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ERNST HAECKEL VERDANKEN
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Von dieser Festschrift wurden außer
der Auflage i Unikat auf van Gelder-
Bütten für den Jubilar und 200 in
der Presse numerierte Exemplare auf
im. Japan abgezogen
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Den Druck dieser Festschrift besorgte
die Spamersche Buchdruckerei; das
Papier lieferte Berthold Siegismund;
die Reproduktion der Abbildungen er-
folgte in der Graphischen Kunstanstalt
von Hermann Ludewig; sämtlich in
Leipzig. Einband und Umschlag zeich-
nete H. D. Leipheimer in Sersheim
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Nach einer Photographie
des Ateliers
„Lichtkunst", München
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- -WAS WIR £u-
ERNST HAECKEL VERDANKEN
EIN BUCH DER VEREHRUNG UND
DANKBARKEIT P . „aw
IM AUFTRAG DES DEUTSCHEN MONISTENBUNDES
HERAUSGEGEBEN VON
HEINRICH SCHMIDT-JENA
MIT 12 ABBILDUNGEN, DARUNTER 5 HAECKEL-PORTRÄTS
ZWEITER BAND
LEIPZIG 1914
VERLAG UNESMA G. M. B. H.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1914 by Verlag Unesma G. m. b. H., Leipzig
INHALT DES ZWEITEN BANDES
o o o
SPEZIELLER TEIL
(FORTSETZUNG)
Seite
Rabl, Geheimrat Professor Dr. Carl, Leipzig i
Kammerer, Privatdozent Dr. Paul, Wien 6
Loeb, Professor Dr. Jacques, Newyork 15
Rieß, Kaufmann Carl, Hamburg 17
Lipsius, Privatdozent Dr. Friedrich, Leipzig 22
Meyer, Professor Dr. R., Berlin 28
Beck, Professor Dr. Paul, Leipzig 34
Dosenheimer, Amtsrichter Emil, Ludwigshafen a. Rh 38
Wolfsdorf, freireligiöser Prediger Eugen, Nürnberg 43
Cr ut eher, Dr. med. Howard, Roswell, Neu-Mexiko 48
Flothuis, Oberlehrer M. H., Amsterdam 50
Bellesme, Professor Jousset de, Brüssel 56
Glatz, Kaufmann Friedrich, Wien 61
Koerner, Professor Ernst, Berlin 68
Leon, Professor Dr. Nicola, Jassy, Rumänien T$
Scheffauer, Hermann, London 75
T hie nie, Schriftsteller Friedrich, Weimar 83
Vogtherr, M. d. R. Ewald, Dresden 89
Daxenbichler, Frau Fanny, Salzburg 93
Weber, k. k. Ministerialrat, Alfred Ritter von Ebenhof, Wien 96
Schneider, Bankbeamter Hugo, Berlin 115
Holgers, Fräulein Maria, Berlin 120
Felden, Pastor an St. Martini, Bremen 125
Schweninger, Geheimrat Professor Dr. Ernst, München 130
Eulenberg, Herbert, Kaiserswerth a. Rh 138
Boerner, Schriftsteller Wilhelm, Leipzig 139
Altmann-Bronn, Frau Ida, Romberg i. Lothringen 142
Yung, Professor Dr. Emile, Genf 148
Baege, Dozent M. H., Friedrichshagen bei Berlin 150
Neu mann, Herausgeber von Reclams Universum Carl W., Leipzig .... 154
Brauckmann, Institutsdirektor Karl, Jena 156
Gadow, Professor Dr. Hans, Cambridge i. England 160
Hertwig, Geheimrat Professor Dr. Richard von, München 165
Sprenger, Dr. med. et phil. G., Mainz 171
Kahl, Schriftsteller August, Hamburg 172
Ficalbi, Professor Dr. Eugenio, Pisa 179
Walt her, Professor Dr. Johannes, Halle a. S 180
Unna, Professor Dr. P. G., Hamburg 182
Kocks, Professor Dr. J., Bonn 186
Leege, Karl O., Jena 207
Greil, Professor Dr. Alfred, Innsbruck 211
Spitzer, Professor Dr. Hugo, Graz 224
VII
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Seite
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335
3Si
357
359
362
367
373
376
Hatschek, Hofrat Professor Dr. Berthold, Wien
Reichel, Eugen, Berlin
Schwarz, Kgl. preußischer Kommerzienrat Arthur, Lichterfelde
Regel, Professor Dr. Fritz, Würzburg
McCabe, Joseph, London
Goldscheid, Rudolf, Wien ....
Zalisz, J. F., Leipzig
Aigner, Dr. med. Eduard, München
Lang, Professor Dr. Arnold, Zürich .
Sokolowsky, Dr. Alexander, Hamburg
Schaxel, Privatdozent Dr. Julius, Jena
Brunner, Dr. med. Max, Wien . . .
Hirschfeld, Dr. med. Magnus, Berlin
Gilbert, Redakteur Leo, Wien ....
Dopf, Arbeiter Karl, Hamburg . . .
Knopf, Hofrat Professor Dr. Otto, Jena
Mark, Professor Dr. E. L., Harvard University, Cambridge U.
Palmen, Professor Dr. Axel, Helsingfors
Plotke, Georg J., Frankfurt a. M
delle Grazie, Schriftstellerin Fräulein Maria Eugenie, Wien
Kotthaus, Carl, München
Stöcker, Frau Dr. Helene, Berlin-Nicolassee
Verworn, Professor Dr. Max, Bonn
Fürbringer, Geheimrat Professor Dr. Max, Heidelberg . . .
Kleinsorgen, Wilhelm, Berlin-Grunewald
Bloch, Dr. med. Iwan, Charlottenburg
Carraro, Oberlehrer Angelo, Wien
Koltan, Schriftsteller Jakob, Heidelberg
Schallmayer, Dr. Wilhelm, Krailling-Planegg b. München .
Focke, Dr. med. Wilhelm, Bremen
Reh, Dr. Ludwig, Hamburg
Haeckel, Direktor des städtischen Krankenhauses Professor
Stettin
Leipziger Ortsgruppe des Deutschen Monistenbundes ....
Huschke, Dr. Konrad, Mitgl. der Fürstl. Kammer, Greiz
Friederici, Fräulein E., Berlin
Lowie, Robert H., Newyork
Buen, Professor Odon de, Madrid
Paatsch, Handlungsgehilfe Max, Dessau
Dr.
Heinrich
383
391
398
401
404
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410
VIII
CARL RABL, LEIPZIG
o o o
Ich hatte auf dem Gymnasium, z. T. auf Anregung meines Vaters,
z. T. wohl auch aus Opposition gegen die klösterliche Erziehung,
die mir in Kremsmünster, einem Benediktinerstift in Oberösterreich,
zuteil wurde, frühzeitig angefangen, entwicklungstheoretische Schrif-
ten zu lesen. Namentlich hatten die „Schöpfungsgeschichte" von
Burmeister, die Vorträge über die Darwinsche Theorie von L. Büchner
und das Buch „Vor der Sündflut" von O. Fraas, — so verschieden sie
in ihrer Tendenz waren, — in hohem Grade mein Interesse in An-
spruch genommen. Zu Anfang des Jahres 1870, ich stand damals im
siebzehnten Lebensjahre, wurde ich auf die populäre Kosmogenie
von Philipp Spiller aufmerksam, die unter dem Titel „Die Entstehung
der Welt und die Einheit der Naturkräfte" in Lieferungen erschien.
In einer der Lieferungen fand ich die Bemerkung, daß soeben die
2. Auflage von Haeckels „Natürlicher Schöpfungsgeschichte", eines
„klassischen Werkes", wie Spiller hinzufügte, erschienen sei. Spiller
genoß damals als populär-wissenschaftlicher Schriftsteller großes An-
sehen. Ich ließ mir sofort Haeckels Buch kommen, und mit dem
Studium desselben entschied sich mein ganzes wissenschaftliches
Leben. Ich las das Buch mit wahrer Andacht, Tag und Nacht, und
immer wieder und war überzeugt, daß es über die großen, wichtigen
Probleme, die es behandelte, kein besseres geben könne. Von da an
beherrschte der Entwicklungsgedanke mein ganzes Tun und Denken.
Alles, was ich bis dahin gelernt und gelesen hatte, verblaßte oder
verschwand wohl auch völlig aus meinem Gesichtskreise; ich war
glücklich, an Stelle des Kirchenglaubens, von dem meine ganze
Umgebung durchtränkt war, eine freie, auf der Basis menschlicher
Erkenntnis aufgebaute Lehre gesetzt zu sehen. Daß ich mit solchen
Ansichten nicht zu meiner Umgebung und meine Umgebung nicht
zu mir paßte, und daß daraus allerhand Mißhelligkeiten entsprangen,
brauche ich nicht auseinanderzusetzen.
Schon damals faßte ich den Entschluß, sobald sich dies irgendwie
durchführen ließe, nach Jena zu gehen und bei Haeckel zu arbeiten.
Zunächst aber ging ich, nachdem ich das Gymnasium absolviert
hatte, nach Wien, um Medizin zu studieren. Zu diesem Studium
1 Haeckd-Festschrift. Bd. II I
trieb mich nicht bloß eine von früher Kindheit genährte Neigung
— mein Vater hatte mich, allerdings um mich abzuschrecken, schon
als fünfjährigen Knaben zu Operationen mitgenommen, — sondern
auch eine alte Familientradition. Die Lehrer, die in den ersten zwei
Jahren für mich am meisten in Frage kamen, waren Hyrtl und Brücke.
Hyrtl war einer der glänzendsten Redner und größten Schauspieler,
die ich in meinem Leben kennen gelernt habe. Zu uns Studenten
trat er aber in kein näheres Verhältnis; ich hatte zwar versucht,
ein solches anzubahnen, indem ich ihm ein von mir aus Lindenholz
geschnitztes menschliches Skelett von etwa 70 cm Höhe überbrachte,
jedoch bestand die Antwort eigentlich nur in salbungsvollen Reden
über die Schwierigkeit des Studiums der Anatomie. Im Seziersaal
kümmerte er sich wenig um uns. So konnte ich also aus der persön-
lichen Bekanntschaft mit ihm wenig Nutzen ziehen. Zu Brücke aber
trat ich erst in späteren Jahren in nähere Beziehung.
Der Unterricht in der Zoologie lag damals in Wien recht im Argen.
Zu zoologischen Übungen war keine Gelegenheit vorhanden. Der
Zoologe Schrnarda, ein vielgereister Mann, der sehr amüsant er-
zählen konnte, erlaubte mir zwar, die Universitätssammlung zu be-
suchen, aber das war auch alles: weder er noch sein Assistent küm-
merten sich um mich. Ich wandte mich daher an das naturhistorische
Hofmuseum, fand aber auch dort nicht, was ich suchte. Ich wurde
in die Abteilung für Echinodermen gewiesen und erhielt den Auftrag,
die in den Schränken aufbewahrten Spatangiden zu bestimmen.
Damit hatte ich aber keine große Freude, und so war ich denn wieder
ganz auf mich selbst angewiesen.
Um so mehr wuchs in mir der Wunsch, in einem zoologischen
Laboratorium unter einer tüchtigen Leitung zu arbeiten. Aus diesem
Grunde ging ich in meinem fünften Studiensemester (1873/74) nach
Leipzig. Daß ich nicht sofort nach Jena ging, hatte in erster Linie
darin den Grund, daß mir der Abstand zwischen dem Universitäts-
leben einer so kleinen Stadt wie Jena und einer so großen wie Wien
etwas zu gewaltig schien; ferner war ich bei meinen bisherigen Stu-
dien so oft auf den Namen Leuckart gestoßen, daß ich den Wunsch
hatte, ihn persönlich kennen zu lernen.
An meine Leipziger Zeit denke ich immer mit aufrichtiger Freude
und Dankbarkeit. Leuckart war ein prächtiger Mann, der sich um
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seine Schüler mit aufrichtiger Teilnahme kümmerte. Aber auch seine
Assistenten und alle, die bei ihm arbeiteten, standen zueinander in sehr
angenehmem, anregendem Verkehr. Nun benützte ich den sächsischen
Bußtag (ungefähr 20. November) zu einem Ausflug nach Jena und Wei-
mar. Ich gab natürlich ein paar Tage zu, so daß ich etwa 3 — 4 Tage von
Leipzig wegblieb. Meine Absicht war vor allem, Haeckel persönlich ken-
nen zu lernen und für den nächsten Sommer eine Wohnung zu mieten.
Ich besuchte zunächst Haeckels Vorlesung. Offen gesagt, war ich
davon etwas enttäuscht. An ihren Inhalt kann ich mich nicht mehr er-
innern ; sie hat also augenscheinlich keinen großen Eindruck auf mich
gemacht. Auch hatte ich erwartet, einen zum Erdrücken vollen Hör-
saal zu finden, in dem mindestens die Hälfte aller Studenten Jenas ver-
sammelt war. Ich fand aber einen recht kleinen Saal, der gähnende
Lücken aufwies. Aber alles das konnte meine Verehrung Haeckels,
die mittlerweile durch das Studium seiner „Generellen Morphologie
der Organismen" noch gestiegen war, nicht im geringsten erschüttern.
Nachmittags machte ich Besuch in Haeckels Wohnung. Es dürfte
wohl unmittelbar nach Tisch gewesen sein, und ich fürchte fast,
Haeckel im Nachmittagsschlummer gestört zu haben. Ich war eben
zu jener Zeit noch ein richtiger Bauernjunge, der keine Ahnung davon
hatte, daß es auch Menschen gibt, die nach Tisch zu schlafen pflegen.
Übrigens ließ sich Haeckel nicht verleugnen; er kam im Schlafrock
aus einem Nebenzimmer und hörte mich ruhig an. In der Tat:
er hörte mich sehr ruhig an, und die Szene zwischen ihm und mir
hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der zwischen Mephisto
und dem Schüler. Zwar trug ich ihm in Ehrfurcht und klopfenden
Herzens meine Absicht vor, sein Schüler zu werden. Dann zeigte ich
ihm die Zeugnisse über die in Wien bestandenen Prüfungen aus
Zoologie, Botanik und Mineralogie, die die besten Noten auswiesen.
Aber alles das machte auf ihn keinen Eindruck, und er entließ mich
bald mit den Worten, ich solle nur im Sommer kommen.
Als bald darauf Leuckart von meiner Absicht erfuhr, sagte er sehr
bestimmt: „Wenn Sie nach Halle gehen, gebe ich Ihnen die besten
Empfehlungen mit." Ich hatte aber nicht Lust, bei Giebel zu arbeiten,
und blieb bei meinem Entschluß.
In den nächsten Osterferien (1874) sammelte ich in meiner Heimat
eine große Menge von Schneckenlaichen (Limnaea, Planorbis, Physa
und Ancylus), zeichnete viele Embryonen und nahm die Zeichnungen
nach Jena mit. Ich fragte Haeckel, ob ich nicht die angefangene Ar-
beit weiterführen solle, was dieser entschieden bejahte. So entstand
meine erste Arbeit „über die Ontogenie der Süßwasser-Pulmonaten";
sie war eine Erstlingsarbeit mit manchen Vorzügen, aber auch vielen
Fehlern einer solchen. Das, was mir damals vor allem fehlte, war
eine gute histologische Grundlage. Der praktisch-histologische Unter-
richt war zu jener Zeit weder in Österreich noch in Deutschland
genügend organisiert. Er lag fast ganz in den Händen mehr oder
weniger geschickter und tüchtiger Assistenten der Anatomie oder
Physiologie. Einen solchen histologischen Kurs bei einem physio-
logischen Assistenten hatte ich nun zwar in meinem vierten Studien-
semester in Wien genommen; aber irgendeine Förderung hatte ich
trotz des lebhaftesten Interesses, das ich dem Gegenstande entgegen-
brachte, dabei nicht gefunden. Meine histologische Ausbildung ver-
danke ich einzig und allein Brücke, unter dessen Leitung ich später
mehrere Jahre arbeitete.
Zu Ostern 1875 arbeitete ich als erster an der eben eröffneten
und noch sehr notdürftig eingerichteten zoologischen Station in
Triest. Im Sommer darauf kehrte ich nach Jena zurück und arbeitete
jetzt über die Entwicklung der Malermuschel (Unio pictorum), die
ich in großer Menge in der Saale sammelte. Auch jetzt war die direkte
Hilfe und Anleitung von Seiten Haeckels gering. Aber es war auch
nicht so sehr diese, die ich bei Haeckel suchte und schätzte, als
vielmehr der ununterbrochene wissenschaftliche Verkehr mit ihm
und die Anregung in allgemein entwicklungsgeschichtlicher und bio-
logischer Hinsicht, die aus diesem Verkehr in reichstem Maße floß.
Haeckel war sehr mitteilsam und hielt mit seinem oft sehr scharfen
Urteil auch uns Studenten gegenüber nicht zurück. So konnte es nicht
fehlen, daß er von allem Anfang an eine Menge Gegner hatte. Aber
anderseits wirkte das ganze Wesen Haeckels, seine unerschütterliche
Uberzeugungstreue, seine Begeisterung für den Fortschritt der Wissen-
schaft und seine Unerschrockenheit im Kampfe um die Wahrheit, auf
uns Schüler mit aller Macht ein und riß uns im Sturm mit sich fort.
Nach dem Jahre 1875 kam ich noch wiederholt nach Jena, wenn
ich auch von da an nur mehr in Wien studierte. Gewöhnlich benützte
ich den Anfang der großen Ferien, die in Österreich schon in den
ersten Wochen Juli beginnen, zu einem längeren Aufenthalte in Jena.
Auch blieb ich bis zum Jahre 1894 in lebhaftem brieflichen Verkehr
mit Haeckel. Meine weitere wissenschaftliche Ausbildung aber er-
hielt ich seit dem Jahre 1875 in Wien. Hier war es vor allem Brücke,
der auf mich den nachhaltigsten Einfluß nahm. Ich rechne es mir
zu einem ganz besonderen Glück, aber auch zu einer ganz besonderen
Ehre an, daß ich durch mehrere Jahre unter seiner Aufsicht und
Leitung in seinem Institute arbeiten durfte. Hier erhielt ich die
solide histologische Schulung, die mir bis dahin fast ganz gefehlt
hatte. Ich betone aber ausdrücklich, daß ich dafür einzig und allein
Brücke selbst zu Dank verpflichtet bin. Ich habe Brücke stets als
einen der ersten Histologen verehrt und halte auch heute noch seine
kleine Abhandlung über ,,die Elementarorganismen" für das beste,
was über die Zelle geschrieben worden ist.
So habe ich in Brücke gefunden, was mir Haeckel nicht geben
konnte. Beiden aber bin ich in gleichem Maße vom Grunde meines
Herzens dankbar. War mir bei Haeckel zuerst der Entwicklungs-
gedanke in seiner ganzen Größe und Macht entgegengetreten und
hatte durch ihn meine entwicklungsgeschichtliche Arbeit und For-
schung eine bestimmte Richtung erhalten, so lernte ich durch Brücke
die Notwendigkeit methodischer Arbeit, vor allem aber die Unentbehr-
lichkeit strenger Selbstkritik kennen.
Nach meiner Ansicht hat Haeckel seine größte Leistung schon
als ganz junger Mann, im Alter von 32 Jahren, vollbracht: es war
dies die in zwei Bänden erschienene ,, Generelle Morphologie der
Organismen" (1866). Die zwei Jahre später erschienene „Natürliche
Schöpfungsgeschichte" war eine Darlegung der Grundgedanken der
generellen Morphologie für weitere Kreise. Dasselbe gilt von der
Anthropogenie, die leider im Schematisieren schon nicht immer die
richtige Grenze einhielt. Von den späteren populären Werken kommen
fast nur die ,,Welträtsel" und ,,Die Lebenswunder" in Betracht.
Ich halte diese Werke, vor allem ,,Die Lebenswunder" namentlich
deshalb für wichtig und wertvoll, weil ihr Erscheinen in eine Zeit
fiel, in der bei den meisten Vertretern der entwicklungstheoretischen
Richtung eine gewisse Indolenz eingerissen war. Es war daher dank-
bar zu begrüßen, daß der wiederauflebenden Reaktion beim großen
Publikum ein Riegel vorgeschoben wurde.
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PAUL KAMMERER, WIEN: HAECKEL UND ICH;
DER PLANET UND DER KIESELSTEIN
o o o
Beim gestrigen Sonntagsausflug wanderte ich zwischen einem Histo-
logen und einem Philosophen, beide sehr gelehrt. DerHistologe
richtete die nicht selten vernommene Frage an mich: „Was ist das
eigentlich, der , Monismus'?" Und fügte — ich glaube mehr verfäng-
lich als unwissentlich — die seltener gehörte Frage hinzu: „Rechnet
sich nicht auch , dieser' Haeckel zu , diesem' Monistenbund?"
Was mich veranlaßte, vorerst mit der Gegenfrage zu erwidern:
„Haben Sie vielleicht schon einmal die , Welträtsel' in der Hand gehabt ? ' '
Er bejahte es, in unreifen Studentenjahren habe er allerdings die „Welt-
rätsel" (läßt durchblicken: über die er nun längst erhaben sei) durch-
geblättert, — und spitzte seine anfängliche Frage nunmehr daraufhin
zu, daß er wissen wolle, welchen Wert ich jenem Werke zubillige. Ob
ich es für nützlich oder schädlich, ob ich es überhaupt für nötig hielte.
Wie erwartet, nahm jetzt der Philosoph mir die Antwort ab:
„Die , Welträtsel' waren eine unbedingte Notwendigkeit, um diese
ganze Richtung einer dilettantischen, sogenannten Philosophie ad ab-
surdum zu führen. Das Buch spricht so sehr gegen sich selbst, daß
es dadurch für sich spricht. Seine Daseinsberechtigung, seine segens-
reiche Wirkung leitet sich ab aus dem Unsegen, den es anstiftet!"
Echt philosophisch! — wird man finden. Gegenüber solchen Ge-
sprächen reichlich abgeklärt, geriet ich trotzdem in Harnisch und er-
klärte beiden: „Nur erst mal nachmachen, meine Herren, und eine
ähnliche, gleichviel ob positive oder negative Kulturwirkung hervor-
bringen, — dann allenfalls schimpfen, wenn Sie dann noch finden,
daß Sie's besser gemacht haben!" — Worauf man sich von mir ab-
wendete mit der Bemerkung, man verschmähe es, in Haeckelscher
Weise Rattenfänger, Reklameheld zu spielen. Die „echte" Wissen-
schaft soll nämlich mit menschlichen Interessen nichts zu tun haben ;
sie ist nur da für das Dutzend Fachgenossen — durch Popularisierung
wird sie entweiht. Andererseits sei die Wissenschaft aber auch un-
fähig, eine Weltanschauung zu bilden: man solle die Wissenschaft
hüten vor Übergriffen der Weltanschauungen, aber auch diese vor
dem Einbrüche der Wissenschaft! Und am allermeisten soll wahre
Wissenschaft freibleiben von Politik. — Letzteres gerne zugegeben : Die
Wissenschaft sei rein von Politik, das einzelne Wissensgebiet meinet-
wegen auch rein von Weltanschauung ; ob aber Politik oder gar Welt-
anschauung frei von Wissenschaft? Ich sparte mir die Diskussion bis
zum nächsten Ausflug.
Jeder, der die Bewegung um Haeckel einigermaßen miterlebt hat,
wird zu würdigen verstehen, daß das soeben wiedergegebene Gespräch
und daß insbesondere die in ihm enthaltenen Einwände gegen Haeckel
typisch sind. Ich kann es weiterhin nicht besser illustrieren, als wenn
ich berichte, in welcher (vielleicht doch nicht ganz gewöhnlichen) Art
ich selber zu Haeckels Schriften und meiner heißen, weit über das,
was man Verehrung für einen Großen nennt, hinausgehenden Liebe
zu Haeckel gekommen bin. Man verzeihe, wenn deshalb hier zu viel
von meiner Wenigkeit die Rede ist ; wie, und daß es nicht als Unbe-
scheidenheit gemeint ist, bescheinigt der Titel dieses anspruchslosen
Aufsatzes ; gleichwie Aktion und Reaktion zwischen beliebigen Natur-
körpern wechselseitig besteht, sogar bei so verschieden großen, wie
der Erdkugel und einem auf ihrer Oberfläche liegenden Steinchen — ,
so auch zwischen dem Riesen, Altmeister und Großvater Haeckel und
dem Zwerg, Jünger und Enkelkind Kammerer. Jedoch das Steinchen,
von allgewaltiger Gravitationskraft des Himmelskörpers bewegt, gerät
ins Gleiten und Schürfen, schleift ab und wird selbst abgerieben;
stürzt dann, alles niederzwingend, die Steinlawine donnernd zu Tal,
so hatte an der Befreiung des Berggipfels vom Schutt das kleine
Steinchen denselben unentbehrlichen Anteil, wie all seine Mitdränger
und Nachbarn: als bescheidener Durchschnitt will hier das ver-
messen klingende ,,und Ich" genommen werden!
Ich hatte ursprünglich, als Volksschüler und Gymnasiast, nur
Freude am Beobachten der Lebensgewohnheiten freilebender und
gefangener Tiere und erwarb mir durch Sammeln fast aller Tiergruppen
nicht zu unterschätzende Kenntnisse von deren äußeren Formen.
Daneben begann ich auch schon mit ersten schüchternen Versuchen,
die Lebensbedingungen meiner Pfleglinge künstlich abzuändern,
um dadurch mittelbar auch auf die Lebensgewohnheiten, ja womög-
lich die Formen abändernd einzuwirken. Mit einem Wort, ich war in
erster Linie Ökolog, in zweiter Systematiker, beides schon mit ex-
perimentellem Einschlag — , als solcher kam ich an die Universität
und fühlte mich sofort tief unglücklich. Das, was ich für Zoologie
gehalten, wofür ich mich so glühend interessiert hatte, war anscheinend
gar nicht die wirkliche Zoologie gewesen: denn das, was ich im Hör-
saal und Laboratorium nun dafür zu hören und zu bearbeiten bekam,
war etwas ganz anderes. Bei aller Einsicht und bei allem Glauben, daß
eben diese, mir jetzt erst offenbar werdende Zoologie die einzig richtige
sei und ich mich all die Schulklassen und Jungens jähre hindurch in
einem verhängnisvollen Irrtum bewegt haben müsse, wuchs dennoch
eine Abneigung gegen das selbstgewählte und nicht ohne Kampf gegen
das Elternhaus durchgesetzte Studium empor. Es beleidigte mich,
daß man beim Betreten eines zoologischen Institutes gar kein Tier
erblickte ; man roch Chemikalien, man sah vielerlei bunte Flüssigkeiten
auf den Arbeitstischen stehen, — aber nirgends zeigte sich anderes
Leben als das der Studenten, Assistenten und Professoren. Endlich
ließ man mich durch ein Mikroskop sehen, dessen unheimlichen Tubus
ich in geheimnisvoller Weise mit dem Schornstein eines Dampfers
assoziierte, wovor ich mich als kleines Kind immer sehr gefürchtet
hatte: ich nahm ein Schnittpräparat in Augenschein, durch irgend
einen embryonalen Darm, — aber niemand fragte darnach, wie das
ganze Tier aussah, aus dem der Darm entnommen war . . .
Nun ist, wie allgemein bekannt — richtiger, viel mehr noch als man
ahnt — , gerade Haeckel ein Begründer jener vergleichend anatomischen,
histologischen und embryologischen Schule, wie sie noch gegenwärtig
an den meisten zoologischen Instituten und Lehrkanzeln Deutschlands
und Österreichs vorwiegend gepflegt wird. Und als ich um eben jene
Zeit mit Haeckels Schriften, besonders mit der „Generellen Morpho-
logie", „Systematischen Phylogenie" und „Anthropogenie" bekannt
wurde, so geschah es mit uneingestandenen, aber aus mir selbst er-
wachsenen (nicht wie sonst üblich, von fremder Seite übertragenen)
Vorurteilen. Unwillkürlich lehnte meine geistige Fassungskraft alle
Erzeugnisse ab, die sich mit dem i n neren Bau und seinen Wandlungen
unter vorzugsweiser Beschreibung nur der gestaltlichen Verhält-
nisse beschäftigten. Für das Endziel auch dieser Lehre, den Ent-
wicklungsgedanken und die Deszendenztheorie, empfand ich nichts-
destoweniger sogleich ein Gefühl, das ich latenten Enthusiasmus nen-
nen möchte. Er war aber noch zu latent, um mich die anstrengenden
Vorstufen, die Mittel zum Zweck waren, bereits überwinden zu lassen.
8
Nur aus der Idiosynkrasie, womit mir früher alles, was vergleichende
Anatomie und Embryologie hieß, gleich ekler Speise widerstand, kann
ich es heute erklären, wenn ich Haeckels Schriften sogar gedanklich
zu schwer für mich fand. Ich konnte sie nicht zu Ende lesen ; ich begriff
so vieles nicht. Ich hätte ein Lexikon der Fachausdrücke und voraus-
gesetzten Tatsachen dazu gebraucht. Das ist es, was ich heute, nach
gründlicher Umgestaltung meines Selbst, sogar in der Erinnerung
schwer begreifen kann, trotzdem ich immer ein schwerfälliger Leser
und Hörer gewesen bin.
Ein Rest davon ist bis heute in mir zurückgeblieben: man findet
allgemein, und sogar die Gegner geben es zu, daß Haeckels gemein-
verständliche Werke glänzend geschrieben seien. Ich meinesteils kann
mir nicht vorstellen, daß sie diesem Umstände die für ihr wissenschaft-
liches Gepräge hundertfach sensationelle Verbreitung danken; ja nicht
einmal, daß dieser Umstand, ihr Stil, ihre Diktion , etwas Wesentliches
dazu beigetragen hat. So sehr mich die feurige Sprache in Haeckels
kürzeren Veröffentlichungen hinreißt, die meist der Niederschrift eines
mündlichen Vortrags ihre Entstehung verdanken (z. B. „Die Grenzen
der Naturwissenschaft"1), „Ostwald als monistischer Naturforscher"2)
usw. usw.), ebensosehr klingen meinem Ohr in den größeren Buch-
publikationen, wo hierzu leichter Gelegenheit geboten, die häufige Wie-
derholung gewisser Wortfolgen oder ständige Wiederkehr gewisser ähn-
licher Ausdrücke als stilistische Härten, die das Lesen zuweilen mono-
ton gestalten und mehr dem Inhalte als der künstlerischen Form zu-
liebe lohnend machen. Haeckel selbst weiß das genau, wie sein Vor-
wort zu „Lebenswunder" dartut. Sollten derartige Empfindungen bei
Haeckels Freunden wirklich so selten vorkommen , daß ich darin eine
unerhörte Ausnahme bin ? Oder hat nur das Vertrauen zu Haeckels
Autorität ein Geständnis zurückgedrängt, das auch mir nicht leicht fiel ?
Mit dem „Rattenfänger" Haeckel wäre es dann nichts ! Sehr oft habe ich
Bücher, die bei weitem weniger voraussetzten und schöner geschrieben
waren, vom Publikum unter Hinweis auf deren zu große Gelehrsam-
keit und Schwerverständlichkeit ablehnen sehen ! Wie gewaltig muß bei
Haeckel der Inhalt sein, um einen Siegeslauf zu gewährleisten, der die
berühmtesten Prosawerke schöngeistiger Richtung in den Schatten stellt !
x) Monistisches Jahrhundert II, Nr. 30.
2) ,,Wilh. Ostwald", Festschrift aus Anlaß seines 60. Geburtstages. Wien 1913.
Ich war noch dabei stehen geblieben, daß die Zoologie eines Haek-
kel mir deshalb unsympathisch war, weil sie mit der von mir erträum-
ten Tierkunde nicht übereinstimmte; und daß ich Haeckels Schrif-
ten, die mich auch formal unbefriedigt ließen, nicht verstand, nicht
verstehen wollte. Als nun aber gar Haeckel gegen diejenige For-
schungsmethode zu Felde zog, die mir die liebste war und mich auch
vom unseligen Gefühle meiner Ohnmacht und Verfehlung im Studium
errettet hatte ; als ich Haeckels niedrige Bewertung der experimentellen
Biologie oder Entwicklungsmechanik las (in den „Lebenswundern"
S. 4, 45, 156, in „Alte und neue Naturgeschichte" S. 20 usw.), da war
ich auf dem besten Wege, ein heftiger Haeckel gegner zu werden.
Zu dieser Zeit fielen mir erst die „Welträtsel" in die Hände. Zu
schildern, was ich beim Lesen, — nein, gierigen Einschlürfen dieses
wunderbaren Buches empfand, und was alles es mich lehrte, über-
schreitet bei weitem die Mittel meiner Darstellung. Was etwa noch
einseitig und unreif an mir gewesen war, das wurde nun vielseitig
oder, besser, aufs allseitige hingelenkt. Hatte ich früher in absicht-
licher Weltfremdheit nur meinem Spezialstudium gelebt, so daß bei-
spielsweise meine Unkenntnis der durch Zeitungen verbreiteten Tages-
ereignisse mich zum Gespött meiner Freunde machte, so lernte ich
jetzt Teilnahme an meiner menschlichen und kulturellen Umgebung.
Hatte ich früher keinen Zusammenhang gesehen zwischen Naturge-
schichte und Menschheitsgeschichte, trotzdem mir die Abstammung
des Menschen von tierischen Ahnen unleugbar erschien, so nahm ich
jetzt Interesse an öffentlichen Einrichtungen und gesellschaftlichen
Bewegungen, weil ich sie dem allgemeinen biologischen Geschehen
einordnete. Am frappierendsten für meinen Kreis, um nur ein Beispiel
jener vielfältigen Wirkungen herauszugreifen, war die plötzlich er-
wachte Stellungnahme zur Politik, um die ich mich bisher wohl am
wenigsten bekümmert hatte. Man war gewohnt gewesen, mich dessent-
wegen zu belächeln, es aber offenbar gleichwohl nicht unerfreulich zu
finden. Dann aber benutzten plötzlich diejenigen, denen meine neuer-
dings so radikalen Urteile nicht behagten, die frühere Ignoranz, um
sich darauf, auf mein Unverständnis in politicis, zu berufen und um
mir folglich das Recht, mitzusprechen, abzusprechen. Das Gesetz der
Entwicklung, der Änderung durch Entwicklung war diesen sachver-
ständigen Kritikern unbekannt.
10
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Muß ich Haeckels „Welträtsel" als dasjenige Werk bezeichnen,
das meinen Blick vom Speziellen aufs Allgemeine lenkte, so darf ich
zugleich das Reziproke behaupten: Haeckel erzog mich auch dazu,
den allgemeinen Wert im Speziellen zu erkennen. Wer in moni-
stischer Denkweise bewandert ist, wird dies als selbstverständlich und
obendrein als charakteristisch empfinden. In jener Zeit nämlich, da
mir die Auffindung eines neuen Fundortes vom Moorfrosch in Kärnten
oder die Frage, ob der norddeutsche gestreifte Feuersalamander einen
besonderen Varietätennamen verdiene, wichtiger erschien als ein Wahl-
sieg der Christlichsozialen oder die Aufführung eines Dramas von
Gerhart Hauptmann im Burgtheater, — in jener Phase fühlte ich
mich mit meiner Tätigkeit durchaus unbefriedigt. Der Drang nach
gemeinnütziger Betätigung war, wenn auch unklar, lebendig in mir.
Ich beneidete den Arzt, den Techniker, ja den Priester, weil ich seinem
Beruf einen Nützlichkeitswert zuerkannte, den ich dem meinigen inner-
lich absprechen mußte. Lebhaftestes Interesse für die Fortpflanzung
der Geburtshelferkröte konnte mich nicht dem betrübenden Gedanken
verschließen, daß ihre minutiöse Erforschung zum Wohle der Gesamt-
heit keinen Beitrag liefern könne.
Nun aber wieder die „Welträtsel" : Zu deren intensiven Kultur-
wirkungen (unbesehen, ob sie in positivem oder negativem Sinne ge-
wertet werden mögen), zu deren übermächtiger Beeinflussung der
Denkentwicklung hatten doch Spezialarbeiten , Haeckels klassische
Monographien, Unendliches beigesteuert, waren die Strahltierchen,
Röhrenquallen und Schwämme ebenso viele Bausteine gewesen ! Und
was bei Haeckel nicht bodenständig war, was der Darwinismus in ihn
hineingetragen hatte, um sein Prophetentum erst richtig zu vollenden,
das war ebenfalls auf der Mosaikarbeit eines gewissenhaften Tatsachen-
sammlers emporgewachsen, war zum Weltall umspannenden Wunder-
bau gediehen auf dem Boden rastloser Kasuistik und Beobachtungs-
technik, wofür Darwin selber seinen Zeitgenossen und Nachfolgern,
Anhängern und Gegnern als fast unerreichbares Muster gilt. Also
mußte der Naturforscher, mit seinen Originalarbeiten beschäftigt, doch
nicht notwendigerweise ein unnützer Schmarotzer der menschlichen
Gesellschaft sein ! Nun erst gewann ich meine Wissenschaft und nicht
zuletzt darin meinen Haeckel lieb, — nun erst war die Gefahr des
Verbummeins aus Mangel an Freude (an Überzeugung, fruchtbar tätig
II
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zu sein) endgültig vorüber. Ohne Leiden und Zweifel durfte ich meine
volle Kraft dem Gebiete widmen, dem angeborene Neigung mich zu-
gewiesen hatte.
Ein berechtigter Gemeinplatz fordert, die Gebildeten, namentlich die
Gemeinde der Hochschulen, seien die berufenen Führer des Volkes,
und Ostwald sagt in seiner Begrüßung zu Haeckels 79. Geburts-
tag1): Man habe heute kaum noch eine Vorstellung davon, was ein
Universitätsprofessor als Haupt seiner Nation bedeuten könne. Der
Anspruch ist aber nur erfüllbar, wenn einerseits der Spezialforscher
sich nicht den öffentlichen Interessen verschließt, anderseits die maß-
gebenden Stellen der öffentlichen Verwaltung ihn nicht in seine Schran-
ken verweisen. Macht etwa der Unterrichtsminister von einem Ge-
lehrten, aber Nicht-Juristen, der seine Ansicht über gesetzliche Be-
stimmungen des Schulwesens äußert, keinen Gebrauch mehr, so wird
die Mehrzahl der Kollegen sich fürderhin nicht nur vor gleicher „Über-
tretung" hüten, sondern im Wiederholungsfalle von derselben oder
anderer Seite sofort die Anklage wegen „tendenziöser Wissenschaft"
erheben. Die Reaktion setzt sich dann derart selbst in den hellsten
und freiesten Geistern fest, daß es mit jeglicher Führerschaft vorbei
ist. Es heißt dann wieder in Regierungskreisen, die Hochschulen seien
nicht einmal fähig, sich selber (autonom) zu verwalten; man müsse
ihnen mit geschulten Verwaltungsbeamten behufs Führung, recte Ver-
gewaltigung der Amtsgeschäfte zu „Hilfe" kommen.
Für derartiges noch ein persönliches Erlebnis zum Exempel:
Als meine Broschüre „Sind wir Sklaven der Vergangenheit oder Werk-
meister der Zukunft ?" erschien, sagte mir ein sehr bedeutender Biologe
nach gewissenhafter Lektüre folgendes: „Ihre Schrift zerfällt in zwei
inkongruente Abschnitte, im ersten besprechen Sie Ihre Experimente
über Vererbung erworbener Eigenschaften, — daran ist nichts auszu-
setzen. Im zweiten ziehen Sie aus Ihren wissenschaftlichen Unter-
suchungen politische Konsequenzen, ohne daß zwischen diesen und
jenen irgendwelcher Zusammenhang ersichtlich ist. Wenn Sie durch-
aus politisch tätig sein wollen, warum setzen Sie sich nicht für die
Kanalisierung des Wiener Praters ein oder dergleichen?"
Der Krebsschaden liegt darin, daß die besten Köpfe überall be-
x) Monistisches Jahrhundert II Nr. 22, Februar 191 3.
12
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stehende Zusammenhänge einfach nicht zu sehen vermögen, daß sie
blind sind dafür. Daß sie, auch wenn sie hinlänglich gewissensfrei
sind, nicht mehr einsehen können, wie doch jedermann öffentliche
Dinge nur von seinem Gebiet aus bearbeiten sollte, wo er etwas ver-
steht, — nicht aber eine Staatswissenschaft und Parteipolitik begün-
stigen, die losgelöst ist von jeder anderen Wissenschaft, so gut wie
jede Wissenschaft von ihr, und wovon er nichts und niemand etwas
versteht! Die „Kanalisierung des Praters" gehörte auch nicht ins
Ressort des „Politikers an sich", sondern in das des Hygienikers, der
aber nun wiederum „parteiische Wissenschaft" betreibt, wenn er sich
damit befaßt. Warum will niemand von „wissenschaftlicher Partei-
politik" hören?
Was hier vom Gemeinwesen gilt, zu dessen Gedeihen jedes Gebiet
des Wissens und Könnens seinen (und nicht einen fremden) Teil
beitragen muß, das soll auch für die Philosophie gesagt sein, die doch
ebenfalls ein Sammelgebiet der Erkenntnis darstellt. Nur hat
die Wissenschaft dort (in staatlichen, politischen Angelegenheiten) ab-
zuliefern, was von ihren Errungenschaften praktisch verwertbar ist;
hier (in der Welt Weisheit) beizutragen, was an Detailkenntnissen sich
zur allgemeinsten Erkenntnis sublimieren läßt. An dieser Synthese
mitzuarbeiten, darf dort schwerlich dem Zunftpolitiker, hier keines-
falls dem Zunftphilosophen allein überlassen bleiben. Dieser wie jener
ist eine Null ohne die Darbietungen der Spezialarbeiter, gleichwie ein
Herrscher nichts ist ohne sein Volk, das er beherrscht.
Es sei denn, man stellte sich auf den von abstrakten Philosophen
nicht selten vertretenen Standpunkt, die einzelne Wissenschaft wie
auch die Vereinigung aller einzelnen Wissenschaften befinde sich nicht
in der Lage, eine Weltanschauung zu errichten, sondern höchstens
— nach feiner Unterscheidung des Physikers Einstein, des Mathe-
matikers Bolzano — ein Weltbild, eine Naturanschauung. Ich
bekenne, daß ich mich hier nicht mehr kompetent fühle. Der Dualismus
zwischen Welt und Natur, ja Anschauung und Bild ist meinem
Verstehen nicht zugänglich. Ich bemühte mich bisher, die praktische,
sozusagen eubiotische Wirkung der „Welträtsel" anzugeben; ich
habe am Beispiel einer Person (nur deshalb meiner selbst, weil ich mich
notwendig am besten kenne) die Erhöhung der Lebensfreude und be-
wußt gestaltenden Lebensfähigkeit beschrieben, die wohl für den Ein-
13
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druck jenes lebensprühenden, lebensspendenden, idealistischen Werkes
auf seine Leser kennzeichnend ist.
Soll ich nun noch ein vervollständigendes, abschließendes Wort
sagen über seinen vielbestrittenen philosophischen Wert, so muß
ich gestehen, daß die Philosophie jener wirklichen und schulgerechten
Philosophen, die den „Welträtseln" jeden Wert absprechen, mir trotz
redlichen Bemühens verschlossen blieb. So muß ich folgerichtig mich
des Urteils darüber bescheidentlich enthalten.
Nur rein logisch läßt sich ableiten, daß die Behauptung, mit Wissen-
schaft käme man zu keiner Weltanschauung, zu keiner Philosophie,
umkehrbar ist: die Bildung einer Weltanschauung, eines philosophi-
schen Systems, kann dann mit Wissen nichts zu tun haben, kann
keine Wissenschaft sein. Die Philosophie begibt sich damit des An-
spruchs, noch länger als Wissenschaft anerkannt zu werden. Das soll
nicht in abfälligem Sinne, sondern ganz nüchtern als strenge logische
Folgerung gemeint sein: die Philosophie mag dann alles mögliche
andere Schöne sein — Glaube n, Religion, Dogma, Kunst — , was man
will, nur eben nicht Wissenschaft, -wenn sie sich selbst von ihr lossagt.
Kehren wir nochmals zu dem gesprächsweise geäußerten Gedanken
eines berufenen Philosophen zurück, den wir eingangs zitierten und
wonach die „Welträtsel" nötig waren, um sich in ihrer Qualifizierung als
Philosophie ad absurdum zu führen, — so dürfen wir jetzt zum guten
Schlüsse in voller Unvoreingenommenheit aussagen: die „Welträtsel"
haben ihrerseits die schulgemäß anerkannte Philosophie in ihrer Cha-
rakterisierung als Wissenschaft ad absurdum geführt. Gibt es über-
haupt eine wissenschaftliche Philosophie (welchen Titel die scho-
lastische und scholarchische Philosophie verschmäht), so ist es die
undogmatische, nicht „weltliche", sondern nur „natürliche" Philo-
sophie der „Welträtsel"!
14
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JACQUES LOEB, NEW YORK
o o o
Der Verfasser dieser Zeilen begrüßt es dankbar, daß ihm Gelegen-
heit gegeben wird, dem verehrten Vorkämpfer für Gedanken-
freiheit seine ergebensten Glückwünsche zum 80. Geburtstag aus-
drücken zu dürfen.
Als Gymnasiast wurde er mit Haeckels Schriften bekannt. Die-
selben bestärkten in ihm Vorstellungen, welche schon früher die
Lektüre von Büchners „Kraft und Stoff" sowie die Einleitung zu
Schleidens Botanik in ihm angeregt hatten. In seiner Vaterstadt,
einem kleinen Orte auf dem linken Rheinufer, hatte der Verfasser
genügende Gelegenheit, die Intoleranz eines kirchlichen Regimes
kennen zu lernen. Das begeisterte Eintreten Haeckels für Gedanken-
freiheit fiel daher bei ihm auf fruchtbaren Boden, und noch heute
klingt ihm ein Vers aus einer polemischen Schrift Haeckels im Kopfe :
Wer die Wahrheit kennt
Und sagt sie frei,
Der kommt in Berlin
Auf die Hausvogtei.
Das trifft zwar heute nicht mehr buchstäblich zu, aber die Aus-
schließung von Professuren oder amtlichen Stellen im allgemeinen,
der gesellschaftliche und womöglich ökonomische Ostrazismus, die
dem aktiven Freidenker zuteil werden, sind auch eine Art Hausvogtei.
Der Schreiber dieser Zeilen bedauert es, daß ihm jahrelang nicht
vergönnt war, an der Seite Haeckels zu kämpfen. Das Bestreben, die
allgemeinen Lebenserscheinungen von rein physikalisch-chemischen
Gesichtspunkten zu analysieren, zog dem Verfasser systematische An-
griffe nicht nur von Seiten der Reaktionäre zu, sondern auch von Seiten
vieler Darwinisten, welche in dem Wahn befangen waren, daß die
rein spekulative und deskriptive Richtung der Biologie für alle Zeiten
die allein maßgebende Forschungsrichtung bleiben müsse. Haeckel
hatte an dieser Sachlage keinen Anteil.
In die Kreise der Monisten wurde ich gezogen, als Wilhelm Ostwald
mich einlud, einen der öffentlichen Vorträge bei der Tagung des Mo-
nistenbundes in Hamburg zu übernehmen. Ich drückte ihm damals
meinen Zweifel aus, ob ich willkommen sein würde. Die Freundlich-
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15
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keit, mit der ich in Hamburg auch von den intimsten Anhängern
Haeckels aufgenommen wurde, wird mir unvergeßlich bleiben. Ein
freundlicher Brief Haeckels ist mir ein schönes Andenken an die
Hamburger Tage.
Wir Monisten lehnen den Gedanken an Unsterblichkeit ab, und es
ist für uns auch eine Inkonsequenz, von der Unsterblichkeit der Lei-
stungen oder Bestrebungen eines Individuums zu reden. Aber wir
dürfen dankbar und mit Ehrfurcht derjenigen gedenken, die uns
Ideale, d. h. humanitäre Ziele, gegeben haben. Unsere Glückwünsche
an Haeckel kommen deshalb aus vollem Herzen.
QP 100
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16
CARL RIESS, HAMBURG
0 0 0
Aus der Schule kam ich, wie wohl jeder deutsche Junge meiner
Generation, ohne jede Kenntnis des tatsächlichen Lebens, seiner
sozialen und wissenschaftlichen Verhältnisse, dafür aber vollgepfropft
mit einem Wissen vergangener Zeiten, das uns ohne jeden inneren
Zusammenhang, ohne jeden Hinweis auf die Gegenwart oder gar die
Zukunft eingetrichtert worden war. — Ich wollte als Hamburger Junge
Kaufmann werden, trat in eine kaufmännische Lehre und bin Kauf-
mann geworden. Ich habe diese Berufswahl nie bereut, denn ich halte
den modernen Kaufmann, der die Verpflichtungen seines Berufes mit
Ernst erfaßt, die Probleme des drängenden Lebens um ihn mit
offenem Auge und frischem Geist betrachtet, für einen der wichtig-
sten Kulturträger unserer Zeit.
Aber nicht davon will ich sprechen. Was mir Ernst Haeckel in
meiner persönlichen Lebensentwicklung war, möchte ich erzählen.
Von dem grüblerischen thüringischen Vater her mit philosophischen
Interessen erfüllt — die praktischer denkende Hamburger Mutter
brachte mir andere Eigenschaften — , war ich bald in einen Kreis
junger Leute gekommen, die sich die Lösung der tiefsten Probleme
der Menschheit zur Aufgabe gemacht hatten. Die Heilswahrheiten
der christlichen Offenbarung, die man uns unsere ganze Schulzeit
hindurch gelehrt hatte, waren für uns alle im Leben draußen gar
bald verloren gegangen. Wir hatten alle erkennen müssen, daß andere
Kräfte und Voraussetzungen das wirkliche Leben beherrschen. Unser
christliches Weltbild war unter dem Andrang des Lebens zusammen-
gestürzt, und wir bemühten uns nun, uns ein neues zu formen. Es
waren köstliche Stunden, die ich in diesem Kreise verlebt habe. Sie
sind heute in alle Weltgegenden zerstreut, meine Freunde von damals,
aber sie sind alle, bis auf einen, freie und fortschrittlich denkende
Männer geblieben; dieser eine fand den Weg zum Verband zur Be-
kämpfung der Sozialdemokratie.
In einem stillen Cafe, (es gab damals noch stille Cafes in Hamburg)
kamen wir oft zusammen, um unsere Ideen auszutauschen, und dem
Zuge der Zeit folgend waren wir bald mitten in der damals ihre höch-
sten Triumphe feiernden spiritistischen Bewegung. Einige von uns
2 Haeckel-Festschrift. Bd. II
17
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waren Mitglieder einer spiritistischen Vereinigung und erzählten den
Hellaufhorchenden von den Taten der Geister: Tischrücken, Blumen-
apporte (das Blumenmedium Anna Rothe arbeitete damals noch un-
entlarvt), Materialisationen usw. Wir waren überzeugt, auf dem rich-
tigen Wege der Lösung der Welträtsel zu sein. Gleichzeitig ging eine
Hochwoge der theosophischen Bewegung über Deutschland. Hübbe-
Schleiden gab seine „Sphinx" heraus, Hartmanns „Lotosblüten" waren
unsere Lektüre, die Blavatzky und Anna Besant unsere Prophe-
tinnen. Im Laufe der Zeit nahmen unsere Zusammenkünfte festere
Formen an, wir schlössen uns zu einer kleinen „Philosophischen Ge-
sellschaft" zusammen, und unter dem Vorsitz eines Arztes, der sich
noch heute bemüht, die Grenzen menschlichen Wissens durch meta-
physische Spekulationen zu erweitern, suchten wir in die Tiefen theo-
sophischer Weltweisheit einzudringen. Aus diesem Kreise wurde ich
dann durch meine Übersiedelung nach Paris herausgerissen. — Ich
habe mich absichtlich etwas länger bei dieser Schilderung meiner
philosophischen Erstlingsschritte aufgehalten, weil sie mir heute
symptomatisch erscheinen. Hätte man uns in der Schule, anstatt
uns mit allen Mitteln in den Ideenkreis einer überlebten jüdisch-
christlichen Vorstellungswelt einzuführen, eine moderne, auf Natur-
wissenschaft und Soziologie begründete Staatsbürgererziehung an-
gedeihen lassen, dieser ganze Ausflug in die mystische Verworren-
heit spiritistisch-theosophischer Spekulationen wäre unmöglich ge-
wesen. Daher halte ich die Einführung einer modernen, auf den
Naturwissenschaften basierten, reinweltlichen Schulbildung für eine
der wichtigsten Vorbedingungen freiheitlichen Kulturfortschritts.
Da ich in Paris geschäftlich sehr in Anspruch genommen war,
so verblaßten meine philosophischen und metaphysischen Interessen,
und ich kehrte nach einigen Jahren ziemlich neutral in allen Dingen
der Weltanschauung nach Hamburg zurück. Sobald ich mich aber
wieder in die Hamburger Verhältnisse eingelebt und meine geschäft-
liche Position gesichert hatte, kamen die alten Jugendinteressen wie-
der zum Vorschein. Ich hatte mich inzwischen — nicht zuletzt an-
geregt durch die gewaltigen Fortschritte der Technik — mit den
Naturwissenschaften beschäftigt, und so war es nur selbstverständlich,
daß ich damals auf die aufblühende naturwissenschaftliche Bewegung
aufmerksam wurde. Ich fing an, mich mehr und mehr mit den in
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18
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öffentlichen Vorträgen und Diskussionen aufgeworfenen Fragen der
Entwicklungslehre und des Menschenproblems zu beschäftigen. Ich
las Darwin und nahm eines Sommers Haeckels „Welträtsel" mit auf
die Urlaubsreise an die stillen Gestade der holsteinischen Binnenseen.
Und in der Lektüre dieses Buches fand ich eine Antwort auf die Fra-
gen, die mich immer wieder beschäftigt hatten, hier waren alle die
einzelnen Ergebnisse menschlichen Wissens von Natur und Leben zu
einem großen einheitlichen Weltbild zusammengefaßt. Nie in meinem
Leben hatte mich die Lektüre eines Buches so gepackt wie diese.
Hier sah ich den Weg zu einer neuen Stellung des Menschen in der
Natur und zu seiner sozialen Umgebung. Mein ganzes Leben bekam
einen neuen Inhalt. Die Lektüre der „Welträtsel" regte mich an, mich
weiter in die einzelnen Gebiete menschlichen Forschens zu vertiefen,
meine Welt- und Lebensanschauung immer fester in den Natur-
wissenschaften zu verankern. Neue Lebenskraft und -freude ist in
mir erstanden. Die von Ernst Haeckel fundierte, von seinen Schülern
und Freunden, ja von allen freiheitlichen Forschern ausgebaute moni-
stische Welt- und Lebensanschauung, zu der ich mich nun freudig be-
kannte, brachte mir einen neuen Menschenstolz, eine neugeartete
Arbeitsfreudigkeit, unablässig mitzuwirken für die Befreiung und den
Fortschritt der Menschheit.
So bedeutet die Bekanntschaft mit Ernst Haeckels ,, Welträtseln"
meine eigentliche Menschwerdung, und die fundamentale Wirkung
dieses Buches in meinem Leben hat auch bis heute noch keine Ab-
schwächung erfahren. Wenn auch meine monistischen Anschauungen
sich im Laufe der Jahre durch Beschäftigung mit naturwissenschaft-
lichen und philosophischen Fragen — nicht zuletzt angeregt durch
Wilhelm Ostwald — vertieft und erweitert haben, die Grundlage
meiner Anschauungen ist doch der große einheitliche Wurf der „Welt-
rätsel" geblieben. Und daran hat auch alle Kritik der „Welträtsel"
nichts ändern können, die niemals den großen einheitlichen Gedanken
zerstören konnte. Sie hat sich mit dieser oder jener, vielleicht von
Haeckel selbst in seinem Schöpferrausch (er hat uns einmal selbst
erzählt, wie die „Welträtsel" entstanden) nicht mit letzter Schärfe aus-
gesprochenen Einzelheit beschäftigt oder aus vorgefaßter Meinung das
ganze Buch verworfen. Alle ernsthafte wissenschaftliche Kritik aber
hat den Bau noch immer in seinen großen Zügen bestätigen müssen.
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Bei dieser Entwicklung meines Geisteslebens ist es nur selbst-
verständlich, daß ich der im Januar 1906 von Ernst Haeckel und
seinen Freunden erfolgten Gründung des Deutschen Monistenbundes
freudig zustimmte und Mitglied dieser Vereinigung wurde. Ich habe
dann später die Hamburger Ortsgruppe mit gründen helfen, und es
gehört zu einer meiner schönsten Lebensfreuden, daß ich, getragen
von dem Vertrauen der Hamburger Monisten, für meinen Teil an der
guten Entwicklung der Hamburger Ortsgruppe und der Bedeutung,
die sie sich für die gesamte monistische Bewegung erworben hat,
habe beitragen können. Reiche Freude und großes Glück brachte
mir meine Arbeit für den Monismus, durch sie habe ich die persön-
liche Bekanntschaft, ja Freundschaft vieler trefflicher Männer und
Frauen gewonnen, sie hat meine eigene Entwicklung gefördert und
vertieft.
Während meiner Tätigkeit für den Bund habe ich dann auch die
Freude gehabt, Ernst Haeckel persönlich kennen zu lernen. Zuerst
im Jahre 1907, als er die erste Delegiertenversammlung des Deut-
schen Monistenbundes in Jena begrüßte. Und die hohe Verehrung,
die ich für Ernst Haeckel bereits nach der Lektüre seiner Schriften
empfand, hat sich von diesem Augenblick an nur noch gesteigert.
Der Zauber seiner liebenswürdigen, lebensfrohen und kampfesmutigen
Persönlichkeit muß jeden Menschen mit Sympathie für diesen un-
erschrockenen Forscher erfüllen, und es gehört wahrlich der ganze
fanatische Haß seiner klerikalen Gegner dazu, um das entstellte Bild
zu ermöglichen, das von dieser Seite so oft von dieser edlen Männer-
gestalt gegeben worden ist. So oft ich Haeckel auch später wieder
sah, immer war er der gleich liebenswürdige, kampfesfrohe, am frei-
heitlichen Fortschritt der Menschheit interessierte Mann, und niemals
werde ich vergessen, mit welcher Milde und welch gütigem Verstehen
er von den Angriffen und Beschimpfungen seiner Gegner sprach. —
Mein letzter Besuch bei Ernst Haeckel war im November des verf lossnen
Jahres. Ich war mit Wilhelm Ostwald zu ihm gegangen, um die Einzel-
heiten des Ernst Haeckel-Schatz für Monismus mit ihm zu besprechen.
Diese Zusammenkunft unserer beiden Führer, der ich so als beobach-
tender Dritter beiwohnte, ihr angeregtes Gespräch über die neuesten
Probleme wissenschaftlicher Forschung wird mir unvergeßlich bleiben,
und das Bild dieser beiden herrlichen Männer, sich in Haeckels Arbeits-
20
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zimmer in freudiger und zugleich ernster Unterhaltung gegenüber-
sitzend, hat sich mir tief eingeprägt. —
So hat Ernst Haeckel und sein Werk auf mein Leben eingewirkt,
und ich weiß, daß es vielen, vielen Tausenden ähnlich ergangen ist
wie mir. Mögen sie alle nie vergessen, was sie dem immer noch jugend-
frohen Kämpfer von Jena zu verdanken haben und stets bereit sein,
ihre Schuld ihm gegenüber abzutragen, indem sie mitarbeiten an sei-
nem Lebenswerk: der geistigen und sozialen Befreiung der Menschheit.
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FRIEDRICH LIPSIUS, LEIPZIG
o o o
Wann ich mit Ernst Haeckel bekannt geworden bin, ist mir als
geborenem Jenenser zu sagen nicht möglich. Wie die Persönlich-
keit des berühmten Forschers schon dem Kinde vertraut war, so
hatte auch der Schüler wenigstens eine ungefähre Ahnung von dem,
was Haeckel lehrte und wollte. Von meinem Vater, dessen Theologie
Wissen und Glauben auf kantischer Grundlage miteinander zu ver-
söhnen suchte, und der mit dem naturwissenschaftlichen Kollegen
auf freundschaftlichem Fuße verkehrte, habe ich nie ein spöttisches
Wort über die ,, Affenabstammung" des Menschen oder gar ein
abfälliges Urteil über Haeckels „Atheismus" gehört. Mir ist es, seit-
dem ich überhaupt über Weltanschauungsfragen nachzudenken be-
gann, immer selbstverständlich gewesen, daß alles in der Welt „natür-
lich" zugehe. Der schmerzliche Bruch mit religiösen Jugendein-
drücken, der Zwiespalt zwischen orthodoxer Erziehung und eigenen
Zweifeln, ist mir erspart geblieben. Ich habe mich, dank dem geistigen
Klima, in dem ich aufwuchs, schrittweise und stetig entwickelt,
und selbst die Tatsache, daß ich mich am Ende von den theologischen
Voraussetzungen gänzlich losgelöst hatte, ist mir erst durch den
Widerspruch, den ich erfuhr, zum Bewußtsein gekommen.
So begreift es sich, daß mir Haeckel nicht als der Befreier ent-
gegentreten konnte, der er ohne Zweifel vielen geworden ist. Ich
war mit der Theologie innerlich fertig, war bereits durch das Studium
der Wundtschen Philosophie hindurchgegangen, und die Richtung
meines Denkens stand in der Hauptsache fest, als Haeckel auf mich
zu wirken begann. Nicht in erster Linie durch seine Schriften —
obwohl ich damals auch mit vielem Vergnügen die „Natürliche
Schöpfungsgeschichte" las — sondern als Lehrer und Mensch. Es
waren Stunden, die mir zeitlebens unvergeßlich bleiben werden, in
denen ich als beurlaubter Privatdozent noch einmal zwischen den
Studenten saß und im Jenaer Zoologischen Institut bei Haeckel
„Entwicklungsgeschichte" hörte. Schon die Stimmung des Raumes
nahm sofort gefangen. Die an der Wand hängende große Tafel
mit der „Progonotaxis hominis" zeigte, in welchem Geiste hier
Naturwissenschaft getrieben werde. Sie verriet, daß auf dem Ka-
22
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theder dieses Hörsaales kein trockener Tatsachenmensch, der aus
lauter wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit über das Wichtigste
nichts zu sagen wagt, stehe, sondern ein kühner Bahnbrecher und
Wahrheitssucher, der da weiß, daß die Forschung den Mut des Irr-
tums haben muß, wenn sie vorwärts schreiten will.
Mancher Koryphäe der Wissenschaft hat seine ehrfurchts- und
erwartungsvolle Zuhörerschaft im Kolleg enttäuscht — man denke
an Helmholtz, dessen Auditorium sich oft ebenso verzweifelt wie
vergebens bemüht haben soll, den verwickelten Rechnungen des
großen Gelehrten zu folgen. Haeckels Vortrag war durch die ge-
schickte Auswahl und Verwertung des Stoffes immer gleich ver-
ständlich und gleich fesselnd. Wie man nach jeder Stunde seinen
geistigen Besitz bereichert sah, so machte die Lebhaftigkeit der
Darstellung das Hören zu einem wirklichen Genuß. In den von
ihm persönlich geleiteten Übungen konnte sich nicht nur Haeckels
außerordentliche Lehrgabe, sondern auch seine menschliche Liebens-
würdigkeit entfalten. Von Platz zu Platz gehend überzeugte er sich,
ob jeder Teilnehmer im Besitz eines brauchbaren Präparates sei
und hielt es, im Gegensatz zu manchem seiner Berufsgenossen, die
solch untergeordnete Tätigkeit ihren Assistenten überlassen, nicht für
unter seiner Würde, hier ein Mikroskop richtig einzustellen, dort die
entworfene Skizze zu verbessern.
Oftmals habe ich, als sich jetzt dem staunenden Auge die Wunder-
welt des Lebens erschloß, es bedauert, nicht von vornherein an der
Hand der Naturwissenschaft den Weg zur Erkenntnis gesucht zu haben.
Denn Haeckel ist mir der Führer geworden in das ,, fruchtbare Bathos
der Erfahrung", seinem Unterrichte danke ich die Einsicht in den
unersetzbaren Wert der unmittelbaren sinnlichen Anschauung, die
der Vertreter der Geisteswissenschaften über der bloßen Buchgelehr-
samkeit und dem endlosen Abhören fremder Meinungen über die
Dinge so leicht vergißt. Ich kann Haeckel nicht ganz darin bei-
pflichten, daß eigentlich alle Philosophie Naturphilosophie sei, aber
ich wüßte nicht, wie der Philosoph seiner Aufgabe, eine Gesamt-
weltanschauung zu erarbeiten, gerecht werden soll, wenn er sich
nicht mit den Ergebnissen der Naturforschung vertraut macht.
Und diese Ergebnisse selbst lassen sich nicht ohne weiteres wie reife
Früchte vom Baume brechen; um sie würdigen, ja auch nur, um
B]5|E]ggg§ggggggggggggggggggg^gE]E]E]B]E]gE3E]E]B]EiE]E]G]G]E]E]E]G3E]E]E]B]E3
23
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sie verstehen zu können, muß man bei den Einzelvvissenschaften
in die Schule gegangen sein. „Rein philosophische" Disziplinen gibt
es meiner Meinung nach überhaupt nicht ; wie sich der Naturphilosoph
auf Physik und Biologie stützen muß, so ist dem Ethiker und Re-
ligionsphilosophen die Psychologie, insbesondere die Völkerpsycho-
logie unentbehrlich. Und selbst die scheinbar so abstrakten Gebiete
der Logik und Erkenntnislehre müssen veröden, wenn sie die Ver-
bindung mit dem wirklichen Denken und Erkennen preisgeben und
die Rücksicht auf die wissenschaftlichen, vor allem die exakten
Methoden außer acht lassen. Das ist übrigens auch genau die Mei-
nung Wundts, der die alten philosophischen Zweifel an der Realität
der Außenwelt durch den Hinweis auf das Verfahren der Natur-
forschung außer Kraft setzt. Verliert doch sie, bei aller Kritik am
sinnlichen Eindruck, den Boden einer gegenständlichen Wirklichkeit
niemals unter den Füßen!
Aber genügt es denn — so wird mir vielleicht der verehrte Jenaer
Meister einwenden — daß die Philosophie die Resultate der Forschung
nachträglich zusammenarbeitet? Kann und muß sie nicht zeigen,
daß die Wissenschaft, ja die Wirklichkeit selbst im Grunde nur eine
einzige ist? Was hilft es beispielsweise, experimentelle Methoden
auf die Psychologie anzuwenden, wenn doch zuletzt Anatomie und
Physiologie dem Gespenst der immateriellen Seele weichen müssen?
Nun will ich gern einräumen, daß es immer noch Vertreter der von
Haeckel so genannten „introspektiven" Seelenlehre gibt, die im alten
kartesianischen Irrtum befangen sind. An und für sich aber ist die
dualistische Metaphysik durchaus nicht die notwendige Konsequenz
der „parallelistischen" Arbeitshypothese, die vielmehr die Zweisub-
stanzentheorie und den „influxus physicus" gerade ausschließt! Wir
können, ohne die Einheitlichkeit des psycho-physischen Organismus
irgendwie in Frage zu stellen, unsere inneren Erlebnisse einmal in
ihrem unmittelbaren Gegebensein und in ihrem eigenen Zusammen-
hange auffassen und das andere Mal den äußeren Ausdrucksformen
der seelischen Vorgänge, die uns als Prozesse in der Großhirnrinde
gegeben sind, nachgehen.
Ich glaube nicht, daß sich diese beiden Betrachtungsweisen
gegenseitig stören können, ich glaube aber auch nicht, daß eine
von ihnen entbehrlich ist. Der Unterschied in der Art, wie das Ich
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sich selbst erlebt, und wie es auf fremde Sinne wirkt, also einem
anderen Ich „erscheint", wird sich niemals beseitigen lassen. Aber
es wäre sicherlich verfehlt, hieraus auf eine fundamentale Zwie-
spältigkeit im Sein zu schließen. In dieser Grundüberzeugung weiß
ich mich durchaus mit Haeckel einig; ja ich gehe sogar noch einen
Schritt weiter als er: Ich betrachte Kraft und Stoff nicht nur als
untrennbar zusammengehörig, mir scheint es ausreichend, die Welt
lediglich als eine Unendlichkeit tätiger und strebender Kräfte zu
denken. „Im Anfang war die Tat!"
Daß bei der Ausgestaltung eines vom Kraftbegriff aus entwor-
fenen Weltbildes dem Entwicklungsgedanken die beherrschende Rolle
wird zufallen müssen, liegt auf der Hand. Ruhe ist nur als vorüber-
gehender Gleichgewichtszustand der Kräfte begreiflich, die Welt ist
nur, sofern sie wird. Es wird Ernst Haeckels unvergänglicher, durch
keine Kritik antastbarer Ruhm bleiben, der Entwicklungslehre in
Deutschland die Bahn gebrochen zu haben. Ob ihr in der Gestalt, die
Darwin ihr gegeben, oder in irgendeiner anderen die Zukunft gehört,
ist dabei eine nebensächliche Frage. Soviel steht fest : Sie beginnt heute
vom Boden der Biologie, auf dem sie erwachsen ist, hinüberzugreifen
auf das Gebiet der Physik und der Chemie. Die Erscheinungen der
Radioaktivität haben uns gezeigt, daß auch die Elemente der an-
organischen Natur nicht von vornherein fertige Gebilde, sondern Pro-
dukte einer über Jahrmillionen sich erstreckenden Entwicklung sind.
Haeckel hat seinen „Monismus" als „Band zwischen Religion und
Wissenschaft" bezeichnet. Es liegt deshalb die Frage nahe, ob der
Entwicklungsgedanke Gefühle auslösen könne, die imstande wären,
die Stimmungswerte älterer Religionsbildungen zu ersetzen? Hier-
gegen erheben sich aber gewisse Bedenken. Wird das Entwicklungs-
prinzip auf das Universum selbst angewandt, so nötigen uns die
an das Entropiegesetz geknüpften Folgerungen, die Welt nicht so-
wohl in aufsteigender, als in absteigender Richtung fortschreitend
zu denken. Außerdem führt die Lehre vom „Kältetod" des Univer-
sums zur Idee eines zeitlichen Endes und folglich eines ebensolchen
Anfanges des kosmischen Geschehens, also zu Gedanken, die in den
Rahmen einer immanenten Religiosität schlecht hineinpassen.
Aber wie es sich auch mit der universellen Tragweite des zweiten
Hauptsatzes der Thermodynamik verhalten mag — die Teilsysteme
25
des Weltganzen sind jedenfalls für unmeßbar lange Zeiträume einem
beständigen Auf-und-Nieder, einem fortwährenden Kreislauf des Ge-
schehens — sagen wir mit Arrhenius zwischen Sonnen- und Nebel-
fleckenstadium — unterworfen. Wir haben es also mit einer großen
Zahl aneinandergereihter, aber in sich zusammenhangsloser Evolu-
tionen zu tun. Auch auf unserem Planeten sind zahlreiche organische
Entwicklungsreihen zum Stillstand gekommen oder von der Natur
abgebrochen worden, und ebenso ist die Geschichte der Kultur-
menschheit weder als stetig, noch als unendlich zu denken.
Das eröffnet Perspektiven, die für unser menschliches Schaffen,
für die Zukunft unserer ethischen und kulturellen Arbeit verhängnis-
voll erscheinen. Wir brauchen aber, um ihrer lähmenden Wirkung
zu entgehen, weder ein Jenseits zu erträumen, noch uns Nietzsches
phantastische Lehre von der Wiederkehr aller Dinge zu eigen zu
machen. Uns muß genügen, was die Erfahrung lehrt: Wie die Grund-
gesetze des Alls unwandelbar die nämlichen bleiben, so setzen sich
auch bei aller Individualisierung im einzelnen die gleichen Grund-
typen der Wirklichkeit in Natur- und Geisteswelt offenbar immer
wieder durch. Haeckels geniale „Promorphologie" der Organismen
hat diesem Gedanken einen mehr mathematischen Ausdruck gegeben.
Er findet seine Bestätigung ferner an der Existenz analoger, d. h.
entwicklungsgeschichtlich nicht verbundener, aber physiologisch
gleichwertiger Organe, wie auch an der Tatsache, daß es zuletzt
nur einige wenige Hauptschemata sind, nach denen sich der Aufstieg
des Lebens vollzieht. Er liegt endlich im weitesten Sinne auch dem
Glauben zugrunde, daß, wo nur immer im Weltall die Bedingungen
hierzu gegeben sind, sich auch wieder ein, dem unseren ähnliches
Geistesleben entwickeln werde. Diese religiös so überaus wichtige
Idee unserer Zugehörigkeit zu einer Unendlichkeit der Geisteswelt
ist also nicht, wie man gemeint hat, durch die Begrenztheit der ein-
zelnen Entwicklungsreihen ad absurdum geführt. Vielmehr vermag
sie in ihrer Erhabenheit wohl dem Gedanken der Vernichtung ein
Gegengewicht zu bieten.
Müssen wir zugeben, daß der religiöse Wert des Entwicklungs-
gedankens nur ein relativer ist, so finden wir den philosophischen
Glauben an die „Ewigkeit des Geistes" in dem soeben entwickelten
Sinne um so enger mit dem Postulat der Wesenseinheit alles Seins
gggE]ggggggggggggggggggggggggggE]E]G]G]E]B]E]EjE]E]E]E]B]E]B]E]EjgE]B]E]G]
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verbunden. Immer und immer wieder hat die Menschheit — und
das ist selbst ein Zeugnis für ihre intellektuell einheitliche Struktur
— Propheten und Märtyrer dieses Glaubens hervorgebracht, in immer
neuen Ansätzen die in ihm enthaltene Aufgabe zu lösen gesucht.
Auch unser Haeckel ist gleichsam schon einmal über diese Erde
gewandert und zwar in der Gestalt des alten griechischen Weisen
Xenophanes, der Naturforscher, Philosoph und Theolog in einer
Person gewesen ist. Von ihm berichtet Aristoteles: „Xenophanes
erklärte, alles sei Eins, und auf das Weltall blickend sagte er, dies
Eine sei Gott!" Xenophanes war es auch, der über Abdrücke von
Fischen in den jungtertiären Schichten der syrakusanischen Stein-
brüche tiefsinnige Reflexionen anstellte und zu der Überzeugung
kam, daß alles Lebendige aus einem Urschlamm hervorgegangen
sein müsse. Er endlich hat an den herrschenden religiösen Vorstellun-
gen eine scharfe, seine Zeitgenossen oft verletzende Kritik geübt und
zuerst den Satz aufgestellt, daß nicht der Mensch nach dem Bilde
Gottes geschaffen sei, sondern umgekehrt die Menschen sich Götter
nach ihrem Bilde schüfen. So ist es derselbe rücksichtslose, um alle
Vorurteile unbekümmerte Wahrheitsmut, den wir bei dem antiken
ebenso wie bei dem modernen Denker bewundern. Darum kann
uns auch eine gewisse kleinlich-hämische Kritik an dem Kern von
Haeckels Lebenswerk und Haeckels Persönlichkeit nicht irremachen.
Mag er in seinen Aufstellungen hier geirrt haben und dort zuweit
gegangen sein, — er hat uns gar manchen neuen und tiefen Blick hin-
eintun lassen in die Schöpferwerkstatt des All-Einen, und
„Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Denn daß sich Gott-Natur ihm offenbare?"
27
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R. MEYER, BERLIN: WIE ZWEI HERRNHÜTER IN
ROM HAECKEL KENNEN UND LIEBEN LERNTEN
o o o
\\77ir lernten ihn kennen durch den Marschendichter H. Allmers aus
W Rechtenfleth bei Bremen. Allmers und Haeckel waren seit
30 Jahren, seit einer gemeinsamen italienischen Reise Ende der fünfziger
Jahre, Freunde. Als Haeckel seinen ältesten Sohn taufte, war auch
Allmers als Pate(?) geladen. Er erschien nicht, da es ihm im hohen
Grade inkonsequent däuchte, daß Haeckel diesen christlichen Brauch
übe. Allmers sann darüber nach, durch welche Feier die christliche
Taufe ersetzt werden könne; denn, obwohl Junggeselle, empfand er
doch lebhaft die Notwendigkeit, den neuen Erdenbürger festlich in
die Familie und in die Gemeinde der Menschensöhne aufzunehmen.
So dichtete er für Haeckels Taufe die „Weihe eines jungen Erden-
bürgers". Die symbolische Handlung, begleitet von festlich ernsten,
festlich heiteren Versen gipfelt darin, daß ein Becher mit Wein
dreimal an die Lippen des „Täuflings" geführt und ihm schließlich
vom „Sprecher" über das Haupt gegossen wird. Das Gedicht, der
erste Ansatz eines religionslosen Kultus, erschien zur Taufe zu spät;
erregte aber später, als es in der Gartenlaube gedruckt wurde, erheb-
liches Aufsehen.
Hatte so Allmers der Freundschaft mit Haeckel ein poetisches
Denkmal errichtet, so umgekehrt Haeckel ein wissenschaftliches.
Allmer's Nase war ein Unikum, fast ein Halbkreis. Ich habe eine ähn-
liche nicht vorher, nicht nachher gesehen. Als nun Haeckel ein Tief-
seetierchen entdeckte mit ähnlicher Ausbuchtung, gab er ihm in
humorvoller Erinnerung an den Freund den Beinamen Allmerianum,
was den Träger der Nase mit Stolz erfüllte. ,,So werde ich, wenn
niemand mehr meine Gedichte liest, doch dem oder jenem Forscher
als ein Freund Haeckels vor Augen treten."
Von all dem wußten wir nichts, mein Freund Nitschmann und ich,
als wir Sonntag den 7. April 1889 in Rom beim Abendbrot saßen
in der Trattoria degli artisti. Wir waren beide Herrnhutische Stu-
denten der Theologie vom theologischen Seminar der Brüdergemeinde
in Gnadenfeld (O.-Schlesien). Wir waren es mit innerer Liebe und
kannten kein anderes Ziel, als in einer der stillen Brüdergemeinden
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unseren weitabgewandten Idealen zu leben. Wir waren außerdem
blutarm. Aber wir hatten uns doch, von jäh erwachter Sehnsucht
nach Italiens Gütern wie von einem Rausch erfaßt, aus der Enge
unseres klösterlichen Lebens aufgemacht, um vier Wochen lang, vier
köstliche Osterwochen, Rom zu erleben. Jeder Tag brachte Wunder,
Wunder der Natur, der Kunst. Wir wandelten dahin wie Verzauberte.
Unser Sprachschatz ward ins Superlative gesteigert, und doch wollte
er nicht ausreichen, all das vollwertig auszudrücken, was uns be-
glückte.
In solcher Verfassung also saßen wir an genanntem Tage in unse-
rem Stammlokal. Vor uns ein Mann mit einer so singulären Nase
— sie war uns schon angemeldet worden — , daß es nur Allmers
sein konnte. Bald war eine lebhafte Unterhaltung im Gange; wir
beglückt, einen lebendigen Dichter aus der Nähe zu sehen; er, der
Menschen] äger, hocherfreut, eine ihm ganz neue Spezies von Menschen
kennen gelernt zu haben: zwei „lebendige, kleine Herrnhuter". Das
Glück war voll, als wir entdeckten, daß wir ein gemeinsames Quar-
tier hätten, das Archäologische Institut auf dem Kapitol. Dorthin
brachen wir dann um V29 au^ um an ^em > »offenen Abend" teil-
zunehmen, den der Leiter des Instituts Professor Petersen etwa
alle 14 Tage gab für die, die im Institut wohnten, und vor allem für
die vielen namhaften Männer, die um diese Zeit Rom aufzusuchen
pflegten. Im Institut angekommen, bat uns Allmers, einige Augen-
blicke zu warten. Als wir dann eintraten, begegneten uns überall
erstaunte, auch recht mitleidige Blicke. Wir waren froh, dem Kreuz-
feuer der Augen entronnen, in irgendeiner stillen Ecke landen zu
können. Da hörten wir erst, daß Allmers als unser Wegebereiter
überall gesagt: „Achtung! Gleich kommen zwei Menschen, wie Sie
sie noch nicht lebendig gesehen, zwei leibhaftige, kleine Herrnhuter.
Denken Sie einmal, Herrnhuter hier in Rom!" Wir kamen uns so
gewöhnlich, so selbstverständlich, auch so bescheiden gekleidet vor,
daß wir wie erlöst aufatmeten, als die Tür sich öffnete, der Name
Haeckel durch die Zimmer flog und uns wieder in unser beschei-
denes Nichts versinken ließ.
Das war Haeckel! So sah der aus! Grauer Anzug, kurze Jacke,
volles, leicht ergrautes Haar und Bart, die blauen Augen blitzend
und lachend. Er entschuldigte sich bei der Dame des Hauses : „Neh-
29
men Sie mich so, wie ich bin, grau in grau?" Alles Offizielle habe
er in Deutschland zurückgelassen. Er fand freundlichsten Dispens.
Nun suchte sein Blick im ersten Zimmer. Da standen einige Priester,
und Haeckel suchte das nächste Zimmer zu gewinnen in lustigstem
Streit mit einem Maler, der ihm als Mann der Wissenschaft den Vor-
tritt lassen wollte, während Haeckel lebhaft den Satz verfocht, daß
der Maler dem Gelehrten vorgehe; denn ersterer habe der Mensch-
heit mehr gegeben. Mir schien doch, als ob Haeckel selbst nicht so
recht daran glaubte. — Im Nachbarzimmer, wo man einen köstlichen
römischen Landwein trank, sammelte sich bald ein fröhlicher Kreis
um Haeckel. Er war der Mittelpunkt des Gesprächs, von ausgelassener
Heiterkeit; eine Lachsalve nach der anderen klang verlockend in
unser stilles, gemessenes Teezimmer herüber. Wir hatten das leb-
hafteste Bedürfnis, in den Haeckelschen Kreis zu kommen; lösten
drum höflich das Gespräch mit dem jungen katholischen Priester
— mein Tagebuch nennt ihn Dr. Ehrhardt aus Bayern; ob es wohl
der nachmals oft genannte Modernist war ? — schoben uns vorsichtig
in das Nebenzimmer und standen nun im Bannkreis des Jenensers,
den als Trabanten Freunde aller Lebenskreise und namentlich junge
Gelehrte — Dr. Michels, der junge Petersen — umringten. Das also
war der gefürchtete, der gehaßte, der glühend verehrte Mann. Unser
erster Eindruck: Wie harmlos ist er, wie schlicht, wie natürlich;
nichts von Pose, von Imponieren -Wollen; nur Mensch sein, ein lachen-
der, strahlend, ansteckend fröhlicher. Die Unterhaltung fliegt zün-
dend von Mann zu Mann, von Thema zu Thema; das Grundthema
bleibt, naturgemäß an solchem Ort, doch eben das ewige Rom. Wir
mischten uns nicht hinein; auch nicht, nachdem Allmers seine „bei-
den lieben kleinen Herrnhuter" Haeckel vorgestellt hatte. Ein Hände-
druck, damit sind wir zunächst für ihn erledigt und können vergnügt
zu stillfröhlichem Hören zurückkehren. Sehr tiefgründig war das
Gespräch naturgemäß nicht; dazu waren die Männer sich im ganzen
zu fremd, die Ansichten zu verschieden. Bei Haeckel hin und wieder
eine aggressive Note, so wollte es uns wenigstens scheinen. So fragte
er im naivsten Ton, ob jemand die heilige Petronella von Guercino
gesehen habe. Unten liege noch der entseelte Leib, oben erscheine
schon in neuer Hülle die Seele vor Christus. Wie man sich das wohl
wissenschaftlich vermitteln könne. In demselben naiv satirischen
30
ggggggE]ggggG)gggggggggE]ggggggE]E]E]S]G]E]E]E]E]E]G]E]E]E]E]G]E]E]G]G]EiG]EiB)
Ton scherzte er über die Engel und Seligen in einer Kirche, deren
Geschlecht und Rasse er bei bestem Willen nicht habe feststellen
können. Sonst habe ich mir von Einzelheiten nichts notiert. Aber
das ist mir in lebendigster Erinnerung, wie Haeckel trotz vieler Ge-
lehrten und Künstler, die anwesend waren, den unumstrittenen Mittel-
punkt dieses Zimmers bildete. Er fesselte uns so, daß wir nicht merk-
ten, wie sich im Nebenzimmer Dr. Ficker (jetzt Straßburger Ordi-
narius) an den Flügel setzte, um die Dame des Hauses zum Gesang
zu begleiten. Und noch höre ich unser Lachen hineinplatzen in ein
zartes Lied; erschreckt eilt der Hausherr herbei, schließt die Ver-
bindungstüre. Es wäre nicht möglich gewesen, diese angeregte Herren-
gesellschaft, die sich in allerbester Laune befand, in die zarten Bande
der Musik zu schlagen. Bald nach n Uhr verschwand Haeckel still-
schweigend, ohne Abschied. So sahen wir Haeckel zum ersten Male.
Für die nächsten Tage stellte uns Allmers ein intimeres Zusammen-
sein mit Haeckel in Aussicht. „Ich möchte so gern," sagte er scher-
zend, ,, einen kleinen Glaubenskrieg zwischen Ihnen und Haeckel er-
leben." Am Mittwoch drauf hatten wir das Glück dieser Zusammen-
kunft, des „Religionsgespräches", wie Allmers, zum Glück sich irrend,
es im voraus bezeichnet hatte. Allmers hatte Haeckel zu Mittag
geladen in unser Stammlokal Degli Artisti in der Via della Vite. Als
wir von einem Campagnaausflug heimkehrten, saß Haeckel schon da,
warf einen prüfenden Blick auf uns beide — Allmers hatte ihm also
von unserer Anwesenheit nichts verraten. Dann begann ein fröh-
liches Mahl, wie man es nur in begnadeter Stunde und in begnadeter
Gesellschaft erlebt. Haeckel war von unermüdlicher, reizendster Gebe-
freudigkeit. Es machte ihm augenscheinlich Freude, die beiden ihm
kritisch gesinnten — so mußte er annehmen — mit dem Gold seines
Geistes und seines Herzens zu überschütten. Sein Appetit war gut,
Wein trank er wenig. „Ich bin wirklich kein Trinker, obwohl mich
christliche Kritiker auf Grund der , Weihe eines jungen Erdenbürgers'
dazu haben machen wollen." Wir tranken um so mehr und um so
freudiger sein Wohl in unserer Lieblingsmarke, dem goldgelben Monte
Fiascone.
Als der Magen das Seinige empfangen, holte er seine Mappe her-
bei und zeigte uns seine eben entstandenen Aquarelle — aus Elba —
von dort war er nach Rom gekommen. Ich habe mir in meinem Tage-
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31
buch besonders angemerkt den Blick aus der Villa Napoleons, dann
den roten und weißen Berg. Dann erzählte er in sich überstürzendem
Flusse von den Eindrücken des Tages, Plänen für die nächste Zukunft
und namentlich vom vorhergehenden Tage. Da war er nämlich in
der römischen Universität gewesen, um sich irgendeine naturwissen-
schaftliche Sammlung anzusehen. Kaum hatten die Studenten das
erfahren, als sie eine Deputation an ihn schickten mit der Bitte,
ihnen statt des angesetzten Professors eine Vorlesung zu halten.
Haeckel konnte nun zwar durchaus nicht fließend und reich italie-
nisch sprechen. Aber es kam ihm zustatten, daß er gerade vor der
Osterreise ein Spezialwerk (über Tiefseetiere?) herausgegeben hatte,
dessen Inhalt er so völlig gegenwärtig hatte, daß er mühsam, in lang-
samer Rede, gleichsam übersetzend eine Vorlesung zustande gebracht
und unter lebhaftem Beifall geschlossen hatte. Auch die (lateinische?)
Dankadresse, die ihm die Studenten dafür vor einigen Stunden über-
reicht hatten, konnte er uns schon vorlegen und uns damit einen leb-
haften Eindruck geben von dem internationalen Ruf, den er schon
damals genoß, er, der Lehrer an einer der kleinsten deutschen Uni-
versitäten. Freilich kam ihm begünstigend entgegen der Radikalis-
mus der italienischen Studentenschaft, dem das Extremste das Liebste
war. Wir mußten dieses Gespräches denken, als wir nach wenigen
Tagen auf der Solfatara bei Neapel einige italienische Studenten
trafen, die mit uns in eine Erörterung über den größten Deutschen
eintraten, und als wir Bismarck als solchen nannten, entrüstet diesen
Platz keinem anderen zuwiesen als — Bebel.
Nach dem lang gedehnten Mahle fuhren wir mit Haeckel auf den
Janikulus; er war dauernd von heiterster Laune und ansteckender
Fröhlichkeit. Wir besichtigten mit ihm S. Maria in Trastevere. Dort
zieht sich ein großes, uraltes Mosaik hin: das Gotteslamm unter an-
deren Lämmern. Die machten nun Haeckel als Zoologen nicht enden-
den Spaß; denn sie zeigten, unbeholfene Schöpfungen des 12. Jahr-
hunderts, ein jedes irgendwelche körperliche Sonderbarkeiten.
Dann ging es hinauf nach S. Pietro in Montorio, und wir genossen
die Aussicht auf die ewige Stadt. Weitere Bekannte stießen zu uns
und machten uns den Besitz von Haeckel streitig. Und nun kommt
etwas, dessen ich mich noch heute schäme. Aber, was hilft es, ich
muß der Wahrheit schon die Ehre geben. Wir hatten für unsere
S3gE]gggggggiggggggE]gggggggggi]ggggE]gggE3EiE]E]E]E|EiE]E]GiE]g]E]E]E]Ei
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weinentwöhnte Jugend etwas zuviel des Monte Fiascone genossen.
Die Müdigkeit des Mittags bezwang uns, wir setzten uns hier ein paar
Augenblicke auf eine Bank — und nickten ein. Als wir erwachten,
war Haeckel verschwunden. Das war ein Schrecken! Ein kläglicher
Abschluß köstlichster Stunden! Doch wir hatten ja noch ein Wieder-
sehen mit ihm für die Osterfeiertage verabredet, nach unserer Heim-
kehr aus Neapel; auch ihm mußten die ,,beiden kleinen Herrnhuter"
erträglich erschienen sein. Leider wurde daraus nichts mehr. Als
wir am Karsonnabend beim Wiedersehenssymposion mit Allmers
saßen, brachte er uns herzliche Ostergrüße von Haeckel. Aber er
könne soviel Glockengeläut auf einmal nicht aushalten ; deshalb fliehe
er für die Feiertage in die Berge. So haben wir ihn nicht mehr ge-
sehen. — Von diesen Tagen an haben wir Haeckel als Menschen
geliebt, ja verehrt. Sein Wesen war Natürlichkeit, fröhliche Sonnig-
keit, hinter der deutlich durchzufühlen lag seine Tatkraft und Kampfes-
freude. Wir waren andere Bahnen gewiesen als er. Aber da wir als
Herrnhuter gewöhnt worden waren, das Leben bis in die äußersten
Konsequenzen nach einer herrschenden Idee zu regeln, so hatten wir
ein naturgemäßes und tiefes Verständnis für seine Natur, die ebenso
konsequent der Idee ihres Lebens diente, und für das zwingende Be-
dürfnis, das persönlich Gewonnene der Welt zu predigen. Als Herrn-
huter nannten wir das „Seelen für den Heiland gewinnen". Diesen
Trieb hegte er für seine Wahrheit in stärkstem Maße und glaubte
damit ebenso die Seelen zu beglücken als nur je ein Glaubenszeuge.
— So haftet denn trotz der überwältigenden Eindrücke, die Rom
damals dem jungfräulichen Gemüt machte, noch jetzt nach 25 Jahren
als eine der stärksten Erinnerungen die an den Mann aus Jena, der
daseinsfroh, im Genuß des Augenblicks sich freudig erschließend,
allem Großen hingegeben, auch die „beiden kleinen Herrnhuter",
die ihm der Freund in den Weg führte, mit bezwingender Gabe und
Güte umgab.
3 Haeckel -Festschrift. Bd. II 33
PAUL BECK, LEIPZIG
o o o
Der Verfasser vorstehenden Artikels, Prof. R. Meyer, mit dem ich
damals gemeinsam das Studium der Theologie betrieb, hat das
Verdienst, durch die lebhafte Erzählung seiner Reiseerlebnisse zuerst
meine Bekanntschaft mit Haeckel vermittelt zu haben. Diesem ersten
Eindruck verdanke ich es wohl, daß ich bei dem Namen Haeckel
immer in erster Linie an den sonnigen, lebensfrohen Menschen dachte.
Auch nach eingehender Bekanntschaft mit seinen Werken habe ich
in Haeckel stets einen Vorkämpfer für Sonne und Licht gesehen,
und zwar schon in einer Zeit, als ich das, was für Haeckel Sonne und
Licht ist, noch für eine große optische Täuschung ansah.
Ein inneres Verständnis für die Geistesarbeit Haeckels hatte ich
damals noch nicht. Ich war damals 20 Jahre und bis dahin war mir
jede, aber auch jede naturwissenschaftliche Bildung vorenthalten wor-
den. Ich befand mich in derselben intellektuellen Situation, wie
noch heute viele sogenannte Gebildete. An den Naturwissenschaften
schätzte ich die Resultate, die auch dem Blödesten das Vorhanden-
sein einer neuen Kultur verkünden, Lokomotive, Telegraph usw.
Da ich aber von der Geistesarbeit, die das geschaffen hatte, nichts
verstand, da ich nichts wußte von der hohen Intelligenz, der zähen
Energie, der schöpferischen Phantasie, der Unabhängigkeit und Kühn-
heit des Denkens und Wollens, die dahinter steht, hielt ich die Be-
schäftigung mit allem Materiellen und Stofflichen für minderwertig
und glaubte, daß nur durch geschichtliche Studien, durch künstle-
rische Erhebung, durch innere Erlebnisse und abstraktes philoso-
phisches Denken der Geist, der die Welt beherrscht, erfaßt werden
könnte. Wenn darüber geklagt wird, daß die Vertreter verschiedener
Weltanschauungen heute vielfach völlig verständnislos einander gegen-
überstehen, so ist das sicher nicht die Schuld der Vertreter des natur-
wissenschaftlichen Denkens. Diese sind viele Jahre ihres Lebens hin-
durch — oft mehr, als ihnen lieb war — mit den Denkgewohnheiten
und Urteilsformen der Gegenseite bekannt gemacht worden, während
umgekehrt die Vertreter der sogenannten Geisteswissenschaften sich
fast ausnahmslos durch absolute Ignoranz auf naturwissenschaftlichem
Gebiet auszeichnen.
34
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Es gab und gibt noch heute ein Zauberwort, daß die Naturwissen-
schaft aus dem Gedankenkreis des Metaphysikers und Theologen ver-
bannt, das heißt Kant. „Sie sind Naturforscher," so sagt der liberale
Theologe, „ganz vortrefflich. Sie ordnen die Welt der Erscheinungen
nach den Kategorien von Ursache und Wirkung. Sehr nützliche Tätig-
keit! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg." Vielleicht fügt er noch hinzu:
„Aber nicht wahr, Sie vergessen nicht, daß Ihre Aussagen sich nur auf
die in Raum und Zeit ausgebreitete Welt der Erscheinungen beziehen.
Sie haben doch Kant gelesen ? Hüten Sie sich davor, die durch Kant
für alle Zeiten festgelegten Grenzen zu überschreiten. Ich muß Sie
sonst für einen kenntnislosen Menschen und seichten Schwätzer er-
klären. Vergessen Sie nicht, daß nach Kant hinter der Welt der Er-
scheinungen die Welt des Wahrhaftseienden, die intelligible Welt,
die Welt des Geistes und der Geister liegt. Bleiben Sie mit Ihren
Meßstangen und Mikroskopen in der Welt der Erscheinungen. Wir
Vertreter der Geisteswissenschaft können auch hinter den Vorhang
sehen, wir beobachten in den Wundern der Sprache das Weben und
Werden der Volksseele, in der Geschichte verfolgen wir die Ent-
faltung des Geistes und der Ideen, und die Theologie lehrt uns, die
Organe der Menschenseele gebrauchen, mit denen wir uns mit dem
Urgrund des Alls in Verbindung setzen können." Dem gegenüber ist
auf folgendes hinzuweisen. Erstens sind die Beweise, die Kant für
seine Behauptungen über Raum, Zeit und Kategorien vorgebracht
hat, lediglich an der Mathematik und Physik des 18. Jahrhunderts,
speziell an der Newtonschen Gravitationstheorie orientiert und passen
ebensowenig wie die daraus gezogenen Folgerungen auf den heutigen
Stand der Wissenschaft, selbst wenn wir uns auf die anorganische
Natur beschränkten. Tatsächlich gibt es heute wohl nur wenige Mathe-
matiker und Physiker, die an der Erkenntnistheorie Kants festhalten.
Poincare, Mach u. a. haben auf Grund des heutigen Standes der Wis-
senschaft Erkenntnistheorien aufgestellt, die von der Kantischen recht
bedeutend abweichen. Zweitens ist im 19. Jahrhundert eine neue
Naturwissenschaft entstanden, die Biologie. Kant hatte große Mühe,
in der Kritik der Urteilskraft das wenige, was ihm davon zu seiner
Zeit bekannt war, mit seinem System in Einklang zu bringen. Heute
wird wohl niemand mehr den Mut haben, das Unvereinbare vereinigen
zu wollen. Kant wollte noch die Grundbegriffe der Newtonschen
GJ3gG]ggggggggggggggg^ggggggggE]gE]E]E]E]E]E]B]E]E]E]E]G]E]glE]B]E]E]E!E]E]E]
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Physik aus der Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens ab-
leiten. Heute wollen wir umgekehrt die teils zweckmäßigen, teils
aber auch unzweckmäßigen Organe, mit denen die Menschen alter
und neuer Zeit Erkenntnisse erwerben wollten, aus der Naturwissen-
schaft, speziell der Entwicklungslehre ableiten. Drittens endlich wird
Kant von den Theologen nur benutzt, um die Naturwissenschaften
aus dem Heiligtum der Philosophie zu vertreiben und ihr einen be-
scheidenen Platz im Vorhof anzuweisen. Nachdem mit Hilfe der
Kantischen Erkenntnistheorie begründet ist, daß man auch ohne die
geringsten naturwissenschaftlichen Kenntnisse doch kühne Behaup-
tungen über Wesen, Zweck und Urgrund der Welt aufstellen darf,
wird Kant schleunigst verabschiedet. Denn Stimmungen, Gemüts-
bewegungen, Begeisterungen und Ekstasen zur Grundlage der Welt-
anschauung zu machen, ist doch wohl nicht im Sinne Kants.
Es ist das große Verdienst Haeckels, erkannt zu haben, daß das
philosophische Denken durch Kant und seine Nachfolger in eine Sack-
gasse geraten war, aus der es überhaupt keinen Übergang zu den Pro-
blemen der Gegenwart gibt, daß daher ein Anknüpfen an die philo-
sophische Tradition zwecklos sei. So wenig die Begründer des Empi-
rismus sich mit den Vertretern der mittelalterlichen Scholastik auf
Einzelauseinandersetzungen einließen, so wenig beachtete Haeckel
die Fachphilosophie, zum nicht geringen Zorn von deren Vertretern.
Ferner erkannte Haeckel, daß die Erkenntnistheorie Kants heute
gar nicht mehr um ihrer selbst willen geschätzt wird, sondern nur
als Damm benutzt wird, um dem sieghaften Vordringen der Natur-
wissenschaften Halt zu gebieten und die Heiligtümer der Vergangen-
heit vor der alles überschwemmenden Flut zu schützen. Haeckel
wußte, wo seine wahren Gegner zu finden seien, er hielt sich nicht
lange mit Vorpostenplänkeleien auf, sondern griff das feindliche Haupt-
quartier an. Endlich erkannte Haeckel mit klarem Blick, wo der
Neubau zu errichten sei, nämlich auf den exakten Naturwissenschaf-
ten. Ob Haeckel damit recht hat, kann nur die Zukunft lehren.
Ich glaube aber, die Freunde und Anhänger Haeckels können getrost
dem Richterspruch der Zukunft entgegensehen.
Wäre Haeckel nur Künstler und Gelehrter, so wäre sein Leben
ruhiger verlaufen, als es der Fall war. Fern von Haß und Feindschaft
würde er sich heute der wohlwollenden Anerkennung aller Intellek-
"S33aggggggE3gsEigggE3E]ggggggggggE]gggE3E]E]E]E]5]E!E]E]E]E]E]E]giE;E]B]gE]
36
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tuellen erfreuen. Haeckel ist aber mehr. Er ist ein Mann, der es wagt,
eine Überzeugung zu haben; ja noch mehr, der es sogar wagt, die-
selbe zu äußern, unbekümmert um die Zensur der Fachphilosophen,
unbekümmert um das Wohlwollen der Behörden, unbekümmert auch
um die Frage, ob die von ihm gefundene Wahrheit geeignet sei, „das
Volk" im Zaum zu halten. Die Tatsache, daß Haeckel bei vielen
Tausenden nicht nur kühle Anerkennung seiner Gedanken, sondern
begeisterte Liebe und Verehrung gefunden hat, beweist, daß es im
heutigen Deutschland doch noch mehr Menschen, als auf Grund der
Beobachtung im täglichen Leben zu vermuten ist, gibt, die die letzten
Probleme des Menschenlebens nicht durch Opportunitätsgründe und
taktische Erwägungen, sondern auf Grund freier innerer Überzeugung
zu lösen gewillt sind.
37
EMIL DOSENHEIMER, LUDWIGSHAFEN A. RH.
o o o
Mit Ernst Haeckel wurde ich wie wohl viele seiner Verehrer zuerst
durch die Lektüre seiner ,, Welträtsel" bekannt. Dieses Buch
machte auf mich vor allem deshalb einen besonders tiefen Eindruck,
weil es in der Behandlung gewisser philosophischer und religiöser
Probleme meiner Auffassung vollkommen entsprach. Was Haeckel
beispielsweise über die Zentralideen der konfessionellen Religionen,
Gott, Seele, Unsterblichkeit, Willensfreiheit, und über die monistische
Religion in den „Welträtseln" gesagt hat, hielt und halte ich für so
absolut richtig, daß ich es nicht begreifen kann, wie denkende Men-
schen diese Dinge anders beurteilen können. Die außerordentliche
Wirkung des populärsten Werkes Haeckels, der Welträtsel, finde ich
dadurch begründet, daß sie dem Leser fast durchweg in gemein-
verständlicher Form über Dinge, die von jeher den menschlichen
Geist beschäftigt haben, faßliche Wahrheiten übermittelt hat. Ich
erinnere zunächst an Haeckels Stellung zum Gottesbegriff. Ohne
Umschweife, ohne Konzessionen an die herrschenden Gefühle hat
sich Haeckel als Leugner Gottes im Sinne der Kirche erklärt und
dargetan, daß der Begriff des kirchlichen Gottes den Erfahrungen
und der Vernunft widerspricht. Ebenso hat Haeckel den Begriff der
Seele, des Geistigen, der Unsterblichkeit der Seele freigemacht von
den Formen des Übersinnlichen und Mystischen. Das Geistige und
Leibliche bildet eine Einheit. Die geistigen Funktionen sind mit
den leiblichen unauflöslich verbunden. Die Stufen der geistigen Ent-
wicklung — des Kindes, des Erwachsenen, des Greises — gehen
parallel mit den Stufen der leiblichen Entwicklung. Das sind un-
bestreitbare Grundtatsachen geworden. Bei seiner Auffassung des
Geistigen, Seelischen mußte Haeckel notwendigerweise dem Men-
schen, dem nach der dualistischen Anschauung im Gegensatz zum
Tier mit einer ,, Seele" begabten Wesen in der organischen Welt eine
andere Stelle anweisen. Haeckel hat den Menschen, das Ebenbild
Gottes, in die Reihen der organischen Welt, in das Tierreich ein-
geordnet: der Mensch ist ein Geschöpf, das im Lauf der Jahrmillionen
aus der einfachsten Form sich entwickelt hat. Er hat ein für allemal
festgestellt, daß die anthropozentrische Auffassung der Dinge, die
38
gg^g^G]g^gG]ggggggG]gggggE]ggggEjE]BiE]B]B]B]G]BiE]BiE]gE]S]E3E3G]G3E]B]E)E]gg
den göttlichen Menschen aus den Reihen der Organismen heraus-
hebt, mit der wissenschaftlichen Forschung unvereinbar ist.
Man stelle sich vor, welch ungeheure Rolle die Begriffe Gott,
Seele in den religiösen und ethischen Anschauungen der europäischen
Kulturwelt spielen. Bei den wichtigsten Ereignissen im Leben des
einzelnen, bei den wichtigsten öffentlichen Staatsakten steht der
Glaube an einen persönlichen Gott im Vordergrund. Bei der Jahr-
hundertfeier 1813 — 1913 waren die Festreden fast durchweg auf den
Ton gestimmt: Gott war es, der den gewaltigen Napoleon gedemütigt
und dem deutschen Volke zum Siege verholfen hat. Die Männer des
Volkes wie die Fürsten berufen sich immer und immer wieder auf
Gott als den Leiter aller Geschicke. Gott ist alles, der Mensch, der
staubgeborene, die Kreatur Gottes nichts. Tagtäglich werden Tau-
sende von Eiden geschworen unter Anrufung Gottes des Allmächtigen
und Allwissenden, vor Gericht (Zeugen- und Parteieneid), beim Militär
(Fahneneid), bei der Übernahme eines Amtes (Beamteneid). Der
Gesetzgeber hat es sogar für notwendig gefunden, Gott gegen läster-
liche Angriffe unter besonderen Schutz zu stellen (§ 166 des deutschen
Strafgesetzbuches). Erst bei den jüngsten bayerischen Landtags-
verhandlungen, November 1913, ist in dem Kampf um die Moral
mit oder ohne Gott der klaffende Gegensatz in den Weltanschauungen
zutage getreten. Der bayerische Ministerpräsident Freiherr v. Hert-
ling hat in seiner Rede nachdrücklich hervorgehoben, daß, wenn sich
herausstellen sollte, daß in dem konfessionslosen Moralunterricht
Theorien vorgetragen werden, die geeignet sind, den jungen Ge-
mütern die letzten Grundlagen der Gesellschaft, den Glauben an
Gott, an das Jenseits zu rauben, ein solcher Unterricht nach seiner
Meinung nicht geduldet werden könne. Der bayerische Minister-
präsident ist also der Ansicht, daß ohne den Glauben an einen per-
sönlichen Gott Staat und Gesellschaft nicht bestehen können.
Gegen diese seit Jahrtausenden fest eingewurzelten mystischen
Vorstellungen hat Haeckel unerschrocken seine Auffassung kund-
gegeben: es gibt keinen Gott, wie ihn der Priester lehrt. Er hat
gezeigt, wie die Gottesvorstellungen entwicklungsgeschichtlich sich
erklären, aber jetzt, wo an Stelle unklarer Gefühle das Denken ge-
treten ist, sich nicht mehr aufrechterhalten lassen. Haeckel hat
gelehrt, daß der Mensch selbst Träger seines Schicksals ist, daß er
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39
g]EjggE]ggggggEJg]gggBjgggE]gE]B]E3E]EIB]B]EJEJBjEJE]B3^E3g]E]B]E]BigE]ggg|E]EJBIB]El
auf das Jenseits verzichten soll, um das Diesseits desto würdiger
und schöner zu gestalten. Haeckel hat die Wege gewiesen zu einer
neuen Religion, zu einer monistischen, d. h. einer irdischen, mensch-
lichen, die Menschen verbindenden, in den natürlichen Verhält-
nissen wurzelnden Religion. Haeckel hat gezeigt, daß auch ohne
Gott eine Ethik möglich ist, daß man sittlich handeln kann, ohne
Lohn und Strafe im Jenseits zu erwarten, daß das ethische Emp-
finden nichts Absolutes ist, sondern im Lauf der Jahrtausende
sich entwickelt hat, daß es verschieden war und ist bei den
einzelnen Völkern und daß nur die dogmenlose, monistische Ethik
imstande sein wird, die gesamte Kulturmenschheit zu umspannen.
Haeckel hat also neue Zukunftsideale aufgestellt und sich damit
um die Kulturentwicklung der Menschheit großartige Verdienste
erworben.
Haeckel mußte bei seiner Stellung zu den Zentralideen des alten
Glaubens, Gott, Seele, naturgemäß in einen unüberbrückbaren Gegen-
satz zur Orthodoxie aller Schattierungen geraten, vor allem zum
Ultramontanismus. Ich betrachte es mit als das größte Verdienst
Haeckels, daß er den Ultramontanismus als das gekennzeichnet hat,
was er ist, als den furchtbarsten Feind jeglicher Kulturentwicklung.
Man hat Haeckel auch von nicht ultramontaner Seite vorgeworfen,
daß er das Papsttum als „den größten Schwindel der Weltgeschichte"
bezeichnet hat. Das ist allerdings ein außerordentlich scharfes Wort,
das die Anerkennung des von den Päpsten geleisteten Guten vermissen
läßt. Aber Luther hat in seinem Kampf gegen den Antichrist nicht
weniger scharfe Worte gebraucht. Man begreift die Beurteilung
Haeckels, wenn man nicht vom ausschließlich geschichtlichen Stand-
punkt aus das Papsttum betrachtet. Christus, von dem das Papst-
tum seinen Ursprung herleitet, ein armer verfolgter Mensch, der
nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegte, der mit armen Sündern
und Zöllnern verkehrte, der sein Reich im Himmel suchte — der
Papst, der offizielle Nachfolger Christi, der in einem der schönsten
Paläste der Erde wohnt, der den Völkern seinen Willen diktieren
will, der noch vor einigen Jahrzehnten weltlicher Herrscher war:
Das sind ungeheure Gegensätze, die Haeckel, ein Mann von feurigem
Temperament und unerschrockener Wahrheitsliebe, durch einen sehr
scharfen Ausdruck beleuchten mußte.
40
Haeckel hat in der Wissenschaft, die ich beruflich ausübe, der
Jurisprudenz, insofern Bedeutendes geleistet, als er das Willens-
problem behandelt hat. „Die streitigste Frage der streitigsten Wissen-
schaft" hat er ihres dogmatischen und mystischen Charakters ein
für allemal entkleidet und ihre natürliche Lösung gefunden. In
den „Welträtseln", in den Thesen zur Begründung eines deutschen
Monistenbundes und schließlich in dem für die Düsseldorfer Monisten-
tagung bestimmten Aufsatz befaßt sich Haeckel mit dem Problem
der Willensfreiheit. Immer wieder betont er: die Annahme der
Willensfreiheit ist ein Dogma wie der Glaube an Gott und die Un-
sterblichkeit. Der menschliche Wille ist wie alles Sein und Geschehen
dem Kausalitätsgesetz unterworfen. „Der menschliche Wille", sagt er
in seinen „Welträtseln", „ist ebensowenig frei als derjenige der höheren
Tiere, von welchen er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unter-
scheidet. Während noch im 18. Jahrhundert das alte Dogma von
der Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen und
kosmologischen Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen das
19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu dessen definitiver Widerlegung
geschenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arsenal der ver-
gleichenden Physiologie und Entwicklungsgeschichte verdanken. Wir
wissen jetzt, daß jeder Willensakt ebenso durch die Organisation
des wollenden Individuums bestimmt und ebenso von den jeweüigen
Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig ist wie jede andere
Seelentätigkeit. Der Charakter des Strebens ist von vornherein durch
die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt, der Entschluß zum
jedesmaligen Handeln wird durch die Anpassung an die momen-
tanen Umstände gegeben, wobei das stärkste Motiv den Ausschlag
gibt. Die Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwicklung des
Willens beim Kinde verstehen, die Phylogenie aber die historische
Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unserer Vertrebraten-
ahnen." Haeckel hat in den „Welträtseln" mit Recht hervorgehoben,
welch fruchtbare Wirkung er von der Behandlung des Problems
in diesem Sinn erwarte, beispielsweise für die Rechtspflege. Meine Flug-
schrift „Der Monismus und das Straf recht" und meine größere Schrift
„Die Ursachen des Verbrechens und ihre Bekämpfung" habe ich voll-
ständig auf die Haeckelsche Auffassung des menschlichen Wülens
aufgebaut.
41
Überblicke ich das Gesamtschaffen Haeckels, so sage ich: über
die Grenzen seiner Fachwissenschaft hinaus hat er in fast allen Ge-
bieten der Wissenschaft und der Kunst teils selbstschöpferisch, teils
anregend Hervorragendes geleistet. Und doch stelle ich über Haeckel,
den glänzenden Vertreter der Wissenschaft, den Menschen Haeckel.
Den wissenschaftlichen Forscher schätze ich außerordentlich hoch,
aber den Menschen Haeckel, den unerschrockenen Bekenner und
Verkünder neuer Ideale, verehre und liebe ich.
QDC
42
EUGEN WOLFSDORF, NÜRNBERG: ODHIN UND
HAECKEL
o o o
Die Naturwissenschaft sucht die Wahrheit, die Theologie aber
hat die Wahrheit."
Diese Worte sprach einst ein greiser Professor der alttestament-
lichen Exegese, nachdem er die beiden Schöpfungsberichte des bibli-
schen Buches Genesis erklärend behandelt hatte. Er gab zu, daß
diese beiden Geschichten untereinander nicht übereinstimmen, und
verschwieg uns auch nicht, daß ihr Inhalt den Erkenntnissen der
modernen Naturwissenschaft widerspricht. Aber, meinte er, einst
würde zwischen Bibel und Naturwissenschaft schon Harmonie erzielt
werden, wenn sich nämlich die Theologen bemühen, mehr Natur-
wissenschaft zu treiben, und die Naturwissenschaftler sich bequemen
würden, mehr in die Geheimnisse der Theologie einzudringen.
Bei dieser Gelegenheit sprach er den an der Spitze dieses Artikels
stehenden Satz, bei dieser Gelegenheit hörte ich auch zum ersten
Male die Namen Darwin und Haeckel.
Ich erinnere mich noch sehr wohl des Hochmutes, der uns bei
diesen Namen stets beschlich. Ich denke noch mit Scham daran, mit
welcher Arroganz ich auf die Studierenden der Naturwissenschaft
blickte, die bei mir vorüber in ihre Institute eilten. Sie alle waren ja
erst die Suchenden, während wir die Wahrheit gebunden in hebräi-
scher und griechischer Sprache unter dem Arme trugen.
Trotzdem hatte mich das wenige , was ich von der Abstammungs-
lehre gehört, sehr angezogen; es war mir so durchaus vernünftig er-
schienen, daß die Tatsachen, durch welche diese Lehre gestützt wurde,
mein metaphysisches Denken allmählich überwanden.
Dazu kam der Ehrgeiz.
Wie, wenn ich der Theologe wäre, welcher genügend Naturwissen-
schaften studiert hätte, um Bibel und Naturwissenschaft zu versöhnen ?
So machte ich mich denn an die Arbeit, und es gelang mir in ver-
hältnismäßig kurzer Zeit tatsächlich, den ersten biblischen Schöp-
fungsbericht (gen i) mit den Erkenntnissen der Wissenschaft in
Übereinstimmung zu bringen. Gott schafft erst die Pflanzen, dann
die Wassertiere, dann die Vögel, dann die Landtiere und endlich den
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43
Menschen. Das ist ganz dieselbe Stufenfolge, wie die Abstammungs-
lehre sie vorträgt, wenn man sich nämlich Mühe gibt, die Unter-
schiede nicht zu sehen.
Darwin und Haeckel waren jetzt für mich abgetan, das Gottes-
wort hatte gesiegt, und ich wagte es in meiner frommen Raserei,
einem freireligiösen Prediger in öffentlicher Diskussion entgegen-
zutreten.
Ich habe es später häufig und erst vor ganz kurzer Zeit wieder er-
lebt, daß Theologen, welche in derartigen Diskussionen unterliegen,
sich nachher den Sieg zuschreiben. So unehrlich war ich nie. Daher
veranlaßte mich auch die Erkenntnis meiner Niederlagen zu weiterem
Arbeiten, bis der Verteidiger des Kirchenglaubens sehr gegen seinen
Willen beim Unglauben angelangt war.
Das war die schrecklichste Zeit meines Lebens; denn der alte
Glaube hatte seine Kraft eingebüßt, während die durch die Wissen-
schaft erzeugten Energien noch nicht stark genug waren, um meinen
Wandel zu beeinflussen.
Ich sprang von der Theologie ab und gelangte über das Lehrfach
zur freireligiösen Bewegung.
Aber auch hier habe ich das nicht gefunden, was ich gesucht, denn
diese Bewegung ist trotz all ihrer Kirchenfeindlichkeit doch der letzte
Ausläufer des dogmatischen Christentums, ihre Lehren sind meta-
physisch und ihre Verwendung der naturwissenschaftlichen Tatsachen
in Vortrag und Predigt ist eine nicht ganz freiwillige Anpassungs-
erscheinung.
Während so die freireligiösen Gemeinden eine Kirche ohne Gott
bilden, führte mich die Bekanntschaft mit August Spechts „Men-
schentum" einem mehr wissenschaftlichen Freidenkertum zu. Dieses
Blatt hat, wie man ohne Übertreibung sagen darf, seit dem Jahre
1871 allein einen konsequenten, nicht metaphysischen Monismus ver-
treten, bis der von Körber und Unold herausgegebene „Monismus"
ihm zur Seite trat.
Durch das „Menschentum" lernte ich erst Ernst Haeckel richtig
kennen. Jetzt sah ich ihn ohne theologische Brille. Von Spechts
Schrift „Theologie und Wissenschaft" gelangte ich zu Haeckels „Na-
türlicher Schöpfungsgeschichte", von da zu seiner Broschüre „Der
Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft" und zu den
44
pgggggE]gE]ggggE]E]E]ggG]ggggggggE]E]E]E]E]B]E]gE]E]E]E]E]E]ElB]E]E]E]E]E]E]BlE]B]
„Welträtseln". Aber auch jetzt noch spukte der Theologenhochmut
in mir. Kraft meiner Unwissenheit schrieb ich eine Broschüre (,, Letzte
Schlüsse der neuen Welt- und Lebensanschauung"), in welcher ich
weit über Haeckel hinausging und mich schließlich dem Lesepublikum
als Anhänger des egoistischen Materialismus oder materialistischen
Egoismus vorstellte.
So unreif und frech diese Schrift war, ich brauche mich ihrer nicht
zu schämen, denn ich habe in ihr Konsequenzen gezogen, die heute,
nachdem sie auch von anderer Seite gezogen worden sind, allgemeine
Anerkennung gefunden haben.
Den Vorarbeiten zu dieser Schrift aber verdanke ich die Erkennt-
nis vom ethischen Werte des Entwickelungsgesetzes, näm-
lich den Gedanken, daß wir über unseren gegenwärtigen Zustand hin-
auszustreben haben. Jetzt begann mir an die Stelle der Gottheit mit
ihren alt- und neutestamentlichen ethischen Forderungen dieMensch-
heit mit ihren modernen ethischen Forderungen zu treten
und der sittliche Anarchismus zu weichen. Es wäre undankbar,
wollte ich unerwähnt lassen, welchen großen Dienst mir bei dieser
Umwandlung Johannes Unolds Schriften geleistet haben, aber ich
muß auch betonen, daß bei meinem damaligen Mißtrauen gegenüber
aller Theologie und humanistischen Philosophie diese Schriften wahr-
scheinlich noch längere Zeit wirkungslos geblieben wären, hätte mir
nicht Ernst Haeckels Naturwissenschaft die Beweise für die in ihnen
enthaltenen Gedanken geliefert. Erst dadurch, daß ich die Gesetze,
die in meinem Leben Geltung haben sollten, als in der ganzen
Natur geltend nachgewiesen erhielt, gewannen sie jene aufwärts-
treibende Kraft, die sie trotz meiner schweren, niederziehenden Le-
bensschicksale bewahrt haben.
So ist Ernst Haeckel mein sittlicher Erlöser geworden.
Daher ist es erklärlich, daß ich in seinen Schriften mir wieder
Rats erholte, als an mich die Pflicht herantrat, ein eigenes Kind und
fremde Kinder zu erziehen.
Auf diese Weise wurde sein biogenetisches Grundgesetz zum Leit-
motiv meiner monistischen Pädagogik, und wenn heute schon manches
Elternpaar mir dankbar die Hand drückt oder aus weiter Ferne dank-
bare Zeilen an mich richtet, so gebührt dieser Dank eigentlich dem
Achtzigjährigen, dem diese Festschrift gewidmet ist.
45
Aber vielleicht wird der geehrte Leser fragen: „Was hat dies
alles mit der Überschrift ,Odhin und HaeckeP zu tun?"
Wenn ein wirklich frommer und gleichzeitig temperamentvoller,
energischer Mensch seinen dualistischen Glauben verliert, dann geht
bei ihm innerlich alles zu Bruch. So war es bei mir.
Ich wurde nicht nur in ethischer, sondern auch in politischer und
überhaupt in jeder Beziehung Anarchist; d. h. nicht Bombenwerfer,
sondern theoretisch, „Edelanarchist", wie man sagt. Zuerst glaubte
ich, in der Sozialdemokratie die urchristlichen Ideale der Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit wiederzufinden. Von diesem Irrtum
hat mich die Praxis bald geheilt, und so befand ich mich mehrere
Jahre in einer ähnlichen geistigen Verwirrung wie der Bakkalaureus
im zweiten Teile des Faust.
Da erlaubte ich mir, nachdem mich August Specht in Gotha
für den Fall seines Todes zu seinem Nachfolger in der Redaktion des
„Menschentum" bestimmt, im Jahre 1905 Ernst Haeckel in seiner
Villa in Jena einen Besuch abzustatten, und erlebte es hier, daß der
greise, allverehrte Forscher mich, den unbedeutenden Menschen,
um Entschuldigung bat, daß in seinem Arbeitszimmer ein Ruhebett
stand. Er entschuldigte diese Unregelmäßigkeit damit, daß er wegen
des Rheumatismus zuweilen sein Bein hoch legen müsse.
Ich war wie vom Donner gerührt; denn in diesem Augenblicke
hatte ich eine „Offenbarung", ein „Erlebnis", wie die liberalen Theo-
logen sagen würden. Ich wußte nämlich aus Wilhelm Bölsches
Haeckelbiographie, daß Ernst Haeckel sich sein Leiden bereits als
junger Botaniker auf den feuchten Wiesen von Leisling zugezogen,
und plötzlich stand vor meinem geistigen Blicke der alte Gott der
Edda, Odhin, der sein Auge dahingibt, um einen Trunk aus Mimirs
Weisheitsbronnen zu erhalten; und während Ernst Haeckel unter
dem Bilde der Pithecanthropusfamilie saß, dachte ich an den „grü-
belnden Äsen", der Riesen und Zwerge, Weltkörper und Moneren,
befragt, um der Götter und der Menschen Geschick zu erkunden und
die „Welträtsel" zu lösen.
In diesem Augenblicke habe ich mein Vaterland und mein Volk
wiedergefunden, und damit wich alle Unklarheit und Giftigkeit von
mir, jene Heinrich Heinesche Ironie, die ein Zeichen innerer Schwäche
ist. Dagegen zog jene starke Heiterkeit und Fröhlichkeit wieder ein,
46
G]E]E]E]E]E]E1B]E] E]E]B]E)E]B]E]gE]E]E]G]E]E]E]E]E]ElE]G] E]E]E3G]E]E]B]ElE]E]E]E]B]G]EJB]E]B]E]G]gE]g
die aus einem sicheren Glauben geboren wird. So hat mir Ernst Haeckel
den Glauben an mein Volk wiedergegeben, so ist er mir der „Vater
der Lieder" geworden. Er hat mich wieder festgewurzelt im Heimat-
boden und damit begründet meine moralische Existenz.
Möge es ihm noch recht lange vergönnt sein, so heiter, wie ich ihn
im November vorigen Jahres angetroffen, sich seiner Erfolge zu er-
freuen, ihm, dem Helden des Wissens, der mit Göttern rang! Tausende,
Millionen dankbarer Menschen gedenken heute seiner in allen Teilen
der bewohnten Erde und sie nahen, eine glänzende Schar geistiger
Einherier, um für den Kampf der Zukunft den Treuschwur zu schwö-
ren dem Recken der Götterdämmerung, an dem wahr geworden das
Eddawort :
„Der milde, mutige Mann ist am glücklichsten".
3EjgggB]gggggggggggggE]ggg|giggiG]g]ElE3E]gE]E]G]E]gB]g]gE]GlE]G]ggE3E]E]ElE)Bi
47
HOWARD CRUTCHER, ROSWELL, NEW MEXICO
0 0 0
Es ist schwer, von dem großen Meister zu sprechen. Sein Leben und
seine Taten sprechen für sich selbst, und ein Kommentar darüber
mag beinahe wie eine Anmaßung aussehen. Aber einmal zum Reden
aufgefordert, will ich frei und ohne Zurückhaltung sagen, was ich
denke.
Wenig Menschen ist es vergönnt, das Urteil der kommenden Zeit-
alter über ihr Leben und ihre Werke zu hören. Ernst Haeckel kann
es. Als Denker, Reformator und Wohltäter seiner Mitmenschen steht
er mir höher als irgendeiner von denen, welche bisher die gleiche
Bezeichnung verdienen. Abraham Lincoln hat ein paar Millionen
Sklaven von ihren körperlichen Fesseln befreit; Ernst Haeckel hat
mehr getan; er hat die Fesseln des Aberglaubens gebrochen und un-
gezählte Millionen von Seelen in Freiheit gesetzt. Eine menschliche
Seele frei zu machen ist mehr als einen Leibeigenen zu entfesseln.
Die ,, Welträtsel" taten Großes; doch muß ich ein höheres Verdienst
und ein bei weitem wirksameres Resultat den unvergleichlichen Vor-
trägen über den ,, Kampf um den Entwicklungsgedanken" beimessen.
Charles Darwin sammelte die notwendige Kriegsmunition, doch dem
großen Befreier von Jena blieb vorbehalten, die Kanonen zu laden
und das Pulver zu entzünden.
Von Darwin sprechend, dürfen wir seines edlen und großzügigen
Tributs nicht vergessen, den er Haeckel gezollt hat. Darwin sagt,
daß die Veröffentlichung seines Buches über die „Abstammung des
Menschen" unnötig gewesen wäre, wenn Haeckels Werk (die „Natür-
liche Schöpfungsgeschichte") eher erschienen wäre. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang an das geistreiche Wort von Emerson, daß
der Entdecker nicht der ist, der zuerst etwas Neues sieht, sondern
der, welcher es laut heraussagt, so daß die ganze Welt davon profitie-
ren kann. Jahrhundertelang haben große Denker die Reisigbündel
aufgehäuft, aber unserem Meister von Jena war es vorbehalten, die
Fackel anzuzünden, deren glänzendes Licht uns und unsere Nach-
kommen für alle Zeit leiten soll.
Es ist viel, wenn ein Mann über ein so altes und ehrwürdiges Zentrum
des Gedankens wie Jena hinauswächst; es ist mehr, daß er die Grenzen
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gggg^gggE]ggggggggg^gggB]E]E]E]E]B]BlE]EIE]ElB]E|E]E]B]E]E]E]E]G]B]E]E]E]E]G]E]EIE]
des großen deutschen Kaiserreiches überschreitet; Ernst Haeckel hat
dies getan ; er gehört der weiten Welt des freien Gedankens, dem könig-
lichen Reiche universaler Wissenschaft an ; und wenn erst der Mensch
in den vollen Besitz seiner Kräfte gekommen ist, wird Haeckel in
Deutschland mehr gefeiert werden als Friedrich der Große, Pasteur
in Frankreich mehr als Napoleon, Lister in England mehr als Wel-
lington. Eines Tages wird eine Urne in Jena mehr verehrt werden
als das ruhmreiche Grab in Potsdam. Die Menschheit muß lernen,
daß die Fackel des Denkers mächtiger ist als das Schwert des Krie-
gers. Haeckel hat unsterblichen Ruhm erlangt, nicht weil er danach
strebte, sondern durch die Gewalt der Tatsachen. Er hätte dem zu-
stimmenden Urteil wissenschaftlicher Männer gar nicht ausweichen
können, die gern ihre Häupter beugten und ihre Ohren öffneten,
wenn „der vornehmste aller Deutschen" vorüberging. Es ist gut, daß
wir, die wir soviel durch seine Arbeit gewonnen haben, uns aufmachen
sollen, um ihm jetzt die volle Ehre zu erweisen.
Ich hätte beinahe gesagt, „seine abnehmenden Jahre"; aber ein
Mann wie Ernst Haeckel nimmt nicht ab ; immer ist da Wachsen und
Ausdehnung ohne Grenzen.
Diese schöne Gelegenheit, wo wir von allen vier Weltgegenden
zusammenkommen, um dem wissenschaftlichen Titanen unserer Zeit
zu huldigen, soll uns zum Bewußtsein bringen, daß wir noch ernste
Pflichten vor uns haben. Haeckels flammende Worte: „Der Kampf
ist der Vater aller Dinge" soll jeden seiner Nachfolger zu doppelter
Energie und zu unerschütterlichen Hoffnungen anspornen.
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4 Haeckel-Festschrift. Bd. II AQ
ggggg§g^E]3]E]B]B]E]E]E]G]E]E]E]E]EJE]E]EJE]E]E]513333SS§13E2]E]E]5i35]S53E15iE1515]3
M. H. FLOTHUIS, AMSTERDAM
o o o
Es mögen im tiefen Grund des menschlichen Bewußtseins Ahnungen
und Gefühle ein traumhaftes Dasein führen, schönen Schmetter-
lingen im Puppenstand vergleichbar, die des beschwörenden Zauber-
wortes harren, das sie ans Licht fördert, um den Geist mit schönen
und klaren Gedankengebilden zu bereichern. So war der Name Haeckel
für mich mit einer Art magischen Zaubers umkleidet, wie viel früher
der Name Shakespeare mir klang wie die süße Verheißung einer ge-
heimnisvollen Welt, geisterhaft und magisch und doch lebendig und
wirklich, ein ewiges Märchen von Schönheit. Und wie die Geister-
stimme des Hamlet alle meine Ahnungen aus ihrer Erstarrung löste
und seine Worte mir zur subjektiven Seelenoffenbarung wurden, so
klangen mir auch die Worte der „Welträtsel" wie eine Bestätigung
dunkler Empfindungen; sie lösten mir nicht nur wichtige Fragen,
sondern waren häufig Frage und Antwort zugleich, da ja unser Denken
infolge erblicher Anlage und herkömmlicher Erziehung manchmal im
Banne der Tradition befangen ist, sodaß wir durchaus nicht immer
die Frage richtig eu stellen vermögen. Denn außer den religiösen
Kirchendogmen existieren im Denken fast aller Menschen, auch der
Gebildeten, Vorstellungen allgemeinerer Natur, nicht weniger anfecht-
bar als jene, deren angenommene Richtigkeit gewöhnlich nicht einmal
genau geprüft wird; auch diese verdunkeln unsre Erkenntnis oft in
solcher Weise, daß wir die Probleme nicht klar unterscheiden können.
