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Full text of "Was wir Ernst Haeckel Verdanken. Ein buch der Verehrung und Dankbarkeit"

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WAS  WIR 
ERNST  HAECKEL  VERDANKEN 


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Von  dieser  Festschrift  wurden  außer 
der  Auflage  i  Unikat  auf  van  Gelder- 
Bütten  für  den  Jubilar  und  200  in 
der  Presse  numerierte  Exemplare  auf 
im.  Japan  abgezogen 


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Den  Druck  dieser  Festschrift  besorgte 
die  Spamersche  Buchdruckerei;  das 
Papier  lieferte  Berthold  Siegismund; 
die  Reproduktion  der  Abbildungen  er- 
folgte in  der  Graphischen  Kunstanstalt 
von  Hermann  Ludewig;  sämtlich  in 
Leipzig.  Einband  und  Umschlag  zeich- 
nete H.  D.   Leipheimer   in   Sersheim 


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Nach  einer  Photographie 

des  Ateliers 
„Lichtkunst",  München 


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-  -WAS  WIR  £u- 

ERNST  HAECKEL  VERDANKEN 

EIN  BUCH  DER  VEREHRUNG  UND 

DANKBARKEIT    P  .  „aw 


IM  AUFTRAG  DES  DEUTSCHEN  MONISTENBUNDES 
HERAUSGEGEBEN  VON 

HEINRICH  SCHMIDT-JENA 


MIT  12  ABBILDUNGEN,  DARUNTER  5  HAECKEL-PORTRÄTS 


ZWEITER  BAND 


LEIPZIG  1914 
VERLAG  UNESMA  G.  M.  B.  H. 


Alle  Rechte  vorbehalten 
Copyright  1914  by  Verlag  Unesma  G.  m.  b.  H.,  Leipzig 


INHALT  DES  ZWEITEN  BANDES 

o  o  o 

SPEZIELLER  TEIL 

(FORTSETZUNG) 

Seite 

Rabl,  Geheimrat  Professor  Dr.  Carl,  Leipzig i 

Kammerer,  Privatdozent  Dr.   Paul,  Wien 6 

Loeb,   Professor  Dr.   Jacques,  Newyork 15 

Rieß,   Kaufmann  Carl,  Hamburg 17 

Lipsius,  Privatdozent  Dr.  Friedrich,  Leipzig 22 

Meyer,  Professor  Dr.  R.,  Berlin 28 

Beck,  Professor  Dr.  Paul,  Leipzig 34 

Dosenheimer,  Amtsrichter  Emil,  Ludwigshafen  a.  Rh 38 

Wolfsdorf,   freireligiöser  Prediger  Eugen,  Nürnberg 43 

Cr ut eher,  Dr.  med.  Howard,  Roswell,  Neu-Mexiko 48 

Flothuis,  Oberlehrer  M.  H.,  Amsterdam 50 

Bellesme,  Professor  Jousset  de,  Brüssel 56 

Glatz,   Kaufmann  Friedrich,  Wien 61 

Koerner,  Professor  Ernst,  Berlin      68 

Leon,   Professor  Dr.  Nicola,  Jassy,  Rumänien T$ 

Scheffauer,  Hermann,  London 75 

T hie  nie,  Schriftsteller  Friedrich,  Weimar 83 

Vogtherr,  M.  d.  R.  Ewald,  Dresden 89 

Daxenbichler,  Frau  Fanny,  Salzburg 93 

Weber,  k.  k.  Ministerialrat,  Alfred  Ritter  von  Ebenhof,  Wien 96 

Schneider,  Bankbeamter  Hugo,  Berlin 115 

Holgers,  Fräulein  Maria,  Berlin 120 

Felden,  Pastor  an  St.  Martini,  Bremen       125 

Schweninger,  Geheimrat  Professor  Dr.  Ernst,  München 130 

Eulenberg,  Herbert,   Kaiserswerth  a.  Rh 138 

Boerner,  Schriftsteller  Wilhelm,  Leipzig 139 

Altmann-Bronn,  Frau  Ida,  Romberg  i.  Lothringen      142 

Yung,  Professor  Dr.  Emile,  Genf 148 

Baege,  Dozent  M.  H.,  Friedrichshagen  bei  Berlin 150 

Neu  mann,  Herausgeber  von  Reclams  Universum  Carl  W.,  Leipzig    ....  154 

Brauckmann,  Institutsdirektor  Karl,   Jena 156 

Gadow,   Professor  Dr.  Hans,  Cambridge  i.  England 160 

Hertwig,  Geheimrat  Professor  Dr.  Richard  von,  München 165 

Sprenger,  Dr.  med.  et  phil.  G.,  Mainz 171 

Kahl,  Schriftsteller  August,  Hamburg      172 

Ficalbi,   Professor  Dr.  Eugenio,  Pisa 179 

Walt  her,  Professor  Dr.  Johannes,  Halle  a.  S 180 

Unna,  Professor  Dr.  P.  G.,  Hamburg 182 

Kocks,  Professor  Dr.  J.,  Bonn 186 

Leege,  Karl  O.,  Jena 207 

Greil,  Professor  Dr.  Alfred,  Innsbruck 211 

Spitzer,   Professor  Dr.  Hugo,  Graz 224 

VII 


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Seite 

233 

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335 
3Si 
357 

359 
362 

367 
373 
376 


Hatschek,  Hofrat  Professor  Dr.  Berthold,  Wien 

Reichel,  Eugen,  Berlin 

Schwarz,   Kgl.  preußischer  Kommerzienrat  Arthur,  Lichterfelde 
Regel,  Professor  Dr.  Fritz,  Würzburg 

McCabe,  Joseph,  London 

Goldscheid,  Rudolf,  Wien     .... 

Zalisz,  J.  F.,  Leipzig 

Aigner,  Dr.  med.  Eduard,  München 
Lang,  Professor  Dr.  Arnold,  Zürich  . 
Sokolowsky,  Dr.  Alexander,  Hamburg 
Schaxel,  Privatdozent  Dr.  Julius,  Jena 
Brunner,  Dr.  med.  Max,  Wien     .    .    . 
Hirschfeld,  Dr.  med.  Magnus,  Berlin 
Gilbert,  Redakteur  Leo,  Wien  .... 
Dopf,  Arbeiter  Karl,  Hamburg      .    .    . 

Knopf,  Hofrat  Professor  Dr.  Otto,  Jena 

Mark,  Professor  Dr.  E.  L.,  Harvard  University,  Cambridge  U. 

Palmen,  Professor  Dr.  Axel,  Helsingfors 

Plotke,   Georg  J.,  Frankfurt  a.  M 

delle  Grazie,  Schriftstellerin  Fräulein  Maria  Eugenie,  Wien 

Kotthaus,  Carl,  München       

Stöcker,  Frau  Dr.  Helene,  Berlin-Nicolassee      

Verworn,  Professor  Dr.  Max,  Bonn 

Fürbringer,  Geheimrat  Professor  Dr.  Max,  Heidelberg  .    .    . 

Kleinsorgen,  Wilhelm,  Berlin-Grunewald 

Bloch,  Dr.  med.   Iwan,  Charlottenburg 

Carraro,  Oberlehrer  Angelo,  Wien 

Koltan,  Schriftsteller  Jakob,  Heidelberg 

Schallmayer,  Dr.  Wilhelm,   Krailling-Planegg  b.  München    . 

Focke,  Dr.  med.  Wilhelm,  Bremen 

Reh,  Dr.  Ludwig,  Hamburg 

Haeckel,  Direktor    des    städtischen    Krankenhauses    Professor 

Stettin 

Leipziger  Ortsgruppe  des  Deutschen  Monistenbundes     .... 
Huschke,  Dr.  Konrad,  Mitgl.  der  Fürstl.   Kammer,  Greiz 

Friederici,  Fräulein  E.,  Berlin 

Lowie,  Robert  H.,  Newyork 

Buen,  Professor  Odon  de,  Madrid 

Paatsch,  Handlungsgehilfe  Max,  Dessau 


Dr. 


Heinrich 


383 
391 
398 
401 
404 
408 
410 


VIII 


CARL  RABL,  LEIPZIG 


o  o  o 


Ich  hatte  auf  dem  Gymnasium,  z.  T.  auf  Anregung  meines  Vaters, 
z.  T.  wohl  auch  aus  Opposition  gegen  die  klösterliche  Erziehung, 
die  mir  in  Kremsmünster,  einem  Benediktinerstift  in  Oberösterreich, 
zuteil  wurde,  frühzeitig  angefangen,  entwicklungstheoretische  Schrif- 
ten zu  lesen.  Namentlich  hatten  die  „Schöpfungsgeschichte"  von 
Burmeister,  die  Vorträge  über  die  Darwinsche  Theorie  von  L.  Büchner 
und  das  Buch  „Vor  der  Sündflut"  von  O.  Fraas,  —  so  verschieden  sie 
in  ihrer  Tendenz  waren,  —  in  hohem  Grade  mein  Interesse  in  An- 
spruch genommen.  Zu  Anfang  des  Jahres  1870,  ich  stand  damals  im 
siebzehnten  Lebensjahre,  wurde  ich  auf  die  populäre  Kosmogenie 
von  Philipp  Spiller  aufmerksam,  die  unter  dem  Titel  „Die  Entstehung 
der  Welt  und  die  Einheit  der  Naturkräfte"  in  Lieferungen  erschien. 
In  einer  der  Lieferungen  fand  ich  die  Bemerkung,  daß  soeben  die 
2.  Auflage  von  Haeckels  „Natürlicher  Schöpfungsgeschichte",  eines 
„klassischen  Werkes",  wie  Spiller  hinzufügte,  erschienen  sei.  Spiller 
genoß  damals  als  populär-wissenschaftlicher  Schriftsteller  großes  An- 
sehen. Ich  ließ  mir  sofort  Haeckels  Buch  kommen,  und  mit  dem 
Studium  desselben  entschied  sich  mein  ganzes  wissenschaftliches 
Leben.  Ich  las  das  Buch  mit  wahrer  Andacht,  Tag  und  Nacht,  und 
immer  wieder  und  war  überzeugt,  daß  es  über  die  großen,  wichtigen 
Probleme,  die  es  behandelte,  kein  besseres  geben  könne.  Von  da  an 
beherrschte  der  Entwicklungsgedanke  mein  ganzes  Tun  und  Denken. 
Alles,  was  ich  bis  dahin  gelernt  und  gelesen  hatte,  verblaßte  oder 
verschwand  wohl  auch  völlig  aus  meinem  Gesichtskreise;  ich  war 
glücklich,  an  Stelle  des  Kirchenglaubens,  von  dem  meine  ganze 
Umgebung  durchtränkt  war,  eine  freie,  auf  der  Basis  menschlicher 
Erkenntnis  aufgebaute  Lehre  gesetzt  zu  sehen.  Daß  ich  mit  solchen 
Ansichten  nicht  zu  meiner  Umgebung  und  meine  Umgebung  nicht 
zu  mir  paßte,  und  daß  daraus  allerhand  Mißhelligkeiten  entsprangen, 
brauche  ich  nicht  auseinanderzusetzen. 

Schon  damals  faßte  ich  den  Entschluß,  sobald  sich  dies  irgendwie 
durchführen  ließe,  nach  Jena  zu  gehen  und  bei  Haeckel  zu  arbeiten. 
Zunächst  aber  ging  ich,  nachdem  ich  das  Gymnasium  absolviert 
hatte,  nach  Wien,  um  Medizin  zu  studieren.    Zu  diesem  Studium 

1     Haeckd-Festschrift.   Bd.  II  I 


trieb  mich  nicht  bloß  eine  von  früher  Kindheit  genährte  Neigung 
—  mein  Vater  hatte  mich,  allerdings  um  mich  abzuschrecken,  schon 
als  fünfjährigen  Knaben  zu  Operationen  mitgenommen,  —  sondern 
auch  eine  alte  Familientradition.  Die  Lehrer,  die  in  den  ersten  zwei 
Jahren  für  mich  am  meisten  in  Frage  kamen,  waren  Hyrtl  und  Brücke. 
Hyrtl  war  einer  der  glänzendsten  Redner  und  größten  Schauspieler, 
die  ich  in  meinem  Leben  kennen  gelernt  habe.  Zu  uns  Studenten 
trat  er  aber  in  kein  näheres  Verhältnis;  ich  hatte  zwar  versucht, 
ein  solches  anzubahnen,  indem  ich  ihm  ein  von  mir  aus  Lindenholz 
geschnitztes  menschliches  Skelett  von  etwa  70  cm  Höhe  überbrachte, 
jedoch  bestand  die  Antwort  eigentlich  nur  in  salbungsvollen  Reden 
über  die  Schwierigkeit  des  Studiums  der  Anatomie.  Im  Seziersaal 
kümmerte  er  sich  wenig  um  uns.  So  konnte  ich  also  aus  der  persön- 
lichen Bekanntschaft  mit  ihm  wenig  Nutzen  ziehen.  Zu  Brücke  aber 
trat  ich  erst  in  späteren   Jahren  in  nähere  Beziehung. 

Der  Unterricht  in  der  Zoologie  lag  damals  in  Wien  recht  im  Argen. 
Zu  zoologischen  Übungen  war  keine  Gelegenheit  vorhanden.  Der 
Zoologe  Schrnarda,  ein  vielgereister  Mann,  der  sehr  amüsant  er- 
zählen konnte,  erlaubte  mir  zwar,  die  Universitätssammlung  zu  be- 
suchen, aber  das  war  auch  alles:  weder  er  noch  sein  Assistent  küm- 
merten sich  um  mich.  Ich  wandte  mich  daher  an  das  naturhistorische 
Hofmuseum,  fand  aber  auch  dort  nicht,  was  ich  suchte.  Ich  wurde 
in  die  Abteilung  für  Echinodermen  gewiesen  und  erhielt  den  Auftrag, 
die  in  den  Schränken  aufbewahrten  Spatangiden  zu  bestimmen. 
Damit  hatte  ich  aber  keine  große  Freude,  und  so  war  ich  denn  wieder 
ganz  auf  mich  selbst  angewiesen. 

Um  so  mehr  wuchs  in  mir  der  Wunsch,  in  einem  zoologischen 
Laboratorium  unter  einer  tüchtigen  Leitung  zu  arbeiten.  Aus  diesem 
Grunde  ging  ich  in  meinem  fünften  Studiensemester  (1873/74)  nach 
Leipzig.  Daß  ich  nicht  sofort  nach  Jena  ging,  hatte  in  erster  Linie 
darin  den  Grund,  daß  mir  der  Abstand  zwischen  dem  Universitäts- 
leben einer  so  kleinen  Stadt  wie  Jena  und  einer  so  großen  wie  Wien 
etwas  zu  gewaltig  schien;  ferner  war  ich  bei  meinen  bisherigen  Stu- 
dien so  oft  auf  den  Namen  Leuckart  gestoßen,  daß  ich  den  Wunsch 
hatte,  ihn  persönlich  kennen  zu  lernen. 

An  meine  Leipziger  Zeit  denke  ich  immer  mit  aufrichtiger  Freude 
und  Dankbarkeit.    Leuckart  war  ein  prächtiger  Mann,  der  sich  um 


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seine  Schüler  mit  aufrichtiger  Teilnahme  kümmerte.  Aber  auch  seine 
Assistenten  und  alle,  die  bei  ihm  arbeiteten,  standen  zueinander  in  sehr 
angenehmem,  anregendem  Verkehr.  Nun  benützte  ich  den  sächsischen 
Bußtag  (ungefähr  20.  November)  zu  einem  Ausflug  nach  Jena  und  Wei- 
mar. Ich  gab  natürlich  ein  paar  Tage  zu,  so  daß  ich  etwa  3 — 4  Tage  von 
Leipzig  wegblieb.  Meine  Absicht  war  vor  allem,  Haeckel  persönlich  ken- 
nen zu  lernen  und  für  den  nächsten  Sommer  eine  Wohnung  zu  mieten. 

Ich  besuchte  zunächst  Haeckels  Vorlesung.  Offen  gesagt,  war  ich 
davon  etwas  enttäuscht.  An  ihren  Inhalt  kann  ich  mich  nicht  mehr  er- 
innern ;  sie  hat  also  augenscheinlich  keinen  großen  Eindruck  auf  mich 
gemacht.  Auch  hatte  ich  erwartet,  einen  zum  Erdrücken  vollen  Hör- 
saal zu  finden,  in  dem  mindestens  die  Hälfte  aller  Studenten  Jenas  ver- 
sammelt war.  Ich  fand  aber  einen  recht  kleinen  Saal,  der  gähnende 
Lücken  aufwies.  Aber  alles  das  konnte  meine  Verehrung  Haeckels, 
die  mittlerweile  durch  das  Studium  seiner  „Generellen  Morphologie 
der  Organismen"  noch  gestiegen  war,  nicht  im  geringsten  erschüttern. 

Nachmittags  machte  ich  Besuch  in  Haeckels  Wohnung.  Es  dürfte 
wohl  unmittelbar  nach  Tisch  gewesen  sein,  und  ich  fürchte  fast, 
Haeckel  im  Nachmittagsschlummer  gestört  zu  haben.  Ich  war  eben 
zu  jener  Zeit  noch  ein  richtiger  Bauernjunge,  der  keine  Ahnung  davon 
hatte,  daß  es  auch  Menschen  gibt,  die  nach  Tisch  zu  schlafen  pflegen. 
Übrigens  ließ  sich  Haeckel  nicht  verleugnen;  er  kam  im  Schlafrock 
aus  einem  Nebenzimmer  und  hörte  mich  ruhig  an.  In  der  Tat: 
er  hörte  mich  sehr  ruhig  an,  und  die  Szene  zwischen  ihm  und  mir 
hatte  nicht  die  geringste  Ähnlichkeit  mit  der  zwischen  Mephisto 
und  dem  Schüler.  Zwar  trug  ich  ihm  in  Ehrfurcht  und  klopfenden 
Herzens  meine  Absicht  vor,  sein  Schüler  zu  werden.  Dann  zeigte  ich 
ihm  die  Zeugnisse  über  die  in  Wien  bestandenen  Prüfungen  aus 
Zoologie,  Botanik  und  Mineralogie,  die  die  besten  Noten  auswiesen. 
Aber  alles  das  machte  auf  ihn  keinen  Eindruck,  und  er  entließ  mich 
bald  mit  den  Worten,  ich  solle  nur  im  Sommer  kommen. 

Als  bald  darauf  Leuckart  von  meiner  Absicht  erfuhr,  sagte  er  sehr 
bestimmt:  „Wenn  Sie  nach  Halle  gehen,  gebe  ich  Ihnen  die  besten 
Empfehlungen  mit."  Ich  hatte  aber  nicht  Lust,  bei  Giebel  zu  arbeiten, 
und   blieb   bei   meinem   Entschluß. 

In  den  nächsten  Osterferien  (1874)  sammelte  ich  in  meiner  Heimat 
eine  große  Menge  von  Schneckenlaichen  (Limnaea,  Planorbis,  Physa 


und  Ancylus),  zeichnete  viele  Embryonen  und  nahm  die  Zeichnungen 
nach  Jena  mit.  Ich  fragte  Haeckel,  ob  ich  nicht  die  angefangene  Ar- 
beit weiterführen  solle,  was  dieser  entschieden  bejahte.  So  entstand 
meine  erste  Arbeit  „über  die  Ontogenie  der  Süßwasser-Pulmonaten"; 
sie  war  eine  Erstlingsarbeit  mit  manchen  Vorzügen,  aber  auch  vielen 
Fehlern  einer  solchen.  Das,  was  mir  damals  vor  allem  fehlte,  war 
eine  gute  histologische  Grundlage.  Der  praktisch-histologische  Unter- 
richt war  zu  jener  Zeit  weder  in  Österreich  noch  in  Deutschland 
genügend  organisiert.  Er  lag  fast  ganz  in  den  Händen  mehr  oder 
weniger  geschickter  und  tüchtiger  Assistenten  der  Anatomie  oder 
Physiologie.  Einen  solchen  histologischen  Kurs  bei  einem  physio- 
logischen Assistenten  hatte  ich  nun  zwar  in  meinem  vierten  Studien- 
semester in  Wien  genommen;  aber  irgendeine  Förderung  hatte  ich 
trotz  des  lebhaftesten  Interesses,  das  ich  dem  Gegenstande  entgegen- 
brachte, dabei  nicht  gefunden.  Meine  histologische  Ausbildung  ver- 
danke ich  einzig  und  allein  Brücke,  unter  dessen  Leitung  ich  später 
mehrere  Jahre  arbeitete. 

Zu  Ostern  1875  arbeitete  ich  als  erster  an  der  eben  eröffneten 
und  noch  sehr  notdürftig  eingerichteten  zoologischen  Station  in 
Triest.  Im  Sommer  darauf  kehrte  ich  nach  Jena  zurück  und  arbeitete 
jetzt  über  die  Entwicklung  der  Malermuschel  (Unio  pictorum),  die 
ich  in  großer  Menge  in  der  Saale  sammelte.  Auch  jetzt  war  die  direkte 
Hilfe  und  Anleitung  von  Seiten  Haeckels  gering.  Aber  es  war  auch 
nicht  so  sehr  diese,  die  ich  bei  Haeckel  suchte  und  schätzte,  als 
vielmehr  der  ununterbrochene  wissenschaftliche  Verkehr  mit  ihm 
und  die  Anregung  in  allgemein  entwicklungsgeschichtlicher  und  bio- 
logischer Hinsicht,  die  aus  diesem  Verkehr  in  reichstem  Maße  floß. 
Haeckel  war  sehr  mitteilsam  und  hielt  mit  seinem  oft  sehr  scharfen 
Urteil  auch  uns  Studenten  gegenüber  nicht  zurück.  So  konnte  es  nicht 
fehlen,  daß  er  von  allem  Anfang  an  eine  Menge  Gegner  hatte.  Aber 
anderseits  wirkte  das  ganze  Wesen  Haeckels,  seine  unerschütterliche 
Uberzeugungstreue,  seine  Begeisterung  für  den  Fortschritt  der  Wissen- 
schaft und  seine  Unerschrockenheit  im  Kampfe  um  die  Wahrheit,  auf 
uns  Schüler  mit  aller  Macht  ein  und  riß  uns  im  Sturm  mit  sich  fort. 

Nach  dem  Jahre  1875  kam  ich  noch  wiederholt  nach  Jena,  wenn 
ich  auch  von  da  an  nur  mehr  in  Wien  studierte.  Gewöhnlich  benützte 
ich  den  Anfang  der  großen  Ferien,  die  in  Österreich  schon  in  den 


ersten  Wochen  Juli  beginnen,  zu  einem  längeren  Aufenthalte  in  Jena. 
Auch  blieb  ich  bis  zum  Jahre  1894  in  lebhaftem  brieflichen  Verkehr 
mit  Haeckel.  Meine  weitere  wissenschaftliche  Ausbildung  aber  er- 
hielt ich  seit  dem  Jahre  1875  in  Wien.  Hier  war  es  vor  allem  Brücke, 
der  auf  mich  den  nachhaltigsten  Einfluß  nahm.  Ich  rechne  es  mir 
zu  einem  ganz  besonderen  Glück,  aber  auch  zu  einer  ganz  besonderen 
Ehre  an,  daß  ich  durch  mehrere  Jahre  unter  seiner  Aufsicht  und 
Leitung  in  seinem  Institute  arbeiten  durfte.  Hier  erhielt  ich  die 
solide  histologische  Schulung,  die  mir  bis  dahin  fast  ganz  gefehlt 
hatte.  Ich  betone  aber  ausdrücklich,  daß  ich  dafür  einzig  und  allein 
Brücke  selbst  zu  Dank  verpflichtet  bin.  Ich  habe  Brücke  stets  als 
einen  der  ersten  Histologen  verehrt  und  halte  auch  heute  noch  seine 
kleine  Abhandlung  über  ,,die  Elementarorganismen"  für  das  beste, 
was  über  die  Zelle  geschrieben  worden  ist. 

So  habe  ich  in  Brücke  gefunden,  was  mir  Haeckel  nicht  geben 
konnte.  Beiden  aber  bin  ich  in  gleichem  Maße  vom  Grunde  meines 
Herzens  dankbar.  War  mir  bei  Haeckel  zuerst  der  Entwicklungs- 
gedanke in  seiner  ganzen  Größe  und  Macht  entgegengetreten  und 
hatte  durch  ihn  meine  entwicklungsgeschichtliche  Arbeit  und  For- 
schung eine  bestimmte  Richtung  erhalten,  so  lernte  ich  durch  Brücke 
die  Notwendigkeit  methodischer  Arbeit,  vor  allem  aber  die  Unentbehr- 
lichkeit  strenger  Selbstkritik  kennen. 

Nach  meiner  Ansicht  hat  Haeckel  seine  größte  Leistung  schon 
als  ganz  junger  Mann,  im  Alter  von  32  Jahren,  vollbracht:  es  war 
dies  die  in  zwei  Bänden  erschienene  ,, Generelle  Morphologie  der 
Organismen"  (1866).  Die  zwei  Jahre  später  erschienene  „Natürliche 
Schöpfungsgeschichte"  war  eine  Darlegung  der  Grundgedanken  der 
generellen  Morphologie  für  weitere  Kreise.  Dasselbe  gilt  von  der 
Anthropogenie,  die  leider  im  Schematisieren  schon  nicht  immer  die 
richtige  Grenze  einhielt.  Von  den  späteren  populären  Werken  kommen 
fast  nur  die  ,,Welträtsel"  und  ,,Die  Lebenswunder"  in  Betracht. 
Ich  halte  diese  Werke,  vor  allem  ,,Die  Lebenswunder"  namentlich 
deshalb  für  wichtig  und  wertvoll,  weil  ihr  Erscheinen  in  eine  Zeit 
fiel,  in  der  bei  den  meisten  Vertretern  der  entwicklungstheoretischen 
Richtung  eine  gewisse  Indolenz  eingerissen  war.  Es  war  daher  dank- 
bar zu  begrüßen,  daß  der  wiederauflebenden  Reaktion  beim  großen 
Publikum  ein  Riegel  vorgeschoben  wurde. 


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PAUL    KAMMERER,    WIEN:    HAECKEL    UND    ICH; 
DER  PLANET  UND  DER  KIESELSTEIN 

o  o  o 

Beim  gestrigen  Sonntagsausflug  wanderte  ich  zwischen  einem  Histo- 
logen  und  einem  Philosophen,  beide  sehr  gelehrt.  DerHistologe 
richtete  die  nicht  selten  vernommene  Frage  an  mich:  „Was  ist  das 
eigentlich,  der  , Monismus'?"  Und  fügte  —  ich  glaube  mehr  verfäng- 
lich als  unwissentlich  —  die  seltener  gehörte  Frage  hinzu:  „Rechnet 
sich  nicht  auch  , dieser'  Haeckel  zu  , diesem'  Monistenbund?" 

Was  mich  veranlaßte,  vorerst  mit  der  Gegenfrage  zu  erwidern: 
„Haben  Sie  vielleicht  schon  einmal  die ,  Welträtsel'  in  der  Hand  gehabt  ? ' ' 
Er  bejahte  es,  in  unreifen  Studentenjahren  habe  er  allerdings  die  „Welt- 
rätsel" (läßt  durchblicken:  über  die  er  nun  längst  erhaben  sei)  durch- 
geblättert, —  und  spitzte  seine  anfängliche  Frage  nunmehr  daraufhin 
zu,  daß  er  wissen  wolle,  welchen  Wert  ich  jenem  Werke  zubillige.  Ob 
ich  es  für  nützlich  oder  schädlich,  ob  ich  es  überhaupt  für  nötig  hielte. 

Wie  erwartet,  nahm  jetzt  der  Philosoph  mir  die  Antwort  ab: 
„Die  , Welträtsel'  waren  eine  unbedingte  Notwendigkeit,  um  diese 
ganze  Richtung  einer  dilettantischen,  sogenannten  Philosophie  ad  ab- 
surdum zu  führen.  Das  Buch  spricht  so  sehr  gegen  sich  selbst,  daß 
es  dadurch  für  sich  spricht.  Seine  Daseinsberechtigung,  seine  segens- 
reiche Wirkung  leitet  sich  ab  aus  dem  Unsegen,  den  es  anstiftet!" 

Echt  philosophisch!  —  wird  man  finden.  Gegenüber  solchen  Ge- 
sprächen reichlich  abgeklärt,  geriet  ich  trotzdem  in  Harnisch  und  er- 
klärte beiden:  „Nur  erst  mal  nachmachen,  meine  Herren,  und  eine 
ähnliche,  gleichviel  ob  positive  oder  negative  Kulturwirkung  hervor- 
bringen, —  dann  allenfalls  schimpfen,  wenn  Sie  dann  noch  finden, 
daß  Sie's  besser  gemacht  haben!"  —  Worauf  man  sich  von  mir  ab- 
wendete mit  der  Bemerkung,  man  verschmähe  es,  in  Haeckelscher 
Weise  Rattenfänger,  Reklameheld  zu  spielen.  Die  „echte"  Wissen- 
schaft soll  nämlich  mit  menschlichen  Interessen  nichts  zu  tun  haben ; 
sie  ist  nur  da  für  das  Dutzend  Fachgenossen  —  durch  Popularisierung 
wird  sie  entweiht.  Andererseits  sei  die  Wissenschaft  aber  auch  un- 
fähig, eine  Weltanschauung  zu  bilden:  man  solle  die  Wissenschaft 
hüten  vor  Übergriffen  der  Weltanschauungen,  aber  auch  diese  vor 
dem  Einbrüche  der  Wissenschaft!    Und  am  allermeisten  soll  wahre 


Wissenschaft  freibleiben  von  Politik.  —  Letzteres  gerne  zugegeben :  Die 
Wissenschaft  sei  rein  von  Politik,  das  einzelne  Wissensgebiet  meinet- 
wegen auch  rein  von  Weltanschauung ;  ob  aber  Politik  oder  gar  Welt- 
anschauung frei  von  Wissenschaft?  Ich  sparte  mir  die  Diskussion  bis 
zum  nächsten  Ausflug. 

Jeder,  der  die  Bewegung  um  Haeckel  einigermaßen  miterlebt  hat, 
wird  zu  würdigen  verstehen,  daß  das  soeben  wiedergegebene  Gespräch 
und  daß  insbesondere  die  in  ihm  enthaltenen  Einwände  gegen  Haeckel 
typisch  sind.  Ich  kann  es  weiterhin  nicht  besser  illustrieren,  als  wenn 
ich  berichte,  in  welcher  (vielleicht  doch  nicht  ganz  gewöhnlichen)  Art 
ich  selber  zu  Haeckels  Schriften  und  meiner  heißen,  weit  über  das, 
was  man  Verehrung  für  einen  Großen  nennt,  hinausgehenden  Liebe 
zu  Haeckel  gekommen  bin.  Man  verzeihe,  wenn  deshalb  hier  zu  viel 
von  meiner  Wenigkeit  die  Rede  ist ;  wie,  und  daß  es  nicht  als  Unbe- 
scheidenheit  gemeint  ist,  bescheinigt  der  Titel  dieses  anspruchslosen 
Aufsatzes ;  gleichwie  Aktion  und  Reaktion  zwischen  beliebigen  Natur- 
körpern wechselseitig  besteht,  sogar  bei  so  verschieden  großen,  wie 
der  Erdkugel  und  einem  auf  ihrer  Oberfläche  liegenden  Steinchen  — , 
so  auch  zwischen  dem  Riesen,  Altmeister  und  Großvater  Haeckel  und 
dem  Zwerg,  Jünger  und  Enkelkind  Kammerer.  Jedoch  das  Steinchen, 
von  allgewaltiger  Gravitationskraft  des  Himmelskörpers  bewegt,  gerät 
ins  Gleiten  und  Schürfen,  schleift  ab  und  wird  selbst  abgerieben; 
stürzt  dann,  alles  niederzwingend,  die  Steinlawine  donnernd  zu  Tal, 
so  hatte  an  der  Befreiung  des  Berggipfels  vom  Schutt  das  kleine 
Steinchen  denselben  unentbehrlichen  Anteil,  wie  all  seine  Mitdränger 
und  Nachbarn:  als  bescheidener  Durchschnitt  will  hier  das  ver- 
messen klingende  ,,und  Ich"  genommen  werden! 

Ich  hatte  ursprünglich,  als  Volksschüler  und  Gymnasiast,  nur 
Freude  am  Beobachten  der  Lebensgewohnheiten  freilebender  und 
gefangener  Tiere  und  erwarb  mir  durch  Sammeln  fast  aller  Tiergruppen 
nicht  zu  unterschätzende  Kenntnisse  von  deren  äußeren  Formen. 
Daneben  begann  ich  auch  schon  mit  ersten  schüchternen  Versuchen, 
die  Lebensbedingungen  meiner  Pfleglinge  künstlich  abzuändern, 
um  dadurch  mittelbar  auch  auf  die  Lebensgewohnheiten,  ja  womög- 
lich die  Formen  abändernd  einzuwirken.  Mit  einem  Wort,  ich  war  in 
erster  Linie  Ökolog,  in  zweiter  Systematiker,  beides  schon  mit  ex- 
perimentellem Einschlag  — ,  als  solcher  kam  ich  an  die  Universität 


und  fühlte  mich  sofort  tief  unglücklich.  Das,  was  ich  für  Zoologie 
gehalten,  wofür  ich  mich  so  glühend  interessiert  hatte,  war  anscheinend 
gar  nicht  die  wirkliche  Zoologie  gewesen:  denn  das,  was  ich  im  Hör- 
saal und  Laboratorium  nun  dafür  zu  hören  und  zu  bearbeiten  bekam, 
war  etwas  ganz  anderes.  Bei  aller  Einsicht  und  bei  allem  Glauben,  daß 
eben  diese,  mir  jetzt  erst  offenbar  werdende  Zoologie  die  einzig  richtige 
sei  und  ich  mich  all  die  Schulklassen  und  Jungens jähre  hindurch  in 
einem  verhängnisvollen  Irrtum  bewegt  haben  müsse,  wuchs  dennoch 
eine  Abneigung  gegen  das  selbstgewählte  und  nicht  ohne  Kampf  gegen 
das  Elternhaus  durchgesetzte  Studium  empor.  Es  beleidigte  mich, 
daß  man  beim  Betreten  eines  zoologischen  Institutes  gar  kein  Tier 
erblickte ;  man  roch  Chemikalien,  man  sah  vielerlei  bunte  Flüssigkeiten 
auf  den  Arbeitstischen  stehen,  —  aber  nirgends  zeigte  sich  anderes 
Leben  als  das  der  Studenten,  Assistenten  und  Professoren.  Endlich 
ließ  man  mich  durch  ein  Mikroskop  sehen,  dessen  unheimlichen  Tubus 
ich  in  geheimnisvoller  Weise  mit  dem  Schornstein  eines  Dampfers 
assoziierte,  wovor  ich  mich  als  kleines  Kind  immer  sehr  gefürchtet 
hatte:  ich  nahm  ein  Schnittpräparat  in  Augenschein,  durch  irgend 
einen  embryonalen  Darm,  —  aber  niemand  fragte  darnach,  wie  das 
ganze  Tier  aussah,  aus  dem  der  Darm  entnommen  war  .  .  . 

Nun  ist,  wie  allgemein  bekannt  —  richtiger,  viel  mehr  noch  als  man 
ahnt  — ,  gerade  Haeckel  ein  Begründer  jener  vergleichend  anatomischen, 
histologischen  und  embryologischen  Schule,  wie  sie  noch  gegenwärtig 
an  den  meisten  zoologischen  Instituten  und  Lehrkanzeln  Deutschlands 
und  Österreichs  vorwiegend  gepflegt  wird.  Und  als  ich  um  eben  jene 
Zeit  mit  Haeckels  Schriften,  besonders  mit  der  „Generellen  Morpho- 
logie", „Systematischen  Phylogenie"  und  „Anthropogenie"  bekannt 
wurde,  so  geschah  es  mit  uneingestandenen,  aber  aus  mir  selbst  er- 
wachsenen (nicht  wie  sonst  üblich,  von  fremder  Seite  übertragenen) 
Vorurteilen.  Unwillkürlich  lehnte  meine  geistige  Fassungskraft  alle 
Erzeugnisse  ab,  die  sich  mit  dem  i  n  neren  Bau  und  seinen  Wandlungen 
unter  vorzugsweiser  Beschreibung  nur  der  gestaltlichen  Verhält- 
nisse beschäftigten.  Für  das  Endziel  auch  dieser  Lehre,  den  Ent- 
wicklungsgedanken und  die  Deszendenztheorie,  empfand  ich  nichts- 
destoweniger sogleich  ein  Gefühl,  das  ich  latenten  Enthusiasmus  nen- 
nen möchte.  Er  war  aber  noch  zu  latent,  um  mich  die  anstrengenden 
Vorstufen,  die  Mittel  zum  Zweck  waren,  bereits  überwinden  zu  lassen. 

8 


Nur  aus  der  Idiosynkrasie,  womit  mir  früher  alles,  was  vergleichende 
Anatomie  und  Embryologie  hieß,  gleich  ekler  Speise  widerstand,  kann 
ich  es  heute  erklären,  wenn  ich  Haeckels  Schriften  sogar  gedanklich 
zu  schwer  für  mich  fand.  Ich  konnte  sie  nicht  zu  Ende  lesen ;  ich  begriff 
so  vieles  nicht.  Ich  hätte  ein  Lexikon  der  Fachausdrücke  und  voraus- 
gesetzten Tatsachen  dazu  gebraucht.  Das  ist  es,  was  ich  heute,  nach 
gründlicher  Umgestaltung  meines  Selbst,  sogar  in  der  Erinnerung 
schwer  begreifen  kann,  trotzdem  ich  immer  ein  schwerfälliger  Leser 
und  Hörer  gewesen  bin. 

Ein  Rest  davon  ist  bis  heute  in  mir  zurückgeblieben:  man  findet 
allgemein,  und  sogar  die  Gegner  geben  es  zu,  daß  Haeckels  gemein- 
verständliche Werke  glänzend  geschrieben  seien.  Ich  meinesteils  kann 
mir  nicht  vorstellen,  daß  sie  diesem  Umstände  die  für  ihr  wissenschaft- 
liches Gepräge  hundertfach  sensationelle  Verbreitung  danken;  ja  nicht 
einmal,  daß  dieser  Umstand,  ihr  Stil,  ihre  Diktion ,  etwas  Wesentliches 
dazu  beigetragen  hat.  So  sehr  mich  die  feurige  Sprache  in  Haeckels 
kürzeren  Veröffentlichungen  hinreißt,  die  meist  der  Niederschrift  eines 
mündlichen  Vortrags  ihre  Entstehung  verdanken  (z.  B.  „Die  Grenzen 
der  Naturwissenschaft"1),  „Ostwald  als  monistischer  Naturforscher"2) 
usw.  usw.),  ebensosehr  klingen  meinem  Ohr  in  den  größeren  Buch- 
publikationen, wo  hierzu  leichter  Gelegenheit  geboten,  die  häufige  Wie- 
derholung gewisser  Wortfolgen  oder  ständige  Wiederkehr  gewisser  ähn- 
licher Ausdrücke  als  stilistische  Härten,  die  das  Lesen  zuweilen  mono- 
ton gestalten  und  mehr  dem  Inhalte  als  der  künstlerischen  Form  zu- 
liebe lohnend  machen.  Haeckel  selbst  weiß  das  genau,  wie  sein  Vor- 
wort zu  „Lebenswunder"  dartut.  Sollten  derartige  Empfindungen  bei 
Haeckels  Freunden  wirklich  so  selten  vorkommen ,  daß  ich  darin  eine 
unerhörte  Ausnahme  bin  ?  Oder  hat  nur  das  Vertrauen  zu  Haeckels 
Autorität  ein  Geständnis  zurückgedrängt,  das  auch  mir  nicht  leicht  fiel  ? 
Mit  dem  „Rattenfänger"  Haeckel  wäre  es  dann  nichts !  Sehr  oft  habe  ich 
Bücher,  die  bei  weitem  weniger  voraussetzten  und  schöner  geschrieben 
waren,  vom  Publikum  unter  Hinweis  auf  deren  zu  große  Gelehrsam- 
keit und  Schwerverständlichkeit  ablehnen  sehen !  Wie  gewaltig  muß  bei 
Haeckel  der  Inhalt  sein,  um  einen  Siegeslauf  zu  gewährleisten,  der  die 
berühmtesten  Prosawerke  schöngeistiger  Richtung  in  den  Schatten  stellt ! 

x)  Monistisches  Jahrhundert  II,  Nr.  30. 

2)  ,,Wilh.  Ostwald",  Festschrift  aus  Anlaß  seines  60.  Geburtstages.   Wien  1913. 


Ich  war  noch  dabei  stehen  geblieben,  daß  die  Zoologie  eines  Haek- 
kel  mir  deshalb  unsympathisch  war,  weil  sie  mit  der  von  mir  erträum- 
ten Tierkunde  nicht  übereinstimmte;  und  daß  ich  Haeckels  Schrif- 
ten, die  mich  auch  formal  unbefriedigt  ließen,  nicht  verstand,  nicht 
verstehen  wollte.  Als  nun  aber  gar  Haeckel  gegen  diejenige  For- 
schungsmethode zu  Felde  zog,  die  mir  die  liebste  war  und  mich  auch 
vom  unseligen  Gefühle  meiner  Ohnmacht  und  Verfehlung  im  Studium 
errettet  hatte ;  als  ich  Haeckels  niedrige  Bewertung  der  experimentellen 
Biologie  oder  Entwicklungsmechanik  las  (in  den  „Lebenswundern" 
S.  4,  45,  156,  in  „Alte  und  neue  Naturgeschichte"  S.  20  usw.),  da  war 
ich  auf  dem  besten  Wege,  ein  heftiger  Haeckel gegner  zu  werden. 

Zu  dieser  Zeit  fielen  mir  erst  die  „Welträtsel"  in  die  Hände.  Zu 
schildern,  was  ich  beim  Lesen,  —  nein,  gierigen  Einschlürfen  dieses 
wunderbaren  Buches  empfand,  und  was  alles  es  mich  lehrte,  über- 
schreitet bei  weitem  die  Mittel  meiner  Darstellung.  Was  etwa  noch 
einseitig  und  unreif  an  mir  gewesen  war,  das  wurde  nun  vielseitig 
oder,  besser,  aufs  allseitige  hingelenkt.  Hatte  ich  früher  in  absicht- 
licher Weltfremdheit  nur  meinem  Spezialstudium  gelebt,  so  daß  bei- 
spielsweise meine  Unkenntnis  der  durch  Zeitungen  verbreiteten  Tages- 
ereignisse mich  zum  Gespött  meiner  Freunde  machte,  so  lernte  ich 
jetzt  Teilnahme  an  meiner  menschlichen  und  kulturellen  Umgebung. 
Hatte  ich  früher  keinen  Zusammenhang  gesehen  zwischen  Naturge- 
schichte und  Menschheitsgeschichte,  trotzdem  mir  die  Abstammung 
des  Menschen  von  tierischen  Ahnen  unleugbar  erschien,  so  nahm  ich 
jetzt  Interesse  an  öffentlichen  Einrichtungen  und  gesellschaftlichen 
Bewegungen,  weil  ich  sie  dem  allgemeinen  biologischen  Geschehen 
einordnete.  Am  frappierendsten  für  meinen  Kreis,  um  nur  ein  Beispiel 
jener  vielfältigen  Wirkungen  herauszugreifen,  war  die  plötzlich  er- 
wachte Stellungnahme  zur  Politik,  um  die  ich  mich  bisher  wohl  am 
wenigsten  bekümmert  hatte.  Man  war  gewohnt  gewesen,  mich  dessent- 
wegen zu  belächeln,  es  aber  offenbar  gleichwohl  nicht  unerfreulich  zu 
finden.  Dann  aber  benutzten  plötzlich  diejenigen,  denen  meine  neuer- 
dings so  radikalen  Urteile  nicht  behagten,  die  frühere  Ignoranz,  um 
sich  darauf,  auf  mein  Unverständnis  in  politicis,  zu  berufen  und  um 
mir  folglich  das  Recht,  mitzusprechen,  abzusprechen.  Das  Gesetz  der 
Entwicklung,  der  Änderung  durch  Entwicklung  war  diesen  sachver- 
ständigen Kritikern  unbekannt. 

10 


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Muß  ich  Haeckels  „Welträtsel"  als  dasjenige  Werk  bezeichnen, 
das  meinen  Blick  vom  Speziellen  aufs  Allgemeine  lenkte,  so  darf  ich 
zugleich  das  Reziproke  behaupten:  Haeckel  erzog  mich  auch  dazu, 
den  allgemeinen  Wert  im  Speziellen  zu  erkennen.  Wer  in  moni- 
stischer Denkweise  bewandert  ist,  wird  dies  als  selbstverständlich  und 
obendrein  als  charakteristisch  empfinden.  In  jener  Zeit  nämlich,  da 
mir  die  Auffindung  eines  neuen  Fundortes  vom  Moorfrosch  in  Kärnten 
oder  die  Frage,  ob  der  norddeutsche  gestreifte  Feuersalamander  einen 
besonderen  Varietätennamen  verdiene,  wichtiger  erschien  als  ein  Wahl- 
sieg der  Christlichsozialen  oder  die  Aufführung  eines  Dramas  von 
Gerhart  Hauptmann  im  Burgtheater,  —  in  jener  Phase  fühlte  ich 
mich  mit  meiner  Tätigkeit  durchaus  unbefriedigt.  Der  Drang  nach 
gemeinnütziger  Betätigung  war,  wenn  auch  unklar,  lebendig  in  mir. 
Ich  beneidete  den  Arzt,  den  Techniker,  ja  den  Priester,  weil  ich  seinem 
Beruf  einen  Nützlichkeitswert  zuerkannte,  den  ich  dem  meinigen  inner- 
lich absprechen  mußte.  Lebhaftestes  Interesse  für  die  Fortpflanzung 
der  Geburtshelferkröte  konnte  mich  nicht  dem  betrübenden  Gedanken 
verschließen,  daß  ihre  minutiöse  Erforschung  zum  Wohle  der  Gesamt- 
heit keinen  Beitrag  liefern  könne. 

Nun  aber  wieder  die  „Welträtsel" :  Zu  deren  intensiven  Kultur- 
wirkungen (unbesehen,  ob  sie  in  positivem  oder  negativem  Sinne  ge- 
wertet werden  mögen),  zu  deren  übermächtiger  Beeinflussung  der 
Denkentwicklung  hatten  doch  Spezialarbeiten ,  Haeckels  klassische 
Monographien,  Unendliches  beigesteuert,  waren  die  Strahltierchen, 
Röhrenquallen  und  Schwämme  ebenso  viele  Bausteine  gewesen !  Und 
was  bei  Haeckel  nicht  bodenständig  war,  was  der  Darwinismus  in  ihn 
hineingetragen  hatte,  um  sein  Prophetentum  erst  richtig  zu  vollenden, 
das  war  ebenfalls  auf  der  Mosaikarbeit  eines  gewissenhaften  Tatsachen- 
sammlers emporgewachsen,  war  zum  Weltall  umspannenden  Wunder- 
bau gediehen  auf  dem  Boden  rastloser  Kasuistik  und  Beobachtungs- 
technik, wofür  Darwin  selber  seinen  Zeitgenossen  und  Nachfolgern, 
Anhängern  und  Gegnern  als  fast  unerreichbares  Muster  gilt.  Also 
mußte  der  Naturforscher,  mit  seinen  Originalarbeiten  beschäftigt,  doch 
nicht  notwendigerweise  ein  unnützer  Schmarotzer  der  menschlichen 
Gesellschaft  sein !  Nun  erst  gewann  ich  meine  Wissenschaft  und  nicht 
zuletzt  darin  meinen  Haeckel  lieb,  —  nun  erst  war  die  Gefahr  des 
Verbummeins  aus  Mangel  an  Freude  (an  Überzeugung,  fruchtbar  tätig 

II 


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zu  sein)  endgültig  vorüber.  Ohne  Leiden  und  Zweifel  durfte  ich  meine 
volle  Kraft  dem  Gebiete  widmen,  dem  angeborene  Neigung  mich  zu- 
gewiesen hatte. 

Ein  berechtigter  Gemeinplatz  fordert,  die  Gebildeten,  namentlich  die 
Gemeinde  der  Hochschulen,  seien  die  berufenen  Führer  des  Volkes, 
und  Ostwald  sagt  in  seiner  Begrüßung  zu  Haeckels  79.  Geburts- 
tag1): Man  habe  heute  kaum  noch  eine  Vorstellung  davon,  was  ein 
Universitätsprofessor  als  Haupt  seiner  Nation  bedeuten  könne.  Der 
Anspruch  ist  aber  nur  erfüllbar,  wenn  einerseits  der  Spezialforscher 
sich  nicht  den  öffentlichen  Interessen  verschließt,  anderseits  die  maß- 
gebenden Stellen  der  öffentlichen  Verwaltung  ihn  nicht  in  seine  Schran- 
ken verweisen.  Macht  etwa  der  Unterrichtsminister  von  einem  Ge- 
lehrten, aber  Nicht-Juristen,  der  seine  Ansicht  über  gesetzliche  Be- 
stimmungen des  Schulwesens  äußert,  keinen  Gebrauch  mehr,  so  wird 
die  Mehrzahl  der  Kollegen  sich  fürderhin  nicht  nur  vor  gleicher  „Über- 
tretung" hüten,  sondern  im  Wiederholungsfalle  von  derselben  oder 
anderer  Seite  sofort  die  Anklage  wegen  „tendenziöser  Wissenschaft" 
erheben.  Die  Reaktion  setzt  sich  dann  derart  selbst  in  den  hellsten 
und  freiesten  Geistern  fest,  daß  es  mit  jeglicher  Führerschaft  vorbei 
ist.  Es  heißt  dann  wieder  in  Regierungskreisen,  die  Hochschulen  seien 
nicht  einmal  fähig,  sich  selber  (autonom)  zu  verwalten;  man  müsse 
ihnen  mit  geschulten  Verwaltungsbeamten  behufs  Führung,  recte  Ver- 
gewaltigung der  Amtsgeschäfte  zu  „Hilfe"  kommen. 

Für  derartiges  noch  ein  persönliches  Erlebnis  zum  Exempel: 
Als  meine  Broschüre  „Sind  wir  Sklaven  der  Vergangenheit  oder  Werk- 
meister der  Zukunft  ?"  erschien,  sagte  mir  ein  sehr  bedeutender  Biologe 
nach  gewissenhafter  Lektüre  folgendes:  „Ihre  Schrift  zerfällt  in  zwei 
inkongruente  Abschnitte,  im  ersten  besprechen  Sie  Ihre  Experimente 
über  Vererbung  erworbener  Eigenschaften,  —  daran  ist  nichts  auszu- 
setzen. Im  zweiten  ziehen  Sie  aus  Ihren  wissenschaftlichen  Unter- 
suchungen politische  Konsequenzen,  ohne  daß  zwischen  diesen  und 
jenen  irgendwelcher  Zusammenhang  ersichtlich  ist.  Wenn  Sie  durch- 
aus politisch  tätig  sein  wollen,  warum  setzen  Sie  sich  nicht  für  die 
Kanalisierung  des  Wiener  Praters  ein  oder  dergleichen?" 

Der  Krebsschaden  liegt  darin,  daß  die  besten  Köpfe  überall  be- 


x)  Monistisches  Jahrhundert  II  Nr.  22,  Februar  191 3. 
12 


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stehende  Zusammenhänge  einfach  nicht  zu  sehen  vermögen,  daß  sie 
blind  sind  dafür.  Daß  sie,  auch  wenn  sie  hinlänglich  gewissensfrei 
sind,  nicht  mehr  einsehen  können,  wie  doch  jedermann  öffentliche 
Dinge  nur  von  seinem  Gebiet  aus  bearbeiten  sollte,  wo  er  etwas  ver- 
steht, —  nicht  aber  eine  Staatswissenschaft  und  Parteipolitik  begün- 
stigen, die  losgelöst  ist  von  jeder  anderen  Wissenschaft,  so  gut  wie 
jede  Wissenschaft  von  ihr,  und  wovon  er  nichts  und  niemand  etwas 
versteht!  Die  „Kanalisierung  des  Praters"  gehörte  auch  nicht  ins 
Ressort  des  „Politikers  an  sich",  sondern  in  das  des  Hygienikers,  der 
aber  nun  wiederum  „parteiische  Wissenschaft"  betreibt,  wenn  er  sich 
damit  befaßt.  Warum  will  niemand  von  „wissenschaftlicher  Partei- 
politik" hören? 

Was  hier  vom  Gemeinwesen  gilt,  zu  dessen  Gedeihen  jedes  Gebiet 
des  Wissens  und  Könnens  seinen  (und  nicht  einen  fremden)  Teil 
beitragen  muß,  das  soll  auch  für  die  Philosophie  gesagt  sein,  die  doch 
ebenfalls  ein  Sammelgebiet  der  Erkenntnis  darstellt.  Nur  hat 
die  Wissenschaft  dort  (in  staatlichen,  politischen  Angelegenheiten)  ab- 
zuliefern, was  von  ihren  Errungenschaften  praktisch  verwertbar  ist; 
hier  (in  der  Welt  Weisheit)  beizutragen,  was  an  Detailkenntnissen  sich 
zur  allgemeinsten  Erkenntnis  sublimieren  läßt.  An  dieser  Synthese 
mitzuarbeiten,  darf  dort  schwerlich  dem  Zunftpolitiker,  hier  keines- 
falls dem  Zunftphilosophen  allein  überlassen  bleiben.  Dieser  wie  jener 
ist  eine  Null  ohne  die  Darbietungen  der  Spezialarbeiter,  gleichwie  ein 
Herrscher  nichts  ist  ohne  sein  Volk,  das  er  beherrscht. 

Es  sei  denn,  man  stellte  sich  auf  den  von  abstrakten  Philosophen 
nicht  selten  vertretenen  Standpunkt,  die  einzelne  Wissenschaft  wie 
auch  die  Vereinigung  aller  einzelnen  Wissenschaften  befinde  sich  nicht 
in  der  Lage,  eine  Weltanschauung  zu  errichten,  sondern  höchstens 
—  nach  feiner  Unterscheidung  des  Physikers  Einstein,  des  Mathe- 
matikers Bolzano  —  ein  Weltbild,  eine  Naturanschauung.  Ich 
bekenne,  daß  ich  mich  hier  nicht  mehr  kompetent  fühle.  Der  Dualismus 
zwischen  Welt  und  Natur,  ja  Anschauung  und  Bild  ist  meinem 
Verstehen  nicht  zugänglich.  Ich  bemühte  mich  bisher,  die  praktische, 
sozusagen  eubiotische  Wirkung  der  „Welträtsel"  anzugeben;  ich 
habe  am  Beispiel  einer  Person  (nur  deshalb  meiner  selbst,  weil  ich  mich 
notwendig  am  besten  kenne)  die  Erhöhung  der  Lebensfreude  und  be- 
wußt gestaltenden  Lebensfähigkeit  beschrieben,  die  wohl  für  den  Ein- 

13 


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druck  jenes  lebensprühenden,  lebensspendenden,  idealistischen  Werkes 
auf  seine  Leser  kennzeichnend  ist. 

Soll  ich  nun  noch  ein  vervollständigendes,  abschließendes  Wort 
sagen  über  seinen  vielbestrittenen  philosophischen  Wert,  so  muß 
ich  gestehen,  daß  die  Philosophie  jener  wirklichen  und  schulgerechten 
Philosophen,  die  den  „Welträtseln"  jeden  Wert  absprechen,  mir  trotz 
redlichen  Bemühens  verschlossen  blieb.  So  muß  ich  folgerichtig  mich 
des  Urteils  darüber  bescheidentlich  enthalten. 

Nur  rein  logisch  läßt  sich  ableiten,  daß  die  Behauptung,  mit  Wissen- 
schaft käme  man  zu  keiner  Weltanschauung,  zu  keiner  Philosophie, 
umkehrbar  ist:  die  Bildung  einer  Weltanschauung,  eines  philosophi- 
schen Systems,  kann  dann  mit  Wissen  nichts  zu  tun  haben,  kann 
keine  Wissenschaft  sein.  Die  Philosophie  begibt  sich  damit  des  An- 
spruchs, noch  länger  als  Wissenschaft  anerkannt  zu  werden.  Das  soll 
nicht  in  abfälligem  Sinne,  sondern  ganz  nüchtern  als  strenge  logische 
Folgerung  gemeint  sein:  die  Philosophie  mag  dann  alles  mögliche 
andere  Schöne  sein  —  Glaube  n,  Religion,  Dogma,  Kunst  — ,  was  man 
will,  nur  eben  nicht  Wissenschaft,  -wenn  sie  sich  selbst  von  ihr  lossagt. 
Kehren  wir  nochmals  zu  dem  gesprächsweise  geäußerten  Gedanken 
eines  berufenen  Philosophen  zurück,  den  wir  eingangs  zitierten  und 
wonach  die  „Welträtsel"  nötig  waren,  um  sich  in  ihrer  Qualifizierung  als 
Philosophie  ad  absurdum  zu  führen,  —  so  dürfen  wir  jetzt  zum  guten 
Schlüsse  in  voller  Unvoreingenommenheit  aussagen:  die  „Welträtsel" 
haben  ihrerseits  die  schulgemäß  anerkannte  Philosophie  in  ihrer  Cha- 
rakterisierung als  Wissenschaft  ad  absurdum  geführt.  Gibt  es  über- 
haupt eine  wissenschaftliche  Philosophie  (welchen  Titel  die  scho- 
lastische und  scholarchische  Philosophie  verschmäht),  so  ist  es  die 
undogmatische,  nicht  „weltliche",  sondern  nur  „natürliche"  Philo- 
sophie der  „Welträtsel"! 


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JACQUES  LOEB,  NEW  YORK 

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Der  Verfasser  dieser  Zeilen  begrüßt  es  dankbar,  daß  ihm  Gelegen- 
heit gegeben  wird,  dem  verehrten  Vorkämpfer  für  Gedanken- 
freiheit seine  ergebensten  Glückwünsche  zum  80.  Geburtstag  aus- 
drücken zu  dürfen. 

Als  Gymnasiast  wurde  er  mit  Haeckels  Schriften  bekannt.  Die- 
selben bestärkten  in  ihm  Vorstellungen,  welche  schon  früher  die 
Lektüre  von  Büchners  „Kraft  und  Stoff"  sowie  die  Einleitung  zu 
Schleidens  Botanik  in  ihm  angeregt  hatten.  In  seiner  Vaterstadt, 
einem  kleinen  Orte  auf  dem  linken  Rheinufer,  hatte  der  Verfasser 
genügende  Gelegenheit,  die  Intoleranz  eines  kirchlichen  Regimes 
kennen  zu  lernen.  Das  begeisterte  Eintreten  Haeckels  für  Gedanken- 
freiheit fiel  daher  bei  ihm  auf  fruchtbaren  Boden,  und  noch  heute 
klingt  ihm  ein  Vers  aus  einer  polemischen  Schrift  Haeckels  im  Kopfe : 

Wer  die  Wahrheit  kennt 

Und  sagt  sie  frei, 
Der  kommt  in  Berlin 

Auf  die  Hausvogtei. 

Das  trifft  zwar  heute  nicht  mehr  buchstäblich  zu,  aber  die  Aus- 
schließung von  Professuren  oder  amtlichen  Stellen  im  allgemeinen, 
der  gesellschaftliche  und  womöglich  ökonomische  Ostrazismus,  die 
dem  aktiven  Freidenker  zuteil  werden,  sind  auch  eine  Art  Hausvogtei. 

Der  Schreiber  dieser  Zeilen  bedauert  es,  daß  ihm  jahrelang  nicht 
vergönnt  war,  an  der  Seite  Haeckels  zu  kämpfen.  Das  Bestreben,  die 
allgemeinen  Lebenserscheinungen  von  rein  physikalisch-chemischen 
Gesichtspunkten  zu  analysieren,  zog  dem  Verfasser  systematische  An- 
griffe nicht  nur  von  Seiten  der  Reaktionäre  zu,  sondern  auch  von  Seiten 
vieler  Darwinisten,  welche  in  dem  Wahn  befangen  waren,  daß  die 
rein  spekulative  und  deskriptive  Richtung  der  Biologie  für  alle  Zeiten 
die  allein  maßgebende  Forschungsrichtung  bleiben  müsse.  Haeckel 
hatte  an  dieser  Sachlage  keinen  Anteil. 

In  die  Kreise  der  Monisten  wurde  ich  gezogen,  als  Wilhelm  Ostwald 
mich  einlud,  einen  der  öffentlichen  Vorträge  bei  der  Tagung  des  Mo- 
nistenbundes in  Hamburg  zu  übernehmen.  Ich  drückte  ihm  damals 
meinen  Zweifel  aus,  ob  ich  willkommen  sein  würde.  Die  Freundlich- 
H3SSS331iaS51S!llE!SS^S§iSElSSlS3SS3E]SiSSSE]SSaE]SSiS3SSi3^@S!E!a31IS 

15 


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keit,  mit  der  ich  in  Hamburg  auch  von  den  intimsten  Anhängern 
Haeckels  aufgenommen  wurde,  wird  mir  unvergeßlich  bleiben.  Ein 
freundlicher  Brief  Haeckels  ist  mir  ein  schönes  Andenken  an  die 
Hamburger  Tage. 

Wir  Monisten  lehnen  den  Gedanken  an  Unsterblichkeit  ab,  und  es 
ist  für  uns  auch  eine  Inkonsequenz,  von  der  Unsterblichkeit  der  Lei- 
stungen oder  Bestrebungen  eines  Individuums  zu  reden.  Aber  wir 
dürfen  dankbar  und  mit  Ehrfurcht  derjenigen  gedenken,  die  uns 
Ideale,  d.  h.  humanitäre  Ziele,  gegeben  haben.  Unsere  Glückwünsche 
an  Haeckel  kommen  deshalb  aus  vollem  Herzen. 


QP  100 


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16 


CARL  RIESS,  HAMBURG 


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Aus  der  Schule  kam  ich,  wie  wohl  jeder  deutsche  Junge  meiner 
Generation,  ohne  jede  Kenntnis  des  tatsächlichen  Lebens,  seiner 
sozialen  und  wissenschaftlichen  Verhältnisse,  dafür  aber  vollgepfropft 
mit  einem  Wissen  vergangener  Zeiten,  das  uns  ohne  jeden  inneren 
Zusammenhang,  ohne  jeden  Hinweis  auf  die  Gegenwart  oder  gar  die 
Zukunft  eingetrichtert  worden  war.  —  Ich  wollte  als  Hamburger  Junge 
Kaufmann  werden,  trat  in  eine  kaufmännische  Lehre  und  bin  Kauf- 
mann geworden.  Ich  habe  diese  Berufswahl  nie  bereut,  denn  ich  halte 
den  modernen  Kaufmann,  der  die  Verpflichtungen  seines  Berufes  mit 
Ernst  erfaßt,  die  Probleme  des  drängenden  Lebens  um  ihn  mit 
offenem  Auge  und  frischem  Geist  betrachtet,  für  einen  der  wichtig- 
sten Kulturträger  unserer  Zeit. 

Aber  nicht  davon  will  ich  sprechen.  Was  mir  Ernst  Haeckel  in 
meiner  persönlichen  Lebensentwicklung  war,  möchte  ich  erzählen. 
Von  dem  grüblerischen  thüringischen  Vater  her  mit  philosophischen 
Interessen  erfüllt  —  die  praktischer  denkende  Hamburger  Mutter 
brachte  mir  andere  Eigenschaften  — ,  war  ich  bald  in  einen  Kreis 
junger  Leute  gekommen,  die  sich  die  Lösung  der  tiefsten  Probleme 
der  Menschheit  zur  Aufgabe  gemacht  hatten.  Die  Heilswahrheiten 
der  christlichen  Offenbarung,  die  man  uns  unsere  ganze  Schulzeit 
hindurch  gelehrt  hatte,  waren  für  uns  alle  im  Leben  draußen  gar 
bald  verloren  gegangen.  Wir  hatten  alle  erkennen  müssen,  daß  andere 
Kräfte  und  Voraussetzungen  das  wirkliche  Leben  beherrschen.  Unser 
christliches  Weltbild  war  unter  dem  Andrang  des  Lebens  zusammen- 
gestürzt, und  wir  bemühten  uns  nun,  uns  ein  neues  zu  formen.  Es 
waren  köstliche  Stunden,  die  ich  in  diesem  Kreise  verlebt  habe.  Sie 
sind  heute  in  alle  Weltgegenden  zerstreut,  meine  Freunde  von  damals, 
aber  sie  sind  alle,  bis  auf  einen,  freie  und  fortschrittlich  denkende 
Männer  geblieben;  dieser  eine  fand  den  Weg  zum  Verband  zur  Be- 
kämpfung der  Sozialdemokratie. 

In  einem  stillen  Cafe,  (es  gab  damals  noch  stille  Cafes  in  Hamburg) 
kamen  wir  oft  zusammen,  um  unsere  Ideen  auszutauschen,  und  dem 
Zuge  der  Zeit  folgend  waren  wir  bald  mitten  in  der  damals  ihre  höch- 
sten Triumphe  feiernden  spiritistischen  Bewegung.    Einige  von  uns 


2     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II 


17 


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waren  Mitglieder  einer  spiritistischen  Vereinigung  und  erzählten  den 
Hellaufhorchenden  von  den  Taten  der  Geister:  Tischrücken,  Blumen- 
apporte  (das  Blumenmedium  Anna  Rothe  arbeitete  damals  noch  un- 
entlarvt),  Materialisationen  usw.  Wir  waren  überzeugt,  auf  dem  rich- 
tigen Wege  der  Lösung  der  Welträtsel  zu  sein.  Gleichzeitig  ging  eine 
Hochwoge  der  theosophischen  Bewegung  über  Deutschland.  Hübbe- 
Schleiden  gab  seine  „Sphinx"  heraus,  Hartmanns  „Lotosblüten"  waren 
unsere  Lektüre,  die  Blavatzky  und  Anna  Besant  unsere  Prophe- 
tinnen. Im  Laufe  der  Zeit  nahmen  unsere  Zusammenkünfte  festere 
Formen  an,  wir  schlössen  uns  zu  einer  kleinen  „Philosophischen  Ge- 
sellschaft" zusammen,  und  unter  dem  Vorsitz  eines  Arztes,  der  sich 
noch  heute  bemüht,  die  Grenzen  menschlichen  Wissens  durch  meta- 
physische Spekulationen  zu  erweitern,  suchten  wir  in  die  Tiefen  theo- 
sophischer  Weltweisheit  einzudringen.  Aus  diesem  Kreise  wurde  ich 
dann  durch  meine  Übersiedelung  nach  Paris  herausgerissen.  —  Ich 
habe  mich  absichtlich  etwas  länger  bei  dieser  Schilderung  meiner 
philosophischen  Erstlingsschritte  aufgehalten,  weil  sie  mir  heute 
symptomatisch  erscheinen.  Hätte  man  uns  in  der  Schule,  anstatt 
uns  mit  allen  Mitteln  in  den  Ideenkreis  einer  überlebten  jüdisch- 
christlichen Vorstellungswelt  einzuführen,  eine  moderne,  auf  Natur- 
wissenschaft und  Soziologie  begründete  Staatsbürgererziehung  an- 
gedeihen  lassen,  dieser  ganze  Ausflug  in  die  mystische  Verworren- 
heit spiritistisch-theosophischer  Spekulationen  wäre  unmöglich  ge- 
wesen. Daher  halte  ich  die  Einführung  einer  modernen,  auf  den 
Naturwissenschaften  basierten,  reinweltlichen  Schulbildung  für  eine 
der  wichtigsten  Vorbedingungen  freiheitlichen  Kulturfortschritts. 

Da  ich  in  Paris  geschäftlich  sehr  in  Anspruch  genommen  war, 
so  verblaßten  meine  philosophischen  und  metaphysischen  Interessen, 
und  ich  kehrte  nach  einigen  Jahren  ziemlich  neutral  in  allen  Dingen 
der  Weltanschauung  nach  Hamburg  zurück.  Sobald  ich  mich  aber 
wieder  in  die  Hamburger  Verhältnisse  eingelebt  und  meine  geschäft- 
liche Position  gesichert  hatte,  kamen  die  alten  Jugendinteressen  wie- 
der zum  Vorschein.  Ich  hatte  mich  inzwischen  —  nicht  zuletzt  an- 
geregt durch  die  gewaltigen  Fortschritte  der  Technik  —  mit  den 
Naturwissenschaften  beschäftigt,  und  so  war  es  nur  selbstverständlich, 
daß  ich  damals  auf  die  aufblühende  naturwissenschaftliche  Bewegung 
aufmerksam  wurde.  Ich  fing  an,  mich  mehr  und  mehr  mit  den  in 
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18 


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öffentlichen  Vorträgen  und  Diskussionen  aufgeworfenen  Fragen  der 
Entwicklungslehre  und  des  Menschenproblems  zu  beschäftigen.  Ich 
las  Darwin  und  nahm  eines  Sommers  Haeckels  „Welträtsel"  mit  auf 
die  Urlaubsreise  an  die  stillen  Gestade  der  holsteinischen  Binnenseen. 
Und  in  der  Lektüre  dieses  Buches  fand  ich  eine  Antwort  auf  die  Fra- 
gen, die  mich  immer  wieder  beschäftigt  hatten,  hier  waren  alle  die 
einzelnen  Ergebnisse  menschlichen  Wissens  von  Natur  und  Leben  zu 
einem  großen  einheitlichen  Weltbild  zusammengefaßt.  Nie  in  meinem 
Leben  hatte  mich  die  Lektüre  eines  Buches  so  gepackt  wie  diese. 
Hier  sah  ich  den  Weg  zu  einer  neuen  Stellung  des  Menschen  in  der 
Natur  und  zu  seiner  sozialen  Umgebung.  Mein  ganzes  Leben  bekam 
einen  neuen  Inhalt.  Die  Lektüre  der  „Welträtsel"  regte  mich  an,  mich 
weiter  in  die  einzelnen  Gebiete  menschlichen  Forschens  zu  vertiefen, 
meine  Welt-  und  Lebensanschauung  immer  fester  in  den  Natur- 
wissenschaften zu  verankern.  Neue  Lebenskraft  und  -freude  ist  in 
mir  erstanden.  Die  von  Ernst  Haeckel  fundierte,  von  seinen  Schülern 
und  Freunden,  ja  von  allen  freiheitlichen  Forschern  ausgebaute  moni- 
stische Welt-  und  Lebensanschauung,  zu  der  ich  mich  nun  freudig  be- 
kannte, brachte  mir  einen  neuen  Menschenstolz,  eine  neugeartete 
Arbeitsfreudigkeit,  unablässig  mitzuwirken  für  die  Befreiung  und  den 
Fortschritt  der  Menschheit. 

So  bedeutet  die  Bekanntschaft  mit  Ernst  Haeckels  ,, Welträtseln" 
meine  eigentliche  Menschwerdung,  und  die  fundamentale  Wirkung 
dieses  Buches  in  meinem  Leben  hat  auch  bis  heute  noch  keine  Ab- 
schwächung  erfahren.  Wenn  auch  meine  monistischen  Anschauungen 
sich  im  Laufe  der  Jahre  durch  Beschäftigung  mit  naturwissenschaft- 
lichen und  philosophischen  Fragen  —  nicht  zuletzt  angeregt  durch 
Wilhelm  Ostwald  —  vertieft  und  erweitert  haben,  die  Grundlage 
meiner  Anschauungen  ist  doch  der  große  einheitliche  Wurf  der  „Welt- 
rätsel" geblieben.  Und  daran  hat  auch  alle  Kritik  der  „Welträtsel" 
nichts  ändern  können,  die  niemals  den  großen  einheitlichen  Gedanken 
zerstören  konnte.  Sie  hat  sich  mit  dieser  oder  jener,  vielleicht  von 
Haeckel  selbst  in  seinem  Schöpferrausch  (er  hat  uns  einmal  selbst 
erzählt,  wie  die  „Welträtsel"  entstanden)  nicht  mit  letzter  Schärfe  aus- 
gesprochenen Einzelheit  beschäftigt  oder  aus  vorgefaßter  Meinung  das 
ganze  Buch  verworfen.  Alle  ernsthafte  wissenschaftliche  Kritik  aber 
hat  den  Bau  noch  immer  in  seinen  großen  Zügen  bestätigen  müssen. 

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Bei  dieser  Entwicklung  meines  Geisteslebens  ist  es  nur  selbst- 
verständlich, daß  ich  der  im  Januar  1906  von  Ernst  Haeckel  und 
seinen  Freunden  erfolgten  Gründung  des  Deutschen  Monistenbundes 
freudig  zustimmte  und  Mitglied  dieser  Vereinigung  wurde.  Ich  habe 
dann  später  die  Hamburger  Ortsgruppe  mit  gründen  helfen,  und  es 
gehört  zu  einer  meiner  schönsten  Lebensfreuden,  daß  ich,  getragen 
von  dem  Vertrauen  der  Hamburger  Monisten,  für  meinen  Teil  an  der 
guten  Entwicklung  der  Hamburger  Ortsgruppe  und  der  Bedeutung, 
die  sie  sich  für  die  gesamte  monistische  Bewegung  erworben  hat, 
habe  beitragen  können.  Reiche  Freude  und  großes  Glück  brachte 
mir  meine  Arbeit  für  den  Monismus,  durch  sie  habe  ich  die  persön- 
liche Bekanntschaft,  ja  Freundschaft  vieler  trefflicher  Männer  und 
Frauen  gewonnen,  sie  hat  meine  eigene  Entwicklung  gefördert  und 
vertieft. 

Während  meiner  Tätigkeit  für  den  Bund  habe  ich  dann  auch  die 
Freude  gehabt,  Ernst  Haeckel  persönlich  kennen  zu  lernen.  Zuerst 
im  Jahre  1907,  als  er  die  erste  Delegiertenversammlung  des  Deut- 
schen Monistenbundes  in  Jena  begrüßte.  Und  die  hohe  Verehrung, 
die  ich  für  Ernst  Haeckel  bereits  nach  der  Lektüre  seiner  Schriften 
empfand,  hat  sich  von  diesem  Augenblick  an  nur  noch  gesteigert. 
Der  Zauber  seiner  liebenswürdigen,  lebensfrohen  und  kampfesmutigen 
Persönlichkeit  muß  jeden  Menschen  mit  Sympathie  für  diesen  un- 
erschrockenen Forscher  erfüllen,  und  es  gehört  wahrlich  der  ganze 
fanatische  Haß  seiner  klerikalen  Gegner  dazu,  um  das  entstellte  Bild 
zu  ermöglichen,  das  von  dieser  Seite  so  oft  von  dieser  edlen  Männer- 
gestalt gegeben  worden  ist.  So  oft  ich  Haeckel  auch  später  wieder 
sah,  immer  war  er  der  gleich  liebenswürdige,  kampfesfrohe,  am  frei- 
heitlichen Fortschritt  der  Menschheit  interessierte  Mann,  und  niemals 
werde  ich  vergessen,  mit  welcher  Milde  und  welch  gütigem  Verstehen 
er  von  den  Angriffen  und  Beschimpfungen  seiner  Gegner  sprach.  — 
Mein  letzter  Besuch  bei  Ernst  Haeckel  war  im  November  des  verf  lossnen 
Jahres.  Ich  war  mit  Wilhelm  Ostwald  zu  ihm  gegangen,  um  die  Einzel- 
heiten des  Ernst  Haeckel-Schatz  für  Monismus  mit  ihm  zu  besprechen. 
Diese  Zusammenkunft  unserer  beiden  Führer,  der  ich  so  als  beobach- 
tender Dritter  beiwohnte,  ihr  angeregtes  Gespräch  über  die  neuesten 
Probleme  wissenschaftlicher  Forschung  wird  mir  unvergeßlich  bleiben, 
und  das  Bild  dieser  beiden  herrlichen  Männer,  sich  in  Haeckels  Arbeits- 

20 


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zimmer  in  freudiger  und  zugleich  ernster  Unterhaltung  gegenüber- 
sitzend, hat  sich  mir  tief  eingeprägt.  — 

So  hat  Ernst  Haeckel  und  sein  Werk  auf  mein  Leben  eingewirkt, 
und  ich  weiß,  daß  es  vielen,  vielen  Tausenden  ähnlich  ergangen  ist 
wie  mir.  Mögen  sie  alle  nie  vergessen,  was  sie  dem  immer  noch  jugend- 
frohen Kämpfer  von  Jena  zu  verdanken  haben  und  stets  bereit  sein, 
ihre  Schuld  ihm  gegenüber  abzutragen,  indem  sie  mitarbeiten  an  sei- 
nem Lebenswerk:  der  geistigen  und  sozialen  Befreiung  der  Menschheit. 


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FRIEDRICH  LIPSIUS,  LEIPZIG 


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Wann  ich  mit  Ernst  Haeckel  bekannt  geworden  bin,  ist  mir  als 
geborenem  Jenenser  zu  sagen  nicht  möglich.  Wie  die  Persönlich- 
keit des  berühmten  Forschers  schon  dem  Kinde  vertraut  war,  so 
hatte  auch  der  Schüler  wenigstens  eine  ungefähre  Ahnung  von  dem, 
was  Haeckel  lehrte  und  wollte.  Von  meinem  Vater,  dessen  Theologie 
Wissen  und  Glauben  auf  kantischer  Grundlage  miteinander  zu  ver- 
söhnen suchte,  und  der  mit  dem  naturwissenschaftlichen  Kollegen 
auf  freundschaftlichem  Fuße  verkehrte,  habe  ich  nie  ein  spöttisches 
Wort  über  die  ,, Affenabstammung"  des  Menschen  oder  gar  ein 
abfälliges  Urteil  über  Haeckels  „Atheismus"  gehört.  Mir  ist  es,  seit- 
dem ich  überhaupt  über  Weltanschauungsfragen  nachzudenken  be- 
gann, immer  selbstverständlich  gewesen,  daß  alles  in  der  Welt  „natür- 
lich" zugehe.  Der  schmerzliche  Bruch  mit  religiösen  Jugendein- 
drücken, der  Zwiespalt  zwischen  orthodoxer  Erziehung  und  eigenen 
Zweifeln,  ist  mir  erspart  geblieben.  Ich  habe  mich,  dank  dem  geistigen 
Klima,  in  dem  ich  aufwuchs,  schrittweise  und  stetig  entwickelt, 
und  selbst  die  Tatsache,  daß  ich  mich  am  Ende  von  den  theologischen 
Voraussetzungen  gänzlich  losgelöst  hatte,  ist  mir  erst  durch  den 
Widerspruch,  den  ich  erfuhr,  zum  Bewußtsein  gekommen. 

So  begreift  es  sich,  daß  mir  Haeckel  nicht  als  der  Befreier  ent- 
gegentreten konnte,  der  er  ohne  Zweifel  vielen  geworden  ist.  Ich 
war  mit  der  Theologie  innerlich  fertig,  war  bereits  durch  das  Studium 
der  Wundtschen  Philosophie  hindurchgegangen,  und  die  Richtung 
meines  Denkens  stand  in  der  Hauptsache  fest,  als  Haeckel  auf  mich 
zu  wirken  begann.  Nicht  in  erster  Linie  durch  seine  Schriften  — 
obwohl  ich  damals  auch  mit  vielem  Vergnügen  die  „Natürliche 
Schöpfungsgeschichte"  las  —  sondern  als  Lehrer  und  Mensch.  Es 
waren  Stunden,  die  mir  zeitlebens  unvergeßlich  bleiben  werden,  in 
denen  ich  als  beurlaubter  Privatdozent  noch  einmal  zwischen  den 
Studenten  saß  und  im  Jenaer  Zoologischen  Institut  bei  Haeckel 
„Entwicklungsgeschichte"  hörte.  Schon  die  Stimmung  des  Raumes 
nahm  sofort  gefangen.  Die  an  der  Wand  hängende  große  Tafel 
mit  der  „Progonotaxis  hominis"  zeigte,  in  welchem  Geiste  hier 
Naturwissenschaft  getrieben  werde.    Sie  verriet,  daß  auf  dem  Ka- 

22 


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theder  dieses  Hörsaales  kein  trockener  Tatsachenmensch,  der  aus 
lauter  wissenschaftlicher  Gewissenhaftigkeit  über  das  Wichtigste 
nichts  zu  sagen  wagt,  stehe,  sondern  ein  kühner  Bahnbrecher  und 
Wahrheitssucher,  der  da  weiß,  daß  die  Forschung  den  Mut  des  Irr- 
tums haben  muß,  wenn  sie  vorwärts  schreiten  will. 

Mancher  Koryphäe  der  Wissenschaft  hat  seine  ehrfurchts-  und 
erwartungsvolle  Zuhörerschaft  im  Kolleg  enttäuscht  —  man  denke 
an  Helmholtz,  dessen  Auditorium  sich  oft  ebenso  verzweifelt  wie 
vergebens  bemüht  haben  soll,  den  verwickelten  Rechnungen  des 
großen  Gelehrten  zu  folgen.  Haeckels  Vortrag  war  durch  die  ge- 
schickte Auswahl  und  Verwertung  des  Stoffes  immer  gleich  ver- 
ständlich und  gleich  fesselnd.  Wie  man  nach  jeder  Stunde  seinen 
geistigen  Besitz  bereichert  sah,  so  machte  die  Lebhaftigkeit  der 
Darstellung  das  Hören  zu  einem  wirklichen  Genuß.  In  den  von 
ihm  persönlich  geleiteten  Übungen  konnte  sich  nicht  nur  Haeckels 
außerordentliche  Lehrgabe,  sondern  auch  seine  menschliche  Liebens- 
würdigkeit entfalten.  Von  Platz  zu  Platz  gehend  überzeugte  er  sich, 
ob  jeder  Teilnehmer  im  Besitz  eines  brauchbaren  Präparates  sei 
und  hielt  es,  im  Gegensatz  zu  manchem  seiner  Berufsgenossen,  die 
solch  untergeordnete  Tätigkeit  ihren  Assistenten  überlassen,  nicht  für 
unter  seiner  Würde,  hier  ein  Mikroskop  richtig  einzustellen,  dort  die 
entworfene  Skizze  zu  verbessern. 

Oftmals  habe  ich,  als  sich  jetzt  dem  staunenden  Auge  die  Wunder- 
welt des  Lebens  erschloß,  es  bedauert,  nicht  von  vornherein  an  der 
Hand  der  Naturwissenschaft  den  Weg  zur  Erkenntnis  gesucht  zu  haben. 
Denn  Haeckel  ist  mir  der  Führer  geworden  in  das  ,, fruchtbare  Bathos 
der  Erfahrung",  seinem  Unterrichte  danke  ich  die  Einsicht  in  den 
unersetzbaren  Wert  der  unmittelbaren  sinnlichen  Anschauung,  die 
der  Vertreter  der  Geisteswissenschaften  über  der  bloßen  Buchgelehr- 
samkeit und  dem  endlosen  Abhören  fremder  Meinungen  über  die 
Dinge  so  leicht  vergißt.  Ich  kann  Haeckel  nicht  ganz  darin  bei- 
pflichten, daß  eigentlich  alle  Philosophie  Naturphilosophie  sei,  aber 
ich  wüßte  nicht,  wie  der  Philosoph  seiner  Aufgabe,  eine  Gesamt- 
weltanschauung zu  erarbeiten,  gerecht  werden  soll,  wenn  er  sich 
nicht  mit  den  Ergebnissen  der  Naturforschung  vertraut  macht. 
Und  diese  Ergebnisse  selbst  lassen  sich  nicht  ohne  weiteres  wie  reife 
Früchte  vom  Baume  brechen;  um  sie  würdigen,  ja  auch  nur,  um 
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23 


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sie  verstehen  zu  können,  muß  man  bei  den  Einzelvvissenschaften 
in  die  Schule  gegangen  sein.  „Rein  philosophische"  Disziplinen  gibt 
es  meiner  Meinung  nach  überhaupt  nicht ;  wie  sich  der  Naturphilosoph 
auf  Physik  und  Biologie  stützen  muß,  so  ist  dem  Ethiker  und  Re- 
ligionsphilosophen die  Psychologie,  insbesondere  die  Völkerpsycho- 
logie unentbehrlich.  Und  selbst  die  scheinbar  so  abstrakten  Gebiete 
der  Logik  und  Erkenntnislehre  müssen  veröden,  wenn  sie  die  Ver- 
bindung mit  dem  wirklichen  Denken  und  Erkennen  preisgeben  und 
die  Rücksicht  auf  die  wissenschaftlichen,  vor  allem  die  exakten 
Methoden  außer  acht  lassen.  Das  ist  übrigens  auch  genau  die  Mei- 
nung Wundts,  der  die  alten  philosophischen  Zweifel  an  der  Realität 
der  Außenwelt  durch  den  Hinweis  auf  das  Verfahren  der  Natur- 
forschung außer  Kraft  setzt.  Verliert  doch  sie,  bei  aller  Kritik  am 
sinnlichen  Eindruck,  den  Boden  einer  gegenständlichen  Wirklichkeit 
niemals  unter  den  Füßen! 

Aber  genügt  es  denn  —  so  wird  mir  vielleicht  der  verehrte  Jenaer 
Meister  einwenden  —  daß  die  Philosophie  die  Resultate  der  Forschung 
nachträglich  zusammenarbeitet?  Kann  und  muß  sie  nicht  zeigen, 
daß  die  Wissenschaft,  ja  die  Wirklichkeit  selbst  im  Grunde  nur  eine 
einzige  ist?  Was  hilft  es  beispielsweise,  experimentelle  Methoden 
auf  die  Psychologie  anzuwenden,  wenn  doch  zuletzt  Anatomie  und 
Physiologie  dem  Gespenst  der  immateriellen  Seele  weichen  müssen? 
Nun  will  ich  gern  einräumen,  daß  es  immer  noch  Vertreter  der  von 
Haeckel  so  genannten  „introspektiven"  Seelenlehre  gibt,  die  im  alten 
kartesianischen  Irrtum  befangen  sind.  An  und  für  sich  aber  ist  die 
dualistische  Metaphysik  durchaus  nicht  die  notwendige  Konsequenz 
der  „parallelistischen"  Arbeitshypothese,  die  vielmehr  die  Zweisub- 
stanzentheorie und  den  „influxus  physicus"  gerade  ausschließt!  Wir 
können,  ohne  die  Einheitlichkeit  des  psycho-physischen  Organismus 
irgendwie  in  Frage  zu  stellen,  unsere  inneren  Erlebnisse  einmal  in 
ihrem  unmittelbaren  Gegebensein  und  in  ihrem  eigenen  Zusammen- 
hange auffassen  und  das  andere  Mal  den  äußeren  Ausdrucksformen 
der  seelischen  Vorgänge,  die  uns  als  Prozesse  in  der  Großhirnrinde 
gegeben  sind,  nachgehen. 

Ich  glaube  nicht,  daß  sich  diese  beiden  Betrachtungsweisen 
gegenseitig  stören  können,  ich  glaube  aber  auch  nicht,  daß  eine 
von  ihnen  entbehrlich  ist.  Der  Unterschied  in  der  Art,  wie  das  Ich 
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24 


sich  selbst  erlebt,  und  wie  es  auf  fremde  Sinne  wirkt,  also  einem 
anderen  Ich  „erscheint",  wird  sich  niemals  beseitigen  lassen.  Aber 
es  wäre  sicherlich  verfehlt,  hieraus  auf  eine  fundamentale  Zwie- 
spältigkeit im  Sein  zu  schließen.  In  dieser  Grundüberzeugung  weiß 
ich  mich  durchaus  mit  Haeckel  einig;  ja  ich  gehe  sogar  noch  einen 
Schritt  weiter  als  er:  Ich  betrachte  Kraft  und  Stoff  nicht  nur  als 
untrennbar  zusammengehörig,  mir  scheint  es  ausreichend,  die  Welt 
lediglich  als  eine  Unendlichkeit  tätiger  und  strebender  Kräfte  zu 
denken.    „Im  Anfang  war  die  Tat!" 

Daß  bei  der  Ausgestaltung  eines  vom  Kraftbegriff  aus  entwor- 
fenen Weltbildes  dem  Entwicklungsgedanken  die  beherrschende  Rolle 
wird  zufallen  müssen,  liegt  auf  der  Hand.  Ruhe  ist  nur  als  vorüber- 
gehender Gleichgewichtszustand  der  Kräfte  begreiflich,  die  Welt  ist 
nur,  sofern  sie  wird.  Es  wird  Ernst  Haeckels  unvergänglicher,  durch 
keine  Kritik  antastbarer  Ruhm  bleiben,  der  Entwicklungslehre  in 
Deutschland  die  Bahn  gebrochen  zu  haben.  Ob  ihr  in  der  Gestalt,  die 
Darwin  ihr  gegeben,  oder  in  irgendeiner  anderen  die  Zukunft  gehört, 
ist  dabei  eine  nebensächliche  Frage.  Soviel  steht  fest :  Sie  beginnt  heute 
vom  Boden  der  Biologie,  auf  dem  sie  erwachsen  ist,  hinüberzugreifen 
auf  das  Gebiet  der  Physik  und  der  Chemie.  Die  Erscheinungen  der 
Radioaktivität  haben  uns  gezeigt,  daß  auch  die  Elemente  der  an- 
organischen Natur  nicht  von  vornherein  fertige  Gebilde,  sondern  Pro- 
dukte einer  über  Jahrmillionen  sich  erstreckenden  Entwicklung  sind. 

Haeckel  hat  seinen  „Monismus"  als  „Band  zwischen  Religion  und 
Wissenschaft"  bezeichnet.  Es  liegt  deshalb  die  Frage  nahe,  ob  der 
Entwicklungsgedanke  Gefühle  auslösen  könne,  die  imstande  wären, 
die  Stimmungswerte  älterer  Religionsbildungen  zu  ersetzen?  Hier- 
gegen erheben  sich  aber  gewisse  Bedenken.  Wird  das  Entwicklungs- 
prinzip auf  das  Universum  selbst  angewandt,  so  nötigen  uns  die 
an  das  Entropiegesetz  geknüpften  Folgerungen,  die  Welt  nicht  so- 
wohl in  aufsteigender,  als  in  absteigender  Richtung  fortschreitend 
zu  denken.  Außerdem  führt  die  Lehre  vom  „Kältetod"  des  Univer- 
sums zur  Idee  eines  zeitlichen  Endes  und  folglich  eines  ebensolchen 
Anfanges  des  kosmischen  Geschehens,  also  zu  Gedanken,  die  in  den 
Rahmen  einer  immanenten  Religiosität  schlecht  hineinpassen. 

Aber  wie  es  sich  auch  mit  der  universellen  Tragweite  des  zweiten 
Hauptsatzes  der  Thermodynamik  verhalten  mag  —  die  Teilsysteme 

25 


des  Weltganzen  sind  jedenfalls  für  unmeßbar  lange  Zeiträume  einem 
beständigen  Auf-und-Nieder,  einem  fortwährenden  Kreislauf  des  Ge- 
schehens —  sagen  wir  mit  Arrhenius  zwischen  Sonnen-  und  Nebel- 
fleckenstadium —  unterworfen.  Wir  haben  es  also  mit  einer  großen 
Zahl  aneinandergereihter,  aber  in  sich  zusammenhangsloser  Evolu- 
tionen zu  tun.  Auch  auf  unserem  Planeten  sind  zahlreiche  organische 
Entwicklungsreihen  zum  Stillstand  gekommen  oder  von  der  Natur 
abgebrochen  worden,  und  ebenso  ist  die  Geschichte  der  Kultur- 
menschheit weder  als  stetig,  noch  als  unendlich  zu  denken. 

Das  eröffnet  Perspektiven,  die  für  unser  menschliches  Schaffen, 
für  die  Zukunft  unserer  ethischen  und  kulturellen  Arbeit  verhängnis- 
voll erscheinen.  Wir  brauchen  aber,  um  ihrer  lähmenden  Wirkung 
zu  entgehen,  weder  ein  Jenseits  zu  erträumen,  noch  uns  Nietzsches 
phantastische  Lehre  von  der  Wiederkehr  aller  Dinge  zu  eigen  zu 
machen.  Uns  muß  genügen,  was  die  Erfahrung  lehrt:  Wie  die  Grund- 
gesetze des  Alls  unwandelbar  die  nämlichen  bleiben,  so  setzen  sich 
auch  bei  aller  Individualisierung  im  einzelnen  die  gleichen  Grund- 
typen der  Wirklichkeit  in  Natur-  und  Geisteswelt  offenbar  immer 
wieder  durch.  Haeckels  geniale  „Promorphologie"  der  Organismen 
hat  diesem  Gedanken  einen  mehr  mathematischen  Ausdruck  gegeben. 
Er  findet  seine  Bestätigung  ferner  an  der  Existenz  analoger,  d.  h. 
entwicklungsgeschichtlich  nicht  verbundener,  aber  physiologisch 
gleichwertiger  Organe,  wie  auch  an  der  Tatsache,  daß  es  zuletzt 
nur  einige  wenige  Hauptschemata  sind,  nach  denen  sich  der  Aufstieg 
des  Lebens  vollzieht.  Er  liegt  endlich  im  weitesten  Sinne  auch  dem 
Glauben  zugrunde,  daß,  wo  nur  immer  im  Weltall  die  Bedingungen 
hierzu  gegeben  sind,  sich  auch  wieder  ein,  dem  unseren  ähnliches 
Geistesleben  entwickeln  werde.  Diese  religiös  so  überaus  wichtige 
Idee  unserer  Zugehörigkeit  zu  einer  Unendlichkeit  der  Geisteswelt 
ist  also  nicht,  wie  man  gemeint  hat,  durch  die  Begrenztheit  der  ein- 
zelnen Entwicklungsreihen  ad  absurdum  geführt.  Vielmehr  vermag 
sie  in  ihrer  Erhabenheit  wohl  dem  Gedanken  der  Vernichtung  ein 
Gegengewicht  zu  bieten. 

Müssen  wir  zugeben,  daß  der  religiöse  Wert  des  Entwicklungs- 
gedankens nur  ein  relativer  ist,  so  finden  wir  den  philosophischen 
Glauben  an  die  „Ewigkeit  des  Geistes"  in  dem  soeben  entwickelten 
Sinne  um  so  enger  mit  dem  Postulat  der  Wesenseinheit  alles  Seins 
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26 


verbunden.  Immer  und  immer  wieder  hat  die  Menschheit  —  und 
das  ist  selbst  ein  Zeugnis  für  ihre  intellektuell  einheitliche  Struktur 
—  Propheten  und  Märtyrer  dieses  Glaubens  hervorgebracht,  in  immer 
neuen  Ansätzen  die  in  ihm  enthaltene  Aufgabe  zu  lösen  gesucht. 
Auch  unser  Haeckel  ist  gleichsam  schon  einmal  über  diese  Erde 
gewandert  und  zwar  in  der  Gestalt  des  alten  griechischen  Weisen 
Xenophanes,  der  Naturforscher,  Philosoph  und  Theolog  in  einer 
Person  gewesen  ist.  Von  ihm  berichtet  Aristoteles:  „Xenophanes 
erklärte,  alles  sei  Eins,  und  auf  das  Weltall  blickend  sagte  er,  dies 
Eine  sei  Gott!"  Xenophanes  war  es  auch,  der  über  Abdrücke  von 
Fischen  in  den  jungtertiären  Schichten  der  syrakusanischen  Stein- 
brüche tiefsinnige  Reflexionen  anstellte  und  zu  der  Überzeugung 
kam,  daß  alles  Lebendige  aus  einem  Urschlamm  hervorgegangen 
sein  müsse.  Er  endlich  hat  an  den  herrschenden  religiösen  Vorstellun- 
gen eine  scharfe,  seine  Zeitgenossen  oft  verletzende  Kritik  geübt  und 
zuerst  den  Satz  aufgestellt,  daß  nicht  der  Mensch  nach  dem  Bilde 
Gottes  geschaffen  sei,  sondern  umgekehrt  die  Menschen  sich  Götter 
nach  ihrem  Bilde  schüfen.  So  ist  es  derselbe  rücksichtslose,  um  alle 
Vorurteile  unbekümmerte  Wahrheitsmut,  den  wir  bei  dem  antiken 
ebenso  wie  bei  dem  modernen  Denker  bewundern.  Darum  kann 
uns  auch  eine  gewisse  kleinlich-hämische  Kritik  an  dem  Kern  von 
Haeckels  Lebenswerk  und  Haeckels  Persönlichkeit  nicht  irremachen. 
Mag  er  in  seinen  Aufstellungen  hier  geirrt  haben  und  dort  zuweit 
gegangen  sein,  —  er  hat  uns  gar  manchen  neuen  und  tiefen  Blick  hin- 
eintun lassen  in  die  Schöpferwerkstatt  des  All-Einen,  und 

„Was  kann  der  Mensch  im  Leben  mehr  gewinnen, 
Denn  daß  sich  Gott-Natur  ihm  offenbare?" 


27 


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R.  MEYER,  BERLIN:  WIE  ZWEI  HERRNHÜTER  IN 
ROM  HAECKEL  KENNEN  UND  LIEBEN  LERNTEN 

o  o  o 

\\77ir  lernten  ihn  kennen  durch  den  Marschendichter  H.  Allmers  aus 
W  Rechtenfleth  bei  Bremen.  Allmers  und  Haeckel  waren  seit 
30  Jahren,  seit  einer  gemeinsamen  italienischen  Reise  Ende  der  fünfziger 
Jahre,  Freunde.  Als  Haeckel  seinen  ältesten  Sohn  taufte,  war  auch 
Allmers  als  Pate(?)  geladen.  Er  erschien  nicht,  da  es  ihm  im  hohen 
Grade  inkonsequent  däuchte,  daß  Haeckel  diesen  christlichen  Brauch 
übe.  Allmers  sann  darüber  nach,  durch  welche  Feier  die  christliche 
Taufe  ersetzt  werden  könne;  denn,  obwohl  Junggeselle,  empfand  er 
doch  lebhaft  die  Notwendigkeit,  den  neuen  Erdenbürger  festlich  in 
die  Familie  und  in  die  Gemeinde  der  Menschensöhne  aufzunehmen. 
So  dichtete  er  für  Haeckels  Taufe  die  „Weihe  eines  jungen  Erden- 
bürgers". Die  symbolische  Handlung,  begleitet  von  festlich  ernsten, 
festlich  heiteren  Versen  gipfelt  darin,  daß  ein  Becher  mit  Wein 
dreimal  an  die  Lippen  des  „Täuflings"  geführt  und  ihm  schließlich 
vom  „Sprecher"  über  das  Haupt  gegossen  wird.  Das  Gedicht,  der 
erste  Ansatz  eines  religionslosen  Kultus,  erschien  zur  Taufe  zu  spät; 
erregte  aber  später,  als  es  in  der  Gartenlaube  gedruckt  wurde,  erheb- 
liches Aufsehen. 

Hatte  so  Allmers  der  Freundschaft  mit  Haeckel  ein  poetisches 
Denkmal  errichtet,  so  umgekehrt  Haeckel  ein  wissenschaftliches. 
Allmer's  Nase  war  ein  Unikum,  fast  ein  Halbkreis.  Ich  habe  eine  ähn- 
liche nicht  vorher,  nicht  nachher  gesehen.  Als  nun  Haeckel  ein  Tief- 
seetierchen entdeckte  mit  ähnlicher  Ausbuchtung,  gab  er  ihm  in 
humorvoller  Erinnerung  an  den  Freund  den  Beinamen  Allmerianum, 
was  den  Träger  der  Nase  mit  Stolz  erfüllte.  ,,So  werde  ich,  wenn 
niemand  mehr  meine  Gedichte  liest,  doch  dem  oder  jenem  Forscher 
als  ein  Freund  Haeckels  vor  Augen  treten." 

