenen Gleichförmigkeit und ver-
stehen sie in ihrem Charakter; sie sind unstet und ge-
sellig, «prunghaft, gedankenbegierig und sehnsüchtig,
interessiert, kritisch, strebend und tastend. Jenseits des
Zeitalters jedoch, bis in die Anfänge des abgelaufenen
l) Gerhart Hauptmann gewidmet, demselben grossen deutschen sozialen
Dichter, dem auch die schon wiederholt in den Anmkg. herangezogene
deutsche Ausgabe von Ch. Richets manche der Rathenauschen Ideen
künstlerisch behandelnden Fabeln gewidmet ist. (Bearbeiter.)
Jahrhunderts, erblicken wir die Ausläufer des älteren Ge-
schlechtes: seßhafte Menschen, die auf Ererbtem be-
ruhen, von handgefertigten Werken umgeben, im Wech-
selkreis der Tradition ihr Leben erfüllend1)". Von der-
artigen Menschen finden wir noch einige Typen in den
fernen Landstrichen Holsteins und auch wohl der Nord-
schweiz. Und es scheint uns nicht, als ob die letzten Ge-
schlechter bis 1850 durch so wesentliche Unterschiede
von allen voraufgegangenen getrennt sind.
Ebenso sind wir andererseits erstaunt, welche
Gleichförmigkeit die Neuzeit charakterisiert. Alle Städte
gleichen sich in ihren Straßen und Häusern, ihren Schie-
nen und Drahtnetzen. Ursprünglichkeit besteht nur noch
in den aus der alten Zeit noch immer erhaltenen Denk-
mälern. Nicht mindere Einförmigkeit begegnet im Gei-
stigen und im Sittlichen. Von einem Lande zum anderen
tauschen sie ihre Launen, Moden, Leidenschaften, Zeit-
vertreibe, ihre Vergnügungen, Freuden und Künste, ihre
Wissenschaften und Werke aus. In verschiedenen Zun-
gen sprechen die Gedanken aller Länder die gleiche
Sprache, und das in dem gleichen Augenblicke, wo jeder
bekennt, nichts so zu schätzen wie die örtliche, nationale
und persönliche Originalität. Man kommt dazu, sich zu
fragen, ob es möglich ist, daß die Menschen der Vergan-
genheit, so wie sie uns die Geschichtsschreiber geschildert
oder die Maler dargestellt haben, wirklich einmal gelebt
haben. Taziteische Germanen! Diese idealen Figuren
von Urmenschen! Menschen von demutsvollem Stolz,
von kluger Treue, von furchtlosem Glauben, von kraft-
voller Zartheit. In den Straßen unserer Großstädte tref-
fen wir Menschen dieses Schlages nicht mehr. Aber es
finden sich noch in gewissen abgelegenen Provinzen Men-
schen, ja Stämme, welche die antiken Schilderungen
rechtfertigen und retten. Wo wir sie treffen, — mag es
l) K. I. S. 6, Sep.-Ausg. S. 13.
62
sich um einfache Bauern oder wohlhabendere Städte han-
deln — , da erkennen wir auch die dereinst immer wieder
gefeierten Eigenschaften, die aus unseren Tagen ge-
schwunden zu sein scheinen.
„Was ist nun im Laufe dieser Jahrhunderte geschehen?
Was hat die Menschen, ihre Leiber, ihre Seelen so ge-
wandelt? Was hat ihren Geist ergriffen, um durch ihn
die Welt so gänzlich umzugestalten und diese umgestal-
tete Welt rückgewandt auf Geister und Seelen wirken zu
lassen? Gibt es ein Zentralphänomen als Ursprung und
Achse dieser neuen Zeit und Welt, die, was man auch
von Wiederkehr der. Dinge sagen mag, schlechthin ohne
Vorbild und Gleichung uns umgibt und beherrscht1)?"
Die Erkenntnis dieser Urkraft würde uns eine genauere
Vorstellung von Wesen und Zusammenhang der Moderne
gewähren und uns am Ende gar die Richtung ihrer Ent-
wicklung fühlbar machen.
Es ist schon zu wiederholten Malen der Versuch ge-
macht worden, eine Erklärung dieser Tatsachen zu
geben. Als Ursachen dieser Umgestaltung sind bezeichnet
worden: gewisse Kriege, die großen Entdeckungen des
15. und des 16. Jahrhunderts, die Fortschritte der Wis-
senschaft, der Kalvinismus, das Judentum, das Streben
nach Luxus, der Frauendienst, die Verpreußung und der
Kapitalismus. Aber das sind nur ganz unzulängliche Er-
klärungen. Die Ursache der Herkunft der neuen Zeit, so
heißt es meistens, ist in der Entwicklung des Verkehrs zu
suchen. Woher kommt aber der Verkehr? Von der Ma-
schine. Und die Maschine? Von den Fortschritten der
Technik. Und die Technik? Sie ist angewandte Wissen-
schaft. Und woher kommen die modernen Wissenschaf-
ten empor? Sie leiten ihren Ursprung aus der Scholastik.
Und so löst ein Rätsel das andere ab, bis man schließ-
lich auf Adam und Eva zurückkommt. Handelt es sich
l) K. 1. S. 18, Sep.-Ausg. S. 20.
aber bei einer derartigen Lösung der Frage nicht einfach
um eine Verwechslung von Kontinuität mit Kausalität,
von Wirkung mit Ursache? Wenn es auch wahr sein wird,
daß das Organ die Funktion fördert, so bleibt es darum
doch nicht weniger wahr, daß zunächst die Funktion das
Organ geschaffen hat. Die Massenherstellung durch die
Maschine regt sicher zum Verbrauch an, aber darum ist
die Maschine gleichwohl zu dem Zweck erfunden worden,
die gestiegenen Bedürfnisse des Verbrauches zu befriedi-
gen. Es gilt also, sich schon um eine tiefere wirkliche Ur-
sache zu bemühen.
Wenn wir zu der geschichtlichen Periode zurückkeh-
ren, die etwa mit dem Jahre 1850 abschließt, so werden
wir zwei bedeutsame Tatsachen anzuführen haben. Die
Bevölkerung aller Länder teilte sich damals scharf in
Adlige und Bürgerliche; die Länder waren von Stämmen
bewohnt, von denen wir wenig wissen, bis sie von Ger-
manen erobert wurden, die der Urbevölkerung in ihrem
gesamten Wesen überlegen waren und sich als Herren
und Gebieter festsetzten. Physische und moralische Un-
terschiede machten aus den Siegern und den Besiegten
zwei getrennte Schichten. Die Angehörigen der Unter-
schicht, die Hörigen, ,,sind klein von Gestalt, ihr Haar ist
kurz, kraus und von dunkeler Farbe; deshalb mußte der
Freie in allen Ländern das blonde Haupthaar lang und
schlicht um den Scheitel wallen lassen. Bis in die neuere
Zeit hinein zeigen die älteren bildlichen Darstellungen
von Bauern, Hörigen und Verbrechern die gleichen Züge:
runde Schädel, breite Gesichter, kurzaufgestülpte Nasen,
kurze, gedrungene Glieder1)". Auch heute noch immer ist
die Realität und der Fortbestand dieser physischen Ver-
schiedenartigkeit zu erkennen. Die Adeligen fühlten sich
zur Jagd und zum Waffenhandwerk hingezogen, ans Be-
fehlen gewöhnt, wenig umgänglich und mit verfeinerten
\) K. I. S. 30, Sep.-Ausg. S. 33.
64
Interessen unbekannt. Von der Arbeit wollten sie nichts
wissen. Ihr ritterliches Ideal mündete in die beiden
Worte: Ehre und Mut. „Handfestigkeit, schlaue Künste und
feiger Sinn waren stets das Erbteil der Dunkelwesen1)/'
so wie „die Eigenschaften aller Schwachen, Unter-
drückbaren und Unterdrückten Zähigkeit und Anpassung,
Schlauheit und Voraussicht waren2)".
Wir stellen andererseits fest, daß die Herrschaft des
Adels, nachdem sie sich mehrere Jahrhunderte fast un-
versehrt erhalten hat, immer mehr ihrem Niedergang ver-
fallen ist. Warum? Er stellte nur eine gegenüber dem
niederen Volke zahlenmäßig ganz schwache Auslese dar.
Die Streitigkeiten, die Kriege, das Verbot unstandesge-
mäßer Ehen hinderte ihn, seine Zahl zu vermehren. Um-
gekehrt nahmen die anderen unablässig zu, durch die ge-
waltigen Landerschließungen vermittels Roden und Urbar-
machen, durch Erfindungen und Entdeckungen begünstigt.
Es entstanden noch immer mehr Bauern als Kriege und
Seuchen vernichten konnten. Die Verbreitung der
christlichen Lehren des Leidens und des Verzichtens
hob die Bauern moralisch zum Schaden des Adels.
Hieraus ergibt sich ein gründlicher Umschwung in
allen Ländern Europas. Die hier ursprünglich so dünn
gesäten Volksmassen werden immer dichter. Neue Be-
dürfnisse, die von neuen Organismen ausgehen, treten in
die Erscheinung. Das Gleichgewicht der sozialen Kräfte
ist gebrochen. Die Bauern, die schon immer die geistige
Ueberlegenheit besessen und allmählich noch außerdem die
zahlenmäßige Ueberlegenheit gewonnen haben, machen
nunmehr dem Adel seine Uebermacht streitig. Zwar lei-
stet er Widerstand, aber seine erschlafften Hände halten
die Zügel nur noch mit wachsender Schwäche. Der Kampf
ist nicht gleich immer blutig, ja auch nur bemerkbar, doch
darum ist er nicht weniger ständig, und jedes aufgedrängte
■) K. I. S. 30, Sep.-Ausg. S. 33. *) K. I. S. 33, Sept.-Ausg. S. 36.
65
oder gewaltsam entrissene Zugeständnis stärkt die Lage
der Unterschicht. Bald hat sich der Adel schon nur noch
einen äußeren Schein der Macht erhalten. Eine letzte
Kraftanstrengung, und der tobende Aufruhr der Massen
durchbricht die dünne Schale, die sie zusammenschloß.
Der Adel wird von den Massen aufgesogen. Diese Um-
schichtung vollendet sich in Italien vom 15. bis zum 16.
Jahrhundert, in England und den Niederlanden im 16.
17. Jahrhundert, im 18. Jahrhundert in Frankreich und im
19. Jahrhundert in Deutschland, wo sie noch nicht voll-
endet ist.
Dieser Doppelerscheinung entspricht eine Doppel-
wirkung. ,,Die Vernichtung schafft sich in der sichtbaren
Welt ihre Kompensation, die ich Mechanisierung
nennen will, und die darauf hinzielt, einem übervölkerten
Planeten die Möglichkeit der Subsistenz und Existenz un-
geahnter Menschenschwärme abzuringen; die Umlagerung
spricht sich in der geistigen Verfassung unserer Völker
als Entgermanisierung aus, die ein neues, für die
Aufgaben der Mechanisierung seltsam geeignetes Men-
schenmaterial erschaffen hat1)." ,, Zwischen diesen beiden
Erscheinungen besteht eine doppelte zum Kreislauf ge-
schlossene Kausalverbindung: die Verdichtung brachte den
Rassenwechsel hervor, und der Rassenwechsel allein
konnte die Voraussetzungen der entfesselt fortschreiten-
den Verdichtung schaffen2)." Der germanische Adel mit
seinen Herreneigenschaften war unfähig, diesen Prozeß
der Mechanisierung heraufzuführen, während derselbe
spontan aus den Fähigkeiten oder Gewohnheiten der
Hörigen, dieser Sklavenmenschen, hervorging.
Wie aber hat der Mechanisierungsprozeß eine so
gründliche Umbildung des gesamten Daseins der Men-
schen zur Wirkung haben können? Wir werden uns dar-
J) K. I. S. 36-37. Sep.-Ausg. S. 39-40. *)K. I.S. 89, Sep.-Ausg. S. 95
66
über Rechenschaft zu geben vermögen, wenn wir die Ver-
änderungen studieren, die dieser Prozeß in der industri-
ellen Gütererzeugung, in der persönlichen Tätigkeit und
im sozialen Leben hervorgerufen hat.
Zunächst die Gütererzeugung. Drei Faktoren tragen
in Wirklichkeit zum Unterhalte des Daseins der Mensch-
heit bei: die menschliche Arbeit, die bewohnbaren
Landstrecken der Erde und die Menge der vorhandenen
Rohstoffe. Der Ertrag der beiden ersteren ist beschränkt.
Hingegen sind die materiellen Hilfsquellen tatsächlich un-
erschöpflich. Mit dem Tage also, an dem sich die Be-
völkerung vermehrt, wird es, wenn sie nicht entweder
zu dem verruchten und verhängnisvollen Systeme von
Malthus oder, wie es noch die Bewohner der Erde im
Altertum machen konnten, zu Massenauswanderungen
ihre Zuflucht nehmen will, es bei dem konstanten Cha-
rakter der beiden ersten Faktoren einfach zur zwingen-
den Notwendigkeit eine immer intensivere Ausbeutung
der natürlichen Hilfsquellen zu betreiben. Es gelingt das
dank gewisser Vorgänge, die das eigentliche Wesen des
Mechanisierungsprozesses ausmachen, nämlich der Ar-
beitsteilung und "der Massenarbeit, dem streng organisier-
ten Warenumsätze und der ständigen Vervollkomm-
nung der Technik.
Unter diesem Drucke hat die Gütererzeugung mit
ihren Tausenden an allen Punkten der Erde angebrachten
Fühlern, mit ihren Tausenden von Verkehrswegen und
Schiffen, die die Rohprodukte in ihrer späteren Verarbei-
tung bringen, sammeln, fortschaffen und verteilen, eineAus-
dehnung und eine Leistungsfähigkeit erreicht, wie sie sich
die Phantasie kaum vorzustellen vermag. Der Mensch
hat in unerhörter Weise den Vertrieb der natürlichen
Hilfsquellen beschleunigt und sogar die Felder gezwun-
gen schnellere und zehnmal so reiche Ernten zu liefern
als sie jemals die Vergangenheit aufzuweisen hatte. Da-
l
mit es schneller gehe, arbeitet die Maschine an Stelle
seiner Hände. Sie erzeugt unermüdlich und drängt zum
Verbrauche, der seinerseits zu seiner eigenen Befriedi-
gung neue Maschinen schafft. Sie erweckt den Trieb zum
Neuen, die Neigung zum Luxus und das Verlangen
nach Besitz; es kostet dem Menschen nicht viel, immer
mehr zu fabrizieren, und das neue ist oft weniger kost-
spielig als die Reparatur; es kostet ihm nicht viel ver-
schönernde Verzierungen hinzuzufügen, und die niedrigen
Preise haben bewirkt, daß so manches bescheidene oder
arme Haus zu Berlin mehr Möbel und Einrichtungsgegen-
stände jeder Art enthält als die Paläste der griechischen
Könige. Der von der Maschine mit dem Minimum von
Rohstoff und dem Maximum von Vereinfachung herge-
stellte Gegenstand ermüdet seinen Besitzer schnell und
verschlechtert sich nicht weniger schnell an der gleichen
Stelle, wo der aus den Händen des einstigen Handwer-
kers hervorgegangene, nach Regeln und nicht nach
mathematischen Formeln aus wegen ihrer nicht unbeding-
ten Reinheit mannigfach schattierten Stoffen liebevoll
bearbeitete Gegenstand gleichsam als ein lebendiges
Wesen erfreute und ohne sich zu verschlechtern alt
wurde. Ein Teil der Gegenstände, die die Maschine er-
zeugt, werden nicht unmittelbar verbraucht, sondern wer-
den erst mittelbar in Form neuer Konstruktionen wissen-
schaftlichen oder künstlerischen Instituten für die weitere
Entwickelung der Gütererzeugung ihre Dienste leisten.
So hat das Bedürfnis Produktion hervorgerufen, und regt
diese umgekehrt wieder das Bedürfnis an; das heißt mit
anderen Worten, sie ist zum Selbstzweck geworden.
Seinerseits mußte nun der Besitz selbst mechanisiert
werden. Sein Zweck war jetzt nicht mehr dem Besitzer
die Mittel zur Erhaltung seines Daseins zu geben, sondern
cTas neue Spiel der Produktion möglich zu machen und in
diesem sich abrollenden großen Drama seinen Text zu
liefern, seine Inszenierung und die Verteilung der zu ihm
68
gehörigen Rollen zu überwachen. „Der Besitz mußte bis
ins kleinste teilbar, bis zum Größten anhäufbar, er mußte
beweglich, austauschbar, fungibel werden1)." Den mecha-
nisierten Besitz nennen wir Kapital. Seine Erscheinungs-
form nun, der Kapitalismus wird fraglos immer verschärf-
tere Formen annehmen. „Schon jetzt ist die Mechanisie-
rung des Besitzes so weit vorgeschritten, daß das Kapital
auffallende Analogien mit dem Aggregatzustand der Flüssig-
keiten aufweist und daher innerhalb gewisser Grenzen
den Gesetzen der Hydrostatik und Hydrodynamik folgt.
Diese Verflüssigung ist geschaffen worden durch eigen-
artige Zirkulationsformen, die, von verschiedener Her-
kunft und Geschichte, sich allmählich sozusagen zu Münz-
sorten des Kapitalverkehrs ausgebildet haben. Als Zir-
kulationsform des Grundbesitzes kann man die Hypothek,
den Pfandbrief und die Obligation bezeichnen, als Zirku-
lationsform der Waren den Wechsel, als Zirkulationsform
des Arbeitswertes die Aktie, als Zirkulationsform der Ge-
samtwirtschaft die öffentliche Anleihe, als Zirkulations-
form des unspezialisierten Vermögensanspruchs das Bank-
guthaben und die Banknote2)." ,,In Gestalt der Zirkula-
tionsformen häufen sich die Vermögensbestände in zen-
tralen Behältern, aus denen sie gesammelt oder verteilt
den Bestimmungen zugeführt werden3)."
„Der Organisation des Besitzes steht, nicht minder
mächtig, wechselseitig sie stützend und von ihr gestützt,
eine zweite Organisation gegenüber, die Organisation des
Staates. In ihr kämpft seit unvordenklichen Zeiten das
mystische mit dem mechanischen Prinzip, das erste be-
rufen, Herkommen und Ziele zu festigen, das zweite von
den wachsenden Aufgaben und Sorgen des Augenblicks
emporgetragen. Die mystische Stärke des Staates lag in
seiner uralten Verbindung mit Religion und Kult. Aber
>) K. I. S. 61, Sep.-Ausg. S. 66. *) K. I. S. 62, Sep.-Ausg. S. 67.
8) K. l. S. 63, Sep.-Ausg. S. 68.
69
bald war der Stützpunkt der Religion vom Unbedingten,
Ueberirdischen, ins Bedingte, Utilitaristische verlegt; der
religiöse Staat war ein Sakrament, der Verwaltungsstaat
ist eine Institution1)." „Das erschütterndste Umsturzwort,
das je aus königlichem Munde kam, sprach Friedrich der
Große, indem er den Herrscher als Staatsdiener defi-
nierte. Nicht in der Offenbarung preußischer Sachlich-
keit und Pflichtbewußtheit lag das Entscheidende dieses
Wortes, sondern vielmehr darin, daß das Königtum vom
Mysterium, der Staat vom mystischen Königtum los-
gebunden wurde, und daß nunmehr der Staat nach Auf-
fassung des königlichen Freigeistes zwar als höchste Ein-
richtung, immerhin aber nur als Einrichtung der Nützlich-
keit und Wohlfahrt und als Menschenwerk dastand. Dies
hindert nicht, daß gerade unsere Zeit, und zwar nicht
bloß im feierlichen und festlichen Verkehr, die mystische
Seite des Staates und der Staatsautorität zu betrachten
liebt. Auch wäre es durchaus verkehrt, den Staat als
eine Uebergangsform anzusprechen, die geradenwegs zur
Aktiengesellschaft höherer Ordnung führt. Noch immer
schöpft er seine stärkste Lebenskraft aus absoluten Wer-
ten und Notwendigkeiten. Er bleibt der Garant der Na-
tionalität, des Rechtes und der Ordnung; das Jahrhundert
der Rationalisierung hat ihm überdies als Ersatz der
schwindenden Mystik den Schutz der Religionen, der Er-
ziehung, der Wissenschaft und Kunst übertragen. —
Staatliche Unternehmungen des Verkehrs, der Industrie
und des Handels, mögen sie als notwendige Funktionen
angesehen werden oder nicht, entspringen und dienen der
Mechanisierung. — Die staatliche Finanzwirtschaft be-
ruht, soweit sie Einnahmen schafft, auf mechanisierter
Wirtschaft und schließt sich ihr aufs engste an. — Es
bleiben, wenn man von allgemeiner Repräsentanz ab-
sieht, die integrierenden Funktionen des Staates: äußere
») K. I. S. 64, Sep.-Ausg. S. 69.
70
Politik und Landesverteidigung, Gesetzgebung undRechls-
schutz1)." „Den heutigen Staat als eine bewaffnete Pro-
duktionsvereinigung auf nationaler Grundlage hinzu-
stellen, wäre vielleicht verfrüht; ihn als eine mystische In-
stitution oberhalb der mechanisierten Wirtschaft und Ge-
sellschaft zu betrachten, sicherlich verspätet2)."
„Selbst solche Lebensgebiete, die von materiellen
Zielen und Einwirkungen losgelöst erscheinen, wie Reli-
gion und Wissenschaft, haben sich mechanistische Um-
formungen gefallen lassen müssen. Es ist hier nicht der
Ort, zu entwickeln, wie die in Kirchen verkörperten Reli-
gionen mit wachsender Gebietsausdehnung und Bekenner-
zahl sich zu Betrieben ausgestalteten, wie sie lernten,
durch stillschweigende wechselseitige Duldung ihrem
innersten Wesen das schwere Opfer der Arbeitsteilung
zuzumuten, wie sie hierarchisch, finanziell, bürokratisch
und geschäftlich ihre Verwaltungskörper auszubauen ge-
zwungen waren, wie sie propagandistisch konkurrieren, ja
selbst mit Gegnern über Teilung der Gebiete, man möchte
sagen: des Absatzes, sich verständigen mußten. Der Welt-
betrieb der Wissenschaften mit seinen peinlich respek-
tierten Gebietsabgrenzungen, seinem hochentwickelten
Informationswesen, seinem großindustriell angelegten La-
boratoriumsbetrieb, seinen Verbänden und Kongressen ist
genügend bekannt und gerühmt, um eine Vertiefung in
seine Mechanisierungsform entbehrlich zu machen3)."
So spannen mechanisierte Organisationen ihre viel-
fachen unsichtbaren Netze über jeden Fußbreit Erde. Hier
und da war eine Masche sichtbar, die jedem Mitgliede der
menschlichen Gesellschaft verfänglich werden kann.
Nicht bloß Verkehrsmaschen, sondern zahllose Bindun-
gen jeder Art. Auf allen Seiten lasten die Verpflichtun-
gen auf dem einzelnen, der einfach nicht darum herum-
') K. I. S. 65-67, Sep.-Ausg. S. 70—72. =) K. I. S. 68, Sep.-Ausg. S. 73.
s) K. I. s. 68 69, Sep. Ausg. S. 73-74.
71
kommt, eine Stellung, ein Amt oder einen streng umgrenz-
ten Beruf zu haben. Jeder ist Soldat, Wähler, Arbeit-
nehmer oder Arbeitgeber, Mieter oder Wirt, Angestellter,
Mitglied des und des Verbandes, der und der Vereinigung.
In allen zivilisierten Staaten ist kein Handwerk schwieri-
ger als das des Einsiedlers; denn niemand entrinnt seinen
Verpflichtungen und seinem Berufe. Dieser Umstand hat
aber nun eine starke Gleichmacherei der einzelnen zur
Folge. Wenn sich die Menschen beständig aneinander
reiben, schleifen sich die Ecken ab, und jeder einzelne
nimmt ein wenig die Eigenschaften und die Kenntnisse
der anderen in sich auf. Und die Arbeitsteilung, statt,
wie vielleicht erwartet werden könnte, diesem Streben
Einhalt zu tun, verstärkt es nur noch mehr; dieser ist An-
walt und jener Arzt, doch das macht weit weniger aus
als die Tatsache, daß sie sich alle gleicher Denk- und Ar-
beitsformen bedienen; die annähernde Gleichwertigkeit
der Einkommen wirkt entscheidender als die Verschieden-
heit der Quellen, aus denen sie fließen. Die Mechani-
sierung der Arbeit wirkt in dem gleichen Sinne insofern
als sie unaufhörlich den Anteil persönlicher Initiative
vermindert und scheinbar recht verschiedenartige Pro-
bleme stellt, die aber in Wahrheit immer nach den
gleichen Regeln zu lösen sind: also etwa, wie in einem
Buche mit algebraischen Aufgaben das hochgemute
Auftreten von Wasserstrahlen, Schnelläufern und ren-
nenden Schuljungen nur eine wechselnde Umschrei-
bung der nämlichen einfachen Gleichungsformel bedeutet.
In dem gleichen Sinne wirkt auch noch der beständig
wachsende Volkswohlstand, der sich namentlich in
Deutschland seit 1870 bemerkbar gemacht hat.
Wichtiger als diese Einförmigkeit ist eine andere
Wirkung der Mechanisierung. Wenn zugegebenermaßen
auch der allgemeine Volkswohlstand gewachsen ist, so
doch nicht in dem gleichen Verhältnisse mit manchem Ver-
mögen. Die Reichen haben allmählich eine einflußreiche
72
Klasse ins Leben gerufen. Sie haben sich nun besonders
in Deutschland einem Ueberreste der alten Feudalordnung
gegenübergesehen, jener Adelskaste, die dadurch, daß sie
sich fest an die Landwirtschaft geklammert und die Unter-
stützung der bedenklich gewordenen Herrscher erhalten
hat, sich einen Teil ihrer alten Macht weiter zu wahren
verstand. Zwar sind manchmal diese beiden Schichtungs-
systeme an einander geraten, doch noch öfter haben sie
sich verständigt, um in Gemeinschaft dem Proletariat eine
geradezu unübersteigliche Schranke in den Weg zu legen.
Trotz seiner Bemühungen und materiellen Eroberungen
hat das Proletariat noch immer den Schimpf eines quä-
lenden physischen, intellektuellen und moralischen Zu-
rückstehens hinter allen anderen zu ertragen.
Das Privatleben hat nicht weniger tiefe Einwirkungen
erfahren. Welcher Abstand zwischen dem einstigen in
so enger Fühlung mit der Natur stehenden unwissenden
und beschaulichen patriarchalischen Dasein und dem,
das die heutigen Menschen führen. Schule, Reisen be-
lehren sie; sie sehen in einer einzigen Straße der
Stadt mehr Reichtümer und Wunder als Babylon, Bagdad,
Rom und Byzanz jemals besaßen; die allmorgenlich er-
scheinende Zeitung verbindet sie mit der ganzen Welt.
Auch bleibt ihnen mehr Zeit für den ruhigen Genuß; die
heutigen Menschen schätzen alles ab, klassifizieren es
und gehen lüstern zu immer weiteren Neuheiten über. Auf
der anderen Seite ist die Arbeit nicht mehr eine Funk-
tion des Lebens, eine Anpassung von Leib und Seele an
die Naturkräfte, sondern vielmehr eine den Menschen
immer fremde Funktion, ein niemals endenwollender
Broterwerb. So geht die Achtung vor der Autorität
immer mehr verloren; wenn früher der Sohn getreu den
Beruf des Vaters wiederholte, so wußte er, daß dieser
mehr Erfahrung erworben hatte, als diejenige war, über
die er selbst verfügte, und bat ihn darum natürlich um
Rat; in unseren Tagen würde der Sohn, der nichts an den
73
Methoden seines Vaters ändern wollte, unbarmherzig zu-
grunde gehen; andere Verfahrungsweisen und andere Ge-
schicklichkeiten sind notwendig; es kommt gegenwärtig
ausschließlich auf den Erfolg an. Konkurrenz gibt es heute
überall. Seine Geschäfte anständig zu führen und sich
auf Beziehungen zu einigen Lenkern der Geschicke des
Staates berufen zu dürfen, genügt heutzutage nicht mehr;
es kommt darauf an, mit den großen Tagesfragen selbst im
laufenden zu sein; jedermann ist heute gewissermaßen
Staatsmann und hält sich für geeignet, seine Meinung über
die öffentlichen Angelegenheiten zum Besten zu geben, ja
sogar selber Staatsgeschäfte zu verwalten. Auch der Gang
der Arbeit hat sich völlig verändert; immer weniger und
weniger Handarbeit, muß sie während ihrer ganzen Zeit
das Gehirn in Anspruch nehmen. Eine ununterbrochene
Spannung des Menschen ist auch erforderlich, um in seiner
Tätigkeit nichts zu vergessen und zu versäumen. Der
Abend kommt, und noch nachzitternd von den Erregun-
gen des Tages verlangt der Geist, anstatt sich auszuruhen,
neue nur noch brennendere und ätzendere Eindrücke zu
erleben. Die gequälten, unterdrückten Sinne sehnen sich
nach Berauschung. So werden die Freuden der Natur
und Kunst mit Hohn ausgeschlagen, und es tritt die Jagd
nach den kilometerfressenden ,,A utos" und den sinn-
losen „K i e n t ö p p e n" in die Erscheinung. „Aber
selbst in diesen Tollheiten und Ueberzeugungen liegt
etwas Maschinelles. Der Mensch, im Gesamtmechanis-
mus Maschinenführer und Maschine zugleich, hat unter
wachsender Spannung und Erhitzung sein Energiequan-
tum an das Schwungrad des Weltbetriebes abgegeben.
Ein rauschender Motor ist kein beschauliches Arbeitstier,
das sich unter freiem Himmel weiden läßt; man schmir-
gelt ihn ab, schmiert ihn, feuert den Kessel, und schon
stampft der eiserne Fuß mit neuen Kräften seinen
Zyklopentakt1)."
») K; I. S. 88, Sep.-Ausg. S. 95.
74
Damit nun die Besessenheit des Strebens im Men-
schen nicht erlahme, bedarf es unerschöpflicher Trieb-
kräfte. Die materiellen Appetite, Hunger und Liebe, reichen
nicht aus, und die ideellen Moloren, Pflicht, Schaf-
fensfreude, Wissensdrang, lassen sich nicht wissentlich in
den Dienst einer materiellen Weltordnung stellen. So
mußte die banalste und rätselhafteste aller Leidenschaf-
ten, der Ehrgeiz, ins Ungemessene gesteigert werden. Er
ist zunächst das Verlangen nach Genüssen, dann aber weit
mehr noch das Streben nach Geltung, nach Anerkennung,
Bewunderung, Beneidung. Dies Streben darf nicht ver-
wechselt werden mit dem dem Schaffensdrang verwand-
ten Willen zur Herrschaft. Die Rätselhaftigkeit des Ehr-
geizes besteht gerade in seinem Drang zu scheinen.
Ebenso rätselhaft wie dieser abstrakte Ehrgeiz ist der
Sturz in die Knechtschaft der fremden Meinung und der
wahnsinnige Wille zur Abhängigkeit von derselben. Diese
Leidenschaft ist die Leidenschaft früherer Sklaven, die
nun ihre Rache an ihren früheren Herren zu kühlen stre-
ben; sie fürchten ihre Meinung, wie sie zuvor ihren Zorn
fürchteten und sie suchen sich durch äußere Vorteile, die
sie zu gewinnen in der Lage sind, einen Wert beizulegen,
den sie nicht in ihrem eigenen Innern zu finden vermögen.
Aber noch ein zweiter Motor ähnlicher Art muß in An-
spruch genommen werden: der Wunsch nach Besitz. Die
edleren Rassen und Individuen kennen ihn beinahe über-
haupt nicht, oder er äußert sich bei ihnen höchstens in
der Form der Freude am Ordnen, Verwalten und Schaf-
fen. Aber hier triumphiert die niedrigste Form: der Hang,
Gegenstände zu besitzen, die glänzen, schmeicheln, an-
reizen oder den Ehrgeiz kitzeln. Die Behauptung ist
keineswegs übertrieben, daß ein Drittel, ja vielleicht die
Hälfte der gesamten Weltarbeit an die Herstellung sol-
cher Gegenstände gewandt wird. Dieser wahre Heiß-
hunger nach allerhand Kinkerlitzchen ist zumal bei den
Frauen häufig. Kurzum, auf jede Weise tragen diese bei-
den Motore mehr als jedes andere Phänomen dazu bei,
unserer Zeit ihr Gepräge aufzudrücken, das in einer
wesentlich den Aeußerlichkeiten zugewandten Tätigkeit
besteht.
Die letzte Folge der mechanistischen Lebensform ist
endlich die, daß sie auf allen Gebieten den Begriff des von
der Menschheit erstrebten Ideals verschoben hat.
Was das „leibliche Ideal" betrifft, so ist es
,,dem griechischen ähnlich, aber erheblich schiankei, weni-
ger gerundet, straffer gemuskelt. — Vor allem das Weib
weniger breitbrüstig und heroinenhaft, zarter und jung-
fräulicher. Zweifellos ist dieser Idealtypus den über-
lebenden germanischen Naturen entlehnt. Die Beibehal-
tung des germanischen Körperideals zeigt, daß das Volk
unbewußt das reinere Germanentum als das edlere Blut
betrachtet. Im Menschlichen herrschen die alten germa-
nischen Idealbegriffe des Mutes und der Großmut. Der
mutige Kraftvolle wird bewundert und geliebt; Verach-
tung trifft eigentlich nur den Feigling. Dagegen beginnen
ameiikansche Menschen des Erfolges den Massen zu im-
ponieren; mutige Erfinder und Entdecker werden höher
gefeiert als vordem Kriegshelden. Gleichzeitig tritt ein
Gefühl des Mitleids für das menschliche Elend sichtbar
in die Erscheinung, das dem Germanentume, ja sogar dem
Christentume, das in ihm nur eine himmlische Prüfung
sah, noch völlig unbekannt war1)." Was das „religiöse
Ideal" betrifft, so haben der Katholizismus und die Re-
formation sich schon mit dem alten germanischen Geist
abfinden müssen, da sie ihn doch nicht völlig zu über-
winden vermocht haben. Gewisse Lehren Jesu Christi
von der Liebe, der Weltflucht, der Demut, der Kindlich-
keit, der Zweckfreiheit, dem Gottesreich sind esoterisch
geblieben und ein Besitz der Heiligen. Ins Volk drang der
Mariendienst, die Geschichte der Geburt und der Leiden
l) K. I. S. 100—103, Sep.-Ausg. S. 107—110.
76
Jesu, die Geraeinschalt der Heiligen, der Begriff der Sünde
und der Gnade, Himmel und Hölle. Unter dem Einfluß des
Mechanisierungsprozesses haben die beiden Religionen
sich zu den rein staatlichen Instituten von Kirchen ent-
wickelt. Im Grunde hat die gegenwärtige Epoche kein
religiöses Ideal mehr, vielleicht auch bisher noch keins ge-
habt; sie hat für alles eine rationalistische und materiali-
stische Erklärung in Bereitschaft.
Als „Kunstideal" der Mechanisierung ließe sich
eine „von Schranken befreite Sinneskunst1)" bezeichnen,
d. h. eine Kunst, die sich nicht mehr den Notwendigkeiten
des Handwerks fügt, mit dem sie einst in inniger Verbin-
dung stand, noch auch den Anordnungen der Könige oder
der offiziell anerkannten Kritiker und die sich in voller
Freiheit bewegt, aber auch bei der Schönheit der äuße-
ren Formen stehen bleibt und nicht in die Seele dringt.
Die Grenzgebiete zwischen Kunst und Geschäft verzeh-
ren einen starken Teil der Arbeitskraft. Das Spiel der
Mode tritt hinzu, der Drang zum neuen, das Ueberwiegen
des weiblichen und des gewerbsästhetischen Urteils, zu-
letzt die geschäftliche oder tendenziöse Begründung der
Aufträge. Es fehlt jedes feste Ideal. Was die „W i s -
senschaft" betrifft, so baute sie sich bekanntlich auf
der Liebe der Urvölker zum Tatsächlichen und der Ideali-
tät der Germanen auf. Die eigentümliche Richtung je-
doch, die den Wissenschaftsgeist zum mächtigsten Faktor
der Mechanisierung erhob, verdankt sie der Zweckhaftig-
keit der einstig Unterdrückten. Der zweckhafte Mensch
aber verlangt für alles Beweise. Diese Beweise aber
kann nur die Rechnung liefern, weil sie als unumstößlich
gilt, und so beginnt er zu zählen, zu messen, zu wägen,
zu rechnen. Was das „politische Ideal" betrifft,
„soweit es auf die Verhältnisse der Völker
zu einander sich bezieh t", so müssen wir uns
l) K. I. S. 110, Sep.-Ausg. S. 118.
erinnern, daß die Hochperiode der Mechanisierung die
europäische Völkerwelt in einem Augenblick tiefster poli-
tischer Zerklüftung überrascht hat. Das eine dieser Völ-
ker, nämlich das deutsche, zieht hieraus die unvergleich-
lich größten Vorteile. Es erhebt sich zum bestimmenden
Faktor und besiegelt diese Stellung mit dem Schwert-
knauf. Es folgt hieraus, daß in der modernen Welt statt
des erwarteten Uebergangs zum Internationalismus, der
die notwendige logische Folge des mechanistischen Ge-
dankens gewesen wäre, der Sieg eines unfreundlichen
Nationalismus eingetreten ist. Doch unmöglich kann die-
ses Ideal für alle Zeiten verankert sein und notwendiger-
weise müssen die Nationen schon um ihrer wirtschaft-
lichen Beziehungen willen zur Bildung großer inter-
nationaler Gruppierungen übergehen. Das „Ideal des
staatlichen Aufbaues" im Sinne der Mechani-
sierung ist der Verwaltungsstaat. So sehr die Bezeich-
nungen des ,, Regierens" und der „Regierung" uns ver-
traut sind, so kann doch nicht geleugnet werden, daß die
Zahl und Mannigfaltigkeit der Interessen und Bedürfnisse
innerhalb einer mechanisierten Gemeinschaft den wahren
Begriff des Regierens, die Leitung einer Menge durch
überlegenen Willen und überlegene Einsicht zu vorbe-
stimmten Zielen nahezu aufgehoben hat. Der Begriff der
Verwaltung hingegen kennzeichnet sich als Ausgleich be-
rechtigter Interessen durch bestimmte Instanzen. Dem
einzelnen steht die Verwaltung tatsächlich, der Gemein-
schaft nur scheinbar als regierende Obrigkeit gegenüber.
Wir müssen anerkennen, daß niemals, so lange die
irdische Menschheit besteht, eine Weltstimmung so ein-
heitlich einen so ungeheuren Kreis von Wesen beherrscht
hat, wie die mechanistische. Sie beherrscht die Produk-
tionsquellen, die Produktionsmethoden, die Lebensmächte
und die Lebensziele des einzelnen wie der Gemeinschaft.
78
Und nun trägt sie auch die Verantwortung für den wil-
den und wehseligen Wirrwarr, mit dem die Menschheit
unserer Tage ringt.
Als materielle Lebensform entspricht die Mechani-
sierung wirtschaftlicher Notwendigkeit. Aus zwei Grün-
den. Niemand wird ernstlich derMenschheit die Zumutung
stellen, auf die Ausbeutung der Natur zu verzichten und
zu der Einfachheit des Lebens der Urmenschen zurückzu-
kehren. Sich in eine Einsamkeit flüchten, um der Mecha-
nisierung zu entrinnen, wäre nicht mehr als ein Scherz:
das einfachste Kleidungsstück, das erste beste Werkzeug,
das ein solcher Einsiedler brauchen würde, setzt das volle
Spiel des Mechanismus der modernen Welt voraus. In
dem Augenblick, wo mit einer gewissen Bevölkerungs-
dichtigkeit zu rechnen ist, wird immer, und wäre es auch
auf einem anderen Planeten, die Notwendigkeit bestehen,
auf solche Vorgänge wie die der Mechanisierung zurück-
zukommen, weil nun einmal die Arbeit aller produktiver
ist als die einer einzelnen Persönlichkeit für sich und weil
die Organisation der Kräfte ihre Leistungsfähigkeit stärkt.
Manche glückliche Ergebnisse der Mechanisierung
sind einleuchtend. Ihr danken wir die Bequemlichkeit
des Lebens, die nutzbringende Anlage der Kapitalien, die
ersten Versuche des Volkswillens, sich vernehmlich zu
machen, die Verbreitung von Kenntnissen, die ersten An-
fänge internationaler Verständigung, die Fortschritte von
Wissenschaft und Technik. Keine Vervollkommnung
innerhalb des materiellen Bereiches ist ihr unmöglich.
Daß sich unser Zeitalter an ihren Triumphen berauscht,
ist wohl so begreiflich wie kaum etwas anderes. Doch
die Nachteile überwiegen bei weitem nach Zahl wie nach
Bedeutung.
„Mechanisierung ist eine materielle Ordnung; aus
materiellem Willen mit materiellen Mitteln geschaffen,
79
verleiht sie dem irdischen Handeln eine Richtungskom-
ponente ins Ungeistige. Niemand kann dieser Richtkraft
gänzlich sich entziehen; im mechanistischen Sinne bleibt
auch der höchstvergeistigte Mensch ein wirtschaftendes
Subjekt, das, um zu leben, besitzen oder erwerben muß. —
Wie müssen Jahrhunderte des Denkzwanges auf den ge-
preßten Menschengeist wirken! Die Aera der Arbeits-
teilung verlangt Spezialisierung; bewegt sich der Geist in
den ähnlich bleibenden Normen und Praktiken seines
Sondergebietes, erscheint ihm zugleich durch tausendfäl-
tiges Botschaftswesen das Nebelpanorama des unbarm-
herzig wechselnden Weltgeschehens, so dünkt ihm leicht
das Kleine groß, das Große klein; der Eindruck verflacht,
leichtfertiges, verantwortungsloses Urteil wird begünstigt.
Bewunderung und Wunder erstirbt vor dem Schrei der
Neuheit und Sensation; von allem bleibt der schäbigste
Vergleich: Zahl und Maß; das Denken wird dimensional.
Gilt von den Dingen die Abmessung, so gilt vom Handeln
der Erfolg; er betäubt das sittliche Gefühl, so wie Messen
und Wägen das Qualitätsgefühl verblödet. Vom raschen
Urteil nährt sich der Erfolg; Irrtum und Täuschung kostet;
der Sinn wird skeptisch. Er will nicht in die Dinge, son-
dern hinter die Dinge, Menschen und Mächte dringen, er
verliert Scheu und Scham. Wissen ist Macht, heißt es,
Zeit ist Geld; so geht Wissen erkenntnislos, Zeit freudlos
verloren. Die Dinge selbst, vernachlässigt und verachtet,
bieten keine Freude mehr; denn sie sind Mittel geworden.
Mittel ist alles, Ding, Mensch, Natur, Gott; hinter ihnen
steht gespenstisch und irreal das Ding an sich des Stre-
bens: der Zweck. Der nie erreichte, nie erreichbare, nie
erkannte: ein trüber Vorstellungskomplex von Sicherheit,
Leben, Besitz, Ehre und Macht, von dem je soviel er-
lischt, als erreicht ist, ein Nebelbild, das beim Tode so
fernsteht wie beim ersten Anstieg. Ihm drohend gegen-
über erhebt sich, realer und tausendfach überschätzt, das
Furchtbild der Not.
80
Von diesen Phantomen gezogen und getrieben irrt der
Mensch vom Irrealen hinweg zum Irrealen hin; das nennt
er leben, wirken und schaffen, das vererbt er als Fluch
und Segen denen, die er liebt. — Diese Stimmung aber ist
Streben und Verblendung. Streben, dem kein Ziel genügt
und das doch so irrational ist, daß es zuletzt die Arbeit
zum Selbstzweck macht, und so erdgebannt, daß es alles,
was gleißt, vom Wege aufliest und, mit der toten Fracht
der Mittel belastet, sich zum Grabe schleppt; Verblen-
dung, der keine Tatsache real genug, kein Wissen zu
nebensächlich ist und die doch jede Vertiefung scheut,
die Welt entfleischt und entgeistert, den sterblichen Sinn
ertötet und den unsterblichen verschmäht. — Tief ernie-
drigend und entwürdigend sind die Freuden der Groß-
stadt und der Gesellschaft, die in unbewußter Ironie sich
die bessere nennt. „Verläßt ein denkender Mensch und
Menschenfreund die Stätten, an denen dieses Volk sich
vergnügt, oder, wie er mit dem gemeinsten Wort vul-
gärer Sprache es bezeichnet, sich anmüsiert, verläßt er
diese Orte, ohne auch nur einen Augenblick an der Zu-
kunft der Menschlichkeit zu zweifeln, so hat er die
stärkste Prüfung seiner Weltzuversicht überstanden.
Rausch, Lust und Verbrechen strömt aus Giften und Reiz-
mitteln, die an Aufwand das Dreifache fordern von dem,
was die Welt für alle Aufgaben ihrer Kultur zusammen-
trägt.
Mechanisierung ist Zwangsorganisation; deshalb ver-
kümmert sie die menschliche Freiheit.
Der einzelne findet das Maß seiner Arbeit und Muße
nicht mehr im Bedürfnis seines Lebens, sondern in einer
Norm, die außer ihm steht, der Konkurrenz. Es genügt
nicht, daß er nach dem Ausmaß seiner Kräfte und
Wünsche schafft, er wird geschätzt nach dem, was der
andere, die anderen schaffen; halbe oder langsame Ar-
beit ist wertlos, sie gilt nicht besser als Müßiggang. Die
81
Weltarbeit vom Feldherrn bis zum Postboten, vom Tage-
löhner bis zum Finanzmann steht unter dem Druck des
Akkord- und Rekordsystems; von jedem wird soviel ver-
langt, als der andere leistet. Der alte Handwerker er-
gänzte einst Schaffen durch Liebe und Verschönerung; die
Mechanisierung produziert unter dem Sinnbild der Sub-
mission; ein Minimum an Güte und Menge wird vorge-
schrieben, der geringste Preis ist recht, und Liebe wird
nicht bezahlt. — Selbst in der Richtung und Fassung sei-
ner Werktätigkeit ist der Mensch nicht frei. Mag er zur
Einseitigkeit oder zur Vielfältigkeit bestimmt sein, die
mechanische Ordnung benutzt ihn zur Spezialisierung.
Willig fügt sich das Geschlecht dem Zwang, es erzeugt
den geborenen Handelsreisenden und Schullehrer, wie es
den geborenen Betriebsingenieur und Insektenforscher er-
zeugt; noch mehr, es liefert die Typen in der Zahl und
Auswahl, wie Bedürfnis und Ueberfüllung sie vorschreibt.
Rückfall wird bestraft; entsteht noch dann und wann ein
Mensch vom alten Schlage der Krieger, Abenteurer,
Handwerker, Propheten, so wird er aus der gemeinsamen
Anstalt ausgeschlossen und verfemt oder zum niedersten
undifferenzierten Dienst entwürdigt.
Der Zwang geht weiter. Auch die Selbstverantwor-
tung wird dem Menschen genommen. Denn das organi-
satorische Wesen der Mechanisierung beruhigt sich nicht,
bevor jeder ihrer Teile, jede ihrer Summen wiederum zum
Organismus geworden ist. Genossenschaften, Vereini-
gungen, Firmen, Gesellschaften, Verbände, Bürokratie,
berufliche, staatliche, kirchliche Organisationen binden
und trennen die Menschheit in unübersehbarer Ver-
flechtung; niemand ist für sich, jeder ist unterworfen, an-
dern verantwortlich. — Auch der zünftige Handwerker
war abhängig, doch nicht im gleichen Sinne wie der An-
gestellte des Warenhauses; seine Gebundenheit war
sichtbar, eindeutig und dennoch von innerer Freiheit er-
82
füllt. Ein Blendwerk äußerer Freiheit bedeckt die mecha-
nistische Bindung: der Unzufriedene kann Rücksicht auf
Form verlangen, auftrumpfen, die Arbeit niederlegen,
wegziehen, auswandern: und doch befindet er sich nach
Wochen bei veränderten Namen, Personen und Ortschaf-
ten im gleichen Verhältnis. Die Anonymität der Unfrei-
heit vollbringt durch ihren Zauber, was den alten Des-
potien und Oligarchien mit ihren Häschern und Spähern
nicht gelang: die Abhängigkeit zu stabilieren.
Der Einzelzwang aber ist ein geringes Uebel, ver-
glichen mit der Massenerscheinung, die ihn überdeckt.
Die Mechanisierung als Massenorganisation bedarf der
Menschenkraft nicht einzeln, sondern in Strömen. Die
Pyramidenmannschaft der Pharaonen genügt nicht, um
den Tagesbedarf eines Landes auch nur an Werkzeugen
zu decken; die Heeresmacht Napoleons reicht nicht zu
für die Besatzung eines Bergwerksbezirks. — Nicht in-
nere Notwendigkeit des Mechanisierungsprinzips, sondern
bequem gebilligte Begleitumstände der Entwicklung haben
die an sich unvermeidliche Arbeitsteilung zwischen gei-
stiger und körperlicher Leistung zur ewigen und erblichen
gemacht, und so in jedem zivilisierten Lande zwei Völker
geschaffen, die blutsverwandt und dennoch ewig getrennt,
im gleichen Verhältnis wie ehedem die stammesfremden
Ober- und Unterschichten, einander gegenüberstehen.
Beide sondert und beherrscht der Zwang. Ohne Verlust
bürgerlichen Ranges und Bewußtseins, ohne Verzicht auf
gewohnten Umgang, Güter des Genusses und der Kultur,
steigt kein Oberer hinab; ohne den Zufall eines Anfangs-
besitzes an Kapital oder Ausbildung dringt kein Unterer
hinauf. Dieser Zufall aber ist, abgesehen vom Falle der
Auswanderung, so unverhältnismäßig selten, daß unter
Tausenden von Angestellten, die durch den Gesichtskreis
unserer Unternehmer schreiten, sich kaum der Sohn eines
echten Proletariers findet.
6* 83
Von unerhörter Härte ist dieser Trennungszwang für
das zweite Volk. Helotie, Leibeigenschaft, Hörigkeit
waren auf der Landwirtschaft gegründete Abhängigkeiten.
Die Arbeit, härter und unlohnender als die der Freien, war
doch von gleicher Art. — Die Arbeit des Proletariers ge-
nießt zwar jene lockende Anonymität der Abhängigkeit;
er erhält nicht Befehle, sondern Anweisungen, er folgt nicht
dem Herrn, sondern dem Vorgesetzten; er dient nicht,
sondern übernimmt eine freie Verpflichtung; seine
menschlichen Rechte sind die gleichen, wie die des
Gegenkontrahenten; er hat die Freiheit, Ort und Stellung
zu wechseln; die Macht, die über ihm steht, ist nicht per-
sönlich: erscheint sie in der Form eines einzelnen Arbeit-
gebers oder einer Firma, so ist es in Wahrheit die bür-
gerliche Gesellschaft. Dennoch verläuft sein Leben, wie
er es auch innerhalb dieser Scheinfreiheit gestalte, in ge-
nerationenlanger Oede und Gleichförmigkeit, über und
unter Tage. Wer ein paar Monate lang bei ungeistiger
Verrichtung von 7 bis 12 und von 1 bis 6 das Zeichen
einer Pfeife herangesehnt hat, ahnt, welche Selbstver-
leugnung ein Leben der entseelten Arbeit fordert; nie-
mals wieder wird er versuchen, durch kirchliche oder pro-
fane ueberredung dieses Leben an sich als ein zufrieden-
stellendes zu rechtfertigen, und jeden Versuch, es zu mil-
dern, als Begehrlichkeit verschreien. Wer aber ermißt,
daß dies Leben nicht endet, daß der Sterbende die Reihe
seiner Kinder und Kindeskinder unrettbar dem gleichen
Schicksal überliefert sieht, den ergreift die Schuld und
Angst des Gewissens. Unsere Zeit ruft nach Staatshilfe,
wenn ein Droschkenpferd mißhandelt wird, aber sie findet
es selbstverständlich und angemessen, daß ein Volk durch
Jahrhunderte seinem Brudervolk frönt, und entrüstet
sich, wenn diese Menschen sich weigern, ihren Stimm-
zettel zur Erhaltung des bestehenden Zustandes abzu-
geben.
84
Mechanisierung ist nicht aus freier und bewußter
Vereinbarung, aus dem ethisch geläuterten Willen der
Menschlichkeit entstanden, sondern unabsichtlich, ja un-
bemerkt aus den Bevölkerungsgesetzen der Welt erwach-
sen; trotz ihres höchst rationalen und kasuistischen Auf-
baues ist sie ein unwillkürlicher Prozeß, ein dumpfer Na-
turvorgang. Unethisch auf dem Gleichgewicht der Kräfte,
auf Kampf und Selbsthilfe beruhend, wie etwa der Ur-
zustand im Lebensgleichgewicht eines Waldes, verbreitet
sie eine Weltstimmung, die, rückwärts gewandt über die
frühe Arbeit des Christentums, über die politische und
theokratische Ethik der Mittelmeerkultur hinweggreifend,
unter der Deckung und Maske der Zivilisation abermals
auf primitive Menschheitszustände hinstrebt. Denn diese
Stimmung ist Kampf und Feindschaft.
Das menschliche Herz schlägt zu warm, es ist zu be-
dürftig der Anlehnung und Liebe, als daß der Haß ak
offene, weltverzehrende Flamme ausschlagen dürfte; doch
je härter und spröder das Geschlecht, das der Mechani-
sierung erliegt, desto tückischer nagt der innere Brand
im knirschenden Getriebe.
Der frühere Mensch goß seine Kraft und Liebe in
sein Werk; er war um des Dinges willen da; die Men-
schen standen abseits, er bedurfte ihrer zum seltenen
Austausch, zum gemeinsamen Schutz oder zum Dienst.
Im engen Kreise umgaben ihn die Seinen, die er hegte,
im weiteren die Genossen, denen er Treue hielt, in ferne-
rem Abstand die Feinde, die er bekämpfte. Der morderne
Mensch lebt nicht um eines Dinges willen; er strebt nach
dem neutralen Gut des Besitzes, nach dem unverkcrperten
Begriffe einer relativen, doch beliebig ausdehnbaren
Machtsphäre; sein Lebensinhalt ist nicht die Sache, die
zum Mittel herabsinkt, sondern die Laufbahn. Durch
Menschenmauern hindurch muß sie gebrochen werden;
wohin er blickt, wo immer er stehen möchte, steht ein
80
anderer, der ist sein Feind. Um Bresche zu reißen, be-
dient er sich des Genossen, der Gefolgschaft; nicht aus
Liebe führt er sie, folgen sie ihm, sondern aus Interesse;
jeder ist dem anderen Mittel, das aufgegeben wird, wenn
es nicht mehr dient. Dem Produzenten ist der Mitmensch
Konkurrent, das ist Feind, — Abnehmer, das ist Mittel, -
Lieferant, das ist Feind, — Sozius, das ist Mittel. Wem er
sich nähert, von dem will e r etwas, wer sich i h m nähert,
der will etwas von ihm; so sind beide auf der Hut, und
ihre Stimmung ist feindliches Mißtrauen. Deshalb er-
scheint es jedem einerseits gefährlich, anderseits unge-
ziemend, im Fremden den Menschen zu wecken; es ist
Herkommen, ihn wie Luft zu behandeln, bis die blöde
Konvention der Namensnennung den landesüblichen
Schutz eines kaltenRespekts gesichert hat. Der menschen-
freundliche Schwärmer, der sich über die Form hinweg-
setzt, wird, wenn er nichts zu bieten hat, kühl abgetan.
— Deshalb klagen die Menschen so gern einander an und
warnen sich wechselweise, rühmen sich ihrer schlechten
Erfahrung und erklären sich als Pessimisten der Men-
schenkunde. Sie wissen nicht, daß sie sich selbst ver-
urteilen. Denn in der menschlichen Natur liegt diese
Feindseligkeit und Niedrigkeit nicht, das Herz des Men-
schen ist zart wie seine nackte Haut, ist der Rührung,
dem Schmerz, der Neigung hingegeben. Was dies Herz
verhärtet, ist die Angst; die Sklavenpeitsche der Mecha-
nisierung, die niemals ruht und deren Zischen Hunger,
Verachtung, Entrechtung, Schmerz und Tod bedeutet.
Freilich sind die Nöte an sich nicht furchtbar, sondern
Wege des Heils, doch nur für den gläubigen Menschen;
die Mechanisierung aber hat vorsorglich verstanden, um
ein wenig Wissen und Zauberei ihm den Glauben abzu-
kaufen.
Feindschaft von Mensch zu Mensch steigert sich zur
Feindschaft von Gruppe zu Gruppe, Stamm zu Stamm,
86
Volk zu Volk. Der Mensch ist zum Interessenten ge-
worden; irgendeine kümmerliche Theorie hat ihm und
seinesgleichen Abhilfe aller Bedrängnis versprochen, sie
schließen sich zusammen, nennen es Partei oder Inter-
essenvertretung, verallgemeinern ihre umgekehrten Be-
schwerden zu einem positiven Idealbegriff und entrüsten
sich, daß der Widersacher, vom entgegengesetzten In-
teresse ausgehend, nicht zum gleichen Ideal gelangt. In
dieser an Spielarten so ergiebigen Zeit ist nichts schwerer
zu finden als ein Mensch, dessen Überzeugung und Ideal
sich nicht mit seinen Interessen deckt; diese verzweifelte
Erfahrung führt dazu, daß es ernste Denker gibt, die
eine Weltanschauung, eine transzendente Überzeugung
überhaupt nicht mehr als eine Form der Erkenntnis, als
einen Abglanz des Ewigen dulden, sondern vielmehr
darin nur eine Art von Charakter- und Interessen-
umsetzung, gewissermaßen eine Krankenanamnese, eine
idiosynkratische Sonderlichkeit erblicken. Soweit geht
das Vertrauen zur Positivität der Interessen, zur Allein-
herrschaft des Intellekts, zur Erdgebundenheit des Ge-
fühls1)/*
Unter solchen Umständen ist es wohl begreiflich, daß
die mechanische Ordnung nicht als etwas endgültiges
zu betrachten ist und ist es gleichzeitig wirklich nicht
allzu schwer, einigermaßen vorauszusehen, welches der
Ausweg sein wird, durch den die Menschheit aus dieser
Lage herauskommen wird.
In materieller Beziehung hat die mechanische Ent-
wicklung bei weitem noch nicht ihren Höhepunkt erreicht.
Wir können sie uns doch ohne großen Geistesaufwand
ein gutes Stück zukunftswärts weiterdenken: ,,Ein hun-
l) D. III. S. 38-49, Sep.-Ausg. S. 31-44. Vgl. M. IL S. 50-53, Sep.-Ausg.
S. 53-56.
87
dertfach übervölkerter Erdball, die letzten asiatischen
Wüsten angebaut, ländergroße Städte, die Entfernungen
durch Geschwindigkeiten aufgehoben, die Erde meilen-
tief unterwühlt, alle Naturkräfte angezapft, alle Produkte
künstlich herstellbar, alle körperliche Arbeit durch xMa-
schinen und durch Sport ersetzt, unerhörte Bequemlich-
keiten des Lebens allen zugänglich, Altersschwäche als
alleinige Todesart, jeder Beruf jedem eröffnet, ewiger
Friede, ein internationaler Staat der Staaten, allgemeine
Gleichheit, die Kenntnisse des mechanischen Natur-
geschehens ins unabsehbare erweitert, neue Stoffe, Or-
ganismen und Energien in beliebiger Menge entdeckt, ja
zu guterletzt Verbindungen mit fernen Gestirnen her-
gestellt und erhalten1)." Wahrlich, glänzende Perspek-
tiven, aber worin machen sie uns auch nur um ein wenig
glücklicher? Obwohl die Menschheit noch lange nicht
so weit ist, wie hier geschildert, bekunden schon manche
Anzeichen, wie überdrüssig sie dieser Entwicklung ist.
,,Im Urgrund ihres Bewußtseins graut dieser Welt vor ihr
selbst; ihre innersten Regungen klagen sie an und ringen
nach Befreiung aus den Ketten unablässiger Zweck-
gedanken2). "
Die Menschheit ist sichtlich unruhig und sucht einen
Weg. Sie sagt, sie weiß, was sie will, aber sie weiß
es nicht, denn sie will Glück und sorgt um Materie.
Sie fühlt, daß die Materie sie nicht beglückt, und ist ver-
urteilt, sie immer von neuem zu begehren. Sie gleicht
dem König Midas, der im Goldstrom verschmachtet. Sie
begegnet keinem Führer, der ihr den Weg zeigen könnte.
Die Philosophie läßt alle Lehren zu. Die Religion zer-
gliedert anatomisch das religiöse Empfinden und gibt
eine Naturgeschichte Gottes. Nun, und die Menschen
*) K. I. S. 143-144, Sep.-Ausg. S. 153. -) K. I. S. 127, Sep.-Ausg. S. 135.
88
selbst! Die einen halten es mit gewissen alten Tugenden,
die anderen mit den neuen. Die Wissenschaft rät, sich
zu spezialisieren. Die Kunst studiert alle Epochen und
Schulen und verherrlicht heut die eine, um morgen die
andere anzuschwärzen- Das Erwerbsleben lehrt, wie
Reichtümer aufzuhäufen sind, damit neue Generationen
Brot und Arbeit finden. ,,Es ist, als sei die Welt flüssig
geworden und zerrinne in den Händen. Alles ist möglich,
alles ist erlaubt, alles ist begehrenswert, alles ist gut1)."
,,Der Mensch aber begehrt Glauben und Worte. Er
fühlt, daß er Unersetzliches besessen hat; nun trachtet
er, das Verlorene mit List wiederzugewinnen und pflanzt
kleine Heiligtümer in seine mechanisierte Welt, wie man
Dachgärten auf Fabrikgebäuden anlegt. Aus dem Inven-
tar der Zeiten wird hier ein Naturkult hervorgesucht,
dort ein Aberglauben, ein Gemeinschaftsleben, eine künst-
liche Naivität, eine falsche Heiterkeit, ein Kraftideal,
eine Zukunftskunst, ein gereinigtes Christentum, eine
Altertümelei, eine Stilisierung. Halb gläubig, halb ver-
logen wird eine Zeitlang die Andacht verrichtet, bis Mode
und Langeweile den Götzen töten2)." So lächerlich auch
diese Kindereien vielleicht anmuten mögen, so sind sie
doch in jedem Falle zu beachten; denn sie haben ihren
Ursprung in der Sehnsucht der Menschheit zur Idealität.
Andere Anzeichen sind noch beweiskräftiger.
,,Die Blume vor dem Fenster eines Bauernhauses,
das Lied auf der Landstraße, der Sonntagsausflug der
Stadtbewohner, das Buch in den Händen des Arbeiters
bezeugen, daß das Volk entschlossen ist, nicht in mecha-
nistischer Zweckhaftigkeit aufzugehen3)." Auf einer höhe-
ren Stufe wünscht sich der Geist sichtlich von der Vor-
mundschaft des Intellektes freizumachen. Niemals, seit
») K. I. S. 128, Sep.-Ausg. S. 137. *) K. I. S. 129, Sep.-Ausg. S. 137-138.
