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Full text of "Walther Rathenau; seine Gedanken und Entwürfe zu einer Wirtschaftsorganisation auf philosophischer und nationalökonomischer Grundlage nebst einer Blütenlese der fundamentalsten Thesen aus seinen gesamten Schriften. In deutscher Bearbeitung und mit kritischen Anmerkungen versehen von Rudolf Berger"

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PROF.  DR.  GASTON  RAPHAEL  (PARIS) 


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Seine  Gedanken  und  Entwürfe  zu  einer  Wirtschafts- 
organisation auf  philosophischer  und  national- 
ökonomischer Grundlage  nebst  einer  Blutenlese  der 
fundamentalsten  Thesen  aus  seinen  gesamten  Schriften 


In 

deutscher  Bearbeitung 

und  mit  kritischen  Anmerkungen 

Oetsehen    von    Dr.  Rudolf  Berger   (Berlin) 

Korresp.  Mitglied  d.  Französischen 

Akademie  d.  Wissenschaften 

und   Künste    zu 

Arras 


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VERLAG 
ERNST  LITFASS'  ERBEN,  BERLIN  C19 


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Vorrede  des  französisch.  Bearbeiters 

VY/  alther  Rathenau  ist  für  das  französische  Publikum 
*  *  kein  Unbekannter.  Bekanntlich  hat  er  als  einer 
der  ersten  Großindustriellen  Deutschlands  auch  im  Kriege 
eine  ganz  hervorragende  Rolle  gespielt.  Bekanntlich  hat 
er  auch  zahlreiche  Schriften  über  die  wirtschaftlichen 
Fragen  veröffentlicht.  Auch  unsere  Zeitschriften  und 
Tagesblätter  haben  sich  beeilt,  eine  kurze  Charakteristik 
seiner  Ansichten  zu  geben,  ja  sogar  schon  manches  zu- 
sammenhängendere volkswirtschaftliche  Werk  hat  seine 
Theorien  herangezogen  und  zur  Erörterung  gestellt1). 

Die  Ueberraschung  darüber  wird  vielleicht  ebenso 
lebhaft  sein  wie  die,  daß  schon  jetzt  eine  Studie  über 
diese  bedeutende  deutsche  Persönlichkeit  und  deren  Zu- 
kunftspläne erscheint.  Haben  wir  die  Deutschen  wirklich 
dazu  eben  bekämpft,  um  uns  schon  jetzt  wieder  in  ihre 
Schule  zu  begeben?  Wollen  wir  schon  wieder  mit  ihnen 
anfangen,  ehe  noch  die  Waffen  endgültig  niedergelegt  zu 
sein  scheinen?  Und  warum  nun  noch  dazu  diesen  Mann 
wählen,  auf  dem  fraglos  der  Vorwurf  lastet,  die  schreck- 
liche Plünderung  Belgiens  und  Nordfrankreichs  reglemen- 
tiert zu  haben?  Und  was  soll  es  wohl  auch,  in  unsere 
schon  so  bitteren  wirtschaftlichen  Streitigkeiten  nun 
noch  den  preußischen  Feldwebelstandpunkt  zu  bringen, 
den  er  im  Rufe  steht,  so  gut  zu  vertreten? 


')  S.  namentlich  verschiedene  Kapitel  in  dem  gediegenen  und  nütz- 
lichen Werke  von  Antoine  de  Tarle  „La  Preparation  de  la  Lutte  Econo- 
mique  par  l'Allemagne"  (Payot,  Paris  1919). 


Im  folgenden    kurz  die  Gründe,    die    uns    gleichwohl 
bestimmt  haben,  diese  Arbeit  zu  unternehmen. 

Deutschland  ist  besiegt  und  hat  auch  für  die  voraus- 
sichtliche nächste  Zukunft  seine  überwiegende  Stellung 
in  der  Welt  eingebüßt;  wir  können  uns  dazu  gar  nicht 
genug  Glück  wünschen.  Aber  wir  dürfen  auch  nicht 
seinen  vorher  so  glänzenden  Aufschwung  vergessen,  dem 
es  Eigenschaften  verdankt,  die  unmöglich  in  einem  einzi- 
gen Tage  verschwunden  sein  können.  Es  wird  sich  ver- 
kleinern, aber  nicht  vom  Erdboden  auszulöschen  sein!  Die 
eifrigsten  Anstrengungen  von  60  Millionen  Einwohnern 
werden  danach  streben,  ihm  sobald  wie  möglich  wenigstens 
einen  Teil  seines  verlorenen  Glückes  wiederzugeben;  die 
Wahlen,  die  Erörterungen  der  Nationalversammlung  zu 
Weimar,  die  Bekämpfung  der  Förderer  der  Unordnung, 
insbesondere  des  bösen  Willens  in  der  Ausführung  der 
wirtschaftlichen  Klauseln  des  Waffenstillstandes  und  dann 
des  Friedensvertrages  beweisen  deutlich,  daß  dieses  Volk 
vor  allem  wünscht,  seine  Industrie-  und  Handelstätigkeit 
wiederaufzunehmen.  Ob  wir  es  wünschen  oder  nicht, 
wir  werden  doch  bald  wieder  diesem  gefährlichen  Kon- 
kurrenten ins  Auge  sehen  müssen.  Es  handelt  sich  nun 
etwa  nicht  darum,  uns  über  seine  Lebenskraft  und  seine 
Methoden  in  Aufregung  zu  versetzen  und  sie  um  jeden 
Preis  mechanisch  nachbilden  zu  wollen,  sondern  es 
kommt  vor  allem  darauf  an,  daß  wir  wissen,  daß  Deutsch- 
land täglich  und  stündlich  diesen  Nachkrieg  mit  derselben 
Sorgfalt  und  demselben  Ehrgeiz  vorbereitet,  wie  es  das 
in  dem  eigentlichen  Kriege  getan  hatte1).  Es  gilt  um 
unserer  Zukunft  willen,  uns  das  ohne  Zögern  ernstlich 
klar  zu  machen. 


*)  Ein  deutscher  Volkswirtschaftslehrer  S.  Herzog  hat  über  diese  Frage 
ein  Buch  mit  dem  bezeichnenden  Titel  „Der  Handelskriegsplan  Deutsch- 
lands" veröffentlicht,  ein  Werk,  das  bereits  von  A.  de  Tarle*  ins  Französische 
übersetzt  ist  (Payot,  Paris  1919). 


Den  deutschen  Kriegsbrandschatzungen  und  anderen 
deutschen  Gewalttätigkeiten  gegenüber,  wie  sie  im  Kriege 
vorgekommen  sind,  ist  kein  Schwanken  möglich;  wir 
teilen  die  Entrüstung  und  das  Entsetzen,  das  sie  bei  allen 
Menschen,  die  überhaupt  noch  ein  Gewissen  haben, 
erregen.  Ein  auf  Grund  des  Friedensvertrages  einzu- 
setzender besonderer  Gerichtshof  wird  wohl  auch  mög- 
licherweise über  einen  Walther  Rathenau  abzuurteilen  und 
ihn  dann  entweder  zu  verdammen  oder  die  Rechtfertigung, 
die  er  bereits  jetzt  der  Oeffentlichkeit  zu  geben  begonnen 
hat,  als  völlig  begründet  anzuerkennen  haben.  Wir  Fran- 
zosen nun  sind  soweit  davon  entfernt,  über  diese  Ver- 
handlungen hinweggleiten  zu  wollen,  daß  wir  sie  im  Ge- 
genteil immer  wieder  bekanntgeben  werden.  Sollten  sie 
etwa  dazu  geschaffen  erscheinen,  die  Sympathie  zu  er- 
sticken, so  laden  sie  doch  hinwiederum  auch  andererseits 
ein,  einen  solchen  Gegner  zu  studieren  und  ihm  um  so 
freier  ins  Gesicht  zu  schauen,  je  gefährlicher  er  anzu- 
sehen ist. 

Aber  auch  unter  einem  anderen  Gesichtspunkte 
darf  die  Haltung  Walther  Rathenaus  während  des  Krieges 
nicht  von  der  Prüfung  seiner  Theorien  ablenken.  Es 
wäre  wirklich  recht  ungeschickt,  seine  persönliche  Be- 
fähigung in  Zweifel  ziehen  zu  wollen.  Es  ist  doch  zu 
bedenken,  daß  hier  derjenige,  der  uns  etwas  über  wirt- 
schaftlichen Wiederaufbau  zu  sagen  hat,  gleichzeitig  auch 
der  Leiter  von  industriellen  Unternehmungen  ist,  die  zu 
den  ersten  Deutschlands  zählen,  und  ein  Mann,  der  die 
Dinge  und  die  Menschen  zu  beobachten,  nachzudenken, 
seine  Blicke  über  das  alltägliche  industrielle  Leben  hin- 
wegschweifen zu  lassen  und  die  materiellen  Fragen  unter 
einem  philosophischen  Gesichtspunkte  zu  betrachten  ver- 
steht. Seine  sehr  ausgedehnte  Tätigkeit  stammt  nicht 
erst  von  heute  und  gestern,  sondern  bereits  von  langer 
Zeit  her.  Er  hat  nicht  erst  die  durch  den  Krieg  hervor- 
gerufenen   unnormalen    Schwierigkeiten    abgewartet,    um 


nun  auch  von  sich  aus  eine  Lösung  für  die  großen  sozialen 
Probleme  bringen  zu  wollen.  Seine  bedeutendsten  Werke 
sind  schon  vor  dem  Jahre  1914  entworfen,  geschrieben 
oder  veröffentlicht  worden.1)  Der  Wert  seiner  Reform- 
pläne übersteigt  um  ein  beträchtliches  den  Wert  der 
vielen  kleinen  Notbehelfe,  wie  sie  sich  aus  den  jeweiligen 
zufälligen  Bedürfnissen  der  Stunde  und  des  Tages  ergeben. 
Als  Geisteserzeugnisse  eines  Fachmannes  und  Denkers  in 
einer  Person  haben  sie  die  doppelte  Eigenart:  nämlich 
einmal  eine  allgemeine  Bedeutung  zu  haben  und  dann 
wieder:  nicht  etwa  bloß  im  Gebiete  der  Theorie  stecken 
zu  bleiben.  Möge  das  Werk  Walther  Rathenaus  in  einem 
vollen  oder  teilweisen  Umfange  bereits  morgen  oder  auch 
erst  später  zur  Durchführung  kommen,  es  trägt  höchst- 
wahrscheinlich in  wirksamer  Weise  zum  Wiederaufbau 
Deutschlands  bei  und  ermöglicht  ihm  ebenso  wahr- 
scheinlich seinen  wirtschaftlichen  Kampf  aufs  neue  erfolg- 
reich bestehen  zu  können.  Wie  sollte  es  da  von  uns 
ignoriert  werden  dürfen? 

Doch  sein  preußischer  Feldwebelstandpunkt?  Nun, 
den  können  wir  ihm  ruhig  gönnen!  Es  tut  wenig  für  uns, 
wenn  auch  selbst  in  seinem  Werke  hiervon  etwas  spuken 
sollte.  Wir  können  uns  für  seine  Ideen  inter- 
essieren, ohne  uns  deshalb  seiner  Methode  zu  beugen. 
Walther  Rathenau  gilt  auch  im  eigenen  Lande  nicht  etwa 
als  Prophet:  eine  ganze  Partei  lehnt  sich  hier  gegen  die 
diktatorische  Art  auf,  mit  der  er,  wenn  wir  den  Vor- 
würfen seiner  Gegner  glauben  dürfen,  gar  zu  gern  vor- 
gehen   möchte,    ja    bekämpft    selbst    seine    Lehre    leiden- 

')  „Zur  Kritik  der  Zeit"  stammt  aus  dem  Jahre  1912,  „Zur  Mechanik 
des  Geistes"  aus  dem  Jahre  1913.  „Von  kommenden  Dingen"  erschien 
erst  1917,  doch  die  beiden  ersten  Kapitel  dieses  Buches  waren  bereits 
zur  Zeit  des  Kriegsausbruches  abgefasst.  Walther  Rathenau  nahm  es  im 
Jahre  1916  wieder  auf,  um  es  noch  in  demselben  Jahre  zur  Vollendung 
zu  bringen.  Im  wesentlichen  auf  Grund  dieser  drei  Werke  wollen  wir 
im  folgenden  seine  Theorien  darlegen,  immer  bestrebt  ihm  möglichst  oft 
und  möglichst  in  seiner  Sprache  persönlich  das  Wort  zu  erteilen. 

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schaftlich  und  versteigt  sich  sogar  zu  der  Behauptung, 
daß  Deutschland  seine  Rettung  auf  Bahnen  suchen  müsse, 
die  den  seinen  gerade  zuwiderlaufen!  Sollten  wir  uns 
durch  die  bloße  Auseinandersetzung  seiner  Theorien 
mehr  binden  als  die  Deutschen  selbst?  Keineswegs! 
Doch  wir  können  so  folgern:  Der  Krieg  hat  die  sozialen 
Schwierigkeiten  außerordentlich  verschärft;  sie  verlangen 
eine  Lösung  bei  uns  ganz  ebenso,  wie  bei  allen  gesitteten 
Völkern.  Was  dabei  einzusetzen  ist,  fällt  schwer  genug 
in  die  Wagschale,  als  daß  nicht  jede  einzelne  Entschei- 
dung mit  der  ernstesten  Erwägung  gefaßt  werden  müßte. 
Von  einem  Manne  von  der  Bedeutung  eines  Walther 
Rathenau  haben  wir  ein  Urteil  zu  erwarten,  das  stets  an 
erster  Stelle  in  Betracht  gezogen  zu  werden  verdient. 
Wir  werden  niemals  sein  Urteil  einfach  ohne  jede  Erör- 
terung hinnehmen!  Doch  warum  sollten  wir  es  nicht 
anhören,  und  zwar  mit  um  so  größerer  Aufmerksamkeit, 
je  leidenschaftlicher  und  verwirrter  unsere  eigenen 
Debatten  werden. 

Der  französische  Verfasser 

(G.  R.) 


Vorrede  des  deutschen  Bearbeiters 

YY/  as  haben  die  Franzosen  über  unseren  neuen  Wieder- 
**  aufbauminister  den  Präsidenten  der  „Allge- 
meinen Elektrizität  s- Gesellschaft"  und 
hervorragenden  volkswirtschaftlichen,  politischen,  kultur- 
historischen und  philosophischen  Schriftsteller,  den  führen- 
den deutschen  Elektrotechniker  und  Großindustriellen 
von  Weltruf,  Dr.  Walther  Rathenau  zu  sagen? 
Auch  ein  französischer  nationalökonomischer  Fachmann 
der  Pariser  Universität,  Prof.  Dr.  Gaston  Raphael,  sieht 
die  in  W.  Rs.  Schriften  dargelegten  volkswirtschaft- 
lichen Lehren  für  das  gesamte  Wirtschaftsleben 
Europas  und  der  Welt  nach  dem  Kriege  (bei  aller 
strengen,  unparteilichen,  ja  unerbittlichsten  Kritik  ge- 
genüber einigen  dem  Pariser  Schriftsteller  als  , .Ent- 
gleisung" erscheinenden  kriegsorganisatorischen  Maß- 
nahmen des  Berliner  Volkswirtschaftlers)  als  so  vorbild- 
lich an,  daß  er  Rathenaus  Biographie  nebst  Darstellung 
seiner  Lehren  eine  beides  ausgezeichnet  zusammen- 
fassende kritische  Monographie  gewidmet  hat!  Was 
könnte  im  gegenwärtigen  Augenblick,  aber  auch  für  die 
weiteren  Jahrzehnte  des  Wiederaufbaues  unseres  Wirt- 
schaftslebens ein  größeres  Interesse  beanspruchen  als 
eine  deutsche  Bearbeitung  dieses  französischen  Werkes? 
Den  deutschen  Bearbeiter  durchbebte  beim  Studium  der 
zahlreichen  und  voluminösen  Bände  Rathenaus,  grad 
ebenso  wie   augenscheinlich   den   französischen   Kollegen, 

8 


eine  himmlische  Wonne,  wie  sie  der  deutsche  Bearbeiter 
ähnlich   nur   beim   einsamen    Lesen   der   Bergpredigt   und 
wohl    auch    einiger    weniger    prophetischer    Stellen    des 
Alten  Testamentes  sowie  einiger  ursprünglicher  buddhisti- 
scher Ausführungen  empfunden  zu  haben  glaubt.    Ja,  es  war 
eine  himmlische  Wonne  zu  empfinden,  wie  dieser  „dezi- 
dierte"  ,,Jude"  Walther  Rathenau,  wenn  er  eine  Grund- 
lage für  den  Aufbau  deutscher  wie  internationaler  Kultur 
und  Wirtschaft  sucht,  sich  überall  laut  und  offen  zur  An- 
schauung der  Lehre  seines  großen  Stammesgenossen,  des 
sich  nicht  mit   dem   alltäglichen   engen   Horizonte   seines 
kleinen    Völkchens    begnügenden    Nazareners    schon    in 
jenen  Unglücksjahren   1914 — 1918  bekannte,   wo  die   An- 
schauung   vom    Auserwähltentume    beim    gegenwärtigen 
Volke   Rathenaus   genau   so    verhängnisvoll    gewirkt   hat, 
wie  vor  nun  bald  zweitausend  Jahren  die  Lehre  des  Na- 
zareners  bei   dessen   einstiger   und   Rathenaus    ursprüng- 
licher   Volksgemeinschaft!     Möge    mir    der    tiefe    Denker 
Walther    Rathenau    verzeihen,    wenn    auch    ich    mir    bei 
meinen  bescheideneren  Ansprüchen  an  mich  selbst   vom 
Standpunkte  meiner  mir  gewiß  schwer,  doch  unabänder- 
lich  erworbenen   und   durch   die   Erfahrungen   des   Welt- 
krieges   besiegelten    Weltanschauung    aus,    die    übrigens 
zum  mindesten  in  den  allerletzten  Zielen  mit  der  Walther 
Rathenaus  weithin  übereinstimmt,  doch  ebenso,  wie  unser 
so  deutschfreundlicher  und  deutschempfindender  Franzose, 
nun  auch  als  Deutscher,  der  nun  einmal  auch  schon  für  die 
Gegenwart  als  um  ein  ganz  bedeutendes, .radikaler"  bezeich- 
net zu  werden  beansprucht  und  darin  einen  vielleicht  unbe- 
rechtigten persönlichen  Stolz  empfindet,  in  der  bescheide- 
nen Form  kritischer  Anmerkungen  einige  Einwendungen 
gegen  Walther  Rathenau,  soweit  sie  die  Sozialdemokratie 
in  ihrer  heutigen  Anschauung  angehen,  zu  machen  erlaubt 
habe.   Letzten  Endes  ist  ja  dieser  „Demokrat"  auch  schon 
für  die  Gegenwart  auf  weiten  Strecken  sozialistisch  und 
wird  das  gar  nicht  bestreiten!     Darauf  aber,  sich  mit  Ra- 


tbenaus  tiefgründigen  Ausführungen  und  Auffassungen 
sachlich  auseinanderzusetzen  muß  auch  der  überzeugte- 
ste Nationalist  von  rechts  den  größten  Wert  legen,  wenn 
anders  er  Anspruch  macht,  sich  als  einen  wahren  Deut- 
schen, Christen  und  Menschen  bezeichnen  zu  dürfen  und 
nicht  als  heilloser  Fanatiker  gelten  will! 

Berlin,  Sonntag,  den  3.  Juli,  bei  —  ach!  —  jetzt  so  seltenem 
Sonnenschein. 

R.  B. 


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10 


Werke   von   Walther  Rathenau 

Im  Jahre  1918  hat  Walther  Rathenau  eine  Gesamt- 
ausgabe seiner  Werke  in  fünf  Bänden  erscheinen  lassen. 
Sie  umfaßt  seine  bedeutendsten  Schriften  und  auch  die 
sei  es  in,  sei  es  vor  dem  Kriege  erschienenen  gelegent- 
lichen Broschüren  oder  Artikel,  die  er  eines  Platzes  in 
derselben  gewürdigt  hat.  Unsere  Angaben  sind  auf  Grund 
dieser  Ausgabe  unter  Anwendung  folgender  Abkürzungen 
gemacht: 

Band      I:  Zsir   Kritik  der   Zeit (K.  I.) 

Band    II:  Zur  Mechanik  des   Geistes       .     .     .        (M.  II.) 

Band  III:  Von  kommenden  Dingen       ....       (D.  III.) 

Band  IV:  Aufsätze.     Frühere   Schriften 

Band    V:  Reden  und  Schriften  aus  der  Kriegszeit: 

Deutschlands      Rohstoffversorgung  (R.  V.) 

Probleme     der     Friedenswirtschaft  (P.  V.) 

Eine    Streitschrift    vom    Glauben    .  (S.  V.) 

Vom   Aktienwesen (A.  V.) 

Die   neue    Wirtschaft (W.  V.) 

Darüber  hinaus  sind  auch  noch  zwei  Streitschriften 
nach  Veröffentlichung  der  oben  erwähnten  Gesamtaus- 
gabe erschienen.    Es  sind: 

Zeitliches         (  85  S.) 

An   Deutschlands   Jugend (127  S.) 


11 


Kapitel  I. 

Ein  Idealist  unter  den  Industriellen 

Die  einflußreiche  „Allgemeine  Elektrizi- 
iäts-Gesellschaf  t'V)  die  gegenwärtig  unter  der 
Leitung  von  Walther  Rathenau  steht,  ist  im  Jahre  1883 
von  seinem  Vater,  Emil  Rathenau,  begründet  worden. 
Einige  Zahlen  mögen  genügen,  den  Eindruck  ihres 
geradezu  märchenhaften  Aufstieges  bis  zum  Jahre  1914 
anschaulich  zu  machen. 

Das  ursprüngliche  Kapital  belief  sich  auf  5  Millionen 
Mark.  Durch  dauernde  Erhöhungen,  die  von  1897  an 
besonders  stark  gewesen  sind,  ist  es  im  Jahre  1914  bis 
auf  189  Millionen  gestiegen.  Unter  Zurechnung  der 
durch  die  Obligationen  und  die  anderen  Hilfsquellen  ge- 
währten Kapitalien  verfügt  die  Gesellschaft  für  ihre  ver- 
schiedenen Unternehmungen  über  Summen,  die  über 
die   400   Millionen   hinausgehen. 

Ursprünglich  war  die  Aufgabe  der  Gesellschaft  die 
Herstellung  der  elektrischen  Lampen  nach  dem  System 
Edison.  Sie  war  vertraglich  mit  der  Firma  Siemens 
&  Halske  verbunden,  die  sich  den  Bau  der  Maschinen 
und  Apparate  vorbehielt.  Seit  1884  interessierte  sie  sich 
für  die  Anlagen  elektrischer  Straßenbahnen  und 
gründete  in  den  verschiedenen  deutschen  Großstädten 
Baubüros.  Im  Jahre  1894  wurde  der  Vertrag  gelöst,  und 
Emil  Rathenau  konnte  seine  Tätigkeit  nunmehr  auf  das 
gesamte  Gebiet  der  Elektrizität  ausdehnen.     Heute  stellt 


*)  Meist  abgekürzt  „A.E.G."  genannt. 

13 


die  Gesellschaft  nicht  nur  einfache  elektrische  Lampen 
und  Apparate,  sondern  auch  ganze  Kabel,  Turbinen, 
Lokomotiven,  Eisenbahnsignale,  Motore  (123  162  allein 
in  den  Jahren  1913 — 1914,  die  insgesamt  eine  Kraft  von 
1  840  273  Kilowatts  darstellen),  Heizapparate  in  ihren 
zehn  großen  Riesenwerkstätten  her,  Werkstätten,  die 
insgesamt  eine  Fläche  von  über  eine  Million  Quadrat- 
meter bedecken.  Doch  sie  ist  nicht  einmal  dabei  stehen 
geblieben.  Sie  unternimmt  auch  den  Bau  von  elek- 
trischen Eisenbahnen  in  Deutschland  wie  in  allen  Teilen 
der  Welt,  und  wir  finden  sie  ganz  ebenso  in  den  Straßen- 
bahnen von  Berlin,  Hamburg,  Jassy  wie  in  der  Hoch-  und 
Untergrundbahn  von  Berlin  oder  in  den  Eisenbahnen  des 
Teufelshörnerhochgebirges,  des  Lötschberges  von  Turin, 
des  Borinage-Bezirkes,  von  Japan  oder  auch  von  Pampe- 
lona.  Ihre  verschiedenen  Büros  oder  Filialen  beliefen 
sich  auf  die  Zahl  47  für  Deutschland  und  148  für  die  ge- 
samte übrige  Erde,  nicht  zu  reden  von  ihrer  Beteiligung 
an  zahlreichen  anderen  Gesellschaften.  In  den  letzten 
Jahren  endlich  hat  sie  noch  das  Feld  ihrer  Tätigkeit  aus- 
gedehnt; so  baut  sie  seitdem  auch  Schreibmaschinen, 
Automobile,  Marinemotoren  —  sie  hat  im  Jahre  1916 
ganz  riesige  Seewerften  erworben  —  und  Flugapparate. 
Ueber  66  000  Arbeiter  und  Angestellte  fanden  im  Jahre 
1914  insgesamt  bei  diesen  Arbeiten  Beschäftigung. 

Es  ist  möglich,  daß  Unternehmungen,  wie  die  von 
Krupp,  Thyssen  und  in  Frankreich  Schneider-Creusot 
in  bezug  auf  den  Umfang  der  von  ihnen  hergestellten 
Erzeugnisse,  die  von  einem  solchen  Betriebe  benötigten 
Arbeitskräfte  und  die  diesen  Erzeugnissen  vorbehaltene 
Verwendungsmöglichkeit  einen  noch  weiteren  Weltruf 
haben.  Die  A.  E.  G.  scheint  ihnen  jedoch  in  den  großen 
Wettrennen  dicht  auf  den  Fersen  zu  folgen,  wenn  nicht 
gar  sie  zu  überholen,  wenigstens,  was  die  Höhe  ihrer 
Geschäfte  betrifft,  die  jährlich  über  eine  volle  Milliarde 
hinausging.     Tausende   und   aber    Tausende    von   kleinen 

14 


Objekten  rechnen  schließlich  auch;  jedenfalls  haben  sich 
die  deklarierten  Gewinne  der  Gesellschaft  für  das  Rech- 
nungsjahr 1914—1915  auf  21298  115  Mark  und  für  das 
Rechnungsjahr  1915—1916  auf  27  193  409  Mark  erhöht. 
Wie  sich  nun  auch  in  Zukunft  das  Schicksal  der  A.  E.  G. 
gestalten  sollte,  es  erübrigt  sich  nach  alledem  noch  ein- 
mal besonders  die  beruflichen  Fähigkeiten  hervorzu- 
heben, die  der  Chef  eines  Hauses  von  solcher  Aus- 
gedehntheit möglicherweise  besitzen  konnte,  wie  auch 
notwendigerweise   mußte. 

Wer  übrigens  die  wesentlichen  Züge  aus  dem  Ge- 
samtbilde einer  Persönlichkeit  wie  Walther  Rathenau 
herauszufinden  und  auf  die  Ursprünge  seiner  Theorien 
zurückzugehen  sucht,  für  den  kommt  es  weniger  darauf 
an,  der  Entwicklung  des  Weltunternehmens  der  A.  E.  G. 
nachzugehen,  als  vielmehr  jenen  eigenartigen  Charakter 
kennen  zu  lernen,  den  diesem  Unternehmen  Emil  Ra- 
thenau und  auch  sein  Sohn  allmählich  aufgedrückt 
haben. 

Emil  Rathenau  hat  den  Anfang  einer  Autobiographie 
hinterlassen,  in  der  er  den  ersten  Teil  seines  Lebens 
erzählt.  Wiewohl  sein  Vater  nur  ein  einfacher  Berliner 
Handeltreibender  war,  gehörte  er  doch  schon  damals 
einer  recht  namhaften  Industriellenfamilie  an.  Sein 
Großvater  Liebermann  rühmte  sich  mit  Stolz,  mit  einem 
englischen  Monopol  ein  für  allemal  gebrochen  zu  haben, 
indem  er  in  seinem  Vaterlande  Preußen  die  mechanische 
Bedruckung  von  Kattunstoffen  mit  den  verschiedensten 
Mustern  heimisch  machte  und  stellte  sich  eines  Tages 
dem  Könige  Friedrich  Wilhelm  IV.  mit  folgenden  Worten 
vor:  ,,Ich  bin  der  Liebermann,  der  die  Engländer  vom 
Kontinent  verjagt  hat!"  Sein  Oheim  setzte  Hüttenwerke 
bei  Sprottau  in  Betrieb.  Sein  Vetter,  Karl  Liebermann, 
sollte  der  Einführer  der  Anilinindustrie  in  Deutschland 
werden,  während  er  selbst  ja,  wie  bekannt,  der  Schöpfer 
der   deutschen   Elektrizitätsindustrie   werden    sollte. 

15 


Aber   es   geschah   das   nicht   auf   einen   Schlag   ohne 
lange  Tastversuche  und  vielfache  Schwierigkeiten.     Kurz 
nach  Emil  Rathenaus  Geburt  i.  J.   1838  hatte   sich  sein 
Vater  vom  Geschäft  zurückgezogen.  Gleichwohl  ließen  ihm 
seine  weltlichen  Zerstreuungen  nicht  die  Muße,  sich  um 
die  Erziehung    seines  mehr    begabten  als    lernbegierigen 
Sohnes  zu   kümmern.     Die   Revolution   des   Jahres    1848 
machte  einen  tiefen  Eindruck  auf  das   Gemüt  des  zehn- 
jährigen Knaben,  der  aus  dem  Hause  davongelaufen  war, 
nur  um  dem  Bau  der  Barrikaden  und  dem  Kampfe   auf 
dem  Monbijouplatze  beizuwohnen.     Die  Wahl  eines  Be- 
rufes beunruhigte  ihn  wenig.     Auf  die  Einladung  seines 
Onkels  trat  er  in  das  Hüttenwerk  von  Sprottau  ein.   Nach 
Verlauf  von  vier  und   ein  halb   Jahren  wurde   er  dieser 
rein  praktischen  Tätigkeit  überdrüssig  und  gab   sie   auf, 
um    nunmehr    das    Polytechnikum    zu   Hannover    zu    be- 
ziehen.    Die  Zusammenstöße  zwischen  den  Preußen  und 
den  Weifen   veranlaßten  ihn,   nachdem  er  in  Studenten- 
versammlungen, um  seine  Kommilitionen  zur  Verteidigung 
ihrer   Freiheit    zu    ermutigen,    das    Wort    ergriffen   hatte, 
sich   nunmehr   an    dem   Polytechnikum   zu   Zürich    imma- 
trikulieren zu  lassen.     Obgleich  er  an  den  Festlichkeiten 
der  Stadt  einen  reichen  Anteil  nahm,  verfertigte  er  doch 
eine  Diplomarbeit,  für  die  er  die  beste  Note  erhielt.    Nun 
nimmt    er    eine    Anstellung    in    den    Borsigschen    Werk- 
stätten für  Metallkonstruktion  mit   einem  Monatsgehalte 
von  25  Talern  an.     Er  würde  sich  schon  damit  begnügt 
haben,  wenn  ihm  seine  Beschäftigung  nicht  so  furchtbar 
theoretisch    erschienen    wäre;     immer    nur     schematische 
Zeichnungen  und  geradezu  ein  Verbot,   die   Werkstätten 
zu  betreten,    die  ihn  doch  gerade    anziehen.     Er    begibt 
sich  nach  London,  wo  ihn  „der  riesenhafte  Verkehr  buch- 
stäblich  elektrisiert**    und    wo   er   in  mehreren  Häusern 
arbeitet,     deren    eines    die    erste    Maschine    mit    einer 
Spannung    von     1000     Pferdekräften     für    das    englische 

16 


Kriegsschiff   „Bellerophon"    erbaut    und   von    denen    ein 
anderes  sich  mit  Erfindungspatenten  beschäftigt. 

Zwei  Jahr  später  kommt  er  wieder  nach  Berlin  zu- 
rück, fühlt  sich  in  seiner  Vaterstadt  wohl  und  sucht  sich 
hier  eine  Zukunft  aufzubauen.  In  Gemeinschaft  mit  einem 
Jugendfreunde  gründet  er  eine  kleine  Maschinenfabrik. 
Die  Räumlichkeit,  ein  ehemaliger  Tanzsaal,  dient  den  bei- 
den Anfängern  gleichzeitig  als  Wohnstätte;  die  Einrichtung 
ist  dürftig;  ein  im  Keller  aufgestellter  Dampfkessel  liefert 
die  erforderliche  Kraft;  es  gibt  keinen  anderen  Schorn- 
stein als  den  einen  für  das  ganze  Haus  gemeinsamen. 
Schon  bei  der  Maschine,  die  er  herstellt,  hat  er  die  Idee 
gehabt,  sie  nach  einem  einfachen  normalisierten  Typus  zu 
bauen.  Der  Verkauf  geht  gut.  Alle  Verdienste  werden 
in  die  kleine  Werkstatt  gesteckt,  und  bald  schon  erwischt 
er  ein  Gelände  von  20  Morgen  zu  Moabit  im  Weichbilde. 
Es  war  in  diesen  Jahren,  die  dem  zuströmenden  Fünfmilli- 
ardensegen unmittelbar  folgten,  eine  Periode  fieberhafter 
Bewegung  in  ganz  Deutschland  und  eine  Periode  aben- 
teuerlicher und  voreiliger  Unternehmungen,  die  schnell 
mit  den  scheußlichsten  Krachen  endigten.  In  derselben 
Zeit,  in  der  sich  Emil  Rathenau  seine  neue  Werkstatt 
erbaut,  erhält  er  wiederholte  Anerbietungen  von  Geld- 
männern, die  ihm  vorschlagen,  eine  Aktiengesellschaft  zu 
gründen.  Er  hat  das  größte  Mißtrauen  gegenüber  diesen 
Projektenmachereien,  ja  gradezu  ein  Schauer  vor  den 
„Aktien"  und  vor  allem  das  feste  Verlangen,  sich  seine 
ganze  Unabhängigkeit  zu  bewahren.  Es  gelingt  ihm,  von 
Privatleuten  das  Kapital  zu  erlangen,  das  er  braucht,  um 
nicht  in  die  Klauen  von  Spekulanten  zu  geraten.  „Und 
doch  entgeht  er  nicht  seinem  Schicksal."  Er  verkauft 
gegen  bare  Bezahlung  das  Besitzrecht  an  seinem  Unter- 
nehmen an  eine  Bank,  nimmt  aber  selbst  keine  Aktie, 
obwohl  er  sich  verpflichtet,  zugleich  mit  seinem  bis- 
herigen Teilhaber  in  der  Direktion  zu  bleiben.  Es  tritt 
der  finanzielle  Zusammenbruch  ein      Die  davon  sehr  mit- 

2  17 


genommene  Bank  kann  die  Obligationen  nicht  unter- 
bringen und  sich  auch  keine  Hypotheken  verschaffen. 
Schnell  werden  die  Bauten  vollendet,  die  Gläubiger  not- 
dürftig abgefunden,  doch  die  beiden  Direktoren  nehmen 
ihren  Abschied  und  die  Gesellschaft  macht  bankrott. 

Emil  Rathenau  geht  in  der  Schilderung  seines  Lebens 
schnell    über    die    nun    folgenden    Jahre    hinweg,    die    für 
ihn   Jahre    der   Ernüchterung    und   der    Untätigkeit,    aber 
auch  Jahre  des  Nachdenkens  und  einer  Reihe  von  Plänen 
waren,   die  nicht  aufhörten,   sein  rastlos   arbeitendes   Ge- 
hirn zu  beschäftigen.     Er  besucht  die  Weltausstellung  zu 
Philadelphia  vom  Jahre   1876  und  empfindet  wieder   von 
neuem  einen  tiefen  Eindruck  von  angespannter  Tätigkeit. 
,,Es  schien  mir,"  sagt  er,  ,,daß  ich  nur  mit  vollen  Händen 
aus   dem  menschlichen   Leben   zu  schöpfen   brauchte,   um 
mir    die   Fabrikation,    die    mich    interessierte,    zu   sichern, 
und   ich    war    überzeugt,    daß    sie    ganz    ebenso    auf    dem 
Boden  meines  Vaterlandes  gedeihen  könnte!"     Die  Werk- 
zeugmaschinen und  die  Lokomotiven  von  Baldwin  fesseln 
ihn  ganz  besonders.  Er  bemerkt  mit  Scharfblick  sogleich 
die      Bestrebungen      der      großen      modernen      Betriebe. 
,,Sie      verfügten,"      sagt      er,        ,,über   ziemlich      dürftige 
Räumlichkeiten      und      legten      mehr     Wert      auf      zeit- 
sparende Maschinen  als  auf  hygienische,  helle  und  luftige 
Arbeitsräume.     Die   strenge  Zucht  und   Organisation,   die 
namentlich  auch  in  neueren  Betrieben  herrschen,  werden 
durch  den  Ehrgeiz  von  Leuten  ausgefochten,  die  so  sehr 
sie  auch  daran  interessiert  sind,  Geld  zu  verdienen,    sich 
gleichwohl  bemühen,   die   Firma,   bei   der  sie   arbeiten,  in 
einem  günstigen  Lichte  zu  zeigen.     Aber  die  geniale  Er- 
leuchtung,  die   ihn  zu  Vermögen   führen  sollte,   kam   ihm 
in    Paris    gelegentlich    der    Elektrizitätsausstellung    vom 
Jahre  1881.     Er  sah  hier  in  der  Tat  zum  ersten  Male  die 
Edisonsche  Glühlichtlampe,  der  gegenüber  sich  die  Fach- 
männer recht  skeptisch  zeigten.     Sie  gaben  im  Vergleich 
mit  ihr  der  Bogenlampe  einen  bedeutenden  Vorzug,  weil 

18 


ihnen  diese  zu  einer  weit  größeren  Zukunft  berufen  schien 
als  jene.  Doch  Rathenau  entschloß  sich  auf  der  Stelle  für 
die  neue  Edisonsche  Lampe.  Nach  Berlin  zurückgekehrt, 
setzte  er  es  durch,  daß  mit  Hilfe  einiger  Banken  sogleich 
eine  „Studiengesellschaft"  gebildet  wurde,  die 
das  Patentausbeutungsrecht  für  Deutschland  erwarb  und 
im  Jahre  1883  die  „Deutsche  Edison  g  eseli- 
sch a  f  t"  ins  Leben  rief,  die  im  Jahre  1887  den  Namen 
„A  llgemeine  Elektrizitäts-Geseilschaft" 
annahm.  Emil  Rathenau  hat  nun  annähernd  das  50.  Le- 
bensjahr erreicht,  hat  30  Jahre  lang  seinen  Weg  gesucht 
muß  aber  auch  jetzt  noch  immer  furchtbare  Kämpfe  mit 
den  konkurrierenden  Firmen  bestehen.  Derjenige  unter 
diesen  Kämpfen,  den  er  mit  der  im  Elektrizitätsgeschäfte 
bis  dahin  allmächtigen  Firma  Siemens  &  Halske  durchzu- 
machen hatte,  nahm  eines  Tages  einen  so  stürmischen 
Charakter  an,  daß  Werner  von  Siemens  ihm  seine  Zeugen 
schickte.  Es  kam  zum  Vergleich,  und  so  wurde  aus  dem 
Duell  nichts.  Emil  Rathenau  hatte  den  Erfolg  von*  nun 
an  für  sich. 

Welchen  Verdiensten  verdankte  er  nun  diesen  Er- 
folg? Worin  lag  wohl  ihre  Eigenartigkeit?  Die  Ant- 
wort auf  diese  Frage  gibt  die  kurze  Gedächtnisrede,  die 
sein  eigner  Sohn  Walther  Rathenau  am  Grabe  des 
Vaters  hielt.  In  Gegenwart  von  schon  alten  Mitarbeitern 
und  Freunden  vermochte  er  ihm  vier  große  Tugenden 
zuzuerkennen:  „Die  höchsten  Gaben,  die  der  Ewige  Geist 
den  Menschen  spendet,  die  er  liebt,  die  er  mit  Leiden 
segnet  und  denen  aufs  Haupt  er  die  Verantwortung  der 
Welt  bürdet,  nämlich  die  Einfalt,  die  leidenschaftliche 
Liebe  zur  Wahrheit,  die  Gabe  geistiger  Vision  und  des 
Schauens  und  die  Gabe  der  Liebe."1) 

Vielleicht  ist  unter  diesen  vieren  der  Gabe  der  gött- 
lichen Eingebung  und  Ahnung  bei  Emil  Rathenau  der  erste 

->  V,  12. 

19 


Rang  einzuräumen.  Er  gehörte  zu  denen,  die  Möglichkeiten 
entdecken,  die  dem  gewöhnlichen  Blick  entgehen,  und  die 
bereits  Dinge  als  einleuchtend  betrachten,  die  weder  der 
Vergangenheit  noch  der  Gegenwart  angehören,  sondern 
erst  ihre  richtige  Zukunft  vor  sich  haben.  Sein  sofortiges 
Vertrauen  auf  die  Glühlichtlampe  ist  nur  eines  von  vielen 
Beispielen.  Er  hatte  ebenso  die  Erleuchtung  von  den 
Zukunftsmöglichkeiten  der  neuen  Maschinen,  der  Tur- 
bine, des  Starkstromes  durch  Hochspannung,  der  Fern- 
übertragung der  Kraft  und  der  Elektrizität  als  motorische 
Kraft  wie  auch  so  mancher  Einzelartikel,  deren  wahr- 
scheinliche Blüte  oder  Mißerfolg  er  vorauszusehen 
wußte.  Seine  Einbildungskraft  schwelgte  in  solchen  Ent- 
würfen, wie  sie  heute  als  phantastisch  angesehen  und 
morgen  schon  ausgeführt  zu  werden  pflegen:  dachte  er 
nicht  bereits  ganz  Berlin  mit  elektrischem  Strome  zu  ver- 
sehen, um  in  jedem  Hause  ganz  gleichmäßig  Heiz-  wie 
Kühlapparate  funktionieren  zu  lassen?  Von  einer  in- 
stinktmäßigen Selbstsicherheit  in  diesen  Träumereien,  war 
er  zugleich  von  einem  glühenden  Optimismus,  der  ihm  die 
Energie  gab,  unaufhörlich  neue  Pläne  zu  entwerfen,  und 
zu  verwirklichen. 

Seine  Einfachheit  ebenso  wie  seine  leidenschaftliche 
Liebe  zur  Wahrheit  hinderten  ihn,  auf  Abwege  zu  ge- 
raten. Sie  offenbarten  sich  schon  in  seiner  ganzen 
Lebensführung.  Emil  Rathenau  erhielt  sich  immer  jene 
Einfachheit  der  Sitten  und  Bräuche,  die  bis  um  das  Jahr 
1880  herum  das  ganze  preußische  Volk  charakterisierte 
und  die  nicht  um  ein  bißchen  weniger  als  die  Prahlerei 
und  Protzsucht  auch  eines  der  Merkmale  des  jüdischen 
Charakters  ausmacht.  Die  bedeutendsten  Summen  aufs 
Spiel  zu  setzen  fähig,  wenn  es  sich  um  das  Interesse 
seiner  Gesellschaft  handelte,  konnte  er  umgekehrt  aufs 
ernstlichste  in  Zorn  geraten,  wenn  drei  Diener  dazu  be- 
stellt wurden,  den  Aktionären  die  Überzieher  ausziehen 
zu  helfen,  wo  vielleicht  schon  zwei  genügt  hätten,  oder 

20 


auch  wohl,  wenn  ihm  einmal  die  unnütze  Anschaffung 
einer  Schreibmaschine  vorgeschlagen  wurde.  Er  gab  erst 
wenige  Jahre  vor  seinem  Tode  seine  alte  Berliner  Woh- 
nung an  einem  Ausladeplatz  der  Stadt  auf,  um  nach  dem 
Westen  zu  ziehen,  und  mehr  als  einmal  haben  ihn  seine 
Mitbürger  für  seinen  Gang  zur  Fabrik  die  Straßenbahn 
seinem  Automobil  vorziehen  sehen.  Es  hieß,  für  ihn 
zähle  das  Geld  nur  bis  300  Mark  und  dann  erst  wieder 
von  3  Millionen  an.  Im  Verkehr  sprach  er  ohne  Um- 
schweife und  ohne  Hintergedanken.  Er  wurde  wohl  auch 
bisweilen  betrogen,  weil  er  alles  glaubte,  was  ihm  gesagt 
wurde.  Die  Kunst  des  Diplomaten  war  ihm  völlig  ver- 
sagt; er  enthüllte  immer  sein  Spiel  zu  schnell  und  drückte 
sich  stets  mit  einer  Offenheit  aus,  die  nur  zu  leicht  einen 
Bruch  herbeiführte;  sehr  früh  schon  mußte  sein  Sohn 
Walther  peinliche  Verhandlungen  übernehmen  oder  zum 
allermindesten  einleiten  oder  wohl  auch  das  Wort  er- 
greifen, wenn  die  Aktionärversammlungen  einmal  zu  stür- 
misch wurden.  Und  diese  Eigenschaften  fanden  sich  auch 
in  seinem  Denken  wieder.  Außerstande,  irgendein  ver- 
wickelteres  Problem  zu  verstehen,  studierte  er  gleich- 
wohl alle  Fragen,  die  er  so  lange  drängte  und  preßte, 
bis  sie  auf  eine  völlig  einfache  Form  zurückgeführt 
waren.  So  wurden  durch  ihn  alle  diese  Fragen  von 
ihren  sämtlichen  unklaren  Elementen  befreit,  so  daß  sie 
nicht  mehr  irgendwelchen  Anlaß  zu  Irrtümern  geben 
konnten.  Seinem  ersten  Optimismus  folgte  dann  stets 
ein  Pessimismus,  der  alles,  was  Entwurf  hieß,  einer  pein- 
lichen Kritik  unterwarf.  Es  war  das  keineswegs  ein  Fall 
krankhafter  Zweifelsucht,  und  Mutlosigkeit,  sondern  eine 
beherzte  Prüfung,  die  der  Wahrheit  ins  Gesicht  zu 
schauen  wagte  und  nicht  zögerte,  eine  bereits  fest  gefügte 
Vorstellung  zu  zerstören,  um  eine  einfachere  und  genauere 
Lösung  zu  entdecken. 

Bei  seines  Vaters  Fähigkeit  zu  lieben  verweilt  Wal- 
ther Rathenau  mit  besonderer  Freude.    „Seine  Liebe  zum 

21 


Menschen",  so  sagt  er,  „war  stark,  aber  sie  war  nicht 
sanft,  sie  war  nicht  hingebend,  und  sie  war  nicht  weich, 
aber  sie  umfaßte  den,  den  sie  liebte,  und  sie  zog  ihn  an 
sich  empor.  Und  das  stärkste,  was  starke  Liebe  wirken 
kann,  das  wirkte  sie:  sie  entfachte  Liebe!"1)  Unter  all 
seinen  Vorzügen  scheint  dieser  der  einzige  gewesen  zu 
sein,  in  bezug  auf  den  Emil  Rathenau  manche  Einschrän- 
kung über  sich  ergehen  lassen  mußte.  Und  nicht  ohne 
Grund  machten  ihm  doch  alle  Menschen  seine  Strenge 
und  seine  unerbittliche  Härte  zum  Vorwurf.  Aber  viel- 
leicht lag  in  diesem  seinem  Auftreten  mehr  augenblick- 
liche Stimmung  als  nachtragende  Böswilligkeit.  Jeden- 
falls war  er  einer  großen  Hingebung  für  die  Seinen  fähig 
und  verstand  es  auch,  eine  kleine  Zahl  von  Freunden 
um  sich  zu  scharen,  deren  Treue  sich  ihm  in  keiner  Lage 
verleugnet  hat.  Ebenso  war  er  einer  unbedingten  Hin- 
gabe an  seine  Tätigkeit  fähig.  Er  widmete  ihr  seine 
ganze  Zeit,  während  er  dem  gesellschaftlichen  oder  dem 
öffentlichen  Leben  nur  ein  ganz  schwaches  Interesse 
entgegenbrachte,  ja,  er  opferte  ihr  sein  ganzes  Leben. 
Die  Anhäufung  von  Geld  ließ  ihn  persönlich  ganz  gleich- 
gültig, wohl  aber  lag  ihm  daran,  seine  Gesellschaft  zu 
Vermögen  zu  bringen. 

Und  so  gestaltete  er  sie  nach  seinem  Bilde,  indem  er 
sich  seine  eigenen  Erfahrungen  aus  der  Vergangenheit  zu- 
nutze machte.  Ohne  selbst  ein  Erfinder  oder  auch  nur 
verdienter  Ingenieur  zu  sein,  interessierte  er  sich  immer 
und  in  erster  Linie  für  das  Problem  der  Fabrikation. 
Seine  Tage  vergingen  fast  bis  an  sein  Lebensende  in  den 
Fabrikräumen  und  insbesondere  in  den  Experimentier- 
werkstätten. Sein  Grundsatz  war,  sich  ganz  ebenso  von  zu 
theoretischen  Untersuchungen  wie  von  zu  empirischen 
Übungen  fernzuhalten.  Kein  Stagnieren,  aber  auch  keine 
gewagten  Neuerungen.      Jedes   neue   Projekt   mußte    von 

M  V,  17—18. 
22 


seinen  Ingenieuren  in  allen  seinen  Erscheinungsformen 
studiert  und  hin-  und  hergewendet  werden,  ja  in  Augen- 
blicken der  Krise  ließ  Rathenau  seine  Leute  bis  zur  Er- 
schöpfung arbeiten  und  nicht  eher  rasten,  bis  die  Arbeit 
vollkommen  erledigt  war.  War  eine  solche  erst  einmal 
angenommen,  so  wurde  sie  auch  rüstig  und  rasch  bis  zu 
Ende  geführt.  Ein  zweiter  Grundsatz  ist  der  bekannte 
Grundsatz,  auf  dem  das  eigentliche  Wesen  der  gesamten 
modernen  Großindustrie  beruht:  die  Serienfabrikation. 
Rathenau  war  allerdings  nicht  der  einzige  Industrielle 
seiner  Generation,  der  sie  zur  Anwendung  brachte,  wohl 
aber  machte  er  sich  mit  einem  Scharfblick  und  einer 
Willenskraft  ohne  gleichen  an  sie.  Verschiedenartige 
Gegenstände  und  Stücke,  die  aus  den  Werkstätten  der 
A.  E.  G.  hervorgehen,  werden  nach  Hunderten  gezählt, 
es  wird  aber  jeder  einzelne  Artikel  in  Tausenden  oder 
Millionen  Exemplaren  fabriziert.  Bei  jeder  Gelegenheit 
ersetzen  die  Maschinen  die  Menschenarbeit,  möglichst 
leistungsfähige  und  vervollkommnetste  Maschinen,  unge- 
heure Turbinen  zu  Rummelsburg  oder  Kondensatoren  der 
Dampfmaschinen,  wie  sie  für  jedermann  in  den  hellen 
und  sauberen  Sälen  der  Erdgeschosse  der  Berliner  Werk- 
stätten zu  sehen  sind  und  wo  anders  in  dunklen  Keller- 
räumen ein  verborgenes  Dasein  führen  müssen.  Achtzig 
Schreiber  leisten  eine  Tätigkeit,  die  dereinst  Hundertc 
erforderte;  fast  die  ganze  Arbeit  der  Konstruktion  von 
elektrischen  Apparaten  kann  Frauen  anvertraut  werden, 
und  das  Haus  befreit  sich  sozusagen  von  jeder  Abhän- 
gigkeit gegenüber  Facharbeitern.  Die  Betriebskosten 
werden  auf  ein  Minimum  reduziert,  und  so  ist  die  erste 
Voraussetzung  für  den  Erfolg  völlig  gesichert. 

Charakteristischer  noch  war  die  Handels-  und  Fi- 
nanzpolitik von  Emil  Rathenau.  Das  Geschäft  an  und 
für  sich  übte  keine  Anziehungskraft  auf  ihn  aus;  ohne 
natürlich  den  Verkauf  völlig  zu  vernachlässigen,  ließ  er 
sich  doch  keineswegs  regelmäßig  über  den  Geschäftsgang 

23 


auf  dem  laufenden  halten  und  wälzte  gern  die  Sorge  für 
die  Überwachung  des  wirklichen  Außenverkehrs  auf  an- 
dere Schultern  ab,  also,  was  da  ist:  Eröffnung  von  neuen 
Absatzmärkten,  Suche  nach  Kunden,  Einrichtung  von 
Zweigstellen,  Reklame  usw.  Er  beschränkte  sich  seiner- 
seits auf  die  Ausfindigmachung  einer  Möglichkeit  für 
eine  billigere  Preisfestsetzung  erstklassiger  Ware  als  sie 
seine  Konkurrenten  für  eine  solche  zu  leisten  imstande 
waren,  von  der  Ueberzeugung  ausgehend,  daß  nur  dann 
ihr  Absatz  sicher  sei.  Von  ihm  rührt  jener  so  viel  bewun- 
derte und  in  den  industriellen  Annalen  der  Zeit  einzig 
und  allein  dastehende  so  lächerlich  geringe  Unterschied 
zwischen  den  Herstellungskosten  und  dem  Verkaufspreise 
in  der  ,,A  llgemeinen  Elektrizitäts-Gesell- 
s  c  h  a  f  t'\  Die  verschiedenen  Werkstätten  unterhalten 
keinen  unmittelbaren  Verkehr  mit  dem  Publikum;  sie 
geben  ihre  Erzeugnisse  an  eine  zentrale  Verkaufsstelle 
ab,  die  sie  ihnen  zum  Herstellungspreise  abkauft  und 
einzig  damit  betraut  ist,  sie  mit  einem  bestimmten  Nutzen 
zu  verkaufen  und  gewisse  Wünsche  der  Kundschaft  an 
die  Werkstätten,  wenn  Gelegenheit  dazu  ist,  falls  diese 
glauben,  ihnen  stattgeben  zu  müssen,  zu  übermitteln.  Von 
ihm  rührt  auch  jenes  eigenartige  Verhältnis  der  A.  E.  G. 
zu  ihren  Filialen  her.  Anstatt  sie  als  einfache  Organis- 
men zu  betrachten,  die  dazu  bestimmt  sind,  Aufträge  zu 
schaffen,  behandelt  er  sie  als  selbständige  Unternehmen 
und  geht  darin  sogar  soweit,  sie  zu  ermächtigen,  sogar 
von  Konkurrenten  beziehen  zu  dürfen,  wenn  sie  dort 
billiger  einkaufen  können  oder  wenn  die  Gesellschaft  in- 
folge eines  Übermaßes  von  Arbeit  die  Artikel,  deren  sie 
bedürfen,  nicht  rechtzeitig  liefern  kann. 

Aus  seinen  Streitigkeiten  mit  den  Banken  hatte  der 
alte  Rathenau  die  Lehre  gezogen,  daß  er  um  jeden  Preis 
seinem  Unternehmen  eine  völlige  finanzielle  Unabhän- 
gigkeit geben  und  dahin  wirken  müsse,  daß  dessen  finan- 

24 


zielle  Verfassung  stark  genug  wäre,  allen  Stürmen  wider- 
stehen zu  können.  Von  Anfang  an  betrachtete  er  das 
Geld,  das  er  und  andere  in  die  Gesellschaft  gesteckt 
hatten,  nicht  sov/ohl  als  sein  Eigentum,  über  das  er  nach 
seinem  freien  Willen  verfügen  konnte,  wie  vielmehr  als  ein 
Vermögen,  dessen  verantwortlicher  Verwalter  er  nur  war. 
Millionen  daran  zu  wagen,  die  Werkzeuge  umzugestalten, 
eine  neue  Fabrikationsart  einzuführen  und  ein  Konkur- 
renzunternehmen zu  erdrosseln,  nahm  er  keinen  Augen- 
blick Anstand,  und  er  hätte  nicht  geduldet,  daß  seine 
Autorität  in  Entscheidungen  dieser  Art  angefochten 
würde.  Doch  es  gab  niemanden,  der  ihn  je  hätte  spielen 
oder  spekulieren  sehen,  und  vielleicht  schuldet  er  dieser 
Tatsache  nicht  zum  wenigsten  seinen  Ruf  eines  großen 
Finanzgenies.1)  Die  Interessen  der  Gesellschaft  gingen 
für  ihn  denen  der  Aktionäre  vor.  Sicher  hatte  er  diesen 
gegenüber  Achtung  und  Furcht,  und  seine  xMitarbeiter 
hörten  ihn  wohl  oft  in  einem  Augenblicke,  in  dem  es  eine 
schwerwiegende  Maßnahme  zu  fassen  galt,  die  bange 
Frage  stellen:  ,,Was  werden  hierzu  unsere  Aktionäre 
sagen?"  Doch  er  wies  es  stets  zurück,  ihnen  übermäßig 
hohe  Vorteile  zu  gewähren,  mochten  die  Geschäfte  auch 
noch  so  blühend  und  die  Einsprüche  in  den  Generalver- 
sammlungen auch  noch  so  stürmisch  sein.  Er  zog  es  vor, 
in  einer  bisher  unbekannten  Ausdehnung  der  anderen 
Unternehmungen  Reserven  zu  schaffen,  die  auf  Banken 
als  Guthaben  und  in  jederzeit  verfügbarem  Gelde  ange- 
legt wurden.  An  dem  Tage,  an  dem  diese  Reserven  die 
Hälfte  des  eingeschriebenen  Kapitals,  d.  h.  über  90  Milli- 
onen Mark  erreichten,  fühlte  er  sich  glücklich,  weil  er 
nunmehr  die  Gesellschaft,  sein  Werk,  erst  für  alle  Zeit 
dauernd  gesichert  hielt. 


l)  Die  Gründung  der  mit  der  A.E.G.  eng  verbundenen  „Elektrobank" 
zu  Zürich  ist  eine  blosse  Finanzoperation  zum  Zwecke  der  Beschaffung 
von  Geldmitteln  neuer  Art  für  die  Gesellschaft;  im  übrigen  ist  sie  wahr- 
scheinlich dem  Einflüsse  von  Walther  Rathenau  zu  verdanken. 

25 


Suchen  wir  ein  besonders  rühmliches,  unterscheiden- 
des Merkmal  der  A.  E.  G.  vor  anderen  ähnlichen  Riesen- 
unternehmungen in  Deutschland,  so  finden  wir  dasselbe 
etwa  keineswegs  in  ihrer  Haltung  gegen  die  Arbeiter. 
Sic  hat  beispielsweise  nichts,  was  sich  mit  den  philan- 
tropischcn  Einrichtungen  des  Direktors  der  optischen 
Werkstätte  Carl  Zeiß  zu  Jena  Professor  Ernst  Abbe  oder 
mit  den  Werken  patriarchalischen  Charakters  der  Be- 
triebe von  Krupp  vergleichen  ließe.  Ohne  Zweifel  haben 
die  hygienischen  Arbeitsbedingungen  auch  hier  schon 
eine  bedeutende  Besserung  erfahren  und  wird  die 
deutsche  Sozialgesetzgebung  auch  hier  streng  durch- 
geführt; die  Arbeiterinnen  können  fast  überall  ihre 
Arbeit  sitzend  verrichten,  und  die  24  000  Eingezogenen 
haben  Unterstützungen  erhalten,  die  sich  in  ihrem  Ge- 
samtbetrage in  den  Jahren  1914 — 1915  auf  eine  Summe 
von  4  600  000  Mark  und  in  den  Jahren  1915—1916  sogar 
auf  eine  von  7  550  000  Mark  beliefen.  Nichtsdestoweniger 
waren  die  sozialen  Fragen  noch  einem  Emil  Rathenau 
etwas  völlig  Unbekanntes.  Die  Arbeiter  waren  in  seinen 
Augen  nicht  bloße  Werkzeuge,  wie  es  seine  Verkleinerer 
verkündet  haben,  wohl  aber  Handwerker  in  Arbeiter- 
Stellung.  Er  gab  ihren  Forderungen  nur  nach,  wenn  er 
sich  dazu  gezwungen  fühlte.  Ja,  er  versuchte  es  wohl 
aucn  einmal  mit  der  List.  Gelegentlich  eines  großen 
Streiks  in  der  Berliner  Maschinenindustrie  bestand  eine 
große  Befürchtung,  daß  die  Elektrizitälsarbeiter  diesen 
Streik  ihrerseits  durch  Abschneidung  des  elektrischen 
Lichtes  und  der  elektrischen  Beförderungsmittel  ver- 
schärfen würden.  Er  versammelte  seine  Arbeiter  und 
verstand  ihnen  vorzureden,  daß  sie  eine  unaufschiebbare 
Arbeit  mit  jeder  ihnen  nur  möglichen  Beschleunigung 
leisten  müßten,  und  sie  dafür  zu  gewinnen,  zu  diesem 
Zwecke  für  ein  paar  Tage  die  Werkstätten  nicht  zu  ver- 
lassen. In  vierundzwanzig  Stunden  brachte  er  alles  zu- 
sammen,   was    nur    irgend    zur    Unterbringung    und    Be- 

26 


köstigung  von  Tausenden  von  Personen  nötig  war.  Auch 
die  allerhöchste  Gnade  blieb  natürlich  in  jenen  Tagen 
zu  Berlin  nicht  aus  und  der  König  verlieh  ihm  nach  be- 
endetem Streik  irgendwo  einen  Hohenzollernschen 
Ordensstern. 

Umgekehrt  ist  aber  vor  allem  die  Einrichtung  und 
die  Arbeitsweise  des  Direktorenausschusses  rühmlich  her- 
vorzuheben. Es  ist  nicht  zu  weit  gegangen,  zu  glauben, 
daß,  wenn  ein  Emil  Rathenau  auf  seinem  Wege  nicht  den 
Männern  begegnet  wäre,  die  die  Fähigkeit  besäßen,  ihm 
zur  Seite  zu  stehen,  er  seinem  neuen  Unternehmen  sicher 
nicht  jene  Ausdehnung  gegeben  hätte,  die  es  nachher 
genommen  hat.  Er  fand  sie  fast  alle  gleich  zu  Anfang, 
verband  sich  mit  ihnen  unverbrüchlich  und  lebte  lange 
Jahre  in  dem  einen  Stockwerke  eines  Hauses,  dessen 
andere  von  zweien  dieser  seiner  Arbeitsgenossen  be- 
wohnt wurden.  Wer  auch  nur  einen  Augenblick  ver- 
mutet hätte,  daß  Mamroth,  Deutsch,  Jordan  oder  Pro- 
fessor Klingenberg  jemals  der  A.  E.  G.  den  Rücken 
kehren  könnte,  würde,  so  hieß  es,  für  verrückt  erklärt 
werden,  so  eng  ist  die  innige  Vereinigung  zwischen  ihrem 
und  seinem  Dasein.  In  der  Firma  hat  jeder  von  ihnen 
seine  fest  umgrenzten  Befugnisse  und  Verantwort- 
lichkeiten. Deutsch  ist  sozusagen  der  Minister  der  Aus- 
wärtigen Angelegenheiten;  er  hat  sich  um  das  richtige 
Ineinanderarbeiten  der  dreihundert  über  die  ganze  Welt 
verteilten  bisherigen  Filialen,  um  die  Schaffung  neuer, 
um  die  Einrichtung  der  größeren  privaten  elektrischen 
Stationen  und  schließlich  noch  um  die  Aufstellung  der 
jährlichen  Bilanz,  abgesehen  von  der  Rechnungsbilanz, 
des  Jahresabschlusses  abzüglich  der  Rechnungslegung,  zu 
kümmern.  Mamroth  fällt  das  Ministerium  des  Innern,  also 
die  Handelsgeschäfte,  die  Buchführung,  die  Kasse,  die 
Geld-  und  Reserveanlagen  sowie  die  Aufsicht  über  die 
anderen  ähnlichen  Betriebsgesellschaften  zu.  Jordan  wird 
mit   den   sozialen   Fragen   und   dem    Arbeitsbetriebe,    also 

27 


der  Leitung  der  großen  Werkstätten,  mit  Ausnahme  des 
Kabelwerkes  und  den  mit  außerdeutschen  Betrieben  in 
Beziehung  stehenden  Werkstätten,  sowie  mit  dem  Ver- 
kehre mit  den  Arbeitern  betraut.  Klingenberg  ist  der 
Ingenieur  der  Gesellschaft  und  baut  die  elektrischen  Zen- 
tralen nach  dem  Anschlag  der  A.  E.  G.  oder  auch  der 
einzelnen  Kunden,  während  ein  anderer  Ingenieur  Pforr 
als  seinen  Geschäftskreis  den  Bau  der  Eisenbahnen  mit 
elektrischem  Betriebe  hat.  Natürlich  behielt  darum  Emil 
Kathenau  gleichwohl  die  allgemeine  Leitung  der  Gesell- 
schaft und  hatte  also  die  gesamte  finanzielle  und  indu- 
strielle Politik  sowie  die  Schaffung  neuer  Werkstätten 
unter  sich.  Seit  dem  Tode  seines  Sohnes  Erich,  eines  an 
der  Spitze  des  Kabelwerkes  stehenden  Ingenieurs,  hatte 
auch  er  diese  seine  Nachfolge  aus  reiner  Familienanhäng- 
lichkeit übernommen.  Sein  zweiter  Sohn  Walther  stand 
ihm  zur  Seite,  um  vor  allem  die  Verhandlungen  mit  den 
anderen  Gesellschaften  zu  führen  und  die  finanziellen 
Fragen  zu  regeln. 

Nach  allem  Voraufgegangenen  kann  es  nicht  Wunder 
nehmen,  daß  sich  der  zuletzt  genannte  in  seinen  Schriften 
des  Beispieles  jener  Männer  erinnern  sollte,  die  so  für  die 
A.  E.  G.  leben,  wie  diese  durch  jene  Männer  lebt.  Ein 
wahrhaftes  Direktorium  bildend,  leiten  sie  diese  Gesell- 
schaft selbstherrlich,  und  die  Aktionärversammlung  wird 
höchstens  dazu  einberufen  für  irgendeine  Sache  ihre  for- 
male Genehmigung  zu  geben.  Man  könnte  gewisser- 
maßen von  einem  Familienrate  reden,  der  von  inneren 
Zwistigkeiten  frei  ist  und  dessen  Mitglieder  sich  solida- 
risch verantwortlich  fühlen  und  ein  ungeteiltes  Erbe  aufs 
beste  verwalten.  Die  A.  E.  G.  trägt  etwa  das  Gepräge 
eines  jener  um  1848  geborenen  großen  Pioniere  der 
modernen  Industrie,  nämlich  einer  sich  besonders  in  aller- 
hand Neuerungen  betätigenden,  doch  vorsichtigen  und 
autoritären  Regsamkeit,  einer  kühnen,  doch  mehr  um  die 
auf  industriellem  als  auf  kommerziellem  Gebiete  liegen- 

28 


den  Leistungen  besorgten  Verwaltung  sowie  einer  gleich- 
zeitig ehrgeizigen  und  sich  bescheidenden,  doch  einzig 
auf  die  Entfaltung  der  kleinen  Gemeinschaft  beschränkten 
dauernden  Hingabe. 


Es  war  Walther  Rathenau  vorbehalten,  so  schwierig 
das  auch  wohl  sein  mochte,  der  AllgemeinenElek- 
trizitäts-Gesellschaft  immer  größere  Ausdeh- 
nung zu  geben  und  eine  mindestens  ebenso  bemerkens- 
werte, wenn  nicht  noch  weit  bemerkenswertere  indu- 
strielle Anlage  zu  offenbaren. 

Von  Hause  aus  ist  Walther  Rathenau  ein  hervorragen- 
der Ingenieur.  Am  29.  September  1867  zu  Berlin  geboren, 
machte  er  unter  mehrfachem  Schulwechsel  die  verschie» 
denen  Gymnasialklassen  durch  und  absolvierte  dieselben 
bereits  mit  einem  Alter  von  nur  siebzehn  Jahren,  d.  h. 
zwei  Jahre  vor  dem  Durchschnittsalter  seiner 
deutschen  Kameraden.  Er  tritt  in  die  mathematisch- 
naturwissenschaftliche Abteilung  der  Philosophischen 
Fakultät  der  Universitäten  Berlin  und  Straßburg  ein,  wo 
er  sich  dem  Studium  der  Experimentalphysik  und 
mathematischen  Physik,  der  Chemie  und  gleichzeitig 
der  Philosophie  widmet.  Im  Jahre  1889,  d.  h.  im  Alter 
von  zweiundzwanzig  Jahren,  doktoriert  er  mit  einer 
Dissertation  über  die  Absorption  des  Lichtes  durch  die 
Metalle.  Eine  noch  ganz  junge  Wissenschaft,  die  Elektro- 
chemie zieht  ihn  jetzt  an.  Er  setzt  seine  Studien,  ja  man 
kann  wohl  sagen:  seine  Forschungen  fort.  Nach  einem  auf 
dem  Polytechnikum  zu  München  der  angewandten  Chemie 
und  dem  Maschinenbau  gewidmeten  Jahre  tritt  er  als 
Techniker  in  die  Aluminium-Industrie  A.  G.  Neuhausen 
in  der  Schweiz  ein.  Es  gelingt  ihm,  ein  Verfahren  zu  ent- 
decken und  zu  bezeichnen,  das  durch,  Elektrolyse  Chlor 
und  verschiedene  Alkalien  zu  gewinnen  ermöglicht  und  im 
Jahre     1S93    erlebt    er    die    Begründung    der   Gesell- 

29 


schaft  für  elektrische  Unternehmungen 
die  seine  Erfindung  ausbeuten  sollte.  Die  Direktion  der- 
selben wird  ihm  anvertraut.  Er  baut  große  Werke  in 
Deutschland  zu  Bitterfeld,  in  der  Schweiz  zu  Rheinfelden, 
sowie  auch  in  Polen  und  Frankreich.  Die  anfänglichen 
Schwierigkeiten  spornen  seine  Schaffenskraft  erst 
recht  an.  Bitterfeld  entwickelt  sich.  Der  junge  Direk- 
tor häuft  nur  so  die  Patente  für  seine  neuen  Produktions- 
methoden für  Kieseleisenerz  (ferrosilicium),  Chrom,  So- 
dium  und  Magnesium.  Im  Jahre  1899  scheidet  er  aus 
seinen  verschiedenen  neugegründeten  Werken  aus,  um 
wenigstens  einer  kurzen  Ruhe  zu  pflegen.  Sein  Vater 
bietet  ihm  eine  Stelle  in  dem  leitenden  Ausschusse  der 
A.  E.  G.  als  einer  ihrer  Direktoren  an.  Er  folgt  dem 
Rufe  und  wird  der  Leiter  der  Abteilung  für  den  Bau  von 
Elektrizitätszentralen.  So  leitet  er  die  Arbeiten  zu  Man- 
chester und  Amsterdam,  zu  Buenos  Aires  und  zu  Baku. 

Doch  die  Aufgabe  des  Ingenieurs  befriedigt  nicht  das 
Bedürfnis  eines  Walther  Rathenau  nach  einer  weiten  und 
mannigfaltigen  Tätigkeit.  Er  hat  durchaus  nicht  die  Ab- 
neigung seines  Vaters  für  die  Finanzoperationen.  Sie 
reizen  im  Gegenteil  sein  höchstes  Interesse.  Schon  seine 
Gesellschaft  vom  Jahre  1893  war  unter  Mitwirkung  meh- 
rerer Großbanken  begründet  worden.  Im  Jahre  1902  tritt 
er  nach  einem  Gewinnausfalle  aus  der  Allgemeinen  Elek- 
trizitäts-Gesellschaft aus,  um  die  Verwaltung  der  Züricher 
Elektrobank  zu  übernehmen,  die  insbesondere  die 
Bestimmung  hatte,  alle  möglichen  Sorten  von  Elektrizi- 
tätsbetrieben zu  unterhalten,  anzukaufen  oder  neu  ins 
Leben  zu  rufen.  Gleichzeitig  nimmt  er  eine  ehrenvolle 
Einladung  von  Karl  Fürstenberg  an,  der  ihn  an  seine 
Seite  in  das  Direktorium  der  Berliner  Handels- 
gesellschaft beruft.  Von  den  verschiedenen  Indu- 
strie- und  Handelsunternehmen  räumt  ihm  nun  eins  nach 
dem  andern  einen  Platz  in  ihrem  Verwaltungsrate  ein,  so 
daß  die  Zahl  dieser  Berufungen  in  kurzem  fast  die  hun- 

£0 


dert  erreicht.  Eine  für  Wallher  Rathenau  hervorragend 
ersprießliche  Arbeit,  der,  meist  damit  betraut  in  schlecht 
gehende  Geschäfte  wieder  Ordnung  zu  bringen,  auf  diese 
Weise  eine  tiefe  Kenntnis  der  Bedingungen  des  wirt- 
schaftlichen Lebens  in  Deutschland  und  im  Auslande  ge- 
winnt! Wohl  bleibt  ihm  schließlich  nichts  v/eiter  übrig  als 
auf  einen  Teil  seiner  Aemter  zu  verzichten,  doch  nur  auf 
einen  Teil,  und  so  gibt  er  insbesondere  nicht  die  E  1  e  k  - 
t  r  o  b  a  n  k  auf.  Doch  sein  Ruf  ist  auch  jetzt  schon  so 
weit  verbreitet,  daß  die  amtlichen  Kreise  es  für  angemes- 
sen halten,  ihn  für  die  öffentlichen  Angelegenheiten  her- 
anzuziehen. In  den  Jahren  1907  und  1908  ordnet  ihn  der 
Reichskanzler  Fürst  von  Bülow  dem  Kolonialstaatssekre- 
tär Dr.  Bernhard  Dernburg  bei  mit  der  besonderen  Auf- 
gabe, an  Ort  und  Stelle  eine  Umfrage  über  die  Zukunft 
von  Deutsch-Ostafrika  und  dem  deutschen  Südwest  zu 
erheben  sowie  die  englischen  Kolonien  Südafrikas  zu  be- 
sichtigen1). 

Gleich  bei  Waither  Rathenaus  Wiedereintritt  in  die 
A.  E.  G.  gibt  ihm  sein  Einfluß,  der  ja  hier  von  Anfang  an 
und  sogar  noch  während  seiner  Abwesenheit  fühlbar  ge- 
wesen war,  einen  neuen  Antrieb.  Die  alten  Gebäude  wer- 
den niedergerissen  und  durch  Monumentalbauten  ersetzt, 
die  Peter  Behrens,  ein  wirklich  genialer  Vertreter  der 
modernen  Baukunst  aufrichtet:  sehr  geräumige,  von  einer 
eleganten  Einfachheit,  wenn  auch  von  einer  gewissen 
Kühle  zeugende,  lichterfüllte  und  mit  allem  Komfort  aus- 
gestattete Monumentalbauten.  Eine  unglaubliche  Knick- 
rigkeit in  den  kleinen  Ausgaben  aber  herrscht  in  diesen 
Räumen.  Allerdings  hat  sich  mittlerweile  eine  größere 
Nachgiebigkeit  gegenüber  den  Arbeitern,  deren  Zahl 
immer   mehr   gewachsen   ist,    geltend   gemacht,    und   küm- 


')  Die  amtlichen  Berichte  wurden  von  Walther  Rathenau  entworfen. 
Derjenige  unter  ihnen,  der  Ostafrika  behandelt,  hat  in  sein  Werk  „Re- 
flexionen" (Leipzig,  S.  Hirzel)  Aufnahme  gefunden  und  ist  bereits  amtlich 
im  Jahre  1908  veröffentlicht  worden. 

31 


mert  man  sich  sorgfältiger  um  die  sozialen  Ver- 
pflichtungen. Nichts  hat  sich  an  dem  aufopfernden 
Geiste  und  dem  autoritären  Standpunkte  der  Direktion 
von  früher  her  verändert,  außer  daß  sich  jetzt  vielleicht 
noch  ein  um  eine  Schattierung  gröberer  Ton  der  Mißach- 
tung hineinmischt.  Eines  Tages,  als  sich  die  Einwürfe 
der  Aktionäre,  die  eine  höhere  Dividende  wünschten,  be- 
sonders lebhaft  gestalten,  ruft  Walther  Rathenau  aus: 
,,Sind  Sie  denn,  meine  Herren,  so  von  aller  Phantasie  ver- 
lassen, daß  Sie  von  uns  glauben,  wir  hätten  nicht  fast  alle 
Ihre  Einwürfe  vorausgesehen  und  auch  alle  unsere  Ant- 
worten darauf  vorbereitet?"  Es  verdient  hervorgehoben 
zu  werden,  daß  eine  der  Abteilungen  des  Unternehmens, 
die  sich  von  allen  am  meisten  entwickelt,  die  ist,  die  die 
Aufgabe  hat,  eine  stets  im  Wachsen  begriffene  Zahl  von 
Oertlichkeiten  und  Räumlichkeiten  mit  elektrischem  Licht 
und  elektrischer  Kraft  zu  speisen.  Es  ist  das  ein  ge- 
mischtes Geschäftsverfahren,  eine  Art  Mittelweg  zwi- 
schen privater  Ausbeutung  und  öffentlicher  Verwaltung, 
ein  Geschäftsverfahren,  das  von  nun  an  nicht  mehr  ver- 
gessen werden  sollte. 

Damals  entwickelt  sich  alles,  und  so  wächst  auch  die 
A.  E.  G.,  die  aus  kleinen  Anfängen  allmählich  immer  grö- 
ßer geworden  ist,  nunmehr  bald  ins  Unermeßliche.  Es 
unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  der  Sohn  schon  von  An- 
fang an  den  Ehrgeiz  hatte,  das  Werk  seines  Vaters  noch 
zu  überbieten.  Wenn  er  auf  der  Universität  seine  Wahl 
auf  die  Elektrochemie  lenkte,  so  geschah  das  deshalb, 
weil  sie,  wie  er  später  selbst  sagt,  „das  einzige  Gebiet 
war,  auf  das  sein  Vater  noch  nicht  seine  Hand  ausge- 
streckt hatte."  Sein  Leben  ist  leichter  und  mannigfal- 
tiger gewesen  als  das  seines  Vaters,  aber  seine  Ziele  um- 
fassender und  höher.  Der  Köder  persönlicher  Vorteile 
treibt  ihn  weniger  als  der  Wunsch,  ohne  jedes  Bedenken 
ein  geliebtes  Unternehmen  auf  Grund  gewisser  Gedanken, 
deren  Verwirklichung  er   für  berechtigt    und    notwendig 

32 


hält,  zu  erweitern.  Zur  lebhaften  Befriedigung  von  Wal- 
ther Rathenau  hatte  nun  auch  die  Allgemeine  Elek- 
trizitäts-Gesellschaft  begonnen,  sobald  sie  erst 
einigermaßen  fest  auf  den  Füßen  zu  stehen  vermochte,  auf 
der  einen  Seite  eine  immer  größere  Zahl  von  Filialen 
zu  gründen  und  auf  der  anderen,  sei  es  auf  freundschaft- 
lichem Wege,  sei  es  durch  Zwang,  das  Mitbestim- 
mungsrecht über  konkurrierende  Gesellschaften  zu 
erwerben.  Gern  beteiligte  er  sich  an  derartigen  Unter- 
handlungen, und,  wenn  er  im  Jahre  1902  so  plötzlich  aus 
der  A.  E.  G.  austrat,  so  geschah  das  nur,  weil  er  bei  dem 
Verwaltungsrat  seinen  Entwurf  zur  Verschmelzung  mit 
den  Schuckert-Werken  noch  nicht  durchsetzen  konnte. 
Es  läßt  sich  wohl  denken,  daß  sich  nach  seiner  Rück- 
kehr die  Operationen  dieser  Art  noch  vervielfachen. 
Mehrere  Firmen  werden  so  langsam  der  Sphäre  der  All- 
gemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft  einverleibt,  so  die 
Berliner  Gesellschaft  ,,U  n  i  o  n"  im  Jahre  1904  und  die 
Frankfurter  Firma  „Lahmeyer"  im  Jahre  1909,  um 
nur  die  hauptsächlichsten  Beispiele  anzuführen.  Was 
macht  das  wohl  aus,  wenn  ihnen  wirklich  ein  Schein  von 
Unabhängigkeit  gelassen  wird:  als  im  Jahre  1915  Walther 
Rathenau  als  Nachfolger  seines  Vaters  an  die  Spitze  der 
A.  E.  G.  tritt,  beherrscht  diese  bereits  alle  ihre  Rivalinnen 
auf  der  ganzen  Welt  mit  Ausnahme  einer  oder  zweier,  die 
sie  überhaupt  nicht  mehr  zu  fürchten  hat.  Das  neue  Haupt 
kann  sich  als  ein  äußeres  Zeichen  seiner  Macht  den  unge- 
wöhnlichen Titel  eines  „Präsidenten  der  Allgemeinen 
Elektrizitäts-Gesellschaft"  anmaßen. 

Der  Krieg  sollte  ihm  ermöglichen,  noch  immer  höher 
emporzukommen.  Nicht  nur  dehnt  dieser  Herrscher 
im  Reiche  der  Elektrizität  jetzt  seine  Tätigkeit  auf  den 
Bau  von  Apparaten  aus,  die  die  Erde,  das  Meer  oder  die 
Lüfte  durchkreuzen,  sondern  er  wird  auch,  zum  minde- 
sten eine  Zeitlang  der  Diktator  des  gesamten  industri- 
ellen   und  handeltreibenden  Deutschlands.     Er  selbst  hat 

83 


erzählt,  wie  er  den  Plan  zu  der  kolossalen  Organisation 
faßte,  die  die  Versorgung  Deutschlands  mit  Rohstoffen 
trotz  der  allgemeinen  Land-  und  Seesperre  gewährleisten 
sollte,  und  einen  Vorschlag  zu  ihrer  sofortigen  Durchfüh- 
rung machte.  „Drei  Tage  nach  der  englischen  Kriegs- 
erklärung trug  ich  die  Ungewißheit  unserer  Lage  nicht 
länger;  ich  ließ  mich  melden  bei  dem  Chef  des  Allgemei- 
nen Kriegsdepartements.  —  Ihm  legte  ich  dar,  daß  unser 
Land  vermutlich  nur  auf  eine  beschränkte  Reihe  von 
Monaten  mit  den  unentbehrlichsten  Stoffen  der  Kriegs- 
wirtschaft versorgt  sein  könne.  Die  Kriegsdauer  schätzte 
er  nicht  geringer  ein  als  ich  selbst,  und  so  mußte  ich  an 
ihn  die  Frage  richten:  Was  ist  geschehen,  was  kann  ge- 
schehen, um  die  Gefahr  der  Erwürgung  von  Deutschland 
abzuwenden1)?"  Der  Minister  läßt  sich  überzeugen  und 
beauftragt  Walther  Rathenau,  die  notwendige  Organisa- 
tion zu  schaffen.  Dieser  stimmt  mit  freudigem  Stolze  zu. 
Sein  Vaterland  aus  einer  vorläufig  noch  unsichtbaren  Ge- 
fahr retten,  das  ganze  deutsche  Wirtschaftsleben  ganz  so, 
wie  bisher  die  A.  E.  G.,  lenken  und  meistern,  die  von  den 
Heeren  besetzten  Gebiete  aussaugen,  die  Neutralen  an- 
zulocken suchen,  welch  großartiger  Traum.  ,,Vor  meinem 
Fenster  breitete  ein  wundervoller  Ahorn  seine  Aeste  aus 
und  überschattete  das  Dach.  Unten  lag  der  schöne  Gar- 
ten des  Kriegsministeriums,  darin  schritt  eine  Wache 
langsam  auf  und  ab;  zwei  alte  Kanonen  standen  auf  dem 
Rasen  in  der  Sonne.  Und  hinter  dieser  friedlichen  Stelle 
ein  hoher  Schornstein;  der  deutete  auf  das  Riesengebiet 
der  deutschen  Wirtschaft,  das  sich  jenseits  ausbreitete 
bis  zu  unseren  flammenden  Grenzen.  Dieses  Gebiet  der 
donnernden  Bahnen,  der  rauchenden  Essen,  der  glühen- 
den Hochöfen,  der  sausenden  Spindeln,  dieses  unermeß- 
liche Wirtschaftsgebiet  dehnte  sich  vor  dem  geistigen 
Auge,  und  uns  war  die  Aufgabe  gestellt,  diese  Welt,  diese 


l)  R.  V,  S.  27,  Sep.-Ausg.  S.  8. 
34 


webende  und  strebende  Welt  zusammenzufassen,  sie  dem 
Kriege  dienstbar  zu  machen,  ihr  einen  einheitlichen  Wil- 
len aufzuzwingen  und  ihre  titanischen  Kräfte  zur  Abwehr 
zu  wecken1)." 

Nur  eine  sehr  kurze  Spanne  Zeit  arbeiteten  die 
„Kriegs-Rohstoff-Abteilung"  und  die  „Ein- 
kaufsgenossenschaften" unter  Bedingungen,  auf 
die  wir  noch  zurückzukommen  haben  werden.  Am 
1.  April  1915  übergab  Walther  Rathenau  seinem  militä- 
rischen Nachfolger  sein  Werk;  Ränke,  die  durch  seine 
Schroffheit,  seine  politischen  und  sozialen  Ansich- 
ten, die  gegen  ihn  einen  beträchtlichen  Teil  der  deutschen 
Industrie-  und  Handelswelt  aufbrachten,  sowie  durch 
seine  jüdische  Abstammung  veranlaßt  waren,  trugen  an 
seinem  freiwilligen  Abgange  aus  dem  Kriegsministerium 
die  Schuld.  Er  erscheint  wieder  in  halbamtlichen 
Funktionen  zu  Bern  im  Jahre  1916.  Deutschland  hat  dort 
in  kürzester  Zeit  zwei  Handelsgesellschaften  m.  b.  H.  förm- 
lich aus  dem  Boden  gestampft,  nämlich  die  Gesell- 
schaft „Met  all  um"  und  die  Gesellschaft  „M  i  1  i - 
taria",  deren  Aufgabe  die  Zentralisierung  und 
Verteilung  der  Aufträge  und  die  Zuweisung  der 
Metalle  an  die  Schweizer  Fabriken  ist,  die  an 
Deutschland  Munition  liefern.  Walther  Rathenau  ge- 
staltet sie  in  Rieseninstitute  um,  in  denen  alsbaid  sieben- 
hundert Ingenieure  und  Angestellte  unter  seiner  Leitung 
arbeiten.  War  die  öttentlich  angegebene  Aufgabe  wirk- 
lich das  einzig  erstrebte  Ziel,  auch  wenn  man  einigen 
französischen  Beurlaubten  oder  Fahnenflüchtigen  zum 
Lohne  für  ihre  Aufschlüsse  heimliche  Zuwendungen  von 
Brucheisenabfällen  machte?  Nicht  ohne  einen  gewissen 
Anspruch  auf  Wahrscheinlichkeit  sind  noch  zwei  andere 
Dinge  als  Aufgaben  dieser  Gesellschaft  angegeben  wor- 
den.    M  e  t  a  1 1  u  m  hat  erstrebt  von  der  Schweizer  ßun- 


')  R.  V,  S.20,  Sep.-Ausg.  S.U. 
3*  35 


desregierung,  die  zu  jener  Zeit  den  Mittelmächten  ziem- 
lich günstig  gesinnt  war,  die  Konzession  für  die  Elektri- 
sierung aller  Schweizer  Bahnen  und  auf  diesem  Um- 
wege die  Beschlagnahme  aller  der  unerschöpflichen  Ener- 
giequellen, die  die  Wasserkräfte  der  Flußläufe  des  Lan- 
des darstellen,  zu  erlangen.  M  e  t  a  1 1  u  m  sah 
gleichzeitig  die  Schwierigkeiten  voraus,  mit  denen 
die  deutschen  Kaufleute  nach  dem  Kriege  zu 
kämpfen  haben  würden  und  kaufte  insgeheim  eine 
möglichst  große  Zahl  von  Schweizer  Handelshäusern 
an,  deren  alten  Besitzern  sie  die  Verpflichtung 
auferlegte,  denselben  ihren  bisherigen  Namen  zu  lassen 
und  auch  weiter  ihre  Verwaltung  zu  führen.  Sicher  war 
diese  Aufgabe  weniger  glanzvoll  als  die  vorhergehende. 
Aber  sie  entspringt  jenem  Temperament,  das  den  Industri- 
ellen Walther  Rathenau  zu  einem  so  gefährlichen  Gegner 
macht.  Man  erkennt  darin  denselben  reichen  Taten- 
drang, dieselbe  ebenso  durch  ihre  klare  Erkennt- 
nis, der  Gegenwart  wie  durch  ihre  weite  Voraussicht  der 
Zukunft  bemerkenswerte  Intelligenz,  dieselben  zeitlich 
und  räumlich  so  ins  Endlose  schweifenden  Entwürfe,  den- 
selben Willen,  der  allen  Hemmnissen  gegenüber  nur  ein 
Biegen  oder  Brechen  kennt  und  die  gleiche  völlige  Hin- 
gabe nicht  mehr  bloß,  wie  früher,  an  die  kleine  engere 
Gemeinschaft,  sondern,  wie  nun  schon  seit  Kriegsanfang, 
an  die  große  und  weite  Gemeinschaft  der  Nation. 


Wer  nur  einmal  einen  flüchtigen  Blick  auf  Walther 
Rathenau,  und  wäre  es  auch  nur  im  Bilde,  geworfen  hat, 
wird  sich  sofort  klar  darüber  sein,  daß  in  diesem  Manne 
nicht  bloß  ein  Industrieller  und  Ingenieur  steckt.  Seine 
äußerst  scharfen  Gesichtszüge,  seine  von  so  viel  Tatkraft 
sprechenden  Lippen,  sein  kurz  geschnittener  Schnurrbart, 
sein  nicht  allzu  umfängliches,  aber  ganz  glatt  rasiertes 
Kinn,  verraten  den  ruhigen  und  zähen  Willen  des  Mannes 

86 


der  Tat.  Doch  von  seiner  Nase  mit  ihren  kleinen  Löchern, 
von  seiner  hohen  und  kahlen  Denkerstirn,  vor  allem  auch 
von  seinen  unter  den  starken  Augenbrauen  funkelnden 
und  scheinbar  immer  in  die  Weite  schweifenden  Augen, 
von  seiner  sogar  auf  der  Photographie  erkennbaren,  so 
guten  und  hochherzigen  allgemeinen  Gesichtsphysiono- 
mie  geht  der  Eindruck  aus,  daß  offenbar  noch  andere 
besondere  Gaben,  andere  Gedanken  und  andere  Neigun- 
gen in  der  Seele  des  Trägers  eines  solchen  Antlitzes 
schlummern  müssen  oder  vielmehr  in  den  beiden  Seelen, 
die  er  doch  dann  haben  muß. 

Er  selbst  hat  die  beiden  in  ihm  lebenden  Seelen  fol- 
gendermaßen definiert:  „Ich  bin  ein  Deutscher  jüdischen 
Stammes.  Mein  Volk  ist  das  deutsche  Volk,  meine  Hei- 
mat ist  das  deutsche  Land,  mein  Glaube  der  deutsche 
Glaube,  der  über  den  Bekenntnissen  steht.  Doch  hat  die 
Natur,  in  lächelndem  Eigensinn  und  herrischer  Güte  die 
beiden  Quellen  meines  alten  Blutes  zu  schäumendem 
Widerstreit  gemischt:  Den  Drang  zum  Wirklichen,  den 
Hang  zum  Geistigen.  Die  Jugend  verging  in  Zweifel  und 
Kampf,  denn  ich  war  mir  des  Widersinns  der  Gaben  be- 
wußt. Das  Handeln  war  fruchtlos  und  das  Denken  irrig, 
und  oftmals  wünschte  ich,  der  Wagen  möchte  zerschel- 
len, wenn  die  feindlichen  Gäule  auseinanderstürmend  sich 
ins  Gebiß  legten  und  die  Arme  erlahmten.  Das  Alter 
sänftigt.  Noch  immer  ist  der  überschüssige  Wille  nicht 
ganz  gebrochen,  noch  immer  stehe  ich  im  praktischen 
Handeln,  doch  nicht  um  eigener  Ziele  willen.  Und  manch- 
mal scheint  es  mir,  als  sei  aus  diesem  Handeln  auch  etwas 
in  meinem  Denken  befruchtet  worden,  als  habe  die  Natur 
mit  mir  den  Versuch  vorgehabt,  wie  weit  betrachtendes 
und  wollendes  Leben  sich  durchdringen  können1)." 

In  der  Tat  hat  Walther  Rathenau  von  der  Natur 
Gaben  eines  Künstlers  und  zugleich  solche  eines  Gelehr- 


')  An  Deutschlands  Jugend  (Berlin.  S.  Fischer,  1918)  S.  9. 

37 


ten  empfangen.  Beim  Verlassen  des  Gymnasiums 
schwankt  er  in  bezug  auf  seine  Laufbahn.  Soll  er  Malerei, 
Literatur  oder  Naturwissenschaften  studieren?  Nichts  von 
alledem,  da  er  sich  für  das  praktische  Leben  entscheidet. 
Aber  schon  bald  vermißt  er  sehnsuchtsvoll  jene  freien 
Künste,  die  ihn  bisher  immer  so  anzogen.  Seine  Abende 
wenigstens  sollen  ihnen  gehören.  So  unterbricht  er  die 
industrielle  Arbeit  im  Laufe  der  Zeit  zweimal,  um  doch 
wenigstens  für  einen  flüchtigen  Augenblick  als  Literat 
leben  zu  dürfen.  Künstler  und  Dichter  sollten  seine 
Freunde  werden;  er  duzt  Maximilian  Harden,  der  seine 
ersten  Aufsätze  in  der  Zeitschrift  „Die  Zukunft"  auf- 
nehmen sollte,  und  Gerhart  Hauptmann,  dem  eins  seiner 
Werke  gewidmet  ist1);  er  schreibt  zwei  Bände  „Erleb- 
nisse" und  „Reflexione  n2)" ;  er  schreibt  talmu- 
dische Geschichten,  kritische  Artikel  und  eine  Dichtung 
zur  Jahrhundertfeier  vom  Jahre  1813:i).  Er  hat  sich  im 
Grunewald  bei  Berlin  angekauft  und  hier  eine  bekannte 
Villa  erworben,  die  früher  als  vorübergehendes  könig- 
liches Hoflager  gedient  hatte.  An  dieser  so  herrlichen  und 
doch  bei  allem  Luxus  so  einfachen  Wohnstätte  liebt  er  es, 
einen  kleinen  Kreis  weniger  auserwählter  Freunde  zu 
versammeln.  Für  gewöhnlich  lebt  Walther  Rathenau,  der 
unverheiratet  geblieben  ist,  hier  als  alter  Junggeselle  mit 
seiner  hochbetagten  Mutter,  die  er  mit  pietätvoller  Liebe 
umgibt.  Beide  widmen  sich  der  Musik.  Seine  Urteile  in 
seinen  Schriften  sind  gerade  darum  so  sicher  und  selb- 
ständig ausgefallen,  weil  er  stets  bestrebt  gewesen  ist, 
die  Werke  der  großen  Künstler  aller  Zeiten  verständnis- 


')  ,Zur  Kritik  der  Zeit"  (Berlin,  S.  Fischer  1919,  auch  in  der  Gesamt- 
ausgabe, K.  I  nach  unserer  Bezeichnung).  2)  Da  Walther  Rathenau  nicht 
für  nötig  befunden  hat  ihnen  in  der  neuen  Gesamtausgabe  seiner  Werke  einen 
Platz  anzuweisen,  haben  auch  wir  sie  im  allgemeinen  nicht  in  den  Rahmen 
dieser  Studie  gezogen.  Immerhin  sind  auch  schon  die  „R  ef  1  exi  o  n  en" 
im  Separatdruck  bei  S.  Hirzel  in  Leipzig  in  den  verschiedensten  Auflagen 
erschienen.  Vergl.  hier  S.  25,  Anm.  1.  s)  Diese  so  verschiedenartigen 
Schriften  von  W.  R.  sind  in  Band  IV  der  Gesamtausgabe  vereinigt. 

38 


voll  zu  genießen  und  die  Werke  der  großen  Schriftsteller 
und  Philosophen  aller  Länder  wirklich  zu  lesen. 

Seine  Fähigkeiten  und  seine  Entwicklung  auf  wissen- 
schaftlichem Gebiete  sind  wirklich  nicht  unbedeutend. 
Nach  seinem  eigenen  Ausspruche  hat  er  die  sämtlichen 
Wissenschaften  viel  zu  gründlich  getrieben,  um  nicht  das 
Eindringen  der  Laien  in  ihr  Reich  dämmen  zu  wollen,  und 
die  Physik  viel  zu  praktisch  ausgeübt,  um  nicht  allen  spe- 
kulativen Hypothesen  gegenüber  einen  kräftigen  Wider- 
willen zu  empfinden.  Zwischen  diesen  beiden  Extremen 
findet  er  sein  Ziel,  das  dahin  geht,  die  Wissenschaften  so 
zu  beherrschen  und  zu  begreifen,  daß  er  in  der  Lage  ist, 
alle  philosophischen  und  sozialen  Probleme  in  eine  klare 
Form  zu  bringen,  um  sie  alsdann  mit  Hilfe  der  Aufschlüsse 
und  der  großen  Vorstellungsbilder,  die  ihm  diese  Wissen- 
schaften verschaffen,  zu  lösen  zu  suchen.  Ein  paar  Seiten 
mit  dem  Titel  „Physiologisches  Theorem1)" 
sind  in  dieser  Hinsicht  bezeichnend.  ,,Seit  Jahren  hat 
kein  neues  Buch  mich  so  ergriffen  und  erfüllt  wie  Fran- 
ces2)  botanisches  Werk  „Das  Leben  der  Pflanz  e." 
Einen  katalogisierenden  Wissenszweig,  der  trocken  und 
farblos,  wie  die  armseligen  Mumien  seiner  Herbarien,  mir 
von  der  Schule  her  verleidet  war,  sah  ich  verwandelt  in 
eine  blühende  und  phantasievolle  Wissenschaft.  Die 
Pflanzen  hatten  Leben  gewonnen;  und  nicht  dies  allein: 
sie  gaben  sich  selbst  ihre  Formen  und  Gesetze,  sie  paßten 
sich  an,  schützten  und  verteidigten  sich,  wanderten, 
kämpften  mit  Verfolgern  und  Konkurrenten,  schlössen 
Bündnisse  mit  Freunden  und  Feinden,  luden  sich  Gäste 
und  Hausfreunde  ein,  traten  in  Tausch-  und  Geschäfts- 
beziehungen. Aber  noch  mehr:  die  ganze  organische 
Welt   schloß   sich  mit  ihren  Arten   und   Formationen   zu 


l)  Abgedruckt  in  „Zur  Kritik  der  Zeit",  S.  256—260  (K.  I),  aber  auch 
in  der  Gesamtausgabe  an  anderer  Stelle:  Band  IV,  S.  249—251.  *)  Im 
Augenblicke  des  Kriegsausbruches,  Leiter  des  Physiologischen  Institutes 
zu  München. 

39 


einer  Einheit  zusammen,  die  aus  äußeren  und  inneren 
Gesetzen  ein  höchstes,  alles  beherrschendes  Gleichge- 
wicht normierte,  So  war,  wie  im  Zeichen  des  Erdgeistes 
erschaut1),  aus  organischem  Leben  das  Kleid  der  Gott- 
heit gewoben." 

„Daß  bei  dieser  Betrachtung  die  Gesetze  der 
Symbiose,  der  Assoziation  der  Organismen  zu  gemein- 
samem Leben  und  wechselweiser  Unterstützung  den 
stärksten  Eindruck  machen  mußten,  ist  nicht  verwunder- 
lich. —  Es  erscheint  mir  bei  eingehenderer  Erwägung 
denkbar,  jeden  höheren  Organismus  aufzufassen  als  eine 
Lebensgemeinschaft  verschiedenartiger,  in  gegebenen 
Proportionen  auftretender,  selbständig  lebender  Organis- 
men, die  sich  wechselseitig  unterstützen,  unter  Umstän- 
den auch  bekämpfen,  die  zum  Teil  an  diese  Symbiose 
gebunden  sind,  zum  Teil  aber  auch  unter  anderen  Asso- 
ziationen ein  selbständiges  Leben  führen  können."  Was 
soll  wohl  diese  Hypothese  mit  den  von  ihrem  Verfasser 
an  sie  geknüpften  Schlußfolgerungen?  Nun,  es  wird  Sache 
der  Gelehrten  sein,  sich  hierüber  auszusprechen.  Aber 
jedenfalls  nimmt  diese  Auffassung  der  lebenden  Organis- 
men und  ihrer  Stellung  innerhalb  ihrer  Welt  einen  Haupt- 
platz in  dem  Denken  von  Walther  Rathenau  ein,  wird  sie 
doch  von  ihm  weiter  auf  die  menschlichen  Individuen  und 
ihre  Gruppierungen  in  Gemeinschaften  übertragen. 