Von  all  dem  wußten  wir  nichts,  mein  Freund  Nitschmann  und  ich, 
als  wir  Sonntag  den  7.  April  1889  in  Rom  beim  Abendbrot  saßen 
in  der  Trattoria  degli  artisti.  Wir  waren  beide  Herrnhutische  Stu- 
denten der  Theologie  vom  theologischen  Seminar  der  Brüdergemeinde 
in  Gnadenfeld  (O.-Schlesien).  Wir  waren  es  mit  innerer  Liebe  und 
kannten  kein  anderes  Ziel,  als  in  einer  der  stillen  Brüdergemeinden 

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28 


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unseren  weitabgewandten  Idealen  zu  leben.  Wir  waren  außerdem 
blutarm.  Aber  wir  hatten  uns  doch,  von  jäh  erwachter  Sehnsucht 
nach  Italiens  Gütern  wie  von  einem  Rausch  erfaßt,  aus  der  Enge 
unseres  klösterlichen  Lebens  aufgemacht,  um  vier  Wochen  lang,  vier 
köstliche  Osterwochen,  Rom  zu  erleben.  Jeder  Tag  brachte  Wunder, 
Wunder  der  Natur,  der  Kunst.  Wir  wandelten  dahin  wie  Verzauberte. 
Unser  Sprachschatz  ward  ins  Superlative  gesteigert,  und  doch  wollte 
er  nicht  ausreichen,  all  das  vollwertig  auszudrücken,  was  uns  be- 
glückte. 

In  solcher  Verfassung  also  saßen  wir  an  genanntem  Tage  in  unse- 
rem Stammlokal.  Vor  uns  ein  Mann  mit  einer  so  singulären  Nase 
—  sie  war  uns  schon  angemeldet  worden  — ,  daß  es  nur  Allmers 
sein  konnte.  Bald  war  eine  lebhafte  Unterhaltung  im  Gange;  wir 
beglückt,  einen  lebendigen  Dichter  aus  der  Nähe  zu  sehen;  er,  der 
Menschen] äger,  hocherfreut,  eine  ihm  ganz  neue  Spezies  von  Menschen 
kennen  gelernt  zu  haben:  zwei  „lebendige,  kleine  Herrnhuter".  Das 
Glück  war  voll,  als  wir  entdeckten,  daß  wir  ein  gemeinsames  Quar- 
tier hätten,  das  Archäologische  Institut  auf  dem  Kapitol.  Dorthin 
brachen  wir  dann  um  V29  au^  um  an  ^em  >  »offenen  Abend"  teil- 
zunehmen, den  der  Leiter  des  Instituts  Professor  Petersen  etwa 
alle  14  Tage  gab  für  die,  die  im  Institut  wohnten,  und  vor  allem  für 
die  vielen  namhaften  Männer,  die  um  diese  Zeit  Rom  aufzusuchen 
pflegten.  Im  Institut  angekommen,  bat  uns  Allmers,  einige  Augen- 
blicke zu  warten.  Als  wir  dann  eintraten,  begegneten  uns  überall 
erstaunte,  auch  recht  mitleidige  Blicke.  Wir  waren  froh,  dem  Kreuz- 
feuer der  Augen  entronnen,  in  irgendeiner  stillen  Ecke  landen  zu 
können.  Da  hörten  wir  erst,  daß  Allmers  als  unser  Wegebereiter 
überall  gesagt:  „Achtung!  Gleich  kommen  zwei  Menschen,  wie  Sie 
sie  noch  nicht  lebendig  gesehen,  zwei  leibhaftige,  kleine  Herrnhuter. 
Denken  Sie  einmal,  Herrnhuter  hier  in  Rom!"  Wir  kamen  uns  so 
gewöhnlich,  so  selbstverständlich,  auch  so  bescheiden  gekleidet  vor, 
daß  wir  wie  erlöst  aufatmeten,  als  die  Tür  sich  öffnete,  der  Name 
Haeckel  durch  die  Zimmer  flog  und  uns  wieder  in  unser  beschei- 
denes Nichts  versinken  ließ. 

Das  war  Haeckel!  So  sah  der  aus!  Grauer  Anzug,  kurze  Jacke, 
volles,  leicht  ergrautes  Haar  und  Bart,  die  blauen  Augen  blitzend 
und  lachend.   Er  entschuldigte  sich  bei  der  Dame  des  Hauses :   „Neh- 

29 


men  Sie  mich  so,  wie  ich  bin,  grau  in  grau?"  Alles  Offizielle  habe 
er  in  Deutschland  zurückgelassen.  Er  fand  freundlichsten  Dispens. 
Nun  suchte  sein  Blick  im  ersten  Zimmer.  Da  standen  einige  Priester, 
und  Haeckel  suchte  das  nächste  Zimmer  zu  gewinnen  in  lustigstem 
Streit  mit  einem  Maler,  der  ihm  als  Mann  der  Wissenschaft  den  Vor- 
tritt lassen  wollte,  während  Haeckel  lebhaft  den  Satz  verfocht,  daß 
der  Maler  dem  Gelehrten  vorgehe;  denn  ersterer  habe  der  Mensch- 
heit mehr  gegeben.  Mir  schien  doch,  als  ob  Haeckel  selbst  nicht  so 
recht  daran  glaubte.  —  Im  Nachbarzimmer,  wo  man  einen  köstlichen 
römischen  Landwein  trank,  sammelte  sich  bald  ein  fröhlicher  Kreis 
um  Haeckel.  Er  war  der  Mittelpunkt  des  Gesprächs,  von  ausgelassener 
Heiterkeit;  eine  Lachsalve  nach  der  anderen  klang  verlockend  in 
unser  stilles,  gemessenes  Teezimmer  herüber.  Wir  hatten  das  leb- 
hafteste Bedürfnis,  in  den  Haeckelschen  Kreis  zu  kommen;  lösten 
drum  höflich  das  Gespräch  mit  dem  jungen  katholischen  Priester 
—  mein  Tagebuch  nennt  ihn  Dr.  Ehrhardt  aus  Bayern;  ob  es  wohl 
der  nachmals  oft  genannte  Modernist  war  ?  —  schoben  uns  vorsichtig 
in  das  Nebenzimmer  und  standen  nun  im  Bannkreis  des  Jenensers, 
den  als  Trabanten  Freunde  aller  Lebenskreise  und  namentlich  junge 
Gelehrte  —  Dr.  Michels,  der  junge  Petersen  —  umringten.  Das  also 
war  der  gefürchtete,  der  gehaßte,  der  glühend  verehrte  Mann.  Unser 
erster  Eindruck:  Wie  harmlos  ist  er,  wie  schlicht,  wie  natürlich; 
nichts  von  Pose,  von  Imponieren -Wollen;  nur  Mensch  sein,  ein  lachen- 
der, strahlend,  ansteckend  fröhlicher.  Die  Unterhaltung  fliegt  zün- 
dend von  Mann  zu  Mann,  von  Thema  zu  Thema;  das  Grundthema 
bleibt,  naturgemäß  an  solchem  Ort,  doch  eben  das  ewige  Rom.  Wir 
mischten  uns  nicht  hinein;  auch  nicht,  nachdem  Allmers  seine  „bei- 
den lieben  kleinen  Herrnhuter"  Haeckel  vorgestellt  hatte.  Ein  Hände- 
druck, damit  sind  wir  zunächst  für  ihn  erledigt  und  können  vergnügt 
zu  stillfröhlichem  Hören  zurückkehren.  Sehr  tiefgründig  war  das 
Gespräch  naturgemäß  nicht;  dazu  waren  die  Männer  sich  im  ganzen 
zu  fremd,  die  Ansichten  zu  verschieden.  Bei  Haeckel  hin  und  wieder 
eine  aggressive  Note,  so  wollte  es  uns  wenigstens  scheinen.  So  fragte 
er  im  naivsten  Ton,  ob  jemand  die  heilige  Petronella  von  Guercino 
gesehen  habe.  Unten  liege  noch  der  entseelte  Leib,  oben  erscheine 
schon  in  neuer  Hülle  die  Seele  vor  Christus.  Wie  man  sich  das  wohl 
wissenschaftlich  vermitteln   könne.     In   demselben   naiv   satirischen 

30 


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Ton  scherzte  er  über  die  Engel  und  Seligen  in  einer  Kirche,  deren 
Geschlecht  und  Rasse  er  bei  bestem  Willen  nicht  habe  feststellen 
können.  Sonst  habe  ich  mir  von  Einzelheiten  nichts  notiert.  Aber 
das  ist  mir  in  lebendigster  Erinnerung,  wie  Haeckel  trotz  vieler  Ge- 
lehrten und  Künstler,  die  anwesend  waren,  den  unumstrittenen  Mittel- 
punkt dieses  Zimmers  bildete.  Er  fesselte  uns  so,  daß  wir  nicht  merk- 
ten, wie  sich  im  Nebenzimmer  Dr.  Ficker  (jetzt  Straßburger  Ordi- 
narius) an  den  Flügel  setzte,  um  die  Dame  des  Hauses  zum  Gesang 
zu  begleiten.  Und  noch  höre  ich  unser  Lachen  hineinplatzen  in  ein 
zartes  Lied;  erschreckt  eilt  der  Hausherr  herbei,  schließt  die  Ver- 
bindungstüre. Es  wäre  nicht  möglich  gewesen,  diese  angeregte  Herren- 
gesellschaft, die  sich  in  allerbester  Laune  befand,  in  die  zarten  Bande 
der  Musik  zu  schlagen.  Bald  nach  n  Uhr  verschwand  Haeckel  still- 
schweigend, ohne  Abschied.    So  sahen  wir  Haeckel  zum  ersten  Male. 

Für  die  nächsten  Tage  stellte  uns  Allmers  ein  intimeres  Zusammen- 
sein mit  Haeckel  in  Aussicht.  „Ich  möchte  so  gern,"  sagte  er  scher- 
zend, ,, einen  kleinen  Glaubenskrieg  zwischen  Ihnen  und  Haeckel  er- 
leben." Am  Mittwoch  drauf  hatten  wir  das  Glück  dieser  Zusammen- 
kunft, des  „Religionsgespräches",  wie  Allmers,  zum  Glück  sich  irrend, 
es  im  voraus  bezeichnet  hatte.  Allmers  hatte  Haeckel  zu  Mittag 
geladen  in  unser  Stammlokal  Degli  Artisti  in  der  Via  della  Vite.  Als 
wir  von  einem  Campagnaausflug  heimkehrten,  saß  Haeckel  schon  da, 
warf  einen  prüfenden  Blick  auf  uns  beide  —  Allmers  hatte  ihm  also 
von  unserer  Anwesenheit  nichts  verraten.  Dann  begann  ein  fröh- 
liches Mahl,  wie  man  es  nur  in  begnadeter  Stunde  und  in  begnadeter 
Gesellschaft  erlebt.  Haeckel  war  von  unermüdlicher,  reizendster  Gebe- 
freudigkeit. Es  machte  ihm  augenscheinlich  Freude,  die  beiden  ihm 
kritisch  gesinnten  —  so  mußte  er  annehmen  —  mit  dem  Gold  seines 
Geistes  und  seines  Herzens  zu  überschütten.  Sein  Appetit  war  gut, 
Wein  trank  er  wenig.  „Ich  bin  wirklich  kein  Trinker,  obwohl  mich 
christliche  Kritiker  auf  Grund  der  , Weihe  eines  jungen  Erdenbürgers' 
dazu  haben  machen  wollen."  Wir  tranken  um  so  mehr  und  um  so 
freudiger  sein  Wohl  in  unserer  Lieblingsmarke,  dem  goldgelben  Monte 
Fiascone. 

Als  der  Magen  das  Seinige  empfangen,  holte  er  seine  Mappe  her- 
bei und  zeigte  uns  seine  eben  entstandenen  Aquarelle  —  aus  Elba  — 
von  dort  war  er  nach  Rom  gekommen.   Ich  habe  mir  in  meinem  Tage- 

gggg3ggggggggggggE]gE]ggE]gggE]E]EjE]E]E]E]E]E]B]B]E]G]BiEjG]EjB]G]E]E]G3S!äl§]3 

31 


buch  besonders  angemerkt  den  Blick  aus  der  Villa  Napoleons,  dann 
den  roten  und  weißen  Berg.  Dann  erzählte  er  in  sich  überstürzendem 
Flusse  von  den  Eindrücken  des  Tages,  Plänen  für  die  nächste  Zukunft 
und  namentlich  vom  vorhergehenden  Tage.  Da  war  er  nämlich  in 
der  römischen  Universität  gewesen,  um  sich  irgendeine  naturwissen- 
schaftliche Sammlung  anzusehen.  Kaum  hatten  die  Studenten  das 
erfahren,  als  sie  eine  Deputation  an  ihn  schickten  mit  der  Bitte, 
ihnen  statt  des  angesetzten  Professors  eine  Vorlesung  zu  halten. 
Haeckel  konnte  nun  zwar  durchaus  nicht  fließend  und  reich  italie- 
nisch sprechen.  Aber  es  kam  ihm  zustatten,  daß  er  gerade  vor  der 
Osterreise  ein  Spezialwerk  (über  Tiefseetiere?)  herausgegeben  hatte, 
dessen  Inhalt  er  so  völlig  gegenwärtig  hatte,  daß  er  mühsam,  in  lang- 
samer Rede,  gleichsam  übersetzend  eine  Vorlesung  zustande  gebracht 
und  unter  lebhaftem  Beifall  geschlossen  hatte.  Auch  die  (lateinische?) 
Dankadresse,  die  ihm  die  Studenten  dafür  vor  einigen  Stunden  über- 
reicht hatten,  konnte  er  uns  schon  vorlegen  und  uns  damit  einen  leb- 
haften Eindruck  geben  von  dem  internationalen  Ruf,  den  er  schon 
damals  genoß,  er,  der  Lehrer  an  einer  der  kleinsten  deutschen  Uni- 
versitäten. Freilich  kam  ihm  begünstigend  entgegen  der  Radikalis- 
mus der  italienischen  Studentenschaft,  dem  das  Extremste  das  Liebste 
war.  Wir  mußten  dieses  Gespräches  denken,  als  wir  nach  wenigen 
Tagen  auf  der  Solfatara  bei  Neapel  einige  italienische  Studenten 
trafen,  die  mit  uns  in  eine  Erörterung  über  den  größten  Deutschen 
eintraten,  und  als  wir  Bismarck  als  solchen  nannten,  entrüstet  diesen 
Platz  keinem  anderen  zuwiesen  als  —  Bebel. 

Nach  dem  lang  gedehnten  Mahle  fuhren  wir  mit  Haeckel  auf  den 
Janikulus;  er  war  dauernd  von  heiterster  Laune  und  ansteckender 
Fröhlichkeit.  Wir  besichtigten  mit  ihm  S.  Maria  in  Trastevere.  Dort 
zieht  sich  ein  großes,  uraltes  Mosaik  hin:  das  Gotteslamm  unter  an- 
deren Lämmern.  Die  machten  nun  Haeckel  als  Zoologen  nicht  enden- 
den Spaß;  denn  sie  zeigten,  unbeholfene  Schöpfungen  des  12.  Jahr- 
hunderts, ein  jedes  irgendwelche  körperliche  Sonderbarkeiten. 

Dann  ging  es  hinauf  nach  S.  Pietro  in  Montorio,  und  wir  genossen 
die  Aussicht  auf  die  ewige  Stadt.  Weitere  Bekannte  stießen  zu  uns 
und  machten  uns  den  Besitz  von  Haeckel  streitig.  Und  nun  kommt 
etwas,  dessen  ich  mich  noch  heute  schäme.  Aber,  was  hilft  es,  ich 
muß  der  Wahrheit  schon  die  Ehre  geben.  Wir  hatten  für  unsere 
S3gE]gggggggiggggggE]gggggggggi]ggggE]gggE3EiE]E]E]E|EiE]E]GiE]g]E]E]E]Ei 

32 


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weinentwöhnte  Jugend  etwas  zuviel  des  Monte  Fiascone  genossen. 
Die  Müdigkeit  des  Mittags  bezwang  uns,  wir  setzten  uns  hier  ein  paar 
Augenblicke  auf  eine  Bank  —  und  nickten  ein.  Als  wir  erwachten, 
war  Haeckel  verschwunden.  Das  war  ein  Schrecken!  Ein  kläglicher 
Abschluß  köstlichster  Stunden!  Doch  wir  hatten  ja  noch  ein  Wieder- 
sehen mit  ihm  für  die  Osterfeiertage  verabredet,  nach  unserer  Heim- 
kehr aus  Neapel;  auch  ihm  mußten  die  ,,beiden  kleinen  Herrnhuter" 
erträglich  erschienen  sein.  Leider  wurde  daraus  nichts  mehr.  Als 
wir  am  Karsonnabend  beim  Wiedersehenssymposion  mit  Allmers 
saßen,  brachte  er  uns  herzliche  Ostergrüße  von  Haeckel.  Aber  er 
könne  soviel  Glockengeläut  auf  einmal  nicht  aushalten ;  deshalb  fliehe 
er  für  die  Feiertage  in  die  Berge.  So  haben  wir  ihn  nicht  mehr  ge- 
sehen. —  Von  diesen  Tagen  an  haben  wir  Haeckel  als  Menschen 
geliebt,  ja  verehrt.  Sein  Wesen  war  Natürlichkeit,  fröhliche  Sonnig- 
keit, hinter  der  deutlich  durchzufühlen  lag  seine  Tatkraft  und  Kampfes- 
freude. Wir  waren  andere  Bahnen  gewiesen  als  er.  Aber  da  wir  als 
Herrnhuter  gewöhnt  worden  waren,  das  Leben  bis  in  die  äußersten 
Konsequenzen  nach  einer  herrschenden  Idee  zu  regeln,  so  hatten  wir 
ein  naturgemäßes  und  tiefes  Verständnis  für  seine  Natur,  die  ebenso 
konsequent  der  Idee  ihres  Lebens  diente,  und  für  das  zwingende  Be- 
dürfnis, das  persönlich  Gewonnene  der  Welt  zu  predigen.  Als  Herrn- 
huter nannten  wir  das  „Seelen  für  den  Heiland  gewinnen".  Diesen 
Trieb  hegte  er  für  seine  Wahrheit  in  stärkstem  Maße  und  glaubte 
damit  ebenso  die  Seelen  zu  beglücken  als  nur  je  ein  Glaubenszeuge. 
—  So  haftet  denn  trotz  der  überwältigenden  Eindrücke,  die  Rom 
damals  dem  jungfräulichen  Gemüt  machte,  noch  jetzt  nach  25  Jahren 
als  eine  der  stärksten  Erinnerungen  die  an  den  Mann  aus  Jena,  der 
daseinsfroh,  im  Genuß  des  Augenblicks  sich  freudig  erschließend, 
allem  Großen  hingegeben,  auch  die  „beiden  kleinen  Herrnhuter", 
die  ihm  der  Freund  in  den  Weg  führte,  mit  bezwingender  Gabe  und 
Güte  umgab. 


3     Haeckel -Festschrift.   Bd.  II  33 


PAUL  BECK,  LEIPZIG 

o  o  o 

Der  Verfasser  vorstehenden  Artikels,  Prof.  R.  Meyer,  mit  dem  ich 
damals  gemeinsam  das  Studium  der  Theologie  betrieb,  hat  das 
Verdienst,  durch  die  lebhafte  Erzählung  seiner  Reiseerlebnisse  zuerst 
meine  Bekanntschaft  mit  Haeckel  vermittelt  zu  haben.  Diesem  ersten 
Eindruck  verdanke  ich  es  wohl,  daß  ich  bei  dem  Namen  Haeckel 
immer  in  erster  Linie  an  den  sonnigen,  lebensfrohen  Menschen  dachte. 
Auch  nach  eingehender  Bekanntschaft  mit  seinen  Werken  habe  ich 
in  Haeckel  stets  einen  Vorkämpfer  für  Sonne  und  Licht  gesehen, 
und  zwar  schon  in  einer  Zeit,  als  ich  das,  was  für  Haeckel  Sonne  und 
Licht  ist,  noch  für  eine  große  optische  Täuschung  ansah. 

Ein  inneres  Verständnis  für  die  Geistesarbeit  Haeckels  hatte  ich 
damals  noch  nicht.  Ich  war  damals  20  Jahre  und  bis  dahin  war  mir 
jede,  aber  auch  jede  naturwissenschaftliche  Bildung  vorenthalten  wor- 
den. Ich  befand  mich  in  derselben  intellektuellen  Situation,  wie 
noch  heute  viele  sogenannte  Gebildete.  An  den  Naturwissenschaften 
schätzte  ich  die  Resultate,  die  auch  dem  Blödesten  das  Vorhanden- 
sein einer  neuen  Kultur  verkünden,  Lokomotive,  Telegraph  usw. 
Da  ich  aber  von  der  Geistesarbeit,  die  das  geschaffen  hatte,  nichts 
verstand,  da  ich  nichts  wußte  von  der  hohen  Intelligenz,  der  zähen 
Energie,  der  schöpferischen  Phantasie,  der  Unabhängigkeit  und  Kühn- 
heit des  Denkens  und  Wollens,  die  dahinter  steht,  hielt  ich  die  Be- 
schäftigung mit  allem  Materiellen  und  Stofflichen  für  minderwertig 
und  glaubte,  daß  nur  durch  geschichtliche  Studien,  durch  künstle- 
rische Erhebung,  durch  innere  Erlebnisse  und  abstraktes  philoso- 
phisches Denken  der  Geist,  der  die  Welt  beherrscht,  erfaßt  werden 
könnte.  Wenn  darüber  geklagt  wird,  daß  die  Vertreter  verschiedener 
Weltanschauungen  heute  vielfach  völlig  verständnislos  einander  gegen- 
überstehen, so  ist  das  sicher  nicht  die  Schuld  der  Vertreter  des  natur- 
wissenschaftlichen Denkens.  Diese  sind  viele  Jahre  ihres  Lebens  hin- 
durch —  oft  mehr,  als  ihnen  lieb  war  —  mit  den  Denkgewohnheiten 
und  Urteilsformen  der  Gegenseite  bekannt  gemacht  worden,  während 
umgekehrt  die  Vertreter  der  sogenannten  Geisteswissenschaften  sich 
fast  ausnahmslos  durch  absolute  Ignoranz  auf  naturwissenschaftlichem 
Gebiet  auszeichnen. 

34 


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Es  gab  und  gibt  noch  heute  ein  Zauberwort,  daß  die  Naturwissen- 
schaft aus  dem  Gedankenkreis  des  Metaphysikers  und  Theologen  ver- 
bannt, das  heißt  Kant.  „Sie  sind  Naturforscher,"  so  sagt  der  liberale 
Theologe,  „ganz  vortrefflich.  Sie  ordnen  die  Welt  der  Erscheinungen 
nach  den  Kategorien  von  Ursache  und  Wirkung.  Sehr  nützliche  Tätig- 
keit! Ich  wünsche  Ihnen  viel  Erfolg."  Vielleicht  fügt  er  noch  hinzu: 
„Aber  nicht  wahr,  Sie  vergessen  nicht,  daß  Ihre  Aussagen  sich  nur  auf 
die  in  Raum  und  Zeit  ausgebreitete  Welt  der  Erscheinungen  beziehen. 
Sie  haben  doch  Kant  gelesen  ?  Hüten  Sie  sich  davor,  die  durch  Kant 
für  alle  Zeiten  festgelegten  Grenzen  zu  überschreiten.  Ich  muß  Sie 
sonst  für  einen  kenntnislosen  Menschen  und  seichten  Schwätzer  er- 
klären. Vergessen  Sie  nicht,  daß  nach  Kant  hinter  der  Welt  der  Er- 
scheinungen die  Welt  des  Wahrhaftseienden,  die  intelligible  Welt, 
die  Welt  des  Geistes  und  der  Geister  liegt.  Bleiben  Sie  mit  Ihren 
Meßstangen  und  Mikroskopen  in  der  Welt  der  Erscheinungen.  Wir 
Vertreter  der  Geisteswissenschaft  können  auch  hinter  den  Vorhang 
sehen,  wir  beobachten  in  den  Wundern  der  Sprache  das  Weben  und 
Werden  der  Volksseele,  in  der  Geschichte  verfolgen  wir  die  Ent- 
faltung des  Geistes  und  der  Ideen,  und  die  Theologie  lehrt  uns,  die 
Organe  der  Menschenseele  gebrauchen,  mit  denen  wir  uns  mit  dem 
Urgrund  des  Alls  in  Verbindung  setzen  können."  Dem  gegenüber  ist 
auf  folgendes  hinzuweisen.  Erstens  sind  die  Beweise,  die  Kant  für 
seine  Behauptungen  über  Raum,  Zeit  und  Kategorien  vorgebracht 
hat,  lediglich  an  der  Mathematik  und  Physik  des  18.  Jahrhunderts, 
speziell  an  der  Newtonschen  Gravitationstheorie  orientiert  und  passen 
ebensowenig  wie  die  daraus  gezogenen  Folgerungen  auf  den  heutigen 
Stand  der  Wissenschaft,  selbst  wenn  wir  uns  auf  die  anorganische 
Natur  beschränkten.  Tatsächlich  gibt  es  heute  wohl  nur  wenige  Mathe- 
matiker und  Physiker,  die  an  der  Erkenntnistheorie  Kants  festhalten. 
Poincare,  Mach  u.  a.  haben  auf  Grund  des  heutigen  Standes  der  Wis- 
senschaft Erkenntnistheorien  aufgestellt,  die  von  der  Kantischen  recht 
bedeutend  abweichen.  Zweitens  ist  im  19.  Jahrhundert  eine  neue 
Naturwissenschaft  entstanden,  die  Biologie.  Kant  hatte  große  Mühe, 
in  der  Kritik  der  Urteilskraft  das  wenige,  was  ihm  davon  zu  seiner 
Zeit  bekannt  war,  mit  seinem  System  in  Einklang  zu  bringen.  Heute 
wird  wohl  niemand  mehr  den  Mut  haben,  das  Unvereinbare  vereinigen 
zu  wollen.     Kant  wollte  noch  die  Grundbegriffe   der  Newtonschen 

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35 


Physik  aus  der  Struktur  des  menschlichen  Erkenntnisvermögens  ab- 
leiten. Heute  wollen  wir  umgekehrt  die  teils  zweckmäßigen,  teils 
aber  auch  unzweckmäßigen  Organe,  mit  denen  die  Menschen  alter 
und  neuer  Zeit  Erkenntnisse  erwerben  wollten,  aus  der  Naturwissen- 
schaft, speziell  der  Entwicklungslehre  ableiten.  Drittens  endlich  wird 
Kant  von  den  Theologen  nur  benutzt,  um  die  Naturwissenschaften 
aus  dem  Heiligtum  der  Philosophie  zu  vertreiben  und  ihr  einen  be- 
scheidenen Platz  im  Vorhof  anzuweisen.  Nachdem  mit  Hilfe  der 
Kantischen  Erkenntnistheorie  begründet  ist,  daß  man  auch  ohne  die 
geringsten  naturwissenschaftlichen  Kenntnisse  doch  kühne  Behaup- 
tungen über  Wesen,  Zweck  und  Urgrund  der  Welt  aufstellen  darf, 
wird  Kant  schleunigst  verabschiedet.  Denn  Stimmungen,  Gemüts- 
bewegungen, Begeisterungen  und  Ekstasen  zur  Grundlage  der  Welt- 
anschauung zu  machen,  ist  doch  wohl  nicht  im  Sinne  Kants. 

Es  ist  das  große  Verdienst  Haeckels,  erkannt  zu  haben,  daß  das 
philosophische  Denken  durch  Kant  und  seine  Nachfolger  in  eine  Sack- 
gasse geraten  war,  aus  der  es  überhaupt  keinen  Übergang  zu  den  Pro- 
blemen der  Gegenwart  gibt,  daß  daher  ein  Anknüpfen  an  die  philo- 
sophische Tradition  zwecklos  sei.  So  wenig  die  Begründer  des  Empi- 
rismus sich  mit  den  Vertretern  der  mittelalterlichen  Scholastik  auf 
Einzelauseinandersetzungen  einließen,  so  wenig  beachtete  Haeckel 
die  Fachphilosophie,  zum  nicht  geringen  Zorn  von  deren  Vertretern. 
Ferner  erkannte  Haeckel,  daß  die  Erkenntnistheorie  Kants  heute 
gar  nicht  mehr  um  ihrer  selbst  willen  geschätzt  wird,  sondern  nur 
als  Damm  benutzt  wird,  um  dem  sieghaften  Vordringen  der  Natur- 
wissenschaften Halt  zu  gebieten  und  die  Heiligtümer  der  Vergangen- 
heit vor  der  alles  überschwemmenden  Flut  zu  schützen.  Haeckel 
wußte,  wo  seine  wahren  Gegner  zu  finden  seien,  er  hielt  sich  nicht 
lange  mit  Vorpostenplänkeleien  auf,  sondern  griff  das  feindliche  Haupt- 
quartier an.  Endlich  erkannte  Haeckel  mit  klarem  Blick,  wo  der 
Neubau  zu  errichten  sei,  nämlich  auf  den  exakten  Naturwissenschaf- 
ten. Ob  Haeckel  damit  recht  hat,  kann  nur  die  Zukunft  lehren. 
Ich  glaube  aber,  die  Freunde  und  Anhänger  Haeckels  können  getrost 
dem  Richterspruch  der  Zukunft  entgegensehen. 

Wäre  Haeckel  nur  Künstler  und  Gelehrter,  so  wäre  sein  Leben 
ruhiger  verlaufen,  als  es  der  Fall  war.  Fern  von  Haß  und  Feindschaft 
würde  er  sich  heute  der  wohlwollenden  Anerkennung  aller  Intellek- 
"S33aggggggE3gsEigggE3E]ggggggggggE]gggE3E]E]E]E]5]E!E]E]E]E]E]E]giE;E]B]gE] 

36 


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tuellen  erfreuen.  Haeckel  ist  aber  mehr.  Er  ist  ein  Mann,  der  es  wagt, 
eine  Überzeugung  zu  haben;  ja  noch  mehr,  der  es  sogar  wagt,  die- 
selbe zu  äußern,  unbekümmert  um  die  Zensur  der  Fachphilosophen, 
unbekümmert  um  das  Wohlwollen  der  Behörden,  unbekümmert  auch 
um  die  Frage,  ob  die  von  ihm  gefundene  Wahrheit  geeignet  sei,  „das 
Volk"  im  Zaum  zu  halten.  Die  Tatsache,  daß  Haeckel  bei  vielen 
Tausenden  nicht  nur  kühle  Anerkennung  seiner  Gedanken,  sondern 
begeisterte  Liebe  und  Verehrung  gefunden  hat,  beweist,  daß  es  im 
heutigen  Deutschland  doch  noch  mehr  Menschen,  als  auf  Grund  der 
Beobachtung  im  täglichen  Leben  zu  vermuten  ist,  gibt,  die  die  letzten 
Probleme  des  Menschenlebens  nicht  durch  Opportunitätsgründe  und 
taktische  Erwägungen,  sondern  auf  Grund  freier  innerer  Überzeugung 
zu  lösen  gewillt  sind. 


37 


EMIL  DOSENHEIMER,  LUDWIGSHAFEN  A.  RH. 


o  o  o 


Mit  Ernst  Haeckel  wurde  ich  wie  wohl  viele  seiner  Verehrer  zuerst 
durch  die  Lektüre  seiner  ,, Welträtsel"  bekannt.  Dieses  Buch 
machte  auf  mich  vor  allem  deshalb  einen  besonders  tiefen  Eindruck, 
weil  es  in  der  Behandlung  gewisser  philosophischer  und  religiöser 
Probleme  meiner  Auffassung  vollkommen  entsprach.  Was  Haeckel 
beispielsweise  über  die  Zentralideen  der  konfessionellen  Religionen, 
Gott,  Seele,  Unsterblichkeit,  Willensfreiheit,  und  über  die  monistische 
Religion  in  den  „Welträtseln"  gesagt  hat,  hielt  und  halte  ich  für  so 
absolut  richtig,  daß  ich  es  nicht  begreifen  kann,  wie  denkende  Men- 
schen diese  Dinge  anders  beurteilen  können.  Die  außerordentliche 
Wirkung  des  populärsten  Werkes  Haeckels,  der  Welträtsel,  finde  ich 
dadurch  begründet,  daß  sie  dem  Leser  fast  durchweg  in  gemein- 
verständlicher Form  über  Dinge,  die  von  jeher  den  menschlichen 
Geist  beschäftigt  haben,  faßliche  Wahrheiten  übermittelt  hat.  Ich 
erinnere  zunächst  an  Haeckels  Stellung  zum  Gottesbegriff.  Ohne 
Umschweife,  ohne  Konzessionen  an  die  herrschenden  Gefühle  hat 
sich  Haeckel  als  Leugner  Gottes  im  Sinne  der  Kirche  erklärt  und 
dargetan,  daß  der  Begriff  des  kirchlichen  Gottes  den  Erfahrungen 
und  der  Vernunft  widerspricht.  Ebenso  hat  Haeckel  den  Begriff  der 
Seele,  des  Geistigen,  der  Unsterblichkeit  der  Seele  freigemacht  von 
den  Formen  des  Übersinnlichen  und  Mystischen.  Das  Geistige  und 
Leibliche  bildet  eine  Einheit.  Die  geistigen  Funktionen  sind  mit 
den  leiblichen  unauflöslich  verbunden.  Die  Stufen  der  geistigen  Ent- 
wicklung —  des  Kindes,  des  Erwachsenen,  des  Greises  —  gehen 
parallel  mit  den  Stufen  der  leiblichen  Entwicklung.  Das  sind  un- 
bestreitbare Grundtatsachen  geworden.  Bei  seiner  Auffassung  des 
Geistigen,  Seelischen  mußte  Haeckel  notwendigerweise  dem  Men- 
schen, dem  nach  der  dualistischen  Anschauung  im  Gegensatz  zum 
Tier  mit  einer  ,, Seele"  begabten  Wesen  in  der  organischen  Welt  eine 
andere  Stelle  anweisen.  Haeckel  hat  den  Menschen,  das  Ebenbild 
Gottes,  in  die  Reihen  der  organischen  Welt,  in  das  Tierreich  ein- 
geordnet: der  Mensch  ist  ein  Geschöpf,  das  im  Lauf  der  Jahrmillionen 
aus  der  einfachsten  Form  sich  entwickelt  hat.  Er  hat  ein  für  allemal 
festgestellt,  daß  die  anthropozentrische  Auffassung  der  Dinge,  die 

38 


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den  göttlichen  Menschen  aus  den  Reihen  der  Organismen  heraus- 
hebt,  mit   der  wissenschaftlichen  Forschung  unvereinbar  ist. 

Man  stelle  sich  vor,  welch  ungeheure  Rolle  die  Begriffe  Gott, 
Seele  in  den  religiösen  und  ethischen  Anschauungen  der  europäischen 
Kulturwelt  spielen.  Bei  den  wichtigsten  Ereignissen  im  Leben  des 
einzelnen,  bei  den  wichtigsten  öffentlichen  Staatsakten  steht  der 
Glaube  an  einen  persönlichen  Gott  im  Vordergrund.  Bei  der  Jahr- 
hundertfeier 1813 — 1913  waren  die  Festreden  fast  durchweg  auf  den 
Ton  gestimmt:  Gott  war  es,  der  den  gewaltigen  Napoleon  gedemütigt 
und  dem  deutschen  Volke  zum  Siege  verholfen  hat.  Die  Männer  des 
Volkes  wie  die  Fürsten  berufen  sich  immer  und  immer  wieder  auf 
Gott  als  den  Leiter  aller  Geschicke.  Gott  ist  alles,  der  Mensch,  der 
staubgeborene,  die  Kreatur  Gottes  nichts.  Tagtäglich  werden  Tau- 
sende von  Eiden  geschworen  unter  Anrufung  Gottes  des  Allmächtigen 
und  Allwissenden,  vor  Gericht  (Zeugen-  und  Parteieneid),  beim  Militär 
(Fahneneid),  bei  der  Übernahme  eines  Amtes  (Beamteneid).  Der 
Gesetzgeber  hat  es  sogar  für  notwendig  gefunden,  Gott  gegen  läster- 
liche Angriffe  unter  besonderen  Schutz  zu  stellen  (§  166  des  deutschen 
Strafgesetzbuches).  Erst  bei  den  jüngsten  bayerischen  Landtags- 
verhandlungen, November  1913,  ist  in  dem  Kampf  um  die  Moral 
mit  oder  ohne  Gott  der  klaffende  Gegensatz  in  den  Weltanschauungen 
zutage  getreten.  Der  bayerische  Ministerpräsident  Freiherr  v.  Hert- 
ling  hat  in  seiner  Rede  nachdrücklich  hervorgehoben,  daß,  wenn  sich 
herausstellen  sollte,  daß  in  dem  konfessionslosen  Moralunterricht 
Theorien  vorgetragen  werden,  die  geeignet  sind,  den  jungen  Ge- 
mütern die  letzten  Grundlagen  der  Gesellschaft,  den  Glauben  an 
Gott,  an  das  Jenseits  zu  rauben,  ein  solcher  Unterricht  nach  seiner 
Meinung  nicht  geduldet  werden  könne.  Der  bayerische  Minister- 
präsident ist  also  der  Ansicht,  daß  ohne  den  Glauben  an  einen  per- 
sönlichen Gott  Staat  und  Gesellschaft  nicht  bestehen  können. 

Gegen  diese  seit  Jahrtausenden  fest  eingewurzelten  mystischen 
Vorstellungen  hat  Haeckel  unerschrocken  seine  Auffassung  kund- 
gegeben: es  gibt  keinen  Gott,  wie  ihn  der  Priester  lehrt.  Er  hat 
gezeigt,  wie  die  Gottesvorstellungen  entwicklungsgeschichtlich  sich 
erklären,  aber  jetzt,  wo  an  Stelle  unklarer  Gefühle  das  Denken  ge- 
treten ist,  sich  nicht  mehr  aufrechterhalten  lassen.  Haeckel  hat 
gelehrt,  daß  der  Mensch  selbst  Träger  seines  Schicksals  ist,  daß  er 
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39 


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auf  das  Jenseits  verzichten  soll,  um  das  Diesseits  desto  würdiger 
und  schöner  zu  gestalten.  Haeckel  hat  die  Wege  gewiesen  zu  einer 
neuen  Religion,  zu  einer  monistischen,  d.  h.  einer  irdischen,  mensch- 
lichen, die  Menschen  verbindenden,  in  den  natürlichen  Verhält- 
nissen wurzelnden  Religion.  Haeckel  hat  gezeigt,  daß  auch  ohne 
Gott  eine  Ethik  möglich  ist,  daß  man  sittlich  handeln  kann,  ohne 
Lohn  und  Strafe  im  Jenseits  zu  erwarten,  daß  das  ethische  Emp- 
finden nichts  Absolutes  ist,  sondern  im  Lauf  der  Jahrtausende 
sich  entwickelt  hat,  daß  es  verschieden  war  und  ist  bei  den 
einzelnen  Völkern  und  daß  nur  die  dogmenlose,  monistische  Ethik 
imstande  sein  wird,  die  gesamte  Kulturmenschheit  zu  umspannen. 
Haeckel  hat  also  neue  Zukunftsideale  aufgestellt  und  sich  damit 
um  die  Kulturentwicklung  der  Menschheit  großartige  Verdienste 
erworben. 

Haeckel  mußte  bei  seiner  Stellung  zu  den  Zentralideen  des  alten 
Glaubens,  Gott,  Seele,  naturgemäß  in  einen  unüberbrückbaren  Gegen- 
satz zur  Orthodoxie  aller  Schattierungen  geraten,  vor  allem  zum 
Ultramontanismus.  Ich  betrachte  es  mit  als  das  größte  Verdienst 
Haeckels,  daß  er  den  Ultramontanismus  als  das  gekennzeichnet  hat, 
was  er  ist,  als  den  furchtbarsten  Feind  jeglicher  Kulturentwicklung. 
Man  hat  Haeckel  auch  von  nicht  ultramontaner  Seite  vorgeworfen, 
daß  er  das  Papsttum  als  „den  größten  Schwindel  der  Weltgeschichte" 
bezeichnet  hat.  Das  ist  allerdings  ein  außerordentlich  scharfes  Wort, 
das  die  Anerkennung  des  von  den  Päpsten  geleisteten  Guten  vermissen 
läßt.  Aber  Luther  hat  in  seinem  Kampf  gegen  den  Antichrist  nicht 
weniger  scharfe  Worte  gebraucht.  Man  begreift  die  Beurteilung 
Haeckels,  wenn  man  nicht  vom  ausschließlich  geschichtlichen  Stand- 
punkt aus  das  Papsttum  betrachtet.  Christus,  von  dem  das  Papst- 
tum seinen  Ursprung  herleitet,  ein  armer  verfolgter  Mensch,  der 
nicht  hatte,  wo  er  sein  Haupt  hinlegte,  der  mit  armen  Sündern 
und  Zöllnern  verkehrte,  der  sein  Reich  im  Himmel  suchte  —  der 
Papst,  der  offizielle  Nachfolger  Christi,  der  in  einem  der  schönsten 
Paläste  der  Erde  wohnt,  der  den  Völkern  seinen  Willen  diktieren 
will,  der  noch  vor  einigen  Jahrzehnten  weltlicher  Herrscher  war: 
Das  sind  ungeheure  Gegensätze,  die  Haeckel,  ein  Mann  von  feurigem 
Temperament  und  unerschrockener  Wahrheitsliebe,  durch  einen  sehr 
scharfen  Ausdruck  beleuchten  mußte. 

40 


Haeckel  hat  in  der  Wissenschaft,  die  ich  beruflich  ausübe,  der 
Jurisprudenz,  insofern  Bedeutendes  geleistet,  als  er  das  Willens- 
problem behandelt  hat.  „Die  streitigste  Frage  der  streitigsten  Wissen- 
schaft" hat  er  ihres  dogmatischen  und  mystischen  Charakters  ein 
für  allemal  entkleidet  und  ihre  natürliche  Lösung  gefunden.  In 
den  „Welträtseln",  in  den  Thesen  zur  Begründung  eines  deutschen 
Monistenbundes  und  schließlich  in  dem  für  die  Düsseldorfer  Monisten- 
tagung bestimmten  Aufsatz  befaßt  sich  Haeckel  mit  dem  Problem 
der  Willensfreiheit.  Immer  wieder  betont  er:  die  Annahme  der 
Willensfreiheit  ist  ein  Dogma  wie  der  Glaube  an  Gott  und  die  Un- 
sterblichkeit. Der  menschliche  Wille  ist  wie  alles  Sein  und  Geschehen 
dem  Kausalitätsgesetz  unterworfen.  „Der  menschliche  Wille",  sagt  er 
in  seinen  „Welträtseln",  „ist  ebensowenig  frei  als  derjenige  der  höheren 
Tiere,  von  welchen  er  sich  nur  dem  Grade,  nicht  der  Art  nach  unter- 
scheidet. Während  noch  im  18.  Jahrhundert  das  alte  Dogma  von 
der  Willensfreiheit  wesentlich  mit  allgemeinen,  philosophischen  und 
kosmologischen  Gründen  bestritten  wurde,  hat  uns  dagegen  das 
19.  Jahrhundert  ganz  andere  Waffen  zu  dessen  definitiver  Widerlegung 
geschenkt,  die  gewaltigen  Waffen,  welche  wir  dem  Arsenal  der  ver- 
gleichenden Physiologie  und  Entwicklungsgeschichte  verdanken.  Wir 
wissen  jetzt,  daß  jeder  Willensakt  ebenso  durch  die  Organisation 
des  wollenden  Individuums  bestimmt  und  ebenso  von  den  jeweüigen 
Bedingungen  der  umgebenden  Außenwelt  abhängig  ist  wie  jede  andere 
Seelentätigkeit.  Der  Charakter  des  Strebens  ist  von  vornherein  durch 
die  Vererbung  von  Eltern  und  Voreltern  bedingt,  der  Entschluß  zum 
jedesmaligen  Handeln  wird  durch  die  Anpassung  an  die  momen- 
tanen Umstände  gegeben,  wobei  das  stärkste  Motiv  den  Ausschlag 
gibt.  Die  Ontogenie  lehrt  uns  die  individuelle  Entwicklung  des 
Willens  beim  Kinde  verstehen,  die  Phylogenie  aber  die  historische 
Ausbildung  des  Willens  innerhalb  der  Reihe  unserer  Vertrebraten- 
ahnen."  Haeckel  hat  in  den  „Welträtseln"  mit  Recht  hervorgehoben, 
welch  fruchtbare  Wirkung  er  von  der  Behandlung  des  Problems 
in  diesem  Sinn  erwarte,  beispielsweise  für  die  Rechtspflege.  Meine  Flug- 
schrift „Der  Monismus  und  das  Straf  recht"  und  meine  größere  Schrift 
„Die  Ursachen  des  Verbrechens  und  ihre  Bekämpfung"  habe  ich  voll- 
ständig auf  die  Haeckelsche  Auffassung  des  menschlichen  Wülens 
aufgebaut. 

41 


Überblicke  ich  das  Gesamtschaffen  Haeckels,  so  sage  ich:  über 
die  Grenzen  seiner  Fachwissenschaft  hinaus  hat  er  in  fast  allen  Ge- 
bieten der  Wissenschaft  und  der  Kunst  teils  selbstschöpferisch,  teils 
anregend  Hervorragendes  geleistet.  Und  doch  stelle  ich  über  Haeckel, 
den  glänzenden  Vertreter  der  Wissenschaft,  den  Menschen  Haeckel. 
Den  wissenschaftlichen  Forscher  schätze  ich  außerordentlich  hoch, 
aber  den  Menschen  Haeckel,  den  unerschrockenen  Bekenner  und 
Verkünder  neuer  Ideale,  verehre  und  liebe  ich. 


QDC 


42 


EUGEN  WOLFSDORF,  NÜRNBERG:  ODHIN  UND 

HAECKEL 

o  o  o 

Die  Naturwissenschaft  sucht  die  Wahrheit,  die  Theologie  aber 
hat  die  Wahrheit." 

Diese  Worte  sprach  einst  ein  greiser  Professor  der  alttestament- 
lichen  Exegese,  nachdem  er  die  beiden  Schöpfungsberichte  des  bibli- 
schen Buches  Genesis  erklärend  behandelt  hatte.  Er  gab  zu,  daß 
diese  beiden  Geschichten  untereinander  nicht  übereinstimmen,  und 
verschwieg  uns  auch  nicht,  daß  ihr  Inhalt  den  Erkenntnissen  der 
modernen  Naturwissenschaft  widerspricht.  Aber,  meinte  er,  einst 
würde  zwischen  Bibel  und  Naturwissenschaft  schon  Harmonie  erzielt 
werden,  wenn  sich  nämlich  die  Theologen  bemühen,  mehr  Natur- 
wissenschaft zu  treiben,  und  die  Naturwissenschaftler  sich  bequemen 
würden,  mehr  in  die  Geheimnisse  der  Theologie  einzudringen. 

Bei  dieser  Gelegenheit  sprach  er  den  an  der  Spitze  dieses  Artikels 
stehenden  Satz,  bei  dieser  Gelegenheit  hörte  ich  auch  zum  ersten 
Male  die  Namen  Darwin  und  Haeckel. 

Ich  erinnere  mich  noch  sehr  wohl  des  Hochmutes,  der  uns  bei 
diesen  Namen  stets  beschlich.  Ich  denke  noch  mit  Scham  daran,  mit 
welcher  Arroganz  ich  auf  die  Studierenden  der  Naturwissenschaft 
blickte,  die  bei  mir  vorüber  in  ihre  Institute  eilten.  Sie  alle  waren  ja 
erst  die  Suchenden,  während  wir  die  Wahrheit  gebunden  in  hebräi- 
scher und  griechischer  Sprache  unter  dem  Arme  trugen. 

Trotzdem  hatte  mich  das  wenige ,  was  ich  von  der  Abstammungs- 
lehre gehört,  sehr  angezogen;  es  war  mir  so  durchaus  vernünftig  er- 
schienen, daß  die  Tatsachen,  durch  welche  diese  Lehre  gestützt  wurde, 
mein  metaphysisches  Denken  allmählich  überwanden. 

Dazu  kam  der  Ehrgeiz. 

Wie,  wenn  ich  der  Theologe  wäre,  welcher  genügend  Naturwissen- 
schaften studiert  hätte,  um  Bibel  und  Naturwissenschaft  zu  versöhnen  ? 

So  machte  ich  mich  denn  an  die  Arbeit,  und  es  gelang  mir  in  ver- 
hältnismäßig kurzer  Zeit  tatsächlich,  den  ersten  biblischen  Schöp- 
fungsbericht (gen  i)  mit  den  Erkenntnissen  der  Wissenschaft  in 
Übereinstimmung  zu  bringen.  Gott  schafft  erst  die  Pflanzen,  dann 
die  Wassertiere,  dann  die  Vögel,  dann  die  Landtiere  und  endlich  den 

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43 


Menschen.  Das  ist  ganz  dieselbe  Stufenfolge,  wie  die  Abstammungs- 
lehre sie  vorträgt,  wenn  man  sich  nämlich  Mühe  gibt,  die  Unter- 
schiede nicht  zu  sehen. 

Darwin  und  Haeckel  waren  jetzt  für  mich  abgetan,  das  Gottes- 
wort hatte  gesiegt,  und  ich  wagte  es  in  meiner  frommen  Raserei, 
einem  freireligiösen  Prediger  in  öffentlicher  Diskussion  entgegen- 
zutreten. 

Ich  habe  es  später  häufig  und  erst  vor  ganz  kurzer  Zeit  wieder  er- 
lebt, daß  Theologen,  welche  in  derartigen  Diskussionen  unterliegen, 
sich  nachher  den  Sieg  zuschreiben.  So  unehrlich  war  ich  nie.  Daher 
veranlaßte  mich  auch  die  Erkenntnis  meiner  Niederlagen  zu  weiterem 
Arbeiten,  bis  der  Verteidiger  des  Kirchenglaubens  sehr  gegen  seinen 
Willen  beim  Unglauben  angelangt  war. 

Das  war  die  schrecklichste  Zeit  meines  Lebens;  denn  der  alte 
Glaube  hatte  seine  Kraft  eingebüßt,  während  die  durch  die  Wissen- 
schaft erzeugten  Energien  noch  nicht  stark  genug  waren,  um  meinen 
Wandel  zu  beeinflussen. 

Ich  sprang  von  der  Theologie  ab  und  gelangte  über  das  Lehrfach 
zur  freireligiösen  Bewegung. 

Aber  auch  hier  habe  ich  das  nicht  gefunden,  was  ich  gesucht,  denn 
diese  Bewegung  ist  trotz  all  ihrer  Kirchenfeindlichkeit  doch  der  letzte 
Ausläufer  des  dogmatischen  Christentums,  ihre  Lehren  sind  meta- 
physisch und  ihre  Verwendung  der  naturwissenschaftlichen  Tatsachen 
in  Vortrag  und  Predigt  ist  eine  nicht  ganz  freiwillige  Anpassungs- 
erscheinung. 

Während  so  die  freireligiösen  Gemeinden  eine  Kirche  ohne  Gott 
bilden,  führte  mich  die  Bekanntschaft  mit  August  Spechts  „Men- 
schentum" einem  mehr  wissenschaftlichen  Freidenkertum  zu.  Dieses 
Blatt  hat,  wie  man  ohne  Übertreibung  sagen  darf,  seit  dem  Jahre 
1871  allein  einen  konsequenten,  nicht  metaphysischen  Monismus  ver- 
treten, bis  der  von  Körber  und  Unold  herausgegebene  „Monismus" 
ihm  zur  Seite  trat. 

Durch  das  „Menschentum"  lernte  ich  erst  Ernst  Haeckel  richtig 
kennen.  Jetzt  sah  ich  ihn  ohne  theologische  Brille.  Von  Spechts 
Schrift  „Theologie  und  Wissenschaft"  gelangte  ich  zu  Haeckels  „Na- 
türlicher Schöpfungsgeschichte",  von  da  zu  seiner  Broschüre  „Der 
Monismus  als  Band  zwischen  Religion  und  Wissenschaft"  und  zu  den 

44 


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„Welträtseln".  Aber  auch  jetzt  noch  spukte  der  Theologenhochmut 
in  mir.  Kraft  meiner  Unwissenheit  schrieb  ich  eine  Broschüre  (,, Letzte 
Schlüsse  der  neuen  Welt-  und  Lebensanschauung"),  in  welcher  ich 
weit  über  Haeckel  hinausging  und  mich  schließlich  dem  Lesepublikum 
als  Anhänger  des  egoistischen  Materialismus  oder  materialistischen 
Egoismus  vorstellte. 

So  unreif  und  frech  diese  Schrift  war,  ich  brauche  mich  ihrer  nicht 
zu  schämen,  denn  ich  habe  in  ihr  Konsequenzen  gezogen,  die  heute, 
nachdem  sie  auch  von  anderer  Seite  gezogen  worden  sind,  allgemeine 
Anerkennung  gefunden  haben. 

Den  Vorarbeiten  zu  dieser  Schrift  aber  verdanke  ich  die  Erkennt- 
nis vom  ethischen  Werte  des  Entwickelungsgesetzes,  näm- 
lich den  Gedanken,  daß  wir  über  unseren  gegenwärtigen  Zustand  hin- 
auszustreben haben.  Jetzt  begann  mir  an  die  Stelle  der  Gottheit  mit 
ihren  alt-  und  neutestamentlichen  ethischen  Forderungen  dieMensch- 
heit  mit  ihren  modernen  ethischen  Forderungen  zu  treten 
und  der  sittliche  Anarchismus  zu  weichen.  Es  wäre  undankbar, 
wollte  ich  unerwähnt  lassen,  welchen  großen  Dienst  mir  bei  dieser 
Umwandlung  Johannes  Unolds  Schriften  geleistet  haben,  aber  ich 
muß  auch  betonen,  daß  bei  meinem  damaligen  Mißtrauen  gegenüber 
aller  Theologie  und  humanistischen  Philosophie  diese  Schriften  wahr- 
scheinlich noch  längere  Zeit  wirkungslos  geblieben  wären,  hätte  mir 
nicht  Ernst  Haeckels  Naturwissenschaft  die  Beweise  für  die  in  ihnen 
enthaltenen  Gedanken  geliefert.  Erst  dadurch,  daß  ich  die  Gesetze, 
die  in  meinem  Leben  Geltung  haben  sollten,  als  in  der  ganzen 
Natur  geltend  nachgewiesen  erhielt,  gewannen  sie  jene  aufwärts- 
treibende Kraft,  die  sie  trotz  meiner  schweren,  niederziehenden  Le- 
bensschicksale bewahrt  haben. 

So  ist  Ernst  Haeckel  mein  sittlicher  Erlöser  geworden. 

Daher  ist  es  erklärlich,  daß  ich  in  seinen  Schriften  mir  wieder 
Rats  erholte,  als  an  mich  die  Pflicht  herantrat,  ein  eigenes  Kind  und 
fremde  Kinder  zu  erziehen. 

Auf  diese  Weise  wurde  sein  biogenetisches  Grundgesetz  zum  Leit- 
motiv meiner  monistischen  Pädagogik,  und  wenn  heute  schon  manches 
Elternpaar  mir  dankbar  die  Hand  drückt  oder  aus  weiter  Ferne  dank- 
bare Zeilen  an  mich  richtet,  so  gebührt  dieser  Dank  eigentlich  dem 
Achtzigjährigen,  dem  diese  Festschrift  gewidmet  ist. 

45 


Aber  vielleicht  wird  der  geehrte  Leser  fragen:  „Was  hat  dies 
alles  mit  der  Überschrift  ,Odhin  und  HaeckeP  zu  tun?" 

Wenn  ein  wirklich  frommer  und  gleichzeitig  temperamentvoller, 
energischer  Mensch  seinen  dualistischen  Glauben  verliert,  dann  geht 
bei  ihm  innerlich  alles  zu  Bruch.    So  war  es  bei  mir. 

Ich  wurde  nicht  nur  in  ethischer,  sondern  auch  in  politischer  und 
überhaupt  in  jeder  Beziehung  Anarchist;  d.  h.  nicht  Bombenwerfer, 
sondern  theoretisch,  „Edelanarchist",  wie  man  sagt.  Zuerst  glaubte 
ich,  in  der  Sozialdemokratie  die  urchristlichen  Ideale  der  Freiheit, 
Gleichheit  und  Brüderlichkeit  wiederzufinden.  Von  diesem  Irrtum 
hat  mich  die  Praxis  bald  geheilt,  und  so  befand  ich  mich  mehrere 
Jahre  in  einer  ähnlichen  geistigen  Verwirrung  wie  der  Bakkalaureus 
im  zweiten  Teile  des  Faust. 

Da  erlaubte  ich  mir,  nachdem  mich  August  Specht  in  Gotha 
für  den  Fall  seines  Todes  zu  seinem  Nachfolger  in  der  Redaktion  des 
„Menschentum"  bestimmt,  im  Jahre  1905  Ernst  Haeckel  in  seiner 
Villa  in  Jena  einen  Besuch  abzustatten,  und  erlebte  es  hier,  daß  der 
greise,  allverehrte  Forscher  mich,  den  unbedeutenden  Menschen, 
um  Entschuldigung  bat,  daß  in  seinem  Arbeitszimmer  ein  Ruhebett 
stand.  Er  entschuldigte  diese  Unregelmäßigkeit  damit,  daß  er  wegen 
des  Rheumatismus  zuweilen  sein  Bein  hoch  legen  müsse. 

Ich  war  wie  vom  Donner  gerührt;  denn  in  diesem  Augenblicke 
hatte  ich  eine  „Offenbarung",  ein  „Erlebnis",  wie  die  liberalen  Theo- 
logen sagen  würden.  Ich  wußte  nämlich  aus  Wilhelm  Bölsches 
Haeckelbiographie,  daß  Ernst  Haeckel  sich  sein  Leiden  bereits  als 
junger  Botaniker  auf  den  feuchten  Wiesen  von  Leisling  zugezogen, 
und  plötzlich  stand  vor  meinem  geistigen  Blicke  der  alte  Gott  der 
Edda,  Odhin,  der  sein  Auge  dahingibt,  um  einen  Trunk  aus  Mimirs 
Weisheitsbronnen  zu  erhalten;  und  während  Ernst  Haeckel  unter 
dem  Bilde  der  Pithecanthropusfamilie  saß,  dachte  ich  an  den  „grü- 
belnden Äsen",  der  Riesen  und  Zwerge,  Weltkörper  und  Moneren, 
befragt,  um  der  Götter  und  der  Menschen  Geschick  zu  erkunden  und 
die  „Welträtsel"  zu  lösen. 

In  diesem  Augenblicke  habe  ich  mein  Vaterland  und  mein  Volk 
wiedergefunden,  und  damit  wich  alle  Unklarheit  und  Giftigkeit  von 
mir,  jene  Heinrich  Heinesche  Ironie,  die  ein  Zeichen  innerer  Schwäche 
ist.    Dagegen  zog  jene  starke  Heiterkeit  und  Fröhlichkeit  wieder  ein, 

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die  aus  einem  sicheren  Glauben  geboren  wird.  So  hat  mir  Ernst  Haeckel 
den  Glauben  an  mein  Volk  wiedergegeben,  so  ist  er  mir  der  „Vater 
der  Lieder"  geworden.  Er  hat  mich  wieder  festgewurzelt  im  Heimat- 
boden und  damit  begründet  meine  moralische  Existenz. 

Möge  es  ihm  noch  recht  lange  vergönnt  sein,  so  heiter,  wie  ich  ihn 
im  November  vorigen  Jahres  angetroffen,  sich  seiner  Erfolge  zu  er- 
freuen, ihm,  dem  Helden  des  Wissens,  der  mit  Göttern  rang!  Tausende, 
Millionen  dankbarer  Menschen  gedenken  heute  seiner  in  allen  Teilen 
der  bewohnten  Erde  und  sie  nahen,  eine  glänzende  Schar  geistiger 
Einherier,  um  für  den  Kampf  der  Zukunft  den  Treuschwur  zu  schwö- 
ren dem  Recken  der  Götterdämmerung,  an  dem  wahr  geworden  das 
Eddawort : 

„Der  milde,  mutige  Mann  ist  am  glücklichsten". 


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47 


HOWARD  CRUTCHER,  ROSWELL,  NEW  MEXICO 


0    0    0 


Es  ist  schwer,  von  dem  großen  Meister  zu  sprechen.  Sein  Leben  und 
seine  Taten  sprechen  für  sich  selbst,  und  ein  Kommentar  darüber 
mag  beinahe  wie  eine  Anmaßung  aussehen.  Aber  einmal  zum  Reden 
aufgefordert,  will  ich  frei  und  ohne  Zurückhaltung  sagen,  was  ich 
denke. 

Wenig  Menschen  ist  es  vergönnt,  das  Urteil  der  kommenden  Zeit- 
alter über  ihr  Leben  und  ihre  Werke  zu  hören.  Ernst  Haeckel  kann 
es.  Als  Denker,  Reformator  und  Wohltäter  seiner  Mitmenschen  steht 
er  mir  höher  als  irgendeiner  von  denen,  welche  bisher  die  gleiche 
Bezeichnung  verdienen.  Abraham  Lincoln  hat  ein  paar  Millionen 
Sklaven  von  ihren  körperlichen  Fesseln  befreit;  Ernst  Haeckel  hat 
mehr  getan;  er  hat  die  Fesseln  des  Aberglaubens  gebrochen  und  un- 
gezählte Millionen  von  Seelen  in  Freiheit  gesetzt.  Eine  menschliche 
Seele  frei  zu  machen  ist  mehr  als  einen  Leibeigenen  zu  entfesseln. 

Die  ,, Welträtsel"  taten  Großes;  doch  muß  ich  ein  höheres  Verdienst 
und  ein  bei  weitem  wirksameres  Resultat  den  unvergleichlichen  Vor- 
trägen über  den  ,, Kampf  um  den  Entwicklungsgedanken"  beimessen. 
Charles  Darwin  sammelte  die  notwendige  Kriegsmunition,  doch  dem 
großen  Befreier  von  Jena  blieb  vorbehalten,  die  Kanonen  zu  laden 
und  das  Pulver  zu  entzünden. 

Von  Darwin  sprechend,  dürfen  wir  seines  edlen  und  großzügigen 
Tributs  nicht  vergessen,  den  er  Haeckel  gezollt  hat.  Darwin  sagt, 
daß  die  Veröffentlichung  seines  Buches  über  die  „Abstammung  des 
Menschen"  unnötig  gewesen  wäre,  wenn  Haeckels  Werk  (die  „Natür- 
liche Schöpfungsgeschichte")  eher  erschienen  wäre.  Ich  erinnere  in 
diesem  Zusammenhang  an  das  geistreiche  Wort  von  Emerson,  daß 
der  Entdecker  nicht  der  ist,  der  zuerst  etwas  Neues  sieht,  sondern 
der,  welcher  es  laut  heraussagt,  so  daß  die  ganze  Welt  davon  profitie- 
ren kann.  Jahrhundertelang  haben  große  Denker  die  Reisigbündel 
aufgehäuft,  aber  unserem  Meister  von  Jena  war  es  vorbehalten,  die 
Fackel  anzuzünden,  deren  glänzendes  Licht  uns  und  unsere  Nach- 
kommen für  alle  Zeit  leiten  soll. 

Es  ist  viel,  wenn  ein  Mann  über  ein  so  altes  und  ehrwürdiges  Zentrum 
des  Gedankens  wie  Jena  hinauswächst;  es  ist  mehr,  daß  er  die  Grenzen 
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48 


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des  großen  deutschen  Kaiserreiches  überschreitet;  Ernst  Haeckel  hat 
dies  getan ;  er  gehört  der  weiten  Welt  des  freien  Gedankens,  dem  könig- 
lichen Reiche  universaler  Wissenschaft  an ;  und  wenn  erst  der  Mensch 
in  den  vollen  Besitz  seiner  Kräfte  gekommen  ist,  wird  Haeckel  in 
Deutschland  mehr  gefeiert  werden  als  Friedrich  der  Große,  Pasteur 
in  Frankreich  mehr  als  Napoleon,  Lister  in  England  mehr  als  Wel- 
lington. Eines  Tages  wird  eine  Urne  in  Jena  mehr  verehrt  werden 
als  das  ruhmreiche  Grab  in  Potsdam.  Die  Menschheit  muß  lernen, 
daß  die  Fackel  des  Denkers  mächtiger  ist  als  das  Schwert  des  Krie- 
gers. Haeckel  hat  unsterblichen  Ruhm  erlangt,  nicht  weil  er  danach 
strebte,  sondern  durch  die  Gewalt  der  Tatsachen.  Er  hätte  dem  zu- 
stimmenden Urteil  wissenschaftlicher  Männer  gar  nicht  ausweichen 
können,  die  gern  ihre  Häupter  beugten  und  ihre  Ohren  öffneten, 
wenn  „der  vornehmste  aller  Deutschen"  vorüberging.  Es  ist  gut,  daß 
wir,  die  wir  soviel  durch  seine  Arbeit  gewonnen  haben,  uns  aufmachen 
sollen,  um  ihm  jetzt  die  volle  Ehre  zu  erweisen. 

Ich  hätte  beinahe  gesagt,  „seine  abnehmenden  Jahre";  aber  ein 
Mann  wie  Ernst  Haeckel  nimmt  nicht  ab ;  immer  ist  da  Wachsen  und 
Ausdehnung  ohne  Grenzen. 

Diese  schöne  Gelegenheit,  wo  wir  von  allen  vier  Weltgegenden 
zusammenkommen,  um  dem  wissenschaftlichen  Titanen  unserer  Zeit 
zu  huldigen,  soll  uns  zum  Bewußtsein  bringen,  daß  wir  noch  ernste 
Pflichten  vor  uns  haben.  Haeckels  flammende  Worte:  „Der  Kampf 
ist  der  Vater  aller  Dinge"  soll  jeden  seiner  Nachfolger  zu  doppelter 
Energie  und  zu  unerschütterlichen  Hoffnungen  anspornen. 


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4    Haeckel-Festschrift.  Bd.  II  AQ 


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M.  H.  FLOTHUIS,  AMSTERDAM 


o  o  o 


Es  mögen  im  tiefen  Grund  des  menschlichen  Bewußtseins  Ahnungen 
und  Gefühle  ein  traumhaftes  Dasein  führen,  schönen  Schmetter- 
lingen im  Puppenstand  vergleichbar,  die  des  beschwörenden  Zauber- 
wortes harren,  das  sie  ans  Licht  fördert,  um  den  Geist  mit  schönen 
und  klaren  Gedankengebilden  zu  bereichern.  So  war  der  Name  Haeckel 
für  mich  mit  einer  Art  magischen  Zaubers  umkleidet,  wie  viel  früher 
der  Name  Shakespeare  mir  klang  wie  die  süße  Verheißung  einer  ge- 
heimnisvollen Welt,  geisterhaft  und  magisch  und  doch  lebendig  und 
wirklich,  ein  ewiges  Märchen  von  Schönheit.  Und  wie  die  Geister- 
stimme des  Hamlet  alle  meine  Ahnungen  aus  ihrer  Erstarrung  löste 
und  seine  Worte  mir  zur  subjektiven  Seelenoffenbarung  wurden,  so 
klangen  mir  auch  die  Worte  der  „Welträtsel"  wie  eine  Bestätigung 
dunkler  Empfindungen;  sie  lösten  mir  nicht  nur  wichtige  Fragen, 
sondern  waren  häufig  Frage  und  Antwort  zugleich,  da  ja  unser  Denken 
infolge  erblicher  Anlage  und  herkömmlicher  Erziehung  manchmal  im 
Banne  der  Tradition  befangen  ist,  sodaß  wir  durchaus  nicht  immer 
die  Frage  richtig  eu  stellen  vermögen.  Denn  außer  den  religiösen 
Kirchendogmen  existieren  im  Denken  fast  aller  Menschen,  auch  der 
Gebildeten,  Vorstellungen  allgemeinerer  Natur,  nicht  weniger  anfecht- 
bar als  jene,  deren  angenommene  Richtigkeit  gewöhnlich  nicht  einmal 
genau  geprüft  wird;  auch  diese  verdunkeln  unsre  Erkenntnis  oft  in 
solcher  Weise,  daß  wir  die  Probleme  nicht  klar  unterscheiden  können. 
Wer  sich  vorurteilsfrei  der  Wirkung  von  Haeckels  „Welträtsel"  hin- 
gegeben hat,  wird  erfahren  haben,  daß  es  dem  Verfasser  wie  fast 
keinem  andern  gelungen  ist,  auch  solche  Dogmen  allgemeiner  Art 
scharf  zu  erfassen  und  ihre  Hinfälligkeit  von  naturwissenschaftlichem 
Standpunkt  zu  beleuchten.  Dazu  rechne  ich  z.  B.  ziemlich  allgemein 
geltende  Sätze,  u.  a.,  daß  der  Geist  höhere  Bedeutung  habe  als  der 
Stoff,  daß  Glauben  und  Wissen  unabhängig  von  einander  ihren  Wert 
haben,  daß  Gemüt  und  Vernunft  getrennte  geistige  Gebiete  seien, 
daß  man  Ehrfurcht  vor  jeder  religiösen  Überzeugung  haben  solle 
u.  dgl.  Indem  Haeckel  nur  die  Vernunft  als  oberste  Richterin  in 
geistigen  Fragen  anerkennt,  richtet  er  sich  nicht  nur  gegen  die  Glau- 
benssätze der  offenbarten  Religionen,  sondern  ebenso  gut  gegen  diese 

50 


und  ähnliche  Gespenster  der  Tradition,  die  vor  seiner  kritischen  Logik 
längst  geflohen  wären,  wenn  nicht  am  Panzer  der  Dummheit  und 
Trägheit  die  schärfsten  Pfeile  der  Vernunft  immer  wieder  wirkungslos 
abprallten. 

Versuche  ich  hier  die  wichtigsten  Ergebnisse  der  „Welträtsel"  als 
Niederschlag  persönlicher  Eindrücke  zusammenzufassen,  so  scheinen 
mir  nach  fast  fünfzehnjähriger  Existenz  des  Buches  folgende  Schlüsse 
festzustehen : 

Es  ist  dem  Verfasser  gelungen,  für  gebildete  Leser  eine  populär- 
wissenschaftliche Darstellung  zu  geben  vom  Stande  der  Naturphilo- 
sophie am  Ende  des  19.  Jahrhunderts. 

Zwei  Welten  werden  bis  zum  Schluß  scharf  und  klar  einander 
gegenübergesetzt :  die  vom  außerweltlichen  Geist  beherrschte  Materie 
und  die  Welt  der  universalen  Substanz  mit  ihren  zwei  Attributen: 
Geist  und  Materie.  Die  weitreichenden  Folgen  der  Annahme  von  der 
einen  oder  der  anderen  dieser  zwei  Welten  für  das  Kulturleben:  der 
dualistischen,  die  zum  theokratischen,  von  vernunftwidrigen  Gesetzen 
beherrschten  Staat,  und  der  monistischen,  welche  zumnomokratischen, 
auf  vernünftigen  Naturgesetzen  beruhenden  Staat  führt ,  werden  ein- 
gehend geschildert. 

Das  Buch  hat  vor  andern  rein  wissenschaftlichen  Werken  einen 
hohen  sittlichen  Wert  voraus,  indem  sich  sein  Verfasser  nicht  wie  die 
meisten  Fachgelehrten  mit  den  realen  Ergebnissen  seiner  wissenschaft- 
lichen Forschung  begnügt,  sondern  vom  Standpunkt  seiner  Natur- 
erkenntnis auch  die  sittlichen  Fragen  des  Kulturlebens  in  den  Kreis 
seiner  Betrachtung  zieht. 

Die  beiden  Methoden  der  Erkenntnis:  Erfahrung  und  Denken, 
werden  fortwährend  berücksichtigt  und  zu  einheitlicher  Darstellung 
glücklich  angewandt. 

Es  spricht  sich  in  dem  Buche  ein  großer  Charakter  aus,  indem 
der  Verfasser  kühn  und  rücksichtslos  die  unerbittlichen  Konsequenzen 
seiner  erfahrungsgemäßen  Erkenntnis  zieht :  hierdurch  wird  die  Logik 
fast  zur  Poesie. 

Das  Buch  ist  frisch  und  naturwahr,  frei  von  zopfiger  Schulgelehr- 
samkeit und  hebt  sich  durch  klare  Definition  der  Begriffe  vorteilhaft 
ab  von  der  Verschwommenheit  und  Undeutlichkeit  vieler  philo- 
sophischer Werke. 


4* 


51 


Diese  Schlüsse  drängten  sich  mir  auf,  als  ich  die  „Welträtsel"  ge- 
lesen hatte,  und  wiederholte  Lektüre  bestätigte  mir  deren  Richtigkeit. 
Gebildete  Leser  haben  mir  oft  ihr  in  mancher  Hinsicht  übereinstim- 
mendes Urteil  mitgeteilt.  Ich  habe  mit  obigen  Behauptungen  kein 
kritisches  Urteil  aussprechen  wollen;  ich  will  nur  sagen,  wie  sich 
das  Buch  in  meiner  Seele  widerspiegelte.  Ich  habe  es  ans  Herz  ge- 
schlossen und  halte  es  trotz  all  seiner  Mängel  und  Unvollkommen- 
heiten  wertvoll  als  einen  köstlichen  geistigen  Besitz.  Es  erschien  mir 
als  eine  der  schönsten  und  frischesten  Blüten  des  deutschen  Geistes, 
ein  vollkommener  Gegensatz  z.  B.  zu  Adolf  Bartels'  ,, Heine-Buch", 
das  ich  als  eine  der  fadesten  und  elendesten  betrachte.  Wer  sich,  wie 
ich,  viel  mit  deutscher  Dichtung  und  deutschem  Geistesleben  über- 
haupt befaßt  hat,  wird  mich  hier  wohl  verstehen.  Es  ist  nun  einmal 
nicht  anders:  dieselbe  Natur,  die  das  königliche  Tier  erzeugt,  das  die 
Wüste  durchrennt,  gebiert  auch  den  Wurm,  der  am  Staube  klebt. 

Gegenüber  den  erwähnten  Vorzügen  der  „Welträtsel"  auch  seine 
Mängel  hervorzuheben,  ist  weder  geboten  noch  erwünscht.  Licht  und 
Schatten  des  Werkes  sind  von  weit  berufeneren  Kritikern  wiederholt 
eingehenden  Besprechungen  unterzogen  worden.  Als  beschämend  für 
den  angeblich  aufgeklärten  Teil  der  Kulturvölker  darf  es  bezeichnet 
werden,  daß  das  Buch  gerade  in  der  fortschrittlichen  Presse  mitunter 
aufs  heftigste  angegriffen  wurde.  Ich  erfuhr  dies  mit  meiner  Über- 
setzung der  „Welträtsel",  worüber  in  einer  unsrer  größten  und  an- 
gesehensten neutralen  Zeitungen  (De  Telegraaf)  womöglich  noch  ab- 
fälliger geurteilt  wurde  als  in  der  gläubig -kirchlichen  Presse.  Der 
geistreiche  Rezensent  behauptete  in  diesem  Blatte  am  Schluß  seiner 
Besprechung,  daß  Haeckel  durch  die  Veröffentlichung  der  „Welt- 
rätsel" den  letzten  kleinen  Überrest  von  Achtung,  die  große  Natur- 
forscher noch  vor  ihm  gehegt  hätten,  verwirkt  habe.  Ja,  wir  sind  in 
Holland  eben  sehr  unterrichtet  und  furchtbar  fortgeschritten.  Unsre 
Künstler  und  Gelehrten  sind  nicht  so  leicht  zu  befriedigen.  Wir  sind 
eben  „schon  weiter".  Haeckel  und  sein  Monismus:  „überwundener 
Standpunkt".  Vergegenwärtigt  man  sich  dann  einen  Moment,  wer 
dieser  Kauz  im  „Telegraaf"  und  wer  „Haeckel"  ist,  so  wird  die  Sache 
komisch.  In  der  Kunst  und  Wissenschaft  kann  man  bei  uns  hin  und 
wieder  ähnlichem  begegnen.  Hat  nicht  in  einer  unsrer  Hauptzeit- 
schriften   Herr    Professor   Kohlbrugge    überzeugend    und    gründlich 

52 


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dargelegt,  daß  Goethe  mit  der  Naturwissenschaft  eigentlich  nichts 
zu  schaffen  hat,  daß  dessen  Forschungen  gleich  Null  bedeuten  und 
man  denselben  allen  wissenschaftlichen  Wert  absprechen  muß?  Als 
Künstler:  allen  gebührenden  Respekt  natürlich!  Aber  nein,  sagt  Herr 
Querido,  auch  seine  Kunst  ist  anfechtbar:  „Faust",  „Tasso",  „Iphi- 
genie"  sind  dramatische  Mißgriffe,  seine  Gestalten  keine  lebendigen 
Schöpfungen,  bloß  Gedankengebilde,  dem  Symbolischen  eingepflanzt. 
Und  Herr  van  Deyssel  spricht  von  einem  „wenig  wertvollen  Faust". 
Man  sieht  es,  wir  stehen  eben  nicht  zurück,  wir  lassen  uns  nichts 
vormachen. 

Glücklicherweise  liegen  auch  in  meiner  Heimat  viele  günstige  Ur- 
teile über  die  ,, Welträtsel "  vor,  und  sowohl  das  Original  wie  meine 
Übersetzung  dürfen  sich  des  Interesses  weiterer  Kreise  erfreuen.  Mein 
erster  Gedanke,  nachdem  ich  mich  in  die  Lektüre  vertieft  hatte,  war: 
das  muß  ein  großer  und  freier  Mensch  geschrieben  haben,  und  als  ich 
einige  Jahre  später  die  Kunststätten  klassischer  deutscher  Dichtung, 
Jena  und  Weimar,  besuchen  wollte,  ergriff  mich  der  lebhafte  Wunsch, 
den  greisen  Naturforscher  zu  sehen  und  wenn  möglich  persönlich  mit 
ihm  bekannt  zu  werden.  Meinem  diesbezüglichen  Anliegen  wurde  von 
Haeckel  in  der  liebenswürdigsten  Weise  willfahrt,  und  an  einem 
Sommernachmittag  empfing  er  mich  in  seinem  einfachen  Studier- 
zimmer mit  dem  Ausblick  auf  die  Gebirge  des  anmutigen  Saaletals. 
Er  hatte  sich  kaum  erholt  vom  Schenkelbruch,  den  er  im  Frühling 
des  Jahres  erlitten  hatte,  und  mußte  sich,  auf  einem  Polster  ruhend, 
mit  mir  unterhalten.  Trotzdem  erhob  er  sich  dann  und  wann,  wenn 
der  Eifer  des  Gesprächs  ihn  seine  Qual  vergessen  ließ,  und  schleppte 
sich  mühsam  nach  seinen  Büchern  und  Mappen  mit  Bildern,  die  er 
mir  zeigte.  Es  war  ein  ergreifender  Anblick:  der  Mann,  dessen  Geist 
das  Gesamtgebiet  der  biologischen  Wissenschaften  zu  umfassen  ver- 
sucht hatte,  der  in  liebedürstender  Naturempfindung  durch  alle  Erd- 
teile gewandert  war,  mußte  sich  mit  dem  engen  Räume  seines  Zimmers 
begnügen.  Ich  konnte  den  Gedanken  an  einen  Vogel  im  Käfig  nicht 
unterdrücken,  aber  bald  zeigte  es  sich,  daß  der  Geist  in  diesem  halb- 
gelähmten Körper  ungebrochen  war;  die  geistsprühenden  Augen,  der 
heitere  Sinn  des  Forschers  machten  alsbald  das  körperliche  Leiden 
vergessen.  Wir  sprachen  über  den  „Monismus"  und  die  „Welträtsel", 
über  Goethe  und  schließlich  auch  über  die  politischen  Verhältnisse  in 

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Holland  und  Deutschland.  Ich  wollte  in  Haeckels  Gegenwart  ver- 
suchen, das  Faustproblem  von  der  naturwissenschaftlichen  Seite  zu 
erfassen,  und  wagte  die  Meinung,  daß,  falls  Goethe  die  Stufenleiter 
der  Entwicklung  aller  Lebewesen  vorausgeahnt  habe,  die  Natur  im 
„Faust"  auf  der  höchsten  Stufe  erscheine  und  so  die  Möglichkeit  nahe- 
liege, daß  sie  sich  ihrer  selbst  bewußt  werde.  Da  Faust  nun  aber 
die  geistige  Gebundenheit  mit  allen  irdischen  Geschöpfen  teile,  müsse 
diese  Unzulänglichkeit  notwendig  seine  zwischen  zwei  Welten  schwe- 
bende Gemütspein  herbeiführen.  Haeckel  erblickt  wie  ich  in  Goethes 
„Faust",  mithin  in  Goethe  selbst,  den  höchsten  geistigen  Gipfel  der 
Menschheit  und  mußte  gestehen,  daß  die  Frage  des  Bewußtseins  ein 
höchst  schwieriges  Problem  sei,  das  mit  der  dunkeln  Substanzfrage 
unmittelbar  zusammenhänge.  Es  scheint  mir  unzweifelhaft,  daß  der 
„Faust"  in  organischem  Zusammenhang  mit  Goethes  naturwissen- 
schaftlichen Forschungen  steht,  und  daß  diese  Auffassung  der  ästhe- 
tischen Kritik  durchaus  nicht  zuwiderläuft.  Haeckel  versicherte  mir, 
daß  Goethes  Naturstudium  keineswegs  als  Dilettantismus  bezeichnet 
werden  darf:  Goethe  hat  in  Jena  längere  Zeit  fast  täglich  auf  der 
Universität  Anatomie  getrieben,  und  die  Ergebnisse  seiner  Forschungen 
sind  durch  die  großartigen  Erfolge  der  modernen  Naturwissenschaft 
vielfach  bestätigt  worden. 

Haeckel  erkundigte  sich  auch  nach  den  politischen  Verhältnissen 
in  meiner  Heimat,  und  ich  sagte,  daß  bei  uns  fast  während  eines  halben 
Jahrhunderts  ein  gemäßigter  Liberalismus  geherrscht  habe,  der  sich 
zur  Zeit,  da  es  noch  keine  aufstrebende  Demokratie  gab,  mit  selbst- 
gefälliger Behaglichkeit  das  wissenschaftliche  Mäntelchen  umgehängt 
habe  und  sich  so  als  der  natürliche  und  unentbehrliche  Lenker  des 
Staates  betrachtet  habe.  Später  aber,  als  dieser  Liberalismus  sich 
nur  im  Bund  mit  einer  kräftigen  Demokratie  gegen  die  immer  ge- 
schlossener und  zielbewußter  vordringenden  klerikalen  Parteien  be- 
haupten konnte,  hat  sich  der  konservative  Teil  dieser  angeblichen 
„Aufgeklärten"  den  politischen  Mächten  des  Glaubens  in  die  Arme 
geworfen  und  hat  die  freisinnige  Regierung  einer  kirchlich-gläubigen 
Herrschaft  weichen  müssen,  die  sich  stützt  auf  den  Materialismus  der 
Reichen  und  die  geistige  Borniertheit  der  Massen.  Haeckel  sagte,  daß 
diese  Erscheinung  sich  im  großen  oder  kleinen  in  der  ganzen  Kultur- 
welt wiederhole,  nicht  in  letzter  Linie  in  Deutschland,  wo  das  „Zen- 

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trum"  längere  Zeit  die  politische  Vorherrschaft  behauptet  habe.  (Bei 
den  Wahlen  1913  hat  übrigens  in  Holland  die  Linke  wieder  mit  einer 
sehr  kleinen  Mehrheit  gesiegt.) 

Nach  diesem  Besuch  habe  ich  das  Glück  erfahren,  noch  hin  und 
wieder  briefliche  Mitteilungen  und  Schriften,  teilweise  auch  polemi- 
scher Art,  von  Haeckel  zu  erhalten.  Eine  der  letzten,  Sandalion 
(November  1910),  hat  an  Klarheit,  Schärfe  und  Temperament  gegen 
die  früheren  noch  nichts  eingebüßt.  Ernst  Haeckel  ist  für  mich  in 
seinen  Werken  und  seinem  Leben  eine  der  größten  Erscheinungen  im 
Kulturleben  der  Völker,  ein  Mann  von  gewaltiger  Tatkraft,  dessen 
erstaunliche  Gelehrsamkeit  künstlerisch  durchhaucht  ist ;  ein  unermüd- 
licher Kämpfer  für  Wahrheit  und  Fortschritt,  ein  trotz  menschlicher 
Schwächen  und  Verirrungen  hoher  sittlicher  Charakter. 


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55 


JOUSSET  DE  BELLESME,  BRÜSSEL 


o  o  o 


Es  ist  mir  wirklich  eine  lebhafte  Freude,  meinen  Tribut  der  Be- 
wunderung und  des  Lobes  zu  Ehren  des  berühmten  Zoologen 
und  Philosophen  Ernst  Haeckel  mit  dem  der  ganzen  Welt  zu  ver- 
einigen. 

Von  den  Werken  dieses  Gelehrten  waren  es  hauptsächlich  die 
„Generelle  Morphologie",  „Die  Schöpfungsgeschichte",  „Die  Anthro- 
pogenie"  und  der  Vortrag  über  „Zellseelen  und  Seelenzellen",  welche 
mein  Interesse  gefangen  nahmen.  Sie  hatten  den  größten  Einfluß 
auf  meine  Geistesrichtung,  die  darauf  bereits  durch  das  eifrige  Stu- 
dium des  „Discours  sur  la  methode"  von  Descartes  vorbereitet  war. 

Diese  vier  Schriften  hatten  in  Frankreich  wenig  Beachtung  ge- 
funden. Die  Radiolarienmonographie  dagegen  wurde  von  Zoologen 
geschätzt,  aber  der  Einfluß,  den  dieses  Werk  hätte  ausüben  können, 
wurde  zum  Teil  durch  die  aus  ihm  entspringenden  Schlußfolgerungen 
zunichte  gemacht.  Man  konnte  mit  Leichtigkeit  bemerken,  daß  das 
Studium  dieser  niedrigen  Organismen,  die  von  Seiten  der  Naturforscher 
fast  völlig  unbeachtet  geblieben  waren,  der  Lehre  von  der  Unver- 
änderlichkeit  der  Arten  einen  vernichtenden  Schlag  versetzte;  und 
diese  Lehre  war  eine  der  Grundtheorien,  welche  die  Basis  des  Unter- 
richts für  die  offiziellen  Gelehrten  abgab. 

Als  diese  Werke  erschienen,  war  gerade  das  Museum,  die  Sorbonne, 
das  College  de  France  unter  der  ausschließlichen  Herrschaft  einer 
Gruppe  von  Naturwissenschaftlern,  an  deren  Spitze  die  Milne  Ed- 
wards allmächtig  regierten. 

Als  sich  dann  von  allen  Seiten  die  Evolutionstheorie  erhob  und 
ein  neuer  und  befruchtender  Strom  die  Biologie  durchflutete,  als  dann 
von  allen  Seiten  die  Entdeckungen  in  der  Embryologie  sich  häuften, 
da  brachte  diese  Gruppe  einflußreicher  Gelehrten,  die  jeder  neuen 
Idee  feindlich  war  und  vor  allem  jeder  Theorie,  welche  die  veralteten 
Dogmen  der  Schöpfungsgeschichte  und  der  Unveränderlichkeit  der 
Arten  bedrohen  konnte,  da  brachten  diese  Gelehrten  eine  Verschwö- 
rung zustande,  welche  die  folgenreiche  Bewegung  totschweigen  sollte ; 
und  als  diese  Bewegung  bald  die  zoologischen  Wissenschaften  erneuerte, 
war  damit  die  zurückgebliebene  französische  Wissenschaft  isoliert. 

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Bis  zum  Jahre  1892  widerhallten  die  Gewölbe  der  Sorbonne  kein 
Wort  über  Entwicklung  und  Umgestaltung:  der  offizielle  Unterricht 
ignorierte  sie,  ebenso  wie  sie  die  Namen  von  Darwin,  Haeckel,  Huxley, 
Preyer  und  vielen  anderen  ignorierte. 

Zwar  ein  paar  vereinzelte  Persönlichkeiten  wie  Ch.  Robin,  Claude 
Bernard,  Berthelot,  Giard  und  andere  folgten  von  weitem  der  Be- 
wegung, begriffen  deren  Wichtigkeit  und  sahen  klar  ein  neues  Licht 
in  der  Phylogenie,  welche  Haeckel  in  monumentaler  Weise  auf 
dem  festen  Boden  seiner  eigenen  Forschungen  wie  der  bewunderns- 
werten histologischen  und  embryologischen  Arbeiten  errichtete, 
welche  von  allen  Seiten  in  England,  Deutschland  und  Rußland  her- 
kamen. 

Die  Lehren  Haeckels  drangen  nach  und  nach  in  dieses  Milieu. 
Claude  Bernard  nahm  die  Einheit  der  Kraft,  der  Materie  und  der 
Empfindung  an,  und  oft  streiften  meine  Unterredungen  mit  diesem 
berühmten  Meister  diese  Dinge,  die  er  mit  der  Kraft  seines  Geistes, 
die  er  in  allen  Dingen  zeigte,  gern  entwickelte.  Ohne  daß  er  jemals 
das  Wort  „Monismus"  anwendete,  findet  man  doch  in  seinen  letzten 
Werken  die  wesentlichen  Züge  dieser  Lehre  wieder,  und  er  erkannte 
ohne  Rückhalt  die  phylogenetischen  Vorstellungen  Haeckels  an. 

Während  die  Zeit  vorrückte,  verschwanden  allmählich  die  offi- 
ziellen Korps,  die  systematisch  jeden  Gedanken  unterdrückten,  der 
dem  Dogma  widersprach,  und  eine  Anzahl  junger  Leute,  unter  der 
Führung  eines  tüchtigen  Zoologen,  Alfred  Giard,  entwickelte  sich 
trotz  des  Schweigens,  in  das  man  die  neuen  Lehren  hüllte.  Der  letzte 
Vertreter  jener  rückständigen  Schule,  Lacaze-Duthiers,  starb,  und 
endlich  wurde  1892  in  der  Sorbonne  durch  den  Gemeinderat  von 
Paris  ein  Lehrstuhl  für  die  Entwicklungslehre  geschaffen. 

Zum  erstenmal  konnte  die  Jugend  öffentlich  die  Lehren  von  der 
Entwicklung,  der  Abstammungslehre  und  der  Phylogenie  vortragen 
hören,  von  denen  die  Zoologen  anderer  Nationen  seit  einem  halben 
Jahrhundert  inspiriert  worden  waren. 

In  einem  gewissen  Punkt  läßt  sich  zwischen  Bernard  und  Haeckel 
eine  Parallele  ziehen. 

Beide  haben  den  Wert  der  Philosophie  eingesehen,  und  anstatt 
sie  aus  dem  wissenschaftlichen  Gebiet  zu  verbannen  —  wie  es  Vir- 
chow  und  Kirchhoff  getan  hatten  — ,  haben  sie  sie  an  ihren  wahren 

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Platz  zurückgesetzt,  wo  Erfahrung  und  Schlußfolgerung  sich  die  Hand 
reichen.  Die  Erfahrung  ist  nie  für  den  Dualismus  günstig  gewesen, 
denn  niemals  hat  man  ihr  die  übersinnlichen  Prinzipien,  die  diese 
Lehre  voraussetzt,  unterwerfen  können.  Der  von  dem  berühmten 
französischen  Physiologen  so  klar  definierte  Determinismus  führte 
geradenwegs  zu  der  monistischen  Lehre,  welche  von  Haeckel  mit 
ebensoviel  Talent  wie  Feuer  geschaffen  und  verteidigt  wurde. 

Sein  Einfluß  auf  den  wissenschaftlichen  Geist  ist  unbestreitbar, 
und  schon  als  er  noch  kaum  bekannt  war,  ging  er  darauf  aus,  zu  herr- 
schen und  sich  des  menschlichen  Denkens  zu  bemächtigen. 

Sogar  Haeckels  Lebenslauf  ist  ein  merkwürdiges  Beispiel  der  Ent- 
wicklung; seit  seiner  Jugend  verdichtete  sich  in  seinem  mächtigen 
Hirn  ein  Netz  zahlloser  Forschungen,  die  im  gegebenen  Fall  zur 
Reife  gelangten  und  alle  in  der  wahrhaft  wissenschaftlichen  Theorie 
des  Monismus  gipfelten. 

Die  kindliche  Auffassung,  welche  Körper  und  Seele,  Menschen 
und  Tiere  voneinander  trennte  —  der  jahrhundertalte  Dualismus  — 
konnte  unmöglich  aufrechterhalten  werden  angesichts  der  schlagen- 
den Beweise,  welche  Haeckel  unaufhörlich  anhäufte,  um  die  Einheit 
des  Universums  darzutun.  Indem  er  mit  Sicherheit  und  einer  seltenen 
Unabhängigkeit  des  Geistes  die  inhaltlosen  metaphysischen  Vorstel- 
lungen zurückwies  und  die  Widersprüche  der  Philosophen  aufhob, 
wollte  er  Schlüsse  nur  aus  erwiesenen  Tatsachen  ziehen,  und  so  hielt 
er  sich  an  die  Vorschrift  der  Kartesischen  Methode,  die  so  viele  große 
Geister  gebildet  hat:  ,, Nichts  für  gewiß  zu  halten,  was  nicht  voll- 
kommen erwiesen  ist." 

Der  fabelhafte  Einfluß  Haeckels  auf  das  menschliche  Denken  ist 
vielleicht  in  Frankreich  schwächer  als  anderswo  geblieben.  Dieses 
Land  steht  unglücklicherweise  so  sehr  unter  dem  Joch  eines  alten 
theokratischen  Atavismus,  daß  es  trotz  der  Anstrengungen  hervor- 
ragender Größen  nicht  dazu  kommt,  sich  von  ihm  zu  befreien. 

Es  ist  gewiß,  daß  die  philosophischen  Lehren  des  berühmten  Ge- 
lehrten, dessen  80.  Geburtstag  wir  feiern,  nur  schwer  in  die  große  Menge 
Eingang  fanden  oder  auch  nur  in  die  Welt  der  Intellektuellen  auf- 
genommen werden  konnten.  Der  Zugang  zu  diesen  hohen  Gedanken- 
gipfeln ist  nur  solchen  gestattet,  deren  Geist  durch  das  solide  und  aus- 
schließliche Studium  der  biologischen  Wissenschaften  genährt  wurde. 

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Diesen  aber  drängt  sich  der  Monismus  mit  jener  unwiderstehlichen 
Gewalt  auf,  die  die  Wahrheit  besitzt.  Die  Masse  betrachtet  diese  er- 
habenen Vorstellungen  mit  einer  gewissen  Gemütsbewegung,  ähnlich 
der,  die  den  Wanderer  beim  Anblick  eines  kolossalen  Gebirges  er- 
greift, dessen  Höhe  ihn  erdrückt.  Deshalb  konnte  der  Monismus 
nicht  volkstümlich  werden;  er  blieb  im  Alleinbesitz  einer  privile- 
gierten Elite.  In  keinem  Zeitalter  war  die  Wahrheit  bei  der  Majo- 
rität, wie  auch  Descartes  so  treffend  gesagt  hat:  „Eine  Wahrheit  zu 
finden,  ist  nur  einer  kleinen  Zahl  von  Menschen  möglich." 

Haeckel  soll  nicht  nur  um  seiner  Werke  willen  gelobt  werden, 
sondern  auch  wegen  der  Standhaftigkeit  seiner  Überzeugungen  und 
der  Unabhängigkeit  des  Geistes,  mit  welcher  er  sie  aufrechterhalten 
und  entwickelt  hat,  ohne  sich  darüber  zu  beunruhigen,  ob  sie  die 
Empfindlichkeit  der  Herrschenden  reizen  könnten.  Es  ist  sehr  selten, 
daß  ein  Gelehrter  gewagt  hat,  sein  ganzes  Denken  zu  offenbaren. 
Descartes  fürchtete  den  Scheiterhaufen,  und  heute  fürchtet  man  für 
seine  Interessen.  Haeckel  war  frei  von  diesen  Schwächen.  Er  bekannte 
seine  Gesinnung  furchtlos,  und  wenn  seine  Aufrichtigkeit  von  Regie- 
rungen scheel  angesehen  wurde,  welche  gern  den  Irrtum  zum  Zwecke 
politischer  Herrschaft  aufmunterten,  so  gewann  er  die  Anerkennung 
aller  aufrichtigen  Denker.  Er  zog  auch  in  Betracht,  daß  der  Monis- 
mus die  Erziehung  der  Kinder  beeinflussen  sollte.  Er  sah  ein,  daß  die 
Wahrheit  nur  dann  triumphieren  wird,  wenn  die  Zeitgenossen  oder 
die  Regierungen  die  Klugheit  und  Festigkeit  haben,  die  Erziehung 
der  Jugend  den  irrigen  Dogmen  des  Aberglaubens  zu  entziehen. 
Er  betonte  die  Wichtigkeit,  welche  die  Ergebnisse  der  Wissenschaft 
für  die  Bildung  der  jungen  Generation  besitzen.  Nur  auf  dem 
Boden  einer  wissenschaftlichen  Weltanschauung  können  Friede  und 
Einigkeit  in  der  Menschheit  herrschen.  Eine  Regierung,  welche  die 
Jugend  durch  die  Feinde  ihrer  eigenen  Einrichtungen  erziehen  läßt, 
geht  an  den  inneren  Mißhelligkeiten,  an  Zwietracht  und  Bürger- 
krieg zugrunde. 

Den  Kopf  hochzuhalten,  ohne  dem  Aberglauben  Zugeständnisse 
zu  machen,  diesen  zu  bekämpfen,  eine  Handvoll  Wahrheiten  in  seiner 
Faust  zu  spüren  und  sie  zu  öffnen,  das  beweist  einen  Mut,  den  man 
nicht  oft  erlebt,  und  dem  man  seine  Hochachtung  bezeugen  muß, 
wenn  man  ihm  begegnet. 

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59 


Laßt  uns  also  Haeckel  am  Tage  seines  80.  Jahres  unsere  Hoch- 
achtung bezeugen;  laßt  uns  unsere  Hochachtung  bezeugen  dem  un- 
geheuren Umfang  seiner  Arbeiten,  seiner  staunenswerten  Laufbahn, 
seinem  frischen  und  heldenmütigen  Alter. 

Er  kann  mit  Befriedigung  zurückblicken  und  den  Weg  abmessen, 
welchen  er  den  menschlichen  Geist  hat  durcheilen  lassen,  und  vom 
Gipfel,  auf  den  sich  sein  Denken  erhoben  hat,  mit  Vertrauen  die  dem 
Monismus  und  der  Wahrheit  geöffneten  Pforten  der  Zukunft  ins  Auge 
fassen. 


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60 


FRIEDRICH  GLATZ,  WIEN :  WAS  HAT  ERNST 
HAECKEL  DEM  SCHON  RELIGIÖS  AUFGEKLÄRTEN 

GEBRACHT? 


o  o  o 


Auch  der  einfache  Kaufmann  darf  sich  am  Festtage  von  Haeckels 
80.  Geburtstage  zum  Worte  melden.  Wendet  sich  dieser  in  seinen 
volkstümlichen  Werken  doch  an  die  Gebildeten  aller  Stände. 

Allerdings  ist  der  Begriff  des  Gebildetseins  umstritten.  Allein 
Haeckel  fordert  zweifellos  nicht  sowohl  ein  bestimmtes  Maß  formaler 
Bildung,  als  vielmehr  die  Kenntnis  gewisser  Fundamentalsätze  der 
Naturwissenschaft,  wie:  des  heliozentrischen  Systems,  der  alles  beherr- 
schenden Naturgesetzmäßigkeit,  davon  insbesondere  des  Substanz-  und 
des  Konstanzgesetzes,  der  Atomtheorie,  des  Energiebegriffs  und  vor 
allem  der  Deszendenztheorie.  Dieser  Wissensstoff  ist  aber  heute  Ge- 
meingut der  breitesten  Kreise. 

Ich  habe  sie  nicht  erst  durch  die  Lektüre  der  Schriften  Haeckels 
erworben.  Mein  Vater  war  Redakteur.  Alle  bedeutenden  Errungen- 
schaften der  Wissenschaft,  alle  neuen  fruchtbaren  Theorien  wurden 
im  Familienkreise  besprochen,  in  welchem  Politiker,  Professoren  und 
sonstige  Intellektuelle  verkehrten.  Allein  die  Frage,  was  auch  der 
schon  von  Haus  aus  religiös  vollkommen  Aufgeklärte  dem  Einflüsse 
Haeckels  zu  verdanken  hat ,  ist  nicht  weniger  der  Beantwortung  wert 
als  diejenige  nach  dem  Einfluß,  den  der  vorher  Gläubige  oder  religiös 
Indifferente  durch  die  aufrüttelnde  Aufklärung  Haeckels  erfahren  hat. 