*) K. I. S. 130, Sep.-Ausg. S. 138.
89
Erschaffung des Planeten, war ein so großes Quantum
irdischen Geistes in Bewegung wie heute. Vom Denken
werden alle Räder der Welt im Schwung erhalten. Doch
gerade diese Überspannung des Intellektes wird für ihn
selbst verhängnisvoll. Wie in einem Bergwerk die För-
derung verarmt, wenn die Längen und Verzweigungen
der Stollen das Maß überschreiten, so gehen die uner-
meßlichen Erlebnisse und Entdeckungen jedes Tages, in
Winkeln gestaut, dem Gesamtleben verloren. Außerdem
wirkt in unseren überreichen und überfeinen Denkappa-
raten kaum ein Organ anders als analysierend, anglei-
chend, verwertend, kritisierend. Fast alles, was geschrie-
ben wird, kennen wir, bevor wir es gelesen haben; von
fast allem, was gedacht wird, wissen wir das Ergebnis,
noch bevor es zu Ende gedacht ist. Es geht uns, wie
geübten Kartenspielern, die, wenn die ersten Blätter aus-
gespielt sind, voraussehen, wie die Partie verläuft, welche
Zwischenfälle eintreten, ja welche Fehler gemacht wer-
den. — Hier liegt die tiefste Sehnsucht unserer Zeit, die
ihren Sinn sucht. Unbewußt fühlt sie sich angewidert
vom Denken, vom mechanistischen Denken; sie hat alles
schon einmal gehabt und durchgrübelt, alles durchge-
schätzt, jedes Gefühl sondiert und abgeleitet. Sie weiß,
wie alle diese Rätsellösungen schmecken und wie lange
sie vorhalten. Sie sehnt sich nach einem jenseits des
Beweisbaren stehenden Sinn, und schrickt davor zurück,
weil er ihr willkürlich scheint; und er ist willkürlich,
weil er nicht in ihrer Seele liegt. Deshalb blickt sie auf
zu den Geistern, die göttliche Überzeugungen in ihren
Seelen trugen, Plato, Paulus, Franziskus, Eckhardt, und
kann doch die Überzeugungen nicht erwerben, weil sie
diese Seelen nicht erwerben kann. Sie schafft sich Ge-
meinden, Tempel und Altäre und empfindet verzweifelt,
daß sie das einzelne nicht glauben kann, weil sie alles
glaubt, daß sie alles glauben muß, weil sie nichts glauben
90
kann. Die Zeit sucht nicht ihren Sinn und ihren Gott,
sie sucht ihre Seele, die im Gemenge des Blutes, im
Gewühl des mechanistischen Denkens und Begehrens
sich verdüstert hat.
Sie sucht ihre Seele und wird sie finden, freilich
gegen den Willen der Mechanisierung. Dieser Epoche
lag nichts daran, das Seelenhafte im Menschen zu ent-
falten; sie ging darauf aus, die Welt benutzbar und so-
mit rationell zu machen, die Wundergrenze zu verschie-
ben und das Jenseitige zu verdecken. Dennoch sind wir
wie je zuvor vom Mysterium umgeben; unter jeder
glatten Gedankenfläche tritt es zutage, und von jedem
alltäglichen Erlebnis bedarf es eines einzigen Schrittes
bis zum Mittelpunkt der Welt. — Es gibt wohl keinen
einzigen Weg, auf dem es dem Menschen nicht möglich
wäre, seine Seele zu finden, und wenn es die Freude am
Aeroplan wäre. Aber die Menschheit wird keine Um-
wege beschreiten. Es werden keine Propheten kommen
und keine Religionsstifter; denn diese übertäubte Zeit
läßt keine Einzelstimme mehr vernehmlich werden: sonst
könnte sie heute noch auf Christus und Paulus hören.
Es werden keine esoterischen Gemeinden die Führung
ergreifen; denn eine Geheimlehre wird schon vom ersten
Schüler mißverstanden, geschweige vom zweiten. Es
wird keine Einheitskunst der Welt ihre Seele bringen;
denn die Kunst ist ein Spiegel und ein Spiel der Seele,
nicht ihre Urheberin. Das Größte und Wunderbarste ist
immer das Einfache. Es wird nichts geschehen, als
daß die Menschheit unter dem Druck und Drang der
Mechanisierung, der Unfreiheit, des fruchtlosen Kampfes
die Hemmnisse zur Seite schleudern wird, die auf dem
Wachstum ihrer Seele lasten. Das wird geschehen nicht
durch Grübeln und Denken, sondern durch freies Be-
greifen und Erleben. Was heute viele reden und einzelne
begreifen, das werden später viele und zuletzt alle be-
91
greifen: daß gegen die Seele keine Macht der Erde
standhält1)."
Das Studium der Entfaltungsmöglichkeiten der Ein-
zel- und später der Gemeinschaftsseele, der Nachweis,
wie uns diese Entfaltung von der Umklammerung der
Mechanisierung zu befreien wissen wird und damit die
wirksamste Hilfe zur völligen Überwindung der gegen-
wärtigen Schwierigkeiten, das sollte der Gegenstand der
zweiten Schrift von Walther Rathenau sein, die den
Titel führt: „Zur Mechanik des Geistes oder
Vom Reich der Seele" und die Widmung trägt
„Dem jungen Geschlecht."
') K. i. S. 138, 140, Sep.-Ausg. S. 147, 149/150. Vgl, M. li, S, 9, 16,
Sep-Ausg. S. 13, 18-21.
02
Kapitel III.
Das Rei$h der Seele
Zwei Gefühle beherrschen den Urgrund des mensch-
lichen Geistes in seiner Kindheit: Begehren und Furcht.
Begehren und Furcht sind hier nicht etwa im lediglichen
Sinne positiver und negativer Willensrichtung gebraucht;
sie bedeuten vielmehr die Stimmungen, nicht die Impulse.
Jeder entschiedene Eindruck löst beim Kinde ein Be-
gehren aus, das zunächst freilich nur bis zum Tasten,
Greifen, Kosten hinlangt, während andererseits die Furcht
bei ihm Gefahren abwendet, Auswahl trifft und der Erfah-
rungsübertragung der frühesten Erziehung Raum schafft.
Sein ganzes Dasein hat einen wesentlich materiellen und
zweckhaften Charakter.
Der Jüngling kennt hinwiederum mit seiner größeren
geistigen und körperlichen Entwicklung andere Gefühle,
die häufig genug in einem Gegensatz zu denen des Kindes
stehen. ,,Eine neue Natur umgibt ihn: nicht mehr Stein,
Pflanze, Luft und Wasser, sondern ein geheimnisvoller
Kosmos voll Leben, Geist, Blut, Licht und Liebe. Die
Dinge reden nicht mehr die Sprache des Tages; es rauscht
aus ihnen Unausgesprochenes, Unauflösliches. Eine zweite
Natur verbirgt sich hinter der sichtbaren und will hervor-
brechen; es bedarf eines Wortes und alle Wirklichkeit
ist aufgehoben. Der Welthauch atmet Majestät und Liebe,
und die jugendliche Seele begehrt nichts anderes, als sich
den Mächten hinzugeben und in ihren Werken aufzu-
gehen. Die Welt der Menschen und Schicksale brandet
93
von ferne, in ihren Kämpfen fliegen und siegen die Ban-
ner der Ideen; Freiheit, Wahrheit, Vaterland, Gottheit
verlangen das höchste Opfer un dsollen gerettet werden1)."
Solche Regungen gehen nicht vom Erhaltungstriebe aus.
Sie sind zweckfrei, mögen sie ungeklärten Stimmungen
gärender Epochen entspringen. Enttäuscht steigt der
junge Erdenbürger in die Vielfältigkeit des Lebens hinab.
Von den Erfahrungen der Jahrtausende nimmt er sein
Erbe in Anspruch und denkt es^ zu mehren, und je uner-
meßlicher der Reichtum in seinen Händen, desto ärmer
die Welt. Er erwirbt, besitzt, genießt, doch nur eine
Zeitlang. „Das Spiel der Schwerter, Federn und Krone:;
ist gestillt. Es bleibt das Schaffen; doch nicht mehr um
der Werte willen; das Sorgen: doch nicht mehr um der
Ziele willen. — Es bleibt die Liebe. Je reiner und heißer
das Feuer der Sinne sich erhielt, desto leuchtender um-
gibt es sich mit der Aureole übersinnlicher Klarheit.
,Es reget sich die Menschenliebe, die Liebe Gottes regt
sich nun.' Es erwacht die Liebe des Franziskus, die all?
Kreatur mitsamt den Gestirnen umspannt, die in die
Sphären tönt und die Gottheit herabzwingt. Denn diese
Liebe ist transzendent. — Sie faßt die Welt nicht mit
den Krallen des Verstandes, sie löst sich auf, geht unter,
vereinigt sich, wird Eines und begreift, indem sie Eines
wird. So wird aus Natur und Schaffen, Liebe und Trans-
zendenz im Menschen die Seele geboren, ja wesentlich
gesprochen: sie wird nur aus Liebe geboren; denn Liebe
umfaßt die anderen drei Kräfte insgesamt2)."
Was ist denn nun mit dieser Seele? „Sie ist kein
Kampfmittel. Rationell betrachtet, im Sinne des Kampfes
um Nahrung, Lust und Nutzen ist sie ein Hemmnis. Die
Gestirne sättigen nicht. Das unzeitliche Werk bringt
Martyrien. Liebe opfert sich. Der seelenhafte Mensch
erscheint der Zeit als Idiot, dem sie nicht immer die Ehre
») M. II. S, 30-31, Sep.-Ausg. S 34. *) M. II. S. 31-32, Sep.-Ausg
S. 35-36.
94
des Kreuzes erweist. — Die Seele will nichts. Sie trägt
in sich Streben und Erfüllung, Dissonanz und Auflösung.
Ihr Wesen ist zweckfrei, und im Sinne der Erscheinungs-
welt zwecklos. Aber mehr als das. Hat die Seele in
ihrem Aufstieg gelernt, mit ausgebreiteten Schwingen
über der Erscheinungswelt betrachtend, freudvoll sinnend
zu ruhen, so entfremdet sich der Blick dem bunten
Wesen, und ihre eigene Kraft hebt sie entsagend hinweg
von der Welt, jenem Licht entgegen, in welchem das
Außen und das Innen verschmilzt. Die Begriffe der
Zweckfreiheit, der Willenlosigkeit sagen nichts mehr; sie
werden zum schlechthin Absoluten1).1'
,,Wer die ersten stillen Regungen des Seelenlebens
erfahren hat, bedarf der Beweise nicht. Ihm besteht die
innere Gewißheit, lebendiger als alles andere Erleben,
daß hier eine neue Qualität des Geistes beginnt, die von
den intellektuellen Qualitäten vollkommen gesondert,
neue Kräfte, Freuden und Schmerzen und ein Leben über
dem Leben erschließt2)." Eine große Zahl von Menschen,
Völkern und ganzen Zeitaltern sind über die Erde dahin-
gegangen, ohne die Offenbarung der Seele gehabt zu
haben. Sie bleiben wie die Kinder ihr ganzes Leben
lang in den Banden des Begehrens und der Furcht einge-
schlossen. Sie werden eine Beute der Mechanisierung,
durch die sie sich in der leider nur zu bekannten Weise
umwandeln. Diejenigen aber, in denen eine Seele leuch-
tet, leben ein völlig anderes Leben. Ihre Kenntnisse, die
sie der Selbstbeobachtung verdanken, sind sicher und
tief; der Intellekt hat sie nur noch zu regeln, zu ordnen
und den Bedürfnissen des alltäglichen Lebens anzupassen.
Im Gegensatze zu den Seelenlosen beobachten die Seelen-
haften ohne jeden äußeren Zwang unwandelbare und
ungeschriebene Sittengesetze, mit denen sich die Seele
in vollem Einklang fühlt. Auf religiösem Gebiete zeitigt
l) M, II. S. 36, Sep.-Ausg. S. 38, 39. *> M. II. S. 36, Sep.-Ausg. S. 40
95
die Intuition solcher Seelenhaften die höchste uns be-
kannte ethische Lehre, die Lehre vom Gottesreich, die
in vieldeutiger und unklarer Formulierung die Jahrhun-
derte überdauert hat und die in jeder kommenden in-
tuitiven Ethik als Sonderlösung enthalten sein wird.
Intuitives Schaffen ist zweckfrei, selbstlos, notwendig.
Deshalb ist das Geschaffene auf jeder Stufe seines Ent-
stehens abgeschlossen und vollendet wie die Schöpfungen
der Natur. Das wahre Kunstwerk, kurz gesagt Werk, ist
aber nur dann wirklich seelenvoll und individuell, wenn
der Schöpfer alle Kräfte dran setzt, das Wahre, das
Objektive, das Absolute zu schaffen. ,,Der Handwerker
alten Schlages, der ein Gerät um seiner selbst willen
und im Blick auf die Vollendung fertigt, ist in vollem
Sinne Schöpfer. Schöpfer ist ein jeder, der das Werk
uro des Werkes willen tut, und die Sache um der Sache
willen liebt, mag er Tagelöhner, Krämer oder Hausierer
sein; Fronarbeiter ist, wer um Besitz, Ehre, Anerkennung,
kurz um Löhnung wirbt, sei er Dichter, Philosoph, Staats-
mann oder Feldherr1)."
,,Aus geheimnisvollem Urgrund, vom Animalischen
gelöst, nicht vollendet, aber der Vollendung zustrebend,
steigt eine Macht in uns empor und besitzt unser Wesen.
Sie reißt uns von der zweckhaften Schöpfung los, um
uns durch neue, geläuterte Bande mit ihr zu verknüpfen.
Sie bindet uns jenseits alles äußeren Erlebens an ferne
Mächte und schließt uns in höhere Gemeinschaft, die wir
zu ahnen wagen2)."
Aber wie spiegelt sich das innere Ereignis der Seelen-
geburt in der Außenwelt? Wie reiht es sich in das Phä-
nomen der Erscheinung? Wie entsteht und was bedeutet
die Seele in der Welt des Gleichnisses?
Diese Fragen beantworten zu wollen, bedeutet nichts
Geringeres, als sich das eigentliche Erkenntnisproblem
l) M. II, S. 63, Sep.-Ausg. S. 65. *) M. II. S. 66, Sep.-Ausg. S. 69.
96
vorzulegen. Wir können in der Tat nicht die Rück-
wirkung des Erscheinens der Seele auf die Außenwelt
studieren, bevor die Einheit des Denkens und die Einheit
der Darstellung durch eine Überbrückung dieses Problems
gesichert ist. Persönlich muß Walther Rathenau beken-
nen, daß er sich zu den Menschen rechnet, für die die
Realität des Träumens und erlebenden Schauens groß ist,
ohne daß darum das Geträumte und Erschaute als ein
vom Schauenden gänzlich Unabhängiges empfunden wird.
,,An handgreiflicher Sinnlichkeit und Kontinuität erscheint
die wahre, Wirklichkeit genannte Erscheinungswelt um
einen Grad realer, an Unmittelbarkeit dunkler, doch bei-
des nicht mit genügender Stärke, um mehr als einen
graduellen Unterschied der beiden Welten glaubhaft zu
machen. Wer so empfindet, den wird allein die Realität
des Geistigen überzeugen. Ihm tritt das Lebendige, was
es auch sei, als ein unleugbar Empfindendes, die Natur
in allem Geschaffenen als ein Begeistetes befreundet ent-
gegen; ihm ist beschieden, nicht mehr allein sich selbst,
sondern einfühlend und entäußert in der Kreatur zu leben;
ja es erscheint ihm vielmals dieses Gemeinschaftsfühlen
wahrer und leibhaftiger als das Für-sich-sein1)."
Eine solche Lösung jedoch würde als zu persönlich
und zu wenig überzeugend gelten. Walther Rathenau
gibt daher noch eine weitere, die er auf mehr didak-
tischem Wege auf der Grundlage einer Theorie über
die Natur und den Menschengeist gewinnt. Den Einzel-
heiten seiner Darstellung nachgehen zu wollen, wäre im
Rahmen dieses Buches einfach unmöglich. Es genüge
einige hervorstechende Punkte anzugeben. Er stellt das
Dasein und die Tätigkeit des Geistes als fundamentales
Postulat hin. Er kennzeichnet drei Grunderfahrungen des
inneren Erlebens: Teilbarkeit, Kombinierbarkeit und
geistige Wechselwirkung. Aus der Beobachtung des
Spieles dieser drei psychischen Grundelemente an sich
») M. 11. S, 70, Sep.-Anss. S. 75.
97
selbst geht für ihn deutlich hervor, daß eine Mechanik
des Geistes möglich ist, die es ermöglichen wird, eine
Grundlage für die Erkenntnis zu schaffen and ihre Ent-
stehung zu erklären. Auf diese Weise geht uns eine Vor-
stellung davon auf, daß wir nirgendwo in icr Schöpfung
ein einfaches geistiges Element finden werden, sondern
daß alle Äußerungen des Geistes, so weit sie für uns
wahrnehmbar sind, auf uns wirken und wir auf sie wirken
oder wir sie wenigstens mutmaßen, Kombinationen,
Geistesgemeinschaften oder Massenphänome auf dem
geistigen Gebiete sind. Da sie uns grade am zugäng-
lichsten sind, so wird auch wohlweislich ihr Studium das
fruchtbarste für die Begründung dieser Mechanik des
Geistes sein. Es wird uns gleichzeitig über die Ent-
stehung und das Verhalten der Gemeinschaftsseele be-
lehren.
Es handelt sich weder um die psychologische Be-
schreibung von Arten, noch um gemeinsame Produktion
dieser Arten, wie sie uns die ethnographische Psycho-
logie lehrt, die als eine Geschichte oder eine Natur-
geschichte des Geisteslebens der Völker anzusehen ist,
es handelt sich um nichts weniger als um die Verschmel-
zung der Menge zum Kollektivgeschöpf. „Um ein Bei-
spiel des täglichen Lebens zu gebrauchen: es handelt sich
nicht um die Geschäfte, Lebensschicksale und Gepflogen-
heiten der Summe der Sozien, sondern um das geistige
Leben und Sckicksal der Handelssozietät1)." Ein solches
Leben gibt es wirklich, und nicht mit Unrecht ist darum
häufig eine Stadt mit ihren Steinzellen und Arterien mit
einem lebenden Organismus verglichen worden. Dieses
Leben hat Gesetze, die einem Kollektivgebilde wie einer
Volksversammlung oder einer Stadt ermöglichen, als
geistige Einheit zu denken und zu handeln. In jeder Ge-
meinschaft ist jede Stimmung in beliebigen Exemplaren
vorrätig, gleich trockenen Farbkörnern, die in Sand ge-
') M. U. S. 109, Sep.-Ausg. S. 113.
98
mischt sind. So lange sie in normaler Ruhe verharrt, ge-
währt die Masse einen neutralen Anblick. Sobald aber
durch irgendeinen äußeren Umstand diese Ruhe gestört
wird oder, um in unserem Bilde zu reden, sobald in dem
besagten Sande die einzelnen Elemente zur Lösung ver-
schmelzen, etwa weil die Substanz befeuchtet wurde, so
erscheint plötzlich, um weiter im Rahmen unseres Bildes
zu bleiben, die ganze Mischung gefärbt. Auch in unserem
persönlichen Geistesleben tritt nichts zutage, was nicht
zuvor schweigend in den Tiefen geruht hätte. Das Ver-
gessene schlummert und ist dennoch gegenwärtig; das
scneinbar Neue ist ein Unbewußtes, das plötzlich er-
wacht.
Und die Analogie geht noch weiter: ebenso wie
unser Individuum ein Ganzes ist, das mehrere Organe
umfaßt, zwischen denen sich die gemeinsame Arbeit teilt,
ebenso schafft sich ein Gemeinschaftswesen verschiedene
Organe, die mit einer ganz bestimmten Aufgabe im In-
teresse des allgemeinen Gedeihens betraut werden. Wir
sehen zwei Männer in einer Besprechung: es ist tatsäch-
lich der Handelsverkehr eines Landes, der mit der
Kriegsmacht verhandelt, oder die Hauptstadt, die mit dem
Staate verhandelt, oder der Staat, der mit einem Nach-
barn verhandelt, insofern nämlich, als in jedem dieser
Vertreter die Strebungen, die Besorgnisse, die Kräfte und
die Mittel des Organismus ihren summarischen Ausdruck
finden. Der Organismus hat in diesen Manschen Rede
gewonnen, er hat in ihnen Augen, Ohren, Fühler und
Taster, er dringt vor, weicht aus, streitet, kämpft, gibt
nach, erobert, siegt und unterwirft sich. Im Augenblick
der Belebtheit und des Handelns sind diese Menschen die
wirksamen Exponenten ihres Kollektivwesens; in ihnen
drängt sich Leben und Wille des Organon zusammen:
sie sind wirksame und zeitliche Exponenten des Kollek-
tivbegriffes, aber nicht seine absolute Essenz1)."
l) M. 11. S. 127, Sep.-Ausg. S. 130.
?• 99
Das große Prinzip des ständigen Ab- und Zuganges
findet auch auf diese Gemeinschaften seine Anwendung.
Menschen, die wir heute noch sahen, werden schon
morgen durch andere ersetzt; die einzelnen Vertreter der
Gemeinschaften scheiden aus und wechseln, aber die Ge-
meinschaften selbst bleiben. Wie in einem Einzelorga-
nismus, so erneuern sich auch ihre einzelnen Elemente
immer wieder, während das Ganze bleibt. Schließlich
verändern sich auch jene Gemeinschaften selbst; sie
wachsen oder gehen auch in andere gleichartige auf,
um in anderer Gestalt wieder von neuem zu erstehen.
Was noch weit merkwürdiger ist, ist das, daß aus
diesen Gemeinschaften gemeinsame Werke erstehen, die
eine überirdische Eingebung verraten und sich als Ab-
bilder und Gleichnisse ihrer gemeinsamen Seele langsam
erheben. Das Kollektivgebilde, das wir befragen, trägt
diesmal die Züge einer fernen Stadt; ein Dom erhebt und
verkündet ihren Umriß. Jahrhunderte lang haben stille
Geschlechter diesem Bau gefront; die äußeren Welt-
ereignissc, die inneren Zwistigkeiten und Zwiespältig-
keiten haben an ihm ihre Spur hinterlassen. Alles, was
innerhalb der Stadtmauer rein praktischen Zwecken
diente, ist zerfallen, doch der Dom richtet noch heute
seine Spitze zum Himmel empor. „Diese Gemeinschaft
hat wirklich um ihres Werkes willen gelebt; dieses Werk
ist unsterblich; es ist unsterblich als ein Werk der Liebe.
So trägt die kleinste ältere Ortschaft, die wir besuchen,
im Herzen ihres materiellen Organismus ein versteinertes
Seelenbildlein. Und wäre es nur ein Rathauserker oder
ein schöner Brunnen, ein Torbogen oder ein Kreuz; es
sind Geschöpfe eines höheren Wollens und einer edleren
Freude1)." Und legen wir nicht der Erinnerung an diese
Kunstwerke Jahrhunderte lang den größten Wert bei?
Die Kinder lernen die Namen der Bildhauer auswendig,
») M. 11. S. 143, Sep.-Ausg. S. 145-146.
100
und die prosaischesten kleinen Leute träumen von einer
Reise zum Forum oder zur Akropolis. Die mechanischen
Erfindungen und die geistigen Werke interessieren uns,
sobald sie uns nur irgend vertraut geworden sind, schon
nicht mehr, alles aber, was die Seele berührt, hat eine
dauernde Wirkung. Wir fühlen das so recht an Venedig.
„Die Schöpfungen, die wir hier sehen, sind wirklich nicht
Menschenwerke, sondern Werke einer Menschheit; hier
stehen nicht Häuser und Türme, sondern die steingemei-
ßelte Seele Venedigs, das farbige Muschelkleid eines
namenlosen Meergottes glänzt am Strande1)." Das ist die
unvergängliche und allspendende Strahlenquelle der gro-
ßen alten Kulturen des jüdischen, griechischen und römi-
schen Volkes. In gewissen Augenblicken nun verdichten
sich die Geistessäfte des gesamten Volkskörpers in ein-
zelnen genialen Naturen dermaßen, daß sie die Bewegung
der zögernden Masse lenken. Ein einfaches Beispiel bie-
tet die Naturerscheinung einer stark betauten Fenster-
scheibe in feuchtigkeit-gesättigtem Raum. Hier ist ein
Tropfen etwas länglicher geformt als die übrigen und
etwas umfangreicher, somit stärker unter der Schwer-
kraft leidend und merklich überhängend. Da gewinnt er
plötzlich Bewegung. Wir wissen, was folgt; mit zwei,
drei Nachbarn vereinigt, rollt er bergab, der Weg wird
zum Kanal, der sich verzweigt, andere entreißt, Seiten-
bäche aufnimmt; die Erscheinung gewinnt Nachfolge, All-
gemeinheit, und im Handumdrehen ist die Scheibe ent-
wässert. Das geschieht bei diesem bescheidenen Bilde
dem bevorzugten Tropfen und bei der Entwicklung
menschlicher Gemeinschaft der genialen Natur.
Wir fragen uns nun: welche Grundbedingungen müs-
sen gegeben sein, damit in einer Gemeinschaft das Gesetz
der Seelenwerdung erfüllt werde? Zunächst muß die Ge-
') M. 11. S. 149, Sep.-Ausg. S. 151.
101
meinschaft lebendig sein. Es genügt nicht, daß sie wie
eine Zweckgesellschaft eine beliebige Anzahl von Men-
schen für ihren besonderen Zweck äußerlich zusammen-
raffe; die erste Voraussetzung ist inneres Leben des Ge-
meinwesens und dieses Leben ist geistige Berührung und
geistiger Austausch. Niemals ist eine engere menschliche
Vereinigung geistig produktiv geworden, ohne daß ein
Band der Herzen sie zusammenhielt. Hieraus ergibt sich
als zweite Notwendigkeit die innere Abgrenzung. Eine
Völkerschaft, die aufgelöst und in der Welt zerstreut lebt,
kann noch lange nach ihrer Explosion in ihren noch leben-
dig erzitternden zerstückten Gliedern gemeinsame
Eigenschaften und Erinnerungen bewahren, aber sie kann
nicht mehr die Kraft schöpferischer Seelengemeinschaft
entfalten. Wo aber immer wir solcher Kräfte gewahr
werden, immer sind sie begleitet von einem und dem
gleichen Gefühlspaar: dem Gefühl der Verwobenheit und
des Opfersinns. Die Fähigkeit, sich als eine Einheit zu
empfinden, diese Einheit höher zu stellen als alles indi-
viduelle Leben, in ihr aufzugehen, für sie sich hinzugeben:
dieses transzendente Gefühl erhöhter Ordnung ist leicht-
hin die Voraussetzung und der Maßstab aller seelischen
Gemeinschaft. Dürfen wir in dem verbundenen und ver-
bindenden Kräftepaar selbstbewußten Gleichgewichtes
und selbstentäußernden Opfermutes das eigentliche Mo-
ment der geistigen Addition, den Faktor erblicken, der
den Gemeinschaftsgeist zur Seelenentfaltung zusammen-
faßt, so erscheint die neue Erkenntnis uns bald als
Selbstverständlichkeit vertraut: denn was sollte anderes
den inneren Grund jener wunderbaren Verschmelzung
ausmachen, wenn nicht das alte, allzu rätselhafte Band
der Hingabe, der Verwebung, der Entäußerung und des
Opfers? Das Element aber aller dieser Kräfte ist die
Liebe.
* *
102
Auch das Leben einer Gemeinschaftsseelc wird durch
den Augenblick ihrer Entstehung, die Vollendung eines
langen Entwicklungsstadiums und das Warten an der
Schwelle einer erhabeneren Welt bezeichnet. Individuen
wie Kollektivwesen streben gleichmäßig zum Reiche der
Seele. Welche Hilfe wird uns nun bei diesem Tat-
bestande der Einfluß der Seele bringen? Wir haben von
ihr sowohl durch Selbstprüfung wie durch Beobachtung
anderer eine klare Erkenntnis. Ihr Wesen und ihre Gesetze
sind absolut, soviel ist sicher. Sie wird also unseren Ur-
teilen und Handlungen als Kriterium dienen. Wir werden
immer nur eine Frage zu stellen haben: fördert oder
hemmt irgend etwas die Entwicklung der Seele? Und
diese Frage wird den Polarstern bilden, an dem sich
unser ganzes Leben orientieren wird.
In erster Linie unser ethisches Leben. Wenn wir
bereits den völligen Triumph der Seele in uns verwirk-
lichen könnten, würden wir keines Sittengesetzes bedür-
fen, da wir ja dann den Zustand absoluter Reinheit er-
langt hätten. Wir Wesen des Ueberganges, die wir uns
von dem Joch der Materie und des Intellektes zu befreien
streben, bedürfen noch der Sittenlehre, die uns die Seele
geben wird. Nichtig ist deshalb jede Sittenlehre, die sich
auf Lockungen und Drohungen aufbauen würde, d. h. auf
Fürchten und Hoffen, diesen beiden charakteristischen
Attributen der intellektualen Welt. „Das absolute Sitten-
gesetz ist für den unerlösten Intellekt eine Verkündigung
und eine Erkenntnis, für die erlöste Seele ein identisches
Lebensprinzip; scheinbar imperative, in Wirklichkeit nur
Richtung weisende Form kann es annehmen für den
Zwischenstand des bald entschiedenen Seelenkampfes. In
dieser Form lautet es: , Achte auf deine Seele!'1)."
Liebe haben wir als die Kraft erkannt, die durch
Verschmelzung der Geisteselemente Seele befreit, im
•) M. 11. S. 189-190, Sep.-Ausg. S. 192-193.
103
äußeren Verbände der Individuen als Kollektivseele, im
inneren Verbände des Einzelwesens als Einzelseele. Liebe
steht daher auf dem Gipfelpunkte aller irdischen Werte;
sie ist zugleich das höchste Gut, die höchste Tugend und
die höchste Kraft. In eben dem Augenblick, wo die Liebe
uns ergreift, zum Menschen, zur Gottheit oder zur
Kreatur, löst sich jede Spannung des eigenen Wollens,
wir sind nicht wir selbst und sind doch zum ersten
Male wahrhaft wir selbst. Wir lassen uns nicht von
der intellektualen Welt täuschen mit dem, was sie
so unwahrhaftig als das ,,i n d i v i d u e 1 1 e Wesen"
oder „das Uebcrraenschentum" bezeichnete
und was aus bloßem individuellen Streben
nach Sonderglück entspringt und somit nur
egoistisch genannt werden kann und uns in der Tat in
die Feindschaft, den Haß und die Vernichtung des Näch-
sten peitscht. Wir brauchen dann keine Richtschnur mehr
für ethisches Handeln, wir kennen dann nur noch einen
ethischen Zustand, in dem wir von nun an leben, den
„Stand der Gnade" nach der Formel der kirchlichen
Lehre, die diese Wahrheit schon früh ahnte. „Wie die
Gottheit, so liegt die Sittlichkeit nicht im Aeußern, son-
dern im Innern des menschlichen Bereiches; sie geht im
Menschen vor, aber sie geht nicht aus ihm heraus. Sitt-
lich sein heißt in sich selber wirken1)/'
Die Menschen teilen sich in zwei große Kategorien,
je nachdem in ihnen ein Streben überwiegt, vermöge dessen
sie sich dem besagten ethischen Zustande nähern oder von
ihm entfernen. Je mehr im Menschen die muthafte, freudige,
impulsive Tendenz überwiegt, die am nächsten der Liebe
benachbart ist, desto unmittelbar geht sein Wollen und
Tun auf die Sache, die Sache, die er liebt und naturkräf-
tig rückhaltlos betreibt und um deren willen er auch
ohne jede äußere Lockung schafft. Dieser Mensch steht
dem sittlichen Zustande des Erwachens der Seele am
*) M. 11. S. 193, Sep.-Ausg. S. 196.
104
nächsten. Ueberwiegt aber im Menschen urngekehrt die
nüchterne und aller Ideale bare furchthafte, sorgenreiche,
hemmungsvolle, unschlüssige, positive und autoritäre Ten-
denz, so wird sein Geist tief in intellektuales Denken
hineingezogen, er geht nicht auf die Sache, sondern hinter
die Sache, sein Ziel wird zumZweck, Dinge undMenschen
werden zum Mittel zu glänzen und zu steigen. Die empi-
rische Polarität der furchthaften Seelenferne und der mut-
haften Seelennähe ist von den wechselnden ethischenAuf-
fassungen der Zeiten und Zonen in verschiedenartiger An-
näherung aufgefaßt und ausgewertet worden. Am klarsten
hat sich der germanische Geist diesen Sachverhalt ange-
eignet; er sagt: Mut ist Tugend, Furcht ist Laster; ohne
irgendwo aufgeschrieben oder auch nur irgendwann be-
stimmt und scharf verkündet zu sein, beherrscht dieses
Dogma noch immer die gesamte moderne Kulturwelt.
Doch es hält sich streng in den Erdenschranken der Rea-
lität und menschlichen Schlichtung und dringt nicht bis
in die Regionen vor, an die das Reich der Seele grenzt.
Die indische Auffassung wünscht das völlige Abtun
alles Begehrens und aller Furcht, setzt aber auf
diese Weise an die Stelle der weltschaffenden Tätigkeit
der Seele die reiche Seligkeit der Selbstvergessenheit und
erhabenen Ruhe. Die Moral der semitischen Völker
nimmt die Partei der Schwachen. Als universelle Tugend
gilt ihr die Furcht und ihre Perle: die Barmherzigkeit.
Aus dieser banalen Güte und der Vorstellung eines ein
absolutes Sittengesetz verkündenden Gottes war in der
neuen Lehre des Juden von Nazareth eine zweckfreie
Menschen-, Feindes- und Gottesliebe geworden, die „so
nahe an die Grenze transzendentaler Wertung führte, daß
die christliche Lehre nur noch die Fessel materieller
Deutung und Versprechung abzustreifen brauchte, um
den Kern der Liebe, der Entäußerung und des Gottes-
reiches zu lösen1)."
l) M. 11. S. 199, Sep.-Ausg. S. 202.
106
In welchen Stimmungen und Handlungen äußert sich
der ethisch seelenhafte Stand? „Das Leben ist geleitet
und bestimmt von Transzendenz und Liebe. Jedes Erleb-
nis und jedes Handeln erscheint nur insofern wichtig, als
es nach diesem Doppelgestirn gerichtet ist, und das Leben
selbst hat nur deshalb Wert und Bedeutung, weil es diese
Richtung gestattet. Die Transzendenz verliert ihren Be-
griff, wenn sie auf irdische Zwecke zurückgebeugt wird.
Wenn die Erhebung zum Göttlichen die Form eines Ge-
bets um leibliche Güter und Vorteile annimmt, so ist sie
abstoßend und gräßlich und nicht mehr Gottesdienst, son-
dern Geisterbeschwörung. Wer um Strandgut oder
Schlachtensieg bittet, der tötet. Wer durch Selbst-
beschuldigung der Gottheit zu schmeicheln glaubt, belei-
digt Gott und erniedrigt seine Seele. Wer unüberzeugt
Ritualien verrichtet, begeht Götzendienst und Fetischis-
mus und verschließt die Quellen seines inneren Lebens.
Leidenschaftliche Totentrauer und vielgeschäftiger Lei-
chenkult verraten und beweisen die Gesinnung der Trans-
zendenzlosigkeit. Wir wollen stets Ehrfurcht üben, doch
immer nur solche, die nichts weiß von hündischer Demut;
denn in dieser Welt, wo das Kleinste unentbehrlich ist
und daher höchst würdevoll, insofern es einer höheren
Einheit dient, gibt es nichts, das so klein wäre, daß es
nicht gleichwohl die höchste Ehrfurcht verdiente. Der
Adel der Kreatur ist die Ehre des Schöpfers. Deshalb wird
auch transzendente Liebe nicht die Verewigung des Indivi-
duellen, weder des eigenen noch des umfangenen, verlangen;
sie führt die Unverbrüchlichkeit des Wesenhaften, nicht
des Gleichnisses. Ist doch die gesamte individuale Erschei-
nung unseres Ich das Liebeswerk vereinter Geistesele-
mente, dia, einzeln uns unbekannt, zu diesem festen Kol-
lektivbau von unermeßlich gesteigerter Qualität eben
durch diese Urkraft verschmolzen sind. Wichtig, nach
demBegriff ethischen Lebens, ist alles, was in derRichtung
der Transzendenz und der Liebe orientiert ist. Uns Hegt
106
ob, das Spiel des Lebens möglichst ernst zu nehmen. Von
neuem und in einem höheren Sinne müssen wir an Nöte
und Begierden glauben lernen, nicht mehr aus primitiver
Lust der Stillung, sondern in bewußtem Dienst und ledig-
lich, um das irdische Leben zu erhalten und seiner letzten
Aufgabe entgegenzuführen. Dieser Dienst ist schwer;
denn er fordert Härte. Wir behalten das Recht, uns zu
opfern, aber nicht um des Nichtigen willen. Ja, wir sind
gezwungen, Opfer zu empfangen. Aber die Opfer der
Natur gehören uns nur insofern, als wir ihr reicheres
Leben erstatten. Nicht mehr bedarf es, durch Verbote
und Befehle aus Gebrechlichkeiten und Lüsten ein not-
dürftig gesittetes Gehaben aufzustutzen: unsere Sendung
ist vielmehr, solange die Seele nicht vollkommen erstarkt
in sich selber ruht, zum Leben um des Gottes willen und
zur Leistung um der Welt willen uns zu ermutigen. Ein
solch ethisches Leben ist zweite Natur. Denn es ruht
nicht mehr auf primitivem Trieb und Willen, sondern auf
erworbener Gesinnung und transzendentem Empfinden.
So rechtfertigt sich abermals als partielle Lösung ein altes
Symbol: , .Nicht Werke heiligen, sondern Glaube1)."
Mehrere Wege können uns zu jenem ethischen Zu-
stande des Seelenhaften führen. Zunächst der des Leides.
,,So wie alles Große auf Erden von Menschen geschaffen
worden ist, die schuldig oder sündlos die Schmerzen der
Schuld und Sünde erlebten, Himmel und Abgrund im
Herzen trugen, Verworfenes und Heiliges mit gleicher
Liebe begriffen, so ist das Reich der Seele nicht den
Schuldlosen am nächsten, sondern den Dämonischen, die
aus der Tiefe ihrer Schmerzen die Wandlung des Leides
erfahren haben2)." Der zweite Weg ist das Schweigen.
Der Intellekt ist viel zu eingeengt die Sprache des
Geistes, der aus den Dingen redet, zu fassen; er urteilt
und klassifiziert und nennt das Erkennen. In der Einsam*
') M. 11. S. 200-206, Sep.-Ausg. S. 203-209. *) M. 11. S. 210, Sep.-
Ausg. S. 213.
107
keit und Abgeschlossenheit enthüllt uns jedes Ding seine
Seele; in dieser Stille wird das Geheimnisvolle möglich,
so daß es dem Menschen vergönnt ist, das Seiende und das
Werdende, das Vergangene und das Kommende zu
erblicken. Auch die partiale Ableitung kennzeichnet die
unendliche Funktion. „Der Krug faßt nicht den Quell,
aber er faßt echtes, edles Wasser, und der Tropfen löscht
nicht die Sonne, aber er spiegelt die Gestirne1)." Vom Weg
des Schweigens zweigt sich ab der Weg der Betrachtung,
der die Welt des Sinnlichen mit der Welt des Seelischen
eng verbindet. Der Wald ist nun nicht mehr eine ein-
fache Forstwirtschaft, der Stein ein Brennmaterial, der
Mensch ein steuerzahlender Bürger. Nein, in allem, vom
Kristall bis zum Blütenstaub, entdecken wir die gesetz-
mäßige Herrschaft von Einheit, Gleichklang und Recht.
Ein Samenkorn birgt eine Welt, die wir begreifen können,
weil sie nicht leer und unbeseelt ist, sondern einen Geist
offenbart, der genau dem unseren entspricht. Ein letzter
Weg ist die Religion. Schon die Uebungen des Leidens,
des Schweigens und der Betrachtung gehören dieser
Sphäre an. Die religiösen Einzelformen, Dogmen,
Mythen, Mysterien und Symbole, erscheinen unserer Be-
trachtung als zeitlich, örtlich und intellektuell bedingte
Gleichnisse und Partialableitungen mehr oder minder
rein empfundener transzendenter Wahrheit. Hieran
zu glauben ist immerhin noch besser als wenn man, wie
es doch so oft vorkommt, lebt und stirbt in solchen un-
verdauten Intellektualformen wie: das oberste Weltprinzip
sei das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, und man einen
Wirtschaftsgrundsatz, etwa die Oekonomie der Energie,
auf den Thron der Ethik setzt und damit die Gotteswelt zu
einer riesigen Sparbüchse macht. Erhebt sich das vorge-
schrittene Erfassen einer Zeit ein wenig über das Maß,
das dem Durchschnitt erreichbar ist, und ist das, was ein
l) M. 11. S. 213, Sep.-Ausg. S. 215.
108
Mensch glaubt, nicht etwa eigennütziger Zweckglaube, so
sind solche religiösen Richtungsbegriffe wie Sünde, Per-
sönlichkeit Gottes, Erlösung, Gnade, Gemeinschaft der
Heiligen, Gottesreich, Gebet und Wunder, weiter nichts
als bloße bildlich-faßliche Mythologismen, die wohl ge-
eignet sind in uns den Thron der Seele aufzurichten und
zu befestigen.
Welches Glücksgefühl kann uns eine solche Ethik
bringen? An sich ist diese Frage ganz nebensächlich;
denn, wäre selbst die einzige Folge der Seelenrevolution
das Leiden, wie es ja unter ihren Förderkräften eine der
hauptsächlichsten ist, so würde der Glaube und die Wahr-
heit uns dennoch zwingen, für die Seele zu zeugen. Es
ist jedoch auffällig, daß die hohe Tugend der Selbstver-
leugnung das eine wahre und tätige Opfer der Liebe,
dem Intellekt unendlich schwer, der Seele selbstverständ-
lich, vollbringt: Freude für Leid der Welt einzutauschen.
In diesem Sinne wirkt das Seelenhafte und Seelengerich-
tete irdisch-eudämonistisch, und in diesem Sinne haben
die Religionen, die das freiwillige Sühneopfer preisen,
Recht. Bei der Schwierigkeit des Opfers dieses freien
Aufschwunges der Seele für den Intellekt spüren wir
etwas von der grenzenlosen Entfremdung und schneiden-
den Trennung, die jedem Entwicklungsschritt der
Schöpfung vorangegangen sein mag, gleichviel, ob ein
Menschenvorfahr den aufrechten Gang oder ein bahn-
brechender Denker die produktive Idee aus sich losriß.
Ebenso wie auf das ethische Leben, übt die Seelen-
revolution auch auf das ästhetische Leben einen Ein-
fluß aus.
Schon gleich begrifflich besteht eine enge Beziehung
zwischen ästhetischem Empfinden und Seele. Dieses
Empfinden ist in der Tat nichts weiter als die, wenn auch
unbewußte Wahrnehmung einer latenten natürlichen
Gesetzmäßigkeit und Ordnung. Es löst in uns ein
109
Erlebnis von Glück aus, gewinnt doch der Geist in
solcher Wahrnehmung die Zuversicht eigener freier
Kräfte. Anders als bei den die Tätigkeit wissenschaft-
licher Forschung begleitenden psychischen Vorgängen,
bei denen es sich um die bewußte Wahrnehmung einer
solchen Gesetzmäßigkeit und weiter um eine spekulative
Untersuchung ihrer Gesetze handelt, hat die Seele beim
Erschauen der Natur eine unmittelbare Intuition, die das
Kunstwerk ohne irgendwelches lange Suchen oder irgend-
welchen äußeren Zwang schaffend hervorbringt. Von An-
fang an entzieht sich alle wahre Kunst der Zweckmäßig-
keit und dem Intellekt.
Doch die Mittel der Kunst sind materiell, und ihr
Wirkungskreis sind die menschlichen Sinne. Insoweit
gehört sie zur organischen Welt, deren Beherrschung ihr
aber gleichwohl lange Zeit nicht gelungen ist. Die ersten
Künste waren technischer, dekorativer, mnemotechnischer
oder didaktischer Art. Später machte sich die Kunst die
objektive Darstellung der Wirklichkeit und die Entwicke-
lung aller in ihr enthaltenen typischen Elemente zur
Aufgabe. Hier gelangten die Griechen zu einer Vollen-
dung, die später zu keiner Zeit mehr überboten worden
ist und so lange noch irgendwelcher Wert auf das wahre
Wesen .der Kunst gelegt wird, auch gar nicht überboten
v/erden kann. Bei anderer Auffassung kann sie es viel-
leicht und ist es auch wirklich worden. Es war unseren
neuesten Zeiten vorbehalten, in denen die Kunst „das
scheinbar absolute und ideale Gebiet des Typischen ver-
lassen, weil es angeblich keine letzte Vertiefung gestattete,
und die bescheidenen, unendlich verzweigten anscheinend
richtungslosen und zufälligen Wege des Individuellen
beschreiten mußte, um tiefer dem Herzen der Schöpfung
entgegenzudringen und das liebeumfaßte Einzelne zur
allspiegelnden Gültigkeit zu erhöhen1)." Genien wie
') ML 11. S. 254, Sep.-Ausg. 255
uo
Rembrandt, Goethe, Beethoven haben die Natur und die
menschliche Seele leidenschaftlicher empfunden und un-
mittelbarer erschaut, als es jemals die größten Meister
unter den objektiven Künstlern vermocht hätten. „Die
Welt Homers verhält sich zur Welt Shakespeares und
Dostojewskys wie die vollkommene Beobachtung zur voll-
kommenen Einfühlung1)." Unter allen neueren Künsten
ist die unvergänglichste die der Musik. Die auf diesem
Gebiete entstandenen Werke sind sich völlig Selbstzweck
und finden ausschließlich in sich ihre Rechtfertigung und
ihre Gesetze. Sie sind Schöpfungen der Seele, die die
Wirklichkeit der Außenwelt erleuchten und weihen.
Solche Meisterwerke haben weder die orientalischen
noch die beiden klassischen Völker gekannt noch auch
selbst in unseren Tagen gewisse Völker romanischen Ur-
sprungs; diejenigen Musikwerke, die den Namen eines
Meisterwerks wahrhaft verdienen, sind germanischen Ge-
nien zu verdanken. Möglicherweise sind manche Vorzüge
vergangener Zeiten verloren gegangen, wie beispielsweise
die der Tradition, der Sicherheit des Geschmackes und
des Formensinnes, möglicherweise ist auch die Archi-
tektur ein für allemal dahin; dafür aber hat die Kunst
andere Werte gewonnen, die ganz köstliche und un-
schätzbare Werte sind, nämlich die Seelenhoitigkeit und
die Freiheit.
Zwecke, gleichviel welcher Art, hat eine solche Kur.st
der Seele nicht erfüllen. Ebenso hat sie auf äußere Ge-
fälligkeit, auf Beherrscbui.g alles rein Handwerklichen in
der Ausführung zu verzichten. Sie wird infolgedessen auch
nicht volkstümlich im landläufigen demokratischen Sincc
sein. Die herrschenden Stände werden sich ihr feindlich
erweisen. Sie wird eine Sache der Berufenen sein, und
zwar etwa keineswegs nach dem Satze von „der Kunst
für die Kunst", sondern vielmehr in dem Sinne, daß
*) M. 11. S. 245, Sep.-Ausg. S. 248.
111
sie ausschließlich und allein den auserwählten Naturen
zugänglich ist. Von dem Künstler erwarten wir, daß er
uns wirklich ein starkes und persönliches Erlebnis mitzu-
teilen habe und daß er ihm gleichzeitig in einer oiiginalen
Handhabung der Formen, Farben oder Töne Ausdruck zu
geben wisse. Jedoch ohne jede Verstiegenheit undAesthe-
tisiererei, ist doch die Meisterschaft nicht Selbstzweck
sondern allein Mittel zum Zweck. „Echte Kunst macht
die Gesetze des Organischen, des Schicksals, der Seele
und des Göttlichen fühlbar: sie stammt aus dem Erlebnis
echter Menschlichkeit, ist gestaltet in der Erkenntnis des
Wesentlichen, ausgedrückt in der Sprache der Persön-
lichkeit und führt zur Erschütterung der Seele. Denn sie
erfüllt uns mit der Gewißheit, daß wir nicht im Chaos
der Willkür und des Zufalls beruhen, sondern im gött-
lichen Kosmos; wir verlöschen im Selbstischen und er-
stehen im Gefühl der Würde und Gnade höchster Ge-
meinschaft1)."
Es läßt sich nicht grade behaupten, daß die zeit-
genössische Kunst diesem Ideal irgendwie entspreche.
Von der Konkurrenz überspannter Eigenbrödler ge-
peitscht, leidet sie unter dem raschen Wechsel der Mode,
ihrer immer größeren Entfremdung von dem noch gesunden
Teile derNation, dem wachsenden Einflüsse derAestheten
und Frauen, ihrer Belastung mit allzu vielen Erinnerungen
und Eindrücken und den steigenden Ansprüchen auf In-
ternationalität. Zudem erleben wir gegenwärtig nicht
mehr eine jener großen Zeitwenden der Kultur oder
auch irgendwelcher sozialer Anstürme oder Erschütte-
rungen2), die stets das Anbrechen von großen Zeitaltern
der Kunst begünstigt haben. Ebensowenig unbekannt wie
überraschend ist daher auch die Tatsache, daß unsere
Zeit merklich von den Künsten abrückt. Manche Snobs
>) M. 11. S. 271, Sep.-Ausg. S. 272-273. -°) Es ist zu bedenken, dass
die dem franz. Verf. für dieses Kapitel zugrunde liegende Schrift Raihenaus
bereits vor 1914 entstanden ist. (Bearbeiter.)
112
gebärden sich wohl noch so, daß es den Anschein er-
wecken möchte, als ob sie sich auch heutzutage noch
dafür interessierten, doch die im praktischen Leben
stehenden Männer bleiben der Kunst fremd. Dem
Mechanisierungsprozesse entsprechend ist die wirt-
schaftliche Tat als das Schaffenselement der stärksten
Potenz anzusehen. Doch diese Entfremdung kann un-
möglich als etwas Endgültiges betrachtet werden. Niemals
wird die Menschheit auf ihrem Gange, der zur Seele
führt, der Kunst entbehren noch ihr entsagen1)." Die
Kunst hat den rohen und halb tierischen Urvölkern die
Natur, das Gesetz und die Transzendenz offenbart. Sie
hat der fortgeschrittenen Menschheit gezeigt, wie sie sich
von Furcht und Begehren befreien und zu dem, was hinter
den Erscheinungen liegt, vordringen könne. Für den
Augenblick scheint die Kunst vom Wege abgekommen
zu sein und vereinsamt dazustehen. Wer weiß, ob nicht
vielleicht doch neue Katastrophen wieder ihr altes Feuer
beleben werden2)?" Wer weiß, ob nicht die heutigen
Uebertreibungen vielleicht nur ihr Entstehen einer Kunst
zu verdanken haben, die zu schnell vorwärts gegangen und
der Menge zu weit vorausgeeilt ist, die ihr aber aufs neue
zu dienen wissen wird, wenn sie wieder ihren Schritt zu
zähmen und auf die Stimme dieser Menge zu hören be-
ginnen wird?
Nach der Ethik und der Kunst sollte auch bald das
soziale Leben durch die Entwicklung des Seelenlebens
umgestaltet werden.
Hier könnte ein banger Zweifel möglich sein. Wird
nicht dabei um die Zukunft des gesamten mechanistischen
Volkswirtschaftsbetriebes gespielt? Ist es möglich, die
Wirkungen der fortschreitenden Mechanisierung zu besei-
tigen, ohne daß etwa gleichzeitig mit einem Schlage die
l) M. 11. S. 287, Sep.-Ausg. S. 288. -) Von der Entstehungszeit dieser
R.schen Ausführungen über Kunst aus gesehen (1913), welch' prophetisches
Wort! (Bearbeiter.)
8 113
ganze soziale Maschine zum Stehen komme? Daß sie
recht mangelhaft funktioniert, wissen wir ebenso wie die
Tatsache, daß die sie treibenden Kräfte die materielle
Not und das Begehren nach Besitz und Genuß, zu den
Scheußlichkeiten des Lebens gehören. Aber lassen sich
diese Kräfte wirklich so unbedenklich einfach aufheben?
Walther Rathenau meint es. Wir werden im folgenden
sehen, wie er bei der Betrachtung der praktischen Mittel
für die Verwirklichung der von ihm geplanten Reformen
diese treibenden Kräfte näher untersucht, um auf diese
Weise einen ganz genauen Einblick in ihre Stärke und
in ihre Ersetzungsmöglichkeiten zu gewinnen. Von vorn-
herein erkennt er an, daß diese treibenden Kräfte weder
unantastbar noch unentbehrlich sind. Die materielle Not
ist nur ein nebensächliches und unwesentliches Phänomen.
„Zwei Milliarden weniger als der dritte Teil der öffent-
lichen Budgets, in Deutschland jährlich aufgebracht und
richtig verwendet, würden die letzte Spur von Not aus
dem Lande treiben1)." Die beiden anderen Einwände nun
sind weit weniger erheblich als sie es zunächst auf den
ersten Blick scheinen könnten; es hat auch nicht die ge-
ringsten Nachteile, sondern umgekehrt alle nur irgendwie
denkbaren Vorteile an die Stelle ierer beiden bisherigen
intellektualen Hauptmotoren, des Willens zum Besitz und
Genuß und des Willens zur Macht, die beiden neuen:
Arbeitsfreudigkeit und Verantwortungsgefühl zu setzen.
Doch wie soll sich die Umwandlung vollziehen? Etwa
im Anschluß einer unvorhergesehenen Entdeckung un-
serer Zeit? Schon möglich! Wer kann sich rühmen, vor-
aussagen zu wollen, was uns das Morgen bringt?
Oder aber durch das Inkrafttreten neuer Einrichtungen?
Sicherlich nicht! Es ist falsch zu glauben, daß die Ein-
richtungen den Gang der Menschheitsgeschichte irgend-
wie bestimmen oder beschleunigen könnten. ,,Im Geisti-
•) M. 11. S. 294, Sep.-Ausg. S. 295. - Vor 1914 t Bearbeiter.
114
gen ist der kühnste Schritt erlaubt und möglich, im Prag-
matischen verwirklicht sich nur das, was als Gedanke
längst zur Trivalität geworden ist1)." Oder schließlich durch
den Niedergang der mechanistischen Wirtschaftsreform?
Rechnen wir nur nicht damit, wenigstens für den Augen-
blick, unsere Erde ist noch immer viel zu wenig ausge-
beutet, als daß diese Wirtschaftsform schon ihrem Ende
nahe sein sollte. Die Kräfte, die den mechanistischen
Betrieb überwinden sollen, werden nicht aus der Außen-
welt kommen, und nicht gleichen Wesens sein, wie dieser
Betrieb. Nur eine innere Erhebung, eine Umgestaltung
des menschlichen Wollens und Strebens — deren Wur-
zeln, wie zuzugeben ist, bereits in dem Boden des mecha-
nistischen Wirtschaftsgartens zu finden sind — können
diesen Zauberkreis durchbrechen und die zähen Fesseln
der Furcht und der Gier sprengen. „Nicht Einrichtungen,
Gesetze und Menschen schaffen das neue Leben, sondern
Gesinnungen; den Gesinnungen des neuen Lebens aber
folgen widerstandslos Einrichtungen, Gesetze und
Menschen2)."
„Unter diesen Bedingungen nimmt die Arbeit eine
neue Form an, deren Anfänge wir schon heute erkennen.
Nicht daß sie zum bloßen athletischen Spiel herabsinkt,
das stundenweis mit künstlich angefachter Leidenschaft-
lichkeit geübt wird; vielmehr tritt das große aller Verede-
lung zugrunde liegende Gesetz der wiedergeborenen Na-
tur in besonderer Erscheinung zutage: was ursprünglich
aus Gier und Furcht geschah, geschieht jetzt aus inner-
lichem Bewußtsein. Arbeit wird nicht Selbstzv/eck, aber
Menschenpflicht; Lohn und Strafe, Gewinn und Gefahr
verblassen, die Aufgabe besteht. Da nun die Aufgabe
Sache der Gemeinschaft ist, so folgt die Solidarität des
Werkes und der Ziele. Nicht eine gesetzliche Zwangs-
anstalt, die den Starken und Begabten zwingt, die Früchte
l) M. ll. S. 301, Sep.-Ausg. S. 302. *) M. 11. S. 313-314, Sep.-Ausg.
S. 314.
8» . H6
seines Lebens widerwillig auszuliefern, damit Schwache
und Unbefähigte Muße finden, ihn durch Majorität zu be-
herrschen, nicht ein falscher Altruismus, der paarweise
den Gesunden für den Kranken opfert, sondern das freie
Bewußtsein, daß es unedel ist zu schwelgen, feige — auf-
zuspeichern, gewalttätig — zu sequestieren; daß mate-
rielles Glück nur im Schaffen und in der Verantwortung
gegeben ist, daß Arbeit Menschenrecht und Menschen-
verdienst bedeutet, ist der Sinn unseres weltlichen
Standes1)."
„Herrlich ist es, zu wissen, daß das geringste Abtun
der frühesten Begierde, das keinem wahrhaft geistigen
Menschen unserer Zeit ein ernstliches Opfer bedeutet, daß
dieses Abtun genügt, um die Menschheit aus dem irren
Kreislauf der Mechanisierung zu reißen und ihr freien
Weg zu schaffen. Ein männliches Selbstbewußtsein,
gleich entfernt von brutaler Herrensucht und äffischer
Eitelkeit, ein königliches Vertrauen zur eigenen Kraft und
zur Weisheit der Mächte wird diesen Weg geleiten, der
nicht zu Wirtschaftssachen, sondern zu transzendenten
Gütern führt. Der materielle Beruf bleibt ernst; denn die
Verantwortung schützt ihn vor spielerischer Verflachung,
aber er verliert seine Endgültigkeit; die dumpfe Beherr-
schung jeder Lebensstunde, die leidenschaftliche Angst,
die Versklavung des Geistes, die Feindseligkeit des Kam-
pfes, die Verblendung des Auges wird ihm genommen.
Der Mensch richtet sich auf und blickt wieder zu den
Gestirnen empor, er wird zum Freund des Menschen, der
Dinge und der Mächte2}." Wenn auch durch seine Arbeit
an die Maschine gebunden, darf sich der Mensch doch
nicht selbst zu einer Maschine umwandeln, wie das zu
Anfang der mechanischen Periode eingetreten ist. Reiche
Mußezeit muß ihm bleiben und Gelegenheit gewährt
>) M. 11. S. 304, Sep.-Ausg. S. 305. 2) M. 11. S. 319-320, Sep.-Ausg
S. 320.
116
werden, um in gleichem Maße seinen Körper pflegen und
seinen Geist bilden zu können.
Weder die vollkommene soziale Umwälzung im Sinne
einer Verstaatlichung der Arbeitsmittel noch auch irgend-
eine andere Art der Gesetzgebung ist erforderlich, um
der wachsenden Empfindung zu ihrem Recht zu verhelfen,
daß „jeder, wer es auch sei, sich versündigt, wenn er
für sich und seine Nachkommen von den materiellen Gü-
tern der Welt mehr an sich zieht und verwendet, als zu
einer mäßigen Lebensführung erfordert wird1)." Der Ten-
denz kommender Besitzanschauung wird durch die mecha-
nistischen Maßnahmen unseres Besteuerungswesens aufs
wirksamste vorgearbeitet: wir sind geschult, den Zehnten
als Recht der Gemeinschaft darzubringen; schon nach
wenigen Generationen wird aber das Verhältnis sich um-
kehren, und billig erachtet werden, wenn in Besitzlagen,
die ein mäßiges Verbrauchsbedürfnis übersteigen, vom
Erwerb, Vermögen und Erbe der Zehnte dem Besitzer
verbleibt. Das Verhältnis zwischen Hoch und Niedrig wird
sich dann vollkommen umgestalten. Es wird dann wohl
auch das System von unterwürfiger Treue gegenüber
herrschaftlicher absoluter Autorität, das man so gern als
das patriarchalische bezeichnet, von Grund aus für immer
vernichtet sein, so daß irgendwelches Bedauern über sein
Verschwinden von vornherein völlig zwecklos ist. „Denn
wie einerseits eine verantwortungslose Tätigkeit und
Leistung nicht mehr denkbar ist, so kann anderseits eine
andere schützende Fürsorge und Gegenleistung als die der
wohlgesinnten Arbeitgeberschaft, bestenfalls verbunden
mit etwas unzuverlässiger Protektion, nicht mehr gewährt
werden2)." In dem gleichen Maße nun, wie sich das Soli-
daritätsgefühl entwickelt, wird auch die Tendenz des ge-
meinschaftlichen Besitzens, Beschauens und Erlebens
fortschreiten; für unsere Indolenz, die auf Grund eines
») M. 11. S. 305, Sep.-Ausg. S. 306. 2) M. 11. S. 307, Sep.-Ausg S. 308
117
ungebrochenen und verbohrten Eigentumbegriffs jedem
Monopolisten gestattet, ein Rembrandtsches Werk, ein
Beethovensches Manuskript oder eine Naturschönheit
dauernd der Öffentlichkeit zu entziehen, wird ein Zeit-
alter solchen höheren Solidaritätsgefühles kein Verständ-
nis haben und ihm ein kräftiges Halt entgegenrufen.
Der wachsenden Solidarität des einzelnen entspricht es
weiter, daß auch die Solidarität der Geschlechterreihen
sich ankündige, für die eine unerbittliche dreifache Erb-
folge das Trennungsmoment bildet, das sie gegeneinander
isoliert; die dreifache Erblichkeit des Besitzes, des Stan-
desvorrechts und der Bildung, unter der heute eine ganze
Hälfte der Menschheit zu leiden hat, muß mit der Ent-
faltung des Seelischen schwinden. Läßt sich noch erb-
licher Besitz und erbliches Standesrecht mit einer ge-
wissen menschlichen Trägheit der Gewöhnung und einem
vorgeblichen Verdienste von Vorfahren kümmerlich ent-
schuldigen, so läßt sich mit keinem Worte, selbst im Zeit-
alter der Mechanisierung nicht, erblicher Anspruch und
erblicher Ausschluß rechtfertigen, wenn es sich um die
Güter der Erziehung und Bildung handelt. Jeder, der
diese beiden Güter selbst genießt und diesen Genuß zu
würdigen weiß, wird begreifen, welchen tiefen Groll die
Unterschichten aller Kulturländer empfinden müssen, die
dieser beiden Güter ein für allemal beraubt sind. Und
woher sollte er dann wohl noch den Mut nehmen, ihnen
diese geistigen Güter vorzuenthalten?