Wer sich vorurteilsfrei der Wirkung von Haeckels „Welträtsel" hin-
gegeben hat, wird erfahren haben, daß es dem Verfasser wie fast
keinem andern gelungen ist, auch solche Dogmen allgemeiner Art
scharf zu erfassen und ihre Hinfälligkeit von naturwissenschaftlichem
Standpunkt zu beleuchten. Dazu rechne ich z. B. ziemlich allgemein
geltende Sätze, u. a., daß der Geist höhere Bedeutung habe als der
Stoff, daß Glauben und Wissen unabhängig von einander ihren Wert
haben, daß Gemüt und Vernunft getrennte geistige Gebiete seien,
daß man Ehrfurcht vor jeder religiösen Überzeugung haben solle
u. dgl. Indem Haeckel nur die Vernunft als oberste Richterin in
geistigen Fragen anerkennt, richtet er sich nicht nur gegen die Glau-
benssätze der offenbarten Religionen, sondern ebenso gut gegen diese
50
und ähnliche Gespenster der Tradition, die vor seiner kritischen Logik
längst geflohen wären, wenn nicht am Panzer der Dummheit und
Trägheit die schärfsten Pfeile der Vernunft immer wieder wirkungslos
abprallten.
Versuche ich hier die wichtigsten Ergebnisse der „Welträtsel" als
Niederschlag persönlicher Eindrücke zusammenzufassen, so scheinen
mir nach fast fünfzehnjähriger Existenz des Buches folgende Schlüsse
festzustehen :
Es ist dem Verfasser gelungen, für gebildete Leser eine populär-
wissenschaftliche Darstellung zu geben vom Stande der Naturphilo-
sophie am Ende des 19. Jahrhunderts.
Zwei Welten werden bis zum Schluß scharf und klar einander
gegenübergesetzt : die vom außerweltlichen Geist beherrschte Materie
und die Welt der universalen Substanz mit ihren zwei Attributen:
Geist und Materie. Die weitreichenden Folgen der Annahme von der
einen oder der anderen dieser zwei Welten für das Kulturleben: der
dualistischen, die zum theokratischen, von vernunftwidrigen Gesetzen
beherrschten Staat, und der monistischen, welche zumnomokratischen,
auf vernünftigen Naturgesetzen beruhenden Staat führt , werden ein-
gehend geschildert.
Das Buch hat vor andern rein wissenschaftlichen Werken einen
hohen sittlichen Wert voraus, indem sich sein Verfasser nicht wie die
meisten Fachgelehrten mit den realen Ergebnissen seiner wissenschaft-
lichen Forschung begnügt, sondern vom Standpunkt seiner Natur-
erkenntnis auch die sittlichen Fragen des Kulturlebens in den Kreis
seiner Betrachtung zieht.
Die beiden Methoden der Erkenntnis: Erfahrung und Denken,
werden fortwährend berücksichtigt und zu einheitlicher Darstellung
glücklich angewandt.
Es spricht sich in dem Buche ein großer Charakter aus, indem
der Verfasser kühn und rücksichtslos die unerbittlichen Konsequenzen
seiner erfahrungsgemäßen Erkenntnis zieht : hierdurch wird die Logik
fast zur Poesie.
Das Buch ist frisch und naturwahr, frei von zopfiger Schulgelehr-
samkeit und hebt sich durch klare Definition der Begriffe vorteilhaft
ab von der Verschwommenheit und Undeutlichkeit vieler philo-
sophischer Werke.
4*
51
Diese Schlüsse drängten sich mir auf, als ich die „Welträtsel" ge-
lesen hatte, und wiederholte Lektüre bestätigte mir deren Richtigkeit.
Gebildete Leser haben mir oft ihr in mancher Hinsicht übereinstim-
mendes Urteil mitgeteilt. Ich habe mit obigen Behauptungen kein
kritisches Urteil aussprechen wollen; ich will nur sagen, wie sich
das Buch in meiner Seele widerspiegelte. Ich habe es ans Herz ge-
schlossen und halte es trotz all seiner Mängel und Unvollkommen-
heiten wertvoll als einen köstlichen geistigen Besitz. Es erschien mir
als eine der schönsten und frischesten Blüten des deutschen Geistes,
ein vollkommener Gegensatz z. B. zu Adolf Bartels' ,, Heine-Buch",
das ich als eine der fadesten und elendesten betrachte. Wer sich, wie
ich, viel mit deutscher Dichtung und deutschem Geistesleben über-
haupt befaßt hat, wird mich hier wohl verstehen. Es ist nun einmal
nicht anders: dieselbe Natur, die das königliche Tier erzeugt, das die
Wüste durchrennt, gebiert auch den Wurm, der am Staube klebt.
Gegenüber den erwähnten Vorzügen der „Welträtsel" auch seine
Mängel hervorzuheben, ist weder geboten noch erwünscht. Licht und
Schatten des Werkes sind von weit berufeneren Kritikern wiederholt
eingehenden Besprechungen unterzogen worden. Als beschämend für
den angeblich aufgeklärten Teil der Kulturvölker darf es bezeichnet
werden, daß das Buch gerade in der fortschrittlichen Presse mitunter
aufs heftigste angegriffen wurde. Ich erfuhr dies mit meiner Über-
setzung der „Welträtsel", worüber in einer unsrer größten und an-
gesehensten neutralen Zeitungen (De Telegraaf) womöglich noch ab-
fälliger geurteilt wurde als in der gläubig -kirchlichen Presse. Der
geistreiche Rezensent behauptete in diesem Blatte am Schluß seiner
Besprechung, daß Haeckel durch die Veröffentlichung der „Welt-
rätsel" den letzten kleinen Überrest von Achtung, die große Natur-
forscher noch vor ihm gehegt hätten, verwirkt habe. Ja, wir sind in
Holland eben sehr unterrichtet und furchtbar fortgeschritten. Unsre
Künstler und Gelehrten sind nicht so leicht zu befriedigen. Wir sind
eben „schon weiter". Haeckel und sein Monismus: „überwundener
Standpunkt". Vergegenwärtigt man sich dann einen Moment, wer
dieser Kauz im „Telegraaf" und wer „Haeckel" ist, so wird die Sache
komisch. In der Kunst und Wissenschaft kann man bei uns hin und
wieder ähnlichem begegnen. Hat nicht in einer unsrer Hauptzeit-
schriften Herr Professor Kohlbrugge überzeugend und gründlich
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dargelegt, daß Goethe mit der Naturwissenschaft eigentlich nichts
zu schaffen hat, daß dessen Forschungen gleich Null bedeuten und
man denselben allen wissenschaftlichen Wert absprechen muß? Als
Künstler: allen gebührenden Respekt natürlich! Aber nein, sagt Herr
Querido, auch seine Kunst ist anfechtbar: „Faust", „Tasso", „Iphi-
genie" sind dramatische Mißgriffe, seine Gestalten keine lebendigen
Schöpfungen, bloß Gedankengebilde, dem Symbolischen eingepflanzt.
Und Herr van Deyssel spricht von einem „wenig wertvollen Faust".
Man sieht es, wir stehen eben nicht zurück, wir lassen uns nichts
vormachen.
Glücklicherweise liegen auch in meiner Heimat viele günstige Ur-
teile über die ,, Welträtsel " vor, und sowohl das Original wie meine
Übersetzung dürfen sich des Interesses weiterer Kreise erfreuen. Mein
erster Gedanke, nachdem ich mich in die Lektüre vertieft hatte, war:
das muß ein großer und freier Mensch geschrieben haben, und als ich
einige Jahre später die Kunststätten klassischer deutscher Dichtung,
Jena und Weimar, besuchen wollte, ergriff mich der lebhafte Wunsch,
den greisen Naturforscher zu sehen und wenn möglich persönlich mit
ihm bekannt zu werden. Meinem diesbezüglichen Anliegen wurde von
Haeckel in der liebenswürdigsten Weise willfahrt, und an einem
Sommernachmittag empfing er mich in seinem einfachen Studier-
zimmer mit dem Ausblick auf die Gebirge des anmutigen Saaletals.
Er hatte sich kaum erholt vom Schenkelbruch, den er im Frühling
des Jahres erlitten hatte, und mußte sich, auf einem Polster ruhend,
mit mir unterhalten. Trotzdem erhob er sich dann und wann, wenn
der Eifer des Gesprächs ihn seine Qual vergessen ließ, und schleppte
sich mühsam nach seinen Büchern und Mappen mit Bildern, die er
mir zeigte. Es war ein ergreifender Anblick: der Mann, dessen Geist
das Gesamtgebiet der biologischen Wissenschaften zu umfassen ver-
sucht hatte, der in liebedürstender Naturempfindung durch alle Erd-
teile gewandert war, mußte sich mit dem engen Räume seines Zimmers
begnügen. Ich konnte den Gedanken an einen Vogel im Käfig nicht
unterdrücken, aber bald zeigte es sich, daß der Geist in diesem halb-
gelähmten Körper ungebrochen war; die geistsprühenden Augen, der
heitere Sinn des Forschers machten alsbald das körperliche Leiden
vergessen. Wir sprachen über den „Monismus" und die „Welträtsel",
über Goethe und schließlich auch über die politischen Verhältnisse in
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53
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Holland und Deutschland. Ich wollte in Haeckels Gegenwart ver-
suchen, das Faustproblem von der naturwissenschaftlichen Seite zu
erfassen, und wagte die Meinung, daß, falls Goethe die Stufenleiter
der Entwicklung aller Lebewesen vorausgeahnt habe, die Natur im
„Faust" auf der höchsten Stufe erscheine und so die Möglichkeit nahe-
liege, daß sie sich ihrer selbst bewußt werde. Da Faust nun aber
die geistige Gebundenheit mit allen irdischen Geschöpfen teile, müsse
diese Unzulänglichkeit notwendig seine zwischen zwei Welten schwe-
bende Gemütspein herbeiführen. Haeckel erblickt wie ich in Goethes
„Faust", mithin in Goethe selbst, den höchsten geistigen Gipfel der
Menschheit und mußte gestehen, daß die Frage des Bewußtseins ein
höchst schwieriges Problem sei, das mit der dunkeln Substanzfrage
unmittelbar zusammenhänge. Es scheint mir unzweifelhaft, daß der
„Faust" in organischem Zusammenhang mit Goethes naturwissen-
schaftlichen Forschungen steht, und daß diese Auffassung der ästhe-
tischen Kritik durchaus nicht zuwiderläuft. Haeckel versicherte mir,
daß Goethes Naturstudium keineswegs als Dilettantismus bezeichnet
werden darf: Goethe hat in Jena längere Zeit fast täglich auf der
Universität Anatomie getrieben, und die Ergebnisse seiner Forschungen
sind durch die großartigen Erfolge der modernen Naturwissenschaft
vielfach bestätigt worden.
Haeckel erkundigte sich auch nach den politischen Verhältnissen
in meiner Heimat, und ich sagte, daß bei uns fast während eines halben
Jahrhunderts ein gemäßigter Liberalismus geherrscht habe, der sich
zur Zeit, da es noch keine aufstrebende Demokratie gab, mit selbst-
gefälliger Behaglichkeit das wissenschaftliche Mäntelchen umgehängt
habe und sich so als der natürliche und unentbehrliche Lenker des
Staates betrachtet habe. Später aber, als dieser Liberalismus sich
nur im Bund mit einer kräftigen Demokratie gegen die immer ge-
schlossener und zielbewußter vordringenden klerikalen Parteien be-
haupten konnte, hat sich der konservative Teil dieser angeblichen
„Aufgeklärten" den politischen Mächten des Glaubens in die Arme
geworfen und hat die freisinnige Regierung einer kirchlich-gläubigen
Herrschaft weichen müssen, die sich stützt auf den Materialismus der
Reichen und die geistige Borniertheit der Massen. Haeckel sagte, daß
diese Erscheinung sich im großen oder kleinen in der ganzen Kultur-
welt wiederhole, nicht in letzter Linie in Deutschland, wo das „Zen-
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trum" längere Zeit die politische Vorherrschaft behauptet habe. (Bei
den Wahlen 1913 hat übrigens in Holland die Linke wieder mit einer
sehr kleinen Mehrheit gesiegt.)
Nach diesem Besuch habe ich das Glück erfahren, noch hin und
wieder briefliche Mitteilungen und Schriften, teilweise auch polemi-
scher Art, von Haeckel zu erhalten. Eine der letzten, Sandalion
(November 1910), hat an Klarheit, Schärfe und Temperament gegen
die früheren noch nichts eingebüßt. Ernst Haeckel ist für mich in
seinen Werken und seinem Leben eine der größten Erscheinungen im
Kulturleben der Völker, ein Mann von gewaltiger Tatkraft, dessen
erstaunliche Gelehrsamkeit künstlerisch durchhaucht ist ; ein unermüd-
licher Kämpfer für Wahrheit und Fortschritt, ein trotz menschlicher
Schwächen und Verirrungen hoher sittlicher Charakter.
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55
JOUSSET DE BELLESME, BRÜSSEL
o o o
Es ist mir wirklich eine lebhafte Freude, meinen Tribut der Be-
wunderung und des Lobes zu Ehren des berühmten Zoologen
und Philosophen Ernst Haeckel mit dem der ganzen Welt zu ver-
einigen.
Von den Werken dieses Gelehrten waren es hauptsächlich die
„Generelle Morphologie", „Die Schöpfungsgeschichte", „Die Anthro-
pogenie" und der Vortrag über „Zellseelen und Seelenzellen", welche
mein Interesse gefangen nahmen. Sie hatten den größten Einfluß
auf meine Geistesrichtung, die darauf bereits durch das eifrige Stu-
dium des „Discours sur la methode" von Descartes vorbereitet war.
Diese vier Schriften hatten in Frankreich wenig Beachtung ge-
funden. Die Radiolarienmonographie dagegen wurde von Zoologen
geschätzt, aber der Einfluß, den dieses Werk hätte ausüben können,
wurde zum Teil durch die aus ihm entspringenden Schlußfolgerungen
zunichte gemacht. Man konnte mit Leichtigkeit bemerken, daß das
Studium dieser niedrigen Organismen, die von Seiten der Naturforscher
fast völlig unbeachtet geblieben waren, der Lehre von der Unver-
änderlichkeit der Arten einen vernichtenden Schlag versetzte; und
diese Lehre war eine der Grundtheorien, welche die Basis des Unter-
richts für die offiziellen Gelehrten abgab.
Als diese Werke erschienen, war gerade das Museum, die Sorbonne,
das College de France unter der ausschließlichen Herrschaft einer
Gruppe von Naturwissenschaftlern, an deren Spitze die Milne Ed-
wards allmächtig regierten.
Als sich dann von allen Seiten die Evolutionstheorie erhob und
ein neuer und befruchtender Strom die Biologie durchflutete, als dann
von allen Seiten die Entdeckungen in der Embryologie sich häuften,
da brachte diese Gruppe einflußreicher Gelehrten, die jeder neuen
Idee feindlich war und vor allem jeder Theorie, welche die veralteten
Dogmen der Schöpfungsgeschichte und der Unveränderlichkeit der
Arten bedrohen konnte, da brachten diese Gelehrten eine Verschwö-
rung zustande, welche die folgenreiche Bewegung totschweigen sollte ;
und als diese Bewegung bald die zoologischen Wissenschaften erneuerte,
war damit die zurückgebliebene französische Wissenschaft isoliert.
56
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Bis zum Jahre 1892 widerhallten die Gewölbe der Sorbonne kein
Wort über Entwicklung und Umgestaltung: der offizielle Unterricht
ignorierte sie, ebenso wie sie die Namen von Darwin, Haeckel, Huxley,
Preyer und vielen anderen ignorierte.
Zwar ein paar vereinzelte Persönlichkeiten wie Ch. Robin, Claude
Bernard, Berthelot, Giard und andere folgten von weitem der Be-
wegung, begriffen deren Wichtigkeit und sahen klar ein neues Licht
in der Phylogenie, welche Haeckel in monumentaler Weise auf
dem festen Boden seiner eigenen Forschungen wie der bewunderns-
werten histologischen und embryologischen Arbeiten errichtete,
welche von allen Seiten in England, Deutschland und Rußland her-
kamen.
Die Lehren Haeckels drangen nach und nach in dieses Milieu.
Claude Bernard nahm die Einheit der Kraft, der Materie und der
Empfindung an, und oft streiften meine Unterredungen mit diesem
berühmten Meister diese Dinge, die er mit der Kraft seines Geistes,
die er in allen Dingen zeigte, gern entwickelte. Ohne daß er jemals
das Wort „Monismus" anwendete, findet man doch in seinen letzten
Werken die wesentlichen Züge dieser Lehre wieder, und er erkannte
ohne Rückhalt die phylogenetischen Vorstellungen Haeckels an.
Während die Zeit vorrückte, verschwanden allmählich die offi-
ziellen Korps, die systematisch jeden Gedanken unterdrückten, der
dem Dogma widersprach, und eine Anzahl junger Leute, unter der
Führung eines tüchtigen Zoologen, Alfred Giard, entwickelte sich
trotz des Schweigens, in das man die neuen Lehren hüllte. Der letzte
Vertreter jener rückständigen Schule, Lacaze-Duthiers, starb, und
endlich wurde 1892 in der Sorbonne durch den Gemeinderat von
Paris ein Lehrstuhl für die Entwicklungslehre geschaffen.
Zum erstenmal konnte die Jugend öffentlich die Lehren von der
Entwicklung, der Abstammungslehre und der Phylogenie vortragen
hören, von denen die Zoologen anderer Nationen seit einem halben
Jahrhundert inspiriert worden waren.
In einem gewissen Punkt läßt sich zwischen Bernard und Haeckel
eine Parallele ziehen.
Beide haben den Wert der Philosophie eingesehen, und anstatt
sie aus dem wissenschaftlichen Gebiet zu verbannen — wie es Vir-
chow und Kirchhoff getan hatten — , haben sie sie an ihren wahren
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Platz zurückgesetzt, wo Erfahrung und Schlußfolgerung sich die Hand
reichen. Die Erfahrung ist nie für den Dualismus günstig gewesen,
denn niemals hat man ihr die übersinnlichen Prinzipien, die diese
Lehre voraussetzt, unterwerfen können. Der von dem berühmten
französischen Physiologen so klar definierte Determinismus führte
geradenwegs zu der monistischen Lehre, welche von Haeckel mit
ebensoviel Talent wie Feuer geschaffen und verteidigt wurde.
Sein Einfluß auf den wissenschaftlichen Geist ist unbestreitbar,
und schon als er noch kaum bekannt war, ging er darauf aus, zu herr-
schen und sich des menschlichen Denkens zu bemächtigen.
Sogar Haeckels Lebenslauf ist ein merkwürdiges Beispiel der Ent-
wicklung; seit seiner Jugend verdichtete sich in seinem mächtigen
Hirn ein Netz zahlloser Forschungen, die im gegebenen Fall zur
Reife gelangten und alle in der wahrhaft wissenschaftlichen Theorie
des Monismus gipfelten.
Die kindliche Auffassung, welche Körper und Seele, Menschen
und Tiere voneinander trennte — der jahrhundertalte Dualismus —
konnte unmöglich aufrechterhalten werden angesichts der schlagen-
den Beweise, welche Haeckel unaufhörlich anhäufte, um die Einheit
des Universums darzutun. Indem er mit Sicherheit und einer seltenen
Unabhängigkeit des Geistes die inhaltlosen metaphysischen Vorstel-
lungen zurückwies und die Widersprüche der Philosophen aufhob,
wollte er Schlüsse nur aus erwiesenen Tatsachen ziehen, und so hielt
er sich an die Vorschrift der Kartesischen Methode, die so viele große
Geister gebildet hat: ,, Nichts für gewiß zu halten, was nicht voll-
kommen erwiesen ist."
Der fabelhafte Einfluß Haeckels auf das menschliche Denken ist
vielleicht in Frankreich schwächer als anderswo geblieben. Dieses
Land steht unglücklicherweise so sehr unter dem Joch eines alten
theokratischen Atavismus, daß es trotz der Anstrengungen hervor-
ragender Größen nicht dazu kommt, sich von ihm zu befreien.
Es ist gewiß, daß die philosophischen Lehren des berühmten Ge-
lehrten, dessen 80. Geburtstag wir feiern, nur schwer in die große Menge
Eingang fanden oder auch nur in die Welt der Intellektuellen auf-
genommen werden konnten. Der Zugang zu diesen hohen Gedanken-
gipfeln ist nur solchen gestattet, deren Geist durch das solide und aus-
schließliche Studium der biologischen Wissenschaften genährt wurde.
58
Diesen aber drängt sich der Monismus mit jener unwiderstehlichen
Gewalt auf, die die Wahrheit besitzt. Die Masse betrachtet diese er-
habenen Vorstellungen mit einer gewissen Gemütsbewegung, ähnlich
der, die den Wanderer beim Anblick eines kolossalen Gebirges er-
greift, dessen Höhe ihn erdrückt. Deshalb konnte der Monismus
nicht volkstümlich werden; er blieb im Alleinbesitz einer privile-
gierten Elite. In keinem Zeitalter war die Wahrheit bei der Majo-
rität, wie auch Descartes so treffend gesagt hat: „Eine Wahrheit zu
finden, ist nur einer kleinen Zahl von Menschen möglich."
Haeckel soll nicht nur um seiner Werke willen gelobt werden,
sondern auch wegen der Standhaftigkeit seiner Überzeugungen und
der Unabhängigkeit des Geistes, mit welcher er sie aufrechterhalten
und entwickelt hat, ohne sich darüber zu beunruhigen, ob sie die
Empfindlichkeit der Herrschenden reizen könnten. Es ist sehr selten,
daß ein Gelehrter gewagt hat, sein ganzes Denken zu offenbaren.
Descartes fürchtete den Scheiterhaufen, und heute fürchtet man für
seine Interessen. Haeckel war frei von diesen Schwächen. Er bekannte
seine Gesinnung furchtlos, und wenn seine Aufrichtigkeit von Regie-
rungen scheel angesehen wurde, welche gern den Irrtum zum Zwecke
politischer Herrschaft aufmunterten, so gewann er die Anerkennung
aller aufrichtigen Denker. Er zog auch in Betracht, daß der Monis-
mus die Erziehung der Kinder beeinflussen sollte. Er sah ein, daß die
Wahrheit nur dann triumphieren wird, wenn die Zeitgenossen oder
die Regierungen die Klugheit und Festigkeit haben, die Erziehung
der Jugend den irrigen Dogmen des Aberglaubens zu entziehen.
Er betonte die Wichtigkeit, welche die Ergebnisse der Wissenschaft
für die Bildung der jungen Generation besitzen. Nur auf dem
Boden einer wissenschaftlichen Weltanschauung können Friede und
Einigkeit in der Menschheit herrschen. Eine Regierung, welche die
Jugend durch die Feinde ihrer eigenen Einrichtungen erziehen läßt,
geht an den inneren Mißhelligkeiten, an Zwietracht und Bürger-
krieg zugrunde.
Den Kopf hochzuhalten, ohne dem Aberglauben Zugeständnisse
zu machen, diesen zu bekämpfen, eine Handvoll Wahrheiten in seiner
Faust zu spüren und sie zu öffnen, das beweist einen Mut, den man
nicht oft erlebt, und dem man seine Hochachtung bezeugen muß,
wenn man ihm begegnet.
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59
Laßt uns also Haeckel am Tage seines 80. Jahres unsere Hoch-
achtung bezeugen; laßt uns unsere Hochachtung bezeugen dem un-
geheuren Umfang seiner Arbeiten, seiner staunenswerten Laufbahn,
seinem frischen und heldenmütigen Alter.
Er kann mit Befriedigung zurückblicken und den Weg abmessen,
welchen er den menschlichen Geist hat durcheilen lassen, und vom
Gipfel, auf den sich sein Denken erhoben hat, mit Vertrauen die dem
Monismus und der Wahrheit geöffneten Pforten der Zukunft ins Auge
fassen.
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60
FRIEDRICH GLATZ, WIEN : WAS HAT ERNST
HAECKEL DEM SCHON RELIGIÖS AUFGEKLÄRTEN
GEBRACHT?
o o o
Auch der einfache Kaufmann darf sich am Festtage von Haeckels
80. Geburtstage zum Worte melden. Wendet sich dieser in seinen
volkstümlichen Werken doch an die Gebildeten aller Stände.
Allerdings ist der Begriff des Gebildetseins umstritten. Allein
Haeckel fordert zweifellos nicht sowohl ein bestimmtes Maß formaler
Bildung, als vielmehr die Kenntnis gewisser Fundamentalsätze der
Naturwissenschaft, wie: des heliozentrischen Systems, der alles beherr-
schenden Naturgesetzmäßigkeit, davon insbesondere des Substanz- und
des Konstanzgesetzes, der Atomtheorie, des Energiebegriffs und vor
allem der Deszendenztheorie. Dieser Wissensstoff ist aber heute Ge-
meingut der breitesten Kreise.
Ich habe sie nicht erst durch die Lektüre der Schriften Haeckels
erworben. Mein Vater war Redakteur. Alle bedeutenden Errungen-
schaften der Wissenschaft, alle neuen fruchtbaren Theorien wurden
im Familienkreise besprochen, in welchem Politiker, Professoren und
sonstige Intellektuelle verkehrten. Allein die Frage, was auch der
schon von Haus aus religiös vollkommen Aufgeklärte dem Einflüsse
Haeckels zu verdanken hat , ist nicht weniger der Beantwortung wert
als diejenige nach dem Einfluß, den der vorher Gläubige oder religiös
Indifferente durch die aufrüttelnde Aufklärung Haeckels erfahren hat.
Um ein solches durch Haeckel bewirktes „finishing" einer schon
vorhandenen Aufklärung in ihrer Bedeutung verständlich zu machen,
ist es nötig, sich die Kämpfe in Erinnerung zu rufen, welche sich im
letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts zwischen kirchlichem Geist
und Kulturfortschritt abspielten.
„Das Leben Jesu" von D. Strauß hatte, als echtes Volksbuch,
weit über den Kreis seiner Leser hinaus gewirkt, da der Kern seines
Inhaltes, daß die Bibel keine offenbarte heilige Schrift, nicht einmal
ein einwandfreies historisches Dokument, sondern tendenziöses Men-
schenwerk und daß Jesus kein Gott, sondern ein Mensch sei, leicht
weiterverbreitet werden konnte. So drang das Ergebnis der Bibelkritik
nicht nur in das Pfarrhaus, sondern auch in die Arbeiterhütte, ja selbst
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in die Schule ein, wo es mit wichtiger Miene von Kamerad zu Kamerad
weitergesagt wurde. Die Grundlage allen konfessionellen Glaubens
schien mit einem einzigen zermalmenden Schlage vernichtet. Strauß
war von Haus aus kein Kirchenfeind. Als gläubiger Theologe hatte
er sich an das Studium der synoptischen Evangelien gemacht. Um
so wuchtiger war die Wirkung seiner Kritik. Bleicher Schreck erfaßte
die kirchlichen Kreise. Andererseits hielten die Fortschrittsfreunde
einen völligen Wandel unserer gesamten geistig-sittlichen Kultur nun
für unmittelbar bevorstehend. Allein weder die Sorge der einen noch
die Hoffnungen der anderen erwiesen sich als gerechtfertigt. Ja gerade
der glimpfliche Verlauf der in der Bibelkritik gelegenen Bedrohung
der traditionellen Weltanschauung hatte die Kirche erst zum vollen
Bewußtsein ihrer anscheinend unüberwindlichen Stärke gebracht.
Übermütig sprachen ihre Kreise von dem Bankerott der Wissenschaft,
welche doch keine, die Menge befriedigenden Antworten auf die letz-
ten Probleme der Welt geben und der Herrschaft der dogmatischen
Religion daher auch keinen Abbruch tun könne.
Dem Mißerfolge im Kampfe gegen die Kirche auf geistigem Gebiete
folgte derjenige in der Politik. Der Kulturkampf in Deutschland
hatte mit einem Fiasko der weltlichen Macht geendet. Während die
Naturwissenschaften immer größere und größere Errungenschaften
erreichten, welche ausnahmslos die Negation der alten Tradition be-
deuteten, gewann die Organisation der letzteren, die Kirche, auf den
meisten Gebieten des öffentlichen Lebens, insbesondere in der Schule,
ununterbrochen zunehmenden Einfluß.
Recht unerfreulich war auch der Gemütszustand des einzelnen
Aufgeklärten. Eine vollkommen befriedigende naturwissenschaftliche
Begründung der sittlichen Forderung, die Überwindung der atavisti-
schen Wertungen im Gemütsleben und ganz besonders die Organisation
einer, den einzelnen Fortschrittlichen stärkenden Gemeinschaft schie-
nen noch in unabsehbarer Ferne zu liegen. Wie verfrüht Erwartungen
nach dieser Richtung gewesen waren, zeigte sich auch äußerlich deut-
lich in dem bedauerlichen Mißerfolge von D. Strauß' „Alter und neuer
Glaube". Mit Resignation ergab man sich darein, sich einstweilen
nur an den herrlichen Leistungen der Naturwissenschaft und der kri-
tischen Geschichtsforschung auf ihren verschiedenen Einzelgebieten
erfreuen und sich durch sie in dem Glauben an die Gesamtwissenschaft
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62
als zukünftige Bringerin neuen Menschentumes erheben lassen zu
können.
Da ging Ende der achtziger Jahre durch die gesamte gebildete
Welt der Ruf nach Begründung von ethischen Gesellschaften. Los-
lösung der sittlichen Sanktion von allem Konfessionalismus war das
alle Freunde der Wahrhaftigkeit elektrisierende Losungswort. Das
Gute seiner selber willen zu tun, war ihre praktische Maxime. Die
Namen der Besten unserer Kultur prangten auf den Einladungen
zum Beitritt. Eine Welle der Begeisterung war durch jene geistig-
sittliche Gemeinde gegangen, welche ja auch schon damals, wenn
auch ohne jedwedes Gefüge, für das Streben vorhanden war, unser
gesamtes Leben in Übereinstimmung mit der Wissenschaft zu bringen.
Je berechtigter die großen Erwartungen zu sein schienen, welche
an die ethischen Gesellschaften geknüpft worden waren, um so nieder-
schlagender war die Enttäuschung, die viele ihrer Gründer bald er-
lebten. Die Festlegung auf Kants zwiespältige Philosophie und eine
fast ausschließlich auf das Subjektive gerichtete Auffassung der Ethik,
endlich der Mangel genügender naturwissenschaftlicher Orientierung,
welche Merkmale die Betätigung dieser Gesellschaften charakterisier-
ten, konnten nicht zu einer den modernen Menschen befriedigenden
Weltanschauung führen. Gerade in der allerwichtigsten praktischen
Betätigung der deutschen ethischen Gesellschaft, in der theoretischen
Vorbereitung einer Reform des Jugendunterrichtes, war ein Weg ein-
geschlagen worden, welcher der programmatischen Loslösung vom
Konfessionalismus nur scheinbar entsprach. Von dem im höchsten
Maße katholisierenden Dr. F. W. Förster, Zürich, dem Autor der
ethischen Lebenskunde, konnte ein rückhaltsloser Kampf gegen die
dogmatische Überlieferung nicht ausgehen.
Die neuerlich erlebte Enttäuschung war bitter. Allein die geschil-
derte unrichtige Methode und das Versagen einzelner Personen er-
klärten sie hinlänglich, und so war kein Grund vorhanden, an der guten
Sache selber zu verzweifeln. Gerade die gemeinschaftliche Arbeit so
vieler Fortschrittsfreunde, wie sie gelegentlich der Gründung der ethi-
schen Gesellschaft erfolgt war, ließ die nahe Möglichkeit, eine neue
Weltanschauung zu schaffen, sicher erkennen. Waren doch zu Ende
des vorigen Jahrhunderts, wenn auch nicht alle, so doch viele Ele-
mente einer solchen in jedem Aufgeklärten vorhanden. Gleich einem
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63
sorgfältig vorbereiteten und emsig zusammengeführten Baumaterial
harrten sie des großen Baumeisters, der sie zu einem prächtigen Bau
erstehen lassen sollte. Nur wenn man sich diese Verfassung von
Geist und Gemüt der kulturellen Oberschicht jener Zeit vergegenwär-
tigt, welche dem biologischen Zustande der äußersten Summation von
noch latenten Reizwirkungen vor dem Auftreten der Mutation ver-
gleichbar ist , läßt sich die ohne Beispiel dastehende , ungeheure Wir-
kung von Haeckels Welträtseln verstehen.
Als ich mich das erstemal durch die Welträtsel durcharbeitete,
war ich von einem ganz neuen Glücksgefühl beseelt. Ein seit langen
Jahren gehegtes Verlangen war durch dieses Werk erfüllt. Dieses
durch und durch wissenschaftliche Buch war für Laien geschrieben,
wie ich selber einer bin. Ja, in allererster Linie für solche.
Wohl hat mich auch schon früher oft die Lektüre guter Bücher
oder die Nachricht von einer wissenschaftlichen Großtat auf das höch-
ste begeistern können. Allein solche Berichte waren ja meist nicht
für den Laien bestimmt, und selbst recht gute volkstümliche Schriften
brachten merklich immer nur ein Bruchstück von Weiterbildung. Nie
hatte ich vorher aus solchen Erlebnissen eine Beeinflussung erfahren,
welche sich zu irgendwelchen Entschlüssen gesteigert hätte. Mit
einer einzigen Ausnahme: der von Forel gebotenen Aufklärung über
den Alkohol als individuelles und Rassengift, welche mich von heute
auf morgen zum absoluten Abstinenten gemacht hat.
Es ist ein historisches Ereignis allerersten Ranges, daß Ernst
Haeckel in seinen Welträtseln mit starker Hand, sicher und zielbewußt,
die letzten Schranken restlos und endgültig niederreißt, welche seit
jeher den Laien von dem höchsten Schatze seiner Zeit, von den Er-
gebnissen der Gesamtwissenschaften trennen. Das hat mich mit tief-
stem Danke für ihn erfüllt. Immer schon hatte ich in mir den An-
spruch auf dieses wertvollste Kulturgut empfunden. Immer aber
glaubte ich mir ihn als ungehörige Anmaßung ausreden zu sollen.
Ist doch das Schlagwort von der Schädlichkeit oder Lächerlichkeit
der Halbbildung nur zu wirksam. Haeckel hat dieses hohe Gut, so
wie mir, so vielen Hunderttausenden gegeben. Er hat uns dadurch
in unserer Selbstachtung gehoben, damit aber auch in uns den Willen
geweckt, uns solcher Gabe würdig zu erweisen. Haeckel spricht aus,
daß die monistische Bewegung letzten Endes eine ethische sein müsse.
64
3G]E]E]gggE]E]E]B]E]E]E]G]E]ElE]E]ElE]G]E]E]E]S51S§]§]E13E!E]S^33E]§]3E153§]3SE133351SE!
Daß dem so sei, das wollen und werden wir Laien erweisen! Denn
die wissenschaftliche Methode, diese wirkliche „via veritatis et vitae",
dieser alleinige Weg zur relativen Wahrheit und absoluten, lauteren
Wahrhaftigkeit, ist nun nicht mehr nur den wissenschaftlichen Berufen
vorbehalten. Sie wird zum Kulturbesitz der ganzen Menschheit und
muß im Alltagsleben für deren Höherentwicklung ebenso Großes voll-
bringen, wie sie in der Forschung Großes vollbracht hat.
Nicht so rasch wie der eben geschilderte beglückende Eindruck
hat sich die spezifisch monistische Wirkung der Welträtsel in mir
eingestellt. Absichtlich habe ich nicht von einer Lektüre, sondern
von einem sich Durcharbeiten durch diese neue Gedankenwelt ge-
sprochen. Stellt doch Haeckel gerade dem schon vorher Aufgeklärten
eine recht große Aufgabe. Ein großer Teil meines früheren Wissens-
stoffes wurde mir in der neuen Beleuchtung und im monistischen Zu-
sammenhang eigentlich zu einer neuen Erkenntnis, welche ich erst
wieder frisch verarbeiten mußte. Als ein Beispiel erwähne ich, daß
die in den Welträtseln enthaltene Ablehnung der traditionellen Reli-
gionen mir, dem reinlichen Atheisten, stofflich nichts Neues geboten
hat. Allein sie hat an Stelle ihrer bisherigen bibelkritischen und vor-
wiegend rein rationalen Begründung im Sinne Voltaires die unver-
gleichlich wuchtiger wirkende der Anthropologie gesetzt.
Umlernen ist aber oft schwieriger als etwas neu lernen. Und
noch schwieriger als das Umlernen war es mir, gegen das in mir wir-
kende Gesetz der Trägheit anzukämpfen und etwas von meinem alten
Wissensstoff aufzugeben. War doch dieser zum Teil mit großer Mühe
autodidaktisch erworben und im Laufe vieler Jahre gewissermaßen
zu einem Teile meines geistigen Ich geworden.
Seit meiner Schulzeit hatte es mich immer mit der allergrößten
Befriedigung erfüllt, in der Gravitationslehre Newtons für die erhebend
schönen Wunder des Kosmos eine restlose Erklärung zu erkennen.
Und nun mußte ich mir sagen lassen, daß der Angelpunkt dieser Er-
klärung, die Gravitation, selbst durchaus Problem ist; daß ihre Iden-
tität mit der uns empirisch zugänglichen und darum scheinbar so
vertrauten, in Wirklichkeit ganz rätselhaften irdischen Schwerkraft
über ihr Wesen selber noch gar nichts aussagt. Erfreulicherweise
blieb aber doch wenigstens die Tatsache der Gravitation selbst un-
berührt.
5 Haeckel-Festschrift. Bd. II 65
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Um so weniger blieb mir armem Aufgeklärten von meinem sauer
erworbenen philosophischen Wissen übrig, welches ich Kronenbergs
Popularisation der Kantschen Philosophie zu verdanken hatte. Aller-
dings habe ich von allem Anfang an eine gewisse heimliche Opposition
gegen den Kantianismus in mir nicht ganz unterdrücken können, woran
ich heute mit Genugtuung zurückdenke. Kants erkenntnistheoreti-
scher Kritizismus, welcher ebenso zur Annahme wie zur Ablehnung
des Gottesglaubens führen konnte, mußte in mir, der ich schon als
Knabe von meiner Mutter im Unglauben erzogen worden war, starkes
Bedenken erregen. Seiner Lehre von aprioristischen Kategorien un-
seres Denkens zu folgen, kostete mich Mühe. Und Zeit und Raum als
nicht real, sondern ganz ebenso wie das konventionelle Maß von Zeit
und Raum als nur vom Menschen in die Natur projiziert aufzufassen,
wollte mir schlechterdings nicht gelingen. Aber wie durfte ein ganz
gewöhnlicher Laie zweifeln, wo wissenschaftliche Autoritäten zustimm-
ten, — Haeckels Kritik der Kantschen Philosophie brachte mir eine
wohltuende Befreiung, aber auch die Notwendigkeit, frisch zu lernen.
Die durch die Welträtsel in Fluß gebrachten Änderungen meiner
geistigen Verfassung ließen anfangs in mir kein Gefühl voller Be-
friedigung aufkommen. Es war eine Art schwerer geistiger Ermüdung,
in welcher ich das an starken Eindrücken überreiche Buch aus der
Hand legte.
Ganz allmählich und ohne daß ich mir seiner Nachwirkung gleich
ganz bewußt geworden wäre, begann ich bei Diskussionen, bei irgend-
welcher Lektüre, bei Urteilsbüdungen und Entschlüssen im Alltag
die Dinge nicht mehr für sich allein, sondern immer mehr und mehr
in ihren großen Zusammenhängen zu betrachten. Ich war auf dem
Wege zum Monismus! Das alles umfassende System Haeckels war
unmerklich und doch mit unwiderstehlicher Gewalt in mir lebendig
geworden. Mein Wissen hatte sich zur Bildung entfaltet!
Bei jeder Gelegenheit schlage ich nun gerne in dem mir liebge-
wordenen Buche nach. Da merke ich mitunter mit Freude, wie mein
Wissensstoff in dem einen und anderen Gegenstand über den Inhalt der
Welträtsel hinausgewachsen ist. Die Lektüre der von Haeckel empfohle-
nen Bücher, vor allem mancher Schriften Verworns, Semons und Tyn-
dalls und des „Monistischen Jahrhunderts", haben mein Wissen erwei-
tert und vertieft. Und erst hiernach und gerade jetzt, wo ich durch
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die monistische Presse von den fortgesetzten Verbesserungen früherer
Forschungsresultate durch die nie rastende Wissenschaft vielfach un-
terrichtet bin, weiß ich in vollem Maße zu würdigen, wie genial die
in den Welträtseln von Haeckel gebotene Grundlegung einer natur-
wissenschaftlichen Weltanschauung ist.
Dieser Entwicklungsgang ist zunächst ein rein geistiger. Es könnte
daher leicht die Meinung entstehen, daß der Übergang zum Monismus
etwas rein Verstandesmäßiges sei, wobei das Gemütsleben leer ausgehe.
Dem ist aber ganz und gar nicht so ! Bringt er doch vor allem Wahr-
haftigkeit, also die oberste Voraussetzung jedes reinen Gemütslebens!
Gibt er doch eine die natürliche Sittlichkeit bewußt verwirklichende
Lebensauffassung, die dem Monisten in jeder Lebenslage zu selbst-
sicheren Entschlüssen kommen läßt! Hat uns doch Haeckel im Mo-
nistenbund auch schon die menschliche Gemeinschaft gegeben, in
welcher sich edles Gemütsleben entfalten kann und zukünftig noch
schöner zu einem neuen Menschentume entfalten wird. An diesem
aber hat jeder von uns nicht nur empfangend, sondern mitschaffend
Anteil, und in diesem Bewußtsein liegt das höchste Glück, das ein
moderner Mensch haben kann. Das danke ich Haeckel. Das wird
ihm die Menschheit von Generation zu Generation in immer höherem
Maße danken!
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ERNST KOERNER, BERLIN: EXZELLENZ ERNST
HAECKEL ALS MALER
0 0 0
Vierzig Jahre sind nunmehr verflossen, seit ich im April 1873 Pro-
fessor Ernst Haeckel kennen lernte.
Noch berauscht von dem Zauber des märchenhaften Pyramiden-
landes ging meine Fahrt mit Carl Stangen nach Palästina.
Durch schroffe Klippen, an denen die Wogen machtvoll brandeten,
führten uns kleine Boote nach dem hochragenden Jaffa. Von dort
ritten wir in zwei Tagemärschen über Ramleh, vorüber bei Emmaus,
immer neue Anhöhen erklimmend, durch Berg und Tal, bis plötzlich
dicht vor uns Jerusalem lag mit seinem alten Damaskustor in der
trutzigen Stadtmauer und dem Turm des David. Vor uns erhob sich
der ölberg, zu unseren Füßen dämmerte tief unten das Tote Meer.
In vierzehntägigem Ritt, im Geleit von 25 Beduinen, Knechten und
Köchen und einem großen Zeltlager erreichte die Gesellschaft zuerst
Tiberias am See Genezareth und Caesarea Philippi. Dann ging es über
den großen Hermon durch das steinige Tal Magia del Schems (das
Sonnental) nach Damaskus, umgeben von einem Paradiesesgarten.
Von dort führte der Weg zum Meere bei Beirut zuerst nach Baalbek
mit seinen wuchtigen assyrischen Unterbauten, auf denen die gigan-
tischen Tempel des Zeus und des Helios zu den Zedern und Schnee-
feldern des Libanons emporragen.
Von Beirut führte uns das Schiff zunächst nach Smyrna. Dort
stieg ein hochgewachsener Mann ein. Aus seinem Antlitz, umgeben
von blonden Locken und Vollbart, blickten freundlich zwei leuchtende
Augen und sein frohes Lachen klang silberhell. Wir hielten ihn für
einen Maler. Das war der schon damals berühmte Naturforscher Pro-
fessor Ernst Haeckel. Er schloß sich in Athen der Gesellschaft an,
und bald kamen wir beide uns näher in der gemeinsamen Begeisterung
für die schöne Natur und die herrlichen Werke der Kunst.
Wir blickten von der Akropolis herab auf den Piräus und die Insel
Salamis. Im Vordergrund stand mit seinen ernsten Karyatiden das
Erechtheion, vor uns die Propyläen, an welche sich damals noch der
dunkle Kreuzfahrerturm wehrhaft ragend anlehnte.
Von Athen fuhren wir durch die Dardanellen nach Konstantinopel,
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welches mit seinen Moscheen und Palästen wie ein Wunder aus „Tau-
send und eine Nacht" erschien.
Hier wollten wir beide einen Monat verweilen. So folgten wir gern
der freundlichen Einladung des Sekretärs des Konsulats, Herrn Rohn-
stock, in seinem zu Pera gelegenen, echt türkischen Hause zu wohnen.
Dies Haus aus doppelten Bretterwänden gefügt, zwischen denen
Mäuse und Ratten umherjagten, und welches im Innern zwar zerfallen,
aber doch recht gemütlich war, eröffnete dem erstaunten Blick eine
wunderbare Aussicht über den Bosporus mit dem Leanderturm, hin-
über nach Asien, wo Skutari im Morgenduft von blendendem Licht
umflossen war.
Am Mittag erschien der Bosporus wie ein blaugrünes Damast-
gewebe, in welches die Windstreifen anmutige Muster zeichneten. Dar-
auf waren, wie eine Perlenstickerei, unzählige Schiffe mit ihren weißen
Segeln ausgebreitet. Tief unten links spiegelten sich in der kristallenen
Flut die Marmorpaläste von Dolma Baktsche und Tscheragan, welche
das ganze Ufer weit hinaus umsäumten. Dahinter stiegen die üppigen
Gärten des Sultans empor. Zu unserer Rechten streifte der Blick über
das Marmarameer mit den Prinzeninseln bis zum Golf von Mudania
und Brussa, zu den schneebedeckten Höhen des kleinasiatischen Olymps.
Bald lernten wir unter Rohnstocks sprachkundiger Führung das
alte Stambul kennen, besuchten die Marställe des Sultans Abdul Azis
mit den mutigen Berberhengsten, ritten um die alten Stadtmauern
nach Jedikule am Marmarameer und fuhren im Kaik durch das Gol-
dene Hörn zu den süßen Wassern von Europa.
Überall wanderte das Skizzenbuch und der Malkasten mit, und
Haeckel entwarf seine Landschaften mit bewundernswerter Schnellig-
keit. Auch ich war durch die kurzgemessene Rast auf dem Ritt nach
Damaskus gewöhnt, kurzentschlossen meine ölstudien zu malen, aber
im Aquarellieren kam ich in der Schnelligkeit mit Haeckel nicht mit.
Mit unserem liebenswürdigen Wirt machten wir auch Ausflüge
nach den Prinzeninseln und nach Brussa in Kleinasien. Er hatte unter-
wegs geschäftlich zu tun.
Vom Golf von Mudania führte uns ein Wagen bei einem Wäldchen
von mächtigen, rauschenden Eichen vorüber zur alten Kalifenstadt
Brussa. Dieselbe ist hingelagert an den Vorbergen des Olymps. Der
feuchte, humose Boden erzeugt üppigste Vegetation, besonders die
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schönsten Zypressen der Welt. Warme Heilquellen, große Webereien,
Meerschaumschnitzereien, uralte Moscheen sind hier und echt orienta-
lisches Leben.
Überall wurde gezeichnet und gemalt. Haeckel war ein prächtiger
Malerkollege, und ich merkte kaum etwas von der Tiefe seiner wissen-
schaftlichen Erkenntnis. Erst als wir später den deutschen Konsul
in Brussa besuchten, der ein glühender Verehrer Haeckels war und
seine Werke besaß, auch mikroskopierten seine Töchter, da wurde mir
erst klar, mit welcher Berühmtheit ich täglich so gemütlich wanderte !
Wir kehrten erst am 30. April 1873 nach Konstantinopel zurück.
Zunächst unternahmen wir gleich am 26. April den Ritt auf den Olymp.
Durch duftende Rosen- und Mandelbüsche blickte man auf die
schönen Zypressen, welche in saftigstem Grün, hochgewachsen, die
türkischen Gräber mit ihren steinernen Turbanen und Blumen um-
standen. Beim Aufstieg hatte man noch einmal einen herrlichen Blick
über die Stadt und die Ebene. Dann umfing uns der Frühlings wald
mit Rauschen und Vogelsang. Und der ernste Gelehrte an meiner
Seite freute sich wie ein Kind, kannte jede Vogelstimme und nannte
mir die Namen der zierlichen Sänger.
Als wir höher hinauf ritten, veränderte sich das Bild. Ein kahler,
erstorbener Wald umgab uns. Kein Blatt bewegte sich an den rinden-
losen Stämmen, welche grau, wie versilbert dastanden. Hatte hier
ein Waldbrand oder die Heuschrecke gewütet? Es war, als befände
man sich im Reiche der Schatten!
Plötzlich umgab uns das Dunkel eines Tannenwaldes und bald
vollkommene Alpenvegetation. Hinter einem kleinen Teich öffnete
sich der Blick auf die Schneefelder des Olymps, deren Schmelze sich
hier sammelte.
Nun erklärten unsere Führer, daß weder ihre Pferde noch sie selbst
weiter könnten; weil der Aufstieg über den Schnee zu gefährlich sei.
Ich hatte keine Erfahrung im Bergsteigen und Haeckel auch wohl
nur wenig, so stiegen wir beide allein drauflos, ohne jede Scheu.
Und wir hatten Glück. Der Schnee war hart und trug uns. Haeckel
schritt weit aus und verschwand bald meinen Blicken. Ich fühlte mich
in der weiten, weißen Fläche einsamer als in der Lybischen Wüste ;
aber hinauf mußte ich.
Nach geraumer Zeit lag die Spitze des Berges vor mir, darauf ein
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schwarzer Punkt, der, sich vom Himmel abhebend, endlich als eine
menschliche Gestalt zu erkennen war.
Stürmisch umarmte mich mein treuer Reisegefährte, als ich oben
ankam, und wir freuten uns gemeinsam innig des Erreichten und ge-
nossen den wunderbaren Rundblick zu unseren Füßen.
Hinter dem Marmarameer im Norden lag, wie eine Fata Morgana,
das alte Stambul. Von dort nach Süden schweifte der Blick an dem
Meeresgestade entlang. Im Süden breitete sich die trojanische Ebene
aus. In ihrem Duft erglänzte auf zwei Seen die Sonne Homers goldig,
wie auf dem Schilde des Achilles.
Es bevölkerte sich uns das Gefilde mit den trojanischen Helden,
und in der einsamen Höhe, weit über den Wolken, waren wir mitten
unter den Göttern Griechenlands!
Zum Andenken nahm Haeckel den obersten Stein einer kleinen
Pyramide, die auf dem Gipfel errichtet war, mit und brachte so die
höchste Spitze des Olymps nach Jena.
Oft haben wir dieser schönen Stunde noch später gedacht, wenn
Professor Haeckel seine Verwandten und Freunde in Potsdam und
Berlin besuchte, und auch mir die Freude machte, mich und meine
Frau, die ebenfalls mehrere große Reisen, auch Nilreisen, mit mir ge-
macht hat, in unserem Heim zu besuchen. Da zeigte er uns seine ersten
schönen Zeichnungen und Aquarelle von den Kunstformen der Natur
und seine Wanderbüder. Er ließ sich auch, wie ein dankbarer Schüler,
von meinem verehrten alten Lehrer, Professor Hermann Eschke,
künstlerischen Rat erteilen. Ich habe immer seinen Fleiß und Ge-
nauigkeit und das tiefe Verständnis angestaunt und mich als Maler über
sein Schönheitsgefühl und Empfinden für landschaftliche Stimmungen
gefreut, welche er auch überzeugend zum Ausdruck brachte.
Nun habe ich auch Haeckels Schriften gelesen, welche er mir in
freundschaftlicher Weise schickte, auch seine „Welträtsel". Ich habe
dabei gestaunt wie zielbewußt darin aus dem Kleinsten das Voll-
endetste entwickelt ist und habe erkannt, daß auch dieser kühne
Forscher vor der Kraft ehrerbietig haltmacht, welche die erste Be-
wegung erzeugt hat, — vor dem Primo Motore des Leonardo da Vinci !
Mag Haeckel in seiner Wissenschaft ein scharfer Kämpfer sein,
mir gegenüber ist er stets duldsam und liebenswürdig gewesen. Er
ist mir ein lieber Freund geblieben, den ich hoch verehre!
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N. LEON, JASSY: MEIN MEISTER HAECKEL
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Als Student bekam ich im Jahre 1883 in Jassy Haeckels „Schöp-
fungsgeschichte" in französischer Übersetzung zum erstenmal vor
Augen. Es waren die herrlichsten, die einleuchtendsten Vorlesungen,
die ich je gelesen hatte! Sie begeisterten mich dermaßen, daß ich
mir die Koffer bereit machte und nach Jena fuhr, wo ich mich als stud.
med. et rer. nat. immatrikulieren ließ. Da konnte ich nun den Ver-
fasser selbst hören, und bin jetzt einer von denen, die sein Werk dreißig
Jahre mit größtem Eifer verfolgt haben, die den Werdegang des Mei-
sters als Mensch und Gelehrter mit vollem Interesse begleitet haben.
Von ihm lernte ich es, das Genie zu bewundern, das Schöne zu
lieben und mich nur vor der Wahrheit zu beugen. — Wenn auch seine
kostbare Zeit von ernsten Forschungen in Anspruch genommen war,
schenkte er dennoch einen guten Teil seiner Energie dem Unterricht,
was Studenten aus der ganzen Welt anzog.
WTie beschäftigt er auch sein mochte, nie zeigte er sich gestört,
wenn ihn einer von uns aufsuchte, um seinen Rat einzuziehen.
Eines Tages ließ er mich in sein Arbeitszimmer rufen und frug mich
wohlgemut, wo ich die Ferien zu verbringen gedächte, und ohne nur
meine Antwort zu erwarten, sagte er mir: „Mußt irgendwo an die See,
um die Tierwelt des Wassers kennen zu lernen; das Meer bietet ein
höchst interessantes Material für unser Studium, das zur Erziehung
eines Naturalisten unentbehrlich geworden ist. Dr. Kükenthal und
Weissenborn — die damals seine Assistenten waren — fahren nach
Norwegen um die dortige Küstenfauna zu studieren, fahren Sie doch
auch mit." (Dr. K. ist nun Professor und Leiter des Zoologischen
Instituts in Breslau, Dr. W. ist längst verschieden.)
Ich werde es nie vergessen, mit welcher Freude, mit welchem Eifer
er mich bei meiner Rückkehr aus Norwegen empfing. Er ließ sich die
Ortschaften auf der Karte zeigen, wo wir gefischt hatten; ich sollte
ihm von den Tieren erzählen, die wir gesammelt hatten, und von der
Art, wie wir sie aufbewahrt haben.
Was den Fortschritt der Kultur so schwer macht, ist wohl in erster
Reihe die Tatsache, daß sich die Schriften der Gelehrten größtenteils
nur an Gelehrte richten; sehr wenig Gebildete können sie benützen,
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während die große Masse des Volkes ihnen fremd bleiben muß. Was
hilft es, wenn Bücher und wissenschaftliche Zeitschriften täglich er-
scheinen, wenn sie nur von wenigen verstanden werden können, während
die Mehrzahl das Opfer des Aberglaubens und aller mystischen Ge-
danken bleiben muß? Die Menschheit teilt sich doch in zwei höchst
ungleiche Teile : Einige Bevorzugte, die mit den Ergebnissen der Wis-
senschaft vertraut sein können, und alle Anderen, die weit entfernt
davon stehen müssen. Hätte die Menschheit nicht einige Genies wie
Haeckel hervorgebracht, welche Kraft und Mut besitzen, die Wissen-
schaft zu verbreiten, so wäre die Kultur noch mehr zurückgeblieben.
Haeckel als Professor und Verfasser hat einen mächtigen doppelten
Einfluß auf seine Mitmenschen ausgeübt : Auf die Gelehrten weit, die
in ihm den Naturphilosophen erkannte, allen Naturalisten durch sein
philosophisches Denken und Bildung überlegen; allen Philosophen
durch seine naturwissenschaftliche Methode und seine 40 Jahre lan-
gen, so bedeutenden Forschungen. Dann der gewaltige Einfluß auf
das Volk, der immer lebhaft bleibt, und dem besonders die „Welt-
rätsel" gedient haben. Dank einer genialen Begabung, wie leicht zu
erklären, hat er am meisten beigetragen, Millionen Menschen aus den
Fesseln des philosophischen und theologischen Mystizismus zu be-
freien. Außer diesen reichen Werken, dem gewaltigen Einfluß auf die
gesamte Kultur, übt der große Meister noch durch seine Schüler einen
weiteren aus. Als Mitglied der Kommission zur Umänderung des
Schulprogramms in Rumänien ist es mir schon vor 15 Jahren gelungen,
das Studium des Darwinismus und des Haeckelismus hier ein-
zuführen. Und als Beweis dafür, daß es nicht fruchtlos blieb, steht der
jüngstgegründete „Verein der orthodoxen Frauen Rumäniens", der
die Kultur „auf religiöser Basis" erstrebt. — Haeckel ist heute ganz
so bekannt in Rumänien wie in Deutschland und in der ganzen Welt.
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74
HERMANN SCHEFFAUER, LONDON
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Ich war erst zehn Jahre alt, als Himmel und Erde zum erstenmal
vor mir in Stücke brachen. Lebhaft erinnere ich mich dieses Tages
— an dem ich mich mit dem ersten Schritt vom Mittelalter entfernte.
Es war in Kalifornien, in meiner Geburtsstadt San Franzisko — die
sorgloseste und romantischste aller amerikanischen Städte.
Dieser Tag war der Sabbath. Ich war zur Messe und zur Sonntags-
schule in die römisch-katholische Ortskirche geschickt worden. Ein
kleines Mädchen in der Klasse war unartig gewesen. Die Nonne,
welche die Pflicht hatte, uns unsere Stellung zum Weltall und zur
Priesterschaft klarzumachen, rief sie also vor und schlug sie hart
mit einem knotigen Riemen, der zusammen mit dem Kruzifix an ihrem
Kleid herunterhing, quer über die Beine. Watschelnd kam dann Vater
Gerhard herein und beschrieb uns mit großem dramatischen Effekt
die ganze wunderbare Wirtschaft der Hölle und die auserlesenen
Qualen, welche uns dort erwarteten.
„Denkt an den Schmerz, wenn ihr euch zufällig mit einem ein-
fachen Zündholz verbrennt," sagte dieser gute, fette Franziskaner
Gottes, „und dann stellt euch vor, wie es sein muß, wenn euer ganzer
Körper glüht wie eine Kohle!"
Ich ging in die Schönheit des kalifornischen Tages hinaus. Der
blaue Himmel schien schwarz zu sein wie eine Kaminöffnung, der
glänzende Sonnenschein nur der Widerschein der Hölle, die frischen
Winde, die vom Stillen Ozean wehten, nur ein Pesthauch von den
höllischen Schmelzöfen. Ich hatte als Kind eine sehr lebhafte Ein-
bildungskraft, sogar die Blumen mahnten mich an jenem Tag an Be-
gräbnisse und an Verwesung. Meine ganze Seele, wenn nicht mein
Körper, brannte bereits und litt vorweggenommene Qualen. Ich sah
mich verdammt. Ich war bereits zu jener trüben Überzeugung von
Sündhaftigkeit gelangt, welche das hypnotische Reden der Priester
in meine jungen wehrlosen Ohren geklirrt hatte. Erschreckt stand
ich vor dem grauenvollen Rätsel. Ich war geboren — aber warum
hatten mich meine Eltern, sonst so klug und gütig, in diesen fürchter-
lichen Zustand zwischen Sternen und Feuern gestoßen?
Ein paar Jahre unruhigen Lebens, dann die kalte Gruft in der
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Erde und die heiße Gruft in der Hölle. Niemand, nur ein Engel,
konnte dem entgehen. Ich beschloß, die Hölle wenigstens zu ver-
dienen; ich beschloß, ein Verbrecher zu werden, vorzugsweise ein
Seeräuber. Ich wunderte mich über die Gleichgültigkeit meines Vaters
und war verletzt über seine Scherze. Seine Skepsis war entschieden
ein Beweis für seine Verdammnis. — So war die Weltanschauung
dieses jungen Kalif orniers gegen Ende der achtziger Jahre.
Diese mittelalterliche Idee wurde von fast all den andern Sekten
verbreitet, welche sich in der Ultima Thule des Westens nieder-
gelassen hatten. Und doch schienen diese Vorstellungen aus irgend-
einem Grunde recht schlecht zu einem so heidnischen Lande wie
Kalifornien zu passen. Die Großartigkeit der Natur in ihren kolos-
salsten Erscheinungen, die hohen Berge und die Unendlichkeit des
Ozeans, die lachenden Täler, die Blumen, Früchte, Weine und der
Sonnenschein dieses goldenen Hesperidenlandes wirkten mit dämo-
nischer Macht auf Gemüt und Temperament. Der Kalifornier ist
im Grunde seines Herzens ein Heide, der nüchterne Puritanismus
von Neu-England hat keine Lebenskraft, der unredliche Industrialis-
mus der Oststaaten hat niemals in diesem Italien Amerikas Wurzel
gefaßt. So begann mit der Zeit sogar die Hölle und die moralische
Inquisition und Introspektion ihre Macht über mich zu verlieren.
Obgleich Kalifornien voll von freien und wagemutigen Köpfen
und einer gewissen literarischen Atmosphäre war, so war es kaum
ein intellektueller Mittelpunkt. Seine Schulen nach amerikanischem
Muster waren ausgezeichnet, aber keine irrgläubige Meinung wurde
bei ihren Lehrern geduldet. In den neunziger Jahren wurde ich
das, was in jenen Tagen als „broad-minded and liberal" angesehen
wurde, ein etwas gefährlich liberaler junger Mann, der mit der Ver-
dammnis kokettierte. Ich weigerte mich nämlich, in die Kirche zu
gehen und spottete über einen persönlichen Teufel. Doch hielt ich
immer noch an dem guten alten mosaischen Gott mit seinem launen-
haften Temperament fest und fand in der mosaischen Erklärung
von der Erschaffung der Welt nur wenig Fehlerhaftes. Ein Gedicht,
das ich in diesen Tagen schrieb, enthielt viele fromme Anspielungen.
Ingersoll lag in der Luft. Seine grimmige und zermalmende Ana-
lysis der Bibel hatte die Stützen des alten orthodoxen Glaubens unter-
miniert. Ingersoll war ein amerikanischer Voltaire und ein glänzender,
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lebhafter Redner. Eine Zeitlang betrachtete ich Ingersoll und seine
Anhänger als Feinde alles Edlen und Guten. Ich führte gegen sie
flammende Stellen aus dem durch und durch düsteren Werk Youngs,
den ,, Nachtgedanken", an. Ein neuer Diskussionsgegenstand an den
Küsten des Stillen Ozeans war die Theorie, daß der Mensch vom Affen
abstammen sollte. Kontroversen waren an der Tagesordnung. Die
Zeitungen strotzten von Witzen über das „missing link".
Ich war jetzt in jener unglücklichen, jugendlichen Periode von
idealistischer Schwärmerei und Byronscher Romantik, durch welche
alle, besonders die mit phantasievollem Gemüt, hindurchgehen müssen.
Bis jetzt hatte ich noch keine Philosophie gefunden, die mich durchs
Leben leiten konnte, und es lag vor mir wie eine dunkle und düstere
See, voll von tückischen Riffen und trüben Stürmen. Der Kosmos
war noch ein verwirrendes Chaos streitender Gewalten.
Ich las Darwin. Im Lichte dieses großen und umfassenden Geistes
begann mir die Sonne aufzugehen. Ein wenig Ordnung kam in mein
fragmentarisches Universum. Ich sog begierig seine Lehren in mich
hinein und brütete Tag und Nacht über den fürchterlichen Fragen,
die sie in mir aufwühlten. Ich erinnere mich, mit Darwins frommer
Zurückhaltung sehr unzufrieden gewesen zu sein, denn ich kannte
damals nicht das England, in dem er geboren worden war. Ich
wünschte, daß solche revolutionären Ideen auch in einer mehr revo-
lutionären Art hätten vorgebracht werden müssen, und sehnte mich
danach, seine Lehren zu ihrer logischen Folgerung getrieben zu sehen.
Ich war selber voll von Auflehnung und erwartete, daß der Mann der
Wissenschaft die Agressive ergreifen sollte. Damals wußte ich noch
nicht, daß, wenn die Wahrheit sich entschleiert, auch ihre mildesten
Gesten noch Zerstörung und Vernichtung bewirken. Wir können die
Stärke der Kette und die Jahrhunderte alte Grenzmauer nicht über-
schätzen, welche das damalige England dem entgegenstellte, der es
wagte, in die Vorrechte des Dogmas und in den Bereich der Kirche
einzudringen.
Huxley, Schopenhauer, Spencer, Feuerbach, Büchner kamen mir
nun zu Hilfe und brachten Licht und Luft. Aus ihren verschieden-
artigen Gedanken, Tendenzen und Lehren heraus und den Bedürf-
nissen meines eigenen Temperaments begann ich mir, eine etwas
verschwommene Weltanschauung zusammenzustückeln.
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Ganz zufällig stieß ich dann eines Tages in der Barkhausschen
Buchhandlung in der Kearney Street auf die „Welträtsel". Ich kaufte
sie und verschlang davon wenigstens die Hälfte in dieser Nacht, die
andere las ich gemächlicher im Bureau — ich war damals noch Archi-
tekt. Ich erinnere mich an das Gemisch von Verwunderung und
Freude, das mich beim Lesen dieses Werkes überkam — ein Gefühl,
das etwas mit dem von Columbus verwandt sein mußte, als er Land
erblickte, oder dem Baiboas, als er das Meer von jenem „Peak in
Dariem" entdeckte. Mit einem Male baute sich die Menge roher und
formloser Blöcke, mit denen ich versucht hatte, mir einen kleinen
Turm für meine Seele zu errichten, zu einer starken und umfangreichen
Burg auf. Ich wußte, daß das Gebäude noch nicht vollendet war,
und daß es verwegen auf die Grenze des Unbekannten gestellt war.
Aber ich wurde ein begeisterter Kämpe seines Erbauers, Ernst Haeckels.
Ich fühlte die fesselnde Persönlichkeit, den genialen optimistischen
Einfluß, den sein Werk ausstrahlte. Ich stellte mir den Ungeheuern
Wert dieser Waffe als Propagandamittel in den im Dunkel tappenden
Millionen vor. Eine neue Bibel — eine neue Offenbarung, die in der
Wirklichkeit wurzelte !
Ich darf wohl sagen, daß ich für den Verkauf vieler Exemplare
der „Welträtsel" in Kalifornien verantwortlich bin. Ungeachtet des
Spotts über die außergewöhnliche Verbreitung des Werks und der
für jedermann leichten Faßlichkeit, sah ich durch seinen Einfluß die
Bollwerke des konservativsten Gedankengebäudes unterwühlt werden.
Es war darin noch etwas außer einer wissenschaftlichen Dogmatik,
ein materialistisches Fest für das ungebildete Proletariat. Liebe zur
Menschlichkeit und Glaube an sie, Haß gegen Unwissenheit und gei-
stige Knechtung rief aus diesem Buch und rührte Tausenden die
Seele wie ein anfeuernder Schlachtgesang.
Die Einfachheit und Klarheit, mit der das Buch geschrieben war,
die Ordnung und Systematik der aufgestellten Tatsachen, die kühnen
Schlüsse, die aus ihnen gezogen wurden, entrollten sich wie ein groß-
artiges Panorama vor der Menschen Augen, die lange genug durch
orthodoxe Theologie und supernaturalistische Philosophie getrübt
waren. Das Buch war ein modernes Geschütz im Kampf für eine höhere
Kultur, die auf biologische Wahrheit gegründet war. Es war eine
Synthese von wissenschaftlicher und philosophischer Kenntnis, ver-
78
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bunden mit Natur und Vernunft. Seine kühnen Vermutungen fand
ich anregend und erhabener Ahnung voll, seine Dogmatik verständ-
lich als Bollwerk eines kriegerischen, siegessicheren Geistes, eine
Wesensart, die ich in den Namen „Luther der Wissenschaft" zusam-
menzufassen versucht habe.
Unter den konventionellen oder dualistischen Denkern bin ich
nie einem begegnet, der fähig gewesen wäre, einen der strengen funda-
mentalen Grundsätze in Haeckels „Welträtseln" zu widerlegen. Ich
führe aus dem Gedächntis an: „Wenn die Seele eine natürliche Er-
scheinung ist, so ist der einzige Weg, um sie zu erforschen, dieselbe
Methode, mit der wir auch alle anderen Naturerscheinungen durch-
forschen — die der wissenschaftlichen Beobachtung und Unter-
suchung."
Daß Haeckels naturwissenschaftlicher Monismus im Vergleich mit
anderen Ländern in Deutschland einen größeren Einfluß ausüben
konnte, ist nicht nur dem Umstand zuzuschreiben, daß Deutschland
das natürliche Feld seiner Tätigkeit ist, sondern auch der Tatsache,
daß der ethische, idealistische Zug seiner monistischen Naturphilo-
sophie psychologisch mit dem deutschen Geiste verwandt ist. Die
unbestimmte Verehrung eines abstrakten Wahren, Guten und Schönen
hat einen Schillerschen Glanz um sich herum, in welchen sich die
angelsächsische Gemütsart, die mehr auf eine entschiedene, realistische
Moral bedacht ist, nicht leicht finden kann. Das ist, abgesehen vom
Fehlen einer Organisation, einer der Gründe, weshalb der Monismus,
der trotz seiner materialistischen Lehrsätze ein rhetorisches oder
mystisches, oder vielleicht auch nur poetisches Element in sich trägt,
in England und Amerika einen so verhältnismäßig kleinen Fort-
schritt gemacht hat.
Ich glaube, daß auch darin eine Gefahr liegt, den Monismus mit
einer sozialen Ordnung zu verquicken, die auf der Basis einer duali-
stischen, übernatürlichen Weltanschauung ruht. Eine neue Religion,
eine neue Philosophie oder ein neuer Kult kann heutzutage nicht
dauern, ohne daß die soziologischen Seiten und Konsequenzen be-
rücksichtigt werden. Der gewöhnliche Engländer oder Amerikaner
hat nicht einmal vom Monismus gehört, oder er rechnet ihn zu irgend-
einem anderen obskuren, unklaren „ismus", der nur wenig mit seinen
irdischen Bedürfnissen zu tun hat. Und doch ist der Boden gepflügt,
79
denn die Menge ist im Herzen heidnisch und hedonistisch und behilft
sich mit einem unbewußten Pragmatismus oder hundert phantasti-
schen schmerzstillenden Glaubensmitteln. Wenn diese ungeheuren
Massen, die jetzt in den Krallen industrieller Verzweiflung, ökono-
mischer Bedrückung, Hysterie, Sentimentalität und geistigen Be-
trugs sind, mit einer Propaganda, die auf den Verstand und das Ge-
fühl gleichmäßig wirkt, erreicht werden könnten, so zweifle ich nicht,
daß der Erfolg von Professor Ostwalds Kreuzzügen in diesen beiden
großen Ländern verdoppelt werden könnte.
Vom Standpunkt derEugenie oder Rassenveredlung aus betrachtet,
ist es bedauerlich, daß zwei so dominierende Geister wie Ernst Haeckel
und Friedrich Nietzsche sich nie gesehen haben. Sie oder ihre Ten-
denzen ergänzen sich in gewissem Sinne. Haeckel hätte die wissen-
schaftlichen, empirischen und biologischen Begründungen, auf welche
der Philosoph des Übermenschen seine erhabene Theorie aufzubauen
bestrebt war, bestätigen müssen, Nietzsche hätte Haeckels wissen-
schaftliche Entdeckungen mehr auf die Probleme der sozialen Ordnung
anwenden müssen, Probleme, welchen nachzugehen Haeckel wegen
einer ausgedehnten Forschungstätigkeit wenig Zeit hatte.
Im Jahre 1904 verließ ich Kalifornien und ging ins Ausland.
Ich trug zwei Gedichtbände von kalifornischen Bewunderern Haeckels
bei mir — eins davon von mir selbst. Als ich schließlich das idyllische
kleine Jena erreichte, ging ich zu dem großen Meister, um ihm diese
beiden kleinen Tribute der Dankbarkeit zu überreichen. Wie groß
auch meine Anhänglichkeit an Ernst Haeckel schon war, so wurde
sie nichtsdestoweniger im höchsten Grade verstärkt und besiegelt
durch die direkte Berührung mit dieser begeisternden und glänzenden
Persönlichkeit. Seit jener Zeit sind wir miteinander in enger und
freundschaftlicher Beziehung geblieben. Obgleich meine literarische
Tätigkeit sich auf einem Gebiet bewegt, das dem seinen ganz fern
liegt, so bin ich doch stolz darauf, die Persönlichkeit des Mannes
und die Grundzüge seiner Philosophie in verschiedenen Artikeln und
Gedichten dem englisch lesenden Publikum etwas näher gebracht zu
haben. Ebenso habe ich die in manchen Kreisen eifrig genährte Wahn-
idee zu zerstreuen gesucht, daß Ernst Haeckel eine Art gefährlicher
Menschenfresser sei, dazu bitter, pedantisch und voll von düsterem
Haß und wissenschaftlicher Bigotterie. Für jene, deren blinde und
80
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unwandelbare Abneigung gegen ihn in einer nicht näher bestimmten
Verleumdung seines „Materialismus" bestand, fand ich gewöhnlich
diese eine feststehende Antwort nötig:
„Wenn dieser Materialismus imstande ist, Menschen wie Ernst
Haeckel zu erschaffen, so wollen wir hoffen, daß er die Welt erobere."
In vielen Kreisen besteht die sonderbare falsche Auffassung, daß
Haeckel beanspruche, alle „Rätsel" „gelöst" zu haben. Diejenigen,
welchen das Buch durch und durch bekannt ist, wissen natürlich,
daß er sie nur in Frage gestellt und formuliert hat.
Haeckels Einfluß in England und Amerika ist mehr ein Prozeß
langsamen Durchdringens als einer plötzlichen Eroberung gewesen.
Doch werden wohlfeile Ausgaben solcher W7erke wie „Das Glaubens-
bekenntnis eines Naturforschers" noch bis zu Tausenden verkauft.
Die Wichtigkeit und Notwendigkeit davon kann nicht überschätzt
werden in einem Lande wie England, wo sogar Wissenschaftler, wie
z. B. Sir Oliver Lodge — von den großen Universitäten gar nicht
zu reden — mit einer seltsamen, unaustilgbaren Neigung zur tradi-
tionellen Theologie und Supernaturalismus begabt sind.
In Amerika, diesem Lande so vieler neuropathischer Glaubens-
richtungen, die wie Pilze entstehen, ist Haeckels zerstörender und
negativer Einfluß vom größten Wert gewesen — zugunsten einer
vernünftigeren Lebensanschauung. Es ist da gewiß noch viel Redens
vom Aussterben des alten „Materialismus", vom Sturze Haeckelscher
Theorien, vom Kommen eines spiritualistischen Zeitalters. Laute
Hosiannahs sind auf die Entdeckungen wunderbarer transzendentaler
„Wahrheiten" gesungen worden, der spiritistische Hokuspokus ist
beinah allgemein; aber diese Dinge zerschellen früher oder später
an dem Bollwerk wissenschaftlicher Wahrheiten, deren feuriger Apostel
Haeckel immer gewesen ist. Jener kluge Gaukler der Sorbonne, Henry
Bergson, hat kürzlich durch seinen mystischen Dualismus und seinen
Versuch, die Vernunft dem Instinkt unterzuordnen, den immer ent-
flammbaren Enthusiasmus der Amerikaner, besonders der Frauen,
erregt. Die gegnerischen Mächte, christliche Wissenschaft, Behaismus,
Katholizismus, Neuer Gedanke usw. stellen sich auf getrennten Feldern
in Schlachtordnung auf. Wenn sich der Monismus einen erhöhteren
Platz in diesem Kuddelmuddel von Glauben erringen will, muß er
eine standhafte und kampfbereite Haltung annehmen. Die Vernunft
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6 Haeckel-Festschrift. Bd. II 8l
muß damit zufrieden sein, ihre Anhänger langsam zu gewinnen, und
so gewonnene Anhänger sind sicher.
Ich fühle, daß die Welt dem ehrwürdigen Meister gar nicht genug
Ehrfurcht bezeigen kann, der so mächtige Brücken über manche
Abgründe gelegt hat, welche die Zivilisation beim Aufsteigen, beim
Fortschreiten durchkreuzen. Dieser Tag ist deshalb ein sehr bedeu-
tungsvoller, von historischer Wichtigkeit für die Geschichte der ganzen
Menschheit. Und mit der größten Liebe und Ehrfurcht lege auch
ich meinen unzulänglichen Tribut vor dem nieder, dessen Leben, Per-
sönlichkeit und Taten allen Wahrheits- und Freiheitsfreunden allezeit
ein Vorbild sein müssen.
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82
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FRIEDRICH THIEME, WEIMAR
o o o
In jedem Leben, das bewußt und verantwortlich gelebt wird, findet
sich eine Periode, in welcher der Mensch zu diesem Bewußtsein,
zu dieser Verantwortlichkeit erwacht. Sie unterscheidet sich in der
Regel scharf von der Periode des allmählichen Erwachens des Kindes
zum Bewußtsein des eigenen Ich und der Welt, und zwar durch
ihre sicheren, bestimmt umgrenzten Umrisse und die Klarheit, mit
welcher alle ihre Geschehnisse sich dem Geiste einprägen. Mancher
Mensch vermag sogar ganz genau den Augenblick anzugeben, in wel-
chem diese bedeutsame Verwandlung eingetreten ist; er vermag das
äußere Ereignis zu bezeichnen, an das angeschlossen sein Geist zum
Bewußtsein der Welt als eines Ganzen und seiner Person als eines
Teils dieses Ganzen sich erschloß. Denn darin besteht eben diese
große Verwandlung. Die meisten Menschen leben gedankenlos hin;
sie handeln gleich den Tieren nur nach Instinkten, und wie bei diesen
ist all ihre Überlegung nur an die Behauptung ihrer Interessen als
Einzelwesen gebunden. Ihre eigene Person bleibt lebenslang der
Mittelpunkt ihres Fühlens, Denkens und Handelns, und die Gesamt-
heit beschäftigt sie nur insofern, als ihre eigenen Interessen ihnen eine
Art Zusammenhang damit erkennbar machen. Immer bleibt das
eigene Ich das armselige Zentrum, die Lebenssonne, um die sich alles
andere bewegt. Anders bei denkenden Menschen. Für sie erscheint
früher oder später der Augenblick, wo ihr Auge über den engen Kreis
des eigenen Interesses hinausblickt, wo sie sich bemühen, die Dinge
von oben zu sehen, wo der große, erhabene Zusammenhang des Alls
ihnen aufgeht. Das ist der wahre Tagesanbruch des Menschenlebens!
Bis dahin irren wir halbblind in der Dämmerung. Nun steigen wir
auf den Berg der Befreiung hinauf und stehen plötzlich über Nebel
und Wolken, und die Sonne der Welt strahlt uns in voller herrlicher
Reine und zeigt uns Welt und Menschen um und unter uns in einem
neuen, alles durchdringenden, klaren Lichte!
Bei mir steht dieser geistige Tagesanbruch, diese Periode des
Erwachens zum bewußten, verantwortlichen Leben, in engster Be-
ziehung zu den Namen: Schiller, Rousseau, Darwin und Haeckel!
Allerdings ist das Leben ein Produkt aus vielen Einzelfaktoren, und
83
6*
so traten später zu den genannten Persönlichkeiten noch einige wei-
tere, vor allem Goethe und Shakespeare und von lebenden Ernst
Abbe hinzu — , aber diese ersten haben meinem Leben und Denken
die Richtung vorgeschrieben — die Richtung in wissenschaftlicher,
religiöser, ethischer und sozialer Hinsicht!
Ich war etwa zwölf Jahre alt und fing eben an, die Gartenlaube,
die neben Schillers Werken das Evangelium meines väterlichen Hauses
war, mit Eifer zu lesen. Bisher hatte ich mich mit dem Ansehen der
Bilder begnügt, nun begann ich, mich für den Text zu interessieren.
Es war der Jahrgang 1874, der sich solchergestalt zuerst meiner kind-
lichen Beachtung erfreute, und für dessen Inhalt ich aus diesem
Grunde zeitlebens eine erklärliche Vorliebe bewahrt habe. Gleich
in der ersten Nummer dieses Jahrgangs fand ich einen kleinen Auf-
satz von Hermann Allmers: „Eine Weihe". Allmers erzählt darin,
daß er von seinem lieben Freunde und Wandergenossen, dem jungen
berühmten Professor Ernst Haeckel in Jena, aufgefordert worden sei,
als Pate bei der Taufe seines Erstgeborenen zu fungieren, und wie
diese Aufforderung in ihm den Gedanken einer dem Tauffest gewid-
meten Dichtung ausgelöst habe: den Versuch, in dramatischer Weise
die Weihe eines jungen Erdenbürgers vorzuführen, bei der jeder,
welchem Glaubensbekenntnisse er zugetan sei, mit ruhigstem Gewissen
seine Patenstelle einnehmen könnte. Die in jenem Aufsatz wieder-
gegebene Dichtung trug den Titel: „Weihe, ausgedacht und dar-
gebracht dem Erstgebornen seines lieben Ernst Haeckel." Ich weiß
natürlich nicht mehr, was ich beim Lesen der Dichtung gedacht und
empfunden habe, das aber weiß ich noch wie heute, daß ich mit
Bezug auf die Stelle des Artikels: „Er (der Brief) kam von meinem
lieben Freunde und Wandergefährten, dem jungen Professor Haeckel,
dem berühmten Verfechter und Weiterbildner der Lehre Darwins"
meinem Vater die Frage vorlegte: „Wer sind denn Darwin und
Haeckel?" Vom Tag dieser Frage an und der Antwort darauf be-
ginnt eine geistige Beschäftigung mit dem Namen Haeckel, beginnt
die Wirkung seiner Lehre auf meine Entwicklung. Durch meinen
teueren Lehrer Hermann Gatzsche in Borna bei Leipzig, den hoch-
verdienten genialen Jugendbildner, wurde ich bald darauf weiter in
die bezügliche Materie eingeführt. Gatzsche erteilte seinen Schülern
außer dem Unterricht im Zeichnen, Turnen, Schönschreiben usw.
84
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auch in jedem Winterhalbjahr sogenannten „ theoretischen Unter-
richt". Er beschäftigte sich in seinen Mußestunden leidenschaftlich
mit Naturwissenschaft und schaffte sich mit großen Opfern nach
und nach ein ganzes Lehrmuseum von Demonstrations- und Experi-
mentierutensilien. Aus dem beredten Munde dieses unvergeßlichen
Mannes, den seine Schüler wie einen Propheten verehrten, vernahm
ich zum ersten Male die zusammenhängende Darstellung der Ent-
stehung und Entwicklung von Erde und Menschen auf Grund der
neusten Forschung — eine Darstellung, die mein ganzes Innere auf-
regte und fortan mein gesamtes Fühlen und Denken beherrschte.
Ich entsinne mich noch, wie ich in der Folge in der Religionsstunde,
als unser Religionslehrer und Direktor bei irgendeiner Gelegenheit
auf die Naturforschung und ihre Ergebnisse zu reden kam, von meinen
Mitschülern mit den (mehr scherzhaft als bös gemeinten) Worten
denunziert wurde: ,,Thieme glaubt, daß der Mensch vom Affen ab-
stammt!" Der mir sonst sehr gewogene Mann, dem ich ebenfalls
hohe Verehrung bewahrt habe, fragte mich darauf etwas bestürzt:
„Ist das wahr?" und knüpfte daran eine kurze wohlgemeinte Be-
lehrung. Natürlich ohne Erfolg. Die Entwicklungslehre ward ein
unzertrennlicher Bestandteil meines Innern, ein Teil meines eigenen
Ich, und die Namen Darwin und Haeckel leuchteten in Flammenschrift
auf ihrem Grunde!
So verdanke ich also Darwin und Haeckel in erster Linie mit die
Befreiung meines Geistes, meine Erlösung aus den Banden der tradi-
tionellen Knechtschaft, in welcher ein großer Teil der Menschen zeit-
lebens beharrt. Sie gaben mir den Schlüssel zum Verständnis des
großen, erhabenen Naturgeheimnisses, befreiten meine Augen von
dem Schleier, welcher die klare Anschauung der Dinge verhindert.
Kein Wunder, daß meine erste Frage war, als ich vor etwa 25 Jahren
zuerst mit einigen Freunden Jena besuchte: „Wo wohnt Haeckel?"
Jena war mir, ohne daß ich es je gesehen, von Kindheit auf wert und
heilig als Schillerstadt und durch den Ruf seiner freien Universität.
Die Jenaer Freiheit aber verkörperte sich für mich in dem Namen
Ernst Haeckel, dem einzigen, welchen ich von Jena kannte. Und
ich bin es nicht allein, der die Frage stellte: „Wo wohnt Haeckel?"
Wie oft habe ich sie seitdem vernommen! Und wieviel mehr haben
sie gestellt, ohne daß ich sie vernahm! Tausende sind in derselben
85
Weise wie ich von Haeckel befruchtet worden, Tausenden zeigte er
wie mir den Weg der Erkenntnis, ward er ein maßgebender Faktor
ihrer inneren Entwicklung!
Die Wirksamkeit eines großen Mannes wird in zweierlei Weise
für die Kultur fruchtbar. Erstens direkt durch seine Werke und die
Kraft seiner Persönlichkeit, zweitens indirekt durch den Einfluß,
welchen er auf die Werke und das Wirken anderer Personen ausübt
und dessen sich die Verfasser oft selbst nicht einmal bewußt sind.
Es ist natürlich nicht möglich, das unendliche, weitschichtige Gewebe
dieses indirekten Einflusses eines großen Mannes auf das Schicksal
der Menschen, seinen Anteil an der Urheberschaft scheinbar ganz
entfernt liegender Errungenschaften, seine unsichtbare Wirksamkeit
im Getriebe der Entwicklung in nackten Zahlen und Tatsachen dar-
zulegen, aber der Einfluß besteht, er tritt hervor in der Ernte der
Menschheit, und seine Dauer, seine Tiefe, seine Ausdehnung richten
sich nach der mehr oder minderen Bedeutung des Geistes, von dem
er ausstrahlt. Dieser Satz gilt auch für das Wirken Ernst Haeckels.
Freilich muß es der Nachwelt überlassen bleiben, einst den Spuren
seiner Erdentage in den Kulturwerten künftiger Zeiten nachzuforschen,
aber aus der Gegenwart dürfen wir auf die Zukunft, von der über-
reichen Saat auf die einstige Ernte schließen.
Haben wir doch den Mann und seine Leistungen mit Stolz und
Bewunderung verfolgt und den staunenswerten, einzigartigen Erfolg
seiner „Welträtsel" freudig miterlebt. Zwar war sein ganzes Lebens-
wirken eine gewaltige Kulturarbeit, denn wer der Wissenschaft dient,
dient auch der Menschheit. Aber durch die Herausgabe der
„Welträtsel" ward aus der langsamen Forscherarbeit
einegewaltigeTat! Er überließ es nicht der langsam schleichenden
Zeit, das Fazit seines Wirkens zu ziehen und die Ergebnisse seiner
genialen Forschertätigkeit stückweise für die Menschheit nutzbar zu
machen. Er trat selber als tatkräftiger, begeisterter Schnitter auf,
um die Früchte seines Geistes mit eherner Sichel zu mähen und die
reife Ernte der Menschheit in den Schoß zu werfen!
Und — wie wir alle gesehen haben — keiner undankbaren Mensch-
heit! Es war just, als hätte der Verfasser den Menschen mit dem
Buche ein Geschenk überreicht, auf das sie seit langem sehnsuchts-
voll gewartet haben. Die Geister harrten des Erlösungsrufs, warteten
86
des berufenen Führers, der sie aus dem Ägypten der Finsternis hinaus-
führen sollte in das Reich des Lichts. Doch wäre es unrichtig, die
elementare Wirkung des Buchs, wie dies geschehen, allein auf die
allgemeine Entrüstung gegen die herrschende politische und reli-
giöse Reaktion zurückzuführen. Die Gründe sind vielmehr, wie die
Folge bewiesen hat, weit tiefere, nachhaltigere. Es handelte sich nicht
etwa bloß um das Aufflammen eines plötzlichen, rasch verpuffenden
Feuerwerks, das nur die Augen blendet, sondern um die Entfachung
eines Geisterbrands, der dem Tempel unserer Seele dauerndes Licht
zuführen und als wärmende Flamme auf dem Herd unseres Herzens
brennen wird. Bücher, welche Front machen gegen die herrschenden
Anschauungen, sind vor- und nachher in Menge erschienen. Der
springende Punkt für die enthusiastische Aufnahme des Werks lag
in der Person des Verfassers. In der Tatsache, daß es kein Geringerer
als Ernst Haeckel war, der zum Volke sprach! Ernst Haeckel, der
vielbewunderte Forscher, der unerschrockene Kämpfer für Wahrheit
und Licht ! Das war an sich ein Ereignis — und es zeigte sich, daß der
still wirkende Gelehrte nicht, wie so manche seinesgleichen, bei aller
bewundrungswürdigen Arbeit im Tempel der Wissenschaft, der Nation
ein Fremder geblieben, dessen Name nur mit einer Art kühlen Re-
spekts genannt wird, nein, die jubelnde Begrüßung der „Welträtsel"
bewies, daß Ernst Haeckel mit seiner Tätigkeit bereits tief in den
Herzen des Volks Wurzel geschlagen hatte! Von den höchsten Zir-
keln bis in die Kreise der Arbeiter waren die denkenden Deutschen
nicht allein, sondern die denkenden Geister aller Länder mit Auf-
merksamkeit dem Schaffen des großen Forschers gefolgt, und all-
gemein war die Freude, als er ihnen Gelegenheit bot, geistigen Anteil
zu nehmen an den Früchten seines Denkens und Forschens. Da
wachten viele längst begrabene Hoffnungen wieder auf, der gesunkene
Mut belebte sich. Unter Haeckels Führung durfte man getrost den
Kampf gegen die Mächte der Reaktion wieder aufnehmen. Er war
das Schwert und die Flamme, sein Name das Banner, dem die Kämp-
fe rschar todesmutig folgen würde.
Aber noch mehr: Nicht der Mann allein stellte sich dar, sondern
er brachte auch neue Geisteswaffen mit : die Waffen, die er geschmiedet
in fünfzigjähriger unermüdlicher Arbeit in der Werkstatt eines schar-
fen logischen Geistes, die er abgerungen der ihre Geheimnisse eifer-
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süchtig wahrenden Natur. Er hatte ihr die unsichtbar machende
Tarnkappe herabgerissen, bis in ihre tiefsten Kammern hinein sie
beleuchtet. Ein ganzes Arsenal von Waffen brachte er mit, von neuen
großartigen Entdeckungen; von Beweisen, die wie Kanonenkugeln
einschlagen und wie Schwerthiebe niedersausen mußten. Und außer
den Waffen heilenden Balsam für innere Wunden, eine beruhigende,
den Kampf ums Dasein erleichternde Philosophie. Rätsel löste er
und beschwichtigte die Zweifel der Seele und zeigte in seiner Ernte
die Saat einer neuen Zukunft, bestimmt, das Sehnen der Menschen
zu befriedigen und das Reich der Wahrheit zu begründen.
Ernst Haeckel hat mit seinen ,, Welträtseln" der Bewegung der
freien Geister neue Berechtigung gegeben, er hat die alten Anhänger
zurückerobert und tausende neue hinzugewonnen! So wurden die
„Welträtsel" zum Ausgangspunkt einer gewaltigen Geistererhebung
mit dem erhabenen Ziel einer neuen Kultur. Aus ihrem Samen ent-
sproßte bereits eine üppige Literatur voll der wertvollsten Anregungen
und Bekenntnisse, und unentwegt, unerschrocken arbeiten alle Moni-
sten an dem, was Goethe das „wichtigste Geschäft" nennt: „an der
Bildung aller Kräfte!" Wer weiß, zu welch erstaunlichen Resul-
taten wir gelangen würden, wenn wir ein solches Buch auf den ge-
heimnisvollen Pfaden seiner unsichtbaren Wirksamkeit zu verfolgen
vermöchten! Wieviel erhabene Gedanken, Worte und Taten würden
wir antreffen, die ihre ursprüngliche Heimat in solchem Buche haben !
Manches Buch stellt sich geradezu als eine gewaltige Kulturtat dar
und wird zur Ursache großer Geistesrevolutionen. Man hat für solche
Bücher die Bezeichnung „welthistorisch" geprägt und beispiels-
weise Rousseaus „Emile" ein welthistorisches Buch genannt. Nun,
eine Revolution der Geister haben auch die „Welträtsel" hervor-
gerufen, und es ist die Hoffnung und Zuversicht jedes Monisten,
daß es auch von diesem Buche einst heißen wird: „Es war der Aus-
gangspunkt jener großen geistigen Umwälzung, deren herrliches Er-
gebnis die endliche Befreiung des Menschengeistes von dem unwür-
digen Zwang und Druck vieler Jahrhunderte war. Wir verdanken
ihm eine neue Menschheitskultur auf der Basis wissenschaftlicher
Erkenntnis und monistischer Weltanschauung mit allen Errungen-
schaften auf geistigem und materiellem Gebiete, die in der monisti-
schen Überzeugung wurzeln!"
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E. VOGTHERR, DRESDEN
o o o
Ich war ein kaum Zwanzigjähriger, als ich Haeckels Namen zum
ersten Male hörte. Das geschah gelegentlich der Erörterungen jener
Kontroversen zwischen Haeckel und Virchow Ende der siebziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts. Während ich bald danach zwar des öfteren
Gelegenheit bekam, Virchow selbst über seine naturwissenschaftliche
Stellungnahme zu hören, fehlte mir zunächst die Möglichkeit, anders
als aus seinen Schriften auch Haeckel näher kennen zu lernen. Haeckels
„Natürliche Schöpfungsgeschichte" war das erste, was ich zu studieren
beschloß, und was mich ihm bald geistig näher führte. Daneben hörte
ich von nahestehender Seite von den persönlichen Beziehungen, die
Haeckel mit Konrad Deubler, dem „Bauernphilosophen", verknüpften,
und die mich Haeckel damals schon als eine rein menschlich überaus
sympathische Persönlichkeit kennen lehrten. Das für mich an diesem
Persönlichen besonders Fesselnde war der Umstand, daß hier neben
Feuerbach, David Friedrich Strauß und anderen Gelehrten jener Zeit-
epoche auch Haeckel es nicht verschmähte, in dem Bauernphilosophen
von Goisern einen geistigen seif made man so zu würdigen, so zu
fördern und zu begeistern, wie es jener schlichte Mann und seine
schon recht abgeklärte Welt- und Lebensanschauung verdienten. In
der später von Professor Dodel herausgegebenen Biographie mit Brief-
wechsel Deublers finden sich ja Zeugnisse in Fülle für jene zielstrebige
Geistesgemeinschaft, die bei gutem Willen den Forscher mit dem
Laien verknüpfen kann und soll, und in der auch Haeckel sein eigenes
Wort betätigte, daß die Naturphilosophie nicht das Vorrecht und der
Eigenbesitz einer Gelehrtenkaste sein darf.
In Haeckels „Altenburger Rede" fiel mir sein Wort vom „Monis-
mus als Band zwischen Religion und Wissenschaft" besonders auf.
Ich konnte und wollte mir es nicht anders deuten, als so, daß der
Monismus keineswegs eine mir unmöglich scheinende Versöhnung
zwischen Glaubensreligion und Wissenschaft sein oder werden solle,
sondern vielmehr, daß dieses Mittelglied wenigstens das erste End-
glied abstößt und ein selbständiges wichtiges Glied unserer Gedanken-
kette wird. Das paßte ganz in die Auffassung und Dialektik, die,
wenn auch nicht so präzisiert, seit lange meine und meiner Gesin-
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nungsfreunde freigeistige Betätigung und Propaganda leiteten. Hier
war das ausgesprochen, was diese Geistesgebiete bewußt oder unbe-
wußt beherrschte. Und das alles war danach von Haeckel in den
„Welträtseln" ausführlich begründet.
Wenn ich mir heute die Frage vorlege, was in meinen Augen und
in den mir geistig und sozial nahestehenden Kreisen als der Haupt-
wert der „Welträtsel" erschien, so kann ich die Antwort auf eine kurze
Formel bringen, die zwar nicht den wissenschaftlichen Standpunkt
des Buches erschöpfend zeichnet, sondern mehr seine Wirkung auf
die auch in bezug auf geistige Bildung Vernachlässigten und Ent-
erbten. Meine Formel lautet: „Ich erblicke die Hauptwerte des
Buches in der von ihm vollzogenen Popularisierung der Natur-
wissenschaften, — in der vorgezeigten Alleingiltigkeit der
Erfahrungswissenschaft, — endlich in der zu folgernden Nutz-
anwendung der Entwicklungslehre und des Monismus auf prak-
tische Lebensgestaltung. Hierzu einiges zur Begründung: Ge-
rade das letztere, die „Nutzanwendung auf praktische Lebensgestal-
tung" kann nur eintreten, wenn, von jener schon erwähnten Ge-
lehrtenkaste abgesehen, sich neben dieser die Naturerkenntnis nicht
auch auf die übrigen Intellektuellen beschränkt. An die Stelle von
oberflächlicher „Naturkunde" und „Naturbeschreibung" muß in allen
Schulen und bei aller Naturbetrachtung die Naturwissenschaft, die
Entwicklungslehre, die Naturphilosophie treten. Soweit hierfür eine
halbwegs populäre Lehrform fehlte, ist sie in den „Welträtseln" ge-
geben. Vielleicht auch noch nicht überall und ganz verstanden —
(wie kann ein Vierteljahrhundert die erzieherischen Sünden von vielen
Jahrhunderten gutmachen?) — aber doch für Millionen überaus wich-
tig als Anregung dazu, die Gebiete der Naturerkenntnis unter anderem
Gesichtspunkt zu betrachten und zu benutzen als bisher. So wurde
in immer steigendem Maße die Naturwissenschaft, das Stiefkind be-
sonders der Volksschulen, im ganzen großen Volke zu Ehren ge-
bracht.
Eben diese Volksschule wird ja fast allenthalben noch immer bei
ihren Erziehungsaufgaben von alttestamentarischen Vorstellungen be-
herrscht. Jetzt sollen die Erfahrungswissenschaften den Offenbarungs-
und den persönlichen Autoritätsglauben ausschalten. Unbeeinflußt
von naturwissenschaftlichen oder gar religiös-dogmatischen Vorurtei-
90
gggggg^gSggS]gggggE]gggggggE]ggE]5]G]BlE]G]SlE]E3E]E]E]E]E]B]E]E]G]E]E]E]E3E]E]
len, tritt die Entwickelungslehre den Schöpfungssagen, die Vernunft
der Mystik, der Monismus dem Dualismus erfolgreich entgegen.
Allein der wissensdurstigen Menge, die abgeneigt ist, die Philo-
sophie, auch die Naturphilosophie, als Selbstzweck zu bewerten, wür-
den diese neuen Wege nicht genügt haben, ihr Interesse für die in
den „Welträtseln" niedergelegten Erkenntnisse zu wecken. Diese
Erkenntnisse als Wegweiser in das Erdenleben, als Hinweis auf den
durch sich selbst und für sich selbst schaffenden Menschen, der auch
allein sich und der menschlichen Gesellschaft verantwortlich ist,
haben den „Welträtseln" eine Werbekraft fast ohnegleichen gegeben.
Sind doch u. a. gerade die drei christlichen Zentraldogmen: Gott,
freier Wille, Unsterblichkeit, den hauptsächlichen Widerständen gegen
eine soziale Lebensbetätigung und Lebensverbesserung zuzuzählen.
Ihnen gegenüber, zugleich gegenüber Kants kategorischem Impera-
tiv, als unbedingtem allgemein giltigem Sittengesetz, führt das in
den „Welträtseln" begründete Gesetz der sittlichen Entwicklung zu
einer höheren Bewertung der Stellung des Menschen in der Welt,
und zu den daraus sich ergebenden Lebenspflichten und Lebens-
ansprüchen. Jene Entwicklung hilft so von selbst eine Umgestaltung
der gesellschaftlichen Struktur, eine Neugestaltung ihrer wirtschaft-
lichen und geistigen Betätigung vollziehen, ganz im Sinne moderner
Gesellschaftswissenschaft, die die Erreichung des Wohles und der
Befreiung aller Menschen zum Ziele hat.
Dank meiner jahrzehntelangen engen Beziehungen zu großen prole-
tarischen Volkskreisen vermochte ich die geschilderte Wirkung der
„Welträtsel" auf eben diese Kreise zu erproben. Ich habe in etwa
30 populären Vorträgen über die , , Welträtsel' ' genau beobachten können,
wie es nur eines leicht gangbaren Weges und der Ausschaltung alles
Mystischen bedurfte, um die Herzen und Köpfe vieler Zehntausende
der neuen Naturerkenntnis und deren praktischer Nutzanwendung zu
öffnen. Es gibt ja keine dankbareren Hörer als solche, denen man eine
ihnen bislang gewaltsam vorenthaltene geistige Erfrischung und Be-
reicherung bieten kann. Gerade hier zeigte sich auch die gewinnende
suggestive Gewalt, die von jeder ehrlich denkenden und ehrlich wol-
lenden Persönlichkeit — hier von Haeckel — ausgeht. Vielleicht
ist weiten Kreisen Haeckels Persönlichkeit und Haeckels Wirken auch
noch intimer geworden, wenn man ihnen neben dem Naturforscher
91
und Naturphilosophen den Künstler aufzeigen konnte. Infolge
Haeckels besonderer Genehmigung war es mir nämlich möglich ge-
wesen, seine „Kunstformen der Natur" und später seine „Wander-
bilder aus den Tropen" in Lichtbildervorträgen, deren Zahl in die
Hunderte ging, weiter bekannt werden zu lassen.
Was mich Haeckel persönlich noch näher führte, waren seine
konsequent notwendigen Beziehungen und leitenden Einflüsse auf
die Tätigkeit der freigeistigen Organisationen, denen er ja durch Be-
gründung des Deutschen Monistenbundes eine neue Organisation zu-
gesellte. Auf dem Internationalen Freidenker-Kongreß in Rom 1904
ragten aus dem Stürmen und Drängen einer vielgestaltigen internatio-
nalen Menge Haeckels Person und Haeckels „Thesen des Monismus"
hervor. Man muß es verstehen, wenn den dort überwiegenden roma-
nischen Elementen, mit ihren z. T. ganz anders gearteten geistigen
Interessen, die ganze wichtige Tragweite jener Thesen noch nicht
gegenwärtig sein konnte. Es wächst auch hier das Große nur im Lauf
der Zeit. Soviel war uns allen dort aber gewiß, daß die geistig ziel-
bewußte und dabei menschlich so überaus gewinnende Persönlichkeit
Haeckels dem ganzen Freidenkertum als ein bedeutsamer Wegweiser
der Zukunft gilt.
In dem notwendig unermüdlichen Bereichern unseres Wissens auf
allen Gebieten hat jeder täglich und stündlich die Entwicklungs-
theorie praktisch zu betätigen. Das „starre System" der umfassenden
schon endgültigen Erkenntnis wird daher folgerichtig auch von
Haeckel abgelehnt. Gerade dieser von ihm ganz besonders hervor-
gehobene Satz, daß er sich durchaus nicht anmaßt, alle Welträtsel zu
lösen, daß ihre Lösung z. T. einer späteren Zeit vorbehalten bleibt,
wurde ja lange Zeit von Haeckels Gegnern geflissentlich verschwiegen,
und außer von Du Bois-Reymond auch von Reinke, Brass, Dennert
e tutti quanti mit dem „Ignoramus et Ignorabimus" erwidert. Das
„Ignorabimus" wäre ja die Ertötung und Lähmung des Willens und
würde den Aberglauben an die menschliche Schwachheit als eine neue
Schranke gegen ferneres Vorwärts- und Aufwärtsstreben errichten.
Haeckel zeigte uns dagegen, daß Geschlecht auf Geschlecht alles
Gute und Nützliche mit nie versiegender Kraft aus sich heraus ent-
wickeln kann.
Trotz alledem und alledem.
92
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FRAU FANNY DAXENBICHLER, SALZBURG
o o o
Wie ich zum Monismus kam, und welchen hervorragenden Anteil
Ernst Haeckel dabei hatte, möchte ich an dieser Stelle erzählen,
um damit dem Ehrenkranze für unseren hochverehrten Jubilar ein
bescheidenes Blättchen aufrichtigster Dankbarkeit beizufügen.
Es war im Frühling 1900, als mir ein Freund, der meine Vorliebe
für philosophische Schriften kannte, ein Buch brachte mit dem Titel :
„Welträtsel, Studien über monistische Philosophie von Ernst Haeckel".
Schon das Titelbild nahm mich gefangen. Der bedeutende Kopf
des Verfassers mit den strahlenden Augen, der humoristisch lächelnde
Mund verrieten mir auf den ersten Blick, daß dieser Mann etwas zu
sagen hatte. Mit Feuereifer vertiefte ich mich in das Studium des
Buches, welches einen gewaltigen Eindruck auf mich ausübte. Die
wissenschaftliche Bedeutung desselben zu beurteilen, war ich damals
natürlich nicht imstande; auch bin ich heute der Ansicht, daß der
Wert des Werkes hauptsächlich darin besteht, daß Haeckel fast das
ganze, ungeheure Gebiet wissenschaftlicher Fragen und der daraus
resultierenden Weltanschauung vor dem gebildeten Laien aufgerollt
hat, um ihn in den Stand zu setzen, selbständig über diese Probleme
nachzudenken. Er wollte die Menschen zum monistischen Denken
erziehen und ihnen dadurch dasselbe große Glück verschaffen, wel-
ches er selbst im Monismus gefunden hat. Wem es gelingt, ihm auf
jene reinen Höhen zu folgen, wird es auch im reichsten Maße finden.
Durch die „Welträtsel" wurde ich zum Studium einschlägiger Werke
angeregt, der liebenswürdige Meister in Jena unterstützte mich mit
seinen wertvollen Ratschlägen in bezug auf die Wahl der Bücher
und Schriften, und so kam ich im Laufe der Jahre zur wissenschaft-
lichen oder monistischen Weltanschauung. Sie befriedigte meinen
Verstand, die mächtig erwachte Liebe zur Natur in gleicher Weise
mein Gemüt, und die schwere Bedrängnis, in welche ich im Kampfe
zwischen zwei Weltanschauungen geraten war, löste sich in schönste
Harmonie auf.
Als der Monistenbund gegründet wurde, sandte mir Haeckel selbst
die einführenden Schriften und Satzungen. Ich trat demselben so-
fort bei, als die Zahl seiner Mitglieder das erste Hundert noch nicht
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93
erreicht hatte, und bin demselben bis zur Stunde ein treues Mitglied
geblieben.
In all diesen Jahren eifrigen Strebens, besonders durch die liebe-
volle Vertiefung in Haeckels Schriften, wuchs meine Sehnsucht nach
persönlicher Bekanntschaft mit dem Verfasser immer mehr. Mitte
März 191 1 folgte ich einer freundlichen Einladung Haeckels und fuhr
in Begleitung meiner Nichte nach Jena. Es würde mir sehr schwer
werden, die Gefühle zu beschreiben, welche mich auf dieser Reise
beseelten. Halb war es reine Freude, halb Bangigkeit, und schon
etwas mehr der letzteren ließ mein Herz höher schlagen, als ich das
traute Heim betrat, wo Ernst Haeckel ein stilles Dasein führt. Allein
jede Unsicherheit war sofort verschwunden, als ich der gewinnenden
Persönlichkeit desselben gegenübertrat. Zug um Zug stimmte das
Bild meiner Phantasie mit der Wirklichkeit überein, ja meine Er-
wartungen wurden weit übertroffen durch sein liebenswürdiges, ver-
trauliches Entgegenkommen. Er zeigte uns seine Bilder und Kunst-
schätze, führte uns in das phyletische Museum, welches leider noch
nicht vollendet war, und ließ uns in seinem Arbeitszimmer im Archiv
verweilen. Dort erzählte er uns von seinem Leben, von der Freude,
welche ihm die vielen zustimmenden Briefe bereiteten, aber auch
von den schweren Enttäuschungen und Kränkungen, unter denen
er gelitten. Ich werde nie den Unterton tiefer Wehmut vergessen,
welcher in seiner Stimme zitterte, als er in bescheidener Weise sagte:
,,Ich glaube, doch etwas geleistet zu haben." Mit tiefer Bewegung
konnte ich ihm nur versichern, daß eine Zeit kommen werde, wo man
besser als heute wissen wird, wieviel er geleistet hat.
Es wurde mir in dieser Stunde mehr denn je klar, daß der Wert
Haeckels nicht bloß in seinen Werken, sondern ebensosehr in seiner
Persönlichkeit liegt. Sein lauterer Charakter, die große Milde und
Güte seines Wesens, sein Mut und tapferes Ausharren im Kampfe
geben ein leuchtendes Beispiel edler Menschlichkeit, uns allen ein
nachahmenswertes Vorbild! Allein, wo sind die vielen, die berufen
wären, ihn im Kampfe zu unterstützen? Er steht fast allein, aber
unerschütterlich auf seinem Standpunkte.
So waren zwei Stunden im Fluge vergangen. Am andern Morgen
besuchten wir Weimar. Das persönliche Erlebnis war aber in mir noch
so stark, daß mir selbst Goethe nicht recht lebendig werden wollte.
E]ggBjggggE]gggggggggggggggggggggE]E]E]E]B]EiE]E]EiE]EiE!E]E]E]E]E]E]B]B]E]Ei
94
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Abends waren wir Haeckels Gäste in einer kleinen Wirtschaft
an der Peripherie der Stadt. Die Zeit eilte unter anregenden Gesprä-
chen dem Abschiede entgegen, der seine Schatten bereits vorauswarf
und mich allmählich verstummen ließ. Es war eine wundervolle,
aber kalte Nacht, als wir uns trennten. Der Mond beleuchtete hell
die noch winterlich kahlen Fluren und verklärte mit seinem Glänze
auch das schneeweiße Haupt Ernst Haeckels. Schweigend betrachtete
ich die kraftvolle Gestalt, um sie meinem geistigen Auge fest einzu-
prägen mit der bangen Frage: „Werde ich ihn wiedersehen?" Ja,
so sollte ich ihn auch nicht wiedersehen, denn wenige Wochen später
traf ihn der schwere Unfall, der ihm die Bewegungsfreiheit raubte
und ihn, wie er scherzend sagt, zum „monistischen Klosterbruder"
machte.
Der Tag der Abreise brach an, und wir mußten den bereits lieb-
gewonnenen Ort wieder verlassen. Ein Besuch bei einem lieben
Freunde, mit dem ich mich eins weiß, sowohl in der Gesinnung als
in der Liebe zu unserem Meister, ließ auch die Wehmut dieser Ab-
schiedsstunde in sanfteren Tönen verklingen. Als ich aus dem rasch
enteilenden Zuge noch einen letzten Blick auf das sanft ansteigende
Städtchen warf, welches Haeckel bereits ein halbes Jahrhundert als
Wohnstätte dient, entrang sich meinem Herzen der aufrichtig ge-
fühlte Wunsch: „Möge unserem geliebten Lehrer und Führer daselbst
noch ein langer und friedlicher Lebensabend beschieden sein, und
mögen sich in fernen Zeiten die Dichterworte bewahrheiten:
„Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine Tat dem Enkel wieder."
95
ALFRED VON WEBER, WIEN: ERNST HAECKEL
UND SEIN EINFLUSS AUF DIE TECHNISCHE KUL-
TUR DER GEGENWART
o o o
Das Ingenieurwesen als Grundlage der heutigen technischen Kultur
fußt streng auf dem Boden der Naturwissenschaft, denn nur
die genaue Kenntnis der Natur und der in ihr enthaltenen Energie-
quellen ermöglicht es, diese zu beherrschen, beziehungsweise derart
zu lenken, daß ihre Wirkungen in kulturelle Arbeit umgesetzt werden.
Demgemäß ist auch die Ausbildung des Ingenieurs schon von
den ersten Studien, beziehungsweise von der Realschule an darauf
bedacht, den Studierenden mit allem bekannt zu machen, was zur
Beobachtung, Untersuchung, Erforschung und Erkenntnis der Natur
und ihrer Gesetze, sowie zur schöpferischen Gestaltung künstlerisch
Kulturwerke unter dem Gesichtspunkte bereits vorhandener oder
erst anzustrebender Kulturziele erforderlich ist.
Schon in der Realschule wird daher die Mathematik, Physik,
Mechanik, Biologie und Chemie sowohl auf Grund von Lehrbüchern
als auch in Laboratorien und in der freien Natur sorgfältig gepflegt
und die Darstellung der Natur durch Zeichnen, Malen und Model-
lieren gelehrt, wobei insbesondere der Lehre von der wissenschaft-
lich genauen Darstellung aller Formen und räumlichen Beziehungen
überhaupt durch die hochentwickelte „deskriptive Geometrie" in
höchstem Maße Rechnung getragen wird. Durch den Unterricht in
den modernen Kultursprachen und deren Literaturen, sowie der Ge-
schichte überhaupt, wird das Verständnis der Gegenwart und ihrer
Kultur erschlossen und der Studierende befähigt, das Arbeitsideal
der modernen Völker der Gegenwart aus ihren großartig entwickelten
Literaturen zu erfassen und die schwierigen Fachkenntnisse seines
Berufes dem täglichen phänomenalen Aufstieg derselben anzupassen
und zu vertiefen. Das Verdorren und die Verbildung des jugendlichen
Gehirnes durch einen ganze Jahre anhaltenden, trockenen, gramma-
tikalischen Drill und die viel zu weitläufige Beschäftigung mit dem
längst aufgegebenen, arbeitsverachtenden und ästhetisierenden Kultur-
ideal der Antike ist hierbei vermieden. An den technischen Hoch-
schulen selbst wird in diesem Sinne weiter gearbeitet und der moderne
96
gg^ggggggggggggg^G]ggggggggE]B]G]G]E]E]B]ElE]B]E]E]E]E]G]E]E]E]B]G]E]G]E]E]G]E]
Ingenieur auf Grund intensivster Vorbereitung in der höheren Mathe-
matik, Mechanik, den Naturwissenschaften, insbesondere der Geo-
logie, der Geodäsie und Astronomie, der Physik, Chemie und Tech-
nologie, sowie in den Staats- und volkswirtschaftlichen, historischen
und kunsthistorischen Disziplinen, insbesondere aber durch Ver-
mittlung der hochentwickelten ingenieurwissenschaftlichen Fächer
dahin theoretisch und praktisch ausgebildet, die schwierigsten Inge-
nieurwerke des heutigen so überaus vielseitig und hochentwickelten
Kulturlebens zu planen, alle wirksamen Kräfte und Widerstände oft
mit dem Aufgebot schärfsten mathematischen Denkens zu berechnen,
die Werke planlich derart festzulegen und den Kosten nach fest-
zustellen, daß darnach die Ausführung derselben mit aller Sicherheit
des Erfolges, welchen das ernste praktische Leben erfordert, gewähr-
leistet wird.
Ungeheure Energien werden durch den Ingenieur der Kultur-
welt zur Verfügung gestellt und Werke geschaffen, welche noch vor
hundert Jahren als unglaubliche Utopien bezeichnet worden wären,
jetzt aber nicht nur die physische Oberfläche der Erde, sondern auch
unser ganzes gesellschaftliches und geistiges Leben in allem umge-
staltet haben, um es zu ungeahnter Entwicklung und Vollendung zu
führen.
Diesem Wesen des Ingenieurs gemäß ist er mit Notwendigkeit
darauf angewiesen, alle Fortschritte der allgemeinen Naturwissen-
schaften, soweit sie nicht technische, von ihm selbst gepflegte und ge-
schaffene Naturwissenschaften sind, — denn auch der Ingenieur ist
in hervorragendster Weise Naturforscher, wie könnte er sonst Natur-
beherrscher sein ? — aufmerksamst zu verfolgen und sie für die hohen
Zwecke menschlicher Kultur auszunützen, daneben aber auch seine
eigene Stellung mitten im Getriebe der ihn umbrausenden Energien
und der ihn umflutenden Erscheinungen der mannigfachen Natur-
schauspiele klar zu erkennen und als wichtiger Steuermann mensch-
licher Kultur den Kompaß der allgemeinen Entwicklung im Auge
zu behalten.
Diese Stellung des Menschen in der Welt aufzuklären, zu erfor-
schen, klar und mutig darzustellen und bis zu den letzten Konse-
quenzen durchzuführen, ist das große und unsterbliche Verdienst
Ernst Haeckels, für welches ihm die ganze Menschheit, im höchsten
g^gg^gggggggggggggggE]gggggE]gE]gB]ggEiE|5!E]B]EiE3G]E]E)E]E]EiG]gE]gE!G]
7 Haeckel-Festschrift. Bd. II 97
Maße, aber auch im besonderen die Träger der technischen Kultur
und wissenschaftlichen Energiebeherrscher, ich meine die Ingenieure,
zu unvergänglichem Danke verpflichtet sind.
Wir können es ruhig aussprechen, daß es keine wissenschaftlich
gebildeten Ingenieure gibt, welche dem tiefen Einfluß Haeckels in
allen für die Technik in Betracht kommenden Naturwissenschaften
nicht gefolgt wären und welche nicht mindestens die „Natürliche
Schöpfungsgeschichte" und die für weitere Kreise geschriebenen
populären ,, Welträtsel" eingehend studiert und den Ergebnissen
dieser Werke zugestimmt hätten.
Es ist dies auch ganz natürlich, da der Ingenieur seiner ganzen
Ausbildung und Kulturtätigkeit nach nur auf dem Boden natur-
wissenschaftlicher Tatsachen, die ihm die Gewähr für den Bestand
und Erfolg seiner Werke bieten, zu stehen und alles Veraltete, Wider-
legte und sogenannte „Metaphysische", d. h. über oder neben der
Natur Stehende, abzulehnen gezwungen ist.
Dies weiß auch unser großer Meister Ernst Haeckel ganz wohl
und spricht es auch an mehreren Stellen unumwunden aus, daß die
Entwicklungslehre mit allen Konsequenzen neben den wissenschaft-
lich arbeitenden Medizinern in der Ingenieurwelt die meisten und
überzeugtesten Anhänger besitzt.
Dieser entwicklungstheoretische Standpunkt findet allerdings,
namentlich soweit es sich um das Ingenieurwesen handelt, in der
modernen, zum großen Teile von Ingenieuren gegründeten und an-
gewendeten, so überaus fruchtbaren neuen Wissenschaft der „Energe-
tik" eine herrliche Ergänzung und Vervollkommnung, welche im
Sinne eines zweiten Geistesheros, ich meine Wilhelm Ostwald, auf
alle Gebiete menschlicher Kultur mit unbestreitbarem und durch-
schlagendem Erfolge angewendet und seither in allen Weltteilen von
unzähligen Geistern aufgefaßt wurde und weitergepflegt wird.
Von diesem Haeckel-Ostwaldschen entwicklungstheoretisch-ener-
getischen Standpunkte aus betrachtet lösen sich alle Rätsel der Kultur
und Technik, sowie der Welt- und Lebensanschauung und Gestaltung
spielend in einfache wissenschaftliche Erfahrungsprobleme auf, welche
uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weitaus genügend klar
vor Augen stellen, um allen Kulturaufgaben in materieller, geistiger
und ethischer Hinsicht gerecht zu werden.
98
pB]B]ggggE]ggggggggggggggggE]gggg§E]E]E3E]E]gEiE]EiE]B]3]E]G]E]B]E]E]E]E]E]E]
Und wenn auch die Naturerkenntnis und Naturbeherrschung noch
unendliche Ziele hat, so daß wir erst in einem unendlichen Zeitpunkte
— von der Eventualität des früheren Eintreffens einer irdischen
Katastrophe oder der Zunahme der Entropie unseres Sonnensystems
abgesehen — in den Besitz der vollen Erkenntnis restlos gelangen
können, so verhält es sich damit, um bildlich zu sprechen, wie mit
der Asymptote, welche die Hyperbel in der Unendlichkeit berührt.
Wir sehen die Hyperbel, wir sehen die Asymptote vor uns und be-
gnügen uns mit dem klaren Bilde beider, ohne den metaphysischen
Wunsch zu hegen oder uns metaphysischer Verzweiflung darüber zu er-
geben, daß wir den Berührungspunkt der Asymptote mit der Hyperbel
niemals erreichen werden. Nur ein weltfremder Metaphysiker kann
behaupten, daß uns die Hyperbel, die wir doch genauestens kennen
und berechnen und zu unzähligen Kulturproblemen verwenden, als
unerforscht und unerklärlich aus dem Grunde gelten könnte, weil
wir diesen Berührungspunkt nicht mit Händen greifen können. Wir
kennen dies eben nur deshalb nicht, weil dieser Punkt in unendlicher
Entfernung liegt, einer Entfernung, die dem Mathematiker vertraut
ist, die er mit dem Zeichen <x> bezeichnet und mit der er die schwie-
rigsten Probleme der höheren Analyse durchführt, ohne auf Wunder
oder Rätsel zu stoßen.
Das Leben ist nach Ausdehnung und Zeit groß und reich genug,
durch Milliarden von Jahren Milliarden von Menschen fruchtbringend
zu beschäftigen, ohne daß wir es nötig hätten, in melancholischen
Gehirnwirbeln dem fabelhaften ,,Ding an sich" der Metaphysiker
nachzujagen. „Willst du ins Unendliche schreiten, geh' im Endlichen
nach allen Seiten!"
Diese einfache, klare Auffassung der Welt und ihres Geschehens
verdanken wir in erster Reihe Ernst Haeckel. Er zeigte uns, daß die
Welt der Erscheinungen die wirkliche Welt ist und neben derselben
keine andere geheimnisvolle und unerkennbare besteht, er zeigte uns,
daß die Erscheinungen allerdings nur Beziehungen unserer Sinne zu
den Gegenständen und Vorgängen der Welt sind, daß aber eben diese
Sinne sich in äonezlanger Entwicklung den Gegenständen so an-
gepaßt haben, daß wir alle ihre Eigenschaften, die für uns irgendwie
von Belang sind, auch in richtiger, unanfechtbarer, praktisch brauch-
barer und zu Kulturzwecken entwickelbarer Weise erkennen und
7* 99
3333333E]ggE]ggE]ggE]gggE]E]E]E]E]g]E]G]E]B]E]5]5]S]E]s]5]5]s]l!5]s]3335]3SEl§]Ss]
einschätzen. Er zeigte uns, daß alle Erscheinungen des Lebens,
welcher Art immer sie sein mögen, den Naturgesetzen unterworfen
sind, welche keine Sprünge kennen, und daß die Unterschiede des
anorganischen, organischen und geistigen Lebens nur gradueller Natur
sind, indem alles Geschehene nur auf der notwendigen Arbeit der
von Natur aus im freien Zustande ewigen rastlosen Substanz beruht,
ob es sich nun um die chemische Anziehung von Atomen oder um den
Energieumsatz der chemischen Stoffe unserer Nahrung in Arbeit der
Gehirnganglien handelt. Er zeigte uns die Entwicklung des Tier- und
Pflanzenreiches auf Grund der Paläontologie, der vergleichenden
Anatomie und der Ontologie und erklärte sie überaus einleuchtend
durch das von ihm gefundene biogenetische Grundgesetz, welches
zu den höchsten Errungenschaften menschlichen Geistes gehört.
Er zeigte uns die Entwicklung, die das Menschengeschlecht von
den unscheinbarsten Anfängen genommen, und wies uns die Perspek-
tive ungeahnter Möglichkeiten hinsichtlich der weiteren Entwicklung
in der Zukunft.
Er hat uns damit ein System frühester Lebensbejahung und ein
reiches Arbeitsprogramm für die Zukunft geschaffen, welches zu er-
füllen der Zweck aller Kultur ist.
Seit Haeckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte" im Jahre 1868
erschienen ist, ist fast ein halbes Jahrhundert verflossen, ein Zeit-
verlauf, der die ahnungsvollen Voraussagungen dieses Forschers und
Sehers in glänzendster Weise bestätigt hat.
Der ungeheure Aufschwung menschlicher Kulturtätigkeit seit
dieser Zeit ist, am Maßstabe der Arbeit vergangener Jahrtausende
gemessen, ein so großer, daß er das Erstaunen künftiger Jahrhunderte
hervorrufen wird.
Die Entwicklung der Eisenbahnen und Wasserstraßen, der Regu-
lierung der Flüsse und der Bodenmelioration, der Aufschwung der
Städte mit ihren Hoch- und Straßenbauten, Wasserleitungen, Kanälen,
das Telegraphen- und Telephon wesen, die Seeschiffahrt mit ihren
schwimmenden Palästen, die Hafenanlagen mit gigantischen Vor-
richtungen zum Beladen und Entladen der Schiffe, die Luftschiff-
fahrt, die Unterseeboote, das Maschinenwesen mit zahllosen Arbeits-
arten und -kräften, deren Möglichkeit vor einigen Dezennien noch
für undenkbar gehalten worden wäre, der Phonograph, Kinemato-
311SSggggggggggggggggggggggggEiE]E]EiG]E]E]BiEiE]E]E]E]B]E]E]E]E]EiE]gB]gEi
IOO
graph, die Übertragung elektrischer Energie auf große Distanzen
und deren Umsetzung in Bewegung, Licht und Wärme, die groß-
artige Entwicklung der Naturwissenschaft und aller auf sie gegrün-
deten, kulturellen Tätigkeit, alles dies kennzeichnet einen Aufschwung
großartigster Entwicklung, wie ihn nur die biologisch begründete
Entwicklungslehre begreifen und erhoffen dürfte. Auf allen diesen
Gebieten menschlichen Schaffens hat sich der Entwicklungsgedanke
als außerordentlich fruchtbar und unendlich anwendbar erwiesen.
Heute ist dieser Gedanke zu einer festen Theorie geworden und
zu einem gesicherten Besitz der Wissenschaft, der stillschweigend
angenommen und von keiner ernst zu nehmenden Seite mehr an-
gefochten wird. Es handelt sich nicht mehr um Hypothesen, sondern
um feststehende Tatsachen und gegebene Richtungslinien für die
Zukunft, die niemals mehr nach rückwärts gelenkt werden können.
Dem Programme dieser Sammelschrift folgend, habe ich mich
auch damit zu befassen, wie ich mit den Ideen Ernst Haeckels be-
kannt wurde und welchen Einfluß sie auf mich und meine Fachkreise
ausgeübt haben. Es wird sich daraus ein anschauliches Bild ergeben,
wie Ernst Haeckels Ideen nach und nach in alle Lebensberufe ein-
gedrungen sind und auf diese bestimmend eingewirkt haben. Es wer-
den sich aber auch daraus die Schwierigkeiten ergeben, die neuen,
noch so fruchtbringenden Ideen stets entgegengestellt zu werden
pflegen, bis sie zum Gemeingute der Menschheit werden.
Da ich die regelrechte Ausbildung als Ingenieur erhalten habe,
so versteht es sich von selbst, daß sich mein Geist in rein naturwissen-
schaftlichen Bahnen bewegte, wozu auch private Beschäftigung mit
Astronomie, Chemie und Biologie wesentlich beitrug. — Die erste
Bekanntschaft mit den Entwicklungsideen machte ich im Jahre 1870
in einem Alter von 17 Jahren durch die Lektüre von Büchners „Kraft
und Stoff", welches hervorragende Werk zu damaliger Zeit von meinen
Kollegen an der K. K. Technischen Hochschule in Wien viel gelesen
und besprochen wurde. So sehr mich dieses Werk begeisterte, so
ließ es doch bei seiner allgemeinen theoretischen Fassung noch viele
unaufgeklärte Lücken zurück, und erst die „Natürliche Schöpfungs-
geschichte" Ernst Haeckels, die im Jahre 1875 in meine Hände kam,
fesselte mich dermaßen, daß ich mich von dem Buche bis zum Aus-
lesen nicht mehr trennen konnte. — Mit einem Male fielen mir alle
IOI
Schuppen von den Augen and ich blickte freudig in eine Welt der
■ Aufklärung und des 1 ichtes, Bald daraui studierte ich auch Haeckeh
Generelle Morphologie der Organismen*4 mit größter Aufmerksam-
: keit und Bewunderung für den Verfasser durch, Soit dieser Zeit
; habe ich fast alle Werke Haeckels gesammelt and studiert und von
I jedem derselben eine wesentliche Bereicherung and Befestigung meines
; Wissens empfunden, Gam besonders gilt das von der Anthropogenie,
die ich ontei Nachskiwueruniz aller Zeichnungen aufmerksamst stu-
: dierte and besonders hochschätzte. Ebenso stelle ich auch die „Welt-
rätsel" und du- „Lebenswunder" außerordentlich hoch,
Dei Gedanke, die Entwicklungstheorie auf alle Gebiete der Technik
anzuwenden, kam mir sofort. So suchte ich in der Entwicklung
| architektonischer Formen Anknüpfungspunkte an die Entwicklung
lehre ra finden, was nur auch iura reue namentlich hinsichtlich der
Atavismen, der Anpassung und Vererbung gewisser Formen usra
gelang, Das Ergebnis dieser Studien habe ich im Jahre 1870 in einem
Vortrage im Ingenieur- und Architekten-Verein in Prag unter dem
Titel „Morphologie der architektonischen Stilarten" niedergelegt
Im Übrigen hauptsächlich mit [ngenieurwerken beschäftigt, habe
! ich namentlich bei den Wasserbauten manche Anknüpfungspunkte
I an den Entwicklungsgedanken gefunden, die ich in einem größeren
i Werke über den „Gebirgswasserbau im alpinen Etschbecken"1) nieder-
i legte, in welchem ich die Stelle des Menschen und der menschlichen
\ Kultur bei der Anpassung der Gewässer an die Kulturbedingungen
I wohl .mm erstenmal im Sinne des Entwicklungsgedankens, wie ich
ihn durch Ernst Haeckels Schriften in mich aufgenommen hatte.
darstellte und durchführte,
Per dieses Werk, durch welches der moderne Gebirgswasserbau
rundet wurde, durchziehende Entwicklungsgedanke ist am besten
aus der Einleitung iu entnehmen, welche ich in dankbarer Erinnerung
der erhaltenen Anregungen dem Meister Ernst Haeekel im Jahre i>
sandte.