Doch  Walther  Rathenau  ist  vor  allem  übrigen  ein 
ganzer  Idealist.  Im  folgenden  finde  hier  das  Glau- 
bensbekenntnis eine  Stätte,  das  er  nach  langem 
Hin-  und  Herschwanken  in  einem  seiner  letzten  Werke2) 
abgelegt  hat: 

„Ich  glaube,  daß  unsere  schwache  Einsicht  und  un- 
sere wenigen  und  zufälligen  Sinne   uns   von  der  wahren 


*)  Anspielung  auf  den  Auftritt  im  Goetheschen  Faust,  wo  der  Held 
den  Erdgeist  beschwört,  in  dem  die  Seele  unseres  Planeten  zu  sehen  ist. 
2)  „An  Deutschlands  Jugend",  S.  69-71. 

40 


Welt  nicht  viel  mehr  offenbaren  als  dem  Geschöpf,  das 
zwischen  Stamm  und  Borke  eines  Baumes  lebt.  So  hat 
Spinoza  gelehrt,  daß  von  den  unendlichen  Attributen  des 
Seienden  uns  zwei  nur  erkennbar  sind:  Räumlichkeit  und 
Bewußtsein. 

Ich  glaube,  daß  die  sinnliche  Welt  das  Buch  ist,  aus 
dem  wir  Bilder  und  Gleichnisse  der  Betrachtung  schöpfen, 
und  der  Kampfplatz,  auf  dem  unser  Wille  die  Laufbahn 
von  der  Kindlichkeit  der  Begierde  bis  zur  reifenden  Ein- 
kehr durchmißt. 

Ich  glaube,  daß  der  Geist  unendliche  Stufen  durch- 
läuft, von  undenklicher  Zersplitterung  bis  zum  Geist  des 
Aetheratoms,  vom  Geist  des  Minerals  der  organischen 
Substanz,  der  Zelle,  der  Pflanze  und  des  Tieres  bis  zum 
Geist  des  Menschen,  und  abermals  in  undenkbarer  Folge 
aufwärts.  Diese  Welt  der  Geister  ist  die  wahre  Welt, 
von  ihren  Gesetzen  wissen  wir  wenig,  doch  die  wunder- 
bare Mannigfalt  des  Gesetzmäßigen  fügt  es,  daß  unter 
unseren  Augen  geistige  Gebilde  mit  eigenem  Bewußt- 
sein entstehen,  Zellenstaaten,  Ameisenhaufen,  Bienen- 
schwärme, Menschenstädte  und  Menschennationen. 

Jede  Geistesstufe  bildet  sich  eine  Erscheinungswelt 
aus  dem,  was  sie  zu  fassen  vermag;  die  Welt,  die  der 
Granit  begreift,  ist  eine  andere  als  die  Zelle;  die  mensch- 
liche, von  Geist  und  Sinnen  erschaffene  Welt  ist  eine  an- 
dere als  die  des  Regenwurmes. 

Die  Geistesformen,  die  hinter  uns  liegen,  gipfeln  in 
einem  einzigen  Willen:  zur  Selbsterhaltung  und  Art- 
erhaltung. Dieser  Wille  hat  sich  ein  stets  verfeinertes 
Werkzeug  geschaffen,  das  wir  auf  menschlicher  Stufe  In- 
tellekt nennen;  der  grobe,  unmittelbare  Wille  zur  Erhal- 
tung aber  hat  sich  zugespitzt  zum  mittelbaren  Willen; 
dessen  Gegenstand  nennen  wir  Zweck. 

Intellekt  und  Zweck  beherrschen  die  ganze  orga- 
nische Stufenfolge  bis  zum  Menschentum;  vom  Geist  der 

41 


Alge  bis  zum  Geist  des  Staatsmannes  sind  sie  nur  grad- 
weise verschieden. 

Der  Mensch  aber  ist  ein  Geschöpf  der  Grenze.  In 
ihm  endet  die  zweckhaft-intellektuelle  Geistesform  und 
entsteht  eine  höhere.  Im  Menschen  erwachen  Gefühls- 
reihen, die  nicht  mehr  der  Erhaltung  dienen,  ja  ihr  ent- 
gegenwirken können.  Ideen  und  Ideale,  Liebe  zum  Näch- 
sten, zur  Menschheit,  zur  Schöpiung,  zum  Ueberwelt- 
lichen  erfüllen  das  Leben  des  Menschen  und  sind  zweck- 
frei; sie  dienen  uns  nicht,  sondern  wir  dienen  ihnen  und 
sind  bereit,  für  sie  uns  zu  opfern. 

Hier  beginnt  das  nächsthöhere  Geistesreich,  das 
Reich  der  Seele.  Seiner  sind  wir  nicht  stärker  teilhaftig, 
als  etwa  die  Zelle  des  intellektualcn  Reichs  teilhaftig  ist. 
In  diesem  Reich  und  seiner  Anschauungswelt  sind  wir 
unmündige,  stammelnde  Kinder.  Deshalb  können  wir 
seine  Welt,  die  nicht  mehr  die  Welt  der  raumzeitlichen 
Vorstellungen  und  Begriffe  ist,  nur  ahnen,  nicht  erfassen. 

Von  dieser  Grenze  aus  scheidet  sich  alles  beiendc. 
Die  durchlaufenen  Welten  erscheinen  als  die  Weltseite 
der  Schöpfung;  was  ihnen  angehört,  wird  im  Sinne  der 
Einsicht  zum  Unwesentlichen,  im  Sinne  der  Ethik  zur 
Sünde.  Der  Gottseite  der  Schöpfung,  dem  Kommenden, 
das  uns  als  Vollendung  erscheint,  und  das  der  Beginn 
neuer  unendlicher  Stufenfolge  ist,  streben  wir  entgegen, 
und  es  steht  bei  uns,  wieweit  wir  in  uns  und  um  uns  das 
kommende  Reich  schon  im  irdischen  Dasein  verwirk- 
lichen. 

Dies  ist  die  Sendung  des  Menschengeschlechts:  die 
mittlere  Reihe  der  Schöpfung  zu  vollenden  und  die  höhere 
Reihe  der  Welten  zu  beginnen,  und  dies  ist  seine  Ver- 
antwortung: aus  niederem  Geist  göttlichen  Geist  zu  ver- 
klären. Erlösung  aber  bedeutet,  daß  diese  Verklarung  aus 
eigener  Kraft  nicht  möglich  ist,  daß  dem  guten  Willen  die 
rettende  Kraft  zu  Hilfe  kommt. 

42 


Guter  Wille,  Vertrauen  und  Liebe  öffnen  unsere  Her- 
zen den  göttlichen  Strahlen,  die  uns  allerwärts  umfließen, 
und  helfen  die  Herzen  unserer  Brüder  öffnen.  Hierin  ist 
alle  Glaubens-  und  Sittenlehre  beschlossen;  es  gibt  kein 
Tun  und  Vollbringen,  das  selig  macht,  selig  macht  nur  die 
Gesinnung.  Es  gibt  kein  sittliches  Handeln,  sondern  einen 
sittlichen  Zustand,  der  unrechtes  Handeln  ausschließt.  Es 
gibt  keine  absoluten  Werte  außer  jenen  dreien,  die  uns 
dem  Reich  der  Seele  entgegenführen;  alle  anderen  irdi- 
schen Güter  sind  bestenfalls  Mittel. 

Ich  glaube,  daß  im  vollendeten  Reich  der  Seele  alle 
Erscheinungen  und  Kategorien  der  intellektualen  Welt 
beendet  sind,  mit  ihnen  die  kämpfende  Individualität,  die 
Vergänglichkeit  und  die  intellektuale  Einsicht.  Hier  liegt 
die  Grenze  unserer  Sprache  und  Vorstellungskraft.  Es 
versagen  alle  Symbole1)." 

Also  ein  doppelter  Idealismus:  ein  geistiger  und  ein 
sittlicher.  Die  wahre  Welt  ist  die  der  Geister  und  nicht 
die  materielle,  in  der  wir  leben.  Ein  ununterbrochener 
Fortschritt  lockt  das  Universum  seit  seinen  zurück- 
gclegensten  Offenbarungen  immer  weiter  mit  sich  in 
der  Richtung  einer  stetig  zunehmenden  Vergeistigung. 
Schon  heute  können  wir  in  jedem  Augenblicke  feststellen, 
daß  in  ihm  eine  regelrechte  Verkettung  aller  Phänomene 
herrscht.  Keines  von  ihnen  ist  in  seiner  Vereinzelung  für 
sich  durch  rein  mechanische  Gründe  erklärbar.  ,,Jede 
Frage,  die  wir  zu  Ende  denken,  führt  ins  Ueberirdische. 
Von  jedem  Punkt,  auf  dem  wir  stehen,  ist  nur  ein  Schritt 
bis  zum  Mittelpunkt  der  Welt.    Die  Dinge  des  Tages  ver- 


')  Anm.  des  Bearbeiters:  An  Deutschlands  Jugend,  S.  69— 71.  „Die 
Weltseite  der  Schöpfung"  in  ihrer  Vergänglichkeit  im  Gegensatz  zu 
deren  „Gottseite'4  hat  in  wunderbarer  Symbolik  Charles  Richet  in  seinem 
Gedichte:  „Vergänglichkeit"  (in  der  Sammlung  „Leit-,  Zeit-  und  Streit- 
fragen". In  deutscher  Nachdichtung  von  dem  Bearbeiter  dieses  Dr.  Rudolf 
Berger  (Berlin)  und  Armand  Hoche.  Berlin,  Gebr.  Paetel  1914*),  S.  119—121, 
künstlerisch  behandelt. 

43 


gleichen  sich  dem  Spiegelbild  auf  einer  Glaskugel:  im  en- 
gen Bezirk,  dem  Auge  zunächst,  scheinen  die  Gegenstände 
deutlich  und  wirklich;  im  Umkreise  löst  sich  das  Bild  in 
verschwimmende  Flächen1)."  Andererseits  ist  die  sitt- 
liche Welt  absoluten  Gesetzen  unterworfen,  die  nicht  aus 
dem  Reiche  des  Empirismus  herstammen.  ,,Wir  wollen 
das  Gute,  wir  glauben  an  das  Künftige,  wir  verlangen  Ge- 
rechtigkeit, wir  anerkennen  das  Allgemeingültige,  wir 
verehren  das  Ewige  auch  in  der  kleinsten  unserer  Hand- 
lungen, soweit  sie  nicht  rein  tierisch  ist;  somit  leben  und 
wirken  wir  unablässig  im  Gebiet  des  Transzendenten1)." 
Eine  andere  Vorstellung  von  den  Dingen  zu  haben,  scheint 
Walther  Rathenau  einfach  unmöglich;  ohne  sie  würde  das 
Leben  in  seinen  Augen  jeden  Wert  verlieren.  „Unfaßbar 
und  unausdenkbar  ist  es,  diese  Welt,  in  der  ein  nie  er- 
hörtes Maß  von  geistigen  Kräften  kreist,  preisgegeben 
sich  vorstellen  zu  müssen  den  zufälligen  Konstellationen 
materieller  Bedürfnisse,  physischer  Gleichgewichte,  majo- 
risierender  Bestrebungen,  ohne  das  Gegengewicht  einer 
einigen,  unerschütterten  ethischen  Triebkraft.  Ohne  die 
Ueberzeugung  eines  absoluten  Gutes,  das  nottut.  Ohne 
Glauben  an  ein  gemeinsames  Ziel,  das  Leben  und  Tod 
umschlingt.  Ohne  eine  gültige  Wertung,  die  sagt:  dies  ist 
gut  und  jenes  böse2)." 

„Wenn  wir  nicht  glauben  dürfen,  daß  Erkenntnis  und 
sittlicher  Wille  erworbenes  Laster  lösen  und  ererbte 
Sklavenmoral  tilgen  kann,  so  bleibt  dem  Sittenträumer 
nur  die  Wahl,  sich  still  und  hastig  aus  der  Welt  zu 
retten3)." 

Doch  ist  dieses  Ideal,  dieses  Absolute  so  beschaffen, 
daß  wir  zu  ihm  gelangen  oder  auch  nur  uns  von  ihm 
einen  Begriff  machen  können?  Der  Skeptiker  sind  Legion, 
und  ihre  Beweisführung  scheint  wirklich  auf  einer  festen 


')  M.  II.  S.  11.      °)  D.  III.  S.  166,  Sep.  Ausg.  S.  154.     3)  D.  III.  S.  190, 
Sep.- Ausg.  S.  177  178. 

44 


Grundlage  aufgebaut  zu  sein.  Einige  zweifeln  an  allem, 
sogar  an  den  Urgrundlagen  der  Dinge  selbst.  „Was  ist 
wirklich?  Es  gibt  nur  täuschende  Erscheinung.  Was  ist 
erstrebenswert?  Es  gibt  keine  absoluten  Werte.  Was 
ist  ein  Ziel?  Ein  Zustand,  von  dem  man,  sobald  er  er- 
reicht ist,  zu  neuen  Zielen  hinwegstrebt  —  oder  eine  un- 
erträglich süße,  falsche  Seligkeit.  Was  sind  menschliche 
Triebkräfte?  Genuß  und  Macht.  Was  ist  Tat  und  Opfer? 
Zwang  unfreien  Willens.  Was  ist  Sittlichkeit?  Eine 
Konvention  des  Zeitalters  und  der  Umwelt.  Was  ist  Ge- 
schichte? Die  wechselnde  Ausdrucksform  des  Nahrungs- 
kampfes. Was  ist  Dasein?  Eine  Verirrung  des  Absoluten, 
aus  dem  es  nur  ein  Ausweg  gibt  in  Traum  und  Nichts1)." 
Andere  Skeptiker  —  und  zu  ihnen  gesellt  sich  Walther 
Rathenau  —  zweifeln  an  der  Allmacht  unseres  Intellekt. 
Wer  bisher  geglaubt  hat,  daß  die  Wissenschaft  uns  über 
alles,  was  in  der  Welt  vorgeht,  belehren  und  uns  zu 
zu  Herren  dieser  Welt  machen  könne,  wieviel  muß  nicht 
ein  solcher  jetzt  von  dieser  seiner  Illusion  aufgeben? 
,,Die  Wissenschaft  selbst  beginnt  jetzt  zu  erkennen, 
daß  ihr  vollkommenstes  Gewebe  dem  Willen  nichts 
anderes  sein  kann  als  dem  Wanderer  eine  vortreff- 
liche Landkarte  ist.  Gewiß,  sie  gibt  ihm  die  nötigen  An- 
weisungen: hier  liegt  ein  Gebirgszug,  ein  Fluß,  eine  Stadt, 
ein  Meer;  wende  ich  mich  rechts,  so  gelange  ich  hierhin, 
links  dorthin;  dieser  ist  der  kürzere  Weg,  jener  der 
ebenere;  hier  herrscht  Fülle,  dort  weht  Bergluft;  hier 
liegt  Freiland,  dort  Zivilisation.  Welcher  Pfad  mir  aber 
vorgeschrieben  ist,  wohin  mein  Herz,  meine  Pflicht  mich 
zieht,  kann  ein  Kartenblatt  mir  nicht  sagen.  Wissen- 
schaft mißt  und  wägt,  schreibt  und  erklärt,  aber  sie  wertet 
nicht,  es  sei  denn  nach  dem  Maßstabe  konventioneller 
Satzung-)." 


>)  „An  Deutschlands  Jugend"  S,  24.       2)  D.  III.  S.  16-17,    Sep.-Aus- 
gabe  S. 14  15. 

45 


Nicht  anders  steht  es  mit  der  Ohnmacht  der  Philo- 
sophie. ,, Pflichtgetreu  und  bekümmert  machte  immer  er- 
neut die  Philosophie  sich  ans  Werk,  die  zerrinnenden 
Fäden  zu  sammeln,  ewige  Richtungen,  Gesetze,  Impera- 
tive zu  ersinnen.  Vergeblich!  Jede  kritische  Frage  hatte 
sie  sich  gestellt,  an  Begriffen  und  Welt,  an  Gott  und  Da- 
sein zweifeln  gelernt,  und  dennoch  war  sie  aus  reiner  Ver- 
nunft an  der  einfachsten  Vorfrage  blind  vorbeigeschritten: 
ob  nämlich  der  denkende,  messende,  vergleichende  Intel- 
lekt, die  Kunst  des  Einmaleins  und  das  Warum  die  ein- 
zige dem  Ewigen  Geist  verliehene  Kraft  sei  und  bleibe, 
um  Menschlichgöttliches  zu  durchdringen.  Sie  blieb  In- 
tellektualphilosophie.  Sie  benahm  sich,  als  wollte  ein 
Schwingungstheoretiker  mit  Kurven  und  Diagrammen  das 
Erlebnis  der  Symphonie  ergründen,  als  wollte  ein  Mete- 
orologe mit  Wetterkarten  die  Stimmung  eines  Frühlings- 
morgens erschöpfen,  als  wollte  ein  Hydrauliker  das  Ur- 
empfinden  der  Meeresbrandung  errechnen.  —  Sie  er- 
staunte nicht  über  die  Armseligkeit  und  Kahlheit  ihrer 
Definitionen,  wenn  sie  sich  an  die  inneren  Gewalten  der 
Liebe,  der  Natur,  der  Gottheit  wagte.  Sie  fragte  nicht, 
warum  allen  ihren  sittlichen  Lehren  die  zwingende  Macht 
der  absoluten  Verbindlichkeit  fehle,  sie  fragte  noch  weni- 
ger, auf  welchen  Voraussetzungen  eine  absolute  Ver- 
bindlichkeit überhaupt  beruhen  könne.  Denn  auf  den 
Nachweis  der  allgemeinen  Nützlichkeit  hat  jeder  das 
Recht  zu  antworten:  ich  verzichte,  und  auf  jede  theore- 
tische Pflichtkonstruktion:  ich  schließe  mich  aus  und 
nehme  die  Folgen  auf  mich.  Logisches  Denken  kann 
Recht  begründen  und  Sitte,  niemals  aber  eine  absolute, 
jedem  Einwand  enthobene  Wertsetzung  und  Sittlich- 
keit1)/* 

Die  Religionen  endlich,  unsere  scheinbaren  natür- 
lichen  Führer  zu   einer  übersinnlichen   Welt   haben  ihre 


»)  D.  III.  S.  224,  Sep.-Ausg.  S.  209/210. 
46 


Aufgabe  nicht  erfüllt.  Sie  sind  Kirchen-  und  Staatseinrich- 
tungen geworden,  die  sich  vor  allem  der  Erhaltung  der 
materiellen  Welt  gewidmet  haben.  „Religionslehrer  und 
Kirchen  mögen  sich  fragen,  ob  sie  so  viel  getan  haben, 
als  nötig  war,  um  die  Menschen  über  das  wahre  Ver- 
hältnis des  Eudämonismus  zum  Glauben  aufzuklären,  ob 
sie  nicht  gelegentlich  die  alte  Nützlichkeitsseite  des 
Glaubens  willkommen  hießen,  gleichviel  ob  als  Erzie- 
hungsmittel oder  um  die  Gläubigen  bei  der  Stange  zu 
halten1)."  Nebenbei  gesagt  können  die  religiösen  Her- 
zensergüsse von  einstigen  Nomadenstämmen  unmöglich 
noch  heute  zeitgemäß  sein  und  es  ist  eine  Selbsttäu- 
schung, sich  ihnen  noch  immer  hartnäckig  hinzugeben  in 
der  Hoffnung,  sie  aufs  neue  beleben  zu  können.  Daher 
schwanken  heute  auch  die  besten  Geister,  ohne  sich  fest 
entscheiden  zu  können,  ob  sie  die  ehrwürdigen,  aber  ver- 
alteten Dogmen  oder  die  modernen  Lehren  eines  faden 
empirischen  Rationalismus  zu  Führern  nehmen  sollen. 

Doch  Walther  Rathenau  ist  weit  entfernt,  zu  ver- 
zagen. Für  ihn  ,,ist  der  Zweifel  befruchtend,  nicht  nieder- 
drückend2)." Weil  er  ein  Mann  des  Handelns  ist,  ver- 
schmäht er  jede  Gemeinschaft  mit  den  Skeptikern  und 
den  Pessimisten.  Wären  diese  in  der  Tat  ,,so  ehrlich, 
wie  sie  es  nicht  immer  gewesen  sind,  so  würden  sie,  wo 
nicht  auf  Handlung,  so  auf  Gültigkeit  der  Handlung  ver- 
zichten. Sie  würden  nicht  versuchen,  mit  dürftiger  und 
verhohlener  Anleihe,  aus  anderen  geistigen  Breiten  eine 
Hütte  zu  zimmern,  in  der  man  den  ungeselligen,  unbe- 
quemen unmaßgeblichen  Hausrat  der  Weltflucht  oder  In- 
differenz, des  Zynismus  oder  Epikuräertums  stillschwei- 
gend und  verstohlen  gegen  wohnlichere  Gerätschaften 
vertauschen  kann3)."  Um  gegen  sich  selbst  logisch  zu 
sein,    sollten   sich   Skeptiker   und   Pessimisten   zur   Passi- 


\)  .An  Deutschlands  Jugend",  S.  50.     2)  „An  Deutschlands  Jugend*, 
S.  41.    8)  .An  Deutschlands  Jugend',  S.  24/25. 

47 


vität  der  Vernunft  und  des  Herzens  sowie  des  Willens 
verurteilen.  Aber  sie  vermögen  es  nicht.  „Verdammen 
wir  diese  Weltbühne  des  Werdens,  so  ist  alles  Denken 
vergeblich,  jedes  höhere  Gefühl  irrational  und  alles  Han- 
deln Torheit;  ja  selbst  ein  Streben  nach  innerer  Vollkom- 
menheit bleibt  Handlung  und  somit  Wahn.  Doch  dieser 
Ausgang  widerlegt  sich  selbst;  denn  der  heiße  Drang  der 
Seele  besteht;  und  mehr  noch,  er  ist  von  allem  Erleben 
das  Realste1)."  Gutwillig  oder  gewaltsam  sind  sie  zum 
Handeln  einfach  gezwungen,  ja  werden  wohl  notgedrun- 
gen zugeben  müssen,  daß  in  unserem  Dasein  die  erste 
Rolle  nicht  der  Reflexion  zufällt,  sondern  vielmehr  gerade 
umgekehrt  überall  vor  der  Intelligenz  der  Wille  den  Vor- 
rang hat.  ,, Jedem  schrankenlosen  Verehrer  des  intellek- 
tualen  Denkens  sei  es  von  früh  bis  spät  wiederholt:  Der 
größere  und  edlere  Teil  des  Lebens  besteht  aus 
Wollen2)." 

Nun  liegt  es  in  dem  Charakter  des  Willens,  seinen 
Anteil  am  Absoluten  zu  suchen.  Dem  zum  Trotze,  was 
wir  gemeinhin  glauben,  mischt  sich  die  Reflexion  nur  in 
unbedeutender  Weise  in  unsere  Entscheidungen  ein. 
„Das  Denken  schafft  keine  Werte.  Sie  sind  gegeben 
oder  sie  sind  es  nicht.  Wer  ehrlich  ist,  weiß,  daß  er 
manchmal  Folgen  mit  dem  Verstände  abgewogen  hat,  nie- 
mals Ziele.  Er  handelt,  wie  er  handeln  muß,  nach  innerem 
Gesetz,  und  dies  Gesetz  ist  tierisch  oder  es  ist  göttlich. 
Wer  Werte  ergrübelt,  ist  hilflosen  oder  kranken  Geistes 
und  nicht  berufen.  Die  Gründe,  die  jemand  nachträglich 
für  sein  Handeln  gibt,  sind  falsch.  Niemand  weiß,  was  in 
irgendeinem  Augenblick  in  ihm  vorgeht;  ein  tausend- 
fältiges Ich  kreuzt  seine  widerspruchsvollen  Fühlungen 
und  Wollungen,  und  sein  Innerstes  entscheidet3)."  „Die 
Richtkräfte  unseres  Lebens  sind  absolute  Werte.     Diese 


»)  D.  HI.  S.  21,    Sep.-Ausg.  S.  19.     2)  D.  111-  S.  60,    Sep.-Ausg.  S.  54, 
3)  ,An  Deutschlands  Jugend",  S.  44. 

48 


Werte  können  benannt,  aber  nicht  begründet  werden1)." 
In  Wirklichkeit  ist  jeder  Willensakt  eine  Herzensregung 
und  zugleich  ein  Glaubensakt.  „Was  ist  beweisbar? 
Kaum  das  Vergangene,  kaum  selbst  die  Wahrheit  der 
euklidischen  Geometrie;  unsere  Gefühle  sind  es  nicht, 
unsere  Erlebnisse  nicht  und  nicht  unsere  Voraussichten. 
Jede  geschäftliche  Auffassung,  jede  organisatorische  Maß- 
nahme ist  bestreitbar,  und  dennoch  bleibt  in  der  Welt 
ein  glaubendes  Vertrauen  zum  Rechten2)."  Unruhiges 
Menschenkind  du,  fürchte  dich  nicht  und  schilt  doch 
nicht  auf  jenen  heißen  Drang  deiner  Seele,  sondern  fasse 
doch  Mut  und  ,,wage  es  doch  lieber,  jenen  heißen  Drang 
und  nicht  das  erdacht  Absolute  zur  temporären  Achse 
unseres  Erlebens  zu  wählen,  und  das  Dasein  gewinnt 
seinen  Sinn  zurück.  Das  Denken  zum  Absoluten  ver- 
nichtet den  Willen;  die  Andacht  zum  Transzendenten 
aber  gibt  dem  Denken  adäquate  Ziele,  belebt  den  Willen 
zur  Liebe  des  Menschen,  der  Natur  und  der  Gottheit 
und  erobert  die  Tat3)." 

Was  tut  dann  der  Katzenjammer,  den  uns  unser 
schwaches  Verständnis  verursacht:  der  Wille  hebt  uns 
hoch  darüber  empor  und  bahnt  uns  einen  ersten  besten 
Weg  zum  Reiche  der  Seele.  , .Alles  Wollen  ist  unbeweis- 
bares Lieben  und  Verlieben;  es  ist  seelisches  Teil,  und 
neben  ihm  steht  der  zählende,  messende  und  wägende 
Intellekt  abseitig  und  selbstbewußt  als  Theaterkassierer 
am  Eingang  zur  Bühne  der  Welt.  Was  wir  schaffen,  ge- 
schieht aus  tiefstem,  wissenlosen  Drang;  was  wir  lieben, 
ersehnen  wir  mit  göttlicher  Kraft;  was  wir  sorgen,  gehört 
der  unbekannten  künftigen  Welt;  was  wir  glauben,  lebt 
im  Reiche  des  Unendlichen.  Nichts  davon  ist  beweisbar, 
und  dennoch  ist  nichts  gewisser;  nichts  davon  ist  greifbar, 


»)  „An  Deutschlands  Jugend",  S.  43.     2)  D.  III.  S.  21/22,  Sep.Ausg. 
S.  23.    3)  D.  III.  S.  22,  Sep.-Ausg.  S.  19. 

4  49 


und    dennoch     geschieht     jeder     wahre    Schritt     unseres 
Lebens     im  Namen  dieses  Unaussprechbaren1)." 

Auch  auf  dem  Gebiete  des  Gedankenlebens  sind  wir 
nicht  jeden  Mittels  bar,  zur  wahren  Erkenntnis  der  Dinge 
zu  gelangen.  Auch  da  ist  der  Skeptizismus  ein  ganz 
arger  Schwindel.  ,,Ja,  ein  kahler  Betrug!  Denn  nur  der 
Ernst  der  Welt,  der  Glaube  an  ihren  Sinn  und  Zusammen- 
hang rechtfertigt  Betrachtung  und  Mitteilung;  hoch- 
mütiger Glaube  an  die  Sinnlosigkeit  und  hoffnungslose 
Verworrenheit  des  Bestehenden  fordert  in  Konsequenz 
ein  ungeistiges  Leben  animalischen  Genusses  und  die 
Beschränkung  alles  sittlichen  Bewußtseins  auf  die  Furcht 
vor  der  Polizei.  Der  Schaufensterdieb  des  Lebens  leugnet 
den  Schweiß,  den  er  verpraßt  und  entwertet.  —  Gewiß, 
nicht  erlernte  Kenntnis  und  ersessene  Bildung  vermag  die 
harten  Schollen  unseres  anvertrauten  Feldes  zu  lösen; 
hochmütiges  Wissen  und  Besserwissen  fruchtet  nicht. 
Doch  ernst  zu  nehmen  ist  jedes  echte  irdische  Ereignis; 
Treue  der  Sinne  und  Hingabe  des  Geistes  führen  zum 
inneren  Ergreifen  selbst  des  alitäglichen  Geschehens 
und  verschmähen  das  Nippen  an  den  Zeichen  der  Dinge2)." 
Es  ist  nicht  wahr,  daß  der  Intellekt  in  völligem  Aus- 
sterben begriffen  ist.  ,,Hier  liegt  der  naive  Irrtum  aller 
Philosophie  zutage,  die  sich  vermaß,  mit  der  Kraft  des 
Intellekts,  der  Logik,  des  Einmaleins  alle  Reiche  zu  durch- 
dringen, ohne  sich  je  zu  fragen,  ob  denn  diese  intellek- 
tuelle Denkkraft  wirklich  eine  absolute  sei,  ja  ob  sie  denn 
die  einzige  Macht  des  Geistes  bedeute3)."  In  der  Tat 
bezeichnet  der  Intellekt  eine  beachtenswerte  Etappe  in 
der  Entwicklung,  die  die  Natur  durchmacht,  von  der  Ur- 
zelle  bis  zur  Seele.  , .Damit  die  Menschheit  dieses  Reich 
gewinne,  muß  sie  alle  Lebenskräfte  zusammenraffen;  sie 
muß  die  Kraft  des  Intellekts,  die  einzige,  über  die  sie  in 


l)  D.  III.  S.   60,   Sep.-Ausg.  S.  54.       *)  D.  S.  20,    Sep.-Ausg.    S.  17. 
s)  D.  III.  S.  164,  Sep.-Ausg.  S.  153. 

50 


Freiheit  verfügt,  nach  Menge  und  Stärke  aufs  höchste 
spannen.  — -  Denn  der  eine  der  Wege,  die  zur  Seele 
führen,  geht  durch  den  Intellekt;  es  ist  der  Weg  der  Be- 
wußtheit und  des  Verzichts,  der  wahrhaft  königliche  Weg, 
der  Weg  Buddhas1)."  Wer  sich  nur  die  Ohnmacht  des  In- 
tellektes in  bestimmten  Fällen  klar  macht  und  sich  dar- 
auf beschränkt,  ihn  ausschließlich  auf  adäquate  Aufgaben 
zu  richten,  der  wird  zugeben  müssen,  daß  er  ,,als  Auf- 
schwung der  gewaltigste  seit  Ursprung  des  Planeten  ist1)." 

Es  ist  das  aber  nicht  alles.     Man  suche   nur  in  sich 
selbst,   und   man   wird   zu   seiner   freudigen   Überraschung 
zur   Erlangung    der   wahren   Erkenntnis   eine    wirksamere 
Kraft   entdecken,   als   den   Intellekt.     „Steigen   wir   hinab 
in  die  Schächte  unseres  unberührbaren  innersten  Bewußt- 
seins,  so   finden   wir   die    dunklen  Tiefen   nicht   leer;   wir 
kehren    heim    mit    der    Gewißheit    des    Unendlichen,    der 
Gottseite    der   Schöpfung,    mit    der    Verkündung    des   Be- 
rufes  unserer   Seele,    unserer   überintellektualen   Mächte, 
und    mit    dem     Geheimnis     des     Seelenreiches-)."      Eine 
solche    Erkenntnis    ist    eine    wirklich    unfehlbare.     ,,Die 
Seele,   welche   nicht   denkt,   sondern   schaut,   ist   des   Irr- 
tums   nicht    fähig.      Wie    das    ungeschulte,    aber    gesunde 
Auge   beim    ersten  Anblick    eines   Bildes    den    perspek- 
tivischen Fehler  fühlt,  der  dem  konstruierenden  Zeichner 
entgangen   ist,    so    empfindet    die    Seele    in   vollkommener 
Einfühlung  die  Übereinstimmung  einer  Denkfolge  mit  dem 
Naturgesetz,  und  seine  Verletzung  empfindet  sie  als  Disso- 
nanz.      Ohne   zu   argumentieren,    ist   sie    ihres   Glaubens 
sicher;  sie  schmeckt  und  wittert  gleichsam  die  Wahrheit, 
den  Irrtum  und  die  Lüge3)."  Diese  Gewißheit  drängt  sich 
uns  in   einer  unwiderstehlichen   Form  auf,   indem  wir  in 
unmittelbarer    Berührung    die    harmonische    Ordnung    des 
sich  in  jedem  seiner  Elemente  widerspiegelnden  Univer- 


')  D.  III.  S.  33,  Sep.-Ausg.  S.  29.     *)  D.  III.  S.  15/16,  Sep.-Ausg.  S.  13. 
s)  M.  II.  S.  55,  Sep.-Ausg.  S.  58. 

4*  51 


sum  und  die  zwischen  unserem  Innenleben  und  der  Außen- 
welt bestehende  Übereinstimmung  empfunden  haben. 
,,Alle  Entwicklung  ist  Aufstieg  des  Geistes,  und  unser 
inneres  Erleben,  rein  empfunden  und  wunschlos  gedeutet, 
hat  mikrokosmischen  Anteil  am  Geschehenen  der  Welt. 
Dies  ist  die  Erklärung  aller  Prophetie;  vom  geschäftlich 
nüchternen  Erfassen  einer  Konjunktur  bis  zur  adäquaten 
Ausdeutung  der  politischen  Notwendigkeit,  von  der  ein- 
fühlenden Erkenntnis  eines  menschlichen  Schicksals  bis 
zur  visionären  Durchdringung  des  Weltbildes  bezeichnen 
alle  Stufen  des  intellektualen  und  des  intuitiven  Mitklin- 
gens den  Parallelismus  des  erlebten  und  des  objektiven 
Geistes.  Jedes  organisierte  Instrument  erlebt  in  seiner 
Stimme   das   Abrollen   der  Symphonie1)." 


Aus  dem  Vorhergehenden  ersieht  wohl  ein  jeder, 
weiches  die  Gegenstände  sind,  mit  denen  sich  der  Schrift- 
steller Walther  Rathenau  beschäftigt!  Das  Leben  des 
ethischen  Menschen,  das  des  sozialen,  das  sind  die  Ge- 
genstände seines  Interesses,  und  mehr  noch  als  alles  dies: 
das  Gemeinschaftsleben,  seine  Organisation  und  sein 
Verlauf.  Diese  Aufgabe  erscheint  ihm  so  schön,  daß  der 
Nazarener  selbst,  wenn  er  heute  lebte,  seines  Erachtens 
keine  andere  wählen  würde.  „Er  würde  nicht  wie  ein 
studierter  Pastor  in  antiquarischer  Sprache  mit  syrischen 
Gleichnissen  reden,  sondern  von  Politik  und  Sozialismus, 
von  Industrie  und  Wirtschaft,  von  Forschung  und  Tech- 
nik2)." Aus  allen  diesen  Ausführungen  Walther  Rathenaus 
spricht  der  Direktor  der  vielen  großen  Unternehmungen. 
Doch  wir  dürfen  darum  nicht  etwa  von  ihm  glauben, 
daß  er  einseitig  und  oberflächlich  ausschließlich  an 
menschenfreundliche  materielle  Reformen  denkt.  Er 
fährt   an   der  letzterwähnten   Stelle   sogleich   fort:    „Jesus 


»)  D.  III.  S.  25/26,  Sep.-Ausg.  S.  22/23.       2)  D.  III.  S.  63,  Sep.  Ausg. 
S.  57. 

52 


hätte  diese  Dinge  freilich  nicht  als  ein  Reporter  behan- 
delt, dem  sie  an  sich  erfüllt  und  stupend  sind,  sondern 
den  Blick  auf  das  Gesetz  der  Sterne  gerichtet,  dem  unsere 
Herzen  gehorchen1)."  Es  sind  das  alles  Zitate  aus  Walther 
Rathenaus  Werk:  „Von  kommenden  Dingen2)." 
Die  herrliche  Schrift  beginnt  folgendermaßen:  „Dieses 
Buch  handelt  von  materiellen  Dingen,  jedoch  um  des 
Geistes  willen.  Es  handelt  von  Arbeit,  Not  und  Erwerb, 
von  Gütern,  Rechten  und  Macht,  von  technischem,  wirt- 
schaftlichem und  politischem  Bau,  doch  es  setzt  und 
schätzt  diese  Begriffe  nicht  als  Endwerte3)."  Durchaus 
nicht  erstaunlich!  Sträubt  sich  doch  Walther  Rathenau 
mit  Händen  und  Füßen  zuzugeben,  daß  die  Materie  den 
Vorrang  vor  dem  Geist  habe  oder  gar,  daß  die  von  der 
Menschheit  erstrebten  Ziele  ausschließlich  materielle 
seien.  Unser  Jahrhundert  verdient  gewiß  die  Bezeich- 
nung eines  Jahrhunderts  der  Maschine,  es  soll  das  aber 
keineswegs  bedeuten,  daß  der  Mensch  selbst  zu  einer 
Maschine  geworden  ist.  Eine  Seele  lebt  unter  der  Bluse 
jedes  einzelnen  Ingenieurs  und  jedes  einzelnen  Arbeiters. 
Sie  ist  es,  die  gebietet  und  befiehlt:  die  stählernen  Un- 
geheuer gehen  hin  und  her,  surren,  schnurren  und  arbeiten 
nach  dem  Willen  des  Menschen,  ihres  Bändigers.  Sie 
haben  wirklich  Unrecht,  die  da  behaupten,  daß  die  Be- 
stimmung des  Menschen  darin  bestehe,  das  materielle 
Wohlbefinden  zu  erjagen.  „Wir  sind  nicht  da  um  des 
Glückes  willen.  Unser  Wille  ist  nicht  da,  noch  weniger 
ist  Entwicklung  da,  um  unser  Glück  zu  vergrößern.  Wir 
schreiten  nicht  den  Weg  der  Beglückung,  sondern  den 
Weg  der  Vervollkommnung,  den  Weg  zur  Seele,  gleich- 
viel, ob  unser  Glück  darüber  zugrunde  geht.  Und  wir 
schreiten  diesen  Weg  nicht  bloß,  weil  wir  müssen,  son- 
dern   weil    wir    wollen,    weil    es    noch    andere    treibende 


')  D.  III.  S.  63.    Sep.-Ausg.  S.  57.       -)  Seinem   Vater   Emil  Rathenau 
gewidmet.    •)  D.  III.  S.  13,  Sep.-Ausg.  S.  11. 

53 


Kräfte  gibt,  die  in  uns  selbst  liegen1)."  „Wir  leben  nicht 
um  unsertwillen,  sondern  nur  des  Gottes  willen.  —  Nicht 
Furcht  und  nicht  Hoffnung  sind  die  treibenden  Gewalten. 
Nicht  das  verständige  Streben  nach  mechanischem  Gleich- 
gewicht, nicht  Güte  und  selbst  nicht  Gerechtigkeit. 
Sondern  Glaube,  der  aus  Liebe  entspringt,  tiefste  Not 
und  Gottes  Wille2)."  Dieses  erhabene  Ziel  ist  sowohl  der 
gesamten  Menschheit  wie  der  einzelnen  Persönlichkeit 
gesteckt.  ,,Es  entscheidet  das  Bewußtsein,  daß  die  ge- 
heiligte Institution  höher  steht  als  die  Notdurft  des  ein- 
zelnen, die  Ahnung,  daß  der  Mensch  nicht  um  eines 
irdischen  Glückes  willen  geschaffen  ist,  sondern  in  gött- 
licher Sendung,  der  Glaube,  daß  die  menschliche  Gemein- 
schaft nicht  eine  Zweckvereinigung  bedeutet,  sondern 
eine  Heimat  der  Seele3)."  Und  Walther  Rathenau  sollte 
sich,  als  er  zur  Feder  griff,  die  Aufgabe  stellen,  die  Seele 
einzuladen  und  zu  ermutigen,  Einkehr  zu  halten  in  sich 
selbst. 

Welche  Form  hat  nun  dieser  Ruf  an  die  Seele  des 
Menschen  anzunehmen?  Wie  soll  er  die  Kraft  erhalten, 
die  einzelnen  mit  sich  fortzureißen?  Eines  ist  gewiß: 
es  kommt  natürlich  darauf  an,  sich  unmittelbar  an  die 
Seele  selbst  zu  wenden.  Es  ist  nicht  etwa  in  die  erste 
Linie  zu  stellen,  schon  auf  dieser  Welt  durch  Umgestal- 
tung der  materiellen  Institutionen  ein  besseres  Leben  er- 
wecken zu  wollen!  Diese  materiellen  Institutionen  hier 
auf  Erden  sind  und  bleiben  sekundär  und  können  nie 
darauf  Anspruch  erheben  als  etwas  Ursprüngliches  zu 
gelten!  „Echter  Glaube  stammt  aus  der  Schöpferkraft 
des  Herzens,  aus  der  Phantasie  der  Liebe;  er  schafft  Ge- 
sinnung, und  ihr  folgt  willenlos  das  Geschehen4)."  Soll  ein 
materieller  Wechsel  eintreten,  muß  ihm  immer  zuerst  ein 
durchgreifender    Gesinnungswechsel    voraufgehen.      ,,Die 


l)  „An  Deutschlands  Jugend"  S.  28  -)  D.  III.  S.  18/19,  Sep.-Ausg. 
S.  16.  8)  D.  III.  S.  52,  Sep.-Ausg.  S.  46/47.  *)  D.  III.  S.  17,  Sep.- 
Ausg.  S.  15. 

54 


Gesinnungen  warten  auf  diesen  Anstoß.  Aus  sich  selbst 
haben  sie  zwar  die  Kraft,  doch  nicht  die  Neigung,  ihre 
Gleise  zu  verlassen;  die  Veraltung  der  Ziele  drückt 
sich  nicht  darin  aus,  daß  die  Gesinnungen  sich  mit 
einem  Schlage  wandeln,  sondern  daß  sie  unsicher  und 
verzagt  werden1)."  Wird  es  denn  nun  in  der  Tat  für  eine 
Erneuerung  der  Gesinnungen  langatmiger  wissen- 
schaftlicher Darlegungen  bedürfen?  Ach,  nein!  Können 
noch  die  Wissenschaften,  so  ersprießlich  sie  auch 
für  die  Aufklärung  des  Verständnisses  sein  mögen,  doch 
niemals  die  innere  Überzeugung  des  Herzens  erobern. 
,,Der  Forscher  steht  nach  seiner  Wesensanlage  im  polaren 
Gegensatz  zum  Tatmenschen!  —  Beim  Handeln  kommt 
es  nicht  sowohl  darauf  an,  ob  eine  Tatsache  wahr  sei, 
sondern  welche  von  zwei  oder  vielen  wahren  Tatsachen 
oder  Tatsachenkomplexen  schwerer  wiege.  —  Das  letzte 
Prinzip  ist:  Ziele  in  sich  fühlen,  die  nicht  von  Suchen  und 
Lernen,  sondern  von  einer  bewußt  oder  unbewußt  er- 
schauten Weltauffassung  gegeben  sind.  —  Das  Gebiet  des 
Handelns  steht  dem  künstlerischen  Schaffen  unendlich 
näher  als  der  Gelehrsamkeit2)."  Die  Wissenschaften  können 
nichts  weiter  als  nützliche  Bundesgenossen  im  Kampfe 
sein,  die  die  Elitetruppen  für  den  Sturmangriff  immer 
wieder  mit  frischem  Proviant  zu  versorgen  haben. 

Gibt  es  dann  überhaupt  noch  historische  Beweis- 
führungen, die  imstande  wären,  die  Menschen  zu  über- 
zeugen? Kaum  noch!  Die  Geschichte  leidet  heutzutage 
bereits  unter  derselben  unzulänglichen  Überzeugungskraft 
und  hat  zudem  noch  weitere  Schwächen.  Sie  orientiert 
uns  ganz  einseitig:  „Vergessen  wir  doch  nicht,  daß  die 
Brücke  der  Erinnerung  immer  nur  von  Gipfel  zu  Gipfel 
führt!  Sie  ermißt  nicht,  wie  mächtig  die  Sohle  der  Täler 
sich  gehoben  hat.  Die  Geschichte  schweigt  von  den  Zahl- 


J)    D.  Hl.  S.  141,    Sep.-Ausg.  S.  131.  •     »)    D    III.    S.  239,   Sep.-Ausg. 
S.  223/224. 

55 


und  Namenlosen;  noch  immer  ist  sie  eine  Chronik  der 
Sieger  und  Heroen1)."  Sie  nimmt  keine  Rücksicht  auf  ein 
wesentliches  Phänomen,  dem  Walther  Rathenau  die  sehr 
treffende  Bezeichnung  „Substitution  des  Grün- 
d  e  s2)"  gibt.  MDie  menschlichen  Einrichtungen  bleiben  im 
Namen  und  in  wesentlichen  Attributen  sich  selbst  gleich 
und  vertauschen  ihren  Inhalt,  ja  selbst  ihren  Daseins- 
grund; in  der  veralteten  Schale  schlägt  ein  neues  Ge- 
schöpf seine  Wohnung  auf2)."  Es  bleibt  also  stets  bedenk- 
lich, auf  Grund  alter  Staatseinrichtungen,  die  den  gleichen 
Namen  wie  gewisse  neuere  trugen  und  nichtsdestoweniger 
von  ihnen  von  Grund  aus  verschieden  waren,  über  diese 
neueren  Staatseinrichtungen,  besonders  auch  über  die 
heutige  Staatsform,  räsonnieren  zu  wollen.  Es  ist  letzten 
Endes  auch  ganz  ebenso  bedenklich,  die  Überlieferung 
zur  Erklärung  oder  Rechtfertigung  einer  derartigen  Po- 
litik anzurufen;  in  der  Tat  ist  denn  auch  die  so  viel 
gepriesene  Kontinuität,  die  es  festzustellen  und  zu  stützen 
gilt,  nichts  weiter  als  eine  hohle  Illusion!  „Das  Bild  der 
Gegenwart  ist  fast  so  subjektiv  wie  das  der  Zukunft,  und 
die  scheinbar  so  objektive  Vergangenheit  ist  ver- 
änderlich3)." 

Nein,  die  Saiten  einer  Seele  erklingen  nur  wieder 
auf  den  Anruf  einer  anderen  Seele.  Walther  Rathenau 
sucht  also  nicht  zu  beweisen,  sondern  zu  überzeugen. 
Das  Leben,  das  Studium,  die  Reflexion  haben  ihn  gelehrt, 
nichts  von  irgendwelchem  abstrakten  Wissen  soll  in  seine 
Werke  übergehen,  sondern  nur  seine  Empfindungen  und 
die  Ansichten,  die  er  vertritt.  „Die  Dinge,  die  ich  zu  sagen 
habe,  mögen  sie  sich  als  alt  oder  neu,  stark  oder  anfecht- 
bar erweisen,  sind  nicht  Konstruktionen,  sondern  gedeu- 
tete Empfindungen  und  Erlebnisse,  die  mir,   einem  Men- 


l)  D.  III.  S.  23,  Sep.-Ausg.  S.  20.  —  Vgl.  Ch.  Richets  Gedicht 
„Traumbild"  in  der  hier  in  der  Anm.  1  zu  S.  43  angeführten  Gedicht- 
sammlung S.  129/130  (Bearbeiter).  2)  D.  III.  S.  79,  Sep.-Ausg.  S.  73. 
8)  D.  III.  S.  241,  Sep.-Ausg.  S.  226. 

56 


sehen,  den  ich  nicht  als  leichtgläubig  und  vermessen  kenne, 
wahrer  und  fester  gefügt  erscheinen  als  die  Begebnisse 
und  Bilder  der  Welt,  an  die  wir  zu  glauben  gewöhnt  sind. 
So  bleibt  denn  nichts  als  das  Wort  Geständnisse1)".  Er 
spricht  wie  ein  religiöser  Schwärmer,  dessen  Herz  über- 
fließt: , .Verschließt  ihr  euch  vor  mir,  so  rede  ich  zu  mir 
selbst  und  meinem  Schöpfer;  denn  reden  muß  ich  und 
darf  nichts  verschweigen,  obwohl  ich  weiß,  daß  jedes 
Wort  mir  neuen  Unfrieden  schafft  bei  denen,  die  mich 
hassen  und  verfolgen.  Dann  werden  andere  kommen, 
helleren  Geistes,  reineren  Herzens,  edlerer  Art,  die  Glau- 
ben erzwingen  für  das,  was  sie  verkünden  und  was  ich 
nur  stammle2)".  Sein  Bemühen  will  nicht  etwa  belehren, 
ja  vielleicht  nicht  einmal  erbauen:  durch  unmittelbares 
Erschauen  hat  er  die  Offenbarung  des  Reiches  der  Seele 
gehabt,  und  so  wird  er  zum  Propheten  dieses  Reiches. 
Er  redet  in  einem  unmittelbaren  Rufe  von  Mensch  zu 
Mensch  unablässig  von  neuem  von  dem  Dasein  jenes 
Reiches  der  Seele  und  der  Möglichkeit  und  Notwendig- 
keit zu  ihm  zu  gelangen,  und  gibt  immer  wieder  dem  Ge- 
danken Ausdruck:  „Daß  Seelenrichtung  des  Le- 
bens und  D  u  r  c  h  g  e  i  s  t  u  n  g  der  mechanisti- 
schen Ordnung  das  blinde  Spiel  der  Kräfte 
zum  vollbewußten,  freien  und  menschen- 
würdigen Kosmos  gestaltet3)"!  Sein  Werk 
ist  ein  langes  prophetisches  Bekenntnis4)! 

Doch  woher  soll  wohl  unserem  Ingenieur-Philosophen 
seine  Kraft  kommen,  wenn  er  nicht  den  Beweis  seiner 
Behauptungen  erbriagen  will?  0,  vor  allem  aus  der  Macht 
jener  Überredung,  die  aus  der  unmittelbaren  Wahrheit 
selbst  fließt.  Die  Offenbarungen  des  lebendigen  Er- 
schauens  sind  frei  von  Irrtümern  und  drängen  sich  dem 


l)  M.  II.  S.  17,  Sep.-Ausg.  S.  19  2)  „An  Deutschlands  Jugend"  S.  8 
3)  D.  III.  S.  57,  Sep.-Ausg.  S.  50.  *)  Nach  der  genialen  Art  eines  Friedrich 
Nietzsche,  besonders  auch  in  dessen  künstlerischem  Stile  und  rhythmischer 
Prosa.    (Bearbeiter.) 

57 


Gedanken  in  einer  zwingenden  und  unwiderstehlichen 
Form  auf.  Sie  tragen  „das  Merkmal  der  lebendigen  Wahr- 
heit: die  Kraft,  mit  der  diese  an  die  Herzen  schlägt. 
Jedes  echte  Wort  hat  klingende  Kraft  und  jeder  Gedanke, 
der  nicht  in  den  Labyrinthen  des  dialektischen  Verstan- 
des, sondern  im  blutwarmen  Schöße  der  Empfindung  ge- 
boren ist,  zeugt  Leben  und  Glauben1)". 

Ohne  Zweifel  wird  unsere  rein  intellektuelle  Sprache 
mehr  zur  Verräterei  als  zur  Förderin  der  passenden  Aus- 
drucksform für  solche  Wahrheiten.  ,,Wer  den  Versuch 
gewagt  hat,  ein  erschautes  Bild  unsichtbarer  Weltzusam- 
menhänge in  Gleichnisse  und  Denkformen  des  verein- 
barten Lebens  zu  übersetzen,  der  kennt,  wenn  nicht  eben 
der  göttliche  Genius  ihm  diktierend  über  die  Schulter  zu 
blicken  pflegt,  die  Jahre  der  Sorge  und  des  Zweifels,  wo 
keiner  der  strömenden  Begriffe,  keines  der  wechselnden 
Zeichen  und  Symbole  das  unzweifelhaft,  aber  unaus- 
sprechlich Erblickte. decken  und  erschöpfen  will2)".  Solche 
Wahrheiten  finden  jedoch  schließlich  gleichwohl  eine  an- 
nehmbare Form.  Walther  Rathenau  hat  die  Schwierig- 
keiten gekannt  und  auch  häufig  ihre  erfolgreiche  Über- 
windung verstanden.  Sein  Bekenntnis  geht  Schritt  für 
Schritt  dem  Gange  der  Gedankenarbeit  nach:  weniger 
logische  Ableitung,  eher  einmal  eine  Folge  kurzer  sprü- 
hender Aphorismen,  eine  sichtliche  Unordnung  und  häu- 
fige Wiederholungen  einer  und  derselben  Idee.  Hier  wird 
eine  Vorfrage  aufgeklärt  oder  ein  Einwurf  zurück- 
gewiesen, dort  nimmt  eine  zusammenfassende  Übersicht 
die  bereits  erreichten  Punkte  wieder  auf,  doch  überall 
sprechen  lange  Erfahrungen  und  vorausgegangene  Re- 
flexionen aus  dem  Werke,  das  in  gleichmäßigem  Vor- 
wärtsschreiten dem  angekündigten  Schlüsse  zustrebt. 
Oft  sind  die  Sätze  nicht  von  einer  gezierten  und  affek- 
tierten Spitzfindigkeit  frei   oder  auch  mit   einem   gefähr- 


l)  D.  III,  S.  61,    Sep.-Ausg.  S.  55.     2)  M.  II.  S.  17,    Sep.-Auig.  S.  19. 

53 


liehen  Netze  von  fußangelartigen  abstrakten  rvedevven- 
dungen  oder  wissenschaftlichen  Kunstausdrücken  förm- 
lich übersät,  aber  oft  haben  sie  auch  eine  ebenso  mar- 
kige wie  maßvolle  Schlichtheit,  durch  die  sein  Gedanke 
in  voller  Plastik  und  den  schärfsten  Umrissen  zur  An- 
schauung kommt.  Bilder  und  Vergleiche,  die  größtenteils 
der  Mathematik  oder  der  Physiologie  entlehnt  sind,  geben 
den  flüchtigen  Intuitionen  und  Visionen  Rathenaus  eine 
äußerst  glückliche  konkrete  und  greifbare  Ausdrucks- 
form, die  sie  dadurch  erzielen,  daß  sie  nicht  nur  „jene 
geometrische  Ähnlichkeit,  die  uns  ohne  sonstige  Zutat 
so  kalt  läßt1)",  haben,  sondern  auch  die  Billigung  unseres 
Empfindens  erfahren'). 

Die  Voraussagen  dieses  Propheten  aber  ziehen  weiter 
ihre  Kraft  aus  einer  demütigen  Selbstbescheidung. 
Er  strebt  nicht  etwa  danach,  uns  durch  den  Glanz  einer 
völlig  neuen  Theorie  zu  blenden.  Ganz  im  Gegenteil 
weiß  er,  daß  „die  großen  Glaubensformen  der  Menschheit 
nichts  Zufälliges  sind;  ihre  Zahl  ist  beschränkt  und  mög- 
licherweise geschlossen15)".  Die  Wahrheit  einer  Lehre  ist 
nicht  sowohl  an  der  Neuheit  ihrer  Grundlagen,  als  viel- 
mehr an  den  bereits  einmütig  anerkannten  besonderen 
Wahrheiten  zu  erkennen,  die,  nachdem  diese  Lehre  ihrer 
unwesentlichen,  mehr  zufallsmäßigen  zeitlichen  und  per- 
sönlichen Elemente  entkleidet  ist,  in  ihr  wiederzufinden 
sind.  Und  auch  je  nach  dem  Maße,  in  dem  sie  mit  dem, 
was  wir  von  der  vorhandenen  Realität  der  Dinge  wissen, 
übereinstimmt.  Prophetie  ist  keine  Träumerei.  Das 
Zukunftsbild  muß  sich  auf  einer  hellseherischen  Wahr- 
nehmung der  umgebenden  Wirklichkeit  aufbauen.  „Man 
glaube  an  keine  Prophezeiung  und  keinen  Propheten, 
wenn   nicht   sein   Zukunftsbild,    wohlgemerkt,   bei   kühner 


')  M.  II.  S.  20,  Sep.-Ausg.  S.  21.  2)  Vgl.  in  Ergänzung  und  teilweiser 
Abweichung  von  dem  franz.  Beurteiler  die  Würdigung  des  prachtvollen 
Nietzsche-Stiles  des  Schriftstellers  W.  R.  durch  den  deutschen  Bearbeiter 
in  der  Anm.  4  auf  der  S.  57.    *)  M.  II.  S.  17,  Sep.-Ausg.  S.  21,  No.  3. 

59 


und  freier  Betrachtung,  schon  aus  dem  Vorhandenen  her- 
vorleuchtet1)". Walther  Rathenau  fußt  also  auf  den  durch 
die  Arbeit  der  von  ihm  studierten  Philosophen  und  Ge- 
lehrten schon  zum  Allgemeingut  gewordenen  Wahrheiten; 
eigenartige  Zusammenstellungen  und  Gruppierungen,  wie 
sie  Walther  Rathenau  mit  so  besonderer  Meisterschaft  zu 
finden  weiß,  werden  diesen  Wahrheiten  einen  neuen  Wert 
unter  seiner  Feder  geben.  Und  an  seinem  Sinn  fürs 
Reale  kann  wohl  niemand  zweifeln!  So  kühn  auch  immer 
die  Neuerungen  erscheinen  mögen,  die  Walther  Rathe- 
nau plant,  gleichwohl  müssen  wir  ihm  glauben,  daß  er  nie- 
mals die  Grenzen  der  Möglichkeiten  überschreiten  würde, 
die  uns  die  umgebende  Wirklichkeit  bietet.  Die  Be- 
geisterung des  Propheten  wird  von  der  Erfahrung  des  im 
praktischen  Leben  stehenden  Mannes  gehalten,  der  den 
Wert  der  Dinge  kennt  und  in  jedem  Augenblicke  aus 
ihnen  den  besten  Gewinn  zu  ziehen  versteht.  Häufig  be- 
gegnet uns  die  lebendige  Flamme  des  Apostels,  doch  nie- 
mals zerstörender  Jähzorn  und  selten  Verachtung  oder 
Ironie.  Wohl  aber  sehen  wir  immer  bei  ihm  ein  reli- 
giöses Streben  nach  einer  vollkommeneren  Zukunft,  ohne 
darum  sein  Gerechtigkeitsgefühl  für  die  Gegenwart  und 
die  Vergangenheit  zu  verlieren,  von  denen  so  manche 
Elemente  gar  nicht  so  übel  sind  und  sich  vielleicht  sogar 
nützlich  und  ersprießlich  verwenden  lassen.  Er  will  nicht 
sowohl  die  unreinen  Götzenbilder  niederreißen  als 
vielmehr  allmählich  durch  wahre  Gottheiten  ersetzen,  zu 
denen  die  Verehrung  der  besser  geleiteten  Gläubigen  auf- 
steigen soll.  Er  folgt,  wo  er  irgend  kann,  dem  Rate,  den 
er  selbst  jedem  Propheten  gibt:  ,,daß  der  Fuß  nie  den 
Boden,  das  Auge  die  Gesteine  nie  verliere2)". 


l)  M.  II.  S.  21,  Sep.-Ausg.  S.  23.      s)  D.  III.  S.  27,  Sep.-Ausg.  S.  24. 
60 


Kapitel  IL 

Die  „Mechanisierung" 

Der  Hauptgegenstand  von  Walther  Rathenaus  Wer- 
ken ist  die  Reform  der  gegenwärtigen  sozialen  Ordnung- 
So  ist  denn  auch  natürlich  seine  erste  größere  Schrift,  die 
den  Titel  führt  „Zur  Kritik  der  Zeit.  Mahnung 
und  Warnun  g,"1)  dem  Studium  dieser  Ordnung,  der 
Erklärung  der  Unzulänglichkeiten,  die  einstimmig  an  ihr 
festgestellt  werden,  und  der  Möglichkeit  der  Abhilfe  ge- 
widmet. 

Nach  ihm  läßt  das  soziale  Problem  sich  folgender- 
maßen stellen:  „Durch  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts"  — 
gerade  das  Jahr  1850  scheint  gut  hierfür  gewählt  werden 
zu  können  —  ..geht  ein  tiefer  zeitlicher  Einschnitt.  Jen- 
seits geht  alte  Zeit,  altmodische  Kultur,  geschicht- 
liche Vergangenheit,  diesseits  sind  unsere  Väter  und  wir, 
Neuzeit,  Gegenwart.  Die  drei  Geschlechter  —  die  unserer 
Väter,  unsere  eigenen  und  noch  die  unserer  Kinder  — ,  die 
seit  1850  aufeinander  gefolgt  sind,  begreifen  wir  in  ihrer 
nicht  mehr  unterbrochenen  Gleichförmigkeit  und  ver- 
stehen sie  in  ihrem  Charakter;  sie  sind  unstet  und  ge- 
sellig, «prunghaft,  gedankenbegierig  und  sehnsüchtig, 
interessiert,  kritisch,  strebend  und  tastend.  Jenseits  des 
Zeitalters  jedoch,     bis  in  die   Anfänge   des   abgelaufenen 


l)  Gerhart  Hauptmann  gewidmet,  demselben  grossen  deutschen  sozialen 
Dichter,  dem  auch  die  schon  wiederholt  in  den  Anmkg.  herangezogene 
deutsche  Ausgabe  von  Ch.  Richets  manche  der  Rathenauschen  Ideen 
künstlerisch  behandelnden  Fabeln  gewidmet  ist.    (Bearbeiter.) 


Jahrhunderts,  erblicken  wir  die  Ausläufer  des  älteren  Ge- 
schlechtes: seßhafte  Menschen,  die  auf  Ererbtem  be- 
ruhen, von  handgefertigten  Werken  umgeben,  im  Wech- 
selkreis der  Tradition  ihr  Leben  erfüllend1)".  Von  der- 
artigen Menschen  finden  wir  noch  einige  Typen  in  den 
fernen  Landstrichen  Holsteins  und  auch  wohl  der  Nord- 
schweiz. Und  es  scheint  uns  nicht,  als  ob  die  letzten  Ge- 
schlechter bis  1850  durch  so  wesentliche  Unterschiede 
von  allen  voraufgegangenen  getrennt  sind. 

Ebenso  sind  wir  andererseits  erstaunt,  welche 
Gleichförmigkeit  die  Neuzeit  charakterisiert.  Alle  Städte 
gleichen  sich  in  ihren  Straßen  und  Häusern,  ihren  Schie- 
nen und  Drahtnetzen.  Ursprünglichkeit  besteht  nur  noch 
in  den  aus  der  alten  Zeit  noch  immer  erhaltenen  Denk- 
mälern. Nicht  mindere  Einförmigkeit  begegnet  im  Gei- 
stigen und  im  Sittlichen.  Von  einem  Lande  zum  anderen 
tauschen  sie  ihre  Launen,  Moden,  Leidenschaften,  Zeit- 
vertreibe, ihre  Vergnügungen,  Freuden  und  Künste,  ihre 
Wissenschaften  und  Werke  aus.  In  verschiedenen  Zun- 
gen sprechen  die  Gedanken  aller  Länder  die  gleiche 
Sprache,  und  das  in  dem  gleichen  Augenblicke,  wo  jeder 
bekennt,  nichts  so  zu  schätzen  wie  die  örtliche,  nationale 
und  persönliche  Originalität.  Man  kommt  dazu,  sich  zu 
fragen,  ob  es  möglich  ist,  daß  die  Menschen  der  Vergan- 
genheit, so  wie  sie  uns  die  Geschichtsschreiber  geschildert 
oder  die  Maler  dargestellt  haben,  wirklich  einmal  gelebt 
haben.  Taziteische  Germanen!  Diese  idealen  Figuren 
von  Urmenschen!  Menschen  von  demutsvollem  Stolz, 
von  kluger  Treue,  von  furchtlosem  Glauben,  von  kraft- 
voller Zartheit.  In  den  Straßen  unserer  Großstädte  tref- 
fen wir  Menschen  dieses  Schlages  nicht  mehr.  Aber  es 
finden  sich  noch  in  gewissen  abgelegenen  Provinzen  Men- 
schen, ja  Stämme,  welche  die  antiken  Schilderungen 
rechtfertigen  und  retten.     Wo  wir  sie  treffen,  —  mag  es 


l)  K.  I.  S.  6,  Sep.-Ausg.  S.  13. 
62 


sich  um  einfache  Bauern  oder  wohlhabendere  Städte  han- 
deln — ,  da  erkennen  wir  auch  die  dereinst  immer  wieder 
gefeierten  Eigenschaften,  die  aus  unseren  Tagen  ge- 
schwunden zu  sein  scheinen. 

„Was  ist  nun  im  Laufe  dieser  Jahrhunderte  geschehen? 
Was  hat  die  Menschen,  ihre  Leiber,  ihre  Seelen  so  ge- 
wandelt? Was  hat  ihren  Geist  ergriffen,  um  durch  ihn 
die  Welt  so  gänzlich  umzugestalten  und  diese  umgestal- 
tete Welt  rückgewandt  auf  Geister  und  Seelen  wirken  zu 
lassen?  Gibt  es  ein  Zentralphänomen  als  Ursprung  und 
Achse  dieser  neuen  Zeit  und  Welt,  die,  was  man  auch 
von  Wiederkehr  der. Dinge  sagen  mag,  schlechthin  ohne 
Vorbild  und  Gleichung  uns  umgibt  und  beherrscht1)?" 
Die  Erkenntnis  dieser  Urkraft  würde  uns  eine  genauere 
Vorstellung  von  Wesen  und  Zusammenhang  der  Moderne 
gewähren  und  uns  am  Ende  gar  die  Richtung  ihrer  Ent- 
wicklung fühlbar  machen. 

Es  ist  schon  zu  wiederholten  Malen  der  Versuch  ge- 
macht worden,  eine  Erklärung  dieser  Tatsachen  zu 
geben.  Als  Ursachen  dieser  Umgestaltung  sind  bezeichnet 
worden:  gewisse  Kriege,  die  großen  Entdeckungen  des 
15.  und  des  16.  Jahrhunderts,  die  Fortschritte  der  Wis- 
senschaft, der  Kalvinismus,  das  Judentum,  das  Streben 
nach  Luxus,  der  Frauendienst,  die  Verpreußung  und  der 
Kapitalismus.  Aber  das  sind  nur  ganz  unzulängliche  Er- 
klärungen. Die  Ursache  der  Herkunft  der  neuen  Zeit,  so 
heißt  es  meistens,  ist  in  der  Entwicklung  des  Verkehrs  zu 
suchen.  Woher  kommt  aber  der  Verkehr?  Von  der  Ma- 
schine. Und  die  Maschine?  Von  den  Fortschritten  der 
Technik.  Und  die  Technik?  Sie  ist  angewandte  Wissen- 
schaft. Und  woher  kommen  die  modernen  Wissenschaf- 
ten empor?  Sie  leiten  ihren  Ursprung  aus  der  Scholastik. 
Und  so  löst  ein  Rätsel  das  andere  ab,  bis  man  schließ- 
lich auf  Adam  und  Eva  zurückkommt.     Handelt   es  sich 


l)  K.  1.  S.  18,  Sep.-Ausg.  S.  20. 


aber  bei  einer  derartigen  Lösung  der  Frage  nicht  einfach 
um  eine  Verwechslung  von  Kontinuität  mit  Kausalität, 
von  Wirkung  mit  Ursache?  Wenn  es  auch  wahr  sein  wird, 
daß  das  Organ  die  Funktion  fördert,  so  bleibt  es  darum 
doch  nicht  weniger  wahr,  daß  zunächst  die  Funktion  das 
Organ  geschaffen  hat.  Die  Massenherstellung  durch  die 
Maschine  regt  sicher  zum  Verbrauch  an,  aber  darum  ist 
die  Maschine  gleichwohl  zu  dem  Zweck  erfunden  worden, 
die  gestiegenen  Bedürfnisse  des  Verbrauches  zu  befriedi- 
gen. Es  gilt  also,  sich  schon  um  eine  tiefere  wirkliche  Ur- 
sache zu  bemühen. 

Wenn  wir  zu  der  geschichtlichen  Periode  zurückkeh- 
ren, die  etwa  mit  dem  Jahre  1850  abschließt,  so  werden 
wir  zwei  bedeutsame  Tatsachen  anzuführen  haben.  Die 
Bevölkerung  aller  Länder  teilte  sich  damals  scharf  in 
Adlige  und  Bürgerliche;  die  Länder  waren  von  Stämmen 
bewohnt,  von  denen  wir  wenig  wissen,  bis  sie  von  Ger- 
manen erobert  wurden,  die  der  Urbevölkerung  in  ihrem 
gesamten  Wesen  überlegen  waren  und  sich  als  Herren 
und  Gebieter  festsetzten.  Physische  und  moralische  Un- 
terschiede machten  aus  den  Siegern  und  den  Besiegten 
zwei  getrennte  Schichten.  Die  Angehörigen  der  Unter- 
schicht, die  Hörigen,  ,,sind  klein  von  Gestalt,  ihr  Haar  ist 
kurz,  kraus  und  von  dunkeler  Farbe;  deshalb  mußte  der 
Freie  in  allen  Ländern  das  blonde  Haupthaar  lang  und 
schlicht  um  den  Scheitel  wallen  lassen.  Bis  in  die  neuere 
Zeit  hinein  zeigen  die  älteren  bildlichen  Darstellungen 
von  Bauern,  Hörigen  und  Verbrechern  die  gleichen  Züge: 
runde  Schädel,  breite  Gesichter,  kurzaufgestülpte  Nasen, 
kurze,  gedrungene  Glieder1)".  Auch  heute  noch  immer  ist 
die  Realität  und  der  Fortbestand  dieser  physischen  Ver- 
schiedenartigkeit zu  erkennen.  Die  Adeligen  fühlten  sich 
zur  Jagd  und  zum  Waffenhandwerk  hingezogen,  ans  Be- 
fehlen  gewöhnt,   wenig   umgänglich   und  mit   verfeinerten 

\)  K.  I.  S.  30,  Sep.-Ausg.  S.  33. 

64 


Interessen  unbekannt.  Von  der  Arbeit  wollten  sie  nichts 
wissen.  Ihr  ritterliches  Ideal  mündete  in  die  beiden 
Worte:  Ehre  und  Mut.  „Handfestigkeit,  schlaue  Künste  und 
feiger  Sinn  waren  stets  das  Erbteil  der  Dunkelwesen1)/' 
so  wie  „die  Eigenschaften  aller  Schwachen,  Unter- 
drückbaren und  Unterdrückten  Zähigkeit  und  Anpassung, 
Schlauheit  und  Voraussicht  waren2)". 

Wir  stellen  andererseits  fest,  daß  die  Herrschaft  des 
Adels,  nachdem  sie  sich  mehrere  Jahrhunderte  fast  un- 
versehrt erhalten  hat,  immer  mehr  ihrem  Niedergang  ver- 
fallen ist.  Warum?  Er  stellte  nur  eine  gegenüber  dem 
niederen  Volke  zahlenmäßig  ganz  schwache  Auslese  dar. 
Die  Streitigkeiten,  die  Kriege,  das  Verbot  unstandesge- 
mäßer Ehen  hinderte  ihn,  seine  Zahl  zu  vermehren.  Um- 
gekehrt nahmen  die  anderen  unablässig  zu,  durch  die  ge- 
waltigen Landerschließungen  vermittels  Roden  und  Urbar- 
machen, durch  Erfindungen  und  Entdeckungen  begünstigt. 
Es  entstanden  noch  immer  mehr  Bauern  als  Kriege  und 
Seuchen  vernichten  konnten.  Die  Verbreitung  der 
christlichen  Lehren  des  Leidens  und  des  Verzichtens 
hob  die  Bauern  moralisch  zum  Schaden  des  Adels. 
Hieraus  ergibt  sich  ein  gründlicher  Umschwung  in 
allen  Ländern  Europas.  Die  hier  ursprünglich  so  dünn 
gesäten  Volksmassen  werden  immer  dichter.  Neue  Be- 
dürfnisse, die  von  neuen  Organismen  ausgehen,  treten  in 
die  Erscheinung.  Das  Gleichgewicht  der  sozialen  Kräfte 
ist  gebrochen.  Die  Bauern,  die  schon  immer  die  geistige 
Ueberlegenheit  besessen  und  allmählich  noch  außerdem  die 
zahlenmäßige  Ueberlegenheit  gewonnen  haben,  machen 
nunmehr  dem  Adel  seine  Uebermacht  streitig.  Zwar  lei- 
stet er  Widerstand,  aber  seine  erschlafften  Hände  halten 
die  Zügel  nur  noch  mit  wachsender  Schwäche.  Der  Kampf 
ist  nicht  gleich  immer  blutig,  ja  auch  nur  bemerkbar,  doch 
darum  ist  er  nicht  weniger  ständig,  und  jedes  aufgedrängte 


■)  K.  I.   S.  30,     Sep.-Ausg.  S.  33.     *)  K.  I.    S.  33,    Sept.-Ausg.  S.  36. 

65 


oder  gewaltsam  entrissene  Zugeständnis  stärkt  die  Lage 
der  Unterschicht.  Bald  hat  sich  der  Adel  schon  nur  noch 
einen  äußeren  Schein  der  Macht  erhalten.  Eine  letzte 
Kraftanstrengung,  und  der  tobende  Aufruhr  der  Massen 
durchbricht  die  dünne  Schale,  die  sie  zusammenschloß. 
Der  Adel  wird  von  den  Massen  aufgesogen.  Diese  Um- 
schichtung vollendet  sich  in  Italien  vom  15.  bis  zum  16. 
Jahrhundert,  in  England  und  den  Niederlanden  im  16. 
17.  Jahrhundert,  im  18.  Jahrhundert  in  Frankreich  und  im 
19.  Jahrhundert  in  Deutschland,  wo  sie  noch  nicht  voll- 
endet ist. 

Dieser  Doppelerscheinung  entspricht  eine  Doppel- 
wirkung. ,,Die  Vernichtung  schafft  sich  in  der  sichtbaren 
Welt  ihre  Kompensation,  die  ich  Mechanisierung 
nennen  will,  und  die  darauf  hinzielt,  einem  übervölkerten 
Planeten  die  Möglichkeit  der  Subsistenz  und  Existenz  un- 
geahnter Menschenschwärme  abzuringen;  die  Umlagerung 
spricht  sich  in  der  geistigen  Verfassung  unserer  Völker 
als  Entgermanisierung  aus,  die  ein  neues,  für  die 
Aufgaben  der  Mechanisierung  seltsam  geeignetes  Men- 
schenmaterial erschaffen  hat1)."  ,, Zwischen  diesen  beiden 
Erscheinungen  besteht  eine  doppelte  zum  Kreislauf  ge- 
schlossene Kausalverbindung:  die  Verdichtung  brachte  den 
Rassenwechsel  hervor,  und  der  Rassenwechsel  allein 
konnte  die  Voraussetzungen  der  entfesselt  fortschreiten- 
den Verdichtung  schaffen2)."  Der  germanische  Adel  mit 
seinen  Herreneigenschaften  war  unfähig,  diesen  Prozeß 
der  Mechanisierung  heraufzuführen,  während  derselbe 
spontan  aus  den  Fähigkeiten  oder  Gewohnheiten  der 
Hörigen,   dieser  Sklavenmenschen,   hervorging. 

Wie  aber  hat  der  Mechanisierungsprozeß  eine  so 
gründliche  Umbildung  des  gesamten  Daseins  der  Men- 
schen zur  Wirkung  haben  können?     Wir  werden  uns  dar- 


J)  K.  I.  S.  36-37.  Sep.-Ausg.  S.  39-40.    *)K.  I.S.  89,  Sep.-Ausg.  S.  95 
66 


über  Rechenschaft  zu  geben  vermögen,  wenn  wir  die  Ver- 
änderungen studieren,  die  dieser  Prozeß  in  der  industri- 
ellen Gütererzeugung,  in  der  persönlichen  Tätigkeit  und 
im  sozialen  Leben  hervorgerufen  hat. 

Zunächst  die  Gütererzeugung.  Drei  Faktoren  tragen 
in  Wirklichkeit  zum  Unterhalte  des  Daseins  der  Mensch- 
heit bei:  die  menschliche  Arbeit,  die  bewohnbaren 
Landstrecken  der  Erde  und  die  Menge  der  vorhandenen 
Rohstoffe.  Der  Ertrag  der  beiden  ersteren  ist  beschränkt. 
Hingegen  sind  die  materiellen  Hilfsquellen  tatsächlich  un- 
erschöpflich. Mit  dem  Tage  also,  an  dem  sich  die  Be- 
völkerung vermehrt,  wird  es,  wenn  sie  nicht  entweder 
zu  dem  verruchten  und  verhängnisvollen  Systeme  von 
Malthus  oder,  wie  es  noch  die  Bewohner  der  Erde  im 
Altertum  machen  konnten,  zu  Massenauswanderungen 
ihre  Zuflucht  nehmen  will,  es  bei  dem  konstanten  Cha- 
rakter der  beiden  ersten  Faktoren  einfach  zur  zwingen- 
den Notwendigkeit  eine  immer  intensivere  Ausbeutung 
der  natürlichen  Hilfsquellen  zu  betreiben.  Es  gelingt  das 
dank  gewisser  Vorgänge,  die  das  eigentliche  Wesen  des 
Mechanisierungsprozesses  ausmachen,  nämlich  der  Ar- 
beitsteilung und  "der  Massenarbeit,  dem  streng  organisier- 
ten Warenumsätze  und  der  ständigen  Vervollkomm- 
nung der  Technik. 

Unter  diesem  Drucke  hat  die  Gütererzeugung  mit 
ihren  Tausenden  an  allen  Punkten  der  Erde  angebrachten 
Fühlern,  mit  ihren  Tausenden  von  Verkehrswegen  und 
Schiffen,  die  die  Rohprodukte  in  ihrer  späteren  Verarbei- 
tung bringen,  sammeln,  fortschaffen  und  verteilen,  eineAus- 
dehnung  und  eine  Leistungsfähigkeit  erreicht,  wie  sie  sich 
die  Phantasie  kaum  vorzustellen  vermag.  Der  Mensch 
hat  in  unerhörter  Weise  den  Vertrieb  der  natürlichen 
Hilfsquellen  beschleunigt  und  sogar  die  Felder  gezwun- 
gen schnellere  und  zehnmal  so  reiche  Ernten  zu  liefern 
als  sie  jemals  die  Vergangenheit  aufzuweisen  hatte.     Da- 

l 


mit  es  schneller  gehe,  arbeitet  die  Maschine  an  Stelle 
seiner  Hände.  Sie  erzeugt  unermüdlich  und  drängt  zum 
Verbrauche,  der  seinerseits  zu  seiner  eigenen  Befriedi- 
gung neue  Maschinen  schafft.  Sie  erweckt  den  Trieb  zum 
Neuen,  die  Neigung  zum  Luxus  und  das  Verlangen 
nach  Besitz;  es  kostet  dem  Menschen  nicht  viel,  immer 
mehr  zu  fabrizieren,  und  das  neue  ist  oft  weniger  kost- 
spielig als  die  Reparatur;  es  kostet  ihm  nicht  viel  ver- 
schönernde Verzierungen  hinzuzufügen,  und  die  niedrigen 
Preise  haben  bewirkt,  daß  so  manches  bescheidene  oder 
arme  Haus  zu  Berlin  mehr  Möbel  und  Einrichtungsgegen- 
stände jeder  Art  enthält  als  die  Paläste  der  griechischen 
Könige.  Der  von  der  Maschine  mit  dem  Minimum  von 
Rohstoff  und  dem  Maximum  von  Vereinfachung  herge- 
stellte Gegenstand  ermüdet  seinen  Besitzer  schnell  und 
verschlechtert  sich  nicht  weniger  schnell  an  der  gleichen 
Stelle,  wo  der  aus  den  Händen  des  einstigen  Handwer- 
kers hervorgegangene,  nach  Regeln  und  nicht  nach 
mathematischen  Formeln  aus  wegen  ihrer  nicht  unbeding- 
ten Reinheit  mannigfach  schattierten  Stoffen  liebevoll 
bearbeitete  Gegenstand  gleichsam  als  ein  lebendiges 
Wesen  erfreute  und  ohne  sich  zu  verschlechtern  alt 
wurde.  Ein  Teil  der  Gegenstände,  die  die  Maschine  er- 
zeugt, werden  nicht  unmittelbar  verbraucht,  sondern  wer- 
den erst  mittelbar  in  Form  neuer  Konstruktionen  wissen- 
schaftlichen oder  künstlerischen  Instituten  für  die  weitere 
Entwickelung  der  Gütererzeugung  ihre  Dienste  leisten. 
So  hat  das  Bedürfnis  Produktion  hervorgerufen,  und  regt 
diese  umgekehrt  wieder  das  Bedürfnis  an;  das  heißt  mit 
anderen  Worten,  sie  ist  zum  Selbstzweck  geworden. 

Seinerseits  mußte  nun  der  Besitz  selbst  mechanisiert 
werden.  Sein  Zweck  war  jetzt  nicht  mehr  dem  Besitzer 
die  Mittel  zur  Erhaltung  seines  Daseins  zu  geben,  sondern 
cTas  neue  Spiel  der  Produktion  möglich  zu  machen  und  in 
diesem  sich  abrollenden  großen  Drama  seinen  Text  zu 
liefern,  seine  Inszenierung  und  die  Verteilung  der  zu  ihm 

68 


gehörigen  Rollen  zu  überwachen.  „Der  Besitz  mußte  bis 
ins  kleinste  teilbar,  bis  zum  Größten  anhäufbar,  er  mußte 
beweglich,  austauschbar,  fungibel  werden1)."  Den  mecha- 
nisierten Besitz  nennen  wir  Kapital.  Seine  Erscheinungs- 
form nun,  der  Kapitalismus  wird  fraglos  immer  verschärf- 
tere  Formen  annehmen.  „Schon  jetzt  ist  die  Mechanisie- 
rung des  Besitzes  so  weit  vorgeschritten,  daß  das  Kapital 
auffallende  Analogien  mit  dem  Aggregatzustand  der  Flüssig- 
keiten aufweist  und  daher  innerhalb  gewisser  Grenzen 
den  Gesetzen  der  Hydrostatik  und  Hydrodynamik  folgt. 
Diese  Verflüssigung  ist  geschaffen  worden  durch  eigen- 
artige Zirkulationsformen,  die,  von  verschiedener  Her- 
kunft und  Geschichte,  sich  allmählich  sozusagen  zu  Münz- 
sorten des  Kapitalverkehrs  ausgebildet  haben.  Als  Zir- 
kulationsform des  Grundbesitzes  kann  man  die  Hypothek, 
den  Pfandbrief  und  die  Obligation  bezeichnen,  als  Zirku- 
lationsform der  Waren  den  Wechsel,  als  Zirkulationsform 
des  Arbeitswertes  die  Aktie,  als  Zirkulationsform  der  Ge- 
samtwirtschaft die  öffentliche  Anleihe,  als  Zirkulations- 
form des  unspezialisierten  Vermögensanspruchs  das  Bank- 
guthaben und  die  Banknote2)."  ,,In  Gestalt  der  Zirkula- 
tionsformen häufen  sich  die  Vermögensbestände  in  zen- 
tralen Behältern,  aus  denen  sie  gesammelt  oder  verteilt 
den  Bestimmungen  zugeführt  werden3)." 

„Der  Organisation  des  Besitzes  steht,  nicht  minder 
mächtig,  wechselseitig  sie  stützend  und  von  ihr  gestützt, 
eine  zweite  Organisation  gegenüber,  die  Organisation  des 
Staates.  In  ihr  kämpft  seit  unvordenklichen  Zeiten  das 
mystische  mit  dem  mechanischen  Prinzip,  das  erste  be- 
rufen, Herkommen  und  Ziele  zu  festigen,  das  zweite  von 
den  wachsenden  Aufgaben  und  Sorgen  des  Augenblicks 
emporgetragen.  Die  mystische  Stärke  des  Staates  lag  in 
seiner  uralten  Verbindung  mit  Religion  und  Kult.     Aber 


>)  K.  I.   S.  61,   Sep.-Ausg.   S.  66.    *)  K.   I.   S.  62,   Sep.-Ausg.   S.  67. 
8)  K.  l.  S.  63,  Sep.-Ausg.  S.  68. 

69 


bald  war  der  Stützpunkt  der  Religion  vom  Unbedingten, 
Ueberirdischen,  ins  Bedingte,  Utilitaristische  verlegt;  der 
religiöse  Staat  war  ein  Sakrament,  der  Verwaltungsstaat 
ist  eine  Institution1)."  „Das  erschütterndste  Umsturzwort, 
das  je  aus  königlichem  Munde  kam,  sprach  Friedrich  der 
Große,  indem  er  den  Herrscher  als  Staatsdiener  defi- 
nierte. Nicht  in  der  Offenbarung  preußischer  Sachlich- 
keit und  Pflichtbewußtheit  lag  das  Entscheidende  dieses 
Wortes,  sondern  vielmehr  darin,  daß  das  Königtum  vom 
Mysterium,  der  Staat  vom  mystischen  Königtum  los- 
gebunden wurde,  und  daß  nunmehr  der  Staat  nach  Auf- 
fassung des  königlichen  Freigeistes  zwar  als  höchste  Ein- 
richtung, immerhin  aber  nur  als  Einrichtung  der  Nützlich- 
keit und  Wohlfahrt  und  als  Menschenwerk  dastand.  Dies 
hindert  nicht,  daß  gerade  unsere  Zeit,  und  zwar  nicht 
bloß  im  feierlichen  und  festlichen  Verkehr,  die  mystische 
Seite  des  Staates  und  der  Staatsautorität  zu  betrachten 
liebt.  Auch  wäre  es  durchaus  verkehrt,  den  Staat  als 
eine  Uebergangsform  anzusprechen,  die  geradenwegs  zur 
Aktiengesellschaft  höherer  Ordnung  führt.  Noch  immer 
schöpft  er  seine  stärkste  Lebenskraft  aus  absoluten  Wer- 
ten und  Notwendigkeiten.  Er  bleibt  der  Garant  der  Na- 
tionalität, des  Rechtes  und  der  Ordnung;  das  Jahrhundert 
der  Rationalisierung  hat  ihm  überdies  als  Ersatz  der 
schwindenden  Mystik  den  Schutz  der  Religionen,  der  Er- 
ziehung, der  Wissenschaft  und  Kunst  übertragen.  — 
Staatliche  Unternehmungen  des  Verkehrs,  der  Industrie 
und  des  Handels,  mögen  sie  als  notwendige  Funktionen 
angesehen  werden  oder  nicht,  entspringen  und  dienen  der 
Mechanisierung.  —  Die  staatliche  Finanzwirtschaft  be- 
ruht, soweit  sie  Einnahmen  schafft,  auf  mechanisierter 
Wirtschaft  und  schließt  sich  ihr  aufs  engste  an.  —  Es 
bleiben,  wenn  man  von  allgemeiner  Repräsentanz  ab- 
sieht, die  integrierenden  Funktionen  des  Staates:  äußere 


»)  K.  I.  S.  64,  Sep.-Ausg.  S.  69. 

70 


Politik  und  Landesverteidigung,  Gesetzgebung  undRechls- 
schutz1)."  „Den  heutigen  Staat  als  eine  bewaffnete  Pro- 
duktionsvereinigung auf  nationaler  Grundlage  hinzu- 
stellen, wäre  vielleicht  verfrüht;  ihn  als  eine  mystische  In- 
stitution oberhalb  der  mechanisierten  Wirtschaft  und  Ge- 
sellschaft zu  betrachten,  sicherlich  verspätet2)." 

„Selbst  solche  Lebensgebiete,  die  von  materiellen 
Zielen  und  Einwirkungen  losgelöst  erscheinen,  wie  Reli- 
gion und  Wissenschaft,  haben  sich  mechanistische  Um- 
formungen gefallen  lassen  müssen.  Es  ist  hier  nicht  der 
Ort,  zu  entwickeln,  wie  die  in  Kirchen  verkörperten  Reli- 
gionen mit  wachsender  Gebietsausdehnung  und  Bekenner- 
zahl sich  zu  Betrieben  ausgestalteten,  wie  sie  lernten, 
durch  stillschweigende  wechselseitige  Duldung  ihrem 
innersten  Wesen  das  schwere  Opfer  der  Arbeitsteilung 
zuzumuten,  wie  sie  hierarchisch,  finanziell,  bürokratisch 
und  geschäftlich  ihre  Verwaltungskörper  auszubauen  ge- 
zwungen waren,  wie  sie  propagandistisch  konkurrieren,  ja 
selbst  mit  Gegnern  über  Teilung  der  Gebiete,  man  möchte 
sagen:  des  Absatzes,  sich  verständigen  mußten.  Der  Welt- 
betrieb der  Wissenschaften  mit  seinen  peinlich  respek- 
tierten Gebietsabgrenzungen,  seinem  hochentwickelten 
Informationswesen,  seinem  großindustriell  angelegten  La- 
boratoriumsbetrieb, seinen  Verbänden  und  Kongressen  ist 
genügend  bekannt  und  gerühmt,  um  eine  Vertiefung  in 
seine  Mechanisierungsform  entbehrlich  zu  machen3)." 

So  spannen  mechanisierte  Organisationen  ihre  viel- 
fachen unsichtbaren  Netze  über  jeden  Fußbreit  Erde.  Hier 
und  da  war  eine  Masche  sichtbar,  die  jedem  Mitgliede  der 
menschlichen  Gesellschaft  verfänglich  werden  kann. 
Nicht  bloß  Verkehrsmaschen,  sondern  zahllose  Bindun- 
gen jeder  Art.  Auf  allen  Seiten  lasten  die  Verpflichtun- 
gen auf  dem  einzelnen,   der  einfach  nicht  darum  herum- 


')  K.  I.  S.  65-67,  Sep.-Ausg.  S.  70—72.    =)  K.  I.  S.  68,  Sep.-Ausg.  S.  73. 
s)  K.  I.  s.  68    69,  Sep.  Ausg.  S.  73-74. 

71 


kommt,  eine  Stellung,  ein  Amt  oder  einen  streng  umgrenz- 
ten Beruf  zu  haben.  Jeder  ist  Soldat,  Wähler,  Arbeit- 
nehmer oder  Arbeitgeber,  Mieter  oder  Wirt,  Angestellter, 
Mitglied  des  und  des  Verbandes,  der  und  der  Vereinigung. 
In  allen  zivilisierten  Staaten  ist  kein  Handwerk  schwieri- 
ger als  das  des  Einsiedlers;  denn  niemand  entrinnt  seinen 
Verpflichtungen  und  seinem  Berufe.  Dieser  Umstand  hat 
aber  nun  eine  starke  Gleichmacherei  der  einzelnen  zur 
Folge.  Wenn  sich  die  Menschen  beständig  aneinander 
reiben,  schleifen  sich  die  Ecken  ab,  und  jeder  einzelne 
nimmt  ein  wenig  die  Eigenschaften  und  die  Kenntnisse 
der  anderen  in  sich  auf.  Und  die  Arbeitsteilung,  statt, 
wie  vielleicht  erwartet  werden  könnte,  diesem  Streben 
Einhalt  zu  tun,  verstärkt  es  nur  noch  mehr;  dieser  ist  An- 
walt und  jener  Arzt,  doch  das  macht  weit  weniger  aus 
als  die  Tatsache,  daß  sie  sich  alle  gleicher  Denk-  und  Ar- 
beitsformen bedienen;  die  annähernde  Gleichwertigkeit 
der  Einkommen  wirkt  entscheidender  als  die  Verschieden- 
heit der  Quellen,  aus  denen  sie  fließen.  Die  Mechani- 
sierung der  Arbeit  wirkt  in  dem  gleichen  Sinne  insofern 
als  sie  unaufhörlich  den  Anteil  persönlicher  Initiative 
vermindert  und  scheinbar  recht  verschiedenartige  Pro- 
bleme stellt,  die  aber  in  Wahrheit  immer  nach  den 
gleichen  Regeln  zu  lösen  sind:  also  etwa,  wie  in  einem 
Buche  mit  algebraischen  Aufgaben  das  hochgemute 
Auftreten  von  Wasserstrahlen,  Schnelläufern  und  ren- 
nenden Schuljungen  nur  eine  wechselnde  Umschrei- 
bung der  nämlichen  einfachen  Gleichungsformel  bedeutet. 
In  dem  gleichen  Sinne  wirkt  auch  noch  der  beständig 
wachsende  Volkswohlstand,  der  sich  namentlich  in 
Deutschland  seit  1870  bemerkbar  gemacht  hat. 

Wichtiger  als  diese  Einförmigkeit  ist  eine  andere 
Wirkung  der  Mechanisierung.  Wenn  zugegebenermaßen 
auch  der  allgemeine  Volkswohlstand  gewachsen  ist,  so 
doch  nicht  in  dem  gleichen  Verhältnisse  mit  manchem  Ver- 
mögen.    Die  Reichen  haben  allmählich  eine  einflußreiche 

72 


Klasse  ins  Leben  gerufen.  Sie  haben  sich  nun  besonders 
in  Deutschland  einem  Ueberreste  der  alten  Feudalordnung 
gegenübergesehen,  jener  Adelskaste,  die  dadurch,  daß  sie 
sich  fest  an  die  Landwirtschaft  geklammert  und  die  Unter- 
stützung der  bedenklich  gewordenen  Herrscher  erhalten 
hat,  sich  einen  Teil  ihrer  alten  Macht  weiter  zu  wahren 
verstand.  Zwar  sind  manchmal  diese  beiden  Schichtungs- 
systeme an  einander  geraten,  doch  noch  öfter  haben  sie 
sich  verständigt,  um  in  Gemeinschaft  dem  Proletariat  eine 
geradezu  unübersteigliche  Schranke  in  den  Weg  zu  legen. 
Trotz  seiner  Bemühungen  und  materiellen  Eroberungen 
hat  das  Proletariat  noch  immer  den  Schimpf  eines  quä- 
lenden physischen,  intellektuellen  und  moralischen  Zu- 
rückstehens hinter  allen  anderen  zu  ertragen. 

Das  Privatleben  hat  nicht  weniger  tiefe  Einwirkungen 
erfahren.  Welcher  Abstand  zwischen  dem  einstigen  in 
so  enger  Fühlung  mit  der  Natur  stehenden  unwissenden 
und  beschaulichen  patriarchalischen  Dasein  und  dem, 
das  die  heutigen  Menschen  führen.  Schule,  Reisen  be- 
lehren sie;  sie  sehen  in  einer  einzigen  Straße  der 
Stadt  mehr  Reichtümer  und  Wunder  als  Babylon,  Bagdad, 
Rom  und  Byzanz  jemals  besaßen;  die  allmorgenlich  er- 
scheinende Zeitung  verbindet  sie  mit  der  ganzen  Welt. 
Auch  bleibt  ihnen  mehr  Zeit  für  den  ruhigen  Genuß;  die 
heutigen  Menschen  schätzen  alles  ab,  klassifizieren  es 
und  gehen  lüstern  zu  immer  weiteren  Neuheiten  über.  Auf 
der  anderen  Seite  ist  die  Arbeit  nicht  mehr  eine  Funk- 
tion des  Lebens,  eine  Anpassung  von  Leib  und  Seele  an 
die  Naturkräfte,  sondern  vielmehr  eine  den  Menschen 
immer  fremde  Funktion,  ein  niemals  endenwollender 
Broterwerb.  So  geht  die  Achtung  vor  der  Autorität 
immer  mehr  verloren;  wenn  früher  der  Sohn  getreu  den 
Beruf  des  Vaters  wiederholte,  so  wußte  er,  daß  dieser 
mehr  Erfahrung  erworben  hatte,  als  diejenige  war,  über 
die  er  selbst  verfügte,  und  bat  ihn  darum  natürlich  um 
Rat;  in  unseren  Tagen  würde  der  Sohn,  der  nichts  an  den 

73 


Methoden  seines  Vaters  ändern  wollte,  unbarmherzig  zu- 
grunde gehen;  andere  Verfahrungsweisen  und  andere  Ge- 
schicklichkeiten sind  notwendig;  es  kommt  gegenwärtig 
ausschließlich  auf  den  Erfolg  an.  Konkurrenz  gibt  es  heute 
überall.  Seine  Geschäfte  anständig  zu  führen  und  sich 
auf  Beziehungen  zu  einigen  Lenkern  der  Geschicke  des 
Staates  berufen  zu  dürfen,  genügt  heutzutage  nicht  mehr; 
es  kommt  darauf  an,  mit  den  großen  Tagesfragen  selbst  im 
laufenden  zu  sein;  jedermann  ist  heute  gewissermaßen 
Staatsmann  und  hält  sich  für  geeignet,  seine  Meinung  über 
die  öffentlichen  Angelegenheiten  zum  Besten  zu  geben,  ja 
sogar  selber  Staatsgeschäfte  zu  verwalten.  Auch  der  Gang 
der  Arbeit  hat  sich  völlig  verändert;  immer  weniger  und 
weniger  Handarbeit,  muß  sie  während  ihrer  ganzen  Zeit 
das  Gehirn  in  Anspruch  nehmen.  Eine  ununterbrochene 
Spannung  des  Menschen  ist  auch  erforderlich,  um  in  seiner 
Tätigkeit  nichts  zu  vergessen  und  zu  versäumen.  Der 
Abend  kommt,  und  noch  nachzitternd  von  den  Erregun- 
gen des  Tages  verlangt  der  Geist,  anstatt  sich  auszuruhen, 
neue  nur  noch  brennendere  und  ätzendere  Eindrücke  zu 
erleben.  Die  gequälten,  unterdrückten  Sinne  sehnen  sich 
nach  Berauschung.  So  werden  die  Freuden  der  Natur 
und  Kunst  mit  Hohn  ausgeschlagen,  und  es  tritt  die  Jagd 
nach  den  kilometerfressenden  ,,A  utos"  und  den  sinn- 
losen „K  i  e  n  t  ö  p  p  e  n"  in  die  Erscheinung.  „Aber 
selbst  in  diesen  Tollheiten  und  Ueberzeugungen  liegt 
etwas  Maschinelles.  Der  Mensch,  im  Gesamtmechanis- 
mus Maschinenführer  und  Maschine  zugleich,  hat  unter 
wachsender  Spannung  und  Erhitzung  sein  Energiequan- 
tum an  das  Schwungrad  des  Weltbetriebes  abgegeben. 
Ein  rauschender  Motor  ist  kein  beschauliches  Arbeitstier, 
das  sich  unter  freiem  Himmel  weiden  läßt;  man  schmir- 
gelt ihn  ab,  schmiert  ihn,  feuert  den  Kessel,  und  schon 
stampft  der  eiserne  Fuß  mit  neuen  Kräften  seinen 
Zyklopentakt1)." 

»)  K;  I.  S.  88,  Sep.-Ausg.  S.  95. 

74 


Damit  nun  die  Besessenheit  des  Strebens  im  Men- 
schen nicht  erlahme,  bedarf  es  unerschöpflicher  Trieb- 
kräfte. Die  materiellen  Appetite,  Hunger  und  Liebe,  reichen 
nicht  aus,  und  die  ideellen  Moloren,  Pflicht,  Schaf- 
fensfreude, Wissensdrang,  lassen  sich  nicht  wissentlich  in 
den  Dienst  einer  materiellen  Weltordnung  stellen.  So 
mußte  die  banalste  und  rätselhafteste  aller  Leidenschaf- 
ten, der  Ehrgeiz,  ins  Ungemessene  gesteigert  werden.  Er 
ist  zunächst  das  Verlangen  nach  Genüssen,  dann  aber  weit 
mehr  noch  das  Streben  nach  Geltung,  nach  Anerkennung, 
Bewunderung,  Beneidung.  Dies  Streben  darf  nicht  ver- 
wechselt werden  mit  dem  dem  Schaffensdrang  verwand- 
ten Willen  zur  Herrschaft.  Die  Rätselhaftigkeit  des  Ehr- 
geizes besteht  gerade  in  seinem  Drang  zu  scheinen. 
Ebenso  rätselhaft  wie  dieser  abstrakte  Ehrgeiz  ist  der 
Sturz  in  die  Knechtschaft  der  fremden  Meinung  und  der 
wahnsinnige  Wille  zur  Abhängigkeit  von  derselben.  Diese 
Leidenschaft  ist  die  Leidenschaft  früherer  Sklaven,  die 
nun  ihre  Rache  an  ihren  früheren  Herren  zu  kühlen  stre- 
ben; sie  fürchten  ihre  Meinung,  wie  sie  zuvor  ihren  Zorn 
fürchteten  und  sie  suchen  sich  durch  äußere  Vorteile,  die 
sie  zu  gewinnen  in  der  Lage  sind,  einen  Wert  beizulegen, 
den  sie  nicht  in  ihrem  eigenen  Innern  zu  finden  vermögen. 
Aber  noch  ein  zweiter  Motor  ähnlicher  Art  muß  in  An- 
spruch genommen  werden:  der  Wunsch  nach  Besitz.  Die 
edleren  Rassen  und  Individuen  kennen  ihn  beinahe  über- 
haupt nicht,  oder  er  äußert  sich  bei  ihnen  höchstens  in 
der  Form  der  Freude  am  Ordnen,  Verwalten  und  Schaf- 
fen. Aber  hier  triumphiert  die  niedrigste  Form:  der  Hang, 
Gegenstände  zu  besitzen,  die  glänzen,  schmeicheln,  an- 
reizen oder  den  Ehrgeiz  kitzeln.  Die  Behauptung  ist 
keineswegs  übertrieben,  daß  ein  Drittel,  ja  vielleicht  die 
Hälfte  der  gesamten  Weltarbeit  an  die  Herstellung  sol- 
cher Gegenstände  gewandt  wird.  Dieser  wahre  Heiß- 
hunger nach  allerhand  Kinkerlitzchen  ist  zumal  bei  den 
Frauen  häufig.    Kurzum,  auf  jede  Weise  tragen  diese  bei- 


den  Motore  mehr  als  jedes  andere  Phänomen  dazu  bei, 

unserer   Zeit   ihr   Gepräge   aufzudrücken,     das  in   einer 

wesentlich   den   Aeußerlichkeiten   zugewandten  Tätigkeit 
besteht. 