Um  ein  solches  durch  Haeckel  bewirktes  „finishing"  einer  schon 
vorhandenen  Aufklärung  in  ihrer  Bedeutung  verständlich  zu  machen, 
ist  es  nötig,  sich  die  Kämpfe  in  Erinnerung  zu  rufen,  welche  sich  im 
letzten  Viertel  des  vorigen  Jahrhunderts  zwischen  kirchlichem  Geist 
und  Kulturfortschritt  abspielten. 

„Das  Leben  Jesu"  von  D.  Strauß  hatte,  als  echtes  Volksbuch, 
weit  über  den  Kreis  seiner  Leser  hinaus  gewirkt,  da  der  Kern  seines 
Inhaltes,  daß  die  Bibel  keine  offenbarte  heilige  Schrift,  nicht  einmal 
ein  einwandfreies  historisches  Dokument,  sondern  tendenziöses  Men- 
schenwerk und  daß  Jesus  kein  Gott,  sondern  ein  Mensch  sei,  leicht 
weiterverbreitet  werden  konnte.  So  drang  das  Ergebnis  der  Bibelkritik 
nicht  nur  in  das  Pfarrhaus,  sondern  auch  in  die  Arbeiterhütte,  ja  selbst 
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in  die  Schule  ein,  wo  es  mit  wichtiger  Miene  von  Kamerad  zu  Kamerad 
weitergesagt  wurde.  Die  Grundlage  allen  konfessionellen  Glaubens 
schien  mit  einem  einzigen  zermalmenden  Schlage  vernichtet.  Strauß 
war  von  Haus  aus  kein  Kirchenfeind.  Als  gläubiger  Theologe  hatte 
er  sich  an  das  Studium  der  synoptischen  Evangelien  gemacht.  Um 
so  wuchtiger  war  die  Wirkung  seiner  Kritik.  Bleicher  Schreck  erfaßte 
die  kirchlichen  Kreise.  Andererseits  hielten  die  Fortschrittsfreunde 
einen  völligen  Wandel  unserer  gesamten  geistig-sittlichen  Kultur  nun 
für  unmittelbar  bevorstehend.  Allein  weder  die  Sorge  der  einen  noch 
die  Hoffnungen  der  anderen  erwiesen  sich  als  gerechtfertigt.  Ja  gerade 
der  glimpfliche  Verlauf  der  in  der  Bibelkritik  gelegenen  Bedrohung 
der  traditionellen  Weltanschauung  hatte  die  Kirche  erst  zum  vollen 
Bewußtsein  ihrer  anscheinend  unüberwindlichen  Stärke  gebracht. 
Übermütig  sprachen  ihre  Kreise  von  dem  Bankerott  der  Wissenschaft, 
welche  doch  keine,  die  Menge  befriedigenden  Antworten  auf  die  letz- 
ten Probleme  der  Welt  geben  und  der  Herrschaft  der  dogmatischen 
Religion  daher  auch  keinen  Abbruch  tun  könne. 

Dem  Mißerfolge  im  Kampfe  gegen  die  Kirche  auf  geistigem  Gebiete 
folgte  derjenige  in  der  Politik.  Der  Kulturkampf  in  Deutschland 
hatte  mit  einem  Fiasko  der  weltlichen  Macht  geendet.  Während  die 
Naturwissenschaften  immer  größere  und  größere  Errungenschaften 
erreichten,  welche  ausnahmslos  die  Negation  der  alten  Tradition  be- 
deuteten, gewann  die  Organisation  der  letzteren,  die  Kirche,  auf  den 
meisten  Gebieten  des  öffentlichen  Lebens,  insbesondere  in  der  Schule, 
ununterbrochen  zunehmenden  Einfluß. 

Recht  unerfreulich  war  auch  der  Gemütszustand  des  einzelnen 
Aufgeklärten.  Eine  vollkommen  befriedigende  naturwissenschaftliche 
Begründung  der  sittlichen  Forderung,  die  Überwindung  der  atavisti- 
schen Wertungen  im  Gemütsleben  und  ganz  besonders  die  Organisation 
einer,  den  einzelnen  Fortschrittlichen  stärkenden  Gemeinschaft  schie- 
nen noch  in  unabsehbarer  Ferne  zu  liegen.  Wie  verfrüht  Erwartungen 
nach  dieser  Richtung  gewesen  waren,  zeigte  sich  auch  äußerlich  deut- 
lich in  dem  bedauerlichen  Mißerfolge  von  D.  Strauß'  „Alter  und  neuer 
Glaube".  Mit  Resignation  ergab  man  sich  darein,  sich  einstweilen 
nur  an  den  herrlichen  Leistungen  der  Naturwissenschaft  und  der  kri- 
tischen Geschichtsforschung  auf  ihren  verschiedenen  Einzelgebieten 
erfreuen  und  sich  durch  sie  in  dem  Glauben  an  die  Gesamtwissenschaft 
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als  zukünftige  Bringerin  neuen  Menschentumes  erheben  lassen  zu 
können. 

Da  ging  Ende  der  achtziger  Jahre  durch  die  gesamte  gebildete 
Welt  der  Ruf  nach  Begründung  von  ethischen  Gesellschaften.  Los- 
lösung der  sittlichen  Sanktion  von  allem  Konfessionalismus  war  das 
alle  Freunde  der  Wahrhaftigkeit  elektrisierende  Losungswort.  Das 
Gute  seiner  selber  willen  zu  tun,  war  ihre  praktische  Maxime.  Die 
Namen  der  Besten  unserer  Kultur  prangten  auf  den  Einladungen 
zum  Beitritt.  Eine  Welle  der  Begeisterung  war  durch  jene  geistig- 
sittliche Gemeinde  gegangen,  welche  ja  auch  schon  damals,  wenn 
auch  ohne  jedwedes  Gefüge,  für  das  Streben  vorhanden  war,  unser 
gesamtes  Leben  in  Übereinstimmung  mit  der  Wissenschaft  zu  bringen. 

Je  berechtigter  die  großen  Erwartungen  zu  sein  schienen,  welche 
an  die  ethischen  Gesellschaften  geknüpft  worden  waren,  um  so  nieder- 
schlagender war  die  Enttäuschung,  die  viele  ihrer  Gründer  bald  er- 
lebten. Die  Festlegung  auf  Kants  zwiespältige  Philosophie  und  eine 
fast  ausschließlich  auf  das  Subjektive  gerichtete  Auffassung  der  Ethik, 
endlich  der  Mangel  genügender  naturwissenschaftlicher  Orientierung, 
welche  Merkmale  die  Betätigung  dieser  Gesellschaften  charakterisier- 
ten, konnten  nicht  zu  einer  den  modernen  Menschen  befriedigenden 
Weltanschauung  führen.  Gerade  in  der  allerwichtigsten  praktischen 
Betätigung  der  deutschen  ethischen  Gesellschaft,  in  der  theoretischen 
Vorbereitung  einer  Reform  des  Jugendunterrichtes,  war  ein  Weg  ein- 
geschlagen worden,  welcher  der  programmatischen  Loslösung  vom 
Konfessionalismus  nur  scheinbar  entsprach.  Von  dem  im  höchsten 
Maße  katholisierenden  Dr.  F.  W.  Förster,  Zürich,  dem  Autor  der 
ethischen  Lebenskunde,  konnte  ein  rückhaltsloser  Kampf  gegen  die 
dogmatische  Überlieferung  nicht  ausgehen. 

Die  neuerlich  erlebte  Enttäuschung  war  bitter.  Allein  die  geschil- 
derte unrichtige  Methode  und  das  Versagen  einzelner  Personen  er- 
klärten sie  hinlänglich,  und  so  war  kein  Grund  vorhanden,  an  der  guten 
Sache  selber  zu  verzweifeln.  Gerade  die  gemeinschaftliche  Arbeit  so 
vieler  Fortschrittsfreunde,  wie  sie  gelegentlich  der  Gründung  der  ethi- 
schen Gesellschaft  erfolgt  war,  ließ  die  nahe  Möglichkeit,  eine  neue 
Weltanschauung  zu  schaffen,  sicher  erkennen.  Waren  doch  zu  Ende 
des  vorigen  Jahrhunderts,  wenn  auch  nicht  alle,  so  doch  viele  Ele- 
mente einer  solchen  in  jedem  Aufgeklärten  vorhanden.  Gleich  einem 
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sorgfältig  vorbereiteten  und  emsig  zusammengeführten  Baumaterial 
harrten  sie  des  großen  Baumeisters,  der  sie  zu  einem  prächtigen  Bau 
erstehen  lassen  sollte.  Nur  wenn  man  sich  diese  Verfassung  von 
Geist  und  Gemüt  der  kulturellen  Oberschicht  jener  Zeit  vergegenwär- 
tigt, welche  dem  biologischen  Zustande  der  äußersten  Summation  von 
noch  latenten  Reizwirkungen  vor  dem  Auftreten  der  Mutation  ver- 
gleichbar ist ,  läßt  sich  die  ohne  Beispiel  dastehende ,  ungeheure  Wir- 
kung von  Haeckels  Welträtseln  verstehen. 

Als  ich  mich  das  erstemal  durch  die  Welträtsel  durcharbeitete, 
war  ich  von  einem  ganz  neuen  Glücksgefühl  beseelt.  Ein  seit  langen 
Jahren  gehegtes  Verlangen  war  durch  dieses  Werk  erfüllt.  Dieses 
durch  und  durch  wissenschaftliche  Buch  war  für  Laien  geschrieben, 
wie  ich  selber  einer  bin.    Ja,  in  allererster  Linie  für  solche. 

Wohl  hat  mich  auch  schon  früher  oft  die  Lektüre  guter  Bücher 
oder  die  Nachricht  von  einer  wissenschaftlichen  Großtat  auf  das  höch- 
ste begeistern  können.  Allein  solche  Berichte  waren  ja  meist  nicht 
für  den  Laien  bestimmt,  und  selbst  recht  gute  volkstümliche  Schriften 
brachten  merklich  immer  nur  ein  Bruchstück  von  Weiterbildung.  Nie 
hatte  ich  vorher  aus  solchen  Erlebnissen  eine  Beeinflussung  erfahren, 
welche  sich  zu  irgendwelchen  Entschlüssen  gesteigert  hätte.  Mit 
einer  einzigen  Ausnahme:  der  von  Forel  gebotenen  Aufklärung  über 
den  Alkohol  als  individuelles  und  Rassengift,  welche  mich  von  heute 
auf  morgen  zum  absoluten  Abstinenten  gemacht  hat. 

Es  ist  ein  historisches  Ereignis  allerersten  Ranges,  daß  Ernst 
Haeckel  in  seinen  Welträtseln  mit  starker  Hand,  sicher  und  zielbewußt, 
die  letzten  Schranken  restlos  und  endgültig  niederreißt,  welche  seit 
jeher  den  Laien  von  dem  höchsten  Schatze  seiner  Zeit,  von  den  Er- 
gebnissen der  Gesamtwissenschaften  trennen.  Das  hat  mich  mit  tief- 
stem Danke  für  ihn  erfüllt.  Immer  schon  hatte  ich  in  mir  den  An- 
spruch auf  dieses  wertvollste  Kulturgut  empfunden.  Immer  aber 
glaubte  ich  mir  ihn  als  ungehörige  Anmaßung  ausreden  zu  sollen. 
Ist  doch  das  Schlagwort  von  der  Schädlichkeit  oder  Lächerlichkeit 
der  Halbbildung  nur  zu  wirksam.  Haeckel  hat  dieses  hohe  Gut,  so 
wie  mir,  so  vielen  Hunderttausenden  gegeben.  Er  hat  uns  dadurch 
in  unserer  Selbstachtung  gehoben,  damit  aber  auch  in  uns  den  Willen 
geweckt,  uns  solcher  Gabe  würdig  zu  erweisen.  Haeckel  spricht  aus, 
daß  die  monistische  Bewegung  letzten  Endes  eine  ethische  sein  müsse. 

64 


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Daß  dem  so  sei,  das  wollen  und  werden  wir  Laien  erweisen!  Denn 
die  wissenschaftliche  Methode,  diese  wirkliche  „via  veritatis  et  vitae", 
dieser  alleinige  Weg  zur  relativen  Wahrheit  und  absoluten,  lauteren 
Wahrhaftigkeit,  ist  nun  nicht  mehr  nur  den  wissenschaftlichen  Berufen 
vorbehalten.  Sie  wird  zum  Kulturbesitz  der  ganzen  Menschheit  und 
muß  im  Alltagsleben  für  deren  Höherentwicklung  ebenso  Großes  voll- 
bringen, wie  sie  in  der  Forschung  Großes  vollbracht  hat. 

Nicht  so  rasch  wie  der  eben  geschilderte  beglückende  Eindruck 
hat  sich  die  spezifisch  monistische  Wirkung  der  Welträtsel  in  mir 
eingestellt.  Absichtlich  habe  ich  nicht  von  einer  Lektüre,  sondern 
von  einem  sich  Durcharbeiten  durch  diese  neue  Gedankenwelt  ge- 
sprochen. Stellt  doch  Haeckel  gerade  dem  schon  vorher  Aufgeklärten 
eine  recht  große  Aufgabe.  Ein  großer  Teil  meines  früheren  Wissens- 
stoffes wurde  mir  in  der  neuen  Beleuchtung  und  im  monistischen  Zu- 
sammenhang eigentlich  zu  einer  neuen  Erkenntnis,  welche  ich  erst 
wieder  frisch  verarbeiten  mußte.  Als  ein  Beispiel  erwähne  ich,  daß 
die  in  den  Welträtseln  enthaltene  Ablehnung  der  traditionellen  Reli- 
gionen mir,  dem  reinlichen  Atheisten,  stofflich  nichts  Neues  geboten 
hat.  Allein  sie  hat  an  Stelle  ihrer  bisherigen  bibelkritischen  und  vor- 
wiegend rein  rationalen  Begründung  im  Sinne  Voltaires  die  unver- 
gleichlich wuchtiger  wirkende  der  Anthropologie  gesetzt. 

Umlernen  ist  aber  oft  schwieriger  als  etwas  neu  lernen.  Und 
noch  schwieriger  als  das  Umlernen  war  es  mir,  gegen  das  in  mir  wir- 
kende Gesetz  der  Trägheit  anzukämpfen  und  etwas  von  meinem  alten 
Wissensstoff  aufzugeben.  War  doch  dieser  zum  Teil  mit  großer  Mühe 
autodidaktisch  erworben  und  im  Laufe  vieler  Jahre  gewissermaßen 
zu  einem  Teile  meines  geistigen  Ich  geworden. 

Seit  meiner  Schulzeit  hatte  es  mich  immer  mit  der  allergrößten 
Befriedigung  erfüllt,  in  der  Gravitationslehre  Newtons  für  die  erhebend 
schönen  Wunder  des  Kosmos  eine  restlose  Erklärung  zu  erkennen. 
Und  nun  mußte  ich  mir  sagen  lassen,  daß  der  Angelpunkt  dieser  Er- 
klärung, die  Gravitation,  selbst  durchaus  Problem  ist;  daß  ihre  Iden- 
tität mit  der  uns  empirisch  zugänglichen  und  darum  scheinbar  so 
vertrauten,  in  Wirklichkeit  ganz  rätselhaften  irdischen  Schwerkraft 
über  ihr  Wesen  selber  noch  gar  nichts  aussagt.  Erfreulicherweise 
blieb  aber  doch  wenigstens  die  Tatsache  der  Gravitation  selbst  un- 
berührt. 

5     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II  65 


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Um  so  weniger  blieb  mir  armem  Aufgeklärten  von  meinem  sauer 
erworbenen  philosophischen  Wissen  übrig,  welches  ich  Kronenbergs 
Popularisation  der  Kantschen  Philosophie  zu  verdanken  hatte.  Aller- 
dings habe  ich  von  allem  Anfang  an  eine  gewisse  heimliche  Opposition 
gegen  den  Kantianismus  in  mir  nicht  ganz  unterdrücken  können,  woran 
ich  heute  mit  Genugtuung  zurückdenke.  Kants  erkenntnistheoreti- 
scher Kritizismus,  welcher  ebenso  zur  Annahme  wie  zur  Ablehnung 
des  Gottesglaubens  führen  konnte,  mußte  in  mir,  der  ich  schon  als 
Knabe  von  meiner  Mutter  im  Unglauben  erzogen  worden  war,  starkes 
Bedenken  erregen.  Seiner  Lehre  von  aprioristischen  Kategorien  un- 
seres Denkens  zu  folgen,  kostete  mich  Mühe.  Und  Zeit  und  Raum  als 
nicht  real,  sondern  ganz  ebenso  wie  das  konventionelle  Maß  von  Zeit 
und  Raum  als  nur  vom  Menschen  in  die  Natur  projiziert  aufzufassen, 
wollte  mir  schlechterdings  nicht  gelingen.  Aber  wie  durfte  ein  ganz 
gewöhnlicher  Laie  zweifeln,  wo  wissenschaftliche  Autoritäten  zustimm- 
ten, —  Haeckels  Kritik  der  Kantschen  Philosophie  brachte  mir  eine 
wohltuende  Befreiung,  aber  auch  die  Notwendigkeit,  frisch  zu  lernen. 

Die  durch  die  Welträtsel  in  Fluß  gebrachten  Änderungen  meiner 
geistigen  Verfassung  ließen  anfangs  in  mir  kein  Gefühl  voller  Be- 
friedigung aufkommen.  Es  war  eine  Art  schwerer  geistiger  Ermüdung, 
in  welcher  ich  das  an  starken  Eindrücken  überreiche  Buch  aus  der 
Hand  legte. 

Ganz  allmählich  und  ohne  daß  ich  mir  seiner  Nachwirkung  gleich 
ganz  bewußt  geworden  wäre,  begann  ich  bei  Diskussionen,  bei  irgend- 
welcher Lektüre,  bei  Urteilsbüdungen  und  Entschlüssen  im  Alltag 
die  Dinge  nicht  mehr  für  sich  allein,  sondern  immer  mehr  und  mehr 
in  ihren  großen  Zusammenhängen  zu  betrachten.  Ich  war  auf  dem 
Wege  zum  Monismus!  Das  alles  umfassende  System  Haeckels  war 
unmerklich  und  doch  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  in  mir  lebendig 
geworden.    Mein  Wissen  hatte  sich  zur  Bildung  entfaltet! 

Bei  jeder  Gelegenheit  schlage  ich  nun  gerne  in  dem  mir  liebge- 
wordenen Buche  nach.  Da  merke  ich  mitunter  mit  Freude,  wie  mein 
Wissensstoff  in  dem  einen  und  anderen  Gegenstand  über  den  Inhalt  der 
Welträtsel  hinausgewachsen  ist.  Die  Lektüre  der  von  Haeckel  empfohle- 
nen Bücher,  vor  allem  mancher  Schriften  Verworns,  Semons  und  Tyn- 
dalls  und  des  „Monistischen  Jahrhunderts",  haben  mein  Wissen  erwei- 
tert und  vertieft.    Und  erst  hiernach  und  gerade  jetzt,  wo  ich  durch 

66 


die  monistische  Presse  von  den  fortgesetzten  Verbesserungen  früherer 
Forschungsresultate  durch  die  nie  rastende  Wissenschaft  vielfach  un- 
terrichtet bin,  weiß  ich  in  vollem  Maße  zu  würdigen,  wie  genial  die 
in  den  Welträtseln  von  Haeckel  gebotene  Grundlegung  einer  natur- 
wissenschaftlichen Weltanschauung  ist. 

Dieser  Entwicklungsgang  ist  zunächst  ein  rein  geistiger.  Es  könnte 
daher  leicht  die  Meinung  entstehen,  daß  der  Übergang  zum  Monismus 
etwas  rein  Verstandesmäßiges  sei,  wobei  das  Gemütsleben  leer  ausgehe. 
Dem  ist  aber  ganz  und  gar  nicht  so !  Bringt  er  doch  vor  allem  Wahr- 
haftigkeit, also  die  oberste  Voraussetzung  jedes  reinen  Gemütslebens! 
Gibt  er  doch  eine  die  natürliche  Sittlichkeit  bewußt  verwirklichende 
Lebensauffassung,  die  dem  Monisten  in  jeder  Lebenslage  zu  selbst- 
sicheren Entschlüssen  kommen  läßt!  Hat  uns  doch  Haeckel  im  Mo- 
nistenbund auch  schon  die  menschliche  Gemeinschaft  gegeben,  in 
welcher  sich  edles  Gemütsleben  entfalten  kann  und  zukünftig  noch 
schöner  zu  einem  neuen  Menschentume  entfalten  wird.  An  diesem 
aber  hat  jeder  von  uns  nicht  nur  empfangend,  sondern  mitschaffend 
Anteil,  und  in  diesem  Bewußtsein  liegt  das  höchste  Glück,  das  ein 
moderner  Mensch  haben  kann.  Das  danke  ich  Haeckel.  Das  wird 
ihm  die  Menschheit  von  Generation  zu  Generation  in  immer  höherem 
Maße  danken! 


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ERNST  KOERNER,  BERLIN:  EXZELLENZ  ERNST 

HAECKEL  ALS  MALER 

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Vierzig  Jahre  sind  nunmehr  verflossen,  seit  ich  im  April  1873  Pro- 
fessor Ernst  Haeckel  kennen  lernte. 

Noch  berauscht  von  dem  Zauber  des  märchenhaften  Pyramiden- 
landes ging  meine  Fahrt  mit  Carl  Stangen  nach  Palästina. 

Durch  schroffe  Klippen,  an  denen  die  Wogen  machtvoll  brandeten, 
führten  uns  kleine  Boote  nach  dem  hochragenden  Jaffa.  Von  dort 
ritten  wir  in  zwei  Tagemärschen  über  Ramleh,  vorüber  bei  Emmaus, 
immer  neue  Anhöhen  erklimmend,  durch  Berg  und  Tal,  bis  plötzlich 
dicht  vor  uns  Jerusalem  lag  mit  seinem  alten  Damaskustor  in  der 
trutzigen  Stadtmauer  und  dem  Turm  des  David.  Vor  uns  erhob  sich 
der  ölberg,  zu  unseren  Füßen  dämmerte  tief  unten  das  Tote  Meer. 

In  vierzehntägigem  Ritt,  im  Geleit  von  25  Beduinen,  Knechten  und 
Köchen  und  einem  großen  Zeltlager  erreichte  die  Gesellschaft  zuerst 
Tiberias  am  See  Genezareth  und  Caesarea  Philippi.  Dann  ging  es  über 
den  großen  Hermon  durch  das  steinige  Tal  Magia  del  Schems  (das 
Sonnental)  nach  Damaskus,  umgeben  von  einem  Paradiesesgarten. 

Von  dort  führte  der  Weg  zum  Meere  bei  Beirut  zuerst  nach  Baalbek 
mit  seinen  wuchtigen  assyrischen  Unterbauten,  auf  denen  die  gigan- 
tischen Tempel  des  Zeus  und  des  Helios  zu  den  Zedern  und  Schnee- 
feldern des  Libanons  emporragen. 

Von  Beirut  führte  uns  das  Schiff  zunächst  nach  Smyrna.  Dort 
stieg  ein  hochgewachsener  Mann  ein.  Aus  seinem  Antlitz,  umgeben 
von  blonden  Locken  und  Vollbart,  blickten  freundlich  zwei  leuchtende 
Augen  und  sein  frohes  Lachen  klang  silberhell.  Wir  hielten  ihn  für 
einen  Maler.  Das  war  der  schon  damals  berühmte  Naturforscher  Pro- 
fessor Ernst  Haeckel.  Er  schloß  sich  in  Athen  der  Gesellschaft  an, 
und  bald  kamen  wir  beide  uns  näher  in  der  gemeinsamen  Begeisterung 
für  die  schöne  Natur  und  die  herrlichen  Werke  der  Kunst. 

Wir  blickten  von  der  Akropolis  herab  auf  den  Piräus  und  die  Insel 
Salamis.  Im  Vordergrund  stand  mit  seinen  ernsten  Karyatiden  das 
Erechtheion,  vor  uns  die  Propyläen,  an  welche  sich  damals  noch  der 
dunkle  Kreuzfahrerturm  wehrhaft  ragend  anlehnte. 

Von  Athen  fuhren  wir  durch  die  Dardanellen  nach  Konstantinopel, 
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welches  mit  seinen  Moscheen  und  Palästen  wie  ein  Wunder  aus  „Tau- 
send und  eine  Nacht"  erschien. 

Hier  wollten  wir  beide  einen  Monat  verweilen.  So  folgten  wir  gern 
der  freundlichen  Einladung  des  Sekretärs  des  Konsulats,  Herrn  Rohn- 
stock,  in  seinem  zu  Pera  gelegenen,  echt  türkischen  Hause  zu  wohnen. 

Dies  Haus  aus  doppelten  Bretterwänden  gefügt,  zwischen  denen 
Mäuse  und  Ratten  umherjagten,  und  welches  im  Innern  zwar  zerfallen, 
aber  doch  recht  gemütlich  war,  eröffnete  dem  erstaunten  Blick  eine 
wunderbare  Aussicht  über  den  Bosporus  mit  dem  Leanderturm,  hin- 
über nach  Asien,  wo  Skutari  im  Morgenduft  von  blendendem  Licht 
umflossen  war. 

Am  Mittag  erschien  der  Bosporus  wie  ein  blaugrünes  Damast- 
gewebe, in  welches  die  Windstreifen  anmutige  Muster  zeichneten.  Dar- 
auf waren,  wie  eine  Perlenstickerei,  unzählige  Schiffe  mit  ihren  weißen 
Segeln  ausgebreitet.  Tief  unten  links  spiegelten  sich  in  der  kristallenen 
Flut  die  Marmorpaläste  von  Dolma  Baktsche  und  Tscheragan,  welche 
das  ganze  Ufer  weit  hinaus  umsäumten.  Dahinter  stiegen  die  üppigen 
Gärten  des  Sultans  empor.  Zu  unserer  Rechten  streifte  der  Blick  über 
das  Marmarameer  mit  den  Prinzeninseln  bis  zum  Golf  von  Mudania 
und  Brussa,  zu  den  schneebedeckten  Höhen  des  kleinasiatischen  Olymps. 

Bald  lernten  wir  unter  Rohnstocks  sprachkundiger  Führung  das 
alte  Stambul  kennen,  besuchten  die  Marställe  des  Sultans  Abdul  Azis 
mit  den  mutigen  Berberhengsten,  ritten  um  die  alten  Stadtmauern 
nach  Jedikule  am  Marmarameer  und  fuhren  im  Kaik  durch  das  Gol- 
dene Hörn  zu  den  süßen  Wassern  von  Europa. 

Überall  wanderte  das  Skizzenbuch  und  der  Malkasten  mit,  und 
Haeckel  entwarf  seine  Landschaften  mit  bewundernswerter  Schnellig- 
keit. Auch  ich  war  durch  die  kurzgemessene  Rast  auf  dem  Ritt  nach 
Damaskus  gewöhnt,  kurzentschlossen  meine  ölstudien  zu  malen,  aber 
im  Aquarellieren  kam  ich  in  der  Schnelligkeit  mit  Haeckel  nicht  mit. 

Mit  unserem  liebenswürdigen  Wirt  machten  wir  auch  Ausflüge 
nach  den  Prinzeninseln  und  nach  Brussa  in  Kleinasien.  Er  hatte  unter- 
wegs geschäftlich  zu  tun. 

Vom  Golf  von  Mudania  führte  uns  ein  Wagen  bei  einem  Wäldchen 
von  mächtigen,  rauschenden  Eichen  vorüber  zur  alten  Kalifenstadt 
Brussa.  Dieselbe  ist  hingelagert  an  den  Vorbergen  des  Olymps.  Der 
feuchte,  humose  Boden  erzeugt  üppigste  Vegetation,  besonders  die 

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schönsten  Zypressen  der  Welt.  Warme  Heilquellen,  große  Webereien, 
Meerschaumschnitzereien,  uralte  Moscheen  sind  hier  und  echt  orienta- 
lisches Leben. 

Überall  wurde  gezeichnet  und  gemalt.  Haeckel  war  ein  prächtiger 
Malerkollege,  und  ich  merkte  kaum  etwas  von  der  Tiefe  seiner  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis.  Erst  als  wir  später  den  deutschen  Konsul 
in  Brussa  besuchten,  der  ein  glühender  Verehrer  Haeckels  war  und 
seine  Werke  besaß,  auch  mikroskopierten  seine  Töchter,  da  wurde  mir 
erst  klar,  mit  welcher  Berühmtheit  ich  täglich  so  gemütlich  wanderte ! 

Wir  kehrten  erst  am  30.  April  1873  nach  Konstantinopel  zurück. 
Zunächst  unternahmen  wir  gleich  am  26.  April  den  Ritt  auf  den  Olymp. 

Durch  duftende  Rosen-  und  Mandelbüsche  blickte  man  auf  die 
schönen  Zypressen,  welche  in  saftigstem  Grün,  hochgewachsen,  die 
türkischen  Gräber  mit  ihren  steinernen  Turbanen  und  Blumen  um- 
standen. Beim  Aufstieg  hatte  man  noch  einmal  einen  herrlichen  Blick 
über  die  Stadt  und  die  Ebene.  Dann  umfing  uns  der  Frühlings wald 
mit  Rauschen  und  Vogelsang.  Und  der  ernste  Gelehrte  an  meiner 
Seite  freute  sich  wie  ein  Kind,  kannte  jede  Vogelstimme  und  nannte 
mir  die  Namen  der  zierlichen  Sänger. 

Als  wir  höher  hinauf  ritten,  veränderte  sich  das  Bild.  Ein  kahler, 
erstorbener  Wald  umgab  uns.  Kein  Blatt  bewegte  sich  an  den  rinden- 
losen Stämmen,  welche  grau,  wie  versilbert  dastanden.  Hatte  hier 
ein  Waldbrand  oder  die  Heuschrecke  gewütet?  Es  war,  als  befände 
man  sich  im  Reiche  der  Schatten! 

Plötzlich  umgab  uns  das  Dunkel  eines  Tannenwaldes  und  bald 
vollkommene  Alpenvegetation.  Hinter  einem  kleinen  Teich  öffnete 
sich  der  Blick  auf  die  Schneefelder  des  Olymps,  deren  Schmelze  sich 
hier  sammelte. 

Nun  erklärten  unsere  Führer,  daß  weder  ihre  Pferde  noch  sie  selbst 
weiter  könnten;  weil  der  Aufstieg  über  den  Schnee  zu  gefährlich  sei. 

Ich  hatte  keine  Erfahrung  im  Bergsteigen  und  Haeckel  auch  wohl 
nur  wenig,  so  stiegen  wir  beide  allein  drauflos,  ohne  jede  Scheu. 
Und  wir  hatten  Glück.  Der  Schnee  war  hart  und  trug  uns.  Haeckel 
schritt  weit  aus  und  verschwand  bald  meinen  Blicken.  Ich  fühlte  mich 
in  der  weiten,  weißen  Fläche  einsamer  als  in  der  Lybischen  Wüste ; 
aber  hinauf  mußte  ich. 

Nach  geraumer  Zeit  lag  die  Spitze  des  Berges  vor  mir,  darauf  ein 

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schwarzer  Punkt,  der,  sich  vom  Himmel  abhebend,  endlich  als  eine 
menschliche  Gestalt  zu  erkennen  war. 

Stürmisch  umarmte  mich  mein  treuer  Reisegefährte,  als  ich  oben 
ankam,  und  wir  freuten  uns  gemeinsam  innig  des  Erreichten  und  ge- 
nossen den  wunderbaren  Rundblick  zu  unseren  Füßen. 

Hinter  dem  Marmarameer  im  Norden  lag,  wie  eine  Fata  Morgana, 
das  alte  Stambul.  Von  dort  nach  Süden  schweifte  der  Blick  an  dem 
Meeresgestade  entlang.  Im  Süden  breitete  sich  die  trojanische  Ebene 
aus.  In  ihrem  Duft  erglänzte  auf  zwei  Seen  die  Sonne  Homers  goldig, 
wie  auf  dem  Schilde  des  Achilles. 

Es  bevölkerte  sich  uns  das  Gefilde  mit  den  trojanischen  Helden, 
und  in  der  einsamen  Höhe,  weit  über  den  Wolken,  waren  wir  mitten 
unter  den  Göttern  Griechenlands! 

Zum  Andenken  nahm  Haeckel  den  obersten  Stein  einer  kleinen 
Pyramide,  die  auf  dem  Gipfel  errichtet  war,  mit  und  brachte  so  die 
höchste  Spitze  des  Olymps  nach  Jena. 

Oft  haben  wir  dieser  schönen  Stunde  noch  später  gedacht,  wenn 
Professor  Haeckel  seine  Verwandten  und  Freunde  in  Potsdam  und 
Berlin  besuchte,  und  auch  mir  die  Freude  machte,  mich  und  meine 
Frau,  die  ebenfalls  mehrere  große  Reisen,  auch  Nilreisen,  mit  mir  ge- 
macht hat,  in  unserem  Heim  zu  besuchen.  Da  zeigte  er  uns  seine  ersten 
schönen  Zeichnungen  und  Aquarelle  von  den  Kunstformen  der  Natur 
und  seine  Wanderbüder.  Er  ließ  sich  auch,  wie  ein  dankbarer  Schüler, 
von  meinem  verehrten  alten  Lehrer,  Professor  Hermann  Eschke, 
künstlerischen  Rat  erteilen.  Ich  habe  immer  seinen  Fleiß  und  Ge- 
nauigkeit und  das  tiefe  Verständnis  angestaunt  und  mich  als  Maler  über 
sein  Schönheitsgefühl  und  Empfinden  für  landschaftliche  Stimmungen 
gefreut,  welche  er  auch  überzeugend  zum  Ausdruck  brachte. 

Nun  habe  ich  auch  Haeckels  Schriften  gelesen,  welche  er  mir  in 
freundschaftlicher  Weise  schickte,  auch  seine  „Welträtsel".  Ich  habe 
dabei  gestaunt  wie  zielbewußt  darin  aus  dem  Kleinsten  das  Voll- 
endetste entwickelt  ist  und  habe  erkannt,  daß  auch  dieser  kühne 
Forscher  vor  der  Kraft  ehrerbietig  haltmacht,  welche  die  erste  Be- 
wegung erzeugt  hat,  —  vor  dem  Primo  Motore  des  Leonardo  da  Vinci ! 

Mag  Haeckel  in  seiner  Wissenschaft  ein  scharfer  Kämpfer  sein, 
mir  gegenüber  ist  er  stets  duldsam  und  liebenswürdig  gewesen.  Er 
ist  mir  ein  lieber  Freund  geblieben,  den  ich  hoch  verehre! 

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N.  LEON,  JASSY:  MEIN  MEISTER  HAECKEL 


o  o  o 


Als  Student  bekam  ich  im  Jahre  1883  in  Jassy  Haeckels  „Schöp- 
fungsgeschichte" in  französischer  Übersetzung  zum  erstenmal  vor 
Augen.  Es  waren  die  herrlichsten,  die  einleuchtendsten  Vorlesungen, 
die  ich  je  gelesen  hatte!  Sie  begeisterten  mich  dermaßen,  daß  ich 
mir  die  Koffer  bereit  machte  und  nach  Jena  fuhr,  wo  ich  mich  als  stud. 
med.  et  rer.  nat.  immatrikulieren  ließ.  Da  konnte  ich  nun  den  Ver- 
fasser selbst  hören,  und  bin  jetzt  einer  von  denen,  die  sein  Werk  dreißig 
Jahre  mit  größtem  Eifer  verfolgt  haben,  die  den  Werdegang  des  Mei- 
sters als  Mensch  und  Gelehrter  mit  vollem  Interesse  begleitet  haben. 

Von  ihm  lernte  ich  es,  das  Genie  zu  bewundern,  das  Schöne  zu 
lieben  und  mich  nur  vor  der  Wahrheit  zu  beugen.  —  Wenn  auch  seine 
kostbare  Zeit  von  ernsten  Forschungen  in  Anspruch  genommen  war, 
schenkte  er  dennoch  einen  guten  Teil  seiner  Energie  dem  Unterricht, 
was  Studenten  aus  der  ganzen  Welt  anzog. 

WTie  beschäftigt  er  auch  sein  mochte,  nie  zeigte  er  sich  gestört, 
wenn  ihn  einer  von  uns  aufsuchte,  um  seinen  Rat  einzuziehen. 

Eines  Tages  ließ  er  mich  in  sein  Arbeitszimmer  rufen  und  frug  mich 
wohlgemut,  wo  ich  die  Ferien  zu  verbringen  gedächte,  und  ohne  nur 
meine  Antwort  zu  erwarten,  sagte  er  mir:  „Mußt  irgendwo  an  die  See, 
um  die  Tierwelt  des  Wassers  kennen  zu  lernen;  das  Meer  bietet  ein 
höchst  interessantes  Material  für  unser  Studium,  das  zur  Erziehung 
eines  Naturalisten  unentbehrlich  geworden  ist.  Dr.  Kükenthal  und 
Weissenborn  —  die  damals  seine  Assistenten  waren  —  fahren  nach 
Norwegen  um  die  dortige  Küstenfauna  zu  studieren,  fahren  Sie  doch 
auch  mit."  (Dr.  K.  ist  nun  Professor  und  Leiter  des  Zoologischen 
Instituts  in  Breslau,  Dr.  W.  ist  längst  verschieden.) 

Ich  werde  es  nie  vergessen,  mit  welcher  Freude,  mit  welchem  Eifer 
er  mich  bei  meiner  Rückkehr  aus  Norwegen  empfing.  Er  ließ  sich  die 
Ortschaften  auf  der  Karte  zeigen,  wo  wir  gefischt  hatten;  ich  sollte 
ihm  von  den  Tieren  erzählen,  die  wir  gesammelt  hatten,  und  von  der 
Art,  wie  wir  sie  aufbewahrt  haben. 

Was  den  Fortschritt  der  Kultur  so  schwer  macht,  ist  wohl  in  erster 
Reihe  die  Tatsache,  daß  sich  die  Schriften  der  Gelehrten  größtenteils 
nur  an  Gelehrte  richten;  sehr  wenig  Gebildete  können  sie  benützen, 
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während  die  große  Masse  des  Volkes  ihnen  fremd  bleiben  muß.  Was 
hilft  es,  wenn  Bücher  und  wissenschaftliche  Zeitschriften  täglich  er- 
scheinen, wenn  sie  nur  von  wenigen  verstanden  werden  können,  während 
die  Mehrzahl  das  Opfer  des  Aberglaubens  und  aller  mystischen  Ge- 
danken bleiben  muß?  Die  Menschheit  teilt  sich  doch  in  zwei  höchst 
ungleiche  Teile :  Einige  Bevorzugte,  die  mit  den  Ergebnissen  der  Wis- 
senschaft vertraut  sein  können,  und  alle  Anderen,  die  weit  entfernt 
davon  stehen  müssen.  Hätte  die  Menschheit  nicht  einige  Genies  wie 
Haeckel  hervorgebracht,  welche  Kraft  und  Mut  besitzen,  die  Wissen- 
schaft zu  verbreiten,  so  wäre  die  Kultur  noch  mehr  zurückgeblieben. 
Haeckel  als  Professor  und  Verfasser  hat  einen  mächtigen  doppelten 
Einfluß  auf  seine  Mitmenschen  ausgeübt :  Auf  die  Gelehrten  weit,  die 
in  ihm  den  Naturphilosophen  erkannte,  allen  Naturalisten  durch  sein 
philosophisches  Denken  und  Bildung  überlegen;  allen  Philosophen 
durch  seine  naturwissenschaftliche  Methode  und  seine  40  Jahre  lan- 
gen, so  bedeutenden  Forschungen.  Dann  der  gewaltige  Einfluß  auf 
das  Volk,  der  immer  lebhaft  bleibt,  und  dem  besonders  die  „Welt- 
rätsel" gedient  haben.  Dank  einer  genialen  Begabung,  wie  leicht  zu 
erklären,  hat  er  am  meisten  beigetragen,  Millionen  Menschen  aus  den 
Fesseln  des  philosophischen  und  theologischen  Mystizismus  zu  be- 
freien. Außer  diesen  reichen  Werken,  dem  gewaltigen  Einfluß  auf  die 
gesamte  Kultur,  übt  der  große  Meister  noch  durch  seine  Schüler  einen 
weiteren  aus.  Als  Mitglied  der  Kommission  zur  Umänderung  des 
Schulprogramms  in  Rumänien  ist  es  mir  schon  vor  15  Jahren  gelungen, 
das  Studium  des  Darwinismus  und  des  Haeckelismus  hier  ein- 
zuführen. Und  als  Beweis  dafür,  daß  es  nicht  fruchtlos  blieb,  steht  der 
jüngstgegründete  „Verein  der  orthodoxen  Frauen  Rumäniens",  der 
die  Kultur  „auf  religiöser  Basis"  erstrebt.  —  Haeckel  ist  heute  ganz 
so  bekannt  in  Rumänien  wie  in  Deutschland  und  in  der  ganzen  Welt. 


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74 


HERMANN  SCHEFFAUER,  LONDON 


o  o  o 


Ich  war  erst  zehn  Jahre  alt,  als  Himmel  und  Erde  zum  erstenmal 
vor  mir  in  Stücke  brachen.  Lebhaft  erinnere  ich  mich  dieses  Tages 
—  an  dem  ich  mich  mit  dem  ersten  Schritt  vom  Mittelalter  entfernte. 
Es  war  in  Kalifornien,  in  meiner  Geburtsstadt  San  Franzisko  —  die 
sorgloseste  und  romantischste  aller  amerikanischen  Städte. 

Dieser  Tag  war  der  Sabbath.  Ich  war  zur  Messe  und  zur  Sonntags- 
schule in  die  römisch-katholische  Ortskirche  geschickt  worden.  Ein 
kleines  Mädchen  in  der  Klasse  war  unartig  gewesen.  Die  Nonne, 
welche  die  Pflicht  hatte,  uns  unsere  Stellung  zum  Weltall  und  zur 
Priesterschaft  klarzumachen,  rief  sie  also  vor  und  schlug  sie  hart 
mit  einem  knotigen  Riemen,  der  zusammen  mit  dem  Kruzifix  an  ihrem 
Kleid  herunterhing,  quer  über  die  Beine.  Watschelnd  kam  dann  Vater 
Gerhard  herein  und  beschrieb  uns  mit  großem  dramatischen  Effekt 
die  ganze  wunderbare  Wirtschaft  der  Hölle  und  die  auserlesenen 
Qualen,  welche  uns  dort  erwarteten. 

„Denkt  an  den  Schmerz,  wenn  ihr  euch  zufällig  mit  einem  ein- 
fachen Zündholz  verbrennt,"  sagte  dieser  gute,  fette  Franziskaner 
Gottes,  „und  dann  stellt  euch  vor,  wie  es  sein  muß,  wenn  euer  ganzer 
Körper  glüht  wie  eine  Kohle!" 

Ich  ging  in  die  Schönheit  des  kalifornischen  Tages  hinaus.  Der 
blaue  Himmel  schien  schwarz  zu  sein  wie  eine  Kaminöffnung,  der 
glänzende  Sonnenschein  nur  der  Widerschein  der  Hölle,  die  frischen 
Winde,  die  vom  Stillen  Ozean  wehten,  nur  ein  Pesthauch  von  den 
höllischen  Schmelzöfen.  Ich  hatte  als  Kind  eine  sehr  lebhafte  Ein- 
bildungskraft, sogar  die  Blumen  mahnten  mich  an  jenem  Tag  an  Be- 
gräbnisse und  an  Verwesung.  Meine  ganze  Seele,  wenn  nicht  mein 
Körper,  brannte  bereits  und  litt  vorweggenommene  Qualen.  Ich  sah 
mich  verdammt.  Ich  war  bereits  zu  jener  trüben  Überzeugung  von 
Sündhaftigkeit  gelangt,  welche  das  hypnotische  Reden  der  Priester 
in  meine  jungen  wehrlosen  Ohren  geklirrt  hatte.  Erschreckt  stand 
ich  vor  dem  grauenvollen  Rätsel.  Ich  war  geboren  —  aber  warum 
hatten  mich  meine  Eltern,  sonst  so  klug  und  gütig,  in  diesen  fürchter- 
lichen Zustand  zwischen  Sternen  und  Feuern  gestoßen? 

Ein  paar  Jahre  unruhigen  Lebens,  dann  die  kalte  Gruft  in  der 

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Erde  und  die  heiße  Gruft  in  der  Hölle.  Niemand,  nur  ein  Engel, 
konnte  dem  entgehen.  Ich  beschloß,  die  Hölle  wenigstens  zu  ver- 
dienen; ich  beschloß,  ein  Verbrecher  zu  werden,  vorzugsweise  ein 
Seeräuber.  Ich  wunderte  mich  über  die  Gleichgültigkeit  meines  Vaters 
und  war  verletzt  über  seine  Scherze.  Seine  Skepsis  war  entschieden 
ein  Beweis  für  seine  Verdammnis.  —  So  war  die  Weltanschauung 
dieses  jungen  Kalif orniers  gegen  Ende  der  achtziger  Jahre. 

Diese  mittelalterliche  Idee  wurde  von  fast  all  den  andern  Sekten 
verbreitet,  welche  sich  in  der  Ultima  Thule  des  Westens  nieder- 
gelassen hatten.  Und  doch  schienen  diese  Vorstellungen  aus  irgend- 
einem Grunde  recht  schlecht  zu  einem  so  heidnischen  Lande  wie 
Kalifornien  zu  passen.  Die  Großartigkeit  der  Natur  in  ihren  kolos- 
salsten Erscheinungen,  die  hohen  Berge  und  die  Unendlichkeit  des 
Ozeans,  die  lachenden  Täler,  die  Blumen,  Früchte,  Weine  und  der 
Sonnenschein  dieses  goldenen  Hesperidenlandes  wirkten  mit  dämo- 
nischer Macht  auf  Gemüt  und  Temperament.  Der  Kalifornier  ist 
im  Grunde  seines  Herzens  ein  Heide,  der  nüchterne  Puritanismus 
von  Neu-England  hat  keine  Lebenskraft,  der  unredliche  Industrialis- 
mus  der  Oststaaten  hat  niemals  in  diesem  Italien  Amerikas  Wurzel 
gefaßt.  So  begann  mit  der  Zeit  sogar  die  Hölle  und  die  moralische 
Inquisition  und  Introspektion  ihre  Macht  über  mich  zu  verlieren. 

Obgleich  Kalifornien  voll  von  freien  und  wagemutigen  Köpfen 
und  einer  gewissen  literarischen  Atmosphäre  war,  so  war  es  kaum 
ein  intellektueller  Mittelpunkt.  Seine  Schulen  nach  amerikanischem 
Muster  waren  ausgezeichnet,  aber  keine  irrgläubige  Meinung  wurde 
bei  ihren  Lehrern  geduldet.  In  den  neunziger  Jahren  wurde  ich 
das,  was  in  jenen  Tagen  als  „broad-minded  and  liberal"  angesehen 
wurde,  ein  etwas  gefährlich  liberaler  junger  Mann,  der  mit  der  Ver- 
dammnis kokettierte.  Ich  weigerte  mich  nämlich,  in  die  Kirche  zu 
gehen  und  spottete  über  einen  persönlichen  Teufel.  Doch  hielt  ich 
immer  noch  an  dem  guten  alten  mosaischen  Gott  mit  seinem  launen- 
haften Temperament  fest  und  fand  in  der  mosaischen  Erklärung 
von  der  Erschaffung  der  Welt  nur  wenig  Fehlerhaftes.  Ein  Gedicht, 
das  ich  in  diesen  Tagen  schrieb,  enthielt  viele  fromme  Anspielungen. 

Ingersoll  lag  in  der  Luft.  Seine  grimmige  und  zermalmende  Ana- 
lysis  der  Bibel  hatte  die  Stützen  des  alten  orthodoxen  Glaubens  unter- 
miniert.  Ingersoll  war  ein  amerikanischer  Voltaire  und  ein  glänzender, 

76 


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lebhafter  Redner.  Eine  Zeitlang  betrachtete  ich  Ingersoll  und  seine 
Anhänger  als  Feinde  alles  Edlen  und  Guten.  Ich  führte  gegen  sie 
flammende  Stellen  aus  dem  durch  und  durch  düsteren  Werk  Youngs, 
den  ,, Nachtgedanken",  an.  Ein  neuer  Diskussionsgegenstand  an  den 
Küsten  des  Stillen  Ozeans  war  die  Theorie,  daß  der  Mensch  vom  Affen 
abstammen  sollte.  Kontroversen  waren  an  der  Tagesordnung.  Die 
Zeitungen  strotzten  von  Witzen  über  das  „missing  link". 

Ich  war  jetzt  in  jener  unglücklichen,  jugendlichen  Periode  von 
idealistischer  Schwärmerei  und  Byronscher  Romantik,  durch  welche 
alle,  besonders  die  mit  phantasievollem  Gemüt,  hindurchgehen  müssen. 
Bis  jetzt  hatte  ich  noch  keine  Philosophie  gefunden,  die  mich  durchs 
Leben  leiten  konnte,  und  es  lag  vor  mir  wie  eine  dunkle  und  düstere 
See,  voll  von  tückischen  Riffen  und  trüben  Stürmen.  Der  Kosmos 
war  noch  ein  verwirrendes  Chaos  streitender  Gewalten. 

Ich  las  Darwin.  Im  Lichte  dieses  großen  und  umfassenden  Geistes 
begann  mir  die  Sonne  aufzugehen.  Ein  wenig  Ordnung  kam  in  mein 
fragmentarisches  Universum.  Ich  sog  begierig  seine  Lehren  in  mich 
hinein  und  brütete  Tag  und  Nacht  über  den  fürchterlichen  Fragen, 
die  sie  in  mir  aufwühlten.  Ich  erinnere  mich,  mit  Darwins  frommer 
Zurückhaltung  sehr  unzufrieden  gewesen  zu  sein,  denn  ich  kannte 
damals  nicht  das  England,  in  dem  er  geboren  worden  war.  Ich 
wünschte,  daß  solche  revolutionären  Ideen  auch  in  einer  mehr  revo- 
lutionären Art  hätten  vorgebracht  werden  müssen,  und  sehnte  mich 
danach,  seine  Lehren  zu  ihrer  logischen  Folgerung  getrieben  zu  sehen. 
Ich  war  selber  voll  von  Auflehnung  und  erwartete,  daß  der  Mann  der 
Wissenschaft  die  Agressive  ergreifen  sollte.  Damals  wußte  ich  noch 
nicht,  daß,  wenn  die  Wahrheit  sich  entschleiert,  auch  ihre  mildesten 
Gesten  noch  Zerstörung  und  Vernichtung  bewirken.  Wir  können  die 
Stärke  der  Kette  und  die  Jahrhunderte  alte  Grenzmauer  nicht  über- 
schätzen, welche  das  damalige  England  dem  entgegenstellte,  der  es 
wagte,  in  die  Vorrechte  des  Dogmas  und  in  den  Bereich  der  Kirche 
einzudringen. 

Huxley,  Schopenhauer,  Spencer,  Feuerbach,  Büchner  kamen  mir 
nun  zu  Hilfe  und  brachten  Licht  und  Luft.  Aus  ihren  verschieden- 
artigen Gedanken,  Tendenzen  und  Lehren  heraus  und  den  Bedürf- 
nissen meines  eigenen  Temperaments  begann  ich  mir,  eine  etwas 
verschwommene  Weltanschauung  zusammenzustückeln. 
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Ganz  zufällig  stieß  ich  dann  eines  Tages  in  der  Barkhausschen 
Buchhandlung  in  der  Kearney  Street  auf  die  „Welträtsel".  Ich  kaufte 
sie  und  verschlang  davon  wenigstens  die  Hälfte  in  dieser  Nacht,  die 
andere  las  ich  gemächlicher  im  Bureau  —  ich  war  damals  noch  Archi- 
tekt. Ich  erinnere  mich  an  das  Gemisch  von  Verwunderung  und 
Freude,  das  mich  beim  Lesen  dieses  Werkes  überkam  —  ein  Gefühl, 
das  etwas  mit  dem  von  Columbus  verwandt  sein  mußte,  als  er  Land 
erblickte,  oder  dem  Baiboas,  als  er  das  Meer  von  jenem  „Peak  in 
Dariem"  entdeckte.  Mit  einem  Male  baute  sich  die  Menge  roher  und 
formloser  Blöcke,  mit  denen  ich  versucht  hatte,  mir  einen  kleinen 
Turm  für  meine  Seele  zu  errichten,  zu  einer  starken  und  umfangreichen 
Burg  auf.  Ich  wußte,  daß  das  Gebäude  noch  nicht  vollendet  war, 
und  daß  es  verwegen  auf  die  Grenze  des  Unbekannten  gestellt  war. 
Aber  ich  wurde  ein  begeisterter  Kämpe  seines  Erbauers,  Ernst  Haeckels. 
Ich  fühlte  die  fesselnde  Persönlichkeit,  den  genialen  optimistischen 
Einfluß,  den  sein  Werk  ausstrahlte.  Ich  stellte  mir  den  Ungeheuern 
Wert  dieser  Waffe  als  Propagandamittel  in  den  im  Dunkel  tappenden 
Millionen  vor.  Eine  neue  Bibel  —  eine  neue  Offenbarung,  die  in  der 
Wirklichkeit  wurzelte ! 

Ich  darf  wohl  sagen,  daß  ich  für  den  Verkauf  vieler  Exemplare 
der  „Welträtsel"  in  Kalifornien  verantwortlich  bin.  Ungeachtet  des 
Spotts  über  die  außergewöhnliche  Verbreitung  des  Werks  und  der 
für  jedermann  leichten  Faßlichkeit,  sah  ich  durch  seinen  Einfluß  die 
Bollwerke  des  konservativsten  Gedankengebäudes  unterwühlt  werden. 
Es  war  darin  noch  etwas  außer  einer  wissenschaftlichen  Dogmatik, 
ein  materialistisches  Fest  für  das  ungebildete  Proletariat.  Liebe  zur 
Menschlichkeit  und  Glaube  an  sie,  Haß  gegen  Unwissenheit  und  gei- 
stige Knechtung  rief  aus  diesem  Buch  und  rührte  Tausenden  die 
Seele  wie  ein  anfeuernder  Schlachtgesang. 

Die  Einfachheit  und  Klarheit,  mit  der  das  Buch  geschrieben  war, 
die  Ordnung  und  Systematik  der  aufgestellten  Tatsachen,  die  kühnen 
Schlüsse,  die  aus  ihnen  gezogen  wurden,  entrollten  sich  wie  ein  groß- 
artiges Panorama  vor  der  Menschen  Augen,  die  lange  genug  durch 
orthodoxe  Theologie  und  supernaturalistische  Philosophie  getrübt 
waren.  Das  Buch  war  ein  modernes  Geschütz  im  Kampf  für  eine  höhere 
Kultur,  die  auf  biologische  Wahrheit  gegründet  war.  Es  war  eine 
Synthese  von  wissenschaftlicher  und  philosophischer  Kenntnis,  ver- 

78 


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bunden  mit  Natur  und  Vernunft.  Seine  kühnen  Vermutungen  fand 
ich  anregend  und  erhabener  Ahnung  voll,  seine  Dogmatik  verständ- 
lich als  Bollwerk  eines  kriegerischen,  siegessicheren  Geistes,  eine 
Wesensart,  die  ich  in  den  Namen  „Luther  der  Wissenschaft"  zusam- 
menzufassen versucht  habe. 

Unter  den  konventionellen  oder  dualistischen  Denkern  bin  ich 
nie  einem  begegnet,  der  fähig  gewesen  wäre,  einen  der  strengen  funda- 
mentalen Grundsätze  in  Haeckels  „Welträtseln"  zu  widerlegen.  Ich 
führe  aus  dem  Gedächntis  an:  „Wenn  die  Seele  eine  natürliche  Er- 
scheinung ist,  so  ist  der  einzige  Weg,  um  sie  zu  erforschen,  dieselbe 
Methode,  mit  der  wir  auch  alle  anderen  Naturerscheinungen  durch- 
forschen —  die  der  wissenschaftlichen  Beobachtung  und  Unter- 
suchung." 

Daß  Haeckels  naturwissenschaftlicher  Monismus  im  Vergleich  mit 
anderen  Ländern  in  Deutschland  einen  größeren  Einfluß  ausüben 
konnte,  ist  nicht  nur  dem  Umstand  zuzuschreiben,  daß  Deutschland 
das  natürliche  Feld  seiner  Tätigkeit  ist,  sondern  auch  der  Tatsache, 
daß  der  ethische,  idealistische  Zug  seiner  monistischen  Naturphilo- 
sophie psychologisch  mit  dem  deutschen  Geiste  verwandt  ist.  Die 
unbestimmte  Verehrung  eines  abstrakten  Wahren,  Guten  und  Schönen 
hat  einen  Schillerschen  Glanz  um  sich  herum,  in  welchen  sich  die 
angelsächsische  Gemütsart,  die  mehr  auf  eine  entschiedene,  realistische 
Moral  bedacht  ist,  nicht  leicht  finden  kann.  Das  ist,  abgesehen  vom 
Fehlen  einer  Organisation,  einer  der  Gründe,  weshalb  der  Monismus, 
der  trotz  seiner  materialistischen  Lehrsätze  ein  rhetorisches  oder 
mystisches,  oder  vielleicht  auch  nur  poetisches  Element  in  sich  trägt, 
in  England  und  Amerika  einen  so  verhältnismäßig  kleinen  Fort- 
schritt gemacht  hat. 

Ich  glaube,  daß  auch  darin  eine  Gefahr  liegt,  den  Monismus  mit 
einer  sozialen  Ordnung  zu  verquicken,  die  auf  der  Basis  einer  duali- 
stischen, übernatürlichen  Weltanschauung  ruht.  Eine  neue  Religion, 
eine  neue  Philosophie  oder  ein  neuer  Kult  kann  heutzutage  nicht 
dauern,  ohne  daß  die  soziologischen  Seiten  und  Konsequenzen  be- 
rücksichtigt werden.  Der  gewöhnliche  Engländer  oder  Amerikaner 
hat  nicht  einmal  vom  Monismus  gehört,  oder  er  rechnet  ihn  zu  irgend- 
einem anderen  obskuren,  unklaren  „ismus",  der  nur  wenig  mit  seinen 
irdischen  Bedürfnissen  zu  tun  hat.    Und  doch  ist  der  Boden  gepflügt, 

79 


denn  die  Menge  ist  im  Herzen  heidnisch  und  hedonistisch  und  behilft 
sich  mit  einem  unbewußten  Pragmatismus  oder  hundert  phantasti- 
schen schmerzstillenden  Glaubensmitteln.  Wenn  diese  ungeheuren 
Massen,  die  jetzt  in  den  Krallen  industrieller  Verzweiflung,  ökono- 
mischer Bedrückung,  Hysterie,  Sentimentalität  und  geistigen  Be- 
trugs sind,  mit  einer  Propaganda,  die  auf  den  Verstand  und  das  Ge- 
fühl gleichmäßig  wirkt,  erreicht  werden  könnten,  so  zweifle  ich  nicht, 
daß  der  Erfolg  von  Professor  Ostwalds  Kreuzzügen  in  diesen  beiden 
großen  Ländern  verdoppelt  werden  könnte. 

Vom  Standpunkt  derEugenie  oder  Rassenveredlung  aus  betrachtet, 
ist  es  bedauerlich,  daß  zwei  so  dominierende  Geister  wie  Ernst  Haeckel 
und  Friedrich  Nietzsche  sich  nie  gesehen  haben.  Sie  oder  ihre  Ten- 
denzen ergänzen  sich  in  gewissem  Sinne.  Haeckel  hätte  die  wissen- 
schaftlichen, empirischen  und  biologischen  Begründungen,  auf  welche 
der  Philosoph  des  Übermenschen  seine  erhabene  Theorie  aufzubauen 
bestrebt  war,  bestätigen  müssen,  Nietzsche  hätte  Haeckels  wissen- 
schaftliche Entdeckungen  mehr  auf  die  Probleme  der  sozialen  Ordnung 
anwenden  müssen,  Probleme,  welchen  nachzugehen  Haeckel  wegen 
einer  ausgedehnten  Forschungstätigkeit  wenig  Zeit  hatte. 

Im  Jahre  1904  verließ  ich  Kalifornien  und  ging  ins  Ausland. 
Ich  trug  zwei  Gedichtbände  von  kalifornischen  Bewunderern  Haeckels 
bei  mir  —  eins  davon  von  mir  selbst.  Als  ich  schließlich  das  idyllische 
kleine  Jena  erreichte,  ging  ich  zu  dem  großen  Meister,  um  ihm  diese 
beiden  kleinen  Tribute  der  Dankbarkeit  zu  überreichen.  Wie  groß 
auch  meine  Anhänglichkeit  an  Ernst  Haeckel  schon  war,  so  wurde 
sie  nichtsdestoweniger  im  höchsten  Grade  verstärkt  und  besiegelt 
durch  die  direkte  Berührung  mit  dieser  begeisternden  und  glänzenden 
Persönlichkeit.  Seit  jener  Zeit  sind  wir  miteinander  in  enger  und 
freundschaftlicher  Beziehung  geblieben.  Obgleich  meine  literarische 
Tätigkeit  sich  auf  einem  Gebiet  bewegt,  das  dem  seinen  ganz  fern 
liegt,  so  bin  ich  doch  stolz  darauf,  die  Persönlichkeit  des  Mannes 
und  die  Grundzüge  seiner  Philosophie  in  verschiedenen  Artikeln  und 
Gedichten  dem  englisch  lesenden  Publikum  etwas  näher  gebracht  zu 
haben.  Ebenso  habe  ich  die  in  manchen  Kreisen  eifrig  genährte  Wahn- 
idee zu  zerstreuen  gesucht,  daß  Ernst  Haeckel  eine  Art  gefährlicher 
Menschenfresser  sei,  dazu  bitter,  pedantisch  und  voll  von  düsterem 
Haß  und  wissenschaftlicher  Bigotterie.    Für  jene,  deren  blinde  und 

80 


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unwandelbare  Abneigung  gegen  ihn  in  einer  nicht  näher  bestimmten 
Verleumdung  seines  „Materialismus"  bestand,  fand  ich  gewöhnlich 
diese  eine  feststehende  Antwort  nötig: 

„Wenn  dieser  Materialismus  imstande  ist,  Menschen  wie  Ernst 
Haeckel  zu  erschaffen,  so  wollen  wir  hoffen,  daß  er  die  Welt  erobere." 

In  vielen  Kreisen  besteht  die  sonderbare  falsche  Auffassung,  daß 
Haeckel  beanspruche,  alle  „Rätsel"  „gelöst"  zu  haben.  Diejenigen, 
welchen  das  Buch  durch  und  durch  bekannt  ist,  wissen  natürlich, 
daß  er  sie  nur  in  Frage  gestellt  und  formuliert  hat. 

Haeckels  Einfluß  in  England  und  Amerika  ist  mehr  ein  Prozeß 
langsamen  Durchdringens  als  einer  plötzlichen  Eroberung  gewesen. 
Doch  werden  wohlfeile  Ausgaben  solcher  W7erke  wie  „Das  Glaubens- 
bekenntnis eines  Naturforschers"  noch  bis  zu  Tausenden  verkauft. 
Die  Wichtigkeit  und  Notwendigkeit  davon  kann  nicht  überschätzt 
werden  in  einem  Lande  wie  England,  wo  sogar  Wissenschaftler,  wie 
z.  B.  Sir  Oliver  Lodge  —  von  den  großen  Universitäten  gar  nicht 
zu  reden  —  mit  einer  seltsamen,  unaustilgbaren  Neigung  zur  tradi- 
tionellen Theologie  und  Supernaturalismus  begabt  sind. 

In  Amerika,  diesem  Lande  so  vieler  neuropathischer  Glaubens- 
richtungen, die  wie  Pilze  entstehen,  ist  Haeckels  zerstörender  und 
negativer  Einfluß  vom  größten  Wert  gewesen  —  zugunsten  einer 
vernünftigeren  Lebensanschauung.  Es  ist  da  gewiß  noch  viel  Redens 
vom  Aussterben  des  alten  „Materialismus",  vom  Sturze  Haeckelscher 
Theorien,  vom  Kommen  eines  spiritualistischen  Zeitalters.  Laute 
Hosiannahs  sind  auf  die  Entdeckungen  wunderbarer  transzendentaler 
„Wahrheiten"  gesungen  worden,  der  spiritistische  Hokuspokus  ist 
beinah  allgemein;  aber  diese  Dinge  zerschellen  früher  oder  später 
an  dem  Bollwerk  wissenschaftlicher  Wahrheiten,  deren  feuriger  Apostel 
Haeckel  immer  gewesen  ist.  Jener  kluge  Gaukler  der  Sorbonne,  Henry 
Bergson,  hat  kürzlich  durch  seinen  mystischen  Dualismus  und  seinen 
Versuch,  die  Vernunft  dem  Instinkt  unterzuordnen,  den  immer  ent- 
flammbaren Enthusiasmus  der  Amerikaner,  besonders  der  Frauen, 
erregt.  Die  gegnerischen  Mächte,  christliche  Wissenschaft,  Behaismus, 
Katholizismus,  Neuer  Gedanke  usw.  stellen  sich  auf  getrennten  Feldern 
in  Schlachtordnung  auf.  Wenn  sich  der  Monismus  einen  erhöhteren 
Platz  in  diesem  Kuddelmuddel  von  Glauben  erringen  will,  muß  er 
eine  standhafte  und  kampfbereite  Haltung  annehmen.    Die  Vernunft 

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6     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II  8l 


muß  damit  zufrieden  sein,  ihre  Anhänger  langsam  zu  gewinnen,  und 
so  gewonnene  Anhänger  sind  sicher. 

Ich  fühle,  daß  die  Welt  dem  ehrwürdigen  Meister  gar  nicht  genug 
Ehrfurcht  bezeigen  kann,  der  so  mächtige  Brücken  über  manche 
Abgründe  gelegt  hat,  welche  die  Zivilisation  beim  Aufsteigen,  beim 
Fortschreiten  durchkreuzen.  Dieser  Tag  ist  deshalb  ein  sehr  bedeu- 
tungsvoller, von  historischer  Wichtigkeit  für  die  Geschichte  der  ganzen 
Menschheit.  Und  mit  der  größten  Liebe  und  Ehrfurcht  lege  auch 
ich  meinen  unzulänglichen  Tribut  vor  dem  nieder,  dessen  Leben,  Per- 
sönlichkeit und  Taten  allen  Wahrheits-  und  Freiheitsfreunden  allezeit 
ein  Vorbild  sein  müssen. 


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82 


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FRIEDRICH  THIEME,  WEIMAR 


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In  jedem  Leben,  das  bewußt  und  verantwortlich  gelebt  wird,  findet 
sich  eine  Periode,  in  welcher  der  Mensch  zu  diesem  Bewußtsein, 
zu  dieser  Verantwortlichkeit  erwacht.  Sie  unterscheidet  sich  in  der 
Regel  scharf  von  der  Periode  des  allmählichen  Erwachens  des  Kindes 
zum  Bewußtsein  des  eigenen  Ich  und  der  Welt,  und  zwar  durch 
ihre  sicheren,  bestimmt  umgrenzten  Umrisse  und  die  Klarheit,  mit 
welcher  alle  ihre  Geschehnisse  sich  dem  Geiste  einprägen.  Mancher 
Mensch  vermag  sogar  ganz  genau  den  Augenblick  anzugeben,  in  wel- 
chem diese  bedeutsame  Verwandlung  eingetreten  ist;  er  vermag  das 
äußere  Ereignis  zu  bezeichnen,  an  das  angeschlossen  sein  Geist  zum 
Bewußtsein  der  Welt  als  eines  Ganzen  und  seiner  Person  als  eines 
Teils  dieses  Ganzen  sich  erschloß.  Denn  darin  besteht  eben  diese 
große  Verwandlung.  Die  meisten  Menschen  leben  gedankenlos  hin; 
sie  handeln  gleich  den  Tieren  nur  nach  Instinkten,  und  wie  bei  diesen 
ist  all  ihre  Überlegung  nur  an  die  Behauptung  ihrer  Interessen  als 
Einzelwesen  gebunden.  Ihre  eigene  Person  bleibt  lebenslang  der 
Mittelpunkt  ihres  Fühlens,  Denkens  und  Handelns,  und  die  Gesamt- 
heit beschäftigt  sie  nur  insofern,  als  ihre  eigenen  Interessen  ihnen  eine 
Art  Zusammenhang  damit  erkennbar  machen.  Immer  bleibt  das 
eigene  Ich  das  armselige  Zentrum,  die  Lebenssonne,  um  die  sich  alles 
andere  bewegt.  Anders  bei  denkenden  Menschen.  Für  sie  erscheint 
früher  oder  später  der  Augenblick,  wo  ihr  Auge  über  den  engen  Kreis 
des  eigenen  Interesses  hinausblickt,  wo  sie  sich  bemühen,  die  Dinge 
von  oben  zu  sehen,  wo  der  große,  erhabene  Zusammenhang  des  Alls 
ihnen  aufgeht.  Das  ist  der  wahre  Tagesanbruch  des  Menschenlebens! 
Bis  dahin  irren  wir  halbblind  in  der  Dämmerung.  Nun  steigen  wir 
auf  den  Berg  der  Befreiung  hinauf  und  stehen  plötzlich  über  Nebel 
und  Wolken,  und  die  Sonne  der  Welt  strahlt  uns  in  voller  herrlicher 
Reine  und  zeigt  uns  Welt  und  Menschen  um  und  unter  uns  in  einem 
neuen,  alles  durchdringenden,  klaren  Lichte! 

Bei  mir  steht  dieser  geistige  Tagesanbruch,  diese  Periode  des 
Erwachens  zum  bewußten,  verantwortlichen  Leben,  in  engster  Be- 
ziehung zu  den  Namen:  Schiller,  Rousseau,  Darwin  und  Haeckel! 
Allerdings  ist  das  Leben  ein  Produkt  aus  vielen  Einzelfaktoren,  und 

83 


6* 


so  traten  später  zu  den  genannten  Persönlichkeiten  noch  einige  wei- 
tere, vor  allem  Goethe  und  Shakespeare  und  von  lebenden  Ernst 
Abbe  hinzu  — ,  aber  diese  ersten  haben  meinem  Leben  und  Denken 
die  Richtung  vorgeschrieben  —  die  Richtung  in  wissenschaftlicher, 
religiöser,  ethischer  und  sozialer  Hinsicht! 

Ich  war  etwa  zwölf  Jahre  alt  und  fing  eben  an,  die  Gartenlaube, 
die  neben  Schillers  Werken  das  Evangelium  meines  väterlichen  Hauses 
war,  mit  Eifer  zu  lesen.  Bisher  hatte  ich  mich  mit  dem  Ansehen  der 
Bilder  begnügt,  nun  begann  ich,  mich  für  den  Text  zu  interessieren. 
Es  war  der  Jahrgang  1874,  der  sich  solchergestalt  zuerst  meiner  kind- 
lichen Beachtung  erfreute,  und  für  dessen  Inhalt  ich  aus  diesem 
Grunde  zeitlebens  eine  erklärliche  Vorliebe  bewahrt  habe.  Gleich 
in  der  ersten  Nummer  dieses  Jahrgangs  fand  ich  einen  kleinen  Auf- 
satz von  Hermann  Allmers:  „Eine  Weihe".  Allmers  erzählt  darin, 
daß  er  von  seinem  lieben  Freunde  und  Wandergenossen,  dem  jungen 
berühmten  Professor  Ernst  Haeckel  in  Jena,  aufgefordert  worden  sei, 
als  Pate  bei  der  Taufe  seines  Erstgeborenen  zu  fungieren,  und  wie 
diese  Aufforderung  in  ihm  den  Gedanken  einer  dem  Tauffest  gewid- 
meten Dichtung  ausgelöst  habe:  den  Versuch,  in  dramatischer  Weise 
die  Weihe  eines  jungen  Erdenbürgers  vorzuführen,  bei  der  jeder, 
welchem  Glaubensbekenntnisse  er  zugetan  sei,  mit  ruhigstem  Gewissen 
seine  Patenstelle  einnehmen  könnte.  Die  in  jenem  Aufsatz  wieder- 
gegebene Dichtung  trug  den  Titel:  „Weihe,  ausgedacht  und  dar- 
gebracht dem  Erstgebornen  seines  lieben  Ernst  Haeckel."  Ich  weiß 
natürlich  nicht  mehr,  was  ich  beim  Lesen  der  Dichtung  gedacht  und 
empfunden  habe,  das  aber  weiß  ich  noch  wie  heute,  daß  ich  mit 
Bezug  auf  die  Stelle  des  Artikels:  „Er  (der  Brief)  kam  von  meinem 
lieben  Freunde  und  Wandergefährten,  dem  jungen  Professor  Haeckel, 
dem  berühmten  Verfechter  und  Weiterbildner  der  Lehre  Darwins" 
meinem  Vater  die  Frage  vorlegte:  „Wer  sind  denn  Darwin  und 
Haeckel?"  Vom  Tag  dieser  Frage  an  und  der  Antwort  darauf  be- 
ginnt eine  geistige  Beschäftigung  mit  dem  Namen  Haeckel,  beginnt 
die  Wirkung  seiner  Lehre  auf  meine  Entwicklung.  Durch  meinen 
teueren  Lehrer  Hermann  Gatzsche  in  Borna  bei  Leipzig,  den  hoch- 
verdienten genialen  Jugendbildner,  wurde  ich  bald  darauf  weiter  in 
die  bezügliche  Materie  eingeführt.  Gatzsche  erteilte  seinen  Schülern 
außer  dem   Unterricht  im  Zeichnen,   Turnen,   Schönschreiben  usw. 

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auch  in  jedem  Winterhalbjahr  sogenannten  „ theoretischen  Unter- 
richt". Er  beschäftigte  sich  in  seinen  Mußestunden  leidenschaftlich 
mit  Naturwissenschaft  und  schaffte  sich  mit  großen  Opfern  nach 
und  nach  ein  ganzes  Lehrmuseum  von  Demonstrations-  und  Experi- 
mentierutensilien. Aus  dem  beredten  Munde  dieses  unvergeßlichen 
Mannes,  den  seine  Schüler  wie  einen  Propheten  verehrten,  vernahm 
ich  zum  ersten  Male  die  zusammenhängende  Darstellung  der  Ent- 
stehung und  Entwicklung  von  Erde  und  Menschen  auf  Grund  der 
neusten  Forschung  —  eine  Darstellung,  die  mein  ganzes  Innere  auf- 
regte und  fortan  mein  gesamtes  Fühlen  und  Denken  beherrschte. 
Ich  entsinne  mich  noch,  wie  ich  in  der  Folge  in  der  Religionsstunde, 
als  unser  Religionslehrer  und  Direktor  bei  irgendeiner  Gelegenheit 
auf  die  Naturforschung  und  ihre  Ergebnisse  zu  reden  kam,  von  meinen 
Mitschülern  mit  den  (mehr  scherzhaft  als  bös  gemeinten)  Worten 
denunziert  wurde:  ,,Thieme  glaubt,  daß  der  Mensch  vom  Affen  ab- 
stammt!" Der  mir  sonst  sehr  gewogene  Mann,  dem  ich  ebenfalls 
hohe  Verehrung  bewahrt  habe,  fragte  mich  darauf  etwas  bestürzt: 
„Ist  das  wahr?"  und  knüpfte  daran  eine  kurze  wohlgemeinte  Be- 
lehrung. Natürlich  ohne  Erfolg.  Die  Entwicklungslehre  ward  ein 
unzertrennlicher  Bestandteil  meines  Innern,  ein  Teil  meines  eigenen 
Ich,  und  die  Namen  Darwin  und  Haeckel  leuchteten  in  Flammenschrift 
auf  ihrem  Grunde! 

So  verdanke  ich  also  Darwin  und  Haeckel  in  erster  Linie  mit  die 
Befreiung  meines  Geistes,  meine  Erlösung  aus  den  Banden  der  tradi- 
tionellen Knechtschaft,  in  welcher  ein  großer  Teil  der  Menschen  zeit- 
lebens beharrt.  Sie  gaben  mir  den  Schlüssel  zum  Verständnis  des 
großen,  erhabenen  Naturgeheimnisses,  befreiten  meine  Augen  von 
dem  Schleier,  welcher  die  klare  Anschauung  der  Dinge  verhindert. 
Kein  Wunder,  daß  meine  erste  Frage  war,  als  ich  vor  etwa  25  Jahren 
zuerst  mit  einigen  Freunden  Jena  besuchte:  „Wo  wohnt  Haeckel?" 
Jena  war  mir,  ohne  daß  ich  es  je  gesehen,  von  Kindheit  auf  wert  und 
heilig  als  Schillerstadt  und  durch  den  Ruf  seiner  freien  Universität. 
Die  Jenaer  Freiheit  aber  verkörperte  sich  für  mich  in  dem  Namen 
Ernst  Haeckel,  dem  einzigen,  welchen  ich  von  Jena  kannte.  Und 
ich  bin  es  nicht  allein,  der  die  Frage  stellte:  „Wo  wohnt  Haeckel?" 
Wie  oft  habe  ich  sie  seitdem  vernommen!  Und  wieviel  mehr  haben 
sie  gestellt,  ohne  daß  ich  sie  vernahm!    Tausende  sind  in  derselben 

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Weise  wie  ich  von  Haeckel  befruchtet  worden,  Tausenden  zeigte  er 
wie  mir  den  Weg  der  Erkenntnis,  ward  er  ein  maßgebender  Faktor 
ihrer  inneren  Entwicklung! 

Die  Wirksamkeit  eines  großen  Mannes  wird  in  zweierlei  Weise 
für  die  Kultur  fruchtbar.  Erstens  direkt  durch  seine  Werke  und  die 
Kraft  seiner  Persönlichkeit,  zweitens  indirekt  durch  den  Einfluß, 
welchen  er  auf  die  Werke  und  das  Wirken  anderer  Personen  ausübt 
und  dessen  sich  die  Verfasser  oft  selbst  nicht  einmal  bewußt  sind. 
Es  ist  natürlich  nicht  möglich,  das  unendliche,  weitschichtige  Gewebe 
dieses  indirekten  Einflusses  eines  großen  Mannes  auf  das  Schicksal 
der  Menschen,  seinen  Anteil  an  der  Urheberschaft  scheinbar  ganz 
entfernt  liegender  Errungenschaften,  seine  unsichtbare  Wirksamkeit 
im  Getriebe  der  Entwicklung  in  nackten  Zahlen  und  Tatsachen  dar- 
zulegen, aber  der  Einfluß  besteht,  er  tritt  hervor  in  der  Ernte  der 
Menschheit,  und  seine  Dauer,  seine  Tiefe,  seine  Ausdehnung  richten 
sich  nach  der  mehr  oder  minderen  Bedeutung  des  Geistes,  von  dem 
er  ausstrahlt.  Dieser  Satz  gilt  auch  für  das  Wirken  Ernst  Haeckels. 
Freilich  muß  es  der  Nachwelt  überlassen  bleiben,  einst  den  Spuren 
seiner  Erdentage  in  den  Kulturwerten  künftiger  Zeiten  nachzuforschen, 
aber  aus  der  Gegenwart  dürfen  wir  auf  die  Zukunft,  von  der  über- 
reichen Saat  auf  die  einstige  Ernte  schließen. 

Haben  wir  doch  den  Mann  und  seine  Leistungen  mit  Stolz  und 
Bewunderung  verfolgt  und  den  staunenswerten,  einzigartigen  Erfolg 
seiner  „Welträtsel"  freudig  miterlebt.  Zwar  war  sein  ganzes  Lebens- 
wirken eine  gewaltige  Kulturarbeit,  denn  wer  der  Wissenschaft  dient, 
dient  auch  der  Menschheit.  Aber  durch  die  Herausgabe  der 
„Welträtsel"  ward  aus  der  langsamen  Forscherarbeit 
einegewaltigeTat!  Er  überließ  es  nicht  der  langsam  schleichenden 
Zeit,  das  Fazit  seines  Wirkens  zu  ziehen  und  die  Ergebnisse  seiner 
genialen  Forschertätigkeit  stückweise  für  die  Menschheit  nutzbar  zu 
machen.  Er  trat  selber  als  tatkräftiger,  begeisterter  Schnitter  auf, 
um  die  Früchte  seines  Geistes  mit  eherner  Sichel  zu  mähen  und  die 
reife  Ernte  der  Menschheit  in  den  Schoß  zu  werfen! 

Und  —  wie  wir  alle  gesehen  haben  —  keiner  undankbaren  Mensch- 
heit! Es  war  just,  als  hätte  der  Verfasser  den  Menschen  mit  dem 
Buche  ein  Geschenk  überreicht,  auf  das  sie  seit  langem  sehnsuchts- 
voll gewartet  haben.  Die  Geister  harrten  des  Erlösungsrufs,  warteten 

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des  berufenen  Führers,  der  sie  aus  dem  Ägypten  der  Finsternis  hinaus- 
führen sollte  in  das  Reich  des  Lichts.  Doch  wäre  es  unrichtig,  die 
elementare  Wirkung  des  Buchs,  wie  dies  geschehen,  allein  auf  die 
allgemeine  Entrüstung  gegen  die  herrschende  politische  und  reli- 
giöse Reaktion  zurückzuführen.  Die  Gründe  sind  vielmehr,  wie  die 
Folge  bewiesen  hat,  weit  tiefere,  nachhaltigere.  Es  handelte  sich  nicht 
etwa  bloß  um  das  Aufflammen  eines  plötzlichen,  rasch  verpuffenden 
Feuerwerks,  das  nur  die  Augen  blendet,  sondern  um  die  Entfachung 
eines  Geisterbrands,  der  dem  Tempel  unserer  Seele  dauerndes  Licht 
zuführen  und  als  wärmende  Flamme  auf  dem  Herd  unseres  Herzens 
brennen  wird.  Bücher,  welche  Front  machen  gegen  die  herrschenden 
Anschauungen,  sind  vor-  und  nachher  in  Menge  erschienen.  Der 
springende  Punkt  für  die  enthusiastische  Aufnahme  des  Werks  lag 
in  der  Person  des  Verfassers.  In  der  Tatsache,  daß  es  kein  Geringerer 
als  Ernst  Haeckel  war,  der  zum  Volke  sprach!  Ernst  Haeckel,  der 
vielbewunderte  Forscher,  der  unerschrockene  Kämpfer  für  Wahrheit 
und  Licht !  Das  war  an  sich  ein  Ereignis  —  und  es  zeigte  sich,  daß  der 
still  wirkende  Gelehrte  nicht,  wie  so  manche  seinesgleichen,  bei  aller 
bewundrungswürdigen  Arbeit  im  Tempel  der  Wissenschaft,  der  Nation 
ein  Fremder  geblieben,  dessen  Name  nur  mit  einer  Art  kühlen  Re- 
spekts genannt  wird,  nein,  die  jubelnde  Begrüßung  der  „Welträtsel" 
bewies,  daß  Ernst  Haeckel  mit  seiner  Tätigkeit  bereits  tief  in  den 
Herzen  des  Volks  Wurzel  geschlagen  hatte!  Von  den  höchsten  Zir- 
keln bis  in  die  Kreise  der  Arbeiter  waren  die  denkenden  Deutschen 
nicht  allein,  sondern  die  denkenden  Geister  aller  Länder  mit  Auf- 
merksamkeit dem  Schaffen  des  großen  Forschers  gefolgt,  und  all- 
gemein war  die  Freude,  als  er  ihnen  Gelegenheit  bot,  geistigen  Anteil 
zu  nehmen  an  den  Früchten  seines  Denkens  und  Forschens.  Da 
wachten  viele  längst  begrabene  Hoffnungen  wieder  auf,  der  gesunkene 
Mut  belebte  sich.  Unter  Haeckels  Führung  durfte  man  getrost  den 
Kampf  gegen  die  Mächte  der  Reaktion  wieder  aufnehmen.  Er  war 
das  Schwert  und  die  Flamme,  sein  Name  das  Banner,  dem  die  Kämp- 
fe rschar  todesmutig  folgen  würde. 

Aber  noch  mehr:  Nicht  der  Mann  allein  stellte  sich  dar,  sondern 
er  brachte  auch  neue  Geisteswaffen  mit :  die  Waffen,  die  er  geschmiedet 
in  fünfzigjähriger  unermüdlicher  Arbeit  in  der  Werkstatt  eines  schar- 
fen logischen  Geistes,  die  er  abgerungen  der  ihre  Geheimnisse  eifer- 

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süchtig  wahrenden  Natur.  Er  hatte  ihr  die  unsichtbar  machende 
Tarnkappe  herabgerissen,  bis  in  ihre  tiefsten  Kammern  hinein  sie 
beleuchtet.  Ein  ganzes  Arsenal  von  Waffen  brachte  er  mit,  von  neuen 
großartigen  Entdeckungen;  von  Beweisen,  die  wie  Kanonenkugeln 
einschlagen  und  wie  Schwerthiebe  niedersausen  mußten.  Und  außer 
den  Waffen  heilenden  Balsam  für  innere  Wunden,  eine  beruhigende, 
den  Kampf  ums  Dasein  erleichternde  Philosophie.  Rätsel  löste  er 
und  beschwichtigte  die  Zweifel  der  Seele  und  zeigte  in  seiner  Ernte 
die  Saat  einer  neuen  Zukunft,  bestimmt,  das  Sehnen  der  Menschen 
zu  befriedigen  und  das  Reich  der  Wahrheit  zu  begründen. 

Ernst  Haeckel  hat  mit  seinen  ,, Welträtseln"  der  Bewegung  der 
freien  Geister  neue  Berechtigung  gegeben,  er  hat  die  alten  Anhänger 
zurückerobert  und  tausende  neue  hinzugewonnen!  So  wurden  die 
„Welträtsel"  zum  Ausgangspunkt  einer  gewaltigen  Geistererhebung 
mit  dem  erhabenen  Ziel  einer  neuen  Kultur.  Aus  ihrem  Samen  ent- 
sproßte bereits  eine  üppige  Literatur  voll  der  wertvollsten  Anregungen 
und  Bekenntnisse,  und  unentwegt,  unerschrocken  arbeiten  alle  Moni- 
sten an  dem,  was  Goethe  das  „wichtigste  Geschäft"  nennt:  „an  der 
Bildung  aller  Kräfte!"  Wer  weiß,  zu  welch  erstaunlichen  Resul- 
taten wir  gelangen  würden,  wenn  wir  ein  solches  Buch  auf  den  ge- 
heimnisvollen Pfaden  seiner  unsichtbaren  Wirksamkeit  zu  verfolgen 
vermöchten!  Wieviel  erhabene  Gedanken,  Worte  und  Taten  würden 
wir  antreffen,  die  ihre  ursprüngliche  Heimat  in  solchem  Buche  haben ! 
Manches  Buch  stellt  sich  geradezu  als  eine  gewaltige  Kulturtat  dar 
und  wird  zur  Ursache  großer  Geistesrevolutionen.  Man  hat  für  solche 
Bücher  die  Bezeichnung  „welthistorisch"  geprägt  und  beispiels- 
weise Rousseaus  „Emile"  ein  welthistorisches  Buch  genannt.  Nun, 
eine  Revolution  der  Geister  haben  auch  die  „Welträtsel"  hervor- 
gerufen, und  es  ist  die  Hoffnung  und  Zuversicht  jedes  Monisten, 
daß  es  auch  von  diesem  Buche  einst  heißen  wird:  „Es  war  der  Aus- 
gangspunkt jener  großen  geistigen  Umwälzung,  deren  herrliches  Er- 
gebnis die  endliche  Befreiung  des  Menschengeistes  von  dem  unwür- 
digen Zwang  und  Druck  vieler  Jahrhunderte  war.  Wir  verdanken 
ihm  eine  neue  Menschheitskultur  auf  der  Basis  wissenschaftlicher 
Erkenntnis  und  monistischer  Weltanschauung  mit  allen  Errungen- 
schaften auf  geistigem  und  materiellem  Gebiete,  die  in  der  monisti- 
schen Überzeugung  wurzeln!" 

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E.  VOGTHERR,  DRESDEN 


o  o  o 


Ich  war  ein  kaum  Zwanzigjähriger,  als  ich  Haeckels  Namen  zum 
ersten  Male  hörte.  Das  geschah  gelegentlich  der  Erörterungen  jener 
Kontroversen  zwischen  Haeckel  und  Virchow  Ende  der  siebziger  Jahre 
des  vorigen  Jahrhunderts.  Während  ich  bald  danach  zwar  des  öfteren 
Gelegenheit  bekam,  Virchow  selbst  über  seine  naturwissenschaftliche 
Stellungnahme  zu  hören,  fehlte  mir  zunächst  die  Möglichkeit,  anders 
als  aus  seinen  Schriften  auch  Haeckel  näher  kennen  zu  lernen.  Haeckels 
„Natürliche  Schöpfungsgeschichte"  war  das  erste,  was  ich  zu  studieren 
beschloß,  und  was  mich  ihm  bald  geistig  näher  führte.  Daneben  hörte 
ich  von  nahestehender  Seite  von  den  persönlichen  Beziehungen,  die 
Haeckel  mit  Konrad  Deubler,  dem  „Bauernphilosophen",  verknüpften, 
und  die  mich  Haeckel  damals  schon  als  eine  rein  menschlich  überaus 
sympathische  Persönlichkeit  kennen  lehrten.  Das  für  mich  an  diesem 
Persönlichen  besonders  Fesselnde  war  der  Umstand,  daß  hier  neben 
Feuerbach,  David  Friedrich  Strauß  und  anderen  Gelehrten  jener  Zeit- 
epoche auch  Haeckel  es  nicht  verschmähte,  in  dem  Bauernphilosophen 
von  Goisern  einen  geistigen  seif  made  man  so  zu  würdigen,  so  zu 
fördern  und  zu  begeistern,  wie  es  jener  schlichte  Mann  und  seine 
schon  recht  abgeklärte  Welt-  und  Lebensanschauung  verdienten.  In 
der  später  von  Professor  Dodel  herausgegebenen  Biographie  mit  Brief- 
wechsel Deublers  finden  sich  ja  Zeugnisse  in  Fülle  für  jene  zielstrebige 
Geistesgemeinschaft,  die  bei  gutem  Willen  den  Forscher  mit  dem 
Laien  verknüpfen  kann  und  soll,  und  in  der  auch  Haeckel  sein  eigenes 
Wort  betätigte,  daß  die  Naturphilosophie  nicht  das  Vorrecht  und  der 
Eigenbesitz  einer  Gelehrtenkaste  sein  darf. 

In  Haeckels  „Altenburger  Rede"  fiel  mir  sein  Wort  vom  „Monis- 
mus als  Band  zwischen  Religion  und  Wissenschaft"  besonders  auf. 
Ich  konnte  und  wollte  mir  es  nicht  anders  deuten,  als  so,  daß  der 
Monismus  keineswegs  eine  mir  unmöglich  scheinende  Versöhnung 
zwischen  Glaubensreligion  und  Wissenschaft  sein  oder  werden  solle, 
sondern  vielmehr,  daß  dieses  Mittelglied  wenigstens  das  erste  End- 
glied abstößt  und  ein  selbständiges  wichtiges  Glied  unserer  Gedanken- 
kette wird.    Das  paßte  ganz  in  die  Auffassung  und  Dialektik,  die, 

wenn  auch  nicht  so  präzisiert,  seit  lange  meine  und  meiner  Gesin- 

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89 


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nungsfreunde  freigeistige  Betätigung  und  Propaganda  leiteten.  Hier 
war  das  ausgesprochen,  was  diese  Geistesgebiete  bewußt  oder  unbe- 
wußt beherrschte.  Und  das  alles  war  danach  von  Haeckel  in  den 
„Welträtseln"  ausführlich  begründet. 

Wenn  ich  mir  heute  die  Frage  vorlege,  was  in  meinen  Augen  und 
in  den  mir  geistig  und  sozial  nahestehenden  Kreisen  als  der  Haupt- 
wert der  „Welträtsel"  erschien,  so  kann  ich  die  Antwort  auf  eine  kurze 
Formel  bringen,  die  zwar  nicht  den  wissenschaftlichen  Standpunkt 
des  Buches  erschöpfend  zeichnet,  sondern  mehr  seine  Wirkung  auf 
die  auch  in  bezug  auf  geistige  Bildung  Vernachlässigten  und  Ent- 
erbten. Meine  Formel  lautet:  „Ich  erblicke  die  Hauptwerte  des 
Buches  in  der  von  ihm  vollzogenen  Popularisierung  der  Natur- 
wissenschaften, —  in  der  vorgezeigten  Alleingiltigkeit  der 
Erfahrungswissenschaft,  —  endlich  in  der  zu  folgernden  Nutz- 
anwendung der  Entwicklungslehre  und  des  Monismus  auf  prak- 
tische Lebensgestaltung.  Hierzu  einiges  zur  Begründung:  Ge- 
rade das  letztere,  die  „Nutzanwendung  auf  praktische  Lebensgestal- 
tung" kann  nur  eintreten,  wenn,  von  jener  schon  erwähnten  Ge- 
lehrtenkaste abgesehen,  sich  neben  dieser  die  Naturerkenntnis  nicht 
auch  auf  die  übrigen  Intellektuellen  beschränkt.  An  die  Stelle  von 
oberflächlicher  „Naturkunde"  und  „Naturbeschreibung"  muß  in  allen 
Schulen  und  bei  aller  Naturbetrachtung  die  Naturwissenschaft,  die 
Entwicklungslehre,  die  Naturphilosophie  treten.  Soweit  hierfür  eine 
halbwegs  populäre  Lehrform  fehlte,  ist  sie  in  den  „Welträtseln"  ge- 
geben. Vielleicht  auch  noch  nicht  überall  und  ganz  verstanden  — 
(wie  kann  ein  Vierteljahrhundert  die  erzieherischen  Sünden  von  vielen 
Jahrhunderten  gutmachen?)  —  aber  doch  für  Millionen  überaus  wich- 
tig als  Anregung  dazu,  die  Gebiete  der  Naturerkenntnis  unter  anderem 
Gesichtspunkt  zu  betrachten  und  zu  benutzen  als  bisher.  So  wurde 
in  immer  steigendem  Maße  die  Naturwissenschaft,  das  Stiefkind  be- 
sonders der  Volksschulen,  im  ganzen  großen  Volke  zu  Ehren  ge- 
bracht. 

Eben  diese  Volksschule  wird  ja  fast  allenthalben  noch  immer  bei 
ihren  Erziehungsaufgaben  von  alttestamentarischen  Vorstellungen  be- 
herrscht. Jetzt  sollen  die  Erfahrungswissenschaften  den  Offenbarungs- 
und den  persönlichen  Autoritätsglauben  ausschalten.  Unbeeinflußt 
von  naturwissenschaftlichen  oder  gar  religiös-dogmatischen  Vorurtei- 
90 


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len,  tritt  die  Entwickelungslehre  den  Schöpfungssagen,  die  Vernunft 
der  Mystik,  der  Monismus  dem  Dualismus  erfolgreich  entgegen. 

Allein  der  wissensdurstigen  Menge,  die  abgeneigt  ist,  die  Philo- 
sophie, auch  die  Naturphilosophie,  als  Selbstzweck  zu  bewerten,  wür- 
den diese  neuen  Wege  nicht  genügt  haben,  ihr  Interesse  für  die  in 
den  „Welträtseln"  niedergelegten  Erkenntnisse  zu  wecken.  Diese 
Erkenntnisse  als  Wegweiser  in  das  Erdenleben,  als  Hinweis  auf  den 
durch  sich  selbst  und  für  sich  selbst  schaffenden  Menschen,  der  auch 
allein  sich  und  der  menschlichen  Gesellschaft  verantwortlich  ist, 
haben  den  „Welträtseln"  eine  Werbekraft  fast  ohnegleichen  gegeben. 
Sind  doch  u.  a.  gerade  die  drei  christlichen  Zentraldogmen:  Gott, 
freier  Wille,  Unsterblichkeit,  den  hauptsächlichen  Widerständen  gegen 
eine  soziale  Lebensbetätigung  und  Lebensverbesserung  zuzuzählen. 
Ihnen  gegenüber,  zugleich  gegenüber  Kants  kategorischem  Impera- 
tiv, als  unbedingtem  allgemein  giltigem  Sittengesetz,  führt  das  in 
den  „Welträtseln"  begründete  Gesetz  der  sittlichen  Entwicklung  zu 
einer  höheren  Bewertung  der  Stellung  des  Menschen  in  der  Welt, 
und  zu  den  daraus  sich  ergebenden  Lebenspflichten  und  Lebens- 
ansprüchen. Jene  Entwicklung  hilft  so  von  selbst  eine  Umgestaltung 
der  gesellschaftlichen  Struktur,  eine  Neugestaltung  ihrer  wirtschaft- 
lichen und  geistigen  Betätigung  vollziehen,  ganz  im  Sinne  moderner 
Gesellschaftswissenschaft,  die  die  Erreichung  des  Wohles  und  der 
Befreiung  aller  Menschen  zum  Ziele  hat. 

Dank  meiner  jahrzehntelangen  engen  Beziehungen  zu  großen  prole- 
tarischen Volkskreisen  vermochte  ich  die  geschilderte  Wirkung  der 
„Welträtsel"  auf  eben  diese  Kreise  zu  erproben.  Ich  habe  in  etwa 
30  populären  Vorträgen  über  die , ,  Welträtsel' '  genau  beobachten  können, 
wie  es  nur  eines  leicht  gangbaren  Weges  und  der  Ausschaltung  alles 
Mystischen  bedurfte,  um  die  Herzen  und  Köpfe  vieler  Zehntausende 
der  neuen  Naturerkenntnis  und  deren  praktischer  Nutzanwendung  zu 
öffnen.  Es  gibt  ja  keine  dankbareren  Hörer  als  solche,  denen  man  eine 
ihnen  bislang  gewaltsam  vorenthaltene  geistige  Erfrischung  und  Be- 
reicherung bieten  kann.  Gerade  hier  zeigte  sich  auch  die  gewinnende 
suggestive  Gewalt,  die  von  jeder  ehrlich  denkenden  und  ehrlich  wol- 
lenden Persönlichkeit  —  hier  von  Haeckel  —  ausgeht.  Vielleicht 
ist  weiten  Kreisen  Haeckels  Persönlichkeit  und  Haeckels  Wirken  auch 
noch  intimer  geworden,  wenn  man  ihnen  neben  dem  Naturforscher 

91 


und  Naturphilosophen  den  Künstler  aufzeigen  konnte.  Infolge 
Haeckels  besonderer  Genehmigung  war  es  mir  nämlich  möglich  ge- 
wesen, seine  „Kunstformen  der  Natur"  und  später  seine  „Wander- 
bilder aus  den  Tropen"  in  Lichtbildervorträgen,  deren  Zahl  in  die 
Hunderte  ging,  weiter  bekannt  werden  zu  lassen. 

Was  mich  Haeckel  persönlich  noch  näher  führte,  waren  seine 
konsequent  notwendigen  Beziehungen  und  leitenden  Einflüsse  auf 
die  Tätigkeit  der  freigeistigen  Organisationen,  denen  er  ja  durch  Be- 
gründung des  Deutschen  Monistenbundes  eine  neue  Organisation  zu- 
gesellte. Auf  dem  Internationalen  Freidenker-Kongreß  in  Rom  1904 
ragten  aus  dem  Stürmen  und  Drängen  einer  vielgestaltigen  internatio- 
nalen Menge  Haeckels  Person  und  Haeckels  „Thesen  des  Monismus" 
hervor.  Man  muß  es  verstehen,  wenn  den  dort  überwiegenden  roma- 
nischen Elementen,  mit  ihren  z.  T.  ganz  anders  gearteten  geistigen 
Interessen,  die  ganze  wichtige  Tragweite  jener  Thesen  noch  nicht 
gegenwärtig  sein  konnte.  Es  wächst  auch  hier  das  Große  nur  im  Lauf 
der  Zeit.  Soviel  war  uns  allen  dort  aber  gewiß,  daß  die  geistig  ziel- 
bewußte und  dabei  menschlich  so  überaus  gewinnende  Persönlichkeit 
Haeckels  dem  ganzen  Freidenkertum  als  ein  bedeutsamer  Wegweiser 
der  Zukunft  gilt. 