Bei Dun&führung der Einielheiten dieses Werkes habe ich häutig
mit unrichtigen Vorstellungen bu kämpfen gehabt, welche vierfach
an biblische Fabeln erinnern, so .um Beispiel, daß der natürl..
M Wien . > • .- \... hagen n. SVhurich. 83 Drw Dsxtfigursn
BiMin 1-Y>1..
• ••■ • "•;iaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa3aaaaaaaE!33si33i
u1.:
S]g^gG]GjG]gggggggggG]gG]gggggggG]GjG]G]gs]gG]gG]G]G3GjG]G]G]GiG]GiB3B]gG]G3GjG3
j Zustand der Flüsse und Wildbäche urspi
: Gott • Hand" tadellos tnd paradiesisch zufn<
I tmd erst dttrcli das frevelhafte Eingreifen d<
Einbauten und Entwaldung ttörf Diesei Ge-
danke war nach den furchtbaren übei
liehen Alpentälern im Jahre ;;' - . - r, daß nur in
.' ickkehr zur . . in dem Anheben aller Wasser b.-
in der ausschließlichen Auffoi im größten Stil das Heü
Zukunft erwartete.
In dem erwähnten großen Werke und
Schriften habe ich in unwiderL g t Weise den ihrt,
daß diese Fabel ganz anzutreffend i
Der natürliche Zustand der G \ solcher mit
starker Geschiebeftihrung ist mch h, was
on daraus hervorgeht, daß rieh das I '<• 1er nur dem ' Itnis
der lelnden '•" d und <\<-.: Geschiebezufuhi >aßt,
irob ndlich auf die menschliche Kultur mar.;
denkfähigen, d. h. mit ren- und Ganghei
sehenen Subjektes in b ommen wo
konnte.
Demgemäß baut s der Fluß immer höher und höher
förmig nach oben, also in einem den Kulturbedürfnissen ent{
gesetzl geformten Talquerprofi] auf, bis er sein Bett durchreißt und
die Talniederung z md in Besitz nimmt. — Der natürliche Zu-
stand d ist daher durch Versumpfunj / Störung, Krank-
tmd Hind g jeglicher höherer Kultur gekennzeichr.
o habe ich für alle großen Schuttkegel des Etschtales nach«
:n, daß sich dieselben niemal-, im Zustande einer paradiesischen
Ruhe befanden, welch üblich erst durch Entwaldungen gestört
..mcntlioh die fra:./
ume an der Spitze, als zweifellos darstellten, sondern vielmehr
alle Ortschaften irsprimghch an ga.- / dcherten Stellen
angelegt waren und letzten Kulturper;- nur durch
iurbaul .f die gefährdet« teilen der Schutt
..konnten. — [cl lufGrun akter Daten tmd lokalen
(drangen für Meran, Bozen, Lavis, Trient und Rovereto zweifellos
nachgewiesen.
Bei allen diesen Forschungen hat mich der Gedanke geleitet, den
Kampf des Menschen mit der Natur sowie die fortschreitende An-
passung und Vererbung, wie sie im Entwicklungsgesetz und im bio-
genetischen Grundgesetz Haeckels ausgedrückt erscheint, in den Kunst-
bauten des Menschen zu erkennen und darzustellen.
Zu meiner großen Freude habe ich immer gefunden, daß ins-
besondere auch das letztere Gesetz, diese unvergleichliche Großtat
Haeckels auch auf die wasserbauliche Tätigkeit des Menschen in
überraschendster Weise anwendbar ist, daher auch hier die Probe
auf seine Richtigkeit besteht.
Diese Wahrnehmung hat mich auf die Idee gebracht, an der tech-
niscsen Hochschule in Wien als Privatdozent Vorträge über die
Waserwirtschaf t im Zusammenhange mit den entwicklungstechni-
schen und energetischen Leitgedanken in den Jahren 1911 und 1912
abzuhalten, welche ich aber nicht wieder aufgenommen habe, um mich
der literarischen Tätigkeit ungehindert zu widmen. Auch während
meiner zweijährigen Tätigkeit als supplierender Professor des Wasser-
baues und Meliorationswesens an der K. K. Technischen Hochschule
in Brunn habe ich die gleiche Gedankenrichtung mit Vorliebe gepflegt.
Ähnliche Beziehungen zwischen anderen ingenieurwissenschaft-
lichen Berufen und der Entwicklungstheorie wurden seither auf allen
Gebieten, so dem Eisenbahnwesen, dem Maschinenwesen, der Mecha-
nik, Chemie usw. in zahllosen Fällen nachgewiesen, und es ist in den
letzten Jahren eine kaum zu übersehende technischnaturwissenschaft-
liche, technisch-historische, technisch-wirtschaftliche und technisch-
philosophische Literatur entstanden, welche zu sammeln, zu sichten
und zu einem eigenen Zweige der Entwicklungslehre zu gestalten
schon einen eigenen Lebensberuf in vollkommen erschöpfender Weise
bildet.
Schon gehen die Ingenieure auch daran, die Arbeitskraft des
Menschen wissenschaftlich zu analysieren und zu organisieren, wie
dies in Amerika durch Taylor begründet und als „scientific manage-
ment" („wissenschaftliche Betriebsführung") dort in den größten staat-
lichen und privaten Betriebe eingeführt ist. Welche ungeahnte Folge-
rungen kultureller und sozialer Natur sich hieraus ergeben, braucht
nicht näher ausgeführt zu werden.
Die Erkenntnis, Beherrschung und Umsetzung aller natürlichen
IO4
Energien mit dem größten Güteverhältnis bzw. den geringsten Ver-
lusten im Sinne des Entwicklungsgesetzes Haeckels und des ener-
getischen Imperativs Ostwalds zum Nutzen der Gemeinwirtschaft
der Nation ist es ja eben, wodurch unsere ganze moderne Kultur der
Gegenwart, die ihresgleichen in der Weltgeschichte nicht findet, ent-
standen ist und einer ungeahnten Zukunft materieller und ethischer
Vollendung entgegengeht.
Durch den Entwicklungsgedanken haben sich alle Kulturziele und
Ideale vollkommen verändert und haben eine früheren Zuständen
gegenüber unvergleichliche materielle und sichtliche Höhe erreicht.
Weitaus überholt ist das Ideal des klassischen Altertums, der
Zeit der Sklaverei, die im Herrschen und in vornehmer ästhetisieren-
der Selbstbetrachtung das Ideal sah, die wirkliche nutzbringende und
aufopfernde Kulturarbeit aber, das Höchste, was wir heute kennen,
selbst in ihrer größten künstlerischen Vollendung nur als niedrige
Sklavenbeschäftigung mit Verachtung ansah.
Vorüber ist das Ideal der Lebensverneinung und Abkehr von
irdischer Kulturtätigkeit in der Hoffnung auf ein besseres Jenseits.
Kein neuer Glaube, aber die klare Erkenntnis ist in uns aufge-
stiegen, daß wir auf dieser schönen und fruchtbaren Erde mit allen
Fibern unseres hochorganisierten Wesens voll edelster Kräfte hängen,
und daß wir auf Grund der Naturerkenntnis es als größte Aufgabe
betrachten müssen und dies auch freudig können und sollen, unsere
in Millionen Generationen veredelte und erstarkte Arbeitskraft so
zu verwerten, daß die der strahlenden Energie der Sonne entnommene
chemische Energie unserer Nahrung, mit Hilfe der hochwertigen
Energiemaschine der Ganglien unserer Großhirnrinde, unserer Ner-
ven, unseres Muskel- und Gefäßsystemes mit dem denkbarst größten
Nutzungskoeffizienten in wahre Kulturarbeit zum Nutzen der Ge-
samtwirtschaft der Nation umgesetzt werde.
Ein Jahrhundert geheiligter Kulturarbeit bricht glorreich und
verheißungsvoll an zum Segen der Menschheit, und wenn dies der
Fall ist, so hat hierzu der Entwicklungsgedanke, hat hierzu unser
hochverehrter großer Meister Ernst Haeckel so Großes und Unver-
gleichliches getan, daß wir ihn nicht mit Galilei, nicht mit Kopernikus,
sondern, um ein altes Bild zu brauchen, nur mit Prometheus ver-
gleichen wollen, der der armen gequälten Menschheit die lebens-
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spendende Flamme vom Himmel seines großen Geistes und Wissens
und seines gütigen menschenfreundlichen Herzens gebracht hat.
Wir Ingenieure stellen Ernst Haeckel noch weit über Darwin, denn
er war es, der mit der Tiefe und Gründlichkeit deutschen Geistes,
mit ungeheurer Arbeit eines langen, reichen Lebens, den Zusammen-
hang der pflanzlichen und tierischen Stämme mit Zuhilfenahme der
Paläontologie, der vergleichenden Anatomie und der Ontologie in noch
nicht dagewesener Weise so exakt erforschte, daß er es wagen konnte
und durfte, detaillierte Stammbäume, angefangen von der Zelle bis zu
allen Spitzen der höchst komplizierten organischen Arten und bis zu
ihrem Endgliede, dem Menschen, aufzustellen, Stammbäume, die ent-
weder ein dauernder Besitz der Wissenschaft geworden sind, oder aber
wertvolle Programme und Wegweiser künftiger Forschungen bilden.
Er war es, der zuerst den Mut hatte, die letzten Konsequenzen
seines Wissens in offener, wahrhafter und unendlich schlichter und
ehrlichen Weise zu ziehen, und der die leuchtende Fackel der Wahr-
heit in die Geistesdämmerung eines in ausgebreiteten Schichten noch
rückständigen Geschlechtes erhob.
An dieser Fackel haben sich aber heute schon Millionen Leuchten
entzündet und Millionen Menschen, die sich mit ihrem Geiste einfach
ehrlich und reinlich auseinandersetzen wollen, arbeiten heute an tau-
senden Stätten der Wissenschaft und des Forschens im Geiste Haeckels
und seiner Lehre.
Wer so Großes schuf, dem konnten auch die Leiden des Prometheus
nicht erspart werden.
Die Dankbarkeit der ganzen Menschheit und eines kommenden
Jahrtausends wird ihm hierfür ein genügender Ersatz sein.
Es ist kaum nötig, sich eingehender mit den Einwürfen zu befassen,
welche Haeckel entgegengehalten werden, sie wurden häufig genug
von allerberuf ensten Seiten schlagend widerlegt.
Wir wollen hier nur kurz die hauptsächlichsten Einwendungen
erwähnen.
So hört man beispielsweise des öfteren, Haeckel gründe seine
„Hypothese" auf unbewiesene Spekulationen, schleudere gefährliche
Schlagworte in die Massen und überschreite seinen Wirkungskreis und
sein Fachgebiet als Biologe, indem er in einem anderen „Fach", der
„Philosophie" dilletantisch hervortrete.
106
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Daß diese „Hypothesen" längst Theorien sind und einen festen
und gesicherten Besitz bilden, ohne die der Betrieb der modernen
Wissenschaft überhaupt nicht mehr denkbar wäre, ist jedem Forscher
und Mann der Wissenschaft so klar, daß er über die krassen Mängel
jeglicher naturwissenschaftlicher Kenntnisse in sonst gebildeten Krei-
sen staunen würde, wenn es nicht allzu bekannt wäre, in welch hohem
Maße die Drillung des jugendlichen Geistes in den Gymnasien mit
rein formaler Sprachgymnastik jegliche freie Geistesbetätigung lähmt,
und bei vielen Menschen für das ganze Leben geradezu die Fähig-
keit logischen Denkens ertötet. — Solche Menschen trösten sich da-
mit, daß die Wissenschaft überhaupt nichts wisse, daher man mit
dem gleichen Rechte glauben könne, was man wolle. — Der Bestand
des fabelhaften „Dinges an sich", die vollständige Verschiedenheit
der physischen und geistigen Erscheinungen und dergleichen sind in
diesen Kreisen feststehende, wenn auch noch so falsche Vorstellungen.
Das grundlegende Gesetz alles Weltgeschehens, die Entwicklungs-
theorie und das Gesetz von der Erhaltung der Energie, die Grundlage
der heutigen Technik und der Natur- und technischen Wissenschaften,
welche die heutige moderne Kultur geschaffen haben, ist in diesen
Kreisen so wenig bekannt wie die Atom- und Molekulartheorie, die
Elektronen- und Äthertheorie und so vieles andere mehr.
Der zweite häufigst gehörte Anwurf ist, daß man Haeckel als
Biologen achte und schätze, ihm aber auf das Gebiet der Philosophie,
die nicht sein Fach sei, nicht folgen könne.
Wessen Fach ist denn eigentlich die „Philosophie"?
Philosophie als Lehre vom Zusammenhange aller Erscheinungen
des Weltgeschehens, einschließlich selbstverständlich auch des so-
genannten „geistigen" Lebens ist doch nur die Zusammenfassung der
Ergebnisse aller Naturwissenschaften, denn nichts steht außer der
Natur, und die Erfahrung lehrt, daß alle „Geisteswissenschaften"
nur insofern fruchtbar sind, als sie nach naturwissenschaftlichen Me-
thoden behandelt werden, so daß nach und nach eine große Zahl
von früheren „Geisteswissenschaften" wie die Mathematik, Logik,
Psychologie, Jurisprudenz, Ethik, Ästhetik usf. zu den Erfahrungs-
wissenschaften eingerückt sind, während die „Metaphysik", welche
sich seit Jahrtausenden als für das Leben gänzlich unfruchtbar und
wertlos erwies, sich immer noch im Übersinnlichen, also dort, wo man
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weder etwas wahrnehmen, noch empfinden und denken kann, be-
findet.
Wer soll nun die philosophischen Endergebnisse der Naturwissen-
schaften ziehen? Jedenfalls nur ein Fachmann mit naturwissenschaft-
licher Bildung, der die naturwissenschaftlichen Methoden, ihre Art
zu arbeiten kennt, und in so vielen Fächern bewandert ist, daß er
eine Übersicht sämtlicher Zweige von der Hochwarte wissenschaft-
licher Erkenntnis erlangen kann. — Hierzu sind nur die allergrößten
Gelehrten der Naturwissenschaft, ein Haeckel, ein Ostwald, ein Mach,
ein Rubner, ein Wundt und derartige Geistesgrößen befähigt und
berufen.
Nur ganz ausnahmsweise können hierzu auch andere Denker be-
fähigt sein, wenn sie die Resultate der Naturwissenschaften durch
aufopferungsvolles fleißiges Studium treu und ehrlich in sich auf-
nehmen und nach den Methoden naturwissenschaftlichen Denkens
weiterverarbeiten. Es gibt auch solche.
Wie groß aber die Gefahr einer irrigen Gesamtauffassung der
Natur bei naturwissenschaftlichen Laien ist, zeigt sich am besten
bei Nietzsche, der trotz seines großen Genius, seiner phänomenalen
Sprachbeherrschung und seines überkühnen Mutes das Darwinsche
Gesetz vom Kampfe ums Dasein so vollständig falsch verstanden hat,
daß er durch seine ,, Herrenmoral" den rückständigsten und kultur-
widrigsten Tendenzen eine willkommene Handhabe gab. Er hat,
wie ja bekannt ist, übersehen, daß der Mensch kein einzelstehendes
Raubtier, sondern das Mitglied einer heute schon hochorganisierten
menschlichen Gesellschaft ist, welche sich auf gegenseitige Hilfe-
leistung gründet, wodurch der „Kampf ums Dasein" ganz andere
Formen annimmt, als Nietzsche dies geglaubt hatte.
Die diesbezügliche Lücke in den Werken Darwins, die Darwin
übrigens wiederholt angedeutet hat, wird gegenwärtig von vielen
Soziologen und auch von Biologen, beispielsweise Rudolf Goldscheid
und Paul Kammerer in vielversprechender Weise bearbeitet.
Wie eine eiserne Mauer steht den Ideen Haeckels immer noch die
Phalanx der ,, Erkenn tnistheoretiker" und „Erkenntniskritiker" gegen-
über, und es erübrigt an dieser Stelle um so mehr, sich vom Stand-
punkt der technischen Wissenschaft und Kultur mit diesen Gegnern
auseinanderzusetzen, als es nach außen hin den Anschein haben
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könnte, daß die „Wissenschaft" als solche sich gegen das Evolutions-
gesetz und gegen Haeckel ablehnend und negierend verhalten würde.
Dies ist jedoch keineswegs der Fall, wie sich aus der nachstehenden
Erwägung ergibt.
In jeder wirklichen Wissenschaft, welche Stufe sie in der von
Auguste Comte zuerst angelegten und von Ostwald ergänzten Pyra-
mide der Wissenschaften von der Logik und Mathematik be-
ginnend, über die energetischen und biologischen bis zu den psycho-
logischen, ethischen und den Kulturwissenschaften auch haben mag,
kann jegliche Erkenntnis von Tatsachen und Vorgängen ausschließ-
lich nur aus der Erfahrung und dem Versuch, dem Experiment ge-
schöpft werden.
Aus Reihen verschiedenartigster und übereinstimmender, ihrem
Wesen nach erkannten Tatsachen, ergeben sich anfangs provisorische,
mit gewissen Vorbehalten angenommene Theorien (Hypothesen), die
sich bei zunehmenden Erfahrungen zu feststehenden Theorien für
so lange verdichten, als nicht neue, bisher unbekannt gewesene Tat-
sachen hinzutreten, an welche sich die Theorie entweder anpassen
oder aufgegeben werden muß, um neuen Theorien Platz zu machen.
Theorien und Formeln sind nur zur Übersicht der Naturerscheinungen
gebildete auszugsweise und nach gewissen Gesichtspunkten gesichtete
Protokollierungen wirklicher Tatsachen, haben also nicht nur den
Wert der Tatsachen selber, sondern auch noch den durch die Arbeit
der Gehirnenergie dazu getanen Mehrwert von oft millionenfachen
anderen Erfahrungen, die mit den bestimmten Beobachtungen in
den Gehirnganglien- und Assoziationsbahnen im Zusammenhange ver-
arbeitet wurden.
Diese Art Erkenntnisse von den Vorgängen der Natur festzustellen,
bildete sich für jede einzelne Wissenschaft unter einfacher Anwendung
der natürlichen und künstlich verschärften Sinne und des gesunden
unverbildeten, reinlichen Menschenverstandes aus. So bildeten sich
die Forschungsmethoden der energetischen Wissenschaften, also der
Astronomie, Physik, Mechanik, Energetik, der biologischen Wissen-
schaften, also der Botanik, Zoologie, Mineralogie, Geologie, Meteoro-
logie, Physiologie und der der letzten Stufe, das ist die Psychologie
und der Kulturwissenschaft, einschließlich der Ethik in ziemlich paral-
leler Weise, je nach der Eigenart der Einzelforschung aus. Eine eigene
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nur im menschlichen Geiste gelegene Theorie, Erkenntnisse zu fassen,
d. h. eine „Erkenntnistheorie" ist allen diesen Wissenschaften ganz
unbekannt. Eine derartige „Erkenntnistheorie" kann daher noch
viel weniger auf Gegenstände angewendet werden, welche sich über
das Wissen erheben, d. h. unbekannt sind.
Der Ausspruch eines hervorragenden Erkenntnistheoretikers, daß
dort, wo die Wissenschaft aufhöre, sich der „Tempel der Weisheit"
eröffne, ist ganz unzutreffend, vielmehr kann mit Sicherheit behauptet
werden, daß dort, wo das Wissen aufhört, lediglich das Unwissen
beginnt, dem Lichte der Wissenschaft und der auf ihr aufgebauten
großartigen technischen Kultur gegenüber, eine mehr oder weniger
vollständige Geistesdunkelheit, oder bestenfalls eine Geistesdämme-
rung, in der einzelne der wachsenden Wissenschaft vorauseilende
Lichtkeime das Dunkel durchzucken, oder in welcher auch flackernde
Irrlichter vorübergehend herumstreifen, um bei zunehmender Helle
und Aufklärung zu verschwinden.
Die Gegnerschaft der „Erkenntnistheoretiker" kann daher weder
der modernen Naturwissenschaft noch dem großen Meister derselben,
Ernst Haeckel, irgendwie nahekommen, vielmehr wird es Sache der
ersteren sein, sich der Naturwissenschaft anzupassen, was nach allen
Zeichen auch schon einzutreten beginnt.
Ebenso ist auch der „Kritizismus" nur insofern eine ernst zu
nehmende Wissenschaft, als er sich mit der Darstellung und histori-
schen Entwicklung einzelner Wissenszweige oder aller zusammen
nach rein naturwissenschaftlichen Methoden befaßt, was aber in
richtiger und praktisch brauchbarer Weise nur von den Gelehrten
dieser Spezialfächer oder solchen, die mehrere Nachbargebiete ihrer
besonderen Fächer im Zusammenhange von einer höheren Warte
übersehen, geschehen kann.
Laien von bloß allgemeiner oder anderer als naturwissenschaft-
licher Bildung sind zur Verarbeitung derartiger Ergebnisse im all-
gemeinen außerstande, und wenn es dennoch unternommen wird,
so kann hieraus in der Regel nur eine ziemlich unfruchtbare, für die
technische und geistige Kultur der Menschheit minder belangreiche
Arbeit hervorgehen.
Die Dampfschiffe, Lokomotiven und Automobile, die unterseeischen
Boote und Luftschiffe durchrasen Land und Meer; die unzähligen
HO
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Maschinen mit Millionen von Pferdekräften arbeiten und schaffen
unendliche Werte, die Telegraphen und Telephone umsausen den
Erdball, die chemischen und zahllosen anderen Fabriken beschäftigen
Millionen von Menschen zur Förderung, Erzeugung und Veredlung
von Gütern, Millionen von Menschen durchwühlen die Erde in hundert-
tausenden von Schächten, fördern riesige Hebewerke die Kohlen
und Erze zu Hunderttausenden von Hochöfen, aus denen sich der
Feuerstrom des Eisens ergießt, tausende Riesendampfhämmer sausen
donnernd auf schwere, glühende Eisenblöcke nieder, und in den Guß-
und Walzwerken regen sich im Schweiße männerehrender Kraft
hunderttausend rüstige Helden der Arbeit, das Eisen zu schaffen,
das Rückgrat der vorwärtssausenden Zeit, die Künstler erfreuen und
erheben eine neue kraftvolle Menschheit, mit allen Mitteln der Technik
ausgerüstete Heere erheben die Wehr- und Verteidigungsfähigkeit
der Länder zu nie dagewesener Höhe, ein Kulturleben ohnegleichen
strömt und rauscht über einen veränderten Erdball unter der leuch-
tenden Fackel wissenschaftlicher und technischer Kulturarbeit. —
Die Metaphysik aber hat daran keinen Teil. — Sie hat keinen Teil
daran, weil der Kritizismus, ohne auf dem Boden der Naturwissen-
schaften zu fußen, nicht selbst aufbaut, wie es die Wissenschaft tut,
sondern nur den Tempel des Wissens mehr von außen und unfruchtbar
umflattert. Eine Blumen- und Unkrautlese aus den Phantasiegärten
aller Zeiten und Völker kann zum Tempel wahrer Wissenschaft und
Kultur nur wenig wertvolle Bausteine beitragen.
So wird auch Ernst Haeckels Lebensarbeit durch die ablehnende
Haltung der Metaphysik, ob sie nun als Widerspruch, Anzweiflung,
Feindschaft, vornehmtuende Geringschätzung, Nichtachtung oder
gänzliche Ignorierung zutage tritt — in den Augen der Kulturwelt
nicht im geringsten entwertet.
Ganz anders, als in einem großen Teile der sogenannten gebildeten
Gesellschaft, über die zu sprechen wohl überflüssig ist, ist das An-
sehen Haeckels in einem neuen Stande, welcher sich aus intelligenten,
kulturell und ethisch hochstehenden Unterschichten emporzuarbeiten
beginnt. — Hier wird Haeckel gelesen, studiert und verstanden. Der
Schwerpunkt echter, ethischer Bildung und kulturellen Wertes ist
eben in zunehmender Verschiebung nach unten begriffen, was den
Ethikern und Soziologen längst bekannt ist.
III
gggggggE]ggggB]gggggggggEJiJ]gBiggE]B]E]ElE]E]E]EJE]B|BJB]E]EIE]EIE]EIE]E]BlE]ElEl
Schließlich ist auch Haeckels Stellung zur Religion diejenige, die
ihm die meisten Feinde macht. Ganz mit Unrecht, denn Haeckel
ist selbst einer der religiösesten Menschen, der in sittlicher und kul-
tureller Beziehung die höchsten Ideale hat und nur bestrebt ist, eine
wirkliche, die ganze Seele erfüllende, auf dem gesunden Boden ge-
sicherter Naturwissenschaft stehende idealste und höchste Lebens-
betätigungsreligion zu bieten.
Seine Weltauffassung ist die idealste für die Vergangenheit, die
uns einen herrlichen Aufstieg aus kleinem Keime zu edlem, hoch-
organisierten Lebewesen zeigt, für die Gegenwart, für die er eine sitt-
lich hochstehende und kulturfördernde Lebensarbeit fordert, und für
die Zukunft, die in ungeahnte Fortschritte und Vervollkommnungen
in reichster Fülle und erhabenster Schönheit weist.
Wenn Haeckel in seiner schlichten Größe und seinem milden, die
ganze Menschheit umfassenden Herzen aus seiner Gelehrtenstube in
das Gedränge des Tages heraustritt, um den Reichtum seines Wissens
und die Fülle seiner ethischen und kulturellen unendlichen Werte
der bedrängten, leidenden und immer noch in großen Schichten in
Geistesdämmerung befindlichen Menschheit segensreich auszuschüt-
ten, so ist er hierdurch kein Störer paradiesischen Friedens, sondern
ein Wohltäter der Menschheit und ein Wegweiser durch die Nacht
zum Licht.
Ehre werde ihm deshalb und der unvergängliche Dank der Mensch-
heit.
Dem Programme dieser Festschrift gemäß habe ich auch anzu-
geben, wie ich Haeckels persönliche Bekanntschaft machte, und wel-
chen Eindruck ich von ihm empfing. — Ich will mich daher auch dieser
Aufgabe pflichtgemäß unterziehen.
Abgesehen von den bereits erwähnten früheren Beziehungen an-
läßlich der Verfassung meines Werkes über den Gebirgswasserbau,
bin ich in nähere persönliche Beziehung zu Ernst Haeckel vor zwei
Jahren dadurch getreten, daß ich ihm die von mir verfaßte Nach-
dichtung des großartigen panteistischen Hymnus „Hertha" des eng-
lischen Dichters Swinburne übersandte.
Diese Hymne besteht aus 42 achtzeiligen Strophen und enthält
ein Gespräch der Mutter Natur mit dem Menschen als ihrem Kinde.
Haeckel hat mir in einem längeren Briefe für die Zusendung dieser
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112
Nachdichtung herzlichst gedankt, sich über den Wert der unvergleich-
lichen Hymne, die er zur Veröffentlichung in einem sehr angesehenen
Blatte wärmstens empfahl, in begeisterter Weise ausgesprochen und
mir die Bewilligung erteilt, ihn in Jena in seinem Heim aufzusuchen.
Mit größter Freude habe ich hiervon Gebrauch gemacht und bin
im Jahre 1912 mit meiner Frau, die eine lebhafte Bewunderin
Haeckels ist, und einen großen Teil seiner Werke kennt, nach Jena
gepilgert, wo uns das Glück zuteil wurde, von dem teueren Meister
in einem zweistündigen Besuche auf das liebevollste empfangen zu
werden.
Unvergeßlich wird uns beiden die Erinnerung an seine schlichte
und milde Größe, an seine edle, echte Menschlichkeit sein, die jedes
seiner Worte, Gebärden und Bewegungen in selbstverständlichster
Weise kennzeichnet.
Haeckel sprach mit uns über sein ganzes Leben, seine Vergangen-
heit und Gegenwart, seine Pläne und Ideen in Tönen tiefen Ernstes,
wahrer Freude über das Geschaffene und der natürlichen Andacht
des großen Geistes, häufig auch mit Anflügen liebenswürdigster Heiter-
keit und göttlichen Humors.
Erzählungen seiner vielen Reisen an der Hand seiner bekannten
hochkünstlerischen ,, Wanderbilder", Anekdoten und Erinnerungen
ließen uns die unvergeßliche Zeit wie im Traume verfliegen, wobei
es der große Mann mit heiterem Humor aufnahm, daß meine Frau
manche Daten seines Lebens so gut im Gedächtnisse behalten hatte,
daß sie sogar einen kleinen Irrtum des Meisters richtigstellen konnte.
Hingerissen in Bewunderung und Sympathie für den großen Mann
sagte ihm meine Frau: „Exzellenz müssen doch mit großer Freude
auf ein so reiches Leben voll herrlicher Arbeiten zurückblicken."
Da war es, als ob Haeckel aus sich selbst herauswachsen und auf
sein ganzes Leben zurückblicken würde, und er sprach in wahrster,
schlichtester Herzensandacht: ,,Ja, das kann ich und das tue ich
auch in größter Dankbarkeit für das Schicksal, das mir ein so überaus
reiches, schönes und tätiges Leben beschert hat." — Dabei strahlte
sein edles, männliches, von großen blauen Augen erleuchtetes Antlitz
in größter Milde und Güte.
So ist Haeckel in seinem Heim, das geschmückt ist mit den Spuren
seines reichen Geisteslebens.
E]ggggggggggggggggggggggggggggG]B]E]EiE]E]E]E]E]E]G]G]EiE]E]E]gE]E]E]E]G]S
8 Haeckel-Festschrift. Bd. II 113
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Unwillkürlich mußte ich mich in diesem schönen Augenblicke
an Faust erinnern, wie er im beseeligendem Gedanken, auf neuem,
dem Meere abgerungenen Boden einem Geschlechte glücklicher und
tätiger Menschen Raum geschaffen zu haben, beglückt ausruft:
„Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehen. —
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick."
Im Vollgefühl seines für die ganze Menschheit freudig erkämpften
hohen Glückes, genieße unser teurer Meister noch eine lange Reihe
von Jahren hindurch die köstlichen Augenblicke, die das Leben und
der Dank der edelsten Geister und der ganzen wahrheitstreuen arbei-
tenden Menschheit einem seiner Größten bietet.
Zu solchen reinen Firnenhöhen steigen die Miasmen niederer
Dünste nicht mehr empor. Der frische Wind, der den Siegesflug
menschlicher Kultur kennzeichnet, zerstreut sie spielend, und des
großen Meisters sonniges und mildes Lächeln schwebt segnend über
der sieghaft sich aufreckenden Menschheit, die einer neuen, glänzenden
Ära wissenschaftlich gelenkter, organisierter Arbeit zur Erreichung
höchster, geistiger, sittlicher und materieller Kultur frohbewegt ent-
gegenstrebt.
Heil und Dank dir, du Großer, der Größten einer, dessen Geist
uns noch lange leiten möge im Aufstieg zum Sonnenlicht und zur
Wahrheit, zur Erkenntnis der unendlichen Kräfte unserer reichen
Erde und zu ihrer Beherrschung, zum Wohle einer unendlich ver-
edelten, stolzen und kraftvollen Menschheit.
Auf dieser Bahn leuchte uns dein Name und deine gewaltige
Lebensarbeit voran!
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114
piiggggggE]gggg!|]g(3ggi]E]gE]ggggggggggggggE]E]E]E]E]BiEjG]g]E]niB]giE]E35]
HUGO SCHNEIDER, BERLIN
o o o
In dem Sammelwerk, das da Kunde geben soll von dem, was wir
Ernst Haeckel verdanken, werden sich fraglos eine große Anzahl
bedeutender Männer von europäischem, — ja wohl auch von Weltruf
vernehmen lassen, und so dürfte es von mir, dem schlichten Bank-
beamten und nicht akademisch Gebildeten recht unbescheiden er-
scheinen, wenn ich mich in die Reihe solcher Männer dränge. Nun,
das ist keineswegs meine Absicht; vielleicht aber gewährt man mir
doch ein kleines Plätzchen in der Erwägung, daß ein siebzigjähriger,
an Erfahrung reicher Mann hier spricht, der, wenn er auch niemals
zu den Füßen Haeckels gesessen, dennoch als Autodidakt sich seit
45 Jahren in seine Werke vertieft und sie mit innigem Bemühen
zu verstehen gesucht hat, wenn ihm auch infolge des Fehlens aka-
demischer Bildung naturgemäß vieles entgehen mußte.
Bevor ich zum eigentlichen Thema übergehe, möchte ich der
jetzigen Generation einmal vor Augen führen, was uns Ernst Haeckel
bereits vor 40 Jahren war. Nach dem Erscheinen seiner beiden
bald zu Weltberühmtheit gelangten Werke: „Natürliche Schöpfungs-
geschichte" und „Anthropogenie, Entwicklungsgeschichte des Men-
schen", schrieb der namhafte Naturphilosoph Carus Sterne (Dr. Ernst
Krause) in der „Gegenwart" vom 10. Oktober 1874 folgendes:
„Um eine Weltanschauung zu ändern, reichen nicht Jahrzehnte,
kaum Jahrhunderte aus, denn auch hier gilt der Spruch von der
Willigkeit des Geistes und der Schwachheit des Fleisches. Die großen
Ideen sind, wie die Geschichte lehrt, im Anfange immer einsam ge-
blieben, weil die Gehirne fehlen, sie aufzufassen. Diejenigen irren,
welche da meinen, schon Voigt und Büchner hätten den alten Glauben
abgetan. Sie haben nichts vermocht, als was vor ihnen Voltaire und
Holbach getan : ihn in die Enge zu treiben. Es ist die alte Schiüe
Epikurs, und nur die Waffen, mit denen die Materialisten von heute
den Spiritualisten zuleibe gehen, sind besser geschliffen als die des
Lukrez. Die neue Weltanschauung muß doch erst fertig sein, ehe
man sich in ihr behaglich finden kann; und das war sie noch lange
nicht, als Kraft- und Stoff-Büchner seine Arbeit begann, ist sie, ehr-
lich gestanden, noch heute nicht. Diejenigen, welche das Haus bereits
jgggggggggE]EiggggggggggSSggggggB]BlE]ElE|E]B]G3E|EJB]ElB]E]E]G3E]ElE]E]E]E]E]
8* 115
beziehen, sind unbeneidenswerte Trockenwohner, welche nicht anders
können, weil sie nicht wissen, wo sie sonst ihr Haupt hinlegen sollen.
Unter denen, welche die Fertigstellung des Baues unternommen haben,
steht Ernst Haeckel in erster Linie. Ein Potsdamer Kind, hat er lange
das Prophetenschicksal erfüllt, in seinem Vaterlande nicht so be-
griffen zu werden wie im Auslande, z. B. in Holland oder England;
ja, er wäre bei uns vielleicht noch weniger anerkannt, wenn ihn nicht
die „Schwarzen" mit ihren Angriffen ausgezeichnet hätten! Ehrlich
deutsch ruft er dem Leser zu: Wenn du nicht deinen lehmigen Ur-
sprung und deine Geisteingeblasenheit aufgeben und die böse Affen-
schwiegermutter mit in den Kauf nehmen willst, so laß von deinem
Werben und Buhlen um die Erkenntnis der Natur und deines Selbst
ab, suche deine Seligkeit in der Bibel. Denen, die ihm mit
Verständnis zuhören, wird er mehr einflößen als Bewunderung; er
wird sie durch die Schärfe seiner Unterscheidungen, durch die un-
parteiische geschichtliche Darstellung der Lehre, durch die genaue
Zergliederung der Erbschafts-, Anpassungs- und Umwandlungsgesetze
überzeugen, daß sie sich einem vertrauenswürdigen, aber keineswegs
einem leichtfertigen Führer anvertraut haben. Wir freuen uns über
den souveränen Hohn, mit welchem er in der Vorrede seiner „Natür-
lichen Schöpfungsgeschichte" einige der Leute abfertigt, welche, ohne
selbst Naturforscher zu sein, sich über diese Forschungen ein ab-
sprechendes Urteil anmaßen, denn unter den allein kompetenten
Richtern, unter den Naturforschern gibt es heutzutage kaum noch
einen Mann von Bedeutung, der nicht der neuen Anschauung von
ganzem Herzen zugetan wäre. Ihr letzter und bedeutendster Gegner,
L. Agassiz, ist vor einigen Monaten vom Kampfplatz abgetreten. Ein
neues, von eingelebten Vorurteilen und Autoritätsglauben freies
Forschergeschlecht blüht inzwischen empor. Wir dürfen stolz sein,
sie unter der Führung eines Deutschen zu wissen und die in Deutsch-
land zuerst geahnte und verkündete Naturanschauung der Zukunft
von ihm ihrem Ziele so wesentlich näher gebracht zu sehen. Das
Gebäude, welches Darwin ohne Dach gelassen und so wenig wetterdicht
übergeben, daß der Sturm des Zweifels an allen Ecken und Enden
hindurchwehte, ist von Haeckel zuerst in einen wohnlichen Zustand
gesetzt worden. Sein Name wird mit demjenigen des englischen
Forschers für immer unzertrennlich vereinigt bleiben."
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Was damals in diesem Artikel prophetisch ausgesprochen wurde,
es hat sich voll und ganz erfüllt: Es ist ein neues, von eingebildeten
Vorurteilen und Autoritätsglauben freies Forschergeschlecht empor-
geblüht unter Führung Ernst Haeckels, dieses großen Deutschen!
Das also ist es, was wir alle, alle Denkenden Haeckel verdanken.
Was aber ich, ich persönlich ihm verdanke, das ist, — ich möchte
beinah sagen — darüber hinaus : ich verdanke ihm alles was ich bin !
Schon in meinen Jugendjahren behagte mir nicht die Lebensweise
der jungen, alleinstehenden Männer, die, aus der Provinz nach der
Hauptstadt gekommen, hier ihre Zerstreuung in räuchrigen Lokalen
suchen. Meine Neigung, wissenschaftliche Bücher zu lesen, und be-
sonders solche philosophischen Inhalts behütete mich vor solcher
Lebensweise. Ein älterer Verwandter, dies erkennend, machte mich
damals auf Haeckels soeben (1868) erschienene „Natürliche Schöp-
fungsgeschichte" aufmerksam. Gierig verschlang ich den Inhalt, las
das Buch immer und immer wieder, mein kleines Einkommen be-
nutzend, mir die zum Verständnis nötigen, von Haeckel angeführten
weiteren Bücher zu beschaffen. So mied ich Gesellschaft und Ver-
gnügungsorte und vertiefte mich ganz in das herrliche, einzige Werk.
Später wurde ich dann kühn, und als mir einmal eine Stelle absolut
unverständlich blieb, schrieb ich — „der junge Kaufmann", an den
großen Mann, und zu meiner großen Freude hat er es nicht ver-
schmäht, mir zu antworten, und zwar in liebenswürdigster Weise;
ja, er verschmähte es auch nicht, mich später einmal in meiner Häus-
lichkeit in Berlin aufzusuchen. Die Stunde, die ich damals mit ihm
verplaudert, gehört zu den interessantesten und schönsten Erinne-
rungen meines Lebens.
Es wäre nun wohl Feigheit von mir, wenn ich damit zurück-
hielte, offen zu bekennen, daß ich nach vieljährigem, eifrigem Denken
dahin gelangt bin, Haeckel nicht in allen Punkten folgen zu können;
er selbst würde solche Zurückhaltung am allerwenigsten billigen.
Es handelt sich um den Kardinalpunkt: Gibt es einen Gott? Ich
bin weit davon entfernt, etwas — um mit Johannes Gaulke zu reden
— nur deshalb zu glauben, weil es andere vor mir geglaubt haben,
allein ich behaupte, daß ich recht wohl imstande bin, auf Grund
dessen, was ich positiv weiß, weiter zu bauen, und auf Grund
dessen muß ich dahin gelangen, auch das, was ich nicht weiß, da-
gggggggggggggggggggB]ggggE]E]ggggE]ggs]E]E]E]BiB]E]E]E]B]E]B]E]E]E]B]E]E]E]
117
nach logischerweise als sicher annehmen zu können. In diesem Sinne
schrieb ich seinerzeit mein Buch: „Durch Wissen zum Glauben, —
eine Laienphilosophie" (Hermann Haacke, Sachsa am Harz, 1897).
Ich habe es später Haeckel zugesandt, der mir antwortete, daß er es
mit Interesse gelesen und bei dem nächsten Besuch seiner Verwandten
in Potsdam Gelegenheit nehmen würde, mich wiederum aufzusuchen,
um die „wenigen differenzierenden Punkte" mit mir zu besprechen.
Leider hat sich diese Gelegenheit niemals mehr geboten.
Und worin bestehen nun diese, oder — worin besteht im Grunde
genommen dieser eine, uns differenzierende Punkt? in einem ein-
zigen, — sage und schreibe: einem einzigen, allerdings recht schwer-
wiegenden Wort. In den Welträtseln heißt es S. 254: „Die beiden
Hauptbestandteile der Substanz, Masse und Äther, sind nicht tot
und nur durch äußere Kräfte beweglich, sondern sie besitzen Emp-
findung und Willen (natürlich niedersten Grades)." Und in diesem,
scheinbar ganz abseits gelegenen parenthetischen Satz, befindet sich
dieses eine, uns differenzierende bedeutsame Wort. Ich setze an
Stelle „niedersten" das Wort „allerhöchsten"! so daß dieser paren-
thetische Satz nicht mehr lautet: „natürlich niedersten Grades",
sondern „natürlich allerhöchsten Grades"! oder, mit andern
Worten: „Der Weltäther ist die mit eigenem Denken und Willen
begabte Weltseele — ist Gott ! Dieses Denken muß selbstverständlich
ein völlig anderes sein als das des Menschen, denn wäre es ein dem
des Menschen gleiches, so wäre Gott eben nicht Gott, sondern wiederum
ein Mensch, und jeder Mensch — Gott. Das ist so logisch und wahr,
wie es wahr ist, daß, wenn ein Tier — etwa ein Hund — dasselbe
Denken besäße wie der Mensch, es eben kein Tier mehr sein würde,
sondern ein Mensch. Wie aber ein Tier niemals das Denken des Men-
schen begreifen oder verstehen kann, so wird auch der Mensch nie-
mals das Denken des Weltgeistes begreifen oder verstehen können.
Das eine steht fest, daß dieses Denken des Weltgeistes direkt nichts
mit unseren Arm- und Beinbrüchen, unseren Krankheiten, mit unserer
Freude, unserm Schmerz, unseren Mühen und Sorgen, unserm Geld-
erwerb, unserm Kampf ums Dasein, mit unserm Leben und Sterben
zu tun hat. Das was sich aber indirekt und konsequenterweise aus
jenem Denken, aus diesem „eigenen Willen allerhöchsten Grades"
ergibt, das kann ich unmöglich im Rahmen dieses Aufsatzes aus-
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Il8
führen, es ist jedoch niedergelegt in einem Manuskript, das den
IL Teil meines Buches „Durch Wissen zum Glauben" bildet und
druckreif fertiggestellt ist, indessen — noch des Verlegers harrt.
Ich wiederhole noch einmal: Ich verdanke Ernst Haeckel alles,
was ich als denkender Mensch bin! Er hat meinem Leben Zweck
und Inhalt gegeben, er hat mich denken gelehrt, hat die grenzenlose
Freude an der Natur in mir wachgerufen, hat mich gelehrt, die Natur
zu verstehen und richtig zu betrachten, mich gelehrt, in der Bibel
der Natur zu lesen. Die Beschäftigung mit seinen Werken war mir
stets köstlichster, heiligster, reinster Genuß, und hat mich stets mit
höchster Bewunderung für den großen Mann erfüllt. Das körperliche
Mißgeschick, das er in seinem hohen Alter erdulden muß, hat mich
mit aufrichtiger Teilnahme erfüllt, weiß ich doch aber, daß er es
als Philosoph zu tragen wissen wird, ohne schwächliches Jammern
und Klagen. Mein innigster Wunsch zu seinem achtzigsten Geburtstag
ist, daß ihn das Schicksal seine körperliche Schwäche verwinden
lassen und ihm noch viele ungezählte Jahre in völliger Rüstigkeit
des Körpers und Geistes verleihen möge! Dieser Wunsch ist zwar
im Grunde weiter nichts als platter Egoismus, denn letzten Endes
schlummert doch hier „latent" der Hintergedanke: . . . auf daß er
uns noch viel des Schönen, noch manches wahre Wort zurufen kann,
auf daß er niemals ermüden möge im Kampf gegen die „Schwarzen",
gegen alle die dunklen Mächte, die täglich und stündlich gegen uns
ankämpfen, uns die Freuden des Lebens zu rauben versuchen, uns
wie Kolkraben umschwärmen, auf daß sie sich verkriechen in die
tiefsten Tiefen Sarkophagen Gesteins! So, wie vor einem Bismarck
die ganze Welt zitterte, solange er nur noch die Augen offen hielt,
trotzdem er gar nicht mehr im Amte war, so zittern auch jetzt die
„Schwarzen" der ganzen Welt noch vor einem Haeckel, trotzdem er
das Lehramt niedergelegt — hat er doch noch die Augen auf!
Was die Welt und die Wissenschaft Haeckel verdankt, das werden
hier berufenere Federn darlegen, ich aber wollte nur schildern, was
ich ihm — meinem großen Landsmann — verdanke, was er mir mein
ganzes Leben hindurch war und noch ist, — Halt und Führer!
Möge der Gigant den Dank eines obskuren Zwerges freundlich
aufnehmen.
E]ggE]E]E]SlE3E]B]E]E]E]EJG]E]E]G]B]E]E]E3E]E] G]G]G]E]E] E]E]E3E]E]E]E]E]E]E]E]E]E1B]E]E]E]B]E]E3B!B)E]
II9
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MARIA HOLGERS, BERLIN
o o o
Wenn ich davon sprechen soll, wie ich mit Ernst Haeckel, seiner
Person, seinen Werken — den „Welträtseln" insbesondere —
bekannt wurde und welche Wirkung sie auf mich ausübten, muß ich
zunächst von meinem eigenen Leben sprechen und weit darin zurück-
gehen.
In meinem fünften Lebensjahre sah ich an einem hellen Sommer-
tag, mitten im Spiel, einen Leichenzug. Auf mein Befragen sagte
man mir, daß ein Mensch, eine Frau, in dem schwarzen Wagen sei,
und daß diese Frau in die Erde begraben würde, weil sie „tot" sei.
Ich erschrak aufs heftigste. Was war das: „tot"? Ich begriff es
nicht . . . Jedenfalls war es etwas anderes als mein Zustand; ich lebte;
ich bewegte mich. Die Frau lag still in dem schwarzen Wagen ; konnte
nicht mehr gehen, sprechen, essen, kam in die Erde, wie ein Stein.
So etwas Furchtbares war also möglich . . . ? Ein Riß ging durch
mein ganzes Wesen. Zum erstenmal fühlte ich die Außenwelt als
ein anderes, Fremdes. Ich war nicht mehr der Tropfen im Wasser,
unbekümmert, selbstverständlich. Ich sah Unbegreifliches . . . Von
diesem Augenblick an mußte ich denken, bewußt denken und schauen,
unaufhörlich.
Nicht genau genug konnte ich mir die Dinge anschauen; ich ver-
sank in sie und hatte nicht Ruhe, bis ich ihre Zusammenhänge
und meinen Zusammenhang mit ihnen soweit erfaßt hatte, als es
meiner jeweiligen Entwicklungsstufe möglich war. Das kleine badische
Städtchen, in dem meine Eltern damals wohnten, stundenlanger
Aufenthalt in einem alten Schloßpark, wo es viel zu schauen gab
und Ruhe zum Nachdenken, begünstigten meine Neigung. Als wir
in meinem siebenten Lebensjahr in eine größere nüchterne Stadt
zogen, wurde der Hang zum Denken ein innerlicher Zwang und die
Quelle vieler Leiden. Er schied mich von den anderen Kindern und
hätte mein ganzes Kindheitsglück zerstören können, wäre nicht das
Phantasieleben in mir ein glücklicher Gegenpol geworden. Trotz-
dem — der Zwang war hart! Bis in mein 16. Lebensjahr. Da kam
eines Abends ein Ausgleich für meine Einsamkeit und Wissensqual.
Ich war, meiner Gewohnheit gemäß, heimlich auf unseren Speicher
120
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gegangen, um da ruhig nachdenken zu können, und schaute durch
die Dachluke zu den Sternen hinauf. Gerade in diesen Wochen
hatte ich mich mit Fragen, deren Beantwortung mir nicht gelingen
wollte, besonders gequält. Die Nacht war still und schön. Über mir
stand der „Jakobsstab". Im Anschauen dieses mir von klein an
lieben und vertrauten Sternbildes formten sich mir plötzlich mühe-
los diese Sätze: „Nichts" war nie. (Das ist nur ein Verlegenheits-
wort, um etwas auszudrücken, was es nicht gibt.) Alles was ist,
ist und war immer; in wechselnden Formen. Alles was ist,
muß in ständiger Bewegung sein. Ohne Bewegung, ohne
ständige innere Veränderung, kein Sein möglich. — Was
wir „Leben" nennen, ist vielleicht nur gesteigerte Bewegung; „Tod"
ein minderer Grad derselben (?) — Einen „Anfang" kann man,
da immer alles war, nicht eigentlich denken. Will man einen
solchen annehmen, so könnte man vielleicht sagen: im Anfang waren
unendlich viele, unendlich kleine Lichtkügelchen, die sich in rasend-
ster Schnelligkeit um sich drehten. Einige hatten den Drang, sich
anzulehnen; das führte zu einer „Verdichtung", die sich zu Planeten
auswuchs. Je größer der Planet, desto langsamer die Umdrehung,
desto schneller die Abkühlung und Erstarrung. Im erstarrten Zu-
stand kann sich der Planet nicht mehr drehen. Er muß fallen, stürzt
auf andere Planeten, eine ungeheure Hitze und Lichtwelle entsteht
und das Spiel beginnt von neuem (?). — Diese letzteren Sätze waren
mir nur wahrscheinlich, nicht sicher, sie hatten sich mir schon früher,
bei einsamem, leidenschaftlich geliebtem Ballspiel ergeben, wenn auch
nicht in dieser geraden Folge. Die ersten Sätze dagegen waren mir
absolute Gewißheiten; so gewiß wie mein eigenes Dasein. Eine stille
Seligkeit kam über mich. Noch lange schaute ich hinauf in das Stern-
bild; dann schlich ich die Treppe hinunter, ins Bett. Eine ungeheure
Lebenslast war mir vom Herzen genommen.
Neben meinem Denkzwang stand ein starkes Phantasieleben und
der Drang, Menschen darzustellen, im Wort oder mit meiner Person.
Täglich schrieb ich und täglich spielte ich „Theater" beigeschlossener
Tür. Nachdem ich mich an jenem unvergeßlichen Abend über meine
Wissensqual beruhigt hatte, gewann mein Phantasieleben die Ober-
hand und zwang mich zur Schauspielkunst. „Menschendarstellung"
121
ist ein schwieriger Beruf, der zumeist unter fast unmöglichen Be-
dingungen ausgeübt werden muß. Ich habe ganze Tage (und dies
Tag für Tag!) und halbe und ganze Nächte Rollen gelernt und Toi-
letten genäht. Bei solcher Überanstrengung ist ein „Denken" in
obigem Sinne unmöglich. 1904 kam der erste ruhigere Sommer und
die Sehnsucht, wieder da anzufangen, wo ich im 16. Lebensjahre
aufhörte. — Als Kind mochte ich die Bücher nicht; außer Märchen,
einigen klassischen Dramen, meinen Schulbüchern stand mir auch
nichts zur Verfügung. Jetzt fühlte ich, daß ich allein nicht mehr
weiterkam. Und da ich der Meinung war, die Philosophie sei die
beste, die sich ständig an äußeren, sinnlichen Wahrnehmungen orien-
tiert, kaufte ich mir die Volksausgabe von Haeckels Welträtseln.
Die Wirkung, die das Buch auf mich ausübte, ist unbeschreiblich!
Wie war ich ausgelacht worden, hatte ich mich gelegentlich einmal zu
einer Äußerung über meine Vorstellungen von „Sein", „Ewigkeit" usw.
hinreißen lassen! Und nun las ich und las ich mit wachsendem Er-
staunen, daß kluge Menschen sich mit meinen Fragen befaßt hatten,
hie und da selbst zu ähnlichen Schlüssen gelangt waren. Obschon
ich in diesem Sommer schwer krank war, habe ich das ganze Buch
gewiß achtmal „durchgeackert", einzelne Kapitel, einzelne Sätze
immer wieder vorgenommen. Die speziell zoologischen Kapitel wur-
den mir sehr schwer. Hier fehlte völlig die sinnliche Anschauung,
quälten die allzuhäufigen, den alten Sprachen entnommenen Aus-
drücke, die ich nicht oder nur halb verstand. Der Kopf sauste mir
von einer Fülle neuer Wörter, neuer Begriffe, so daß mir bei meinem
müden, überlernten Gehirn das Buch manchmal eine Qual wurde!
Aber immer wieder zog es mich zu ihm zurück. Denn durch alles
Unverstandene hindurch schlang sich wie ein roter Faden die Er-
kenntnis der Einheit alles Seins und Geschehens, wie ich sie
schon als Kind empfunden und gedacht hatte, nicht als ein wissen-
schaftliches Ergebnis gedacht hatte, sondern als Resultat naiven
Nachdenkens und Schauens. Nach der „allgemeinen" Seite war mir
nichts fremd. Da war vor allem — zu meiner unbeschreiblichen
Freude und meinem grenzenlosen Erstaunen! — der Urgrund der
großen und stillen Harmonie, deren ich mir in meinem 16. Lebens-
jahr bewußt worden war. Haeckel nennt ihn: das Substanzgesetz.
Dieses Gesetz ist für mich heute noch „der ruhende Pol in der Er-
ggggggggg]gB]gggE]gE]gggggggE]gggE]ggs5iE]E]E]B]B]B]E]E]E]BiB]E]E]EiG]E]E]Ei51
122
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scheinungen Flucht", dasselbe, was es damals für mich war, als ich
naiv sein Wesen zum erstenmal ergriff. Dieses Gesetz bleibt für mich
das A und O, der Grundstein alles Wissens — trotz der schweren
Attacke von Ostwalds Energie mit der Materie als Spezialfall. Ohne
dieses Gesetz würde mir jede Erkenntnis schwanken, meine Har-
monie mit allem, was ist, sänke in Trümmer und das Chaos entstünde.
— Nach dem Substanzgesetz machte mir den stärksten Eindruck
die ,,Kant-Laplacesche Nebularhypothese" — mich mit einigem
Herzklopfen erinnernd an meine Vorstellung vom Entstehen, Wach-
sen, Zertrümmern, Neubilden der Planeten — , sodann aus dem
Kapitel „Unsere Stammesgeschichte" das biogenetische Grund-
gesetz. Klar und überzeugend erhellt dieses Gesetz dem denkenden
Menschen die dunklen Pfade seiner vorgeburtlichen Entwicklung.
Ich kann hier nur als Laie sprechen, möchte mir jedoch die Vermutung
gestatten, daß es nicht nur auf zoologischem, sondern auch auf anderen
Gebieten höchst fruchtbar werden könnte. Mir selbst kam es bei
Studien über die Literaturen verschiedener Völker und Rassen öfter
in Erinnerung. — Leider gestattet mir der Raum nicht, noch näher
auf die Wirkung der Welträtsel auf mich — oder anderer Werke
Haeckels, von denen die Anthropogenie mir das liebste wurde —
einzugehen. — Wie viele Tausende habe auch ich Haeckel gedankt,
daß er mit der Herausgabe der Volksausgabe der Welträtsel auch der
Not der Laien in Erkenntnisfragen gedacht hat. —
Ein halbes Jahr später, April 1905, hielt Haeckel seine bekannten
Berliner Vorträge. Bruno Wille bat mich, bei einem Fest zu Ehren
Haeckels im zoologischen Garten einige Gedichte zu sprechen. Ich
wählte aus „Gott und Welt" (Goethe): „Prooemion", „Ein und alles",
„Vermächtnis" u. a. und schloß mit
„Weite Welt und breites Leben,
Langer Jahre redlich Streben.
Stets geforscht und stets gegründet,
Nie geschlossen, oft gerundet,
Ältestes bewahrt mit Treue,
Freundlich aufgefaßtes Neue,
Heitern Sinn und reine Zwecke;
Nun! man kommt wohl eine Strecke."
Nach diesen wie für Haeckel geschriebenen Goethe- Worten wandte
er sich mit großer Lebhaftigkeit an mich: „Wie ist es möglich, daß Sie
ggggggg]gggggggggggggggs3E|gggE]EjgggE]gE]E]E]E]5]EiB]E]E]E]E]EiE]gE]E]E]E]
123
iggggggg^^E]ggE]ggggG]gE]^ggggg5]E]E]E]E]E]B]E]E]E]E]B]ElE]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]
gerade meine Goetheschen Lieblingsgedichte auswählten?!" Das
war das erste Wort, das er persönlich an mich richtete, und das gleich
die innere Verwandtschaft aller Einheitlich-denkenden traf. Denn
aus den obigen Gedichten Goethes spricht eine rein monistisehe
Weltanschauung im allerumf assendsten Sinn. Ich hatte diese
Dichtungen mit Bedacht und in der Überzeugung gewählt, daß sie
Haeckels eigenen Anschauungen entsprechen. —
Die nächstfolgenden Sommer hörte ich bei Haeckel in Jena Zoo-
logie. Leider fehlten mir zum eingehenderen Studium Zeit, Kraft
und Gesundheit; dennoch bedeuteten die Vorlesungen eine große
Förderung für mich. Vor etwa vier Jahren übertrug mir Haeckels
Vertrauen die spätere Herausgabe eines Teils der Briefe über die
Welträtsel. Jeden Sommer bin ich einige Wochen in dem lieben
närrischen Nest Jena und habe da Gelegenheit, die Korrespondenz
stetig zu verfolgen.
Haeckels eigenartiger Persönlichkeit ist in wenigen Sätzen
schwer beizukommen. Sein kindlich-dankbares Verhältnis zur Natur,
seine sonnige Heiterkeit, seine Elastizität — auch heute noch! —
seine beispiellose Einfachheit der Lebensführung sind die
hervorragendsten und bestechendsten Eigenschaften seines Wesens.
Daneben stehen Schüchternheit, Überbescheidenheit und eine merk-
würdige Menschenfremdheit. Trotz seiner Heiterkeit ist er zuweilen
schweren Gemütsdepressionen ausgesetzt, die sich in einer auffallen-
den, den Umständen meist nicht entsprechenden Resignation äußern.
Haeckel hat eine seltene Gemütstiefe, die mich öfter an Werthers
Lotte erinnert.
Auch von einem „kosmischen" Gemüt Haeckels könnte man reden.
Ich habe nie einen Menschen gesehen, den der Anblick eines Sonnen-
untergangs in so sprachloses Entzücken versetzt, wie ihn! Sieht er
durch das Mikroskop ein Radiolar, so ist das ganze Gesicht durch-
leuchtet von Freude. Sein ganzes Leben geht durch das Auge. —
Trotz einiger Schatten kann man von Haeckel wohl sagen: Sein
Wesen ist Licht! Als den „Leuchtenden" unter den Menschen
wird ihn die Nachwelt in ihrem Gedächtnis bewahren.
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EMIL FELDEN, BREMEN
o o o
Es war in meiner Studienzeit, die ich von 1893 — 97 in Straßburg
verlebte, da ich zum ersten Male etwas von Haeckel hörte. Was
er als Naturwissenschaftler erforscht, welche Verdienste er sich er-
worben, wie er Darwins Theorie weitergebildet — von alledem wußte
und erfuhr ich nichts. Um so mehr aber hörte ich von seinen „Welt-
rätseln", die damals eben erschienen waren. Wie wurde über sie ge-
schrieben und gescholten! Es gab wohl kein religiöses Blättchen,
keine theologische Zeitschrift, die nicht das Buch in Grund und Boden
hinein verdammt hätte. Alle, sowohl die orthodoxen als auch die-
jenigen, die sich fortschrittlich nannten, zündeten Scheiterhaufen an,
auf denen sie zur größeren Ehre Gottes und der Kirche den Ketzer
verbrannten und sein* Buch verdammten, so sehr sie im übrigen auch
auseinandergingen und einander bekämpften. Ein „pseudo-wissen-
schaftliches Sudelwerk" — so nannte die „Welträtsel" gelegentlich
einer unserer Professoren. Nicht ein orthodoxer; kein kleiner, eng-
herziger Geist, sondern ein feiner Mensch mit weitem Blick, eine
Größe in seinem Fach, ein Vorkämpfer für die freie Auffassung des
Christentums. Gelegentlich nannte eres so, denn gründlich ließ er
sich auf das Werk nicht ein. Und die anderen Professoren erst recht
nicht. Für uns Studenten aber war sein Urteil maßgebend, da wir ihn
hoch verehrten. Es waren nicht nur die Schnitzer kirchengeschicht-
licher Art, die dieses Urteil hervorriefen. Es war vor allen Dingen
der Umstand, daß sich Haeckel nicht nur gegen das orthodoxe Christen-
tum gewandt hatte — was man auf liberaler Seite ganz gern gesehen
hätte — , daß er vielmehr das liberale genau so wertete wie das ortho-
doxe. Die liberalen Theologen fühlten sich dadurch verhöhnt, daß
Haeckel sich um die immense Forscherarbeit einer ganzen Generation
nicht gekümmert, vielmehr Behauptungen aufgestellt hatte, mit denen
sich die liberale Theologie, da sie dieselben für längst abgetan hielt,
überhaupt nicht mehr beschäftigte. Besonders groß wurde die „rabies
theologica", als bald darauf die neuen Auflagen des genannten
Buches erschienen, die absolut keine Korrektur der nachgewiesenen
Fehler enthielten. Hatte man zunächst über die Unwissenschaftlich-
keit des Naturwissenschaftlers und über die Leichtfertigkeit, mit
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125
der er über die Forschungen der wissenschaftlichen Theologie hinweg-
gegangen war, gescholten, so schätzte man ihn nun mehr auch als Cha-
rakter gering , da allgemein böser Wille angenommen wurde. Es war
keiner unter uns, der nicht über Haeckel sehr empört gewesen wäre, ob-
wohl die wenigsten, vielleicht gar keiner, die „Welträtsel" gelesen hatten.
Wir hielten es überhaupt nicht der Mühe wert, uns mit ihnen abzugeben.
Auch deshalb nicht, weil auch die philosophischen Köpfe unter
uns nur mit geringschätzigem Lächeln von der unglaublichen Philo-
sophie Haeckels erzählten, der alte, längst begrabene Ladenhüter wie-
der aufleben ließ und den seit Jahren überwundenen groben Materialis-
mus eines Lamettrie nnd Holbach in neuer Gestalt wieder auftischte.
Vor allem mokierte man sich über die Widerlegung Kants. Haeckel
gegen Kant! Das machte uns Studenten Spaß. Es klang uns, denen
nichts über Kant ging, wie ein schlechter Witz. — Ich habe damals
mit einem bekannten Professor der Philosophie, mit dem ich eng be-
freundet war, über die „Welträtsel" gesprochen. Ich drückte meine
Verwunderung und Entrüstung darüber aus, daß nicht ein einziger
Phüosophieprofessor sich gegen die volksverderbende und unwissen-
schaftliche Arbeit Haeckels gewandt, und daß man nicht auch auf philo-
sophischer Seite auf die vollkommene Unwissenschaftlichkeit des Werkes
hingewiesen habe, wie das die Theologen so brav getan. Ich hielt das
für grobe Pflichtversäumnis. Ich meinte auch in jugendlicher Naivität,
es hätte nur eines solchen Hinweises bedurft, um eine Verurteilung des
Buches bei jedem wahrheitsliebenden Menschen zu erzielen und die Er-
folge lahm zu legen, die sich die „Welträtsel" langsam aber sicher er-
rangen. Da lächelte jener Philosophieprofessor sehr mitleidig und sagte :
„Was sollen wir Phüosophen da schreiben! Es ist eben der Haeckel.
Man kennt ihn! Er heißt Ernst, aber man nimmt ihn nicht ernst."
Mittlerweile vollzog sich, trotz der ungeheuren Polemik von allen
Seiten, der Siegeslauf der „Welträtsel" ungestört. Ein Tausend er-
schien nach dem anderen, ungeachtet aller Verdammungsurteile von
protestantischer und römischer Seite, ungeachtet der „nachgewiesenen
Unwissenschaftlichkeit" des Buches. Das war mir ein Rätsel. Und
gab mir zu denken! Woran konnte das liegen? Welches war der
Zauber, der die Menschen gefangennahm? Ich wollte mir das Buch
auf der Bibliothek holen, aber es war vergriffen. Und jedesmal, wenn
ich es verlangte, bekam ich denselben Bescheid: „ausgeliehen". Das
"E)ggggggggggggggE]gggEigE]gagE]gggE]gggE]E]E]E]E]G]giE]B]E]E]EjB]E]E]E]E]E]g
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war mir wieder merkwürdig. Zum Kaufen war es zu teuer für einen
Studenten, da es außer der großen Ausgabe noch keine billigere gab.
Dann nahte das Examen und verschlang alle Zeit und alles Interesse.
Auch in den folgenden Jahren kam ich nicht zur Lektüre des Buches,
da ich direkt von der Universität kommend einen ziemlich schwierigen
Posten in einer Diaspora erhielt, der meine Kraft auch dann vollständig
in Anspruch genommen hätte, wenn ich mich nicht auf das zweite Exa-
men hätte präparieren müssen. Erst als ich auf einer kleinen Pfarrei
im Elsaß saß, hatte ich genügend Muße, mich in allerhand Fragen zu
vertiefen. Das Studium der Religionsgeschichte und des Neuen Testa-
mentes ließ mich immer „radikaler" werden. Die Differenz zwischen der
Lebensanschauung und Lebensweise des modernen Menschen und des
Menschen aus der Zeit des Neuen Testamentes erschien mir allmählich
als unüberbrückbar. Nun suchte ich nach einem Fundamente, auf dem
ich eine neue Weltanschauung aufbauen könnte. Ich begann mich wie-
der in die Philosophie zu vertiefen. Von da kam ich zur Naturwissen-
schaft und Naturphilosophie. Daß ich nun Haeckels ,, Welträtsel" stu-
dierte, ist selbstverständlich. Und nun begriff ich, daß diese ,, Welträtsel"
eine so ungeheure Wirkung haben mußten, daß sie ein Kulturdokument
ersten Ranges waren. Gaben sie doch dem nach Erkenntnis hungernden
Volke das, was es suchte und sonst nirgends fand. Mochten auch Fehler
in dem Werke stecken — wahrscheinlich sind die wenigsten, die darüber
gescholten haben, imstande gewesen, sie selbst herauszufinden — es
mußte wirken, weil es vom Standpunkte der vollkommensten Wahr-
haftigkeit aus geschrieben war. Hier war mit bewunderungswürdiger
Tapferkeit klipp und klar herausgesagt, worum es sich handelt, ohne
irgendwelche Beschönigung oder Bemäntelung. Das Alte war alt , das
Morsche morsch , das Faule faul genannt. Und daneben dieser goldene
Optimismus, der freudig und verheißungsvoll in die Zukunft sieht, zum
Kampf aufruft und an den Erfolg glaubt. Welch fester Glaube, welch
sicheres Hoffen ist in diesem Buch enthalten ! Wie teilt er sich in gerade-
zu suggestiver Weise demjenigen Leser mit, der das Buch nicht liest,
um es zu schmähen und zu verdammen, sondern weil er sucht und fin-
den will. Prophetengeist weht in den „Welträtseln", der Geist des Pro-
pheten einer neuen Zeit , da Wahrheit und Wahrhaftigkeit herrschen
sollen. Nicht wird nur niedergerissen, nicht nur werden falsche Ideale
erbarmungslos bekämpft, es wird auch neu aufgebaut, es werden neue
'3asaS^aaggEiggggggggggggggggggE]E]5]EiE]E]EiB]g]EiE]B]E]E]E]E]E]G]E]E]B]E]Ej
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Ideale aufgestellt, es werden Wege gewiesen, die zu diesen hinführen. Wie
ein Blitz mußte dieses Buch in eine schwüle Atmosphäre hineinfahren
und sie reinigen. Und so ist es zum echten „Katalysator" geworden.
Durch die „Welträtsel" wurde meines Erachtens nicht sowohl die
Naturwissenschaft direkt popularisiert, als daß alle Fragen von Gott
und Welt, Diesseits und Jenseits, dem Sinne des Daseins, von Schöp-
fung und Erlösung von einem ganz anderen Gesichtspunkte als dem
gewöhnlichen aus zur lebhaften Diskussion gestellt wurden. Die Mensch-
heit sah sich gezwungen, ihre alten Anschauungen und Dogmen bei
Tageslicht zu betrachten und — zu bewerten. Selbst auf die Ortho-
doxie hat das Buch eine große Wirkung ausgeübt. Sie begnügt sich
nun nicht nur mehr damit, das Volk mit Dogmen zu füttern, sondern
fügt ihnen so viel Naturwissenschaft bei, als notwendig ist, um die
Dogmen modern zu fundamentieren. Man denke auch an den Kepler-
bund ! Man mag gegen ihn sagen, was man will — und auch ich habe
wahrlich sehr viel gegen ihn zu sagen — , er bringt durch seine Methode
doch die Kenntnis der Naturwissenschaft, wenn auch in seiner Art,
in Gegenden, wo man noch nie etwas von neuen Problemen ohne
diese Arbeit gehört hätte. Und so leistet er Pionierarbeit für den
Fortschritt und — auch für die Gründung Haeckels, den Monisten-
bund! Der Keplerbund erweist sich solchergestalt als echter Mephi-
stophelesbund, als Teil der Macht, die trotz allem letzten Endes doch
„das Gute schafft". Diesen Mephistopheles hat Haeckel durch seine
Arbeit heraufbeschworen! Und ist nur etwas Licht gebracht oder doch
der Boden präpariert, daß auch die beschränktesten Köpfe merken,
ein naturwissenschaftliches Fundament ist heute notwendig, selbst
für die Glaubenssätze, die die „Wahrheit" sind, dann kann die wahre
Aufklärungs- und Auferbauungsarbeit einsetzen. Vor allem von Seiten
des Monistenbundes, der ohne die „Welträtsel" nicht denkbar ist.
Wahrlich, Ernst Haeckel mag als naturwissenschaftlicher Forscher
Großes geleistet haben. Ich kann es in genügender Weise nicht wer-
ten, da ich sein Fachgenosse nicht bin, obwohl ich es aufrichtig be-
wundere. Allein als Verfasser der „Welträtsel" hat er sich, mögen
noch so viele Schwächen dem Werke nachgewiesen werden, ein Kultur-
denkmal ersten Ranges gesetzt. Gerade in bezug auf dieses Werk
und seine Wirkung kann er mit Stolz und Jubel sprechen: „Es wird
die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn."
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9 Haeckel-Festschrift. Bd. II I2Q
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ERNST SCHWENINGER, MÜNCHEN
o o o
Schon in meiner akademischen Lernzeit und in den frühesten Jahren
meiner akademischen Lehrtätigkeit als Pathologe beschäftigte ich
mich mit Ernst Haeckel in seinen zoologischen usw. Werken, besonders
mit seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte".
Schon damals war mir eine kardinale Angelegenheit die stärkere
Hervorhebung des Begriffs des gesunden und kranken Lebewesens
als eines von seiner Vor- und Umwelt bzw. deren Prozessen bedingten
und bestimmten Produktes, als eines Gewordenen und stets Weiter-
werdenden, als eines (quantitativ, qualitativ, ganz oder teilweise, auf
oder ab) Gewandelten und stets Sich-fort-ändernden. Ich erkannte
die Notwendigkeit solcher Akzentuierung als Bedürfnis der Pathologie
und ihres Fortschrittes, in und für sich, und als Voraussetzung, als
conditio sine qua non für ein gedeihlicheres therapeutisches Tun und
Lassen. Und schon darum waren mir schon die ersten, eben damals
publizierten Haeckelschen Ideenbauten, in die meine Gedankengänge
paßten und sich deshalb zwanglos einführen und einfügen ließen,
just hochsympathische und hochwillkommene Erscheinungen.
Aber nicht nur aus jenem speziellen, sondern auch aus — nicht
minder regem — allgemeinem Interesse verfolgte ich die Fortbildung
und Fruktifizierung der fruchtbaren Entwicklungsidee alles Geschehens
und Lebens, Tuns und Handelns, verstand und empfand ich Wesen
und Wert der sich hier auf tuenden Gedankenwelt, wenn ich auch den
Umfang ihrer eigenen Entwicklung, die ihr beschieden war, ist und
sein wird, die Größe ihres so bedeutsam erweiterten, erhöhten und
vertieften Ausbaus nicht ahnte. Die zentrifugale Bewegung dieses
seine engere Sphäre enorm überlangenden Geistes und seine ganze,
groß- und freizügige, im besten Wortsinn unakademische, nichts weni-
ger als nur fachgelehrsame Lehrart bereiteten mir, wenn ich so sagen
darf, die köstlichsten Freiluft- und Freilichtgefühle. Ich bewunderte
stets die herrliche Weite der in und von seinen Gedankengebäuden
aus gewährten Um- und Fernblicke, seine schwungkräftige Phantasie,
seine eigene und stark transitive Begeisterungswärme — unbeschadet
der Kühle und Klarheit seiner strengen selbst- und objektkritischen
Beobachtungs-, Spekulations-, Darstellungs- und Mitteilungsweise.
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Und wenn dies alles der Mobilität nicht verlustig gewordenem Alter
gegenüber nicht versagt, so erscheint es mir nur um so natürlicher, daß
der in all jenen Eigenschaften so hervorragend Jugendliche und bis
heute so Junggebliebene schon frühzeitig auf mich, wie auf alle beweg-
liche Jugend, wirkte.
Auch sein mächtiger Einfluß auf die breiten Massen der Gebildeten
und Bildungsfähigen ist ja wohl diesem Charakteristikum Haeckels
mit zuzuschreiben, da ja das Volk vieles mit der Jugend gemein hat.
Schon aus jener Eigenschaft Haeckels und der jener großen Menge
erklärt es sich, daß er auf diese eine so bedeutend größere Gewalt hat,
als die Mehrzahl der seriösen Senatoren der Weisheit in ihrem starren,
lang- und grauzopfigen Konservativismus und oft schon lang und
sehr obsoleten oder doch seneszierenden Doktrinarismus und Dog-
matismus.
Es hat da einmal ein anderer Jenenser Professor — sein Name
ist auch nicht der eines homo obscurus (Friedrich Schiller heißt er) —
manch ein treffend Wort auf den allzu engen, allzustrengen Fach-
und Brotgelehrten geschrieben. Ein solcher ist Ernst Haeckel nicht
und deshalb ward und wird er, mehr als von seinen anderen Gegnern,
von der Gilde jener Sorte kurzgeratener Kümmerlinge angefeindet,
wie jeder, der sich ihr nicht eingemeindet und nicht eingemeindet ist
von Hause aus. Und nicht zuletzt aus diesem Grunde lieb' ich ihn.
Als Antipode jener hat er seinen inneren und äußeren Gang gemacht.
Zu dem bereits Bemerkten hin erklärt sich die ungeheure Wirkung
Haeckels in die Breite der Nation, ja der internationalen Zeitgenossen-
schaft, gewiß zu einem großen Teil aus dem Lechzen nach einer Be-
freiungstat in einer Epoche reaktionärer Schwankungen und Schwen-
kungen. Die mit Haeckels Werken, speziell mit den „Lebenswundern"
und den ,, Welträtseln" gegebenen Freidenkerdokumente kamen jenem
Sehnen entgegen, waren deshalb so werbefähig und wurden deshalb
so frenetisch begrüßt.
Die Entstehung, der Aufgang resp. das Ersterscheinen des Phä-
nomens Haeckels fiel in eine stark impellierte Ära; in die Zeit des
größten nationalen und kosmopolitischen Um- und Aufschwungs, den
die Geschichte aufzuweisen hat, in eine Ära, die für das Gedeihen
des Haeckelschen Werkes günstig sein mußte, wie dieses für das
ihre. Ein großes Konvolut von Ereignissen, Umständen und Ver-
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hältnissen bereitete den Boden für die Entwurzelung und Ausbreitung
der Haeckelschen Lehre und ihrer Fortpflanzungskeime. So zunächst
der Kampf der Geister und Gemüter, der durch das römische, vati-
kanische Konzil entfacht war; dann das allgemeinere intellektuelle
Erwachen und stärkere Aufleben des Volkes nach Entjochung aus dem
Druck der materiellen Armut; ferner die bald auf die Mündigkeits-
betätigung in politischen, sozialen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen,
logischen, ethischen, religiösen, künstlerischen Meinungs-, Glaubens-,
Wissens-, Gewissens- und Geschmacksfragen hereinbrechende Rück-
laufsagitation und deren Gegenbewegung; und weiterhin der auf die
Blüte des Kapitalismus hereinflutende Interessenkampf der Stände
und Klassen, wie überall so besonders auch in Deutschland, der den
beendigten Kampf der Staaten und Stämme und zum Teil den der
Bekenntnisse ablöste. Infolge all dessen war die Stimmung da für
Haeckels Tätigkeit und konnte unter seinem Weiterwirken progressiv,
lawinenartig zunehmen.
Dann aber auch infolge des im Gros der Menschen wenigstens
weckbaren Triebes nach der Erkenntnis der letzten Dinge, dieses
„mens" würdigen Antagonisten (wenn auch nicht Paralysators) der
übernatürlichen und mystischen Neigungen der Menschheit. Den
rationalistischen Bedürfnissen entsprechen Haeckels logisch-kombina-
torische und exakte Denkerqualitäten und -leistungen, während seine
ihn ebenso auszeichnenden poetischen Befähigungen und Betätigungen
dem Kunst- und Dichtersinn gerecht werden, der dem breiten Volke
immanent ist und dort oft reichlicher zu treffen ist als in der Ober-
schicht der „geistigen Hochfinanz", der „Intelligenz". Aus diesen
Gründen wohl nicht weniger ist die Arbeit Haeckels so erfolgreich.
Daß ein so namhafter, bedeutender Naturforscher, ein nicht nur
mit scharf- und weitblickenden, gründigen Augen armierter Wahrheit-
sucher, sondern auch ein mit tief- und schönsichtigem Künstlersinn
geschmückter und schmückender, beglückter und beglückender, warm-
fühlender Mensch es ist, der hier die Menschen in die Gefilde der
Philosophie führte, kam und kommt dem inneren und äußeren Effekt
seines gesamten Werkes natürlich noch steigernd zu statten.
Ob naturwissenschaftliche Gegner ihn als ressortflüchtig prokla-
mieren, Zunftphilosophen ihn unbefugten Einbruchs in ihre Domäne
zeihen und nicht für voll gelten lassen, ob Konfessionalisten ihn
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perhorreszieren und Träumer ihn indizieren und ihm ebenso wie
Rationalisten nachsagen, er habe sie unbefriedigt gemacht oder ge-
lassen, er habe viel eingerissen und nichts oder nicht genug aufgebaut,
ob der Staat dem Geistwerk solcher Männer als dem gefährlicher Weg-
macher und Wegweiser skeptisch zusieht — : Haeckel hat das natur-
wissenschaftliche und philosophische Denken seiner Zeit unleugbar
neu gerichtet, d. h. orientiert, und das frühere neu gerichtet, d. h. be-
urteilt, nicht verurteilt, in seiner hochsinnigen, weitgeistigen und
weitherzigen Bescheidenheit. Vor allem in den genannten Gebieten
hat er, teils auf den Bahnen seiner geistigen Ahnen, teils auf von ihm
selbst geschaffenen, durch pfadloses, schwer wegsames, erst gerodetes
Terrain mühsam geschürften Wegen und gezogenen Geleisen weiter
geführt. Und heute fahren Unzählige als staunende Genießer, wo er
als einsamer Pionier gearbeitet, marschiert man rüstig in dichten
Massen auf den erhellten Straßen seiner Weltanschauung durch das
von ihm (mit und allein) so viel reicher, weiter und mehrseitiger als
vorher durchbahnte Land der Erkenntnis vorwärts und zieht daraus
die Konsequenzen fürs Leben. Und selbst ehedem Spröde folgen nun
in bedeutsamsten Fragen seiner Beantwortung (so in seiner Gasträa-
theorie). Durch seine naturwissenschaftliche und philosophische und
damit durch seine Stellungnahme zu den sogenannten positiven Reli-
gionen, dem Offenbarungsglauben usw. ist seines Lebenswerkes Wir-
kung auf die Gesellschaft, die menschliche Gemeinschaft der Gegen-
wart und Zukunft eine unabseh- und unberechenbar umfangreiche
und intensive.
Wie fürs Große und Ganze dieser allgemein-umfassenden Kosmo-
sphären des Realen und Idealen, für die Gesamtwissenschaft von
Natur- und Geisteswelt, und fürs Gesamtleben, so ist Haeckels Wirken
für manches Teilgebiet noch speziell zu bemerken.
So für die Kunst, vor allem für die bildende, in der er anleitend
hervorgetreten ist. Für sie, auch für die Schönliteratur, sind in seinen
Werken ertragreiche Fundstätten mit vielen noch ungeförderten Schät-
zen an Gedanken- und Formgut gewiesen. Es ist zu wünschen, daß
die Priester der Kunst seinen Winken gegenüber nicht ebenso (vor-
sätzlich und unbewußt) unzugänglich und blickverschlossen in ihrer
Sphäre sich verhalten, wie die Sazerdotenschaft der Religionskonfes-
sionen und andere in der ihrigen.
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Was die Kultur des Berufskreises betrifft, dem ich zugehöre, so
ist Haeckels Arbeit an sich zweifellos geeignet, auch jenem und damit
der menschlichen Gesamtheit zugute zu kommen, indem es die ärzt-
lichen Führer der Menschheit entwicklungstheoretisch vorbereitet und
so verständnisvertiefend unterstützt in der Krankenauffassung und
-anfassung und auf diese Weise wenigstens mittelbar für die Hilfe-
berufenen und damit für die Legionen der Leidenden praktisch nutz-
bringend wird. Das ist denk- und erfüllbar unter der gleichen Prämisse,
wie die für die Gefolgschaft seitens der Künstler aufgestellte, — d. h.
dann, wenn die Ärzte willens sind, sich in diesem Sinne belehren und
leiten zu lassen. Bisher ist davon unerfreulich wenig zu spüren. An
Haeckel liegt's nicht! . . .
Vieles und viel hat Haeckel aufgedeckt und errungen. Vieles und
viel kann und wird, so hoffe, so glaube ich, in und aus seinem Geiste
erreicht werden. Sein glänzendes Vorbild an unentwegtem Arbeits-
willen, Arbeitslust, Geduld, Ausdauer, Denk-, Bekenner- und Tatmut
und Unerschrockenheit, zum geistigen Können hin, — es leite stets die,
die sich zu ihm bekennen und im Anschluß an ihn schaffen wollen!
Jenes leuchtende Vorbild unbeirrbarer und unerkirrbarer, absoluter
Denkfreiheit, für die er allezeit eintrat, die der allzeit Aufrechtgewesene
fortbetätigt und mit der er ein mustergültiges Paradigma ist dafür,
daß einer, bei aller Zusammenhängigkeit mit dem historischen und
zeitgenössischen Gesamtdenken, Unabhängigkeit wahren kann und
Eigenart, ja Einzigart! Mit dieser Sonderart und Selbständigkeit hat
er uns eine hohe Summe hohen neuen Besitzes erworben, hat er uns
— auch als Negant — neue Werte geschaffen und geschenkt, und mit
neuen positiven Werten alte imaginäre ersetzt, die durch seine Vorstöße
manchem zerstört oder erschüttert worden, unter seiner Belichtung
geschmolzen sind. Blickt man zurück und wägt man die schon gezei-
tigten Früchte, so darf man ebenso wie angesichts der voraussichtlichen
Zukunft wohl sagen : Dieser Mann, der wohl einen der stärksten An-
stöße in der geistigen Bewegung der Gegenwart gegeben hat, an dem
deshalb ebensoviel Anstoß genommen worden seitens der Reagenten,
— dieser Mann, der selbst von lebhaftesten Impulsen erfüllt, so weit-
tragende, lebensfähige, lebenfördernde Impulse gegeben hat als ein
Hauptmotor der Hebung des Selbstbewußtseins, des Selbstgefühls
und der Selbsthilfeaktion der heutigen Menschheit (was eines seiner
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Hauptmotive war), — dieser Mann, der sie mit einer so tiefgreifenden
Revision und Umwälzung zu einer Neuordnung der Lebensanschauung
und damit auch der Lebensführung geführt hat, dieser Stifter einer
neuen Lehre ist der Stifter eines neuen Glückes. Und seine Saat wird
immer mehr aufgehen und sie wird, in des Säers Sinne gepflegt, nicht
im üblen Sinne auswachsen. Der uns Sinne und Sinn geöffnet und sie
immer mehr Menschen immer mehr aufmacht für so viel Wahres,
Gutes und Schönes, er ist nicht nur ein mächtiger Auf reger, er ist
und wird auch ein mächtiger Anreger sein und — in weit mehr als
schon damit — ein wohltätiger Spender vieler fertiger und vieler
sich immer mehr vollendender Resultate. Seinen eigenen reichen Qua-
litäten und Quantitäten sind die des bereits Erzielten entsprechend;
jenen genialen inneren Dimensionen, von allwelchen die wackeren
Angehörigen geistiger, moralischer und ästhetischer „Trockenlader"
(d. h. Packträger)-Innungen nichts ahnen und sich nichts träumen
lassen, nicht bloß weil sie nicht wollen, vielmehr weil sie nicht
können. Mögen sie naserümpfen, lippenschürzen, achselzucken, wie
sie's drängt, — Haeckel ist von dem Künstlerblut durchflössen, mit den
Künstleradern organisiert, in denen es jenen zu lebhaft zugeht, ja
deren Existenz in einem Gelehrtenorganismus diesen Tretmüllern und
ihrer Tradition schlecht angebracht, weil deplaziert erscheint, die aber
doch jedem echten Forscher eignen muß. Solche Organisation hat
nicht die Mindesten und nicht zum mindesten geziert ; so A. von Hum-
boldt, Pettenkofer usw. Haeckel ist durch die seine zu seinem Besten
geführt worden. —
So schaute und schaue ich seit den ersten, starken Eindrücken, die
mir von ihm wurden, mit Verehrung nach dem Großen von Jena hin.
Mit einem Frohempfinden erfüllt mich das Bewußtsein, daß der ehr-
würdige Veteran der Forschung, der eine grandiose Arbeitsleistung
bewältigt hat, nichts weniger denn als Invalide dort lebt; er, der in
Geistesrichtung, Kraft und Betriebsamkeit in mancher Hinsicht mit
einem anderen verwandt ist mit einem, der auch viel dort geweilt
und gewirkt hat und der uns vorwärts gebracht hat trotz manch auch
ihm gewordener und heute noch fortwährender aktiver und passiver
Resistenz, — mit dem Vorläufer Darwins und weiterhin unseres
Deszendenzklassikers, — mit Goethe. Mit Frohempfinden erfüllt mich,
daß uns Haeckel lebt, hoffentlich weit, weit ins Patriarchenalter hin-
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ein; Haeckel, der Deszendent jener beiden, eine der imposantesten
Erscheinungen der deutschen, ja der internationalen Geisteswelt, nicht
zum mindesten dadurch, womit vor allem — ohne Verringerung seiner
eminenten, machtvollen Eigenart und Eigenständigkeit — sein Wesen
an Goethe erinnert : durch die überaus glückliche Paarung von natur-
wissenschaftlicher Denkweise und philosophischem Sinn einerseits und
jener und poetischem Geiste anderseits, — Mischungen, die in Haeckel
in außerordentlichen, veranlagten und ausgebildeten Fähigkeiten ge-
geben sind, und denen gegenüber ich — trotz allen metaphysischen,
transzendentalen Idealisten und nur — materialistischen Schwärmern —
nicht anstehe zu sagen, sie erscheinen mir gerade deshalb vielbedeutend
und segensreich für die heutige und künftige Entwicklung unseres na-
tionalen und des Geistes- und Gesamtkulturlebens überhaupt, weil
er durch sie die leben- und lebensverständnisnötige Fühlung mit dem
Realen nicht verliert bei all seinem Trieb und Stieg in die Höhen
und Tiefen der Forschung. —
Durchdrungen von diesen Anschauungen und Empfindungen, trat
ich Haeckel gegenüber, als Bismarck, auf der Rückreise von seiner
denkwürdigen Fahrt zu seines Sohnes Herbert Hochzeit nach Wien,
in Bad Kissingen weilte, und Haeckel mit der Bitte an den Fürsten
kam, Jena, seiner Bürgerschaft und namentlich auch seiner akademi-
schen Bürgerschaft die von dieser ersehnte Gelegenheit zu geben, dem
hochbetagten, gewaltigen Repräsentanten menschlicher und spezifisch
deutscher Größe die Größe junger deutscher Liebe und Dankbarkeit
zu bezeigen. Der Fürst, den ich begleitete, leistete Haeckels Einladung
Folge; und es waren unvergeßliche Momente, die ich an der Seite des
gefeierten Neureichsgründers bei der Huldigung auf dem Marktplatz
zu Jena erlebte, wo Ernst der Große u. a. in humorgenetzten Worten
Bismarck als dem ersten Ehrendoktor der Phylogenie zujubelte. Es
waren mir aber auch unversinkbare Erhebungen für Geist und Herz,
in diesen Tagen von Kissingen und Jena mit dem Geistesrecken und
zugleich so schlichten Menschen Haeckel zusammen zu sein, dessen
liebenswürdige Persönlichkeit mir dort im direkten Umgang näher
kennen zu lernen gegönnt war.
Und es war mir um so mehr eine große Freude, eine wiederholte
Zusammenkunft mit dem prächtigen Manne zu genießen; diesmal in
meinem damaligen Domizil, auf Schloß Schwaneck, wo er mich be-
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suchte, und wir bei einem Glase Wein behagliche, mich in hohem Grade
anregende Zwiesprache pflegen konnten. Ich fand in ihm dabei so
ganz jene, gleich dem Kinde nur dem Genius eigene Voraussetzungs-
losigkeit, die uns, bei diesem um so tiefer, seelisch erquickt; nicht
aber jene Selbst- und Herrschsucht und jenen Eigensinn, den Finder
und Führer oft haben und hegen. — Ja: Eigensinnend fand ich
diesen Großen, — eigen si n n ig nicht ! Ich fand die abgeklärte Heiter-
keit des Wissenden und trotz Jenseitsnegation (soweit jenes in den
Kirchen usw. gepredigt wird) doch freudig Lebenbejahenden in ihm.
Ich habe jenen einen und jenen andern Tag in meinem Gedenkkalender
— in Gefühlen der Liebe und der Treue — rot und blau bezeichnet. —
Ebenso danke ich es der Fügung, daß es mir im letztverflossenen
Jahrfünft wie in meiner Jugend möglich war, mich dem eingehenderen
Studium dieses unentwegt regsamen Bewegers hinzugeben und seine
großen Förderungen an der Gestaltung der vorschreitenden Zeit und
in der Entwicklung seines geistigen Kindes, des Monistenbundes, usw.
zu beobachten.
Aus dem allen habe ich es als sicher ersehen : Haeckel, der wirk-
samste Träger des Entwicklungsgedankens nächst Darwin, der Ent-
wicklungstheoretiker und Entwicklungspraktiker, der in seinem eige-
nen Werden und Wachsen ein so großes Beispiel von Entwicklung
gegeben hat, Haeckel, der Schöpfer so vieler ganz neuer Werte, der
allerstärkste Werber für ein neues, reiches Denken, der befreiende
Weiterer des allgemein-menschlichen Gesichtskreises, wird durch die
Tatsache all dieses seines Wesens und Wirkens nicht nur im Gedächtnis,
sondern auch im Weiterwerden der Menschheit fortleben als ein nie
zu verbergender Faktor des Fortschrittes der Erkenntnis und damit
der Kultur. Er hat als solcher ein momentum und sich ein monu-
mentum geschaffen — memoria et aere perennius!
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HERBERT EULENBERG, KAISERSWERTH A. RHEIN
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Was ich an Haeckel verehre?
Seinen starken Mut
Und an seiner großen Lehre
Sein warmes Blut.
Und stirbt er einst von unserm Stern,
So leb' ich nicht mehr ganz so gern!
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WILHELM BÖRNER, LEIPZIG
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Zum erstenmal hörte ich den Namen Haeckel mit etwa 17 Jahren
aus dem Munde des — Religionsprofessors. In welchem Zu-
sammenhange das war, erinnere ich mich nicht mehr mit Bestimmt-
heit ; ich weiß nur, daß der Name in Verbindung mit Darwin genannt
worden war. Es ist klar, daß die Äußerungen über Haeckel, die ich
hier vernahm, nicht gerade schmeichelhaft gewesen sind. Da ich aber
damals schon jede Dogmatik überwunden hatte, machten sie mir
keinen sonderlichen Eindruck und hatten auch keine weitere Folge.
Ich las damals die bei Reclam erschienenen Werke Darwins, dachte
aber gar nicht daran, ein Buch Haeckels anzusehen; nur der Name
hatte sich mir dauernd eingeprägt, verbunden mit der Vorstellung
eines berühmten Gelehrten und antikirchlich gesinnten Mannes. Erst
nach mehreren Jahren, nachdem ich mich schon längere Zeit mit
Philosophie beschäftigt hatte und auf dem Wege war, mir meine
positivistische Weltanschauung zu bilden, studierte ich Haeckels
Hauptwerke. Ich weiß heute nicht mehr zu sagen, in welcher Reihen-
folge; nur weiß ich bestimmt, daß die ,, Welträtsel" ziemlich spät an
die Reihe kamen. Mein Interesse für Haeckel wurde besonders ver-
stärkt, als ich erfuhr, daß der von mir so hochverehrte B. v. Carneri
mit ihm befreundet gewesen. Dieser Umstand bewog mich, mich auch
mit den kleineren Schriften bekannt zu machen.
Die wissenschaftlichen Werke imponierten mir gewaltig und be-
reicherten meine naturwissenschaftlich-biologischen Kenntnisse in
bedeutsamer Weise. Die philosophischen Schriften hingegen hatten
keinen Einfluß auf mich, weil zur Zeit, als ich sie kennen lernte,
meine Abneigung und Feindschaft gegen jede Art Metaphysik schon
so sehr ausgebildet war, daß mir Haeckels Standpunkt nicht zusagen
konnte. Dazu kam noch, daß ich zu dieser Zeit schon mit Ludwig
Feuerbachs klassischer Religionspsychologie vertraut war, so daß mir
die „Welträtsel" auch keine „Aufklärung" mehr zu bieten hatten.
Durch die Lektüre klerikaler Anti-Haeckel-Schriften war ich nun
allmählich zu der Meinung gekommen, Haeckel sei ein wütender
Draufgänger, eine Art geistiger Ellbogen-Mensch, der sich mit allen
Mitteln durchzusetzen trachte, wenn auch freilich nicht aus egoisti-
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sehen Gründen. Diese Vorstellung verdunkelte mir das Bild des sonst
sehr geschätzten Mannes und ich wandte mich innerlich von ihm ab,
weil für mich Vornehmheit und Takt zwei unbedingte Erfordernisse
im geistigen Kampfe bedeuten. Ich erwähne diese Episode in meinem
Verhältnis zu Haeckel absichtlich, weil sie beweist, wie verheerend
die klerikale Kampfesweise selbst in solchen Kreisen wirken kann,
die allem aus diesem Lager Kommenden von vornherein mit Miß-
trauen gegenüber stehen. Bald sollte ich jedoch eines besseren be-
lehrt werden. Anläßlich einer Reise in Deutschland im Juni 1906
kam ich auch nach Jena und besuchte neben anderen Vorlesungen
natürlich auch das Kolleg Haeckels. Hier ging es mir nun ähnlich
wie Saul in der Mythe, der auszog, einen Esel zu suchen und ein
Königreich fand: Ich erwartete einen selbstbewußten, zänkischen,
intoleranten Kampfhahn und fand — einen unendlich schlichten,
vornehmen, würdevollen Gelehrten. Ich gestehe, daß ich diese Vor-
lesung tief betrübt und zugleich beschämt verließ. Betrübt darüber,
daß Menschen in ihrem blinden Haß und ihrer maßlosen Wut so weit
gehen können, die Tatsachen in ihr Gegenteil zu verkehren, und nicht
davor zurückschrecken, Anschauungen über einen Mann, der ihnen
nicht paßt, zu verbreiten, die sich zur Wahrheit verhalten wie schwarz
zu weiß; beschämt darüber, daß ich den Lügnern und Verleumdern
aufgesessen bin, und mir das Bild, das ich ehemals von Haeckel hatte,
beeinträchtigen ließ. Ich kann nicht anders sagen, als ich gewann
den Mann in der einen Stunde lieb. Und diese Zuneigung wurde durch
alles bestärkt, was ich über ihn von befreundeter Seite las, und er-
reichte ihren Höhepunkt, als es mir im letzten Sommer vergönnt
war, mit dem verehrungswürdigen Denker persönlich in Berührung
zu kommen. Ich habe nur selten das Glück gehabt, mit Menschen
sprechen zu dürfen, die ein solches Übermaß von Güte und Wohl-
wollen ausströmen wie Haeckel. Je aufmerksamer ich die Betätigung
Haeckels in den letzten Jahren verfolgte, desto mehr stieg der Mann
in meiner Hochschätzung und Bewunderung. Seine Ablehnung der
Obmannschaft des Deutschen Monistenbundes; das Eintreten dafür,
an diese Stelle den (leider viel zu wenig gewürdigten) ausgezeichneten
Kalthoff zu setzen; die Gewinnung Ostwalds, dessen Weltanschauung
doch wesentlich verschieden ist von der seinigen ; der Austritt aus der
Kirche: das und vieles andere lieferte mir den Beweis für die unge-
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wohnliche Bescheidenheit, Objektivität, Toleranz und Tapferkeit des
großen Mannes. Und speziell die letztere Eigenschaft, der Mut
Haeckels, ist es, die ich ganz besonders bewundere und verehre,
wenn ich sein Lebenswerk überblicke. Man kann ruhig behaupten:
Haeckel ist heute nicht nur einer der berühmtesten Männer Deutsch-
lands, sondern einer der allermutigsten. Er ist für mich eine Recken-
gestalt des 20. Jahrhunderts; denn in der Gegenwart sind ja nicht
mehr die körperliche Kraft und der physische Mut ausschlaggebend
und bedeutungsvoll, sondern geistige Stärke und seelischer Mut.
Und in dieser Hinsicht ist Haeckel ein Riese, ein leuchtendes Vorbild,
ein „Erzieher" (wie ihn schon Dodel-Port genannt hat) im aller-
größten Stile. Er ist die Verkörperung des Mannesstolzes,
für den die eigene Überzeugung, die Treue gegenüber der Lebens-
aufgabe und die Liebe zur Wahrheit den Lebensnerv bilden. Diesen
ruhigen, festen Mut kann kein Hohn der Toren und kein Dünkel und
Naserümpfen der Zünftler erschüttern. All dem hält er unbeirrt stand
und wächst dadurch ins Gigantische. Und so möchte ich sagen : Haeckel
als Philosoph hat sicherlich anregend und aufklärend auf die weitesten
Kreise gewirkt ; Haeckel als Forscher ist eine wissenschaftliche Größe
ersten Ranges; das Gewaltigste, Kostbarste, Wertvollste aber ist
Haeckel als Mensch. Denn als solcher ist er nicht weniger als das,
was unserer Nation und der ganzen Menschheit am dringendsten not
tut: im tiefsten Sinne des Wortes — ein ganzer Mann.
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IDA ALTMANN-BRONN, ROMBACH
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Schön ist der Gedanke, „die Kulturarbeit Ernst Haeckels" nicht
durch einen einzelnen, und wäre er auch der Besten einer, dar-
stellen, sondern diese Darstellung das Werk vieler werden zu lassen.
— Schön strahlt der Diamant das Licht der Sonne wieder, herrlich
künden die keusche Lilie und die Rose ihr Lied vom Sonnenwirken,
und dennoch möchten wir ihr Bild nicht missen , wie's aus Tauperlen
uns entgegenblitzt. — So wird von Haeckel auch ein jeder sagen,
wie gerade er des Meisters Werk betrachtet und bewertet.
Den Namen Haeckels las ich zum erstenmal im Winter 1889/90
in der Akademie der Wissenschaften in Petersburg. Ein junger Stre-
benskamerad, Max Goldberg, arbeitete an einer von der Akademie
gestellten Preisaufgabe ,,Über die Entwicklung der Ganglien beim
Hühnchen". Er verstand nur Russisch. Die deutschen, französischen
und englischen Arbeiten, auf die Professor Owßjanikoff ihn ver-
wiesen hatte, übersetzte ich ihm. Bei der Gelegenheit fand ich auch
Haeckels Namen irgendwo erwähnt, jedoch ohne Beziehung zu der
mir vorliegenden Arbeit, und er besagte mir noch kaum etwas. (Des
jungen Studenten Arbeit erhielt die große goldene Medaille und wurde
in russischer Sprache von der Akademie gedruckt. Teile von ihr,
die Herr Professor Waldeyer aus meiner Übersetzung auswählte, er-
schienen in Band XXXXII des Archivs für mikroskopische Anatomie.)
Haeckels Ideen lernte ich zuerst durch seine Altenburger Rede
kennen, dieses „monistische Glaubensbekenntnis", von dem er meint,
es werde wohl der Religion der meisten Naturforscher entsprechen,
die 1. genügende naturwissenschaftliche Kenntnisse; 2. genügende
Schärfe und Klarheit der Urteilskraft; 3. genügenden moralischen
Mut und 4. genügende Geisteskraft besitzen, „um sich auf Grund
eigenen gesunden Denkens von den herrschenden religiösen Vorurteilen
zu befreien, und besonders von jenen vernunftwidrigen Dogmen, die
uns seit frühester Jugend als unerschütterliche .religiöse Offenbarun-
gen' fest eingepflanzt wurden". Die Betonung des Rechts der freien
Wahrheitsforschung und der freien Wahrheitslehre, ohne das es keine
ehrliche wahre Wissenschaft gebe, ferner die entschiedene Forderung,
daß auch die theoretische und praktische Sittenlehre nur wissen-
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I42
schaftlich vernünftig, nicht dogmenreligiös begründet werde, alles das
war mir so aus der Seele gesprochen, daß es für mich ein fröhliches,
befreiendes Aufleuchten bedeutete:
Also durfte man so denken, und es war weder ein Mangel an reli-
giösem Gefühl noch eine Anmaßung, nicht Rousseaus bzw. seines
savoyischen Vikars Verhimmelung der Evangelien und ihres Helden
sowie der Vortrefflichkeit seiner Religion beizustimmen. Man durfte
trotz des schulamtlich beglaubigten Zeugnisses, „mit den Wahrheiten
der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, wie auch mit ihrer Grund-
lage, der heiligen Schrift, und der geschichtlichen Entwicklung der
christlichen Kirche gut bekannt" zu sein, an jenen „Wahrheiten"
zweifeln und Rousseau entweder für verworren oder unaufrichtig
halten! — Also hatte ich von meinem Spinoza doch einiges ver-
standen! So klang es freudig in mir nach Haeckels Altenburger
Monismusrede. Geradezu wohltuend war dieses Bewußtsein, und ähn-
lich dachten und fühlten viele suchende, ringende junge Geister.
Hier dieser große Gelehrte in Amt und Würden erlaubte nicht nur,
nein, er forderte den Mut, daß man sich zu sich selbst bekenne, zum
eigenen klaren Denken. Indem er uns dieses Recht zusprach, wurde
er unser Meister, wir seine Jünger.
Nachdem ich „Die natürliche Schöpfungsgeschichte" studiert
hatte, beantragte ich, daß die Freireligiöse Gemeinde in Berlin, in
deren Vorstand ich gewählt worden war, dieses Werk Haeckels in
ihre Bibliothek einstellen möge. Das geschah, und der mächtige Band
war ständig ausgeliehen; man mußte ihn vorbestellen und manchmal
lange auf ihn warten, da viele andere ihn auch bestellt hatten.
Je mehr ich Haeckel las, desto größer wurde nicht nur meine Be-
wunderung seiner Leistung, sondern auch meine Ehrerbietung für
seine Persönlichkeit.
Es kommt bisweilen vor, daß man nach einer Reihe von Jahren
sich einbildet, zu einer bestimmten Zeit eine Meinung gehabt zu haben,
die man tatsächlich sich viel später erst gebildet hat. Daß mir es
in bezug auf Haeckel nicht so geht, dafür liegt der Beweis gedruckt
seit fast zwanzig Jahren vor. Auf Wunsch des Vorstandes der Berliner
freireligiösen Gemeinde hielt ich in dieser Vorträge; der am Neujahrs-
tage 1894 gehaltene wurde auf Mitgliederantrag gedruckt. Darin er-
wähne ich die Beleidigungsklage Hamanns „gegen den Lichtgeist
143
Ernst Haeckel, der ebenso groß als wissenschaftlicher Forscher
und Schriftsteller wie mutvoll als Vorkämpfer für den freien Ge-
danken auf religiösem Gebiete ist". Nach kurzer Kennzeichnung des
Hamannschen Vorgehens sagte ich dann weiter: , .Ernst Haeckel
tat seinen Angreifer in einer Weise ab, die an Schärfe nichts ver-
missen ließ. Er verwahrt seinen Gegner auf dem Gebiete der Ab-
stammungslehre, Prof. Virchow, gegen die Bundesgenossenschaft eines
solchen Mitstreiters (Hamanns). Er bedauert Virchows Kampf gegen
den Darwinismus, läßt aber dem wissenschaftlichen Charakter des-
selben, dessen Größe und Bedeutung vollste Anerkennung zuteil wer-
den. Diese noble Art des Umgangs mit dem namhafte-
sten Gegner kann uns den Kampfgenossen Haeckel nur
um so sympathischer erscheinen lassen, und welche Schlüsse
werden wir ziehen auf die Charaktereigenschaften des Menschen, den
dieser selbe vornehme Haeckel mit Ausdrücken bezeichnete,
welche mit einer Geldstrafe von 200 Mark gesühnt werden mußten."
Eine ähnliche Wirkung übte der mir damals nur durch seine
Werke bekannte Haeckel auf viele aus, die ich zu beobachten Ge-
legenheit hatte, Besucher meiner Vorträge aus der jüngeren Lehrer-
schaft, erwachsene Schüler, Deutsche wie Ausländer.
Ein Vorbild war er uns. Eine ethische Wirkung übte er aus allein
schon durch seine wissenschaftliche Leistung, die uns neue Wahr-
heiten erkennen lehrte, zur Wahrheit immerfort hinzustreben uns
verpflichtete. Vor allem aber war's die Art, mit der er die durch seine
eigene riesige Forscherarbeit gefundenen neuen Erkenntnisse und auch
die Ergebnisse der Geistesarbeit anderer verkündete und vertrat, was
jene geradezu unerhörte, noch nicht dagewesene ethische
Bedeutung im Kulturleben unserer Zeit gewann.
Der kühne Wahrheitsmut, der ihn das für wahr erkannte aus-
sprechen läßt, gleichviel ob er sich dadurch mit herrschenden Mei-
nungen oder auch mit herrschenden Gewalten in Widerspruch setzt,
hat etwas hinreißendes, entflammendes. Hierzu gesellt sich noch der
Schönheitshauch, der wie ein Frühlingswehen sein Lebenswerk durch-
zieht und junge Lebenskeime, frische Kräfte befreit, zum Wachstum
und zum Wirken bringt.
Schon die „Monographie der Radiolarien" des 28jährigen Zoologie-
Professors weist alle diejenigen Eigenheiten auf, die als besonders
I44
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Haeckelisch überall in seinen Werken wiederkehren: Wissenschaft-
lich Neues wird mit Apostelbegeisterung in sprachlich vollendeter
Schönheit dargelegt und durch künstlerisch glänzende Zeichnungen
veranschaulicht .
Der Künstler Haeckel offenbart sich uns in den Wanderbildern
und den Kunstformen der Natur, und die Indischen Reisebriefe zeigen
unter anderem, daß ein herzlich liebenswürdiges Gemüt sich wohl
vereinbart mit der Streitbarkeit und Unerbittlichkeit des Wahr-
heitskämpen. Wie er als solchen sich gezeigt hatte in seiner Stet-
tiner Rede von 1863, in der er den Kampf aufnimmt für Darwin,
für die Entwicklungslehre — gegen das Wunder — das Naturgesetz
betont, „das weder Tyrannenwaffen noch Priesterflüche unterdrücken
können", so will er alle weihen zu Wahrheitsstreitern; nicht nur die
Fachgelehrten sollen als Geheimwissenschaft die neue Lehre haben,
allen Gebildeten will er sie bringen, und die Lehrer sollen sie der
Jugend, den Kindern des Volkes in der Schule übermitteln.
Gerade damit wurde er Begründer der neuen Menschheitskultur,
die in den beiden letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts
erfreuliche Ausbreitung gewann innerhalb der europäischen Völker
(allerdings nicht der Staaten, da ja die Regierungen und jene Kreise
sie nicht aufkommen lassen wollen, von deren eigensüchtigem Treiben
die Regierungen mißleitet und mißbraucht werden).
Die von Haeckel begründete und verkündete Einheitslehre wirkte
wie eine große Befreiungstat. Befreit wurden Hunderttausende von
Menschengeistern von dem quälenden Druck der Zwiespältigkeiten,
der Gegensätze: Gott und Welt, Seele und Leib oder Geist und Ma-
terie. Sie lernten das All-Leben in seinen Zusammenhängen erfassen,
die Einzelerscheinungen des Lebens in das Ganze einordnen. Eine
von den Ängsten um das ,,Uberweltliche" befreite, gereinigte, har-
monische Stimmung konnte die Gemüter erfüllen. Die so befreiten
Geister wurden schaffensfreudiger, schaffenstüchtiger und bewirkten
die mancherlei Fortschritte auf den verschiedensten Gebieten des
Lebens, so vor allem die Wandlungen zum Besseren im Erziehungs-
wesen.
Die Beziehungen des Menschen zur Umwelt und der Menschen
untereinander werden aufs günstigste beeinflußt durch die Einheits-
lehre, die dem Dünkel den Boden entzieht, der Mensch sei etwas ganz
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10 Haeckel-Festschrift. Bd. II 145
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anderes als alle anderen Lebewesen, da ja nur er eine unsterbliche
Seele habe, die Gott ihm mit seinem Odem eingeblasen hätte, wie er
auch nach seinem unerforschlichen Ratschluß die Ungleichheit der
Menschen untereinander gesetzt, die einen über- und die anderen
untergeordnet hätte. Die Einheitslehre, wie Haeckel sie kündete,
brachte somit die Menschen brüderlich einander näher und gab dem
einzelnen stärkeres Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen. Das habe
ich an mir selber und an zahlreichen anderen Personen feststellen
können, und zwar häufiger als zuvor seit dem Erscheinen der „Welt-
rätsel", denn die wilden Angriffe gegen diese machten auf sie einen
weit größeren Personenkreis aufmerksam, als der gewesen war, der
sich sonst mit Haeckels Werken beschäftigt hatte.
Die ethischen Wirkungen, welche durch Haeckels Werk und
Leben ausgelöst worden sind, erscheinen mir mindestens so groß
wie diejenigen der Reformation, ohne daß sie deren üble Be-
gleit- und Folgeerscheinungen gezeitigt hätten.
Im Spätsommer 1900 — gerade zu der Zeit, da Haeckel seine
zweite Reise nach Indien antrat — kam ich als einzige Delegierte
Deutschlands zum internationalen Freidenkerkongreß nach Paris.
Wie wenig Eindruck, fürchtete ich, würde auf diese Weise Deutsch-
land unter den vertretenen Nationen machen! Allein es wurde ge-
ehrt und gefeiert, war's doch das Land, in dem Haeckel die wunder-
vollen Waffen gebildet hatte, mit denen der geistige Befreiungskampf
erfolgreich geführt wurde in allen Landen.
Als wir uns anschickten, im Jahre 1904 in Rom das internatio-
nale Freidenkertum zum Kongreß zusammenzuberufen, da wagte ich
es, an Professor Haeckel zu schreiben und ihn zu bitten, dabei zu
sein — aus Vaterlandsliebe.
Kurz vorher hatte des Deutschen Kaisers Besuch beim Papste
und sein sonstiges Verhalten in Italien so sehr gegen das Deutschtum
Stimmung gemacht, daß, als bei dem beliebten Konzert auf dem
Colonna-Platze ein Wagnersches Stück gespielt wurde, das Volk
durch Zischen und Pfeifen und die Rufe „keine deutsche Musik"
protestierte, so daß uns deutschen Zuhörern vor Schmerz die Tränen
in die Augen traten.
Dann kam Haeckel. Die Presse nannte ihn und würdigte sein
Werk.
146
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Seine gewaltige wissenschaftliche Lebensarbeit, sein stolzer Wahr-
heitsmut, die Geistesschlachten, die er geschlagen hatte, die sittliche
Stärkung und Festigung, die er der Mitwelt gegeben hatte, dazu sein
Schönheitsschaffen — das alles hatte für Deutschland moralische
Eroberungen gemacht, wie sie ihm kaum eine andere Einzelpersön-
lichkeit verschafft hatte.
„Das ist der große Deutsche", sagten Mütter ihren Kindern, die
sie emporhoben, damit sie ihn sehen konnten, als er am 20. September
am Denkmal Giordano Brunos seinen Kranz niederlegte, und Jubel-
rufe ohne Ende grüßten ihn. Auch heuer hörten wir um Genua
herum, wie jene Plätze an des Mittelmeers Küste, wo er geweilt,
geforscht, geruht hat, von der Bevölkerung wie Stätten ihres Ruhms
gezeigt werden, weil Haeckel sie geweiht hat für alle Zeit.
10* 147
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EMILE YUXG, GENF
c : :
7
um erstenmal begegnete ich dem berühmten Naturforscher von
Jena am Ende des Sommersemesters 1883. Kaum hatte er Kenntnis
von dem Empfelnungsbrief genommen, den mir mein Freund Arnold
Lang, einer seiner liebsten Schüler, mitgegeben hatte, als er mir mit
reizender Liebenswürdigkeit einen Platz in seinem Laboratorium über-
ließ, wo ich den längsten Teil meiner Ferien zubrachte. Die Jahreszeit
war vorgeschritten, und Haeckel bereitete sich vor, nach Tirol abzu-
reisen. Ich hatte indessen das Glück, die letzten Stunden seiner Vor-
lesung zu hören. Der Eindruck, den sein Wort hervorbr achte, über-
stieg noch den schon so starken, den man beim Lesen seiner Bücher
gehabt hatte, denn zu der Macht seines Gedankens kam noch die
Wirkung seines persönlichen Wesens, ein eigentümlicher Zauber, der
von seiner wohlklingenden Stimme und von seinem Auge ausging.
Wenn er sprach, hielt er gern seine Blicke nach oben gerichtet, was ihm
ein begeistertes Aussehen verlieh und er überzeugte durch die Kraft
und die Vielfältigkeit seiner Argumente, sowie durch die logische
Verbindung seiner Ideen, die mit Leichtigkeit in einer reichen und
farbigen Sprache hervorgebracht wurden. Man warf ihm nur einen
gewissen Mißbrauch neugebildeter Wörter vor, welcher besonders die
Fremden, die seinem Unterricht folgten, überraschte.
Haeckel hat ohne Zweifel mehr Anhänger durch seine Werke als
durch seine Vorträge gewonnen; alle die ihn gehört haben, unterlagen
dem besonderen Zauber, den er, ohne selbst davon zu wissen, auf jeder-
mann und besonders auf die jungen Leute ausübte. Wie viele dieser
letzteren habe ich nicht gekannt, die ihm mit glühender Bewunderung
anhingen und ihn als den Meister proklamierten. Ich persönlich muß
bekennen, daß ich keinen Lehrer gekannt habe, dessen Ideen tiefer
und auch angenehmer den Verstand seiner Schüler durchdrungen
hätten, denn der Geist der Jugend empfindet ein wirkliches Vergnügen
an Verallgemeinerungen, welche den Stempel einer großen Klarheit
und Einfachheit an sich tragen.
In dem Zeitraum, von dem ich spreche, war man noch leidenschaft-
lich für oder gegen Darwin, und die französisch sprechende Jugend
verschlang die Übersetzungen der „Schöpfungsgeschichte" und der
I4S
..Anthropogenie". Zahlreiche meiner Alt - .Dssen entzündeten an
-en, mit vollendeter Klarheit geschriebenen Werken ihre Begeiste-
rung für die Entwicklungslehre. Selbst diejenigen, welche sich ni
für die Lehre erwärmen konnten, wurden doch durch die allgemeinen
Resultate der Embryologie und Paläontologie veranlaßt, nach einer
Erklärung der Tatsachen zu suchen, und es war für alle ein großer
Dienst, den ihnen Haeckel erwies, als er ihnen zeigte, daß der Ge-
lehrte nicht nur Kenntnisse, sondern auch Erkenntnisse erwerben
müsse. Durch die B-_ für die Entwicklungslehre, die er den
schon bekannten hinzufügte, noch mehr aber durch das Feuer und
die Aufrichtigkeit seiner Überzeugung, hat Haeckel in unsern Län-
dern unzählige Proselyten gemac; :
Wenn ich nach dem urteüe, was ich in der 5 riz unter meinen
Kollegen und Schülern habe beobachten können, so ist Haeckel un-
bestreitbar derjenige Naturforscher des zeitgenössis : . rn Deutschlands,
der auf die allgemeinen Ideen und auf die Art, die organische Welt
zu erklären, den tiefsten und dauerndsten Einfluß ausgeübt hat.
Wir schulden ihm alle viel Dank, und was mich betrifft, so bewahre
ich ihm eine unendliche Dankbarkeit; er bleibt in meinen An§
einer der fruchtbarsten Ideenerwecker unserer Zeit und einer der
würdigsten dazu.
ZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZZ
149
M. H. BAEGE, BERLIN-FRIEDRICHSHAGEN
o o o
Trotzdem ich schon frühzeitig — etwa im Alter von 14 — 15 Jahren
— die Glaubenslehren der evangelischen Kirche zu bezweifeln
und freigeistige Lektüre aller Art zu treiben begonnen, bin ich in
meinem Leben doch erst verhältnismäßig spät mit Ernst Haeckel
und seinen Schriften bekannt geworden. Zwar habe ich als Student
wiederholt „Die Natürliche Schöpfungsgeschichte" und die „Anthro-
pogenie" in Händen gehabt, aber sie sind mir merkwürdigerweise
in jener Zeit nicht das geworden, was mir in den vorhergehenden
Jahren die Büchnerschen Werke „Kraft und Stoff" und „Die Stellung
des Menschen in der Natur" für meine ersten Versuche zum Aufbau
einer eigenen Weltanschauung gewesen sind. Es liegt das vielleicht
daran, daß eben die eingehende Beschäftigung mit Büchner vor der
Lektüre Haeckelscher Schriften mich mit den grundlegenden Gedan-
ken der Entwicklungslehre und mit den Fundamenten einer natur-
wissenschaftlich begründeten Weltanschauung schon so vertraut ge-
macht hatte, daß mir die Haeckelschen Werke nicht mehr sensationell
genug waren. Was sie behandelten, schien mir in echt jugendlicher
Urteilsweise von meiner Büchnerlektüre her schon so bekannt und
vertraut, daß ich mich zu jener Zeit nicht dazu entschließen konnte,
sie eingehender zu studieren. Sicherlich wäre das anders gewesen,
wenn ich statt eines Büchnerbandes damals zufällig „Die natürliche
Schöpfungsgeschichte" oder die „Anthropogenie" als erstes größeres
populär-wissenschaftliches Werk in die Hand bekommen hätte. Dazu
kommt ferner wahrscheinlich die Tatsache, daß ich in meiner Studen-
tenzeit, trotzdem ich als Naturwissenschaftler immatrikuliert war und
als solcher auch regelmäßig in meinen ersten fünf Studiensemestern
fachwissenschaftliche (besonders zoologische und anthropologische)
Vorlesungen gehört und mancherlei dazu gehörige praktische Übungen
mit Eifer getrieben habe, mehr psychologisch und philosophisch inte-
ressiert war, was dann schließlich auch dazu führte, daß ich meine
letzten Studiensemester ganz der Psychologie und Philosophie wid-
mete. Dabei geriet ich dann stark unter den Einfluß von Wundt,
und das war natürlich wieder ein Grund, mich von Haeckel zurück-
zuhalten.
150
gjggggggg^gggggggggggE]E]E]E]E]E]B]E]B]E]B]E]ElE]E]E]E]B]E]G]B]EIE]E3E]E]E]E]E]E]EJE]
Erst durch die „Welträtsel" bin ich dann zu einer eingehenden
Beschäftigung mit Haeckels Ideen und zu einem gründlicherem Stu-
dium seiner Schriften veranlaßt worden. Es war im Frühjahr des
Jahres 1900 — ich war schon seit kurzer Zeit im Lehramt tätig — da
machte mich ein befreundeter Arzt auf die kurz vorher erschienenen
„Welträtsel" aufmerksam. Er lieh mir das ziemlich umfangreiche
und für meine damaligen Verhältnisse nicht billige Werk — ■ die
Volksausgabe existierte ja noch nicht — und in wenigen Abenden
hatte ich das Buch durchgelesen.
Nur wenige Werke haben mich so innerlich gepackt und von An-
fang bis zu Ende in einer so großartigen Spannung erhalten wie diese
„gemeinverständlichen Studien über monistische Philosophie". Zwar
mußte ich vom fachphilosophischen Standpunkte aus mancherlei Kri-
tik an dem Werke üben : Da vermißte ich besonders einen erkenntnis-
theoretischen Teil, da fand ich hier und da allerlei Widersprüche oder
Unklarheiten, manchen Ausführungen konnte ich absolut nicht zu-
stimmen usw. Aber das alles konnte doch den gewaltigen Eindruck
nicht vermindern, den das Werk als Ganzes auf mich gemacht hatte.
Wenn die „Welträtsel" auch in der Methode und in einzelnen Aus-
führungen nicht immer den Anforderungen strenger Fachphilosophie
entsprechen, bleiben sie trotzdem ihrem ganzen Wesen nach ein ausge-
sprochen philosophisches Werk ; denn nicht durch die fachmetho-
dische Routine — am wenigsten die der herrschenden Katheder-
philosophie — , sondern durch die Art der Problemstellung und
Problembehandlung allein bekommt eine Schrift den philosophi-
schen Stempel. Nach J. Petzoldt „besteht die Eigenart des philoso-
phischen Denkens darin, daß es das einzelne Problem nicht in völliger
Isoliertheit von allen anderen behandelt, sondern gerade im Hinblick
auf diese, im Hinblick auf die Stelle, an der es sich in dem großen Zu-
sammenhang alles Fragens und Wissens einreiht." Diese Eigenart
bildet nun geradezu den Grundcharakter der „Welträtsel", und damit
dokumentieren sie sich genügend als philosophische Schrift.
Aber auch der ausgesprochen philosophische Charakter der „Welt-
rätsel" ist es wohl allein nicht gewesen, der auf mich und viele andere
eine so gewaltige Wirkung ausübte. Wenigstens hatte ich schon man-
ches andere philosophische Werk gelesen, das in oben angedeuteter
Eigenart den Haeckelschen „Welträtseln" gleich steht und sie in fach-
151
methodischer Beziehung sogar noch übertrifft, das aber trotzdem mich
nicht so in allen Fasern ergriffen hat wie die „Welträtsel".
Man geht meiner Meinung nach deshalb auch fehl, wenn man die
„Welträtsel" lediglich als ein hervorragendes philosophisches Werk
betrachtet; sie sind unendlich mehr, nämlich ein Bekennerbuch
von unerschütterlicher Überzeugungstreue und glühendster Wahr-
heitsliebe. Man merkt es diesem Werke auf jeder Seite an, daß sein
Verfasser alle die Probleme, zu denen er Stellung nimmt, innerlich
erlebt und schwer um sie gerungen hat. Man fühlt von Anfang bis
zu Ende, daß hier ein Großer aus dem Reiche der Forschung sich
bemüht, das Beste von dem zu geben, was er nur zu geben vermag.
In eigenartiger, zugleich unzweideutiger und gründlicher Weise ver-
sucht hier ein Selbstdenker sich mit Gott, Welt und Menschheit aus-
einander zu setzen. Seine Weltanschauung ist zugleich sein Glaubens-
bekenntnis. Und in diesem Bekennercharakter ist wohl auch
letzten Endes die Hauptursache für die ungeheure Wirkung zu suchen,
die die Welträtsel auf Hunderttausende, auf Menschen aus den ver-
schiedensten Ständen, Klassen und Nationen ausgeübt haben.
Was mich persönlich außerdem für die „Welträtsel" einnimmt,
ist die klare und übersichtliche Darlegung des gesamten Naturwissens
unserer Zeit, die geradezu als eine großzügige Darstellung des Triumph-
zuges der modernen Naturwissenschaften bezeichnet werden kann.
Angezogen hat mich femer auch der (von anderen verurteüte) rück-
sichtslose Kampf gegen die Kirche und die ihr offen oder geheim ver-
bundene metaphysische Kathederphüosophie. Hier wurde kein Ver-
such gemacht, irgend einen faulen Kompromiß zwischen alter und
neuer Weltanschauung zu schließen, hier wurde keine ängstliche Leise-
treterei getrieben, sondern kräftig und ehrlich die eigene Meinung ge-
äußert und auch dem Gegner offen ins Gesicht gesagt, was von ihm
zu halten sei. Last not least gefiel mir an dem Werke die entschieden
positivistische Grundtendenz, die nur die Erfahrung als Quelle unseres
Wissens gelten läßt und allen Supranaturalismus, alle Metaphysik und
Mystik energisch ablehnt und die die Naturwissenschaften als Grund-
lage unseres Denkens, ja einer neuen Weltanschauung überhaupt er-
klärt.
Und wie es mir mit diesem Welträtselbuche ergangen ist, ist es Hun-
derttausenden ebenso ergangen und wird es noch Hunderttausenden
152
so ergehen. Eine beinahe geheimnisvolle Kraft, neues Denken zu för-
dern und neues Leben zu wecken, geht von diesem eigenartigen Buche
aus und darin liegt auch sein geradezu unerhörter Erfolg. Was dieses
Werk für die Kulturmenschheit vom Beginn des 20. Jahrhunderts
zu bedeuten hat, das ist heute noch gar nicht zu übersehen, denn noch
ist seine Wirkung nicht zu Ende. Der zukünftige Geschichtsschreiber
unserer Zeit wird das aber dereinst mit goldenen Lettern in das Buch
der Menschheitsgeschichte eintragen müssen.
Das eine steht außerdem für mich fest, daß die großzügige freigeistig-
kulturelle Bewegung, wie sie bei uns in Deutschland besonders in den
letzten Jahren eingesetzt hat, ohne die Welträtsel gar nicht möglich
gewesen wäre. Erst diese haben die geistige Struktur in weiten Kreisen
unseres Volkes schaffen helfen, die notwendig ist, um einer derartigen
Bewegung die Resonanz in den verschiedenen Ständen und Klassen
zu geben, deren sie vor allem und zunächst bedarf.
153
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CARL W. NEUMANN, LEIPZIG
o o o
Genau ein Vierteljahrhundert ist heute verflossen, seit mir als acht-
zehnjährigem Jüngling zum ersten Male der Name Ernst Haeckels
und mit ihm zugleich ein Exemplar seiner Natürlichen Schöpfungs-
geschichte vor Augen kam. Ich saß noch auf der Schulbank in jenen
Tagen, aber ich weiß es, als wäre es gestern gewesen, daß dieses selt-
same Buch wie noch nie eines vorher mich anzog, daß ich es wie ein
Heiligtum hütete, nachts mit ins Bett nahm und tagsüber jede freie
Minute benutzte, um mir seinen Inhalt zu eigen zu machen. Der
Eifer, mit dem ich es las, und die Torheit, daß ich in den heiligen
Räumen der Schule mein volles Herz nicht wahrte, hat mir zwar
manche recht peinliche Stunde bereitet, allein die beglückende Freude,
das Reich einer neuen Erkenntnis betreten und auf die beklemmende
Zweifelsfrage des „Woher und Wohin" eine bündige Antwort erhalten
zu haben, überwog alles Ungemach. Seit dieser Zeit bin ich Haeckel
getreu geblieben, und meine Verehrung für ihn ist der Ausdruck des
Dankes für alles, was er mir damals und seitdem gegeben hat.
Wie ich über Haeckel und seine Werke im einzelnen denke, das
habe ich an anderer Stelle (in der Einleitung zu dem in Reclams
Universalbibliothek erschienenen Bändchen „Natur und Mensch",
sechs Abschnitte aus Werken Ernst Haeckels) ausführlicher dar-
gelegt. Es ist mir aber Bedürfnis, dem noch hinzuzufügen, daß ich
in Haeckel nicht nur einen der kenntnisreichsten und verdientesten
Naturforscher, sondern auch einen der ehrlichsten und konsequen-
testen Denker erblicke, eine der markantesten und gleichzeitig mutig-
sten und charaktervollsten Persönlichkeiten der Gegenwart. Noch
schwankt ja — viel mehr, als es sonst bei den Lebenden biblischen
Alters der Fall ist — sein Büd von der Parteien Gunst und Haß ent-
stellt in der Geschichte: man läßt ihm als Forscher den Ruhm, der
ihm zukommt, aber man will ihn als Aufrüttler schlafender Seelen
nicht gelten lassen und scheut sich davor, ihn bis auf die obersten
Gipfel seiner monistischen Philosophie zu begleiten. Und wenn ich
mir's recht überlege, so finde ich's nicht einmal sonderbar. Zum ersten
ist es nicht jedermanns Sache, im Sturmschritt die obersten Gipfel
zu nehmen, wie Haeckel es Zeit seines Lebens geliebt hat, und anderer-
es] G^s^gsGJSiSiäigSSEilEilSSlJilS
154
g^5^gB]g!3]E]^gE]ggggggggggE]ggggggggE]E]E]glG]E]E]B]E]E]G]E]E]E]E!E]E]E]E]G]E]
seits ist es wenigen möglich, sich so bis ins einzelne mit den Ideen und
dem Lebenswerk dieses Stürmers und Drängers vertraut zu machen,
wie es zur gerechten Beurteilung seiner Persönlichkeit notwendig ist.