Die  letzte  Folge  der  mechanistischen  Lebensform  ist 
endlich  die,  daß  sie  auf  allen  Gebieten  den  Begriff  des  von 
der  Menschheit  erstrebten  Ideals  verschoben  hat. 

Was  das  „leibliche  Ideal"  betrifft,  so  ist  es 
,,dem  griechischen  ähnlich,  aber  erheblich  schiankei,  weni- 
ger gerundet,  straffer  gemuskelt.  —  Vor  allem  das  Weib 
weniger  breitbrüstig  und  heroinenhaft,  zarter  und  jung- 
fräulicher. Zweifellos  ist  dieser  Idealtypus  den  über- 
lebenden germanischen  Naturen  entlehnt.  Die  Beibehal- 
tung des  germanischen  Körperideals  zeigt,  daß  das  Volk 
unbewußt  das  reinere  Germanentum  als  das  edlere  Blut 
betrachtet.  Im  Menschlichen  herrschen  die  alten  germa- 
nischen Idealbegriffe  des  Mutes  und  der  Großmut.  Der 
mutige  Kraftvolle  wird  bewundert  und  geliebt;  Verach- 
tung trifft  eigentlich  nur  den  Feigling.  Dagegen  beginnen 
ameiikansche  Menschen  des  Erfolges  den  Massen  zu  im- 
ponieren; mutige  Erfinder  und  Entdecker  werden  höher 
gefeiert  als  vordem  Kriegshelden.  Gleichzeitig  tritt  ein 
Gefühl  des  Mitleids  für  das  menschliche  Elend  sichtbar 
in  die  Erscheinung,  das  dem  Germanentume,  ja  sogar  dem 
Christentume,  das  in  ihm  nur  eine  himmlische  Prüfung 
sah,  noch  völlig  unbekannt  war1)."  Was  das  „religiöse 
Ideal"  betrifft,  so  haben  der  Katholizismus  und  die  Re- 
formation sich  schon  mit  dem  alten  germanischen  Geist 
abfinden  müssen,  da  sie  ihn  doch  nicht  völlig  zu  über- 
winden vermocht  haben.  Gewisse  Lehren  Jesu  Christi 
von  der  Liebe,  der  Weltflucht,  der  Demut,  der  Kindlich- 
keit, der  Zweckfreiheit,  dem  Gottesreich  sind  esoterisch 
geblieben  und  ein  Besitz  der  Heiligen.  Ins  Volk  drang  der 
Mariendienst,  die  Geschichte  der  Geburt  und  der  Leiden 


l)  K.  I.  S.  100—103,  Sep.-Ausg.  S.  107—110. 
76 


Jesu,  die  Geraeinschalt  der  Heiligen,  der  Begriff  der  Sünde 
und  der  Gnade,  Himmel  und  Hölle.  Unter  dem  Einfluß  des 
Mechanisierungsprozesses  haben  die  beiden  Religionen 
sich  zu  den  rein  staatlichen  Instituten  von  Kirchen  ent- 
wickelt. Im  Grunde  hat  die  gegenwärtige  Epoche  kein 
religiöses  Ideal  mehr,  vielleicht  auch  bisher  noch  keins  ge- 
habt; sie  hat  für  alles  eine  rationalistische  und  materiali- 
stische Erklärung  in  Bereitschaft. 

Als  „Kunstideal"  der  Mechanisierung  ließe  sich 
eine  „von  Schranken  befreite  Sinneskunst1)"  bezeichnen, 
d.  h.  eine  Kunst,  die  sich  nicht  mehr  den  Notwendigkeiten 
des  Handwerks  fügt,  mit  dem  sie  einst  in  inniger  Verbin- 
dung stand,  noch  auch  den  Anordnungen  der  Könige  oder 
der  offiziell  anerkannten  Kritiker  und  die  sich  in  voller 
Freiheit  bewegt,  aber  auch  bei  der  Schönheit  der  äuße- 
ren Formen  stehen  bleibt  und  nicht  in  die  Seele  dringt. 
Die  Grenzgebiete  zwischen  Kunst  und  Geschäft  verzeh- 
ren einen  starken  Teil  der  Arbeitskraft.  Das  Spiel  der 
Mode  tritt  hinzu,  der  Drang  zum  neuen,  das  Ueberwiegen 
des  weiblichen  und  des  gewerbsästhetischen  Urteils,  zu- 
letzt die  geschäftliche  oder  tendenziöse  Begründung  der 
Aufträge.  Es  fehlt  jedes  feste  Ideal.  Was  die  „W  i  s  - 
senschaft"  betrifft,  so  baute  sie  sich  bekanntlich  auf 
der  Liebe  der  Urvölker  zum  Tatsächlichen  und  der  Ideali- 
tät der  Germanen  auf.  Die  eigentümliche  Richtung  je- 
doch, die  den  Wissenschaftsgeist  zum  mächtigsten  Faktor 
der  Mechanisierung  erhob,  verdankt  sie  der  Zweckhaftig- 
keit  der  einstig  Unterdrückten.  Der  zweckhafte  Mensch 
aber  verlangt  für  alles  Beweise.  Diese  Beweise  aber 
kann  nur  die  Rechnung  liefern,  weil  sie  als  unumstößlich 
gilt,  und  so  beginnt  er  zu  zählen,  zu  messen,  zu  wägen, 
zu  rechnen.  Was  das  „politische  Ideal"  betrifft, 
„soweit  es  auf  die  Verhältnisse  der  Völker 
zu   einander   sich  bezieh  t",   so   müssen   wir   uns 


l)  K.  I.  S.  110,  Sep.-Ausg.  S.  118. 


erinnern,  daß  die  Hochperiode  der  Mechanisierung  die 
europäische  Völkerwelt  in  einem  Augenblick  tiefster  poli- 
tischer Zerklüftung  überrascht  hat.  Das  eine  dieser  Völ- 
ker, nämlich  das  deutsche,  zieht  hieraus  die  unvergleich- 
lich größten  Vorteile.  Es  erhebt  sich  zum  bestimmenden 
Faktor  und  besiegelt  diese  Stellung  mit  dem  Schwert- 
knauf. Es  folgt  hieraus,  daß  in  der  modernen  Welt  statt 
des  erwarteten  Uebergangs  zum  Internationalismus,  der 
die  notwendige  logische  Folge  des  mechanistischen  Ge- 
dankens gewesen  wäre,  der  Sieg  eines  unfreundlichen 
Nationalismus  eingetreten  ist.  Doch  unmöglich  kann  die- 
ses Ideal  für  alle  Zeiten  verankert  sein  und  notwendiger- 
weise müssen  die  Nationen  schon  um  ihrer  wirtschaft- 
lichen Beziehungen  willen  zur  Bildung  großer  inter- 
nationaler Gruppierungen  übergehen.  Das  „Ideal  des 
staatlichen  Aufbaues"  im  Sinne  der  Mechani- 
sierung ist  der  Verwaltungsstaat.  So  sehr  die  Bezeich- 
nungen des  ,, Regierens"  und  der  „Regierung"  uns  ver- 
traut sind,  so  kann  doch  nicht  geleugnet  werden,  daß  die 
Zahl  und  Mannigfaltigkeit  der  Interessen  und  Bedürfnisse 
innerhalb  einer  mechanisierten  Gemeinschaft  den  wahren 
Begriff  des  Regierens,  die  Leitung  einer  Menge  durch 
überlegenen  Willen  und  überlegene  Einsicht  zu  vorbe- 
stimmten Zielen  nahezu  aufgehoben  hat.  Der  Begriff  der 
Verwaltung  hingegen  kennzeichnet  sich  als  Ausgleich  be- 
rechtigter Interessen  durch  bestimmte  Instanzen.  Dem 
einzelnen  steht  die  Verwaltung  tatsächlich,  der  Gemein- 
schaft nur  scheinbar  als  regierende  Obrigkeit  gegenüber. 


Wir  müssen  anerkennen,  daß  niemals,  so  lange  die 
irdische  Menschheit  besteht,  eine  Weltstimmung  so  ein- 
heitlich einen  so  ungeheuren  Kreis  von  Wesen  beherrscht 
hat,  wie  die  mechanistische.  Sie  beherrscht  die  Produk- 
tionsquellen, die  Produktionsmethoden,  die  Lebensmächte 
und  die  Lebensziele  des  einzelnen  wie  der  Gemeinschaft. 

78 


Und  nun  trägt  sie  auch  die  Verantwortung  für  den  wil- 
den und  wehseligen  Wirrwarr,  mit  dem  die  Menschheit 
unserer  Tage  ringt. 

Als  materielle  Lebensform  entspricht  die  Mechani- 
sierung wirtschaftlicher  Notwendigkeit.  Aus  zwei  Grün- 
den. Niemand  wird  ernstlich  derMenschheit  die  Zumutung 
stellen,  auf  die  Ausbeutung  der  Natur  zu  verzichten  und 
zu  der  Einfachheit  des  Lebens  der  Urmenschen  zurückzu- 
kehren. Sich  in  eine  Einsamkeit  flüchten,  um  der  Mecha- 
nisierung zu  entrinnen,  wäre  nicht  mehr  als  ein  Scherz: 
das  einfachste  Kleidungsstück,  das  erste  beste  Werkzeug, 
das  ein  solcher  Einsiedler  brauchen  würde,  setzt  das  volle 
Spiel  des  Mechanismus  der  modernen  Welt  voraus.  In 
dem  Augenblick,  wo  mit  einer  gewissen  Bevölkerungs- 
dichtigkeit zu  rechnen  ist,  wird  immer,  und  wäre  es  auch 
auf  einem  anderen  Planeten,  die  Notwendigkeit  bestehen, 
auf  solche  Vorgänge  wie  die  der  Mechanisierung  zurück- 
zukommen, weil  nun  einmal  die  Arbeit  aller  produktiver 
ist  als  die  einer  einzelnen  Persönlichkeit  für  sich  und  weil 
die  Organisation  der  Kräfte  ihre  Leistungsfähigkeit  stärkt. 

Manche  glückliche  Ergebnisse  der  Mechanisierung 
sind  einleuchtend.  Ihr  danken  wir  die  Bequemlichkeit 
des  Lebens,  die  nutzbringende  Anlage  der  Kapitalien,  die 
ersten  Versuche  des  Volkswillens,  sich  vernehmlich  zu 
machen,  die  Verbreitung  von  Kenntnissen,  die  ersten  An- 
fänge internationaler  Verständigung,  die  Fortschritte  von 
Wissenschaft  und  Technik.  Keine  Vervollkommnung 
innerhalb  des  materiellen  Bereiches  ist  ihr  unmöglich. 
Daß  sich  unser  Zeitalter  an  ihren  Triumphen  berauscht, 
ist  wohl  so  begreiflich  wie  kaum  etwas  anderes.  Doch 
die  Nachteile  überwiegen  bei  weitem  nach  Zahl  wie  nach 
Bedeutung. 

„Mechanisierung  ist  eine  materielle  Ordnung;  aus 
materiellem    Willen    mit    materiellen    Mitteln    geschaffen, 

79 


verleiht  sie  dem  irdischen  Handeln  eine  Richtungskom- 
ponente ins  Ungeistige.  Niemand  kann  dieser  Richtkraft 
gänzlich  sich  entziehen;  im  mechanistischen  Sinne  bleibt 
auch  der  höchstvergeistigte  Mensch  ein  wirtschaftendes 
Subjekt,  das,  um  zu  leben,  besitzen  oder  erwerben  muß.  — 
Wie  müssen  Jahrhunderte  des  Denkzwanges  auf  den  ge- 
preßten Menschengeist  wirken!  Die  Aera  der  Arbeits- 
teilung verlangt  Spezialisierung;  bewegt  sich  der  Geist  in 
den  ähnlich  bleibenden  Normen  und  Praktiken  seines 
Sondergebietes,  erscheint  ihm  zugleich  durch  tausendfäl- 
tiges Botschaftswesen  das  Nebelpanorama  des  unbarm- 
herzig wechselnden  Weltgeschehens,  so  dünkt  ihm  leicht 
das  Kleine  groß,  das  Große  klein;  der  Eindruck  verflacht, 
leichtfertiges,  verantwortungsloses  Urteil  wird  begünstigt. 
Bewunderung  und  Wunder  erstirbt  vor  dem  Schrei  der 
Neuheit  und  Sensation;  von  allem  bleibt  der  schäbigste 
Vergleich:  Zahl  und  Maß;  das  Denken  wird  dimensional. 
Gilt  von  den  Dingen  die  Abmessung,  so  gilt  vom  Handeln 
der  Erfolg;  er  betäubt  das  sittliche  Gefühl,  so  wie  Messen 
und  Wägen  das  Qualitätsgefühl  verblödet.  Vom  raschen 
Urteil  nährt  sich  der  Erfolg;  Irrtum  und  Täuschung  kostet; 
der  Sinn  wird  skeptisch.  Er  will  nicht  in  die  Dinge,  son- 
dern hinter  die  Dinge,  Menschen  und  Mächte  dringen,  er 
verliert  Scheu  und  Scham.  Wissen  ist  Macht,  heißt  es, 
Zeit  ist  Geld;  so  geht  Wissen  erkenntnislos,  Zeit  freudlos 
verloren.  Die  Dinge  selbst,  vernachlässigt  und  verachtet, 
bieten  keine  Freude  mehr;  denn  sie  sind  Mittel  geworden. 
Mittel  ist  alles,  Ding,  Mensch,  Natur,  Gott;  hinter  ihnen 
steht  gespenstisch  und  irreal  das  Ding  an  sich  des  Stre- 
bens:  der  Zweck.  Der  nie  erreichte,  nie  erreichbare,  nie 
erkannte:  ein  trüber  Vorstellungskomplex  von  Sicherheit, 
Leben,  Besitz,  Ehre  und  Macht,  von  dem  je  soviel  er- 
lischt, als  erreicht  ist,  ein  Nebelbild,  das  beim  Tode  so 
fernsteht  wie  beim  ersten  Anstieg.  Ihm  drohend  gegen- 
über erhebt  sich,  realer  und  tausendfach  überschätzt,  das 
Furchtbild  der  Not. 

80 


Von  diesen  Phantomen  gezogen  und  getrieben  irrt  der 
Mensch  vom  Irrealen  hinweg  zum  Irrealen  hin;  das  nennt 
er  leben,  wirken  und  schaffen,  das  vererbt  er  als  Fluch 
und  Segen  denen,  die  er  liebt.  —  Diese  Stimmung  aber  ist 
Streben  und  Verblendung.  Streben,  dem  kein  Ziel  genügt 
und  das  doch  so  irrational  ist,  daß  es  zuletzt  die  Arbeit 
zum  Selbstzweck  macht,  und  so  erdgebannt,  daß  es  alles, 
was  gleißt,  vom  Wege  aufliest  und,  mit  der  toten  Fracht 
der  Mittel  belastet,  sich  zum  Grabe  schleppt;  Verblen- 
dung, der  keine  Tatsache  real  genug,  kein  Wissen  zu 
nebensächlich  ist  und  die  doch  jede  Vertiefung  scheut, 
die  Welt  entfleischt  und  entgeistert,  den  sterblichen  Sinn 
ertötet  und  den  unsterblichen  verschmäht.  —  Tief  ernie- 
drigend und  entwürdigend  sind  die  Freuden  der  Groß- 
stadt und  der  Gesellschaft,  die  in  unbewußter  Ironie  sich 
die  bessere  nennt.  „Verläßt  ein  denkender  Mensch  und 
Menschenfreund  die  Stätten,  an  denen  dieses  Volk  sich 
vergnügt,  oder,  wie  er  mit  dem  gemeinsten  Wort  vul- 
gärer Sprache  es  bezeichnet,  sich  anmüsiert,  verläßt  er 
diese  Orte,  ohne  auch  nur  einen  Augenblick  an  der  Zu- 
kunft der  Menschlichkeit  zu  zweifeln,  so  hat  er  die 
stärkste  Prüfung  seiner  Weltzuversicht  überstanden. 
Rausch,  Lust  und  Verbrechen  strömt  aus  Giften  und  Reiz- 
mitteln, die  an  Aufwand  das  Dreifache  fordern  von  dem, 
was  die  Welt  für  alle  Aufgaben  ihrer  Kultur  zusammen- 
trägt. 

Mechanisierung  ist  Zwangsorganisation;  deshalb  ver- 
kümmert sie  die  menschliche  Freiheit. 

Der  einzelne  findet  das  Maß  seiner  Arbeit  und  Muße 
nicht  mehr  im  Bedürfnis  seines  Lebens,  sondern  in  einer 
Norm,  die  außer  ihm  steht,  der  Konkurrenz.  Es  genügt 
nicht,  daß  er  nach  dem  Ausmaß  seiner  Kräfte  und 
Wünsche  schafft,  er  wird  geschätzt  nach  dem,  was  der 
andere,  die  anderen  schaffen;  halbe  oder  langsame  Ar- 
beit ist  wertlos,  sie  gilt  nicht  besser  als  Müßiggang.     Die 

81 


Weltarbeit  vom  Feldherrn  bis  zum  Postboten,  vom  Tage- 
löhner bis  zum  Finanzmann  steht  unter  dem  Druck  des 
Akkord-  und  Rekordsystems;  von  jedem  wird  soviel  ver- 
langt, als  der  andere  leistet.  Der  alte  Handwerker  er- 
gänzte einst  Schaffen  durch  Liebe  und  Verschönerung;  die 
Mechanisierung  produziert  unter  dem  Sinnbild  der  Sub- 
mission; ein  Minimum  an  Güte  und  Menge  wird  vorge- 
schrieben, der  geringste  Preis  ist  recht,  und  Liebe  wird 
nicht  bezahlt.  —  Selbst  in  der  Richtung  und  Fassung  sei- 
ner Werktätigkeit  ist  der  Mensch  nicht  frei.  Mag  er  zur 
Einseitigkeit  oder  zur  Vielfältigkeit  bestimmt  sein,  die 
mechanische  Ordnung  benutzt  ihn  zur  Spezialisierung. 
Willig  fügt  sich  das  Geschlecht  dem  Zwang,  es  erzeugt 
den  geborenen  Handelsreisenden  und  Schullehrer,  wie  es 
den  geborenen  Betriebsingenieur  und  Insektenforscher  er- 
zeugt; noch  mehr,  es  liefert  die  Typen  in  der  Zahl  und 
Auswahl,  wie  Bedürfnis  und  Ueberfüllung  sie  vorschreibt. 
Rückfall  wird  bestraft;  entsteht  noch  dann  und  wann  ein 
Mensch  vom  alten  Schlage  der  Krieger,  Abenteurer, 
Handwerker,  Propheten,  so  wird  er  aus  der  gemeinsamen 
Anstalt  ausgeschlossen  und  verfemt  oder  zum  niedersten 
undifferenzierten  Dienst  entwürdigt. 

Der  Zwang  geht  weiter.  Auch  die  Selbstverantwor- 
tung wird  dem  Menschen  genommen.  Denn  das  organi- 
satorische Wesen  der  Mechanisierung  beruhigt  sich  nicht, 
bevor  jeder  ihrer  Teile,  jede  ihrer  Summen  wiederum  zum 
Organismus  geworden  ist.  Genossenschaften,  Vereini- 
gungen, Firmen,  Gesellschaften,  Verbände,  Bürokratie, 
berufliche,  staatliche,  kirchliche  Organisationen  binden 
und  trennen  die  Menschheit  in  unübersehbarer  Ver- 
flechtung; niemand  ist  für  sich,  jeder  ist  unterworfen,  an- 
dern verantwortlich.  —  Auch  der  zünftige  Handwerker 
war  abhängig,  doch  nicht  im  gleichen  Sinne  wie  der  An- 
gestellte des  Warenhauses;  seine  Gebundenheit  war 
sichtbar,  eindeutig  und  dennoch  von  innerer  Freiheit  er- 

82 


füllt.  Ein  Blendwerk  äußerer  Freiheit  bedeckt  die  mecha- 
nistische Bindung:  der  Unzufriedene  kann  Rücksicht  auf 
Form  verlangen,  auftrumpfen,  die  Arbeit  niederlegen, 
wegziehen,  auswandern:  und  doch  befindet  er  sich  nach 
Wochen  bei  veränderten  Namen,  Personen  und  Ortschaf- 
ten im  gleichen  Verhältnis.  Die  Anonymität  der  Unfrei- 
heit vollbringt  durch  ihren  Zauber,  was  den  alten  Des- 
potien und  Oligarchien  mit  ihren  Häschern  und  Spähern 
nicht  gelang:  die  Abhängigkeit  zu  stabilieren. 

Der  Einzelzwang  aber  ist  ein  geringes  Uebel,  ver- 
glichen mit  der  Massenerscheinung,  die  ihn  überdeckt. 
Die  Mechanisierung  als  Massenorganisation  bedarf  der 
Menschenkraft  nicht  einzeln,  sondern  in  Strömen.  Die 
Pyramidenmannschaft  der  Pharaonen  genügt  nicht,  um 
den  Tagesbedarf  eines  Landes  auch  nur  an  Werkzeugen 
zu  decken;  die  Heeresmacht  Napoleons  reicht  nicht  zu 
für  die  Besatzung  eines  Bergwerksbezirks.  —  Nicht  in- 
nere Notwendigkeit  des  Mechanisierungsprinzips,  sondern 
bequem  gebilligte  Begleitumstände  der  Entwicklung  haben 
die  an  sich  unvermeidliche  Arbeitsteilung  zwischen  gei- 
stiger und  körperlicher  Leistung  zur  ewigen  und  erblichen 
gemacht,  und  so  in  jedem  zivilisierten  Lande  zwei  Völker 
geschaffen,  die  blutsverwandt  und  dennoch  ewig  getrennt, 
im  gleichen  Verhältnis  wie  ehedem  die  stammesfremden 
Ober-  und  Unterschichten,  einander  gegenüberstehen. 
Beide  sondert  und  beherrscht  der  Zwang.  Ohne  Verlust 
bürgerlichen  Ranges  und  Bewußtseins,  ohne  Verzicht  auf 
gewohnten  Umgang,  Güter  des  Genusses  und  der  Kultur, 
steigt  kein  Oberer  hinab;  ohne  den  Zufall  eines  Anfangs- 
besitzes an  Kapital  oder  Ausbildung  dringt  kein  Unterer 
hinauf.  Dieser  Zufall  aber  ist,  abgesehen  vom  Falle  der 
Auswanderung,  so  unverhältnismäßig  selten,  daß  unter 
Tausenden  von  Angestellten,  die  durch  den  Gesichtskreis 
unserer  Unternehmer  schreiten,  sich  kaum  der  Sohn  eines 
echten  Proletariers  findet. 

6*  83 


Von  unerhörter  Härte  ist  dieser  Trennungszwang  für 
das  zweite  Volk.  Helotie,  Leibeigenschaft,  Hörigkeit 
waren  auf  der  Landwirtschaft  gegründete  Abhängigkeiten. 
Die  Arbeit,  härter  und  unlohnender  als  die  der  Freien,  war 
doch  von  gleicher  Art.  —  Die  Arbeit  des  Proletariers  ge- 
nießt zwar  jene  lockende  Anonymität  der  Abhängigkeit; 
er  erhält  nicht  Befehle,  sondern  Anweisungen,  er  folgt  nicht 
dem  Herrn,  sondern  dem  Vorgesetzten;  er  dient  nicht, 
sondern  übernimmt  eine  freie  Verpflichtung;  seine 
menschlichen  Rechte  sind  die  gleichen,  wie  die  des 
Gegenkontrahenten;  er  hat  die  Freiheit,  Ort  und  Stellung 
zu  wechseln;  die  Macht,  die  über  ihm  steht,  ist  nicht  per- 
sönlich: erscheint  sie  in  der  Form  eines  einzelnen  Arbeit- 
gebers oder  einer  Firma,  so  ist  es  in  Wahrheit  die  bür- 
gerliche Gesellschaft.  Dennoch  verläuft  sein  Leben,  wie 
er  es  auch  innerhalb  dieser  Scheinfreiheit  gestalte,  in  ge- 
nerationenlanger Oede  und  Gleichförmigkeit,  über  und 
unter  Tage.  Wer  ein  paar  Monate  lang  bei  ungeistiger 
Verrichtung  von  7  bis  12  und  von  1  bis  6  das  Zeichen 
einer  Pfeife  herangesehnt  hat,  ahnt,  welche  Selbstver- 
leugnung ein  Leben  der  entseelten  Arbeit  fordert;  nie- 
mals wieder  wird  er  versuchen,  durch  kirchliche  oder  pro- 
fane ueberredung  dieses  Leben  an  sich  als  ein  zufrieden- 
stellendes zu  rechtfertigen,  und  jeden  Versuch,  es  zu  mil- 
dern, als  Begehrlichkeit  verschreien.  Wer  aber  ermißt, 
daß  dies  Leben  nicht  endet,  daß  der  Sterbende  die  Reihe 
seiner  Kinder  und  Kindeskinder  unrettbar  dem  gleichen 
Schicksal  überliefert  sieht,  den  ergreift  die  Schuld  und 
Angst  des  Gewissens.  Unsere  Zeit  ruft  nach  Staatshilfe, 
wenn  ein  Droschkenpferd  mißhandelt  wird,  aber  sie  findet 
es  selbstverständlich  und  angemessen,  daß  ein  Volk  durch 
Jahrhunderte  seinem  Brudervolk  frönt,  und  entrüstet 
sich,  wenn  diese  Menschen  sich  weigern,  ihren  Stimm- 
zettel zur  Erhaltung  des  bestehenden  Zustandes  abzu- 
geben. 

84 


Mechanisierung  ist  nicht  aus  freier  und  bewußter 
Vereinbarung,  aus  dem  ethisch  geläuterten  Willen  der 
Menschlichkeit  entstanden,  sondern  unabsichtlich,  ja  un- 
bemerkt aus  den  Bevölkerungsgesetzen  der  Welt  erwach- 
sen; trotz  ihres  höchst  rationalen  und  kasuistischen  Auf- 
baues ist  sie  ein  unwillkürlicher  Prozeß,  ein  dumpfer  Na- 
turvorgang. Unethisch  auf  dem  Gleichgewicht  der  Kräfte, 
auf  Kampf  und  Selbsthilfe  beruhend,  wie  etwa  der  Ur- 
zustand im  Lebensgleichgewicht  eines  Waldes,  verbreitet 
sie  eine  Weltstimmung,  die,  rückwärts  gewandt  über  die 
frühe  Arbeit  des  Christentums,  über  die  politische  und 
theokratische  Ethik  der  Mittelmeerkultur  hinweggreifend, 
unter  der  Deckung  und  Maske  der  Zivilisation  abermals 
auf  primitive  Menschheitszustände  hinstrebt.  Denn  diese 
Stimmung  ist  Kampf  und  Feindschaft. 

Das  menschliche  Herz  schlägt  zu  warm,  es  ist  zu  be- 
dürftig der  Anlehnung  und  Liebe,  als  daß  der  Haß  ak 
offene,  weltverzehrende  Flamme  ausschlagen  dürfte;  doch 
je  härter  und  spröder  das  Geschlecht,  das  der  Mechani- 
sierung erliegt,  desto  tückischer  nagt  der  innere  Brand 
im  knirschenden  Getriebe. 

Der  frühere  Mensch  goß  seine  Kraft  und  Liebe  in 
sein  Werk;  er  war  um  des  Dinges  willen  da;  die  Men- 
schen standen  abseits,  er  bedurfte  ihrer  zum  seltenen 
Austausch,  zum  gemeinsamen  Schutz  oder  zum  Dienst. 
Im  engen  Kreise  umgaben  ihn  die  Seinen,  die  er  hegte, 
im  weiteren  die  Genossen,  denen  er  Treue  hielt,  in  ferne- 
rem Abstand  die  Feinde,  die  er  bekämpfte.  Der  morderne 
Mensch  lebt  nicht  um  eines  Dinges  willen;  er  strebt  nach 
dem  neutralen  Gut  des  Besitzes,  nach  dem  unverkcrperten 
Begriffe  einer  relativen,  doch  beliebig  ausdehnbaren 
Machtsphäre;  sein  Lebensinhalt  ist  nicht  die  Sache,  die 
zum  Mittel  herabsinkt,  sondern  die  Laufbahn.  Durch 
Menschenmauern  hindurch  muß  sie  gebrochen  werden; 
wohin  er  blickt,  wo  immer  er  stehen  möchte,   steht   ein 

80 


anderer,  der  ist  sein  Feind.  Um  Bresche  zu  reißen,  be- 
dient er  sich  des  Genossen,  der  Gefolgschaft;  nicht  aus 
Liebe  führt  er  sie,  folgen  sie  ihm,  sondern  aus  Interesse; 
jeder  ist  dem  anderen  Mittel,  das  aufgegeben  wird,  wenn 
es  nicht  mehr  dient.  Dem  Produzenten  ist  der  Mitmensch 
Konkurrent,  das  ist  Feind,  —  Abnehmer,  das  ist  Mittel,  - 
Lieferant,  das  ist  Feind,  —  Sozius,  das  ist  Mittel.  Wem  er 
sich  nähert,  von  dem  will  e  r  etwas,  wer  sich  i  h  m  nähert, 
der  will  etwas  von  ihm;  so  sind  beide  auf  der  Hut,  und 
ihre  Stimmung  ist  feindliches  Mißtrauen.  Deshalb  er- 
scheint es  jedem  einerseits  gefährlich,  anderseits  unge- 
ziemend, im  Fremden  den  Menschen  zu  wecken;  es  ist 
Herkommen,  ihn  wie  Luft  zu  behandeln,  bis  die  blöde 
Konvention  der  Namensnennung  den  landesüblichen 
Schutz  eines  kaltenRespekts  gesichert  hat.  Der  menschen- 
freundliche Schwärmer,  der  sich  über  die  Form  hinweg- 
setzt, wird,  wenn  er  nichts  zu  bieten  hat,  kühl  abgetan. 
—  Deshalb  klagen  die  Menschen  so  gern  einander  an  und 
warnen  sich  wechselweise,  rühmen  sich  ihrer  schlechten 
Erfahrung  und  erklären  sich  als  Pessimisten  der  Men- 
schenkunde. Sie  wissen  nicht,  daß  sie  sich  selbst  ver- 
urteilen. Denn  in  der  menschlichen  Natur  liegt  diese 
Feindseligkeit  und  Niedrigkeit  nicht,  das  Herz  des  Men- 
schen ist  zart  wie  seine  nackte  Haut,  ist  der  Rührung, 
dem  Schmerz,  der  Neigung  hingegeben.  Was  dies  Herz 
verhärtet,  ist  die  Angst;  die  Sklavenpeitsche  der  Mecha- 
nisierung, die  niemals  ruht  und  deren  Zischen  Hunger, 
Verachtung,  Entrechtung,  Schmerz  und  Tod  bedeutet. 
Freilich  sind  die  Nöte  an  sich  nicht  furchtbar,  sondern 
Wege  des  Heils,  doch  nur  für  den  gläubigen  Menschen; 
die  Mechanisierung  aber  hat  vorsorglich  verstanden,  um 
ein  wenig  Wissen  und  Zauberei  ihm  den  Glauben  abzu- 
kaufen. 

Feindschaft  von  Mensch  zu  Mensch  steigert  sich  zur 
Feindschaft   von   Gruppe   zu   Gruppe,   Stamm   zu   Stamm, 

86 


Volk  zu  Volk.  Der  Mensch  ist  zum  Interessenten  ge- 
worden; irgendeine  kümmerliche  Theorie  hat  ihm  und 
seinesgleichen  Abhilfe  aller  Bedrängnis  versprochen,  sie 
schließen  sich  zusammen,  nennen  es  Partei  oder  Inter- 
essenvertretung, verallgemeinern  ihre  umgekehrten  Be- 
schwerden zu  einem  positiven  Idealbegriff  und  entrüsten 
sich,  daß  der  Widersacher,  vom  entgegengesetzten  In- 
teresse ausgehend,  nicht  zum  gleichen  Ideal  gelangt.  In 
dieser  an  Spielarten  so  ergiebigen  Zeit  ist  nichts  schwerer 
zu  finden  als  ein  Mensch,  dessen  Überzeugung  und  Ideal 
sich  nicht  mit  seinen  Interessen  deckt;  diese  verzweifelte 
Erfahrung  führt  dazu,  daß  es  ernste  Denker  gibt,  die 
eine  Weltanschauung,  eine  transzendente  Überzeugung 
überhaupt  nicht  mehr  als  eine  Form  der  Erkenntnis,  als 
einen  Abglanz  des  Ewigen  dulden,  sondern  vielmehr 
darin  nur  eine  Art  von  Charakter-  und  Interessen- 
umsetzung, gewissermaßen  eine  Krankenanamnese,  eine 
idiosynkratische  Sonderlichkeit  erblicken.  Soweit  geht 
das  Vertrauen  zur  Positivität  der  Interessen,  zur  Allein- 
herrschaft des  Intellekts,  zur  Erdgebundenheit  des  Ge- 
fühls1)/* 


Unter  solchen  Umständen  ist  es  wohl  begreiflich,  daß 
die  mechanische  Ordnung  nicht  als  etwas  endgültiges 
zu  betrachten  ist  und  ist  es  gleichzeitig  wirklich  nicht 
allzu  schwer,  einigermaßen  vorauszusehen,  welches  der 
Ausweg  sein  wird,  durch  den  die  Menschheit  aus  dieser 
Lage   herauskommen  wird. 

In  materieller  Beziehung  hat  die  mechanische  Ent- 
wicklung bei  weitem  noch  nicht  ihren  Höhepunkt  erreicht. 
Wir  können  sie  uns  doch  ohne  großen  Geistesaufwand 
ein  gutes  Stück  zukunftswärts  weiterdenken:    ,,Ein  hun- 


l)  D.  III.  S.  38-49,  Sep.-Ausg.  S.  31-44.  Vgl.  M.  IL  S.  50-53,  Sep.-Ausg. 
S.  53-56. 

87 


dertfach  übervölkerter  Erdball,  die  letzten  asiatischen 
Wüsten  angebaut,  ländergroße  Städte,  die  Entfernungen 
durch  Geschwindigkeiten  aufgehoben,  die  Erde  meilen- 
tief unterwühlt,  alle  Naturkräfte  angezapft,  alle  Produkte 
künstlich  herstellbar,  alle  körperliche  Arbeit  durch  xMa- 
schinen  und  durch  Sport  ersetzt,  unerhörte  Bequemlich- 
keiten des  Lebens  allen  zugänglich,  Altersschwäche  als 
alleinige  Todesart,  jeder  Beruf  jedem  eröffnet,  ewiger 
Friede,  ein  internationaler  Staat  der  Staaten,  allgemeine 
Gleichheit,  die  Kenntnisse  des  mechanischen  Natur- 
geschehens ins  unabsehbare  erweitert,  neue  Stoffe,  Or- 
ganismen und  Energien  in  beliebiger  Menge  entdeckt,  ja 
zu  guterletzt  Verbindungen  mit  fernen  Gestirnen  her- 
gestellt und  erhalten1)."  Wahrlich,  glänzende  Perspek- 
tiven, aber  worin  machen  sie  uns  auch  nur  um  ein  wenig 
glücklicher?  Obwohl  die  Menschheit  noch  lange  nicht 
so  weit  ist,  wie  hier  geschildert,  bekunden  schon  manche 
Anzeichen,  wie  überdrüssig  sie  dieser  Entwicklung  ist. 
,,Im  Urgrund  ihres  Bewußtseins  graut  dieser  Welt  vor  ihr 
selbst;  ihre  innersten  Regungen  klagen  sie  an  und  ringen 
nach  Befreiung  aus  den  Ketten  unablässiger  Zweck- 
gedanken2). " 

Die  Menschheit  ist  sichtlich  unruhig  und  sucht  einen 
Weg.  Sie  sagt,  sie  weiß,  was  sie  will,  aber  sie  weiß 
es  nicht,  denn  sie  will  Glück  und  sorgt  um  Materie. 
Sie  fühlt,  daß  die  Materie  sie  nicht  beglückt,  und  ist  ver- 
urteilt, sie  immer  von  neuem  zu  begehren.  Sie  gleicht 
dem  König  Midas,  der  im  Goldstrom  verschmachtet.  Sie 
begegnet  keinem  Führer,  der  ihr  den  Weg  zeigen  könnte. 
Die  Philosophie  läßt  alle  Lehren  zu.  Die  Religion  zer- 
gliedert anatomisch  das  religiöse  Empfinden  und  gibt 
eine  Naturgeschichte    Gottes.      Nun,    und    die  Menschen 


*)  K.  I.  S.  143-144,  Sep.-Ausg.  S.  153.     -)  K.  I.  S.  127,  Sep.-Ausg.  S.  135. 
88 


selbst!  Die  einen  halten  es  mit  gewissen  alten  Tugenden, 
die  anderen  mit  den  neuen.  Die  Wissenschaft  rät,  sich 
zu  spezialisieren.  Die  Kunst  studiert  alle  Epochen  und 
Schulen  und  verherrlicht  heut  die  eine,  um  morgen  die 
andere  anzuschwärzen-  Das  Erwerbsleben  lehrt,  wie 
Reichtümer  aufzuhäufen  sind,  damit  neue  Generationen 
Brot  und  Arbeit  finden.  ,,Es  ist,  als  sei  die  Welt  flüssig 
geworden  und  zerrinne  in  den  Händen.  Alles  ist  möglich, 
alles  ist  erlaubt,  alles  ist  begehrenswert,  alles  ist  gut1)." 
,,Der  Mensch  aber  begehrt  Glauben  und  Worte.  Er 
fühlt,  daß  er  Unersetzliches  besessen  hat;  nun  trachtet 
er,  das  Verlorene  mit  List  wiederzugewinnen  und  pflanzt 
kleine  Heiligtümer  in  seine  mechanisierte  Welt,  wie  man 
Dachgärten  auf  Fabrikgebäuden  anlegt.  Aus  dem  Inven- 
tar der  Zeiten  wird  hier  ein  Naturkult  hervorgesucht, 
dort  ein  Aberglauben,  ein  Gemeinschaftsleben,  eine  künst- 
liche Naivität,  eine  falsche  Heiterkeit,  ein  Kraftideal, 
eine  Zukunftskunst,  ein  gereinigtes  Christentum,  eine 
Altertümelei,  eine  Stilisierung.  Halb  gläubig,  halb  ver- 
logen wird  eine  Zeitlang  die  Andacht  verrichtet,  bis  Mode 
und  Langeweile  den  Götzen  töten2)."  So  lächerlich  auch 
diese  Kindereien  vielleicht  anmuten  mögen,  so  sind  sie 
doch  in  jedem  Falle  zu  beachten;  denn  sie  haben  ihren 
Ursprung  in  der  Sehnsucht  der  Menschheit  zur  Idealität. 

Andere  Anzeichen  sind  noch  beweiskräftiger. 

,,Die  Blume  vor  dem  Fenster  eines  Bauernhauses, 
das  Lied  auf  der  Landstraße,  der  Sonntagsausflug  der 
Stadtbewohner,  das  Buch  in  den  Händen  des  Arbeiters 
bezeugen,  daß  das  Volk  entschlossen  ist,  nicht  in  mecha- 
nistischer Zweckhaftigkeit  aufzugehen3)."  Auf  einer  höhe- 
ren Stufe  wünscht  sich  der  Geist  sichtlich  von  der  Vor- 
mundschaft  des   Intellektes   freizumachen.     Niemals,   seit 


»)  K.  I.  S.  128,  Sep.-Ausg.  S.  137.    *)  K.  I.  S.  129,  Sep.-Ausg.  S.  137-138. 
*)  K.  I.  S.  130,  Sep.-Ausg.  S.  138. 

89 


Erschaffung  des  Planeten,  war  ein  so  großes  Quantum 
irdischen  Geistes  in  Bewegung  wie  heute.  Vom  Denken 
werden  alle  Räder  der  Welt  im  Schwung  erhalten.  Doch 
gerade  diese  Überspannung  des  Intellektes  wird  für  ihn 
selbst  verhängnisvoll.  Wie  in  einem  Bergwerk  die  För- 
derung verarmt,  wenn  die  Längen  und  Verzweigungen 
der  Stollen  das  Maß  überschreiten,  so  gehen  die  uner- 
meßlichen Erlebnisse  und  Entdeckungen  jedes  Tages,  in 
Winkeln  gestaut,  dem  Gesamtleben  verloren.  Außerdem 
wirkt  in  unseren  überreichen  und  überfeinen  Denkappa- 
raten kaum  ein  Organ  anders  als  analysierend,  anglei- 
chend, verwertend,  kritisierend.  Fast  alles,  was  geschrie- 
ben wird,  kennen  wir,  bevor  wir  es  gelesen  haben;  von 
fast  allem,  was  gedacht  wird,  wissen  wir  das  Ergebnis, 
noch  bevor  es  zu  Ende  gedacht  ist.  Es  geht  uns,  wie 
geübten  Kartenspielern,  die,  wenn  die  ersten  Blätter  aus- 
gespielt sind,  voraussehen,  wie  die  Partie  verläuft,  welche 
Zwischenfälle  eintreten,  ja  welche  Fehler  gemacht  wer- 
den. —  Hier  liegt  die  tiefste  Sehnsucht  unserer  Zeit,  die 
ihren  Sinn  sucht.  Unbewußt  fühlt  sie  sich  angewidert 
vom  Denken,  vom  mechanistischen  Denken;  sie  hat  alles 
schon  einmal  gehabt  und  durchgrübelt,  alles  durchge- 
schätzt, jedes  Gefühl  sondiert  und  abgeleitet.  Sie  weiß, 
wie  alle  diese  Rätsellösungen  schmecken  und  wie  lange 
sie  vorhalten.  Sie  sehnt  sich  nach  einem  jenseits  des 
Beweisbaren  stehenden  Sinn,  und  schrickt  davor  zurück, 
weil  er  ihr  willkürlich  scheint;  und  er  ist  willkürlich, 
weil  er  nicht  in  ihrer  Seele  liegt.  Deshalb  blickt  sie  auf 
zu  den  Geistern,  die  göttliche  Überzeugungen  in  ihren 
Seelen  trugen,  Plato,  Paulus,  Franziskus,  Eckhardt,  und 
kann  doch  die  Überzeugungen  nicht  erwerben,  weil  sie 
diese  Seelen  nicht  erwerben  kann.  Sie  schafft  sich  Ge- 
meinden, Tempel  und  Altäre  und  empfindet  verzweifelt, 
daß  sie  das  einzelne  nicht  glauben  kann,  weil  sie  alles 
glaubt,  daß  sie  alles  glauben  muß,  weil  sie  nichts  glauben 

90 


kann.  Die  Zeit  sucht  nicht  ihren  Sinn  und  ihren  Gott, 
sie  sucht  ihre  Seele,  die  im  Gemenge  des  Blutes,  im 
Gewühl  des  mechanistischen  Denkens  und  Begehrens 
sich  verdüstert  hat. 

Sie  sucht  ihre  Seele  und  wird  sie  finden,  freilich 
gegen  den  Willen  der  Mechanisierung.  Dieser  Epoche 
lag  nichts  daran,  das  Seelenhafte  im  Menschen  zu  ent- 
falten; sie  ging  darauf  aus,  die  Welt  benutzbar  und  so- 
mit rationell  zu  machen,  die  Wundergrenze  zu  verschie- 
ben und  das  Jenseitige  zu  verdecken.  Dennoch  sind  wir 
wie  je  zuvor  vom  Mysterium  umgeben;  unter  jeder 
glatten  Gedankenfläche  tritt  es  zutage,  und  von  jedem 
alltäglichen  Erlebnis  bedarf  es  eines  einzigen  Schrittes 
bis  zum  Mittelpunkt  der  Welt.  —  Es  gibt  wohl  keinen 
einzigen  Weg,  auf  dem  es  dem  Menschen  nicht  möglich 
wäre,  seine  Seele  zu  finden,  und  wenn  es  die  Freude  am 
Aeroplan  wäre.  Aber  die  Menschheit  wird  keine  Um- 
wege beschreiten.  Es  werden  keine  Propheten  kommen 
und  keine  Religionsstifter;  denn  diese  übertäubte  Zeit 
läßt  keine  Einzelstimme  mehr  vernehmlich  werden:  sonst 
könnte  sie  heute  noch  auf  Christus  und  Paulus  hören. 
Es  werden  keine  esoterischen  Gemeinden  die  Führung 
ergreifen;  denn  eine  Geheimlehre  wird  schon  vom  ersten 
Schüler  mißverstanden,  geschweige  vom  zweiten.  Es 
wird  keine  Einheitskunst  der  Welt  ihre  Seele  bringen; 
denn  die  Kunst  ist  ein  Spiegel  und  ein  Spiel  der  Seele, 
nicht  ihre  Urheberin.  Das  Größte  und  Wunderbarste  ist 
immer  das  Einfache.  Es  wird  nichts  geschehen,  als 
daß  die  Menschheit  unter  dem  Druck  und  Drang  der 
Mechanisierung,  der  Unfreiheit,  des  fruchtlosen  Kampfes 
die  Hemmnisse  zur  Seite  schleudern  wird,  die  auf  dem 
Wachstum  ihrer  Seele  lasten.  Das  wird  geschehen  nicht 
durch  Grübeln  und  Denken,  sondern  durch  freies  Be- 
greifen und  Erleben.  Was  heute  viele  reden  und  einzelne 
begreifen,   das   werden   später   viele   und  zuletzt   alle   be- 

91 


greifen:    daß    gegen    die    Seele    keine    Macht    der    Erde 
standhält1)." 

Das  Studium  der  Entfaltungsmöglichkeiten  der  Ein- 
zel- und  später  der  Gemeinschaftsseele,  der  Nachweis, 
wie  uns  diese  Entfaltung  von  der  Umklammerung  der 
Mechanisierung  zu  befreien  wissen  wird  und  damit  die 
wirksamste  Hilfe  zur  völligen  Überwindung  der  gegen- 
wärtigen Schwierigkeiten,  das  sollte  der  Gegenstand  der 
zweiten  Schrift  von  Walther  Rathenau  sein,  die  den 
Titel  führt:  „Zur  Mechanik  des  Geistes  oder 
Vom  Reich  der  Seele"  und  die  Widmung  trägt 
„Dem  jungen  Geschlecht." 


')  K.  i.  S.  138,  140,  Sep.-Ausg.  S.  147,  149/150.  Vgl,  M.  li,  S,  9,  16, 
Sep-Ausg.  S.  13,  18-21. 

02 


Kapitel  III. 

Das  Rei$h  der  Seele 

Zwei  Gefühle  beherrschen  den  Urgrund  des  mensch- 
lichen Geistes  in  seiner  Kindheit:  Begehren  und  Furcht. 
Begehren  und  Furcht  sind  hier  nicht  etwa  im  lediglichen 
Sinne  positiver  und  negativer  Willensrichtung  gebraucht; 
sie  bedeuten  vielmehr  die  Stimmungen,  nicht  die  Impulse. 
Jeder  entschiedene  Eindruck  löst  beim  Kinde  ein  Be- 
gehren aus,  das  zunächst  freilich  nur  bis  zum  Tasten, 
Greifen,  Kosten  hinlangt,  während  andererseits  die  Furcht 
bei  ihm  Gefahren  abwendet,  Auswahl  trifft  und  der  Erfah- 
rungsübertragung der  frühesten  Erziehung  Raum  schafft. 
Sein  ganzes  Dasein  hat  einen  wesentlich  materiellen  und 
zweckhaften  Charakter. 

Der  Jüngling  kennt  hinwiederum  mit  seiner  größeren 
geistigen  und  körperlichen  Entwicklung  andere  Gefühle, 
die  häufig  genug  in  einem  Gegensatz  zu  denen  des  Kindes 
stehen.  ,,Eine  neue  Natur  umgibt  ihn:  nicht  mehr  Stein, 
Pflanze,  Luft  und  Wasser,  sondern  ein  geheimnisvoller 
Kosmos  voll  Leben,  Geist,  Blut,  Licht  und  Liebe.  Die 
Dinge  reden  nicht  mehr  die  Sprache  des  Tages;  es  rauscht 
aus  ihnen  Unausgesprochenes,  Unauflösliches.  Eine  zweite 
Natur  verbirgt  sich  hinter  der  sichtbaren  und  will  hervor- 
brechen; es  bedarf  eines  Wortes  und  alle  Wirklichkeit 
ist  aufgehoben.  Der  Welthauch  atmet  Majestät  und  Liebe, 
und  die  jugendliche  Seele  begehrt  nichts  anderes,  als  sich 
den  Mächten  hinzugeben  und  in  ihren  Werken  aufzu- 
gehen.    Die  Welt  der  Menschen  und  Schicksale  brandet 

93 


von  ferne,  in  ihren  Kämpfen  fliegen  und  siegen  die  Ban- 
ner der  Ideen;  Freiheit,  Wahrheit,  Vaterland,  Gottheit 
verlangen  das  höchste  Opfer  un  dsollen  gerettet  werden1)." 
Solche  Regungen  gehen  nicht  vom  Erhaltungstriebe  aus. 
Sie  sind  zweckfrei,  mögen  sie  ungeklärten  Stimmungen 
gärender  Epochen  entspringen.  Enttäuscht  steigt  der 
junge  Erdenbürger  in  die  Vielfältigkeit  des  Lebens  hinab. 
Von  den  Erfahrungen  der  Jahrtausende  nimmt  er  sein 
Erbe  in  Anspruch  und  denkt  es^  zu  mehren,  und  je  uner- 
meßlicher der  Reichtum  in  seinen  Händen,  desto  ärmer 
die  Welt.  Er  erwirbt,  besitzt,  genießt,  doch  nur  eine 
Zeitlang.  „Das  Spiel  der  Schwerter,  Federn  und  Krone:; 
ist  gestillt.  Es  bleibt  das  Schaffen;  doch  nicht  mehr  um 
der  Werte  willen;  das  Sorgen:  doch  nicht  mehr  um  der 
Ziele  willen.  —  Es  bleibt  die  Liebe.  Je  reiner  und  heißer 
das  Feuer  der  Sinne  sich  erhielt,  desto  leuchtender  um- 
gibt es  sich  mit  der  Aureole  übersinnlicher  Klarheit. 
,Es  reget  sich  die  Menschenliebe,  die  Liebe  Gottes  regt 
sich  nun.'  Es  erwacht  die  Liebe  des  Franziskus,  die  all? 
Kreatur  mitsamt  den  Gestirnen  umspannt,  die  in  die 
Sphären  tönt  und  die  Gottheit  herabzwingt.  Denn  diese 
Liebe  ist  transzendent.  —  Sie  faßt  die  Welt  nicht  mit 
den  Krallen  des  Verstandes,  sie  löst  sich  auf,  geht  unter, 
vereinigt  sich,  wird  Eines  und  begreift,  indem  sie  Eines 
wird.  So  wird  aus  Natur  und  Schaffen,  Liebe  und  Trans- 
zendenz im  Menschen  die  Seele  geboren,  ja  wesentlich 
gesprochen:  sie  wird  nur  aus  Liebe  geboren;  denn  Liebe 
umfaßt  die  anderen   drei  Kräfte   insgesamt2)." 

Was  ist  denn  nun  mit  dieser  Seele?  „Sie  ist  kein 
Kampfmittel.  Rationell  betrachtet,  im  Sinne  des  Kampfes 
um  Nahrung,  Lust  und  Nutzen  ist  sie  ein  Hemmnis.  Die 
Gestirne  sättigen  nicht.  Das  unzeitliche  Werk  bringt 
Martyrien.  Liebe  opfert  sich.  Der  seelenhafte  Mensch 
erscheint  der  Zeit  als  Idiot,  dem  sie  nicht  immer  die  Ehre 


»)  M.  II.    S,  30-31,    Sep.-Ausg.  S   34.     *)  M.  II.  S.  31-32,    Sep.-Ausg 
S.  35-36. 

94 


des  Kreuzes  erweist.  —  Die  Seele  will  nichts.  Sie  trägt 
in  sich  Streben  und  Erfüllung,  Dissonanz  und  Auflösung. 
Ihr  Wesen  ist  zweckfrei,  und  im  Sinne  der  Erscheinungs- 
welt zwecklos.  Aber  mehr  als  das.  Hat  die  Seele  in 
ihrem  Aufstieg  gelernt,  mit  ausgebreiteten  Schwingen 
über  der  Erscheinungswelt  betrachtend,  freudvoll  sinnend 
zu  ruhen,  so  entfremdet  sich  der  Blick  dem  bunten 
Wesen,  und  ihre  eigene  Kraft  hebt  sie  entsagend  hinweg 
von  der  Welt,  jenem  Licht  entgegen,  in  welchem  das 
Außen  und  das  Innen  verschmilzt.  Die  Begriffe  der 
Zweckfreiheit,  der  Willenlosigkeit  sagen  nichts  mehr;  sie 
werden   zum   schlechthin  Absoluten1).1' 

,,Wer  die  ersten  stillen  Regungen  des  Seelenlebens 
erfahren  hat,  bedarf  der  Beweise  nicht.  Ihm  besteht  die 
innere  Gewißheit,  lebendiger  als  alles  andere  Erleben, 
daß  hier  eine  neue  Qualität  des  Geistes  beginnt,  die  von 
den  intellektuellen  Qualitäten  vollkommen  gesondert, 
neue  Kräfte,  Freuden  und  Schmerzen  und  ein  Leben  über 
dem  Leben  erschließt2)."  Eine  große  Zahl  von  Menschen, 
Völkern  und  ganzen  Zeitaltern  sind  über  die  Erde  dahin- 
gegangen, ohne  die  Offenbarung  der  Seele  gehabt  zu 
haben.  Sie  bleiben  wie  die  Kinder  ihr  ganzes  Leben 
lang  in  den  Banden  des  Begehrens  und  der  Furcht  einge- 
schlossen. Sie  werden  eine  Beute  der  Mechanisierung, 
durch  die  sie  sich  in  der  leider  nur  zu  bekannten  Weise 
umwandeln.  Diejenigen  aber,  in  denen  eine  Seele  leuch- 
tet, leben  ein  völlig  anderes  Leben.  Ihre  Kenntnisse,  die 
sie  der  Selbstbeobachtung  verdanken,  sind  sicher  und 
tief;  der  Intellekt  hat  sie  nur  noch  zu  regeln,  zu  ordnen 
und  den  Bedürfnissen  des  alltäglichen  Lebens  anzupassen. 
Im  Gegensatze  zu  den  Seelenlosen  beobachten  die  Seelen- 
haften ohne  jeden  äußeren  Zwang  unwandelbare  und 
ungeschriebene  Sittengesetze,  mit  denen  sich  die  Seele 
in  vollem  Einklang  fühlt.     Auf  religiösem  Gebiete  zeitigt 


l)  M,  II.  S.  36,  Sep.-Ausg.  S.  38,  39.     *>  M.  II.  S.  36,  Sep.-Ausg.  S.  40 

95 


die  Intuition  solcher  Seelenhaften  die  höchste  uns  be- 
kannte ethische  Lehre,  die  Lehre  vom  Gottesreich,  die 
in  vieldeutiger  und  unklarer  Formulierung  die  Jahrhun- 
derte überdauert  hat  und  die  in  jeder  kommenden  in- 
tuitiven Ethik  als  Sonderlösung  enthalten  sein  wird. 
Intuitives  Schaffen  ist  zweckfrei,  selbstlos,  notwendig. 
Deshalb  ist  das  Geschaffene  auf  jeder  Stufe  seines  Ent- 
stehens abgeschlossen  und  vollendet  wie  die  Schöpfungen 
der  Natur.  Das  wahre  Kunstwerk,  kurz  gesagt  Werk,  ist 
aber  nur  dann  wirklich  seelenvoll  und  individuell,  wenn 
der  Schöpfer  alle  Kräfte  dran  setzt,  das  Wahre,  das 
Objektive,  das  Absolute  zu  schaffen.  ,,Der  Handwerker 
alten  Schlages,  der  ein  Gerät  um  seiner  selbst  willen 
und  im  Blick  auf  die  Vollendung  fertigt,  ist  in  vollem 
Sinne  Schöpfer.  Schöpfer  ist  ein  jeder,  der  das  Werk 
uro  des  Werkes  willen  tut,  und  die  Sache  um  der  Sache 
willen  liebt,  mag  er  Tagelöhner,  Krämer  oder  Hausierer 
sein;  Fronarbeiter  ist,  wer  um  Besitz,  Ehre,  Anerkennung, 
kurz  um  Löhnung  wirbt,  sei  er  Dichter,  Philosoph,  Staats- 
mann oder  Feldherr1)." 

,,Aus  geheimnisvollem  Urgrund,  vom  Animalischen 
gelöst,  nicht  vollendet,  aber  der  Vollendung  zustrebend, 
steigt  eine  Macht  in  uns  empor  und  besitzt  unser  Wesen. 
Sie  reißt  uns  von  der  zweckhaften  Schöpfung  los,  um 
uns  durch  neue,  geläuterte  Bande  mit  ihr  zu  verknüpfen. 
Sie  bindet  uns  jenseits  alles  äußeren  Erlebens  an  ferne 
Mächte  und  schließt  uns  in  höhere  Gemeinschaft,  die  wir 
zu  ahnen  wagen2)." 

Aber  wie  spiegelt  sich  das  innere  Ereignis  der  Seelen- 
geburt  in  der  Außenwelt?  Wie  reiht  es  sich  in  das  Phä- 
nomen der  Erscheinung?  Wie  entsteht  und  was  bedeutet 
die  Seele  in  der  Welt  des  Gleichnisses? 

Diese  Fragen  beantworten  zu  wollen,  bedeutet  nichts 
Geringeres,    als    sich    das   eigentliche   Erkenntnisproblem 


l)  M.  II,  S.  63,    Sep.-Ausg.  S.  65.     *)  M.  II.  S.  66,    Sep.-Ausg.  S.  69. 
96 


vorzulegen.  Wir  können  in  der  Tat  nicht  die  Rück- 
wirkung des  Erscheinens  der  Seele  auf  die  Außenwelt 
studieren,  bevor  die  Einheit  des  Denkens  und  die  Einheit 
der  Darstellung  durch  eine  Überbrückung  dieses  Problems 
gesichert  ist.  Persönlich  muß  Walther  Rathenau  beken- 
nen, daß  er  sich  zu  den  Menschen  rechnet,  für  die  die 
Realität  des  Träumens  und  erlebenden  Schauens  groß  ist, 
ohne  daß  darum  das  Geträumte  und  Erschaute  als  ein 
vom  Schauenden  gänzlich  Unabhängiges  empfunden  wird. 
,,An  handgreiflicher  Sinnlichkeit  und  Kontinuität  erscheint 
die  wahre,  Wirklichkeit  genannte  Erscheinungswelt  um 
einen  Grad  realer,  an  Unmittelbarkeit  dunkler,  doch  bei- 
des nicht  mit  genügender  Stärke,  um  mehr  als  einen 
graduellen  Unterschied  der  beiden  Welten  glaubhaft  zu 
machen.  Wer  so  empfindet,  den  wird  allein  die  Realität 
des  Geistigen  überzeugen.  Ihm  tritt  das  Lebendige,  was 
es  auch  sei,  als  ein  unleugbar  Empfindendes,  die  Natur 
in  allem  Geschaffenen  als  ein  Begeistetes  befreundet  ent- 
gegen; ihm  ist  beschieden,  nicht  mehr  allein  sich  selbst, 
sondern  einfühlend  und  entäußert  in  der  Kreatur  zu  leben; 
ja  es  erscheint  ihm  vielmals  dieses  Gemeinschaftsfühlen 
wahrer  und  leibhaftiger  als  das  Für-sich-sein1)." 

Eine  solche  Lösung  jedoch  würde  als  zu  persönlich 
und  zu  wenig  überzeugend  gelten.  Walther  Rathenau 
gibt  daher  noch  eine  weitere,  die  er  auf  mehr  didak- 
tischem Wege  auf  der  Grundlage  einer  Theorie  über 
die  Natur  und  den  Menschengeist  gewinnt.  Den  Einzel- 
heiten seiner  Darstellung  nachgehen  zu  wollen,  wäre  im 
Rahmen  dieses  Buches  einfach  unmöglich.  Es  genüge 
einige  hervorstechende  Punkte  anzugeben.  Er  stellt  das 
Dasein  und  die  Tätigkeit  des  Geistes  als  fundamentales 
Postulat  hin.  Er  kennzeichnet  drei  Grunderfahrungen  des 
inneren  Erlebens:  Teilbarkeit,  Kombinierbarkeit  und 
geistige  Wechselwirkung.  Aus  der  Beobachtung  des 
Spieles  dieser  drei  psychischen  Grundelemente  an  sich 
»)  M.  11.  S,  70,  Sep.-Anss.  S.  75. 

97 


selbst  geht  für  ihn  deutlich  hervor,  daß  eine  Mechanik 
des  Geistes  möglich  ist,  die  es  ermöglichen  wird,  eine 
Grundlage  für  die  Erkenntnis  zu  schaffen  and  ihre  Ent- 
stehung zu  erklären.  Auf  diese  Weise  geht  uns  eine  Vor- 
stellung davon  auf,  daß  wir  nirgendwo  in  icr  Schöpfung 
ein  einfaches  geistiges  Element  finden  werden,  sondern 
daß  alle  Äußerungen  des  Geistes,  so  weit  sie  für  uns 
wahrnehmbar  sind,  auf  uns  wirken  und  wir  auf  sie  wirken 
oder  wir  sie  wenigstens  mutmaßen,  Kombinationen, 
Geistesgemeinschaften  oder  Massenphänome  auf  dem 
geistigen  Gebiete  sind.  Da  sie  uns  grade  am  zugäng- 
lichsten sind,  so  wird  auch  wohlweislich  ihr  Studium  das 
fruchtbarste  für  die  Begründung  dieser  Mechanik  des 
Geistes  sein.  Es  wird  uns  gleichzeitig  über  die  Ent- 
stehung und  das  Verhalten  der  Gemeinschaftsseele  be- 
lehren. 

Es  handelt  sich  weder  um  die  psychologische  Be- 
schreibung von  Arten,  noch  um  gemeinsame  Produktion 
dieser  Arten,  wie  sie  uns  die  ethnographische  Psycho- 
logie lehrt,  die  als  eine  Geschichte  oder  eine  Natur- 
geschichte des  Geisteslebens  der  Völker  anzusehen  ist, 
es  handelt  sich  um  nichts  weniger  als  um  die  Verschmel- 
zung der  Menge  zum  Kollektivgeschöpf.  „Um  ein  Bei- 
spiel des  täglichen  Lebens  zu  gebrauchen:  es  handelt  sich 
nicht  um  die  Geschäfte,  Lebensschicksale  und  Gepflogen- 
heiten der  Summe  der  Sozien,  sondern  um  das  geistige 
Leben  und  Sckicksal  der  Handelssozietät1)."  Ein  solches 
Leben  gibt  es  wirklich,  und  nicht  mit  Unrecht  ist  darum 
häufig  eine  Stadt  mit  ihren  Steinzellen  und  Arterien  mit 
einem  lebenden  Organismus  verglichen  worden.  Dieses 
Leben  hat  Gesetze,  die  einem  Kollektivgebilde  wie  einer 
Volksversammlung  oder  einer  Stadt  ermöglichen,  als 
geistige  Einheit  zu  denken  und  zu  handeln.  In  jeder  Ge- 
meinschaft ist  jede  Stimmung  in  beliebigen  Exemplaren 
vorrätig,  gleich  trockenen  Farbkörnern,   die  in  Sand  ge- 

')  M.  U.  S.  109,  Sep.-Ausg.  S.  113. 

98 


mischt  sind.  So  lange  sie  in  normaler  Ruhe  verharrt,  ge- 
währt die  Masse  einen  neutralen  Anblick.  Sobald  aber 
durch  irgendeinen  äußeren  Umstand  diese  Ruhe  gestört 
wird  oder,  um  in  unserem  Bilde  zu  reden,  sobald  in  dem 
besagten  Sande  die  einzelnen  Elemente  zur  Lösung  ver- 
schmelzen, etwa  weil  die  Substanz  befeuchtet  wurde,  so 
erscheint  plötzlich,  um  weiter  im  Rahmen  unseres  Bildes 
zu  bleiben,  die  ganze  Mischung  gefärbt.  Auch  in  unserem 
persönlichen  Geistesleben  tritt  nichts  zutage,  was  nicht 
zuvor  schweigend  in  den  Tiefen  geruht  hätte.  Das  Ver- 
gessene schlummert  und  ist  dennoch  gegenwärtig;  das 
scneinbar  Neue  ist  ein  Unbewußtes,  das  plötzlich  er- 
wacht. 

Und  die  Analogie  geht  noch  weiter:  ebenso  wie 
unser  Individuum  ein  Ganzes  ist,  das  mehrere  Organe 
umfaßt,  zwischen  denen  sich  die  gemeinsame  Arbeit  teilt, 
ebenso  schafft  sich  ein  Gemeinschaftswesen  verschiedene 
Organe,  die  mit  einer  ganz  bestimmten  Aufgabe  im  In- 
teresse des  allgemeinen  Gedeihens  betraut  werden.  Wir 
sehen  zwei  Männer  in  einer  Besprechung:  es  ist  tatsäch- 
lich der  Handelsverkehr  eines  Landes,  der  mit  der 
Kriegsmacht  verhandelt,  oder  die  Hauptstadt,  die  mit  dem 
Staate  verhandelt,  oder  der  Staat,  der  mit  einem  Nach- 
barn verhandelt,  insofern  nämlich,  als  in  jedem  dieser 
Vertreter  die  Strebungen,  die  Besorgnisse,  die  Kräfte  und 
die  Mittel  des  Organismus  ihren  summarischen  Ausdruck 
finden.  Der  Organismus  hat  in  diesen  Manschen  Rede 
gewonnen,  er  hat  in  ihnen  Augen,  Ohren,  Fühler  und 
Taster,  er  dringt  vor,  weicht  aus,  streitet,  kämpft,  gibt 
nach,  erobert,  siegt  und  unterwirft  sich.  Im  Augenblick 
der  Belebtheit  und  des  Handelns  sind  diese  Menschen  die 
wirksamen  Exponenten  ihres  Kollektivwesens;  in  ihnen 
drängt  sich  Leben  und  Wille  des  Organon  zusammen: 
sie  sind  wirksame  und  zeitliche  Exponenten  des  Kollek- 
tivbegriffes, aber  nicht  seine  absolute  Essenz1)." 
l)  M.  11.  S.  127,  Sep.-Ausg.  S.  130. 

?•  99 


Das  große  Prinzip  des  ständigen  Ab-  und  Zuganges 
findet  auch  auf  diese  Gemeinschaften  seine  Anwendung. 
Menschen,  die  wir  heute  noch  sahen,  werden  schon 
morgen  durch  andere  ersetzt;  die  einzelnen  Vertreter  der 
Gemeinschaften  scheiden  aus  und  wechseln,  aber  die  Ge- 
meinschaften selbst  bleiben.  Wie  in  einem  Einzelorga- 
nismus, so  erneuern  sich  auch  ihre  einzelnen  Elemente 
immer  wieder,  während  das  Ganze  bleibt.  Schließlich 
verändern  sich  auch  jene  Gemeinschaften  selbst;  sie 
wachsen  oder  gehen  auch  in  andere  gleichartige  auf, 
um  in  anderer  Gestalt  wieder  von  neuem  zu  erstehen. 

Was  noch  weit  merkwürdiger  ist,  ist  das,  daß  aus 
diesen  Gemeinschaften  gemeinsame  Werke  erstehen,  die 
eine  überirdische  Eingebung  verraten  und  sich  als  Ab- 
bilder und  Gleichnisse  ihrer  gemeinsamen  Seele  langsam 
erheben.  Das  Kollektivgebilde,  das  wir  befragen,  trägt 
diesmal  die  Züge  einer  fernen  Stadt;  ein  Dom  erhebt  und 
verkündet  ihren  Umriß.  Jahrhunderte  lang  haben  stille 
Geschlechter  diesem  Bau  gefront;  die  äußeren  Welt- 
ereignissc,  die  inneren  Zwistigkeiten  und  Zwiespältig- 
keiten haben  an  ihm  ihre  Spur  hinterlassen.  Alles,  was 
innerhalb  der  Stadtmauer  rein  praktischen  Zwecken 
diente,  ist  zerfallen,  doch  der  Dom  richtet  noch  heute 
seine  Spitze  zum  Himmel  empor.  „Diese  Gemeinschaft 
hat  wirklich  um  ihres  Werkes  willen  gelebt;  dieses  Werk 
ist  unsterblich;  es  ist  unsterblich  als  ein  Werk  der  Liebe. 
So  trägt  die  kleinste  ältere  Ortschaft,  die  wir  besuchen, 
im  Herzen  ihres  materiellen  Organismus  ein  versteinertes 
Seelenbildlein.  Und  wäre  es  nur  ein  Rathauserker  oder 
ein  schöner  Brunnen,  ein  Torbogen  oder  ein  Kreuz;  es 
sind  Geschöpfe  eines  höheren  Wollens  und  einer  edleren 
Freude1)."  Und  legen  wir  nicht  der  Erinnerung  an  diese 
Kunstwerke  Jahrhunderte  lang  den  größten  Wert  bei? 
Die  Kinder  lernen  die  Namen  der  Bildhauer  auswendig, 


»)  M.  11.  S.  143,  Sep.-Ausg.  S.  145-146. 
100 


und  die  prosaischesten  kleinen  Leute  träumen  von  einer 
Reise  zum  Forum  oder  zur  Akropolis.  Die  mechanischen 
Erfindungen  und  die  geistigen  Werke  interessieren  uns, 
sobald  sie  uns  nur  irgend  vertraut  geworden  sind,  schon 
nicht  mehr,  alles  aber,  was  die  Seele  berührt,  hat  eine 
dauernde  Wirkung.  Wir  fühlen  das  so  recht  an  Venedig. 
„Die  Schöpfungen,  die  wir  hier  sehen,  sind  wirklich  nicht 
Menschenwerke,  sondern  Werke  einer  Menschheit;  hier 
stehen  nicht  Häuser  und  Türme,  sondern  die  steingemei- 
ßelte Seele  Venedigs,  das  farbige  Muschelkleid  eines 
namenlosen  Meergottes  glänzt  am  Strande1)."  Das  ist  die 
unvergängliche  und  allspendende  Strahlenquelle  der  gro- 
ßen alten  Kulturen  des  jüdischen,  griechischen  und  römi- 
schen Volkes.  In  gewissen  Augenblicken  nun  verdichten 
sich  die  Geistessäfte  des  gesamten  Volkskörpers  in  ein- 
zelnen genialen  Naturen  dermaßen,  daß  sie  die  Bewegung 
der  zögernden  Masse  lenken.  Ein  einfaches  Beispiel  bie- 
tet die  Naturerscheinung  einer  stark  betauten  Fenster- 
scheibe in  feuchtigkeit-gesättigtem  Raum.  Hier  ist  ein 
Tropfen  etwas  länglicher  geformt  als  die  übrigen  und 
etwas  umfangreicher,  somit  stärker  unter  der  Schwer- 
kraft leidend  und  merklich  überhängend.  Da  gewinnt  er 
plötzlich  Bewegung.  Wir  wissen,  was  folgt;  mit  zwei, 
drei  Nachbarn  vereinigt,  rollt  er  bergab,  der  Weg  wird 
zum  Kanal,  der  sich  verzweigt,  andere  entreißt,  Seiten- 
bäche aufnimmt;  die  Erscheinung  gewinnt  Nachfolge,  All- 
gemeinheit, und  im  Handumdrehen  ist  die  Scheibe  ent- 
wässert. Das  geschieht  bei  diesem  bescheidenen  Bilde 
dem  bevorzugten  Tropfen  und  bei  der  Entwicklung 
menschlicher  Gemeinschaft  der  genialen  Natur. 

Wir  fragen  uns  nun:  welche  Grundbedingungen  müs- 
sen gegeben  sein,  damit  in  einer  Gemeinschaft  das  Gesetz 
der  Seelenwerdung  erfüllt  werde?     Zunächst  muß  die  Ge- 


')  M.  11.  S.  149,  Sep.-Ausg.  S.  151. 

101 


meinschaft  lebendig  sein.  Es  genügt  nicht,  daß  sie  wie 
eine  Zweckgesellschaft  eine  beliebige  Anzahl  von  Men- 
schen für  ihren  besonderen  Zweck  äußerlich  zusammen- 
raffe; die  erste  Voraussetzung  ist  inneres  Leben  des  Ge- 
meinwesens und  dieses  Leben  ist  geistige  Berührung  und 
geistiger  Austausch.  Niemals  ist  eine  engere  menschliche 
Vereinigung  geistig  produktiv  geworden,  ohne  daß  ein 
Band  der  Herzen  sie  zusammenhielt.  Hieraus  ergibt  sich 
als  zweite  Notwendigkeit  die  innere  Abgrenzung.  Eine 
Völkerschaft,  die  aufgelöst  und  in  der  Welt  zerstreut  lebt, 
kann  noch  lange  nach  ihrer  Explosion  in  ihren  noch  leben- 
dig erzitternden  zerstückten  Gliedern  gemeinsame 
Eigenschaften  und  Erinnerungen  bewahren,  aber  sie  kann 
nicht  mehr  die  Kraft  schöpferischer  Seelengemeinschaft 
entfalten.  Wo  aber  immer  wir  solcher  Kräfte  gewahr 
werden,  immer  sind  sie  begleitet  von  einem  und  dem 
gleichen  Gefühlspaar:  dem  Gefühl  der  Verwobenheit  und 
des  Opfersinns.  Die  Fähigkeit,  sich  als  eine  Einheit  zu 
empfinden,  diese  Einheit  höher  zu  stellen  als  alles  indi- 
viduelle Leben,  in  ihr  aufzugehen,  für  sie  sich  hinzugeben: 
dieses  transzendente  Gefühl  erhöhter  Ordnung  ist  leicht- 
hin die  Voraussetzung  und  der  Maßstab  aller  seelischen 
Gemeinschaft.  Dürfen  wir  in  dem  verbundenen  und  ver- 
bindenden Kräftepaar  selbstbewußten  Gleichgewichtes 
und  selbstentäußernden  Opfermutes  das  eigentliche  Mo- 
ment der  geistigen  Addition,  den  Faktor  erblicken,  der 
den  Gemeinschaftsgeist  zur  Seelenentfaltung  zusammen- 
faßt, so  erscheint  die  neue  Erkenntnis  uns  bald  als 
Selbstverständlichkeit  vertraut:  denn  was  sollte  anderes 
den  inneren  Grund  jener  wunderbaren  Verschmelzung 
ausmachen,  wenn  nicht  das  alte,  allzu  rätselhafte  Band 
der  Hingabe,  der  Verwebung,  der  Entäußerung  und  des 
Opfers?  Das  Element  aber  aller  dieser  Kräfte  ist  die 
Liebe. 

*  * 


102 


Auch  das  Leben  einer  Gemeinschaftsseelc  wird  durch 
den  Augenblick  ihrer  Entstehung,  die  Vollendung  eines 
langen  Entwicklungsstadiums  und  das  Warten  an  der 
Schwelle  einer  erhabeneren  Welt  bezeichnet.  Individuen 
wie  Kollektivwesen  streben  gleichmäßig  zum  Reiche  der 
Seele.  Welche  Hilfe  wird  uns  nun  bei  diesem  Tat- 
bestande der  Einfluß  der  Seele  bringen?  Wir  haben  von 
ihr  sowohl  durch  Selbstprüfung  wie  durch  Beobachtung 
anderer  eine  klare  Erkenntnis.  Ihr  Wesen  und  ihre  Gesetze 
sind  absolut,  soviel  ist  sicher.  Sie  wird  also  unseren  Ur- 
teilen und  Handlungen  als  Kriterium  dienen.  Wir  werden 
immer  nur  eine  Frage  zu  stellen  haben:  fördert  oder 
hemmt  irgend  etwas  die  Entwicklung  der  Seele?  Und 
diese  Frage  wird  den  Polarstern  bilden,  an  dem  sich 
unser  ganzes  Leben  orientieren  wird. 

In  erster  Linie  unser  ethisches  Leben.  Wenn  wir 
bereits  den  völligen  Triumph  der  Seele  in  uns  verwirk- 
lichen könnten,  würden  wir  keines  Sittengesetzes  bedür- 
fen, da  wir  ja  dann  den  Zustand  absoluter  Reinheit  er- 
langt hätten.  Wir  Wesen  des  Ueberganges,  die  wir  uns 
von  dem  Joch  der  Materie  und  des  Intellektes  zu  befreien 
streben,  bedürfen  noch  der  Sittenlehre,  die  uns  die  Seele 
geben  wird.  Nichtig  ist  deshalb  jede  Sittenlehre,  die  sich 
auf  Lockungen  und  Drohungen  aufbauen  würde,  d.  h.  auf 
Fürchten  und  Hoffen,  diesen  beiden  charakteristischen 
Attributen  der  intellektualen  Welt.  „Das  absolute  Sitten- 
gesetz ist  für  den  unerlösten  Intellekt  eine  Verkündigung 
und  eine  Erkenntnis,  für  die  erlöste  Seele  ein  identisches 
Lebensprinzip;  scheinbar  imperative,  in  Wirklichkeit  nur 
Richtung  weisende  Form  kann  es  annehmen  für  den 
Zwischenstand  des  bald  entschiedenen  Seelenkampfes.  In 
dieser  Form  lautet  es:  , Achte  auf  deine  Seele!'1)." 

Liebe  haben  wir  als  die  Kraft  erkannt,  die  durch 
Verschmelzung   der   Geisteselemente   Seele     befreit,      im 


•)  M.  11.  S.  189-190,  Sep.-Ausg.  S.  192-193. 

103 


äußeren  Verbände  der  Individuen  als  Kollektivseele,  im 
inneren  Verbände  des  Einzelwesens  als  Einzelseele.  Liebe 
steht  daher  auf  dem  Gipfelpunkte  aller  irdischen  Werte; 
sie  ist  zugleich  das  höchste  Gut,  die  höchste  Tugend  und 
die  höchste  Kraft.  In  eben  dem  Augenblick,  wo  die  Liebe 
uns  ergreift,  zum  Menschen,  zur  Gottheit  oder  zur 
Kreatur,  löst  sich  jede  Spannung  des  eigenen  Wollens, 
wir  sind  nicht  wir  selbst  und  sind  doch  zum  ersten 
Male  wahrhaft  wir  selbst.  Wir  lassen  uns  nicht  von 
der  intellektualen  Welt  täuschen  mit  dem,  was  sie 
so  unwahrhaftig  als  das  ,,i  n  d  i  v  i  d  u  e  1 1  e  Wesen" 
oder  „das  Uebcrraenschentum"  bezeichnete 
und  was  aus  bloßem  individuellen  Streben 
nach  Sonderglück  entspringt  und  somit  nur 
egoistisch  genannt  werden  kann  und  uns  in  der  Tat  in 
die  Feindschaft,  den  Haß  und  die  Vernichtung  des  Näch- 
sten peitscht.  Wir  brauchen  dann  keine  Richtschnur  mehr 
für  ethisches  Handeln,  wir  kennen  dann  nur  noch  einen 
ethischen  Zustand,  in  dem  wir  von  nun  an  leben,  den 
„Stand  der  Gnade"  nach  der  Formel  der  kirchlichen 
Lehre,  die  diese  Wahrheit  schon  früh  ahnte.  „Wie  die 
Gottheit,  so  liegt  die  Sittlichkeit  nicht  im  Aeußern,  son- 
dern im  Innern  des  menschlichen  Bereiches;  sie  geht  im 
Menschen  vor,  aber  sie  geht  nicht  aus  ihm  heraus.  Sitt- 
lich sein  heißt  in  sich  selber  wirken1)/' 

Die  Menschen  teilen  sich  in  zwei  große  Kategorien, 
je  nachdem  in  ihnen  ein  Streben  überwiegt,  vermöge  dessen 
sie  sich  dem  besagten  ethischen  Zustande  nähern  oder  von 
ihm  entfernen.  Je  mehr  im  Menschen  die  muthafte,  freudige, 
impulsive  Tendenz  überwiegt,  die  am  nächsten  der  Liebe 
benachbart  ist,  desto  unmittelbar  geht  sein  Wollen  und 
Tun  auf  die  Sache,  die  Sache,  die  er  liebt  und  naturkräf- 
tig rückhaltlos  betreibt  und  um  deren  willen  er  auch 
ohne  jede  äußere  Lockung  schafft.  Dieser  Mensch  steht 
dem  sittlichen  Zustande  des  Erwachens  der  Seele  am 
*)  M.  11.  S.  193,  Sep.-Ausg.  S.  196. 

104 


nächsten.  Ueberwiegt  aber  im  Menschen  urngekehrt  die 
nüchterne  und  aller  Ideale  bare  furchthafte,  sorgenreiche, 
hemmungsvolle,  unschlüssige,  positive  und  autoritäre  Ten- 
denz, so  wird  sein  Geist  tief  in  intellektuales  Denken 
hineingezogen,  er  geht  nicht  auf  die  Sache,  sondern  hinter 
die  Sache,  sein  Ziel  wird  zumZweck,  Dinge  undMenschen 
werden  zum  Mittel  zu  glänzen  und  zu  steigen.  Die  empi- 
rische Polarität  der  furchthaften  Seelenferne  und  der  mut- 
haften Seelennähe  ist  von  den  wechselnden  ethischenAuf- 
fassungen  der  Zeiten  und  Zonen  in  verschiedenartiger  An- 
näherung aufgefaßt  und  ausgewertet  worden.  Am  klarsten 
hat  sich  der  germanische  Geist  diesen  Sachverhalt  ange- 
eignet; er  sagt:  Mut  ist  Tugend,  Furcht  ist  Laster;  ohne 
irgendwo  aufgeschrieben  oder  auch  nur  irgendwann  be- 
stimmt und  scharf  verkündet  zu  sein,  beherrscht  dieses 
Dogma  noch  immer  die  gesamte  moderne  Kulturwelt. 
Doch  es  hält  sich  streng  in  den  Erdenschranken  der  Rea- 
lität und  menschlichen  Schlichtung  und  dringt  nicht  bis 
in  die  Regionen  vor,  an  die  das  Reich  der  Seele  grenzt. 
Die  indische  Auffassung  wünscht  das  völlige  Abtun 
alles  Begehrens  und  aller  Furcht,  setzt  aber  auf 
diese  Weise  an  die  Stelle  der  weltschaffenden  Tätigkeit 
der  Seele  die  reiche  Seligkeit  der  Selbstvergessenheit  und 
erhabenen  Ruhe.  Die  Moral  der  semitischen  Völker 
nimmt  die  Partei  der  Schwachen.  Als  universelle  Tugend 
gilt  ihr  die  Furcht  und  ihre  Perle:  die  Barmherzigkeit. 
Aus  dieser  banalen  Güte  und  der  Vorstellung  eines  ein 
absolutes  Sittengesetz  verkündenden  Gottes  war  in  der 
neuen  Lehre  des  Juden  von  Nazareth  eine  zweckfreie 
Menschen-,  Feindes-  und  Gottesliebe  geworden,  die  „so 
nahe  an  die  Grenze  transzendentaler  Wertung  führte,  daß 
die  christliche  Lehre  nur  noch  die  Fessel  materieller 
Deutung  und  Versprechung  abzustreifen  brauchte,  um 
den  Kern  der  Liebe,  der  Entäußerung  und  des  Gottes- 
reiches zu  lösen1)." 

l)  M.  11.  S.  199,  Sep.-Ausg.  S.  202. 

106 


In  welchen  Stimmungen  und  Handlungen  äußert  sich 
der  ethisch  seelenhafte  Stand?  „Das  Leben  ist  geleitet 
und  bestimmt  von  Transzendenz  und  Liebe.  Jedes  Erleb- 
nis und  jedes  Handeln  erscheint  nur  insofern  wichtig,  als 
es  nach  diesem  Doppelgestirn  gerichtet  ist,  und  das  Leben 
selbst  hat  nur  deshalb  Wert  und  Bedeutung,  weil  es  diese 
Richtung  gestattet.  Die  Transzendenz  verliert  ihren  Be- 
griff, wenn  sie  auf  irdische  Zwecke  zurückgebeugt  wird. 
Wenn  die  Erhebung  zum  Göttlichen  die  Form  eines  Ge- 
bets um  leibliche  Güter  und  Vorteile  annimmt,  so  ist  sie 
abstoßend  und  gräßlich  und  nicht  mehr  Gottesdienst,  son- 
dern Geisterbeschwörung.  Wer  um  Strandgut  oder 
Schlachtensieg  bittet,  der  tötet.  Wer  durch  Selbst- 
beschuldigung der  Gottheit  zu  schmeicheln  glaubt,  belei- 
digt Gott  und  erniedrigt  seine  Seele.  Wer  unüberzeugt 
Ritualien  verrichtet,  begeht  Götzendienst  und  Fetischis- 
mus und  verschließt  die  Quellen  seines  inneren  Lebens. 
Leidenschaftliche  Totentrauer  und  vielgeschäftiger  Lei- 
chenkult verraten  und  beweisen  die  Gesinnung  der  Trans- 
zendenzlosigkeit.  Wir  wollen  stets  Ehrfurcht  üben,  doch 
immer  nur  solche,  die  nichts  weiß  von  hündischer  Demut; 
denn  in  dieser  Welt,  wo  das  Kleinste  unentbehrlich  ist 
und  daher  höchst  würdevoll,  insofern  es  einer  höheren 
Einheit  dient,  gibt  es  nichts,  das  so  klein  wäre,  daß  es 
nicht  gleichwohl  die  höchste  Ehrfurcht  verdiente.  Der 
Adel  der  Kreatur  ist  die  Ehre  des  Schöpfers.  Deshalb  wird 
auch  transzendente  Liebe  nicht  die  Verewigung  des  Indivi- 
duellen, weder  des  eigenen  noch  des  umfangenen,  verlangen; 
sie  führt  die  Unverbrüchlichkeit  des  Wesenhaften,  nicht 
des  Gleichnisses.  Ist  doch  die  gesamte  individuale  Erschei- 
nung unseres  Ich  das  Liebeswerk  vereinter  Geistesele- 
mente, dia,  einzeln  uns  unbekannt,  zu  diesem  festen  Kol- 
lektivbau von  unermeßlich  gesteigerter  Qualität  eben 
durch  diese  Urkraft  verschmolzen  sind.  Wichtig,  nach 
demBegriff  ethischen  Lebens,  ist  alles,  was  in  derRichtung 
der  Transzendenz  und  der  Liebe  orientiert  ist.    Uns  Hegt 

106 


ob,  das  Spiel  des  Lebens  möglichst  ernst  zu  nehmen.  Von 
neuem  und  in  einem  höheren  Sinne  müssen  wir  an  Nöte 
und  Begierden  glauben  lernen,  nicht  mehr  aus  primitiver 
Lust  der  Stillung,  sondern  in  bewußtem  Dienst  und  ledig- 
lich, um  das  irdische  Leben  zu  erhalten  und  seiner  letzten 
Aufgabe  entgegenzuführen.  Dieser  Dienst  ist  schwer; 
denn  er  fordert  Härte.  Wir  behalten  das  Recht,  uns  zu 
opfern,  aber  nicht  um  des  Nichtigen  willen.  Ja,  wir  sind 
gezwungen,  Opfer  zu  empfangen.  Aber  die  Opfer  der 
Natur  gehören  uns  nur  insofern,  als  wir  ihr  reicheres 
Leben  erstatten.  Nicht  mehr  bedarf  es,  durch  Verbote 
und  Befehle  aus  Gebrechlichkeiten  und  Lüsten  ein  not- 
dürftig gesittetes  Gehaben  aufzustutzen:  unsere  Sendung 
ist  vielmehr,  solange  die  Seele  nicht  vollkommen  erstarkt 
in  sich  selber  ruht,  zum  Leben  um  des  Gottes  willen  und 
zur  Leistung  um  der  Welt  willen  uns  zu  ermutigen.  Ein 
solch  ethisches  Leben  ist  zweite  Natur.  Denn  es  ruht 
nicht  mehr  auf  primitivem  Trieb  und  Willen,  sondern  auf 
erworbener  Gesinnung  und  transzendentem  Empfinden. 
So  rechtfertigt  sich  abermals  als  partielle  Lösung  ein  altes 
Symbol:    , .Nicht   Werke   heiligen,   sondern   Glaube1)." 

Mehrere  Wege  können  uns  zu  jenem  ethischen  Zu- 
stande des  Seelenhaften  führen.  Zunächst  der  des  Leides. 
,,So  wie  alles  Große  auf  Erden  von  Menschen  geschaffen 
worden  ist,  die  schuldig  oder  sündlos  die  Schmerzen  der 
Schuld  und  Sünde  erlebten,  Himmel  und  Abgrund  im 
Herzen  trugen,  Verworfenes  und  Heiliges  mit  gleicher 
Liebe  begriffen,  so  ist  das  Reich  der  Seele  nicht  den 
Schuldlosen  am  nächsten,  sondern  den  Dämonischen,  die 
aus  der  Tiefe  ihrer  Schmerzen  die  Wandlung  des  Leides 
erfahren  haben2)."  Der  zweite  Weg  ist  das  Schweigen. 
Der  Intellekt  ist  viel  zu  eingeengt  die  Sprache  des 
Geistes,  der  aus  den  Dingen  redet,  zu  fassen;  er  urteilt 
und  klassifiziert  und  nennt  das  Erkennen.    In  der  Einsam* 


')  M.  11.   S.  200-206,    Sep.-Ausg.  S.  203-209.     *)  M.  11.    S.  210,    Sep.- 
Ausg.  S.  213. 

107 


keit  und  Abgeschlossenheit  enthüllt  uns  jedes  Ding  seine 
Seele;  in  dieser  Stille  wird  das  Geheimnisvolle  möglich, 
so  daß  es  dem  Menschen  vergönnt  ist,  das  Seiende  und  das 
Werdende,  das  Vergangene  und  das  Kommende  zu 
erblicken.  Auch  die  partiale  Ableitung  kennzeichnet  die 
unendliche  Funktion.  „Der  Krug  faßt  nicht  den  Quell, 
aber  er  faßt  echtes,  edles  Wasser,  und  der  Tropfen  löscht 
nicht  die  Sonne,  aber  er  spiegelt  die  Gestirne1)."  Vom  Weg 
des  Schweigens  zweigt  sich  ab  der  Weg  der  Betrachtung, 
der  die  Welt  des  Sinnlichen  mit  der  Welt  des  Seelischen 
eng  verbindet.  Der  Wald  ist  nun  nicht  mehr  eine  ein- 
fache Forstwirtschaft,  der  Stein  ein  Brennmaterial,  der 
Mensch  ein  steuerzahlender  Bürger.  Nein,  in  allem,  vom 
Kristall  bis  zum  Blütenstaub,  entdecken  wir  die  gesetz- 
mäßige Herrschaft  von  Einheit,  Gleichklang  und  Recht. 
Ein  Samenkorn  birgt  eine  Welt,  die  wir  begreifen  können, 
weil  sie  nicht  leer  und  unbeseelt  ist,  sondern  einen  Geist 
offenbart,  der  genau  dem  unseren  entspricht.  Ein  letzter 
Weg  ist  die  Religion.  Schon  die  Uebungen  des  Leidens, 
des  Schweigens  und  der  Betrachtung  gehören  dieser 
Sphäre  an.  Die  religiösen  Einzelformen,  Dogmen, 
Mythen,  Mysterien  und  Symbole,  erscheinen  unserer  Be- 
trachtung als  zeitlich,  örtlich  und  intellektuell  bedingte 
Gleichnisse  und  Partialableitungen  mehr  oder  minder 
rein  empfundener  transzendenter  Wahrheit.  Hieran 
zu  glauben  ist  immerhin  noch  besser  als  wenn  man,  wie 
es  doch  so  oft  vorkommt,  lebt  und  stirbt  in  solchen  un- 
verdauten Intellektualformen  wie:  das  oberste  Weltprinzip 
sei  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft,  und  man  einen 
Wirtschaftsgrundsatz,  etwa  die  Oekonomie  der  Energie, 
auf  den  Thron  der  Ethik  setzt  und  damit  die  Gotteswelt  zu 
einer  riesigen  Sparbüchse  macht.  Erhebt  sich  das  vorge- 
schrittene Erfassen  einer  Zeit  ein  wenig  über  das  Maß, 
das  dem  Durchschnitt  erreichbar  ist,  und  ist  das,  was  ein 


l)  M.  11.  S.  213,  Sep.-Ausg.  S.  215. 
108 


Mensch  glaubt,  nicht  etwa  eigennütziger  Zweckglaube,  so 
sind  solche  religiösen  Richtungsbegriffe  wie  Sünde,  Per- 
sönlichkeit Gottes,  Erlösung,  Gnade,  Gemeinschaft  der 
Heiligen,  Gottesreich,  Gebet  und  Wunder,  weiter  nichts 
als  bloße  bildlich-faßliche  Mythologismen,  die  wohl  ge- 
eignet sind  in  uns  den  Thron  der  Seele  aufzurichten  und 
zu  befestigen. 

Welches  Glücksgefühl  kann  uns  eine  solche  Ethik 
bringen?  An  sich  ist  diese  Frage  ganz  nebensächlich; 
denn,  wäre  selbst  die  einzige  Folge  der  Seelenrevolution 
das  Leiden,  wie  es  ja  unter  ihren  Förderkräften  eine  der 
hauptsächlichsten  ist,  so  würde  der  Glaube  und  die  Wahr- 
heit uns  dennoch  zwingen,  für  die  Seele  zu  zeugen.  Es 
ist  jedoch  auffällig,  daß  die  hohe  Tugend  der  Selbstver- 
leugnung das  eine  wahre  und  tätige  Opfer  der  Liebe, 
dem  Intellekt  unendlich  schwer,  der  Seele  selbstverständ- 
lich, vollbringt:  Freude  für  Leid  der  Welt  einzutauschen. 
In  diesem  Sinne  wirkt  das  Seelenhafte  und  Seelengerich- 
tete irdisch-eudämonistisch,  und  in  diesem  Sinne  haben 
die  Religionen,  die  das  freiwillige  Sühneopfer  preisen, 
Recht.  Bei  der  Schwierigkeit  des  Opfers  dieses  freien 
Aufschwunges  der  Seele  für  den  Intellekt  spüren  wir 
etwas  von  der  grenzenlosen  Entfremdung  und  schneiden- 
den Trennung,  die  jedem  Entwicklungsschritt  der 
Schöpfung  vorangegangen  sein  mag,  gleichviel,  ob  ein 
Menschenvorfahr  den  aufrechten  Gang  oder  ein  bahn- 
brechender Denker  die  produktive  Idee  aus  sich  losriß. 

Ebenso  wie  auf  das  ethische  Leben,  übt  die  Seelen- 
revolution auch  auf  das  ästhetische  Leben  einen  Ein- 
fluß aus. 

Schon  gleich  begrifflich  besteht  eine  enge  Beziehung 
zwischen  ästhetischem  Empfinden  und  Seele.  Dieses 
Empfinden  ist  in  der  Tat  nichts  weiter  als  die,  wenn  auch 
unbewußte  Wahrnehmung  einer  latenten  natürlichen 
Gesetzmäßigkeit    und     Ordnung.     Es    löst     in    uns     ein 

109 


Erlebnis  von  Glück  aus,  gewinnt  doch  der  Geist  in 
solcher  Wahrnehmung  die  Zuversicht  eigener  freier 
Kräfte.  Anders  als  bei  den  die  Tätigkeit  wissenschaft- 
licher Forschung  begleitenden  psychischen  Vorgängen, 
bei  denen  es  sich  um  die  bewußte  Wahrnehmung  einer 
solchen  Gesetzmäßigkeit  und  weiter  um  eine  spekulative 
Untersuchung  ihrer  Gesetze  handelt,  hat  die  Seele  beim 
Erschauen  der  Natur  eine  unmittelbare  Intuition,  die  das 
Kunstwerk  ohne  irgendwelches  lange  Suchen  oder  irgend- 
welchen äußeren  Zwang  schaffend  hervorbringt.  Von  An- 
fang an  entzieht  sich  alle  wahre  Kunst  der  Zweckmäßig- 
keit und  dem  Intellekt. 

Doch  die  Mittel  der  Kunst  sind  materiell,  und  ihr 
Wirkungskreis  sind  die  menschlichen  Sinne.  Insoweit 
gehört  sie  zur  organischen  Welt,  deren  Beherrschung  ihr 
aber  gleichwohl  lange  Zeit  nicht  gelungen  ist.  Die  ersten 
Künste  waren  technischer,  dekorativer,  mnemotechnischer 
oder  didaktischer  Art.  Später  machte  sich  die  Kunst  die 
objektive  Darstellung  der  Wirklichkeit  und  die  Entwicke- 
lung  aller  in  ihr  enthaltenen  typischen  Elemente  zur 
Aufgabe.  Hier  gelangten  die  Griechen  zu  einer  Vollen- 
dung, die  später  zu  keiner  Zeit  mehr  überboten  worden 
ist  und  so  lange  noch  irgendwelcher  Wert  auf  das  wahre 
Wesen  .der  Kunst  gelegt  wird,  auch  gar  nicht  überboten 
v/erden  kann.  Bei  anderer  Auffassung  kann  sie  es  viel- 
leicht und  ist  es  auch  wirklich  worden.  Es  war  unseren 
neuesten  Zeiten  vorbehalten,  in  denen  die  Kunst  „das 
scheinbar  absolute  und  ideale  Gebiet  des  Typischen  ver- 
lassen, weil  es  angeblich  keine  letzte  Vertiefung  gestattete, 
und  die  bescheidenen,  unendlich  verzweigten  anscheinend 
richtungslosen  und  zufälligen  Wege  des  Individuellen 
beschreiten  mußte,  um  tiefer  dem  Herzen  der  Schöpfung 
entgegenzudringen  und  das  liebeumfaßte  Einzelne  zur 
allspiegelnden    Gültigkeit     zu    erhöhen1)."      Genien     wie 


')  ML  11.  S.  254,  Sep.-Ausg.  255 

uo 


Rembrandt,  Goethe,  Beethoven  haben  die  Natur  und  die 
menschliche  Seele  leidenschaftlicher  empfunden  und  un- 
mittelbarer erschaut,  als  es  jemals  die  größten  Meister 
unter  den  objektiven  Künstlern  vermocht  hätten.  „Die 
Welt  Homers  verhält  sich  zur  Welt  Shakespeares  und 
Dostojewskys  wie  die  vollkommene  Beobachtung  zur  voll- 
kommenen Einfühlung1)."  Unter  allen  neueren  Künsten 
ist  die  unvergänglichste  die  der  Musik.  Die  auf  diesem 
Gebiete  entstandenen  Werke  sind  sich  völlig  Selbstzweck 
und  finden  ausschließlich  in  sich  ihre  Rechtfertigung  und 
ihre  Gesetze.  Sie  sind  Schöpfungen  der  Seele,  die  die 
Wirklichkeit  der  Außenwelt  erleuchten  und  weihen. 
Solche  Meisterwerke  haben  weder  die  orientalischen 
noch  die  beiden  klassischen  Völker  gekannt  noch  auch 
selbst  in  unseren  Tagen  gewisse  Völker  romanischen  Ur- 
sprungs; diejenigen  Musikwerke,  die  den  Namen  eines 
Meisterwerks  wahrhaft  verdienen,  sind  germanischen  Ge- 
nien zu  verdanken.  Möglicherweise  sind  manche  Vorzüge 
vergangener  Zeiten  verloren  gegangen,  wie  beispielsweise 
die  der  Tradition,  der  Sicherheit  des  Geschmackes  und 
des  Formensinnes,  möglicherweise  ist  auch  die  Archi- 
tektur ein  für  allemal  dahin;  dafür  aber  hat  die  Kunst 
andere  Werte  gewonnen,  die  ganz  köstliche  und  un- 
schätzbare Werte  sind,  nämlich  die  Seelenhoitigkeit  und 
die   Freiheit. 

Zwecke,  gleichviel  welcher  Art,  hat  eine  solche  Kur.st 
der  Seele  nicht  erfüllen.  Ebenso  hat  sie  auf  äußere  Ge- 
fälligkeit, auf  Beherrscbui.g  alles  rein  Handwerklichen  in 
der  Ausführung  zu  verzichten.  Sie  wird  infolgedessen  auch 
nicht  volkstümlich  im  landläufigen  demokratischen  Sincc 
sein.  Die  herrschenden  Stände  werden  sich  ihr  feindlich 
erweisen.  Sie  wird  eine  Sache  der  Berufenen  sein,  und 
zwar  etwa  keineswegs  nach  dem  Satze  von  „der  Kunst 
für  die  Kunst",  sondern  vielmehr  in  dem  Sinne,  daß 


*)  M.  11.  S.  245,  Sep.-Ausg.  S.  248. 