Diese zukünftige Form unseres Lebens unter der
Herrschaft der Seele hat allerdings „nichts Paradiesisches
und Utopisches. Sie verspricht keine neuen leiblichen
Genüsse, sie entbindet nicht von angestrengter Arbeit,
ja sie erhöht die Anspannung, indem sie Vergeistigung
fordert, und lohnt mit Verantwortung. Sie verlangt den
Verzicht auf die Sorglosigkeit und Eitelkeit des Unver-
dienten, des Überflusses und der Absperrung, auf die täg-
liche Unterhaltung der Modenarrheit und der Mode-
lls
Sensation, auf Herrschaftsgelüste, Menschendienst,
Verherrlichung und Neidfreude. — Sie fordert Solidarität
der Gemeinschaft: einer für alle; alle für einen. Nicht
die Solidarität entstellter Staatsgesinnung, welche ewige
Unterwerfung verdammter Schichten fordert, damit die
andern unter falschen Seufzern unverzagt herrschen
dürfen, sondern die Solidarität der Empfindung, des
Willens, der Arbeit, der Geschäfte, der Sorge und der
Leiden. Was sie gewährt, ist Arbeit und Muße, Men-
schenwürde, Menschlichkeit und Freiheit im tätigen
Leben, Raum für die Menschenseele in Zeit und Ewig-
keit1)."
Mögen die freiwilligen oder unbewußten Opfer unse-
res mechanistischen Wirtschaftssystems lächeln, wenn es
ihnen gefällt. Ein derartiger Umwandlungsprozeß ist
darum doch keine unrealisierbare Phantasie. Hat die Welt
nicht Wunderbareres ohne jedesErstaunen erlebt? Ist denn
wirklich der Abstand zwischen uns und dem Menschen
der Zukunft so viel größer als der zwischen den prähisto-
rischen Höhlenmenschen und solchen genialen Denkern
wie einem Kant und einem Goethe? Oder etwa auch
nur, wie der zwischen den Leibeigenen des vorletzten
Jahrhunderts und ihren Urenkeln, den Dichtern oder
Staatsmännern der Gegenwart? Ist denn aber zum Em-
porkommen des geschilderten Idealzustandes auch nur
irgend etwas anderes erforderlich, als daß wir einmal
ernstlich beginnen Christus zu verstehen? Freilich, nicht
historisch-wissenschaftlich, sondern einfach durch intimes
Einfühlen in sein geistiges Leben, durch seelisches Er-
greifen seiner Natur. „Nichts ist in dieser Schilderung
gesagt, was sich nicht aus seinen Gedanken entnehmen
ließe, und nichts ist gefordert, was nicht in den geistigeren
Menschen unserer und früherer Zeiten keimend sich
findet3)." Schon hat die Welt genug und übergenug an
•1 M. II. S. 314, Sep.-Ausg.S. 314-315. *) M. 11. S. 321, Sep.-Ausg. S.321.
119
der ganzen Intellektualität. Schon wissen die hellsehen-
den Menschen unter ihren Mitmenschen, an welchen
Posten diese auch gestellt sein mögen, die alltäglichen
Durchschnittsnaturen von den wahrhaften Edelnaturen zu
unterscheiden. Wenn erst diese letzteren alle übrigen
verdrängt haben werden, wenn erst volles Verständnis
dafür sein wird, daß es allein darauf ankommt, den
Triumph der Seelenschau und Liebe zu sichern, dann, ja
dann können wir glauben, wird das Reich der Seele
kommen. Freilich wird die Natur noch lange Spuren der
gegenwärtigen Menschheit erhalten, zeigt sie uns doch
auch heute noch in etwas abseits von der allgemeinen
Völkerstraße gelegenen Winkeln vereinzelte Exemplare
der Urmenschheit, doch gleichwohl: das Reich wird
kommen!
Durch welche Gesellschaftsklassen sich die Entfal-
tung des Seelischen vollenden wird, errät wohl jetzt
schon ein jeder: es sind die bisherigen Unterschichten
aller Kulturvölker. Kein Wunder! Es läßt sich heute in
der Tat nicht mehr bestreiten, daß die höheren Klassen
ihre Sendung erfüllt haben, ihre Sendung, die einstens
darin bestanden hatte, die Welt im Zeichen der ihr von
ihnen gebrachten Ideale von Mut und Freiheit zu
veredeln und die formlosen Massen in Wallung zu brin-
gen, daß sie Leben und Gestalt annähmen. Nach dieser
Richtung haben sich die höheren Klassen als Propheten
und geniale Wegweiser bewährt. Aber sie sind allmählich
diesem Werke zum Opfer gefallen. Selbst wenn ihre
gegenwärtigen Nachkommen die Zeichen ihres physischen
Adels bewahrt haben sollten, so würde ein Streben nach
dem Reiche der Seele doch jedenfalls bei ihnen vergeb-
lich gesucht werden; ihr Geist wird sich erst dann wieder
als ein schöpferischer erweisen, wenn einmal frischeres
Blut in ihre Adern dringt, sich mit ihrem älteren vermischt
und sie so auf diese Weise verjüngt. Lassen wir unseren
Blick nicht etwa trüben durch das Bild der Letztgekom-
120
menen und Jüngstemanzipierten; der heutigen Unter-
schichten, unter denen er natürlich zunächst noch vereinzelte
anstößige Elemente gibt. Im Laufe des letzten Jahr-
tausends haben die Unterschichten der europäischen Kul-
turvölker unter der drückenden Herrschaft ihrer Aristo-
kratien trotz Not und Seuchen bedeutende Schritte getan,
um sich dem geistigen Ziel zu nähern. Fast ausnahmslos
tragen die wenigen, die seit fünfhundert Jahren den Geist
Europas gelenkt und verkörpert haben, an Haupt und
Gliedern die deutlichen Zeichen der Unterschichten, aus
deren Schöße sie hervorgegangen sind. Betrachten wir
den Kleinbürger, den ansässigen Arbeiter und vor allem
auch den Bauern, und wir werden zugeben müssen, Kräf-
ten zu begegnen, die die Eigenschaften haben, den Kurs
der Zeit zu steuern. , .Vielleicht findet sich, bei tiefstem
geistigen Stande, zu diesem Zeitpunkt keine größere
Seelennähe der Massen als in den geknechteten Bauern-
schaften Rußlands1)." Es ist unnütz, damit zu rechnen,
daß sich die erschütternden katastrophalen Umwälzungen,
von denen die Geschichte zu berichten weiß, noch einmal
wiederholen sollten2). Ein anderer Weg erschließt sich dem
Aufstieg der Menschheit, freilich ein rauherer, wird es
sich doch darum handeln, sich eine Bahn zu brechen, zu
jenem Reiche der Seele, zu dem Bevorrechtigtere zu allen
Zeiten einen ganz ebenen und bequemen Zugang hatten.
Für diesen Weg aber sind nunmehr die vielen Enterbten
und Geknechteten unserer Tage die wahrhaft Auserwähl-
ten, die ihn machen und damit einen neuen heiligen Völ-
kerfrühling herbeiführen werden.
Da uns nun auf diesem theoretischen Wege die Ge-
wißheit einer glücklichen Lösung des großen Menschheits-
problemes wird und ihr Prinzip deutlich vor Augen tritt,
wird es nunmehr darauf ankommen, das Gebiet der prak-
l) M. 11. S. 334, Sep.-Ausg S. 334. *) Auch hier ist wieder daran
zu erinnern, dass die den Ausführungen dieses Kapitels zugrunde liegenden
Ideen Rathenaus schon aus der Zeit vor 1914 stammen (Bearbeiter).
121
tischen Ausführung zu betreten und zuzusehen, welche
wirtschaftlichen, sittlichen und politischen Maßnahmen
geeignet sein werden, ihre Verwirklichung zu sichern. Es
sollte das die Aufgabe aller weiteren Schriften von Wal-
ther Rathenau sein; es handelt sich um das ebenso wie
das im vorigen Kapitel herangezogene „Z urMechanik
des Geistes" wenigstens teilweise noch vor 1914 ent-
worfene und bearbeitete Werk „Von kommenden
Dingen" und die gleichfalls noch vor Friedensschluß er-
schienenen Streitschriften: „Deutschlands Roh-
stoffversorgung", „Probleme der Frie-
denswirtschaft", „Eine Streitschrift vom
Glauben", „Vom Aktienwesen", „Die Neue
Wirtschaf t'\ „An Deutschlands Jugen d".
■uuiomnw-j
122
W UK
Kapitel IV.
Die wirtschaftschaftliche Erneuerung
Aus allem Vorhergehenden ergibt sich augenblick-
lich, daß für Walther Rathenau die sozialistische Lösung
des wirtschaftlichen und sozialen Problems zurückzu-
weisen ist. Darum darf er freilich nicht konservativer
Gleichgültigkeit gegenüber den gegenwärtigen sozialen
Ungerechtigkeiten beschuldigt werden. Wir haben ge-
sehen, v/elche Bedeutung er den Forderungen der Zukunft
des vierten Standes beimißt. Er selbst erklärt: „Empfin-
den wir den Stachel der Würdelosigkeit, den die Knecht-
schaft verwandten, geliebten und göttlichen Blutes uns ein-
prägt, so werden wir ohne Scheu eine Wegstrecke neben
der Bahn des Sozialismus wandern und dennoch seine Ziele
ablehnen."1) Doch sich mit ihm bis ans Ende zu ver-
binden, seine Ansprüche zu unterstützen, seinen Beweis-
führungen zu folgen, und seine Schlüsse anzunehmen, das
ist, wie Walther Rathenau genau weiß, ihm ein für alle-
mal unmöglich, ja er fügt dem noch sogleich hinzu, er
könne auch ebensowenig die Ziele billigen, die der So-
zialismus vorzuschlagen hat. Ganz im Gegenteil sieht er
in ihm einen Feind, den sein Werk „Vonkommenden
Dingen" „ins Herz treffen soll2)!"
Die unheilbare Schwäche des dogmatischen Sozi-
alismus beruht nach Walther Rathenau auf der mate-
rialistischen Geschichtsauffassung, die der Sozialismus
zum Weltprinzip erhebt und zum Ausgangspunkte für die
•) D. 111. S. 75, Sep.-Ausg. S. 68. *) D. 111. S. 16, Sep.-Ausg. S. 14.
128
Wiedergeburt der menschlichen Gesellschaft machen will.
Diese Bewegung trägt den Fluch ihres geistigen Vaters Karl
Marx, „der nicht ein Prophet war, sondern ein Gelehrter,
der sein Vertrauen setzte nicht in das menschliche Herz,
dem alles wahrhafte Weltgeschehen entspringt, sondern in
die Wissenschaft. Dieser gewaltige und unglückliche Mensch
irrte so weit, daß er der Wissenschaft die Fähigkeit zu-
schrieb, Werte zu bestimmen und Ziele zu setzen; er ver-
achtete die Mächte der transzendenten Weltanschauung,
der Begeisterung und der ewigen Gerechtigkeit.
, »Deshalb hat auch der Sozialismus niemals die Kraft
gewonnen, zu bauen; selbst wenn er unbewußt und unge-
wollt in seinen Gegnern, diese produktive Kraft entzün-
dete, verstand er die Pläne nicht und wies sie zurück.
Nie hat er auf ein leuchtendes Ziel zu weisen vermocht;
seine leidenschaftlichsten Reden blieben Beschwerden
und Anklagen, sein Wirken war Agitation und Polizei. An
die Stelle der Weltanschauung setzte er eine Güterfrage,
und selbst dies ganze traurige Mein und Dein des Kapi-
talproblems sollte mit geschäftlichen Mitteln der Wirt-
schafts- und Staatskunst gelöst werden. Mag hie und da
ein unbefriedigter Denker Auswege ins Ethische, Rein-
menschliche, Absolute gesucht und angedeutet haben:
diese Gewalten wurden niemals als die Sonnenzentren
der Bewegung verehrt, sondern allenfalls als matte Sei-
tenlichter ästhetisch geduldet; im Mittelpunkte der Bühne
saß der entgötterte Materialismus, und seine Macht war
nicht Liebe, sondern Disziplin, seine Verkündung nicht
Ideal, sondern Nützlichkeit."
„Aus der Verneinung entsteht Partei, nicht Welt-
bewegung. Der Weltbewegung aber schreitet Propheten-
sinn und Prophetenwort voran, nicht Programmatik." —
„Niemals hat nach Walther Rathenau der Sozialismus
die Herzen der Menschheit entflammt, und keine
große und glückliche Tat ist jemals in seinem Namen
geschehen; er hat sein Interesse erweckt und Furcht
124
geschaffen; aber Interessen und Furcht beherrschen
den Tag, nicht die Epoche. Im Fanatismus einer
düsteren Wissenschaftlichkeit, im furchtbaren Fanatismus
des Verstandes, hat er sich abgeschlossen, zur Partei ge-
ballt, im umfaßbaren Irrtum, daß irgendeine einseitige
losgelöste Kraft endgültig wirken könne. Doch der
Dampfhammer vernichtet nicht den Eisenblock, sondern
verdichtet ihn; wer die Welt umgestalten will, darf sie
nicht von außen preisen, er muß sie von innen fassen. Er-
schließbar ist sie durch das Wort, das in jedem Herzen,
wenn auch noch so schüchtern, widerklingt und es wan-
deln hilft; das blinde Pochen einer Partei von Inter-
essenten täubt und verschließt die Ohren."
,, Nimmt man alles in allem, in größten Zügen, die rein
politische Wirkung der sozialistischen Bewegung im Laufe
dreier Geschlechterr so besteht, abgesehen von geschäft-
lich-organisatorischen Wirksamkeiten die Summe ihres
Waltens in der mächtigsten Steigerung des reaktionären
Geistes, in der Zertrümmerung des liberalen Gedankens
und in der Entwertung des Freiheitsgefühls. Indem der
Sozialismus die Aufgabe der Völkerbefreiung zu einer
Frage um Geld und Gut machte und unter diesem Banner
die Massen gewann, wurde die Idee gebrochen; aus Un-
abhängigkeitsdrang wurde Begehrlichkeit; mancher inner-
lich Gebildete wandte sich ab, das Bürgertum erzitterte,
die besitzende Reaktion sah sich durch Zulauf
und bequeme Maßregeln doppelt gestärkt und lächelte
über den armen Teufel von Masse, der Böses wollte,
Gutes schuf, der Thron und Altar festigte, indem er Repu-
blik und Kommunismus anpries. Innerlich Interessenten-
vereinigung, äußerlich Beamtenhierarchie, verfiel der So-
zialismus, der Weltbewegung werden sollte, dem Abstieg
zur Partei, dem Wahn der Zahl, der populären Einheits-
formel; im Gegensatz zu jeder echten Epoche verlor er an
Wirksamkeit, je stärker er wuchs1)."
l) D. 111. S. 71-73, Sep.-Ausg. S. 65-67.
125
Auch unter dem engeren wirtschaftlichen Gesichts-
punkte kann die sozialistische Lehre einem Manne wie
Walther Rathenau nicht als ganz einwandfrei gelten,
ist sie doch nach ihm nie über die naivste Form des Hei-
lungsdranges, die Forderung der unmittel-
baren Stillung, irgendwie erheblich hinausgekom-
men und hängt ihr doch diese Forderung, von der sie sich
nun nicht mehr gut losmachen kann, wie ein Bleigewicht
an ihren Schultern. Sie begeht nämlich, so meint er, da-
mit den kindlichen Irrtum, in den Forstmann und Er-
zieher, Arzt und Staatsmann längst nicht mehr fallen, die
lokale Aeußerung eines weit tiefer liegenden inneren Lei-
dens des Organismus durch örtliche Behandlung — und
das bedeutet die „unmittelbare Stillung" — hei-
len zu wollen. So ergibt sich der sozialistischen Auffas-
sung die volkstümliche Schlußkette: ,,Was ist das Ziel?
Erhöhter Arbeitslohn. Was schmälert den Lohn? Die
Kapitalrente. Wie erhöht man den Lohn? Indem man
die Rente unterdrückt. Wie unterdrückt man sie?"
Nun wäre es folgerichtig, zu antworten: Indem man das
Kapital aufteilt. Es klingt jedoch wissenschaftlicher, zu
sagen: Indem man das Kapital verstaatlicht1). Die eine
Antwort ist so falsch wie die andere. Beide verkennen
das Gesetz des Kapitals in seiner gegenwärtig entschei-
denden Hauptfunktion: nämlich als denjenigen Organis-
mus, der den Weltstrom der Arbeit nach den Stellen des
dringendsten Bedarfs lenkt. Erinnern wir uns hier des
Satzes von der Substitition des Grundes: Es war nicht
entscheidend, aus welchen Ursachen und Bedürfnissen ein
\) Nach dem sozialdemokratischen Programm nicht „verstaatlicht",
sondern „vergesellschaftlicht". Trotz seines anzuerkennenden ehrlichen
und entschiedenen wirtschaftlichen Reformsozialismus kommt doch
Rathenau als Grossindustrieller und Mitglied der Demokratischen Partei
nun einmal nicht über das enge Weichbild der bürgerlichen Gesellschaft
hinaus, ja zeigt sich sogar in der Beurteilung des wirtschaftlichen Zukunfts-
programms in seinem Buche: „Von kommenden Dingen" von
einer Einseitigkeit gegenüber dem Sozialismus, wie wir sie sonst von
ihm diesem gegenüber rühmlicherweise nicht kennen. Bearbeiter.
126
Organismus geschaffen wurde; entscheidend ist. welchen
Notwendigkeiten er in Wirklichkeit und Gegenwart dient.
Nun aber sind sowohl das Kapital wie die Rente zwei
wesentliche und unausrottbare Elemente. Ließen sie sich
auch wirklich für den Augenblick beseitigen, so würden
sie doch in kürzester Zeit schon von selbst wieder-
erstehen. Angenommen, die soziale Revolution sei voll-
zogen: In Chicago sitzt der diesjährige Weltpräsident,
der über allen Einzelrepubliken thront und mit seinen
Organen alle internationalen Angelegenheiten ordnet. Er
verfügt in letzter Instanz über das Kapital der Erde.
Heute liegen seinem Unternehmungsdepartement für die
verschiedensten Länder neben 700 000 törichten Anträgen
drei ernste vor. Entscheidet er sich nun wohlweislich aus
guten Gründen für irgendeinen dieser Pläne, so werden
die anderen Länder, die sich hinter dem Lande, für das
sich der Weltpräsident entschieden haben wird, zurück-
gesetzt fühlen, Einspruch erheben und eine Entschädi-
gung verlangen, die das bevorzugte Land in Form eines
jährlichen Zinses von soundso viel aus dem Mehrertrage
abzuführen haben wird. So ist die Rente wieder neu auf-
erstanden. In einer Industriestadt soll eine alte Staats-
fabrik, die im Laufe der Zeit veraltet und unbrauchbar ge-
worden ist, abgerissen werden. Ein geschickter Werk-
meister erbietet sich der Ortsbehörde, diese Fabrik mit
geringen Kosten für einen neuen Zweck herzurichten;
einen Beweis der Rentabilität kann er nicht bringen, will
aber gern Risiko und Gefahren tragen. Die Ortsbehörde
überträgt dem Unternehmer die Arbeit und verpachtet ihm
die Fabrik gegen eine Jahresmiete; abermals ist die Rente
hergestellt. Die Notwendigkeit der Rente ist
gegeben durch die Notwendigkeit der
Selektion der Anlage. Sie ist der Aus-
druck des schreiendsten und meistbie-
tenden Anlagebedürfnisses. Ihre Unentbehr-
Hchkeit ergibt sich jedoch noch aus einer unabhängigeren
127
und umfassenderen Betrachtung. Ueberblickt man das
ganze Gebiet eines nationalen Industriewesens, so ergibt
sich die überraschende Tatsache: Trotz hoher Blüte und
Rentabilität zahlt dieser gewaltige Komplex in seiner
Gesamtheit nichts heraus, sondern zieht Mittel ein; die
Kapitalerhöhung und Schuldenvermehrung übersteigt die
Rentenzahlung. Die Industrie arbeitet nur am Wachstum
ihres eigenen Körpers; sie gibt nichts her; selbst die an-
deren Wirtschaftsgebiete müssen ihre Ersparnisse bei-
steuern, um sie zu erhalten. Auf den ersten Blick über-
raschend, und doch ganz einleuchtend: Denn was ge-
schieht mit den Ersparnissen der Welt? Soweit sie nicht
Kultureinrichtungen schaffen, dienen sie den Produktions-
einrichtungen; eiserne Bestände und goldene Schätze
sammeln in mäßigem Umfang die Staaten; der Rest geht
auf in wirtschaftlicher Anlage, und mit ihm wachsen die
Bestände der papiernen Abbilder, der gedruckten Um-
laufsformulare. Diese Vermehrung der werbenden An-
lagen aber muß andauern, solange die Bevölkerungen sich
vermehren und solange der Einzelne an käuflichen Er-
zeugnissen weniger besitzt als er sich wünscht. Entspre-
chend wächst die Weltinvestition. Sie wächst um genau
soviel jährlich, als nach Deckung des Verbrauchs, des
Kultur- und Landesverteidigungsaufwandes an Arbeits-
einkommen und Renteneinkommen erspart wird. Die
Ersparnis am Arbeitseinkommen ist verhältnismäßig
gering; es ist zweifelhaft, ob sie im Verhältnis zum Ar-
beitseinkommen wächst, solange der durchschnittliche
Verbrauchswille ungesättigt ist. Die jährliche Weltinve-
stition besteht somit im wesentlichen aus Kapitalrente
nach Abzug des verzehrenden Verbrauches der Kapitals-
besitzer. Dieser Verzehr hängt ab von einer Reihe von
Faktoren, die mit der Höhe der Gesamtrente durchaus
nichts zu tun haben: von der Verteilung der Renten-
abschnitte, von den durchschnittlichen Ansprüchen der
Lebensführung, von sittlichen Werten. Wäre alles Welt-
128
kapital im Besitze eines einzelnen und verschwände so-
mit der Verzehr zu minimem Verhältnis, so könnte ohne
Lebensgefahr der Wirtschaft, und somit tatsächlich, die
Rente und mit ihr der Durchschnittszinssatz der Welt nie-
mals geringer sein, als dem Aufwand entspricht, dessen
die Weltwirtschaft für Ergänzung und Erweiterung ihrer
Anlagen bedarf. Die Rente ist somit dem Grunde und
dem Umfang nach bestimmt durch den Bedarf der Welt-
investition; sie ist die Zwangsrücklage der Welt zum
Zwecke der Aufrechterhaltung ihrer Wirtschaft; sie ist
eine Produktionssteuer, die erhoben wird an jedem Punkt
der Gütererzeugung, und zwar an erster Stelle; sie ist
unvermeidlich, auch wenn alle Produktionsmittel in einer
Hand liegen, gleichviel, ob eines einzelnen, eines Staates
oder einer Staatengemeinschaft; sie läßt sich lediglich
vermindern um den Verzehr der Kapitalbesitzer1)."
Somit hat nach Walther Rathenau die Verstaat-
lichung der Produktionsmittel in doppelter Beziehung
keinen Sinn. Doch diejenigen ihrer Gegner, die sie
nur aus Trägheit, Feigheit oder Eigennutz bekämpfen,
mögen sich dessen ja nicht zu früh freuen! Gemach!
Noch harte Opfer warten ihrer! Sie werden ihnen
nicht entrinnen; die Welt schreitet, ob sie nun
wollen oder nicht, mit unerbittlicher Entschlossenheit
vorwärts! Die kleine Schlappe, die der Sozialismus doch
wohl erlitten hat2), bedeutet für ihn nur die eine Lehre,
daß er zur Heilung der fraglos vorhandenen wirtschaft-
lichen Not zu einer anderen Methode als seiner bisherigen
greifen muß. Da nun einmal vermöge ihrer Natur sowohl
das Kapital wie das Einkommen zu den Notwendigkeiten
gehören, die einfach unentbehrlich und an sich auch nach
allen Seiten uninteressiert sind, so ist der Ursprung ihres
Uebels nicht sowohl in ihnen selbst als vielmehr in der
Rolle zu suchen, die beide augenblicklich auf Erden zu
!) r>. Ol. S 87-91, Sep.-Ausg. S. 80-84. 2) Vor 1914 geschrieben.
9 129
spielen berufen sind. Der Mißbrauch, der sich leider mit
ihnen treiben läßt, der Einfluß, den sie zu verleihen
imstande sind, und die ungleichmäßige Art ihrer Ver-
teilung, das sind die drei wahrhaften Ursachen ihres
Uebels, die Ursachen, die es wohl zu erkennen und durch
geeignete Mittel zu beseitigen gilt.
In den Urzeiten, solange die Welt weit war und die
Besiedelung spärlich, konnte jeder der Natur abgewinnen,
was er wollte, und es nach Belieben verwenden. Heute
ist die Erde ein dicht bedeckter, kunstvoll gegliederter
Bau, von zahllosen für einander einstehenden lebenden
und leblosen arbeitenden Kräften gepflegt, beschützt, be-
wahrt, geordnet. „Jeder bedarf des gemeinsamen
Schutzes, der gemeinsamen Einrichtungen, die er nicht
geschaffen, des Korns, das er nicht gesät, des Leinens,
das er nicht gesponnen hat1)." Andererseits unterliegt
nicht etwa die natürliche Steigerung der erzeugten und
erzeugbaren Gütermengen, wie manche glauben, dem
Willen; sie ist jederzeit begrenzt durch den jeweiligen
Bestand der geschaffenen Arbeitsmittel und Arbeits-
kräfte.
Was sehen wir nun? ..Überblickt man diese Unend-
lichkeit der Bindung, der Verschuldung und Verpflich-
tung, so bleibt kaum begreiflich das Maß der wirtschaft-
lichen Freiheit, das dem einzelnen belassen wird. Er
kann für die Gemeinschaft, der er alles schuldet, arbeiten,
so viel oder so wenig er will, er kann diese Arbeit frei
wählen, so nützlich oder überflüssig sie sein mag, er kann
das, was als Eigentum ihm zugestanden ist, mißbrauchen,
verderben, vernichten, - er ist gesetzlich befugt, Meilen
irdischen Landes abzusperren, ohne staatliche Genehmi-
gung Äcker brachzulegen, Bauten zu vernichten oder
aufzufüllen, Landschaften zu verstümmeln, Kunstwerke zu
») D. 111. S 94, Sep -Ausg S 87
130
beseitigen oder zu schänden, jeden beliebigen Teil des
Gesamtvermögens durch geeignete Geschäfte an sich zu
bringen und, sofern er einige Abgaben zahlt, nach Gut-
dünken zu verwenden, jegliche Zahl von Menschen zu be-
liebiger Arbeitsleistung in seine Dienste zu nehmen, so-
fern seine Kontrakte nicht widergesetzliche Bestimmun-
gen enthalten, jegliche Geschäftsform zu praktizieren, so-
fern sie nicht staatliches Monopol oder im Gesetzbuch als
Schwindel erklärt ist, jeden noch so unsinnigen Aufwand
zum Schaden des Gesamtvermögens zu treiben, solange
er im zahlenmäßigen Verhältnis zu seinen Mitteln
bleibt1)."
Ein so ungebundenes Sichgehenlassen ist ein für alle-
mal nicht zu dulden! „Wenn ein Römer fünfhundert
Sklaven aussandte, um einen seltenen Fisch zu fangen,
wenn die Ägypterin ihre Perlen in Wein löste, so moch-
ten sie eine Vorstellung von berechtigtem Aufwand
hegen; denn die Sklaven waren während ihres Arbeits-
tages ernährt, die Perlenfischer für Jahre der Gefahr im
voraus entschädigt. Unsere Vorstellung muß eine andere
sein. Arbeitstage und -jähre, vergeudet für den End-
zweck eines kurzen Glanzes oder Genusses, sind un-
ersetzlich. Sie sind der begrenzten Arbeitsmenge der
Welt entnommen, ihr Ergebnis ist dem kargen Ertrage
des Planeten entzogen. An der Arbeit, die in unsicht-
barer Verkettung alle leisten, sind auch alle berechtigt.
Die Arbeitsjahre, die der Herstellung einer kostbaren
Nadelarbeit, eines gewobenen Schaustücks dienen, sind
unwiderruflich der Bekleidung der Aermsten entzogen,
die sechsfach geschorenen Rasenflächen eines Parks
hätten mit geringerem Aufwand Korn getragen, die
Dampfyacht mit Kapitän und Mannschaft, Kohlen und
Proviant ist dem nutzbringenden Weltverkehr auf Lebens-
zeit entzogen. Wirtschaftlich betrachtet, ist die Welt,
») D 111. S. 95, Sep.-Ausg S. 88.
9* 131
in höherem Maße die Nation, eine Vereinigung Schaffen-
der; wer Arbeit, Arbeitszeit oder Arbeitsmittel ver-
geudet, beraubt die Gemeinschaft. Verbrauch ist nicht
Privatsache, sondern Sache der Gemeinschaft, Sache des
Staates, der Sittlichkeit und Menschheit1)."
Hieraus ergeben sich zwei Folgerungen. Zunächst
hat die Gesamtheit die Bearbeitung aller aus dem
Boden stammenden Rohstoffe, insbesondere des edel-
sten Stoffes unseres Planeten, in dem aller Wohlstand
unserer Zeit, im großen betrachtet, letzten Endes wurzelt,
der Kohle, mit der gründlichsten Sorgfalt zu überwachen.
, »Sache der Gesetzgebung ist es, sorgfältige Sonderung
der fossilen Substanz durch Destillation und Abspaltung
zu verlangen und nur die wertlosen Abgänge zur kalo-
rischen Kraftgewinnung zuzulassen; Sache der Gesetz-
gebung ist es ferner, der Kraftvergeudung aus mangel-
hafter Einrichtung und übler Sparsamkeit und der
Arbeitsverschwendung zu begegnen. Würde Kohle ge-
ehrt wie Korn und Brot, so wäre schon heute die Sorge
der Gestehungskosten und mit ihr der Kampf um die
Bergwerkslöhne behoben. So wie man Wirtschaftsauf-
sichten eingesetzt hai, um den Geboten aer Sicherheit
und Wohlfahrt Nachdruck zu geben, so bedarf es des
gesetzlichen Schutzes der Wirtschaftsgüter gegen un-
wissende und raubbauende Vergeudung3).
In zweiter Linie kommt es darauf an, dem unbe-
grenzten Verbrauche, mit anderen Worten, dem Luxus
durch eine strenge Besteuerung Einhalt zu tun. Zu
Beginn unserer Wirtschaftsepoche, also so um 1840 herum,
hat wohl noch der Satz gegolten: Luxus nützt; denn er
bringt Geld unter die Leute. „Das stimmt zur Not für
eine beginnende Gewerbetätigkeit, die mit äußeren Mit-
teln angefacht werden muß. Durchgebildetes Wirtschafts-
leben beruht auf planvollem Zusammenhalten aller
J) D. Hl. S. 9r-9S. Sep.-A«sg. S. 90. -) T> 111 S. 100-MH, Sep.-Ausg
S 93
132
Kräfte, und mit Recht tragen die Bezeichnungen der
.Oekonomie' und des »Haushalts* den Bei-
geschmack sparsamer Abwägung1)." Da, wo eine Aus-
nützung aller Kräfte geboten ist, hat selbst eine gewisse
Stockung im Geldverkehr nichts bedenkliches. Auch den
Luxussteuern haftet die gemeinplätzliche Marke an, daß
ihre Erträge enttäuschen, weil sie den Verbrauch ein-
schränken. Was tut das aber, wenn es sich gerade um
eine Herabsetzung dieses Verbrauches handelt? Würden
aber nicht auch die nun etwa gemachten Ersparnisse
reichlich das aufwiegen, was die Steuern einbringen
könnten? , .Bedenkt man, daß jede eingeführte Perlen-
schnur dem Meliorationsaufwand eines Gutsbesitzes ent-
spricht oder uns für den Ertrag eines reichen Bauernhofes
dem Ausland zinsbar macht, daß jedes Tausend aus
Frankreich bezogener Flaschen Champagner die Kosten
der Ausbildung eines Gelehrten oder Technikers ver-
schlingt, daß der Aufwand unserer Einfuhr an Seide,
Putzfedern, Duftstoffen und allerhand Kram ausreichen
würde, um alle Not und Entbehrung im Lande zu stillen,
daß unser spezifischer Mehrverbrauch an Spirituosen im
Vergleiche mit Amerika den Lasten unsrer Kriegsanleihen
gleichkommt: Bedenkt man dies und hundert Beispiele
ähnlicher Art, so wird es schwer zu begreifen, daß die
Gesellschaft jede Vergeudung nationalen Gutes sich ge-
fallen läßt, ohne durch das legitime Mittel der Steuern
und Zölle entscheidend einzugreifen2)." Man hält die Be-
steuerung der Einkommen und des Vermögenszuwachses
bei uns für etwas Selbstverständliches. Was aber einer
verbraucht, das bleibt unangetastet. Und doch gibt es in
unserer ganzen Gesellschaft nichts, was gerade so be-
steuert zu werden verdiente wie der Verbrauch. ,,Und
zwar sollte er so besteuert werden, daß oberhalb eines
auskömmlichen Mindestsatzes auf jeden Kopf berechnet,
l) D. Hl. S 97, Sep.-Ausg. S. 89-90. J) D. III. S. 103-104, Sep.-Ause.
S. 96.
133-
für jede Mark weiteren Verzehrs zum mindesten eine
Mark dem Staate gebührt1)/'
Soll das heißen, daß in Zukunft jeder Luxus unter-
drückt werden und sich alles einem sittenstrengen und
sinnenfremden Puritanismus hingeben soll? Die Frage,
was Luxus ist, wird stets leicht von dem gesunden
Menschenverstände beantwortet werden, der die nütz-
lichen von den unnützen Ausgaben sehr gut zu unter-
scheiden versteht. Wohl wird er unbedenklich als
luxuriös ansehen, „was etwa eine gedankenlose Menge
als Feste der Wohltätigkeit bezeichnet: genußsüchtige
Aufwendung, die den Namen der Nächstenliebe miß-
braucht und mit kalter Barmherzigkeit ihren Opfern den
Wert geleerter Sektflaschen gutschreibt2)." Doch derselbe
gesunde Menschenverstand wird damit nicht die Aus-
gaben treffen wollen, die die Entwickelung der Kultur,
der Geister und der Seelen begünstigen. Materielle Ver-
luste, wenn man so will, doch unendlich wertvollere Ge-
winne für das übersinnliche Gebiet, auf das wir hin-
streben sollen. Es handelt sich sogar nicht einmal um eine
völlig bedingungslose Aechtung des Luxus. Der Anblick
der Schönheit ist den Völkern für ihre Erziehung geradezu
notwendig. Was verschwinden muß, ist die schamlose
Offenheit, mit der gewisse bevorrechtete Elemente
diesen Anblick für sich gepachtet zu haben glauben, und
weiter auch die klägliche Verwechselung, die unsere Zeit
zwischen den Begriffen der „Prach t" und der „Vor-
nehmheit" begeht. Aber „überall da, wo die Ge-
meinschaft selbst als Wirtin auftritt, mag sie zum Zeichen
ihrer Freiheit und Liberalität sich mit Dingen des Glanzes
umgeben, nicht karger als im Banne der Herzen von Rom
») D. Hl. S. 105, Sep.-Ausg. S 97. Im Augenblick, In dem W. R.
(lies schrieb, glaubte er den Durchschnitt einer bürgerlichen Lebensführung
für eine Familie mit einem Jahresaufwande von etwa 3000 M. bezeichnen
zu können; es war das vor 1914. Vgl. D. III, S. 107, Sep.-Ausg. S. 100
2) ö. III. S. 98-99, Sep.-Ausg. S. 91.
184
und Athen, Venedig und Augsburg, Versailles und
Potsdam1)."
Die Notwendigkeit einer Aenderung der gegenwär-
tigen Bedingungen der Besitzverteilung muß ebenso von
zwei Feststellungen ausgehen, die wir sehr leicht machen
können, sobald wir nur unsere Blicke auf das wirtschaft-
liche und soziale Leben werfen. Auch hier den äußer-
sten Fall der Ungleichheit gesetzt, daß alles Vermögen
der Welt in der Hand eines Einzelnen wäre — mag dieser
Einzelne auch einen ganzen Staat oder gar eine gewisse
Staatengemeinschaft bilden — , in diesem angenommenen
Falle brauchte dem Weltbesitzer durchaus kein Prole-
tariat gegenüberzustehen. Seine Angestellten freilich
wären wir alle, doch von unserem Gemeingefühl und Vor-
gehen hinge es ab, welche Aufteilung der jährlich erzeug-
ten Gütermenge wir durchsetzen. Auf Grund von Verhand-
lungen, auf die der Weltbesitzer sich der Notwendigkeit
fügend eingehen müßte, würde unsere materielle Exi-
stenz und die der Unsrigen gesichert, unser aller Rechte
gleich und uns die Erzeugnisse der gesamten Welt in
beliebiger Menge zur Verfügung stehen. Im wesentlichen
wäre dieser Weltbesitzer bedacht auf Erhaltung seines
Machtverhältnisses und Festigung des Erbganges. Ist
beides gesichert, so hat er kein weiteres Interesse seinen
Arbeitern Bildung, Rechte und Verantwortung vorzu-
enthalten und sie damit zu Proletariern herabzudrücken.
Aber die Dinge Hegen gleich ganz anders, wenn wir an die
Stelle des einen Universalbesitzers zwei, zehn, hundert
oder tausend setzen. Denn eine Mehrzahl von Besitzern
vereinigt sich zur Klasse. Außer auf Sicherung sind sie
auf Zuwachs bedacht; mögen sie untereinander kämpfen:
der Hauptgegner bleibt der Unterworfene. Das dringende
Interesse entsteht, den Enterbten machtlos zu halten, die
Machtmittel der Bildung, der Organisation und des Be-
sitzes ihm und seinen Kindern zu verschließen. Haben
') D. in. S. 106, Sep.-Au?g. S. 98.
135
wir diesen Zusammenhang erkannt, so werden wir niemals
mehr für das freie Spiel der Kräfte, weder hinsichtlich
der Ansammlung noch der Verteilung der privaten Ver-
mögen, eintreten können.
Bemerken wir im Vorbeigehen, daß diese Tatsache
auch die von unserer Zeit gemachten Versuche eine den
Kindern der Armen wie der Reichen gemeinsame Einheits-
schule zu verwirklichen zu einem völligen Mißerfolge ver-
urteilt. Denn ein solcher gemeinsamer Unterricht wird
immer nur so gestaltet sein können, daß die Kinder aus
den begüterten Klassen, die körperlich gepflegter und im
reicheren Besitze von zarten aus ihrer Umgebung erwach-
senenBildungsansätzen sind hier bevorzugt oder umgekehrt,
damit sie die Kinder aus den unbemittelten Klassen, deren
Kinderstube doch nun einmal nicht ebensogut gewesen ist,
nicht allzu sehr überragen, — hinter diesen zurückgesetzt
werden. Statt also die sozialen Unterschiede auszu-
gleichen, wird sie ein solches Nebeneinander nur noch ver-
schärfen. „Nur auf der Grundlage ähnlicher Lebens-
umstände, Häuslichkeit und bürgerlicher Herkunft kann
die gleichartige Erziehung fruchten1)."
Zweite Feststellung: wir erstaunen, zu was für tief
verschuldeten Bettlern die Staaten unserer Tage gewor-
den sind. Sie, die höchsten allmächtigen Gebilde, denen
die heilige Aufgabe obliegt über den Fortschritt der
Menschheit zu wachen und die die gesetzmäßigen und ge-
setzlichen Mittel in Händen haben jedes Hindernis, das
sich ihnen entgegenstellt, niederzubrechen, sie haben, so-
bald sich einer an sie wendet und sie dann bittet, doch
einen wirksamen Kampf gegen Not und Elend zu führen,
die Wünsche der Aerzte und Hygieniker zu erfüllen, der
Gesamtheit eine nicht gar zu beschränkte Bildung zu
») D. in. S. 113. Sep.-Ausg S. 105 — Vom Standpunkte sozialistischer
Pädagogik ganz einverstanden! Nur muss nun auch VV R die weiteren
Folgerungen daraus für die Voraussetzungen einer solchen Einheitsschule"
ziehen 1 Bearbeiter.
136
geben, die Kflnstler und Gelehrten zu unterstützen, — sie
haben dann immer wieder nur die gleiche Antwort: , .Un-
sere Kassen sind leer." Für solche Werke besitzen sie
und finden sie die wenigen dafür notwendigen Millionen
nicht, nachdem sie im Laufe weniger Jahre für den Krieg
viele Milliarden verlangt und verschwendet haben. Wer
weiß, ob sie nicht dafür schon in nächster Zeit die blutig-
sten Vorwürfe ernten werden? Sie werden sich dann
wohl oder übel entscheiden müssen, selbst, wenn das Geld
seinen Wert verlieren sollte und sie so gezwungen wären,
nicht nach Millionen, sondern nach Milliarden zu rechnen.
Sie werden sich wohl oder übel entschließen müssen, ein
jeder in seinem Lande unter allen den größten Säckel zu
haben und sich freigebig und mächtig zu zeigen. An wen
werden sie sich dann wohl wenden? Sicher nicht an die
Enterbten. Ob sie wollen oder nicht, die einzelnen Staa-
ten werden sich als solche, die nicht genug haben, an die
halten müssen, die zu viel haben. Zwischen ihnen und
den Reichen besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz, der
schon lange dumpf empfunden wurde, und diesem Um-
stände und nicht seinen nur scheinbar wissenschaftlichen
Lehren verdankte der Sozialismus den Erfolg seiner
Werbekraft, wenn er überallhin verkünden konnte, daß die
übermäßigen Vermögen verschwinden müßten, damit sich
das Los jedes einzelnen bessern könnte. Der Sozialismus
verstand nur eins nicht; das war über den Widerspruch
hinwegzukommen, der zwischen der Gesetzmäßigkeit des
durch Arbeit erworbenen Vermögens und diesen Forde-
rungen der Gesellschaft bestand. Er scheute sich, sich
auch nur den Anschein eines Wegelagerers zu geben, der
nur daran denkt, den vorüberziehenden Wanderer aus-
zuplündern, und so erfand er die unhaltbare Lehre von
der Sozialisierung des Kapitals.
In der Tat entdeckt derjenige, der das Problem unter
dem höheren Gesichtspunkt der Ethik betrachtet, die
137
Lösung desselben, die lauten muß: Es besteht die
augenscheinliche Notwendigkeit in der Güterverteilung
zu einem Gleichgewicht zu kommen. „Besitzverteilung
ist ebensowenig Privatsache, wie Verbrauchsanrecht.
Wir haben keinen Grund, nach dem Eisenbartrezept des
Sozialismus das tausendjährige Gebäude organischer Ar-
beit zu zerbrechen, um polizeilichen Bürokratismus an
die Stelle des Wettkampfes, verbreitertes Speisemarken-
wesen und gehobenes Armenrecht an die Stelle bürger-
licher Freiheit zu setzen; doch von neuem und endgültig
sehen wir uns zu einer Reformation gewiesen, die ein
neues Reich sozialer Freiheit auf der Grundlage gerech-
teren Verbrauchsanspruchs, gleichmäßigerer Besitzver-
teilung und kräftigeren Staatswohlstandes erbaut1)."
Doch welche Maßnahmen soll der ergreifen, der
diesen Mißbräuchen ein Ende machen will? Um sie mit
gutem Vorbedachte auszuwählen, genügt es, die drei Wirt-
schaftsformen zu prüfen, unter denen sich nur das Ver-
mögen zeigt; sie sind das Anrecht auf Genuß, das auf
Macht und das auf Vererbung der Reichtümer.
Was berechtigt denn überhaupt einen Menschen, ein
Leben zu führen, das durch Anmaßung und Verwüstung
das Dasein und die Daseinskraft Ungezählter in den Staub
tritt? Symbolischer Ausdruck dieses Zusammenhanges
ist die Parodie altherrschaftlichen Zeremoniells, die vom
neuen Reichtum affektiert wird: gekaufte Kanonen auf
den Terassen, gepuderte Diener auf den Treppenabsätzen,
falsche Ahnenbilder an den Wänden, Zeugnisse der Macht
der alten Landesherren und des Schutzes, den diese ihrem
Lehnsadel vom Vater zum Sohne gewährten. Heute hat
niemand Schutz zu gewähren außer dem Staate; die Vor-
herrschaft des bürgerlichen Wohlstandes beruht auf keiner
geschichtlichen Bedeutung.
') D. UI. S. 125-126, Sep.-Ausg. S. 116-117.
138
,, Heute leben wir, wirtschaftlich betrachtet, in der ge-
samten zivilisierten Welt unter der Herrschaft einer ge-
waltigen Plutokratie, die in einzelnen Staaten sich der
gesamten politischen Gewalt, der Bestimmung über Recht
und Verfassung, über Krieg und Frieden bemächtigt hat,
in andern den unmittelbaren politischen Einfluß mit her-
kömmlichen Mächten teilt, während sie den Arbeitsaufbau
der Länder schrankenlos besitzt1)." Daß sie einen ver-
dienstlichen Anteil an der Entstehung und den Fort-
schritten der modernen Welt gehabt hat, kann wohl nie-
mand leugnen. Dessenungeachtet ,,ist Plutokratie Grup-
penherrschaft, Oligarchie und von allen oligarchischen
Formen die verwerflichste; denn sie ist an keine ideale
Anschauung an kein Sakrament gebunden. — Pluto-
kratie wirkt nicht durch gemeinschaftliche Ideale,
sondern durch gemeinschaftliche Interessen. Nicht als
Erobererstamm, nicht als Glaubensgemeinschaft hat sie
sich vereint erhoben, sondern einzeln, Mann für Mann,
ist sie aus den Schichten der Nationen durch wirtschaft-
liche Auslosung der Sonderbegabung, des Zufalls, des
glücklichen Risikos hervorgetreten. Sie will nichts als
ihre Erhaltung und Bereicherung, sie ist zu keiner andern
Gemeinschaft der Anschauung gedrungen oder verpflich-
tet; ihre Kraft liegt im Opportunismus2)." Sie ergänzt sich
durch Erblichkeit und, soweit als irgend nötig, durch
Kooptation. Doch diejenigen, die sich von ihr angezogen
fühlen, nehmen sie völlig in ihrer alten Form ohne irgend-
welche Erneuerung ihres Geistes wieder an, oft sogar mit
noch größerer Engherzigkeit. So wird man sagen müssen,
daß das Prinzip einer den Massen überlegenen Oligarchie
solange unantastbar sein wird, wie noch eine intellektuelle
und ethische Ungleichheit unter den Menschen bestehen
wird. Zugegeben! Aber eine Oligarchie, die so ist wie die,
die wir erleben, ,, verträgt sich nicht mit der Würde und
') D. III. S. 120-121, Sep.-Ausg. S. 112. •) D. UI. S. 122-123, Sep.-
Ausg S. 114.
139
Freiheit menschlichen Anrechts und kann niemals einen
sittlichen Idealbegriff dem Denkenden bilden, der sich
zur Lehre vom Aufschwung aller Seelen bekennt1)." Daß
sie verschwinde, wird nur eine Sache der Gerechtigkeit
sein. Wir werden danach streben, durch geeignete Vor-
kehrungen an ihre Stelle eine Aristokratie zu setzen, die
hiergegen Widerspruch erhebt, d. h. eine sich unablässig
erneuernde Aristokratie, die alle wahrhaft hervorragen-
den und adeligen Naturen umfaßt, möge deren äußere
Lage und Abstammung sein, welche sie wolle.
Andererseits: ,,Wer ist reich und mit welchem Recht?
Wer darf sagen: Aus dem Gesamtvermögen und Ertrag
der Welt gebührt mir das Zehnfache, Hundertfache
Zehntausendfache dessen, was der Durchschnitt der
Menschheit besitzen und verbrauchen darf? Woher
stammt persönlicher Reichtum und wie wird er er-
worben9)?"
„Ist Reichtum Ersparnis? Bei der Kürze des mensch-
lichen Lebens kann aus regelmäßigen Arbeitseinkommen
zur Not ein mittlerer Wohlstand erspart werden. Möglich,
jedoch nicht häufig ist die Bereicherung durch Fund. Der
Fund mineralischer Schätze, der zu unserer Zeit immer
seltener wird, hat ursprünglich in Afrika und Amerika
manche Vermögen geschaffen. Ist schon Jemand durch
Glück im Spiel zu Vermögen gekommen? Nein, denn die
Wahrscheinlichkeitsrechnung lehrt, daß die Verluste im
Spiel schließlich immer wieder die Gewinne aufheben.
Damit Reichtum entstehe, sind gemeinhin zwei Bedingun-
gen notwendig. Erstens: wer reich werden will, muß
einen sogenannten allgemeinen wirtschaftlichen Bedarf
befriedigen. Zweitens: wer reich werden will, muß den
Wettbewerb, der unfehlbar hervortreten wird, aus dem
Felde schlagen. In diese Lage bringt ihn nur das an-
erkannte oder erzwungene Monopol. Der glückliche Er-
h D. iü. S. 124-125, Sep.-Ausg. S. 116. 8j D. III. S. 127, Sep -Ansg.
S. 118-119.
140
finder nutzt das Monopol des Patentes. Der Bergbau ein-
zelner Mineralien bereitet ein natürliches Monopol, wenn
nämlich die Fundstellen selten oder beschränkt sind. Die
Großbank und das Warenhaus üben das Monopol des
Vorsprunges. Chemische Industrien stützen sich auf das
Monopol einer nahen und günstigen Lage ihrer Rohstoff-
quellen. Der große Tenor trägt das Monopol der Selten-
heit in seiner Kehle. Verbände und Syndikate erzwingen
das Monopol einer Kariellierung. Der Besitzer eines Miet-
hauses zehrt von dem Monopol großstädtischen Bodens,
auf dem er Wohnungen baut, in bestimmten Stadtgegen-
den, auf die gewisse Personen angewiesen sind. Der
Modelieferant lebt vom Monopol seines Namens; denn es
gibt Stutzer, die nur etwas von der bevorzugten Firma
tragen würden. Der Besitzer einer Bahn, eines Wasser-
werkes, eines Hafens, erhält sein Monopol unmittelbar
vom Staat oder von der Gemeinde; das Recht, das er
ausübt, nähert sich dem Hoheitsrechte. Diese und zahl-
reiche andere Monopole machen reich; andere Wege zum
Reichtum gibt es kaum. So dürfen sie als die eigentlichen
Quellen des Reichtums bezeichnet werden. Befragen wir
über das Recht oder das Unrecht der Monopolbereiche-
rung unser unbefangenes inneres Gefühl, so empfinden
wir: In der erzwungenen Beitreibung, in ihrer willkür-
lichen Bemessung, in der rücksichtslosen Machtstellung des
einzelnen gegenüber den vielen liegt ein Unsittliches.
Gemildert erscheint es im Monopole des Vorsprungs und
der Technik, zumal wenn es nicht von einer Person, son-
dern von einer Genossenschaft ausgeübt wird; denn hier
ist der Nutzen des Geleisteten erkennbar, und trotz der
Ausnahmestellung des bevorrechteten Organes kann ein
bedeutender Vorteil für die Gemeinschaft gegenüber der
Zersplitterung gegeben sein. Um so unerträglicher tritt
das Monopol hervor, je unverdienter es erworben, je
müheloser es gehandhabt, je zügelloser es genutzt wird;
imdsoist das Monopol des grundbesitzenden Großstadtrent-
141
ners eines der weniger erfreulichen1)." Diese so schlichten
Erwägungen machen ersichtlich, wie dringend und zu-
gleich einfach es für den Gesetzgeber ist, alle Quellen
des persönlichen Reichtums zu regein und, soweit er es
für nötig halten sollte, zu schließen.
Was schließlich die Weitergabe des Reichtums an
andere durch Vererbung betrifft, so drängt sich wie von
selbst die Frage auf: Ist diese so uralte Einrichtung zu
ehren oder zu verurteilen. In unserer Zeit ist unter allen
Möglichkeiten des Gewinnens von Reichtümern die ent-
scheidendste das Erben; die weitaus überwiegende Menge
der heutigen Vermögen ist nicht etwa von den Besitzern
selbst erworben, sie ist ihnen nur von den Eltern hinter-
lassen. Nun ist es eigentümlich, zu beobachten, wie wenig
bei uns in unserem Inneren die Kritik des Erbes ein
gleiches Gefühl der Mißbilligung erweckt wie die Be-
trachtung des erworbenen Reichtums. Wir sehen die
Rennplätze und Vergnügungsstätten einer Großstadt an-
gefüllt von gutgewachsenen, selbstbewußten jungen Män-
nern, die in einer Stunde für ein Pferd oder eine Tänzerin
mehr Geld ausgeben, als ein armer Student, ein Dichter
oder Musiker für den Lebensunterhalt eines Jahres er-
sehnt; wir finden zwar die Untätigkeit dieser Müßig-
gänger und ihr Auftreten gelegentlich bedauerlich, sehen
aber in dieser bevorzugten Stellung derselben etwas Un-
abänderliches, wenn nicht Selbstverständliches, den Aus-
druck eines geheiligten Herkommens von erblichem
Glänze und erblicher Macht. Ganz ebenso geht es mit
der Dirne, die einen reichen und alternden Mann zu hei-
raten und sich für den Fall seines Todes als Aileinerbin
einsetzen lassen hat und als trauernde junge Witwe mit
diesem Vermögen den verschwenderischsten Aufwand
treibt, oder mit einem jungen Manne, der eine wohl-
habende Erbin heiratet. „Wieviel gesunde Männer unter
') D, III S. 128-131, Sep.-AüSg. S. 119-122.
142
sechzig Jahren leben in einem zivilisierten Lande von
ihren Renten? Wieviel junge Männer begründen
ihre Existenz auf die Ehe mit einer Erbin? Wieviel
unproduktive Familien hat ein Land von Geschlecht zu
Geschlecht zu ernähren1)?" Alle diese Erscheinungen
lösen wohl im Augenblick einen Gefühlston vorüber-
gehenden Unwillens im Gewissen der Gemeinschaft aus,
besonders, wenn sie mit prahlendem, protzendem und
prunkhaftem Auftreten verbunden sind, doch bald schon
machen Mitglieder derselben Gemeinschaft die tiefsten
Bücklinge vor den bezeichneten minderwertigen Elemen-
ten und ersterben vor ihnen in Ehrfurcht, ohne doch wie
sie es eigentlich müßten, so recht zu erkennen, daß es
kaum etwas so schreiend Unethisches £>bt, als die Erb-
schaft.
Diese guten Leute, die so wenig nachdenken un.i bei
denen durch die Gewohnheit der Jahrhunderte der Sil<en-
begriff des Erbes so tief eingewurzelt ist, wissen natürlich
nicht, daß hier, wie es in der Kunstsprache heißen würde,
eine der schönsten „Substitutionen des Grun-
d e s" vorliegt und die Voraussetzungen verschoben hat.
,, Geräte mögen in Urzeiten ebenso häufig dem Verstor-
benen ins Grab gegeben, wie vererbt worden sein. Sie
waren Ausstattungsteile des Menschen und seiner Hütte,
überlebten das Geschlecht und bildeten Attribute des kol-
lektiven Individuums, der Familie2)." Später gründete sich
die Erbschaft auf die Schichtung in soziale Klassen:
Sklaven und Leibeigene hatten nicht das Recht, etwas zu
besitzen; diese Instrumente der Macht gehörten vielmehr
selbst erb- und eigentümlich als Besitzstücke denjenigen,
denen allein die Sendung der Repräsentation und des
Schutzes der anderen oblag und die gewisse Pflichten
gleichzeitig mit den entsprechenden Rechten erbten. Aus
diesem Gesellschaftsbau löste sich unmerklich die Epoche
') D. in. s. 136, Sep.-Ausg. S. 126-127. -) D III. S. 136, Sep.-Ausg.
S. 127.
143
des Kapitalismus. Von der Einrichtung des Erbens be-
wahrte er sich wohl die Vorrechte, das Geld, die Macht,
die Genüsse, ohne jedoch dafür als Gegenleistung die mit
diesen Rechten verbundenen Pflichten zu übernehmen.
Und darin liegt auch die so widerspruchsvolle Anomalie
und Antinomie, die aber der Staat, abgesehen von ein paar
Einschränkungen, mit seiner ganzen Macht aufrecht er-
hält und stützt und die sogar die öffentliche Meinung für
sakrosankt erklärt! Nein, sie mag uns gewohnt und ver-
traut sein; sakrosankt ist sie wahrlich nicht, sondern
lediglich eine vorherrschende, ungeprüft hingenommene
Eigenart I ,,Sie verurteilt den Proletarier zu ewigem
Dienst, den Reichen zu ewigem Genuß. Sie bürdet die
Verantwortung auf den Müden, der sie verleugnet, und
erstickt die Schaffenskraft des Unverbrauchten, der die
Verantwortung ersehnt. Die zähe Ölschicht des Her-
kommens lagert sich trennend zwischen die wahlver-
wandten Lösungen, die sich zu durchtränken streben,
und steigert die Spannung eines unbetätigten Willens1)."
Es ist höchste Zeit, daß wir für die Gesundung auch
dieses Organs dadurch sorgen, daß wir es nun einmal
ebenso, wie wir das doch schon mit allen übrigen Orga-
nen bisher begonnen haben, gleich diesen jenem großen
Naturgesetze unterwerfen, jenem Naturgesetze von dem
lebendigen Auf- und Niedersteigen des Lebens, von dem
organischen Wechsel dienender und bestimmender Glie-
der, von dem spendenden Spiele der sich in dem aittesta-
mentarischen erzväterlichen Brunnen des Lebens immer
wieder von neuem herauf und herab bewegenden golde-
nen Eimer.
Wir dürfen nun alle die im Vorhergehenden gewonne-
nen Wertungen und Feststellungen in der folgenden kur-
zen und grundsätzlichen Form dem Gedächtnisse ein-
prägen:
!) D. III. S. 139, Sep.-Ausg. S. I2ß-i30.
14i
„1. Der Gesamtertrag menschlicher Arbeit ist zu jeder
Zeit begrenzt. Verbrauch, wie Wirtschaft überhaupt, ist
nicht Sache des einzelnen, sondern der Gemeinschaft.
Aller Verbrauch belastet die Weitarbeit und den Welt-
ertrag. Luxus und Absperrung unterliegen dem Gemein-
willen und sind nur soweit zu dulden, als die Stillung
jedes unmittelbaren und echten Bedarfs es zuläßt.
2. Ausgleich des Besitzes und Einkommens ist ein
Gebot der Sittlichkeit und der Wirtschaft. Im Staate
darf und soll nur einer ungemessen reich sein: der Staat
selbst. Aus seinen Mittein hat er für Beseitigung aller
Not zu sorgen. Verschiedenheit der Einkünfte und der
Vermögen ist zulässig, doch darf sie nicht zu einseitiger
Verteilung der Macht- und der Genußrechte führen.
3. Die heutigen Quellen des Reichtums sind Monopole
im weitesten Sinne, Spekulation und Erbschaft. Der Mo-
nopolist, Spekulant und Großerbe hat in der künftigen
Wirtschaftsordnung keinen Raum.
4. Beschränkung des Erbrechts, Ausgleich und He-
bung der Volkserziehung sprengen den Abschluß der
Wirtschaftsklassen und vernichten die erbliche Knech-
tung des untersten Standes. Im gleichen Sinne wirkt die
Beschränkung luxuriösen Verbrauchs, indem sie die Welt-
arbeit auf die Erzeugung notwendiger Güter verweist und
den Wert dieser Güter, gemessen am Arbeitsertrage, er-
mäßigt1)."
Auf diesen Grundsätzen ruht das System eines neuen
Wirtschaftslebens unter dem Zeichen des wirtschaftlichen
Ausgleichs und der sozialen Freiheit.
.,Das nächstliegende Mittel zur Regelung des Ver-
brauchs ist ein ausgedehntes, teilweise bis an die Grenze
der Prohibition getriebenes System von Zöllen, Steuern
und Abgaben auf Luxus und übermäßigen Verbrauchs-
genuß. Dieses System soll kein finanzielles sein; der Er-
'■) D. IM. s. 139-140, Sep.-Ausg. 130-131.
10 145
trag ist eine gleichgültige Nebenwirkung; sein Sinn
liegt ausschließlich in der Beschränkung. Die Abgaben
sind um so höher zu bemessen, je überflüssiger und je
kostbarer das eingeführte oder erzeugte Produkt sich dar-
stellt1)." Auf Tabak und Spirituosen, auf kostbare Textil-
stoffe, Rauchwaren, Putzfedern, Hölzer, Gesteine, vor
allem auf gefertigte Luxuswaren sind Zölle und Abgaben
zu erheben, die bis zum mehrfachen des Wertes ansteigen;
Juwelen, deren Einfuhr schwer zu überwachen ist, sollten
außer dem Zoll eine hohe Jahressteucr tragen. Zu be-
steuern ist der Raumaufwand. Abgesperrte Parkanlagen,
luxuriöse Gebäude und Wohnräume, Remisen und Ga-
ragen müssen zu den Lasten des Landes beitragen. Per-
sönliche Bedienung in starker Progression der Kopfzahl
und der Gehälter; Luxuspferde, Equipagen und Automo-
bile, Beleuchtungsaufwand, kostbares Mobiliar, Rang und
Titel sind Steuerobjekte nicht im Sinne des Finanz-
ertrages, sondern der Beschränkung.
Dem Ausgleich der Vermögen und Einkommen dienen
die bekannten Einrichtungen der Vermögens- und Ein-
kommenbesteuerung, jedoch nicht, wie bisher, in dem
Sinne einer Notquelle für den Staat, mit Bangen auferlegt
und mit Unmut entrichtet, sondern vielmehr als An-
erkenntnis dafür, daß oberhalb eines bürgerlichen Aus-
kommens der Erwerbende nur bedingter Mitbesitzer des
Erworbenen ist und daß es dem Staate freisteht, von
diesem Überschusse ihm so viel oder so wenig zu be-
lassen, wie er will. Wer die Entwicklung der sogenannten
gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen beobachtet,
die für einzelne Erwerbszweige monopolistischer Art schon
heute den Gedanken nahe legt, daß oberhalb eines aus-
kömmlichen Ertrages der Fiskus den weitaus überwiegen-
den Teil des Nutzens zu beanspruchen hat, dem wird die
Aussicht nicht widersinnig erscheinen, daß der Staat hier
0 T>. III. S. 142. Sep.-Ansg. S. 132-133.
110
noch weit allgemeiner auf übermäßige Erträge, aber auch
Vermögen bis zu einem beliebigen Anteile die Hand legen
könne. Die beiden Einwände des Antriebs zur Auswan-
derung bei den Wohlhabenden und des Antriebes zu
einem verschwenderischen Leben ihrerseits haben nichts
zu bedeuten. Denn die besagten für den Staatssäckel so
vorteilhaften Einrichtungen werden nicht national begrenzt
bleiben, sondern allmählich bei allen Völkern festen Fuß
fassen. Was aber den zweiten Einwand betrifft, so wird
ein Mensch, der nun einmal jenen seltsamen und uner-
forschten Hang hat, Kapital aufzuhäufen oder umgekehrt
es zum Fenster hinauszuwerfen, von dieser Leidenschaft
nicht frei, weil ihre Befriedigung erschwert ist.