Ich bin aber sicher, daß kommende Generationen, die ruhiger wägen
und urteilen können, den Gegenwartsstreit und Gegenwartshaß, der
mit Haeckels Namen verknüpft ist, nur schwer noch verstehen, und
daß sie trotz mancherlei Abstriche an seinem Lebenswerke ihm un-
bestritten den Ruhm eines glänzenden Pioniers im Kulturleben der
Menschheit zuerkennen werden.
155
KARL BRAUCKMANN, JENA: ERNST HAECKEL,
WESEN UND WIRKUNG SEINER ERSCHEINUNG
0 0 0
Die Strahlen des Lichtes, das Ernst Haeckel in Jena entzündet,
drangen um die Mitte der siebziger Jahre auch in das kleine west-
fälische Haardorf, in dessen einklassiger, später zweiklassiger Dorf-
schule ich damals dem „Lichte der Erkenntnis" entgegengeführt wer-
den sollte. Es geschah das außer mit Lesen, Schreiben und Rechnen
mit 6 wöchentlichen Religionsstunden, regelmäßigem Leichengesang
auf dem Friedhofe und zweimaligem sonntäglichen Kirchgang, wozu
sich später noch ein Jahr lang ein wöchentlich zweistündiger „Kat-
echumenunterricht" und ein weiteres Jahr lang der wöchentlich zwei-
stündige „Konfirmandenunterricht" gesellte. Der Unterricht in den
„Realien", die nach den Falkschen Allgemeinen Bestimmungen auch
zu lehren waren, bestand in etwas Geographie, einer sehr oberfläch-
lichen Tier- und Pflanzenbeschreibung (ohne eigentliche Beobachtung)
und preußischen Königsanekdoten. Man sieht, daß solche Veranstal-
tungen in der Hauptsache dazu angetan waren, „unser Wissen und
Verstand mit Finsternis zu umhüllen". Am meisten wurde geredet
über die Sünde, über Erkenntnis und Bekenntnis derselben, über Reue
und Buße und Vergebung, gelegentlich auch über die „Erleuchtung
durch den heiligen Geist". Nach meinem damaligen Empfinden waren
das alles sehr hohe, mir aber unfaßbare, insbesondere sehr unsym-
pathische Dinge. Hölle und Teufel spielten in diesem Unterricht auch
noch ihre große Rolle, doch befreite mich die Aufklärung meines Vaters
bald von diesen Gespenstern. „Dem Frommen gehet das Licht auf
in der Finsternis", war mein Konfirmationsspruch, und ich verließ die
Schiüe, gesättigt vom Widerwillen gegen sie und die Kirche. Aber wie
gesagt, damals fielen auch die ersten Strahlen des Darwinismus in mein
Leben, und der Träger dieser Strahlen muß nach meiner Erinnerung
der „Lahrer Hinkende Bote" gewesen sein, ein Jahreskalender, der in
meinem kleinbäuerlichen Elternhause mit viel Freude gelesen wurde und
der mir neben meinem selbständig und klar denkenden Vater viel An-
regung und Aufklärung gab. Zur selben Zeit wurde ich außerschulisch
mit Lessing, Schiller und Goethe bekannt und mit dem Nibelungenliede.
Letzteres las ich mit Begeisterung und Rührung, und die Klassiker
156
GJ 3J 3jSJ3]3]3] g SJSJEJöJS; 3]j]3]3]3]GjSj333]S] 3J3J3J5JS33J3J3JSJ EJ3J3J3J3J 3J3J3J3] 3J 3J3JSJ3JG] 3J3J3J3J5J
spornten zur Kraftanstrengung im Denken. Dan ben machte mir das
freie Leben in Feld. Wiese und Wald die Natur vertraut und lieb. Nach
dem Verfassen der Dorfschule aber waren Naturwissenschaften und
Literatur die beiden Leuchten, welche allmählich den Dunstkreis völlig
zerstreuten, mit dem die oben charakterisierte Jugendlehre mir die
schöne strahlende Welt verhüllt hatte. Meine ..innere Entwicklung"
blieb dann eine konsequente, stetige und ruhige, von irgendwelchen
..Erschütterungen" und ..inneren Kämpfen" blieb ich verschont. Ich
kann diese Entwicklung rückblickend nur als einen natürlichen Erlö-
sungs-und Befreiungsprozeß bezeichnen, und daß sie sich so vollzog, ver-
danke ich meines Erachtens zum großen Teüe dem Umstände, daß die
Ideen Haeckels und das Nibelungenlied so früh als wirksame Bestand-
teile in mein Bewußtsei] gingen und in meinem Wesen den angebore-
nen Natursinn und das überkommene Germanenerbe wachsen machten.
Als Dreißigjähriger kam ich nach Jena und erfreute mich immer
mehr an Haeckels großartiger Persönlichkeit, an seinen Vorträgen
und Schriften. Zur Aufklärung und Belehrung, die ich ihm verdankte,
gesellte sich nun das Staunen und die Bewunderung über den Reich-
tum dieses Lebens, seine Schaffenskraft und seine Leistungen in wissen-
schaftlicher und künstlerischer Hinsicht. Ich erfuhr an mir selbst den
Segen, den das Yorbüd eines lebenden Führers und Helden für die För-
derung und Festigung einer Eigenart bedeutet, die den oben skizzierten
Entwicklungsgang genommen. Haeckels Altenburger Vortrag ,,Der
Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft" (1892) und
die ..Welträtsel" lösten dementsprechend in mir eine große Befriedigung
und Freude aus. Sah ich doch nun im Bewußtsein des Menschen die
Wiedereinmündung des historischen, menschlich kulturellen Werdepro-
zesses in die allgemeine, natürliche Entwicklung sich vollziehen, so daß
fortan ..Natur und Geist" uns eine ebensolche Einheit bedeuten wie
„Gott und Welt", ..Seele und Leib". Daß Natur die „Alleinheit", die sie
von Ewigkeit her war und in Ewigkeit bleiben wird, nun auch im Be-
wußtsein des Menschen sein und bleiben wird, und ihn so aus den un-
seligsten Zwiespatten zum mneren Frieden, zur Emigkeit mit sich selbst
führen und zur Selbstsicherheit, Selbstverantwortlichkeit, zum ., Eigen-
sein", ..Eigensinn" in des Wortes edler Bedeutung, und, in der Sprache
der Religion ausgedrückt, zur „Ruhe in Gott" befähigen wird. Nicht zu
jener passiven Ruhe, die die Gottsucher sich ersehnten, sondern zu einer
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*57
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tätigen, schaffenden, neues Leben zeugenden und gebärenden Ruhe,
die eine reinere, schönere, höhere Lebens- und Weltgestaltung sichert.
Die „Welträtsel" und „Lebenswunder" erscheinen der objektiven
Betrachtung als ein einheitliches, in sich geschlossenes Kunstwerk,
und das nicht bloß, weil sie als zusammenfassende Krönung von
Haeckels Lebensarbeit den Zusammenschluß seiner vielseitigen For-
schungs- und Denkergebnisse zu einer einheitlichen Darstellung des
Weltganzen in seinem Werden und Sein darstellen, sondern auch inso-
fern, als sie den Zusammenschluß der verschiedenen Seiten seines
Wesens, als sie Haeckels Selbst Objektivierung bedeuten. Und noch
einen anderen Zusammenschluß stellen sie dar: Daß die Welträtsel
für Hunderttausende und Millionen die befreiende Tat bedeuteten,
die sie an das ersehnte Ziel der einheitlichen Denk- und Bewußtseins-
gestaltung brachten, und daß diese Millionen gerade an der Linie ihrer
Entwicklung angelangt waren, wo ihnen diese Tat die Erlösung, die
Erfüllung bedeutete, ist in weittragendem Maße Haeckels eigener un-
ermüdlicher Forscher- und Aufklärungsarbeit zu verdanken. Wurde so,
was objektive Zusammenfassung, subjektiver Abschluß war, zum sub-
jektiven Erlebnis von Millionen, so erlebte nun Ernst Haeckel, der wäh-
rend der Jahrzehnte seiner Forscherarbeit sein Erforschtes, Erdachtes
und Empfundenes vorbehaltlos auch seinem Volke gegeben hatte, in
dem großartigen Widerhall, den die Welträtsel fanden, seinerseits noch
einmal subjektiv die Zusammenfassung, die Krönung seines Wirkens
und „Lebens im Ganzen". Die Wirkungen, die seit Jahrzehnten von
ihm ausgegangen, kehrten zurück, ihm die beglückende Gewißheit zu
bringen, daß er ein Heros, ein Lichtbringer, ein Befreier und Erlöser
dem Volke, der Menschheit geworden war. Die Zeit war wieder einmal er-
füllt, das Volk reif für die monistische Welt- und Lebensauffassung, und
Ernst Haeckel war Werkzeug, war Mittler dieser Entwicklung gewesen.
Der Monistenbund mußte nun kommen, und Haeckel gründete ihn.
Und nun noch ein Wort zu dem Zauber, den Ernst Haeckels
Persönlichkeit ausübt. Die hohe, kräftige, elastische Gestalt, der
mächtige Kopf, die milden, klarblickenden, blauen Augen, das Offene,
Fröhliche, Freudige, Freundliche und Liebevolle seines Gesichtsaus-
druckes, die sprudelnde Frische und Lebhaftigkeit seines Vortrages
und seiner Unterhaltung stehen in einem wunderbaren Einklang mit
der Vielseitigkeit seiner Interessen und seiner Betätigung. Das Taten-
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frohe, Freudige und Sieghafte seines Wesens erinnert unwillkürlich an
das Offene, Selbstverständliche im Wesen eines gesunden, kraftvollen
Kindes, das, ganz und gar in Einklang mit sich und der Welt stehend,
alles als selbstverständlich hinnimmt, weil es da ist, das unbewußt die
volle Lust des Werdens genießt. Ein „Werdender" erscheint uns Haek-
kel noch mit seinen 80 Jahren, und als solcher ein „immer Dankbarer".
So, denken wir uns, schaute der Grieche seine Welt an, so lebte er in ihr,
schaffend, genießend, kämpfend und siegend, so der Germane. So, wenn
ich Ernst Haeckels Wesen kurz zeichnen will, steigt mir immer wieder
der altgermanische Held ins Bewußtsein. Wie Richard Wagner uns
den Siegfried bildete, der unbekümmert und unbeirrt seinen Weg
geht, seiner Empfindung, seiner Erkenntnis, seiner Überzeugung
folgt, dem alles selbstverständlich, „aus sich selbst verständlich,
natürlich" ist (auch seine eigene Art) und der, unbekümmert um die
mögliche Wirkung, dieser Art gemäß redet und handelt und dann den
Folgen dieses seines Redens und Handelns wieder mit derselben Selbst-
verständlichkeit entgegentritt. So ergibt sich der volle Einklang mit
dem eigenen Selbst und mit dem Dasein, mit der Welt, wie sie ist, so
das Alleinsein im Alleinssein. So das Leben leben, heißt das eigene
Selbst bewahren, ihm seine Entwicklung sichern, es als das Selbstver-
ständliche hinnehmen, es anerkennen und überzeugt sein, daß, was man
auch zu geben habe, man besseres als die eigene Wesensart, das eigene
Selbst, nicht geben kann. „Der Gerechte wird sei nes Glaubens leben!"
So bewahrt der reife Mann sich die Kindlichkeit und Wesensein-
heit, sich und die Welt anerkennend als das Selbstverständliche. Was
im Griechentum uns entzückt, was das Evangelium als das Höchste
preist, das „Werden wie die Kinder", das „Himmelreich im Herzen
tragen", was uns im Siegfried als urgermanisches Ideal entgegentritt
in Empfindung, Denken und Betätigung, das finden wir in Ernst
Haeckel verkörpert! Das ließ ihn seine großen Werke schaffen, seine
ungeheuren Arbeitsleistungen vollbringen, sein Leben so reich gestalten
in Schaffensfreude, Genuß, in Kampf und Sieg. Das ließ ihn zusam-
menfassen alle Ergebnisse seines reichen Schaffens, seines Beobach-
ter und Denkens, seines künstlerischen Anschauens im „Monismus".
Die All- Einheit alles Seienden lehrte er uns erkennen — als Er-
gebnis seiner objektiven Arbeit — , die Alleinheit des individuellen
Seins lebte er uns vor!
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HANS GADOW, CAMBRIDGE, ENGLAND
o o o
Anfangs der siebziger Jahre lasen einige von uns Primanern des
Gymnasiums zu Frankfurt a. O. Büchners „Vorlesungen" und
„Kraft und Stoff". Als diese gefährliche Beschäftigung herauskam,
wurden der Klasse als Gegenmittel Ciceros tuskulanische Disputa-
tionen und Natur der Götter verordnet. Dieses Zeug entsprach nicht
den gehegten Erwartungen. Dann fiel mir das Kollegienheft eines
Künstlerfreundes in die Hände, welches er, mit vielen bunten Bildern
verziert, in Haeckels Vorlesungen unverständlich nachgeschrieben
hatte. Ich hoffte auf kommende Aufklärung in Berlin, aber da war
nichts zu holen in den biologischen Kursen, außer streng systemati-
scher Beschreibung, die auch ihr Gutes hat, und Du Bois Reymonds
mit hinreißender Beredsamkeit gehaltenen Vorlesungen über Dar-
winismus. Dort erwarb ich die Freundschaft Richard Böhms, des
späteren Entdeckers der Meduse im Tanganyika. Auf unseren Streif-
zügen in den märkischen Forsten meines Vaters wurde mein lieber
Jagd- und Strolchgenosse nicht müde, den „stieren Nabel des Rei-
ches" mit dem frisch, frei, frohen Jena zu vergleichen. „Du geh'
nach Jena, zu Haeckel."
In Jena fühlte ich mich in eine andere Welt versetzt. Biologie
im weitesten Sinne wurde dort getrieben (einige von uns erfanden
den Titel stud. biol.) ; es war beruhigend und erleichternd für den
Anfänger, daß die Leiter der Zoologie, Botanik und menschlichen
Anatomie und Physiologie, Haeckel, Straßburger, Schwalbe und
Preyer in Auffassung und im Anfassen der Grundsätze miteinander
harmonierten. Die zahlreiche Zuhörerschaft aus aller Herren Länder,
und nicht nur aus Fachleuten bestehend, brachte es mit sich, daß
unter uns die verschiedensten Beurteilungen des Meisters, seiner
Lehren und Art ihrer Behandlung oft in bewegtester Weise besprochen
wurden. Es ergaben sich da manche sehr treffende Kritiken: „Was
er als sicher annimmt, ist gerade das, was noch die meiste Arbeit
kosten wird, eine Hauptsache, an die vor ihm niemand gedacht hat."
„Der Haeckel ist kein Gegenbaur und der Gegenbaur ist kein Haeckel",
wie ein sehr philosophisch geschulter Russe einmal erklärte, mit
komischer Verwechslung des G und H. Es mag frivol erscheinen, so
160
etwas niederzuschreiben, und doch enthalten obige Aussprüche den
Kern richtiger Beurteilung. Haeckel war damals in seiner Vollkraft.
Ich habe ihn nur von seiner liebenswürdigen Seite kennen gelernt,
stets bereit zu erklären, zu helfen, zu ermuntern, zu trösten, wo
unüberwindliche Schwierigkeiten das Verständnis seiner Hypothesen
bedrohten.
Es war ein erhebender Genuß, und von nachhaltiger Wirkung,
wenn der stattliche Mann, leuchtenden Blickes und scheinbar seiner
Zuhörer vergessend, eines seiner großen Probleme besprach. Es schien
alles so klar, schön, beinahe einfach; da war Zusammenhang; es konnte
ja gar nicht anders sein. Waren das nur Visionen? Bilder, Blicke
eines genialen, mutigen Mannes auf hohem Standpunkte, die sich
da entrollten, ermutigend selbst zu versuchen, in das Gewirr eines
tropischen Urwaldes einzudringen, mit der Hoffnung, an freier Stelle
einen Überblick seiner berauschenden, großartigen Schönheit zu ge-
winnen. So manche dieser Visionen haben sich als sehr fruchtbar
erwiesen, und die neuen Gefilde wären sonst nie entdeckt worden.
In solchen Fällen durfte man ihm nicht mit Kleinigkeiten kommen,
und doch konnte er streng genug sein, wenn er Pfuscherarbeit ent-
deckte. Wer den Wald vor Bäumen nicht sieht, kann den Wald nicht
beschreiben.
Wir alle machten in Stammbäumen. Ganze Wälder sind seitdem
entstanden und viele, vielleicht die meisten dieser sonderbaren Phan-
tasiegewächse sind sicher falsch, zur Freude nörgelnder Neider. Aber
wer dachte denn vor ihm an graphisch darstellbare Entwicklungs-
reihen? Schließlich ist es doch dahin gekommen, daß die Vision des
Weltenbaumes anfängt sich zu verwirklichen. Dank der rastlosen
Arbeit von Freund und Feind, so daß unter fortwährendem Nieder-
hauen, Beschneiden und Pfropfen auch hier das Selektionsprinzip zur
Geltung kommt. Stammbäume sind allerdings nicht das Endziel
unserer Wissenschaft. Bestenfalls enthalten sie zwar alle morphologi-
schen Resultate in zeitlicher Reihenfolge, den Tatbestand, daß etwas
gerade so geworden ist wie es ist, vielleicht auch das Wie durch An-
passung und Vererbung, aber noch lange nicht das Warum?
Ich verdanke es Haeckel, daß er mir riet, bei Gegenbaur weiter-
zuarbeiten. „Dort werden Sie in strenger Schule lernen, wie schwer
es ist, Tatsachen zu entdecken und zu verknüpfen." Die anscheinend
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ii Haeckel-Festschrift. Bd. II l6l
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so exakte, streng wissenschaftliche Methode der neueren vergleichen-
den Anatomie, durch Gegenbaur begründet und ausgebaut, indem er
sie vom Standpunkte der Transformation behandelte — ließ das Bild
Haeckels im Laufe der Jahre verblassen. Seine Streitschriften er-
schienen der Methode Gegenbaurs nicht ebenbürtig, nicht wissen-
schaftlich genug. Nun, da man selbst das Fazit langer Jahre des
Lernens und Lehrens ziehen möchte, ergibt sich ein bedenkliches
Resultat: Welche der seit einem Menschenalter emsig bearbeiteten
Hypothesen, Theorien Gegenbaurs sind endgültig erledigt ? Etwa der
Ursprung der paarigen Gliedmaßen, oder auch nur der Fünffinger-
hand ? Metamerism mit dem Streite über Ex- und Interkalation usw. ?
Und trotzdem operieren wir mit den Prinzipien, die doch gerade erst
durch diese und ähnliche Probleme ihre Berechtigung erhalten. Und
wie steht es mit den Phylogenien; gerade über die kritischen Haupt-
punkte, die Verknüpfung der Klassen miteinander, sind wir noch
absolut im Dunkeln. Trotzdem sind wir weiter, oder glauben wenig-
stens, weiter zu sein als vor fünfzig Jahren, und zwar weil wir die
Phantasie — nenne man es idealistische Methode — nicht nur nicht
entbehren können, sondern bewußt und unbewußt, oft wider Willen,
angewandt haben. Das aber ist zum großen Teil ,,Haeckelismus".
Es ist sein eigentümliches Schicksal, daß dieser Genius vor nahezu
50 Jahren in der „Generellen Morphologie der Organismen" so ziemlich
das Gesamtbild entworfen hat, so daß es sich später nur noch darum
handeln konnte, die Einzelheiten der grandiosen Komposition auszu-
führen und zu verbessern. Weshalb dieses allerdings längst vergriffene
bedeutendste biologische Werk aller Zeiten den jetzigen Fachmännern
kaum bekannt ist, bleibt unverständlich, zumal da doch so mancher
Biologe erfahren haben muß, daß seine neusten, Epoche machenden
Entdeckungen längst in der Generellen Morphologie dargelegt waren.
Haeckel hat aber in seinem langen, an Arbeit und Kämpfen reichen
Leben noch viel mehr gewirkt, weit hinaus über die Biologie im engeren
Sinne: kulturhistorisch. Obwohl kein eigentlicher „Tierfreund", ist
er nie müde geworden, in künstlerischer Auffassung auf die ästhetische
Freude an der Natur hinzuweisen. Daß die „Kunstformen der Natur"
so wenig praktischen Erfolg haben, ist ein trauriges Zeichen ver-
lodderter Bildung und Richtung, welche die Lügenkunst gezeitigt
haben, wie solche an höchster Stelle gebrandmarkt worden ist.
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Zweitens hatHaeckel versucht, das Fazit zu schreiben; das ganze,
große Endresultat der gesamten Naturwissenschaften und deren Kern
ist und bleibt für die Menschheit das große dreifache Rätsel: Was
sind wir, woher kommen und wohin gehen wir? Viele haben sich
daran versucht, seit Jahrtausenden, aber wenige Naturforscher und
noch weniger Fachzoologen, die doch schließlich allein dazu imstande
sind. Die „Welträtsel" und noch mehr die „Lebenswunder" haben
auch außerhalb Deutschlands einen viel viel größeren und nachhal-
tigen Eindruck gemacht, als von mancher Seite zugestanden ist.
Der nicht zu leugnende teilweise Mißerfolg läuft am Ende auf eine im
Grunde bedauernde Ablehnung der polemischen Schreibweise hinaus.
Was anderen heilig erscheint, kann man nicht mit beißendem Spott
widerlegen. Das ist das sicherste Mittel, diejenigen, welche so glück-
lich oder unglücklich sind, gedankenfeste Schotten zwischen Ver-
nunft und Neigung zu besitzen, zu verhindern, hinüberzusehen, ge-
schweige die Scheidewand zu öffnen oder gar über Bord zu werfen.
Auch der Willigste braucht Zeit, ihm in der Kindheit Liebgewordenes
aufzugeben, und für was? Phrasen, die bei kühlem Nachdenken sich
als kindlicher Unsinn erweisen, aufzugeben für andere Phrasen, die
zwar reiner Vernunft entspringen, aber im Grunde unverständliche
Begriffe sind. „Gott und die Welt" einzeln genommen sind ebenso
unverständlich wie die „Gott-Natur", die Dreieinigkeit von Stoff,
Kraft und Gefühl oder Bewußtsein. Alles Philosophieren führt schließ-
lich zu etwas, bei dem man sich nichts weiter denken kann. Der
Monist löst den dualistischen Doppelknoten, indem er an dessen Stelle
einen dreifachen schürzt, eine Dreieinigkeit, im Vergleich mit welcher
die kirchliche harmlos erscheint.
Bei seinem letzten Besuch in unserem Landhause sprach mein
verehrter alter Lehrer und Freund mit uns in liebenswürdigster und
toleranter Weise über die „religiöse Borniertheit der Engländer,
dieses sonst so hochkultivierten, freien, willensstarken Volkes". Den
Geist dieses Volkes — es gibt hier wie drüben unversöhnliche Ex-
treme — zu verstehen, ist für mich seit mehr als 30 Jahren ein an-
ziehendes Problem. Man anerkennt die angelsächsische ausgespro-
chene Individualität, Selbständigkeit und zugleich Selbstunterwerfung
für das Gemeinwohl. Das ist Willensstärke der „praktischen Eng-
länder", wie sie bis vor kurzem oft genannt worden. Sie haben auch
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ihre Ideale, aber sie wissen auch ihnen mit praktischer Vernunft
Grenzen zu setzen, Grenzen, die sich verschieben lassen, aber doch
Grenzen bleiben. Der reine Idealist ist der größte Fanatiker und Be-
kehrer. Bisher hat die Weltgeschichte noch nicht gezeigt, daß radi-
kaler Rationalismus, rücksichtsloser Fortschritt in Glaubenssachen
den Massen inneren und äußeren Frieden gebracht hat. We can
easily make the World worse, but it is slow wqrk to make it better.
Haeckel, der weitschauendste aller Gesamtzoologen, zitiert Goethe
so oft als ultima ratio. Weshalb nicht auch: „Wo die Begriffe fehlen,
da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein" ? Ewigkeit der Substanz,
Äther, Bau der Atome, Schwere, Leben, Bewußtsein. Wer ist denn
nun der Bornierte? Der, dessen Geist sich „entwickelt" hat, oder
der sich seiner als momentanes, lebendes Stäubchen der Welt be-
wußt, willensstark genug ist, in von ihm selbst gezogenen Grenzen
zu wirken? „Da wo ihr's packt, da ist es interessant," mehr als ge-
nügend „derer Leute ihre verfluchte Curieusität" zu beschäftigen.
Metaphysische Gedanken, Träumereien, denen sich wohl niemand
verschließen kann, bleiben innerstes Eigentum.
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I64
RICHARD HERTWIG, MÜNCHEN: WIE ICH ERNST
HAECKELS SCHÜLER WURDE
o o o
Es sind jetzt 45 Jahre her, daß der herannahende Abschluß unserer
Gymnasialzeit meinen Bruder Oscar und mich vor die Not-
wendigkeit stellte, uns für eine Universität zu entscheiden. Vorüber-
gehende Kränklichkeit meines Bruders, Beschleunigung meines Ele-
mentarunterrichts durch einen Privatlehrer waren Ursache gewesen,
daß wir beide trotz eines Alterunterschiedes von 1V2 Jahren gleich-
zeitig in das Gymnasium in Mühlhausen i. Th. eintraten und damit
die Periode gemeinsamer Arbeit begannen,, welche mit geringen Unter-
brechungen uns bis zu meiner Berufung nach Königsberg vereinte.
Unser Vater hatte frühzeitig bei uns Interesse für Naturwissenschaften
wachgerufen. Er hatte selbst bei Liebig in Gießen mit Begeisterung
Chemie studiert und hätte gern sich der akademischen Laufbahn
gewidmet; Familienverhältnisse hatten ihn gezwungen, diesem Lieb-
lingswunsch zu entsagen und sich dem Kaufmannsstand zu widmen,
ein Verzicht, der auf sein ganzes Leben einen tiefen Schatten warf.
So reifte in ihm die Idee, daß wir beide Chemie studieren möchten,
um vielleicht ein Ziel zu erreichen, welches ihm selbst versagt ge-
blieben war. Für Zoologie hatten wir keinerlei Interesse. Wir hatten
zwar vorübergehend unter Leitung eines Volksschullehrers Käfer und
Schmetterlinge gesammelt, aber diese Anregungen hatten keine dau-
ernde Nachwirkung gehabt, weil der Unterricht in Zoologie, welcher
sich auf die unteren Klassen des Gymnasiums beschränkte und in
einem Auswendiglernen der Linneschen Systematik bestand, so geist-
los betrieben wurde, daß die Idee, selbst einmal Zoologe zu werden,
mir damals unbegreiflich erschienen wäre.
Wenn bei dieser Sachlage unser Entscheid schließlich auf Jena
fiel, so war hierfür der Einfluß unseres Gymnasialdirektors Prof.
Wilhelm Osterwald ausschlaggebend, mit welchem uns ein inniges
Freundschaftsverhältnis verband. Derselbe war eine außergewöhn-
liche Persönlichkeit. Ein Freund des Komponisten Franz, welcher
manche seiner Gedichte komponiert hat, selbst dichterisch und musi-
kalisch veranlagt, ein Feind aller Pedanterie, besaß er einen außer-
gewöhnlichen Einfluß auf seine Schüler, besonders auf uns beide.
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165
Er riet uns, nach Jena zu gehen, weil dort Haeckel lehrte, welcher
in Merseburg sein Schüler gewesen war und, als Haeckels Eltern
Merseburg verließen, in Osterwaids Haus den Rest seiner Gymnasial-
zeit verbracht hatte. Haeckel und wir beide seien, so äußerte er sich,
seine drei liebsten Schüler; es sei ihm daher ein Herzensbedürfnis,
daß wir drei im Leben einander näher treten möchten. Haeckels
Name war damals in wissenschaftlichen Kreisen rühmlichst bekannt,
aber in weitere Volkskreise noch nicht vorgedrungen, besonders nicht
in eine außerhalb aller modernen Verkehrsmittel gelegene kleine Stadt,
wie damals Mühlhausen war. So war Haeckel uns völlig unbekannt.
Dagegen erfreute sich Jena wegen roher Studentensitten und des damals
noch herrschenden übermäßigen Biergenusses des denkbar schlechtesten
Rufes, so daß es Osterwald nicht leicht fiel, unseren und unserer Eltern
Widerstand gegen seinen Vorschlag zu überwinden. Schließlich gelang
es ihm aber doch, und so siedelten wir, bewaffnet mit einem Em-
pfehlungsschreiben an Haeckel, im April 1868 nach Jena über.
Unvergeßlich ist mir die bezaubernde Liebenswürdigkeit, mit wel-
cher Haeckel damals gleich von Anfang uns beide weltfremden, im
engsten Familienkreise aufgewachsenen jungen Studenten — ich zählte
17 V2 — Jahre aufnahm. Wenige Tage nach unserer Ankunft forderte
er uns zu einem gemeinsamen Nachmittagsspaziergang nach den Kern-
bergen auf. Dem ersten folgten bald weitere Spaziergänge, auf denen
er uns mit den ihm so ans Herz gewachsenen Schönheiten der Um-
gegend Jenas bekannt machte. Oder wir wurden eingeladen, des
Abends mit ihm im Garten seiner Schwiegermutter , der Witwe des
verstorbenen Anatomen Huschke, Boccia zu spielen. Auch mit
seinem Freund Carl Gegenbaur suchte er uns in nähere Beziehung
zu bringen, ein Versuch, welcher vonseiten des durch den Tod seiner
Frau verbitterten und dadurch noch unzugänglicher gewordenen
harten Mannes damals eine eisige Zurückweisung erfuhr.
Haeckel stand, als ich ihn kennen lernte, auf dem Zenith seiner
Leistungsfähigkeit. Fünf Jahre vorher war seine Monographie der
Radiolarien erschienen und hatte ihm reiche wissenschaftliche An-
erkennung eingetragen. Im Jahre 1866 war die generelle Morphologie
gefolgt, in welcher er die hohe Auffassung, welche er von den Auf-
gaben der wissenschaftlichen Zoologie besaß, und zugleich seine Be-
geisterung für die Abstammungslehre zum Ausdruck gebracht hatte.
166
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Von seiner kurz zuvor ausgeführten Reise nach den kanarischen Inseln
hatte er das Material zu seiner Entwicklungsgeschichte der Siphono-
phoren mitgebracht. Im Winter 1867/68 hatte er durch seine Vor-
lesungen über natürliche Schöpfungsgeschichte sich durch den Frei-
mut, mit welcher er seine ganze Persönlichkeit für die Darwinsche
Lehre einsetzte, die Herzen der Studenten erobert. Die im Sommer
erscheinende Veröffentlichung dieser Vorlesungen in Buchform trug
seinen Namen in die weitesten Kreise hinaus. Dazu kam, daß er,
von den kanarischen Inseln zurückgekehrt, durch die Verheiratung
mit seiner jetzigen Frau neues Familienglück gefunden hatte. Dies
alles erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl und einer jubelnden Begei-
sterung, wie ich sie an keinem Menschen je wieder erlebt habe. Am
unmittelbarsten kam diese überschäumende Jugendlust auf unseren
gemeinsamen Spaziergängen zum Ausdruck. Wenn die Schönheit
und Urwüchsigkeit der Jenenser Landschaft, von der ja leider soviel
den praktischen Bedürfnissen der Neuzeit zum Opfer gefallen ist,
ihm es angetan hatten, konnte er eine Ausgelassenheit sondergleichen
entwickeln; dann wälzte er auf die Kante gestellte Steine die steile
Berghalde hinab und konnte sich wie ein Kind freuen, wenn sie recht
gewaltige Sprünge ausführten.
Selbst voller Enthusiasmus verstand es Haeckel wie kein anderer,
seine Schüler für das, was ihn bewegte, zu begeistern. So ist es denn
gekommen, daß die Idee, Chemie zu treiben, bald vollkommen in den
Hintergrund gedrängt wurde und wir beide ganz für die Morphologie
gewonnen wurden. Haeckels Rat und Beispiel folgend, widmeten wir
uns dem Studium der Medizin, mit der Absicht, nach bestandenem
Staatsexamen zur Anatomie oder Zoologie zurückzukehren.
Die herzlichen Beziehungen zu Haeckel wurden dadurch noch enger
geknüpft, daß ich zweimal — beidesmal gemeinsam mit meinem
Bruder Oscar — Gelegenheit hatte, ihn auf zoologischen Reisen zu
begleiten. In den Osterferien 1871 vereinigte uns ein Aufenthalt
im Kloster zu Lesina, einem alten Standquartier von Botanikern
und Zoologen auf einer der schönsten dalmatiner Inseln, wo der einzige
das Kloster noch bewohnende Mönch, der Pater Buonagrazia, ein für
die Musik und die modernen Naturwissenschaften schwärmender und
in ihnen wohl orientierter Mann, uns gastliche Aufnahme gewährte.
Es waren arbeitsreiche Tage, an denen vom frühen Morgen bis späten
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167
Abend gefischt, präpariert und mikroskopiert wurde. Unterkunft
und Verpflegung waren die bescheidensten, welche ich, obwohl an
Einfachheit gewöhnt, je erlebt habe. Und doch stehe ich jetzt nach
42 Jahren noch ganz unter dem Zauber der Erinnerung, wenn ich an
die damalige Zeit zurückdenke, an das mit unserem liebenswürdigen
Wirt gemeinsam im alten schönen Refektorium eingenommene Mahl,
bei welchem eine Suppe aus Wasser und Fleischextrakt die beste
Würze war, an die Ausfahrten auf das blaue Meer mit seinem wunder-
vollen Ausblick nach dem gebirgigen Lissa, den von Asphodelus über-
wucherten Inselchen der Spalmadori und die am Berg angelehnte Stadt
mit ihrem malerischen Kloster, an die Klippenfischerei , bei welcher es
nicht selten zu einem lustigen Krieg der drei Zoologen kam, an die an
die Arbeitstage zeitweilig sich anschließenden Spaziergänge und den den
Abschluß der Reise bildenden Ausflug nach Zara, Sebenico, Spalato,
Ragusa, Cattaround Cettinje. Inmitten dieser Fülle der schönsten Ein-
drücke stehte die Lichtgestalt Haeckels voll jugendlicher Initiative,
unverdrossen bei allen Schwierigkeiten und Hindernissen , immer der
erste, wenn es galt anzupacken, Pläne zu entwerfen und auszuführen.
Die gleiche ungetrübte Erinnerung knüpft sich an die fünf Wochen,
welche wir gemeinsam auf Korsika zumeist in Ajaccio verlebten.
Ich bin so glücklich gewesen, einen großen Teil meiner Studien-
zeit und 7 Jahre meiner Dozententätigkeit in Jena zuzubringen, und
habe in dieser Zeit mit Haeckel in nahezu ununterbrochenem geistigem
Austausch gestanden. Auch später hat uns Freundschaft und Ge-
meinsamkeit der Interessen, sei es in Jena, sei es hier in München,
immer wieder zusammengeführt. Ich glaubte aber hier die Zeiten
besonders hervorheben zu müssen, in denen ich als Schüler von ihm
als dem Lehrer eine ganz außergewöhnliche Förderung erfahren habe,
eine Förderung, die mich ihm mit unauslöschlicher Dankbarkeit ver-
bindet. Ich bin in meinen jungen Jahren zu den hervorragendsten
deutschen Biologen der damaligen Zeit, unter denen ich hier vor
allem Gegenbaur, Max Schultze, Pflüger nenne, in nahe Beziehung
getreten; keiner von ihnen hat auf meine Entwicklung einen gleich
nachhaltigen und bestimmenden Einfluß gewonnen.
Versuche ich nun, Rechenschaft zu geben, wie dies zugegangen
ist, so sind es folgende Eigenschaften gewesen, welche ich am meisten
an Haeckel bewundere.
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In erster Linie steht die hohe Auffassung, welche er von der von
ihm vertretenen Wissenschaft besaß. Für ihn war die Morphologie
nicht nur Gegenstand der Forschung und der Erziehung unserer
akademischen Jugend, sondern ein wichtiger Faktor in der kultu-
rellen Entwicklung weitester Volkskreise. Für ihn traten daher die
vielen kleinen und kleinlichen Detailfragen, wie sie besonders die in
der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts herrschende systematische
Richtung in der Zoologie beschäftigten, im Vergleich zu den großen,
durch den Darwinismus aufgeworfenen Grundfragen völlig in den
Hintergrund. Man muß die Zeiten, in denen Haeckel seine historische
Stellung errrang, mit durcherlebt haben, um zu verstehen, welche
Förderung die Zoologie seinen auf große Ziele gerichteten Werken
verdankt.
Mit der hohen Auffasusng von den Aufgaben der Zoologie hing
Haeckels ungewöhnliche, seine Schüler mit sich reißende Begeiste-
rungsfähigkeit zusammen. Dieselbe hat sich bei ihm, wie es so oft
bei Kraftnaturen der Fall ist, im Lauf der vielen Kämpfe nicht selten
zu einer gewalttätigen Leidenschaftlichkeit gesteigert, welche ihm
selbst nicht wenige schwere Situationen geschaffen und manchen
Freund entfremdet hat. Sie gab ihm aber auch die feste Lebensfüh-
rung, welche jedem, der Großes leisten will, nötig ist, und hat ihn
vor kleinlichen Rücksichtsnahmen bewahrt. Ich habe Haeckel in
der Zeit seines größten Ansehens besonders nahe gestanden, als ihm
verlockende Berufungen nach Wien und Bonn zuteil wurden; die-
selben haben nicht vermocht, ihn seinem ungleich bescheideneren,
seinem Wesen aber harmonischen Wirkungskreis in Jena zu ent-
fremden. Die Rücksicht auf persönliche Vorteile, welche außerhalb
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit lagen, hatte auf ihn keinen Ein-
fluß.
An dritter Stelle nenne ich die künstlerische Durchdringung seiner
Persönlichkeit, welche einen so hervorragenden Charakterzug seines
Wesens bildet, daß wohl wenige an dieser Eigentümlichkeit achtlos
vorübergegangen sind. Ich denke hierbei weniger daran, daß er auf
seinen Reisen ein begeisterter Landschaftsmaler gewesen ist, als an
die Art , wie er sich während seiner ganzen Lebensführung der Natur
gegenüber verhält. Dieselbe ist ihm nicht nur ein Gegenstand der
Forschung, sondern zugleich auch eine Quelle des ästhetischen Ge-
"SSiaaaaaa33ai]aaa@]SSS!2iaS!3as]ggggggggggggB]B]E]E]E]E]gE]EiE]B]BiG3G]E]
169
nusses. So ist es ihm bei der wissenschaftlichen Bearbeitung konser-
vierten Materials immer ein Bedürfnis gewesen, von den durch
Konservierung verursachten Schädigungen zu abstrahieren und das
Tier so darzustellen, wie es als lebendes Wesen in der Natur aus-
gesehen haben mochte. Der Wunsch, die Gestalten der Tiere und
Pflanzen der Benutzung durch Künstler zugängig zu machen, veran-
laßte ihn zu seinen „Kunstformen der Natur". Vor allem aber kam
seine Künstlernatur in der Fortbildung seines eigenen Wesens zum
Ausdruck. Was ihn wissenschaftlich beschäftigte, trat in Beziehung
zu seiner gesamten Persönlichkeit, hatte Einfluß auf sein Denken
und Fühlen und führte ihn zu einer einheitlichen Weltauffassung,
für welche er ebenso kraftvoll in der Öffentlichkeit eintrat wie
seinerzeit für die Darwinschen Lehren.
Die Art, in welcher Männer des Fortschritts in die Kulturent Wick-
lung der Menschen eingreifen, kann sehr verschieden sein. Vor allein
scheiden sich zwei Wege, der Weg der langsamen, stetigen organischen
Fortbildung und der Weg der durch Enthusiasmus die Menschen
mit sich reißenden raschen Umgestaltung. Wer den ersten Weg be-
geht, sucht seine Mitmenschen nicht zu neuen, ihrem Wesen zunächst
fremdartigen Anschauungen zu bekehren, sondern allmählich das
Niveau ihres Wissens und Urteils zu heben und so den Boden zu
schaffen, auf welchem das Neue wie eine Pflanze aus dem Samen-
korn emporwächst. Der zweite Weg ist der Weg der Reformatoren.
Beide Wege haben zu großen Zielen geführt. Es ist Temperaments-
sache, für welchen Weg sich der einzelne entscheidet. Für eine Per-
sönlichkeit wie die Haeckels ist nur der zweite Weg möglich. Ihm
blieben die Spannkraft und die Leidenschaft der Jugend bis in sein
hohes Alter treu und werden ihn bis an sein Lebensende begleiten.
170
E]gggggggggggggg^g5]E]E]B3E]E]E]ElB]B]E]EIE]B]B]B]E]E]E]E]E]E]B]E]E]gB]EJBlB]E]EIE]EJB]
G. SPRENGER, MAINZ
o o o
Auf Ihre mich sehr ehrende Aufforderung, einen Beitrag zu der von
Ihnen herauszugebenden Festschrift zu liefern, konnte ich leider,
wie Sie schon gemerkt haben, nicht eingehen, und ich bitte Sie, diese
verzögerte Bekanntgabe meines Entschlusses gütigst entschuldigen zu
wollen. Abgesehen von der winterlichen beruflichen Überlastung, die
mich fast vollständig absorbiert, war ich auch noch durch einen äußerst
scharf geführten Gemeinderatswahlkampf abgelenkt, bei der sowohl
Dr. Thilo als auch ich zum stummen Entsetzen der Klerikalen gewählt
wurden. Dies alles ließ in mir jene Konzentration nicht zustande kommen,
die ich für notwendig halte, um Ihnen einen dem Rahmen der Festschrift
würdigen Beitrag zu liefern. Außerdem muß ich Ihnen jedoch noch be-
merken, daß die zur Anregung beigefügten Fragen für mich persönlich
doch nicht so leicht als geschlossenes Thema in einem kurzen Aufsatz
zu verwenden sind. Ich erlebte, radikal erzogen, Haeckel als vorhandene
Tatsache, als Selbstverständlichkeit, er reihte sich notwendig und konse-
quent in meine sich bildende Weltanschauung hinein, oder besser gesagt,
ich kam von links und nahm ihn als neuen Bestätiger unserer Welt-
anschauung, als willkommene geistige Stütze, als treulichen Mitkämpfer
gegen die geistige Reaktion, ihn anerkennend als den auch als Mensch
so idealen Führer der freigeistigen wissenschaftlichen Forschung.
Was mich persönlich so ganz zu ihm hinzog, ist das reine Menschen-
tum, das aus seinem edlen Kopfe leuchtet und das mir das geläuterte
Produkt seiner ganzen Denkart schien. Das reine ideale Streben im
Dienste einer hohen , höchsten Zielen zustrebenden Geistesarbeit schuf
solch einen herrlichen Menschen. Hier fühle ich mich ganz eins mit
Haeckel, und aus dieser Zuversicht, aus diesem Urquell schöpfe auch
ich die Kraft, täglich, stündlich auf allen Posten zu sein, wo es gilt,
im Dienste seiner inneren Überzeugung, im Dienste der einmal er-
kannten Wahrheit sich einzusetzen voll und ganz, mit dem ganzen
Menschen, mit dem Leben!
So ist Haeckel für mich eine ethische Energiequelle geworden,
die mich jederzeit, wenn notwendig, aktiviert. Dies ist er wohl nicht
nur für mich, sondern für die ganze Menschheit geworden, und darin
liegt seine Unsterblichkeit!
I7I
ggB]ggggB]ggggggggE]gE]E]E]SSE]B]E]E!E]E]ElEJE]B]E]B]B]B]E]B]E]E]B]E]EIE]E]E]E]E]E]E]G]
AUGUST KAHL, HAMBURG
o o o
An der Hand eines vernünftigen Vaters durfte ich schon frühe hinein-
wandern in das Paradies der neuen Weltauffassung, und wenn
auch jede weitere Auslegung der auftauchenden Fragen notwendig
fehlen mußte, so war doch eines in mir schon in früher Kindheit vor-
bereitet und sehr bald zur Gewißheit geworden: Der Gedanke von
der Weltentwicklung. Die Anschauungen meines Vaters könnten als
typischer Beleg dafür dienen, wie weit ins Volk hinein die Ideen Dar-
wins und Haeckels bereits in den siebziger und achtziger Jahren ge-
wirkt hatten.
Lediglich nur des Durchsickerns der Grundidee in ihrer reinen
Größe ohne jede begleitende Begründung bedurfte es, um auch an
den Grenzen des Volkstums in den denkenden Köpfen die erste Bresche
zu schlagen. Die Werke der Gelehrten, die dieser Grundidee feste
Füße gegeben hatten, brauchten dort nicht einmal dem Namen nach
bekannt zu sein, um dennoch in ihrem letzten und wertvollsten Be-
stand, eben der Entwicklungsidee, erfaßt zu werden.
So bewirkte die Linie, die über meinen Vater zu mir hinführte,
daß ich schon als zwölfjähriger Knabe auf der Schulbank den vor-
getragenen Glaubenslehren glaubenslos gegenüber saß, und weiter, daß
ich sehr bald in dem Priester einen Mann erblickte, der Dinge lehrte
und zu glauben schien, die mit den Fertigkeiten eines Zauberkünstlers
Verwandschaft zeigten. Ich ging um so weniger ergriffen an diesen
sogenannten Religionsstunden vorbei, als sie mit wenig WTärme und
Überzeugungskraft vorgetragen wurden und in einem plagenden Wust
von Memorierstoff das Wenige noch verloren, das sie — würden sie
mit mehr Klugheit dargereicht worden sein — schließlich doch hätten
bieten können. So war es natürlich, daß jene sparsam in den Wochen-
plan eingefügte Stunde, die mit Naturlehre belegt war, trotz ihrer
Dürftigkeit einen Trank für mich bot, von dem ich niemals genug be-
kommen konnte, so daß ich sie vor allen anderen immer von neuem
sehnlichst herbeiwünschte.
Da geschah in meinem 12. Lebensjahre etwas, was einen tiefen
Eindruck in mir hervorrief, unter dessen Wirkung ich fortan stehen
sollte, einen Eindruck, der so nachhaltig war, daß ich ihn auch heute
172
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noch zum Teil in mir wachzurufen vermag. Ich bekam ein älteres
Buch geschenkt und zwar war es die Schillingsche Naturgeschichte
in neunter Bearbeitung vom Jahre 1867, wie sie damals und fort-
folgend in den Bürgerschulen Badens gebraucht wurde. Ein einfaches
Schulbuch, das für die Kulturhöhe des badischen Schulunterrichts
der sechziger Jahre ein geradezu glänzendes Zeugnis bietet. In diesem
Buche, das ich verschlang, fand ich folgende Sätze, die ich nur mit
steigender Erregung und Spannung zu lesen vermochte:
„Das Tierreich bestand nicht nur nicht immer aus denselben Arten,
wie gegenwärtig, sondern es gab vielmehr Perioden in der Entwick-
lung unseres Erdkörpers, in denen es einen von dem jetzigen ganz
verschiedenen Charakter besaß und keine einzige Art aufzuweisen
hatte, welche jetzt nicht ausgestorben wäre. Die verschiedenen Erd-
schichten enthalten bis in die größten Tiefen hinab unzählige tierische
Überreste, welche nicht allein ausgestorbenen Arten und Gattungen,
sondern selbst ausgestorbenen Familien und Ordnungen angehören,
so daß ein System der Zoologie erst dann Anspruch auf Vollständig-
keit machen könnte, wenn auch die gesamte untergegangene Tierwelt
nach ihren Merkmalen in dasselbe eingereiht wäre. Wie die pflanz-
lichen, so liefern auch die fossilen tierischen Überreste durch ihr Vor-
kommen in den Gebirgsschichten den schlagendsten Beweis für die
allmähliche Entwicklung des tierischen Organismus zum Vollkom-
meneren, obgleich man sich vor der irrtümlichen Annahme hüten
muß, als habe diese Vervollkommnung einen mit der Aufeinanderfolge
und Abstufung der Klassen von den einfachst und niedrigst organi-
sierten Geschöpfen bis etwa zum Menschen hinauf ganz und gar paral-
lelen Verlauf genommen."
Und nun folgte eine in den Grundzügen auch heute noch zutref-
fende Aufzählung der paläontologischen Ergebnisse, wie sie sich aus
den verschiedenen geologischen Hauptperioden einschließlich des Men-
schen herauslesen ließen.
Ich las diesen klassisch knappen Extrakt immer wieder und
erinnere mich noch sehr genau, welche Wirkung die Worte „bis zum
Menschen hinauf" auf mich gemacht hatten, wie sie während des
Lesens in mir nachvibrierten. Über diesem Satze konnte ich tagelang
grübeln. Es ging mir schon damals eine bedrückende dunkle Ahnung
auf von den sich verlierenden unzählbaren Verzweigungen, die in den
3gggggggggggE]gggggggE]gggggE]E]E]ElE]E]E]B]EjE]E]E]E]E]E]G]B]ElB]E]E]ElE]E]E]E]
*73
Entwicklungsreihen angenommen werden müssen. Der Keim zur
Fähigkeit phylogenetischen Denkens ward damals in mich gelegt, es
war mir, als sähe ich weit zurück in die Vergangenheit, und die Erde
aufgeschlagen wie ein gewaltiges Buch, aus dem die Gelehrten ihre
Geschichte nur abzulesen brauchten. Fortan war es gründlich vorbei
mit allen kindlicheren Vorstellungen über Entwicklung der Weltdinge,
denn die Worte des Schulbuchs hatten auf mich wie ein Evangelium
gewirkt. Sie waren mir ein sicherer Wegweiser für die nächsten Jahre,
in denen die mir anfangs dunklen Bezeichnungen Silur, Devon, Kar-
bon, Perm, Trias, Jura, Kreide, Tertiär, Quartär jener vielgelesenen
Zeilen zu immer klareren Begriffen für mich wurden, die ich chrono-
logisch richtig einzuordnen versuchte. Aber obwohl mein Vater die
Namen Darwin und Haeckel des öfteren im Zusammenhang und in
ihrer Bedeutung genannt hatte, vergingen doch noch einige Jahre, ehe
ich an diesen klaren Quellen selbst schöpfen durfte. Erst einige Jahre
nach dem Tode meines Vaters in meinem 18. Lebensjahre lernte ich
Darwins Entstehung der Arten in der Übersetzung von David Haek
kennen. Allein, nun erlebte ich das Überraschende, daß ich in diesem
beispiellosen WTerke tiefschürfenden Gelehrtenfleißes nicht jenen wei-
tergehenden Schwung fand, den meine Jugendauffassung darin ver-
mutet hatte. Bewundernd stand ich vor dem unerhörten Material,
das die Schlußfolgerungen beweisen mußte, gerade aber weil mir diese
so selbstverständlich erschienen und weil sie bereits fest in mir ver-
ankert waren, bedurfte ich dieses Materials zunächst nicht, um sie
glaubhaft zu finden. Wirklich iDnerlich zur Gewißheit gewordene Vor-
stellungen bedürfen für uns vorerst keines Beweises, um als gefestigt
empfunden zu werden. Ich sollte erst später erkennen, wie notwendig
es ist, wissenschaftliche Anschauungen nach allen Richtungen durch
Belege zu stützen, und welche einzig dastehende Riesenarbeit in diesem
Punkte mit Darwins Hauptwerk geleistet war. So fand ich denn in
Darwins Entstehung der Arten nicht eigentlich die gesuchten Ketten
der Entwicklung, deren einzelne Glieder logisch auseinander folgen
müssen, sondern etwas ganz anderes, etwas, was mich zunächst min-
der stark fesselte. Da aber geriet ich auf einer Seite dieser jüngeren
Übersetzung an etwas, was mich sofort auf den gewünschten Weg
bringen sollte.
Mit wenigen Worten war auf Haeckels „Generelle Morphologie"
*74
BjgggggggggB]ggggggggggggE]E]E]EJG]ElBJE|E]BIB]E]E]E]E]E]BlB]B]E]EIB]E]E]G]E]E]E]Ej
hingewiesen und gesagt, daß er „seine bedeutenden Kenntnisse und
Fähigkeiten auf das, was er Phylogenie nennt", gerichtet habe. Es
wurde betont, ,,er hat damit kühn einen großen Anfang gemacht
und zeigt uns, wie in der Zukunft die Einteilung behandelt werden
soll."
Das war es also, was ich sehnlichst suchte. In der Folge sollte
ich aber nicht zuerst an die geniale Tat der „Generellen Morphologie"
gelangen, sondern an die wuchtige populäre Darstellung in der natür-
lichen Schöpfungsgeschichte. Die kristallene Klarheit und weitschau-
ende Kühnheit, die — immer den Blick aufs große Ganze gerichtet
— in genialer Art die Hindernisse nahm, das war es vor allem, was
mich hier mit fortriß und wenn ich heute der Ansicht bin, daß der
erstaunliche Erfolg der Haeckelschen Ideen letzten Endes eben dem
unaufhaltsamen Einfluß der Vernunft an sich schon zuzuschreiben
ist, so muß doch wohl daneben besonders betont werden, daß es die
Klarheit und Kühnheit der überzeugenden Gestaltungskraft Haeckels
mit in erster Linie waren, die hier Wege und Verständnis angebahnt
haben.
Wo die Vernunft sich solcherweise mit dem Schwung der An-
schauung paart, kann eine tiefe Kulturwirkung unmöglich ausbleiben.
Als ich wenig später diese Eigenart Haeckels in noch mehr verblüf-
fender Weise in der „Generellen Morphologie" kennen lernen durfte,
war ich ihm mit Haut und Haaren verfallen. Immer klarer wurde
es mir, welche originale Arbeit mit diesem Werke, das eben nur Haeckel
schreiben konnte, geleistet war. Heute erfaßt mich so manches Mal
der leider nur allzu wahre Gedanke, daß auch hier, wie in so vielen
anderen Fällen, gerade das urwüchsigste, Neuland aufreißende und
elementar wirkende Gedanken tragende Werk dem weiteren Publi-
kum, ja heute sogar den meisten von denen, die Haeckel ganz und
gar erfaßt zu haben glauben, unbekannt geblieben ist.
Als ich nach längerer Zeit die oben zitierten Sätze der Schilling-
schen Naturgeschichte unter anderem wieder einmal durchlas und
besonders die Schlußfolgerungen bedachte, konnte ich mich des Ein-
druckes nicht erwehren, daß der Verfasser die „Generelle Morphologie"
gekannt haben müsse. Die Bekanntschaft müßte allerdings, nach der
Zeit der Abfassung zu schließen, schon binnen wenigen Monaten nach
Erscheinen erfolgt sein. Die Tatsache und ihre Folgen wären jeden-
"EjggggggggggE]gB]B]gE]ggE]ggggggggggggG]E]G]EiE]E]E]B]E]E]E]B]E]E]EiEiEiE]E]E]
*75
falls mehr als interessant und würden als einer der frühesten Beweise
weittragendster Kulturwirkung Haeckelscher Ideen zu nehmen sein.
Ich habe zu Anfang dieser Abhandlung das Durchsickern genialer
Gedanken und wissenschaftlicher Ergebnisse erwähnt. Diese stille
fließende Arbeit, die von diesem fundamentalen Werke und allen
späteren fachwissenschaftlichen und populären Arbeiten Haeckels aus-
ging, hatte bis in Kreise hinein, in denen man sich so ganz anderen
Dingen als Weltanschauungsfragen hingeben mußte, die Gedanken-
richtung beeinflußt. Wie oft bin ich freilich in der Folge auf das Faktum
gestoßen, daß man den Namen des deutschen Darwin und seine Be-
deutung zwar kannte, aber seine Werke nicht. Allenfalls fand man
die Auffassung vertreten, daß Haeckel der Mann sei, der die Affen-
abstammung gelehrt habe, wobei man die Sache gründlich verkehrt
faßte.
Immerhin, wie das verzerrte Bild auch schwankte, der Boden war
in den neunziger Jahren weithin gepflügt und die Zeit reif geworden.
Ein Heer von berufenen Schriftstellern hatte sich Haeckels Gedanken-
welt bemächtigt. Die Spezialforschung hatte die zutreffende Bestä-
tigung einer Reihe zuerst von Haeckel geäußerter Ideen gebracht,
die Paläontologie eine Menge Material geliefert, das Haeckels Grund-
ideen stützte. Der Darwinismus im weiteren Sinne hatte — in seinem
Eroberungslaufe durch Haeckels unerhört kühnen Kampf beschleu-
nigt — auf der ganzen Linie gesiegt. Es gehörte für einen denkenden
Kopf, der in diesen Wandel hineingerissen war, schließlich zu den
Unmöglichkeiten, sich die Dinge noch einmal im alten Sinne vorzu-
stellen. So rückte denn das Jahr 1899, das Jahr des Erscheinens der
Welträtsel herbei.
Um es gleich zu sagen: heute rückschauend, würde ich es uner-
klärlich finden, wenn der Erfolg der Welträtsel nicht der gewesen
wäre, den wir kennen gelernt haben. Alles wirkte hier in glücklicher
Weise auf die Aufnahme hin. Zunächst der Titel, der im Verein mit
dem berühmten Namen kaum treffender das schon geweckte Interesse
aufrütteln konnte. Dann die Knappheit der Darstellung — das ganze
Buch ist ja eine Essenz aus allen Gebieten der Naturwissenschaft —
und dann die den Laien unter allen Umständen sofort fesselnde, ge-
radezu genial getroffene Einteilung und speziellere Einordnung des
Stoffes. Daneben noch einmal das lodernde Feuer des noch immer
35]E]E]E]E]E]E]E]s] 39S3E|gggggggG]ggS]E]E]gG]gE]3]5]EiE]ij]5]E]S]G]EiE]GlajE]G]E]G]E]B]E]
I76
jungen Haeckel, die eindringliche Kraft der persönlichen Überzeugung
gegenüber alten morschgewordenen Anschauungen. Alles glänzende
Vorzüge, die freilich für manchen auch Gefahren bargen, die aber
dem Werke die weiteste Aufnahme unbedingt sichern mußten.
Das Buch mußte durchdringen, alle freien Geister packen und —
bei allen Ubervorsichtigen anstoßen. Für den ganz in Haeckel ein-
gedrungenen Kenner hatte es noch einen besonderen Reiz. Das war
ja derselbe Mann, der das schwere, einzig dastehende und wohl auch
für lange unübertreffliche Werk der systematischen Phylogenie vor
noch kaum vier bis fünf Jahren veröffentlicht hatte.
War ich nun schon seit langem von dem sehnlichsten Wunsche
erfaßt, diesen Recken der geistigen Arbeit persönlich kennen zu ler-
nen, so beseelte mich dieser Wunsch nun erst recht. Vorläufig sollte
er leider unerfüllt bleiben. Gleich nach der Durchnahme der Welt-
rätsel im Jahre 1899 war ich auf den Gedanken gekommen, in Ham-
burg eine monistische Gesellschaft zu gründen. Jedoch auch die Aus-
führung dieses Planes verzögerte sich infolge äußerer Widerstände
bis zum Jahre 1903.
Da endlich am 12. Februar, dem Geburtstage Darwins, konnte
die monistische Gesellschaft, wohl die erste in Deutschland, durch
mich gegründet, ins Leben treten (aus ihr ging dann im Jahre 1906
die heutige Hamburger Ortsgruppe des Deutschen Monistenbundes
hervor) und in der Folgezeit überraschende Belege dafür bieten, in
welch unterschiedliche Schichten der Bevölkerung die Weltanschau-
ung Haeckels bereits vorgedrungen war. Die ungeahnte Verbreitung
der Volksausgabe der Welträtsel begann ebenfalls im selben Jahre
und ihrem wachsenden Vordringen hatte die anfangs nur kleine Mo-
nistengruppe später einen raschen Zugang von Mitgliedern zu danken.
Die arbeitsfrohen Vereins] ahre, die nun einsetzten — überstrahlt
von dem Gedanken, die Hochburg Jena einmal zu besuchen — , brach-
ten für mich wirklich als teuerste Frucht die Erfüllung dieses lange
gehegten Traumes, meinen Besuch in Jena und meine Übersiedelung
nach dort.
Niemals in meinem Leben werde ich den ersten Eindruck vergessen,
den die Persönlichkeit Haeckels auf mich gemacht hat. Da saß ich
auf dem berühmten Sofa dem Bewunderten und Vielgeschmähten
gegenüber, dem mich seit früher Jugend die Regungen meines inner-
gggggggggggggggB]ggggE]ggggE]ggggggggG]E]E]E]BiE]E]E]E]B]E]E]E]E]E]G]EiE]
12 Haeckel-Festschrift. Bd. II IJJ
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sten Wesens verbanden. Und nun ging von diesem Recken die be-
strickendste Liebenswürdigkeit auf mich aus, gepaart mit einer eigen-
artigen Bescheidenheit, die mich in Verwirrung brachte. Ich konnte
meine innere Ergriffenheit kaum verbergen. Gerade deshalb wohl ist
mir fast jedes Wort dieser köstlichen Stunde, fast jede Situation im
Gedächtnis geblieben. Eine wohl niemals wiederkehrende, das ganze
Ich erfassende Konzentration aller inneren Kräfte mag hier so tief
registrierend gewirkt haben. Erst als ich wieder draußen stand, löste
sich unter Herzklopfen die ungeheure Spannung. Tag für Tag sollte
ich nun Haeckel hören und, wie es so schön heißt, ,,zu seinen Füßen
sitzen". Die jungen Studenten begannen zuerst eifrig zu schreiben.
Aber das Material Haeckels war so unerhört groß, es war so interes-
sant, was er in eine einzige Stunde legte, daß die meisten der Herren
bald diese Tätigkeit aufgaben und lieber seinen lebendigen Worten
lauschten. Da mir der Quell der Rede über alles geht, gab ich mich
von vornherein um so lieber seinen freien Ausführungen hin. Später
hatte ich das Glück, im Gespräch auf Spaziergängen tiefer in das
Wesen seiner elementaren Persönlichkeit eindringen zu dürfen. Der
echte Humor, der in manchen Stellen seiner Schriften aufblitzt, kam
da oft in befreiendster Weise zum Ausdruck, und immer war man
eingefangen von den sein ganzes Wirken durchdringenden Eigenschaf-
ten seiner sonnigen Natur. Der Wärme seiner Persönlichkeit kann
sich niemand entziehen. Es geht eine tief religiöse Wirkung von ihr
aus. Dieser Ungläubige ist wirklich ein religiöser Mensch, natürlich
im modernsten Sinn dieses Wortes.
Weil das echte Feuer der Überzeugung ihn und sein Werk immer
wieder von neuem durchglühte, mußte auch sein Schaffen jene auf-
rüttelnde Wirkung ausüben, die weit hinaus gezündet hat und lange
weiter zünden wird. Er gehört zu jenen geistigen Kämpfern, deren
Lebensarbeit vorbildlich geworden ist, zu den Aufrechten, die allen
Stürmen zum Trotz durchhielten und durch die Kraft des Gedankens
und des persönlichen Einsatzes siegten.
G]g]gggggggggE]gB]gggE]ggggggE]gggggggB]B]ElB]B]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]B]E]EIB]Bi
178
EUGENIO FICALBI, PISA
o o o
Ich habe öfters sagen hören: „Haeckel erging sich in zu umfassenden
und gewagten Hypothesen, die der Wissenschaft nicht dienen;
nur Arbeitshypothesen sind von Nutzen" ! Eine der üblichen Phrasen,
die von den „Arbeitshypothesen", die höchst weise zu sein scheinen,
im Grunde aber nichtssagend sind. Die Hypothesen Haeckels sind
in wahrem Sinn Arbeitshypothesen geworden ; sie haben wissenschaft-
liche Untersuchungen angeregt, welche seit einem halben Jahrhundert
ein Heer von Arbeitern beschäftigen und Bibliotheken füllen. Genügt
das nicht, den unvergänglichen Ruhm eines Menschen zu begründen?
ooc
12" 179
JOHANNES WALTHER, HALLE: ERNST HAECKEL
ALS REISENDER
o o o
Wie man die Strahlen, die eine glänzende Lichtquelle aussendet,
in ihre einzelnen Lichtarten zerlegen muß, um ihre mannigfaltige
Zusammensetzung besser überschauen zu können, so möchte man
auch den vielseitigen Einfluß, den ein großer Mann auf seine Schüler
ausgeübt hat, in seine Elemente zerlegen, um sich an dem ganzen
Reichtum seines Geistes doppelt zu erfreuen. Und so liegt es mir
nahe, aus Ernst Haeckels Leben eine Seite herauszugreifen, deren
hoher Wert besonders denen zum Bewußtsein kam, die das Glück
hatten, mit diesem seltenen Menschen eine längere Zeitspanne in
enger Fühlung zu stehen.
Haeckel erzählte einmal , daß er als kleiner Knabe auf die Frage :
was willst du werden, geantwortet habe: ,,Ein Reiser." Was damals
schon in seiner jungen Seele keimte, die große Sehnsucht nach den
Wundern der Natur, der Wunsch, sie zu begreifen und zu verstehen
und anderen ein Verkünder ihrer Schönheit zu werden — Haeckels
Leben hat diese Anlage zu vollendeter Entfaltung -reifen lassen.
Immer wieder zog er hinaus, allein oder mit Schülern und Freunden,
und seine künstlerische , allen Erscheinungen der Umwelt offene Seele
fand gerade hier die vollkommenste Förderung, reifte gerade hier die
köstlichsten Früchte. Probleme der Wissenschaft und Kunst, Fragen
der Kultur und des Lebens wirkten auf ihn mit zündender Gewalt,
und wer in den Bannkreis seiner Gedanken kam, der wurde durch ihn
begeistert. Vom sizilianischen Fischer] ungen bis zum befreundeten
Fachgenossen , vom alten Sokrates in Belligamma bis zum geistvollen
Fürsten reichte der Wirkungskreis seiner Persönlichkeit, jedem ver-
stand er menschlich näher zu treten, jedem etwas zu sein.
Besonders wirksam war es, wenn ein Reisegenosse, der von einem
anderen philosophischen Standpunkt aus den fürchterlichen „Mate-
rialisten" Haeckel haßte, ahnungslos mit dem liebenswürdigen und
liebenswerten Menschen wanderte und endlich beim Abschied er-
fahren mußte, mit wem er zusammen gewesen war — gerade bei
solcher Gelegenheit konnte man erleben, welch persönlicher Zauber
von ihm ausging.
180
ggggggsggggggggggG]gE]gggE]ggE)gggggE]ggEiEjE3E)E]G]GjB]E]EiE3B]E]E]E]E|E]
Zwischen ernster Forscherarbeit fand er Zeit zu farbenprächtigen
Aquarellen, und neben den Monographien, die seinen Namen in der
ganzen wissenschaftlichen Welt berühmt gemacht haben, entstanden
jene Perlen künstlerischer Reiseschilderungen, die weiteste Leser-
kreise fanden und begeisterten.
Wer kennt nicht seine Schilderung einer Ätnabesteigung, seine
köstliche Darstellung der Korallengärten im Roten Meer, die ent-
zückenden „Indischen Reisebriefe", die wundervollen Briefe aus
„Insulinde" — wer hätte nicht voll Sehnsucht die kleineren Auf-
sätze Haeckels gelesen, die ein Stück Natur, gesehen durch ein Tem-
perament, dem Leser entgegenbringen:
Kein Wunder, daß auch der junge Gelehrte, der zu Haeckels
Füßen gesessen und an seinen Lippen gehangen hatte, voll Sehnsucht
nach den Stätten erfüllt wurde, die ein Meister des Sehens und Dar-
stellens ihm so vertraut gemacht hatte. Wer jene Zeit erlebt hat,
wo von Jena aus in jedem Jahre neue Studien- und Forschungsreisen
geplant und ausgeführt wurden, bald nach den eisigen Fjorden des
Nordens, bald nach den malerischen Gestaden des Mittelmeeres, nach
den Korallenriffen der Sinaiküste, den Wüsten von Mexico, den Ur-
wäldern von Java oder dem australischen Busch, der weiß, wie Ernst
Haeckel alle diese Pläne anregte und förderte.
Das alte schöne Wort: nichts Menschliches ist mir fremd —
sollte jeder Reisende als Motto in seinem Herzen tragen. Was hilft
es ihm, wenn er glaubt, er dürfe unterwegs nur wissenschaftlich arbei-
ten, nur alle mit einem Sternchen ausgezeichneten Kirchen und Bil-
der sehen, oder alle vorgeschriebenen Aussichtspunkte besuchen —
er wird nicht wahrhaft gefördert zurückkehren. Der erste, der in
deutscher Sprache gezeigt hat, wie man reisen müsse, um auch inner-
lich reicher zu werden, war Goethe; dann folgte Alexander von Hum-
boldt mit seiner wunderbaren Reise nach den Aequinoctialgegenden
— aber der Name, den man gleich nach ihnen zu nennen hat, lautet
Ernst Haeckel.
181
EjgE]gggE]G]gggggg]gggggsggggE]gggggE]E]EiB]E]EiG]E]gB]E]E]EjE]E]E]EiE]G]G]E]G3
P. G. UNNA, HAMBURG: VON DARWIN ZU HAECKEL
o o o
Im Jahre 1868 wurde mir, dem 18 jährigen Gymnasiasten, von
meinen Eltern die Erlaubnis zuteil, die Sommerferien zu einem Aus-
flug nach Heidelberg zu benutzen. Meine Freunde am Propolytech-
nikum in Hamburg, in dem ich ein Jahr Vorlesungen hörte, gaben
mir eine Empfehlung an einen jungen Hamburger Chemiker, der bei
Bunsen in Heidelberg studierte. An einem Sonntage machte ich mit
diesem eine Fußtour auf den Melibocus. Unser Gespräch drehte sich
nur um Darwin, dessen „Entstehung der Arten" der Chemiker gerade
mit Begeisterung las. Er war ein guter Erklärer und bald lag der ganze
Gedankengang des mir unbekannten wunderbaren Buches offen vor
meinem Auge . Nur von einer Sache konnte mich mein Chemiker nicht
überzeugen, nämlich daß die Thesen von Darwin etwas fundamental
Neues seien. Nach jedem Absatz seiner Rede ärgerte ich ihn offenbar
mit dem Ausspruch, ,,das sei ja ganz selbstverständlich", „das könne
ja gar nicht anders sein". Es wurde ihm schwer, mir beizubringen,
daß der derzeitige Standpunkt der Wissenschaft diese, wie mir schien,
selbstverständlichen Erfahrungen und Schlüsse durchaus ablehnte.
Voll von den neuen Ideen kam ich nach Hamburg zurück und teilte
meine Begeisterung für das Buch von Darwin meinem Freunde Kärker
mit, welcher Primus der Unterprima in der Gelehrtenschule des Jo-
hanneums war, in die ich nun nach einjähriger Unterbrechung wieder
eintrat.
In diesem Gymnasium existierte seit 1817 ein „wissenschaftlicher
Verein" der Gymnasiasten, welcher neben den Arbeiten für die Schule
in vollkommen freier Weise gelehrte Studien trieb. Viele bekannte
Gelehrte hatten ihm angehört, so Erwin Rohde, Ernst Bernheim,
Max von der Porten und last not least Hebbel während seiner Schul-
zeit in Hamburg. Der Verein war ganz unabhängig von der Schule
und wurde, da die meisten Professoren sehr alte und etwas wunder-
liche Philologen waren und die Schüler wenig interessierten, mit um
so größerem Eifer von der intelligenten Oberschicht der Klasse be-
sucht. Jedes Mitglied mußte abwechselnd einen Vortrag halten, und
mein Freund Kärker wählte dazu zwei Jahre hindurch (1869 — 1870)
kapitelweise das Buch von Darwin.
SgB]BiggggE]gSgE3ggg§^ggg^gggE]gE]ggggE]E]gElE]E]E]E]E]E]E]5]G]G]BlE]E]5]E]G3
182
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Durch diesen Umstand ist wohl zuerst in Deutschland in der Ham-
burger Gelehrtenschule Darwins Lehre vor angehenden Studenten mit
allen Details vorgetragen worden. Diese Vorträge blieben nicht ohne
nachhaltige Wirkung auf viele von uns. Wenn schon vorher die Art
der philologischen Bildung in der Gelehrtenschule manchem von uns
unzureichend vorkam, fing es nun an zu gären. Als wir unter dem
Direktorat des von uns verehrten Johannes Classen in feierlichem
Akt Ostern 1870 entlassen wurden, hielt, wie immer, der Primus
Primae die Abgangsrede. Dieses war wiederum mein Freund Kärker.
Er hatte sich zum Erstaunen der Lehrer das Thema gewählt: Das
Verhältnis der Geisteswissenschaften zur Naturwissenschaft. Auf seine
Rede, welche in dem Satze gipfelte: „Nur durch eine weitgehende
Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Fächer könne die Gelehrten-
schule mit der Neuzeit fortschreiten" — folgte erst eine peinliche Stille,
bis der vor kurzem nach Hamburg berufene, noch jugendliche Profes-
sor Kießling, der hauptsächlich die griechischen Tragiker dozierte,
das Wort ergriff, um diesen unerhörten Angriff des Schülers auf den
altgeheiligten Bau der Gelehrtenschule zu parieren. Seine improvi-
sierte Rede gipfelte in dem kühnen Satze : „Wir müssen die alten Grie-
chen und Römer deshalb studieren, weil sie uns für unseren späteren
Beruf nichts nützen."
Noch niemals war in Hamburg der feierliche Aktus derartig unter-
brochen und stürmisch verlaufen. Viele von uns Primanern nahmen
aber auf die Universität ein Samenkorn der Aufklärung mit, welches
erst in späteren Jahren zur Reife kommen sollte.
Kaum waren Freund Kärker und ich Ostern in Heidelberg imma-
trikuliert und eingearbeitet, da brach der Krieg mit Frankreich aus,
und ich trat als Freiwilliger unter die Fahnen. In diesem Herbst
schenkte mir Kärker, was mir immer unvergeßlich bleiben wird, das
Buch von Haeckel: die „Generelle Morphologie", welches mit seiner
grandiosen Perspektive uns vollkommen gefangen nahm und uns ge-
danklich intensiv beschäftigte, bis der Dezember 1870 mich auf den
Kriegsschauplatz rief. Das Haeckelsche Werk fiel bei uns auf einen
besonders gut vorbereiteten Boden, und ich vermute, daß wir wohl
in jener Zeit die jüngsten begeisterten Leser dieses epochemachenden
Werkes waren. Als ich später in Heidelberg das Physikum absolvierte,
meinte allerdings der examinierende Zoologe, es wäre besser, wir jun-
ggggggggggggggggggggg^gggggE]E]G]E]gE]S]E]5]g5jS]gE]E]E]5iE]E]G]EjG3E]gE3
183
^E]ggggg^ggggg^ggg^gggggE]E]E]B]B]E]B]E]E]E]E]E]B]E]E]ElE]E]B]E]E]B]E]E]E]E]E]E]G]
gen Studenten lernten erst einmal die hergebrachte Zoologie gründ-
lich, ehe wir uns an Werke von so zweifelhaftem Charakter wie die
, »Entstehung der Arten" und die „Generelle Morphologie" machten.
Für uns war dies Werk von Haeckel mehr, es bedeutete den festen
Abschluß einer früh gewonnenen Weltanschauung. Hatte uns die Lektüre
des Darwinschen Werkes die lebendige Natur erst interessant gemacht
und in dem Entwicklungsgedanken den Zauberstab geschenkt, der in das
Chaos der Formen überall Ordnung und Leben brachte, so gewannen wir
durch die ,, Generelle Morphologie" von Haeckel die Überzeugung, daß
das Fundament des bisherigen Wissens durch diese neuen Gedanken
nicht erschüttert, sondern gereinigt, nicht vernichtet, sondern gekrönt
werde, und daß der Fortschritt der Wissenschaft in der Richtung liege,
welche dieses Werk in so magistraler Weise eingeschlagen hatte.
Sicherlich trug der frühe Kampf gegen die rein philologische Gym-
nasialbildung, den wir im wissenschaftlichen Verein von 1817, durch
Darwins Ideen geleitet, selbständig gegen unsere Lehrer zu führen
gewagt hatten, zu unserer Haeckelverehrung bei. Sagte uns doch
dieser bedeutende Naturforscher gleichsam: ,, Kinder, ihr habt recht
gehabt; eure Ahnung hat euch nicht betrogen."
Über dreißig Jahre waren vergangen. Mein lieber Freund Kärker,
dem ich in Weltanschauungsfragen so viel verdankte, war zu meinem
großen Schmerze bereits 1876 als einjähriger Arzt am Typhus gestor-
ben. Die ärztliche, bald auch die spezialistische Praxis hatte mich
gefangen genommen. Nur von ferne drangen Laute in meine Stille
von dem unablässigen Kampfe, welchen die modernen Dunkelmänner
um Thron und Altar gegen die Männer der Volksaufklärung führten.
Nichts von den Hoffnungen auf geistige Befreiung, die wir Achtzehn-
hundertsiebziger für unser Vaterland gehegt, ging in Erfüllung; es
wurde schwärzer und immer schwärzer in Deutschland. Auch die
geistige Macht, auf die wir als letztes Bollwerk gegen die hereinbre-
chende Reaktion vertraut, die Professorenschaft der deutschen Hoch-
schulen, die vor 100 Jahren der Jugend voranging, versagte. Und
wiederum stand ein Mann, ein Professor allerdings, aber trotzdem
ein furchtloser Recke strahlend in der allgemeinen Dämmerung und
Finsternis und beugte seinen Rücken nicht den Mächten, welche die
Verdummung des deutschen Volkes wünschen, um es leichter knech-
ten zu können — das war Haeckel.
184
EjgE]E]gB]gB]gggE]gggB]ggggggE]gE]ggE]E]ggB]E]ElE]E]E]BiB]B]E]E]E]EIB]G]E]E]E!G]E]g
Wie Bismarck so richtig sagte, fehlt dem Deutschen zumeist die
„Zivilcourage". Vor den Feind geführt, schlägt er sich tapfer. Im
Zivilleben jedoch bückt er sich vor jedem Vorgesetzten und will am
liebsten den „Frieden um jeden Preis". Aber im Innersten seines
Herzens hegt er trotzdem eine gewaltige Achtung vor den wenigen
Mutigen, welche das nicht tun und die er deshalb beneidet. Daher
die Begeisterung für Bismarck auch derer, die er selbst bekämpft
und geschlagen. Daher die Verehrung für Haeckel, auch seitens vieler,
die Grund und Tragweite seiner biologischen Ideen nicht voll ermessen
können. Er ist der mutige Held, der selbstvergessene Befreier aus
intellektueller Knechtschaft. Er ist einer der wenigen in Deutschland,
die den Mut besitzen, dem Strom der durch reaktionäre Politik ver-
fälschten Kultur entgegenzuschwimmen.
Es war beginnender Herbst des Jahres 1910. Noch immer kannte
ich Haeckel nicht persönlich. Die Sonne sank bereits im Westen, als
ich in Begleitung meiner Schwester von den Anhöhen um Wildungen
ins Tal hinabstieg. Sie beschien Alt- Wildungen und das Schloß, um-
rahmt von vielfarbigen, waldigen Höhen — ein wunderschönes Bild!
Am Waldhaus, dort wo eine Terrasse mit weiter Aussicht vorspringt,
hielten wir an, es zu betrachten. Auf der Bank vor uns saß ein hoch-
gewachsener Mann allein, den Kopf zurückgelehnt, den großen Filz-
hut nachlässig auf die Bank geworfen, ganz im Anschauen der Gegend
versunken. Sein mächtiges Haupt war umrahmt von weißem Silber-
haar, in dem das Licht der untergehenden Sonne goldig funkelte.
Abendsonne, Landschaft und strahlendes Menschenbild verschmolz zu
einem einzigen herrlichen Anblick, welcher den Schritt hemmte und
das Herz einen Augenblick stillstehen machte. Wie ein elektrischer
Schlag durchzuckte es mich, und ich flüsterte meiner Schwester zu:
„Das muß Haeckel sein." Wir näherten uns leise, der stattliche
Greis entfernte sich und eilte mit jugendlicher Schnelle ins Tal hinab.
Zu Hause angelangt, war unsere erste Frage : „Ist Professor Haeckel
hier in Wildungen ? ' ' Die Antwort lautete : , , J a, die Exzellenz ist heute an-
gekommen und wohnt neben uns in der Nachbarvüla." Die nächsten Tage
mit ihren Brunnenpromenaden und Spaziergängen gaben reichlich Gele-
genheit zur Erfüllung meines alten Wunsches, den Heros meiner Jugend,
den Mann des immer seltener werdenden Mutes noch einmal kennen
zu lernen und ihm persönlich für meine geistige Befreiung zu danken.
185
JOSEF KOCKS, BONN: ERNST HAECKELS BEDEU-
TUNG FÜR DIE BEFREIUNG DES MENSCHLICHEN
GEISTES VON DEN FESSELN DES ABERGLAUBENS
o o o
Der Lüge kecke Zuversicht reißt hin.
Das Wunderbare findet Gunst und Glaube.
Schiller, Demetrius.
Es scheint, daß auch bei den meisten Gebildeten der Gegenwart
die erbliche Anlage zum Mystizismus und Aberglauben nicht aus-
zurotten ist; sie erklärt sich phylogenetisch durch unsere Abstam-
mung von prähistorischen Barbaren und Naturmenschen, bei denen
die Anfänge religiöser Vorstellungen noch ganz von Animismus und
Fetischismus beherrscht waren."
Mit diesen sehr wenig trostreichen Worten schließt Ernst Haeckel
das dritte Kapitel seiner „Lebenswunder".
Wir müssen aber annehmen, daß unser hochverehrter Herr Jubilar
trotz dieser Erkenntnis und seiner 80 Jahre immer noch nicht zu den
Pessimisten gehört und nicht nur an eine Weiterentwicklungsfähig-
keit der Tierwelt, sondern sogar an eine wirkliche Weiterentwicklung
des menschlichen Geistes glaubt und an den Sieg der Wahrheit durch
dieses höhere Menschentum zu glauben nicht aufgehört hat ! — Ernst
Haeckel blieb in der Tat ein unverwüstlicher, jugendfrischer Optimist !
Schreiber dieser Zeilen ist auf Grund seiner psychologischen Ana-
lysen der Mitwelt zu einem weniger guten Resultat gelangt, wenig-
stens was den Sieg der Wahrheit durch die höhere Erkenntnis der
Menschheit betrifft.
Er vertritt die Ansicht, daß die Mitwelt zwar durchschnittlich viel
höher steht, was ihre Erkenntnis des theologischen oder des philo-
sophischen Gottbegriffes betrifft, als es den Anschein hat, daß aber
rein opportunistische, aber unüberwindliche soziale Hindernisse in
der ganzen Welt diese Erkenntnis der „reinen Vernunft" durch die
Resultate der paktierenden „praktischen Vernunft" totschlagen, tot-
schlagen werden, ja totschlagen müssen! Und zwar nach dem all-
gemein gültigen Gesetze für den Selbsterhaltungstrieb im Kampfe
ums Dasein, das Ernst Haeckel selbst im Anschluß an Darwin gelten
läßt — also nach dem Gesetze für the struggle for life! Somit muß
der Schreiber dieser Zeilen, leider, Pessimist sein.
186
In einer kleinen Broschüre über Harnack und Kahl und in seinen
Hafisliedern (Deckname Walter Werner) hat er seinen Pessimismus
wiederholt ausgesprochen und darin Kant als ein leuchtendes Exem-
plar dieser Art des durchaus praktischen paktierenden Homo sapiens
gekennzeichnet. — Kant hatte, wie noch heute die ganze Mensch-
heit, erkannt, daß die ,, reine Vernunft" in der Praxis des Lebens zu
schweigen und dem Brotgesetz, welches die ,, praktische Vernunft"
diktiert, zu gehorchen hat! Diese Zwitterlogik, welche auch aus der
Totalität der Menschen heraus spricht, ist es gewesen, welche Imma-
nuel Kant veranlaßte, neben einer „reinen" noch eine „praktische"
Vernunft gelten zu lassen, genau wie jener Eierhändler, der mir ge-
stand: „Ich bleibe, um meine Kundschaft nicht zu verlieren, äußer-
lich Christ, obgleich ich innerlich längst durch die Schriften Haeckels,
Büchners u. a. Monist und Atheist geworden bin." — The struggle
for life hier und dort! — Kant und Eierhändler!
Kants Zwitterlogik spricht sich in allen Teilen der bewohnten
Erde und bei allen ihren Rassen aus, und ich unterscheide drei Arten
von Weltbürgern: i. Die ganz kleine Gruppe von durchaus unab-
hängigen und dazu aufgeklärten Atheisten, die Gruppe des Homo
irreligiosus verax, und 2. die unendlich große Menge der Menschen,
die Gruppe des Homo pseudo-religiosus mendax, die zwar auch nichts
glaubt, aber aus Opportunitätsgründen den staatlich geschützten
Kirchen angehört. Eine kleinere dritte Gruppe ist die der wirklich
Armen im Geiste nach der Bergpredigt, die Gruppe des Homo imbe-
cillus oder imbecillis, eine Gruppe, die wirklich glaubt, sei es aus Furcht
vor Höllenqualen oder einer rettungslos idioten Beschaffenheit ihres
Zerebrums. Das ist das Fazit meiner Lebenserfahrung.
Auf Kant angepaßt, heißt es in den Walter Wernerschen Hafis-
liedern Band I, S. 300:
Der Zaubrer Kaut zeigt eins und drei,
Was praktisch ist, vernünftig sei!
Draus folgert er: bleib schlau ein Christ,
Ein Jude, Moslim, ein Buddhist! —
Wozu des reinsten Geistes Denken?
Wir sind gezwungen einzulenken!
Die „reine" Vernunft, was nutzt sie, Freund?
Die „praktische" lehr' deine Mündel,
Sonst sind sie im Leben Ecclesias Feind
Und schnüren als Ketzer ihr Bündel!
I87
So wirft also der Theologe Kant den Philosophen Kant einfach
vor die Haustüre ! — Die praktische Vernunft schlägt eben die reine
tot! —
Unser Jubilar Ernst Haeckel charakterisiert diesen Hermaphro-
ditismus des Kantischen Geistes ebenfalls. Seine Unterscheidung
zwischen einem Kant I und Kant II läuft auf dasselbe hinaus.
Es ließe sich ein prächtiger neunter Makarismus darauf auf-
bauen: „Selig sind die Zweifältigen, die eine Kantische doppelte
Vernunft haben, denn ihnen ist sowohl das Erd- wie das Himmel-
reich!"
Seit Paul von Holbach in seinem „Systeme de la nature ou des
lois du monde physique et^du monde moral" den Gottesbegriff zuerst
frei und frank bekämpft hat, ist es unser Jubilar Ernst Haeckel ge-
wesen, der mehr als alle anderen dazu beigetragen hat, den mensch-
lichen Geist von den Fesseln des Aberglaubens zu befreien.
Voltaires Aufruf, den Aberglauben zu bekämpfen, sein „Ecrasez
l'infame superstition", hat keiner so ernst genommen — als Ernst
Haeckel, der Vater unseres modernen Monismus!
Wenn der Monismus auch bereits im griechischen Hylozoismus
seinen ebenbürtigen Vorläufer hatte, so ist doch der Monismus
Haeckels unter Wilhelm Ostwalds Führung heute erst zu der mate-
rialistischen Macht geworden, die sich im Reiche der naturphilosophi-
schen Systeme ihr Recht an der Sonne zu erobern anschickt.
Den Katechismus dazu hat nach Ludwig Büchner und Carl Vogt
der Menge erst unser Jubilar geschrieben. Die Riesenauflagen seiner
Volkslehrbücher haben in allen Sprachen der Menschheit die starren
jüdisch -christlichen, jüdisch -mohamedanischen und buddhistisch-
brahmanischen Gläubigen im 20. Jahrhundert aufgerüttelt. — Die
neue Minerva des wissenschaftlichen Monismus, wenn auch manchmal
aus taktischen Gründen etwas mystisch-romantisch kostümiert, im-
poniert als eine aus dem Zeuskopf entsprungene stolze Göttin!
Haeckels Bedeutung im Kampf gegen den Aberglauben liegt meines
Erachtens wesentlich in seiner unbestechlichen Unerschrockenheit,
seinem begeisternden Opfermut, seiner eisernen Wahrheitsliebe and
last not least in seinem Märtyrertum.
Der apostolische Mut Ernst Haeckels hat Proselyten in der ge-
bildeten Lesewelt gemacht. Wir wissen es aus seinem Munde, wie selbst
188
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seine intimeren Freunde auf die staatliche Schergengewalt warnend
hinwiesen, als Haeckel der Kirche den Rücken zuwandte!
Aber in der gebildeten Bürgerschaft hat Haeckel festen Fuß ge-
faßt, und die Pforten aller Bonzenhimmel werden ihn nicht mehr
überwältigen !
Wie sehr Haeckels materialistischer Monismus heute Gemeingut
der Menschen, die lesen, geworden ist, konnte ich dieser Tage aus dem
Brief einer sehr katholischen Dame entnehmen, die mich von der
Unhaltbarkeit des modernen Monismus, als deren Anhänger sie mich
kannte, zu überzeugen suchte. — Die Dame, mit welcher ich seit
vielen Jahren befreundet bin, schreibt mir:
,,Ma pauvre petite intelligence ne peut pas se mesurer avec la
vötre de savant. Mais je me demande comment il se fait qu'un prin-
cipe d'affection subsiste si puissant en nous, alors que la cause qui
l'a produit a cesse d'exister? Et tous ces milliers et millions de Sou-
venirs de notre vie qui restent si nets et si vivants dans notre cer-
veau dont les molecules changent cependant et se transforment
pendant la duree de la vie. — Je ne puis croire que tout en nous
soit mauere et mort."
Die Dame verdankt ihre Kenntnis von Gehirn und Naturwissen-
schaft Ernst Haeckel und seinem Monismus, von dem ich ihr so oft
und so warm sprach. — Und wenn die Dame sich auch nicht von dem
Gedanken trennen konnte, daß neben der Materie im Gehirn etwas
Unauswechselbares mit dem Gedächtnis betraut sein müsse, da doch
die Atome und Moleküle im Gehirn wechseln, vergehen und durch
neue ersetzt würden, so verdankt sie doch Ernst Haeckels Schriften
ihre Kenntnisse und die Möglichkeit, über solche Fragen überhaupt
einen, wenn auch irrigen Gedanken zu haben. — Wenn die Dame
nicht so weit vorgedrungen ist, die Mneme als einen krassen Mecha-
nismus, der vom Stoffersatze bestehen bleibt, aufzufassen, was ja
sogar vielen sehr psychologischen Philosophen und Theologen nicht
gelingt, so ist doch auch diese irrige Ansicht eine Lesefrucht und ein
Denkprodukt, das Ernst Haeckel provozierte.
Ernst Haeckel ist's, der diese Art Wissen ins breite Volk trug,
ihm verdankt es in philosophischer Hinsicht wenigstens seine wissen-
schaftlichen Zweifel! Gewiß, es ist selbst für eine gebildete Frau und
auch für einen gebildeten Mann ein schwerwiegender Einwand gegen
189
den Monismus, wenn jemand ihnen sagt: Wie können unsere Hirn-
atome oder unsere Hirnmoleküle Eindrücke der frühesten Kindheit
über 60, 70, 80 Jahre festhalten, während doch nach so vielen
Jahren gewiß kein einziges Atom unseres Gehirns mehr darin ist,
was den Eindruck empfing? — Schwer wird es halten, bei Laien
hier aufklärend zu wirken, selbst wenn wir sie auf die Worte des
Meisters verweisen, welche lehren:
„Die fortgeschrittene vergleichende und genetische Psychologie der
Neuzeit hat uns zu der Überzeugung geführt, daß auch das höchst ent-
wickelte menschliche Bewußtsein keinem übernatürlichen „Geist"
seinen Ursprung verdankt, sondern, gleich allen Seelentätigkeiten,
eine Arbeitsleistung der Neuronen der Ganglienzellen in un-
serer Großhirnrinde darstellt."
Bei naturwissenschaftlich Gebildeten, die diesen Ausführungen
folgen können, ist damit der Dualismus, der Aberglaube aller Kirchen,
besiegt, selbst der des aufgeklärten Buddhismus und Konfutianis-
mus und Schintoismus, die unter den bestehenden religiösen Staats-
aberglauben naturphilosophisch am höchsten stehen.
Alle Religionen der Welt arbeiten mit der Idee der Unsterblich-
keit, die bekanntlich nach Kant „ein Postulat der praktischen Ver-
nunft" sein soll. Das Postulat der Unsterblichkeit autem genuit
die Religionen aller Völker. Mir ist die Religion kein Postulat der
praktischen Vernunft, sondern des praktischen naturmäßigen Dar-
winschen Kampfes ums Dasein in der sozialen Masse der Menschheit,
also ein Postulat des struggle for life, wie jede andere Art Betrug und
List.
Haeckel, der frisch, frei, fröhliche Stürmer und unbestechliche
Wahrheitsfreund, der Apostel der reinen, ungefälschten Humanität,
hat auch die Nächstenliebe, den Grundstock aller Ethik, das lautere
Gold der mitleidigen rein tierischen Menschlichkeit, die Formel der
allgemein geltenden universellen biologischen Moral als das Höchste
gepriesen, was das Menschentum Heiliges hat!
Die Nächstenliebe als reine Tugend, nicht als irdische Wurst zum
Wurfe nach der himmlischen Speckseite, den Freuden im Jenseits,
die Nächstenliebe also ohne Aussicht auf Himmelslohn oder Höllen-
strafe — ist eine rein tierische Eigenschaft bei allen sozial lebenden
Tieren. —
I9O
Darin ist der Monismus Haeckels den Lehren aller Religionen
voran, die den Egoismus zu dieser Pseudoliebe erziehen, ihn in Altruis-
mus durch Versprechungen für das Jenseits, durch Wechsel auf himm-
lische Bankhalter zu züchten suchen!
Die Nächstenliebe schlechthin als eine rein tierische Tugend der
sozial lebenden Wesen und der domestizierten Haustiere, wie wir sie
aus dem Reiche unserer Tierahnen kennen, nach dem Muster jenes
barmherzigen Hundes, der täglich einem Hundebruder ein Brötchen
in den Kanalschacht wirft, in den dieser gefallen ist, und wie der
Beispiele aus dem Tierreiche so viele bekannt sind.
Ich selbst besitze ein Schwanenpaar, das einer armen vereinsamten
Ente, die mit ihm auf dem Teiche lebte, aus seinem Futtertrog jedes-
mal Nahrung zuwarf, und zwar, ehe es selbst zu fressen begann ! —
Mensch, wie steht deine Größe an Menschenliebe neben diesem Tier-
paare? Oder hat etwa auch ein Schwanenchristus es gelehrt: Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst? —
Was hat nun Ernst Haeckel an Aberglauben, besonders an kirch-
lichen Dogmen bekämpft und wenigstens bei den aufgeklärten Men-
schen moderner Richtung zerstört, zerstört bei den erklärten und
nicht erklärten Monisten und Modernisten? — Er hat es deutlich in
den „Lebenswundern" bei der Besprechung der drei Artikel des
christlichen Symbolum apostolicum gesagt, besonders bei dem Er-
lösungsartikel, wo es heißt:
„Merkwürdigerweise sagt dieser zweite Artikel nichts von der
.Erlösung', die seine Überschrift bildet; diese wird nur von Luther
in seiner Erklärung: ,Was ist das?' behandelt. — Hier erfahre ich,
daß Christus mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat,
erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und der Gewalt
des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen,
teuren Blute und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben. —
Diesen schmerzvollen Tod hat Christus gleich vielen tausend anderen
Märtyrern für seine Überzeugung von der Wahrheit seines Glaubens
und seiner Lehre erlitten — wir erinnern nur an die mehr als hundert-
tausend Menschen, die durch die Inquisition und die Glaubenskriege
des Mittelalters getötet wurden! — Einen vernünftigen Kausal-
zusammenhang desselben mit der angeblichen Erlösung von allen
Sünden, vom Tode und von der , Gewalt des Teufels' hat noch keiner
I9I
der Millionen Theologen nachzuweisen vermocht, die sonntäglich
darüber predigen und gepredigt haben. — Dieses ganze .Erlösungs'-
Gebilde des christlichen Glaubens ist uralten, völlig unklaren, ethi-
schen Vorstellungen der Barbarvölker, insbesondere dem rohen Glau-
ben an die Sühnemacht der Menschenopfer, entsprungen.
Praktischen Wert für unser sittliches Leben besitzt dasselbe nur
für denjenigen, der an die Unsterblichkeit seiner persönlichen Seele
glaubt, an ein wissenschaftlich unhaltbares Dogma.
Wer auf dieses leere Versprechen eines besseren und vollkommenen
Lebens ein Jenseits' baut, der kann durch diese Hoffnung sich trö-
sten und sich über tausend Mängel und Leiden unseres irdischen
Lebens im .Diesseits' hinwegsetzen.
Wer aber das letztere vernunftsgemäß in seiner Wirklichkeit be-
trachtet und durchlebt, wird nicht finden, daß die angebliche .Er-
lösung' irgend etwas zum Besseren geändert hat; Not und Elend,
Leid und Sünde, bestehen nach wie vor; ja in vieler Beziehung hat
das moderne Kulturleben sie gesteigert!"
Maupertuis' Atomseele, seinen empfindenden Atomen, Leibnizens
seelenvollen Monaden und Ernst Haeckels Zellseelen huldigen heute
viele Monisten als moderne Hylozoisten des 20. Jahrhunderts — ohne
ihnen aber einen freien Willen zu vindizieren.
Teleologie und freien Willen hat Ernst Haeckel (,, Lebens-
wunder" S. 306) treffend charakterisiert: ,,Alle metaphysischen,
supranaturalistischen und alle teleologischen Vorstellungen, ebenso
die älteren mystischen Ideen von der besondern , Lebenskraft' be-
ruhen darauf, daß die urteilende Vernunft durch die scheinbare
Willensfreiheit und die zweckmäßige Organisation der höheren Orga-
nismen geblendet ist. Dabei wird die Tatsache übersehen, daß jene
Zielstrebigkeit aus den einfachen physikalischen Bewegungen nie-
derer Organismen phylogenetisch entstanden ist! — Anderseits wird
die bestimmte Richtung der organischen Energieformen übersehen
oder geleugnet, und doch ist diese ebenso offenbar in der Entstehung
jedes Kristalls wie in der Komposition des ganzen Weltgebäudes,
in der Windrichtung wie in dem Planetenkreislauf. Es ist daher wich-
tig, diese beiden Formen der mechanischen Energie stets im Auge zu
behalten und ihre Wesenseinheit mit der vitalen Bewegungsrichtung
zu betonen."
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I92
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13 Haeckel-Festschrift. Bd. II
193
gGjgggggggG]E]ggE]gE]gggE]gjgggggggE]ggB]gE]gggg53E]E]5]S]G]gs]E]E]B]E]B]s]
Es läßt sich nun nicht bestreiten, daß es ein für die Menschheit
humanes Werk wäre, wenn man es erreichen könnte, durch falsche
Vorspiegelungen, durch „Einbilden anderer", wie Harnack es nennt,
sie davon zu überzeugen, es gebe einen Gott, einen Himmel, eine
Unsterblichkeit! Wäre es möglich, die Menge wirklich hiervon zu
überzeugen, so wäre durch Hoffen auf Erlösung oder auf Himmels-
seligkeit die Menschheit auf Erden getröstet! — Das ist der Grund-
gedanke, der nicht nur rein egoistische Pfarrpfründner, die selbst
nicht glauben, veranlassen könnte, bei ihrem Metier zu bleiben! —
Einem wahrhaft ungläubigen Pfarrer wird es aber denn doch sehr
schwer, Erwachsenen altersschwache Ammenmärchen zu erzählen,
und feierlich zu bekennen, was er doch nicht glaubt ! — Aber prüfen
wir den wirklichen Glauben der Gläubigen, so stellt sich heraus, daß
er meist durchaus nicht ausreicht zu einem zuversichtlichen Hoffen
auf eine Auferstehung oder auch nur zum Glauben an die einstige
Seligkeit einer unsterblichen Psyche. — Der ernst denkende Arbeiter
mit natürüchem Verstände glaubt heute nicht mehr solcherlei Kin-
derstubenmärchen, und er wendet sich dann ab von der Kirche, und
der moralische Halt geht ihm alsdann leider nur zu oft verloren, da
er keinen weltlichen Moralunterricht genossen. — Daraus aber folgt:
Weg mit der Fabel, das Kind muß auf die Wirklichkeit hin erzogen
werden! — Das Glück im Diesseits ist Hauptsache; die beste Basis
der Ethik ist die religionsfreie Morallehre. — Der beste Katechismus
ist der Laienkatechismus, wie er in Frankreich bereits in die Volks-
schule eingeführt ist.
Und nun! — Wird es wohl jemals gelingen, den Monismus gegen
die Kirchen unter staatlicher Protektion zu einer Volksphilosophie
zu machen ? Das ist die große Frage, die sich ein ernst und historisch
denkender Mann und Freund der Wahrheit vorzulegen hat.
Und wie lautet hier die Antwort ? — Leider negativ! — Warum ?
— Weil die Geschichte der freiheitlichen Ideen, sogar solcher, die im
Schöße der Kirche selbst entstanden sind, leider zu deutlich zeigt,
daß die Gewalt der beiden verbündeten Wahrheitsfeinde
Staat und Kirche noch immer mit dem ihnen unbequemen Licht
der Wahrheit, die sie Ketzereien nennen, fertig geworden ist!
Da lebte z. B. im 3. Jahrhundert im Orient ein frommer Christ
mit Namen Arius! Er war sogar Presbyter und stand mit dem Volke
BjggggggggggEjgEjggggggggggggE]gggEiB]E]E]E]E]sjEjE]E]B]E]E]EjE]E]E]E|E]EigB]
194
auf bestem Fuße! — Der vernünftige Mann konnte nicht an die
damals frisch gelehrte Gottheit Christi glauben und gab, um nicht
anzustoßen, sogar eine Wesensähnlichkeit des Vaters mit dem Sohne,
die sogenannte Homöousie, versöhnlicherweise zu! — Der Arianis-
mus gewann auch bei den wahrheitsliebenden Germanen sichtlich an
Terrain ! — Goten und Longobarden hielten an Arius fest bis um 700
nach Christus! — Aber zwei Konzilien, Nicaea und Konstantinopel,
verdammten Arius' Lehre, und sie verkümmerte, weil sie verfolgt wurde.
Später lebte Arius' Lehre im Socinianismus nochmals auf, doch
auch der Socinianismus des 17. Jahrhunderts wurde seit 1658 verfolgt
und ist heute tot!
Leute wie Jatho und Traub, die es wagen, in die Fußstapfen der
alten arianischen Ketzer zu treten, werden durch unsern sich auf
den Kaiser stützenden Oberkirchenrat, nicht katholischer, sondern
evangelischer Provenienz, verfolgt und durch Hochhängen des Brot-
korbes echt preußisch mürbe gemacht! Das Kgl. Berlinische In-
quisitionsgericht Professor Kahlscher Kreation besorgt die Verbren-
nung ohne Scheiterhaufen!
Das ist das Bild unseres 20. Jahrhunderts in kirchlicher Hinsicht!
— Tiefer gesunken als das Zeitalter des Arius ist das heutige, tiefer
als das Zeitalter der Socinianer, so tief, wie es noch kein Zeitalter je
gewesen, ist das unserige heutige tief gesunken — da heute alles
kirchliche Heuchelei ist.
Nun wird man von optimistischer Seite wohl einwenden: ,,Ja,
wir Monisten haben aber keine maßregelbaren Lehrer an unserer
Spitze. Ein Haeckel und ein Ostwald sind keine Brotpfaffen, sie
stehen frei und unabhängig da!"
Ich antworte: Ganz richtig, aber diejenigen unter den Laien, die
sich ihnen, den Lehrern, anschließen, sind auch nur solche, die frei
und unabhängig dastehen!
Aber, was hat die Menge damit zu tun? Diese steht eben unter
der Gewalt des Kadi und des Mufti; sie fühlt die Zuchtrute nieder-
sausen, sowie sie muckst. Und sogar unsere wissenschaftlichen so-
genannten Republiken, die Universitäten, haben keine Leute, die
den Mut hätten, Haeckel im Monismus offen zu folgen, obschon sie
innerlich alle glauben, was er glaubt, und Christus ihnen höchstens
ein Mensch, Gott ihnen ein Phantom ist!
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13* 195
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Ernst Haeckel zählt 80 und darf noch auf manches Jahr hoffen;
geistig und körperlich ungebrochen steht er vor uns, seinen auf ihn
stolzen Freunden! Bei den unabhängigen „Modernen" hat er nur
Freunde! Aber bei den Retrograden, Reaktionären, Pietisten und
oppositionsreinen Kriechern im Staats- und Kirchendienst nur Feinde !
Die Alma mater Berolinensis hat sogar Kinder geboren, die von Ernst
Haeckel nichts wissen wollten, als ihre Mutter ihr Jubiläum feierte! —
Das lehrt die Zeitgeschichte. — Anastasius Grün denkt über solche
Feinde :
Man schreibt auf manchen Stein:
„Er hatte keinen Feind!" —
Als Lobspruch ist's gemeint,
Doch schließt's gar Schlimmes ein! —
Es klänge grad so gut:
Ihm fehlte Herz und Blut,
Er ließ wie Kies sich treten,
Er ließ wie Ton sich kneten,
Sein Aug' war blind dem Eichte,
Sein Mund war stumm dem Wichte!" — —
O raubt mir nicht am Grabe
Noch meine beste Habe,
Die Feinde, deren Zorn
Mein Schmuck, mein Stolz, mein Sporn!
Von jenen Worten rein
Laßt meinen Stein! — — —
Auch in der Tapferkeit seines Apostolates ist uns allen Ernst
Haeckel ein leuchtendes Vorbild, und wenn er nicht wie Giordano
Bruno endet, so ist es nicht der Fortschritt des heutigen Pfaffentums
und seines weltlichen Armes, sondern die Scham vor der Minerva,
der großen Griechengöttin, die aus dem Haupte Jupiters entsprang
und nichts mit dem gemeinen Zeugungsakte zu tun hat, der Kriecher
und Zeloten in die Welt setzt!
Möge diese Scham auch in den Kreisen unserer Regierenden und
ihrer Helfer und Schranzen endlich stark genug werden, daß wir
wieder die Zeit des großen Friedrich in unserm deutschen Vater-
lande erleben, die Zeit, wo ein Voltaire Fürstenfreund sein durfte
— statt eines Harnack, statt eines Kahl! —
Den Philosophen der Schule, den Philosophen, die ohne genügende
Naturkenntnisse und ohne den klaren Verstand eines Arouet uns ihre
Hirngespinste als Geistesfrüchte servieren wollen, rufen wir Natur-
9S335l393333333§lS§l33S133§lil§5I95133§51il51339S3351il35351E15!SS93
I96
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forscher zu: „Messieurs, vos idees sont trop nebuleuses!" und gehen
zur vernünftigen Tagesordnung des klaren forschenden Verstandes über,
der seine Schlüsse ohne alle Sophismen zieht, Schlüsse, die jedermann,
der nur voraussetzungslos zu denken gewillt ist, verstehtund sich selber
konstruiert, ohne Collegium logicum, das schon Goethe verspottete!
Dem Haß der Schulphilosophen gegen Ernst Haeckel hat bekannt-
lich Paulsen Worte gegeben.
Einen besseren Anwalt, als unser Jubilar gegen das Paulsensche
Pamphlet in Albrecht Rau gefunden hat, kann es nicht geben.
Er sagt von Haeckel nach der Abfuhr, die er Paulsen beibrachte :
„So treffen wir Haeckel überall auf richtigem Wege und immer
in den vordersten Reihen ; immer und überall zeigt er sich als Denker
und Mann, der unsere volle Hochachtung und Ehrerbietung ver-
dient, und der weit über unsere Zeit hinaus wirken wird; ihm, dem
absolut Ungläubigen, dem Leugner der Unsterblichkeit im christ-
lichen Sinne, wird die Unsterblichkeit im menschlichen Sinne zu-
erkannt werden müssen!
Mit Paulsen verhält sich das ganz anders; er ist eine Erschei-
nung der Zeit und als solche allerdings typisch. Mag er im Sinne
der Politiker unserer Zeit für „liberal" gelten und auch sein, als Philo-
soph ist er ein trübseliger Reaktionär, der alles und jedes auf frühere
Standpunkte zurückzuschrauben sucht und die lebendige Gegenwart
immer zugunsten der toten Vergangenheit zu erwürgen strebt."
Auch hier sehen wir unsern Jubilar, den Paulsen als philosophisch
nicht ernst zu nehmen hinzustellen versucht hat, den katheder-
gesessenen Staatsphilosophen, der ihm seinen Intellekt neidet, in den
Schatten stellen. Wenn einer ernst zu nehmen ist, auch auf dem
Gebiete der Philosophie, so kann es nur ein denkender Naturwissen-
schaftler sein — und das ist Ernst Haeckel! —
„Philosophie kann man nicht lernen", sagt Kant, demnach müssen
echte Philosophen Autodidakten sein! Doch nur Naturforscher
haben die Grundlagen, eine Weltanschauung zu erschaffen, die der
Wissenschaft gerecht wird, die selbst Wissenschaft ist, nämlich
Naturwissenschaft ohne krankhafte Spekulation!
Und ein „gottbegnadeter" Mann in dieser Hinsicht wäre unser
Jubilar, Ernst Haeckel, wenn es überhaupt ein Gottesgnadentum
gäbe!
I97
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Das Gottesgnadentum aber fiel, und allen voran war es Haeckel,
der es zu Fall brachte!
Paulsens pfäffischer Ärger über den Beifall der Menschen zu
Haeckels Philosophie erklärt sich aus folgendem durchaus.
Als der Physiologe Adolf Fick 1870 in Würzburg seine Antritts-
rede hielt, wies er auf die Charlatanerie der Kathederphilosophie in
klaren berechtigten Worten hin im Anschluß an eine Festrede des
Rektors Edel, der über die Flucht der Studenten vor den Vorlesungen
der Reinkulturphilosophien klagte. Fick, obgleich selbst noch Kan-
tianer, sagte: „Die Klage über die Vernachlässigung der philosophi-
schen Studien ist auch von anderen Seiten vielfach laut geworden.
Man hat geradezu der studierenden Jugend den Vorwurf gemacht,
sie ergebe sich, angesteckt von dem angeblich auf die materiellen
Güter ausschließlich gerichteten Sinne der Gegenwart, banausischen
Brotstudien, unbekümmert um höhere rein ideale Interessen.
Ich glaube, wir dürfen uns von diesem Vorwurfe freisprechen und
die Schuld der Mißachtung, in welche überall, besonders aber in den
naturwissenschaftlichen Kreisen die Philosophie gefallen ist, ledig-
lich dem Entwicklungsgang beimessen, welchen diese Wissenschaft
selbst in Deutschland genommen hat.
Nachdem nämlich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die er-
staunlichen Werke Kants aller Augen auf die Phüosophie gerichtet
hatten, wandten sich begreiflicherweise auch viele Talente niederer
Ordnung zur literarischen Produktion auf diesem Gebiete. Jeder
suchte seinen Vorgänger durch Kühnheit und scheinbare Tiefe der
Spekulation zu überbieten, bis zuletzt in den zwanziger und dreißiger
Jahren dieses Jahrhunderts die eigentliche Charlatanerie und
Windbeutelei in der philosophischen Literatur herr-
schend wurde. — Das mußte denn doch allmählich das gebildete
Publikum ernüchtern.
Man höre beispielsweise folgende Sätze, worin sich ein seinerzeit
im höchsten Ansehen stehender Philosoph über einen Gegenstand
ausspricht, der uns demnächst beschäftigen soll:
,Die Sinne und die theoretischen Prozesse sind daher 1. die Sinne
der menschlichen Sphäre, der Schwere, der Kohäsion und ihrer Ver-
änderung, der Wärme, das Gefühl als solches; 2. die Sinne des Gegen-
satzes, der besonderen Luftigkeit, und der gleichfalls realisierten
3333333333333333333333333333333333333333333333333333
198
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Neutralität des konkreten Wassers und der Gegensätze der Auf-
lösung der konkreten Neutralität — Geruch und Geschmack; 3. der
Sinn der Idealität ist ebenfalls ein gedoppelter, insofern in ihr als
abstrakter Beziehung auf sich die Besonderung, die ihr nicht fehlen
kann, in zwei gleichgültige Bestimmungen auseinanderfällt.
a) Der Sinn der Idealität als Manifestation des Äußerlichen für
Äußerliches, — des Lichtes überhaupt und näher des in der konkreten
Äußerlichkeit bestimmt werdenden Lichtes, der Farbe und
b) der Sinn der Manifestation der Innerlichkeit, die sich als solche
in ihrer Äußerung kundgibt — des Tones — , Gesicht und Gehör.'
Wenn derartiger höherer Blödsinn in den philosophischen Hör-
sälen vorgetragen wurde, dann findet man begreiflich, daß sie sich
allmählich leerten, und daß sich namentlich alle diejenigen daraus
zurückzogen, welche durch Beschäftigung mit Naturwissenschaften
an ein folgerichtiges Denken gewöhnt sind."
Daß die Worte der philosophischen Dialektik zum Zweck haben,
nichts zu sagen, ist bekannt! Ein Repertoir Hegelscher und anderer
Worte ohne Begriffe ist das beliebte Mittel der Schulphilosophie,
um Gedankenleere zu verdecken. Die Theologie, die ihren Beruf
daraus gemacht hat, dem Volke in seiner irdischen Not etwas vor-
zulügen, mußte natürlicherweise erst recht mit leeren Worten, be-
grifflosen Silbenkomplexen arbeiten! — Sie machte so die Philo-
sophie vollends zu ihrer Haus- und Stallmagd. — Neben dieser Ver-
wertung der philosophischen Dialektik sollten angehende Theologie-
beflissene überall in der Welt Klubs bilden, um sich in der Kunst der
Lüge, ohne verlegen oder schamrot zu werden, zu üben ! Solche theo-
logische Lügenklubs wären für die junge Brut Gottes der christlichen,
jüdischen und mohammedanischen die beste Vorschule.
Die beiden Hochstaplerinnen und Schwestern, Theologie und
Schulphilosophie, die seit je von den Eulat-Vakufs leben und in les-
bischer Liebe verkehren, sich auch gegenseitig Mägdedienste leisten,
um unerkannt zu bleiben und sich wie die Pfaffen und Katheder-
philosophen selbst beweihräuchern, um dadurch im Publikum höhere
Qualitäten und metaphysische Inspirationen zur Schau zu stellen,
obgleich sie dabei wissentlich mimen — fürchten beide für ihre Pfrün-
den an Kirchen- und Kathedergut! — Dann schreiben sie Streit-
schriften und nennen sich Ecclesia oder Philosophia militans ! — Sie
EjBjgEjggggggEjgggggggggggggggggggggE]E]E]E]E]B]EiE]E]EiBiE]B]B]E]E]E]EiB]Ei
I99
E]ggE]gE]gggggB]ggE]gggEjggEiggggE]gggE]E]E]E]EjB|gB]B]E]E]g|EiBjB]E]B}B]E]E]EjG)
glauben zu diesen Zeiten, auf den letzten Löchern zu pfeifen, und wissen
dann gar nicht mehr, daß sie in der Ignoranz und Indolenz der Masse
eine unerschöpfliche Anhängerschaft besitzen!
In solchen vermeintlichen Nöten sehen wir die beiden Sorores
sich aufs engste verbinden mit ihren Brüdern, Staat, Junkertum und
Großmammon. — Diese Familie hat stets unserer Erde Menschen-
affen beherrscht und sie dann im sogenannten sozialen Staatsbetriebe
geknechtet, knechtet sie noch und wird sie ewig weiter so knechten !
Die Macht einer solchen Familie ist unüberwindlich, da sie den
Generaltrick kennt, mit dem das Volk geleitet wird: die Verbreitung
des Aberglaubens durch mystisch-metaphysisch-poetisch-erotische
Lügen, die man Inspirationen heiliger Geister nennt, ein Vogelleim,
der noch stets alle Gimpel ohne Flügel gefesselt hat! — Philosophen
und Pfaffen, die sich Priester dieser säubern Schwestern nennen und
vikariierend füreinander einzutreten stets bereit sind, weil ihre Herr-
schaft ein Kondominium ist, das sich seiner innern Kraft meist durch-
aus bewußt bleibt und nur zeitweilig ängstlich um seine Pfründen
zittert, nämlich dann, wenn einmal über den Moder der Erde etwas
Morgenluft weht.
Die neuere Geschichte der Menschheit hat im Arianismus, im
Nestorianismus, im Lutheranismus, im Enzyklopädismus, im Darwi-
nismus und Haeckelismus solche Morgenluftströmungen erlebt. Aber
alle wissenschaftliche Nahrung solcher Art ist Kaviar fürs Volk ge-
blieben, und was heute noch vom Lutheranismus übrig ist, sucht
Preußen unter Führung seines Königs zu „zerschmettern", und dazu
mußte das Kahlsche Inquisitionsgericht errichtet werden.
Kassandras Ruf klingt mir immerfort in den Ohren aus dem Getue,
das sich Kultur zu nennen beliebt, während es doch nur der technische
Fortschritt ist, der in einem Lügengespinst drapiert auf unserer
Weltbühne mimt, die Luft zwar durchfliegt, aber dadurch der Wahr-
heit nicht dient, die sich allein der Naturwissenschaft offenbart und
von sogenannten „Geisteswissenschaften" nichts wissen will! — Doch
der Opportunismus der Kadis, im Bunde mit dem Pfaffentum und
der Kathederphilosophie, hat noch stets durch die Praxis der Politik,
mittels der Kantischen „praktischen" Vernunft die „reine" ermorden
lassen! Dabei wird es bleiben! Auf immerdar siegt the struggle
for life — der Brotkorb — der Staat!
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200
E]E]E]E]G]E] G]E]E]E]E]gE]EiggEJE]B]E]E]E]E]gE]ElEiggE]ggBlE]E]B]E]gE]BlE|B3ggE]E]B]E]g]E]E]E]
Praktische Vernunft aber ist der Theismus fürs Volk, der
Konfessionalismus, die Volksschule für die Verdummung, die staat-
liche Hochschule, um den freien Gedanken zu ersticken, der Tempel-
bau für die hungernde Menge, die Zwangserziehung zum Gottes-
glauben, die Bestrafung des Kirchenaustritts, der rauchlose Scheiter-
haufe für den modernen Ketzer, die elektrische Hinrichtung der
zitternden Freiheit und der lebendigen Wahrheit der Wissenschaften
der Natur und der Materie, dieses unpoetischen und ungeschminkten
Naturburschen, der ohne Furcht vor Hölle und Teufel und ohne
Hoffnung auf eine Auferstehung zu sterben weiß. — Es ist der Mord
des so verpönten Materialismus — den wir im Monistentalar dem
Volke vorstellen, obgleich es von seinem kirchlichen Aberglauben
nicht läßt, nicht lassen kann, sich an ihn hängt mit klammernden
Organen !
Nur dort, wo der Verstand nüchtern genug ist, alle Gemütsbe-
dürfnisse, die mit uns geboren sind und uns anerzogen wurden, aus-
zuschalten aus seinem Urteil, wie bei den reinen Monisten, die nur
auf naturwissenschaftlicher Grundlage stehen, ist ein Leben mit zu-
friedenem, das ist ergebenem Grundton möglich.
Fehlt dem Menschen dieser durchaus nüchterne Verstand, dann
ist es nichts mit seinem Monismus, der durchaus materialistisch sein
muß. Bei ihm kommt der monistische Mystizismus zu seiner dämmer-
haften Entfaltung, der in der Tat mehr Aussicht auf traumschwangere
Anhänger hat als der naturwissenschaftliche, reine, naturalistische
Urmonismus, der Hylozoismus der ionischen Philosophen.
Sokrates und Christus gingen beide willig in den Tod, wenn diese
Annahme bei Christus wenigstens kein Treppenwitz der Weltgeschichte
wäre. — Aber wie unendlich viel höher steht die Sage des Sokrates
über der Christi! — Sokrates verzichtet nicht auf seine Lehre, was
ihn vom Tode hätte erretten können, und, verurteilt, verschmäht er
die Flucht aus dem Kerker, und zwar ohne Hoffnung auf einen himm-
lischen Vater, aus Respekt vor den bürgerlichen Gesetzen!
Sokrates war ein Musterbürger!
Der Christus der Sage aber glaubt sich ein übermenschliches Wesen,
Sohn eines Höheren, Gesandten des Himmels, verpflichtet, auch den
Trumpf des Todes für die Erlösung der Menschen auf sein Leben zu
setzen, aber auf ein Wunder rechnend, ruft er erst am Kreuze, als
201
kein Wunder für ihn geschah: „Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen!!"
Wie aus Obigem ersichtlich, hat der genannte Physiologe Adolf
Fick, wie damals allgemein geschah, sehr für die Kantische Philo-
sophie geschwärmt und sogar versucht, ihr neue Stützen zu schaffen.
Er glaubt, für Kants Erkenntnis a priori eine Lanze brechen zu müssen,
und begründet das mit dem Worte des Cartesius „Cogito ergo sum",
der, wie er sagt, zuerst das Bewußtsein des denkenden Subjekts zum
Ausgangspunkt der Philosophie gemacht habe.
Nun ist aber dieses Cartesianische Wort, wie alle schulphilosophi-
schen Wendungen tutti quanti es sind, eine leere Phrase ohne ver-
nünftigen Sinn. — Schon oft ist auf die Unbrauchbarkeit dieses ge-
schickterweise verstümmelten Syllogismus für den Beweis einer ge-
sunden Seelentätigkeit hingewiesen worden. Wäre er mit seiner
Prämisse ans Lampenlicht getreten, so hätte jedermann gleich die
nichtssagende Tautologie erkannt. Die Dialektik der faselnden Alten,
der Frau Schulphilosophei, hat öfter solcherlei Erfolge!
Der Syllogismus des Cartesius müßte vollständig lauten:
Obersatz: Quodquod oder quidquid cogitat, est!
Untersatz : Cogito !
Schluß: Ergo sum!
Es ist klar, daß jedes andere Verbum für „Cogito" gesetzt werden
kann! Ich werde ohnmächtig, torpeo ergo sum, ist geradeso richtig.
Der Obersatz ist ja schon ein fertiges Urteil, und der Schlußsatz
enthält wieder das selbstverständliche Urteil des Obersatzes, daß
ein denkendes Ding — man staune — ein Ding sei! — Sprachlich
ist das aber einfach eine gewöhnliche Tautologie und eine wiederholte
Selbstverständlichkeit, eine glatte Wiederholung des Obersatzes selbst.
Und das soll Kant stützen?
Nun kommt dazu, daß jeder Syllogismus überhaupt ein Zirkel-
schluß ohne Wert ist, selbst dann, wenn es weniger naheliegt als hier.
Der Cartesiussche Syllogismus ist eben eine petitio principii, ein
leerer Wortschwall, eine vergeblich versuchte Erschleichung des Be-
weisgrundes!
Wir können als Naturforscher nicht auf solchen lächerlichen Pfa-
den wandern und müssen uns an strenge Untersuchungen halten,
glauben aber, daß es der Wahrheit dienlich wäre, wenn nur natur-
202
gggggggG]gggB]ggggggggggggggggE]@]E]ggG]EiE]E]E]E]E3gE]E]E]G]gE]BiGiG]B]E3
wissenschaftlich streng motivierte Schlüsse von Naturforschern in
die allgemeine Naturlehre, das ist die moderne Naturphilosophie,
übergingen.
Ernst Haeckel ist eben befähigt, naturwissenschaftlich zu
denken und so auch naturwissenschaftlich motivierte Schlüsse zu
ziehen, kurz, naturphilosophisch zu denken.
Ernst Haeckels naturphilosophische Werke, die die Welt erobert
haben, haben wissenschaftlich mit allem Aberglauben restlos auf-
geräumt. Die intellektuelle Welt denkt schon monistisch. Leider
hapert es in der Praxis! Diese ist fürs Volk dualistisch und wird's
aus Opportunitätsgründen wohl auch bleiben müssen!
Der Vater des aufgeklärten Monismus, unser Jubilar, sieht aber
heute durch seine Lebensarbeit die Intellektuellen der ganzen Welt
unter seiner Fahne versammelt.
Ernst Haeckel sieht als Achtzigjähriger noch den Triumph seiner
Lehre, und wir alle, seine Schüler und Adepten, huldigen ihm, dem
unerschrockenen, als dem unermüdlichen Kämpfer für das
Wahre, Schöne, Gute!
Ernst Haeckel ist der Prototyp des Darwinschen Tiermenschen,
des geläuterten Nietzscheschen Übermenschen, meines Homo irreli-
giosus verax! Für die große Masse bleibt der religiöse Aberglaube
des Staates! —
Der Lüge kecke Zuversicht reißt hin.
Das Wunderbare findet Gunst und Glaube!
Als fester Pol in der Erscheinungen Flucht bleibt unzweifelbar,
daß eine neue Weltanschauung sich nur auf den Empirismus der
Naturwissenschaften aufbauen darf, wenn sie Berechtigung und Be-
stand haben soll. — Das tat Ernst Haeckel, und diese Naturphilo-
sophie ist sein Monismus!
Versuche zur Vermittlung zwischen den Forderungen der „reinen",
naturwissenschaftlichen Vernunft und der „praktischen" schulphilo-
sophisch-theologischen Vernunft, die man aus Staatsraison hegt und
pflegt, sind vielfach gemacht worden. Aber alles muß erfrieren vor
dem unerbittlichen kalten Verstände, der von einem künstlichen
Kompromiß zwischen Naturwissenschaft und Volksglauben nichts
wissen will.
203
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Weg mit allem idealistisch-romantischen Mythus in der Erklä-
rung unseres Kosmos! — Rein mechanisch, und es sei hervorgehoben,
rein materialistisch muß der Monismus sein. Alle Versuche, den Mate-
rialismus durch das Epitheton „roh" zu diskreditieren, sind ebenso
töricht, als es töricht war, sich gegen die Abstammung des Menschen
vom Affen aufzulehnen! Beide Tatsachen bleiben, so wenig roman-
tisch sie sein mögen:
wir sind die höchstentwickelten Affentiere,
wir sind nichts als eine Gruppierung der Materie.
Fechners Versuche, Geist und Herz in den Weltanschauungsfragen
auszusöhnen, müssen wir, so hoch wir Fechner schätzen, als natur-
wissenschaftliche Monisten ablehnen. Was Fechner wollte, sagt
P. J. Möbius: „Vermitteln zwischen den Bedürfnissen des Geistes
und denen des Herzens." Er fügt hinzu: „Und sein Weg ist der ein-
zige, der gangbar ist." Fügen wir jedoch hinzu: „Dies gilt für alle
Angstmeier, Zweifler und Philister, die allerdings auch unter den
Gelehrten die Mehrheit ausmachen!" Möbius aber ruft selbst aus:
„Aber die Gläubigen wandten sich ab, denn sie brauchten den Geist
nicht, und die Wissenwollenden wandten sich ab, denn sie brauchten
kein Herz!"
Die Parole lautet: „Entweder Philosophie oder Romantik."
Damit ist scharf unterschieden zwischen den Land- und See-
tieren unter den denkenden Menschen; beide bewohnen verschiedene
Atmungsmedien, und beide können nur in den ihnen adäquaten
Medien leben! — Die Philosophen aber, welche als Amphibien in
beiden sich aufhalten, bleiben von der Entwicklung zum Vernunfts-
ideal ausgeschlossen; dieses Vernunftsideal ist aber der reine, natur-
wissenschaftlich-mechanistische Monismus.
Wir lehnen es ab, mit Paulsen die physikalische Weltanschauung
als eine einseitige Betrachtung anzusehen und uns der Paulsenschen
allgemeinen philosophischen Weltanschauung ein- und unterzuordnen,
wie er in seiner Philosophia militans naiv uns dazu auffordert.
Wissens- und Glaubensbedürfnisse zugleich sättigende Welt-
anschauungen gibt es nicht und wird es nie geben! Wir müssen
alle solcherlei Vermittlungen ausdrücklichst ablehnen und uns be-
kennen zu Ernst Haeckels naturwissenschaftlichem Mo-
nismus.
ggggggggig^ggG]ggggggggggggG]gggB]E]B]EjB]E]E]E]E]EiB]B]E]E]E]E]E]E]E]EjE]E]E]
204
S§]gggE]gggggggggE]ggE]ggggggE]gB]EiEjE]E]E]E]B]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E)G]EiE]E]E]G]E]
Darf der Monismus der Naturforscher und Ärzte, der er heute ist,
hoffen, gegen die Metaphysiker aufzukommen?
Naturforscher und Ärzte werden von den Metaphysikern auf den
Kathedern unserer deutschen Hochschulen bekanntlich sehr von oben
herab angesehen und demgemäß behandelt. — Eine unermeßliche
Eitelkeit und Überhebung hat die Herren Metaphysiker dazu ver-
leitet. — Ganz haben diese aber übersehen, daß eine Philosophie
heute nur Sinn haben kann, wenn sie von der Naturwissenschaft
ausgeht. — Und doch hat Schopenhauer sich selbst einen „Montblanc
gegen einen Maulwurfshaufen" genannt, wenn er sich mit einem Natur-
forscher vergleicht! — Helmholtz sagt zu dieser „propria laus":
„Die Schüler bewundern das große Wort und suchen dem Meister
nachzuahmen."
Schopenhauers Metaphysik selbst charakterisiert Helmholtz in
seiner Kritik des Zöllnerschen Buchs über die Kometen, wie folgt:
„Die Gestirne sollen sich einander lieben oder hassen, Lust oder Un-
lust empfinden und sich so zu bewegen streben, wie es diesem Emp-
finden entspricht ! Ja, in verschwommener Nachahmung des Gesetzes
der kleinsten Wirkung wird der Schopenhauersche Pessimismus, wel-
cher diese Welt zwar für die beste unter den möglichen Welten,
aber für schlechter als gar keine erklärt, zu einem angeblich allgemein
gültigen Prinzip von der kleinsten Summe der Unlust formuliert,
und dieses als oberstes Gesetz der Welt, der lebenden wie der leblosen,
proklamiert ..."