111 


sie  ausschließlich  und  allein  den  auserwählten  Naturen 
zugänglich  ist.  Von  dem  Künstler  erwarten  wir,  daß  er 
uns  wirklich  ein  starkes  und  persönliches  Erlebnis  mitzu- 
teilen habe  und  daß  er  ihm  gleichzeitig  in  einer  oiiginalen 
Handhabung  der  Formen,  Farben  oder  Töne  Ausdruck  zu 
geben  wisse.  Jedoch  ohne  jede  Verstiegenheit  undAesthe- 
tisiererei,  ist  doch  die  Meisterschaft  nicht  Selbstzweck 
sondern  allein  Mittel  zum  Zweck.  „Echte  Kunst  macht 
die  Gesetze  des  Organischen,  des  Schicksals,  der  Seele 
und  des  Göttlichen  fühlbar:  sie  stammt  aus  dem  Erlebnis 
echter  Menschlichkeit,  ist  gestaltet  in  der  Erkenntnis  des 
Wesentlichen,  ausgedrückt  in  der  Sprache  der  Persön- 
lichkeit und  führt  zur  Erschütterung  der  Seele.  Denn  sie 
erfüllt  uns  mit  der  Gewißheit,  daß  wir  nicht  im  Chaos 
der  Willkür  und  des  Zufalls  beruhen,  sondern  im  gött- 
lichen Kosmos;  wir  verlöschen  im  Selbstischen  und  er- 
stehen im  Gefühl  der  Würde  und  Gnade  höchster  Ge- 
meinschaft1)." 

Es  läßt  sich  nicht  grade  behaupten,  daß  die  zeit- 
genössische Kunst  diesem  Ideal  irgendwie  entspreche. 
Von  der  Konkurrenz  überspannter  Eigenbrödler  ge- 
peitscht, leidet  sie  unter  dem  raschen  Wechsel  der  Mode, 
ihrer  immer  größeren  Entfremdung  von  dem  noch  gesunden 
Teile  derNation,  dem  wachsenden  Einflüsse  derAestheten 
und  Frauen,  ihrer  Belastung  mit  allzu  vielen  Erinnerungen 
und  Eindrücken  und  den  steigenden  Ansprüchen  auf  In- 
ternationalität.  Zudem  erleben  wir  gegenwärtig  nicht 
mehr  eine  jener  großen  Zeitwenden  der  Kultur  oder 
auch  irgendwelcher  sozialer  Anstürme  oder  Erschütte- 
rungen2), die  stets  das  Anbrechen  von  großen  Zeitaltern 
der  Kunst  begünstigt  haben.  Ebensowenig  unbekannt  wie 
überraschend  ist  daher  auch  die  Tatsache,  daß  unsere 
Zeit  merklich  von  den  Künsten  abrückt.     Manche  Snobs 


>)  M.  11.  S.  271,  Sep.-Ausg.  S.  272-273.  -°)  Es  ist  zu  bedenken,  dass 
die  dem  franz.  Verf.  für  dieses  Kapitel  zugrunde  liegende  Schrift  Raihenaus 
bereits  vor  1914  entstanden  ist.    (Bearbeiter.) 

112 


gebärden  sich  wohl  noch  so,  daß  es  den  Anschein  er- 
wecken möchte,  als  ob  sie  sich  auch  heutzutage  noch 
dafür  interessierten,  doch  die  im  praktischen  Leben 
stehenden  Männer  bleiben  der  Kunst  fremd.  Dem 
Mechanisierungsprozesse  entsprechend  ist  die  wirt- 
schaftliche Tat  als  das  Schaffenselement  der  stärksten 
Potenz  anzusehen.  Doch  diese  Entfremdung  kann  un- 
möglich als  etwas  Endgültiges  betrachtet  werden.  Niemals 
wird  die  Menschheit  auf  ihrem  Gange,  der  zur  Seele 
führt,  der  Kunst  entbehren  noch  ihr  entsagen1)."  Die 
Kunst  hat  den  rohen  und  halb  tierischen  Urvölkern  die 
Natur,  das  Gesetz  und  die  Transzendenz  offenbart.  Sie 
hat  der  fortgeschrittenen  Menschheit  gezeigt,  wie  sie  sich 
von  Furcht  und  Begehren  befreien  und  zu  dem,  was  hinter 
den  Erscheinungen  liegt,  vordringen  könne.  Für  den 
Augenblick  scheint  die  Kunst  vom  Wege  abgekommen 
zu  sein  und  vereinsamt  dazustehen.  Wer  weiß,  ob  nicht 
vielleicht  doch  neue  Katastrophen  wieder  ihr  altes  Feuer 
beleben  werden2)?"  Wer  weiß,  ob  nicht  die  heutigen 
Uebertreibungen  vielleicht  nur  ihr  Entstehen  einer  Kunst 
zu  verdanken  haben,  die  zu  schnell  vorwärts  gegangen  und 
der  Menge  zu  weit  vorausgeeilt  ist,  die  ihr  aber  aufs  neue 
zu  dienen  wissen  wird,  wenn  sie  wieder  ihren  Schritt  zu 
zähmen  und  auf  die  Stimme  dieser  Menge  zu  hören  be- 
ginnen wird? 

Nach  der  Ethik  und  der  Kunst  sollte  auch  bald  das 
soziale  Leben  durch  die  Entwicklung  des  Seelenlebens 
umgestaltet  werden. 

Hier  könnte  ein  banger  Zweifel  möglich  sein.  Wird 
nicht  dabei  um  die  Zukunft  des  gesamten  mechanistischen 
Volkswirtschaftsbetriebes  gespielt?  Ist  es  möglich,  die 
Wirkungen  der  fortschreitenden  Mechanisierung  zu  besei- 
tigen, ohne  daß  etwa  gleichzeitig  mit  einem  Schlage  die 


l)  M.  11.  S.  287,  Sep.-Ausg.  S.  288.  -)  Von  der  Entstehungszeit  dieser 
R.schen  Ausführungen  über  Kunst  aus  gesehen  (1913),  welch'  prophetisches 
Wort!    (Bearbeiter.) 

8  113 


ganze  soziale  Maschine  zum  Stehen  komme?  Daß  sie 
recht  mangelhaft  funktioniert,  wissen  wir  ebenso  wie  die 
Tatsache,  daß  die  sie  treibenden  Kräfte  die  materielle 
Not  und  das  Begehren  nach  Besitz  und  Genuß,  zu  den 
Scheußlichkeiten  des  Lebens  gehören.  Aber  lassen  sich 
diese  Kräfte  wirklich  so  unbedenklich  einfach  aufheben? 
Walther  Rathenau  meint  es.  Wir  werden  im  folgenden 
sehen,  wie  er  bei  der  Betrachtung  der  praktischen  Mittel 
für  die  Verwirklichung  der  von  ihm  geplanten  Reformen 
diese  treibenden  Kräfte  näher  untersucht,  um  auf  diese 
Weise  einen  ganz  genauen  Einblick  in  ihre  Stärke  und 
in  ihre  Ersetzungsmöglichkeiten  zu  gewinnen.  Von  vorn- 
herein erkennt  er  an,  daß  diese  treibenden  Kräfte  weder 
unantastbar  noch  unentbehrlich  sind.  Die  materielle  Not 
ist  nur  ein  nebensächliches  und  unwesentliches  Phänomen. 
„Zwei  Milliarden  weniger  als  der  dritte  Teil  der  öffent- 
lichen Budgets,  in  Deutschland  jährlich  aufgebracht  und 
richtig  verwendet,  würden  die  letzte  Spur  von  Not  aus 
dem  Lande  treiben1)."  Die  beiden  anderen  Einwände  nun 
sind  weit  weniger  erheblich  als  sie  es  zunächst  auf  den 
ersten  Blick  scheinen  könnten;  es  hat  auch  nicht  die  ge- 
ringsten Nachteile,  sondern  umgekehrt  alle  nur  irgendwie 
denkbaren  Vorteile  an  die  Stelle  ierer  beiden  bisherigen 
intellektualen  Hauptmotoren,  des  Willens  zum  Besitz  und 
Genuß  und  des  Willens  zur  Macht,  die  beiden  neuen: 
Arbeitsfreudigkeit   und   Verantwortungsgefühl   zu   setzen. 

Doch  wie  soll  sich  die  Umwandlung  vollziehen?  Etwa 
im  Anschluß  einer  unvorhergesehenen  Entdeckung  un- 
serer Zeit?  Schon  möglich!  Wer  kann  sich  rühmen,  vor- 
aussagen zu  wollen,  was  uns  das  Morgen  bringt? 
Oder  aber  durch  das  Inkrafttreten  neuer  Einrichtungen? 
Sicherlich  nicht!  Es  ist  falsch  zu  glauben,  daß  die  Ein- 
richtungen den  Gang  der  Menschheitsgeschichte  irgend- 
wie bestimmen  oder  beschleunigen  könnten.     ,,Im  Geisti- 


•)  M.  11.  S.  294,  Sep.-Ausg.  S.  295.  -  Vor  1914  t    Bearbeiter. 
114 


gen  ist  der  kühnste  Schritt  erlaubt  und  möglich,  im  Prag- 
matischen verwirklicht  sich  nur  das,  was  als  Gedanke 
längst  zur  Trivalität  geworden  ist1)."  Oder  schließlich  durch 
den  Niedergang  der  mechanistischen  Wirtschaftsreform? 
Rechnen  wir  nur  nicht  damit,  wenigstens  für  den  Augen- 
blick, unsere  Erde  ist  noch  immer  viel  zu  wenig  ausge- 
beutet, als  daß  diese  Wirtschaftsform  schon  ihrem  Ende 
nahe  sein  sollte.  Die  Kräfte,  die  den  mechanistischen 
Betrieb  überwinden  sollen,  werden  nicht  aus  der  Außen- 
welt kommen,  und  nicht  gleichen  Wesens  sein,  wie  dieser 
Betrieb.  Nur  eine  innere  Erhebung,  eine  Umgestaltung 
des  menschlichen  Wollens  und  Strebens  —  deren  Wur- 
zeln, wie  zuzugeben  ist,  bereits  in  dem  Boden  des  mecha- 
nistischen Wirtschaftsgartens  zu  finden  sind  —  können 
diesen  Zauberkreis  durchbrechen  und  die  zähen  Fesseln 
der  Furcht  und  der  Gier  sprengen.  „Nicht  Einrichtungen, 
Gesetze  und  Menschen  schaffen  das  neue  Leben,  sondern 
Gesinnungen;  den  Gesinnungen  des  neuen  Lebens  aber 
folgen  widerstandslos  Einrichtungen,  Gesetze  und 
Menschen2)." 

„Unter  diesen  Bedingungen  nimmt  die  Arbeit  eine 
neue  Form  an,  deren  Anfänge  wir  schon  heute  erkennen. 
Nicht  daß  sie  zum  bloßen  athletischen  Spiel  herabsinkt, 
das  stundenweis  mit  künstlich  angefachter  Leidenschaft- 
lichkeit geübt  wird;  vielmehr  tritt  das  große  aller  Verede- 
lung zugrunde  liegende  Gesetz  der  wiedergeborenen  Na- 
tur in  besonderer  Erscheinung  zutage:  was  ursprünglich 
aus  Gier  und  Furcht  geschah,  geschieht  jetzt  aus  inner- 
lichem Bewußtsein.  Arbeit  wird  nicht  Selbstzv/eck,  aber 
Menschenpflicht;  Lohn  und  Strafe,  Gewinn  und  Gefahr 
verblassen,  die  Aufgabe  besteht.  Da  nun  die  Aufgabe 
Sache  der  Gemeinschaft  ist,  so  folgt  die  Solidarität  des 
Werkes  und  der  Ziele.  Nicht  eine  gesetzliche  Zwangs- 
anstalt, die  den  Starken  und  Begabten  zwingt,  die  Früchte 

l)  M.  ll.  S.  301,  Sep.-Ausg.  S.  302.      *)  M.  11.  S.  313-314,  Sep.-Ausg. 
S.  314. 

8»  .  H6 


seines  Lebens  widerwillig  auszuliefern,  damit  Schwache 
und  Unbefähigte  Muße  finden,  ihn  durch  Majorität  zu  be- 
herrschen, nicht  ein  falscher  Altruismus,  der  paarweise 
den  Gesunden  für  den  Kranken  opfert,  sondern  das  freie 
Bewußtsein,  daß  es  unedel  ist  zu  schwelgen,  feige  —  auf- 
zuspeichern, gewalttätig  —  zu  sequestieren;  daß  mate- 
rielles Glück  nur  im  Schaffen  und  in  der  Verantwortung 
gegeben  ist,  daß  Arbeit  Menschenrecht  und  Menschen- 
verdienst bedeutet,  ist  der  Sinn  unseres  weltlichen 
Standes1)." 

„Herrlich  ist  es,  zu  wissen,  daß  das  geringste  Abtun 
der  frühesten  Begierde,  das  keinem  wahrhaft  geistigen 
Menschen  unserer  Zeit  ein  ernstliches  Opfer  bedeutet,  daß 
dieses  Abtun  genügt,  um  die  Menschheit  aus  dem  irren 
Kreislauf  der  Mechanisierung  zu  reißen  und  ihr  freien 
Weg  zu  schaffen.  Ein  männliches  Selbstbewußtsein, 
gleich  entfernt  von  brutaler  Herrensucht  und  äffischer 
Eitelkeit,  ein  königliches  Vertrauen  zur  eigenen  Kraft  und 
zur  Weisheit  der  Mächte  wird  diesen  Weg  geleiten,  der 
nicht  zu  Wirtschaftssachen,  sondern  zu  transzendenten 
Gütern  führt.  Der  materielle  Beruf  bleibt  ernst;  denn  die 
Verantwortung  schützt  ihn  vor  spielerischer  Verflachung, 
aber  er  verliert  seine  Endgültigkeit;  die  dumpfe  Beherr- 
schung jeder  Lebensstunde,  die  leidenschaftliche  Angst, 
die  Versklavung  des  Geistes,  die  Feindseligkeit  des  Kam- 
pfes, die  Verblendung  des  Auges  wird  ihm  genommen. 
Der  Mensch  richtet  sich  auf  und  blickt  wieder  zu  den 
Gestirnen  empor,  er  wird  zum  Freund  des  Menschen,  der 
Dinge  und  der  Mächte2}."  Wenn  auch  durch  seine  Arbeit 
an  die  Maschine  gebunden,  darf  sich  der  Mensch  doch 
nicht  selbst  zu  einer  Maschine  umwandeln,  wie  das  zu 
Anfang  der  mechanischen  Periode  eingetreten  ist.  Reiche 
Mußezeit    muß    ihm    bleiben    und    Gelegenheit    gewährt 

>)  M.  11.  S.  304,  Sep.-Ausg.  S.  305.      2)  M.  11.  S.  319-320,  Sep.-Ausg 
S.  320. 

116 


werden,  um  in  gleichem  Maße  seinen  Körper  pflegen  und 
seinen  Geist  bilden  zu  können. 

Weder  die  vollkommene  soziale  Umwälzung  im  Sinne 
einer  Verstaatlichung  der  Arbeitsmittel  noch  auch  irgend- 
eine  andere   Art   der   Gesetzgebung   ist   erforderlich,   um 
der  wachsenden  Empfindung  zu  ihrem  Recht  zu  verhelfen, 
daß   „jeder,  wer   es   auch   sei,    sich   versündigt,   wenn   er 
für  sich  und  seine  Nachkommen  von  den  materiellen  Gü- 
tern der  Welt  mehr  an  sich  zieht  und  verwendet,  als  zu 
einer  mäßigen  Lebensführung  erfordert  wird1)."    Der  Ten- 
denz kommender  Besitzanschauung  wird  durch  die  mecha- 
nistischen Maßnahmen  unseres   Besteuerungswesens  aufs 
wirksamste  vorgearbeitet:  wir  sind  geschult,  den  Zehnten 
als  Recht    der  Gemeinschaft    darzubringen;    schon    nach 
wenigen  Generationen  wird  aber  das  Verhältnis  sich  um- 
kehren, und  billig  erachtet  werden,  wenn  in  Besitzlagen, 
die    ein   mäßiges    Verbrauchsbedürfnis    übersteigen,    vom 
Erwerb,   Vermögen   und   Erbe    der   Zehnte    dem   Besitzer 
verbleibt.   Das  Verhältnis  zwischen  Hoch  und  Niedrig  wird 
sich  dann  vollkommen  umgestalten.     Es  wird  dann  wohl 
auch    das   System    von    unterwürfiger   Treue    gegenüber 
herrschaftlicher  absoluter  Autorität,  das  man  so  gern  als 
das  patriarchalische  bezeichnet,  von  Grund  aus  für  immer 
vernichtet  sein,  so  daß  irgendwelches  Bedauern  über  sein 
Verschwinden  von  vornherein  völlig  zwecklos  ist.     „Denn 
wie    einerseits    eine    verantwortungslose    Tätigkeit    und 
Leistung  nicht  mehr  denkbar  ist,  so  kann  anderseits  eine 
andere  schützende  Fürsorge  und  Gegenleistung  als  die  der 
wohlgesinnten  Arbeitgeberschaft,    bestenfalls    verbunden 
mit  etwas  unzuverlässiger  Protektion,  nicht  mehr  gewährt 
werden2)."    In  dem  gleichen  Maße  nun,  wie  sich  das  Soli- 
daritätsgefühl entwickelt,  wird  auch  die  Tendenz  des  ge- 
meinschaftlichen    Besitzens,     Beschauens     und    Erlebens 
fortschreiten;  für   unsere   Indolenz,   die   auf  Grund   eines 


»)  M.  11.  S.  305,  Sep.-Ausg.  S.  306.     2)  M.  11.  S.  307,  Sep.-Ausg  S.  308 

117 


ungebrochenen  und  verbohrten  Eigentumbegriffs  jedem 
Monopolisten  gestattet,  ein  Rembrandtsches  Werk,  ein 
Beethovensches  Manuskript  oder  eine  Naturschönheit 
dauernd  der  Öffentlichkeit  zu  entziehen,  wird  ein  Zeit- 
alter solchen  höheren  Solidaritätsgefühles  kein  Verständ- 
nis haben  und  ihm  ein  kräftiges  Halt  entgegenrufen. 
Der  wachsenden  Solidarität  des  einzelnen  entspricht  es 
weiter,  daß  auch  die  Solidarität  der  Geschlechterreihen 
sich  ankündige,  für  die  eine  unerbittliche  dreifache  Erb- 
folge das  Trennungsmoment  bildet,  das  sie  gegeneinander 
isoliert;  die  dreifache  Erblichkeit  des  Besitzes,  des  Stan- 
desvorrechts und  der  Bildung,  unter  der  heute  eine  ganze 
Hälfte  der  Menschheit  zu  leiden  hat,  muß  mit  der  Ent- 
faltung des  Seelischen  schwinden.  Läßt  sich  noch  erb- 
licher Besitz  und  erbliches  Standesrecht  mit  einer  ge- 
wissen menschlichen  Trägheit  der  Gewöhnung  und  einem 
vorgeblichen  Verdienste  von  Vorfahren  kümmerlich  ent- 
schuldigen, so  läßt  sich  mit  keinem  Worte,  selbst  im  Zeit- 
alter der  Mechanisierung  nicht,  erblicher  Anspruch  und 
erblicher  Ausschluß  rechtfertigen,  wenn  es  sich  um  die 
Güter  der  Erziehung  und  Bildung  handelt.  Jeder,  der 
diese  beiden  Güter  selbst  genießt  und  diesen  Genuß  zu 
würdigen  weiß,  wird  begreifen,  welchen  tiefen  Groll  die 
Unterschichten  aller  Kulturländer  empfinden  müssen,  die 
dieser  beiden  Güter  ein  für  allemal  beraubt  sind.  Und 
woher  sollte  er  dann  wohl  noch  den  Mut  nehmen,  ihnen 
diese   geistigen   Güter   vorzuenthalten? 

Diese  zukünftige  Form  unseres  Lebens  unter  der 
Herrschaft  der  Seele  hat  allerdings  „nichts  Paradiesisches 
und  Utopisches.  Sie  verspricht  keine  neuen  leiblichen 
Genüsse,  sie  entbindet  nicht  von  angestrengter  Arbeit, 
ja  sie  erhöht  die  Anspannung,  indem  sie  Vergeistigung 
fordert,  und  lohnt  mit  Verantwortung.  Sie  verlangt  den 
Verzicht  auf  die  Sorglosigkeit  und  Eitelkeit  des  Unver- 
dienten, des  Überflusses  und  der  Absperrung,  auf  die  täg- 
liche Unterhaltung  der  Modenarrheit  und  der  Mode- 
lls 


Sensation,  auf  Herrschaftsgelüste,  Menschendienst, 
Verherrlichung  und  Neidfreude.  —  Sie  fordert  Solidarität 
der  Gemeinschaft:  einer  für  alle;  alle  für  einen.  Nicht 
die  Solidarität  entstellter  Staatsgesinnung,  welche  ewige 
Unterwerfung  verdammter  Schichten  fordert,  damit  die 
andern  unter  falschen  Seufzern  unverzagt  herrschen 
dürfen,  sondern  die  Solidarität  der  Empfindung,  des 
Willens,  der  Arbeit,  der  Geschäfte,  der  Sorge  und  der 
Leiden.  Was  sie  gewährt,  ist  Arbeit  und  Muße,  Men- 
schenwürde, Menschlichkeit  und  Freiheit  im  tätigen 
Leben,  Raum  für  die  Menschenseele  in  Zeit  und  Ewig- 
keit1)." 

Mögen  die  freiwilligen  oder  unbewußten  Opfer  unse- 
res mechanistischen  Wirtschaftssystems  lächeln,  wenn  es 
ihnen  gefällt.  Ein  derartiger  Umwandlungsprozeß  ist 
darum  doch  keine  unrealisierbare  Phantasie.  Hat  die  Welt 
nicht  Wunderbareres  ohne  jedesErstaunen  erlebt?  Ist  denn 
wirklich  der  Abstand  zwischen  uns  und  dem  Menschen 
der  Zukunft  so  viel  größer  als  der  zwischen  den  prähisto- 
rischen Höhlenmenschen  und  solchen  genialen  Denkern 
wie  einem  Kant  und  einem  Goethe?  Oder  etwa  auch 
nur,  wie  der  zwischen  den  Leibeigenen  des  vorletzten 
Jahrhunderts  und  ihren  Urenkeln,  den  Dichtern  oder 
Staatsmännern  der  Gegenwart?  Ist  denn  aber  zum  Em- 
porkommen des  geschilderten  Idealzustandes  auch  nur 
irgend  etwas  anderes  erforderlich,  als  daß  wir  einmal 
ernstlich  beginnen  Christus  zu  verstehen?  Freilich,  nicht 
historisch-wissenschaftlich,  sondern  einfach  durch  intimes 
Einfühlen  in  sein  geistiges  Leben,  durch  seelisches  Er- 
greifen seiner  Natur.  „Nichts  ist  in  dieser  Schilderung 
gesagt,  was  sich  nicht  aus  seinen  Gedanken  entnehmen 
ließe,  und  nichts  ist  gefordert,  was  nicht  in  den  geistigeren 
Menschen  unserer  und  früherer  Zeiten  keimend  sich 
findet3)."     Schon  hat  die  Welt  genug  und  übergenug  an 


•1  M. II.  S.  314,  Sep.-Ausg.S.  314-315.     *)  M.  11.  S.  321,  Sep.-Ausg.  S.321. 

119 


der  ganzen  Intellektualität.  Schon  wissen  die  hellsehen- 
den Menschen  unter  ihren  Mitmenschen,  an  welchen 
Posten  diese  auch  gestellt  sein  mögen,  die  alltäglichen 
Durchschnittsnaturen  von  den  wahrhaften  Edelnaturen  zu 
unterscheiden.  Wenn  erst  diese  letzteren  alle  übrigen 
verdrängt  haben  werden,  wenn  erst  volles  Verständnis 
dafür  sein  wird,  daß  es  allein  darauf  ankommt,  den 
Triumph  der  Seelenschau  und  Liebe  zu  sichern,  dann,  ja 
dann  können  wir  glauben,  wird  das  Reich  der  Seele 
kommen.  Freilich  wird  die  Natur  noch  lange  Spuren  der 
gegenwärtigen  Menschheit  erhalten,  zeigt  sie  uns  doch 
auch  heute  noch  in  etwas  abseits  von  der  allgemeinen 
Völkerstraße  gelegenen  Winkeln  vereinzelte  Exemplare 
der  Urmenschheit,  doch  gleichwohl:  das  Reich  wird 
kommen! 

Durch   welche    Gesellschaftsklassen   sich    die   Entfal- 
tung   des    Seelischen    vollenden    wird,    errät    wohl    jetzt 
schon   ein   jeder:    es    sind   die   bisherigen   Unterschichten 
aller  Kulturvölker.     Kein  Wunder!     Es  läßt  sich  heute  in 
der  Tat  nicht  mehr  bestreiten,  daß  die  höheren  Klassen 
ihre   Sendung    erfüllt  haben,    ihre    Sendung,    die   einstens 
darin  bestanden  hatte,  die  Welt  im  Zeichen  der  ihr  von 
ihnen     gebrachten    Ideale     von    Mut     und     Freiheit     zu 
veredeln  und  die  formlosen  Massen  in  Wallung  zu  brin- 
gen, daß  sie  Leben  und  Gestalt  annähmen.     Nach  dieser 
Richtung  haben  sich  die  höheren  Klassen  als  Propheten 
und  geniale  Wegweiser  bewährt.    Aber  sie  sind  allmählich 
diesem  Werke    zum  Opfer  gefallen.      Selbst    wenn    ihre 
gegenwärtigen  Nachkommen  die  Zeichen  ihres  physischen 
Adels  bewahrt  haben  sollten,  so  würde  ein  Streben  nach 
dem  Reiche  der  Seele  doch  jedenfalls  bei  ihnen  vergeb- 
lich gesucht  werden;  ihr  Geist  wird  sich  erst  dann  wieder 
als   ein   schöpferischer   erweisen,   wenn   einmal  frischeres 
Blut  in  ihre  Adern  dringt,  sich  mit  ihrem  älteren  vermischt 
und  sie  so  auf  diese  Weise  verjüngt.     Lassen  wir  unseren 
Blick  nicht  etwa  trüben  durch  das  Bild  der  Letztgekom- 


120 


menen  und  Jüngstemanzipierten;  der  heutigen  Unter- 
schichten, unter  denen  er  natürlich  zunächst  noch  vereinzelte 
anstößige  Elemente  gibt.  Im  Laufe  des  letzten  Jahr- 
tausends haben  die  Unterschichten  der  europäischen  Kul- 
turvölker unter  der  drückenden  Herrschaft  ihrer  Aristo- 
kratien trotz  Not  und  Seuchen  bedeutende  Schritte  getan, 
um  sich  dem  geistigen  Ziel  zu  nähern.  Fast  ausnahmslos 
tragen  die  wenigen,  die  seit  fünfhundert  Jahren  den  Geist 
Europas  gelenkt  und  verkörpert  haben,  an  Haupt  und 
Gliedern  die  deutlichen  Zeichen  der  Unterschichten,  aus 
deren  Schöße  sie  hervorgegangen  sind.  Betrachten  wir 
den  Kleinbürger,  den  ansässigen  Arbeiter  und  vor  allem 
auch  den  Bauern,  und  wir  werden  zugeben  müssen,  Kräf- 
ten zu  begegnen,  die  die  Eigenschaften  haben,  den  Kurs 
der  Zeit  zu  steuern.  , .Vielleicht  findet  sich,  bei  tiefstem 
geistigen  Stande,  zu  diesem  Zeitpunkt  keine  größere 
Seelennähe  der  Massen  als  in  den  geknechteten  Bauern- 
schaften Rußlands1)."  Es  ist  unnütz,  damit  zu  rechnen, 
daß  sich  die  erschütternden  katastrophalen  Umwälzungen, 
von  denen  die  Geschichte  zu  berichten  weiß,  noch  einmal 
wiederholen  sollten2).  Ein  anderer  Weg  erschließt  sich  dem 
Aufstieg  der  Menschheit,  freilich  ein  rauherer,  wird  es 
sich  doch  darum  handeln,  sich  eine  Bahn  zu  brechen,  zu 
jenem  Reiche  der  Seele,  zu  dem  Bevorrechtigtere  zu  allen 
Zeiten  einen  ganz  ebenen  und  bequemen  Zugang  hatten. 
Für  diesen  Weg  aber  sind  nunmehr  die  vielen  Enterbten 
und  Geknechteten  unserer  Tage  die  wahrhaft  Auserwähl- 
ten, die  ihn  machen  und  damit  einen  neuen  heiligen  Völ- 
kerfrühling herbeiführen  werden. 

Da  uns  nun  auf  diesem  theoretischen  Wege  die  Ge- 
wißheit einer  glücklichen  Lösung  des  großen  Menschheits- 
problemes  wird  und  ihr  Prinzip  deutlich  vor  Augen  tritt, 
wird  es  nunmehr  darauf  ankommen,  das  Gebiet  der  prak- 


l)  M.  11.  S.  334,  Sep.-Ausg  S.  334.  *)  Auch  hier  ist  wieder  daran 
zu  erinnern,  dass  die  den  Ausführungen  dieses  Kapitels  zugrunde  liegenden 
Ideen  Rathenaus  schon  aus  der  Zeit  vor  1914  stammen  (Bearbeiter). 

121 


tischen  Ausführung  zu  betreten  und  zuzusehen,  welche 
wirtschaftlichen,  sittlichen  und  politischen  Maßnahmen 
geeignet  sein  werden,  ihre  Verwirklichung  zu  sichern.  Es 
sollte  das  die  Aufgabe  aller  weiteren  Schriften  von  Wal- 
ther Rathenau  sein;  es  handelt  sich  um  das  ebenso  wie 
das  im  vorigen  Kapitel  herangezogene  „Z  urMechanik 
des  Geistes"  wenigstens  teilweise  noch  vor  1914  ent- 
worfene und  bearbeitete  Werk  „Von  kommenden 
Dingen"  und  die  gleichfalls  noch  vor  Friedensschluß  er- 
schienenen Streitschriften:  „Deutschlands  Roh- 
stoffversorgung", „Probleme  der  Frie- 
denswirtschaft", „Eine  Streitschrift  vom 
Glauben",  „Vom  Aktienwesen",  „Die  Neue 
Wirtschaf  t'\  „An  Deutschlands  Jugen  d". 


■uuiomnw-j 


122 


W UK 


Kapitel  IV. 

Die  wirtschaftschaftliche  Erneuerung 

Aus  allem  Vorhergehenden  ergibt  sich  augenblick- 
lich, daß  für  Walther  Rathenau  die  sozialistische  Lösung 
des  wirtschaftlichen  und  sozialen  Problems  zurückzu- 
weisen ist.  Darum  darf  er  freilich  nicht  konservativer 
Gleichgültigkeit  gegenüber  den  gegenwärtigen  sozialen 
Ungerechtigkeiten  beschuldigt  werden.  Wir  haben  ge- 
sehen, v/elche  Bedeutung  er  den  Forderungen  der  Zukunft 
des  vierten  Standes  beimißt.  Er  selbst  erklärt:  „Empfin- 
den wir  den  Stachel  der  Würdelosigkeit,  den  die  Knecht- 
schaft verwandten,  geliebten  und  göttlichen  Blutes  uns  ein- 
prägt, so  werden  wir  ohne  Scheu  eine  Wegstrecke  neben 
der  Bahn  des  Sozialismus  wandern  und  dennoch  seine  Ziele 
ablehnen."1)  Doch  sich  mit  ihm  bis  ans  Ende  zu  ver- 
binden, seine  Ansprüche  zu  unterstützen,  seinen  Beweis- 
führungen zu  folgen,  und  seine  Schlüsse  anzunehmen,  das 
ist,  wie  Walther  Rathenau  genau  weiß,  ihm  ein  für  alle- 
mal unmöglich,  ja  er  fügt  dem  noch  sogleich  hinzu,  er 
könne  auch  ebensowenig  die  Ziele  billigen,  die  der  So- 
zialismus vorzuschlagen  hat.  Ganz  im  Gegenteil  sieht  er 
in  ihm  einen  Feind,  den  sein  Werk  „Vonkommenden 
Dingen"  „ins  Herz  treffen  soll2)!" 

Die  unheilbare  Schwäche  des  dogmatischen  Sozi- 
alismus beruht  nach  Walther  Rathenau  auf  der  mate- 
rialistischen Geschichtsauffassung,  die  der  Sozialismus 
zum  Weltprinzip  erhebt  und  zum  Ausgangspunkte  für  die 


•)  D.  111.  S.  75,  Sep.-Ausg.  S.  68.      *)  D.  111.  S.  16,   Sep.-Ausg.  S.  14. 

128 


Wiedergeburt  der  menschlichen  Gesellschaft  machen  will. 
Diese  Bewegung  trägt  den  Fluch  ihres  geistigen  Vaters  Karl 
Marx,  „der  nicht  ein  Prophet  war,  sondern  ein  Gelehrter, 
der  sein  Vertrauen  setzte  nicht  in  das  menschliche  Herz, 
dem  alles  wahrhafte  Weltgeschehen  entspringt,  sondern  in 
die  Wissenschaft.  Dieser  gewaltige  und  unglückliche  Mensch 
irrte  so  weit,  daß  er  der  Wissenschaft  die  Fähigkeit  zu- 
schrieb, Werte  zu  bestimmen  und  Ziele  zu  setzen;  er  ver- 
achtete die  Mächte  der  transzendenten  Weltanschauung, 
der  Begeisterung  und  der  ewigen  Gerechtigkeit. 

, »Deshalb  hat  auch  der  Sozialismus  niemals  die  Kraft 
gewonnen,  zu  bauen;  selbst  wenn  er  unbewußt  und  unge- 
wollt in  seinen  Gegnern,  diese  produktive  Kraft  entzün- 
dete, verstand  er  die  Pläne  nicht  und  wies  sie  zurück. 
Nie  hat  er  auf  ein  leuchtendes  Ziel  zu  weisen  vermocht; 
seine  leidenschaftlichsten  Reden  blieben  Beschwerden 
und  Anklagen,  sein  Wirken  war  Agitation  und  Polizei.  An 
die  Stelle  der  Weltanschauung  setzte  er  eine  Güterfrage, 
und  selbst  dies  ganze  traurige  Mein  und  Dein  des  Kapi- 
talproblems sollte  mit  geschäftlichen  Mitteln  der  Wirt- 
schafts- und  Staatskunst  gelöst  werden.  Mag  hie  und  da 
ein  unbefriedigter  Denker  Auswege  ins  Ethische,  Rein- 
menschliche, Absolute  gesucht  und  angedeutet  haben: 
diese  Gewalten  wurden  niemals  als  die  Sonnenzentren 
der  Bewegung  verehrt,  sondern  allenfalls  als  matte  Sei- 
tenlichter ästhetisch  geduldet;  im  Mittelpunkte  der  Bühne 
saß  der  entgötterte  Materialismus,  und  seine  Macht  war 
nicht  Liebe,  sondern  Disziplin,  seine  Verkündung  nicht 
Ideal,  sondern  Nützlichkeit." 

„Aus  der  Verneinung  entsteht  Partei,  nicht  Welt- 
bewegung. Der  Weltbewegung  aber  schreitet  Propheten- 
sinn und  Prophetenwort  voran,  nicht  Programmatik."  — 
„Niemals  hat  nach  Walther  Rathenau  der  Sozialismus 
die  Herzen  der  Menschheit  entflammt,  und  keine 
große  und  glückliche  Tat  ist  jemals  in  seinem  Namen 
geschehen;    er   hat    sein    Interesse    erweckt    und    Furcht 


124 


geschaffen;  aber  Interessen  und  Furcht  beherrschen 
den  Tag,  nicht  die  Epoche.  Im  Fanatismus  einer 
düsteren  Wissenschaftlichkeit,  im  furchtbaren  Fanatismus 
des  Verstandes,  hat  er  sich  abgeschlossen,  zur  Partei  ge- 
ballt, im  umfaßbaren  Irrtum,  daß  irgendeine  einseitige 
losgelöste  Kraft  endgültig  wirken  könne.  Doch  der 
Dampfhammer  vernichtet  nicht  den  Eisenblock,  sondern 
verdichtet  ihn;  wer  die  Welt  umgestalten  will,  darf  sie 
nicht  von  außen  preisen,  er  muß  sie  von  innen  fassen.  Er- 
schließbar ist  sie  durch  das  Wort,  das  in  jedem  Herzen, 
wenn  auch  noch  so  schüchtern,  widerklingt  und  es  wan- 
deln hilft;  das  blinde  Pochen  einer  Partei  von  Inter- 
essenten täubt  und  verschließt  die  Ohren." 

,, Nimmt  man  alles  in  allem,  in  größten  Zügen,  die  rein 
politische  Wirkung  der  sozialistischen  Bewegung  im  Laufe 
dreier  Geschlechterr  so  besteht,  abgesehen  von  geschäft- 
lich-organisatorischen Wirksamkeiten  die  Summe  ihres 
Waltens  in  der  mächtigsten  Steigerung  des  reaktionären 
Geistes,  in  der  Zertrümmerung  des  liberalen  Gedankens 
und  in  der  Entwertung  des  Freiheitsgefühls.  Indem  der 
Sozialismus  die  Aufgabe  der  Völkerbefreiung  zu  einer 
Frage  um  Geld  und  Gut  machte  und  unter  diesem  Banner 
die  Massen  gewann,  wurde  die  Idee  gebrochen;  aus  Un- 
abhängigkeitsdrang wurde  Begehrlichkeit;  mancher  inner- 
lich Gebildete  wandte  sich  ab,  das  Bürgertum  erzitterte, 
die  besitzende  Reaktion  sah  sich  durch  Zulauf 
und  bequeme  Maßregeln  doppelt  gestärkt  und  lächelte 
über  den  armen  Teufel  von  Masse,  der  Böses  wollte, 
Gutes  schuf,  der  Thron  und  Altar  festigte,  indem  er  Repu- 
blik und  Kommunismus  anpries.  Innerlich  Interessenten- 
vereinigung, äußerlich  Beamtenhierarchie,  verfiel  der  So- 
zialismus, der  Weltbewegung  werden  sollte,  dem  Abstieg 
zur  Partei,  dem  Wahn  der  Zahl,  der  populären  Einheits- 
formel; im  Gegensatz  zu  jeder  echten  Epoche  verlor  er  an 
Wirksamkeit,  je  stärker  er  wuchs1)." 
l)  D.  111.  S.  71-73,  Sep.-Ausg.  S.  65-67. 

125 


Auch  unter  dem  engeren  wirtschaftlichen  Gesichts- 
punkte kann  die  sozialistische  Lehre  einem  Manne  wie 
Walther  Rathenau  nicht  als  ganz  einwandfrei  gelten, 
ist  sie  doch  nach  ihm  nie  über  die  naivste  Form  des  Hei- 
lungsdranges, die  Forderung  der  unmittel- 
baren Stillung,  irgendwie  erheblich  hinausgekom- 
men und  hängt  ihr  doch  diese  Forderung,  von  der  sie  sich 
nun  nicht  mehr  gut  losmachen  kann,  wie  ein  Bleigewicht 
an  ihren  Schultern.  Sie  begeht  nämlich,  so  meint  er,  da- 
mit den  kindlichen  Irrtum,  in  den  Forstmann  und  Er- 
zieher, Arzt  und  Staatsmann  längst  nicht  mehr  fallen,  die 
lokale  Aeußerung  eines  weit  tiefer  liegenden  inneren  Lei- 
dens des  Organismus  durch  örtliche  Behandlung  —  und 
das  bedeutet  die  „unmittelbare  Stillung"  —  hei- 
len zu  wollen.  So  ergibt  sich  der  sozialistischen  Auffas- 
sung die  volkstümliche  Schlußkette:  ,,Was  ist  das  Ziel? 
Erhöhter  Arbeitslohn.  Was  schmälert  den  Lohn?  Die 
Kapitalrente.  Wie  erhöht  man  den  Lohn?  Indem  man 
die  Rente  unterdrückt.  Wie  unterdrückt  man  sie?" 
Nun  wäre  es  folgerichtig,  zu  antworten:  Indem  man  das 
Kapital  aufteilt.  Es  klingt  jedoch  wissenschaftlicher,  zu 
sagen:  Indem  man  das  Kapital  verstaatlicht1).  Die  eine 
Antwort  ist  so  falsch  wie  die  andere.  Beide  verkennen 
das  Gesetz  des  Kapitals  in  seiner  gegenwärtig  entschei- 
denden Hauptfunktion:  nämlich  als  denjenigen  Organis- 
mus, der  den  Weltstrom  der  Arbeit  nach  den  Stellen  des 
dringendsten  Bedarfs  lenkt.  Erinnern  wir  uns  hier  des 
Satzes  von  der  Substitition  des  Grundes:  Es  war  nicht 
entscheidend,  aus  welchen  Ursachen  und  Bedürfnissen  ein 


\)  Nach  dem  sozialdemokratischen  Programm  nicht  „verstaatlicht", 
sondern  „vergesellschaftlicht".  Trotz  seines  anzuerkennenden  ehrlichen 
und  entschiedenen  wirtschaftlichen  Reformsozialismus  kommt  doch 
Rathenau  als  Grossindustrieller  und  Mitglied  der  Demokratischen  Partei 
nun  einmal  nicht  über  das  enge  Weichbild  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
hinaus,  ja  zeigt  sich  sogar  in  der  Beurteilung  des  wirtschaftlichen  Zukunfts- 
programms in  seinem  Buche:  „Von  kommenden  Dingen"  von 
einer  Einseitigkeit  gegenüber  dem  Sozialismus,  wie  wir  sie  sonst  von 
ihm  diesem  gegenüber  rühmlicherweise  nicht  kennen.    Bearbeiter. 

126 


Organismus  geschaffen  wurde;  entscheidend  ist.  welchen 
Notwendigkeiten  er  in  Wirklichkeit  und  Gegenwart  dient. 
Nun  aber  sind  sowohl  das  Kapital  wie  die  Rente  zwei 
wesentliche  und  unausrottbare  Elemente.  Ließen  sie  sich 
auch  wirklich  für  den  Augenblick  beseitigen,  so  würden 
sie  doch  in  kürzester  Zeit  schon  von  selbst  wieder- 
erstehen. Angenommen,  die  soziale  Revolution  sei  voll- 
zogen: In  Chicago  sitzt  der  diesjährige  Weltpräsident, 
der  über  allen  Einzelrepubliken  thront  und  mit  seinen 
Organen  alle  internationalen  Angelegenheiten  ordnet.  Er 
verfügt  in  letzter  Instanz  über  das  Kapital  der  Erde. 
Heute  liegen  seinem  Unternehmungsdepartement  für  die 
verschiedensten  Länder  neben  700  000  törichten  Anträgen 
drei  ernste  vor.  Entscheidet  er  sich  nun  wohlweislich  aus 
guten  Gründen  für  irgendeinen  dieser  Pläne,  so  werden 
die  anderen  Länder,  die  sich  hinter  dem  Lande,  für  das 
sich  der  Weltpräsident  entschieden  haben  wird,  zurück- 
gesetzt fühlen,  Einspruch  erheben  und  eine  Entschädi- 
gung verlangen,  die  das  bevorzugte  Land  in  Form  eines 
jährlichen  Zinses  von  soundso  viel  aus  dem  Mehrertrage 
abzuführen  haben  wird.  So  ist  die  Rente  wieder  neu  auf- 
erstanden. In  einer  Industriestadt  soll  eine  alte  Staats- 
fabrik, die  im  Laufe  der  Zeit  veraltet  und  unbrauchbar  ge- 
worden ist,  abgerissen  werden.  Ein  geschickter  Werk- 
meister erbietet  sich  der  Ortsbehörde,  diese  Fabrik  mit 
geringen  Kosten  für  einen  neuen  Zweck  herzurichten; 
einen  Beweis  der  Rentabilität  kann  er  nicht  bringen,  will 
aber  gern  Risiko  und  Gefahren  tragen.  Die  Ortsbehörde 
überträgt  dem  Unternehmer  die  Arbeit  und  verpachtet  ihm 
die  Fabrik  gegen  eine  Jahresmiete;  abermals  ist  die  Rente 
hergestellt.  Die  Notwendigkeit  der  Rente  ist 
gegeben  durch  die  Notwendigkeit  der 
Selektion  der  Anlage.  Sie  ist  der  Aus- 
druck des  schreiendsten  und  meistbie- 
tenden  Anlagebedürfnisses.  Ihre  Unentbehr- 
Hchkeit  ergibt  sich  jedoch  noch  aus  einer  unabhängigeren 

127 


und  umfassenderen  Betrachtung.  Ueberblickt  man  das 
ganze  Gebiet  eines  nationalen  Industriewesens,  so  ergibt 
sich  die  überraschende  Tatsache:  Trotz  hoher  Blüte  und 
Rentabilität  zahlt  dieser  gewaltige  Komplex  in  seiner 
Gesamtheit  nichts  heraus,  sondern  zieht  Mittel  ein;  die 
Kapitalerhöhung  und  Schuldenvermehrung  übersteigt  die 
Rentenzahlung.  Die  Industrie  arbeitet  nur  am  Wachstum 
ihres  eigenen  Körpers;  sie  gibt  nichts  her;  selbst  die  an- 
deren Wirtschaftsgebiete  müssen  ihre  Ersparnisse  bei- 
steuern, um  sie  zu  erhalten.  Auf  den  ersten  Blick  über- 
raschend, und  doch  ganz  einleuchtend:  Denn  was  ge- 
schieht mit  den  Ersparnissen  der  Welt?  Soweit  sie  nicht 
Kultureinrichtungen  schaffen,  dienen  sie  den  Produktions- 
einrichtungen; eiserne  Bestände  und  goldene  Schätze 
sammeln  in  mäßigem  Umfang  die  Staaten;  der  Rest  geht 
auf  in  wirtschaftlicher  Anlage,  und  mit  ihm  wachsen  die 
Bestände  der  papiernen  Abbilder,  der  gedruckten  Um- 
laufsformulare. Diese  Vermehrung  der  werbenden  An- 
lagen aber  muß  andauern,  solange  die  Bevölkerungen  sich 
vermehren  und  solange  der  Einzelne  an  käuflichen  Er- 
zeugnissen weniger  besitzt  als  er  sich  wünscht.  Entspre- 
chend wächst  die  Weltinvestition.  Sie  wächst  um  genau 
soviel  jährlich,  als  nach  Deckung  des  Verbrauchs,  des 
Kultur-  und  Landesverteidigungsaufwandes  an  Arbeits- 
einkommen und  Renteneinkommen  erspart  wird.  Die 
Ersparnis  am  Arbeitseinkommen  ist  verhältnismäßig 
gering;  es  ist  zweifelhaft,  ob  sie  im  Verhältnis  zum  Ar- 
beitseinkommen wächst,  solange  der  durchschnittliche 
Verbrauchswille  ungesättigt  ist.  Die  jährliche  Weltinve- 
stition besteht  somit  im  wesentlichen  aus  Kapitalrente 
nach  Abzug  des  verzehrenden  Verbrauches  der  Kapitals- 
besitzer. Dieser  Verzehr  hängt  ab  von  einer  Reihe  von 
Faktoren,  die  mit  der  Höhe  der  Gesamtrente  durchaus 
nichts  zu  tun  haben:  von  der  Verteilung  der  Renten- 
abschnitte, von  den  durchschnittlichen  Ansprüchen  der 
Lebensführung,  von  sittlichen  Werten.     Wäre  alles  Welt- 

128 


kapital  im  Besitze  eines  einzelnen  und  verschwände  so- 
mit der  Verzehr  zu  minimem  Verhältnis,  so  könnte  ohne 
Lebensgefahr  der  Wirtschaft,  und  somit  tatsächlich,  die 
Rente  und  mit  ihr  der  Durchschnittszinssatz  der  Welt  nie- 
mals geringer  sein,  als  dem  Aufwand  entspricht,  dessen 
die  Weltwirtschaft  für  Ergänzung  und  Erweiterung  ihrer 
Anlagen  bedarf.  Die  Rente  ist  somit  dem  Grunde  und 
dem  Umfang  nach  bestimmt  durch  den  Bedarf  der  Welt- 
investition; sie  ist  die  Zwangsrücklage  der  Welt  zum 
Zwecke  der  Aufrechterhaltung  ihrer  Wirtschaft;  sie  ist 
eine  Produktionssteuer,  die  erhoben  wird  an  jedem  Punkt 
der  Gütererzeugung,  und  zwar  an  erster  Stelle;  sie  ist 
unvermeidlich,  auch  wenn  alle  Produktionsmittel  in  einer 
Hand  liegen,  gleichviel,  ob  eines  einzelnen,  eines  Staates 
oder  einer  Staatengemeinschaft;  sie  läßt  sich  lediglich 
vermindern  um  den  Verzehr  der  Kapitalbesitzer1)." 

Somit  hat  nach  Walther  Rathenau  die  Verstaat- 
lichung der  Produktionsmittel  in  doppelter  Beziehung 
keinen  Sinn.  Doch  diejenigen  ihrer  Gegner,  die  sie 
nur  aus  Trägheit,  Feigheit  oder  Eigennutz  bekämpfen, 
mögen  sich  dessen  ja  nicht  zu  früh  freuen!  Gemach! 
Noch  harte  Opfer  warten  ihrer!  Sie  werden  ihnen 
nicht  entrinnen;  die  Welt  schreitet,  ob  sie  nun 
wollen  oder  nicht,  mit  unerbittlicher  Entschlossenheit 
vorwärts!  Die  kleine  Schlappe,  die  der  Sozialismus  doch 
wohl  erlitten  hat2),  bedeutet  für  ihn  nur  die  eine  Lehre, 
daß  er  zur  Heilung  der  fraglos  vorhandenen  wirtschaft- 
lichen Not  zu  einer  anderen  Methode  als  seiner  bisherigen 
greifen  muß.  Da  nun  einmal  vermöge  ihrer  Natur  sowohl 
das  Kapital  wie  das  Einkommen  zu  den  Notwendigkeiten 
gehören,  die  einfach  unentbehrlich  und  an  sich  auch  nach 
allen  Seiten  uninteressiert  sind,  so  ist  der  Ursprung  ihres 
Uebels  nicht  sowohl  in  ihnen  selbst  als  vielmehr  in  der 
Rolle  zu  suchen,  die  beide  augenblicklich  auf  Erden  zu 


!)  r>.  Ol.  S   87-91,  Sep.-Ausg.  S.  80-84.    2)  Vor  1914  geschrieben. 
9  129 


spielen  berufen  sind.  Der  Mißbrauch,  der  sich  leider  mit 
ihnen  treiben  läßt,  der  Einfluß,  den  sie  zu  verleihen 
imstande  sind,  und  die  ungleichmäßige  Art  ihrer  Ver- 
teilung, das  sind  die  drei  wahrhaften  Ursachen  ihres 
Uebels,  die  Ursachen,  die  es  wohl  zu  erkennen  und  durch 
geeignete  Mittel  zu  beseitigen  gilt. 


In  den  Urzeiten,  solange  die  Welt  weit  war  und  die 
Besiedelung  spärlich,  konnte  jeder  der  Natur  abgewinnen, 
was  er  wollte,  und  es  nach  Belieben  verwenden.  Heute 
ist  die  Erde  ein  dicht  bedeckter,  kunstvoll  gegliederter 
Bau,  von  zahllosen  für  einander  einstehenden  lebenden 
und  leblosen  arbeitenden  Kräften  gepflegt,  beschützt,  be- 
wahrt, geordnet.  „Jeder  bedarf  des  gemeinsamen 
Schutzes,  der  gemeinsamen  Einrichtungen,  die  er  nicht 
geschaffen,  des  Korns,  das  er  nicht  gesät,  des  Leinens, 
das  er  nicht  gesponnen  hat1)."  Andererseits  unterliegt 
nicht  etwa  die  natürliche  Steigerung  der  erzeugten  und 
erzeugbaren  Gütermengen,  wie  manche  glauben,  dem 
Willen;  sie  ist  jederzeit  begrenzt  durch  den  jeweiligen 
Bestand  der  geschaffenen  Arbeitsmittel  und  Arbeits- 
kräfte. 

Was  sehen  wir  nun?  ..Überblickt  man  diese  Unend- 
lichkeit der  Bindung,  der  Verschuldung  und  Verpflich- 
tung, so  bleibt  kaum  begreiflich  das  Maß  der  wirtschaft- 
lichen Freiheit,  das  dem  einzelnen  belassen  wird.  Er 
kann  für  die  Gemeinschaft,  der  er  alles  schuldet,  arbeiten, 
so  viel  oder  so  wenig  er  will,  er  kann  diese  Arbeit  frei 
wählen,  so  nützlich  oder  überflüssig  sie  sein  mag,  er  kann 
das,  was  als  Eigentum  ihm  zugestanden  ist,  mißbrauchen, 
verderben,  vernichten,  -  er  ist  gesetzlich  befugt,  Meilen 
irdischen  Landes  abzusperren,  ohne  staatliche  Genehmi- 
gung Äcker  brachzulegen,  Bauten  zu  vernichten  oder 
aufzufüllen,  Landschaften  zu  verstümmeln,  Kunstwerke  zu 


»)  D.  111.  S   94,  Sep  -Ausg   S   87 


130 


beseitigen  oder  zu  schänden,  jeden  beliebigen  Teil  des 
Gesamtvermögens  durch  geeignete  Geschäfte  an  sich  zu 
bringen  und,  sofern  er  einige  Abgaben  zahlt,  nach  Gut- 
dünken zu  verwenden,  jegliche  Zahl  von  Menschen  zu  be- 
liebiger Arbeitsleistung  in  seine  Dienste  zu  nehmen,  so- 
fern seine  Kontrakte  nicht  widergesetzliche  Bestimmun- 
gen enthalten,  jegliche  Geschäftsform  zu  praktizieren,  so- 
fern sie  nicht  staatliches  Monopol  oder  im  Gesetzbuch  als 
Schwindel  erklärt  ist,  jeden  noch  so  unsinnigen  Aufwand 
zum  Schaden  des  Gesamtvermögens  zu  treiben,  solange 
er  im  zahlenmäßigen  Verhältnis  zu  seinen  Mitteln 
bleibt1)." 

Ein  so  ungebundenes  Sichgehenlassen  ist  ein  für  alle- 
mal nicht  zu  dulden!  „Wenn  ein  Römer  fünfhundert 
Sklaven  aussandte,  um  einen  seltenen  Fisch  zu  fangen, 
wenn  die  Ägypterin  ihre  Perlen  in  Wein  löste,  so  moch- 
ten sie  eine  Vorstellung  von  berechtigtem  Aufwand 
hegen;  denn  die  Sklaven  waren  während  ihres  Arbeits- 
tages ernährt,  die  Perlenfischer  für  Jahre  der  Gefahr  im 
voraus  entschädigt.  Unsere  Vorstellung  muß  eine  andere 
sein.  Arbeitstage  und  -jähre,  vergeudet  für  den  End- 
zweck eines  kurzen  Glanzes  oder  Genusses,  sind  un- 
ersetzlich. Sie  sind  der  begrenzten  Arbeitsmenge  der 
Welt  entnommen,  ihr  Ergebnis  ist  dem  kargen  Ertrage 
des  Planeten  entzogen.  An  der  Arbeit,  die  in  unsicht- 
barer Verkettung  alle  leisten,  sind  auch  alle  berechtigt. 
Die  Arbeitsjahre,  die  der  Herstellung  einer  kostbaren 
Nadelarbeit,  eines  gewobenen  Schaustücks  dienen,  sind 
unwiderruflich  der  Bekleidung  der  Aermsten  entzogen, 
die  sechsfach  geschorenen  Rasenflächen  eines  Parks 
hätten  mit  geringerem  Aufwand  Korn  getragen,  die 
Dampfyacht  mit  Kapitän  und  Mannschaft,  Kohlen  und 
Proviant  ist  dem  nutzbringenden  Weltverkehr  auf  Lebens- 
zeit  entzogen.     Wirtschaftlich   betrachtet,   ist   die   Welt, 


»)  D  111.  S.  95,  Sep.-Ausg   S.  88. 
9*  131 


in  höherem  Maße  die  Nation,  eine  Vereinigung  Schaffen- 
der; wer  Arbeit,  Arbeitszeit  oder  Arbeitsmittel  ver- 
geudet, beraubt  die  Gemeinschaft.  Verbrauch  ist  nicht 
Privatsache,  sondern  Sache  der  Gemeinschaft,  Sache  des 
Staates,  der  Sittlichkeit  und  Menschheit1)." 

Hieraus  ergeben  sich  zwei  Folgerungen.  Zunächst 
hat  die  Gesamtheit  die  Bearbeitung  aller  aus  dem 
Boden  stammenden  Rohstoffe,  insbesondere  des  edel- 
sten Stoffes  unseres  Planeten,  in  dem  aller  Wohlstand 
unserer  Zeit,  im  großen  betrachtet,  letzten  Endes  wurzelt, 
der  Kohle,  mit  der  gründlichsten  Sorgfalt  zu  überwachen. 
, »Sache  der  Gesetzgebung  ist  es,  sorgfältige  Sonderung 
der  fossilen  Substanz  durch  Destillation  und  Abspaltung 
zu  verlangen  und  nur  die  wertlosen  Abgänge  zur  kalo- 
rischen Kraftgewinnung  zuzulassen;  Sache  der  Gesetz- 
gebung ist  es  ferner,  der  Kraftvergeudung  aus  mangel- 
hafter Einrichtung  und  übler  Sparsamkeit  und  der 
Arbeitsverschwendung  zu  begegnen.  Würde  Kohle  ge- 
ehrt wie  Korn  und  Brot,  so  wäre  schon  heute  die  Sorge 
der  Gestehungskosten  und  mit  ihr  der  Kampf  um  die 
Bergwerkslöhne  behoben.  So  wie  man  Wirtschaftsauf- 
sichten eingesetzt  hai,  um  den  Geboten  aer  Sicherheit 
und  Wohlfahrt  Nachdruck  zu  geben,  so  bedarf  es  des 
gesetzlichen  Schutzes  der  Wirtschaftsgüter  gegen  un- 
wissende  und  raubbauende  Vergeudung3). 

In  zweiter  Linie  kommt  es  darauf  an,  dem  unbe- 
grenzten Verbrauche,  mit  anderen  Worten,  dem  Luxus 
durch  eine  strenge  Besteuerung  Einhalt  zu  tun.  Zu 
Beginn  unserer  Wirtschaftsepoche,  also  so  um  1840  herum, 
hat  wohl  noch  der  Satz  gegolten:  Luxus  nützt;  denn  er 
bringt  Geld  unter  die  Leute.  „Das  stimmt  zur  Not  für 
eine  beginnende  Gewerbetätigkeit,  die  mit  äußeren  Mit- 
teln angefacht  werden  muß.  Durchgebildetes  Wirtschafts- 
leben    beruht     auf     planvollem     Zusammenhalten     aller 

J)  D.  Hl.  S.  9r-9S.  Sep.-A«sg.  S.  90.     -)  T>   111    S.  100-MH,  Sep.-Ausg 
S    93 

132 


Kräfte,  und  mit  Recht  tragen  die  Bezeichnungen  der 
.Oekonomie'  und  des  »Haushalts*  den  Bei- 
geschmack sparsamer  Abwägung1)."  Da,  wo  eine  Aus- 
nützung aller  Kräfte  geboten  ist,  hat  selbst  eine  gewisse 
Stockung  im  Geldverkehr  nichts  bedenkliches.  Auch  den 
Luxussteuern  haftet  die  gemeinplätzliche  Marke  an,  daß 
ihre  Erträge  enttäuschen,  weil  sie  den  Verbrauch  ein- 
schränken. Was  tut  das  aber,  wenn  es  sich  gerade  um 
eine  Herabsetzung  dieses  Verbrauches  handelt?  Würden 
aber  nicht  auch  die  nun  etwa  gemachten  Ersparnisse 
reichlich  das  aufwiegen,  was  die  Steuern  einbringen 
könnten?  , .Bedenkt  man,  daß  jede  eingeführte  Perlen- 
schnur dem  Meliorationsaufwand  eines  Gutsbesitzes  ent- 
spricht oder  uns  für  den  Ertrag  eines  reichen  Bauernhofes 
dem  Ausland  zinsbar  macht,  daß  jedes  Tausend  aus 
Frankreich  bezogener  Flaschen  Champagner  die  Kosten 
der  Ausbildung  eines  Gelehrten  oder  Technikers  ver- 
schlingt, daß  der  Aufwand  unserer  Einfuhr  an  Seide, 
Putzfedern,  Duftstoffen  und  allerhand  Kram  ausreichen 
würde,  um  alle  Not  und  Entbehrung  im  Lande  zu  stillen, 
daß  unser  spezifischer  Mehrverbrauch  an  Spirituosen  im 
Vergleiche  mit  Amerika  den  Lasten  unsrer  Kriegsanleihen 
gleichkommt:  Bedenkt  man  dies  und  hundert  Beispiele 
ähnlicher  Art,  so  wird  es  schwer  zu  begreifen,  daß  die 
Gesellschaft  jede  Vergeudung  nationalen  Gutes  sich  ge- 
fallen läßt,  ohne  durch  das  legitime  Mittel  der  Steuern 
und  Zölle  entscheidend  einzugreifen2)."  Man  hält  die  Be- 
steuerung der  Einkommen  und  des  Vermögenszuwachses 
bei  uns  für  etwas  Selbstverständliches.  Was  aber  einer 
verbraucht,  das  bleibt  unangetastet.  Und  doch  gibt  es  in 
unserer  ganzen  Gesellschaft  nichts,  was  gerade  so  be- 
steuert zu  werden  verdiente  wie  der  Verbrauch.  ,,Und 
zwar  sollte  er  so  besteuert  werden,  daß  oberhalb  eines 
auskömmlichen  Mindestsatzes  auf  jeden  Kopf  berechnet, 

l)  D.  Hl.  S  97,  Sep.-Ausg.  S.  89-90.    J)  D.  III.  S.  103-104,  Sep.-Ause. 
S.  96. 

133- 


für    jede    Mark    weiteren    Verzehrs    zum   mindesten    eine 
Mark  dem  Staate  gebührt1)/' 

Soll  das  heißen,  daß  in  Zukunft  jeder  Luxus  unter- 
drückt werden  und  sich  alles  einem  sittenstrengen  und 
sinnenfremden  Puritanismus  hingeben  soll?  Die  Frage, 
was  Luxus  ist,  wird  stets  leicht  von  dem  gesunden 
Menschenverstände  beantwortet  werden,  der  die  nütz- 
lichen von  den  unnützen  Ausgaben  sehr  gut  zu  unter- 
scheiden versteht.  Wohl  wird  er  unbedenklich  als 
luxuriös  ansehen,  „was  etwa  eine  gedankenlose  Menge 
als  Feste  der  Wohltätigkeit  bezeichnet:  genußsüchtige 
Aufwendung,  die  den  Namen  der  Nächstenliebe  miß- 
braucht und  mit  kalter  Barmherzigkeit  ihren  Opfern  den 
Wert  geleerter  Sektflaschen  gutschreibt2)."  Doch  derselbe 
gesunde  Menschenverstand  wird  damit  nicht  die  Aus- 
gaben treffen  wollen,  die  die  Entwickelung  der  Kultur, 
der  Geister  und  der  Seelen  begünstigen.  Materielle  Ver- 
luste, wenn  man  so  will,  doch  unendlich  wertvollere  Ge- 
winne für  das  übersinnliche  Gebiet,  auf  das  wir  hin- 
streben sollen.  Es  handelt  sich  sogar  nicht  einmal  um  eine 
völlig  bedingungslose  Aechtung  des  Luxus.  Der  Anblick 
der  Schönheit  ist  den  Völkern  für  ihre  Erziehung  geradezu 
notwendig.  Was  verschwinden  muß,  ist  die  schamlose 
Offenheit,  mit  der  gewisse  bevorrechtete  Elemente 
diesen  Anblick  für  sich  gepachtet  zu  haben  glauben,  und 
weiter  auch  die  klägliche  Verwechselung,  die  unsere  Zeit 
zwischen  den  Begriffen  der  „Prach  t"  und  der  „Vor- 
nehmheit" begeht.  Aber  „überall  da,  wo  die  Ge- 
meinschaft selbst  als  Wirtin  auftritt,  mag  sie  zum  Zeichen 
ihrer  Freiheit  und  Liberalität  sich  mit  Dingen  des  Glanzes 
umgeben,  nicht  karger  als  im  Banne  der  Herzen  von  Rom 


»)  D.  Hl.  S.  105,  Sep.-Ausg.  S  97.  Im  Augenblick,  In  dem  W.  R. 
(lies  schrieb,  glaubte  er  den  Durchschnitt  einer  bürgerlichen  Lebensführung 
für  eine  Familie  mit  einem  Jahresaufwande  von  etwa  3000  M.  bezeichnen 
zu  können;  es  war  das  vor  1914.  Vgl.  D.  III,  S.  107,  Sep.-Ausg.  S.  100 
2)  ö.  III.  S.  98-99,  Sep.-Ausg.  S.  91. 

184 


und  Athen,  Venedig  und  Augsburg,  Versailles  und 
Potsdam1)." 

Die  Notwendigkeit  einer  Aenderung  der  gegenwär- 
tigen Bedingungen  der  Besitzverteilung  muß  ebenso  von 
zwei  Feststellungen  ausgehen,  die  wir  sehr  leicht  machen 
können,  sobald  wir  nur  unsere  Blicke  auf  das  wirtschaft- 
liche und  soziale  Leben  werfen.  Auch  hier  den  äußer- 
sten Fall  der  Ungleichheit  gesetzt,  daß  alles  Vermögen 
der  Welt  in  der  Hand  eines  Einzelnen  wäre  —  mag  dieser 
Einzelne  auch  einen  ganzen  Staat  oder  gar  eine  gewisse 
Staatengemeinschaft  bilden  — ,  in  diesem  angenommenen 
Falle  brauchte  dem  Weltbesitzer  durchaus  kein  Prole- 
tariat gegenüberzustehen.  Seine  Angestellten  freilich 
wären  wir  alle,  doch  von  unserem  Gemeingefühl  und  Vor- 
gehen hinge  es  ab,  welche  Aufteilung  der  jährlich  erzeug- 
ten Gütermenge  wir  durchsetzen.  Auf  Grund  von  Verhand- 
lungen, auf  die  der  Weltbesitzer  sich  der  Notwendigkeit 
fügend  eingehen  müßte,  würde  unsere  materielle  Exi- 
stenz und  die  der  Unsrigen  gesichert,  unser  aller  Rechte 
gleich  und  uns  die  Erzeugnisse  der  gesamten  Welt  in 
beliebiger  Menge  zur  Verfügung  stehen.  Im  wesentlichen 
wäre  dieser  Weltbesitzer  bedacht  auf  Erhaltung  seines 
Machtverhältnisses  und  Festigung  des  Erbganges.  Ist 
beides  gesichert,  so  hat  er  kein  weiteres  Interesse  seinen 
Arbeitern  Bildung,  Rechte  und  Verantwortung  vorzu- 
enthalten und  sie  damit  zu  Proletariern  herabzudrücken. 
Aber  die  Dinge  Hegen  gleich  ganz  anders,  wenn  wir  an  die 
Stelle  des  einen  Universalbesitzers  zwei,  zehn,  hundert 
oder  tausend  setzen.  Denn  eine  Mehrzahl  von  Besitzern 
vereinigt  sich  zur  Klasse.  Außer  auf  Sicherung  sind  sie 
auf  Zuwachs  bedacht;  mögen  sie  untereinander  kämpfen: 
der  Hauptgegner  bleibt  der  Unterworfene.  Das  dringende 
Interesse  entsteht,  den  Enterbten  machtlos  zu  halten,  die 
Machtmittel  der  Bildung,  der  Organisation  und  des  Be- 
sitzes ihm   und   seinen  Kindern   zu   verschließen.    Haben 

')  D.  in.  S.  106,  Sep.-Au?g.  S.  98. 

135 


wir  diesen  Zusammenhang  erkannt,  so  werden  wir  niemals 
mehr  für  das  freie  Spiel  der  Kräfte,  weder  hinsichtlich 
der  Ansammlung  noch  der  Verteilung  der  privaten  Ver- 
mögen, eintreten  können. 

Bemerken  wir  im  Vorbeigehen,  daß  diese  Tatsache 
auch  die  von  unserer  Zeit  gemachten  Versuche  eine  den 
Kindern  der  Armen  wie  der  Reichen  gemeinsame  Einheits- 
schule zu  verwirklichen  zu  einem  völligen  Mißerfolge  ver- 
urteilt. Denn  ein  solcher  gemeinsamer  Unterricht  wird 
immer  nur  so  gestaltet  sein  können,  daß  die  Kinder  aus 
den  begüterten  Klassen,  die  körperlich  gepflegter  und  im 
reicheren  Besitze  von  zarten  aus  ihrer  Umgebung  erwach- 
senenBildungsansätzen  sind  hier  bevorzugt  oder  umgekehrt, 
damit  sie  die  Kinder  aus  den  unbemittelten  Klassen,  deren 
Kinderstube  doch  nun  einmal  nicht  ebensogut  gewesen  ist, 
nicht  allzu  sehr  überragen,  —  hinter  diesen  zurückgesetzt 
werden.  Statt  also  die  sozialen  Unterschiede  auszu- 
gleichen, wird  sie  ein  solches  Nebeneinander  nur  noch  ver- 
schärfen. „Nur  auf  der  Grundlage  ähnlicher  Lebens- 
umstände, Häuslichkeit  und  bürgerlicher  Herkunft  kann 
die  gleichartige  Erziehung  fruchten1)." 

Zweite  Feststellung:  wir  erstaunen,  zu  was  für  tief 
verschuldeten  Bettlern  die  Staaten  unserer  Tage  gewor- 
den sind.  Sie,  die  höchsten  allmächtigen  Gebilde,  denen 
die  heilige  Aufgabe  obliegt  über  den  Fortschritt  der 
Menschheit  zu  wachen  und  die  die  gesetzmäßigen  und  ge- 
setzlichen Mittel  in  Händen  haben  jedes  Hindernis,  das 
sich  ihnen  entgegenstellt,  niederzubrechen,  sie  haben,  so- 
bald sich  einer  an  sie  wendet  und  sie  dann  bittet,  doch 
einen  wirksamen  Kampf  gegen  Not  und  Elend  zu  führen, 
die  Wünsche  der  Aerzte  und  Hygieniker  zu  erfüllen,  der 
Gesamtheit   eine    nicht    gar   zu   beschränkte   Bildung   zu 


»)  D.  in.  S.  113.  Sep.-Ausg  S.  105  —  Vom  Standpunkte  sozialistischer 
Pädagogik  ganz  einverstanden!  Nur  muss  nun  auch  VV  R  die  weiteren 
Folgerungen  daraus  für  die  Voraussetzungen  einer  solchen  Einheitsschule" 
ziehen  1     Bearbeiter. 


136 


geben,  die  Kflnstler  und  Gelehrten  zu  unterstützen,  —  sie 
haben  dann  immer  wieder  nur  die  gleiche  Antwort:  , .Un- 
sere Kassen  sind  leer."  Für  solche  Werke  besitzen  sie 
und  finden  sie  die  wenigen  dafür  notwendigen  Millionen 
nicht,  nachdem  sie  im  Laufe  weniger  Jahre  für  den  Krieg 
viele  Milliarden  verlangt  und  verschwendet  haben.  Wer 
weiß,  ob  sie  nicht  dafür  schon  in  nächster  Zeit  die  blutig- 
sten Vorwürfe  ernten  werden?  Sie  werden  sich  dann 
wohl  oder  übel  entscheiden  müssen,  selbst,  wenn  das  Geld 
seinen  Wert  verlieren  sollte  und  sie  so  gezwungen  wären, 
nicht  nach  Millionen,  sondern  nach  Milliarden  zu  rechnen. 
Sie  werden  sich  wohl  oder  übel  entschließen  müssen,  ein 
jeder  in  seinem  Lande  unter  allen  den  größten  Säckel  zu 
haben  und  sich  freigebig  und  mächtig  zu  zeigen.  An  wen 
werden  sie  sich  dann  wohl  wenden?  Sicher  nicht  an  die 
Enterbten.  Ob  sie  wollen  oder  nicht,  die  einzelnen  Staa- 
ten werden  sich  als  solche,  die  nicht  genug  haben,  an  die 
halten  müssen,  die  zu  viel  haben.  Zwischen  ihnen  und 
den  Reichen  besteht  ein  unüberbrückbarer  Gegensatz,  der 
schon  lange  dumpf  empfunden  wurde,  und  diesem  Um- 
stände und  nicht  seinen  nur  scheinbar  wissenschaftlichen 
Lehren  verdankte  der  Sozialismus  den  Erfolg  seiner 
Werbekraft,  wenn  er  überallhin  verkünden  konnte,  daß  die 
übermäßigen  Vermögen  verschwinden  müßten,  damit  sich 
das  Los  jedes  einzelnen  bessern  könnte.  Der  Sozialismus 
verstand  nur  eins  nicht;  das  war  über  den  Widerspruch 
hinwegzukommen,  der  zwischen  der  Gesetzmäßigkeit  des 
durch  Arbeit  erworbenen  Vermögens  und  diesen  Forde- 
rungen der  Gesellschaft  bestand.  Er  scheute  sich,  sich 
auch  nur  den  Anschein  eines  Wegelagerers  zu  geben,  der 
nur  daran  denkt,  den  vorüberziehenden  Wanderer  aus- 
zuplündern, und  so  erfand  er  die  unhaltbare  Lehre  von 
der   Sozialisierung   des   Kapitals. 

In  der  Tat  entdeckt  derjenige,  der  das  Problem  unter 
dem   höheren    Gesichtspunkt    der    Ethik    betrachtet,    die 

137 


Lösung  desselben,  die  lauten  muß:  Es  besteht  die 
augenscheinliche  Notwendigkeit  in  der  Güterverteilung 
zu  einem  Gleichgewicht  zu  kommen.  „Besitzverteilung 
ist  ebensowenig  Privatsache,  wie  Verbrauchsanrecht. 
Wir  haben  keinen  Grund,  nach  dem  Eisenbartrezept  des 
Sozialismus  das  tausendjährige  Gebäude  organischer  Ar- 
beit zu  zerbrechen,  um  polizeilichen  Bürokratismus  an 
die  Stelle  des  Wettkampfes,  verbreitertes  Speisemarken- 
wesen und  gehobenes  Armenrecht  an  die  Stelle  bürger- 
licher Freiheit  zu  setzen;  doch  von  neuem  und  endgültig 
sehen  wir  uns  zu  einer  Reformation  gewiesen,  die  ein 
neues  Reich  sozialer  Freiheit  auf  der  Grundlage  gerech- 
teren Verbrauchsanspruchs,  gleichmäßigerer  Besitzver- 
teilung und  kräftigeren  Staatswohlstandes  erbaut1)." 

Doch  welche  Maßnahmen  soll  der  ergreifen,  der 
diesen  Mißbräuchen  ein  Ende  machen  will?  Um  sie  mit 
gutem  Vorbedachte  auszuwählen,  genügt  es,  die  drei  Wirt- 
schaftsformen zu  prüfen,  unter  denen  sich  nur  das  Ver- 
mögen zeigt;  sie  sind  das  Anrecht  auf  Genuß,  das  auf 
Macht    und    das    auf    Vererbung    der    Reichtümer. 

Was  berechtigt  denn  überhaupt  einen  Menschen,  ein 
Leben  zu  führen,  das  durch  Anmaßung  und  Verwüstung 
das  Dasein  und  die  Daseinskraft  Ungezählter  in  den  Staub 
tritt?  Symbolischer  Ausdruck  dieses  Zusammenhanges 
ist  die  Parodie  altherrschaftlichen  Zeremoniells,  die  vom 
neuen  Reichtum  affektiert  wird:  gekaufte  Kanonen  auf 
den  Terassen,  gepuderte  Diener  auf  den  Treppenabsätzen, 
falsche  Ahnenbilder  an  den  Wänden,  Zeugnisse  der  Macht 
der  alten  Landesherren  und  des  Schutzes,  den  diese  ihrem 
Lehnsadel  vom  Vater  zum  Sohne  gewährten.  Heute  hat 
niemand  Schutz  zu  gewähren  außer  dem  Staate;  die  Vor- 
herrschaft des  bürgerlichen  Wohlstandes  beruht  auf  keiner 
geschichtlichen  Bedeutung. 


')  D.  UI.  S.  125-126,  Sep.-Ausg.  S.  116-117. 
138 


,, Heute  leben  wir,  wirtschaftlich  betrachtet,  in  der  ge- 
samten zivilisierten  Welt  unter  der  Herrschaft  einer  ge- 
waltigen Plutokratie,  die  in  einzelnen  Staaten  sich  der 
gesamten  politischen  Gewalt,  der  Bestimmung  über  Recht 
und  Verfassung,  über  Krieg  und  Frieden  bemächtigt  hat, 
in  andern  den  unmittelbaren  politischen  Einfluß  mit  her- 
kömmlichen Mächten  teilt,  während  sie  den  Arbeitsaufbau 
der  Länder  schrankenlos  besitzt1)."  Daß  sie  einen  ver- 
dienstlichen Anteil  an  der  Entstehung  und  den  Fort- 
schritten der  modernen  Welt  gehabt  hat,  kann  wohl  nie- 
mand leugnen.  Dessenungeachtet  ,,ist  Plutokratie  Grup- 
penherrschaft, Oligarchie  und  von  allen  oligarchischen 
Formen  die  verwerflichste;  denn  sie  ist  an  keine  ideale 
Anschauung  an  kein  Sakrament  gebunden.  —  Pluto- 
kratie wirkt  nicht  durch  gemeinschaftliche  Ideale, 
sondern  durch  gemeinschaftliche  Interessen.  Nicht  als 
Erobererstamm,  nicht  als  Glaubensgemeinschaft  hat  sie 
sich  vereint  erhoben,  sondern  einzeln,  Mann  für  Mann, 
ist  sie  aus  den  Schichten  der  Nationen  durch  wirtschaft- 
liche Auslosung  der  Sonderbegabung,  des  Zufalls,  des 
glücklichen  Risikos  hervorgetreten.  Sie  will  nichts  als 
ihre  Erhaltung  und  Bereicherung,  sie  ist  zu  keiner  andern 
Gemeinschaft  der  Anschauung  gedrungen  oder  verpflich- 
tet; ihre  Kraft  liegt  im  Opportunismus2)."  Sie  ergänzt  sich 
durch  Erblichkeit  und,  soweit  als  irgend  nötig,  durch 
Kooptation.  Doch  diejenigen,  die  sich  von  ihr  angezogen 
fühlen,  nehmen  sie  völlig  in  ihrer  alten  Form  ohne  irgend- 
welche Erneuerung  ihres  Geistes  wieder  an,  oft  sogar  mit 
noch  größerer  Engherzigkeit.  So  wird  man  sagen  müssen, 
daß  das  Prinzip  einer  den  Massen  überlegenen  Oligarchie 
solange  unantastbar  sein  wird,  wie  noch  eine  intellektuelle 
und  ethische  Ungleichheit  unter  den  Menschen  bestehen 
wird.  Zugegeben!  Aber  eine  Oligarchie,  die  so  ist  wie  die, 
die  wir  erleben,  ,, verträgt  sich  nicht  mit  der  Würde  und 


')  D.  III.   S.  120-121,   Sep.-Ausg.  S.  112.    •)  D.  UI.  S.  122-123,   Sep.- 
Ausg   S.  114. 

139 


Freiheit  menschlichen  Anrechts  und  kann  niemals  einen 
sittlichen  Idealbegriff  dem  Denkenden  bilden,  der  sich 
zur  Lehre  vom  Aufschwung  aller  Seelen  bekennt1)."  Daß 
sie  verschwinde,  wird  nur  eine  Sache  der  Gerechtigkeit 
sein.  Wir  werden  danach  streben,  durch  geeignete  Vor- 
kehrungen an  ihre  Stelle  eine  Aristokratie  zu  setzen,  die 
hiergegen  Widerspruch  erhebt,  d.  h.  eine  sich  unablässig 
erneuernde  Aristokratie,  die  alle  wahrhaft  hervorragen- 
den und  adeligen  Naturen  umfaßt,  möge  deren  äußere 
Lage  und  Abstammung  sein,  welche  sie  wolle. 

Andererseits:  ,,Wer  ist  reich  und  mit  welchem  Recht? 
Wer  darf  sagen:  Aus  dem  Gesamtvermögen  und  Ertrag 
der  Welt  gebührt  mir  das  Zehnfache,  Hundertfache 
Zehntausendfache  dessen,  was  der  Durchschnitt  der 
Menschheit  besitzen  und  verbrauchen  darf?  Woher 
stammt  persönlicher  Reichtum  und  wie  wird  er  er- 
worben9)?" 

„Ist  Reichtum  Ersparnis?  Bei  der  Kürze  des  mensch- 
lichen Lebens  kann  aus  regelmäßigen  Arbeitseinkommen 
zur  Not  ein  mittlerer  Wohlstand  erspart  werden.  Möglich, 
jedoch  nicht  häufig  ist  die  Bereicherung  durch  Fund.  Der 
Fund  mineralischer  Schätze,  der  zu  unserer  Zeit  immer 
seltener  wird,  hat  ursprünglich  in  Afrika  und  Amerika 
manche  Vermögen  geschaffen.  Ist  schon  Jemand  durch 
Glück  im  Spiel  zu  Vermögen  gekommen?  Nein,  denn  die 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  lehrt,  daß  die  Verluste  im 
Spiel  schließlich  immer  wieder  die  Gewinne  aufheben. 
Damit  Reichtum  entstehe,  sind  gemeinhin  zwei  Bedingun- 
gen notwendig.  Erstens:  wer  reich  werden  will,  muß 
einen  sogenannten  allgemeinen  wirtschaftlichen  Bedarf 
befriedigen.  Zweitens:  wer  reich  werden  will,  muß  den 
Wettbewerb,  der  unfehlbar  hervortreten  wird,  aus  dem 
Felde  schlagen.  In  diese  Lage  bringt  ihn  nur  das  an- 
erkannte oder  erzwungene  Monopol.     Der  glückliche  Er- 


h  D.  iü.  S.  124-125,  Sep.-Ausg.  S.  116.    8j  D.  III.  S.  127,  Sep  -Ansg. 
S.  118-119. 

140 


finder  nutzt  das  Monopol  des  Patentes.  Der  Bergbau  ein- 
zelner Mineralien  bereitet  ein  natürliches  Monopol,  wenn 
nämlich  die  Fundstellen  selten  oder  beschränkt  sind.  Die 
Großbank  und  das  Warenhaus  üben  das  Monopol  des 
Vorsprunges.  Chemische  Industrien  stützen  sich  auf  das 
Monopol  einer  nahen  und  günstigen  Lage  ihrer  Rohstoff- 
quellen. Der  große  Tenor  trägt  das  Monopol  der  Selten- 
heit in  seiner  Kehle.  Verbände  und  Syndikate  erzwingen 
das  Monopol  einer  Kariellierung.  Der  Besitzer  eines  Miet- 
hauses zehrt  von  dem  Monopol  großstädtischen  Bodens, 
auf  dem  er  Wohnungen  baut,  in  bestimmten  Stadtgegen- 
den,  auf  die  gewisse  Personen  angewiesen  sind.  Der 
Modelieferant  lebt  vom  Monopol  seines  Namens;  denn  es 
gibt  Stutzer,  die  nur  etwas  von  der  bevorzugten  Firma 
tragen  würden.  Der  Besitzer  einer  Bahn,  eines  Wasser- 
werkes, eines  Hafens,  erhält  sein  Monopol  unmittelbar 
vom  Staat  oder  von  der  Gemeinde;  das  Recht,  das  er 
ausübt,  nähert  sich  dem  Hoheitsrechte.  Diese  und  zahl- 
reiche andere  Monopole  machen  reich;  andere  Wege  zum 
Reichtum  gibt  es  kaum.  So  dürfen  sie  als  die  eigentlichen 
Quellen  des  Reichtums  bezeichnet  werden.  Befragen  wir 
über  das  Recht  oder  das  Unrecht  der  Monopolbereiche- 
rung unser  unbefangenes  inneres  Gefühl,  so  empfinden 
wir:  In  der  erzwungenen  Beitreibung,  in  ihrer  willkür- 
lichen Bemessung,  in  der  rücksichtslosen  Machtstellung  des 
einzelnen  gegenüber  den  vielen  liegt  ein  Unsittliches. 
Gemildert  erscheint  es  im  Monopole  des  Vorsprungs  und 
der  Technik,  zumal  wenn  es  nicht  von  einer  Person,  son- 
dern von  einer  Genossenschaft  ausgeübt  wird;  denn  hier 
ist  der  Nutzen  des  Geleisteten  erkennbar,  und  trotz  der 
Ausnahmestellung  des  bevorrechteten  Organes  kann  ein 
bedeutender  Vorteil  für  die  Gemeinschaft  gegenüber  der 
Zersplitterung  gegeben  sein.  Um  so  unerträglicher  tritt 
das  Monopol  hervor,  je  unverdienter  es  erworben,  je 
müheloser  es  gehandhabt,  je  zügelloser  es  genutzt  wird; 
imdsoist  das  Monopol  des  grundbesitzenden  Großstadtrent- 

141 


ners  eines  der  weniger  erfreulichen1)."  Diese  so  schlichten 
Erwägungen  machen  ersichtlich,  wie  dringend  und  zu- 
gleich einfach  es  für  den  Gesetzgeber  ist,  alle  Quellen 
des  persönlichen  Reichtums  zu  regein  und,  soweit  er  es 
für  nötig  halten  sollte,  zu  schließen. 

Was  schließlich  die  Weitergabe  des  Reichtums  an 
andere  durch  Vererbung  betrifft,  so  drängt  sich  wie  von 
selbst  die  Frage  auf:  Ist  diese  so  uralte  Einrichtung  zu 
ehren  oder  zu  verurteilen.  In  unserer  Zeit  ist  unter  allen 
Möglichkeiten  des  Gewinnens  von  Reichtümern  die  ent- 
scheidendste das  Erben;  die  weitaus  überwiegende  Menge 
der  heutigen  Vermögen  ist  nicht  etwa  von  den  Besitzern 
selbst  erworben,  sie  ist  ihnen  nur  von  den  Eltern  hinter- 
lassen. Nun  ist  es  eigentümlich,  zu  beobachten,  wie  wenig 
bei  uns  in  unserem  Inneren  die  Kritik  des  Erbes  ein 
gleiches  Gefühl  der  Mißbilligung  erweckt  wie  die  Be- 
trachtung des  erworbenen  Reichtums.  Wir  sehen  die 
Rennplätze  und  Vergnügungsstätten  einer  Großstadt  an- 
gefüllt von  gutgewachsenen,  selbstbewußten  jungen  Män- 
nern, die  in  einer  Stunde  für  ein  Pferd  oder  eine  Tänzerin 
mehr  Geld  ausgeben,  als  ein  armer  Student,  ein  Dichter 
oder  Musiker  für  den  Lebensunterhalt  eines  Jahres  er- 
sehnt; wir  finden  zwar  die  Untätigkeit  dieser  Müßig- 
gänger und  ihr  Auftreten  gelegentlich  bedauerlich,  sehen 
aber  in  dieser  bevorzugten  Stellung  derselben  etwas  Un- 
abänderliches, wenn  nicht  Selbstverständliches,  den  Aus- 
druck eines  geheiligten  Herkommens  von  erblichem 
Glänze  und  erblicher  Macht.  Ganz  ebenso  geht  es  mit 
der  Dirne,  die  einen  reichen  und  alternden  Mann  zu  hei- 
raten und  sich  für  den  Fall  seines  Todes  als  Aileinerbin 
einsetzen  lassen  hat  und  als  trauernde  junge  Witwe  mit 
diesem  Vermögen  den  verschwenderischsten  Aufwand 
treibt,  oder  mit  einem  jungen  Manne,  der  eine  wohl- 
habende Erbin  heiratet.    „Wieviel  gesunde  Männer  unter 


')  D,  III    S.  128-131,  Sep.-AüSg.  S.  119-122. 
142 


sechzig  Jahren  leben  in  einem  zivilisierten  Lande  von 
ihren  Renten?  Wieviel  junge  Männer  begründen 
ihre  Existenz  auf  die  Ehe  mit  einer  Erbin?  Wieviel 
unproduktive  Familien  hat  ein  Land  von  Geschlecht  zu 
Geschlecht  zu  ernähren1)?"  Alle  diese  Erscheinungen 
lösen  wohl  im  Augenblick  einen  Gefühlston  vorüber- 
gehenden Unwillens  im  Gewissen  der  Gemeinschaft  aus, 
besonders,  wenn  sie  mit  prahlendem,  protzendem  und 
prunkhaftem  Auftreten  verbunden  sind,  doch  bald  schon 
machen  Mitglieder  derselben  Gemeinschaft  die  tiefsten 
Bücklinge  vor  den  bezeichneten  minderwertigen  Elemen- 
ten und  ersterben  vor  ihnen  in  Ehrfurcht,  ohne  doch  wie 
sie  es  eigentlich  müßten,  so  recht  zu  erkennen,  daß  es 
kaum  etwas  so  schreiend  Unethisches  £>bt,  als  die  Erb- 
schaft. 

Diese  guten  Leute,  die  so  wenig  nachdenken  un.i  bei 
denen  durch  die  Gewohnheit  der  Jahrhunderte  der  Sil<en- 
begriff  des  Erbes  so  tief  eingewurzelt  ist,  wissen  natürlich 
nicht,  daß  hier,  wie  es  in  der  Kunstsprache  heißen  würde, 
eine  der  schönsten  „Substitutionen  des  Grun- 
d  e  s"  vorliegt  und  die  Voraussetzungen  verschoben  hat. 
,, Geräte  mögen  in  Urzeiten  ebenso  häufig  dem  Verstor- 
benen ins  Grab  gegeben,  wie  vererbt  worden  sein.  Sie 
waren  Ausstattungsteile  des  Menschen  und  seiner  Hütte, 
überlebten  das  Geschlecht  und  bildeten  Attribute  des  kol- 
lektiven Individuums,  der  Familie2)."  Später  gründete  sich 
die  Erbschaft  auf  die  Schichtung  in  soziale  Klassen: 
Sklaven  und  Leibeigene  hatten  nicht  das  Recht,  etwas  zu 
besitzen;  diese  Instrumente  der  Macht  gehörten  vielmehr 
selbst  erb-  und  eigentümlich  als  Besitzstücke  denjenigen, 
denen  allein  die  Sendung  der  Repräsentation  und  des 
Schutzes  der  anderen  oblag  und  die  gewisse  Pflichten 
gleichzeitig  mit  den  entsprechenden  Rechten  erbten.  Aus 
diesem  Gesellschaftsbau  löste  sich  unmerklich  die  Epoche 

')  D.  in.  s.  136,  Sep.-Ausg.  S.  126-127.     -)  D   III.  S.  136,  Sep.-Ausg. 
S.  127. 

143 


des  Kapitalismus.  Von  der  Einrichtung  des  Erbens  be- 
wahrte er  sich  wohl  die  Vorrechte,  das  Geld,  die  Macht, 
die  Genüsse,  ohne  jedoch  dafür  als  Gegenleistung  die  mit 
diesen  Rechten  verbundenen  Pflichten  zu  übernehmen. 
Und  darin  liegt  auch  die  so  widerspruchsvolle  Anomalie 
und  Antinomie,  die  aber  der  Staat,  abgesehen  von  ein  paar 
Einschränkungen,  mit  seiner  ganzen  Macht  aufrecht  er- 
hält und  stützt  und  die  sogar  die  öffentliche  Meinung  für 
sakrosankt  erklärt!  Nein,  sie  mag  uns  gewohnt  und  ver- 
traut sein;  sakrosankt  ist  sie  wahrlich  nicht,  sondern 
lediglich  eine  vorherrschende,  ungeprüft  hingenommene 
Eigenart  I  ,,Sie  verurteilt  den  Proletarier  zu  ewigem 
Dienst,  den  Reichen  zu  ewigem  Genuß.  Sie  bürdet  die 
Verantwortung  auf  den  Müden,  der  sie  verleugnet,  und 
erstickt  die  Schaffenskraft  des  Unverbrauchten,  der  die 
Verantwortung  ersehnt.  Die  zähe  Ölschicht  des  Her- 
kommens lagert  sich  trennend  zwischen  die  wahlver- 
wandten Lösungen,  die  sich  zu  durchtränken  streben, 
und  steigert  die  Spannung  eines  unbetätigten  Willens1)." 
Es  ist  höchste  Zeit,  daß  wir  für  die  Gesundung  auch 
dieses  Organs  dadurch  sorgen,  daß  wir  es  nun  einmal 
ebenso,  wie  wir  das  doch  schon  mit  allen  übrigen  Orga- 
nen bisher  begonnen  haben,  gleich  diesen  jenem  großen 
Naturgesetze  unterwerfen,  jenem  Naturgesetze  von  dem 
lebendigen  Auf-  und  Niedersteigen  des  Lebens,  von  dem 
organischen  Wechsel  dienender  und  bestimmender  Glie- 
der, von  dem  spendenden  Spiele  der  sich  in  dem  aittesta- 
mentarischen  erzväterlichen  Brunnen  des  Lebens  immer 
wieder  von  neuem  herauf  und  herab  bewegenden  golde- 
nen Eimer. 

Wir  dürfen  nun  alle  die  im  Vorhergehenden  gewonne- 
nen Wertungen  und  Feststellungen  in  der  folgenden  kur- 
zen und  grundsätzlichen  Form  dem  Gedächtnisse  ein- 
prägen: 


!)  D.  III.  S.  139,  Sep.-Ausg.  S.  I2ß-i30. 
14i 


„1.  Der  Gesamtertrag  menschlicher  Arbeit  ist  zu  jeder 
Zeit  begrenzt.  Verbrauch,  wie  Wirtschaft  überhaupt,  ist 
nicht  Sache  des  einzelnen,  sondern  der  Gemeinschaft. 
Aller  Verbrauch  belastet  die  Weitarbeit  und  den  Welt- 
ertrag. Luxus  und  Absperrung  unterliegen  dem  Gemein- 
willen und  sind  nur  soweit  zu  dulden,  als  die  Stillung 
jedes  unmittelbaren  und  echten  Bedarfs  es  zuläßt. 

2.  Ausgleich  des  Besitzes  und  Einkommens  ist  ein 
Gebot  der  Sittlichkeit  und  der  Wirtschaft.  Im  Staate 
darf  und  soll  nur  einer  ungemessen  reich  sein:  der  Staat 
selbst.  Aus  seinen  Mittein  hat  er  für  Beseitigung  aller 
Not  zu  sorgen.  Verschiedenheit  der  Einkünfte  und  der 
Vermögen  ist  zulässig,  doch  darf  sie  nicht  zu  einseitiger 
Verteilung  der  Macht-  und  der  Genußrechte  führen. 

3.  Die  heutigen  Quellen  des  Reichtums  sind  Monopole 
im  weitesten  Sinne,  Spekulation  und  Erbschaft.  Der  Mo- 
nopolist, Spekulant  und  Großerbe  hat  in  der  künftigen 
Wirtschaftsordnung  keinen  Raum. 

4.  Beschränkung  des  Erbrechts,  Ausgleich  und  He- 
bung der  Volkserziehung  sprengen  den  Abschluß  der 
Wirtschaftsklassen  und  vernichten  die  erbliche  Knech- 
tung des  untersten  Standes.  Im  gleichen  Sinne  wirkt  die 
Beschränkung  luxuriösen  Verbrauchs,  indem  sie  die  Welt- 
arbeit auf  die  Erzeugung  notwendiger  Güter  verweist  und 
den  Wert  dieser  Güter,  gemessen  am  Arbeitsertrage,  er- 
mäßigt1)." 

Auf  diesen  Grundsätzen  ruht  das  System  eines  neuen 
Wirtschaftslebens  unter  dem  Zeichen  des  wirtschaftlichen 
Ausgleichs  und  der  sozialen  Freiheit. 

.,Das  nächstliegende  Mittel  zur  Regelung  des  Ver- 
brauchs ist  ein  ausgedehntes,  teilweise  bis  an  die  Grenze 
der  Prohibition  getriebenes  System  von  Zöllen,  Steuern 
und  Abgaben  auf  Luxus  und  übermäßigen  Verbrauchs- 
genuß.    Dieses  System  soll  kein  finanzielles  sein;  der  Er- 

'■)  D.  IM.  s.  139-140,  Sep.-Ausg.  130-131. 

10  145 


trag  ist  eine  gleichgültige  Nebenwirkung;  sein  Sinn 
liegt  ausschließlich  in  der  Beschränkung.  Die  Abgaben 
sind  um  so  höher  zu  bemessen,  je  überflüssiger  und  je 
kostbarer  das  eingeführte  oder  erzeugte  Produkt  sich  dar- 
stellt1)." Auf  Tabak  und  Spirituosen,  auf  kostbare  Textil- 
stoffe,  Rauchwaren,  Putzfedern,  Hölzer,  Gesteine,  vor 
allem  auf  gefertigte  Luxuswaren  sind  Zölle  und  Abgaben 
zu  erheben,  die  bis  zum  mehrfachen  des  Wertes  ansteigen; 
Juwelen,  deren  Einfuhr  schwer  zu  überwachen  ist,  sollten 
außer  dem  Zoll  eine  hohe  Jahressteucr  tragen.  Zu  be- 
steuern ist  der  Raumaufwand.  Abgesperrte  Parkanlagen, 
luxuriöse  Gebäude  und  Wohnräume,  Remisen  und  Ga- 
ragen müssen  zu  den  Lasten  des  Landes  beitragen.  Per- 
sönliche Bedienung  in  starker  Progression  der  Kopfzahl 
und  der  Gehälter;  Luxuspferde,  Equipagen  und  Automo- 
bile, Beleuchtungsaufwand,  kostbares  Mobiliar,  Rang  und 
Titel  sind  Steuerobjekte  nicht  im  Sinne  des  Finanz- 
ertrages, sondern  der  Beschränkung. 

Dem  Ausgleich  der  Vermögen  und  Einkommen  dienen 
die  bekannten  Einrichtungen  der  Vermögens-  und  Ein- 
kommenbesteuerung, jedoch  nicht,  wie  bisher,  in  dem 
Sinne  einer  Notquelle  für  den  Staat,  mit  Bangen  auferlegt 
und  mit  Unmut  entrichtet,  sondern  vielmehr  als  An- 
erkenntnis dafür,  daß  oberhalb  eines  bürgerlichen  Aus- 
kommens der  Erwerbende  nur  bedingter  Mitbesitzer  des 
Erworbenen  ist  und  daß  es  dem  Staate  freisteht,  von 
diesem  Überschusse  ihm  so  viel  oder  so  wenig  zu  be- 
lassen, wie  er  will.  Wer  die  Entwicklung  der  sogenannten 
gemischtwirtschaftlichen  Unternehmungen  beobachtet, 
die  für  einzelne  Erwerbszweige  monopolistischer  Art  schon 
heute  den  Gedanken  nahe  legt,  daß  oberhalb  eines  aus- 
kömmlichen Ertrages  der  Fiskus  den  weitaus  überwiegen- 
den Teil  des  Nutzens  zu  beanspruchen  hat,  dem  wird  die 
Aussicht  nicht  widersinnig  erscheinen,  daß  der  Staat  hier 


0  T>.  III.  S.  142.  Sep.-Ansg.  S.  132-133. 

110 


noch  weit  allgemeiner  auf  übermäßige  Erträge,  aber  auch 
Vermögen  bis  zu  einem  beliebigen  Anteile  die  Hand  legen 
könne.  Die  beiden  Einwände  des  Antriebs  zur  Auswan- 
derung bei  den  Wohlhabenden  und  des  Antriebes  zu 
einem  verschwenderischen  Leben  ihrerseits  haben  nichts 
zu  bedeuten.  Denn  die  besagten  für  den  Staatssäckel  so 
vorteilhaften  Einrichtungen  werden  nicht  national  begrenzt 
bleiben,  sondern  allmählich  bei  allen  Völkern  festen  Fuß 
fassen.  Was  aber  den  zweiten  Einwand  betrifft,  so  wird 
ein  Mensch,  der  nun  einmal  jenen  seltsamen  und  uner- 
forschten Hang  hat,  Kapital  aufzuhäufen  oder  umgekehrt 
es  zum  Fenster  hinauszuwerfen,  von  dieser  Leidenschaft 
nicht  frei,  weil  ihre  Befriedigung  erschwert  ist. 