Der Kampf gegen private und persönliche Monopole
ist eine Tendenz, die nur gemeinnützig und nachdrücklich
anerkannt zu werden braucht, um in jedem Einzelfalle
ihre gesetzliche oder geschäftliche Handhabe zu finden,
durch die zwar die Gesamtheit nicht verletzt wird, aber
der einzelne sich nicht unnötig bereichern kann. Nach
dieser Richtung wird es darauf ankommen, auf gewisse
Formen des Handels ein wachsames Auge zu haben, die
sozusagen nicht ausreichend von der Besteuerung ge-
troffen werden, wie der Gelegenheitsgeschäfte großen Um-
(anges, Spekulationen, Gründungs- und Geldvermittlungen,
Patent- und Grundstücksschiebereien, verborgene Belei-
hungs- und Wertpapiergeschäfte; hier helfen nur nach-
haltige Stempelgebühren und entschiedene Sonderbesteu-
erungen akzidenteller Gewinne, Gewerbescheine, Firmen-
eintragung und Bilanzrevision. Es v/ird nicht weniger dar-
auf ankommen, auch gegen gewisse geschäftliche Gewohn-
heiten vorzugehen, die der Gesamtwirtschaft größeren
Schaden zugefügt haben als irgendeine falsche Maßnahme seit
Beginn der kapitalistischen Ordnung, indem sie Hundert-
tausende schaffensfähiger Existenzen zu einer Leistung
aufsaugt, die von wenigen Tausenden erfüllt werden
könnte. Gemeint sind die kleinen Ladenbesitzer, die be-
10* 147
anspruchen, daß ganze Heere von Handkmgsreisenden
mehrere Tage lang sich umhertreiben, bei einem jeden
von ihnen vorsprechen und mit ihm schwatzen, um ihnen
bei dieser Gelegenheit Waren vorzulegen, auf die sie dann
im Bedarfsfalle einen Auftrag zu erteilen sich vorbehalten
oder auch nicht und die sie ganz ebenso leicht prüfen
könnten, wenn in jeder größeren Provinzialstadt ein ge-
meinsames Musterlager der Grossisten unterhalten würde.
Es ist einfach unzulässig, daß auf dem Wege vom Produ-
zenten bis zum Konsumenten der Preis einer Ware um
25 Prozent, ja sogar um 100 Prozent steigt. Eine scharfe
Besteuerung der besagten Handelsgeschäfte würde diese
Reform des Kleinhandels erzwingen und um Hunderte
von iMülionen die Produktionskraft erhöhen.
Die letzte der Maßnahmen zur Regelung der Privat-
wirtschaft hat vielleicht die größte Tragweite. Es ist die
folgende: Oberhalb einer mäßigen Vermögenseinheit ge-
hört jeder Nachlaß dem Staate. Eine Verwirklichung findet
dieser Gedanke durch eine wachsende nach Vermögens-
umfang und Verwandschaftsgrad hoch gestaffelte Besteue-
rung. Hoffentlich wird dadurch endlich einmal dem skan-
dalösen Unfug des Erbanfalles außerhalb des engsten
Familienkreises ein kräftigesHalt geboten. Vom staatlichen
Heimfall auszunehmen sind in beschränktem Maße wohl-
tätige Legate, in weiterem Umfange gewisse Stiftungen
für öffentliche Wohlfahrtszwecke, ja selbst innerhalb be-
stimmter Grenzen gewisse Familienstiftungen zu beson-
deren Zwecken. Höchste Werke und Denkmäler der Na-
tur, der Kunst und der Geschichte dürfen in keinem Falle
vererbt werden.
Aber tut sich da nicht eine ernste Schwierigkeit auf?
Alle Unternehmungen des kapitalistischen Arbeitssyste-
mes stimmen darin überein: sie fordern große Mittel und
sind gefährlich. Sich Mittel zu beschaffen, ist jede fiska-
lische Verwaltungsgemeinde imstande; Risiken zu tragen,
vermag sie nicht. So begegnet das Privatkapital der
148
Größe der Aufgabe durch Assoziation: es beregnet den
Risiken seiner Unternehmungen durch unermüdliches
Streben nach Erfolg und Gewinn. Bisher konnten der
ersten der oben bezeichneten beiden Forderungen nur die
staatlichen Unternehmungen genügen, aber es fehlte ihnen
der leidenschaftliche Anreiz, der die Sorgen der Verant-
wortung überwindet, und außerdem das autokratisch wal-
tende, instinktive Urteil, das die Aussichten jenseits der
Gefahr vorwegnimmt, mit einem Worte alles das, was
wir unter dem Begriffe des Unternehmungsgeistes zusam-
menzufassen pflegen. Kommt nicht aber jeder Angriff auf
den Privatbesitz und die Möglichkeit seiner Vererbung auf
eine Verbannung desselben und Verurteilung zu ewiger
Untätigkeit hinaus? Und wird das nicht ein empfindlichei
verlust für die Gesamtheit sein?
Sehen wir uns einmal eine nicht allzu kleine Anzahl
neuzeitlicher Betriebe etwas näher an, und wir werden
bemerken, daß jene Gefahr weniger ernstlich zu fürchten
ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Betriebe
gedeihen, verdanken aber gleichwohl diesen Erfolg nicht
mehr denselben Bestrebungen, wie sie einstens derartige
Unternehmungen gehabt haben. Fast ausnahmslos tragen
solche modernen Unternehmungen die unpersönliche Form
der Gesellschaft. Objektiv und psychologisch ist der Be-
griff des persönlichen Eigentums bei ihnen um ein er-
staunliches Maß eingeschränkt. Niemand ist ständiger
Eigentümer; ununterbrochen wechselt die Zusammen-
setzung des tausendfältigen Komplexes, der als Herr des
Unternehmens gilt. Wieviel Leute werden wohl noch
Aktien kaufen, wenn sie in ihnen keine Anteilscheine
mehr, sondern nur noch einfache, in jedem Augenblicke
umsetzbare Papiere zu sehen haben werden? Wie viele
Leute werden aber nicht noch andere, vielleicht sogar
zahlreiche andere Aktien auf die verschiedensten Unter-
nehmungen kaufen? So kann ein Einzelner zum Kreu-
zungspunkte mannigfaltiger Besitzrechte werden und auch
149
die Zusammensetzung dieser Anrechte wechseln. All
diese Verhältnisse aber bedeuten die Entpersönlichung
des Eigentumes. Das ursprünglich persönlichste Verhält-
nis eines Menschen zu einer greifbaren, genau bekannten
Sache ist zu einem unpersönlichen Ansprüche auf einen
theoretischen Ertrag geworden.
Die Entpersönlichung des Besitzes bedeutet jedoch
gleichzeitig die Objektivierung der Sache. Mit einem
Schlage gewinnt das Unternehmen ein eigenes Leben,
gleich als gehöre es niemandem, ein objektives Dasein,
wie es vormals nur in Staat und Kirche, in städtischer,
zünftischer oder Ordensverwaltung verkörpert war. Die
Aktionäre gelten nun weniger als die Direktoren mit ihrer
gesamten Beamtenhierarchie. Der Möglichkeit, daß ein
Unternehmen aus seinen Erträgen alle von ihm aus-
gegebenen Aktien von ihren Besitzern zurückkaufe,
steht allerdings die Gesetzgebung entgegen, doch
tatsächlich ist dieser Rückkauf keineswegs so un-
möglich, wie es danach scheinen könnte. Jedenfalls
ist es schon heute denkbar, daß das Unternehmen — und
die Beispiele sind nicht selten — das Eigentum der An-
gestellten und Arbeiter oder auch einer ganzen Stadt oder
einer Universität wird. Es bleibt in diesem Falle autonom,
kann also weiter ein selbständiges Dasein führen, es müssen
nur ausreichende Bürgschaften in bezu£ auf seine zukünf-
tigen Geschäftsführer gegeben sein. Wie hat sich nicht
gleichzeitig die , .Mentalität" der Eigentümer größerer
Privatunternehmen geändert! Stellen sie nicht das Pro-
spcriereri der Firma über ihre eigenen persönlichen In-
teressen? Gewährt ihnen nicht dieses Prosperieren ihrer
Firma häufig mehr Freude als selbst die persönlichen Ge-
winne, die sie aus dem Geschäfte ziehen. Haben nicht
schon manche unter ihnen auf ein größeres Wohlleben für
sich und inre Familie verzichtet, nur, damit das Geschäft
über reichere Mittel verfügen könne? Hier hält nicht
mehr die Gewinnsucht, wie wir sie wohl vordem bei den
150
Großkapitalisten kennen gelernt haben, ihr Geschäft, son-
dern das Geschäft selbst, das längst zu einem selbstän-
digen Wesen, zu einer wirklichen Persönlichkeit geworden
ist, die über eigene Mittel verfügt und sich selbst ihre
Aufgaben stellt. Gesteigert findet sich diese Denkweise
in den Häuptern großer Gesellschaf tsunternehmungen.
Hier herrscht schon heute der gleiche Beamtenidealisinus
wie im Staatsbetriebe. Die leitenden Organe sorgen
schon für die Beamten im voraus für Zeiten, in denen
sie nach menschlichem Ermessen längst nicht mehr
dem Unternehmen angehören werden. Es lagert
sich somit zwischen das Gebiet der Staatsver-
waltung und das Gebiet der Privatgeschäfte eine
Schicht mittlerer Gebilde: autonomer Unternehmungen,
die der privaten Anregung entstammen, von privater Ini-
tiative geleitet werden, der Aufsicht des Staates unter-
stehen, und ein selbständiges Leben führen, das in seiner
Wesensart von der Privatwirtschaft zur Staatswirtschaft
überleitet. Wirtschaftseinheit ist nicht mehr ausschließ-
lich der Stamm der Familie, sondern die Gemeinschaft,
jedoch nicht ausschließlich die schematisch gebundene Ge-
meinschaft des Staates, sondern daneben ein ideelles
Zwischenvolk wirtschaftlicher Individualitäten, die nicht
Menschen sind, sondern Verkörperungen menschlicher
Willenseinheiten1).
Wahrscheinlich wird dieser Begriff des unpersönlichen
Eigentums die künftigen Jahrhunderte beherrschen; der
objektiv und unpersönlich gewordene Besitz wird vermut-
lich die hauptsächliche Daseinsform aller dauernden Güter
bilden; ihnen gegenüber werden die Verbrauchsgüter als
Privateigentum, die gemeinnützigen Güter als Staatseigen-
tum ihre Stellung wahren; den Betriebsmonopolen dienen
*) Ueber die unzeifgemäss gewordenen Theorien des Marxismus und
über die modernen Auffassungen von Kapital und Ei^entnm finden sich
interessante Aufschlüsse in dem Werke von V. G. Simkhowitsch, Professor
der Nationalökonomie an der Universität Columbia: Marxismus contra
Soziallsmus (in franz. Uebersetzung von Roger Picard, Paris, Payotl6°v
151
die Formen gemischtwirtschaftlicher Unternehmung, Der
Lage der autonomen Unternehmungen muß die Eigentuins-
gesetzgebung in gleicher Weise Rechnung tragen wie den
Stiftungen, deren wachsende Bedeutung gleichfalls der
kommenden Zeit gehört. Die Stiftung aber wird zum
wahrhaften Denkmal eines nach außen wirkenden Lebens
werden und eine, wenn auch nicht dem geistigen Inhalte,
so doch im absoluten Dasein begründete Analogie zur
idealen Schöpfung des Kunstwerkes gewinnen.
So wird sich für die befreite und glückliche Mensch-
heit eine neue Wirtschaftära eröffnen, in der alle frisch
und freudig an die Arbeit gehen werden und in der das
dunkle wie das deutliche Sehnen der gequälten Völker
wohl endlich einmal Erfüllung finden wird. Das gesamte
soziale Leben wird in einem ganz neuen Lichte erscheinen.
Der einzelne wird nun verstehen, welche Bande ihn mit
seiner Klasse, aber auch mit der gesamten Gemeinschaft
verbinden; er wird sich nicht mehr absperren und für sich
allein ein Leben des Luxus und der Pracht führen können;
menschliche Gebrechen oder Laster werden nur noch Aus-
nahmeerscheinungen bilden; die Erziehung wird zu einer
wahren Waffe im Kampfe des Lebens werden; die Besten
werden nicht mehr die besten Plätze zu räumen haben;
die Frau wird wieder zu ihrem natürlichen Berufe in der
Häuslichkeit zurückkehren; keiner wird mehr beschimpft
und gering geschätzt werden, außer der Verächter selbst.
„Utopie!" werden alle rufen. Nein, ganz gewiß nicht!
Schon heut lassen sich alle Züge dieser neuen Aera ganz
genau bestimmen, und es ist nicht einer unter ihnen, der
als ein bloßes Trugbild erscheinen könnte und nicht bereits
in der folgenden rohen Skizze des aus einer so leidvollen
Vergangenheit hervorgegangenen Wirtschaftsaufbaues
klar zu erkennen wäre:
„1. Produktion und Wohlstand des Landes müssen
steigen; denn es wird
152
Vergeudung ausgeschaltet,
überflüssige Produktion auf nützliche Produktion
umgestellt,
Müßiggang beseitigt und jede verfügbare Kraft
zu geistiger und materieller Produktion heran-
gezogen,
freier Wettbewerb und private Unternehmungs-
lust erhalten,
die Verantwortung in die Hände der sittlich und
geistig Befähigten gelegt.
2. Die Ansammlung übermäßigen und toten Reichtums
wird verhindert;
3. Die starre Gliederung der Stände wird verflüssigt;
an die Stelle dauernd tragender und dauernd lastender
Glieder tritt lebendige Bewegung und organisches Auf-
und Niedersteigen;
4. Somit wächst
die Macht des Staates, seine materielle Stärke
und seine ausgleichende Kraft,
und gleichzeitig entsteht ein gleichmäßiger mittlerer Wohl-
stand, der alle Stände durchdringt, Klassengegensätze
ausgleicht und die Nation zur höchsten denkbaren Ent-
faltung ihrer geistigen und wirtschaftlichen Kräfte führt1)."
l) D. Hl. S. 161-162, Sep-Ausg. S. 151.
158
Kapitel V.
Die neue Wirtschaftsordnung
Ohne den Weltkrieg hätten sich möglicherweise die
theoretischen Erörterungen über die Zweckmäßigkeit und
den Sinn der künftigen wirtschaftlichen Erneuerung noch
Jahrzehnte hingezogen, um ihre Vollendung ebenso lange
hinauszuschieben. Aber „der Krieg hat eben in wenigen
Jahren gereift, was sonst vielleicht in Jahrzehnten, Jahr-
hunderten hätte reifen müssen1)." Er hat uns eine Lage
geschaffen, mit der wir uns ein für allemal abfinden müssen,
und uns mit einer unerbittlichen Strenge zu Bestrebungen
gedrängt, die uns bereits in eine ganz bestimmte Rich-
tung treiben. Die Reformen sind heute schon nicht bloß
unentbehrlich, sie dulden geradezu auch nicht den klein-
sten Aufschub mehr. Ja, auch unsere Entscheidung ist
nicht einmal mehr ganz frei: angesichts unerhörter und
unvorhergesehener Schwierigkeiten sind wir gezwungen
gewesen, sogleich auf der Stelle völlig neue Maßnahmen
zu treffen, die auch schon die Zukunft binden. Jetzt ist
der Augenblick gekommen, wo sich auch schon die zu-
künftige Wirtschaftsordnung in einer ausführlichen Skiz-
zierung einigermaßen vorausbestimmen läßt.
Wir müssen dazu freilich die Bedeutung dieses Krie-
ges um ein gut Teil klarer zu verstehen suchen als die
meisten unserer Zeitgenossen es getan haben. „Die Krise,
l) W. V. S. 257, Sep.-Ausg. S. 82.
154
die wir erleben, ist die soziale Revolution1)." Die unver-
meidlichen und heillosen Folgen der mechanischen
Wirtschaftsordnung hatten solange verborgen bleiben
können, wie die Gütererzeugung noch in mäßigen Gren-
zen geblieben war. Sobald aber erst einmal diese
Schranke durchbrochen war, ging ein anfangs leiser und
dann immer schrofferer und schrofferer Riß durch jede
Nation zwischen den beiden großen Gesellsc'.iaftsschichten
oder sozialen Klassen und gleichzeitig durch die nationale
Gemeinschaft zwischen den einzelnen Nationen. Im Innern
der Staaten wüteten Verschwendung und Ungerechtigkeit;
die von den höheren Gemeinschaftsinteressen völlig aus-
geschlossenen Proletarier forderten erbittert ein paar ein-
fache materielle Aufbesserungen, die die Besitzenden in
der Notwehr bewilligten, um immer noch die Ueberrcstc
einer Vorherrschaft genießen zu können, die ihnen aus
den Händen zu gleiten schien. Draußen ging bei den
Völkern, die alle soviel Arbeit wie möglich wollten, der
Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte, ins Politische
übertragen: um Kolonien und Einflußgebietc. Die Welt
war mittlerweile klein geworden, die unbesetzten Gic-
bietc knapp und von allen umworben. In sein letzlcs
Stadium trat der Kampf, als die äußerste Schlußfolgerung
gezogen wurde: Schutzzoll. Nationallismus und Imperalis-
mus hatten ein ganz entsetzliches Unbehagen hervorge-
rufen, dessen drückende Last jedermann empfand und
abzuschütteln suchte, ohne sich jedoch eigentlich über die
Stelle, an der er verwundet war, oder über die Art, in der
er sich erleichtern konnte, klar und genau Rechenschaft
!) Gemeint ist mit dieser Krise der Weltkrieg, wie aus dem Zusammen
hang der Stelle hervorgeht, die der Sireitschrift rAn Deutschland.-.
Jugend* entnommen ist S 76 (vgl. auch eb. S 84). Diese Streitschrift
stammt aus den Juli 1918, also noch aus der Zeit vor dem Ausbruch
der eigentlichen Revolution in Deutschland. Wir dürfen ebenso auch
nicht vergessen, dass alle hier zu behandelnden Ansichten Walther
Rathenaus in Streitschriften vorgetragen sind, die schon au? der Zeit vor
der Unterzeichnung öss Waffenstillstandes vom 11. November 1918
herrühren. Bearbeiter.
155
geben zu können. Wenn sich die Krise nicht von vorn-
herein im Innern der Nationen offenbart hat, so lag
das daran, daß die wirtschaftlichen Beziehungen einen
ausgesprochen internationalen und weltwirtschaftlichen
Charakter hatten und daß sich auf diese Weise
die entzündlichsten Sprengstoffe an den Rädern der
Staatseinheiten, also an den Grenzen, gehäuft hatten.
Aber hier fanden sie sich in ungewöhnlicher Menge und
ohne Schutz: ein geringfügiger Umstand entfachte jenen
großen Brand, den die innere und die äußere Anarchie
vorbereitet hatten. Es bedarf schon des ganzen schein-
heiligen Geistes derjenigen, die von Vierteljahr zu Viertel-
jahr von neuem das bevorstehende Kriegsende ausrech-
neten, um nicht zu begreifen, daß eine solche Vergangen-
heit ein für allemal gerichtet ist und daß eine neue Ord-
nung entstehen muß.
Suchen wir nun die materielle und die moralische Bi-
lanz des Krieges zu ziehen. Während seiner Dauer machte
sich eigentlich keiner so recht klar, welche ungeheuren
Kosten, insbesondere aber Deutschland, der Krieg machen
müßte. Es gab viele, die sich durch die geschäftliche
Hochkonjunktur, die sich damals im ganzen Lande be-
merkbar machte, blenden ließen. Abgesehen von einigen
Zweigen der Industrie, die sichtlich zugrunde gingen, war
noch niemals bisher vorher eine derartige Fülle von Auf-
trägen, Arbeit und Geld gesehen worden. Nach allmäh-
licher Ueberwindung der anfänglichen Verwirrung i. J.
1914 hatten sich die Geschäfte ständig gehoben. Eine
Fülle von Unternehmungen hatte die auf ihnen ruhen-
den Lasten abgetragen, alsbald immer größere Ausdeh-
nung gewonnen und schließlich noch beträchtliche Erspar-
nisse zurückgelegt. Die industriellen Arbeitslöhne waren
aufs Drei- und Vierfache gestiegen. Die Landwirtschaft
hatte ihre Schulden bezahlt. So genossen denn auch die
meisten Menschen, ,, denen es nur in der Weise gegeben
ist, sich eine Zukunft zu bilden, daß sie sich die Gegen-
156
wart gradlinig verlängert denken1)/' den Augenblick, indem
sie sich in dem Glauben gefielen, daß diese Glückseligkeit
bis über den Schluß des Krieges hinaus immer so weiter
gehen würde. Andere glaubten sogar: sie würde ihren
Höhepunkt erst noch erreichen. Denn, so sagten sie, man
bedenke nur, was alles abgenutzt, verbraucht, zerstört ist
und wieder aufgebaut werden muß. Immer von neuem
wiederholten sie: ,,Laßt nur erst den Frieden kommen
und diese Kriegswirtschaft entbehrlich werden, und wir
werden sogleich in unsere alte, dann endlich wieder freie
Privatwirtschaft, die ja durch eine so lange Reihe von
Jahren ihre Probe endgültig bestanden hat, mit beiden
Füßen hineinspringen2)" und aus ihr zum mindesten wieder
die aiten Erträge herausschlagen!
Es waren das alles nichts weiter als Illusionen, die
die Wirklichkeit grausam zerstören sollte. Woher kam
denn jene Glückseligkeit anders als aus jener einzig da-
stehende Erscheinung, daß alles ausschließlich vom Staate
angekauft, bezahlt wie auch entlohnt werden durfte? Er
war es, der mit seiner unumschränkten Macht den gesam-
ten industriellen und Handelsmechanismus in Schwung
brachte. Wenn nun der Staat dann in Friedenszeiten wie-
der mehr in den Hintergrund zurücktreten muß, ist für den
Zeitpunkt nicht ein Stillstand zu fürchten? Oder woher,
meint man, soll die treibende Kraft dann wohl kommen?
Auch finanziell war die scheinbare Glückseligkeit trüge-
risch. Die wahre Flut umlaufenden Geldes, die Geschäft
und Verdienst erleichterte, entsprach keineswegs einem
Anwachsen des Nationalvermögens, das sich im Gegenteil
immer mehr verringerte. Alles ruhte ja nur auf dem
Notenverkehr. Wenn durch das Spiel dauernder Auf-
nahme von Hypotheken durch den Staat sich auch schein-
bar die privaten Geldbeutel füllten, so verlor doch in
Wirklichkeit jedes einzelne Geldstück darin Tag für Tag
') W. V. S. 193, Sep.-Ausg. S. 17. 2) W. V. S. 195, Sep.-Aasg. S. 20.
t
197
mehr von seiner Kaufkraft. Vernünftig ist es schließlich
auch nicht, gar soviel von dem Wiederaufbau nach dem
Kriege zu erhoffen. Gewiß, nötig und dienlich wird er
ohne jeden Zweifel sein. „Aber man vergißt, daß unter
dem Zerstörten, Verschütteten, Behinderten, sich auch
die Mittel des Aufbaues befinden1)." Erst ganz allmählich
werden sich die unentbehrlichen Rohstoffe und Kapitalien
wiederfinden. Die Zeit erwarteten Wohlstandes dürfte
nur sehr zögernd wiederkommen.
In Wahrheit wird vielmehr der Krieg mit einem ganz
furchtbaren Defizit abgeschlossen werden. Gewiß sind
die aufgewendeten Kosten noch lange nicht alle Verluste.
Ein großer Teil des vom Staate ausgezahlten Geldes ist im
Lande geblieben. Auch werden manche für die besonde-
ren Zwecke des Krieges ersonnenen Einrichtungen be-
stehen bleiben, um auch noch in der Nachkriegszeit ihre
Dienste zu tun. Vor allem aber hat Deutschland auch ge-
lernt, gewisse Erzeugnisse, die es bisher ausschließlich
durch Einfuhr bezog, von nun an ruhig zu entbehren oder
auch aus eigenen Mitteln zu beziehen. Aber was steht
diesen wenigen Aktiven auf der Passivseite gegenüber!
Wieviele Güter sind nicht für immer zerstört! Die der-
einstigen so unermeßlichen Vorräte an Bodenerzeugnissen
die halb oder ganz verarbeiteten Waren sind aufgezehrt
oder verbraucht. Sie sind in den Warenhäusern, Werk-
stätten, Häfen und Fabriken durch unproduktives, für den
Krieg geeignetes Material verdrängt worden, das nach
seinem Verschwinden nur Aschenhaufen, rauchende
Trümmer, Wunden und Verwüstungen hinterlassen hat.
Gleichzeitig erfuhren auch die Werkzeuge der Fabriken
und die Transport- und Produktionsmittel, die während
des Krieges notwendigerweise vernachlässigt werden
mußten, eine ganz beträchtliche Abnutzung.
») W. v. S. 196, Sep.-Ausg. S 20-21
1Ö8
Andere Verluste, die weniger sichtbar sein mögen,
sind darum nicht weniger wirklich noch weniger schwer.
Die unzulänglich bestellten Aecker geben Jahre lang nur
noch den kärglichsten Ertrag. Manche Gegenden sind
völlig zerstört worden und müssen erst wieder aufgebaut
werden. Der riesige Vorrat an Rohstoffen, der niemals
ergänzt worden ist und dessen Wert sich auf Milliarden
bezifferte, ist nun völlig zu erneuern. Bei einem normalen
Geschäftsgange wären Ersparnisse gemacht worden und in
der Form von Neuanlagen dem Lande verblieben; sie wer-
den jetzt fehlen. In seinem patriotischen Ueberschwange
hat das Volk, noch stolz darauf nur ja nicht mit Opfern
zu knausern, wenn es sich um die Verteidigung des Vater-
landes handelt, mit einer ganz beispiellosen Selbstentäuße-
rung Leib und Leben aufs Spiel gesetzt: Was wird es nun
nicht für hohe Zinsen zu vergüten und für kostspielige
Pensionen zu zahlen haben! Den schwersten Verlust für
das Volk aber werden die vielen ausmachen, die entweder
überhaupt nicht mehr oder als arbeitsunfähige Krüppel
zurückkehren werden. Gar nicht zu reden von der Ver-
minderung geistiger, künstlerischer und wissenschaft-
licher Produktion, die sich jeder Schätzung entzieht! Wel-
ches vernichtete Kapital stellen nicht unter dem volks-
wirtschaftlichen Gesichtspunkte jene für immer ent-
schwundenen Arme und Gehirne dar!
Wir haben zu berechnen: die Beträge unserer bis-
herigen Kriegsanleihen und der kommenden1). Es kommt
hinzu die Notwendigkeit der Entspannung unseres Bank-
standes, der bedeutend überbeansprucht ist, der Rückkauf
der Schatzanweisungen, der Aufwand für Wiederherstel-
lung geschädigter Landesteile, für Ergänzung abgewirt-
schafteter Staatsmaterialien, für Valutabeschaffung.
Fügen wir endlich hinzu die Schuldenvermehrung der
l) Das Werk ,.D i e neue Wirtschaft" von W. R. ist ebenfalls
wie die meisten seiner hier benutzten Schriften noch vor Kriegsende
erschienen. Bearbeiter.
159
Einzelstaaten und Kommunalverbände, so erhalten wir
den Kapitalswert unserer Kricgsbelastung in der Größen-
ordnung von etwa hundertundsiebzig Milliarden mit einem
Jahresaufwande für Verzinsung und Tilgung von etwa
zehn Milliarden. Auch wenn wir eine Vermögensein-
ziehung aufsteigend bis zum dritten Teile der größeren
Vermögen ins Auge fassen, werden wir angesichts des weit
überwiegenden Kleinbesitzes diese Zinslast kaum unter
acht und eine halbe Milliarde herabmindern können. Hier-
mit ist es nicht getan. Unsere Arbeitslöhne sind zum Teil
bis auf das Vierfache ihrer Friedensbeträge gestiegen. Nie-
mand erwartet, daß wir diese Sätze aufrechterhalten;
ebenso wenig aber können wir dem Arbeiter und kleine-
ren Beamten zumuten, daß er sich mit der Wiederher-
stellung der Friedenslöhne begnüge. Eine Aufbesserung
der Arbeitslöhne und der kleineren Gehaltseinkommen um
die Hälfte der Friedensbeträge würde etwa sechs Milli-
arden jährlich erfordern und somit die künftige Mehr-
belastung der deutschen Wirtschaft auf rund fünfzehn Mil-
liarden erhöhen1).
Hier müssen wir eine noch weitere Wirkung des
Krieges berühren: die bedenkliche Umschichtung der Ver-
mögen, die er hervorgerufen hat. Auf Grund der von dem
Staate bereits aufgenommenen und noch immer aufzuneh-
menden Anleihen teilt sich die gesamte Nation in eine
Gläubiger- und eine Schuldnergruppe. Gläubiger sind alle
die, die in irgendeiner Form an der Kriegsarbeit beteiligt
gewesen sind, oder auch diejenigen, die einen Teil
ihres Vermögens flüssig gemacht haben, um Kriegs-
anleihe zu kaufen; als Schuldner haftet die Gesamt-
heit. Das Reich hat sozusagen alle Leistungen, die für
dasselbe gemacht worden sind, mit höchst einträglichen
') Dies? Ziffern sind in dem der Nationalversammlung vorgelegten
Reichshaushaltsentwurf für das Jahr 1919 weit überschritten worden, und
dabei waren hier nicht etwa, schon die Kriegsentschädigungen, die
Deutschland noch zu zahlen haben sollte, berücksichtigt.
160
Zinspapieren, nämlich Kriegsanleihe, bezahlt. Hieraus
folgt, daß am Schlüsse jedes Jahres sich ein großer Teil
des nationalen Vermögens notwendigerweise neu verteilen
müssen wird; die erforderlichen Summen werden aus dem
Gesamtvermögen des Landes geschöpft sein und in einer
neuen Verteilung denPrivatvermögen zufallen; die Gesamt-
heit wird arbeiten, um den Besitzern von Kriegsanleihe-
papieren ihre Rente zu sichern, die sich obenein auch
selbst noch an der Kriegsarbeit beteiligen werden. Die
Summen, die so Jahr um Jahr von Hand zu Hand gehen
werden, werden zweifellos höher sein als unsere gesam-
ten Jahresersparnisse vor dem Kriege. Leute, die damit
zum Teil ohne Gefahr und sittliches Verdienst Vermögen
erworben haben, werden nun in Zukunft ganz hervor-
ragende Stellungen einnehmen, aus denen sie um so weni-
ger zu vertreiben sein werden, als es ihnen leicht werden
wird, dieselben mit denjenigen Mitteln zu schützen, mit
denen sie sie erwarben. Es liegt klar zutage, daß durch
diese Finanzkrise am schwersten die Angehörigen unseres
Mittelstandes, die kleinen Kaufleute und kleinen Rentner
betroffen werden. Nun ist aber der gehobene Mittelstand
Träger eines beträchtlichen Teiles unserer wissenschaft-
lichen, technischen, publizistischen und literarischen In-
telligenz. Auch hat er zu allen Zeiten die Staats- und
Privatverwaltung mit dem besten mittleren Beamtenstand
versehen. Seine Proletarisierung würde Deutschland gei-
stig verarmen lassen, so lange es nicht gelänge, die noch
immer in den Ketten des Proletariats schmachtenden gei-
stigen Kräfte durch Aufstieg zu entbinden und in den
Dienst der Allgemeinheit zu stellen. So kritisch ist die
Aussicht, die uns die Uebergangswirtschaft, die sich doch
einmal anbahnen muß, eröffnet.
Die letzte, wenn auch nicht leichteste Wirkung des
Krieges wird die völlige Zerrüttung der internationalen
Wirtschafts- und Verkehrsbeziehungen sein. Hieran wird
nicht zum wenigsten Deutschland schwer zu tragen haben.
n
161
Gründlich hineinfallen weiden auch die, die immer wieder
davon ausgehen, daß die Nationen nun einmal einander
wechselseitig zum Handelsverkehr bedürfen und darum
immer wieder ihren täglichen Eiden zum Trotze die billig-
sten Waren kaufen werden, und die deshalb unmittelbar
nach Kriegsschluß eine umfängliche Wiederaufnahme der
altenBeziehungen erwarten. Wie weit dieGegnerDeutsch-
lands darauf eingehen werden, hängt wirklich außer-
ordentlich von den jedesmaligen Stimmungen und etwai-
gen Verstimmungen ab, die durch irgendwelche augen-
blicklichen Landesverhältnisse oder auch reinen politi-
schen Zufälle beeinflußt werden und den Warenaustausch
stark verkümmern können. Mag der Gedanke des Wirt-
schaftskrieges bei den Gegnern Deutschlands Kraft ge-
winnen oder verlieren, mag die ewige Drohung mit ihm
einmal wirklich mehr oder weniger zur Ausführung kom-
men oder umgekehrt in nichts zurücksinken, sie werden
jedenfalls nicht mehr dulden, daß sich der Aufstieg
Deutschlands auf ihre eigenen Kosten entwickele. Die
Gesinnung der Völker ist augenblicklich eine deutsch-
feindliche, und vom guten Willen der Nationen hängen nun
einmal zwischenstaatliche Handelsbeziehungen ab. Es
wird ihnen jederzeit freistehen unter Verzicht auf vorteil-
haftere Preise, irgendein Volk auszuschließen, r.nd so wird
auch Deutschland nicht in der Lage sein, bei etwa man-
gelndem guten Willen ihrerseits vorwärts zu kommen. Die
Frage stellt sich nämlich so. Augenblicklich steht der
Welthandel zweifellos für Deutschland ungünstig und wird
es noch lange, doch es wird seine alte Tätigkeit erst wie-
der gewinnbringend aufnehmen können, wenn es seine
Ausfuhr gehoben hat. Das wird ihm schon wieder gelin-
gen, doch nicht etwa, wenn es seine entwerteten Bank-
noten auf die fremden Märkte wirft, um damit nur zu bald
zurückgewiesen zu v/erden, sondern dadurch, daß es gute
Fabrikate ausführt. Darum muß es sich vor allem Roh-
stoffe verschaffen. Nun aber werden die Bedürfnisse der
162
Völker, die diese Rohstoffe in Händen haben, mindestens
so stark danach sein wie die Deutschlands, und so werden
diese Völker zuerst ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen.
Auch wird die Einschränkung der Möglichkeit einer ge-
winnbringenden Ausfuhr Deutschland die Grenze seines
Außenhandels setzen, und so wird sein Handel und Wan-
del nur langsam wieder in das alte Geleise kommen. Es
wird nicht alle sich anbietenden Hände und Arme be-
schäftigen können, die der Friede frei machen wird, selbst
wenn es seine Demobilisierung verzögert und nur Schritt
für Schritt vornimmt. Es wird sich lange darauf be-
schränken müssen, den dringendsten Nachfragen des inne-
ren Bedarfs zu genügen. Deutschland wird vereinsamt
und verarmt dastehen. Es wird, ob es will oder nicht,
„einen geschlossenen, einen abgeschlos-
senen S t a a t 1)" bilden und seine Handelsbilanz um
mehrere Milliarden heruntersetzen müssen.
Aus dieser verzweifelten Lage gibt es nur einen Weg,
der zum Ziele führt: die Verdoppelung der nationalen
Güterproduktion. Dieser Weg scheint auf den ersten
Blick so paradox wie nur möglich, scheinen doch die auf-
gezählten Schwierigkeiten gerade ihn verlegen zu wollen.
Tut nichts! Diese Arbeitssteigerung ist unentbehrlich.
Die künftige Mehrbelastung der deutschen Wirtschaft
durch die unumgängliche Aufbesserung der Arbeitslöhne
und kleineren Gehaltseinkommen würde sich nämlich,
wie schon bemerkt, auf rund fünfzehn Milliarden erhöhen.
Nun durften wir den Wert der deutschen Güter-
erzeugung vor dem Weltkriege auf etwa fünfund-
vierzig Milliarden schätzen. Setzen wir voraus, was
bei einer sich selbst überlassenen Entwicklung
nicht zutrifft, daß diese Gütererzeugung erhalten bliebe,
so wäre sie um ein Drittel höher belastet als zuvor,
also um ein Drittel verteuert. Das bedeutet aber nicht
•) R. V. S. 26 und 27, Sep.-Ausg. S. 7 und 8.
n# 1*58
nur die Aufhebung des früheren Gewinnes, sondern auch
die Aufhebung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit. Es
bleibt also immer wieder nur das eine übrig: die Ver-
doppelung der Produktion. Sie gilt es um jeden Preis
durchzuführen! „Was 40 Milliarden Gütererzeugung nicht
tragen und erschwingen, das leisten 801)." Dieses Werk
nationaler Volkswohlfahrt ist zweifellos äußerst be-
schwerlich! „Das Frühere ist dahingesunken und wird nie-
mals mehr erstehen; wenn es ein Paradies war, so ist es
ein verlorenes. Dem Verlorenen nachzutrauern, das rieht
Wiederherstellbare zurückzugehen, ist nicht Menschen-
würde und kann nicht deutsche Art sein. Das deutsche
Volk wird dieselben Kräfte und Mittel entfalten müssen,
dieselbe Arbeit im Schweiße seines Angesichts als durch
die es vor Zeiten die Kargheit seines Bodens, die Hinder-
nisse seiner Grenzführung, die ursprüngliche Armut seines
Landes überwunden hat2)!" Augenblicksmittel, wie gewisse
Einschränkungen, die die Lasten erleichtern sollen, und
Beibehaltung mancher, wenn auch ungesetzmäßiger, Not-
behelfe aus der Kriegszeit auf einige weitere Jahre, mögen
zweifellos ihren Nutzen haben! Doch was wollen solche
jämmerlichen kleinen Augenblicksmittel denn großes und
dauerndes bedeuten! Das Endziel, das immer vor Augen
schweben sollte, wird nur durch einen völligen Neuaufbau
des Wirtschaftslebens zu erreichen sein, dessen Inangriff-
nahme schon sogleich im Augenblicke nötig ist und aufs
höchste drängt.
* L *
*
Zum Glück hat auch für Deutschland der Weltkrieg
neben all jenen unseligen Folgen mit denen er alle Völker
gleichviel ob Sieger oder Besiegte, betroffen hat, doch
schon gleich zu Anfang eine segensreiche Wirkung ge-
habt; er hat es aus seinem Starrschlafe aufgerüttelt! Hat
es nicht allen seinen plötzlichen stürmischen unermeß-
l) W. V. S. 202, Sep.-Ausg. S. 27. a) W. V, S. 199-200, Sep.-Ausg.
S. 24.
liehen Anforderungen Stand halten, nicht die Lebens-
mittelversorgung des blockierten Deutschland sichern,
nicht Millionen von Soldaten ernähren, nicht ganz mär-
chenhafte Mengen von Munition fertigstellen müssen?
Kein Aufschub zu dulden und so auch keine Diskussion
über die anzuv/endenden Methoden! Die der alten Zeit
waren natürlich unzulänglich. Not, die große Erfinderin,
ersann andere, die aus der Verlegenheit halfen. In Eile
zusammengebracht, offenbarten sie sich darum doch als
nicht weniger wirksam, und ihr Erfolg erschütterte manche
veralteten wirtschaftlichen Grundsätze, deren Zusammen-
bruch erst ihre Greisenhaftigkeit verriet.
Und nun eine noch segensreichere Wirkung, eine
wirklich schöne: der Krieg hat jene geistige Einstellung
gebracht, durch die ein gründlicher Wandel des Wirt-
schaftslebens gefördert worden ist. Das Jahr 1914 hat
uns zum ersten Male in der Weltgeschichte einen Krieg
gezeigt, der im wahrsten Sinne des Wortes ein Völker-
krieg gewesen ist. Die ausgehobenen Heere umfassen last
die Gesamtheit der waffenfähigen Männer aller Stände
und Klassen und sind nicht mehr wie früher nu'' noch
verhältnismäßig kleine Scharen von Berufssoldaten und
Freiwilligen. Und nicht etwa bloß noch, wie früher, ein-
zig und allein das Heer, nein, das letzte und schwächste-
lebende Wesen im ganzen Lande kämpft, ringt und leidet.
Daher jener unvergeßliche einheitlich durch das ganze
Volk gehende Begeisterungssturm im Monat August 1914.
Gewiß, er ist vorübergegangen, doch nur, um dem Gefühle
einer Einheit Platz zu machen, die vielleicht weniger
keusch und weniger glänzend war, doch jedenfalls allen
Enttäuschungen und Stürmen der Zeit zu trotzen wußte;
es war das Gefühl der Pflicht und Verantwortlichkeit.
Noch niemals sind sich die Deutschen des engen Zusammen-
hanges von beidem so klar bewußt geworden, wie damals.
Das Schicksal aller steht bei der furchtbaren Partie auf
dem Spiele, und keiner hat das Recht, sich auf Kosten der
165
anderen schadlos zu halten. Staat und Land sind die
Sache aller „Res Publica", wie die alten Römer sagten,
und nicht die sich abschließender Einzelwesen oder bevor-
rechteter Stände; ein jeder trägt seinen Teil moralischer
und materieller Verantwortlichkeit für die Sache, ganz
ebenso, wie er für sich selbst, für seine Frau und Kinder,
für seinen Stamm und seinen Namen verantwortlich ist.
Niemand ist gegen die Rückschläge dieses großen Ringens
auf Leben und Tod geschützt und keiner hat das Recht,
sich den Anstrengungen der Gesamtheit zu entziehen. Der
Eingriff des Staates in die Privatangelegenheiten scheint
von nun an gesetzmäßig und notwendig; er wird geduldet.
Das Gesetz über den Nationalen Hilfsdienst wird zum
Sinnbilde einer neuen Ordnung, um jeden zur Arbeit zu
rufen, der nur irgend genügende Kräfte hat, sich nützlich
zu machen.
Diese Stunde war es, auf die Walther Rathenau schon
lange sehnsüchtig war, um nicht zu sagen, hoffte, so doch
jedenfalls wartete. Wenn seine Gedanken richtig waren, so
mußte der günstige Augenblick kommen, der es ihm endlich
einmal ermöglichen sollte, seine Theorie in die Praxis um-
zusetzen. Er wußte die Gelegenheit bei der Stirnlocke zu
ergreifen. Es ergaben sich wirtschaftliche Probleme, zu
deren Lösung kein Präzedenzfall einen Fingerzeig gab;
hier war noch alles zu machen. Eine ganz beispiellose
Opferwilligkeit erfüllte gerade damals die Seele der Mas-
sen. Nachdem er mit dem feinen Spürsinn des Groß-
industriellen die fundamentale Bedeutung des Problemes
der Versorgung Deutschlands mit den notwendigen
Lebensmitteln gewittert hatte, blies er Alarm, um alsbald
die schwierige, aber ehrenvolle Aufgabe zu übernehmen
der Lösung dieser Frage näherzutreten in der tröstlichen
Gewißheit, damit gleichzeitig für sein Vaterland und für
den Wiederaufbau seines Wirtschaftslebens zu arbeiten.
Nun, Walther Rathenau soll uns mit eigenen Worten
auf den nächsten Seiten sagen, wie er sich dieser Auf-
166
gäbe entledigte und wie ihm diese Aufgabe ermöglichte,
in seinem Lande sogleich neue Methoden für dessen wirt-
schaftliche Betätigung einzuführen.
„Vier Wege waren möglich und mußten beschritten
werden, um die Wirtschaft im Lande umzugestalten, um
das Verteidigungsverhältnis zu erzwingen:
Erstens: Alle Rohstoffe des Landes mußten zwangs-
läufig werden, nichts mehr durfte eigenem Willen und
eigener Willkür folgen. Jeder Stoff, jedes Halbprodukt
mußte so fließen, daß nichts in die Wege des Luxus oder
des nebensächlichen Bedarfes gelangte; ihr Weg mußte
gewaltsam eingedämmt werden, so daß sie selbsttätig in
diejenigen Endprodukte und Verwendungsformen mün-
deten, die das Heer brauchte.
Zweitens: — " Doch hier hat die Zensur in dem Ab-
drucke des diese Stellen enthaltenden Vortrages von Wal-
ther Rathenau über „Deutschlands Rohstoff-
versorgung" einen Strich gemacht. Darin liegt der
Beweis, daß hier von strafbaren Mitteln die Rede war, die
es noch im Jahre 1916 nicht gut schien zu enthüllen, die
vielmehr zweifelsohne die Aufgabe hatten, die völlige Be-
schlagnahme der in den besetzten Gebieten aufgefundenen
Rohstoffe und das Eintreffen gewisser anderer trotz der
Blockade zu sichern1).
') Der Vortrag wurde am 20. Dezember 1915 gehalten. Zahlreiche
deutsche und neutrale Blätter veröffentlichten einen Bericht. Eine ein-
gehende Studie über die Requirierungen in Belgien findet sich in dem
Werke von Fernand Passeleng „Les d£portations beiges ä la lumiere des
documents allemands. Paris 1917" S. 129-157, wo auch die schwersten
Anklagen gegen Walther Rathenau erhoben werden. — In dem in den
„Gesammelte Schriften" i. J. 1918 veröffentlichten Texte des
Vortrages findet sich die Lücke ausgefüllt. Wir lesen : „Wir musslen alle
verfügbaren Stoffe jenseits der Grenzen ins Land hinein zwingen, so weit
sie zu zwingen waren, sei es durch Kauf im neutralen, sei es durch Bei-
treibung im okkupierten Ausland. Durch Kauf ist manches hereingeflossen ;
späterhin durch Beitreibung im okkupierten Auslande sehr viel und un-
entbehrliches; davon werde ich später reden." Wieweit des franz. Ver-
fassers hier ausgesprochener Verdacht gegen W. R berechtigt gewesen ist.
mag jeder Leser hiernach, je nach seinem politischen Standpunkt, selbst
entscheiden. Ein objektives Urteil ist hier gar nicht möglich! Bearbeiter.
&7
„Die dritte Möglichkeit, die sich uns erschloß, war die
Fabrikation. Wir mußten Bedacht darauf nehmen, daß
alles das im Inland erzeugt wurde, was unentbehrlich und
unerhältlich war. Wir mußten auch darauf Bedacht neh-
men, daß neue Erzeugungsmethoden gefunden und ent-
wickelt wurden, wo die alte Technik nicht ausreichte.
Und nun der vierte Weg: es mußten schwer erhält-
liche Stoffe durch andere, leichter beschaffbare ersetzt
werden. Wo steht es geschrieben, daß diese oder jene
Sache aus Kupfer oder Aluminium gemacht werden muß?
Sie kann auch aus etwas anderem gemacht werden. Surro-
gate müssen herhalten, altgewohnte Fabrikate aus neuen
Stoffen geschaffen werden1)."
Wenn sich Deutschland auf die in diesem Lande für
die Kriegszeit vorgesehenen Maßnahmen hätte beschrän-
ken wollen, wäre die Aufgabe unlösbar gewesen. ,,Dic
kriegswirtschaftliche Gesetzgebung stand etwa auf der
Stufe friderizianischer Wirtschaft: Kommt ein Rittmeister
in ein Dorf, so kann er sich vom Ortsvorsteher Hafer
geben lassen, und macht ihm der Ortsvorsteher Schwierig-
keiten durch Säumigkeit, so darf er in gewissen Aus-
nahmefällen sich den Hafer selbst nehmen2)." Wie sollte
bei derartigen reinen Gewohnheitsgesetzen die admini-
strative Gleichgültigkeit aufgerüttelt, die Mitarbeit meh-
rerer Ministerien gesichert und die Unwissenheit und der
Widerstand des Publikums besiegt werden? Wie sollte
der riesenhafte Organismus der notwendig, aber nirgends
vorgesehen war, aus einem Guße geschaffen werden, da,
wo alles fehlte? Wie das geeignete Personal, die Räum-
lichkeiten und besonders die Zeit? Deutschland wurde da-
mit fertig dank seiner Rührigkeit und Zähigkeit und dank
dem Umstände, daß es neue Begriffe schuf, mit denen sich
alle einschließlich der Widerstrebenden auf Grund des er-
klärten Belagerungszustandes abfinden mußten.
*) R. V. S. 31-32, Sep.-Ausg. S. 14-16. *) R. V. S. 32-33, Sep.- Ausg. S. 16
168
So schuf er denn einen ganz neuen Begriff der Beschlag-
nahme, mit etwas Willkür zwar, aber das Belagerungsgesetz
stand ihm vorläufig bis zur festen gesetzlichen Sanktionie-
rung zur Seite. Dieser Begriff der Beschlagnahme be-
deutet nicht, daß eine Ware in Staatseigentum übergeht,
sondern nur, daß ihr eine Beschränkung anhaftet, daß sie
nicht mehr machen kann, was sie oder ihr Besitzer, son-
dern was eine höhere Kraft will. Diese Ware darf nur
noch für Kriegszwecke verwendet werden; man darf sie
verkaufen, verarbeiten, transportieren, in jede beliebige
Form bringen, aber, was sie auch erlebt: immer bleibt sie
mit dem Gesetz behaftet, daß sie nur der Kriegführung
dienen kann. In dem Augenblick, wo eine Ware be-
schlagnahmt war, hörte die Friedenswirtschaft auf. Zwei
Monate lang wurden der Industrie noch gewisse Frei-
heiten zugestanden, wenn auch schweren Herzens. Nach
zwei Monaten war die Umstellung der deutschen Industrie
vollzogen. Sie selbst hat diese Neugestaltung bewirkt,
großzügig, mit höchster Tatkraft und Schaffenslust. Die-
ses Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Indu-
strie darf niemals vergessen werden. Die Reform griff
durch, und so mußte bald die Wohltat des neuen Begriffes
und Grundsatzes anerkannt werden; beide haben sich
während des ganzen Krieges bewährt.
Nach Beschlagnahme der Rohmaterialien kam es nun
auf die Möglichkeit ihrer Verteilung und Bereithaltung an
Der Heeres- und Marineverwaltung mußte die volle Frei-
heit gewahrt werden, ihre Aufträge dahin zu geben, wo
sie wollten; es ließ sich keine Behörde sagen: ,,Wir schrei-
ben euch vor, wo ihre eure Bestellungen zu machen habt!"
Auf der anderen Seite mußte derjenige, der nun der Be-
auftragte der Behörde geworden v/ar, das Material be-
kommen, das er brauchte. Es mußten Organismen ge-
schaffen werden zum Aufsaugen, Aufspeichern und zum
Verteilen dieses Warenstromes, der in einer neuen Be-
wegungsform und mit neuen Zufuhren durch die Adern
169
des deutschen Verkehrs rollte. Da entstand der Begriff der
Kriegsgesellschaften, er entstand aus dem We-
sen derSelbstverwaltung und dennoch nicht der schranken-
losen Freiheit. Es waren das private Gesellschaften mit
straf f erbehördlicher Auf sicht.Reichs-undlStaatskommissare
haben das unbeschränkte Veto; die Gesellschaften sind
gemeinnützig und dürfen darum keine Dividenden ver-
teilen; sie haben neben den gewöhnlichen Organen, Vor-
stand und Aufsichtsrat, noch ein weiteres, eine ständige
Kommission aus Kandelskammermitgliedern oder Beam-
ten, die Schätzungs- und Verteilungskommission. Auf diese
Weise stehen sie da als ein Mittelglied zwischen der Ak-
tiengesellschaft, welche die freie wirtschaftlich-kapitali-
stische Form verkörpert, und einem behördlichen Orga-
nismus. Das hieß auf der einen Seite einen entschiedenen
Schritt zum Staatssozialismus hin tun und auf der anderen
eine Selbstverwaltung der Industrie anstreben. Diese
, .Kriegsgesellschafte n1)" begegneten zunächst so-
gar im engeren Kreise der Industriellen nur einer sehr ge-
teilten Aufnahme, bis sich auch diese bald darein gefun-
den hatten. Sie haben im Kriege die Probe bestanden,
selbst wenn einige Fehler auch bei ihnen nicht zu ver-
meiden gewesen sind.
Wie hätten diese Erfolge Walther Rathenau nicht er-
mutigen sollen! Aber schon nach Verlauf weniger Mo-
nate muß er aus dem Direktorium der ,,K riegs-Roh-
stoff-Abteilung" ausscheiden. Doch das von ihm
begründete Werk besteht fort und wird von Tag zu Tag
lebensfähiger. So werden die schmerzlichen Gefühle, mit
denen er die ihm lieb gewordene Stellung verlassen haben
wird, reichlich durch die erfreuliche Gewißheit aufge-
wogen, daß die neuen Begriffe zum Schutze der Rohstoffe
endgültig Gemeingut geworden sein, den Krieg über-
dauern und auch im Frieden nicht zu bestehen aufhören
') R. V. S. 40, Sep.-Ausg. S. 27.
170
werden und daß ein , .wirtschaftlicher Generalstab1)" ge-
bildet werden wird, um ihre praktische Ausnutzung in
Friedenszeiten zu überwachen. Mit einem Vertrauen wie
nie zuvor verfolgt er die Ausbreitung seiner Ideen und
dringt immer weiter in die Prüfung der Bedingungen für
ihre Ausführungsmöglichkeit ein. Er schließt seine Streit-
schrift „Vom Aktienwesen" mit folgenden Worten: „Der
Krieg, mehr ein weltrevolutionäres denn ein politisches
Ereignis, hat den Bau der wirtschaftlichen und sozialen
Ordnung Europas in so viel Monaten in Trümmer ge-
legt, als Aeonen von Friedensjahren es vermocht hätten.
Aus diesen Trümmern wird weder ein Reich des sozialen
Kommunismus hervorbrechen, noch ein neues Reich frei
spielender wirtschaftlicher Kräfte. Auch dem Wesen der
Unternehmung wird nicht die Verstärkung des privatwirt-
schaftlichen Gedankens beschieden sein, sondern die be-
wußte Einordnung in die Wirtschaft der Gesamtheit, die
Durchdringung mit dem Geiste der Gemein Verantwortlich-
keit und des Staatswohls-)." In den „Problemen der
Friedenswirtschaft" faßt er seine Gedanken über
dcnUrsprung der gesellschaftlichen Ungleichheiten und der
zu ihrer Bekämpfung geeigneten Mittel übersichtlich zu
sammen und gibt, auf die Erfahrungen des Krieges zurück-
kommend, die Wege, auf denen Deutschland von neuem
zu Wohlstand und damit gleichzeitig wieder zu größerer
Gerechtigkeit und Humanität kommen wird. In der
„Neuen Wirtschaft" gibt er schließlich den aus-
führlichen Entwurf des zukünftigen Wirtschaftsbaues.
Stellen wir uns doch noch einmal recht deutlich das
Bild vor Augen, welches entsetzliche wirtschaftliche
Chaos in der Zeit vor dem Kriege geherrscht hat. Auf
allen Gebieten menschlichen Schaffens hatte der Begriff
») R. V. S. 55, Sep.-Ausg. S. 46. 2) A. V. S. 177, Sep.-Ausg. S. 61-62.
Diese Streitschrift ist gleichfalls der Abdruck eines Vortrages, und zwar
hat dieser Vortrag am 18. Dez. 1917 stattgefunden.
171
der Zusammenfassung der persönlichen Leistungen gegen-
über dem Gemeinwohl Normen hervorgebracht, die von
allen angenommen wurden. Einzig und allein das wirt-
schaftliche Schaffen hielt sich außerhalb dieser großen Be-
wegung. „Es fällt niemand ein, eine Hauptbahnstrecke
oder ein Telegraphennetz für sich zu verlangen oder ein
eigenes System privater Gerichtsbarkeiten zu gründen;
von der Wirtschaft aber wird ungeprüft als ausgemacht
angenommen, daß sie nicht anders als zügellos auf dem
Boden des freien Wettbewerbs und bürgerlichen Kampfes
bestehen könne1)." Was tritt also ein? Die Kräfte arbeiten
einander entgegen und heben sich so gegenseitig auf an-
statt sich zu vereinen. Der Egoismus triumphiert, und
seine Begleiterscheinungen in den oberen Kreisen sind
Hang zu Prunk und Müßiggang, in den unteren bittere
Feindschaften. Ueberall herrscht eine unsinnige Ver-
schwendung von Zeit und Material, nur weil niemand ge-
nügend an den Urwert dieser beiden Hauptfaktoren der
Produktion gedacht hat. Bräche in einem Lande eine
Phonographenkrankheit aus oder entschlössen sich die be-
güterten Frauen alle Tage in Rosenwasser zu baden, so
könnte es geschehen, daß der überwiegende Teil der Me-
tallindustrie sich veranlaßt sähe, alle verfügbare Arbeit
und Substanz auf die Herstellung von Phonographen zu
verwenden oder daß die Landwirtschaft den größten Teil
ihres Bodens, auf dem bisher Getreide wuchs, für Rosen-
kulturen zur Verfügung stellte. Gewiß sind diese Bei-
spiele übertrieben, veranschaulichen aber darum nicht
weniger deutlich die Unordnung und Regellosigkeit in un-
serer Organisation.
Daher so manche Reibungsflächen, Kraitabnutzungen
und ähnliche Schäden, die sich durch eine aufmerksame
Prüfung alsbald offenbaren und abzustellen sind.
!) W. V. S. 203, Sep.-Ausg. S. 27-28.
172
Wiewohl die Wissenschaft von der Industrie noch in
ihren ersten Anfängen steht, wissen wir doch auch schon
heute: jede Industrie ist ein Bodenprodukt, nicht anders
als Tier und Pflanze. Nur auf ihrem natürlichen Stand-
orte kann sie gedeihen. Und was machte man? Man
baute eine Fabrik aufs Geratewohl, wo es der Zufall
wollte, ohne sich lange um die physischen Vorbedingungen
der Luft, des Bodens und der Bevölkerungsdichtigkeit zu
kümmern, aber auch ebenso wenig um die Wege, die Roh-
stoff, Halbzeug und Endprodukt zu durchlaufen haben.
Daher die überflüssigen Kosten, die die Bilanzen be-
lasten und natürlich schließlich auf die Gesamtheit zurück-
fallen mußten, während sich umgekehrt so manche Er-
sparnisse machen ließen. ,,Der bloße Kohlenverbrauch
Deutschlands könnte beispielsweise auf die Hälfte ver-
ringert werden, wenn alle Betriebe wissenschaftlich
durchdrungen und geordnet und alle Kraftquellen er-
schlossen würden. Diese Ersparnis aber würde weit in
den Schatten gestellt durch den Gewinn an Arbeit, Ma-
terial und Transport, durch die Steigerung der Leistungs-
fähigkeit und Umsatzmenge1)."
Im Namen eines falschen Individualismus und einer
billigen Sonderart andererseits verlangte vor dem
Kriege der Kunde mindestens fünfundzwanzig ver-
schiedene Kattunmuster in demselben Farbentone zur
Auswahl vorgelegt zu bekommen; gab es den zwölf-
pferdigen Motor als den gangbarsten Typ' unter allen
Motoren irgendwo an Lager, so bestellte der Fach-
mann ganz gewiß ausgerechnet einen elfundeinhalb-
pferdigen; wird ein chemisches Produkt in neunzigpro-
zentiger Reinheit geliefert, so wird es nachträglich sicher
achtzigprozentig verlangt. Diese durch nichts zu recht-
fertigende Verschwendung muß ein Ende nehmen. „Wir
Deutschen würden von unserer inneren individuellen
') W. V. S. 2! 6, Sep-Ausg. S. 40-41
173
Freiheit keinen Titel opfern, wenn wir auf unseren großen
und wahren Freiheitsrechten nachhaltiger beständen und
auf einen Teil unserer Faschingsfreiheiten zugunsten
äußerer Gleichmäßigkeit, die der Würde benachbart ist,
verzichtetet )." Zwanzig Sorten Hemden weniger, und wir
würden noch immer eine größere Auswahl zu unserer
Verfügung finden als noch vor dreißig Jahren unsere
Väter. Gelänge es in Deutschland die Normalisie-
rung und die Typisierung oder, wie diese auch ge-
nannt wird, die Serienfabrikation durchzuführen,
so würde die wahre Zivilisation wirklich nichts verlieren,
aber die deutsche Produktion mindestens um das Doppelte
gewinnen.
Welche verschiedenen Stadien muß nicht ein Gegen-
stand von seiner Erzeugung bis zum Verkaufe durchmachen.
Im Laufe der Fabrikation gibt er in dem modernen Indu-
striebetriebe zu einer Reihe kostspieliger Durchgangs-
stufen Anlaß: vom Urerzeugnis zum Zwischenprodukt,
Halbprodukt und Endprodukt. Würden wir die Fabrika-
tion einer und derselben Ware auf einen einzigen Betrieb
beschränken, so würden diese Spesen verschwinden, gar
nicht zu reden von denen, die aus dem Hin und Her der
Gegenstände in ihren verschiedenen Gestalten erwachsen.
Wir wissen auch, daß ganz ebenso bei dem Verkauf an
den Konsumenten diese wilde Anarchie zur Folge hat,
daß dadurch ganz unglaubliche Summen weggeworfen
werden und ' kräftige Reisende und Handelsangestellte
jahraus, jahrein unnütz auf der Eisenbahn liegen und bald
hinter diesem, bald hinter jenem Ladentisch verkümmern
müssen.
Wer kümmerte sich denn früher in seinen Privataus-
gaben um das Gedeihen des allgemeinen Wirtschafts-
lebens? Jeder hatte das Recht, die bezahlte Arbeitskraft
von zwanzig Hausangestellten für seine Bedienung in
*) W. V. S. 219, Sep.-Ausg. S. 44.
174
Anspruch zu nehmen, die Valuta durch willkürliche Ein-
fuhr überflüssiger Schundware und die Staatsfinanzen
durch willkürliche Ausfuhr von unentbehrlichem Kapital
zu schädigen, Handlungen, die wirklich ebenso sträf-
lich sind als wenn jemand absichtlich ein Stück Brot
wegwürfe oder umkommen ließe. Man sah es ruhig
mit an, wenn dank einer mangelhaften Wirtschafts-
organisation sich ein arbeitskräftiger Mensch von
der Gesamtheit unterhalten ließ, ohne diese durch
eine körperliche oder geistige Tätigkeit zu ent-
schädigen und wenn ein arbeitswilliger Mensch zum
Feiern gezwungen wurde. In der Einfuhr- und Ausfuhr-
bilanz wurde stets das Konto ,, Ausfuhr" belastet und
nicht bemerkt, daß das zu einem Trugschluß führen
müßte: wer viel ausführen wollte, mußte doch immer erst
zuvor viele Rohstoffe eingeführt und damit dem Auslande
die ganze Vollmacht über sich selbst gegeben haben, um
immer mehr sein Schuldner zu werden. Um nun die so
aufgehäuften Schulden zu zahlen, mußte man unermüd-
lich arbeiten und noch immer mehr ausführen und sich
so in einer endlosen Tretmühle zermartern. All die per-
sönliche Willkürlichkeit muß — das hat uns der Krieg ge-
lehrt — straff in Zaum gehalten werden zum großen Segen
der Gesamtheit. Die persönlichen Ausgaben werden sich
schon von selbst vermindern, wenn man sie sich erst nach
einer gründlichen Prüfung ihres Nutzens für die Gesell-
schaft gestatten wird. Und das Land wird viel verdienen,
wenn es mit der Tradition brechend erst die Rohstoffe
schützen und, statt wie bisher, mit allen nur möglichen
Mitteln seine Ausfuhr zu entwickeln, lieber erst seine Ein-
fuhr streng überwachen wird.