„Ich glaube," fährt Helmholtz fort, „daß der Philosophie nur
wieder aufzuhelfen ist, wenn sie sich mit Ernst und Eifer der Unter-
suchung der Erkenntnisprozesse und der wissenschaftlichen Methoden
zuwendet. Da hat sie eine wirkliche und berechtigte Aufgabe. Meta-
physische Hypothesen auszubauen ist eitel Spiegelfechterei! — Zu
jener kritischen Untersuchung gehört aber vor allem genaue Kenntnis
der Vorgänge bei den Sinneswahrnehmungen. —
Die Philosophie ist unverkennbar deshalb ins Stocken geraten,
weil sie ausschließlich in der Hand philologisch und theologisch ge-
bildeter Männer geblieben ist und von der kräftigen Entwicklung
der Naturwissenschaften noch kein neues Leben in sich aufgenommen
hat. Sie ist deshalb fast ganz beschränkt worden auf Geschichte der
Philosophie.
33§9S33333353!35!SS3i39333§G]33iG]ElE]G]E|E]E]E]E]gG]gE|G]G]E]E|G]EIE]E]E]E]'
205
Ich glaube," schließt Helmholtz, „daß die deutsche Universität,
welche zuerst das Wagnis unternähme, einen der Philosophie zu-
gewendeten Naturforscher zum Philosophen zu berufen, sich ein
dauerndes Verdienst um die deutsche Wissenschaft erwerben könnte.'*
Ich teile diese Ansicht Helmholtz', bin aber überzeugt, daß diese
echten „Philosophen", echte Naturforscher bleiben müssen, Philo-
sophen, die täglich aus dem naturwissenschaftlichen Laboratorium
auf ihren philosophischen Lehrstuhl steigen!
Bis dahin muß die naturforschende Wissenschaft ihre Naturphilo-
sophie auch ohne solche Lehrkanzeln für Philosophie vertreiben,
wie es in so meisterhafter Weise geschehen ist durch unsern Jubilar
ERNST HAECKEL!
ggggggggggg^tgggggggggggggEjE]E]E]E]E]B]E]E]EJE|E]B]E]E]EJE]E]E]E]E]E]EJE]E]B]E]
206
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KARL O. LEEGE, JENA: HAECKEL- VORLESUNG
o o o
Als die Nachricht durch die Zeitungen ging, daß Professor Ernst
. Haeckel mit dem Schluß des Wintersemesters 1908/09 seine
akademische Lehrtätigkeit in Jena einstellen werde, haben sich die
Gedanken Tausender nach der weitberühmten thüringischen Hoch-
schule gewandt. Nicht nur in Deutschland dachte man des großen
Gelehrten, der nun nach über achtundvierzigj ähriger öffentlicher,
wissenschaftlicher Tätigkeit sein Lehramt kurz nach Vollendung
seines fünfundsiebzigsten Lebensjahres einem anderen übertragen
will, sondern in der gesamten Kulturwelt; denn Haeckels Gemeinde
ist international. Tausende gedachten des Philosophen Haeckel,
Hunderte des Zoologen, der sie in die Wunder der Tierwelt einführte,
und gar manchem, der die Absicht hegte, noch unter seiner Leitung
zu arbeiten, wird die schmerzliche Gewißheit geworden sein, daß es
nun zu spät sei. Man mag über die Lehre Haeckels denken wie man
will, man wird immer die gewaltige Tatkraft dieses Mannes bewundern
müssen, der es als erster wagte, jahrhundertelang gehegten Irrtümern
und Verstellungen energisch entgegenzutreten. Die Bewunderung
für die Persönlichkeit Haeckels hat schon manchen in das Auditorium
des zoologischen Instituts zu Jena gelockt, den „Weisen von Jena"
von Angesicht zu Angesicht zu sehen und auf eine Kollegstunde seinen
Worten zu lauschen — vielleicht auch die Neugier. Und jeder, der
in Jena studierte, entsinnt sich, daß oftmals Leute in Haeckels Hör-
saal erschienen, die nicht zu seiner Studentenschar gehörten, die über-
haupt dem ganzen akademischen Leben offenbar fern standen. Viel-
leicht auf der Durchreise, waren sie in Haeckels Auditorium ge-
schlüpft, um später sagen zu können, daß auch sie einmal einer
Haeckelvorlesung beigewohnt hätten. Das alles kommt auch bei
anderen Hochschullehrern vor — bei Haeckel aber besonders häufig.
Und wer den Hochschullehrer Haeckel in seinem Reiche kennen ge-
lernt hat, dem werden die empfangenen Eindrücke nicht so bald
entschwinden.
Das zoologische Institut zu Jena ist kein sonderlich imposantes
Gebäude, besonders jetzt tritt es zurück, seit der schöne Bau des
phyletischen Museums dicht davor erstanden ist; aber es kommt ja
207
auf den Geist an, der in wissenschaftlichen Instituten waltet, und in
dieser Hinsicht kann das Jenenser Institut wahrlich zufrieden sein.
Fast jeden, der zum ersten Mal in dieses gelbe Backsteingebäude ein-
tritt, überkommt ein gewisses Gefühl der Ehrfurcht. Dies also sind
die Räume, in denen jene großen freien Gedanken entwickelt wurden,
die Tausende und Abertausende aus Zweifeln schlimmster Art be-
freiten, dies sind die Räume, in denen jene Prachtwerke aus dem
Gebiete der Zoologie entstanden, die Haeckels Namen für alle Zeiten
in die Annalen der zoologischen Wissenschaft eingegraben haben,
und denen, was die Vereinigung exakter Beobachtung und künstle-
rischer Wiedergabe des Gesehenen anbetrifft, kaum etwas zur Seite
gestellt werden kann.
Wir treten ins Auditorium. Wohin wir auch blicken, jedes Fleck-
chen der Wände ist zum Aufhängen von zoologischen Tafeln aus-
genutzt, die die verschiedenartigsten Wesen darstellen und zumeist
von Haeckel selbst gemalt worden sind. Dort hängen auch die großen
Entwürfe vom mutmaßlichen Stammbaum der Tiere. Neben dem
Katheder sind auf einem Tische eine Anzahl von Präparaten auf-
gestellt, meist sorgfältig in Gläsern mit Alkoholfüllung eingeschlossen.
Auch neben dem Rednerpult stehen einige, und fast auf allen Etiketten
ist der Name Haeckels zu lesen, wie denn überhaupt der größte Teil
der Schätze des zoologischen Museums von ihm selbst auf seinen
großen Reisen gesammelt worden ist.
Allmählich füllt sich der Hörsaal. Einige überfliegen noch einmal
kurz die Stichworte der vorigen Vorlesung; andere betrachten die
aufgestellten Präparate; wieder andere sprechen miteinander. Doch
plötzlich wird es ruhiger; schnell schlüpft jeder auf seinen Platz.
Draußen werden kurze Schritte vernehmbar; eilig kommt jemand
die zu dem Auditorium führende Treppe herab; dann wird die Tür
geöffnet und der Altmeister tritt herein. Ein leises Kopfnicken schon
an der Tür ist der Gruß an die Studenten, die den berühmten Lehrer
durch donnerndes Trampeln willkommenheißen. Er besteigt das
Katheder, einen Augenblick überfliegen seine Augen die Reihen der
Hörer, dann beginnt er seinen Vortrag.
Nichts an ihm verrät sein hohes Alter. Seine Bewegungen sind
frei und elastisch. Ungebeugt ist die hohe Gestalt, und das schöne,
durchgeistigte, von schneeweißem Haar umrahmte Antlitz so rosig,
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208
daß man unwillkürlich all jene kleinen Fältchen übersieht, die die
Zeit gleich einem feinen Netzwerk darüber hingespannt hat.
Haeckel spricht fließend; fast nie ist er genötigt, nach einem Aus-
druck zu suchen. Niemals bringt er ein Stichwortheft oder auch nur
einen Zettel mit der Disposition des Vorzutragenden in den Hörsaal.
Er spricht immer frei. Man hat auch nicht den Eindruck, als ob er
sich besonders vorbereitet habe. Es scheint vielmehr, als ob das Vor-
getragene aus einem unerschöpflichen Quell hervorsprudele, als ob
das alles erlebt sei und gleichsam von einem unsichtbaren Manuskript,
das sich während des Sprechens aus dem gewaltigen Schatz an Kennt-
nissen bildet, abgelesen werde. Und darin, daß Haeckel stets impro-
visiert und ihm als souveränem Beherrscher seiner Wissenschaft stets
eine gewaltige Fülle von Gedanken und Anknüpfungspunkten zufließt,
liegt auch der Grund, daß es oft schwer ist, seinen Ausführungen zu
folgen. Der Anfänger wird geneigt sein, von schlechtem Vortrage zu
sprechen. Der Fortgeschrittene hingegen wird geradezu dankbar
anerkennen, daß Haeckel ihn — bewußt oder unbewußt — auf all die
kleinen Fensterchen aufmerksam macht, die vom zoologischen Fach-
gebiet anregende Ausblicke auf die verschiedensten Disziplinen ge-
währen, ihn lehrt, die Zoologie als eine von vielen Wissenschaften
aufzufassen, als Teil eines höheren Ganzen.
Reichen zur Darlegung komplizierter Verhältnisse Worte nicht
mehr aus, so werden mit farbigen Kreiden flüchtige Zeichnungen an
der Tafel entworfen. Immer nur wenige Striche, aber man hat meist
das Gefühl, als ob mit diesen groben Linien gerade das getroffen wor-
den sei, worauf es ankam, und in einer Weise, die unter Voraussetzung
der benutzten Mittel nicht übertroffen werden kann. Es ist geradezu
erstaunlich, welche Meisterschaft Haeckel beim Entwerfen seiner
Tafelzeichnungen entfaltet. Selbst hier offenbart sich die Künstler-
schaft dieses Mannes. Einerseits ist er der wissenschaftliche Analy-
tiker, der dem Einzelnen bis auf den Grund nachgeht; andererseits
der künstlerische Synthetiker, der sofort weiß, wie er am besten das,
was er eben zerlegt, wieder harmonisch zusammenfügt und zeich-
nerisch darstellt. Jede Linie ist auf den ersten Wurf richtig; ich habe
nie gesehen, daß es notwendig gewesen wäre, eine einmal hingeworfene
Linie wieder fortzu wischen. Und so sonderbar es auch scheinen mag,
ich habe oft beim Betrachten dieser rohen Tafelskizzen die Empfin-
14 Haeckel-Festschrift. Bd. II
209
düng gehabt, daß es eben dieselbe Hand ist, die hier die eiligen Kreide-
zeichnungen entwirft, dort die großen farbigen Wandtafeln zeichnete
und dort die wunderbaren „Kunstformen der Natur" schuf. Man
begreift es, daß dieser Mann einmal, begeistert von der Schönheit der
Natur und der eigenen Fähigkeit, sie wiederzugeben, bei einem For-
schungsaufenthalt auf Sizilien im Anfang der sechziger Jahre des
vergangenen Jahrhunderts, eine Zeitlang schwankt, ob er nicht um-
satteln und Landschaftsmaler werden solle : Haeckel ist nicht nur ein
großer Gelehrter, er ist auch ein großer Künstler. Das muß selbst
derjenige schon ahnen, der auch nur eine Stunde seinem Vortrage
aufmerksam gefolgt ist.
Aber man lernt in einer Haeckelvorlesung nicht bloß den Gelehrten
und Künstler, sondern vor allem auch den Menschen Ernst Haeckel
kennen. Das ist von der größten Bedeutung. Denn nun kann man
sich über gewisse Fragen ein selbständiges Urteil bilden, ist nicht mehr
auf fremde Charakteristiken angewiesen. Wer ihn so vor sich sieht,
muß sich wundern, wie doch dieser Mann gar keine Selbstherrlichkeit
zeigt, wie er so ruhig und sachlich aus seiner Wissenschaft vorträgt,
ohne Dogmatismus, ohne sarkastische Seitenhiebe auf seine Gegner,
selbst wenn er gelegentlich auf deren abweichende Anschauungen
zu sprechen kommt. Ich habe ihn niemals polemisch werden sehen.
Hier wird es so recht eigentlich klar, wie hoch Haeckel über all jenen
häßlichen Angriffen erhaben ist, die sein Lebenswerk vernichten oder
verdunkeln wollen. Ein Mann, der mit so freiem Auge in die Welt
schaut, mag geirrt, mag manchen Fehler begangen haben, aber wissent-
lich entstellt hat er nie.
Wenn die Vorlesung beendet ist, und Haeckel den Hörsaal verläßt,
nachdem er durch eine leise Verbeugung für das donnernde Beifalls-
trampeln seiner Studenten gedankt hat, dann hat man die Überzeu-
gung, daß er nicht nur ein großer Gelehrter, ein großer Künstler ist,
sondern, was vielleicht das Höchste darstellt, eine große harmonische
Persönlichkeit, der es von Anfang an ernst war mit ihrem Ringen
nach dem Ideal des Wahren, Guten und Schönen.
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210
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ALFRED GREIL, INNSBRUCK : HAECKELS FÜHRUNG
IM NATURERKENNEN
o o o
Was den Naturforscher und Mediziner beim Studium der Werke
Haeckels fesselt, begeistert und belehrt, ist vor allem das tiefe
kausalanalytische Streben, die auf die Ermittlung der Entstehungs-
bedingungen, der „ursächlichen Zusammenhänge", auf die „kausale
Begründung der Morphogenie" gerichtete Betrachtungsweise, welche
vor allem in der Generellen Morphologie (1866), in der von Haeckel
begründeten „mechanischen Wissenschaft" von den entwickelten
Formen der Organismen in großzügiger und vorbildlicher Weise zum
Ausdruck gelangt. Wie Darwin auf Haeckel einwirkte und den jungen,
wissenschaftlich gebildeten Zoologen schon beim ersten Bekannt-
werden seiner Lehre (1860) zu seinem begeisterten Anhänger machte,
der auf der Stettiner Naturforscherversammlung (1863) freimütig und
unentwegt, gegen den Widerspruch einer erdrückenden Majorität mit
der Sicherheit tiefster Überzeugung Darwins Lehre vertrat — so
wirkt Haeckel, dessen Lebensarbeit der wissenschaftlichen Durch-
führung der Abstammungslehre gewidmet ist, dessen Riesenarbeit
darauf gerichtet war, den Entwicklungsgedanken in allen seinen so
weittragenden Konsequenzen voll zu erfassen, und die wichtigsten,
getreuesten und verläßlichsten Dokumente der Abstammung, die
keimesgeschichtlichen Überlieferungen zu heben und zu enträtseln
und die Phänomene „der Anpassung und Vererbung" zu erklären —
auf uns ein. Haeckel war der erste, der das „kausale Fundament der
organischen Morphologie", die Ermittlung der Bedingungen des Ge-
schehens, die ursächliche Erforschung der „Wirkungsweisen", wie er
sich so treffend ausdrückte, als das erste Postulat wissenschaftlicher
Forschung hinstellte, der klar erkannte, daß die bloße Anatomie ohne
die Entwicklungsgeschichte „keiner wissenschaftlichen Behandlung
fähig ist". Er hat als erster die Worte Karl Ernst von Baers voll erfaßt
und bestätigt : „Die Entwicklungsgeschichte ist der wahre Lichtträger
bei der Untersuchung organischer Formen; bei jedem Schritte findet
sie ihre Anwendung, und alle Vorstellungen, welche wir von den
gegenseitigen Verhältnissen der organischen Körper haben, werden
den Einfluß unserer Kenntnis der Entwicklungsgeschichte erfahren."
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14* 211
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Keiner vor und niemand nach Haeckel hat den Entwicklungs-
gedanken so genial und großzügig, so zielbewußt und klar zum Aus-
drucke gebracht und verfolgt, auch nicht sein engerer Zeitgenosse
Fritz Müller-Desterro, dessen Schrift „Für Darwin" (1863) der großen
Publikation Haeckels zeitlich unmittelbar voranging. F. Müller ver-
hielt sich in dieser Hinsicht zu Haeckel wie Wallace zu Darwin, doch
gebührt Haeckel unter allen Umständen die Priorität in der groß-
zügigen Erfassung und Durcharbeitung des Gesamtproblems, wobei
Haeckel schon von Anfang an darauf bedacht war, das gewaltige
Problem der Menschwerdung, der Stellung des Menschen in der
Organismenwelt in seiner vollen Bedeutung aufzurollen. Die Lehre
vom „Parallelismus zwischen der individuellen Metamorphose und der
Metamorphose des Tierreiches" hatten schon Meckel und K. E. v. Baer
(1821 bzw. 1828), also drei Dezennien vor der Begründung der Zellen-
lehre durch Schwann, aufgestellt — die Lupe und die Schere waren
ihre wichtigsten Forschungsinstrumente. Es konnte ihnen schon bei
schwächeren Vergrößerungen der Keimscheiben und Embryonen nicht
entgehen, daß „der Embryo der höheren Tiere die verschiedenen
Stufen in derselben Ordnung durchläuft, als sie in der Tierreihe auf-
wärtssteigen, so daß seine früheren Formen den niedrigeren, die
späteren den höheren der unter seiner Art stehenden Organismen
entsprechen" (Meckel). Die Entwicklungsvorgänge aber, welche diese
Veränderungen herbeiführen , mußten allen , welche sich vor Schwann
mit embryologischen Studien befaßten, verborgen bleiben, und auch
der geniale K. F. Wolff konnte bei der Zurückweisung der aus solcher
Unkenntnis erwachsenen Spekulationen über ein evolutionistisches
Entwicklungsgeschehen nur in allgemeiner Fassung seine berühmte
Theorie der Epigenesis aufstellen. — Die unerschöpfliche Fülle von
deskriptiven Problemen, welche die Schwannsche Zellenlehre, die Be-
gründung der mikroskopischen Anatomie mit einem Schlage eröffnete,
lenkte sodann das Interesse von den großen und allgemeinen Fragen
der Entwicklungslehre etwas ab, während auf ganz andern Wegen
Darwin durch die Deszendenzlehre die alte Typenlehre zu Falle brachte
und das neue großartige Problem der Abstammungslehre entrollte. —
Dies war die allgemeine Lage, als Haeckel die Erkenntnisse, welche
die Zellenlehre und die mikroskopische Technik erschloß, in den
Dienst der Abstammungslehre stellte. — Nachdem das Dioskuren-
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212
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paar Gegenbaur und Haeckel auf der hohen Schule zu Jena als ge-
meinsame Frucht ihres Ideenaustausches die grundlegende Erkennt-
nis vom zellulären Charakter der Eier der Wirbeltiere — und mögen
sie auch noch so sehr mit Dotter beladen sein — gewonnen hatte,
konnte Haeckel daran gehen, in zielbewußter Fragestellung und
Durchführung die keimesgeschichtlichen Beweise der Deszendenz-
theorie zu sammeln und zu sichten. Naturgemäß mußte dieses Prinzip
zuerst an den jungen, primitiven, grundlegenden Entwicklungsformen
aufgedeckt und bewiesen werden. Es war Haeckel von vornherein
klar, daß die freilebenden Vertreter der jüngsten Entwicklungs-
formen aller höheren Wirbellosen und der Wirbeltiere niedrige Meeres-
tiere sein müssen. Auf weiten Reisen nach Süd und Nord, nach West
und Ost verstand es Haeckel, sich mühsam das Untersuchungs-
material zusammenzuraffen, welches ihm die Grundlage für seine be-
rühmte Gasträatheorie (1872 — 1884) bot. Kaum hatte Kowalewsky
die Entwicklung des Amphioxus entdeckt, als Haeckel in dessen
Befunden den langgesuchten Gasträadenzustand des Vermittlers
zwischen den Wirbellosen und den Wirbeltieren erkannte und den
Becherkeim der Embryonalentwicklung des Amphioxus als ein letztes
Idealbild einer Gastrula den Untersuchungen über den korrespon-
dierenden Entwicklungszustand der Wirbeltiere voranstellte, bei
denen durch den Dottererwerb und andere äußere Umstände dieser
Formentypus nur in seinen wichtigsten Zügen unverkennbar wieder-
holt, in nebensächlichem, an Masse allerdings überwiegendem Belange
in Anpassung an jene eine weitergehende fortschrittliche Entwicklung
ermöglichenden Begleitumstände progressiv abgeändert erscheint.
Was Haeckel damals nur in großen Strichen angedeutet, können wir
heute in aller Exaktheit begründen. Wir kennen heutzutage den
Gastrulazustand der Keimlinge des Menschen, welcher in allen seinen,
auch in den nebensächlicheren Details eine völlige Übereinstimmung
mit jenem der Affenkeime aufweist und in seinen Hauptzügen den
Gastrulaformen niederer Wirbeltiere und des Amphioxus in kardi-
naler Weise gleicht, diese Erwerbungen sogar viel getreuer und mar-
kanter, als die Keime der Vertreter mancher Wirbeltierklasse wieder-
holt und wiederholen muß, denn nur dieser Entwicklungsweg, nur
diese Art von grundlegenden Formenerwerbungen und -Veränderungen,
nur diese Art des Ringens zwischen langsamer und rascher wachsenden
S3S]S3S3E1333S33§I31I113331]31I3!SS^§ISSJG]gE]ggEiggs;E]B]E|E]E]E]E]E]E]E]E]El
213
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Zellen und Zellverbänden führt zu solchen Höhen. Da Haeckel stets
den Menschen als Endziel der Forschung, als das „eigentliche Stu-
dium der Menschheit" vor sich hatte, und der zeitraubenden und mit
äußeren Schwierigkeiten aller Art verbundenen, von einem Einzelnen
auch heutzutage infolge der erschwerenden äußeren Umstände nicht
annähernd zu bewältigenden Arbeit der Sammlung des Untersuchungs-
materiales, der geschlossenen Untersuchung des Entwicklungsganges
des Menschen und der Wirbeltiere sich nicht unterziehen konnte,
so überbrückte er mit Ungeduld, aber in genialer Konzeption, stets
in den großen Zügen das Richtige treffend, die Lücken der Erfahrung
und fügte dort Schemata und Ubersichtsbilder ein, wo erst jahr-
zehntelange emsige Arbeit einer großen Gemeinde der Embryo-
logen allmählich die Einzelheiten einsetzen und das exakte Bild ab-
runden konnte. — So entstand „Die Anthropogenie" (1874), in der
Haeckel die Entwicklungsformen des Menschen mit jenen der Wirbel-
tierreihe verglich, den Werdegang des Menschen von dem der Wirbel-
tiere ableitete, — ein Werk, welches für alle Zeiten an genialer Kon-
zeption und prophetischem Erkennen seinesgleichen nicht finden
wird. An diesem Werke können nur diejenigen nörgeln, welche sich
an Nebensächlichem und Kleinlichem stoßen und die großen Ideen
nicht zu fassen vermögen. Niemals werden die Grundfesten dieses
Baues wankend werden, mögen noch so viele Ecksteine und Ziegel
ausgewechselt und verbessert werden; der stolze Bau, den Haeckel
mit den kargen Untersuchungsmitteln seiner Zeit aufgeführt hat,
das weiten Kreisen in faßlicher Form mitgeteilte Wesen des Entwick-
lungsgedankens wird vom Wandel der Zeiten und der Vertiefung und
Erweiterung unserer Erfahrungen in seinen Fundamenten unbeein-
flußt bleiben, denn Haeckel hat der Zukunft die wichtigsten und
kostbarsten allgemeinen Erkenntnisse geschenkt und sie klar und
lapidar in den Worten des „biogenetischen Grundgesetzes" und in
seiner allzeit vorbildlichen Erkenntnis des epigenetischen Charakters
der Formveränderungen und Formerwerbungen während der Stammes-
und Keimesentwicklung niedergelegt.
Was den eingehend und mit Berücksichtigung aller Details und
Nebenumstände, mit allen Kautelen der modernen Forschung arbei-
tenden vergleichenden Embryologen vor allem zur Richtlinie dient,
ist Haeckels Erkenntnis der Epigenesis. Dies ist eine wissenschaftliche
Ejggggg^gggg^ggggggggggggggggggE]E]E]E]ElE]E]E]E]E]E]E]E]E]B]E]B]E]E]E]E]E]'
214
ggggggggggGjggggggggggggE]E]E]E]G]E]E]G]E]E]E]E]E]E]G]E]E]E]E]E]gE]E]ElE]E]E]E]E]
Großtat von unabsehbarer Tragweite, welche der Eingeweihte vielleicht
höher schätzen mag als die genialen Darlegungen über die großen Züge
der Entwicklungsreihen der höheren und niederen Formen, welche
ein so umfassendes Arbeitsprogramm erschlossen. Denn die Erkennt-
nis der Epigenesis ist das allgemeine Resume, die Frucht des Ver-
gleiches der Umbildungen in der Keimes- und Stammesentwicklung,
im Embryonal- und im Freileben und bildet ein ganz fundamentales
und durchdringendes Prinzip, welches bei jeder Untersuchung die
wichtigste Vorfrage bildet, von deren Lösung und Beurteilung, die
ganze Behandlung des Problems und die daraus sich ergebenden
Konsequenzen der Auffassung in ihrer ganzen Tragweite abhängig
sind. Erst durch diese Erkenntnis, daß sowohl in der Stammes- wie
in der Keimesentwicklung in zellenstaatlichem Bauen und Ver-
ändern, in zellenstaatlichem Anpassen sowohl im Ganzen wie in den
einzelnen miteinander ringenden und einander beeinflussenden, sich
sondernden Teilen vollkommen neue, spezifisch zeilenstaatliche
Mannigfaltigkeit entsteht, die in der Keimzelle als solche in keiner
Weise vorgebildet sein kann, erhält die Embryologie ihre wissen-
schaftliche Begründung. Damit wird zugleich das biogenetische
Grundgesetz — wenn wir vom Beginne des Eiwachstums ausgehen —
in fundamentalem Belange bestätigt. In diesem Prinzip der An-
passung an innere und äußere Verhältnisse , bei welcher , wie Haeckel
so lapidar und treffend aussprach, ,,aus Gleichartigem das Ungleich-
artige" entsteht, ergibt sich also vorerst die allgemeine grundlegende
Bestätigung des biogenetischen Grundgesetzes — worauf der größte
Wert zu legen ist — , denn die Wiederholung stammesgeschichtlicher
Erwerbungen in der Keimesentwicklung ist in der allgemeinen Wir-
kungsweise zellulären Schaffens gleichfalls ein vorwiegend epigene-
tischer Vorgang und Erwerb. Die Bedeutung dieser Erkenntnis ist auch
daraus zu ersehen, daß alle Angriffe auf das biogenetische Grundgesetz
— soweit sie von wissenschaftlicher Seite erfolgt sind — von Forschern
ausgingen, welche dieser Erkenntnis der epigenetischen Neuerwer-
bungen und Neuschaffungen während der Keimesentwicklung nicht
teilhaftig geworden und in das Wesen der Epigenesis nicht tief genug
eingedrungen sind. Denn Haeckels Lehre und deren Konsequenzen
können nur Epigenetiker voll erfassen, verstehen und vertreten.
Das kausale Moment des biogenetischen Grundgesetzes, der onto-
215
E]gggggggE]gggE]ggE]ggggggEjggggEiEiE]E]E]EjEiE]EjBjEiEjE]B]E]E]E]E]E3E]E]E]E]E]E]
genetischen Wiederholung phyletischer Erwerbungen wird erst dann
dem Verständnis erschlossen, wenn der sukzessive epigenetische Er-
werb der Formenmannigfaltigkeit von den einfachsten zellenstaat-
lichen Sonderungen und Organbildungen bis zu den kompliziertesten
und vielseitigen Erfolgen ausdauernden und infolge des polarbilate-
ralen Eibaues ungleichen Wachstums, ungleicher Energie der Zell-
vermehrung und zellulärer Produktivität und Differenzierungsfähig-
keit in der ganzen Tierreihe verfolgt wird, von den schon nach wenigen
Tagen die Eihüllen verlassenden und sich den Bedingungen des
Freilebens anpassenden niedrigen Formen bis zu den höchstgezüch-
teten, mit Assimilationsmaterial trefflich versorgten, eine lange
Embryonalentwicklung durchmachenden und ungestört unter den
trefflichsten Außenbedingungen weiterbauenden und erwerbenden
Zellenstaaten. Davon sind wir auch heutzutage noch recht weit ent-
fernt. Wenn wir aber z. B. bei niedrigeren und höheren Wirbeltieren
die Wachstumsvorgänge und -bedingungen, unter denen die Keim-
blase, der Urdarm, die Mundöffnung, die axialen Sonderungen der
Urdarmwand und der äußeren Keimschichte, die Entstehung der
Kiemenspalten und aller folgenden im Weiterbauen sich ergebenden
epigenetischen Erwerbungen erkannt haben, dann werden wir erst das
Prinzip und den Zwang der Wiederholung erkennen, und dann wird es
uns auch offenbar, daß primitive Organismen, welche nach dem
Erwerb dieser und der folgenden Gestaltungen bereits ihren Dotter-
vorrat erschöpft haben und ins Freileben d. h. in den Kampf ums
Dasein eintreten und nun diese Formationen in Anpassung an die
Umwelt ausgestalten und ausnützen, tatsächlich den wohlversorgten
in raschem Wachstum, in Anpassung an die äußeren überaus gün-
stigen Bedingungen durchlaufenen Entwicklungs formen und -zu-
ständen der höheren weiterbauenden Organismen entsprechen. Dabei
sind entsprechend der Unabhängigkeit, Freizügigkeit und Variabilität,
welche die Embryonalentwicklung, die Entwicklung innerhalb der
Eihüllen hinsichtlich der mangelnden oder erst spät einsetzenden
funktionellen Beanspruchung der zellenstaatlichen Sonderungen, in-
folge der Entrückung dem Kampfe ums Dasein schuf, gewisse Ab-
änderungen und Abweichungen, Verschiebungen im zeitlichen Auf-
treten, in der Anordnung, im Entwicklungsgrade der einzelnen Sonder-
ungen und Organbildungen des Zellenstaates möglich. Diese Ab-
gggggggggg^^gggggggE]ggggE]gE]E}EiElEIElB]B]5]E]E]E]B]E]E]E]E]E]E]E]E]E]B]E]E]Ei
216
gggggB]ggggggggE]ggE]gggggg^E]E]E]E3E]E]E]E]S]eiESE]B]5]E]S]E]E]E]E]E]E]EIS]S]5]3
änderungen sind entweder progressiv und phyletisch prospektiv von
großer Tragweite und äußerst vorteilhaft und legen zu ontogenetischen
und sodann in der Generationenreihe zu phyletischen Neuerwerbungen
den Grund, die eben nur in einer Embryonalentwicklung möglich
sind — oder sie sind känogenetischer Art, indem sie, wie Haeckel sagt,
den Entwicklungsvorgang stören und die phyletische Wiederholung
tatsächlich fälschen. Nichtsdestoweniger kommen aber die Erwer-
bungen in ihren Grundzügen abgesehen von solchen nebensächlichen
Veränderungen doch im wesentlichen in derselben Weise zustande
wie bei niedrigeren Formen, die sie alsbald bei Beendigung der Ent-
wicklung im Kampfe ums Dasein gebrauchen und erproben müssen.
Es ist daher infolge der Gunst der Embryonalentwicklung und der
spät einsetzenden funktionellen Beanspruchung der Formationen bei
den höheren Formen das Gesamtbild der Embryonen etwas verwischt
und verschoben, so daß dieselben nur mehr nach ihren wesentlichen
Charakteren, nach ihren Leitformationen, aber nicht nach ihrem Ge-
samthabitus den freilebenden, niedrigeren, die betreffenden Ent-
wicklungszustände gewissermaßen arretiert und beendigt darbieten-
den Organismen zu vergleichen sind , welche in ihren Leitformationen
der Aszendentenreihe der höheren Formen entsprechen. Vor allem aber
ist es — und dies erkannt zu haben , ist das große Verdienst Haeckels
— der epigenetische Charakter der einzelnen Formerwerbungen, in
was immer für einer Kombination und Gruppierung mit anderen,
welcher dem Bilde der Wiederholung den Stempel der Gesetzmäßig-
keit aufdrückt. Wenn wir die einzelnen Entwicklungsformen und
-Veränderungen bei niederen und höheren Organismen auf die Be-
dingungen des ungleichen Wachstums und der geweblichen Sonde-
rungen untersucht und ermittelt haben, daß die epigenetischen Vor-
gänge bei diesen Erwerbungen in korrespondierenden Stadien die-
selben sind, dann entsprechen diese Erwerbungen in den wesentlichen
Zügen einander — gleichviel ob sie so ausgestaltet werden, daß sie
bereits für das Freileben, im Kampfe ums Dasein tauglich sind
oder aber in geschützter Weiterbildung, das heißt bei allgemein
gesteigerter Wachstumsenergie und vielseitiger Differenzierungs-
bereitschaft nur als eine Grundlage zu raschem Weiterbauen dienen,
wobei dann manches Detail, was zur völligen Gebrauchs fähigkeit
nötig wäre, ausbleibt, zum Vorteüe fortschrittlicher Vorgänge. Diese
217
ggEiggggggggggggggggggggE]B]E]E]B]E]B]E]E]E]B]E]E]EIE]E]E]E]G]ElE]E]ElE]ElE]E]Eig
ökonomische Einschränkung der Wiederholung kann jedoch nur so
weit gehen, als es sich um in der Embryonalentwicklung Unbrauch-
bares, Überflüssiges, dem Weiterbauen sogar Hinderliches handelt.
Dies ist an sich gleichfalls ein „palingenetisches" Moment, weil eben
dadurch der anschließende fortschrittliche Erwerb neuer und vorteil-
hafterer Formenmannigfaltigkeit begünstigt wurde und noch wird. In
ihren wesentlichen Zügen, sozusagen in ihrem Gerippe, müssen jedoch
alle, auch die als solche unbrauchbaren und scheinbar unzweck-
mäßigen Formationen der Entwicklungsreihen wiederholt werden,
sofern sie Wachstumslagen und -Situationen repräsentieren, auf denen
weitere Formerwerbungen basieren, aus denen sich weitere vorteil-
hafte Wachstumsrichtungen, Wachstums- und Differenzierungs-
weisen ergeben. Deshalb muß die Wiederholung der primitiveren,
weiter zurückliegenden phyletischen Erwerbungen innerhalb gewisser
Grenzen erfolgen, welche die züchtende Auslese geregelt hat. — Aus
den Übereinstimmungen bei der Keimesentwicklung der rezenten
höheren und niedrigeren Organismen ist sodann der Schluß zu ziehen,
daß auch in der Aszendentenreihe der ersteren bei der allmählichen
Verlängerung der Embryonalentwicklung und der Steigerung der
zellulären Fähigkeiten, bei der Veränderlichkeit der Außenbedingungen
und der Vielseitigkeit der Anpassungserscheinungen die einzelnen
Etappen der epigenetischen Neuerwerbungen, des Weiterbauens im
Wesentlichen in derselben Weise erfolgt sind, wie es rezente niedere
Formen nach Abstrich der für sie charakteristischen Nebenerwerbun-
gen darbieten. So können letztere auf Grund ihrer keinesgeschicht-
lichen Dokumente als Vertreter jener Aszendenten gelten. So ge-
währt also der Vergleich der Entwicklungsformen die wichtigsten
und großartigsten Dokumente der Stammesentwicklung; daran
schließt sich erst in streng wissenschaftlicher Methodik der Vergleich
der ausgebildeten Organismen. — Diese Grundgedanken, welche wir
aus Haeckels Werken gewinnen, basieren auf der Erkenntnis, daß in
jeder Keimesentwicklung die Gestaltungen in raschem ungleichen und
überschäumenden Wachstum mit zellulären Mitteln und Werten erst
neu erworben werden müssen, daß dieses Anpassen des Zellenstaates
an die unerschöpflich variabeln innern und äußern und die davon
abhängigen, erst während der Entwicklung sich ergebenden Bedin-
gungen während der Entstehung der Organismen viel intimer und
218
pggggggggggggggggEjggggggEjggEiE]B]E]E]EjE]EjE]B]EiE]E]gE]EjE]E]5]E]E]EiE]E]E]
vielseitiger ist als an vollendeten, im Kampf ums Dasein stehenden,
sich der Umwelt anpassenden Organismen. So bilden also diese von
Haeckel stets besonders hervorgehobenen Anpassungserscheinungen
während der Embryonalentwicklung, welche auf Schritt und Tritt und
in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit am keimenden, wachsenden und
beständig Neues erwerbenden Zellenstaate ,,aus Gleichartigem das
Ungleichartige" schaffen, ein wichtiges Fundament der biologischen
Forschung. Auf dieser Erkenntnis des epigenetischen Charakters der
Wiederholung solcher Anpassungen und Erwerbungen basiert, um
dies nochmals zu betonen, das Verständnis des biogenetischen Grund-
gesetzes. Haben wir die Bedingungen, unter denen sich die Wieder-
holung vollzieht, ermittelt, dann ist auch deren Zwang und deren
Abänderung erklärt.
Die von Haeckel begründete Erkenntnis der Epigenesis und
seine historische Betrachtungsweise der stammesgeschichtlichen Über-
lieferungen der Keimesentwicklung erschließen auch die Richtlinien
für das Verständnis der Vererbungserscheinungen, deren Gesetzmäßig-
keit Haeckel in der „generellen Morphologie" bereits ausführlich
behandelt hat. Die Analyse des Erbes der Vergangenheit, welches die
Keimzellen repräsentieren, kann nur auf Grund der Erkenntnis des
epigenetischen Charakters der Erwerbungen ihrer Abkömmlinge, die
„aus Gleichartigem das Ungleichartige" schaffen, mit Erfolg in An-
griff genommen werden, wenn wir unbefangen und frei vom Joche
„pseudomechanischer Spekulationen" der Entwickelungsmechaniker
die Fülle der epigenetischen Reaktionen analysieren, welche die so
unerschöpfliche Variation zellulärer Fähigkeiten der Keimzellen beim
zellenstaatlichen Bauen und Wachsen in den spezifisch zellenstaat-
lichen Wachstums- und Differenzierungslagen herbeiführen, welche
sich während der Entwicklung epigenetisch einstellen. Wenn wir
die Bedingungen analysieren, in welche hierbei die Zellen bei der
Ausübung ihrer Fähigkeiten — des Teilungswachstums und der
Produktivität des Plasmas — geraten, dann lernen wir es ermessen,
welche Bedeutung allein schon einer allgemein gesteigerten Wachstums-
energie als kardinalem Erbe der Vergangenheit zukommt, wenn da-
durch ein Weiterbauen auf allen, durch ungleiches Eiwachstum ein-
geleiteten, im Ringen rascher und langsamer wachsender Zellen ent-
standenen Situationen ermöglicht wird, was den fortgesetzten Form-
219
erwerb und neue Anpassungserscheinungen aller Art zur Folge hat.
Daraus ergibt sich die Tragweite des phyletischen Erbes der zellu-
lären Hochzucht, der Steigerung des andauernden Teilungswachstums
und der zellulären Produktivität für die immer vielseitiger werdenden
geweblichen Sonderungen in komplizierteren Zellenstaaten. Haeckel
hat uns gelehrt, zuerst über die Wiederholung der fundamentalen
Formgestaltungen oder, wie wir vielleicht sagen möchten, die Ver-
anlagung zum epigenetischen Erwerbe der einfacheren Gestaltungen
der Organisation ins klare zu kommen, ehe allerletzte Detailfragen
über komplizierte individuelle Varianten bei höherstehenden und
höchstgezüchteten Organismen behandelt werden. Diese prinzipielle
Forderung und Voraussetzung der wissenschaftlichen Bearbeitung
der Vererbungserscheinungen, die historische Betrachtungsweise des
zellulären Erbes der Vergangenheit und die Überzeugung vom epi-
genetischen Wirken bei den Vererbungserscheinungen ist eine der
wichtigsten Konsequenzen, welche wir aus Haeckels Lehren ziehen.
Wenn wir einmal zuerst für die fundamentalen Gestaltungen das in
langen Generationenreihen Ererbte von dem in jeder Ontogenese
aufs neue epigenetisch mit diesem Erbe Erworbenen klar unter-
scheiden können, dann erst können die in den letzten Generationen
auftretenden subtilen individuellen Charaktere mit Erfolg behandelt
werden, dann wird die Beharrlichkeit der dominanten und die La-
bilität der rezessiven Merkmale mit einem Schlage offenkundig sein
und durch sorgfältige Analyse der äußeren und inneren Bedingungen
zellenstaatlichen Erwerbens erklärt werden können. Dann wird diese
wissenschaftliche Betrachtungsweise das Vererbungsproblem in einem
ganz andern Lichte erscheinen lassen als auf Grund pseudomechani-
scher Vorstellungen über neoevolutionistische Vorgänge, wie sie füh-
rende Entwickelungsmechaniker hegen. Dann werden auch die Ver-
erbungsexperimente großzügiger erdacht und durchgeführt werden.
Das Unbefriedigende der heutigen Ergebnisse ist darin begründet,
daß die meisten Vererbungstheoretiker keine Ahnung von den
keimesgeschichtlichen Entstehungsbedingungen der Erscheinungen
haben, welche sie auf ihre Häufigkeit und Dominanz prüfen. Diese
sorgfältigen Analysen der Entstehung der Vererbungserscheinungen
müssen auch der zytologischen Betrachtungsweise der Keimzellen
vorangehen, denn sie bieten das einzige und verläßlichste Kri-
220
p]gggggggE]gE]gggggggggggE]E3E]E]B]E]E]E]E]B]B]E]E]E]E]E]ElG]E]E]E]E]G]EiE]E]E]E]E]B]
terium zur Unterscheidung belangloser und bedeutungsvoller zellu-
lärer Formationen, deren Wirkungsweisen dann offenkundig sein
werden. Bei solchen Analysen werden dann die Zytologen die Wahr-
nehmung machen, daß sehr wenig Aussicht vorhanden ist, mit dem
Tinktionsverfahren das Erbe der Keimzellen in subtilerem Belange zu
analysieren, sondern daß biochemische und stoffwechselphysiologische
Ermittelungen auf zellularphysiologischer Basis nötig sind, um Rück-
schlüsse auf die epigenetischen Reaktionen zu gewinnen, auf solche
charakteristische Veränderungen im zellenstaatlichen Bauen und Er-
werben bei der Entstehung der Vererbungsmerkmale. So wird also
auch in diesem so aussichtsvollen und wichtigen Belange die weitere
Verfolgung der von Haeckel angebahnten Prinzipien bei der gene-
tischen Interpretation ein klares Verständnis der so vielseitigen und
wichtigen Erscheinungsweisen der phyletischen und ontogenetischen
Vererbungsphänomene verbürgen.
Der Epigenetiker begreift die unentwegte und rücksichtslose
Stellungsnahme Haeckels, des großen Wahrheitssuchers, gegen die
sowohl die historische Betrachtungsweise wie den Epigenesisgedanken
außer acht lassende und daher zu ganz irrigen Konsequenzen führende
Keimplasmatheorie, sowie die ernüchternden Worte, mit welchen
Haeckel, der erste, welcher an keimenden Organismen experimentiert
hat, die ,, pseudomechanischen" Bestrebungen von Wilhelm Roux,
eines seiner Schüler, aufs schärfste verurteilt hat, welcher sich in den
Irrlehren von His und Weismann verfangen und das Experiment
in den Dienst von Voraussetzungen, Annahmen und Spekulationen
gestellt hat, die mit den fundamentalsten Ermittelungen der deskrip-
tiven Analyse des Entwicklungsgeschehens in schroffem Wider-
spruche stehen. Auch in diesem Tadel wirkt Haeckel als Lehrer,
denn „Entwicklungsmechanik engster Perspektive", die Denkmöglich-
keiten der Mosaiktheorie, die Konsequenzen der Determinantenlehre,
die Hypothesen über die Lokalisation und Wirksamkeit „organ-
bildender Keimbezirke und Stoffe", der „Plassonten" und „Organ-
plasmen" fordern zumal bei gänzlicher Unterlassung der experimen-
tellen Gegenproben der vermeintlichen, tatsächlichen Beweise die
schärfste Zurückweisung solcher „unvorstellbarer Annahmen" heraus.
Welch prächtige Bereicherung der Formenmannigfaltigkeit ließe sich
schaffen, wenn wir alle die von der deskriptiven Analyse des un-
221
gestörten Geschehens klipp und klar vorzuschreibenden Experimente
im Sinne der Haeckelschen Vorstellungen von der Epigenesis durch
Erzwingung andersartiger Wachstums- und Differenzierungserschei-
nungen unter zielbewußt veränderten Bedingungen ausführen könn-
ten! Aber leider hindern äußere Momente in vielen Fällen die Durch-
führbarkeit solcher Experimente; immerhin sind viele klassische Er-
gebnisse bereits erzielt worden, an denen der Epigenetiker seine
Freude hat ; in vielen Fällen muß er sich damit bescheiden, die Probe
und Gegenprobe kalkuliert zu haben. Was Haeckel in erster Linie
vom Experimentator fordert, ist die historische Betrachtungsweise,
die umfassende vergleichend analytische Erfahrung; denn nur dann,
wenn der phyletische und ontogenetische Erwerb bestimmter Wachs-
tums- und Differenzierungslagen in den Grundzügen festgestellt und
die durch das Eiwachstum und durch äußere Bedingungen geschaffene
Anfangssituation exakt untersucht ist, kann der ontogenetische Er-
werb der Wachstums- und Differenzierungslagen künstlich mit Erfolg
verändert und die epigenetische Reaktion des Zellenstaates zielbe-
wußt hervorgerufen werden. Nur dann erwerben wir uns nach dem
vorbildlichen Vorgehen Haeckels in seiner Siphonophorenarbeit das
Recht, in das Wachstum einzugreifen und bei der zellulären Produk-
tivität die Auslese einer anderen Differenzierungsweise zu erzwingen.
Haeckels unschätzbare Verdienste um die dem Volke gewährte
Aufklärung über seine in umfassenden wissenschaftlichen Erfahrungen
gesammelten Wahrheitsbeweise, über die großen Probleme des Natur-
erkennens, über die „letzte aller Fragen" und das „eigentliche Stu-
dium der Menschheit", sein beispielloser Erfolg in der populären
abstrahierenden Darlegung wissenschaftlicher Ergebnisse mögen von
Berufeneren geschildert werden, welche auch den an Nebensächlich-
keiten sich stoßenden Kritikern zu entgegnen haben. Wir wollten
vor allem zeigen, welche „Ziele und Wege" Haeckel (schon 1875)
der wissenschaftlichen Forschung gesteckt, welch unerschöpfliche
Fülle von Anregungen wir Haeckel bei der Aufdeckung des Werde-
ganges der Natur verdanken, dessen Großartigkeit uns Haeckel er-
schlossen hat.
Die tiefe Überzeugung von der Richtigkeit und Tragweite der
großen Fragen und Antworten des Naturerkennens, des umfassenden
222
ggggggggggggggggB]E]E]G]E]E]EJE]E]E]G]G]E]E]E]E]E]EjE]ElE]B]B]E]B]E]E|E]E]E]E]B]E]g]E]g
Problems des ewigen Werdeganges der Organismenwelt verklärt
den Lebensabend des großen Wahrheitsforschers. Wer je im Hause
dieses Olympiers geweilt und die Ruhe und Zuversicht, die ab-
geklärte Weltanschauung und die ausdrucksvolle Überzeugung und
großzügige Erfahrung in den milden Zügen des hochgefeierten Jubilars
geschaut, wer in seine, stets auf das Große und Ganze gerichteten
Augen gebückt, — der schreitet nach diesem tiefen Erlebnis besonnen
und innerlich gefestigt wieder an seine Arbeitsstätte, um mit er-
weitertem Blicke und mit geschärften Waffen unentwegt für die
Wahrheit, für Haeckels Sache, für den wissenschaftlichen Ausbau
des Monismus einzutreten, den Haeckel vor allem durch seine so
weittragende Epigenesislehre begründet hat.
223
HUGO SPITZER, GRAZ: DARF ICH MICH EINEN
HAECKELSCHÜLER NENNEN?
o o o
Mit Haeckelschen Ideen bin ich in sehr jungen Jahren vertraut
geworden. Nachdem ich bereits die zwei Vorträge „Über die
Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechts" gelesen
hatte, wurde mir von meinem Vater, dem freisinnigen Verfasser
von „Papsttum und Konzil" und anderen historisch-politischen
Schriften, einem warmen Verehrer Haeckels, die „Natürliche Schöp-
fungsgeschichte" bald nach ihrem Erscheinen, also im Jahre 1868
oder 1869, zum Geschenke gemacht. Durch Bücher von Vogt und
Moleschott schon früher für die naturwissenschaftliche Weltansicht
gewonnen, durch Vogts „Vorlesungen über den Menschen" insbe-
sondere auch von der Wahrheit und Bedeutung der Darwinschen
Lehre überzeugt, ergriff ich die Gedanken des Haeckelschen Werkes
mit dem ganzen Enthusiasmus, dessen die Jugend fähig ist. Nicht
nur der Gegenstand fesselte mich aufs höchste — kam es doch ebenso
wohl meinem Triebe zu philosophischer Spekulation wie meinen
zoologischen Interessen entgegen ! — , auch die Art , in welcher Haeckel
die Fragen behandelte, machte den tiefsten und nachhaltigsten Ein-
druck auf mich. Das klare, konsequente Festhalten an den natürlichen
Erklärungsprinzipien, die Ablehnung jeder superstitiösen Teleologie,
die ausnahmslose Zurückführung der uns zweckmäßig erscheinenden
Gebilde und Einrichtungen teils auf natürliche Zuchtwahl, teils auf
direkte Anpassung — alles das entsprach so sehr den in mir schon
befestigten Grundvorstellungen, daß die „Natürliche Schöpfungs-
geschichte" für mich fortan eine Art Evangelium wurde. Das einzige
Stück des Haeckelschen Gedankenkreises, mit dem ich mich nicht
ganz zu befreunden vermochte, war der Hylozoismus, wie er zum
Schlüsse der ersten Vorlesung anklang: ich war damals völlig auf
die „Kraft- und Stoff-Lehre in Büchnerscher Fassung eingeschworen,
so daß selbst der Gedanke einer Allbeseelung mir schon als ein un-
nützes Zugeständnis an den Dualismus erschien. Mit den pantheisti-
schen Wendungen fand ich mich leichter ab, da ich mir sagte, daß
es sich hier ja doch nur um Worte, um Benennungen handle.
Es dürfte ungefähr um dieselbe Zeit gewesen sein, daß mir Haeckels
224
,, Schöpfungsgeschichte" und Feuerbachs sämtliche Werke in die Hand
kamen, und ich darf es wohl aussprechen: der große Reformator
der organischen Morphologie hat meine wissenschaftliche Entwicklung
kaum weniger mächtig und entscheidend beeinflußt als der Urheber
des neueren naturalistischen Monismus. Stand ich in den nächst-
folgenden Jahren bezüglich der Auffassung der eigentlich philo-
sophischen Probleme durchaus im Banne Feuerbachs, so wurden
meine biologischen Vorstellungen ebenso vollkommen von Haeckel
beherrscht. Seine Terminologie leistete mir die wertvollsten Dienste;
mit ihrer Hilfe fand ich mich zurecht in der sonst verwirrenden
Fülle von Beziehungen ; die mannigfachen morphologischen und gene-
tischen Begriffe, auf deren Unterscheidung es der Deszendenztheorie
ankommt, hielt ich mit leichter Mühe auseinander, da sie in den
bündigen, sich von selbst einprägenden Terminis fixiert waren, und
die Orientierung in den Erscheinungen der organischen Welt ließ
mich im Stiche, wo mir die Haeckelschen Konzeptionen keinen
Wegweiser boten. Ein Beispiel spricht hier besonders deutlich. Ich
erinnere mich noch lebhaft, wie wenig die Vogtsche Mikrozephalen-
theorie in ihrer späteren Gestalt (Einlenken der Gehirnentwicklung
aus dem Prosimienstadium in die außerhalb der menschlichen Ahnen-
reihe liegende Affenrichtung) mich befriedigte: sie paßte eben nicht
zu meinen aus Haeckel geschöpften Vorstellungen über das Verhältnis
von Onto- und Phylogenese; ich konnte nichts anfangen mit dem
Abbiegen der Entwicklung in eine Seitenlinie, in welcher die Vor-
fahren sich niemals bewegt hatten; die Gehirnbildung schien mir so
wie jedes andere Stück der Organisation eine Frucht der Anpassung
zahlloser Geschlechter an die tausendfach wechselnden Artschicksale,
so daß sie Zug um Zug diese Schicksale gleichsam widerspiegeln
mußte, und das Einschlagen einer andern Richtung als der durch die
Erlebnisse der Ahnen bedingten, das Hineingeraten in eine Bahn,
welche nach meiner Meinung auch ihrerseits die Anpassung der Vor-
fahrenreihe an eine lange Folge ganz bestimmter Umstände zur
Voraussetzung hatte, — eben der Umstände, unter denen der Affen-
typus sich ausbildete, hielt ich für eine bare Unmöglichkeit. Das
mochte nun im Hinblick auf den speziellen Fall eine recht naive An-
schauung sein; aber sie beweist, wie ausschließlich mein natur-
geschichtliches Denken durch Haeckel geschult war, wie mein Ver-
3333333§39§333939il3S33951i33E|E]SlElG]E]G]5]ElE]51G]E]E]E]E]G]G]E]G]EIE]E]G]E]
15 Haeckel-Festschrift. Bd. II 225
E]ggE]gggggE]ggggggE]gB]E]ggE]E]E]B]E]B]B]G]E]E]E]B]E]E]B]E]E]B]B]E]B]E]E]E]BlB]E]B]B]EJ
ständnis versagte, sobald ich Haeckelsche Begriffe nicht anwenden
konnte. Die Annahmen, denen ich mich verschloß, brauchten gar
nicht einmal in Widerspruch mit den Lehren Haeckels zu stehen;
es brauchten, wie in diesem Fall, nur Verhältnisse in Frage zu kom-
men, auf die Haeckel nicht eigens eingegangen war und die er nicht
ausdrücklich hervorgehoben hatte. Wo er mich nicht führte, da
blieb ich, wie gesagt, ratlos stehen.
Als ich in Graz meine philosophischen Studien fortsetzte, in der
glücklichsten Weise gefördert durch Riehl, den hervorragenden Den-
ker, welcher damals noch an der Grazer Universität wirkte, erkannte
ich bald die Unzulänglichkeit des dogmatischen Materialismus, und
wenn auch die Schriften Dührings mich immer wieder nach dieser
Richtung hinüberzuziehen suchten, so verhinderte doch eben der
Verkehr mit Riehl, nebst der eifrigen Lektüre Schopenhauers, einen
gänzlichen Rückfall. Ich fing an mich ernstlicher, als ich es bisher
getan, mit Kant zu beschäftigen: aus dem ,, Kraft- und Stoff-
Gläubigen wurde allmählich ein Neukantianer, ein wenig schopen-
hauerisch gefärbt, aber vor Schopenhauers mystischen Neigungen be-
wahrt durch die Schulung an Feuerbach, den ich nun in vielen seiner
tiefsten und bedeutendsten Gedanken erst recht verstehen lernte.
Von Aussprüchen wie: „Leben, Empfinden, Denken ist etwas ab-
solut Originales" erschloß sich mir in der Tat jetzt erst der weit-
reichende Sinn, nachdem ich die begriffliche Verschiedenheit des
„Psychischen" von dem „Materiellen" der mechanischen Natur-
wissenschaft, sowie die abstrakte Natur dieses Materiellen eingesehen
hatte, und demgemäß begann ich nun auch über den Hylozoismus
Haeckels ganz anders als in jenen philosophischen Flegel] ahren zu
urteilen. Es wurde mir klar, daß eine Überwindung der „Kraft-
und Stoff-" Doktrin ohne Preisgabe der monistischen Grundüber-
zeugung nur auf doppeltem Wege möglich ist : entweder auf dem des
Hylozoismus, wie ihn Fechner und Haeckel betreten haben, oder auf
dem der kritischen Philosophie. Weshalb ich für meine Person den
letzteren Weg vorzog, habe ich vor einem Menschenalter in einer kleinen
Arbeit: „Über Ursprung und Bedeutung des Hylozoismus" ausein-
andergesetzt. Die Abkehr von dem dogmatischen Materialismus be-
deutete also für mich so wenig eine Abwendung von Haeckel, daß
ich diesem infolge der Umwälzung meiner Anschauungen vielmehr
226
^ggG]gE3g^gggE]E]E]E]E]E3E]E]E]E]E]E]B]E]gE]3E]§lSE]l]3E]31]SSE!S]Eli]§13^]3^33i]3S
auch da gerecht werden konnte, wo ich früher nur grundlose Phan-
tasien und halbspiritualistische Irrtümer zu sehen geglaubt hatte.
Inzwischen war ich in Haeckels theoretisches Hauptwerk, die
„Generelle Morphologie", so weit eingedrungen, als es mir für meine
Zwecke dienlich schien; ich studierte mit Fleiß die „Anthropogenie"
und vertiefte mich in die späteren, biologische Prinzipienfragen be-
handelnden Schriften; Weismanns geniale Hypothese von der Kon-
tinuität des Keimplasmas eröffnete mir neue Gesichtspunkte, und
endlich wagte ich es, in den „Beiträgen zur Deszendenztheorie" alle
die Gedanken niederzulegen, die ich mir selber über das Abstammungs-
problem sowohl nach der objektiven Seite wie bezüglich des logischen
\ Charakters der hier Aufschluß bringenden Methoden gebildet hatte.
| Der Fachmann ersieht schon aus diesem Buche, wieviel ich Haeckel
! zu danken hatte, obgleich ich mich darin zur Vererbung somato-
I gener Merkmale skeptisch verhielt und gegen ein paar der von Haeckel
: aufgestellten Gesetze Bedenken äußerte. In dem letzteren Punkt
I leiteten mich aber nicht etwa Zweifel am Tatsächlichen, sondern rein
: formale, von den Erfordernissen des Gesetzesbegriffs ausgehende Er-
! wägungen; denn es ist klar, daß z. B. das „Huxleysche Gesetz"
f bloße relative Ähnlichkeitsgrade bestimmt, zu welchen gar keine
weitere Beziehung hinzukommt, während das „biogenetische Grund-
gesetz" zwar an und für sich jenen Postulaten genügt, aber der
1 strengen Allgemeingültigkeit ermangelt, die den Gesetzen der Chemie
I und Physik eigen ist. Indessen bekenne ich offen, daß ich heute
\ diese Bedenken nicht mehr in vollem Umfang aufrechthalten möchte.
; Nicht, als ob ich nicht noch immer dafürhielte, daß das „biogenetische
I Grundgesetz" anderer Art ist als die Gesetze, welche die exakte
• Naturwissenschaft formuliert. Allein mancherlei Erfahrungen, die ich
I im Laufe meines Lebens über den Erfolg wissenschaftlicher Arbeit
; gesammelt, haben mir die Überzeugung aufgedrängt, daß dasjenige,
j was vom Standpunkte der Wissenschaftstheorie vielleicht richtig,
: keineswegs auch praktisch und didaktisch zweckmäßig ist. Es reicht
! oft nicht hin, wichtige Tatsachen in einfach sachlicher Weise zu
| erörtern, ohne daß die Aufmerksamkeit durch besondere Mittel auf
1 sie gelenkt wird. Wer eine Wahrheit verbreiten und zu allgemeiner
j Anerkennung bringen will, der muß sie vielmehr auffällig hervorheben,
j gewissermaßen unterstreichen, muß dafür sorgen, daß sie mit einem
E]ggggggggggggE3gE]gE3gg^g^Bjg^g^ggB3B]G]E]ElE3E]E]B3E]B]E)E]E]EiB]EJE]ElE]EjE]
15* 227
prägnanten, das Interesse fesselnden Namen belegt wird, und je
höhere Vorstellungen von der Bedeutung der Sache dieser Name
erweckt, um so rascher und sicherer wird sich die Wahrheit durch-
setzen. So gesehen, erscheinen aber die Haeckelschen Aufstellungen
unstreitig in einem wesentlich vorteilhafteren Lichte, und wenn sich
Haeckel etwa noch entschlösse, das „Huxleysche Gesetz", das von
einem wirklichen Gesetze doch gar zu wenig an sich hat, in den „Huxley-
schen Satz" umzutaufen, so dürfte sich wohl überhaupt nichts Trif-
tiges gegen sie einwenden lassen.
Einen Anlaß, unmittelbar zu Haeckels Wirken Stellung zu nehmen,
bot mir das Erscheinen der „Welträtsel". Mit diesem Werke hat
sich der gelehrte Zoologe in die erste Reihe jener großen Aufklärer
gestellt, die vom 16. Jahrhundert an den Kampf für die Befreiung
des Geistes aus den Fesseln kirchlicher Gebundenheit führen, — in
die Reihe, die von Montaigne und Charron in Frankreich, von Herbert
v. Cherbury, Hobbes und Toland in England, von Laurentius Valla,
Pomponatius, Giordano Bruno und Vanini in Italien eröffnet wird.
Das Buch ist ein Dokument von unvergänglichem Wert in der Kultur-
und Geistesgeschichte der Menschheit; es wird stets mit Tolands
„Pantheistikon", Holbachs „Systeme de la nature" und David
Strauß' Schwanengesang: „Der alte und der neue Glaube" zu-
sammen genannt werden müssen, und es ist dadurch doppelt inter-
essant, daß es, ähnlich wie Moleschotts „Kreislauf des Lebens" oder
Vogts „Köhlerglauben", den Anteil beleuchtet, welchen die Natur-
wissenschaften an dem großen Befreiungskampfe genommen haben.
Haeckel hat nie den Anspruch erhoben, daß man die „Welträtsel"
als die Schöpfung eines Fachphilosophen ansehe. Aber in unseren
Tagen, wo sich die allgemeine Reaktion insbesondere auch auf
philosophischem Gebiete fühlbar macht, wo die Philosophie in einem
immer größer werdenden Bruchteile ihrer Vertreter die Bahnen der
echten, typischen Scholastik wandelt, sich bald in den verschrobensten,
unnatürlichsten Begriffsbildungen logischen oder psychologischen In-
halts gefällt, bald auf das Breittreten allbekannter Dinge mit Er-
findung neuer Namen dafür ihre Kraft wendet und bei alledem den
Weltanschauungsfragen ängstlich aus dem Wege geht oder, wenn
sie schon diese Fragen beantwortet, es im Geiste des alten, kindlichen
Dualismus tut, — heute muß auch der philosophische Fachmann
228
ein Buch wie die „Welträtsel" mit freudiger Dankbarkeit begrüßen.
Zwar erstreckt sich der Einfluß Haeckels nicht auf die Kreise der
soeben gekennzeichneten ,, Philosophie"; allein die „Schöpfungsge-
schichte", die „Welträtsel" und „Lebenswunder" können doch wenig-
stens begabte Köpfe abhalten, sich dieser „Philosophie", dem Gemisch
von Experimentalpsychologie und Scholastik, zuzuwenden, und auch
das ist für die Sache der echten und ernsten Philosophie schon ein
hoher Gewinn. Wiewohl Haeckels Weltanschauung sich in gar man-
chen Stücken von derjenigen Wundts unterscheidet, ist der Jenaer
Naturforscher mit dem von den Naturwissenschaften ausgegangenen
Leipziger Philosophen doch völlig eins in der hohen Auffassung des
Berufs der Königin der Wissenschaften, und wenn der Führer der
wissenschaftlichen Philosophie, der Aristoteles unserer Zeit, seine ganze
Autorität dafür einsetzt, die klägliche Rückkehr zum alten oder
vielmehr mittelalterlichen Aristoteles zu verhindern, so findet er
auch in diesem Bemühen wirksame Unterstützung von Seiten Haeckels,
insofern die lebensvolle, auf unmittelbare Naturanschauung gegründete
Denkweise, wie sie die Haeckelschen Schriften verkörpern, den feste-
sten Damm gegen die Hochflut der Scholastik, gegen die Versuche vor-
stellt, nach Sprachformen die Arten der Gegenstände festzusetzen.
Ich sage es offen: das Verdienst der „Welträtsel" können nur die-
jenigen bestreiten, welche die Philosophie zur Aufklärung in Gegen-
satz bringen, indem sie die Aufgabe der erstem nicht in der Er-
hellung, sondern in der Verdunkelung und künstlichen Verwicklung
der großen Probleme des Daseins erblicken, oder jene Kurzsichtigen,
die unfähig sind, über Einzelheiten hinwegsehend, eine Leistung als
Ganzes zu erfassen und zu würdigen.
Aus der edlen Wahrheitsbegeisterung Haeckels, aus der Freiheit
seines Geistes von althergebrachtem Dogmenzwang und aus seinem
rücksichtslosen Bekennermute erklärt sich wohl auch zum großen Teile
die Wirkung, die er auf Tausende und Tausende von hochgebildeten
Menschen ausübt. Will man jedoch diesen Zauber in seiner ganzen
Kraft verstehen und sich zumal über die Stellung Rechenschaft
geben, welche Haeckel in der engeren Gelehrtenwelt trotz allen
Ärgers leisetretender Berufsgenossen über sein kühnes Auftreten bis
auf den heutigen Tag zu behaupten gewußt hat, so muß man noch
andere Züge seiner geistigen Persönlichkeit heranziehen. Denn auch
EJaSSggg^E]gggg^gggggg^gggggggggE]E]ElE]E]E]E]EjBlE]E]E]B!B]E]E]E!B]E]E]ElEi
220
ggggggB]ggggggE]gggB]gg§g^ggE]E]E)EIE]B]B]B]E]E]B]E]E]E]B]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]El
die imponierende Fülle von Spezialforschungen, die allerdings Haeckel
allein schon für alle Zeiten einen Platz unter den ersten Zoologen
verbürgt, dankt ihre höhere, durch den Fleiß und die Routine des
ausdauerndsten, unermüdlichsten und technisch geübtesten Arbeiters
nie zu erreichende Bedeutung selber diesen individuellen Eigen-
schaften. Mein verehrter Lehrer, Victor v. Ebner, der ausgezeichnete
Histologe, empfahl, als er gegen Ende der 70 er oder zu Anfang der
80 er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Graz Entwicklungsgeschichte
vortrug, den Studierenden ganz besonders die „Anthropogenie" und
ich habe mich in späteren Zeiten noch oft überzeugt, wie richtig, wie j
wohlbegründet diese Empfehlung war. Wer einigermaßen für höhere j
intellektuelle Genüsse empfänglich ist, der kann die Darstellung der {
Bildung des Auges, der Anlage des Gehirns, der Entwicklung des I
Gefäßsystems der Säuger im Verhältnisse zu dem der Vögel und I
viele andere embryologische Schilderungen der ,, Anthropogenie" nicht 5
lesen, ohne in helles Entzücken versetzt zu werden. Haeckel ist j
zweifellos eines der größten morphologischen Genies, welche die I
Geschichte der Wissenschaft kennt. Im höchsten Grad verwickelte 5
und verworrene Strukturen verwandeln sich unter seinem Blick j
in einfache, durchsichtige Gestaltungen; alles störende Detail ver- j
schwindet; die eigenwilligsten, widerstrebendsten Sonderteile ordnen 5
sich zwanglos den großen Linien unter; Formen, die für den un- I
geschulten Betrachter gar nichts miteinander gemein haben, er- {
scheinen sofort als Ausführungen des nämlichen Grundplans und so j
stellt sich ganz von selber jener morphologische Zusammenhang der f
Organismen heraus, welchen die Deszendenzlehre benötigt, um bei j
Wahrung des Kontinuitätsprinzips die genealogischen Beziehungen j
der Typen glaubhaft machen zu können. Es ist kein Zufall, daß j
Haeckel es war, der die Abstammungslehre erst wirklich und wahrhaft •
zur Grundlage der naturgeschichtlichen Spezialforschung erhob und {
diese Forschung mit der Idee des Transformismus befruchtete. Der I
Deszendenzgedanke, bei Darwin zunächst bloß eine allgemeine An- j
schauung, bedurfte eines so veranlagten Geistes, damit sich der ab- j
strakte Grundsatz in den konkreten morphologischen Einzelheiten \
bewähren, die Gruppierungen der Taxonomie durchleuchten und den j
Schlüssel für die Verknüpfung des buntscheckigen Tatsachenmaterials j
bilden konnte. Noch Dubois Reymond hat die Schöpfungsgeschichte j
230
mit ihren Stammbäumen als bloßen „Roman" belächelt und doch
unterliegt es heute keinem Zweifel mehr, daß diese vielgescholtenen
Stammbäume allen modernen naturgeschichtlichen Untersuchungen
das letzte Ziel gesteckt haben, — ein Ziel, welchem die Zoologen
und Botaniker unserer Tage um so eifriger und entschlossener zu-
streben, einen je höheren wissenschaftlichen Rang sie ihren Arbeiten
sichern wollen.
Zu der morphologischen Genialität Haeckels gesellt sich aber
noch die bewunderungswürdige Geschicklichkeit in der Schaffung
einer Terminologie, auf deren hohen Wert schon Carl Vogt, der scharf-
kritische und sonst allem Schulmäßigen so abgeneigte Forscher, hin-
gewiesen hat. Mittels dieser Termini sind viele der Haeckelschen
Begriffsfassungen Gemeingut geworden. Wo gibt es heutzutage eine
mit Entwicklungsfragen sich beschäftigende oder auch nur berührende
Schrift, in der nicht von Ontogenie und Phylogenie die Rede wäre?
Psychologen und Ästhetiker, Historiker und Pädagogen, — sie alle
verwenden beständig diese Ausdrücke und bringen damit der wissen-
schaftlichen Größe Haeckels, bewußt oder unbewußt, gerne oder wider-
willig, ihren Tribut dar. Wieviel diese Terminologie und die Haeckel-
sche Betrachtungsweise überhaupt mir selbst bei meinen natur-
philosophischen Studien bedeuteten, ist schon oben gesagt worden.
Äußere Umstände haben mich seither von den Gebieten, auf
welchen ich an die Großtaten Haeckels fast in jedem Augenblick er-
innert wurde, weit abgeführt und mich inmitten der Geisteswissen-
schaften mein Hauptarbeitsfeld finden lassen. Allein ich habe darüber
trotzdem nicht aufgehört, im stillen die Gegenstände meines früheren
Nachdenkens weiter zu verfolgen, neues Material für die Klärung
der Deszendenzfrage zu sammeln und so, unbeirrt durch all die per-
sönlichen Ablenkungen und die Torheiten der Zeit, die Gedanken-
fäden fortzuspinnen, die sich ursprünglich an die Lehren Haeckels
anknüpften. Auf diese Weise bin ich mit dem Altmeister in steter
geistiger Fühlung geblieben und ich habe den Kontakt um so weniger
verloren, als meine philosophie- und wissenschaftlich -historischen
Forschungen gleichfalls mit Vorliebe auf die Geschichte der Ab-
stammungslehre richteten, aus der noch so manche wertvolle und
überraschende Urkunden auszugraben sind. Haeckels Werk aber
zeigten mir auch nach dieser Richtung das Fundament, auf wel-
ggggggggggggggE]gggggggE]gggggggE]G]E]B]E|E]G]E]EiEiE]E]E]EiE]B]gE]E]EiE]EJ'
231
ggB]gggggggEjggggE]gggggB]B]E]E;E]E]E]E]E]E]g5]E]E]E]ElE]ElB|EJBlE]BJElB]E]B]E]E]ElE]
chem weiter gebaut werden muß. Wenn man also denjenigen als
seinen Lehrer betrachtet hat, dem man ein Großteil seiner wichtig-
sten Einsichten schuldet, ja, von dem man sogar vielfach die Richtung
der wissenschaftlichen Arbeit empfangen hat, dann darf ich, obschon
ich nie im Leben das Glück gehabt habe, Haeckel zu begegnen,
wohl auch mich, natürlich ohne den Anspruch auf zoologische Fach-
bildung, einen Haeckelschüler nennen.
232
BERTHOLD HATSCHEK, WIEN
o o o
E
iner jener Großen, deren geistiger Bannkreis uns — bewußt oder
unbewußt — stetig umfangen hält!
Bedarf es da erst eines äußeren Anlasses, um seiner zu gedenken?
Oder soll uns dies nur an die ewige Jugend gemahnen, welche dieses
olympische Haupt zu umstrahlen scheint? Jenes Haupt, das mit
seiner Gedankenwelt den geistigen Entwicklungsgang eines halben
Jahrhunderts machtvoll beeinflußte und dessen Lebenswerk es be-
wirkte, daß der von Lamarck und Darwin begründete Evolutions-
gedanke zum unverlierbaren geistigen Eigentum der Menschheit
wurde — umgeprägt zur Lehre von der ewig fortdauernden Schöp-
fung, der stetigen Neugestaltung und Fortbildung der Lebenswelt!
Der Fortschritt als fundamentales Naturgesetz des Lebens!
Bei einer Rückschau auf die Taten dieses Mannes möchte es
fast scheinen, daß erst die Zukunft seine Geschichte schreiben kann,
und daß keiner von den Zeitgenossen es vermag, die Wirkungen,
die von ihm ausgegangen sind, ganz zu ermessen. Und doch ist, um
ihn ganz zu verstehen, das Zeugnis jener unentbehrlich, die ihn auch
als Menschen kannten und den Eindruck seiner reinen, klaren,
schönen Vollnatur empfangen haben.
Helläugig, mit freundlicher, hoher, freier Stirn, das Antlitz
von aschblondem — jetzt weißem — Haar und Bart umrahmt,
die Gestalt schlank, hoch und biegsam, so sehen wir ihn vor uns.
Bei all dem heiteren Wohlwollen, das von ihm ausstrahlt, doch jeder
Zoll eine Kampfnatur! Die unbefangendste Furchtlosigkeit, mit der
er für jede Wahrheit eintritt, ist eben ein Grundzug seines Wesens
— wie seit jeher bei allen mythischen und modernen Drachen-
tötern !
Sein Blick ist der des Forschers, verrät aber doch zugleich die
Fülle künstlerischer Phantasie! Uns fällt der hohe, eindringliche
Diskant seiner Stimme auf, eine im Norden wohl häufigere Erschei-
nung. Von tiefster Wirkung ist bei näherem Umgange die ethische
Reinheit, Wahrheit und Klarheit seines Charakters, und beinahe
rührend ist dabei das kindlich einfache Gemüt, das diesem ernsten
Mann eigen ist. Ernst, aber voll lebensprühender Geistesfülle ist
233
sein Wesen, vor allem aber ist es ein Grundzug, der an ihm hervor-
tritt: das ist seine große Begeisterungsfähigkeit, die ihn auch be-
fähigt, andere mit sich fortzureißen.
Die ungeheure Wirkung, die seine Schriften auf Hunderttausende
von Menschen übten, wird noch weit übertroffen durch die unmittel-
bare Wirkung seiner Persönlichkeit auf seine Schüler und Freunde.
Niemand kann Haeckel ganz verstehen, der ihn nicht persönlich
kennt, wie er ist, menschlich in seinen genialen Vorzügen, seiner
Ursprünglichkeit und Klarheit, und auch menschlich in seinen Schwä-
chen, insbesondere seinem herrlichen, ewig jugendlichen Übereifer
und seiner überschwenglichen Uberzeugungstreue.
So sehr überragt die Eigenart dieser Persönlichkeit das Mittelmaß,
daß sie fast jede Besonderheit der Herkunft und des Standes ver-
missen läßt. Kaum wird man den geborenen Berliner, den Jenenser
Professor, den Forscher am Mikroskop, den Mann der Feder erkennen
— eher eine freie unbeschränkte Künstlernatur.
Die große Laienwelt kennt Haeckel als den Vorkämpfer und
Verkünder einer neuen Weltanschauung, als den Autor der „Natür-
lichen Schöpfungsgeschichte", der „Anthropögenie" und zuletzt
auch — da er, seinem ursprünglichen Hange zur Naturphilosophie
vielleicht nur allzuweit folgend, auf weiteres Gebiet sich begibt —
der „Werträtsel". Ganz anders aber, nur harmlos formbegeisterter
Künstler, ist er in den „Kunstformen der Natur".
Sein Einfluß als populärer Schriftsteller war von größter Be-
deutung — nicht minder aber seine Wirkung in der wissenschaft-
lichen Welt! Der Inhalt seiner immensen Lebensarbeit liegt zum
weitaus überwiegenden Teile auf diesem Gebiete!
Hier ist sein Blick stets aufs große Ganze gerichtet, das er bei
der riesigen Fülle und Mannigfaltigkeit seiner Forschungen nie aus dem
Auge verliert. Und in der Tat liegt sein Verdienst trotz des Riesen-
umfanges seiner Einzelforschungen, welche eine stattliche Reihe von
Folianten füllen, nicht nur im einzelnen, sondern vielmehr im ganzen.
Niemand anders hat auf den Fortgang der zoologischen Wissenschaft
und Forschung in den letzten 50 Jahren auch nur annähernd einen
ähnlichen Einfluß genommen.
Die Anwendung der Deszendenzlehre, die Ausbildung der phylo-
genetischen Methode gibt seiner Tätigkeit das Gepräge.
234
Als Deszendenztheoretiker hat er von Anfang an eine selbständige,
nicht streng an Darwin sich haltende, zm Teil mehr dem Lamarck-
schen Standpunkt sich nähernde Haltung eingenommen.
Er ist vor allem vergleichender Morphologe. Das Verständnis
der Gestaltung als Ausdruck der natürlichen Verwandtschaft der
Organismen zu gewinnen, das ist sein Hauptziel. Die Fülle seiner
bahnbrechenden Ideen — zum erstenmal in seiner vielbewunderten
„Generellen Morphologie" niedergelegt — ist eine erstaunliche. Es
gibt auf diesem Gebiete in jenen Jahrzehnten kaum eine neue Er-
kenntnis, die nicht von ihm begründet, vorbereitet oder beein-
flußt ist.
Vor allem aber ist es die neue Methode der wissenschaftlichen
Betrachtung, die von ihm geschaffen wurde. Neben der vergleichenden
Anatomie lehrte er uns auch die vergleichende Embryologie — die
Tatsachen der individuellen Entwicklung der Organismen — richtig
verstehen und theoretisch anwenden. Vorbildlich wurde seine
„Gasträatheorie", durch welche die Keimblätter (Keimschichten) der
Tiere als primitive Organe gedeutet wurden, vergleichbar jenen der
Polypen und Medusen. Das System des Tierreiches wurde so auf
neue Basis gestellt. Ein ausführlicher systematischer Versuch, der
sich auf die gesamte Organismenwelt bezieht, liegt in der mehr-
bändigen „Systematischen Phylogenie" vor.
Und wieder anders tritt uns Haeckel entgegen in der Fülle seiner
Einzelforschungen. Die niedere Tierwelt des Meeres, auf welche sich
die Hauptprobleme der Zoologie so lange konzentrierten, war es,
auf die seine unermüdliche Forschertätigkeit gerichtet war. Auf
vielen Forschungsreisen, am Mittelmeer, Nord- und Ostsee, in den
tropischen Regionen, im Roten Meere und bei Ceylon sehen wir ihn
forschend und sammelnd. Sein künstlerisch gewandter Zeichenstift
gibt in unzähligen Bildern, die Bände und Bände füllen, die Beob-
achtungen wieder, die in scharfer theoretischer Analyse erläutert
werden.
Die einzelligen, aber doch so formenreichen Radiolarien, die
niedere Tierwelt der Spongien und der Medusen ist es, deren Bau-
gesetze er enthüllt und deren mannigfaltige Gestaltung er zugleich
mit formenfreudigem Künstlersinne erfaßt.
Manche neue Bewegung ist in der Wissenschaft der letzten Jahr-
ggggE]ggggggggB]gggE]gggggggggB]B]EIE]E|E]E]E]E]E]E3E]ElE]B]E]E]E]E]ElE]B]B]E]g
235
zehnte zu verzeichnen, die über Haeckels Bestrebungen hinausgeht.
Viele der neueren ahnen dabei nicht, wie sehr sie auf Haeckels Schul-
tern stehen, durch ihn zu ihrem Standpunkte erhoben. Selbst unter
seinen unmittelbaren Schülern gibt es solche, welche dieses Ver-
hältnis verkannt haben.
Die physiologische Forschungsrichtung, die so lange von der
vorwiegend morphologischen in der Zoologie zurückgedrängt war,
hat in Haeckel, dem großen Morphologen, keinen Gegner. Ja man
wird manch reiche Anregung auch in dieser Richtung in seinen
Werken finden.
Haeckels Lehren sind nicht dogmatisch, sondern der Fortent-
wicklung und Umgestaltung fähig, und anregend zur weiteren For-
schung. Dieser hervorragendste Zoologe, zu dessen Füßen unzählige
Schüler saßen, der so zahlreiche Zoologen seine unmittelbaren Jünger
nennt und als dessen mittelbare Schüler eigentlich die meisten
jetzt lebenden Zoologen betrachtet werden könnten, hat in weiser
Einsicht seinen Lehrstuhl an der kleinen thüringischen Universität
Jena jeder anderen größeren Stellung vorgezogen. Er hat alle Be-
rufungen an große Universitäten — auch Wien wollte ihn einst
haben — abgelehnt. Das in seiner Größe oft so kleinliche und nieder-
drückende Getriebe großer Universitäten, großer Akademien hat er
gemieden und sich so seine Frische und seine Freiheit bewahrt.
Zumal die volle Freiheit der Meinungsäußerung blieb ihm stets
gegönnt, und sein streitbarer Geist hat ihrer stets bedurft. Auch im
Kreise der Fachzunft hat er ohne Rücksicht auf Autorität so manchen
Strauß bestanden. Selbst ein Virchow, ein Du Bois-Reymond mußten
seine berechtigte Kritik erfahren.
Gegen die Großmächte des Weltgetriebes, die der gefährlich
scheinenden wissenschaftlichen Lehre ihre Macht fühlen lassen wollten,
ist er stets als Rufer im Streite aufgetreten und ist als solcher noch
heute stets sieggewohnt und kampfbereit. Er versteht die Tragweite
solcher Regungen, die dem Fachmanne oft bedeutungslos erscheinen
möchten, wohl abzuschätzen. In jüngster Zeit sehen wir ihn noch
gegen den trefflichen Insektenforscher Pater Wasmann zu Felde
ziehen, der als Deszendenztheoretiker die natürliche Schöpfung der
Organismen weit anerkennt, aber für den Menschen jenen Natur-
gesetzen gegenüber eine Ausnahmestellung annehmen will. Mag auch
236
^3ggggggggggggE]gg^E]EiE]B]gB]B]E]G]E]E]E3E]EIB]E]ElE]E]E]E]S]E]E]E]ElBlE]B]EIE]E]Eig
jeder Fachmann die Widersinnigkeit eines solchen Kompromisses
durchblicken, Haeckels Feldherrnblick sieht noch mehr, er sieht die
Gefahren, die durch solches von außen her der Wissenschaft und der
einheitlichen philosophischen Weltanschauung erwachsen.
Haeckels einzige Persönlichkeit wird in gleicher Art sich nicht
mehr wiederholen, aber viele andere werden an seinem Vorbild er-
starken.
237
EUGEN REICHEL, BERLIN -SCHÖNEBERG: DEM
LICHTBRINGER ERNST H AECKEL BEI VOLLENDUNG
SEINES ACHTZIGSTEN LEBENSJAHRES IN UNVER-
LÖSCHLICHER DANKBARKEIT UND VEREHRUNG
0 0 0
Du warst mir Licht in jungen Jahren
Und bist mir noch im Alter Trost,
Wenn mich, im Lebenskampf erfahren,
Des Tages Niedrigkeit umtost.
Du zählst für mich zu jenen Größen,
Vor denen es mich niederzwingt;
Vor denen ich mein Haupt entblößen
Und schwören muß: Dein unbedingt!
gggggggg]gE]gggRSgggggSgE]gggE]gggE]E]E]B]E]E]ElE]ElE]E]BlE]E]E]E]gigE]E]E]S
238
ARTHUR SCHWARZ, BERLIN-LICHTERFELDE
o o o
Ich wurde mit den Schriften Haeckels — besonders der „Natürlichen
Schöpfungs geschichte" und der,,Anthropogenie" — vor ca. 20 Jahren
bekannt und zähle seit dieser Zeit zu den aufrichtigsten Verehrern
seiner Weltanschauung und seiner Person. —
Als ich im Oktober 1899 gelegentlich einer längeren Anwesenheit
in Rom im Hotel Haßler erfuhr, daß der daselbst auch abgestiegene
„Maler" Professor Ernst Haeckel bei einem Ausflug in die Albaner
Berge mit seinem Maultier gestürzt und mit verletztem Fuß ins
deutsche Hospital auf dem Kapitol gebracht sei, trieb es mich, ihn
daselbst aufzusuchen, ihm zu danken und, wenn irgend möglich, ihm
zu helfen. Ich fand Prof. Haeckel des Lobes voll über die ihm zuteil
gewordene Pflege der freundlichen und sorgsamen deutschen Schwe-
stern des Hospitals und ihn selbst in heiterster und glücklichster
Stimmung, an der ich mich bei ihm bei den immer öfter wiederkehren-
den Begegnungen noch so oft erfreuen sollte. Diese olympische Ruhe
und Heiterkeit Haeckels ist nicht nur ein Hauptbestandteil seines
Wesens, sondern, wie mir scheint, auch das notwendige Ergebnis
seiner Weltanschauung.
Er hatte eben das erste Exemplar der „W'elträtsel" vom Verleger
erhalten, das Buch, das seitdem in Hunderttausenden von Exemplaren
in allen Sprachen der Welt so vielen so mancherlei Rätsel gelöst hat.
Ich habe noch oft das Glück gehabt, mich mit Prof. Haeckel über
Weltanschauungsfragen zu unterhalten, und gehöre zu den ersten
Mitgliedern des deutschen Monistenbundes, wie ich auch teilnehmen
durfte an dem Zustandekommen des Phyletischen Museums.
Ich verdanke unserem Altmeister die festen Grundlagen meiner
Überzeugung von der Richtigkeit unserer monistischen Weltan-
schauung und verehre in ihm den unermüdlichen Verkünder natur-
wissenschaftlicher „Heilswahrheiten", die den Menschen — im Gegen-
satz zu den mystischen Heilswahrheiten — noch bei Lebzeiten zu
ihrem Heile gereichen und von deren immer weiteren Verbreitung
allein wir auch die Lösung der noch ungelösten Rätsel des sozialen
Lebens in nationaler und internationaler Beziehung zu erwarten haben.
239
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FRITZ REGEL, WÜRZBURG
o o o
Im Frühjahr 1872 bezog ich, 19 Jahre alt, die Landesuniversität
Jena, um mich dem Studium der Naturwissenschaften, insbesondere
der Botanik, zu widmen. Die ersten Anregungen zur „scientia amabilis"
hatte ich in Schnepfenthal durch H. O. Lenz und namentlich durch
August Rose und Reinhold Gerbing empfangen, hatte mich sodann
als Schüler der beiden oberen Gymnasialklassen in meiner freien Zeit
zumeist mit dem Sammeln und Bestimmen von Phanerogamen,
Gefäßkryptogamen sowie auch von Muscineen und Thallophyten,
namentlich Pilzen, beschäftigt, und war durch August Rose an die
Professoren E. Haeckel und E. Strasburger empfohlen worden sowie
an Dr. David Dietrich, der mich wie viele andere mit der so reichen
,, Flora Jenensis" näher bekannt machte. Ich verbrachte in Jena
meine ganze Studienzeit von 4V2 Jahren bis zum Herbst 1876, diente
hier 1873/74 mein Militär jähr ab, promovierte im Sommer 1875 in
Botanik als Hauptfach, Zoologie und Mineralogie als Nebenfächern
und trat im Oktober 1876 am Realgymnasium zu Lippstadt als
Probandus ein, um neben dem Prof. Dr. Hermann Müller den natur-
wissenschaftlichen Unterricht in den unteren Klassen zu erteilen ; leider
unterbrach ich das begonnene Probejahr schon zu Ostern 1877, um
an der noch in der Entwicklung begriffenen Oberrealschule ,, Hintern
Brüdern" in Braunschweig als Lehrer einzutreten, erkrankte jedoch
hier im Sommer 1877 und kehrte nach einer halbjährigen Erholungs-
pause in meiner Heimat Gotha wiederum nach Jena zurück als Lehrer
an der dortigen Schroeterschen Realschule, an der ich schon im
Sommer 1876 Unterricht erteilt hatte. In Jena blieb ich von Ostern
1878, zunächst als Lehrer der genannten Anstalt, holte hier das früher
unterbrochene Probejahr 1880/81 am Gymnasium Carolo - Alexan-
drinum nach, unterrichtete von Ostern 1882 bis August 1890 an der
1880 neubegründeten Stoyschen Erziehungsanstalt, habilitierte mich
im Sommer 1884 für Geographie, wurde 1892 außerordentlicher
Professor, seit Ostern 1895 mit Lehrauftrag, und folgte Ostern 1899
einem Rufe als etatmäßiger Extraordinarius nach Würzburg (erst
1908 wurde diese außerordentliche Professur sodann in ein Ordinariat
umgewandelt).
24O
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Ich habe diese persönlichen Bemerkungen vorausgeschickt, um
darauf hinzuweisen, daß ich über 25 Jahre als Student, Lehrer und
Dozent in Jena gelebt habe und daher hier Gelegenheit hatte, in
mannigfache und nähere persönliche Beziehungen zu Ernst Haeckel
zu treten.
Schon im Sommer 1872 hörte ich ein Publikum über Säugetiere
bei Haeckel, im folgenden Wintersemester aber vor allem das fünf-
stündige Hauptkolleg Haeckels über die gesamte Zoologie und
besuchte das damals am Sonntagvormittag von 9 — 1 Uhr abge-
haltene Zoologische Praktikum; ich wurde auf die Empfehlung
von A. Rose hin auch in Haeckels Haus eingeladen und kam nament-
lich nach dem Militär jähr in häufige persönliche Berührung, besonders
seitdem ich bei E. Strasburger Assistent wurde und meine botanische
Dissertation im Botanischen Institut ausarbeitete. Damals war das
Zoologische Museum, die Bibliothek usw. noch in dem Oberstock des
Botanischen Instituts untergebracht, in dem sich jetzt die Dienst-
wohnung des leitenden Botanikers (E. Stahl) befindet. Häufig kam
Haeckel zu Strasburger herunter, um sich mit ihm über wissenschaft-
liche Fragen zu besprechen; oft vernahm ich diese Zwiegespräche,
die meist von herzlichem Lachen begleitet waren. Ich war schon im
ersten Jahre sehr von der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" ein-
genommen und benutzte nach dem 1872/73 gehörten zoologischen
Kolleg und dem Kursus über Zoologie die freie Zeit während meines
Militärjahres, um Haeckels „Generelle Morphologie" (1866) genauer
zu studieren und mich durch sonstige Studien der biologischen Litera-
tur auf die Doktorprüfung vorzubereiten; im Wintersemester 1874/75
habe ich nach dem Militär jähr zur Repetition die zoologischen Vor-
lesungen nochmals gehört, nachdem Haeckel im Sommersemester 1874
die Vorträge über „Anthropogenie" vor einem weiteren Kreis von
Zuhörern im größten Hörsaal der Universität gehalten hatte; das
Stenogramm dieser Vorträge war die Grundlage für das gleichnamige
Werk, in dem die Entwicklungslehre auf den Menschen rückhaltlos
übertragen wurde. Nach einer größeren Reise in das östliche Mittel-
meergebiet (mit Strasburger) in den Osterferien 1874 war Haeckel,
damals 40 Jahre alt, auf dem Gipfel seiner physischen und ethischen
Kraft, eine herrliche, von Gesundheit und Lebensfrische sprudelnde
Erscheinung, die auf uns großen Eindruck machte. (Vgl. das schöne
533iiil3S1933i93Si!SI993§§]SE]gGlE]gB]gE]S]G]G]G]G]EiS]E]E|S!G]G]B]E]ElE|E]E]ElE)
16 Haeckel-Festschrift Bd. II 241
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Gruppenbild : Haeckel und seine Schüler für Darwin, das im Sommer-
semester 1876 vom Photographen Haack aufgenommen wurde.)
vSowohl bei der Promotion (1875) wie bei Gelegenheit der Oberlehrer-
prüfung im Februar 1877 wurde ich von Haeckel in Zoologie geprüft
und trat bei meiner Rückkehr nach Jena zu Ostern 1878 alsbald
wieder in ein herzliches Verhältnis zu ihm, besonders als ich seinem
Sohn Walter im Gymnasium während des Probejahres naturkund-
lichen Unterricht erteilte wie später auch in der Stoyschen Erziehungs-
anstalt. In den Anfang der achtziger Jahre fällt Haeckels Reise nach
Ceylon (Wintersemester 1881/82), die er zunächst in der „Deut-
schen Rundschau" so trefflich geschildert hat, Schilderungen, die
den „Indischen Reisebriefen" zugrunde liegen. Damals wandte ich
mich immer mehr der Geographie zu und habe vor meiner Habi-
litation (1884) auch die übrigen geographischen Schilderungen Haeckels,
seine Besteigung des Pik von Teneriffa, die Reiseskizzen aus Sizilien,
über das Sinaigebirge und das Rote Meer (vgl. „Arabische Korallen",
1873), Brussa und der asiatische Olymp mit Begeisterung gelesen.
Waren die folgenden Jahre bei Haeckel auch hauptsächlich mit der
Riesenarbeit für das Challengerwerk über die Radiolarien, die Sipho-
nophoren und die Tiefseehornschwämme ausgefüllt, so unternahm
Haeckel namentlich in den Frühjahrsferien immer wieder Reisen
zum Mittelmeer, wie 1887 nach Syrien und der Insel Rhodos, 1889
nach der Insel Elba und Rom, 1890 nach Algier und Tunis; 1892 ist
er hingegen mit Dr. Murray auf den Hebriden, um Plankton zu fischen,
1983 aber verweüt er wieder in Messina zu dem gleichen Zwecke, und
auch im 7. Jahrzehnt seines Lebens unternahm Haeckel noch ver-
schiedene größere Reisen, wie 1897 nach Rußland und den Kaukasus-
ländern, 1900 nach dem Malayischen Archipel, besonders nach Java;
eine Frucht dieser zweiten Indienfahrt ist das Buch „Aus Insulinde,
Malayische Reisebriefe", Bonn 1901. An der 1882 von Dr. G. Kurze,
Prof. Dr. Dietrich Schaefer und mir ins Leben gerufenen „Geogra-
phischen Gesellschaft (für Thüringen) zu Jena" nahm Haeckel
den regsten Anteil und ließ sich auch bestimmen, zeitweise den Vor-
sitz zu übernehmen. Beim fünfjährigen Stiftungsfest im Jahre 1887
sprach er über die Tiefseeforschungen, wiederholt hielt er stark-
besuchte Vorträge über seine ausgedehnten Reisen in derselben und
brachte auch sonst den Interessen und Bestrebungen dieser Gesell-
aS3SS3ggggggggggggggggggggE]E]E]E]E]E]E]E]EiE]E]E]E]EiE]E]EiE3EiE]E]B]E]E]E]E]
242
schaft das regste Interesse entgegen. So hat er auch auf geographi-
schem Gebiet viele Anregungen gegeben, zuletzt namentlich durch
die Herausgabe eines Teiles seiner vielen Aquarelle; es würde sich
gewiß verlohnen, die verstreuten, noch nicht in Buchform erschienenen
Schilderungen Haeckels zu sammeln und zu einer Gesamtausgabe
zu vereinigen!
Am ehesten könnte Haeckels Schwiegersohn, Geheimrat Prof.
Dr. Hans Meyer, dieses Unternehmen in die Wege leiten und die
Perlen geographischer Schilderung aus Haeckels Feder einmal sam-
meln und zu einer Gesamtausgabe vereinigen. Da ich seit etwa
30 Jahren aus dem Gebiet rein naturwissenschaftlicher Studien immer
mehr auf das ausgedehnte geographische Gebiet in Lehre und lite-
rarischer Tätigkeit übergegangen bin, liegt es mir ferner, Haeckels
Bedeutung auf dem Gebiet des Darwinismus, wie namentlich der
mikroskopischen und entwicklungsgeschichtlichen Spezialforschungen
würdigen zu wollen. Wie aber auf seinem eigentlichen Arbeitsfeld,
der Zoologie, bei ihm Spezialwerke abwechseln mit allgemeinen,
zusammenfassenden Werken, so möge an dieser Stelle insbesondere
die große Anregung gewürdigt werden, die dieser vielgereiste Forscher
durch seine frischen, herrlichen Schilderungen der Mittelmeerländer
wie durch seine Bilder aus den Monsungebieten von Süd- und Südost-
asien auch der Erdkunde in hohem Maße hat zuteil werden lassen !
Auch während der fast 15 Jahre, die ich nunmehr von Jena fort
bin, habe ich bei gelegentlichen Besuchen in Jena gerade ihn wieder
aufgesucht, der mir von Beginn meiner Studienzeit immer mit größter
Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit begegnet ist und an meinen
persönlichen wie wissenschaftlichen Interessen stets den regsten An-
teil genommen hat!
Wir Geographen wissen ihm warmen Dank für seine lebendigen
und plastischen Schilderungen erdkundlicher Stoffe!
l6* 243
JOSEPH MC CABE, LONDON : ERNST HAECKEL IN
ENGLAND
o o o
Vor vierzehn Jahren übergab mir der „Rationalist "-Verleger Watts
ein Exemplar der ,,Welträtsel" mit der Bitte, ich möchte der
Rationalist Press Association raten, ob es nützlich wäre, das Buch zu
übersetzen. Haeckel war als Lehrer einiger unserer fähigsten briti-
schen Zoologen, als Fürst der Wissenschaft in unsern biologischen
Kreisen anerkannt, aber der großen englischen Masse war er wenig
vertraut. Seine „Natürliche Schöpfungsgeschichte" hatte diejenigen
begeistert, die sich ernsthaft mit der Entwicklungslehre beschäftigten,
aber weiteren Kreisen war er wenig mehr als ein Name. Theologen,
die mit seiner genialen und wirkungsvollen Feindschaft gegen ihren
Aberglauben vertraut waren, hofften, daß in Anbetracht seines Alters
die Gefahr seines Einflusses nicht eine gewisse Grenze überschreiten
würde. Aber innerhalb dieser vierzehn Jahre ist er in der ganzen
englisch sprechenden Welt zu einer gewaltigen Macht geworden, zum
Abgott der Freidenker und zu dem Mann, der von der Kirche am mei-
sten in der Welt gefürchtet wird.
Im Hinblick auf die Verbreitung von Haeckels früheren Werken
in England, erwarteten wir nur einen bescheidenen Absatz der
„Welträtsel "-Übersetzung, die ich übernahm. Doch das Buch wurde
vom Publikum mit Enthusiasmus aufgenommen und wir mußten
Auflage über Auflage herausbringen. Mehr als eine Viertelmillion
Exemplare sind nun in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und
Australien im Umlauf. Ich sah es unter den einfachen Fischern der
Orkney-Inseln — dieser ultima Thule der europäischen Zivilisation —
von Hand zu Hand gehen, ich fand es unter den Bergleuten von
Schottland und Wales, in katholischen Städten von Irland, unter den
Schaf scherern Australiens und sogar bei den Maoris von Neu-Seeland.
Kein ernstes Werk in englischer Sprache hat eine ähnlich ungewöhn-
liche Verbreitung gehabt oder ist mit einem ebenso intensiven Interesse
in allen Schichten der Gesellschaft von London bis San Francisco und
Sydney gelesen und besprochen worden. Erst vor einigen Monaten
sah ich eine tausendköpfige Menschenmenge im Volkspark von Sydney
(in Australien) um einen Redner versammelt, die einem Vortrag über
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244
pg^gggg^E]gggggggggggggE]B]E]EIE]SlB]E]G]E]ElE]E]B]E]E]E]B]B]B]E]E]E]E]E]E]B]E]E;EI
Haeckels Weltanschauung lauschte, und bei meinen Vorträgen in
ganz England und seinen Kolonien habe ich gefunden, daß das popu-
lärste Thema, das ungeheure Menschenmassen anzog, immer die
,,Anthropogenie" war. Dieses Werk Haeckels ist ebenfalls ins Eng-
lische übersetzt worden und hat ebenso große Verbreitung gehabt
wie die „Lebenswunder" und ,,der Kampf um den Entwicklungs-
gedanken".
Kein Werk ist jemals in englischer Sprache geschrieben worden,
das eine ebenso machtvolle Wirkung auf den Aberglauben ausgeübt
und gleichzeitig ungelehrten Lesern so viel positive wissenschaftliche
Belehrung verschafft hat wie das ,,Welträtsel"-Buch. Ich finde die
Erklärung für seinen außergewöhnlichen Erfolg in der Unerschrocken-
heit seiner kritischen Betrachtungen und in dem Aufbau einer ge-
sunden Lebensphilosophie an Stelle der alten Märchen, die es zerstörte.
Es ist eine meisterliche Zusammenfassung wissenschaftlicher Kultur,
welche das Antlitz der Natur erleuchtet und den „Gespenstern" der
alten Religion keinen dunklen Fleck überläßt, in dem sie hausen
könnten. Dutzende von Versuchen sind gemacht worden, dieses Buch
zu widerlegen, aber die englische Geistlichkeit ist im höchsten Grade
wissenschaftlich ungebildet und kein Wissenschaftler hat sich ver-
anlaßt gesehen, ihr beizustehen, ausgenommen Sir Oliver Lodge, ein
Physiker, der nichts von Biologie versteht.
Die Macht der „Welträtsel" auf das englische Volk liegt in ihrer
einfachen Wahrhaftigkeit und der meisterhaften Einfachheit ihres
Aufbaues. Sie haben die Kirchen von Irland bis Neu-Seeland erschüttert,
und die englische Übersetzung hat auch die Hindus und andere mit
England verbundene Stämme in ihrer Aufklärung gefördert.
Die englischen Freidenker verehren deshalb in der Person ihres
Autors den wirkungsvollsten Förderer der Auflösung der Theologie,
der je gelebt hat. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist bei uns ein
beständiger Verfall des Glaubens zu bemerken.
„Die Welträtsel" haben weit mehr als alle anderen Bücher getan,
dies zu bewirken, und die „Anthropogenie" ist eine äußerst nützliche
Ergänzung dazu geworden. Die Menschen schätzen die ausgesprochene
Verwerfung jeder Form des Aberglaubens ebenso wie das Material zur
Bildung einer positiven Ansicht der Wirklichkeit, welches das Buch
in so reichlichem Maße darbietet. Uns in England ist es deshalb be-
245
sonders willkommen gewesen, weil die furchtlose Sprache über Religion,
die durch einen Huxley und Tyndall begonnen worden war, in der
gegenwärtigen wissenschaftlichen Generation bedauerlicherweise nicht
mehr gepflegt worden ist. Die Kirchen zogen aus ihrem Schweigen
Vorteil und überzeugten den Unwissenden, daß der Konflikt zwischen
Theologie und Wissenschaft vorüber sei. Unter diesen Umständen
fiel Haeckels Werk mit besonderer Wucht über sie her. Sein Name
wird von Hunderttausenden im britischen Kaiserreich mit Enthusias-
mus begrüßt, und besonders nachdem ich die Bekanntschaft des
ehrwürdigen und genialen Meisters in seinem geliebten Jena gemacht,
halte ich es für eine meiner nützlichsten Taten, „die Welträtsel" in
unserer Schwester-Zivilisation verbreitet zu haben.
DOO
Sggggggg^B]g3gggggggggggE]E]E]B]5]gg5]E]E]E]E]E]5]E]E]EigE]E]gE]EjE|E]§]EjE]g
246
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RUDOLF GOLDSCHEID, WIEN
o o o
Man kann es sich heute gar nicht mehr recht vorstellen, daß es
einmal Naturforscher gegeben hat, die nicht an Entwicklung
glaubten — ja daß der Entwicklungsgedanke zunächst sogar auch
gegen die Naturwissenschaft erkämpft werden mußte. Und noch un-
glaublicher wirkt die Tatsache, daß gegenwärtig noch Menschen
am Leben sind, die diesen Kampf mitgemacht, mehr noch, die sich
das unsterbliche Verdienst erwarben, in der vordersten Reihe Jener
gestanden zu haben, die ihn zum Siege führten. Wie soll man genug
darüber staunen, daß ein so erbitterter Geisterstreit um den Ent-
wicklungsgedanken notwendig war, wo doch schon vor über 2000
Jahren ein griechischer Philosoph den lapidaren Satz ausgesprochen
hat: ,, Alles fließt" — und in klaren Worten die ewige Wahrheit
niederlegte, daß niemand zweimal in denselben Strom zu steigen
vermag, daß alles in unaufhörlicher Veränderung sich befindet, der
Mensch ebenso wie die Dinge.
„Tempora mutantur et nos mutamur in illis!" Ist es begreiflich,
daß selbst die Geschichtswissenschaft sich von diesem uralten Gemein-
platz fernhielt, daß sie, deren innersten Sinn es ausmacht, das Sein
als Werden zu begreifen, Widerspruch gegen die Idee der Entwick-
lung erhob, daß sie versagte, als es galt, auch die lebendigen Träger der
Geschichte nach genetischer Methode zu erfassen. Überblickt man nur
diesen einen kleinen Ausschnitt aus dem Werden, den die Geschichte
des Entwicklungsgedankens umfaßt, dann muß man sich schon vor
dem Genius der Philosophie verneigen, weil dieser es war, der dem
Entwicklungsgedanken zuerst gerecht wurde. Es ist deshalb geradezu
als Versündigung am Menschengeist zu bezeichnen, wenn zuweilen noch
immer die Anschauung vertreten wird, alle Philosophie sei müßige
Spekulation, stelle gleichsam nur den bleichen Schatten dar, den
das helle Licht der Einzelwissenschaften werfe. In Wirklichkeit
können wir beobachten, wie zu allen Zeiten stets wieder eine Phase
kommt, wo die Philosophie den Einzelwissenschaften voranschreitet,
ja daß es genau genommen die Philosophie war, die den Begriff
des Exakten erst zu seiner heutigen Klarheit und Schärfe durch-
gearbeitet hat.
"gggggG]gE]EjgggggggB]ggggE]gggggggE]ggggB]ggE]G]B]E]EiEiE]E]E]B]EiE]B]E]E]
247
gE]gggE]gE]gg§^gggg^ggggggE]BiE]E!E]E]E]B]E!E]B]E]E;E;B3E]E]E]E]E]EIB]E]BIB]E]B]E]EI
Und ebenso wie der Philosophie das Verdienst gebührt, daß sie
schon weit früher von Entwicklung sprach, als die Naturwissenschaft,
daß sie eherne Gesetze des Fortschritts proklamierte, zu einer Zeit,
wo von biologischen Entwicklungsgesetzen noch nicht die Rede war,
so darf sie auch den Ruhm für sich reklamieren, die Fortsetzung
der naturwissenschaftlichen Methoden bis ins Organische hinein und
von da weiter bis ins allerfeinste Psychische vorbereitet zu haben.
Trotz aller ihrer großen Errungenschaften in der Erkenntnis der
Naturgesetzlichkeiten war die anorganische Naturwissenschaft in
dieser Hinsicht zaghaft bis ins Unglaubliche; vor dem Belebten
machte sie in unbegrenzter Kurzsichtigkeit mit ihrer strengen Kausal-
erkenntnis Halt, hier zauderte sie, die selbst gesteckten Grenzen
ihres Forschungsgebietes zu überschreiten.
Diesen gewaltigen Schritt unternahmen erst Darwin und seine
Vorläufer, anknüpfend an die ihrer Zeit weit voraneilenden philo-
sophischen Theorien, von letzteren jedoch keiner mit der gleichen
unbeugsamen Konsequenz wie Darwin selber. Er hatte den Mut,
den Tatsachen, die sich ihm aufdrängten, mehr zu glauben, als den
Traditionen, die ihn in ihren Bann zu zwingen suchten; er zog unbeirrt
die notwendigen Folgerungen aus der logisch geordneten Erfahrungs-
gesetzlichkeit, wagte es, jenen Boden, den die Philosophen spekulativ
erschlossen hatten, mit festem Fuß experimentell zu betreten. So
wurde er nach Lamarck, der aber noch nicht so energisch wie er
mit unbewiesenen metaphysischen Voraussetzungen zu brechen sich
getraute, zum ersten großen Naturphilosophen des Organischen und
damit zum eigentlichen Begründer der modernen Biologie. Was bis
zu ihm fast nur eine Summe von isolierten Einzelerkenntnissen war,
das faßte er zum System zusammen, zum System einer exakt fun-
dierten Entwicklungslehre. Geschichte und Naturforschung vereinigte
er so zu einer einheitlichen Theorie, die die Geschichte zur Ent-
wicklungsgeschichte erweiterte.
Es ist überaus interessant für die Eigenart des menschlichen
Geistes, daß dieser durch nichts mehr in seinen Grundlagen erschüttert
wird, als wenn man den notwendigen Versuch unternimmt, aus ana-
lytischen Induktionen die zwangsläufigen synthetischen Schlüsse zu
ziehen — ein Bestreben, das, wo es tiefgreifend genug ist, allerdings
stets eine vollkommene Neuordnung unserer gesamten Erfahrungs-
248
weit zur Folge hat. Aus dieser Erschütterung ging der ungeheure
Sturm hervor, der sich gegen die Darwinsche Lehre erhob. Nur wenige
waren es, die die ganze Größe dieser Leistung in der vollen Fülle
ihrer Konsequenzen freudig bejahend zu erfassen vermochten. Zu
diesen ganz Wenigen gehört Ernst Haeckel, der Mann, dessen acht-
zigsten Geburtstag wir in diesen Tagen zu feiern die Freude haben.
Obwohl nicht zu Darwins engerem Freundeskreis gehörend, fern
von ihm in einem Lande, wo fast alle Autoritäten entrüstet sich gegen
den neuen organischen Heilbringer wandten, ergriff er sofort mit
Feuereifer seine Partei, machte dessen Lehre zu seiner eigenen und
widmete die ganze Lebensarbeit der Aufgabe, neue Bausteine zur
Erweiterung und besseren Fundierung des Gebäudes beizubringen,
das Darwin aufgerichtet hatte. Und er ging noch über Darwin hinaus
in der Kühnheit seiner Hypothesen unterstrich das, was jener nur
angedeutet hatte, verstärkte besonders dessen Angriffe gegen alle
metaphysisch-teleologischen Spekulationen. Die „Generelle Morpho-
logie" und die „Natürliche Schöpfungsgeschichte" sind die leuchten-
den Dokumente dieser großen historischen Epoche.
Es muß fast wie ein Wunder erscheinen, daß es den jüngeren
Mitgliedern der gegenwärtigen Generation noch vergönnt ist, einem
der Heroen des Entwicklungsgedankens persönlich den Dank ab-
statten zu können für das, was dieser ihnen gegeben. Wie langsam
und mühsam sich der Kampf um jede kleinste Errungenschaft im All-
tag auch hinschleppt, so ist es also doch eine Tatsache, daß wenige
Jahrzehnte genügen, um etwas, was als heißumstrittene Hypothese
ins Leben trat, zum Gemeingut der Wissenschaft zu erheben! Wer
zweifelt heute noch daran, daß nicht nur die menschlichen Ideen,
nicht nur die menschlichen Einrichtungen im geschichtlichen Prozeß
erarbeitet wurden, sondern, daß auch der Mensch selber, ja sogar
die Gattung homo sapiens ein Produkt des Entwicklungsprozesses
ist, daß dieses hochkomplizierte Gebilde nicht wie Athene in der
Sage fertig dem Haupt des Zeus entsprang.
Freilich — dieser ungeheuer rasche Werdegang, der jeden Mit-
kämpfer an der lebendigen Tat der Kulturschöpfung mit neuem
Mut erfüllen muß, er ist in erster Linie das Ergebnis der Unermüd-
lichkeit, mit der diejenigen, die ihr ganzes Leben in den Dienst der
Entwicklungsidee gestellt haben, ihr großes geistiges Befreiungswerk
240
^^E]gggggggggggggggggggggggG]E]E]G]B3I|]E]G]E]S]S]5]E]B]E]E]5]E]EIE]E]ElE]EJE]E]
verfochten. Durch nichts waren sie in der Kraft ihrer Überzeugung
zu beirren — Hohn, Spott, Verächtlichmachung, Denunziation, Ver-
folgung, alles ließen sie ruhig über sich ergehen, ohne auch nur um
Haaresbreite von dem abzuweichen, was sie als wahr, was sie als
notwendige Erkenntnis ansahen. Diese Festigkeit in ihrer Über-
zeugungstreue ist umso höher zu werten, wenn man sich vor Augen
hält, welch ein ungeheures Maß von seelischer Stärke dazu gehört,
um unter so schwierigen Verhältnissen ohne Schwanken auszuharren
— weiß doch Jeder aus eigener Erfahrung, wie oft man von Stun-
den, ja Tagen der Verzagtheit überfallen wird, welcher Fond von
zäher Ausdauer erforderlich ist, um sich kontinuierlich seine unge-
brochene Initiative zu bewahren.
Und nun haben wir in Ernst Haeckel das erhebende Schauspiel
vor uns, daß hier ein Mensch noch unter uns lebt, dem es gelungen
ist, sich bis in sein höchstes Alter die volle Wucht und Einheit seiner
Persönlichkeit zu erhalten — ja mehr als das: die volle Kampf-
freudigkeit für die Ideen, denen er seit jeher sein ganzes Sein ge-
widmet. Niemals ließ Haeckel die Gefahr an sich herankommen,
zum bloßen Pensionär seines Ruhmes herabzusinken, immer blieb
er in der vordersten Kampfreihe, stets war er nur auf eines bedacht:
die Konsequenzen seiner kritisch und empirisch erprobten An-
schauungen noch strenger und noch energischer zu ziehen. Dadurch
blieb er ein Junger bis ins höchste Greisenalter.
Auch mit seiner eigenen Persönlichkeit stellte er sich auf den
Boden des Entwicklungsgedankens, indem er seine Weltauffassung
stets durchaus im Einklang mit den Fortschritten der Wissenschaft
zu halten bemüht war. Wie hat Haeckel noch im Jahre 1878 über die
Grundlehren des Sozialismus gedacht, als Virchow die untilgbare
Schuld auf sich lastete, die Entwicklungstheorie damit diskreditieren
zu wollen, daß er sie anklagte, sozialdemokratischen Tendenzen
Vorschub zu leisten. Damals wies Haeckel, der zu dieser Zeit über
das engere Gebiet der Naturforschung noch nicht hinausgewachsen
war, diesen Vorwurf mit Entrüstung von sich. Man traut seinen
Augen kaum, wenn man in seiner Replik: „Freie Lehre im freien
Staat", die er gegen Virchows Rede: „Die Freiheit der Wissen-
schaft im modernen Staate" richtete, liest, wie er trotz seiner Un-
voreingenommenheit in allen Fragen, die das Verhältnis von Religion
250
gggggggggggggggggggggggS]E]E]E]B]E]E]E]E]B]G]E]E]G]E]E]E]E]E]EiE]B]E]E]H]E]E]EiG]
und Wissenschaft betrafen, in sozialer Hinsicht so befangen war,
daß er die Ergebnisse der Entwicklungslehre für unvereinbar hielt
mit den Grundlehren des wissenschaftlichen Sozialismus. Wie hat
er sich seitdem auf Grund besserer Einsicht, auf Grund unbeugsamer
innerer Konsequenz, geschlossenen einheitlichen Denkens gewandelt!
Indem er seine naturwissenschaftlichen Theorien zu einer monisti-
schen Philosophie erweiterte, sah er sich genötigt, auch im Sozialen
von allen Vorurteilen immer weiter abzurücken, — ein Prozeß
innerer Wandlung, der seit den „Welträtseln" noch weitere Fort-
schritte gemacht hat. Er hat hierin einen ganz ähnlichen Weg ge-
nommen, wie der kürzlich verstorbene Mitbegründer der Entwick-
lungslehre Alfred Russell Wallace.
Und was ihn dazu nötigte, das war die immer tiefere Erfassung
der Bedeutung der monistischen Methode für alle Welterkenntnis und
Weltgestaltung. Es macht das Wesen des Monismus aus, daß jeder
seiner Bekenner sich gezwungen fühlt, sich nicht auf die Bearbeitung
eines einzelnen Gebietes zu beschränken, ohne sich zugleich zu fragen,
wie die von ihm gefundenen Erkenntnisse widerspruchslos einge-
gliedert werden können in das Gesamtsystem menschlichen Erken-
nens und wie Erkenntnis und Tat zur Einheit zusammengeschmiedet
zu werden vermögen. Auch Haeckel konnte sich darum der Aufgabe
nicht entziehen, darüber nachzusinnen, wie biologische und soziale
Entwicklung innerlich zusammenhängen, welches die sozialen Voraus-
setzungen geistiger Freiheit und organischen Fortschritts sind — und
von diesem Gesichtspunkt aus wurde er zu Anschauungen geführt,
die ihm nicht mehr erlaubten, einen unversöhnlichen Gegensatz
zwischen den biologischen und den sozialen Entwicklungsnotwendig-
keiten anzunehmen. Zur Erkenntnis der restlosen Übereinstim-
mung, die hier gegeben ist, ist er allerdings auch heute noch nicht
vorgedrungen. Dazu hat er die weitgehende Revisionsbedürftigkeit
der Darwinschen Selektionstheorie und einer Reihe der Grund-
begriffe der Entwicklungslehre nicht scharf genug erfaßt, hat er
nicht genügend gewürdigt, wie tief bis ins Allerfeinste hinein die
kontinuierliche Wechselwirkung zwischen Individuum
und Umwelt sich erstreckt. Aber bei der Beweglichkeit des Geistes
dieses Achtzigjährigen ist zu erwarten, daß er auch bezüglich aller
dieser Punkte noch nicht das letzte Wort gesprochen hat.
251
Und ebensowenig wie Haeckel sich scheute, neuen Tatsachen Rech-
nung zu tragen, die aus der ganzen Zeitgeschichte mit der Wucht
des Lebendigen auf ihn einstürmten, — ja ihnen selbst dort Rechnung
trug, wo sie mit seinen ursprünglichen Ideen nicht übereinstimmten,
ebenso hatte er auch die Kraft, Zeitströmungen, so machtvoll sie sich
auch äußern mochten, unbesiegbaren Widerstand entgegenzusetzen,
wenn er sie für ephemer hielt, wenn er die Geschlossenheit ihrer
Argumentenreihe trotz allen gegenteiligen Anscheines nicht als auf
ausreichender Beobachtung beruhend erachtete. Das schönste Zeug-
nis für diese Art wissenschaftlicher Zähigkeit — bei aller Geneigtheit,
jeder neuen gesicherten Erfahrung überholte eigene Anschauungen
zum Opfer zu bringen — ist seine Haltung dem Problem der Vererb-
barkeit erworbener Eigenschaften gegenüber.
Er ist nie schwankend geworden in seiner Überzeugung von der
Kontinuität des Geschehens und ebenso energisch, wie er jede vita-
listisch gedeutete Eigengesetzlichkeit der Lebensvorgänge entschieden
bestritt, so wandte er sich auch gegen alle Bestrebungen, die dem
Keimplasma eine isolierte Stellung im Organismus zusprechen wollten,
die einen schroffen Dualismus von Soma und Vererbungssubstanz,
ja zwischen Individuum und Umwelt vertraten, die hier Eigengesetz-
lichkeiten postulierten, die außer jeglichem Zusammenhang unter-
einander stehen. W'ie recht er darin hatte, das zeigen gerade die
neuesten Ergebnisse der Wissenschaft aufs deutlichste, kann es doch
heute nur noch fraglich sein, auf welchem Wege und in welchem
Maße die Reize, die das Soma treffen, sich auch bis in die Keim-
entwicklung fortsetzen — die Tatsache der Einheit des Organis-
mus, der Ontogenese ebenso wie der Phylogenese ist jedoch
kein Problem mehr.
Und auch in diesem Punkte war es seine monistische Philosophie,
die ihn vor Irrtümern bewahrte. In dieser haben wir darum den Gipfel
der Lebensleistung Ernst Haeckels zu erblicken. Sie ist das, was weit
über die Leistungen auf seinem Spezialgebiet hinauswirkt, was das
Fundament einer neuen vertieften allumfassenden Weltanschauung
bietet, die in aktivistische Weltgestaltung mündet, in eine
mächtig ausgreifende Kulturphilosophie, die alle Naturphilosophie
krönt. Es ist sicherlich eine Erscheinung, die in ihrer Bedeutung
nicht leicht überschätzt werden kann, wenn der Entwicklungsgedanke
252
nun durch Haeckels und Ostwalds unermüdliche Bearbeitung im Einheit-
lichkeitsgedanken kulminiert, ein Ergebnis, das bei der innigen Ver-
wandtschaft zwischen Entwicklungstheorie und Konti-
nuitätsidee geradezu als deren notwendiges Produkt angesehen
werden muß.
Nichts war darum kurzsichtiger, als sich über Haeckels Materialis-
mus aufzuregen. Die strenge Konsequenz, durch die Haeckels Monis-
mus sich auszeichnet, ließ ihn in eine idealistische Spitze aus-
laufen, die dahin wirkt, nun mehr als je in der Einheit des Erkenntnis-
zusammenhanges die oberste Rechtfertigung aller Aussagen der Wis-
senschaft zu erblicken. Der Einheitszwang ist der unablässigste
Mahner des menschlichen Bewußtseins; er drängt über die Einheit
der Anschauung hinaus zur Einheit der ganzen Persönlichkeit, in
deren Denken ebenso wie in deren Tun, ja letztlich in diesen zwei
Grundfunktionen alles Lebendigen untereinander.
Wir wissen heute: die erste und letzte Voraussetzung der Ge-
schlossenheit unseres wirkenden Seins ist Konsequenz, die kein Aus-
weichen vor den notwendigen Folgerungen aus notwendigen Prämissen
gestattet, im Handeln ebensowenig wie im Denken, — die der Kon-
tinuität des Geschehens und der Erfahrungsgesetzlichkeit voll gerecht
wird, die nicht duldet, daß irgendwo im Gegebenen ein Schnitt
zwischen durchweg getrennten Eigengesetzlichkeiten gemacht wird.
Die Einheit der Persönlichkeit erlaubt keinerlei Dualismus, der die
Äquivalenzbeziehung aufhebt, sie ist unvereinbar mit der Anschau-
ung, daß Wesenheiten, die auch nicht das geringste miteinander
gemein haben , aufeinander einwirken können. Der strenge Einheits-
und Kontinuitätsgedanke verbietet deshalb auch, der Wissenschaft
an irgend einem Punkte Halt zurufen zu wollen; in Erkenntnis-
dingen gibt es keine höhere Instanz als die Vernunft und ihre imma-
nenten Erfahrungsgesetze; was diesen widerstreitet, kann nicht als
wahr hingenommen werden. Wo gegensetzliche Meinungen einander
bekämpfen, da können wir nur jenen zustimmen, die mit der Einheit
und Widerspruchslosigkeit des Gesamtzusammenhanges der Erfah-
rung zusammen zu bestehen vermögen. Das gilt in gleicher Weise
für alle Aussagen, mögen sie sich beziehen auf was immer. Unsere
Vernunft kann sich weder beruhigen, wenn Glauben und Wissen
einander widerstreiten, wie wenn Theorie und Praxis eine weite Kluft
gggggggggggEjgE]gE]ggggE]ggggE]gggggggEiggEigE]E]E]BiE]BiE]EjE]E]E3E]E]B]
253
^ggg^^&g^EgR^ggggggggE]E]B]E]E]E]ElE]E]E]E]B]EIE]B]E]B]BJEJE]E]B]E|G]E]E]E]E]E]B]EJ
trennt. Und ebensowenig, wie zwischen Tatsachenkonstatierungen
unüberbrückbare Divergenzen bestehen bleiben dürfen, wenn ein-
deutige Problemlösungen zustande kommen sollen, so ist auch jeder
unbehobene Widerspruch zwischen praktischen Postulaten unterein-
ander ein sicherer Beweis für deren Unzulänglichkeit. Jede Ordnung,
wo das, was auf einem Gebiet als wahr angenommen wird, mit an-
geblichen Gewißheiten eines anderen Gebietes im Widerspruch
steht, ist als unbrauchbar, ja als der Menschenwürde zuwiderlaufend
abzulehnen; möge sie von noch so starken Traditionen gestützt sein,
sie sprengt die Einheitlichkeit der Persönlichkeit, die sowohl unser
größtes Gut, wie unsere höchste menschliche Aufgabe ist, und muß
darum energisch bekämpft werden.
Von diesem tiefgefühlten Bedürfnis nach strenger Einheit der
Persönlichkeit, die den kritisch geprüften Ergebnissen der Erfahrung
niemals und nirgends den Respekt versagt, ist das ganze Leben Ernst
Haeckels geleitet gewesen. Von ihr getragen nahm er ruhig den
Kampf mit der Autorität von Staat und Kirche auf, ging er unent-
wegt hinweg über alle Stürme der öffentlichen Meinung. Und selbst
wo er geirrt hat, ist er darum eine erfreulichere Erscheinung, als sie
minder streitbare Naturen darbieten, die allerdings weniger geirrt,
dafür aber auch weit weniger geleistet haben als er.
Die historische Gerechtigkeit wird ihm Dank wissen für den vor-
bildlichen Mut, mit dem er immer seine ganze Kraft für das ein-
gesetzt hat, was er für wahr und notwendig hielt, wie dafür, daß
er jederzeit bereit war, die ganze Autorität, die er sich mühsam er-
obert, aufs Spiel zu setzen, wenn es galt, neuen Erkenntnissen über-
holten autoritativen Meinungen gegenüber zum Siege zu verhelfen.
Was ihm die Mitwelt zum Vorwurf macht, gerade das wird ihm
die Nachwelt zum Verdienst anrechnen. Dieser Wandel der Beur-
teilung hat sich noch zu allen Zeiten am Schicksale der wahrhaft
Großen in der Geschichte vollzogen; zu unsterblichem Ruhme
wurden sie gleichsam hinaufgelästert. So unbequem der un-
ermüdliche Kämpfer im einzelnen immer ist und sein muß, schließlich
bemächtigt sich sogar seiner erbittertsten Widersacher die unabweis-
bare Überzeugung: es ist doch das größte Glück für die Menschheit,
daß die Persönlichkeiten nicht aussterben, die sich Tag für Tag von
neuem für ihre freien Ideen opfern, die auch eine Welt von Wider-
254
^E]gggE]gggE]g§E]ElE]E]E]B]g]BlE3E]BJSSISSE]SElElSE!32lE335135]§li]@]Sl@]SSS333il
spruch nicht zum Schweigen zu bringen vermag, wenn ihr individueller
Logos sie zwingt, ihre heiligste Erkenntnis tatenfroh in die wider-
strebende Welt hinauszuschleudern. Was wiegen demgegenüber
Irrtümer im einzelnen, besonders wenn auch sie von unerbittlichem
Wahrheitswillen getragen sind? Der Wahrheitswille ist der Schöpfer
der höchsten menschlichen Ordnung, ihn zu verehren ist darum das
oberste Gebot der menschlichen Seele.
Durch einen solchen allerlebendigsten, unerschütterlichen Wahr-
heitswillen hat sich Haeckel zu allen Zeiten ausgezeichnet. Deshalb
muß diesen Mann jeder, der es ehrlich mit unseren höchsten Auf-
gaben meint — stehe er auf welchem Boden immer und trenne ihn
auch noch so viel von Haeckels Weltanschauung — an seinem Jubel-
tage feiern. Bei Erscheinen der „Welträtsel" hat Paulsen in einem
unüberlegten Augenblicke das bedauerliche Wort ausgesprochen: dieses
Werk habe ihm die Schamröte ins Gesicht getrieben. Temperament-
voll setzte er damit Überzeugung gegen Überzeugung. Es ehrt
diesen Philosophen aber, daß er — wie ich aus authentischer Quelle
weiß — jenen vielzitierten Ausspruch später bereute. Und wie
dieser Einzelne es sich mit Recht bei ruhiger Überlegung zum Vor-
wurfe machte, daß er sich an einer so geschlossenen sittlichen Indi-
vidualität mit seiner herabwürdigenden Äußerung versündigte, so
werden es auch spätere Geschlechter bereuen, daß unter den Zeit-
genossen Ernst Haeckels Viele waren, die die Tiefe seiner Einheits-
arbeit, die die Kraft seines sittlichen Einheitswillens, die seinen
Erfahrungsfanatismus nicht in ausreichendem Maße würdigten, denen
die ganze Größe der Ziele, die die monistische Natur- und Kultur-
philosophie sich setzt, nicht voll zum Bewußtsein kam, die über
deren Mängel im einzelnen, von denen keine neue Schöpfertat völlig
frei ist, ihre ungeheuren Vorzüge übersahen, die verkannten, daß
diesen Ideen die Anfänge einer gewaltigen Kulturbewegung zugrunde
liegen, die zukunftsschwanger einen ganz neuen Habitus der mensch-
lichen Seele aus sich hervorzutreiben berufen ist. Der Mann, der
den Stammbaum des Menschengeschlechts aufzuzeichnen sich er-
kühnte, dessen Namen wird die Kulturmenschheit aus der Ahnen-
tafel ihres schöpferischen Genies niemals löschen!
klElElSSglSSSSSS^l El El E]E]B1B]B]E]E]E]E]B]EJE]E3E]E]E]EJE1E]E]E]E]E]G1S]G]E]B]E]E1E]E] E]E]B]E1EJ
255
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J. F. ZALISZ, LEIPZIG
o o o
Heil dir! dem Vergehen und Werden
lebensfrisch vor der Seele stand.
Heil dir! der selbst der Wahrheit
ringend den Schleier entwand.
Vergleichende Anatomie (Beobachtungsobjekt) und natürliche Ent-
stehung der Erde als Denkprodukt dieser Beobachtung ergeben
die Nichtexistenz eines Gottes. Deshalb sei die Gottheit schlafend
dargestellt samt ihren Helfern, „den Engeln". Ich versuchte diesen
Gedanken in meiner Radierung „An Ernst Haeckel" festzuhalten.