In  dem  notwendig  unermüdlichen  Bereichern  unseres  Wissens  auf 
allen  Gebieten  hat  jeder  täglich  und  stündlich  die  Entwicklungs- 
theorie praktisch  zu  betätigen.  Das  „starre  System"  der  umfassenden 
schon  endgültigen  Erkenntnis  wird  daher  folgerichtig  auch  von 
Haeckel  abgelehnt.  Gerade  dieser  von  ihm  ganz  besonders  hervor- 
gehobene Satz,  daß  er  sich  durchaus  nicht  anmaßt,  alle  Welträtsel  zu 
lösen,  daß  ihre  Lösung  z.  T.  einer  späteren  Zeit  vorbehalten  bleibt, 
wurde  ja  lange  Zeit  von  Haeckels  Gegnern  geflissentlich  verschwiegen, 
und  außer  von  Du  Bois-Reymond  auch  von  Reinke,  Brass,  Dennert 
e  tutti  quanti  mit  dem  „Ignoramus  et  Ignorabimus"  erwidert.  Das 
„Ignorabimus"  wäre  ja  die  Ertötung  und  Lähmung  des  Willens  und 
würde  den  Aberglauben  an  die  menschliche  Schwachheit  als  eine  neue 
Schranke  gegen  ferneres  Vorwärts-  und  Aufwärtsstreben  errichten. 
Haeckel  zeigte  uns  dagegen,  daß  Geschlecht  auf  Geschlecht  alles 
Gute  und  Nützliche  mit  nie  versiegender  Kraft  aus  sich  heraus  ent- 
wickeln kann. 

Trotz  alledem  und  alledem. 

92 


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FRAU  FANNY  DAXENBICHLER,  SALZBURG 


o  o  o 


Wie  ich  zum  Monismus  kam,  und  welchen  hervorragenden  Anteil 
Ernst  Haeckel  dabei  hatte,  möchte  ich  an  dieser  Stelle  erzählen, 
um  damit  dem  Ehrenkranze  für  unseren  hochverehrten  Jubilar  ein 
bescheidenes  Blättchen  aufrichtigster  Dankbarkeit  beizufügen. 

Es  war  im  Frühling  1900,  als  mir  ein  Freund,  der  meine  Vorliebe 
für  philosophische  Schriften  kannte,  ein  Buch  brachte  mit  dem  Titel : 
„Welträtsel,  Studien  über  monistische  Philosophie  von  Ernst  Haeckel". 

Schon  das  Titelbild  nahm  mich  gefangen.  Der  bedeutende  Kopf 
des  Verfassers  mit  den  strahlenden  Augen,  der  humoristisch  lächelnde 
Mund  verrieten  mir  auf  den  ersten  Blick,  daß  dieser  Mann  etwas  zu 
sagen  hatte.  Mit  Feuereifer  vertiefte  ich  mich  in  das  Studium  des 
Buches,  welches  einen  gewaltigen  Eindruck  auf  mich  ausübte.  Die 
wissenschaftliche  Bedeutung  desselben  zu  beurteilen,  war  ich  damals 
natürlich  nicht  imstande;  auch  bin  ich  heute  der  Ansicht,  daß  der 
Wert  des  Werkes  hauptsächlich  darin  besteht,  daß  Haeckel  fast  das 
ganze,  ungeheure  Gebiet  wissenschaftlicher  Fragen  und  der  daraus 
resultierenden  Weltanschauung  vor  dem  gebildeten  Laien  aufgerollt 
hat,  um  ihn  in  den  Stand  zu  setzen,  selbständig  über  diese  Probleme 
nachzudenken.  Er  wollte  die  Menschen  zum  monistischen  Denken 
erziehen  und  ihnen  dadurch  dasselbe  große  Glück  verschaffen,  wel- 
ches er  selbst  im  Monismus  gefunden  hat.  Wem  es  gelingt,  ihm  auf 
jene  reinen  Höhen  zu  folgen,  wird  es  auch  im  reichsten  Maße  finden. 

Durch  die  „Welträtsel"  wurde  ich  zum  Studium  einschlägiger  Werke 
angeregt,  der  liebenswürdige  Meister  in  Jena  unterstützte  mich  mit 
seinen  wertvollen  Ratschlägen  in  bezug  auf  die  Wahl  der  Bücher 
und  Schriften,  und  so  kam  ich  im  Laufe  der  Jahre  zur  wissenschaft- 
lichen oder  monistischen  Weltanschauung.  Sie  befriedigte  meinen 
Verstand,  die  mächtig  erwachte  Liebe  zur  Natur  in  gleicher  Weise 
mein  Gemüt,  und  die  schwere  Bedrängnis,  in  welche  ich  im  Kampfe 
zwischen  zwei  Weltanschauungen  geraten  war,  löste  sich  in  schönste 
Harmonie  auf. 

Als  der  Monistenbund  gegründet  wurde,  sandte  mir  Haeckel  selbst 
die  einführenden  Schriften  und  Satzungen.  Ich  trat  demselben  so- 
fort bei,  als  die  Zahl  seiner  Mitglieder  das  erste  Hundert  noch  nicht 
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93 


erreicht  hatte,  und  bin  demselben  bis  zur  Stunde  ein  treues  Mitglied 
geblieben. 

In  all  diesen  Jahren  eifrigen  Strebens,  besonders  durch  die  liebe- 
volle Vertiefung  in  Haeckels  Schriften,  wuchs  meine  Sehnsucht  nach 
persönlicher  Bekanntschaft  mit  dem  Verfasser  immer  mehr.  Mitte 
März  191 1  folgte  ich  einer  freundlichen  Einladung  Haeckels  und  fuhr 
in  Begleitung  meiner  Nichte  nach  Jena.  Es  würde  mir  sehr  schwer 
werden,  die  Gefühle  zu  beschreiben,  welche  mich  auf  dieser  Reise 
beseelten.  Halb  war  es  reine  Freude,  halb  Bangigkeit,  und  schon 
etwas  mehr  der  letzteren  ließ  mein  Herz  höher  schlagen,  als  ich  das 
traute  Heim  betrat,  wo  Ernst  Haeckel  ein  stilles  Dasein  führt.  Allein 
jede  Unsicherheit  war  sofort  verschwunden,  als  ich  der  gewinnenden 
Persönlichkeit  desselben  gegenübertrat.  Zug  um  Zug  stimmte  das 
Bild  meiner  Phantasie  mit  der  Wirklichkeit  überein,  ja  meine  Er- 
wartungen wurden  weit  übertroffen  durch  sein  liebenswürdiges,  ver- 
trauliches Entgegenkommen.  Er  zeigte  uns  seine  Bilder  und  Kunst- 
schätze, führte  uns  in  das  phyletische  Museum,  welches  leider  noch 
nicht  vollendet  war,  und  ließ  uns  in  seinem  Arbeitszimmer  im  Archiv 
verweilen.  Dort  erzählte  er  uns  von  seinem  Leben,  von  der  Freude, 
welche  ihm  die  vielen  zustimmenden  Briefe  bereiteten,  aber  auch 
von  den  schweren  Enttäuschungen  und  Kränkungen,  unter  denen 
er  gelitten.  Ich  werde  nie  den  Unterton  tiefer  Wehmut  vergessen, 
welcher  in  seiner  Stimme  zitterte,  als  er  in  bescheidener  Weise  sagte: 
,,Ich  glaube,  doch  etwas  geleistet  zu  haben."  Mit  tiefer  Bewegung 
konnte  ich  ihm  nur  versichern,  daß  eine  Zeit  kommen  werde,  wo  man 
besser  als  heute  wissen  wird,  wieviel  er  geleistet  hat. 

Es  wurde  mir  in  dieser  Stunde  mehr  denn  je  klar,  daß  der  Wert 
Haeckels  nicht  bloß  in  seinen  Werken,  sondern  ebensosehr  in  seiner 
Persönlichkeit  liegt.  Sein  lauterer  Charakter,  die  große  Milde  und 
Güte  seines  Wesens,  sein  Mut  und  tapferes  Ausharren  im  Kampfe 
geben  ein  leuchtendes  Beispiel  edler  Menschlichkeit,  uns  allen  ein 
nachahmenswertes  Vorbild!  Allein,  wo  sind  die  vielen,  die  berufen 
wären,  ihn  im  Kampfe  zu  unterstützen?  Er  steht  fast  allein,  aber 
unerschütterlich  auf  seinem  Standpunkte. 

So  waren  zwei  Stunden  im  Fluge  vergangen.  Am  andern  Morgen 
besuchten  wir  Weimar.  Das  persönliche  Erlebnis  war  aber  in  mir  noch 
so  stark,  daß  mir  selbst  Goethe  nicht  recht  lebendig  werden  wollte. 
E]ggBjggggE]gggggggggggggggggggggE]E]E]E]B]EiE]E]EiE]EiE!E]E]E]E]E]E]B]B]E]Ei 

94 


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Abends  waren  wir  Haeckels  Gäste  in  einer  kleinen  Wirtschaft 
an  der  Peripherie  der  Stadt.  Die  Zeit  eilte  unter  anregenden  Gesprä- 
chen dem  Abschiede  entgegen,  der  seine  Schatten  bereits  vorauswarf 
und  mich  allmählich  verstummen  ließ.  Es  war  eine  wundervolle, 
aber  kalte  Nacht,  als  wir  uns  trennten.  Der  Mond  beleuchtete  hell 
die  noch  winterlich  kahlen  Fluren  und  verklärte  mit  seinem  Glänze 
auch  das  schneeweiße  Haupt  Ernst  Haeckels.  Schweigend  betrachtete 
ich  die  kraftvolle  Gestalt,  um  sie  meinem  geistigen  Auge  fest  einzu- 
prägen mit  der  bangen  Frage:  „Werde  ich  ihn  wiedersehen?"  Ja, 
so  sollte  ich  ihn  auch  nicht  wiedersehen,  denn  wenige  Wochen  später 
traf  ihn  der  schwere  Unfall,  der  ihm  die  Bewegungsfreiheit  raubte 
und  ihn,  wie  er  scherzend  sagt,  zum  „monistischen  Klosterbruder" 
machte. 

Der  Tag  der  Abreise  brach  an,  und  wir  mußten  den  bereits  lieb- 
gewonnenen Ort  wieder  verlassen.  Ein  Besuch  bei  einem  lieben 
Freunde,  mit  dem  ich  mich  eins  weiß,  sowohl  in  der  Gesinnung  als 
in  der  Liebe  zu  unserem  Meister,  ließ  auch  die  Wehmut  dieser  Ab- 
schiedsstunde in  sanfteren  Tönen  verklingen.  Als  ich  aus  dem  rasch 
enteilenden  Zuge  noch  einen  letzten  Blick  auf  das  sanft  ansteigende 
Städtchen  warf,  welches  Haeckel  bereits  ein  halbes  Jahrhundert  als 
Wohnstätte  dient,  entrang  sich  meinem  Herzen  der  aufrichtig  ge- 
fühlte Wunsch:  „Möge  unserem  geliebten  Lehrer  und  Führer  daselbst 
noch  ein  langer  und  friedlicher  Lebensabend  beschieden  sein,  und 
mögen  sich  in  fernen  Zeiten  die  Dichterworte  bewahrheiten: 

„Die  Stätte,  die  ein  guter  Mensch  betrat, 
Ist  eingeweiht;  nach  hundert  Jahren  klingt 
Sein  Wort  und  seine  Tat  dem  Enkel  wieder." 


95 


ALFRED    VON    WEBER,    WIEN:    ERNST    HAECKEL 
UND  SEIN  EINFLUSS  AUF  DIE  TECHNISCHE  KUL- 
TUR DER  GEGENWART 

o  o  o 

Das  Ingenieurwesen  als  Grundlage  der  heutigen  technischen  Kultur 
fußt  streng  auf  dem  Boden  der  Naturwissenschaft,  denn  nur 
die  genaue  Kenntnis  der  Natur  und  der  in  ihr  enthaltenen  Energie- 
quellen ermöglicht  es,  diese  zu  beherrschen,  beziehungsweise  derart 
zu  lenken,  daß  ihre  Wirkungen  in  kulturelle  Arbeit  umgesetzt  werden. 

Demgemäß  ist  auch  die  Ausbildung  des  Ingenieurs  schon  von 
den  ersten  Studien,  beziehungsweise  von  der  Realschule  an  darauf 
bedacht,  den  Studierenden  mit  allem  bekannt  zu  machen,  was  zur 
Beobachtung,  Untersuchung,  Erforschung  und  Erkenntnis  der  Natur 
und  ihrer  Gesetze,  sowie  zur  schöpferischen  Gestaltung  künstlerisch 
Kulturwerke  unter  dem  Gesichtspunkte  bereits  vorhandener  oder 
erst  anzustrebender  Kulturziele  erforderlich  ist. 

Schon  in  der  Realschule  wird  daher  die  Mathematik,  Physik, 
Mechanik,  Biologie  und  Chemie  sowohl  auf  Grund  von  Lehrbüchern 
als  auch  in  Laboratorien  und  in  der  freien  Natur  sorgfältig  gepflegt 
und  die  Darstellung  der  Natur  durch  Zeichnen,  Malen  und  Model- 
lieren gelehrt,  wobei  insbesondere  der  Lehre  von  der  wissenschaft- 
lich genauen  Darstellung  aller  Formen  und  räumlichen  Beziehungen 
überhaupt  durch  die  hochentwickelte  „deskriptive  Geometrie"  in 
höchstem  Maße  Rechnung  getragen  wird.  Durch  den  Unterricht  in 
den  modernen  Kultursprachen  und  deren  Literaturen,  sowie  der  Ge- 
schichte überhaupt,  wird  das  Verständnis  der  Gegenwart  und  ihrer 
Kultur  erschlossen  und  der  Studierende  befähigt,  das  Arbeitsideal 
der  modernen  Völker  der  Gegenwart  aus  ihren  großartig  entwickelten 
Literaturen  zu  erfassen  und  die  schwierigen  Fachkenntnisse  seines 
Berufes  dem  täglichen  phänomenalen  Aufstieg  derselben  anzupassen 
und  zu  vertiefen.  Das  Verdorren  und  die  Verbildung  des  jugendlichen 
Gehirnes  durch  einen  ganze  Jahre  anhaltenden,  trockenen,  gramma- 
tikalischen Drill  und  die  viel  zu  weitläufige  Beschäftigung  mit  dem 
längst  aufgegebenen,  arbeitsverachtenden  und  ästhetisierenden  Kultur- 
ideal der  Antike  ist  hierbei  vermieden.  An  den  technischen  Hoch- 
schulen selbst  wird  in  diesem  Sinne  weiter  gearbeitet  und  der  moderne 

96 


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Ingenieur  auf  Grund  intensivster  Vorbereitung  in  der  höheren  Mathe- 
matik, Mechanik,  den  Naturwissenschaften,  insbesondere  der  Geo- 
logie, der  Geodäsie  und  Astronomie,  der  Physik,  Chemie  und  Tech- 
nologie, sowie  in  den  Staats-  und  volkswirtschaftlichen,  historischen 
und  kunsthistorischen  Disziplinen,  insbesondere  aber  durch  Ver- 
mittlung der  hochentwickelten  ingenieurwissenschaftlichen  Fächer 
dahin  theoretisch  und  praktisch  ausgebildet,  die  schwierigsten  Inge- 
nieurwerke des  heutigen  so  überaus  vielseitig  und  hochentwickelten 
Kulturlebens  zu  planen,  alle  wirksamen  Kräfte  und  Widerstände  oft 
mit  dem  Aufgebot  schärfsten  mathematischen  Denkens  zu  berechnen, 
die  Werke  planlich  derart  festzulegen  und  den  Kosten  nach  fest- 
zustellen, daß  darnach  die  Ausführung  derselben  mit  aller  Sicherheit 
des  Erfolges,  welchen  das  ernste  praktische  Leben  erfordert,  gewähr- 
leistet wird. 

Ungeheure  Energien  werden  durch  den  Ingenieur  der  Kultur- 
welt zur  Verfügung  gestellt  und  Werke  geschaffen,  welche  noch  vor 
hundert  Jahren  als  unglaubliche  Utopien  bezeichnet  worden  wären, 
jetzt  aber  nicht  nur  die  physische  Oberfläche  der  Erde,  sondern  auch 
unser  ganzes  gesellschaftliches  und  geistiges  Leben  in  allem  umge- 
staltet haben,  um  es  zu  ungeahnter  Entwicklung  und  Vollendung  zu 
führen. 

Diesem  Wesen  des  Ingenieurs  gemäß  ist  er  mit  Notwendigkeit 
darauf  angewiesen,  alle  Fortschritte  der  allgemeinen  Naturwissen- 
schaften, soweit  sie  nicht  technische,  von  ihm  selbst  gepflegte  und  ge- 
schaffene Naturwissenschaften  sind,  —  denn  auch  der  Ingenieur  ist 
in  hervorragendster  Weise  Naturforscher,  wie  könnte  er  sonst  Natur- 
beherrscher sein  ?  —  aufmerksamst  zu  verfolgen  und  sie  für  die  hohen 
Zwecke  menschlicher  Kultur  auszunützen,  daneben  aber  auch  seine 
eigene  Stellung  mitten  im  Getriebe  der  ihn  umbrausenden  Energien 
und  der  ihn  umflutenden  Erscheinungen  der  mannigfachen  Natur- 
schauspiele klar  zu  erkennen  und  als  wichtiger  Steuermann  mensch- 
licher Kultur  den  Kompaß  der  allgemeinen  Entwicklung  im  Auge 
zu  behalten. 

Diese  Stellung  des  Menschen  in  der  Welt  aufzuklären,  zu  erfor- 
schen, klar  und  mutig  darzustellen  und  bis  zu  den  letzten  Konse- 
quenzen durchzuführen,  ist  das  große  und  unsterbliche  Verdienst 

Ernst  Haeckels,  für  welches  ihm  die  ganze  Menschheit,  im  höchsten 

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7     Haeckel-Festschrift.  Bd.  II  97 


Maße,  aber  auch  im  besonderen  die  Träger  der  technischen  Kultur 
und  wissenschaftlichen  Energiebeherrscher,  ich  meine  die  Ingenieure, 
zu  unvergänglichem  Danke  verpflichtet  sind. 

Wir  können  es  ruhig  aussprechen,  daß  es  keine  wissenschaftlich 
gebildeten  Ingenieure  gibt,  welche  dem  tiefen  Einfluß  Haeckels  in 
allen  für  die  Technik  in  Betracht  kommenden  Naturwissenschaften 
nicht  gefolgt  wären  und  welche  nicht  mindestens  die  „Natürliche 
Schöpfungsgeschichte"  und  die  für  weitere  Kreise  geschriebenen 
populären  ,, Welträtsel"  eingehend  studiert  und  den  Ergebnissen 
dieser  Werke  zugestimmt  hätten. 

Es  ist  dies  auch  ganz  natürlich,  da  der  Ingenieur  seiner  ganzen 
Ausbildung  und  Kulturtätigkeit  nach  nur  auf  dem  Boden  natur- 
wissenschaftlicher Tatsachen,  die  ihm  die  Gewähr  für  den  Bestand 
und  Erfolg  seiner  Werke  bieten,  zu  stehen  und  alles  Veraltete,  Wider- 
legte und  sogenannte  „Metaphysische",  d.  h.  über  oder  neben  der 
Natur  Stehende,  abzulehnen  gezwungen  ist. 

Dies  weiß  auch  unser  großer  Meister  Ernst  Haeckel  ganz  wohl 
und  spricht  es  auch  an  mehreren  Stellen  unumwunden  aus,  daß  die 
Entwicklungslehre  mit  allen  Konsequenzen  neben  den  wissenschaft- 
lich arbeitenden  Medizinern  in  der  Ingenieurwelt  die  meisten  und 
überzeugtesten  Anhänger  besitzt. 

Dieser  entwicklungstheoretische  Standpunkt  findet  allerdings, 
namentlich  soweit  es  sich  um  das  Ingenieurwesen  handelt,  in  der 
modernen,  zum  großen  Teile  von  Ingenieuren  gegründeten  und  an- 
gewendeten, so  überaus  fruchtbaren  neuen  Wissenschaft  der  „Energe- 
tik" eine  herrliche  Ergänzung  und  Vervollkommnung,  welche  im 
Sinne  eines  zweiten  Geistesheros,  ich  meine  Wilhelm  Ostwald,  auf 
alle  Gebiete  menschlicher  Kultur  mit  unbestreitbarem  und  durch- 
schlagendem Erfolge  angewendet  und  seither  in  allen  Weltteilen  von 
unzähligen  Geistern  aufgefaßt  wurde  und  weitergepflegt  wird. 

Von  diesem  Haeckel-Ostwaldschen  entwicklungstheoretisch-ener- 
getischen Standpunkte  aus  betrachtet  lösen  sich  alle  Rätsel  der  Kultur 
und  Technik,  sowie  der  Welt-  und  Lebensanschauung  und  Gestaltung 
spielend  in  einfache  wissenschaftliche  Erfahrungsprobleme  auf,  welche 
uns  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  weitaus  genügend  klar 
vor  Augen  stellen,  um  allen  Kulturaufgaben  in  materieller,  geistiger 
und  ethischer  Hinsicht  gerecht  zu  werden. 

98 


pB]B]ggggE]ggggggggggggggggE]gggg§E]E]E3E]E]gEiE]EiE]B]3]E]G]E]B]E]E]E]E]E]E] 

Und  wenn  auch  die  Naturerkenntnis  und  Naturbeherrschung  noch 
unendliche  Ziele  hat,  so  daß  wir  erst  in  einem  unendlichen  Zeitpunkte 
—  von  der  Eventualität  des  früheren  Eintreffens  einer  irdischen 
Katastrophe  oder  der  Zunahme  der  Entropie  unseres  Sonnensystems 
abgesehen  —  in  den  Besitz  der  vollen  Erkenntnis  restlos  gelangen 
können,  so  verhält  es  sich  damit,  um  bildlich  zu  sprechen,  wie  mit 
der  Asymptote,  welche  die  Hyperbel  in  der  Unendlichkeit  berührt. 
Wir  sehen  die  Hyperbel,  wir  sehen  die  Asymptote  vor  uns  und  be- 
gnügen uns  mit  dem  klaren  Bilde  beider,  ohne  den  metaphysischen 
Wunsch  zu  hegen  oder  uns  metaphysischer  Verzweiflung  darüber  zu  er- 
geben, daß  wir  den  Berührungspunkt  der  Asymptote  mit  der  Hyperbel 
niemals  erreichen  werden.  Nur  ein  weltfremder  Metaphysiker  kann 
behaupten,  daß  uns  die  Hyperbel,  die  wir  doch  genauestens  kennen 
und  berechnen  und  zu  unzähligen  Kulturproblemen  verwenden,  als 
unerforscht  und  unerklärlich  aus  dem  Grunde  gelten  könnte,  weil 
wir  diesen  Berührungspunkt  nicht  mit  Händen  greifen  können.  Wir 
kennen  dies  eben  nur  deshalb  nicht,  weil  dieser  Punkt  in  unendlicher 
Entfernung  liegt,  einer  Entfernung,  die  dem  Mathematiker  vertraut 
ist,  die  er  mit  dem  Zeichen  <x>  bezeichnet  und  mit  der  er  die  schwie- 
rigsten Probleme  der  höheren  Analyse  durchführt,  ohne  auf  Wunder 
oder  Rätsel  zu  stoßen. 

Das  Leben  ist  nach  Ausdehnung  und  Zeit  groß  und  reich  genug, 
durch  Milliarden  von  Jahren  Milliarden  von  Menschen  fruchtbringend 
zu  beschäftigen,  ohne  daß  wir  es  nötig  hätten,  in  melancholischen 
Gehirnwirbeln  dem  fabelhaften  ,,Ding  an  sich"  der  Metaphysiker 
nachzujagen.  „Willst  du  ins  Unendliche  schreiten,  geh'  im  Endlichen 
nach  allen  Seiten!" 

Diese  einfache,  klare  Auffassung  der  Welt  und  ihres  Geschehens 
verdanken  wir  in  erster  Reihe  Ernst  Haeckel.  Er  zeigte  uns,  daß  die 
Welt  der  Erscheinungen  die  wirkliche  Welt  ist  und  neben  derselben 
keine  andere  geheimnisvolle  und  unerkennbare  besteht,  er  zeigte  uns, 
daß  die  Erscheinungen  allerdings  nur  Beziehungen  unserer  Sinne  zu 
den  Gegenständen  und  Vorgängen  der  Welt  sind,  daß  aber  eben  diese 
Sinne  sich  in  äonezlanger  Entwicklung  den  Gegenständen  so  an- 
gepaßt haben,  daß  wir  alle  ihre  Eigenschaften,  die  für  uns  irgendwie 
von  Belang  sind,  auch  in  richtiger,  unanfechtbarer,  praktisch  brauch- 
barer  und  zu  Kulturzwecken  entwickelbarer  Weise   erkennen   und 

7*  99 


3333333E]ggE]ggE]ggE]gggE]E]E]E]E]g]E]G]E]B]E]5]5]S]E]s]5]5]s]l!5]s]3335]3SEl§]Ss] 
einschätzen.  Er  zeigte  uns,  daß  alle  Erscheinungen  des  Lebens, 
welcher  Art  immer  sie  sein  mögen,  den  Naturgesetzen  unterworfen 
sind,  welche  keine  Sprünge  kennen,  und  daß  die  Unterschiede  des 
anorganischen,  organischen  und  geistigen  Lebens  nur  gradueller  Natur 
sind,  indem  alles  Geschehene  nur  auf  der  notwendigen  Arbeit  der 
von  Natur  aus  im  freien  Zustande  ewigen  rastlosen  Substanz  beruht, 
ob  es  sich  nun  um  die  chemische  Anziehung  von  Atomen  oder  um  den 
Energieumsatz  der  chemischen  Stoffe  unserer  Nahrung  in  Arbeit  der 
Gehirnganglien  handelt.  Er  zeigte  uns  die  Entwicklung  des  Tier-  und 
Pflanzenreiches  auf  Grund  der  Paläontologie,  der  vergleichenden 
Anatomie  und  der  Ontologie  und  erklärte  sie  überaus  einleuchtend 
durch  das  von  ihm  gefundene  biogenetische  Grundgesetz,  welches 
zu  den  höchsten  Errungenschaften  menschlichen  Geistes  gehört. 

Er  zeigte  uns  die  Entwicklung,  die  das  Menschengeschlecht  von 
den  unscheinbarsten  Anfängen  genommen,  und  wies  uns  die  Perspek- 
tive ungeahnter  Möglichkeiten  hinsichtlich  der  weiteren  Entwicklung 
in  der  Zukunft. 

Er  hat  uns  damit  ein  System  frühester  Lebensbejahung  und  ein 
reiches  Arbeitsprogramm  für  die  Zukunft  geschaffen,  welches  zu  er- 
füllen der  Zweck  aller  Kultur  ist. 

Seit  Haeckels  „Natürliche  Schöpfungsgeschichte"  im  Jahre  1868 
erschienen  ist,  ist  fast  ein  halbes  Jahrhundert  verflossen,  ein  Zeit- 
verlauf, der  die  ahnungsvollen  Voraussagungen  dieses  Forschers  und 
Sehers  in  glänzendster  Weise  bestätigt  hat. 

Der  ungeheure  Aufschwung  menschlicher  Kulturtätigkeit  seit 
dieser  Zeit  ist,  am  Maßstabe  der  Arbeit  vergangener  Jahrtausende 
gemessen,  ein  so  großer,  daß  er  das  Erstaunen  künftiger  Jahrhunderte 
hervorrufen  wird. 

Die  Entwicklung  der  Eisenbahnen  und  Wasserstraßen,  der  Regu- 
lierung der  Flüsse  und  der  Bodenmelioration,  der  Aufschwung  der 
Städte  mit  ihren  Hoch-  und  Straßenbauten,  Wasserleitungen,  Kanälen, 
das  Telegraphen-  und  Telephon wesen,  die  Seeschiffahrt  mit  ihren 
schwimmenden  Palästen,  die  Hafenanlagen  mit  gigantischen  Vor- 
richtungen zum  Beladen  und  Entladen  der  Schiffe,  die  Luftschiff- 
fahrt, die  Unterseeboote,  das  Maschinenwesen  mit  zahllosen  Arbeits- 
arten und  -kräften,  deren  Möglichkeit  vor  einigen  Dezennien  noch 
für  undenkbar  gehalten  worden  wäre,  der  Phonograph,  Kinemato- 

311SSggggggggggggggggggggggggEiE]E]EiG]E]E]BiEiE]E]E]E]B]E]E]E]E]EiE]gB]gEi 
IOO 


graph,  die  Übertragung  elektrischer  Energie  auf  große  Distanzen 
und  deren  Umsetzung  in  Bewegung,  Licht  und  Wärme,  die  groß- 
artige Entwicklung  der  Naturwissenschaft  und  aller  auf  sie  gegrün- 
deten, kulturellen  Tätigkeit,  alles  dies  kennzeichnet  einen  Aufschwung 
großartigster  Entwicklung,  wie  ihn  nur  die  biologisch  begründete 
Entwicklungslehre  begreifen  und  erhoffen  dürfte.  Auf  allen  diesen 
Gebieten  menschlichen  Schaffens  hat  sich  der  Entwicklungsgedanke 
als  außerordentlich  fruchtbar  und  unendlich  anwendbar  erwiesen. 

Heute  ist  dieser  Gedanke  zu  einer  festen  Theorie  geworden  und 
zu  einem  gesicherten  Besitz  der  Wissenschaft,  der  stillschweigend 
angenommen  und  von  keiner  ernst  zu  nehmenden  Seite  mehr  an- 
gefochten wird.  Es  handelt  sich  nicht  mehr  um  Hypothesen,  sondern 
um  feststehende  Tatsachen  und  gegebene  Richtungslinien  für  die 
Zukunft,  die  niemals  mehr  nach  rückwärts  gelenkt  werden  können. 

Dem  Programme  dieser  Sammelschrift  folgend,  habe  ich  mich 
auch  damit  zu  befassen,  wie  ich  mit  den  Ideen  Ernst  Haeckels  be- 
kannt wurde  und  welchen  Einfluß  sie  auf  mich  und  meine  Fachkreise 
ausgeübt  haben.  Es  wird  sich  daraus  ein  anschauliches  Bild  ergeben, 
wie  Ernst  Haeckels  Ideen  nach  und  nach  in  alle  Lebensberufe  ein- 
gedrungen sind  und  auf  diese  bestimmend  eingewirkt  haben.  Es  wer- 
den sich  aber  auch  daraus  die  Schwierigkeiten  ergeben,  die  neuen, 
noch  so  fruchtbringenden  Ideen  stets  entgegengestellt  zu  werden 
pflegen,  bis  sie  zum  Gemeingute  der  Menschheit  werden. 

Da  ich  die  regelrechte  Ausbildung  als  Ingenieur  erhalten  habe, 
so  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  sich  mein  Geist  in  rein  naturwissen- 
schaftlichen Bahnen  bewegte,  wozu  auch  private  Beschäftigung  mit 
Astronomie,  Chemie  und  Biologie  wesentlich  beitrug.  —  Die  erste 
Bekanntschaft  mit  den  Entwicklungsideen  machte  ich  im  Jahre  1870 
in  einem  Alter  von  17  Jahren  durch  die  Lektüre  von  Büchners  „Kraft 
und  Stoff",  welches  hervorragende  Werk  zu  damaliger  Zeit  von  meinen 
Kollegen  an  der  K.  K.  Technischen  Hochschule  in  Wien  viel  gelesen 
und  besprochen  wurde.  So  sehr  mich  dieses  Werk  begeisterte,  so 
ließ  es  doch  bei  seiner  allgemeinen  theoretischen  Fassung  noch  viele 
unaufgeklärte  Lücken  zurück,  und  erst  die  „Natürliche  Schöpfungs- 
geschichte" Ernst  Haeckels,  die  im  Jahre  1875  in  meine  Hände  kam, 
fesselte  mich  dermaßen,  daß  ich  mich  von  dem  Buche  bis  zum  Aus- 
lesen nicht  mehr  trennen  konnte.  —  Mit  einem  Male  fielen  mir  alle 

IOI 


Schuppen  von  den  Augen  and  ich  blickte  freudig  in  eine  Welt  der 
■  Aufklärung  und  des  1  ichtes,  Bald  daraui  studierte  ich  auch  Haeckeh 
Generelle  Morphologie  der  Organismen*4  mit  größter  Aufmerksam- 
:  keit  und  Bewunderung  für  den  Verfasser  durch,  Soit  dieser  Zeit 
;  habe  ich  fast  alle  Werke  Haeckels  gesammelt  and  studiert  und  von 
I  jedem  derselben  eine  wesentliche  Bereicherung  and  Befestigung  meines 
;  Wissens  empfunden,  Gam  besonders  gilt  das  von  der  Anthropogenie, 
die  ich  ontei  Nachskiwueruniz  aller  Zeichnungen  aufmerksamst  stu- 
:  dierte  and  besonders  hochschätzte.  Ebenso  stelle  ich  auch  die  „Welt- 
rätsel"  und  du-  „Lebenswunder"  außerordentlich  hoch, 

Dei  Gedanke,  die  Entwicklungstheorie  auf  alle  Gebiete  der  Technik 
anzuwenden,  kam  mir  sofort.    So  suchte  ich  in  der  Entwicklung 
|  architektonischer  Formen  Anknüpfungspunkte  an  die  Entwicklung 
lehre  ra  finden,  was  nur  auch  iura  reue  namentlich  hinsichtlich  der 
Atavismen,  der  Anpassung  und  Vererbung  gewisser  Formen  usra 
gelang,   Das  Ergebnis  dieser  Studien  habe  ich  im  Jahre  1870  in  einem 
Vortrage  im  Ingenieur-  und  Architekten-Verein  in  Prag  unter  dem 
Titel  „Morphologie  der  architektonischen  Stilarten"  niedergelegt 
Im  Übrigen  hauptsächlich  mit  [ngenieurwerken  beschäftigt,  habe 
!  ich  namentlich  bei  den  Wasserbauten  manche  Anknüpfungspunkte 


I  an  den  Entwicklungsgedanken  gefunden,  die  ich  in  einem  größeren 
i  Werke  über  den  „Gebirgswasserbau  im  alpinen  Etschbecken"1)  nieder- 
i  legte,  in  welchem  ich  die  Stelle  des  Menschen  und  der  menschlichen 
\  Kultur  bei  der  Anpassung  der  Gewässer  an  die  Kulturbedingungen 
I  wohl  .mm  erstenmal  im  Sinne  des  Entwicklungsgedankens,  wie  ich 

ihn  durch  Ernst  Haeckels  Schriften  in  mich  aufgenommen  hatte. 

darstellte  und  durchführte, 

Per  dieses  Werk,  durch  welches  der  moderne  Gebirgswasserbau 
rundet  wurde,  durchziehende  Entwicklungsgedanke  ist  am  besten 

aus  der  Einleitung  iu  entnehmen,  welche  ich  in  dankbarer  Erinnerung 

der  erhaltenen  Anregungen  dem  Meister  Ernst  Haeekel  im  Jahre  i> 

sandte. 

Bei  Dun&führung  der  Einielheiten  dieses  Werkes  habe  ich  häutig 

mit  unrichtigen  Vorstellungen  bu  kämpfen  gehabt,  welche  vierfach 

an   biblische   Fabeln   erinnern,   so   .um   Beispiel,   daß  der  natürl.. 

M  Wien  .  >  •  .-    \...  hagen  n.  SVhurich.    83  Drw  Dsxtfigursn 

BiMin  1-Y>1.. 

•  ••■  •  "•;iaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa3aaaaaaaE!33si33i 

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S]g^gG]GjG]gggggggggG]gG]gggggggG]GjG]G]gs]gG]gG]G]G3GjG]G]G]GiG]GiB3B]gG]G3GjG3 

j  Zustand  der  Flüsse  und  Wildbäche  urspi 

:  Gott   •  Hand"  tadellos   tnd  paradiesisch  zufn< 

I  tmd  erst  dttrcli  das  frevelhafte  Eingreifen  d< 

Einbauten  und  Entwaldung         ttörf  Diesei  Ge- 

danke  war  nach  den  furchtbaren  übei 
liehen  Alpentälern  im  Jahre  ;;'   -  .  -  r,  daß  nur  in 

.'  ickkehr  zur  .         .  in  dem  Anheben  aller  Wasser  b.- 
in  der  ausschließlichen  Auffoi  im  größten  Stil  das  Heü 

Zukunft  erwartete. 

In  dem  erwähnten  großen  Werke  und 

Schriften  habe  ich  in  unwiderL  g        t  Weise  den  ihrt, 

daß  diese  Fabel  ganz  anzutreffend  i 

Der  natürliche  Zustand  der  G  \  solcher  mit 

starker  Geschiebeftihrung  ist  mch  h,  was 

on  daraus  hervorgeht,  daß  rieh  das  I '<•         1er  nur  dem  '         Itnis 
der  lelnden   '•"  d   und  <\<-.:   Geschiebezufuhi        >aßt, 

irob  ndlich  auf  die  menschliche  Kultur  mar.; 

denkfähigen,   d.   h.   mit  ren-   und   Ganghei 

sehenen  Subjektes  in  b  ommen  wo 

konnte. 

Demgemäß  baut  s       der  Fluß  immer  höher  und  höher 
förmig  nach  oben,  also  in  einem  den  Kulturbedürfnissen  ent{ 
gesetzl  geformten  Talquerprofi]  auf,  bis  er  sein  Bett  durchreißt  und 
die  Talniederung  z  md  in  Besitz  nimmt.  —  Der  natürliche  Zu- 

stand d  ist  daher  durch  Versumpfunj    /    Störung,  Krank- 

tmd  Hind        g  jeglicher  höherer  Kultur  gekennzeichr. 

o  habe  ich  für  alle  großen  Schuttkegel  des  Etschtales  nach« 

:n,  daß  sich  dieselben  niemal-,  im  Zustande  einer  paradiesischen 

Ruhe  befanden,  welch  üblich   erst   durch  Entwaldungen  gestört 

..mcntlioh  die  fra:./ 
ume   an   der  Spitze,   als  zweifellos  darstellten,   sondern  vielmehr 
alle  Ortschaften    irsprimghch  an  ga.- /  dcherten  Stellen 

angelegt  waren  und  letzten  Kulturper;-  nur  durch 

iurbaul         .f  die  gefährdet«       teilen  der  Schutt 
..konnten.  —  [cl  lufGrun        akter  Daten  tmd  lokalen 

(drangen  für  Meran,  Bozen,  Lavis,  Trient  und  Rovereto  zweifellos 
nachgewiesen. 


Bei  allen  diesen  Forschungen  hat  mich  der  Gedanke  geleitet,  den 
Kampf  des  Menschen  mit  der  Natur  sowie  die  fortschreitende  An- 
passung und  Vererbung,  wie  sie  im  Entwicklungsgesetz  und  im  bio- 
genetischen Grundgesetz  Haeckels  ausgedrückt  erscheint,  in  den  Kunst- 
bauten des  Menschen  zu  erkennen  und  darzustellen. 

Zu  meiner  großen  Freude  habe  ich  immer  gefunden,  daß  ins- 
besondere auch  das  letztere  Gesetz,  diese  unvergleichliche  Großtat 
Haeckels  auch  auf  die  wasserbauliche  Tätigkeit  des  Menschen  in 
überraschendster  Weise  anwendbar  ist,  daher  auch  hier  die  Probe 
auf  seine  Richtigkeit  besteht. 

Diese  Wahrnehmung  hat  mich  auf  die  Idee  gebracht,  an  der  tech- 
niscsen  Hochschule  in  Wien  als  Privatdozent  Vorträge  über  die 
Waserwirtschaf  t  im  Zusammenhange  mit  den  entwicklungstechni- 
schen und  energetischen  Leitgedanken  in  den  Jahren  1911  und  1912 
abzuhalten,  welche  ich  aber  nicht  wieder  aufgenommen  habe,  um  mich 
der  literarischen  Tätigkeit  ungehindert  zu  widmen.  Auch  während 
meiner  zweijährigen  Tätigkeit  als  supplierender  Professor  des  Wasser- 
baues und  Meliorationswesens  an  der  K.  K.  Technischen  Hochschule 
in  Brunn  habe  ich  die  gleiche  Gedankenrichtung  mit  Vorliebe  gepflegt. 

Ähnliche  Beziehungen  zwischen  anderen  ingenieurwissenschaft- 
lichen Berufen  und  der  Entwicklungstheorie  wurden  seither  auf  allen 
Gebieten,  so  dem  Eisenbahnwesen,  dem  Maschinenwesen,  der  Mecha- 
nik, Chemie  usw.  in  zahllosen  Fällen  nachgewiesen,  und  es  ist  in  den 
letzten  Jahren  eine  kaum  zu  übersehende  technischnaturwissenschaft- 
liche, technisch-historische,  technisch-wirtschaftliche  und  technisch- 
philosophische Literatur  entstanden,  welche  zu  sammeln,  zu  sichten 
und  zu  einem  eigenen  Zweige  der  Entwicklungslehre  zu  gestalten 
schon  einen  eigenen  Lebensberuf  in  vollkommen  erschöpfender  Weise 
bildet. 

Schon  gehen  die  Ingenieure  auch  daran,  die  Arbeitskraft  des 
Menschen  wissenschaftlich  zu  analysieren  und  zu  organisieren,  wie 
dies  in  Amerika  durch  Taylor  begründet  und  als  „scientific  manage- 
ment"  („wissenschaftliche  Betriebsführung")  dort  in  den  größten  staat- 
lichen und  privaten  Betriebe  eingeführt  ist.  Welche  ungeahnte  Folge- 
rungen kultureller  und  sozialer  Natur  sich  hieraus  ergeben,  braucht 
nicht  näher  ausgeführt  zu  werden. 

Die  Erkenntnis,  Beherrschung  und  Umsetzung  aller  natürlichen 

IO4 


Energien  mit  dem  größten  Güteverhältnis  bzw.  den  geringsten  Ver- 
lusten im  Sinne  des  Entwicklungsgesetzes  Haeckels  und  des  ener- 
getischen Imperativs  Ostwalds  zum  Nutzen  der  Gemeinwirtschaft 
der  Nation  ist  es  ja  eben,  wodurch  unsere  ganze  moderne  Kultur  der 
Gegenwart,  die  ihresgleichen  in  der  Weltgeschichte  nicht  findet,  ent- 
standen ist  und  einer  ungeahnten  Zukunft  materieller  und  ethischer 
Vollendung  entgegengeht. 

Durch  den  Entwicklungsgedanken  haben  sich  alle  Kulturziele  und 
Ideale  vollkommen  verändert  und  haben  eine  früheren  Zuständen 
gegenüber  unvergleichliche  materielle  und  sichtliche  Höhe  erreicht. 

Weitaus  überholt  ist  das  Ideal  des  klassischen  Altertums,  der 
Zeit  der  Sklaverei,  die  im  Herrschen  und  in  vornehmer  ästhetisieren- 
der  Selbstbetrachtung  das  Ideal  sah,  die  wirkliche  nutzbringende  und 
aufopfernde  Kulturarbeit  aber,  das  Höchste,  was  wir  heute  kennen, 
selbst  in  ihrer  größten  künstlerischen  Vollendung  nur  als  niedrige 
Sklavenbeschäftigung  mit  Verachtung  ansah. 

Vorüber  ist  das  Ideal  der  Lebensverneinung  und  Abkehr  von 
irdischer  Kulturtätigkeit  in  der  Hoffnung  auf  ein  besseres  Jenseits. 

Kein  neuer  Glaube,  aber  die  klare  Erkenntnis  ist  in  uns  aufge- 
stiegen, daß  wir  auf  dieser  schönen  und  fruchtbaren  Erde  mit  allen 
Fibern  unseres  hochorganisierten  Wesens  voll  edelster  Kräfte  hängen, 
und  daß  wir  auf  Grund  der  Naturerkenntnis  es  als  größte  Aufgabe 
betrachten  müssen  und  dies  auch  freudig  können  und  sollen,  unsere 
in  Millionen  Generationen  veredelte  und  erstarkte  Arbeitskraft  so 
zu  verwerten,  daß  die  der  strahlenden  Energie  der  Sonne  entnommene 
chemische  Energie  unserer  Nahrung,  mit  Hilfe  der  hochwertigen 
Energiemaschine  der  Ganglien  unserer  Großhirnrinde,  unserer  Ner- 
ven, unseres  Muskel-  und  Gefäßsystemes  mit  dem  denkbarst  größten 
Nutzungskoeffizienten  in  wahre  Kulturarbeit  zum  Nutzen  der  Ge- 
samtwirtschaft der  Nation  umgesetzt  werde. 

Ein  Jahrhundert  geheiligter  Kulturarbeit  bricht  glorreich  und 
verheißungsvoll  an  zum  Segen  der  Menschheit,  und  wenn  dies  der 
Fall  ist,  so  hat  hierzu  der  Entwicklungsgedanke,  hat  hierzu  unser 
hochverehrter  großer  Meister  Ernst  Haeckel  so  Großes  und  Unver- 
gleichliches getan,  daß  wir  ihn  nicht  mit  Galilei,  nicht  mit  Kopernikus, 
sondern,  um  ein  altes  Bild  zu  brauchen,  nur  mit  Prometheus  ver- 
gleichen wollen,   der  der  armen  gequälten   Menschheit   die  lebens- 

105 


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spendende  Flamme  vom  Himmel  seines  großen  Geistes  und  Wissens 
und  seines  gütigen  menschenfreundlichen  Herzens  gebracht  hat. 

Wir  Ingenieure  stellen  Ernst  Haeckel  noch  weit  über  Darwin,  denn 
er  war  es,  der  mit  der  Tiefe  und  Gründlichkeit  deutschen  Geistes, 
mit  ungeheurer  Arbeit  eines  langen,  reichen  Lebens,  den  Zusammen- 
hang der  pflanzlichen  und  tierischen  Stämme  mit  Zuhilfenahme  der 
Paläontologie,  der  vergleichenden  Anatomie  und  der  Ontologie  in  noch 
nicht  dagewesener  Weise  so  exakt  erforschte,  daß  er  es  wagen  konnte 
und  durfte,  detaillierte  Stammbäume,  angefangen  von  der  Zelle  bis  zu 
allen  Spitzen  der  höchst  komplizierten  organischen  Arten  und  bis  zu 
ihrem  Endgliede,  dem  Menschen,  aufzustellen,  Stammbäume,  die  ent- 
weder ein  dauernder  Besitz  der  Wissenschaft  geworden  sind,  oder  aber 
wertvolle  Programme  und  Wegweiser  künftiger  Forschungen  bilden. 

Er  war  es,  der  zuerst  den  Mut  hatte,  die  letzten  Konsequenzen 
seines  Wissens  in  offener,  wahrhafter  und  unendlich  schlichter  und 
ehrlichen  Weise  zu  ziehen,  und  der  die  leuchtende  Fackel  der  Wahr- 
heit in  die  Geistesdämmerung  eines  in  ausgebreiteten  Schichten  noch 
rückständigen  Geschlechtes  erhob. 

An  dieser  Fackel  haben  sich  aber  heute  schon  Millionen  Leuchten 
entzündet  und  Millionen  Menschen,  die  sich  mit  ihrem  Geiste  einfach 
ehrlich  und  reinlich  auseinandersetzen  wollen,  arbeiten  heute  an  tau- 
senden  Stätten  der  Wissenschaft  und  des  Forschens  im  Geiste  Haeckels 
und  seiner  Lehre. 

Wer  so  Großes  schuf,  dem  konnten  auch  die  Leiden  des  Prometheus 
nicht  erspart  werden. 

Die  Dankbarkeit  der  ganzen  Menschheit  und  eines  kommenden 
Jahrtausends  wird  ihm  hierfür  ein  genügender  Ersatz  sein. 

Es  ist  kaum  nötig,  sich  eingehender  mit  den  Einwürfen  zu  befassen, 
welche  Haeckel  entgegengehalten  werden,  sie  wurden  häufig  genug 
von  allerberuf ensten  Seiten  schlagend  widerlegt. 

Wir  wollen  hier  nur  kurz  die  hauptsächlichsten  Einwendungen 
erwähnen. 

So  hört  man  beispielsweise  des  öfteren,  Haeckel  gründe  seine 
„Hypothese"  auf  unbewiesene  Spekulationen,  schleudere  gefährliche 
Schlagworte  in  die  Massen  und  überschreite  seinen  Wirkungskreis  und 
sein  Fachgebiet  als  Biologe,  indem  er  in  einem  anderen  „Fach",  der 
„Philosophie"  dilletantisch  hervortrete. 

106 


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Daß  diese  „Hypothesen"  längst  Theorien  sind  und  einen  festen 
und  gesicherten  Besitz  bilden,  ohne  die  der  Betrieb  der  modernen 
Wissenschaft  überhaupt  nicht  mehr  denkbar  wäre,  ist  jedem  Forscher 
und  Mann  der  Wissenschaft  so  klar,  daß  er  über  die  krassen  Mängel 
jeglicher  naturwissenschaftlicher  Kenntnisse  in  sonst  gebildeten  Krei- 
sen staunen  würde,  wenn  es  nicht  allzu  bekannt  wäre,  in  welch  hohem 
Maße  die  Drillung  des  jugendlichen  Geistes  in  den  Gymnasien  mit 
rein  formaler  Sprachgymnastik  jegliche  freie  Geistesbetätigung  lähmt, 
und  bei  vielen  Menschen  für  das  ganze  Leben  geradezu  die  Fähig- 
keit logischen  Denkens  ertötet.  —  Solche  Menschen  trösten  sich  da- 
mit, daß  die  Wissenschaft  überhaupt  nichts  wisse,  daher  man  mit 
dem  gleichen  Rechte  glauben  könne,  was  man  wolle.  —  Der  Bestand 
des  fabelhaften  „Dinges  an  sich",  die  vollständige  Verschiedenheit 
der  physischen  und  geistigen  Erscheinungen  und  dergleichen  sind  in 
diesen  Kreisen  feststehende,  wenn  auch  noch  so  falsche  Vorstellungen. 

Das  grundlegende  Gesetz  alles  Weltgeschehens,  die  Entwicklungs- 
theorie und  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie,  die  Grundlage 
der  heutigen  Technik  und  der  Natur-  und  technischen  Wissenschaften, 
welche  die  heutige  moderne  Kultur  geschaffen  haben,  ist  in  diesen 
Kreisen  so  wenig  bekannt  wie  die  Atom-  und  Molekulartheorie,  die 
Elektronen-  und  Äthertheorie  und  so  vieles  andere  mehr. 

Der  zweite  häufigst  gehörte  Anwurf  ist,  daß  man  Haeckel  als 
Biologen  achte  und  schätze,  ihm  aber  auf  das  Gebiet  der  Philosophie, 
die  nicht  sein  Fach  sei,  nicht  folgen  könne. 

Wessen  Fach  ist  denn  eigentlich  die  „Philosophie"? 

Philosophie  als  Lehre  vom  Zusammenhange  aller  Erscheinungen 
des  Weltgeschehens,  einschließlich  selbstverständlich  auch  des  so- 
genannten „geistigen"  Lebens  ist  doch  nur  die  Zusammenfassung  der 
Ergebnisse  aller  Naturwissenschaften,  denn  nichts  steht  außer  der 
Natur,  und  die  Erfahrung  lehrt,  daß  alle  „Geisteswissenschaften" 
nur  insofern  fruchtbar  sind,  als  sie  nach  naturwissenschaftlichen  Me- 
thoden behandelt  werden,  so  daß  nach  und  nach  eine  große  Zahl 
von  früheren  „Geisteswissenschaften"  wie  die  Mathematik,  Logik, 
Psychologie,  Jurisprudenz,  Ethik,  Ästhetik  usf.  zu  den  Erfahrungs- 
wissenschaften eingerückt  sind,  während  die  „Metaphysik",  welche 
sich  seit  Jahrtausenden  als  für  das  Leben  gänzlich  unfruchtbar  und 
wertlos  erwies,  sich  immer  noch  im  Übersinnlichen,  also  dort,  wo  man 

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IO7 


weder  etwas  wahrnehmen,  noch  empfinden  und  denken  kann,  be- 
findet. 

Wer  soll  nun  die  philosophischen  Endergebnisse  der  Naturwissen- 
schaften ziehen?  Jedenfalls  nur  ein  Fachmann  mit  naturwissenschaft- 
licher Bildung,  der  die  naturwissenschaftlichen  Methoden,  ihre  Art 
zu  arbeiten  kennt,  und  in  so  vielen  Fächern  bewandert  ist,  daß  er 
eine  Übersicht  sämtlicher  Zweige  von  der  Hochwarte  wissenschaft- 
licher Erkenntnis  erlangen  kann.  —  Hierzu  sind  nur  die  allergrößten 
Gelehrten  der  Naturwissenschaft,  ein  Haeckel,  ein  Ostwald,  ein  Mach, 
ein  Rubner,  ein  Wundt  und  derartige  Geistesgrößen  befähigt  und 
berufen. 

Nur  ganz  ausnahmsweise  können  hierzu  auch  andere  Denker  be- 
fähigt sein,  wenn  sie  die  Resultate  der  Naturwissenschaften  durch 
aufopferungsvolles  fleißiges  Studium  treu  und  ehrlich  in  sich  auf- 
nehmen und  nach  den  Methoden  naturwissenschaftlichen  Denkens 
weiterverarbeiten.    Es  gibt  auch  solche. 

Wie  groß  aber  die  Gefahr  einer  irrigen  Gesamtauffassung  der 
Natur  bei  naturwissenschaftlichen  Laien  ist,  zeigt  sich  am  besten 
bei  Nietzsche,  der  trotz  seines  großen  Genius,  seiner  phänomenalen 
Sprachbeherrschung  und  seines  überkühnen  Mutes  das  Darwinsche 
Gesetz  vom  Kampfe  ums  Dasein  so  vollständig  falsch  verstanden  hat, 
daß  er  durch  seine  ,, Herrenmoral"  den  rückständigsten  und  kultur- 
widrigsten Tendenzen  eine  willkommene  Handhabe  gab.  Er  hat, 
wie  ja  bekannt  ist,  übersehen,  daß  der  Mensch  kein  einzelstehendes 
Raubtier,  sondern  das  Mitglied  einer  heute  schon  hochorganisierten 
menschlichen  Gesellschaft  ist,  welche  sich  auf  gegenseitige  Hilfe- 
leistung gründet,  wodurch  der  „Kampf  ums  Dasein"  ganz  andere 
Formen  annimmt,  als  Nietzsche  dies  geglaubt  hatte. 

Die  diesbezügliche  Lücke  in  den  Werken  Darwins,  die  Darwin 
übrigens  wiederholt  angedeutet  hat,  wird  gegenwärtig  von  vielen 
Soziologen  und  auch  von  Biologen,  beispielsweise  Rudolf  Goldscheid 
und  Paul  Kammerer  in  vielversprechender  Weise  bearbeitet. 

Wie  eine  eiserne  Mauer  steht  den  Ideen  Haeckels  immer  noch  die 
Phalanx  der ,, Erkenn tnistheoretiker"  und  „Erkenntniskritiker"  gegen- 
über, und  es  erübrigt  an  dieser  Stelle  um  so  mehr,  sich  vom  Stand- 
punkt der  technischen  Wissenschaft  und  Kultur  mit  diesen  Gegnern 
auseinanderzusetzen,   als   es  nach   außen   hin   den  Anschein  haben 

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108 


könnte,  daß  die  „Wissenschaft"  als  solche  sich  gegen  das  Evolutions- 
gesetz und  gegen  Haeckel  ablehnend  und  negierend  verhalten  würde. 
Dies  ist  jedoch  keineswegs  der  Fall,  wie  sich  aus  der  nachstehenden 
Erwägung  ergibt. 

In  jeder  wirklichen  Wissenschaft,  welche  Stufe  sie  in  der  von 
Auguste  Comte  zuerst  angelegten  und  von  Ostwald  ergänzten  Pyra- 
mide der  Wissenschaften  von  der  Logik  und  Mathematik  be- 
ginnend, über  die  energetischen  und  biologischen  bis  zu  den  psycho- 
logischen, ethischen  und  den  Kulturwissenschaften  auch  haben  mag, 
kann  jegliche  Erkenntnis  von  Tatsachen  und  Vorgängen  ausschließ- 
lich nur  aus  der  Erfahrung  und  dem  Versuch,  dem  Experiment  ge- 
schöpft werden. 

Aus  Reihen  verschiedenartigster  und  übereinstimmender,  ihrem 
Wesen  nach  erkannten  Tatsachen,  ergeben  sich  anfangs  provisorische, 
mit  gewissen  Vorbehalten  angenommene  Theorien  (Hypothesen),  die 
sich  bei  zunehmenden  Erfahrungen  zu  feststehenden  Theorien  für 
so  lange  verdichten,  als  nicht  neue,  bisher  unbekannt  gewesene  Tat- 
sachen hinzutreten,  an  welche  sich  die  Theorie  entweder  anpassen 
oder  aufgegeben  werden  muß,  um  neuen  Theorien  Platz  zu  machen. 
Theorien  und  Formeln  sind  nur  zur  Übersicht  der  Naturerscheinungen 
gebildete  auszugsweise  und  nach  gewissen  Gesichtspunkten  gesichtete 
Protokollierungen  wirklicher  Tatsachen,  haben  also  nicht  nur  den 
Wert  der  Tatsachen  selber,  sondern  auch  noch  den  durch  die  Arbeit 
der  Gehirnenergie  dazu  getanen  Mehrwert  von  oft  millionenfachen 
anderen  Erfahrungen,  die  mit  den  bestimmten  Beobachtungen  in 
den  Gehirnganglien-  und  Assoziationsbahnen  im  Zusammenhange  ver- 
arbeitet wurden. 

Diese  Art  Erkenntnisse  von  den  Vorgängen  der  Natur  festzustellen, 
bildete  sich  für  jede  einzelne  Wissenschaft  unter  einfacher  Anwendung 
der  natürlichen  und  künstlich  verschärften  Sinne  und  des  gesunden 
unverbildeten,  reinlichen  Menschenverstandes  aus.  So  bildeten  sich 
die  Forschungsmethoden  der  energetischen  Wissenschaften,  also  der 
Astronomie,  Physik,  Mechanik,  Energetik,  der  biologischen  Wissen- 
schaften, also  der  Botanik,  Zoologie,  Mineralogie,  Geologie,  Meteoro- 
logie, Physiologie  und  der  der  letzten  Stufe,  das  ist  die  Psychologie 
und  der  Kulturwissenschaft,  einschließlich  der  Ethik  in  ziemlich  paral- 
leler Weise,  je  nach  der  Eigenart  der  Einzelforschung  aus.  Eine  eigene 
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nur  im  menschlichen  Geiste  gelegene  Theorie,  Erkenntnisse  zu  fassen, 
d.  h.  eine  „Erkenntnistheorie"  ist  allen  diesen  Wissenschaften  ganz 
unbekannt.  Eine  derartige  „Erkenntnistheorie"  kann  daher  noch 
viel  weniger  auf  Gegenstände  angewendet  werden,  welche  sich  über 
das  Wissen  erheben,  d.  h.  unbekannt  sind. 

Der  Ausspruch  eines  hervorragenden  Erkenntnistheoretikers,  daß 
dort,  wo  die  Wissenschaft  aufhöre,  sich  der  „Tempel  der  Weisheit" 
eröffne,  ist  ganz  unzutreffend,  vielmehr  kann  mit  Sicherheit  behauptet 
werden,  daß  dort,  wo  das  Wissen  aufhört,  lediglich  das  Unwissen 
beginnt,  dem  Lichte  der  Wissenschaft  und  der  auf  ihr  aufgebauten 
großartigen  technischen  Kultur  gegenüber,  eine  mehr  oder  weniger 
vollständige  Geistesdunkelheit,  oder  bestenfalls  eine  Geistesdämme- 
rung, in  der  einzelne  der  wachsenden  Wissenschaft  vorauseilende 
Lichtkeime  das  Dunkel  durchzucken,  oder  in  welcher  auch  flackernde 
Irrlichter  vorübergehend  herumstreifen,  um  bei  zunehmender  Helle 
und  Aufklärung  zu  verschwinden. 

Die  Gegnerschaft  der  „Erkenntnistheoretiker"  kann  daher  weder 
der  modernen  Naturwissenschaft  noch  dem  großen  Meister  derselben, 
Ernst  Haeckel,  irgendwie  nahekommen,  vielmehr  wird  es  Sache  der 
ersteren  sein,  sich  der  Naturwissenschaft  anzupassen,  was  nach  allen 
Zeichen  auch  schon  einzutreten  beginnt. 

Ebenso  ist  auch  der  „Kritizismus"  nur  insofern  eine  ernst  zu 
nehmende  Wissenschaft,  als  er  sich  mit  der  Darstellung  und  histori- 
schen Entwicklung  einzelner  Wissenszweige  oder  aller  zusammen 
nach  rein  naturwissenschaftlichen  Methoden  befaßt,  was  aber  in 
richtiger  und  praktisch  brauchbarer  Weise  nur  von  den  Gelehrten 
dieser  Spezialfächer  oder  solchen,  die  mehrere  Nachbargebiete  ihrer 
besonderen  Fächer  im  Zusammenhange  von  einer  höheren  Warte 
übersehen,  geschehen  kann. 

Laien  von  bloß  allgemeiner  oder  anderer  als  naturwissenschaft- 
licher Bildung  sind  zur  Verarbeitung  derartiger  Ergebnisse  im  all- 
gemeinen außerstande,  und  wenn  es  dennoch  unternommen  wird, 
so  kann  hieraus  in  der  Regel  nur  eine  ziemlich  unfruchtbare,  für  die 
technische  und  geistige  Kultur  der  Menschheit  minder  belangreiche 
Arbeit  hervorgehen. 

Die  Dampfschiffe,  Lokomotiven  und  Automobile,  die  unterseeischen 
Boote  und  Luftschiffe  durchrasen  Land  und  Meer;   die  unzähligen 

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Maschinen  mit  Millionen  von  Pferdekräften  arbeiten  und  schaffen 
unendliche  Werte,  die  Telegraphen  und  Telephone  umsausen  den 
Erdball,  die  chemischen  und  zahllosen  anderen  Fabriken  beschäftigen 
Millionen  von  Menschen  zur  Förderung,  Erzeugung  und  Veredlung 
von  Gütern,  Millionen  von  Menschen  durchwühlen  die  Erde  in  hundert- 
tausenden  von  Schächten,  fördern  riesige  Hebewerke  die  Kohlen 
und  Erze  zu  Hunderttausenden  von  Hochöfen,  aus  denen  sich  der 
Feuerstrom  des  Eisens  ergießt,  tausende  Riesendampfhämmer  sausen 
donnernd  auf  schwere,  glühende  Eisenblöcke  nieder,  und  in  den  Guß- 
und  Walzwerken  regen  sich  im  Schweiße  männerehrender  Kraft 
hunderttausend  rüstige  Helden  der  Arbeit,  das  Eisen  zu  schaffen, 
das  Rückgrat  der  vorwärtssausenden  Zeit,  die  Künstler  erfreuen  und 
erheben  eine  neue  kraftvolle  Menschheit,  mit  allen  Mitteln  der  Technik 
ausgerüstete  Heere  erheben  die  Wehr-  und  Verteidigungsfähigkeit 
der  Länder  zu  nie  dagewesener  Höhe,  ein  Kulturleben  ohnegleichen 
strömt  und  rauscht  über  einen  veränderten  Erdball  unter  der  leuch- 
tenden Fackel  wissenschaftlicher  und  technischer  Kulturarbeit.  — 
Die  Metaphysik  aber  hat  daran  keinen  Teil.  —  Sie  hat  keinen  Teil 
daran,  weil  der  Kritizismus,  ohne  auf  dem  Boden  der  Naturwissen- 
schaften zu  fußen,  nicht  selbst  aufbaut,  wie  es  die  Wissenschaft  tut, 
sondern  nur  den  Tempel  des  Wissens  mehr  von  außen  und  unfruchtbar 
umflattert.  Eine  Blumen-  und  Unkrautlese  aus  den  Phantasiegärten 
aller  Zeiten  und  Völker  kann  zum  Tempel  wahrer  Wissenschaft  und 
Kultur  nur  wenig  wertvolle  Bausteine  beitragen. 

So  wird  auch  Ernst  Haeckels  Lebensarbeit  durch  die  ablehnende 
Haltung  der  Metaphysik,  ob  sie  nun  als  Widerspruch,  Anzweiflung, 
Feindschaft,  vornehmtuende  Geringschätzung,  Nichtachtung  oder 
gänzliche  Ignorierung  zutage  tritt  —  in  den  Augen  der  Kulturwelt 
nicht  im  geringsten  entwertet. 

Ganz  anders,  als  in  einem  großen  Teile  der  sogenannten  gebildeten 
Gesellschaft,  über  die  zu  sprechen  wohl  überflüssig  ist,  ist  das  An- 
sehen Haeckels  in  einem  neuen  Stande,  welcher  sich  aus  intelligenten, 
kulturell  und  ethisch  hochstehenden  Unterschichten  emporzuarbeiten 
beginnt.  —  Hier  wird  Haeckel  gelesen,  studiert  und  verstanden.  Der 
Schwerpunkt  echter,  ethischer  Bildung  und  kulturellen  Wertes  ist 
eben  in  zunehmender  Verschiebung  nach  unten  begriffen,  was  den 
Ethikern  und  Soziologen  längst  bekannt  ist. 

III 


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Schließlich  ist  auch  Haeckels  Stellung  zur  Religion  diejenige,  die 
ihm  die  meisten  Feinde  macht.  Ganz  mit  Unrecht,  denn  Haeckel 
ist  selbst  einer  der  religiösesten  Menschen,  der  in  sittlicher  und  kul- 
tureller Beziehung  die  höchsten  Ideale  hat  und  nur  bestrebt  ist,  eine 
wirkliche,  die  ganze  Seele  erfüllende,  auf  dem  gesunden  Boden  ge- 
sicherter Naturwissenschaft  stehende  idealste  und  höchste  Lebens- 
betätigungsreligion zu  bieten. 

Seine  Weltauffassung  ist  die  idealste  für  die  Vergangenheit,  die 
uns  einen  herrlichen  Aufstieg  aus  kleinem  Keime  zu  edlem,  hoch- 
organisierten Lebewesen  zeigt,  für  die  Gegenwart,  für  die  er  eine  sitt- 
lich hochstehende  und  kulturfördernde  Lebensarbeit  fordert,  und  für 
die  Zukunft,  die  in  ungeahnte  Fortschritte  und  Vervollkommnungen 
in  reichster  Fülle  und  erhabenster  Schönheit  weist. 

Wenn  Haeckel  in  seiner  schlichten  Größe  und  seinem  milden,  die 
ganze  Menschheit  umfassenden  Herzen  aus  seiner  Gelehrtenstube  in 
das  Gedränge  des  Tages  heraustritt,  um  den  Reichtum  seines  Wissens 
und  die  Fülle  seiner  ethischen  und  kulturellen  unendlichen  Werte 
der  bedrängten,  leidenden  und  immer  noch  in  großen  Schichten  in 
Geistesdämmerung  befindlichen  Menschheit  segensreich  auszuschüt- 
ten, so  ist  er  hierdurch  kein  Störer  paradiesischen  Friedens,  sondern 
ein  Wohltäter  der  Menschheit  und  ein  Wegweiser  durch  die  Nacht 
zum  Licht. 

Ehre  werde  ihm  deshalb  und  der  unvergängliche  Dank  der  Mensch- 
heit. 

Dem  Programme  dieser  Festschrift  gemäß  habe  ich  auch  anzu- 
geben, wie  ich  Haeckels  persönliche  Bekanntschaft  machte,  und  wel- 
chen Eindruck  ich  von  ihm  empfing.  —  Ich  will  mich  daher  auch  dieser 
Aufgabe  pflichtgemäß  unterziehen. 

Abgesehen  von  den  bereits  erwähnten  früheren  Beziehungen  an- 
läßlich der  Verfassung  meines  Werkes  über  den  Gebirgswasserbau, 
bin  ich  in  nähere  persönliche  Beziehung  zu  Ernst  Haeckel  vor  zwei 
Jahren  dadurch  getreten,  daß  ich  ihm  die  von  mir  verfaßte  Nach- 
dichtung des  großartigen  panteistischen  Hymnus  „Hertha"  des  eng- 
lischen Dichters  Swinburne  übersandte. 

Diese  Hymne  besteht  aus  42  achtzeiligen  Strophen  und  enthält 
ein  Gespräch  der  Mutter  Natur  mit  dem  Menschen  als  ihrem  Kinde. 

Haeckel  hat  mir  in  einem  längeren  Briefe  für  die  Zusendung  dieser 

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112 


Nachdichtung  herzlichst  gedankt,  sich  über  den  Wert  der  unvergleich- 
lichen Hymne,  die  er  zur  Veröffentlichung  in  einem  sehr  angesehenen 
Blatte  wärmstens  empfahl,  in  begeisterter  Weise  ausgesprochen  und 
mir  die  Bewilligung  erteilt,  ihn  in  Jena  in  seinem  Heim  aufzusuchen. 

Mit  größter  Freude  habe  ich  hiervon  Gebrauch  gemacht  und  bin 
im  Jahre  1912  mit  meiner  Frau,  die  eine  lebhafte  Bewunderin 
Haeckels  ist,  und  einen  großen  Teil  seiner  Werke  kennt,  nach  Jena 
gepilgert,  wo  uns  das  Glück  zuteil  wurde,  von  dem  teueren  Meister 
in  einem  zweistündigen  Besuche  auf  das  liebevollste  empfangen  zu 
werden. 

Unvergeßlich  wird  uns  beiden  die  Erinnerung  an  seine  schlichte 
und  milde  Größe,  an  seine  edle,  echte  Menschlichkeit  sein,  die  jedes 
seiner  Worte,  Gebärden  und  Bewegungen  in  selbstverständlichster 
Weise  kennzeichnet. 

Haeckel  sprach  mit  uns  über  sein  ganzes  Leben,  seine  Vergangen- 
heit und  Gegenwart,  seine  Pläne  und  Ideen  in  Tönen  tiefen  Ernstes, 
wahrer  Freude  über  das  Geschaffene  und  der  natürlichen  Andacht 
des  großen  Geistes,  häufig  auch  mit  Anflügen  liebenswürdigster  Heiter- 
keit und  göttlichen  Humors. 

Erzählungen  seiner  vielen  Reisen  an  der  Hand  seiner  bekannten 
hochkünstlerischen  ,, Wanderbilder",  Anekdoten  und  Erinnerungen 
ließen  uns  die  unvergeßliche  Zeit  wie  im  Traume  verfliegen,  wobei 
es  der  große  Mann  mit  heiterem  Humor  aufnahm,  daß  meine  Frau 
manche  Daten  seines  Lebens  so  gut  im  Gedächtnisse  behalten  hatte, 
daß  sie  sogar  einen  kleinen  Irrtum  des  Meisters  richtigstellen  konnte. 

Hingerissen  in  Bewunderung  und  Sympathie  für  den  großen  Mann 
sagte  ihm  meine  Frau:  „Exzellenz  müssen  doch  mit  großer  Freude 
auf  ein  so  reiches  Leben  voll  herrlicher  Arbeiten  zurückblicken." 

Da  war  es,  als  ob  Haeckel  aus  sich  selbst  herauswachsen  und  auf 
sein  ganzes  Leben  zurückblicken  würde,  und  er  sprach  in  wahrster, 
schlichtester  Herzensandacht:  ,,Ja,  das  kann  ich  und  das  tue  ich 
auch  in  größter  Dankbarkeit  für  das  Schicksal,  das  mir  ein  so  überaus 
reiches,  schönes  und  tätiges  Leben  beschert  hat."  —  Dabei  strahlte 
sein  edles,  männliches,  von  großen  blauen  Augen  erleuchtetes  Antlitz 
in  größter  Milde  und  Güte. 

So  ist  Haeckel  in  seinem  Heim,  das  geschmückt  ist  mit  den  Spuren 
seines  reichen  Geisteslebens. 

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8     Haeckel-Festschrift.   Bd.  II  113 


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Unwillkürlich  mußte  ich  mich  in  diesem  schönen  Augenblicke 
an  Faust  erinnern,  wie  er  im  beseeligendem  Gedanken,  auf  neuem, 
dem  Meere  abgerungenen  Boden  einem  Geschlechte  glücklicher  und 
tätiger  Menschen  Raum  geschaffen  zu  haben,  beglückt  ausruft: 

„Es  kann  die  Spur  von  meinen  Erdentagen 
Nicht  in  Aeonen  untergehen.  — 
Im  Vorgefühl  von  solchem  hohen  Glück 
Genieß'  ich  jetzt  den  höchsten  Augenblick." 

Im  Vollgefühl  seines  für  die  ganze  Menschheit  freudig  erkämpften 
hohen  Glückes,  genieße  unser  teurer  Meister  noch  eine  lange  Reihe 
von  Jahren  hindurch  die  köstlichen  Augenblicke,  die  das  Leben  und 
der  Dank  der  edelsten  Geister  und  der  ganzen  wahrheitstreuen  arbei- 
tenden Menschheit  einem  seiner  Größten  bietet. 

Zu  solchen  reinen  Firnenhöhen  steigen  die  Miasmen  niederer 
Dünste  nicht  mehr  empor.  Der  frische  Wind,  der  den  Siegesflug 
menschlicher  Kultur  kennzeichnet,  zerstreut  sie  spielend,  und  des 
großen  Meisters  sonniges  und  mildes  Lächeln  schwebt  segnend  über 
der  sieghaft  sich  aufreckenden  Menschheit,  die  einer  neuen,  glänzenden 
Ära  wissenschaftlich  gelenkter,  organisierter  Arbeit  zur  Erreichung 
höchster,  geistiger,  sittlicher  und  materieller  Kultur  frohbewegt  ent- 
gegenstrebt. 

Heil  und  Dank  dir,  du  Großer,  der  Größten  einer,  dessen  Geist 
uns  noch  lange  leiten  möge  im  Aufstieg  zum  Sonnenlicht  und  zur 
Wahrheit,  zur  Erkenntnis  der  unendlichen  Kräfte  unserer  reichen 
Erde  und  zu  ihrer  Beherrschung,  zum  Wohle  einer  unendlich  ver- 
edelten, stolzen  und  kraftvollen  Menschheit. 

Auf  dieser  Bahn  leuchte  uns  dein  Name  und  deine  gewaltige 
Lebensarbeit  voran! 


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114 


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HUGO  SCHNEIDER,  BERLIN 


o  o  o 


In  dem  Sammelwerk,  das  da  Kunde  geben  soll  von  dem,  was  wir 
Ernst  Haeckel  verdanken,  werden  sich  fraglos  eine  große  Anzahl 
bedeutender  Männer  von  europäischem,  —  ja  wohl  auch  von  Weltruf 
vernehmen  lassen,  und  so  dürfte  es  von  mir,  dem  schlichten  Bank- 
beamten und  nicht  akademisch  Gebildeten  recht  unbescheiden  er- 
scheinen, wenn  ich  mich  in  die  Reihe  solcher  Männer  dränge.  Nun, 
das  ist  keineswegs  meine  Absicht;  vielleicht  aber  gewährt  man  mir 
doch  ein  kleines  Plätzchen  in  der  Erwägung,  daß  ein  siebzigjähriger, 
an  Erfahrung  reicher  Mann  hier  spricht,  der,  wenn  er  auch  niemals 
zu  den  Füßen  Haeckels  gesessen,  dennoch  als  Autodidakt  sich  seit 
45  Jahren  in  seine  Werke  vertieft  und  sie  mit  innigem  Bemühen 
zu  verstehen  gesucht  hat,  wenn  ihm  auch  infolge  des  Fehlens  aka- 
demischer Bildung  naturgemäß  vieles  entgehen  mußte. 

Bevor  ich  zum  eigentlichen  Thema  übergehe,  möchte  ich  der 
jetzigen  Generation  einmal  vor  Augen  führen,  was  uns  Ernst  Haeckel 
bereits  vor  40  Jahren  war.  Nach  dem  Erscheinen  seiner  beiden 
bald  zu  Weltberühmtheit  gelangten  Werke:  „Natürliche  Schöpfungs- 
geschichte" und  „Anthropogenie,  Entwicklungsgeschichte  des  Men- 
schen", schrieb  der  namhafte  Naturphilosoph  Carus  Sterne  (Dr.  Ernst 
Krause)  in  der  „Gegenwart"  vom  10.  Oktober  1874  folgendes: 

„Um  eine  Weltanschauung  zu  ändern,  reichen  nicht  Jahrzehnte, 
kaum  Jahrhunderte  aus,  denn  auch  hier  gilt  der  Spruch  von  der 
Willigkeit  des  Geistes  und  der  Schwachheit  des  Fleisches.  Die  großen 
Ideen  sind,  wie  die  Geschichte  lehrt,  im  Anfange  immer  einsam  ge- 
blieben, weil  die  Gehirne  fehlen,  sie  aufzufassen.  Diejenigen  irren, 
welche  da  meinen,  schon  Voigt  und  Büchner  hätten  den  alten  Glauben 
abgetan.  Sie  haben  nichts  vermocht,  als  was  vor  ihnen  Voltaire  und 
Holbach  getan :  ihn  in  die  Enge  zu  treiben.  Es  ist  die  alte  Schiüe 
Epikurs,  und  nur  die  Waffen,  mit  denen  die  Materialisten  von  heute 
den  Spiritualisten  zuleibe  gehen,  sind  besser  geschliffen  als  die  des 
Lukrez.  Die  neue  Weltanschauung  muß  doch  erst  fertig  sein,  ehe 
man  sich  in  ihr  behaglich  finden  kann;  und  das  war  sie  noch  lange 
nicht,  als  Kraft-  und  Stoff-Büchner  seine  Arbeit  begann,  ist  sie,  ehr- 
lich gestanden,  noch  heute  nicht.   Diejenigen,  welche  das  Haus  bereits 

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8*  115 


beziehen,  sind  unbeneidenswerte  Trockenwohner,  welche  nicht  anders 
können,  weil  sie  nicht  wissen,  wo  sie  sonst  ihr  Haupt  hinlegen  sollen. 
Unter  denen,  welche  die  Fertigstellung  des  Baues  unternommen  haben, 
steht  Ernst  Haeckel  in  erster  Linie.  Ein  Potsdamer  Kind,  hat  er  lange 
das  Prophetenschicksal  erfüllt,  in  seinem  Vaterlande  nicht  so  be- 
griffen zu  werden  wie  im  Auslande,  z.  B.  in  Holland  oder  England; 
ja,  er  wäre  bei  uns  vielleicht  noch  weniger  anerkannt,  wenn  ihn  nicht 
die  „Schwarzen"  mit  ihren  Angriffen  ausgezeichnet  hätten!  Ehrlich 
deutsch  ruft  er  dem  Leser  zu:  Wenn  du  nicht  deinen  lehmigen  Ur- 
sprung und  deine  Geisteingeblasenheit  aufgeben  und  die  böse  Affen- 
schwiegermutter mit  in  den  Kauf  nehmen  willst,  so  laß  von  deinem 
Werben  und  Buhlen  um  die  Erkenntnis  der  Natur  und  deines  Selbst 

ab,  suche  deine  Seligkeit  in  der  Bibel. Denen,  die  ihm  mit 

Verständnis  zuhören,  wird  er  mehr  einflößen  als  Bewunderung;  er 
wird  sie  durch  die  Schärfe  seiner  Unterscheidungen,  durch  die  un- 
parteiische geschichtliche  Darstellung  der  Lehre,  durch  die  genaue 
Zergliederung  der  Erbschafts-,  Anpassungs-  und  Umwandlungsgesetze 
überzeugen,  daß  sie  sich  einem  vertrauenswürdigen,  aber  keineswegs 
einem  leichtfertigen  Führer  anvertraut  haben.  Wir  freuen  uns  über 
den  souveränen  Hohn,  mit  welchem  er  in  der  Vorrede  seiner  „Natür- 
lichen Schöpfungsgeschichte"  einige  der  Leute  abfertigt,  welche,  ohne 
selbst  Naturforscher  zu  sein,  sich  über  diese  Forschungen  ein  ab- 
sprechendes Urteil  anmaßen,  denn  unter  den  allein  kompetenten 
Richtern,  unter  den  Naturforschern  gibt  es  heutzutage  kaum  noch 
einen  Mann  von  Bedeutung,  der  nicht  der  neuen  Anschauung  von 
ganzem  Herzen  zugetan  wäre.  Ihr  letzter  und  bedeutendster  Gegner, 
L.  Agassiz,  ist  vor  einigen  Monaten  vom  Kampfplatz  abgetreten.  Ein 
neues,  von  eingelebten  Vorurteilen  und  Autoritätsglauben  freies 
Forschergeschlecht  blüht  inzwischen  empor.  Wir  dürfen  stolz  sein, 
sie  unter  der  Führung  eines  Deutschen  zu  wissen  und  die  in  Deutsch- 
land zuerst  geahnte  und  verkündete  Naturanschauung  der  Zukunft 
von  ihm  ihrem  Ziele  so  wesentlich  näher  gebracht  zu  sehen.  Das 
Gebäude,  welches  Darwin  ohne  Dach  gelassen  und  so  wenig  wetterdicht 
übergeben,  daß  der  Sturm  des  Zweifels  an  allen  Ecken  und  Enden 
hindurchwehte,  ist  von  Haeckel  zuerst  in  einen  wohnlichen  Zustand 
gesetzt  worden.  Sein  Name  wird  mit  demjenigen  des  englischen 
Forschers  für  immer  unzertrennlich  vereinigt  bleiben." 

116 


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Was  damals  in  diesem  Artikel  prophetisch  ausgesprochen  wurde, 
es  hat  sich  voll  und  ganz  erfüllt:  Es  ist  ein  neues,  von  eingebildeten 
Vorurteilen  und  Autoritätsglauben  freies  Forschergeschlecht  empor- 
geblüht unter  Führung  Ernst  Haeckels,   dieses  großen  Deutschen! 

Das  also  ist  es,  was  wir  alle,  alle  Denkenden  Haeckel  verdanken. 
Was  aber  ich,  ich  persönlich  ihm  verdanke,  das  ist,  —  ich  möchte 
beinah  sagen  —  darüber  hinaus :  ich  verdanke  ihm  alles  was  ich  bin ! 
Schon  in  meinen  Jugendjahren  behagte  mir  nicht  die  Lebensweise 
der  jungen,  alleinstehenden  Männer,  die,  aus  der  Provinz  nach  der 
Hauptstadt  gekommen,  hier  ihre  Zerstreuung  in  räuchrigen  Lokalen 
suchen.  Meine  Neigung,  wissenschaftliche  Bücher  zu  lesen,  und  be- 
sonders solche  philosophischen  Inhalts  behütete  mich  vor  solcher 
Lebensweise.  Ein  älterer  Verwandter,  dies  erkennend,  machte  mich 
damals  auf  Haeckels  soeben  (1868)  erschienene  „Natürliche  Schöp- 
fungsgeschichte" aufmerksam.  Gierig  verschlang  ich  den  Inhalt,  las 
das  Buch  immer  und  immer  wieder,  mein  kleines  Einkommen  be- 
nutzend, mir  die  zum  Verständnis  nötigen,  von  Haeckel  angeführten 
weiteren  Bücher  zu  beschaffen.  So  mied  ich  Gesellschaft  und  Ver- 
gnügungsorte und  vertiefte  mich  ganz  in  das  herrliche,  einzige  Werk. 
Später  wurde  ich  dann  kühn,  und  als  mir  einmal  eine  Stelle  absolut 
unverständlich  blieb,  schrieb  ich  —  „der  junge  Kaufmann",  an  den 
großen  Mann,  und  zu  meiner  großen  Freude  hat  er  es  nicht  ver- 
schmäht, mir  zu  antworten,  und  zwar  in  liebenswürdigster  Weise; 
ja,  er  verschmähte  es  auch  nicht,  mich  später  einmal  in  meiner  Häus- 
lichkeit in  Berlin  aufzusuchen.  Die  Stunde,  die  ich  damals  mit  ihm 
verplaudert,  gehört  zu  den  interessantesten  und  schönsten  Erinne- 
rungen meines  Lebens. 

Es  wäre  nun  wohl  Feigheit  von  mir,  wenn  ich  damit  zurück- 
hielte, offen  zu  bekennen,  daß  ich  nach  vieljährigem,  eifrigem  Denken 
dahin  gelangt  bin,  Haeckel  nicht  in  allen  Punkten  folgen  zu  können; 
er  selbst  würde  solche  Zurückhaltung  am  allerwenigsten  billigen. 
Es  handelt  sich  um  den  Kardinalpunkt:  Gibt  es  einen  Gott?  Ich 
bin  weit  davon  entfernt,  etwas  —  um  mit  Johannes  Gaulke  zu  reden 
—  nur  deshalb  zu  glauben,  weil  es  andere  vor  mir  geglaubt  haben, 
allein  ich  behaupte,  daß  ich  recht  wohl  imstande  bin,  auf  Grund 
dessen,  was  ich  positiv  weiß,  weiter  zu  bauen,  und  auf  Grund 

dessen  muß  ich  dahin  gelangen,  auch  das,  was  ich  nicht  weiß,  da- 
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117 


nach  logischerweise  als  sicher  annehmen  zu  können.  In  diesem  Sinne 
schrieb  ich  seinerzeit  mein  Buch:  „Durch  Wissen  zum  Glauben,  — 
eine  Laienphilosophie"  (Hermann  Haacke,  Sachsa  am  Harz,  1897). 
Ich  habe  es  später  Haeckel  zugesandt,  der  mir  antwortete,  daß  er  es 
mit  Interesse  gelesen  und  bei  dem  nächsten  Besuch  seiner  Verwandten 
in  Potsdam  Gelegenheit  nehmen  würde,  mich  wiederum  aufzusuchen, 
um  die  „wenigen  differenzierenden  Punkte"  mit  mir  zu  besprechen. 
Leider  hat  sich  diese  Gelegenheit  niemals  mehr  geboten. 

Und  worin  bestehen  nun  diese,  oder  —  worin  besteht  im  Grunde 
genommen  dieser  eine,  uns  differenzierende  Punkt?  in  einem  ein- 
zigen, —  sage  und  schreibe:  einem  einzigen,  allerdings  recht  schwer- 
wiegenden Wort.  In  den  Welträtseln  heißt  es  S.  254:  „Die  beiden 
Hauptbestandteile  der  Substanz,  Masse  und  Äther,  sind  nicht  tot 
und  nur  durch  äußere  Kräfte  beweglich,  sondern  sie  besitzen  Emp- 
findung und  Willen  (natürlich  niedersten  Grades)."  Und  in  diesem, 
scheinbar  ganz  abseits  gelegenen  parenthetischen  Satz,  befindet  sich 
dieses  eine,  uns  differenzierende  bedeutsame  Wort.  Ich  setze  an 
Stelle  „niedersten"  das  Wort  „allerhöchsten"!  so  daß  dieser  paren- 
thetische Satz  nicht  mehr  lautet:  „natürlich  niedersten  Grades", 
sondern  „natürlich  allerhöchsten  Grades"!  oder,  mit  andern 
Worten:  „Der  Weltäther  ist  die  mit  eigenem  Denken  und  Willen 
begabte  Weltseele  —  ist  Gott !  Dieses  Denken  muß  selbstverständlich 
ein  völlig  anderes  sein  als  das  des  Menschen,  denn  wäre  es  ein  dem 
des  Menschen  gleiches,  so  wäre  Gott  eben  nicht  Gott,  sondern  wiederum 
ein  Mensch,  und  jeder  Mensch  —  Gott.  Das  ist  so  logisch  und  wahr, 
wie  es  wahr  ist,  daß,  wenn  ein  Tier  —  etwa  ein  Hund  —  dasselbe 
Denken  besäße  wie  der  Mensch,  es  eben  kein  Tier  mehr  sein  würde, 
sondern  ein  Mensch.  Wie  aber  ein  Tier  niemals  das  Denken  des  Men- 
schen begreifen  oder  verstehen  kann,  so  wird  auch  der  Mensch  nie- 
mals das  Denken  des  Weltgeistes  begreifen  oder  verstehen  können. 
Das  eine  steht  fest,  daß  dieses  Denken  des  Weltgeistes  direkt  nichts 
mit  unseren  Arm-  und  Beinbrüchen,  unseren  Krankheiten,  mit  unserer 
Freude,  unserm  Schmerz,  unseren  Mühen  und  Sorgen,  unserm  Geld- 
erwerb, unserm  Kampf  ums  Dasein,  mit  unserm  Leben  und  Sterben 
zu  tun  hat.  Das  was  sich  aber  indirekt  und  konsequenterweise  aus 
jenem  Denken,  aus  diesem  „eigenen  Willen  allerhöchsten  Grades" 
ergibt,  das  kann  ich  unmöglich  im  Rahmen  dieses  Aufsatzes  aus- 

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Il8 


führen,  es  ist  jedoch  niedergelegt  in  einem  Manuskript,  das  den 
IL  Teil  meines  Buches  „Durch  Wissen  zum  Glauben"  bildet  und 
druckreif  fertiggestellt  ist,  indessen  —  noch  des  Verlegers  harrt. 
Ich  wiederhole  noch  einmal:  Ich  verdanke  Ernst  Haeckel  alles, 
was  ich  als  denkender  Mensch  bin!  Er  hat  meinem  Leben  Zweck 
und  Inhalt  gegeben,  er  hat  mich  denken  gelehrt,  hat  die  grenzenlose 
Freude  an  der  Natur  in  mir  wachgerufen,  hat  mich  gelehrt,  die  Natur 
zu  verstehen  und  richtig  zu  betrachten,  mich  gelehrt,  in  der  Bibel 
der  Natur  zu  lesen.  Die  Beschäftigung  mit  seinen  Werken  war  mir 
stets  köstlichster,  heiligster,  reinster  Genuß,  und  hat  mich  stets  mit 
höchster  Bewunderung  für  den  großen  Mann  erfüllt.  Das  körperliche 
Mißgeschick,  das  er  in  seinem  hohen  Alter  erdulden  muß,  hat  mich 
mit  aufrichtiger  Teilnahme  erfüllt,  weiß  ich  doch  aber,  daß  er  es 
als  Philosoph  zu  tragen  wissen  wird,  ohne  schwächliches  Jammern 
und  Klagen.  Mein  innigster  Wunsch  zu  seinem  achtzigsten  Geburtstag 
ist,  daß  ihn  das  Schicksal  seine  körperliche  Schwäche  verwinden 
lassen  und  ihm  noch  viele  ungezählte  Jahre  in  völliger  Rüstigkeit 
des  Körpers  und  Geistes  verleihen  möge!  Dieser  Wunsch  ist  zwar 
im  Grunde  weiter  nichts  als  platter  Egoismus,  denn  letzten  Endes 
schlummert  doch  hier  „latent"  der  Hintergedanke:  .  .  .  auf  daß  er 
uns  noch  viel  des  Schönen,  noch  manches  wahre  Wort  zurufen  kann, 
auf  daß  er  niemals  ermüden  möge  im  Kampf  gegen  die  „Schwarzen", 
gegen  alle  die  dunklen  Mächte,  die  täglich  und  stündlich  gegen  uns 
ankämpfen,  uns  die  Freuden  des  Lebens  zu  rauben  versuchen,  uns 
wie  Kolkraben  umschwärmen,  auf  daß  sie  sich  verkriechen  in  die 
tiefsten  Tiefen  Sarkophagen  Gesteins!  So,  wie  vor  einem  Bismarck 
die  ganze  Welt  zitterte,  solange  er  nur  noch  die  Augen  offen  hielt, 
trotzdem  er  gar  nicht  mehr  im  Amte  war,  so  zittern  auch  jetzt  die 
„Schwarzen"  der  ganzen  Welt  noch  vor  einem  Haeckel,  trotzdem  er 
das  Lehramt  niedergelegt  —  hat  er  doch  noch  die  Augen  auf! 

Was  die  Welt  und  die  Wissenschaft  Haeckel  verdankt,  das  werden 
hier  berufenere  Federn  darlegen,  ich  aber  wollte  nur  schildern,  was 
ich  ihm  —  meinem  großen  Landsmann  —  verdanke,  was  er  mir  mein 
ganzes  Leben  hindurch  war  und  noch  ist,  —  Halt  und  Führer! 

Möge  der  Gigant  den  Dank  eines  obskuren  Zwerges  freundlich 
aufnehmen. 

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II9 


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MARIA  HOLGERS,  BERLIN 

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Wenn  ich  davon  sprechen  soll,  wie  ich  mit  Ernst  Haeckel,  seiner 
Person,  seinen  Werken  —  den  „Welträtseln"  insbesondere  — 
bekannt  wurde  und  welche  Wirkung  sie  auf  mich  ausübten,  muß  ich 
zunächst  von  meinem  eigenen  Leben  sprechen  und  weit  darin  zurück- 
gehen. 

In  meinem  fünften  Lebensjahre  sah  ich  an  einem  hellen  Sommer- 
tag, mitten  im  Spiel,  einen  Leichenzug.  Auf  mein  Befragen  sagte 
man  mir,  daß  ein  Mensch,  eine  Frau,  in  dem  schwarzen  Wagen  sei, 
und  daß  diese  Frau  in  die  Erde  begraben  würde,  weil  sie  „tot"  sei. 
Ich  erschrak  aufs  heftigste.  Was  war  das:  „tot"?  Ich  begriff  es 
nicht  .  .  .  Jedenfalls  war  es  etwas  anderes  als  mein  Zustand;  ich  lebte; 
ich  bewegte  mich.  Die  Frau  lag  still  in  dem  schwarzen  Wagen ;  konnte 
nicht  mehr  gehen,  sprechen,  essen,  kam  in  die  Erde,  wie  ein  Stein. 
So  etwas  Furchtbares  war  also  möglich  .  .  .  ?  Ein  Riß  ging  durch 
mein  ganzes  Wesen.  Zum  erstenmal  fühlte  ich  die  Außenwelt  als 
ein  anderes,  Fremdes.  Ich  war  nicht  mehr  der  Tropfen  im  Wasser, 
unbekümmert,  selbstverständlich.  Ich  sah  Unbegreifliches  .  .  .  Von 
diesem  Augenblick  an  mußte  ich  denken,  bewußt  denken  und  schauen, 
unaufhörlich. 

Nicht  genau  genug  konnte  ich  mir  die  Dinge  anschauen;  ich  ver- 
sank in  sie  und  hatte  nicht  Ruhe,  bis  ich  ihre  Zusammenhänge 
und  meinen  Zusammenhang  mit  ihnen  soweit  erfaßt  hatte,  als  es 
meiner  jeweiligen  Entwicklungsstufe  möglich  war.  Das  kleine  badische 
Städtchen,  in  dem  meine  Eltern  damals  wohnten,  stundenlanger 
Aufenthalt  in  einem  alten  Schloßpark,  wo  es  viel  zu  schauen  gab 
und  Ruhe  zum  Nachdenken,  begünstigten  meine  Neigung.  Als  wir 
in  meinem  siebenten  Lebensjahr  in  eine  größere  nüchterne  Stadt 
zogen,  wurde  der  Hang  zum  Denken  ein  innerlicher  Zwang  und  die 
Quelle  vieler  Leiden.  Er  schied  mich  von  den  anderen  Kindern  und 
hätte  mein  ganzes  Kindheitsglück  zerstören  können,  wäre  nicht  das 
Phantasieleben  in  mir  ein  glücklicher  Gegenpol  geworden.  Trotz- 
dem —  der  Zwang  war  hart!  Bis  in  mein  16.  Lebensjahr.  Da  kam 
eines  Abends  ein  Ausgleich  für  meine  Einsamkeit  und  Wissensqual. 
Ich  war,  meiner  Gewohnheit  gemäß,  heimlich  auf  unseren  Speicher 

120 


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gegangen,  um  da  ruhig  nachdenken  zu  können,  und  schaute  durch 
die  Dachluke  zu  den  Sternen  hinauf.  Gerade  in  diesen  Wochen 
hatte  ich  mich  mit  Fragen,  deren  Beantwortung  mir  nicht  gelingen 
wollte,  besonders  gequält.  Die  Nacht  war  still  und  schön.  Über  mir 
stand  der  „Jakobsstab".  Im  Anschauen  dieses  mir  von  klein  an 
lieben  und  vertrauten  Sternbildes  formten  sich  mir  plötzlich  mühe- 
los diese  Sätze:  „Nichts"  war  nie.  (Das  ist  nur  ein  Verlegenheits- 
wort, um  etwas  auszudrücken,  was  es  nicht  gibt.)  Alles  was  ist, 
ist  und  war  immer;  in  wechselnden  Formen.  Alles  was  ist, 
muß  in  ständiger  Bewegung  sein.  Ohne  Bewegung,  ohne 
ständige  innere  Veränderung,  kein  Sein  möglich.  —  Was 
wir  „Leben"  nennen,  ist  vielleicht  nur  gesteigerte  Bewegung;  „Tod" 
ein  minderer  Grad  derselben  (?)  —  Einen  „Anfang"  kann  man, 
da  immer  alles  war,  nicht  eigentlich  denken.  Will  man  einen 
solchen  annehmen,  so  könnte  man  vielleicht  sagen:  im  Anfang  waren 
unendlich  viele,  unendlich  kleine  Lichtkügelchen,  die  sich  in  rasend- 
ster Schnelligkeit  um  sich  drehten.  Einige  hatten  den  Drang,  sich 
anzulehnen;  das  führte  zu  einer  „Verdichtung",  die  sich  zu  Planeten 
auswuchs.  Je  größer  der  Planet,  desto  langsamer  die  Umdrehung, 
desto  schneller  die  Abkühlung  und  Erstarrung.  Im  erstarrten  Zu- 
stand kann  sich  der  Planet  nicht  mehr  drehen.  Er  muß  fallen,  stürzt 
auf  andere  Planeten,  eine  ungeheure  Hitze  und  Lichtwelle  entsteht 
und  das  Spiel  beginnt  von  neuem  (?).  —  Diese  letzteren  Sätze  waren 
mir  nur  wahrscheinlich,  nicht  sicher,  sie  hatten  sich  mir  schon  früher, 
bei  einsamem,  leidenschaftlich  geliebtem  Ballspiel  ergeben,  wenn  auch 
nicht  in  dieser  geraden  Folge.  Die  ersten  Sätze  dagegen  waren  mir 
absolute  Gewißheiten;  so  gewiß  wie  mein  eigenes  Dasein.  Eine  stille 
Seligkeit  kam  über  mich.  Noch  lange  schaute  ich  hinauf  in  das  Stern- 
bild; dann  schlich  ich  die  Treppe  hinunter,  ins  Bett.  Eine  ungeheure 
Lebenslast  war  mir  vom  Herzen  genommen. 