Die zu leistende Aufgabe ist also scharf umgrenzt. Es
wird darauf ankommen, allen physischen wie allen geisti-
gen Kräften, die sich bisher gegenseitig zerstörten, ein
produktives Tätigkeitsfeld zu eröffnen und die Speichen
der Räderwerke für nutzbringende Arbeit in Bewegung zu
175
setzen. Das notdürftige unwillkürliche Gleichgewicht, das
sich wie durch ein Spiel von Naturkräften völlig unabhän-
gig vom menschlichen Willen in dem Wirtschaftsbau her-
gestellt hatte, wird durch ein freiwillig organisiertes nicht
mehr rein vom Zufall abhängendes Gleichgewicht ersetzt
werden. Freilich bedarf es in solchen Zeitwenden zur
Durchsetzung eines solchen Gemeinwirtschaftsplanes —
eines schöpferischen Gedankens und Willens. „Das ist
hart für ein Volk, das in Entschlüssen sich nicht selbst ver-
traut und alles von ererbtem Obrigkeitsgeist verlangt1)."
Gewiß hart, doch unumgänglich, wenn man an die Menge
von Sonderinteressen denkt, die sich schon einen kräf-
tigen Eingriff und eine starke Einschränkung v/erden ge-
fallen lassen müssen. Nur eine weitblickende und ent-
schlossene Autorität wird beschränkten oder eigennützi-
gen bösen Willen unter die Formel zu beugen verstehen,
die die Richtschnur von morgen bilden soll: ,,Die wirt-
schaftliche Organisation ist keine Privatsache mehr, son-
dern nur noch eine Sache der Gesamtheit."
Im folgenden soll der Versuch zu einem Entwürfe des
neuen Wirtschaftsbetriebes gemacht werden.
„Denken wir uns alle gleichartigen Betriebe der In-
dustrie, des Handwerks und des Handels für sich zusam-
mengefaßt, etwa alle Baumwollspinnereien für sich, alle
Eisendrahtwalzwerke für sich, alle Großhandlungen in
Weißwaren für sich, alle Schreinereien für sich; denken
wir uns ferner jede dieser Vereinigungen zusammengefaßt
mit ihren vorverarbeitenden und nachverarbeitenden Ge-
werben, also das gesamte Baumwollgewerbe, das Eisen-
gewerbe, das Leinengewerbe und das Holzgewerbe zu ge-
sonderten Gruppen verbunden. Die ersten dieser Orga-
nismen mögen Berufsverbände, die zweiten Gewerbsver-
bände heißen. Gemischte Betriebe können beliebig vielen
dieser Verbände angehören. Vereinigungen dieser Art
') W. V. S. 204, Sep.-Ausg. S. 29.
176
gibt es schon jetzt in großer Zahl und auf jedem Gebiet,
doch dienen sie nur geraeinsamen Interessen, nicht ge-
meins?~~r Wirtschaft.
E ^sverbände und Gewerbsverbände seien staatlich
anerkannte und «überwachte, mit weiten Rechten ausge-
stattete Körperschaften. Auch solche Organismen bestehen
bereits, vor allem durch den Krieg gezeitigt; doch dienen
sie der Einschränkung, nicht der Stärkung und Ausdeh-
nung der Gewerbe!
Die wichtigere der beiden Organisationsformen ist
der Berufsverband; er ist es, durch den die wirtschaftliche
Einheitsgruppe geschaffen wird, durch den sie einheitliche
Kraft und Leben, Augen, Ohren, Sinn, Willen und Ver-
antwortung erhält. Diese Einheit tritt nicht nur in ein
festes Verhältnis zu ihren benachbarten Gruppen, sondern
auch zur Arbeiterschaft, zur Oeffentlichkeit und zum
Staat.
Am einfachsten läßt sich der Berufsverband seiner
Form nach als Aktiengesellschaft, seinem Handeln nach
als Syndikat denken. An der Aktiengesellschaft sind die
Einzelunternehmungen nach Leistungsverhältnis beteiligt;
sie erwählen die Verwaltung, und diese ernennt die Leiter.
Über das Grundkapital hinaus kann der Verband sich in
jedem erforderlichen Umfang seine Mittel durch Anleihen
verschaffen, die notfalls von den Beteiligten oder vom
Staat gewährleistet werden. An das Syndikat liefert
jedes Unternehmen seine Waren ab, soweit sie zum Wirt-
schaftskreise des Verbandes gehören; was zur eigenen
Weiterverarbeitung bestimmt ist, wird verrechnet. Die
Abrechnung der abgelieferten wie der zurückgehaltenen
Waren geschieht zu Selbstkosten zuzüglich eines mäßigen
und gleichförmigen Nutzens. Den Verkauf besorgt der
Verband zu Preisen, die für kleine und große Verbraucher,
für Händler und Weiterverarbeiter abgestuft sind. Auch
der Selbstverbraucher hat den Weiterverarbeitungspreis
zu zahlen.
177
Soweit unterscheidet sich Aufbau und Wirkung des
Verbandes kaum von jedem anderen Syndikat- Die Un-
terschiede beginnen bei der Mitwirkung des Staates. Hier,
wie bei jeder anderen staatlichen Gebarung muß der
Grundsatz gelten: der Staat kann fordern, wo er leistet;
er soll leisten, wo er fordert.
Der Staat überträgt dem Berufsverbande bedeutende
Rechte, die zum Teil an Hoheitsrechte grenzen: das Recht
der Aufnahme oder Ablehnung neu Hinzutretender, das
Recht des Alleinverkaufs inländischer oder eingeführter
Ware, das Recht der Stillsetzung unwirtschaftlicher Be-
triebe gegen Entschädigung, das Recht des Aufkaufs von
Betrieben zur Stillsetzung, Umwandlung oder Fortführung.
Kein neuzeitliches Syndikat hat je so weitgreifende Rechte
besessen, und mit ihnen so bedeutende Aussichten auf Lei-
stungskraft und Ausdehnung.
Als Gegenleistung beansprucht der Staat mitwirkende
Aufsicht in der Verwaltung, soziale Leistungen und Ge-
winnabgaben. Diese Gewinnabgaben bilden die Grund-
lage eines gewaltigen Staatseinkommens, das die Ware
bei ihrer Entstehung und in allen ihren Stufen erfaßt, das
den gesamten Umsatz des Landes besteuert und dennoch
nicht verkündet, weil er auf jeder Produktionsstufe sich
selbsttätig der Tragkraft anpaßt. Ich behaupte, daß eine
ähnliche ergiebige, gleichzeitig elastische und produktions-
fördernde Abgabe sich nicht finden läßt.
Hiernach ergibt sich folgendes Verhältnis der An-
sprüche: aus dem Gewinn des Verbandes wird zunächst
eine angemessene Verzinsung des gesamten arbeitenden
Kapitals bestritten; der Überschuß wird in einem fest-
zusetzenden Staffelverhältnis geteilt, so zwar, daß ein Teil
dem Staate gehört, ein Teil sozialer Fürsorge und Lohn-
aufbesserung zukommt, ein Teil den Produzenten verbleibt
und ein Teil zur Verbilligung der Ware durch Minderung
der Verkaufspreise verwendet wird.
In der Verwaltung ist der Staat vertreten, dessen Be-
178
auftragte überwachende und eingreifende Rechte haben,
außerdem die Arbeiterschaft. Innere Streitigkeiten wer-
den durch Schiedsämter geschlichtet.
Der Verantwortungskreis der Berufsverbände setzt
sich demnach wie folgt zusammen:
Ordentliche Geschäftsführung, Organisation und
Handhabung des Verkaufes und der Ausfuhr, soweit die
bewirtschafteten Güter eine Einheitlichkeit des Auslands-
verkaufs zulassen. Erweiterung der Absatzgebiete. Be-
schaffung, notfalls Einfuhr der Rohstoffe und Hilfsmate-
rialien unter Mitwirkung des Handels, Einfuhr des Fabri-
kats, so weit und solange die inländische Erzeugung nicht
zureicht. Beschaffung von Frachtraum und Zahlungs-
mitteln an zentraler Stelle, solange die frühere Auskömm-
lichkeit nicht wiederhergestellt ist.
Hebung und Verbilligung der Produktion durch Aus-
breitung technischer Erfahrung, Verbesserung und Neu-
einrichtung der Werkstätten, Stillegung unwirtschaftlicher
Betriebe, Aufkauf widerstrebender oder schlecht gelei-
teter — was sich nach Ausweis der Selbstkosten erzeigt,
notfalls Errichtung und Betrieb eigener Musterfabrika-
tionen, Erweiterung, erforderlichenfalls Finanzierung wirt-
schaftlich betriebener und gutgeleiteter Anlagen.
Durchführung des großangelegten und wissenschaft-
lich durchdachten Planes der Arbeitsteilung von Werk zu
Werk, Bezirk zu Bezirk, nach Maßgabe der Lage, Mate-
rialbeschaffung, Absatzentfernung, Kraft- und Arbeiter-
verhältnisse, Leistungsfähigkeit. Verteilung der Erzeu-
gungskontingente, Entscheidung und Mitwrikung bei Er-
richtung neuer Werke.
Einführung einheitlicher Typen, Normalien und
Muster. Beschränkung der zahllosen überflüssigen Aus-
führungsformen und Katalognummern, Überweisung außer-
gewöhnlicher Anfertigungen und Reparaturen an Sonder-
werkstätten, die unter eigner Verbandsabteilung und ge-
sonderter Abrechnunö stehen.
tSP 179
Verhandlung und Verkehr mit den benachbarten Ver-
bänden des Gesamtgewerbes, mit Angestellten- und Ar-
beiterverbänden, Vertretung der Berufsinteressen gegen-
über der Regierung und Gesetzgebung.
Es kommt hinein zunächst ein jeder, der gegenwärtig
selbständig eine Produktion des zu ordnenden Gebiets be-
treibt, physische oder juristische Person, er mag wollen
oder nicht. Ausgeschieden werden sehr bald die ingt eig-
neten oder unfähigenBetriebe. Was übrig bleibt, istin einem
bis dahin nicht bekannten Durchschnittsmaße tüchtig und
leistungsfähig. Ist es das wirklich? Doch wohl! Denn
jeder hat seine Selbstkosten bekanntzugeben, abrechnen
und prüfen zu lassen; an Erweiterungen werden nur die
beteiligt, die in den Selbstkosten zum mindesten normal,
wo nicht ganz besonders günstig stehen, und die sich ver-
pflichten — denn sie könnten nach unten geschmeichelt
haben — diese Preise unter gleichbleibenden Voraus-
setzungen weiterhin zu erhalten oder zu ermäßigen. Wie
aber, wenn die Industriellen sich allesamt verständigen,
ihre Selbstkosten zu hoch anzugeben, um dem Staat und
der Gemeinschaft Gewinne zu entziehen, und es ver-
stehen, die Prüfenden zu täuschen? Der Fall ist in
Deutschland nicht wahrscheinlich. Immerhin, es würde
sich bald ergeben, daß die Verbandsbetriebe billiger arbei-
ten, und der Staatsbeauftragte würde darauf dringen, daß
nur sie erweitert werden. Aeußerster und unwahrschein-
lichster Fall: auch die Leiter der Verbandsbetriebe sind
beeinflußt oder unfähig, so daß auch die Verbandsselbst-
kosten hoch sind und den Vergleich verdunkeln; dann
würden die Außenstehenden Wandel schaffen. In diesem
Falle oder im harmloseren, wenn neue Erfindungen vor-
liegen, die der Verband zu Unrecht ablehnt, werden sich
Unternehmungslustige finden, die sich erbieten, die Ver-
bandsselbstkosten einzuhalten oder zu unterschreiten, so-
fern ihnen ein Anteil gewährt wird. Sie dürfen nicht zu-
rückgewiesen werden, sofern sie angemessene Sicherheit
180
leisten, sich mit einer Anfangsbeteiligung oder in gewissen
Fällen mit Ausfuhrquoten zufrieden geben. Sie werden
dann dafür sorgen, daß frisches Leben in den Verband
kommt, und sich Beteiligung erobern.
Sonach: die Anfangsquoten ergeben sich aus dem
gegenwärtigen Besitzstand, die Quotenentwicklung aus
der Leistung, der Zutritt aus neuer Initiative, Erfindungs-
kraft und Betriebsverbesserung: und für andere Auf-
nahmegründe, wie etwa den Wunsch auf Kosten der Wirt-
schaftseinheit durch Besteuerung der Gemeinschaft sich
eine Kapitalsrente zu schaffen, liegt kein Anlaß vor.
Die Wirkungsweise der Gewerbsverbände ist grund-
sätzlicher und einfacher als die der Berufsverbände; sie
verhält sich zu dieser ähnlich wie die Verwaltung eines
Bezirks oder einer Provinz zu der eines Kreises. Die
Hauptaufgaben des organisierten Gesamtgewerbes be-
stehen in Ausgleich und Vermittlung. Eine Erwerbs-
gemeinschaft findet im allgemeinen nicht statt, und es be-
darf daher auch nicht der äußeren Form einer Erwetbs-
gesellschaft, es genügt der Ausbau in Gestalt des Zweck-
verbandes.
Hier werden vor allem die Fragen des Bedarfs, der
Warenbeschaffung in Güte, Typen und Mustern, die Um-
stellung auf neue Anforderungen, der Preise, Lieferzeiten,
Zahlungsweisen, der Arbeitsvermittlung, Erweiterung. Be-
triebseinschränkung von Gruppe zu Gruppe, von Berufs-
verband zu Berufsverband verhandelt. Wer der Wirt-
schaft nahe steht, weiß den ungeheuren Vorteil einzu-
schätzen, der aus einer möglichst ganzjährigen Zusammen-
fassung der Bedürfnisse sich ergibt. Wenn man in regel-
mäßigen Zeitabschnitten weiß, wieviel Schienen, Garne,
Kessel, Motoren, Zubehörteile, Chemikalien, Glasscheiben
verlangt werden und in welcher Beschaffenheit, so können
langsichtige Fabrikationsprogramme und Aufteilungen
festgesetzt werden, die ganze Werke dauernd voll und
gleichmäßig beschäftigen, die Erzeugung unabsehbar ver-
181
billigen, große Lager unnötig machen, die Verkehrs-
straßen entlasten, den Arbeitsprozeß beschleunigen, Ka-
pital und Zinsen ersparen und die Leistung im Bezüge auf
alle ihre Elemente erhöhen.
Das Gesamtgewerbe überblickt seinen ganzen Bedarf
im Inlande und Auslande; bei ihm laufen alle Ansprüche
in Menge und Art, von denen des Staates bis zu denen
des Kleinverbrauchers, zusammen. Der große Verbrau-
cher und Händler gewöhnt sich daran, etwas weniger um-
worben zu werden und seinen Bedarf im voraus zu durch-
denken, weil nicht mehr tausend müßige Lager darauf
warten, ob er vielleicht etwas vergessen haben könnte;
hat er Wichtiges vergessen, so mag er von gesonderten
Aushilfslagern zu erhöhten Preisen beziehen. Das kau-
fende Publikum wird nicht mehr in siebzehntausend
Schürzenmustern und Hosenträgergattungen wühlen und
wählen, sondern in zweitausend, und hierdurch an Zeit
und Mühe sparen; werden einige Tausende Schürzen des-
halb weniger verkauft — Beweis, daß sie entbehrlich
waren — , so können ein paar Motorpflüge mehr herge-
stellt werden. Wer durchaus das Außergewöhnliche ver-
langt, mag sich in Luxusgeschäften befriedigen, denen
entsprechende Preise und Abgaben und Einfuhrkontin-
gente vorgeschrieben werden.
Der Handel von Verband zu Verband bedarf keiner
zwischentretenden Vermittlung. Ungezählter Zweignie-
derlassungen, Reisender nach Hunderttausenden, toter
Lager, Ladenhüter, zweifelhafter Kredite, verhüllter Fi-
nanzierungen bedarf es nicht mehr. Der veränderten Gü-
terbewegung entspricht die Veränderung im Umlaufe der
papiernen Abbilder, der Wechsel und Zirkulationsmittel.
Wenn bis dahin alle Bestrebungen vergeblich waren, bar-
geldlosen Verkehr und Umlaufsersparnis zu erzwingen,
so werden sie jetzt gelingen, sich die Bankbelastungen
verringern und mit ihnen die Zinssätze. Dem Handel
aber bleibt, gleichfalls in organisierter Form, seine eigent-
182
liehe Aufgabe erhalten: Güter aus verzweigten Quellen
in Behälter zu leiten, Güter aus Behältern in verzweigte
Kanäle zu tragen, zwischenstaatliche, überseeische Ver-
bindungen zu erhalten.
Eine Sitzung des Baumwoligewerbes könnte folgen-
dermaßen verlaufen: Der Verband der Spinner berichtet,
daß es nicht ganz gelungen ist, die steigenden Material-
preise durch Verbilligung der Herstellungskosten auszu-
gleichen. Der Verband der Zwirnereien verzichtet dar-
aufhin auf erhöhte Zuteilung. Der Webereiverband er-
klärt die ausfallenden Mengen für Bereifungsgewebe zu
übernehmen, sofern entsprechende Umstellungen in Num-
mern und Qualitäten erfolgen. Die Großhändler berich-
ten über den Gang der Moden und verlangen große Aus-
wahlen neuer Gewebearten. Es wird mit Spinnern und
Webern verhandelt und ein verkleinertes Sortiment ver-
einbart. Die Weber behaupten, große Mengen eines ge-
wissen Stoffes über See absetzen zu können, sofern ihnen
das Garn zu Ausnahmepreisen bewilligt wird; man be-
schließt, es ihnen wenig über Selbstkosten zu geben,
wogegen sie einen Teil des Verkaufsgewinncs abzutreten
haben. Die Spinner beabsichtigen, eine neue Faser einzu-
führen, die sich im Ausland bewährt habe, die Weber
weigern sich, sie zu verwenden, die Färber und Appre-
teure warnen. Es wird beschlossen, ein schlecht beschäf-
tigtes Werk als Versuchsfabrik einzurichten und das Ri-
siko zu teilen. Es werden Preis- und Lieferfragen allge-
meiner Art besprochen. Auf Antrag der Färber wird ver-
einbart, mit dem Farbwerkverbande um neue Preise und
Schattierungen zu verhandeln, und die Sitzung ge-
schlossen, worauf dann die Berufsverbände in Einzel-
sitzungen zusammentreten und die Durchführung der Be-
schlüsse unter sich verabreden1)."
* ... *
l) W. V. S- 231-241, Sep.-Ausg. S, 56-66.
Wenn es dabei bliebe, wäre das Programm für den
wirtschaftlichen Neuaufbau unvollständig. Es bedarf sozu-
sagen noch einer Vertiefung und Verbreiterung. Es
schließt auch die zukünftigen Statuten der Großindustrie
und des Großhandels in sich ein. Aber muß es nicht auch
die Mittel- und Kleinbetriebe der Hausindustrie, des
Handwerks und des Kleinhandels umfassen? Und wird
andererseits dieser Neuaufbau nur etwa auf das eine
deutsche Volk beschränkt bleiben, anstatt zur gleichen
Zeit mehrere Völker, ja die gesamte zivilisierte Welt zu
interessieren?
Was nun den ersten dieser Punkte betrifft, so ist
Walther Rathenau der Ansicht, daß noch die Stunde nicht
gekommen sei, in der sich auf allen Gebieten der Über-
gang zu einer derartigen Umbildung ermöglichen lassen
werde. Selbst in der Großindustrie haben die verschie-
denen Zweige noch nicht alle die Stufe der Entwicklung
erreicht, die ihnen eine rasche Anpassung an den vor-
liegenden Rahmen gestatten könnte. Die Textilindustrie
scheint noch dafür am meisten geeignet zu sein, schon
weit weniger die Präzisionsmechanik, am wenigsten aber
der Kleinhandel. Während die Großindustrie und der
Großhandel das ganze Land angehen, beginnt mit
dem großen Gebiete des Kunstgewerbes, des Klein-
handwerkers, des Kleinhandels, des Grundstücksver-
kaufs, der Gast- und Schankwirtschaft, der örtlichen Ver-
kehrs- und Verteilungsvertriebe eine zweite Kategorie der
Wirtschaft, die im wesentlichen die Gemeinden angehen
und mehr oder weniger ihrer Handhabung überlassen
werden sollte, die die Sorge für ihren Neuaufbau zu über-
nehmen und sich, wie alle übrigen Berufe, ebenfalls von
dem höheren Prinzipe des Gemeinschaftsinteresses und
von der durch den Krieg geschaffenen schwierigen Lage
Rechenschaft abzulegen haben.
Der Wandel des örtlichen Wirtschaftslebens wird um
so gründlicher sein, je mehr der Krieg schon eine Zeit den
184
Kreis dieser Gemeinschaftsaufgaben erweitert, anderer-
seits aber manche besonders dringliche unter ihnen hat
zurückstellen müssen. Die Zeit der wahnsinnig kost-
spieligen Rathauspaläste, der Schlachthausburgen, der
Abdeckerei-Idylle und der GasansLalt-Feenschlösser ist
vorüber. Vorüber ist es auch mit den Bauspekulationen,
wird doch gerade der städtische Boden die Grundlage des
neuen städtischen Wohlstandes bilden und sich nicht
mehr an die Grundstücksschieber, Bauspekulanten und
Mietstyrannen veräußern lassen, ja nicht einmal mehr an
den soliden Rentner. Dagegen muß der städtische Grund
neu bebaut — in den Geschäftsbezirken bis zu beliebiger
Höhe — , in anständigen Verhältnissen und Bauformen,
nach einigen Menschenaltern endlich freies Eigentum der-
selben Gemeinden geworden sein, die einst in ihren
besten Jahrzehnten einem Stande unbewußter Monopo-
listen eine beliebig gesteigerte Besteuerung der Gemein-
wesen zugewendet und ungezählte Milliarden an bürger-
liche Rentenempfänger verschenkt haben, die zum Dank
durch ihren Baugeschmack unserer Epoche Schandmal
über Schandmal aufdrückten. Nicht minder als Grund und
Boden sind städtischer Verkehr, Verteilung und Versor-
gung, mag es sich um Fuhrwerk, Licht, Kraft, Wasser
oder um Verbrauchsgüter handeln, die gegebene Grund-
lage städtischer Wirtschaft, vorzugsweise in gemischtem
Betriebe.
Neu ist in diesem Zusammenhange nur die Einbezie-
hung der Güterverteilung, des schon heute nicht mehr so,
wie in alten Tagen, zersplitterten, verteilten und verzet-
telten Kleinhandels, die begründet werden soll. Das Auf-
schießen von Verkaufspalästen ist der beste Beweis, daß
auch der Kleinhandel nicht dem allgemeinen Prozeß der
Zentralisierung und Vereinheitlichung entgangen ist. Die
Gemeinde wird wirksam eingreifen können. Es ist in der
Tat für die Zukunft eine einfache Unmöglichkeit zu der
Aera der Vielzahl der Magazine, Läden und Krambuden
185
zurückzukehren; auch widerstehen nur sehr wenige cer
Verlockung der Warenhäuser, in denen sich auf den
Ladentischen die Vorräte sämtlicher Einzelbranchen ver-
einigt haben. Und doch fühlen wir, wenn auch nur un-
bestimmt, daß ein Unrecht im Spiele ist; das Unrecht liegt
im Begriffe des Monopoles, das den Widerstrebenden ver-
nichtet; und ein Monopol ist hier vorhanden. Das Mo-
nopol liegt in der widerspruchsvollen Seltenheit der Ver-
bindung einer ganz persönlichen, unkontrollierbaren und
daher dem Geldgeber keine Garantie bietenden Organi-
sationskunst mit einer trotzdem beschafften bedeutenden
Kapitalkraft. Wie immer, hat sich dieser riesenhafte Zen-
tralisierungsprozeß nur zum Nutzen einiger weniger Men-
schen vollzogen. Dieser Mißbrauch einer an sich guten
Einrichtung wird in dem Augenblick schwinden, wo das
Gemeinwesen seine Hand darauf legt. In der Form einer
vorwiegenden gemischten Wirtschaft wird sie im Ge-
meindebesitze dessenungeachtet auch alle die anderen
Vorzüge behalten, die schon immer den großen Waren-
häusern eigen gewesen sind. Es wird immer noch einige
wenige Stellen geben, an denen trotz materieller Schwie-
rigkeiten Kleinbazarc vereinzelt kümmerlich ihr Dasein
fristen werden. Für diese werden nun die Warenkäufe
gemeinsam zu machen sein, und es wird genügen, sie Ge-
schäftsführern zu überlassen, die sich zunächst möglichst
teils aus den Kriegsteilnehmern und Kriegsbeschädigten,
teils aus den Kriegerwitwen rekrutieren sollen. In einer
immer etwas anderen Weise wird auch stets wieder der
gleiche Grundsatz zur Geltung kommen: Gebet der Ge-
meinschaft, was der Gemeinschaft ist!
Dieser wirtschaftliche Neuaufbau wird nun nicht bloß
innerhalb der Grenzpfähle jedes Landes sein Geltungs-
bereich haben. Das wäre schon von vornherein ganz un-
möglich, da eine solche Umwälzung viel zu heftig die
Tiefen der gesamten menschlichen Gesellschaft durch-
wühlt, um auf einen mehr oder weniger großen einzelnen
186
Bezirk der Erde beschränkt zu bleiben, und bei dem nun
einmal gegebenen internationalen Charakter der Indu-
strie- und Handelsbeziehungen nur auf die gemeinsamen
Daseinsbedingungen der gesamten Welt anwendbar ist.
Schon in seiner Schrift ,,D i e neue Wirtschaft"
hatte Waither Rathcnau ganz nebenher angedeutet, daß
auch die Wirtschaft der Welt eine Gemeinwirtschaft ist
und sein soll1). ,,Im Sommer des Jahres 1918, schreibt er
gerade in dem Augenblicke, wo alle gutdeutschen Seelen
einen allgemeinen Verständigungsfrieden wünschten,
seinen Aufruf ,,A n Deutschlands Jugen d". Als
er unter anderen Fragen auch die heikle Frage der Schuld
an dem Kriege in den Kreis seiner Betrachtungen zieht,
da sieht er diese Schuld in dem allgemeinen wirtschaft-
lichen und sittlichen Chaos der Welt in jenen Tagen,
einem Fehler, der ursprünglich allen Nationen gemeinsam
gewesen war, und in vereinzelten politischen Fehlern, die
bei jeder einzelnen andere waren, für die aber etwa
keine auszunehmen ist. Es kommt uns nun jetzt hier dar-
auf an, einmal auf Grund jener Schrift in kurzer Zusam-
menfassung darzulegen, wie sich etwa der Plan seines
Wirtschaftsgebäudes auf die gesamte wirtschaftliche
Tätigkeit der Welt in allen ihren internationalen Bezie-
hungen ausdehnen ließe.
An den Verschuldungen und Irrungen jener Tage sind
alle Staaten beteiligt. Wenn von einer wahrhaften tiefen
Schuld der Nationen gesprochen werden soll, so ist es die
der Unterlassung: sie haben sich ängstlich davor gescheut,
die tiefere Ursache all des Leides, an dem sie litten, zu
ergründen und ernstlich um ihre sittliche Erlösung zu
ringen. Jünger als alle anderen, ist das deutsche Volk
um so schuldiger, weil es sich an der allgemeinen Be-
fleckung mitbeteiligt hat, und seine geschichtliche Sen-
dung gerade die Erfüllung der Idee ist. ,,Nur den einen
') W. V. S. 226, Sep.-Ausg. S. 51.
187
Gedanken hatten die Völker: wachsen und sich berei-
chern, aufsteigen und überflügeln, mächtig werden und
erraffen. Und ihre Staatsmänner dienten diesen Zielen
mit den alten Mitteln der List und Gewalt, mit den klei-
nen Mitteln der Heimlichkeit und Verständigung, der Be-
günstigung, Verlockung und Drohung, des Geldes und der
Betriebsamkeit, mit den großen Mitteln zu Land und
Meer. Jeder hoffte, der Klügere zu sein, unbemerkte
Vorteile in merkliche zu verwandeln, den anderen klein
zu kriegen, ohne daß er sich versah. Selbstverständlich
schien: Mein Nutzen ist dein Schaden, mein Lcbsn ist
dein Tod. Endet ihr Jünglinge, dies unergiebige unc1
würdelose Spiel! Wetteifert! Schafft sittliche Ideen,
schafft den universalen Gedanken der Solidarität durch
lebendiges Zusammenwirken nicht in utopischer Duselei;
beginnt da, wo die Schwierigkeit am größten, die Arbeit
am härtesten ist, beginnt mit der Wirtschaft. Ich sage
euch aber: Der kommende Friede wird ein kurzer Waffen-
stillstand sein, und die Zahl der kommenden Kriege un-
absehbar, die besten Nationen werden hinsinken, und die
Welt wird verelenden, sofern nicht schon dieser Frie-
densschluß den Willen besiegelt zur Verwirklichung
dieser Gedanken. Ein Völkerbund ist recht und gut, Ab-
rüstung und Schiedsgerichte sind möglich und verständig:
doch alles bleibt wirkungslos, sofern nicht als erster ein
Wirtschaftsbund, eine Gemeinwirtschaft der Erde ge-
schaffen wird. Darunter verstehe ich weder die Abschaf-
fung der nationalen Wirtschaft noch Freihandel noch Zoll-
bünde, sondern die Aufteilung und gemeinsame Verwal-
tung der internationalen Rohstoffe, die Aufteilung des
internationalen Absatzes und der internationalen Finan-
zierung. Ohne diese Verständigungen führen Völkerbund
und Schiedsgerichte zur gesetzmäßigen Abschlachtung der
Schwächeren auf dem korrekten Wege der Konkurrenz;
ohne diese Verständigungen führt die bestehende Anar-
chie zum Gewaltkampf aller gegen alle.
188
Der Wirtschaftsbund aber ist so zu verstehen: Über
die Rohstoffe des internationalen Handelns verfügt ein
zwischenstaatliches Syndikat. Sie werden allen Nationen
zu gleichen Ursprungsbedingungen zur Verfügung gestellt,
und zwar für den Anfang nach Maßgabe des bisherigen
Verbrauchsverhältnisses. Späterhin wird das wirtschaft-
liche Wachstum der einzelnen in Rechnung gezogen.
Die gleiche zwischenstaatliche Behörde regelt die
Ausfuhr nach entsprechendem Schlüssel. Jeder Staat
kann verlangen, daß ihm die zustehende Ausfuhr-
quote abgenommen werde. Sie verringert sich ent-
sprechend, sofern er die auf ihn entfallende Einfuhr ab-
lehnt. Die Lieferungen der Staaten geschehen im ge-
wohnten Verhältnisse ihrer Gütergattungen. Freie Ver-
ständigungen über Abänderungen können getroffen wer-
den, Quotenaustausch ist zulässig.
An internationalen Finanzierungen, die zu Lieferun-
gen führen, kann jeder Staat Beteiligungen im Verhältnis
seiner Ausfuhrquote verlangen.
Dies sind die grundsätzlichsten Bestimmungen, die
vereinbart werden müssen, sofern nicht der stille Wirt-
schaftskrieg in seiner alten Form oder aber, allen Ab-
machungen zum Trotz, der offene Wirtschaftskrieg in
neuen ungebahnten Formen ausbrechen soll, der entweder
zur Verarmung der nicht selbstversorgenden Staats-
gruppen oder zu unaufhörlichen Kriegsgewittern führt.
Jahrzehnte werden vergehen, bis dieses System der
internationalen Gemeinwirtschaft voll ausgebaut ist;
weiterer Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte bedarf es,
urn die zwischenstaatliche Anarchie durch eine freiwillig
anerkannte oberste Behörde zu ersetzen, die nicht ein
Schiedsgericht, sondern eine Wohlfahrtsbehörde sein
muß, der als mächtigster aller Exekutiven die Handhabung
der Wirtschaftsordnung zur Verfügung steht1)."
') ,.A u U e u t s c h lands Jugend" S 85-88
189
Kapitel VI.
Die sittliche Erneuerung
Bedarf es wirklich noch besonderer Erwähnung, daß
Reformen von einer solchen Ausdehnung allein zu ver-
wirklichen sind, wenn ein völliger Wandel in der Grund-
und Weltanschauung der Menschen unserer Zeit erfolgt?
Wenn sie sich etwa einbilden sollten, daß schon ein paar
vorübergehende wirtschaftliche und finanzielle Anord-
nungen ausreichen werden, alle Verluste auszugleichen
und die alte Ordnung sogleich wieder in vollem Umfange
zu beleben, wenn sie sich einbilden sollten, daß ein paar
neue Grenzabsteckungen, ein paar gestürzte Throne aus-
reichen werden, die Seelen zu erlösen, die Toten zu ehren
und die Lebenden zu versöhnen, ohne dabei auch nur von
Ferne an den Aufstieg der Welt zu glauben, dann müßte
man sich auf einen ganz entsetzlichen Wirrwarr gefaßt
machen und auf Katastrophen, die noch weit schlimmer
wären als die des eigentlichen Krieges. Nein, der Krieg
mit seinem blutigen Schimmer hat die ganze Ungerech-
tigkeit beleuchtet, in der wir lebten und an der wir litten,
ohne doch zu erkennen, weiches die eigentliche Ursache
unseres Leidens war. Diese Ungerechtigkeit wird nur auf
die eine Weise zu tilgen sein, wenn wir uns alle zu unge-
heuren Opfern verstehen. Hierzu aber werden wir uns
nur entschließen können, wenn wir unserem Leben eine
neue sittliche Richtung geben.
Freilich wäre Entwickelung unmöglich, wenn wir sie
nach dem Anblick des täglichen Lebens beurteilen sollten,
das stets der Tyrannei der Mechanisierung unterworfen
190
bleibt. Ist es nötig, daran zu erinnern, welche Unordnung
in dem metaphysischen und moralischen Bewußtsein un-
serer Zeit herrscht? Der so unfähige Intellekt, an den
wir uns bisher doch allein wandten, hat uns gänzlich in
unseren Hoffnungen betrogen. Unser Leben weiß nicht,
nach welchen Polen es sich richten soll. Wir leugnen
alle Entwicklung auf moralischem Gebiete, an die
wir doch Jahrhunderte lang geglaubt haben. In den Win-
keln unseres Gewissens finden sich aller Orten noch
Glaubensreste dogmatischer Zeiten, transzendenter,
mythologischer, aniraistischer und fetischistischer Her-
kunft vor, die unserem Seelenleben noch eine Richtung
andeuten. Mit dem Germanen schätzen wir den Mut und
verachten wir die Furcht. Dem Orientalen haben wir
die Vorliebe für die Barmherzigkeit und Klugheit, das
Patriarchenideal, entlehnt. Die Romantik hat uns die
Steigerung der geistigen Fähigkeit zum Talent, der intu-
itiven Fähigkeit zur Genialität als unveräußerliches Erbe
hinterlassen. Allerjüngst haben wir unter amerikanischem
Einfluß begonnen, die Stufenleiter der Arbeitskraft, Nach-
haltigkeit, Entschlußkraft und Willensphantasie zu weiten
und den Erfolg als die Höhe, zu der diese Leiter zuletzt
führen muß, zu verehren. Schließlich schafft sich jeder
ein Ideal, das nichts weiter als die Versetzung seiner ma-
teriellen Interessen in eine andere transzendente Welt
ist, grade, als sollte die weltbewegende Kraft nur die
Kräftediagonale darstellen, die sich aus der Unzahl dieser
persönlichen ideellen Kräfte ergibt.
Unfaßbar ist noch ein Zweites, nämlich die geradezu
unglaubliche Unkenntnis von der menschlichen Natur, in
der wir leben; uns fehlten noch immer feste Normen für
die wertende Erkenntnis der Individualität eines Men-
schen. Man spricht gemeinhin von der Gabe der Men-
schenkenntnis, und viele stellen sich darunter eine Art
von mißtrauischer Schlauheit vor, welche hinter die ge-
heimen Beweggründe, Schliche und Schwächen seines
191
Nächsten zu kommen sucht, um sie desto leichter zu
nutzen und zu beherrschen. Diese falsche Sklaventugend,
die gar keine edele Gabe ist, führt zu nichts, es sei denn
zu kleinen ungerechten Vorteilen; denn sie kann nur von
niederen Naturen und nur gegen ihresgleichen geübt
werden. Wie wenige sind es hingegen, denen nicht nur
Mund und Augen ihres Nebenmenschen reden, sondern
Stirn, Gestalt und Hände, denen die Wahl und der Klang
eines Zufallswortes, das unausgesprochene Glied einer
Gedankenverbindung, die unwillkürliche Bewegung, jedes
Band der Handlung und Lebensführung sogleich das
Wesen des Angeschauten offenbart und die in ihrer Er-
leuchtung sich dem Menschen nicht mit Selbstsucht oder
Geringschätzung, sondern mit einer unendlichen Güte
und Nachsicht nähern aus dem Gefühle jenes harmo-
nischen Weltganzen heraus, in dem jedes Wesen und jedes
Ding ihren Platz finden!
Unsere Gesetze wie unser Leben leiden unter dieser
Verworrenheit. Die Lüge ist erlaubt, auch vor Gericht,
der Meineid verboten. Der Mutbeweis des Zweikampfes
ist untersagt, wird aber dem Volksempfinden zuliebe in
Grenzen geduldet. Ein anständiger Mensch im Sinne der
europäischen Restmoral aber ist einer, der seine drin-
gendsten Schulden bezahlt, sich auf Lügen nicht ertappen
läßt, kein öffentliches Aergernis gibt, in Geschäften das
bürgerliche Strafgesetzbuch achtet, sich an öffentlichen
Kollekten beteiligt, gute Kleider trägt, mittlere Schul-
kenntnisse besitzt und die gleichen Eigenschaften bei
seinem ehelichen Vater nachweisen kann. Diese Gaben
berechtigten noch eben, in allen zivilisierten Ländern,
soweit das bürgerliche Sittenempfinden in Betracht
kommt, zu jedem Ansehen, zu jedem wirtschaftlichen An-
sprüche, zu jeder menschlichen Verantwortung und, so-
bald irgendeine ausgesprochene nützliche bestimmte An-
lage oder Fachkenntnis hinzutritt, zu den höchsten Aem-
tern und Würden.
192
Zum Glücke wissen wir, daß wir unsere Hoffnung
noch einmal die so nötige sittliche Erneuerung zu erleben
nicht sinken zu lassen brauchen. Die Grundlage dazu ist
an d e m Tage gelegt worden, an dem die Seele zur Welt
gekommen ist. Der Intellekt und die Mechanisierung
werden überwunden werden und ihre traurige Begleit-
schaft von Verderbnis und Unglück sich in alle Winde
zerstreuen. Die Menschheit hat einen neuen Pol der
Wertung gefunden. Eine Auslese ist schon jetzt im An-
märsche auf die Regionen, die ihr Licht von der Seele
bekommen. Praktisch also hat sich die Sache schon ver-
einfacht. Nicht die Grundsätze sind mehr in Frage, son-
dern nur noch ihre Anwendung. Damit die Erneuerung
zustande komme und damit die notwendigen Opfer durch-
gesetzt werden, bedarf es nur der Ausmerzungen jener
schädlichen Kräfte, die die Menge nicht dem Beispiele
der Besten folgen lassen wollen und eine Einpflanzung
von Begriffen in ihre Seele, die sie umgekehrt treiben,
deren Beispiel nachzuahmen.
Die wirtschaftlichen Opfer, die zu bringen sind, lassen
sich etwa in folgende vier zusammenfassen: den Verzicht
auf eine Reihe käuflicher Genüsse, den Verzicht auf einen
erheblichen Teil der erarbeiteten oder ersessenen Er-
träge, den Verzicht auf jede Laufbahn, die in leichtem
Dienste, mit leichtem Gepäcke an Geist und Charakter
zum Ziele führt, und endlich den Verzicht auf das dau-
ernde wirtschaftliche Vorrecht einer gesicherten Familien-
stellung. Die bösen Triebe oder Mächte, die sich dem ent-
gegenstellen, wirken bald gesondert, bald wieder in Ge-
meinschaft vereint gegen diese vier Grundforderungen
der Wirtschaft. Sinnlichkeit, Ehrgeiz, Gewinnsucht gegen
die erste und zweite, Ehrgeiz und Familienstolz gegen die
dritte und vierte, unzureichende Kenntnisse gegen die
dritte, mangelndes Staats- und Gemeinschaftsempfinden
gegen alle vier.
13 193
Von Sinnlichkeit, Bequemlichkeit und Trägheit brau-
chen wir nicht so ausführlich zu handeln. Nicht, daß wir
sie nun einfach ein für allemal als unabänderliche Triebe
ansehen. Doch zeigen sie einen so physiologischen Cha-
rakter, daß die Einwirkung der Erkenntnis sie nur mittel-
bar trifft. Um so lebhafter aber müssen unsere Aufmerk-
samkeit die eigentlich bösen Mächte in der menschlichen
Seele fesseln. Sie sagen: ich will haben und scheinen.
Alles in allem erwogen, kommt also die Aufgabe letzten
Endes auf eine Kritik der Genuß- und Machttriebe hin-
aus, die so eingehend sein muß, daß sie die eben skizzierte
an Gründlichkeit noch übertrifft.
Diese Triebe bestehen darin, daß das Individuum zu-
nächst einmal das verlangt, was es braucht, dann das,
was ihm seine und der Seinen Zukunft sicherstellt und
schließlich das, was den anderen fehlt und ihren Neid er-
weckt. Abgesehen von den berechtigten beiden ersten
Forderungen handelt es sich hier um atavistische In-
stinkte, die um so gebieterischer sind, je gemeiner ihr Ur-
sprung ist. Die Kulturhistoriker werden uns darlegen,
wie diese Triebe gerade bei furchthaften Menschen und
Völkern vorkommen, weil solche Menschen und Völker
dem Drucke ihrer Unterwerfer nur die eine Hoffnung ent-
gegensetzen können, daß sich das Blatt eines Tages wen-
den möchte und sie selbst den Fuß auf den Nacken des
Bedrückers setzen würden. Sie werden zeigen, wie diese
furchthaften Triebe in Europa gerade mit dem Triumphe
der Unterschichten an die Oberfläche gekommen sind.
Uns genügt es, festzustellen, daß wir in diesen letzten
Endes auf Machtgier hinauskommenden Trieben nur die
Folgen der allgemeinen Mechanisierung und „in Macht-
gier die pragmatische Verneinung aller Transzendenz zu
sehen haben. Wer in dem Schein, den wir Wirklichkeit
zu nennen pflegen, den Inbegriff alles Seins erblickt, der
194
kann ein vermessenes Glück erträumen, das dieses Wun-
derspiel von Farben, Tönen und Reizen unterwirft, um es
zu besitzen und zu beherrschen, so wie ein Kind den
Stern und Schmetterling in seine tastenden und zerstö-
renden Hände begehrt1), aber er ist für die Menschheit
verloren, weil er den Dienst der Welt verleugnet und den
Dienst der Ueberwelt verschmäht.
Und dadurch gerade werden diese Triebe verschwin-
den. Wer sich nun umgekehrt der Fessel der Mechani-
sierung und des Intellektes entzogen hat, der merkt die
Unwirklichkeit dieses Traumes. Was ist denn schließlich,
abgesehen von einigen leiblichen Bequemlichkeiten, Be-
sitz? Ein Verzeichnis von Sachen, die man ungestraft
bewegen, absperren, zerstören oder gegen andere Sachen
vertauschen darf, die wiederum bewegt, abgesperrt und
zerstört werden können. Ein totes Leben gewinnen diese
Sachen, die der Besitzer nur dann kennt und einigermaßen
besitzt, wenn sie wenig zahlreich sind, nur dann, wenn
er selbst sie schaffend, ordnend, waltend, verantwortungs-
voll handhabt und ihnen seine Seele einhaucht. Aber
dann verlieren diese Sachen die Eigenschaft des toten
Besitztums und gewinnen ein lebendiges Leben. Sie ge-
hören ihm dann, auch wenn sie formal der Besitz eines
anderen sein sollten, so wie dem Förster der Wald ge-
hört und nicht dem Grundherren, dem Wanderer die
Landschaft und nicht der Gemeinde, dem Künstler das
Werk in Ewigkeit und nicht dem Käufer. Macht? Was
bleibt vielleicht außer dem Vorzuge einiger bequemerer
Verkehrsgelegenheiten und der Befriedigung aus so man-
chen Kreisen nicht ausgeschlossen zu sein denn noch
sonst von ihr als die schändlichen Bücklinge und Phra-
sendreschereien der Menschen, die aus Zwang oder in
Selbsterniedrigung die Mächtigen für sich zu gewinnen
suche'n. Die Menge jubelt einem Triumphator zu, der
l) D. Hl. S. 185, Sep.-Ausg. S. 173.
13* 195
hoch zu Roß oder im prächtigen Galawagen an ihnen vor-
übersaust. In Wahrheit aber sitzt da nur ein Mensch wTe
jeder andere zerstreut, gleichgültig und vor sich dahin
träumend; an sein Ohr schlagen die brausenden Wellen,
ohne daß ihm irgendetwas von dem, was da draußen sich
abspielt, klar zum Bewußtsein kommt und am Abend ist
er dann in dem Augenblicke, wo er sich zum Schlafe nie-
dergelegt hat, mit seinem Gotte so allein wie der letzte
seines Gefolges. Und so ist auch er ohne wahre Macht.
Solange in der Beurteilung des Menschen eine solche Un-
fähigkeit bestehen wird, wird es auch immer Ränke-
schmiede, Ehrgeizige und Streber geben, die sich weiter,
wie bisher, überall vordrängen werden. Aber so verhäng-
nisvoll auch die Macht ist, die sie zu erringen vermögen,
sie werden niemals die schöpferische Kraft besitzen, mit
der sie nun einmal nicht begabt sind. Sie werden die
Menschheit nicht vorwärtsbringen, die auch ihrerseits
nicht die Notwendigkeit von deren Existenz anerkennen
und darum auch ihre letzten Lüste unbefriedigt lassen
wird.
An der Entwicklung dieser Besitz- und Machttriebe
hat auch die Frau ihren beträchtlichen Anteil gehabt.
Bekannt ist, wie die Mechanisierung sie allmählich ihren
Hausarbeiten entzogen hat in einem Augenblicke, wo sie
gleichzeitig den Mann nötigte, fast den ganzen Tag über
fern vom häuslichen Herde zu verweilen. Einige Wir-
kungen dieser Entwicklung sind auch glücklich zu nennen
gewesen: die Frau hat sich den unerwartetsten Anforde-
rungen angepaßt, hat die Sorgen des äußeren Lebens über-
nommen, ist in bisher nur für Männer bestimmt gewesene
Berufe eingetreten und hat so unserem Jahrhundert sein
eigenes Gepräge gegeben, das Gepräge der Mannweib-
lichkeit. Aber auch andere Wirkungen blieben nicht aus,
die als bedenkliche bezeichnet werden müssen. Neben
diesen tüchtigen Frauen entstand auch dank des Mecha-
nisierungsprozesses ein neuer sozialer Typus: der des
196
Luxusweibes, das den ganzen Tag müßig ging, das ewige
Kinderkriegen gar nicht genug beklagen konnte und ihren
ganzen Beruf darin sah, zu kaufen und zu repräsentieren,
sich hofieren zu lassen und nur irgendwie eine Rolle zu
spielen. Daher jene zahllosen Einkäufe, die in unge-
heuren Paketen nach Hause geschleppt werden als
schreiende Zeugnisse so mancher Stunde überflüssiger
Arbeit und so mancher Träne, die bei ihr vergossen
wurde. Daher auch jene Verdorbenheit des Geschmackes
und der Künste, da die Frau nun einmal nicht gute, reelle
und brauchbare Arbeit zu erkennen weiß; sie zieht ibi"
Kram und Flitter vor und läßt sich durch marktschrei-
erische Anpreisungen hinters Licht führen. Daher end-
lich auch das Verlangen, die anderen ausstechen zu
müssen, die kleinen Intrigen und die heimlichen Ränke.
Solange unser Wirtschaftsleben unter dem Zeichen des
freien Verkehres stand, wurden diese an die Urgelüste
mancher Negerstämme erinnernden Mißbräuche scho-
nungsvoll geduldet. Das wird in der neuen Ordnung un-
möglich sein. Vergessen wir allerdings nicht, daß diu
hauptsächlichste Verantwortung dafür auf den M-ina fällt,
der sie durch seinen Eigennutz und noch mehr durch
seine verlotterten Bräuche ermutigt hat; es bleibt aber
dann nicht weniger richtig, daß sich auch die Sitten der
Frauen wieder heben müssen.
Es bleibt nun nur noch der letzte jener schädlichen
hemmenden Kräfte zu betrachten: allzu engherziges Fa-
milienempfinden. Nicht etwa sind noch erst viele Worte
über den einfach krankhaften Sammeltrieb jener Leute
zu machen, die Schätze auf Schätze häufen, um sie den
knapp gehaltenen eigenen Kindern bis zu deren vorzei-
tigem Tode vorzuenthalten und sie dann schließlich noch
ganz entfernten Verwandten vererben zu müssen.
Ebensowenig bedarf es noch vieler Worte über die viel-
verbreitet postume Eitelkeit jener Geizigen, die vom
Staunen der Testamentseröffner sich ein jenseitiges Lab-
197
sal versprechen. Nein, das Familienempfinden, das ein
Walther Rathenau der Bekämpfung würdigt, steht denn
doch nicht ganz so tief wie diese Lächerlichkeiten, über
die überhaupt jedes weitere Wort überflüssig ist; er meint
die echte und edle Form des Geschlechterstolzes, die
Freude an der Erhaltung eines klingenden Namens, die
frohe Erinnerung an das Verdienst der Väter und Ahnen,
die liebende Sorge um das Glück der kommenden Ge-
schlechter. Doch auch ein solches Familienempfinden ist
nach ihm zu bekämpfen, trägt es doch im Grunde auch
sein Teil dazu bei, die soziale Ungleichheit aufrechtzu-
erhalten. Vergesesn wir nicht, daß eine solche Einheit des
Volkes, wie sie sich während des Krieges gezeigt hat, zuvor
noch niemals bestand und auch schwerlich von Dauer sein
wird. Und wirklich spaltet sich auch das deutsche Volk
in vier völlig gesonderte und geschiedene Klassen, Adel,
gehobene Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Proletariat.
Wenn nun auch das Familienempfinden wegen seiner
guten Seiten zu werten und zu schätzen ist, so ist und
bleibt es doch mit den Gesetzen des Lebens in einem
unaufhörlichen Widerspruch. Wenn ein menschlicher
Körper ein wirklich lebendiger Organismus sein soll, so
muß er auch der Schauplatz eines beständigen Wechsels
lebender Kräfte sein. Jenes Empfinden ist also unan-
nehmbar durch den Eigennutz, den es mit sich bringt, und
den Widerwillen für die unteren Klassen; denn jenes
Empfinden ist auch mit den Augenblicksvorzügen des
Geldes und der Erziehung noch nicht einmal zufrieden,
sondern will auch noch zudem die dauernde Gewähr des
Genusses haben. Wird nicht jemand, der das Lebens-
gesetz zuzugeben bereit ist, daß erbliches Behagen erb-
liche Not und Fron mit sich bringen muß, ruhig einge-
stehen können, daß die engherzige Auffassung des Fa-
milienempfindens die Todsünde der modernen Gesell-
schaft ist?
198
Aber diese Triebe und Regungen der Seele sind doch
so verbreitet und lebendig! Wird es denn da möglich
sein, die menschliche Natur von ihnen zu befreien. Der
Idealist Walther Rathenau, das wissen wir, glaubt es.
Welche Hypothese ist nun die verwegenere? Vorauszu-
setzen, daß diese Kräfte, die doch scheinbar in der Feuer-
kraft ihrer Mittagshöhe stehen, gleichwohl ihrem Unter-
gange entgegengehen, oder umgekehrt etwa glauben zu
wollen, daß diese Lügenmächte, die wir eben in ihrer
wahren Natur erkannt haben, auf immerdar eine Mensch-
heit betören und knechten sollen, die ihre hohle Leere
und verhängnisvolle Bedenklichkeit durchschaut? Nun
wird mancher kommen und sagen: Wie soll eine alt ge-
wordene Menschheit sich ändern? Haben wir sie wohl
jemals eine ihrer Leidenschaften zum Opfer bringen
sehen? Ihm sei erwidert: Die Menschheit hat Größeres
geleistet. Sie hat manchen Sturz und Umsturz von sitt-
lichen Anschauungen vorgenommen: wir haben Menschen-
opfer, Blutschande, Götzendienst und Blutrache gehen und
kommen sehen. In jedem Augenblick schlummert jede
Leidenschaft, jede Sünde in der Menschenbrust; jede ist
zu wecken und jede zu bändigen und auch das wieder in
jedem beliebigen Augenblicke. Gebändigt wird sie vom
Einzelnen: ist seine Gesinnung eine niedrige, durch Furcht,
— ist sie vornehm, durch Hingabe an die Seele; gebändigt
wird sie von der Gesamtheit durch neue Anschauungen in
sittlichen Fragen. Wenn aus den großen Opfern für den
Krieg irgendein Schluß gezogen werden darf, so ist es
der, daß dieses Seelenwerk sich schon für eine ganz nahe
Zukunft ankündet und am Horizonte bereits die neuen
edleren Seelentriebe sichtbar werden, die die gefallenen
Sterne am sittlichen Himmel ersetzen sollen.
Trügerischer Ehrgeiz, Autoritätenglaube, Schaden-
freude, Streben nach äußerem Schein, alle diese häßlichen
Seelentriebe werden schwinden, um nur der einen edelen
Leidenschaft Platz zu machen, dem wirkenden und ord-
199
nenden Schaffen, das den Gebieter zum Diener, den Die-
ner zum Gebieter macht, dem verantwortendem Schaffen,
das gern an leitender Stelle stehen möchte, doch nur der-
art, daß es sich selbst vor einem Gesetze, vor einem
höheren Wesen neigt. Die Aufforderung, die sich hingibt
und selbstlos die Steuern einzieht, nicht etwa um sie in
eigenem Besitz zu halten, sondern um sie völlig unan-
getastet zum notwendigen Betriebe der göttlichen Ord-
nung weiterzugeben. ,,Dies verantwortende Schaffen
nimmt den beiden alten Trieben, Besitz und Macht, alle
die Formen, die den Besitz- und Machtlüsternen be-
glücken, mit denen allein er sich begnügen möchte, und
läßt nur die Sorgen, Schmerzen und Mühen, die jener ver-
schmäht. An die Stelle des Machtbereichs tritt der Wir-
kungskreis, an die Stelle der Herrschaft die Verantwor-
tung, an die Stelle des Rausches die Sorge; wo Macht sich
erfüllt, da hebt sie sich auf1)."
Die Frauen haben jenen bösen Trieben eine ausge-
prägtere Form gegeben; es liegt das daran, daß sie ihr
altes Ziel aus dem Auge verloren haben und nun im ver-
ängsteten Suchen nach einem neuen eine Bewegung
unter sich verbreiten, die sie ganz von der graden Straße
abbringt. Warum sollte es so unmöglich sein, ihnen dieses
Ziel schon weithin sichtbar zu machen, nachdem sie es
zum großen Teil durch die Schuld der Männer verloren
haben? Nicht Rückkehr zum verödeten Hof und Garten,
zum veralteten Spinnrocken und Webstuhl darf in Frage
kommen. Aber auch nicht ödes Vordrängen zu Kanzeln
und Tribunalen. Wandelung zu hoher Menschlichkeit ist
das erste Ziel, das sie zur Verachtung käuflichen Glückes,
albernen Schmuckes und schnöden Müßigganges führen
möge, bis sie dann hinter allen diesen Stationen endlich
ihr letztes Ziel entdecken: Verantwortung für inneres
Glück und Ordnung des großen Hausstandes der AU-
') D. 111. S. 188, Sep.-Ausg. S. 176.
200
menschheit. „Je entschiedener Wohlfahrt und Erziehung,
Pflege und Lebensschmuck zu Sorgen der Gemeinschaft,
zu Verantwortungen der Gesellschaft werden, desto
reiner und bedeutender werden die neuen Pflichten des
Weibes; und, wenn der Inhalt dieser Pflichten frauenhaft
und in höchstem Sinne natürlich bleibt, so dürfen wir vor
den Formen nicht erschrecken1)." „An die Stelle der
leiblichen und stofflichen Erbschaft tritt die geistige, die
heute schon die immateriellen Reiche beherrscht. An die
Stelle der Kindschaft die Jüngerschaft, an die Stelle des
Nepotismus die Erwählung. Überlieferte Sitte und Ge-
sinnung wird Eigentum des Volkes, Erziehung Sache der
Gemeinschaft; das adlige Volk in beherrschendem Dienst
und dienender Herrschaft wird zum Träger seines Ge-
schicks und zum Hüter seiner Auserwählten2). " Aller-
dings wird darüber zu wachen sein, daß sich nicht irgend-
ein Abenteurer in die Reihen der auserwählten Schar
schleicht. Dabei wird jene unbeirrbare Kenntnis und
Schätzung menschlicher Eigenschaften und Werte ihren
ganzen Nutzen zu bewähren haben. Die kommenden
Zeiten werden sich eines jeden annehmen, der dessen
würdig erscheint und ihn in Liebe emporheben. Aber
auch diesen gegenüber werden sie sich die größte Zu-
rückhaltung auferlegen und die größte Vorsicht walten
lassen. Grundsätzlich werden sie auf bloße Worte bei
niemandem etwas geben, aus welchem Stande er auch
sein mag; schlauen Umtrieben wie äußeren Lockungen
gegenüber werden sie sich unzugänglich zeigen, und sie
werden niemandem eher vertrauen als bis er seine Ver-
dienste bewährt hat. Schon das kindliche Alter wird die
Scheu vor verwirrenden und irreführenden Namen und
Begriffen und die Liebe zur Wahrhaftigkeit lernen. „Man
wird die Arbeit eines Abtrittreinigers höher stellen als
die eines Schwätzers und Schiebers, man wird krankhafte
J) D. 111. S. 199, Sep.-Ausg. S. 186-187. *) D. 111. S. 203, Sep -Ausg. S. 190.
201
Verirrungen minder verpönen als Üppigkeit und Schau-
stellungen, man wird Matrosenbordelle milder beurteilen
als Stätten gemeiner Kunstverzerrung1)." Aller Wahr-
scheinlichkeit nach werden Entgleisungen nicht so oft
vorkommen wie eben in unseren Tagen, wo so häufig
gerade die seelen- und herzlosen Menschen die höchsten
Stellungen einnehmen und sich doch so manche Persön-
lichkeit in den unteren Klassen finden würde, die sich
heute mit einem verpfuschten Leben abfinden muß,
während ihr doch die heilige Flamme der Begeisterung
schon aus den Augen leuchtet.
Doch ein Einwurf ist vorauszusehen. Kann es nicht
geschehen, daß die Gesellschaft und die Kultur, solcher
Triebkräfte beraubt, eines schönen Tages plötzlich ganz
stillesteht? Sind nicht vielleicht dann auch gleichzeitig
die geistigen Güter in Gefahr? Nein und abermals nein!
Das hieße behaupten, daß wir nicht anders als aus ge-
meiner Feigheit sittlich handeln können und wir der
Schlechtigkeit bedürfen, um zu leben! Ja, ganz gewiß,
im Leben des Alltags wird die Arbeit häufig mehr zur
Last als zur Freude, und überall wütet hinterlistig und
mörderisch der Daseinskampf. Wehe dem, der strauchelt!
Doch an dem Tage, wo einmal die klug gewordene Ge-
seilschaft weiter nichts als die Summen, die ein Kriegs-
monat kostet, für die heilige Aufgabe verwenden wird
den Daseinskampf aller Arbeitenden über die nackte Le-
bensgefahr emporheben, an d e m Tage erst kann dieser
Daseinskampf seine empfindlichste Bitterkeit und
Schmerzhaftigkeit verlieren. Erst an jenem Tage wird
die gemeinsame Arbeit durch die schon heute bekannten
Gesetze, die vorläufig nur jede Arbeit höherer, also
wissenschaftlicher oder künstlerischer Art bestimmen, ge-
adelt werden. An sich ist alles Schaffen edel, das keinen
anderen Zweck kennt als sich selbst, alles Schaffen ge-
J) D. Hl. S. 205, Sep.-Ausg. S. 192.
202
ring, das nur einen Nützlichkeitszweck verfolgt und nur
durch Angst oder Gewinnsucht zustande kommt. Der
Mensch bekommt schon von der Natur mit der Geburt
seinen Beruf mit. Da sind die geborenen Genies und
Talente, da sind der geborene Soldat und Geistliche, der
geborene Buchdrucker, Schachspieler und Stenotypist.
Freiheit von Not und Fron, Freiheit der Berufswahl
ist nötig. Werden diese beiden Forderungen erfüllt,
werden auch wieder Menschen wieder so arbeiten, wie
wir es an den Handwerkern der alten Zeit und ihren un-
sterblichen Werken nicht genug bev/undern können: mit
Liebe.
Wenn wir einmal aufrichtig sein wollen, so müssen
wir doch zugeben, daß weder Eitelkeit noch Ehrgeiz schon
jemals etwas Großes geleistet haben. Eitelkeit erfordert
ein Leben für sich, ein zweites Leben neben dem des
Schaffens, ein Leben, das einem in jedem Augenblick
die Muße gewähren muß, mit sich selbst prunken zu
können. Damit sinkt der Respekt vor der Wahrheit und
Notwendigkeit dahin, Dinge und Menschen werden zu
bloßen Mitteln herabgedrückt, und ihr Selbstzweck geht
verloren, der Entschluß verliert Charakter und Richtung
und wird zum bloßen Spiel. Wer Jahre und Jahrzehnte
am kläglichen Werk seiner Laufbahn gearbeitet hat, dem
ist Welt und Leben nicht mehr der Herrgottsgarten, son-
dern eine bretterne Bühne der Kabale und Intrige. Sein
Auge wird den reinen Glanz, sein Arm die sehnige Kraft
und sein Herz den kindlichen Willen verlieren, der nötig
ist, um Saat zu segnen und — Ernte. Das Werk verlangt
den ganzen Menschen, verlangt ihn bei Tage und Nacht,
und hinter dieser Aufgabe bleiben die Stärksten und Be-
gabtesten zurück, wenn sie gleichzeitg nur immer daneben
ihr eigenes Vorwärtskommen im Auge haben. Aber auch
Ehrgeiz hat noch niemals etwas Dauerndes geschaffen.