,,An Ernst Haeckel!" Welch eine Fülle von Gedanken kam über
mich, als ich mich mit diesem Blatte beschäftigte ; ich wußte nicht,
was ich mehr an ihm schätzen sollte, den großen Forscher, den Natur-
freund, den Kunstfreund, den Menschen oder den Kämpfer für Gei-
stesfreiheit und Willensstärke. In allem hat er Großes geleistet und
Unsterbliches.
Ein schlichtes Denkmal suchte ich ihm mit diesem Blatte zu setzen.
Ich versuchte es, d. h. ich bin überzeugt, damit nur einen kleinen
Teil Haeckels erschöpft zu haben, denn um ihm ganz gerecht zu wer-
den, hätte ich schon zum Zyklus greifen müssen.
256
gg^r3g]gE]g5]ggE]ggggggG]gggggggggg3gggG]GlE]E]E]E]G]31E|E]E]!3]G3E]E]E]E]E]E]
Nach einer Radierung von J. F. Zalisz, Leipzig
17 Haeckel-Festschrift. Bd. II
257
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EDUARD AIGNER, MÜNCHEN
0 0 0
Als im Jahre 1906 der deutsche Monistenbund von Professor
Haeckel gegründet wurde, da lernte ich in mancher langwierigen
und erlebnisreichen Beratung im zoologischen Institut zu Jena die Be-
geisterung und Beharrlichkeit kennen, mit der unser Ehrenpräsident
an der Organisierung der Vertreter wissenschaftlichen Denkens gegen-
über der Autorität des traditionellen Glaubens hing. Die Opferfreudig-
keit des Führers hatte ihre begeisternde Wirkung auf seine Mitarbeiter,
und wenn heute der Monistenbund sich zu allseitigem Ansehen durch-
gerungen hat, so danken wir das in erster Linie dem damaligen Wirken
der Persönlichkeit Professor Haeckels. Jahre sind seither ver-
flossen. Ich habe Haeckels Abschiedsvorlesung und seinen Vortrag,
mit dem er sich in Jena aus der Öffentlichkeit zurückzog, mit an-
gehört. Der Körper hat seitdem dem Alter manchen Tribut zahlen
müssen, um so mehr scheint das Glück, am Lebensabend all das sieg-
reich sich entwickeln zu sehen, wofür man vor einem Menschenalter
mit aller Hingebung gegen die finsteren Mächte der Reaktion ge-
kämpft, den Geist des nunmehr Achtzigjährigen jung zu erhalten.
Möge es unserm Ehrenpräsidenten noch recht lange vergönnt sein,
diesen einzigartigen Triumph zu feiern.
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258
ARNOLD LANG, ZÜRICH: AUS MEINEM INTIMEN
SCHULDBUCH
o o o
In wenigen Wochen wird sich zum vierzigsten Male der Tag jähren,
an dem ich Ernst Haeckel zum ersten Male sah. Zwischen
damals und heute liegt meine ganze akademische Laufbahn. Auf
ihr Ende fällt des Meisters achtzigster Geburtstag, an dem wir ihm
für alles danken wollen, was er uns war. Und wer hat mehr, als der
Schreiber dieser Zeilen, Recht, Grund und Pflicht, dies zu tun und
immer wieder zu tun. Heute darf ich mich wohl auf die Erinnerung
an die persönlichen Wohltaten beschränken, die mir mein Lehrer
erwies und die so stark auf meinen Lebensgang einwirkten.
Als Geschenk zum Neujahr 1874 hatte ich mir, der ich als Schüler
Vogts in Genf studierte, Haeckels „Generelle Morphologie" er-
beten. So gewaltig wirkte das geniale Werk auf mich, daß es mir
Tag und Nacht keine Ruhe ließ, bis ich es ganz in mir aufgenommen
und erfaßt hatte. Durch schwere, innere Kämpfe hindurch verhalf
es mir zu jener mutig frischen Freude am Leben, Wissen, Streben
und Forschen, die dem denkenden Menschen die Befreiung von den
Fesseln der Überlieferung, das unbeengte, reine, voraussetzungslose
Ringen nach Wahrheit verschafft.
Mein Entschluß stand nunmehr fest, mich der Zoologie zu widmen
und meine Studien bei Haeckel fortzusetzen. Mein lieber Vater,
ein ebenso bescheidener und wohlwollender, wie einsichtiger und
aufgeklärter Mann, der mir ein umfassendes Studium und besonders
auch wiederholte Studienreisen ans Meer ermöglichte und mir immer
die Freiheit der Entscheidung ließ, auch wenn sie für ihn mit schweren
Opfern verknüpft war, erteilte seine Zustimmung. Und so stand
ich an einem schönen Tage des ersten Thüringer Frühlings pochenden
Herzens, mit einem warmen Empfehlungsschreiben meines lieben
Lehrers und nachherigen Freundes Carl Vogt in der Hand, in
Haeckels Arbeitszimmer zu Jena.
Es erhob sich vor mir elastisch die hohe, im Ebenmaß den Geist
verkörpernde Gestalt des gewaltigen Streiters. So wie ich ihn damals
zum ersten Male sah, mit dem ersten Eindruck, den er als vierzig-
jähriger Mann auf mich machte, kann ich mir ihn auch heute noch
17* 259
ins Gedächtnis zurückrufen. So wird er auch, wie ich glaube, im
Gedächtnisse der Nachwelt fortleben. Mit seinem Namen wird die
Vorstellung der jugendfrischen, kampfesfrohen Kraftgestalt so un-
trennbar verbunden sein, wie mit demjenigen Darwins das Bild
eines sinnenden alten Weisen des großen Altertums, im silbergrauen
Bart. Blonde Locken umrahmten damals das männlich-schöne Ant-
litz Haeckels. Freundlich und lustig blickten die hellen Augen her-
über zu mir, um dann sinnend in die Ferne zu schauen. Bald lag
in ihnen, den treuen Spiegeln der Seele, ein fast schüchterner Aus-
druck kindlicher Naivität, bald blitzten sie, etwa in Erinnerung
an eine Gefechtsepisode, fast mutwillig auf.
Die Augen, die so viel geschaut und die doch nimmer satt ge-
worden sind von dem goldnen Überfluß der Welt, sie sind ihm treu
geblieben. Und wenn auch die Jahre das edle Antlitz durchfurcht
und Bart und Haupthaar gebleicht haben, so schlägt doch heute
das Herz noch jugendfrisch und freut sich der ungetrübte Geist der
Gewißheit, daß Tausende und Tausende heute in Verehrung seiner
gedenken, eine ganze Legion von Intellektuellen. Wir freuen uns
dieses Namens und sind stolz auf ihn.
1874! Es war die Zeit, da der Kampf für oder gegen Darwin
am heftigsten tobte und Haeckel stand schon damals im Vorder-
treffen. In Jena, dem lieben, kleinen, „närrischen", in seiner ur-
alten Gestalt noch ganz unveränderten Professoren- und Studenten-
städtchen, verlebte ich zwei fröhliche und doch arbeits- und gewinn-
reiche Studienjahre zu Füßen des Meisters, der mir ständige Zeichen
des Wohlwollens gab. Durch Haeckel auf Lamarcks Bedeutung
aufmerksam geworden, übersetzte ich während dieser Zeit in den
Ferien dessen „Philosophie Zoologique" ins Deutsche. Wenn nicht
gar zu viele fachwissenschaftliche Übersetzungsfehler in dem Buche
enthalten sind, so habe ich das den bereitwilligen Belehrungen Haek-
kels zu verdanken. Im März 1876 promovierte ich in Jena. Ziemlich
unvorbereitet wurde ich von dem alten lieben Pedellen Pilling
von der Ölmühle, wo ich mit Landsleuten kegelte, ins Examen weg-
gerufen. Trotz meiner mehr als bescheidenen Kenntnisse erhielt ich
zu meinem freudigen Erstaunen die Note „magna cum laude".
Es wurde mir sofort klar : Haeckel überschätzte mich in seinem Wohl-
wollen und war wohl der sicher irrtümlichen Überzeugung, daß ich
260
viel mehr wußte, als aus mir herauszubekommen war. Und das-
selbe galt gewiß auch von meinem verehrten Lehrer Eduard Stras-
burger, der mich in Botanik examinierte. Merkwürdig, Rudolf
Eucken, der mich in Philosophie prüfte, hatte sich aus den empiri-
schen Prüfungsresultaten ein viel zutreffenderes Bild von meinen
wirklichen Kenntnissen gemacht, als die beiden großen Naturforscher.
Meinen freudig überraschten Eltern habe ich den wahren Sachverhalt
nie mitgeteilt. Ich bin nicht ganz sicher, daß ich es nur deshalb
unterließ, um ihre Freude nicht zu beeinträchtigen.
Wenn ich jetzt, nach so langer akademischer Tätigkeit, auf die
zahlreichen Prüfungen zurückblicke, die ich selbst abgenommen habe
und mich frage, ob ich alle meine Kandidaten mit einem ähnlichen
Wohlwollen wie Haeckel und Strasburger mich . . . .
Ich habilitierte mich noch im gleichen Jahre in Bern und ging
dann bald für lange Zeit nach Neapel, ohne in einem Schweizer-
regiment Dienst zu nehmen, wie meine Großmutter befürchtete.
Fast zehn Jahre später — ich hatte meine Polycladenmonographie
eben publiziert — wurde meine äußere Lage plötzlich sehr schwierig.
In meinen bedrängten Verhältnissen streckten mein Freund Ludwig
von Graff in Graz und mein Lehrer Haeckel die helfende Hand
nach mir aus. Ich suchte und fand im Herbst 1905 Zuflucht bei der
mir befreundeten Familie Pilling und im neu erstellten Zoologischen
Institut in Jena, an dessen Einrichtung ich mich noch etwas beteiligen
konnte. Bald durfte ich erfahren, wie sehr mein Chef im stillen
um mich besorgt war. Dabei hat es mir sicher nicht geschadet,
daß Haeckels Famulus, der treue Pohle, Geheimrat Pohle, wie
er nach meinem Vorgang in Professorenkreisen genannt wurde (in
Studentenkreisen hieß es oft: Darwin, Haeckel und Pohle), mich
von Anfang an in sein Herz einschloß. Bald verbreitete sich in
Jena die anfänglich mit ungläubigem Kopf schütteln aufgenommene
Kunde, es sei dem neuen Schweizer Zoologen gelungen, Haeckel
zu überreden, daß er es zuließ, daß wenigstens in die Laboratoriums-
räumlichkeiten die Gasleitung zugeführt wurde und er habe es außer-
dem dahin gebracht, daß Haeckel beide Augen schließe, wenn etwa
in gewissen Räumen geraucht werde.
Im folgenden Jahre gründete Haeckel aus der neuen Paul
von Ritterschen Stiftung die Ritter-Professur für Phylogenie. Auf
261
ggggggg^E]ggggggggggggggggE]E]E]B]E]E]E]E]E]E]G]B]E]E]B]E]B]B]E]B]B]E]E]B]B]E]E]
seinen Vorschlag hin wurde ich zum ersten Inhaber dieser Professur
ernannt. Damit war mir eine, wenn auch bescheidene, Stellung ge-
sichert und ich konnte daran denken, meinen eigenen Hausstand
zu gründen. Von Anfang an übertrugen Haeckel und seine ver-
ehrte Gattin ihr großes Wohlwollen auch auf meine junge Frau.
Seiner väterlichen Fürsorge vor allem war es zu danken, daß sie
sich rasch im fremden Lande einleben konnte, daß die Zahl der
engbefreundeten Familien sich mehrte und daß uns Jena bald zur
zweiten Heimat wurde. Bei meiner ältesten in Jena geborenen
Tochter hat er als Pate die Rolle eines Schutzpatrons übernommen.
Den Bestimmungen der von Ritterschen Stiftung entsprechend
mußte ich alljährlich eine öffentliche Rede über ein phylogenetisches
Thema halten. Ich hielt die erste am 27. Mai 1887 über „Mittel und
Wege phylogenetischer Erkenntnis". Noch lebhaft erinnere ich
mich, welchen feierlichen Eindruck es auf mich machte, als jeweilen
während der Rede in der Aula, zu deren Besuch das Läuten der
ehrwürdigen Turmglocke einlud, die anstoßende Brüdergasse ab-
gesperrt wurde. Die obligate Rechnung für das Heizen der Aula (Ende
Mai oder im Juni!) hat jeweilen Haeckel selbst in seine geduldige
Mappe gelegt. Das Abhalten dieser Reden war für mich heilsam. Es
lag darin ein äußerer Zwang, nicht nur den Blick auf das Allgemeine
gerichtet zu halten, sondern auch zu versuchen, der Darstellung eine
gefällige, allgemeinverständliche Form zu geben.
Die Zeit meines Jenenser Ritter-Professorats war für mich die denk-
bar glücklichste und fruchtbarste. Im Institut war es eine Lust zu
leben und zu arbeiten. Haeckels wohlwollende Liebenswürdigkeit
und anspruchslose Güte sahen über alle meine Schwächen hinweg.
Er erwies mir auch sofort die seltene und hohe Ehre, mich in den
illustren Referierabend einzuführen, eine familiäre, intime Vereinigung
von gelehrten Professoren, in der abwechselnd in den Wohnungen
der Mitglieder über die neuesten bedeutenden Leistungen auf dem
Gebiete der Naturwissenschaften referiert und diskutiert wurde. Man
mag sich vorstellen, wie unschätzbar wertvoll für mich der regel-
mäßige Verkehr mit Männern der Wissenschaft wie Abbe, Bieder-
mann, Detmar, O. Hertwig, Max Fürbringer, Wilh. Müller, Preyer,
Stahl und Winkelmann war, von denen jetzt leider schon manche
zu den Vätern versammelt sind. Und der rege geistige Verkehr
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262
setzte sich auch auf gemütlichen Spaziergängen in den reizvollen
Umgebungen Jenas und in den abendlichen Zusammenkünften auf
dem Forst oder der Schweizerhöhe fort, wo so oft herzerfrischend
Haeckels „helles, lautes, fröhliches Lachen" ertönte.
In diese Zeit fiel auch der Wohlgemut-Konflikt mit meinem
Heimatland und es kam meinem immer unvorsichtigen Tempera-
ment zugute, daß namentlich Abbe mit seinem autoritativen An-
sehen zuweilen seine schützenden Fittiche über mich ausbreitete.
In meinem Hause war ein reger, fröhlicher Verkehr tüchtigster
junger Gelehrter, von denen die meisten jetzt in ernstem Amt und
hohen Würden stehen und mich trotzdem noch freundlich mit „lieber
Lang" anreden. Ein Kränzlein dankbarer, aber wehmütiger Er-
innerung sei hier Haeckels vortrefflichen, charaktervollen Assistenten
Alfred Walter und Bernhard Weißenborn gewunden, die leider allzu
früh ins Grab gesunken sind.
Im Herbst 1899 war die Professur Heinrich Freys für Zoologie
und verwandte Fächer an beiden Hochschulen in Zürich zu besetzen
und ich habe es in erster Linie wiederum der warmen Fürsprache
Haeckels zu verdanken, wenn ich an diese Stelle berufen wurde,
welcher seitdem mein ganzes Wissen, Wollen und Können gegolten
hat. Eine gewichtige Amtsperson sagte später, als ich mich vor-
stellte, zu mir. „So, Sie sind also der Mann, den Haeckel uns so
schwer gerühmt hat." Mein väterlicher Freund wollte der erste
sein, der uns in unserer Behausung im neuen Wirkungskreis — wir
waren kaum eingezogen — besuchte und als ich später meine Antritts-
vorlesung hielt, saß er zuvorderst unter meinen Zuhörern. Seitdem
haben wir noch mehrere Male das Glück gehabt, ihn bei uns zu sehen
und ihn bei seinen Wanderungen in unsern herrlichen Schweizer-
landschaften zu begleiten, an denen ihm, dem Vielgereisten, der die
halbe Welt gesehen , und stets auch mit künstlerischem Auge erschaut
hat, das unvergleichliche, unvergängliche fruchtbare Grün als der in-
timste und eigenartigste Reiz erscheint. Von den mannigfaltigen
Erlebnissen will ich hier nur eines festhalten, wegen der charakte-
ristischen heiteren Note. Als wir einst, Haeckel aquarellierend, den
Gipfel der spitzen Mythenpyramide bestiegen und oben in der kleinen
Wirtschaft übernachteten, wo er sich als Küster aus Apolda ins Frem-
denbuch eintrug, war für die Versorgung seiner hohen Gestalt in
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263
einem der kurzen Betten der zwei engen und kleinen Schlafkammern
guter Rat teuer und es ging nicht anders, als daß Haeckel über
die Fußlehne seines Bettes hinweg seine Füße durch die offene Türe
in mein und meiner Frau Schlafgemach hinüberstreckte. — Jetzt,
seit dem unglückseligen Mißgeschick, das den greisen Gelehrten be-
troffen, vermissen wir schwer jene erwärmenden Sonnenblicke, die
sein Besuch uns verschaffte.
Wie sehr Haeckels Geist auch bei uns in weite Kreise eingedrun-
gen ist, zeigt die großartige Beteiligung an der in Zürich bei Anlaß
seines 70. Geburtstages veranstalteten Feier, an welcher wir, mein
Studiengenosse und Mitschüler Haeckels Conrad Keller und ich,
unsere Festreden wiederholen mußten.
An dieser Stelle darf ich wohl auch meiner freudigen Genug-
tuung darüber Ausdruck verleihen, daß es mir am Vorabende des
wunderbaren, hohen Festes des 350 jährigen Jubiläums der Universität
Jena, der altberühmten und stets jugendfrisch fruchtbaren Pflanz-
stätte freier Wissenschaft, vergönnt war, eine der Weihereden bei
der Einweihung und Übergabe des von Haeckel gegründeten Phy-
letischen Museums zu halten.
Ich kann nicht von meinen Beziehungen zu dem Jubilar und
seiner unverbesserlichen Überschätzung meiner Person sprechen,
ohne das Ereignis zu erwähnen, das für mich die denkbar höchste
Ehrung war, die mir zuteil werden konnte, das Ereignis nämlich,
daß mich, im Winter 1908/1909, der Senat der Universität Jena,
wie man mir sagte, einstimmig, zu seinem Nachfolger im Amte vor-
schlug. Dem Rufe konnte ich freilich nicht Folge leisten. Eine
etwas zweifelhafte Folge dieser Ehrung war die, daß man mich
vielfach mit ganz andern Augen betrachtete, als hätte ich plötzlich
ein berühmtes, epochemachendes Buch geschrieben. Nicht selten
guckten, was mir immer unangenehm ist, fremde Leute auf mich
und im Tram belauschte einer meiner Schüler ein mich fixierendes
Studentenpärchen, wie sie orientierend sagte: siehe, das ist der
Mensch, den Haeckel zu seinem Nachfolger vorgeschlagen hat.
Was ich aber vielleicht alles dadurch verscherzte, daß ich den ehren-
vollen Ruf nicht annahm, kam mir erst dann so recht deutlich zum
Bewußtsein, als mir bei einer feierlichen Gelegenheit im Reiche
draußen ein ungefähr gleichaltriger, befreundeter Kollege, der mehrere
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264
hohe Orden mit mühelosem und würdevollem Anstand trug, be-
kümmert auf meine eintönige, schmucklose Frackbrust blickend, mit
ehrlichem Bedauern zu mir sagte: „Lieber Lang, nun werden Sie
ja niemals Geheimrat werden."
Zum Schlüsse darf ich wohl sagen, daß ich Grund habe zu hoffen,
daß mich Haeckel bei der heutigen Gelegenheit nicht überschätzt
und gerne auf mein Eingehen auf die höchsten Welträtsel verzichtet.
Eucken hat mich wirklich vor vierzig Jahren richtig eingeschätzt.
Der erste Inhaber der ersten Professur für Phylogenie ist mit Bezug
auf Welterkenntnis auf der phylogenetisch bedauernswert primitiven
Entwicklungsstufe eines agnostischen Freidenkers stehengeblieben.
Trotz oft wiederholter Versuche und Anstrengungen, die Fluida
nach den Stellen zu leiten, wo sich jene Bildungen hätten entwickeln
können, die geeignet gewesen wären, mich in höhere und höchste
Regionen zu erheben, bin ich ein an die Niederungen gebundenes,
wenn auch anthropomorphes Lebewesen geblieben. Mein gänzlicher
Mißerfolg nach dieser Richtung hat nicht wenig dazu beigetragen,
daß ich mit Bezug auf die Leistungsfähigkeit der sogenannten La-
marckschen Faktoren immer skeptischer wurde.
Eines aber kann mein teurer Lehrer und Freund — ich bin dessen
sicher — an mir nicht überschätzen, meine Gefühle der Dankbarkeit
und Verehrung und, an dem heutigen seltenen festlichen Tage, die
Innigkeit des Wunsches, daß ihn eine milde Abendsonne noch ge-
raume Zeit erwärmen und erquicken möge.
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265
ALEXANDER SOKOLOWSKY, HAMBURG: ERNST
HAECKEL UND MEINE STUDIENZEIT
o o o
Die Bekanntschaft mit Haeckels Schöpfungsgeschichte machte
ich bereits in den letzten Jahren meiner Schulzeit. Mir fielen
damals die verschiedenen naturwissenschaftlichen Bücher meines
verstorbenen Vaters, der Arzt gewesen war, in die Hände, unter denen
sich auch ein Exemplar der ersten Auflage des genannten Werkes
befand. Die Wirkung, die die Lektüre dieses Buches auf mein jugend-
liches Gemüt ausübte, war eine so tief eindringende und nachhaltige,
daß sie für meinen Berufsweg geradezu bestimmend wurde. Für mich
stand es damals unbedingt fest, daß ich mich der Naturwissenschaft,
und zwar in erster Linie der Zoologie, widmen wollte. Es war aber
nicht nur die geistvolle Auseinandersetzung der Darwinschen Lehren,
die mich zur Naturwissenschaft begeisterte, sondern es wirkte auch
der Gestaltenreichtum der Naturobjekte, den ich dadurch kennen
lernte, auf meine natürliche Anlage zum Malen und Zeichnen so
elementar, daß ich beschloß, mich vor meinen naturwissenschaft-
lichen Studien künstlerisch auszubilden, um später die von mir
studierten Naturobjekte bildnerisch wiedergeben zu können. Als
mich der Weg von Berlin aus, wo ich in der Kunstakademie künst-
lerischen Studien oblag, nach Jena zu Haeckel führte, trat mir in der
Person desselben ein Lehrer entgegen, der mich, meiner Anlage und
Neigung entsprechend, daher in zweifacher Hinsicht zum Studium der
Natur anregte. Es ist aber nicht nur der hochbegabte Naturforscher
und Künstler, der mich als Student zu begeistern verstand, sondern
nicht minder Ernst Haeckel als Mensch. Mir ist in späteren Jahren
keine zweite Persönlichkeit entgegengetreten, die in gleicher Weise als
liebenswürdiger und gütiger Mensch imstande war, den Schüler an sich
zu fesseln, wie gerade Ernst Haeckel. Diese Anhänglichkeit an meinen
alten Lehrer habe ich ihm bis auf den heutigen Tag treu bewahrt.
Die Haeckelsche Lehre und Auffassung der Naturvorgänge übte
auf die Ideenrichtung meines Denkvermögens bis auf die Gegenwart
einen unüberwindlichen Einfluß aus. Ich kann gar nicht anders als
bei naturwissenschaftlichen Aufgaben entwicklungsgeschichtlich den-
ken. Der Frage nach dem „Warum" gesellt sich die nach dem ,, Woher"
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266
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stets bei. Die Erkenntnis nach dem kausalen Zusammenhang der
Naturerscheinungen dünkt mich viel interessanter als das Kennenlernen
zahlloser Einzelerscheinungen, wie sie eine systematische und be-
schreibende Naturbetrachtung mit sich bringt. Ich glaube, das ist
die Stärke und die Schwäche der Haeckelschen Schule: Während auf
der einen Seite der Trieb zur Verallgemeinerung, mithin die allgemeine
Erkenntnis, mächtige Förderung erhält, wird das auf zahllose Einzel-
heiten basierende Wissen in mancher Hinsicht unterschätzt. Die
notwendige Folge davon ist die Aufstellung heuristischer Ideen, die
bei späterer gründlicher und umfassender Nachprüfung zum mindesten
starke Modifikation erfahren muß. Dennoch wage ich zu behaupten,
daß gerade Haeckel auf Grund seiner spekulativen und verallge-
meinernden Forschertätigkeit die Wissenschaft immens gefördert
und beeinflußt hat. Auch in solchen Fällen, in denen dem greisen
Forscher der Irrtum unzweifelhaft nachgewiesen wurde, hat er dennoch
das unstreitige Verdienst, die Frage in Fluß und sie dadurch in-
direkt zur definitiven Beantwortung gebracht zu haben. In diesem
Sinne schätze ich Haeckel außerordentlich hoch ein — und bin der
Meinung, daß er die Naturforschung der Gegenwart in hervorragender
und einzigartiger Weise beeinflußt hat. Er ist als Forscher eine Per-
sönlichkeit, mit der sich jeder Zeitgenosse, mag er auch noch der
krasseste Gegner der Haeckelschen Anschauungen sein, unbedingt
abfinden muß. Daß in den letzten Jahren die Zoologie in ganz andere
Bahnen einlenkt, die mit Darwinschen und Haeckelschen Anschau-
ungen nicht übereinstimmen, tut der Bedeutung Haeckels keinen
Abbruch. Zu dessen gerechter Würdigung darf nicht verkannt werden,
daß der Fortschritt in der Wissenschaft sich auf Erkenntnisschlüssen
aufbaut, zu denen in großem Maße Haeckel die Wege durch seine
Arbeiten geebnet hat. Die wahre Bedeutung Haeckels wird daher
erst erkannt werden, wenn die Klärung der wissenschaftlichen An-
schauungen auf Grund exakter Forschung soweit fortgeschritten sein
wird, daß die Lehren des greisen Naturforschers keine Streitfragen mehr
sein können. Wir befinden uns zur Zeit noch zu sehr in der Sturm-
und Drangperiode, um eine volle historische Würdigung der Haeckel-
schen Großtat eintreten lassen zu können. Um Haeckel gerecht zu be-
urteilen, darf seine eigenartige künstlerische Begabung unbedingt nicht
dabei vergessen werden. Sein erstaunlich entwickelter Formen- und
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267
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Farbensinn verband sich mit einer reichen Phantasie zu einem For-
schungsrüstzeug, wie es, in einer Person vereint, seinesgleichen sucht.
Der Einfluß Haeckels auf das Kulturleben der Gegenwart ist
meines Erachtens ein ungeheurer. Die Welträtsel haben eine Wirkung
ausgeübt, wie sie in dem Maße von einem anderen naturwissenschaft-
lichen Werke seit der Veröffentlichung von Darwins „Entstehung
der Arten" nicht erreicht wurde. Der Bildungshunger und das
Streben nach Wahrheit der Massen kam dieser Einwirkung auf das
Kulturleben der Gegenwart auf halbem Wege entgegen. Namentlich
war es der Zerfall mit der Kirche, der zahllose unbefriedigte Denker
den Haeckelschen Lehren in die Arme trieb. Unser ganzes geistiges
Leben ist zur Zeit in Gärung begriffen und es ist heute noch nicht
abzusehen, welchen Ausgang die geistige Strömung nehmen wird.
So viel steht aber für mich schon heute fest: Haeckel gebührt das
Verdienst, den Stein ins Rollen gebracht zu haben. Ihm leuchtet in
seiner Forschertätigkeit das ehrliche Ringen und Streben nach Wahr-
heit so zielbewußt voran, daß die Massen dadurch instinktiv mit-
gerissen und beeinflußt wurden. Haeckel ist daher als ein mächtiger
Kulturförderer zu werten.
Da Haeckel als genetischer Anthropolog der Abstammung des
Menschen in seinen Forschungen den wichtigsten Platz einräumt, ist
es begreiflich, daß ich mich als sein Schüler unter seinem Einfluß als
Tiergärtner dem Studium der Anthropomorphen zuwandte. Da
mein Lehrer seine Untersuchungen auf das morphologische Gebiet
beschränkte, versuchte ich den psychologischen Weg zu betreten.
Der tägliche Verkehr mit lebenden wilden Tieren führte mich ganz
von selbst diesem Arbeitsfeld zu. Die Resultate, die ich durch meine
diesbezüglichen Studien bei den verschiedenen Anthropomorphen
erzielte, führen mich einer polygenetischen Deszendenztheorie für
den Menschen zu, welche im Gegensatz zur monogenetischen An-
schauung Haeckels die Entstehung der Menschenformen unabhängig
voneinander in ihrer Urheimat aus einem besonderen Affentyp an-
nimmt. Wenn ich mich auch aus gewichtigen morphologischen wie
psychologischen Gründen in dieser Ansicht von der Überzeugung
meines verehrten Lehrers entferne, so erkenne ich mit besonderer
Dankbarkeit an, daß ich zu dieser Anschauung nur durch die Lehren
Haeckels als Basis für die selbständige Denkarbeit gelangen konnte.
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268
JULIUS SCHAXEL, JENA: ERNST HAECKEL UND
SEINE STUDENTEN
o o o
Während der zwei letzten Jahre der öffentlichen Tätigkeit Ernst
Haeckels als Professor der Zoologie in Jena hatte ich das Glück,
sein persönlicher Schüler zu sein und verehre in ihm heute den väter-
lichen Freund. Von dem Vielen, was ich Ernst Haeckel verdanke,
soll hier nur eines genannt werden : der immer wieder erneute Eindruck
seiner machtvollen Persönlichkeit.
Haeckel ist der vollkommene und wünschenswerte Gegensatz zu
den Hochschullehrern, die ihre Aufgabe darin erblicken, eine gewisse
Summe erprobten Wissensstoffes ihren Zuhörern vorzutragen und
mit der Erledigung des Semesterpensums ihre Pflicht als „Lehrbeamte"
erfüllt zu haben glauben. Studenten wie jener, der den Assistenten
bei der Erläuterung der Präparate fragt, ob man das denn auch wirk-
lich im Examen wissen müsse, kommen bei Haeckel nicht auf ihre
Rechnung. Er erzählt nicht, was der angehende geistige Proletarier
besser und billiger aus Kompendien und Repetitorien erfährt. Haeckel
lehrt seine Überzeugung: das mühsam Errungene eines über die
Maßen arbeitsreichen Lebens.
Wer Haeckel nur nach seinen Schriften allgemeinen Inhalts be-
urteilt und nur auf das rein Sachliche achtet, erhält kaum ein treffendes
Bild von seinem Wesen. Die große Kühnheit, mit der er die Probleme
angreift und meist in einem Zuge alle Schwierigkeiten zu überwinden
sucht, findet nicht leicht das rechte Verständnis. Die Freude an der
Klarheit des Schemas wird für Dogmatismus gehalten und der wieder-
holte und nachdrückliche Hinweis auf das für wahr Gehaltene fana-
tisch genannt.
Näher rückt Haeckel schon dem, der sich mit seinen fachwissen-
schaftlichen Werken eingehend befaßt. Die liebevolle Beachtung
der einzelnen Erscheinungen fällt auf und zwingt bei dem ungeheuren
Umfang der geleisteten Arbeit zu großer Bewunderung. Hier hat
nicht nur Fleiß und Ausdauer gewirkt; auch Liebe und Güte führen
den Stift, der ungezählten organischen Formen nachzeichnend folgt.
Daß Haeckel nicht nur der einzelnen Sache bei der forschenden
Untersuchung hingebende Anteilnahme widmet unter dem bestän-
269
P^g^E]gE]gggggggggggggE]E]E3B]E]E]E]ElE]EJE]E]E3E]E]EIE]E]ElE]EJE]EIE]BlB]E]E]E]E;EjE]
digen Hinweis auf die großen Zusammenhänge, sondern auch als
Lehrer allem und jedem dient, erfährt der Schüler, der sich die Mühe
nimmt, mehr als bloße Worte zu hören.
Wo sich keine engeren, persönlichen Beziehungen anbahnen, wirkt
das Beispiel des ganz von seiner Sache erfüllten Mannes vorbildlich.
Mehr fast, wie er lehrt, als was er lehrt, bedingt den tiefen Eindruck
auf alle, die ihm empfänglich entgegenkommen. Dabei sind es durch-
aus nicht rednerische Künste oder blendende Demonstrationen, die
den Schüler fesseln. Es darf vielmehr gesagt werden, daß Haeckel
es nie zu einer besonders durchgebildeten Technik des Vortrags ge-
bracht hat und daß die seinem bescheidenen Institute zur Verfügung
stehenden Lehrmittel modernen Ansprüchen kaum genügen würden.
Einfache meist selbst verfertigte Präparate und selbst gezeichnete
oder nach eigenen Entwürfen hergestellte kleine Wandtafeln werden
durch rasch hingeworfene Kreideskizzen erläutert und in schlichter
Sprechweise die den Stoff beherrschenden Ideen vorgetragen. Was
auch immer der Gegenstand des Vortrags oder der Demonstration
sein mag, Haeckel spricht im Geiste seiner aus der genetischen Be-
trachtung der Lebewesen stammenden Philosophie des Organischen,
die er auf alle Erscheinungen der Natur und unseres Lebens anwendet.
Es ist zu merken: hier gibt einer sein Heiligstes, gibt sich selbst.
Und das soll der Universitätsdozent. Er muß mehr sein und bleiben
als ein Einpauker, der gerade so viel hinreichend lehrt, als man braucht,
um Prüfungen zu bestehen.
Besondere Sorgfalt wendet Haeckel den Schülern zu, die mit der
ausgesprochenen Absicht zu ihm kommen, sich seiner Wissenschaft
zu widmen. Die liebevolle Anleitung und die Fürsorge sogar in bezug
auf die Dinge des täglichen Lebens gestalten das Verhältnis zu einem
herzlichen. Bei der Anleitung im Laboratorium wie im Gespräch auf
Spaziergängen ist er immer derselbe ruhige und heitere Beantworter
aller Fragen. Bei großer Bestimmtheit im eigentlichen Vortrag und
im geschriebenen Wort oder gar in der öffentlichen Polemik, zeigt
er sich in der privaten Diskussion von einer überraschenden Beschei-
denheit, von einer Zugänglichkeit für alle Einwendungen, die niemand
erwartet, der ihn nur als Redner und Schriftsteller kennt. Er, der
bereits über 50 Jahre wissenschaftliche Arbeit hinter sich hat, scheut
sich sogar nicht, die wenig ausgereiften Überlegungen des zwanzig-
E]ggSgg3SggggSg]gggggggggggggE]E]G]E|ElE]E]E1E]E]E]E|E]E]E]E]E]E]B]B]E]E]E]E]E]
270
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jährigen Anfängers eine für ihn wertvolle Kritik zu nennen. Nichts
liegt dem kühnen Theoretiker ferner, als die tastenden Versuche des
Jünglings in von ihm vorbestimmte Bahnen zu drängen. Haeckel
hat nie einen Schüler, der bei ihm seine erste Arbeit machte, an seiner
Stelle in den Kampf der Meinungen geschickt, was viele Meister für
kein Unrecht zu halten pflegen. Er öffnet nur begeisternd und be-
geistert die Welt der ungelösten Fragen in ihrer bunten Mannigfaltig-
keit und deutet zurückhaltend die Wege an, die er selbst für die gang-
barsten hält, um in das Unbekannte einzudringen. Er erzieht zur
Selbständigkeit, indem er von dem Schüler Initiative verlangt und
kein Urteil über das Ergebnis vorwegnimmt.
Von dieser Art des Anlernens mag es herrühren, daß aus Haeckels
Schule Forscher von recht verschiedenartigem Gepräge ihrer Gesamt-
anschauungen hervorgegangen sind. Mit Carl Gegenbaur ist er der
Lehrer der neueren vergleichenden Morphologen; aber auch die Be-
gründer und Führer der Entwicklungsphysiologie sind seine Schüler.
Sogar der Neovitalist H. Driesch hat bei ihm promoviert. Haeckel
meint zuweilen, daß manche die großen Hoffnungen, die er einst auf
sie setzte, nicht erfüllt haben. Wer aber so wie er aus dem Überfluß
des weitfassenden Geistes mit vollen Händen gibt, sät mehr als er
selbst ahnt. Wird nun gar der aufgehenden Saat freie Entwicklung
gelassen, so wird vielerlei zur Blüte gelangen. Der Säemann mag
einiges für Unkraut halten. Für das Gedeihen der Wissenschaft ist
das vielgestaltige Bemühen um die Probleme von keinem Schaden
und dem tätigen Arbeiter würde nichts trostloser erscheinen, als ein
für alle sich Mühenden gleich geltender Plan des Weges und Zieles —
das wäre trauriger Frohn in einer jede Eigenart vernichtenden In-
dustrie und keine freie Wissenschaft mehr.
271
gggggggggggggggggg^E]gggE]E]E]E]E]E]B]ElE]E]E]E]E]E]E]E]B]E]E]G]E]E]B]E]ElBlE]E]G]
MAX BRUNNER, WIEN: ÜBER DIE BEDEUTUNG
DER HAECKELSCHEN WELTANSCHAUUNG FÜR DAS
POPULÄR-PHILOSOPHISCHE DENKEN
o o o
Nicht nur die Monisten, die sich Haeckels Weltanschauung ganz
zu eigen gemacht haben, sondern auch jene Fortschrittsfreunde,
die von seinen Ansichten in entscheidenden Punkten abweichen, ver-
ehren in dem Begründer des deutschen Monistenbundes einen geistigen
Führer, der auf ihr Denken bestimmend, bereichernd und befruchtend
einwirkt. Dies bezeuge eine Skizze des Werdegangs meiner Welt-
anschauung, zu welcher mich ein tiefempfundenes Dankgefühl gegen-
über Haeckel und der lebhafte Wunsch leitet, zur Klärung praktisch-
prinzipieller Fragen der monistischen Bewegung einen, wenn auch
noch so geringen Beitrag zu leisten.
Wenn ich in meiner Erinnerung nach dem ersten Auftreten Haeckel-
scher Einflüsse auf mein Denken suche, so muß ich bis in die ersten
Jahre meines medizinischen Studiums zurückgehen. Von meinem
für alles Schöne und Große begeisterten Vater zur Naturerkenntnis
angeeifert, war mir schon im Gymnasium, unbeschadet der geist-
tötenden Mittelschulpädagogik, eine Ahnung von der Größe der
Darwinschen Gedankenwelt aufgegangen, und als mir nun von meinen
Kollegen Haeckel als der Darwins Genius ebenbürtige Weiterbildner
der Deszendenztheorie gerühmt wurde, da säumte ich nicht, mir aus
der „natürlichen Schöpfungsgeschichte" Belehrung über den
geistesrevolutionierenden Entwicklungsgedanken zu holen. Die Wir-
kung dieses Buches auf mich war eine gewaltige, war so überzeugend,
daß ich selbst dem Schlußkapitel der mir vorgelegenen älteren Auf-
lage, welches die Urzeugung als eine schon fast empirisch bewiesene
Tatsache hinstellte, keinerlei kritische Bedenken entgegenbrachte.
Die in heißer Wissensbegier sich daran schließende Lektüre der
„Welträtsel" wirkte womöglich auf mich noch überwältigender.
Jetzt glaubte ich im Prinzip nicht nur die schwierigen deszendenz-
theoretischen Probleme, sondern auch andere dunkelste Welträtsel ge-
löst. Als ich nun einige Jahre später, die, von anstrengendem Prüfungs-
studium und der Sorge um eine Praxisgründung erfüllt, der theoreti-
schen Weiterbildung meiner Weltanschauung nicht günstig waren,
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272
gggg§]E]gggg^G]ggggG]ggE]gggE]E]B]E]G]G]E]E]E]E]E]E]E]B]BJE]E]ElE]G]E]E]E]E|G]E]BlE]g
neuerdings zu meinem Lieblingsbuch griff, da war der Eindruck der
„Werträtsel" zu meiner eigenen Überraschung merklich abgeschwächt.
Ich kann nicht entscheiden, ob das etwa bedingt war durch eine
Reifung im Urteilsvermögen des selbständig gewordenen Arztes,
hinter dem nicht mehr der klinische Lehrer als bequeme Denkstütze
stand, oder ob sich vielleicht in die Freude des rein positivistischen
Wahrheitsstrebens des Studenten skeptische Wertbeurteilungen über
Haeckels Weltbild, namentlich wegen dessen Begründung auf die
,, indirekte Auslese", eingemischt hatten. Jedenfalls, was immer für
Gründe gewirkt haben mögen, war ich nachdenklicher geworden.
Es ist nun bezeichnend für die Suggestivgewalt von Haeckels Geist,
daß mir gegen die Bedenken, die mir bei der Lektüre seiner Werke
aufgetaucht waren, in Haeckel selbst ein Helfer erstand, indem er
mir durch das umfassende Literaturverzeichnis der „Welträtsel"
neue und reiche Anregung schuf. So konnte ich in Bölsches Büchern
meinen biologischen Gedankenkreis erweitern, Machs und Ostwalds
Schriften brachten mir viel Neues und Überraschendes in der Physik
und Erkenntnistheorie, und viele, von Haeckel empfohlene Werke
der Fachphilosophie gaben mir Gelegenheit, die feinere philosophische
Dialektik kennen zu lernen. Allerdings war nun die unmittelbare
Folge dieser Studien kein direkter Fortschritt, sondern mehr das
chaotische Rohmaterial dazu, das mich im Anfang eher verwirrte,
da die von Haeckel zitierten Denker sowohl untereinander als von
Haeckel zum Teil recht weit divergierten.
Da war es nun wiederum ein Haeckelscher Grundsatz, der mir aus
der Welträtsellektüre fest eingeprägt war, der Grundsatz, von der
sicheren Basis der Naturwissenschaften aus das Weltbild zu kon-
struieren, der mir neue und weite Wege wies. Meine Vorliebe zur
Botanik führte mich bei dem nun in Angriff genommenen natur-
wissenschaftlichen Studium zu dem von Haeckel empfohlenen „Pflan-
zenleben" Kerners, und auf der Suche nach neuesten Werken stieß
ich auf Frances Schriften, die mich mit dem Neolamarckismus
bekannt machten. Diese Naturauffassung übte auf mich bald eine
ähnlich starke Anziehungskraft, wie vor Jahren die Haeckelsche, ohne
daß ich damit Haeckels Grundsätze aus den Augen verlor. Denn
nicht nur bewahrte ich prinzipiell meinen empirischen Ausgangs-
punkt für die Weltanschauung, sondern auch inhaltlich leitete mich
gggggggggggs]gE]ggggggggggggggggE]E]E]E]E]gE]E]E]E3gE]G]E]E]E]G]E]E]E3E]E3
18 Haeckel-Festschrift. Bd. II
273
Haeckels biogenetisch - monistische Denkmethodik. Be-
deutete mir doch die neolamarckistische Lebensbeseelung nur einen
weiteren Schritt in der Richtung der von Haeckel gegen allen Ein-
spruch materialistischer Naturforscher in die Philosophie wieder
eingeführten Atombeseelung. Zweifel an diesem letztgewonnenen
Standpunkt erweckte der bedeutende Biologe Kassowitz, auf den
mich auch wiederum Haeckel hinwies, da er ihn wiederholt als Ge-
währsmann für chemisch-physiologische Fragen rühmlich zitiert. In
ebenso amüsanter, als geistreicher Gedankenführung legt Kassowitz
die Schwächen sowohl der Selektionstheorie, als des entgegenge-
setzten neolamarckistischen Standpunktes bloß. Aber seine eigene
hypermechanistische Denkrichtung gab mir auch keine Befriedigung.
Da griff ich denn wiederum zu den mir so unschätzbar gewordenen
,, Welträtseln", die meinem Denken immer neue Antriebe gegeben
hatten, und prüfte, in der festen Überzeugung, daß meine erste Be-
geisterung kein Strohfeuer gewesen sein konnte, das Buch daraufhin,
was denn immer wieder den tiefen und dauernden Eindruck gemacht
hatte, wiewohl im einzelnen so mancherlei abgebröckelt war. Und so
stieß ich bei nachdenklichem Suchen auf die zwei Hauptpfeiler des
Haeckelschen Gedankengebäudes, auf das Postulat, die Lebens-
gestaltung auf die wissenschaftliche Denkweise aufzubauen,
und auf deren wichtigstes inhaltliches Ergebnis, den Entwicklungs-
gedanken als die Leitidee der künftigen Kulturbeherrschung.
Hiermit entschied ich mich endlich, alle weiteren theoretischen Welt-
anschauungsfragen, die über die praktische, dem Leben unmittelbar
und allgemein dienende Denkweise hinausgingen, an zweite Stelle
rücken zu lassen und freute mich, daß Ostwalds Weiterführung der
monistischen Bewegung in diesem Sinne der Haeckelschen Grundidee
erfolgte, die Ostwald durch seine Energetik so sinnreich und wertvoll
ausgebaut hatte.
In allen Phasen meiner Weltanschauungsentwicklung hatte ich
mich also — das sollte die vorangegangene Darlegung zeigen — an
Haeckels Populärphilosophie orientiert, hatte aber dabei auch nicht
versäumt, in häufigen Diskussionen die Entwicklung der Weltan-
schauung meiner Gesinnungsgenossen zu verfolgen. Dabei machte
ich die Erfahrung, daß ein nicht geringer Teil von Haeckels
Anhängerschaft keine so mannigfachen Wandlungen durchgemacht
274
E]B]gggggE]gggggggggggg!3EiggggE]5IE|S]B]E]BJEJEJB]B]E]E]E]EJE]E]E]E]E]EJE]SJEiE;Gl
hatte, sondern vielfach beim ursprünglichen Standpunkt ver-
blieben war, den im wesentlichen die Lektüre der „Welt rätsei"
geschaffen hatte. So bedeutet denn eine Betrachtung von Haeckels
Populärphilosophie eine Auseinandersetzung mit den ,, Welträtseln",
an die, dem vorliegenden Zwecke entsprechend, nicht die Forderung
der Gründlichkeit gestellt werde, wie sie unter anderen Haeckel-
kritiken der lehrreichen und ausgezeichneten Sammelkritik von
Dr. Heinrich Schmidts ,,der Kampf um die Welträtsel" nachzurühmen
ist. Nur durch flüchtige Streiflichter möchte ich im Sinne der posi-
tivistischen Tendenz des Haeckel-Ostwaldschen Monismus die un-
schätzbaren Vorteile und die möglichen Schäden, die aus
der einzigdastehenden weltweiten Verbreitung der Welträtsellektüre
erwachsen, ein wenig aufhellen. Über die hervorragende Eignung
dieses Werkes zum Volksbuch sind alle Haeckelfreunde einig. Schon
bei der ersten Lektüre entzückt der Grundton der Darstellung, der
auf die so wirksamen und beliebten Mittel eines verfeinerten Ästhe-
tizismus verzichtet, dabei aber nicht in das entgegengesetzte Extrem
einer pedantisch trockenen Katechisierung des Stoffes verfällt. Mit
der klaren, nüchternen und eindringlichen Sprache der Wissenschaft
paart sich die hinreißende Wärme des unerschrockenen Kultur-
kämpfers Haeckel und bietet dem Adepten der Naturphilosophie in
gemeinverständlicher Sprache eine schier überreiche Menge positiven
Wissensstoffes als Gegengewicht gegen die scharfe Befehdung des
Kirchentums und seiner reaktionären Helfer. Nicht am wenigsten
aber bannt den Leser in Haeckels Gedankenkreise die weitestgehende
methodische Durchführung der Entwicklungslehre, in ihren
theoretischen Verästelungen sowohl, als insbesondere in ihrem un-
ausschöpfbaren Anwendungsreichtum auf die Lebenspraxis.
Soweit herrscht Gemeinsamkeit in dem hohen Lob dieses Buches.
Differenzen ergeben sich erst in der Sonderbetrachtung der nach
Haeckels eigenem Geständnis etwas ungleich geratenen Partien.
Nicht vieler Worte bedarf es zunächst über die gehässigen Einwände
des zu höchster Wut gereizten Kirchentums gegen Haeckels theo-
logische Auslassungen. Was hätte denn der klerikale Anwurf —
seine Stichhaltigkeit selbst zugegeben — Haeckel habe aus zweifel-
haften Quellen geschöpft, für uns weiter zu bedeuten? Hätte Haeckel
selbst die doppelte Sündenlast auf die Hierarchie gehäuft, als ihr mit
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r8* 275
unzweifelhaftem Recht aufgebürdet wird, so wollte das nicht mehr
besagen, als der Unendlichkeit eine Million hinzuzufügen. Im übrigen,
welche kulturgeschichtliche Ironie, die Kirche, den Hort aller be-
wußten Täuschung und kulturfeindlichen Lüge, sich zum gestrengen
Richter über den ehrlichen, wenngleich dem Irrtum unterworfenen
Wahrheitssucher Haeckel setzen zu sehen! Schwerer in das Gewicht
fallen die Mängel, die von fachkundiger Seite den physikalischen
Partien des Buches nachgesagt werden. Dabei erscheinen diese
erster, unkritischer Lektüre sehr klar, und wegen ihrer Schlicht-
heit besonders überzeugend, und erst genauerer Überlegung erschließen
sich Widersprüche. Ich kann mich noch gut erinnern, welche Genug-
tuung ich in der Erfüllung von Haeckels Postulat des Selbstdenkens
empfand, als mir endlich die Schwächen von Haeckels Theorie über
die Konstitution der Materie vor Augen traten, und wie ich daraufhin
allmählich zu der mich weit mehr befriedigenden Theorie der Ener-
getik abschwenkte. WTer sich nun schon in Haeckels physikalischen
Hypothesen im Besitze evidenter Vorstellungen glaubt, der ist natür-
lich für die anderen, noch bedeutungsvolleren Grundzüge des Haeckel-
schen Weltbildes leichter zu gewinnen. Wirkt doch die auf Seiten des
Gebers wie des Empfängers unbewußt und ungewollt erfolgende
suggestive Autorität eines ehrlichen und erfolggekrönten
Denkers vielleicht ebenso mächtig, als der äußeren Machtzwecken
dienende Dogmenzwang, der die unwahren, unsittlichen, kultur-
hemmenden Thesen der Offenbarungsreligionen zu decken hat und
darum von dem Aufklärungsfähigen bald durchschaut und leicht
abgeschüttelt werden kann. Wie hat mir doch vor Jahren, um nun
auf die dominierenden biologischen Ideen der ,, Welträtsel" zu kom-
men, Haeckels Satz: Darwin ist der Newton der lebenden Welt, als
die sicherste, triumpherfüllte Wahrheit eingeleuchtet. Und wie
mancher, der nicht zur Vertiefung seiner Weltanschauung Haeckels
Literaturratschlägen gefolgt ist, mag bei diesem Kernsatz des bio-
genetischen Denkens Haeckels verblieben sein. Zwar erörtert Haeckel
in den seinen Welträtsellesern zugeeigneten „Lebenswundern", die
neuestens aufgetauchten biogenetischen Richtungen mannigfacher
Art. Aber abgesehen davon, daß wenigstens in meinem Bekannten-
kreise „die Lebenswunder" als das schwierigere, wenngleich ebenso
wertvolle Buch leider weit weniger gelesen werden, als die „Welt-
276
rätsei", hat Haeckel auch in diesem späteren Werke seine mecha-
nistische Auffassung so stark accentuiert, daß befangene Leser wenig
Initiative zum Nachdenken über andere Deutungen der Evolutions-
theorie empfangen haben dürften.
Diese Lesergruppe folgt Haeckel nun auch in der Stellungnahme
zu den „Schulphilosophien", womit wohl auf die akademischen Ver-
treter der philosophischen Fächer in engerem Sinne gezielt wird. Bei
diesem Kardinalpunkt des Themas: Wirkung der Haeckelschen
Populärphilosophie angelangt, möchte ich nicht zurückhalten mit
meiner Meinung, daß Haeckel wohl schärfer als berechtigt und nötig
„Metaphysik", „Mystik" und „Dualismus" der „Schulphilosophie"
angreift. Hierin wird er aber gar sehr überboten von manchen,
„Haeckel vergröbernden und dogmatisierenden Anhängern", um
mich der Worte eines Haeckel sehr nahestehenden, ihn hochschätzen-
den Gelehrten zu bedienen. Finden sich doch bei genauerem Zusehen
in den Schriften Haeckels sachlichen Gegneransichten gegenüber sehr
versöhnliche, wie Kompromisse anmutende Äußerungen. So macht
er der Metaphysik die Konzession einer mit der Forschung zunehmen-
den Rätselhaftigkeit der Weltsubstanz, und ergänzt dieses negative
Zugeständnis positiv durch spekulative Annahmen, wie Atom-,
Zell- und Gewebsseelen. Das sind nun Hypothesen, deren meta-
physische Natur von der charakterisierten Art der Anhänger freilich
oft ebenso verkannt wird, als die Transzendenz von Haeckels einander
mehrfach widersprechenden Aufstellungen über das Verhältnis zwi-
schen Leib und Seele. Erst tieferem, vergleichendem Eindringen in
Haeckels Schriften eben eröffnet sich Haeckels Aufnahmewilligkeit
gegenüber anderen Denkrichtungen. Übertreibungen von An-
hängern, nicht Haeckel selbst, sind darum die Hauptkosten anzu-
kreiden für den üblen Ruf der Dogmatisierungstendenz, der oftmals
der monistischen Bewegung von gegnerischer Seite vorgehalten wird,
und sie zu schädigen geeignet ist. In Rechnung gesetzt werden muß
aber auch als objektiver Faktor das heutige, Wissenschaft und Philo-
sophie denkenergetisch schädigende Begriffschaos, dem Ostwalds
organisatorisches Genie durch Neuordnung, Vermehrung und Präzi-
sierung der Begriffe zu steuern sucht. Auch für diesen Gesichtspunkt
bieten „die Welträtsel" reiches Studienmaterial. Mechanismus und
Vitalismus, Monismus und Dualismus, sowie Schulphilosophie, durch-
277
E]gggggG]G]S]ggG]g5]gggggggggs]ggE]ggG]G]E]gB]S]G]S]G]E]S]G]E]E]EiG]G]EjE]E]S]G]E]
weg von Haeckel oft gebrauchte Ausdrücke, sind nachdenkenswerte
Belege für den Ubelstand schwankenden, vieldeutigen Wortgebrauchs,
dessen Analyse mir eines kurzen Verweilens wert erscheint. „Schul-
philosophie" als Tadels wort für Kathedergelehrte hat sicher auch
heute noch viel Berechtigung und, allgemein kulturenergetisch be-
trachtet, steht darum hoch über den rein akademischen Größen als
wahrer Lebensphilosoph Haeckel, der die großen Wahrheiten der
Wissenschaft dem Volkswohl dienstbar zu machen und persönlich
als unerschrockener Kämpe das Kirchentum und seine mächtigen
Verbündeten zu bekriegen bis in sein hohes Alter nicht ermüdet.
Dagegen ,, Schulphilosophie" als Spott wort für wirklichkeits-
fremde, dogmatisierende und theologisierende Spekulation und a
prioristische Begriffsspintisierung über die Naturwissenschaft hinweg,
wie sie die Schellingsche Richtung mit der größten Anmaßung be-
trieb, ist kaum mehr am Platze gegenüber der Gesamtheit der heu-
tigen Fachphilosophen. Denn deren überwiegende Mehrzahl sucht
bei ihrer abstrakten Denkarbeit jeden Widerspruch mit den Ergeb-
nissen der Forschung zu vermeiden. Es ließe sich sogar die Zurück-
gabe des Vorwurfs dahin nicht ganz abweisen, daß philosophierende
Naturforscher oft den Wert dialektischer Denkmethodik und erkennt-
nistheoretischer Schulung zu verkennen scheinen. Das zeigt sich eben
auch im ungeschärften Gebrauch der nach näheren Bestimmungen
verlangenden Begriffspaare Mechanismus und Vitalismus,
Monismus und Dualismus u. a., deren schwankender Gebrauch
bei Welträtsellesern, die zur Einseitigkeit in der Weltanschauung
neigen, leicht Verwirrung stiftet. So nennt der von Haeckel hoch-
geschätzte Naturphilosoph Kassowitz sein hypermechanistisches, also
für das Durchschnittsdenken sehr monistisches System einen (funktio-
nalen) Dualismus, was wirklich einen meiner Bekannten, der zu
flüchtiger Denkweise in der Philosophie veranlagt ist, von der Lektüre
dieses „Dualismus" abhielt. Hier zeigt sich so recht Haeckels und
Ostwalds Verdienst der Definition des Monismus als wissenschaft-
licher Methode, die im Gegensatz zum Dogmenzwang der Offen-
barungsreligionen inhaltlich sehr verschiedene Weltbilder ergibt und
zuläßt. Darum sollte man meines Erachtens schärfer zwischen wissen-
schaftlichem und kirchlichem Dualismus unterscheiden und aus sach-
lichen, ethischen und Opportunitätsgründen die kirchenfreien Dua-
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278
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listen nicht anfeinden, ja im Gegenteil ihnen als tüchtigen Dialek-
tikern, wie Haeckel selbst sie anerkennend bezeichnet, für die An-
regung durch ihren oft scharfsinnigen Widerspruch Dank wissen. Das
gilt noch mehr gegenüber den lamarckistischen und vitalistischen
Biologen, unter denen hervoragende und verdienstvolle Naturforscher
genau so wie die mechanistischen Denker sich als fortschrittstreue
und aufklärende Volkslehrer hervortun. Übrigens ist Vitalismus
genau so ein Sammelname für verschiedene naturphilosophische
Richtungen als Mechanismus, und die Geschichte der Philosophie
lehrt, daß von beiden Gruppen alle möglichen Schattierungen zwi-
schen Dualismus und Monismus existieren.
Daß die hier auseinandergesetzten Komplikationen die dringend
nötige Klärung von Weltanschauungsfragen und das Zusammen-
rücken in ihrer Gesinnung verwandter Fortschrittspotenzen ver-
zögern können, das ist eine unerwünschte Möglichkeit, welche aus
der Dogmatisierung der Haeckelschen Populärphilosophie erwachsen
kann. Darum sei Welträtsellesern, die trotz alledem Haeckels An-
sichten zur Einseitigkeit ausgestalten wollen, endlich als stärkster
Beweis Haeckels vorbildliches Verhalten im heutigen Wettstreit der
monistischen Einzelrichtungen entgegengestellt. Aus dem praktischen
Verhalten schließt man ja nach monistischen Grundsätzen auf die
bei allem Schwanken überwiegenden Vorstellungen im Geiste eines
Menschen. Welchen besseren Beweis für Haeckels Ablehnung
jeder Dogmatisierungstendenz kann es aber geben, als daß
Haeckel sich vor einigen Jahren in einem für die monistische Bewe-
gung kritischen Moment, als bedenkliche Sonderbestrebungen auf-
traten, gegen die Usurpation der Vorherrschaft einer monistischen
Einzelrichtung, die noch dazu gerade die seinige war, mit größter
Entschiedenheit aussprach ! Gewiß hätte Haeckel auch die heftige Ab-
weisung, die ich vor einigen Jahren in Wien bei einer objektiven Kritik
seiner Weltanschauung und erst vor kurzer Zeit gegenüber einer kräf-
tigen, doch sachlichen Charakterisierung der Laienurteile über Wissen-
schaft und Philosophie erfuhr, mißbilligt. Dessen versichert mich das
wohlwollende Urteil, das er über meine in wichtigen Punkten ihm
widersprechenden Schriften fällte. So freundlich urteüte freilich nicht
bloß der Freidenker und dogmenfeindliche Philosoph, sondern auch
der grundgütige Mensch Haeckel, der einen ehrlich Arbeitenden
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279
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nicht kränken, ja im Gegenteil eher ermutigen will. So große Men-
schengüte bei so bedeutenden Geistesgaben erweckt in dem Empfänger
wieder innigere Sympathie und neue Freude an dem Erblühen von
Haeckels Schöpfung. Nicht nur wächst von Tag zu Tag die ansehn-
liche Schar der von Haeckel gewonnenen Fortschrittskämpfer, son-
dern sogar bis in die entlegensten Gebiete des Denkens und Kultur-
schaffens erstreckt sich der Einfluß von Haeckels Gedankenwelt.
Zwei Beispiele mögen in die Weite dieser Kulturperspektiven
hinweisen. Die eine Betrachtung, naturphilosophischer Art, führt in
das Grenzgebiet zwischen lebender und toter Natur, das Haeckel in
echt monistischer Problemstellung, mit seiner weit ausschauenden
Intuition für die tieferen zur Einheit konvergierenden Zusammen-
hänge des Seins durchforschte, und dessen Studium ihm die Frage
aufdrängte, welche Stellung er der Kristallisation in seinem System
anzuweisen habe. Die Lehmannsche Entdeckung flüssiger,
scheinbar lebender Kristalle erscheint mir nun als eine Be-
stätigung von Haeckels naturphilosophischer Ahnung, daß der Kristall
ein Übergangswesen zwischen organischer und anorganischer Natur
sei. Diese kühne Hypothese — man möchte sie fast eine Prophezeiung
nennen — erinnert mich in der Größe ihrer Konzeption an Leverriers
rechnerische Voraussage des Planeten Neptun, der später von dem
Astronomen Gall mit dem Fernrohr aufgefunden wurde. Weitab von
dieser unteren Stufe kosmogonischer Naturbetrachtung über die
vielen philosophischen Probleme der Lebensentwicklung hin befruchtet
Haeckels biologisches Denken die bisher dem kirchlichen Dogmatismus
fast gänzlich ausgelieferte, für eine gedeihliche Menschheitszukunft
so reformbedürftige Pädagogik. Das lehrte mich u. a. im Verfolge
der praktischen Ausgestaltung der monistischen Idee ein Vortrag
über „das biogenetische Grundgesetz in der Schule", auf
das der Redner, ein ausgesprochen kirchenfeindlicher Lehrer, die
Beibehaltung des Religionsunterrichtes in der Volksschule ohne
wesentliche Änderung begründen wollte. Diese Beweisführung zeigt
deutlich, daß eine nicht in ihrem ganzen Umfang erfaßte und ange-
wendete Idee Haeckels auch zu zweifelhaften Konsequenzen führen
kann. Wäre die Zusammensetzung des biogenetischen Grundgesetzes
Haeckels aus den beiden Komponenten der Cenogese (Neu- oder
Störungsentwicklung) und Palingenese (Wiederholungsentwicklung)
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280
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in Rechnung gesetzt worden, dann hätte die Rücksichtnahme auf die
so mächtigen cenogenetischen Impulse in unserer Kulturentwicklung
zu anderer Anwendung für die pädagogische Praxis geführt. Immer-
hin beweist die gegenwärtige, im Sinne der Entwicklungsidee
veränderte Gedankenorientierung selbst in der mangelhaften An-
eignung und Anwendung Haeckelscher Leitsätze deren machtvolles
Eindringen in das allgemeine Menschheitsbewußtsein. Wenn
Haeckel so mit freudiger Genugtuung auf allen Kulturgebieten die
reiche Aussaat seiner Gedanken verheißungsvoll emporsprießen und
unter Leitung des ihm kongenialen Führers Ostwald die monistische
Bewegung ebenso in die Tiefe aller wissenschaftlichen Kulturorgani-
sation, wie in die Breite der denkenden und strebenden Volksmassen
eindringen sieht, so mag ihm dieser großartige Erfolg seines idealen
Strebens als die schönste Festgabe erscheinen, die ihm der Monisten-
bund darbringen kann. Möge der Gefeierte die sichere Erwartung,
daß er auch weiterhin nur Freude am Gedeihen seiner großen Schöp-
fung erlebe, als den innigsten Geburtstagswunsch seiner dankerfüllten
Gemeinde entgegennehmen !
281
MAGNUS HIRSCHFELD, BERLIN: ERNST HAECKEL
UND DIE SEXUALWISSENSCHAFT
o o o
Als ich mein Buch „Naturgesetze der Liebe" vollendet hatte,
, schien es mir naheliegend, an Ernst Haeckel die Bitte zu richten,
die Widmung dieser Arbeit anzunehmen, nicht weil das von mir
behandelte Thema in unmittelbaren Beziehungen zu der umfassenden
Tätigkeit des großen Forschers stand, sondern weil mir bei der Be-
arbeitung dieses Spezialgebietes der grundlegende und entscheidende
Einfluß wieder einmal besonders deutlich geworden war, den Haeckel
auf unser naturwissenschaftliches Denken überhaupt ausgeübt hat. —
Haeckel antwortete mir: „Jena, 26. Februar 1912. Hochgeehrter
Herr Doktor!
Die freundlichst übersandten ersten Druckbogen Ihres neuen
Werkes über die .Naturgesetze der Liebe' habe ich mit großem Inter-
esse gelesen ; ich freue mich, in allen wesentlichen Anschauungen mit
Ihnen übereinzustimmen. Welchen hohen Wert ich auf eine vernunft-
gemäße, wissenschaftliche Behandlung der fundamentalen Sexual-
Probleme lege, die durch Ihre Bemühungen so sehr gefördert worden
ist, können Sie aus den Sätzen über „Erotischen Chemotropismus"
( — als Urquelle der Liebe — ) sehen, welche ich in meiner ,Anthro-
pogenie (Bd. II, Kap. 29, S. 875) der phyletischen Bildungsgeschichte
unserer Geschlechtsorgane eingeflochten habe. Wenn Sie mir die hohe
Ehre erweisen wollen, mir Ihr ausgezeichnetes Werk zu widmen,
so nehme ich diese Anerkennung meiner biologischen Lebensarbeit
mit herzlichem Danke an, in der Hoffnung, damit die weitere Ver-
breitung und Verwertung Ihrer bedeutungsvollen sexuellen Aufklä-
rungsbestrebungen zu fördern. Als Sie mich vor einiger Zeit in Jena
aufsuchen wollten, war ich leider verreist. Ich hoffe, daß mir noch
einmal Gelegenheit gegeben wird, Ihre persönliche Bekanntschaft
zu machen und mit Ihnen die hochwichtigen Probleme der Sexual-
Physiologie und -Psychologie zu erörtern. Hochachtungsvoll Ihr er-
gebener Ernst Haeckel."
Bei dem Besuch, den ich einige Monate darauf dem Weisen in
Jena in seinem ihm so adäquaten Heim in der Bergstraße abstattete —
aus den Fenstern der Villa schweifte unser Blick gemeinsam über
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282
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Schillers und Goethes klassische Spuren — , wurde es mir von neuem
so recht klar, wie tief dieser universelle Geist auch in das Gebiet der
Sexualwissenschaften eingedrungen war. Selbst für die geschlecht-
lichen Übergangsformen, von denen er bereits in der ,,Anthropogenie"
illustriertes Material (Gynäkomasten) veröffentlicht hatte, zeigte er
das vollste Verständnis ; er hatte mir allerlei wertvolle Photographien
von männlichen Negern mit weiblichen Brüsten zurechtgelegt, und
als ich ihn bat, seine tiefgründigen Anschauungen darüber in dem
von mir herausgegebenen „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen"
zu publizieren, löste er wenige Monate darauf sein Versprechen in
glänzendster Weise ein. In dieser Arbeit über ,,Gonochorismus und
Hermaphrodismus" im 3. Hefte des XIII. Jahrganges behandelt
Haeckel das Problem der Geschlechtertrennung und Geschlechter-
mischung von der hohen Warte biogenetischer Erkenntnis, indem er
durch alle Klassen des Tierreiches diese beiden Grunderscheinungen,
in denen auch die Notwendigkeit sexueller Zwischenstufen und Über-
gangsformen begründet ist, in großzügiger Weise verfolgt. Auch hier
erweist sich Haeckels „biogenetischer Grundsatz" als ein untrüglicher
Kompaß.
Es ist nach allem begreiflich, daß Haeckel es mit besonderer
Genugtuung begrüßte, als in den letzten Jahrzehnten auch — um mit
Ostwald1) zu reden — „die Sexualprobleme als eine letzte Stufe der
Verwissenschaftlichung der Verwaltung durch die Priester entzogen
wurden", einleuchtend ist es aber auch, daß andererseits, als im Beginn
des Jahres 1913 in Berlin eine „Ärztliche Gesellschaft für Sexual-
wissenschaft" ins Leben trat, von dem Eröffnungsredner Iwan Bloch
zuerst Haeckels Worte angeführt wurden, die er kurz zuvor an ihn
und den Verfasser dieses Artikels schrieb : „Das Licht der wissenschaft-
lichen Erklärung, das die moderne Entwicklungslehre seit einem halben
Jahrhundert in alle Gebiete des menschlichen Denkens und Forschens
erfolgreich eingeführt hat, dürfte auch erfreuliche Helle verbreiten
über jene ,mystischen Geheimnisse', welche seit Jahrtausenden unter
dem Drucke religiösen Aberglaubens und traditioneller Sitten der
Forschung unnahbar erschienen. Dazu gehört in erster Linie das
ungeheure, ebenso interessante als theoretisch und praktisch wichtige
Gebiet der Sexualität, des organischen Geschlechtslebens. Jeder Ge-
x) Monistisches Jahrhundert vom 8. November 191 3, S. 902.
g^gggggE]ggggE]gggE]ggggggggE]E]GjE]G]5]G]G3gB]B]G3G]E]E]E]S]E3ggE]E3ggG]G3Ei
283
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bildete weiß, welche unermeßliche Rolle im menschlichen Leben die
sexuelle Liebe spielt, wie unser ganzes soziales und Familienleben,
unsere Kunst und Literatur mit diesem gewaltigen Problem verwoben
ist. Aber die wenigsten Gebildeten kennen die anatomischen Grund-
lagen und die physiologischen Prozesse dieses , Liebeslebens', die
wenigsten wissen, daß der , erotische Chemotropismus der Urquell
der Liebe' ist, wie ich schon vor 40 Jahren in meiner ,Anthropogenie'
darzutun versucht habe. Erst die gewaltigen Fortschritte der Sexual-
forschung in den letzten 30 Jahren, die überraschenden Ergebnisse
der physiologischen und morphologischen Untersuchungen über Be-
fruchtung und Bastardzeugung, über den innigen Zusammenhang
unseres ganzen Sinnes- und Seelenlebens mit den geheimnisvollen
Vorgängen der Geschlechtsliebe haben weiteren Kreisen die Augen
geöffnet über die fundamentale Bedeutung der Sexualität. Wir
müssen es daher als einen großen Fortschritt begrüßen, daß in
neuester Zeit eine , Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft'
sich in Berlin konstituiert hat, und daß hervorragende Gründer der-
selben sich bemühen, auch weiteren Kreisen von Gebildeten die Augen
über diese bedeutungsvollen »Geheimnisse* zu öffnen."
So schwebt Haeckels biologisch-logischer Geist belebend
und befruchtend auch über dieser jungen und bedeutungsvollen
Wissenschaft, und nichts wäre wünschenswerter, als daß ihr seine
reiche Erfahrung und Regsamkeit noch recht lange zugute käme.
284
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LEO GILBERT, WIEN
o o o
Wenn man einmal zu der dringenden Arbeit schreiten wird, die
zum Betriebe der Wissenschaften unbedingt nötig ist, zur
Begründung einer ,, Psychologie, Geschichte und Methodik der Er-
kenntnis", wird man erst inne werden, welche Bedeutung Ernst
Haeckel für die geistige Entwicklung der Menschheit hat. Ich er-
innere mich des tiefen und umwälzenden Eindrucks, den auf uns
junge Leute — ich studierte damals in Zürich — die Haeckelsche
Darstellung der menschlichen Keimesgeschichte machte und wie sie
für unsere Weltanschauung grundlegend wurde. Schon vorher war
ich in der trefflichen Mittelschule zu Aarau auf den Darwinismus
gründlich vorbereitet worden. Biologie und Physik, wie alle Wirk-
lichkeitswissenschaften, bilden die Einbruchsstationen in die Philo-
sophie. Daher werden solche Erkenntnisse besonders wertvoll, die
für ein Sturmlaufen gegen veraltete und verrostete Anschauungen
günstige Einfallstellen eröffnen. Es ist nun interessant, wie Ernst
Haeckel, der Biologe, nicht bei seiner Biologie stehen blieb, sondern
nach und nach zum Schöpfer einer wichtigen philosophischen Schule
und einer eigenen Weltanschauung heranwuchs. Ich will gleich hier
bemerken, daß ich diese Weltanschauung nicht bis in die kleinsten
Konsequenzen teile, daß ich aber eben deswegen um so mehr die durch-
schlagende Richtigkeit der Haeckelschen Errungenschaften bewundere,
soweit sie zum sicheren Unterbau für kommende Philosophien dienen.
Vor allem müssen wir dem Professor Chwolson in Petersburg dankbar
sein für seinen interessanten „satirischen" Angriff auf Haeckel. Zu-
vor hatte niemand in Deutschland gewußt, wer Chwolson ist. Jetzt
weiß man's. Er war jener kühne Physiker, der den unsterblichen
Mut hatte, all den physikalischen Aberglauben und die plumpen
beschränkten Auffassungen der heutigen Mittelmäßigkeiten zusammen-
zufassen und zu einen Sturmbock aus Papiermache zu leimen, mit
dem er gegen Haeckels Anschauungen von Energie und Substanz an-
lief. Es ist erfreuend zu berichten, daß es Chwolson gelang, seinen
Namen an den Haeckels heranzudrängen und Wohlgefallen, sowie
Beistimmung bei allen jenen physikalischen Mittelmäßigkeiten zu
erregen, die der Meinung sind, ihr Gehirn hätte aus dem Inhalte
285
3E]E]ggggggggggggggE]gggE]ggE]ggggE]E]E]5]E]E]ElE]E]G]B3ElE]S]EJB)E]E]BjEjS]^]53
ihrer Schulbücher den echten Wahrheitsextrakt geschöpft, sie wüßten
wirklich und einzig, was Substanz und Energie sei. Gerade durch das
Chwolsonsche Buch wurden ernstdenkende Gelehrte darauf aufmerk-
sam gemacht, welch eine Fülle von Sinnlosigkeiten in unseren physi-
kalischen Lehrbüchern steckt, und wie der Biologe Haeckel auch in
den ihm scheinbar fernliegenden physikalischen Fragen sich durch
einen besonderen Scharfblick und durch Folgerichtigkeit des Urteils
auszeichnet. Damit kamen wir auch auf eine Bereicherung unseres
Begriffes: Genie. Wir sehen, daß ein Mann nur dann das Höchste
auf seinem Gebiete leisten kann, wenn seine Intuition, sein instink-
tives Erfassen der Realität auch auf den Nebengebieten vollkommen
sicher geht. Napoleon I. konnte von sich sagen, daß er in einer ein-
geschlossenen Stadt imstande gewesen wäre, sich selbst seine Kanonen
zu gießen. Vielseitigkeit ist nicht ein Akzidens in den Schöpfungen be-
deutender Männer, sondern direkt ihre Voraussetzung. Wenn wir
manchmal geniale Geister scheinbar einseitig finden, so ist damit
nur konstatiert, daß sie auf Nebengebieten nichts Abgeschlossenes
geleistet haben; aber, um auf ihrem eigensten und engsten Gebiet
das Große zu schaffen, mußten sie in den wichtigsten Nebenfragen
von einem sicheren Instinkt geleitet sein.
Haeckel hat im Laufe seiner Arbeiten begriffen, daß auch eine
Stammesgeschichte der Seele notwendig sei. Wenn diese auch vorläufig
nicht zu neuen, durchschlagenden Resultaten geführt hat, sondern
bloß eine Betätigung und Erweiterung der körperlichen Keimes-
geschichte darstellt, so muß sie doch unzweifelhaft als Vorbereitung
angesehen werden zu bedeutenden Entdeckungen über die Psyche,
die einer näheren oder ferneren Zukunft vorbehalten bleiben. Diese
seine Arbeit ist heute noch wenig beachtet, sie wird aber wichtiger
werden als vieles notwendig Vorhergegangenes, sie bereitet die wert-
vollsten Aufschlüsse über Ursprung, Umfang und Zukunft unserer
Psyche vor.
Verfolgt man den Weg, den Haeckel nahm, um den Monismus zu
schaffen und ihm Anhänger zu werben, so sieht man, welche unge-
heure philosophische Begabung hier Hand in Hand mit praktischer,
persönlicher Energie geht. Soweit wir anderen philosophische Theo-
retiker sind, werden wir uns vielleicht mit Haeckels „Welträtseln"
nicht vollkommen solidarisch erklären. Wir sind eben an ein viel
286
gggE]E]gggggggggggggggE]ggggggE]E]E]E|G]E]E]E]3SS]§ISSE]E]E]BjBiEiE]gjE3E]Ej
ängstlicheres Hin und Her, an eine viel feinere Distinktion von Grün-
den und Gegengründen, von Einerseits und Andererseits gewöhnt.
Dafür hat aber auch unsere „höhere" Philosophie den Nachteil, daß
sie zu keinen abschließenden Resultaten führt. Die Sonne ist für uns
„einerseits" weiß und „andererseits" schwarz. Das beste Bild von
dieser unzweifelhaft richtigen und möglichen Philosophie gibt uns
die Wundtsche. Bei diesem hervorragenden Gelehrten finden wir alles
mit vielem Scharfsinn dargelegt, was sich für eine Sache sagen läßt,
und gleich daneben auch alles, was ebenso überzeugend dagegen
spricht. Das ist wahre Philosophie. Möge sie uns erhalten bleiben bis
ans Ende der Welt. Denn nur aus diesem Schaukelzustand erwächst
das großgesäugte Wissen. Aber schließlich brauchen wir auch ein
positives Wissen. Zweifellos ist in einem bestimmten Falle von zwei
Dingen immer nur das eine möglich; in einem gegebenen Augenblick
ist die Sonne entweder nur weiß oder schwarz, oder gemischt, grau.
Kurz, es muß auch eine positivistische Philosophie, eine sichere An-
schauung innerhalb der Grenzen des Wirklichen geben. Der Schöpfer
einer solchen muß robuster sein, fester zugreifen, bestimmte Über-
zeugungen besitzen und vor allem solche im Zuhörer festigen. Die
Philosophie Haeckels in seinen „Lebenswundern" und „Welträtseln"
stellt nun ein solches festes Gebäude, einen gut fundierten Riesenbau
dar. Und zwar den einzigen, der zurzeit möglich ist. Indem er alles zu-
sammenfaßt, was unsere Zeit an Erkenntnis gefördert, indem sein
Blick das Material sichtet, ordnet und aufbaut, schafft er seinen
Zeitgenossen den Wohn- und Schutzraum für ihre geistige Existenz,
steckt er den Bezirk ab für ihr Können und Wollen, bereitet er das
Fundament für die kommende wissenschaftliche, also auch natur-
philosophische Entwicklung. Hätte der an Goethe stilistisch gebildete
Haeckel seine Philosophie nicht in gemeinverständlicher Sprache,
sondern im Fach Jargon der Schul-Philosophen geschrieben, mit allen
„Wenn" und „Aber", „Sozusagen" und „Einerseits — Andererseits",
so hätten die Schulgelehrten ihn höchstwahrscheinlich als einen eben-
so großen Philosophen bezeichnet, wie man ihn als Biologen anerkennen
mußte. Der Monismus, den Haeckel propagiert, ist nicht „eine"
Weltanschauung, sondern die zurzeit einzig mögliche Grundanschau-
ung, der einzig sichere Besitz der Gegenwart, über der sich jede andere
aufbauen muß, die nachkommt. Gleichgültig wie auch diese andere
287
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beschaffen sei. Ich kann mir ganz gut einen Dualismus denken, der
nachkommt, der aber — es klingt scheinbar verwunderlich — nur
auf dem Fundamente des Haeckelschen Monismus möglich ist. Ich
plane sogar einen solchen Dualismus, der aber mit dem heutigen nichts
mehr gemein hat als der Äquator mit den Polen. Es ist bezeichnend
für Haeckels fruchtbares Wirken, daß er vielleicht der einzige ist,
der die Elemente des wahren Monismus, das heißt der wahren Einheit
alles Seins, in der Hand hält, während ein großer Teil seiner Anhänger,
ja seiner besten und gelehrtesten Mitarbeiter über diese Einheitlichkeit
lange nicht so im klaren sind wie er. Was mich lächeln macht, ist
der Gedanke an die Zukunft. In fünfzig oder hundert Jahren wird
der Monismus vielleicht überwunden sein durch einen darauf fundier-
ten höheren Aufbau. Dann werden alle die Konservativen, die Thron-
und Altarstützer, die Behörden, die Religionen und ihre Priester den
Monismus, der heute so von ihnen verfehmt ist, als die einzig wahre
Quelle des Lichtes und des Heils betrachten. Man wird dann von
Staats wegen es jedem Neuerer übelnehmen, daß er dem revolutionä-
ren Dualismus huldigt, daß er nicht Monist ist. Denn schließlich liegt
im heutigen Monismus nichts Weltstürzendes, bloß daß die Unzu-
länglichkeit der anders Denkenden ihn für aufreizend erklärt. Die
Gedankenträgheit findet es immer staatszerstörend, wenn ihr Hirn
sich bemühen soll, neue Lehren in ihre überkommenen Anschauungen
einzuorganisieren. Die von Haeckel geschaffene Weltanschauung,
man kann auch sagen, die von ihm und in ihm konzentrierte, ist un-
zweifelhaft die einzige und gesunde Basis für jedes wissenschaftliche
Wirken, zumal für das erkenntniskritische und rein philosophische
der nächsten Zeit. Sie bildet ein festgefügtes, ungeheures System.
Selbst der Dualismus, ihr Gegner, muß, wie gesagt, auf der monisti-
schen Erkenntnisquader fundieren, weil sonst alles, was der Dualismus
behauptet, unserem gegenwärtigen Wissen widerspricht, aus Phantas-
men und Nebel zusammengebraut erscheint und wertlose Hirnge-
spinste bedeutet. Für die spätere Entwicklung mögen ja diese Hirn-
gespinste wertvoll sein. Wie in der Fabel der Atomisten die heutige
Äquivalenten-Theorie, wie in dem Märchen der Alchemisten die heute
vermutete Veränderlichkeit der Elemente unter dem Einfluß der
Radioaktivität verborgen lag, so liegt in den dualistischen Hirnge-
spinsten, eingehüllt und vermummt, gewissermaßen in der komischen
288
und aktivitätslosen Gestalt einer Puppe, irgendeine Idee, die ein
späteres Jahrhundert in irgendwelcher Form realisieren wird. Heute
aber sind alle dualistischen Redewendungen nur phantastische Schaum-
schlägerei ohne Wirklichkeitsgehalt; sie werden es bleiben, solange sie
nicht ihre Opposition eben auf dem sicheren Fundamente des ange-
fochtenen Monismus selbst aufbauen werden. Wenn Reinke sich be-
müht, darzulegen, daß das Leben nicht aus sich selbst und in sich
selbst entstanden sein könne, sondern erst auf höheren Befehl und
womöglich außerhalb unserer Erde, so ist nichts dagegen einzuwenden,
weder gegen das Zauberkunststück, noch gegen die angezogene höhere
Instanz, noch gegen die Helmholtzsche Reise der Lebenskeime
von Stern zu Stern im Vehikel eines Meteorsteines. Wir können bei
Jules Verne und Wells noch viel merkwürdigere Sachen lesen. Schließ-
lich leugnet ja auch Haeckel nicht, daß das Leben entstanden ist, daß
es irgendwo sich einstellte, daß es von irgendwelchen Kräften zusam-
mengebracht werden mußte. Was aber an der Reinkeschen Erklärung
auffällt, ist einerseits die unnatürliche Umständlichkeit des Apparates,
dessen er bedarf, und die nach unserem heutigen Wissen vollkommen
überflüssig ist. Es ist gerade so, wie wenn wir in einem modernen
Hotel mit elektrischer Beleuchtung einen Lord antreffen würden,
der in Hemdsärmeln im Schweiße seines Angesichts zwei Stunden
lang sich bemüht, Holzklötze aneinanderzureihen, um sich die Nacht-
beleuchtung vor dem Schlafengehen zu verschaffen. Der Dualist
reibt noch immer wie ein wilder Australneger mühsam Holzklötze,
wo der Monist im Nu einen Schalter aufdreht und eine elegante Glas-
birne zum Glühen bringt. Es gibt nun keine Möglichkeit und keine
Berechtigung, dem Australneger das Feuerreiben zu verbieten, wenn
es ihm Spaß macht, oder wenn er es für seine heilige Pflicht und schul-
digsten Ahnenkult ansieht. Er wird auch mit der Zeit recht behalten.
Denn eines Tages wird Dr. Auer von Welsbach ein Eisenklötzchen
erfinden, das man nur zu kratzen braucht und das sofort Funken
gibt. Dann wird der Wilde frohlockend ausrufen: „Seht ihr, seht ihr,
ich habe es ja immer gesagt, nur in der Erzeugung des Feuers durch
Reiben liegt das Heil der Menschheit." Dieser Australneger wird
eben immer übersehen, daß der Weg zum pyrophoren Eisen mehr oder
weniger mit dem Weg zur elektrischen Beleuchtung zusammenfiel,
daß das Reiben der Holzklötze niemals zur Auerschen Erfindung ge-
19 Haeckel-Festschrift. Bd. II 289
führt hätte. Ganz allgemein ausgesprochen : Der Irrtum — in unserem
Falle der Irrtum des Dualismus und der religiösen Anschauungen —
bewahrt uns Ideen und Denkelemente auf, die auf ihrer angewach-
senen Basis unrichtig sind, die aber einst durch den Monismus hin-
durchgehen werden und durch ihn zu einer neuen, ganz anders ge-
arteten Wirklichkeit sich entfalten dürften. Der Irrtum ist konser-
vativ, er konserviert die Ideen wie eingesponnene Puppen; erst die
Wahrheit schenkende Wissenschaft gibt ihnen später die schöne,
aktivitätsfrohe Schmetterlingsgestalt.
Gerade weil weder meinem philosophischen Schulgefühl in den
„Welträtseln" Genüge geleistet ist, noch mir die letzten Konsequenzen
genügen, also gerade weil ich kein verbissener Parteigänger bin, muß
ich es aussprechen, daß die Haeckelsche Naturphilosophie eine Schöp-
fung von aktuellem und höchstem positiven Werte ist, die unerbitt-
lich das Denken der Menschheit in ihre Bahnen zwingen muß, falls
diese fortschreiten soll. Ihre Normen, ihre Methoden sind ein nicht
zu entbehrendes Gut; eine Erkenntnislehre ohne Haeckelschen
Monismus ist ein Unding. Es wird sein Verdienst bleiben, den Den-
kern des kommenden Jahrhunderts die sichere und einzig gangbare
Straße gebaut und befestigt zu haben.
29O
KARL DOPF, HAMBURG
o o o
Als im Vorjahre, anläßlich des 79. Geburtstages Ernst Haeckels
.im „Monistischen Jahrhundert" sein Bild erschien, habe ich es
lange, tief nachdenklich betrachten müssen. Ein prächtiger und
mächtiger Denkerkopf voll Echtheit und Schlichtheit, bedeckt mit
einem breiten Hute. Ein Greisenhaupt mit einem kindermilden Ge-
sichtsausdruck, umspielt von einem sanften Lächeln. Ein ehrwürdiges
Antlitz, aus dem selig froh zwei liebliche Kinderaugen leuchten. Ein
echt monistisches Vorbild, dieser ewig jugendliche Greis.
Ja so sieht er aus, der so gefürchtete und viel gehaßte große Frei-
geist, der Gottesleugner und Revolutionär der Schöpfungsgeschichte;
so habe ich ihn gesehen im Bilde, den „Bahnbrecher der Zukunft",
und würde ich ihn persönlich kennen, er würde mir ebenso, vielleicht
noch hoheitsvoller und ehrwürdiger vorkommen.
Nun ist der Denker 80 Jahre alt geworden, und begeisterte Dan-
kesbezeugungen Tausender, ja Hunderttausender umschmeicheln
jubelnd den Greis, der in nie ermüdender Schaffensfreude sein Leben
der Wissenschaft, der Kultur und dem Menschenfortschritt gewidmet
hat. Diesen Hunderttausenden, die in hoher Verehrung ein inniges
Band des Dankes und der Liebe um diesen Großen schließen, möchte
auch ich als einfacher Arbeiter folgen.
Um es zu erklären, warum ich auch in den Kreis von Haeckels
Verehrern und Dankschuldigen gehören will, muß ich kurz einiges
erwähnen, wie ich mit Haeckels Ideen bekannt wurde, um derent-
willen ich den bedeutungsvollen Mann als Forscher, Lehrer und auch
als Mensch zu den Größten aller Großen zähle.
Ich bin ein Sohn des Salzkammergutes, geboren auf jenem herr-
lichen Fleckchen Erde des oberösterreichischen Alpenlandes, wo male-
rische Bergeshöhen ins tiefe Blau des Himmels ragen, wo sich in
den klaren Fluten zahlreicher Gebirgsseen wildromantische Schluchten
und freundliche Waldabhänge spiegeln. Dort wo unvergängliche
Schönheit und ewige geheimnisvolle Stille der Natur herrscht, ge-
nießen schlichte einfache Menschen glücklich und zufrieden frohe
Lebenstage. Von dort bin ich zu Hause. Dort hat es auch Ernst
Haeckel oft hingezogen, wenn er Ruhe und Sammlung für seinen
19* 29I
Geist suchte, und stets hat er sie in dem Frieden dieses Berglandes
gefunden. —
Als Kind einer armen Bauerndienstmagd kam ich zur Welt und
wurde zur Erziehung meiner Großmutter übergeben, die mir fast schon
in der Wiege vom lieben Gott und den schönen Engeln erzählte und
mir die Händchen zum ersten Gebet faltete. Bald darauf, nachdem sich
meine Mutter mit einem ebenso armen mittellosen Arbeiter verheiratet,
kam ich in die Schule. Die oberösterreichischen Dorfschulen sind ja
heute noch bekannt, daß dort zwar viel, sehr viel Religion eingedrillt,
aber blutwenig Nützliches fürs Leben gelernt wird. Als ich aus der
Schule kam, konnten mir meine Eltern — die bereits mit schweren
Familiensorgen zu kämpfen hatten — keine andere Existenz geben als
die des Arbeiters.
So wurde ich Bauernjunge. Als solcher war meine weitere Aus-
bildung die berufliche Tätigkeit und die Religion. Aufgewachsen in
Gespensterfurcht und Wunderglauben, umschloß meinen Geist die
große chinesische Mauer der römischen Finsternis. So sehr ich den
Drang in mir verspürte, Bücher zu lesen, es war mir nur die Bibel
erreichbar. Zum Lesen und Nachdenken gab es keine Zeit, hier hieß
es nur „bete und arbeite". Erst mit achtzehn Jahren, als ich mein
Bauernbubenleben mit dem des Fabrikarbeiters vertauschte, hat sich
das undurchdringliche Dunkel des Vorhanges geistiger Umnachtung
etwas erhellt. Es erwachte in mir das Interesse am geistigen Leben
der Zeit. Ich begann mich für Dichter und wissenschaftliche Forscher
zu interessieren, habe aber viel gelesen, ohne zu verstehen und zu be-
greifen. Eines Tages kam mir Arnold Dodels Buch über das Leben
meines Landsmannes Konrad Deubler in die Hände, worin ich Haeckels
Briefwechsel mit dem Bauernphilosophen fand. Dies regte mich an,
zu den Werken des großen Forschers selbst zu greifen. Die ,, Welt-
rätser' war das erste Buch, die „Lebenswunder" das zweite, dem die
„Schöpfungsgeschichte" und andere folgten. Erreichbar waren mir
die Bücher in der Arbeiterbibliothek.
Von da an umstrahlte mich der Sonnenglanz der mo-
dernen Aufklärung. Dieser Lichtschimmer durch die
Erkenntnis war ein Wendepunkt in meinem Leben, und
diesen verdanke ich Ernst Haeckel. Es war mir von da an,
als ob ein neues Leben für mich begonnen hätte, als ob ich in der
3E]gggggggggEigggggggggggEigggggE]5]ggggggB|ggE]ggEiE]E]gjE]B]EiE;si
292
freien Weltanschauung meine geistige Erfüllung finden sollte. Wie
Erdbebenstöße der Revolution wirkten Haeckels Ideen auf meinen
Geist. Freilich bin ich kein Monist und habe noch nicht das Recht,
mich als solchen zu bezeichnen, bevor ich mich nicht zur vollkommenen
Erkenntnis durchgerungen habe.
Für mich als Arbeiter müssen viele der wissenschaftlichen Hypo-
thesen soviel wie religiöse Dogmen sein; ich muß sie glauben, weil
mir die geistige Kraft zum Nachprüfen fehlt. Aber diesen Glauben
an die Wissenschaft halte ich fest ; dieser Glaube ist auch die höchste
und herrlichste Religion für uns Arbeiter. In diesem Glauben zu
wandeln, liegt mir das rechte Ziel. Wenn auch viele Ideen der Wissen-
schaft oft den klaren Ausblick auf die Bahn zu diesen Zielen trüben,
eines steht fest : auf dem rechten Wege bin ich doch. Soweit ich Haeckel
verstehen konnte, habe ich mich durch den Großteil seiner Werke
durchgerungen, soweit ich seinen Ideen nicht folgen, sie nicht er-
fassen und begreifen konnte, werde ich mich noch hindurcharbeiten.
Wie Schiller mein Lieblingsdichter ist, so ist Haeckel mein Führer
durch die Wissenschaft.
Und wenn ich auch mein Weltbild noch kein vollkommenes nennen
darf, so entspricht es doch den Lehren des großen Forschers, der im
Grunde seiner freien, natürlichen Anschauung uns gezeigt hat, wie
wunderbar verschmolzen, verwoben und versponnen unser Leben mit
der Natur ist.
Es steht mir zwar nicht das Recht zu, über das Gesamtbild seiner
Leistungen auf wissenschaftlichem und kulturellem Gebiete einen ab-
schließenden Ausspruch zu tun — dazu sind Größere berufen — , aber
das Recht, die Persönlichkeit des alten Monistenvaters zu verehren,
und die Pflicht, ihm meinen Dank zu bekunden, den ich ihm um meiner
Welterkenntnis willen schulde, habe ich mit allen anderen gleich, die
sich bewogen fühlen, in dieser Gedenkschrift Haeckels Geist Bewun-
derung, seinem Schaffen Dank und Verehrung entgegenzubringen.
Dennoch möchte ich auch dessen noch gedenken und von meinem
Standpunkte als Arbeiter kurz erwägen, was Haeckel als Begründer
des wissenschaftlichen Monismus der ganzen Menschheit ist, was dieser
gewaltige Denkergenius für unsere Kultur bedeutet, und warum in
diesem größten Sohn der deutschen Geistesaristokratie für uns der
Bahnbrecher der Zukunft erstanden ist.
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293
Was Haeckels Lebenswerk für die Menschheit ist, wissen wir,
wissen viele, aber nicht allen ist es bekannt, am wenigsten aber denen,
die ihn hassen und befehden. Diese mögen endlich zu seinen Werken
greifen, und einer in klarster, nüchternster Wissenschaft gewonnenen
Erkenntnis werden sie in Haeckels Weltanschauung begegnen. Ohne
Schonung hellte dieser erleuchtete Geist das Dunkel der Probleme
des Menschenlebens auf. Und die Natur galt ihm als Lehrerin, er
verstand ihre Stimme, erforschte sie und gestaltete aus der reichen
Fülle von gesammelten Tatsachen seine epochemachenden Zeitideen
der Gegenwart.
Ein bedeutender Vorläufer und Vorgänger auf dem Wege zur
Schaffensmöglichkeit ist für ihn Darwin.
Haeckel und Darwin — mehr als je stehen sie heute nebeneinander,
die beiden Größen der Entwicklungslehre. Hat der große Darwin den
Samen gelegt, so hat Haeckel die Frucht zum Reifen gebracht, indem
er mit seinen Gedanken die unermeßlichen Weiten des ganzen Welt-
raumes durchflog und in die geheimnisvollsten Tiefen des Mikro-
kosmos eindrang, um der Welt die Erleuchtung zu bringen, nach der
sie schon undenkliche Zeiten ringt.
Was der große Engländer zum Gegenstand seiner Untersuchungen
machte, hat der große Deutsche zum Gedankenkreis einer haltbaren
Lebensanschauung vereinigt. Was jener unausgesprochen, unausge-
führt ließ, hat dieser ergänzt und zusammengefügt, und solch heroi-
scher Charakter, solche Lichtflut eines hohen Geistes mußte bezau-
bernd auf uns, seine Zeitgenossen wirken. Die Gesetzmäßigkeit der
Natur mit so sondierender Gründlichkeit darzustellen, ist wohl nicht
vielen so gelungen wie ihm. Alles ist bis in seine letzte Konsequenz
kristallklar, alles ist in nie ermüdendem Fleiße, mit heiligem Ernste
und glühendem Eifer geschaffen, die Grunderkenntnisse aller großen
Zeitepochen bringt er mit seiner Wissenschaft in Verbindung. Dies
allein schon sichert seinem Namen die Unsterblichkeit. Aber wir
dürfen Haeckels Ideen nicht immer nur so verstehen, daß es sich um
für unsere Kultur wichtige, rein wissenschaftlich-abgegrenzte Welt-
anschauungsprobleme handelt, sondern in einem viel höheren Sinne :
Haeckel ist nicht nur der große Wissenschaftler, Naturforscher und
Philosoph, sondern er ist auch der Dichter und Maler, mit einem
Wort der Schönheitslehrer, der zum Naturschauen erzieht.
gggggggg]ggggggggE]gggggggE]gggggg^E]EiBiE]i]E]EiB]EiE]G3EjE]E]EiG]gBiaE]
294
Wir dürfen nur seine „Indischen Reisebriefe" zur Hand nehmen,
und wir haben neben dem leidenschaftlichen Naturschwärmer den
phantasievollen Dichter vor uns, der in wundervoller, farbenprächtiger
Sprache die herrliche Tropenlandschaft mit ihrer mannigfaltigen Tier-
und Pflanzenpracht in poetischer Feinheit darstellt. Wir sehen, daß
er nicht nur der Natur, der Welt, dem Leben und Sein ihre inneren
Geheimnisse und Wunder abgelauscht hat, sondern auch ihre äußere
Schönheit. Wir sehen in ihm den Maler, der in unserer Allmutter
Natur jede, auch die tief verborgenste Eigenart entdeckte und wun-
derherrliche Gemälde der Schilderung schuf, die von einem vielseiti-
gen Reichtum seines Innern, seiner Harmonie zur Weltnatur ein glän-
zendes Zeugnis geben.
Aus allen seinen Werken sind neben der wissenschaftlichen Ge-
nauigkeit und Feinheit der sprachlichen Darstellung besonders zahl-
reiche ästhetische Grundsätze und Gefühle herauszulesen.
Und irdische Schönheit war es, die des Denkers Geist in den „Welt-
rätseln" sehnsüchtig nach den tiefsten Tiefen der Wahrheit geführt
hat. Kein Wunder, wenn sich Tausende durch seine Ideen und Anre-
gungen zur Naturfreude durchgerungen haben, die sich nie sonst in
ihrer innersten Schönheit zurecht gefunden hätten. Vielleicht ohne es
zu wollen, hat er damit unserer Kultur einen hochentwickelten Natur-
sinn gebracht, der es ihr ermöglichen soll, die höchsten Höhen der
Vollkommenheit zu erklimmen.
Darum ist er auch ein Erzieher. Seine Werke, so streng wissen-
schaftlich sie zu werten sind, so bedeutungsvoll ist auch der erziehe-
rische Wert derselben. Wer darin nur eine monistische Denklehre,
bloß eine theoretische Einführung in den Monismus sieht, betrachtet
sie mit falschem Blick. Wer sich aber in sie gründlich vertieft, der muß
vielmehr merken, daß er geradezu zum Monisten erzogen wird; er
wird in unserer Kultur die steinigen Wüsten entdecken und wird an-
gespornt, Hand anzulegen, mit zuarbeiten, wo fruchtbares, grünendes
Land bereitet werden soll.
Und Haeckel selbst, wie er als Mensch lebt? Ist er nicht ein monisti-
sches Beispiel ohne persönlichen Ergeiz, ohne Leidenschaft und Stolz,
voll Einfachheit und Manneswürde ? Eine starke monistische Ge-
stalt, die mit voller Seele seine Aufgabe erfüllt, durchdrungen von
dem siegessicheren Idealismus, von dem Glauben ohne Zweifel an
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295
33§1333333SS]S15133333SS§li]3SS]ggE]E]gggggE!E]Eis]S3BiE]E]EiEiE]G]E]E]B]E]Ei
das absehbare Endziel der Menschheitsentwicklung. Wir sehen ihn an
der Schwelle seines Alters im Vordergrund der Wissenschaf t stehen, und
trotzdem ist er bei seinem Einfluß auf die geistige Welt stets der an-
spruchsloseste und einfachste Mensch geblieben. Ist das nicht echt
monistisch ? Zu bewundern und für unsere Kultur von höchster Be-
deutung ist an Haeckels Persönlichkeit der Kämpfer.
Mit beispielloser Klugheit hat er, als die Zeit für ihn gekommen
war, der viel gepriesenen Kultur den Fehdehandschuh hingeworfen.
Mit kühnem Mute wagte er den Zorn der freien Rede selbst den Mäch-
tigsten seiner Gegner entgegenzustellen. Ohne Scheu hat er offen be-
kannt, daß er ein Gegner kirchlicher Wunderlegenden ist, obwohl
uns gerade er selbst die größten Wunder gegeben hat, Wunder aber,
die in voller, klarer Reinheit unserem Verstände begreiflich geworden
sind. Weithin hörbar klang seine Warnungsstimme vor kirchlichem
Offenbarungswahn durch die ganze Welt, die frevelhaftes Pfaffen-
gaukelspiel im Banne hielt, und gab uns dafür die größte Offenbarung
— das Evangelium der Wissenschaft. Das mag für ihn ein
harter Kampf gewesen sein. Intransigenten haben ihn umsponnen,
sie wollten ihn demütigen und zurücksetzen, aber trotzig ist er im
Harnisch seiner Wahrhaftigkeit auf seiner Lebensbahn weiterge-
wandelt, das Grollen seiner Feinde nicht beachtend. Als dann gar
noch die Keime seiner Naturforschung und Lebensbetrachtung auf-
gingen, da entbrannten die Kämpfe um seine Ideen in noch rascherer
Folge. Aber die Gegner sind unterlegen. Immer reifer wird die Mensch-
heit, immer mehr strebt sie ihrer Kulturvollendung zu, und um so
höher wird sie ihren Bahnbrecher Haeckel schätzen, um so mehr wird
sie seine großen Ideen brauchen, um ganz in Harmonie mit dem
Wollen des reichbegabtesten Vorkämpfers — von denen wir viel zu
wenige haben — zu gelangen.
Haeckel kommt mir als eine von jenen Männergestalten vor, die
der Emanzipation nicht mehr bedürfen, weil er sie durch sein moni-
stisches Denken, Fühlen, Leben, Wirken und Schaffen schon errungen
hat. Er nennt sich Monist, hat dem Monismus seine Gesetze gegeben
und hat ihn vorgelebt. Seine Ideen steigen in der ganzen Volkskultur
kühn empor, voran als Führer wie ein Prophet der neuen Zeit, der
Achtzigjährige mit seinen Silbersträhnen. Verehrung, tiefe Verehrung
diesem Feuergeiste, der nie im Kampfe unterlegen, der nie die Waffen
B]ggE]gggggggggE]gggE]ggE]ggggggggB]E]E]G]EjEjE]E]B]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]EJ
296
gestreckt, der selbst mit seinen achtzig Jahren seinen Geist nicht
beugte, wenn ihn auch die Knute der Unvernunft von allen Seiten
umsauste. Wir wollen hoffen, daß unsre gesamte zukünftige Kultur,
die Kunst, die Wissenschaft, die Erziehung, die Politik, die Welt-
wirtschaft sowie alle großen Fortschritte, die vorgesteckten Ziele
Haeckels aufgreifen und sie zu einer großzügigen Menschheitskultur
vereinigen werden.
Je näher der Lebensabend des greisen Forschers herannaht, um
so näher soll der Jugendtag der neuen Menschheit kommen.
Darum vorwärts, immer vorwärts mit dem Zeiger der Zeitenuhr,
bis es Licht wird überall, bis die Zeit kommt, wo das, was die Mitwelt
an Haeckel versäumt hat, die Nachwelt gut macht. Haeckels Name
wird, solange Weltgeschichte möglich ist, neben allen Großen glänzen,
seine Gestalt wird aber wie ein mächtiger Leuchtturm aus dem Strome
der vielen mittelmäßigen Unberufenen ragen, wenn seine Mission er-
füllt ist.
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E]ggggggggE]gggE]ggE]gE]E]ggggE]ggB]E]GlE]E]EIE]E]51S]E]ElG]G35JEJE]B]ElE]5IG]EIE]BI
OTTO KNOPF, JENA: ENTWICKLUNGSTHEORIE UND
ASTRONOMIE
o o o
Was hat ein Astronom mit der Entwicklungstheorie zu schaffen ?
Selbst wenn Entwicklungstheorie und Astronomie zwei Gebiete
wären, die durchaus nicht imstande wären, sich gegenseitig befruch-
tende Gedanken zu liefern, so könnte man es weder einem Biologen
noch einem Astronomen verdenken, wenn er sich in der ihm etwas
abseits liegenden Naturwissenschaft umsieht. Haeckel hat der Astro-
nomie stets ein äußerst reges Interesse entgegengebracht und sich
durch die Lektüre astronomischer Werke und Einzelaufsätze über die
wichtigsten Ergebnisse der astronomischen Forschung auf dem lau-
fenden gehalten. Ihn, der beim Studium der Welt des Mikroskopisch-
Kleinen so viel Genuß und Befriedigung fand, ihn erfüllte mit Be-
wunderung auch die Arbeit der Natur, wo sie mit Siriusweiten statt
mit Millimeter und Lichtwellenlängen mißt. Und warum sollte der
Astronom achtlos an den der heutigen Naturforschung ihr Gepräge
gebenden Ideen vorübergehen, welche eine vollständige Umwälzung
nicht nur im Gebiet der Biologie herbeiführten, sondern in weiterer
Folge auch unsere Ansichten über die Stellung des Menschen in der
Natur von Grund aus änderten, welche eben dadurch unsere philo-
sophische Erkenntnis vertiefte und die bisherige Philosophie, soweit
sie dem Geist, der Seele des Menschen, eine selbständige Existenz
zuschrieb , aus der Reihe der Wissenschaften strich, welche auf unsre
Rechtsanschauung und auf unser soziales Leben den größten Einfluß
auszuüben berufen ist? Ich wenigstens möchte nicht durchs Leben
gegangen sein, ohne auch jenes Gebiet wissenschaftlicher Forschung
in etwas kennen gelernt zu haben.
Aber haben Entwicklungslehre und Astronomie nicht doch viel-
leicht etwas miteinander gemeinsam ? Zweifellos ! Das Ziel einer rein
mechanischen Erklärung der Tatsachen ! Und ist es hierbei nicht viel-
leicht manchmal vorteilhaft, die auf dem anderen Gebiete gewonnenen
Resultate zu beachten? Gewiß! Sogar nötig, wie uns ein Beispiel
später zeigen wird.
Schon lange vor Lamarck und Darwin hatte man für die anorga-
nische Natur den Grundsatz einer mechanischen Erklärung der Er-
G]gggE]g^r3gggE]gggggggggggggggE]gggElG]E]E]E]E]S]E]51E]E]B]E]E]E]GlB]E]BJElE]
298
pggggg^ggggg^gE]g^gggE]gE]E]E35]E!E]G]ElG]E3EIE]E3EIE]gE]E]E!E]g]E]EiEjE]E]E]B]B]E]
scheinungen aufgestellt, und Kant setzt sich in seiner „Allgemeinen
Naturgeschichte und Theorie des Himmels" ausdrücklich die Aufgabe,
den jetzigen Zustand des Weltgebäudes rein mechanisch zu erklären,
aber er hat sich doch nicht ganz frei machen können von den alten
Reminiszenzen an die biblische Lehre vom Eingreifen einer außer-
weltlichen Macht. Er geht aus von dem Zustand gleichförmig im
Raum verteilter Materie, vom „einfachsten Zustand der Natur, der
auf das Nichts folgen kann". Er denkt sich die Materie durch einen
Schöpfungsakt aus dem Nichts entstanden. Von dem Moment an,
wo der Schöpfer seine Arbeit geleistet, ging allerdings alles von selbst
seinen Gang, die Naturgesetze genügten dann, das Weltgebäude aus
jenem „Chaos" herzustellen.
Laplace hat in seiner Kosmogonie die unwissenschaftliche Annahme
eines Urzustandes vermieden, indem er sich darauf beschränkte, die
Entstehung des Sonnensystems aus einem rotierenden, bis zu dem
äußersten der Planeten reichenden Gasball herzuleiten, ohne auf die
Frage, wie dieser zustande gekommen sei, einzugehen.
Wohl aber gehen viele andere Forscher von einem Anfangszustand
aus, so — abgesehen von Früheren — Lockyer, du Ligondes, See,
Ball von einem chaotischen Durcheinander meteorischer, den Raum
durchfliegender Körper. Sind diese ewig durcheinander geflogen, bis
sie sich von einem Moment an zu größeren Massen vereinigten?
Arrhenius hat wohl als erster darauf hingewiesen, daß heute eine
Kosmogonie nur dann als wissenschaftlich beachtenswert gelten kann,
wenn sie zeigt, wie im einzelnen ein periodisches Werden und Ver-
gehen im Weltall stattfindet — wie z. B. kosmische Gasmassen sich
zu Sternen verdichten und diese sich wieder in jene zurückverwandeln
— während das Ganze sich wesentlich gleich bleibt.
Nach der Laplaceschen Nebularhypothese bestand die Sonne, wie
oben bereits erwähnt, früher aus einem großen Gasball, der sich im
Lauf der Zeit zusammenzog und ab und zu einen Ring am Äquator
absonderte. Von der Zeit, da die Sonne sich bis zur Neptunbahn er-
streckte, bis heute sollten nach Helmholtz und Lord Kelvin nicht
mehr als 18 Millionen Jahre vergangen sein, ein Resultat, das im
grellsten Widerspruch stand zu der gewiß unumstößlichen Ansicht
der Biologen, daß für die stammesgeschichtliche Entwicklung der
heutigen Tierwelt ein sehr viel längerer Zeitraum nötig war, und auch
299
PgggggB]ggE]ggggggBiggggggSggggE]E!E]E]E]E]EJE]ElElG3BIE]E]E]E]E]E]B]E]E]E]EJEl
im Widerspruch zur Ansicht der Geologen vom Alter der Erdkruste.
In der Tat mußten die Astronomen auf Grund der biologischen und
geologischen Forschungsresultate ihre Meinung über die Dauer des
Bildungsprozesses der Sonne ändern. Die Entdeckung des Radiums
hat ihnen die Möglichkeit einer außerordentlich viel längeren Dauer
der Sonnenstrahlung, als man sie vordem berechnet hatte, an die
Hand gegeben. Braucht man doch nur eine genügende Menge radio-
aktiver Substanzen auf der Sonne anzunehmen, um das astronomische
Resultat mit dem biologischen und geologischen in Übereinstimmung
zu bringen. Die Astronomie hat in diesem Fall eine Belehrung durch
die Biologie erfahren.
Kein moderner Naturwissenschaftler wird die Ansicht vertreten,
daß die Erde oder gar das Sonnensystem planvoll eingerichtet worden
sei, um als Wohnstätte des Menschen zu dienen. Wohl aber spricht
man häufig von einer Ordnung in unserem Sonnensystem oder auch
im Universum, ja das griechische Wort für Ordnung, Kosmos, dient
uns als Bezeichnung für das Weltall. In gewissem Sinn ist man dazu
auch berechtigt, insofern nämlich die einzelnen Glieder des Sonnen-
wie des Fixsternsystems in manchen Punkten eine Übereinstimmung
zeigen. So bewegen sich sämtliche Planeten und die meisten Monde
im gleichen Sinn um ihren Zentralkörper; sieben von den 26 Monden
und etwa die Hälfte der Kometen laufen allerdings in entgegengesetzter
Richtung. Die Bahnen der Planeten, besonders der acht großen, fallen
nahe in dieselbe Ebene und besitzen geringe Exzentrizität; die Fix-
sterne kommen häufig als Doppelsterne vor, usw. Die Übereinstim-
mungen sind zweifellos eine Folge der Entstehungsweise der Himmels-
körper, sie sind nicht wunderbar, sondern notwendig. Von ihnen sei
im folgenden abgesehen.
Aber auch darin will man, im Universum sowohl wie speziell im
Sonnensystem, eine Ordnung erblicken, daß die Materie im Raum so
verteilt sei, daß hierdurch eine fast unbegrenzte Dauer des Sonnen-
systems und somit der Menschheit garantiert werde. In der Tat be-
einflussen sich die Planeten, da ihre Massen im Verhältnis zur Sonnen-
masse sehr klein sind und weite Abstände voneinander haben, in
ihren Bewegungen nur unbedeutend. Dieser Einfluß macht sich zudem
nur auf diejenigen Bestimmungsstücke der Bahn immer in demselben
Sinn geltend, verändert sie also vollständig, welche für den Bestand
300
des Systems ohne Bedeutung sind. Hierher gehören die Richtung der
großen Achse der Bahnellipse, die Richtung der Knotenlinie und der
Ort des Planeten in seiner Bahnkurve. Dagegen bewirkt er nur eine
periodische Änderung der für den Bestand des Systems und die Gleich-
mäßigkeit der Bedingungen, unter welchen es existiert, wichtigen
Bestimmungsstücke der Bahn, d. i. der Exzentrizität der Bahnellipse,
der Neigung der Bahnebene gegen die Ekliptik und der durchschnitt-
lichen Entfernung des Planeten von der Sonne; diese werden also
bald größer, bald kleiner, verbleiben dabei aber stets innerhalb ge-
wisser enger Grenzen. Lagrange, Laplace und Poisson haben den Be-
weis dafür geliefert, freilich nicht ohne gewisse Voraussetzungen, die
in Wirklichkeit nicht zutreffen. Sie haben die Planeten als kugel-
förmig angenommen, während sie Rotationsellipsoide sind, sie haben
die Vermehrung der Sonnen- und der Planetenmassen durch einfallende
Meteore und kosmischen Staub nicht berücksichtigt, während doch
beispielsweise die Masse der Erde dadurch täglich um etwa ioo Tonnen
vergrößert wird, ebensowenig den Verlust an Masse durch Teilchen,
die sich von der Atmosphäre trennen, noch die Wirkung der Gezeiten.
Wenn daher auch die Planetenbahnen noch viele Jahrmillionen fast
unverändert dieselben bleiben, allmählich formt sich das System doch
vollständig um.
Auch die äußerst spärliche Verteilung der Fixsterne hat man, wie
oben bemerkt, im Sinne, wenn man die Ordnung des Weltalls rühmt;
sie ist die Ursache, daß unsere Sonne gewiß seit iooo Millionen Jahren
nicht in die gefährliche Nähe eines andern Fixsterns gekommen ist
und sich infolgedessen das Planetensystem ungestört entwickeln
konnte. Und wenn noch weitere Billionen Jahre das Sonnensystem
keine Katastrophe durch die bedenkliche Annäherung an einen Fix-
stern oder durch Hineinlaufen in einen kosmischen Nebel erleiden
sollte, so ist das darum doch nicht für alle Zeiten ausgeschlossen. Die
sogenannten neuen Sterne, welche wir gelegentlich am Himmel auf-
tauchen sehen, dürften den Beweis dafür liefern.
Wenn wir also von einer Ordnung des Universums und im beson-
deren des Sonnensystems reden als von einem Zustand, der die Garan-
tie einer langen Dauer in sich trägt, so ist das von unserem mensch-
lichen Standpunkt aus nicht zu beanstanden, denn im Vergleich zu
unserer Lebensdauer ist die Dauer für die Möglichkeit menschlichen
GjggE]ggggggggggggggggggggggggE]E]E]E]EJ5]E]E]E]E]E]B]E|EjE]EiE]E]E]E]B]Ej5]E]"
301
Lebens überhaupt in der Tat außerordentlich groß. Millionen von
Jahren mag das Menschengeschlecht noch bestehen und sich im
Kampf ums Dasein weiter entwickeln. Es wird aber eine Zeit kommen,
wo kein Leben mehr auf der Erde gedeihen kann, so wie auch einstens
kein Leben auf ihr möglich war.
Ist es aber wunderbar, daß Sonnen- und Fixsternsystem sich in
einem Zustand befinden, der dem Menschengeschlecht die Möglichkeit
einer nach unseren gewöhnlichen Begriffen fast unbegrenzten Dauer
verheißt? Nicht im mindesten! Kämen leicht Begegnungen von
Sternen mit Nebeln oder anderen Sternen im Weltall vor und gingen
die Umformungen der Planetenbahnen nicht so außerordentlich lang-
sam vor sich, so wären wir Menschen gar nicht entstanden. Uns aber
zu verwundern, daß wir entstehen konnten, haben wir — wenn wir
von einer Bewunderung des Naturschaffens überhaupt hier absehen —
keinen Anlaß. Sehr viel größer als die Zahl der Individuen und Arten,
welche entstehen konnten, ist die Zahl derer, welche nicht entstehen
konnten, derer, welche zum Schweigen über das Schicksal ihrer Nicht-
existenz verurteilt sind, während wir uns laut unsres Lebens freuen
und die Ordnung der Dinge preisen. Setzen wir die Zeit, innerhalb
deren die Erde geeignet ist, Leben zu beherbergen, auf iooo Billionen
Jahre an, so würde für die Wesen, welche Billionen Jahre zu ihrer
stammesgeschichtlichen Entwicklung brauchen, die Welt die Be-
zeichnung „Kosmos" verdienen, nicht aber für solche Wesen, die
Trillionen Jahre zu ihrer Entwicklung brauchten.
Wollte man etwa in der Langsamkeit selbst, mit der sich die
Planetenbahnen ändern, eine Ordnung erkennen, abgesehen also von
der dadurch ermöglichten langen Dauer des Menschengeschlechts, so
ist zu bedenken, daß die Begriffe langsam und schnell überhaupt ganz
relativ sind. Wir verfallen gar zu leicht in den Fehler, bei diesen
kosmogonischen Betrachtungen den Menschen als das Maß der Dinge
zu nehmen. Auch möchte es dem einen wenig erscheinen, wenn die
Achse einer Planetenbahn sich in einem Jahr um i : 10 ooo ihres
Wertes ändert, dem andern dagegen sehr viel, besonders, wenn er sich
den Betrag in Metern ausgedrückt denkt.
Bei Kometenbahnen finden totale Umformungen so häufig statt,
daß wir hier von einer Ordnung im Sinn der Beständigkeit nicht ver-
sucht sind zu sprechen. Der nach seinem Berechner benannte Lexell-
"B]ggggggggggggE]ggE]ggggggBjggggggggggB]E]EiB]EiE]E3E]E]E]E]E]E]EjE]E]E]5]
302
sehe Komet wurde im Jahr 1767, als er sich dem Jupiter so stark
näherte, daß er durch das System seiner Monde hindurchging, aus
einer sehr weiten Bahn in eine Ellipse von nur 572 Jahren Umlaufszeit
gezwängt, so daß er im Jahre 1770 entdeckt werden konnte; ja er
kam der Erde bis auf l/7Q der Sonnenentfernung nahe. Im Jahr 1779
wurde er jedoch bei einer nochmaligen Annäherung an Jupiter von
diesem wieder in eine weite, seine Wiederauffindung ausschließende
Bahn hinausgeworfen. Hätten die Kometen nicht eine ganz un-
berechenbar geringe Masse, so würden von diesem Kometen, wie bei
vielen sonstigen Gelegenheiten von anderen Kometen, die Planeten-
bahnen vollständig umgeändert worden sein. Eine Entwicklung der
Organismen wäre dann auf einem Planeten so wenig wie auf einem
Kometen möglich geworden. Wollten wir die Stabilität des Planeten-
systems rühmen, so müßten wir die Unbeständigkeit der Kometen-
bahnen tadeln. Die Ordnung in der räumlichen Verteilung der Him-
melskörper, sofern dadurch ein langer Bestand derselben, womöglich
noch unter gleichbleibenden Verhältnissen bedingt sein sollte, ist eine
Illusion.
Wir müssen uns abgewöhnen, eine beabsichtigte Zweckmäßigkeit
im Walten der Natur zu sehen. Das Sonnensystem ist so wenig eine
planmäßig geschaffene Einrichtung wie etwa das menschliche Auge,
dessen Entwicklung aus den einfachsten lichtempfindlichen Organen
sich verfolgen läßt. Wäre es beabsichtigtermaßen hergestellt worden,
so würde es wohl besser sein, als es ist, und ebenso könnte die Ver-
teilung der Massen im Raum eine für den Bestand des Sonnensystems
noch vorteilhaftere sein. Beides ist eben so, wie es ist, wie es aus der
Werkstatt der Natur hervorgehen mußte.
Wird aber durch diese Erkenntnis unsere Freude an den Werken
der Natur beeinträchtigt ? Im Gegenteil ! Sie wird vermehrt, weil wir
durch die Entwicklungsgeschichte das Gewordene erst recht verstehen
lernen.
303
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EDWARD LAURENS MARK, CAMBRIDGE, MASS. U.S. A
o o o
Zu Anfang der siebziger Jahre, als ich Student in einer Universität
nicht weit von Jena war, nahm Ernst Haeckel durch seine be-
geisternden und anregenden Werke die Aufmerksamkeit der Zoologen
in hohem Grade in Anspruch. Seine Kritiker waren ebenso zahlreich
wie seine Bewunderer. Zwei Äußerungen mögen die vielleicht nicht
seltene Stellungnahme bezeichnen. Eine meiner Studentenbekannt-
schaften, ein Amerikaner, sagte: „Ich glaube, Haeckel streut den
Leuten Sand in die Augen." Ich bin überzeugt, daß er Haeckel
niemals begegnet ist, denn sonst würde er wahrscheinlich mehr Ver-
trauen zu ihm gehabt haben. Die andere Äußerung kam von den
Lippen des verehrten Professors, unter dem ich einige Zeit gearbeitet
hatte, als ich ihm meinen Plan mitteilte, zu einem mehrmonatigen
Studium nach Jena zu Professor Haeckel zu gehen. „Na, sehen Sie sich
mal die Geschichte an", sagte er. Ich tat es und war entzückt von der
Einfachheit und Aufrichtigkeit des Mannes, den ich in Jena traf. Seine
milde und vornehme Art war überraschend; das Gleichmaß seines
Temperaments und die beständige Aufmerksamkeit und Rücksicht auf
andere waren bezeichnend, auch sein Diener Pohle hatte keine Gelegen-
heit, den großen Abstand zwischen seinem Herrn und sich zu fühlen.
Eines Tages, als wir durch das Museum des Zoologischen Instituts
gingen, bemerkte Haeckel: „Sie sehen, es ist nur klein; aber ich habe
beobachtet, daß die Leistungen eines Instituts oft im umgekehrten
Verhältnis zu seiner Größe stehen." Eine ähnlich ironische Ader
kam gelegentlich in seinen Vorlesungen zum Vorschein. Ich erinnere
mich eines Falles: Danas Werk über die Zoophyten, herausgegeben
in „United States Exploring Expedition" unter Kapitän Wilkes, lag
vor ihm. Nach einer kurzen Bemerkung über dessen Inhalt sagte
Haeckel: „Ein großer Luxus in Papier."
Aber weder solche Scherze noch die beißenden Worte einiger
seiner Schriften konnten mein Vertrauen erschüttern, das ich in
seine absolute Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit hatte und noch
habe. Haeckel persönlich kennen heißt an ihn glauben.
Von seinen zoologischen Werken haben die „Generelle Morpho-
logie" und die „Anthropogenie" am unmittelbarsten nützlich und
304
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20 Haeckel-Festschrift. Bd. II ^0^
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anregend auf mich gewirkt. Seine Analysis der tierischen Formen
in der „Promorphologie" ist so umfassend und doch so einfach!
Die Klarheit seiner Ausführungen und die Einfachheit seines Stils
in der „Anthropogenie" machen dieses Werk besonders wertvoll für
den Fremden, welcher wenig mit der deutschen Sprache vertraut
ist, und war auch in nicht wenig Fällen für diejenigen wertvoll,
deren Interesse an den Entwicklungsproblemen durch das Buch ge-
weckt worden ist.
Aber so groß auch meine Bewunderung ist für seine gewaltige
Beobachtungsgabe und seine Schilderungskunst in Wort und Bild,
so ist sie doch noch größer für seinen Blick für das Wesentliche
und seine Begabung für Vereinheitlichung und Vereinfachung, welche
ihm eine so hervorragende Stellung unter den Wissenschaftlern gibt.
Diese sind jedoch nur die Zugänge, welche ihn zu seiner Ansicht
vom Universum geführt haben, eine Ansicht, die, wie mir scheint,
mit der Zeit alle denkenden Menschen mit unbefangenem Geist in
hohem Grade beeinflussen wird.
Wenn ich mich genau auf die Gründe besinne, so finde ich, daß
es nicht Haeckels Größe war, auch nicht sein wissenschaftlicher Scharf-
blick oder sein Kampf für eine monistische Kosmologie, was mich
im Jahre 1910 veranlaßte, eine verzweifelte Anstrengung zu machen,
den Mann, den ich bewunderte, zu sehen. Es war einfach seine be-
zaubernde Persönlichkeit, nach der ich mich sehnte. Für mein zwei-
tägiges vergebliches Suchen nach ihm in Venedig wurde ich vollauf
belohnt, als ich ihn, ziemlich unerwartet für mich und vor allem auch
für ihn, plötzlich in dem kleinen Speisezimmer eines bescheidenen
Gasthauses in Feltre vor mir sah. Als wir am folgenden Tag zusammen
nach San Martino di Castrozza wanderten, fand ich, daß ich ihn früher
nicht falsch beurteüt, und daß er sich nicht verändert hatte : derselbe
einfache und liebenswürdige Mensch, den kennen zu lernen ich vor
35 Jahren das große Glück hatte.
Der Vorsitzende des Deutschen Monistenbundes hat einen Gedan-
ken, den ich oft gehabt habe, so bewunderungswürdig ausgedrückt,
daß man mir verzeihen möge, wenn ich seine Worte hier wiederhole:
„Dieser unversöhnliche Gegner alles dogmatischen Christentums er-
wies sich als der beste und vorgeschrittenste Christ, den ich je per-
sönlich kennen gelernt hatte."
306
J. A. PALMEN, HELSINGFORS, FINLAND
o o o
Sehr geehrter Herr Doktor!
Leider muß ich Ihnen jetzt mitteilen, daß es mir nicht möglich
wurde, einen Beitrag zu Ernst Haeckels Festschrift zu liefern,
wie ich noch in meiner letzten Postkarte eventuellin Aussicht stellte.
Ich bedauere dies um so mehr, da ich durch Ernst Haeckels
„Generelle Morphologie" eine überaus kräftige Anregung zum wissen-
schaftlichen Denken erhalten habe, und seine Forscherpersönlichkeit
überhaupt wie speziell seine phylogenetischen Schriften mir, wie so
vielen anderen, in fundamentaler Weise wegleitend gewesen sind. Die
zündende Einwirkung des genannten echt romantischen Forschers, in
Verbindung mit der des ebenso tiefsinnigen wie nüchtern kritischen
Klassikers, Carl Gegenbaur, dessen persönlicher Schulung ich unge-
heuer viel verdanke, — die Einwirkung dieser beiden Forscher ersten
Ranges werde ich alle Zeiten in der verehrungsvollsten Erinnerung
dankbarst behalten.
Hochachtungsvoll
J. A. Palmen.
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07
GEORG J. PLOTKE, FRANKFURT A. M.
0 0 0
Nicht dem großen Gelehrten, nicht dem schöpferischen Künstler
Ernst Haeckel habe ich soviel zu danken, wie dem tiefhumanen
Menschenbruder, dessen Güte mich beglückte. In zwei entscheidenden
Augenblicken meines Lebens wandte ich mich fragend an ihn, und
wie so vielen anderen gab er auch mir, anteilnehmend wie ein naher
Freund, den befreienden Rat, den nur die reinste und innerlichste
Menschlichkeit geben kann. Davon will ich Zeugnis ablegen. Ver-
einheitlichung im letzten Sinne ist dies Leben, dessen wissenschaftlich-
künstlerische und menschliche Grundstoffe sich immer wieder gegen-
seitig befruchteten und sublimierten, wie nur bei ganz wenigen unserer
Großen nach Goethe.
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308
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M. E. DELLE GRAZIE, WIEN : ERNST HAECKEL DER
MENSCH
o o o
Wenn in diesen Tagen von einem Ende der gebildeten Welt zum
anderen der Name des großen Forschers fliegt; wenn Jünger
und begeisterte Verehrer sein Lebenswerk feiern, Berufene neidlos
es anerkennen, Feinde und Fanatiker es schmähen, aber doch nicht
daran vorüberkommen — dann leuchtet vor den Augen derjenigen,
die nicht bloß im Geist zu den Füßen des Meisters gesessen, sondern
ihm auch in persönlichem Verkehre oft und herzlich nahetreten durften,
plötzlich eine Sonne für sich auf: Der Mensch Haeckel.
Selten noch hat das Wahrwort, daß der Stil der Mensch sei, in
so restloser Weise seine Bestätigung gefunden wie in der Persönlich-
keit Ernst Haeckels. Einer der wenigen deutschen Gelehrten seit
Schopenhauer, die zugleich auch große Stilisten sind, ist seine geistige
Eigenart so ganz der Spiegel dessen, was er lebt und ist und sein will.
Und wer nur einmal diesen prächtigen, noch heute so schön und frei
getragenen Kopf gesehen, den wissenden Blick der blauen Jovisaugen
auf sich ruhen gefühlt, sein herzliches und sieghaftes Lachen gehört,
das selbst wie eine Klang gewordene Lichtfülle anmutet — der wird
mit Entzücken erkennen, daß Haeckel der Forscher und Haeckel der
Mensch eine Persönlichkeit von solch vollendeter Harmonie bilden,
wie sie das deutsche Volk vielleicht seit Goethe nicht wieder besessen.
Und in der nordischen Seele mag dann etwas vom Verständnis der
alten Hellenenfreude an der „Kalokagathia" dämmern. Von derselben
Freude, die keinen Geringeren als Bismarck mitriß, der den berühmten
Naturforscher bei Gelegenheit einer Anrede plötzlich umarmte und
herzlich abküßte. Und so hat der Naturforscher Haeckel gegenwärtig
nur einen einzigen Nebenbuhler: den Menschen Haeckel.