Der  Kampf  gegen  private  und  persönliche  Monopole 
ist  eine  Tendenz,  die  nur  gemeinnützig  und  nachdrücklich 
anerkannt  zu  werden  braucht,  um  in  jedem  Einzelfalle 
ihre  gesetzliche  oder  geschäftliche  Handhabe  zu  finden, 
durch  die  zwar  die  Gesamtheit  nicht  verletzt  wird,  aber 
der  einzelne  sich  nicht  unnötig  bereichern  kann.  Nach 
dieser  Richtung  wird  es  darauf  ankommen,  auf  gewisse 
Formen  des  Handels  ein  wachsames  Auge  zu  haben,  die 
sozusagen  nicht  ausreichend  von  der  Besteuerung  ge- 
troffen werden,  wie  der  Gelegenheitsgeschäfte  großen  Um- 
(anges,  Spekulationen,  Gründungs-  und  Geldvermittlungen, 
Patent-  und  Grundstücksschiebereien,  verborgene  Belei- 
hungs-  und  Wertpapiergeschäfte;  hier  helfen  nur  nach- 
haltige Stempelgebühren  und  entschiedene  Sonderbesteu- 
erungen akzidenteller  Gewinne,  Gewerbescheine,  Firmen- 
eintragung und  Bilanzrevision.  Es  v/ird  nicht  weniger  dar- 
auf ankommen,  auch  gegen  gewisse  geschäftliche  Gewohn- 
heiten vorzugehen,  die  der  Gesamtwirtschaft  größeren 
Schaden  zugefügt  haben  als  irgendeine  falsche  Maßnahme  seit 
Beginn  der  kapitalistischen  Ordnung,  indem  sie  Hundert- 
tausende schaffensfähiger  Existenzen  zu  einer  Leistung 
aufsaugt,  die  von  wenigen  Tausenden  erfüllt  werden 
könnte.     Gemeint  sind  die  kleinen  Ladenbesitzer,  die  be- 

10*  147 


anspruchen,  daß  ganze  Heere  von  Handkmgsreisenden 
mehrere  Tage  lang  sich  umhertreiben,  bei  einem  jeden 
von  ihnen  vorsprechen  und  mit  ihm  schwatzen,  um  ihnen 
bei  dieser  Gelegenheit  Waren  vorzulegen,  auf  die  sie  dann 
im  Bedarfsfalle  einen  Auftrag  zu  erteilen  sich  vorbehalten 
oder  auch  nicht  und  die  sie  ganz  ebenso  leicht  prüfen 
könnten,  wenn  in  jeder  größeren  Provinzialstadt  ein  ge- 
meinsames Musterlager  der  Grossisten  unterhalten  würde. 
Es  ist  einfach  unzulässig,  daß  auf  dem  Wege  vom  Produ- 
zenten bis  zum  Konsumenten  der  Preis  einer  Ware  um 
25  Prozent,  ja  sogar  um  100  Prozent  steigt.  Eine  scharfe 
Besteuerung  der  besagten  Handelsgeschäfte  würde  diese 
Reform  des  Kleinhandels  erzwingen  und  um  Hunderte 
von  iMülionen  die  Produktionskraft  erhöhen. 

Die  letzte  der  Maßnahmen  zur  Regelung  der  Privat- 
wirtschaft hat  vielleicht  die  größte  Tragweite.  Es  ist  die 
folgende:  Oberhalb  einer  mäßigen  Vermögenseinheit  ge- 
hört jeder  Nachlaß  dem  Staate.  Eine  Verwirklichung  findet 
dieser  Gedanke  durch  eine  wachsende  nach  Vermögens- 
umfang  und  Verwandschaftsgrad  hoch  gestaffelte  Besteue- 
rung. Hoffentlich  wird  dadurch  endlich  einmal  dem  skan- 
dalösen Unfug  des  Erbanfalles  außerhalb  des  engsten 
Familienkreises  ein  kräftigesHalt  geboten.  Vom  staatlichen 
Heimfall  auszunehmen  sind  in  beschränktem  Maße  wohl- 
tätige Legate,  in  weiterem  Umfange  gewisse  Stiftungen 
für  öffentliche  Wohlfahrtszwecke,  ja  selbst  innerhalb  be- 
stimmter Grenzen  gewisse  Familienstiftungen  zu  beson- 
deren Zwecken.  Höchste  Werke  und  Denkmäler  der  Na- 
tur, der  Kunst  und  der  Geschichte  dürfen  in  keinem  Falle 
vererbt  werden. 

Aber  tut  sich  da  nicht  eine  ernste  Schwierigkeit  auf? 
Alle  Unternehmungen  des  kapitalistischen  Arbeitssyste- 
mes  stimmen  darin  überein:  sie  fordern  große  Mittel  und 
sind  gefährlich.  Sich  Mittel  zu  beschaffen,  ist  jede  fiska- 
lische Verwaltungsgemeinde  imstande;  Risiken  zu  tragen, 
vermag    sie    nicht.      So    begegnet    das    Privatkapital    der 

148 


Größe  der  Aufgabe  durch  Assoziation:  es  beregnet  den 
Risiken  seiner  Unternehmungen  durch  unermüdliches 
Streben  nach  Erfolg  und  Gewinn.  Bisher  konnten  der 
ersten  der  oben  bezeichneten  beiden  Forderungen  nur  die 
staatlichen  Unternehmungen  genügen,  aber  es  fehlte  ihnen 
der  leidenschaftliche  Anreiz,  der  die  Sorgen  der  Verant- 
wortung überwindet,  und  außerdem  das  autokratisch  wal- 
tende, instinktive  Urteil,  das  die  Aussichten  jenseits  der 
Gefahr  vorwegnimmt,  mit  einem  Worte  alles  das,  was 
wir  unter  dem  Begriffe  des  Unternehmungsgeistes  zusam- 
menzufassen pflegen.  Kommt  nicht  aber  jeder  Angriff  auf 
den  Privatbesitz  und  die  Möglichkeit  seiner  Vererbung  auf 
eine  Verbannung  desselben  und  Verurteilung  zu  ewiger 
Untätigkeit  hinaus?  Und  wird  das  nicht  ein  empfindlichei 
verlust  für  die  Gesamtheit  sein? 

Sehen  wir  uns  einmal  eine  nicht  allzu  kleine  Anzahl 
neuzeitlicher  Betriebe  etwas  näher  an,  und  wir  werden 
bemerken,  daß  jene  Gefahr  weniger  ernstlich  zu  fürchten 
ist,  als  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  mag.  Die  Betriebe 
gedeihen,  verdanken  aber  gleichwohl  diesen  Erfolg  nicht 
mehr  denselben  Bestrebungen,  wie  sie  einstens  derartige 
Unternehmungen  gehabt  haben.  Fast  ausnahmslos  tragen 
solche  modernen  Unternehmungen  die  unpersönliche  Form 
der  Gesellschaft.  Objektiv  und  psychologisch  ist  der  Be- 
griff des  persönlichen  Eigentums  bei  ihnen  um  ein  er- 
staunliches Maß  eingeschränkt.  Niemand  ist  ständiger 
Eigentümer;  ununterbrochen  wechselt  die  Zusammen- 
setzung des  tausendfältigen  Komplexes,  der  als  Herr  des 
Unternehmens  gilt.  Wieviel  Leute  werden  wohl  noch 
Aktien  kaufen,  wenn  sie  in  ihnen  keine  Anteilscheine 
mehr,  sondern  nur  noch  einfache,  in  jedem  Augenblicke 
umsetzbare  Papiere  zu  sehen  haben  werden?  Wie  viele 
Leute  werden  aber  nicht  noch  andere,  vielleicht  sogar 
zahlreiche  andere  Aktien  auf  die  verschiedensten  Unter- 
nehmungen kaufen?  So  kann  ein  Einzelner  zum  Kreu- 
zungspunkte mannigfaltiger  Besitzrechte  werden  und  auch 

149 


die  Zusammensetzung  dieser  Anrechte  wechseln.  All 
diese  Verhältnisse  aber  bedeuten  die  Entpersönlichung 
des  Eigentumes.  Das  ursprünglich  persönlichste  Verhält- 
nis eines  Menschen  zu  einer  greifbaren,  genau  bekannten 
Sache  ist  zu  einem  unpersönlichen  Ansprüche  auf  einen 
theoretischen   Ertrag   geworden. 

Die  Entpersönlichung  des  Besitzes  bedeutet  jedoch 
gleichzeitig  die  Objektivierung  der  Sache.  Mit  einem 
Schlage  gewinnt  das  Unternehmen  ein  eigenes  Leben, 
gleich  als  gehöre  es  niemandem,  ein  objektives  Dasein, 
wie  es  vormals  nur  in  Staat  und  Kirche,  in  städtischer, 
zünftischer  oder  Ordensverwaltung  verkörpert  war.  Die 
Aktionäre  gelten  nun  weniger  als  die  Direktoren  mit  ihrer 
gesamten  Beamtenhierarchie.  Der  Möglichkeit,  daß  ein 
Unternehmen  aus  seinen  Erträgen  alle  von  ihm  aus- 
gegebenen Aktien  von  ihren  Besitzern  zurückkaufe, 
steht  allerdings  die  Gesetzgebung  entgegen,  doch 
tatsächlich  ist  dieser  Rückkauf  keineswegs  so  un- 
möglich, wie  es  danach  scheinen  könnte.  Jedenfalls 
ist  es  schon  heute  denkbar,  daß  das  Unternehmen  —  und 
die  Beispiele  sind  nicht  selten  —  das  Eigentum  der  An- 
gestellten und  Arbeiter  oder  auch  einer  ganzen  Stadt  oder 
einer  Universität  wird.  Es  bleibt  in  diesem  Falle  autonom, 
kann  also  weiter  ein  selbständiges  Dasein  führen,  es  müssen 
nur  ausreichende  Bürgschaften  in  bezu£  auf  seine  zukünf- 
tigen Geschäftsführer  gegeben  sein.  Wie  hat  sich  nicht 
gleichzeitig  die  , .Mentalität"  der  Eigentümer  größerer 
Privatunternehmen  geändert!  Stellen  sie  nicht  das  Pro- 
spcriereri  der  Firma  über  ihre  eigenen  persönlichen  In- 
teressen? Gewährt  ihnen  nicht  dieses  Prosperieren  ihrer 
Firma  häufig  mehr  Freude  als  selbst  die  persönlichen  Ge- 
winne, die  sie  aus  dem  Geschäfte  ziehen.  Haben  nicht 
schon  manche  unter  ihnen  auf  ein  größeres  Wohlleben  für 
sich  und  inre  Familie  verzichtet,  nur,  damit  das  Geschäft 
über  reichere  Mittel  verfügen  könne?  Hier  hält  nicht 
mehr  die  Gewinnsucht,  wie  wir  sie  wohl  vordem  bei  den 

150 


Großkapitalisten  kennen  gelernt  haben,  ihr  Geschäft,  son- 
dern das  Geschäft  selbst,  das  längst  zu  einem  selbstän- 
digen Wesen,  zu  einer  wirklichen  Persönlichkeit  geworden 
ist,  die  über  eigene  Mittel  verfügt  und  sich  selbst  ihre 
Aufgaben  stellt.  Gesteigert  findet  sich  diese  Denkweise 
in  den  Häuptern  großer  Gesellschaf  tsunternehmungen. 
Hier  herrscht  schon  heute  der  gleiche  Beamtenidealisinus 
wie  im  Staatsbetriebe.  Die  leitenden  Organe  sorgen 
schon  für  die  Beamten  im  voraus  für  Zeiten,  in  denen 
sie  nach  menschlichem  Ermessen  längst  nicht  mehr 
dem  Unternehmen  angehören  werden.  Es  lagert 
sich  somit  zwischen  das  Gebiet  der  Staatsver- 
waltung und  das  Gebiet  der  Privatgeschäfte  eine 
Schicht  mittlerer  Gebilde:  autonomer  Unternehmungen, 
die  der  privaten  Anregung  entstammen,  von  privater  Ini- 
tiative geleitet  werden,  der  Aufsicht  des  Staates  unter- 
stehen, und  ein  selbständiges  Leben  führen,  das  in  seiner 
Wesensart  von  der  Privatwirtschaft  zur  Staatswirtschaft 
überleitet.  Wirtschaftseinheit  ist  nicht  mehr  ausschließ- 
lich der  Stamm  der  Familie,  sondern  die  Gemeinschaft, 
jedoch  nicht  ausschließlich  die  schematisch  gebundene  Ge- 
meinschaft des  Staates,  sondern  daneben  ein  ideelles 
Zwischenvolk  wirtschaftlicher  Individualitäten,  die  nicht 
Menschen  sind,  sondern  Verkörperungen  menschlicher 
Willenseinheiten1). 

Wahrscheinlich  wird  dieser  Begriff  des  unpersönlichen 
Eigentums  die  künftigen  Jahrhunderte  beherrschen;  der 
objektiv  und  unpersönlich  gewordene  Besitz  wird  vermut- 
lich die  hauptsächliche  Daseinsform  aller  dauernden  Güter 
bilden;  ihnen  gegenüber  werden  die  Verbrauchsgüter  als 
Privateigentum,  die  gemeinnützigen  Güter  als  Staatseigen- 
tum ihre  Stellung  wahren;  den  Betriebsmonopolen  dienen 

*)  Ueber  die  unzeifgemäss  gewordenen  Theorien  des  Marxismus  und 
über  die  modernen  Auffassungen  von  Kapital  und  Ei^entnm  finden  sich 
interessante  Aufschlüsse  in  dem  Werke  von  V.  G.  Simkhowitsch,  Professor 
der  Nationalökonomie  an  der  Universität  Columbia:  Marxismus  contra 
Soziallsmus  (in  franz.  Uebersetzung  von  Roger  Picard,  Paris,  Payotl6°v 

151 


die  Formen  gemischtwirtschaftlicher  Unternehmung,  Der 
Lage  der  autonomen  Unternehmungen  muß  die  Eigentuins- 
gesetzgebung  in  gleicher  Weise  Rechnung  tragen  wie  den 
Stiftungen,  deren  wachsende  Bedeutung  gleichfalls  der 
kommenden  Zeit  gehört.  Die  Stiftung  aber  wird  zum 
wahrhaften  Denkmal  eines  nach  außen  wirkenden  Lebens 
werden  und  eine,  wenn  auch  nicht  dem  geistigen  Inhalte, 
so  doch  im  absoluten  Dasein  begründete  Analogie  zur 
idealen  Schöpfung  des  Kunstwerkes  gewinnen. 

So  wird  sich  für  die  befreite  und  glückliche  Mensch- 
heit eine  neue  Wirtschaftära  eröffnen,  in  der  alle  frisch 
und  freudig  an  die  Arbeit  gehen  werden  und  in  der  das 
dunkle  wie  das  deutliche  Sehnen  der  gequälten  Völker 
wohl  endlich  einmal  Erfüllung  finden  wird.  Das  gesamte 
soziale  Leben  wird  in  einem  ganz  neuen  Lichte  erscheinen. 
Der  einzelne  wird  nun  verstehen,  welche  Bande  ihn  mit 
seiner  Klasse,  aber  auch  mit  der  gesamten  Gemeinschaft 
verbinden;  er  wird  sich  nicht  mehr  absperren  und  für  sich 
allein  ein  Leben  des  Luxus  und  der  Pracht  führen  können; 
menschliche  Gebrechen  oder  Laster  werden  nur  noch  Aus- 
nahmeerscheinungen bilden;  die  Erziehung  wird  zu  einer 
wahren  Waffe  im  Kampfe  des  Lebens  werden;  die  Besten 
werden  nicht  mehr  die  besten  Plätze  zu  räumen  haben; 
die  Frau  wird  wieder  zu  ihrem  natürlichen  Berufe  in  der 
Häuslichkeit  zurückkehren;  keiner  wird  mehr  beschimpft 
und  gering  geschätzt  werden,  außer  der  Verächter  selbst. 
„Utopie!"  werden  alle  rufen.  Nein,  ganz  gewiß  nicht! 
Schon  heut  lassen  sich  alle  Züge  dieser  neuen  Aera  ganz 
genau  bestimmen,  und  es  ist  nicht  einer  unter  ihnen,  der 
als  ein  bloßes  Trugbild  erscheinen  könnte  und  nicht  bereits 
in  der  folgenden  rohen  Skizze  des  aus  einer  so  leidvollen 
Vergangenheit  hervorgegangenen  Wirtschaftsaufbaues 
klar  zu  erkennen  wäre: 

„1.  Produktion  und  Wohlstand  des  Landes  müssen 
steigen;  denn  es  wird 

152 


Vergeudung  ausgeschaltet, 

überflüssige  Produktion  auf  nützliche  Produktion 
umgestellt, 

Müßiggang  beseitigt  und  jede  verfügbare  Kraft 
zu  geistiger  und  materieller  Produktion  heran- 
gezogen, 

freier  Wettbewerb  und  private  Unternehmungs- 
lust  erhalten, 

die  Verantwortung  in  die  Hände  der  sittlich  und 
geistig  Befähigten  gelegt. 

2.  Die  Ansammlung  übermäßigen  und  toten  Reichtums 
wird  verhindert; 

3.  Die  starre  Gliederung  der  Stände  wird  verflüssigt; 
an  die  Stelle  dauernd  tragender  und  dauernd  lastender 
Glieder  tritt  lebendige  Bewegung  und  organisches  Auf- 
und  Niedersteigen; 

4.  Somit  wächst 

die  Macht  des  Staates,  seine  materielle  Stärke 
und  seine  ausgleichende  Kraft, 
und  gleichzeitig  entsteht  ein  gleichmäßiger  mittlerer  Wohl- 
stand, der  alle  Stände  durchdringt,  Klassengegensätze 
ausgleicht  und  die  Nation  zur  höchsten  denkbaren  Ent- 
faltung ihrer  geistigen  und  wirtschaftlichen  Kräfte  führt1)." 


l)  D.  Hl.  S.  161-162,  Sep-Ausg.  S.  151. 

158 


Kapitel    V. 

Die  neue  Wirtschaftsordnung 

Ohne  den  Weltkrieg  hätten  sich  möglicherweise  die 
theoretischen  Erörterungen  über  die  Zweckmäßigkeit  und 
den  Sinn  der  künftigen  wirtschaftlichen  Erneuerung  noch 
Jahrzehnte  hingezogen,  um  ihre  Vollendung  ebenso  lange 
hinauszuschieben.  Aber  „der  Krieg  hat  eben  in  wenigen 
Jahren  gereift,  was  sonst  vielleicht  in  Jahrzehnten,  Jahr- 
hunderten hätte  reifen  müssen1)."  Er  hat  uns  eine  Lage 
geschaffen,  mit  der  wir  uns  ein  für  allemal  abfinden  müssen, 
und  uns  mit  einer  unerbittlichen  Strenge  zu  Bestrebungen 
gedrängt,  die  uns  bereits  in  eine  ganz  bestimmte  Rich- 
tung treiben.  Die  Reformen  sind  heute  schon  nicht  bloß 
unentbehrlich,  sie  dulden  geradezu  auch  nicht  den  klein- 
sten Aufschub  mehr.  Ja,  auch  unsere  Entscheidung  ist 
nicht  einmal  mehr  ganz  frei:  angesichts  unerhörter  und 
unvorhergesehener  Schwierigkeiten  sind  wir  gezwungen 
gewesen,  sogleich  auf  der  Stelle  völlig  neue  Maßnahmen 
zu  treffen,  die  auch  schon  die  Zukunft  binden.  Jetzt  ist 
der  Augenblick  gekommen,  wo  sich  auch  schon  die  zu- 
künftige Wirtschaftsordnung  in  einer  ausführlichen  Skiz- 
zierung einigermaßen  vorausbestimmen  läßt. 

Wir  müssen  dazu  freilich  die  Bedeutung  dieses  Krie- 
ges um  ein  gut  Teil  klarer  zu  verstehen  suchen  als  die 
meisten  unserer  Zeitgenossen  es  getan  haben.  „Die  Krise, 


l)  W.  V.  S.  257,  Sep.-Ausg.  S.  82. 
154 


die  wir  erleben,  ist  die  soziale  Revolution1)."  Die  unver- 
meidlichen und  heillosen  Folgen  der  mechanischen 
Wirtschaftsordnung  hatten  solange  verborgen  bleiben 
können,  wie  die  Gütererzeugung  noch  in  mäßigen  Gren- 
zen geblieben  war.  Sobald  aber  erst  einmal  diese 
Schranke  durchbrochen  war,  ging  ein  anfangs  leiser  und 
dann  immer  schrofferer  und  schrofferer  Riß  durch  jede 
Nation  zwischen  den  beiden  großen  Gesellsc'.iaftsschichten 
oder  sozialen  Klassen  und  gleichzeitig  durch  die  nationale 
Gemeinschaft  zwischen  den  einzelnen  Nationen.  Im  Innern 
der  Staaten  wüteten  Verschwendung  und  Ungerechtigkeit; 
die  von  den  höheren  Gemeinschaftsinteressen  völlig  aus- 
geschlossenen Proletarier  forderten  erbittert  ein  paar  ein- 
fache materielle  Aufbesserungen,  die  die  Besitzenden  in 
der  Notwehr  bewilligten,  um  immer  noch  die  Ueberrcstc 
einer  Vorherrschaft  genießen  zu  können,  die  ihnen  aus 
den  Händen  zu  gleiten  schien.  Draußen  ging  bei  den 
Völkern,  die  alle  soviel  Arbeit  wie  möglich  wollten,  der 
Kampf  um  Rohstoffe  und  Absatzmärkte,  ins  Politische 
übertragen:  um  Kolonien  und  Einflußgebietc.  Die  Welt 
war  mittlerweile  klein  geworden,  die  unbesetzten  Gic- 
bietc  knapp  und  von  allen  umworben.  In  sein  letzlcs 
Stadium  trat  der  Kampf,  als  die  äußerste  Schlußfolgerung 
gezogen  wurde:  Schutzzoll.  Nationallismus  und  Imperalis- 
mus  hatten  ein  ganz  entsetzliches  Unbehagen  hervorge- 
rufen, dessen  drückende  Last  jedermann  empfand  und 
abzuschütteln  suchte,  ohne  sich  jedoch  eigentlich  über  die 
Stelle,  an  der  er  verwundet  war,  oder  über  die  Art,  in  der 
er  sich  erleichtern  konnte,   klar  und  genau   Rechenschaft 


!)  Gemeint  ist  mit  dieser  Krise  der  Weltkrieg,  wie  aus  dem  Zusammen 
hang  der  Stelle  hervorgeht,  die  der  Sireitschrift  rAn  Deutschland.-. 
Jugend*  entnommen  ist  S  76  (vgl.  auch  eb.  S  84).  Diese  Streitschrift 
stammt  aus  den  Juli  1918,  also  noch  aus  der  Zeit  vor  dem  Ausbruch 
der  eigentlichen  Revolution  in  Deutschland.  Wir  dürfen  ebenso  auch 
nicht  vergessen,  dass  alle  hier  zu  behandelnden  Ansichten  Walther 
Rathenaus  in  Streitschriften  vorgetragen  sind,  die  schon  au?  der  Zeit  vor 
der  Unterzeichnung  öss  Waffenstillstandes  vom  11.  November  1918 
herrühren.    Bearbeiter. 

155 


geben  zu  können.  Wenn  sich  die  Krise  nicht  von  vorn- 
herein im  Innern  der  Nationen  offenbart  hat,  so  lag 
das  daran,  daß  die  wirtschaftlichen  Beziehungen  einen 
ausgesprochen  internationalen  und  weltwirtschaftlichen 
Charakter  hatten  und  daß  sich  auf  diese  Weise 
die  entzündlichsten  Sprengstoffe  an  den  Rädern  der 
Staatseinheiten,  also  an  den  Grenzen,  gehäuft  hatten. 
Aber  hier  fanden  sie  sich  in  ungewöhnlicher  Menge  und 
ohne  Schutz:  ein  geringfügiger  Umstand  entfachte  jenen 
großen  Brand,  den  die  innere  und  die  äußere  Anarchie 
vorbereitet  hatten.  Es  bedarf  schon  des  ganzen  schein- 
heiligen Geistes  derjenigen,  die  von  Vierteljahr  zu  Viertel- 
jahr von  neuem  das  bevorstehende  Kriegsende  ausrech- 
neten, um  nicht  zu  begreifen,  daß  eine  solche  Vergangen- 
heit ein  für  allemal  gerichtet  ist  und  daß  eine  neue  Ord- 
nung entstehen  muß. 

Suchen  wir  nun  die  materielle  und  die  moralische  Bi- 
lanz des  Krieges  zu  ziehen.  Während  seiner  Dauer  machte 
sich  eigentlich  keiner  so  recht  klar,  welche  ungeheuren 
Kosten,  insbesondere  aber  Deutschland,  der  Krieg  machen 
müßte.  Es  gab  viele,  die  sich  durch  die  geschäftliche 
Hochkonjunktur,  die  sich  damals  im  ganzen  Lande  be- 
merkbar machte,  blenden  ließen.  Abgesehen  von  einigen 
Zweigen  der  Industrie,  die  sichtlich  zugrunde  gingen,  war 
noch  niemals  bisher  vorher  eine  derartige  Fülle  von  Auf- 
trägen, Arbeit  und  Geld  gesehen  worden.  Nach  allmäh- 
licher Ueberwindung  der  anfänglichen  Verwirrung  i.  J. 
1914  hatten  sich  die  Geschäfte  ständig  gehoben.  Eine 
Fülle  von  Unternehmungen  hatte  die  auf  ihnen  ruhen- 
den Lasten  abgetragen,  alsbald  immer  größere  Ausdeh- 
nung gewonnen  und  schließlich  noch  beträchtliche  Erspar- 
nisse zurückgelegt.  Die  industriellen  Arbeitslöhne  waren 
aufs  Drei-  und  Vierfache  gestiegen.  Die  Landwirtschaft 
hatte  ihre  Schulden  bezahlt.  So  genossen  denn  auch  die 
meisten  Menschen,  ,, denen  es  nur  in  der  Weise  gegeben 
ist,  sich  eine  Zukunft  zu  bilden,  daß  sie  sich  die  Gegen- 

156 


wart  gradlinig  verlängert  denken1)/'  den  Augenblick,  indem 
sie  sich  in  dem  Glauben  gefielen,  daß  diese  Glückseligkeit 
bis  über  den  Schluß  des  Krieges  hinaus  immer  so  weiter 
gehen  würde.  Andere  glaubten  sogar:  sie  würde  ihren 
Höhepunkt  erst  noch  erreichen.  Denn,  so  sagten  sie,  man 
bedenke  nur,  was  alles  abgenutzt,  verbraucht,  zerstört  ist 
und  wieder  aufgebaut  werden  muß.  Immer  von  neuem 
wiederholten  sie:  ,,Laßt  nur  erst  den  Frieden  kommen 
und  diese  Kriegswirtschaft  entbehrlich  werden,  und  wir 
werden  sogleich  in  unsere  alte,  dann  endlich  wieder  freie 
Privatwirtschaft,  die  ja  durch  eine  so  lange  Reihe  von 
Jahren  ihre  Probe  endgültig  bestanden  hat,  mit  beiden 
Füßen  hineinspringen2)"  und  aus  ihr  zum  mindesten  wieder 
die  aiten  Erträge  herausschlagen! 

Es  waren  das  alles  nichts  weiter  als  Illusionen,  die 
die  Wirklichkeit  grausam  zerstören  sollte.  Woher  kam 
denn  jene  Glückseligkeit  anders  als  aus  jener  einzig  da- 
stehende Erscheinung,  daß  alles  ausschließlich  vom  Staate 
angekauft,  bezahlt  wie  auch  entlohnt  werden  durfte?  Er 
war  es,  der  mit  seiner  unumschränkten  Macht  den  gesam- 
ten industriellen  und  Handelsmechanismus  in  Schwung 
brachte.  Wenn  nun  der  Staat  dann  in  Friedenszeiten  wie- 
der mehr  in  den  Hintergrund  zurücktreten  muß,  ist  für  den 
Zeitpunkt  nicht  ein  Stillstand  zu  fürchten?  Oder  woher, 
meint  man,  soll  die  treibende  Kraft  dann  wohl  kommen? 
Auch  finanziell  war  die  scheinbare  Glückseligkeit  trüge- 
risch. Die  wahre  Flut  umlaufenden  Geldes,  die  Geschäft 
und  Verdienst  erleichterte,  entsprach  keineswegs  einem 
Anwachsen  des  Nationalvermögens,  das  sich  im  Gegenteil 
immer  mehr  verringerte.  Alles  ruhte  ja  nur  auf  dem 
Notenverkehr.  Wenn  durch  das  Spiel  dauernder  Auf- 
nahme von  Hypotheken  durch  den  Staat  sich  auch  schein- 
bar die  privaten  Geldbeutel  füllten,  so  verlor  doch  in 
Wirklichkeit  jedes  einzelne  Geldstück  darin  Tag  für  Tag 


')  W.  V.  S.  193,  Sep.-Ausg.  S.  17.    2)  W.  V.  S.  195,  Sep.-Aasg.  S.  20. 


t 


197 


mehr  von  seiner  Kaufkraft.  Vernünftig  ist  es  schließlich 
auch  nicht,  gar  soviel  von  dem  Wiederaufbau  nach  dem 
Kriege  zu  erhoffen.  Gewiß,  nötig  und  dienlich  wird  er 
ohne  jeden  Zweifel  sein.  „Aber  man  vergißt,  daß  unter 
dem  Zerstörten,  Verschütteten,  Behinderten,  sich  auch 
die  Mittel  des  Aufbaues  befinden1)."  Erst  ganz  allmählich 
werden  sich  die  unentbehrlichen  Rohstoffe  und  Kapitalien 
wiederfinden.  Die  Zeit  erwarteten  Wohlstandes  dürfte 
nur  sehr  zögernd  wiederkommen. 

In  Wahrheit  wird  vielmehr  der  Krieg  mit  einem  ganz 
furchtbaren  Defizit  abgeschlossen  werden.  Gewiß  sind 
die  aufgewendeten  Kosten  noch  lange  nicht  alle  Verluste. 
Ein  großer  Teil  des  vom  Staate  ausgezahlten  Geldes  ist  im 
Lande  geblieben.  Auch  werden  manche  für  die  besonde- 
ren Zwecke  des  Krieges  ersonnenen  Einrichtungen  be- 
stehen bleiben,  um  auch  noch  in  der  Nachkriegszeit  ihre 
Dienste  zu  tun.  Vor  allem  aber  hat  Deutschland  auch  ge- 
lernt, gewisse  Erzeugnisse,  die  es  bisher  ausschließlich 
durch  Einfuhr  bezog,  von  nun  an  ruhig  zu  entbehren  oder 
auch  aus  eigenen  Mitteln  zu  beziehen.  Aber  was  steht 
diesen  wenigen  Aktiven  auf  der  Passivseite  gegenüber! 
Wieviele  Güter  sind  nicht  für  immer  zerstört!  Die  der- 
einstigen so  unermeßlichen  Vorräte  an  Bodenerzeugnissen 
die  halb  oder  ganz  verarbeiteten  Waren  sind  aufgezehrt 
oder  verbraucht.  Sie  sind  in  den  Warenhäusern,  Werk- 
stätten, Häfen  und  Fabriken  durch  unproduktives,  für  den 
Krieg  geeignetes  Material  verdrängt  worden,  das  nach 
seinem  Verschwinden  nur  Aschenhaufen,  rauchende 
Trümmer,  Wunden  und  Verwüstungen  hinterlassen  hat. 
Gleichzeitig  erfuhren  auch  die  Werkzeuge  der  Fabriken 
und  die  Transport-  und  Produktionsmittel,  die  während 
des  Krieges  notwendigerweise  vernachlässigt  werden 
mußten,  eine  ganz  beträchtliche  Abnutzung. 


»)  W.  v.  S.  196,  Sep.-Ausg.  S   20-21 
1Ö8 


Andere  Verluste,  die  weniger  sichtbar  sein  mögen, 
sind  darum  nicht  weniger  wirklich  noch  weniger  schwer. 
Die  unzulänglich  bestellten  Aecker  geben  Jahre  lang  nur 
noch  den  kärglichsten  Ertrag.  Manche  Gegenden  sind 
völlig  zerstört  worden  und  müssen  erst  wieder  aufgebaut 
werden.  Der  riesige  Vorrat  an  Rohstoffen,  der  niemals 
ergänzt  worden  ist  und  dessen  Wert  sich  auf  Milliarden 
bezifferte,  ist  nun  völlig  zu  erneuern.  Bei  einem  normalen 
Geschäftsgange  wären  Ersparnisse  gemacht  worden  und  in 
der  Form  von  Neuanlagen  dem  Lande  verblieben;  sie  wer- 
den jetzt  fehlen.  In  seinem  patriotischen  Ueberschwange 
hat  das  Volk,  noch  stolz  darauf  nur  ja  nicht  mit  Opfern 
zu  knausern,  wenn  es  sich  um  die  Verteidigung  des  Vater- 
landes handelt,  mit  einer  ganz  beispiellosen  Selbstentäuße- 
rung Leib  und  Leben  aufs  Spiel  gesetzt:  Was  wird  es  nun 
nicht  für  hohe  Zinsen  zu  vergüten  und  für  kostspielige 
Pensionen  zu  zahlen  haben!  Den  schwersten  Verlust  für 
das  Volk  aber  werden  die  vielen  ausmachen,  die  entweder 
überhaupt  nicht  mehr  oder  als  arbeitsunfähige  Krüppel 
zurückkehren  werden.  Gar  nicht  zu  reden  von  der  Ver- 
minderung geistiger,  künstlerischer  und  wissenschaft- 
licher Produktion,  die  sich  jeder  Schätzung  entzieht!  Wel- 
ches vernichtete  Kapital  stellen  nicht  unter  dem  volks- 
wirtschaftlichen Gesichtspunkte  jene  für  immer  ent- 
schwundenen  Arme   und   Gehirne   dar! 

Wir  haben  zu  berechnen:  die  Beträge  unserer  bis- 
herigen Kriegsanleihen  und  der  kommenden1).  Es  kommt 
hinzu  die  Notwendigkeit  der  Entspannung  unseres  Bank- 
standes, der  bedeutend  überbeansprucht  ist,  der  Rückkauf 
der  Schatzanweisungen,  der  Aufwand  für  Wiederherstel- 
lung geschädigter  Landesteile,  für  Ergänzung  abgewirt- 
schafteter Staatsmaterialien,  für  Valutabeschaffung. 
Fügen    wir    endlich    hinzu    die    Schuldenvermehrung    der 


l)  Das  Werk  ,.D  i  e  neue  Wirtschaft"  von  W.  R.  ist  ebenfalls 
wie  die  meisten  seiner  hier  benutzten  Schriften  noch  vor  Kriegsende 
erschienen.     Bearbeiter. 

159 


Einzelstaaten  und  Kommunalverbände,  so  erhalten  wir 
den  Kapitalswert  unserer  Kricgsbelastung  in  der  Größen- 
ordnung von  etwa  hundertundsiebzig  Milliarden  mit  einem 
Jahresaufwande  für  Verzinsung  und  Tilgung  von  etwa 
zehn  Milliarden.  Auch  wenn  wir  eine  Vermögensein- 
ziehung aufsteigend  bis  zum  dritten  Teile  der  größeren 
Vermögen  ins  Auge  fassen,  werden  wir  angesichts  des  weit 
überwiegenden  Kleinbesitzes  diese  Zinslast  kaum  unter 
acht  und  eine  halbe  Milliarde  herabmindern  können.  Hier- 
mit ist  es  nicht  getan.  Unsere  Arbeitslöhne  sind  zum  Teil 
bis  auf  das  Vierfache  ihrer  Friedensbeträge  gestiegen.  Nie- 
mand erwartet,  daß  wir  diese  Sätze  aufrechterhalten; 
ebenso  wenig  aber  können  wir  dem  Arbeiter  und  kleine- 
ren Beamten  zumuten,  daß  er  sich  mit  der  Wiederher- 
stellung der  Friedenslöhne  begnüge.  Eine  Aufbesserung 
der  Arbeitslöhne  und  der  kleineren  Gehaltseinkommen  um 
die  Hälfte  der  Friedensbeträge  würde  etwa  sechs  Milli- 
arden jährlich  erfordern  und  somit  die  künftige  Mehr- 
belastung der  deutschen  Wirtschaft  auf  rund  fünfzehn  Mil- 
liarden erhöhen1). 

Hier  müssen  wir  eine  noch  weitere  Wirkung  des 
Krieges  berühren:  die  bedenkliche  Umschichtung  der  Ver- 
mögen, die  er  hervorgerufen  hat.  Auf  Grund  der  von  dem 
Staate  bereits  aufgenommenen  und  noch  immer  aufzuneh- 
menden Anleihen  teilt  sich  die  gesamte  Nation  in  eine 
Gläubiger-  und  eine  Schuldnergruppe.  Gläubiger  sind  alle 
die,  die  in  irgendeiner  Form  an  der  Kriegsarbeit  beteiligt 
gewesen  sind,  oder  auch  diejenigen,  die  einen  Teil 
ihres  Vermögens  flüssig  gemacht  haben,  um  Kriegs- 
anleihe zu  kaufen;  als  Schuldner  haftet  die  Gesamt- 
heit. Das  Reich  hat  sozusagen  alle  Leistungen,  die  für 
dasselbe   gemacht   worden   sind,   mit   höchst   einträglichen 

')  Dies?  Ziffern  sind  in  dem  der  Nationalversammlung  vorgelegten 
Reichshaushaltsentwurf  für  das  Jahr  1919  weit  überschritten  worden,  und 
dabei  waren  hier  nicht  etwa,  schon  die  Kriegsentschädigungen,  die 
Deutschland  noch  zu  zahlen  haben  sollte,  berücksichtigt. 

160 


Zinspapieren,     nämlich    Kriegsanleihe,     bezahlt.      Hieraus 
folgt,  daß  am  Schlüsse  jedes  Jahres  sich  ein  großer  Teil 
des  nationalen  Vermögens  notwendigerweise  neu  verteilen 
müssen  wird;  die  erforderlichen  Summen  werden  aus  dem 
Gesamtvermögen  des  Landes  geschöpft  sein  und  in  einer 
neuen  Verteilung  denPrivatvermögen  zufallen;  die  Gesamt- 
heit wird  arbeiten,  um  den  Besitzern  von  Kriegsanleihe- 
papieren   ihre  Rente  zu  sichern,    die     sich     obenein  auch 
selbst  noch  an  der  Kriegsarbeit  beteiligen  werden.       Die 
Summen,  die  so  Jahr  um  Jahr  von  Hand  zu  Hand  gehen 
werden,  werden  zweifellos  höher  sein  als  unsere  gesam- 
ten Jahresersparnisse  vor  dem  Kriege.     Leute,  die  damit 
zum  Teil  ohne  Gefahr  und  sittliches  Verdienst  Vermögen 
erworben  haben,     werden  nun  in  Zukunft     ganz  hervor- 
ragende Stellungen  einnehmen,  aus  denen  sie  um  so  weni- 
ger zu  vertreiben  sein  werden,  als  es  ihnen  leicht  werden 
wird,  dieselben  mit  denjenigen  Mitteln  zu  schützen,  mit 
denen  sie  sie  erwarben.    Es  liegt  klar  zutage,  daß  durch 
diese  Finanzkrise  am  schwersten  die  Angehörigen  unseres 
Mittelstandes,  die  kleinen  Kaufleute  und  kleinen  Rentner 
betroffen  werden.   Nun  ist  aber  der  gehobene  Mittelstand 
Träger  eines  beträchtlichen  Teiles  unserer  wissenschaft- 
lichen,  technischen,   publizistischen   und   literarischen   In- 
telligenz.    Auch  hat   er  zu  allen  Zeiten  die   Staats-   und 
Privatverwaltung  mit  dem  besten  mittleren  Beamtenstand 
versehen.     Seine  Proletarisierung  würde  Deutschland  gei- 
stig verarmen  lassen,  so  lange  es  nicht  gelänge,  die  noch 
immer  in  den  Ketten  des  Proletariats  schmachtenden  gei- 
stigen  Kräfte    durch   Aufstieg   zu   entbinden   und   in   den 
Dienst  der  Allgemeinheit  zu  stellen.     So  kritisch  ist  die 
Aussicht,  die  uns  die  Uebergangswirtschaft,  die  sich  doch 
einmal  anbahnen  muß,  eröffnet. 

Die  letzte,  wenn  auch  nicht  leichteste  Wirkung  des 
Krieges  wird  die  völlige  Zerrüttung  der  internationalen 
Wirtschafts-  und  Verkehrsbeziehungen  sein.  Hieran  wird 
nicht  zum  wenigsten  Deutschland  schwer  zu  tragen  haben. 


n 


161 


Gründlich  hineinfallen  weiden  auch  die,  die  immer  wieder 
davon  ausgehen,  daß  die  Nationen  nun  einmal  einander 
wechselseitig  zum  Handelsverkehr  bedürfen  und  darum 
immer  wieder  ihren  täglichen  Eiden  zum  Trotze  die  billig- 
sten Waren  kaufen  werden,  und  die  deshalb  unmittelbar 
nach  Kriegsschluß  eine  umfängliche  Wiederaufnahme  der 
altenBeziehungen  erwarten.  Wie  weit  dieGegnerDeutsch- 
lands  darauf  eingehen  werden,  hängt  wirklich  außer- 
ordentlich von  den  jedesmaligen  Stimmungen  und  etwai- 
gen Verstimmungen  ab,  die  durch  irgendwelche  augen- 
blicklichen Landesverhältnisse  oder  auch  reinen  politi- 
schen Zufälle  beeinflußt  werden  und  den  Warenaustausch 
stark  verkümmern  können.  Mag  der  Gedanke  des  Wirt- 
schaftskrieges bei  den  Gegnern  Deutschlands  Kraft  ge- 
winnen oder  verlieren,  mag  die  ewige  Drohung  mit  ihm 
einmal  wirklich  mehr  oder  weniger  zur  Ausführung  kom- 
men oder  umgekehrt  in  nichts  zurücksinken,  sie  werden 
jedenfalls  nicht  mehr  dulden,  daß  sich  der  Aufstieg 
Deutschlands  auf  ihre  eigenen  Kosten  entwickele.  Die 
Gesinnung  der  Völker  ist  augenblicklich  eine  deutsch- 
feindliche, und  vom  guten  Willen  der  Nationen  hängen  nun 
einmal  zwischenstaatliche  Handelsbeziehungen  ab.  Es 
wird  ihnen  jederzeit  freistehen  unter  Verzicht  auf  vorteil- 
haftere Preise,  irgendein  Volk  auszuschließen,  r.nd  so  wird 
auch  Deutschland  nicht  in  der  Lage  sein,  bei  etwa  man- 
gelndem guten  Willen  ihrerseits  vorwärts  zu  kommen.  Die 
Frage  stellt  sich  nämlich  so.  Augenblicklich  steht  der 
Welthandel  zweifellos  für  Deutschland  ungünstig  und  wird 
es  noch  lange,  doch  es  wird  seine  alte  Tätigkeit  erst  wie- 
der gewinnbringend  aufnehmen  können,  wenn  es  seine 
Ausfuhr  gehoben  hat.  Das  wird  ihm  schon  wieder  gelin- 
gen, doch  nicht  etwa,  wenn  es  seine  entwerteten  Bank- 
noten auf  die  fremden  Märkte  wirft,  um  damit  nur  zu  bald 
zurückgewiesen  zu  v/erden,  sondern  dadurch,  daß  es  gute 
Fabrikate  ausführt.  Darum  muß  es  sich  vor  allem  Roh- 
stoffe verschaffen.     Nun  aber  werden  die  Bedürfnisse  der 

162 


Völker,  die  diese  Rohstoffe  in  Händen  haben,  mindestens 
so  stark  danach  sein  wie  die  Deutschlands,  und  so  werden 
diese  Völker  zuerst  ihre  eigenen  Bedürfnisse  befriedigen. 
Auch  wird  die  Einschränkung  der  Möglichkeit  einer  ge- 
winnbringenden Ausfuhr  Deutschland  die  Grenze  seines 
Außenhandels  setzen,  und  so  wird  sein  Handel  und  Wan- 
del nur  langsam  wieder  in  das  alte  Geleise  kommen.  Es 
wird  nicht  alle  sich  anbietenden  Hände  und  Arme  be- 
schäftigen können,  die  der  Friede  frei  machen  wird,  selbst 
wenn  es  seine  Demobilisierung  verzögert  und  nur  Schritt 
für  Schritt  vornimmt.  Es  wird  sich  lange  darauf  be- 
schränken müssen,  den  dringendsten  Nachfragen  des  inne- 
ren Bedarfs  zu  genügen.  Deutschland  wird  vereinsamt 
und  verarmt  dastehen.  Es  wird,  ob  es  will  oder  nicht, 
„einen  geschlossenen,  einen  abgeschlos- 
senen S  t  a  a  t 1)"  bilden  und  seine  Handelsbilanz  um 
mehrere   Milliarden  heruntersetzen   müssen. 

Aus  dieser  verzweifelten  Lage  gibt  es  nur  einen  Weg, 
der  zum  Ziele  führt:  die  Verdoppelung  der  nationalen 
Güterproduktion.  Dieser  Weg  scheint  auf  den  ersten 
Blick  so  paradox  wie  nur  möglich,  scheinen  doch  die  auf- 
gezählten Schwierigkeiten  gerade  ihn  verlegen  zu  wollen. 
Tut  nichts!  Diese  Arbeitssteigerung  ist  unentbehrlich. 
Die  künftige  Mehrbelastung  der  deutschen  Wirtschaft 
durch  die  unumgängliche  Aufbesserung  der  Arbeitslöhne 
und  kleineren  Gehaltseinkommen  würde  sich  nämlich, 
wie  schon  bemerkt,  auf  rund  fünfzehn  Milliarden  erhöhen. 
Nun  durften  wir  den  Wert  der  deutschen  Güter- 
erzeugung vor  dem  Weltkriege  auf  etwa  fünfund- 
vierzig Milliarden  schätzen.  Setzen  wir  voraus,  was 
bei  einer  sich  selbst  überlassenen  Entwicklung 
nicht  zutrifft,  daß  diese  Gütererzeugung  erhalten  bliebe, 
so  wäre  sie  um  ein  Drittel  höher  belastet  als  zuvor, 
also  um  ein  Drittel  verteuert.     Das  bedeutet  aber  nicht 


•)  R.  V.  S.  26  und  27,  Sep.-Ausg.  S.  7  und  8. 
n#  1*58 


nur  die  Aufhebung  des  früheren  Gewinnes,  sondern  auch 
die  Aufhebung  der  nationalen  Wettbewerbsfähigkeit.  Es 
bleibt  also  immer  wieder  nur  das  eine  übrig:  die  Ver- 
doppelung der  Produktion.  Sie  gilt  es  um  jeden  Preis 
durchzuführen!  „Was  40  Milliarden  Gütererzeugung  nicht 
tragen  und  erschwingen,  das  leisten  801)."  Dieses  Werk 
nationaler  Volkswohlfahrt  ist  zweifellos  äußerst  be- 
schwerlich! „Das  Frühere  ist  dahingesunken  und  wird  nie- 
mals mehr  erstehen;  wenn  es  ein  Paradies  war,  so  ist  es 
ein  verlorenes.  Dem  Verlorenen  nachzutrauern,  das  rieht 
Wiederherstellbare  zurückzugehen,  ist  nicht  Menschen- 
würde und  kann  nicht  deutsche  Art  sein.  Das  deutsche 
Volk  wird  dieselben  Kräfte  und  Mittel  entfalten  müssen, 
dieselbe  Arbeit  im  Schweiße  seines  Angesichts  als  durch 
die  es  vor  Zeiten  die  Kargheit  seines  Bodens,  die  Hinder- 
nisse seiner  Grenzführung,  die  ursprüngliche  Armut  seines 
Landes  überwunden  hat2)!"  Augenblicksmittel,  wie  gewisse 
Einschränkungen,  die  die  Lasten  erleichtern  sollen,  und 
Beibehaltung  mancher,  wenn  auch  ungesetzmäßiger,  Not- 
behelfe aus  der  Kriegszeit  auf  einige  weitere  Jahre,  mögen 
zweifellos  ihren  Nutzen  haben!  Doch  was  wollen  solche 
jämmerlichen  kleinen  Augenblicksmittel  denn  großes  und 
dauerndes  bedeuten!  Das  Endziel,  das  immer  vor  Augen 
schweben  sollte,  wird  nur  durch  einen  völligen  Neuaufbau 
des  Wirtschaftslebens  zu  erreichen  sein,  dessen  Inangriff- 
nahme schon  sogleich  im  Augenblicke  nötig  ist  und  aufs 

höchste  drängt. 

*  L  * 

* 

Zum  Glück  hat  auch  für  Deutschland  der  Weltkrieg 
neben  all  jenen  unseligen  Folgen  mit  denen  er  alle  Völker 
gleichviel  ob  Sieger  oder  Besiegte,  betroffen  hat,  doch 
schon  gleich  zu  Anfang  eine  segensreiche  Wirkung  ge- 
habt; er  hat  es  aus  seinem  Starrschlafe  aufgerüttelt!  Hat 
es   nicht   allen   seinen   plötzlichen   stürmischen   unermeß- 


l)  W.  V.  S.  202,  Sep.-Ausg.  S.  27.      a)  W.  V,  S.  199-200,  Sep.-Ausg. 

S.  24. 


liehen  Anforderungen  Stand  halten,  nicht  die  Lebens- 
mittelversorgung des  blockierten  Deutschland  sichern, 
nicht  Millionen  von  Soldaten  ernähren,  nicht  ganz  mär- 
chenhafte Mengen  von  Munition  fertigstellen  müssen? 
Kein  Aufschub  zu  dulden  und  so  auch  keine  Diskussion 
über  die  anzuv/endenden  Methoden!  Die  der  alten  Zeit 
waren  natürlich  unzulänglich.  Not,  die  große  Erfinderin, 
ersann  andere,  die  aus  der  Verlegenheit  halfen.  In  Eile 
zusammengebracht,  offenbarten  sie  sich  darum  doch  als 
nicht  weniger  wirksam,  und  ihr  Erfolg  erschütterte  manche 
veralteten  wirtschaftlichen  Grundsätze,  deren  Zusammen- 
bruch erst  ihre  Greisenhaftigkeit  verriet. 

Und  nun  eine  noch  segensreichere  Wirkung,  eine 
wirklich  schöne:  der  Krieg  hat  jene  geistige  Einstellung 
gebracht,  durch  die  ein  gründlicher  Wandel  des  Wirt- 
schaftslebens gefördert  worden  ist.  Das  Jahr  1914  hat 
uns  zum  ersten  Male  in  der  Weltgeschichte  einen  Krieg 
gezeigt,  der  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  ein  Völker- 
krieg gewesen  ist.  Die  ausgehobenen  Heere  umfassen  last 
die  Gesamtheit  der  waffenfähigen  Männer  aller  Stände 
und  Klassen  und  sind  nicht  mehr  wie  früher  nu''  noch 
verhältnismäßig  kleine  Scharen  von  Berufssoldaten  und 
Freiwilligen.  Und  nicht  etwa  bloß  noch,  wie  früher,  ein- 
zig und  allein  das  Heer,  nein,  das  letzte  und  schwächste- 
lebende  Wesen  im  ganzen  Lande  kämpft,  ringt  und  leidet. 
Daher  jener  unvergeßliche  einheitlich  durch  das  ganze 
Volk  gehende  Begeisterungssturm  im  Monat  August  1914. 
Gewiß,  er  ist  vorübergegangen,  doch  nur,  um  dem  Gefühle 
einer  Einheit  Platz  zu  machen,  die  vielleicht  weniger 
keusch  und  weniger  glänzend  war,  doch  jedenfalls  allen 
Enttäuschungen  und  Stürmen  der  Zeit  zu  trotzen  wußte; 
es  war  das  Gefühl  der  Pflicht  und  Verantwortlichkeit. 
Noch  niemals  sind  sich  die  Deutschen  des  engen  Zusammen- 
hanges von  beidem  so  klar  bewußt  geworden,  wie  damals. 
Das  Schicksal  aller  steht  bei  der  furchtbaren  Partie  auf 
dem  Spiele,  und  keiner  hat  das  Recht,  sich  auf  Kosten  der 

165 


anderen  schadlos  zu  halten.  Staat  und  Land  sind  die 
Sache  aller  „Res  Publica",  wie  die  alten  Römer  sagten, 
und  nicht  die  sich  abschließender  Einzelwesen  oder  bevor- 
rechteter Stände;  ein  jeder  trägt  seinen  Teil  moralischer 
und  materieller  Verantwortlichkeit  für  die  Sache,  ganz 
ebenso,  wie  er  für  sich  selbst,  für  seine  Frau  und  Kinder, 
für  seinen  Stamm  und  seinen  Namen  verantwortlich  ist. 
Niemand  ist  gegen  die  Rückschläge  dieses  großen  Ringens 
auf  Leben  und  Tod  geschützt  und  keiner  hat  das  Recht, 
sich  den  Anstrengungen  der  Gesamtheit  zu  entziehen.  Der 
Eingriff  des  Staates  in  die  Privatangelegenheiten  scheint 
von  nun  an  gesetzmäßig  und  notwendig;  er  wird  geduldet. 
Das  Gesetz  über  den  Nationalen  Hilfsdienst  wird  zum 
Sinnbilde  einer  neuen  Ordnung,  um  jeden  zur  Arbeit  zu 
rufen,  der  nur  irgend  genügende  Kräfte  hat,  sich  nützlich 
zu  machen. 

Diese  Stunde  war  es,  auf  die  Walther  Rathenau  schon 
lange  sehnsüchtig  war,  um  nicht  zu  sagen,  hoffte,  so  doch 
jedenfalls  wartete.  Wenn  seine  Gedanken  richtig  waren,  so 
mußte  der  günstige  Augenblick  kommen,  der  es  ihm  endlich 
einmal  ermöglichen  sollte,  seine  Theorie  in  die  Praxis  um- 
zusetzen. Er  wußte  die  Gelegenheit  bei  der  Stirnlocke  zu 
ergreifen.  Es  ergaben  sich  wirtschaftliche  Probleme,  zu 
deren  Lösung  kein  Präzedenzfall  einen  Fingerzeig  gab; 
hier  war  noch  alles  zu  machen.  Eine  ganz  beispiellose 
Opferwilligkeit  erfüllte  gerade  damals  die  Seele  der  Mas- 
sen. Nachdem  er  mit  dem  feinen  Spürsinn  des  Groß- 
industriellen die  fundamentale  Bedeutung  des  Problemes 
der  Versorgung  Deutschlands  mit  den  notwendigen 
Lebensmitteln  gewittert  hatte,  blies  er  Alarm,  um  alsbald 
die  schwierige,  aber  ehrenvolle  Aufgabe  zu  übernehmen 
der  Lösung  dieser  Frage  näherzutreten  in  der  tröstlichen 
Gewißheit,  damit  gleichzeitig  für  sein  Vaterland  und  für 
den  Wiederaufbau  seines  Wirtschaftslebens  zu  arbeiten. 
Nun,  Walther  Rathenau  soll  uns  mit  eigenen  Worten 
auf  den  nächsten  Seiten  sagen,  wie  er  sich  dieser  Auf- 

166 


gäbe  entledigte  und  wie  ihm  diese  Aufgabe  ermöglichte, 
in  seinem  Lande  sogleich  neue  Methoden  für  dessen  wirt- 
schaftliche  Betätigung   einzuführen. 

„Vier  Wege  waren  möglich  und  mußten  beschritten 
werden,  um  die  Wirtschaft  im  Lande  umzugestalten,  um 
das  Verteidigungsverhältnis  zu  erzwingen: 

Erstens:  Alle  Rohstoffe  des  Landes  mußten  zwangs- 
läufig werden,  nichts  mehr  durfte  eigenem  Willen  und 
eigener  Willkür  folgen.  Jeder  Stoff,  jedes  Halbprodukt 
mußte  so  fließen,  daß  nichts  in  die  Wege  des  Luxus  oder 
des  nebensächlichen  Bedarfes  gelangte;  ihr  Weg  mußte 
gewaltsam  eingedämmt  werden,  so  daß  sie  selbsttätig  in 
diejenigen  Endprodukte  und  Verwendungsformen  mün- 
deten, die  das  Heer  brauchte. 

Zweitens:  — "  Doch  hier  hat  die  Zensur  in  dem  Ab- 
drucke des  diese  Stellen  enthaltenden  Vortrages  von  Wal- 
ther Rathenau  über  „Deutschlands  Rohstoff- 
versorgung" einen  Strich  gemacht.  Darin  liegt  der 
Beweis,  daß  hier  von  strafbaren  Mitteln  die  Rede  war,  die 
es  noch  im  Jahre  1916  nicht  gut  schien  zu  enthüllen,  die 
vielmehr  zweifelsohne  die  Aufgabe  hatten,  die  völlige  Be- 
schlagnahme der  in  den  besetzten  Gebieten  aufgefundenen 
Rohstoffe  und  das  Eintreffen  gewisser  anderer  trotz  der 
Blockade  zu  sichern1). 


')  Der  Vortrag  wurde  am  20.  Dezember  1915  gehalten.  Zahlreiche 
deutsche  und  neutrale  Blätter  veröffentlichten  einen  Bericht.  Eine  ein- 
gehende Studie  über  die  Requirierungen  in  Belgien  findet  sich  in  dem 
Werke  von  Fernand  Passeleng  „Les  d£portations  beiges  ä  la  lumiere  des 
documents  allemands.  Paris  1917"  S.  129-157,  wo  auch  die  schwersten 
Anklagen  gegen  Walther  Rathenau  erhoben  werden.  —  In  dem  in  den 
„Gesammelte  Schriften"  i.  J.  1918  veröffentlichten  Texte  des 
Vortrages  findet  sich  die  Lücke  ausgefüllt.  Wir  lesen  :  „Wir  musslen  alle 
verfügbaren  Stoffe  jenseits  der  Grenzen  ins  Land  hinein  zwingen,  so  weit 
sie  zu  zwingen  waren,  sei  es  durch  Kauf  im  neutralen,  sei  es  durch  Bei- 
treibung im  okkupierten  Ausland.  Durch  Kauf  ist  manches  hereingeflossen  ; 
späterhin  durch  Beitreibung  im  okkupierten  Auslande  sehr  viel  und  un- 
entbehrliches; davon  werde  ich  später  reden."  Wieweit  des  franz.  Ver- 
fassers hier  ausgesprochener  Verdacht  gegen  W.  R  berechtigt  gewesen  ist. 
mag  jeder  Leser  hiernach,  je  nach  seinem  politischen  Standpunkt,  selbst 
entscheiden.    Ein  objektives  Urteil  ist  hier  gar  nicht  möglich!     Bearbeiter. 

&7 


„Die  dritte  Möglichkeit,  die  sich  uns  erschloß,  war  die 
Fabrikation.  Wir  mußten  Bedacht  darauf  nehmen,  daß 
alles  das  im  Inland  erzeugt  wurde,  was  unentbehrlich  und 
unerhältlich  war.  Wir  mußten  auch  darauf  Bedacht  neh- 
men, daß  neue  Erzeugungsmethoden  gefunden  und  ent- 
wickelt wurden,  wo  die  alte  Technik  nicht  ausreichte. 

Und  nun  der  vierte  Weg:  es  mußten  schwer  erhält- 
liche Stoffe  durch  andere,  leichter  beschaffbare  ersetzt 
werden.  Wo  steht  es  geschrieben,  daß  diese  oder  jene 
Sache  aus  Kupfer  oder  Aluminium  gemacht  werden  muß? 
Sie  kann  auch  aus  etwas  anderem  gemacht  werden.  Surro- 
gate müssen  herhalten,  altgewohnte  Fabrikate  aus  neuen 
Stoffen  geschaffen  werden1)." 

Wenn  sich  Deutschland  auf  die  in  diesem  Lande  für 
die  Kriegszeit  vorgesehenen  Maßnahmen  hätte  beschrän- 
ken wollen,  wäre  die  Aufgabe  unlösbar  gewesen.  ,,Dic 
kriegswirtschaftliche  Gesetzgebung  stand  etwa  auf  der 
Stufe  friderizianischer  Wirtschaft:  Kommt  ein  Rittmeister 
in  ein  Dorf,  so  kann  er  sich  vom  Ortsvorsteher  Hafer 
geben  lassen,  und  macht  ihm  der  Ortsvorsteher  Schwierig- 
keiten durch  Säumigkeit,  so  darf  er  in  gewissen  Aus- 
nahmefällen sich  den  Hafer  selbst  nehmen2)."  Wie  sollte 
bei  derartigen  reinen  Gewohnheitsgesetzen  die  admini- 
strative Gleichgültigkeit  aufgerüttelt,  die  Mitarbeit  meh- 
rerer Ministerien  gesichert  und  die  Unwissenheit  und  der 
Widerstand  des  Publikums  besiegt  werden?  Wie  sollte 
der  riesenhafte  Organismus  der  notwendig,  aber  nirgends 
vorgesehen  war,  aus  einem  Guße  geschaffen  werden,  da, 
wo  alles  fehlte?  Wie  das  geeignete  Personal,  die  Räum- 
lichkeiten und  besonders  die  Zeit?  Deutschland  wurde  da- 
mit fertig  dank  seiner  Rührigkeit  und  Zähigkeit  und  dank 
dem  Umstände,  daß  es  neue  Begriffe  schuf,  mit  denen  sich 
alle  einschließlich  der  Widerstrebenden  auf  Grund  des  er- 
klärten Belagerungszustandes  abfinden  mußten. 


*)  R.  V.  S.  31-32,  Sep.-Ausg.  S.  14-16.    *)  R.  V.  S.  32-33,  Sep.- Ausg.  S.  16 
168 


So  schuf  er  denn  einen  ganz  neuen  Begriff  der  Beschlag- 
nahme, mit  etwas  Willkür  zwar,  aber  das  Belagerungsgesetz 
stand  ihm  vorläufig  bis  zur  festen  gesetzlichen  Sanktionie- 
rung zur  Seite.  Dieser  Begriff  der  Beschlagnahme  be- 
deutet nicht,  daß  eine  Ware  in  Staatseigentum  übergeht, 
sondern  nur,  daß  ihr  eine  Beschränkung  anhaftet,  daß  sie 
nicht  mehr  machen  kann,  was  sie  oder  ihr  Besitzer,  son- 
dern was  eine  höhere  Kraft  will.  Diese  Ware  darf  nur 
noch  für  Kriegszwecke  verwendet  werden;  man  darf  sie 
verkaufen,  verarbeiten,  transportieren,  in  jede  beliebige 
Form  bringen,  aber,  was  sie  auch  erlebt:  immer  bleibt  sie 
mit  dem  Gesetz  behaftet,  daß  sie  nur  der  Kriegführung 
dienen  kann.  In  dem  Augenblick,  wo  eine  Ware  be- 
schlagnahmt war,  hörte  die  Friedenswirtschaft  auf.  Zwei 
Monate  lang  wurden  der  Industrie  noch  gewisse  Frei- 
heiten zugestanden,  wenn  auch  schweren  Herzens.  Nach 
zwei  Monaten  war  die  Umstellung  der  deutschen  Industrie 
vollzogen.  Sie  selbst  hat  diese  Neugestaltung  bewirkt, 
großzügig,  mit  höchster  Tatkraft  und  Schaffenslust.  Die- 
ses Ruhmesblatt  in  der  Geschichte  der  deutschen  Indu- 
strie darf  niemals  vergessen  werden.  Die  Reform  griff 
durch,  und  so  mußte  bald  die  Wohltat  des  neuen  Begriffes 
und  Grundsatzes  anerkannt  werden;  beide  haben  sich 
während  des  ganzen  Krieges  bewährt. 

Nach  Beschlagnahme  der  Rohmaterialien  kam  es  nun 
auf  die  Möglichkeit  ihrer  Verteilung  und  Bereithaltung  an 
Der  Heeres-  und  Marineverwaltung  mußte  die  volle  Frei- 
heit gewahrt  werden,  ihre  Aufträge  dahin  zu  geben,  wo 
sie  wollten;  es  ließ  sich  keine  Behörde  sagen:  ,,Wir  schrei- 
ben euch  vor,  wo  ihre  eure  Bestellungen  zu  machen  habt!" 
Auf  der  anderen  Seite  mußte  derjenige,  der  nun  der  Be- 
auftragte der  Behörde  geworden  v/ar,  das  Material  be- 
kommen, das  er  brauchte.  Es  mußten  Organismen  ge- 
schaffen werden  zum  Aufsaugen,  Aufspeichern  und  zum 
Verteilen  dieses  Warenstromes,  der  in  einer  neuen  Be- 
wegungsform und  mit  neuen  Zufuhren  durch  die  Adern 

169 


des  deutschen  Verkehrs  rollte.  Da  entstand  der  Begriff  der 
Kriegsgesellschaften,  er  entstand  aus  dem  We- 
sen derSelbstverwaltung  und  dennoch  nicht  der  schranken- 
losen Freiheit.  Es  waren  das  private  Gesellschaften  mit 
straf  f  erbehördlicher  Auf  sicht.Reichs-undlStaatskommissare 
haben  das  unbeschränkte  Veto;  die  Gesellschaften  sind 
gemeinnützig  und  dürfen  darum  keine  Dividenden  ver- 
teilen; sie  haben  neben  den  gewöhnlichen  Organen,  Vor- 
stand und  Aufsichtsrat,  noch  ein  weiteres,  eine  ständige 
Kommission  aus  Kandelskammermitgliedern  oder  Beam- 
ten, die  Schätzungs-  und  Verteilungskommission.  Auf  diese 
Weise  stehen  sie  da  als  ein  Mittelglied  zwischen  der  Ak- 
tiengesellschaft, welche  die  freie  wirtschaftlich-kapitali- 
stische Form  verkörpert,  und  einem  behördlichen  Orga- 
nismus. Das  hieß  auf  der  einen  Seite  einen  entschiedenen 
Schritt  zum  Staatssozialismus  hin  tun  und  auf  der  anderen 
eine  Selbstverwaltung  der  Industrie  anstreben.  Diese 
, .Kriegsgesellschafte  n1)"  begegneten  zunächst  so- 
gar im  engeren  Kreise  der  Industriellen  nur  einer  sehr  ge- 
teilten Aufnahme,  bis  sich  auch  diese  bald  darein  gefun- 
den hatten.  Sie  haben  im  Kriege  die  Probe  bestanden, 
selbst  wenn  einige  Fehler  auch  bei  ihnen  nicht  zu  ver- 
meiden gewesen  sind. 

Wie  hätten  diese  Erfolge  Walther  Rathenau  nicht  er- 
mutigen sollen!  Aber  schon  nach  Verlauf  weniger  Mo- 
nate muß  er  aus  dem  Direktorium  der  ,,K  riegs-Roh- 
stoff-Abteilung"  ausscheiden.  Doch  das  von  ihm 
begründete  Werk  besteht  fort  und  wird  von  Tag  zu  Tag 
lebensfähiger.  So  werden  die  schmerzlichen  Gefühle,  mit 
denen  er  die  ihm  lieb  gewordene  Stellung  verlassen  haben 
wird,  reichlich  durch  die  erfreuliche  Gewißheit  aufge- 
wogen, daß  die  neuen  Begriffe  zum  Schutze  der  Rohstoffe 
endgültig  Gemeingut  geworden  sein,  den  Krieg  über- 
dauern und  auch  im  Frieden  nicht  zu  bestehen  aufhören 


')  R.  V.  S.  40,  Sep.-Ausg.  S.  27. 
170 


werden  und  daß  ein  , .wirtschaftlicher  Generalstab1)"  ge- 
bildet werden  wird,  um  ihre  praktische  Ausnutzung  in 
Friedenszeiten  zu  überwachen.  Mit  einem  Vertrauen  wie 
nie  zuvor  verfolgt  er  die  Ausbreitung  seiner  Ideen  und 
dringt  immer  weiter  in  die  Prüfung  der  Bedingungen  für 
ihre  Ausführungsmöglichkeit  ein.  Er  schließt  seine  Streit- 
schrift „Vom  Aktienwesen"  mit  folgenden  Worten:  „Der 
Krieg,  mehr  ein  weltrevolutionäres  denn  ein  politisches 
Ereignis,  hat  den  Bau  der  wirtschaftlichen  und  sozialen 
Ordnung  Europas  in  so  viel  Monaten  in  Trümmer  ge- 
legt, als  Aeonen  von  Friedensjahren  es  vermocht  hätten. 
Aus  diesen  Trümmern  wird  weder  ein  Reich  des  sozialen 
Kommunismus  hervorbrechen,  noch  ein  neues  Reich  frei 
spielender  wirtschaftlicher  Kräfte.  Auch  dem  Wesen  der 
Unternehmung  wird  nicht  die  Verstärkung  des  privatwirt- 
schaftlichen Gedankens  beschieden  sein,  sondern  die  be- 
wußte Einordnung  in  die  Wirtschaft  der  Gesamtheit,  die 
Durchdringung  mit  dem  Geiste  der  Gemein  Verantwortlich- 
keit und  des  Staatswohls-)."  In  den  „Problemen  der 
Friedenswirtschaft"  faßt  er  seine  Gedanken  über 
dcnUrsprung  der  gesellschaftlichen  Ungleichheiten  und  der 
zu  ihrer  Bekämpfung  geeigneten  Mittel  übersichtlich  zu 
sammen  und  gibt,  auf  die  Erfahrungen  des  Krieges  zurück- 
kommend, die  Wege,  auf  denen  Deutschland  von  neuem 
zu  Wohlstand  und  damit  gleichzeitig  wieder  zu  größerer 
Gerechtigkeit  und  Humanität  kommen  wird.  In  der 
„Neuen  Wirtschaft"  gibt  er  schließlich  den  aus- 
führlichen Entwurf  des  zukünftigen  Wirtschaftsbaues. 

Stellen  wir  uns  doch  noch  einmal  recht  deutlich  das 
Bild  vor  Augen,  welches  entsetzliche  wirtschaftliche 
Chaos  in  der  Zeit  vor  dem  Kriege  geherrscht  hat.  Auf 
allen  Gebieten  menschlichen  Schaffens  hatte  der  Begriff 


»)  R.  V.  S.  55,  Sep.-Ausg.  S.  46.  2)  A.  V.  S.  177,  Sep.-Ausg.  S.  61-62. 
Diese  Streitschrift  ist  gleichfalls  der  Abdruck  eines  Vortrages,  und  zwar 
hat  dieser  Vortrag  am  18.  Dez.  1917  stattgefunden. 

171 


der  Zusammenfassung  der  persönlichen  Leistungen  gegen- 
über dem  Gemeinwohl  Normen  hervorgebracht,  die  von 
allen  angenommen  wurden.  Einzig  und  allein  das  wirt- 
schaftliche Schaffen  hielt  sich  außerhalb  dieser  großen  Be- 
wegung. „Es  fällt  niemand  ein,  eine  Hauptbahnstrecke 
oder  ein  Telegraphennetz  für  sich  zu  verlangen  oder  ein 
eigenes  System  privater  Gerichtsbarkeiten  zu  gründen; 
von  der  Wirtschaft  aber  wird  ungeprüft  als  ausgemacht 
angenommen,  daß  sie  nicht  anders  als  zügellos  auf  dem 
Boden  des  freien  Wettbewerbs  und  bürgerlichen  Kampfes 
bestehen  könne1)."  Was  tritt  also  ein?  Die  Kräfte  arbeiten 
einander  entgegen  und  heben  sich  so  gegenseitig  auf  an- 
statt sich  zu  vereinen.  Der  Egoismus  triumphiert,  und 
seine  Begleiterscheinungen  in  den  oberen  Kreisen  sind 
Hang  zu  Prunk  und  Müßiggang,  in  den  unteren  bittere 
Feindschaften.  Ueberall  herrscht  eine  unsinnige  Ver- 
schwendung von  Zeit  und  Material,  nur  weil  niemand  ge- 
nügend an  den  Urwert  dieser  beiden  Hauptfaktoren  der 
Produktion  gedacht  hat.  Bräche  in  einem  Lande  eine 
Phonographenkrankheit  aus  oder  entschlössen  sich  die  be- 
güterten Frauen  alle  Tage  in  Rosenwasser  zu  baden,  so 
könnte  es  geschehen,  daß  der  überwiegende  Teil  der  Me- 
tallindustrie sich  veranlaßt  sähe,  alle  verfügbare  Arbeit 
und  Substanz  auf  die  Herstellung  von  Phonographen  zu 
verwenden  oder  daß  die  Landwirtschaft  den  größten  Teil 
ihres  Bodens,  auf  dem  bisher  Getreide  wuchs,  für  Rosen- 
kulturen zur  Verfügung  stellte.  Gewiß  sind  diese  Bei- 
spiele übertrieben,  veranschaulichen  aber  darum  nicht 
weniger  deutlich  die  Unordnung  und  Regellosigkeit  in  un- 
serer Organisation. 

Daher  so  manche  Reibungsflächen,  Kraitabnutzungen 
und  ähnliche  Schäden,  die  sich  durch  eine  aufmerksame 
Prüfung  alsbald  offenbaren  und  abzustellen  sind. 


!)  W.  V.  S.  203,  Sep.-Ausg.  S.  27-28. 
172 


Wiewohl  die  Wissenschaft  von  der  Industrie  noch  in 
ihren  ersten  Anfängen  steht,  wissen  wir  doch  auch  schon 
heute:  jede  Industrie  ist  ein  Bodenprodukt,  nicht  anders 
als  Tier  und  Pflanze.  Nur  auf  ihrem  natürlichen  Stand- 
orte kann  sie  gedeihen.  Und  was  machte  man?  Man 
baute  eine  Fabrik  aufs  Geratewohl,  wo  es  der  Zufall 
wollte,  ohne  sich  lange  um  die  physischen  Vorbedingungen 
der  Luft,  des  Bodens  und  der  Bevölkerungsdichtigkeit  zu 
kümmern,  aber  auch  ebenso  wenig  um  die  Wege,  die  Roh- 
stoff, Halbzeug  und  Endprodukt  zu  durchlaufen  haben. 
Daher  die  überflüssigen  Kosten,  die  die  Bilanzen  be- 
lasten und  natürlich  schließlich  auf  die  Gesamtheit  zurück- 
fallen mußten,  während  sich  umgekehrt  so  manche  Er- 
sparnisse machen  ließen.  ,,Der  bloße  Kohlenverbrauch 
Deutschlands  könnte  beispielsweise  auf  die  Hälfte  ver- 
ringert werden,  wenn  alle  Betriebe  wissenschaftlich 
durchdrungen  und  geordnet  und  alle  Kraftquellen  er- 
schlossen würden.  Diese  Ersparnis  aber  würde  weit  in 
den  Schatten  gestellt  durch  den  Gewinn  an  Arbeit,  Ma- 
terial und  Transport,  durch  die  Steigerung  der  Leistungs- 
fähigkeit und  Umsatzmenge1)." 

Im  Namen  eines  falschen  Individualismus  und  einer 
billigen  Sonderart  andererseits  verlangte  vor  dem 
Kriege  der  Kunde  mindestens  fünfundzwanzig  ver- 
schiedene Kattunmuster  in  demselben  Farbentone  zur 
Auswahl  vorgelegt  zu  bekommen;  gab  es  den  zwölf- 
pferdigen  Motor  als  den  gangbarsten  Typ'  unter  allen 
Motoren  irgendwo  an  Lager,  so  bestellte  der  Fach- 
mann ganz  gewiß  ausgerechnet  einen  elfundeinhalb- 
pferdigen;  wird  ein  chemisches  Produkt  in  neunzigpro- 
zentiger  Reinheit  geliefert,  so  wird  es  nachträglich  sicher 
achtzigprozentig  verlangt.  Diese  durch  nichts  zu  recht- 
fertigende Verschwendung  muß  ein  Ende  nehmen.  „Wir 
Deutschen    würden     von  unserer     inneren    individuellen 


')  W.  V.  S.  2! 6,  Sep-Ausg.  S.  40-41 

173 


Freiheit  keinen  Titel  opfern,  wenn  wir  auf  unseren  großen 
und  wahren  Freiheitsrechten  nachhaltiger  beständen  und 
auf  einen  Teil  unserer  Faschingsfreiheiten  zugunsten 
äußerer  Gleichmäßigkeit,  die  der  Würde  benachbart  ist, 
verzichtetet )."  Zwanzig  Sorten  Hemden  weniger,  und  wir 
würden  noch  immer  eine  größere  Auswahl  zu  unserer 
Verfügung  finden  als  noch  vor  dreißig  Jahren  unsere 
Väter.  Gelänge  es  in  Deutschland  die  Normalisie- 
rung und  die  Typisierung  oder,  wie  diese  auch  ge- 
nannt wird,  die  Serienfabrikation  durchzuführen, 
so  würde  die  wahre  Zivilisation  wirklich  nichts  verlieren, 
aber  die  deutsche  Produktion  mindestens  um  das  Doppelte 
gewinnen. 

Welche  verschiedenen  Stadien  muß  nicht  ein  Gegen- 
stand von  seiner  Erzeugung  bis  zum  Verkaufe  durchmachen. 
Im  Laufe  der  Fabrikation  gibt  er  in  dem  modernen  Indu- 
striebetriebe zu  einer  Reihe  kostspieliger  Durchgangs- 
stufen Anlaß:  vom  Urerzeugnis  zum  Zwischenprodukt, 
Halbprodukt  und  Endprodukt.  Würden  wir  die  Fabrika- 
tion einer  und  derselben  Ware  auf  einen  einzigen  Betrieb 
beschränken,  so  würden  diese  Spesen  verschwinden,  gar 
nicht  zu  reden  von  denen,  die  aus  dem  Hin  und  Her  der 
Gegenstände  in  ihren  verschiedenen  Gestalten  erwachsen. 
Wir  wissen  auch,  daß  ganz  ebenso  bei  dem  Verkauf  an 
den  Konsumenten  diese  wilde  Anarchie  zur  Folge  hat, 
daß  dadurch  ganz  unglaubliche  Summen  weggeworfen 
werden  und '  kräftige  Reisende  und  Handelsangestellte 
jahraus,  jahrein  unnütz  auf  der  Eisenbahn  liegen  und  bald 
hinter  diesem,  bald  hinter  jenem  Ladentisch  verkümmern 
müssen. 

Wer  kümmerte  sich  denn  früher  in  seinen  Privataus- 
gaben um  das  Gedeihen  des  allgemeinen  Wirtschafts- 
lebens? Jeder  hatte  das  Recht,  die  bezahlte  Arbeitskraft 
von    zwanzig    Hausangestellten    für    seine    Bedienung    in 


*)  W.  V.  S.  219,  Sep.-Ausg.  S.  44. 


174 


Anspruch  zu  nehmen,  die  Valuta  durch  willkürliche  Ein- 
fuhr überflüssiger  Schundware  und  die  Staatsfinanzen 
durch  willkürliche  Ausfuhr  von  unentbehrlichem  Kapital 
zu  schädigen,  Handlungen,  die  wirklich  ebenso  sträf- 
lich sind  als  wenn  jemand  absichtlich  ein  Stück  Brot 
wegwürfe  oder  umkommen  ließe.  Man  sah  es  ruhig 
mit  an,  wenn  dank  einer  mangelhaften  Wirtschafts- 
organisation sich  ein  arbeitskräftiger  Mensch  von 
der  Gesamtheit  unterhalten  ließ,  ohne  diese  durch 
eine  körperliche  oder  geistige  Tätigkeit  zu  ent- 
schädigen und  wenn  ein  arbeitswilliger  Mensch  zum 
Feiern  gezwungen  wurde.  In  der  Einfuhr-  und  Ausfuhr- 
bilanz wurde  stets  das  Konto  ,, Ausfuhr"  belastet  und 
nicht  bemerkt,  daß  das  zu  einem  Trugschluß  führen 
müßte:  wer  viel  ausführen  wollte,  mußte  doch  immer  erst 
zuvor  viele  Rohstoffe  eingeführt  und  damit  dem  Auslande 
die  ganze  Vollmacht  über  sich  selbst  gegeben  haben,  um 
immer  mehr  sein  Schuldner  zu  werden.  Um  nun  die  so 
aufgehäuften  Schulden  zu  zahlen,  mußte  man  unermüd- 
lich arbeiten  und  noch  immer  mehr  ausführen  und  sich 
so  in  einer  endlosen  Tretmühle  zermartern.  All  die  per- 
sönliche Willkürlichkeit  muß  —  das  hat  uns  der  Krieg  ge- 
lehrt —  straff  in  Zaum  gehalten  werden  zum  großen  Segen 
der  Gesamtheit.  Die  persönlichen  Ausgaben  werden  sich 
schon  von  selbst  vermindern,  wenn  man  sie  sich  erst  nach 
einer  gründlichen  Prüfung  ihres  Nutzens  für  die  Gesell- 
schaft gestatten  wird.  Und  das  Land  wird  viel  verdienen, 
wenn  es  mit  der  Tradition  brechend  erst  die  Rohstoffe 
schützen  und,  statt  wie  bisher,  mit  allen  nur  möglichen 
Mitteln  seine  Ausfuhr  zu  entwickeln,  lieber  erst  seine  Ein- 
fuhr streng  überwachen  wird. 

Die  zu  leistende  Aufgabe  ist  also  scharf  umgrenzt.  Es 
wird  darauf  ankommen,  allen  physischen  wie  allen  geisti- 
gen Kräften,  die  sich  bisher  gegenseitig  zerstörten,  ein 
produktives  Tätigkeitsfeld  zu  eröffnen  und  die  Speichen 
der  Räderwerke  für  nutzbringende  Arbeit  in  Bewegung  zu 

175 


setzen.  Das  notdürftige  unwillkürliche  Gleichgewicht,  das 
sich  wie  durch  ein  Spiel  von  Naturkräften  völlig  unabhän- 
gig vom  menschlichen  Willen  in  dem  Wirtschaftsbau  her- 
gestellt hatte,  wird  durch  ein  freiwillig  organisiertes  nicht 
mehr  rein  vom  Zufall  abhängendes  Gleichgewicht  ersetzt 
werden.  Freilich  bedarf  es  in  solchen  Zeitwenden  zur 
Durchsetzung  eines  solchen  Gemeinwirtschaftsplanes  — 
eines  schöpferischen  Gedankens  und  Willens.  „Das  ist 
hart  für  ein  Volk,  das  in  Entschlüssen  sich  nicht  selbst  ver- 
traut und  alles  von  ererbtem  Obrigkeitsgeist  verlangt1)." 
Gewiß  hart,  doch  unumgänglich,  wenn  man  an  die  Menge 
von  Sonderinteressen  denkt,  die  sich  schon  einen  kräf- 
tigen Eingriff  und  eine  starke  Einschränkung  v/erden  ge- 
fallen lassen  müssen.  Nur  eine  weitblickende  und  ent- 
schlossene Autorität  wird  beschränkten  oder  eigennützi- 
gen bösen  Willen  unter  die  Formel  zu  beugen  verstehen, 
die  die  Richtschnur  von  morgen  bilden  soll:  ,,Die  wirt- 
schaftliche Organisation  ist  keine  Privatsache  mehr,  son- 
dern nur  noch  eine  Sache  der  Gesamtheit." 

Im  folgenden  soll  der  Versuch  zu  einem  Entwürfe  des 
neuen  Wirtschaftsbetriebes  gemacht  werden. 

„Denken  wir  uns  alle  gleichartigen  Betriebe  der  In- 
dustrie, des  Handwerks  und  des  Handels  für  sich  zusam- 
mengefaßt, etwa  alle  Baumwollspinnereien  für  sich,  alle 
Eisendrahtwalzwerke  für  sich,  alle  Großhandlungen  in 
Weißwaren  für  sich,  alle  Schreinereien  für  sich;  denken 
wir  uns  ferner  jede  dieser  Vereinigungen  zusammengefaßt 
mit  ihren  vorverarbeitenden  und  nachverarbeitenden  Ge- 
werben, also  das  gesamte  Baumwollgewerbe,  das  Eisen- 
gewerbe, das  Leinengewerbe  und  das  Holzgewerbe  zu  ge- 
sonderten Gruppen  verbunden.  Die  ersten  dieser  Orga- 
nismen mögen  Berufsverbände,  die  zweiten  Gewerbsver- 
bände heißen.  Gemischte  Betriebe  können  beliebig  vielen 
dieser  Verbände     angehören.     Vereinigungen     dieser  Art 


')  W.  V.  S.  204,  Sep.-Ausg.  S.  29. 
176 


gibt  es  schon  jetzt  in  großer  Zahl  und  auf  jedem  Gebiet, 
doch  dienen  sie  nur  geraeinsamen  Interessen,  nicht  ge- 
meins?~~r  Wirtschaft. 

E  ^sverbände  und  Gewerbsverbände  seien  staatlich 
anerkannte  und  «überwachte,  mit  weiten  Rechten  ausge- 
stattete Körperschaften.  Auch  solche  Organismen  bestehen 
bereits,  vor  allem  durch  den  Krieg  gezeitigt;  doch  dienen 
sie  der  Einschränkung,  nicht  der  Stärkung  und  Ausdeh- 
nung der  Gewerbe! 

Die  wichtigere  der  beiden  Organisationsformen  ist 
der  Berufsverband;  er  ist  es,  durch  den  die  wirtschaftliche 
Einheitsgruppe  geschaffen  wird,  durch  den  sie  einheitliche 
Kraft  und  Leben,  Augen,  Ohren,  Sinn,  Willen  und  Ver- 
antwortung erhält.  Diese  Einheit  tritt  nicht  nur  in  ein 
festes  Verhältnis  zu  ihren  benachbarten  Gruppen,  sondern 
auch  zur  Arbeiterschaft,  zur  Oeffentlichkeit  und  zum 
Staat. 

Am  einfachsten  läßt  sich  der  Berufsverband  seiner 
Form  nach  als  Aktiengesellschaft,  seinem  Handeln  nach 
als  Syndikat  denken.  An  der  Aktiengesellschaft  sind  die 
Einzelunternehmungen  nach  Leistungsverhältnis  beteiligt; 
sie  erwählen  die  Verwaltung,  und  diese  ernennt  die  Leiter. 
Über  das  Grundkapital  hinaus  kann  der  Verband  sich  in 
jedem  erforderlichen  Umfang  seine  Mittel  durch  Anleihen 
verschaffen,  die  notfalls  von  den  Beteiligten  oder  vom 
Staat  gewährleistet  werden.  An  das  Syndikat  liefert 
jedes  Unternehmen  seine  Waren  ab,  soweit  sie  zum  Wirt- 
schaftskreise des  Verbandes  gehören;  was  zur  eigenen 
Weiterverarbeitung  bestimmt  ist,  wird  verrechnet.  Die 
Abrechnung  der  abgelieferten  wie  der  zurückgehaltenen 
Waren  geschieht  zu  Selbstkosten  zuzüglich  eines  mäßigen 
und  gleichförmigen  Nutzens.  Den  Verkauf  besorgt  der 
Verband  zu  Preisen,  die  für  kleine  und  große  Verbraucher, 
für  Händler  und  Weiterverarbeiter  abgestuft  sind.  Auch 
der  Selbstverbraucher  hat  den  Weiterverarbeitungspreis 
zu  zahlen. 


177 


Soweit  unterscheidet  sich  Aufbau  und  Wirkung  des 
Verbandes  kaum  von  jedem  anderen  Syndikat-  Die  Un- 
terschiede beginnen  bei  der  Mitwirkung  des  Staates.  Hier, 
wie  bei  jeder  anderen  staatlichen  Gebarung  muß  der 
Grundsatz  gelten:  der  Staat  kann  fordern,  wo  er  leistet; 
er  soll  leisten,  wo   er  fordert. 

Der  Staat  überträgt  dem  Berufsverbande  bedeutende 
Rechte,  die  zum  Teil  an  Hoheitsrechte  grenzen:  das  Recht 
der  Aufnahme  oder  Ablehnung  neu  Hinzutretender,  das 
Recht  des  Alleinverkaufs  inländischer  oder  eingeführter 
Ware,  das  Recht  der  Stillsetzung  unwirtschaftlicher  Be- 
triebe gegen  Entschädigung,  das  Recht  des  Aufkaufs  von 
Betrieben  zur  Stillsetzung,  Umwandlung  oder  Fortführung. 
Kein  neuzeitliches  Syndikat  hat  je  so  weitgreifende  Rechte 
besessen,  und  mit  ihnen  so  bedeutende  Aussichten  auf  Lei- 
stungskraft und  Ausdehnung. 

Als  Gegenleistung  beansprucht  der  Staat  mitwirkende 
Aufsicht  in  der  Verwaltung,  soziale  Leistungen  und  Ge- 
winnabgaben. Diese  Gewinnabgaben  bilden  die  Grund- 
lage eines  gewaltigen  Staatseinkommens,  das  die  Ware 
bei  ihrer  Entstehung  und  in  allen  ihren  Stufen  erfaßt,  das 
den  gesamten  Umsatz  des  Landes  besteuert  und  dennoch 
nicht  verkündet,  weil  er  auf  jeder  Produktionsstufe  sich 
selbsttätig  der  Tragkraft  anpaßt.  Ich  behaupte,  daß  eine 
ähnliche  ergiebige,  gleichzeitig  elastische  und  produktions- 
fördernde  Abgabe  sich  nicht  finden  läßt. 

Hiernach  ergibt  sich  folgendes  Verhältnis  der  An- 
sprüche: aus  dem  Gewinn  des  Verbandes  wird  zunächst 
eine  angemessene  Verzinsung  des  gesamten  arbeitenden 
Kapitals  bestritten;  der  Überschuß  wird  in  einem  fest- 
zusetzenden Staffelverhältnis  geteilt,  so  zwar,  daß  ein  Teil 
dem  Staate  gehört,  ein  Teil  sozialer  Fürsorge  und  Lohn- 
aufbesserung zukommt,  ein  Teil  den  Produzenten  verbleibt 
und  ein  Teil  zur  Verbilligung  der  Ware  durch  Minderung 
der  Verkaufspreise  verwendet  wird. 

In  der  Verwaltung  ist  der  Staat  vertreten,  dessen  Be- 

178 


auftragte  überwachende  und  eingreifende  Rechte  haben, 
außerdem  die  Arbeiterschaft.  Innere  Streitigkeiten  wer- 
den durch  Schiedsämter  geschlichtet. 

Der  Verantwortungskreis  der  Berufsverbände  setzt 
sich  demnach  wie  folgt  zusammen: 

Ordentliche  Geschäftsführung,  Organisation  und 
Handhabung  des  Verkaufes  und  der  Ausfuhr,  soweit  die 
bewirtschafteten  Güter  eine  Einheitlichkeit  des  Auslands- 
verkaufs zulassen.  Erweiterung  der  Absatzgebiete.  Be- 
schaffung, notfalls  Einfuhr  der  Rohstoffe  und  Hilfsmate- 
rialien unter  Mitwirkung  des  Handels,  Einfuhr  des  Fabri- 
kats, so  weit  und  solange  die  inländische  Erzeugung  nicht 
zureicht.  Beschaffung  von  Frachtraum  und  Zahlungs- 
mitteln an  zentraler  Stelle,  solange  die  frühere  Auskömm- 
lichkeit nicht  wiederhergestellt  ist. 

Hebung  und  Verbilligung  der  Produktion  durch  Aus- 
breitung technischer  Erfahrung,  Verbesserung  und  Neu- 
einrichtung der  Werkstätten,  Stillegung  unwirtschaftlicher 
Betriebe,  Aufkauf  widerstrebender  oder  schlecht  gelei- 
teter —  was  sich  nach  Ausweis  der  Selbstkosten  erzeigt, 
notfalls  Errichtung  und  Betrieb  eigener  Musterfabrika- 
tionen, Erweiterung,  erforderlichenfalls  Finanzierung  wirt- 
schaftlich betriebener  und  gutgeleiteter  Anlagen. 

Durchführung  des  großangelegten  und  wissenschaft- 
lich durchdachten  Planes  der  Arbeitsteilung  von  Werk  zu 
Werk,  Bezirk  zu  Bezirk,  nach  Maßgabe  der  Lage,  Mate- 
rialbeschaffung, Absatzentfernung,  Kraft-  und  Arbeiter- 
verhältnisse, Leistungsfähigkeit.  Verteilung  der  Erzeu- 
gungskontingente, Entscheidung  und  Mitwrikung  bei  Er- 
richtung neuer  Werke. 

Einführung  einheitlicher  Typen,  Normalien  und 
Muster.  Beschränkung  der  zahllosen  überflüssigen  Aus- 
führungsformen und  Katalognummern,  Überweisung  außer- 
gewöhnlicher Anfertigungen  und  Reparaturen  an  Sonder- 
werkstätten, die  unter  eigner  Verbandsabteilung  und  ge- 
sonderter Abrechnunö  stehen. 

tSP  179 


Verhandlung  und  Verkehr  mit  den  benachbarten  Ver- 
bänden des  Gesamtgewerbes,  mit  Angestellten-  und  Ar- 
beiterverbänden, Vertretung  der  Berufsinteressen  gegen- 
über der  Regierung  und  Gesetzgebung. 

Es  kommt  hinein  zunächst  ein  jeder,  der  gegenwärtig 
selbständig  eine  Produktion  des  zu  ordnenden  Gebiets  be- 
treibt, physische  oder  juristische  Person,  er  mag  wollen 
oder  nicht.  Ausgeschieden  werden  sehr  bald  die  ingt eig- 
neten oder  unfähigenBetriebe.  Was  übrig  bleibt,  istin  einem 
bis  dahin  nicht  bekannten  Durchschnittsmaße  tüchtig  und 
leistungsfähig.  Ist  es  das  wirklich?  Doch  wohl!  Denn 
jeder  hat  seine  Selbstkosten  bekanntzugeben,  abrechnen 
und  prüfen  zu  lassen;  an  Erweiterungen  werden  nur  die 
beteiligt,  die  in  den  Selbstkosten  zum  mindesten  normal, 
wo  nicht  ganz  besonders  günstig  stehen,  und  die  sich  ver- 
pflichten —  denn  sie  könnten  nach  unten  geschmeichelt 
haben  —  diese  Preise  unter  gleichbleibenden  Voraus- 
setzungen weiterhin  zu  erhalten  oder  zu  ermäßigen.  Wie 
aber,  wenn  die  Industriellen  sich  allesamt  verständigen, 
ihre  Selbstkosten  zu  hoch  anzugeben,  um  dem  Staat  und 
der  Gemeinschaft  Gewinne  zu  entziehen,  und  es  ver- 
stehen, die  Prüfenden  zu  täuschen?  Der  Fall  ist  in 
Deutschland  nicht  wahrscheinlich.  Immerhin,  es  würde 
sich  bald  ergeben,  daß  die  Verbandsbetriebe  billiger  arbei- 
ten, und  der  Staatsbeauftragte  würde  darauf  dringen,  daß 
nur  sie  erweitert  werden.  Aeußerster  und  unwahrschein- 
lichster Fall:  auch  die  Leiter  der  Verbandsbetriebe  sind 
beeinflußt  oder  unfähig,  so  daß  auch  die  Verbandsselbst- 
kosten hoch  sind  und  den  Vergleich  verdunkeln;  dann 
würden  die  Außenstehenden  Wandel  schaffen.  In  diesem 
Falle  oder  im  harmloseren,  wenn  neue  Erfindungen  vor- 
liegen, die  der  Verband  zu  Unrecht  ablehnt,  werden  sich 
Unternehmungslustige  finden,  die  sich  erbieten,  die  Ver- 
bandsselbstkosten einzuhalten  oder  zu  unterschreiten,  so- 
fern ihnen  ein  Anteil  gewährt  wird.  Sie  dürfen  nicht  zu- 
rückgewiesen werden,  sofern  sie  angemessene  Sicherheit 

180 


leisten,  sich  mit  einer  Anfangsbeteiligung  oder  in  gewissen 
Fällen  mit  Ausfuhrquoten  zufrieden  geben.  Sie  werden 
dann  dafür  sorgen,  daß  frisches  Leben  in  den  Verband 
kommt,  und  sich  Beteiligung  erobern. 

Sonach:  die  Anfangsquoten  ergeben  sich  aus  dem 
gegenwärtigen  Besitzstand,  die  Quotenentwicklung  aus 
der  Leistung,  der  Zutritt  aus  neuer  Initiative,  Erfindungs- 
kraft und  Betriebsverbesserung:  und  für  andere  Auf- 
nahmegründe, wie  etwa  den  Wunsch  auf  Kosten  der  Wirt- 
schaftseinheit durch  Besteuerung  der  Gemeinschaft  sich 
eine  Kapitalsrente  zu  schaffen,  liegt  kein  Anlaß  vor. 

Die  Wirkungsweise  der  Gewerbsverbände  ist  grund- 
sätzlicher und  einfacher  als  die  der  Berufsverbände;  sie 
verhält  sich  zu  dieser  ähnlich  wie  die  Verwaltung  eines 
Bezirks  oder  einer  Provinz  zu  der  eines  Kreises.  Die 
Hauptaufgaben  des  organisierten  Gesamtgewerbes  be- 
stehen in  Ausgleich  und  Vermittlung.  Eine  Erwerbs- 
gemeinschaft findet  im  allgemeinen  nicht  statt,  und  es  be- 
darf daher  auch  nicht  der  äußeren  Form  einer  Erwetbs- 
gesellschaft,  es  genügt  der  Ausbau  in  Gestalt  des  Zweck- 
verbandes. 

Hier  werden  vor  allem  die  Fragen  des  Bedarfs,  der 
Warenbeschaffung  in  Güte,  Typen  und  Mustern,  die  Um- 
stellung auf  neue  Anforderungen,  der  Preise,  Lieferzeiten, 
Zahlungsweisen,  der  Arbeitsvermittlung,  Erweiterung.  Be- 
triebseinschränkung von  Gruppe  zu  Gruppe,  von  Berufs- 
verband zu  Berufsverband  verhandelt.  Wer  der  Wirt- 
schaft nahe  steht,  weiß  den  ungeheuren  Vorteil  einzu- 
schätzen, der  aus  einer  möglichst  ganzjährigen  Zusammen- 
fassung der  Bedürfnisse  sich  ergibt.  Wenn  man  in  regel- 
mäßigen Zeitabschnitten  weiß,  wieviel  Schienen,  Garne, 
Kessel,  Motoren,  Zubehörteile,  Chemikalien,  Glasscheiben 
verlangt  werden  und  in  welcher  Beschaffenheit,  so  können 
langsichtige  Fabrikationsprogramme  und  Aufteilungen 
festgesetzt  werden,  die  ganze  Werke  dauernd  voll  und 
gleichmäßig  beschäftigen,  die  Erzeugung  unabsehbar  ver- 

181 


billigen,  große  Lager  unnötig  machen,  die  Verkehrs- 
straßen entlasten,  den  Arbeitsprozeß  beschleunigen,  Ka- 
pital und  Zinsen  ersparen  und  die  Leistung  im  Bezüge  auf 
alle  ihre  Elemente  erhöhen. 

Das  Gesamtgewerbe  überblickt  seinen  ganzen  Bedarf 
im  Inlande  und  Auslande;  bei  ihm  laufen  alle  Ansprüche 
in  Menge  und  Art,  von  denen  des  Staates  bis  zu  denen 
des  Kleinverbrauchers,  zusammen.  Der  große  Verbrau- 
cher und  Händler  gewöhnt  sich  daran,  etwas  weniger  um- 
worben zu  werden  und  seinen  Bedarf  im  voraus  zu  durch- 
denken, weil  nicht  mehr  tausend  müßige  Lager  darauf 
warten,  ob  er  vielleicht  etwas  vergessen  haben  könnte; 
hat  er  Wichtiges  vergessen,  so  mag  er  von  gesonderten 
Aushilfslagern  zu  erhöhten  Preisen  beziehen.  Das  kau- 
fende Publikum  wird  nicht  mehr  in  siebzehntausend 
Schürzenmustern  und  Hosenträgergattungen  wühlen  und 
wählen,  sondern  in  zweitausend,  und  hierdurch  an  Zeit 
und  Mühe  sparen;  werden  einige  Tausende  Schürzen  des- 
halb weniger  verkauft  —  Beweis,  daß  sie  entbehrlich 
waren  — ,  so  können  ein  paar  Motorpflüge  mehr  herge- 
stellt werden.  Wer  durchaus  das  Außergewöhnliche  ver- 
langt, mag  sich  in  Luxusgeschäften  befriedigen,  denen 
entsprechende  Preise  und  Abgaben  und  Einfuhrkontin- 
gente vorgeschrieben  werden. 

Der  Handel  von  Verband  zu  Verband  bedarf  keiner 
zwischentretenden  Vermittlung.  Ungezählter  Zweignie- 
derlassungen, Reisender  nach  Hunderttausenden,  toter 
Lager,  Ladenhüter,  zweifelhafter  Kredite,  verhüllter  Fi- 
nanzierungen bedarf  es  nicht  mehr.  Der  veränderten  Gü- 
terbewegung entspricht  die  Veränderung  im  Umlaufe  der 
papiernen  Abbilder,  der  Wechsel  und  Zirkulationsmittel. 
Wenn  bis  dahin  alle  Bestrebungen  vergeblich  waren,  bar- 
geldlosen Verkehr  und  Umlaufsersparnis  zu  erzwingen, 
so  werden  sie  jetzt  gelingen,  sich  die  Bankbelastungen 
verringern  und  mit  ihnen  die  Zinssätze.  Dem  Handel 
aber  bleibt,  gleichfalls  in  organisierter  Form,  seine  eigent- 

182 


liehe  Aufgabe  erhalten:  Güter  aus  verzweigten  Quellen 
in  Behälter  zu  leiten,  Güter  aus  Behältern  in  verzweigte 
Kanäle  zu  tragen,  zwischenstaatliche,  überseeische  Ver- 
bindungen zu  erhalten. 