Neben  meinem  Denkzwang  stand  ein  starkes  Phantasieleben  und 
der  Drang,  Menschen  darzustellen,  im  Wort  oder  mit  meiner  Person. 
Täglich  schrieb  ich  und  täglich  spielte  ich  „Theater"  beigeschlossener 
Tür.  Nachdem  ich  mich  an  jenem  unvergeßlichen  Abend  über  meine 
Wissensqual  beruhigt  hatte,  gewann  mein  Phantasieleben  die  Ober- 
hand und  zwang  mich  zur  Schauspielkunst.    „Menschendarstellung" 

121 


ist  ein  schwieriger  Beruf,  der  zumeist  unter  fast  unmöglichen  Be- 
dingungen ausgeübt  werden  muß.  Ich  habe  ganze  Tage  (und  dies 
Tag  für  Tag!)  und  halbe  und  ganze  Nächte  Rollen  gelernt  und  Toi- 
letten genäht.  Bei  solcher  Überanstrengung  ist  ein  „Denken"  in 
obigem  Sinne  unmöglich.  1904  kam  der  erste  ruhigere  Sommer  und 
die  Sehnsucht,  wieder  da  anzufangen,  wo  ich  im  16.  Lebensjahre 
aufhörte.  —  Als  Kind  mochte  ich  die  Bücher  nicht;  außer  Märchen, 
einigen  klassischen  Dramen,  meinen  Schulbüchern  stand  mir  auch 
nichts  zur  Verfügung.  Jetzt  fühlte  ich,  daß  ich  allein  nicht  mehr 
weiterkam.  Und  da  ich  der  Meinung  war,  die  Philosophie  sei  die 
beste,  die  sich  ständig  an  äußeren,  sinnlichen  Wahrnehmungen  orien- 
tiert, kaufte  ich  mir  die  Volksausgabe  von  Haeckels  Welträtseln. 
Die  Wirkung,  die  das  Buch  auf  mich  ausübte,  ist  unbeschreiblich! 
Wie  war  ich  ausgelacht  worden,  hatte  ich  mich  gelegentlich  einmal  zu 
einer  Äußerung  über  meine  Vorstellungen  von  „Sein",  „Ewigkeit"  usw. 
hinreißen  lassen!  Und  nun  las  ich  und  las  ich  mit  wachsendem  Er- 
staunen, daß  kluge  Menschen  sich  mit  meinen  Fragen  befaßt  hatten, 
hie  und  da  selbst  zu  ähnlichen  Schlüssen  gelangt  waren.  Obschon 
ich  in  diesem  Sommer  schwer  krank  war,  habe  ich  das  ganze  Buch 
gewiß  achtmal  „durchgeackert",  einzelne  Kapitel,  einzelne  Sätze 
immer  wieder  vorgenommen.  Die  speziell  zoologischen  Kapitel  wur- 
den mir  sehr  schwer.  Hier  fehlte  völlig  die  sinnliche  Anschauung, 
quälten  die  allzuhäufigen,  den  alten  Sprachen  entnommenen  Aus- 
drücke, die  ich  nicht  oder  nur  halb  verstand.  Der  Kopf  sauste  mir 
von  einer  Fülle  neuer  Wörter,  neuer  Begriffe,  so  daß  mir  bei  meinem 
müden,  überlernten  Gehirn  das  Buch  manchmal  eine  Qual  wurde! 
Aber  immer  wieder  zog  es  mich  zu  ihm  zurück.  Denn  durch  alles 
Unverstandene  hindurch  schlang  sich  wie  ein  roter  Faden  die  Er- 
kenntnis der  Einheit  alles  Seins  und  Geschehens,  wie  ich  sie 
schon  als  Kind  empfunden  und  gedacht  hatte,  nicht  als  ein  wissen- 
schaftliches Ergebnis  gedacht  hatte,  sondern  als  Resultat  naiven 
Nachdenkens  und  Schauens.  Nach  der  „allgemeinen"  Seite  war  mir 
nichts  fremd.  Da  war  vor  allem  —  zu  meiner  unbeschreiblichen 
Freude  und  meinem  grenzenlosen  Erstaunen!  —  der  Urgrund  der 
großen  und  stillen  Harmonie,  deren  ich  mir  in  meinem  16.  Lebens- 
jahr bewußt  worden  war.  Haeckel  nennt  ihn:  das  Substanzgesetz. 
Dieses  Gesetz  ist  für  mich  heute  noch  „der  ruhende  Pol  in  der  Er- 
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122 


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scheinungen  Flucht",  dasselbe,  was  es  damals  für  mich  war,  als  ich 
naiv  sein  Wesen  zum  erstenmal  ergriff.  Dieses  Gesetz  bleibt  für  mich 
das  A  und  O,  der  Grundstein  alles  Wissens  —  trotz  der  schweren 
Attacke  von  Ostwalds  Energie  mit  der  Materie  als  Spezialfall.  Ohne 
dieses  Gesetz  würde  mir  jede  Erkenntnis  schwanken,  meine  Har- 
monie mit  allem,  was  ist,  sänke  in  Trümmer  und  das  Chaos  entstünde. 
—  Nach  dem  Substanzgesetz  machte  mir  den  stärksten  Eindruck 
die  ,,Kant-Laplacesche  Nebularhypothese"  —  mich  mit  einigem 
Herzklopfen  erinnernd  an  meine  Vorstellung  vom  Entstehen,  Wach- 
sen, Zertrümmern,  Neubilden  der  Planeten  — ,  sodann  aus  dem 
Kapitel  „Unsere  Stammesgeschichte"  das  biogenetische  Grund- 
gesetz. Klar  und  überzeugend  erhellt  dieses  Gesetz  dem  denkenden 
Menschen  die  dunklen  Pfade  seiner  vorgeburtlichen  Entwicklung. 
Ich  kann  hier  nur  als  Laie  sprechen,  möchte  mir  jedoch  die  Vermutung 
gestatten,  daß  es  nicht  nur  auf  zoologischem,  sondern  auch  auf  anderen 
Gebieten  höchst  fruchtbar  werden  könnte.  Mir  selbst  kam  es  bei 
Studien  über  die  Literaturen  verschiedener  Völker  und  Rassen  öfter 
in  Erinnerung.  —  Leider  gestattet  mir  der  Raum  nicht,  noch  näher 
auf  die  Wirkung  der  Welträtsel  auf  mich  —  oder  anderer  Werke 
Haeckels,  von  denen  die  Anthropogenie  mir  das  liebste  wurde  — 
einzugehen.  —  Wie  viele  Tausende  habe  auch  ich  Haeckel  gedankt, 
daß  er  mit  der  Herausgabe  der  Volksausgabe  der  Welträtsel  auch  der 
Not  der  Laien  in  Erkenntnisfragen  gedacht  hat.  — 

Ein  halbes  Jahr  später,  April  1905,  hielt  Haeckel  seine  bekannten 
Berliner  Vorträge.  Bruno  Wille  bat  mich,  bei  einem  Fest  zu  Ehren 
Haeckels  im  zoologischen  Garten  einige  Gedichte  zu  sprechen.  Ich 
wählte  aus  „Gott  und  Welt"  (Goethe):  „Prooemion",  „Ein  und  alles", 
„Vermächtnis"  u.  a.  und  schloß  mit 

„Weite  Welt  und  breites  Leben, 
Langer  Jahre  redlich  Streben. 
Stets  geforscht  und  stets  gegründet, 
Nie  geschlossen,  oft  gerundet, 
Ältestes  bewahrt  mit  Treue, 
Freundlich  aufgefaßtes  Neue, 
Heitern  Sinn  und  reine  Zwecke; 
Nun!  man  kommt  wohl  eine  Strecke." 

Nach  diesen  wie  für  Haeckel  geschriebenen  Goethe- Worten  wandte 

er  sich  mit  großer  Lebhaftigkeit  an  mich:  „Wie  ist  es  möglich,  daß  Sie 
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123 


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gerade  meine  Goetheschen  Lieblingsgedichte  auswählten?!"  Das 
war  das  erste  Wort,  das  er  persönlich  an  mich  richtete,  und  das  gleich 
die  innere  Verwandtschaft  aller  Einheitlich-denkenden  traf.  Denn 
aus  den  obigen  Gedichten  Goethes  spricht  eine  rein  monistisehe 
Weltanschauung  im  allerumf  assendsten  Sinn.  Ich  hatte  diese 
Dichtungen  mit  Bedacht  und  in  der  Überzeugung  gewählt,  daß  sie 
Haeckels  eigenen  Anschauungen  entsprechen.  — 

Die  nächstfolgenden  Sommer  hörte  ich  bei  Haeckel  in  Jena  Zoo- 
logie. Leider  fehlten  mir  zum  eingehenderen  Studium  Zeit,  Kraft 
und  Gesundheit;  dennoch  bedeuteten  die  Vorlesungen  eine  große 
Förderung  für  mich.  Vor  etwa  vier  Jahren  übertrug  mir  Haeckels 
Vertrauen  die  spätere  Herausgabe  eines  Teils  der  Briefe  über  die 
Welträtsel.  Jeden  Sommer  bin  ich  einige  Wochen  in  dem  lieben 
närrischen  Nest  Jena  und  habe  da  Gelegenheit,  die  Korrespondenz 
stetig  zu  verfolgen. 

Haeckels  eigenartiger  Persönlichkeit  ist  in  wenigen  Sätzen 
schwer  beizukommen.  Sein  kindlich-dankbares  Verhältnis  zur  Natur, 
seine  sonnige  Heiterkeit,  seine  Elastizität  —  auch  heute  noch!  — 
seine  beispiellose  Einfachheit  der  Lebensführung  sind  die 
hervorragendsten  und  bestechendsten  Eigenschaften  seines  Wesens. 
Daneben  stehen  Schüchternheit,  Überbescheidenheit  und  eine  merk- 
würdige Menschenfremdheit.  Trotz  seiner  Heiterkeit  ist  er  zuweilen 
schweren  Gemütsdepressionen  ausgesetzt,  die  sich  in  einer  auffallen- 
den, den  Umständen  meist  nicht  entsprechenden  Resignation  äußern. 
Haeckel  hat  eine  seltene  Gemütstiefe,  die  mich  öfter  an  Werthers 
Lotte  erinnert. 

Auch  von  einem  „kosmischen"  Gemüt  Haeckels  könnte  man  reden. 
Ich  habe  nie  einen  Menschen  gesehen,  den  der  Anblick  eines  Sonnen- 
untergangs in  so  sprachloses  Entzücken  versetzt,  wie  ihn!  Sieht  er 
durch  das  Mikroskop  ein  Radiolar,  so  ist  das  ganze  Gesicht  durch- 
leuchtet von  Freude.  Sein  ganzes  Leben  geht  durch  das  Auge.  — 
Trotz  einiger  Schatten  kann  man  von  Haeckel  wohl  sagen:  Sein 
Wesen  ist  Licht!  Als  den  „Leuchtenden"  unter  den  Menschen 
wird  ihn  die  Nachwelt  in  ihrem  Gedächtnis  bewahren. 


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124 


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EMIL  FELDEN,  BREMEN 


o  o  o 


Es  war  in  meiner  Studienzeit,  die  ich  von  1893 — 97  in  Straßburg 
verlebte,  da  ich  zum  ersten  Male  etwas  von  Haeckel  hörte.  Was 
er  als  Naturwissenschaftler  erforscht,  welche  Verdienste  er  sich  er- 
worben, wie  er  Darwins  Theorie  weitergebildet  —  von  alledem  wußte 
und  erfuhr  ich  nichts.  Um  so  mehr  aber  hörte  ich  von  seinen  „Welt- 
rätseln", die  damals  eben  erschienen  waren.  Wie  wurde  über  sie  ge- 
schrieben und  gescholten!  Es  gab  wohl  kein  religiöses  Blättchen, 
keine  theologische  Zeitschrift,  die  nicht  das  Buch  in  Grund  und  Boden 
hinein  verdammt  hätte.  Alle,  sowohl  die  orthodoxen  als  auch  die- 
jenigen, die  sich  fortschrittlich  nannten,  zündeten  Scheiterhaufen  an, 
auf  denen  sie  zur  größeren  Ehre  Gottes  und  der  Kirche  den  Ketzer 
verbrannten  und  sein*  Buch  verdammten,  so  sehr  sie  im  übrigen  auch 
auseinandergingen  und  einander  bekämpften.  Ein  „pseudo-wissen- 
schaftliches  Sudelwerk"  —  so  nannte  die  „Welträtsel"  gelegentlich 
einer  unserer  Professoren.  Nicht  ein  orthodoxer;  kein  kleiner,  eng- 
herziger Geist,  sondern  ein  feiner  Mensch  mit  weitem  Blick,  eine 
Größe  in  seinem  Fach,  ein  Vorkämpfer  für  die  freie  Auffassung  des 
Christentums.  Gelegentlich  nannte  eres  so,  denn  gründlich  ließ  er 
sich  auf  das  Werk  nicht  ein.  Und  die  anderen  Professoren  erst  recht 
nicht.  Für  uns  Studenten  aber  war  sein  Urteil  maßgebend,  da  wir  ihn 
hoch  verehrten.  Es  waren  nicht  nur  die  Schnitzer  kirchengeschicht- 
licher Art,  die  dieses  Urteil  hervorriefen.  Es  war  vor  allen  Dingen 
der  Umstand,  daß  sich  Haeckel  nicht  nur  gegen  das  orthodoxe  Christen- 
tum gewandt  hatte  —  was  man  auf  liberaler  Seite  ganz  gern  gesehen 
hätte  — ,  daß  er  vielmehr  das  liberale  genau  so  wertete  wie  das  ortho- 
doxe. Die  liberalen  Theologen  fühlten  sich  dadurch  verhöhnt,  daß 
Haeckel  sich  um  die  immense  Forscherarbeit  einer  ganzen  Generation 
nicht  gekümmert,  vielmehr  Behauptungen  aufgestellt  hatte,  mit  denen 
sich  die  liberale  Theologie,  da  sie  dieselben  für  längst  abgetan  hielt, 
überhaupt  nicht  mehr  beschäftigte.  Besonders  groß  wurde  die  „rabies 
theologica",  als  bald  darauf  die  neuen  Auflagen  des  genannten 
Buches  erschienen,  die  absolut  keine  Korrektur  der  nachgewiesenen 
Fehler  enthielten.  Hatte  man  zunächst  über  die  Unwissenschaftlich- 
keit des  Naturwissenschaftlers   und   über   die   Leichtfertigkeit,   mit 

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125 


der  er  über  die  Forschungen  der  wissenschaftlichen  Theologie  hinweg- 
gegangen war,  gescholten,  so  schätzte  man  ihn  nun  mehr  auch  als  Cha- 
rakter gering ,  da  allgemein  böser  Wille  angenommen  wurde.  Es  war 
keiner  unter  uns,  der  nicht  über  Haeckel  sehr  empört  gewesen  wäre,  ob- 
wohl die  wenigsten,  vielleicht  gar  keiner,  die  „Welträtsel"  gelesen  hatten. 
Wir  hielten  es  überhaupt  nicht  der  Mühe  wert,  uns  mit  ihnen  abzugeben. 
Auch  deshalb  nicht,  weil  auch  die  philosophischen  Köpfe  unter 
uns  nur  mit  geringschätzigem  Lächeln  von  der  unglaublichen  Philo- 
sophie Haeckels  erzählten,  der  alte,  längst  begrabene  Ladenhüter  wie- 
der aufleben  ließ  und  den  seit  Jahren  überwundenen  groben  Materialis- 
mus eines  Lamettrie  nnd  Holbach  in  neuer  Gestalt  wieder  auftischte. 
Vor  allem  mokierte  man  sich  über  die  Widerlegung  Kants.  Haeckel 
gegen  Kant!  Das  machte  uns  Studenten  Spaß.  Es  klang  uns,  denen 
nichts  über  Kant  ging,  wie  ein  schlechter  Witz.  —  Ich  habe  damals 
mit  einem  bekannten  Professor  der  Philosophie,  mit  dem  ich  eng  be- 
freundet war,  über  die  „Welträtsel"  gesprochen.  Ich  drückte  meine 
Verwunderung  und  Entrüstung  darüber  aus,  daß  nicht  ein  einziger 
Phüosophieprofessor  sich  gegen  die  volksverderbende  und  unwissen- 
schaftliche Arbeit  Haeckels  gewandt,  und  daß  man  nicht  auch  auf  philo- 
sophischer Seite  auf  die  vollkommene  Unwissenschaftlichkeit  des  Werkes 
hingewiesen  habe,  wie  das  die  Theologen  so  brav  getan.  Ich  hielt  das 
für  grobe  Pflichtversäumnis.  Ich  meinte  auch  in  jugendlicher  Naivität, 
es  hätte  nur  eines  solchen  Hinweises  bedurft,  um  eine  Verurteilung  des 
Buches  bei  jedem  wahrheitsliebenden  Menschen  zu  erzielen  und  die  Er- 
folge lahm  zu  legen,  die  sich  die  „Welträtsel"  langsam  aber  sicher  er- 
rangen. Da  lächelte  jener  Philosophieprofessor  sehr  mitleidig  und  sagte : 
„Was  sollen  wir  Phüosophen  da  schreiben!  Es  ist  eben  der  Haeckel. 
Man  kennt  ihn!  Er  heißt  Ernst,  aber  man  nimmt  ihn  nicht  ernst." 
Mittlerweile  vollzog  sich,  trotz  der  ungeheuren  Polemik  von  allen 
Seiten,  der  Siegeslauf  der  „Welträtsel"  ungestört.  Ein  Tausend  er- 
schien nach  dem  anderen,  ungeachtet  aller  Verdammungsurteile  von 
protestantischer  und  römischer  Seite,  ungeachtet  der  „nachgewiesenen 
Unwissenschaftlichkeit"  des  Buches.  Das  war  mir  ein  Rätsel.  Und 
gab  mir  zu  denken!  Woran  konnte  das  liegen?  Welches  war  der 
Zauber,  der  die  Menschen  gefangennahm?  Ich  wollte  mir  das  Buch 
auf  der  Bibliothek  holen,  aber  es  war  vergriffen.  Und  jedesmal,  wenn 
ich  es  verlangte,  bekam  ich  denselben  Bescheid:  „ausgeliehen".  Das 
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126 


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war  mir  wieder  merkwürdig.  Zum  Kaufen  war  es  zu  teuer  für  einen 
Studenten,  da  es  außer  der  großen  Ausgabe  noch  keine  billigere  gab. 
Dann  nahte  das  Examen  und  verschlang  alle  Zeit  und  alles  Interesse. 
Auch  in  den  folgenden  Jahren  kam  ich  nicht  zur  Lektüre  des  Buches, 
da  ich  direkt  von  der  Universität  kommend  einen  ziemlich  schwierigen 
Posten  in  einer  Diaspora  erhielt,  der  meine  Kraft  auch  dann  vollständig 
in  Anspruch  genommen  hätte,  wenn  ich  mich  nicht  auf  das  zweite  Exa- 
men hätte  präparieren  müssen.  Erst  als  ich  auf  einer  kleinen  Pfarrei 
im  Elsaß  saß,  hatte  ich  genügend  Muße,  mich  in  allerhand  Fragen  zu 
vertiefen.  Das  Studium  der  Religionsgeschichte  und  des  Neuen  Testa- 
mentes ließ  mich  immer  „radikaler"  werden.  Die  Differenz  zwischen  der 
Lebensanschauung  und  Lebensweise  des  modernen  Menschen  und  des 
Menschen  aus  der  Zeit  des  Neuen  Testamentes  erschien  mir  allmählich 
als  unüberbrückbar.  Nun  suchte  ich  nach  einem  Fundamente,  auf  dem 
ich  eine  neue  Weltanschauung  aufbauen  könnte.  Ich  begann  mich  wie- 
der in  die  Philosophie  zu  vertiefen.  Von  da  kam  ich  zur  Naturwissen- 
schaft und  Naturphilosophie.  Daß  ich  nun  Haeckels  ,, Welträtsel"  stu- 
dierte, ist  selbstverständlich.  Und  nun  begriff  ich,  daß  diese ,, Welträtsel" 
eine  so  ungeheure  Wirkung  haben  mußten,  daß  sie  ein  Kulturdokument 
ersten  Ranges  waren.  Gaben  sie  doch  dem  nach  Erkenntnis  hungernden 
Volke  das,  was  es  suchte  und  sonst  nirgends  fand.  Mochten  auch  Fehler 
in  dem  Werke  stecken  —  wahrscheinlich  sind  die  wenigsten,  die  darüber 
gescholten  haben,  imstande  gewesen,  sie  selbst  herauszufinden  —  es 
mußte  wirken,  weil  es  vom  Standpunkte  der  vollkommensten  Wahr- 
haftigkeit aus  geschrieben  war.  Hier  war  mit  bewunderungswürdiger 
Tapferkeit  klipp  und  klar  herausgesagt,  worum  es  sich  handelt,  ohne 
irgendwelche  Beschönigung  oder  Bemäntelung.  Das  Alte  war  alt ,  das 
Morsche  morsch ,  das  Faule  faul  genannt.  Und  daneben  dieser  goldene 
Optimismus,  der  freudig  und  verheißungsvoll  in  die  Zukunft  sieht,  zum 
Kampf  aufruft  und  an  den  Erfolg  glaubt.  Welch  fester  Glaube,  welch 
sicheres  Hoffen  ist  in  diesem  Buch  enthalten !  Wie  teilt  er  sich  in  gerade- 
zu suggestiver  Weise  demjenigen  Leser  mit,  der  das  Buch  nicht  liest, 
um  es  zu  schmähen  und  zu  verdammen,  sondern  weil  er  sucht  und  fin- 
den will.  Prophetengeist  weht  in  den  „Welträtseln",  der  Geist  des  Pro- 
pheten einer  neuen  Zeit ,  da  Wahrheit  und  Wahrhaftigkeit  herrschen 
sollen.  Nicht  wird  nur  niedergerissen,  nicht  nur  werden  falsche  Ideale 
erbarmungslos  bekämpft,  es  wird  auch  neu  aufgebaut,  es  werden  neue 
'3asaS^aaggEiggggggggggggggggggE]E]5]EiE]E]EiB]g]EiE]B]E]E]E]E]E]G]E]E]B]E]Ej 

127 


Ideale  aufgestellt,  es  werden  Wege  gewiesen,  die  zu  diesen  hinführen.  Wie 
ein  Blitz  mußte  dieses  Buch  in  eine  schwüle  Atmosphäre  hineinfahren 
und  sie  reinigen.   Und  so  ist  es  zum  echten  „Katalysator"  geworden. 

Durch  die  „Welträtsel"  wurde  meines  Erachtens  nicht  sowohl  die 
Naturwissenschaft  direkt  popularisiert,  als  daß  alle  Fragen  von  Gott 
und  Welt,  Diesseits  und  Jenseits,  dem  Sinne  des  Daseins,  von  Schöp- 
fung und  Erlösung  von  einem  ganz  anderen  Gesichtspunkte  als  dem 
gewöhnlichen  aus  zur  lebhaften  Diskussion  gestellt  wurden.  Die  Mensch- 
heit sah  sich  gezwungen,  ihre  alten  Anschauungen  und  Dogmen  bei 
Tageslicht  zu  betrachten  und  —  zu  bewerten.  Selbst  auf  die  Ortho- 
doxie hat  das  Buch  eine  große  Wirkung  ausgeübt.  Sie  begnügt  sich 
nun  nicht  nur  mehr  damit,  das  Volk  mit  Dogmen  zu  füttern,  sondern 
fügt  ihnen  so  viel  Naturwissenschaft  bei,  als  notwendig  ist,  um  die 
Dogmen  modern  zu  fundamentieren.  Man  denke  auch  an  den  Kepler- 
bund !  Man  mag  gegen  ihn  sagen,  was  man  will  —  und  auch  ich  habe 
wahrlich  sehr  viel  gegen  ihn  zu  sagen  — ,  er  bringt  durch  seine  Methode 
doch  die  Kenntnis  der  Naturwissenschaft,  wenn  auch  in  seiner  Art, 
in  Gegenden,  wo  man  noch  nie  etwas  von  neuen  Problemen  ohne 
diese  Arbeit  gehört  hätte.  Und  so  leistet  er  Pionierarbeit  für  den 
Fortschritt  und  —  auch  für  die  Gründung  Haeckels,  den  Monisten- 
bund! Der  Keplerbund  erweist  sich  solchergestalt  als  echter  Mephi- 
stophelesbund,  als  Teil  der  Macht,  die  trotz  allem  letzten  Endes  doch 
„das  Gute  schafft".  Diesen  Mephistopheles  hat  Haeckel  durch  seine 
Arbeit  heraufbeschworen!  Und  ist  nur  etwas  Licht  gebracht  oder  doch 
der  Boden  präpariert,  daß  auch  die  beschränktesten  Köpfe  merken, 
ein  naturwissenschaftliches  Fundament  ist  heute  notwendig,  selbst 
für  die  Glaubenssätze,  die  die  „Wahrheit"  sind,  dann  kann  die  wahre 
Aufklärungs-  und  Auferbauungsarbeit  einsetzen.  Vor  allem  von  Seiten 
des  Monistenbundes,  der  ohne  die  „Welträtsel"  nicht  denkbar  ist. 

Wahrlich,  Ernst  Haeckel  mag  als  naturwissenschaftlicher  Forscher 
Großes  geleistet  haben.  Ich  kann  es  in  genügender  Weise  nicht  wer- 
ten, da  ich  sein  Fachgenosse  nicht  bin,  obwohl  ich  es  aufrichtig  be- 
wundere. Allein  als  Verfasser  der  „Welträtsel"  hat  er  sich,  mögen 
noch  so  viele  Schwächen  dem  Werke  nachgewiesen  werden,  ein  Kultur- 
denkmal ersten  Ranges  gesetzt.  Gerade  in  bezug  auf  dieses  Werk 
und  seine  Wirkung  kann  er  mit  Stolz  und  Jubel  sprechen:  „Es  wird 
die  Spur  von  meinen  Erdentagen  nicht  in  Äonen  untergehn." 

128 


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9     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II  I2Q 


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ERNST  SCHWENINGER,  MÜNCHEN 


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Schon  in  meiner  akademischen  Lernzeit  und  in  den  frühesten  Jahren 
meiner  akademischen  Lehrtätigkeit  als  Pathologe  beschäftigte  ich 
mich  mit  Ernst  Haeckel  in  seinen  zoologischen  usw.  Werken,  besonders 
mit  seiner  „Natürlichen  Schöpfungsgeschichte". 

Schon  damals  war  mir  eine  kardinale  Angelegenheit  die  stärkere 
Hervorhebung  des  Begriffs  des  gesunden  und  kranken  Lebewesens 
als  eines  von  seiner  Vor-  und  Umwelt  bzw.  deren  Prozessen  bedingten 
und  bestimmten  Produktes,  als  eines  Gewordenen  und  stets  Weiter- 
werdenden, als  eines  (quantitativ,  qualitativ,  ganz  oder  teilweise,  auf 
oder  ab)  Gewandelten  und  stets  Sich-fort-ändernden.  Ich  erkannte 
die  Notwendigkeit  solcher  Akzentuierung  als  Bedürfnis  der  Pathologie 
und  ihres  Fortschrittes,  in  und  für  sich,  und  als  Voraussetzung,  als 
conditio  sine  qua  non  für  ein  gedeihlicheres  therapeutisches  Tun  und 
Lassen.  Und  schon  darum  waren  mir  schon  die  ersten,  eben  damals 
publizierten  Haeckelschen  Ideenbauten,  in  die  meine  Gedankengänge 
paßten  und  sich  deshalb  zwanglos  einführen  und  einfügen  ließen, 
just  hochsympathische  und  hochwillkommene  Erscheinungen. 

Aber  nicht  nur  aus  jenem  speziellen,  sondern  auch  aus  —  nicht 
minder  regem  —  allgemeinem  Interesse  verfolgte  ich  die  Fortbildung 
und  Fruktifizierung  der  fruchtbaren  Entwicklungsidee  alles  Geschehens 
und  Lebens,  Tuns  und  Handelns,  verstand  und  empfand  ich  Wesen 
und  Wert  der  sich  hier  auf  tuenden  Gedankenwelt,  wenn  ich  auch  den 
Umfang  ihrer  eigenen  Entwicklung,  die  ihr  beschieden  war,  ist  und 
sein  wird,  die  Größe  ihres  so  bedeutsam  erweiterten,  erhöhten  und 
vertieften  Ausbaus  nicht  ahnte.  Die  zentrifugale  Bewegung  dieses 
seine  engere  Sphäre  enorm  überlangenden  Geistes  und  seine  ganze, 
groß-  und  freizügige,  im  besten  Wortsinn  unakademische,  nichts  weni- 
ger als  nur  fachgelehrsame  Lehrart  bereiteten  mir,  wenn  ich  so  sagen 
darf,  die  köstlichsten  Freiluft-  und  Freilichtgefühle.  Ich  bewunderte 
stets  die  herrliche  Weite  der  in  und  von  seinen  Gedankengebäuden 
aus  gewährten  Um-  und  Fernblicke,  seine  schwungkräftige  Phantasie, 
seine  eigene  und  stark  transitive  Begeisterungswärme  —  unbeschadet 
der  Kühle  und  Klarheit  seiner  strengen  selbst-  und  objektkritischen 
Beobachtungs-,    Spekulations-,    Darstellungs-   und    Mitteilungsweise. 

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Und  wenn  dies  alles  der  Mobilität  nicht  verlustig  gewordenem  Alter 
gegenüber  nicht  versagt,  so  erscheint  es  mir  nur  um  so  natürlicher,  daß 
der  in  all  jenen  Eigenschaften  so  hervorragend  Jugendliche  und  bis 
heute  so  Junggebliebene  schon  frühzeitig  auf  mich,  wie  auf  alle  beweg- 
liche Jugend,  wirkte. 

Auch  sein  mächtiger  Einfluß  auf  die  breiten  Massen  der  Gebildeten 
und  Bildungsfähigen  ist  ja  wohl  diesem  Charakteristikum  Haeckels 
mit  zuzuschreiben,  da  ja  das  Volk  vieles  mit  der  Jugend  gemein  hat. 
Schon  aus  jener  Eigenschaft  Haeckels  und  der  jener  großen  Menge 
erklärt  es  sich,  daß  er  auf  diese  eine  so  bedeutend  größere  Gewalt  hat, 
als  die  Mehrzahl  der  seriösen  Senatoren  der  Weisheit  in  ihrem  starren, 
lang-  und  grauzopfigen  Konservativismus  und  oft  schon  lang  und 
sehr  obsoleten  oder  doch  seneszierenden  Doktrinarismus  und  Dog- 
matismus. 

Es  hat  da  einmal  ein  anderer  Jenenser  Professor  —  sein  Name 
ist  auch  nicht  der  eines  homo  obscurus  (Friedrich  Schiller  heißt  er)  — 
manch  ein  treffend  Wort  auf  den  allzu  engen,  allzustrengen  Fach- 
und  Brotgelehrten  geschrieben.  Ein  solcher  ist  Ernst  Haeckel  nicht 
und  deshalb  ward  und  wird  er,  mehr  als  von  seinen  anderen  Gegnern, 
von  der  Gilde  jener  Sorte  kurzgeratener  Kümmerlinge  angefeindet, 
wie  jeder,  der  sich  ihr  nicht  eingemeindet  und  nicht  eingemeindet  ist 
von  Hause  aus.  Und  nicht  zuletzt  aus  diesem  Grunde  lieb'  ich  ihn. 
Als  Antipode  jener  hat  er  seinen  inneren  und  äußeren  Gang  gemacht. 

Zu  dem  bereits  Bemerkten  hin  erklärt  sich  die  ungeheure  Wirkung 
Haeckels  in  die  Breite  der  Nation,  ja  der  internationalen  Zeitgenossen- 
schaft, gewiß  zu  einem  großen  Teil  aus  dem  Lechzen  nach  einer  Be- 
freiungstat in  einer  Epoche  reaktionärer  Schwankungen  und  Schwen- 
kungen. Die  mit  Haeckels  Werken,  speziell  mit  den  „Lebenswundern" 
und  den  ,, Welträtseln"  gegebenen  Freidenkerdokumente  kamen  jenem 
Sehnen  entgegen,  waren  deshalb  so  werbefähig  und  wurden  deshalb 
so  frenetisch  begrüßt. 

Die  Entstehung,  der  Aufgang  resp.  das  Ersterscheinen  des  Phä- 
nomens Haeckels  fiel  in  eine  stark  impellierte  Ära;  in  die  Zeit  des 
größten  nationalen  und  kosmopolitischen  Um-  und  Aufschwungs,  den 
die  Geschichte  aufzuweisen  hat,  in  eine  Ära,  die  für  das  Gedeihen 
des  Haeckelschen  Werkes  günstig  sein  mußte,  wie  dieses  für  das 
ihre.    Ein  großes  Konvolut  von  Ereignissen,  Umständen  und  Ver- 

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hältnissen  bereitete  den  Boden  für  die  Entwurzelung  und  Ausbreitung 
der  Haeckelschen  Lehre  und  ihrer  Fortpflanzungskeime.  So  zunächst 
der  Kampf  der  Geister  und  Gemüter,  der  durch  das  römische,  vati- 
kanische Konzil  entfacht  war;  dann  das  allgemeinere  intellektuelle 
Erwachen  und  stärkere  Aufleben  des  Volkes  nach  Entjochung  aus  dem 
Druck  der  materiellen  Armut;  ferner  die  bald  auf  die  Mündigkeits- 
betätigung in  politischen,  sozialen,  wirtschaftlichen,  wissenschaftlichen, 
logischen,  ethischen,  religiösen,  künstlerischen  Meinungs-,  Glaubens-, 
Wissens-,  Gewissens-  und  Geschmacksfragen  hereinbrechende  Rück- 
laufsagitation und  deren  Gegenbewegung;  und  weiterhin  der  auf  die 
Blüte  des  Kapitalismus  hereinflutende  Interessenkampf  der  Stände 
und  Klassen,  wie  überall  so  besonders  auch  in  Deutschland,  der  den 
beendigten  Kampf  der  Staaten  und  Stämme  und  zum  Teil  den  der 
Bekenntnisse  ablöste.  Infolge  all  dessen  war  die  Stimmung  da  für 
Haeckels  Tätigkeit  und  konnte  unter  seinem  Weiterwirken  progressiv, 
lawinenartig  zunehmen. 

Dann  aber  auch  infolge  des  im  Gros  der  Menschen  wenigstens 
weckbaren  Triebes  nach  der  Erkenntnis  der  letzten  Dinge,  dieses 
„mens" würdigen  Antagonisten  (wenn  auch  nicht  Paralysators)  der 
übernatürlichen  und  mystischen  Neigungen  der  Menschheit.  Den 
rationalistischen  Bedürfnissen  entsprechen  Haeckels  logisch-kombina- 
torische und  exakte  Denkerqualitäten  und  -leistungen,  während  seine 
ihn  ebenso  auszeichnenden  poetischen  Befähigungen  und  Betätigungen 
dem  Kunst-  und  Dichtersinn  gerecht  werden,  der  dem  breiten  Volke 
immanent  ist  und  dort  oft  reichlicher  zu  treffen  ist  als  in  der  Ober- 
schicht der  „geistigen  Hochfinanz",  der  „Intelligenz".  Aus  diesen 
Gründen  wohl  nicht  weniger  ist  die  Arbeit  Haeckels  so  erfolgreich. 

Daß  ein  so  namhafter,  bedeutender  Naturforscher,  ein  nicht  nur 
mit  scharf-  und  weitblickenden,  gründigen  Augen  armierter  Wahrheit- 
sucher, sondern  auch  ein  mit  tief-  und  schönsichtigem  Künstlersinn 
geschmückter  und  schmückender,  beglückter  und  beglückender,  warm- 
fühlender Mensch  es  ist,  der  hier  die  Menschen  in  die  Gefilde  der 
Philosophie  führte,  kam  und  kommt  dem  inneren  und  äußeren  Effekt 
seines  gesamten  Werkes  natürlich  noch  steigernd  zu  statten. 

Ob  naturwissenschaftliche  Gegner  ihn  als  ressortflüchtig  prokla- 
mieren, Zunftphilosophen  ihn  unbefugten  Einbruchs  in  ihre  Domäne 
zeihen   und   nicht   für  voll   gelten  lassen,  ob   Konfessionalisten  ihn 

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perhorreszieren  und  Träumer  ihn  indizieren  und  ihm  ebenso  wie 
Rationalisten  nachsagen,  er  habe  sie  unbefriedigt  gemacht  oder  ge- 
lassen, er  habe  viel  eingerissen  und  nichts  oder  nicht  genug  aufgebaut, 
ob  der  Staat  dem  Geistwerk  solcher  Männer  als  dem  gefährlicher  Weg- 
macher und  Wegweiser  skeptisch  zusieht  — :  Haeckel  hat  das  natur- 
wissenschaftliche und  philosophische  Denken  seiner  Zeit  unleugbar 
neu  gerichtet,  d.  h.  orientiert,  und  das  frühere  neu  gerichtet,  d.  h.  be- 
urteilt, nicht  verurteilt,  in  seiner  hochsinnigen,  weitgeistigen  und 
weitherzigen  Bescheidenheit.  Vor  allem  in  den  genannten  Gebieten 
hat  er,  teils  auf  den  Bahnen  seiner  geistigen  Ahnen,  teils  auf  von  ihm 
selbst  geschaffenen,  durch  pfadloses,  schwer  wegsames,  erst  gerodetes 
Terrain  mühsam  geschürften  Wegen  und  gezogenen  Geleisen  weiter 
geführt.  Und  heute  fahren  Unzählige  als  staunende  Genießer,  wo  er 
als  einsamer  Pionier  gearbeitet,  marschiert  man  rüstig  in  dichten 
Massen  auf  den  erhellten  Straßen  seiner  Weltanschauung  durch  das 
von  ihm  (mit  und  allein)  so  viel  reicher,  weiter  und  mehrseitiger  als 
vorher  durchbahnte  Land  der  Erkenntnis  vorwärts  und  zieht  daraus 
die  Konsequenzen  fürs  Leben.  Und  selbst  ehedem  Spröde  folgen  nun 
in  bedeutsamsten  Fragen  seiner  Beantwortung  (so  in  seiner  Gasträa- 
theorie).  Durch  seine  naturwissenschaftliche  und  philosophische  und 
damit  durch  seine  Stellungnahme  zu  den  sogenannten  positiven  Reli- 
gionen, dem  Offenbarungsglauben  usw.  ist  seines  Lebenswerkes  Wir- 
kung auf  die  Gesellschaft,  die  menschliche  Gemeinschaft  der  Gegen- 
wart und  Zukunft  eine  unabseh-  und  unberechenbar  umfangreiche 
und  intensive. 

Wie  fürs  Große  und  Ganze  dieser  allgemein-umfassenden  Kosmo- 
sphären  des  Realen  und  Idealen,  für  die  Gesamtwissenschaft  von 
Natur-  und  Geisteswelt,  und  fürs  Gesamtleben,  so  ist  Haeckels  Wirken 
für  manches  Teilgebiet  noch  speziell  zu  bemerken. 

So  für  die  Kunst,  vor  allem  für  die  bildende,  in  der  er  anleitend 
hervorgetreten  ist.  Für  sie,  auch  für  die  Schönliteratur,  sind  in  seinen 
Werken  ertragreiche  Fundstätten  mit  vielen  noch  ungeförderten  Schät- 
zen an  Gedanken-  und  Formgut  gewiesen.  Es  ist  zu  wünschen,  daß 
die  Priester  der  Kunst  seinen  Winken  gegenüber  nicht  ebenso  (vor- 
sätzlich und  unbewußt)  unzugänglich  und  blickverschlossen  in  ihrer 
Sphäre  sich  verhalten,  wie  die  Sazerdotenschaft  der  Religionskonfes- 
sionen und  andere  in  der  ihrigen. 
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Was  die  Kultur  des  Berufskreises  betrifft,  dem  ich  zugehöre,  so 
ist  Haeckels  Arbeit  an  sich  zweifellos  geeignet,  auch  jenem  und  damit 
der  menschlichen  Gesamtheit  zugute  zu  kommen,  indem  es  die  ärzt- 
lichen Führer  der  Menschheit  entwicklungstheoretisch  vorbereitet  und 
so  verständnisvertiefend  unterstützt  in  der  Krankenauffassung  und 
-anfassung  und  auf  diese  Weise  wenigstens  mittelbar  für  die  Hilfe- 
berufenen und  damit  für  die  Legionen  der  Leidenden  praktisch  nutz- 
bringend wird.  Das  ist  denk-  und  erfüllbar  unter  der  gleichen  Prämisse, 
wie  die  für  die  Gefolgschaft  seitens  der  Künstler  aufgestellte,  —  d.  h. 
dann,  wenn  die  Ärzte  willens  sind,  sich  in  diesem  Sinne  belehren  und 
leiten  zu  lassen.  Bisher  ist  davon  unerfreulich  wenig  zu  spüren.  An 
Haeckel  liegt's  nicht!  .  .  . 

Vieles  und  viel  hat  Haeckel  aufgedeckt  und  errungen.  Vieles  und 
viel  kann  und  wird,  so  hoffe,  so  glaube  ich,  in  und  aus  seinem  Geiste 
erreicht  werden.  Sein  glänzendes  Vorbild  an  unentwegtem  Arbeits- 
willen, Arbeitslust,  Geduld,  Ausdauer,  Denk-,  Bekenner-  und  Tatmut 
und  Unerschrockenheit,  zum  geistigen  Können  hin,  —  es  leite  stets  die, 
die  sich  zu  ihm  bekennen  und  im  Anschluß  an  ihn  schaffen  wollen! 
Jenes  leuchtende  Vorbild  unbeirrbarer  und  unerkirrbarer,  absoluter 
Denkfreiheit,  für  die  er  allezeit  eintrat,  die  der  allzeit  Aufrechtgewesene 
fortbetätigt  und  mit  der  er  ein  mustergültiges  Paradigma  ist  dafür, 
daß  einer,  bei  aller  Zusammenhängigkeit  mit  dem  historischen  und 
zeitgenössischen  Gesamtdenken,  Unabhängigkeit  wahren  kann  und 
Eigenart,  ja  Einzigart!  Mit  dieser  Sonderart  und  Selbständigkeit  hat 
er  uns  eine  hohe  Summe  hohen  neuen  Besitzes  erworben,  hat  er  uns 

—  auch  als  Negant  —  neue  Werte  geschaffen  und  geschenkt,  und  mit 
neuen  positiven  Werten  alte  imaginäre  ersetzt,  die  durch  seine  Vorstöße 
manchem  zerstört  oder  erschüttert  worden,  unter  seiner  Belichtung 
geschmolzen  sind.  Blickt  man  zurück  und  wägt  man  die  schon  gezei- 
tigten Früchte,  so  darf  man  ebenso  wie  angesichts  der  voraussichtlichen 
Zukunft  wohl  sagen :  Dieser  Mann,  der  wohl  einen  der  stärksten  An- 
stöße in  der  geistigen  Bewegung  der  Gegenwart  gegeben  hat,  an  dem 
deshalb  ebensoviel  Anstoß  genommen  worden  seitens  der  Reagenten, 

—  dieser  Mann,  der  selbst  von  lebhaftesten  Impulsen  erfüllt,  so  weit- 
tragende, lebensfähige,  lebenfördernde  Impulse  gegeben  hat  als  ein 
Hauptmotor  der  Hebung  des  Selbstbewußtseins,  des  Selbstgefühls 
und  der  Selbsthilfeaktion  der  heutigen  Menschheit  (was  eines  seiner 

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Hauptmotive  war),  —  dieser  Mann,  der  sie  mit  einer  so  tiefgreifenden 
Revision  und  Umwälzung  zu  einer  Neuordnung  der  Lebensanschauung 
und  damit  auch  der  Lebensführung  geführt  hat,  dieser  Stifter  einer 
neuen  Lehre  ist  der  Stifter  eines  neuen  Glückes.  Und  seine  Saat  wird 
immer  mehr  aufgehen  und  sie  wird,  in  des  Säers  Sinne  gepflegt,  nicht 
im  üblen  Sinne  auswachsen.  Der  uns  Sinne  und  Sinn  geöffnet  und  sie 
immer  mehr  Menschen  immer  mehr  aufmacht  für  so  viel  Wahres, 
Gutes  und  Schönes,  er  ist  nicht  nur  ein  mächtiger  Auf  reger,  er  ist 
und  wird  auch  ein  mächtiger  Anreger  sein  und  —  in  weit  mehr  als 
schon  damit  —  ein  wohltätiger  Spender  vieler  fertiger  und  vieler 
sich  immer  mehr  vollendender  Resultate.  Seinen  eigenen  reichen  Qua- 
litäten und  Quantitäten  sind  die  des  bereits  Erzielten  entsprechend; 
jenen  genialen  inneren  Dimensionen,  von  allwelchen  die  wackeren 
Angehörigen  geistiger,  moralischer  und  ästhetischer  „Trockenlader" 
(d.  h.  Packträger)-Innungen  nichts  ahnen  und  sich  nichts  träumen 
lassen,  nicht  bloß  weil  sie  nicht  wollen,  vielmehr  weil  sie  nicht 
können.  Mögen  sie  naserümpfen,  lippenschürzen,  achselzucken,  wie 
sie's  drängt,  —  Haeckel  ist  von  dem  Künstlerblut  durchflössen,  mit  den 
Künstleradern  organisiert,  in  denen  es  jenen  zu  lebhaft  zugeht,  ja 
deren  Existenz  in  einem  Gelehrtenorganismus  diesen  Tretmüllern  und 
ihrer  Tradition  schlecht  angebracht,  weil  deplaziert  erscheint,  die  aber 
doch  jedem  echten  Forscher  eignen  muß.  Solche  Organisation  hat 
nicht  die  Mindesten  und  nicht  zum  mindesten  geziert ;  so  A.  von  Hum- 
boldt, Pettenkofer  usw.  Haeckel  ist  durch  die  seine  zu  seinem  Besten 
geführt  worden.  — 

So  schaute  und  schaue  ich  seit  den  ersten,  starken  Eindrücken,  die 
mir  von  ihm  wurden,  mit  Verehrung  nach  dem  Großen  von  Jena  hin. 
Mit  einem  Frohempfinden  erfüllt  mich  das  Bewußtsein,  daß  der  ehr- 
würdige Veteran  der  Forschung,  der  eine  grandiose  Arbeitsleistung 
bewältigt  hat,  nichts  weniger  denn  als  Invalide  dort  lebt;  er,  der  in 
Geistesrichtung,  Kraft  und  Betriebsamkeit  in  mancher  Hinsicht  mit 
einem  anderen  verwandt  ist  mit  einem,  der  auch  viel  dort  geweilt 
und  gewirkt  hat  und  der  uns  vorwärts  gebracht  hat  trotz  manch  auch 
ihm  gewordener  und  heute  noch  fortwährender  aktiver  und  passiver 
Resistenz,  —  mit  dem  Vorläufer  Darwins  und  weiterhin  unseres 
Deszendenzklassikers,  —  mit  Goethe.  Mit  Frohempfinden  erfüllt  mich, 
daß  uns  Haeckel  lebt,  hoffentlich  weit,  weit  ins  Patriarchenalter  hin- 

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ein;  Haeckel,  der  Deszendent  jener  beiden,  eine  der  imposantesten 
Erscheinungen  der  deutschen,  ja  der  internationalen  Geisteswelt,  nicht 
zum  mindesten  dadurch,  womit  vor  allem  —  ohne  Verringerung  seiner 
eminenten,  machtvollen  Eigenart  und  Eigenständigkeit  —  sein  Wesen 
an  Goethe  erinnert :  durch  die  überaus  glückliche  Paarung  von  natur- 
wissenschaftlicher Denkweise  und  philosophischem  Sinn  einerseits  und 
jener  und  poetischem  Geiste  anderseits,  —  Mischungen,  die  in  Haeckel 
in  außerordentlichen,  veranlagten  und  ausgebildeten  Fähigkeiten  ge- 
geben sind,  und  denen  gegenüber  ich  —  trotz  allen  metaphysischen, 
transzendentalen  Idealisten  und  nur  —  materialistischen  Schwärmern  — 
nicht  anstehe  zu  sagen,  sie  erscheinen  mir  gerade  deshalb  vielbedeutend 
und  segensreich  für  die  heutige  und  künftige  Entwicklung  unseres  na- 
tionalen und  des  Geistes-  und  Gesamtkulturlebens  überhaupt,  weil 
er  durch  sie  die  leben-  und  lebensverständnisnötige  Fühlung  mit  dem 
Realen  nicht  verliert  bei  all  seinem  Trieb  und  Stieg  in  die  Höhen 
und  Tiefen  der  Forschung.  — 

Durchdrungen  von  diesen  Anschauungen  und  Empfindungen,  trat 
ich  Haeckel  gegenüber,  als  Bismarck,  auf  der  Rückreise  von  seiner 
denkwürdigen  Fahrt  zu  seines  Sohnes  Herbert  Hochzeit  nach  Wien, 
in  Bad  Kissingen  weilte,  und  Haeckel  mit  der  Bitte  an  den  Fürsten 
kam,  Jena,  seiner  Bürgerschaft  und  namentlich  auch  seiner  akademi- 
schen Bürgerschaft  die  von  dieser  ersehnte  Gelegenheit  zu  geben,  dem 
hochbetagten,  gewaltigen  Repräsentanten  menschlicher  und  spezifisch 
deutscher  Größe  die  Größe  junger  deutscher  Liebe  und  Dankbarkeit 
zu  bezeigen.  Der  Fürst,  den  ich  begleitete,  leistete  Haeckels  Einladung 
Folge;  und  es  waren  unvergeßliche  Momente,  die  ich  an  der  Seite  des 
gefeierten  Neureichsgründers  bei  der  Huldigung  auf  dem  Marktplatz 
zu  Jena  erlebte,  wo  Ernst  der  Große  u.  a.  in  humorgenetzten  Worten 
Bismarck  als  dem  ersten  Ehrendoktor  der  Phylogenie  zujubelte.  Es 
waren  mir  aber  auch  unversinkbare  Erhebungen  für  Geist  und  Herz, 
in  diesen  Tagen  von  Kissingen  und  Jena  mit  dem  Geistesrecken  und 
zugleich  so  schlichten  Menschen  Haeckel  zusammen  zu  sein,  dessen 
liebenswürdige  Persönlichkeit  mir  dort  im  direkten  Umgang  näher 
kennen  zu  lernen  gegönnt  war. 

Und  es  war  mir  um  so  mehr  eine  große  Freude,  eine  wiederholte 
Zusammenkunft  mit  dem  prächtigen  Manne  zu  genießen;  diesmal  in 
meinem  damaligen  Domizil,  auf  Schloß  Schwaneck,  wo  er  mich  be- 

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suchte,  und  wir  bei  einem  Glase  Wein  behagliche,  mich  in  hohem  Grade 
anregende  Zwiesprache  pflegen  konnten.  Ich  fand  in  ihm  dabei  so 
ganz  jene,  gleich  dem  Kinde  nur  dem  Genius  eigene  Voraussetzungs- 
losigkeit,  die  uns,  bei  diesem  um  so  tiefer,  seelisch  erquickt;  nicht 
aber  jene  Selbst-  und  Herrschsucht  und  jenen  Eigensinn,  den  Finder 
und  Führer  oft  haben  und  hegen.  —  Ja:  Eigensinnend  fand  ich 
diesen  Großen,  —  eigen si  n  n ig  nicht !  Ich  fand  die  abgeklärte  Heiter- 
keit des  Wissenden  und  trotz  Jenseitsnegation  (soweit  jenes  in  den 
Kirchen  usw.  gepredigt  wird)  doch  freudig  Lebenbejahenden  in  ihm. 
Ich  habe  jenen  einen  und  jenen  andern  Tag  in  meinem  Gedenkkalender 
—  in  Gefühlen  der  Liebe  und  der  Treue  —  rot  und  blau  bezeichnet.  — 

Ebenso  danke  ich  es  der  Fügung,  daß  es  mir  im  letztverflossenen 
Jahrfünft  wie  in  meiner  Jugend  möglich  war,  mich  dem  eingehenderen 
Studium  dieses  unentwegt  regsamen  Bewegers  hinzugeben  und  seine 
großen  Förderungen  an  der  Gestaltung  der  vorschreitenden  Zeit  und 
in  der  Entwicklung  seines  geistigen  Kindes,  des  Monistenbundes,  usw. 
zu  beobachten. 

Aus  dem  allen  habe  ich  es  als  sicher  ersehen :  Haeckel,  der  wirk- 
samste Träger  des  Entwicklungsgedankens  nächst  Darwin,  der  Ent- 
wicklungstheoretiker und  Entwicklungspraktiker,  der  in  seinem  eige- 
nen Werden  und  Wachsen  ein  so  großes  Beispiel  von  Entwicklung 
gegeben  hat,  Haeckel,  der  Schöpfer  so  vieler  ganz  neuer  Werte,  der 
allerstärkste  Werber  für  ein  neues,  reiches  Denken,  der  befreiende 
Weiterer  des  allgemein-menschlichen  Gesichtskreises,  wird  durch  die 
Tatsache  all  dieses  seines  Wesens  und  Wirkens  nicht  nur  im  Gedächtnis, 
sondern  auch  im  Weiterwerden  der  Menschheit  fortleben  als  ein  nie 
zu  verbergender  Faktor  des  Fortschrittes  der  Erkenntnis  und  damit 
der  Kultur.  Er  hat  als  solcher  ein  momentum  und  sich  ein  monu- 
mentum  geschaffen  —  memoria  et  aere  perennius! 


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137 


HERBERT  EULENBERG,  KAISERSWERTH  A.  RHEIN 


o  o  o 


Was  ich  an  Haeckel  verehre? 
Seinen  starken  Mut 
Und  an  seiner  großen  Lehre 
Sein  warmes  Blut. 

Und  stirbt  er  einst  von  unserm  Stern, 
So  leb'  ich  nicht  mehr  ganz  so  gern! 


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WILHELM  BÖRNER,  LEIPZIG 


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Zum  erstenmal  hörte  ich  den  Namen  Haeckel  mit  etwa  17  Jahren 
aus  dem  Munde  des  —  Religionsprofessors.  In  welchem  Zu- 
sammenhange das  war,  erinnere  ich  mich  nicht  mehr  mit  Bestimmt- 
heit ;  ich  weiß  nur,  daß  der  Name  in  Verbindung  mit  Darwin  genannt 
worden  war.  Es  ist  klar,  daß  die  Äußerungen  über  Haeckel,  die  ich 
hier  vernahm,  nicht  gerade  schmeichelhaft  gewesen  sind.  Da  ich  aber 
damals  schon  jede  Dogmatik  überwunden  hatte,  machten  sie  mir 
keinen  sonderlichen  Eindruck  und  hatten  auch  keine  weitere  Folge. 
Ich  las  damals  die  bei  Reclam  erschienenen  Werke  Darwins,  dachte 
aber  gar  nicht  daran,  ein  Buch  Haeckels  anzusehen;  nur  der  Name 
hatte  sich  mir  dauernd  eingeprägt,  verbunden  mit  der  Vorstellung 
eines  berühmten  Gelehrten  und  antikirchlich  gesinnten  Mannes.  Erst 
nach  mehreren  Jahren,  nachdem  ich  mich  schon  längere  Zeit  mit 
Philosophie  beschäftigt  hatte  und  auf  dem  Wege  war,  mir  meine 
positivistische  Weltanschauung  zu  bilden,  studierte  ich  Haeckels 
Hauptwerke.  Ich  weiß  heute  nicht  mehr  zu  sagen,  in  welcher  Reihen- 
folge; nur  weiß  ich  bestimmt,  daß  die  ,, Welträtsel"  ziemlich  spät  an 
die  Reihe  kamen.  Mein  Interesse  für  Haeckel  wurde  besonders  ver- 
stärkt, als  ich  erfuhr,  daß  der  von  mir  so  hochverehrte  B.  v.  Carneri 
mit  ihm  befreundet  gewesen.  Dieser  Umstand  bewog  mich,  mich  auch 
mit  den  kleineren  Schriften  bekannt  zu  machen. 

Die  wissenschaftlichen  Werke  imponierten  mir  gewaltig  und  be- 
reicherten meine  naturwissenschaftlich-biologischen  Kenntnisse  in 
bedeutsamer  Weise.  Die  philosophischen  Schriften  hingegen  hatten 
keinen  Einfluß  auf  mich,  weil  zur  Zeit,  als  ich  sie  kennen  lernte, 
meine  Abneigung  und  Feindschaft  gegen  jede  Art  Metaphysik  schon 
so  sehr  ausgebildet  war,  daß  mir  Haeckels  Standpunkt  nicht  zusagen 
konnte.  Dazu  kam  noch,  daß  ich  zu  dieser  Zeit  schon  mit  Ludwig 
Feuerbachs  klassischer  Religionspsychologie  vertraut  war,  so  daß  mir 
die  „Welträtsel"  auch  keine  „Aufklärung"  mehr  zu  bieten  hatten. 

Durch  die  Lektüre  klerikaler  Anti-Haeckel-Schriften  war  ich  nun 
allmählich  zu  der  Meinung  gekommen,  Haeckel  sei  ein  wütender 
Draufgänger,  eine  Art  geistiger  Ellbogen-Mensch,  der  sich  mit  allen 
Mitteln  durchzusetzen  trachte,  wenn  auch  freilich  nicht  aus  egoisti- 

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139 


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sehen  Gründen.  Diese  Vorstellung  verdunkelte  mir  das  Bild  des  sonst 
sehr  geschätzten  Mannes  und  ich  wandte  mich  innerlich  von  ihm  ab, 
weil  für  mich  Vornehmheit  und  Takt  zwei  unbedingte  Erfordernisse 
im  geistigen  Kampfe  bedeuten.  Ich  erwähne  diese  Episode  in  meinem 
Verhältnis  zu  Haeckel  absichtlich,  weil  sie  beweist,  wie  verheerend 
die  klerikale  Kampfesweise  selbst  in  solchen  Kreisen  wirken  kann, 
die  allem  aus  diesem  Lager  Kommenden  von  vornherein  mit  Miß- 
trauen gegenüber  stehen.  Bald  sollte  ich  jedoch  eines  besseren  be- 
lehrt werden.  Anläßlich  einer  Reise  in  Deutschland  im  Juni  1906 
kam  ich  auch  nach  Jena  und  besuchte  neben  anderen  Vorlesungen 
natürlich  auch  das  Kolleg  Haeckels.  Hier  ging  es  mir  nun  ähnlich 
wie  Saul  in  der  Mythe,  der  auszog,  einen  Esel  zu  suchen  und  ein 
Königreich  fand:  Ich  erwartete  einen  selbstbewußten,  zänkischen, 
intoleranten  Kampfhahn  und  fand  —  einen  unendlich  schlichten, 
vornehmen,  würdevollen  Gelehrten.  Ich  gestehe,  daß  ich  diese  Vor- 
lesung tief  betrübt  und  zugleich  beschämt  verließ.  Betrübt  darüber, 
daß  Menschen  in  ihrem  blinden  Haß  und  ihrer  maßlosen  Wut  so  weit 
gehen  können,  die  Tatsachen  in  ihr  Gegenteil  zu  verkehren,  und  nicht 
davor  zurückschrecken,  Anschauungen  über  einen  Mann,  der  ihnen 
nicht  paßt,  zu  verbreiten,  die  sich  zur  Wahrheit  verhalten  wie  schwarz 
zu  weiß;  beschämt  darüber,  daß  ich  den  Lügnern  und  Verleumdern 
aufgesessen  bin,  und  mir  das  Bild,  das  ich  ehemals  von  Haeckel  hatte, 
beeinträchtigen  ließ.  Ich  kann  nicht  anders  sagen,  als  ich  gewann 
den  Mann  in  der  einen  Stunde  lieb.  Und  diese  Zuneigung  wurde  durch 
alles  bestärkt,  was  ich  über  ihn  von  befreundeter  Seite  las,  und  er- 
reichte ihren  Höhepunkt,  als  es  mir  im  letzten  Sommer  vergönnt 
war,  mit  dem  verehrungswürdigen  Denker  persönlich  in  Berührung 
zu  kommen.  Ich  habe  nur  selten  das  Glück  gehabt,  mit  Menschen 
sprechen  zu  dürfen,  die  ein  solches  Übermaß  von  Güte  und  Wohl- 
wollen ausströmen  wie  Haeckel.  Je  aufmerksamer  ich  die  Betätigung 
Haeckels  in  den  letzten  Jahren  verfolgte,  desto  mehr  stieg  der  Mann 
in  meiner  Hochschätzung  und  Bewunderung.  Seine  Ablehnung  der 
Obmannschaft  des  Deutschen  Monistenbundes;  das  Eintreten  dafür, 
an  diese  Stelle  den  (leider  viel  zu  wenig  gewürdigten)  ausgezeichneten 
Kalthoff  zu  setzen;  die  Gewinnung  Ostwalds,  dessen  Weltanschauung 
doch  wesentlich  verschieden  ist  von  der  seinigen ;  der  Austritt  aus  der 
Kirche:  das  und  vieles  andere  lieferte  mir  den  Beweis  für  die  unge- 
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wohnliche  Bescheidenheit,  Objektivität,  Toleranz  und  Tapferkeit  des 
großen  Mannes.  Und  speziell  die  letztere  Eigenschaft,  der  Mut 
Haeckels,  ist  es,  die  ich  ganz  besonders  bewundere  und  verehre, 
wenn  ich  sein  Lebenswerk  überblicke.  Man  kann  ruhig  behaupten: 
Haeckel  ist  heute  nicht  nur  einer  der  berühmtesten  Männer  Deutsch- 
lands, sondern  einer  der  allermutigsten.  Er  ist  für  mich  eine  Recken- 
gestalt des  20.  Jahrhunderts;  denn  in  der  Gegenwart  sind  ja  nicht 
mehr  die  körperliche  Kraft  und  der  physische  Mut  ausschlaggebend 
und  bedeutungsvoll,  sondern  geistige  Stärke  und  seelischer  Mut. 
Und  in  dieser  Hinsicht  ist  Haeckel  ein  Riese,  ein  leuchtendes  Vorbild, 
ein  „Erzieher"  (wie  ihn  schon  Dodel-Port  genannt  hat)  im  aller- 
größten Stile.  Er  ist  die  Verkörperung  des  Mannesstolzes, 
für  den  die  eigene  Überzeugung,  die  Treue  gegenüber  der  Lebens- 
aufgabe und  die  Liebe  zur  Wahrheit  den  Lebensnerv  bilden.  Diesen 
ruhigen,  festen  Mut  kann  kein  Hohn  der  Toren  und  kein  Dünkel  und 
Naserümpfen  der  Zünftler  erschüttern.  All  dem  hält  er  unbeirrt  stand 
und  wächst  dadurch  ins  Gigantische.  Und  so  möchte  ich  sagen :  Haeckel 
als  Philosoph  hat  sicherlich  anregend  und  aufklärend  auf  die  weitesten 
Kreise  gewirkt ;  Haeckel  als  Forscher  ist  eine  wissenschaftliche  Größe 
ersten  Ranges;  das  Gewaltigste,  Kostbarste,  Wertvollste  aber  ist 
Haeckel  als  Mensch.  Denn  als  solcher  ist  er  nicht  weniger  als  das, 
was  unserer  Nation  und  der  ganzen  Menschheit  am  dringendsten  not 
tut:  im  tiefsten  Sinne  des  Wortes  —  ein  ganzer  Mann. 


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IDA  ALTMANN-BRONN,  ROMBACH 


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Schön  ist  der  Gedanke,  „die  Kulturarbeit  Ernst  Haeckels"  nicht 
durch  einen  einzelnen,  und  wäre  er  auch  der  Besten  einer,  dar- 
stellen, sondern  diese  Darstellung  das  Werk  vieler  werden  zu  lassen. 
—  Schön  strahlt  der  Diamant  das  Licht  der  Sonne  wieder,  herrlich 
künden  die  keusche  Lilie  und  die  Rose  ihr  Lied  vom  Sonnenwirken, 
und  dennoch  möchten  wir  ihr  Bild  nicht  missen ,  wie's  aus  Tauperlen 
uns  entgegenblitzt.  —  So  wird  von  Haeckel  auch  ein  jeder  sagen, 
wie  gerade  er  des  Meisters  Werk  betrachtet  und  bewertet. 

Den  Namen  Haeckels  las  ich  zum  erstenmal  im  Winter  1889/90 
in  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Petersburg.  Ein  junger  Stre- 
benskamerad,  Max  Goldberg,  arbeitete  an  einer  von  der  Akademie 
gestellten  Preisaufgabe  ,,Über  die  Entwicklung  der  Ganglien  beim 
Hühnchen".  Er  verstand  nur  Russisch.  Die  deutschen,  französischen 
und  englischen  Arbeiten,  auf  die  Professor  Owßjanikoff  ihn  ver- 
wiesen hatte,  übersetzte  ich  ihm.  Bei  der  Gelegenheit  fand  ich  auch 
Haeckels  Namen  irgendwo  erwähnt,  jedoch  ohne  Beziehung  zu  der 
mir  vorliegenden  Arbeit,  und  er  besagte  mir  noch  kaum  etwas.  (Des 
jungen  Studenten  Arbeit  erhielt  die  große  goldene  Medaille  und  wurde 
in  russischer  Sprache  von  der  Akademie  gedruckt.  Teile  von  ihr, 
die  Herr  Professor  Waldeyer  aus  meiner  Übersetzung  auswählte,  er- 
schienen in  Band  XXXXII  des  Archivs  für  mikroskopische  Anatomie.) 

Haeckels  Ideen  lernte  ich  zuerst  durch  seine  Altenburger  Rede 
kennen,  dieses  „monistische  Glaubensbekenntnis",  von  dem  er  meint, 
es  werde  wohl  der  Religion  der  meisten  Naturforscher  entsprechen, 
die  1.  genügende  naturwissenschaftliche  Kenntnisse;  2.  genügende 
Schärfe  und  Klarheit  der  Urteilskraft;  3.  genügenden  moralischen 
Mut  und  4.  genügende  Geisteskraft  besitzen,  „um  sich  auf  Grund 
eigenen  gesunden  Denkens  von  den  herrschenden  religiösen  Vorurteilen 
zu  befreien,  und  besonders  von  jenen  vernunftwidrigen  Dogmen,  die 
uns  seit  frühester  Jugend  als  unerschütterliche  .religiöse  Offenbarun- 
gen' fest  eingepflanzt  wurden".  Die  Betonung  des  Rechts  der  freien 
Wahrheitsforschung  und  der  freien  Wahrheitslehre,  ohne  das  es  keine 
ehrliche  wahre  Wissenschaft  gebe,  ferner  die  entschiedene  Forderung, 
daß  auch  die  theoretische  und  praktische  Sittenlehre  nur  wissen- 
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I42 


schaftlich  vernünftig,  nicht  dogmenreligiös  begründet  werde,  alles  das 
war  mir  so  aus  der  Seele  gesprochen,  daß  es  für  mich  ein  fröhliches, 
befreiendes  Aufleuchten  bedeutete: 

Also  durfte  man  so  denken,  und  es  war  weder  ein  Mangel  an  reli- 
giösem Gefühl  noch  eine  Anmaßung,  nicht  Rousseaus  bzw.  seines 
savoyischen  Vikars  Verhimmelung  der  Evangelien  und  ihres  Helden 
sowie  der  Vortrefflichkeit  seiner  Religion  beizustimmen.  Man  durfte 
trotz  des  schulamtlich  beglaubigten  Zeugnisses,  „mit  den  Wahrheiten 
der  christlichen  Glaubens-  und  Sittenlehre,  wie  auch  mit  ihrer  Grund- 
lage, der  heiligen  Schrift,  und  der  geschichtlichen  Entwicklung  der 
christlichen  Kirche  gut  bekannt"  zu  sein,  an  jenen  „Wahrheiten" 
zweifeln  und  Rousseau  entweder  für  verworren  oder  unaufrichtig 
halten!  —  Also  hatte  ich  von  meinem  Spinoza  doch  einiges  ver- 
standen! So  klang  es  freudig  in  mir  nach  Haeckels  Altenburger 
Monismusrede.  Geradezu  wohltuend  war  dieses  Bewußtsein,  und  ähn- 
lich dachten  und  fühlten  viele  suchende,  ringende  junge  Geister. 
Hier  dieser  große  Gelehrte  in  Amt  und  Würden  erlaubte  nicht  nur, 
nein,  er  forderte  den  Mut,  daß  man  sich  zu  sich  selbst  bekenne,  zum 
eigenen  klaren  Denken.  Indem  er  uns  dieses  Recht  zusprach,  wurde 
er  unser  Meister,  wir  seine  Jünger. 

Nachdem  ich  „Die  natürliche  Schöpfungsgeschichte"  studiert 
hatte,  beantragte  ich,  daß  die  Freireligiöse  Gemeinde  in  Berlin,  in 
deren  Vorstand  ich  gewählt  worden  war,  dieses  Werk  Haeckels  in 
ihre  Bibliothek  einstellen  möge.  Das  geschah,  und  der  mächtige  Band 
war  ständig  ausgeliehen;  man  mußte  ihn  vorbestellen  und  manchmal 
lange  auf  ihn  warten,  da  viele  andere  ihn  auch  bestellt  hatten. 

Je  mehr  ich  Haeckel  las,  desto  größer  wurde  nicht  nur  meine  Be- 
wunderung seiner  Leistung,  sondern  auch  meine  Ehrerbietung  für 
seine  Persönlichkeit. 

Es  kommt  bisweilen  vor,  daß  man  nach  einer  Reihe  von  Jahren 
sich  einbildet,  zu  einer  bestimmten  Zeit  eine  Meinung  gehabt  zu  haben, 
die  man  tatsächlich  sich  viel  später  erst  gebildet  hat.  Daß  mir  es 
in  bezug  auf  Haeckel  nicht  so  geht,  dafür  liegt  der  Beweis  gedruckt 
seit  fast  zwanzig  Jahren  vor.  Auf  Wunsch  des  Vorstandes  der  Berliner 
freireligiösen  Gemeinde  hielt  ich  in  dieser  Vorträge;  der  am  Neujahrs- 
tage 1894  gehaltene  wurde  auf  Mitgliederantrag  gedruckt.  Darin  er- 
wähne ich  die  Beleidigungsklage  Hamanns  „gegen  den  Lichtgeist 

143 


Ernst  Haeckel,  der  ebenso  groß  als  wissenschaftlicher  Forscher 
und  Schriftsteller  wie  mutvoll  als  Vorkämpfer  für  den  freien  Ge- 
danken auf  religiösem  Gebiete  ist".  Nach  kurzer  Kennzeichnung  des 
Hamannschen  Vorgehens  sagte  ich  dann  weiter:  , .Ernst  Haeckel 
tat  seinen  Angreifer  in  einer  Weise  ab,  die  an  Schärfe  nichts  ver- 
missen ließ.  Er  verwahrt  seinen  Gegner  auf  dem  Gebiete  der  Ab- 
stammungslehre, Prof.  Virchow,  gegen  die  Bundesgenossenschaft  eines 
solchen  Mitstreiters  (Hamanns).  Er  bedauert  Virchows  Kampf  gegen 
den  Darwinismus,  läßt  aber  dem  wissenschaftlichen  Charakter  des- 
selben, dessen  Größe  und  Bedeutung  vollste  Anerkennung  zuteil  wer- 
den. Diese  noble  Art  des  Umgangs  mit  dem  namhafte- 
sten Gegner  kann  uns  den  Kampfgenossen  Haeckel  nur 
um  so  sympathischer  erscheinen  lassen,  und  welche  Schlüsse 
werden  wir  ziehen  auf  die  Charaktereigenschaften  des  Menschen,  den 
dieser  selbe  vornehme  Haeckel  mit  Ausdrücken  bezeichnete, 
welche  mit  einer  Geldstrafe  von  200  Mark  gesühnt  werden  mußten." 

Eine  ähnliche  Wirkung  übte  der  mir  damals  nur  durch  seine 
Werke  bekannte  Haeckel  auf  viele  aus,  die  ich  zu  beobachten  Ge- 
legenheit hatte,  Besucher  meiner  Vorträge  aus  der  jüngeren  Lehrer- 
schaft, erwachsene  Schüler,  Deutsche  wie  Ausländer. 

Ein  Vorbild  war  er  uns.  Eine  ethische  Wirkung  übte  er  aus  allein 
schon  durch  seine  wissenschaftliche  Leistung,  die  uns  neue  Wahr- 
heiten erkennen  lehrte,  zur  Wahrheit  immerfort  hinzustreben  uns 
verpflichtete.  Vor  allem  aber  war's  die  Art,  mit  der  er  die  durch  seine 
eigene  riesige  Forscherarbeit  gefundenen  neuen  Erkenntnisse  und  auch 
die  Ergebnisse  der  Geistesarbeit  anderer  verkündete  und  vertrat,  was 
jene  geradezu  unerhörte,  noch  nicht  dagewesene  ethische 
Bedeutung  im  Kulturleben  unserer  Zeit  gewann. 

Der  kühne  Wahrheitsmut,  der  ihn  das  für  wahr  erkannte  aus- 
sprechen läßt,  gleichviel  ob  er  sich  dadurch  mit  herrschenden  Mei- 
nungen oder  auch  mit  herrschenden  Gewalten  in  Widerspruch  setzt, 
hat  etwas  hinreißendes,  entflammendes.  Hierzu  gesellt  sich  noch  der 
Schönheitshauch,  der  wie  ein  Frühlingswehen  sein  Lebenswerk  durch- 
zieht und  junge  Lebenskeime,  frische  Kräfte  befreit,  zum  Wachstum 
und  zum  Wirken  bringt. 

Schon  die  „Monographie  der  Radiolarien"  des  28jährigen  Zoologie- 
Professors  weist  alle  diejenigen  Eigenheiten  auf,  die  als  besonders 

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Haeckelisch  überall  in  seinen  Werken  wiederkehren:  Wissenschaft- 
lich Neues  wird  mit  Apostelbegeisterung  in  sprachlich  vollendeter 
Schönheit  dargelegt  und  durch  künstlerisch  glänzende  Zeichnungen 
veranschaulicht . 

Der  Künstler  Haeckel  offenbart  sich  uns  in  den  Wanderbildern 
und  den  Kunstformen  der  Natur,  und  die  Indischen  Reisebriefe  zeigen 
unter  anderem,  daß  ein  herzlich  liebenswürdiges  Gemüt  sich  wohl 
vereinbart  mit  der  Streitbarkeit  und  Unerbittlichkeit  des  Wahr- 
heitskämpen. Wie  er  als  solchen  sich  gezeigt  hatte  in  seiner  Stet- 
tiner Rede  von  1863,  in  der  er  den  Kampf  aufnimmt  für  Darwin, 
für  die  Entwicklungslehre  —  gegen  das  Wunder  —  das  Naturgesetz 
betont,  „das  weder  Tyrannenwaffen  noch  Priesterflüche  unterdrücken 
können",  so  will  er  alle  weihen  zu  Wahrheitsstreitern;  nicht  nur  die 
Fachgelehrten  sollen  als  Geheimwissenschaft  die  neue  Lehre  haben, 
allen  Gebildeten  will  er  sie  bringen,  und  die  Lehrer  sollen  sie  der 
Jugend,  den  Kindern  des  Volkes  in  der  Schule  übermitteln. 

Gerade  damit  wurde  er  Begründer  der  neuen  Menschheitskultur, 
die  in  den  beiden  letzten  Jahrzehnten  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
erfreuliche  Ausbreitung  gewann  innerhalb  der  europäischen  Völker 
(allerdings  nicht  der  Staaten,  da  ja  die  Regierungen  und  jene  Kreise 
sie  nicht  aufkommen  lassen  wollen,  von  deren  eigensüchtigem  Treiben 
die  Regierungen  mißleitet  und  mißbraucht  werden). 

Die  von  Haeckel  begründete  und  verkündete  Einheitslehre  wirkte 
wie  eine  große  Befreiungstat.  Befreit  wurden  Hunderttausende  von 
Menschengeistern  von  dem  quälenden  Druck  der  Zwiespältigkeiten, 
der  Gegensätze:  Gott  und  Welt,  Seele  und  Leib  oder  Geist  und  Ma- 
terie. Sie  lernten  das  All-Leben  in  seinen  Zusammenhängen  erfassen, 
die  Einzelerscheinungen  des  Lebens  in  das  Ganze  einordnen.  Eine 
von  den  Ängsten  um  das  ,,Uberweltliche"  befreite,  gereinigte,  har- 
monische Stimmung  konnte  die  Gemüter  erfüllen.  Die  so  befreiten 
Geister  wurden  schaffensfreudiger,  schaffenstüchtiger  und  bewirkten 
die  mancherlei  Fortschritte  auf  den  verschiedensten  Gebieten  des 
Lebens,  so  vor  allem  die  Wandlungen  zum  Besseren  im  Erziehungs- 
wesen. 

Die  Beziehungen  des  Menschen  zur  Umwelt  und  der  Menschen 
untereinander  werden  aufs  günstigste  beeinflußt  durch  die  Einheits- 
lehre, die  dem  Dünkel  den  Boden  entzieht,  der  Mensch  sei  etwas  ganz 

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10     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II  145 


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anderes  als  alle  anderen  Lebewesen,  da  ja  nur  er  eine  unsterbliche 
Seele  habe,  die  Gott  ihm  mit  seinem  Odem  eingeblasen  hätte,  wie  er 
auch  nach  seinem  unerforschlichen  Ratschluß  die  Ungleichheit  der 
Menschen  untereinander  gesetzt,  die  einen  über-  und  die  anderen 
untergeordnet  hätte.  Die  Einheitslehre,  wie  Haeckel  sie  kündete, 
brachte  somit  die  Menschen  brüderlich  einander  näher  und  gab  dem 
einzelnen  stärkeres  Selbstbewußtsein  und  Selbstvertrauen.  Das  habe 
ich  an  mir  selber  und  an  zahlreichen  anderen  Personen  feststellen 
können,  und  zwar  häufiger  als  zuvor  seit  dem  Erscheinen  der  „Welt- 
rätsel", denn  die  wilden  Angriffe  gegen  diese  machten  auf  sie  einen 
weit  größeren  Personenkreis  aufmerksam,  als  der  gewesen  war,  der 
sich  sonst  mit  Haeckels  Werken  beschäftigt  hatte. 

Die  ethischen  Wirkungen,  welche  durch  Haeckels  Werk  und 
Leben  ausgelöst  worden  sind,  erscheinen  mir  mindestens  so  groß 
wie  diejenigen  der  Reformation,  ohne  daß  sie  deren  üble  Be- 
gleit- und  Folgeerscheinungen  gezeitigt  hätten. 

Im  Spätsommer  1900  —  gerade  zu  der  Zeit,  da  Haeckel  seine 
zweite  Reise  nach  Indien  antrat  —  kam  ich  als  einzige  Delegierte 
Deutschlands  zum  internationalen  Freidenkerkongreß  nach  Paris. 
Wie  wenig  Eindruck,  fürchtete  ich,  würde  auf  diese  Weise  Deutsch- 
land unter  den  vertretenen  Nationen  machen!  Allein  es  wurde  ge- 
ehrt und  gefeiert,  war's  doch  das  Land,  in  dem  Haeckel  die  wunder- 
vollen Waffen  gebildet  hatte,  mit  denen  der  geistige  Befreiungskampf 
erfolgreich  geführt  wurde  in  allen  Landen. 

Als  wir  uns  anschickten,  im  Jahre  1904  in  Rom  das  internatio- 
nale Freidenkertum  zum  Kongreß  zusammenzuberufen,  da  wagte  ich 
es,  an  Professor  Haeckel  zu  schreiben  und  ihn  zu  bitten,  dabei  zu 
sein  —  aus  Vaterlandsliebe. 

Kurz  vorher  hatte  des  Deutschen  Kaisers  Besuch  beim  Papste 
und  sein  sonstiges  Verhalten  in  Italien  so  sehr  gegen  das  Deutschtum 
Stimmung  gemacht,  daß,  als  bei  dem  beliebten  Konzert  auf  dem 
Colonna-Platze  ein  Wagnersches  Stück  gespielt  wurde,  das  Volk 
durch  Zischen  und  Pfeifen  und  die  Rufe  „keine  deutsche  Musik" 
protestierte,  so  daß  uns  deutschen  Zuhörern  vor  Schmerz  die  Tränen 
in  die  Augen  traten. 

Dann  kam  Haeckel.  Die  Presse  nannte  ihn  und  würdigte  sein 
Werk. 

146 


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Seine  gewaltige  wissenschaftliche  Lebensarbeit,  sein  stolzer  Wahr- 
heitsmut, die  Geistesschlachten,  die  er  geschlagen  hatte,  die  sittliche 
Stärkung  und  Festigung,  die  er  der  Mitwelt  gegeben  hatte,  dazu  sein 
Schönheitsschaffen  —  das  alles  hatte  für  Deutschland  moralische 
Eroberungen  gemacht,  wie  sie  ihm  kaum  eine  andere  Einzelpersön- 
lichkeit verschafft  hatte. 

„Das  ist  der  große  Deutsche",  sagten  Mütter  ihren  Kindern,  die 
sie  emporhoben,  damit  sie  ihn  sehen  konnten,  als  er  am  20.  September 
am  Denkmal  Giordano  Brunos  seinen  Kranz  niederlegte,  und  Jubel- 
rufe ohne  Ende  grüßten  ihn.  Auch  heuer  hörten  wir  um  Genua 
herum,  wie  jene  Plätze  an  des  Mittelmeers  Küste,  wo  er  geweilt, 
geforscht,  geruht  hat,  von  der  Bevölkerung  wie  Stätten  ihres  Ruhms 
gezeigt  werden,  weil  Haeckel  sie  geweiht  hat  für  alle  Zeit. 


10*  147 


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EMILE  YUXG,  GENF 


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7 


um  erstenmal  begegnete  ich  dem  berühmten  Naturforscher  von 

Jena  am  Ende  des  Sommersemesters  1883.  Kaum  hatte  er  Kenntnis 
von  dem  Empfelnungsbrief  genommen,  den  mir  mein  Freund  Arnold 
Lang,  einer  seiner  liebsten  Schüler,  mitgegeben  hatte,  als  er  mir  mit 
reizender  Liebenswürdigkeit  einen  Platz  in  seinem  Laboratorium  über- 
ließ, wo  ich  den  längsten  Teil  meiner  Ferien  zubrachte.  Die  Jahreszeit 
war  vorgeschritten,  und  Haeckel  bereitete  sich  vor,  nach  Tirol  abzu- 
reisen. Ich  hatte  indessen  das  Glück,  die  letzten  Stunden  seiner  Vor- 
lesung zu  hören.  Der  Eindruck,  den  sein  Wort  hervorbr achte,  über- 
stieg noch  den  schon  so  starken,  den  man  beim  Lesen  seiner  Bücher 
gehabt  hatte,  denn  zu  der  Macht  seines  Gedankens  kam  noch  die 
Wirkung  seines  persönlichen  Wesens,  ein  eigentümlicher  Zauber,  der 
von  seiner  wohlklingenden  Stimme  und  von  seinem  Auge  ausging. 
Wenn  er  sprach,  hielt  er  gern  seine  Blicke  nach  oben  gerichtet,  was  ihm 
ein  begeistertes  Aussehen  verlieh  und  er  überzeugte  durch  die  Kraft 
und  die  Vielfältigkeit  seiner  Argumente,  sowie  durch  die  logische 
Verbindung  seiner  Ideen,  die  mit  Leichtigkeit  in  einer  reichen  und 
farbigen  Sprache  hervorgebracht  wurden.  Man  warf  ihm  nur  einen 
gewissen  Mißbrauch  neugebildeter  Wörter  vor,  welcher  besonders  die 
Fremden,  die  seinem  Unterricht  folgten,  überraschte. 

Haeckel  hat  ohne  Zweifel  mehr  Anhänger  durch  seine  Werke  als 
durch  seine  Vorträge  gewonnen;  alle  die  ihn  gehört  haben,  unterlagen 
dem  besonderen  Zauber,  den  er,  ohne  selbst  davon  zu  wissen,  auf  jeder- 
mann und  besonders  auf  die  jungen  Leute  ausübte.  Wie  viele  dieser 
letzteren  habe  ich  nicht  gekannt,  die  ihm  mit  glühender  Bewunderung 
anhingen  und  ihn  als  den  Meister  proklamierten.  Ich  persönlich  muß 
bekennen,  daß  ich  keinen  Lehrer  gekannt  habe,  dessen  Ideen  tiefer 
und  auch  angenehmer  den  Verstand  seiner  Schüler  durchdrungen 
hätten,  denn  der  Geist  der  Jugend  empfindet  ein  wirkliches  Vergnügen 
an  Verallgemeinerungen,  welche  den  Stempel  einer  großen  Klarheit 
und  Einfachheit  an  sich  tragen. 

In  dem  Zeitraum,  von  dem  ich  spreche,  war  man  noch  leidenschaft- 
lich für  oder  gegen  Darwin,  und  die  französisch  sprechende  Jugend 
verschlang  die  Übersetzungen  der  „Schöpfungsgeschichte"  und  der 

I4S 


..Anthropogenie".  Zahlreiche  meiner  Alt  -  .Dssen  entzündeten  an 
-en,  mit  vollendeter  Klarheit  geschriebenen  Werken  ihre  Begeiste- 
rung für  die  Entwicklungslehre.  Selbst  diejenigen,  welche  sich  ni 
für  die  Lehre  erwärmen  konnten,  wurden  doch  durch  die  allgemeinen 
Resultate  der  Embryologie  und  Paläontologie  veranlaßt,  nach  einer 
Erklärung  der  Tatsachen  zu  suchen,  und  es  war  für  alle  ein  großer 
Dienst,  den  ihnen  Haeckel  erwies,  als  er  ihnen  zeigte,  daß  der  Ge- 
lehrte nicht  nur  Kenntnisse,  sondern  auch  Erkenntnisse  erwerben 
müsse.     Durch  die  B-_  für  die  Entwicklungslehre,   die   er  den 

schon  bekannten  hinzufügte,  noch  mehr  aber  durch  das  Feuer  und 
die  Aufrichtigkeit  seiner  Überzeugung,  hat  Haeckel  in  unsern  Län- 
dern unzählige  Proselyten  gemac;  : 

Wenn  ich  nach  dem  urteüe,  was  ich  in  der  5  riz  unter  meinen 
Kollegen  und  Schülern  habe  beobachten  können,  so  ist  Haeckel  un- 
bestreitbar derjenige  Naturforscher  des  zeitgenössis : .  rn  Deutschlands, 
der  auf  die  allgemeinen  Ideen  und  auf  die  Art,  die  organische  Welt 
zu  erklären,  den  tiefsten  und  dauerndsten  Einfluß  ausgeübt  hat. 
Wir  schulden  ihm  alle  viel  Dank,  und  was  mich  betrifft,  so  bewahre 
ich  ihm  eine  unendliche  Dankbarkeit;  er  bleibt  in  meinen  An§ 
einer  der  fruchtbarsten  Ideenerwecker  unserer  Zeit  und  einer  der 
würdigsten  dazu. 


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149 


M.  H.  BAEGE,  BERLIN-FRIEDRICHSHAGEN 

o  o  o 

Trotzdem  ich  schon  frühzeitig  —  etwa  im  Alter  von  14 — 15  Jahren 
—  die  Glaubenslehren  der  evangelischen  Kirche  zu  bezweifeln 
und  freigeistige  Lektüre  aller  Art  zu  treiben  begonnen,  bin  ich  in 
meinem  Leben  doch  erst  verhältnismäßig  spät  mit  Ernst  Haeckel 
und  seinen  Schriften  bekannt  geworden.  Zwar  habe  ich  als  Student 
wiederholt  „Die  Natürliche  Schöpfungsgeschichte"  und  die  „Anthro- 
pogenie"  in  Händen  gehabt,  aber  sie  sind  mir  merkwürdigerweise 
in  jener  Zeit  nicht  das  geworden,  was  mir  in  den  vorhergehenden 
Jahren  die  Büchnerschen  Werke  „Kraft  und  Stoff"  und  „Die  Stellung 
des  Menschen  in  der  Natur"  für  meine  ersten  Versuche  zum  Aufbau 
einer  eigenen  Weltanschauung  gewesen  sind.  Es  liegt  das  vielleicht 
daran,  daß  eben  die  eingehende  Beschäftigung  mit  Büchner  vor  der 
Lektüre  Haeckelscher  Schriften  mich  mit  den  grundlegenden  Gedan- 
ken der  Entwicklungslehre  und  mit  den  Fundamenten  einer  natur- 
wissenschaftlich begründeten  Weltanschauung  schon  so  vertraut  ge- 
macht hatte,  daß  mir  die  Haeckelschen  Werke  nicht  mehr  sensationell 
genug  waren.  Was  sie  behandelten,  schien  mir  in  echt  jugendlicher 
Urteilsweise  von  meiner  Büchnerlektüre  her  schon  so  bekannt  und 
vertraut,  daß  ich  mich  zu  jener  Zeit  nicht  dazu  entschließen  konnte, 
sie  eingehender  zu  studieren.  Sicherlich  wäre  das  anders  gewesen, 
wenn  ich  statt  eines  Büchnerbandes  damals  zufällig  „Die  natürliche 
Schöpfungsgeschichte"  oder  die  „Anthropogenie"  als  erstes  größeres 
populär-wissenschaftliches  Werk  in  die  Hand  bekommen  hätte.  Dazu 
kommt  ferner  wahrscheinlich  die  Tatsache,  daß  ich  in  meiner  Studen- 
tenzeit, trotzdem  ich  als  Naturwissenschaftler  immatrikuliert  war  und 
als  solcher  auch  regelmäßig  in  meinen  ersten  fünf  Studiensemestern 
fachwissenschaftliche  (besonders  zoologische  und  anthropologische) 
Vorlesungen  gehört  und  mancherlei  dazu  gehörige  praktische  Übungen 
mit  Eifer  getrieben  habe,  mehr  psychologisch  und  philosophisch  inte- 
ressiert war,  was  dann  schließlich  auch  dazu  führte,  daß  ich  meine 
letzten  Studiensemester  ganz  der  Psychologie  und  Philosophie  wid- 
mete. Dabei  geriet  ich  dann  stark  unter  den  Einfluß  von  Wundt, 
und  das  war  natürlich  wieder  ein  Grund,  mich  von  Haeckel  zurück- 
zuhalten. 

150 


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Erst  durch  die  „Welträtsel"  bin  ich  dann  zu  einer  eingehenden 
Beschäftigung  mit  Haeckels  Ideen  und  zu  einem  gründlicherem  Stu- 
dium seiner  Schriften  veranlaßt  worden.  Es  war  im  Frühjahr  des 
Jahres  1900  —  ich  war  schon  seit  kurzer  Zeit  im  Lehramt  tätig  —  da 
machte  mich  ein  befreundeter  Arzt  auf  die  kurz  vorher  erschienenen 
„Welträtsel"  aufmerksam.  Er  lieh  mir  das  ziemlich  umfangreiche 
und  für  meine  damaligen  Verhältnisse  nicht  billige  Werk  — ■  die 
Volksausgabe  existierte  ja  noch  nicht  —  und  in  wenigen  Abenden 
hatte  ich  das  Buch  durchgelesen. 

Nur  wenige  Werke  haben  mich  so  innerlich  gepackt  und  von  An- 
fang bis  zu  Ende  in  einer  so  großartigen  Spannung  erhalten  wie  diese 
„gemeinverständlichen  Studien  über  monistische  Philosophie".  Zwar 
mußte  ich  vom  fachphilosophischen  Standpunkte  aus  mancherlei  Kri- 
tik an  dem  Werke  üben :  Da  vermißte  ich  besonders  einen  erkenntnis- 
theoretischen Teil,  da  fand  ich  hier  und  da  allerlei  Widersprüche  oder 
Unklarheiten,  manchen  Ausführungen  konnte  ich  absolut  nicht  zu- 
stimmen usw.  Aber  das  alles  konnte  doch  den  gewaltigen  Eindruck 
nicht  vermindern,  den  das  Werk  als  Ganzes  auf  mich  gemacht  hatte. 

Wenn  die  „Welträtsel"  auch  in  der  Methode  und  in  einzelnen  Aus- 
führungen nicht  immer  den  Anforderungen  strenger  Fachphilosophie 
entsprechen,  bleiben  sie  trotzdem  ihrem  ganzen  Wesen  nach  ein  ausge- 
sprochen philosophisches  Werk ;  denn  nicht  durch  die  fachmetho- 
dische Routine  —  am  wenigsten  die  der  herrschenden  Katheder- 
philosophie — ,  sondern  durch  die  Art  der  Problemstellung  und 
Problembehandlung  allein  bekommt  eine  Schrift  den  philosophi- 
schen Stempel.  Nach  J.  Petzoldt  „besteht  die  Eigenart  des  philoso- 
phischen Denkens  darin,  daß  es  das  einzelne  Problem  nicht  in  völliger 
Isoliertheit  von  allen  anderen  behandelt,  sondern  gerade  im  Hinblick 
auf  diese,  im  Hinblick  auf  die  Stelle,  an  der  es  sich  in  dem  großen  Zu- 
sammenhang alles  Fragens  und  Wissens  einreiht."  Diese  Eigenart 
bildet  nun  geradezu  den  Grundcharakter  der  „Welträtsel",  und  damit 
dokumentieren  sie  sich  genügend  als  philosophische  Schrift. 

Aber  auch  der  ausgesprochen  philosophische  Charakter  der  „Welt- 
rätsel" ist  es  wohl  allein  nicht  gewesen,  der  auf  mich  und  viele  andere 
eine  so  gewaltige  Wirkung  ausübte.  Wenigstens  hatte  ich  schon  man- 
ches andere  philosophische  Werk  gelesen,  das  in  oben  angedeuteter 
Eigenart  den  Haeckelschen  „Welträtseln"  gleich  steht  und  sie  in  fach- 

151 


methodischer  Beziehung  sogar  noch  übertrifft,  das  aber  trotzdem  mich 
nicht  so  in  allen  Fasern  ergriffen  hat  wie  die  „Welträtsel". 

Man  geht  meiner  Meinung  nach  deshalb  auch  fehl,  wenn  man  die 
„Welträtsel"  lediglich  als  ein  hervorragendes  philosophisches  Werk 
betrachtet;  sie  sind  unendlich  mehr,  nämlich  ein  Bekennerbuch 
von  unerschütterlicher  Überzeugungstreue  und  glühendster  Wahr- 
heitsliebe. Man  merkt  es  diesem  Werke  auf  jeder  Seite  an,  daß  sein 
Verfasser  alle  die  Probleme,  zu  denen  er  Stellung  nimmt,  innerlich 
erlebt  und  schwer  um  sie  gerungen  hat.  Man  fühlt  von  Anfang  bis 
zu  Ende,  daß  hier  ein  Großer  aus  dem  Reiche  der  Forschung  sich 
bemüht,  das  Beste  von  dem  zu  geben,  was  er  nur  zu  geben  vermag. 
In  eigenartiger,  zugleich  unzweideutiger  und  gründlicher  Weise  ver- 
sucht hier  ein  Selbstdenker  sich  mit  Gott,  Welt  und  Menschheit  aus- 
einander zu  setzen.  Seine  Weltanschauung  ist  zugleich  sein  Glaubens- 
bekenntnis. Und  in  diesem  Bekennercharakter  ist  wohl  auch 
letzten  Endes  die  Hauptursache  für  die  ungeheure  Wirkung  zu  suchen, 
die  die  Welträtsel  auf  Hunderttausende,  auf  Menschen  aus  den  ver- 
schiedensten Ständen,  Klassen  und  Nationen  ausgeübt  haben. 

Was  mich  persönlich  außerdem  für  die  „Welträtsel"  einnimmt, 
ist  die  klare  und  übersichtliche  Darlegung  des  gesamten  Naturwissens 
unserer  Zeit,  die  geradezu  als  eine  großzügige  Darstellung  des  Triumph- 
zuges der  modernen  Naturwissenschaften  bezeichnet  werden  kann. 
Angezogen  hat  mich  femer  auch  der  (von  anderen  verurteüte)  rück- 
sichtslose Kampf  gegen  die  Kirche  und  die  ihr  offen  oder  geheim  ver- 
bundene metaphysische  Kathederphüosophie.  Hier  wurde  kein  Ver- 
such gemacht,  irgend  einen  faulen  Kompromiß  zwischen  alter  und 
neuer  Weltanschauung  zu  schließen,  hier  wurde  keine  ängstliche  Leise- 
treterei  getrieben,  sondern  kräftig  und  ehrlich  die  eigene  Meinung  ge- 
äußert und  auch  dem  Gegner  offen  ins  Gesicht  gesagt,  was  von  ihm 
zu  halten  sei.  Last  not  least  gefiel  mir  an  dem  Werke  die  entschieden 
positivistische  Grundtendenz,  die  nur  die  Erfahrung  als  Quelle  unseres 
Wissens  gelten  läßt  und  allen  Supranaturalismus,  alle  Metaphysik  und 
Mystik  energisch  ablehnt  und  die  die  Naturwissenschaften  als  Grund- 
lage unseres  Denkens,  ja  einer  neuen  Weltanschauung  überhaupt  er- 
klärt. 

Und  wie  es  mir  mit  diesem  Welträtselbuche  ergangen  ist,  ist  es  Hun- 
derttausenden ebenso  ergangen  und  wird  es  noch  Hunderttausenden 

152 


so  ergehen.  Eine  beinahe  geheimnisvolle  Kraft,  neues  Denken  zu  för- 
dern und  neues  Leben  zu  wecken,  geht  von  diesem  eigenartigen  Buche 
aus  und  darin  liegt  auch  sein  geradezu  unerhörter  Erfolg.  Was  dieses 
Werk  für  die  Kulturmenschheit  vom  Beginn  des  20.  Jahrhunderts 
zu  bedeuten  hat,  das  ist  heute  noch  gar  nicht  zu  übersehen,  denn  noch 
ist  seine  Wirkung  nicht  zu  Ende.  Der  zukünftige  Geschichtsschreiber 
unserer  Zeit  wird  das  aber  dereinst  mit  goldenen  Lettern  in  das  Buch 
der  Menschheitsgeschichte  eintragen  müssen. 

Das  eine  steht  außerdem  für  mich  fest,  daß  die  großzügige  freigeistig- 
kulturelle  Bewegung,  wie  sie  bei  uns  in  Deutschland  besonders  in  den 
letzten  Jahren  eingesetzt  hat,  ohne  die  Welträtsel  gar  nicht  möglich 
gewesen  wäre.  Erst  diese  haben  die  geistige  Struktur  in  weiten  Kreisen 
unseres  Volkes  schaffen  helfen,  die  notwendig  ist,  um  einer  derartigen 
Bewegung  die  Resonanz  in  den  verschiedenen  Ständen  und  Klassen 
zu  geben,  deren  sie  vor  allem  und  zunächst  bedarf. 


153 


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CARL  W.  NEUMANN,  LEIPZIG 


o  o  o 


Genau  ein  Vierteljahrhundert  ist  heute  verflossen,  seit  mir  als  acht- 
zehnjährigem Jüngling  zum  ersten  Male  der  Name  Ernst  Haeckels 
und  mit  ihm  zugleich  ein  Exemplar  seiner  Natürlichen  Schöpfungs- 
geschichte vor  Augen  kam.  Ich  saß  noch  auf  der  Schulbank  in  jenen 
Tagen,  aber  ich  weiß  es,  als  wäre  es  gestern  gewesen,  daß  dieses  selt- 
same Buch  wie  noch  nie  eines  vorher  mich  anzog,  daß  ich  es  wie  ein 
Heiligtum  hütete,  nachts  mit  ins  Bett  nahm  und  tagsüber  jede  freie 
Minute  benutzte,  um  mir  seinen  Inhalt  zu  eigen  zu  machen.  Der 
Eifer,  mit  dem  ich  es  las,  und  die  Torheit,  daß  ich  in  den  heiligen 
Räumen  der  Schule  mein  volles  Herz  nicht  wahrte,  hat  mir  zwar 
manche  recht  peinliche  Stunde  bereitet,  allein  die  beglückende  Freude, 
das  Reich  einer  neuen  Erkenntnis  betreten  und  auf  die  beklemmende 
Zweifelsfrage  des  „Woher  und  Wohin"  eine  bündige  Antwort  erhalten 
zu  haben,  überwog  alles  Ungemach.  Seit  dieser  Zeit  bin  ich  Haeckel 
getreu  geblieben,  und  meine  Verehrung  für  ihn  ist  der  Ausdruck  des 
Dankes  für  alles,  was  er  mir  damals  und  seitdem  gegeben  hat. 