Von diesem aber will ich einiges erzählen. Und wenn ich ihm da
und dort vielleicht allzusehr ,,aus der Schule" plaudere, so mag er
mir's verzeihen. Sein Jubeltag gibt mir das Recht dazu.
Ein glücklicher Zufall fügte es, daß meine erste Begegnung mit
Haeckel an einem Orte stattfand, den schon ein anderer großer Natur-
forscher durch seine Gegenwart für immer geweiht. In unserem herr-
lichen Salzburg, dem kein Geringerer als Alexander v. Humboldt den
309
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Ruhmestitel der drittschönsten Stadt der Welt verliehen. Dorthin
kam am 3. September 1896 Haeckel, wie er mir schrieb, „einzig zu
dem Zwecke", um mit mir über eine Dichtung zu sprechen, die eine
künstlerische Versinnbildlichung der modernen naturwissenschaft-
lichen Entwicklungsideen an einer der größten Weltbewegungen der
Neuzeit versucht hatte. Nach Wochen endlosen Regens brach gerade
an jenem Tage zum erstenmal wieder die Sonne hervor, und so brachte
der erlauchte Gast sie gleichsam mit sich. Himmel- und Erdenwande-
rer, der er schon einmal ist ! Wir wohnten damals in einem Landhaus,
das den barmherzigen Schwestern gehört. Und noch erinnere ich mich
des leisen Zweifeltones in Haeckels Stimme, als er von der Straße
aus eine im Hof anwesende Schwester fragte, ob hier Fräulein — delle
Grazie wohne? Erst als ich ihm vom Fenster aus ein fröhliches:
„Nur herein, Meister, Sie werden auch hier nicht bekehrt werden!"
zurief, trat er ein und nahm dann, je zwei und zwei, rasch und elastisch
die etwas steilen Stufen des altertümlichen Hauses. Einmal drinnen
aber, brach er dann in ein Lachen aus, so herzhaft und mitfortreißend,
daß ich es noch heute höre. Sogleich aber dämpfte er es, um, wie er
in schöner Menschlichkeit und voll edler Rücksicht sagte, „der Schwe-
ster, die den Schleier für die Kranken nahm, kein Ärgernis zu geben".
Und nur ganz leise scherzte er: ,,Da war' ich ja nun richtig wie der
Teufel ins Weihwasser gefallen !" Ein Dictum, das mich um so lustiger
stimmte, als der „Miss Diana Vaughan "-Schwindel Leo Taxils gerade
damals in Salzburg viel von sich reden machte.
Daß wir mit unserem Gespräche nicht länger beim „Teufel und
seinem Anhang" verweilten, als gerade notwendig war, versteht sich
von selbst. Und so stiegen wir aus dem Abgrund der Hölle zu der
Dichtung, die ihn so lebhaft interessierte, um von da aus unter seiner
Führung langsam und sicher die Höhen zu erklimmen, über die er
herrscht, und von denen aus er schon so oft seinen fröhlichen Kampf-
ruf in die Welt hineingeschmettert.
Den Nachmittag und Abend jenes Tages brachten wir auf dem
Mönchsberg zu, und wieder fügte es ein drolliger Zufall, daß Haeckel
in die Nähe einer Gesellschaft geriet, der er sonst sicher auf Meilen-
weite ausgewichen wäre. Es war der „Katholikentag", der in dem-
selben Restaurant sein Festbankett abhielt, in dem wir uns zum
Abendessen niedergelassen. Und nie werd' ich den köstlichen Ausdruck
310
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im Antlitz Haeckels vergessen, mit dem er auf die Frage eines der
Festordner, ob wir „auch zum Katholikentag geladen seien", halb
verblüfft, halb belustigt erwiderte: „Soviel mir bekannt ist — nicht!"
Worauf wir uns aus dem Gewirr der Festgäste in den hintersten Winkel
des Restaurants zurückzogen. Hier aber hatte ich zum zweitenmal
Gelegenheit zu beobachten, welch feiner Takt dem Manne eigen ist,
der seinen Gegnern als angriffsfroher Polemiker gilt. Ein Wiener Ge-
lehrter, zugleich katholischer Geistlicher, befand sich als Dritter in
unserer Gesellschaft. Und da wir über die den ganzen Nachmittag
ausfüllenden Erörterungen einiger naturwissenschaftlicher Streit-
fragen redlich hungrig geworden waren, folgte als friedlicher Schluß
ein nicht minder eifriges Studium des Speisezettels.
Da bemerkte ich, daß Haeckel zu keinem rechten Entschluß
kommen konnte. Und weil ich schon gewählt hatte, riet ich ihm zu
dem, was mir als das Beste, Schmackhafteste erschien, zu einem
„Wiener Backhendl". Haeckel sah mich an, schüttelte aber dann
leise das Haupt und bestellte endlich, allerdings mit etwas trübseliger
Miene, „eine Portion Schiel".
„Doch nur als Vorspeise?" fragte ich. Das löste ihm endlich die
Zunge. Und leise sprach er: „Wissen Sie, ich wäre ja am liebsten am
,Backhendl' hängen geblieben. Aber da unser lieber Freund ein
katholischer Geistlicher ist, wollt' ich ihn nicht verletzen!" Und als
ich ihn darauf etwas verblüfft ansah, meinte er: „Nun ja, weil der
Katholikentag ist ! Das ist ja wohl zugleich auch so eine Art Büß- und
Fasttag?" Nun mußte ich herzlich lachen. Und als es mir durch einen
freundlichen Kellner gelang, eine Menukarte des Katholikentages
herüberzuschmuggeln. könnt' ich den verehrten Meister augenschein-
lich überzeugen, daß das Souper der Gäste des Katholikentages nichts
weniger als ein Fastenmenu sei. Unser geistlicher Freund hatte sich
unterdes in völliger Unkenntnis des leisen Zwiegespräches ein saftiges
Rostbeaf bestellt, welchem Beispiel endlich auch Haeckel, ebenso über-
zeugt als erleichtert, folgte.
Erst spät nach Mitternacht brachen wir auf. Es war eine herrliche
Vollmondnacht; und die schlummernde Stadt lag so recht, wie ein
Stück deutscher Romantik vor uns, mit ihrem ragenden Festungs-
berg, ihren grauen Toren und Klöstern und dem heimeligen Zauber
ihrer alten Giebeldächer, die da und dort noch der Nüchternheit der
311
iggggggggggggggE]gigB|ggggiggE]ggggEjE]EiBiE]E]E]EiG]E]E]E]E]E]B]EiE]EiE]EjEiEiB]
modernen Straßen ein Gesicht geben und den Adel einer Vergangen-
heit. Von unten kam das Getos der Salzach herauf, doppelt laut in
der tiefen Stille der Nacht. Sonst lag alles ruhig und wie verzaubert im
silbernen Blau des Vollmondglastes. Und von diesem herrlichen Bild
in tiefster Seele ergriffen, erzählte uns Haeckel, daß auch er hier
eigentlich eine Art Heimatsrecht habe, da Salzburg die „Urheimat"
seines Geschlechtes war und sein Urgroßvater, ein Bauer, zu jenen
Salzburgern gehörte, die wegen ihres protestantischen Bekenntnisses
aus Salzburg vertrieben und von Friedrich dem Großen in Schlesien
angesiedelt wurden. „Wer weiß, ob heute eine .Natürliche Schöpfungs-
geschichte' existierte, wenn das nicht geschehen wäre !" sprach Haeckel.
Und in köstlicher Laune setzte er hinzu: ,,0 historischer Kausal-
nexus! O sittliche Weltordnung!"
Den folgenden Tag brachten wir in dem herrlichen Park von
Aigen zu. Und angesichts des einzigen Rundblickes, der sich von der
„Kanzel" aus dem entzückten Auge bietet, verging uns der Vormittag
wie ein Traum, den Sonnengold und Waldesgrün um uns spannen.
Hier lernt' ich auch den Aquarellisten Haeckel so recht schätzen.
Seinen feinen Blick für Lichtwirkungen und Luftstimmungen. Diesen
echten Malerblick, der das Ferne wie das Nahe gleich zärtlich umfängt
und dabei ebenso rasch als sicher überall das Charakteristische ent-
deckt und festhält. Und die sichere Hand, die uns oft nur nach flüch-
tigen Stationspräparaten die ganze entzückende Formenfülle der
Tiefseeorganismen festgehalten, sie weiß auch die Landschaft immer
dort zu fassen, wo auch sie eine „Kunstform der Natur" ist. So hat
Haeckel von seinem zweimaligen Aufenthalt in den Tropen eine ganze
Bildergalerie heimgebracht. Und die meisten Illustrationen seiner
„Indischen Reisebriefe" und der „Arabischen Korallen" sind von
ihm selbst an Ort und Stelle aufgenommen. In den Tropen freilich
„wird jeder Naturforscher so eine Art Mädchen für Alles", wie er ein-
mal lachend sagte, als er uns seine kleine Häuslichkeit in Belligemma
schilderte. Aber auch die herrlichsten Stücke seiner Korallensamm-
lung hat er sich selbst aus dem Meere hervorgeholt. Und ich bin im
glücklichen Besitze einiger Prachtexemplare, die kein Geringerer als
Meister Haeckel frei schwimmend und tauchend in Punto-Gallo und
Belligemma auf Ceylon aus dem Meere herausgeholt.
Noch vor wenigen Jahren ein tüchtiger Tourist, hat er von den
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312
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Höhen der Alpen bis zur Tiefe des Weltmeeres wohl alles kennen und
meistern gelernt, was die Natur groß und geheimnisvoll macht und
in jenen erhebenden Augenblicken einsamsten Schauens und Genießens
die orphische Saite der Zusammengehörigkeit mit dem großen All um
uns leis' und harmonisch vibrieren läßt. Niemand kann dies besser
und hinreißender schildern als Haeckel. Und wenn er dann dazwischen
lacht — sein leises, sonniges Lachen, dann ist es wirklich wie ein
Lockton aus der Flöte Pans. Etwas im reichsten, im schönsten Sinne
Heidnisches strahlt aus dieser Vollnatur. Und deshalb wird ihm,
obwohl er keinen persönlichen Gott hat, doch alles ringsum Andacht
und Kult. Daß ihm Italien da eine zweite Heimat werden mußte,
versteht sich von selbst. Seit frühester Jugend hat er es immer und
immer wieder durchwandert. Zuerst in Gemeinschaft mit dem seither
verstorbenen Marschendichter Hermann Allmers, zumeist aber allein,
forschend, malend, genießend. Oft auch bloß mit dem Ränzel am
Rücken und dem Kalabreser auf dem Kopf, so daß er unterwegs aller-
lei mögliche und unmögliche Reisegefährten bekam. Aber das ficht
ihn nicht an. Es gehörte vielmehr mit zu dem Zauber, der von ihm
ausgeht, daß er eben mit allen von allem reden kann. Daß er trotz
seines Wissens und Ruhmes und der feinsten Kultur der Seele so ganz
ein schlichter Mensch geblieben ist. Daß derselbe Haeckel, dem heute
als Gast des Khedive ein ganzes Kriegsschiff (die Dampferkorvette
„Khartoum") samt Bemannung und Musikkapelle ( !) für seine wissen-
schaftlichen Forschungen zur Verfügung gestellt wird, sagen wir im
nächsten Jahre eine Fußreise unternimmt, bei der sich ein Anstreicher-
geselle vertrauensvoll an ihn anschließt und nach achttägiger, bester
Kameradschaft in dem festen Glauben von ihm scheidet, all die Zeit
her mit einem — Anstreicher beisammen gewesen zu sein! Und wie
lacht Haeckel, wenn er darauf zu sprechen kommt. Wie kann er sich
freuen, auf offener Landstraße mit einem ganz gewöhnlichen Menschen
einmal so und so viel Tage bloß — ein Mensch gewesen zu sein!
Und so werden ihm ähnliche Fahrten und Abenteuer oft geradezu
ein Bedürfnis. Das Bedürfnis einer gesunden, starken Natur, die nicht
nur dem Geiste, sondern auch dem Körper sein Recht läßt, um dann
wieder, doppelt verjüngt und bis auf die Wurzeln erfrischt, einen
neuen Trieb ans Licht zu senden. Eine Art Antäus-Kur. Wie er mir
denn einmal selbst gelegentlich schrieb, „daß der alte Antäus-Mythos
[gg^E]g^ggggggggggE]g§ggggggg^ggE]E]E]BIB]E3ElE]B!E|E]EjE]E]EJE]E]E]E]B]E]ElEi
313
E]gB]ggggggggE]gggggggggggE]ggE]E]E]E]E]E]E]E]ElE]E]E]E]E]E]BJE]5]E]5]S]ElE]E]S]E]
schon seit seinen Knabenjahren eine der drei ethischen Lieblings-
vorstellungen war, die ihm besonders imponierten". Und als deren
erste und zweite er den gefesselten Prometheus und Herkules am
Scheidewege namhaft macht. Und wer das innere und äußere Leben
Haeckels kennt , der weiß , daß ihn aus diesen tiefsten Mythen der An-
tike zugleich auch etwas wie die Schauer eigener künftiger Schicksale
angeweht. Wie jeder Wahrheits- und Lichtbringer hat auch er prome-
theisch getrotzt — prometheisch gelitten. Wie Herkules nicht bloß
eine Kraft-, sondern auch eine gesunde Sinnennatur, mag er wie oft
an der Wegwende gestanden sein, die von der rauhen Straße heroischer
Kämpfe in die blühende Irrnis der Freuden dieser Welt lockt. Aber
er ist standhaft geblieben. Selbst den großen Lockungen des Ehrgeizes
und der äußeren Anerkennung gegenüber. Und als ihm vor nun zwei-
unddreißig Jahren die Ehre einer einstimmigen Berufung an die
Wiener Universität zuteil wurde, hat er, nach hartem, aber kurzem
Kampfe, mannhaft abgelehnt. Sein Genius mochte ihm zuflüstern,
daß die besten, die reichsten und tiefsten Werke immer nur weitab
vom lauten Lärm der Welt gedeihen. Daß der echteste Ruhm nicht
derjenige ist, der einem zugesprochen wird, sondern jener, den man
immer wieder selbst erwerben muß. Täglich aufs neue. Oft im Kampfe
wider Alle und Alles — aber stets sich selber getreu!
Deshalb ist es auch für alle, die ihn kennen, gewiß mehr als ein
bloßer Scherz, wenn er sich selbst als „monachus monista" bezeichnet.
Oder von der „Mönchsklause seines zoologischen Instituts in Jena"
und von seiner „Askese" spricht. Und wer ihn wahrhaft kennt, der
weiß, daß es volle Wahrheit ist, wenn er schreibt, „daß das drei-
bändige Ungetüm der »Systematischen Phylogenie' nur in der Kloster-
zelle des zoologischen Institutes und während einer dreißigjährigen
Askese zustande kommen konnte". Nur daß jeder Wissende statt des
von dem allzu bescheidenen Meister beliebten Ausdruckes dieses
„Ungetüm" mit Standard work übersetzen wird. In der Sprache des
großen Mannes, die Haeckel seinerseits wieder so hingebungsvoll und
erfolgreich ins Deutsche übersetzt.
Doch hat Haeckel noch heute eine besondere Vorliebe für Wien.
So oft er kann, besucht er die schöne Stadt, und mit zu seinen Lieb-
lingserinnerungen an junge Tage und Siege gehört der Vortrag, den
er 1878 als Gast der „Concordia" in Wien gehalten. Wie er denn über-
314
haupt, nicht bloß in seinen Erinnerungen, sondern auch in seinen
Gewohnheiten eine Natur voll Treue und Dankbarkeit ist. Und so
wird ihm auch von allen, die ihn kennen oder die er seiner Weltan-
schauung erobert — mit wenigen traurigen Ausnahmen — die gleiche
Treue erwiesen. Kein Geringerer als Gabriel Max, den er durch seine
„Natürliche Schöpfungsgeschichte" aus dem tiefsten Mystizismus auf
die Höhe des Monismus geführt, hat sein Bild gemalt und sich herz-
lich als seinen Schüler bekannt. Und — um die Spannweite des Kreises
anzudeuten, in dem Haeckel verehrt und geliebt wird — weitab von
dem genialen Maler in München sitzt in Neutitschein ein Bewunderer
Haeckels, der es sich schon seit Jahrzehnten nicht nehmen läßt, dem
verehrten Mann alle Jahre den geliebten „Kalabreser" zu liefern.
Er heißt — mag er an diesem Tage seine Ehre mit haben — Hickl und
ist Hutmacher. Und wenn Haeckel auf Hickl zu sprechen kommt,
wird er dieser Neutitscheiner Eroberung nicht weniger froh, als seiner-
zeit der Verleihung des großen Bressa-Preises und der ehernen Ge-
dächtnistafel, welche ihm die Akademie dei Lincei in Rom als ihrem
„Socio Straniero" gewidmet. Zwei Auszeichnungen, die ihn nicht bloß
hoch ehrten, sondern auch doppelt erfreuten, weil sie aus dem von ihm
über alles geliebten Italien kamen.
Was Haeckel der Wissenschaft war, ist und sein wird, was er —
und dies sei hier besonders betont — nicht bloß zur Popularisierung,
sondern auch zur Fundamentierung des monistischen Weltbaues ge-
tan, das wird in diesen Tagen in allen Sprachen und in allen Kultur-
zentren der modernen Welt erörtert. Wie Goethe hat auch Haeckel
die Starrheit des eleatischen Seins-Pantheismus Spinozas in einen
Pantheismus lebendigen Werdens, die mathematisch bedingte Ab-
hängigkeit des einzelnen vom Ganzen in den lebenquellenden Strom
der Entwicklung der Allnatur verwandelt. Wie in so vielem andern
auch hier dem Spinozismus gegenüber heterodox, gleich Goethe —
„unklar, was er aus Spinoza heraus- oder hineingelesen", mit dem In-
stinkt des vollkommenen Monisten mehr in der spinozistischen Denk-
richtung, als in Spinozas Denkweise wandelnd. Über die Rufe all
der Lebenden hinweg aber, die ihn in diesen Tagen feiern, töne die
Stimme eines der größten Forscher deutscher Nation, des genialen
Helmholtz, der in seiner Rede über „Goethes Vorahnungen kommen-
der naturwissenschaftlicher Ideen" (gehalten in Weimar anläßlich der
315
Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft) 1892 Haeckel als „einen
der ideenreichsten Vertreter der Entwicklungslehre" feierte.
Und so mag der stille Zufluchtsort, wohin sich Haeckel vor dem
Jubiläumsgedränge geflüchtet, ihn wohl der Schar seiner Verehrer ent-
rücken, nicht aber dem geheimnisvollen Geistergruße, der von den
großen Toten zu den großen Lebenden hinüberfindet und sie zeichnet
als ihresgleichen, mit dem unauslöschlichen Merkmal des Ruhmes,
für das All und für alle gelebt zu haben!
3l6
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CARL KOTTHAUS, MÜNCHEN: HAECKELS KOPF-
UND GESICHTSBILDUNG
EINE BIOLOGISCH-PHYSIOGNOMISCHE STUDIE
(Mit zwei photographischen Bildnissen1)
o o o
Doch bleibet immer das schönste Denk-
mal des Menschen eigenes Bildnis. Dieses
gibt mehr als irgend etwas anderes einen
Begriff von dem, was er war. (Goethe.)
I.
Wenn wir die vorstehenden Worte von Goethe als zu Recht be-
stehend anerkennen wollen, so müssen wir uns freuen, daß wir
von Ernst Haeckel so viele ausgezeichnete Bildnisse besitzen. Sie
offenbaren uns von seiner Persönlichkeit mehr, als alle Beschrei-
bungen und Biographien. Hier redet die Sprache der Natur. Das
Gesicht des Menschen ist ein Dokument von ihrer Hand. Es ist be-
dauerlich, daß diese Naturinschriften in ihrer wahren Bedeutung
so wenig erkannt und verstanden werden.
Schopenhauer behauptet mit Recht: „Das Gesicht eines Menschen
sagt gerade aus, was er ist, und täuscht es uns, so ist dies nicht seine,
sondern unsre Schuld." Und ferner: „Allerdings ist die Entzifferung
des Gesichts eine große und schwere Kunst. Ihre Prinzipien sind nie
in abstracto zu erlernen." —
Im Gegensatz zu allen bisherigen Versuchen, welche ausschließ-
lich von empirischen, physiologischen oder metaphysischen Voraus-
setzungen ausgegangen sind, erblicke ich in der Biologie — im wei-
testen Sinne — die eigentliche Grundlage jeder ernsthaften physio-
gnomischen Forschung. Das Leben ist der universelle Schöpfer und
Bildner aller organischen Formen und Farben, auch des menschlichen
Gesichtes. Die Sprache des Lebens, wie sie sich in der Körper-
und Gesichtsbildung des Menschen offenbart, zu studieren, ist die
Aufgabe der biologischen Physiognomik. Ihre naturwissen-
schaftlichen Grundlagen sind in der allgemeinen Menschenkunde
!) Dieselben stehen gegenüber den Haupttiteln des I. und II. Bandes.
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317
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gegeben. Insbesondere haben wir in bezug auf die Entwicklungs-
geschichte des Menschen und seiner äußeren Gestaltung, der „An-
thropogenie" von Ernst Haeckel die wertvollsten Aufschlüsse zu
verdanken.
II.
An Hand der beigegebenen Photographien will ich nun versuchen, eine
kurze physiognomische Analyse des Jenaer Forschers zu geben.
Ernst Haeckel ist fraglos eine der bemerkenswertesten und mar-
kantesten Persönlichkeiten unserer Zeit. Nicht nur in bezug auf sein
Leben und Wirken, sondern auch als Mensch in seiner äußeren Er-
scheinung. Haeckels Kopf- und Gesichtsbildung sind in phy-
siognomischer Hinsicht so außerordentlich interessant und charakte-
ristisch, daß wir eine dreimal so lange Abhandlung wie die vorlie-
gende schreiben müßten, wollten wir eine erschöpfende Darstellung
geben. Allein wir müssen uns auf einige allgemein gehaltene Angaben
beschränken.
III.
Am auffallendsten ist bei Haeckel zunächst die ungewöhnlich
hohe und breite Stirne, sie läßt durch ihre wohlgebildete Form
und eigenartige Plastik eine hervorragende geistige Begabung er-
kennen. Hinter dieser Stirne arbeitet ein großes, starkes und wohl-
organisiertes Gehirn, welches dem des Durchschnittsmenschen weit
überlegen ist. — Wie die immer wieder aufs neue bestätigte Tatsache
lehrt, kommt die geistige Bedeutung eines Menschen, außer im Auge,
in der Stirnbildung am stärksten zum Ausdruck. Es ist daher not-
wendig, stets hierauf in erster Linie unser Augenmerk zu richten. —
Der untere Teil der Stirne tritt bei Haeckel stark hervor: das
Zeichen einer besonderen Sinnesschärfe für das Objektive und Kon-
krete, für Naturbeobachtung- und Anschauung. Wir finden diese
Form bei vielen bedeutenden Naturforschern: Carl Vogt, Rudolf
Virchow, Gegenbaur, Pettenkofer, Galton, Forel, Semon, Wallace,
Ostwald und am auffallendsten bei Darwin, dem genialsten aller Natur-
beobachter. Im Gegensatz hierzu finden wir bei Kant, du Prel und
anderen abstrakten Denkern den unteren Teil der Stirne verhältnis-
mäßig schwach entwickelt.
Wie Wissenschaft und Erfahrung lehren, stehen die höheren gei-
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318
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stigen Fähigkeiten eines Menschen mit der Entwicklung der vorderen
und oberen Gehirnpartien in unmittelbarem Zusammenhang. Die
Entwicklung des Gehirns aber findet in der Bildung des Schädels
ihren lebendigen Ausdruck. Dieses sehen wir auch bei Haeckel.
Die außerordentliche Entwicklung der oberen Stirnpartie — welche
durch ihre ungewöhnliche Höhe, Breite und plastische Form eine
starke schöpferische Kraft erkennen läßt — steht zu seinen geistigen
Fähigkeiten und Leistungen in einem übereinstimmenden Verhältnis.
In mancher Hinsicht erinnert Haeckels Stirne an diejenige Goethes,
woraus sich z. T. seine Vorliebe für den Dichter erklären läßt. Vieles
Gemeinsame ist auch in ihrer Weltanschauung und Denkungsart zu
finden: die große Liebe zur Natur, der Entwicklungsgedanke, die
Neigung zu naturphilosophischen Betrachtungen und der panthe-
istische Gottesbegriff.
Auch die schriftstellerische Begabung kommt bei Haeckel in der
Stirnbildung deutlich zum Ausdruck. Es zeigt sich dieses besonders
in einer eigentümlichen Klarheit der Formen und in der schönen
Abrundung der Stirne nach oben. — Leider läßt sich dies auf schrift-
lichem Wege schwer näher erläutern ; es könnte nur durch vergleichende
Demonstrationen an lebenden Menschen oder entsprechenden Bildern
geschehen. Diese Besprechung bezieht sich lediglich auf die bei-
gegebenen Photographien. Es sind Aufnahmen aus der letzten Zeit.
IV.
Die Augen sind bei Haeckel nicht eigentlich ,,groß" wie bei
Kant, Fichte oder Goethe, dafür aber positiver und schärfer. Es sind
nicht die Augen des Metaphysikers, des Dichters oder Psychologen,
sondern des scharf analysierenden Naturbeobachters, des Realisten
und Kritikers. Diese Augen verraten Lust und Freude am objek-
tiven Sehen, Untersuchen und Vergleichen, auch des Kleinsten.
Haeckels Welt liegt weniger im Menschen selbst, als außer ihm.
Daher ist er auch als Naturforscher — wo er es mit Objekten zu
tun hat — viel bedeutender denn als Psychologe, da ihm das tiefere
Interesse und Verständnis für das Subjektive im Menschen mangelt.
Auch in seinen malerischen Studien (Kunstformen der Natur usw.)
hat Haeckel sich im allgemeinen der größten Naturtreue befleißigt.
Er ist ein reiner Naturkünstler in des Wortes realster Bedeutung.
E]gggB]gggggggggg^ggggggg^ggggB]B]B]E]E]E]B]EIE]E]E3E]E]E]E]E]5]E]E]E]E]E]E]5]
319
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Aber diese Augen verraten uns noch mehr. Aus ihnen lacht die
helle Freude am Leben, die Lust zu kämpfen und nicht zuletzt — der
Schalk. Man muß es selbst gesehen haben, wie diese Augen bei an-
regendem Gespräch funkeln und sprühen können und welche Lust
am Scherzhaften und Ironischen sich schalkhaft hinter ihnen zu ver-
bergen sucht. Doch wer zu sehen vermag, der wird sich auch aus
den beifolgenden Bildern hiervon einen anschaulichen Begriff zu
machen verstehen. — Welche Wohltat, daß der natürliche Glanz
dieser Augen in seiner Wirkung auf den Beschauer nicht durch die
berühmte „Gelehrtenbrille" beeinträchtigt wird. —
V.
Über den „hervorragendsten" Gesichtsteil des Menschen, die Nase
und deren physiognomische Bedeutung, ist zu allen Zeiten viel dis-
kutiert worden. Durch die Entwicklungslehre wird dieses „Problem"
in der befriedigendsten Weise geklärt. Der Urmensch, sowie fast
alle primitiven Völker hatten, bzw. haben mehr oder weniger kurze,
breite und platte Nasen. Mit der kulturellen Höherentwicklung des
Menschen ist auch die Nase größer, schmaler und länger geworden;
sie tritt gewissermaßen mehr aus dem Gesichte heraus.
Bei den „herrschenden" Völkern finden wir im allgemeinen auch
die größten Nasen — vorausgesetzt, daß sich die anderen Gesichts-
teile nicht in einem primitiven oder verkümmerten Zustande befinden.
Diese Regel können wir auch auf das Individuum im einzelnen an-
wenden. Julius Cäsar, Friedrich der Große, Napoleon I., Goethe,
Richard Wagner, William Booth — alles Menschen mit einer starken
persönlichen Initiative — hatten große, vorspringende Nasen. Eine
starke persönliche Initiative werden wir aber auch Ernst Haeckel
nicht absprechen können. Er ist ohne Rücksicht auf die Urteile seiner
Zeitgenossen zielbewußt und konsequent seinen eigenen Weg ge-
gangen — und die Erfolge sind nicht ausgeblieben.
Die große, etwas nach außen gebogene Nase gibt Haeckels Gesicht
einen Zug ins Einheitliche und Kraftvolle. Hiermit im Zusammenhang
steht ein gewisses Organisations- und Dispositionstalent, sowie Inter-
esse für Geographie und Reisen. Haeckel ist weder Pedant noch Phili-
ster, eher besitzt er etwas von einem Diktator und Autokraten, wie fast
alle die oben genannten Männer mit großen, vorspringenden Nasen.
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320
VI.
Der etwas geöffnete Mund mit der sympathisch geformten Unter-
lippe ist charakteristisch für die leichte, freundliche und anregende
Art, mit welcher Haeckel die Konversation zu führen versteht. Dieser
Mund ist zum Reden, zum Erzählen und Scherzen wie geschaffen.
Haeckel ist kein „Schweiger" wie Moltke mit seinem schmallippigen,
festgeschlossenen Munde. Der leichte und anregende Stil, welcher
uns in allen Schriften Haeckels begegnet, steht mit seiner Gabe zu
sprechen und zu dozieren in innigem Kontakt.
Die verhältnismäßig kurze Oberlippe ist gleichfalls ein Merkmal
des höher entwickelten Kulturmenschen. Sie kennzeichnet das Vor-
walten intellektueller Interessen im Gegensatz zu den physischen Be-
dürfnissen des Körpers.
Haeckel trägt einen Vollbart, wie die meisten großen Natur-
forscher. Der natürlich-schlichte und väterliche Ausdruck seines Ge-
sichtes wird hierdurch nicht unwesentlich erhöht. Auch verleiht der
Bart seinem männlichen Haupte zugleich eine patriarchalische Würde.
VII.
Die Ohren sind bei Haeckel verhältnismäßig groß, namentlich
sind die „Läppchen" lang und kräftig geformt. Nach meinen viel-
jährigen Beobachtungen und Erfahrungen sind solche Ohren in der
Regel das Kennzeichen einer großen Zähigkeit und Lebensenergie.
Goethe, Kaiser Wilhelm I., Bismarck, Papst Leo XIII., Prinzregent
Luitpold von Bayern, W. Booth, Tolstoi, Wallace hatten ungewöhn-
lich große und markant geformte Ohren. Alle führten ein arbeits-
reiches Leben und alle erreichten ein Alter von über 80, teilweise
sogar über 90 Jahren. Dagegen hatten Schiller, Mozart, Napoleon I.,
Nietzsche, E. A. Poe, Carl du Prel verhältnismäßig kleine Ohren.
Alle starben vor oder bald nach dem 50. Lebensjahre.
Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich jedoch ausdrück-
lich darauf hinweisen, daß — ähnlich wie in der Medizin — ein ein-
zelnes physiognomisches Kennzeichen an sich keineswegs eine sichere
Diagnose oder Prognose gestattet, sondern daß es immer wieder darauf
ankommt, in welchem Verhältnis diese einzelnen Teile zu den übrigen
Organen stehen.
Eine besondere musikalische Begabung läßt Haeckels Ohr nicht
21 Haeckel-Festschrift. Bd. II
321
erkennen; es entbehrt der feineren Modellierung, welche wir beispiels-
weise an den Ohren von d' Albert, Richard Strauß, Mascagni, Wein-
gartner und anderen berühmten Musikern bewundern.
Hingegen ist die Stellung von Haeckels Ohren charakteristisch.
Sie stehen etwas schräg nach hinten und im oberen Teile — wenn
auch nicht so stark wie bei Windthorst und Schopenhauer — seit-
lich vom Kopfe. Hierdurch wird insbesondere Haeckels Neigung zur
Opposition und Polemik physiognomisch gekennzeichnet.
VIII.
Haeckels Schädel besitzt den geradezu enormen Umfang von
62 cm. Der Kopfumfang der meisten Männer beträgt dagegen im
Durchschnitt ca. 56 cm. Nur wenige Berühmtheiten haben es auf
einen Umfang bis zu 60 cm gebracht.
Die Form des Schädels erscheint, auch von der Seite gesehen,
außerordentlich günstig. Bemerkenswert ist die hohe Wölbung des
Oberkopfes. Wie bei Schopenhauer und Tolstoi deutet diese Form
auf die Neigung, sich mit religionsphilosophischen Fragen zu beschäf-
tigen. Haeckel ist im Grunde — wenn auch nicht im kirchlichen,
so doch im naturphilosophischen Sinne — ein ideal gesinnter, reli-
giöser Mensch. Mit größerer Tiefe und Begeisterung wie er hat bisher
kaum jemand die Wunder der Natur gesehen und von ihrer Schön-
heit seinen Mitmenschen gepredigt.
Wie viele physiognomische Details ließen sich aus diesem Kopfe
noch herausholen. Wie manches könnte ich von dem Eindruck er-
zählen, welchen Haeckels lebendige Persönlichkeit, gelegentlich eines
Besuches in Jena, auf mich gemacht hat. Aber dieses alles hoffe ich
einmal mit mehr Muße und einer ausführlichen Begründung in einer
anderen Schrift zur Darstellung zu bringen.
IX.
Überblicken wir das Gesicht als Ganzes, so fesselt uns beson-
ders der heitere und freie Ausdruck, welcher — trotz der 80 arbeits-
und kampfesreichen Lebensjahre — der Physiognomie des berühmten
Forschers einen jugendlich-optimistischen Glanz verleiht. Welch ein
Gegensatz zu dem zwar genialen, aber saueren und griesgrämigen
Gesichte Schopenhauers! —
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322
Auch wer von der Physiognomik nicht viel versteht, sieht es diesem
Gesichte an, daß Haeckel ein Mann ist, der herzlich lachen und sich
kindlich freuen kann, bei dem die Gelehrsamkeit den natürlichen
Menschen nicht erstickt hat.
Wieviel Urwüchsigkeit und naives Glücksgefühl leuchtet aus diesem
Kopfe! Schaut dieser Mensch nicht in die Welt wie ein fröhlicher
Wandersmann ? ! — Und werden wir nicht alle von seinem aus der
Tiefe geborenen Lächeln mit angesteckt?! — Ja, Haeckel ist ein
Lebenskünstler, der es verstanden hat, neben dem Ernsten und Schwe-
ren das Heitere und Schöne nicht zu vergessen. Sein Bild soll uns
stets erhalten bleiben als das beste Denkmal einer der bedeutendsten
Individualitäten unserer Zeit und nicht zuletzt als der Typus eines
echten Deutschen und reinen Germanen.
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323
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HELENE STÖCKER, BERLIN-NIKOLASSEE
o o o
Wenn man lange Jahre Ernst Haeckels Namen als den eines unserer
hervorragendsten Kämpfer für eine moderne Weltanschauung
in seinem Bewußtsein getragen hat, ist es gar nicht so leicht, sich eine
Zeit zu rekonstruieren, in der diese Aufnahme noch nicht erfolgt war.
Wenn ich heute meiner Erinnerung nachgehe, um festzustellen, wann
der Name Ernst Haeckels für mich zuerst persönliche Bedeutung
gewonnen hat, so komme ich auf ein Buch zurück, das im Jahre 1895
unter dem Titel „Von Darwin bis Nietzsche" erschienen ist —
„ein Buch Entwickelungsethik" von Alexander Tille (Leipzig, Verlag
von Naumann, 1895). Für mich, die ich eine begeisterte Schülerin
des Philosophen Nietzsche war, der zuerst die neuen Erkenntnisse
und Umwälzungen der modernen Wissenschaft für unsere Welt-
anschauung, speziell für unsere Ethik, im großen Stile fruchtbar
zu machen versuchte, für mich hatte dies Buch durch Thema und
Tendenz das lebhafteste Interesse. In dem Vorwort dieses Buches
las ich den Satz: ,,Wenn ich hier einen Dank für Förderung aus-
sprechen soll, die ich bei diesem Buche erfahren habe, so teilt sich
derselbe zwischen einem Deutschen und einem Engländer. Was ich
an Kenntnis den Werken Ernst Haeckels verdanke, das steht auf
jeder Seite meines Buches geschrieben." — Als ich einige Jahre später
einen Winter an der schottischen Universität Glasgow studierte, wo
der nun bereits verstorbene Verfasser dieses Buches damals Dozent
für deutsche Literatur war, da hat es oft an dem behaglichen schot-
tischen Kaminfeuer heiße Dispute über die Überlegenheit der Geistes-
wissenschaft oder der Naturwissenschaft gegeben. In jenen von dich-
tem schottischen Winternebel erfüllten Tagen kam mir die „Natürliche
Schöpfungsgeschichte" Haeckels zuerst in die Hände. So sehr ich
nun rein theoretisch auch die Bedeutung dieser neuen Entdeckungen
anerkennen mußte, so ist mir eine persönlichere nähere Beziehung zu
Haeckels Schaffen doch erst später und mehr von einer anderen Seite
seiner Wirksamkeit aus aufgegangen. Erst als ich nach Vollendung
meiner Studienzeit an dem großen Kulturkampf unserer Zeit teil-
nahm und für die Befreiung von lähmenden mittelalterlichen Vor-
stellungen, von glückstörenden Hemmungen in der Sphäre der Liebe,
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324
Ehe und Elternschaft eintrat, begann ich die ganze Bedeutung eines
Kampfes zu verstehen, wie der war, dem Haeckel sein Leben gewidmet
hat. Er schien mir wirklich in seiner Art die ganz seltene Er-
scheinung, die wir unter unseren offiziellen Vertretern der Wissen-
schaft meist so schmerzlich vermissen: ein „Professor", ein Bekenner
und Kämpfer für seine Überzeugung. Der großen Majorität seiner
Berufsgenossen gegenüber fühlt man sich unwillkürlich an die Worte
Richard Wagners erinnert, mit denen er den jungen Nietzsche
einst gegen die dünkelhafte Geringschätzung und Verächtlich-
machung durch die philologischen Berufsgenossen nach dem Er-
scheinen seiner ersten Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik" verteidigte. Wagner meinte da, es scheine, als ob
diese offiziellen Vertreter der Wissenschaft nur „für sich selbst" da
seien, um wieder Vertreter einer bestimmten Wissenschaft hervor-
zubringen. „Man sieht, die indischen Brahmanen waren nicht er-
habener gestellt, und man darf daher von ihnen wohl dann und
wann ein Gotteswort erwarten, und wirklich erwarten wir dies:
wir erwarten nämlich, daß einmal aus dieser wundervollen Sphäre
ein Mensch herausträte, um ohne Gelehrtensprache und gräßliche
Zitate uns zu sagen, was denn die Eingeweihten unter der Hülle
ihrer uns Laien so unbegreiflichen Forschungen gewahr werden, und
ob dieses der Mühe, der Unterhaltung einer so kostbaren Kaste wert
sei. Aber das müßte dann etwas Rechtliches, Großes und weithin
Bildendes sein." Der Hochmut der Mandarinenkaste, der heute so
wenig wie vor vierzig Jahren zugeben will, daß die Resultate der
Wissenschaft auch den Menschen im allgemeinen zugänglich gemacht
werden, dieser Hochmut ist es, der auch bis heute noch der Bedeutung
von Haeckels Wirksamkeit nicht gerecht werden kann. Wir aber,
die wir meinen, daß die Wissenschaft nicht nur einigen Gelehrten,
sondern dem Leben dienen soll, daß sie, aller reinen Forschung
unbeschadet, doch zur Erhöhung, Besserung, Bereicherung des
menschlichen Lebens, des sozialen Lebens bestimmt ist, wir meinen,
wir können einem Manne nicht dankbar genug sein, der seine bahn-
brechende wissenschaftliche Forschung bewußt in den Dienst des
Lebens, des großen sozialen Lebens gestellt hat. Ihm war die „doppelte
Buchführung" unerträglich, die von Seiten vielleicht großer Gelehrter,
aber schwächerer Charaktere betrieben wird, die sich ängstlich vor
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325
jeder Berührung mit der Allgemeinheit fernhalten und die glauben,
so lange nicht alle Rätsel des Daseins gelöst seien, dürfe man auch
von den relativ gesicherten Ergebnissen noch nichts mitteilen. Ernst
Haeckel dagegen war, wie seinem großen englischen Vorgänger und
Mitkämpfer Alfred Wallace, vor allem klar: „Verglichen mit unseren
erstaunlichen Fortschritten in den physikalischen Wissenschaften
und ihrer praktischen Anwendung bleibt unser System der Regierung,
der administrativen Justiz, der Nationalerziehung und unsere ganze
soziale und moralische Organisation in einem Zustand der Barbarei!"
Seine Bedeutung für unsere Kultur liegt daher, wie mir scheint, in
der leider so seltenen Vereinigung von intensivster Forschergabe mit
dem Mute der Überzeugung, mit der Wärme seiner Menschenliebe,
wie ja übrigens dieser von der sogenannten „christlichen" Staats-
kirche so heiß befehdete angebliche Antichrist die soziale Ethik des
Christentums, den Altruismus, jederzeit zu der seinen gemacht hat.
Eine persönliche, außerordentlich erfreuliche, wenn auch kurze
Begegnung mit Haeckel wurde mir vor einigen Jahren zuteil. Als
ich im November 1908 einen Vortrag in Jena über meine Be-
strebungen: einen besseren Schutz der Mutter, der neuen Generation,
der Verfeinerung der Liebesmoral hielt, hatte ich die Freude, Ernst
Haeckel zu den anwesenden Zuhörern zählen zu dürfen. Er machte
sich mir nach dem Vortrag bekannt und schloß sich unserer Organisation
im Bunde für Mutterschutz an. „Zur freundlichen Erinnerung an unsere
Begegnung in Jena" sandte er mir später seine „Welträtsel " und sein
Bild mit sehr freundlichen Widmungen. Wir verabredeten noch einen
persönlichen Besuch in seinem Hause für den nächsten Tag. Ich mußte
an diesem Tage zu einer bestimmten Stunde Weiterreisen, da ich am
Abend wiederum in einer anderen Stadt einen Vortrag zu halten hatte.
Als ich nun zur festgesetzten Stunde im Begriff war, den Besuch, dem ich,
wie sich denken läßt, mit großer Freude entgegensah, auszuführen,
trat mir beim Fortgehen ein junger Mann entgegen, der dringend
meinen Rat und meine Hilfe für eine in Not und Verlassenheit befind-
liche außereheliche Mutter, — es war eine junge Lehrerin — die in
diesen Tagen ihr Kind erwartete, in Anspruch nahm. Ich stand
in dem Augenblick nur vor der Wahl, entweder dieser Bitte zu
entsprechen oder meinen Besuch bei Ernst Haeckel aufzugeben, was
mir begreiflicherweise ein großes Opfer war. Ich darf vielleicht sagen,
ggggggggggggggggggggggggggggggE]5]E]gs]E]G]G]E]E]E]E]E]E]G]B]E]E]E]E]E]E]
326
daß mir selten die Erfüllung der freiwillig übernommenen Pflicht, für
die Besserung des Loses verlassener Mütter und Kinder zu kämpfen,
so schwer geworden ist wie in jenem Augenblick, — unter diesem
Konflikt zwischen der Erfüllung einer als Pflicht empfundenen Auf-
gabe — und dem großen Wunsche, den verehrten großen Vorkämpfer
einer freiheitlichen Weltanschauung noch eingehender persönlich kennen
zu lernen. Aber ich mußte mir sagen, daß gewiß mein Verzicht — indem
ich, so gut es ging, für jene Mutter noch Unterstützung und Unter-
kunft bei gesinnungsverwandten Menschen zu schaffen versuchte —
durchaus in dem Geiste des verehrten Kämpfers sei, dem ich gerne
meine Ehrfurcht noch einmal persönlich ausgesprochen hätte — und
daß ich ihm und seiner Lebensarbeit gewiß so auch am besten
gerecht wurde.
Seitdem bin ich Haeckel nicht wieder persönlich begegnet; aber
mit den Schwierigkeiten des eigenen Kampfes gegen Mittelalter und
Reaktion auf dem Gebiet des Geschlechtslebens ist mir das Ver-
ständnis für Haeckels Bedeutung immer besser aufgegangen, ist stets
gewachsen und hat sich vertieft."
So muß ich in Ernst Haeckel nicht nur einen großen Naturforscher
sehen, der lebenslang bemüht war, „dem Knochengerüst der philo-
sophischen Spekulation das Blut der Naturwissenschaft zuzuführen",
der das in jedem tieferen Menschen vorhandene Bedürfnis nach einer
Weltanschauung auch zu befriedigen bemüht war, — sondern den von
wärmster Menschenliebe beseelten Forscher, der für die Befreiung
des Geistes und für die Verschönerung und Verbesserung unseres
Lebens mit nie versagendem Mute Großes, Unverlierbares gewirkt
hat. Man kann sich die heftige Gegnerschaft gegen Haekels tapfere
starke schlichte wahrhafte große Persönlichkeit nur damit erklären,
daß diese Gegner seine eigentlichen Ziele und Bestrebungen gar
nicht kennen. Hätten wir unter unseren Führern der Wissenschaft
nur noch ein Dutzend so starker Persönlichkeiten, die mit gleicher
Energie und Unerschrockenheit die Resultate der Wissenschaft
auch für die anderen, für die Allgemeinheit fruchtbar zu machen
versuchten — wir würden dem wahren „Kulturstaate", dem wir
alle mit unserer Arbeit entgegenstreben, um ein Unendliches näher-
gebracht. In dem großen Kulturkampf um die Befreiung der Persön-
lichkeit auf allen Lebensgebieten, — die sich zugleich ihrer so-
327
zialen Gebundenheit stets bewußt bleiben muß, — in der
Erkenntnis, daß nicht nur das eigene Glück, sondern erst dasjenige
der Gemeinschaft das höchste eigene zu geben vermag, in diesem
großen Kulturkampf ist Ernst Haeckel einer der tapfersten, kühnsten,
entschlossensten, bahnbrechendsten Führer. Die große geistige Be-
wegung einer neuen Weltanschauung und Lebensgestaltung, die er
jetzt — und zu einem wesentlichen Teil völlig in seinem Sinne —
ringsum sich entwickeln sieht, die Resultate, die diese Bewegung
hoffentlich noch erringt, mögen ihm heute der beste Dank für seine
Lebensarbeit sein, als ein lebendiges Zeichen, daß sein Wirken —
trotz aller Anfeindung und Verleumdung — reiche Frucht ge-
tragen hat.
001 — «■"
328
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MAX VERWORN, BONN
o o o
Es war im Jahre 1880. Ich saß in der Obersekunda, und die Lektüre
von Piatos und Ciceros philosophischen Schriften brachte mich
zum ersten Male mit philosophischen Problemen in Berührung. Be-
sonders die hier mehrfach behandelte Frage nach der Unsterblichkeit
der Seele machte damals tiefen Eindruck auf mich und regte mich
zum eigenen Nachgrübeln an. Nicht daß etwa die Lehrer jemals
den Inhalt dieser Lektüre zur Erörterung philosophischer Fragen
mißbraucht hätten! Um Gottes willen! Diese Schriftsteller waren
lediglich dazu da, daß wir die Feinheiten der griechischen und
lateinischen Grammatik und Syntax an ihnen studierten. Aber es gab
doch drei oder vier Jungens unter uns, die auch die perverse Neigung
hatten, sich bei dem Inhalt des Gelesenen etwas zu denken, und so
hatte ich mit zwei oder drei Freunden auf unseren Spaziergängen nicht
selten eifrige philosophische Gespräche. Längst hatte mich das Inter-
esse für die Naturwissenschaften, die Chemie und Physik, die Zoologie
und Geologie gefangen genommen und zur Anlage von Sammlungen ver-
anlaßt. So hatte ich mich entgegen der Erziehung durch das Gymnasium
gewöhnt, mich auch mit konkreten Dingen zu befassen und anschau-
lich zu denken. Von dieser Basis aus aber erschienen mir die Beweis-
führungen der alten Philosophen manchmal etwas naiv. Da wollte es
der Zufall, daß mir Ludwig Büchners Vorlesungen über den Darwinis-
mus in die Hände kamen. Bis dahin hatte ich den Namen Darwins
nur selten gehört und dann lediglich in der Konfirmationsstunde als
den eines schlimmen Ketzers, der viel „Verwirrung" mit seinen „Irr-
lehren" gestiftet habe. Dieses gelegentliche Auftauchen seines Namens
hatte mich nicht weiter berührt. Nun lernte ich die Lehren zum
erstenmal selbst kennen, und sie wurden zu einer um so mächtigeren
Anregung für mich, als Büchner in seinen Vorlesungen vom darwi-
nistischen Standpunkte aus auch rein philosophische Fragen erörterte.
In jener Zeit fanden heftige philosophische Kämpfe in der Klasse
statt. Es bildeten sich bisweilen zwei Parteien, eine naturwissen-
schaftlich-philosophische und eine philologisch-theologische. Der
Lehrer wurde im Anschluß an die Lektüre nicht selten in Streitfragen
hineingezogen, mochte er wollen oder nicht. Ein dramatischer Auf-
329
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tritt dieser Art ist mir noch lebhaft in der Erinnerung. Als offizieller
„Naturforscher" und „Philosoph" in der Klasse war ich wieder ein-
mal vorgeschoben worden, um in erprobter Weise durch die Ver-
wicklung des Lehrers in eine philosophische Streitfrage zu verhin-
dern, daß unsere lateinische Präparation kontrolliert wurde. So kam
es sehr bald wider Willen des Lehrers zu einer lebhaften Diskussion
über die Unsterblichkeit der Seele. Schließlich waren wir auf die Frage
nach der Herkunft des Menschen gekommen, und ich hatte eben den
darwinistischen Standpunkt eifrig vertreten, als es läutete. Da schloß
unser Klassenordinarius, indem er seinen Cicero zuklappte, mit der
geschmackvollen Wendung: „Na, wenn Ihr Vater ein Affe ist, meiner
ist keiner." Die Stunde war aus. Unser Zweck war erreicht, und ich
erntete den Dank meiner Partei. Es ist verständlich, daß unter sol-
chen Verhältnissen die Beschäftigung mit naturwissenschaftlich-
philosophischen Fragen nur noch größeren Reiz für mich und einige
Freunde gewann.
So war der Boden gut präpariert, und da kam der Punkt, wo
Haeckel zum erstenmal in mein Leben eintrat. Ich hatte mir zu mei-
nem Geburtstage Haeckels ,, Natürliche Schöpfungsgeschichte" ge-
wünscht. Das erste, was mich schon beim Aufschlagen des Buches
fesselte, war das schöne und freie, ernste und doch so sympathische
Bildnis des Verfassers. Aber sehr bald fesselte mich der Inhalt noch
unvergleichlich mehr. Hier fand ich die Fragen, die mich so lebhaft
beschäftigten, sämtlich in konsequenter Weise vom entwicklungs-
geschichtlichen Standpunkte aus behandelt. Ich konnte immer nur
kurze Stücke in dem Buche hintereinander lesen, so erregte die Lek-
türe meinen jungen Geist und zwang ihn zum eigenen Weiterdenken!
Die wichtigste Anregung, die ich Haeckel auf biologischem Gebiet
verdanke, hatte hiermit ihre Wirkung begonnen. Es war die Durch-
dringung meines Denkens mit dem Entwicklungsgedanken. Der
„Natürlichen Schöpfungsgeschichte" folgten bald andere Bücher Haek-
kels. Seine Studien über Moneren beschäftigten speziell den Natur-
forscher in mir, der Geist seiner Schrift über freie Wissenschaft und
freie Lehre packte den ganzen Jüngling.
Als Student konnte ich endlich in meinem dritten Semester dem
lange gehegten Wunsch folgen und einen Sommer in Jena studieren.
Hier stand ich im April 1885 dem Manne, der mich so mit Begeiste-
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330
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rung erfüllt hatte, zum erstenmal persönlich gegenüber. Natürlich
hatte ich ihn mir anders gedacht. Er war ja auch etwas älter als auf
dem Bilde. Aber was mich sofort gefangennahm, war die unge-
zwungene Liebenswürdigkeit und die hinreißende Lebhaftigkeit seines
Wesens. Hier stand ein natürlicher, freier, furchtloser Mann vor mir,
der in seiner harmonischen Menschlichkeit ein Ideal bildete, wie es
in dieser Vollkommenheit meinem jugendlichen Auge noch nicht be-
gegnet war. Was ich dann im Kolleg hörte, war mir bereits zum Teil
bekannt aus der Lektüre von Haeckels Arbeiten. Viel neue Anregung
aber bot mir das zoologische Praktikum, an dem nicht viel mehr als
zwanzig Studenten teilnahmen. Hier kam man in engere persönliche
Fühlung mit Haeckel. Den tiefsten Eindruck machte auf mich in
diesen Stunden die erste Bekanntschaft mit der lebendigen Zelle.
Als ich sah, wie die einzelligen Infusorien unter dem Mikroskop sich
bewegten, Nahrung aufnahmen und in mannigfaltiger Weise rea-
gierten, als ich beobachtete, wie die abgetrennten Flimmerzellen
einer Muschel im Wassertropfen ein selbständiges Dasein führten,
als ich erkannte, wie sich aus der Teilung der Eizellen der gewaltige
Zellenstaat aufbaut, den wir nachher im vollentwickelten Tier oder
Menschen vor Augen haben, da wurde mir zum ersten Male die Offen-
barung, daß hier in der einzelnen Zelle bereits die sämtlichen Pro-
bleme des Lebens verborgen liegen, und der Wunsch, die Enthüllung
derselben nach ihrer physiologischen Richtung hin selbst einmal in
Angriff zu nehmen, begann bereits damals in mir zu keimen.
Die nächsten Semester, die ich wieder in Berlin verbrachte, er-
weiterten meine speziellen Kenntnisse von der Zelle und ihrem Leben
bedeutend. Niemals werde ich die Fülle von Anregung vergessen,
die ich in dem Laboratorium meines verehrten Lehrers Franz Eilhard
Schulze beim Studium der Protozoen empfing. In seiner vorsichtig-
kritischen Weise führte er mich in die sorgfältige, geduldige und vor-
urteilslose Beobachtung der Formenfülie und der Lebensäußerungen
der einzelligen Organismen ein und kam so meinen eigenen Wünschen
in willkommenster Weise entgegen.
Nicht immer war es in jener Zeit in Berlin eine Empfehlung,
wenn man sich zu Haeckels Anschauungen bekannte. Ich habe das
beim philosophischen Doktorexamen erfahren. Als ich in der Philo-
sophie geprüft werden sollte, sagte ich mir, daß ich bei meiner leb-
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haften Beschäftigung mit den Problemen und der Geschichte der
Philosophie, ohne mich besonders erst zum Examen einzupauken,
gewiß so viel Kenntnisse besäße wie jeder Durchschnittsdoktorand,
der in der Philosophie als Nebenfach geprüft wird. Da ich infolge-
dessen keinen besonderen Wunsch hinsichtlich des Examinators ge-
äußert hatte, wurde ich dem allgemein als „gefährlich" gemiedenen
Professor Dilthey zugewiesen, den ich nie zuvor gesehen hatte. Als
ich Dilthey besuchte, um ihn zum Doktorexamen einzuladen, fragte
er mich, wofür ich mich besonders interessierte. Ich sagte ihm ganz
ehrlich: ,,Für den modernen Monismus." Das war verfehlt, wie ich
gleich sah. „Monismus? Monismus kenne ich nicht! Na wir werden
ja sehen!" Das war Diltheys ermutigende Antwort. Am Tage des
Doktorexamens legte er mir wieder dieselbe Frage vor. Das war
mir verdächtig, und ich antwortete: „Spinoza", was ebenso zutref-
fend war. „Nun dann setzen Sie mir einmal die Grundzüge der Leib-
nizschen Philosophie auseinander!" Ich dachte mir: freundlich ist das
nicht, jemanden erst zu fragen, wofür er sich besonders interessiert,
und ihn dann über etwas ganz anderes zu prüfen. Aber mir war
Leibniz ebenso recht wie Spinoza, und so begann ich denn ausein-
anderzusetzen, in welcher Weise Leibniz durch Giordano Bruno und
Spinoza beeinflußt wäre. Ich habe das gewiß nicht sehr geschickt
gemacht. Kaum waren die ersten Worte meinen Lippen entflohen, da
sprang Dilthey mir über den Tisch entgegen mit blaurotem Gesicht und
schrie mich an: „Wollen Sie mich uzen?" Ich habe mir diese Worte
gemerkt, weil sie mir ungewöhnlich erschienen. LTngewöhnlich war auch
der Eindruck, den sie im Prüfungssaale machten, denn nun strömten von
allen Seiten die Zuschauer zu unserem vorher einsamen Tisch, während
Dilthey, ohne daß ich weiter zu Worte kam, mir zehn Minuten lang
erregt auseinanderzusetzen suchte, was für einen komprimierten Un-
sinn ich nach seiner Meinung gesagt hatte. Das Zeugnis, das mir Dilthey
für das Fach der Philosophie gab, lautete „genügend". Ich war im
stillen verwundert, daß er sich selber so ungünstig zensierte, denn es
war ja Dilthey gewesen, der den Prüfungsvortrag gehalten hatte.
Derart waren meine Erfahrungen in Berlin. Ich sagte mir: In
Jena sind doch bessere Menschen, und ging ausgerüstet mit dem,
was ich bei Eilhard Schulze gelernt hatte und zugleich in du Bois-
Reymonds Vorlesungen und Laboratorium physiologisch mehr vor-
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gebildet, nach dreijähriger Zwischenzeit wieder nach Jena. Von nun
an blieb ich in dauerndem Konnex mit Haeckel, wenn ich auch seit-
dem im physiologischen Laboratorium arbeitete.
Die Anregungen, die ich in den folgenden Jahren von Haeckel
empfing, entsprangen vorwiegend dem persönlichen Verkehr. In jener
Zeit bildete sich allmählich in Jena ein kleiner Kreis von Biologen
der verschiedensten Gebiete heraus, der sich nach und nach ver-
größerte und in seiner durchaus zwanglosen und freundschaftlichen
Form lange Jahre bestand. Da war Stahl, der Botaniker, und Detmer,
der Pflanzenphysiologe. Da war Wilhelm Müller, der Pathologe, und
Fürbringer, der Anatom. Da war der Physiologe Biedermann und
Arnold Lang, der Ritterprofessor für Phylogenie. Da war Johannes
Walther, der Geologe, und der Zoologe Kükenthal. Da war der Ana-
tom Semon und der Chirurg Heinrich Haeckel und gelegentlich noch
mancher andere Naturforscher und Mediziner. Ernst Haeckel aber
war der Mittelpunkt. Man traf sich bei gutem Wetter regelmäßig
jeden Dienstag gegen Abend auf der Schweizerhöhe und aß sein Rost-
brätchen zum Lichtenhainer Bier. Da ging es lebhaft zu. Gespräche
über allgemein-menschliche Dinge wechselten ab mit wissenschaft-
lichen Diskussionen. Naturwissenschaftliche und medizinische Fragen
wurden erörtert, Weltanschauungsprobleme wurden behandelt und
die Ereignisse des politischen, sozialen und literarischen Lebens be-
sprochen. Manches zündende Wort, mancher sprühende Witz flog her-
über und hinüber. Eine Fülle von Anregung auf den verschiedensten
Gebieten menschlichen Geisteslebens wurde genommen und wurde
gegeben, und mancher neue Gedanke wirkte noch lange nach, wenn
wir uns spät am Abend wieder trennten. War das Wetter verlockend,
so brach der eine oder andere von uns mit Haeckel schon etwas früher
am Nachmittag auf, wenn Haeckel sein Praktikum geschlossen hatte,
um vor dem Zusammentreffen auf der Schweizerhöhe noch einen
Spaziergang durch die herrlichen Seitentäler des malerischen Mühl-
tales zu machen. Hier kam es zu intimeren Diskussionen über die
Streitfragen der Wissenschaft und Weltanschauung. Nicht immer
war in allen speziellen Punkten vollkommene Übereinstimmung zu
erzielen. Aber darin lag gerade das Anregende und Reizvolle der
Unterhaltung, daß sie noch einen Rest zum weiteren Nachdenken für
jeden zurückließ, und die großzügige freie Gesinnung Haeckels war
333
jederzeit bereit, eine abweichende Meinung, die einer ehrlichen Über-
zeugung entsprang, zu würdigen. So knüpften sich auch die Bande,
durch die Haeckel mich selber gefesselt hatte, von Jahr zu Jahr enger.
Mein Bericht über das, was ich Haeckel verdanke, wäre lückenhaft,
wenn ich nicht meine Reisen erwähnte, an denen er keinen geringen
Anteil hat. Nicht nur, daß die große Freude am Reisen und am Natur-
genusse von ihm auf seine Schüler überging, so daß die meisten
von ihnen selbst wieder große Reisen unternahmen, nein, auch durch
Zuschüsse aus der Ritterstiftung unterstützte er diese Forschungs-
reisen. So ermöglichte auch mir die Ritterstiftung im Verein mit
den Mitteln der Berliner Akademie eine zweimalige größere Studien-
reise nach verschiedenen Punkten des Mittelmeeres und des Roten
Meeres, Reisen, die für meine Entwicklung als Physiologe und als
Mensch eine gleich ausschlaggebende Bedeutung gewonnen haben.
Nie hat sich in meinem Leben mein Gesichtskreis für die Beurteilung
allgemein-menschlicher Dinge sowohl, wie speziell wissenschaftlicher
und philosophischer Fragen in so kurzer Zeit so enorm erweitert
wie in dem einen Jahre meiner ersten Studienreise, die mir gleichzeitig
die Bekanntschaft mit meiner zukünftigen Frau brachte. Auf dieser
Reise nahmen besonders bei langen, einsamen Ritten durch die Wüste
meine weiteren Arbeitspläne festere Gestalt an. Auf dieser Reise
entstand auch die Idee meiner Allgemeinen Physiologie. Diese Reise,
und zwar schon die voraufgehende freudige Erwartung, mit der ich
sie antrat, dann aber weiter die Begeisterung, mit der ich sie ausführte,
zugleich erfolgreich arbeitend und froh genießend, verdanke ich in
erster Linie Haeckel.
Soll ich schließlich sagen, wofür ich Haeckel unter allem, was ich
von ihm empfangen habe, am meisten dankbar bin, so ist es nicht
bloß die erste Einführung in die Geheimnisse des Zellebens, nicht bloß
die tiefgehende Bekanntschaft mit dem Entwicklungsgedanken und
seinen weitreichenden Konsequenzen, nicht bloß die Anregung zur
unermüdlichen Arbeit an einer einheitlichen und harmonischen Welt-
anschauung, sondern in erster Linie die begeisterte Liebe für ein
natürliches, freies und schönes Menschentum. Daß Haeckel mir
gerade in meinen entscheidenden Entwicklungsjahren den Sinn da-
für geweckt hat durch das Vorbild seiner eigenen Persönlichkeit,
das werde ich meinem alten Lehrer und Freunde niemals vergessen.
334
MAX FÜRBRINGER, HEIDELBERG: WIE ICH ERNST
HAECKEL KENNEN LERNTE UND MIT IHM VER-
KEHRTE UND WIE ER MEIN FÜHRER IN DEN
GRÖSSTEN STUNDEN MEINES LEBENS WURDE
o o o
Die folgenden Blätter enthalten ganz schlichte und anspruchslose
Skizzen, die nirgends in die Tiefe gehen, aber dem Bilde, wie
wir es aus Haeckels Werken und Lebensbeschreibungen kennen,
vielleicht einige minder bekannte Züge hinzufügen. Ich folge damit
der freundlichen Einladung des Deutschen Monistenbundes und danke
demselben für die meinen Zeilen gewährte Gastfreundschaft.
Mit Ernst Haeckel verbinden mich langjährige Beziehungen;
unter den jetzt noch Lebenden gehöre ich vielleicht mit zu seinen
ältesten Schülern.
Zu Ostern 1865 war ich als junger Student nach Jena gekommen,
um nach dem Rate meines väterlichen Freundes und Lehrers Pro-
fessor Carl Theodor Liebe daselbst Mathematik und Naturwissen-
schaften zu studieren. Von letzteren sollte der Physik und Chemie
mit ihrem Nebenfache Mineralogie mein Hauptstudium gelten, die
biologischen Wissenschaften aber erst an zweiter Stelle dazukommen.
Da lernte ich den älteren Pringsheim und den jüngeren Haeckel
kennen ; ersterer führte mich in die wissenschaftliche Botanik, letzterer
in die Zoologie ein, und damit wurde mein Studienplan total verändert.
Wenn ich auch pflichtgemäß und der Examina wegen bis zum Ende
meiner Studienjahre an dem mathematisch-naturwissenschaftlichen
Programm festhielt, meine Liebe gehörte von da ab den biologischen
Wissenschaften.
Haeckel trat unter meinen damaligen Lehrern ganz in den Vorder-
grund; in den Jahren 1865 und 1866 hörte ich bei ihm Zoologie,
Paläontologie und Darwinsche Theorie und arbeitete in seinem zoolo-
gischen Praktikum. Hell und deutlich, als wäre es vor wenigen Tagen
geschehen, steht mein erstes Kolleg bei ihm vor meinen Augen. Das
Auditorium, ein mäßig großes Zimmer, im zweiten Stocke des soge-
nannten Schlosses freundlich nach Süden gelegen, eine große An-
zahl bunter, sämtlich von Haeckel gemalter Unterrichtstafeln an
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den Wänden, vor den Bänken Tische mit niederen Tieren und Prä-
paraten, auch diese fast durchweg von Haeckel gesammelt und be-
arbeitet. In dem Zimmer eine für die damalige Frequenz der Uni-
versität (etwa 500 Studenten) ganz ansehnliche, aber wohl kaum aus
mehr als 40 — 50 Köpfen bestehende Zuhörerschaft. Alle glühend von
Begeisterung und Erwartung. Man wußte, daß Ernst Haeckel, ob-
wohl erst 31 Jahre alt, bereits zu den gefeiertsten Lehrern Jenas ge-
hörte, der aufsteigende Stern Jenas, berühmt durch seine bahnbrechen-
den Forschungen an den niedersten Wassertieren, den Protozoen und
Cölenteraten, und durch sein großes Radiolarienwerk, zugleich durch
sein volles Eintreten für Darwins Lehre von der Zunft der damaligen
Fachvertreter angefeindet, jedoch in seiner Erkenntnis und Be-
geisterung für Wahrheit und Fortschritt den Größten aus Jenas großer
Vergangenheit gleichend. Jung an Jahren, aber nach Art des Goethe-
schen Genies vollendet und das gewöhnliche Maß der Menschen
weit überragend. Man erzählte auch, daß er an einem neuen großen
Werke — der im September 1866 erschienenen Generellen Morpho-
logie — schreibe, welches, die gesamte Lebewelt umfassend, eine voll-
ständige Revolution auf botanischem, zoologischem und philosophi-
schem Gebiete und darüber hinaus herbeiführen werde. Und man
sprach von seiner Freundschaft mit dem großen Jenaer Anatomen
Carl Gegenbaur, die ihn, den geborenen Preußen, in das freie Jena
geführt hatte, auch von dem großen Verluste seines Lebens, der ihm,
geradeso wie zur gleichen Zeit dem Freunde Gegenbaur, die Gattin
nach 1 jähriger glücklichster Ehe geraubt hatte, und wie beide Männer
nur durch übermenschliche Arbeit bei Tag und Nacht der Verzweif-
lung Herr geworden.
Und nun trat er in das Auditorium, nicht im bedächtigen Schritt
des Professors, sondern im siegreichen Dahinstürmen des apollini-
schen Jünglings nach dem Katheder eilend, eine große, schlanke,
imponierende Gestalt, ein blühendes, wohl von viel Nachdenken und
Arbeiten erzählendes, aber nicht von ihnen angekränkeltes Antlitz,
eine gewaltige, von einem prachtvollen Großhirn zeugende Stirn,
goldene fliegende Locken, große, blaue, blitzende und so freundliche
Augen, — wohl der schönste Mensch, den ich bisher gesehen, und mir
war es, als ob das schon zuvor ganz heitere Zimmer merklich heller
wurde. Und dann begann die Vorlesung, nicht ausgefeilt und wohl-
336
gedrechselt, sondern ein unmittelbarer Erguß, ein Sprühen und Leuch-
ten neuer Offenbarungen. Die Erscheinung, der Glanz der Gedanken
und die besondere Art seines Vortrages wirkten zunächst fast aus-
schließlich auf mich; erst weiterhin packte mich der Inhalt.
Ich habe mir aber nicht die Aufgabe gesetzt, auszuführen, was
Haeckel schon damals als Lehrer und Forscher bedeutete, — eine
unnötige Wiederholung von längst Bekanntem — , sondern nur zu
schildern, wie er gleich beim ersten Eindruck auf mich wirkte, wie er
meinen Studiengang beeinflußte und umgestaltete und wie ich sein
Schüler werden mußte.
Durch meine zoologischen Studien bei ihm wurde ich zur Ana-
tomie geführt und zu Carl Gegenbaur, dessen Vorlesungen und Übun-
gen ich 1866 und 1867 besuchte. Welche seligen Stunden in dem
kleinen, nur 7000 Einwohner zählenden Neste mit seinen großen Män-
nern und mit seiner wundervollen, zum Naturgenusse zwingenden
Umgebung !
Im Herbst 1867 mußte ich das geliebte Jena verlassen, um als
Sohn eines preußischen Beamten und für die Lehrerlaufbahn in
Preußen bestimmt auf einer preußischen Universität, in Berlin,
weiter zu studieren. Auch da trat die Zoologie in meinen Studien in
den Vordergrund. Ich wurde u. a. studentischer Volontärassistent
bei dem dortigen Zoologen Wilhelm Peters, und meine Berliner
philosophische Doktorarbeit behandelte ein zootomisches Thema, —
alles das der Einfluß von Haeckel und Gegenbaur. Haeckels Generelle
Morphologie und Gegenbaurs Vergleichende Anatomie und seine
Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere waren
meine Erbauungsbücher. Die historisch-genealogische Behandlung
und Betrachtung der biologischen Wissenschaften, die Ontogenese
und Phylogenese und das biogenetische Grundgesetz pulsierten in
meinem Blute.
Nach Abschluß meiner Berliner Studien am Beginne des Jahres
1870 stand ich, ein freidenkender und unbemittelter Mann, vor der
Alternative: Preußischer Gymnasiallehrer unter dem Ministerium
Mühler oder Versuch einer akademischen Laufbahn, am liebsten in
einer orthodoxem Einflüsse entrückten Universität. Die Wahl war
entschieden, als mir durch Gegenbaur die Möglichkeit ward, bei ihm
in Jena Assistent am anatomischen Institute zu werden und nach
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32 Haeckel-Festschrift. Bd. II
337
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seinem Rate und Wunsche zugleich Medizin zu studieren, wozu mir
meine bisherige mathematisch-naturwissenschaftliche und anato-
mische Ausbildung manche Erleichterung gewährte. So kam ich mit
Beginn des Sommersemesters 1870 wieder in mein Jena und verlebte
da, abgesehen von einer durch den Feldzug in Frankreich bedingten
halbjährigen Unterbrechung, glückliche Jahre fleißiger Studien und
eigener Untersuchungen, erfrischender Lehrarbeit und Hilfeleistung
bei Gegenbaurs Unterricht und Forschungen. Die persönlichen Be-
ziehungen zu Haeckel wurden weiter gepflegt, und viele erhebende
Stunden verdanke ich ihm und seinen Freunden.
Gegenbaur übernahm im Herbste 1873 die anatomische Professur
und Direktorstelle in Heidelberg, und ich folgte ihm, nach Absolvie-
rung meiner ärztlichen Approbationsprüfung und meines medizini-
schen Doktorexamens, Ostern 1874 dorthin. Im Jahre 1879 wurde ich
Ordinarius der Anatomie an der vergrößerten Amsterdamer Universi-
tät und hatte da das Glück, Gegenbaurs und Haeckels Lehren mit
Erfolg zu verbreiten und auch sonst in ihrem Sinne zu wirken.
Im Herbste 1888 führte mich die Berufung als Oskar Hertwigs
Nachfolger auf den Lehrstuhl der Anatomie wieder nach Jena und
an Haeckels Seite. Hier verlief die glücklichste und arbeitsreichste
Zeit meines Lebens. Mit Ernst Haeckel verband mich treueste Kolle-
gialität und Einheit im Arbeiten und Streben. Er, der viel Größere
und weiter Angelegte, mit dem unbegrenzten Streben, die Güter
seines Wissens und Glaubens womöglich Jedermann anzuvertrauen,
ein Held der Wissenschaft und zugleich ein Künstler, Prophet und
Religionsstifter ; ich, geschult in der Herbheit Gegenbaurschen Geistes
und Gegenbaurscher Methode, im begrenzten Gebiete meiner Wissen-
schaft konzentriert, mehr in die Tiefe als in die Weite strebend und
womöglich vor jeder Berührung mit der Außenwelt und der profanen
Menge ferner stehender Geister scheu zurückweichend. Aber in dem
Großen und Ewigen fanden wir uns immer.
Die Stadt Jena war damals gegenüber meiner Studienzeit auf
das Doppelte angewachsen, zu ihrem Segen aber immer noch ein
kleines Städtchen, ein „akademisches Dorf", wie es von uns mit Vor-
liebe genannt wurde, geblieben. Die klassischen Zeiten der Universität,
als unter Großherzog Karl August und unter Goethes Curatorium
Schiller, Wilhelm von Humboldt, Fichte, Schelling, Hegel, Oken u.
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v. A. hier tätig waren, wo die Kantische Philosophie zur ersten Aner-
kennung und Verbreitung gelangte, wo Jenas Geisteshauch befreiend
und erhebend die Welt durchdrang, bildeten die große Tradition und
Resonanz. Ein neues Geschlecht bedeutender, freidenkender Männer
war ihnen in den verschiedensten Gebieten der Wissenschaften ge-
folgt. Haeckel war der hervorragendste unter ihnen, seine macht-
volle Persönlichkeit und sein hohes Ansehen unter den Zeitgenossen,
sein Weltruf gab der Universität ihr besonderes naturwissenschaft-
liches Gepräge; Jena stand unter seinem Zeichen.
Wie hervortretend er aber auch war, da zeigte sich nichts von
jenem prof essoralen Hochmut, jenem anspruchsvollen geheimrät-
lichen Wesen, welches so oft als üble Zutat bei großen und kleinen
Gelehrten als Zeichen des beginnenden Alters in Erscheinung tritt.
Bei Haeckel gab es kein Altern. Er war ja bekannt als scharfer und
nicht selten recht derb losschlagender Polemiker, mitunter selbst
mit einem fast religiös-unduldsamen Einschlage, wenn es den Kampf
für den Monismus und gegen orthodoxe Überhebung und Engherzig-
keit und gegen niedrige Kampfesmittel galt. Persönlich war er aber
der bezaubernde Jüngling wie vor 25 Jahren geblieben, sozusagen der
Jüngste unter uns, und zugleich der reine, einfache Mann von fast
spartanischer Lebensführung. , , Höchstes Glück der Erdengüter ist doch
die Persönlichkeit." Der Sonnenglanz seiner Persönlichkeit verklärte
alles um ihn. Im alten Griechenland wäre er zum Sonnengotte erhoben
worden. Das wäre jedoch nicht nach seinem Sinne gewesen ; wohl aber
freute es ihn, als in einer launigen Tischrede einer seiner Freunde (Th.
W. Engelmann) ihn Heliozoon, Sonnentierchen nannte und zu der so be-
zeichneten Abteilung der Urtiere in Parallele brachte. Obwohl ein beson-
ders begnadeter Mensch, wollte er doch nicht über die Tierwelt erhoben
sein, und es machte ihm besonderen Spaß, daß er gerade mit so tief-
stehenden Vertretern derselben verglichen wurde. Mit seinen Kollegen
in den Naturwissenschaften und den propädeutischen medizinischen
Fächern hatte er sogenannte Referierabende gegründet, die aller vier
Wochen bei den Kollegen umgingen und in welchen mit großem Fleiße
mehrere Stunden lang über alle neuen wichtigeren naturwissenschaft-
lichen Erscheinungen referiert und debattiert wurde; ein ganz ein-
faches, früh endigendes Abendessen unter dem Vorsitze der Hausfrau
beschloß diese ebenso lehrreichen wie angenehmen Abende. Wöchent-
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22"
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lieh traf er sich auch im Sommersemester mit seinen Freunden und
Getreuen und deren Frauen und erwachsenen Kindern zu zwanglosen
Zusammenkünften auf der „Schweizerhöhe" und dem „Forste", zwei
anmutig auf Jenas Bergen gelegenen und eine reizvolle Aussicht dar-
bietenden einfachen Wirtschaften, zu welchen wir meist auf stunden-
langen, eifrig botanisierenden Spaziergängen in Jenas blumenreichen
Höhen und Wäldern gelangten. Den von unten Kommenden ver-
kündete sein fröhliches, herzliches Lachen schon von weitem, daß er
bereits oben eingetroffen war. Und auf den Umwegen nach Forst und
Schweizerhöhe erwies er sich als großer Botaniker und Spezialist der
Jenaischen Flora, der manchen verborgenen Standort seltener Orchi-
deen und anderer Raritäten nur den nächsten Freunden offenbarte,
nicht minder auch als mächtiger Felsenschleuderer und Wegever-
besserer, namentlich auf der Höhe über dem Münchenröder Grunde,
wo er die von den dortigen Böschungen auf den Weg herabgestürzten
Felsblöcke mit den Freunden um die Wette mit gewaltiger Faust in
die Tiefe des Abgrundes hinabschleuderte.
Ein besonders lieber Platz war ihm auch die „Ammerbacher Platte",
ein hoch und steil über dem Dörfchen Ammerbach sich erhebender
Aussichtspunkt mit weitem, umfassendem Ausblicke auf die liebliche
und zugleich charaktervolle Umgegend. An diesen von ihm ent-
deckten Platz führte er auch die näheren Kollegen und Freunde mit
verbundenen Augen und nahm ihnen die Binden erst ab, wenn man
an der schönsten Stelle angelangt war. Herzog der Ammerbacher
Platte zu sein, und daß dereinst seine Asche von deren Höhe in die
Lüfte verstreut werde, war ein gern von ihm geäußeiter Wunsch.
Bei diesen Spaziergängen und abendlichen Zusammenkünften gab
es keine Rangstufen; der älteste Professor und der jüngste Assistent
standen sich gleich. Welche Ausgelassenheit herrschte da, welches
Sprudeln und Sprühen der Gedanken! Jenaer Genius loci. Sang doch
schon Goethe: Freitag gehts nach Jena fort, denn das ist bei meiner
Ehre doch ein allerliebster Ort; — Weimar, Jena, da ist's gut! An
diesen Abenden wurden Schweizerhöhe und Forst von vielen Fremden
besucht, die sich versammelten, um Haeckel und das verrückte Völk-
lein um ihn zu sehen. Und wie luxuriös wurde da gelebt! Eine Rost-
bratwurst, wenn es hoch kam, ein Rostbrätchen, und als einmal die
Frau eines eben nach Jena berufenen Kollegen sich in Unkenntnis der
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Jenaer Sitten nach der Rostbratwurst noch einen „Truthahn", d. i.
eine Portion Butter und Käse bestellte, da wurde sie als der Gipfel-
punkt sybaritischer Üppigkeit angestaunt. Die Verlobung der Tochter
eines Kollegen wurde „Im grünen Baum zur Nachtigall", so anmutig
hieß das Gasthaus eines anderen kleinen Dörfchens, Kospeda, auf den
Höhen um Jena mit frischer Blut- und Leberwurst und mit Lichten-
hainer Bier, jenem berühmten oder berüchtigten, fürchterlichen, aber
erfrischenden und „mit Musik" (einem Zusätze von geriebenem Brot,
Zucker und Korinthen) eben erträglichen Getränke, gefeiert, und bei
dem Brauen einer für den Schluß vorbehaltenen Bowle, der Freund
Wilhelm Müller mit seinem Cumarin den üblichen Glanz verlieh und
zu welcher ein Kollegenpaar als besondere Feierlichkeit eine neue
Essenz mitgebracht hatte, wurde diese vollständig vergessen; erst
beim Heimweg, zu spät, erinnerten wir uns mit Lachen an die löb-
liche, nun unausgeführt gebliebene Absicht. In dieser Einfachheit des
damaligen Jenas, auf die Haeckel mit großer Sorgfalt hielt, lag ein
großer Reiz. Später, als er sich mit den Jahren mehr zurückzog, kam
auch hier leider, leider eine reichlichere Lebensführung wie ander-
wärts auf, und damit ging Jena ein besonderer Zauber verloren.
Während dieser ganzen Zeit erhielt der einfach lebende Mann
eine Fülle von Ehrungen von Universitäten und Akademien, Ehren-
doktorate und Ehrenmitgliedschaften, dazu eine ungezählte Menge von
Beweisen der Liebe, Verehrung und Dankbarkeit aus weitesten Krei-
sen der Bevölkerung, zu denen er durch seine mehr populären Schriften
in nähere Beziehung getreten war und denen er Licht und Aufklärung
gebracht hatte.
Nur einer Ehrung will ich hier noch kurz gedenken. Sie kam 1890
aus Amsterdam, der Stadt, wo Swammerdam gelebt hatte, und wo der
große Swammerdam-Preis an Haeckel vergeben wurde, — von dem
großen holländischen Naturforscher, der vor 200 Jahren seine „Bibel
der Natur" geschrieben, an den umfassenderen deutschen Natur-
forscher, der in seiner Generellen Morphologie eine noch höhere Bibel
der Natur der Menschheit geschenkt. Wir, meine Frau und ich, die
wir 9 Jahre lang in Amsterdam gelebt, begleiteten ihn, als er dort-
hin reiste, um auf besondere Einladung hin den Preis persönlich in
Empfang zu nehmen, und wir wurden Zeugen und Teilnehmer an
den Ehrungen, welche ihm Stadt und Universität und zahlreiche
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nach Amsterdam geeilte holländische Gelehrte und gelehrte Gesell-
schaften erwiesen, und wir saßen mit dem Amsterdamer Bürger-
meister und Rektor, den befreundeten Kollegen und den vielen Hun-
derten von Studenten zu seinen Füßen, als er in der großen Aula seine
Ehrenvorlesung hielt. Ich kannte die Holländer nach ausreichender
Erfahrung als eine warmblütige, aber immer das Deftige, die vor-
nehme Würde und gleichmäßige Ruhe in der Lebensführung wahrende
und darum dem Ausländer leicht als kalt und phlegmatisch erschei-
nende Nation. Einen solchen Enthusiasmus, wie er bei dieser Gelegen-
heit und bei der Überreichung der Medaille ausbrach, hätte ich aber
meinen Holländern niemals zugetraut. Die Haeckelsche Leuchte
hatte hier einen gewaltigen Brand angezündet und seine sonnige
Persönlichkeit schien selbst das nebelreiche holländische Klima zu
besiegen.
Was waren das glückliche Zeiten in Jena, als mich des Schicksals
Hand noch nicht hart angepackt hatte, und welche himmlische Ruhe
für die eigenen Untersuchungen!
Ich bin später, dem dringenden Wunsche meines großen Lehrers
Gegenbaur folgend, nach Heidelberg übergesiedelt, als sein Nach-
folger. Meiner Natur nach, als Canis familiaris, mußte ich das tun.
Ich habe dort einen größeren Wirkungskreis und auch sonst viel gutes
gefunden, — glücklichere Verhältnisse und solche Muße zur produk-
tiven Arbeit wie in Jena nicht. Haeckel ist immer in Jena geblieben,
als echte Felis domestica, und er hat damit vielleicht das bessere Teil
erwählt. Auch Gegenbaur hat von Jena gesagt: Es war in jeder Hin-
sicht meine hohe Schule.
Nun aber das schönste und größte Wunder, das meine Frau und
ich von Jena aus und in Jena mit Haeckel, durch ihn, erleben durften.
In jedes Mitlebenden Gedächtnis ist mit un verlöschbaren Lettern
eingegraben, wie Fürst Bismarckim Jahre 1892 entlassen und auf
seiner Reise zur Hochzeit seines ältesten Sohnes nach Wien durch
Schreiben seines unfähigen Nachfolgers, einer der traurigsten Er-
scheinungen in Deutschlands Geschichte, bei den in Betracht kom-
menden Gesandtschaften und Höfen geächtet wurde. Der größte
Deutsche und Held seiner Zeit, der Mann, der mehr Gehirn und mehr
schöpferische Tatkraft hatte als sämtliche Regierende und Staats-
342
männer seiner Zeit, der in endlicher Erfüllung von jahrhundertelan-
gem Sehnen, aber unter anfänglichem Widerstreben seines Königs ein
mächtiges Deutschland, ein Deutsches Reich von Bismarcks Gnaden
geschaffen, war zudem als Handlanger seines Herrn bezeichnet worden.
Die Vertreter des deutschen Volkes, Reichstag und Abgeordnetenhaus,
hatten nicht den Mut und den kategorischen Imperativ gefunden, gegen
das Geschehene zu protestieren; eine jämmerliche Presse hatte sich an
der Hetze gegen ihn beteiligt. Es ist das schwärzeste Blatt in Deutsch-
lands Geschichte; es erzählt von einer Undankbarkeit und Untreue,
wie sie zuvor im Lande der deutschen Treue unbekannt gewesen. Ein
französischer Schriftsteller schrieb damals: „Nein, die Deutschen
sind kein großes Volk; das Pantheon, das Himmelszelt wäre uns
nicht hoch genug, um diesen Mann hineinzusetzen!" Längst hat die
Geschichte darüber gerichtet, und unser von einer elenden Kama-
rilla belogener, übel beratener und mißleiteter Kaiser würde wohl
viele Jahre seines Lebens darum geben, wenn er diese Tat ungeschehen
machen könnte.
Da erhob sich das Volk, in Sachsen, in Österreich, in Süddeutsch-
land, dann auch in Norddeutschland, um seinem größten Helden
seine Liebe, Verehrung, Treue und Dankbarkeit zu bezeigen. Ein
Sturm der Entrüstung und zugleich ein Sturm des Jubels um Bis-
marck durchbrauste Deutschland. Das alles ist in den Annalen der
Geschichte aufbewahrt.
Auch in Jena flammte es auf, in der Universität, in der Bürger-
schaft. Haeckel war das treibende Element. Jena mit seinen großen
Erinnerungen an Luther, Goethe, Schiller und Fichte, mit seinen
Kämpfen für die geistige Befreiung und Veredelung der Menschheit
und mit seinen zuerst in der Jenenser Burschenschaft gepflegten und
von da aus in alle deutsche Universitäten verbreiteten Idealen für
Deutschlands Einigung galt ihm, wie klein es auch unter den Städten
Deutschlands war, doch als das Herz unseres Vaterlandes, nach
geographischer Lage und nach geschichtlicher Überlieferung. War
es denn gar so vermessen, zum Fürsten nach Kissingen zu gehen und
ihn einzuladen, auf der Rückreise nach seiner Heimat Jena und seiner
Universität die Ehre seines Besuches zu schenken? Dieser Besuch
sollte zugleich eine Art Entsühnung von dem unsäglichen Unglücke
sein, das im Jahre 1806 mit der Schlacht bei Jena über Deutschland
343
g]E]EiE]gggE]ggggE]ggggggE]ggggggggggggE]B]E]E]EjEiE]E]E]E]E]B]E]gjE]Ei5]E]BiG]
hereingebrochen war. Der Kurator unserer Universität, ein wohl-
wollender und uns Allen wohlgesinnter Mann, hielt es für seine Pflicht,
uns darauf aufmerksam zu machen, daß diese Reise und Einladung
möglicherweise für uns und die Universität verhängnisvolle Folgen
haben könne. Was galten uns diese, wo die glühende Dankbarkeit
und unser heißes Sehnen gebot! Für unseren Fürsten, für die Be-
kundung unserer Treue, Verehrung und Dankbarkeit wären wir auch
in den Tod gegangen.
In schnell zusammenberufenen Sitzungen, wie im Rausche, wurde
die Anfrage in Kissingen beschlossen und zugleich eine Deputation
gewählt, welcher von selten der Universität die Professoren Haeckel,
Geizer und ich, von Seiten der Stadt Bürgermeister Singer, Gemeinde-
vorstand Köhler und der Vorsitzende des Kriegervereins, Walter,
Ritter des Eisernen Kreuzes, angehören sollten. Und das Wunder ge-
schah. Fürst Bismarck nahm unseren Besuch an und lud uns durch
ein Telegramm seines Sekretärs Chrysander auf den 10. Juli ein. Auch
meine Frau, die aus einer um den Gedanken der Einigung Deutsch-
lands wohlverdienten Famüie stammte und von einer der Anbetung
gleich kommenden Verehrung für den Fürsten erfüllt war, nahm die
gute Gelegenheit wahr, ihren heißen Wunsch, ihn endlich von Person
zu sehen, zu erfüllen. Haeckel und wir Beiden reisten am 9. Juli
vormittags nach Kissingen, nach alter Jenenser Art 3. Klasse, diese
aber auf der Station vor Kissingen mit der 2. Klasse vertauschend;
dem großen Zwecke und der Weihe des Ortes entsprechend mußte
unsere Ankunft in Kissingen in denkbar vornehmster Weise erfolgen,
höheres als die zweite Klasse gab es für Jenaer Professoren nicht!
Mit einem späteren Zuge kamen die anderen Mitglieder der Deputation
an ; aus freier Initiative stießen noch zu uns unsere Kollegen Stintzing
und Kluge und unser Jenaer Diakonus Dr. Kind. Zuvor war Haeckel
mit mir zur oberen Saline, der Residenz des Fürsten gegangen, um
mit dessen Leibarzte Professor Dr. Schweninger und dessen Sekretär
Dr. Rudolf Chrysander das Genauere über den morgenden Empfang zu
vereinbaren; Beide erschienen uns als Huld spendende Götter durch
ihre große Liebenswürdigkeit und ihr überaus gütiges Entgegenkom-
men. Meiner Frau wurde gestattet, dem Fürsten und der Fürstin
Blumen zu überreichen. Als ich zu ihr kam, erzählte sie mir mit
Tränen in den Augen, sie habe soeben den Fürsten, von der Menge
ggggggggggggg]ggE]gE]ggggE]ggggggE]ggE]E]E]E]E]E]E]E]E]E]B]5]E]E3E]E]E3E]g!3
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um jubelt, gesehen, nun sei ihr höchstes Sehnen erfüllt. Ihre Gefühle
bei meiner Mitteilung zu schildern, ist unnötig.
Am nächsten Mittag fuhren wir Alle zur Saline und wurden von
Prof. Schweninger und Chrysander empfangen. Bald traten der
Fürst und die Fürstin mit einigen begrüßenden Worten in das Zimmer.
Aus oft gelesenen Schilderungen, auch als Zuschauer im Abgeordneten-
haus und im Reichstag hatten wir uns eine Vorstellung von des Für-
sten imposanter Persönlichkeit gebildet. Aber so nahe uns gegenüber
erschien er uns viel größer und gewaltiger, über jeden Begriff er-
haben.
Zuerst sprach Jenas Bürgermeister, dann Haeckel. Seine An-
sprache kennzeichnet den ganzen Mann, darum sei sie hier wieder-
gegeben. Er sagte:
„Durchlauchtigster Fürst! Durchlauchtigste Fürstin!
Der herzlichen Einladung, welche unser Bürgermeister an Euer
Durchlaucht gerichtet hat, erlaube ich mir, als eines der ältesten
Mitglieder unserer Thüringer Landes-Universität, einige Worte hin-
zuzufügen. Jena gehört zu jenen kleinen deutschen Universitäten,
deren hohe Bedeutung für die Entfaltung des freien Geisteslebens
Sie schon wiederholt und erst kürzlich hervorgehoben haben. Daraus
schöpfen wir den Mut, Sie zum Besuche unserer stillen und kleinen,
aber geistig lebendigen Musenstadt einzuladen. Jena liegt mitten
im Herzen von Deutschland, und mit der ganzen Wärme des deut-
schen Herzens haben wir hier jene glänzendste Periode der deutschen
Geschichte durchlebt, welche der unvergleichliche staatsmännische
Geist des Fürsten Bismarck seit einem Menschenalter geschaffen hat.
Wenn wir Euer Durchlaucht bitten, uns auf Ihrer Rückreise die Ehre
Ihres Besuches zu schenken und einen Tag in unserem idyllischen
Saaletale zu verweilen, so wollen wir damit nur unseren Gefühlen
der höchsten Bewunderung und der wärmsten Dankbarkeit
Ausdruck geben. Besonderes Bedürfnis ist uns dies in einem Zeit-
punkte, in welchem leider ein großer Teil der deutschen Presse sich
bemüht, die nationalen Verdienste und die patriotische Persönlich-
keit Eurer Durchlaucht in den Staub zu ziehen. Es würde uns ein
beglückender Gedanke sein, in demselben „Gasthof zum schwarzen
Bären", in welchem Martin Luther einst mit Jenenser Studenten
verkehrte, auch den genialen Begründer des Deutschen Reiches als
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lieben Gast zu bewirten. Wir erfüllen damit einfach die Pflicht
der nationalen Dankbarkeit. Für uns ist allezeit Fürst Bismarck
der unsterbliche Nationalheld, welcher unter Überwindung der größ-
ten Schwierigkeiten der deutschen Nation die lebensfähige Form ge-
geben und das neue deutsche Kaisertum geschaffen hat. Bei diesem
Gedanken steigt neben Euer Durchlaucht das edle Heldenbild Wil-
helms I. vor uns auf, des allgeliebten ersten Hohenzollern-Kaisers,
der die größten Erfolge mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit
und die reichste Erfahrung mit der unermüdlichsten Pflichttreue ver-
band. Wie Kaiser Wilhelm I. einst das Wort „Niemals" unter Ihr
Entlassungsgesuch schrieb, so antwortet der beste Teil des deutschen
Volkes mit „Niemals" auf die Frage, ob die unsterblichen Ver-
dienste des ersten deutschen Reichskanzlers um die Wiedergeburt
unseres Vaterlandes je vergessen werden können.
Die Universität Jena hat aber noch eine besondere Veranlassung,
den Besuch Ew. Durchlaucht zu erbitten. In dem Sagenkranze,
welchen die deutsche Volkspoesie schon bei Lebzeiten um das Haupt
ihres Altreichskanzlers flicht, findet sich auch die Erzählung, daß Sie
einst als Göttinger Student Jena besucht haben, aber wegen einer
Mensur aus unserer Stadt ausgewiesen seien. Sollte diese Angabe
wahr sein, so müßte die Universität Jena jetzt doppelt wünschen,
jene Ausweisung zu sühnen, und Sie in unsere Stadt zurückzuführen.
Wie stolz würden wir sein, wenn Sie damals in Jena geblieben wären,
und Ihr Name das Album unserer akademischen Bürger zierte! Wir
dürfen aber zugleich versprechen, daß das ganze Thüringer Land
die Gelegenheit Ihres Besuches ergreifen wird, um Sie durch den
Ausdruck der aufrichtigsten Verehrung und der herzlichsten Dank-
barkeit zu erfreuen."
Den Fürsten während der beiden Ansprachen zu sehen, war ein
hoher Genuß. Als er mit seinen buschigen Augenbrauen über den
gewaltigen Augen zuckte, duckten wir unwillkürlich; einen solchen
Eindruck mag der donnernde Zeus erweckt haben. Und wenn er dann
bei dieser oder jener Stelle lächelte und damit seinem Einverständnis
Ausdruck gab, wie gütig, wie übermenschlich gütig waren da seine
Züge! Da ging uns erst ein Ahnen auf, wie groß, wie unendlich groß
der Mensch in seinem höchsten Gipfel sein kann.
Und dann antwortete er. Seine Rede ist bekannt und allenthalben
ggggjggggg]ggggg]ggggggggggggggggggggggggBiE]EiE]siE)E]EsiBiB]E|EiEis}
346
gedruckt. Da wurde kein wichtiges Moment aus Jenas, aus Weimars,
aus Thüringens Geschichte vergessen, auch der Wartburg und der
Burschenschaft mit ihren edlen, wenn auch verfrühten Bestrebungen
wurde gedacht, und die hohe Bedeutung von Weimars und Jenas
Literatur und Kultur als damaliges einziges Band nationaler Einig-
keit hervorgehoben. Das alles in den großartigsten Zügen. Glücklich
Diejenigen, die dabei zugleich Zuhörer und Zuschauer sein durften.
Auf die Einladung nach Jena kam er mit sichtbarer Freude zurück;
eine endgültige Entscheidung sei aber erst nach Überlegung mit seiner
Frau und seinem Arzte möglich.
Meine Frau durfte dann dem Fürsten und der Fürstin unsere
Sträuße unter Handkuß überreichen, den aber der Fürst ablehnte,
indem er sie auf die Wange küßte, und dann ging es zum Frühstück,
der Fürst meine Frau führend, die Fürstin von Bürgermeister Singer
geführt, Haeckel mit Schweninger, dann aber zwischen Fürst und
Fürstin sitzend. Die Unterhaltung an der Tafel war die denkbar
reichste; da war keine Kenntnis in Geographie und Geschichte, in
Kunst und Wissenschaft, selbst in den Details der klassischen Philo-
logie, wo der Fürst nicht genauesten Bescheid wußte, und mit Jedem
von uns gewann er Fühlung, als genialer Seelenleser sofort eines
Jeden innerste Empfindungen und Neigungen erkennend.
Auf unseren Großherzog Karl Alexander hielt er beim ersten Glase
Schaumwein in dankbaren und bewegten Worten eine feierliche Tisch-
rede, und begeistert stießen wir auf unseren gütigen und geliebten
Landesherrn aus Johann Friedrichs des Großmütigen und Karl
Augusts Geschlechte an.
Die Fürstin, die echte deutsche Frau, treu besorgt um das Wohl
ihres Gatten, von hoher Bildung, feinstem Verständnis und bezau-
bernder Liebenswürdigkeit gegen uns. Und Professor Schweninger
und Chrysander, prachtvolle Menschen; wie beglückte es uns, daß
solchen Männern des Fürsten leibliches Wohl und die Hilfeleistung
bei seinen Arbeiten anvertraut war! Und hier wurde auch das Kom-
men nach Jena beschlossen!
Gegen Ende der Tafel kam eine eigens zum Fürsten gereiste
Zigeunerkapelle, ihn mit ihren feurigen Klängen zu erfreuen, und
dann erscholl brausender, mächtiger, endloser Jubel aus dem an das
Gebäude grenzenden Hofgarten. Die 700 Württemberger und zahl-
347
:
reiche Deutsche aus anderen Gauen waren erschienen, mit ihren
Frauen an die Tausend, um dem Fürsten zu huldigen. Sofort ging er,
von Schweninger und Chrysander begleitet, in den Garten, über eine
Stunde unbedeckten Hauptes in der heißen Mittagssonne stehend,
der 77 jährige Mann, Reden auf Reden anhörend und immer wieder
beantwortend, darunter jene herrlichen Worte auf die deutschen
Frauen, ungezählte Händedrücke und Beweise glühendster Liebe und
Verehrung empfangend. Wir durften zuhören und zuschauen, und
die schwere Last wälzte sich von unserer Seele; ein Gefühl von Er-
lösung überkam uns. Auch Haeckel griff ein, indem er seiner Begei-
sterung Ausdruck gab, daß Süddeutsche und Norddeutsche sich hier
gefunden und sich die Hände gereicht, und indem er alle Anwesenden
aufforderte, unserem deutschen Vaterlande und dem Fürsten Bismarck,
dessen größtem Nationalheros, Treue zu schwören. Bei dem aufs
neue ausbrechenden Jubel erfaßte den Fürsten die tiefste Rührung.
„Ich bin überzeugt," erwiderte er, „daß nach dem Wunsche des Herrn
Vorredners hinter mir das Deutsche Reich unbewegt und unentwegt
seinen Weg fortsetzen wird, so wie es ihn begonnen hat, denn die Ein-
drücke der Befriedigung über seine Herstellung, die Geleise, in denen
es seit 20 Jahren geleitet worden ist, sind zu tief geworden, als daß
sie der Reichswagen je wieder verlassen könnte. Das Gesamtergebnis
unseres Siebziger Krieges und unseres ganzen Weges durch die Wüste,
den wir vorher geführt worden sind, wird uns keine Macht wieder
entreißen." Und dann wandte er sich um, umarmte und küßte Haeckel,
er, der auf das Evangelium eingeschworene Dualist, den Monisten
Haeckel. Wo sich die Menschheit auf ihren höchsten Höhen begegnet,
wie geringfügig werden da alle Unterschiede der von Menschen ge-
bildeten und Menschen trennenden Dogmen und Konfessionen und
verschwinden vor dem Größten, was die Herzen bewegt und zu-
sammenschlagen läßt!
Seid umschlungen Mülionen ! Diesen Kuß der ganzen Welt ! Wohl
Mancher von uns mag in der Schule, wo er den Hymnus an die Freude
lernte, und auch nachher sich gefragt haben, ob unser Schiller da nicht
zu Uberschwängliches gesungen; später beim Anhören der 9. Sym-
phonie ist ihm wohl die Empfindung geworden, es sei doch möglich.
Hier in Kissingen, als wir schieden und uns der Fürst „Auf Wieder-
sehen!" zurief, da erfüllten sich unseres großen Dichters glühende,
SS3SE]gggE]gB]ggggE]gggggggE]gE3§gggggggE]ggE]E]B]E]E]E]EiE3E!g]E]B]G]E]Bi
348
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trunkene Worte buchstäblich. Wir waren berauscht. Es läßt sich
nicht beschreiben. Wenn Schiller und Beethoven das gesehen und
miterlebt hätten!
Gegen 4 Uhr schieden wir von der Saline, gingen wieder in das
Kurhaus und versuchten unsere Erlebnisse und Eindrücke in einem
Berichte zusammenzufassen. Es gelang nicht; wir waren zu tief er-
griffen. Später hat wohl der Eine oder Andere von uns seine Gefühle
zu Papier gebracht.
An unseren edlen Großherzog sandten wir aber ein ausführliches
Telegramm ab. Und diese spontane Mitteilung wurde huldvoll an-
genommen und sollte uns die Wege für den Empfang des Fürsten in
Jena ebnen. Auch hier erwies sich unser Landesherr und Rector
magnificentissimus vor so vielen Anderen, welche die große Zeit klein
gefunden, groß, dankbar und treu gegen den Schöpfer des Deutschen
Reiches.
Abends um 8 Uhr fuhren wir ab; die Abendsonne schenkte uns
ihren goldenen Abschiedsgruß. In Ritschenhausen, wo es inzwischen
Nacht geworden war, machten wir Station, unter wunderlichen Um-
ständen, welche in Erinnerung an die Kissinger Stunden mit Humor
ertragen wurden. Ursprünglich hatten wir beabsichtigt, noch einen
Tag auf den Höhen des Thüringer Waldes, in Oberhof, zu verweilen.
Es ließ uns aber keine Ruhe, es trieb uns am nächsten Morgen nach
Hause, den Freunden zu verkünden: Er kommt, er kommt!
Inzwischen ereigneten sich in Kissingen jene großen nationalen
Kundgebungen, wo Tausende von deutschen Männern aus Baden,
Rheinpfalz, Hessen, Thüringen mit ihren Frauen und Kindern zum
Fürsten eilten, ihm Huldigungen ohnegleichen bereiteten und das
Köstlichste von ihm empfingen, was Menschen von seiner Größe
schenken können.
Und dann kam er zu uns, mit seiner Familie und mit seinen Ge-
treuen, und mit ihm kamen die großen Jenaer Tage vom 30. und
31. Juli, die größten, die Jena jemals erlebt hat. In das gleiche Haus,
in welchem Luther 350 Jahre zuvor gewohnt, in den Gasthof zum
schwarzen Bären zog jetzt Fürst Bismarck mit den Seinen ein. Erst
der Reformator ecclesiae, jetzt der Reformator Germaniae. Zwei
eherne Tafeln am Bären zeigen an, welche beiden Männer innerhalb
seiner Wände gewohnt. Kommt dazu noch Goethe, dessen Erinne-
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349
rungen Jena durchdringen. Die drei größten Geisteshelden Deutsch-
lands in unserem Städtchen. Kleines und so hoch begnadetes Jena!
Es liegt mir fern, darauf einzugehen, welcher Jubel die ganze
Reise des Fürsten von Kissingen nach Jena begleitete, was in Jena
geschah, welche guten und großen Worte da gewechselt wurden.
Das alles ist in ausführlichen Schilderungen niedergelegt und für immer
in die Weltgeschichte eingetragen. Auch habe ich den mir zur Ver-
fügung gestellten Raum längst überschritten. Unsere Deputation
hatte ihre Aufgabe in Kissingen erfüllt, naturgemäß trat sie jetzt,
abgesehen von Jenas Bürgermeister, in der Öffentlichkeit mehr zu-
rück, aber auch hier ward Haeckel zu originellsten Kundgebungen
— u. a. ernannte er den Fürsten Bismarck zum Ehrendoktor der
Stammesgeschichte — Gelegenheit gegeben, und ich verlebte mit den
Meinigen beseligende Stunden in der Umgebung des Fürsten.
Fortes fortuna adjuvat. Den Mutigen gehört die Welt. Hätte
damals Ernst Haeckel nicht die Initiative ergriffen, so hätten die
Jenenser kein Kissingen erlebt und Jena nicht seine großen Tage.
So verdanken wieder ihm Stadt und Universität, denen er immer
treu geblieben und unvergänglichen Ruhm gebracht, auch hier das
Erhabenste, was ihnen seit Goethes Zeiten zuteil geworden.
350
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WILHELM KLEINSORGEN, BERLIN-GRUNEWALD :
ERNST HAECKEL; ALS ETHIKER
o o o
Ernst Haeckel hat stets betont, daß ihm die Probleme der prak-
tischen Philosophie nicht liegen und daß es ihm bei seinen „Stu-
dien zur monistischen Philosophie" vor allem um die Ausbildung des
theoretischen Monismus zu tun gewesen sei. Als ich mit Haeckel
zum ersten Male über meine Absicht sprach, meine im „Freien Wort"
1906 veröffentlichte Skizze über „Cellularethik" ausführlicher zu
bearbeiten, ermunterte er mich sehr und erzählte mir, daß er erst
kürzlich wieder gebeten worden sei, doch seine in den „Welträtseln"
nur kurz skizzierten ethischen Ansichten einmal näher auszuführen;
er müsse es aber ablehnen, diesem öfter geäußerten Verlangen nach-
zukommen, da ihm diese Materie nicht liege, und ich möchte mich
nur ja dieser wichtigen Aufgabe unterziehen, zumal ein großes Be-
dürfnis dafür vorliege. Als ich Haeckel dann im Jahre 1910 das Manu-
skript der Cellularethik überreichte1) und ihn um Annahme der Wid-
mung bat, betonte er wieder, wie lückenhaft seine Ausführungen über
„Unsere monistische Sittenlehre" seien und wie sehr er sich freue, daß
einer seiner Schüler dieses Gebiet in Bearbeitung genommen habe.
Diese Bescheidenheit Haeckels der eigenen Leistung gegenüber hat
auf mich umso mehr Eindruck gemacht, als seine Behandlung der
monistischen Ethik keineswegs die starken Vorzüge der Haeckelschen
Erfassung philosophischer Probleme vermissen läßt. Ja, es reizt mich
direkt, hier zu zeigen, mit wie sicherem Blick Haeckel bereits die
wichtigsten Konsequenzen der monistischen Weltanschauung für die
Ethik gezogen hat, und wie wenig vor allem die Theologen ein Recht
haben, so hochmütig auf den Ethiker Haeckel herabzuschauen. In
Wirklichkeit zeigen Haeckels Ausführungen über monistische Ethik
ein tieferes und feineres Verständnis für wahre Sittlichkeit, als es die
kirchenchristliche Ethik aufzuweisen hat.
Darwins prophetisches Wort: „Meine Theorie wird zu einer ganzen
Phüosophie führen", ist wohl von keinem Jünger Darwins mit solcher
Energie und Klarheit in Erfüllung gesetzt worden, wie durch Ernst
1) 191 2 bei Alfred Krön er, Leipzig, unter dem Titel: „Cellular-Ethik als moderne
Nachfolge Christi" erschienen.
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351
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Haeckel. Daß die neue entwicklungsgeschichtliche Weltanschauung
auch zu einer neuen Ethik oder, vielleicht richtiger, zu einer neuen
Grundlegung der Ethik führen mußte, hat Haeckel klar erkannt.
Eben deshalb hat er auch im Jahre 1892 der in Berlin neugegründeten
„Gesellschaft für ethische Kultur" gegenüber die Abhängigkeit
der Ethik von der Weltanschauung betont, ein Punkt, der
für die Auffassung vom Wesen der Ethik und von der Stellung der
Ethik im System der Wissenschaften von grundlegender Bedeutung
ist. Da das ganze Universum im Lichte des Entwicklungsgedankens
ein zusammenhängendes Ganze darstellt, so ist natürlich für Haeckel
die sittliche Welt nur ein Teil der allesumfassenden Natur. Dement-
sprechend betrachtet er die Ethik als Naturwissenschaft und
fordert eine biologische resp. physiologische und entwicklungsge-
schichtliche Begründung derselben. Dabei betont Haeckel mit Recht,
daß diese Auffassung nicht zu einem Verlust der Ideale führt, sondern
im Gegenteil dieselben als tief in der menschlichen Natur begründet
erweist. Überhaupt vertritt ja Haeckel, ähnlich wie Goethe — ent-
gegen der herrschenden Auffassung des Christentums die Über-
zeugung, ,,daß wahre Naturerkenntnis nicht allein dem
grübelnden Verstände, sondern auch dem sehnenden
Gemüte volle Befriedigung und unversiegliche Nahrung
zuführt." (Der Monismus als Band zwischen Religion und Natur-
wissenschaft S. 35.) „Ihnen, hochgeehrte Anwesende, als Natur-
forschern und Naturfreunden — heißt es an einer anderen Stelle dieses
berühmten Altenburger Vortrages — brauche ich nicht auseinander
zu setzen, wie sehr jedes tiefere Eindringen unseres Verstandes in die
Erkenntnis der Naturgeheimnisse gleichzeitig auch unser Gemüt er-
wärmt, unserer Phantasie neue Nahrung zuführt und unsere Schön-
heitsanschauung erweitert. Um sich zu überzeugen, wie eng alle diese
Gebiete der edelsten menschlichen Geistestätigkeit zusammenhängen,
wie unmittelbar die Erkenntnis der Wahrheit mit der Liebe zum Guten
und der Verehrung des Schönen verknüpf t ist, genügt es, einen einzigen
Namen zu nennen, den größten deutschen Genius: Wolf gang Goethe."
(S. 34). Wer diese Grundüberzeugung Haeckels und auch Goethes zu
würdigen weiß, wird verstehen, welches Armutszeugnis sich diejenigen
Gegner Haeckels ausstellen, die in einer naturwissenschaftlichen Be-
gründung der Ethik eine Herabwürdigung des Sittlichen erblicken.
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352
G]tg§gggggg§gsggSE]E]E]ggggggE]gg§^gE]gE]5jE]E]gEigE]E]gE]E]E]E]E]B]B]G]E]n]
Wie monistische Ethik nur naturalistische Ethik sein kann, so
hat Haeckelmit aller nur wünschenswerten Konsequenz auch den deter-
ministischen Charakter der monistischen Ethik betont und
dabei mit Recht auf das noch viel zu wenig beachtete Beweismaterial auf-
merksam gemacht, das uns die moderne Vergleichende Physiologie und
Entwicklungsgeschichte zugunsten des Determinismus liefert.
Die positive Bedeutung der modernen Naturerkenntnis für die Ethik
demonstriert Haeckel durch die Begründung des menschlichen Pflicht-
gefühls auf die sozialen Instinkte, die wir bei allen gesellig lebenden
höheren Tieren finden, und deren Bedeutung für die Ethik schon Darwin
erkannt hat. Mit gutem Grund zieht Haeckel eine solche reale Be-
gründung des Pflichtgebotes der Illusion eines Kantschen kate-
gorischen Imperativs oder gar eines göttlichen Gebotes vor.
Auch eine Entwicklungsgeschichte des Sittlichen wird von
Haeckel versucht. Anfänge der sozialen Tugenden findet er schon
bei den in Zellvereinen lebenden Einzelligen. Letzten Grundes sind
auch die Sitten als erblich gewordene Gewohnheiten, als Anpassungs-
formen des Selbsterhaltungstriebes der Organismen zu bewerten.
Das Fundamentalgebot der monistischen Ethik sieht Haeckel
in einer vernunftgemäßen Gleichberechtigung des Selbst- und
Arterhaltungstriebes, wie sie ja auch in dem christlichen und
vorchristlichen Gebot: „Was du willst, daß dir die Leute tun sollen,
tue ihnen auch" zum Ausdruck kommt. Der kirchenchristlichen
Vernachlässigung des Selbsterhaltungstriebes gegenüber — in der
Haeckel sehr richtig einen Widerspruch zum christlichen Grund-
gebote: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" sieht — betont
Haeckel den fundamentalen ethischen Wert der Selbstliebe:
„Nichts Großes, nichts Erhabenes ist jemals ohne Egoismus geschehen
und ohne die Leidenschaft, welche uns zu großen Opfern befähigt."
(Welträtsel, S. 408). Auch in dieser hohen Bewertung des Selbst-
erhaltungstriebes stimmt Haeckel durchaus mit Goethes ethischen
Anschauungen überein. Sehr treffend weist übrigens Haeckel auf
den schneidenden Widerspruch zwischen der vom Kirchenchristentum
empfohlenen überspannten altruistischen Moral des einzelnen Men-
schen und der realen, rein egoistischen Moral der christlichen Kultur-
staaten hin. „Es wäre interessant" — bemerkt er mit berechtigtem
Sarkasmus — „mathematisch festzustellen, bei welcher Zahl von
ggggggggggE]ggggggggE]gB]ggggggggggB]E]E]E]B]E]E]E]B]E]E]gB]E]E]E3B]gE]B]
23 Haeckel-Festschrift. Bd. II 353
P]E]E]E]EJB]E]E]E1E]EJE]E]E]E]E]SIEJE]E]S]EJE1E]E]E]S]S]S]o] E]5]E]3]5]E]E]E]E]E]S]E]E]E] B]g]E]E]ElS]B]E]
vereinigten Menschen das altruistische Sittenideal der einzelnen
Person sich in sein Gegenteil verwandelt, in die rein egoistische .Real-
politik' der Staaten und Nationen." (Welträtsel, S. 409). So sehr
Haeckel aber auf der einen Seite den Wert des Selbsterhaltungstriebes
hervorhebt, so wenig verkennt er andererseits die große Bedeutung
der Nächstenliebe: „Will der Mensch in geordneter Gesellschaft
existieren und sich wohl befinden, so muß er nicht nur sein eigenes
Glück anstreben, sondern auch dasjenige der Gemeinschaft, der er
angehört und der .Nächsten', die diesen sozialen Verein bilden. Er
muß erkennen, daß ihr Gedeihen sein Gedeihen ist und ihr Leiden
sein Leiden." (Welträtsel, S. 404). Es ist ein entschiedenes Verdienst
der Haeckelschen Ethik, daß sie nicht in die naheliegende Einseitigkeit
einer rein selbstsüchtigen „Kampf-ums-Dasein-Ethik" verfallen ist,
wie sie gerade von Darwinisten so oft als ,,darwinistische" Ethik ver-
treten worden ist, trotzdem Darwin anderer Meinung war und auch
Haeckel von ihr geäußert hat, sie befinde sich in einem „biologischen
Irrtum". Mat hat nun aber gerade wegen dieser Gleichberechtigung
von Egoismus und Altruismus der Haeckelschen Ethik oft vorge-
worfen, daß sie damit zwei feindliche, entgegengesetzte Prinzipien
vertrete. Dieser Einwurf ist wohl verständlich, wenn man bedenkt,
wie verschieden die Begriffe Egoismus und Altruismus von den ein-
zelnen Autoren ausgelegt werden; aber in dem Sinne, wie sie Haeckel
gebraucht hat und wie sie vernunftgemäß allein gebraucht werden
können, besteht kein Gegensatz zwischen Selbstliebe und
Nächstenliebe, denn mit vollem Recht betont Haeckel: „Ebenso
wie einerseits das Gedeihen der Gesellschaft an dasjenige der Personen
geknüpft ist, die sie zusammensetzen, so ist andererseits die volle
Entwicklung des individuellen Menschenwesens nur möglich im Zu-
sammenleben mit seinesgleichen. Die Christenmoral predigt die aus-
schließliche Geltung des Altruismus und will dem Egoismus keinerlei
Rechte zugestehen. Gerade umgekehrt verfährt die moderne Herren-
moral (von Max Stirner, Friedrich Nietzsche u. a.). Beide Extreme
sind gleich falsch und widersprechen in gleicher Weise den gesunden
Forderungen der sozialen Natur." (Welträtsel, S. 463).
Zu den schönsten Stellen der Haeckelschen Ethik gehört seine
Auffassung vom Mitleid: „Ich gehe von meiner persönlichen
Ansicht aus, daß das Mitleid (Sympathie) nicht nur eine der edelsten
354
E]ggE]ggB]g^g3g^gggggggggggggG]E]E]S]E]E]E]E]E]E]E3E]BjE]E]B]G]ElEjE]B]B]B]E]E]E3
und schönsten Gehirnfunktionen des Menschen, sondern auch eine
der ersten und wichtigsten sozialen Bedingungen für das gesellige
Leben der höheren Tiere ist. Die Gebote der christlichen Liebe, die
das Evangelium mit Recht in den Vordergrund der Ethik stellt, sind
nicht von Christus zuerst entdeckt, wohl aber von ihm und seinen
Jüngern mit größtem Erfolge geltend gemacht zu einer Zeit, wo der
raffinierte Egoismus die überfeinerte römische Kulturwelt dem Zerfall
entgegenführte. Tatsächlich bestanden die natürlichen Gebote der
Sympathie und des Altruismus nicht nur Jahrtausende vorher in der
menschlichen Gesellschaft, sondern auch bei allen höheren Tieren,
die in Herden oder Staaten vereinigt leben; sie haben ihre älteste
phylogenetische Wurzel sogar schon in der geschlechtlichen Fort-
pflanzung der niederen Tiere, in der sexuellen Liebe und Brutpflege,
auf der die Erhaltung der Art beruht. Daher sind die modernen Pro-
pheten des reinen Egoismus Friedrich Nietzsche, Max Stirner usw. in
biologischem Irrtum, wenn sie allein ihre ,Herrenmoral' anstelle der
allgemeinen Menschenliebe setzen wollen und wenn sie das Mitleid
als eine Schwäche des Charakters oder als einen moralischen Irrtum
des Christentums verspotten. Gerade in der Betonung des ,Mitleidens'
liegt der hohe ethische Wert der christlichen Lehre, der immer fort-
dauern wird, wenn ihre morschen Dogmen längst in Trümmer gefallen
sind. Nur sollte man dieses hehre Gebot der Nächstenliebe nicht auf
den Menschen allein beschränken, sondern auch auf seine »nächsten
Verwandten', die höheren Wirbeltiere, ausdehnen, wie überhaupt
auf alle Tiere, bei denen wir auf Grund ihrer Gehirnorganisation be-
wußte Empfindung, das Bewußtsein von Lust und Schmerz, annehmen
dürfen." (Lebenswunder, S. 131). Die Ausdehnung des Mitleids
auch auf die Tiere wie überhaupt die Wertung der Tiere
als unsere „Brüder" auf Grund des Darwinismus erhebt die
Haeckelsche Ethik, weit über die christliche, speziell kirchliche. Mit
Recht schreibt Haeckel (Welträtsel, S. 411): „Das Christentum kennt
nicht jene rühmliche Liebe zu den Tieren, jenes Mitleid mit den
nächststehenden, uns befreundeten Säugetieren (Hunden, Pferden,
Rindern usw.), welche zu den Sittengesetzen vieler anderer älterer
Religionen gehören, vor allem der weitverbreitetsten, des Buddhismus.
Wie erhaben steht in dieser Beziehung die monistische Ethik
über der christlichen! Der Darwinismus lehrt uns, daß wir zunächst
355
j^gggggggggggE]E]gE]ggE]gEjggE]gggggggggE]gE]EiB]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]ö]G3
von Primaten und weiterhin von einer Reihe älterer Säugetiere ab-
stammen und daß diese ,unsere Brüder' sind; die Physiologie beweist
uns, daß die Tiere dieselben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir;
daß sie ebenso Lust und Schmerz empfinden wie wir."
Zu den stärksten Seiten der Haeckelschen Ethik gehört auch die
sittliche Bewertung des Natur- und Kunstgenusses, der
Kulturerrungenschaften, der Familie, des Geschlechts-
lebens und der Achtung vor der Frau. Auch in diesen Punkten
ist sie der christlichen Ethik weit überlegen, die gerade hier höheren
sittlichen Ansprüchen nicht genügt. Speziell was Haeckel über die
ethische Bedeutung des Natur- und Kunstgenusses und über die
Veredelung des Menschenwesens durch die Liebe zum anderen Ge-
schlecht schreibt, beweist, wie befruchtend und veredelnd der Natu-
ralismus auf die Ethik wirkt.
Nur blinde Unwissenheit und fanatischer Haß erklären die heftigen
Angriffe, die man gegen die ethischen Anschauungen Ernst Haeckels
gerichtet hat. In Wirklickeit entspringen seine ethischen Lehren
demselben glühenden Idealismus und Wahrheitsdrang, die den Zauber
seiner Persönlichkeit ausmachen und die allein auch die gewaltige
praktisch - ethische Wirkung erklären, die Haeckel als Mensch,
Lehrer und Forscher auf die weitesten Kreise ausgeübt hat und noch
ausübt. Eben diesem Idealismus und Wahrheitsdrange entspringen
auch seine heftigen Angriffe gegen die christliche Ethik und Religion
und gegen herrschende Vorurteile und Mißstände. Mannhaft und un-
erschrocken hat Haeckel alte Götter und Götzen gestürzt, um freie Bahn
für neue sittliche Ideale zu schaffen. Eben dieser hochsittliche Bekenner-
mut hat ihm ungezählte Sympathien eingebracht und seinem Namen
jenen Glanz verliehen, der ihn weit über seine Zeitgenossen hervorhebt.
Was Haeckel über das Scheinchristentum, über den Papismus, über
die sittliche Verlodderung und Verlogenheit der herrschenden Zu-
stände geschrieben hat, setzt seinen ethischen Anschauungen allein
schon ein ehrendes Denkmal. Die ganze ethische Bedeutung Haeckels
wird aber den breiten Massen erst dann zum Bewußtsein kommen, wenn
die herrschende Goethe m o d e oder besser Goethe prostitution einem
wirklichen Goethe kult gewichen ist. Erst dann werden alle die
Vorurteile gefallen sein, die heute noch weite Kreise gegen die wahre
Bedeutung dieses unseres größten Zeitgenossen blind machen.
356
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IWAN BLOCH, CHARLOTTENBURG
o o o
Die Bedeutung Ernst Haeckels für die Entwicklungslehre und
für die moderne Weltanschauung lernte ich zuerst, noch vor
dem Studium seiner eigenen Werke, aus den Schriften zweier anderer
großer Denker des 19. Jahrhunderts kennen, nämlich aus der berühm-
ten „Geschichte des Materialismus" von Friedrich Albert Lange und
aus dem klassischen „Lehrbuch der Anatomie" von Karl Gegenbaur,
dessen Vorlesungen ich im Sommer und Winter 1892/93 hörte. Das
Urteü dieser beiden durch umfassendes Wissen und besonnene Kritik
gleich ausgezeichneten Forscher über den begeisterten Apostel
Darwins, ihre rückhaltlose Anerkennung seiner genialen Entdeckun-
gen, namentlich seines fundamentalen biogenetischen Grundgesetzes,
machte damals einen tiefen Eindruck auf mich und steigerte nicht
nur meine Empfänglichkeit für die alsbald mit Begeisterung auf-
genommene Lektüre der einzelnen Schriften Haeckels (zuerst der
„Natürlichen Schöpfungsgeschichte", dann der „Anthropogenie",
der „Generellen Morphologie", der „Populären Vorträge", später der
„Welträtsel", „Lebens wunder" und der kleineren Einzelschriften),
sondern bildete fortan die unerschütterliche Grundlage der Ver-
ehrung seiner Großtaten gegenüber allen Anfeindungen und Ver-
dächtigungen der Kritik. Diese Großtaten gipfeln in der einen
und höchsten, daß Haeckel wie kein anderer in unserer Zeit den
Kampf für eine einheitliche Welt- und Lebensanschauung aufge-
nommen und mit einer bewunderungswürdigen Konsequenz durch-
geführt hat. Er ist der Georgsritter, der den Drachen der „Zer-
rissenheit" des modernen Menschen getötet, der alle dualistischen
Uberlebsel vorwissenschaftlicher Kulturen als Hemmnisse des geistigen
und sittlichen Fortschritts der Menschheit unerbittlich gebrandmarkt
hat.
Bei meinen Forschungen über das Sexualleben des Menschen war
mir die Auffassung Haeckels über die körperlich-seelischen Elementar-
phänomene der Liebe von größtem Werte. Er, der im zweiten Bande
der „Anthropogenie" die gewaltige Macht des Eros in herrlichen
Worten geschildert hat, hat in seiner Lehre vom „erotischen Chemo-
tropismus" die durch die heutigen Forschungen über die innere
357
ggggggggggggE|E]E]E]E|E]ElE]E]B]E]E]BlE]E]E]E]E]ElE]E]E]E]E]E]l£]5]^]E195]3333333ö]3
Sekretion immer mehr zur Anerkennung gelangende wichtigste
biologische Grundlage der Sexualwissenschaft geschaffen und den
sexuellen Chemismus als „Urphänomen" der Liebe erkannt. Es war
mir eine besondere Freude, in meiner in der ersten Sitzung der
neugegründeten „Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft" ge-
haltenen Eröffnungsrede (Februar 1913) auf die große Bedeutung
der Forschungen Haeckels für die Sexualwissenschaft hinzuweisen
und die schönen Worte vorzulesen, mit denen er diese erste Or-
ganisation der wissenschaftlichen Sexualforschung begrüßte und so
die letztere als neue vollwertige Disziplin der Naturwissenschaft an-
erkannte.
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358
A. CARRARO, WIEN
o o o
Während meiner Studienzeit (bis 1881) an einer k. k. Lehrerbildungs-
anstalt hatte ich nichts von Haeckel und seinen Werken gehört.
Naturgeschichte war für mich damals ein zusammenhangloses Ge-
misch verschwommener, nur Bestimmungszwecken dienender Syste-
matik und ödester Morphologie; Biomechanik und Biologie waren
uns allen spanische Dörfer. Dieses vollständig unorientierte Notizen-
wissen, dieser bloße Gedächtnisballast befriedigte mich um so weniger,
als ich seit meiner Kindheit ein reges Bedürfnis nach kausal gerich-
tetem Naturverständnis hatte. Meine grüblerische Geistesrichtung
suchte schon damals unbewußt in den Erfahrungswissenschaften
nach dem Schlüssel zum Weltverstehen und zur Erkenntnis in den
großen Menschheitsproblemen.
Und so war ich in aller Stille ein Vertreter naturwissenschaft-
lichen Denkens geworden. Da fand ich eines Tages in dem Heiß-
hunger autodidaktischen Strebens in der Hand eines Freundes ein
mir bisher fremdes Buch, die Welträtsel. Schon beim bloßen
Blättern entdeckte ich darin eine neue Welt und es ist bezeichnend
für meine damalige Geistesverfassung, daß ich gerade das XI. Kapitel,
das von der Unsterblichkeit der Seele handelt, sofort mit heißen
Augen verschlang. Die Lektüre dieses Kapitels übte auf mich eine
unbeschreibliche Wirkung aus, es war mir, als wäre eine Zentnerlast
von Brust und Gehirn genommen, es war ein Gefühl der Erlösung
vom dumpfen Drucke dogmatischen Denkzwanges. Freier atmete
ich auf, denn ich hatte gefunden, wonach ich so heiß begehrte: den
Schlüssel zu einem naturwissenschaftlich begründeten, durch keinen
Denkzwang getrübten oder gefälschten Weltbilde!
Mit fieberhaftem Eifer studierte ich das ganze Werk und später
alle übrigen Schriften Haeckels, und welches Problem ich auch
studieren mochte, immer war ich von der Einheitlichkeit der darin
geübten Forschungs- und Denkmethoden bis ins innerste ergriffen.
Und so lernte ich mein früheres Lexikonwissen ordnen nach den
großen Gesichtspunkten der Kausalität, nun erst wußte ich, was
Naturwissenschaft ist. So wurde ich Schüler Haeckels und bin es
all die Jahre her treu gewesen.
359
Von höchster Bedeutung aber schien mir in meinen weiteren
Studien die Tatsache, daß sich der Entwicklungsgedanke und das
Kausalitätsdenken auf alle Gebiete menschlichen Lebens und mensch-
licher Forschung mit großem Nutzen anwenden ließen.
Das habe ich ganz besonders auf meinem engeren Arbeitsgebiete,
der Jugenderziehung, bestätigt gefunden. Ich erkannte, daß die
Erziehungswissenschaft mit physischen und intellektuellen Ent-
wicklungsgesetzen des Kindes rechnen muß und daß es sich bei
Erziehungsproblemen und Unterrichtsmethoden um angewandte
Naturwissenschaft handelt. Die Erziehungsziele konnten sich
nunmehr nicht aus den Bedürfnissen engherziger Kirchen- oder kurz-
sichtiger Staatsgedanken ergeben, sondern mußten geschöpft werden
aus den Bedürfnissen wahrer Menschlichkeit. Ich bekenne freudig,
daß Haeckel auch auf dem Gebiete der Ethik subjektiv und objektiv
mein Lehrer war.
Daß sich seine erzieherische Kraft auf einen großen Teil der
Lehrerschaft aller Grade erstreckt hat, ist aus den die ganze päda-
gogische Welt erfüllenden Reformbestrebungen zu ersehen: Phy-
siologie, Psychologie, Ethik und alle anderen pädagogischen Teil-
wissenschaften stehen heute dank Haeckels und seiner Schule unter
dem Einflüsse naturwissenschaftlich gerichteter Denkweise.
Da müßte man denn erwarten, daß unsere Schulbehörden und
unsere Gesetzgebung der Pflege des Entwicklungsgedankens und
der modernen Denkweise auf dem Gebiete der Lehrerbildung die
größte Aufmerksamkeit und Förderung zuteil werden lassen? Trotz-
dem das ganze praktische Leben unter dem befruchtenden Einflüsse
der Erfahrungswissenschaften steht, ist in unseren Elementar- und
Mittelschulender Entwicklungsgedanke offiziell nicht anerkannt.