Wer das Beispiel jenes gewaltigen Dämons von Korsen
anführen wollte, der wäre vollkommen in die Irre ge-
203
gangen. Wenn der Fanatismus dieses Riesen die Welt
aufgewühlt hat, so war das darum, weil er allerdings —
das muß man ihm lassen — zu jenen gehörte, die nicht
sich selbst, sondern der Sache leben. Ein vielleicht wahn-
sinniger, aber jedenfalls wahrhaft königlicher Fanatismus.
Nicht um der Oper willen im Heiligtume von Notre-
Dame oder um des feierlichen Gepränges willen in Erfurt
hat Napoleon sich selbst jedes menschliche Gefühl aus
dem Herzen gerissen, sondern einzig und allein für die
Macht des Kaisertumes.
So gibt es nur eine Kraft, die darauf aufgebaut ist
und ein Recht hat, Autorität und Macht für sich selbst
zu fordern, und das ist die Verantwortung. ,,Nie wird sie
Macht fordern um des Menschen und seiner Freude
willen. Verantwortliche Herrschaft ist Dienst, doch nicht
der mystische Dienst eines Despotengottes, der Willkür
verleiht, weil er Willkür übt, der Anbetung verleiht, weil
er Anbetung fordert, sondern Dienst am idealen Gedan-
ken, der die andern zum gemeinsamen Werk emporreißt.
Verantwortliche Herrschaft macht den König zum Knecht,
den Knecht zum König, nicht, um von ihm bestimmt zu
werden, sondern um ihn im Geist zu seinesgleichen zu
erhöhen. Sie verlangt nicht Unterwerfung und Gehor-
sam, sondern Mitwirkung und Folge; Kniefall und Buhler-
schaft ist ihr verächtlich, Pomp und Götzenweihe ein
Greuel. Wer Lust hat, über Sklaven zu herrschen, ist
selbst ein entlaufener Sklave. Frei ist, wem Freie willig
folgen und wer Freien willig dient1)." Die Freude des
Despotismus ist die Freude an der Selbstüberhebung, das
Vergnügen an der menschlichen Gemeinheit, an Glanz,
Ruhm und Neid. Die Freude der Verantwortung ist
Freude an der Gefahr, an Arbeit und Sorge, und Freude
am Schaffen. Ehrgeiz fördert Schwache und Toren
ans Licht, Wille zur Verantwortung offenbart die Fähigen
•) D. Hl. S. 211, Sep.-Ausg. S. 198.
204
und Erwählten. Sie wird der Welt an Stelle irreführender
Urinstinkte die höheren Impulse geben, ohne die sie nicht
vorwärts kommen kann.
Das ganze Leben wird sich umgestalten, sobald diese
Grundsätze Anwendung finden werden. Nicht der Kampf
ums Dasein vergiftet in Wahrheit das Leben; weit mehr
tut das der Kampf um die Kleinigkeiten, die Eitelkeiten,
die Nichtigkeiten, den Tand und das Nichts. Ins äußere
Leben wird wieder Ruhe einkehren, sobald wir einmal
den grellen Verlockungen und Reizen gegenüber un-
empfindlich bleiben werden, sobald der aufdringliche
Bettel und Schrei, die freche Anpreisung der Verkäufer
nicht mehr als etwas Selbstverständliches gelten v/erden.
Dann wird uns auch nicht mehr Not drohen, und so wer-
den wir auch nicht mehr die frühere Ausrede haben, wie
damals, zu drängen und zu schieben und unsern Nächsten
zu überrennen. Arbeit wird ernst, still und würdig wer-
den, da wir ja schon von selbst nicht mehr das Über-
flüssige zu begehren brauchen und die Begehrlichkeiten
der anderen auch schon nicht mehr alle Quellen des Be-
hagens erschöpfen werden. Die Stätten des giftigen
Luxus, der verpesteten Freuden und der geistlosen Ver-
gnügungen werden abwandern, zunächst nur nach Vor-
städten und Mittelpunkten der Industriearbeit, dann nach
dem Balkan und schließlich bis tief in die tropischen Be-
zirke. Freien Zutritt zu ihnen wird natürlich jeder haben,
der sich außerhalb jeder Kulturgemeinschaft stellen will.
Dann werden auch die Frauen ihre bunten Flitter, Vogel-
federn und glänzenden Kiesel freudig ihren schwarzen
Schwestern, den Negerweibern, überlassen. Bereicherung
wird dann nicht mehr als ein allgemeines, natürliches und
erlaubtes Ziel gelten. Technik, dieser Schlüssel zur Welt
der Mechanik, wird uns auch fernerhin dazu dienen, den
Menschen immer mehr in seinen physischen Tätigkeiten
zu entlasten, doch werden die materiellen Vervollkomm-
nungen gleichwohl nicht mehr als höchste Ideale gelten.
205
Der Verkehr unter den Menschen wird ein ganz anderer
werden. Heute ist die Stimmung menschlicher Beziehung
Fremdheit, muß also auf diese Weise Feindschaft sein.
Jedem, den wir nicht kennen, dürfen wir im Geschäfts-
leben die Karte der Interessen, gemildert durch ein ge-
wisses Maß rein förmlicher Höflichkeit, entgegenkehren.
Lernen wir uns näher kennen, so wird die Höflichkeit
zur Fratze und bleibt nach wie vor Feindschaft, weil sie
ja ihren Ursprung aus dem blutigen Wirtschaftskriege ab»
leitet, der ja auch dann noch besteht. Ebenso wird später
auch einmal das allgemeine ewige Mißtrauen verschwindea.
Wird die Menschheit erst einmal durch die Gesetzgebung
gegen Armut und Krankheit so geschützt, wie sie es in
unseren Tagen etwa gegen Mord und Diebstahl wird,
dann wird auch die Zeit aufhören, daß ein Mensch für
den anderen zum Geier wird und sich die Völker in Ra-
serei aufeinanderstürzen. Das allerinnerlichste Gefühl
aber wird das der Solidarität sein. Unsere Handlungen
werden ihre Richtschnur finden „im Bewußtsein der
Gottespflicht, die uns in dieses Leben gestellt hat, die uns
verantwortlich macht für die Verwaltung und Gestaltung
jeder Sehne unseres Leibes und jeder Fühlung unsres
Geistes, die von uns fordert nach dem Gesetze der Ver-
göttlichung den Aufstieg vom tierischen zum geistigen,
vom geistigen zum seelischen Dasein1)."
Dieses Reich der Seele nun wird unserem Sittenleben
seine Einheit und sein ins Wanken gekommenes Gleich-
gewicht wiedergeben. Dereinst wurden ihnen diese durch
die Religion und später durch die Vernunft gesichert.
Aber die Religionen sind ja nicht mehr von der Prophetie
belebt, haben sich vielmehr zu Dogmen und Kirchen ent-
wickelt. Die moderne Wissenschaft hat jene Naivität des
Denkens in uns vernichtet, ohne die nun einmal die Reli-
gionen nicht leben können. Die Obmacht der Vernunft,
») D. m. S. 217, Sep.-Ausg. S. 203.
206
die heute ihre Stelle einnimmt, ist nicht weniger gebrech-
lich, weil diese, unfähig bis zum Wesen der Dinge vorzu-
dringen, es nicht hat erreichen können, eine Sittenlehre
oder eine Philosophie zu begründen, die nicht der Kritik
unterworfen wäre. Der schauenden Kraft oder
seelischen Einsicht, wie wir das, was lange
unter der Bezeichnung Intuition verstanden worden
ist, im Sinne Walther Rathenaus nennen möchten, fällt in
Zukunft diese Aufgabe zu, und sie wird sich ihrer schon
zu entledigen wissen. Es gibt keine Frage, die, bezöge
sie sich auch auf die fernsten und geringfügigsten Gegen-
stände, wenn sie in diesen göttlichen Seelen- und Liebes-
quell untertaucht, nicht in ihm den Kern von Wahrheit
und Bedeutung spiegelte, den sie in sich einschließt. Alle
Werte stufen sich ab und alle Urteile gewinnen die Le-
benskraft der Gefühle. Es ist nicht zu befürchten, daß
das Denken und Leben in einer Art quietistischer Be-
schaulichkeit erschlaffe. Je mehr wir meditativem
Schauen Raum geben, je häufiger unser mühseliges Urteil
durch die reine Erkenntnis berichtigt wird, desto leiser
und sicherer fühlen wir, arbeitet unser Intellekt, desto
tiefer versinkt er in die Sphäre der Gewißheiten. Es
soll damit nicht etwa der Triumph einer Abnahme an in-
tellektualem Denken vorbereitet werden, sondern der
Sieg des psychologischen Urteils des Allerweltsintellekts.
Anstatt daß heute alles, was nur irgendwie denkbar ist,
bewiesen wird, wird in Zukunft eine sichere Richtschnur
ermöglichen ohne jedes Schwanken Gut und Böse zu
unterscheiden. Wir brauchen nicht zu befürchten, daß
uns die Beseitigung von Haß und Gleichgültigkeit ver-
hängnisvoll werden könnte. Im Gegenteil: Nihilismus und
materieller Afterglaube werden alle Daseinsberechtigung
verlieren, denn die Verzweiflung wird schwinden, die zur
Verleugnung treibt, und die Not, die alle abergläubischen
Betteleien und seichten und abgedroschenen Gebete um
irdischen Vorteil lehrt, und der Geist des Dankes und der
207
Hingebung, des Schweigens und der Liebe wird zum Him-
mel emporsteigen in wahrhaftiger Transzendenz.
Eine neue Religion wird erstehen zu ewigerem Leben
und weiterer Verbreitung als die der verschiedenen Kir-
chen. „Ich halte," schreibt Walther Rathenau, „die Kir-
chen für irdische Formen — Mechanisierungsformen
nannte ich sie — , die den reinen Glauben umschließen,
ihn gegen den Abbruch der Zeiten schützen, ihn den
Mengen nach Art und Begabung anpassen. Ich glaube an
die Dauer, die heilige Aufgabe und die wachsende Ver-
geistigung der Kirchen und preise zumeist diejenigen, die
ein lebendiges Dasein der Erneuerung und Entwicklung
sich organisch bewahren. Ich glaube aber auch an die
Möglichkeit des kirchenlosen Glaubens, der freien Ge-
meinde und des persönlichen Bekenntnisses. Ich erblicke
das Maß der irdischen Glaubenskraft nicht in der Be-
kennerzahl einzelner Religionsformen, sondern in der
Intensität der religiösen Durchdringung des Lebens1)."
Das Evangelium Glaube, Hoffnung und Liebe, das der
letzte Prophet den Jahrtausenden zugerufen hat, es bleibt
ewig lebendig. Unser Zeitalter hat diese drei Tugenden
zu verhöhnen und einen kümmerlichen Rest wahrer Chri-
stenliebe als schwimmendes Friedenseiland auf den stür-
mischen Wogen des Meeres der Begierden bei dem reli-
giösen Schiffbruch treiben zu lassen vermocht. Aber
seien wir sicher: sie sind nicht untergegangen und wer-
den alle drei wieder auftauchen, um uns nunmehr als Leit-
sterne zu leuchten, im sozialen Sinne unseres wirtschaft-
lichen Lebens umgedeutet.
Es bleibt den Skeptikern überlassen auf Grund der
sich ewig gleichbleibenden Menschennatur die Möglich-
keit einer solchen Umdeutung zu bezweifeln. Darum
handelt er sich ja gar nicht. Was bedeutet die Ruhe auf
dem Grunde der Meerestiefe, wenn an der Oberfläche
l) Eine Streitschrift vom Glauben S. 40-41.
208
fortwährende Veränderungen vor sich gehen? Das
Seelenleben der Menschen wird weiter schwanken, wie
immer wieder seit den ältesten Zeiten. Eines Tages wer-
den unsere Nachkommen, wenn sie an unser Zeitalter zu-
rückdenken, nicht weniger erstaunt sein als wir selbst
sind, wenn wir versuchen, uns die vorgeschichtlichen Zei-
ten lebendig zu machen, in denen der aufrechte Gang, das
Eisen und die Sprache aufkamen. Es braucht nicht ge-
sagt zu werden, daß die Menschheit gezwungen werden
sollte, sich auf eine unbekannte Bahn zu wagen und auf
ein ihren Begierden entgegengesetzes Ziel loszugehen. Im
privaten wie im politischen Leben handelt nun einmal der
Mensch heute nicht mehr mit der Unabhängigkeit eines
für sich lebenden Einzelwesens, sondern unter dem steten
Zwange sich selbst nur als Teilchen einer höheren Ein-
heit betrachten zu müssen. In demselben Augenblick,
wo diese Auffassung auch auf das wirtschaftliche und so-
ziale Leben ausgedehnt wird, in demselben Augenblick
wird auch die Anarchie und Zügellosigkeit, die hier herr-
schen, auch hier einer höheren Freiheit Platz machen.
Eine neue Aera wird sich anbahnen, in der das Eigentum
nur noch als die Verwaltung eines uns anvertrauten Gutes
betrachtet werden und es kein Dasein und keine Arbeit
mehr geben wird, die als ihr einziges Ziel den Genuß, den
Gewinn und die Macht kennen.
Sollen wir nun durch Gesetze und Einrichtungen,
durch Vorkampf und Werbung, durch Vorbild und Kund-
gebung das Kommende beschleunigen? Diese Anwan-
delung einer unmittelbaren Willensäußerung wird auch
uns nutzlos erscheinen, wenn wir uns nur daran erinnern,
daß die neue Gesinnung, die das Aufkommen der neuen
Einrichtungen bestimmt, schon ganz von selbst nach eini-
gem Widerstreben dem allgemeinen Weltenlaufe ge-
horcht. Sie gehorcht ihm nicht anders wie die Uhr der
Feder, durch die dieselbe in ihrem Innern getrieben wird.
Kein Vorstellen der Zeiger kann die Bewegung des Räder-
u 209
Werkes auch nur irgendwie beschleunigen. Lassen wir
doch das wirtschaftliche Gewissen ruhig und langsam
wachsen und reifen. Die Verkündigung des Reiches der
Seele ist geschehen, die vorübergehenden Widerstände
einiger noch immer verschlossener Geister können seine
Verwirklichung doch nicht hemmen, wenn erst die Stunde
seiner nun einmal unaufhaltsamen Vollendung geschlagen
haben wird. Wenn sich jedoch solche sittlichen Umwand-
lungen auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete voll-
ziehen sollen, müssen zunächst erst die Hindernisse be-
seitigt werden, die ihnen in seiner gegenwärtigen Gestalt
und Auffassung der Staat unfehlbar in den Weg legen
würde. Wenn es erst gilt, das lecke Boot unserer Ge-
sellschaft im Transzendenten und Absoluten zu ver-
ankern, wenn uns erst die gestaltende Kraft einer neuen
Ethik nottut, dann kann auch der Staat nicht mehr in die-
ser Mischung von Ueberliefertem und notdürftig Zuläng-
lichem beharren und sich mit ihr immer weiter dahin-
schleppen. Die ethische Erneuerung aber muß, wenn sie
Bestand haben soll, von einer politischen begleitet sein.
210
Kapitel VII.
Die politische Erneuerung
Der Leser wird sich noch einmal vor Augen zu füh-
ren haben, eine wie hervorragende Rolle der Staat in dem
Denken eines Walther rvathenau spielen muß. Der neue
Staat wird bei ihm zum bewegenden Mittelpunkte alles
wirtschaftlichen Lebens; was die Gesellschaft treibt und
schafft, geschieht ausschließlich durch ihn und um seinet-
willen; er verfügt über Kräfte und Mittel seiner Glieder
mit größerer Freiheit als sämtliche alten Monarchien;
der größere Teil des Wirtschaftsüberschusses fließt ihm
zu; in ihm verkörpert sich der ganze Wohlstand des Lan-
des. Nun ist bekannt, was für Opfer der Krieg von der
Gesamtheit fordern sollte. Und schon daraus ergibt sich
sogleich mit Notwendigkeit, daß der Staat in seinem gegen-
wärtigen Aufbau dem Untergange geweiht sein muß. Die-
ser zum sichtbar gewordenen gesamten Volkswillen er-
hobene Staat kann kein Klassenstaat sein. Herrschten
in ihm weiterhin ständische Schichtungen oder wie immer
geartete bevorrechtete erhebliche Mächte, so wäre die
Unfreiheit, unter der Deutschland litte, zur Unerträglich-
keit und zur Vernichtung des innersten Gedankens wie
der äußeren Existenz gereift. Wie sollten auch die in
Zukunft erforderlichen Opfer von Klasse zu Klasse ver-
langt werden? Nein, nur das gesamte Volk kann diese
Opfer ausschließlich wieder von sich selbst verlangen und
an sich selbst gewähren. ,,Es wäre das schwerste Un-
recht und die ungeheuerste Verantwortung, wenn nach
orientalischer Art erbliche Kasten die Vormundschaft
14* 211
gottähnlicher Macht sich anmaßten und namens der Gott-
heit Opfer verlangten, die der Priester verzehrt1)."
Der Staat, der allein die Möglichkeit bietet, seine
heutige Riesenaufgabe zu bewältigen, ist allein der Volks-
staat. ,,Der Volksstaat setzt voraus, daß jede Bevölke-
rungsgruppe in ihm zur Geltung komme, daß jede berech-
tigte Eigenart des Volkes sich in seinen Organisationen
spiegle, daß jeder verfügbare Geist der ihm adäquaten
Aufgabe dienstbar gemacht werde. Wie in einem ge-
sunden Hausstand, sollen Arbeit, Autorität, Beziehung
und Verantwortung, Stimmung, Aufwand, Gemeingefühi
und Vertrauen in harmonischer Teilung und Vereinigung
wirken, nicht, wie in einer Fabrik, wo die Schicht der
Besitzer die Erträge bezieht, die Schicht der Beamten die
Verwaltung leistet, die Schicht der Arbeiter im Tagelohn
dient, nicht, wie in einer Kolonie, wo unter dem Schutz
der Waffen die Gruppe der Freien auf der Masse der
Heloten ruht2)."
,,Der Staat soll sein das zweite, erweiterte und ir-
disch unsterbliche Ich des Menschen, die Verkörperung
des sittlichen und tätigen Gemeinschaftswillens. Eine
tiefe Verantwortung soll den Menschen an alle Handlun-
gen seines Staates binden; die gleiche Verantwortlichkeit
soll ihm bewußt machen, daß jede Handlung, die er be-
geht, eine Handlung des Staates ist. Wie im Anblick der
transzendenten Mächte kein Denken oder Handeln ge-
ring oder indifferent sein kann, so gibt es innerhalb des
Staates keinen verantwortungslosen Bereich. Die drei-
fache Verantwortung: den göttlichen, den inneren und
den staatlichen Mächten gegenüber, schafft jenes wunder-
volle Gleichgewicht der Freiheit, das nur dem Menschen
beschieden ist; indem wir die Richtung des Gewissens;
zum Staate so fest gewinnen, daß die Tendenz ins Un-
bewußte versinkt und zur Natur wird, haben wir das
l) D. III. S. 311, Sep.-Ausg. S. 292. *) D. III. S. 259, Sep.-Ausg. S. 243.
212
Maß der Staatsgesinnung geschaffen, das die Nation zur
echten überpersönlichen Einheit erhebt und unsterblich
macht1)"
Wenn dem so ist, wie fern steht dann diesem Ideal
Deutschland! Wie ist es selbst in bezug darauf anderen
Völkern gegenüber zurück!
Die große Bewegung, die zum Schlüsse des 18. Jahr-
hunderts überall die bis zum Zerreißen verdünnte und ge-
spannte Feudalschicht zugunsten der ungebildeten Mas-
sen gesprengt hat, hat auch Deutschland nicht verschont,
dieses Volk indessen in einer ganz eigenen Weise berührt.
In den meisten westeuropäischen Ländern vollzog sich
das Empordringen der Unterschichten zur selbständigen
historischen Rolle und zur Teilnahme an den Staatsge-
schäften mit einer geradezu vulkanischen revolutionären
Gewalt. In Deutschland hingegen ging es nur als verspä-
tete Nachwirkung der Stürme in den Nachbarländern ganz
gemächlich vor sich, so daß es nur von Zeit zu Zeit öfter
einmal in örtlichen Volkserhebungen und Kongressen, in
Parteikämpfen und Bürgerkriegen in die Erscheinung trat.
So bekamen hier die Massen, weil sie sich nicht, wie wo
anders, mit einem Schlage durchgesetzt hatten, auch nicht
die Verantwortung der Herrschaft, drangen aber dafür,
wie Wasser bei einer Ueberschwemmung, zäh, langsam
und unbewußt, zur Oberfläche; sie empfingen Herren-
rechte, ohne deshalb Herrenpflichten auf sich zu nehmen.
Die herrschende Kaste nämlich, zum großen Teile aufge-
sogen oder auch häufig überflutet, blieb in kleinen, aber
mächtigen Resten erhalten, namentlich auch in Preußen.
Die wirtschaftliche Herrschaft mußte sie mit der neuen
plebejischen Plutokratie teilen, die Verwaltungsherrschaft
trat sie zum Teil an eine Beamtenkaste ab, die sich be-
mühte, sich ihr immer mehr zu assimilieren, aber auf dem
Lande behielt sie nach wie vor ihre erste Stellung, wi« ihr
l) D. III. S. 273-274, Sep.-Ausg. S. 257.
213
auch das Verfügungsrecht über alle Stellen im Heere dank
ihrer Verbindung mit dem Herrscherhause gesichert blieb.
Vor allem gelang es auch dieser Adelskaste, ihrem Ge-
blüte, wenn auch nicht die unverfälschte Reinheit, so
doch eine Art höhere Züchtung zu erhalten. Man muß
bloß mal so eines der vornehmeren preußischen Regi-
menter beim Vorüberziehen betrachten. Die Offiziere von
stählerner Schlankheit, feinen und scharfen Gesichts-
zügen, tadelloser Ausstattung auf edlem Rassepferde, die
,, Kerls" untersetzt, plump und dick, breit und schwer jenen
gegenüber in ihrer Erscheinung wirkend, mit vereinzelten
Ausnahmen, wenn sich einmal zufällig ein Holsteiner oder
Friese in diese Regimenter verlaufen hat, und es wird
einem sogleich auf den ersten Blick deutlich werden, daß
sich in Deutschland so wie in keinem zweiten Lande der
Adelsdurchschnitt von dem Volksdurchschnitt abhebt.
Damit hängen nun wieder gewisse charakteristische
Unterschiede der beiden Klassen in ihrem Temperament
zusammen. Der gemeine Mann, der sich vollkommen des
Abstandes zwischen ihm und seinem Vorgesetzten be-
wußt ist, verehrt diesen mit einer schon von Vater zu
Sohn ererbten Unterwürfigkeit. Er läßt sich ruhig mit
Du anreden, von dem scharfen Griff der weißen Hand zu-
rechtrücken und übt bereitwillig die mit dem ganzen
Körper zu leistenden Ehren- und Dankesbezeugungen
aus. Nur mit einigem Widerstreben wird er dem gebil-
deten Vorgesetzten aus bürgerlichem Stande die gleiche
halb unbewußte Vergötterung zollen wie dem Junker,
und dieser tritt so auf, als ob er gerade wirklich schon mit
der Geburt die hundertjährige Erfahrung seiner Rasse mit-
bekommen hätte. Ja, beim Kirchgang am Sonntag, da be-
trachtet er wohl allenfalls seine Leute als Seinesgleichen,
in der Woche aber, da sind sie seine Schutzbefohlenen,
die er besser zu führen und zu versorgen versteht als sie
es jemals selbst könnten. Dieser Verkehr zwischen Unter-
gebenen und Vorgesetzten gilt einfach als etwas Fest-
214
stehendes, der Kritik überhaupt nicht Unterliegendes; er
trägt im wesentlichen noch immer den alten patriarcha-
lischen Charakter. Unleugbar schaffte er das gehorsame
und geschmeidige Volk, das wir ja, ach, nur zu gut kennen
und das sich so recht in den beiden preußischen
großen Organisationen widerspiegelt: der Armee und der
Sozialdemokratie, von denen die eine ländlichen und pri-
mären, die andere städtischen und mechanisierten Ur-
sprungs ist. Doch dieses hingebungsvolle Unterschichten-
und Untertanenbewußtsein, dieser Autoritätsrespekt unc:
dieses Abhängigkeitsgefühl sind in ihrem eigentlichsten
Wesen nicht etwa germanisch, ihr Ursprung ist slawisch.
Diese Züge sind in die Massen gedrungen, ohne daß die
der höherstehenden germanischen Rasse: die mystische
Leidenschaft, der Schaffensdrang, die seelische Sehnsucht
und die seelische Tiefe und Transzendenz dieses Bild
irgendwie bedeutsam verschoben hätten. Gewiß, die ge-
schilderten Qualitäten schaffen sicherlich treue Unter-
tanenverbände, aber das letzte Ziel des Staates kann doch
unmöglich der Untertan mit seinem „beschränkten Unter-
tanenverstand" im Sinne des vormärzlichen preußischen
Ministers von Rochow sein. Die Gefahr, die Deutschland
durch seine Massen droht, ist Unselbständigkeit und Man-
gel an Selbstbewußtsein, edlem Stolz, Verantwortungslust
und eigenem Urteil. Der Deutsche schätzt die Form gering;
denn alle Form ist Beschränkung, Begrenzung und Ein-
seitigkeit, alle Form beruht auf selbstgefälliger Entschlos-
senheit und Bestimmtheit, dann aber auch allerdings auf
dem Drange zur reinen und vollen Weltharmonie; weder
in Künsten noch in Wissenschaften noch auch auf irgend-
einem Gebiete des alltäglichen Lebens hat er formen-
schöpferisch gewirkt, er hat sich hier vielmehr stets da-
mit begnügt, Formen auszunützen oder zu vervollkomm-
nen, die andere erfunden hatten. Er hat auch keine nen-
nenswerte kolonisatorische Kraft entfaltet, da er nun ein-
mal keine Herrennatur, auch nicht im edelen Sinne des
Wortes ist. Er ist meist kleinlich, äußerlich und, um sich
für seine dürftige Lage zu entschädigen, auf den äußeren
Schein erpicht und neidisch; er könnte es nicht ertragen,
daß einmal ein einstiger Leidensgefährte von ihm es zu
Wohlstand oder Macht bringen und sich nun an jene
olympische Tafel setzen und auf ihn verächtlich herab-
blicken sollte, ganz anders als der Amerikaner mit sei-
ner naiven Freude den ehemaligen armen Zeitungsjungen,
den er einst auf den Straßen herumlungern gesehen hatte,
um zu allen Tagesstunden seine Zeitungen auszubrüllen,
nunmehr auf der Höhe seines Lebens als vielfachen Mil-
liardär zu begrüßen.
Diese Fehler und Mängel drücken auf die politische
Tätigkeit der verschiedenen Klassen des deutschen Vol-
kes. Das städtische Proletariat und der kleine Mittel-
stand leben in einem unausweichlichen Abhängigkeitsver-
hältnisse; im bürgerlichen Leben gehorchen sie dem Be-
amten in seiner Schreibstube, in der Werkstatt dem
Direktor, Betriebsingenieur und Zwischenmeister, im Mi-
litärdienst dem Leutnant und Unteroffizier. Wenn sich
der Untergebene selbst wirklich einmal auflehnen sollte,
so ist diese Auflehnung dann nicht etwa ein Pochen auf
sein freies Recht, sondern eine tatsächlich bewußte, mit
einem Reste von bösem Gewissen begangene Rebellion.
Ist eine solche Rebellion organisiert, wie bei der Sozial-
demokratie, so nimmt sie auch wohlweißlich wiederum
sogleich die Form der Subordination an, aber auch in an-
derem Falle sinkt sie bald auf den Ton wehrlosen Dienst-
botenklatsches und trauriger kannegießender Nörgelei her-
ab. Kein Weg führt zu den oberen Bezirken. Reichtum
und Bildung umgeben diese höheren Regionen mit gläser-
nen Mauern, und die tiefe Kluft zwischen beiden Seiten
wird hier auch nicht durch irgendeinen Zug von Gut-
mütigkeit und Zutunlichkeit, wie in manchen südlichen
Ländern, überbrückt. Und für die großbürgerlichen Schich-
ten sinnbildlich stellt sich deren Haltung in der ihres frak-.
216
tionellen Abbildes im deutschen Reichstag, der national-
liberalen Gruppe in demselben, dar. Diese Gruppe vertritt
die großbürgerliche Intelligenz, aber auch die Interessen des
Kapitalismus; sie hütet das alte liberale Ideal, aber die-
ses Ideal gedämpft durch allerhand Zugeständnisse an die
bestehenden staatlichen Mächte und allerlei Vergleiche
mit ihnen; sie neigt zu freier und vorurteilsloser Abgabe
ihrer Meinung, aber sie bedarf der Mittel und Kräfte sie
bevorrechtender Beschützer. Sie könnte die Entscheidung
in Händen haben und hat statt dessen, wenn auch unfrei-
willig, dem Feudalismus gedient, doch ohne irgendwelchen
Dank. So fehlt doch im Grunde genommen dieser Partei
jedes wärmere und tatkräftigere Interesse für Politik, und
nicht anders steht" es mit dem Stande, den sie vertritt.
Für Verwaltung und auswärtige Angelegenheiten sorgen
ja doch Fachleute, und so kann man sich ruhig darauf be-
schränken, seine privaten Angelegenheiten wahrzuneh-
men und die anderen ruhig guten Gewissens diesen tüch-
tigen Fachleuten überlassen. Von Zeit zu Zeit erlaubt
man sich wohl einmal etwas zu kritisieren und besonders,
wenn die lieben eigenen persönlichen Angelegenheiten be-
rührt werden, sogar Einspruch zu erheben und selbstän-
digen Einfluß zu nehmen. Sonst im allgemeinen hat man
andere Sorgen. Da handelt es sich vor allem um die
Stellung und die Karriere. Man sieht doch die guten Be-
ziehungen gar zu gern und muß doch die vornehmen Re-
gimentskameraden des Sohnes und die Verwandten des
Schwiegersohnes bewirten, und auf sie Rücksichten man-
cherlei Art nehmen! Ohnehin bleiben mitunter kleine Er-
zrehungsmängel und auch einige kleine zu ergänzende
Bildungslücken zu vertuschen! Gewiß, es finden sich
auch in den großbürgerlichen Schichten Söhne aus alten,
reichen, echten bürgerlichen Patrizierhäusern, doch bleibt
es darum nicht weniger wahr, daß diese Klasse nur allzu
sehr, leider nur allzu sehr, die Gewohnheiten eines Kost-
gängers der Geschlechtsaristokratie angenommen hat.
217
Alles in allem sind die Mängel des deutschen Charak-
ters ausgesprochenermaßen die gleichen, die ein Volk für
eine politische Tätigkeit ungeeignet machen müssen. Bis-
marck beklagte sich nur zu berechtigt in bitteren Tönen
über die so unreife deutsche öffentliche Meinung, die
kein Verständnis für sein Werk zeigte und ihn nur bloß-
stellte. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts ist das deut-
sche Volk zur Nation und viel später erst zum Staate,
aber auch dann noch nicht zum modernen Staate geworden.
So besteht in Preußen-Deutschland nur eine einzige wahr-
haft politische Macht: der konservative Feudalismus1).
Das Volk folgt der Autorität, ursprünglich der der
Feudalen und Geistlichen und, wo es ihr entfremdet wird,
der agitatorischen. Der Sozialismus verfügt über Mas-
sen, die er beliebig leiten und lenken kann, und über Inter-
essen, die er zu vertreten und zu verteidigen hat, aber
er verfügt nicht über eine selbständige geistige Welt-
anschauung2). Der organisierte Katholizismus stellt die
konfessionellen Interessen über die politischen. Der Feu-
dalismus allein besitzt eine historisch-religiöse Weltan-
schauung, die sich aufs glücklichste mit seinen politisch-
materiellen Interessen vereinigt. Er verfügt über die be-
stehende Exekutivgewalt, ist verbündet mit dynastischen,
militärischen und familiären Mächten und zwingt den
mächtigsten Teil des Bürgertums in seine Gefolgschaft.
War denn nun, all dies erwogen, die ganz Deutsch-
land durchzitternde Begeisterung, mit der es in jenen un-
vergeßlichen Augusttagen des Jahres 1914 in den Krieg
zog, wirklich berechtigt? Von dem Siege, der nicht einen
*) Hat sich ja hoffentlich für immer gewendet 1 Man muss natürlich
daran denken, wie weit einige der Rathenau'schen Ausführungen aus
seinem genialen Werke .Von kommenden Dingen* bis tief in die
Vorkriegszeit zurückreichen. Bearbeiter. a) Hier muss schon ein leises
Oho des deutschen Bearbeiters gestattet sein, der des beschränkten Raumes
wegen dem ihm sonst so hochverehrten gründlichen und tief durchdachten
deutschen Politiker leider nicht auf die weiten Bahnen einer breiten
Generaldebatte hierüber folgen kann I R. B.
218
Augenblick zweifelhaft schien, erwartete es nicht nur
Macht und Glück, sondern auch einen herrlichen Triumph
der deutschen Kultur. Der deutschen Kultur? Walther
Rathenau legt in dem Augenblick, in dem er diesen Teil
seines Werkes „Von kommenden Dingen" schreibt,
d. i. im August des Jahres 1916, das interessante Ge-
ständnis ab, daß er niemals so recht von Herzen mit Rück-
sicht auf den inneren Ausbau des Deutschen Reiches an
dieser Begeisterung teilnehmen konnte1). Zwar hatte
er damals noch dasselbe sichere Gefühl der Sieger, wie
die meisten übrigen, aber er sah die Schwierigkeiten und
Schrecken des riesigen Ringens voraus, das er schon
lange hatte kommen sehen. Und er glaubte weit weniger
als die meisten seiner Landsleute „an das Recht Deutsch-
lands zur endgültigen Weltbestimmung — noch an irgend
jemandes Recht dazu — , weil weder die Deutschen noch
andere es verdient haben. Wir Deutsche haben keinen
Anspruch darauf, das Schicksal der Welt zu bestimmen,
weil wir nicht gelernt haben, unser eigenes Schicksal zu
bestimmen. Wir Deutsche haben nicht das Recht, unser
Denken und Fühlen den zivilisierten Nationen der Erde
aufzuzwingen! Denn, welches auch ihre Schwächen sein
mögen, eines haben wir noch nicht errungen: den Willen
zu eigener Verantwortung2)." Die politische Auffassung
Deutschlands ist noch so unendlich unvollkommen, daß es
unmöglich Anspruch darauf machen kann, der Welt vor-
bildlich sein zu wollen. Ganz im Gegenteil gibt es nichts
Dringenderes für Deutschland, als eine Gewissensprüfung
vorzunehmen an eine Durchsicht der strittigen Grund-
x) u. a. : D. III. S. 292, Sep.-Ausg. S. 274-275 und besonders auch
D III. S. 236. Sep -Ausg S.221 u. 222 : »Den Stolz des Opfers und der Kraft
dürfte Ich teilen, doch dieser Taumel erschien mir als ein Fest des Todes,
als die Eingangssymphonie eines Verhängnisses, das ich dunkel und
furchtbar, doch niemals jauchzend und um so furchtbarer geahnt hatte,
und während der Siegeszug über den Westen brauste, .... war mein
Gedanke: Rettung aus Not, aus starrer Umklammerung, aus tötlicher
Friedensfeindschaft " ..Heiss und zuversichtlich glaube ich an glücklichen
Ausgang; darüber hinaus fürchteich". •) D. III. S. 236, Sep.-Ausg. S 221.
219
sätze, auf die sich seine augenblickliche politische Orga-
nisation aufbaut, zu gehen und einmal zu versuchen das
Ideal des Volksstaates in seinem Hause zu verwirklichen.
Da werden vor allem so ein paar bestimmte Vorstel-
lungen auszuschalten sein, die ganz Deutschland ange-
nommen hat, und die es seiner Philosophen- und Profes-
sorenzunft verdankt.
1. Zunächst der Respekt vor der geheiligten Tradition.
Jene Stubenmenschen, die im Gegensatze zu den Tat-
und Geschäftsmenschen denken uncl forschen anstatt zu
wägen und zu beschließen, zeigen eine Neigung die Ent-
wicklung der Welt etwa in der Form einer regelmäßigen
kontinuierlichen Kurve zu betrachten; sie gehen gern auf
die örtlichen, zeitlichen, physischen und sozialen Tat-
sachen zurück, um aus ihnen die Ereignisse abzuleiten
und aus der Vergangenheit Verhaltungsmaßregeln für die
Zukunft zu schöpfen. Alles Unvermittelte und das Aprio-
rische oder Ideelle neuer Theorien stößt sie ab, und sie
würden alles immer nur mit einer gewissen trödelnden Be-
dächtigkeit verändern. Nun kennen die Geschichte und das
praktische Leben solche unfehlbaren Kurven nicht, Die
Kontinuität ist nur eine Augentäuschung; denn sie beruht,
sei es auf der Patina des Alters, die alle schroffen Un-
gleichheiten der Farbentöne durch zarte Uebergänge so
verwischt, daß ihre Ungleichheit überhaupt nicht mehr zu
merken ist und alles zusammenzuwachsen scheint, sei es
auf einer apriorischen Rückgestaltung oder sei es schließ-
lich auf einer ebenso subjektiven Umdeutung der Ver-
gangenheit wie es die der Zukunft sein kann. Wenn
also der Traditionalismus d. h. die Neigung zur Tradition
schon in sich ein Element der Trägheit darstellt und
als solches gerechtfertigt ist, so kann sie unmöglich
als einzige Richtschnur für das Handeln gelten. Es
bedarf besonders in einem an Entschlußkraft so armen
Lande wie Deutschland eines Einschlages von
spekulativem und intuitivem Idealismus, um das
Schwergewicht des Bestehenden zu entlasten. Wagen
wir einmal uns in unserem Kopfe einen Zukunftsplan zu
zeichnen und erkühnen wir uns alsdann die Wirklichkeit,
diesem bisher doch nur bloß theoretischen Plane anzu-
gleichen. Die auch für die Entwickelung sicher ganz not-
wendige Kontinuität wird schon durch die Tradition ge-
wahrt werden, das Ideele aber, und mag es noch so ab-
strakt und ungewohnt erscheinen, wird den verknöcherten
und verholzten Stumpf zu neuen Trieben erwecken.
Es verhält sich ganz ebenso mit dem deutschen Frei-
heitsbegriff, der gleichfalls eine Schöpfung der Stuben-
weisheit deutscher Gelehrter ist. Seines metaphysischen
Beiwerkes entkleidet, besagt er etwa das folgende:
„Zügellos zu sein wünschest du nicht. Zwischen Zügel-
losigkeit und Freiheit liegt die organische Beschränkung.
Du unterliegst keiner anderen als dieser organischen, gott-
gewollten Beschränkung. — Dieser Zwischensatz wird
selten bewiesen, ja vielfach mit dem Hinweis, daß es anders-
wo auch nicht besser sei, abgetan. — Erkennst du dies
an, so bist du innerlich frei; es bleibt dir überdies die
transzendentale, die sittliche, ästhetische und religiöse
Freiheit1)." Eine schöne Gedankenkette, mit der sich
ebenso gut die antike und moderne Sklaverei wie auch
der Absolutismus, die Leibeigenschaft das Sweating-
oder bchwitzsystem und die Kolonialgreuel rechtfertigen
lassen. Denn es dreht sich hierbei alles um den Zwi-
schensatz und seine organische und gottgewollte Be-
schränkung. Und was ist nicht alles als in den gottge-
wollten Rahmen hineingehörig gedacht worden, so alle
die erheblichen Abhängigkeiten von Mensch zu Mensch,
von Schicht zu Schicht, von Religion zu Religion und ge-
legentlich auch von Volk zu Volk! Ist aber dieser ver-
meintlich gottgewollte Entwurf in Wahrheit gar kein or-
') D. III. S. 243, Sep.-Ausg. S. 227.
221
ganischer, so geht er in willkürlichen Zwang über, der
mit der Freiheit nichts gemeinsames mehr hat und den
keine historische Tradition und kein geschichtliches Her-
kommen zu rechtfertigen im Stande sein wird. In der
Tat ist die so definierte Freiheit in Deutschland allein in
der Form der akademischen Freiheit in der Gelehrten-
republik verwirklicht worden, jenem Staate im Staate, in
den nur die Vorsehung der Steuereinnehmer und gelegent-
lich der milde Finger eines Kultusministers leise ein-
greift.
Angenommen nun das völlig Unwahrscheinliche, die
Professoren ließen sich nicht mehr darauf ein, uns als
allein selig machendes nur dasjenige Schiedsgericht anzu-
preisen, das in ihrem geschlossenen Kreise geübt wurde,
wird uns dann die iM.öglichkeit bleiben, uns ein Kriterium
zu bilden, das uns zu der Abschätzung befähigt, ob die
uns in jedem einzelnen Falle auferlegte Beschränkung ge-
rechtfertigt ist oder nicht? Die Antwort Walther Rathe-
naus ist uns bekannt: wir haben jede Bindung als not-
wendig zu erklären, die uns hilft, das gesteckte Ziel zu er-
reichen, als unnütz und unorganisch aber diejenige, die
nichts hierzu beiträgt. Das Ziel aber wird das durch eine
entscheidende Weltanschauung und nicht mehr das durch
Gelehrtendogmen, sondern durch die von den Taten-
menschen anerkannten Bedürfnisse gebotene sein. Diese
Tatenmenschen aber werden sich Begeisterung holen aus
einem festen und harmonischen Glaubensganzen, das
seine Wurzeln in den tiefsten Tiefen der Seele findet.
Bis zum heutigen Tage hat sich noch keine der politischen
Parteien um diesen Leitsatz gekümmert; sie dienten aus-
schließlich ihren unmittelbaren Interessen und nur unter
diesem Gesichtspunkte verboten und duldeten sie auch
wieder gewisse Geschehnisse. Selbst die konservative
Partei, die, wie schon gelegentlich bemerkt, allein über
eine gewisse Weltanschauung, nämlich über die des Chri-
stentums, verfügte, respektierte diese ihre Weltanschau-
222
ung von dem Augenblicke nicht mehr, wo ihre Interessen
mit ins Spiel kamen. Nun, jetzt gilt es, eine kühne Neue-
rung: in dem neuen Staat wird das Freiheitsproblem sitt-
lich und transzendental sein, und das Wohl der Mensch-
heit wird darüber entscheiden, was Unterdrückung und
was Freiheit ist.
Es kommt nun darauf an, endlich einmal mit den
oberflächlichen Zänkereien über die äußere Form des
Staates ein Ende zu machen; es kommt ja wirklich nicht
so auf die Einrichtungen an sich an, sondern doch weit
mehr auf die ganze geistige Atmosphäre, in der sie tätig
sind. Doch nicht Einrichtungen, nicht Verfassungspara-
graphen oder Gesetze schaffen den modernen Staat, son-
dern vielmehr Geist und Wille, gerade wie die Ordens-
bestimmungen der Jesuiten oder Freimaurer nur einen
geringen Teil ihres Wesens und Wirkens enthüllen oder
auch wie zwei Wirtschaftsunternehmungen, deren Satzun-
gen fast bis auf den Wortlaut gleichlauten, doch in der
Art, wie sie geleitet werden, grundverschieden sein kön-
nen. Nun begreift unser Ausdruck „geistige Atmosphäre"
in sich: Ueberlieferungen, Gepflogenheiten, vererbte An-
schauungen von Klassenauffassung. Bräuche für Koop-
tationswahlen, Familienbeziehungen, Reichtumsvorrechte,
Begehrlichkeiten, Anmaßungen und Unterwürfigkeiten,
lauter Dinge, die mit gesetzlichen oder verfassungsmäßi-
gen Bestimmungen nichts zu tun haben. Es sind das Er-
scheinungen des Charakters und Herkommens, die von
den meisten Menschen aus Mangel an Vergleichen und
Gegenbeispielen nicht wahrgenommen werden und mit
um so größerem Rechte mit der Atmosphäre verglichen
werden können, weil es uns sehr leicht begegnen kann,
schlechte Luft an einem bestimmten Orte zu atmen, ohne
uns darüber recht klar zu werden, bis ein frischer Luft-
hauch unsere Nasen und Lungen empfindlicher gemacht
hat. Diese Atmosphäre, in der damals Deutschland lebte,
bewirkte es auch, daß so viele ausgewanderte Deutsche
223
nicht in ihr altes Vaterland zurückkehren wollten, selbst
dann nicht, als sie bereits nicht mehr die heftigsten Aus-
stellungen an ihrer neuen Heimat zu machen hatten, und
so antworteten sie denen, die ihnen von Rückkehr
sprachen: „Nein, niemals! In diese Verhältnisse können
wir uns nicht mehr finden1)."
Der Einfluß geistiger Atmosphäre auf die Gesetze
und Einrichtungen ist groß, trägt er doch dazu bei, neue
zu schaffen und alte abzuschaffen; die Atmosphäre selbst
aber stammt nicht aus Gesetzen und Einrichtungen, wenn
sie auch eine Zeitlang von ihnen gestaltet werden kann.
Deshalb ist es auch irrig, die scheinbaren Grundformen
der Verfassungen wie Aristokratie, Demokratie und Abso-
lutismus als primär entscheidende Begriffe zu betrachten.
„Wenn jemand mich fragt," sagt Walther Rathenau, „ob
ich Demokrat oder Absolutist sei, so kommt es mir vor,
als ob er im Sinne der Scholastik mich auf Nominalismus
oder Realismus prüft; ich kann nur das vedische ,nein,
nein!' ihm entgegenrufen2)." Eine radikale Demokratie
kann im Grunde weiter nichts als versteckter Absolutis-
mus oder plutokratische Oligarchie sein, und umgekehrt
kann eine absolute Monarchie eine nur leicht verhüllte
zügellose Pöbelherrschaft aufdecken. Bis zum äußersten
getrieben wird jede dieser beiden Kategorien sinnlos; nie-
mals kann ein Einzelner alle Macht besitzen; er müßte
denn unendlich sein; niemals kann ein Demos wahrhaft
regieren, er müßte denn aufhören, ein Demos zu sein. Im
Grunde ähneln sich die Institutionen aller Länder in ihrem
Gesamtwesen weit mehr als man denkt und unterschei-
den sich nur in dem sie belebenden Geiste. Die Institu-
tionen müssen sich bei beiden Staatsformen im Laufe der
Zeit schon von selbst in der Geschäftsführung nähern, da
gesunde Republiken allmählich immer konservativer wer-
den und gesunde Monarchien sich ständig liberalisieren.
*) D. III. S. 262, Sep.-Ausg. S. 246. *) D. 111 S. 313, Sep.-Ausg. S. 294.
224
w'enn das Gewissen des deutschen Volkes es wollte, so
würde darum auch „ohne Aenderung einer Zeile des ge-
schriebenen Rechts einschließlich des preußischen Wahl-
rechts1) schon morgen der Volksstaat in Deutschland
seiner Verwirklichung entgegengehen können. Denn,
drängen die tiefen Sehnsuchtsrufe nach Verantwortung
und Freiheit, durch tausende von Stimmen erhoben, bis
in die Seelen der Deutschen, so würde man schon sehen,
wie allen materiellen Sonderinteressen, allem Parteigeist
und aller Arithmetik der Wahlen zum Trotze die rechten
Männer aufstehen und die gesunden Gedanken Gestalt
annehmen würden. Die verschiedenen Parteilehren wären
eben dann nicht mehr, was sie heute sind: Interessen-
programme unter der Hülle einer müßigen Phrasensamm-
lung von Versprechungen und Vortäuschungen, sondern
die natürlichen Gegensätze der verschiedenen Systeme
für die Anwendung gemeinsamer Grundsätze. Nur keine
Bange darum vor den angeblich so gefürchteten Gespen-
stern von Demokratie, Parlamentarismus, Oligarchie und
Absolutismus! Unter den Strahlen der neuen Sonne ver-
blassen alle ihre äußeren Schreckzeichen, und es bleiben
von ihnen nur jene wohl vertrauten geschmeidigen und
bequemen Formen, die wir so ersprießlich und nutzbrin-
gend handhaben können.
Nicht viel anders ist es auch mit dem Absolutismus.
Der absolute Despot hat das Recht und die Macht, jeden
beliebigen Teil seines Volkes, auf den sein Blick gerade
fällt, zu zertreten und zu vernichten. Jedoch der unzer-
tretene Teil — und alle zertreten kann er nicht — be-
herrscht ihn selbst und herrscht durch ihn, wenn auch
unter Sicherung eines gewissen Apparates byzantinischer
x) D. HI. S. 313, Sep.-Ausg. S. 295. Glücklicherweise ist die seiner-
zeit unter dem Zeichen der scheinbar unerschütterlichen Monarchie ent-
standene, aber wohl selbst nicht in dem gleichen Masse unerschütterliche
Theorie eines W. R. durch die Praxis der neuen Republik wenigstens in
den Orundformen ihrer Verfassung überholt worden, ich denke: zu
Walilier Rathenaus Freude. Bearbeiter.
lä
...)
Formeln gegenüber seinem scheinbaren Beherrscher. , .Ab-
solutismus ist Volksherrschaft eines Volksteils über den
andern, und diese Partialdemokratie stuft sich ab bis zu
der feudalen oder plutokratischen Vorherrschaft konstitu-
tioneller Monarchien1)." Es sei nicht etwa eingewen-
det, daß die Person des Despoten sozusagen einen dritten
Faktor, eine dritte besondere Macht vertrete. Kaum in
den großen historischen Stunden der Entscheidung über
Krieg oder Frieden kann die Person des Herrschers eine
solche Macht zum Segen oder Unheil entfalten. In nor-
malen Zeiten ist der Bau des neuzeitlichen Staates so
außerordentlich verwickelt, daß jener dritte Faktor, auch
wenn er mit einer kontinuierlichen Genialität der Unab-
hängigkeit ausgestattet wäre, nicht zu dauernder Wirk-
samkeit gelangen könnte. Auch sind die Zeiten vorüber,
wo der Herrscher eine geheime persönliche und Haus-
machts-, eine kirchliche, ja eine fremdstaatliche Politik
verfolgen konnte. Nicht besser geht es den oligarchi-
schen Regierungen. Auch sie können ihr Uebergewicht
nur durch Sicherung der Gefolgschaft von ergebenen An-
hängern behaupten; während sie anscheinend über einen
Teil des Volkes gebieten, werden sie in Wahrheit von
ihm beherrscht, und allein einem solchen Zusammenwir-
ken verdanken sie die Bändigung der übrigen Masse.
Ganz ebenso ist die Verwirklichung der Demokratie
in ihrer reinsten Form unmöglich, abgesehen vielleicht
von jenen seltenen und kurzen Zeiten des Ueberganges,
in denen der Pöbel das Volk beherrscht und die her-
kömmliche Autorität für einen kurzen Augenblick un-
sichtbar wird. Insoweit aber als es überhaupt keine Re-
gierung gibt, die ohne geordnete Formen dauernd oder
auch nur die kürzeste Zeit zu bestehen vermag, wird das
Volk überhaupt niemals diese Regierung ausüben können.
Es bleibt ihm nur eins: seine Machtvollkommenheiten an
') D. TH. S. 314, Sep.-Ausg. S. 296.
22^
Vertrauensleute zu übertragen und auf diese Weise wie-
der eine Oligarchie und eine Autorität zu schaffen, der es
doch wohl oder übel die ausgedehntesten Vorrechte gegen
sich selbst einräumen muß. Ohne Zweifel bringt dieses
System sehr viele Mißbräuche mit sich, die die Deut-
schen gern übermäßig betonen und wohl noch übertreiben,
um damit das gesamte demokratische System zu kriti-
sieren und zu bekämpfen; es sind das lärmende Wahi-
feldzüge, Bestechung der Wähler, Heraufkommen von
Schwätzern und Abenteurern, Advokaten, Zeitungs-
schreibern und Krösussen und ein Balgen um die Macht
zwischen den Spitzen des Bürgertumes und des Militärs.
Sind denn aber etwa umgekehrt die Monarchien davon
ausgenommen und begegnen nicht einige gute Demokratien,
in denen solche Machthaber und Streber niedergehal-
ten werden? Nein, wenn so etwas vorkommt, hat es nichts
mit der Form der Regierung, sondern mit dem Wesen des
Landes zu tun; es ist ein Geisteszug des Volkes, dem es
entspringt. Uns geht hier nur die folgende Erwägung
an: auch die Demokratie ist nicht sowohl, wie ihr Name
besagt, Herrschaft des Volkes als vielmehr die Beherr-
schung eines Volksteiles durch den anderen, im allge-
meinen die der Landbevölkerung durch die Stadtbevölke-
rung, die der ständig Armen durch die ständig Reichen,
die der Ungebildeten durch die Halbgebildeten oder auch
die wahren Kulturmenschen. Also immer und überall
gleichviel, welches auch die Form einer Verfassung sein
mag, dasselbe Prinzip: ein in eine ewig herrschende und
in eine ewig beherrschte Klasse gespaltenes Volk.
Der wahre Volksstaat, der doch mit den gesamten
veralteten Gewohnheiten bricht, wird sich also recht
wenig um die äußere Form, wohl aber um so mehr um
seinen inneren Ausbau bekümmern! Wenn er einmal
mit einem Ausdruck unserer heutigen üblichen Termino-
logie bezeichnet werden darf, so wird also mit anderen
Worten der Volksstaat eine „Organokratie" sein müssen.
15* 227
Dieser Ausdruck bedeutet, daß diese Art ständigen
Gleichgewichtes zwischen Beherrschten und Herrschen-
den überhaupt nicht eintreten darf, sondern daß in einem
wahren Volksstaat wie in einem lebenden Organismus
ein beständiger Auf- und Abstieg der Geister und Kräfte
herrschen muß. Jedes Glied der Nation wird zu Herr-
schaft und Dienst, Leitung und Leistung aufgerufen wer-
den. Kein Geist darf versumpfen und keiner ungenützt
dahinschmachten. Jeder Fähigkeit muß das ihr zukommende
Maß von Bildung und angemessener Arbeit gewährt wer-
den. Es wird nicht Gleichheit in Rechten und Pflichten
herschen, wohl aber Gleichheit im Zutritt zu allen Be-
rufen; es wird keine durch Stellung oder Geburt Beru-
fene mehr, sondern nur noch Auserwählte geben. Das
Volk wird nicht herrschen und nicht regieren, aber das
Voik wird die sich stets und ständig erneuernde Pflanz-
schule für Herrschende und Regierende bilden, vielleicht
abgesehen vom Monarchen. Immer werden die erb-
lichen Vorzüge erhalten bleiben; denn Bildung, Erfah-
rung und Begabung können sich zwar möglicherweise
vererben; doch um eine entscheidende Rolle zu spielen,
werden die Herrschenden immer wieder den Beweis
ihrer Fähigkeiten geben müssen. Tugend und Veranla-
gung der einzelnen wird in Zukunft ebensowenig aus
bloßer Abstammung zu folgern sein, wie Laster und Ent-
artung. Die höchste und wichtigste aller inneren Auf-
gaben aber wird die Volksbildung und Erziehung sein,
wie die peinlichste Auslese und die sorgfältigste Fortbil-
dung aller Fähigkeiten die Grundlage aller sozialen Arbeit
bilden wird. Religionen und Kulte werden die Unter-
stützung des Staates genießen, jedoch unter freier Ent-
wicklung ihrer Lehren; niemand wird das Recht haben,
geistige Güter der Nation im gemeinen Interesse gewisser
Stände oder Klassen zu mißbrauchen.
„Utopie!" wird eingewandt werden. Doch wer wüßte
nicht, was von diesem so abgenutzten Verlegenheitsein-
228
wand zu halten ist? Ja, ein rein verstandesmäßiger Be-
weis für die einmalige Verwirklichung eines derartigen
Staates wird natürlich immer unmöglich sein, eines
Staates, der unterschiedlos aus allen Schichten des
Volkskörpers seine edelsten Kräfte schöpfen und sich
die Aufgabe stellen würde, aus den sechzig Millionen
Menschen des deutschen Volkes jederzeit eine Auslese
erstklassiger Persönlichkeiten in bisher ungeahnter Menge
herauszufinden! Und das soll genügen, um den ganzen
Gedanken mit einfacher überlegener Ironie abzutun?
Beweise gibt es freilich nicht, wohl aber andere Bei-
spiele, wo die Sache ebenso steht. So überraschend es
zunächst für den Hörer klingen mag, es besteht bereits
in Deutschland eine Einrichtung, die nach diesen Grund-
sätzen arbeitet: das preußische Heer. Es handelt sich
hier nicht um den Eintritt in dieses Heer, der sich noch
immer unter völlig veralteten unzeitgemäßen Bedingungen
vollzieht, sondern vielmehr um den Vorgang und die Art
der freien Auslese unter den zugelassenen Offizieren
für die Erreichung immer höherer Grade. Die Standes-
erwägungen, die ja bereits bei der anfänglichen Zulassung
ihre Rolle gespielt haben, scheiden nun völlig aus, und
es erfolgt jetzt in der Tat die Auswahl auf ganz gleichem
Fuße. Keine Regel ohne Ausnahme, doch im allgemeinen
erfaßt sie die Besten auf Grund von Prüfungen und Er-
wägungen. Sie ist eine demokratische zu nennen, nicht
etwa deshalb, weil sie nach dem Majoritätsprinzipe er-
folgt, sondern darum, weil an dem Heere deutlich zu er-
kennen ist, wie sich hier durch den Aufstieg niederer
Grade nach pflichtmäßiger Auswahl unter den inzwischen
in die Laufbahn neu eingetretenen Offizieren ständig aus
der großen Masse eine Vorgesetztenschicht erneut und
ergänzt, ohne jeden Eingriff von außen, also ohne jedes
Monopol der Anciennität und ohne jede Beschränkung
der Konkurrenz. Es sind im Laufe der Zeit ein paar Mal
nicht ganz so militärische Könige, wie es Preußen sonst
229
: rv ~». -***
gewohnt war, an die Spitze des Heeres getreten; das
deutsche Heer hat deshalb gleichwohl dank diesem
strengen Prinzip seine ganze unerschütterliche Kraft be-
wahrt. Gehen wir also ruhig und unbedenklich an dem
nichtigen Einwand der Utopie vorüber und betrachten wir
nach dem negativen Werke der Zerstörung der Vorurteile
einmal positiv, wie dieser Begriff der Organokratie im
wirklichen Leben Gestalt annehmen wird.
Es handelt sich zunächst darum: Ist dem Staate seine
äußere Macht weiter zu erhalten und zu entwickeln?
Vom rein materiellen Standpunkte aus scheint das über-
haupt keine Frage zu sein, doch unter einem allgemeine-
ren philosophischen Gesichtspunkt stellt sich hier ein Pro-
blem heraus, das wohl eine etwas sorgfältigere Erörterung
verdient. Die Bedeutung eines Staates hängt wirklich
nicht einzig und allein von seiner äußeren Stärke ab.
Haben wir nicht gesehen, welche Rolle die kleinen
Staaten während des Krieges gespielt haben, und wie
sie von den großen Nationen umworben und, womöglich,
um den Ausschlag zu geben, um ihren Beistand gebeten
worden sind? Wenn im Laufe der immer deutlicher
werdenden Entwicklung selbst die bedeutendsten Groß-
staaten an persönlicher Bedeutung einbüßen und in mehr
oder weniger feste Staatenverbände eintreten müssen,
wenn Europa sich immer weiter so „balkanisiert1)", so
werden die Staaten in den verschiedenen wechselnden
Verbindungen vor allem nach Maßgabe der Gesamtstärke
ihre Macht ausüben und, Groß oder Klein, nach der
Ueberlegenheit eingeschätzt werden, die ihr Hinzutreten
der einen oder der anderen vor ihnen geben kann.
Andererseits ist der Einfluß einer Kultur ebenso wenig
') Vgl meine Bearbeitung von Charles R. und Dorothy Fr. Buxton,
.Die Welt nach dem Weltkriege", Berlin 1921, 8°. C. A Schwetschke
& Sohn, Kapitel II, .Die Balkanisierung Europas", S. 13—27. Bearbeiter.
230
zwingend mit der Zahl oder Macht eines Volkes ver-
bunden. Wie wenige Seelen zählte nicht Hellas oderJudäa
und wie groß ist doch ihr Einfluß auf die Menschheit von
dem grauesten Altertume bis in die heutigen Tage hinein
gewesen? Und es gibt doch auch wohl keine Kulturform,
die der aller übrigen Völker so überlegen wäre, daß sie
ihnen zu ihrem Heile mit Gewalt aufgedrängt werden
müßte? Zweifellos! Doch alle diese theoretischen und
abstrakten Erwägungen verlieren ihre Bedeutung, sobald
wir es mit der Welt der Interessen zu tun haben! Wir
kennen diese Welt: sie unterliegt dem Gesetz der Mecha-
nisierung und lebt heute mehr als jemals zuvor unter
dem Zeichen der beiden Phänomene, durch die sie sich
kennzeichnet: den politischen Nationalismus und den
wirtschaftlichen Imperialismus. Der bisher nur im Gehei-
men ein Dasein fristende wirtschaftliche Wettkampf war
allmählich so erbittert geworden, daß schließlich ein blu-
tiger Zusammenstoß bei hellstem Tageslicht erfolgte. Die
Friedensverträge werden leider dem kein Ende zu machen
vermögen. Unter diesen Bedingungen, und solange noch
das heutige Uebergewicht andauert, dessen Sturz noch in
weiter Ferne zu liegen scheint, liegt für uns leider noch
eine Nötigung vor, auch ein Recht des Staates auf äußere
Macht anzuerkennen. Wie sollte er auch diese Macht
entbehren können, wenn er die ihm heutzutage zufallende
riesenhafte ethische, soziale und wirtschaftliche Aufgabe
erfüllen will?