Wie  ich  über  Haeckel  und  seine  Werke  im  einzelnen  denke,  das 
habe  ich  an  anderer  Stelle  (in  der  Einleitung  zu  dem  in  Reclams 
Universalbibliothek  erschienenen  Bändchen  „Natur  und  Mensch", 
sechs  Abschnitte  aus  Werken  Ernst  Haeckels)  ausführlicher  dar- 
gelegt. Es  ist  mir  aber  Bedürfnis,  dem  noch  hinzuzufügen,  daß  ich 
in  Haeckel  nicht  nur  einen  der  kenntnisreichsten  und  verdientesten 
Naturforscher,  sondern  auch  einen  der  ehrlichsten  und  konsequen- 
testen Denker  erblicke,  eine  der  markantesten  und  gleichzeitig  mutig- 
sten und  charaktervollsten  Persönlichkeiten  der  Gegenwart.  Noch 
schwankt  ja  —  viel  mehr,  als  es  sonst  bei  den  Lebenden  biblischen 
Alters  der  Fall  ist  —  sein  Büd  von  der  Parteien  Gunst  und  Haß  ent- 
stellt in  der  Geschichte:  man  läßt  ihm  als  Forscher  den  Ruhm,  der 
ihm  zukommt,  aber  man  will  ihn  als  Aufrüttler  schlafender  Seelen 
nicht  gelten  lassen  und  scheut  sich  davor,  ihn  bis  auf  die  obersten 
Gipfel  seiner  monistischen  Philosophie  zu  begleiten.  Und  wenn  ich 
mir's  recht  überlege,  so  finde  ich's  nicht  einmal  sonderbar.  Zum  ersten 
ist  es  nicht  jedermanns  Sache,  im  Sturmschritt  die  obersten  Gipfel 
zu  nehmen,  wie  Haeckel  es  Zeit  seines  Lebens  geliebt  hat,  und  anderer- 
es] G^s^gsGJSiSiäigSSEilEilSSlJilS 

154 


g^5^gB]g!3]E]^gE]ggggggggggE]ggggggggE]E]E]glG]E]E]B]E]E]G]E]E]E]E!E]E]E]E]G]E] 

seits  ist  es  wenigen  möglich,  sich  so  bis  ins  einzelne  mit  den  Ideen  und 
dem  Lebenswerk  dieses  Stürmers  und  Drängers  vertraut  zu  machen, 
wie  es  zur  gerechten  Beurteilung  seiner  Persönlichkeit  notwendig  ist. 
Ich  bin  aber  sicher,  daß  kommende  Generationen,  die  ruhiger  wägen 
und  urteilen  können,  den  Gegenwartsstreit  und  Gegenwartshaß,  der 
mit  Haeckels  Namen  verknüpft  ist,  nur  schwer  noch  verstehen,  und 
daß  sie  trotz  mancherlei  Abstriche  an  seinem  Lebenswerke  ihm  un- 
bestritten den  Ruhm  eines  glänzenden  Pioniers  im  Kulturleben  der 
Menschheit  zuerkennen  werden. 


155 


KARL  BRAUCKMANN,  JENA:  ERNST  HAECKEL, 
WESEN  UND  WIRKUNG  SEINER  ERSCHEINUNG 

0    0   0 

Die  Strahlen  des  Lichtes,  das  Ernst  Haeckel  in  Jena  entzündet, 
drangen  um  die  Mitte  der  siebziger  Jahre  auch  in  das  kleine  west- 
fälische Haardorf,  in  dessen  einklassiger,  später  zweiklassiger  Dorf- 
schule ich  damals  dem  „Lichte  der  Erkenntnis"  entgegengeführt  wer- 
den sollte.  Es  geschah  das  außer  mit  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen 
mit  6  wöchentlichen  Religionsstunden,  regelmäßigem  Leichengesang 
auf  dem  Friedhofe  und  zweimaligem  sonntäglichen  Kirchgang,  wozu 
sich  später  noch  ein  Jahr  lang  ein  wöchentlich  zweistündiger  „Kat- 
echumenunterricht"  und  ein  weiteres  Jahr  lang  der  wöchentlich  zwei- 
stündige „Konfirmandenunterricht"  gesellte.  Der  Unterricht  in  den 
„Realien",  die  nach  den  Falkschen  Allgemeinen  Bestimmungen  auch 
zu  lehren  waren,  bestand  in  etwas  Geographie,  einer  sehr  oberfläch- 
lichen Tier-  und  Pflanzenbeschreibung  (ohne  eigentliche  Beobachtung) 
und  preußischen  Königsanekdoten.  Man  sieht,  daß  solche  Veranstal- 
tungen in  der  Hauptsache  dazu  angetan  waren,  „unser  Wissen  und 
Verstand  mit  Finsternis  zu  umhüllen".  Am  meisten  wurde  geredet 
über  die  Sünde,  über  Erkenntnis  und  Bekenntnis  derselben,  über  Reue 
und  Buße  und  Vergebung,  gelegentlich  auch  über  die  „Erleuchtung 
durch  den  heiligen  Geist".  Nach  meinem  damaligen  Empfinden  waren 
das  alles  sehr  hohe,  mir  aber  unfaßbare,  insbesondere  sehr  unsym- 
pathische Dinge.  Hölle  und  Teufel  spielten  in  diesem  Unterricht  auch 
noch  ihre  große  Rolle,  doch  befreite  mich  die  Aufklärung  meines  Vaters 
bald  von  diesen  Gespenstern.  „Dem  Frommen  gehet  das  Licht  auf 
in  der  Finsternis",  war  mein  Konfirmationsspruch,  und  ich  verließ  die 
Schiüe,  gesättigt  vom  Widerwillen  gegen  sie  und  die  Kirche.  Aber  wie 
gesagt,  damals  fielen  auch  die  ersten  Strahlen  des  Darwinismus  in  mein 
Leben,  und  der  Träger  dieser  Strahlen  muß  nach  meiner  Erinnerung 
der  „Lahrer  Hinkende  Bote"  gewesen  sein,  ein  Jahreskalender,  der  in 
meinem  kleinbäuerlichen  Elternhause  mit  viel  Freude  gelesen  wurde  und 
der  mir  neben  meinem  selbständig  und  klar  denkenden  Vater  viel  An- 
regung und  Aufklärung  gab.  Zur  selben  Zeit  wurde  ich  außerschulisch 
mit  Lessing,  Schiller  und  Goethe  bekannt  und  mit  dem  Nibelungenliede. 
Letzteres  las  ich  mit  Begeisterung  und  Rührung,  und  die  Klassiker 

156 


GJ  3J  3jSJ3]3]3]  g  SJSJEJöJS;  3]j]3]3]3]GjSj333]S]  3J3J3J5JS33J3J3JSJ  EJ3J3J3J3J  3J3J3J3]  3J  3J3JSJ3JG]  3J3J3J3J5J 

spornten  zur  Kraftanstrengung  im  Denken.  Dan  ben  machte  mir  das 
freie  Leben  in  Feld.  Wiese  und  Wald  die  Natur  vertraut  und  lieb.  Nach 
dem  Verfassen  der  Dorfschule  aber  waren  Naturwissenschaften  und 
Literatur  die  beiden  Leuchten,  welche  allmählich  den  Dunstkreis  völlig 
zerstreuten,  mit  dem  die  oben  charakterisierte  Jugendlehre  mir  die 
schöne  strahlende  Welt  verhüllt  hatte.  Meine  ..innere  Entwicklung" 
blieb  dann  eine  konsequente,  stetige  und  ruhige,  von  irgendwelchen 
..Erschütterungen"  und  ..inneren  Kämpfen"  blieb  ich  verschont.  Ich 
kann  diese  Entwicklung  rückblickend  nur  als  einen  natürlichen  Erlö- 
sungs-und  Befreiungsprozeß  bezeichnen,  und  daß  sie  sich  so  vollzog,  ver- 
danke ich  meines  Erachtens  zum  großen  Teüe  dem  Umstände,  daß  die 
Ideen  Haeckels  und  das  Nibelungenlied  so  früh  als  wirksame  Bestand- 
teile in  mein  Bewußtsei]  gingen  und  in  meinem  Wesen  den  angebore- 
nen Natursinn  und  das  überkommene  Germanenerbe  wachsen  machten. 
Als  Dreißigjähriger  kam  ich  nach  Jena  und  erfreute  mich  immer 
mehr  an  Haeckels  großartiger  Persönlichkeit,  an  seinen  Vorträgen 
und  Schriften.  Zur  Aufklärung  und  Belehrung,  die  ich  ihm  verdankte, 
gesellte  sich  nun  das  Staunen  und  die  Bewunderung  über  den  Reich- 
tum dieses  Lebens,  seine  Schaffenskraft  und  seine  Leistungen  in  wissen- 
schaftlicher und  künstlerischer  Hinsicht.  Ich  erfuhr  an  mir  selbst  den 
Segen,  den  das  Yorbüd  eines  lebenden  Führers  und  Helden  für  die  För- 
derung und  Festigung  einer  Eigenart  bedeutet,  die  den  oben  skizzierten 
Entwicklungsgang  genommen.  Haeckels  Altenburger  Vortrag  ,,Der 
Monismus  als  Band  zwischen  Religion  und  Wissenschaft"  (1892)  und 
die  ..Welträtsel"  lösten  dementsprechend  in  mir  eine  große  Befriedigung 
und  Freude  aus.  Sah  ich  doch  nun  im  Bewußtsein  des  Menschen  die 
Wiedereinmündung  des  historischen,  menschlich  kulturellen  Werdepro- 
zesses in  die  allgemeine,  natürliche  Entwicklung  sich  vollziehen,  so  daß 
fortan  ..Natur  und  Geist"  uns  eine  ebensolche  Einheit  bedeuten  wie 
„Gott  und  Welt",  ..Seele  und  Leib".  Daß  Natur  die  „Alleinheit",  die  sie 
von  Ewigkeit  her  war  und  in  Ewigkeit  bleiben  wird,  nun  auch  im  Be- 
wußtsein des  Menschen  sein  und  bleiben  wird,  und  ihn  so  aus  den  un- 
seligsten Zwiespatten  zum  mneren  Frieden,  zur  Emigkeit  mit  sich  selbst 
führen  und  zur  Selbstsicherheit,  Selbstverantwortlichkeit,  zum  ., Eigen- 
sein", ..Eigensinn"  in  des  Wortes  edler  Bedeutung,  und,  in  der  Sprache 
der  Religion  ausgedrückt,  zur  „Ruhe  in  Gott"  befähigen  wird.  Nicht  zu 
jener  passiven  Ruhe,  die  die  Gottsucher  sich  ersehnten,  sondern  zu  einer 

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tätigen,  schaffenden,  neues  Leben  zeugenden  und  gebärenden  Ruhe, 
die  eine  reinere,  schönere,  höhere  Lebens-  und  Weltgestaltung  sichert. 
Die  „Welträtsel"  und  „Lebenswunder"  erscheinen  der  objektiven 
Betrachtung  als  ein  einheitliches,  in  sich  geschlossenes  Kunstwerk, 
und  das  nicht  bloß,  weil  sie  als  zusammenfassende  Krönung  von 
Haeckels  Lebensarbeit  den  Zusammenschluß  seiner  vielseitigen  For- 
schungs-  und  Denkergebnisse  zu  einer  einheitlichen  Darstellung  des 
Weltganzen  in  seinem  Werden  und  Sein  darstellen,  sondern  auch  inso- 
fern, als  sie  den  Zusammenschluß  der  verschiedenen  Seiten  seines 
Wesens,  als  sie  Haeckels  Selbst  Objektivierung  bedeuten.  Und  noch 
einen  anderen  Zusammenschluß  stellen  sie  dar:  Daß  die  Welträtsel 
für  Hunderttausende  und  Millionen  die  befreiende  Tat  bedeuteten, 
die  sie  an  das  ersehnte  Ziel  der  einheitlichen  Denk-  und  Bewußtseins- 
gestaltung brachten,  und  daß  diese  Millionen  gerade  an  der  Linie  ihrer 
Entwicklung  angelangt  waren,  wo  ihnen  diese  Tat  die  Erlösung,  die 
Erfüllung  bedeutete,  ist  in  weittragendem  Maße  Haeckels  eigener  un- 
ermüdlicher Forscher-  und  Aufklärungsarbeit  zu  verdanken.  Wurde  so, 
was  objektive  Zusammenfassung,  subjektiver  Abschluß  war,  zum  sub- 
jektiven Erlebnis  von  Millionen,  so  erlebte  nun  Ernst  Haeckel,  der  wäh- 
rend der  Jahrzehnte  seiner  Forscherarbeit  sein  Erforschtes,  Erdachtes 
und  Empfundenes  vorbehaltlos  auch  seinem  Volke  gegeben  hatte,  in 
dem  großartigen  Widerhall,  den  die  Welträtsel  fanden,  seinerseits  noch 
einmal  subjektiv  die  Zusammenfassung,  die  Krönung  seines  Wirkens 
und  „Lebens  im  Ganzen".  Die  Wirkungen,  die  seit  Jahrzehnten  von 
ihm  ausgegangen,  kehrten  zurück,  ihm  die  beglückende  Gewißheit  zu 
bringen,  daß  er  ein  Heros,  ein  Lichtbringer,  ein  Befreier  und  Erlöser 
dem  Volke,  der  Menschheit  geworden  war.  Die  Zeit  war  wieder  einmal  er- 
füllt, das  Volk  reif  für  die  monistische  Welt-  und  Lebensauffassung,  und 
Ernst  Haeckel  war  Werkzeug,  war  Mittler  dieser  Entwicklung  gewesen. 
Der  Monistenbund  mußte  nun  kommen,  und  Haeckel  gründete  ihn. 

Und  nun  noch  ein  Wort  zu  dem  Zauber,  den  Ernst  Haeckels 
Persönlichkeit  ausübt.  Die  hohe,  kräftige,  elastische  Gestalt,  der 
mächtige  Kopf,  die  milden,  klarblickenden,  blauen  Augen,  das  Offene, 
Fröhliche,  Freudige,  Freundliche  und  Liebevolle  seines  Gesichtsaus- 
druckes, die  sprudelnde  Frische  und  Lebhaftigkeit  seines  Vortrages 
und  seiner  Unterhaltung  stehen  in  einem  wunderbaren  Einklang  mit 
der  Vielseitigkeit  seiner  Interessen  und  seiner  Betätigung.  Das  Taten- 
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frohe,  Freudige  und  Sieghafte  seines  Wesens  erinnert  unwillkürlich  an 
das  Offene,  Selbstverständliche  im  Wesen  eines  gesunden,  kraftvollen 
Kindes,  das,  ganz  und  gar  in  Einklang  mit  sich  und  der  Welt  stehend, 
alles  als  selbstverständlich  hinnimmt,  weil  es  da  ist,  das  unbewußt  die 
volle  Lust  des  Werdens  genießt.  Ein  „Werdender"  erscheint  uns  Haek- 
kel  noch  mit  seinen  80  Jahren,  und  als  solcher  ein  „immer  Dankbarer". 
So,  denken  wir  uns,  schaute  der  Grieche  seine  Welt  an,  so  lebte  er  in  ihr, 
schaffend,  genießend,  kämpfend  und  siegend,  so  der  Germane.  So,  wenn 
ich  Ernst  Haeckels  Wesen  kurz  zeichnen  will,  steigt  mir  immer  wieder 
der  altgermanische  Held  ins  Bewußtsein.  Wie  Richard  Wagner  uns 
den  Siegfried  bildete,  der  unbekümmert  und  unbeirrt  seinen  Weg 
geht,  seiner  Empfindung,  seiner  Erkenntnis,  seiner  Überzeugung 
folgt,  dem  alles  selbstverständlich,  „aus  sich  selbst  verständlich, 
natürlich"  ist  (auch  seine  eigene  Art)  und  der,  unbekümmert  um  die 
mögliche  Wirkung,  dieser  Art  gemäß  redet  und  handelt  und  dann  den 
Folgen  dieses  seines  Redens  und  Handelns  wieder  mit  derselben  Selbst- 
verständlichkeit entgegentritt.  So  ergibt  sich  der  volle  Einklang  mit 
dem  eigenen  Selbst  und  mit  dem  Dasein,  mit  der  Welt,  wie  sie  ist,  so 
das  Alleinsein  im  Alleinssein.  So  das  Leben  leben,  heißt  das  eigene 
Selbst  bewahren,  ihm  seine  Entwicklung  sichern,  es  als  das  Selbstver- 
ständliche hinnehmen,  es  anerkennen  und  überzeugt  sein,  daß,  was  man 
auch  zu  geben  habe,  man  besseres  als  die  eigene  Wesensart,  das  eigene 
Selbst,  nicht  geben  kann.  „Der  Gerechte  wird  sei  nes  Glaubens  leben!" 

So  bewahrt  der  reife  Mann  sich  die  Kindlichkeit  und  Wesensein- 
heit, sich  und  die  Welt  anerkennend  als  das  Selbstverständliche.  Was 
im  Griechentum  uns  entzückt,  was  das  Evangelium  als  das  Höchste 
preist,  das  „Werden  wie  die  Kinder",  das  „Himmelreich  im  Herzen 
tragen",  was  uns  im  Siegfried  als  urgermanisches  Ideal  entgegentritt 
in  Empfindung,  Denken  und  Betätigung,  das  finden  wir  in  Ernst 
Haeckel  verkörpert!  Das  ließ  ihn  seine  großen  Werke  schaffen,  seine 
ungeheuren  Arbeitsleistungen  vollbringen,  sein  Leben  so  reich  gestalten 
in  Schaffensfreude,  Genuß,  in  Kampf  und  Sieg.  Das  ließ  ihn  zusam- 
menfassen alle  Ergebnisse  seines  reichen  Schaffens,  seines  Beobach- 
ter und  Denkens,  seines  künstlerischen  Anschauens  im  „Monismus". 

Die  All- Einheit  alles  Seienden  lehrte  er  uns  erkennen  —  als  Er- 
gebnis seiner  objektiven  Arbeit  — ,  die  Alleinheit  des  individuellen 
Seins  lebte  er  uns  vor! 

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HANS  GADOW,  CAMBRIDGE,  ENGLAND 


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Anfangs  der  siebziger  Jahre  lasen  einige  von  uns  Primanern  des 
Gymnasiums  zu  Frankfurt  a.  O.  Büchners  „Vorlesungen"  und 
„Kraft  und  Stoff".  Als  diese  gefährliche  Beschäftigung  herauskam, 
wurden  der  Klasse  als  Gegenmittel  Ciceros  tuskulanische  Disputa- 
tionen und  Natur  der  Götter  verordnet.  Dieses  Zeug  entsprach  nicht 
den  gehegten  Erwartungen.  Dann  fiel  mir  das  Kollegienheft  eines 
Künstlerfreundes  in  die  Hände,  welches  er,  mit  vielen  bunten  Bildern 
verziert,  in  Haeckels  Vorlesungen  unverständlich  nachgeschrieben 
hatte.  Ich  hoffte  auf  kommende  Aufklärung  in  Berlin,  aber  da  war 
nichts  zu  holen  in  den  biologischen  Kursen,  außer  streng  systemati- 
scher Beschreibung,  die  auch  ihr  Gutes  hat,  und  Du  Bois  Reymonds 
mit  hinreißender  Beredsamkeit  gehaltenen  Vorlesungen  über  Dar- 
winismus. Dort  erwarb  ich  die  Freundschaft  Richard  Böhms,  des 
späteren  Entdeckers  der  Meduse  im  Tanganyika.  Auf  unseren  Streif- 
zügen in  den  märkischen  Forsten  meines  Vaters  wurde  mein  lieber 
Jagd-  und  Strolchgenosse  nicht  müde,  den  „stieren  Nabel  des  Rei- 
ches" mit  dem  frisch,  frei,  frohen  Jena  zu  vergleichen.  „Du  geh' 
nach  Jena,  zu  Haeckel." 

In  Jena  fühlte  ich  mich  in  eine  andere  Welt  versetzt.  Biologie 
im  weitesten  Sinne  wurde  dort  getrieben  (einige  von  uns  erfanden 
den  Titel  stud.  biol.) ;  es  war  beruhigend  und  erleichternd  für  den 
Anfänger,  daß  die  Leiter  der  Zoologie,  Botanik  und  menschlichen 
Anatomie  und  Physiologie,  Haeckel,  Straßburger,  Schwalbe  und 
Preyer  in  Auffassung  und  im  Anfassen  der  Grundsätze  miteinander 
harmonierten.  Die  zahlreiche  Zuhörerschaft  aus  aller  Herren  Länder, 
und  nicht  nur  aus  Fachleuten  bestehend,  brachte  es  mit  sich,  daß 
unter  uns  die  verschiedensten  Beurteilungen  des  Meisters,  seiner 
Lehren  und  Art  ihrer  Behandlung  oft  in  bewegtester  Weise  besprochen 
wurden.  Es  ergaben  sich  da  manche  sehr  treffende  Kritiken:  „Was 
er  als  sicher  annimmt,  ist  gerade  das,  was  noch  die  meiste  Arbeit 
kosten  wird,  eine  Hauptsache,  an  die  vor  ihm  niemand  gedacht  hat." 
„Der  Haeckel  ist  kein  Gegenbaur  und  der  Gegenbaur  ist  kein  Haeckel", 
wie  ein  sehr  philosophisch  geschulter  Russe  einmal  erklärte,  mit 
komischer  Verwechslung  des  G  und  H.    Es  mag  frivol  erscheinen,  so 

160 


etwas  niederzuschreiben,  und  doch  enthalten  obige  Aussprüche  den 
Kern  richtiger  Beurteilung.  Haeckel  war  damals  in  seiner  Vollkraft. 
Ich  habe  ihn  nur  von  seiner  liebenswürdigen  Seite  kennen  gelernt, 
stets  bereit  zu  erklären,  zu  helfen,  zu  ermuntern,  zu  trösten,  wo 
unüberwindliche  Schwierigkeiten  das  Verständnis  seiner  Hypothesen 
bedrohten. 

Es  war  ein  erhebender  Genuß,  und  von  nachhaltiger  Wirkung, 
wenn  der  stattliche  Mann,  leuchtenden  Blickes  und  scheinbar  seiner 
Zuhörer  vergessend,  eines  seiner  großen  Probleme  besprach.  Es  schien 
alles  so  klar,  schön,  beinahe  einfach;  da  war  Zusammenhang;  es  konnte 
ja  gar  nicht  anders  sein.  Waren  das  nur  Visionen?  Bilder,  Blicke 
eines  genialen,  mutigen  Mannes  auf  hohem  Standpunkte,  die  sich 
da  entrollten,  ermutigend  selbst  zu  versuchen,  in  das  Gewirr  eines 
tropischen  Urwaldes  einzudringen,  mit  der  Hoffnung,  an  freier  Stelle 
einen  Überblick  seiner  berauschenden,  großartigen  Schönheit  zu  ge- 
winnen. So  manche  dieser  Visionen  haben  sich  als  sehr  fruchtbar 
erwiesen,  und  die  neuen  Gefilde  wären  sonst  nie  entdeckt  worden. 
In  solchen  Fällen  durfte  man  ihm  nicht  mit  Kleinigkeiten  kommen, 
und  doch  konnte  er  streng  genug  sein,  wenn  er  Pfuscherarbeit  ent- 
deckte. Wer  den  Wald  vor  Bäumen  nicht  sieht,  kann  den  Wald  nicht 
beschreiben. 

Wir  alle  machten  in  Stammbäumen.  Ganze  Wälder  sind  seitdem 
entstanden  und  viele,  vielleicht  die  meisten  dieser  sonderbaren  Phan- 
tasiegewächse sind  sicher  falsch,  zur  Freude  nörgelnder  Neider.  Aber 
wer  dachte  denn  vor  ihm  an  graphisch  darstellbare  Entwicklungs- 
reihen? Schließlich  ist  es  doch  dahin  gekommen,  daß  die  Vision  des 
Weltenbaumes  anfängt  sich  zu  verwirklichen.  Dank  der  rastlosen 
Arbeit  von  Freund  und  Feind,  so  daß  unter  fortwährendem  Nieder- 
hauen, Beschneiden  und  Pfropfen  auch  hier  das  Selektionsprinzip  zur 
Geltung  kommt.  Stammbäume  sind  allerdings  nicht  das  Endziel 
unserer  Wissenschaft.  Bestenfalls  enthalten  sie  zwar  alle  morphologi- 
schen Resultate  in  zeitlicher  Reihenfolge,  den  Tatbestand,  daß  etwas 
gerade  so  geworden  ist  wie  es  ist,  vielleicht  auch  das  Wie  durch  An- 
passung und  Vererbung,  aber  noch  lange  nicht  das  Warum? 

Ich  verdanke  es  Haeckel,  daß  er  mir  riet,  bei  Gegenbaur  weiter- 
zuarbeiten. „Dort  werden  Sie  in  strenger  Schule  lernen,  wie  schwer 
es  ist,  Tatsachen  zu  entdecken  und  zu  verknüpfen."    Die  anscheinend 

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ii     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II  l6l 


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so  exakte,  streng  wissenschaftliche  Methode  der  neueren  vergleichen- 
den Anatomie,  durch  Gegenbaur  begründet  und  ausgebaut,  indem  er 
sie  vom  Standpunkte  der  Transformation  behandelte  —  ließ  das  Bild 
Haeckels  im  Laufe  der  Jahre  verblassen.  Seine  Streitschriften  er- 
schienen der  Methode  Gegenbaurs  nicht  ebenbürtig,  nicht  wissen- 
schaftlich genug.  Nun,  da  man  selbst  das  Fazit  langer  Jahre  des 
Lernens  und  Lehrens  ziehen  möchte,  ergibt  sich  ein  bedenkliches 
Resultat:  Welche  der  seit  einem  Menschenalter  emsig  bearbeiteten 
Hypothesen,  Theorien  Gegenbaurs  sind  endgültig  erledigt  ?  Etwa  der 
Ursprung  der  paarigen  Gliedmaßen,  oder  auch  nur  der  Fünffinger- 
hand ?  Metamerism  mit  dem  Streite  über  Ex-  und  Interkalation  usw.  ? 
Und  trotzdem  operieren  wir  mit  den  Prinzipien,  die  doch  gerade  erst 
durch  diese  und  ähnliche  Probleme  ihre  Berechtigung  erhalten.  Und 
wie  steht  es  mit  den  Phylogenien;  gerade  über  die  kritischen  Haupt- 
punkte, die  Verknüpfung  der  Klassen  miteinander,  sind  wir  noch 
absolut  im  Dunkeln.  Trotzdem  sind  wir  weiter,  oder  glauben  wenig- 
stens, weiter  zu  sein  als  vor  fünfzig  Jahren,  und  zwar  weil  wir  die 
Phantasie  —  nenne  man  es  idealistische  Methode  —  nicht  nur  nicht 
entbehren  können,  sondern  bewußt  und  unbewußt,  oft  wider  Willen, 
angewandt  haben.    Das  aber  ist  zum  großen  Teil  ,,Haeckelismus". 

Es  ist  sein  eigentümliches  Schicksal,  daß  dieser  Genius  vor  nahezu 
50  Jahren  in  der  „Generellen  Morphologie  der  Organismen"  so  ziemlich 
das  Gesamtbild  entworfen  hat,  so  daß  es  sich  später  nur  noch  darum 
handeln  konnte,  die  Einzelheiten  der  grandiosen  Komposition  auszu- 
führen und  zu  verbessern.  Weshalb  dieses  allerdings  längst  vergriffene 
bedeutendste  biologische  Werk  aller  Zeiten  den  jetzigen  Fachmännern 
kaum  bekannt  ist,  bleibt  unverständlich,  zumal  da  doch  so  mancher 
Biologe  erfahren  haben  muß,  daß  seine  neusten,  Epoche  machenden 
Entdeckungen  längst  in  der  Generellen  Morphologie  dargelegt  waren. 

Haeckel  hat  aber  in  seinem  langen,  an  Arbeit  und  Kämpfen  reichen 
Leben  noch  viel  mehr  gewirkt,  weit  hinaus  über  die  Biologie  im  engeren 
Sinne:  kulturhistorisch.  Obwohl  kein  eigentlicher  „Tierfreund",  ist 
er  nie  müde  geworden,  in  künstlerischer  Auffassung  auf  die  ästhetische 
Freude  an  der  Natur  hinzuweisen.  Daß  die  „Kunstformen  der  Natur" 
so  wenig  praktischen  Erfolg  haben,  ist  ein  trauriges  Zeichen  ver- 
lodderter  Bildung  und  Richtung,  welche  die  Lügenkunst  gezeitigt 
haben,  wie  solche  an  höchster  Stelle  gebrandmarkt  worden  ist. 

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Zweitens  hatHaeckel  versucht,  das  Fazit  zu  schreiben;  das  ganze, 
große  Endresultat  der  gesamten  Naturwissenschaften  und  deren  Kern 
ist  und  bleibt  für  die  Menschheit  das  große  dreifache  Rätsel:  Was 
sind  wir,  woher  kommen  und  wohin  gehen  wir?  Viele  haben  sich 
daran  versucht,  seit  Jahrtausenden,  aber  wenige  Naturforscher  und 
noch  weniger  Fachzoologen,  die  doch  schließlich  allein  dazu  imstande 
sind.  Die  „Welträtsel"  und  noch  mehr  die  „Lebenswunder"  haben 
auch  außerhalb  Deutschlands  einen  viel  viel  größeren  und  nachhal- 
tigen Eindruck  gemacht,  als  von  mancher  Seite  zugestanden  ist. 
Der  nicht  zu  leugnende  teilweise  Mißerfolg  läuft  am  Ende  auf  eine  im 
Grunde  bedauernde  Ablehnung  der  polemischen  Schreibweise  hinaus. 

Was  anderen  heilig  erscheint,  kann  man  nicht  mit  beißendem  Spott 
widerlegen.  Das  ist  das  sicherste  Mittel,  diejenigen,  welche  so  glück- 
lich oder  unglücklich  sind,  gedankenfeste  Schotten  zwischen  Ver- 
nunft und  Neigung  zu  besitzen,  zu  verhindern,  hinüberzusehen,  ge- 
schweige die  Scheidewand  zu  öffnen  oder  gar  über  Bord  zu  werfen. 
Auch  der  Willigste  braucht  Zeit,  ihm  in  der  Kindheit  Liebgewordenes 
aufzugeben,  und  für  was?  Phrasen,  die  bei  kühlem  Nachdenken  sich 
als  kindlicher  Unsinn  erweisen,  aufzugeben  für  andere  Phrasen,  die 
zwar  reiner  Vernunft  entspringen,  aber  im  Grunde  unverständliche 
Begriffe  sind.  „Gott  und  die  Welt"  einzeln  genommen  sind  ebenso 
unverständlich  wie  die  „Gott-Natur",  die  Dreieinigkeit  von  Stoff, 
Kraft  und  Gefühl  oder  Bewußtsein.  Alles  Philosophieren  führt  schließ- 
lich zu  etwas,  bei  dem  man  sich  nichts  weiter  denken  kann.  Der 
Monist  löst  den  dualistischen  Doppelknoten,  indem  er  an  dessen  Stelle 
einen  dreifachen  schürzt,  eine  Dreieinigkeit,  im  Vergleich  mit  welcher 
die  kirchliche  harmlos  erscheint. 

Bei  seinem  letzten  Besuch  in  unserem  Landhause  sprach  mein 
verehrter  alter  Lehrer  und  Freund  mit  uns  in  liebenswürdigster  und 
toleranter  Weise  über  die  „religiöse  Borniertheit  der  Engländer, 
dieses  sonst  so  hochkultivierten,  freien,  willensstarken  Volkes".  Den 
Geist  dieses  Volkes  —  es  gibt  hier  wie  drüben  unversöhnliche  Ex- 
treme —  zu  verstehen,  ist  für  mich  seit  mehr  als  30  Jahren  ein  an- 
ziehendes Problem.  Man  anerkennt  die  angelsächsische  ausgespro- 
chene Individualität,  Selbständigkeit  und  zugleich  Selbstunterwerfung 
für  das  Gemeinwohl.  Das  ist  Willensstärke  der  „praktischen  Eng- 
länder", wie  sie  bis  vor  kurzem  oft  genannt  worden.  Sie  haben  auch 
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ihre  Ideale,  aber  sie  wissen  auch  ihnen  mit  praktischer  Vernunft 
Grenzen  zu  setzen,  Grenzen,  die  sich  verschieben  lassen,  aber  doch 
Grenzen  bleiben.  Der  reine  Idealist  ist  der  größte  Fanatiker  und  Be- 
kehrer. Bisher  hat  die  Weltgeschichte  noch  nicht  gezeigt,  daß  radi- 
kaler Rationalismus,  rücksichtsloser  Fortschritt  in  Glaubenssachen 
den  Massen  inneren  und  äußeren  Frieden  gebracht  hat.  We  can 
easily  make  the  World  worse,  but  it  is  slow  wqrk  to  make  it  better. 

Haeckel,  der  weitschauendste  aller  Gesamtzoologen,  zitiert  Goethe 
so  oft  als  ultima  ratio.  Weshalb  nicht  auch:  „Wo  die  Begriffe  fehlen, 
da  stellt  zur  rechten  Zeit  ein  Wort  sich  ein"  ?  Ewigkeit  der  Substanz, 
Äther,  Bau  der  Atome,  Schwere,  Leben,  Bewußtsein.  Wer  ist  denn 
nun  der  Bornierte?  Der,  dessen  Geist  sich  „entwickelt"  hat,  oder 
der  sich  seiner  als  momentanes,  lebendes  Stäubchen  der  Welt  be- 
wußt, willensstark  genug  ist,  in  von  ihm  selbst  gezogenen  Grenzen 
zu  wirken?  „Da  wo  ihr's  packt,  da  ist  es  interessant,"  mehr  als  ge- 
nügend  „derer  Leute  ihre  verfluchte  Curieusität"  zu  beschäftigen. 

Metaphysische  Gedanken,  Träumereien,  denen  sich  wohl  niemand 
verschließen  kann,  bleiben  innerstes  Eigentum. 


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I64 


RICHARD   HERTWIG,   MÜNCHEN:  WIE  ICH  ERNST 
HAECKELS  SCHÜLER  WURDE 

o  o  o 

Es  sind  jetzt  45  Jahre  her,  daß  der  herannahende  Abschluß  unserer 
Gymnasialzeit  meinen  Bruder  Oscar  und  mich  vor  die  Not- 
wendigkeit stellte,  uns  für  eine  Universität  zu  entscheiden.  Vorüber- 
gehende Kränklichkeit  meines  Bruders,  Beschleunigung  meines  Ele- 
mentarunterrichts durch  einen  Privatlehrer  waren  Ursache  gewesen, 
daß  wir  beide  trotz  eines  Alterunterschiedes  von  1V2  Jahren  gleich- 
zeitig in  das  Gymnasium  in  Mühlhausen  i.  Th.  eintraten  und  damit 
die  Periode  gemeinsamer  Arbeit  begannen,,  welche  mit  geringen  Unter- 
brechungen uns  bis  zu  meiner  Berufung  nach  Königsberg  vereinte. 
Unser  Vater  hatte  frühzeitig  bei  uns  Interesse  für  Naturwissenschaften 
wachgerufen.  Er  hatte  selbst  bei  Liebig  in  Gießen  mit  Begeisterung 
Chemie  studiert  und  hätte  gern  sich  der  akademischen  Laufbahn 
gewidmet;  Familienverhältnisse  hatten  ihn  gezwungen,  diesem  Lieb- 
lingswunsch zu  entsagen  und  sich  dem  Kaufmannsstand  zu  widmen, 
ein  Verzicht,  der  auf  sein  ganzes  Leben  einen  tiefen  Schatten  warf. 
So  reifte  in  ihm  die  Idee,  daß  wir  beide  Chemie  studieren  möchten, 
um  vielleicht  ein  Ziel  zu  erreichen,  welches  ihm  selbst  versagt  ge- 
blieben war.  Für  Zoologie  hatten  wir  keinerlei  Interesse.  Wir  hatten 
zwar  vorübergehend  unter  Leitung  eines  Volksschullehrers  Käfer  und 
Schmetterlinge  gesammelt,  aber  diese  Anregungen  hatten  keine  dau- 
ernde Nachwirkung  gehabt,  weil  der  Unterricht  in  Zoologie,  welcher 
sich  auf  die  unteren  Klassen  des  Gymnasiums  beschränkte  und  in 
einem  Auswendiglernen  der  Linneschen  Systematik  bestand,  so  geist- 
los betrieben  wurde,  daß  die  Idee,  selbst  einmal  Zoologe  zu  werden, 
mir  damals  unbegreiflich  erschienen  wäre. 

Wenn  bei  dieser  Sachlage  unser  Entscheid  schließlich  auf  Jena 
fiel,  so  war  hierfür  der  Einfluß  unseres  Gymnasialdirektors  Prof. 
Wilhelm  Osterwald  ausschlaggebend,  mit  welchem  uns  ein  inniges 
Freundschaftsverhältnis  verband.  Derselbe  war  eine  außergewöhn- 
liche Persönlichkeit.  Ein  Freund  des  Komponisten  Franz,  welcher 
manche  seiner  Gedichte  komponiert  hat,  selbst  dichterisch  und  musi- 
kalisch veranlagt,  ein  Feind  aller  Pedanterie,  besaß  er  einen  außer- 
gewöhnlichen Einfluß  auf  seine  Schüler,  besonders  auf  uns  beide. 
Sgg]E]gggG]ggE]5]ggggggBiggggggE]ggE]gE@gggE]gggE]E]EiE]EiB]E]E]BiBiBiE]B] 

165 


Er  riet  uns,  nach  Jena  zu  gehen,  weil  dort  Haeckel  lehrte,  welcher 
in  Merseburg  sein  Schüler  gewesen  war  und,  als  Haeckels  Eltern 
Merseburg  verließen,  in  Osterwaids  Haus  den  Rest  seiner  Gymnasial- 
zeit verbracht  hatte.  Haeckel  und  wir  beide  seien,  so  äußerte  er  sich, 
seine  drei  liebsten  Schüler;  es  sei  ihm  daher  ein  Herzensbedürfnis, 
daß  wir  drei  im  Leben  einander  näher  treten  möchten.  Haeckels 
Name  war  damals  in  wissenschaftlichen  Kreisen  rühmlichst  bekannt, 
aber  in  weitere  Volkskreise  noch  nicht  vorgedrungen,  besonders  nicht 
in  eine  außerhalb  aller  modernen  Verkehrsmittel  gelegene  kleine  Stadt, 
wie  damals  Mühlhausen  war.  So  war  Haeckel  uns  völlig  unbekannt. 
Dagegen  erfreute  sich  Jena  wegen  roher  Studentensitten  und  des  damals 
noch  herrschenden  übermäßigen  Biergenusses  des  denkbar  schlechtesten 
Rufes,  so  daß  es  Osterwald  nicht  leicht  fiel,  unseren  und  unserer  Eltern 
Widerstand  gegen  seinen  Vorschlag  zu  überwinden.  Schließlich  gelang 
es  ihm  aber  doch,  und  so  siedelten  wir,  bewaffnet  mit  einem  Em- 
pfehlungsschreiben  an   Haeckel,   im  April  1868  nach  Jena  über. 

Unvergeßlich  ist  mir  die  bezaubernde  Liebenswürdigkeit,  mit  wel- 
cher Haeckel  damals  gleich  von  Anfang  uns  beide  weltfremden,  im 
engsten  Familienkreise  aufgewachsenen  jungen  Studenten  —  ich  zählte 
17 V2  —  Jahre  aufnahm.  Wenige  Tage  nach  unserer  Ankunft  forderte 
er  uns  zu  einem  gemeinsamen  Nachmittagsspaziergang  nach  den  Kern- 
bergen auf.  Dem  ersten  folgten  bald  weitere  Spaziergänge,  auf  denen 
er  uns  mit  den  ihm  so  ans  Herz  gewachsenen  Schönheiten  der  Um- 
gegend Jenas  bekannt  machte.  Oder  wir  wurden  eingeladen,  des 
Abends  mit  ihm  im  Garten  seiner  Schwiegermutter ,  der  Witwe  des 
verstorbenen  Anatomen  Huschke,  Boccia  zu  spielen.  Auch  mit 
seinem  Freund  Carl  Gegenbaur  suchte  er  uns  in  nähere  Beziehung 
zu  bringen,  ein  Versuch,  welcher  vonseiten  des  durch  den  Tod  seiner 
Frau  verbitterten  und  dadurch  noch  unzugänglicher  gewordenen 
harten  Mannes  damals  eine  eisige  Zurückweisung  erfuhr. 

Haeckel  stand,  als  ich  ihn  kennen  lernte,  auf  dem  Zenith  seiner 
Leistungsfähigkeit.  Fünf  Jahre  vorher  war  seine  Monographie  der 
Radiolarien  erschienen  und  hatte  ihm  reiche  wissenschaftliche  An- 
erkennung eingetragen.  Im  Jahre  1866  war  die  generelle  Morphologie 
gefolgt,  in  welcher  er  die  hohe  Auffassung,  welche  er  von  den  Auf- 
gaben der  wissenschaftlichen  Zoologie  besaß,  und  zugleich  seine  Be- 
geisterung für  die  Abstammungslehre  zum  Ausdruck  gebracht  hatte. 

166 


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Von  seiner  kurz  zuvor  ausgeführten  Reise  nach  den  kanarischen  Inseln 
hatte  er  das  Material  zu  seiner  Entwicklungsgeschichte  der  Siphono- 
phoren  mitgebracht.  Im  Winter  1867/68  hatte  er  durch  seine  Vor- 
lesungen über  natürliche  Schöpfungsgeschichte  sich  durch  den  Frei- 
mut, mit  welcher  er  seine  ganze  Persönlichkeit  für  die  Darwinsche 
Lehre  einsetzte,  die  Herzen  der  Studenten  erobert.  Die  im  Sommer 
erscheinende  Veröffentlichung  dieser  Vorlesungen  in  Buchform  trug 
seinen  Namen  in  die  weitesten  Kreise  hinaus.  Dazu  kam,  daß  er, 
von  den  kanarischen  Inseln  zurückgekehrt,  durch  die  Verheiratung 
mit  seiner  jetzigen  Frau  neues  Familienglück  gefunden  hatte.  Dies 
alles  erfüllte  ihn  mit  einem  Glücksgefühl  und  einer  jubelnden  Begei- 
sterung, wie  ich  sie  an  keinem  Menschen  je  wieder  erlebt  habe.  Am 
unmittelbarsten  kam  diese  überschäumende  Jugendlust  auf  unseren 
gemeinsamen  Spaziergängen  zum  Ausdruck.  Wenn  die  Schönheit 
und  Urwüchsigkeit  der  Jenenser  Landschaft,  von  der  ja  leider  soviel 
den  praktischen  Bedürfnissen  der  Neuzeit  zum  Opfer  gefallen  ist, 
ihm  es  angetan  hatten,  konnte  er  eine  Ausgelassenheit  sondergleichen 
entwickeln;  dann  wälzte  er  auf  die  Kante  gestellte  Steine  die  steile 
Berghalde  hinab  und  konnte  sich  wie  ein  Kind  freuen,  wenn  sie  recht 
gewaltige  Sprünge  ausführten. 

Selbst  voller  Enthusiasmus  verstand  es  Haeckel  wie  kein  anderer, 
seine  Schüler  für  das,  was  ihn  bewegte,  zu  begeistern.  So  ist  es  denn 
gekommen,  daß  die  Idee,  Chemie  zu  treiben,  bald  vollkommen  in  den 
Hintergrund  gedrängt  wurde  und  wir  beide  ganz  für  die  Morphologie 
gewonnen  wurden.  Haeckels  Rat  und  Beispiel  folgend,  widmeten  wir 
uns  dem  Studium  der  Medizin,  mit  der  Absicht,  nach  bestandenem 
Staatsexamen  zur  Anatomie  oder  Zoologie  zurückzukehren. 

Die  herzlichen  Beziehungen  zu  Haeckel  wurden  dadurch  noch  enger 
geknüpft,  daß  ich  zweimal  —  beidesmal  gemeinsam  mit  meinem 
Bruder  Oscar  —  Gelegenheit  hatte,  ihn  auf  zoologischen  Reisen  zu 
begleiten.  In  den  Osterferien  1871  vereinigte  uns  ein  Aufenthalt 
im  Kloster  zu  Lesina,  einem  alten  Standquartier  von  Botanikern 
und  Zoologen  auf  einer  der  schönsten  dalmatiner  Inseln,  wo  der  einzige 
das  Kloster  noch  bewohnende  Mönch,  der  Pater  Buonagrazia,  ein  für 
die  Musik  und  die  modernen  Naturwissenschaften  schwärmender  und 
in  ihnen  wohl  orientierter  Mann,  uns  gastliche  Aufnahme  gewährte. 
Es  waren  arbeitsreiche  Tage,  an  denen  vom  frühen  Morgen  bis  späten 

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167 


Abend  gefischt,  präpariert  und  mikroskopiert  wurde.  Unterkunft 
und  Verpflegung  waren  die  bescheidensten,  welche  ich,  obwohl  an 
Einfachheit  gewöhnt,  je  erlebt  habe.  Und  doch  stehe  ich  jetzt  nach 
42  Jahren  noch  ganz  unter  dem  Zauber  der  Erinnerung,  wenn  ich  an 
die  damalige  Zeit  zurückdenke,  an  das  mit  unserem  liebenswürdigen 
Wirt  gemeinsam  im  alten  schönen  Refektorium  eingenommene  Mahl, 
bei  welchem  eine  Suppe  aus  Wasser  und  Fleischextrakt  die  beste 
Würze  war,  an  die  Ausfahrten  auf  das  blaue  Meer  mit  seinem  wunder- 
vollen Ausblick  nach  dem  gebirgigen  Lissa,  den  von  Asphodelus  über- 
wucherten Inselchen  der  Spalmadori  und  die  am  Berg  angelehnte  Stadt 
mit  ihrem  malerischen  Kloster,  an  die  Klippenfischerei ,  bei  welcher  es 
nicht  selten  zu  einem  lustigen  Krieg  der  drei  Zoologen  kam,  an  die  an 
die  Arbeitstage  zeitweilig  sich  anschließenden  Spaziergänge  und  den  den 
Abschluß  der  Reise  bildenden  Ausflug  nach  Zara,  Sebenico,  Spalato, 
Ragusa,  Cattaround  Cettinje.  Inmitten  dieser  Fülle  der  schönsten  Ein- 
drücke stehte  die  Lichtgestalt  Haeckels  voll  jugendlicher  Initiative, 
unverdrossen  bei  allen  Schwierigkeiten  und  Hindernissen ,  immer  der 
erste,  wenn  es  galt  anzupacken,  Pläne  zu  entwerfen  und  auszuführen. 
Die  gleiche  ungetrübte  Erinnerung  knüpft  sich  an  die  fünf  Wochen, 
welche   wir  gemeinsam   auf   Korsika  zumeist  in  Ajaccio  verlebten. 

Ich  bin  so  glücklich  gewesen,  einen  großen  Teil  meiner  Studien- 
zeit und  7  Jahre  meiner  Dozententätigkeit  in  Jena  zuzubringen,  und 
habe  in  dieser  Zeit  mit  Haeckel  in  nahezu  ununterbrochenem  geistigem 
Austausch  gestanden.  Auch  später  hat  uns  Freundschaft  und  Ge- 
meinsamkeit der  Interessen,  sei  es  in  Jena,  sei  es  hier  in  München, 
immer  wieder  zusammengeführt.  Ich  glaubte  aber  hier  die  Zeiten 
besonders  hervorheben  zu  müssen,  in  denen  ich  als  Schüler  von  ihm 
als  dem  Lehrer  eine  ganz  außergewöhnliche  Förderung  erfahren  habe, 
eine  Förderung,  die  mich  ihm  mit  unauslöschlicher  Dankbarkeit  ver- 
bindet. Ich  bin  in  meinen  jungen  Jahren  zu  den  hervorragendsten 
deutschen  Biologen  der  damaligen  Zeit,  unter  denen  ich  hier  vor 
allem  Gegenbaur,  Max  Schultze,  Pflüger  nenne,  in  nahe  Beziehung 
getreten;  keiner  von  ihnen  hat  auf  meine  Entwicklung  einen  gleich 
nachhaltigen  und  bestimmenden  Einfluß  gewonnen. 

Versuche  ich  nun,  Rechenschaft  zu  geben,  wie  dies  zugegangen 
ist,  so  sind  es  folgende  Eigenschaften  gewesen,  welche  ich  am  meisten 
an  Haeckel  bewundere. 

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168 


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In  erster  Linie  steht  die  hohe  Auffassung,  welche  er  von  der  von 
ihm  vertretenen  Wissenschaft  besaß.  Für  ihn  war  die  Morphologie 
nicht  nur  Gegenstand  der  Forschung  und  der  Erziehung  unserer 
akademischen  Jugend,  sondern  ein  wichtiger  Faktor  in  der  kultu- 
rellen Entwicklung  weitester  Volkskreise.  Für  ihn  traten  daher  die 
vielen  kleinen  und  kleinlichen  Detailfragen,  wie  sie  besonders  die  in 
der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  herrschende  systematische 
Richtung  in  der  Zoologie  beschäftigten,  im  Vergleich  zu  den  großen, 
durch  den  Darwinismus  aufgeworfenen  Grundfragen  völlig  in  den 
Hintergrund.  Man  muß  die  Zeiten,  in  denen  Haeckel  seine  historische 
Stellung  errrang,  mit  durcherlebt  haben,  um  zu  verstehen,  welche 
Förderung  die  Zoologie  seinen  auf  große  Ziele  gerichteten  Werken 
verdankt. 

Mit  der  hohen  Auffasusng  von  den  Aufgaben  der  Zoologie  hing 
Haeckels  ungewöhnliche,  seine  Schüler  mit  sich  reißende  Begeiste- 
rungsfähigkeit zusammen.  Dieselbe  hat  sich  bei  ihm,  wie  es  so  oft 
bei  Kraftnaturen  der  Fall  ist,  im  Lauf  der  vielen  Kämpfe  nicht  selten 
zu  einer  gewalttätigen  Leidenschaftlichkeit  gesteigert,  welche  ihm 
selbst  nicht  wenige  schwere  Situationen  geschaffen  und  manchen 
Freund  entfremdet  hat.  Sie  gab  ihm  aber  auch  die  feste  Lebensfüh- 
rung, welche  jedem,  der  Großes  leisten  will,  nötig  ist,  und  hat  ihn 
vor  kleinlichen  Rücksichtsnahmen  bewahrt.  Ich  habe  Haeckel  in 
der  Zeit  seines  größten  Ansehens  besonders  nahe  gestanden,  als  ihm 
verlockende  Berufungen  nach  Wien  und  Bonn  zuteil  wurden;  die- 
selben haben  nicht  vermocht,  ihn  seinem  ungleich  bescheideneren, 
seinem  Wesen  aber  harmonischen  Wirkungskreis  in  Jena  zu  ent- 
fremden. Die  Rücksicht  auf  persönliche  Vorteile,  welche  außerhalb 
seiner  wissenschaftlichen  Tätigkeit  lagen,  hatte  auf  ihn  keinen  Ein- 
fluß. 

An  dritter  Stelle  nenne  ich  die  künstlerische  Durchdringung  seiner 
Persönlichkeit,  welche  einen  so  hervorragenden  Charakterzug  seines 
Wesens  bildet,  daß  wohl  wenige  an  dieser  Eigentümlichkeit  achtlos 
vorübergegangen  sind.  Ich  denke  hierbei  weniger  daran,  daß  er  auf 
seinen  Reisen  ein  begeisterter  Landschaftsmaler  gewesen  ist,  als  an 
die  Art ,  wie  er  sich  während  seiner  ganzen  Lebensführung  der  Natur 
gegenüber  verhält.  Dieselbe  ist  ihm  nicht  nur  ein  Gegenstand  der 
Forschung,  sondern  zugleich  auch  eine  Quelle  des  ästhetischen  Ge- 
"SSiaaaaaa33ai]aaa@]SSS!2iaS!3as]ggggggggggggB]B]E]E]E]E]gE]EiE]B]BiG3G]E] 

169 


nusses.  So  ist  es  ihm  bei  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung  konser- 
vierten Materials  immer  ein  Bedürfnis  gewesen,  von  den  durch 
Konservierung  verursachten  Schädigungen  zu  abstrahieren  und  das 
Tier  so  darzustellen,  wie  es  als  lebendes  Wesen  in  der  Natur  aus- 
gesehen haben  mochte.  Der  Wunsch,  die  Gestalten  der  Tiere  und 
Pflanzen  der  Benutzung  durch  Künstler  zugängig  zu  machen,  veran- 
laßte  ihn  zu  seinen  „Kunstformen  der  Natur".  Vor  allem  aber  kam 
seine  Künstlernatur  in  der  Fortbildung  seines  eigenen  Wesens  zum 
Ausdruck.  Was  ihn  wissenschaftlich  beschäftigte,  trat  in  Beziehung 
zu  seiner  gesamten  Persönlichkeit,  hatte  Einfluß  auf  sein  Denken 
und  Fühlen  und  führte  ihn  zu  einer  einheitlichen  Weltauffassung, 
für  welche  er  ebenso  kraftvoll  in  der  Öffentlichkeit  eintrat  wie 
seinerzeit   für   die   Darwinschen   Lehren. 

Die  Art,  in  welcher  Männer  des  Fortschritts  in  die  Kulturent Wick- 
lung der  Menschen  eingreifen,  kann  sehr  verschieden  sein.  Vor  allein 
scheiden  sich  zwei  Wege,  der  Weg  der  langsamen,  stetigen  organischen 
Fortbildung  und  der  Weg  der  durch  Enthusiasmus  die  Menschen 
mit  sich  reißenden  raschen  Umgestaltung.  Wer  den  ersten  Weg  be- 
geht, sucht  seine  Mitmenschen  nicht  zu  neuen,  ihrem  Wesen  zunächst 
fremdartigen  Anschauungen  zu  bekehren,  sondern  allmählich  das 
Niveau  ihres  Wissens  und  Urteils  zu  heben  und  so  den  Boden  zu 
schaffen,  auf  welchem  das  Neue  wie  eine  Pflanze  aus  dem  Samen- 
korn emporwächst.  Der  zweite  Weg  ist  der  Weg  der  Reformatoren. 
Beide  Wege  haben  zu  großen  Zielen  geführt.  Es  ist  Temperaments- 
sache, für  welchen  Weg  sich  der  einzelne  entscheidet.  Für  eine  Per- 
sönlichkeit wie  die  Haeckels  ist  nur  der  zweite  Weg  möglich.  Ihm 
blieben  die  Spannkraft  und  die  Leidenschaft  der  Jugend  bis  in  sein 
hohes  Alter  treu  und  werden  ihn  bis  an  sein  Lebensende  begleiten. 


170 


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G.  SPRENGER,  MAINZ 

o  o  o 

Auf  Ihre  mich  sehr  ehrende  Aufforderung,  einen  Beitrag  zu  der  von 
Ihnen  herauszugebenden  Festschrift  zu  liefern,  konnte  ich  leider, 
wie  Sie  schon  gemerkt  haben,  nicht  eingehen,  und  ich  bitte  Sie,  diese 
verzögerte  Bekanntgabe  meines  Entschlusses  gütigst  entschuldigen  zu 
wollen.  Abgesehen  von  der  winterlichen  beruflichen  Überlastung,  die 
mich  fast  vollständig  absorbiert,  war  ich  auch  noch  durch  einen  äußerst 
scharf  geführten  Gemeinderatswahlkampf  abgelenkt,  bei  der  sowohl 
Dr.  Thilo  als  auch  ich  zum  stummen  Entsetzen  der  Klerikalen  gewählt 
wurden.  Dies  alles  ließ  in  mir  jene  Konzentration  nicht  zustande  kommen, 
die  ich  für  notwendig  halte,  um  Ihnen  einen  dem  Rahmen  der  Festschrift 
würdigen  Beitrag  zu  liefern.  Außerdem  muß  ich  Ihnen  jedoch  noch  be- 
merken, daß  die  zur  Anregung  beigefügten  Fragen  für  mich  persönlich 
doch  nicht  so  leicht  als  geschlossenes  Thema  in  einem  kurzen  Aufsatz 
zu  verwenden  sind.  Ich  erlebte,  radikal  erzogen,  Haeckel  als  vorhandene 
Tatsache,  als  Selbstverständlichkeit,  er  reihte  sich  notwendig  und  konse- 
quent in  meine  sich  bildende  Weltanschauung  hinein,  oder  besser  gesagt, 
ich  kam  von  links  und  nahm  ihn  als  neuen  Bestätiger  unserer  Welt- 
anschauung, als  willkommene  geistige  Stütze,  als  treulichen  Mitkämpfer 
gegen  die  geistige  Reaktion,  ihn  anerkennend  als  den  auch  als  Mensch 
so  idealen  Führer  der  freigeistigen  wissenschaftlichen  Forschung. 

Was  mich  persönlich  so  ganz  zu  ihm  hinzog,  ist  das  reine  Menschen- 
tum, das  aus  seinem  edlen  Kopfe  leuchtet  und  das  mir  das  geläuterte 
Produkt  seiner  ganzen  Denkart  schien.  Das  reine  ideale  Streben  im 
Dienste  einer  hohen ,  höchsten  Zielen  zustrebenden  Geistesarbeit  schuf 
solch  einen  herrlichen  Menschen.  Hier  fühle  ich  mich  ganz  eins  mit 
Haeckel,  und  aus  dieser  Zuversicht,  aus  diesem  Urquell  schöpfe  auch 
ich  die  Kraft,  täglich,  stündlich  auf  allen  Posten  zu  sein,  wo  es  gilt, 
im  Dienste  seiner  inneren  Überzeugung,  im  Dienste  der  einmal  er- 
kannten Wahrheit  sich  einzusetzen  voll  und  ganz,  mit  dem  ganzen 
Menschen,  mit  dem  Leben! 

So  ist  Haeckel  für  mich  eine  ethische  Energiequelle  geworden, 
die  mich  jederzeit,  wenn  notwendig,  aktiviert.  Dies  ist  er  wohl  nicht 
nur  für  mich,  sondern  für  die  ganze  Menschheit  geworden,  und  darin 
liegt  seine  Unsterblichkeit! 

I7I 


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AUGUST  KAHL,  HAMBURG 


o  o  o 


An  der  Hand  eines  vernünftigen  Vaters  durfte  ich  schon  frühe  hinein- 
wandern in  das  Paradies  der  neuen  Weltauffassung,  und  wenn 
auch  jede  weitere  Auslegung  der  auftauchenden  Fragen  notwendig 
fehlen  mußte,  so  war  doch  eines  in  mir  schon  in  früher  Kindheit  vor- 
bereitet und  sehr  bald  zur  Gewißheit  geworden:  Der  Gedanke  von 
der  Weltentwicklung.  Die  Anschauungen  meines  Vaters  könnten  als 
typischer  Beleg  dafür  dienen,  wie  weit  ins  Volk  hinein  die  Ideen  Dar- 
wins und  Haeckels  bereits  in  den  siebziger  und  achtziger  Jahren  ge- 
wirkt hatten. 

Lediglich  nur  des  Durchsickerns  der  Grundidee  in  ihrer  reinen 
Größe  ohne  jede  begleitende  Begründung  bedurfte  es,  um  auch  an 
den  Grenzen  des  Volkstums  in  den  denkenden  Köpfen  die  erste  Bresche 
zu  schlagen.  Die  Werke  der  Gelehrten,  die  dieser  Grundidee  feste 
Füße  gegeben  hatten,  brauchten  dort  nicht  einmal  dem  Namen  nach 
bekannt  zu  sein,  um  dennoch  in  ihrem  letzten  und  wertvollsten  Be- 
stand, eben  der  Entwicklungsidee,  erfaßt  zu  werden. 

So  bewirkte  die  Linie,  die  über  meinen  Vater  zu  mir  hinführte, 
daß  ich  schon  als  zwölfjähriger  Knabe  auf  der  Schulbank  den  vor- 
getragenen Glaubenslehren  glaubenslos  gegenüber  saß,  und  weiter,  daß 
ich  sehr  bald  in  dem  Priester  einen  Mann  erblickte,  der  Dinge  lehrte 
und  zu  glauben  schien,  die  mit  den  Fertigkeiten  eines  Zauberkünstlers 
Verwandschaft  zeigten.  Ich  ging  um  so  weniger  ergriffen  an  diesen 
sogenannten  Religionsstunden  vorbei,  als  sie  mit  wenig  WTärme  und 
Überzeugungskraft  vorgetragen  wurden  und  in  einem  plagenden  Wust 
von  Memorierstoff  das  Wenige  noch  verloren,  das  sie  —  würden  sie 
mit  mehr  Klugheit  dargereicht  worden  sein  —  schließlich  doch  hätten 
bieten  können.  So  war  es  natürlich,  daß  jene  sparsam  in  den  Wochen- 
plan eingefügte  Stunde,  die  mit  Naturlehre  belegt  war,  trotz  ihrer 
Dürftigkeit  einen  Trank  für  mich  bot,  von  dem  ich  niemals  genug  be- 
kommen konnte,  so  daß  ich  sie  vor  allen  anderen  immer  von  neuem 
sehnlichst  herbeiwünschte. 

Da  geschah  in  meinem  12.  Lebensjahre  etwas,  was  einen  tiefen 
Eindruck  in  mir  hervorrief,  unter  dessen  Wirkung  ich  fortan  stehen 
sollte,  einen  Eindruck,  der  so  nachhaltig  war,  daß  ich  ihn  auch  heute 


172 


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noch  zum  Teil  in  mir  wachzurufen  vermag.  Ich  bekam  ein  älteres 
Buch  geschenkt  und  zwar  war  es  die  Schillingsche  Naturgeschichte 
in  neunter  Bearbeitung  vom  Jahre  1867,  wie  sie  damals  und  fort- 
folgend in  den  Bürgerschulen  Badens  gebraucht  wurde.  Ein  einfaches 
Schulbuch,  das  für  die  Kulturhöhe  des  badischen  Schulunterrichts 
der  sechziger  Jahre  ein  geradezu  glänzendes  Zeugnis  bietet.  In  diesem 
Buche,  das  ich  verschlang,  fand  ich  folgende  Sätze,  die  ich  nur  mit 
steigender  Erregung  und  Spannung  zu  lesen  vermochte: 

„Das  Tierreich  bestand  nicht  nur  nicht  immer  aus  denselben  Arten, 
wie  gegenwärtig,  sondern  es  gab  vielmehr  Perioden  in  der  Entwick- 
lung unseres  Erdkörpers,  in  denen  es  einen  von  dem  jetzigen  ganz 
verschiedenen  Charakter  besaß  und  keine  einzige  Art  aufzuweisen 
hatte,  welche  jetzt  nicht  ausgestorben  wäre.  Die  verschiedenen  Erd- 
schichten enthalten  bis  in  die  größten  Tiefen  hinab  unzählige  tierische 
Überreste,  welche  nicht  allein  ausgestorbenen  Arten  und  Gattungen, 
sondern  selbst  ausgestorbenen  Familien  und  Ordnungen  angehören, 
so  daß  ein  System  der  Zoologie  erst  dann  Anspruch  auf  Vollständig- 
keit machen  könnte,  wenn  auch  die  gesamte  untergegangene  Tierwelt 
nach  ihren  Merkmalen  in  dasselbe  eingereiht  wäre.  Wie  die  pflanz- 
lichen, so  liefern  auch  die  fossilen  tierischen  Überreste  durch  ihr  Vor- 
kommen in  den  Gebirgsschichten  den  schlagendsten  Beweis  für  die 
allmähliche  Entwicklung  des  tierischen  Organismus  zum  Vollkom- 
meneren, obgleich  man  sich  vor  der  irrtümlichen  Annahme  hüten 
muß,  als  habe  diese  Vervollkommnung  einen  mit  der  Aufeinanderfolge 
und  Abstufung  der  Klassen  von  den  einfachst  und  niedrigst  organi- 
sierten Geschöpfen  bis  etwa  zum  Menschen  hinauf  ganz  und  gar  paral- 
lelen Verlauf  genommen." 

Und  nun  folgte  eine  in  den  Grundzügen  auch  heute  noch  zutref- 
fende Aufzählung  der  paläontologischen  Ergebnisse,  wie  sie  sich  aus 
den  verschiedenen  geologischen  Hauptperioden  einschließlich  des  Men- 
schen herauslesen  ließen. 

Ich  las  diesen  klassisch  knappen  Extrakt  immer  wieder  und 
erinnere  mich  noch  sehr  genau,  welche  Wirkung  die  Worte  „bis  zum 
Menschen  hinauf"  auf  mich  gemacht  hatten,  wie  sie  während  des 
Lesens  in  mir  nachvibrierten.  Über  diesem  Satze  konnte  ich  tagelang 
grübeln.  Es  ging  mir  schon  damals  eine  bedrückende  dunkle  Ahnung 
auf  von  den  sich  verlierenden  unzählbaren  Verzweigungen,  die  in  den 

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*73 


Entwicklungsreihen  angenommen  werden  müssen.  Der  Keim  zur 
Fähigkeit  phylogenetischen  Denkens  ward  damals  in  mich  gelegt,  es 
war  mir,  als  sähe  ich  weit  zurück  in  die  Vergangenheit,  und  die  Erde 
aufgeschlagen  wie  ein  gewaltiges  Buch,  aus  dem  die  Gelehrten  ihre 
Geschichte  nur  abzulesen  brauchten.  Fortan  war  es  gründlich  vorbei 
mit  allen  kindlicheren  Vorstellungen  über  Entwicklung  der  Weltdinge, 
denn  die  Worte  des  Schulbuchs  hatten  auf  mich  wie  ein  Evangelium 
gewirkt.  Sie  waren  mir  ein  sicherer  Wegweiser  für  die  nächsten  Jahre, 
in  denen  die  mir  anfangs  dunklen  Bezeichnungen  Silur,  Devon,  Kar- 
bon, Perm,  Trias,  Jura,  Kreide,  Tertiär,  Quartär  jener  vielgelesenen 
Zeilen  zu  immer  klareren  Begriffen  für  mich  wurden,  die  ich  chrono- 
logisch richtig  einzuordnen  versuchte.  Aber  obwohl  mein  Vater  die 
Namen  Darwin  und  Haeckel  des  öfteren  im  Zusammenhang  und  in 
ihrer  Bedeutung  genannt  hatte,  vergingen  doch  noch  einige  Jahre,  ehe 
ich  an  diesen  klaren  Quellen  selbst  schöpfen  durfte.  Erst  einige  Jahre 
nach  dem  Tode  meines  Vaters  in  meinem  18.  Lebensjahre  lernte  ich 
Darwins  Entstehung  der  Arten  in  der  Übersetzung  von  David  Haek 
kennen.  Allein,  nun  erlebte  ich  das  Überraschende,  daß  ich  in  diesem 
beispiellosen  WTerke  tiefschürfenden  Gelehrtenfleißes  nicht  jenen  wei- 
tergehenden Schwung  fand,  den  meine  Jugendauffassung  darin  ver- 
mutet hatte.  Bewundernd  stand  ich  vor  dem  unerhörten  Material, 
das  die  Schlußfolgerungen  beweisen  mußte,  gerade  aber  weil  mir  diese 
so  selbstverständlich  erschienen  und  weil  sie  bereits  fest  in  mir  ver- 
ankert waren,  bedurfte  ich  dieses  Materials  zunächst  nicht,  um  sie 
glaubhaft  zu  finden.  Wirklich  iDnerlich  zur  Gewißheit  gewordene  Vor- 
stellungen bedürfen  für  uns  vorerst  keines  Beweises,  um  als  gefestigt 
empfunden  zu  werden.  Ich  sollte  erst  später  erkennen,  wie  notwendig 
es  ist,  wissenschaftliche  Anschauungen  nach  allen  Richtungen  durch 
Belege  zu  stützen,  und  welche  einzig  dastehende  Riesenarbeit  in  diesem 
Punkte  mit  Darwins  Hauptwerk  geleistet  war.  So  fand  ich  denn  in 
Darwins  Entstehung  der  Arten  nicht  eigentlich  die  gesuchten  Ketten 
der  Entwicklung,  deren  einzelne  Glieder  logisch  auseinander  folgen 
müssen,  sondern  etwas  ganz  anderes,  etwas,  was  mich  zunächst  min- 
der stark  fesselte.  Da  aber  geriet  ich  auf  einer  Seite  dieser  jüngeren 
Übersetzung  an  etwas,  was  mich  sofort  auf  den  gewünschten  Weg 
bringen  sollte. 

Mit  wenigen  Worten  war  auf  Haeckels  „Generelle  Morphologie" 

*74 


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hingewiesen  und  gesagt,  daß  er  „seine  bedeutenden  Kenntnisse  und 
Fähigkeiten  auf  das,  was  er  Phylogenie  nennt",  gerichtet  habe.  Es 
wurde  betont,  ,,er  hat  damit  kühn  einen  großen  Anfang  gemacht 
und  zeigt  uns,  wie  in  der  Zukunft  die  Einteilung  behandelt  werden 
soll." 

Das  war  es  also,  was  ich  sehnlichst  suchte.  In  der  Folge  sollte 
ich  aber  nicht  zuerst  an  die  geniale  Tat  der  „Generellen  Morphologie" 
gelangen,  sondern  an  die  wuchtige  populäre  Darstellung  in  der  natür- 
lichen Schöpfungsgeschichte.  Die  kristallene  Klarheit  und  weitschau- 
ende Kühnheit,  die  —  immer  den  Blick  aufs  große  Ganze  gerichtet 
—  in  genialer  Art  die  Hindernisse  nahm,  das  war  es  vor  allem,  was 
mich  hier  mit  fortriß  und  wenn  ich  heute  der  Ansicht  bin,  daß  der 
erstaunliche  Erfolg  der  Haeckelschen  Ideen  letzten  Endes  eben  dem 
unaufhaltsamen  Einfluß  der  Vernunft  an  sich  schon  zuzuschreiben 
ist,  so  muß  doch  wohl  daneben  besonders  betont  werden,  daß  es  die 
Klarheit  und  Kühnheit  der  überzeugenden  Gestaltungskraft  Haeckels 
mit  in  erster  Linie  waren,  die  hier  Wege  und  Verständnis  angebahnt 
haben. 

Wo  die  Vernunft  sich  solcherweise  mit  dem  Schwung  der  An- 
schauung paart,  kann  eine  tiefe  Kulturwirkung  unmöglich  ausbleiben. 
Als  ich  wenig  später  diese  Eigenart  Haeckels  in  noch  mehr  verblüf- 
fender Weise  in  der  „Generellen  Morphologie"  kennen  lernen  durfte, 
war  ich  ihm  mit  Haut  und  Haaren  verfallen.  Immer  klarer  wurde 
es  mir,  welche  originale  Arbeit  mit  diesem  Werke,  das  eben  nur  Haeckel 
schreiben  konnte,  geleistet  war.  Heute  erfaßt  mich  so  manches  Mal 
der  leider  nur  allzu  wahre  Gedanke,  daß  auch  hier,  wie  in  so  vielen 
anderen  Fällen,  gerade  das  urwüchsigste,  Neuland  aufreißende  und 
elementar  wirkende  Gedanken  tragende  Werk  dem  weiteren  Publi- 
kum, ja  heute  sogar  den  meisten  von  denen,  die  Haeckel  ganz  und 
gar  erfaßt  zu  haben  glauben,  unbekannt  geblieben  ist. 

Als  ich  nach  längerer  Zeit  die  oben  zitierten  Sätze  der  Schilling- 
schen  Naturgeschichte  unter  anderem  wieder  einmal  durchlas  und 
besonders  die  Schlußfolgerungen  bedachte,  konnte  ich  mich  des  Ein- 
druckes nicht  erwehren,  daß  der  Verfasser  die  „Generelle  Morphologie" 
gekannt  haben  müsse.  Die  Bekanntschaft  müßte  allerdings,  nach  der 
Zeit  der  Abfassung  zu  schließen,  schon  binnen  wenigen  Monaten  nach 
Erscheinen  erfolgt  sein.  Die  Tatsache  und  ihre  Folgen  wären  jeden- 
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*75 


falls  mehr  als  interessant  und  würden  als  einer  der  frühesten  Beweise 
weittragendster  Kulturwirkung  Haeckelscher  Ideen  zu  nehmen  sein. 

Ich  habe  zu  Anfang  dieser  Abhandlung  das  Durchsickern  genialer 
Gedanken  und  wissenschaftlicher  Ergebnisse  erwähnt.  Diese  stille 
fließende  Arbeit,  die  von  diesem  fundamentalen  Werke  und  allen 
späteren  fachwissenschaftlichen  und  populären  Arbeiten  Haeckels  aus- 
ging, hatte  bis  in  Kreise  hinein,  in  denen  man  sich  so  ganz  anderen 
Dingen  als  Weltanschauungsfragen  hingeben  mußte,  die  Gedanken- 
richtung beeinflußt.  Wie  oft  bin  ich  freilich  in  der  Folge  auf  das  Faktum 
gestoßen,  daß  man  den  Namen  des  deutschen  Darwin  und  seine  Be- 
deutung zwar  kannte,  aber  seine  Werke  nicht.  Allenfalls  fand  man 
die  Auffassung  vertreten,  daß  Haeckel  der  Mann  sei,  der  die  Affen- 
abstammung gelehrt  habe,  wobei  man  die  Sache  gründlich  verkehrt 
faßte. 

Immerhin,  wie  das  verzerrte  Bild  auch  schwankte,  der  Boden  war 
in  den  neunziger  Jahren  weithin  gepflügt  und  die  Zeit  reif  geworden. 
Ein  Heer  von  berufenen  Schriftstellern  hatte  sich  Haeckels  Gedanken- 
welt bemächtigt.  Die  Spezialforschung  hatte  die  zutreffende  Bestä- 
tigung einer  Reihe  zuerst  von  Haeckel  geäußerter  Ideen  gebracht, 
die  Paläontologie  eine  Menge  Material  geliefert,  das  Haeckels  Grund- 
ideen stützte.  Der  Darwinismus  im  weiteren  Sinne  hatte  —  in  seinem 
Eroberungslaufe  durch  Haeckels  unerhört  kühnen  Kampf  beschleu- 
nigt —  auf  der  ganzen  Linie  gesiegt.  Es  gehörte  für  einen  denkenden 
Kopf,  der  in  diesen  Wandel  hineingerissen  war,  schließlich  zu  den 
Unmöglichkeiten,  sich  die  Dinge  noch  einmal  im  alten  Sinne  vorzu- 
stellen. So  rückte  denn  das  Jahr  1899,  das  Jahr  des  Erscheinens  der 
Welträtsel  herbei. 

Um  es  gleich  zu  sagen:  heute  rückschauend,  würde  ich  es  uner- 
klärlich finden,  wenn  der  Erfolg  der  Welträtsel  nicht  der  gewesen 
wäre,  den  wir  kennen  gelernt  haben.  Alles  wirkte  hier  in  glücklicher 
Weise  auf  die  Aufnahme  hin.  Zunächst  der  Titel,  der  im  Verein  mit 
dem  berühmten  Namen  kaum  treffender  das  schon  geweckte  Interesse 
aufrütteln  konnte.  Dann  die  Knappheit  der  Darstellung  —  das  ganze 
Buch  ist  ja  eine  Essenz  aus  allen  Gebieten  der  Naturwissenschaft  — 
und  dann  die  den  Laien  unter  allen  Umständen  sofort  fesselnde,  ge- 
radezu genial  getroffene  Einteilung  und  speziellere  Einordnung  des 
Stoffes.    Daneben  noch  einmal  das  lodernde  Feuer  des  noch  immer 

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I76 


jungen  Haeckel,  die  eindringliche  Kraft  der  persönlichen  Überzeugung 
gegenüber  alten  morschgewordenen  Anschauungen.  Alles  glänzende 
Vorzüge,  die  freilich  für  manchen  auch  Gefahren  bargen,  die  aber 
dem  Werke  die  weiteste  Aufnahme  unbedingt  sichern  mußten. 

Das  Buch  mußte  durchdringen,  alle  freien  Geister  packen  und  — 
bei  allen  Ubervorsichtigen  anstoßen.  Für  den  ganz  in  Haeckel  ein- 
gedrungenen Kenner  hatte  es  noch  einen  besonderen  Reiz.  Das  war 
ja  derselbe  Mann,  der  das  schwere,  einzig  dastehende  und  wohl  auch 
für  lange  unübertreffliche  Werk  der  systematischen  Phylogenie  vor 
noch  kaum  vier  bis  fünf  Jahren  veröffentlicht  hatte. 

War  ich  nun  schon  seit  langem  von  dem  sehnlichsten  Wunsche 
erfaßt,  diesen  Recken  der  geistigen  Arbeit  persönlich  kennen  zu  ler- 
nen, so  beseelte  mich  dieser  Wunsch  nun  erst  recht.  Vorläufig  sollte 
er  leider  unerfüllt  bleiben.  Gleich  nach  der  Durchnahme  der  Welt- 
rätsel im  Jahre  1899  war  ich  auf  den  Gedanken  gekommen,  in  Ham- 
burg eine  monistische  Gesellschaft  zu  gründen.  Jedoch  auch  die  Aus- 
führung dieses  Planes  verzögerte  sich  infolge  äußerer  Widerstände 
bis  zum  Jahre  1903. 

Da  endlich  am  12.  Februar,  dem  Geburtstage  Darwins,  konnte 
die  monistische  Gesellschaft,  wohl  die  erste  in  Deutschland,  durch 
mich  gegründet,  ins  Leben  treten  (aus  ihr  ging  dann  im  Jahre  1906 
die  heutige  Hamburger  Ortsgruppe  des  Deutschen  Monistenbundes 
hervor)  und  in  der  Folgezeit  überraschende  Belege  dafür  bieten,  in 
welch  unterschiedliche  Schichten  der  Bevölkerung  die  Weltanschau- 
ung Haeckels  bereits  vorgedrungen  war.  Die  ungeahnte  Verbreitung 
der  Volksausgabe  der  Welträtsel  begann  ebenfalls  im  selben  Jahre 
und  ihrem  wachsenden  Vordringen  hatte  die  anfangs  nur  kleine  Mo- 
nistengruppe später  einen  raschen  Zugang  von  Mitgliedern  zu  danken. 

Die  arbeitsfrohen  Vereins]  ahre,  die  nun  einsetzten  —  überstrahlt 
von  dem  Gedanken,  die  Hochburg  Jena  einmal  zu  besuchen  — ,  brach- 
ten für  mich  wirklich  als  teuerste  Frucht  die  Erfüllung  dieses  lange 
gehegten  Traumes,  meinen  Besuch  in  Jena  und  meine  Übersiedelung 
nach  dort. 

Niemals  in  meinem  Leben  werde  ich  den  ersten  Eindruck  vergessen, 

den  die  Persönlichkeit  Haeckels  auf  mich  gemacht  hat.    Da  saß  ich 

auf  dem  berühmten  Sofa  dem  Bewunderten  und  Vielgeschmähten 

gegenüber,  dem  mich  seit  früher  Jugend  die  Regungen  meines  inner- 

gggggggggggggggB]ggggE]ggggE]ggggggggG]E]E]E]BiE]E]E]E]B]E]E]E]E]E]G]EiE] 

12     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II  IJJ 


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sten  Wesens  verbanden.  Und  nun  ging  von  diesem  Recken  die  be- 
strickendste Liebenswürdigkeit  auf  mich  aus,  gepaart  mit  einer  eigen- 
artigen Bescheidenheit,  die  mich  in  Verwirrung  brachte.  Ich  konnte 
meine  innere  Ergriffenheit  kaum  verbergen.  Gerade  deshalb  wohl  ist 
mir  fast  jedes  Wort  dieser  köstlichen  Stunde,  fast  jede  Situation  im 
Gedächtnis  geblieben.  Eine  wohl  niemals  wiederkehrende,  das  ganze 
Ich  erfassende  Konzentration  aller  inneren  Kräfte  mag  hier  so  tief 
registrierend  gewirkt  haben.  Erst  als  ich  wieder  draußen  stand,  löste 
sich  unter  Herzklopfen  die  ungeheure  Spannung.  Tag  für  Tag  sollte 
ich  nun  Haeckel  hören  und,  wie  es  so  schön  heißt,  ,,zu  seinen  Füßen 
sitzen".  Die  jungen  Studenten  begannen  zuerst  eifrig  zu  schreiben. 
Aber  das  Material  Haeckels  war  so  unerhört  groß,  es  war  so  interes- 
sant, was  er  in  eine  einzige  Stunde  legte,  daß  die  meisten  der  Herren 
bald  diese  Tätigkeit  aufgaben  und  lieber  seinen  lebendigen  Worten 
lauschten.  Da  mir  der  Quell  der  Rede  über  alles  geht,  gab  ich  mich 
von  vornherein  um  so  lieber  seinen  freien  Ausführungen  hin.  Später 
hatte  ich  das  Glück,  im  Gespräch  auf  Spaziergängen  tiefer  in  das 
Wesen  seiner  elementaren  Persönlichkeit  eindringen  zu  dürfen.  Der 
echte  Humor,  der  in  manchen  Stellen  seiner  Schriften  aufblitzt,  kam 
da  oft  in  befreiendster  Weise  zum  Ausdruck,  und  immer  war  man 
eingefangen  von  den  sein  ganzes  Wirken  durchdringenden  Eigenschaf- 
ten seiner  sonnigen  Natur.  Der  Wärme  seiner  Persönlichkeit  kann 
sich  niemand  entziehen.  Es  geht  eine  tief  religiöse  Wirkung  von  ihr 
aus.  Dieser  Ungläubige  ist  wirklich  ein  religiöser  Mensch,  natürlich 
im  modernsten  Sinn  dieses  Wortes. 

Weil  das  echte  Feuer  der  Überzeugung  ihn  und  sein  Werk  immer 
wieder  von  neuem  durchglühte,  mußte  auch  sein  Schaffen  jene  auf- 
rüttelnde Wirkung  ausüben,  die  weit  hinaus  gezündet  hat  und  lange 
weiter  zünden  wird.  Er  gehört  zu  jenen  geistigen  Kämpfern,  deren 
Lebensarbeit  vorbildlich  geworden  ist,  zu  den  Aufrechten,  die  allen 
Stürmen  zum  Trotz  durchhielten  und  durch  die  Kraft  des  Gedankens 
und  des  persönlichen  Einsatzes  siegten. 


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178 


EUGENIO  FICALBI,  PISA 

o  o  o 

Ich  habe  öfters  sagen  hören:  „Haeckel  erging  sich  in  zu  umfassenden 
und  gewagten  Hypothesen,  die  der  Wissenschaft  nicht  dienen; 
nur  Arbeitshypothesen  sind  von  Nutzen" !  Eine  der  üblichen  Phrasen, 
die  von  den  „Arbeitshypothesen",  die  höchst  weise  zu  sein  scheinen, 
im  Grunde  aber  nichtssagend  sind.  Die  Hypothesen  Haeckels  sind 
in  wahrem  Sinn  Arbeitshypothesen  geworden ;  sie  haben  wissenschaft- 
liche Untersuchungen  angeregt,  welche  seit  einem  halben  Jahrhundert 
ein  Heer  von  Arbeitern  beschäftigen  und  Bibliotheken  füllen.  Genügt 
das  nicht,  den  unvergänglichen  Ruhm  eines  Menschen  zu  begründen? 


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12"  179 


JOHANNES   WALTHER,    HALLE:   ERNST   HAECKEL 

ALS  REISENDER 

o  o  o 

Wie  man  die  Strahlen,  die  eine  glänzende  Lichtquelle  aussendet, 
in  ihre  einzelnen  Lichtarten  zerlegen  muß,  um  ihre  mannigfaltige 
Zusammensetzung  besser  überschauen  zu  können,  so  möchte  man 
auch  den  vielseitigen  Einfluß,  den  ein  großer  Mann  auf  seine  Schüler 
ausgeübt  hat,  in  seine  Elemente  zerlegen,  um  sich  an  dem  ganzen 
Reichtum  seines  Geistes  doppelt  zu  erfreuen.  Und  so  liegt  es  mir 
nahe,  aus  Ernst  Haeckels  Leben  eine  Seite  herauszugreifen,  deren 
hoher  Wert  besonders  denen  zum  Bewußtsein  kam,  die  das  Glück 
hatten,  mit  diesem  seltenen  Menschen  eine  längere  Zeitspanne  in 
enger  Fühlung  zu  stehen. 

Haeckel  erzählte  einmal ,  daß  er  als  kleiner  Knabe  auf  die  Frage : 
was  willst  du  werden,  geantwortet  habe:  ,,Ein  Reiser."  Was  damals 
schon  in  seiner  jungen  Seele  keimte,  die  große  Sehnsucht  nach  den 
Wundern  der  Natur,  der  Wunsch,  sie  zu  begreifen  und  zu  verstehen 
und  anderen  ein  Verkünder  ihrer  Schönheit  zu  werden  —  Haeckels 
Leben  hat  diese  Anlage  zu  vollendeter  Entfaltung  -reifen  lassen. 
Immer  wieder  zog  er  hinaus,  allein  oder  mit  Schülern  und  Freunden, 
und  seine  künstlerische ,  allen  Erscheinungen  der  Umwelt  offene  Seele 
fand  gerade  hier  die  vollkommenste  Förderung,  reifte  gerade  hier  die 
köstlichsten  Früchte.  Probleme  der  Wissenschaft  und  Kunst,  Fragen 
der  Kultur  und  des  Lebens  wirkten  auf  ihn  mit  zündender  Gewalt, 
und  wer  in  den  Bannkreis  seiner  Gedanken  kam,  der  wurde  durch  ihn 
begeistert.  Vom  sizilianischen  Fischer] ungen  bis  zum  befreundeten 
Fachgenossen ,  vom  alten  Sokrates  in  Belligamma  bis  zum  geistvollen 
Fürsten  reichte  der  Wirkungskreis  seiner  Persönlichkeit,  jedem  ver- 
stand er  menschlich  näher  zu  treten,  jedem  etwas  zu  sein. 

Besonders  wirksam  war  es,  wenn  ein  Reisegenosse,  der  von  einem 
anderen  philosophischen  Standpunkt  aus  den  fürchterlichen  „Mate- 
rialisten" Haeckel  haßte,  ahnungslos  mit  dem  liebenswürdigen  und 
liebenswerten  Menschen  wanderte  und  endlich  beim  Abschied  er- 
fahren mußte,  mit  wem  er  zusammen  gewesen  war  —  gerade  bei 
solcher  Gelegenheit  konnte  man  erleben,  welch  persönlicher  Zauber 
von  ihm  ausging. 

180 


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Zwischen  ernster  Forscherarbeit  fand  er  Zeit  zu  farbenprächtigen 
Aquarellen,  und  neben  den  Monographien,  die  seinen  Namen  in  der 
ganzen  wissenschaftlichen  Welt  berühmt  gemacht  haben,  entstanden 
jene  Perlen  künstlerischer  Reiseschilderungen,  die  weiteste  Leser- 
kreise fanden  und  begeisterten. 

Wer  kennt  nicht  seine  Schilderung  einer  Ätnabesteigung,  seine 
köstliche  Darstellung  der  Korallengärten  im  Roten  Meer,  die  ent- 
zückenden „Indischen  Reisebriefe",  die  wundervollen  Briefe  aus 
„Insulinde"  —  wer  hätte  nicht  voll  Sehnsucht  die  kleineren  Auf- 
sätze Haeckels  gelesen,  die  ein  Stück  Natur,  gesehen  durch  ein  Tem- 
perament, dem  Leser  entgegenbringen: 

Kein  Wunder,  daß  auch  der  junge  Gelehrte,  der  zu  Haeckels 
Füßen  gesessen  und  an  seinen  Lippen  gehangen  hatte,  voll  Sehnsucht 
nach  den  Stätten  erfüllt  wurde,  die  ein  Meister  des  Sehens  und  Dar- 
stellens  ihm  so  vertraut  gemacht  hatte.  Wer  jene  Zeit  erlebt  hat, 
wo  von  Jena  aus  in  jedem  Jahre  neue  Studien-  und  Forschungsreisen 
geplant  und  ausgeführt  wurden,  bald  nach  den  eisigen  Fjorden  des 
Nordens,  bald  nach  den  malerischen  Gestaden  des  Mittelmeeres,  nach 
den  Korallenriffen  der  Sinaiküste,  den  Wüsten  von  Mexico,  den  Ur- 
wäldern von  Java  oder  dem  australischen  Busch,  der  weiß,  wie  Ernst 
Haeckel  alle  diese  Pläne  anregte  und  förderte. 

Das  alte  schöne  Wort:  nichts  Menschliches  ist  mir  fremd  — 
sollte  jeder  Reisende  als  Motto  in  seinem  Herzen  tragen.  Was  hilft 
es  ihm,  wenn  er  glaubt,  er  dürfe  unterwegs  nur  wissenschaftlich  arbei- 
ten, nur  alle  mit  einem  Sternchen  ausgezeichneten  Kirchen  und  Bil- 
der sehen,  oder  alle  vorgeschriebenen  Aussichtspunkte  besuchen  — 
er  wird  nicht  wahrhaft  gefördert  zurückkehren.  Der  erste,  der  in 
deutscher  Sprache  gezeigt  hat,  wie  man  reisen  müsse,  um  auch  inner- 
lich reicher  zu  werden,  war  Goethe;  dann  folgte  Alexander  von  Hum- 
boldt mit  seiner  wunderbaren  Reise  nach  den  Aequinoctialgegenden 
—  aber  der  Name,  den  man  gleich  nach  ihnen  zu  nennen  hat,  lautet 
Ernst  Haeckel. 


181 


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P.  G.  UNNA,  HAMBURG:  VON  DARWIN  ZU  HAECKEL 


o  o  o 


Im  Jahre  1868  wurde  mir,  dem  18 jährigen  Gymnasiasten,  von 
meinen  Eltern  die  Erlaubnis  zuteil,  die  Sommerferien  zu  einem  Aus- 
flug nach  Heidelberg  zu  benutzen.  Meine  Freunde  am  Propolytech- 
nikum  in  Hamburg,  in  dem  ich  ein  Jahr  Vorlesungen  hörte,  gaben 
mir  eine  Empfehlung  an  einen  jungen  Hamburger  Chemiker,  der  bei 
Bunsen  in  Heidelberg  studierte.  An  einem  Sonntage  machte  ich  mit 
diesem  eine  Fußtour  auf  den  Melibocus.  Unser  Gespräch  drehte  sich 
nur  um  Darwin,  dessen  „Entstehung  der  Arten"  der  Chemiker  gerade 
mit  Begeisterung  las.  Er  war  ein  guter  Erklärer  und  bald  lag  der  ganze 
Gedankengang  des  mir  unbekannten  wunderbaren  Buches  offen  vor 
meinem  Auge .  Nur  von  einer  Sache  konnte  mich  mein  Chemiker  nicht 
überzeugen,  nämlich  daß  die  Thesen  von  Darwin  etwas  fundamental 
Neues  seien.  Nach  jedem  Absatz  seiner  Rede  ärgerte  ich  ihn  offenbar 
mit  dem  Ausspruch,  ,,das  sei  ja  ganz  selbstverständlich",  „das  könne 
ja  gar  nicht  anders  sein".  Es  wurde  ihm  schwer,  mir  beizubringen, 
daß  der  derzeitige  Standpunkt  der  Wissenschaft  diese,  wie  mir  schien, 
selbstverständlichen  Erfahrungen  und  Schlüsse  durchaus  ablehnte. 
Voll  von  den  neuen  Ideen  kam  ich  nach  Hamburg  zurück  und  teilte 
meine  Begeisterung  für  das  Buch  von  Darwin  meinem  Freunde  Kärker 
mit,  welcher  Primus  der  Unterprima  in  der  Gelehrtenschule  des  Jo- 
hanneums  war,  in  die  ich  nun  nach  einjähriger  Unterbrechung  wieder 
eintrat. 

In  diesem  Gymnasium  existierte  seit  1817  ein  „wissenschaftlicher 
Verein"  der  Gymnasiasten,  welcher  neben  den  Arbeiten  für  die  Schule 
in  vollkommen  freier  Weise  gelehrte  Studien  trieb.  Viele  bekannte 
Gelehrte  hatten  ihm  angehört,  so  Erwin  Rohde,  Ernst  Bernheim, 
Max  von  der  Porten  und  last  not  least  Hebbel  während  seiner  Schul- 
zeit in  Hamburg.  Der  Verein  war  ganz  unabhängig  von  der  Schule 
und  wurde,  da  die  meisten  Professoren  sehr  alte  und  etwas  wunder- 
liche Philologen  waren  und  die  Schüler  wenig  interessierten,  mit  um 
so  größerem  Eifer  von  der  intelligenten  Oberschicht  der  Klasse  be- 
sucht. Jedes  Mitglied  mußte  abwechselnd  einen  Vortrag  halten,  und 
mein  Freund  Kärker  wählte  dazu  zwei  Jahre  hindurch  (1869 — 1870) 
kapitelweise  das  Buch  von  Darwin. 

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182 


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Durch  diesen  Umstand  ist  wohl  zuerst  in  Deutschland  in  der  Ham- 
burger Gelehrtenschule  Darwins  Lehre  vor  angehenden  Studenten  mit 
allen  Details  vorgetragen  worden.  Diese  Vorträge  blieben  nicht  ohne 
nachhaltige  Wirkung  auf  viele  von  uns.  Wenn  schon  vorher  die  Art 
der  philologischen  Bildung  in  der  Gelehrtenschule  manchem  von  uns 
unzureichend  vorkam,  fing  es  nun  an  zu  gären.  Als  wir  unter  dem 
Direktorat  des  von  uns  verehrten  Johannes  Classen  in  feierlichem 
Akt  Ostern  1870  entlassen  wurden,  hielt,  wie  immer,  der  Primus 
Primae  die  Abgangsrede.  Dieses  war  wiederum  mein  Freund  Kärker. 
Er  hatte  sich  zum  Erstaunen  der  Lehrer  das  Thema  gewählt:  Das 
Verhältnis  der  Geisteswissenschaften  zur  Naturwissenschaft.  Auf  seine 
Rede,  welche  in  dem  Satze  gipfelte:  „Nur  durch  eine  weitgehende 
Berücksichtigung  naturwissenschaftlicher  Fächer  könne  die  Gelehrten- 
schule mit  der  Neuzeit  fortschreiten"  —  folgte  erst  eine  peinliche  Stille, 
bis  der  vor  kurzem  nach  Hamburg  berufene,  noch  jugendliche  Profes- 
sor Kießling,  der  hauptsächlich  die  griechischen  Tragiker  dozierte, 
das  Wort  ergriff,  um  diesen  unerhörten  Angriff  des  Schülers  auf  den 
altgeheiligten  Bau  der  Gelehrtenschule  zu  parieren.  Seine  improvi- 
sierte Rede  gipfelte  in  dem  kühnen  Satze :  „Wir  müssen  die  alten  Grie- 
chen und  Römer  deshalb  studieren,  weil  sie  uns  für  unseren  späteren 
Beruf  nichts  nützen." 

Noch  niemals  war  in  Hamburg  der  feierliche  Aktus  derartig  unter- 
brochen und  stürmisch  verlaufen.  Viele  von  uns  Primanern  nahmen 
aber  auf  die  Universität  ein  Samenkorn  der  Aufklärung  mit,  welches 
erst  in  späteren  Jahren  zur  Reife  kommen  sollte. 

Kaum  waren  Freund  Kärker  und  ich  Ostern  in  Heidelberg  imma- 
trikuliert und  eingearbeitet,  da  brach  der  Krieg  mit  Frankreich  aus, 
und  ich  trat  als  Freiwilliger  unter  die  Fahnen.  In  diesem  Herbst 
schenkte  mir  Kärker,  was  mir  immer  unvergeßlich  bleiben  wird,  das 
Buch  von  Haeckel:  die  „Generelle  Morphologie",  welches  mit  seiner 
grandiosen  Perspektive  uns  vollkommen  gefangen  nahm  und  uns  ge- 
danklich intensiv  beschäftigte,  bis  der  Dezember  1870  mich  auf  den 
Kriegsschauplatz  rief.  Das  Haeckelsche  Werk  fiel  bei  uns  auf  einen 
besonders  gut  vorbereiteten  Boden,  und  ich  vermute,  daß  wir  wohl 
in  jener  Zeit  die  jüngsten  begeisterten  Leser  dieses  epochemachenden 
Werkes  waren.  Als  ich  später  in  Heidelberg  das  Physikum  absolvierte, 

meinte  allerdings  der  examinierende  Zoologe,  es  wäre  besser,  wir  jun- 

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183 


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gen  Studenten  lernten  erst  einmal  die  hergebrachte  Zoologie  gründ- 
lich, ehe  wir  uns  an  Werke  von  so  zweifelhaftem  Charakter  wie  die 
, »Entstehung  der  Arten"  und  die  „Generelle  Morphologie"  machten. 

Für  uns  war  dies  Werk  von  Haeckel  mehr,  es  bedeutete  den  festen 
Abschluß  einer  früh  gewonnenen  Weltanschauung.  Hatte  uns  die  Lektüre 
des  Darwinschen  Werkes  die  lebendige  Natur  erst  interessant  gemacht 
und  in  dem  Entwicklungsgedanken  den  Zauberstab  geschenkt,  der  in  das 
Chaos  der  Formen  überall  Ordnung  und  Leben  brachte,  so  gewannen  wir 
durch  die  ,, Generelle  Morphologie"  von  Haeckel  die  Überzeugung,  daß 
das  Fundament  des  bisherigen  Wissens  durch  diese  neuen  Gedanken 
nicht  erschüttert,  sondern  gereinigt,  nicht  vernichtet,  sondern  gekrönt 
werde,  und  daß  der  Fortschritt  der  Wissenschaft  in  der  Richtung  liege, 
welche  dieses  Werk  in  so  magistraler  Weise  eingeschlagen  hatte. 

Sicherlich  trug  der  frühe  Kampf  gegen  die  rein  philologische  Gym- 
nasialbildung, den  wir  im  wissenschaftlichen  Verein  von  1817,  durch 
Darwins  Ideen  geleitet,  selbständig  gegen  unsere  Lehrer  zu  führen 
gewagt  hatten,  zu  unserer  Haeckelverehrung  bei.  Sagte  uns  doch 
dieser  bedeutende  Naturforscher  gleichsam:  ,, Kinder,  ihr  habt  recht 
gehabt;  eure  Ahnung  hat  euch  nicht  betrogen." 

Über  dreißig  Jahre  waren  vergangen.  Mein  lieber  Freund  Kärker, 
dem  ich  in  Weltanschauungsfragen  so  viel  verdankte,  war  zu  meinem 
großen  Schmerze  bereits  1876  als  einjähriger  Arzt  am  Typhus  gestor- 
ben. Die  ärztliche,  bald  auch  die  spezialistische  Praxis  hatte  mich 
gefangen  genommen.  Nur  von  ferne  drangen  Laute  in  meine  Stille 
von  dem  unablässigen  Kampfe,  welchen  die  modernen  Dunkelmänner 
um  Thron  und  Altar  gegen  die  Männer  der  Volksaufklärung  führten. 
Nichts  von  den  Hoffnungen  auf  geistige  Befreiung,  die  wir  Achtzehn- 
hundertsiebziger für  unser  Vaterland  gehegt,  ging  in  Erfüllung;  es 
wurde  schwärzer  und  immer  schwärzer  in  Deutschland.  Auch  die 
geistige  Macht,  auf  die  wir  als  letztes  Bollwerk  gegen  die  hereinbre- 
chende Reaktion  vertraut,  die  Professorenschaft  der  deutschen  Hoch- 
schulen, die  vor  100  Jahren  der  Jugend  voranging,  versagte.  Und 
wiederum  stand  ein  Mann,  ein  Professor  allerdings,  aber  trotzdem 
ein  furchtloser  Recke  strahlend  in  der  allgemeinen  Dämmerung  und 
Finsternis  und  beugte  seinen  Rücken  nicht  den  Mächten,  welche  die 
Verdummung  des  deutschen  Volkes  wünschen,  um  es  leichter  knech- 
ten zu  können  —  das  war  Haeckel. 

184 


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Wie  Bismarck  so  richtig  sagte,  fehlt  dem  Deutschen  zumeist  die 
„Zivilcourage".  Vor  den  Feind  geführt,  schlägt  er  sich  tapfer.  Im 
Zivilleben  jedoch  bückt  er  sich  vor  jedem  Vorgesetzten  und  will  am 
liebsten  den  „Frieden  um  jeden  Preis".  Aber  im  Innersten  seines 
Herzens  hegt  er  trotzdem  eine  gewaltige  Achtung  vor  den  wenigen 
Mutigen,  welche  das  nicht  tun  und  die  er  deshalb  beneidet.  Daher 
die  Begeisterung  für  Bismarck  auch  derer,  die  er  selbst  bekämpft 
und  geschlagen.  Daher  die  Verehrung  für  Haeckel,  auch  seitens  vieler, 
die  Grund  und  Tragweite  seiner  biologischen  Ideen  nicht  voll  ermessen 
können.  Er  ist  der  mutige  Held,  der  selbstvergessene  Befreier  aus 
intellektueller  Knechtschaft.  Er  ist  einer  der  wenigen  in  Deutschland, 
die  den  Mut  besitzen,  dem  Strom  der  durch  reaktionäre  Politik  ver- 
fälschten Kultur  entgegenzuschwimmen. 