Eine   Sitzung   des  Baumwoligewerbes  könnte  folgen- 
dermaßen verlaufen:  Der  Verband  der  Spinner  berichtet, 
daß  es  nicht  ganz  gelungen  ist,  die  steigenden  Material- 
preise  durch  Verbilligung  der  Herstellungskosten   auszu- 
gleichen.    Der  Verband  der  Zwirnereien  verzichtet  dar- 
aufhin  auf   erhöhte   Zuteilung.     Der  Webereiverband   er- 
klärt die  ausfallenden  Mengen  für  Bereifungsgewebe   zu 
übernehmen,  sofern  entsprechende  Umstellungen  in  Num- 
mern und  Qualitäten  erfolgen.     Die  Großhändler  berich- 
ten über  den  Gang  der  Moden  und  verlangen  große  Aus- 
wahlen neuer  Gewebearten.     Es  wird  mit  Spinnern  und 
Webern  verhandelt  und  ein  verkleinertes  Sortiment  ver- 
einbart.    Die  Weber  behaupten,  große  Mengen  eines  ge- 
wissen Stoffes  über  See  absetzen  zu  können,  sofern  ihnen 
das   Garn   zu  Ausnahmepreisen   bewilligt   wird;   man   be- 
schließt,   es    ihnen    wenig    über    Selbstkosten    zu    geben, 
wogegen  sie  einen  Teil  des  Verkaufsgewinncs  abzutreten 
haben.   Die  Spinner  beabsichtigen,  eine  neue  Faser  einzu- 
führen,  die   sich   im   Ausland  bewährt   habe,   die   Weber 
weigern  sich,  sie  zu  verwenden,  die  Färber  und  Appre- 
teure warnen.    Es  wird  beschlossen,  ein  schlecht  beschäf- 
tigtes Werk  als  Versuchsfabrik  einzurichten  und  das  Ri- 
siko zu  teilen.     Es  werden  Preis-  und  Lieferfragen  allge- 
meiner Art  besprochen.    Auf  Antrag  der  Färber  wird  ver- 
einbart, mit  dem  Farbwerkverbande  um  neue  Preise  und 
Schattierungen    zu     verhandeln,     und     die     Sitzung     ge- 
schlossen,   worauf    dann    die  Berufsverbände    in  Einzel- 
sitzungen zusammentreten  und  die  Durchführung  der  Be- 
schlüsse unter  sich  verabreden1)." 

*  ...  * 


l)  W.  V.  S-  231-241,  Sep.-Ausg.  S,  56-66. 


Wenn  es  dabei  bliebe,  wäre  das  Programm  für  den 
wirtschaftlichen  Neuaufbau  unvollständig.  Es  bedarf  sozu- 
sagen noch  einer  Vertiefung  und  Verbreiterung.  Es 
schließt  auch  die  zukünftigen  Statuten  der  Großindustrie 
und  des  Großhandels  in  sich  ein.  Aber  muß  es  nicht  auch 
die  Mittel-  und  Kleinbetriebe  der  Hausindustrie,  des 
Handwerks  und  des  Kleinhandels  umfassen?  Und  wird 
andererseits  dieser  Neuaufbau  nur  etwa  auf  das  eine 
deutsche  Volk  beschränkt  bleiben,  anstatt  zur  gleichen 
Zeit  mehrere  Völker,  ja  die  gesamte  zivilisierte  Welt  zu 
interessieren? 

Was  nun  den  ersten  dieser  Punkte  betrifft,  so  ist 
Walther  Rathenau  der  Ansicht,  daß  noch  die  Stunde  nicht 
gekommen  sei,  in  der  sich  auf  allen  Gebieten  der  Über- 
gang zu  einer  derartigen  Umbildung  ermöglichen  lassen 
werde.  Selbst  in  der  Großindustrie  haben  die  verschie- 
denen Zweige  noch  nicht  alle  die  Stufe  der  Entwicklung 
erreicht,  die  ihnen  eine  rasche  Anpassung  an  den  vor- 
liegenden Rahmen  gestatten  könnte.  Die  Textilindustrie 
scheint  noch  dafür  am  meisten  geeignet  zu  sein,  schon 
weit  weniger  die  Präzisionsmechanik,  am  wenigsten  aber 
der  Kleinhandel.  Während  die  Großindustrie  und  der 
Großhandel  das  ganze  Land  angehen,  beginnt  mit 
dem  großen  Gebiete  des  Kunstgewerbes,  des  Klein- 
handwerkers, des  Kleinhandels,  des  Grundstücksver- 
kaufs, der  Gast-  und  Schankwirtschaft,  der  örtlichen  Ver- 
kehrs- und  Verteilungsvertriebe  eine  zweite  Kategorie  der 
Wirtschaft,  die  im  wesentlichen  die  Gemeinden  angehen 
und  mehr  oder  weniger  ihrer  Handhabung  überlassen 
werden  sollte,  die  die  Sorge  für  ihren  Neuaufbau  zu  über- 
nehmen und  sich,  wie  alle  übrigen  Berufe,  ebenfalls  von 
dem  höheren  Prinzipe  des  Gemeinschaftsinteresses  und 
von  der  durch  den  Krieg  geschaffenen  schwierigen  Lage 
Rechenschaft  abzulegen  haben. 

Der  Wandel  des  örtlichen  Wirtschaftslebens  wird  um 
so  gründlicher  sein,  je  mehr  der  Krieg  schon  eine  Zeit  den 

184 


Kreis  dieser  Gemeinschaftsaufgaben  erweitert,  anderer- 
seits aber  manche  besonders  dringliche  unter  ihnen  hat 
zurückstellen  müssen.  Die  Zeit  der  wahnsinnig  kost- 
spieligen Rathauspaläste,  der  Schlachthausburgen,  der 
Abdeckerei-Idylle  und  der  GasansLalt-Feenschlösser  ist 
vorüber.  Vorüber  ist  es  auch  mit  den  Bauspekulationen, 
wird  doch  gerade  der  städtische  Boden  die  Grundlage  des 
neuen  städtischen  Wohlstandes  bilden  und  sich  nicht 
mehr  an  die  Grundstücksschieber,  Bauspekulanten  und 
Mietstyrannen  veräußern  lassen,  ja  nicht  einmal  mehr  an 
den  soliden  Rentner.  Dagegen  muß  der  städtische  Grund 
neu  bebaut  —  in  den  Geschäftsbezirken  bis  zu  beliebiger 
Höhe  — ,  in  anständigen  Verhältnissen  und  Bauformen, 
nach  einigen  Menschenaltern  endlich  freies  Eigentum  der- 
selben Gemeinden  geworden  sein,  die  einst  in  ihren 
besten  Jahrzehnten  einem  Stande  unbewußter  Monopo- 
listen eine  beliebig  gesteigerte  Besteuerung  der  Gemein- 
wesen zugewendet  und  ungezählte  Milliarden  an  bürger- 
liche Rentenempfänger  verschenkt  haben,  die  zum  Dank 
durch  ihren  Baugeschmack  unserer  Epoche  Schandmal 
über  Schandmal  aufdrückten.  Nicht  minder  als  Grund  und 
Boden  sind  städtischer  Verkehr,  Verteilung  und  Versor- 
gung, mag  es  sich  um  Fuhrwerk,  Licht,  Kraft,  Wasser 
oder  um  Verbrauchsgüter  handeln,  die  gegebene  Grund- 
lage städtischer  Wirtschaft,  vorzugsweise  in  gemischtem 
Betriebe. 

Neu  ist  in  diesem  Zusammenhange  nur  die  Einbezie- 
hung der  Güterverteilung,  des  schon  heute  nicht  mehr  so, 
wie  in  alten  Tagen,  zersplitterten,  verteilten  und  verzet- 
telten Kleinhandels,  die  begründet  werden  soll.  Das  Auf- 
schießen von  Verkaufspalästen  ist  der  beste  Beweis,  daß 
auch  der  Kleinhandel  nicht  dem  allgemeinen  Prozeß  der 
Zentralisierung  und  Vereinheitlichung  entgangen  ist.  Die 
Gemeinde  wird  wirksam  eingreifen  können.  Es  ist  in  der 
Tat  für  die  Zukunft  eine  einfache  Unmöglichkeit  zu  der 
Aera  der  Vielzahl  der  Magazine,  Läden  und  Krambuden 

185 


zurückzukehren;  auch  widerstehen  nur  sehr  wenige  cer 
Verlockung  der  Warenhäuser,  in  denen  sich  auf  den 
Ladentischen  die  Vorräte  sämtlicher  Einzelbranchen  ver- 
einigt haben.  Und  doch  fühlen  wir,  wenn  auch  nur  un- 
bestimmt, daß  ein  Unrecht  im  Spiele  ist;  das  Unrecht  liegt 
im  Begriffe  des  Monopoles,  das  den  Widerstrebenden  ver- 
nichtet; und  ein  Monopol  ist  hier  vorhanden.  Das  Mo- 
nopol liegt  in  der  widerspruchsvollen  Seltenheit  der  Ver- 
bindung einer  ganz  persönlichen,  unkontrollierbaren  und 
daher  dem  Geldgeber  keine  Garantie  bietenden  Organi- 
sationskunst mit  einer  trotzdem  beschafften  bedeutenden 
Kapitalkraft.  Wie  immer,  hat  sich  dieser  riesenhafte  Zen- 
tralisierungsprozeß nur  zum  Nutzen  einiger  weniger  Men- 
schen vollzogen.  Dieser  Mißbrauch  einer  an  sich  guten 
Einrichtung  wird  in  dem  Augenblick  schwinden,  wo  das 
Gemeinwesen  seine  Hand  darauf  legt.  In  der  Form  einer 
vorwiegenden  gemischten  Wirtschaft  wird  sie  im  Ge- 
meindebesitze dessenungeachtet  auch  alle  die  anderen 
Vorzüge  behalten,  die  schon  immer  den  großen  Waren- 
häusern eigen  gewesen  sind.  Es  wird  immer  noch  einige 
wenige  Stellen  geben,  an  denen  trotz  materieller  Schwie- 
rigkeiten Kleinbazarc  vereinzelt  kümmerlich  ihr  Dasein 
fristen  werden.  Für  diese  werden  nun  die  Warenkäufe 
gemeinsam  zu  machen  sein,  und  es  wird  genügen,  sie  Ge- 
schäftsführern zu  überlassen,  die  sich  zunächst  möglichst 
teils  aus  den  Kriegsteilnehmern  und  Kriegsbeschädigten, 
teils  aus  den  Kriegerwitwen  rekrutieren  sollen.  In  einer 
immer  etwas  anderen  Weise  wird  auch  stets  wieder  der 
gleiche  Grundsatz  zur  Geltung  kommen:  Gebet  der  Ge- 
meinschaft, was  der  Gemeinschaft  ist! 

Dieser  wirtschaftliche  Neuaufbau  wird  nun  nicht  bloß 
innerhalb  der  Grenzpfähle  jedes  Landes  sein  Geltungs- 
bereich haben.  Das  wäre  schon  von  vornherein  ganz  un- 
möglich, da  eine  solche  Umwälzung  viel  zu  heftig  die 
Tiefen  der  gesamten  menschlichen  Gesellschaft  durch- 
wühlt, um  auf  einen  mehr  oder  weniger  großen  einzelnen 

186 


Bezirk  der  Erde  beschränkt  zu  bleiben,  und  bei  dem  nun 
einmal  gegebenen  internationalen  Charakter  der  Indu- 
strie- und  Handelsbeziehungen  nur  auf  die  gemeinsamen 
Daseinsbedingungen  der  gesamten  Welt  anwendbar  ist. 
Schon  in  seiner  Schrift  ,,D  i  e  neue  Wirtschaft" 
hatte  Waither  Rathcnau  ganz  nebenher  angedeutet,  daß 
auch  die  Wirtschaft  der  Welt  eine  Gemeinwirtschaft  ist 
und  sein  soll1).  ,,Im  Sommer  des  Jahres  1918,  schreibt  er 
gerade  in  dem  Augenblicke,  wo  alle  gutdeutschen  Seelen 
einen  allgemeinen  Verständigungsfrieden  wünschten, 
seinen  Aufruf  ,,A  n  Deutschlands  Jugen  d".  Als 
er  unter  anderen  Fragen  auch  die  heikle  Frage  der  Schuld 
an  dem  Kriege  in  den  Kreis  seiner  Betrachtungen  zieht, 
da  sieht  er  diese  Schuld  in  dem  allgemeinen  wirtschaft- 
lichen und  sittlichen  Chaos  der  Welt  in  jenen  Tagen, 
einem  Fehler,  der  ursprünglich  allen  Nationen  gemeinsam 
gewesen  war,  und  in  vereinzelten  politischen  Fehlern,  die 
bei  jeder  einzelnen  andere  waren,  für  die  aber  etwa 
keine  auszunehmen  ist.  Es  kommt  uns  nun  jetzt  hier  dar- 
auf an,  einmal  auf  Grund  jener  Schrift  in  kurzer  Zusam- 
menfassung darzulegen,  wie  sich  etwa  der  Plan  seines 
Wirtschaftsgebäudes  auf  die  gesamte  wirtschaftliche 
Tätigkeit  der  Welt  in  allen  ihren  internationalen  Bezie- 
hungen ausdehnen  ließe. 

An  den  Verschuldungen  und  Irrungen  jener  Tage  sind 
alle  Staaten  beteiligt.  Wenn  von  einer  wahrhaften  tiefen 
Schuld  der  Nationen  gesprochen  werden  soll,  so  ist  es  die 
der  Unterlassung:  sie  haben  sich  ängstlich  davor  gescheut, 
die  tiefere  Ursache  all  des  Leides,  an  dem  sie  litten,  zu 
ergründen  und  ernstlich  um  ihre  sittliche  Erlösung  zu 
ringen.  Jünger  als  alle  anderen,  ist  das  deutsche  Volk 
um  so  schuldiger,  weil  es  sich  an  der  allgemeinen  Be- 
fleckung mitbeteiligt  hat,  und  seine  geschichtliche  Sen- 
dung gerade  die  Erfüllung  der  Idee  ist.     ,,Nur  den  einen 


')  W.  V.  S.  226,  Sep.-Ausg.  S.  51. 

187 


Gedanken   hatten    die    Völker:    wachsen   und    sich    berei- 
chern,   aufsteigen   und   überflügeln,   mächtig   werden   und 
erraffen.     Und   ihre  Staatsmänner   dienten  diesen  Zielen 
mit  den  alten  Mitteln  der  List  und  Gewalt,  mit  den  klei- 
nen Mitteln  der  Heimlichkeit  und  Verständigung,  der  Be- 
günstigung, Verlockung  und  Drohung,  des  Geldes  und  der 
Betriebsamkeit,    mit    den    großen    Mitteln    zu    Land    und 
Meer.      Jeder    hoffte,    der    Klügere    zu    sein,    unbemerkte 
Vorteile  in  merkliche  zu  verwandeln,  den  anderen  klein 
zu  kriegen,   ohne  daß  er  sich  versah.     Selbstverständlich 
schien:   Mein  Nutzen   ist   dein   Schaden,   mein   Lcbsn   ist 
dein    Tod.      Endet    ihr    Jünglinge,    dies    unergiebige    unc1 
würdelose    Spiel!     Wetteifert!      Schafft    sittliche    Ideen, 
schafft   den   universalen  Gedanken   der   Solidarität  durch 
lebendiges  Zusammenwirken  nicht  in  utopischer  Duselei; 
beginnt  da,  wo  die  Schwierigkeit  am  größten,  die  Arbeit 
am  härtesten  ist,   beginnt  mit  der  Wirtschaft.     Ich  sage 
euch  aber:  Der  kommende  Friede  wird  ein  kurzer  Waffen- 
stillstand sein,  und  die  Zahl  der  kommenden  Kriege  un- 
absehbar, die  besten  Nationen  werden  hinsinken,  und  die 
Welt   wird   verelenden,    sofern   nicht    schon   dieser   Frie- 
densschluß    den     Willen     besiegelt     zur     Verwirklichung 
dieser  Gedanken.    Ein  Völkerbund  ist  recht  und  gut,  Ab- 
rüstung und  Schiedsgerichte  sind  möglich  und  verständig: 
doch  alles  bleibt  wirkungslos,  sofern  nicht  als  erster  ein 
Wirtschaftsbund,     eine    Gemeinwirtschaft     der   Erde     ge- 
schaffen wird.     Darunter  verstehe  ich  weder  die  Abschaf- 
fung der  nationalen  Wirtschaft  noch  Freihandel  noch  Zoll- 
bünde, sondern  die  Aufteilung  und  gemeinsame  Verwal- 
tung   der   internationalen   Rohstoffe,    die    Aufteilung    des 
internationalen  Absatzes   und  der  internationalen  Finan- 
zierung.    Ohne  diese  Verständigungen  führen  Völkerbund 
und  Schiedsgerichte  zur  gesetzmäßigen  Abschlachtung  der 
Schwächeren  auf  dem  korrekten  Wege  der  Konkurrenz; 
ohne  diese  Verständigungen  führt  die  bestehende  Anar- 
chie zum  Gewaltkampf  aller  gegen  alle. 

188 


Der  Wirtschaftsbund  aber  ist  so  zu  verstehen:  Über 
die  Rohstoffe  des  internationalen  Handelns  verfügt  ein 
zwischenstaatliches  Syndikat.  Sie  werden  allen  Nationen 
zu  gleichen  Ursprungsbedingungen  zur  Verfügung  gestellt, 
und  zwar  für  den  Anfang  nach  Maßgabe  des  bisherigen 
Verbrauchsverhältnisses.  Späterhin  wird  das  wirtschaft- 
liche Wachstum  der  einzelnen  in  Rechnung  gezogen. 

Die  gleiche  zwischenstaatliche  Behörde  regelt  die 
Ausfuhr  nach  entsprechendem  Schlüssel.  Jeder  Staat 
kann  verlangen,  daß  ihm  die  zustehende  Ausfuhr- 
quote abgenommen  werde.  Sie  verringert  sich  ent- 
sprechend, sofern  er  die  auf  ihn  entfallende  Einfuhr  ab- 
lehnt. Die  Lieferungen  der  Staaten  geschehen  im  ge- 
wohnten Verhältnisse  ihrer  Gütergattungen.  Freie  Ver- 
ständigungen über  Abänderungen  können  getroffen  wer- 
den, Quotenaustausch  ist  zulässig. 

An  internationalen  Finanzierungen,  die  zu  Lieferun- 
gen führen,  kann  jeder  Staat  Beteiligungen  im  Verhältnis 
seiner  Ausfuhrquote  verlangen. 

Dies  sind  die  grundsätzlichsten  Bestimmungen,  die 
vereinbart  werden  müssen,  sofern  nicht  der  stille  Wirt- 
schaftskrieg in  seiner  alten  Form  oder  aber,  allen  Ab- 
machungen zum  Trotz,  der  offene  Wirtschaftskrieg  in 
neuen  ungebahnten  Formen  ausbrechen  soll,  der  entweder 
zur  Verarmung  der  nicht  selbstversorgenden  Staats- 
gruppen oder  zu  unaufhörlichen  Kriegsgewittern  führt. 

Jahrzehnte  werden  vergehen,  bis  dieses  System  der 
internationalen  Gemeinwirtschaft  voll  ausgebaut  ist; 
weiterer  Jahrzehnte,  vielleicht  Jahrhunderte  bedarf  es, 
urn  die  zwischenstaatliche  Anarchie  durch  eine  freiwillig 
anerkannte  oberste  Behörde  zu  ersetzen,  die  nicht  ein 
Schiedsgericht,  sondern  eine  Wohlfahrtsbehörde  sein 
muß,  der  als  mächtigster  aller  Exekutiven  die  Handhabung 
der  Wirtschaftsordnung  zur  Verfügung  steht1)." 


')  ,.A  u  U  e  u  t  s  c  h  lands  Jugend"  S    85-88 

189 


Kapitel  VI. 

Die  sittliche  Erneuerung 

Bedarf  es  wirklich  noch  besonderer  Erwähnung,  daß 
Reformen  von  einer  solchen  Ausdehnung  allein  zu  ver- 
wirklichen sind,  wenn  ein  völliger  Wandel  in  der  Grund- 
und  Weltanschauung  der  Menschen  unserer  Zeit  erfolgt? 
Wenn  sie  sich  etwa  einbilden  sollten,  daß  schon  ein  paar 
vorübergehende  wirtschaftliche  und  finanzielle  Anord- 
nungen ausreichen  werden,  alle  Verluste  auszugleichen 
und  die  alte  Ordnung  sogleich  wieder  in  vollem  Umfange 
zu  beleben,  wenn  sie  sich  einbilden  sollten,  daß  ein  paar 
neue  Grenzabsteckungen,  ein  paar  gestürzte  Throne  aus- 
reichen werden,  die  Seelen  zu  erlösen,  die  Toten  zu  ehren 
und  die  Lebenden  zu  versöhnen,  ohne  dabei  auch  nur  von 
Ferne  an  den  Aufstieg  der  Welt  zu  glauben,  dann  müßte 
man  sich  auf  einen  ganz  entsetzlichen  Wirrwarr  gefaßt 
machen  und  auf  Katastrophen,  die  noch  weit  schlimmer 
wären  als  die  des  eigentlichen  Krieges.  Nein,  der  Krieg 
mit  seinem  blutigen  Schimmer  hat  die  ganze  Ungerech- 
tigkeit beleuchtet,  in  der  wir  lebten  und  an  der  wir  litten, 
ohne  doch  zu  erkennen,  weiches  die  eigentliche  Ursache 
unseres  Leidens  war.  Diese  Ungerechtigkeit  wird  nur  auf 
die  eine  Weise  zu  tilgen  sein,  wenn  wir  uns  alle  zu  unge- 
heuren Opfern  verstehen.  Hierzu  aber  werden  wir  uns 
nur  entschließen  können,  wenn  wir  unserem  Leben  eine 
neue  sittliche  Richtung  geben. 

Freilich  wäre  Entwickelung  unmöglich,  wenn  wir  sie 
nach  dem  Anblick  des  täglichen  Lebens  beurteilen  sollten, 
das  stets  der  Tyrannei  der  Mechanisierung  unterworfen 

190 


bleibt.  Ist  es  nötig,  daran  zu  erinnern,  welche  Unordnung 
in  dem  metaphysischen  und  moralischen  Bewußtsein  un- 
serer Zeit  herrscht?  Der  so  unfähige  Intellekt,  an  den 
wir  uns  bisher  doch  allein  wandten,  hat  uns  gänzlich  in 
unseren  Hoffnungen  betrogen.  Unser  Leben  weiß  nicht, 
nach  welchen  Polen  es  sich  richten  soll.  Wir  leugnen 
alle  Entwicklung  auf  moralischem  Gebiete,  an  die 
wir  doch  Jahrhunderte  lang  geglaubt  haben.  In  den  Win- 
keln unseres  Gewissens  finden  sich  aller  Orten  noch 
Glaubensreste  dogmatischer  Zeiten,  transzendenter, 
mythologischer,  aniraistischer  und  fetischistischer  Her- 
kunft vor,  die  unserem  Seelenleben  noch  eine  Richtung 
andeuten.  Mit  dem  Germanen  schätzen  wir  den  Mut  und 
verachten  wir  die  Furcht.  Dem  Orientalen  haben  wir 
die  Vorliebe  für  die  Barmherzigkeit  und  Klugheit,  das 
Patriarchenideal,  entlehnt.  Die  Romantik  hat  uns  die 
Steigerung  der  geistigen  Fähigkeit  zum  Talent,  der  intu- 
itiven Fähigkeit  zur  Genialität  als  unveräußerliches  Erbe 
hinterlassen.  Allerjüngst  haben  wir  unter  amerikanischem 
Einfluß  begonnen,  die  Stufenleiter  der  Arbeitskraft,  Nach- 
haltigkeit, Entschlußkraft  und  Willensphantasie  zu  weiten 
und  den  Erfolg  als  die  Höhe,  zu  der  diese  Leiter  zuletzt 
führen  muß,  zu  verehren.  Schließlich  schafft  sich  jeder 
ein  Ideal,  das  nichts  weiter  als  die  Versetzung  seiner  ma- 
teriellen Interessen  in  eine  andere  transzendente  Welt 
ist,  grade,  als  sollte  die  weltbewegende  Kraft  nur  die 
Kräftediagonale  darstellen,  die  sich  aus  der  Unzahl  dieser 
persönlichen  ideellen  Kräfte  ergibt. 

Unfaßbar  ist  noch  ein  Zweites,  nämlich  die  geradezu 
unglaubliche  Unkenntnis  von  der  menschlichen  Natur,  in 
der  wir  leben;  uns  fehlten  noch  immer  feste  Normen  für 
die  wertende  Erkenntnis  der  Individualität  eines  Men- 
schen. Man  spricht  gemeinhin  von  der  Gabe  der  Men- 
schenkenntnis, und  viele  stellen  sich  darunter  eine  Art 
von  mißtrauischer  Schlauheit  vor,  welche  hinter  die  ge- 
heimen   Beweggründe,    Schliche    und    Schwächen    seines 

191 


Nächsten  zu  kommen  sucht,  um  sie  desto  leichter  zu 
nutzen  und  zu  beherrschen.  Diese  falsche  Sklaventugend, 
die  gar  keine  edele  Gabe  ist,  führt  zu  nichts,  es  sei  denn 
zu  kleinen  ungerechten  Vorteilen;  denn  sie  kann  nur  von 
niederen  Naturen  und  nur  gegen  ihresgleichen  geübt 
werden.  Wie  wenige  sind  es  hingegen,  denen  nicht  nur 
Mund  und  Augen  ihres  Nebenmenschen  reden,  sondern 
Stirn,  Gestalt  und  Hände,  denen  die  Wahl  und  der  Klang 
eines  Zufallswortes,  das  unausgesprochene  Glied  einer 
Gedankenverbindung,  die  unwillkürliche  Bewegung,  jedes 
Band  der  Handlung  und  Lebensführung  sogleich  das 
Wesen  des  Angeschauten  offenbart  und  die  in  ihrer  Er- 
leuchtung sich  dem  Menschen  nicht  mit  Selbstsucht  oder 
Geringschätzung,  sondern  mit  einer  unendlichen  Güte 
und  Nachsicht  nähern  aus  dem  Gefühle  jenes  harmo- 
nischen Weltganzen  heraus,  in  dem  jedes  Wesen  und  jedes 
Ding  ihren  Platz  finden! 

Unsere  Gesetze  wie  unser  Leben  leiden  unter  dieser 
Verworrenheit.  Die  Lüge  ist  erlaubt,  auch  vor  Gericht, 
der  Meineid  verboten.  Der  Mutbeweis  des  Zweikampfes 
ist  untersagt,  wird  aber  dem  Volksempfinden  zuliebe  in 
Grenzen  geduldet.  Ein  anständiger  Mensch  im  Sinne  der 
europäischen  Restmoral  aber  ist  einer,  der  seine  drin- 
gendsten Schulden  bezahlt,  sich  auf  Lügen  nicht  ertappen 
läßt,  kein  öffentliches  Aergernis  gibt,  in  Geschäften  das 
bürgerliche  Strafgesetzbuch  achtet,  sich  an  öffentlichen 
Kollekten  beteiligt,  gute  Kleider  trägt,  mittlere  Schul- 
kenntnisse besitzt  und  die  gleichen  Eigenschaften  bei 
seinem  ehelichen  Vater  nachweisen  kann.  Diese  Gaben 
berechtigten  noch  eben,  in  allen  zivilisierten  Ländern, 
soweit  das  bürgerliche  Sittenempfinden  in  Betracht 
kommt,  zu  jedem  Ansehen,  zu  jedem  wirtschaftlichen  An- 
sprüche, zu  jeder  menschlichen  Verantwortung  und,  so- 
bald irgendeine  ausgesprochene  nützliche  bestimmte  An- 
lage oder  Fachkenntnis  hinzutritt,  zu  den  höchsten  Aem- 
tern  und  Würden. 

192 


Zum  Glücke  wissen  wir,  daß  wir  unsere  Hoffnung 
noch  einmal  die  so  nötige  sittliche  Erneuerung  zu  erleben 
nicht  sinken  zu  lassen  brauchen.  Die  Grundlage  dazu  ist 
an  d  e  m  Tage  gelegt  worden,  an  dem  die  Seele  zur  Welt 
gekommen  ist.  Der  Intellekt  und  die  Mechanisierung 
werden  überwunden  werden  und  ihre  traurige  Begleit- 
schaft von  Verderbnis  und  Unglück  sich  in  alle  Winde 
zerstreuen.  Die  Menschheit  hat  einen  neuen  Pol  der 
Wertung  gefunden.  Eine  Auslese  ist  schon  jetzt  im  An- 
märsche auf  die  Regionen,  die  ihr  Licht  von  der  Seele 
bekommen.  Praktisch  also  hat  sich  die  Sache  schon  ver- 
einfacht. Nicht  die  Grundsätze  sind  mehr  in  Frage,  son- 
dern nur  noch  ihre  Anwendung.  Damit  die  Erneuerung 
zustande  komme  und  damit  die  notwendigen  Opfer  durch- 
gesetzt werden,  bedarf  es  nur  der  Ausmerzungen  jener 
schädlichen  Kräfte,  die  die  Menge  nicht  dem  Beispiele 
der  Besten  folgen  lassen  wollen  und  eine  Einpflanzung 
von  Begriffen  in  ihre  Seele,  die  sie  umgekehrt  treiben, 
deren  Beispiel  nachzuahmen. 

Die  wirtschaftlichen  Opfer,  die  zu  bringen  sind,  lassen 
sich  etwa  in  folgende  vier  zusammenfassen:  den  Verzicht 
auf  eine  Reihe  käuflicher  Genüsse,  den  Verzicht  auf  einen 
erheblichen  Teil  der  erarbeiteten  oder  ersessenen  Er- 
träge, den  Verzicht  auf  jede  Laufbahn,  die  in  leichtem 
Dienste,  mit  leichtem  Gepäcke  an  Geist  und  Charakter 
zum  Ziele  führt,  und  endlich  den  Verzicht  auf  das  dau- 
ernde wirtschaftliche  Vorrecht  einer  gesicherten  Familien- 
stellung. Die  bösen  Triebe  oder  Mächte,  die  sich  dem  ent- 
gegenstellen, wirken  bald  gesondert,  bald  wieder  in  Ge- 
meinschaft vereint  gegen  diese  vier  Grundforderungen 
der  Wirtschaft.  Sinnlichkeit,  Ehrgeiz,  Gewinnsucht  gegen 
die  erste  und  zweite,  Ehrgeiz  und  Familienstolz  gegen  die 
dritte  und  vierte,  unzureichende  Kenntnisse  gegen  die 
dritte,  mangelndes  Staats-  und  Gemeinschaftsempfinden 
gegen  alle  vier. 

13  193 


Von  Sinnlichkeit,  Bequemlichkeit  und  Trägheit  brau- 
chen wir  nicht  so  ausführlich  zu  handeln.  Nicht,  daß  wir 
sie  nun  einfach  ein  für  allemal  als  unabänderliche  Triebe 
ansehen.  Doch  zeigen  sie  einen  so  physiologischen  Cha- 
rakter, daß  die  Einwirkung  der  Erkenntnis  sie  nur  mittel- 
bar trifft.  Um  so  lebhafter  aber  müssen  unsere  Aufmerk- 
samkeit die  eigentlich  bösen  Mächte  in  der  menschlichen 
Seele  fesseln.  Sie  sagen:  ich  will  haben  und  scheinen. 
Alles  in  allem  erwogen,  kommt  also  die  Aufgabe  letzten 
Endes  auf  eine  Kritik  der  Genuß-  und  Machttriebe  hin- 
aus, die  so  eingehend  sein  muß,  daß  sie  die  eben  skizzierte 
an  Gründlichkeit  noch  übertrifft. 


Diese  Triebe  bestehen  darin,  daß  das  Individuum  zu- 
nächst einmal  das  verlangt,  was  es  braucht,  dann  das, 
was  ihm  seine  und  der  Seinen  Zukunft  sicherstellt  und 
schließlich  das,  was  den  anderen  fehlt  und  ihren  Neid  er- 
weckt. Abgesehen  von  den  berechtigten  beiden  ersten 
Forderungen  handelt  es  sich  hier  um  atavistische  In- 
stinkte, die  um  so  gebieterischer  sind,  je  gemeiner  ihr  Ur- 
sprung ist.  Die  Kulturhistoriker  werden  uns  darlegen, 
wie  diese  Triebe  gerade  bei  furchthaften  Menschen  und 
Völkern  vorkommen,  weil  solche  Menschen  und  Völker 
dem  Drucke  ihrer  Unterwerfer  nur  die  eine  Hoffnung  ent- 
gegensetzen können,  daß  sich  das  Blatt  eines  Tages  wen- 
den möchte  und  sie  selbst  den  Fuß  auf  den  Nacken  des 
Bedrückers  setzen  würden.  Sie  werden  zeigen,  wie  diese 
furchthaften  Triebe  in  Europa  gerade  mit  dem  Triumphe 
der  Unterschichten  an  die  Oberfläche  gekommen  sind. 
Uns  genügt  es,  festzustellen,  daß  wir  in  diesen  letzten 
Endes  auf  Machtgier  hinauskommenden  Trieben  nur  die 
Folgen  der  allgemeinen  Mechanisierung  und  „in  Macht- 
gier die  pragmatische  Verneinung  aller  Transzendenz  zu 
sehen  haben.  Wer  in  dem  Schein,  den  wir  Wirklichkeit 
zu  nennen  pflegen,  den  Inbegriff  alles  Seins  erblickt,  der 

194 


kann  ein  vermessenes  Glück  erträumen,  das  dieses  Wun- 
derspiel von  Farben,  Tönen  und  Reizen  unterwirft,  um  es 
zu  besitzen  und  zu  beherrschen,  so  wie  ein  Kind  den 
Stern  und  Schmetterling  in  seine  tastenden  und  zerstö- 
renden Hände  begehrt1),  aber  er  ist  für  die  Menschheit 
verloren,  weil  er  den  Dienst  der  Welt  verleugnet  und  den 
Dienst  der  Ueberwelt  verschmäht. 

Und  dadurch  gerade  werden  diese  Triebe  verschwin- 
den. Wer  sich  nun  umgekehrt  der  Fessel  der  Mechani- 
sierung und  des  Intellektes  entzogen  hat,  der  merkt  die 
Unwirklichkeit  dieses  Traumes.  Was  ist  denn  schließlich, 
abgesehen  von  einigen  leiblichen  Bequemlichkeiten,  Be- 
sitz? Ein  Verzeichnis  von  Sachen,  die  man  ungestraft 
bewegen,  absperren,  zerstören  oder  gegen  andere  Sachen 
vertauschen  darf,  die  wiederum  bewegt,  abgesperrt  und 
zerstört  werden  können.  Ein  totes  Leben  gewinnen  diese 
Sachen,  die  der  Besitzer  nur  dann  kennt  und  einigermaßen 
besitzt,  wenn  sie  wenig  zahlreich  sind,  nur  dann,  wenn 
er  selbst  sie  schaffend,  ordnend,  waltend,  verantwortungs- 
voll handhabt  und  ihnen  seine  Seele  einhaucht.  Aber 
dann  verlieren  diese  Sachen  die  Eigenschaft  des  toten 
Besitztums  und  gewinnen  ein  lebendiges  Leben.  Sie  ge- 
hören ihm  dann,  auch  wenn  sie  formal  der  Besitz  eines 
anderen  sein  sollten,  so  wie  dem  Förster  der  Wald  ge- 
hört und  nicht  dem  Grundherren,  dem  Wanderer  die 
Landschaft  und  nicht  der  Gemeinde,  dem  Künstler  das 
Werk  in  Ewigkeit  und  nicht  dem  Käufer.  Macht?  Was 
bleibt  vielleicht  außer  dem  Vorzuge  einiger  bequemerer 
Verkehrsgelegenheiten  und  der  Befriedigung  aus  so  man- 
chen Kreisen  nicht  ausgeschlossen  zu  sein  denn  noch 
sonst  von  ihr  als  die  schändlichen  Bücklinge  und  Phra- 
sendreschereien der  Menschen,  die  aus  Zwang  oder  in 
Selbsterniedrigung  die  Mächtigen  für  sich  zu  gewinnen 
suche'n.     Die    Menge    jubelt    einem    Triumphator    zu,    der 


l)  D.  Hl.  S.  185,  Sep.-Ausg.  S.  173. 
13*  195 


hoch  zu  Roß  oder  im  prächtigen  Galawagen  an  ihnen  vor- 
übersaust. In  Wahrheit  aber  sitzt  da  nur  ein  Mensch  wTe 
jeder  andere  zerstreut,  gleichgültig  und  vor  sich  dahin 
träumend;  an  sein  Ohr  schlagen  die  brausenden  Wellen, 
ohne  daß  ihm  irgendetwas  von  dem,  was  da  draußen  sich 
abspielt,  klar  zum  Bewußtsein  kommt  und  am  Abend  ist 
er  dann  in  dem  Augenblicke,  wo  er  sich  zum  Schlafe  nie- 
dergelegt hat,  mit  seinem  Gotte  so  allein  wie  der  letzte 
seines  Gefolges.  Und  so  ist  auch  er  ohne  wahre  Macht. 
Solange  in  der  Beurteilung  des  Menschen  eine  solche  Un- 
fähigkeit bestehen  wird,  wird  es  auch  immer  Ränke- 
schmiede, Ehrgeizige  und  Streber  geben,  die  sich  weiter, 
wie  bisher,  überall  vordrängen  werden.  Aber  so  verhäng- 
nisvoll auch  die  Macht  ist,  die  sie  zu  erringen  vermögen, 
sie  werden  niemals  die  schöpferische  Kraft  besitzen,  mit 
der  sie  nun  einmal  nicht  begabt  sind.  Sie  werden  die 
Menschheit  nicht  vorwärtsbringen,  die  auch  ihrerseits 
nicht  die  Notwendigkeit  von  deren  Existenz  anerkennen 
und  darum  auch  ihre  letzten  Lüste  unbefriedigt  lassen 
wird. 

An  der  Entwicklung  dieser  Besitz-  und  Machttriebe 
hat  auch  die  Frau  ihren  beträchtlichen  Anteil  gehabt. 
Bekannt  ist,  wie  die  Mechanisierung  sie  allmählich  ihren 
Hausarbeiten  entzogen  hat  in  einem  Augenblicke,  wo  sie 
gleichzeitig  den  Mann  nötigte,  fast  den  ganzen  Tag  über 
fern  vom  häuslichen  Herde  zu  verweilen.  Einige  Wir- 
kungen dieser  Entwicklung  sind  auch  glücklich  zu  nennen 
gewesen:  die  Frau  hat  sich  den  unerwartetsten  Anforde- 
rungen angepaßt,  hat  die  Sorgen  des  äußeren  Lebens  über- 
nommen, ist  in  bisher  nur  für  Männer  bestimmt  gewesene 
Berufe  eingetreten  und  hat  so  unserem  Jahrhundert  sein 
eigenes  Gepräge  gegeben,  das  Gepräge  der  Mannweib- 
lichkeit. Aber  auch  andere  Wirkungen  blieben  nicht  aus, 
die  als  bedenkliche  bezeichnet  werden  müssen.  Neben 
diesen  tüchtigen  Frauen  entstand  auch  dank  des  Mecha- 
nisierungsprozesses   ein    neuer    sozialer    Typus:    der    des 

196 


Luxusweibes,  das  den  ganzen  Tag  müßig  ging,  das  ewige 
Kinderkriegen  gar  nicht  genug  beklagen  konnte  und  ihren 
ganzen  Beruf  darin  sah,  zu  kaufen  und  zu  repräsentieren, 
sich  hofieren  zu  lassen  und  nur  irgendwie  eine  Rolle  zu 
spielen.  Daher  jene  zahllosen  Einkäufe,  die  in  unge- 
heuren Paketen  nach  Hause  geschleppt  werden  als 
schreiende  Zeugnisse  so  mancher  Stunde  überflüssiger 
Arbeit  und  so  mancher  Träne,  die  bei  ihr  vergossen 
wurde.  Daher  auch  jene  Verdorbenheit  des  Geschmackes 
und  der  Künste,  da  die  Frau  nun  einmal  nicht  gute,  reelle 
und  brauchbare  Arbeit  zu  erkennen  weiß;  sie  zieht  ibi" 
Kram  und  Flitter  vor  und  läßt  sich  durch  marktschrei- 
erische Anpreisungen  hinters  Licht  führen.  Daher  end- 
lich auch  das  Verlangen,  die  anderen  ausstechen  zu 
müssen,  die  kleinen  Intrigen  und  die  heimlichen  Ränke. 
Solange  unser  Wirtschaftsleben  unter  dem  Zeichen  des 
freien  Verkehres  stand,  wurden  diese  an  die  Urgelüste 
mancher  Negerstämme  erinnernden  Mißbräuche  scho- 
nungsvoll geduldet.  Das  wird  in  der  neuen  Ordnung  un- 
möglich sein.  Vergessen  wir  allerdings  nicht,  daß  diu 
hauptsächlichste  Verantwortung  dafür  auf  den  M-ina  fällt, 
der  sie  durch  seinen  Eigennutz  und  noch  mehr  durch 
seine  verlotterten  Bräuche  ermutigt  hat;  es  bleibt  aber 
dann  nicht  weniger  richtig,  daß  sich  auch  die  Sitten  der 
Frauen  wieder  heben  müssen. 

Es  bleibt  nun  nur  noch  der  letzte  jener  schädlichen 
hemmenden  Kräfte  zu  betrachten:  allzu  engherziges  Fa- 
milienempfinden. Nicht  etwa  sind  noch  erst  viele  Worte 
über  den  einfach  krankhaften  Sammeltrieb  jener  Leute 
zu  machen,  die  Schätze  auf  Schätze  häufen,  um  sie  den 
knapp  gehaltenen  eigenen  Kindern  bis  zu  deren  vorzei- 
tigem Tode  vorzuenthalten  und  sie  dann  schließlich  noch 
ganz  entfernten  Verwandten  vererben  zu  müssen. 
Ebensowenig  bedarf  es  noch  vieler  Worte  über  die  viel- 
verbreitet postume  Eitelkeit  jener  Geizigen,  die  vom 
Staunen  der  Testamentseröffner  sich  ein  jenseitiges  Lab- 

197 


sal  versprechen.  Nein,  das  Familienempfinden,  das  ein 
Walther  Rathenau  der  Bekämpfung  würdigt,  steht  denn 
doch  nicht  ganz  so  tief  wie  diese  Lächerlichkeiten,  über 
die  überhaupt  jedes  weitere  Wort  überflüssig  ist;  er  meint 
die  echte  und  edle  Form  des  Geschlechterstolzes,  die 
Freude  an  der  Erhaltung  eines  klingenden  Namens,  die 
frohe  Erinnerung  an  das  Verdienst  der  Väter  und  Ahnen, 
die  liebende  Sorge  um  das  Glück  der  kommenden  Ge- 
schlechter. Doch  auch  ein  solches  Familienempfinden  ist 
nach  ihm  zu  bekämpfen,  trägt  es  doch  im  Grunde  auch 
sein  Teil  dazu  bei,  die  soziale  Ungleichheit  aufrechtzu- 
erhalten. Vergesesn  wir  nicht,  daß  eine  solche  Einheit  des 
Volkes,  wie  sie  sich  während  des  Krieges  gezeigt  hat,  zuvor 
noch  niemals  bestand  und  auch  schwerlich  von  Dauer  sein 
wird.  Und  wirklich  spaltet  sich  auch  das  deutsche  Volk 
in  vier  völlig  gesonderte  und  geschiedene  Klassen,  Adel, 
gehobene  Bourgeoisie,  Kleinbürgertum  und  Proletariat. 
Wenn  nun  auch  das  Familienempfinden  wegen  seiner 
guten  Seiten  zu  werten  und  zu  schätzen  ist,  so  ist  und 
bleibt  es  doch  mit  den  Gesetzen  des  Lebens  in  einem 
unaufhörlichen  Widerspruch.  Wenn  ein  menschlicher 
Körper  ein  wirklich  lebendiger  Organismus  sein  soll,  so 
muß  er  auch  der  Schauplatz  eines  beständigen  Wechsels 
lebender  Kräfte  sein.  Jenes  Empfinden  ist  also  unan- 
nehmbar durch  den  Eigennutz,  den  es  mit  sich  bringt,  und 
den  Widerwillen  für  die  unteren  Klassen;  denn  jenes 
Empfinden  ist  auch  mit  den  Augenblicksvorzügen  des 
Geldes  und  der  Erziehung  noch  nicht  einmal  zufrieden, 
sondern  will  auch  noch  zudem  die  dauernde  Gewähr  des 
Genusses  haben.  Wird  nicht  jemand,  der  das  Lebens- 
gesetz zuzugeben  bereit  ist,  daß  erbliches  Behagen  erb- 
liche Not  und  Fron  mit  sich  bringen  muß,  ruhig  einge- 
stehen können,  daß  die  engherzige  Auffassung  des  Fa- 
milienempfindens die  Todsünde  der  modernen  Gesell- 
schaft ist? 

198 


Aber  diese  Triebe  und  Regungen  der  Seele  sind  doch 
so  verbreitet  und  lebendig!  Wird  es  denn  da  möglich 
sein,  die  menschliche  Natur  von  ihnen  zu  befreien.  Der 
Idealist  Walther  Rathenau,  das  wissen  wir,  glaubt  es. 
Welche  Hypothese  ist  nun  die  verwegenere?  Vorauszu- 
setzen, daß  diese  Kräfte,  die  doch  scheinbar  in  der  Feuer- 
kraft ihrer  Mittagshöhe  stehen,  gleichwohl  ihrem  Unter- 
gange entgegengehen,  oder  umgekehrt  etwa  glauben  zu 
wollen,  daß  diese  Lügenmächte,  die  wir  eben  in  ihrer 
wahren  Natur  erkannt  haben,  auf  immerdar  eine  Mensch- 
heit betören  und  knechten  sollen,  die  ihre  hohle  Leere 
und  verhängnisvolle  Bedenklichkeit  durchschaut?  Nun 
wird  mancher  kommen  und  sagen:  Wie  soll  eine  alt  ge- 
wordene Menschheit  sich  ändern?  Haben  wir  sie  wohl 
jemals  eine  ihrer  Leidenschaften  zum  Opfer  bringen 
sehen?  Ihm  sei  erwidert:  Die  Menschheit  hat  Größeres 
geleistet.  Sie  hat  manchen  Sturz  und  Umsturz  von  sitt- 
lichen Anschauungen  vorgenommen:  wir  haben  Menschen- 
opfer, Blutschande,  Götzendienst  und  Blutrache  gehen  und 
kommen  sehen.  In  jedem  Augenblick  schlummert  jede 
Leidenschaft,  jede  Sünde  in  der  Menschenbrust;  jede  ist 
zu  wecken  und  jede  zu  bändigen  und  auch  das  wieder  in 
jedem  beliebigen  Augenblicke.  Gebändigt  wird  sie  vom 
Einzelnen:  ist  seine  Gesinnung  eine  niedrige,  durch  Furcht, 
—  ist  sie  vornehm,  durch  Hingabe  an  die  Seele;  gebändigt 
wird  sie  von  der  Gesamtheit  durch  neue  Anschauungen  in 
sittlichen  Fragen.  Wenn  aus  den  großen  Opfern  für  den 
Krieg  irgendein  Schluß  gezogen  werden  darf,  so  ist  es 
der,  daß  dieses  Seelenwerk  sich  schon  für  eine  ganz  nahe 
Zukunft  ankündet  und  am  Horizonte  bereits  die  neuen 
edleren  Seelentriebe  sichtbar  werden,  die  die  gefallenen 
Sterne  am  sittlichen  Himmel  ersetzen  sollen. 

Trügerischer  Ehrgeiz,  Autoritätenglaube,  Schaden- 
freude, Streben  nach  äußerem  Schein,  alle  diese  häßlichen 
Seelentriebe  werden  schwinden,  um  nur  der  einen  edelen 
Leidenschaft  Platz  zu  machen,  dem  wirkenden  und  ord- 

199 


nenden  Schaffen,  das  den  Gebieter  zum  Diener,  den  Die- 
ner zum  Gebieter  macht,  dem  verantwortendem  Schaffen, 
das  gern  an  leitender  Stelle  stehen  möchte,  doch  nur  der- 
art, daß  es  sich  selbst  vor  einem  Gesetze,  vor  einem 
höheren  Wesen  neigt.  Die  Aufforderung,  die  sich  hingibt 
und  selbstlos  die  Steuern  einzieht,  nicht  etwa  um  sie  in 
eigenem  Besitz  zu  halten,  sondern  um  sie  völlig  unan- 
getastet zum  notwendigen  Betriebe  der  göttlichen  Ord- 
nung weiterzugeben.  ,,Dies  verantwortende  Schaffen 
nimmt  den  beiden  alten  Trieben,  Besitz  und  Macht,  alle 
die  Formen,  die  den  Besitz-  und  Machtlüsternen  be- 
glücken, mit  denen  allein  er  sich  begnügen  möchte,  und 
läßt  nur  die  Sorgen,  Schmerzen  und  Mühen,  die  jener  ver- 
schmäht. An  die  Stelle  des  Machtbereichs  tritt  der  Wir- 
kungskreis, an  die  Stelle  der  Herrschaft  die  Verantwor- 
tung, an  die  Stelle  des  Rausches  die  Sorge;  wo  Macht  sich 
erfüllt,  da  hebt  sie  sich  auf1)." 

Die  Frauen  haben  jenen  bösen  Trieben  eine  ausge- 
prägtere Form  gegeben;  es  liegt  das  daran,  daß  sie  ihr 
altes  Ziel  aus  dem  Auge  verloren  haben  und  nun  im  ver- 
ängsteten  Suchen  nach  einem  neuen  eine  Bewegung 
unter  sich  verbreiten,  die  sie  ganz  von  der  graden  Straße 
abbringt.  Warum  sollte  es  so  unmöglich  sein,  ihnen  dieses 
Ziel  schon  weithin  sichtbar  zu  machen,  nachdem  sie  es 
zum  großen  Teil  durch  die  Schuld  der  Männer  verloren 
haben?  Nicht  Rückkehr  zum  verödeten  Hof  und  Garten, 
zum  veralteten  Spinnrocken  und  Webstuhl  darf  in  Frage 
kommen.  Aber  auch  nicht  ödes  Vordrängen  zu  Kanzeln 
und  Tribunalen.  Wandelung  zu  hoher  Menschlichkeit  ist 
das  erste  Ziel,  das  sie  zur  Verachtung  käuflichen  Glückes, 
albernen  Schmuckes  und  schnöden  Müßigganges  führen 
möge,  bis  sie  dann  hinter  allen  diesen  Stationen  endlich 
ihr  letztes  Ziel  entdecken:  Verantwortung  für  inneres 
Glück    und  Ordnung    des    großen  Hausstandes    der    AU- 


')  D.  111.  S.  188,  Sep.-Ausg.  S.  176. 
200 


menschheit.  „Je  entschiedener  Wohlfahrt  und  Erziehung, 
Pflege  und  Lebensschmuck  zu  Sorgen  der  Gemeinschaft, 
zu  Verantwortungen  der  Gesellschaft  werden,  desto 
reiner  und  bedeutender  werden  die  neuen  Pflichten  des 
Weibes;  und,  wenn  der  Inhalt  dieser  Pflichten  frauenhaft 
und  in  höchstem  Sinne  natürlich  bleibt,  so  dürfen  wir  vor 
den  Formen  nicht  erschrecken1)."  „An  die  Stelle  der 
leiblichen  und  stofflichen  Erbschaft  tritt  die  geistige,  die 
heute  schon  die  immateriellen  Reiche  beherrscht.  An  die 
Stelle  der  Kindschaft  die  Jüngerschaft,  an  die  Stelle  des 
Nepotismus  die  Erwählung.  Überlieferte  Sitte  und  Ge- 
sinnung wird  Eigentum  des  Volkes,  Erziehung  Sache  der 
Gemeinschaft;  das  adlige  Volk  in  beherrschendem  Dienst 
und  dienender  Herrschaft  wird  zum  Träger  seines  Ge- 
schicks und  zum  Hüter  seiner  Auserwählten2). "  Aller- 
dings wird  darüber  zu  wachen  sein,  daß  sich  nicht  irgend- 
ein Abenteurer  in  die  Reihen  der  auserwählten  Schar 
schleicht.  Dabei  wird  jene  unbeirrbare  Kenntnis  und 
Schätzung  menschlicher  Eigenschaften  und  Werte  ihren 
ganzen  Nutzen  zu  bewähren  haben.  Die  kommenden 
Zeiten  werden  sich  eines  jeden  annehmen,  der  dessen 
würdig  erscheint  und  ihn  in  Liebe  emporheben.  Aber 
auch  diesen  gegenüber  werden  sie  sich  die  größte  Zu- 
rückhaltung auferlegen  und  die  größte  Vorsicht  walten 
lassen.  Grundsätzlich  werden  sie  auf  bloße  Worte  bei 
niemandem  etwas  geben,  aus  welchem  Stande  er  auch 
sein  mag;  schlauen  Umtrieben  wie  äußeren  Lockungen 
gegenüber  werden  sie  sich  unzugänglich  zeigen,  und  sie 
werden  niemandem  eher  vertrauen  als  bis  er  seine  Ver- 
dienste bewährt  hat.  Schon  das  kindliche  Alter  wird  die 
Scheu  vor  verwirrenden  und  irreführenden  Namen  und 
Begriffen  und  die  Liebe  zur  Wahrhaftigkeit  lernen.  „Man 
wird  die  Arbeit  eines  Abtrittreinigers  höher  stellen  als 
die  eines  Schwätzers  und  Schiebers,  man  wird  krankhafte 


J)  D.  111.  S.  199,  Sep.-Ausg.  S.  186-187.     *)  D.  111.  S.  203,  Sep  -Ausg.  S.  190. 

201 


Verirrungen  minder  verpönen  als  Üppigkeit  und  Schau- 
stellungen, man  wird  Matrosenbordelle  milder  beurteilen 
als  Stätten  gemeiner  Kunstverzerrung1)."  Aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  werden  Entgleisungen  nicht  so  oft 
vorkommen  wie  eben  in  unseren  Tagen,  wo  so  häufig 
gerade  die  seelen-  und  herzlosen  Menschen  die  höchsten 
Stellungen  einnehmen  und  sich  doch  so  manche  Persön- 
lichkeit in  den  unteren  Klassen  finden  würde,  die  sich 
heute  mit  einem  verpfuschten  Leben  abfinden  muß, 
während  ihr  doch  die  heilige  Flamme  der  Begeisterung 
schon  aus  den  Augen  leuchtet. 

Doch  ein  Einwurf  ist  vorauszusehen.  Kann  es  nicht 
geschehen,  daß  die  Gesellschaft  und  die  Kultur,  solcher 
Triebkräfte  beraubt,  eines  schönen  Tages  plötzlich  ganz 
stillesteht?  Sind  nicht  vielleicht  dann  auch  gleichzeitig 
die  geistigen  Güter  in  Gefahr?  Nein  und  abermals  nein! 
Das  hieße  behaupten,  daß  wir  nicht  anders  als  aus  ge- 
meiner Feigheit  sittlich  handeln  können  und  wir  der 
Schlechtigkeit  bedürfen,  um  zu  leben!  Ja,  ganz  gewiß, 
im  Leben  des  Alltags  wird  die  Arbeit  häufig  mehr  zur 
Last  als  zur  Freude,  und  überall  wütet  hinterlistig  und 
mörderisch  der  Daseinskampf.  Wehe  dem,  der  strauchelt! 
Doch  an  dem  Tage,  wo  einmal  die  klug  gewordene  Ge- 
seilschaft weiter  nichts  als  die  Summen,  die  ein  Kriegs- 
monat kostet,  für  die  heilige  Aufgabe  verwenden  wird 
den  Daseinskampf  aller  Arbeitenden  über  die  nackte  Le- 
bensgefahr emporheben,  an  d  e  m  Tage  erst  kann  dieser 
Daseinskampf  seine  empfindlichste  Bitterkeit  und 
Schmerzhaftigkeit  verlieren.  Erst  an  jenem  Tage  wird 
die  gemeinsame  Arbeit  durch  die  schon  heute  bekannten 
Gesetze,  die  vorläufig  nur  jede  Arbeit  höherer,  also 
wissenschaftlicher  oder  künstlerischer  Art  bestimmen,  ge- 
adelt werden.  An  sich  ist  alles  Schaffen  edel,  das  keinen 
anderen  Zweck  kennt  als  sich  selbst,  alles  Schaffen  ge- 


J)  D.  Hl.  S.  205,  Sep.-Ausg.  S.  192. 
202 


ring,  das  nur  einen  Nützlichkeitszweck  verfolgt  und  nur 
durch  Angst  oder  Gewinnsucht  zustande  kommt.  Der 
Mensch  bekommt  schon  von  der  Natur  mit  der  Geburt 
seinen  Beruf  mit.  Da  sind  die  geborenen  Genies  und 
Talente,  da  sind  der  geborene  Soldat  und  Geistliche,  der 
geborene  Buchdrucker,  Schachspieler  und  Stenotypist. 
Freiheit  von  Not  und  Fron,  Freiheit  der  Berufswahl 
ist  nötig.  Werden  diese  beiden  Forderungen  erfüllt, 
werden  auch  wieder  Menschen  wieder  so  arbeiten,  wie 
wir  es  an  den  Handwerkern  der  alten  Zeit  und  ihren  un- 
sterblichen Werken  nicht  genug  bev/undern  können:  mit 
Liebe. 

Wenn  wir  einmal  aufrichtig  sein  wollen,  so  müssen 
wir  doch  zugeben,  daß  weder  Eitelkeit  noch  Ehrgeiz  schon 
jemals  etwas  Großes  geleistet  haben.  Eitelkeit  erfordert 
ein  Leben  für  sich,  ein  zweites  Leben  neben  dem  des 
Schaffens,  ein  Leben,  das  einem  in  jedem  Augenblick 
die  Muße  gewähren  muß,  mit  sich  selbst  prunken  zu 
können.  Damit  sinkt  der  Respekt  vor  der  Wahrheit  und 
Notwendigkeit  dahin,  Dinge  und  Menschen  werden  zu 
bloßen  Mitteln  herabgedrückt,  und  ihr  Selbstzweck  geht 
verloren,  der  Entschluß  verliert  Charakter  und  Richtung 
und  wird  zum  bloßen  Spiel.  Wer  Jahre  und  Jahrzehnte 
am  kläglichen  Werk  seiner  Laufbahn  gearbeitet  hat,  dem 
ist  Welt  und  Leben  nicht  mehr  der  Herrgottsgarten,  son- 
dern eine  bretterne  Bühne  der  Kabale  und  Intrige.  Sein 
Auge  wird  den  reinen  Glanz,  sein  Arm  die  sehnige  Kraft 
und  sein  Herz  den  kindlichen  Willen  verlieren,  der  nötig 
ist,  um  Saat  zu  segnen  und  —  Ernte.  Das  Werk  verlangt 
den  ganzen  Menschen,  verlangt  ihn  bei  Tage  und  Nacht, 
und  hinter  dieser  Aufgabe  bleiben  die  Stärksten  und  Be- 
gabtesten zurück,  wenn  sie  gleichzeitg  nur  immer  daneben 
ihr  eigenes  Vorwärtskommen  im  Auge  haben.  Aber  auch 
Ehrgeiz  hat  noch  niemals  etwas  Dauerndes  geschaffen. 
Wer  das  Beispiel  jenes  gewaltigen  Dämons  von  Korsen 
anführen   wollte,   der  wäre   vollkommen   in   die   Irre   ge- 

203 


gangen.  Wenn  der  Fanatismus  dieses  Riesen  die  Welt 
aufgewühlt  hat,  so  war  das  darum,  weil  er  allerdings  — 
das  muß  man  ihm  lassen  —  zu  jenen  gehörte,  die  nicht 
sich  selbst,  sondern  der  Sache  leben.  Ein  vielleicht  wahn- 
sinniger, aber  jedenfalls  wahrhaft  königlicher  Fanatismus. 
Nicht  um  der  Oper  willen  im  Heiligtume  von  Notre- 
Dame  oder  um  des  feierlichen  Gepränges  willen  in  Erfurt 
hat  Napoleon  sich  selbst  jedes  menschliche  Gefühl  aus 
dem  Herzen  gerissen,  sondern  einzig  und  allein  für  die 
Macht  des  Kaisertumes. 

So  gibt  es  nur  eine  Kraft,  die  darauf  aufgebaut  ist 
und  ein  Recht  hat,  Autorität  und  Macht  für  sich  selbst 
zu  fordern,  und  das  ist  die  Verantwortung.  ,,Nie  wird  sie 
Macht  fordern  um  des  Menschen  und  seiner  Freude 
willen.  Verantwortliche  Herrschaft  ist  Dienst,  doch  nicht 
der  mystische  Dienst  eines  Despotengottes,  der  Willkür 
verleiht,  weil  er  Willkür  übt,  der  Anbetung  verleiht,  weil 
er  Anbetung  fordert,  sondern  Dienst  am  idealen  Gedan- 
ken, der  die  andern  zum  gemeinsamen  Werk  emporreißt. 
Verantwortliche  Herrschaft  macht  den  König  zum  Knecht, 
den  Knecht  zum  König,  nicht,  um  von  ihm  bestimmt  zu 
werden,  sondern  um  ihn  im  Geist  zu  seinesgleichen  zu 
erhöhen.  Sie  verlangt  nicht  Unterwerfung  und  Gehor- 
sam, sondern  Mitwirkung  und  Folge;  Kniefall  und  Buhler- 
schaft ist  ihr  verächtlich,  Pomp  und  Götzenweihe  ein 
Greuel.  Wer  Lust  hat,  über  Sklaven  zu  herrschen,  ist 
selbst  ein  entlaufener  Sklave.  Frei  ist,  wem  Freie  willig 
folgen  und  wer  Freien  willig  dient1)."  Die  Freude  des 
Despotismus  ist  die  Freude  an  der  Selbstüberhebung,  das 
Vergnügen  an  der  menschlichen  Gemeinheit,  an  Glanz, 
Ruhm  und  Neid.  Die  Freude  der  Verantwortung  ist 
Freude  an  der  Gefahr,  an  Arbeit  und  Sorge,  und  Freude 
am  Schaffen.  Ehrgeiz  fördert  Schwache  und  Toren 
ans  Licht,  Wille  zur  Verantwortung  offenbart  die  Fähigen 


•)  D.  Hl.  S.  211,   Sep.-Ausg.  S.  198. 


204 


und  Erwählten.  Sie  wird  der  Welt  an  Stelle  irreführender 
Urinstinkte  die  höheren  Impulse  geben,  ohne  die  sie  nicht 
vorwärts  kommen  kann. 

Das  ganze  Leben  wird  sich  umgestalten,  sobald  diese 
Grundsätze  Anwendung  finden  werden.  Nicht  der  Kampf 
ums  Dasein  vergiftet  in  Wahrheit  das  Leben;  weit  mehr 
tut  das  der  Kampf  um  die  Kleinigkeiten,  die  Eitelkeiten, 
die  Nichtigkeiten,  den  Tand  und  das  Nichts.  Ins  äußere 
Leben  wird  wieder  Ruhe  einkehren,  sobald  wir  einmal 
den  grellen  Verlockungen  und  Reizen  gegenüber  un- 
empfindlich bleiben  werden,  sobald  der  aufdringliche 
Bettel  und  Schrei,  die  freche  Anpreisung  der  Verkäufer 
nicht  mehr  als  etwas  Selbstverständliches  gelten  v/erden. 
Dann  wird  uns  auch  nicht  mehr  Not  drohen,  und  so  wer- 
den wir  auch  nicht  mehr  die  frühere  Ausrede  haben,  wie 
damals,  zu  drängen  und  zu  schieben  und  unsern  Nächsten 
zu  überrennen.  Arbeit  wird  ernst,  still  und  würdig  wer- 
den, da  wir  ja  schon  von  selbst  nicht  mehr  das  Über- 
flüssige zu  begehren  brauchen  und  die  Begehrlichkeiten 
der  anderen  auch  schon  nicht  mehr  alle  Quellen  des  Be- 
hagens erschöpfen  werden.  Die  Stätten  des  giftigen 
Luxus,  der  verpesteten  Freuden  und  der  geistlosen  Ver- 
gnügungen werden  abwandern,  zunächst  nur  nach  Vor- 
städten und  Mittelpunkten  der  Industriearbeit,  dann  nach 
dem  Balkan  und  schließlich  bis  tief  in  die  tropischen  Be- 
zirke. Freien  Zutritt  zu  ihnen  wird  natürlich  jeder  haben, 
der  sich  außerhalb  jeder  Kulturgemeinschaft  stellen  will. 
Dann  werden  auch  die  Frauen  ihre  bunten  Flitter,  Vogel- 
federn und  glänzenden  Kiesel  freudig  ihren  schwarzen 
Schwestern,  den  Negerweibern,  überlassen.  Bereicherung 
wird  dann  nicht  mehr  als  ein  allgemeines,  natürliches  und 
erlaubtes  Ziel  gelten.  Technik,  dieser  Schlüssel  zur  Welt 
der  Mechanik,  wird  uns  auch  fernerhin  dazu  dienen,  den 
Menschen  immer  mehr  in  seinen  physischen  Tätigkeiten 
zu  entlasten,  doch  werden  die  materiellen  Vervollkomm- 
nungen gleichwohl  nicht  mehr  als  höchste  Ideale  gelten. 

205 


Der  Verkehr  unter  den  Menschen  wird  ein  ganz  anderer 
werden.  Heute  ist  die  Stimmung  menschlicher  Beziehung 
Fremdheit,  muß  also  auf  diese  Weise  Feindschaft  sein. 
Jedem,  den  wir  nicht  kennen,  dürfen  wir  im  Geschäfts- 
leben die  Karte  der  Interessen,  gemildert  durch  ein  ge- 
wisses Maß  rein  förmlicher  Höflichkeit,  entgegenkehren. 
Lernen  wir  uns  näher  kennen,  so  wird  die  Höflichkeit 
zur  Fratze  und  bleibt  nach  wie  vor  Feindschaft,  weil  sie 
ja  ihren  Ursprung  aus  dem  blutigen  Wirtschaftskriege  ab» 
leitet,  der  ja  auch  dann  noch  besteht.  Ebenso  wird  später 
auch  einmal  das  allgemeine  ewige  Mißtrauen  verschwindea. 
Wird  die  Menschheit  erst  einmal  durch  die  Gesetzgebung 
gegen  Armut  und  Krankheit  so  geschützt,  wie  sie  es  in 
unseren  Tagen  etwa  gegen  Mord  und  Diebstahl  wird, 
dann  wird  auch  die  Zeit  aufhören,  daß  ein  Mensch  für 
den  anderen  zum  Geier  wird  und  sich  die  Völker  in  Ra- 
serei aufeinanderstürzen.  Das  allerinnerlichste  Gefühl 
aber  wird  das  der  Solidarität  sein.  Unsere  Handlungen 
werden  ihre  Richtschnur  finden  „im  Bewußtsein  der 
Gottespflicht,  die  uns  in  dieses  Leben  gestellt  hat,  die  uns 
verantwortlich  macht  für  die  Verwaltung  und  Gestaltung 
jeder  Sehne  unseres  Leibes  und  jeder  Fühlung  unsres 
Geistes,  die  von  uns  fordert  nach  dem  Gesetze  der  Ver- 
göttlichung den  Aufstieg  vom  tierischen  zum  geistigen, 
vom  geistigen  zum  seelischen  Dasein1)." 

Dieses  Reich  der  Seele  nun  wird  unserem  Sittenleben 
seine  Einheit  und  sein  ins  Wanken  gekommenes  Gleich- 
gewicht wiedergeben.  Dereinst  wurden  ihnen  diese  durch 
die  Religion  und  später  durch  die  Vernunft  gesichert. 
Aber  die  Religionen  sind  ja  nicht  mehr  von  der  Prophetie 
belebt,  haben  sich  vielmehr  zu  Dogmen  und  Kirchen  ent- 
wickelt. Die  moderne  Wissenschaft  hat  jene  Naivität  des 
Denkens  in  uns  vernichtet,  ohne  die  nun  einmal  die  Reli- 
gionen nicht  leben  können.     Die  Obmacht  der  Vernunft, 


»)  D.  m.  S.  217,  Sep.-Ausg.  S.  203. 
206 


die  heute  ihre  Stelle  einnimmt,  ist  nicht  weniger  gebrech- 
lich, weil  diese,  unfähig  bis  zum  Wesen  der  Dinge  vorzu- 
dringen, es  nicht  hat  erreichen  können,  eine  Sittenlehre 
oder  eine  Philosophie  zu  begründen,  die  nicht  der  Kritik 
unterworfen  wäre.  Der  schauenden  Kraft  oder 
seelischen  Einsicht,  wie  wir  das,  was  lange 
unter  der  Bezeichnung  Intuition  verstanden  worden 
ist,  im  Sinne  Walther  Rathenaus  nennen  möchten,  fällt  in 
Zukunft  diese  Aufgabe  zu,  und  sie  wird  sich  ihrer  schon 
zu  entledigen  wissen.  Es  gibt  keine  Frage,  die,  bezöge 
sie  sich  auch  auf  die  fernsten  und  geringfügigsten  Gegen- 
stände, wenn  sie  in  diesen  göttlichen  Seelen-  und  Liebes- 
quell untertaucht,  nicht  in  ihm  den  Kern  von  Wahrheit 
und  Bedeutung  spiegelte,  den  sie  in  sich  einschließt.  Alle 
Werte  stufen  sich  ab  und  alle  Urteile  gewinnen  die  Le- 
benskraft der  Gefühle.  Es  ist  nicht  zu  befürchten,  daß 
das  Denken  und  Leben  in  einer  Art  quietistischer  Be- 
schaulichkeit erschlaffe.  Je  mehr  wir  meditativem 
Schauen  Raum  geben,  je  häufiger  unser  mühseliges  Urteil 
durch  die  reine  Erkenntnis  berichtigt  wird,  desto  leiser 
und  sicherer  fühlen  wir,  arbeitet  unser  Intellekt,  desto 
tiefer  versinkt  er  in  die  Sphäre  der  Gewißheiten.  Es 
soll  damit  nicht  etwa  der  Triumph  einer  Abnahme  an  in- 
tellektualem  Denken  vorbereitet  werden,  sondern  der 
Sieg  des  psychologischen  Urteils  des  Allerweltsintellekts. 
Anstatt  daß  heute  alles,  was  nur  irgendwie  denkbar  ist, 
bewiesen  wird,  wird  in  Zukunft  eine  sichere  Richtschnur 
ermöglichen  ohne  jedes  Schwanken  Gut  und  Böse  zu 
unterscheiden.  Wir  brauchen  nicht  zu  befürchten,  daß 
uns  die  Beseitigung  von  Haß  und  Gleichgültigkeit  ver- 
hängnisvoll werden  könnte.  Im  Gegenteil:  Nihilismus  und 
materieller  Afterglaube  werden  alle  Daseinsberechtigung 
verlieren,  denn  die  Verzweiflung  wird  schwinden,  die  zur 
Verleugnung  treibt,  und  die  Not,  die  alle  abergläubischen 
Betteleien  und  seichten  und  abgedroschenen  Gebete  um 
irdischen  Vorteil  lehrt,  und  der  Geist  des  Dankes  und  der 

207 


Hingebung,  des  Schweigens  und  der  Liebe  wird  zum  Him- 
mel emporsteigen  in  wahrhaftiger  Transzendenz. 

Eine  neue  Religion  wird  erstehen  zu  ewigerem  Leben 
und  weiterer  Verbreitung  als  die  der  verschiedenen  Kir- 
chen. „Ich  halte,"  schreibt  Walther  Rathenau,  „die  Kir- 
chen für  irdische  Formen  —  Mechanisierungsformen 
nannte  ich  sie  — ,  die  den  reinen  Glauben  umschließen, 
ihn  gegen  den  Abbruch  der  Zeiten  schützen,  ihn  den 
Mengen  nach  Art  und  Begabung  anpassen.  Ich  glaube  an 
die  Dauer,  die  heilige  Aufgabe  und  die  wachsende  Ver- 
geistigung der  Kirchen  und  preise  zumeist  diejenigen,  die 
ein  lebendiges  Dasein  der  Erneuerung  und  Entwicklung 
sich  organisch  bewahren.  Ich  glaube  aber  auch  an  die 
Möglichkeit  des  kirchenlosen  Glaubens,  der  freien  Ge- 
meinde und  des  persönlichen  Bekenntnisses.  Ich  erblicke 
das  Maß  der  irdischen  Glaubenskraft  nicht  in  der  Be- 
kennerzahl einzelner  Religionsformen,  sondern  in  der 
Intensität  der  religiösen  Durchdringung  des  Lebens1)." 
Das  Evangelium  Glaube,  Hoffnung  und  Liebe,  das  der 
letzte  Prophet  den  Jahrtausenden  zugerufen  hat,  es  bleibt 
ewig  lebendig.  Unser  Zeitalter  hat  diese  drei  Tugenden 
zu  verhöhnen  und  einen  kümmerlichen  Rest  wahrer  Chri- 
stenliebe als  schwimmendes  Friedenseiland  auf  den  stür- 
mischen Wogen  des  Meeres  der  Begierden  bei  dem  reli- 
giösen Schiffbruch  treiben  zu  lassen  vermocht.  Aber 
seien  wir  sicher:  sie  sind  nicht  untergegangen  und  wer- 
den alle  drei  wieder  auftauchen,  um  uns  nunmehr  als  Leit- 
sterne zu  leuchten,  im  sozialen  Sinne  unseres  wirtschaft- 
lichen Lebens  umgedeutet. 

Es  bleibt  den  Skeptikern  überlassen  auf  Grund  der 
sich  ewig  gleichbleibenden  Menschennatur  die  Möglich- 
keit einer  solchen  Umdeutung  zu  bezweifeln.  Darum 
handelt  er  sich  ja  gar  nicht.  Was  bedeutet  die  Ruhe  auf 
dem   Grunde   der   Meerestiefe,   wenn   an  der   Oberfläche 


l)  Eine  Streitschrift  vom  Glauben  S.  40-41. 
208 


fortwährende  Veränderungen  vor  sich  gehen?  Das 
Seelenleben  der  Menschen  wird  weiter  schwanken,  wie 
immer  wieder  seit  den  ältesten  Zeiten.  Eines  Tages  wer- 
den unsere  Nachkommen,  wenn  sie  an  unser  Zeitalter  zu- 
rückdenken, nicht  weniger  erstaunt  sein  als  wir  selbst 
sind,  wenn  wir  versuchen,  uns  die  vorgeschichtlichen  Zei- 
ten lebendig  zu  machen,  in  denen  der  aufrechte  Gang,  das 
Eisen  und  die  Sprache  aufkamen.  Es  braucht  nicht  ge- 
sagt zu  werden,  daß  die  Menschheit  gezwungen  werden 
sollte,  sich  auf  eine  unbekannte  Bahn  zu  wagen  und  auf 
ein  ihren  Begierden  entgegengesetzes  Ziel  loszugehen.  Im 
privaten  wie  im  politischen  Leben  handelt  nun  einmal  der 
Mensch  heute  nicht  mehr  mit  der  Unabhängigkeit  eines 
für  sich  lebenden  Einzelwesens,  sondern  unter  dem  steten 
Zwange  sich  selbst  nur  als  Teilchen  einer  höheren  Ein- 
heit betrachten  zu  müssen.  In  demselben  Augenblick, 
wo  diese  Auffassung  auch  auf  das  wirtschaftliche  und  so- 
ziale Leben  ausgedehnt  wird,  in  demselben  Augenblick 
wird  auch  die  Anarchie  und  Zügellosigkeit,  die  hier  herr- 
schen, auch  hier  einer  höheren  Freiheit  Platz  machen. 
Eine  neue  Aera  wird  sich  anbahnen,  in  der  das  Eigentum 
nur  noch  als  die  Verwaltung  eines  uns  anvertrauten  Gutes 
betrachtet  werden  und  es  kein  Dasein  und  keine  Arbeit 
mehr  geben  wird,  die  als  ihr  einziges  Ziel  den  Genuß,  den 
Gewinn  und  die  Macht  kennen. 

Sollen  wir  nun  durch  Gesetze  und  Einrichtungen, 
durch  Vorkampf  und  Werbung,  durch  Vorbild  und  Kund- 
gebung das  Kommende  beschleunigen?  Diese  Anwan- 
delung  einer  unmittelbaren  Willensäußerung  wird  auch 
uns  nutzlos  erscheinen,  wenn  wir  uns  nur  daran  erinnern, 
daß  die  neue  Gesinnung,  die  das  Aufkommen  der  neuen 
Einrichtungen  bestimmt,  schon  ganz  von  selbst  nach  eini- 
gem Widerstreben  dem  allgemeinen  Weltenlaufe  ge- 
horcht. Sie  gehorcht  ihm  nicht  anders  wie  die  Uhr  der 
Feder,  durch  die  dieselbe  in  ihrem  Innern  getrieben  wird. 
Kein  Vorstellen  der  Zeiger  kann  die  Bewegung  des  Räder- 

u  209 


Werkes  auch  nur  irgendwie  beschleunigen.  Lassen  wir 
doch  das  wirtschaftliche  Gewissen  ruhig  und  langsam 
wachsen  und  reifen.  Die  Verkündigung  des  Reiches  der 
Seele  ist  geschehen,  die  vorübergehenden  Widerstände 
einiger  noch  immer  verschlossener  Geister  können  seine 
Verwirklichung  doch  nicht  hemmen,  wenn  erst  die  Stunde 
seiner  nun  einmal  unaufhaltsamen  Vollendung  geschlagen 
haben  wird.  Wenn  sich  jedoch  solche  sittlichen  Umwand- 
lungen auf  wirtschaftlichem  und  sozialem  Gebiete  voll- 
ziehen sollen,  müssen  zunächst  erst  die  Hindernisse  be- 
seitigt werden,  die  ihnen  in  seiner  gegenwärtigen  Gestalt 
und  Auffassung  der  Staat  unfehlbar  in  den  Weg  legen 
würde.  Wenn  es  erst  gilt,  das  lecke  Boot  unserer  Ge- 
sellschaft im  Transzendenten  und  Absoluten  zu  ver- 
ankern, wenn  uns  erst  die  gestaltende  Kraft  einer  neuen 
Ethik  nottut,  dann  kann  auch  der  Staat  nicht  mehr  in  die- 
ser Mischung  von  Ueberliefertem  und  notdürftig  Zuläng- 
lichem beharren  und  sich  mit  ihr  immer  weiter  dahin- 
schleppen.  Die  ethische  Erneuerung  aber  muß,  wenn  sie 
Bestand  haben  soll,  von  einer  politischen  begleitet  sein. 


210 


Kapitel  VII. 

Die  politische  Erneuerung 

Der  Leser  wird  sich  noch  einmal  vor  Augen  zu  füh- 
ren haben,  eine  wie  hervorragende  Rolle  der  Staat  in  dem 
Denken  eines  Walther  rvathenau  spielen  muß.  Der  neue 
Staat  wird  bei  ihm  zum  bewegenden  Mittelpunkte  alles 
wirtschaftlichen  Lebens;  was  die  Gesellschaft  treibt  und 
schafft,  geschieht  ausschließlich  durch  ihn  und  um  seinet- 
willen; er  verfügt  über  Kräfte  und  Mittel  seiner  Glieder 
mit  größerer  Freiheit  als  sämtliche  alten  Monarchien; 
der  größere  Teil  des  Wirtschaftsüberschusses  fließt  ihm 
zu;  in  ihm  verkörpert  sich  der  ganze  Wohlstand  des  Lan- 
des. Nun  ist  bekannt,  was  für  Opfer  der  Krieg  von  der 
Gesamtheit  fordern  sollte.  Und  schon  daraus  ergibt  sich 
sogleich  mit  Notwendigkeit,  daß  der  Staat  in  seinem  gegen- 
wärtigen Aufbau  dem  Untergange  geweiht  sein  muß.  Die- 
ser zum  sichtbar  gewordenen  gesamten  Volkswillen  er- 
hobene Staat  kann  kein  Klassenstaat  sein.  Herrschten 
in  ihm  weiterhin  ständische  Schichtungen  oder  wie  immer 
geartete  bevorrechtete  erhebliche  Mächte,  so  wäre  die 
Unfreiheit,  unter  der  Deutschland  litte,  zur  Unerträglich- 
keit  und  zur  Vernichtung  des  innersten  Gedankens  wie 
der  äußeren  Existenz  gereift.  Wie  sollten  auch  die  in 
Zukunft  erforderlichen  Opfer  von  Klasse  zu  Klasse  ver- 
langt werden?  Nein,  nur  das  gesamte  Volk  kann  diese 
Opfer  ausschließlich  wieder  von  sich  selbst  verlangen  und 
an  sich  selbst  gewähren.  ,,Es  wäre  das  schwerste  Un- 
recht und  die  ungeheuerste  Verantwortung,  wenn  nach 
orientalischer    Art    erbliche    Kasten    die    Vormundschaft 

14*  211 


gottähnlicher  Macht  sich  anmaßten  und  namens  der  Gott- 
heit Opfer  verlangten,  die  der  Priester  verzehrt1)." 

Der  Staat,  der  allein  die  Möglichkeit  bietet,  seine 
heutige  Riesenaufgabe  zu  bewältigen,  ist  allein  der  Volks- 
staat. ,,Der  Volksstaat  setzt  voraus,  daß  jede  Bevölke- 
rungsgruppe in  ihm  zur  Geltung  komme,  daß  jede  berech- 
tigte Eigenart  des  Volkes  sich  in  seinen  Organisationen 
spiegle,  daß  jeder  verfügbare  Geist  der  ihm  adäquaten 
Aufgabe  dienstbar  gemacht  werde.  Wie  in  einem  ge- 
sunden Hausstand,  sollen  Arbeit,  Autorität,  Beziehung 
und  Verantwortung,  Stimmung,  Aufwand,  Gemeingefühi 
und  Vertrauen  in  harmonischer  Teilung  und  Vereinigung 
wirken,  nicht,  wie  in  einer  Fabrik,  wo  die  Schicht  der 
Besitzer  die  Erträge  bezieht,  die  Schicht  der  Beamten  die 
Verwaltung  leistet,  die  Schicht  der  Arbeiter  im  Tagelohn 
dient,  nicht,  wie  in  einer  Kolonie,  wo  unter  dem  Schutz 
der  Waffen  die  Gruppe  der  Freien  auf  der  Masse  der 
Heloten  ruht2)." 

,,Der  Staat  soll  sein  das  zweite,  erweiterte  und  ir- 
disch unsterbliche  Ich  des  Menschen,  die  Verkörperung 
des  sittlichen  und  tätigen  Gemeinschaftswillens.  Eine 
tiefe  Verantwortung  soll  den  Menschen  an  alle  Handlun- 
gen seines  Staates  binden;  die  gleiche  Verantwortlichkeit 
soll  ihm  bewußt  machen,  daß  jede  Handlung,  die  er  be- 
geht, eine  Handlung  des  Staates  ist.  Wie  im  Anblick  der 
transzendenten  Mächte  kein  Denken  oder  Handeln  ge- 
ring oder  indifferent  sein  kann,  so  gibt  es  innerhalb  des 
Staates  keinen  verantwortungslosen  Bereich.  Die  drei- 
fache Verantwortung:  den  göttlichen,  den  inneren  und 
den  staatlichen  Mächten  gegenüber,  schafft  jenes  wunder- 
volle Gleichgewicht  der  Freiheit,  das  nur  dem  Menschen 
beschieden  ist;  indem  wir  die  Richtung  des  Gewissens; 
zum  Staate  so  fest  gewinnen,  daß  die  Tendenz  ins  Un- 
bewußte   versinkt   und   zur   Natur   wird,    haben   wir   das 


l)  D.  III.  S.  311,  Sep.-Ausg.  S.  292.    *)  D.  III.  S.  259,  Sep.-Ausg.  S.  243. 
212 


Maß  der  Staatsgesinnung  geschaffen,  das  die  Nation  zur 
echten  überpersönlichen  Einheit  erhebt  und  unsterblich 
macht1)" 

Wenn  dem  so  ist,  wie  fern  steht  dann  diesem  Ideal 
Deutschland!  Wie  ist  es  selbst  in  bezug  darauf  anderen 
Völkern  gegenüber   zurück! 

Die  große  Bewegung,  die  zum  Schlüsse  des  18.  Jahr- 
hunderts überall  die  bis  zum  Zerreißen  verdünnte  und  ge- 
spannte Feudalschicht  zugunsten  der  ungebildeten  Mas- 
sen gesprengt  hat,  hat  auch  Deutschland  nicht  verschont, 
dieses  Volk  indessen  in  einer  ganz  eigenen  Weise  berührt. 
In  den  meisten  westeuropäischen  Ländern  vollzog  sich 
das  Empordringen  der  Unterschichten  zur  selbständigen 
historischen  Rolle  und  zur  Teilnahme  an  den  Staatsge- 
schäften mit  einer  geradezu  vulkanischen  revolutionären 
Gewalt.  In  Deutschland  hingegen  ging  es  nur  als  verspä- 
tete Nachwirkung  der  Stürme  in  den  Nachbarländern  ganz 
gemächlich  vor  sich,  so  daß  es  nur  von  Zeit  zu  Zeit  öfter 
einmal  in  örtlichen  Volkserhebungen  und  Kongressen,  in 
Parteikämpfen  und  Bürgerkriegen  in  die  Erscheinung  trat. 
So  bekamen  hier  die  Massen,  weil  sie  sich  nicht,  wie  wo 
anders,  mit  einem  Schlage  durchgesetzt  hatten,  auch  nicht 
die  Verantwortung  der  Herrschaft,  drangen  aber  dafür, 
wie  Wasser  bei  einer  Ueberschwemmung,  zäh,  langsam 
und  unbewußt,  zur  Oberfläche;  sie  empfingen  Herren- 
rechte, ohne  deshalb  Herrenpflichten  auf  sich  zu  nehmen. 
Die  herrschende  Kaste  nämlich,  zum  großen  Teile  aufge- 
sogen oder  auch  häufig  überflutet,  blieb  in  kleinen,  aber 
mächtigen  Resten  erhalten,  namentlich  auch  in  Preußen. 
Die  wirtschaftliche  Herrschaft  mußte  sie  mit  der  neuen 
plebejischen  Plutokratie  teilen,  die  Verwaltungsherrschaft 
trat  sie  zum  Teil  an  eine  Beamtenkaste  ab,  die  sich  be- 
mühte, sich  ihr  immer  mehr  zu  assimilieren,  aber  auf  dem 
Lande  behielt  sie  nach  wie  vor  ihre  erste  Stellung,  wi«  ihr 


l)  D.  III.  S.  273-274,  Sep.-Ausg.  S.  257. 

213 


auch  das  Verfügungsrecht  über  alle  Stellen  im  Heere  dank 
ihrer  Verbindung  mit  dem  Herrscherhause  gesichert  blieb. 
Vor  allem  gelang  es  auch  dieser  Adelskaste,  ihrem  Ge- 
blüte,  wenn  auch  nicht  die  unverfälschte  Reinheit,  so 
doch  eine  Art  höhere  Züchtung  zu  erhalten.  Man  muß 
bloß  mal  so  eines  der  vornehmeren  preußischen  Regi- 
menter beim  Vorüberziehen  betrachten.  Die  Offiziere  von 
stählerner  Schlankheit,  feinen  und  scharfen  Gesichts- 
zügen, tadelloser  Ausstattung  auf  edlem  Rassepferde,  die 
,, Kerls"  untersetzt,  plump  und  dick,  breit  und  schwer  jenen 
gegenüber  in  ihrer  Erscheinung  wirkend,  mit  vereinzelten 
Ausnahmen,  wenn  sich  einmal  zufällig  ein  Holsteiner  oder 
Friese  in  diese  Regimenter  verlaufen  hat,  und  es  wird 
einem  sogleich  auf  den  ersten  Blick  deutlich  werden,  daß 
sich  in  Deutschland  so  wie  in  keinem  zweiten  Lande  der 
Adelsdurchschnitt  von  dem  Volksdurchschnitt  abhebt. 

Damit  hängen  nun  wieder  gewisse  charakteristische 
Unterschiede  der  beiden  Klassen  in  ihrem  Temperament 
zusammen.  Der  gemeine  Mann,  der  sich  vollkommen  des 
Abstandes  zwischen  ihm  und  seinem  Vorgesetzten  be- 
wußt ist,  verehrt  diesen  mit  einer  schon  von  Vater  zu 
Sohn  ererbten  Unterwürfigkeit.  Er  läßt  sich  ruhig  mit 
Du  anreden,  von  dem  scharfen  Griff  der  weißen  Hand  zu- 
rechtrücken und  übt  bereitwillig  die  mit  dem  ganzen 
Körper  zu  leistenden  Ehren-  und  Dankesbezeugungen 
aus.  Nur  mit  einigem  Widerstreben  wird  er  dem  gebil- 
deten Vorgesetzten  aus  bürgerlichem  Stande  die  gleiche 
halb  unbewußte  Vergötterung  zollen  wie  dem  Junker, 
und  dieser  tritt  so  auf,  als  ob  er  gerade  wirklich  schon  mit 
der  Geburt  die  hundertjährige  Erfahrung  seiner  Rasse  mit- 
bekommen hätte.  Ja,  beim  Kirchgang  am  Sonntag,  da  be- 
trachtet er  wohl  allenfalls  seine  Leute  als  Seinesgleichen, 
in  der  Woche  aber,  da  sind  sie  seine  Schutzbefohlenen, 
die  er  besser  zu  führen  und  zu  versorgen  versteht  als  sie 
es  jemals  selbst  könnten.  Dieser  Verkehr  zwischen  Unter- 
gebenen  und  Vorgesetzten   gilt   einfach   als   etwas    Fest- 

214 


stehendes,  der  Kritik  überhaupt  nicht  Unterliegendes;  er 
trägt  im  wesentlichen  noch  immer  den  alten  patriarcha- 
lischen Charakter.  Unleugbar  schaffte  er  das  gehorsame 
und  geschmeidige  Volk,  das  wir  ja,  ach,  nur  zu  gut  kennen 
und  das  sich  so  recht  in  den  beiden  preußischen 
großen  Organisationen  widerspiegelt:  der  Armee  und  der 
Sozialdemokratie,  von  denen  die  eine  ländlichen  und  pri- 
mären, die  andere  städtischen  und  mechanisierten  Ur- 
sprungs ist.  Doch  dieses  hingebungsvolle  Unterschichten- 
und  Untertanenbewußtsein,  dieser  Autoritätsrespekt  unc: 
dieses  Abhängigkeitsgefühl  sind  in  ihrem  eigentlichsten 
Wesen  nicht  etwa  germanisch,  ihr  Ursprung  ist  slawisch. 
Diese  Züge  sind  in  die  Massen  gedrungen,  ohne  daß  die 
der  höherstehenden  germanischen  Rasse:  die  mystische 
Leidenschaft,  der  Schaffensdrang,  die  seelische  Sehnsucht 
und  die  seelische  Tiefe  und  Transzendenz  dieses  Bild 
irgendwie  bedeutsam  verschoben  hätten.  Gewiß,  die  ge- 
schilderten Qualitäten  schaffen  sicherlich  treue  Unter- 
tanenverbände, aber  das  letzte  Ziel  des  Staates  kann  doch 
unmöglich  der  Untertan  mit  seinem  „beschränkten  Unter- 
tanenverstand"  im  Sinne  des  vormärzlichen  preußischen 
Ministers  von  Rochow  sein.  Die  Gefahr,  die  Deutschland 
durch  seine  Massen  droht,  ist  Unselbständigkeit  und  Man- 
gel an  Selbstbewußtsein,  edlem  Stolz,  Verantwortungslust 
und  eigenem  Urteil.  Der  Deutsche  schätzt  die  Form  gering; 
denn  alle  Form  ist  Beschränkung,  Begrenzung  und  Ein- 
seitigkeit, alle  Form  beruht  auf  selbstgefälliger  Entschlos- 
senheit und  Bestimmtheit,  dann  aber  auch  allerdings  auf 
dem  Drange  zur  reinen  und  vollen  Weltharmonie;  weder 
in  Künsten  noch  in  Wissenschaften  noch  auch  auf  irgend- 
einem Gebiete  des  alltäglichen  Lebens  hat  er  formen- 
schöpferisch gewirkt,  er  hat  sich  hier  vielmehr  stets  da- 
mit begnügt,  Formen  auszunützen  oder  zu  vervollkomm- 
nen, die  andere  erfunden  hatten.  Er  hat  auch  keine  nen- 
nenswerte kolonisatorische  Kraft  entfaltet,  da  er  nun  ein- 
mal keine  Herrennatur,  auch  nicht  im  edelen  Sinne  des 


Wortes  ist.  Er  ist  meist  kleinlich,  äußerlich  und,  um  sich 
für  seine  dürftige  Lage  zu  entschädigen,  auf  den  äußeren 
Schein  erpicht  und  neidisch;  er  könnte  es  nicht  ertragen, 
daß  einmal  ein  einstiger  Leidensgefährte  von  ihm  es  zu 
Wohlstand  oder  Macht  bringen  und  sich  nun  an  jene 
olympische  Tafel  setzen  und  auf  ihn  verächtlich  herab- 
blicken sollte,  ganz  anders  als  der  Amerikaner  mit  sei- 
ner naiven  Freude  den  ehemaligen  armen  Zeitungsjungen, 
den  er  einst  auf  den  Straßen  herumlungern  gesehen  hatte, 
um  zu  allen  Tagesstunden  seine  Zeitungen  auszubrüllen, 
nunmehr  auf  der  Höhe  seines  Lebens  als  vielfachen  Mil- 
liardär zu  begrüßen. 

Diese  Fehler  und  Mängel  drücken  auf  die  politische 
Tätigkeit  der  verschiedenen  Klassen  des  deutschen  Vol- 
kes. Das  städtische  Proletariat  und  der  kleine  Mittel- 
stand leben  in  einem  unausweichlichen  Abhängigkeitsver- 
hältnisse; im  bürgerlichen  Leben  gehorchen  sie  dem  Be- 
amten in  seiner  Schreibstube,  in  der  Werkstatt  dem 
Direktor,  Betriebsingenieur  und  Zwischenmeister,  im  Mi- 
litärdienst dem  Leutnant  und  Unteroffizier.  Wenn  sich 
der  Untergebene  selbst  wirklich  einmal  auflehnen  sollte, 
so  ist  diese  Auflehnung  dann  nicht  etwa  ein  Pochen  auf 
sein  freies  Recht,  sondern  eine  tatsächlich  bewußte,  mit 
einem  Reste  von  bösem  Gewissen  begangene  Rebellion. 
Ist  eine  solche  Rebellion  organisiert,  wie  bei  der  Sozial- 
demokratie, so  nimmt  sie  auch  wohlweißlich  wiederum 
sogleich  die  Form  der  Subordination  an,  aber  auch  in  an- 
derem Falle  sinkt  sie  bald  auf  den  Ton  wehrlosen  Dienst- 
botenklatsches und  trauriger  kannegießender  Nörgelei  her- 
ab. Kein  Weg  führt  zu  den  oberen  Bezirken.  Reichtum 
und  Bildung  umgeben  diese  höheren  Regionen  mit  gläser- 
nen Mauern,  und  die  tiefe  Kluft  zwischen  beiden  Seiten 
wird  hier  auch  nicht  durch  irgendeinen  Zug  von  Gut- 
mütigkeit und  Zutunlichkeit,  wie  in  manchen  südlichen 
Ländern,  überbrückt.  Und  für  die  großbürgerlichen  Schich- 
ten sinnbildlich  stellt  sich  deren  Haltung  in  der  ihres  frak-. 

216 


tionellen  Abbildes  im  deutschen  Reichstag,  der  national- 
liberalen  Gruppe  in  demselben,  dar.  Diese  Gruppe  vertritt 
die  großbürgerliche  Intelligenz,  aber  auch  die  Interessen  des 
Kapitalismus;  sie  hütet  das  alte  liberale  Ideal,  aber  die- 
ses Ideal  gedämpft  durch  allerhand  Zugeständnisse  an  die 
bestehenden  staatlichen  Mächte  und  allerlei  Vergleiche 
mit  ihnen;  sie  neigt  zu  freier  und  vorurteilsloser  Abgabe 
ihrer  Meinung,  aber  sie  bedarf  der  Mittel  und  Kräfte  sie 
bevorrechtender  Beschützer.  Sie  könnte  die  Entscheidung 
in  Händen  haben  und  hat  statt  dessen,  wenn  auch  unfrei- 
willig, dem  Feudalismus  gedient,  doch  ohne  irgendwelchen 
Dank.  So  fehlt  doch  im  Grunde  genommen  dieser  Partei 
jedes  wärmere  und  tatkräftigere  Interesse  für  Politik,  und 
nicht  anders  steht"  es  mit  dem  Stande,  den  sie  vertritt. 
Für  Verwaltung  und  auswärtige  Angelegenheiten  sorgen 
ja  doch  Fachleute,  und  so  kann  man  sich  ruhig  darauf  be- 
schränken, seine  privaten  Angelegenheiten  wahrzuneh- 
men und  die  anderen  ruhig  guten  Gewissens  diesen  tüch- 
tigen Fachleuten  überlassen.  Von  Zeit  zu  Zeit  erlaubt 
man  sich  wohl  einmal  etwas  zu  kritisieren  und  besonders, 
wenn  die  lieben  eigenen  persönlichen  Angelegenheiten  be- 
rührt werden,  sogar  Einspruch  zu  erheben  und  selbstän- 
digen Einfluß  zu  nehmen.  Sonst  im  allgemeinen  hat  man 
andere  Sorgen.  Da  handelt  es  sich  vor  allem  um  die 
Stellung  und  die  Karriere.  Man  sieht  doch  die  guten  Be- 
ziehungen gar  zu  gern  und  muß  doch  die  vornehmen  Re- 
gimentskameraden des  Sohnes  und  die  Verwandten  des 
Schwiegersohnes  bewirten,  und  auf  sie  Rücksichten  man- 
cherlei Art  nehmen!  Ohnehin  bleiben  mitunter  kleine  Er- 
zrehungsmängel  und  auch  einige  kleine  zu  ergänzende 
Bildungslücken  zu  vertuschen!  Gewiß,  es  finden  sich 
auch  in  den  großbürgerlichen  Schichten  Söhne  aus  alten, 
reichen,  echten  bürgerlichen  Patrizierhäusern,  doch  bleibt 
es  darum  nicht  weniger  wahr,  daß  diese  Klasse  nur  allzu 
sehr,  leider  nur  allzu  sehr,  die  Gewohnheiten  eines  Kost- 
gängers   der    Geschlechtsaristokratie    angenommen    hat. 

217 


Alles  in  allem  sind  die  Mängel  des  deutschen  Charak- 
ters ausgesprochenermaßen  die  gleichen,  die  ein  Volk  für 
eine  politische  Tätigkeit  ungeeignet  machen  müssen.  Bis- 
marck  beklagte  sich  nur  zu  berechtigt  in  bitteren  Tönen 
über  die  so  unreife  deutsche  öffentliche  Meinung,  die 
kein  Verständnis  für  sein  Werk  zeigte  und  ihn  nur  bloß- 
stellte. Erst  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  ist  das  deut- 
sche Volk  zur  Nation  und  viel  später  erst  zum  Staate, 
aber  auch  dann  noch  nicht  zum  modernen  Staate  geworden. 
So  besteht  in  Preußen-Deutschland  nur  eine  einzige  wahr- 
haft politische  Macht:  der  konservative  Feudalismus1). 
Das  Volk  folgt  der  Autorität,  ursprünglich  der  der 
Feudalen  und  Geistlichen  und,  wo  es  ihr  entfremdet  wird, 
der  agitatorischen.  Der  Sozialismus  verfügt  über  Mas- 
sen, die  er  beliebig  leiten  und  lenken  kann,  und  über  Inter- 
essen, die  er  zu  vertreten  und  zu  verteidigen  hat,  aber 
er  verfügt  nicht  über  eine  selbständige  geistige  Welt- 
anschauung2). Der  organisierte  Katholizismus  stellt  die 
konfessionellen  Interessen  über  die  politischen.  Der  Feu- 
dalismus allein  besitzt  eine  historisch-religiöse  Weltan- 
schauung, die  sich  aufs  glücklichste  mit  seinen  politisch- 
materiellen Interessen  vereinigt.  Er  verfügt  über  die  be- 
stehende Exekutivgewalt,  ist  verbündet  mit  dynastischen, 
militärischen  und  familiären  Mächten  und  zwingt  den 
mächtigsten  Teil  des  Bürgertums  in  seine  Gefolgschaft. 