Seiner Form nach wird der Staat nach Walther
Rathenaus vorkriegszeitlicher Prophezeiung auch weiter
eine Monarchie bleiben, wenn auch eine Monarchie von
einem ganz neuen Geiste! „Nicht aus bloßer Abneigung,"
so sagt er, „gegen Wahlumtriebe und Streberei, gegen
Advokaten- und Publizistenmache bin ich Anhänger des
monarchischen Gedankens, sondern aus angeborener
Empfindung und der Ueberzeugung, daß an der Spitze
staatlicher Macht ein tief verantwortlicher Mensch
§31
stehen soll, allen Wünschen, Strebungen und Ver-
suchungen des gemeinen Lebens enthoben und entrückt;
ein Gerechter, nicht der Ankömmling einer glücklichen
Laufbahn1)." Zur Sicherung einer guten Leitung des
Staates bedarf es eines Organs, das gegen die alltäglichen
Interessenzusammenstöße geschützt dastehen muß, und
aus diesem Grunde nicht dem Gesetze jener beständigen
Erneuerung unterworfen sein darf, das, wie wir gesehen
haben, auf alle übrigen Kräfte der Nation anzuwenden
ist. Doch wie soll sich denn so sehr die Zukunfts-
monarchie von den bisher in Deutschland und Europa
bekannten unterscheiden: Die alle einer internationalen
Familie angehörigen und durch verwandtschaftliche
Bande untereinander verknüpften europäischen Dynastien
bekundeten von jeher eine gewisse Anschauung, die etwa
der mancher größerer Rittergutsbesitzer nahestand, und
eine Neigung ihre Staatsgebiete als Hauseigentum und
ihre sogenannten Untertanen als eine Art lebendes In-
ventar zu betrachten. Eine unüberbrückbare Kluft trennte
sie von den Völkern. Hieraus entwickelte sich nun all-
mählich eine Gegensätzlichkeit zwischen Herrscher und
Volk, die bei dem Herrscher auf einem überkommenen
Grauen vor jeder Demokratie und jedem Radikalismus,
kurz vor allem, was seine Machtfülle zu bedrohen schien,
und bei dem Volke auf mehr oder weniger lebhaftem Wi-
derstände beruhte. Hieraus entwickelten sich auch jene
Gunstbezeugungen, die die Herrscher dauernd dem erb-
lichen, sei es grundbesitzenden, sei es militärischem
Adel bewilligen zu müssen glaubten, weil sie auf ihre
Unterstützung rechneten und voraussetzten, daß dieser
Stand dieselben Interessen wie sie zu verteidigen habe
und wisse, daß sein Glanz nur einen bloßen Widerschein
von dem strahlenden Lichte der Krone bedeute. Mit
einem Wort, die Dynastien schlössen sich immer mehr
*) D. Hl. S. 263, Sep -Ausg. S. 247. In der Separatausgabe diese Worte
anders: .nicht der Arrivierte einer glücklichen Karriere". Bearbeiter.
232
von unserem neuzeitlichen Leben ab und hielten sich da-
durch für stark, daß sie sich auf einen ganz bestimmten
Teirthres Volkes stützten. Eine vollkommen überlebte
Weltanschauung und ein höchst verhängnisvoller Irrtum.
Diese mittelalterliche Atmosphäre muß unbedingt ge-
säubert werden, wenn der moderne Volksstaat irgend-
welchen Bestand haben soll.
Die Gegensätzlichkeit zwis.hen Herrscher und Volk
ist gar nicht so unlösbar, wenn wir nur einmal bereit
sind bis zu den untersten Tiefen des so menschlichen
Problems hinabzusteigen. Wenn nur der Herrscher ein-
sehen wollte, daß eine Dynastie allein dann von wahr-
haftem Bestände sein kann, wenn sie sich auf die Ge-
samtheit des Volkes stützt, daß die Autorität keineswegs
dadurch sich mindert, sondern im Gegenteil sich nur noch
erhöht, wenn sie sich auf das gegenseitige Vertrauen
von Untertan und Herrscher aufbaut, daß der Monarch
nicht bloß der erste Diener seines Staates, sondern
ebenso ein allen gleichberechtigter Teilhaber der großen
nationalen Gemeinschaft ist, dann wird eine neue leben-
dige und starke Monarchie in die Erscheinung treten,
die mit jenen Hausständen zu vergleichen ist, in denen
etwa bereits erwachsene und zum Teil schon selbständige
Söhne sich willig der Autorität des Vaters unterwerfen,
weil sie ihn lieben und schätzen und gern seipe erfahre-
nen Ratschläge hören. Es bedarf weiter keiner bedäch-
tigen Staatsverträge, noch mehr oder weniger erzwun-
genen Verfassungen; es bedarf nur einer natürlichen und
ehrlichen freien Vereinbarung zwischen Fürst und Volk,
und die Monarchie wird fest begründet sein1).
Auf gleiche Weise wird auch der Parlamentarismus
weiter bestehen und auch noch geläutertere Formen an-
') So schrieb Walther Rathenau vor der Revolution. Ob er heute
noch so denkt? Jedenfalls kehrt, wenn ein Volk erst eine Republik hat
und wirklich für sie reif ist, keine Mcnarchie mehr wieder, besonders,
wenn sie selbst abgewirtschaftet hat. Bearbeiter.
233
nehmen können. Jeder kennt die schweren Mängel die-
ses Räderwerkes aller modernen Politik. Die heutigen
Parlamente sind nur noch ein elendes arithmetisches
Zerrbild des Landes, als dessen Vertreter sie angeblich
gelten. Das Parlament redet, doch seine Rede gilt
weniger der Beratung der Regierung, wie das doch wohl
grundsätzlich gedacht ist, als der Vertretung gewisser
lokaler Interessen ihrer Wähler. Die Zahl der Parlamen-
tarier, die das Wort nehmen, ist übrigens sehr gering;
die meisten unter ihnen begnügen sich vielmehr mit Sta-
tistenrollen; sie betreiben ihre privaten Angelegenheiten,
mit denen sie bisweilen die Behörden geradezu drang-
salieren. In einer nur allzu abgeschlossenen Atmosphäre
gewinnen die persönlichen Fragen zu viel Bedeutung,
noch dazu in einer, die manchmal von Stürmen durchtobt
wird, die keineswegs in irgendwelchem Zusammenhange
mit den großen Bewegungen zu stehen brauchen, die
gerade das Land durchbrausen. Die Trennung der ver-
schiedenen Gewalten wird keineswegs immer genügend
beachtet; die Regierung muß die Initiative zu fast allen
Gesetzen geben, und das Parlament, das die ihm vor-
gelegten Gesetzentwürfe häufig genug in der Versenkung
verschwinden läßt, übt jedenfalls auf die ausübende Ge-
walt einen Druck aus, soweit es dieselbe nicht tatsäch-
lich an sicii reißt. Muß noch in diesem Zusammenhange
besonders auf das ganze Elend des deutschen Parlamen-
tarismus hingewiesen werden? Hingewiesen auf die un-
gleichen Wahlkreise, die kläglichen Wahlreglements, den
beinahe im ganzen Lande fehlenden politischen Sinn, die
Verhandlung der Kleinen Anfragen im Reichstage vor
leeren Bänken, die Feindseligkeit der unverantwortlichen
Regierungen und die Gleichgültigkeit der besten Elemente
des Volkes.
Und dennoch sind die Parlamente aus mehr als
einem Grunde unentbehrlich. Ihnen ist die Oeffentlich-
kcit und Kontrolle der Handlungen der Regierung zu
2B4
verdanken. Wenn in den öffentlichen Sitzungen nicht
gerade große Arbeit gemacht wird, so wird um so mehr
in den Fraktions- und Ausschußsitzungen gearbeitet.
Sind also die Parlamente in sich selbst nur ein mehr oder
minder verzerrendes Abbild des Landes, so liefert doch
ihr Dasein demselben Lande die Gelegenheit und Möglich-
keit seine manchmal etwas wirren Wünsche zum Ausdruck
zu bringen; das politische Leben, das sie hervorrufen,
veranlaßt die Bildung großer Parteien, die sich über die
Fragen rein örtlichen Interesses erheben und aus ihrer
Mitte Führer wählen, die die Sprachrohre der verschiede-
nen Interessengruppen des Volkes sind. Das Parlament
ist somit eine Art Börse der politischen Parteien, insofern
als sie das politische Leben erleichtert, und vertritt so
die politischen Interessen, wie es die eigentliche Börse
mit den reinen Finanzgeschäften tut. Aber hierzu kommt
ein zweiter noch gewichtigerer Grund: lang, lang ist's
her, da konnte wohl noch ein hausväterlicher Monarch
alle Geschäfte seines Königreiches selbst kennenlernen
und überwachen, da dessen Verwaltung nach Art und Gc-
schäftsumfang kaum über die eines großen neuzeitlichen
Betriebes hinausging. Heutzutage haben die Amtsstellen
eines beliebigen Einzelbereiches, wie beispielsweise die
Telegraphie oder Gesundheitspflege einen größeren Um-
fang als die sämtlichen verschiedenen Stellen der fride-
rizianischen Verwaltung zusammengenommen. Nun kön-
nen nicht etwa alle diese Verwaltungen ruhig ihrer alten
einfachen Geschäftsführung frei überlassen bleiben; denn
sie würden alsbald verknöchern und in Inzucht unter-
gehen, wie etwa ein russischer Tschin. Aber an wen
sollen sich die Interessenten der einzelnen Verwaltungen
denn mit ihren Entschlüssen wenden? Unmöglich an den
Herrscher selbst! Denn wehe dem Monarchen, der in
unseren Tagen die Kühnheit oder auch die Verblendung
hätte, in alle Fragen persönlich einzugreifen! Auch nicht
an einen Senat oder an ein Tribunal; denn hier würde die
235
unabhängige Beweglichkeit fehlen. Auch nicht an stän-
dische Korporationen, die sich zu sehr von materiellen
Berufsinteressen beherrschen lassen. In alten Zeiten bil-
dete einmal die Kirche diese unabhängige Instanz. Heute
kommt nur noch das gesamte Volk in Betracht als die
Stelle, die diese Aufgabe erfüllen könnte, so g'oß auch
die Schwierigkeiten sein mögen, die sich, wie wir gesehen
haben, seiner Tätigkeit überall in den Weg stellen. An-
statt also die Mängel des Parlamentarismus zum Vorwand
zu nehmen, um nach seinem Verschwinden zu schreien,
ist vielmehr seine grundsätzliche Notwendigkeit zu ver-
künden, und sind seine Mängel im praktischen Leben zu
meiden.
Die erste Reform wird darin bestehen, die Ab-
stimmung nach Wahlkreisen zu beseitigen und sie durch
ein gesundes Proportionalsystem zu ersetzen; diese Re-
form ist noch wichtiger als selbst die Reform des
preußischen und des mecklenburgischen Wahlsystemes.
Das Zweite wird die Ausgestaltung der politischen Par-
teien und ihrer Organisationen sein. Das Dritte wird
sein, den deutschen Parlamenten die Möglichkeit einer
schöpferischen Mitarbeit an der Regierung zu geben
außerhalb der bloßen Gesetzesmacherei und Bewilligung
von Anleihen. Hierunter ist nicht etwa nur die Ge-
winnung einiger Ministerportefeuilles für die Abgeord-
neten oder die Einsetzung von ein paar parlamentarischen
Kontrollkommissionen zu verstehen, die die Verwaltungen
durch ihre beständigen Kritiken oder auch albernen Rat-
schläge lähmen. Es handelt sich um weit mehr. Die Ab-
geordneten müssen tatkräftig an der Leitung der Ge-
schäfte teilnehmen, um sich nicht auf eine rein negative
Aufgabe zu beschränken, sich in Fühlung mit der prak-
tischen Wirklichkeit zu unterrichten, das Gefühl einer
verantwortlichen Führerschaft zu gewinnen und selbst die
Tätigkeit auszuführen wissen, die sie bei anderen zu kon-
trollieren berufen sind. Werden diese Männer auf diese
236
Weise wirklich mit den öffentlichen Angelegenheiten
vertraut, mit den Akteuren der großen europäischen
Bühnen besser bekannt und lernen sie auf diese Weise
das, was durchführbar ist, von dem ein für allemal
Undurchführbaren unterscheiden, so werden sie ihrer-
seits wieder die politischen Parteien belehren, die ihrer
Verantwortlichkeit bewußt nun nicht mehr bloß ganz
sinnlose prunkende Phrasen, sondern bestimmte, klare
und auch tatsächlich erfüllbare Ziele in ihr Partei-
programm schreiben werden. So wird das System ver-
schwinden, das die Gegner Deutschlands mit dem unzu-
treffenden Namen Militarismus bezeichnet haben und das
in einer Undurchsichtigkeit, einem launenhaften Willen
und einem unruhigen Zickzackkurs bestand, verbunden
mit stärkster militärischer Macht, feudaler Atmosphäre
und fügsamer Lenksamkeit eines geradezu unglaublich ver-
trauensseligen Volkes. Vor allem muß hier ein besonders
bei den konservativen Parteien beliebt gewordenes Argu-
ment zurückgewiesen werden, die auszuführen pflegen,
es sei für Deutschland in Anbetracht seiner von allen
Seiten gefährdeten geographischen Lage geradezu eine
Lebensnotwendigkeit, sich einen starken und gewisser-
maßen halbstarren Verwaltungsaufbau ängstlich zu er-
halten. Ganz im Gegenteil, gerade diese Lage fordert
die Betätigung hoher Beweglichkeit und Gelenkigkeit,
Fähigkeit zu zeitweiligem Opportunismus und dann
wieder großer Anspannung, und endlich einen hohen
Reichtum an lebendigen Kräften. Nun, diese lebendigen
Kräfte sind die dafür so notwendigen Staatsmänner, und
sie werden Deutschland allein durch die Schule eines
freien und tätigen Parlamentarismus geliefert werden.
Doch diese äußeren Wandelungen im politischen
Mechanismus Deutschlands sind nicht das Entscheidenste.
Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß die Aen-
derung dieses und jenes Verfassungsparagraphen gar
keinen Nutzen hat, wenn nicht zu gleicher Zeit der sie
287
beherrschende Geist neu belebt wird. Um mitten im
internationalen Wettrüsten den Daseinskampf siegreich
zu bestehen, muß sich das deutsche Volk vor allem den
Fundamentalgesetzen anpassen, von denen die lebenden
Organismen geleitet werden. Seine physischen Gelegen-
heiten sind begrenzt wie die eines Menschen, eines Tieres,
eines Waldes, doch ihr Ertrag kann sich verzehnfachen
durch die Macht des Geistigen, die die Natur meistert,
Gewalten bändigt, die Kraft des Bodens hebt, das ver-
schiedenste Siechtum heilt und die Geschlechter kom-
mender Menschen kräftigt und veredelt. Es kommt n m
vor allem darauf an, wie wohl diese Macht des Geistigen
sich äußert und wie es möglich ist, ihren Antrieben fol-
gend das alte Deutsche Reich in einen wirklichen deut-
schen Volksstaat umzubilden.
Zunächst tut nun eine gewisse Lebensenergie not,
die beständig in einer und derselben Richtung arbeitet.
Wenn zwei gleichstarke Organismen miteinander ringen,
so siegt auf die Dauer derjenige, der weiß, was er will.
In jedem Augenblick sät blinder Zufall die Körner, aus
denen die Geschicke der Zukunft hervorgehen können:
ein Kind hat vielleicht die Eichel eingepflanzt, aus der
der Eichbaum entsprossen ist, ein Kiesel den Lauf eines
Stromes verändert und der Rausch eines hohen Herrn
den Grund zu einer neuen Dynastie gelegt. Aber dank
ihrer inneren Kraft und ihrem beständigen Emportriebe
sind gewisse Saaten aufgegangen, doch andere wieder
vertrocknet. Nicht anders aber muß ein Staat, wenn er
leben und wachsen will, von einer inneren Kraft bewegt
werden, die, ohne in der Gegenwart zu verweilen, durch
ein ständiges sehnsuchtsvolles Drängen zu einer glück-
licheren Zukunft den Sieg davonträgt. In politischer Be-
ziehung sind die Bedingungen dieser Kraft: Sorgenlosig-
keit im höchsten Sinne des Wortes, die Freiheit von per-
sönlichen Wünschen und Trieben, ein Lebensüberschuß
238
ausgedrückt in Humor und geistiger Souveränität, freie
Verfügung über eine unbegrenzte Zukunft ohne Furcht
für eigene Lage und Nachkommenschaft.
Aber wo finden sich denn die Bedingungen dieser
starken politischen Richtkraft innerhalb Deutschlands
verwirklicht? Etwa in den Dynastien? Aber die Erb-
reihen, in denen ununterbrochen Friedrich und Karl
wechseln, sind viel zu stark durch die Verteidigung des
eigenen Thrones beansprucht, viel zu stark, wie Bismarck
sagte, den Einflüssen von Frauen und Günstlingen unter-
worfen und viel zu stark durch territoriale Erobe-
rungen gelockt. Oder etwa in den Parlamenten die sich
in ewig wechselnden Tagesfragen, Nörgeleien und Ge-
setzesmacherei verlieren? Oder etwa bei den Parteien,
die fast immer nur dieselben Bestrebungen kennen und
unter den verschiedensten grellen, doch im Grunde gar
nicht so unähnlichen Parteibannern sich balgen? Oder
aber wohl bei den Ministern? Sicherlich kommt ihnen
eine gewisse traditionelle Stetigkeit zugute, insofern sie
in Deutschland nur dann ins Amt kommen, wenn sie,
welches auch ihre ursprüngliche Partei sein mag, ge-
nügende Sicherheiten für jene Art herrschender, konser-
vativer Weltanschauung feudalistisch-professoraler Fär-
bung gegeben haben. Aber selbst zugegeben, sie mögen
fünf, ja zehn Jahre im Amte bleiben, zu lang, wenn sie
unfähig sind, zu kurz, wenn sie ein weitschauendes Werk
schaffen wollen. Übrigens ist genügend bekannt, mit
welchen elenden Nichtigkeiten sie ihre beste Zeit hin-
bringen müssen. Es hat keinen Zweck, daran zu zwei-
feln: Deutschland besitzt wirklich nicht das Organ, das
die Stetigkeit der Richtkraft zu sichern verstünde; es
ist das eine Folge seiner diplomatischen Minderwertig-
keit, zeigten doch die von dem wildesten und anschei-
nend zügellosesten Parlamentarismus regierten Länder
zum mindesten eine gewisse Stetigkeit im Fanatismus,
mit der sie den Erfolg erzwangen. Daher auch jenes
239
allgemeine Mißtrauen in der ganzen Welt gegenüber
Deutschland, dessen ewig schwankende Politik als Zwei-
deutigkeit aufgefaßt wurde. Daher endlich seine es so
lange beherrschende Unfähigkeit, seinen eisengepan-
zerten Machtstaat, den Schiedsrichter Europas, sei
es nach außen, sei es im Innern zu fördern, da-
her die Schwäche, mit der es sich infolge von
Bündnissen zwischen anderen Völkern, die es duldete
oder sogar noch begünstigte, die Führung in Europa hat
entreißen lassen, und daher jene fette Beleibtheit, die
sein allmächtiger Körper dank seinen technischen und
finanziellen Mitteln gerade anzunehmen im Begriffe war
und die durch den Krieg dahinschmolz.
In Wirklichkeit geziemt es und gelingt es allein dem
Volke, dem Staate auf die Dauer jene Ständigkeit der
Richtung zu geben. „Richtung geben kann nur das Volk,
nicht als herrschender Pöbel noch als Masse, sondern als
Schoß des Geistes, dem die Zeiten seine Saat entlocken,
das politisierte, denkfähige Volk, vergeistigt in Parteien,
die Parteien vertreten durch ihre Organisationen, vor
allem durch ihre Führer, Staatsmänner und Denker1)."
Für einen, der nur an unser bisheriges politisches Leben
und Parteiwesen dächte, wäre ein solches Programm
einfach zum Lachen! Doch wir müssen weiter blicken.
Solange die Parteien nur die kleinlichsten Pfennigfuch-
sereien und Befriedigungen persönlicher Eitelkeit be-
trieben, solange sie die Sorge um die öffentlichen Ge-
schäfte ausschließlich den angeblichen Fachmännern über-
ließen, die oft nur die unzuständigsten Dilettanten und
ödesten Schwätzer waren, solange war das politische
Leben der Nation nicht steigerungsfähig über das Ni-
veau der elendesten provinziellen Bezirksvereine und die
Verwirklichung des Volksstaates völlig unmöglich. Aber
die großen Lehren des Krieges können doch nicht ein-
l) D. III. S. 340, Sep.-Ausg. S. 320.
240
fach verloren sein. Sie haben uns gezeigt, daß, so sehr
wir auch durch Meinung gespalten sind, wir alle doch
nur ein und dasselbe Volk bilden und wir nur uns selbst
und niemand anders die Sorge und den Schutz für Gut
und Blut anvertrauen dürfen. Niemals dürfen wir wieder
unsere Interessen und Profite in den Vordergrund, Volk
und Staat erst in die zweite Linie stellen, das Göttliche
aber ganz im Hintergrunde vergessen, um es nur allen-
falls einmal Sonntags und Feiertags hervorzuholen. Nie
wieder dürfen wir unsere Geschicke den Berufspolitikern
und den Kannegießern am Stammtische überlassen.
Unsere politische Lehrmeisterin muß die Not sein; sie
soll von nun an unsere politische Erziehung gestalten!
Die an Klugheit und Stärke Hervorragendsten, die sich
bisher ausschließlich ihren industriellen und geistigen
Arbeiten widmeten und die Handhabung der Staats-
geschäfte als etwas ihnen Fremdes ansahen, werden end-
lich Willen und Verantwortung fühlen, sich an dem öffent-
lichen Leben zu beteiligen. Sie werden, was sie haben
und können, in die Wage werfen und die Wirtshaus-
berühmtheiten der Ortsbezirke aufwägen; die Politik wird
aufhören, das Tagesspiel der kleinen Interessen zu sein
und zur Willensorganisation des Staatsvolkes werden.
Die öffentliche Meinung gefällt sich darin, die Vielgestal-
tigkeit der Bestrebungen und Ansichten in Deutschland
dafür verantwortlich zu machen, wenn niemals aus ihm
eine einheitliche Willensrichtung hervorgehen und sich
blöde Hirtenweisheit weiter erblich fortschleppen und an
uns herandrängen wird. Aber die Diagonale der Kräfte
braucht nicht bloß die Resultante von zwei Kräften zu
sein, nein, sie ist auch oft die Resultante von beliebig
vielen Kräften. Der Wille des Volkes soll sich Bahn
brechen; hat aber das Volk etwa nicht mehr die Energie,
diesen Willen zum Ausdruck zu bringen, nun, dann
ist es reif für die Knechtschaft. Es ist dabei immer
wieder daran zu erinnern, daß unter dem Willen
16 241
eines Volkes nicht zu verstehen ist der Ausdruck
irgendeiner augenblicklichen Laune, sondern das durch
seine besten Elemente gefühlte und geäußerte aus seiner
tiefsten Tiefe kommende Wollen. Nur um solches Wollen
handelt es sich, das den ganzen Staat beseelen muß;
es ist das wie mit dem menschlichen Organismus; auch
er wird nicht von den niederen Trieben geleitet, sondern
vielmehr von seiner gesamten geistigen und seelischen
Wesenheit, die freilich jedes einzelne der vielen Organe
zu schützen und zu unterstützen hat.
Noch schlimmer ist ein zweiter Mangel gewesen, der
der deutschen Politik anhaftete. Er muß gutgemacht
werden! Unserem Lande haben die führenden Menschen
gefehlt, worunter es noch schwerer gelitten hat als unter
dem gänzlichen Fehlen leitender Ideen. Können doch
nur solche und nicht etwa eine kleine herrschende Klasse
einem Lande den gesunden Impuls geben. Wer nicht will,
daß die Probleme nur gestreift und alsbald bei Seite ge-
schoben oder mit jämmerlichen Kompromissen gelöst
werden, wer nicht will, daß theaterhafte Vorführung und
Pose für geschichtliche Größe genommen werden, der
muß auch wollen, daß das gesamte Volk in der Lage sei,
im Ueberfluß die Arbeiter zu liefern, die es mit hellem
Blick und unternehmendem Mut leiten und führen wür-
den. Ist dieses so notwendige Ziel nicht zu erreichen, so
ist das deutsche Volk ein für allemal verloren.
Was war aber statt dessen bisher allein in Deutsch-
land zu sehen? Die hauptsächlichsten Beamten rekru-
tierten sich fast ausschließlich aus einem Kreise, der sei-
nem Umfang nach außerordentlich beschränkt, aber auch
abgesehen davon durch seine überlieferten Anschauungen
und herkömmlichen Klassenbegriffe für die neuzeitlichen
Aufgaben zu wenig vorbereitet war. Liegt es wohl im
Bereich der Möglichkeit, daß ein adliger Grundbesitzer-
stand — um ihn handelt es sich vor allem dabei — , der
nur fünftausend Seelen umfaßt, ausreichen kann, die Ver-
242
waltungskaders einer Nation zu füllen, die über sechzig
Millionen zählt? Ohne irgendwie die schönen Tugenden
der Arbeitsfreudigkeit, der Aufopferung und des Idealis-
mus der deutschen Verwaltungsbeamten leugnen zu wol-
len, werden wir uns doch die Frage stellen müssen, ob
es denn nicht einfach zuzugeben ist, daß sie bereits ver-
jährte und veraltete Traditionen verewigen, aber es an
einem Maße von Kenntnissen, Beweglichkeit, Entschluß-
kraft und Wagemut fehlen lassen, das heute überall ver-
langt wirdl Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die
Verwaltung eine einfache Kunst; die in nicht allzu großer
Zahl auftauchenden neuen Fragen konnten doch immer
auf Präzidenzfälle zurückgeführt werden, die Massen
waren weder anspruchsvoll noch widerspenstig, und die
Erfahrung des Greises galt mehr als das unüberlegte Un-
gestüm des Jünglings. Heutzutage, wo das Leben Bedin-
gungen stellt, die das gerade Gegenteil von dieser patri-
archalischen Ruhe voraussetzen, laufen die Dinge natür-
lich ganz anders, und vor allem laufen sie schnell. Die
Unmöglichkeit von heute wird schon morgen eine über-
holte Alltäglichkeit sein. In jedem Augenblick erheben
sich neue, bis dahin unbekannte Schwierigkeiten. Es be-
darf eines ebenso hohen Maßes an Entschlußkraft und
Wagemut, wie früher an Uebung und Geduld. Man er-
innert sich wohl, wie noch im Herbst 1813 die Verbünde-
ten monatelang vor dem Rheine liegen blieben, weil in
einem Lehrbuch der Kriegsgeschichte zu lesen war, ein
Fluß sei ein Abschnitt, und vor einem Abschnitt müsse
man neue Kräfte sammeln. Hätten sie es lieber wie Na-
poleon gemacht, der den Sieg errang, weil er mit den
handwerksmäßigen Ueberlieferungen brach und ganz
allein seinem Genie folgte. Das hat die deutsche Ver-
waltung noch immer nicht begriffen, und, wenn wir auch
im Jahre 1914 sich einige glückliche Neuerungen in
Kriegszeiten haben vollziehen sehen, so sind sie, soweit
sie sich bewährt haben, nicht das Werk der Staatsgewalt,
16»
243
sondern einzelner Privatpersonen, die diese aufzuklären
und mit sich fortzureißen gewußt haben.
Das alte Ideal von einem tüchtigen preußischen Be-
amten ist durch das neue Bild einer Summe von Verwal-
tungseigenschaften zu ersetzen, die die Bedürfnisse
unserer Zeit besser zu befriedigen verstehen werden,
und für deren Zusammenfassung die deutsche Sprache
wohl nicht bloß zufällig keine rechte Bezeichnung
hat, einer Mischung von Verwegenheit und Ent-
schlußkraft, von Skepsis und Optimismus, die ein-
fachen Naturen unmöglich verständlich sein kann
und die großen Meister der Politik stets bei Leb-
zeiten unpopulär gemacht hat. Es läßt sich das alles
vielleicht in dem einen Ausdruck „Geschäftskunst" zu-
sammenfassen, in dem die alte Bedeutung des Wortes
„Geschäft" fühlbar wird, das von „Schaffen" kommt. Es
muß der Zugang zu den gesamten staatlichen Stellungen
von nun an stets allen offenstehen, die nur irgend dafür
Befähigung von Natur erhalten und dann weiter ausge-
bildet haben. Auch der Adelsstand wird natürlich nicht
von ihnen ausgeschlossen sein, aber da er nach Her-
kommen und Sitte zu denen gehören wird, bei denen jene
Gaben am seltensten vertreten sind, und da seit Fried-
richs des Großen Tode Deutschland tatsächlich keinen
großen europäischen Staatsmann hervorgebracht hat, wer-
den sie von nun an nicht mehr auf Grund irgendwelcher
Bevorrechtung Zutritt zu ihnen haben, sondern ausschließ-
lich auf Grund der von ihnen abgelegten Proben der Be-
fähigung. So werden wir bald auch alle jene dunklen
Machenschaften verschwinden sehen, die es den wenigen
Söhnen des Bürgerstandes ermöglichten, in die Reihen der
herrschenden Klasse einzutreten, handelt es sich doch
allemal darum, die vorgeschriebene staatserhaltende Ge-
sinnung zu haben und über gute Beziehungen und warme
Befürwortungen an den verschiedenen Höfen zu verfügen.
Dieser Ersatz vermochte wohl etwa die numerische
244
Stärke dieser Klasse zu erhöhen, nicht aber ihren Geist
zu ändern oder ihren Wert zu steigern, verwendete doch
dieser Ersatz seine ganze Sorge darauf alle ihre Bräuche
und Ansichten mit erkünstelter Treue nachzuahmen. Ein
weiter Ruf wird an das gesamte Volk ergehen, und dann
ist es doch wohl undenkbar, daß Deutschland nicht eben-
so viele dem Lande nützliche Staatsmänner hervorbrin-
gen sollte wie England, dem es noch niemals an solchen
gefehlt hat, oder auch Frankreich, das nach einer furcht-
baren Niederlage „dank seiner Staatskunst im Laufe von
vierzig Jahren, während deren Deutschland von der
Hegemonie herabstieg, sich zu erholen, seine Wehrkraft
wiederzuerlangen, drei Kolonialreiche zu erwerben und
die stärksten Allianzen Europas, die im Gegensatz zu
zwei der unsern die Belastungsprobe des Krieges ertru-
gen, zu schließen gewußt hat1)."
Die Hauptsache bleibt schließlich, daß die Wider-
standskraft des staatlichen Leben Deutschlands sich nicht
bloß nicht gemindert hat, sondern umgekehrt noch ge-
wachsen ist. Die Reichstagstagung des 4. August 1914 hat
offenbart, welche stolze Größe für ein Volk darin liegt,
sich ganz in den Dienst einer die ganze Nation angehenden
Sache zu stellen. Doch die politischen Sitten Deutsch-
lands waren damals derartige, daß in der Tat so mancher
über diese einmütige Begeisterung erstaunt gewesen ist,
da er sie nicht für möglich gehalten hätte. War es doch
damals gewohnheitsmäßiger Brauch, eine ganze Hälfte des
Volkes den Staatsgeschäften fernzuhalten und ihr nur
das kümmerliche Recht der Kritik in den öffentlichen
Versammlungen zu überlassen, sowie sie auch als eine
minderwertige Klasse zu betrachten, in deren Bekehrung
Schule wie Kirche eine ihrer Hauptaufgaben sahen. So
begnügte sich denn dieses Volk einfach wohl oder übel zu
gehorchen und in äußerlichen und eitelen materiellen Be-
') D. III. S. 352, Sep.-Ausg. S. 331.
245
friedigungen eine Entschädigung für dieses halbe Hörig-
keitsverhäitnis zu suchen. Eine solche Zerreißung des
Volkes muß natürlich auf die Dauer seine gesamte Wider-
standskraft lähmen. Aber das deutsche Volk ist nicht
dazu da, in einem Staatenverbande zu wohnen, der nicht
in jedem Sinne sein eigen ist und wird unmöglich seine
ganze Seele nur daran geben, Einrichtungen zu beschir-
men, die das Vorrecht Einzelner bedeuten. Es gab nur
zu viele deren, die in dem Gefühle von der Leitung doch
ein für allemal ausgeschlossen zu sein nur lässig an dem
Werke arbeiteten, das doch wahrhaftig eine Sache aller
sein sollte. Diese Gegensätzlichkeit muß verschwinden,
wenn anders die deutsche Nation einen vollständigen und
starken lebendigen Organismus bilden soll. Sie würde
auf diese Weise auch der Monarchie breitere und festere
Grundlagen geben und ebenso, von einem inneren Gefühl
der Solidarität und Verantwortlichkeit getragen, im Da-
seinswettkampfe der Völker mit Glück bestehen.
In dem gleichen Maße, wie sich der Krieg immer wei-
ter in die Länge zieht, stellt sich auch die Notwendigkeit
einer völligen Erneuerung als immer dringender, ja als
dringender wie je zuvor, heraus, und ein neues Licht fällt
auf eine große Reihe bisher unverstandener oder zum
mindesten mangelhaft aufgefaßter Tatsachen. Walther
Rathenaus während der letzten drei Kriegsmonate er-'
schienenen drei Streitschriften enthalten Kritiken an dem
früheren Zustande der Dinge, die, wenn sie auch im
wesentlichen auf dieselben Punkte wie die in seinen bis-
herigen Schriften hinauskommen, doch noch weit schär-
fer und bestimmter sind, und Aufrufe an die Schöpfer des
zukünftigen Neubaus, die an Leidenschaft und Wucht
alles bisherige in den Schatten stellen.
Hier ein kurzer Einblick in das erste Kapitel seiner
Streitschrift „Zeitliches", das die Ueberschrift trägt: „D e r
246
wahre Grund politischer Fehler." Das
deutsche Volk beginnt zu fühlen, daß ein Menschenalter
fehlerhafter und unglücklicher auswärtiger Politik das
Beste verscherzt hat, was das vorletzte Geschlecht mit
Waffen und Bündnissen bereitet hatte. Es klagt seine Di-
plomaten an und verlangt weithin vernehmlich ihren Er-
satz durch neue Kräfte. Aber es sieht nicht, daß das
Uebel weit tiefer liegt, daß es die Unstetigkeit der Lei-
tung, der Führerschaft ist, unter der das öffentliche deut-
sche Leben leidet. Bismarck allein war unantastbar und
sogar praktisch unabsetzbar, „inamovibc 1", wie man
es damals nannte, und ist es noch bis einen Tag unmittel-
bar vor seinem Sturze gewesen; e r durfte die von der
Hand in den Mund lebende Politik verschmähen, um sich
die Verwirklichung großer Pläne angelegen sein zu las-
sen. Doch was, Wenn er heute wiederkäme? In wenigen
Monaten wäre auch e r gestürzt. Wie alle übrigen, würde
auch er sich abnützen und sich in den Fußangeln ver-
fangen, die ja so geeignet sind, die Bemühungen derjeni-
gen lahmzulegen, die die so vergängliche Last der Regie-
rung auf sich nehmen, Fußangeln, wie sie gebildet werden
durch den Monarchen und seine so einflußreiche und
ebenso unverantwortliche Umgebung, durch die Hohen
Bundesfürsten, durch den Bundesrat, durch den Reichs-
tag, ein demokratisches Organ, das sich aber beständig mit
jenem Autokratismus reibt, der es nur widerwillig duldet,
durch die anderen gleichfalls von dem Herrscher gewähl-
ten Minister, mit denen man nur durch ein gleiches Stre-
ben zu einem unbestimmten konservativen Ideal hin ver-
bunden ist. Der Kanzler, ein unglücklicher Mann in einer
unglücklichen Stellung, der statt helfen zu können sich
aus der Ohnmacht seines Glanzes nur in eine skeptische
Ironie, eine betrübte Resignation oder eine völlige Ah-
nungslosigkeit von allem, was um ihn vorgeht, flüchten
kann! Sein ewiger Kampf mit den eigenen Ministerial-
heamten, die alle die kleinen und feinen Kriffc und Pfiffe
247
der Verwaltung kennen, mit ihren Tricks vertraut sind und
sich in ihrem verwickelten Räderwerke mit einer Ge-
rissenheit zurechtfinden, als ob sie mit allen Hunden ge-
hetzt seien, diesen Beamten, die praktisch unabsetzbar
sind und tatsächlich eine anonyme Regierung ausüben.
Der inoffizielle Einfluß der Parlamentarier, der in keinem
anderen Lande der Welt, Italien eingeschlossen, so groß
ist wie in Deutschland und der sich in Entgegennahme
von Beschwerden, Interventionen und häufig auch halb-
amtlichen Aufträgen äußert! Die Presse, die eine der-
artige Stellung hat, daß ihr der Minister etwa so wie ein
junger Einjähriger einem alten bärbeißigen und unbestech-
lichen Feldwebel der Friedenszeit gegenübersteht, der
bestenfalls Freundlichkeiten duldet, jedoch keine erweist!
Der Nepotismus, der sich allerdings auch nicht minder
wo anders eingeschlichen hat und überall bekannt ist!
Schließlich die gebieterischen Einsprüche einflußreicher
Vertreter widersprechender Wirtschaftsinteressen. Alles
in allem: eine Menge von Hemmvorrichtungen und kein
Propeller, „ein neunundneunzigfaches Veto ohne Jubeo."
Ob ohne das Lockmittel der ehrenden Gnadenbezeugun-
gen oder die mystische Anziehungskraft, die die hohen
Staatsstellungen begleiten, sich noch Menschen finden
würden, die sich noch immer um diese Staatsstellungen
bewürben, ist mehr als fraglich. Welche Besserungsrezepte
wurden aber wohl herangezogen, wenn es gar zu schlimm
kam? Immer die nämlichen: ein Verein, eine Zeitschrift,
ein Ausschuß oder Beirat, eine Lehranstalt, ein Staatszu-
schuß oder eine öffentliche Kollekte. Glaubt man in
Deutschland wirklich auf diese Weise gesund zu werden,
oder glaubt man es nicht vielmehr durch eine völlige Er-
neuerung des praktischen Lebens, wie sie Walther
Rathenau in großen Zügen gezeichnet hat.
Und jetzt ein weiterer Blick auf ein zweites Kapitel,
dessen Titel diesmal lautet: ,,VonWahl- undVolks-
vertreter n." Der Grundsatz der Unentbehrlichkeit
248
des Parlamentarismus scheint gesichert. Die Beweise der
Reife und Mündigkeit, die das Volk während des Krieges
gegeben hat, gestatten schlechthin unter keiner Bedin-
gung auch nur irgend jemanden, mag es sein, wer es wolle,
politische Minderrechte zuzumuten. Es darf nicht mehr
vorkommen, daß die Gegner Deutschlands auch in Zu-
kunft die Völker Europas in zwei Klassen von Nationen
teilen dürfen: solche, die die Fähigkeit haben, ihr Schick-
sal selbst zu bestimmen, und solche, die zu ihrer Führung
noch eine Vormundschaft brauchen, und sie dann Deutsch-
land mit Recht in die zweite Klasse verweisen
können. „Die Spiegelung des Volkes in seiner
Vertretung muß eine vollkommene sein; finden
sich im Volkskörper ungeläuterte Stellen, so sollen
sie auch im Abbilde sich finden, damit sie offen-
kundig werden und Abhilfe heischen; das natür-
liche Bild ist mit seinen Unklarheiten besser und wirk-
samer als das retuschierte oder gefälschte1)." Dieses
Bild wird aber, um wirklich den Anspruch auf Vollkom-
menheit machen zu dürfen, auch das Frauenstimmrecht
für die politischen Körperschaften einschließen müssen.
Das Pluralwahlsystem wird wieder aufzugeben sein, ist es
doch nichts weiter als eine „Demagogie von oben8)." Das
manchmal so gepriesene System eines berufständischen
Parlamentes ist ebenso zu verwerfen. Denn „ein Inter-
essen- und Interessentenparlament würde sich in innerster
Reibung erschöpfen; jede Partei würde um Tages vorteile
käuflich sein; die Fragen des Geistes und der Gesittung,
der Menschlichkeit und Zukunft würden zu Tauschwerten;
und schließlich fiele alles der Regierung anheim, die in
solchem Parlament ein Werkzeug besässe, jedoch ein un-
brauchbares, abgestumpftes, sich selbst verzehrendes3)."
Das Wesentliche wird sein, daß die Parlamente in Zu-
kunft vermöge einer besseren Zusammensetzung nicht
«) Zeitliche! S. 41. 2) Zeitliches S. 45. 8) Zeitliches S. 39.
249
mehr aus soviel Durchschnittsmenschen bestehen, deren
bloße Gegenwart schon zum großen Teile die Gleichgül-
tigkeit rechtfertigte, mit der ihnen das Volk gegenüber
stand; insofern ist auch Reform der Parlamente noch weit
dringender als Reform der Regierungen. Vor allem aber
wird dies für die verschiedenen deutschen Oberhäuser
gelten; ,,in ein Oberhaus gehören nicht Menschen, die
etwas vertreten, weder Meinungen noch Interessen noch
Berufe noch Herkommen, sondern Menschen, die etwas
sind, etwas können und etwas geschaffen haben. — Wich-
tig ist, daß eine Kammer, der eine hohe Aufsicht über
Verwaltung und Gesetzgebung zugesprochen ist, vornehm,
bedeutend, gerecht und menschlich sei1)."
Die Zeit ist nun einmal vorüber, heißt es ungefähr
wörtlich immer wieder auf den verschiedensten Seiten
der Streitschrift ,,Die neue Wirtschaft" und dem
Aufrufe ,,A n Deutschlands Jugen d", wo sich die
Deutschen dadurch beschwichtigen ließen, daß ihnen
jedesmal von neuem die verpönten Beispiele westlicher
Demokratien vor Augen gehalten wurden und jedesmal von
neuem bewiesen wurde, der amerikanische Bürger sei ge-
knechteter als der slawische Hintersasse. Es handelt sich
aber in Wahrheit gar nicht um westliche oder irgendeine
andere Demokratie. Die Frage scheidet ganz aus. Wahre
l) Zeitliches S. 51—52. Die Ueberschriftea der weiteren Kapitel dieser
Streitschrift lauten: .Kriegsgewinner", „Stimmung" und endlich die des
Schlusskapitels: .Sicherungen". Aus teils fiskalischen, teils sozialen
Rücksichten empfiehlt Walther Rathenau die Annahme einer progressiven
Sonderkriegssteuer, die eigentliche Kriegsgewinne bis zu 90% besteuert.
Er behauptet, dass die Angst um die Möglichkeit, die öffentliche Stimmung
durch irgend etwas zu verderben, in Deutschland manche grobe Unge-
schicklichkeit herbeigeführt hat. Man habe die Meinung des Volkes ver
weichlicht und irregeführt und dadurch die moralische Widerstandskraft
untergraben, anstatt sie durch offene und freie Aussprache zu heben.
Rathenau zeigt, dass bei der gegebenen Kriegslage die Sicherungen, die
in Deutschland soviel von sich reden machten, in Wahrheit nicht
etwa Begriffe vorwiegend militärischer, sondern vorwiegend politischer
Natur ausmachen, und diss die Aufgabe sie Zit bästimmen weniger den
Feldherren als den Staatsmännern obliegt.
250
Demokratien, Volksherrschaften, hat es nie und nirgends
gegeben, außer etwa in den mehr oder weniger vorüber-
gehenden Zeiten einer Revolution. „Ueberall in der Welt
herrschen Personen, und die einzige Frage ist die, ob sie
einer kleinen, erblichen, nicht übermäßig geschäftsfähigen
Kaste angehören und auf den Vorschlag geheimer Kabi-
nette ernannt werden müssen oder aus der Gesamtheit des
Volkes auserlesen werden sollen, ob mithin das Volk poli-
tisch sich in ewig Beherrschende und ewig Beherrschte
spaltet und ob durch diese Spaltung die ganze Folgenreihe
ständischer Vorrechte, Gepflogenheiten und Anmaßungen
erhalten bleibt1)." Das deutsche Volk darf auch nicht
mehr Demokratie — bis zum Kriege war dieses Wort ge-
ächtet — und Autokratie als zwei sich ausschließende
Gegensätze auffassen, als ob nicht erst „Vertrauen Auto-
kratie möglich mache, Demokratie Vertrauen möglich
mache2)." Man komme uns bloß nicht mit jenem „fal-
schen Demokratismus des Mißtrauens und der Ranküne,
der die notwendige Gegenerscheinung des grundsätzlichen
Autokratismus ist; denn ohne diese Zutat wäre es offener
Absolutismus, den man nicht will. Nur der grundsätz-
liche Demokratismus des Aufbaues kann es sich leisten,
den Geschöpfen seiner Macht und seines Vertrauens die
volle ungestörte autokratische Schaffensfreudigkeit zu ge-
währen, die zum großen Handeln und zur starken Politik
gehört3)."
O daß doch endlich diese im deutschen Charakter
liegende Knechtschaft verschwände, die sich bei keinem
anderen Kulturvolk der Welt wiederfindet! Der Deut-
sche gehorcht, ohne sich viel darum zu kümmern, wer
eigentlich die Befehle gibt und mit welchem Rechte.
Jeden Augenblick hört man immer wieder von „Subor-
dination" sprechen! Subordination! Dies harte Wort
*) W. V. S. 254, Sep.-Ausg. S. 80. *) An Deutschlands Jugend S. 103.
•) Zeitliches S. 113.
251
spät-lateinischen Ursprungs wird in anderen Sprachen als
der deutschen fast nie gebraucht; hier hat es richtiges
Bürgerrecht erworben! Die Symbolik der Ehrenbezei-
gungen, die das Verhältnis der Subordination bekräftigen,
verlangt rückhaltloses Hinstrecken des ganzen Leibes,
eine rohe Bewegung, die in einem einzigen Ruck zu voll-
ziehen ist. Ueberall gellt einem der eigentümliche,
trockene, knarrende und schnarrende kurze Befehlston in
die Ohren. Und Vorgesetzte finden sich überall! „Der
Vater ist der Vorgesetzte des Kindes, der Lehrer ist der
Vorgesetzte der Schüler, der Schutzmann ist der Vorge-
setzte des Publikums, der Schalterbeamte ist der Vor-
gesetzte der Briefmarkenkäufer, das Militär ist der Vor-
gesetzte des Zivils, und in den Kolonien fühlt sich, sehr
zum Schaden des zivilisatorischen Gedankens, der Weiße
vielfach als Vorgesetzter des Eingeborenen1)." Wem
noch ein bischen Selbständigkeit verblieben ist, der nimmt
seine Zuflucht zur Vertretung von Privatinteressen, in
denen er mit einer mißgünstigen und jämmerlichen Klein-
lichkeit geschützt wird.
Nein, so darf es nicht weiter gehen angesichts der
gegenwärtigen katastrophalen Umwälzung, deren ganze
wuchtige Bedeutung einmal richtig erfaßt werden muß.
„Was ist das Ereignis, das uns umbrandet? Wir nennen
es Krieg, weil es die Formen des Völkerkrieges trägt, weil
in Erde Wasser, Luft und Feuer sichtbar und scheinbar
die verkrampften Nationen ringen. Die Kommenden wer-
den es erkennen: was wir erleben, ist die Revolution der
Welt, die vulkanische Aufwälzung der übermächtigen glü-
henden Unterschichten der menschlichen Veste. Sie voll-
zieht sich nicht, wie ihre altvaterischen Verkünder mein-
ten, in den ungeregelten Formen des Massenaufstandes
mit Pike und Sense, das wäre gering und hätte die Anker
und Angeln der Welt nicht gesprengt. Von ihren inneren
l) An Deutschlands Jugend S. 118.
252
Spannungen betäubt und rasend, von den beiden letzten
und höchsten Destillaten der alten Ordnung berauscht,
von Nationalismus und Imperialismus erzitternd, müssen
sich Nationen auf Nationen stürzen. — Sie glauben, um
Herrschaft und Dasein zu ringen, und kämpfen einen
Kampf, dessen Entstehung niemand begreift, dessen Ziele
nachträglich mit monatlichen Richtigstellungen gesucht
werden müssen. In Wahrheit aber brennt die alte Wirt-
schaftsordnung nieder, und es naht die Zeit, wo der alte
Unterbau der Gesellschaftsordnung sich entzündet. —
Langsam brennt der Brand zu Ende, aus dem kein Volk
als das entsteigt, was es gewesen. — Unschuldsvoll und
sonnengläubig atmet die Natur nach Urgesetzen die
Luft ihrer Tage und Nächte. Aber die heimkehren aus
Höllen von Schlamm und Feuer und aus Abgründen des
Meeres, aus Gefangenschaften in Sonnenbrand und Eis-
nacht, aus zertretenen Ländern, aus falschen Paradiesen,
aus Qualen des Gewissens und der Seele, aus Mutter-
schmerzen und Siechenhäusern, aus Haß und Opfer, Tau-
mel und Bereicherung, aus Missetat und Gläubigkeit, die
Toten und Lebenden, Verstümmelten und Kranken, Ge-
brochenen und Erstarkten: sie alle, alle, sind wissend ge-
worden. Mögen sie sich in heimischen Kämpfen zer-
reißen, im Willen sich einen oder in Gott sich finden, sie
sind nicht mehr, die sie waren; sie haben in Tiefen ge-
blickt und tragen den dunklen Abglanz in ihren Augen. —
Doch unbewußt und unbemerkt erhebt sich die Erkennt-
nis: was geschehen ist, das kann nicht mehr mit über-
kommenen Gewinnen und Opfern gerechtfertigt und ge-
sühnt werden. Dieses Gestirn, diese Menschheit hat zu
tief gelitten und zu tief erlebt, als daß ein Inbegriff neuer
Grenzlinien und Verfassungen, Gelder und Mächte die
Seelen loskaufe, die Toten ehre, die Lebenden versöhne.
Nur aus dem Innern, aus dem tiefsten Gewissen der Welt
kann Erlösung hervorbrechen, im Namen der Gerechtig-
263
keit und Freiheit, zur Sühne der Menschheit und zur
Ehre Gottes1)."
Doch es ist kaum möglich von dem heutigen Ge-
schlechte, eine derartige Anstrengung zu erwarten, von
ihm, das keine Veranlassung hat, sich seiner vergangenen
Tat zu rühmen und das durch einen solchen Sturm an
Leib und Seele gebrochen ist. Seine Aufgabe ist erfüllt,
als die eines Geschlechtes, das soeben sein Werk vollen-
det hat. Walther Rathenau richtet daher nun auch wenige
Wochen vor dem Kriegsschlusse einen feurigen Aufruf an
die deutsche Jugend, daß sie die schwere Pflicht auf sich
nehme, sich von verhängnisvollen Fehlern freizumachen
und die neue Aera einzuleiten.
„Meine jungen Freunde! Wenn die Dinge nicht an-
ders werden, liegt es nur an euchl Nehmt sie nicht leicht!
Unsere Abhängigkeit schädigt den Menschenwert. Wir
brauchen Herrentum und Würde. — Wissen wir heute,
daß das Vaterland unser Land, der Staat unser Staat, und
unsere Treue zum König die freie Zustimmung und Gefolg-
schaft freier Männer ist? — Doch eines verschweigen wir
uns nicht: Das Abhängigkeitsbedürfnis ist eines der
schwersten Hemmnisse des inneren und äußeren Aufstie-
ges, es ist der politische Kardinalfehler eines Volkes. —
Dieser Fehler ist auch unser Widersacher in dem fried-
lichen Kampf um die Seele unseres Volkes, sein erstes
Ziel ist Würde, Adel und Herrentum. Es gibt eine deutsche
Sendung auf Erden. Sie ist nicht die Sendung des Milita-
rismus, sie ist auch nicht die Sendung der Mechanisierung
und der Technik, obwohl sie diese Nützlichkeiten nicht
verschmäht, sie ist am wenigsten die Sendung der Welt-
herrschaft. Sie ist die Sendung, die sie immer war und
immer sein wird: die Sendung des reinen, unbestechlichen,
unbeirrbaren und unerbittlichen Geistes. — Es ist nicht
unsere Sache, die Kellner, Barbiere und Schneider für Lon-
») W. V. S. 257-261, Sep.-Ausg. S. 83—86.
254
don und New York zu liefern, sondern als freie Männer
auf freiem Boden brüderlich mit den Völkern zu reden
und zu wirken, nicht um des billigen Nutzens, sondern um
des Geistes und der Menschheit willen: ihnen zu bieten,
was wir haben und von ihnen zu empfangen, was wir
brauchen.
Es wird euch bekämpfen die Herrenkaste. Bekämp-
fen werden euch die Interessenten. Bekämpfen werden
euch die Indolenten und mehr noch die Originalsüchtigen.
— Glaubt nicht, es werde das Geringste euch geschenkt.
Bei euch, in euch, beginnt der Kampf. Nur, wenn ihr
frei seid, könnt ihr befreien, nur, wenn i h r edel seid,
könnt ihr adeln, nur, wenn i h r gerecht seid, könnt ihr
richten, wenn i h r gütig seid, begüten, wenn i h r gläubig
seid, erwecken. Glaubt nicht den Lobpreisern des Be-
stehenden; sie preisen, was sie besitzen und festhalten
und dazu erwerben wollen. — Glaubt nicht den Trägen
und Selbstgerechten, die sagen, es sei anderwärts nicht
besser. Die Tugenden der anderen sind nicht unser Vor-
bild, deshalb sind ihre Laster uns keine Entschuldigung.
Es ist niedrig, das eigene Ideal an fremder Wirklichkeit
zu messen. Glaubt nicht den Schulweisen, den ohn-
mächtigen Schriftgelehrten, die verkünden: , Alles bleibe
beim alten, es gibt keine Entwicklung.' — Freilich fehlt es
am führenden Geist, am menschlichen Vorbild; denn wir
leben in der Zeit geistiger Anarchie. Kämen die Pro-
pheten wieder, man wiese ihnen Unwissenschaftlichkeit
und mangelnde Logik nach und geigte ihnen heim von
Kanzeln und Kathedern. — Ein tiefes Gefühl sagt mir:
Ihr schreitet freiwillig den Weg, den wir gezwungen
schreiten. — Die Fackel ruht in euren Händen, die leuch-
tende und zündende, die verheerende und verklärende.
Seid gesegnet und seid ein Segen unserem Volke. Seid
gesegnet mit Härte und Unerbittlichkeit. Die soll euch
fest machen gegen euch selbst und gegen den Versucher.
Sie soll euch Not und Sorge machen, damit ihr den gött-
265
liehen Anspruch nicht leicht gewinnt. Seid gesegnet mit
stolzer Demut, adliger Entsagung und dienendem Herren-
tum, Die sollen euch niederdrücken und euch erheben,
euch zu Dienenden und Schenkenden machen, damit die
Welt von euch empfängt und sich euch hingibt. Seid ge-
segnet mit suchendem Geist und ruhelosem Herzen, damit
ihr durch alle Zweifel und Finsternisse stürmt und den
Frieden der glaubenden Seele erringt. Seid gesegnet mit
verzehrender Liebe, die soll als ein Feuer aus euch schla-
gen, soll euch und das Land läutern von den Schlacken
der Zeit und Vorzeit und auffahren als eine Opferflamme
zum Thron des Segnenden. Zieht in den Kampf um die
Seele unseres Volkes1)."
») An Deutschlands Jugend S. 121- 127.
2&S
u
Schluß
Wer etwa versuchen wollte, ein Gesamturteil über
die Gedanken und Entwürfe von Walther Rathenau abzu-
geben, der wird sich natürlich vor allem fragen müssen,
was wohl jetzt geschehen soll, wo der Krieg mit der
deutschen Niederlage geendet hat.
Die persönliche Stellungnahme Walther Rathenaus
während der letzten Monate der Feindseligkeiten ist eine
ganz eigenartige gewesen. Nachdem er der Organisator
des wirtschaftlichen Widerstandes Deutschlands gewesen
ist, nachdem er in der Schweiz an seinem zukünftigen
Wiederaufbau gearbeitet hat, scheint er sich aus dem
öffentlichen Leben zurückgezogen zu haben. Sicher hört
er auch nicht auf, sich lebhaft für die Ereignisse zu inter-
essieren und, wenn es not tut, auch einmal mit der ganzen
Autorität seines Namens und seiner Vergangenheit bei
den amtlichen Behörden einzugreifen. Aber seine Gut-
achten finden nicht mehr die alte Aufnahme; der Triumph
des Militarismus und Alldeutschtumes beunruhigt ihn und
verscheucht ihn von den Staatsgeschäften. Er merkt die
Fehler der leitenden Persönlichkeiten Deutschlands, ohne
sie hindern zu können. Er sieht die Niederlage kommen.
Sein Freund Albert Ballin, der Direktor der Ham-
burg-Amerika-Linie, der an sich selbst Hand
angelegt hat, um nicht mehr den Zusammenbruch seines
Landes zu erleben, konnte ihm noch am 4. Dezember 1917
ungefähr wörtlich schreiben: „Weder Sie noch ich
sind jemals Anhänger dieser unseligen verschärften
Unterseebootskriegsführung gewesen. — Sowohl Sie
als auch ich wissen, daß die Amerikaner höchst
wahrscheinlich die größten Idealisten der ganzen
17 257
Welt sind. Sie wären nicht auf Seiten unserer
Gegner in den Kampf gezogen, hätten sie auch nur den
geringsten Zweifel an der Gerechtigkeit ihrer Sache ge-
habt. — Wir müssen England schlagen, sagen Sie, koste
es, was es wolle. Einverstanden. Ich sage nur einfach:
Ob wir es nun schlagen oder es uns schlage, die Folgen
werden in beiden Fällen die gleichen sein: der Nieder-
gang unseres Ueberseehandels, wenn es England so be-
liebt. — Sie glauben nicht an die törichte Versicherung,
daß uns nach dem Kriege die Rohstoffmärkte des briti-
schen Weltreiches offenstehen werden1)." Als Deutsch-
land Anfangs Oktober 1918 sein Friedensangebot machte,
nahm Walther Rathenau wieder in aller Oeffentlichkeit
das Wort, um sich gegen diesen Schritt aufzulehnen. Er
hielt das Angebot für übereilt und bedenklich. An Stelle
einfacher Liquidation war es das Geständnis des Ban-
krotts. Pflicht der Regierung wäre es gewesen, einen
Ausschuß der nationalen Verteidigung zu bilden und die
Volkserhebung in die Wege zu leiten2). Ach, der Ab-
schluß des Waffenstillstandes war unvermeidlich3)!
Mit dem nämlichen Tage verzehnfacht Walther
Rathenau noch seine Artikel und Interviews und kommt
in allem immer wieder auf etwa folgende Gedanken zu-
rück: Deutschland liegt in Trümmern. Die Entente hat
kein Interesse es zu zermalmen und es auf diese Weise
der Anarchie und dem Bolschewismus auszuliefern; wer
da wünscht, daß in Zukunft auf Erden Frieden herrschen
soll, der darf nicht mit Haß richten und verurteilen,
sondern muß mit ruhiger Unparteilichkeit und Menschen-
liebe die Wilsonschen Grundsätze anwenden. In diesem
Sinne bemerkte er zu einem Korrespondenten des
New York Herald etwa folgendes: „Deutschland
ist auf mehrere Menschenalter ruiniert. — Das Ver-
lj Dieser Brief ist am 26. Oktober 1918 in der Presse veröffentlicht.
*) „Vossische Zeitung" vom 7. Oktober 1918. 8) Heute ist das „Märchen
vom Dolchstoss in den Rücken der Armee" zweifellos auch von einem
Walther Rathenau erkannt! Bearbeiter.
258
schwinden Deutschlands als Großmacht wäre ein ge-
schichtliches Unglück." Er richtet einen offenen Brief
an Oberst House: „Deutschland ist schuldlos; denn der
deutsche Wille war nicht frei. — Uns fehlte die innere
Freiheit. Was uns angedroht wird, ist die Vernich-
tung. Nicht an Ihr Mitleid wende ich mich, sondern an
das Gefühl der menschlichen Solidarität. — Wilson hat
ausgesprochen, was nie zuvor irdische Gewalt zu ver-
wirklichen wagte: Friede, Versöhnung, Recht und Frei-
heit für alle. Gott gebe, daß seine Worte Wahrheit
werden1)." Er wendet sich mit einem Aufruf: An alle,
die der Haß nicht blendet: „Mens :hen aller
Völker, bedenkt es! Diese Stunde entscheidet nicht nur
über uns Deutsche, sie entscheidet über uns und Euch,
über uns alle. Entscheidet sie gegen uns, so werden
wir unser Schicksal tragen und in die irdische Vernich-
tung gehen. Unsere Klage werdet Ihr nicht hören. Den-
noch wird sie da gehört werden, wo noch nie eine Klage
aus Menschenbrust ungehört verhallte2)." Im Februar
1919 vertraut er sich einem französischen Journalisten:
„Deutschland ist in einer ganz entsetzlichen Lage. — All
das hätte sich vermeiden lassen, wenn man auf uns ge-
hört hätte. — Die Entente glaubt an die Möglichkeit
einer Rückflut des Bolschewismus durch Polen und ein
geschwächtes Deutschland. Es ist das eine gefährliche
Illusion. Ich glaube, nur eine kräftige Solidarität aller
Nationen gegenüber der gemeinsamen Gefahr kann die
Welt noch allein retten." Und in Vertretung seiner eige-
nen Sache verwahrt er sich dagegen, daß er der Urheber
oder der Ausführer des „Planes Rathenau" zur Zerstörung
Belgiens sei, und erkennt offen die Notwendigkeit einer
Wiedergutmachung an3).
*) „Vorwärts" vom 6. Dezember 1918. 2) „Zukunft" vom 21.— 28. De-
zember 1918. Dieser Aufruf erschien gleichzeitig in den verschiedensten
Blättern des neutralen Auslandes. 8) „Martin" vom 12. Februar 1919.
Walther Rathenau hatte bereits in einem Aufsatze in der „Neuen Zürcher
Zeitung" vom 29. Januar 1919 seine Verteidigung geführt
17» 259
War das derselbe Walther Rathenau, der mit einer
unbestreitbaren, wenn auch etwas anmaßenden Meister-
schaft einst die riesige A. E. G. leitete, derselbe, der am
9. August 1914 frisch drauflos die Kriegsrohstoff-
Abteilung gründete? Ist seine Laufbahn schon ab-
geschlossen, und brauchen wir diesen so genialen In-
dustriellen wirklich nicht mehr zu fürchten? Ganz un-
parteiisch gesprochen, niemand, der seine gesamten
Werke gründlich gelesen hat, kann noch irgendwie an der
Aufrichtigkeit seiner verschiedenen Appelle an die mensch-
liche Solidarität zweifeln! Hatte er nicht gleich mit seinen
ersten Schriften zur Feder gegriffen, um die Ankunft des
Reiches der Seele zu prophezeien? Aber dessenungeach-
tet wird doch stets die Frage an ihn ergehen: Weshalb
haben Sie wohl im Dezember 1918, als Sie offenbar Ihre
ganzen Bemühungen auf einen rührenden Versuch zur
Rettung Deutschlands vor völligem Untergange richten
wollten, öffentlich gesprochen und nicht schon damals
im Juli 1914, wo Sie durch einen Friedensvermittelungs-
versuch, wenn nicht den Krieg zum völligen Stillstand
gebracht, so doch sicher Ihre idealistischen Lehren durch
eine wahre Tat geweiht hätten?
Aber andererseits wäre es ungerechtfertigt, die Ehr-
lichkeit der Haltung Walther Rathenaus gegen den
Unterseebootkrieg irgendwie anzweifeln zu wollen, war
er doch in der Tat viel zu umsichtig und weit-
blickend, um nicht die daraus für sein Land erwach-
senden Gefahren voraussehen zu können. Aber dessen-
ungeachtet hat ein belgisches Blatt das Verlangen stellen
können, daß Rathenau an ihr Land ausgeliefert und über-
antwortet werde, um ihn vor ein Gericht zu stellen1),
und, wenn auch der Minister Erzberger von Amts
wegen den westfälischen Grubenbesitzer Hugo Stinnes
als einen der Hauptanstifter der Plünderung Belgiens
und der Deportationen belgischer Arbeiter ange-
J) „Belgisch Dagblad" vom 21.-22. Dezember 1918.