Hat man einstens dem Lehramtszöglinge die Namen und Werke
Lamarcks, Darwins und Haeckels bloß vornehm verschwiegen, so ist
man heute unter dem Einflüsse klerikaler Behörden niederen und
höheren Grades daran, diese Bildungsquellen zu verfälschen und so
erfahren die jungen Leute von obgenannten Männern oft nicht mehr,
als daß sie „Gottesleugner" waren, deren Schriften ohne Erlaubnis
des geistlichen Beraters, Beichtvaters etc. nicht gelesen werden
dürfen. Nebenbei bemüht man sich durch die Art der Unterrichts-
erteüung und der Lehrbücher, den jungen Leuten womöglich das
360
Studium der Naturwissenschaft systematisch zu verekeln. (Siehe
Keplerbundschrif ten. )
So ist denn der Lehrernachwuchs (wenigstens in Österreich), wenn
er sich überhaupt den geistlichen und geistigen Fesseln zu entringen
vermag, auf die seinem Privatfleiß zufällig unterkommenden Bildungs-
quellen angewiesen.
Esisteines der Haupt verdiensteunseresli eben Haeckel,
daß diese Bildungsquellen in Form gemeinverständlicher
Schriften und Vorträge heute so reichlich sprudeln, daß
sich die jungen Geister daran trotz aller Gewaltstreiche einer uner-
müdlichen Reaktion immer wieder erquicken und aufrichten können.
Da stehen sie in meinem Bücherschrank, die lieben und ver-
trauten Freunde aus Haeckels Feder und immer, wenn ich sie um
Rat frage, schenken sie mir Stunden der Erkenntnis, der Weihe und
Andacht, begeistern mich zur Tat, machen mich besser und glück-
licher, und lassen mich erkennen, daß dieses angeblich gottgewollte
irdische Jammertal zum Freudental der ganzen Menschheit werden
kann.
Aus Haeckels Leben und Werken gewann ich die Tatkraft
und Arbeitsfreudigkeit, die mithelfen will, das Leben persönlich
und sozial glücklich zu machen. Daß ich Gutes, Wahres und Schönes
erlebt habe und es mit meinen kleinen Kräften in einem kleinen
Wirkungskreise weitergeben und weitererwecken darf, das verdanke
ich Haeckel.
333333333 33 E] 33333333333333 3 333333333333313)333333 33333
36l
JAKOB KOLTAN, HEIDELBERG
o o o
Nach Absolvierung meines Studiums an einer Universität in
Rußland habe ich mich einige Jahre mit chemischer Praxis
beschäftigt. Der Drang zu wissenschaftlichen Verallgemeinerungen,
der ja sehr verbreitet ist, zwang mich zur Ausbildung einer Welt-
anschauung, die auf meinen dürftigen Kenntnissen in Chemie, Physik
und Biologie gegründet war. Eine allgemeine philosophische Bildung
konnte ich mir nicht erwerben, schon aus dem Grunde, weil es in
Rußland keine philosophischen Fakultäten gibt. Allerdings war ich
im „Darwinismus" so weit beschlagen, daß ich mir bei meinen Kollegen
den Scherznamen ,,Der Darwinist" zugezogen hatte. Dabei muß ich
hinzufügen, daß ich Darwin lange nicht in allen Punkten zugestimmt
hatte. Skeptiker, wie ich einmal bin, habe ich aber auch mir selbst
in philosophischen Dingen wenig zugetraut, ich habe vielmehr an-
genommen, daß andere ihre Weltanschauung wohl viel feiner und
schöner ausgebaut haben mögen als ich. Daher beschloß ich, bei
günstiger Gelegenheit im Auslande Philosophie zu studieren.
Diese Gelegenheit bot sich mir im Jahre 1899, als ich mich an
der Universität Zürich immatrikulieren ließ. Hier habe ich haupt-
sächlich die philosophischen Disziplinen in den Bereich meiner
Studien gezogen. Nebenbei habe ich aber die , »akademische Freiheit"
dazu benutzt, auch viele andere „Fächer" zu hören. Endlich an
einem schönen Tage fühle ich mich „soweit reif", um an eine „Doktor-
Dissertation" zu denken. Mein hochverehrter Lehrer (ein hervor-
ragender Psychologe) gab mir entsprechend meiner naturwissen-
schaftlichen Vorbildung eine Arbeit in der modernen Naturphüosophie,
wobei er mich besonders auf die Werke von Haeckel, Reinke, Mach
und Ostwald verwies. Nun machte ich mich an die Arbeit und begann
natürlich mit dem altern Naturphilosophen, mit Haeckel. Eine
„wichtige Tatsache" war mir dabei von vornherein bekannt: mein
Lehrer war ein erbitterter Gegner Haeckels, den er als „oberfläch-
lichen Denker" titulierte, weshalb er sich mit seinen Werken gar nicht
beschäftigen wollte; er urteilte über Haeckel mehr vom „Hörensagen".
Der Wahrheit halber muß ich aber hinzufügen, daß lange nicht alle
Philosophieprofessoren über Haeckel so „oberflächlich" urteilen.
SSg]ggE]§]gggggggggB]gggggE]gggB]ggggggggE]B]5iB]E]EjE]G]B]B]E]!£]S]E]E]5]E]
362
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Denn der zweite Professor (der in Zürich nur kurze Zeit dozierte und
jetzt in Deutschland wirkt) hat in unseren philosophischen Übungen
über „Spinozas Ethik" mehrmals „Haeckels Welträtsel" zitiert mit
der offenen und mutigen Bemerkung: „Bei Haeckel kann man immer
noch etwas lernen."
Nun faßte ich aber die Sache und meine Aufgabe mit der „denk-
würdigen Dissertation" ganz anders auf, als mein hochgeschätzter
Lehrer. Ich wollte nämlich nicht bloß über die erwähnten Natur-
philosophen kurz referieren, sie mit scharfen Bemerkungen abtun,
um meine „philosophische Überlegenheit und Reife zur Doktorwürde"
zu beweisen; es war mir vielmehr darum zu tun, die Problem-
lösungen gründlich zu untersuchen. Dann hat sich aber
herausgestellt, daß meine Abhandlung über Haeckel allein zu einer
stattlichen Dissertation herangewachsen war. Es hat sich aber
noch mehr ergeben, daß ich nämlich in vielen Fragen meinem Lehrer
direkt widersprechen mußte. So z. B. in der Frage des „Unbewußt-
Psychischen", wo er ganz rationalistisch befangen und einseitig war.
Die einzige Konzession, die ich ihm machte, war die, daß ich gegen
Haeckels Naturphüosophie mehr formale Einwendungen erhob,
als es mir lieb gewesen wäre, weil ich sonst auf formale Fehler kein
großes Gewicht lege. Dagegen in prinzipiellen Fragen stimmte
ich Haeckel meist zu. Über die Ergebnisse meiner Untersuchungen
machte ich meinem Lehrer Mitteilung. Natürlich sah er sich ge-
zwungen, mir zu sagen, daß er meine Begründung prüfen müsse.
Nachdem er meine Begründung (durch eine Stichprobe!) geprüft hatte,
gab er mir zu verstehen, daß er wegen einer Arbeit über Haeckel
allein (!) und noch einer für diesen günstigen (!) keine „Doktorwürde"
zusprechen könne, daß er nur eine Abhandlung über weitere Natur-
philosophen einer ernsten Prüfung zu unterziehen bereit sei. Um meinen
Überzeugungen und denen meiner Examinatoren keinen Zwang anzu-
tun, habe ich beschlossen, auf die „Gloriole des hohen Doktorhutes"
zu verzichten, zumal es mir nicht um den Titel, sondern um die Wissen-
schaft zu tun war. Der Gerechtigkeit wegen sei noch bemerkt, daß dieser
„Doktorstreit" nichts mit der „akademischen Freiheit" speziell an der
Universität Zürich zu tun hat. Mein Opponent ist auch kein Schweizer
und er doziert jetzt in Deutschland, wo die „Haeckel-Gegner" noch
immer mehr Aussicht auf Erfolg haben als die „Haeckel-Jünger".
363
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Und nun der Ertrag meiner Studien der Haeckelschen Schriften,
besonders der „Welträtsel" und , .Lebenswunder". Es ist mir freilich
unmöglich, sie genau zu bestimmen, zumal ich mich gleichzeitig
mit allen möglichen Studien befaßt hatte. Jedenfalls waren die
Anregungen Haeckels mitbestimmend für meine Stellungnahme
und Entscheidung in einigen grundlegenden und wichtigen Fragen,
die ich nachstehend kurz andeuten möchte.
i. Das Substanzproblem. Als Jünger der Naturforschung
war ich natürlich zunächst geneigt, mich mit den Begriffen „Materie
oder Energie als Weltbegriff" zu begnügen. Das habe ich auch getan,
indem ich in meiner früheren „ureigenen Weltanschauung" selbst
die geistigen Erscheinungen einfach als Funktionen bzw. Trans-
formationen der Materie oder Energie betrachtete. Allein meine Be-
schäftigung mit der modernen Psychologie hat mich überzeugt,
daß diese Lösung in ihrer primitiven Form unzulänglich ist. Der
„psychophysische Parallelismus", der seit Fechner und Wundt in
der empirischen oder besser physiologischen Psychologie vorherrschend
ist und der mich zuerst als philosophische Spitzfindigkeit anmutete,
zog mich mehr und mehr an, besonders als ich seine ganze Tragweite
erkannte. Das war eben der erste Anstoß und Grund, warum ich
Spinozas bzw. Haeckels Substanz- und Attributenlehre im Prinzip
als annehmbar anerkannte. Freilich die Begründung der Substanz-
lehre läßt sich noch vervollkommnen. In einem Aufsatz „Ansichten
der Chemie und Physik und Monergie als Weltbegriff" (Neue Welt-
anschauung Heft g, 1912) habe ich den Versuch gemacht, die Be-
gründung der Substanzlehre weiter zu entwickeln. Ich beabsichtige,
bei späterer Gelegenheit diese Lehre ausführlicher zu erläutern und
zu begründen. Vorderhand kann ich nur auf jenen Aufsatz verweisen,
und auf meine Schriften: „E. Haeckels monistische Weltansicht
(besonders die Dreiattributenlehre) und J. Reinkes dualistische
Weltansicht (besonders Deutung des psychophysischen Parallelismus).
2. Das Unbewußt-Psychische. Wie jedem „naiven" Natur-
forscher und manchem „kritischen" Philosophen schien mir zuerst
der Begriff des „Unbewußt-Psychischen" als Widersinn oder Wider-
spruch (contradictio in adjecto). Allein mein Studium der Psycho-
logie, besonders der Gedächtniserscheinungen hat mich zur Über-
zeugung geführt, daß die Annahme des „Unbewußt-Psychischen"
364
geradezu eine Selbstverständlichkeit ist. Es hat mich daher ge-
wundert, daß es solche kurzsichtige Psychologen gibt (darunter mein
sonst so begabter Lehrer), die dies nicht einsehen und begreifen
können. Ich war infolgedessen froh, daß ich in dieser Frage mit
einem so hervorragenden Mann wie Haeckel einig war, d. h. daß ich
ihn auf meiner Seite hatte. Jetzt gibt es aber unter den Philosophen
gar viele Anhänger des „Unbewußten", während die „kritischen"
Psychologen sich mit dem Begriff des — „Unterbewußten oder
Unterbewußtseins" zu behelfen wissen. (Vgl. meine Haeckel-
Schrift, Kapitel 10).
3. Die Entropielehre. Haeckel hat in den ersten Auflagen
seiner „Welträtsel" die Gültigkeit des Entropiesatzes für das Weltall
sehr eingeschränkt, er hat sich dabei aber „physikalisch" nicht ganz
richtig ausgedrückt. Darob wurde er von vielen „berühmten, aber
frommen und kurzsichtigen" Physikern heftig angegriffen. Ich habe
in meiner obigen Haeckel-Schrift auf die Mißverständlichkeit mancher
physikalischer Ausdrücke hingewiesen, in der Sache aber mit Grund-
angabe Haeckel zugestimmt. Gegenwärtig haben solche bedeutende
Physiker wie Felix Auerbach in Jena (Ektropielehre) und Svante
Arrhenius in Stockholm die Einschränkung des Entropiesatzes bzw.
das Freiwerden der gebundenen oder entwerteten Energie mit
aller Entschiedenheit postuliert (Kreislauf der Energie). Der „Dile-
ttant" Haeckel hat also richtig gesehen, und ich habe ihm also mit
gutem Grund zugestimmt. Die Frage ist bekanntlich von großer
Tragweite !
4. Das biogenetische Grundgesetz. In der Entwicklungs-
lehre habe ich allerdings nicht in allen Punkten Haeckel zustimmten
können. Ich habe in meiner Haeckel-Schrift wenigstens auf die
Möglichkeit mehrfacher Entwicklungsreihen (Polygenesis und Poly-
transformation) hingewiesen. Dagegen habe ich die Annehmbarkeit
und Brauchbarkeit des „biogenetischen Grundgesetzes" schon damals
erkannt und anerkannt. Dieses Gesetz sollte mir in der Folge noch
einen merkwürdigen Dienst leisten. An der Universität Basel habe
ich mich nämlich auch mit theologischen Studien befaßt. Bei meiner
Lektüre der Religionsgeschichte ist mir der Entwicklungsgang
der Ereignisse besonders aufgefallen. Das biogenetische Grund-
gesetz, das im Dunkel meines Unbewußt-Psychischen oder Unter-
gg§gggggggggggggg§ggggggE]G]G]E]EiE]E]EiE]gE]EiH]E]EjE]E]EiE|E]E!E]E]EiE!EiE]E]
365
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bewußteins schlummerte, hat bei seinem Erwachen die ganze Situation
in helles Licht gerückt. Ich habe nämlich bereits im Jahre 1909
die Gültigkeit des biologischen Prinzips für die gesamte Kultur
erkannt. Doch haben die Umstände mir nicht erlaubt, mit der Be-
gründung dieser Gesetzmäßigkeit mich ausführlich und genauer
zu befassen. Erst in den nächstfolgenden Jahren (in Straßburg und
Heidelberg) habe ich mich mit der Sache weiter beschäftigen können.
Leider ist es mir noch nicht möglich gewesen, mein ganzes Material
zu veröffentlichen. Daher habe ich beschlossen, zum 80. Geburtstag
unseres hochverehrten Altmeisters und Führers wenigstens die Er-
gebnisse meiner Untersuchungen in kurzen Zügen zusammenzufassen.
Ich habe sie in einer Abhandlung — „Gesetz und Ordnung in der
Kulturentwicklung" — an den hochverdienten Jubüar gerichtet,
der sie freundlich anerkannt und angenommen hat. Sie zerfällt in
zwei Teile: 1. Das psychogenetische Kulturgesetz und 2. das natür-
liche periodische System der Idealkulturphasen.
Überblicke ich das Gesamtergebnis meiner philosophischen und
naturphilosophischen Studien, so muß ich feststellen, daß ich die
meisten positiven Anregungen von Ernst Haeckel erhalten habe,
während die anderen Denker mich gar oft so „belehrt" haben, „wie
man nicht denken soll". Diese negative Lehre muß ich allerdings
ebenfalls mir auf das Pluskonto setzen, daher liebe ich auch meine
ehrlichen Gegner. Schon aus meinen kurzen Darlegungen geht
deutlich hervor, daß Haeckel fast auf allen Wissensgebieten schöpfe-
risch und anregend gewirkt hat. Die Wissensgebiete sind jetzt aber
so ausgedehnt und zahlreich, daß ein Universalgenie entweder un-
möglich ist oder er notwendig ein „Dilettant" sein muß. Ein solches
Universalgenie ohne Fachdünkel ist Haeckel. Ich bin der Ansicht,
daß Ernst Haeckels Lebenswerk ein Markstein und Wendepunkt in
der Kulturentwicklung darstellt und daß wir mit ihm in eine neue
Epoche, in die wissenschaftliche Kulturphase eingetreten sind oder
einzutreten beginnen.
366
WILHELM SCHALLMAYER, KRAILLING-PLANEGG :
ERNST HAECKEL UND DIE EUGENIK
o o o
Die Anwendung der Gesichtspunkte der Entwicklungslehre auch
auf das Menschengeschlecht war so unvermeidlich, daß selbst
Darwin trotz seiner Scheu vor der öffentlichen Behandlung dieser
Seite seiner Lehre — eine Scheu, die nach Lage der Dinge nichts
weniger als unbegreiflich war — sich dieser Konsequenz nicht ent-
ziehen konnte. Um die zu erwartende Gegnerschaft gegen seine
Entwicklungslehre so wenig wie möglich herauszufordern, fand er es
gut, in seinem 1859 erschienenen Grundwerk „Über die Entstehung
der Arten" dieser Konsequenz nur durch die kurze Bemerkung
Rechnung zu tragen: „Viel Licht mag auch noch über den Ursprung
des Menschen und seine Geschichte verbreitet werden". Erst viel
später, 1871, nachdem seine Theorie in so gewaltigem Maße Beachtung
gefunden hatte, daß sie nicht mehr unterdrückt werden konnte, ver-
öffentlichte er seine „Abstammung des Menschen".
Sein Freund Ernst Haeckel war in dieser Hinsicht etwas anders
geartet. Seiner Siegfriednatur war vorsichtige Zurückhaltung schlecht-
hin fremd, und niemals trug er das geringste Bedenken, sich vor der
Öffentlichkeit zu jeder seiner Anschauungen auf das freimütigste zu
bekennen, ohne irgendeine Rücksicht auf die öffentliche Meinung
oder gar auf eine Gefährdung seiner persönlichen Interessen. Der
Universität Jena und der Regierung des Großherzogtums Sachsen-
Weimar gebührt Ruhm und Ehre für die Duldsamkeit, die sie sich
gegenüber diesem unbändigem Feuerkopf abrangen. An den meisten
anderen deutschen Universitäten wäre damals für einen Haeckel
schwerlich ein Platz gewesen. Später allerdings erhielt Haeckel sogar
einen Ruf an die Universität Berlin, aber er hatte mehr als nur einen
Grund, ihn abzulehnen und Jena treu zu bleiben, unter anderen auch
den der Dankbarkeit für die Duldung, die dort in kritischer Zeit von
maßgebender Stelle gegen ihn geübt worden war. Damals wußte Jena
schon, was es an Haeckel hatte, und noch mehr weiß das heutige Jena,
wie viel es seinem Haeckel verdankt. Eine Zeit lang aber war er ernst-
lich in Gefahr gewesen, diese seine Freistätte zu verlieren, wie er
während eines mehrstündigen Spazierganges, den der Schreiber dieser
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Zeilen mit ihm und Professor H. E. Ziegler im Jahre 1903 in Jenas
Umgebung machen durfte, uns erzählte. Der Freimut seiner Vor-
lesungen schien der Aufsichtsbehörde der Universität Jena einmal
das zulässige Maß allzusehr zu überschreiten; vergeblich wurden ihm
amtliche Vorhaltungen darüber gemacht. Schließlich siegte, wieHaeckel
erzählte, die ihm gegenüber offen ausgesprochene Erwägung, daß
er ja in dem kleinen Jena nur weniger Schaden stifte als anderswo.
Wie vor keiner anderen Konsequenz der Entwicklungslehre
scheute Haeckel also auch nicht davor zurück, sie auch auf die Ent-
wicklungsgeschichte der Menschheit anzuwenden und aus ihr Schlüsse
auf die Zukunft der Menschheit zu ziehen; auch der Grundgedanke
der Eugenik, daß die Erkenntnisse der Entwicklungslehre auch prak-
tisch nutzbar gemacht werden können und müssen, indem wir eine
solche Gestaltung unserer sozialen Zustände und unserer Kultur über-
haupt zu erstreben haben, daß mindestens eine Rasse Verschlechte-
rung verhindert und allmählich auch eine Rasse besser ung erzielt
wird, ist in Haeckels Schriften schon frühzeitig mehrfach angedeutet.
An der späteren Entwicklung des neuen Wissenschaftszweiges der
Rassehygiene oder Volkseugenik und der auf Rassedienst gerichteten
Bewegung ist Haeckel ebenfalls beteiligt, indirekt und direkt.
Auf dem Spaziergang, von dem oben die Rede war, und der, wie
beiläufig bemerkt werden mag, eine gute Gelegenheit mit sich brachte,
uns auch über die ungewöhnliche körperliche Rüstigkeit des damals
nahezu Siebzigjährigen zu freuen, erzählte er auch, daß er die uner-
wartet große Wirkung der „Welträtsel" auch noch auf andere Weise
zu spüren bekommen habe, als nur durch den riesigen Absatz des
Buches. Bis zum Erscheinen der „Welträtsel" hatte seine überaus
starke Menschenfreundlichkeit ihn stets dazu bestimmt, jede aus ernst-
haftem Interesse an seinen Publikationen hervorgegangene höfliche
Zuschrift zu beantworten. Nach dem Erscheinen der „Welträtsel"
aber wurde das sehr bald schlechterdings unmöglich, so riesig schwoll
die Menge solcher — und zumteil auch ganz anderer — Zuschriften
an, und diese Hochflut hatte sich damals noch nicht ermäßigt. Aber
auch mündlich wandten sich so viele wissenschaftlich Interessierte an
ihn, daß ich die ersten Worte, die ich aus seinem Mund zu hören be-
kam, nur allzu begreiflich finde. Zunächst wirkten sie allerdings etwas
verblüffend auf mich. Jch war brieflich zu ihm geladen, hatte mich
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24 Haeckel-Festschrift. Bd. II 3^9
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zur bestimmten Stunde im Zoologischen Institut in Jena eingestellt
und ließ mich zu Professor Haeckel führen. Als ich schon eingetreten
war, sah ich ihn noch beschäftigt. Das veranlaßte mich, den Wunsch
auszusprechen, daß ich ihn nicht allzusehr in seiner Arbeit störe,
worauf ich die Antwort erhielt: „Mich stört man ja immer in der
Arbeit, das bin ich schon gewöhnt." Unter den durch Haeckels
Schriften Angeregten war auch der, einige Monate vor meinem Be-
such bei Haeckel aus dem Leben geschiedene größte Industrielle
Deutschlands gewesen, Alfred Krupp, der auch sonst sehr starke
wissenschaftliche Interessen hegte, obschon ihn die Öffentlichkeit von
dieser Seite wohl nur wenig kennt. Als Krupp den Entschluß faßte,
dieses Interesse auch durch eine Preisstiftung zu betätigen, bat er, da
er selbst zunächst ungenannt bleiben wollte, Professor Haeckel, die
Sache zu übernehmen. Das Thema, dessen Bearbeitung er durch ganz
ungewöhnlich hohe Preise zu fördern wünschte, lautete: „Was lernen
wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie für die innerpolitische
Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?" Das Ausschreiben
dieses Themas war von „Erläuterungen" begleitet, die der Stifter
selbst verfaßt und mit seinen wissenschaftlichen Freunden beraten
hatte. Unterzeichnet war die Veröffentlichung an erster Stelle von
Prof. E. Haeckel, außerdem von den Professoren J. Conrad in Halle
und E. Fraas in Stuttgart. Der erste von den ausgesetzten Preisen
wurde einer Schrift erteilt, welche die obige Frage hauptsächlich im
Sinne des Rassedienstes beantwortete. Dieses Ergebnis der Preis-
stiftung hat zur Verbreitung des Ideals des Rassedienstes, die bei uns
gerade seit diesem Zeitpunkt ausnehmend rasche Fortschritte ge-
macht hat, sicherlich sehr viel beigetragen. War es doch zuvor fast
unmöglich, bei uns einen angesehenen Verleger für eine Schrift mit
einem derartigen Inhalt zu finden. Das hatte der Verfasser dieser
Zeilen zur Genüge erfahren, als er im Jahre 1886 seine erste rasse-
hygienische Schrift „Über die drohende körperliche Entartung der
Kulturvölker" geschrieben hatte. Erst fünf Jahre später gelang es,
sie zu veröffentlichen, aber auch dann nur unter finanzieller Sicher-
stellung des Verlegers auf Kosten des Verfassers.
Daß jene rassehygienische Bearbeitung der Preisfrage zur Aus-
führung kam, dazu hat Haeckel noch in besonderer Weise beigetragen.
Die schon erwähnten „Erläuterungen", die der Preisfrage beigegeben
370
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waren, schienen nämlich eine Beantwortung der Frage hauptsächlich
im Sinn des Rassedienstes aussichtslos zu machen, so daß eine der-
artige Bearbeitung ganz gewiß unterblieben wäre, wenn nicht Profes-
sor Haeckel auf eine dieses Bedenken betreffende Anfrage, die ihr
Verfasser vor Beginn seiner Arbeit an ihn richten ließ, weitherzig
und ermunternd geantwortet hätte.
Auch nachher hat Prof. Haeckel den mit Hilfe jener Stiftung ver-
öffentlichten Schriften so viel Wert beigemessen, daß nach seiner
Absicht der von ihm ins Leben gerufene Monistenbund „gewisser-
maßen die Stelle werden sollte, welche die Gedanken der in dem Sam-
melwerk, Natur und Staat' vereinigten Preisschriften nun weiteren
Kreisen zugänglich machen und weitere Arbeiten dieser Art anregen
sollte." F. Siebert, der erste Vorsitzende des deutschen Monisten-
bundes direkt nach seiner Gründung, der im ,, Volkserzieher" vom
28. September 1913 in dem Artikel ,, Der Monistenbund" diese Mittei-
lung macht, bekennt sich auch seinerseits zu der Meinung, daß so
ein geeigneter Boden zu aufbauender Arbeit schon vorhanden ge-
wesen wäre, indem man, wie es besonders in der ersten Preisschrift
geschehen war, die Folgerungen zog, die sich aus der Entwicklungs-
lehre für die zukünftige Gestaltung unseres Lebens ergeben. Diese
Auffassung ist nun freilich nachher im Monistenbund nur sehr wenig
zur Verwirklichung gelangt, weil eben die Tätigkeit eines derartigen
Bundes weit weniger von den Grundsätzen und Idealen bestimmt
wird, die zu seiner Gründung führten, als vielmehr von den Ideen und
Bestrebungen der jeweils an der Spitze stehenden Personen.
Der Glanz, von dem der Name Ernst Haeckel umstrahlt ist, hat
viel stärkere Quellen. Vor allem sind ja seine fachwissenschaftlichen Lei-
stungen in der Zoologie und Biologie so groß, daß seinem Namen wohl
niemals ein hervorragender Platz in der Geschichte der Wissenschaften
bestritten werden wird, es sei denn, daß einmal jene Mächte, die nur eine
ihren Interessen dienende Wissenschaft als wahre Wissenschaft gelten
lassen und in der freien Forschung ein Übel sehen, in der ganzen
Menschheit zum Siege gelangen. Gerade gegen diese Mächte war ja
Haeckel ein so erfolgreicher Kämpfer wie nur sehr wenige. Er hat
auch außerhalb seines Fachkreises die Anschauungen der Gebildeten
in außerordentlichem Umfang beeinflußt. In den tonangebenden
Kreisen wird freilich die Popularisierung von Forschungsergebnissen,
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soweit sie geeignet sind, die Weltanschauung und Lebensauffassung
in nicht orthodoxem Sinn zu beeinflussen, vorherrschend mißbilligt.
Aber um derartige geheimrätliche Grundsätze hat sich Haeckel sein
Leben lang wenig gekümmert. Unabhängigkeitssinn war von Anfang
an einer seiner ausgeprägtesten Züge. Es entsprach seiner Natur,
rückhaltlos für das einzutreten, was er als wahr erkannt hatte. Stets
galt ihm Erkenntnis bedingungslos als ein Gut, an dem die ganze Mit-
und Nachwelt nach Möglichkeit teilzunehmen ein Recht hat. So hat
Haeckel sich nicht damit begnügt, ein großer Forscher zu sein, er
verwendete seine Kräfte nicht weniger auf weiteste Verbreitung
seiner Erkenntnisse und war auch hierhin wieder besonders erfolg-
reich. Wie groß der Einfluß war, den allein die unerhörte Verbreitung
der „Welträtsel" auf das geistige Leben unserer Zeit in allen Kultur-
ländern hatte, ist kaum zu ermessen; das aber läßt sich sagen, daß
wohl selten einem Buch wissenschaftlichen Inhaltes eine so ausge-
dehnte und starke Wirkung beschieden war.
In seinen jüngeren Jahren ein unermüdlicher Sucher und genialer
Finder überaus bedeutungsvoller Erkenntnisse, am Abend seines
Lebens ein von ungezählten Tausenden verehrter Verkünder des von
ihm Erkannten, so darf Haeckel wahrlich mit Befriedigung auf sein
an Arbeit, Erfolgen und Verdiensten so reiches Leben zurückblicken,
wie es unter vielen Millionen kaum einer mit so gutem Rechte tun kann.
In einem Punkt, der zu den glänzendsten im Charakterbild Haeckels
gehört, sollte jeder den Glauben, den Mut und den Willen haben, ihm
gleichzukommen: Haeckel war zeitlebens ein leuchtendes Beispiel
unbeugsamen Wahrheitsmutes. An solchen Charakteren herrscht
leider niemals Überfluß, und unsere Zeit bedarf ihrer dringend. Wenn
Haeckel in diesem Punkt recht vielen zum Vorbild wird, so gehört
das zum Wertvollsten von dem vielen, was die Menschheit ihm
verdankt.
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W. O. FOCKE, BREMEN
o o o
Kennen gelernt habe ich Ernst Haeckel im Oktober 1855 zu Würz-
burg im „Roten Ochsen", wo wir, jeder mit seinem Freundes-
kreise, zu Mittag zu speisen pflegten. Während zweier Semester
begegneten wir uns auch in Vorlesungen und bei sonstigen Anlässen
nicht selten, doch blieb unser Verkehr ein gelegentlicher und ober-
flächlicher. Als ich dann aber zu Anfang Mai 1857 m Wien eintraf,
fand ich Haeckel dort vor und wurde von ihm sehr freundlich auf-
genommen. Aus seinen anfangs ziemlich bunt gemischten Bekannten-
gruppen sonderte sich bald eine kleine Zahl von Nordländern heraus,
lauter Medizinern, die auch naturwissenschaftliche Interessen pflegten.
Außer einem ehemaligen Schulgefährten Haeckels, dem Dichtersohne
Adalbert Chamisso, gehörten der Zoologe Harald Krabbe aus Kopen-
hagen und ein junger schottischer Arzt namens Cowan unserem
Kreise an. An den gewöhnlichen Wochentagen besuchten wir fleißig
Krankenhäuser und medizinische Vorlesungen, aber nicht nur Sonn-
tags, sondern auch Sonnabends waren wir frei, und außerdem gab es
zu Anfang des Sommers zahlreiche kirchliche Feiertage. Wir teilten
unsere Zeit zwischen ernsten Studien und heiteren, mehr oder weniger
naturgeschichtlichen Ausflügen. Als ich am 1. Mai in Wien anlangte,
lagen die dicht belaubten und im Anfang der Blütezeit stehenden
Kastanienalleen des damals noch recht breiten Glacis unter einer
wuchtigen Schneedecke, und die Höhen des Wiener Waldes blickten
weiß verschneit zur Stadt herüber. Das junge Buchenlaub war
erfroren, aber auf den kalten, winterlichen Gruß folgte ein unge-
wöhnlich warmer und fast regenloser Sommer, der unsere Wander-
pläne kaum jemals störte. Die zahlreichen arbeitsfreien Tage be-
nutzten wir zu Ausflügen in die schönen Umgebungen Wiens, in die
wir Budapest und den Neusiedler See, Laxenburg und den Semmering
mit der Raxalp einbezogen. Überwiegend war bei uns, und auch
bei Haeckel, die Freude an der schönen Natur, insbesondere an der
reichen Flora, vertreten, doch ließen uns unsere Zoologen auch an
mancherlei Beobachtungen über Tiere, namentlich über Insekten,
teilnehmen. An unseren gemeinsamen Verkehr gewöhnten wir uns
bald so sehr, daß wir auch an den Arbeitstagen zur Mittagsstunde
373
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und am Abend fast regelmäßig zusammentrafen. Volksleben und
Ungarwein sowie die Schätze der Kunst haben wir damals genügend
gewürdigt; nur der Verkehr mit der holden Weiblichkeit Wiens kam
bei unsern vielseitigen Bestrebungen etwas zu kurz.
So mannigfaltig auch die Tatsachen und Beobachtungen waren,
die Haeckel und ich auf unsern Ausflügen austauschten, so entsinne
ich mich doch aus jenen Wiener Tagen nur einer einzigen kurzen
Aussprache, in der wir unsere naturwissenschaftlichen Grundanschau-
ungen berührten. Es war die Zeit, in der Wallace und Darwin den
Sauerteig ihrer entwicklungsgeschichtlichen Ideen noch nicht in die
reichhaltige Tatsachensammlung der Zoologie und Botanik hinein-
geworfen hatten. Wohl gab es manche Forscher — ich nenne nur
Lyell, Weddell und Naudin — die nicht an die Spezies der Cuvierschen
Lehre glaubten, aber keiner von ihnen überblickte ein hinreichend
weites Gebiet, um die herrschenden Schulmeinungen ernstlich be-
kämpfen zu können. Frei von dem Zwange kirchlicher Dogmen,
suchte auch ich eifrig nach Beweisen für die Wandelbarkeit der
organischen Arten und glaubte sie damals besonders bei Rubus, bei
Lotus, in der Gruppe der Silene inflata und in ähnlichen Fällen zu
finden. Eines Tages stellte mich nun Haeckel ernstlich zur Rede
wegen meiner zwecklosen Beschäftigung mit gleichgültigen Abarten
und „schlechten" Arten. Ich hatte vor kurzem auf einem Ausfluge
eine gute Saxifraga verkannt, was Haeckel als eine Folge meiner
törichten Liebhaberei für die „Varietäten" auffaßte. Auf seine Frage,
was ich damit bezwecke, erwiderte ich, daß ich in solchen Abände-
rungen beginnende neue Arten vermute. Haeckel meinte darauf, eine
solche Anschauungsweise sei zwar verständlich, aber er halte sie ent-
schieden für unrecht; er wolle den Lehren seines alten würdigen
Geistlichen treu bleiben, nach welchem die wirklichen Arten unver-
änderlich und einstmals selbständig erschaffen seien. Ich war über-
rascht von diesen Ansichten meines sonst so vorurteilsfreien Freundes,
ahnte aber nicht, daß bei ihm schon so bald der amicus Plato durch
die magis amica veritas in den Hintergrund gedrängt werden würde.
Als ich zu Anfang 1858 für einige Monate nach Berlin kam, traf
ich dort Haeckel im Elternhause und kurz vor Beendigung seines
medizinischen Staatsexamens an. Unter diesen Verhältnissen sahen
wir uns seltener, doch konnte ich damals meine Stellung als Mediziner
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374
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benutzen, um ihn während der Absperrung, der er und dann auch
seine alte Mutter als Pockenkranke unterworfen wurden, zu besuchen.
Durch gelegentlichen brieflichen Verkehr blieb ich mit Haeckel
in Verbindung, verfolgte ihn auf seiner Italienfahrt, wurde durch
ihn auf meinen engeren Landsmann Hermann Allmers aufmerksam
und begrüßte schließlich die reife Frucht der Reise , das große schöne
Radiolarienwerk, mit Freude. Aus meinem begeisterten und schwär-
menden Freunde war nun ein anerkannter Forscher geworden und
die Entwicklungslehre trennte uns nicht mehr.
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375
L. REH, HAMBURG: ERNST HAECKEL, ER-
INNERUNGEN UND EINDRÜCKE
o o o
Etwa in meinem 15. Lebensjahre fiel mir ein Schriftchen in die
Hand: „Glaubensbekenntnisse eines modernen Naturforschers",
dessen Urheberschaft in einer ihm beiliegenden Anpreisung dem jungen
Virchow zugeschrieben wurde. Über seinen Wert vermag ich heute
nichts mehr zu sagen. Damals wirkte es jedenfalls wie eine Offenba-
rung auf mich. In meinem Innersten schlummernde Gedanken und
Urteile, die von mir seither gewaltsam unterdrückt waren, fanden
hier schärfsten, klaren Ausdruck. Ich wurde gewissermaßen aus einer
geistigen Lethargie aufgeweckt. Die Folge war, daß ich von nun an
alles gierig verschlang, was mir über Darwin, Haeckel usw. in die
Hände fiel, Gutes und Schlechtes. Etwa in meinem 17. Jahre las
ich dann auch Haeckels „Schöpfungsgeschichte", die auf mich ebenso
mächtig einwirkte wie auf Tausende anderer Menschen, und die mich
endgültig zu einem begeisterten Anhänger Haeckels machte.
Von Kind auf zum Zoologen bestimmt, war es nun selbstverständ-
lich, daß ich in Jena studieren würde. Sofort nach meinem Abitu-
rium ging ich schon zur Ableistung meines Militär] ahres dorthin.
Meine Absicht, nebenbei bei Haeckel und anderen Vorlesungen zu
hören, konnte ich, wie nicht anders zu erwarten, nur höchst unvoll-
kommen ausführen. Hierdurch und durch die mangelhaften Kennt-
nisse in der Zoologie, die ich von der Schule mitgebracht hatte, er-
klärt es sich wohl, daß ich mich in nichts mehr an den Inhalt der
Vorlesungen bei Haeckel erinnere.
Umso mehr an seine Persönlichkeit. Wohl war sie mir durch Schriften
von ihm und über ihn, durch Porträts usw. vertraut. Immerhin war
der Eindruck, als ich Haeckel nun in vollem Leben auf dem Katheder
sah, ein so mächtiger, daß mir heute noch sein damaliges Bild leben-
diger vor Augen steht, als das aus seinen späteren Jahren, das sich
nur wenig mit jenem vermischte. Wenn ich an Haeckel denke, sehe
ich immer noch den 53 jährigen, noch ganz blonden, aufrechten,
frischen Mann vor mir, wie er auf dem Katheder steht, den Blick meist
durch das Fenster zu seiner Rechten in die Ferne, auf seine geliebten
Saalberge gerichtet, nur hie und da ihn über seine Zuhörer schweifen
376
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lassend, halb geistesabwesend, halb durchdringend, als ob er in der
Seele jedes Einzelnen lesen wollte. Auch die großen, abgerundeten,
schwunghaften Bewegungen sehe ich noch vor mir, mit denen er die
Zeichnungen an die große Wandtafel entwarf, immer nur großzügig das
Wesentliche betonend, nebensächliche Kleinigkeiten vollständig außer
Acht lassend. So machte es mir immer besonderen Spaß, daß er keine,
eigentlich geschlossene Kurve auch wirklich schloß, sondern nur so-
weit führte, bis man sah, sie solle sich schließen; den Rest zu ergänzen
überließ er seinen Hörern.
Besondere Verhältnisse veranlaß ten mich, nach Abdienung meines
Militär jahres zunächst wieder nach meiner Heimat, Darmstadt, zu-
rückzukehren und hier einige Semester zu studieren. Aber auch hier
blieb ich bis zu gewissem Grade unter Haeckelschem Einflüsse, in-
dem meine beiden Zoologie-Lehrer Schüler von Haeckel waren, der
künstlerisch hochbegabte Prof. Dr. G. von Koch und der genial-
philosophische, wie ein leuchtendes Meteor am Biologen-Himmel auf-
tauchende und ebenso rasch und vollständig wieder verschwindende
Wilhelm Haacke, beide grundverschieden voneinander, geradezu
Gegensätze, beide aber in gewissen Seiten ihres Wesens mit Haeckel
übereinstimmend, auf jeden Fall seinen Geist und Einfluß weiter-
gebend.
Als ich dann später wieder für meine Schlußsemester nach Jena
kam, hatte Haeckel sich von seiner Lehrtätigkeit schon ziemlich
zurückgezogen. Zwar seine Vorlesungen hielt er noch; das Prakti-
kum für Mediziner usw. leitete er noch ein, überließ es dann aber in
der Hauptsache seinem Assistenten. In das große Praktikum kam
er nur selten und nur vorübergehend. So konnte naturgemäß sein
Einfluß auf uns Studenten nicht mehr so groß und unmittelbar sein,
wie in früheren Jahren, in denen er sich noch ausgiebiger mit diesen
abgab.
Hier seien mir einige Worte über seine Vorlesungen gestattet.
Seit nahezu 30 Jahren hatte er sie schon gehalten; die Verbindung
mit der Masse seiner Zuhörer beschränkte sich in der Hauptsache
auf die Prüfungen. So ist es wohl verständlich, wenn ihm allmählich
das Empfinden dafür abhanden gekommen war, was und wieviel er
bei diesen voraussetzen oder vielmehr eigentlich nicht voraussetzen
durfte. In der Hauptsache bestand das Auditorium damals aus Medi-
377
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zinern und anderen Gymnasialabiturienten, denen in der Zoologie
gewöhnlich auch die elementarsten Vorkenntnisse fehlten. Kein Wun-
der, daß sie seinen Vorlesungen schlecht folgen und ihnen kein oder
nur wenig Interesse abgewinnen konnten. Besonders trat das hervor
bei denen, die Ostern kamen und nun sofort die „Allgemeine Zoo-
logie" hörten, die ihnen zum großen Teile unverständlich bleiben
mußte.
Ganz anders war dagegen der Eindruck auf uns Zoologie-Studie-
rende, besonders auf uns ältere, die wir über die nötigen Vorkenntnisse
schon verfügten, Die Durchgeistigung und vollkommene Beherr-
schung des Stoffes, die klare, immer von großen Gesichtspunkten be-
herrschte Vortragsweise Haeckels machten uns seine Vorlesungen
geradezu zu einem hohen Genüsse, namentlich seine „Allgemeine
Zoologie", die ich im ganzen dreimal hörte, mit immer steigendem
Verständnisse und Genüsse.
Typisch für Haeckels Vorlesungen, und im Gegensatz zu vielen
anderen war, daß er nie die Tatsachen als Selbstzweck vorbrachte,
also nicht eigentlich seinen Hörern Kenntnisse vermitteln wollte;
alle Tatsachen waren vielmehr für ihn nur Beziehungen, nur Glieder
einer Kette, nur Äußerungen von Naturgesetzen. Ganz besonders
trat diese philosophische Durchdringung auch des sprödesten Tat-
sachenmateriales hervor, als Haeckel in unserem letzten Winter-
semester in seiner Vorlesung über die Wirbeltiere mit größter Ge-
nauigkeit und Ausführlichkeit die Zahnformeln der ausgestorbenen
und lebenden Säugetiere behandelte, nicht gerade zur Erbauung seiner
medizinischen Hörer, auch nicht zum Ergötzen von uns älteren Zoo-
logie-Studierenden, die wir bald bei ihm promovieren wollten und
nur mit Schrecken an diese Unendlichkeit von Zahlenformeln denken
konnten. In der Vorlesung war es für uns aber bewundernswert
zu sehen, wie Haeckel nicht nur alle diese Formeln beherrschte,
sondern auch zu deuten und zu verknüpfen verstand, daß uns an ihnen
die Phylogenie der Säugetiere fast plastisch entgegentrat. Und, nur
nebenbei sei es bemerkt, in der Prüfung verschonte uns Haeckel mit
den Formeln, bzw. nahm es nicht übel, wenn wir sie nicht genau
kannten, solange wir nur ihren Sinn zu deuten wußten.
Es ist eine alte Erfahrung, daß so leicht kein Akademiker den
Einfluß seiner Lehrer im späteren Leben verleugnen kann. Fast jeder
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der letzteren, sobald er nur von einiger Bedeutung ist, macht
„Schule". Man sollte nun annehmen, daß der Einfluß einer so über-
ragenden Persönlichkeit wie der Haeckels auf seine Schüler ein ganz
besonders großer hätte sein müssen, daß also Haeckel ganz besonders
„Schule" gemacht habe. Wie alle seine Freunde wissen, und wie
Haeckel selbst oft zugegeben hat, offenbar mit einem leisen Be-
dauern, ist das aber keineswegs der Fall. So groß sein Einfluß auf
unser allgemeines Kulturleben ist, so gering war er verhältnismäßig
auf seine Schüler. Er selbst rechnet nur wenige seiner früheren Hörer
dazu; und ich bin stolz darauf, von ihm selbst dazu gestellt zu werden.
Auch nach meinem Abgange von der Universität suchte ich diesen
Einfluß Haeckels auf mich zu erhalten, durch Studium seiner
Schriften, der alten und der neu erscheinenden. Gelegentliches
Wiedersehen, hie und da ein Brief und andere Freundschaftszeichen
Haeckels sorgten dafür, daß auch der unvergleichliche Zauber seiner
einzigartigen Persönlichkeit nicht erlosch.
Es dürfte schwer der ganze Einfluß einer so vielseitig genialen
Persönlichkeit auf seine beeinflußbaren Schüler festzustellen sein.
Ich möchte daher nur drei Seiten seines Charakters kurz erwähnen,
die immer, im Hörsaale, im Verkehr und in seinen Schriften beson-
deren Eindruck auf mich machten.
In erster Linie dürfte da Haeckels künstlerische Betrachtung der
ganzen Natur, seine glühende Begeisterung für alle ihre Schönheiten,
von ganzen Landschaften bis herab zu den kleinsten ihrer Gebilde,
zu nennen sein, die überall bei ihm zutage trat und seinen Vorlesungen
einen eigenen Reiz verliehen. Haeckels Bedeutung für die künst-
lerische Wertschätzung der Natur ist so allgemein anerkannt, daß
hierüber Worte nicht weiter zu verlieren sind.
Wie schon erwähnt, war die geistige, philosophische Durchdrin-
gung des wissenschaftlichen Tatsachenmateriales wohl die hervor-
stechendste Eigenart seiner Vorlesungen und ist es auch in seinen
Werken. Darauf beruht ja auch in erster Linie seine allgemeine Be-
deutung. Selbst seine ärgsten Gegner stehen hierin völlig unter seinem
Einflüsse. Es braucht also auch hierauf nicht weiter eingegangen zu
werden.
Wie oft wurde und wird Haeckel der Vorwurf gemacht, er spiele sich
als „Papst" auf. Kaum Jemand aber kann bescheidener und duld-
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379
33S!3E3S3SS0333333a3S33S3SSSS3S3gE]ggggggB]ggE]EjgggE]EiB]E]g
samer sein als gerade er. Immer und immer wieder führte er uns,
seinen Schülern, zu Gemüte, und bekennt er auch in seinen Schriften,
daß es keine absolute Wahrheit gäbe, sondern nur eine relative. Unsere
Naturkenntnis und -erkenntnis im kleinsten wie im größten, von
einer beliebigen Tatsache bis zu Weltanschauungsfragen, sind nur
Produkte unseres gegenwärtigen Entwicklungszustandes. Wahrheit
als solche gibt es nicht, nur relative Augenblicks Wahrheit, die aber
jeder Mensch zu ergründen suchen müsse und für die er mit seinem
ganzen Wesen einzustehen habe.
Diese Einsicht macht bescheiden und duldsam. Und Bescheiden-
heit und Duldsamkeit sind mit die hervorragendsten Charakterzüge
Haeckels, die ihm von seinen Gegnern zwar immer abgesprochen
werden, die aber seine Freunde und Schüler immer wieder von neuem
an ihm bewundern müssen. Unduldsam wird Haeckel nur, wo er
Böswilligkeit oder wenigstens Mangel an gutem Willen voraussetzt
oder vermutet. Hier allerdings kann er in seinem Urteile nicht nur
außerordentlich hart, sondern selbst ungerecht werden. Gewiß ist
das ein Fehler von ihm. Aber wo wäre der seiner Gegner, der frei
von Fehlern ist, und wo ist der, der so bereit wäre, Fehler und Irr-
tümer einzusehen, einzugestehen und wieder gut zu machen wie
Haeckel ?
Wie aus Allem ersichtlich, mußte ich so allmählich von Haeckels
Einfluß förmlich durchdrungen werden. Und das erklärt wohl auch,
wie merkwürdig es mir mit seinen „Welträtseln" erging. Er selbst
sandte mir das Buch mit der Bitte, darüber zu referieren. Ich tat
das in der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift" Bd. 15, 1900,
und besprach es, wie jedes andere Haeckelsche Buch, ohne Ahnung,
welches Aufsehen es bald erregen sollte. War doch für mich kein
Gedanke darin, den ich nicht schon aus Haeckels früheren Schriften
kannte oder der nicht eine einfache, logische Folgerung der darin
geäußerten war oder wenigstens mir schien.
Von dem Sturme, den die „Worträtsel' ' erregten, für und wider,
wurde ich also vollkommen überrascht. Mag man sich dazu stellen,
wie man will — ich bekenne mich gerne und freudig zu ihnen — ,
eines muß wohl auch der schärfste Gegner zugeben: sie haben
in einer Weise aufrüttelnd gewirkt, wie wohl selten ein Buch. Die
geistige Trägheit, die ja charakteristisch ist für die große Masse,
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hat einen Stoß erhalten, der sich noch jetzt, nach 15 Jahren über-
all fühlbar macht. Die lebhafte, an sie anknüpfende Diskussion hat
allseitig ein früher nie für möglich gehaltenes Interesse für die
Naturwissenschaften geweckt, das seinen deutlichsten Ausdruck
findet in der Flut von naturwissenschaftlicher Literatur, mit der
die Verleger sich gegenseitig zu überbieten suchen. Mag man über
die „Volksaufklärung" denken wie man will, mag unter der er-
wähnten Literatur noch so viel Minderwertiges sein, ich müßte
kein Zoologe und nicht ein Schüler Haeckels sein, wenn ich mich nicht
über dies drängende Verlangen nach naturwissenschaftlicher und natur-
philosophischer Aufklärung freuen sollte. Und haben nicht von diesem
Drängen der naturwissenschaftliche Unterricht in der Schule, die
naturwissenschaftlichen Institute letzten Endes große Förderung er-
fahren ? Ob das alles so gekommen wäre ohne den mächtigen Trom-
petenstoß der „Welträtsel"?
Selbstverständlich haben auch sie nichts Neues geschaffen, son-
dern nur Latentes geweckt ; auch sie waren nur ein Glied in der Ent-
wicklung.
Damit ist die Wirkung der Haeckelschen Schriften aber nicht
erschöpft. Am meisten äußert sie sich, wie nicht anders zu erwarten,
in der Biologie selbst, besonders in der Zoologie im weitesten Sinne.
Um sich ein Bild von dieser Wirkung zu machen, genügt es, zoologische
Schriften etwa aus der 1. Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit jetzigen
zu vergleichen. Mindestens in der Zoologie dürfte seit Jahrzehnten
keine Arbeit veröffentlicht sein, die nicht auf Grundlagen fußt, die
erst von Haeckel in die Wissenschaft eingeführt sind, oft unter dem
Widerstände der zünftigen Wissenschaft. Und mit am meisten findet
man Haeckels Spuren in den Schriften seiner Gegner, besonders auf
naturphilosophischem Gebiete, die oft völlig auf Haeckelschen Grund-
lagen aufgebaut sind, nur daß dann andere Folgerungen daraus ge-
zogen werden.
Aber unser ganzes Leben ist von Haeckelschem Einflüsse durch-
tränkt, unsere Literatur, Soziologie, Ethik, selbst die moderne Theo-
logie. Überall wird mit den Begriffen Vererbung, Anpassung, Kampf
ums Dasein, Zuchtwahl, Entwicklung usw. gearbeitet ; Begriffe, deren
Einführung in die Geisteswissenschaften, scharfe Fassung und Ver-
ständnis vorwiegend Haeckel zu verdanken sind.
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Fraglich könnte es nur sein, wieviel von diesen Begriffen auf Dar-
win, wieviel auf Haeckel zurückzuführen ist. Ohne aber Darwins
Verdiensten irgendwie zu nahe treten zu wollen : das unterliegt keinem
Zweifel, daß der Siegeszug seiner Ideen in erster Linie dem entschlos-
senen, begeisterten und überzeugenden Eintreten Haeckels für sie
zu danken ist, ebenso wie ihre Anwendung auf philosophische Fragen
und unsere ganze Kultur.
In der Tat dürften wir alle noch viel zu sehr unter der Einwir-
kung dieser Haeckelschen Gedankenarbeit stehen, um sie ganz wür-
digen und überschauen zu können. Ihr völlig gerecht zu werden,
bleibt der Zukunft überlassen.
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HEINRICH HAECKEL: PERSÖNLICHE ERINNE-
RUNGEN AN ERNST HAECKEL
o o o
Wenn es mir als einem der nächsten Verwandten Ernst Haeckels
vergönnt ist, an dieser Stelle zu schildern, wie er durch seine
Person und durch seine Ideen auf mich einwirkte, so hat diese Schil-
derung vielleicht darin etwas Besonderes, von den übrigen Beiträgen
zu dieser Festschrift Abweichendes, als sie einmal zeigen kann, wie
die Einwirkung sich gestaltete, wenn sie schon in frühester Jugend
auf ein Kind der Mitte des 19. Jahrhunderts traf, und sodann, weil
ich in fünfzigjährigem, innigen Verkehr mit dem seltenen Manne
sein Wesen so gut kennen lernte wie nur wenige; die Begeisterung
des Knaben für seine urgermanische Lichtgestalt ging bei wachsen-
dem Verständnis seiner gewaltigen Leistungen über in bewunderndes
Aufschauen zum Heros der Wissenschaft, um im Lauf der Jahre
bei immer tieferem Vertrautwerden mit dem Menschen sich zu warmer
Freundschaft zu entwickeln.
Soweit mein Gedächtnis in die ersten Zeiten dämmernden Bewußt-
seins zurückreicht, leuchtet Ernst Haeckel als die markanteste Per-
sönlichkeit unter allen Erinnerungsbildern hervor. Ein sehr aus-
geprägter Familiensinn verband ihn aufs innigste mit seiner Mutter,
meiner Großmutter, und seinem einzigen, um 10 Jahre älteren Bruder,
meinem Vater. Dadurch daß die Großmutter als Witwe nach Pots-
dam, dem Wohnsitz meines Vaters, zog und zuletzt in demselben
Hause mit uns wohnte, kam es, daß Ernst Haeckel wenigstens zwei-
mal in jedem Jahr zu längerem Besuch zu uns kam. Diese Zeiten wur-
den stets als ein Fest erwartet, das Strahlende seiner sieghaften Natur
brachte Licht und erhöhtes Leben in das Haus, seine Liebenswürdig-
keit und übersprudelnde Lustigkeit im Umgang mit der übermütigen
Kinderschar nahm uns völlig gefangen, und so wirkte schon auf mich
als Knaben der Zauber seiner gewinnenden Persönlichkeit.
Daneben aber dämmerte schon bald die Empfindung auf, einen
ungewöhnlich groß angelegten, schöpferischen Mann vor sich zu
haben. Schon die Art seiner Zeitverwendung zwang uns zur Be-
wunderung. Das war ganz etwas anderes, als was wir unter Genuß
der Ferien verstanden. Saß er im Zimmer bei der Großmutter, so
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383
erging er sich nicht in bloßer Unterhaltung, sondern es wurde stets
eine Arbeit dabei vorgenommen. Auf einem möglichst großen Tisch
wurden Bücher, Schreibpapier, Farbennäpfchen, Skizzenbücher aus-
gebreitet, und nun wurde geschrieben, Druckbogen wurden korri-
giert, Aquarellskizzen von Landschaften feiner ausgeführt und da-
zwischen gesprochen, aber während des Plauderns ruhte nie die
Arbeit. Auf Spaziergängen in der Umgebung Potsdams bemerkten
wir mit freudigem Erstaunen, wie er, der die herrlichsten Land-
schaften fast der ganzen Welt gesehen, für die Reize unsrer märkischen
Heimat voll empfänglich geblieben war. Abends war er stets bereit,
die reichen Schätze seiner Skizzen, die er als Nebenfrucht seiner
ausgedehnten zoologischen Forschungsreisen mit heimgebracht, zu
zeigen. Es machte ihm selbst das größte Vergnügen, dabei seine
Reiseerlebnisse zu erzählen und eine Schilderung der Gegenden zu
geben, und so übertrug er früh seine Reiselust und den Drang in
die Ferne auf die aufmerksam lauschenden Zuhörer.
Besonderen Eindruck machte die Art, wie grundverschiedene
Weltanschauungen hier aufeinander trafen und doch sehr gut mit-
einander auskamen. Die Mutter und der Bruder standen auf einem,
wenn auch liberalen, so doch durchaus festen christlichen Stand-
punkt, sie waren überzeugt religiöse Naturen in den Bahnen Schleier-
machers, zu dessen Füßen die Mutter gesessen hatte — und daneben
der Sohn, der volle Freigeist, der, sprühend von Übermut, gelegentlich
auch leichte Neckereien gegen den frommen Glauben der Mutter
nicht zurückhalten konnte. Da war es rührend und reizend zugleich
zu sehen, wie bei der sonst so strengen Frau das Bestreben, ihren
eigenen religiösen Standpunkt zu wahren, stritt mit der innigen
Liebe zu „ihrem Jungen", wie sie noch in hohen Jahren den Sohn
zu nennen pflegte, und dem Stolz auf die wachsende Berühmtheit
des Sohnes. Aber nie führte dieses liebenswürdige Geplänkel zu einem
ernsthaften Konflikt.
Unter diesen Umständen ist es begreiflich, daß Ernst Haeckels
Ideen Eingang bei mir fanden, sobald ich Weltanschauungsfragen
näher trat. Die „Natürliche Schöpfungsgeschichte" wurde von mir
und gleichgesinnten Freunden schon während der Schulzeit mit Be-
geisterung verschlungen, bald kamen die populären Vorträge und
die „Anthropogenie" dazu. Ein Vortrag, von ihm in der Wohnung
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384
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der Großmutter vor Freunden und Bekannten über die Gasträa-
theorie an der Hand von vielen Tafeln mit Abbildungen gehalten,
ist einer meiner ersten Eindrücke naturwissenschaftlicher Art.
So kam es, daß die Entwicklungslehre, fast möchte ich sagen,
mit der Muttermilch von mir eingesogen wurde. Später, beim Studium
der Medizin, vor allem durch die Vorlesungen Gegenbaurs, konnten
die Haeckelschen Ideen nur noch befestigt und vertieft werden.
Die hohe Blüte aller Gebiete der Naturerkenntnis, der volle Glanz
des Zeitalters der Naturwissenschaft lag auf meiner Studienzeit.
Nimmt man dazu, daß auch Haeckels Goetheverehrung früh auf mich
überging und in dem weimarischen Großen die reifste Frucht deut-
schen Geisteslebens erblicken ließ, so ist es erklärlich, daß sich mir
nach nur geringem Kampf mit anderen Gedankenkreisen eine Welt-
anschauung in den Bahnen der Entwicklungslehre wie von selbst ge-
staltete und bis heute zu restlos innerer Befriedigung unverändert
geblieben ist. Die Bildung dieser Weltanschauung ging so vor sich,
daß sie mir wie ein Produkt der Natur, wie ein durchaus selbst-
verständlicher Ausfluß der Atmosphäre, in der ich atmete, erschien
und mich vor vielen Konflikten zwischen Glauben und Wissen be-
wahrte, mit denen andre sich lange auseinanderzusetzen haben. Da-
für ist mir freilich das Glücksgefühl der Anderen entgangen, bei denen
das Bekanntwerden mit Haeckels Ideen in reiferen Jahren wie eine
plötzliche Offenbarung wirkte. Viele, und besonders solche, die aus
strengkirchlichen und hochkonservativen Kreisen stammen, haben
mir geschildert, wie es ihnen namentlich beim Lesen der „Welträtsel"
wie Schuppen von den Augen gefallen sei, wie sie auf einmal befreit
von verstaubten Vorurteilen die frische Luft der neuen Erkenntnis
eingesogen, freudig erstaunt in eine freie, lichte Welt neuer Vor-
stellungen geschaut haben.
Später war es mir während meiner mehr als zehnjährigen Tätig-
keit als Assistent an der chirurgischen Klinik in Jena und Dozent an
der Universität vergönnt, in fast täglichem Verkehr Ernst Haeckel
näher und näher zu treten und voll den Zauber zu empfinden, dem
die meisten unterliegen, welche persönlich mit ihm in Berührung
kommen. Neben der gewinnenden Liebenswürdigkeit und frischen
Natürlichkeit seines Wesens trat imponierend hervor der hohe sitt-
liche Gehalt seiner Persönlichkeit. Bei all seinen Äußerungen auf
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25 Haeckel-Festschrift. Bd. II 385
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dem Katheder und im Gespräch hatte man den Eindruck vollkom-
mener Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ; man fühlte: das, was er sagt,
ist seine feste Überzeugung. Für ihn waren die Worte nicht da,
um die Gedanken zu verbergen. Nun gibt es viele, die zwar nichts gegen
ihre Überzeugung sagen, aber noch lange nicht alles sagen, was ihre
Überzeugung ist. „Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den
Buben doch nicht sagen" ist nie Haeckels Sache gewesen. In seinem
erfrischenden Freimut hielt er nie mit seiner Ansicht hinter dem
Berge, und äußere Rücksichten konnten ihn nie dazu bringen, seine
wahre Meinung zu unterdrücken. Aber die hohe Auffassung seines
Berufs als Forscher und Lehrer führten ihn noch weiter; war das,
was seine eigene Überzeugung geworden, richtig, so empfand er es
als zwingende Pflicht, es nicht bloß einem kleinen Kreise von Zu-
hörern, sondern mit allen Konsequenzen Allen zugänglich zu machen,
und so entstanden seine zahlreichen, für die weitesten Kreise be-
rechneten Werke. Wie sehr sie in das Volk gedrungen, sehe ich oft
beim Gang durch die Säle meines Krankenhauses ; da finde ich oft die
Welträtsel bei den einfachsten Leuten, denen ich nie die Neigung zu
solchen Studien zugetraut hätte.
So überzeugt Haeckel klar Erkanntes festhielt, klebte er doch
nicht an vorgefaßten Meinungen fest, sondern war bereit, sie bei
besserer Erkenntnis zu ändern. So wurde er, politisch sonst nicht
im Sinne von Parteileben ausgesprochen interessiert, aus einem
Gegner Bismarcks, in dem er zur Konfliktszeit nur den reaktionären
preußischen Junker sah, mit der Zeit ein begeisterter Verehrer des
Reichsgründers und einer der Hauptveranlasser zu dem berühmten
Besuch Bismarcks in Jena 1892. Lebhaft steht mir vor Augen die
Art, wie die Einladung zu diesem Besuch zustande kam, und sie ist
zugleich sehr bezeichnend für Haeckels Weise, frisch und unbe-
kümmert um Schwierigkeiten und Bedenken eine Sache in die Hand
zu nehmen. Wir saßen an einem warmen Juliabend auf der Schweizer-
höhe, einer jener kleinen Bergwirtschaften bei Jena, die Erregung
über die Ereignisse bei Bismarcks Aufenthalt in Wien war groß,
sein begeisterter Empfang in München wurde lebhaft besprochen.
Da warf einer aus der Korona das Wort hin, dann könne man ja
auch Bismarck nach Jena einladen. Halb als Phantasiespiel wurde
alsbald ausgesponnen, was man ihm in Jena bieten könne, was für
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ein Programm ins Auge zu fassen sei, doch fast niemand nahm die
Sache ernst, da es ausgeschlossen schien, daß Bismarck in unsere
kleine Universitätsstadt kommen werde. Bei Haeckel aber blieb diese
hingeworfene Idee sitzen: warum sollte man es nicht versuchen?
Das Schlimmste könne eine Ablehnung sein; eine solche Gelegenheit
kehre nie wieder, also frisch gewagt ! Schon nach wenigen Tagen war
er mit einigen Gleichgesinnten auf der Reise nach Kissingen, um
Bismarck einzuladen, auf der Rückreise nach Varzin in Jena Aufent-
halt zu nehmen. Der Empfang dort war über Erwarten freundlich,
und es kam, was die Einladenden selbst kaum gehofft hatten, zu
dem unvergeßlichen Besuch des Fürsten in Jena.
Erstaunlich war seine Arbeitskraft und -lust. Während des Se-
mesters sah ihn sein Institut Tag für Tag mit der größten Regel-
mäßigkeit an der Arbeit, vom Morgen bis spät in den Abend, nur durch
die Vorlesung und eine kurze Mittagspause unterbrochen. Um in der
Woche möglichst ungestörte Zeit zum Hintereinanderarbeiten zu
haben, wurde im Anfang des Winters regelmäßig eine kleine Komödie
aufgeführt. Die Studenten, welche das sehr beliebte zoologische
Praktikum Haeckels belegen wollten — es stand im Lektionskatalog
unter „noch zu bestimmenden Stunden" — mußten sich äußern,
welche Stunden sie noch frei hätten; bei allen Überlegungen fanden
sich natürlich nie in der Woche Stunden, welche allen paßten, und so
wurde durch freie Wahl der Studiosen das Praktikum stets auf
4 Stunden des Sonntagsvormittags gelegt : eine unerhörte Abweichung
von alten akademischen Gewohnheiten — aber die Studenten hatten
es ja selbst so gewollt! Ich konnte Haeckels unverwüstliche Arbeits-
kraft besonders bewundern, als er sich einen schweren Knöchelbruch
zugezogen hatte. Während der Behandlung, die er mir anvertraut
hatte, war ich erstaunt, schon nach wenigen Tagen, wo das Bein
noch sehr schmerzte und auf eine Schiene gewickelt sich in nicht
sehr bequemer Lage befand, zu einer Zeit, wo andre Patienten sich
noch voll gehen lassen und von ihren Leiden ganz beherrscht sind,
zu sehen, daß um das Krankenlager herum eine Menge Bücher auf-
gestapelt waren und er sich mitten im Schreiben befand. Wie ein
Tiger über seinem Raube saß er schon wieder über der Arbeit und
förderte in den Wochen der unfreiwilligen Muße an seiner ,, Syste-
matischen Phylogenie" mehr, als er sonst in der doppelten Zeit
25* 387
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geschafft hätte. Dieses Arbeitsbedürfnis zeigte sich auch auf gemein-
schaftlichen Reisen und Exkursionen. Sich behaglich ins Gras zu
strecken und den Himmel anzuschauen, lag ihm nicht, ebensowenig,
wie längere Zeit an einem Ort rein als Erholungsaufenthalt zu weilen ;
häufig den Ort wechseln, Neues sehen und dabei produktiv tätig sein
d. h. malen, das war seine Neigung. Als wir mit einem gemeinschaft-
lichen Freunde noch vor fünf Jahren in einem kleinen Motorboot
auf dem Vierwaldstätter See fuhren, wo man sich doch sonst so gern
auf dem Wasser einem dolce far niente hingibt, ließ er wiederholt
halten, um vom Boot aus hier eine Kapelle, dort ein altes Haus zu aqua-
rellieren, ja selbst auf dem vielbesuchten Hauptaussichtspunkt des
Pilatus, dem „Esel", mußte inmitten zahlreicher Touristen rasch die
Kette der fernen Schneegipfel ins Skizzenbuch eingefangen werden.
Bei diesen Aquarellstudien trat der schon erwähnte Zug seines Wesens,
die Art, wie er eine Sache in Angriff nimmt, sehr bezeichnend in
Erscheinung. Ebenso wie er frisch und flott an wissenschaftliche
Probleme heranging und ohne viel Bedenken und zaghaftes Zaudern
den Stier an den Hörnern faßte, so schreckte ihn auch beim Aqua-
rellieren keine Schwierigkeit zurück, und Maler vom Fach sagten ihm
vor manchen Skizzen, das hätten sie nie gewagt, anzupacken.
Dieser Arbeitsfreude konnte er nun nach Herzenslust fröhnen
im stillen Jena; hier fehlten die tausend Sitzungen, Kommissionen,
Examina der großen Universität, die Geselligkeit raubte wenig Zeit,
ungestört konnte er sich ganz in seine Arbeit vertiefen, und nur der
Möglichkeit dieser ungeheuren Konzentration ist die überwältigende
Fülle seiner Werke zu verdanken.
Ein hervorstechender Zug seines Wesens ist eine große Einfach-
heit in seinen Lebensverhältnissen ; das ist ein Erbstück seiner Mutter,
die, obwohl sie wohl in der Lage war, sich ein behagliches Leben
zu gestatten, in fast puritanischer Einfachheit lebte. In Kleidung,
Essen, auf Reisen ist ihm das Einfachste das Liebste; sich helfen,
bedienen lassen, ist ihm greulich: was man selbst machen kann,
soll man selbst machen. Hotels ersten Ranges sind ihm verhaßt,
und wenn er doch einmal als Gast reicher Freunde darin wohnen
muß, so ist es spaßhaft zu sehen, wie er in gewohnter einfacher Weise
auftritt, unbeirrt durch eine glänzende internationale Gesellschaft.
An einem heißen Augusttage ging ich mit ihm über die Strandprome-
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nade in Saßnitz, er zog sich die Jacke aus und lachte vergnügt über
die mißbilligenden Blicke der Badegäste, welche über den Wanderer
in Hemdsärmeln ihre Empörung nicht unterdrücken konnten. Sehr
gelungen war es auch, zur Zeit der letzten Pariser Weltausstellung
mit ihm über die Boulevards zu gehen und die erstaunten Augen
der zylindertragenden, eleganten Menschheit zu sehen, wenn sie der
hohen Gestalt in grauer, einfacher, kurzer Joppe und dem mächtigen,
breitkrempigen Schlapphut nachblickten — „Schöpfungshut" wurde er
in Jena genannt, da ein Hutmacher in Österreich und begeisterter Ver-
ehrer der „Schöpfungsgeschichte" ihm alljährlich ein Prachtexemplar
dieser Gattung schenkte.
Dieser ausgesprochene Sinn für Einfachheit im täglichen Leben
hat dazu geführt, daß er, der im geistigen Leben nicht fortschrittlich
genug sein kann, in seinen häuslichen Lebensgewohnheiten durchaus
konservativ ist. Konservativ ist er außerdem noch auf einem andern
Gebiete, dem der bildenden Kunst. Während er in der Wissenschaft
mit Begeisterung jeden Fortschritt begrüßt und sich nicht im gering-
sten scheut, Altes niederzureißen und Neues aufzubauen, ist er auf dem
Gebiete der Kunstauffassung dem Standpunkt treu geblieben, den
sie etwa um die Mitte des letzten Jahrhunderts hatte. Ihm spielt
der Inhalt des Kunstwerks noch eine ausschlaggebende Rolle für
seine Bewertung, während die bloße Vollendung der Form, die Hoch-
schätzung der Qualität, das l'art pour l'art keinen Eingang bei ihm
fand. Der Impressionismus, Pleinairismus, die Sezession, geschweige
denn die modernsten Ausläufer der Kunstentwicklung liegen ihm
fern. Bei der nur als Jüngling bezeichneten Statue von Adolf Hilde-
brand in der Nationalgalerie vermißte er doch bei aller Bewunderung
der klassisch vollendeten Form, daß nicht gesagt sei, was sie vor-
stellen solle, daß man sich also nichts dabei denken könne.
Neben dem hohen Ernst seines Schaffens bewahrte er sich aber
trotz manchem Schweren, das ihm das Leben gebracht, doch einen
hohen Grad von Fröhlichkeit. La joie de l'esprit en marque la force,
und wenn Fröhlichkeit die Mutter aller Tugenden ist, so hat sich
das bei ihm bewährt. Wenn wir mit jüngeren und älteren Freunden
und Kollegen nach einer wissenschaftlichen Sitzung zusammen
waren oder nach einem Gang über die Jenenser Berge in einer der
reizenden Bergwirtschaften bei einem bescheidenen Abendessen saßen,
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dann übertraf er uns Jüngere alle an Lebhaftigkeit, weithin tönte
sein ansteckendes Lachen, und gegen sein sprühendes Temperament
kamen wir uns wie Greise vor. Dabei konnte sich seine Lustigkeit
in harmlosester Weise äußern. Wenn wir beim Abstieg von den Bergen
in den Feldern die eigentümlich schnarrenden Töne des Wiesen-
schnerzes hörten, so rief er stets mit schallendem Lachen: „Da ist
ja wieder der Geist des Kirchenrats N." — so hatte sein Freund
Gegenbaur den Wiesenschnerz getauft wegen der auffallenden Ähn-
lichkeit seiner Stimme mit dem schnarrenden Organ des Kirchenrats
auf der Kanzel. Dieser Grundzug der Freudigkeit ist ihm auch heute
noch geblieben, wo der Achtzigjährige zu seinem Leidwesen durch
eine schwere Hüftverletzung sehr in seiner freien Beweglichkeit be-
hindert ist. Daß er einer seiner größten Liebhabereien, dem Wandern
und Reisen, ganz hat entsagen müssen, trifft den früher so Beweg-
lichen besonders schwer, und er klagt lebhaft über sein Schicksal.
Aber bei angeregter Unterhaltung macht sich bald auch heute noch
seine unverwüstliche Freudigkeit Bahn, das Erfrischende seines
Wesens bricht leuchtend durch, und der Alte ist dann ganz wieder
der alte.
39°
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ORTSGRUPPE LEIPZIG DES DEUTSCHEN MONISTEN-
BUNDES
o o o
Vorbemerkung des Herausgebers: Schon beinahe fertig mit der Zusammenstel-
lung dieser Haeckel-Schrift, erhalte ich aus Leipzig die Nachricht, daß die dortige
Ortsgruppe des Monistenbundes im kleinen Maßstab schon zu Haeckels jj. Geburts-
tag eine ähnliche Idee verwirklicht hat, wie sie in diesem Buch zur breiteren Aus-
führung gekommen ist. Herr Paul Otto Ruppert, Leipzig, hatte die Güte, mir eine
Abschrift dieses interessanten Dokuments zu senden, die ich im nachstehenden zum
Abdruck bringe.
Die Ortsgruppe Leipzig möchte zum yy. Geburtstage E. Haeckels
unter den Glückwünschenden vertreten sein und bittet daher ihre
Mitglieder bis zum 15. 2. um Übersendung einer Postkarte, auf der
in kurzer, schlichter Weise die Frage beantwortet ist:
,, Welchen Einfluß hat das Lebenswerk Haeckels, insbesondere
darunter die : , Welträtsel' auf meine Welt- und Lebensanschauung ge-
habt; was dankt meine geistige Entwicklung Haeckels Lehre?"
Die eingehenden Antworten werden dem Gelehrten in einem Album
überreicht und sollen ihm den unmittelbaren Dank für sein Wirken
ausdrücken.
Nachstehende Äußerungen sind eingegangen, in einem Album ver-
einigt, und verbunden mit Glückwünschen auf ein noch recht lang-
währendes beglücktes und beglückendes Leben an Prof. Dr. Ernst
Haeckel übersendet worden.
Wankten schon die orthodoxen Grundpfeiler, als ich anfing
selbständig zu denken, so wurde dieser Eindruck noch beschleunigt
durch Haeckels Welträtsel. Doch nicht nur eingerissen, sondern auch
wieder aufgebaut wurde, und neues Leben rankte aus den Ruinen.
— Basierend auf dem Grundgedanken der natürlichen Entwicklung
der Dinge vollzog ich in mir eine neue Geburt mit vollständiger Ver-
drängung der althergebrachten eingetrichterten Anschauung. Mein
Lebenszweck wurde mir durch die Welträtsel erst voll bewußt, und
nicht mehr verließ ich mich auf ein höheres Wesen in überirdischem
Sinne im Kampf ums Dasein, sondern lediglich auf meine eigene Kraft,
vereint mit Selbstbewußtsein. Dazu kommt noch, daß sich in mir
das Denken, Fühlen und Wollen verfeinerte und vertiefte. Nur dem
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volkstümlich geschriebenen Werke: ,,Die Welträtsel" danke ich diese
Erkenntnis, und ich habe nur diesen Herzenswunsch, daß die Welt-
rätsel noch recht viele aus der geistigen Finsternis in den Bannkreis
des Lichtes tragen mögen.
Walter Großmann, Zeichner.
Ein Stern, ein leuchtender Stern in den Finsternissen des Lebens,
in den rauchenden Tiefen des Alltags bist du mir, großer Meister,
und deine Werke. — Was mir der lärmende, mordende Arbeitstag
raubt, das gibst du mir wieder in meinen Feierstunden, wo deine Werke
mir die Welt vergolden und meine staubige Brust so frei, so stark
atmet. Möge der Monismus seinen Hoheitsstempel der ganzen Mensch-
heit aufprägen und so eine paradiesische Zukunft schaffen, das sei
mein Geburtstagswunsch.
Wilh. Schmidt, Weber1).
Haeckels großen Einfluß auf meine Welt- und Lebensanschauung
erkenne ich vor allem darin, daß er durch seine wissenschaftlichen
Forschungen wie kaum ein anderer meine Überzeugung gefestigt hat :
wie für alles in der Welt, so gilt auch für Entstehen, Bestehen und
Vergehen des Menschen und aller seiner Lebensäußerungen das Natur-
gesetz der Entwicklung, sei es Fort- oder Rückbildung; also niemals
und nirgends kann es ein ,, übernatürliches" Geschehen geben.
Dr. phil. J. Kippenberger, freireligiöser Prediger.
Was ich Haeckel danke? Ich bin sehend geworden und trat
an seiner Hand in vorher nie geschautes Land. Die Nebel und Dünste
einer eingebildeten Schein weit, die wirklich zu erreichen ich nie hoffen
durfte trotz allen Glaubens, sanken unter seinem klaren Worte und
vor dem Lichte seiner Erkenntnis zu Boden; aus ihnen entstieg und
lag nun vor mir ausgebreitet in reiner Schönheit, klar geordnet in
allen Teilen, begreifbar und eindeutig die Erde, die Welt; jauchzend
stand ich inmitten aller ihrer tausendfachen Erscheinungen, die nun
mir so nahe verwandt, meines eigenen Wesens mich dünkten, und
ein neuer Wille zu einem guten, schönen und wahren Leben in diesem
x) Ein stark schwindsüchtiger Mensch, dessen ganzes seelisches Glück in der Teil-
nahme an der monistischen Bewegung bestand. Der arme Mensch ist vor 3 Jahren
gestorben.
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wohnlich, weil mir vertraut gewordenen Räume, im Verein mit meinen
mir nun zu Brüdern gewordenen Nebenmenschen, zur Erfüllung meiner
gesetzten Zeit im natürlichen, d. h. ursächlichtätigwirkungsvollen Ver-
laufe der Dinge durchflutete meinen Verstand und mein Gemüt, sie
beide erziehend zu neuartiger stimmungsvoller Hingebung an das
Ganze. So wandelte sich mir in beglückender Entwicklung immer
tieferer Erkenntnis der Gott einengender Religionsbegriffe und eng-
umgrenzter Glaubenslehren über die sichtbar erforschliche Gottnatur
der Welten in das rein unbezogene Göttliche alles Seienden schlechthin.
Paul Otto Ruppert, Kaufmann.
Das ist eins der größten Verdienste unseres Haeckels, daß er
in seinen volkstümlichen Werken zum Volke niederstieg, zur großen
Masse sprach und ihr den kristallenen Trank der Wahrheit, der
wissenschaftlichen Erkenntnis reichte. Was nützt denn alle Weis-
heit, alle tiefgründige Erkenntnis, wenn nur einzelne, und nicht die
Allgemeinheit im Besitze dieser wissenschaftlichen Erkenntnis ist?
Ja, seien wir offen: was ist denn Schuld an unseren gesamten uner-
quicklichen sozialen Verhältnissen? Weil das Volk nicht aufgeklärt
ist, um den Weizen von der Spreu zu unterscheiden.
Karl Wiegand, Beamter.
Aufgezogen in den beengenden Schranken einer altersgrauen Kon-
fession und in mißlichen Lebensverhältnissen, war der Trost meiner
Kindheit die Hoffnung auf ein besseres Jenseits. Der Jüngling durch-
tränkte sich mit Fachwissenschaft, die all sein Denken, seine Kraft
und Zeit in Anspruch nahm und ihn der Möglichkeit beraubte, die
Fortschritte anderer Wissenszweige kennen zu lernen. — Die mit
der Fachwissenschaft erweckte Erkenntnis vieler Naturgesetze hatte
den Verlust des beseeligenden Kinderglaubens zur Folge und mit
ihr den der Lebensfreude; die Zeit des Grübelns um den Zweck des
Lebens führte mich fast an den Rand des Abgrunds, zur Lebensver-
leugnung, zum gewaltsamen Abschluß des Lebens. — Heute — in
reiferen Jahren — verdanke ich dem Studium der Werke unseres
Meisters, daß das Gefühl, bloß ein Stäubchen im Weltall darzustellen,
dessen Kommen und Schwinden im Weltganzen spurlos vorübergeht,
zurücktritt hinter der hehren Gewißheit, auch mit den kleinsten Kräf-
393
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ten und in stiller Zurückgezogenheit mitarbeiten zu können am Wohl,
am Fortschritt der Gesamtheit der Menschen, beizutragen zu immer
höherer Entwicklung des Ganzen! Das, was ich als richtig und be-
wiesen erkannt habe, kann ich hinausschreien in alle Himmels-
richtungen ohne ängstliche Rücksichten auf die möglichen Folgen
und somit neuen Wahrheiten mit zum Siege zu verhelfen: „den Mut
des Bekenners," der aus jedem Wort unseres Meisters strahlt, diesen
verdanke ich ihm und damit das wiedergefundene Gleichmaß der
Seele.
Dr. M. Goldschmidt, Chemiker.
Was habe ich als geborener Proletarier einem unsterblichen Men-
schen, einem E. Haeckel zu verdanken. Eine nicht mit meinem Wort-
schatz wiederzugebende innere Glückseligkeit, welche ich durch Be-
greifung und Erlebung seiner, der Menschheit gegebenen, monisti-
schen Weltanschauung gewonnen habe. „Ach, könnte doch jeder
diesen Lebenstrost im harten Daseinskampf sein eigen nennen!" —
Wohl habe ich die Überzeugung, daß durch die Menschen unwürdigen
Angriffe vonseiten der herrschenden Kirchen und ihrer Helfer
auf seine ehrliche, unermeßlich reich gebende Person das große, die
Menschheit erhebende Lebenswerk eines E. Haeckels nicht aufge-
halten werden kann. „Alles Entwicklung, ewiges Werden und Ver-
gehen zu neuer Form!" Ja, Haeckel, du gabst mir Gewißheit: „Die
Naturwissenschaft ist der Fels, auf dem die Kirche der Zukunft er-
richtet werden wird."
Hermann Käppel, Werkmeister.
Haeckels wissenschaftliche Feststellung, daß, wie überall in der
Natur das weniger Vollkommene und weniger Gute von Höherem
und Besserem besiegt und abgelöst wird, so auch für uns Menschen
eine Höherentwicklung stattfindet und endlich bessere und idealere
Verhältnisse kommen werden, ja kommen müssen, diese Erkenntnis
hat meinem Leben erhöhten Wert gegeben, und das Gefühl, ein Glied
in der Höherentwicklung zu sein und in jedem Lebewesen ebenfalls
einen Teil des sich zu Höherem entwickelnden Ganzen zu sehen,
hat bei mir wahrhaft religiöse Empfindungen ausgelöst.
Arthur Rolle, Aufseher.
394
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In Jena war ich, ein junger Student,
Doch selten froh und toll mit den Jungen,
Hielt meist mich still von den andern getrennt
Und schien ich sorglos, war halb es erzwungen.
In Jena war ich, in schweigender Nacht
Hat mich mein Schritt auf die Berge getragen:
Während die andern gezecht und gelacht,
Schlug mir das Herz voll Sorgen und Fragen.
In Jena war ich, im Paradies
Hab' ich zur Nacht auf der Brücke gestanden,
Ob mir die rauschende Tiefe verhieß
Antwort auf Fragen, die wir nicht fanden!
In Jena war ich, an deinem Mund
Hab' ich mit strahlenden Blicken gehangen:
Was du mich lehrtest, das machte gesund:
Von dir hab' ich mein Leben empfangen.
Dr. H. Welcker, Rechtsanwalt.
Durch die Lektüre Joh. Scherrscher Schriften schon frühzeitig
aus der Lethargie mechanischen Hinnehmens von mechanisch Ge-
gebenem aufgeschreckt, hat mir Haeckel auf alle die Zweifel, die meine
Seele bewegten, eine bündige Antwort gegeben und mich aus dem
dunklen Tasten in der Wirrnis meiner Lebensauffassung von Welt
und Mensch zu lichten Pfaden, zu sicherem Verstehen geleitet, auf
Wege, auf denen ich zufriedenen Herzens weiter pilgern kann.
Georg Stiebner, Kaufmann.
Die Kenntnis der Werke Haeckels, insbesondere der Welträtsel,
bewirkte eine Befestigung und Vertiefung meiner freigeistigen Welt-
anschauung, und ich verdanke dem Einflüsse Haeckels die Empfin-
dung freien Menschentums und wahre menschliche Glückseligkeit, die
sich auch vor dem Tode nicht fürchtet.
Georg Schubert, Kaufmann.
E]ragggB]gggE]ggggggggggggggggggE]E]gg]E]G]EiG]B]EiG]G]E]E3G]G3G]gE]G]G]ggiE]
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Haeckels furchtloses, mutiges Kämpfen gegen die Mächte der
Finsternis erfüllt mich mit freudigem Stolze.
Frau Luise Karch.
Meine Abendlektüre, die Welträtsel, haben mir schon so viel
Belehrung gebracht, daß ich das Buch als meine monistische Haus-
bibel betrachte, daß sich gleichzeitig aber auch ein Haß gegen pfäf fi-
schen Lug und Trug erzeugte. Wir Deutschen können stolz sein,
daß wir in unserm Professor E. Haeckel einen kühnen Streiter und
Wahrheitsforscher, kirchlichen Irrlehren gegenüber, haben; mögen
seine Welträtsel noch Hunderttausenden die Augen öffnen und sich
diese Tausende der monistischen Bewegung anschließen. Mein Kir-
chenaustritt ist kürzlich erfolgt.
Th. Funke, Lithograph, 81 jährig.
Obwohl schon eine Reihe von Jahren vorher zur freien Gemeinde
übergetreten, gab mir die Lehre Haeckels erst den Schlußstein zur
Bildung einer einheitlichen Weltanschauung für die Entwicklung
eines freien Menschentums.
Joseph Julius Beck, Ingenieur.
Ich habe, ähnlich wie ja auch mancher andere, eine Reihe von
Jahren geschwankt und bin im Unklaren geblieben, in welcher Weise
ich mir meine Welt- und Lebensanschauung bilden sollte. Die Lek-
türe von Haeckels Schriften, insbesondere der „Welträtsel" und des
„Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft" hat viel
dazu beigetragen, daß es mir möglich geworden ist, mir eine feste und
gesicherte Weltanschauung zu bilden. Als die beiden wichtigsten
Punkte erscheinen auch mir einerseits der Kampf ums Dasein mit
dem eng damit verbundenen Trieb zu unaufhaltsamem Fortschritt,
andererseits die auch von Haeckel im letzten Teil der „Welträtsel"
vertretene „Goldene Lebensregel": „Handle gegen jeden anderen
stets so, wie du wünschest, daß man gegen dich handle."
Dr. F. Joel, Lektor.
Die Lehre vom Monismus, die unser großer deutscher Naturfor-
scher wissenschaftlich begründet hat, muß auch eine andere Welt-
anschauung hervorrufen als die dualistische, die nicht auf Forschung
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396
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beruht, sondern angeblich auf Offenbarungen. Was es mit solchen
Offenbarungen auf sich hat — wie sie entstehen, von wem sie kommen
und wer sie verbreitet ? — da gibt es nur eine Antwort : die Kirche !
Die gibt sich mit wissenschaftlichen Forschungen nicht ab, höchstens
mit dem Studium verschimmelter alter Kirchenväter. Ich danke es
dem unerschrockenen Forscher Haeckel, daß ich zu denen gehöre,
die die Wahrheit seiner Lehre aus voller Überzeugung gewonnen haben.
Meinen Austritt aus der evangelischen Kirchengemeinde habe ich
vollzogen.
E. A. Funke (geb. 1832).
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KONRAD HUSCHKE, GREIZ
o o o
In der „Villa Medusa", die so freundlich aus grüner Hülle zu dem
Berg mit dem rötlich strahlenden Gipfel hinübergrüßt, bin ich schon
in meiner Schülerzeit kraft meines Neffenprivilegs viel, oft auf meh-
rere Wochen, zu Besuch gewesen. Damals und auch später in meiner
Studenten- und Referendarzeit war es in erster Linie der „Mensch"
und „Künstler" Haeckel, der mich begeisterte und zur Bewunderung
fortriß, diese sprühende, lachende, sonnige, von Humor durchtränkte
Persönlichkeit, die jeden, der nicht ein Erzphilister war, unwider-
stehlich in ihren Bann zog. Die Ausflüge nach seiner geliebten Ammer-
bacher Platte, nach dem Forst, den Kernbergen, die lustigen Szenen
beim Bocciaspiel im Garten, bei denen sein helles Lachen so oft zu
einem köstlichen Lachduett mit dem ebenso bezwingenden Lachen
meiner liebenswürdigen, feinsinnigen Tante zusammenklang, stehen
als leuchtende Punkte in meiner Erinnerung ebenso wie die Stunden,
wo er auf der Rückreise von seinen Fahrten nach Ceylon und Palä-
stina bei uns Station machte und seine farbenprächtigen, mit genialer
Intuition hingeworfenen Aquarellskizzen vor uns ausbreitete. Mein
ganzes Sehnen galt damals der Kunst, vor allem der Musik, und wenn
Haeckel auch gerade dieser Kunst nicht huldigte — ich sehe ihn noch,
wie er lachend am Klavier saß, sein Bravourstück Santa Lucia sang
und sich schauerlich-schön begleitete — , seine Persönlichkeit war doch
durch und durch künstlerisch mit ihrem blühenden, feurigen Enthu-
siasmus und der herzerquickenden Frische und Lebensanmut, die
sonst die Gelehrten so gern zwischen ihren Büchern vergessen und
zu den Akten legen.
Der große „Wissenschaftler" Haeckel spielte im Bereiche meiner
Großhirnrinde noch eine sehr verworrene Rolle. Mit dem Substanz-
gesetz, der Entwicklungslehre, dem biogenetischen Grundgesetz, der
Gastraeatheorie usw. wußte ich nicht viel anzufangen. Und neben den
Beethovenschen Sonaten und Symphonien und den Wagnerschen
Musikdramen fanden Medusen und Radiolarien keine, auch nicht eine
noch so bescheidene Stätte. Zwar hatte ich im ersten Semester droben
im Zoologischen Institut bei Haeckel Vorlesungen gehört, aber bei
20 — 250 Wärme mittags zwischen 12 und 1 nach römischen Institu-
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tionen, Einführung in die Rechtswissenschaft und anderen zermür-
benden Kollegs. Wie sehr habe ich später bereut, daß damals der
Reiz zur Naturwissenschaft und Philosophie noch von dem erst-
semestrigen Hang zu leichterer Geistesnahrung überwuchert wurde.
Die Folge war, daß mangels weiterer Anregung neben dem Berufs-
studium die Kunst fast 10 Jahre lang allein im Vordergrund blieb,
reichen Segen spendend, aber zu einseitiger Bildung führend. Auch
Schopenhauer und David Friedrich Strauß, deren Studium mir mein
Vater, selbst ein treuer Freund und Verehrer Haeckels und philo-
sophisch wie künstlerisch hochgebildet, neben dem von Haeckels
Natürlicher Schöpfungsgeschichte ans Herz legte, ohne sie mir auf-
zuzwingen, wurden nur flüchtig gelesen.
Da kam ich in den Bann der „Welträtsel". Man mag gegen dieses
vielbefehdete und -verketzerte Buch vorbringen, was man will, man
mag es insbesondere als verderblich hinstellen für philosophisch noch
nicht geschulte, unerfahrene Köpfe, für mich ist es im höchsten
Maße segensreich gewesen. Und vielen Tausend anderen ist es ebenso
gegangen. Es hat mich mit den in ihm behandelten Problemen nicht
losgelassen, vielmehr mit wunderbarer Triebkraft in entwicklungs-
geschichtliche und philosophische Studien hineingetrieben, so daß
diese Studien jetzt neben Familie und Kunst mein höchstes Glück
bedeuten. So war auch bei mir Haeckel, wie bei so vielen sonst, der
große Anreger, der den spröden Stoff, der sich ihm gerade bei mir bot,
trotz allen Widerstandes zwar spät, aber nun um so intensiver be-
zwang. Er zeigte mir die tiefgründige, lichtschaffende Größe der
Entwicklungslehre und ihre so unendlich große Bedeutung für die
gesamte Biologie und Soziologie, Ethik, Geschichtswissenschaft und
selbst für die heute so vielfach noch im argen liegende Jurisprudenz.
Er beleuchtete hell und eindringlich das gewaltige Substanzproblem
und die dunklen Gänge der Psychologie. Er weckte meine Begeiste-
rung für Spinoza, dessen erhabene Gott-Natur-Substanz-Einheit er so
genial erneuert hat. Er lehrte mich einen neuen Goethe kennen, den
Naturforscher und monistisch -pantheistischen Denker Goethe, der
so oft geflissentlich entstellt wird. Er trug endlich wesentlich zur
Befreiung meines religiösen Fühlens von den Schlacken starren Dog-
mas und irreführenden Wunderglaubens bei, die aus dem einseitig-
orthodoxen Religions-Unterricht im humanistischen Gymnasium, das
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mir auch sonst so wenig fürs Leben mitgegeben hat, infolge der starken
Beeinflussung im empfänglichen Knaben- und Jünglingsalter leider
lange und fest in mir haftete, und förderte damit in mir ein tieferes
religiöses Empfinden. Ist ja doch überhaupt der innerste Kern seiner
natürlichen, wissenschaftlichen Weltanschauung Religion, nicht im
kirchlichen Sinne, nach dem Schema einer bestimmten Konfession,
sondern als Inbegriff von Erkennen und ernstem Wollen, voll Glauben
an die fortschreitende Entwicklung unseres Erkenntnisvermögens und
voll fester Zuversicht auf eine stetige Weiterentwicklung auch unserer
ethischen Kräfte, auch als Inbegriff höchsten Glücksgefühls im Be-
wußtsein, mit Gott als der ewig waltenden Naturkraft eins zu sein,
so daß ich mein Denken und Tun, mein Wollen und Vollbringen in
die ewige Harmonie einordne nicht allein zu meinem eigenen inner-
sten Glücke, sondern auch zu dem meiner Mitmenschen. Ich verweise
auf Arnold Dodel in seiner bekannten Schrift ,, Ernst Haeckel als
Erzieher". Und Alfred Brehms treffliches Wort fällt mir ein: ,,Sie
schelten uns Gotteslästerer und unser Forschen gottverlassen. Wenn
sie unsere Arbeit zu würdigen verständen, so würden sie sie viel-
leicht Beten nennen." Wie schön paßt das auf Ernst Haeckel!
Alles aber ist nur ein Teil von dem, was er mir gegeben hat,
und ich kann ruhig sagen, daß ich neben meinen geliebten Eltern
ihm für meine Geistesbildung das meiste zu verdanken habe und daß
er auch in meiner Herzens- und Gemütsbildung tiefe Spuren hinter-
lassen hat. In Ehrfurcht neige ich mich daher an seinem 80. Geburts-
tage dem großen, schöpferischen Geist, dem tiefgründigen Gelehrten,
dem edlen Künstler, dem lieben Menschen.
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400
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E. FRIEDERICI, BERLIN
o o o
Noch ehe ich das Glück hatte, Ernst Haeckel persönlich kennen
zu lernen, klang sein Name meinem Ohr vertraut. Schon früh
hörte ich ihn mit Bewunderung nennen im Hause meiner freidenken-
den Eltern, die uns Kinder außerhalb der Kirche erzogen haben.
Wie oft erzählte mir mein vor Jahresfrist verstorbener Vater von
den genußreichen Wochen, die er beim Bauernphilosophen Deubler
in Goisern verlebte; wenn auch in jenem Sommer 1882 dessen großer
Freund Haeckel nicht zum Besuch dort weilte, so haben die beiden
Männer desto mehr von ihm gesprochen und in seinen Werken ge-
lesen. — Mein Vater war bei einer Naturforscherversammlung mit
Haeckel persönlich bekannt geworden. —
Als die Welträtsel erschienen, ging ich noch zur Schule, ich las
sie erst 1903 in der Aufsehen erregenden Volksausgabe. Vorher jedoch
lernte ich ein anderes Werk kennen und lieben : die Indischen Reise-
briefe. Mein Vater las uns — seiner lieben Gewohnheit folgend —
dies Werk vor und ich weiß noch heute, welchen Genuß ich beim Zu-
hören empfand, und mit welchem Entzücken meine Augen immer
wieder auf dem darin befindlichen Bilde des Forschers weilten, das
ihn so schön und stattlich im hellen Tropenanzug darstellt. — Damals
ahnte ich nicht, daß mein Wunsch, dies Buch zu besitzen, von Ernst
Haeckel selbst einst erfüllt werden sollte.
Welche Wirkung die „Welträtsel" auf mich hervorriefen, kann
ich schwer sagen. Ich las das Buch von Anfang bis zu Ende, und über
die Stellen, die mir nicht verständlich waren, weil sie der wissen-
schaftlich ungeschulte Verstand eines so jungen Mädchens noch nicht
verarbeiten konnte (die damalige Mädchenschulbildung ließ in bezug
auf Naturwissenschaft alles zu wünschen übrig!), las ich einfach
hinweg. Erst nach und nach arbeitete ich mich durch die Kapitel
über das Wesen der Seele hindurch, bis sie mir immer verständlicher
wurden. Nie hat das Buch aufgehört, mich zu fesseln. Einen Aufruhr
in meiner Weltanschauung konnte das Werk nicht verursachen, war
ich doch weder gläubig, noch indifferent, sondern schon damals über-
zeugte Freidenkerin. Wohl aber vertiefte und festigte sich meine Welt-
anschauung durch dies Buch und mein junges Herz glühte vor Be-
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26 Haeckel-Festschrift. Bd. II
401
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geisterung für diesen Mann, der als deutscher Professor es wagte,
solch Buch zu schreiben. Und als nun im Herbst 1904 dieser über-
zeugungstreue Kämpfer persönlich in mein Leben trat, da empfing
ich durch ihn eine unermeßliche Bereicherung meines Innenlebens.
Ich verdanke Ernst Haeckel viel mehr, als ich auszudrücken vermag.
Von dieser Bekanntschaft möchte ich erzählen, denn mehr als
seine Werke noch, hat der Mensch Haeckel auf mich gewirkt.
Es war am 19. September 1904, als ich mit meinen Eltern und
einigen Deutschen auf dem Bahnhof in Rom stand, um Prof. Haeckel
zu empfangen, der anläßlich des Internationalen Freidenkerkongresses
dort erwartet wurde. Nie werde ich vergessen, wie des Gelehrten hohe,
noch ungebeugte Gestalt sich aus der ankommenden Menge löste,
und er — ein Handtäschchen und Plaid am Arm — mit jugend-
licher Elastizität über die Schienen eilte. Mit welcher Herzlichkeit
drückte er uns die Hände, für unsere Begrüßung dankend, seine Augen
lachten und strahlten wie die eines ganz jungen Menschenkindes.
Seine Anwesenheit in Rom machte jene Tage zu den schönsten
meines Lebens. — Wir waren in der kurzen Zeit öfter mit ihm zu-
sammen. — Wie jubelten die ungezählten Freidenker aller Nationen,
als unser Ernst Haeckel am 20. September bei der Kongreßeröffnung
sich vom Podium erhob — im Hofe jenes alten Jesuitenklosters —
unter dem tiefblauen Himmel, von dem die liebe Sonne so recht be-
haglich strahlte auf alle die Ketzer, die den heiligen Boden Romas
entweihten — um erst deutsch beginnend, dann italienisch fortfahrend,
Rom als den idealen Mittelpunkt der zivilisierten Welt zu begrüßen. —
(In der italienischen Zeitung II Messaggero stand darüber: Haeckel
si avanza a parlare, il piü grande de gli scienziati tedeschi, un vecchio
bellissimo.) — Hier in Rom wurden die monistischen Thesen verteilt,
welche die Grundlage zum nachmaligen Deutschen Monistenbunde
bildeten. — Wir Deutschen verlebten einen schönen Abend mit unse-
rem verehrten Meister zusammen — er plauderte vom alten Rom,
von der Zeit, da er mit seinem Freunde Hermann Allmers hier ge-
weilt — mit dem er in der prächtigen Kirche San Paolo ein Tänzchen
gewagt. Auch amüsierte er sich köstlich, daß die Italiener seinen
Namen ohne das ,,h" aussprachen: „Man hat mich hier schon zum
,EkeP gemacht", meinte er. — Als wir dann alle gemeinsam vom
kleinen Garten im ,,Tre Re" in ein Zimmer wanderten und an langer
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402
Tafel saßen, Reden hielten und Lieder sangen — da sprach auch
Ernst Haeckel zu uns. Jene Worte, in denen seine Goetheverehrung
und seine tiefe wirkliche Religiosität zum Ausdruck kam, wirkten
unbeschreiblich auf mich und haben gewiß bei allen Gesinnungs-
freunden einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Nachdem sah ich Ernst Haeckel nur noch einmal in Berlin, als
er seine Vorträge über den Entwicklungsgedanken hielt. Ich fand
ihn viel weniger frisch als vor einem halben Jahre in Rom, nur die
Augen hatten noch das alte Feuer. Wieder begrüßte er mich mit
jener bezaubernden Herzlichkeit und lud mich nach Jena ein. Allein
ich hatte nicht das Glück, ihn dort wiederzusehen, jedesmal, wenn
ich nach Jena oder in die Nähe kam, war er abwesend. — Schriftlich
aber bin ich mit Ernst Haeckel in Verbindung geblieben und besitze
so manchen lieben Brief und manches, mit einer Widmung seiner
Hand versehene Buch von ihm. — Es hat mich immer so gerührt,
daß er, der vielbeschäftigte Mann, doch stets Zeit fand, mich unbe-
deutendes Menschenkind mit seinem Gedenken zu erfreuen — so
erhielt ich auch jahrelang immer einen Gruß zur Erinnerung an den
XX. Settembre in Roma 1904. —
Haeckels Kunstformen und Wanderbilder zu betrachten, ist mir
immer ein Fest; ich weiß nicht, was ich mehr bewundern soll, seinen
beispiellosen Fleiß oder die Gabe, so die Schönheit des Lebens zu
empfinden. Er ist doch wirklich ein Lebenskünstler, wie selten ein
Mensch.
Über meinem Schreibtisch hängt eine große Photographie von
Ernst Haeckel, so aufgenommen, wie er mir 1904 zuerst entgegen-
trat — von diesem Bilde, das mir seine lebendige Persönlichkeit vor-
zaubert, ist mir in dunklen, qualvollen Stunden meines Lebens
Trost und Kraft gekommen, ihm danke ich es, daß ich nicht ver-
zweifelte.
Ernst Haeckel, der Gelehrte, der Künstler und vor allem der
Mensch hat meinem Leben die Weihe gegeben, daß ich, immer
strebend, mich bemühe, dem Wahren, Guten und Schönen zu dienen.
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ROBERT H. LOWIE, NEWYORK: HAECKELS VER-
HÄLTNIS ZU AMERIKA
o o o
Die im Harperschen Verlage veröffentlichte Übersetzung von
Haeckels „Welträtseln" wird das amerikanische Volk mit An-
sichten vertraut machen, die in ihrem bedingungslosen Gegensatz zu
seinen religiösen Traditionen von allem ihm bisher Bekanntgewordenen
wesentlich abweichen. Wir sagen „von allem", und dies ist keine
Übertreibung. Denn wenn wir von mehreren rein populären Erzeug-
nissen absehen, können wir getrost die Behauptung aufstellen, daß
von den Vertretern liberaler Tendenzen, welche sich in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an das Englisch sprechende
Publikum wandten, kein einziger mit einer der Haeckelschen auch
nur nahekommenden Konsequenz die Resultate der modernen For-
schung philosophisch verwertet hat.
Dies gilt in erster Linie von den englischen Vorkämpfern der Ent-
wicklungslehre. Wir beabsichtigen deshalb nicht, ihr Anrecht auf
dankbare Anerkennung in Frage zu ziehen. Im Kampfe gegen die
Unduldsamkeit der Orthodoxie haben sie sich wahrlich als wackere
Streiter bewährt und haben, trotz der heftigsten Opposition, den
neueren Ideen der Wissenschaft in einem noch vor kurzem ungeahnten
Maße die Gunst der gebildeten Kreise errungen. Für diesen großen
Dienst gebührt ihnen gewiß uneingeschränktes Lob. Aber nichtsdesto-
weniger bleibt es eine unumgängliche, sich dem unparteiischen Be-
obachter gewaltsam aufdrängende Tatsache, daß keiner von ihnen
seine Lehren zum logischen Ende verfolgt hat, daß sie sich vielmehr
sämtlich in letzter Instanz, wenn nicht der Reaktion, so doch einem
friedlichen Vergleich mit der Reaktion, unterwarfen.
Der unter ihnen in seiner geistigen Entwicklung erhaben allein-
stehende Darwin bildet zwar individuell eine bemerkenswerte Erschei-
nung, aber in seiner unmittelbaren Beeinflussung der in seinem Vater-
lande vorherrschenden Tendenzen gar keine Ausnahme. Wenn es ihm
auch in späteren Jahren gelang, das Joch des Konservatismus abzu-
schütteln und sich dem für einen Naturforscher einzig folgerechten
philosophischen Bekenntnis, dem materialistischen Monismus, anzu-
schließen, verschwieg er sorgfältig mit charakteristischer Bescheiden-
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heit die Ansichten, welche er sich über außerhalb der Fachwissenschaft
liegende Probleme gebildet hatte. Die wenigen seiner Urteile, welche
trotzdem in die Öffentlichkeit drangen, konnten wegen ihrer milden
Fassung leicht mißverstanden werden und wurden tatsächlich von
Rechtgläubigen als die Äußerungen eines friedliche Eintracht zwi-
schen Religion und Wissenschaft anstrebenden Gemüts aufgefaßt.
Somit gipfelte der philosophisch-theologische Einfluß Darwins, in-
sofern er sich überhaupt fühlbar machte, in der Befestigung jenes
ängstlichen, sehr gemäßigten Liberalismus, dessen Entstehung den
oben von uns der Inkonsequenz bezichtigten Gelehrten, Spencer,
Huxley und Fiske, zugeschrieben werden muß.
Daß Männer von so hervorragenden Fähigkeiten auf halbem Wege
stehen geblieben sind, dürfte im ersten Augenblick überraschen. Aber
das Rätsel ist sogleich gelöst, wenn wir unsere Aufmerksamkeit jenem
bigotten, reaktionären Puritanismus zuwenden, der, wie Taine in
seiner meisterhaften Literaturgeschichte nachweist, seit mehr als zwei
Jahrhunderten in England — teilweise auch in den Vereinigten Staa-
ten — grassiert, und innerhalb dieses Zeitraums seinen verderblichen
Druck auf jedes Erzeugnis englischen Geistes ausgeübt hat.
Frömmelei, Engherzigkeit, starres Festhalten an einer der Vernunft
widerstrebenden Moralsatzung sind seine wohlbekannten Merkmale;
hemmend steht er allem im Wege, das sich nicht mit seinen spieß-
bürgerlichen Begriffen verträgt; eifrig widersetzt er sich jeder Kund-
gebung unabhängiger Gesinnung. Wir erkennen seinen Einfluß in
der stumpfsinnigen Verunglimpfung Goethes — dem untrüglichen
Prüfstein des reinsten Philistertums; in der unablässigen Forderung,
die Kunst zur Magd der Moral herabzusetzen; in der hartnäckigen
Aufrechterhaltung der mittelalterlichen ,, blauen" Gesetze, welche ein
so eigentümliches Streiflicht auf den vielgerühmten englischen Frei-
heitssinn werfen. Um aber die Macht des Puritanismus als die Trieb-
kraft englischen Denkens in ihrer ganzen Ausdehnung zu begreifen,
müssen wir uns daran erinnern, daß ein Gladstone im letzten Dezennium
des vorigen Jahrhunderts die wissenschaftliche Berechtigung der bibli-
schen Schöpfungslehre zu verteidigen wagte. Dann begreifen wir auch
alles, dann verstehen wir, was Spencer und Huxley vom Durchbruch
zu gänzlicher Freisinnigkeit abhielt, was bei Fiske die normale Ent-
wicklung seiner Lebensanschauungen ausschloß. Wo einer der her-
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vorragendsten, schätzenswertesten Vertreter der Intelligenz sich zu
einem solchen Grade fortschrittlichen Ideen verschließen konnte, da
war es allerdings notwendig, die furchtbare Anklage des Materialis-
mus durch wiederholt betonte Abweisung niederzuschlagen. Da mußte
freilich das Augenmerk selbst der liberalen Gelehrtenwelt hauptsäch-
lich auf die friedliche Versöhnung des Neuen mit der Tradition ge-
richtet sein: da war also das Erstreben vollständiger Aufklärung bei
einzelnen Individuen, wie bei der großen Masse, eine Unmöglichkeit.
Und nun tritt vor unser amerikanisches, unter denselben, wenn
auch nicht in gleichem Maße tätigen, Einflüssen leidendes Publikum
der streng konsequente, jedes Kompromiß mit dem Feindeslager ver-
werfende Haeckel; zwar nicht zum ersten Male, aber zum ersten Male
mit der Macht, so allgemein tiefes Interesse zu erwecken. Denn heute
kann man seinen Radikalismus nicht mehr wie einst vorübergehender
Titanensüchtelei zuschreiben, heute steht fest, daß gereif teres Urteil
die Schlußsätze des jugendlichen Stürmers bestätigt hat. Haeckel ist
nicht nach Canossa gegangen: endgültig wirft der im Dienste der
Wissenschaft ergraute Geistesheros der Orthodoxie wie dem Halb-
liberalismus den Fehdehandschuh hin ; endgültig erdröhnt der Posau-
nenschall seines „Impavidi progrediamur!"
Wie mannigfache Beispiele aus der Kulturgeschichte der Mensch-
heit bezeugen, verbreiten sich Ideen zwar nur langsam und mit Schwie-
rigkeit durch ihren inneren Wert, aber mit desto zündenderer Gewalt,
wenn sich eine große Individualität ihrer annimmt. Und eine solche
Individualität ist Haeckel unbedingt. Ehern, unbeugsam, erhaben
tritt seine Gestalt aus dem Gewühle der durch die Darwinsche Theorie
heraufbeschworenen Kämpfe hervor. Während die englischen Agno-
stiker taumelnd vor den letzten Folgerungen ihrer Philosophie zurück-
wichen, während die einstigen Gesinnungsgenossen sich abtrünnig dem
Konservatismus zuwendeten, hat Haeckel mit unerschütterlicher Uber-
zeugungstreue das Licht der Aufklärung verbreitet, ohne die Schrek-
kensrufe ob der Vernichtung ihrer ideellen Luftgebilde klagender
Schwärmer, ohne die Drohungen der aus sanftem Schlafe aufgeschreck-
ten Obskuranten im geringsten zu beachten. Dieser Mann, der seit
vierzig Jahren trotz aller Anfeindungen das Banner des Liberalismus
emporgehalten, die Angriffe der Orthodoxie mit nie wankender Festig-
keit zurückgeschlagen, der willkürlichen, von reaktionären Gelehrten
ggEjgEjgggB]gggE]ggggggggggggggggB]E;E]E]EjB]E]EjE]E]E]E]E]E]G]BiE]E]E]G]giG]E]
406
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geforderten Beschränkung der naturwissenschaftlichen Forschung sein
entschiedenstes Veto entgegengesetzt hat; dieser aufopferungsvolle
Diener der Wahrheit, dieser Lessing im geistigen Kampfe der Gegen-
wart, muß, alle Hindernisse traditioneller Vorurteile überwindend,
den beim amerikanischen Volke so stark entwickelten Heldenbewun-
derungstrieb wecken und für sich einnehmen.
Dann wird er mit Erfolg an unseren Verstand appellieren, uns durch
seine Logik zur Annahme der monistischen Weltlehre zwingen können.
Dann wird er seinen Einfluß auf unser tägliches Leben ausdehnen,
uns von dem schwer auf uns lastenden Puritanismus erlösen ; auf den
Trümmern der abderitischen Puritanermoral die Ethik des daseins-
frohen, menschenfreundlichen, Kunst und Wissenschaft fördernden
Freidenkertums begründen. Um es kurz zu fassen: er wird dazu bei-
tragen, ein politisch freies Volk auf das Niveau eines auch geistig
freien zu erheben. — Wenn ihm dies gelingt, dann wird der Einfluß
des Deutschen Haeckel höher zu schätzen sein, veredelnder gewirkt
haben, als der dreihundertjährige, oft so gepriesene unseres „Mutter-
landes" England.
407
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ODON DE BUEN, MADRID : HAECKEL IN SPANIEN
0 0 0
Schon als ganz junger Student fing ich an, mich mit der Philosophie
Haeckels zu beschäftigen. Mein alter Lehrer der Malakologie
war ein begeisterter Verehrer Lamarcks, aber er riet uns dringend
von seinen verderblichen philosophischen Neigungen ab. Von dem
Dreigestirn Lamarck, Darwin, Haeckel wollte er erst recht nichts
wissen. Die Angriffe auf den genialen Jenenser Gelehrten wurden
außerordentlich heftig und hartnäckig vorgebracht. Natürlich erregte
das unsere Neugierde und wir lasen die „Natürliche Schöpfungs-
geschichte" mit einer wahren Gier und diskutierten mit Feuereifer
darüber. Am Ende unserer Studienzeit waren fast alle von uns jungen
Naturwissenschaftlern Haeckelianer.
Im akademischen Lehrkörper überwogen die Reaktionären unter
der Führung meines Lehrers der Malakologie. Die heftigen Aus-
einandersetzungen zwischen der sehr unduldsamen äußersten kleri-
kalen Rechten und der revolutionären Linken in jener Epoche, der
Spanien zum großen Teil den Aufschwung der letzten Zeit verdankt,
zerrten Haeckel in den Kampf der Meinungen. Universitäten und
Akademien, öffentliche Vorträge und Zeitungen hallten von seinem
Namen wider. Während ihm die einen fluchten und ihn beschimpften,
verteidigten und rühmten ihn die andern.
In dieser Kampfeszeit war ich Professor an der Universität Bar-
celona und veröffentlichte eine Naturgeschichte im Sinne des Monis-
mus. Langsam gewann meine Überzeugung Anhänger unter der
jungen Generation, aber bald bemühten sich die Klerikalen, meinen
Einfluß zu untergraben. Meine „Allgemeine Zoologie" und meine
„Geologie" wurden auf den Index gesetzt, und im Jahre 1895 entzog
man mir meine Professur in Barcelona.
Der inzwischen schon mutig hervortretende liberale Geist Spaniens
stellte sich mir zur Seite. Die akademische Jugend führte in edler
schrankenloser Begeisterung einen tapferen Krieg zu meinen Gunsten,
so daß ich nach drei Monaten meine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen
konnte. Zahlreiche Auflagen meiner Bücher wurden vergriffen und
ich konnte ohne weitere Unterbrechung in monistischem Geiste als
Lehrer, Forscher und Aufklärer wirken.
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408
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Ich war immer der Überzeugung, daß die philosophische wie die
soziale Entwicklung sich in drei wohl unterscheidbaren Phasen ab-
spielt: Herrschaft des Dualismus, Kampf zwischen Dualismus und
Monismus, Sieg des Monismus. In der Physik bestand der Dualismus
in dem Gegensatz von Kraft und Stoff, in der Psychologie von Leib
und Seele, in der Politik von Herrscher und Untertan, in der Sozial-
wissenschaft von Kapital und Arbeit, in der Philosophie von Ursache
und Wirkung und in der Ethik von Gut und Böse. Die Wissenschaft
hat die Abgründe, die Kraft und Stoff, Seele und Körper, Ursache
und Wirkung trennten, überbrückt. Die Demokratie wird den Dualis-
mus zwischen Gut und Böse, Herrscher und Untertan, Kapital und
Arbeit aufheben.
Ich kann versichern, daß in Spanien Haeckel an Volkstümlichkeit
kaum seinesgleichen hat. Seine Lehre hat auf die Entwicklung des
spanischen Gewissens einen außerordentlichen Einfluß gehabt. Mit
Stolz behaupte ich, daß in meinem Vaterland Freiheit und Duldsam-
keit immer mehr Boden gewinnen und daß sich mit dem Ausbreiten
und dem Gedeihen der Naturwissenschaften eine Zukunft des Wohl-
standes, des Friedens und des Fortschrittes vorbereitet.
Dem Meister Haeckel wünsche ich an seinem achtzigsten Geburts-
tag noch viele Jahre des Lebens.
(Aus dem Spanischen von H. Schaxel.)
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4O9
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MAX PAATSCH, DESSAU
o o o
Aus dem Dunkel des Akasa
dämmernd bist Du aufgestiegen,
ewigem Gesetz gehorchend.
Licht und lichter ward es, wo auch
Du den Fuß hinwenden mochtest,
und beglückender Erkenntnis
wichen trüben Wahnes Nebel.
Furchtlos tratest Du und freudig
vor des Kosmos düstre Sphinx:
Deinem jugendstarken Werben
konnte sie nicht widerstehen,
und die ewig Rätselvolle
gab Dir manch' Geheimnis preis.
Zu den „Müttern", wie einst Faustus,
bist auch Du hinabgedrungen,
Antwort glühend heiß begehrend
auf die „Frage aller Fragen".
,, — Sie lebt in lauter Kindern,
und die Mutter, wo ist sie?"
Dies, das einzige Weltenrätsel,
das Du im „Substanzgesetze"
rein und machtvoll vor uns aufrollst,
wird es jemals uns gelingen,
dieses Rätsel zu bezwingen?
Keine Macht der Welten hemmet
uns den raschen Schritt der Zeit;
niemals ward sie eingedämmet,
ist in Wahrheit Ewigkeit.
Aller Kräfte Wechselspiel
fügt sich des Gesetzes Band;
fragest du nach Zweck und Ziel,
oder wo die Meisterhand — ?
410
„Freude, schöner Götterfunken"
singt des Lebens lautes Tönen,
und nur der versteht sein Wehen,
der vor ihm aufs Knie gesunken.
Doch ob auch das Bild von Sa'is
niemals ganz sich uns entschleire,
eines haben wir gewonnen,
eines müssen wir Dir danken:
Klar und stark und fest und freudig
können wir zum Werke schreiten,
das die Zukunft von uns fordert.
Ausgelöscht der Götter Willkür,
kann das Göttliche im Menschen
endlich wieder frei nun wirken,
Fußend auf der heil'gen Erde,
nicht vor sich das Ungewisse,
auf die eigne Kraft vertrauend,
keines Gottes Gnade achtend,
ward der neue Mensch geboren,
der nicht nur ein Teil des „Brahman",
sondern dieses selber ist.
Wahrheitsuchen ist Dein Leben,
nur die Wahrheit kann uns lösen;
nur dem Guten gilt Dein Streben,
Wahrheit dienet nicht dem Bösen;
innerster Erkenntnis Kraft,
sie allein zwingt Leidenschaft.
Das Mysterium des Schönen
hast Du vor uns aufgeschlagen;
stetig rätselvolles Wunder
ist uns wieder neu geworden.
Wir sind mitten in ihm drinnen,
wir sind stets von ihm umgeben —
keiner weiß doch, wie es wirke,
niemand mag es uns entwirren.
411
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Freuen wollen wir uns seiner!
Freude sollen wir genießen,
wo auch wir das Schöne sehen,
wo es siegend sich uns zeigt. —
Wäre doch der Tag noch ferne,
wo Du, vielgeliebter Meister,
ehernem Gesetz gehorchend,
wollend, und mit heitrer Ruhe,
froh der Lebensarbeit, rücksinkst
in das Dunkel des Akasa —
Doch nicht diese Töne, Freunde,
sollen heute uns bewegen;
freudenvollere und heitre
mögen heute mit uns sein.
Noch beleuchtet unsre Sonne
mild des Meisters Silberhaare;
Sonne seiner Jugendtage,
du bist immer noch die alte;
sonnengleiches Herz voll Feuer —
froh und jung bist du geblieben,
ja, uns allen bist Du teuer,
nur eins können wir: Dich lieben!
Möge blinder Feinde Grollen
Dich nicht kümmern, noch erregen!
Nimm aus unserm übervollen
Herzen unsre Lieb' entgegen,
Die Du redlich Dir erworben,
die wir ungeheißen bringeni
da Du Güte uns gelehrt,
Güte, welche ewig währt.
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412
ALPHABETISCHES VERZEICHNIS DER
MITARBEITER
o o o
Seite
Aigner, Dr. med. Eduard, Schriftführer des Deutschen Monistenbundes,
München II, 258
Altmann-Bronn, Ida, Schriftstellerin, Rombach II, 142
Antipa, Prof. Dr. Gregorio, Direktor des Museo storia natural, General-
inspektor im Ministerium des Ackerbaus und der Domänen, Bukarest I, 408
Baege, M. H., Dozent, Friedrichshagen b. Berlin II, 150
Beck, Prof. Dr. Paul, Leipzig-Gohlis II, 34
Beiles me, Prof. Dr. Jousset de, Brüssel II, 56
Bloch, Dr. med. Iwan, Charlottenburg II, 357
Blossfeldt, Willy, Schriftleiter des „Monistischen Jahrhunderts", Leipzig I, 298
Boerner, Wilhelm, Schriftsteller, Leipzig II, 139
Brauckmann, Carl, Instituts-Direktor, Jena I, 1. II, 156
Breitenbach, Dr. Wilhelm, Herausgeber der „Neuen Weltanschauung",
Brackwede i. W I, 204
Bresgen, Sanitätsrat Dr. M., Wiesbaden I, 215
Brunner, Dr. med. Max, prakt. Arzt, Wien II, 272
Buen, Dr. Odon de, Professor an der Universität Madrid II, 408
Carraro, Oberlehrer A., Wien II, 359
Crompton, Frau Elli von, Berlin-Grunewald I, 287
Crutcher, Dr. Howard, Roswell, Neu-Mexiko II, 48
Davidoff, Dr. M., Direktor des zoologischen Laboratoriums, Villefranche-
sur-Mer I, 319
Daxenbichler, Frau Fanny, Salzburg II, 93
Dopf, Karl, Arbeiter, Hamburg II, 291
Dosenheimer, Amtsrichter E., Ludwigshafen a. Rh II, 38
Eulenberg, Dr. Herbert, Schriftsteller, Kaiserswerth a. Rh II, 138
Felden, Emil, Pastor an St. Martini, Bremen II, 125
Ficalbi, Dr. Eugenio, Professor der Zoologie, Pisa II, 179
Flothuis, M. H., Oberlehrer, Amsterdam II, 50
Focke, Dr. med. Wilhelm, Bremen II, 373
Forel, Prof. Dr. August, Yvorne, Schweiz I, 241
Friederici, Fräulein E., Berlin II, 401
Froelich, Heinrich, Baurat, Georgenswalde I, 295
Fürbringer, Prof. Dr. Max, Geh. Hofrat, Heidelberg II, 335
Gadow, Dr. Hans, Professor an der Universität Cambridge (England) II, 160
Georg y, Ernst August, Schriftsteller, Halle a. S I, 309
Gerling, Friedrich Wilhelm, Wiesbaden I, 223
Glatz, Friedrich, Kaufmann, Wien II, 61
Gilbert, Leo, Redakteur der „Zeit", Wien II, 285
Goldscheid, Rudolf, Soziologe, Wien II, 247
Grazie, Fräulein Maria Eugenie delle, Wien II, 309
Greil, Dr. Alfred, Professor der Anatomie a. d. Universität Innsbruck . . II, 211
Gurlitt, Prof. Dr. Ludwig, München I, 234
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414
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Seite
383
233
165
282
I20
419
398
H a e c k e 1 , Prof. Dr. Heinrich, Direktor des Städtischen Krankenhauses, Stettin
Hatschek, Prof. Dr. Berthold, Hofrat, Wien
Hertwig, Prof. Dr. Richard von, Geheimer Hofrat, München
Hirschfeld, Dr. med. Magnus, Berlin
Holgers, Frl. Maria, Berün
Hopf, Dr. med. Ludwig, Stuttgart
Huschke, Dr. Konrad, Mitgl. der Fürstl. Kammer, Greiz I
Ihering, Prof. Dr. Hermann von, Dir. des Museo Paulista, Sao Paulo,
Brasilien
Jans, Johann, Elva, Livland
Juliusburger, Oberarzt Dr. Otto, Steglitz-Berlin
Kahl, August, Schriftsteller, Hamburg I
Kammerer, Dr. Paul, Privatdozent an der Universität Wien .... I
Keller, Dr. Conrad, Zürich, Professor am Eidgenössischen Polytechnikum,
Zürich
Keller, Prof. Dr. Robert, Direktor des Gymnasiums in Winterthur . .
Kleinsorgen, Wilhelm, Berlin -Wilmersdorf I
Knopf, Hofrat Prof. Dr. Otto, Jena I
Kocks, Dr. med. Josef, Universitätsprofessor, Bonn I
Koltan, Jakob, Schriftsteller, Heidelberg I
Koerner, Prof. Ernst, Berün I
Kotthaus, Carl, München I
Krauseneck, Dr. Gustav, Triest
Kroell, Dr. Hermann, Geheimer Sanitätsrat, Straßburg
Lang, Dr. Arnold, Professor der Zoologie an der Universität und dem Eid-
genössischen Polytechnikum, Zürich I
Leege, Karl O., Jena I
Leipzig, Ortsgruppe des Deutschen Monistenbundes I
Leon, Dr. Nicola, Professor an der Universität, Jassy I
Lipsius, Dr. Friedrich, Privatdozent an der Universität, Leipzig . . . I
Loeb, Dr. Jacques, Professor an der Universität Newyork I
Lowie, Robert H., Newyork I
McCabe, Joseph, London N. W I
Mark, Prof. Dr. E. L., Dir. of the Zool. Lab. Harvard University, Cam-
bridge, Mass I
May, Dr. Walther, Professor an der Technischen Hochschule, Karlsruhe
Meyer, Dr. Erich, Kgl. pr. Landesgeologe, Dahlem-Berlin
Meyer, Professor R., Berlin I
Michelis, Dr. phil. Heinrich, Oberlehrer, Königsberg i. Pr
Morton, James F., Rechtsanwalt, Präsident der Thomas Paine Asso-
ciation, Newyork
Neu mann, Carl W., Herausgeber von Reclams Universum, Leipzig . . I
Ort mann, Prof. Dr. Arnold, Curator of the Dep. of the Invertebrate Zool.
am Carnegie Museum, Pittsburg
Ostwald, Geh. Rat Prof. Dr. Wilhelm, Groß-Bothen
Paatsch, Max, Handlungsgehilfe, Dessau I
Palmen, Dr. Axel, Professor an der Universität Helsingfors I
Plotke, Georg J., Frankfurt a. M I
397
315
391
172
6
403
323
3Si
298
186
362
68
317
416
329
259
207
391
73
22
15
404
244
304
273
423
28
267
374
154
336
195
410
307
308
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415
g^E]gggE]gggggggE]gggggggE]ggB]ggggG]E]GlE]E]E]B]E]E]B]G]E]E]E]G]E]E]E]E]E]E]G]
Porten, Dr. med. Max von der, Hamburg
Rabl, Geh. Rat Prof. Dr. Carl, Dir. des Anatomischen Instituts, Leipzig I
Rahner, Dr. med. Richard, Gaggenau i. Bad
Regel, Dr. Fritz, Professor an der Universität Würzburg I
Reh, Dr. Ludwig, Custos am Naturhist. Museum, Hamburg I
Reichel, Eugen, Berlin -Schöneberg I
Rheindorf, Dr. med., Augenarzt, Krefeld
Rieß, Carl, Kaufmann, Hamburg I
Römer, Prof. Dr. Julius, Kronstadt (Siebenbürgen)
Sars, Dr. Ossian, Professor an der Universität Christiania
Schall mayer, Dr. Wilhelm, Krailling- Planegg bei München I
Schatt, Carl Oswald, Fachlehrer, Brunn i. Mähren
Schaxel, Dr. Julius, Privatdozent an der Universität Jena I
Scheffauer, Hermann, Schriftsteller, London I
Schmidt, Dr. Heinrich, Jena
Schneider, Hugo, Bankbeamter, Berün I
Schrickel, L., Schriftsteller, Klotzsche bei Dresden
Schwaner, Wilhelm, Herausgeber des „Volkserziehers", Schlachtensee-
Berlin
Schwarz, Arthur, Generaldirektor, Gr. Lichterfelde-Berlin I
Schweninger, Geh. Rat Prof. Dr. Ernst, München I
Seber, Dr. Max, städtischer Tierarzt, Dresden
Semon, Prof. Dr. Richard, München
Siebert, Dr. Fritz, Spezialarzt für Haut- und Geschlechtsleiden, München
Sokolowsky, Dr. Alexander, Hamburg I
Spitzer, Dr. Hugo, Professor der Philosophie an der Universität Graz I
Sprenger, Dr. med. et phil. G., Mainz I
Steman, Friedrich, Oberlehrer a. D., Weimar
Stoecker, Frau Dr. phil. Helene, Berlin I
Stona, Gräfin Maria Scholz-, Schloß Strzebowitz, Schlesien
Thiele, C. H., Privatgelehrter, München-Solln
Thieme, Friedrich, Schriftsteller, Weimar I
Trapp, Frau Grete, Zürich
Tschirn, Georg, Präsident des Deutschen Freidenkerbundes, Breslau
Unna, Prof. Dr. P. G., Hamburg I
Verworn, Prof. Dr. Max, Direktor des physiologischen Instituts der
Universität Bonn I
Vogtherr, E., Mitgüed des Reichstags, Dresden I
Walther, Prof. Dr. Johannes, Dir. des Mineralogischen Instituts, Halle a. S. I
Weber, Alfred Ritter von Ebenhof, k. k. Ministerialrat d. R., Wien . . I
Wolfsdorf, Eugen, freirel. Prediger, Nürnberg I
Yung, Dr. Emile, Professor an der Universität Genf I
Zalisz, J. F., Leipzig I
Zucca, Prof. Antioco, Cagliari, Sardinien
33EjggE]ggggE]ggE]gEiggEjgggggggggggG3B35]§]ggG]GjS)ggB]GjG3gE]E3G]E]5]E]Ej
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