Es  war  beginnender  Herbst  des  Jahres  1910.  Noch  immer  kannte 
ich  Haeckel  nicht  persönlich.  Die  Sonne  sank  bereits  im  Westen,  als 
ich  in  Begleitung  meiner  Schwester  von  den  Anhöhen  um  Wildungen 
ins  Tal  hinabstieg.  Sie  beschien  Alt- Wildungen  und  das  Schloß,  um- 
rahmt von  vielfarbigen,  waldigen  Höhen  —  ein  wunderschönes  Bild! 
Am  Waldhaus,  dort  wo  eine  Terrasse  mit  weiter  Aussicht  vorspringt, 
hielten  wir  an,  es  zu  betrachten.  Auf  der  Bank  vor  uns  saß  ein  hoch- 
gewachsener Mann  allein,  den  Kopf  zurückgelehnt,  den  großen  Filz- 
hut nachlässig  auf  die  Bank  geworfen,  ganz  im  Anschauen  der  Gegend 
versunken.  Sein  mächtiges  Haupt  war  umrahmt  von  weißem  Silber- 
haar, in  dem  das  Licht  der  untergehenden  Sonne  goldig  funkelte. 
Abendsonne,  Landschaft  und  strahlendes  Menschenbild  verschmolz  zu 
einem  einzigen  herrlichen  Anblick,  welcher  den  Schritt  hemmte  und 
das  Herz  einen  Augenblick  stillstehen  machte.  Wie  ein  elektrischer 
Schlag  durchzuckte  es  mich,  und  ich  flüsterte  meiner  Schwester  zu: 
„Das  muß  Haeckel  sein."  Wir  näherten  uns  leise,  der  stattliche 
Greis  entfernte  sich  und  eilte  mit  jugendlicher  Schnelle  ins  Tal  hinab. 

Zu  Hause  angelangt,  war  unsere  erste  Frage :  „Ist  Professor  Haeckel 
hier  in  Wildungen  ? ' '  Die  Antwort  lautete : , ,  J  a,  die  Exzellenz  ist  heute  an- 
gekommen und  wohnt  neben  uns  in  der  Nachbarvüla."  Die  nächsten  Tage 
mit  ihren  Brunnenpromenaden  und  Spaziergängen  gaben  reichlich  Gele- 
genheit zur  Erfüllung  meines  alten  Wunsches,  den  Heros  meiner  Jugend, 
den  Mann  des  immer  seltener  werdenden  Mutes  noch  einmal  kennen 
zu  lernen  und  ihm  persönlich  für  meine  geistige  Befreiung  zu  danken. 

185 


JOSEF  KOCKS,  BONN:  ERNST  HAECKELS  BEDEU- 
TUNG FÜR  DIE  BEFREIUNG  DES  MENSCHLICHEN 
GEISTES  VON  DEN  FESSELN  DES  ABERGLAUBENS 

o  o  o 

Der  Lüge  kecke  Zuversicht  reißt  hin. 
Das  Wunderbare  findet  Gunst  und  Glaube. 
Schiller,  Demetrius. 

Es  scheint,  daß  auch  bei  den  meisten  Gebildeten  der  Gegenwart 
die  erbliche  Anlage  zum  Mystizismus  und  Aberglauben  nicht  aus- 
zurotten ist;  sie  erklärt  sich  phylogenetisch  durch  unsere  Abstam- 
mung von  prähistorischen  Barbaren  und  Naturmenschen,  bei  denen 
die  Anfänge  religiöser  Vorstellungen  noch  ganz  von  Animismus  und 
Fetischismus  beherrscht  waren." 

Mit  diesen  sehr  wenig  trostreichen  Worten  schließt  Ernst  Haeckel 
das  dritte  Kapitel  seiner  „Lebenswunder". 

Wir  müssen  aber  annehmen,  daß  unser  hochverehrter  Herr  Jubilar 
trotz  dieser  Erkenntnis  und  seiner  80  Jahre  immer  noch  nicht  zu  den 
Pessimisten  gehört  und  nicht  nur  an  eine  Weiterentwicklungsfähig- 
keit der  Tierwelt,  sondern  sogar  an  eine  wirkliche  Weiterentwicklung 
des  menschlichen  Geistes  glaubt  und  an  den  Sieg  der  Wahrheit  durch 
dieses  höhere  Menschentum  zu  glauben  nicht  aufgehört  hat !  —  Ernst 
Haeckel  blieb  in  der  Tat  ein  unverwüstlicher,  jugendfrischer  Optimist ! 

Schreiber  dieser  Zeilen  ist  auf  Grund  seiner  psychologischen  Ana- 
lysen der  Mitwelt  zu  einem  weniger  guten  Resultat  gelangt,  wenig- 
stens was  den  Sieg  der  Wahrheit  durch  die  höhere  Erkenntnis  der 
Menschheit  betrifft. 

Er  vertritt  die  Ansicht,  daß  die  Mitwelt  zwar  durchschnittlich  viel 
höher  steht,  was  ihre  Erkenntnis  des  theologischen  oder  des  philo- 
sophischen Gottbegriffes  betrifft,  als  es  den  Anschein  hat,  daß  aber 
rein  opportunistische,  aber  unüberwindliche  soziale  Hindernisse  in 
der  ganzen  Welt  diese  Erkenntnis  der  „reinen  Vernunft"  durch  die 
Resultate  der  paktierenden  „praktischen  Vernunft"  totschlagen,  tot- 
schlagen werden,  ja  totschlagen  müssen!  Und  zwar  nach  dem  all- 
gemein gültigen  Gesetze  für  den  Selbsterhaltungstrieb  im  Kampfe 
ums  Dasein,  das  Ernst  Haeckel  selbst  im  Anschluß  an  Darwin  gelten 
läßt  —  also  nach  dem  Gesetze  für  the  struggle  for  life!  Somit  muß 
der  Schreiber  dieser  Zeilen,  leider,  Pessimist  sein. 

186 


In  einer  kleinen  Broschüre  über  Harnack  und  Kahl  und  in  seinen 
Hafisliedern  (Deckname  Walter  Werner)  hat  er  seinen  Pessimismus 
wiederholt  ausgesprochen  und  darin  Kant  als  ein  leuchtendes  Exem- 
plar dieser  Art  des  durchaus  praktischen  paktierenden  Homo  sapiens 
gekennzeichnet.  —  Kant  hatte,  wie  noch  heute  die  ganze  Mensch- 
heit, erkannt,  daß  die  ,, reine  Vernunft"  in  der  Praxis  des  Lebens  zu 
schweigen  und  dem  Brotgesetz,  welches  die  ,, praktische  Vernunft" 
diktiert,  zu  gehorchen  hat!  Diese  Zwitterlogik,  welche  auch  aus  der 
Totalität  der  Menschen  heraus  spricht,  ist  es  gewesen,  welche  Imma- 
nuel Kant  veranlaßte,  neben  einer  „reinen"  noch  eine  „praktische" 
Vernunft  gelten  zu  lassen,  genau  wie  jener  Eierhändler,  der  mir  ge- 
stand: „Ich  bleibe,  um  meine  Kundschaft  nicht  zu  verlieren,  äußer- 
lich Christ,  obgleich  ich  innerlich  längst  durch  die  Schriften  Haeckels, 
Büchners  u.  a.  Monist  und  Atheist  geworden  bin."  —  The  struggle 
for  life  hier  und  dort!  —  Kant  und  Eierhändler! 

Kants  Zwitterlogik  spricht  sich  in  allen  Teilen  der  bewohnten 
Erde  und  bei  allen  ihren  Rassen  aus,  und  ich  unterscheide  drei  Arten 
von  Weltbürgern:  i.  Die  ganz  kleine  Gruppe  von  durchaus  unab- 
hängigen und  dazu  aufgeklärten  Atheisten,  die  Gruppe  des  Homo 
irreligiosus  verax,  und  2.  die  unendlich  große  Menge  der  Menschen, 
die  Gruppe  des  Homo  pseudo-religiosus  mendax,  die  zwar  auch  nichts 
glaubt,  aber  aus  Opportunitätsgründen  den  staatlich  geschützten 
Kirchen  angehört.  Eine  kleinere  dritte  Gruppe  ist  die  der  wirklich 
Armen  im  Geiste  nach  der  Bergpredigt,  die  Gruppe  des  Homo  imbe- 
cillus  oder  imbecillis,  eine  Gruppe,  die  wirklich  glaubt,  sei  es  aus  Furcht 
vor  Höllenqualen  oder  einer  rettungslos  idioten  Beschaffenheit  ihres 
Zerebrums.    Das  ist  das  Fazit  meiner  Lebenserfahrung. 

Auf  Kant  angepaßt,  heißt  es  in  den  Walter  Wernerschen  Hafis- 
liedern Band  I,  S.  300: 

Der  Zaubrer  Kaut  zeigt  eins  und  drei, 

Was  praktisch  ist,  vernünftig  sei! 

Draus  folgert  er:  bleib  schlau  ein  Christ, 

Ein  Jude,  Moslim,  ein  Buddhist!  — 

Wozu  des  reinsten  Geistes  Denken? 

Wir  sind  gezwungen  einzulenken! 

Die  „reine"  Vernunft,  was  nutzt  sie,  Freund? 

Die  „praktische"  lehr'  deine  Mündel, 

Sonst  sind  sie  im  Leben  Ecclesias  Feind 

Und  schnüren  als  Ketzer  ihr  Bündel! 

I87 


So  wirft  also  der  Theologe  Kant  den  Philosophen  Kant  einfach 
vor  die  Haustüre !  —  Die  praktische  Vernunft  schlägt  eben  die  reine 
tot!  — 

Unser  Jubilar  Ernst  Haeckel  charakterisiert  diesen  Hermaphro- 
ditismus des  Kantischen  Geistes  ebenfalls.  Seine  Unterscheidung 
zwischen  einem  Kant  I  und  Kant  II  läuft  auf  dasselbe  hinaus. 

Es  ließe  sich  ein  prächtiger  neunter  Makarismus  darauf  auf- 
bauen: „Selig  sind  die  Zweifältigen,  die  eine  Kantische  doppelte 
Vernunft  haben,  denn  ihnen  ist  sowohl  das  Erd-  wie  das  Himmel- 
reich!" 

Seit  Paul  von  Holbach  in  seinem  „Systeme  de  la  nature  ou  des 
lois  du  monde  physique  et^du  monde  moral"  den  Gottesbegriff  zuerst 
frei  und  frank  bekämpft  hat,  ist  es  unser  Jubilar  Ernst  Haeckel  ge- 
wesen, der  mehr  als  alle  anderen  dazu  beigetragen  hat,  den  mensch- 
lichen Geist  von  den  Fesseln  des  Aberglaubens  zu  befreien. 

Voltaires  Aufruf,  den  Aberglauben  zu  bekämpfen,  sein  „Ecrasez 
l'infame  superstition",  hat  keiner  so  ernst  genommen  —  als  Ernst 
Haeckel,  der  Vater  unseres  modernen  Monismus! 

Wenn  der  Monismus  auch  bereits  im  griechischen  Hylozoismus 
seinen  ebenbürtigen  Vorläufer  hatte,  so  ist  doch  der  Monismus 
Haeckels  unter  Wilhelm  Ostwalds  Führung  heute  erst  zu  der  mate- 
rialistischen Macht  geworden,  die  sich  im  Reiche  der  naturphilosophi- 
schen Systeme  ihr  Recht  an  der  Sonne  zu  erobern  anschickt. 

Den  Katechismus  dazu  hat  nach  Ludwig  Büchner  und  Carl  Vogt 
der  Menge  erst  unser  Jubilar  geschrieben.  Die  Riesenauflagen  seiner 
Volkslehrbücher  haben  in  allen  Sprachen  der  Menschheit  die  starren 
jüdisch -christlichen,  jüdisch  -mohamedanischen  und  buddhistisch- 
brahmanischen  Gläubigen  im  20.  Jahrhundert  aufgerüttelt.  —  Die 
neue  Minerva  des  wissenschaftlichen  Monismus,  wenn  auch  manchmal 
aus  taktischen  Gründen  etwas  mystisch-romantisch  kostümiert,  im- 
poniert als  eine  aus  dem  Zeuskopf  entsprungene  stolze  Göttin! 

Haeckels  Bedeutung  im  Kampf  gegen  den  Aberglauben  liegt  meines 
Erachtens  wesentlich  in  seiner  unbestechlichen  Unerschrockenheit, 
seinem  begeisternden  Opfermut,  seiner  eisernen  Wahrheitsliebe  and 
last  not  least  in  seinem  Märtyrertum. 

Der  apostolische  Mut  Ernst  Haeckels  hat  Proselyten  in  der  ge- 
bildeten Lesewelt  gemacht.  Wir  wissen  es  aus  seinem  Munde,  wie  selbst 

188 


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seine  intimeren  Freunde  auf  die  staatliche  Schergengewalt  warnend 
hinwiesen,  als  Haeckel  der  Kirche  den  Rücken  zuwandte! 

Aber  in  der  gebildeten  Bürgerschaft  hat  Haeckel  festen  Fuß  ge- 
faßt, und  die  Pforten  aller  Bonzenhimmel  werden  ihn  nicht  mehr 
überwältigen ! 

Wie  sehr  Haeckels  materialistischer  Monismus  heute  Gemeingut 
der  Menschen,  die  lesen,  geworden  ist,  konnte  ich  dieser  Tage  aus  dem 
Brief  einer  sehr  katholischen  Dame  entnehmen,  die  mich  von  der 
Unhaltbarkeit  des  modernen  Monismus,  als  deren  Anhänger  sie  mich 
kannte,  zu  überzeugen  suchte.  —  Die  Dame,  mit  welcher  ich  seit 
vielen  Jahren  befreundet  bin,  schreibt  mir: 

,,Ma  pauvre  petite  intelligence  ne  peut  pas  se  mesurer  avec  la 
vötre  de  savant.  Mais  je  me  demande  comment  il  se  fait  qu'un  prin- 
cipe d'affection  subsiste  si  puissant  en  nous,  alors  que  la  cause  qui 
l'a  produit  a  cesse  d'exister?  Et  tous  ces  milliers  et  millions  de  Sou- 
venirs de  notre  vie  qui  restent  si  nets  et  si  vivants  dans  notre  cer- 
veau  dont  les  molecules  changent  cependant  et  se  transforment 
pendant  la  duree  de  la  vie.  —  Je  ne  puis  croire  que  tout  en  nous 
soit  mauere  et  mort." 

Die  Dame  verdankt  ihre  Kenntnis  von  Gehirn  und  Naturwissen- 
schaft Ernst  Haeckel  und  seinem  Monismus,  von  dem  ich  ihr  so  oft 
und  so  warm  sprach.  —  Und  wenn  die  Dame  sich  auch  nicht  von  dem 
Gedanken  trennen  konnte,  daß  neben  der  Materie  im  Gehirn  etwas 
Unauswechselbares  mit  dem  Gedächtnis  betraut  sein  müsse,  da  doch 
die  Atome  und  Moleküle  im  Gehirn  wechseln,  vergehen  und  durch 
neue  ersetzt  würden,  so  verdankt  sie  doch  Ernst  Haeckels  Schriften 
ihre  Kenntnisse  und  die  Möglichkeit,  über  solche  Fragen  überhaupt 
einen,  wenn  auch  irrigen  Gedanken  zu  haben.  —  Wenn  die  Dame 
nicht  so  weit  vorgedrungen  ist,  die  Mneme  als  einen  krassen  Mecha- 
nismus, der  vom  Stoffersatze  bestehen  bleibt,  aufzufassen,  was  ja 
sogar  vielen  sehr  psychologischen  Philosophen  und  Theologen  nicht 
gelingt,  so  ist  doch  auch  diese  irrige  Ansicht  eine  Lesefrucht  und  ein 
Denkprodukt,  das  Ernst  Haeckel  provozierte. 

Ernst  Haeckel  ist's,  der  diese  Art  Wissen  ins  breite  Volk  trug, 
ihm  verdankt  es  in  philosophischer  Hinsicht  wenigstens  seine  wissen- 
schaftlichen Zweifel!  Gewiß,  es  ist  selbst  für  eine  gebildete  Frau  und 
auch  für  einen  gebildeten  Mann  ein  schwerwiegender  Einwand  gegen 

189 


den  Monismus,  wenn  jemand  ihnen  sagt:  Wie  können  unsere  Hirn- 
atome oder  unsere  Hirnmoleküle  Eindrücke  der  frühesten  Kindheit 
über  60,  70,  80  Jahre  festhalten,  während  doch  nach  so  vielen 
Jahren  gewiß  kein  einziges  Atom  unseres  Gehirns  mehr  darin  ist, 
was  den  Eindruck  empfing?  —  Schwer  wird  es  halten,  bei  Laien 
hier  aufklärend  zu  wirken,  selbst  wenn  wir  sie  auf  die  Worte  des 
Meisters  verweisen,  welche  lehren: 

„Die  fortgeschrittene  vergleichende  und  genetische  Psychologie  der 
Neuzeit  hat  uns  zu  der  Überzeugung  geführt,  daß  auch  das  höchst  ent- 
wickelte menschliche  Bewußtsein  keinem  übernatürlichen  „Geist" 
seinen  Ursprung  verdankt,  sondern,  gleich  allen  Seelentätigkeiten, 
eine  Arbeitsleistung  der  Neuronen  der  Ganglienzellen  in  un- 
serer Großhirnrinde  darstellt." 

Bei  naturwissenschaftlich  Gebildeten,  die  diesen  Ausführungen 
folgen  können,  ist  damit  der  Dualismus,  der  Aberglaube  aller  Kirchen, 
besiegt,  selbst  der  des  aufgeklärten  Buddhismus  und  Konfutianis- 
mus  und  Schintoismus,  die  unter  den  bestehenden  religiösen  Staats- 
aberglauben naturphilosophisch  am  höchsten  stehen. 

Alle  Religionen  der  Welt  arbeiten  mit  der  Idee  der  Unsterblich- 
keit, die  bekanntlich  nach  Kant  „ein  Postulat  der  praktischen  Ver- 
nunft" sein  soll.  Das  Postulat  der  Unsterblichkeit  autem  genuit 
die  Religionen  aller  Völker.  Mir  ist  die  Religion  kein  Postulat  der 
praktischen  Vernunft,  sondern  des  praktischen  naturmäßigen  Dar- 
winschen Kampfes  ums  Dasein  in  der  sozialen  Masse  der  Menschheit, 
also  ein  Postulat  des  struggle  for  life,  wie  jede  andere  Art  Betrug  und 
List. 

Haeckel,  der  frisch,  frei,  fröhliche  Stürmer  und  unbestechliche 
Wahrheitsfreund,  der  Apostel  der  reinen,  ungefälschten  Humanität, 
hat  auch  die  Nächstenliebe,  den  Grundstock  aller  Ethik,  das  lautere 
Gold  der  mitleidigen  rein  tierischen  Menschlichkeit,  die  Formel  der 
allgemein  geltenden  universellen  biologischen  Moral  als  das  Höchste 
gepriesen,  was  das  Menschentum  Heiliges  hat! 

Die  Nächstenliebe  als  reine  Tugend,  nicht  als  irdische  Wurst  zum 
Wurfe  nach  der  himmlischen  Speckseite,  den  Freuden  im  Jenseits, 
die  Nächstenliebe  also  ohne  Aussicht  auf  Himmelslohn  oder  Höllen- 
strafe —  ist  eine  rein  tierische  Eigenschaft  bei  allen  sozial  lebenden 
Tieren.  — 

I9O 


Darin  ist  der  Monismus  Haeckels  den  Lehren  aller  Religionen 
voran,  die  den  Egoismus  zu  dieser  Pseudoliebe  erziehen,  ihn  in  Altruis- 
mus durch  Versprechungen  für  das  Jenseits,  durch  Wechsel  auf  himm- 
lische Bankhalter  zu  züchten  suchen! 

Die  Nächstenliebe  schlechthin  als  eine  rein  tierische  Tugend  der 
sozial  lebenden  Wesen  und  der  domestizierten  Haustiere,  wie  wir  sie 
aus  dem  Reiche  unserer  Tierahnen  kennen,  nach  dem  Muster  jenes 
barmherzigen  Hundes,  der  täglich  einem  Hundebruder  ein  Brötchen 
in  den  Kanalschacht  wirft,  in  den  dieser  gefallen  ist,  und  wie  der 
Beispiele  aus  dem  Tierreiche  so  viele  bekannt  sind. 

Ich  selbst  besitze  ein  Schwanenpaar,  das  einer  armen  vereinsamten 
Ente,  die  mit  ihm  auf  dem  Teiche  lebte,  aus  seinem  Futtertrog  jedes- 
mal Nahrung  zuwarf,  und  zwar,  ehe  es  selbst  zu  fressen  begann !  — 
Mensch,  wie  steht  deine  Größe  an  Menschenliebe  neben  diesem  Tier- 
paare? Oder  hat  etwa  auch  ein  Schwanenchristus  es  gelehrt:  Liebe 
deinen  Nächsten  wie  dich  selbst?  — 

Was  hat  nun  Ernst  Haeckel  an  Aberglauben,  besonders  an  kirch- 
lichen Dogmen  bekämpft  und  wenigstens  bei  den  aufgeklärten  Men- 
schen moderner  Richtung  zerstört,  zerstört  bei  den  erklärten  und 
nicht  erklärten  Monisten  und  Modernisten?  —  Er  hat  es  deutlich  in 
den  „Lebenswundern"  bei  der  Besprechung  der  drei  Artikel  des 
christlichen  Symbolum  apostolicum  gesagt,  besonders  bei  dem  Er- 
lösungsartikel, wo  es  heißt: 

„Merkwürdigerweise  sagt  dieser  zweite  Artikel  nichts  von  der 
.Erlösung',  die  seine  Überschrift  bildet;  diese  wird  nur  von  Luther 
in  seiner  Erklärung:  ,Was  ist  das?'  behandelt.  —  Hier  erfahre  ich, 
daß  Christus  mich  verlorenen  und  verdammten  Menschen  erlöst  hat, 
erworben,  gewonnen  von  allen  Sünden,  vom  Tode  und  der  Gewalt 
des  Teufels,  nicht  mit  Gold  oder  Silber,  sondern  mit  seinem  heiligen, 
teuren  Blute  und  mit  seinem  unschuldigen  Leiden  und  Sterben.  — 
Diesen  schmerzvollen  Tod  hat  Christus  gleich  vielen  tausend  anderen 
Märtyrern  für  seine  Überzeugung  von  der  Wahrheit  seines  Glaubens 
und  seiner  Lehre  erlitten  —  wir  erinnern  nur  an  die  mehr  als  hundert- 
tausend Menschen,  die  durch  die  Inquisition  und  die  Glaubenskriege 
des  Mittelalters  getötet  wurden!  —  Einen  vernünftigen  Kausal- 
zusammenhang desselben  mit  der  angeblichen  Erlösung  von  allen 
Sünden,  vom  Tode  und  von  der  , Gewalt  des  Teufels'  hat  noch  keiner 

I9I 


der  Millionen  Theologen  nachzuweisen  vermocht,  die  sonntäglich 
darüber  predigen  und  gepredigt  haben.  —  Dieses  ganze  .Erlösungs'- 
Gebilde  des  christlichen  Glaubens  ist  uralten,  völlig  unklaren,  ethi- 
schen Vorstellungen  der  Barbarvölker,  insbesondere  dem  rohen  Glau- 
ben an  die  Sühnemacht  der  Menschenopfer,  entsprungen. 

Praktischen  Wert  für  unser  sittliches  Leben  besitzt  dasselbe  nur 
für  denjenigen,  der  an  die  Unsterblichkeit  seiner  persönlichen  Seele 
glaubt,  an  ein  wissenschaftlich  unhaltbares  Dogma. 

Wer  auf  dieses  leere  Versprechen  eines  besseren  und  vollkommenen 
Lebens  ein  Jenseits'  baut,  der  kann  durch  diese  Hoffnung  sich  trö- 
sten und  sich  über  tausend  Mängel  und  Leiden  unseres  irdischen 
Lebens  im  .Diesseits'  hinwegsetzen. 

Wer  aber  das  letztere  vernunftsgemäß  in  seiner  Wirklichkeit  be- 
trachtet und  durchlebt,  wird  nicht  finden,  daß  die  angebliche  .Er- 
lösung' irgend  etwas  zum  Besseren  geändert  hat;  Not  und  Elend, 
Leid  und  Sünde,  bestehen  nach  wie  vor;  ja  in  vieler  Beziehung  hat 
das  moderne  Kulturleben  sie  gesteigert!" 

Maupertuis'  Atomseele,  seinen  empfindenden  Atomen,  Leibnizens 
seelenvollen  Monaden  und  Ernst  Haeckels  Zellseelen  huldigen  heute 
viele  Monisten  als  moderne  Hylozoisten  des  20.  Jahrhunderts  —  ohne 
ihnen  aber  einen  freien  Willen  zu  vindizieren. 

Teleologie  und  freien  Willen  hat  Ernst  Haeckel  (,, Lebens- 
wunder" S.  306)  treffend  charakterisiert:  ,,Alle  metaphysischen, 
supranaturalistischen  und  alle  teleologischen  Vorstellungen,  ebenso 
die  älteren  mystischen  Ideen  von  der  besondern  , Lebenskraft'  be- 
ruhen darauf,  daß  die  urteilende  Vernunft  durch  die  scheinbare 
Willensfreiheit  und  die  zweckmäßige  Organisation  der  höheren  Orga- 
nismen geblendet  ist.  Dabei  wird  die  Tatsache  übersehen,  daß  jene 
Zielstrebigkeit  aus  den  einfachen  physikalischen  Bewegungen  nie- 
derer Organismen  phylogenetisch  entstanden  ist!  —  Anderseits  wird 
die  bestimmte  Richtung  der  organischen  Energieformen  übersehen 
oder  geleugnet,  und  doch  ist  diese  ebenso  offenbar  in  der  Entstehung 
jedes  Kristalls  wie  in  der  Komposition  des  ganzen  Weltgebäudes, 
in  der  Windrichtung  wie  in  dem  Planetenkreislauf.  Es  ist  daher  wich- 
tig, diese  beiden  Formen  der  mechanischen  Energie  stets  im  Auge  zu 
behalten  und  ihre  Wesenseinheit  mit  der  vitalen  Bewegungsrichtung 

zu  betonen." 

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13    Haeckel-Festschrift.  Bd.  II 


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Es  läßt  sich  nun  nicht  bestreiten,  daß  es  ein  für  die  Menschheit 
humanes  Werk  wäre,  wenn  man  es  erreichen  könnte,  durch  falsche 
Vorspiegelungen,  durch  „Einbilden  anderer",  wie  Harnack  es  nennt, 
sie  davon  zu  überzeugen,  es  gebe  einen  Gott,  einen  Himmel,  eine 
Unsterblichkeit!  Wäre  es  möglich,  die  Menge  wirklich  hiervon  zu 
überzeugen,  so  wäre  durch  Hoffen  auf  Erlösung  oder  auf  Himmels- 
seligkeit die  Menschheit  auf  Erden  getröstet!  —  Das  ist  der  Grund- 
gedanke, der  nicht  nur  rein  egoistische  Pfarrpfründner,  die  selbst 
nicht  glauben,  veranlassen  könnte,  bei  ihrem  Metier  zu  bleiben!  — 
Einem  wahrhaft  ungläubigen  Pfarrer  wird  es  aber  denn  doch  sehr 
schwer,  Erwachsenen  altersschwache  Ammenmärchen  zu  erzählen, 
und  feierlich  zu  bekennen,  was  er  doch  nicht  glaubt !  —  Aber  prüfen 
wir  den  wirklichen  Glauben  der  Gläubigen,  so  stellt  sich  heraus,  daß 
er  meist  durchaus  nicht  ausreicht  zu  einem  zuversichtlichen  Hoffen 
auf  eine  Auferstehung  oder  auch  nur  zum  Glauben  an  die  einstige 
Seligkeit  einer  unsterblichen  Psyche.  —  Der  ernst  denkende  Arbeiter 
mit  natürüchem  Verstände  glaubt  heute  nicht  mehr  solcherlei  Kin- 
derstubenmärchen, und  er  wendet  sich  dann  ab  von  der  Kirche,  und 
der  moralische  Halt  geht  ihm  alsdann  leider  nur  zu  oft  verloren,  da 
er  keinen  weltlichen  Moralunterricht  genossen.  —  Daraus  aber  folgt: 
Weg  mit  der  Fabel,  das  Kind  muß  auf  die  Wirklichkeit  hin  erzogen 
werden!  —  Das  Glück  im  Diesseits  ist  Hauptsache;  die  beste  Basis 
der  Ethik  ist  die  religionsfreie  Morallehre.  —  Der  beste  Katechismus 
ist  der  Laienkatechismus,  wie  er  in  Frankreich  bereits  in  die  Volks- 
schule eingeführt  ist. 

Und  nun!  —  Wird  es  wohl  jemals  gelingen,  den  Monismus  gegen 
die  Kirchen  unter  staatlicher  Protektion  zu  einer  Volksphilosophie 
zu  machen  ?  Das  ist  die  große  Frage,  die  sich  ein  ernst  und  historisch 
denkender  Mann  und  Freund  der  Wahrheit  vorzulegen  hat. 

Und  wie  lautet  hier  die  Antwort  ?  —  Leider  negativ!  —  Warum ? 
—  Weil  die  Geschichte  der  freiheitlichen  Ideen,  sogar  solcher,  die  im 
Schöße  der  Kirche  selbst  entstanden  sind,  leider  zu  deutlich  zeigt, 
daß  die  Gewalt  der  beiden  verbündeten  Wahrheitsfeinde 
Staat  und  Kirche  noch  immer  mit  dem  ihnen  unbequemen  Licht 
der  Wahrheit,  die  sie  Ketzereien  nennen,  fertig  geworden  ist! 

Da  lebte  z.  B.  im  3.  Jahrhundert  im  Orient  ein  frommer  Christ 
mit  Namen  Arius!  Er  war  sogar  Presbyter  und  stand  mit  dem  Volke 
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194 


auf  bestem  Fuße!  —  Der  vernünftige  Mann  konnte  nicht  an  die 
damals  frisch  gelehrte  Gottheit  Christi  glauben  und  gab,  um  nicht 
anzustoßen,  sogar  eine  Wesensähnlichkeit  des  Vaters  mit  dem  Sohne, 
die  sogenannte  Homöousie,  versöhnlicherweise  zu!  —  Der  Arianis- 
mus  gewann  auch  bei  den  wahrheitsliebenden  Germanen  sichtlich  an 
Terrain !  —  Goten  und  Longobarden  hielten  an  Arius  fest  bis  um  700 
nach  Christus!  —  Aber  zwei  Konzilien,  Nicaea  und  Konstantinopel, 
verdammten  Arius'  Lehre,  und  sie  verkümmerte,  weil  sie  verfolgt  wurde. 

Später  lebte  Arius'  Lehre  im  Socinianismus  nochmals  auf,  doch 
auch  der  Socinianismus  des  17.  Jahrhunderts  wurde  seit  1658  verfolgt 
und  ist  heute  tot! 

Leute  wie  Jatho  und  Traub,  die  es  wagen,  in  die  Fußstapfen  der 
alten  arianischen  Ketzer  zu  treten,  werden  durch  unsern  sich  auf 
den  Kaiser  stützenden  Oberkirchenrat,  nicht  katholischer,  sondern 
evangelischer  Provenienz,  verfolgt  und  durch  Hochhängen  des  Brot- 
korbes echt  preußisch  mürbe  gemacht!  Das  Kgl.  Berlinische  In- 
quisitionsgericht Professor  Kahlscher  Kreation  besorgt  die  Verbren- 
nung ohne  Scheiterhaufen! 

Das  ist  das  Bild  unseres  20.  Jahrhunderts  in  kirchlicher  Hinsicht! 
—  Tiefer  gesunken  als  das  Zeitalter  des  Arius  ist  das  heutige,  tiefer 
als  das  Zeitalter  der  Socinianer,  so  tief,  wie  es  noch  kein  Zeitalter  je 
gewesen,  ist  das  unserige  heutige  tief  gesunken  —  da  heute  alles 
kirchliche  Heuchelei  ist. 

Nun  wird  man  von  optimistischer  Seite  wohl  einwenden:  ,,Ja, 
wir  Monisten  haben  aber  keine  maßregelbaren  Lehrer  an  unserer 
Spitze.  Ein  Haeckel  und  ein  Ostwald  sind  keine  Brotpfaffen,  sie 
stehen  frei  und  unabhängig  da!" 

Ich  antworte:  Ganz  richtig,  aber  diejenigen  unter  den  Laien,  die 
sich  ihnen,  den  Lehrern,  anschließen,  sind  auch  nur  solche,  die  frei 
und  unabhängig  dastehen! 

Aber,  was  hat  die  Menge  damit  zu  tun?  Diese  steht  eben  unter 
der  Gewalt  des  Kadi  und  des  Mufti;  sie  fühlt  die  Zuchtrute  nieder- 
sausen, sowie  sie  muckst.  Und  sogar  unsere  wissenschaftlichen  so- 
genannten Republiken,  die  Universitäten,  haben  keine  Leute,  die 
den  Mut  hätten,  Haeckel  im  Monismus  offen  zu  folgen,  obschon  sie 
innerlich  alle  glauben,  was  er  glaubt,  und  Christus  ihnen  höchstens 
ein  Mensch,  Gott  ihnen  ein  Phantom  ist! 
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13*  195 


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Ernst  Haeckel  zählt  80  und  darf  noch  auf  manches  Jahr  hoffen; 
geistig  und  körperlich  ungebrochen  steht  er  vor  uns,  seinen  auf  ihn 
stolzen  Freunden!  Bei  den  unabhängigen  „Modernen"  hat  er  nur 
Freunde!  Aber  bei  den  Retrograden,  Reaktionären,  Pietisten  und 
oppositionsreinen  Kriechern  im  Staats-  und  Kirchendienst  nur  Feinde ! 
Die  Alma  mater  Berolinensis  hat  sogar  Kinder  geboren,  die  von  Ernst 
Haeckel  nichts  wissen  wollten,  als  ihre  Mutter  ihr  Jubiläum  feierte!  — 
Das  lehrt  die  Zeitgeschichte.  —  Anastasius  Grün  denkt  über  solche 
Feinde : 

Man  schreibt  auf  manchen  Stein: 

„Er  hatte  keinen  Feind!"  — 
Als  Lobspruch  ist's  gemeint, 
Doch  schließt's  gar  Schlimmes  ein!  — 
Es  klänge  grad  so  gut: 

Ihm  fehlte  Herz  und  Blut, 

Er  ließ  wie   Kies  sich  treten, 

Er  ließ  wie  Ton  sich  kneten, 

Sein  Aug'  war  blind  dem  Eichte, 

Sein  Mund  war  stumm  dem  Wichte!"  —  — 
O  raubt  mir  nicht  am  Grabe 
Noch  meine  beste  Habe, 
Die  Feinde,  deren  Zorn 
Mein  Schmuck,  mein  Stolz,  mein  Sporn! 

Von  jenen  Worten  rein 

Laßt  meinen  Stein!  —  —  — 

Auch  in  der  Tapferkeit  seines  Apostolates  ist  uns  allen  Ernst 
Haeckel  ein  leuchtendes  Vorbild,  und  wenn  er  nicht  wie  Giordano 
Bruno  endet,  so  ist  es  nicht  der  Fortschritt  des  heutigen  Pfaffentums 
und  seines  weltlichen  Armes,  sondern  die  Scham  vor  der  Minerva, 
der  großen  Griechengöttin,  die  aus  dem  Haupte  Jupiters  entsprang 
und  nichts  mit  dem  gemeinen  Zeugungsakte  zu  tun  hat,  der  Kriecher 
und  Zeloten  in  die  Welt  setzt! 

Möge  diese  Scham  auch  in  den  Kreisen  unserer  Regierenden  und 
ihrer  Helfer  und  Schranzen  endlich  stark  genug  werden,  daß  wir 
wieder  die  Zeit  des  großen  Friedrich  in  unserm  deutschen  Vater- 
lande erleben,  die  Zeit,  wo  ein  Voltaire  Fürstenfreund  sein  durfte 
—  statt  eines  Harnack,  statt  eines  Kahl!  — 

Den  Philosophen  der  Schule,  den  Philosophen,  die  ohne  genügende 
Naturkenntnisse  und  ohne  den  klaren  Verstand  eines  Arouet  uns  ihre 
Hirngespinste  als  Geistesfrüchte  servieren  wollen,  rufen  wir  Natur- 
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forscher  zu:  „Messieurs,  vos  idees  sont  trop  nebuleuses!"  und  gehen 
zur  vernünftigen  Tagesordnung  des  klaren  forschenden  Verstandes  über, 
der  seine  Schlüsse  ohne  alle  Sophismen  zieht,  Schlüsse,  die  jedermann, 
der  nur  voraussetzungslos  zu  denken  gewillt  ist,  verstehtund  sich  selber 
konstruiert,  ohne  Collegium  logicum,  das  schon  Goethe  verspottete! 

Dem  Haß  der  Schulphilosophen  gegen  Ernst  Haeckel  hat  bekannt- 
lich Paulsen  Worte  gegeben. 

Einen  besseren  Anwalt,  als  unser  Jubilar  gegen  das  Paulsensche 
Pamphlet  in  Albrecht  Rau  gefunden  hat,  kann  es  nicht  geben. 

Er  sagt  von  Haeckel  nach  der  Abfuhr,  die  er  Paulsen  beibrachte : 
„So  treffen  wir  Haeckel  überall  auf  richtigem  Wege  und  immer 
in  den  vordersten  Reihen ;  immer  und  überall  zeigt  er  sich  als  Denker 
und  Mann,  der  unsere  volle  Hochachtung  und  Ehrerbietung  ver- 
dient, und  der  weit  über  unsere  Zeit  hinaus  wirken  wird;  ihm,  dem 
absolut  Ungläubigen,  dem  Leugner  der  Unsterblichkeit  im  christ- 
lichen Sinne,  wird  die  Unsterblichkeit  im  menschlichen  Sinne  zu- 
erkannt werden  müssen! 

Mit  Paulsen  verhält  sich  das  ganz  anders;  er  ist  eine  Erschei- 
nung der  Zeit  und  als  solche  allerdings  typisch.  Mag  er  im  Sinne 
der  Politiker  unserer  Zeit  für  „liberal"  gelten  und  auch  sein,  als  Philo- 
soph ist  er  ein  trübseliger  Reaktionär,  der  alles  und  jedes  auf  frühere 
Standpunkte  zurückzuschrauben  sucht  und  die  lebendige  Gegenwart 
immer  zugunsten  der  toten  Vergangenheit  zu  erwürgen  strebt." 

Auch  hier  sehen  wir  unsern  Jubilar,  den  Paulsen  als  philosophisch 
nicht  ernst  zu  nehmen  hinzustellen  versucht  hat,  den  katheder- 
gesessenen Staatsphilosophen,  der  ihm  seinen  Intellekt  neidet,  in  den 
Schatten  stellen.  Wenn  einer  ernst  zu  nehmen  ist,  auch  auf  dem 
Gebiete  der  Philosophie,  so  kann  es  nur  ein  denkender  Naturwissen- 
schaftler sein  —  und  das  ist  Ernst  Haeckel!  — 

„Philosophie  kann  man  nicht  lernen",  sagt  Kant,  demnach  müssen 
echte  Philosophen  Autodidakten  sein!  Doch  nur  Naturforscher 
haben  die  Grundlagen,  eine  Weltanschauung  zu  erschaffen,  die  der 
Wissenschaft  gerecht  wird,  die  selbst  Wissenschaft  ist,  nämlich 
Naturwissenschaft  ohne  krankhafte  Spekulation! 

Und  ein  „gottbegnadeter"  Mann  in  dieser  Hinsicht  wäre  unser 
Jubilar,  Ernst  Haeckel,  wenn  es  überhaupt  ein  Gottesgnadentum 
gäbe! 

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3333333333333333333339333333333333333333333333333333 

Das  Gottesgnadentum  aber  fiel,  und  allen  voran  war  es  Haeckel, 
der  es  zu  Fall  brachte! 

Paulsens  pfäffischer  Ärger  über  den  Beifall  der  Menschen  zu 
Haeckels  Philosophie  erklärt  sich  aus  folgendem  durchaus. 

Als  der  Physiologe  Adolf  Fick  1870  in  Würzburg  seine  Antritts- 
rede hielt,  wies  er  auf  die  Charlatanerie  der  Kathederphilosophie  in 
klaren  berechtigten  Worten  hin  im  Anschluß  an  eine  Festrede  des 
Rektors  Edel,  der  über  die  Flucht  der  Studenten  vor  den  Vorlesungen 
der  Reinkulturphilosophien  klagte.  Fick,  obgleich  selbst  noch  Kan- 
tianer, sagte:  „Die  Klage  über  die  Vernachlässigung  der  philosophi- 
schen Studien  ist  auch  von  anderen  Seiten  vielfach  laut  geworden. 

Man  hat  geradezu  der  studierenden  Jugend  den  Vorwurf  gemacht, 
sie  ergebe  sich,  angesteckt  von  dem  angeblich  auf  die  materiellen 
Güter  ausschließlich  gerichteten  Sinne  der  Gegenwart,  banausischen 
Brotstudien,  unbekümmert  um  höhere  rein  ideale  Interessen. 

Ich  glaube,  wir  dürfen  uns  von  diesem  Vorwurfe  freisprechen  und 
die  Schuld  der  Mißachtung,  in  welche  überall,  besonders  aber  in  den 
naturwissenschaftlichen  Kreisen  die  Philosophie  gefallen  ist,  ledig- 
lich dem  Entwicklungsgang  beimessen,  welchen  diese  Wissenschaft 
selbst  in  Deutschland  genommen  hat. 

Nachdem  nämlich  gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  die  er- 
staunlichen Werke  Kants  aller  Augen  auf  die  Phüosophie  gerichtet 
hatten,  wandten  sich  begreiflicherweise  auch  viele  Talente  niederer 
Ordnung  zur  literarischen  Produktion  auf  diesem  Gebiete.  Jeder 
suchte  seinen  Vorgänger  durch  Kühnheit  und  scheinbare  Tiefe  der 
Spekulation  zu  überbieten,  bis  zuletzt  in  den  zwanziger  und  dreißiger 
Jahren  dieses  Jahrhunderts  die  eigentliche  Charlatanerie  und 
Windbeutelei  in  der  philosophischen  Literatur  herr- 
schend wurde.  —  Das  mußte  denn  doch  allmählich  das  gebildete 
Publikum  ernüchtern. 

Man  höre  beispielsweise  folgende  Sätze,  worin  sich  ein  seinerzeit 
im  höchsten  Ansehen  stehender  Philosoph  über  einen  Gegenstand 
ausspricht,  der  uns  demnächst  beschäftigen  soll: 

,Die  Sinne  und  die  theoretischen  Prozesse  sind  daher  1.  die  Sinne 
der  menschlichen  Sphäre,  der  Schwere,  der  Kohäsion  und  ihrer  Ver- 
änderung, der  Wärme,  das  Gefühl  als  solches;  2.  die  Sinne  des  Gegen- 
satzes, der  besonderen  Luftigkeit,  und  der  gleichfalls  realisierten 
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Neutralität  des  konkreten  Wassers  und  der  Gegensätze  der  Auf- 
lösung der  konkreten  Neutralität  —  Geruch  und  Geschmack;  3.  der 
Sinn  der  Idealität  ist  ebenfalls  ein  gedoppelter,  insofern  in  ihr  als 
abstrakter  Beziehung  auf  sich  die  Besonderung,  die  ihr  nicht  fehlen 
kann,  in  zwei  gleichgültige  Bestimmungen  auseinanderfällt. 

a)  Der  Sinn  der  Idealität  als  Manifestation  des  Äußerlichen  für 
Äußerliches,  —  des  Lichtes  überhaupt  und  näher  des  in  der  konkreten 
Äußerlichkeit  bestimmt  werdenden  Lichtes,  der  Farbe  und 

b)  der  Sinn  der  Manifestation  der  Innerlichkeit,  die  sich  als  solche 
in  ihrer  Äußerung  kundgibt  —  des  Tones  — ,  Gesicht  und  Gehör.' 

Wenn  derartiger  höherer  Blödsinn  in  den  philosophischen  Hör- 
sälen vorgetragen  wurde,  dann  findet  man  begreiflich,  daß  sie  sich 
allmählich  leerten,  und  daß  sich  namentlich  alle  diejenigen  daraus 
zurückzogen,  welche  durch  Beschäftigung  mit  Naturwissenschaften 
an  ein  folgerichtiges  Denken  gewöhnt  sind." 

Daß  die  Worte  der  philosophischen  Dialektik  zum  Zweck  haben, 
nichts  zu  sagen,  ist  bekannt!  Ein  Repertoir  Hegelscher  und  anderer 
Worte  ohne  Begriffe  ist  das  beliebte  Mittel  der  Schulphilosophie, 
um  Gedankenleere  zu  verdecken.  Die  Theologie,  die  ihren  Beruf 
daraus  gemacht  hat,  dem  Volke  in  seiner  irdischen  Not  etwas  vor- 
zulügen, mußte  natürlicherweise  erst  recht  mit  leeren  Worten,  be- 
grifflosen Silbenkomplexen  arbeiten!  —  Sie  machte  so  die  Philo- 
sophie vollends  zu  ihrer  Haus-  und  Stallmagd.  —  Neben  dieser  Ver- 
wertung der  philosophischen  Dialektik  sollten  angehende  Theologie- 
beflissene überall  in  der  Welt  Klubs  bilden,  um  sich  in  der  Kunst  der 
Lüge,  ohne  verlegen  oder  schamrot  zu  werden,  zu  üben !  Solche  theo- 
logische Lügenklubs  wären  für  die  junge  Brut  Gottes  der  christlichen, 
jüdischen  und  mohammedanischen  die  beste  Vorschule. 

Die  beiden  Hochstaplerinnen  und  Schwestern,  Theologie  und 
Schulphilosophie,  die  seit  je  von  den  Eulat-Vakufs  leben  und  in  les- 
bischer  Liebe  verkehren,  sich  auch  gegenseitig  Mägdedienste  leisten, 
um  unerkannt  zu  bleiben  und  sich  wie  die  Pfaffen  und  Katheder- 
philosophen selbst  beweihräuchern,  um  dadurch  im  Publikum  höhere 
Qualitäten  und  metaphysische  Inspirationen  zur  Schau  zu  stellen, 
obgleich  sie  dabei  wissentlich  mimen  —  fürchten  beide  für  ihre  Pfrün- 
den an  Kirchen-  und  Kathedergut!  —  Dann  schreiben  sie  Streit- 
schriften und  nennen  sich  Ecclesia  oder  Philosophia  militans !  —  Sie 
EjBjgEjggggggEjgggggggggggggggggggggE]E]E]E]E]B]EiE]E]EiBiE]B]B]E]E]E]EiB]Ei 

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glauben  zu  diesen  Zeiten,  auf  den  letzten  Löchern  zu  pfeifen,  und  wissen 
dann  gar  nicht  mehr,  daß  sie  in  der  Ignoranz  und  Indolenz  der  Masse 
eine  unerschöpfliche  Anhängerschaft  besitzen! 

In  solchen  vermeintlichen  Nöten  sehen  wir  die  beiden  Sorores 
sich  aufs  engste  verbinden  mit  ihren  Brüdern,  Staat,  Junkertum  und 
Großmammon.  —  Diese  Familie  hat  stets  unserer  Erde  Menschen- 
affen beherrscht  und  sie  dann  im  sogenannten  sozialen  Staatsbetriebe 
geknechtet,  knechtet  sie  noch  und  wird  sie  ewig  weiter  so  knechten ! 

Die  Macht  einer  solchen  Familie  ist  unüberwindlich,  da  sie  den 
Generaltrick  kennt,  mit  dem  das  Volk  geleitet  wird:  die  Verbreitung 
des  Aberglaubens  durch  mystisch-metaphysisch-poetisch-erotische 
Lügen,  die  man  Inspirationen  heiliger  Geister  nennt,  ein  Vogelleim, 
der  noch  stets  alle  Gimpel  ohne  Flügel  gefesselt  hat!  —  Philosophen 
und  Pfaffen,  die  sich  Priester  dieser  säubern  Schwestern  nennen  und 
vikariierend  füreinander  einzutreten  stets  bereit  sind,  weil  ihre  Herr- 
schaft ein  Kondominium  ist,  das  sich  seiner  innern  Kraft  meist  durch- 
aus bewußt  bleibt  und  nur  zeitweilig  ängstlich  um  seine  Pfründen 
zittert,  nämlich  dann,  wenn  einmal  über  den  Moder  der  Erde  etwas 
Morgenluft  weht. 

Die  neuere  Geschichte  der  Menschheit  hat  im  Arianismus,  im 
Nestorianismus,  im  Lutheranismus,  im  Enzyklopädismus,  im  Darwi- 
nismus und  Haeckelismus  solche  Morgenluftströmungen  erlebt.  Aber 
alle  wissenschaftliche  Nahrung  solcher  Art  ist  Kaviar  fürs  Volk  ge- 
blieben, und  was  heute  noch  vom  Lutheranismus  übrig  ist,  sucht 
Preußen  unter  Führung  seines  Königs  zu  „zerschmettern",  und  dazu 
mußte  das  Kahlsche  Inquisitionsgericht  errichtet  werden. 

Kassandras  Ruf  klingt  mir  immerfort  in  den  Ohren  aus  dem  Getue, 
das  sich  Kultur  zu  nennen  beliebt,  während  es  doch  nur  der  technische 
Fortschritt  ist,  der  in  einem  Lügengespinst  drapiert  auf  unserer 
Weltbühne  mimt,  die  Luft  zwar  durchfliegt,  aber  dadurch  der  Wahr- 
heit nicht  dient,  die  sich  allein  der  Naturwissenschaft  offenbart  und 
von  sogenannten  „Geisteswissenschaften"  nichts  wissen  will!  —  Doch 
der  Opportunismus  der  Kadis,  im  Bunde  mit  dem  Pfaffentum  und 
der  Kathederphilosophie,  hat  noch  stets  durch  die  Praxis  der  Politik, 
mittels  der  Kantischen  „praktischen"  Vernunft  die  „reine"  ermorden 
lassen!    Dabei  wird  es  bleiben!    Auf  immerdar   siegt   the  struggle 

for  life  —  der  Brotkorb  —  der  Staat! 

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200 


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Praktische  Vernunft  aber  ist  der  Theismus  fürs  Volk,  der 
Konfessionalismus,  die  Volksschule  für  die  Verdummung,  die  staat- 
liche Hochschule,  um  den  freien  Gedanken  zu  ersticken,  der  Tempel- 
bau für  die  hungernde  Menge,  die  Zwangserziehung  zum  Gottes- 
glauben, die  Bestrafung  des  Kirchenaustritts,  der  rauchlose  Scheiter- 
haufe für  den  modernen  Ketzer,  die  elektrische  Hinrichtung  der 
zitternden  Freiheit  und  der  lebendigen  Wahrheit  der  Wissenschaften 
der  Natur  und  der  Materie,  dieses  unpoetischen  und  ungeschminkten 
Naturburschen,  der  ohne  Furcht  vor  Hölle  und  Teufel  und  ohne 
Hoffnung  auf  eine  Auferstehung  zu  sterben  weiß.  —  Es  ist  der  Mord 
des  so  verpönten  Materialismus  —  den  wir  im  Monistentalar  dem 
Volke  vorstellen,  obgleich  es  von  seinem  kirchlichen  Aberglauben 
nicht  läßt,  nicht  lassen  kann,  sich  an  ihn  hängt  mit  klammernden 
Organen ! 

Nur  dort,  wo  der  Verstand  nüchtern  genug  ist,  alle  Gemütsbe- 
dürfnisse, die  mit  uns  geboren  sind  und  uns  anerzogen  wurden,  aus- 
zuschalten aus  seinem  Urteil,  wie  bei  den  reinen  Monisten,  die  nur 
auf  naturwissenschaftlicher  Grundlage  stehen,  ist  ein  Leben  mit  zu- 
friedenem, das  ist  ergebenem  Grundton  möglich. 

Fehlt  dem  Menschen  dieser  durchaus  nüchterne  Verstand,  dann 
ist  es  nichts  mit  seinem  Monismus,  der  durchaus  materialistisch  sein 
muß.  Bei  ihm  kommt  der  monistische  Mystizismus  zu  seiner  dämmer- 
haften Entfaltung,  der  in  der  Tat  mehr  Aussicht  auf  traumschwangere 
Anhänger  hat  als  der  naturwissenschaftliche,  reine,  naturalistische 
Urmonismus,  der  Hylozoismus  der  ionischen  Philosophen. 

Sokrates  und  Christus  gingen  beide  willig  in  den  Tod,  wenn  diese 
Annahme  bei  Christus  wenigstens  kein  Treppenwitz  der  Weltgeschichte 
wäre.  —  Aber  wie  unendlich  viel  höher  steht  die  Sage  des  Sokrates 
über  der  Christi!  —  Sokrates  verzichtet  nicht  auf  seine  Lehre,  was 
ihn  vom  Tode  hätte  erretten  können,  und,  verurteilt,  verschmäht  er 
die  Flucht  aus  dem  Kerker,  und  zwar  ohne  Hoffnung  auf  einen  himm- 
lischen Vater,  aus  Respekt  vor  den  bürgerlichen  Gesetzen! 
Sokrates  war  ein  Musterbürger! 

Der  Christus  der  Sage  aber  glaubt  sich  ein  übermenschliches  Wesen, 
Sohn  eines  Höheren,  Gesandten  des  Himmels,  verpflichtet,  auch  den 
Trumpf  des  Todes  für  die  Erlösung  der  Menschen  auf  sein  Leben  zu 
setzen,  aber  auf  ein  Wunder  rechnend,  ruft  er  erst  am  Kreuze,  als 

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kein  Wunder  für  ihn  geschah:  „Gott,  mein  Gott,  warum  hast  du 
mich  verlassen!!" 

Wie  aus  Obigem  ersichtlich,  hat  der  genannte  Physiologe  Adolf 
Fick,  wie  damals  allgemein  geschah,  sehr  für  die  Kantische  Philo- 
sophie geschwärmt  und  sogar  versucht,  ihr  neue  Stützen  zu  schaffen. 
Er  glaubt,  für  Kants  Erkenntnis  a  priori  eine  Lanze  brechen  zu  müssen, 
und  begründet  das  mit  dem  Worte  des  Cartesius  „Cogito  ergo  sum", 
der,  wie  er  sagt,  zuerst  das  Bewußtsein  des  denkenden  Subjekts  zum 
Ausgangspunkt  der  Philosophie  gemacht  habe. 

Nun  ist  aber  dieses  Cartesianische  Wort,  wie  alle  schulphilosophi- 
schen Wendungen  tutti  quanti  es  sind,  eine  leere  Phrase  ohne  ver- 
nünftigen Sinn.  —  Schon  oft  ist  auf  die  Unbrauchbarkeit  dieses  ge- 
schickterweise verstümmelten  Syllogismus  für  den  Beweis  einer  ge- 
sunden Seelentätigkeit  hingewiesen  worden.  Wäre  er  mit  seiner 
Prämisse  ans  Lampenlicht  getreten,  so  hätte  jedermann  gleich  die 
nichtssagende  Tautologie  erkannt.  Die  Dialektik  der  faselnden  Alten, 
der  Frau  Schulphilosophei,  hat  öfter  solcherlei  Erfolge! 

Der  Syllogismus  des  Cartesius  müßte  vollständig  lauten: 

Obersatz:  Quodquod  oder  quidquid  cogitat,  est! 

Untersatz :    Cogito ! 

Schluß:    Ergo  sum! 

Es  ist  klar,  daß  jedes  andere  Verbum  für  „Cogito"  gesetzt  werden 
kann!    Ich  werde  ohnmächtig,  torpeo  ergo  sum,  ist  geradeso  richtig. 

Der  Obersatz  ist  ja  schon  ein  fertiges  Urteil,  und  der  Schlußsatz 
enthält  wieder  das  selbstverständliche  Urteil  des  Obersatzes,  daß 
ein  denkendes  Ding  —  man  staune  —  ein  Ding  sei!  —  Sprachlich 
ist  das  aber  einfach  eine  gewöhnliche  Tautologie  und  eine  wiederholte 
Selbstverständlichkeit,  eine  glatte  Wiederholung  des  Obersatzes  selbst. 
Und  das  soll  Kant  stützen? 

Nun  kommt  dazu,  daß  jeder  Syllogismus  überhaupt  ein  Zirkel- 
schluß ohne  Wert  ist,  selbst  dann,  wenn  es  weniger  naheliegt  als  hier. 

Der  Cartesiussche  Syllogismus  ist  eben  eine  petitio  principii,  ein 
leerer  Wortschwall,  eine  vergeblich  versuchte  Erschleichung  des  Be- 
weisgrundes!   

Wir  können  als  Naturforscher  nicht  auf  solchen  lächerlichen  Pfa- 
den wandern  und  müssen  uns  an  strenge  Untersuchungen  halten, 
glauben  aber,  daß  es  der  Wahrheit  dienlich  wäre,  wenn  nur  natur- 

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wissenschaftlich   streng  motivierte   Schlüsse  von  Naturforschern  in 
die  allgemeine  Naturlehre,   das  ist   die   moderne  Naturphilosophie, 
übergingen. 

Ernst  Haeckel  ist  eben  befähigt,  naturwissenschaftlich  zu 
denken  und  so  auch  naturwissenschaftlich  motivierte  Schlüsse  zu 
ziehen,  kurz,  naturphilosophisch  zu  denken. 

Ernst  Haeckels  naturphilosophische  Werke,  die  die  Welt  erobert 
haben,  haben  wissenschaftlich  mit  allem  Aberglauben  restlos  auf- 
geräumt. Die  intellektuelle  Welt  denkt  schon  monistisch.  Leider 
hapert  es  in  der  Praxis!  Diese  ist  fürs  Volk  dualistisch  und  wird's 
aus  Opportunitätsgründen  wohl  auch  bleiben  müssen! 

Der  Vater  des  aufgeklärten  Monismus,  unser  Jubilar,  sieht  aber 
heute  durch  seine  Lebensarbeit  die  Intellektuellen  der  ganzen  Welt 
unter  seiner  Fahne  versammelt. 

Ernst  Haeckel  sieht  als  Achtzigjähriger  noch  den  Triumph  seiner 
Lehre,  und  wir  alle,  seine  Schüler  und  Adepten,  huldigen  ihm,  dem 
unerschrockenen,  als  dem  unermüdlichen  Kämpfer  für  das 

Wahre,  Schöne,  Gute! 

Ernst  Haeckel  ist  der  Prototyp  des  Darwinschen  Tiermenschen, 
des  geläuterten  Nietzscheschen  Übermenschen,  meines  Homo  irreli- 
giosus  verax!  Für  die  große  Masse  bleibt  der  religiöse  Aberglaube 
des  Staates!   — 

Der  Lüge  kecke  Zuversicht  reißt  hin. 

Das  Wunderbare  findet  Gunst  und  Glaube! 

Als  fester  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht  bleibt  unzweifelbar, 
daß  eine  neue  Weltanschauung  sich  nur  auf  den  Empirismus  der 
Naturwissenschaften  aufbauen  darf,  wenn  sie  Berechtigung  und  Be- 
stand haben  soll.  —  Das  tat  Ernst  Haeckel,  und  diese  Naturphilo- 
sophie ist  sein  Monismus! 

Versuche  zur  Vermittlung  zwischen  den  Forderungen  der  „reinen", 
naturwissenschaftlichen  Vernunft  und  der  „praktischen"  schulphilo- 
sophisch-theologischen Vernunft,  die  man  aus  Staatsraison  hegt  und 
pflegt,  sind  vielfach  gemacht  worden.  Aber  alles  muß  erfrieren  vor 
dem  unerbittlichen  kalten  Verstände,  der  von  einem  künstlichen 
Kompromiß  zwischen  Naturwissenschaft  und  Volksglauben  nichts 
wissen  will. 

203 


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Weg  mit  allem  idealistisch-romantischen  Mythus  in  der  Erklä- 
rung unseres  Kosmos!  —  Rein  mechanisch,  und  es  sei  hervorgehoben, 
rein  materialistisch  muß  der  Monismus  sein.  Alle  Versuche,  den  Mate- 
rialismus durch  das  Epitheton  „roh"  zu  diskreditieren,  sind  ebenso 
töricht,  als  es  töricht  war,  sich  gegen  die  Abstammung  des  Menschen 
vom  Affen  aufzulehnen!  Beide  Tatsachen  bleiben,  so  wenig  roman- 
tisch sie  sein  mögen: 

wir  sind  die  höchstentwickelten  Affentiere, 

wir  sind  nichts  als  eine  Gruppierung  der  Materie. 

Fechners  Versuche,  Geist  und  Herz  in  den  Weltanschauungsfragen 
auszusöhnen,  müssen  wir,  so  hoch  wir  Fechner  schätzen,  als  natur- 
wissenschaftliche Monisten  ablehnen.  Was  Fechner  wollte,  sagt 
P.  J.  Möbius:  „Vermitteln  zwischen  den  Bedürfnissen  des  Geistes 
und  denen  des  Herzens."  Er  fügt  hinzu:  „Und  sein  Weg  ist  der  ein- 
zige, der  gangbar  ist."  Fügen  wir  jedoch  hinzu:  „Dies  gilt  für  alle 
Angstmeier,  Zweifler  und  Philister,  die  allerdings  auch  unter  den 
Gelehrten  die  Mehrheit  ausmachen!"  Möbius  aber  ruft  selbst  aus: 
„Aber  die  Gläubigen  wandten  sich  ab,  denn  sie  brauchten  den  Geist 
nicht,  und  die  Wissenwollenden  wandten  sich  ab,  denn  sie  brauchten 
kein  Herz!" 

Die  Parole  lautet:  „Entweder  Philosophie  oder  Romantik." 

Damit  ist  scharf  unterschieden  zwischen  den  Land-  und  See- 
tieren unter  den  denkenden  Menschen;  beide  bewohnen  verschiedene 
Atmungsmedien,  und  beide  können  nur  in  den  ihnen  adäquaten 
Medien  leben!  —  Die  Philosophen  aber,  welche  als  Amphibien  in 
beiden  sich  aufhalten,  bleiben  von  der  Entwicklung  zum  Vernunfts- 
ideal ausgeschlossen;  dieses  Vernunftsideal  ist  aber  der  reine,  natur- 
wissenschaftlich-mechanistische Monismus. 

Wir  lehnen  es  ab,  mit  Paulsen  die  physikalische  Weltanschauung 
als  eine  einseitige  Betrachtung  anzusehen  und  uns  der  Paulsenschen 
allgemeinen  philosophischen  Weltanschauung  ein-  und  unterzuordnen, 
wie  er  in  seiner  Philosophia  militans  naiv  uns  dazu  auffordert. 

Wissens-  und  Glaubensbedürfnisse  zugleich  sättigende  Welt- 
anschauungen gibt  es  nicht  und  wird  es  nie  geben!  Wir  müssen 
alle  solcherlei  Vermittlungen  ausdrücklichst  ablehnen  und  uns  be- 
kennen zu  Ernst  Haeckels  naturwissenschaftlichem  Mo- 
nismus. 
ggggggggig^ggG]ggggggggggggG]gggB]E]B]EjB]E]E]E]E]EiB]B]E]E]E]E]E]E]E]EjE]E]E] 

204 


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Darf  der  Monismus  der  Naturforscher  und  Ärzte,  der  er  heute  ist, 
hoffen,  gegen  die  Metaphysiker  aufzukommen? 

Naturforscher  und  Ärzte  werden  von  den  Metaphysikern  auf  den 
Kathedern  unserer  deutschen  Hochschulen  bekanntlich  sehr  von  oben 
herab  angesehen  und  demgemäß  behandelt.  —  Eine  unermeßliche 
Eitelkeit  und  Überhebung  hat  die  Herren  Metaphysiker  dazu  ver- 
leitet. —  Ganz  haben  diese  aber  übersehen,  daß  eine  Philosophie 
heute  nur  Sinn  haben  kann,  wenn  sie  von  der  Naturwissenschaft 
ausgeht.  —  Und  doch  hat  Schopenhauer  sich  selbst  einen  „Montblanc 
gegen  einen  Maulwurfshaufen"  genannt,  wenn  er  sich  mit  einem  Natur- 
forscher vergleicht!  —  Helmholtz  sagt  zu  dieser  „propria  laus": 
„Die  Schüler  bewundern  das  große  Wort  und  suchen  dem  Meister 
nachzuahmen." 

Schopenhauers  Metaphysik  selbst  charakterisiert  Helmholtz  in 
seiner  Kritik  des  Zöllnerschen  Buchs  über  die  Kometen,  wie  folgt: 
„Die  Gestirne  sollen  sich  einander  lieben  oder  hassen,  Lust  oder  Un- 
lust empfinden  und  sich  so  zu  bewegen  streben,  wie  es  diesem  Emp- 
finden entspricht !  Ja,  in  verschwommener  Nachahmung  des  Gesetzes 
der  kleinsten  Wirkung  wird  der  Schopenhauersche  Pessimismus,  wel- 
cher diese  Welt  zwar  für  die  beste  unter  den  möglichen  Welten, 
aber  für  schlechter  als  gar  keine  erklärt,  zu  einem  angeblich  allgemein 
gültigen  Prinzip  von  der  kleinsten  Summe  der  Unlust  formuliert, 
und  dieses  als  oberstes  Gesetz  der  Welt,  der  lebenden  wie  der  leblosen, 
proklamiert  ..." 

„Ich  glaube,"  fährt  Helmholtz  fort,  „daß  der  Philosophie  nur 
wieder  aufzuhelfen  ist,  wenn  sie  sich  mit  Ernst  und  Eifer  der  Unter- 
suchung der  Erkenntnisprozesse  und  der  wissenschaftlichen  Methoden 
zuwendet.  Da  hat  sie  eine  wirkliche  und  berechtigte  Aufgabe.  Meta- 
physische Hypothesen  auszubauen  ist  eitel  Spiegelfechterei!  —  Zu 
jener  kritischen  Untersuchung  gehört  aber  vor  allem  genaue  Kenntnis 
der  Vorgänge  bei  den  Sinneswahrnehmungen.  — 

Die  Philosophie  ist  unverkennbar  deshalb  ins  Stocken  geraten, 
weil  sie  ausschließlich  in  der  Hand  philologisch  und  theologisch  ge- 
bildeter Männer  geblieben  ist  und  von  der  kräftigen  Entwicklung 
der  Naturwissenschaften  noch  kein  neues  Leben  in  sich  aufgenommen 
hat.  Sie  ist  deshalb  fast  ganz  beschränkt  worden  auf  Geschichte  der 
Philosophie. 

33§9S33333353!35!SS3i39333§G]33iG]ElE]G]E|E]E]E]E]gG]gE|G]G]E]E|G]EIE]E]E]E]' 

205 


Ich  glaube,"  schließt  Helmholtz,  „daß  die  deutsche  Universität, 
welche  zuerst  das  Wagnis  unternähme,  einen  der  Philosophie  zu- 
gewendeten Naturforscher  zum  Philosophen  zu  berufen,  sich  ein 
dauerndes  Verdienst  um  die  deutsche  Wissenschaft  erwerben  könnte.'* 

Ich  teile  diese  Ansicht  Helmholtz',  bin  aber  überzeugt,  daß  diese 
echten  „Philosophen",  echte  Naturforscher  bleiben  müssen,  Philo- 
sophen, die  täglich  aus  dem  naturwissenschaftlichen  Laboratorium 
auf  ihren  philosophischen  Lehrstuhl  steigen! 

Bis  dahin  muß  die  naturforschende  Wissenschaft  ihre  Naturphilo- 
sophie auch  ohne  solche  Lehrkanzeln  für  Philosophie  vertreiben, 
wie  es  in  so  meisterhafter  Weise  geschehen  ist  durch  unsern  Jubilar 

ERNST  HAECKEL! 


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206 


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KARL  O.  LEEGE,  JENA:  HAECKEL- VORLESUNG 


o  o  o 


Als  die  Nachricht  durch  die  Zeitungen  ging,  daß  Professor  Ernst 
.  Haeckel  mit  dem  Schluß  des  Wintersemesters  1908/09  seine 
akademische  Lehrtätigkeit  in  Jena  einstellen  werde,  haben  sich  die 
Gedanken  Tausender  nach  der  weitberühmten  thüringischen  Hoch- 
schule gewandt.  Nicht  nur  in  Deutschland  dachte  man  des  großen 
Gelehrten,  der  nun  nach  über  achtundvierzigj ähriger  öffentlicher, 
wissenschaftlicher  Tätigkeit  sein  Lehramt  kurz  nach  Vollendung 
seines  fünfundsiebzigsten  Lebensjahres  einem  anderen  übertragen 
will,  sondern  in  der  gesamten  Kulturwelt;  denn  Haeckels  Gemeinde 
ist  international.  Tausende  gedachten  des  Philosophen  Haeckel, 
Hunderte  des  Zoologen,  der  sie  in  die  Wunder  der  Tierwelt  einführte, 
und  gar  manchem,  der  die  Absicht  hegte,  noch  unter  seiner  Leitung 
zu  arbeiten,  wird  die  schmerzliche  Gewißheit  geworden  sein,  daß  es 
nun  zu  spät  sei.  Man  mag  über  die  Lehre  Haeckels  denken  wie  man 
will,  man  wird  immer  die  gewaltige  Tatkraft  dieses  Mannes  bewundern 
müssen,  der  es  als  erster  wagte,  jahrhundertelang  gehegten  Irrtümern 
und  Verstellungen  energisch  entgegenzutreten.  Die  Bewunderung 
für  die  Persönlichkeit  Haeckels  hat  schon  manchen  in  das  Auditorium 
des  zoologischen  Instituts  zu  Jena  gelockt,  den  „Weisen  von  Jena" 
von  Angesicht  zu  Angesicht  zu  sehen  und  auf  eine  Kollegstunde  seinen 
Worten  zu  lauschen  —  vielleicht  auch  die  Neugier.  Und  jeder,  der 
in  Jena  studierte,  entsinnt  sich,  daß  oftmals  Leute  in  Haeckels  Hör- 
saal erschienen,  die  nicht  zu  seiner  Studentenschar  gehörten,  die  über- 
haupt dem  ganzen  akademischen  Leben  offenbar  fern  standen.  Viel- 
leicht auf  der  Durchreise,  waren  sie  in  Haeckels  Auditorium  ge- 
schlüpft, um  später  sagen  zu  können,  daß  auch  sie  einmal  einer 
Haeckelvorlesung  beigewohnt  hätten.  Das  alles  kommt  auch  bei 
anderen  Hochschullehrern  vor  —  bei  Haeckel  aber  besonders  häufig. 
Und  wer  den  Hochschullehrer  Haeckel  in  seinem  Reiche  kennen  ge- 
lernt hat,  dem  werden  die  empfangenen  Eindrücke  nicht  so  bald 
entschwinden. 

Das  zoologische  Institut  zu  Jena  ist  kein  sonderlich  imposantes 
Gebäude,  besonders  jetzt  tritt  es  zurück,  seit  der  schöne  Bau  des 
phyletischen  Museums  dicht  davor  erstanden  ist;  aber  es  kommt  ja 

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auf  den  Geist  an,  der  in  wissenschaftlichen  Instituten  waltet,  und  in 
dieser  Hinsicht  kann  das  Jenenser  Institut  wahrlich  zufrieden  sein. 
Fast  jeden,  der  zum  ersten  Mal  in  dieses  gelbe  Backsteingebäude  ein- 
tritt, überkommt  ein  gewisses  Gefühl  der  Ehrfurcht.  Dies  also  sind 
die  Räume,  in  denen  jene  großen  freien  Gedanken  entwickelt  wurden, 
die  Tausende  und  Abertausende  aus  Zweifeln  schlimmster  Art  be- 
freiten, dies  sind  die  Räume,  in  denen  jene  Prachtwerke  aus  dem 
Gebiete  der  Zoologie  entstanden,  die  Haeckels  Namen  für  alle  Zeiten 
in  die  Annalen  der  zoologischen  Wissenschaft  eingegraben  haben, 
und  denen,  was  die  Vereinigung  exakter  Beobachtung  und  künstle- 
rischer Wiedergabe  des  Gesehenen  anbetrifft,  kaum  etwas  zur  Seite 
gestellt  werden  kann. 

Wir  treten  ins  Auditorium.  Wohin  wir  auch  blicken,  jedes  Fleck- 
chen der  Wände  ist  zum  Aufhängen  von  zoologischen  Tafeln  aus- 
genutzt, die  die  verschiedenartigsten  Wesen  darstellen  und  zumeist 
von  Haeckel  selbst  gemalt  worden  sind.  Dort  hängen  auch  die  großen 
Entwürfe  vom  mutmaßlichen  Stammbaum  der  Tiere.  Neben  dem 
Katheder  sind  auf  einem  Tische  eine  Anzahl  von  Präparaten  auf- 
gestellt, meist  sorgfältig  in  Gläsern  mit  Alkoholfüllung  eingeschlossen. 
Auch  neben  dem  Rednerpult  stehen  einige,  und  fast  auf  allen  Etiketten 
ist  der  Name  Haeckels  zu  lesen,  wie  denn  überhaupt  der  größte  Teil 
der  Schätze  des  zoologischen  Museums  von  ihm  selbst  auf  seinen 
großen  Reisen  gesammelt  worden  ist. 

Allmählich  füllt  sich  der  Hörsaal.  Einige  überfliegen  noch  einmal 
kurz  die  Stichworte  der  vorigen  Vorlesung;  andere  betrachten  die 
aufgestellten  Präparate;  wieder  andere  sprechen  miteinander.  Doch 
plötzlich  wird  es  ruhiger;  schnell  schlüpft  jeder  auf  seinen  Platz. 
Draußen  werden  kurze  Schritte  vernehmbar;  eilig  kommt  jemand 
die  zu  dem  Auditorium  führende  Treppe  herab;  dann  wird  die  Tür 
geöffnet  und  der  Altmeister  tritt  herein.  Ein  leises  Kopfnicken  schon 
an  der  Tür  ist  der  Gruß  an  die  Studenten,  die  den  berühmten  Lehrer 
durch  donnerndes  Trampeln  willkommenheißen.  Er  besteigt  das 
Katheder,  einen  Augenblick  überfliegen  seine  Augen  die  Reihen  der 
Hörer,  dann  beginnt  er  seinen  Vortrag. 

Nichts  an  ihm  verrät  sein  hohes  Alter.  Seine  Bewegungen  sind 
frei  und  elastisch.  Ungebeugt  ist  die  hohe  Gestalt,  und  das  schöne, 
durchgeistigte,  von  schneeweißem  Haar  umrahmte  Antlitz  so  rosig, 
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208 


daß  man  unwillkürlich  all  jene  kleinen  Fältchen  übersieht,  die  die 
Zeit  gleich  einem  feinen  Netzwerk  darüber  hingespannt  hat. 

Haeckel  spricht  fließend;  fast  nie  ist  er  genötigt,  nach  einem  Aus- 
druck zu  suchen.  Niemals  bringt  er  ein  Stichwortheft  oder  auch  nur 
einen  Zettel  mit  der  Disposition  des  Vorzutragenden  in  den  Hörsaal. 
Er  spricht  immer  frei.  Man  hat  auch  nicht  den  Eindruck,  als  ob  er 
sich  besonders  vorbereitet  habe.  Es  scheint  vielmehr,  als  ob  das  Vor- 
getragene aus  einem  unerschöpflichen  Quell  hervorsprudele,  als  ob 
das  alles  erlebt  sei  und  gleichsam  von  einem  unsichtbaren  Manuskript, 
das  sich  während  des  Sprechens  aus  dem  gewaltigen  Schatz  an  Kennt- 
nissen bildet,  abgelesen  werde.  Und  darin,  daß  Haeckel  stets  impro- 
visiert und  ihm  als  souveränem  Beherrscher  seiner  Wissenschaft  stets 
eine  gewaltige  Fülle  von  Gedanken  und  Anknüpfungspunkten  zufließt, 
liegt  auch  der  Grund,  daß  es  oft  schwer  ist,  seinen  Ausführungen  zu 
folgen.  Der  Anfänger  wird  geneigt  sein,  von  schlechtem  Vortrage  zu 
sprechen.  Der  Fortgeschrittene  hingegen  wird  geradezu  dankbar 
anerkennen,  daß  Haeckel  ihn  —  bewußt  oder  unbewußt  —  auf  all  die 
kleinen  Fensterchen  aufmerksam  macht,  die  vom  zoologischen  Fach- 
gebiet anregende  Ausblicke  auf  die  verschiedensten  Disziplinen  ge- 
währen, ihn  lehrt,  die  Zoologie  als  eine  von  vielen  Wissenschaften 
aufzufassen,  als  Teil  eines  höheren  Ganzen. 

Reichen  zur  Darlegung  komplizierter  Verhältnisse  Worte  nicht 
mehr  aus,  so  werden  mit  farbigen  Kreiden  flüchtige  Zeichnungen  an 
der  Tafel  entworfen.  Immer  nur  wenige  Striche,  aber  man  hat  meist 
das  Gefühl,  als  ob  mit  diesen  groben  Linien  gerade  das  getroffen  wor- 
den sei,  worauf  es  ankam,  und  in  einer  Weise,  die  unter  Voraussetzung 
der  benutzten  Mittel  nicht  übertroffen  werden  kann.  Es  ist  geradezu 
erstaunlich,  welche  Meisterschaft  Haeckel  beim  Entwerfen  seiner 
Tafelzeichnungen  entfaltet.  Selbst  hier  offenbart  sich  die  Künstler- 
schaft dieses  Mannes.  Einerseits  ist  er  der  wissenschaftliche  Analy- 
tiker, der  dem  Einzelnen  bis  auf  den  Grund  nachgeht;  andererseits 
der  künstlerische  Synthetiker,  der  sofort  weiß,  wie  er  am  besten  das, 
was  er  eben  zerlegt,  wieder  harmonisch  zusammenfügt  und  zeich- 
nerisch darstellt.  Jede  Linie  ist  auf  den  ersten  Wurf  richtig;  ich  habe 
nie  gesehen,  daß  es  notwendig  gewesen  wäre,  eine  einmal  hingeworfene 
Linie  wieder  fortzu wischen.  Und  so  sonderbar  es  auch  scheinen  mag, 
ich  habe  oft  beim  Betrachten  dieser  rohen  Tafelskizzen  die  Empfin- 


14     Haeckel-Festschrift.   Bd.  II 


209 


düng  gehabt,  daß  es  eben  dieselbe  Hand  ist,  die  hier  die  eiligen  Kreide- 
zeichnungen entwirft,  dort  die  großen  farbigen  Wandtafeln  zeichnete 
und  dort  die  wunderbaren  „Kunstformen  der  Natur"  schuf.  Man 
begreift  es,  daß  dieser  Mann  einmal,  begeistert  von  der  Schönheit  der 
Natur  und  der  eigenen  Fähigkeit,  sie  wiederzugeben,  bei  einem  For- 
schungsaufenthalt auf  Sizilien  im  Anfang  der  sechziger  Jahre  des 
vergangenen  Jahrhunderts,  eine  Zeitlang  schwankt,  ob  er  nicht  um- 
satteln und  Landschaftsmaler  werden  solle :  Haeckel  ist  nicht  nur  ein 
großer  Gelehrter,  er  ist  auch  ein  großer  Künstler.  Das  muß  selbst 
derjenige  schon  ahnen,  der  auch  nur  eine  Stunde  seinem  Vortrage 
aufmerksam  gefolgt  ist. 

Aber  man  lernt  in  einer  Haeckelvorlesung  nicht  bloß  den  Gelehrten 
und  Künstler,  sondern  vor  allem  auch  den  Menschen  Ernst  Haeckel 
kennen.  Das  ist  von  der  größten  Bedeutung.  Denn  nun  kann  man 
sich  über  gewisse  Fragen  ein  selbständiges  Urteil  bilden,  ist  nicht  mehr 
auf  fremde  Charakteristiken  angewiesen.  Wer  ihn  so  vor  sich  sieht, 
muß  sich  wundern,  wie  doch  dieser  Mann  gar  keine  Selbstherrlichkeit 
zeigt,  wie  er  so  ruhig  und  sachlich  aus  seiner  Wissenschaft  vorträgt, 
ohne  Dogmatismus,  ohne  sarkastische  Seitenhiebe  auf  seine  Gegner, 
selbst  wenn  er  gelegentlich  auf  deren  abweichende  Anschauungen 
zu  sprechen  kommt.  Ich  habe  ihn  niemals  polemisch  werden  sehen. 
Hier  wird  es  so  recht  eigentlich  klar,  wie  hoch  Haeckel  über  all  jenen 
häßlichen  Angriffen  erhaben  ist,  die  sein  Lebenswerk  vernichten  oder 
verdunkeln  wollen.  Ein  Mann,  der  mit  so  freiem  Auge  in  die  Welt 
schaut,  mag  geirrt,  mag  manchen  Fehler  begangen  haben,  aber  wissent- 
lich entstellt  hat  er  nie. 

Wenn  die  Vorlesung  beendet  ist,  und  Haeckel  den  Hörsaal  verläßt, 
nachdem  er  durch  eine  leise  Verbeugung  für  das  donnernde  Beifalls- 
trampeln seiner  Studenten  gedankt  hat,  dann  hat  man  die  Überzeu- 
gung, daß  er  nicht  nur  ein  großer  Gelehrter,  ein  großer  Künstler  ist, 
sondern,  was  vielleicht  das  Höchste  darstellt,  eine  große  harmonische 
Persönlichkeit,  der  es  von  Anfang  an  ernst  war  mit  ihrem  Ringen 
nach  dem  Ideal  des  Wahren,  Guten  und  Schönen. 


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210 


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ALFRED  GREIL,  INNSBRUCK :  HAECKELS  FÜHRUNG 

IM  NATURERKENNEN 

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Was  den  Naturforscher  und  Mediziner  beim  Studium  der  Werke 
Haeckels  fesselt,  begeistert  und  belehrt,  ist  vor  allem  das  tiefe 
kausalanalytische  Streben,  die  auf  die  Ermittlung  der  Entstehungs- 
bedingungen, der  „ursächlichen  Zusammenhänge",  auf  die  „kausale 
Begründung  der  Morphogenie"  gerichtete  Betrachtungsweise,  welche 
vor  allem  in  der  Generellen  Morphologie  (1866),  in  der  von  Haeckel 
begründeten  „mechanischen  Wissenschaft"  von  den  entwickelten 
Formen  der  Organismen  in  großzügiger  und  vorbildlicher  Weise  zum 
Ausdruck  gelangt.  Wie  Darwin  auf  Haeckel  einwirkte  und  den  jungen, 
wissenschaftlich  gebildeten  Zoologen  schon  beim  ersten  Bekannt- 
werden seiner  Lehre  (1860)  zu  seinem  begeisterten  Anhänger  machte, 
der  auf  der  Stettiner  Naturforscherversammlung  (1863)  freimütig  und 
unentwegt,  gegen  den  Widerspruch  einer  erdrückenden  Majorität  mit 
der  Sicherheit  tiefster  Überzeugung  Darwins  Lehre  vertrat  —  so 
wirkt  Haeckel,  dessen  Lebensarbeit  der  wissenschaftlichen  Durch- 
führung der  Abstammungslehre  gewidmet  ist,  dessen  Riesenarbeit 
darauf  gerichtet  war,  den  Entwicklungsgedanken  in  allen  seinen  so 
weittragenden  Konsequenzen  voll  zu  erfassen,  und  die  wichtigsten, 
getreuesten  und  verläßlichsten  Dokumente  der  Abstammung,  die 
keimesgeschichtlichen  Überlieferungen  zu  heben  und  zu  enträtseln 
und  die  Phänomene  „der  Anpassung  und  Vererbung"  zu  erklären  — 
auf  uns  ein.  Haeckel  war  der  erste,  der  das  „kausale  Fundament  der 
organischen  Morphologie",  die  Ermittlung  der  Bedingungen  des  Ge- 
schehens, die  ursächliche  Erforschung  der  „Wirkungsweisen",  wie  er 
sich  so  treffend  ausdrückte,  als  das  erste  Postulat  wissenschaftlicher 
Forschung  hinstellte,  der  klar  erkannte,  daß  die  bloße  Anatomie  ohne 
die  Entwicklungsgeschichte  „keiner  wissenschaftlichen  Behandlung 
fähig  ist".  Er  hat  als  erster  die  Worte  Karl  Ernst  von  Baers  voll  erfaßt 
und  bestätigt :  „Die  Entwicklungsgeschichte  ist  der  wahre  Lichtträger 
bei  der  Untersuchung  organischer  Formen;  bei  jedem  Schritte  findet 
sie  ihre  Anwendung,  und  alle  Vorstellungen,  welche  wir  von  den 
gegenseitigen  Verhältnissen  der  organischen  Körper  haben,  werden 
den  Einfluß  unserer  Kenntnis  der  Entwicklungsgeschichte  erfahren." 

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Keiner  vor  und  niemand  nach  Haeckel  hat  den  Entwicklungs- 
gedanken so  genial  und  großzügig,  so  zielbewußt  und  klar  zum  Aus- 
drucke gebracht  und  verfolgt,  auch  nicht  sein  engerer  Zeitgenosse 
Fritz  Müller-Desterro,  dessen  Schrift  „Für  Darwin"  (1863)  der  großen 
Publikation  Haeckels  zeitlich  unmittelbar  voranging.  F.  Müller  ver- 
hielt sich  in  dieser  Hinsicht  zu  Haeckel  wie  Wallace  zu  Darwin,  doch 
gebührt  Haeckel  unter  allen  Umständen  die  Priorität  in  der  groß- 
zügigen Erfassung  und  Durcharbeitung  des  Gesamtproblems,  wobei 
Haeckel  schon  von  Anfang  an  darauf  bedacht  war,  das  gewaltige 
Problem  der  Menschwerdung,  der  Stellung  des  Menschen  in  der 
Organismenwelt  in  seiner  vollen  Bedeutung  aufzurollen.  Die  Lehre 
vom  „Parallelismus  zwischen  der  individuellen  Metamorphose  und  der 
Metamorphose  des  Tierreiches"  hatten  schon  Meckel  und  K.  E.  v.  Baer 
(1821  bzw.  1828),  also  drei  Dezennien  vor  der  Begründung  der  Zellen- 
lehre durch  Schwann,  aufgestellt  —  die  Lupe  und  die  Schere  waren 
ihre  wichtigsten  Forschungsinstrumente.  Es  konnte  ihnen  schon  bei 
schwächeren  Vergrößerungen  der  Keimscheiben  und  Embryonen  nicht 
entgehen,  daß  „der  Embryo  der  höheren  Tiere  die  verschiedenen 
Stufen  in  derselben  Ordnung  durchläuft,  als  sie  in  der  Tierreihe  auf- 
wärtssteigen, so  daß  seine  früheren  Formen  den  niedrigeren,  die 
späteren  den  höheren  der  unter  seiner  Art  stehenden  Organismen 
entsprechen"  (Meckel).  Die  Entwicklungsvorgänge  aber,  welche  diese 
Veränderungen  herbeiführen ,  mußten  allen ,  welche  sich  vor  Schwann 
mit  embryologischen  Studien  befaßten,  verborgen  bleiben,  und  auch 
der  geniale  K.  F.  Wolff  konnte  bei  der  Zurückweisung  der  aus  solcher 
Unkenntnis  erwachsenen  Spekulationen  über  ein  evolutionistisches 
Entwicklungsgeschehen  nur  in  allgemeiner  Fassung  seine  berühmte 
Theorie  der  Epigenesis  aufstellen.  —  Die  unerschöpfliche  Fülle  von 
deskriptiven  Problemen,  welche  die  Schwannsche  Zellenlehre,  die  Be- 
gründung der  mikroskopischen  Anatomie  mit  einem  Schlage  eröffnete, 
lenkte  sodann  das  Interesse  von  den  großen  und  allgemeinen  Fragen 
der  Entwicklungslehre  etwas  ab,  während  auf  ganz  andern  Wegen 
Darwin  durch  die  Deszendenzlehre  die  alte  Typenlehre  zu  Falle  brachte 
und  das  neue  großartige  Problem  der  Abstammungslehre  entrollte.  — 
Dies  war  die  allgemeine  Lage,  als  Haeckel  die  Erkenntnisse,  welche 
die  Zellenlehre  und  die  mikroskopische  Technik  erschloß,  in  den 
Dienst  der  Abstammungslehre  stellte.  —  Nachdem  das  Dioskuren- 

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212 


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paar  Gegenbaur  und  Haeckel  auf  der  hohen  Schule  zu  Jena  als  ge- 
meinsame Frucht  ihres  Ideenaustausches  die  grundlegende  Erkennt- 
nis vom  zellulären  Charakter  der  Eier  der  Wirbeltiere  —  und  mögen 
sie  auch  noch  so  sehr  mit  Dotter  beladen  sein  —  gewonnen  hatte, 
konnte  Haeckel  daran  gehen,  in  zielbewußter  Fragestellung  und 
Durchführung  die  keimesgeschichtlichen  Beweise  der  Deszendenz- 
theorie zu  sammeln  und  zu  sichten.  Naturgemäß  mußte  dieses  Prinzip 
zuerst  an  den  jungen,  primitiven,  grundlegenden  Entwicklungsformen 
aufgedeckt  und  bewiesen  werden.  Es  war  Haeckel  von  vornherein 
klar,  daß  die  freilebenden  Vertreter  der  jüngsten  Entwicklungs- 
formen aller  höheren  Wirbellosen  und  der  Wirbeltiere  niedrige  Meeres- 
tiere sein  müssen.  Auf  weiten  Reisen  nach  Süd  und  Nord,  nach  West 
und  Ost  verstand  es  Haeckel,  sich  mühsam  das  Untersuchungs- 
material zusammenzuraffen,  welches  ihm  die  Grundlage  für  seine  be- 
rühmte Gasträatheorie  (1872 — 1884)  bot.  Kaum  hatte  Kowalewsky 
die  Entwicklung  des  Amphioxus  entdeckt,  als  Haeckel  in  dessen 
Befunden  den  langgesuchten  Gasträadenzustand  des  Vermittlers 
zwischen  den  Wirbellosen  und  den  Wirbeltieren  erkannte  und  den 
Becherkeim  der  Embryonalentwicklung  des  Amphioxus  als  ein  letztes 
Idealbild  einer  Gastrula  den  Untersuchungen  über  den  korrespon- 
dierenden Entwicklungszustand  der  Wirbeltiere  voranstellte,  bei 
denen  durch  den  Dottererwerb  und  andere  äußere  Umstände  dieser 
Formentypus  nur  in  seinen  wichtigsten  Zügen  unverkennbar  wieder- 
holt, in  nebensächlichem,  an  Masse  allerdings  überwiegendem  Belange 
in  Anpassung  an  jene  eine  weitergehende  fortschrittliche  Entwicklung 
ermöglichenden  Begleitumstände  progressiv  abgeändert  erscheint. 
Was  Haeckel  damals  nur  in  großen  Strichen  angedeutet,  können  wir 
heute  in  aller  Exaktheit  begründen.  Wir  kennen  heutzutage  den 
Gastrulazustand  der  Keimlinge  des  Menschen,  welcher  in  allen  seinen, 
auch  in  den  nebensächlicheren  Details  eine  völlige  Übereinstimmung 
mit  jenem  der  Affenkeime  aufweist  und  in  seinen  Hauptzügen  den 
Gastrulaformen  niederer  Wirbeltiere  und  des  Amphioxus  in  kardi- 
naler Weise  gleicht,  diese  Erwerbungen  sogar  viel  getreuer  und  mar- 
kanter, als  die  Keime  der  Vertreter  mancher  Wirbeltierklasse  wieder- 
holt und  wiederholen  muß,  denn  nur  dieser  Entwicklungsweg,  nur 
diese  Art  von  grundlegenden  Formenerwerbungen  und  -Veränderungen, 
nur  diese  Art  des  Ringens  zwischen  langsamer  und  rascher  wachsenden 

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Zellen  und  Zellverbänden  führt  zu  solchen  Höhen.  Da  Haeckel  stets 
den  Menschen  als  Endziel  der  Forschung,  als  das  „eigentliche  Stu- 
dium der  Menschheit"  vor  sich  hatte,  und  der  zeitraubenden  und  mit 
äußeren  Schwierigkeiten  aller  Art  verbundenen,  von  einem  Einzelnen 
auch  heutzutage  infolge  der  erschwerenden  äußeren  Umstände  nicht 
annähernd  zu  bewältigenden  Arbeit  der  Sammlung  des  Untersuchungs- 
materiales,  der  geschlossenen  Untersuchung  des  Entwicklungsganges 
des  Menschen  und  der  Wirbeltiere  sich  nicht  unterziehen  konnte, 
so  überbrückte  er  mit  Ungeduld,  aber  in  genialer  Konzeption,  stets 
in  den  großen  Zügen  das  Richtige  treffend,  die  Lücken  der  Erfahrung 
und  fügte  dort  Schemata  und  Ubersichtsbilder  ein,  wo  erst  jahr- 
zehntelange emsige  Arbeit  einer  großen  Gemeinde  der  Embryo- 
logen allmählich  die  Einzelheiten  einsetzen  und  das  exakte  Bild  ab- 
runden konnte.  —  So  entstand  „Die  Anthropogenie"  (1874),  in  der 
Haeckel  die  Entwicklungsformen  des  Menschen  mit  jenen  der  Wirbel- 
tierreihe verglich,  den  Werdegang  des  Menschen  von  dem  der  Wirbel- 
tiere ableitete,  —  ein  Werk,  welches  für  alle  Zeiten  an  genialer  Kon- 
zeption und  prophetischem  Erkennen  seinesgleichen  nicht  finden 
wird.  An  diesem  Werke  können  nur  diejenigen  nörgeln,  welche  sich 
an  Nebensächlichem  und  Kleinlichem  stoßen  und  die  großen  Ideen 
nicht  zu  fassen  vermögen.  Niemals  werden  die  Grundfesten  dieses 
Baues  wankend  werden,  mögen  noch  so  viele  Ecksteine  und  Ziegel 
ausgewechselt  und  verbessert  werden;  der  stolze  Bau,  den  Haeckel 
mit  den  kargen  Untersuchungsmitteln  seiner  Zeit  aufgeführt  hat, 
das  weiten  Kreisen  in  faßlicher  Form  mitgeteilte  Wesen  des  Entwick- 
lungsgedankens wird  vom  Wandel  der  Zeiten  und  der  Vertiefung  und 
Erweiterung  unserer  Erfahrungen  in  seinen  Fundamenten  unbeein- 
flußt bleiben,  denn  Haeckel  hat  der  Zukunft  die  wichtigsten  und 
kostbarsten  allgemeinen  Erkenntnisse  geschenkt  und  sie  klar  und 
lapidar  in  den  Worten  des  „biogenetischen  Grundgesetzes"  und  in 
seiner  allzeit  vorbildlichen  Erkenntnis  des  epigenetischen  Charakters 
der  Formveränderungen  und  Formerwerbungen  während  der  Stammes- 
und Keimesentwicklung  niedergelegt. 