War  denn  nun,  all  dies  erwogen,  die  ganz  Deutsch- 
land durchzitternde  Begeisterung,  mit  der  es  in  jenen  un- 
vergeßlichen Augusttagen  des  Jahres  1914  in  den  Krieg 
zog,  wirklich  berechtigt?    Von  dem  Siege,  der  nicht  einen 


*)  Hat  sich  ja  hoffentlich  für  immer  gewendet  1  Man  muss  natürlich 
daran  denken,  wie  weit  einige  der  Rathenau'schen  Ausführungen  aus 
seinem  genialen  Werke  .Von  kommenden  Dingen*  bis  tief  in  die 
Vorkriegszeit  zurückreichen.  Bearbeiter.  a)  Hier  muss  schon  ein  leises 
Oho  des  deutschen  Bearbeiters  gestattet  sein,  der  des  beschränkten  Raumes 
wegen  dem  ihm  sonst  so  hochverehrten  gründlichen  und  tief  durchdachten 
deutschen  Politiker  leider  nicht  auf  die  weiten  Bahnen  einer  breiten 
Generaldebatte  hierüber  folgen  kann  I    R.  B. 

218 


Augenblick  zweifelhaft  schien,  erwartete  es  nicht  nur 
Macht  und  Glück,  sondern  auch  einen  herrlichen  Triumph 
der  deutschen  Kultur.  Der  deutschen  Kultur?  Walther 
Rathenau  legt  in  dem  Augenblick,  in  dem  er  diesen  Teil 
seines  Werkes  „Von  kommenden  Dingen"  schreibt, 
d.  i.  im  August  des  Jahres  1916,  das  interessante  Ge- 
ständnis ab,  daß  er  niemals  so  recht  von  Herzen  mit  Rück- 
sicht auf  den  inneren  Ausbau  des  Deutschen  Reiches  an 
dieser  Begeisterung  teilnehmen  konnte1).  Zwar  hatte 
er  damals  noch  dasselbe  sichere  Gefühl  der  Sieger,  wie 
die  meisten  übrigen,  aber  er  sah  die  Schwierigkeiten  und 
Schrecken  des  riesigen  Ringens  voraus,  das  er  schon 
lange  hatte  kommen  sehen.  Und  er  glaubte  weit  weniger 
als  die  meisten  seiner  Landsleute  „an  das  Recht  Deutsch- 
lands zur  endgültigen  Weltbestimmung  —  noch  an  irgend 
jemandes  Recht  dazu  — ,  weil  weder  die  Deutschen  noch 
andere  es  verdient  haben.  Wir  Deutsche  haben  keinen 
Anspruch  darauf,  das  Schicksal  der  Welt  zu  bestimmen, 
weil  wir  nicht  gelernt  haben,  unser  eigenes  Schicksal  zu 
bestimmen.  Wir  Deutsche  haben  nicht  das  Recht,  unser 
Denken  und  Fühlen  den  zivilisierten  Nationen  der  Erde 
aufzuzwingen!  Denn,  welches  auch  ihre  Schwächen  sein 
mögen,  eines  haben  wir  noch  nicht  errungen:  den  Willen 
zu  eigener  Verantwortung2)."  Die  politische  Auffassung 
Deutschlands  ist  noch  so  unendlich  unvollkommen,  daß  es 
unmöglich  Anspruch  darauf  machen  kann,  der  Welt  vor- 
bildlich sein  zu  wollen.  Ganz  im  Gegenteil  gibt  es  nichts 
Dringenderes  für  Deutschland,  als  eine  Gewissensprüfung 
vorzunehmen    an    eine    Durchsicht    der    strittigen   Grund- 


x)  u.  a. :  D.  III.  S.  292,  Sep.-Ausg.  S.  274-275  und  besonders  auch 
D  III.  S.  236.  Sep  -Ausg  S.221  u.  222 :  »Den  Stolz  des  Opfers  und  der  Kraft 
dürfte  Ich  teilen,  doch  dieser  Taumel  erschien  mir  als  ein  Fest  des  Todes, 
als  die  Eingangssymphonie  eines  Verhängnisses,  das  ich  dunkel  und 
furchtbar,  doch  niemals  jauchzend  und  um  so  furchtbarer  geahnt  hatte, 
und  während  der  Siegeszug  über  den  Westen  brauste,  ....  war  mein 
Gedanke:  Rettung  aus  Not,  aus  starrer  Umklammerung,  aus  tötlicher 
Friedensfeindschaft "  ..Heiss  und  zuversichtlich  glaube  ich  an  glücklichen 
Ausgang;  darüber  hinaus  fürchteich".    •)  D.  III.  S.  236,  Sep.-Ausg.  S  221. 

219 


sätze,  auf  die  sich  seine  augenblickliche  politische  Orga- 
nisation aufbaut,  zu  gehen  und  einmal  zu  versuchen  das 
Ideal  des  Volksstaates  in  seinem  Hause  zu  verwirklichen. 

Da  werden  vor  allem  so  ein  paar  bestimmte  Vorstel- 
lungen auszuschalten  sein,  die  ganz  Deutschland  ange- 
nommen hat,  und  die  es  seiner  Philosophen-  und  Profes- 
sorenzunft verdankt. 

1.  Zunächst  der  Respekt  vor  der  geheiligten  Tradition. 
Jene  Stubenmenschen,  die  im  Gegensatze  zu  den  Tat- 
und  Geschäftsmenschen  denken  uncl  forschen  anstatt  zu 
wägen  und  zu  beschließen,  zeigen  eine  Neigung  die  Ent- 
wicklung der  Welt  etwa  in  der  Form  einer  regelmäßigen 
kontinuierlichen  Kurve  zu  betrachten;  sie  gehen  gern  auf 
die  örtlichen,  zeitlichen,  physischen  und  sozialen  Tat- 
sachen zurück,  um  aus  ihnen  die  Ereignisse  abzuleiten 
und  aus  der  Vergangenheit  Verhaltungsmaßregeln  für  die 
Zukunft  zu  schöpfen.  Alles  Unvermittelte  und  das  Aprio- 
rische oder  Ideelle  neuer  Theorien  stößt  sie  ab,  und  sie 
würden  alles  immer  nur  mit  einer  gewissen  trödelnden  Be- 
dächtigkeit verändern.  Nun  kennen  die  Geschichte  und  das 
praktische  Leben  solche  unfehlbaren  Kurven  nicht,  Die 
Kontinuität  ist  nur  eine  Augentäuschung;  denn  sie  beruht, 
sei  es  auf  der  Patina  des  Alters,  die  alle  schroffen  Un- 
gleichheiten der  Farbentöne  durch  zarte  Uebergänge  so 
verwischt,  daß  ihre  Ungleichheit  überhaupt  nicht  mehr  zu 
merken  ist  und  alles  zusammenzuwachsen  scheint,  sei  es 
auf  einer  apriorischen  Rückgestaltung  oder  sei  es  schließ- 
lich auf  einer  ebenso  subjektiven  Umdeutung  der  Ver- 
gangenheit wie  es  die  der  Zukunft  sein  kann.  Wenn 
also  der  Traditionalismus  d.  h.  die  Neigung  zur  Tradition 
schon  in  sich  ein  Element  der  Trägheit  darstellt  und 
als  solches  gerechtfertigt  ist,  so  kann  sie  unmöglich 
als  einzige  Richtschnur  für  das  Handeln  gelten.  Es 
bedarf  besonders  in  einem  an  Entschlußkraft  so  armen 
Lande      wie      Deutschland       eines       Einschlages      von 


spekulativem  und  intuitivem  Idealismus,  um  das 
Schwergewicht  des  Bestehenden  zu  entlasten.  Wagen 
wir  einmal  uns  in  unserem  Kopfe  einen  Zukunftsplan  zu 
zeichnen  und  erkühnen  wir  uns  alsdann  die  Wirklichkeit, 
diesem  bisher  doch  nur  bloß  theoretischen  Plane  anzu- 
gleichen. Die  auch  für  die  Entwickelung  sicher  ganz  not- 
wendige Kontinuität  wird  schon  durch  die  Tradition  ge- 
wahrt werden,  das  Ideele  aber,  und  mag  es  noch  so  ab- 
strakt und  ungewohnt  erscheinen,  wird  den  verknöcherten 
und  verholzten  Stumpf  zu  neuen  Trieben  erwecken. 

Es  verhält  sich  ganz  ebenso  mit  dem  deutschen  Frei- 
heitsbegriff, der  gleichfalls  eine  Schöpfung  der  Stuben- 
weisheit deutscher  Gelehrter  ist.  Seines  metaphysischen 
Beiwerkes  entkleidet,  besagt  er  etwa  das  folgende: 
„Zügellos  zu  sein  wünschest  du  nicht.  Zwischen  Zügel- 
losigkeit  und  Freiheit  liegt  die  organische  Beschränkung. 
Du  unterliegst  keiner  anderen  als  dieser  organischen,  gott- 
gewollten Beschränkung.  —  Dieser  Zwischensatz  wird 
selten  bewiesen,  ja  vielfach  mit  dem  Hinweis,  daß  es  anders- 
wo auch  nicht  besser  sei,  abgetan.  —  Erkennst  du  dies 
an,  so  bist  du  innerlich  frei;  es  bleibt  dir  überdies  die 
transzendentale,  die  sittliche,  ästhetische  und  religiöse 
Freiheit1)."  Eine  schöne  Gedankenkette,  mit  der  sich 
ebenso  gut  die  antike  und  moderne  Sklaverei  wie  auch 
der  Absolutismus,  die  Leibeigenschaft  das  Sweating- 
oder  bchwitzsystem  und  die  Kolonialgreuel  rechtfertigen 
lassen.  Denn  es  dreht  sich  hierbei  alles  um  den  Zwi- 
schensatz und  seine  organische  und  gottgewollte  Be- 
schränkung. Und  was  ist  nicht  alles  als  in  den  gottge- 
wollten Rahmen  hineingehörig  gedacht  worden,  so  alle 
die  erheblichen  Abhängigkeiten  von  Mensch  zu  Mensch, 
von  Schicht  zu  Schicht,  von  Religion  zu  Religion  und  ge- 
legentlich auch  von  Volk  zu  Volk!  Ist  aber  dieser  ver- 
meintlich gottgewollte  Entwurf  in  Wahrheit  gar  kein  or- 


')  D.  III.  S.  243,    Sep.-Ausg.  S.  227. 

221 


ganischer,  so  geht  er  in  willkürlichen  Zwang  über,  der 
mit  der  Freiheit  nichts  gemeinsames  mehr  hat  und  den 
keine  historische  Tradition  und  kein  geschichtliches  Her- 
kommen zu  rechtfertigen  im  Stande  sein  wird.  In  der 
Tat  ist  die  so  definierte  Freiheit  in  Deutschland  allein  in 
der  Form  der  akademischen  Freiheit  in  der  Gelehrten- 
republik verwirklicht  worden,  jenem  Staate  im  Staate,  in 
den  nur  die  Vorsehung  der  Steuereinnehmer  und  gelegent- 
lich der  milde  Finger  eines  Kultusministers  leise  ein- 
greift. 

Angenommen  nun  das  völlig  Unwahrscheinliche,  die 
Professoren  ließen  sich  nicht  mehr  darauf  ein,  uns  als 
allein  selig  machendes  nur  dasjenige  Schiedsgericht  anzu- 
preisen, das  in  ihrem  geschlossenen  Kreise  geübt  wurde, 
wird  uns  dann  die  iM.öglichkeit  bleiben,  uns  ein  Kriterium 
zu  bilden,  das  uns  zu  der  Abschätzung  befähigt,  ob  die 
uns  in  jedem  einzelnen  Falle  auferlegte  Beschränkung  ge- 
rechtfertigt ist  oder  nicht?  Die  Antwort  Walther  Rathe- 
naus  ist  uns  bekannt:  wir  haben  jede  Bindung  als  not- 
wendig zu  erklären,  die  uns  hilft,  das  gesteckte  Ziel  zu  er- 
reichen, als  unnütz  und  unorganisch  aber  diejenige,  die 
nichts  hierzu  beiträgt.  Das  Ziel  aber  wird  das  durch  eine 
entscheidende  Weltanschauung  und  nicht  mehr  das  durch 
Gelehrtendogmen,  sondern  durch  die  von  den  Taten- 
menschen anerkannten  Bedürfnisse  gebotene  sein.  Diese 
Tatenmenschen  aber  werden  sich  Begeisterung  holen  aus 
einem  festen  und  harmonischen  Glaubensganzen,  das 
seine  Wurzeln  in  den  tiefsten  Tiefen  der  Seele  findet. 
Bis  zum  heutigen  Tage  hat  sich  noch  keine  der  politischen 
Parteien  um  diesen  Leitsatz  gekümmert;  sie  dienten  aus- 
schließlich ihren  unmittelbaren  Interessen  und  nur  unter 
diesem  Gesichtspunkte  verboten  und  duldeten  sie  auch 
wieder  gewisse  Geschehnisse.  Selbst  die  konservative 
Partei,  die,  wie  schon  gelegentlich  bemerkt,  allein  über 
eine  gewisse  Weltanschauung,  nämlich  über  die  des  Chri- 
stentums, verfügte,  respektierte  diese  ihre  Weltanschau- 

222 


ung  von  dem  Augenblicke  nicht  mehr,  wo  ihre  Interessen 
mit  ins  Spiel  kamen.  Nun,  jetzt  gilt  es,  eine  kühne  Neue- 
rung: in  dem  neuen  Staat  wird  das  Freiheitsproblem  sitt- 
lich und  transzendental  sein,  und  das  Wohl  der  Mensch- 
heit wird  darüber  entscheiden,  was  Unterdrückung  und 
was  Freiheit  ist. 

Es  kommt  nun  darauf  an,  endlich  einmal  mit  den 
oberflächlichen  Zänkereien  über  die  äußere  Form  des 
Staates  ein  Ende  zu  machen;  es  kommt  ja  wirklich  nicht 
so  auf  die  Einrichtungen  an  sich  an,  sondern  doch  weit 
mehr  auf  die  ganze  geistige  Atmosphäre,  in  der  sie  tätig 
sind.  Doch  nicht  Einrichtungen,  nicht  Verfassungspara- 
graphen  oder  Gesetze  schaffen  den  modernen  Staat,  son- 
dern vielmehr  Geist  und  Wille,  gerade  wie  die  Ordens- 
bestimmungen der  Jesuiten  oder  Freimaurer  nur  einen 
geringen  Teil  ihres  Wesens  und  Wirkens  enthüllen  oder 
auch  wie  zwei  Wirtschaftsunternehmungen,  deren  Satzun- 
gen fast  bis  auf  den  Wortlaut  gleichlauten,  doch  in  der 
Art,  wie  sie  geleitet  werden,  grundverschieden  sein  kön- 
nen. Nun  begreift  unser  Ausdruck  „geistige  Atmosphäre" 
in  sich:  Ueberlieferungen,  Gepflogenheiten,  vererbte  An- 
schauungen von  Klassenauffassung.  Bräuche  für  Koop- 
tationswahlen, Familienbeziehungen,  Reichtumsvorrechte, 
Begehrlichkeiten,  Anmaßungen  und  Unterwürfigkeiten, 
lauter  Dinge,  die  mit  gesetzlichen  oder  verfassungsmäßi- 
gen Bestimmungen  nichts  zu  tun  haben.  Es  sind  das  Er- 
scheinungen des  Charakters  und  Herkommens,  die  von 
den  meisten  Menschen  aus  Mangel  an  Vergleichen  und 
Gegenbeispielen  nicht  wahrgenommen  werden  und  mit 
um  so  größerem  Rechte  mit  der  Atmosphäre  verglichen 
werden  können,  weil  es  uns  sehr  leicht  begegnen  kann, 
schlechte  Luft  an  einem  bestimmten  Orte  zu  atmen,  ohne 
uns  darüber  recht  klar  zu  werden,  bis  ein  frischer  Luft- 
hauch unsere  Nasen  und  Lungen  empfindlicher  gemacht 
hat.  Diese  Atmosphäre,  in  der  damals  Deutschland  lebte, 
bewirkte  es   auch,   daß  so   viele  ausgewanderte  Deutsche 

223 


nicht  in  ihr  altes  Vaterland  zurückkehren  wollten,  selbst 
dann  nicht,  als  sie  bereits  nicht  mehr  die  heftigsten  Aus- 
stellungen an  ihrer  neuen  Heimat  zu  machen  hatten,  und 
so  antworteten  sie  denen,  die  ihnen  von  Rückkehr 
sprachen:  „Nein,  niemals!  In  diese  Verhältnisse  können 
wir  uns  nicht  mehr  finden1)." 

Der  Einfluß  geistiger  Atmosphäre  auf  die  Gesetze 
und  Einrichtungen  ist  groß,  trägt  er  doch  dazu  bei,  neue 
zu  schaffen  und  alte  abzuschaffen;  die  Atmosphäre  selbst 
aber  stammt  nicht  aus  Gesetzen  und  Einrichtungen,  wenn 
sie  auch  eine  Zeitlang  von  ihnen  gestaltet  werden  kann. 
Deshalb  ist  es  auch  irrig,  die  scheinbaren  Grundformen 
der  Verfassungen  wie  Aristokratie,  Demokratie  und  Abso- 
lutismus als  primär  entscheidende  Begriffe  zu  betrachten. 
„Wenn  jemand  mich  fragt,"  sagt  Walther  Rathenau,  „ob 
ich  Demokrat  oder  Absolutist  sei,  so  kommt  es  mir  vor, 
als  ob  er  im  Sinne  der  Scholastik  mich  auf  Nominalismus 
oder  Realismus  prüft;  ich  kann  nur  das  vedische  ,nein, 
nein!'  ihm  entgegenrufen2)."  Eine  radikale  Demokratie 
kann  im  Grunde  weiter  nichts  als  versteckter  Absolutis- 
mus oder  plutokratische  Oligarchie  sein,  und  umgekehrt 
kann  eine  absolute  Monarchie  eine  nur  leicht  verhüllte 
zügellose  Pöbelherrschaft  aufdecken.  Bis  zum  äußersten 
getrieben  wird  jede  dieser  beiden  Kategorien  sinnlos;  nie- 
mals kann  ein  Einzelner  alle  Macht  besitzen;  er  müßte 
denn  unendlich  sein;  niemals  kann  ein  Demos  wahrhaft 
regieren,  er  müßte  denn  aufhören,  ein  Demos  zu  sein.  Im 
Grunde  ähneln  sich  die  Institutionen  aller  Länder  in  ihrem 
Gesamtwesen  weit  mehr  als  man  denkt  und  unterschei- 
den sich  nur  in  dem  sie  belebenden  Geiste.  Die  Institu- 
tionen müssen  sich  bei  beiden  Staatsformen  im  Laufe  der 
Zeit  schon  von  selbst  in  der  Geschäftsführung  nähern,  da 
gesunde  Republiken  allmählich  immer  konservativer  wer- 
den und  gesunde  Monarchien  sich   ständig  liberalisieren. 


*)  D.  III.  S.  262,  Sep.-Ausg.  S.  246.      *)  D.  111  S.  313,  Sep.-Ausg.  S.  294. 
224 


w'enn  das  Gewissen  des  deutschen  Volkes  es  wollte,  so 
würde  darum  auch  „ohne  Aenderung  einer  Zeile  des  ge- 
schriebenen Rechts  einschließlich  des  preußischen  Wahl- 
rechts1) schon  morgen  der  Volksstaat  in  Deutschland 
seiner  Verwirklichung  entgegengehen  können.  Denn, 
drängen  die  tiefen  Sehnsuchtsrufe  nach  Verantwortung 
und  Freiheit,  durch  tausende  von  Stimmen  erhoben,  bis 
in  die  Seelen  der  Deutschen,  so  würde  man  schon  sehen, 
wie  allen  materiellen  Sonderinteressen,  allem  Parteigeist 
und  aller  Arithmetik  der  Wahlen  zum  Trotze  die  rechten 
Männer  aufstehen  und  die  gesunden  Gedanken  Gestalt 
annehmen  würden.  Die  verschiedenen  Parteilehren  wären 
eben  dann  nicht  mehr,  was  sie  heute  sind:  Interessen- 
programme unter  der  Hülle  einer  müßigen  Phrasensamm- 
lung von  Versprechungen  und  Vortäuschungen,  sondern 
die  natürlichen  Gegensätze  der  verschiedenen  Systeme 
für  die  Anwendung  gemeinsamer  Grundsätze.  Nur  keine 
Bange  darum  vor  den  angeblich  so  gefürchteten  Gespen- 
stern von  Demokratie,  Parlamentarismus,  Oligarchie  und 
Absolutismus!  Unter  den  Strahlen  der  neuen  Sonne  ver- 
blassen alle  ihre  äußeren  Schreckzeichen,  und  es  bleiben 
von  ihnen  nur  jene  wohl  vertrauten  geschmeidigen  und 
bequemen  Formen,  die  wir  so  ersprießlich  und  nutzbrin- 
gend handhaben  können. 

Nicht  viel  anders  ist  es  auch  mit  dem  Absolutismus. 
Der  absolute  Despot  hat  das  Recht  und  die  Macht,  jeden 
beliebigen  Teil  seines  Volkes,  auf  den  sein  Blick  gerade 
fällt,  zu  zertreten  und  zu  vernichten.  Jedoch  der  unzer- 
tretene  Teil  —  und  alle  zertreten  kann  er  nicht  —  be- 
herrscht ihn  selbst  und  herrscht  durch  ihn,  wenn  auch 
unter  Sicherung  eines  gewissen  Apparates  byzantinischer 


x)  D.  HI.  S.  313,  Sep.-Ausg.  S.  295.  Glücklicherweise  ist  die  seiner- 
zeit unter  dem  Zeichen  der  scheinbar  unerschütterlichen  Monarchie  ent- 
standene, aber  wohl  selbst  nicht  in  dem  gleichen  Masse  unerschütterliche 
Theorie  eines  W.  R.  durch  die  Praxis  der  neuen  Republik  wenigstens  in 
den  Orundformen  ihrer  Verfassung  überholt  worden,  ich  denke:  zu 
Walilier  Rathenaus  Freude.     Bearbeiter. 


lä 


...) 


Formeln  gegenüber  seinem  scheinbaren  Beherrscher.  , .Ab- 
solutismus ist  Volksherrschaft  eines  Volksteils  über  den 
andern,  und  diese  Partialdemokratie  stuft  sich  ab  bis  zu 
der  feudalen  oder  plutokratischen  Vorherrschaft  konstitu- 
tioneller Monarchien1)."  Es  sei  nicht  etwa  eingewen- 
det, daß  die  Person  des  Despoten  sozusagen  einen  dritten 
Faktor,  eine  dritte  besondere  Macht  vertrete.  Kaum  in 
den  großen  historischen  Stunden  der  Entscheidung  über 
Krieg  oder  Frieden  kann  die  Person  des  Herrschers  eine 
solche  Macht  zum  Segen  oder  Unheil  entfalten.  In  nor- 
malen Zeiten  ist  der  Bau  des  neuzeitlichen  Staates  so 
außerordentlich  verwickelt,  daß  jener  dritte  Faktor,  auch 
wenn  er  mit  einer  kontinuierlichen  Genialität  der  Unab- 
hängigkeit ausgestattet  wäre,  nicht  zu  dauernder  Wirk- 
samkeit gelangen  könnte.  Auch  sind  die  Zeiten  vorüber, 
wo  der  Herrscher  eine  geheime  persönliche  und  Haus- 
machts-,  eine  kirchliche,  ja  eine  fremdstaatliche  Politik 
verfolgen  konnte.  Nicht  besser  geht  es  den  oligarchi- 
schen  Regierungen.  Auch  sie  können  ihr  Uebergewicht 
nur  durch  Sicherung  der  Gefolgschaft  von  ergebenen  An- 
hängern behaupten;  während  sie  anscheinend  über  einen 
Teil  des  Volkes  gebieten,  werden  sie  in  Wahrheit  von 
ihm  beherrscht,  und  allein  einem  solchen  Zusammenwir- 
ken verdanken  sie  die  Bändigung  der  übrigen  Masse. 

Ganz  ebenso  ist  die  Verwirklichung  der  Demokratie 
in  ihrer  reinsten  Form  unmöglich,  abgesehen  vielleicht 
von  jenen  seltenen  und  kurzen  Zeiten  des  Ueberganges, 
in  denen  der  Pöbel  das  Volk  beherrscht  und  die  her- 
kömmliche Autorität  für  einen  kurzen  Augenblick  un- 
sichtbar wird.  Insoweit  aber  als  es  überhaupt  keine  Re- 
gierung gibt,  die  ohne  geordnete  Formen  dauernd  oder 
auch  nur  die  kürzeste  Zeit  zu  bestehen  vermag,  wird  das 
Volk  überhaupt  niemals  diese  Regierung  ausüben  können. 
Es  bleibt  ihm  nur  eins:  seine  Machtvollkommenheiten  an 


')  D.  TH.  S.  314,  Sep.-Ausg.  S.  296. 
22^ 


Vertrauensleute  zu  übertragen  und  auf  diese  Weise  wie- 
der eine  Oligarchie  und  eine  Autorität  zu  schaffen,  der  es 
doch  wohl  oder  übel  die  ausgedehntesten  Vorrechte  gegen 
sich  selbst  einräumen  muß.  Ohne  Zweifel  bringt  dieses 
System  sehr  viele  Mißbräuche  mit  sich,  die  die  Deut- 
schen gern  übermäßig  betonen  und  wohl  noch  übertreiben, 
um  damit  das  gesamte  demokratische  System  zu  kriti- 
sieren und  zu  bekämpfen;  es  sind  das  lärmende  Wahi- 
feldzüge,  Bestechung  der  Wähler,  Heraufkommen  von 
Schwätzern  und  Abenteurern,  Advokaten,  Zeitungs- 
schreibern und  Krösussen  und  ein  Balgen  um  die  Macht 
zwischen  den  Spitzen  des  Bürgertumes  und  des  Militärs. 
Sind  denn  aber  etwa  umgekehrt  die  Monarchien  davon 
ausgenommen  und  begegnen  nicht  einige  gute  Demokratien, 
in  denen  solche  Machthaber  und  Streber  niedergehal- 
ten werden?  Nein,  wenn  so  etwas  vorkommt,  hat  es  nichts 
mit  der  Form  der  Regierung,  sondern  mit  dem  Wesen  des 
Landes  zu  tun;  es  ist  ein  Geisteszug  des  Volkes,  dem  es 
entspringt.  Uns  geht  hier  nur  die  folgende  Erwägung 
an:  auch  die  Demokratie  ist  nicht  sowohl,  wie  ihr  Name 
besagt,  Herrschaft  des  Volkes  als  vielmehr  die  Beherr- 
schung eines  Volksteiles  durch  den  anderen,  im  allge- 
meinen die  der  Landbevölkerung  durch  die  Stadtbevölke- 
rung, die  der  ständig  Armen  durch  die  ständig  Reichen, 
die  der  Ungebildeten  durch  die  Halbgebildeten  oder  auch 
die  wahren  Kulturmenschen.  Also  immer  und  überall 
gleichviel,  welches  auch  die  Form  einer  Verfassung  sein 
mag,  dasselbe  Prinzip:  ein  in  eine  ewig  herrschende  und 
in  eine  ewig  beherrschte  Klasse  gespaltenes  Volk. 

Der  wahre  Volksstaat,  der  doch  mit  den  gesamten 
veralteten  Gewohnheiten  bricht,  wird  sich  also  recht 
wenig  um  die  äußere  Form,  wohl  aber  um  so  mehr  um 
seinen  inneren  Ausbau  bekümmern!  Wenn  er  einmal 
mit  einem  Ausdruck  unserer  heutigen  üblichen  Termino- 
logie bezeichnet  werden  darf,  so  wird  also  mit  anderen 
Worten  der  Volksstaat  eine  „Organokratie"  sein  müssen. 

15*  227 


Dieser  Ausdruck  bedeutet,  daß  diese  Art  ständigen 
Gleichgewichtes  zwischen  Beherrschten  und  Herrschen- 
den überhaupt  nicht  eintreten  darf,  sondern  daß  in  einem 
wahren  Volksstaat  wie  in  einem  lebenden  Organismus 
ein  beständiger  Auf-  und  Abstieg  der  Geister  und  Kräfte 
herrschen  muß.  Jedes  Glied  der  Nation  wird  zu  Herr- 
schaft und  Dienst,  Leitung  und  Leistung  aufgerufen  wer- 
den. Kein  Geist  darf  versumpfen  und  keiner  ungenützt 
dahinschmachten.  Jeder  Fähigkeit  muß  das  ihr  zukommende 
Maß  von  Bildung  und  angemessener  Arbeit  gewährt  wer- 
den. Es  wird  nicht  Gleichheit  in  Rechten  und  Pflichten 
herschen,  wohl  aber  Gleichheit  im  Zutritt  zu  allen  Be- 
rufen; es  wird  keine  durch  Stellung  oder  Geburt  Beru- 
fene mehr,  sondern  nur  noch  Auserwählte  geben.  Das 
Volk  wird  nicht  herrschen  und  nicht  regieren,  aber  das 
Voik  wird  die  sich  stets  und  ständig  erneuernde  Pflanz- 
schule für  Herrschende  und  Regierende  bilden,  vielleicht 
abgesehen  vom  Monarchen.  Immer  werden  die  erb- 
lichen Vorzüge  erhalten  bleiben;  denn  Bildung,  Erfah- 
rung und  Begabung  können  sich  zwar  möglicherweise 
vererben;  doch  um  eine  entscheidende  Rolle  zu  spielen, 
werden  die  Herrschenden  immer  wieder  den  Beweis 
ihrer  Fähigkeiten  geben  müssen.  Tugend  und  Veranla- 
gung der  einzelnen  wird  in  Zukunft  ebensowenig  aus 
bloßer  Abstammung  zu  folgern  sein,  wie  Laster  und  Ent- 
artung. Die  höchste  und  wichtigste  aller  inneren  Auf- 
gaben aber  wird  die  Volksbildung  und  Erziehung  sein, 
wie  die  peinlichste  Auslese  und  die  sorgfältigste  Fortbil- 
dung aller  Fähigkeiten  die  Grundlage  aller  sozialen  Arbeit 
bilden  wird.  Religionen  und  Kulte  werden  die  Unter- 
stützung des  Staates  genießen,  jedoch  unter  freier  Ent- 
wicklung ihrer  Lehren;  niemand  wird  das  Recht  haben, 
geistige  Güter  der  Nation  im  gemeinen  Interesse  gewisser 
Stände  oder  Klassen  zu  mißbrauchen. 

„Utopie!"  wird  eingewandt  werden.    Doch  wer  wüßte 
nicht,   was   von   diesem   so   abgenutzten  Verlegenheitsein- 

228 


wand  zu  halten  ist?  Ja,  ein  rein  verstandesmäßiger  Be- 
weis für  die  einmalige  Verwirklichung  eines  derartigen 
Staates  wird  natürlich  immer  unmöglich  sein,  eines 
Staates,  der  unterschiedlos  aus  allen  Schichten  des 
Volkskörpers  seine  edelsten  Kräfte  schöpfen  und  sich 
die  Aufgabe  stellen  würde,  aus  den  sechzig  Millionen 
Menschen  des  deutschen  Volkes  jederzeit  eine  Auslese 
erstklassiger  Persönlichkeiten  in  bisher  ungeahnter  Menge 
herauszufinden!  Und  das  soll  genügen,  um  den  ganzen 
Gedanken  mit  einfacher  überlegener  Ironie  abzutun? 
Beweise  gibt  es  freilich  nicht,  wohl  aber  andere  Bei- 
spiele, wo  die  Sache  ebenso  steht.  So  überraschend  es 
zunächst  für  den  Hörer  klingen  mag,  es  besteht  bereits 
in  Deutschland  eine  Einrichtung,  die  nach  diesen  Grund- 
sätzen arbeitet:  das  preußische  Heer.  Es  handelt  sich 
hier  nicht  um  den  Eintritt  in  dieses  Heer,  der  sich  noch 
immer  unter  völlig  veralteten  unzeitgemäßen  Bedingungen 
vollzieht,  sondern  vielmehr  um  den  Vorgang  und  die  Art 
der  freien  Auslese  unter  den  zugelassenen  Offizieren 
für  die  Erreichung  immer  höherer  Grade.  Die  Standes- 
erwägungen, die  ja  bereits  bei  der  anfänglichen  Zulassung 
ihre  Rolle  gespielt  haben,  scheiden  nun  völlig  aus,  und 
es  erfolgt  jetzt  in  der  Tat  die  Auswahl  auf  ganz  gleichem 
Fuße.  Keine  Regel  ohne  Ausnahme,  doch  im  allgemeinen 
erfaßt  sie  die  Besten  auf  Grund  von  Prüfungen  und  Er- 
wägungen. Sie  ist  eine  demokratische  zu  nennen,  nicht 
etwa  deshalb,  weil  sie  nach  dem  Majoritätsprinzipe  er- 
folgt, sondern  darum,  weil  an  dem  Heere  deutlich  zu  er- 
kennen ist,  wie  sich  hier  durch  den  Aufstieg  niederer 
Grade  nach  pflichtmäßiger  Auswahl  unter  den  inzwischen 
in  die  Laufbahn  neu  eingetretenen  Offizieren  ständig  aus 
der  großen  Masse  eine  Vorgesetztenschicht  erneut  und 
ergänzt,  ohne  jeden  Eingriff  von  außen,  also  ohne  jedes 
Monopol  der  Anciennität  und  ohne  jede  Beschränkung 
der  Konkurrenz.  Es  sind  im  Laufe  der  Zeit  ein  paar  Mal 
nicht  ganz  so  militärische  Könige,  wie  es  Preußen  sonst 

229 


:  rv    ~».  -*** 


gewohnt  war,  an  die  Spitze  des  Heeres  getreten;  das 
deutsche  Heer  hat  deshalb  gleichwohl  dank  diesem 
strengen  Prinzip  seine  ganze  unerschütterliche  Kraft  be- 
wahrt. Gehen  wir  also  ruhig  und  unbedenklich  an  dem 
nichtigen  Einwand  der  Utopie  vorüber  und  betrachten  wir 
nach  dem  negativen  Werke  der  Zerstörung  der  Vorurteile 
einmal  positiv,  wie  dieser  Begriff  der  Organokratie  im 
wirklichen  Leben  Gestalt  annehmen  wird. 


Es  handelt  sich  zunächst  darum:  Ist  dem  Staate  seine 
äußere  Macht  weiter  zu  erhalten  und  zu  entwickeln? 
Vom  rein  materiellen  Standpunkte  aus  scheint  das  über- 
haupt keine  Frage  zu  sein,  doch  unter  einem  allgemeine- 
ren philosophischen  Gesichtspunkt  stellt  sich  hier  ein  Pro- 
blem heraus,  das  wohl  eine  etwas  sorgfältigere  Erörterung 
verdient.  Die  Bedeutung  eines  Staates  hängt  wirklich 
nicht  einzig  und  allein  von  seiner  äußeren  Stärke  ab. 
Haben  wir  nicht  gesehen,  welche  Rolle  die  kleinen 
Staaten  während  des  Krieges  gespielt  haben,  und  wie 
sie  von  den  großen  Nationen  umworben  und,  womöglich, 
um  den  Ausschlag  zu  geben,  um  ihren  Beistand  gebeten 
worden  sind?  Wenn  im  Laufe  der  immer  deutlicher 
werdenden  Entwicklung  selbst  die  bedeutendsten  Groß- 
staaten an  persönlicher  Bedeutung  einbüßen  und  in  mehr 
oder  weniger  feste  Staatenverbände  eintreten  müssen, 
wenn  Europa  sich  immer  weiter  so  „balkanisiert1)",  so 
werden  die  Staaten  in  den  verschiedenen  wechselnden 
Verbindungen  vor  allem  nach  Maßgabe  der  Gesamtstärke 
ihre  Macht  ausüben  und,  Groß  oder  Klein,  nach  der 
Ueberlegenheit  eingeschätzt  werden,  die  ihr  Hinzutreten 
der  einen  oder  der  anderen  vor  ihnen  geben  kann. 
Andererseits  ist   der  Einfluß   einer  Kultur  ebenso  wenig 


')  Vgl  meine  Bearbeitung  von  Charles  R.  und  Dorothy  Fr.  Buxton, 
.Die  Welt  nach  dem  Weltkriege",  Berlin  1921,  8°.  C.  A  Schwetschke 
&  Sohn,  Kapitel  II,  .Die  Balkanisierung  Europas",  S.  13—27.    Bearbeiter. 

230 


zwingend  mit  der  Zahl  oder  Macht  eines  Volkes  ver- 
bunden. Wie  wenige  Seelen  zählte  nicht  Hellas  oderJudäa 
und  wie  groß  ist  doch  ihr  Einfluß  auf  die  Menschheit  von 
dem  grauesten  Altertume  bis  in  die  heutigen  Tage  hinein 
gewesen?  Und  es  gibt  doch  auch  wohl  keine  Kulturform, 
die  der  aller  übrigen  Völker  so  überlegen  wäre,  daß  sie 
ihnen  zu  ihrem  Heile  mit  Gewalt  aufgedrängt  werden 
müßte?  Zweifellos!  Doch  alle  diese  theoretischen  und 
abstrakten  Erwägungen  verlieren  ihre  Bedeutung,  sobald 
wir  es  mit  der  Welt  der  Interessen  zu  tun  haben!  Wir 
kennen  diese  Welt:  sie  unterliegt  dem  Gesetz  der  Mecha- 
nisierung und  lebt  heute  mehr  als  jemals  zuvor  unter 
dem  Zeichen  der  beiden  Phänomene,  durch  die  sie  sich 
kennzeichnet:  den  politischen  Nationalismus  und  den 
wirtschaftlichen  Imperialismus.  Der  bisher  nur  im  Gehei- 
men ein  Dasein  fristende  wirtschaftliche  Wettkampf  war 
allmählich  so  erbittert  geworden,  daß  schließlich  ein  blu- 
tiger Zusammenstoß  bei  hellstem  Tageslicht  erfolgte.  Die 
Friedensverträge  werden  leider  dem  kein  Ende  zu  machen 
vermögen.  Unter  diesen  Bedingungen,  und  solange  noch 
das  heutige  Uebergewicht  andauert,  dessen  Sturz  noch  in 
weiter  Ferne  zu  liegen  scheint,  liegt  für  uns  leider  noch 
eine  Nötigung  vor,  auch  ein  Recht  des  Staates  auf  äußere 
Macht  anzuerkennen.  Wie  sollte  er  auch  diese  Macht 
entbehren  können,  wenn  er  die  ihm  heutzutage  zufallende 
riesenhafte  ethische,  soziale  und  wirtschaftliche  Aufgabe 
erfüllen  will? 

Seiner  Form  nach  wird  der  Staat  nach  Walther 
Rathenaus  vorkriegszeitlicher  Prophezeiung  auch  weiter 
eine  Monarchie  bleiben,  wenn  auch  eine  Monarchie  von 
einem  ganz  neuen  Geiste!  „Nicht  aus  bloßer  Abneigung," 
so  sagt  er,  „gegen  Wahlumtriebe  und  Streberei,  gegen 
Advokaten-  und  Publizistenmache  bin  ich  Anhänger  des 
monarchischen  Gedankens,  sondern  aus  angeborener 
Empfindung  und  der  Ueberzeugung,  daß  an  der  Spitze 
staatlicher     Macht     ein     tief     verantwortlicher     Mensch 

§31 


stehen  soll,  allen  Wünschen,  Strebungen  und  Ver- 
suchungen des  gemeinen  Lebens  enthoben  und  entrückt; 
ein  Gerechter,  nicht  der  Ankömmling  einer  glücklichen 
Laufbahn1)."  Zur  Sicherung  einer  guten  Leitung  des 
Staates  bedarf  es  eines  Organs,  das  gegen  die  alltäglichen 
Interessenzusammenstöße  geschützt  dastehen  muß,  und 
aus  diesem  Grunde  nicht  dem  Gesetze  jener  beständigen 
Erneuerung  unterworfen  sein  darf,  das,  wie  wir  gesehen 
haben,  auf  alle  übrigen  Kräfte  der  Nation  anzuwenden 
ist.  Doch  wie  soll  sich  denn  so  sehr  die  Zukunfts- 
monarchie von  den  bisher  in  Deutschland  und  Europa 
bekannten  unterscheiden:  Die  alle  einer  internationalen 
Familie  angehörigen  und  durch  verwandtschaftliche 
Bande  untereinander  verknüpften  europäischen  Dynastien 
bekundeten  von  jeher  eine  gewisse  Anschauung,  die  etwa 
der  mancher  größerer  Rittergutsbesitzer  nahestand,  und 
eine  Neigung  ihre  Staatsgebiete  als  Hauseigentum  und 
ihre  sogenannten  Untertanen  als  eine  Art  lebendes  In- 
ventar zu  betrachten.  Eine  unüberbrückbare  Kluft  trennte 
sie  von  den  Völkern.  Hieraus  entwickelte  sich  nun  all- 
mählich eine  Gegensätzlichkeit  zwischen  Herrscher  und 
Volk,  die  bei  dem  Herrscher  auf  einem  überkommenen 
Grauen  vor  jeder  Demokratie  und  jedem  Radikalismus, 
kurz  vor  allem,  was  seine  Machtfülle  zu  bedrohen  schien, 
und  bei  dem  Volke  auf  mehr  oder  weniger  lebhaftem  Wi- 
derstände beruhte.  Hieraus  entwickelten  sich  auch  jene 
Gunstbezeugungen,  die  die  Herrscher  dauernd  dem  erb- 
lichen, sei  es  grundbesitzenden,  sei  es  militärischem 
Adel  bewilligen  zu  müssen  glaubten,  weil  sie  auf  ihre 
Unterstützung  rechneten  und  voraussetzten,  daß  dieser 
Stand  dieselben  Interessen  wie  sie  zu  verteidigen  habe 
und  wisse,  daß  sein  Glanz  nur  einen  bloßen  Widerschein 
von  dem  strahlenden  Lichte  der  Krone  bedeute.  Mit 
einem   Wort,   die   Dynastien   schlössen   sich   immer   mehr 

*)  D.  Hl.  S.  263,  Sep  -Ausg.  S.  247.    In  der  Separatausgabe  diese  Worte 
anders:  .nicht  der  Arrivierte  einer  glücklichen  Karriere".    Bearbeiter. 

232 


von  unserem  neuzeitlichen  Leben  ab  und  hielten  sich  da- 
durch für  stark,  daß  sie  sich  auf  einen  ganz  bestimmten 
Teirthres  Volkes  stützten.  Eine  vollkommen  überlebte 
Weltanschauung  und  ein  höchst  verhängnisvoller  Irrtum. 
Diese  mittelalterliche  Atmosphäre  muß  unbedingt  ge- 
säubert werden,  wenn  der  moderne  Volksstaat  irgend- 
welchen Bestand  haben  soll. 

Die  Gegensätzlichkeit  zwis.hen  Herrscher  und  Volk 
ist  gar  nicht  so  unlösbar,  wenn  wir  nur  einmal  bereit 
sind  bis  zu  den  untersten  Tiefen  des  so  menschlichen 
Problems  hinabzusteigen.  Wenn  nur  der  Herrscher  ein- 
sehen wollte,  daß  eine  Dynastie  allein  dann  von  wahr- 
haftem Bestände  sein  kann,  wenn  sie  sich  auf  die  Ge- 
samtheit des  Volkes  stützt,  daß  die  Autorität  keineswegs 
dadurch  sich  mindert,  sondern  im  Gegenteil  sich  nur  noch 
erhöht,  wenn  sie  sich  auf  das  gegenseitige  Vertrauen 
von  Untertan  und  Herrscher  aufbaut,  daß  der  Monarch 
nicht  bloß  der  erste  Diener  seines  Staates,  sondern 
ebenso  ein  allen  gleichberechtigter  Teilhaber  der  großen 
nationalen  Gemeinschaft  ist,  dann  wird  eine  neue  leben- 
dige und  starke  Monarchie  in  die  Erscheinung  treten, 
die  mit  jenen  Hausständen  zu  vergleichen  ist,  in  denen 
etwa  bereits  erwachsene  und  zum  Teil  schon  selbständige 
Söhne  sich  willig  der  Autorität  des  Vaters  unterwerfen, 
weil  sie  ihn  lieben  und  schätzen  und  gern  seipe  erfahre- 
nen Ratschläge  hören.  Es  bedarf  weiter  keiner  bedäch- 
tigen Staatsverträge,  noch  mehr  oder  weniger  erzwun- 
genen Verfassungen;  es  bedarf  nur  einer  natürlichen  und 
ehrlichen  freien  Vereinbarung  zwischen  Fürst  und  Volk, 
und  die  Monarchie  wird  fest  begründet  sein1). 

Auf  gleiche  Weise  wird  auch  der  Parlamentarismus 
weiter  bestehen  und  auch  noch  geläutertere  Formen  an- 


')  So  schrieb  Walther  Rathenau  vor  der  Revolution.  Ob  er  heute 
noch  so  denkt?  Jedenfalls  kehrt,  wenn  ein  Volk  erst  eine  Republik  hat 
und  wirklich  für  sie  reif  ist,  keine  Mcnarchie  mehr  wieder,  besonders, 
wenn  sie  selbst  abgewirtschaftet  hat.    Bearbeiter. 

233 


nehmen  können.  Jeder  kennt  die  schweren  Mängel  die- 
ses Räderwerkes  aller  modernen  Politik.  Die  heutigen 
Parlamente  sind  nur  noch  ein  elendes  arithmetisches 
Zerrbild  des  Landes,  als  dessen  Vertreter  sie  angeblich 
gelten.  Das  Parlament  redet,  doch  seine  Rede  gilt 
weniger  der  Beratung  der  Regierung,  wie  das  doch  wohl 
grundsätzlich  gedacht  ist,  als  der  Vertretung  gewisser 
lokaler  Interessen  ihrer  Wähler.  Die  Zahl  der  Parlamen- 
tarier, die  das  Wort  nehmen,  ist  übrigens  sehr  gering; 
die  meisten  unter  ihnen  begnügen  sich  vielmehr  mit  Sta- 
tistenrollen; sie  betreiben  ihre  privaten  Angelegenheiten, 
mit  denen  sie  bisweilen  die  Behörden  geradezu  drang- 
salieren. In  einer  nur  allzu  abgeschlossenen  Atmosphäre 
gewinnen  die  persönlichen  Fragen  zu  viel  Bedeutung, 
noch  dazu  in  einer,  die  manchmal  von  Stürmen  durchtobt 
wird,  die  keineswegs  in  irgendwelchem  Zusammenhange 
mit  den  großen  Bewegungen  zu  stehen  brauchen,  die 
gerade  das  Land  durchbrausen.  Die  Trennung  der  ver- 
schiedenen Gewalten  wird  keineswegs  immer  genügend 
beachtet;  die  Regierung  muß  die  Initiative  zu  fast  allen 
Gesetzen  geben,  und  das  Parlament,  das  die  ihm  vor- 
gelegten Gesetzentwürfe  häufig  genug  in  der  Versenkung 
verschwinden  läßt,  übt  jedenfalls  auf  die  ausübende  Ge- 
walt einen  Druck  aus,  soweit  es  dieselbe  nicht  tatsäch- 
lich an  sicii  reißt.  Muß  noch  in  diesem  Zusammenhange 
besonders  auf  das  ganze  Elend  des  deutschen  Parlamen- 
tarismus hingewiesen  werden?  Hingewiesen  auf  die  un- 
gleichen Wahlkreise,  die  kläglichen  Wahlreglements,  den 
beinahe  im  ganzen  Lande  fehlenden  politischen  Sinn,  die 
Verhandlung  der  Kleinen  Anfragen  im  Reichstage  vor 
leeren  Bänken,  die  Feindseligkeit  der  unverantwortlichen 
Regierungen  und  die  Gleichgültigkeit  der  besten  Elemente 
des  Volkes. 

Und  dennoch  sind  die  Parlamente  aus  mehr  als 
einem  Grunde  unentbehrlich.  Ihnen  ist  die  Oeffentlich- 
kcit    und    Kontrolle    der   Handlungen    der    Regierung   zu 

2B4 


verdanken.  Wenn  in  den  öffentlichen  Sitzungen  nicht 
gerade  große  Arbeit  gemacht  wird,  so  wird  um  so  mehr 
in  den  Fraktions-  und  Ausschußsitzungen  gearbeitet. 
Sind  also  die  Parlamente  in  sich  selbst  nur  ein  mehr  oder 
minder  verzerrendes  Abbild  des  Landes,  so  liefert  doch 
ihr  Dasein  demselben  Lande  die  Gelegenheit  und  Möglich- 
keit seine  manchmal  etwas  wirren  Wünsche  zum  Ausdruck 
zu  bringen;  das  politische  Leben,  das  sie  hervorrufen, 
veranlaßt  die  Bildung  großer  Parteien,  die  sich  über  die 
Fragen  rein  örtlichen  Interesses  erheben  und  aus  ihrer 
Mitte  Führer  wählen,  die  die  Sprachrohre  der  verschiede- 
nen Interessengruppen  des  Volkes  sind.  Das  Parlament 
ist  somit  eine  Art  Börse  der  politischen  Parteien,  insofern 
als  sie  das  politische  Leben  erleichtert,  und  vertritt  so 
die  politischen  Interessen,  wie  es  die  eigentliche  Börse 
mit  den  reinen  Finanzgeschäften  tut.  Aber  hierzu  kommt 
ein  zweiter  noch  gewichtigerer  Grund:  lang,  lang  ist's 
her,  da  konnte  wohl  noch  ein  hausväterlicher  Monarch 
alle  Geschäfte  seines  Königreiches  selbst  kennenlernen 
und  überwachen,  da  dessen  Verwaltung  nach  Art  und  Gc- 
schäftsumfang  kaum  über  die  eines  großen  neuzeitlichen 
Betriebes  hinausging.  Heutzutage  haben  die  Amtsstellen 
eines  beliebigen  Einzelbereiches,  wie  beispielsweise  die 
Telegraphie  oder  Gesundheitspflege  einen  größeren  Um- 
fang als  die  sämtlichen  verschiedenen  Stellen  der  fride- 
rizianischen  Verwaltung  zusammengenommen.  Nun  kön- 
nen nicht  etwa  alle  diese  Verwaltungen  ruhig  ihrer  alten 
einfachen  Geschäftsführung  frei  überlassen  bleiben;  denn 
sie  würden  alsbald  verknöchern  und  in  Inzucht  unter- 
gehen, wie  etwa  ein  russischer  Tschin.  Aber  an  wen 
sollen  sich  die  Interessenten  der  einzelnen  Verwaltungen 
denn  mit  ihren  Entschlüssen  wenden?  Unmöglich  an  den 
Herrscher  selbst!  Denn  wehe  dem  Monarchen,  der  in 
unseren  Tagen  die  Kühnheit  oder  auch  die  Verblendung 
hätte,  in  alle  Fragen  persönlich  einzugreifen!  Auch  nicht 
an  einen  Senat  oder  an  ein  Tribunal;  denn  hier  würde  die 

235 


unabhängige  Beweglichkeit  fehlen.  Auch  nicht  an  stän- 
dische Korporationen,  die  sich  zu  sehr  von  materiellen 
Berufsinteressen  beherrschen  lassen.  In  alten  Zeiten  bil- 
dete einmal  die  Kirche  diese  unabhängige  Instanz.  Heute 
kommt  nur  noch  das  gesamte  Volk  in  Betracht  als  die 
Stelle,  die  diese  Aufgabe  erfüllen  könnte,  so  g'oß  auch 
die  Schwierigkeiten  sein  mögen,  die  sich,  wie  wir  gesehen 
haben,  seiner  Tätigkeit  überall  in  den  Weg  stellen.  An- 
statt also  die  Mängel  des  Parlamentarismus  zum  Vorwand 
zu  nehmen,  um  nach  seinem  Verschwinden  zu  schreien, 
ist  vielmehr  seine  grundsätzliche  Notwendigkeit  zu  ver- 
künden, und  sind  seine  Mängel  im  praktischen  Leben  zu 
meiden. 

Die  erste  Reform  wird  darin  bestehen,  die  Ab- 
stimmung nach  Wahlkreisen  zu  beseitigen  und  sie  durch 
ein  gesundes  Proportionalsystem  zu  ersetzen;  diese  Re- 
form ist  noch  wichtiger  als  selbst  die  Reform  des 
preußischen  und  des  mecklenburgischen  Wahlsystemes. 
Das  Zweite  wird  die  Ausgestaltung  der  politischen  Par- 
teien und  ihrer  Organisationen  sein.  Das  Dritte  wird 
sein,  den  deutschen  Parlamenten  die  Möglichkeit  einer 
schöpferischen  Mitarbeit  an  der  Regierung  zu  geben 
außerhalb  der  bloßen  Gesetzesmacherei  und  Bewilligung 
von  Anleihen.  Hierunter  ist  nicht  etwa  nur  die  Ge- 
winnung einiger  Ministerportefeuilles  für  die  Abgeord- 
neten oder  die  Einsetzung  von  ein  paar  parlamentarischen 
Kontrollkommissionen  zu  verstehen,  die  die  Verwaltungen 
durch  ihre  beständigen  Kritiken  oder  auch  albernen  Rat- 
schläge lähmen.  Es  handelt  sich  um  weit  mehr.  Die  Ab- 
geordneten müssen  tatkräftig  an  der  Leitung  der  Ge- 
schäfte teilnehmen,  um  sich  nicht  auf  eine  rein  negative 
Aufgabe  zu  beschränken,  sich  in  Fühlung  mit  der  prak- 
tischen Wirklichkeit  zu  unterrichten,  das  Gefühl  einer 
verantwortlichen  Führerschaft  zu  gewinnen  und  selbst  die 
Tätigkeit  auszuführen  wissen,  die  sie  bei  anderen  zu  kon- 
trollieren berufen  sind.    Werden  diese  Männer  auf  diese 

236 


Weise  wirklich  mit  den  öffentlichen  Angelegenheiten 
vertraut,  mit  den  Akteuren  der  großen  europäischen 
Bühnen  besser  bekannt  und  lernen  sie  auf  diese  Weise 
das,  was  durchführbar  ist,  von  dem  ein  für  allemal 
Undurchführbaren  unterscheiden,  so  werden  sie  ihrer- 
seits wieder  die  politischen  Parteien  belehren,  die  ihrer 
Verantwortlichkeit  bewußt  nun  nicht  mehr  bloß  ganz 
sinnlose  prunkende  Phrasen,  sondern  bestimmte,  klare 
und  auch  tatsächlich  erfüllbare  Ziele  in  ihr  Partei- 
programm schreiben  werden.  So  wird  das  System  ver- 
schwinden, das  die  Gegner  Deutschlands  mit  dem  unzu- 
treffenden Namen  Militarismus  bezeichnet  haben  und  das 
in  einer  Undurchsichtigkeit,  einem  launenhaften  Willen 
und  einem  unruhigen  Zickzackkurs  bestand,  verbunden 
mit  stärkster  militärischer  Macht,  feudaler  Atmosphäre 
und  fügsamer  Lenksamkeit  eines  geradezu  unglaublich  ver- 
trauensseligen Volkes.  Vor  allem  muß  hier  ein  besonders 
bei  den  konservativen  Parteien  beliebt  gewordenes  Argu- 
ment zurückgewiesen  werden,  die  auszuführen  pflegen, 
es  sei  für  Deutschland  in  Anbetracht  seiner  von  allen 
Seiten  gefährdeten  geographischen  Lage  geradezu  eine 
Lebensnotwendigkeit,  sich  einen  starken  und  gewisser- 
maßen halbstarren  Verwaltungsaufbau  ängstlich  zu  er- 
halten. Ganz  im  Gegenteil,  gerade  diese  Lage  fordert 
die  Betätigung  hoher  Beweglichkeit  und  Gelenkigkeit, 
Fähigkeit  zu  zeitweiligem  Opportunismus  und  dann 
wieder  großer  Anspannung,  und  endlich  einen  hohen 
Reichtum  an  lebendigen  Kräften.  Nun,  diese  lebendigen 
Kräfte  sind  die  dafür  so  notwendigen  Staatsmänner,  und 
sie  werden  Deutschland  allein  durch  die  Schule  eines 
freien  und  tätigen  Parlamentarismus  geliefert  werden. 

Doch  diese  äußeren  Wandelungen  im  politischen 
Mechanismus  Deutschlands  sind  nicht  das  Entscheidenste. 
Es  kann  nicht  oft  genug  wiederholt  werden,  daß  die  Aen- 
derung  dieses  und  jenes  Verfassungsparagraphen  gar 
keinen  Nutzen  hat,  wenn  nicht  zu  gleicher  Zeit  der  sie 

287 


beherrschende  Geist  neu  belebt  wird.  Um  mitten  im 
internationalen  Wettrüsten  den  Daseinskampf  siegreich 
zu  bestehen,  muß  sich  das  deutsche  Volk  vor  allem  den 
Fundamentalgesetzen  anpassen,  von  denen  die  lebenden 
Organismen  geleitet  werden.  Seine  physischen  Gelegen- 
heiten sind  begrenzt  wie  die  eines  Menschen,  eines  Tieres, 
eines  Waldes,  doch  ihr  Ertrag  kann  sich  verzehnfachen 
durch  die  Macht  des  Geistigen,  die  die  Natur  meistert, 
Gewalten  bändigt,  die  Kraft  des  Bodens  hebt,  das  ver- 
schiedenste Siechtum  heilt  und  die  Geschlechter  kom- 
mender Menschen  kräftigt  und  veredelt.  Es  kommt  n  m 
vor  allem  darauf  an,  wie  wohl  diese  Macht  des  Geistigen 
sich  äußert  und  wie  es  möglich  ist,  ihren  Antrieben  fol- 
gend das  alte  Deutsche  Reich  in  einen  wirklichen  deut- 
schen Volksstaat  umzubilden. 

Zunächst  tut  nun  eine  gewisse  Lebensenergie  not, 
die  beständig  in  einer  und  derselben  Richtung  arbeitet. 
Wenn  zwei  gleichstarke  Organismen  miteinander  ringen, 
so  siegt  auf  die  Dauer  derjenige,  der  weiß,  was  er  will. 
In  jedem  Augenblick  sät  blinder  Zufall  die  Körner,  aus 
denen  die  Geschicke  der  Zukunft  hervorgehen  können: 
ein  Kind  hat  vielleicht  die  Eichel  eingepflanzt,  aus  der 
der  Eichbaum  entsprossen  ist,  ein  Kiesel  den  Lauf  eines 
Stromes  verändert  und  der  Rausch  eines  hohen  Herrn 
den  Grund  zu  einer  neuen  Dynastie  gelegt.  Aber  dank 
ihrer  inneren  Kraft  und  ihrem  beständigen  Emportriebe 
sind  gewisse  Saaten  aufgegangen,  doch  andere  wieder 
vertrocknet.  Nicht  anders  aber  muß  ein  Staat,  wenn  er 
leben  und  wachsen  will,  von  einer  inneren  Kraft  bewegt 
werden,  die,  ohne  in  der  Gegenwart  zu  verweilen,  durch 
ein  ständiges  sehnsuchtsvolles  Drängen  zu  einer  glück- 
licheren Zukunft  den  Sieg  davonträgt.  In  politischer  Be- 
ziehung sind  die  Bedingungen  dieser  Kraft:  Sorgenlosig- 
keit  im  höchsten  Sinne  des  Wortes,  die  Freiheit  von  per- 
sönlichen  Wünschen   und   Trieben,    ein   Lebensüberschuß 

238 


ausgedrückt  in  Humor  und  geistiger  Souveränität,  freie 
Verfügung  über  eine  unbegrenzte  Zukunft  ohne  Furcht 
für   eigene   Lage   und  Nachkommenschaft. 

Aber  wo  finden  sich  denn  die  Bedingungen  dieser 
starken  politischen  Richtkraft  innerhalb  Deutschlands 
verwirklicht?  Etwa  in  den  Dynastien?  Aber  die  Erb- 
reihen, in  denen  ununterbrochen  Friedrich  und  Karl 
wechseln,  sind  viel  zu  stark  durch  die  Verteidigung  des 
eigenen  Thrones  beansprucht,  viel  zu  stark,  wie  Bismarck 
sagte,  den  Einflüssen  von  Frauen  und  Günstlingen  unter- 
worfen und  viel  zu  stark  durch  territoriale  Erobe- 
rungen gelockt.  Oder  etwa  in  den  Parlamenten  die  sich 
in  ewig  wechselnden  Tagesfragen,  Nörgeleien  und  Ge- 
setzesmacherei  verlieren?  Oder  etwa  bei  den  Parteien, 
die  fast  immer  nur  dieselben  Bestrebungen  kennen  und 
unter  den  verschiedensten  grellen,  doch  im  Grunde  gar 
nicht  so  unähnlichen  Parteibannern  sich  balgen?  Oder 
aber  wohl  bei  den  Ministern?  Sicherlich  kommt  ihnen 
eine  gewisse  traditionelle  Stetigkeit  zugute,  insofern  sie 
in  Deutschland  nur  dann  ins  Amt  kommen,  wenn  sie, 
welches  auch  ihre  ursprüngliche  Partei  sein  mag,  ge- 
nügende Sicherheiten  für  jene  Art  herrschender,  konser- 
vativer Weltanschauung  feudalistisch-professoraler  Fär- 
bung gegeben  haben.  Aber  selbst  zugegeben,  sie  mögen 
fünf,  ja  zehn  Jahre  im  Amte  bleiben,  zu  lang,  wenn  sie 
unfähig  sind,  zu  kurz,  wenn  sie  ein  weitschauendes  Werk 
schaffen  wollen.  Übrigens  ist  genügend  bekannt,  mit 
welchen  elenden  Nichtigkeiten  sie  ihre  beste  Zeit  hin- 
bringen müssen.  Es  hat  keinen  Zweck,  daran  zu  zwei- 
feln: Deutschland  besitzt  wirklich  nicht  das  Organ,  das 
die  Stetigkeit  der  Richtkraft  zu  sichern  verstünde;  es 
ist  das  eine  Folge  seiner  diplomatischen  Minderwertig- 
keit, zeigten  doch  die  von  dem  wildesten  und  anschei- 
nend zügellosesten  Parlamentarismus  regierten  Länder 
zum  mindesten  eine  gewisse  Stetigkeit  im  Fanatismus, 
mit    der    sie    den    Erfolg    erzwangen.      Daher    auch    jenes 

239 


allgemeine  Mißtrauen  in  der  ganzen  Welt  gegenüber 
Deutschland,  dessen  ewig  schwankende  Politik  als  Zwei- 
deutigkeit aufgefaßt  wurde.  Daher  endlich  seine  es  so 
lange  beherrschende  Unfähigkeit,  seinen  eisengepan- 
zerten Machtstaat,  den  Schiedsrichter  Europas,  sei 
es  nach  außen,  sei  es  im  Innern  zu  fördern,  da- 
her die  Schwäche,  mit  der  es  sich  infolge  von 
Bündnissen  zwischen  anderen  Völkern,  die  es  duldete 
oder  sogar  noch  begünstigte,  die  Führung  in  Europa  hat 
entreißen  lassen,  und  daher  jene  fette  Beleibtheit,  die 
sein  allmächtiger  Körper  dank  seinen  technischen  und 
finanziellen  Mitteln  gerade  anzunehmen  im  Begriffe  war 
und  die  durch  den  Krieg  dahinschmolz. 

In  Wirklichkeit  geziemt  es  und  gelingt  es  allein  dem 
Volke,  dem  Staate  auf  die  Dauer  jene  Ständigkeit  der 
Richtung  zu  geben.  „Richtung  geben  kann  nur  das  Volk, 
nicht  als  herrschender  Pöbel  noch  als  Masse,  sondern  als 
Schoß  des  Geistes,  dem  die  Zeiten  seine  Saat  entlocken, 
das  politisierte,  denkfähige  Volk,  vergeistigt  in  Parteien, 
die  Parteien  vertreten  durch  ihre  Organisationen,  vor 
allem  durch  ihre  Führer,  Staatsmänner  und  Denker1)." 
Für  einen,  der  nur  an  unser  bisheriges  politisches  Leben 
und  Parteiwesen  dächte,  wäre  ein  solches  Programm 
einfach  zum  Lachen!  Doch  wir  müssen  weiter  blicken. 
Solange  die  Parteien  nur  die  kleinlichsten  Pfennigfuch- 
sereien  und  Befriedigungen  persönlicher  Eitelkeit  be- 
trieben, solange  sie  die  Sorge  um  die  öffentlichen  Ge- 
schäfte ausschließlich  den  angeblichen  Fachmännern  über- 
ließen, die  oft  nur  die  unzuständigsten  Dilettanten  und 
ödesten  Schwätzer  waren,  solange  war  das  politische 
Leben  der  Nation  nicht  steigerungsfähig  über  das  Ni- 
veau der  elendesten  provinziellen  Bezirksvereine  und  die 
Verwirklichung  des  Volksstaates  völlig  unmöglich.  Aber 
die  großen   Lehren  des  Krieges  können   doch   nicht   ein- 


l)  D.  III.  S.  340,  Sep.-Ausg.  S.  320. 
240 


fach  verloren  sein.  Sie  haben  uns  gezeigt,  daß,  so  sehr 
wir  auch  durch  Meinung  gespalten  sind,  wir  alle  doch 
nur  ein  und  dasselbe  Volk  bilden  und  wir  nur  uns  selbst 
und  niemand  anders  die  Sorge  und  den  Schutz  für  Gut 
und  Blut  anvertrauen  dürfen.  Niemals  dürfen  wir  wieder 
unsere  Interessen  und  Profite  in  den  Vordergrund,  Volk 
und  Staat  erst  in  die  zweite  Linie  stellen,  das  Göttliche 
aber  ganz  im  Hintergrunde  vergessen,  um  es  nur  allen- 
falls einmal  Sonntags  und  Feiertags  hervorzuholen.  Nie 
wieder  dürfen  wir  unsere  Geschicke  den  Berufspolitikern 
und  den  Kannegießern  am  Stammtische  überlassen. 
Unsere  politische  Lehrmeisterin  muß  die  Not  sein;  sie 
soll  von  nun  an  unsere  politische  Erziehung  gestalten! 
Die  an  Klugheit  und  Stärke  Hervorragendsten,  die  sich 
bisher  ausschließlich  ihren  industriellen  und  geistigen 
Arbeiten  widmeten  und  die  Handhabung  der  Staats- 
geschäfte als  etwas  ihnen  Fremdes  ansahen,  werden  end- 
lich Willen  und  Verantwortung  fühlen,  sich  an  dem  öffent- 
lichen Leben  zu  beteiligen.  Sie  werden,  was  sie  haben 
und  können,  in  die  Wage  werfen  und  die  Wirtshaus- 
berühmtheiten der  Ortsbezirke  aufwägen;  die  Politik  wird 
aufhören,  das  Tagesspiel  der  kleinen  Interessen  zu  sein 
und  zur  Willensorganisation  des  Staatsvolkes  werden. 
Die  öffentliche  Meinung  gefällt  sich  darin,  die  Vielgestal- 
tigkeit der  Bestrebungen  und  Ansichten  in  Deutschland 
dafür  verantwortlich  zu  machen,  wenn  niemals  aus  ihm 
eine  einheitliche  Willensrichtung  hervorgehen  und  sich 
blöde  Hirtenweisheit  weiter  erblich  fortschleppen  und  an 
uns  herandrängen  wird.  Aber  die  Diagonale  der  Kräfte 
braucht  nicht  bloß  die  Resultante  von  zwei  Kräften  zu 
sein,  nein,  sie  ist  auch  oft  die  Resultante  von  beliebig 
vielen  Kräften.  Der  Wille  des  Volkes  soll  sich  Bahn 
brechen;  hat  aber  das  Volk  etwa  nicht  mehr  die  Energie, 
diesen  Willen  zum  Ausdruck  zu  bringen,  nun,  dann 
ist  es  reif  für  die  Knechtschaft.  Es  ist  dabei  immer 
wieder     daran     zu     erinnern,     daß     unter     dem     Willen 

16  241 


eines  Volkes  nicht  zu  verstehen  ist  der  Ausdruck 
irgendeiner  augenblicklichen  Laune,  sondern  das  durch 
seine  besten  Elemente  gefühlte  und  geäußerte  aus  seiner 
tiefsten  Tiefe  kommende  Wollen.  Nur  um  solches  Wollen 
handelt  es  sich,  das  den  ganzen  Staat  beseelen  muß; 
es  ist  das  wie  mit  dem  menschlichen  Organismus;  auch 
er  wird  nicht  von  den  niederen  Trieben  geleitet,  sondern 
vielmehr  von  seiner  gesamten  geistigen  und  seelischen 
Wesenheit,  die  freilich  jedes  einzelne  der  vielen  Organe 
zu  schützen  und  zu  unterstützen  hat. 

Noch  schlimmer  ist  ein  zweiter  Mangel  gewesen,  der 
der  deutschen  Politik  anhaftete.  Er  muß  gutgemacht 
werden!  Unserem  Lande  haben  die  führenden  Menschen 
gefehlt,  worunter  es  noch  schwerer  gelitten  hat  als  unter 
dem  gänzlichen  Fehlen  leitender  Ideen.  Können  doch 
nur  solche  und  nicht  etwa  eine  kleine  herrschende  Klasse 
einem  Lande  den  gesunden  Impuls  geben.  Wer  nicht  will, 
daß  die  Probleme  nur  gestreift  und  alsbald  bei  Seite  ge- 
schoben oder  mit  jämmerlichen  Kompromissen  gelöst 
werden,  wer  nicht  will,  daß  theaterhafte  Vorführung  und 
Pose  für  geschichtliche  Größe  genommen  werden,  der 
muß  auch  wollen,  daß  das  gesamte  Volk  in  der  Lage  sei, 
im  Ueberfluß  die  Arbeiter  zu  liefern,  die  es  mit  hellem 
Blick  und  unternehmendem  Mut  leiten  und  führen  wür- 
den. Ist  dieses  so  notwendige  Ziel  nicht  zu  erreichen,  so 
ist   das    deutsche    Volk    ein   für    allemal   verloren. 

Was  war  aber  statt  dessen  bisher  allein  in  Deutsch- 
land zu  sehen?  Die  hauptsächlichsten  Beamten  rekru- 
tierten sich  fast  ausschließlich  aus  einem  Kreise,  der  sei- 
nem Umfang  nach  außerordentlich  beschränkt,  aber  auch 
abgesehen  davon  durch  seine  überlieferten  Anschauungen 
und  herkömmlichen  Klassenbegriffe  für  die  neuzeitlichen 
Aufgaben  zu  wenig  vorbereitet  war.  Liegt  es  wohl  im 
Bereich  der  Möglichkeit,  daß  ein  adliger  Grundbesitzer- 
stand —  um  ihn  handelt  es  sich  vor  allem  dabei  — ,  der 
nur  fünftausend  Seelen  umfaßt,  ausreichen  kann,  die  Ver- 

242 


waltungskaders  einer  Nation  zu  füllen,  die  über  sechzig 
Millionen  zählt?  Ohne  irgendwie  die  schönen  Tugenden 
der  Arbeitsfreudigkeit,  der  Aufopferung  und  des  Idealis- 
mus der  deutschen  Verwaltungsbeamten  leugnen  zu  wol- 
len, werden  wir  uns  doch  die  Frage  stellen  müssen,  ob 
es  denn  nicht  einfach  zuzugeben  ist,  daß  sie  bereits  ver- 
jährte und  veraltete  Traditionen  verewigen,  aber  es  an 
einem  Maße  von  Kenntnissen,  Beweglichkeit,  Entschluß- 
kraft und  Wagemut  fehlen  lassen,  das  heute  überall  ver- 
langt wirdl  Bis  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  war  die 
Verwaltung  eine  einfache  Kunst;  die  in  nicht  allzu  großer 
Zahl  auftauchenden  neuen  Fragen  konnten  doch  immer 
auf  Präzidenzfälle  zurückgeführt  werden,  die  Massen 
waren  weder  anspruchsvoll  noch  widerspenstig,  und  die 
Erfahrung  des  Greises  galt  mehr  als  das  unüberlegte  Un- 
gestüm des  Jünglings.  Heutzutage,  wo  das  Leben  Bedin- 
gungen stellt,  die  das  gerade  Gegenteil  von  dieser  patri- 
archalischen Ruhe  voraussetzen,  laufen  die  Dinge  natür- 
lich ganz  anders,  und  vor  allem  laufen  sie  schnell.  Die 
Unmöglichkeit  von  heute  wird  schon  morgen  eine  über- 
holte Alltäglichkeit  sein.  In  jedem  Augenblick  erheben 
sich  neue,  bis  dahin  unbekannte  Schwierigkeiten.  Es  be- 
darf eines  ebenso  hohen  Maßes  an  Entschlußkraft  und 
Wagemut,  wie  früher  an  Uebung  und  Geduld.  Man  er- 
innert sich  wohl,  wie  noch  im  Herbst  1813  die  Verbünde- 
ten monatelang  vor  dem  Rheine  liegen  blieben,  weil  in 
einem  Lehrbuch  der  Kriegsgeschichte  zu  lesen  war,  ein 
Fluß  sei  ein  Abschnitt,  und  vor  einem  Abschnitt  müsse 
man  neue  Kräfte  sammeln.  Hätten  sie  es  lieber  wie  Na- 
poleon gemacht,  der  den  Sieg  errang,  weil  er  mit  den 
handwerksmäßigen  Ueberlieferungen  brach  und  ganz 
allein  seinem  Genie  folgte.  Das  hat  die  deutsche  Ver- 
waltung noch  immer  nicht  begriffen,  und,  wenn  wir  auch 
im  Jahre  1914  sich  einige  glückliche  Neuerungen  in 
Kriegszeiten  haben  vollziehen  sehen,  so  sind  sie,  soweit 
sie  sich  bewährt  haben,  nicht  das  Werk  der  Staatsgewalt, 


16» 


243 


sondern  einzelner  Privatpersonen,   die  diese   aufzuklären 
und  mit  sich  fortzureißen  gewußt  haben. 

Das  alte  Ideal  von  einem  tüchtigen  preußischen  Be- 
amten ist  durch  das  neue  Bild  einer  Summe  von  Verwal- 
tungseigenschaften zu  ersetzen,  die  die  Bedürfnisse 
unserer  Zeit  besser  zu  befriedigen  verstehen  werden, 
und  für  deren  Zusammenfassung  die  deutsche  Sprache 
wohl  nicht  bloß  zufällig  keine  rechte  Bezeichnung 
hat,  einer  Mischung  von  Verwegenheit  und  Ent- 
schlußkraft, von  Skepsis  und  Optimismus,  die  ein- 
fachen Naturen  unmöglich  verständlich  sein  kann 
und  die  großen  Meister  der  Politik  stets  bei  Leb- 
zeiten unpopulär  gemacht  hat.  Es  läßt  sich  das  alles 
vielleicht  in  dem  einen  Ausdruck  „Geschäftskunst"  zu- 
sammenfassen, in  dem  die  alte  Bedeutung  des  Wortes 
„Geschäft"  fühlbar  wird,  das  von  „Schaffen"  kommt.  Es 
muß  der  Zugang  zu  den  gesamten  staatlichen  Stellungen 
von  nun  an  stets  allen  offenstehen,  die  nur  irgend  dafür 
Befähigung  von  Natur  erhalten  und  dann  weiter  ausge- 
bildet haben.  Auch  der  Adelsstand  wird  natürlich  nicht 
von  ihnen  ausgeschlossen  sein,  aber  da  er  nach  Her- 
kommen und  Sitte  zu  denen  gehören  wird,  bei  denen  jene 
Gaben  am  seltensten  vertreten  sind,  und  da  seit  Fried- 
richs des  Großen  Tode  Deutschland  tatsächlich  keinen 
großen  europäischen  Staatsmann  hervorgebracht  hat,  wer- 
den sie  von  nun  an  nicht  mehr  auf  Grund  irgendwelcher 
Bevorrechtung  Zutritt  zu  ihnen  haben,  sondern  ausschließ- 
lich auf  Grund  der  von  ihnen  abgelegten  Proben  der  Be- 
fähigung. So  werden  wir  bald  auch  alle  jene  dunklen 
Machenschaften  verschwinden  sehen,  die  es  den  wenigen 
Söhnen  des  Bürgerstandes  ermöglichten,  in  die  Reihen  der 
herrschenden  Klasse  einzutreten,  handelt  es  sich  doch 
allemal  darum,  die  vorgeschriebene  staatserhaltende  Ge- 
sinnung zu  haben  und  über  gute  Beziehungen  und  warme 
Befürwortungen  an  den  verschiedenen  Höfen  zu  verfügen. 
Dieser  Ersatz   vermochte     wohl   etwa     die     numerische 

244 


Stärke  dieser  Klasse  zu  erhöhen,  nicht  aber  ihren  Geist 
zu  ändern  oder  ihren  Wert  zu  steigern,  verwendete  doch 
dieser  Ersatz  seine  ganze  Sorge  darauf  alle  ihre  Bräuche 
und  Ansichten  mit  erkünstelter  Treue  nachzuahmen.  Ein 
weiter  Ruf  wird  an  das  gesamte  Volk  ergehen,  und  dann 
ist  es  doch  wohl  undenkbar,  daß  Deutschland  nicht  eben- 
so viele  dem  Lande  nützliche  Staatsmänner  hervorbrin- 
gen sollte  wie  England,  dem  es  noch  niemals  an  solchen 
gefehlt  hat,  oder  auch  Frankreich,  das  nach  einer  furcht- 
baren Niederlage  „dank  seiner  Staatskunst  im  Laufe  von 
vierzig  Jahren,  während  deren  Deutschland  von  der 
Hegemonie  herabstieg,  sich  zu  erholen,  seine  Wehrkraft 
wiederzuerlangen,  drei  Kolonialreiche  zu  erwerben  und 
die  stärksten  Allianzen  Europas,  die  im  Gegensatz  zu 
zwei  der  unsern  die  Belastungsprobe  des  Krieges  ertru- 
gen,  zu  schließen   gewußt   hat1)." 

Die  Hauptsache  bleibt  schließlich,  daß  die  Wider- 
standskraft des  staatlichen  Leben  Deutschlands  sich  nicht 
bloß  nicht  gemindert  hat,  sondern  umgekehrt  noch  ge- 
wachsen ist.  Die  Reichstagstagung  des  4.  August  1914  hat 
offenbart,  welche  stolze  Größe  für  ein  Volk  darin  liegt, 
sich  ganz  in  den  Dienst  einer  die  ganze  Nation  angehenden 
Sache  zu  stellen.  Doch  die  politischen  Sitten  Deutsch- 
lands waren  damals  derartige,  daß  in  der  Tat  so  mancher 
über  diese  einmütige  Begeisterung  erstaunt  gewesen  ist, 
da  er  sie  nicht  für  möglich  gehalten  hätte.  War  es  doch 
damals  gewohnheitsmäßiger  Brauch,  eine  ganze  Hälfte  des 
Volkes  den  Staatsgeschäften  fernzuhalten  und  ihr  nur 
das  kümmerliche  Recht  der  Kritik  in  den  öffentlichen 
Versammlungen  zu  überlassen,  sowie  sie  auch  als  eine 
minderwertige  Klasse  zu  betrachten,  in  deren  Bekehrung 
Schule  wie  Kirche  eine  ihrer  Hauptaufgaben  sahen.  So 
begnügte  sich  denn  dieses  Volk  einfach  wohl  oder  übel  zu 
gehorchen  und  in  äußerlichen  und  eitelen  materiellen  Be- 


')  D.  III.  S.  352,  Sep.-Ausg.  S.  331. 

245 


friedigungen  eine  Entschädigung  für  dieses  halbe  Hörig- 
keitsverhäitnis  zu  suchen.  Eine  solche  Zerreißung  des 
Volkes  muß  natürlich  auf  die  Dauer  seine  gesamte  Wider- 
standskraft lähmen.  Aber  das  deutsche  Volk  ist  nicht 
dazu  da,  in  einem  Staatenverbande  zu  wohnen,  der  nicht 
in  jedem  Sinne  sein  eigen  ist  und  wird  unmöglich  seine 
ganze  Seele  nur  daran  geben,  Einrichtungen  zu  beschir- 
men, die  das  Vorrecht  Einzelner  bedeuten.  Es  gab  nur 
zu  viele  deren,  die  in  dem  Gefühle  von  der  Leitung  doch 
ein  für  allemal  ausgeschlossen  zu  sein  nur  lässig  an  dem 
Werke  arbeiteten,  das  doch  wahrhaftig  eine  Sache  aller 
sein  sollte.  Diese  Gegensätzlichkeit  muß  verschwinden, 
wenn  anders  die  deutsche  Nation  einen  vollständigen  und 
starken  lebendigen  Organismus  bilden  soll.  Sie  würde 
auf  diese  Weise  auch  der  Monarchie  breitere  und  festere 
Grundlagen  geben  und  ebenso,  von  einem  inneren  Gefühl 
der  Solidarität  und  Verantwortlichkeit  getragen,  im  Da- 
seinswettkampfe der  Völker  mit  Glück  bestehen. 


In  dem  gleichen  Maße,  wie  sich  der  Krieg  immer  wei- 
ter in  die  Länge  zieht,  stellt  sich  auch  die  Notwendigkeit 
einer  völligen  Erneuerung  als  immer  dringender,  ja  als 
dringender  wie  je  zuvor,  heraus,  und  ein  neues  Licht  fällt 
auf  eine  große  Reihe  bisher  unverstandener  oder  zum 
mindesten  mangelhaft  aufgefaßter  Tatsachen.  Walther 
Rathenaus  während  der  letzten  drei  Kriegsmonate  er-' 
schienenen  drei  Streitschriften  enthalten  Kritiken  an  dem 
früheren  Zustande  der  Dinge,  die,  wenn  sie  auch  im 
wesentlichen  auf  dieselben  Punkte  wie  die  in  seinen  bis- 
herigen Schriften  hinauskommen,  doch  noch  weit  schär- 
fer und  bestimmter  sind,  und  Aufrufe  an  die  Schöpfer  des 
zukünftigen  Neubaus,  die  an  Leidenschaft  und  Wucht 
alles   bisherige  in  den  Schatten  stellen. 

Hier  ein  kurzer  Einblick  in  das  erste  Kapitel  seiner 
Streitschrift  „Zeitliches",  das  die  Ueberschrift  trägt:  „D  e  r 

246 


wahre  Grund  politischer  Fehler."  Das 
deutsche  Volk  beginnt  zu  fühlen,  daß  ein  Menschenalter 
fehlerhafter  und  unglücklicher  auswärtiger  Politik  das 
Beste  verscherzt  hat,  was  das  vorletzte  Geschlecht  mit 
Waffen  und  Bündnissen  bereitet  hatte.  Es  klagt  seine  Di- 
plomaten an  und  verlangt  weithin  vernehmlich  ihren  Er- 
satz durch  neue  Kräfte.  Aber  es  sieht  nicht,  daß  das 
Uebel  weit  tiefer  liegt,  daß  es  die  Unstetigkeit  der  Lei- 
tung, der  Führerschaft  ist,  unter  der  das  öffentliche  deut- 
sche Leben  leidet.  Bismarck  allein  war  unantastbar  und 
sogar  praktisch  unabsetzbar,  „inamovibc  1",  wie  man 
es  damals  nannte,  und  ist  es  noch  bis  einen  Tag  unmittel- 
bar vor  seinem  Sturze  gewesen;  e  r  durfte  die  von  der 
Hand  in  den  Mund  lebende  Politik  verschmähen,  um  sich 
die  Verwirklichung  großer  Pläne  angelegen  sein  zu  las- 
sen. Doch  was,  Wenn  er  heute  wiederkäme?  In  wenigen 
Monaten  wäre  auch  e  r  gestürzt.  Wie  alle  übrigen,  würde 
auch  er  sich  abnützen  und  sich  in  den  Fußangeln  ver- 
fangen, die  ja  so  geeignet  sind,  die  Bemühungen  derjeni- 
gen lahmzulegen,  die  die  so  vergängliche  Last  der  Regie- 
rung auf  sich  nehmen,  Fußangeln,  wie  sie  gebildet  werden 
durch  den  Monarchen  und  seine  so  einflußreiche  und 
ebenso  unverantwortliche  Umgebung,  durch  die  Hohen 
Bundesfürsten,  durch  den  Bundesrat,  durch  den  Reichs- 
tag, ein  demokratisches  Organ,  das  sich  aber  beständig  mit 
jenem  Autokratismus  reibt,  der  es  nur  widerwillig  duldet, 
durch  die  anderen  gleichfalls  von  dem  Herrscher  gewähl- 
ten Minister,  mit  denen  man  nur  durch  ein  gleiches  Stre- 
ben zu  einem  unbestimmten  konservativen  Ideal  hin  ver- 
bunden ist.  Der  Kanzler,  ein  unglücklicher  Mann  in  einer 
unglücklichen  Stellung,  der  statt  helfen  zu  können  sich 
aus  der  Ohnmacht  seines  Glanzes  nur  in  eine  skeptische 
Ironie,  eine  betrübte  Resignation  oder  eine  völlige  Ah- 
nungslosigkeit  von  allem,  was  um  ihn  vorgeht,  flüchten 
kann!  Sein  ewiger  Kampf  mit  den  eigenen  Ministerial- 
heamten,  die  alle  die  kleinen  und  feinen  Kriffc  und  Pfiffe 

247 


der  Verwaltung  kennen,  mit  ihren  Tricks  vertraut  sind  und 
sich  in  ihrem  verwickelten  Räderwerke  mit  einer  Ge- 
rissenheit zurechtfinden,  als  ob  sie  mit  allen  Hunden  ge- 
hetzt seien,  diesen  Beamten,  die  praktisch  unabsetzbar 
sind  und  tatsächlich  eine  anonyme  Regierung  ausüben. 
Der  inoffizielle  Einfluß  der  Parlamentarier,  der  in  keinem 
anderen  Lande  der  Welt,  Italien  eingeschlossen,  so  groß 
ist  wie  in  Deutschland  und  der  sich  in  Entgegennahme 
von  Beschwerden,  Interventionen  und  häufig  auch  halb- 
amtlichen Aufträgen  äußert!  Die  Presse,  die  eine  der- 
artige Stellung  hat,  daß  ihr  der  Minister  etwa  so  wie  ein 
junger  Einjähriger  einem  alten  bärbeißigen  und  unbestech- 
lichen Feldwebel  der  Friedenszeit  gegenübersteht,  der 
bestenfalls  Freundlichkeiten  duldet,  jedoch  keine  erweist! 
Der  Nepotismus,  der  sich  allerdings  auch  nicht  minder 
wo  anders  eingeschlichen  hat  und  überall  bekannt  ist! 
Schließlich  die  gebieterischen  Einsprüche  einflußreicher 
Vertreter  widersprechender  Wirtschaftsinteressen.  Alles 
in  allem:  eine  Menge  von  Hemmvorrichtungen  und  kein 
Propeller,  „ein  neunundneunzigfaches  Veto  ohne  Jubeo." 
Ob  ohne  das  Lockmittel  der  ehrenden  Gnadenbezeugun- 
gen oder  die  mystische  Anziehungskraft,  die  die  hohen 
Staatsstellungen  begleiten,  sich  noch  Menschen  finden 
würden,  die  sich  noch  immer  um  diese  Staatsstellungen 
bewürben,  ist  mehr  als  fraglich.  Welche  Besserungsrezepte 
wurden  aber  wohl  herangezogen,  wenn  es  gar  zu  schlimm 
kam?  Immer  die  nämlichen:  ein  Verein,  eine  Zeitschrift, 
ein  Ausschuß  oder  Beirat,  eine  Lehranstalt,  ein  Staatszu- 
schuß oder  eine  öffentliche  Kollekte.  Glaubt  man  in 
Deutschland  wirklich  auf  diese  Weise  gesund  zu  werden, 
oder  glaubt  man  es  nicht  vielmehr  durch  eine  völlige  Er- 
neuerung des  praktischen  Lebens,  wie  sie  Walther 
Rathenau  in  großen  Zügen  gezeichnet  hat. 

Und  jetzt  ein  weiterer  Blick  auf  ein  zweites  Kapitel, 
dessen  Titel  diesmal  lautet:  ,,VonWahl-  undVolks- 
vertreter n."     Der   Grundsatz   der   Unentbehrlichkeit 

248 


des  Parlamentarismus  scheint  gesichert.  Die  Beweise  der 
Reife  und  Mündigkeit,  die  das  Volk  während  des  Krieges 
gegeben  hat,  gestatten  schlechthin  unter  keiner  Bedin- 
gung auch  nur  irgend  jemanden,  mag  es  sein,  wer  es  wolle, 
politische  Minderrechte  zuzumuten.  Es  darf  nicht  mehr 
vorkommen,  daß  die  Gegner  Deutschlands  auch  in  Zu- 
kunft die  Völker  Europas  in  zwei  Klassen  von  Nationen 
teilen  dürfen:  solche,  die  die  Fähigkeit  haben,  ihr  Schick- 
sal selbst  zu  bestimmen,  und  solche,  die  zu  ihrer  Führung 
noch  eine  Vormundschaft  brauchen,  und  sie  dann  Deutsch- 
land mit  Recht  in  die  zweite  Klasse  verweisen 
können.  „Die  Spiegelung  des  Volkes  in  seiner 
Vertretung  muß  eine  vollkommene  sein;  finden 
sich  im  Volkskörper  ungeläuterte  Stellen,  so  sollen 
sie  auch  im  Abbilde  sich  finden,  damit  sie  offen- 
kundig werden  und  Abhilfe  heischen;  das  natür- 
liche Bild  ist  mit  seinen  Unklarheiten  besser  und  wirk- 
samer als  das  retuschierte  oder  gefälschte1)."  Dieses 
Bild  wird  aber,  um  wirklich  den  Anspruch  auf  Vollkom- 
menheit machen  zu  dürfen,  auch  das  Frauenstimmrecht 
für  die  politischen  Körperschaften  einschließen  müssen. 
Das  Pluralwahlsystem  wird  wieder  aufzugeben  sein,  ist  es 
doch  nichts  weiter  als  eine  „Demagogie  von  oben8)."  Das 
manchmal  so  gepriesene  System  eines  berufständischen 
Parlamentes  ist  ebenso  zu  verwerfen.  Denn  „ein  Inter- 
essen- und  Interessentenparlament  würde  sich  in  innerster 
Reibung  erschöpfen;  jede  Partei  würde  um  Tages  vorteile 
käuflich  sein;  die  Fragen  des  Geistes  und  der  Gesittung, 
der  Menschlichkeit  und  Zukunft  würden  zu  Tauschwerten; 
und  schließlich  fiele  alles  der  Regierung  anheim,  die  in 
solchem  Parlament  ein  Werkzeug  besässe,  jedoch  ein  un- 
brauchbares, abgestumpftes,  sich  selbst  verzehrendes3)." 
Das  Wesentliche  wird  sein,  daß  die  Parlamente  in  Zu- 
kunft   vermöge    einer    besseren    Zusammensetzung    nicht 


«)  Zeitliche!  S.  41.    2)  Zeitliches  S.  45.    8)  Zeitliches  S.  39. 

249 


mehr  aus  soviel  Durchschnittsmenschen  bestehen,  deren 
bloße  Gegenwart  schon  zum  großen  Teile  die  Gleichgül- 
tigkeit rechtfertigte,  mit  der  ihnen  das  Volk  gegenüber 
stand;  insofern  ist  auch  Reform  der  Parlamente  noch  weit 
dringender  als  Reform  der  Regierungen.  Vor  allem  aber 
wird  dies  für  die  verschiedenen  deutschen  Oberhäuser 
gelten;  ,,in  ein  Oberhaus  gehören  nicht  Menschen,  die 
etwas  vertreten,  weder  Meinungen  noch  Interessen  noch 
Berufe  noch  Herkommen,  sondern  Menschen,  die  etwas 
sind,  etwas  können  und  etwas  geschaffen  haben.  —  Wich- 
tig ist,  daß  eine  Kammer,  der  eine  hohe  Aufsicht  über 
Verwaltung  und  Gesetzgebung  zugesprochen  ist,  vornehm, 
bedeutend,  gerecht  und  menschlich  sei1)." 

Die  Zeit  ist  nun  einmal  vorüber,  heißt  es  ungefähr 
wörtlich  immer  wieder  auf  den  verschiedensten  Seiten 
der  Streitschrift  ,,Die  neue  Wirtschaft"  und  dem 
Aufrufe  ,,A  n  Deutschlands  Jugen  d",  wo  sich  die 
Deutschen  dadurch  beschwichtigen  ließen,  daß  ihnen 
jedesmal  von  neuem  die  verpönten  Beispiele  westlicher 
Demokratien  vor  Augen  gehalten  wurden  und  jedesmal  von 
neuem  bewiesen  wurde,  der  amerikanische  Bürger  sei  ge- 
knechteter als  der  slawische  Hintersasse.  Es  handelt  sich 
aber  in  Wahrheit  gar  nicht  um  westliche  oder  irgendeine 
andere  Demokratie.    Die  Frage  scheidet  ganz  aus.  Wahre 


l)  Zeitliches  S.  51—52.  Die  Ueberschriftea  der  weiteren  Kapitel  dieser 
Streitschrift  lauten:  .Kriegsgewinner",  „Stimmung"  und  endlich  die  des 
Schlusskapitels:  .Sicherungen".  Aus  teils  fiskalischen,  teils  sozialen 
Rücksichten  empfiehlt  Walther  Rathenau  die  Annahme  einer  progressiven 
Sonderkriegssteuer,  die  eigentliche  Kriegsgewinne  bis  zu  90%  besteuert. 
Er  behauptet,  dass  die  Angst  um  die  Möglichkeit,  die  öffentliche  Stimmung 
durch  irgend  etwas  zu  verderben,  in  Deutschland  manche  grobe  Unge- 
schicklichkeit herbeigeführt  hat.  Man  habe  die  Meinung  des  Volkes  ver 
weichlicht  und  irregeführt  und  dadurch  die  moralische  Widerstandskraft 
untergraben,  anstatt  sie  durch  offene  und  freie  Aussprache  zu  heben. 
Rathenau  zeigt,  dass  bei  der  gegebenen  Kriegslage  die  Sicherungen,  die 
in  Deutschland  soviel  von  sich  reden  machten,  in  Wahrheit  nicht 
etwa  Begriffe  vorwiegend  militärischer,  sondern  vorwiegend  politischer 
Natur  ausmachen,  und  diss  die  Aufgabe  sie  Zit  bästimmen  weniger  den 
Feldherren  als  den  Staatsmännern  obliegt. 

250 


Demokratien,  Volksherrschaften,  hat  es  nie  und  nirgends 
gegeben,  außer  etwa  in  den  mehr  oder  weniger  vorüber- 
gehenden Zeiten  einer  Revolution.  „Ueberall  in  der  Welt 
herrschen  Personen,  und  die  einzige  Frage  ist  die,  ob  sie 
einer  kleinen,  erblichen,  nicht  übermäßig  geschäftsfähigen 
Kaste  angehören  und  auf  den  Vorschlag  geheimer  Kabi- 
nette ernannt  werden  müssen  oder  aus  der  Gesamtheit  des 
Volkes  auserlesen  werden  sollen,  ob  mithin  das  Volk  poli- 
tisch sich  in  ewig  Beherrschende  und  ewig  Beherrschte 
spaltet  und  ob  durch  diese  Spaltung  die  ganze  Folgenreihe 
ständischer  Vorrechte,  Gepflogenheiten  und  Anmaßungen 
erhalten  bleibt1)."  Das  deutsche  Volk  darf  auch  nicht 
mehr  Demokratie  —  bis  zum  Kriege  war  dieses  Wort  ge- 
ächtet —  und  Autokratie  als  zwei  sich  ausschließende 
Gegensätze  auffassen,  als  ob  nicht  erst  „Vertrauen  Auto- 
kratie möglich  mache,  Demokratie  Vertrauen  möglich 
mache2)."  Man  komme  uns  bloß  nicht  mit  jenem  „fal- 
schen Demokratismus  des  Mißtrauens  und  der  Ranküne, 
der  die  notwendige  Gegenerscheinung  des  grundsätzlichen 
Autokratismus  ist;  denn  ohne  diese  Zutat  wäre  es  offener 
Absolutismus,  den  man  nicht  will.  Nur  der  grundsätz- 
liche Demokratismus  des  Aufbaues  kann  es  sich  leisten, 
den  Geschöpfen  seiner  Macht  und  seines  Vertrauens  die 
volle  ungestörte  autokratische  Schaffensfreudigkeit  zu  ge- 
währen, die  zum  großen  Handeln  und  zur  starken  Politik 
gehört3)." 

O  daß  doch  endlich  diese  im  deutschen  Charakter 
liegende  Knechtschaft  verschwände,  die  sich  bei  keinem 
anderen  Kulturvolk  der  Welt  wiederfindet!  Der  Deut- 
sche gehorcht,  ohne  sich  viel  darum  zu  kümmern,  wer 
eigentlich  die  Befehle  gibt  und  mit  welchem  Rechte. 
Jeden  Augenblick  hört  man  immer  wieder  von  „Subor- 
dination"   sprechen!      Subordination!      Dies    harte    Wort 


*)  W.  V.  S.  254,  Sep.-Ausg.  S.  80.   *)  An  Deutschlands  Jugend  S.  103. 
•)  Zeitliches  S.  113. 

251 


spät-lateinischen  Ursprungs  wird  in  anderen  Sprachen  als 
der  deutschen  fast  nie  gebraucht;  hier  hat  es  richtiges 
Bürgerrecht  erworben!  Die  Symbolik  der  Ehrenbezei- 
gungen, die  das  Verhältnis  der  Subordination  bekräftigen, 
verlangt  rückhaltloses  Hinstrecken  des  ganzen  Leibes, 
eine  rohe  Bewegung,  die  in  einem  einzigen  Ruck  zu  voll- 
ziehen ist.  Ueberall  gellt  einem  der  eigentümliche, 
trockene,  knarrende  und  schnarrende  kurze  Befehlston  in 
die  Ohren.  Und  Vorgesetzte  finden  sich  überall!  „Der 
Vater  ist  der  Vorgesetzte  des  Kindes,  der  Lehrer  ist  der 
Vorgesetzte  der  Schüler,  der  Schutzmann  ist  der  Vorge- 
setzte des  Publikums,  der  Schalterbeamte  ist  der  Vor- 
gesetzte der  Briefmarkenkäufer,  das  Militär  ist  der  Vor- 
gesetzte des  Zivils,  und  in  den  Kolonien  fühlt  sich,  sehr 
zum  Schaden  des  zivilisatorischen  Gedankens,  der  Weiße 
vielfach  als  Vorgesetzter  des  Eingeborenen1)."  Wem 
noch  ein  bischen  Selbständigkeit  verblieben  ist,  der  nimmt 
seine  Zuflucht  zur  Vertretung  von  Privatinteressen,  in 
denen  er  mit  einer  mißgünstigen  und  jämmerlichen  Klein- 
lichkeit geschützt  wird. 

Nein,  so  darf  es  nicht  weiter  gehen  angesichts  der 
gegenwärtigen  katastrophalen  Umwälzung,  deren  ganze 
wuchtige  Bedeutung  einmal  richtig  erfaßt  werden  muß. 
„Was  ist  das  Ereignis,  das  uns  umbrandet?  Wir  nennen 
es  Krieg,  weil  es  die  Formen  des  Völkerkrieges  trägt,  weil 
in  Erde  Wasser,  Luft  und  Feuer  sichtbar  und  scheinbar 
die  verkrampften  Nationen  ringen.  Die  Kommenden  wer- 
den es  erkennen:  was  wir  erleben,  ist  die  Revolution  der 
Welt,  die  vulkanische  Aufwälzung  der  übermächtigen  glü- 
henden Unterschichten  der  menschlichen  Veste.  Sie  voll- 
zieht sich  nicht,  wie  ihre  altvaterischen  Verkünder  mein- 
ten, in  den  ungeregelten  Formen  des  Massenaufstandes 
mit  Pike  und  Sense,  das  wäre  gering  und  hätte  die  Anker 
und  Angeln  der  Welt  nicht  gesprengt.    Von  ihren  inneren 


l)  An  Deutschlands  Jugend  S.  118. 
252 


Spannungen  betäubt  und  rasend,  von  den  beiden  letzten 
und  höchsten  Destillaten  der  alten  Ordnung  berauscht, 
von  Nationalismus  und  Imperialismus  erzitternd,  müssen 
sich  Nationen  auf  Nationen  stürzen.  —  Sie  glauben,  um 
Herrschaft  und  Dasein  zu  ringen,  und  kämpfen  einen 
Kampf,  dessen  Entstehung  niemand  begreift,  dessen  Ziele 
nachträglich  mit  monatlichen  Richtigstellungen  gesucht 
werden  müssen.  In  Wahrheit  aber  brennt  die  alte  Wirt- 
schaftsordnung nieder,  und  es  naht  die  Zeit,  wo  der  alte 
Unterbau  der  Gesellschaftsordnung  sich  entzündet.  — 
Langsam  brennt  der  Brand  zu  Ende,  aus  dem  kein  Volk 
als  das  entsteigt,  was  es  gewesen.  —  Unschuldsvoll  und 
sonnengläubig  atmet  die  Natur  nach  Urgesetzen  die 
Luft  ihrer  Tage  und  Nächte.  Aber  die  heimkehren  aus 
Höllen  von  Schlamm  und  Feuer  und  aus  Abgründen  des 
Meeres,  aus  Gefangenschaften  in  Sonnenbrand  und  Eis- 
nacht, aus  zertretenen  Ländern,  aus  falschen  Paradiesen, 
aus  Qualen  des  Gewissens  und  der  Seele,  aus  Mutter- 
schmerzen und  Siechenhäusern,  aus  Haß  und  Opfer,  Tau- 
mel und  Bereicherung,  aus  Missetat  und  Gläubigkeit,  die 
Toten  und  Lebenden,  Verstümmelten  und  Kranken,  Ge- 
brochenen und  Erstarkten:  sie  alle,  alle,  sind  wissend  ge- 
worden. Mögen  sie  sich  in  heimischen  Kämpfen  zer- 
reißen, im  Willen  sich  einen  oder  in  Gott  sich  finden,  sie 
sind  nicht  mehr,  die  sie  waren;  sie  haben  in  Tiefen  ge- 
blickt und  tragen  den  dunklen  Abglanz  in  ihren  Augen.  — 
Doch  unbewußt  und  unbemerkt  erhebt  sich  die  Erkennt- 
nis: was  geschehen  ist,  das  kann  nicht  mehr  mit  über- 
kommenen Gewinnen  und  Opfern  gerechtfertigt  und  ge- 
sühnt werden.  Dieses  Gestirn,  diese  Menschheit  hat  zu 
tief  gelitten  und  zu  tief  erlebt,  als  daß  ein  Inbegriff  neuer 
Grenzlinien  und  Verfassungen,  Gelder  und  Mächte  die 
Seelen  loskaufe,  die  Toten  ehre,  die  Lebenden  versöhne. 
Nur  aus  dem  Innern,  aus  dem  tiefsten  Gewissen  der  Welt 
kann  Erlösung  hervorbrechen,   im  Namen  der  Gerechtig- 

263 


keit  und  Freiheit,  zur  Sühne   der  Menschheit     und     zur 
Ehre  Gottes1)." 