260
klagt hat1), so bleibt doch darum auch Walther Rathe-
naus Schuld nicht weniger groß, weil man sich nur
schwer dazu verstehen wird seinen Einwand gelten zu
lassen, daß er doch immer nur durch sein Pflichtgefühl
gegenüber seinem Vaterlande bestimmt worden sei. Auch
Walther Rathenaus unterirdische Tätigkeit in der Schweiz
läßt sich nur schwer entschuldigen; sein Streben war,
ohne Ansehung des Mittels, das wirtschaftliche Ueber-
gewicht Deutschlands zu sichern. Ebenso ist wohl auch
eine Stelle in Walther Rathenaus Streitschrift ,,D i e
neue Wirtschaft" nicht gerade zu den beruhigen-
den zu zählen. Walther Rathenau gibt hier zu, daß
Deutschland nach dem Kriege von allen Rohstoffen ent-
blößt sein wird, und versichert doch gleichzeitig, es werde
seine industrielle Leistungsfähigkeit verdoppeln müssen.
Sollten wirklich zur Erreichung dieses Ergebnisses
Deutschlands zurückgelegte Ersparnisse genügen, oder
ist nicht vielmehr dort stillschweigend zwischen
den Zeilen zu lesen, daß Walther Rathenau
im Jahre 1917 noch heimlich an die Möglichkeit
eines für Deutschland günstigen Friedens glaubte
und den Rat zu geben vorhatte, seine Delegierten
sollten eine reichliche Rohstoffversorgung zu einer con-
ditio, sine qua non für den Friedensschluß machen? Ein
solcher Konkurrent würde immer gefürchtet bleiben!
Walther Rathenau steht noch im gegenwärtigen Augen-
blicke den Staatsgeschäften fern. Doch er steht jetzt erst
im Alter von 52 Jahren und hat zweifellos seine Rolle
noch nicht ausgespielt. Er selbst erklärt, er werde sich
nicht töten, wie sein Freund Ballin, sondern das Ge-
schick, das seinen, wie er sagt, noch nichts von ihrem
Unglück ahnenden Brüdern bevorsteht, schweigend tei-
*) Sitzung der Nationalversammlung zu Weimar vom 18. Februar 1919.
Ist nicht in allen diesen Beschuldigungen trotz aller Rechtfertigungsversuche
der eigentliche Grund zu sehen, warum ein Mann wie Walther Rathenau
nicht mit der deutschen Delegation zur Friedenskonferenz gegangen ist im
Gegensatz zu dem anfänglich Beschlossenen?
261
len1)." Es scheint nicht besonders gewagt zu behaupten,
daß er sich sicher bemühen wird ihr Los zu erleichtern.
Es gilt also die gebieterische Vorsicht zu üben, Walther
Rathenaus Wesen gründlich zu studieren, und ihm gegen-
über ja auf der Hut zu sein!
Es wäre wohl ebenso voreilig sich einzubilden, daß mit
dem deutschen Kriegsverluste auch bereits Rathenaus
weitblickenden Plänen das Totenglöckchen geläutet habe.
Ganz gewiß, beim Lesen von mehr als einer seiner Vor-
hersagen und feierlichen Voraussehungen wird sich ein
Lächeln nicht zurückhalten lassen. Wie gestaltet sich
wohl erst der Abschluß des deutschen Budgets, das
schon an sich mit so großen Ausfällen rechnen muß,
wenn jeder halbe Sieg in Rechnung gestellt wurde? Bis
zu welcher Höhe sollen denn eigentlich noch die Schul-
den steigen? Glauben Sie denn nicht auch, Herr Ra-
thenau, daß einige neue Spar- und Einschränkungs-
bestimmungen recht nützlich sein könnten? Die deutsche
Revolution kündigten Sie zuverlässig an, doch keine, in
der die Massen mit Pike und Sense auf die Straße gingen,
mit einem Worte nicht die Revolution im Sinne der bru-
talen Heugabelgewalt. Und nun haben diese Massen
auch nicht einmal mehr die altmodischen Piken und
Sensen, sondern die modernen Handgranaten und Ma-
schinengewehre verwendet. Abgesehen von dieser Tat-
sache hat es den Anschein, als ob sich die heutige
Revolution nach den altgewohnten Methoden mit Kra-
wallen, Schlachten und Meuchelmorden abspiele. Wann
wird wohl da von sozialem Neuaufbau oder auch nur
überhaupt von irgendwelchem Aufbau gesprochen
werden können? Bei der Rückkehr von der Front sind
die Regimenter auseinandergelaufen, haben sich selb-
ständig aufgelöst und über das ganze Land Tausende von
Arbeitslosen geworfen. Die Bergarbeiter und Unmengen
') In dem Aufrufe : An alle, die der Hass nicht blendet.
262
aus anderen Arbeitsberufen streiken. Kein Verkehr mehr,
keine Lebensmittelzufuhr! An Stelle ersprießlicher Tätig-
keit und wachsenden Wohlstandes für alle erwartet
Deutschland eine Zukunft, die im folgenden mit den
eigenen Worten Walther Rathenaus ihren plastischen
Ausdruck finden soll: ,,Wer in zwanzig Jahren Deutsch-
land betritt, das er als eines der blühendsten Länder der
Erde gekannt hat, wird niedersinken vor Scham und
Trauer. Die großen Städte des Altertums, Babylon, Nini-
veh, Theben, waren von weichem Lehm gebaut, die Natur
ließ sie zerfallen und glättete Boden und HügeL Die
deutschen Städte werden, wenn man unsere Lebenskraft
tötet, nicht als Trümmer stehen, sondern als halb erstor-
bene, steinerne Blicke, noch zum Teil bewohnt von küm-
merlichen Menschen. Ein paar Stadtviertel sind belebt,
aber aller Glanz und alle Heiterkeit ist gewichen. Müde
Gefährte bewegen sich auf dem morschen Pflaster. Spe-
lunken sind erleuchtet. Die Landstraßen sind zertreten,
die Wälder sind abgeschlagen, auf den Feldern keimt dürf-
tige Saat. Häfen, Bahnen, Kanäle verkommen und überall
stehen, traurige Mahnungen, die hohen verwitterten
Bauten aus der Zeit der Größe1)." Wo sind denn die
Prophezeiungen von noch vor einem Jahre geblieben?
Bevor wir ein endgültiges Urteil aussprechen, wollen
wir lieber erst das Ende der Begebenheit abwarten. Wenn
in Deutschland die Anhänger der Ordnungsparteien, die
hier noch immer trotz alledem und alledem in großer
Menge vertreten sind, endgültig triumphieren sollten,
warum sollten dann eigentlich die Pläne eines Walther
Rathenau für immer aufgegeben sein? Gewiß, die Rech-
nung, die zu zahlen ist, wird sicher nicht gering sein!
Aber das letzte Bild, man muß es doch sagen, ist wohl
in der Tat seinem Maler, vielleicht gar absichtlich, etwas
zu schwarz geraten! Gewiß, für den Wiederaufbau wer-
') In dem Aufrufe: An alle, die der Hass nicht blendet.
26L<
den natürlich noch weit beträchtlichere Anstrengungen
gemacht werden müssen als sie ohne die Niederlage er-
forderlich gewesen wären; aber sie werden darum nicht
unmöglich sein. Die Bewegung ist ganz gegen die Er-
wartung Rathenaus eine blutige geworden! Aber hatte
nicht derselbe Denker erkannt, daß die wirtschaftliche
und sittliche Unordnung die Weltkatastrophe herbeiführen
müßte und daß die große militärische Unternehmung
weniger einen Krieg als eine furchtbare Revolution be-
deute? Zwar werden seine Ansichten zur einen Hälfte
lügen gestraft, zur anderen aber um so seltsamer dut":li
die Ereignisse bestätigt.
Doch auch selbst die Theorien eines Walther Ra-
thenau bewegen sich noch ganz in den Bahnen der alten
deutschen Tradition! Jene vernünftige Monarchie, die er
weiter treu erhalten will, ist das nicht die nämliche, von
der bis zum Novembermonat des Jahres 1918 fast die
Gesamtheit aller Deutschen träumte, eine erbliche Mon-
archie, deren Inhaber über den gemeinen Interessen un 1
Leidenschaften des Tages stehen und sich nicht etwa auf
eine einzelne eigennützige Kaste, sondern auf die von einem
ebenso verständigen Parlamente vertretene gesamte Nation
stützen sollte. Dieses Ideal hatte seine Wurzel in der
rühmlichen Freiheitsbewegung des Jahres 1807, in der
die Furcht vor Napoleon I. die Weisheit aller Könige und
Völker bildete, und für einen Augenblick ihre Einigkeit
besiegelte. Seitdem warteten die durch die Reaktion
grausam enttäuschten Untertanen der deutschen Fürsten
Jahrzehnte vergeblich auf seine Verwirklichung. Aber
sie wurden nicht müde und hatten allmählich begriffen,
wie man zu den begeisterten Massen in den ersten
Augusttagen des Jahres 1914 zu sprechen habe, als
Wilhelm II. in seinem Aufruf an sein Volk verkündete,
„er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch
Deutsche."
264
Ebenso hat der Begriff des „Volksstaates" und die
diesem gestellte große Aufgabe Deutschland das ganze
19. Jahrhundert hindurch beschäftigt. Die Romantiker
unter seinen Dichtern und Philosophen brachen mit der
nationalistischen Auffassung vom Staate als einer auf
einem Gesellschaftsvertrage beruhenden und nach den
Gesetzen der Vernunft aufgebauten einfachen Interessen-
gemeinschaft. Für sie war der Staat eins ungezwungene,
aber organische Vereinigung, die allein aus ihren ge-
schichtlichen Anfängen zu erklären und nur in dem Sinne
geschichtlicher Evolution wandlungsfähig war, doch eine
ihren verschiedenen Einzelmitgliedern unendlich über-
legene Einheit bildete. Der Staat ist „eine mystische
Individualität", meinte noch Friedrich Novalis. Georg
Hegel sah in ihm die „Verwirklichung der sittlichen Idee"
und Adam Müller schrieb noch: „Der Staat bildet die
Gesamtheit aller menschlichen Angelegenheiten, — die
innige Verschmelzung aller physischen, geistigen und see-
lischen Bedürfnisse, des gesamten materiellen und geisti-
gen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens
einer Nation in einem mit unendlicher Energie und
Lebenskraft ausgestatteten großen Gesamtorganismus."
Was gilt angesichts dieses gewaltigen Ganzen das kleine
Einzelwesen? Es ist nur ein unbedeutendes Glied in der
ungeheuren Kette, eine einzelne Zelle in dem Gesamtorga-
nismus. Es hat ohne dieses Ganze weder irgendeine Be-
deutung noch irgendeine Daseinsberechtigung. „Der
Begriff des Menschen ist nicht der eines abgeschlosse-
nen Wesens, ein Begriff, der völlig unfaßbar wäre, son-
dern der einer gesamten Gattung," meint Gottlieb Fichte,
und Adam Müller erklärt: „Der Mensch ist außerhalb des
Staates und anders als im Staate überhaupt nicht zu be-
greifen." Daher die dem Staate zufallende ursprüngliche
Rolle. Er kann nicht mehr wie im 18. Jahrhundert als ein
einfaches Mittel gelten, friedlichen Bewohnern die Sicher-
heit innerhalb wie außerhalb der Landesgrenzen zu ver-
265
schaffen. Er ist Zweck in sich, Selbstzweck. Bei jedem
Anlasse schuldet er seinen Mitgliedern Hilfe und Bei-
stand, wie sie selbst ihm Achtung und Ergebenheit schul-
den. Friedrich Liszt zeigt, wie dieser Staat durch Aus-
nutzung aller nationalen Hilfsquellen und durch Schutz
gegen das Eindringen ausländischer Erzeugnisse Acker-
bau, Handel und Industrie glänzend zu entwickeln ver-
mag. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts vereinigen
Männer wie Johann Karl Rodbertus und Ferdinand Las-
salle, die Begründer des Staatssozialismus, später Männer
wie Adolph Wagner und Gustav Schmoller, seine eifrigen
Gönner und Förderer, mit den anderen Aufgaben des
Staates jene hehrste und erhabenste eines höchsten Er-
ziehers der Nation. Die Volkswirtschaftslehre wird zur
ersten Wissenschaft, weil sie danach streben muß die
Probleme zu lösen, die sich ihr durch eine sorgfältige Er-
forschung der wirtschaftlichen und sozialen Tatsachen
auftun; sie wird gleichzeitig zu einer Ethik, lassen sich
doch die Ziele, auf die das soziale Leben hinstreben muß,
nur ganz unabhängig von solchen bestimmen, die das sitt-
liche Leben verfolgt. In diesem Sinne Mist der Staat die
erhabenste Veranstaltung für die sittliche Erziehung d^s
Menschengeschlechts." Es ist insbesondere zu lehren, daß
der Egoismus der persönlichen Interessen stets zu ver-
urteilen ist, daß jedes Einzelwesen Pflichten gegen Staat
und Gesellschaft hat und zur Uebernahme aller Opfer
bereit sein muß, die nur irgend der Staat von ihm ver-
langen sollte. Der Staat hat die Pflichtr jede nur irgend
mögliche Anregung im Hinblick auf eine Hebung der wirt-
schaftlichen Lage der Arbeiterschaft entgegenzunehmen,
die besitzenden Klassen über das Bedenkliche ihres
kurzsichtigen Klassenegoismus aufzuklären und eine
Abstufung der gesellschaftlichen Klassen derart vor-
zunehmen, daß der Uebergang von einer Stufe
zur nächstfolgenden leicht und bequem ist. Alle
diese Ideen haben während des gesamten 19. Jahr-
266
hunderts niemals aufgehört in deutschen Hirnen zu
leben, und marxistischer Sozialismus ist einfach damit
völlig durchtränkt. Hierzu gehören auch solche Ideen,
wie sie noch heute Walther Rathenau leiten, wie etwa sein
als „Organokratie" aufgefaßter Volksstaat, sein absoluter
Autorität umkleideter Einheitsstaat, der den beständigsten
Regulator aller Privatangelegenheiten urd eine Quelle
der schönsten sittlichen Kräfte darstellt.
Ist es denn eigentlich dann noch irgendwie erstaun-
lich, wenn Walther Rathenaus Geist, anstatt in dem
großen Schiffbruche des Kaiserlichen Deutschlands unter-
zugehen, immer noch die zu ermutigen scheint, die mitten
im Sturme noch Gesetzesmacherei treiben? Schon am
21. November 1918 kündigte ein Radiotelegramm des
deutschen Propagandadienstes an, es sei soeben ein Aus-
schuß von acht Mitgliedern1) zur Vorbereitung und Her-
beiführung der Sozialisierung der habptsächlichsten
natürlichen Reichtumsquellen eingesetzt worden. Ein
anderes Radiotelegramm vom 27. Januar 1919 lautete
folgendermaßen: „Das ReichswirtschaftsHrot hat einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der darauf gerichtet ht, die
künftige Volkswirtschaft Deutschlands zu regeln und
neuen Grundsätzen anzupassen. Es handelt sich darum,
bei sich bietender Gelpgenheit sämtliche Deutschland zur
Verfügung stehenden Energiequellen zu organisieren
und aufs bestmögliche auszubeuten." Der Entwurf ist ver-
öffentlicht worden; aus der Darlegung der Gründe sind
folgende Sätze hervorzuheben: ,,Es handelt sich darum,
den einem tüchtigen wirtschaftlichen Ertrage so verhäng-
nisvollen freien Wettbewerb zu beseitigen, den Zwischen-
handel und die Verzettelung der Geschäfte auf die ver-
schiedenen Industriezweige vermittels einer immer mehr
zunehmenden Verschmelzung aufzuheben, insofern als
diese Verschmelzung alle irgendwie vermeidlichen Ver-
') Die Herren Ballod, E. Francke, Lederer, Vogelstein, Rudolf Hilfer-
ding, Karl Kautsky, H. Cunow, 0. Hue.
267
luste ausschalten würde, und schließlich die Arbeit der-
artig zu organisieren, daß sich alle ihre Anstrengungen ver-
einigen, anstatt sich gegenseitig nicht kennen zu wollen,
wenn nicht gar gegen einander zu arbeiten." Oder weiter:
„Die der Gesamtheit gehörigen Reichtümer dürfen nicht
mehr bedingungslos der beliebigen Willkür der Einzelnen
überlassen werden, sondern sind stets an die Nation zu-
rückzugeben und von der Gesamtheit zu verwalten."
Selbstverständlich muß ,,der Reiz eines angemessenen
Gewinnes" bestehen bleiben und als wesentlicher Faktor
zum Aufschwung jedes Unternehmens beitragen.
Die drei ersten Artikel haben folgenden Wortlaut:
„Artikel 1. Jeder Deutsche muß seine geistigen
und körperlichen Kräfte so ausnützen, wie es das Wohl
der Gesamtheit verlangt. Der Zwang zur Arbeit, einem
der der ganzen Nation gehörigen höchsten Güter, steht
unter dem Schutze des Reiches. Jeder Deutsche, der
keine Arbeitsgelegenheit finden sollte, wird seine Exi-
stenz auf Grund der von den besonderen Reichsgesetzen
festgelegten Normen aus öffentlichen Mitteln gesichert
sehen. A r t i k e 1 2. Es liegt dem Staate ob, die wirt-
schaftlichen Unternehmungen und ihre Werte, insbeson-
dere die Bodenschätze und die Naturkräfte an die
deutsche Wirtschaftsgemeinschaft überzuführen, wie auch
die Gewinnung und die Verteilung zu Gunsten des
Reiches, der Einzelstaaten, der Gemeinden und der Ge-
meindeverbände zu ordnen. Artikel 3. Alles, was
die allgemeine deutsche Volkswirtschaft angeht, wird von
unterschiedlichen selbständigen Verwaltungsorganen unter
der Kontrolle des Reiches geleitet werden1)." Wir wollen
zugeben, daß Walther Rathenau niemals eine Entschädi-
') Sitzungsberichte aus den ersten Märztagen 1919. In der Weimarer
Nationalversammlung hat der Reichswirtschaftsminister Wisseil diesen
Gesetzentwurf mit etwa folgenden Worten vertreten : „Es handelt sich
nicht etwa darum, für alle Bürger einen Arbeitszwang in dem Sinne ein-
zuführen, wie ihn das Gesetz über den Nationalen Hilfsdienst erstrebte,
sondern vielmehr darum, einmal den Grundsatz der Verpflichtung zur
Arbeit einschliesslich eines Programmes zu verkünden, von dem wir uns
268
gung für Arbeitslosigkeit vorgeschlagen oder gebilligt
hätte. Wir wollen es ruhig gelten lassen, daß solche
Ideen schon seit langem den Sozialdemokraten vertraut
gewesen sind und daß eine solche Sozialisierung der
Kraftquellen, der Bergwerke, der Kohle, der Elektrizi-
tät, des Kali usw. in dieser Zeit nur unter dem Drucke
der radikalsten Parteien bewilligt worden ist. Es bleibt
darum doch nicht weniger wahr, daß solche Grundsätze
und Vorkehrungen ganz genau ebenso auch gewissen
Theorien der bürgerlichen Großindustrie entsprechen,
über deren Unterstützung sie gar nicht so böse gewesen
wären. Tausende von Exemplaren seiner Werke sind
während des Krieges gelesen worden,1) und es ist des-
halb gar nicht so unmöglich, daß, wenn sich die Unruhen
erst einmal wieder etwas gelegt haben, dann auch eines
schönen Tages sein wirtschaftlicher Erneuerungsentwurf
entweder ganz oder wenigstens teilweise zur Ausführung
kommen wird.1)
In Zukunft bei unserer Arbeitergesetzgebung leiten lassen werden. In
Anerkennung, dass die Arbeit die Quelle höchster wirtschaftlicher Werte
ist, gibt sich der Staat das Recht, sie besonders zu schützen. Der Zwang
zur Arbeit ist eine Ergänzung des Rechtes auf Arbeit. Es handelt sich
um eine praktische Organisationsfrage. Die Organisation wird in den
verschiedenen Industriezweigen verschiedene Formen annehmen. Es
kommt nicht darauf an, ein gleichförmiges Muster für alle einzelnen Fälle
anzunehmen. Nur keine allgemeine Reglementierung, sondern ein selb-
ständiges Verfahren für jeden einzelnen Industriezweig. Die technische
und kommerzielle Leitung einer Industrie muss der Staat natürlich den
wirtschaftlich interessierten Gruppen überlassen, die deren Bedürfnisse
besser kennen müssen.
Es handelt sich zunächst um die Sozialisierung des bedeutendsten
Zweiges der gesamten deutschen Wirtschaftstätigkeit, nämlich um die
Produktion von Kraftenergien. Wir sehen mit Schrecken die schon sehr
geringe Zahl unserer Energiequellen sich allmählich immer mehr er-
schöpfen. Es liegt also im Interesse der Gesamtheit, die beste Verteilung
und vorteilhafteste Ausnützung dieser Kraftquellen sicherzustellen.
') Zum Schlüsse des Jahres 1918 hatten, ganz abgesehen von der
Inzwischen erfolgten fünfbändigen Gesamtausgabe, seine einzelnen Werke
folgende Auflagenhöhen erreicht: „Zur Kritik der Zeit" 15 Aufl., „Zur
Mechanik des Geistes" 9 Aufl., „Von kommenden Dingen" 65 Aufl.,
..Deutschlands Rohstoffversorgung" 39 Aufl., „Probleme der Friedens-
wirtschaft" 25 Aufl., „Streitschrift vom Glauben" 11 Aufl., „Vom Aktien-
wesen" 20 Aufl., „Die neue Wirtschaft" 40 Aufl.
269
Ganz ebenso erweist sich auch eines der Lieblings-
axiorae Walther Rathenaus in diesen Tagen als nur zu
wahr! Wie hat er doch Recht behalten, wenn er einstens
ausgeführt hat: Die durch den Krieg hervorgerufenen sitt-
lichen und wirtschaftlichen Umwälzungen sind derart, daß
die Völker sich mit kleinen Zugeständnissen und Schein-
oder Teilreformen weder begnügen können noch begnügen
wollen werden. Man wird diesmal schwerlich um die
großen Probleme herumkommen, nachdem ihre Prüfung
bisher immer wieder verschoben worden ist. Es wird
darauf ankommen, einen einheitlichen gesamten Neuauf-
bau auch in einem neuen Geiste zu versuchen. Die
Schwierigkeiten werden ernste sein. Wird es nicht viel-
leicht möglich sein, schon gleich jetzt von vornherein auch
die von Walther Rathenau vorgeschlagenen Lösungen zu
prüfen? Wird es nicht vielleicht möglich sein, schon
gleich jetzt herauszubekommen zu suchen, worauf eigent-
lich ihr so großes Interesse beruht und wodurch sie wohl
besonders nützlich werden könnten?
Mag sein Programm auch noch so lebhafte Bedenken
und Einsprüche herausfordern, Walther Rathenau verzagt
darum nicht und begegnet schon im Voraus denjenigen
unter ihnen, auf die er sich bereits von sich aus gleich
von vornherein gefaßt gemacht hat. Seine Anschauungen
sind nicht mit den schon bekannten Theorien anderer zu
verwechseln, wie man es ihm so oft zum Vorwurf machen
wollte. Von dem marxistischen Sozialismus trennt er sich
schon durch seine Auffassung vom Kapital wie von der
geistigen Befreiung der Arbeiterschaft und durch seine
verhältnismäßig immer noch hohe Achtung für den Indivi-
dualismus. Reiner Nivellierung und Normalisierung ver-
fällt er nicht. Das Eingreifen des Staates, wie er es pre-
digt, ist nicht etwa einer Beschlagnahme gleichzuachten.
Der Staat will weder selbst die Ausbeutung übernehmen
noch Verordnungen erlassen; er überträgt seine Macht-
befugnisse an Menschen jeden Berufes, die sich noch
270
immer Unternehmungslust bewahrt haben und unter
seiner Aufsicht die Betriebe zum Besten der allgemeinen
Interessen verwalten. Seine Gewerkschaften und Ver-
bände unterscheiden sich ganz wesentlich von den vor-
handenen Trusts, deren Monopol in der Tat nur einer
ganz kleinen Gruppe von Persönlichkeiten oder sogar
überhaupt nur einer einzigen nützt. ,,Vom alten Gilden-
und Zunftwesen aber unterscheiden sich diese Gebilde,
wie sich die alte deutsche Kleinstaaterei vomBundesstaate
des Reiches unterscheidet; nicht ein Verbandsschulz
von Einzelinteressenten ist hier gegeben, nicht ein Zweck-
verband souveräner Einzel- und Kleinbetriebe, sondern
eine Produktionsgemeinschaft, in der alle Glieder orga-
nisch ineinander greifen, zur lebendigen Einheit zusam-
mengefaßt, mit einheitlicher Wahrnehmung, Urteil, Kraft
und Willen versehen, nicht eine Konföderation, sondern
ein Organismus1)."
Walther Rathenau hält alle auf den ihm entgegen-
gehaltenen Prinzipien der Notwendigkeit des freien Wett-
bewerbes und der industriellen Unfähigkeit des Staates
beruhenden Bestimmungen für unannehmbar. Es ist ge-
wiß richtig, daß die Konkurrenz Tugenden wie die der
Energie und Erfindungskraft manchmal zur besonderen
Entfaltung bringt, aber sie erzeugt dafür auch die List,
die Boshaftigkeit und die Großsprecherei. Das Dogma
von ihrer Nützlichkeit hat eine schwere Einbuße erfahren,
seitdem die großen neuzeitlichen Gemischtgesellschaften
in die Erscheinung getreten sind, die alles nur der Arbeit
schlecht bezahlter Angestellten zu verdanken haben, die
sich aus reinem Pflichtgefühl und nicht etwa aus Liebe
zum Luxus oder aus Ehrgeiz für die Sache aufopfern.
„Es ist nicht wahr, daß die verzweifelte Angst des Wett-
bewerbs uns stark macht; der Forscher, der Rechner und
Ordner spürt in Werkstatt und Schreibstube nichts von
»j W. V. S. 235, Sep.-Ausg. S. 60-61.
271
ihr, und, was ihn anregt und befruchtet, wird ihm auch
künftig nicht fehlen: die Arbeit seines nahen oder fernen
Gleichbestrebten und Nebenmannes. Fähigkeit und Geist
sind vorhanden; zwar haben sie nicht im Staat, doch all-
zeit in der Wirtschaft ihren Weg gefunden, und, sind sie
bei der Arbeit, so werden sie ohne Angst und ohne Zwang
ihre Schuldigkeit tun. Man wolle doch nicht die Wett-
kämpfe einzelner Finnen um ein beschränktes inneres
Handelsgebiet zum Maßstab der Wirtschaftsstärke neh-
men: wenn zwei Pillenfabrikanten sich bekämpfen, der
eine zwei, der andere eine Million für jährliche Reklame
ausgibt, der eine hundert, der andere fünfzig Reisende
losläßt, der eine mit tausend, der andere mit fünfhundert
Plakaten die deutsche Landschaft schändet; wenn dann
der eine den anderen mit einem inländischen Mehrabsatz
von fünf Millionen Schachteln schlägt, so sind weder die
Pillen besser noch die Menschen gesünder noch die
deutsche Wirtschaft stärker geworden; und da im näch-
sten Jahre der Unterlegene den Sieger schlagen wird,
hätten beide besser getan, sich zu verständigen als auf
unserem Rücken den Kampf der Tüchtigkeit und Erfin-
dungskraft auszufechten. Die Chemiker wissen, was sie
tun. Sie, die erfindungsreichsten von allen Gewerken,
vereinigen sich, schließen den ungezügelten Wettbewerb
aus und fürchten nicht einen Augenblick die Führung des
Weltgewerbes zu verlieren1)."
Die Unfähigkeit des Staates aber soll angeblich noch
einmal durch die traurigen Erfahrungen mit der Lebens-
mittelzufuhr und der Kriegsernährung bezeugt worden
sein. Aber, so bedauerlich auch einzelne vorgekommene
Fehler sein mögen, muß es nicht umgekehrt die höchste
Bewunderung erregen, daß eine ohne jede Vorbereitung
plötzlich wie aus dem Boden gestampfte Organisation
mit beschränkten Mitteln und Personal doch schon be-
') W. V. S. 248, Sep.-Ausg. S. 73 74
272
kanntlich ganz beachtenswerte Erfolge gehabt hat?
Warum sollte der Staat nicht in Zukunft immer noch
besser arbeiten können? „Unser mittleres Beamtentum
steht keineswegs an Intelligenz hinter der erwerbenden
Bevölkerung zurück, wohl aber an Schlagkraft, die unter
der Last der Gesinnungsvorschrift, der Feudalatmosphäre
und des falschen Parlamentarismus und aus Mangel an
Führung verkümmert. Der Staat selbst hat genügende
Proben seiner Stärken und Schwächen gegeben, und das
Volk wird, wenn es seine Geschichte behaupten will,
nicht von neuem Schicksal und Verantwortung in die
Hände erblich privilegierter Stände und Interessen legen.
So ist ein Mißtrauen gegen den Staat, als würde jedes
große Werk der Zukunft durch seine leiseste Mitwirkung
gefährdet oder undurchführbar, ein schmähliches Miß-
trauen gegen uns selbst entgegen der albernen Schul-
formel, die hinter jeder Zukunftshoffnung einen Verstoß
gegen die angebliche Unveränderlichkeit der mensch-
lichen Natur wittert1)." Unser Urteil über die wirtschaft-
liche Organisation kann sich ändern. Und warum sollte -
das dringende Bedürfnis sie als eine Angelegenheit der
Gesamtheit zu betrachten zugegeben — das Eingreifen
des Reiches so verhängnisvoll sein?
Das legt eine Frage allgemeiner Natur nahe, auf die
Walther Rathenau gleichfalls eingegangen ist. Was soll
denn eigentlich die große Hoffnung auf eine sittliche
Wiedergeburt der Menschen für einen Wert haben? Ist
es denn nicht eine reine Utopie von der menschlichen
Natur eine Besserung zu erwarten? Ja, gewiß, wem diese
Erwartung nur bedeutet, daß die Brut der Hallunken all-
mählich von dieser Erde verschwinden werde, der mag
seine Erwartung vielleicht einmal erfüllt sehen. Aber
darum handelt es sich gar nicht. Wenn unser Blick erst
einmal so geübt sein wird, in jedem Einzelfalle die klare
l) W. V. S. 250-251, Sep.-Ausg. S. 76.
18 273
Scheidung zwischen einem guten und einem schlechten
Menschen zu vollziehen zu wissen, werden sich die Böse-
wichte von der anständigen Gesellschaft mehr und mehr
in die Acht erklärt sehen. Doch es steht gar nicht die
Besserung der menschlichen Natur zur Erörterung, son-
dern, worauf es uns ankommt, das ist natürlich allein eine
Hebung der geistigen und seelischen Struktur der heu-
tigen Gesellschaft, die nicht so bleiben darf, wie sie gegen-
wärtig ist und dabei nach der Richtung, die für uns Be-
deutung hat, unschwer zu bessern ist. Wir mögen grau-
sam, bestechlich, knechtselig geblieben sein, tut nichts,
wir dulden doch keine Foltern, Hexenprozesse, Siechen-
häuser, Irrenkerker mehr, gestatten auch nicht mehr
unseren Diplomaten oder Richtern, sich, wie früher so
häufig, zechinengefüllte Tabaksdosen zustecken zu lassen,
lassen uns auch nicht mehr als Soldaten und Landarbeiter
mit Stock und Peitsche prügeln. So kann auch noch eine
Zeit kommen, wo ebenso der ungerechte und verderbte
Geist des Mechanisierungsprozesses geächtet wird.
Doch das sind nicht die einzigen Einwendungen, zu
denen die Theorien Walther Rathenaus Anlaß geben.
Andere würden wohl sogar noch schwerer ins Gewicht
fallen, wie wenigstens nach seinem eigenen vielfachen
Hin- und Herschwanken und seiner Unklarheit über das,
was sie erstreben, anzunehmen ist.
Wann soll sich nun der angekündigte Wandel voll-
ziehen? In manchen Augenblicken schien er schon auf
dem Wege zur Verwirklichung zu sein; bereits in der
gegenwärtigen Wirtschaftsordnung geplant, würde er nur
eine verhältnismäßig schwache und vorübergehende Be-
mühung in Anspruch nehmen; auf politischem Gebiete
könnte sich sogar „der Volksstaat ohne Aenderung einer
Zeile der Verfassung, einschließlich des preußischen Wahl-
rechts, erfüllen1)." In anderen Augenblicken jedoch scheint '
l) D. III. S. 313, Sep.-Ausg. S. 295.
274
sich die Entscheidung auf eine ganz unbestimmte endlos
weite Zeit zu vertagen. Die zu leistende Aufgabe scheint
unermeßlich: das ganze Weltall scheint aus seinen An-
geln gehoben und keine Hand bietet sich, die stark genug
wäre, es wieder zurückzubringen. Die Augen der Massen
haben sich eben erst ein wenig geöffnet, und nur einige
wenige bedeutendere Köpfe beginnen die eingeschlagene
Richtung zu ahnen. Natürlich werden sich so bedeutende
Reformen nicht ohne Schwierigkeiten vollziehen; denn
die Zahl der Ungläubigen ist noch immer zu groß, mag
ihre Ungläubigkeit auf geistiger Unzulänglichkeit oder
auch auf egoistischen Motiven beruhen. Aber die Ent-
wicklungsprozesse in der Natur wie im täglichen Leben
vollziehen sich ja stets langsam. Der Same wird gestreut,
fordert aber, wenn er die gewünschte Frucht bringen
soll, „die volle Zeit des Wachstums und der Reifung, die
jeder Ernte, auch der geistigen, vorausgehen muß1)." Da
haben wir's!
Und wie soll dieser Wandel herbeigeführt werden?
Ein Mittel wurde schon angegeben: die fortschreitende
Ausschließung der Minderwertigen. Doch die Gabe ihrer
Auffindung ist vorläufig erst noch wenigen Menschen zu-
teil. Wird sie sich so leicht verbreiten und verallgemei-
nern? Und, wenn wirklich, wird sie uns auch immer eine
große Hilfe gewähren? Sie wird ohne Zweifel gute
Dienste leisten, um sich ihre Freunde und Bekannten
fürs Privatleben oder auch die Fähigsten und Würdigsten
für einen Betrieb mit beschränktem Personal zu wählen;
weniger zuverlässig kann sie schon auf lange hin zur prak-
tischen Entscheidung verwendet werden in einem Falle,
wo etwa für das und das Amt die und die Eigenschaften
gesucht werden. Auch wird eine solche Gabe sich als
nur wenig zuverlässig bei der Auswahl für einen Massen-
betrieb erweisen können. Andererseits zeigt uns die Ge-
lj W. V. S. 239, Sep.-Ausg. S. 56.
18* 275
schichte, wie wenigstens Walther Rathenau glaubt daß
die großen War. d e.u' ge r. = ■ : i -- . eben de r Y. s - 1 : r. r. s : :
immer den großen politischen und sozialen Krisen auf
dem Fuße gefolgt sind: die Völkerwanderung und die
Misss-irr-id-j-ger. =.~ E.r.|i-^ ü; j^::.::::i de: Nsu-
bieten ein gutes BeispieL Der Weltkrieg bedeutet
::.:.e Zve::'i! gis::-:a^s sins ::i:ir.:;;:.^i "i >r.i.-._ :.-
uns ebenso wie ähnliche frühere aui sittlichem Gebiete
läutern wird. Nur rechnete Walther Rathenau bis 1914
nicht mit unbedingter Notwendigkeit auf die Wieder-
kehr auch nur annähernd ähnlicher Ereignisse, die
übrigens in ihrem ganzen ehemaligen Umlange nicht
mehr möglich waren. hoffte auch ohne sie
das Ende der Mechanisierung herbe izuiühre Da*
..::>. ^_: i.~ -; _:e;c «ein*: ä."^i:i n;:::::j -_--
, ist die Macht der Ideen in sicü und der hin t lud, den
diejenige Auslese der Menschen, deren Vorrecht sie :
aui die Gesamtheit ausübt, damit sie möglichst bald aucn
deren Eigentum werde. Nur von wenigen Herzen werden
die Strahlen aufflammen, die allmählich die Genesung der
Menschheit herbeiführen werden. Nun wird dieser Aus-
lese geraten, nicht voreilig zu handeln und etv
Gang der Entwicklung zu beschleunigen. Es geschieht
dies unter dem Vorgeben, daß ja auch wohlweiblich eine
Uhr nicht schneller gegangen ist, wenn etwa einmal ihre
ger vorgestellt worden sind, und daß auch einmal für
die Massen die Stunde kommen wird, wenn sie dafür reii
sein werden. Wozu wird dieser Auslese ein solcher Rat
gegeben? Wozu? Wie ist es dann zu erklären, daß in
einem anderen Augenblick auch Rathenau in den Massen
und sogar in den so ungebildeten Massen im tiefsten
Innern Rußlands, dann wieder diejenigen Elemente sieht,
die auch er als die Vorkämpfer und Zukunftsp.
', M. IL S. 331— 33S. Stp.-Aosg. S. 334—338.
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3 ero£ der Denkarbeit Xi
•- : - 1 : : .- • . . . : . . E .-
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Seire bev.e:* ■■! rickefllea '+'.*
Wahrheiten, deren IT! atfnnilfci
.- I -1:1 :>■:..- 'i .- > ■ i-
— - .: - ^ i .'. .- .- ..:'.- : .
kfetmcfce oder soaia
n in <f . den Worten Waltner Ra-
ucht ein Ton warmer Überzen**«* ab-
_ cfebenen Tatsacke, daß ein Vi
ttr die Lehren des Kaxaieners gerade fet z
Ön*t *nd gar erst fee Betati*on* noch in
-e hegt der zwar bange, dock wohl lumhiigfci
Zweüei ob das« nickt anch gilb tili
werden! Ancb können wir nicht reckt die Frage mm
ihn unterdrücken, warum er eigentlich, wenn es wahr ist,
daß die Überzeugungen so viel wichtiger als alle Einrich-
tungen sind, dann noch einen so eingehenden und um-
ständlichen Plan der zukünftigen Wirtschaftsordnung
überhaupt erst gegeben hat!
In diesem Plane ist das Fundamentalpostulat für jede
Organisation ihre Omnipotenz. Man hört es Walther
Rathenau an jedem Wort und jeder Zeile, die er schreibt,
an, mit welchem freudigen Stolze auch er, wenn es nur für
ihn irgend angängig wäre, dem Physiologen Wilhelm Ost-
wald und so vielen seiner Landsleute folgend der ganzen
Welt verkünden möchte, daß das Verdienst „den Faktor
der Organisation entdeckt zu haben" den Deutschen zu-
komme, die dem Spiele dieses Faktors ihr noch verhält-
nismäßiges Glück bei allem Unglück verdankten. Rathenau
selbst muß doch wohl ein klassisch vorbildliches Muster
einer nahezu vollkommenen Organisation kennen, er muß
doch wohl die in aller Welt anerkannte und wohl von
niemandem bestrittene Tatsache wissen, daß die von
seinem Vater Emil Rathenau begründete und von ihm
selbst zur Blüte gebrachte Allgemeine Elektrizi-
täts-Gesellschaft nach den ökonomischen Prinzi-
pien der finanziellen Kräfte und Mittel, der Arbeitstei-
lung und der Massen- und Serienfabrikation einfach ideal
funktioniert. Immerhin ist doch auch die Frage nicht
abzuweisen, ob grade die Organisation wirklich nur
das einzige geeignete Rettungsmittel ist und ob ihre An-
wendung nicht gar zu leicht in Mißbrauch ausarten kann.
Der französische Volkscharakter insbesondere fügt sich
einem solchen Zwange schlecht. Die Erfahrung hat
übrigens gezeigt, welchen dicken Strich die unvorher-
gesehenen Rückwirkungen eines solchen Zwanges oft
durch die sorgfältigsten Vorausberechnungen zu machen
vermocht haben. „Denke mal, Du Meister an Voraussicht,
an Methode, an Ordnung, welche schöne Sache, wenn
i c h dann, ich, der ich gerade im Gegensatze zu Dir so
278
weltenfern und weltenfremd durchs Leben ging, plötzlich
schneller denke als Du und in einem Augenblicke der Er-
leuchtung das Ziel finde, an das Dich Deine verschrobene
Idee, die Du doch so viele Jahre mit Dir herumtrugst, so
lange in Dir wälztest und immer wieder hin- und her-
erwogst, schließlich doch nicht geführt hat1)!" Andererseits
beweist der Aufschwung der Allgemeinen Elek-
trizitäts-Gesellschaft ganz ebensowenig mit
zwingender Notwendigkeit, daß ihre Grundsätze ihren
ausgezeichneten Wert auch dann behalten, wenn sie in
einem so unendlich breiteren Rahmen angewendet wer-
den. Etwas, wodurch unter bestimmten Bedingungen ein
begrenzter Betrieb sein Glück macht, paßt darum noch
lange nicht für die gesamte Volkswirtschaft. Wer weiß,
ob die Welt wirklich damit gerettet wäre, daß sie sich
in eine ungeheure A. E. G. verwandelte?
Und nun vor allem: würde sich denn überhaupt die
Welt dazu hergeben? Wie auch Walther Rathenau selber
zugeben muß, haben für das Zustandekommen der
Kriegsämter der Krieg an und für sich und die da-
mals noch unbestrittene Autorität der Regierung die
größten Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt.2) Würde
eine Regierung auch heute noch einen ebenso unbeding-
ten und umgehenden Gehorsam finden? Wenn auch die
Verehrer Rathenaus in Deutschland Legion sind, so stehen
doch dem eine Unzahl von Verlästerern desselben Mannes
gegenüber, um ihn mit glühender Leidenschaft zu be-
kämpfen. Es lehnen sich gegen ihn alle auf, deren In-
teressen er irgendwie verletzt, und erst recht alle die-
jenigen, denen er sogar mit Schließung ihrer Betriebe
') Elie Faure, La Sainte Face (Das heilige Angesicht), Paris 1918,
S. 114. Vergl. auch ebenda S. 76: „Deutschland hat 40 Jahre gebraucht,
seinen Sieg bei Charleroi vorzubereiten und vorzudenken und Frankreich
nur eine einzige Woche, seinen Sieg an der Marne zu erleben, ohne auch
nur einen Augenblick vorher selbst im Traume daran gedacht zu haben."
Vergl. auch ebenda S. 70, eine Seite, die „die Unzulänglichkeit und Armut
der Erfindung" behandelt und mit der sich alle Verehrer der Organisation
auseinandersetzen mögen. ") R. V. S. 28, Sep.-Ausg. S. 10.
279
droht: Waffenfabrikanten und Industrielle, Bankmänner
und Großkaufleute, Geschäftsreisende und Kleinhändler,
die der Rathenausche Plan entweder ganz unberück-
sichtigt läßt oder höchstens auf den ihnen zukommenden
Anteil verweist. Sie sehen sich zugrunde gerichtet, und
zwar zu einem Teil durch die neue Konzentration der
Industrie, zu einem zweiten durch die scharfe Über-
wachung der Einfuhr und zu einem dritten durch die
strenge Reglementierung des Verkaufs. Sie schreien:
,,Das ist das Ende des Mittelstandes, der nach eurem
eigenen Geständnisse zur Größe Deutschlands in hohem
Maße beigetragen hat!" Mit aller ihnen zu Gebote
stehenden Kraft stemmen sie sich gegen diese Gewalt,
die sie zum Proletariat herabzudrücken oder ins Beamten-
joch zu zwingen droht. Was würde denn damit gebessert
sein, wenn erst die gesamte Nation nur noch aus
einem halben Dutzend hoher Direktoren und un-
gezählter Rotten von Beamten bestehen würde? Gewiß
treffen täglich und stündlich eine Unzahl von Huldi-
gungsadressen bei dem Direktorium, von dem die
A. E. G. geleitet wird, sowie bei jenen hervor-
ragenden unverdrossenen und uneigennützigen Männern
ein, die sich diesem Riesenbetriebe mit Leib und Seele
zur Verfügung stellen. Das hindert aber darum noch
lange nicht, daß in mancher Beziehung die privaten
kleinen oder großen Geschäftsleute mit ganz ebensolchen
Vorzügen aufwarten können. Das hindert ebensowenig,
daß die Privatinitiative zum mindesten über ebenso viel
Beweglichkeit und Unternehmungsgeist verfügt, wenn es
sich darum handelt, Risiken einzugehen, den Schwankun-
gen des Weltmarktes zu folgen und sich sofort auf alle
nur irgendwo auftauchenden irgendeinen Nutzen verspre-
chenden Neuerungen zu stürzen. Denn da liegt die große
Gefahr. Neben der Phantasie wird vor allem auch der
Unternehmungsgeist absterben. Der in seiner gesamten
Anlage und in allen seinen Teilen so außerordentlich fein
280
crsonncnc Riesenmechanismus wird gleichwohl in der
Praxis, wenn er funktionieren soll, außerordentlich
schwerfällig sein. Welche Kraft wird nicht seine bloße
Inbetriebsetzung verlangen? Ist er erst einmal im Gange,
dann wird er freilich das Bestreben haben, nun auch in
seiner Bewegung zu beharren. Um so besser, wenn er in
die richtige Bahn geleitet wird. Doch er kann satanisch
werden, wenn er sich getäuscht sieht. Die Ersparnisse
werden dann nur scheinbare sein, die Ausgaben werden
steigen und das Leben wird ein elendes werden. Anstatt
aus einer bösen Lage herauszukommen, wird das Land
immer tiefer in den Sumpf geraten. Statt eines Paradieses
wird dann unser eine Hölle warten!
Und doch hat es in Wahrheit auch nicht einen Schim-
mer größerer Berechtigung die Bedeutung der Ansichten
Walther Rathenaus zu verkennen als es jemals überhaupt
irgendeine Berechtigung haben konnte, zu glauben, daß
sie jedenfalls durch den verlorenen Krieg und die Revo-
lution in Deutschland gerichtet seien. Er pocht keines-
wegs auf die Originalität der von ihm beigebrachten An-
sichten, ist doch nach ihm umgekehrt das Zeichen der
Wahrheit einer Lehre die Summe der in ihr enthaltenen
Einzelwahrheiten und darf doch jede Prophezeiung, um
den Charakter irgendwelcher Realität zu haben, nur das
Erschauen einer schon in der Gegenwart sich mit mehr
oder weniger Bestimmtheit ankündenden Zukunft dar-
stellen. Doch er analysiert gewisse. Tatsachen mit weit
mehr Sicherheit und Schärfe als jemals bisher seine Vor-
gänger und drückt gewisse Ideen mit einer diese Ideen
neu belebenden und geradezu verjüngenden leidenschaft-
lichen Wärme und Glut aus. Es würde deshalb auch ohne
Zweifel derjenige einen schweren Fehler begehen, der
sich verhehlen wollte, daß unter den neueren wirtschaft-
lichen Doktrinen wohl keine so viel Begeisterung zu er-
wecken und so viel Interesse zu erregen imstande ist, als
die Walther Rathenaus.
281
So ist denn beispielsweise die Konzentrationsbewe-
gung, zu der er so gebieterisch das gesamte wirtschaft-
liche Leben auffordert, keineswegs seine Erfindung. Nicht
etwa auf Anregung Walther Rathenaus wie erst recht nicht
auf den genialen Impuls irgendsoeines abseitsstehenden
Fabrikenkönigs strebt die Industrie seit langen Jahren nach
einer von Jahr zu Jahr mehr betonten Zentralisierung.
Walther Rathenau hat sich nun auf das einzige Ziel be-
schränkt, diese Bewegung festzustellen und aufzumuntern.
Aber das Neue ist, daß e r zum erstenmal zu Wege ge-
bracht hat,' diese Bewegung auch erst so ganz eigentlich zu
rechtfertigen, indem er nämlich als erster die tieferen Ur-
sachen der wirtschaftlichen Unordnung aufdeckte, in der
die Welt lebte. Die bisher geltend gemachten, wie die
schon so alten Kriege, der Kalvinismus, die Verjudung,
die Prunksucht, der Frauenkult, die Verpreußung, alle
diese Ursachen hält er für ungenau oder unzulänglich.
Er sieht den wahrhaften Ursprung dieses Chaos in der
Wirtschaftsorganisation selbst wie gleichzeitig in ihrem
Prinzipe und dessen praktischer Anwendung. Die Ma-
schine, die ursprünglich nur zu dem Zwecke erfunden
worden war, neue Bedürfnisse zu schaffen, produziert,
nachdem sie erst einmal in Bewegung gesetzt ist, unermüd-
lich und ohne Unterbrechung und ruft dadurch neue Triebe
ins Leben, die bisher noch nicht bestanden haben und
die sie gleichfalls zu befriedigen suchen wird. Gleichwohl
ist der Mensch noch weit davon entfernt, die Maschinen
sowohl wie die Kräfte, über die er sonst verfügt, restlos
auszunützen. Es geht noch immer zu viel Abfall ver-
loren und wird noch zu viel Material verschwendet!
«
Wenn nicht durch entscheidende Maßnahmen diese Pro-
duktion endlich gründlich geregelt wird, werden sich die
sozialen Konflikte immer mehr zuspitzen und die Mensch-
heit wird weiter bis in alle Ewigkeit ihre alte Tretmühle
treten wie der Gaul, dem der Kopf vermummt wird, da-
mit er nicht scheu werde, wenn er sich immer in dem
gleichen Kreise herumdrehen muß. Der Krieg hat uns mit
seinen unerwarteten Lehren über Einschränkung und Me-
thode die Bahn gewiesen. In einer oder der anderen Form —
wenn es nicht etwa gar gerade die von einer Autorität wie
Walther Rathenau befürwortete ist — wird eine ständige
Beaufsichtigung und Organisation sowie planmäßige volle
Ausnutzung unentbehrlich sein.
Auch die ökonomischen Prinzipien, die er zur Gel-
tung bringen möchte, sind keineswegs neu. Nicht bloß,
daß seine Lehren der deutschen Tradition treu bleiben
und insofern auch dem Staatssozialismus wie dem mar-
xistischen viel zu verdanken haben, nein, es läßt sich auch
in ihnen mit Leichtigkeit noch der Einfluß der franzö-
sischen Theoretiker aus dem Zeitalter, das der Revolution
des Jahres 1848 unmittelbar vorherging, vor allem eines
Claude-Henri, Saint-Simon und eines Francois-Marie-
Charles Fourier, deutlich nachweisen. Sie hatten zum
ersten Male den grundsätzlichen Gegensatz zwischen Ar-
beitenden und Müßiggängern — den Arbeitsbienen und
den Drohnen — scharf umrissen, die beständige Ausbeu-
tung jener durch diese festgestellt und aus diesem Grunde
die Abschaffung der Erbschaft verlangt und die Forde'
rung aufgestellt: „Jedem nach seinem Können, jedem nach
Maßgabe seiner Werke!" sowie auch an der aus dem
Eigentumsbegriffe hervorgegangenen wirtschaftlichen
Anarchie ihre Kritik geübt, gefordert, daß die Arbeit eine
Freude sein müßte anstatt, wie jetzt, eine Qual, und den
Wiederaufbau der Gesellschaft nach dem Muster der in-
dustriellen Betriebe verlangt. Mehr als irgend jemand
zuvor hatten die Anhänger eines Saint-Simon die ethische
Seite des wirtschaftlichen Problems betont und ihre sozi-
alen Dogmen zu einer wahrhaften Religion ausgebaut.
Alle diese Ideen nimmt Walther Rathenau, ohne auch nur
einen Augenblick zu schwanken, wieder auf, wie er auch
erklärt die Lehren des Christentums auch auf volks-
wirtschaftlichem Gebiete als maßgebend zu betrachten.
283
Nur sucht er diese Lehren zu vertiefen, und ihnen, um
einen seiner Ausdrücke zu gebrauchen, „statt des alten
einen neuen Inhalt zu substituieren," der nur etwas
moderner ist.
Er begnügt sich nun nicht etwa damit, von neuem an
die zwischen der Volkswirtschaftslehre und der Ethik be-
stehenden vereinigenden Bande zu erinnern und noch
einmal zu wiederholen, daß die von den bevorrechteten
Klassen verlangten Riesenopfer von diesen nur dann be-
willigt werden, wenn sie sich eine große sittliche Er-
neuerung vollziehen sehen. Er begnügt sich nicht etwa
damit, dies alles noch einmal zu unterstreichen. Nein, er
weist vielmehr nach: Alle diese wirtschaftlichen Kräfte
sind unter dem ethischen Gesichtspunkte an und für sich
völlig neutral; schlecht werden sie nur dadurch, daß die
sich ihrer bedienenden Menschen schlechten Trieben
folgen. Auch hier unterstreicht er nur bereits Bekanntes.
Und nun studiert er alle diese Triebe mit der Sorgfalt des
Psychologen und des Industriellen, der die geschäftlichen
Kreise kennt. Die Haupttriebe sind die des Genusses
und der Macht, des Eigennutzes und des Ehrgeizes. So-
lange noch diese Triebe herrschen werden, werden sich
auch noch weiter die lärmenden Protestrufe derer ver-
nehmlich machen, die ihres Hab und Guts sowie ihrer
Vorrechte entsetzt werden sollen, während sie in densel-
ben ein ein für allemal unantastbares persönliches Eigen-
tum sehen, und ebenso auch die lebhaften Einsprüche
derer, die der Güter und Vorrechte beraubt werden, auf
die sie irgendwelches Anrecht zu haben glauben. Aber es
genügt Walther Rathenau auch noch nicht, diese ethischen
Motoren anzuklagen. In Anbetracht der nun einmal ge-
gebenen so bedeutenden Rolle, die sie noch immer bis
zum heutigen Tage in der Welt gespielt haben, drängt
sich nun die Notwendigkeit ihres Ersatzes auf. Nach der
Diagnose und dem gründlichen Studium der Krankheit
folgt nun das Heilverfahren. Walther Rathenau zeigt, wie
284
sich das Menschengeschlecht in Zukunft nur noch durch
freudige schöpferische Tätigkeit und Verantwortungs-
gefühl leiten lassen wird. Vielleicht sind seine Unter-
suchungen manchmal recht subtil. Vielleicht belastet er
die Mechanisierung mit Sünden, die ihr gar nicht zuzu-
schreiben sind, waren doch auch schon ganz ähnliche
sittliche Verirrungen und Unvollkommenheiten gebrand-
markt worden, solange die Erde noch nicht übervölkert
und e i n Mensch noch nicht der Teufel des anderen war,
ja sogar schon nachweislich in einer Zeit, wo noch nicht
einmal das Wasserrad erfunden war. Wie dem aber auch
sein mag, jedenfalls weiß Rathenau mit einer noch niemals
dagewesenen Kraft und unter ganz neuen Gesichtspunkten
die Notwendigkeit der Solidarität zu beleuchten und
jenes nun schon so lange bekannte Axiom zu verkünden,
das er zum Angelpunkte seiner gesamten Tätigkeit macht:
„Die wirtschaftliche Organisation ist nicht mehr Privat-
sache, sondern Angelegenheit der Gesamtheit."
Unter diesen Umständen nun aber bemüht sich
Walther Rathenau nun gerade erst recht nicht das Einzel-
wesen der Gesamtheit zu opfern. Wie der Graf Joseph-
Arthur Gobineau, glaubt auch er an die Überlegenheit
der weißen Rasse über die anderen und hinwiederum der
arischen Völkerfamilie innerhalb der weißen Rasse sowie
an die schließliche Überlegenheit der „Königssöhne".
Erinnert nicht die Erklärung der gegenwärtigen Sitten-
verderbnis aus der Erhebung der niederen Klassen als-
bald an den Schauer eines Friedrich Nietzsche vor dem
Triumph der düsteren Sklavenmoral über die weithin
leuchtende Herrenmoral? Nur, daß Rathenau die Nietz-
scheschen Begriffe seinem eigenen persönlichen Tem-
peramente anpaßt. Wenn einer Individualist ist, dann
ist es Walther Rathenau. Das läßt sich schon aus seinem
so ausgeprägten Selbstbewußtsein sowie aus seiner ge-
reizten Stimmung gegenüber den Professoren, die über
seine Laienansichten den Mund verziehen, und auch
285
gegenüber jenen Aristokraten, die ihn nur dann zu sich
bitten, wenn sie ihn brauchen, ihm gegenüber aber sonst
eine fühlbare Zurückhaltung bewahren nur wegen seiner
bürgerlichen und jüdischen Abstammung. Er ist ein
Künstler und so auch geneigt, die Arbeit des Industriellen
der Schöpfung des Kunstwerkes ähnlich zu gestalten. Er
hat sicher keine Lust, die Gaben der Intelligenz, des
Willens und der Sensibilität der Gesellschaft als Sühne-
opfer darzubringen. Doch sein Ziel ist darum nicht etwa
das der allerradikalsten Individualisten. Von ihren Theo-
rien hält er nur das für sich zurück, was möglicherweise
einmal dazu dienen kann, die verhängnisvollsten Ueber-
treibungen des Kommunismus abzustellen und die Fort-
schritte der menschlichen Gesellschaft zu erleichtern.
Über ein gewisses, allen gewährleistetes Maß von Wohl-
leben hinaus werden die wirklichen Vermögen erhebliche
Steuern bezahlen, ohne auch darum ganz abgeschafft zu
werden. Der Reiz des vernünftigen Gewinnes soll weiter
bestehen können. Da die Menschen nun einmal nicht mit
gleichen Fähigkeiten geboren werden, wird es immer eine
Klasse der Erfinder und Organisatoren, der Direktoren und
eine Klasse der Ausführenden geben. Der Staat wird einen
Teil seiner unermeßlichen neuen Reichtümer dazu ver-
werten, den Künstlern zu sehr drückende materielle
Sorgen zu nehmen und Kultur zu entfalten und zu fördern.
Nicht nur, daß die höheren Stufen allen zugänglich sein,
es wird auch das große Gesetz des Aufstiegs und Ab-
stiegs, das ja das ganze organische Leben beherrscht, nun
noch auf das soziale Leben Anwendung finden; diejenigen,
die diese Stufen bereits einmal einnahmen, werden, so-
bald ihr Wert heruntersinkt, auch wieder auf die Stufe
herunter müssen, zu der sie ihre Fähigkeiten berechtigen
werden. So wird sich langsam eine echte Autokratie des
Verdienstes bilden, um sich ständig und immer wieder
zu erneuern. Walther Rathenau begleitet sowohl den
Sozialismus wie den Individualismus ein gutes Stück
286
ihres Weges, weigert sich aber, ihnen bis in ihre letzten
Konsequenzen zu folgen. Er befreit sich von dem einen
wie dem anderen, um nach Möglichkeit in einer höheren
Synthese die materialistische mit der individualistischen
Weltauffassung zu versöhnen.
Und ganz ähnlich ergänzt und erweitert er auch den
Begriff des Fortschritts, ohne den keine wirtschaftliche
Doktrin auskommen kann. Er weigert sich entschieden,
diesem Fortschritte, wie das doch der Marxismus tut,
rein materielle Ziele zuzuweisen. Er glaubt nicht daran,
daß es, wie Saint-Simon meint, einzig und allein darauf
ankomme ,,so rasch und so vollständig als möglich die
sittliche und physische Lage der stärksten Klasse zu
heben." Für ihn steht das Schicksal der gesamten
Menschheit auf dem Spiele, womit er nicht etwa deren
materielles Glück meint, das er als etwas ganz neben-
sächliches und verhältnismäßig leicht zu verwirklichen-
des betrachtet, da dieses mit weit weniger Milliarden zu
erreichen wäre als auch nur ein einziger Kriegsmonat ge-
kostet hat. Nein, er meint deren wirkliches Schicksal, ihre
Bestimmung, die darin besteht, die Entwicklung des Uni-
versums zu vollenden, das nunmehr das Reich der Materie
und des Geistes durchmessen und soeben das der Seele
betreten hat. „Wir sind nicht da um des Besitzes willen,
nicht um der Macht willen, auch nicht um des Glückes
willen, sondern wir sind da zur Verklärung des Göttlichen
aus menschlichem Geiste1)." Der wirtschaftliche und
soziale Wiederaufbau bildet nur eine Durchgangsstufe
zum göttlichen Leben. Mit dieser Auffassung schließt
sich Walther Rathenau jenen zeitgenössischen Denkern,
Philosophen, Forschern und auch Staatsmännern an, die
sich mehr um den Geist als um den Leib und wieder
mehr um die Seele als um den Intellekt kümmern. Wer
einmal die Reden des nordamerikanischen Präsidenten
l) D. III. S. 366, Sep.-Ausg. S. 345.
287
Wilson gelesen hat, wird in so mancher von ihnen ähn-
liche Gedanken und Töne wiederfinden, wie sie sich auch
in Rathenaus Reden zeigen. „Das große Auf- und Nieder-
fluten der Welt überrascht nicht, es steigt und fällt auch
wieder; es steigt in seiner Erhabenheit und unwidersteh-
lichen Macht, und, wer gerade hindurch will, muß ertrinken.
Jetzt ist die Welt der Seele aufgewacht, und die Welt-
seele muß befriedigt werden. Haltet euch nicht damit
auf euch auch nur einen Augenblick einzubilden, daß die
Not der europäischen Völker ausschließlich auf wirt-
schaftliche Ursachen und davon unzertrennliche Motive
gleicher Art zurückzuführen sei. Ihr Ursprung ist tiefer
zu suchen. Diese Völker haben gesehen, daß ihre Re-
gierungen noch nie imstande gewesen sind, sie gegen
Intrige oder Angriff zu verteidigen und daß auch nicht
in einem einzigen modernen Kabinett die Gabe der Vor-
aussicht noch auch die der Geduld vorhanden ist. So
sagen sich denn diese Völker: ,Es muß doch wohl irgend-
eine erste Ursache hierfür geben!' Und diese erste Ur-
sache beginnen sie zu ahnen, wenn sie sich die einzelnen
Nationen abgesondert halten oder wohl auch kleine
gegenseitig aufeinander eifersüchtige Gruppen bilden,
Vorurteile in sich nähren und die Gefahren der Kriege
vermehren sehen, anstatt daß diese Völker sich ver-
ständigen sollten, um Maßnahmen zu ergreifen, mit denen
solchen Gefahren beizeiten vorzubeugen wäre!" — Und
so rufen denn die Völker ihren Regierungen zu: „Wenn
ihr wirklich glaubt, daß es ein Recht gibt, wenn ihr
glaubt, daß den Kriegen ein Ziel gesetzt werden muß,
dann hört endlich einmal damit auf, immer nur die rivali-
sierenden Interessen der Völker ins Auge zu fassen und
denkt lieber an die vielen armen Männer, Frauen und
Kinder, die in der Welt umherirren1)!"
l) New Yorker Rede des Präsidenten Wilson vom 4. März 1919 un-
mittelbar vor seiner Ueberfahrt nach Frankreich.
288
HB
107
R3R3
Raphael, Gas ton
Walther Rathenau
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