Doch  es  ist  kaum  möglich  von  dem  heutigen  Ge- 
schlechte, eine  derartige  Anstrengung  zu  erwarten,  von 
ihm,  das  keine  Veranlassung  hat,  sich  seiner  vergangenen 
Tat  zu  rühmen  und  das  durch  einen  solchen  Sturm  an 
Leib  und  Seele  gebrochen  ist.  Seine  Aufgabe  ist  erfüllt, 
als  die  eines  Geschlechtes,  das  soeben  sein  Werk  vollen- 
det hat.  Walther  Rathenau  richtet  daher  nun  auch  wenige 
Wochen  vor  dem  Kriegsschlusse  einen  feurigen  Aufruf  an 
die  deutsche  Jugend,  daß  sie  die  schwere  Pflicht  auf  sich 
nehme,  sich  von  verhängnisvollen  Fehlern  freizumachen 
und  die  neue  Aera  einzuleiten. 

„Meine  jungen  Freunde!  Wenn  die  Dinge  nicht  an- 
ders werden,  liegt  es  nur  an  euchl  Nehmt  sie  nicht  leicht! 
Unsere  Abhängigkeit  schädigt  den  Menschenwert.  Wir 
brauchen  Herrentum  und  Würde.  —  Wissen  wir  heute, 
daß  das  Vaterland  unser  Land,  der  Staat  unser  Staat,  und 
unsere  Treue  zum  König  die  freie  Zustimmung  und  Gefolg- 
schaft freier  Männer  ist?  —  Doch  eines  verschweigen  wir 
uns  nicht:  Das  Abhängigkeitsbedürfnis  ist  eines  der 
schwersten  Hemmnisse  des  inneren  und  äußeren  Aufstie- 
ges, es  ist  der  politische  Kardinalfehler  eines  Volkes.  — 
Dieser  Fehler  ist  auch  unser  Widersacher  in  dem  fried- 
lichen Kampf  um  die  Seele  unseres  Volkes,  sein  erstes 
Ziel  ist  Würde,  Adel  und  Herrentum.  Es  gibt  eine  deutsche 
Sendung  auf  Erden.  Sie  ist  nicht  die  Sendung  des  Milita- 
rismus, sie  ist  auch  nicht  die  Sendung  der  Mechanisierung 
und  der  Technik,  obwohl  sie  diese  Nützlichkeiten  nicht 
verschmäht,  sie  ist  am  wenigsten  die  Sendung  der  Welt- 
herrschaft. Sie  ist  die  Sendung,  die  sie  immer  war  und 
immer  sein  wird:  die  Sendung  des  reinen,  unbestechlichen, 
unbeirrbaren  und  unerbittlichen  Geistes.  —  Es  ist  nicht 
unsere  Sache,  die  Kellner,  Barbiere  und  Schneider  für  Lon- 


»)  W.  V.  S.  257-261,  Sep.-Ausg.  S.  83—86. 
254 


don  und  New  York  zu  liefern,  sondern  als  freie  Männer 
auf  freiem  Boden  brüderlich  mit  den  Völkern  zu  reden 
und  zu  wirken,  nicht  um  des  billigen  Nutzens,  sondern  um 
des  Geistes  und  der  Menschheit  willen:  ihnen  zu  bieten, 
was  wir  haben  und  von  ihnen  zu  empfangen,  was  wir 
brauchen. 

Es  wird  euch  bekämpfen  die  Herrenkaste.  Bekämp- 
fen werden  euch  die  Interessenten.  Bekämpfen  werden 
euch  die  Indolenten  und  mehr  noch  die  Originalsüchtigen. 
—  Glaubt  nicht,  es  werde  das  Geringste  euch  geschenkt. 
Bei  euch,  in  euch,  beginnt  der  Kampf.  Nur,  wenn  ihr 
frei  seid,  könnt  ihr  befreien,  nur,  wenn  i  h  r  edel  seid, 
könnt  ihr  adeln,  nur,  wenn  i  h  r  gerecht  seid,  könnt  ihr 
richten,  wenn  i  h  r  gütig  seid,  begüten,  wenn  i  h  r  gläubig 
seid,  erwecken.  Glaubt  nicht  den  Lobpreisern  des  Be- 
stehenden; sie  preisen,  was  sie  besitzen  und  festhalten 
und  dazu  erwerben  wollen.  —  Glaubt  nicht  den  Trägen 
und  Selbstgerechten,  die  sagen,  es  sei  anderwärts  nicht 
besser.  Die  Tugenden  der  anderen  sind  nicht  unser  Vor- 
bild, deshalb  sind  ihre  Laster  uns  keine  Entschuldigung. 
Es  ist  niedrig,  das  eigene  Ideal  an  fremder  Wirklichkeit 
zu  messen.  Glaubt  nicht  den  Schulweisen,  den  ohn- 
mächtigen Schriftgelehrten,  die  verkünden:  , Alles  bleibe 
beim  alten,  es  gibt  keine  Entwicklung.'  —  Freilich  fehlt  es 
am  führenden  Geist,  am  menschlichen  Vorbild;  denn  wir 
leben  in  der  Zeit  geistiger  Anarchie.  Kämen  die  Pro- 
pheten wieder,  man  wiese  ihnen  Unwissenschaftlichkeit 
und  mangelnde  Logik  nach  und  geigte  ihnen  heim  von 
Kanzeln  und  Kathedern.  —  Ein  tiefes  Gefühl  sagt  mir: 
Ihr  schreitet  freiwillig  den  Weg,  den  wir  gezwungen 
schreiten.  —  Die  Fackel  ruht  in  euren  Händen,  die  leuch- 
tende und  zündende,  die  verheerende  und  verklärende. 
Seid  gesegnet  und  seid  ein  Segen  unserem  Volke.  Seid 
gesegnet  mit  Härte  und  Unerbittlichkeit.  Die  soll  euch 
fest  machen  gegen  euch  selbst  und  gegen  den  Versucher. 
Sie  soll  euch  Not  und  Sorge  machen,  damit  ihr  den  gött- 

265 


liehen  Anspruch  nicht  leicht  gewinnt.  Seid  gesegnet  mit 
stolzer  Demut,  adliger  Entsagung  und  dienendem  Herren- 
tum, Die  sollen  euch  niederdrücken  und  euch  erheben, 
euch  zu  Dienenden  und  Schenkenden  machen,  damit  die 
Welt  von  euch  empfängt  und  sich  euch  hingibt.  Seid  ge- 
segnet mit  suchendem  Geist  und  ruhelosem  Herzen,  damit 
ihr  durch  alle  Zweifel  und  Finsternisse  stürmt  und  den 
Frieden  der  glaubenden  Seele  erringt.  Seid  gesegnet  mit 
verzehrender  Liebe,  die  soll  als  ein  Feuer  aus  euch  schla- 
gen, soll  euch  und  das  Land  läutern  von  den  Schlacken 
der  Zeit  und  Vorzeit  und  auffahren  als  eine  Opferflamme 
zum  Thron  des  Segnenden.  Zieht  in  den  Kampf  um  die 
Seele  unseres  Volkes1)." 


»)  An  Deutschlands  Jugend  S.  121-  127. 
2&S 


u 


Schluß 

Wer  etwa  versuchen  wollte,  ein  Gesamturteil  über 
die  Gedanken  und  Entwürfe  von  Walther  Rathenau  abzu- 
geben, der  wird  sich  natürlich  vor  allem  fragen  müssen, 
was  wohl  jetzt  geschehen  soll,  wo  der  Krieg  mit  der 
deutschen  Niederlage   geendet  hat. 

Die  persönliche  Stellungnahme  Walther  Rathenaus 
während  der  letzten  Monate  der  Feindseligkeiten  ist  eine 
ganz  eigenartige  gewesen.  Nachdem  er  der  Organisator 
des  wirtschaftlichen  Widerstandes  Deutschlands  gewesen 
ist,  nachdem  er  in  der  Schweiz  an  seinem  zukünftigen 
Wiederaufbau  gearbeitet  hat,  scheint  er  sich  aus  dem 
öffentlichen  Leben  zurückgezogen  zu  haben.  Sicher  hört 
er  auch  nicht  auf,  sich  lebhaft  für  die  Ereignisse  zu  inter- 
essieren und,  wenn  es  not  tut,  auch  einmal  mit  der  ganzen 
Autorität  seines  Namens  und  seiner  Vergangenheit  bei 
den  amtlichen  Behörden  einzugreifen.  Aber  seine  Gut- 
achten finden  nicht  mehr  die  alte  Aufnahme;  der  Triumph 
des  Militarismus  und  Alldeutschtumes  beunruhigt  ihn  und 
verscheucht  ihn  von  den  Staatsgeschäften.  Er  merkt  die 
Fehler  der  leitenden  Persönlichkeiten  Deutschlands,  ohne 
sie  hindern  zu  können.     Er  sieht  die  Niederlage  kommen. 

Sein  Freund  Albert  Ballin,  der  Direktor  der  Ham- 
burg-Amerika-Linie, der  an  sich  selbst  Hand 
angelegt  hat,  um  nicht  mehr  den  Zusammenbruch  seines 
Landes  zu  erleben,  konnte  ihm  noch  am  4.  Dezember  1917 
ungefähr  wörtlich  schreiben:  „Weder  Sie  noch  ich 
sind  jemals  Anhänger  dieser  unseligen  verschärften 
Unterseebootskriegsführung  gewesen.  —  Sowohl  Sie 
als  auch  ich  wissen,  daß  die  Amerikaner  höchst 
wahrscheinlich      die       größten     Idealisten    der      ganzen 

17  257 


Welt  sind.  Sie  wären  nicht  auf  Seiten  unserer 
Gegner  in  den  Kampf  gezogen,  hätten  sie  auch  nur  den 
geringsten  Zweifel  an  der  Gerechtigkeit  ihrer  Sache  ge- 
habt. —  Wir  müssen  England  schlagen,  sagen  Sie,  koste 
es,  was  es  wolle.  Einverstanden.  Ich  sage  nur  einfach: 
Ob  wir  es  nun  schlagen  oder  es  uns  schlage,  die  Folgen 
werden  in  beiden  Fällen  die  gleichen  sein:  der  Nieder- 
gang unseres  Ueberseehandels,  wenn  es  England  so  be- 
liebt. —  Sie  glauben  nicht  an  die  törichte  Versicherung, 
daß  uns  nach  dem  Kriege  die  Rohstoffmärkte  des  briti- 
schen Weltreiches  offenstehen  werden1)."  Als  Deutsch- 
land Anfangs  Oktober  1918  sein  Friedensangebot  machte, 
nahm  Walther  Rathenau  wieder  in  aller  Oeffentlichkeit 
das  Wort,  um  sich  gegen  diesen  Schritt  aufzulehnen.  Er 
hielt  das  Angebot  für  übereilt  und  bedenklich.  An  Stelle 
einfacher  Liquidation  war  es  das  Geständnis  des  Ban- 
krotts. Pflicht  der  Regierung  wäre  es  gewesen,  einen 
Ausschuß  der  nationalen  Verteidigung  zu  bilden  und  die 
Volkserhebung  in  die  Wege  zu  leiten2).  Ach,  der  Ab- 
schluß des  Waffenstillstandes  war  unvermeidlich3)! 

Mit  dem  nämlichen  Tage  verzehnfacht  Walther 
Rathenau  noch  seine  Artikel  und  Interviews  und  kommt 
in  allem  immer  wieder  auf  etwa  folgende  Gedanken  zu- 
rück: Deutschland  liegt  in  Trümmern.  Die  Entente  hat 
kein  Interesse  es  zu  zermalmen  und  es  auf  diese  Weise 
der  Anarchie  und  dem  Bolschewismus  auszuliefern;  wer 
da  wünscht,  daß  in  Zukunft  auf  Erden  Frieden  herrschen 
soll,  der  darf  nicht  mit  Haß  richten  und  verurteilen, 
sondern  muß  mit  ruhiger  Unparteilichkeit  und  Menschen- 
liebe die  Wilsonschen  Grundsätze  anwenden.  In  diesem 
Sinne  bemerkte  er  zu  einem  Korrespondenten  des 
New  York  Herald  etwa  folgendes:  „Deutschland 
ist    auf    mehrere    Menschenalter    ruiniert.    —    Das    Ver- 

lj  Dieser  Brief  ist  am  26.  Oktober  1918  in  der  Presse  veröffentlicht. 
*)  „Vossische  Zeitung"  vom  7.  Oktober  1918.  8)  Heute  ist  das  „Märchen 
vom  Dolchstoss  in  den  Rücken  der  Armee"  zweifellos  auch  von  einem 
Walther  Rathenau  erkannt!    Bearbeiter. 

258 


schwinden  Deutschlands  als  Großmacht  wäre  ein  ge- 
schichtliches Unglück."  Er  richtet  einen  offenen  Brief 
an  Oberst  House:  „Deutschland  ist  schuldlos;  denn  der 
deutsche  Wille  war  nicht  frei.  —  Uns  fehlte  die  innere 
Freiheit.  Was  uns  angedroht  wird,  ist  die  Vernich- 
tung. Nicht  an  Ihr  Mitleid  wende  ich  mich,  sondern  an 
das  Gefühl  der  menschlichen  Solidarität.  —  Wilson  hat 
ausgesprochen,  was  nie  zuvor  irdische  Gewalt  zu  ver- 
wirklichen wagte:  Friede,  Versöhnung,  Recht  und  Frei- 
heit für  alle.  Gott  gebe,  daß  seine  Worte  Wahrheit 
werden1)."  Er  wendet  sich  mit  einem  Aufruf:  An  alle, 
die  der  Haß  nicht  blendet:  „Mens  :hen  aller 
Völker,  bedenkt  es!  Diese  Stunde  entscheidet  nicht  nur 
über  uns  Deutsche,  sie  entscheidet  über  uns  und  Euch, 
über  uns  alle.  Entscheidet  sie  gegen  uns,  so  werden 
wir  unser  Schicksal  tragen  und  in  die  irdische  Vernich- 
tung gehen.  Unsere  Klage  werdet  Ihr  nicht  hören.  Den- 
noch wird  sie  da  gehört  werden,  wo  noch  nie  eine  Klage 
aus  Menschenbrust  ungehört  verhallte2)."  Im  Februar 
1919  vertraut  er  sich  einem  französischen  Journalisten: 
„Deutschland  ist  in  einer  ganz  entsetzlichen  Lage.  —  All 
das  hätte  sich  vermeiden  lassen,  wenn  man  auf  uns  ge- 
hört hätte.  —  Die  Entente  glaubt  an  die  Möglichkeit 
einer  Rückflut  des  Bolschewismus  durch  Polen  und  ein 
geschwächtes  Deutschland.  Es  ist  das  eine  gefährliche 
Illusion.  Ich  glaube,  nur  eine  kräftige  Solidarität  aller 
Nationen  gegenüber  der  gemeinsamen  Gefahr  kann  die 
Welt  noch  allein  retten."  Und  in  Vertretung  seiner  eige- 
nen Sache  verwahrt  er  sich  dagegen,  daß  er  der  Urheber 
oder  der  Ausführer  des  „Planes  Rathenau"  zur  Zerstörung 
Belgiens  sei,  und  erkennt  offen  die  Notwendigkeit  einer 
Wiedergutmachung  an3). 

*)  „Vorwärts"  vom  6.  Dezember  1918.  2)  „Zukunft"  vom  21.— 28.  De- 
zember 1918.  Dieser  Aufruf  erschien  gleichzeitig  in  den  verschiedensten 
Blättern  des  neutralen  Auslandes.  8)  „Martin"  vom  12.  Februar  1919. 
Walther  Rathenau  hatte  bereits  in  einem  Aufsatze  in  der  „Neuen  Zürcher 
Zeitung"  vom  29.  Januar  1919  seine  Verteidigung  geführt 

17»  259 


War  das  derselbe  Walther  Rathenau,  der  mit  einer 
unbestreitbaren,  wenn  auch  etwas  anmaßenden  Meister- 
schaft einst  die  riesige  A.  E.  G.  leitete,  derselbe,  der  am 
9.  August  1914  frisch  drauflos  die  Kriegsrohstoff- 
Abteilung  gründete?  Ist  seine  Laufbahn  schon  ab- 
geschlossen, und  brauchen  wir  diesen  so  genialen  In- 
dustriellen wirklich  nicht  mehr  zu  fürchten?  Ganz  un- 
parteiisch gesprochen,  niemand,  der  seine  gesamten 
Werke  gründlich  gelesen  hat,  kann  noch  irgendwie  an  der 
Aufrichtigkeit  seiner  verschiedenen  Appelle  an  die  mensch- 
liche Solidarität  zweifeln!  Hatte  er  nicht  gleich  mit  seinen 
ersten  Schriften  zur  Feder  gegriffen,  um  die  Ankunft  des 
Reiches  der  Seele  zu  prophezeien?  Aber  dessenungeach- 
tet wird  doch  stets  die  Frage  an  ihn  ergehen:  Weshalb 
haben  Sie  wohl  im  Dezember  1918,  als  Sie  offenbar  Ihre 
ganzen  Bemühungen  auf  einen  rührenden  Versuch  zur 
Rettung  Deutschlands  vor  völligem  Untergange  richten 
wollten,  öffentlich  gesprochen  und  nicht  schon  damals 
im  Juli  1914,  wo  Sie  durch  einen  Friedensvermittelungs- 
versuch,  wenn  nicht  den  Krieg  zum  völligen  Stillstand 
gebracht,  so  doch  sicher  Ihre  idealistischen  Lehren  durch 
eine  wahre  Tat  geweiht  hätten? 

Aber  andererseits  wäre  es  ungerechtfertigt,  die  Ehr- 
lichkeit der  Haltung  Walther  Rathenaus  gegen  den 
Unterseebootkrieg  irgendwie  anzweifeln  zu  wollen,  war 
er  doch  in  der  Tat  viel  zu  umsichtig  und  weit- 
blickend, um  nicht  die  daraus  für  sein  Land  erwach- 
senden Gefahren  voraussehen  zu  können.  Aber  dessen- 
ungeachtet hat  ein  belgisches  Blatt  das  Verlangen  stellen 
können,  daß  Rathenau  an  ihr  Land  ausgeliefert  und  über- 
antwortet werde,  um  ihn  vor  ein  Gericht  zu  stellen1), 
und,  wenn  auch  der  Minister  Erzberger  von  Amts 
wegen  den  westfälischen  Grubenbesitzer  Hugo  Stinnes 
als  einen  der  Hauptanstifter  der  Plünderung  Belgiens 
und  der  Deportationen  belgischer  Arbeiter  ange- 
J)  „Belgisch  Dagblad"  vom  21.-22.  Dezember  1918. 

260 


klagt  hat1),  so  bleibt  doch  darum  auch  Walther  Rathe- 
naus  Schuld  nicht  weniger  groß,  weil  man  sich  nur 
schwer  dazu  verstehen  wird  seinen  Einwand  gelten  zu 
lassen,  daß  er  doch  immer  nur  durch  sein  Pflichtgefühl 
gegenüber  seinem  Vaterlande  bestimmt  worden  sei.  Auch 
Walther  Rathenaus  unterirdische  Tätigkeit  in  der  Schweiz 
läßt  sich  nur  schwer  entschuldigen;  sein  Streben  war, 
ohne  Ansehung  des  Mittels,  das  wirtschaftliche  Ueber- 
gewicht  Deutschlands  zu  sichern.  Ebenso  ist  wohl  auch 
eine  Stelle  in  Walther  Rathenaus  Streitschrift  ,,D  i  e 
neue  Wirtschaft"  nicht  gerade  zu  den  beruhigen- 
den zu  zählen.  Walther  Rathenau  gibt  hier  zu,  daß 
Deutschland  nach  dem  Kriege  von  allen  Rohstoffen  ent- 
blößt sein  wird,  und  versichert  doch  gleichzeitig,  es  werde 
seine  industrielle  Leistungsfähigkeit  verdoppeln  müssen. 
Sollten  wirklich  zur  Erreichung  dieses  Ergebnisses 
Deutschlands  zurückgelegte  Ersparnisse  genügen,  oder 
ist  nicht  vielmehr  dort  stillschweigend  zwischen 
den  Zeilen  zu  lesen,  daß  Walther  Rathenau 
im  Jahre  1917  noch  heimlich  an  die  Möglichkeit 
eines  für  Deutschland  günstigen  Friedens  glaubte 
und  den  Rat  zu  geben  vorhatte,  seine  Delegierten 
sollten  eine  reichliche  Rohstoffversorgung  zu  einer  con- 
ditio, sine  qua  non  für  den  Friedensschluß  machen?  Ein 
solcher  Konkurrent  würde  immer  gefürchtet  bleiben! 
Walther  Rathenau  steht  noch  im  gegenwärtigen  Augen- 
blicke den  Staatsgeschäften  fern.  Doch  er  steht  jetzt  erst 
im  Alter  von  52  Jahren  und  hat  zweifellos  seine  Rolle 
noch  nicht  ausgespielt.  Er  selbst  erklärt,  er  werde  sich 
nicht  töten,  wie  sein  Freund  Ballin,  sondern  das  Ge- 
schick, das  seinen,  wie  er  sagt,  noch  nichts  von  ihrem 
Unglück   ahnenden    Brüdern   bevorsteht,    schweigend   tei- 

*)  Sitzung  der  Nationalversammlung  zu  Weimar  vom  18.  Februar  1919. 
Ist  nicht  in  allen  diesen  Beschuldigungen  trotz  aller  Rechtfertigungsversuche 
der  eigentliche  Grund  zu  sehen,  warum  ein  Mann  wie  Walther  Rathenau 
nicht  mit  der  deutschen  Delegation  zur  Friedenskonferenz  gegangen  ist  im 
Gegensatz  zu  dem  anfänglich  Beschlossenen? 

261 


len1)."  Es  scheint  nicht  besonders  gewagt  zu  behaupten, 
daß  er  sich  sicher  bemühen  wird  ihr  Los  zu  erleichtern. 
Es  gilt  also  die  gebieterische  Vorsicht  zu  üben,  Walther 
Rathenaus  Wesen  gründlich  zu  studieren,  und  ihm  gegen- 
über ja   auf  der  Hut  zu  sein! 

Es  wäre  wohl  ebenso  voreilig  sich  einzubilden,  daß  mit 
dem  deutschen  Kriegsverluste  auch  bereits  Rathenaus 
weitblickenden  Plänen  das  Totenglöckchen  geläutet  habe. 
Ganz  gewiß,  beim  Lesen  von  mehr  als  einer  seiner  Vor- 
hersagen und  feierlichen  Voraussehungen  wird  sich  ein 
Lächeln  nicht  zurückhalten  lassen.  Wie  gestaltet  sich 
wohl  erst  der  Abschluß  des  deutschen  Budgets,  das 
schon  an  sich  mit  so  großen  Ausfällen  rechnen  muß, 
wenn  jeder  halbe  Sieg  in  Rechnung  gestellt  wurde?  Bis 
zu  welcher  Höhe  sollen  denn  eigentlich  noch  die  Schul- 
den steigen?  Glauben  Sie  denn  nicht  auch,  Herr  Ra- 
thenau,  daß  einige  neue  Spar-  und  Einschränkungs- 
bestimmungen recht  nützlich  sein  könnten?  Die  deutsche 
Revolution  kündigten  Sie  zuverlässig  an,  doch  keine,  in 
der  die  Massen  mit  Pike  und  Sense  auf  die  Straße  gingen, 
mit  einem  Worte  nicht  die  Revolution  im  Sinne  der  bru- 
talen Heugabelgewalt.  Und  nun  haben  diese  Massen 
auch  nicht  einmal  mehr  die  altmodischen  Piken  und 
Sensen,  sondern  die  modernen  Handgranaten  und  Ma- 
schinengewehre verwendet.  Abgesehen  von  dieser  Tat- 
sache hat  es  den  Anschein,  als  ob  sich  die  heutige 
Revolution  nach  den  altgewohnten  Methoden  mit  Kra- 
wallen, Schlachten  und  Meuchelmorden  abspiele.  Wann 
wird  wohl  da  von  sozialem  Neuaufbau  oder  auch  nur 
überhaupt  von  irgendwelchem  Aufbau  gesprochen 
werden  können?  Bei  der  Rückkehr  von  der  Front  sind 
die  Regimenter  auseinandergelaufen,  haben  sich  selb- 
ständig aufgelöst  und  über  das  ganze  Land  Tausende  von 
Arbeitslosen  geworfen.     Die  Bergarbeiter  und  Unmengen 


')  In  dem  Aufrufe :  An   alle,  die   der  Hass  nicht  blendet. 
262 


aus  anderen  Arbeitsberufen  streiken.  Kein  Verkehr  mehr, 
keine  Lebensmittelzufuhr!  An  Stelle  ersprießlicher  Tätig- 
keit und  wachsenden  Wohlstandes  für  alle  erwartet 
Deutschland  eine  Zukunft,  die  im  folgenden  mit  den 
eigenen  Worten  Walther  Rathenaus  ihren  plastischen 
Ausdruck  finden  soll:  ,,Wer  in  zwanzig  Jahren  Deutsch- 
land betritt,  das  er  als  eines  der  blühendsten  Länder  der 
Erde  gekannt  hat,  wird  niedersinken  vor  Scham  und 
Trauer.  Die  großen  Städte  des  Altertums,  Babylon,  Nini- 
veh,  Theben,  waren  von  weichem  Lehm  gebaut,  die  Natur 
ließ  sie  zerfallen  und  glättete  Boden  und  HügeL  Die 
deutschen  Städte  werden,  wenn  man  unsere  Lebenskraft 
tötet,  nicht  als  Trümmer  stehen,  sondern  als  halb  erstor- 
bene, steinerne  Blicke,  noch  zum  Teil  bewohnt  von  küm- 
merlichen Menschen.  Ein  paar  Stadtviertel  sind  belebt, 
aber  aller  Glanz  und  alle  Heiterkeit  ist  gewichen.  Müde 
Gefährte  bewegen  sich  auf  dem  morschen  Pflaster.  Spe- 
lunken sind  erleuchtet.  Die  Landstraßen  sind  zertreten, 
die  Wälder  sind  abgeschlagen,  auf  den  Feldern  keimt  dürf- 
tige Saat.  Häfen,  Bahnen,  Kanäle  verkommen  und  überall 
stehen,  traurige  Mahnungen,  die  hohen  verwitterten 
Bauten  aus  der  Zeit  der  Größe1)."  Wo  sind  denn  die 
Prophezeiungen  von  noch  vor  einem  Jahre  geblieben? 

Bevor  wir  ein  endgültiges  Urteil  aussprechen,  wollen 
wir  lieber  erst  das  Ende  der  Begebenheit  abwarten.  Wenn 
in  Deutschland  die  Anhänger  der  Ordnungsparteien,  die 
hier  noch  immer  trotz  alledem  und  alledem  in  großer 
Menge  vertreten  sind,  endgültig  triumphieren  sollten, 
warum  sollten  dann  eigentlich  die  Pläne  eines  Walther 
Rathenau  für  immer  aufgegeben  sein?  Gewiß,  die  Rech- 
nung, die  zu  zahlen  ist,  wird  sicher  nicht  gering  sein! 
Aber  das  letzte  Bild,  man  muß  es  doch  sagen,  ist  wohl 
in  der  Tat  seinem  Maler,  vielleicht  gar  absichtlich,  etwas 
zu  schwarz  geraten!    Gewiß,  für  den  Wiederaufbau  wer- 


')  In  dem  Aufrufe:  An   alle,  die  der  Hass  nicht  blendet. 

26L< 


den  natürlich  noch  weit  beträchtlichere  Anstrengungen 
gemacht  werden  müssen  als  sie  ohne  die  Niederlage  er- 
forderlich gewesen  wären;  aber  sie  werden  darum  nicht 
unmöglich  sein.  Die  Bewegung  ist  ganz  gegen  die  Er- 
wartung Rathenaus  eine  blutige  geworden!  Aber  hatte 
nicht  derselbe  Denker  erkannt,  daß  die  wirtschaftliche 
und  sittliche  Unordnung  die  Weltkatastrophe  herbeiführen 
müßte  und  daß  die  große  militärische  Unternehmung 
weniger  einen  Krieg  als  eine  furchtbare  Revolution  be- 
deute? Zwar  werden  seine  Ansichten  zur  einen  Hälfte 
lügen  gestraft,  zur  anderen  aber  um  so  seltsamer  dut":li 
die  Ereignisse  bestätigt. 

Doch  auch  selbst  die  Theorien  eines  Walther  Ra- 
thenau  bewegen  sich  noch  ganz  in  den  Bahnen  der  alten 
deutschen  Tradition!  Jene  vernünftige  Monarchie,  die  er 
weiter  treu  erhalten  will,  ist  das  nicht  die  nämliche,  von 
der  bis  zum  Novembermonat  des  Jahres  1918  fast  die 
Gesamtheit  aller  Deutschen  träumte,  eine  erbliche  Mon- 
archie, deren  Inhaber  über  den  gemeinen  Interessen  un  1 
Leidenschaften  des  Tages  stehen  und  sich  nicht  etwa  auf 
eine  einzelne  eigennützige  Kaste,  sondern  auf  die  von  einem 
ebenso  verständigen  Parlamente  vertretene  gesamte  Nation 
stützen  sollte.  Dieses  Ideal  hatte  seine  Wurzel  in  der 
rühmlichen  Freiheitsbewegung  des  Jahres  1807,  in  der 
die  Furcht  vor  Napoleon  I.  die  Weisheit  aller  Könige  und 
Völker  bildete,  und  für  einen  Augenblick  ihre  Einigkeit 
besiegelte.  Seitdem  warteten  die  durch  die  Reaktion 
grausam  enttäuschten  Untertanen  der  deutschen  Fürsten 
Jahrzehnte  vergeblich  auf  seine  Verwirklichung.  Aber 
sie  wurden  nicht  müde  und  hatten  allmählich  begriffen, 
wie  man  zu  den  begeisterten  Massen  in  den  ersten 
Augusttagen  des  Jahres  1914  zu  sprechen  habe,  als 
Wilhelm  II.  in  seinem  Aufruf  an  sein  Volk  verkündete, 
„er  kenne  keine  Parteien  mehr,  sondern  nur  noch 
Deutsche." 

264 


Ebenso  hat  der  Begriff  des  „Volksstaates"  und  die 
diesem  gestellte  große  Aufgabe  Deutschland  das  ganze 
19.  Jahrhundert  hindurch  beschäftigt.  Die  Romantiker 
unter  seinen  Dichtern  und  Philosophen  brachen  mit  der 
nationalistischen  Auffassung  vom  Staate  als  einer  auf 
einem  Gesellschaftsvertrage  beruhenden  und  nach  den 
Gesetzen  der  Vernunft  aufgebauten  einfachen  Interessen- 
gemeinschaft. Für  sie  war  der  Staat  eins  ungezwungene, 
aber  organische  Vereinigung,  die  allein  aus  ihren  ge- 
schichtlichen Anfängen  zu  erklären  und  nur  in  dem  Sinne 
geschichtlicher  Evolution  wandlungsfähig  war,  doch  eine 
ihren  verschiedenen  Einzelmitgliedern  unendlich  über- 
legene Einheit  bildete.  Der  Staat  ist  „eine  mystische 
Individualität",  meinte  noch  Friedrich  Novalis.  Georg 
Hegel  sah  in  ihm  die  „Verwirklichung  der  sittlichen  Idee" 
und  Adam  Müller  schrieb  noch:  „Der  Staat  bildet  die 
Gesamtheit  aller  menschlichen  Angelegenheiten,  —  die 
innige  Verschmelzung  aller  physischen,  geistigen  und  see- 
lischen Bedürfnisse,  des  gesamten  materiellen  und  geisti- 
gen Reichtums,  des  gesamten  inneren  und  äußeren  Lebens 
einer  Nation  in  einem  mit  unendlicher  Energie  und 
Lebenskraft  ausgestatteten  großen  Gesamtorganismus." 
Was  gilt  angesichts  dieses  gewaltigen  Ganzen  das  kleine 
Einzelwesen?  Es  ist  nur  ein  unbedeutendes  Glied  in  der 
ungeheuren  Kette,  eine  einzelne  Zelle  in  dem  Gesamtorga- 
nismus. Es  hat  ohne  dieses  Ganze  weder  irgendeine  Be- 
deutung noch  irgendeine  Daseinsberechtigung.  „Der 
Begriff  des  Menschen  ist  nicht  der  eines  abgeschlosse- 
nen Wesens,  ein  Begriff,  der  völlig  unfaßbar  wäre,  son- 
dern der  einer  gesamten  Gattung,"  meint  Gottlieb  Fichte, 
und  Adam  Müller  erklärt:  „Der  Mensch  ist  außerhalb  des 
Staates  und  anders  als  im  Staate  überhaupt  nicht  zu  be- 
greifen." Daher  die  dem  Staate  zufallende  ursprüngliche 
Rolle.  Er  kann  nicht  mehr  wie  im  18.  Jahrhundert  als  ein 
einfaches  Mittel  gelten,  friedlichen  Bewohnern  die  Sicher- 
heit innerhalb  wie  außerhalb  der  Landesgrenzen  zu  ver- 

265 


schaffen.  Er  ist  Zweck  in  sich,  Selbstzweck.  Bei  jedem 
Anlasse  schuldet  er  seinen  Mitgliedern  Hilfe  und  Bei- 
stand, wie  sie  selbst  ihm  Achtung  und  Ergebenheit  schul- 
den. Friedrich  Liszt  zeigt,  wie  dieser  Staat  durch  Aus- 
nutzung aller  nationalen  Hilfsquellen  und  durch  Schutz 
gegen  das  Eindringen  ausländischer  Erzeugnisse  Acker- 
bau, Handel  und  Industrie  glänzend  zu  entwickeln  ver- 
mag. Um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  vereinigen 
Männer  wie  Johann  Karl  Rodbertus  und  Ferdinand  Las- 
salle, die  Begründer  des  Staatssozialismus,  später  Männer 
wie  Adolph  Wagner  und  Gustav  Schmoller,  seine  eifrigen 
Gönner  und  Förderer,  mit  den  anderen  Aufgaben  des 
Staates  jene  hehrste  und  erhabenste  eines  höchsten  Er- 
ziehers der  Nation.  Die  Volkswirtschaftslehre  wird  zur 
ersten  Wissenschaft,  weil  sie  danach  streben  muß  die 
Probleme  zu  lösen,  die  sich  ihr  durch  eine  sorgfältige  Er- 
forschung der  wirtschaftlichen  und  sozialen  Tatsachen 
auftun;  sie  wird  gleichzeitig  zu  einer  Ethik,  lassen  sich 
doch  die  Ziele,  auf  die  das  soziale  Leben  hinstreben  muß, 
nur  ganz  unabhängig  von  solchen  bestimmen,  die  das  sitt- 
liche Leben  verfolgt.  In  diesem  Sinne  Mist  der  Staat  die 
erhabenste  Veranstaltung  für  die  sittliche  Erziehung  d^s 
Menschengeschlechts."  Es  ist  insbesondere  zu  lehren,  daß 
der  Egoismus  der  persönlichen  Interessen  stets  zu  ver- 
urteilen ist,  daß  jedes  Einzelwesen  Pflichten  gegen  Staat 
und  Gesellschaft  hat  und  zur  Uebernahme  aller  Opfer 
bereit  sein  muß,  die  nur  irgend  der  Staat  von  ihm  ver- 
langen sollte.  Der  Staat  hat  die  Pflichtr  jede  nur  irgend 
mögliche  Anregung  im  Hinblick  auf  eine  Hebung  der  wirt- 
schaftlichen Lage  der  Arbeiterschaft  entgegenzunehmen, 
die  besitzenden  Klassen  über  das  Bedenkliche  ihres 
kurzsichtigen  Klassenegoismus  aufzuklären  und  eine 
Abstufung  der  gesellschaftlichen  Klassen  derart  vor- 
zunehmen, daß  der  Uebergang  von  einer  Stufe 
zur  nächstfolgenden  leicht  und  bequem  ist.  Alle 
diese    Ideen    haben    während    des    gesamten    19.   Jahr- 

266 


hunderts  niemals  aufgehört  in  deutschen  Hirnen  zu 
leben,  und  marxistischer  Sozialismus  ist  einfach  damit 
völlig  durchtränkt.  Hierzu  gehören  auch  solche  Ideen, 
wie  sie  noch  heute  Walther  Rathenau  leiten,  wie  etwa  sein 
als  „Organokratie"  aufgefaßter  Volksstaat,  sein  absoluter 
Autorität  umkleideter  Einheitsstaat,  der  den  beständigsten 
Regulator  aller  Privatangelegenheiten  urd  eine  Quelle 
der  schönsten  sittlichen  Kräfte   darstellt. 

Ist  es  denn  eigentlich  dann  noch  irgendwie  erstaun- 
lich, wenn  Walther  Rathenaus  Geist,  anstatt  in  dem 
großen  Schiffbruche  des  Kaiserlichen  Deutschlands  unter- 
zugehen, immer  noch  die  zu  ermutigen  scheint,  die  mitten 
im  Sturme  noch  Gesetzesmacherei  treiben?  Schon  am 
21.  November  1918  kündigte  ein  Radiotelegramm  des 
deutschen  Propagandadienstes  an,  es  sei  soeben  ein  Aus- 
schuß von  acht  Mitgliedern1)  zur  Vorbereitung  und  Her- 
beiführung der  Sozialisierung  der  habptsächlichsten 
natürlichen  Reichtumsquellen  eingesetzt  worden.  Ein 
anderes  Radiotelegramm  vom  27.  Januar  1919  lautete 
folgendermaßen:  „Das  ReichswirtschaftsHrot  hat  einen 
Gesetzentwurf  vorgelegt,  der  darauf  gerichtet  ht,  die 
künftige  Volkswirtschaft  Deutschlands  zu  regeln  und 
neuen  Grundsätzen  anzupassen.  Es  handelt  sich  darum, 
bei  sich  bietender  Gelpgenheit  sämtliche  Deutschland  zur 
Verfügung  stehenden  Energiequellen  zu  organisieren 
und  aufs  bestmögliche  auszubeuten."  Der  Entwurf  ist  ver- 
öffentlicht worden;  aus  der  Darlegung  der  Gründe  sind 
folgende  Sätze  hervorzuheben:  ,,Es  handelt  sich  darum, 
den  einem  tüchtigen  wirtschaftlichen  Ertrage  so  verhäng- 
nisvollen freien  Wettbewerb  zu  beseitigen,  den  Zwischen- 
handel und  die  Verzettelung  der  Geschäfte  auf  die  ver- 
schiedenen Industriezweige  vermittels  einer  immer  mehr 
zunehmenden  Verschmelzung  aufzuheben,  insofern  als 
diese   Verschmelzung   alle   irgendwie   vermeidlichen   Ver- 

')  Die  Herren  Ballod,  E.  Francke,  Lederer,  Vogelstein,  Rudolf  Hilfer- 
ding, Karl  Kautsky,  H.  Cunow,  0.  Hue. 

267 


luste  ausschalten  würde,  und  schließlich  die  Arbeit  der- 
artig zu  organisieren,  daß  sich  alle  ihre  Anstrengungen  ver- 
einigen, anstatt  sich  gegenseitig  nicht  kennen  zu  wollen, 
wenn  nicht  gar  gegen  einander  zu  arbeiten."  Oder  weiter: 
„Die  der  Gesamtheit  gehörigen  Reichtümer  dürfen  nicht 
mehr  bedingungslos  der  beliebigen  Willkür  der  Einzelnen 
überlassen  werden,  sondern  sind  stets  an  die  Nation  zu- 
rückzugeben und  von  der  Gesamtheit  zu  verwalten." 
Selbstverständlich  muß  ,,der  Reiz  eines  angemessenen 
Gewinnes"  bestehen  bleiben  und  als  wesentlicher  Faktor 
zum  Aufschwung  jedes  Unternehmens  beitragen. 

Die  drei  ersten  Artikel  haben  folgenden  Wortlaut: 
„Artikel  1.  Jeder  Deutsche  muß  seine  geistigen 
und  körperlichen  Kräfte  so  ausnützen,  wie  es  das  Wohl 
der  Gesamtheit  verlangt.  Der  Zwang  zur  Arbeit,  einem 
der  der  ganzen  Nation  gehörigen  höchsten  Güter,  steht 
unter  dem  Schutze  des  Reiches.  Jeder  Deutsche,  der 
keine  Arbeitsgelegenheit  finden  sollte,  wird  seine  Exi- 
stenz auf  Grund  der  von  den  besonderen  Reichsgesetzen 
festgelegten  Normen  aus  öffentlichen  Mitteln  gesichert 
sehen.  A  r  t  i  k  e  1  2.  Es  liegt  dem  Staate  ob,  die  wirt- 
schaftlichen Unternehmungen  und  ihre  Werte,  insbeson- 
dere die  Bodenschätze  und  die  Naturkräfte  an  die 
deutsche  Wirtschaftsgemeinschaft  überzuführen,  wie  auch 
die  Gewinnung  und  die  Verteilung  zu  Gunsten  des 
Reiches,  der  Einzelstaaten,  der  Gemeinden  und  der  Ge- 
meindeverbände zu  ordnen.  Artikel  3.  Alles,  was 
die  allgemeine  deutsche  Volkswirtschaft  angeht,  wird  von 
unterschiedlichen  selbständigen  Verwaltungsorganen  unter 
der  Kontrolle  des  Reiches  geleitet  werden1)."  Wir  wollen 
zugeben,  daß  Walther  Rathenau  niemals  eine  Entschädi- 

')  Sitzungsberichte  aus  den  ersten  Märztagen  1919.  In  der  Weimarer 
Nationalversammlung  hat  der  Reichswirtschaftsminister  Wisseil  diesen 
Gesetzentwurf  mit  etwa  folgenden  Worten  vertreten :  „Es  handelt  sich 
nicht  etwa  darum,  für  alle  Bürger  einen  Arbeitszwang  in  dem  Sinne  ein- 
zuführen, wie  ihn  das  Gesetz  über  den  Nationalen  Hilfsdienst  erstrebte, 
sondern  vielmehr  darum,  einmal  den  Grundsatz  der  Verpflichtung  zur 
Arbeit  einschliesslich  eines  Programmes  zu  verkünden,  von  dem  wir  uns 

268 


gung  für  Arbeitslosigkeit  vorgeschlagen  oder  gebilligt 
hätte.  Wir  wollen  es  ruhig  gelten  lassen,  daß  solche 
Ideen  schon  seit  langem  den  Sozialdemokraten  vertraut 
gewesen  sind  und  daß  eine  solche  Sozialisierung  der 
Kraftquellen,  der  Bergwerke,  der  Kohle,  der  Elektrizi- 
tät, des  Kali  usw.  in  dieser  Zeit  nur  unter  dem  Drucke 
der  radikalsten  Parteien  bewilligt  worden  ist.  Es  bleibt 
darum  doch  nicht  weniger  wahr,  daß  solche  Grundsätze 
und  Vorkehrungen  ganz  genau  ebenso  auch  gewissen 
Theorien  der  bürgerlichen  Großindustrie  entsprechen, 
über  deren  Unterstützung  sie  gar  nicht  so  böse  gewesen 
wären.  Tausende  von  Exemplaren  seiner  Werke  sind 
während  des  Krieges  gelesen  worden,1)  und  es  ist  des- 
halb gar  nicht  so  unmöglich,  daß,  wenn  sich  die  Unruhen 
erst  einmal  wieder  etwas  gelegt  haben,  dann  auch  eines 
schönen  Tages  sein  wirtschaftlicher  Erneuerungsentwurf 
entweder  ganz  oder  wenigstens  teilweise  zur  Ausführung 
kommen  wird.1) 

In  Zukunft  bei  unserer  Arbeitergesetzgebung  leiten  lassen  werden.  In 
Anerkennung,  dass  die  Arbeit  die  Quelle  höchster  wirtschaftlicher  Werte 
ist,  gibt  sich  der  Staat  das  Recht,  sie  besonders  zu  schützen.  Der  Zwang 
zur  Arbeit  ist  eine  Ergänzung  des  Rechtes  auf  Arbeit.  Es  handelt  sich 
um  eine  praktische  Organisationsfrage.  Die  Organisation  wird  in  den 
verschiedenen  Industriezweigen  verschiedene  Formen  annehmen.  Es 
kommt  nicht  darauf  an,  ein  gleichförmiges  Muster  für  alle  einzelnen  Fälle 
anzunehmen.  Nur  keine  allgemeine  Reglementierung,  sondern  ein  selb- 
ständiges Verfahren  für  jeden  einzelnen  Industriezweig.  Die  technische 
und  kommerzielle  Leitung  einer  Industrie  muss  der  Staat  natürlich  den 
wirtschaftlich  interessierten  Gruppen  überlassen,  die  deren  Bedürfnisse 
besser  kennen  müssen. 

Es  handelt  sich  zunächst  um  die  Sozialisierung  des  bedeutendsten 
Zweiges  der  gesamten  deutschen  Wirtschaftstätigkeit,  nämlich  um  die 
Produktion  von  Kraftenergien.  Wir  sehen  mit  Schrecken  die  schon  sehr 
geringe  Zahl  unserer  Energiequellen  sich  allmählich  immer  mehr  er- 
schöpfen. Es  liegt  also  im  Interesse  der  Gesamtheit,  die  beste  Verteilung 
und  vorteilhafteste  Ausnützung  dieser  Kraftquellen  sicherzustellen. 

')  Zum  Schlüsse  des  Jahres  1918  hatten,  ganz  abgesehen  von  der 
Inzwischen  erfolgten  fünfbändigen  Gesamtausgabe,  seine  einzelnen  Werke 
folgende  Auflagenhöhen  erreicht:  „Zur  Kritik  der  Zeit"  15  Aufl.,  „Zur 
Mechanik  des  Geistes"  9  Aufl.,  „Von  kommenden  Dingen"  65  Aufl., 
..Deutschlands  Rohstoffversorgung"  39  Aufl.,  „Probleme  der  Friedens- 
wirtschaft" 25  Aufl.,  „Streitschrift  vom  Glauben"  11  Aufl.,  „Vom  Aktien- 
wesen"  20  Aufl.,  „Die  neue  Wirtschaft"  40  Aufl. 

269 


Ganz  ebenso  erweist  sich  auch  eines  der  Lieblings- 
axiorae  Walther  Rathenaus  in  diesen  Tagen  als  nur  zu 
wahr!  Wie  hat  er  doch  Recht  behalten,  wenn  er  einstens 
ausgeführt  hat:  Die  durch  den  Krieg  hervorgerufenen  sitt- 
lichen und  wirtschaftlichen  Umwälzungen  sind  derart,  daß 
die  Völker  sich  mit  kleinen  Zugeständnissen  und  Schein- 
oder Teilreformen  weder  begnügen  können  noch  begnügen 
wollen  werden.  Man  wird  diesmal  schwerlich  um  die 
großen  Probleme  herumkommen,  nachdem  ihre  Prüfung 
bisher  immer  wieder  verschoben  worden  ist.  Es  wird 
darauf  ankommen,  einen  einheitlichen  gesamten  Neuauf- 
bau auch  in  einem  neuen  Geiste  zu  versuchen.  Die 
Schwierigkeiten  werden  ernste  sein.  Wird  es  nicht  viel- 
leicht möglich  sein,  schon  gleich  jetzt  von  vornherein  auch 
die  von  Walther  Rathenau  vorgeschlagenen  Lösungen  zu 
prüfen?  Wird  es  nicht  vielleicht  möglich  sein,  schon 
gleich  jetzt  herauszubekommen  zu  suchen,  worauf  eigent- 
lich ihr  so  großes  Interesse  beruht  und  wodurch  sie  wohl 
besonders  nützlich  werden  könnten? 

Mag  sein  Programm  auch  noch  so  lebhafte  Bedenken 
und  Einsprüche  herausfordern,  Walther  Rathenau  verzagt 
darum  nicht  und  begegnet  schon  im  Voraus  denjenigen 
unter  ihnen,  auf  die  er  sich  bereits  von  sich  aus  gleich 
von  vornherein  gefaßt  gemacht  hat.  Seine  Anschauungen 
sind  nicht  mit  den  schon  bekannten  Theorien  anderer  zu 
verwechseln,  wie  man  es  ihm  so  oft  zum  Vorwurf  machen 
wollte.  Von  dem  marxistischen  Sozialismus  trennt  er  sich 
schon  durch  seine  Auffassung  vom  Kapital  wie  von  der 
geistigen  Befreiung  der  Arbeiterschaft  und  durch  seine 
verhältnismäßig  immer  noch  hohe  Achtung  für  den  Indivi- 
dualismus. Reiner  Nivellierung  und  Normalisierung  ver- 
fällt er  nicht.  Das  Eingreifen  des  Staates,  wie  er  es  pre- 
digt, ist  nicht  etwa  einer  Beschlagnahme  gleichzuachten. 
Der  Staat  will  weder  selbst  die  Ausbeutung  übernehmen 
noch  Verordnungen  erlassen;  er  überträgt  seine  Macht- 
befugnisse   an    Menschen    jeden    Berufes,    die    sich    noch 

270 


immer  Unternehmungslust  bewahrt  haben  und  unter 
seiner  Aufsicht  die  Betriebe  zum  Besten  der  allgemeinen 
Interessen  verwalten.  Seine  Gewerkschaften  und  Ver- 
bände unterscheiden  sich  ganz  wesentlich  von  den  vor- 
handenen Trusts,  deren  Monopol  in  der  Tat  nur  einer 
ganz  kleinen  Gruppe  von  Persönlichkeiten  oder  sogar 
überhaupt  nur  einer  einzigen  nützt.  ,,Vom  alten  Gilden- 
und  Zunftwesen  aber  unterscheiden  sich  diese  Gebilde, 
wie  sich  die  alte  deutsche  Kleinstaaterei  vomBundesstaate 
des  Reiches  unterscheidet;  nicht  ein  Verbandsschulz 
von  Einzelinteressenten  ist  hier  gegeben,  nicht  ein  Zweck- 
verband souveräner  Einzel-  und  Kleinbetriebe,  sondern 
eine  Produktionsgemeinschaft,  in  der  alle  Glieder  orga- 
nisch ineinander  greifen,  zur  lebendigen  Einheit  zusam- 
mengefaßt, mit  einheitlicher  Wahrnehmung,  Urteil,  Kraft 
und  Willen  versehen,  nicht  eine  Konföderation,  sondern 
ein  Organismus1)." 

Walther  Rathenau  hält  alle  auf  den  ihm  entgegen- 
gehaltenen Prinzipien  der  Notwendigkeit  des  freien  Wett- 
bewerbes und  der  industriellen  Unfähigkeit  des  Staates 
beruhenden  Bestimmungen  für  unannehmbar.  Es  ist  ge- 
wiß richtig,  daß  die  Konkurrenz  Tugenden  wie  die  der 
Energie  und  Erfindungskraft  manchmal  zur  besonderen 
Entfaltung  bringt,  aber  sie  erzeugt  dafür  auch  die  List, 
die  Boshaftigkeit  und  die  Großsprecherei.  Das  Dogma 
von  ihrer  Nützlichkeit  hat  eine  schwere  Einbuße  erfahren, 
seitdem  die  großen  neuzeitlichen  Gemischtgesellschaften 
in  die  Erscheinung  getreten  sind,  die  alles  nur  der  Arbeit 
schlecht  bezahlter  Angestellten  zu  verdanken  haben,  die 
sich  aus  reinem  Pflichtgefühl  und  nicht  etwa  aus  Liebe 
zum  Luxus  oder  aus  Ehrgeiz  für  die  Sache  aufopfern. 
„Es  ist  nicht  wahr,  daß  die  verzweifelte  Angst  des  Wett- 
bewerbs uns  stark  macht;  der  Forscher,  der  Rechner  und 
Ordner  spürt  in  Werkstatt  und  Schreibstube  nichts  von 


»j  W.  V.  S.  235,  Sep.-Ausg.  S.  60-61. 

271 


ihr,  und,  was  ihn  anregt  und  befruchtet,  wird  ihm  auch 
künftig  nicht  fehlen:  die  Arbeit  seines  nahen  oder  fernen 
Gleichbestrebten  und  Nebenmannes.  Fähigkeit  und  Geist 
sind  vorhanden;  zwar  haben  sie  nicht  im  Staat,  doch  all- 
zeit in  der  Wirtschaft  ihren  Weg  gefunden,  und,  sind  sie 
bei  der  Arbeit,  so  werden  sie  ohne  Angst  und  ohne  Zwang 
ihre  Schuldigkeit  tun.  Man  wolle  doch  nicht  die  Wett- 
kämpfe einzelner  Finnen  um  ein  beschränktes  inneres 
Handelsgebiet  zum  Maßstab  der  Wirtschaftsstärke  neh- 
men: wenn  zwei  Pillenfabrikanten  sich  bekämpfen,  der 
eine  zwei,  der  andere  eine  Million  für  jährliche  Reklame 
ausgibt,  der  eine  hundert,  der  andere  fünfzig  Reisende 
losläßt,  der  eine  mit  tausend,  der  andere  mit  fünfhundert 
Plakaten  die  deutsche  Landschaft  schändet;  wenn  dann 
der  eine  den  anderen  mit  einem  inländischen  Mehrabsatz 
von  fünf  Millionen  Schachteln  schlägt,  so  sind  weder  die 
Pillen  besser  noch  die  Menschen  gesünder  noch  die 
deutsche  Wirtschaft  stärker  geworden;  und  da  im  näch- 
sten Jahre  der  Unterlegene  den  Sieger  schlagen  wird, 
hätten  beide  besser  getan,  sich  zu  verständigen  als  auf 
unserem  Rücken  den  Kampf  der  Tüchtigkeit  und  Erfin- 
dungskraft auszufechten.  Die  Chemiker  wissen,  was  sie 
tun.  Sie,  die  erfindungsreichsten  von  allen  Gewerken, 
vereinigen  sich,  schließen  den  ungezügelten  Wettbewerb 
aus  und  fürchten  nicht  einen  Augenblick  die  Führung  des 
Weltgewerbes  zu  verlieren1)." 

Die  Unfähigkeit  des  Staates  aber  soll  angeblich  noch 
einmal  durch  die  traurigen  Erfahrungen  mit  der  Lebens- 
mittelzufuhr und  der  Kriegsernährung  bezeugt  worden 
sein.  Aber,  so  bedauerlich  auch  einzelne  vorgekommene 
Fehler  sein  mögen,  muß  es  nicht  umgekehrt  die  höchste 
Bewunderung  erregen,  daß  eine  ohne  jede  Vorbereitung 
plötzlich  wie  aus  dem  Boden  gestampfte  Organisation 
mit  beschränkten   Mitteln   und   Personal   doch   schon  be- 


')  W.  V.  S.  248,  Sep.-Ausg.  S.  73    74 
272 


kanntlich  ganz  beachtenswerte  Erfolge  gehabt  hat? 
Warum  sollte  der  Staat  nicht  in  Zukunft  immer  noch 
besser  arbeiten  können?  „Unser  mittleres  Beamtentum 
steht  keineswegs  an  Intelligenz  hinter  der  erwerbenden 
Bevölkerung  zurück,  wohl  aber  an  Schlagkraft,  die  unter 
der  Last  der  Gesinnungsvorschrift,  der  Feudalatmosphäre 
und  des  falschen  Parlamentarismus  und  aus  Mangel  an 
Führung  verkümmert.  Der  Staat  selbst  hat  genügende 
Proben  seiner  Stärken  und  Schwächen  gegeben,  und  das 
Volk  wird,  wenn  es  seine  Geschichte  behaupten  will, 
nicht  von  neuem  Schicksal  und  Verantwortung  in  die 
Hände  erblich  privilegierter  Stände  und  Interessen  legen. 
So  ist  ein  Mißtrauen  gegen  den  Staat,  als  würde  jedes 
große  Werk  der  Zukunft  durch  seine  leiseste  Mitwirkung 
gefährdet  oder  undurchführbar,  ein  schmähliches  Miß- 
trauen gegen  uns  selbst  entgegen  der  albernen  Schul- 
formel, die  hinter  jeder  Zukunftshoffnung  einen  Verstoß 
gegen  die  angebliche  Unveränderlichkeit  der  mensch- 
lichen Natur  wittert1)."  Unser  Urteil  über  die  wirtschaft- 
liche Organisation  kann  sich  ändern.  Und  warum  sollte  - 
das  dringende  Bedürfnis  sie  als  eine  Angelegenheit  der 
Gesamtheit  zu  betrachten  zugegeben  —  das  Eingreifen 
des  Reiches  so  verhängnisvoll  sein? 

Das  legt  eine  Frage  allgemeiner  Natur  nahe,  auf  die 
Walther  Rathenau  gleichfalls  eingegangen  ist.  Was  soll 
denn  eigentlich  die  große  Hoffnung  auf  eine  sittliche 
Wiedergeburt  der  Menschen  für  einen  Wert  haben?  Ist 
es  denn  nicht  eine  reine  Utopie  von  der  menschlichen 
Natur  eine  Besserung  zu  erwarten?  Ja,  gewiß,  wem  diese 
Erwartung  nur  bedeutet,  daß  die  Brut  der  Hallunken  all- 
mählich von  dieser  Erde  verschwinden  werde,  der  mag 
seine  Erwartung  vielleicht  einmal  erfüllt  sehen.  Aber 
darum  handelt  es  sich  gar  nicht.  Wenn  unser  Blick  erst 
einmal  so  geübt  sein  wird,  in  jedem  Einzelfalle  die  klare 


l)  W.  V.  S.  250-251,  Sep.-Ausg.  S.  76. 
18  273 


Scheidung  zwischen  einem  guten  und  einem  schlechten 
Menschen  zu  vollziehen  zu  wissen,  werden  sich  die  Böse- 
wichte von  der  anständigen  Gesellschaft  mehr  und  mehr 
in  die  Acht  erklärt  sehen.  Doch  es  steht  gar  nicht  die 
Besserung  der  menschlichen  Natur  zur  Erörterung,  son- 
dern, worauf  es  uns  ankommt,  das  ist  natürlich  allein  eine 
Hebung  der  geistigen  und  seelischen  Struktur  der  heu- 
tigen Gesellschaft,  die  nicht  so  bleiben  darf,  wie  sie  gegen- 
wärtig ist  und  dabei  nach  der  Richtung,  die  für  uns  Be- 
deutung hat,  unschwer  zu  bessern  ist.  Wir  mögen  grau- 
sam, bestechlich,  knechtselig  geblieben  sein,  tut  nichts, 
wir  dulden  doch  keine  Foltern,  Hexenprozesse,  Siechen- 
häuser, Irrenkerker  mehr,  gestatten  auch  nicht  mehr 
unseren  Diplomaten  oder  Richtern,  sich,  wie  früher  so 
häufig,  zechinengefüllte  Tabaksdosen  zustecken  zu  lassen, 
lassen  uns  auch  nicht  mehr  als  Soldaten  und  Landarbeiter 
mit  Stock  und  Peitsche  prügeln.  So  kann  auch  noch  eine 
Zeit  kommen,  wo  ebenso  der  ungerechte  und  verderbte 
Geist  des  Mechanisierungsprozesses  geächtet  wird. 

Doch  das  sind  nicht  die  einzigen  Einwendungen,  zu 
denen  die  Theorien  Walther  Rathenaus  Anlaß  geben. 
Andere  würden  wohl  sogar  noch  schwerer  ins  Gewicht 
fallen,  wie  wenigstens  nach  seinem  eigenen  vielfachen 
Hin-  und  Herschwanken  und  seiner  Unklarheit  über  das, 
was  sie  erstreben,  anzunehmen  ist. 

Wann  soll  sich  nun  der  angekündigte  Wandel  voll- 
ziehen? In  manchen  Augenblicken  schien  er  schon  auf 
dem  Wege  zur  Verwirklichung  zu  sein;  bereits  in  der 
gegenwärtigen  Wirtschaftsordnung  geplant,  würde  er  nur 
eine  verhältnismäßig  schwache  und  vorübergehende  Be- 
mühung in  Anspruch  nehmen;  auf  politischem  Gebiete 
könnte  sich  sogar  „der  Volksstaat  ohne  Aenderung  einer 
Zeile  der  Verfassung,  einschließlich  des  preußischen  Wahl- 
rechts, erfüllen1)."  In  anderen  Augenblicken  jedoch  scheint  ' 


l)  D.  III.  S.  313,  Sep.-Ausg.  S.  295. 
274 


sich  die  Entscheidung  auf  eine  ganz  unbestimmte  endlos 
weite  Zeit  zu  vertagen.  Die  zu  leistende  Aufgabe  scheint 
unermeßlich:  das  ganze  Weltall  scheint  aus  seinen  An- 
geln gehoben  und  keine  Hand  bietet  sich,  die  stark  genug 
wäre,  es  wieder  zurückzubringen.  Die  Augen  der  Massen 
haben  sich  eben  erst  ein  wenig  geöffnet,  und  nur  einige 
wenige  bedeutendere  Köpfe  beginnen  die  eingeschlagene 
Richtung  zu  ahnen.  Natürlich  werden  sich  so  bedeutende 
Reformen  nicht  ohne  Schwierigkeiten  vollziehen;  denn 
die  Zahl  der  Ungläubigen  ist  noch  immer  zu  groß,  mag 
ihre  Ungläubigkeit  auf  geistiger  Unzulänglichkeit  oder 
auch  auf  egoistischen  Motiven  beruhen.  Aber  die  Ent- 
wicklungsprozesse in  der  Natur  wie  im  täglichen  Leben 
vollziehen  sich  ja  stets  langsam.  Der  Same  wird  gestreut, 
fordert  aber,  wenn  er  die  gewünschte  Frucht  bringen 
soll,  „die  volle  Zeit  des  Wachstums  und  der  Reifung,  die 
jeder  Ernte,  auch  der  geistigen,  vorausgehen  muß1)."  Da 
haben  wir's! 

Und  wie  soll  dieser  Wandel  herbeigeführt  werden? 
Ein  Mittel  wurde  schon  angegeben:  die  fortschreitende 
Ausschließung  der  Minderwertigen.  Doch  die  Gabe  ihrer 
Auffindung  ist  vorläufig  erst  noch  wenigen  Menschen  zu- 
teil. Wird  sie  sich  so  leicht  verbreiten  und  verallgemei- 
nern? Und,  wenn  wirklich,  wird  sie  uns  auch  immer  eine 
große  Hilfe  gewähren?  Sie  wird  ohne  Zweifel  gute 
Dienste  leisten,  um  sich  ihre  Freunde  und  Bekannten 
fürs  Privatleben  oder  auch  die  Fähigsten  und  Würdigsten 
für  einen  Betrieb  mit  beschränktem  Personal  zu  wählen; 
weniger  zuverlässig  kann  sie  schon  auf  lange  hin  zur  prak- 
tischen Entscheidung  verwendet  werden  in  einem  Falle, 
wo  etwa  für  das  und  das  Amt  die  und  die  Eigenschaften 
gesucht  werden.  Auch  wird  eine  solche  Gabe  sich  als 
nur  wenig  zuverlässig  bei  der  Auswahl  für  einen  Massen- 
betrieb erweisen  können.     Andererseits  zeigt  uns  die  Ge- 


lj  W.  V.  S.  239,  Sep.-Ausg.  S.  56. 
18*  275 


schichte,  wie  wenigstens  Walther  Rathenau  glaubt   daß 
die  großen  War. d e.u'  ge r.  =  ■ :  i  -- . eben  de r  Y. s - 1 : r. r. s : : 

immer  den  großen  politischen  und  sozialen  Krisen  auf 
dem  Fuße  gefolgt  sind:  die  Völkerwanderung  und  die 
Misss-irr-id-j-ger.  =.~  E.r.|i-^  ü;  j^::.::::i  de:  Nsu- 
bieten  ein  gutes  BeispieL  Der  Weltkrieg  bedeutet 
::.:.e  Zve::'i!  gis::-:a^s  sins  ::i:ir.:;;:.^i  "i  >r.i.-._  :.- 
uns  ebenso  wie  ähnliche  frühere  aui  sittlichem  Gebiete 
läutern  wird.  Nur  rechnete  Walther  Rathenau  bis  1914 
nicht  mit  unbedingter  Notwendigkeit  auf  die  Wieder- 
kehr auch  nur  annähernd  ähnlicher  Ereignisse,  die 
übrigens  in  ihrem  ganzen  ehemaligen  Umlange  nicht 
mehr     möglich     waren.  hoffte      auch      ohne      sie 

das    Ende    der    Mechanisierung    herbe izuiühre  Da* 

..::>.  ^_:  i.~  -;  _:e;c  «ein*:  ä."^i:i  n;:::::j  -_-- 
,  ist  die  Macht  der  Ideen  in  sicü  und  der  hin  t  lud,  den 
diejenige  Auslese  der  Menschen,  deren  Vorrecht  sie  : 
aui  die  Gesamtheit  ausübt,  damit  sie  möglichst  bald  aucn 
deren  Eigentum  werde.  Nur  von  wenigen  Herzen  werden 
die  Strahlen  aufflammen,  die  allmählich  die  Genesung  der 
Menschheit  herbeiführen  werden.  Nun  wird  dieser  Aus- 
lese geraten,  nicht  voreilig  zu  handeln  und  etv 
Gang  der  Entwicklung  zu  beschleunigen.  Es  geschieht 
dies  unter  dem  Vorgeben,  daß  ja  auch  wohlweiblich  eine 
Uhr  nicht  schneller  gegangen  ist,  wenn  etwa  einmal  ihre 
ger  vorgestellt  worden  sind,  und  daß  auch  einmal  für 
die  Massen  die  Stunde  kommen  wird,  wenn  sie  dafür  reii 
sein  werden.  Wozu  wird  dieser  Auslese  ein  solcher  Rat 
gegeben?  Wozu?  Wie  ist  es  dann  zu  erklären,  daß  in 
einem  anderen  Augenblick  auch  Rathenau  in  den  Massen 
und  sogar  in  den  so  ungebildeten  Massen  im  tiefsten 
Innern  Rußlands,  dann  wieder  diejenigen  Elemente  sieht, 
die  auch  er  als  die  Vorkämpfer  und  Zukunftsp. 

',  M.  IL  S.  331— 33S.  Stp.-Aosg.  S.  334—338. 

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3  ero£  der  Denkarbeit    Xi 

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Wahrheiten,    deren   IT! atfnnilfci 


.-    I         -1:1       :>■:..-      'i     .-  >        ■   i- 

—  - .:  -      ^  i  .'.  .-      .-  ..:'.-  :  . 
kfetmcfce  oder  soaia 
n  in  <f .  den  Worten  Waltner  Ra- 

ucht ein  Ton  warmer  Überzen**«*  ab- 

_  cfebenen  Tatsacke,  daß  ein  Vi 
ttr   die  Lehren  des  Kaxaieners   gerade    fet z 

Ön*t   *nd  gar  erst  fee  Betati*on*  noch  in 

-e    hegt    der    zwar   bange,    dock    wohl   lumhiigfci 
Zweüei  ob  das«  nickt  anch  gilb  tili 


werden!      Ancb   können   wir   nicht   reckt   die    Frage   mm 


ihn  unterdrücken,  warum  er  eigentlich,  wenn  es  wahr  ist, 
daß  die  Überzeugungen  so  viel  wichtiger  als  alle  Einrich- 
tungen sind,  dann  noch  einen  so  eingehenden  und  um- 
ständlichen Plan  der  zukünftigen  Wirtschaftsordnung 
überhaupt  erst  gegeben  hat! 

In  diesem  Plane  ist  das  Fundamentalpostulat  für  jede 
Organisation  ihre  Omnipotenz.  Man  hört  es  Walther 
Rathenau  an  jedem  Wort  und  jeder  Zeile,  die  er  schreibt, 
an,  mit  welchem  freudigen  Stolze  auch  er,  wenn  es  nur  für 
ihn  irgend  angängig  wäre,  dem  Physiologen  Wilhelm  Ost- 
wald und  so  vielen  seiner  Landsleute  folgend  der  ganzen 
Welt  verkünden  möchte,  daß  das  Verdienst  „den  Faktor 
der  Organisation  entdeckt  zu  haben"  den  Deutschen  zu- 
komme, die  dem  Spiele  dieses  Faktors  ihr  noch  verhält- 
nismäßiges Glück  bei  allem  Unglück  verdankten.  Rathenau 
selbst  muß  doch  wohl  ein  klassisch  vorbildliches  Muster 
einer  nahezu  vollkommenen  Organisation  kennen,  er  muß 
doch  wohl  die  in  aller  Welt  anerkannte  und  wohl  von 
niemandem  bestrittene  Tatsache  wissen,  daß  die  von 
seinem  Vater  Emil  Rathenau  begründete  und  von  ihm 
selbst  zur  Blüte  gebrachte  Allgemeine  Elektrizi- 
täts-Gesellschaft nach  den  ökonomischen  Prinzi- 
pien der  finanziellen  Kräfte  und  Mittel,  der  Arbeitstei- 
lung und  der  Massen-  und  Serienfabrikation  einfach  ideal 
funktioniert.  Immerhin  ist  doch  auch  die  Frage  nicht 
abzuweisen,  ob  grade  die  Organisation  wirklich  nur 
das  einzige  geeignete  Rettungsmittel  ist  und  ob  ihre  An- 
wendung nicht  gar  zu  leicht  in  Mißbrauch  ausarten  kann. 
Der  französische  Volkscharakter  insbesondere  fügt  sich 
einem  solchen  Zwange  schlecht.  Die  Erfahrung  hat 
übrigens  gezeigt,  welchen  dicken  Strich  die  unvorher- 
gesehenen Rückwirkungen  eines  solchen  Zwanges  oft 
durch  die  sorgfältigsten  Vorausberechnungen  zu  machen 
vermocht  haben.  „Denke  mal,  Du  Meister  an  Voraussicht, 
an  Methode,  an  Ordnung,  welche  schöne  Sache,  wenn 
i  c  h  dann,  ich,  der  ich  gerade  im  Gegensatze  zu  Dir  so 

278 


weltenfern  und  weltenfremd  durchs  Leben  ging,  plötzlich 
schneller  denke  als  Du  und  in  einem  Augenblicke  der  Er- 
leuchtung das  Ziel  finde,  an  das  Dich  Deine  verschrobene 
Idee,  die  Du  doch  so  viele  Jahre  mit  Dir  herumtrugst,  so 
lange  in  Dir  wälztest  und  immer  wieder  hin-  und  her- 
erwogst, schließlich  doch  nicht  geführt  hat1)!"  Andererseits 
beweist  der  Aufschwung  der  Allgemeinen  Elek- 
trizitäts-Gesellschaft ganz  ebensowenig  mit 
zwingender  Notwendigkeit,  daß  ihre  Grundsätze  ihren 
ausgezeichneten  Wert  auch  dann  behalten,  wenn  sie  in 
einem  so  unendlich  breiteren  Rahmen  angewendet  wer- 
den. Etwas,  wodurch  unter  bestimmten  Bedingungen  ein 
begrenzter  Betrieb  sein  Glück  macht,  paßt  darum  noch 
lange  nicht  für  die  gesamte  Volkswirtschaft.  Wer  weiß, 
ob  die  Welt  wirklich  damit  gerettet  wäre,  daß  sie  sich 
in  eine  ungeheure  A.  E.  G.  verwandelte? 

Und  nun  vor  allem:  würde  sich  denn  überhaupt  die 
Welt  dazu  hergeben?  Wie  auch  Walther  Rathenau  selber 
zugeben  muß,  haben  für  das  Zustandekommen  der 
Kriegsämter  der  Krieg  an  und  für  sich  und  die  da- 
mals noch  unbestrittene  Autorität  der  Regierung  die 
größten  Schwierigkeiten  aus  dem  Wege  geräumt.2)  Würde 
eine  Regierung  auch  heute  noch  einen  ebenso  unbeding- 
ten und  umgehenden  Gehorsam  finden?  Wenn  auch  die 
Verehrer  Rathenaus  in  Deutschland  Legion  sind,  so  stehen 
doch  dem  eine  Unzahl  von  Verlästerern  desselben  Mannes 
gegenüber,  um  ihn  mit  glühender  Leidenschaft  zu  be- 
kämpfen. Es  lehnen  sich  gegen  ihn  alle  auf,  deren  In- 
teressen er  irgendwie  verletzt,  und  erst  recht  alle  die- 
jenigen,   denen    er   sogar   mit    Schließung    ihrer   Betriebe 

')  Elie  Faure,  La  Sainte  Face  (Das  heilige  Angesicht),  Paris  1918, 
S.  114.  Vergl.  auch  ebenda  S.  76:  „Deutschland  hat  40  Jahre  gebraucht, 
seinen  Sieg  bei  Charleroi  vorzubereiten  und  vorzudenken  und  Frankreich 
nur  eine  einzige  Woche,  seinen  Sieg  an  der  Marne  zu  erleben,  ohne  auch 
nur  einen  Augenblick  vorher  selbst  im  Traume  daran  gedacht  zu  haben." 
Vergl.  auch  ebenda  S.  70,  eine  Seite,  die  „die  Unzulänglichkeit  und  Armut 
der  Erfindung"  behandelt  und  mit  der  sich  alle  Verehrer  der  Organisation 
auseinandersetzen  mögen.    ")  R.  V.  S.  28,  Sep.-Ausg.  S.  10. 

279 


droht:  Waffenfabrikanten  und  Industrielle,  Bankmänner 
und  Großkaufleute,  Geschäftsreisende  und  Kleinhändler, 
die  der  Rathenausche  Plan  entweder  ganz  unberück- 
sichtigt läßt  oder  höchstens  auf  den  ihnen  zukommenden 
Anteil  verweist.  Sie  sehen  sich  zugrunde  gerichtet,  und 
zwar  zu  einem  Teil  durch  die  neue  Konzentration  der 
Industrie,  zu  einem  zweiten  durch  die  scharfe  Über- 
wachung der  Einfuhr  und  zu  einem  dritten  durch  die 
strenge  Reglementierung  des  Verkaufs.  Sie  schreien: 
,,Das  ist  das  Ende  des  Mittelstandes,  der  nach  eurem 
eigenen  Geständnisse  zur  Größe  Deutschlands  in  hohem 
Maße  beigetragen  hat!"  Mit  aller  ihnen  zu  Gebote 
stehenden  Kraft  stemmen  sie  sich  gegen  diese  Gewalt, 
die  sie  zum  Proletariat  herabzudrücken  oder  ins  Beamten- 
joch zu  zwingen  droht.  Was  würde  denn  damit  gebessert 
sein,  wenn  erst  die  gesamte  Nation  nur  noch  aus 
einem  halben  Dutzend  hoher  Direktoren  und  un- 
gezählter Rotten  von  Beamten  bestehen  würde?  Gewiß 
treffen  täglich  und  stündlich  eine  Unzahl  von  Huldi- 
gungsadressen bei  dem  Direktorium,  von  dem  die 
A.  E.  G.  geleitet  wird,  sowie  bei  jenen  hervor- 
ragenden unverdrossenen  und  uneigennützigen  Männern 
ein,  die  sich  diesem  Riesenbetriebe  mit  Leib  und  Seele 
zur  Verfügung  stellen.  Das  hindert  aber  darum  noch 
lange  nicht,  daß  in  mancher  Beziehung  die  privaten 
kleinen  oder  großen  Geschäftsleute  mit  ganz  ebensolchen 
Vorzügen  aufwarten  können.  Das  hindert  ebensowenig, 
daß  die  Privatinitiative  zum  mindesten  über  ebenso  viel 
Beweglichkeit  und  Unternehmungsgeist  verfügt,  wenn  es 
sich  darum  handelt,  Risiken  einzugehen,  den  Schwankun- 
gen des  Weltmarktes  zu  folgen  und  sich  sofort  auf  alle 
nur  irgendwo  auftauchenden  irgendeinen  Nutzen  verspre- 
chenden Neuerungen  zu  stürzen.  Denn  da  liegt  die  große 
Gefahr.  Neben  der  Phantasie  wird  vor  allem  auch  der 
Unternehmungsgeist  absterben.  Der  in  seiner  gesamten 
Anlage  und  in  allen  seinen  Teilen  so  außerordentlich  fein 

280 


crsonncnc  Riesenmechanismus  wird  gleichwohl  in  der 
Praxis,  wenn  er  funktionieren  soll,  außerordentlich 
schwerfällig  sein.  Welche  Kraft  wird  nicht  seine  bloße 
Inbetriebsetzung  verlangen?  Ist  er  erst  einmal  im  Gange, 
dann  wird  er  freilich  das  Bestreben  haben,  nun  auch  in 
seiner  Bewegung  zu  beharren.  Um  so  besser,  wenn  er  in 
die  richtige  Bahn  geleitet  wird.  Doch  er  kann  satanisch 
werden,  wenn  er  sich  getäuscht  sieht.  Die  Ersparnisse 
werden  dann  nur  scheinbare  sein,  die  Ausgaben  werden 
steigen  und  das  Leben  wird  ein  elendes  werden.  Anstatt 
aus  einer  bösen  Lage  herauszukommen,  wird  das  Land 
immer  tiefer  in  den  Sumpf  geraten.  Statt  eines  Paradieses 
wird  dann  unser  eine  Hölle  warten! 

Und  doch  hat  es  in  Wahrheit  auch  nicht  einen  Schim- 
mer größerer  Berechtigung  die  Bedeutung  der  Ansichten 
Walther  Rathenaus  zu  verkennen  als  es  jemals  überhaupt 
irgendeine  Berechtigung  haben  konnte,  zu  glauben,  daß 
sie  jedenfalls  durch  den  verlorenen  Krieg  und  die  Revo- 
lution in  Deutschland  gerichtet  seien.  Er  pocht  keines- 
wegs auf  die  Originalität  der  von  ihm  beigebrachten  An- 
sichten, ist  doch  nach  ihm  umgekehrt  das  Zeichen  der 
Wahrheit  einer  Lehre  die  Summe  der  in  ihr  enthaltenen 
Einzelwahrheiten  und  darf  doch  jede  Prophezeiung,  um 
den  Charakter  irgendwelcher  Realität  zu  haben,  nur  das 
Erschauen  einer  schon  in  der  Gegenwart  sich  mit  mehr 
oder  weniger  Bestimmtheit  ankündenden  Zukunft  dar- 
stellen. Doch  er  analysiert  gewisse.  Tatsachen  mit  weit 
mehr  Sicherheit  und  Schärfe  als  jemals  bisher  seine  Vor- 
gänger und  drückt  gewisse  Ideen  mit  einer  diese  Ideen 
neu  belebenden  und  geradezu  verjüngenden  leidenschaft- 
lichen Wärme  und  Glut  aus.  Es  würde  deshalb  auch  ohne 
Zweifel  derjenige  einen  schweren  Fehler  begehen,  der 
sich  verhehlen  wollte,  daß  unter  den  neueren  wirtschaft- 
lichen Doktrinen  wohl  keine  so  viel  Begeisterung  zu  er- 
wecken und  so  viel  Interesse  zu  erregen  imstande  ist,  als 
die  Walther  Rathenaus. 

281 


So  ist  denn  beispielsweise  die  Konzentrationsbewe- 
gung, zu  der  er  so  gebieterisch  das  gesamte  wirtschaft- 
liche Leben  auffordert,  keineswegs  seine  Erfindung.  Nicht 
etwa  auf  Anregung  Walther  Rathenaus  wie  erst  recht  nicht 
auf  den  genialen  Impuls  irgendsoeines  abseitsstehenden 
Fabrikenkönigs  strebt  die  Industrie  seit  langen  Jahren  nach 
einer  von  Jahr  zu  Jahr  mehr  betonten  Zentralisierung. 
Walther  Rathenau  hat  sich  nun  auf  das  einzige  Ziel  be- 
schränkt, diese  Bewegung  festzustellen  und  aufzumuntern. 
Aber  das  Neue  ist,  daß  e  r  zum  erstenmal  zu  Wege  ge- 
bracht hat,'  diese  Bewegung  auch  erst  so  ganz  eigentlich  zu 
rechtfertigen,  indem  er  nämlich  als  erster  die  tieferen  Ur- 
sachen der  wirtschaftlichen  Unordnung  aufdeckte,  in  der 
die  Welt  lebte.  Die  bisher  geltend  gemachten,  wie  die 
schon  so  alten  Kriege,  der  Kalvinismus,  die  Verjudung, 
die  Prunksucht,  der  Frauenkult,  die  Verpreußung,  alle 
diese  Ursachen  hält  er  für  ungenau  oder  unzulänglich. 
Er  sieht  den  wahrhaften  Ursprung  dieses  Chaos  in  der 
Wirtschaftsorganisation  selbst  wie  gleichzeitig  in  ihrem 
Prinzipe  und  dessen  praktischer  Anwendung.  Die  Ma- 
schine, die  ursprünglich  nur  zu  dem  Zwecke  erfunden 
worden  war,  neue  Bedürfnisse  zu  schaffen,  produziert, 
nachdem  sie  erst  einmal  in  Bewegung  gesetzt  ist,  unermüd- 
lich und  ohne  Unterbrechung  und  ruft  dadurch  neue  Triebe 
ins  Leben,  die  bisher  noch  nicht  bestanden  haben  und 
die  sie  gleichfalls  zu  befriedigen  suchen  wird.  Gleichwohl 
ist  der  Mensch  noch  weit  davon  entfernt,  die  Maschinen 
sowohl  wie  die  Kräfte,  über  die  er  sonst  verfügt,  restlos 
auszunützen.  Es  geht  noch  immer  zu  viel  Abfall  ver- 
loren  und    wird    noch    zu  viel   Material    verschwendet! 

« 

Wenn  nicht  durch  entscheidende  Maßnahmen  diese  Pro- 
duktion endlich  gründlich  geregelt  wird,  werden  sich  die 
sozialen  Konflikte  immer  mehr  zuspitzen  und  die  Mensch- 
heit wird  weiter  bis  in  alle  Ewigkeit  ihre  alte  Tretmühle 
treten  wie  der  Gaul,  dem  der  Kopf  vermummt  wird,  da- 
mit  er  nicht  scheu  werde,  wenn   er  sich  immer  in  dem 


gleichen  Kreise  herumdrehen  muß.  Der  Krieg  hat  uns  mit 
seinen  unerwarteten  Lehren  über  Einschränkung  und  Me- 
thode die  Bahn  gewiesen.  In  einer  oder  der  anderen  Form  — 
wenn  es  nicht  etwa  gar  gerade  die  von  einer  Autorität  wie 
Walther  Rathenau  befürwortete  ist  —  wird  eine  ständige 
Beaufsichtigung  und  Organisation  sowie  planmäßige  volle 
Ausnutzung  unentbehrlich  sein. 

Auch  die  ökonomischen  Prinzipien,  die  er  zur  Gel- 
tung bringen  möchte,  sind  keineswegs  neu.  Nicht  bloß, 
daß  seine  Lehren  der  deutschen  Tradition  treu  bleiben 
und  insofern  auch  dem  Staatssozialismus  wie  dem  mar- 
xistischen viel  zu  verdanken  haben,  nein,  es  läßt  sich  auch 
in  ihnen  mit  Leichtigkeit  noch  der  Einfluß  der  franzö- 
sischen Theoretiker  aus  dem  Zeitalter,  das  der  Revolution 
des  Jahres  1848  unmittelbar  vorherging,  vor  allem  eines 
Claude-Henri,  Saint-Simon  und  eines  Francois-Marie- 
Charles  Fourier,  deutlich  nachweisen.  Sie  hatten  zum 
ersten  Male  den  grundsätzlichen  Gegensatz  zwischen  Ar- 
beitenden und  Müßiggängern  —  den  Arbeitsbienen  und 
den  Drohnen  —  scharf  umrissen,  die  beständige  Ausbeu- 
tung jener  durch  diese  festgestellt  und  aus  diesem  Grunde 
die  Abschaffung  der  Erbschaft  verlangt  und  die  Forde' 
rung  aufgestellt:  „Jedem  nach  seinem  Können,  jedem  nach 
Maßgabe  seiner  Werke!"  sowie  auch  an  der  aus  dem 
Eigentumsbegriffe  hervorgegangenen  wirtschaftlichen 
Anarchie  ihre  Kritik  geübt,  gefordert,  daß  die  Arbeit  eine 
Freude  sein  müßte  anstatt,  wie  jetzt,  eine  Qual,  und  den 
Wiederaufbau  der  Gesellschaft  nach  dem  Muster  der  in- 
dustriellen Betriebe  verlangt.  Mehr  als  irgend  jemand 
zuvor  hatten  die  Anhänger  eines  Saint-Simon  die  ethische 
Seite  des  wirtschaftlichen  Problems  betont  und  ihre  sozi- 
alen Dogmen  zu  einer  wahrhaften  Religion  ausgebaut. 
Alle  diese  Ideen  nimmt  Walther  Rathenau,  ohne  auch  nur 
einen  Augenblick  zu  schwanken,  wieder  auf,  wie  er  auch 
erklärt  die  Lehren  des  Christentums  auch  auf  volks- 
wirtschaftlichem   Gebiete    als   maßgebend    zu   betrachten. 

283 


Nur  sucht  er  diese  Lehren  zu  vertiefen,  und  ihnen,  um 
einen  seiner  Ausdrücke  zu  gebrauchen,  „statt  des  alten 
einen  neuen  Inhalt  zu  substituieren,"  der  nur  etwas 
moderner  ist. 

Er  begnügt  sich  nun  nicht  etwa  damit,  von  neuem  an 
die  zwischen  der  Volkswirtschaftslehre  und  der  Ethik  be- 
stehenden vereinigenden  Bande  zu  erinnern  und  noch 
einmal  zu  wiederholen,  daß  die  von  den  bevorrechteten 
Klassen  verlangten  Riesenopfer  von  diesen  nur  dann  be- 
willigt werden,  wenn  sie  sich  eine  große  sittliche  Er- 
neuerung vollziehen  sehen.  Er  begnügt  sich  nicht  etwa 
damit,  dies  alles  noch  einmal  zu  unterstreichen.  Nein,  er 
weist  vielmehr  nach:  Alle  diese  wirtschaftlichen  Kräfte 
sind  unter  dem  ethischen  Gesichtspunkte  an  und  für  sich 
völlig  neutral;  schlecht  werden  sie  nur  dadurch,  daß  die 
sich  ihrer  bedienenden  Menschen  schlechten  Trieben 
folgen.  Auch  hier  unterstreicht  er  nur  bereits  Bekanntes. 
Und  nun  studiert  er  alle  diese  Triebe  mit  der  Sorgfalt  des 
Psychologen  und  des  Industriellen,  der  die  geschäftlichen 
Kreise  kennt.  Die  Haupttriebe  sind  die  des  Genusses 
und  der  Macht,  des  Eigennutzes  und  des  Ehrgeizes.  So- 
lange noch  diese  Triebe  herrschen  werden,  werden  sich 
auch  noch  weiter  die  lärmenden  Protestrufe  derer  ver- 
nehmlich machen,  die  ihres  Hab  und  Guts  sowie  ihrer 
Vorrechte  entsetzt  werden  sollen,  während  sie  in  densel- 
ben ein  ein  für  allemal  unantastbares  persönliches  Eigen- 
tum sehen,  und  ebenso  auch  die  lebhaften  Einsprüche 
derer,  die  der  Güter  und  Vorrechte  beraubt  werden,  auf 
die  sie  irgendwelches  Anrecht  zu  haben  glauben.  Aber  es 
genügt  Walther  Rathenau  auch  noch  nicht,  diese  ethischen 
Motoren  anzuklagen.  In  Anbetracht  der  nun  einmal  ge- 
gebenen so  bedeutenden  Rolle,  die  sie  noch  immer  bis 
zum  heutigen  Tage  in  der  Welt  gespielt  haben,  drängt 
sich  nun  die  Notwendigkeit  ihres  Ersatzes  auf.  Nach  der 
Diagnose  und  dem  gründlichen  Studium  der  Krankheit 
folgt  nun  das  Heilverfahren.    Walther  Rathenau  zeigt,  wie 

284 


sich  das  Menschengeschlecht  in  Zukunft  nur  noch  durch 
freudige  schöpferische  Tätigkeit  und  Verantwortungs- 
gefühl leiten  lassen  wird.  Vielleicht  sind  seine  Unter- 
suchungen manchmal  recht  subtil.  Vielleicht  belastet  er 
die  Mechanisierung  mit  Sünden,  die  ihr  gar  nicht  zuzu- 
schreiben sind,  waren  doch  auch  schon  ganz  ähnliche 
sittliche  Verirrungen  und  Unvollkommenheiten  gebrand- 
markt worden,  solange  die  Erde  noch  nicht  übervölkert 
und  e  i  n  Mensch  noch  nicht  der  Teufel  des  anderen  war, 
ja  sogar  schon  nachweislich  in  einer  Zeit,  wo  noch  nicht 
einmal  das  Wasserrad  erfunden  war.  Wie  dem  aber  auch 
sein  mag,  jedenfalls  weiß  Rathenau  mit  einer  noch  niemals 
dagewesenen  Kraft  und  unter  ganz  neuen  Gesichtspunkten 
die  Notwendigkeit  der  Solidarität  zu  beleuchten  und 
jenes  nun  schon  so  lange  bekannte  Axiom  zu  verkünden, 
das  er  zum  Angelpunkte  seiner  gesamten  Tätigkeit  macht: 
„Die  wirtschaftliche  Organisation  ist  nicht  mehr  Privat- 
sache, sondern  Angelegenheit  der  Gesamtheit." 

Unter  diesen  Umständen  nun  aber  bemüht  sich 
Walther  Rathenau  nun  gerade  erst  recht  nicht  das  Einzel- 
wesen der  Gesamtheit  zu  opfern.  Wie  der  Graf  Joseph- 
Arthur  Gobineau,  glaubt  auch  er  an  die  Überlegenheit 
der  weißen  Rasse  über  die  anderen  und  hinwiederum  der 
arischen  Völkerfamilie  innerhalb  der  weißen  Rasse  sowie 
an  die  schließliche  Überlegenheit  der  „Königssöhne". 
Erinnert  nicht  die  Erklärung  der  gegenwärtigen  Sitten- 
verderbnis aus  der  Erhebung  der  niederen  Klassen  als- 
bald an  den  Schauer  eines  Friedrich  Nietzsche  vor  dem 
Triumph  der  düsteren  Sklavenmoral  über  die  weithin 
leuchtende  Herrenmoral?  Nur,  daß  Rathenau  die  Nietz- 
scheschen  Begriffe  seinem  eigenen  persönlichen  Tem- 
peramente anpaßt.  Wenn  einer  Individualist  ist,  dann 
ist  es  Walther  Rathenau.  Das  läßt  sich  schon  aus  seinem 
so  ausgeprägten  Selbstbewußtsein  sowie  aus  seiner  ge- 
reizten Stimmung  gegenüber  den  Professoren,  die  über 
seine    Laienansichten    den    Mund    verziehen,    und    auch 

285 


gegenüber  jenen  Aristokraten,  die  ihn  nur  dann  zu  sich 
bitten,  wenn  sie  ihn  brauchen,  ihm  gegenüber  aber  sonst 
eine  fühlbare  Zurückhaltung  bewahren  nur  wegen  seiner 
bürgerlichen  und  jüdischen  Abstammung.  Er  ist  ein 
Künstler  und  so  auch  geneigt,  die  Arbeit  des  Industriellen 
der  Schöpfung  des  Kunstwerkes  ähnlich  zu  gestalten.  Er 
hat  sicher  keine  Lust,  die  Gaben  der  Intelligenz,  des 
Willens  und  der  Sensibilität  der  Gesellschaft  als  Sühne- 
opfer darzubringen.  Doch  sein  Ziel  ist  darum  nicht  etwa 
das  der  allerradikalsten  Individualisten.  Von  ihren  Theo- 
rien hält  er  nur  das  für  sich  zurück,  was  möglicherweise 
einmal  dazu  dienen  kann,  die  verhängnisvollsten  Ueber- 
treibungen  des  Kommunismus  abzustellen  und  die  Fort- 
schritte der  menschlichen  Gesellschaft  zu  erleichtern. 
Über  ein  gewisses,  allen  gewährleistetes  Maß  von  Wohl- 
leben hinaus  werden  die  wirklichen  Vermögen  erhebliche 
Steuern  bezahlen,  ohne  auch  darum  ganz  abgeschafft  zu 
werden.  Der  Reiz  des  vernünftigen  Gewinnes  soll  weiter 
bestehen  können.  Da  die  Menschen  nun  einmal  nicht  mit 
gleichen  Fähigkeiten  geboren  werden,  wird  es  immer  eine 
Klasse  der  Erfinder  und  Organisatoren,  der  Direktoren  und 
eine  Klasse  der  Ausführenden  geben.  Der  Staat  wird  einen 
Teil  seiner  unermeßlichen  neuen  Reichtümer  dazu  ver- 
werten, den  Künstlern  zu  sehr  drückende  materielle 
Sorgen  zu  nehmen  und  Kultur  zu  entfalten  und  zu  fördern. 
Nicht  nur,  daß  die  höheren  Stufen  allen  zugänglich  sein, 
es  wird  auch  das  große  Gesetz  des  Aufstiegs  und  Ab- 
stiegs, das  ja  das  ganze  organische  Leben  beherrscht,  nun 
noch  auf  das  soziale  Leben  Anwendung  finden;  diejenigen, 
die  diese  Stufen  bereits  einmal  einnahmen,  werden,  so- 
bald ihr  Wert  heruntersinkt,  auch  wieder  auf  die  Stufe 
herunter  müssen,  zu  der  sie  ihre  Fähigkeiten  berechtigen 
werden.  So  wird  sich  langsam  eine  echte  Autokratie  des 
Verdienstes  bilden,  um  sich  ständig  und  immer  wieder 
zu  erneuern.  Walther  Rathenau  begleitet  sowohl  den 
Sozialismus    wie    den    Individualismus    ein    gutes    Stück 

286 


ihres  Weges,  weigert  sich  aber,  ihnen  bis  in  ihre  letzten 
Konsequenzen  zu  folgen.  Er  befreit  sich  von  dem  einen 
wie  dem  anderen,  um  nach  Möglichkeit  in  einer  höheren 
Synthese  die  materialistische  mit  der  individualistischen 
Weltauffassung   zu   versöhnen. 

Und  ganz  ähnlich  ergänzt  und  erweitert  er  auch  den 
Begriff  des  Fortschritts,  ohne  den  keine  wirtschaftliche 
Doktrin  auskommen  kann.  Er  weigert  sich  entschieden, 
diesem  Fortschritte,  wie  das  doch  der  Marxismus  tut, 
rein  materielle  Ziele  zuzuweisen.  Er  glaubt  nicht  daran, 
daß  es,  wie  Saint-Simon  meint,  einzig  und  allein  darauf 
ankomme  ,,so  rasch  und  so  vollständig  als  möglich  die 
sittliche  und  physische  Lage  der  stärksten  Klasse  zu 
heben."  Für  ihn  steht  das  Schicksal  der  gesamten 
Menschheit  auf  dem  Spiele,  womit  er  nicht  etwa  deren 
materielles  Glück  meint,  das  er  als  etwas  ganz  neben- 
sächliches und  verhältnismäßig  leicht  zu  verwirklichen- 
des betrachtet,  da  dieses  mit  weit  weniger  Milliarden  zu 
erreichen  wäre  als  auch  nur  ein  einziger  Kriegsmonat  ge- 
kostet hat.  Nein,  er  meint  deren  wirkliches  Schicksal,  ihre 
Bestimmung,  die  darin  besteht,  die  Entwicklung  des  Uni- 
versums zu  vollenden,  das  nunmehr  das  Reich  der  Materie 
und  des  Geistes  durchmessen  und  soeben  das  der  Seele 
betreten  hat.  „Wir  sind  nicht  da  um  des  Besitzes  willen, 
nicht  um  der  Macht  willen,  auch  nicht  um  des  Glückes 
willen,  sondern  wir  sind  da  zur  Verklärung  des  Göttlichen 
aus  menschlichem  Geiste1)."  Der  wirtschaftliche  und 
soziale  Wiederaufbau  bildet  nur  eine  Durchgangsstufe 
zum  göttlichen  Leben.  Mit  dieser  Auffassung  schließt 
sich  Walther  Rathenau  jenen  zeitgenössischen  Denkern, 
Philosophen,  Forschern  und  auch  Staatsmännern  an,  die 
sich  mehr  um  den  Geist  als  um  den  Leib  und  wieder 
mehr  um  die  Seele  als  um  den  Intellekt  kümmern.  Wer 
einmal    die    Reden    des    nordamerikanischen    Präsidenten 


l)  D.  III.  S.  366,  Sep.-Ausg.  S.  345. 

287 


Wilson  gelesen  hat,  wird  in  so  mancher  von  ihnen  ähn- 
liche Gedanken  und  Töne  wiederfinden,  wie  sie  sich  auch 
in  Rathenaus  Reden  zeigen.  „Das  große  Auf-  und  Nieder- 
fluten der  Welt  überrascht  nicht,  es  steigt  und  fällt  auch 
wieder;  es  steigt  in  seiner  Erhabenheit  und  unwidersteh- 
lichen Macht,  und,  wer  gerade  hindurch  will,  muß  ertrinken. 
Jetzt  ist  die  Welt  der  Seele  aufgewacht,  und  die  Welt- 
seele muß  befriedigt  werden.  Haltet  euch  nicht  damit 
auf  euch  auch  nur  einen  Augenblick  einzubilden,  daß  die 
Not  der  europäischen  Völker  ausschließlich  auf  wirt- 
schaftliche Ursachen  und  davon  unzertrennliche  Motive 
gleicher  Art  zurückzuführen  sei.  Ihr  Ursprung  ist  tiefer 
zu  suchen.  Diese  Völker  haben  gesehen,  daß  ihre  Re- 
gierungen noch  nie  imstande  gewesen  sind,  sie  gegen 
Intrige  oder  Angriff  zu  verteidigen  und  daß  auch  nicht 
in  einem  einzigen  modernen  Kabinett  die  Gabe  der  Vor- 
aussicht noch  auch  die  der  Geduld  vorhanden  ist.  So 
sagen  sich  denn  diese  Völker:  ,Es  muß  doch  wohl  irgend- 
eine erste  Ursache  hierfür  geben!'  Und  diese  erste  Ur- 
sache beginnen  sie  zu  ahnen,  wenn  sie  sich  die  einzelnen 
Nationen  abgesondert  halten  oder  wohl  auch  kleine 
gegenseitig  aufeinander  eifersüchtige  Gruppen  bilden, 
Vorurteile  in  sich  nähren  und  die  Gefahren  der  Kriege 
vermehren  sehen,  anstatt  daß  diese  Völker  sich  ver- 
ständigen sollten,  um  Maßnahmen  zu  ergreifen,  mit  denen 
solchen  Gefahren  beizeiten  vorzubeugen  wäre!"  —  Und 
so  rufen  denn  die  Völker  ihren  Regierungen  zu:  „Wenn 
ihr  wirklich  glaubt,  daß  es  ein  Recht  gibt,  wenn  ihr 
glaubt,  daß  den  Kriegen  ein  Ziel  gesetzt  werden  muß, 
dann  hört  endlich  einmal  damit  auf,  immer  nur  die  rivali- 
sierenden Interessen  der  Völker  ins  Auge  zu  fassen  und 
denkt  lieber  an  die  vielen  armen  Männer,  Frauen  und 
Kinder,  die  in  der  Welt  umherirren1)!" 


l)  New  Yorker  Rede  des  Präsidenten  Wilson  vom  4.  März    1919   un- 
mittelbar vor  seiner  Ueberfahrt  nach  Frankreich. 

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HB 

107 

R3R3 


Raphael,    Gas ton 
Walther  Rathenau 


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