Was  den  eingehend  und  mit  Berücksichtigung  aller  Details  und 
Nebenumstände,  mit  allen  Kautelen  der  modernen  Forschung  arbei- 
tenden vergleichenden  Embryologen  vor  allem  zur  Richtlinie  dient, 
ist  Haeckels  Erkenntnis  der  Epigenesis.  Dies  ist  eine  wissenschaftliche 

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214 


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Großtat  von  unabsehbarer  Tragweite,  welche  der  Eingeweihte  vielleicht 
höher  schätzen  mag  als  die  genialen  Darlegungen  über  die  großen  Züge 
der  Entwicklungsreihen  der  höheren  und  niederen  Formen,  welche 
ein  so  umfassendes  Arbeitsprogramm  erschlossen.  Denn  die  Erkennt- 
nis der  Epigenesis  ist  das  allgemeine  Resume,  die  Frucht  des  Ver- 
gleiches der  Umbildungen  in  der  Keimes-  und  Stammesentwicklung, 
im  Embryonal-  und  im  Freileben  und  bildet  ein  ganz  fundamentales 
und  durchdringendes  Prinzip,  welches  bei  jeder  Untersuchung  die 
wichtigste  Vorfrage  bildet,  von  deren  Lösung  und  Beurteilung,  die 
ganze  Behandlung  des  Problems  und  die  daraus  sich  ergebenden 
Konsequenzen  der  Auffassung  in  ihrer  ganzen  Tragweite  abhängig 
sind.  Erst  durch  diese  Erkenntnis,  daß  sowohl  in  der  Stammes-  wie 
in  der  Keimesentwicklung  in  zellenstaatlichem  Bauen  und  Ver- 
ändern, in  zellenstaatlichem  Anpassen  sowohl  im  Ganzen  wie  in  den 
einzelnen  miteinander  ringenden  und  einander  beeinflussenden,  sich 
sondernden  Teilen  vollkommen  neue,  spezifisch  zeilenstaatliche 
Mannigfaltigkeit  entsteht,  die  in  der  Keimzelle  als  solche  in  keiner 
Weise  vorgebildet  sein  kann,  erhält  die  Embryologie  ihre  wissen- 
schaftliche Begründung.  Damit  wird  zugleich  das  biogenetische 
Grundgesetz  —  wenn  wir  vom  Beginne  des  Eiwachstums  ausgehen  — 
in  fundamentalem  Belange  bestätigt.  In  diesem  Prinzip  der  An- 
passung an  innere  und  äußere  Verhältnisse ,  bei  welcher ,  wie  Haeckel 
so  lapidar  und  treffend  aussprach,  ,,aus  Gleichartigem  das  Ungleich- 
artige" entsteht,  ergibt  sich  also  vorerst  die  allgemeine  grundlegende 
Bestätigung  des  biogenetischen  Grundgesetzes  —  worauf  der  größte 
Wert  zu  legen  ist  — ,  denn  die  Wiederholung  stammesgeschichtlicher 
Erwerbungen  in  der  Keimesentwicklung  ist  in  der  allgemeinen  Wir- 
kungsweise zellulären  Schaffens  gleichfalls  ein  vorwiegend  epigene- 
tischer Vorgang  und  Erwerb.  Die  Bedeutung  dieser  Erkenntnis  ist  auch 
daraus  zu  ersehen,  daß  alle  Angriffe  auf  das  biogenetische  Grundgesetz 
—  soweit  sie  von  wissenschaftlicher  Seite  erfolgt  sind  —  von  Forschern 
ausgingen,  welche  dieser  Erkenntnis  der  epigenetischen  Neuerwer- 
bungen und  Neuschaffungen  während  der  Keimesentwicklung  nicht 
teilhaftig  geworden  und  in  das  Wesen  der  Epigenesis  nicht  tief  genug 
eingedrungen  sind.  Denn  Haeckels  Lehre  und  deren  Konsequenzen 
können  nur  Epigenetiker  voll  erfassen,  verstehen  und  vertreten. 
Das  kausale  Moment  des  biogenetischen  Grundgesetzes,  der  onto- 

215 


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genetischen  Wiederholung  phyletischer  Erwerbungen  wird  erst  dann 
dem  Verständnis  erschlossen,  wenn  der  sukzessive  epigenetische  Er- 
werb der  Formenmannigfaltigkeit  von  den  einfachsten  zellenstaat- 
lichen Sonderungen  und  Organbildungen  bis  zu  den  kompliziertesten 
und  vielseitigen  Erfolgen  ausdauernden  und  infolge  des  polarbilate- 
ralen Eibaues  ungleichen  Wachstums,  ungleicher  Energie  der  Zell- 
vermehrung und  zellulärer  Produktivität  und  Differenzierungsfähig- 
keit in  der  ganzen  Tierreihe  verfolgt  wird,  von  den  schon  nach  wenigen 
Tagen   die   Eihüllen   verlassenden   und   sich   den   Bedingungen   des 
Freilebens  anpassenden  niedrigen  Formen  bis  zu  den  höchstgezüch- 
teten,   mit  Assimilationsmaterial    trefflich    versorgten,    eine    lange 
Embryonalentwicklung   durchmachenden  und  ungestört   unter   den 
trefflichsten    Außenbedingungen    weiterbauenden    und    erwerbenden 
Zellenstaaten.    Davon  sind  wir  auch  heutzutage  noch  recht  weit  ent- 
fernt.   Wenn  wir  aber  z.  B.  bei  niedrigeren  und  höheren  Wirbeltieren 
die  Wachstumsvorgänge  und  -bedingungen,  unter  denen  die  Keim- 
blase, der  Urdarm,  die  Mundöffnung,  die  axialen  Sonderungen  der 
Urdarmwand  und  der  äußeren  Keimschichte,  die  Entstehung  der 
Kiemenspalten  und  aller  folgenden  im  Weiterbauen  sich  ergebenden 
epigenetischen  Erwerbungen  erkannt  haben,  dann  werden  wir  erst  das 
Prinzip  und  den  Zwang  der  Wiederholung  erkennen,  und  dann  wird  es 
uns    auch   offenbar,  daß   primitive  Organismen,  welche  nach  dem 
Erwerb  dieser  und  der  folgenden  Gestaltungen  bereits  ihren  Dotter- 
vorrat erschöpft  haben  und  ins  Freileben  d.  h.  in  den  Kampf  ums 
Dasein  eintreten  und  nun  diese  Formationen  in  Anpassung  an  die 
Umwelt  ausgestalten  und  ausnützen,  tatsächlich  den  wohlversorgten 
in  raschem  Wachstum,  in  Anpassung  an  die  äußeren  überaus  gün- 
stigen  Bedingungen    durchlaufenen   Entwicklungs formen    und   -zu- 
ständen der  höheren  weiterbauenden  Organismen  entsprechen.   Dabei 
sind  entsprechend  der  Unabhängigkeit,  Freizügigkeit  und  Variabilität, 
welche  die  Embryonalentwicklung,  die  Entwicklung  innerhalb  der 
Eihüllen  hinsichtlich   der   mangelnden   oder   erst  spät  einsetzenden 
funktionellen  Beanspruchung  der  zellenstaatlichen  Sonderungen,  in- 
folge der  Entrückung  dem  Kampfe  ums  Dasein  schuf,  gewisse  Ab- 
änderungen und  Abweichungen,  Verschiebungen  im  zeitlichen  Auf- 
treten, in  der  Anordnung,  im  Entwicklungsgrade  der  einzelnen  Sonder- 
ungen  und   Organbildungen   des   Zellenstaates  möglich.    Diese  Ab- 

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216 


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änderungen  sind  entweder  progressiv  und  phyletisch  prospektiv  von 
großer  Tragweite  und  äußerst  vorteilhaft  und  legen  zu  ontogenetischen 
und  sodann  in  der  Generationenreihe  zu  phyletischen  Neuerwerbungen 
den  Grund,  die  eben  nur  in  einer  Embryonalentwicklung  möglich 
sind  —  oder  sie  sind  känogenetischer  Art,  indem  sie,  wie  Haeckel  sagt, 
den  Entwicklungsvorgang  stören  und  die  phyletische  Wiederholung 
tatsächlich  fälschen.  Nichtsdestoweniger  kommen  aber  die  Erwer- 
bungen in  ihren  Grundzügen  abgesehen  von  solchen  nebensächlichen 
Veränderungen  doch  im  wesentlichen  in  derselben  Weise  zustande 
wie  bei  niedrigeren  Formen,  die  sie  alsbald  bei  Beendigung  der  Ent- 
wicklung im  Kampfe  ums  Dasein  gebrauchen  und  erproben  müssen. 
Es  ist  daher  infolge  der  Gunst  der  Embryonalentwicklung  und  der 
spät  einsetzenden  funktionellen  Beanspruchung  der  Formationen  bei 
den  höheren  Formen  das  Gesamtbild  der  Embryonen  etwas  verwischt 
und  verschoben,  so  daß  dieselben  nur  mehr  nach  ihren  wesentlichen 
Charakteren,  nach  ihren  Leitformationen,  aber  nicht  nach  ihrem  Ge- 
samthabitus den  freilebenden,  niedrigeren,  die  betreffenden  Ent- 
wicklungszustände  gewissermaßen  arretiert  und  beendigt  darbieten- 
den Organismen  zu  vergleichen  sind ,  welche  in  ihren  Leitformationen 
der  Aszendentenreihe  der  höheren  Formen  entsprechen.  Vor  allem  aber 
ist  es  —  und  dies  erkannt  zu  haben ,  ist  das  große  Verdienst  Haeckels 
—  der  epigenetische  Charakter  der  einzelnen  Formerwerbungen,  in 
was  immer  für  einer  Kombination  und  Gruppierung  mit  anderen, 
welcher  dem  Bilde  der  Wiederholung  den  Stempel  der  Gesetzmäßig- 
keit aufdrückt.  Wenn  wir  die  einzelnen  Entwicklungsformen  und 
-Veränderungen  bei  niederen  und  höheren  Organismen  auf  die  Be- 
dingungen des  ungleichen  Wachstums  und  der  geweblichen  Sonde- 
rungen untersucht  und  ermittelt  haben,  daß  die  epigenetischen  Vor- 
gänge bei  diesen  Erwerbungen  in  korrespondierenden  Stadien  die- 
selben sind,  dann  entsprechen  diese  Erwerbungen  in  den  wesentlichen 
Zügen  einander  —  gleichviel  ob  sie  so  ausgestaltet  werden,  daß  sie 
bereits  für  das  Freileben,  im  Kampfe  ums  Dasein  tauglich  sind 
oder  aber  in  geschützter  Weiterbildung,  das  heißt  bei  allgemein 
gesteigerter  Wachstumsenergie  und  vielseitiger  Differenzierungs- 
bereitschaft nur  als  eine  Grundlage  zu  raschem  Weiterbauen  dienen, 
wobei  dann  manches  Detail,  was  zur  völligen  Gebrauchs fähigkeit 
nötig  wäre,  ausbleibt,  zum  Vorteüe  fortschrittlicher  Vorgänge.    Diese 

217 


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ökonomische  Einschränkung  der  Wiederholung  kann  jedoch  nur  so 
weit  gehen,  als  es  sich  um  in  der  Embryonalentwicklung  Unbrauch- 
bares, Überflüssiges,  dem  Weiterbauen  sogar  Hinderliches  handelt. 
Dies  ist  an  sich  gleichfalls  ein  „palingenetisches"  Moment,  weil  eben 
dadurch  der  anschließende  fortschrittliche  Erwerb  neuer  und  vorteil- 
hafterer Formenmannigfaltigkeit  begünstigt  wurde  und  noch  wird.  In 
ihren  wesentlichen  Zügen,  sozusagen  in  ihrem  Gerippe,  müssen  jedoch 
alle,  auch  die  als  solche  unbrauchbaren  und  scheinbar  unzweck- 
mäßigen Formationen  der  Entwicklungsreihen  wiederholt  werden, 
sofern  sie  Wachstumslagen  und  -Situationen  repräsentieren,  auf  denen 
weitere  Formerwerbungen  basieren,  aus  denen  sich  weitere  vorteil- 
hafte Wachstumsrichtungen,  Wachstums-  und  Differenzierungs- 
weisen ergeben.  Deshalb  muß  die  Wiederholung  der  primitiveren, 
weiter  zurückliegenden  phyletischen  Erwerbungen  innerhalb  gewisser 
Grenzen  erfolgen,  welche  die  züchtende  Auslese  geregelt  hat.  —  Aus 
den  Übereinstimmungen  bei  der  Keimesentwicklung  der  rezenten 
höheren  und  niedrigeren  Organismen  ist  sodann  der  Schluß  zu  ziehen, 
daß  auch  in  der  Aszendentenreihe  der  ersteren  bei  der  allmählichen 
Verlängerung  der  Embryonalentwicklung  und  der  Steigerung  der 
zellulären  Fähigkeiten,  bei  der  Veränderlichkeit  der  Außenbedingungen 
und  der  Vielseitigkeit  der  Anpassungserscheinungen  die  einzelnen 
Etappen  der  epigenetischen  Neuerwerbungen,  des  Weiterbauens  im 
Wesentlichen  in  derselben  Weise  erfolgt  sind,  wie  es  rezente  niedere 
Formen  nach  Abstrich  der  für  sie  charakteristischen  Nebenerwerbun- 
gen darbieten.  So  können  letztere  auf  Grund  ihrer  keinesgeschicht- 
lichen  Dokumente  als  Vertreter  jener  Aszendenten  gelten.  So  ge- 
währt also  der  Vergleich  der  Entwicklungsformen  die  wichtigsten 
und  großartigsten  Dokumente  der  Stammesentwicklung;  daran 
schließt  sich  erst  in  streng  wissenschaftlicher  Methodik  der  Vergleich 
der  ausgebildeten  Organismen.  —  Diese  Grundgedanken,  welche  wir 
aus  Haeckels  Werken  gewinnen,  basieren  auf  der  Erkenntnis,  daß  in 
jeder  Keimesentwicklung  die  Gestaltungen  in  raschem  ungleichen  und 
überschäumenden  Wachstum  mit  zellulären  Mitteln  und  Werten  erst 
neu  erworben  werden  müssen,  daß  dieses  Anpassen  des  Zellenstaates 
an  die  unerschöpflich  variabeln  innern  und  äußern  und  die  davon 
abhängigen,  erst  während  der  Entwicklung  sich  ergebenden  Bedin- 
gungen während  der  Entstehung  der  Organismen  viel  intimer  und 

218 


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vielseitiger  ist  als  an  vollendeten,  im  Kampf  ums  Dasein  stehenden, 
sich  der  Umwelt  anpassenden  Organismen.  So  bilden  also  diese  von 
Haeckel  stets  besonders  hervorgehobenen  Anpassungserscheinungen 
während  der  Embryonalentwicklung,  welche  auf  Schritt  und  Tritt  und 
in  unerschöpflicher  Mannigfaltigkeit  am  keimenden,  wachsenden  und 
beständig  Neues  erwerbenden  Zellenstaate  ,,aus  Gleichartigem  das 
Ungleichartige"  schaffen,  ein  wichtiges  Fundament  der  biologischen 
Forschung.  Auf  dieser  Erkenntnis  des  epigenetischen  Charakters  der 
Wiederholung  solcher  Anpassungen  und  Erwerbungen  basiert,  um 
dies  nochmals  zu  betonen,  das  Verständnis  des  biogenetischen  Grund- 
gesetzes. Haben  wir  die  Bedingungen,  unter  denen  sich  die  Wieder- 
holung vollzieht,  ermittelt,  dann  ist  auch  deren  Zwang  und  deren 
Abänderung  erklärt. 

Die  von  Haeckel  begründete  Erkenntnis  der  Epigenesis  und 
seine  historische  Betrachtungsweise  der  stammesgeschichtlichen  Über- 
lieferungen der  Keimesentwicklung  erschließen  auch  die  Richtlinien 
für  das  Verständnis  der  Vererbungserscheinungen,  deren  Gesetzmäßig- 
keit Haeckel  in  der  „generellen  Morphologie"  bereits  ausführlich 
behandelt  hat.  Die  Analyse  des  Erbes  der  Vergangenheit,  welches  die 
Keimzellen  repräsentieren,  kann  nur  auf  Grund  der  Erkenntnis  des 
epigenetischen  Charakters  der  Erwerbungen  ihrer  Abkömmlinge,  die 
„aus  Gleichartigem  das  Ungleichartige"  schaffen,  mit  Erfolg  in  An- 
griff genommen  werden,  wenn  wir  unbefangen  und  frei  vom  Joche 
„pseudomechanischer  Spekulationen"  der  Entwickelungsmechaniker 
die  Fülle  der  epigenetischen  Reaktionen  analysieren,  welche  die  so 
unerschöpfliche  Variation  zellulärer  Fähigkeiten  der  Keimzellen  beim 
zellenstaatlichen  Bauen  und  Wachsen  in  den  spezifisch  zellenstaat- 
lichen Wachstums-  und  Differenzierungslagen  herbeiführen,  welche 
sich  während  der  Entwicklung  epigenetisch  einstellen.  Wenn  wir 
die  Bedingungen  analysieren,  in  welche  hierbei  die  Zellen  bei  der 
Ausübung  ihrer  Fähigkeiten  —  des  Teilungswachstums  und  der 
Produktivität  des  Plasmas  —  geraten,  dann  lernen  wir  es  ermessen, 
welche  Bedeutung  allein  schon  einer  allgemein  gesteigerten  Wachstums- 
energie als  kardinalem  Erbe  der  Vergangenheit  zukommt,  wenn  da- 
durch ein  Weiterbauen  auf  allen,  durch  ungleiches  Eiwachstum  ein- 
geleiteten, im  Ringen  rascher  und  langsamer  wachsender  Zellen  ent- 
standenen Situationen  ermöglicht  wird,  was  den  fortgesetzten  Form- 

219 


erwerb  und  neue  Anpassungserscheinungen  aller  Art  zur  Folge  hat. 
Daraus  ergibt  sich  die  Tragweite  des  phyletischen  Erbes  der  zellu- 
lären Hochzucht,  der  Steigerung  des  andauernden  Teilungswachstums 
und  der  zellulären  Produktivität  für  die  immer  vielseitiger  werdenden 
geweblichen  Sonderungen  in  komplizierteren  Zellenstaaten.  Haeckel 
hat  uns  gelehrt,  zuerst  über  die  Wiederholung  der  fundamentalen 
Formgestaltungen  oder,  wie  wir  vielleicht  sagen  möchten,  die  Ver- 
anlagung zum  epigenetischen  Erwerbe  der  einfacheren  Gestaltungen 
der  Organisation  ins  klare  zu  kommen,  ehe  allerletzte  Detailfragen 
über  komplizierte  individuelle  Varianten  bei  höherstehenden  und 
höchstgezüchteten  Organismen  behandelt  werden.  Diese  prinzipielle 
Forderung  und  Voraussetzung  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung 
der  Vererbungserscheinungen,  die  historische  Betrachtungsweise  des 
zellulären  Erbes  der  Vergangenheit  und  die  Überzeugung  vom  epi- 
genetischen Wirken  bei  den  Vererbungserscheinungen  ist  eine  der 
wichtigsten  Konsequenzen,  welche  wir  aus  Haeckels  Lehren  ziehen. 
Wenn  wir  einmal  zuerst  für  die  fundamentalen  Gestaltungen  das  in 
langen  Generationenreihen  Ererbte  von  dem  in  jeder  Ontogenese 
aufs  neue  epigenetisch  mit  diesem  Erbe  Erworbenen  klar  unter- 
scheiden können,  dann  erst  können  die  in  den  letzten  Generationen 
auftretenden  subtilen  individuellen  Charaktere  mit  Erfolg  behandelt 
werden,  dann  wird  die  Beharrlichkeit  der  dominanten  und  die  La- 
bilität der  rezessiven  Merkmale  mit  einem  Schlage  offenkundig  sein 
und  durch  sorgfältige  Analyse  der  äußeren  und  inneren  Bedingungen 
zellenstaatlichen  Erwerbens  erklärt  werden  können.  Dann  wird  diese 
wissenschaftliche  Betrachtungsweise  das  Vererbungsproblem  in  einem 
ganz  andern  Lichte  erscheinen  lassen  als  auf  Grund  pseudomechani- 
scher Vorstellungen  über  neoevolutionistische  Vorgänge,  wie  sie  füh- 
rende Entwickelungsmechaniker  hegen.  Dann  werden  auch  die  Ver- 
erbungsexperimente großzügiger  erdacht  und  durchgeführt  werden. 
Das  Unbefriedigende  der  heutigen  Ergebnisse  ist  darin  begründet, 
daß  die  meisten  Vererbungstheoretiker  keine  Ahnung  von  den 
keimesgeschichtlichen  Entstehungsbedingungen  der  Erscheinungen 
haben,  welche  sie  auf  ihre  Häufigkeit  und  Dominanz  prüfen.  Diese 
sorgfältigen  Analysen  der  Entstehung  der  Vererbungserscheinungen 
müssen  auch  der  zytologischen  Betrachtungsweise  der  Keimzellen 
vorangehen,    denn    sie    bieten    das    einzige    und   verläßlichste   Kri- 

220 


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terium  zur  Unterscheidung  belangloser  und  bedeutungsvoller  zellu- 
lärer Formationen,  deren  Wirkungsweisen  dann  offenkundig  sein 
werden.  Bei  solchen  Analysen  werden  dann  die  Zytologen  die  Wahr- 
nehmung machen,  daß  sehr  wenig  Aussicht  vorhanden  ist,  mit  dem 
Tinktionsverfahren  das  Erbe  der  Keimzellen  in  subtilerem  Belange  zu 
analysieren,  sondern  daß  biochemische  und  stoffwechselphysiologische 
Ermittelungen  auf  zellularphysiologischer  Basis  nötig  sind,  um  Rück- 
schlüsse auf  die  epigenetischen  Reaktionen  zu  gewinnen,  auf  solche 
charakteristische  Veränderungen  im  zellenstaatlichen  Bauen  und  Er- 
werben bei  der  Entstehung  der  Vererbungsmerkmale.  So  wird  also 
auch  in  diesem  so  aussichtsvollen  und  wichtigen  Belange  die  weitere 
Verfolgung  der  von  Haeckel  angebahnten  Prinzipien  bei  der  gene- 
tischen Interpretation  ein  klares  Verständnis  der  so  vielseitigen  und 
wichtigen  Erscheinungsweisen  der  phyletischen  und  ontogenetischen 
Vererbungsphänomene  verbürgen. 

Der  Epigenetiker  begreift  die  unentwegte  und  rücksichtslose 
Stellungsnahme  Haeckels,  des  großen  Wahrheitssuchers,  gegen  die 
sowohl  die  historische  Betrachtungsweise  wie  den  Epigenesisgedanken 
außer  acht  lassende  und  daher  zu  ganz  irrigen  Konsequenzen  führende 
Keimplasmatheorie,  sowie  die  ernüchternden  Worte,  mit  welchen 
Haeckel,  der  erste,  welcher  an  keimenden  Organismen  experimentiert 
hat,  die  ,, pseudomechanischen"  Bestrebungen  von  Wilhelm  Roux, 
eines  seiner  Schüler,  aufs  schärfste  verurteilt  hat,  welcher  sich  in  den 
Irrlehren  von  His  und  Weismann  verfangen  und  das  Experiment 
in  den  Dienst  von  Voraussetzungen,  Annahmen  und  Spekulationen 
gestellt  hat,  die  mit  den  fundamentalsten  Ermittelungen  der  deskrip- 
tiven Analyse  des  Entwicklungsgeschehens  in  schroffem  Wider- 
spruche stehen.  Auch  in  diesem  Tadel  wirkt  Haeckel  als  Lehrer, 
denn  „Entwicklungsmechanik  engster  Perspektive",  die  Denkmöglich- 
keiten der  Mosaiktheorie,  die  Konsequenzen  der  Determinantenlehre, 
die  Hypothesen  über  die  Lokalisation  und  Wirksamkeit  „organ- 
bildender Keimbezirke  und  Stoffe",  der  „Plassonten"  und  „Organ- 
plasmen" fordern  zumal  bei  gänzlicher  Unterlassung  der  experimen- 
tellen Gegenproben  der  vermeintlichen,  tatsächlichen  Beweise  die 
schärfste  Zurückweisung  solcher  „unvorstellbarer  Annahmen"  heraus. 
Welch  prächtige  Bereicherung  der  Formenmannigfaltigkeit  ließe  sich 
schaffen,  wenn  wir  alle  die  von  der  deskriptiven  Analyse  des  un- 

221 


gestörten  Geschehens  klipp  und  klar  vorzuschreibenden  Experimente 
im  Sinne  der  Haeckelschen  Vorstellungen  von  der  Epigenesis  durch 
Erzwingung  andersartiger  Wachstums-  und  Differenzierungserschei- 
nungen unter  zielbewußt  veränderten  Bedingungen  ausführen  könn- 
ten! Aber  leider  hindern  äußere  Momente  in  vielen  Fällen  die  Durch- 
führbarkeit solcher  Experimente;  immerhin  sind  viele  klassische  Er- 
gebnisse bereits  erzielt  worden,  an  denen  der  Epigenetiker  seine 
Freude  hat ;  in  vielen  Fällen  muß  er  sich  damit  bescheiden,  die  Probe 
und  Gegenprobe  kalkuliert  zu  haben.  Was  Haeckel  in  erster  Linie 
vom  Experimentator  fordert,  ist  die  historische  Betrachtungsweise, 
die  umfassende  vergleichend  analytische  Erfahrung;  denn  nur  dann, 
wenn  der  phyletische  und  ontogenetische  Erwerb  bestimmter  Wachs- 
tums- und  Differenzierungslagen  in  den  Grundzügen  festgestellt  und 
die  durch  das  Eiwachstum  und  durch  äußere  Bedingungen  geschaffene 
Anfangssituation  exakt  untersucht  ist,  kann  der  ontogenetische  Er- 
werb der  Wachstums-  und  Differenzierungslagen  künstlich  mit  Erfolg 
verändert  und  die  epigenetische  Reaktion  des  Zellenstaates  zielbe- 
wußt hervorgerufen  werden.  Nur  dann  erwerben  wir  uns  nach  dem 
vorbildlichen  Vorgehen  Haeckels  in  seiner  Siphonophorenarbeit  das 
Recht,  in  das  Wachstum  einzugreifen  und  bei  der  zellulären  Produk- 
tivität die  Auslese  einer  anderen  Differenzierungsweise  zu  erzwingen. 

Haeckels  unschätzbare  Verdienste  um  die  dem  Volke  gewährte 
Aufklärung  über  seine  in  umfassenden  wissenschaftlichen  Erfahrungen 
gesammelten  Wahrheitsbeweise,  über  die  großen  Probleme  des  Natur- 
erkennens,  über  die  „letzte  aller  Fragen"  und  das  „eigentliche  Stu- 
dium der  Menschheit",  sein  beispielloser  Erfolg  in  der  populären 
abstrahierenden  Darlegung  wissenschaftlicher  Ergebnisse  mögen  von 
Berufeneren  geschildert  werden,  welche  auch  den  an  Nebensächlich- 
keiten sich  stoßenden  Kritikern  zu  entgegnen  haben.  Wir  wollten 
vor  allem  zeigen,  welche  „Ziele  und  Wege"  Haeckel  (schon  1875) 
der  wissenschaftlichen  Forschung  gesteckt,  welch  unerschöpfliche 
Fülle  von  Anregungen  wir  Haeckel  bei  der  Aufdeckung  des  Werde- 
ganges der  Natur  verdanken,  dessen  Großartigkeit  uns  Haeckel  er- 
schlossen hat. 

Die  tiefe  Überzeugung  von  der  Richtigkeit  und  Tragweite  der 
großen  Fragen  und  Antworten  des  Naturerkennens,  des  umfassenden 

222 


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Problems  des  ewigen  Werdeganges  der  Organismenwelt  verklärt 
den  Lebensabend  des  großen  Wahrheitsforschers.  Wer  je  im  Hause 
dieses  Olympiers  geweilt  und  die  Ruhe  und  Zuversicht,  die  ab- 
geklärte Weltanschauung  und  die  ausdrucksvolle  Überzeugung  und 
großzügige  Erfahrung  in  den  milden  Zügen  des  hochgefeierten  Jubilars 
geschaut,  wer  in  seine,  stets  auf  das  Große  und  Ganze  gerichteten 
Augen  gebückt,  —  der  schreitet  nach  diesem  tiefen  Erlebnis  besonnen 
und  innerlich  gefestigt  wieder  an  seine  Arbeitsstätte,  um  mit  er- 
weitertem Blicke  und  mit  geschärften  Waffen  unentwegt  für  die 
Wahrheit,  für  Haeckels  Sache,  für  den  wissenschaftlichen  Ausbau 
des  Monismus  einzutreten,  den  Haeckel  vor  allem  durch  seine  so 
weittragende  Epigenesislehre  begründet  hat. 


223 


HUGO    SPITZER,    GRAZ:    DARF    ICH    MICH    EINEN 
HAECKELSCHÜLER  NENNEN? 

o  o  o 

Mit  Haeckelschen  Ideen  bin  ich  in  sehr  jungen  Jahren  vertraut 
geworden.  Nachdem  ich  bereits  die  zwei  Vorträge  „Über  die 
Entstehung  und  den  Stammbaum  des  Menschengeschlechts"  gelesen 
hatte,  wurde  mir  von  meinem  Vater,  dem  freisinnigen  Verfasser 
von  „Papsttum  und  Konzil"  und  anderen  historisch-politischen 
Schriften,  einem  warmen  Verehrer  Haeckels,  die  „Natürliche  Schöp- 
fungsgeschichte" bald  nach  ihrem  Erscheinen,  also  im  Jahre  1868 
oder  1869,  zum  Geschenke  gemacht.  Durch  Bücher  von  Vogt  und 
Moleschott  schon  früher  für  die  naturwissenschaftliche  Weltansicht 
gewonnen,  durch  Vogts  „Vorlesungen  über  den  Menschen"  insbe- 
sondere auch  von  der  Wahrheit  und  Bedeutung  der  Darwinschen 
Lehre  überzeugt,  ergriff  ich  die  Gedanken  des  Haeckelschen  Werkes 
mit  dem  ganzen  Enthusiasmus,  dessen  die  Jugend  fähig  ist.  Nicht 
nur  der  Gegenstand  fesselte  mich  aufs  höchste  —  kam  es  doch  ebenso 
wohl  meinem  Triebe  zu  philosophischer  Spekulation  wie  meinen 
zoologischen  Interessen  entgegen !  — ,  auch  die  Art ,  in  welcher  Haeckel 
die  Fragen  behandelte,  machte  den  tiefsten  und  nachhaltigsten  Ein- 
druck auf  mich.  Das  klare,  konsequente  Festhalten  an  den  natürlichen 
Erklärungsprinzipien,  die  Ablehnung  jeder  superstitiösen  Teleologie, 
die  ausnahmslose  Zurückführung  der  uns  zweckmäßig  erscheinenden 
Gebilde  und  Einrichtungen  teils  auf  natürliche  Zuchtwahl,  teils  auf 
direkte  Anpassung  —  alles  das  entsprach  so  sehr  den  in  mir  schon 
befestigten  Grundvorstellungen,  daß  die  „Natürliche  Schöpfungs- 
geschichte" für  mich  fortan  eine  Art  Evangelium  wurde.  Das  einzige 
Stück  des  Haeckelschen  Gedankenkreises,  mit  dem  ich  mich  nicht 
ganz  zu  befreunden  vermochte,  war  der  Hylozoismus,  wie  er  zum 
Schlüsse  der  ersten  Vorlesung  anklang:  ich  war  damals  völlig  auf 
die  „Kraft-  und  Stoff-Lehre  in  Büchnerscher  Fassung  eingeschworen, 
so  daß  selbst  der  Gedanke  einer  Allbeseelung  mir  schon  als  ein  un- 
nützes Zugeständnis  an  den  Dualismus  erschien.  Mit  den  pantheisti- 
schen  Wendungen  fand  ich  mich  leichter  ab,  da  ich  mir  sagte,  daß 
es  sich  hier  ja  doch  nur  um  Worte,  um  Benennungen  handle. 

Es  dürfte  ungefähr  um  dieselbe  Zeit  gewesen  sein,  daß  mir  Haeckels 

224 


,, Schöpfungsgeschichte"  und  Feuerbachs  sämtliche  Werke  in  die  Hand 
kamen,  und  ich  darf  es  wohl  aussprechen:  der  große  Reformator 
der  organischen  Morphologie  hat  meine  wissenschaftliche  Entwicklung 
kaum  weniger  mächtig  und  entscheidend  beeinflußt  als  der  Urheber 
des  neueren  naturalistischen  Monismus.  Stand  ich  in  den  nächst- 
folgenden Jahren  bezüglich  der  Auffassung  der  eigentlich  philo- 
sophischen Probleme  durchaus  im  Banne  Feuerbachs,  so  wurden 
meine  biologischen  Vorstellungen  ebenso  vollkommen  von  Haeckel 
beherrscht.  Seine  Terminologie  leistete  mir  die  wertvollsten  Dienste; 
mit  ihrer  Hilfe  fand  ich  mich  zurecht  in  der  sonst  verwirrenden 
Fülle  von  Beziehungen ;  die  mannigfachen  morphologischen  und  gene- 
tischen Begriffe,  auf  deren  Unterscheidung  es  der  Deszendenztheorie 
ankommt,  hielt  ich  mit  leichter  Mühe  auseinander,  da  sie  in  den 
bündigen,  sich  von  selbst  einprägenden  Terminis  fixiert  waren,  und 
die  Orientierung  in  den  Erscheinungen  der  organischen  Welt  ließ 
mich  im  Stiche,  wo  mir  die  Haeckelschen  Konzeptionen  keinen 
Wegweiser  boten.  Ein  Beispiel  spricht  hier  besonders  deutlich.  Ich 
erinnere  mich  noch  lebhaft,  wie  wenig  die  Vogtsche  Mikrozephalen- 
theorie in  ihrer  späteren  Gestalt  (Einlenken  der  Gehirnentwicklung 
aus  dem  Prosimienstadium  in  die  außerhalb  der  menschlichen  Ahnen- 
reihe liegende  Affenrichtung)  mich  befriedigte:  sie  paßte  eben  nicht 
zu  meinen  aus  Haeckel  geschöpften  Vorstellungen  über  das  Verhältnis 
von  Onto-  und  Phylogenese;  ich  konnte  nichts  anfangen  mit  dem 
Abbiegen  der  Entwicklung  in  eine  Seitenlinie,  in  welcher  die  Vor- 
fahren sich  niemals  bewegt  hatten;  die  Gehirnbildung  schien  mir  so 
wie  jedes  andere  Stück  der  Organisation  eine  Frucht  der  Anpassung 
zahlloser  Geschlechter  an  die  tausendfach  wechselnden  Artschicksale, 
so  daß  sie  Zug  um  Zug  diese  Schicksale  gleichsam  widerspiegeln 
mußte,  und  das  Einschlagen  einer  andern  Richtung  als  der  durch  die 
Erlebnisse  der  Ahnen  bedingten,  das  Hineingeraten  in  eine  Bahn, 
welche  nach  meiner  Meinung  auch  ihrerseits  die  Anpassung  der  Vor- 
fahrenreihe an  eine  lange  Folge  ganz  bestimmter  Umstände  zur 
Voraussetzung  hatte,  —  eben  der  Umstände,  unter  denen  der  Affen- 
typus sich  ausbildete,  hielt  ich  für  eine  bare  Unmöglichkeit.  Das 
mochte  nun  im  Hinblick  auf  den  speziellen  Fall  eine  recht  naive  An- 
schauung sein;  aber  sie  beweist,  wie  ausschließlich  mein  natur- 
geschichtliches Denken  durch  Haeckel  geschult  war,  wie  mein  Ver- 

3333333§39§333939il3S33951i33E|E]SlElG]E]G]5]ElE]51G]E]E]E]E]G]G]E]G]EIE]E]G]E] 
15     Haeckel-Festschrift.   Bd.  II  225 


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ständnis  versagte,  sobald  ich  Haeckelsche  Begriffe  nicht  anwenden 
konnte.  Die  Annahmen,  denen  ich  mich  verschloß,  brauchten  gar 
nicht  einmal  in  Widerspruch  mit  den  Lehren  Haeckels  zu  stehen; 
es  brauchten,  wie  in  diesem  Fall,  nur  Verhältnisse  in  Frage  zu  kom- 
men, auf  die  Haeckel  nicht  eigens  eingegangen  war  und  die  er  nicht 
ausdrücklich  hervorgehoben  hatte.  Wo  er  mich  nicht  führte,  da 
blieb  ich,  wie  gesagt,  ratlos  stehen. 

Als  ich  in  Graz  meine  philosophischen  Studien  fortsetzte,  in  der 
glücklichsten  Weise  gefördert  durch  Riehl,  den  hervorragenden  Den- 
ker, welcher  damals  noch  an  der  Grazer  Universität  wirkte,  erkannte 
ich  bald  die  Unzulänglichkeit  des  dogmatischen  Materialismus,  und 
wenn  auch  die  Schriften  Dührings  mich  immer  wieder  nach  dieser 
Richtung  hinüberzuziehen  suchten,  so  verhinderte  doch  eben  der 
Verkehr  mit  Riehl,  nebst  der  eifrigen  Lektüre  Schopenhauers,  einen 
gänzlichen  Rückfall.  Ich  fing  an  mich  ernstlicher,  als  ich  es  bisher 
getan,  mit  Kant  zu  beschäftigen:  aus  dem  ,, Kraft-  und  Stoff- 
Gläubigen  wurde  allmählich  ein  Neukantianer,  ein  wenig  schopen- 
hauerisch gefärbt,  aber  vor  Schopenhauers  mystischen  Neigungen  be- 
wahrt durch  die  Schulung  an  Feuerbach,  den  ich  nun  in  vielen  seiner 
tiefsten  und  bedeutendsten  Gedanken  erst  recht  verstehen  lernte. 
Von  Aussprüchen  wie:  „Leben,  Empfinden,  Denken  ist  etwas  ab- 
solut Originales"  erschloß  sich  mir  in  der  Tat  jetzt  erst  der  weit- 
reichende Sinn,  nachdem  ich  die  begriffliche  Verschiedenheit  des 
„Psychischen"  von  dem  „Materiellen"  der  mechanischen  Natur- 
wissenschaft, sowie  die  abstrakte  Natur  dieses  Materiellen  eingesehen 
hatte,  und  demgemäß  begann  ich  nun  auch  über  den  Hylozoismus 
Haeckels  ganz  anders  als  in  jenen  philosophischen  Flegel] ahren  zu 
urteilen.  Es  wurde  mir  klar,  daß  eine  Überwindung  der  „Kraft- 
und  Stoff-"  Doktrin  ohne  Preisgabe  der  monistischen  Grundüber- 
zeugung nur  auf  doppeltem  Wege  möglich  ist :  entweder  auf  dem  des 
Hylozoismus,  wie  ihn  Fechner  und  Haeckel  betreten  haben,  oder  auf 
dem  der  kritischen  Philosophie.  Weshalb  ich  für  meine  Person  den 
letzteren  Weg  vorzog,  habe  ich  vor  einem  Menschenalter  in  einer  kleinen 
Arbeit:  „Über  Ursprung  und  Bedeutung  des  Hylozoismus"  ausein- 
andergesetzt. Die  Abkehr  von  dem  dogmatischen  Materialismus  be- 
deutete also  für  mich  so  wenig  eine  Abwendung  von  Haeckel,  daß 
ich  diesem  infolge   der  Umwälzung  meiner  Anschauungen  vielmehr 

226 


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auch  da  gerecht  werden  konnte,  wo  ich  früher  nur  grundlose  Phan- 
tasien und  halbspiritualistische  Irrtümer  zu  sehen  geglaubt  hatte. 

Inzwischen  war  ich  in  Haeckels  theoretisches  Hauptwerk,  die 
„Generelle  Morphologie",  so  weit  eingedrungen,  als  es  mir  für  meine 
Zwecke  dienlich  schien;  ich  studierte  mit  Fleiß  die  „Anthropogenie" 
und  vertiefte  mich  in  die  späteren,  biologische  Prinzipienfragen  be- 
handelnden Schriften;  Weismanns  geniale  Hypothese  von  der  Kon- 
tinuität des  Keimplasmas  eröffnete  mir  neue  Gesichtspunkte,  und 
endlich  wagte  ich  es,  in  den  „Beiträgen  zur  Deszendenztheorie"  alle 
die  Gedanken  niederzulegen,  die  ich  mir  selber  über  das  Abstammungs- 
problem sowohl  nach  der  objektiven  Seite  wie  bezüglich  des  logischen 
\  Charakters  der  hier  Aufschluß  bringenden  Methoden  gebildet  hatte. 
|  Der  Fachmann  ersieht  schon  aus  diesem  Buche,  wieviel  ich  Haeckel 
!  zu  danken  hatte,  obgleich  ich  mich  darin  zur  Vererbung  somato- 
I  gener  Merkmale  skeptisch  verhielt  und  gegen  ein  paar  der  von  Haeckel 
:  aufgestellten  Gesetze  Bedenken  äußerte.  In  dem  letzteren  Punkt 
I  leiteten  mich  aber  nicht  etwa  Zweifel  am  Tatsächlichen,  sondern  rein 
:  formale,  von  den  Erfordernissen  des  Gesetzesbegriffs  ausgehende  Er- 
!  wägungen;  denn  es  ist  klar,  daß  z.  B.  das  „Huxleysche  Gesetz" 
f  bloße  relative  Ähnlichkeitsgrade  bestimmt,  zu  welchen  gar  keine 
weitere  Beziehung  hinzukommt,  während  das  „biogenetische  Grund- 
gesetz" zwar  an  und  für  sich  jenen  Postulaten  genügt,  aber  der 
1  strengen  Allgemeingültigkeit  ermangelt,  die  den  Gesetzen  der  Chemie 
I  und  Physik  eigen  ist.  Indessen  bekenne  ich  offen,  daß  ich  heute 
\  diese  Bedenken  nicht  mehr  in  vollem  Umfang  aufrechthalten  möchte. 
;  Nicht,  als  ob  ich  nicht  noch  immer  dafürhielte,  daß  das  „biogenetische 
I  Grundgesetz"  anderer  Art  ist  als  die  Gesetze,  welche  die  exakte 
•  Naturwissenschaft  formuliert.  Allein  mancherlei  Erfahrungen,  die  ich 
I  im  Laufe  meines  Lebens  über  den  Erfolg  wissenschaftlicher  Arbeit 
;  gesammelt,  haben  mir  die  Überzeugung  aufgedrängt,  daß  dasjenige, 
j  was  vom  Standpunkte  der  Wissenschaftstheorie  vielleicht  richtig, 
:  keineswegs  auch  praktisch  und  didaktisch  zweckmäßig  ist.  Es  reicht 
!  oft  nicht  hin,  wichtige  Tatsachen  in  einfach  sachlicher  Weise  zu 
|  erörtern,  ohne  daß  die  Aufmerksamkeit  durch  besondere  Mittel  auf 
1  sie  gelenkt  wird.  Wer  eine  Wahrheit  verbreiten  und  zu  allgemeiner 
j  Anerkennung  bringen  will,  der  muß  sie  vielmehr  auffällig  hervorheben, 
j  gewissermaßen  unterstreichen,  muß  dafür  sorgen,  daß  sie  mit  einem 

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15*  227 


prägnanten,  das  Interesse  fesselnden  Namen  belegt  wird,  und  je 
höhere  Vorstellungen  von  der  Bedeutung  der  Sache  dieser  Name 
erweckt,  um  so  rascher  und  sicherer  wird  sich  die  Wahrheit  durch- 
setzen. So  gesehen,  erscheinen  aber  die  Haeckelschen  Aufstellungen 
unstreitig  in  einem  wesentlich  vorteilhafteren  Lichte,  und  wenn  sich 
Haeckel  etwa  noch  entschlösse,  das  „Huxleysche  Gesetz",  das  von 
einem  wirklichen  Gesetze  doch  gar  zu  wenig  an  sich  hat,  in  den  „Huxley- 
schen  Satz"  umzutaufen,  so  dürfte  sich  wohl  überhaupt  nichts  Trif- 
tiges gegen  sie  einwenden  lassen. 

Einen  Anlaß,  unmittelbar  zu  Haeckels  Wirken  Stellung  zu  nehmen, 
bot  mir  das  Erscheinen  der  „Welträtsel".  Mit  diesem  Werke  hat 
sich  der  gelehrte  Zoologe  in  die  erste  Reihe  jener  großen  Aufklärer 
gestellt,  die  vom  16.  Jahrhundert  an  den  Kampf  für  die  Befreiung 
des  Geistes  aus  den  Fesseln  kirchlicher  Gebundenheit  führen,  —  in 
die  Reihe,  die  von  Montaigne  und  Charron  in  Frankreich,  von  Herbert 
v.  Cherbury,  Hobbes  und  Toland  in  England,  von  Laurentius  Valla, 
Pomponatius,  Giordano  Bruno  und  Vanini  in  Italien  eröffnet  wird. 
Das  Buch  ist  ein  Dokument  von  unvergänglichem  Wert  in  der  Kultur- 
und  Geistesgeschichte  der  Menschheit;  es  wird  stets  mit  Tolands 
„Pantheistikon",  Holbachs  „Systeme  de  la  nature"  und  David 
Strauß'  Schwanengesang:  „Der  alte  und  der  neue  Glaube"  zu- 
sammen genannt  werden  müssen,  und  es  ist  dadurch  doppelt  inter- 
essant, daß  es,  ähnlich  wie  Moleschotts  „Kreislauf  des  Lebens"  oder 
Vogts  „Köhlerglauben",  den  Anteil  beleuchtet,  welchen  die  Natur- 
wissenschaften an  dem  großen  Befreiungskampfe  genommen  haben. 
Haeckel  hat  nie  den  Anspruch  erhoben,  daß  man  die  „Welträtsel" 
als  die  Schöpfung  eines  Fachphilosophen  ansehe.  Aber  in  unseren 
Tagen,  wo  sich  die  allgemeine  Reaktion  insbesondere  auch  auf 
philosophischem  Gebiete  fühlbar  macht,  wo  die  Philosophie  in  einem 
immer  größer  werdenden  Bruchteile  ihrer  Vertreter  die  Bahnen  der 
echten,  typischen  Scholastik  wandelt,  sich  bald  in  den  verschrobensten, 
unnatürlichsten  Begriffsbildungen  logischen  oder  psychologischen  In- 
halts gefällt,  bald  auf  das  Breittreten  allbekannter  Dinge  mit  Er- 
findung neuer  Namen  dafür  ihre  Kraft  wendet  und  bei  alledem  den 
Weltanschauungsfragen  ängstlich  aus  dem  Wege  geht  oder,  wenn 
sie  schon  diese  Fragen  beantwortet,  es  im  Geiste  des  alten,  kindlichen 
Dualismus  tut,   —  heute  muß  auch  der  philosophische  Fachmann 

228 


ein  Buch  wie  die  „Welträtsel"  mit  freudiger  Dankbarkeit  begrüßen. 
Zwar  erstreckt  sich  der  Einfluß  Haeckels  nicht  auf  die  Kreise  der 
soeben  gekennzeichneten  ,, Philosophie";  allein  die  „Schöpfungsge- 
schichte", die  „Welträtsel"  und  „Lebenswunder"  können  doch  wenig- 
stens begabte  Köpfe  abhalten,  sich  dieser  „Philosophie",  dem  Gemisch 
von  Experimentalpsychologie  und  Scholastik,  zuzuwenden,  und  auch 
das  ist  für  die  Sache  der  echten  und  ernsten  Philosophie  schon  ein 
hoher  Gewinn.  Wiewohl  Haeckels  Weltanschauung  sich  in  gar  man- 
chen Stücken  von  derjenigen  Wundts  unterscheidet,  ist  der  Jenaer 
Naturforscher  mit  dem  von  den  Naturwissenschaften  ausgegangenen 
Leipziger  Philosophen  doch  völlig  eins  in  der  hohen  Auffassung  des 
Berufs  der  Königin  der  Wissenschaften,  und  wenn  der  Führer  der 
wissenschaftlichen  Philosophie,  der  Aristoteles  unserer  Zeit,  seine  ganze 
Autorität  dafür  einsetzt,  die  klägliche  Rückkehr  zum  alten  oder 
vielmehr  mittelalterlichen  Aristoteles  zu  verhindern,  so  findet  er 
auch  in  diesem  Bemühen  wirksame  Unterstützung  von  Seiten  Haeckels, 
insofern  die  lebensvolle,  auf  unmittelbare  Naturanschauung  gegründete 
Denkweise,  wie  sie  die  Haeckelschen  Schriften  verkörpern,  den  feste- 
sten Damm  gegen  die  Hochflut  der  Scholastik,  gegen  die  Versuche  vor- 
stellt, nach  Sprachformen  die  Arten  der  Gegenstände  festzusetzen. 
Ich  sage  es  offen:  das  Verdienst  der  „Welträtsel"  können  nur  die- 
jenigen bestreiten,  welche  die  Philosophie  zur  Aufklärung  in  Gegen- 
satz bringen,  indem  sie  die  Aufgabe  der  erstem  nicht  in  der  Er- 
hellung, sondern  in  der  Verdunkelung  und  künstlichen  Verwicklung 
der  großen  Probleme  des  Daseins  erblicken,  oder  jene  Kurzsichtigen, 
die  unfähig  sind,  über  Einzelheiten  hinwegsehend,  eine  Leistung  als 
Ganzes  zu  erfassen  und  zu  würdigen. 

Aus  der  edlen  Wahrheitsbegeisterung  Haeckels,  aus  der  Freiheit 
seines  Geistes  von  althergebrachtem  Dogmenzwang  und  aus  seinem 
rücksichtslosen  Bekennermute  erklärt  sich  wohl  auch  zum  großen  Teile 
die  Wirkung,  die  er  auf  Tausende  und  Tausende  von  hochgebildeten 
Menschen  ausübt.  Will  man  jedoch  diesen  Zauber  in  seiner  ganzen 
Kraft  verstehen  und  sich  zumal  über  die  Stellung  Rechenschaft 
geben,  welche  Haeckel  in  der  engeren  Gelehrtenwelt  trotz  allen 
Ärgers  leisetretender  Berufsgenossen  über  sein  kühnes  Auftreten  bis 
auf  den  heutigen  Tag  zu  behaupten  gewußt  hat,  so  muß  man  noch 
andere  Züge  seiner  geistigen  Persönlichkeit  heranziehen.    Denn  auch 

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220 


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die  imponierende  Fülle  von  Spezialforschungen,  die  allerdings  Haeckel 
allein  schon  für  alle  Zeiten  einen  Platz  unter  den  ersten  Zoologen 
verbürgt,  dankt  ihre  höhere,  durch  den  Fleiß  und  die  Routine  des 
ausdauerndsten,  unermüdlichsten  und  technisch  geübtesten  Arbeiters 
nie  zu  erreichende  Bedeutung  selber  diesen  individuellen  Eigen- 
schaften. Mein  verehrter  Lehrer,  Victor  v.  Ebner,  der  ausgezeichnete 
Histologe,  empfahl,  als  er  gegen  Ende  der  70  er  oder  zu  Anfang  der 
80 er  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  in  Graz  Entwicklungsgeschichte 
vortrug,  den  Studierenden  ganz  besonders  die  „Anthropogenie"  und 
ich  habe  mich  in  späteren  Zeiten  noch  oft  überzeugt,  wie  richtig,  wie  j 
wohlbegründet  diese  Empfehlung  war.  Wer  einigermaßen  für  höhere  j 
intellektuelle  Genüsse  empfänglich  ist,  der  kann  die  Darstellung  der  { 
Bildung  des  Auges,  der  Anlage  des  Gehirns,  der  Entwicklung  des  I 
Gefäßsystems  der  Säuger  im  Verhältnisse  zu  dem  der  Vögel  und  I 
viele  andere  embryologische  Schilderungen  der  ,, Anthropogenie"  nicht  5 
lesen,  ohne  in  helles  Entzücken  versetzt  zu  werden.  Haeckel  ist  j 
zweifellos  eines  der  größten  morphologischen  Genies,  welche  die  I 
Geschichte  der  Wissenschaft  kennt.  Im  höchsten  Grad  verwickelte  5 
und  verworrene  Strukturen  verwandeln  sich  unter  seinem  Blick  j 
in  einfache,  durchsichtige  Gestaltungen;  alles  störende  Detail  ver-  j 
schwindet;  die  eigenwilligsten,  widerstrebendsten  Sonderteile  ordnen  5 
sich  zwanglos  den  großen  Linien  unter;  Formen,  die  für  den  un-  I 
geschulten  Betrachter  gar  nichts  miteinander  gemein  haben,  er-  { 
scheinen  sofort  als  Ausführungen  des  nämlichen  Grundplans  und  so  j 
stellt  sich  ganz  von  selber  jener  morphologische  Zusammenhang  der  f 
Organismen  heraus,  welchen  die  Deszendenzlehre  benötigt,  um  bei  j 
Wahrung  des  Kontinuitätsprinzips  die  genealogischen  Beziehungen  j 
der  Typen  glaubhaft  machen  zu  können.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  j 
Haeckel  es  war,  der  die  Abstammungslehre  erst  wirklich  und  wahrhaft  • 
zur  Grundlage  der  naturgeschichtlichen  Spezialforschung  erhob  und  { 
diese  Forschung  mit  der  Idee  des  Transformismus  befruchtete.  Der  I 
Deszendenzgedanke,  bei  Darwin  zunächst  bloß  eine  allgemeine  An-  j 
schauung,  bedurfte  eines  so  veranlagten  Geistes,  damit  sich  der  ab-  j 
strakte  Grundsatz  in  den  konkreten  morphologischen  Einzelheiten  \ 
bewähren,  die  Gruppierungen  der  Taxonomie  durchleuchten  und  den  j 
Schlüssel  für  die  Verknüpfung  des  buntscheckigen  Tatsachenmaterials  j 
bilden  konnte.    Noch  Dubois  Reymond  hat  die  Schöpfungsgeschichte  j 

230 


mit  ihren  Stammbäumen  als  bloßen  „Roman"  belächelt  und  doch 
unterliegt  es  heute  keinem  Zweifel  mehr,  daß  diese  vielgescholtenen 
Stammbäume  allen  modernen  naturgeschichtlichen  Untersuchungen 
das  letzte  Ziel  gesteckt  haben,  —  ein  Ziel,  welchem  die  Zoologen 
und  Botaniker  unserer  Tage  um  so  eifriger  und  entschlossener  zu- 
streben, einen  je  höheren  wissenschaftlichen  Rang  sie  ihren  Arbeiten 
sichern  wollen. 

Zu  der  morphologischen  Genialität  Haeckels  gesellt  sich  aber 
noch  die  bewunderungswürdige  Geschicklichkeit  in  der  Schaffung 
einer  Terminologie,  auf  deren  hohen  Wert  schon  Carl  Vogt,  der  scharf- 
kritische und  sonst  allem  Schulmäßigen  so  abgeneigte  Forscher,  hin- 
gewiesen hat.  Mittels  dieser  Termini  sind  viele  der  Haeckelschen 
Begriffsfassungen  Gemeingut  geworden.  Wo  gibt  es  heutzutage  eine 
mit  Entwicklungsfragen  sich  beschäftigende  oder  auch  nur  berührende 
Schrift,  in  der  nicht  von  Ontogenie  und  Phylogenie  die  Rede  wäre? 
Psychologen  und  Ästhetiker,  Historiker  und  Pädagogen,  —  sie  alle 
verwenden  beständig  diese  Ausdrücke  und  bringen  damit  der  wissen- 
schaftlichen Größe  Haeckels,  bewußt  oder  unbewußt,  gerne  oder  wider- 
willig, ihren  Tribut  dar.  Wieviel  diese  Terminologie  und  die  Haeckel- 
sche  Betrachtungsweise  überhaupt  mir  selbst  bei  meinen  natur- 
philosophischen Studien  bedeuteten,  ist  schon  oben  gesagt  worden. 
Äußere  Umstände  haben  mich  seither  von  den  Gebieten,  auf 
welchen  ich  an  die  Großtaten  Haeckels  fast  in  jedem  Augenblick  er- 
innert wurde,  weit  abgeführt  und  mich  inmitten  der  Geisteswissen- 
schaften mein  Hauptarbeitsfeld  finden  lassen.  Allein  ich  habe  darüber 
trotzdem  nicht  aufgehört,  im  stillen  die  Gegenstände  meines  früheren 
Nachdenkens  weiter  zu  verfolgen,  neues  Material  für  die  Klärung 
der  Deszendenzfrage  zu  sammeln  und  so,  unbeirrt  durch  all  die  per- 
sönlichen Ablenkungen  und  die  Torheiten  der  Zeit,  die  Gedanken- 
fäden fortzuspinnen,  die  sich  ursprünglich  an  die  Lehren  Haeckels 
anknüpften.  Auf  diese  Weise  bin  ich  mit  dem  Altmeister  in  steter 
geistiger  Fühlung  geblieben  und  ich  habe  den  Kontakt  um  so  weniger 
verloren,  als  meine  philosophie-  und  wissenschaftlich -historischen 
Forschungen  gleichfalls  mit  Vorliebe  auf  die  Geschichte  der  Ab- 
stammungslehre richteten,  aus  der  noch  so  manche  wertvolle  und 
überraschende  Urkunden  auszugraben  sind.  Haeckels  Werk  aber 
zeigten  mir  auch  nach  dieser  Richtung  das  Fundament,  auf  wel- 
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231 


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chem  weiter  gebaut  werden  muß.  Wenn  man  also  denjenigen  als 
seinen  Lehrer  betrachtet  hat,  dem  man  ein  Großteil  seiner  wichtig- 
sten Einsichten  schuldet,  ja,  von  dem  man  sogar  vielfach  die  Richtung 
der  wissenschaftlichen  Arbeit  empfangen  hat,  dann  darf  ich,  obschon 
ich  nie  im  Leben  das  Glück  gehabt  habe,  Haeckel  zu  begegnen, 
wohl  auch  mich,  natürlich  ohne  den  Anspruch  auf  zoologische  Fach- 
bildung, einen  Haeckelschüler  nennen. 


232 


BERTHOLD  HATSCHEK,  WIEN 


o  o  o 


E 


iner  jener  Großen,  deren  geistiger  Bannkreis  uns  —  bewußt  oder 


unbewußt  —  stetig  umfangen  hält! 


Bedarf  es  da  erst  eines  äußeren  Anlasses,  um  seiner  zu  gedenken? 
Oder  soll  uns  dies  nur  an  die  ewige  Jugend  gemahnen,  welche  dieses 
olympische  Haupt  zu  umstrahlen  scheint?  Jenes  Haupt,  das  mit 
seiner  Gedankenwelt  den  geistigen  Entwicklungsgang  eines  halben 
Jahrhunderts  machtvoll  beeinflußte  und  dessen  Lebenswerk  es  be- 
wirkte, daß  der  von  Lamarck  und  Darwin  begründete  Evolutions- 
gedanke zum  unverlierbaren  geistigen  Eigentum  der  Menschheit 
wurde  —  umgeprägt  zur  Lehre  von  der  ewig  fortdauernden  Schöp- 
fung, der  stetigen  Neugestaltung  und  Fortbildung  der  Lebenswelt! 
Der  Fortschritt  als  fundamentales  Naturgesetz  des  Lebens! 

Bei  einer  Rückschau  auf  die  Taten  dieses  Mannes  möchte  es 
fast  scheinen,  daß  erst  die  Zukunft  seine  Geschichte  schreiben  kann, 
und  daß  keiner  von  den  Zeitgenossen  es  vermag,  die  Wirkungen, 
die  von  ihm  ausgegangen  sind,  ganz  zu  ermessen.  Und  doch  ist,  um 
ihn  ganz  zu  verstehen,  das  Zeugnis  jener  unentbehrlich,  die  ihn  auch 
als  Menschen  kannten  und  den  Eindruck  seiner  reinen,  klaren, 
schönen  Vollnatur  empfangen  haben. 

Helläugig,  mit  freundlicher,  hoher,  freier  Stirn,  das  Antlitz 
von  aschblondem  —  jetzt  weißem  —  Haar  und  Bart  umrahmt, 
die  Gestalt  schlank,  hoch  und  biegsam,  so  sehen  wir  ihn  vor  uns. 
Bei  all  dem  heiteren  Wohlwollen,  das  von  ihm  ausstrahlt,  doch  jeder 
Zoll  eine  Kampfnatur!  Die  unbefangendste  Furchtlosigkeit,  mit  der 
er  für  jede  Wahrheit  eintritt,  ist  eben  ein  Grundzug  seines  Wesens 
—  wie  seit  jeher  bei  allen  mythischen  und  modernen  Drachen- 
tötern  ! 

Sein  Blick  ist  der  des  Forschers,  verrät  aber  doch  zugleich  die 
Fülle  künstlerischer  Phantasie!  Uns  fällt  der  hohe,  eindringliche 
Diskant  seiner  Stimme  auf,  eine  im  Norden  wohl  häufigere  Erschei- 
nung. Von  tiefster  Wirkung  ist  bei  näherem  Umgange  die  ethische 
Reinheit,  Wahrheit  und  Klarheit  seines  Charakters,  und  beinahe 
rührend  ist  dabei  das  kindlich  einfache  Gemüt,  das  diesem  ernsten 
Mann  eigen  ist.    Ernst,   aber  voll  lebensprühender  Geistesfülle  ist 

233 


sein  Wesen,  vor  allem  aber  ist  es  ein  Grundzug,  der  an  ihm  hervor- 
tritt: das  ist  seine  große  Begeisterungsfähigkeit,  die  ihn  auch  be- 
fähigt, andere  mit  sich  fortzureißen. 

Die  ungeheure  Wirkung,  die  seine  Schriften  auf  Hunderttausende 
von  Menschen  übten,  wird  noch  weit  übertroffen  durch  die  unmittel- 
bare Wirkung  seiner  Persönlichkeit  auf  seine  Schüler  und  Freunde. 
Niemand  kann  Haeckel  ganz  verstehen,  der  ihn  nicht  persönlich 
kennt,  wie  er  ist,  menschlich  in  seinen  genialen  Vorzügen,  seiner 
Ursprünglichkeit  und  Klarheit,  und  auch  menschlich  in  seinen  Schwä- 
chen, insbesondere  seinem  herrlichen,  ewig  jugendlichen  Übereifer 
und  seiner  überschwenglichen  Uberzeugungstreue. 

So  sehr  überragt  die  Eigenart  dieser  Persönlichkeit  das  Mittelmaß, 
daß  sie  fast  jede  Besonderheit  der  Herkunft  und  des  Standes  ver- 
missen läßt.  Kaum  wird  man  den  geborenen  Berliner,  den  Jenenser 
Professor,  den  Forscher  am  Mikroskop,  den  Mann  der  Feder  erkennen 
—  eher  eine  freie  unbeschränkte  Künstlernatur. 

Die  große  Laienwelt  kennt  Haeckel  als  den  Vorkämpfer  und 
Verkünder  einer  neuen  Weltanschauung,  als  den  Autor  der  „Natür- 
lichen Schöpfungsgeschichte",  der  „Anthropögenie"  und  zuletzt 
auch  —  da  er,  seinem  ursprünglichen  Hange  zur  Naturphilosophie 
vielleicht  nur  allzuweit  folgend,  auf  weiteres  Gebiet  sich  begibt  — 
der  „Werträtsel".  Ganz  anders  aber,  nur  harmlos  formbegeisterter 
Künstler,  ist  er  in  den  „Kunstformen  der  Natur". 

Sein  Einfluß  als  populärer  Schriftsteller  war  von  größter  Be- 
deutung —  nicht  minder  aber  seine  Wirkung  in  der  wissenschaft- 
lichen Welt!  Der  Inhalt  seiner  immensen  Lebensarbeit  liegt  zum 
weitaus  überwiegenden  Teile  auf  diesem  Gebiete! 

Hier  ist  sein  Blick  stets  aufs  große  Ganze  gerichtet,  das  er  bei 
der  riesigen  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  seiner  Forschungen  nie  aus  dem 
Auge  verliert.  Und  in  der  Tat  liegt  sein  Verdienst  trotz  des  Riesen- 
umfanges  seiner  Einzelforschungen,  welche  eine  stattliche  Reihe  von 
Folianten  füllen,  nicht  nur  im  einzelnen,  sondern  vielmehr  im  ganzen. 
Niemand  anders  hat  auf  den  Fortgang  der  zoologischen  Wissenschaft 
und  Forschung  in  den  letzten  50  Jahren  auch  nur  annähernd  einen 
ähnlichen  Einfluß  genommen. 

Die  Anwendung  der  Deszendenzlehre,  die  Ausbildung  der  phylo- 
genetischen Methode  gibt  seiner  Tätigkeit  das  Gepräge. 

234 


Als  Deszendenztheoretiker  hat  er  von  Anfang  an  eine  selbständige, 
nicht  streng  an  Darwin  sich  haltende,  zm  Teil  mehr  dem  Lamarck- 
schen  Standpunkt  sich  nähernde  Haltung  eingenommen. 

Er  ist  vor  allem  vergleichender  Morphologe.  Das  Verständnis 
der  Gestaltung  als  Ausdruck  der  natürlichen  Verwandtschaft  der 
Organismen  zu  gewinnen,  das  ist  sein  Hauptziel.  Die  Fülle  seiner 
bahnbrechenden  Ideen  —  zum  erstenmal  in  seiner  vielbewunderten 
„Generellen  Morphologie"  niedergelegt  —  ist  eine  erstaunliche.  Es 
gibt  auf  diesem  Gebiete  in  jenen  Jahrzehnten  kaum  eine  neue  Er- 
kenntnis, die  nicht  von  ihm  begründet,  vorbereitet  oder  beein- 
flußt ist. 

Vor  allem  aber  ist  es  die  neue  Methode  der  wissenschaftlichen 
Betrachtung,  die  von  ihm  geschaffen  wurde.  Neben  der  vergleichenden 
Anatomie  lehrte  er  uns  auch  die  vergleichende  Embryologie  —  die 
Tatsachen  der  individuellen  Entwicklung  der  Organismen  —  richtig 
verstehen  und  theoretisch  anwenden.  Vorbildlich  wurde  seine 
„Gasträatheorie",  durch  welche  die  Keimblätter  (Keimschichten)  der 
Tiere  als  primitive  Organe  gedeutet  wurden,  vergleichbar  jenen  der 
Polypen  und  Medusen.  Das  System  des  Tierreiches  wurde  so  auf 
neue  Basis  gestellt.  Ein  ausführlicher  systematischer  Versuch,  der 
sich  auf  die  gesamte  Organismenwelt  bezieht,  liegt  in  der  mehr- 
bändigen „Systematischen  Phylogenie"  vor. 

Und  wieder  anders  tritt  uns  Haeckel  entgegen  in  der  Fülle  seiner 
Einzelforschungen.  Die  niedere  Tierwelt  des  Meeres,  auf  welche  sich 
die  Hauptprobleme  der  Zoologie  so  lange  konzentrierten,  war  es, 
auf  die  seine  unermüdliche  Forschertätigkeit  gerichtet  war.  Auf 
vielen  Forschungsreisen,  am  Mittelmeer,  Nord-  und  Ostsee,  in  den 
tropischen  Regionen,  im  Roten  Meere  und  bei  Ceylon  sehen  wir  ihn 
forschend  und  sammelnd.  Sein  künstlerisch  gewandter  Zeichenstift 
gibt  in  unzähligen  Bildern,  die  Bände  und  Bände  füllen,  die  Beob- 
achtungen wieder,  die  in  scharfer  theoretischer  Analyse  erläutert 
werden. 

Die  einzelligen,  aber  doch  so  formenreichen  Radiolarien,  die 
niedere  Tierwelt  der  Spongien  und  der  Medusen  ist  es,  deren  Bau- 
gesetze er  enthüllt  und  deren  mannigfaltige  Gestaltung  er  zugleich 
mit  formenfreudigem  Künstlersinne  erfaßt. 

Manche  neue  Bewegung  ist  in  der  Wissenschaft  der  letzten  Jahr- 

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235 


zehnte  zu  verzeichnen,  die  über  Haeckels  Bestrebungen  hinausgeht. 
Viele  der  neueren  ahnen  dabei  nicht,  wie  sehr  sie  auf  Haeckels  Schul- 
tern stehen,  durch  ihn  zu  ihrem  Standpunkte  erhoben.  Selbst  unter 
seinen  unmittelbaren  Schülern  gibt  es  solche,  welche  dieses  Ver- 
hältnis verkannt  haben. 

Die  physiologische  Forschungsrichtung,  die  so  lange  von  der 
vorwiegend  morphologischen  in  der  Zoologie  zurückgedrängt  war, 
hat  in  Haeckel,  dem  großen  Morphologen,  keinen  Gegner.  Ja  man 
wird  manch  reiche  Anregung  auch  in  dieser  Richtung  in  seinen 
Werken  finden. 

Haeckels  Lehren  sind  nicht  dogmatisch,  sondern  der  Fortent- 
wicklung und  Umgestaltung  fähig,  und  anregend  zur  weiteren  For- 
schung. Dieser  hervorragendste  Zoologe,  zu  dessen  Füßen  unzählige 
Schüler  saßen,  der  so  zahlreiche  Zoologen  seine  unmittelbaren  Jünger 
nennt  und  als  dessen  mittelbare  Schüler  eigentlich  die  meisten 
jetzt  lebenden  Zoologen  betrachtet  werden  könnten,  hat  in  weiser 
Einsicht  seinen  Lehrstuhl  an  der  kleinen  thüringischen  Universität 
Jena  jeder  anderen  größeren  Stellung  vorgezogen.  Er  hat  alle  Be- 
rufungen an  große  Universitäten  —  auch  Wien  wollte  ihn  einst 
haben  —  abgelehnt.  Das  in  seiner  Größe  oft  so  kleinliche  und  nieder- 
drückende Getriebe  großer  Universitäten,  großer  Akademien  hat  er 
gemieden  und  sich  so  seine  Frische  und  seine  Freiheit  bewahrt. 
Zumal  die  volle  Freiheit  der  Meinungsäußerung  blieb  ihm  stets 
gegönnt,  und  sein  streitbarer  Geist  hat  ihrer  stets  bedurft.  Auch  im 
Kreise  der  Fachzunft  hat  er  ohne  Rücksicht  auf  Autorität  so  manchen 
Strauß  bestanden.  Selbst  ein  Virchow,  ein  Du  Bois-Reymond  mußten 
seine  berechtigte  Kritik  erfahren. 

Gegen  die  Großmächte  des  Weltgetriebes,  die  der  gefährlich 
scheinenden  wissenschaftlichen  Lehre  ihre  Macht  fühlen  lassen  wollten, 
ist  er  stets  als  Rufer  im  Streite  aufgetreten  und  ist  als  solcher  noch 
heute  stets  sieggewohnt  und  kampfbereit.  Er  versteht  die  Tragweite 
solcher  Regungen,  die  dem  Fachmanne  oft  bedeutungslos  erscheinen 
möchten,  wohl  abzuschätzen.  In  jüngster  Zeit  sehen  wir  ihn  noch 
gegen  den  trefflichen  Insektenforscher  Pater  Wasmann  zu  Felde 
ziehen,  der  als  Deszendenztheoretiker  die  natürliche  Schöpfung  der 
Organismen  weit  anerkennt,  aber  für  den  Menschen  jenen  Natur- 
gesetzen gegenüber  eine  Ausnahmestellung  annehmen  will.    Mag  auch 

236 


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jeder  Fachmann  die  Widersinnigkeit  eines  solchen  Kompromisses 
durchblicken,  Haeckels  Feldherrnblick  sieht  noch  mehr,  er  sieht  die 
Gefahren,  die  durch  solches  von  außen  her  der  Wissenschaft  und  der 
einheitlichen  philosophischen  Weltanschauung  erwachsen. 

Haeckels  einzige  Persönlichkeit  wird  in  gleicher  Art  sich  nicht 
mehr  wiederholen,  aber  viele  andere  werden  an  seinem  Vorbild  er- 
starken. 


237 


EUGEN  REICHEL,  BERLIN -SCHÖNEBERG:  DEM 
LICHTBRINGER  ERNST  H AECKEL  BEI  VOLLENDUNG 
SEINES  ACHTZIGSTEN  LEBENSJAHRES  IN  UNVER- 
LÖSCHLICHER   DANKBARKEIT  UND  VEREHRUNG 

0    0    0 

Du  warst  mir  Licht  in  jungen  Jahren 
Und  bist  mir  noch  im  Alter  Trost, 
Wenn  mich,  im  Lebenskampf  erfahren, 
Des  Tages  Niedrigkeit  umtost. 
Du  zählst  für  mich  zu  jenen  Größen, 
Vor  denen  es  mich  niederzwingt; 
Vor  denen  ich  mein  Haupt  entblößen 
Und  schwören  muß:    Dein  unbedingt! 


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238 


ARTHUR  SCHWARZ,  BERLIN-LICHTERFELDE 


o  o  o 


Ich  wurde  mit  den  Schriften  Haeckels  —  besonders  der  „Natürlichen 
Schöpfungs  geschichte"  und  der,,Anthropogenie" — vor  ca.  20  Jahren 
bekannt  und  zähle  seit  dieser  Zeit  zu  den  aufrichtigsten  Verehrern 
seiner  Weltanschauung  und  seiner  Person.  — 

Als  ich  im  Oktober  1899  gelegentlich  einer  längeren  Anwesenheit 
in  Rom  im  Hotel  Haßler  erfuhr,  daß  der  daselbst  auch  abgestiegene 
„Maler"  Professor  Ernst  Haeckel  bei  einem  Ausflug  in  die  Albaner 
Berge  mit  seinem  Maultier  gestürzt  und  mit  verletztem  Fuß  ins 
deutsche  Hospital  auf  dem  Kapitol  gebracht  sei,  trieb  es  mich,  ihn 
daselbst  aufzusuchen,  ihm  zu  danken  und,  wenn  irgend  möglich,  ihm 
zu  helfen.  Ich  fand  Prof.  Haeckel  des  Lobes  voll  über  die  ihm  zuteil 
gewordene  Pflege  der  freundlichen  und  sorgsamen  deutschen  Schwe- 
stern des  Hospitals  und  ihn  selbst  in  heiterster  und  glücklichster 
Stimmung,  an  der  ich  mich  bei  ihm  bei  den  immer  öfter  wiederkehren- 
den Begegnungen  noch  so  oft  erfreuen  sollte.  Diese  olympische  Ruhe 
und  Heiterkeit  Haeckels  ist  nicht  nur  ein  Hauptbestandteil  seines 
Wesens,  sondern,  wie  mir  scheint,  auch  das  notwendige  Ergebnis 
seiner  Weltanschauung. 

Er  hatte  eben  das  erste  Exemplar  der  „W'elträtsel"  vom  Verleger 
erhalten,  das  Buch,  das  seitdem  in  Hunderttausenden  von  Exemplaren 
in  allen  Sprachen  der  Welt  so  vielen  so  mancherlei  Rätsel  gelöst  hat. 

Ich  habe  noch  oft  das  Glück  gehabt,  mich  mit  Prof.  Haeckel  über 
Weltanschauungsfragen  zu  unterhalten,  und  gehöre  zu  den  ersten 
Mitgliedern  des  deutschen  Monistenbundes,  wie  ich  auch  teilnehmen 
durfte  an  dem  Zustandekommen  des  Phyletischen  Museums. 

Ich  verdanke  unserem  Altmeister  die  festen  Grundlagen  meiner 
Überzeugung  von  der  Richtigkeit  unserer  monistischen  Weltan- 
schauung und  verehre  in  ihm  den  unermüdlichen  Verkünder  natur- 
wissenschaftlicher „Heilswahrheiten",  die  den  Menschen  —  im  Gegen- 
satz zu  den  mystischen  Heilswahrheiten  —  noch  bei  Lebzeiten  zu 
ihrem  Heile  gereichen  und  von  deren  immer  weiteren  Verbreitung 
allein  wir  auch  die  Lösung  der  noch  ungelösten  Rätsel  des  sozialen 
Lebens  in  nationaler  und  internationaler  Beziehung  zu  erwarten  haben. 

239 


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FRITZ  REGEL,  WÜRZBURG 

o  o  o 

Im  Frühjahr  1872  bezog  ich,  19  Jahre  alt,  die  Landesuniversität 
Jena,  um  mich  dem  Studium  der  Naturwissenschaften,  insbesondere 
der  Botanik,  zu  widmen.  Die  ersten  Anregungen  zur  „scientia  amabilis" 
hatte  ich  in  Schnepfenthal  durch  H.  O.  Lenz  und  namentlich  durch 
August  Rose  und  Reinhold  Gerbing  empfangen,  hatte  mich  sodann 
als  Schüler  der  beiden  oberen  Gymnasialklassen  in  meiner  freien  Zeit 
zumeist  mit  dem  Sammeln  und  Bestimmen  von  Phanerogamen, 
Gefäßkryptogamen  sowie  auch  von  Muscineen  und  Thallophyten, 
namentlich  Pilzen,  beschäftigt,  und  war  durch  August  Rose  an  die 
Professoren  E.  Haeckel  und  E.  Strasburger  empfohlen  worden  sowie 
an  Dr.  David  Dietrich,  der  mich  wie  viele  andere  mit  der  so  reichen 
,, Flora  Jenensis"  näher  bekannt  machte.  Ich  verbrachte  in  Jena 
meine  ganze  Studienzeit  von  4V2  Jahren  bis  zum  Herbst  1876,  diente 
hier  1873/74  mein  Militär  jähr  ab,  promovierte  im  Sommer  1875  in 
Botanik  als  Hauptfach,  Zoologie  und  Mineralogie  als  Nebenfächern 
und  trat  im  Oktober  1876  am  Realgymnasium  zu  Lippstadt  als 
Probandus  ein,  um  neben  dem  Prof.  Dr.  Hermann  Müller  den  natur- 
wissenschaftlichen Unterricht  in  den  unteren  Klassen  zu  erteilen ;  leider 
unterbrach  ich  das  begonnene  Probejahr  schon  zu  Ostern  1877,  um 
an  der  noch  in  der  Entwicklung  begriffenen  Oberrealschule  ,, Hintern 
Brüdern"  in  Braunschweig  als  Lehrer  einzutreten,  erkrankte  jedoch 
hier  im  Sommer  1877  und  kehrte  nach  einer  halbjährigen  Erholungs- 
pause in  meiner  Heimat  Gotha  wiederum  nach  Jena  zurück  als  Lehrer 
an  der  dortigen  Schroeterschen  Realschule,  an  der  ich  schon  im 
Sommer  1876  Unterricht  erteilt  hatte.  In  Jena  blieb  ich  von  Ostern 
1878,  zunächst  als  Lehrer  der  genannten  Anstalt,  holte  hier  das  früher 
unterbrochene  Probejahr  1880/81  am  Gymnasium  Carolo  - Alexan- 
drinum  nach,  unterrichtete  von  Ostern  1882  bis  August  1890  an  der 
1880  neubegründeten  Stoyschen  Erziehungsanstalt,  habilitierte  mich 
im  Sommer  1884  für  Geographie,  wurde  1892  außerordentlicher 
Professor,  seit  Ostern  1895  mit  Lehrauftrag,  und  folgte  Ostern  1899 
einem  Rufe  als  etatmäßiger  Extraordinarius  nach  Würzburg  (erst 
1908  wurde  diese  außerordentliche  Professur  sodann  in  ein  Ordinariat 
umgewandelt). 

24O 


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Ich  habe  diese  persönlichen  Bemerkungen  vorausgeschickt,  um 
darauf  hinzuweisen,  daß  ich  über  25  Jahre  als  Student,  Lehrer  und 
Dozent  in  Jena  gelebt  habe  und  daher  hier  Gelegenheit  hatte,  in 
mannigfache  und  nähere  persönliche  Beziehungen  zu  Ernst  Haeckel 
zu  treten. 

Schon  im  Sommer  1872  hörte  ich  ein  Publikum  über  Säugetiere 
bei  Haeckel,  im  folgenden  Wintersemester  aber  vor  allem  das  fünf- 
stündige Hauptkolleg  Haeckels  über  die  gesamte  Zoologie  und 
besuchte  das  damals  am  Sonntagvormittag  von  9 — 1  Uhr  abge- 
haltene Zoologische  Praktikum;  ich  wurde  auf  die  Empfehlung 
von  A.  Rose  hin  auch  in  Haeckels  Haus  eingeladen  und  kam  nament- 
lich nach  dem  Militär  jähr  in  häufige  persönliche  Berührung,  besonders 
seitdem  ich  bei  E.  Strasburger  Assistent  wurde  und  meine  botanische 
Dissertation  im  Botanischen  Institut  ausarbeitete.  Damals  war  das 
Zoologische  Museum,  die  Bibliothek  usw.  noch  in  dem  Oberstock  des 
Botanischen  Instituts  untergebracht,  in  dem  sich  jetzt  die  Dienst- 
wohnung des  leitenden  Botanikers  (E.  Stahl)  befindet.  Häufig  kam 
Haeckel  zu  Strasburger  herunter,  um  sich  mit  ihm  über  wissenschaft- 
liche Fragen  zu  besprechen;  oft  vernahm  ich  diese  Zwiegespräche, 
die  meist  von  herzlichem  Lachen  begleitet  waren.  Ich  war  schon  im 
ersten  Jahre  sehr  von  der  „Natürlichen  Schöpfungsgeschichte"  ein- 
genommen und  benutzte  nach  dem  1872/73  gehörten  zoologischen 
Kolleg  und  dem  Kursus  über  Zoologie  die  freie  Zeit  während  meines 
Militärjahres,  um  Haeckels  „Generelle  Morphologie"  (1866)  genauer 
zu  studieren  und  mich  durch  sonstige  Studien  der  biologischen  Litera- 
tur auf  die  Doktorprüfung  vorzubereiten;  im  Wintersemester  1874/75 
habe  ich  nach  dem  Militär  jähr  zur  Repetition  die  zoologischen  Vor- 
lesungen nochmals  gehört,  nachdem  Haeckel  im  Sommersemester  1874 
die  Vorträge  über  „Anthropogenie"  vor  einem  weiteren  Kreis  von 
Zuhörern  im  größten  Hörsaal  der  Universität  gehalten  hatte;  das 
Stenogramm  dieser  Vorträge  war  die  Grundlage  für  das  gleichnamige 
Werk,  in  dem  die  Entwicklungslehre  auf  den  Menschen  rückhaltlos 
übertragen  wurde.  Nach  einer  größeren  Reise  in  das  östliche  Mittel- 
meergebiet (mit  Strasburger)  in  den  Osterferien  1874  war  Haeckel, 
damals  40  Jahre  alt,  auf  dem  Gipfel  seiner  physischen  und  ethischen 
Kraft,  eine  herrliche,  von  Gesundheit  und  Lebensfrische  sprudelnde 
Erscheinung,  die  auf  uns  großen  Eindruck  machte.    (Vgl.  das  schöne 

533iiil3S1933i93Si!SI993§§]SE]gGlE]gB]gE]S]G]G]G]G]EiS]E]E|S!G]G]B]E]ElE|E]E]ElE) 
16     Haeckel-Festschrift   Bd.  II  241 


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Gruppenbild :  Haeckel  und  seine  Schüler  für  Darwin,  das  im  Sommer- 
semester 1876  vom  Photographen  Haack  aufgenommen  wurde.) 
vSowohl  bei  der  Promotion  (1875)  wie  bei  Gelegenheit  der  Oberlehrer- 
prüfung im  Februar  1877  wurde  ich  von  Haeckel  in  Zoologie  geprüft 
und  trat  bei  meiner  Rückkehr  nach  Jena  zu  Ostern  1878  alsbald 
wieder  in  ein  herzliches  Verhältnis  zu  ihm,  besonders  als  ich  seinem 
Sohn  Walter  im  Gymnasium  während  des  Probejahres  naturkund- 
lichen Unterricht  erteilte  wie  später  auch  in  der  Stoyschen  Erziehungs- 
anstalt. In  den  Anfang  der  achtziger  Jahre  fällt  Haeckels  Reise  nach 
Ceylon  (Wintersemester  1881/82),  die  er  zunächst  in  der  „Deut- 
schen Rundschau"  so  trefflich  geschildert  hat,  Schilderungen,  die 
den  „Indischen  Reisebriefen"  zugrunde  liegen.  Damals  wandte  ich 
mich  immer  mehr  der  Geographie  zu  und  habe  vor  meiner  Habi- 
litation (1884)  auch  die  übrigen  geographischen  Schilderungen  Haeckels, 
seine  Besteigung  des  Pik  von  Teneriffa,  die  Reiseskizzen  aus  Sizilien, 
über  das  Sinaigebirge  und  das  Rote  Meer  (vgl.  „Arabische  Korallen", 
1873),  Brussa  und  der  asiatische  Olymp  mit  Begeisterung  gelesen. 
Waren  die  folgenden  Jahre  bei  Haeckel  auch  hauptsächlich  mit  der 
Riesenarbeit  für  das  Challengerwerk  über  die  Radiolarien,  die  Sipho- 
nophoren  und  die  Tiefseehornschwämme  ausgefüllt,  so  unternahm 
Haeckel  namentlich  in  den  Frühjahrsferien  immer  wieder  Reisen 
zum  Mittelmeer,  wie  1887  nach  Syrien  und  der  Insel  Rhodos,  1889 
nach  der  Insel  Elba  und  Rom,  1890  nach  Algier  und  Tunis;  1892  ist 
er  hingegen  mit  Dr.  Murray  auf  den  Hebriden,  um  Plankton  zu  fischen, 
1983  aber  verweüt  er  wieder  in  Messina  zu  dem  gleichen  Zwecke,  und 
auch  im  7.  Jahrzehnt  seines  Lebens  unternahm  Haeckel  noch  ver- 
schiedene größere  Reisen,  wie  1897  nach  Rußland  und  den  Kaukasus- 
ländern, 1900  nach  dem  Malayischen  Archipel,  besonders  nach  Java; 
eine  Frucht  dieser  zweiten  Indienfahrt  ist  das  Buch  „Aus  Insulinde, 
Malayische  Reisebriefe",  Bonn  1901.  An  der  1882  von  Dr.  G.  Kurze, 
Prof.  Dr.  Dietrich  Schaefer  und  mir  ins  Leben  gerufenen  „Geogra- 
phischen Gesellschaft  (für  Thüringen)  zu  Jena"  nahm  Haeckel 
den  regsten  Anteil  und  ließ  sich  auch  bestimmen,  zeitweise  den  Vor- 
sitz zu  übernehmen.  Beim  fünfjährigen  Stiftungsfest  im  Jahre  1887 
sprach  er  über  die  Tiefseeforschungen,  wiederholt  hielt  er  stark- 
besuchte Vorträge  über  seine  ausgedehnten  Reisen  in  derselben  und 
brachte  auch  sonst  den  Interessen  und  Bestrebungen  dieser  Gesell- 

aS3SS3ggggggggggggggggggggE]E]E]E]E]E]E]E]EiE]E]E]E]EiE]E]EiE3EiE]E]B]E]E]E]E] 

242 


schaft  das  regste  Interesse  entgegen.  So  hat  er  auch  auf  geographi- 
schem Gebiet  viele  Anregungen  gegeben,  zuletzt  namentlich  durch 
die  Herausgabe  eines  Teiles  seiner  vielen  Aquarelle;  es  würde  sich 
gewiß  verlohnen,  die  verstreuten,  noch  nicht  in  Buchform  erschienenen 
Schilderungen  Haeckels  zu  sammeln  und  zu  einer  Gesamtausgabe 
zu  vereinigen! 

Am  ehesten  könnte  Haeckels  Schwiegersohn,  Geheimrat  Prof. 
Dr.  Hans  Meyer,  dieses  Unternehmen  in  die  Wege  leiten  und  die 
Perlen  geographischer  Schilderung  aus  Haeckels  Feder  einmal  sam- 
meln und  zu  einer  Gesamtausgabe  vereinigen.  Da  ich  seit  etwa 
30  Jahren  aus  dem  Gebiet  rein  naturwissenschaftlicher  Studien  immer 
mehr  auf  das  ausgedehnte  geographische  Gebiet  in  Lehre  und  lite- 
rarischer Tätigkeit  übergegangen  bin,  liegt  es  mir  ferner,  Haeckels 
Bedeutung  auf  dem  Gebiet  des  Darwinismus,  wie  namentlich  der 
mikroskopischen  und  entwicklungsgeschichtlichen  Spezialforschungen 
würdigen  zu  wollen.  Wie  aber  auf  seinem  eigentlichen  Arbeitsfeld, 
der  Zoologie,  bei  ihm  Spezialwerke  abwechseln  mit  allgemeinen, 
zusammenfassenden  Werken,  so  möge  an  dieser  Stelle  insbesondere 
die  große  Anregung  gewürdigt  werden,  die  dieser  vielgereiste  Forscher 
durch  seine  frischen,  herrlichen  Schilderungen  der  Mittelmeerländer 
wie  durch  seine  Bilder  aus  den  Monsungebieten  von  Süd-  und  Südost- 
asien auch  der  Erdkunde  in  hohem  Maße  hat  zuteil  werden  lassen ! 

Auch  während  der  fast  15  Jahre,  die  ich  nunmehr  von  Jena  fort 
bin,  habe  ich  bei  gelegentlichen  Besuchen  in  Jena  gerade  ihn  wieder 
aufgesucht,  der  mir  von  Beginn  meiner  Studienzeit  immer  mit  größter 
Liebenswürdigkeit  und  Zuvorkommenheit  begegnet  ist  und  an  meinen 
persönlichen  wie  wissenschaftlichen  Interessen  stets  den  regsten  An- 
teil genommen  hat! 

Wir  Geographen  wissen  ihm  warmen  Dank  für  seine  lebendigen 
und  plastischen  Schilderungen  erdkundlicher  Stoffe! 


l6*  243 


JOSEPH  MC  CABE,  LONDON :  ERNST  HAECKEL  IN 

ENGLAND 

o  o  o 

Vor  vierzehn  Jahren  übergab  mir  der  „Rationalist "-Verleger  Watts 
ein  Exemplar  der  ,,Welträtsel"  mit  der  Bitte,  ich  möchte  der 
Rationalist  Press  Association  raten,  ob  es  nützlich  wäre,  das  Buch  zu 
übersetzen.  Haeckel  war  als  Lehrer  einiger  unserer  fähigsten  briti- 
schen Zoologen,  als  Fürst  der  Wissenschaft  in  unsern  biologischen 
Kreisen  anerkannt,  aber  der  großen  englischen  Masse  war  er  wenig 
vertraut.  Seine  „Natürliche  Schöpfungsgeschichte"  hatte  diejenigen 
begeistert,  die  sich  ernsthaft  mit  der  Entwicklungslehre  beschäftigten, 
aber  weiteren  Kreisen  war  er  wenig  mehr  als  ein  Name.  Theologen, 
die  mit  seiner  genialen  und  wirkungsvollen  Feindschaft  gegen  ihren 
Aberglauben  vertraut  waren,  hofften,  daß  in  Anbetracht  seines  Alters 
die  Gefahr  seines  Einflusses  nicht  eine  gewisse  Grenze  überschreiten 
würde.  Aber  innerhalb  dieser  vierzehn  Jahre  ist  er  in  der  ganzen 
englisch  sprechenden  Welt  zu  einer  gewaltigen  Macht  geworden,  zum 
Abgott  der  Freidenker  und  zu  dem  Mann,  der  von  der  Kirche  am  mei- 
sten in  der  Welt  gefürchtet  wird. 

Im  Hinblick  auf  die  Verbreitung  von  Haeckels  früheren  Werken 
in  England,  erwarteten  wir  nur  einen  bescheidenen  Absatz  der 
„Welträtsel "-Übersetzung,  die  ich  übernahm.  Doch  das  Buch  wurde 
vom  Publikum  mit  Enthusiasmus  aufgenommen  und  wir  mußten 
Auflage  über  Auflage  herausbringen.  Mehr  als  eine  Viertelmillion 
Exemplare  sind  nun  in  Großbritannien,  den  Vereinigten  Staaten  und 
Australien  im  Umlauf.  Ich  sah  es  unter  den  einfachen  Fischern  der 
Orkney-Inseln  —  dieser  ultima  Thule  der  europäischen  Zivilisation  — 
von  Hand  zu  Hand  gehen,  ich  fand  es  unter  den  Bergleuten  von 
Schottland  und  Wales,  in  katholischen  Städten  von  Irland,  unter  den 
Schaf  scherern  Australiens  und  sogar  bei  den  Maoris  von  Neu-Seeland. 
Kein  ernstes  Werk  in  englischer  Sprache  hat  eine  ähnlich  ungewöhn- 
liche Verbreitung  gehabt  oder  ist  mit  einem  ebenso  intensiven  Interesse 
in  allen  Schichten  der  Gesellschaft  von  London  bis  San  Francisco  und 
Sydney  gelesen  und  besprochen  worden.  Erst  vor  einigen  Monaten 
sah  ich  eine  tausendköpfige  Menschenmenge  im  Volkspark  von  Sydney 
(in  Australien)  um  einen  Redner  versammelt,  die  einem  Vortrag  über 

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244 


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Haeckels  Weltanschauung  lauschte,  und  bei  meinen  Vorträgen  in 
ganz  England  und  seinen  Kolonien  habe  ich  gefunden,  daß  das  popu- 
lärste Thema,  das  ungeheure  Menschenmassen  anzog,  immer  die 
,,Anthropogenie"  war.  Dieses  Werk  Haeckels  ist  ebenfalls  ins  Eng- 
lische übersetzt  worden  und  hat  ebenso  große  Verbreitung  gehabt 
wie  die  „Lebenswunder"  und  ,,der  Kampf  um  den  Entwicklungs- 
gedanken". 

Kein  Werk  ist  jemals  in  englischer  Sprache  geschrieben  worden, 
das  eine  ebenso  machtvolle  Wirkung  auf  den  Aberglauben  ausgeübt 
und  gleichzeitig  ungelehrten  Lesern  so  viel  positive  wissenschaftliche 
Belehrung  verschafft  hat  wie  das  ,,Welträtsel"-Buch.  Ich  finde  die 
Erklärung  für  seinen  außergewöhnlichen  Erfolg  in  der  Unerschrocken- 
heit  seiner  kritischen  Betrachtungen  und  in  dem  Aufbau  einer  ge- 
sunden Lebensphilosophie  an  Stelle  der  alten  Märchen,  die  es  zerstörte. 
Es  ist  eine  meisterliche  Zusammenfassung  wissenschaftlicher  Kultur, 
welche  das  Antlitz  der  Natur  erleuchtet  und  den  „Gespenstern"  der 
alten  Religion  keinen  dunklen  Fleck  überläßt,  in  dem  sie  hausen 
könnten.  Dutzende  von  Versuchen  sind  gemacht  worden,  dieses  Buch 
zu  widerlegen,  aber  die  englische  Geistlichkeit  ist  im  höchsten  Grade 
wissenschaftlich  ungebildet  und  kein  Wissenschaftler  hat  sich  ver- 
anlaßt gesehen,  ihr  beizustehen,  ausgenommen  Sir  Oliver  Lodge,  ein 
Physiker,  der  nichts  von  Biologie  versteht. 

Die  Macht  der  „Welträtsel"  auf  das  englische  Volk  liegt  in  ihrer 
einfachen  Wahrhaftigkeit  und  der  meisterhaften  Einfachheit  ihres 
Aufbaues.  Sie  haben  die  Kirchen  von  Irland  bis  Neu-Seeland  erschüttert, 
und  die  englische  Übersetzung  hat  auch  die  Hindus  und  andere  mit 
England  verbundene  Stämme  in  ihrer  Aufklärung  gefördert. 

Die  englischen  Freidenker  verehren  deshalb  in  der  Person  ihres 
Autors  den  wirkungsvollsten  Förderer  der  Auflösung  der  Theologie, 
der  je  gelebt  hat.  Seit  Beginn  des  20.  Jahrhunderts  ist  bei  uns  ein 
beständiger  Verfall  des  Glaubens  zu  bemerken. 

„Die  Welträtsel"  haben  weit  mehr  als  alle  anderen  Bücher  getan, 
dies  zu  bewirken,  und  die  „Anthropogenie"  ist  eine  äußerst  nützliche 
Ergänzung  dazu  geworden.  Die  Menschen  schätzen  die  ausgesprochene 
Verwerfung  jeder  Form  des  Aberglaubens  ebenso  wie  das  Material  zur 
Bildung  einer  positiven  Ansicht  der  Wirklichkeit,  welches  das  Buch 
in  so  reichlichem  Maße  darbietet.    Uns  in  England  ist  es  deshalb  be- 

245 


sonders  willkommen  gewesen,  weil  die  furchtlose  Sprache  über  Religion, 
die  durch  einen  Huxley  und  Tyndall  begonnen  worden  war,  in  der 
gegenwärtigen  wissenschaftlichen  Generation  bedauerlicherweise  nicht 
mehr  gepflegt  worden  ist.  Die  Kirchen  zogen  aus  ihrem  Schweigen 
Vorteil  und  überzeugten  den  Unwissenden,  daß  der  Konflikt  zwischen 
Theologie  und  Wissenschaft  vorüber  sei.  Unter  diesen  Umständen 
fiel  Haeckels  Werk  mit  besonderer  Wucht  über  sie  her.  Sein  Name 
wird  von  Hunderttausenden  im  britischen  Kaiserreich  mit  Enthusias- 
mus begrüßt,  und  besonders  nachdem  ich  die  Bekanntschaft  des 
ehrwürdigen  und  genialen  Meisters  in  seinem  geliebten  Jena  gemacht, 
halte  ich  es  für  eine  meiner  nützlichsten  Taten,  „die  Welträtsel"  in 
unserer  Schwester-Zivilisation  verbreitet  zu  haben. 


DOO 


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246 


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RUDOLF  GOLDSCHEID,  WIEN 


o  o  o 


Man  kann  es  sich  heute  gar  nicht  mehr  recht  vorstellen,  daß  es 
einmal  Naturforscher  gegeben  hat,  die  nicht  an  Entwicklung 
glaubten  —  ja  daß  der  Entwicklungsgedanke  zunächst  sogar  auch 
gegen  die  Naturwissenschaft  erkämpft  werden  mußte.  Und  noch  un- 
glaublicher wirkt  die  Tatsache,  daß  gegenwärtig  noch  Menschen 
am  Leben  sind,  die  diesen  Kampf  mitgemacht,  mehr  noch,  die  sich 
das  unsterbliche  Verdienst  erwarben,  in  der  vordersten  Reihe  Jener 
gestanden  zu  haben,  die  ihn  zum  Siege  führten.  Wie  soll  man  genug 
darüber  staunen,  daß  ein  so  erbitterter  Geisterstreit  um  den  Ent- 
wicklungsgedanken notwendig  war,  wo  doch  schon  vor  über  2000 
Jahren  ein  griechischer  Philosoph  den  lapidaren  Satz  ausgesprochen 
hat:  ,, Alles  fließt"  —  und  in  klaren  Worten  die  ewige  Wahrheit 
niederlegte,  daß  niemand  zweimal  in  denselben  Strom  zu  steigen 
vermag,  daß  alles  in  unaufhörlicher  Veränderung  sich  befindet,  der 
Mensch  ebenso  wie  die  Dinge. 

„Tempora  mutantur  et  nos  mutamur  in  illis!"  Ist  es  begreiflich, 
daß  selbst  die  Geschichtswissenschaft  sich  von  diesem  uralten  Gemein- 
platz fernhielt,  daß  sie,  deren  innersten  Sinn  es  ausmacht,  das  Sein 
als  Werden  zu  begreifen,  Widerspruch  gegen  die  Idee  der  Entwick- 
lung erhob,  daß  sie  versagte,  als  es  galt,  auch  die  lebendigen  Träger  der 
Geschichte  nach  genetischer  Methode  zu  erfassen.  Überblickt  man  nur 
diesen  einen  kleinen  Ausschnitt  aus  dem  Werden,  den  die  Geschichte 
des  Entwicklungsgedankens  umfaßt,  dann  muß  man  sich  schon  vor 
dem  Genius  der  Philosophie  verneigen,  weil  dieser  es  war,  der  dem 
Entwicklungsgedanken  zuerst  gerecht  wurde.  Es  ist  deshalb  geradezu 
als  Versündigung  am  Menschengeist  zu  bezeichnen,  wenn  zuweilen  noch 
immer  die  Anschauung  vertreten  wird,  alle  Philosophie  sei  müßige 
Spekulation,  stelle  gleichsam  nur  den  bleichen  Schatten  dar,  den 
das  helle  Licht  der  Einzelwissenschaften  werfe.  In  Wirklichkeit 
können  wir  beobachten,  wie  zu  allen  Zeiten  stets  wieder  eine  Phase 
kommt,  wo  die  Philosophie  den  Einzelwissenschaften  voranschreitet, 
ja  daß  es  genau  genommen  die  Philosophie  war,  die  den  Begriff 
des  Exakten  erst  zu  seiner  heutigen  Klarheit  und  Schärfe  durch- 
gearbeitet hat. 
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247 


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Und  ebenso  wie  der  Philosophie  das  Verdienst  gebührt,  daß  sie 
schon  weit  früher  von  Entwicklung  sprach,  als  die  Naturwissenschaft, 
daß  sie  eherne  Gesetze  des  Fortschritts  proklamierte,  zu  einer  Zeit, 
wo  von  biologischen  Entwicklungsgesetzen  noch  nicht  die  Rede  war, 
so  darf  sie  auch  den  Ruhm  für  sich  reklamieren,  die  Fortsetzung 
der  naturwissenschaftlichen  Methoden  bis  ins  Organische  hinein  und 
von  da  weiter  bis  ins  allerfeinste  Psychische  vorbereitet  zu  haben. 
Trotz  aller  ihrer  großen  Errungenschaften  in  der  Erkenntnis  der 
Naturgesetzlichkeiten  war  die  anorganische  Naturwissenschaft  in 
dieser  Hinsicht  zaghaft  bis  ins  Unglaubliche;  vor  dem  Belebten 
machte  sie  in  unbegrenzter  Kurzsichtigkeit  mit  ihrer  strengen  Kausal- 
erkenntnis Halt,  hier  zauderte  sie,  die  selbst  gesteckten  Grenzen 
ihres  Forschungsgebietes  zu  überschreiten. 

Diesen  gewaltigen  Schritt  unternahmen  erst  Darwin  und  seine 
Vorläufer,  anknüpfend  an  die  ihrer  Zeit  weit  voraneilenden  philo- 
sophischen Theorien,  von  letzteren  jedoch  keiner  mit  der  gleichen 
unbeugsamen  Konsequenz  wie  Darwin  selber.  Er  hatte  den  Mut, 
den  Tatsachen,  die  sich  ihm  aufdrängten,  mehr  zu  glauben,  als  den 
Traditionen,  die  ihn  in  ihren  Bann  zu  zwingen  suchten;  er  zog  unbeirrt 
die  notwendigen  Folgerungen  aus  der  logisch  geordneten  Erfahrungs- 
gesetzlichkeit, wagte  es,  jenen  Boden,  den  die  Philosophen  spekulativ 
erschlossen  hatten,  mit  festem  Fuß  experimentell  zu  betreten.  So 
wurde  er  nach  Lamarck,  der  aber  noch  nicht  so  energisch  wie  er 
mit  unbewiesenen  metaphysischen  Voraussetzungen  zu  brechen  sich 
getraute,  zum  ersten  großen  Naturphilosophen  des  Organischen  und 
damit  zum  eigentlichen  Begründer  der  modernen  Biologie.  Was  bis 
zu  ihm  fast  nur  eine  Summe  von  isolierten  Einzelerkenntnissen  war, 
das  faßte  er  zum  System  zusammen,  zum  System  einer  exakt  fun- 
dierten Entwicklungslehre.  Geschichte  und  Naturforschung  vereinigte 
er  so  zu  einer  einheitlichen  Theorie,  die  die  Geschichte  zur  Ent- 
wicklungsgeschichte erweiterte. 

Es  ist  überaus  interessant  für  die  Eigenart  des  menschlichen 
Geistes,  daß  dieser  durch  nichts  mehr  in  seinen  Grundlagen  erschüttert 
wird,  als  wenn  man  den  notwendigen  Versuch  unternimmt,  aus  ana- 
lytischen Induktionen  die  zwangsläufigen  synthetischen  Schlüsse  zu 
ziehen  —  ein  Bestreben,  das,  wo  es  tiefgreifend  genug  ist,  allerdings 
stets   eine  vollkommene  Neuordnung  unserer  gesamten  Erfahrungs- 

248 


weit  zur  Folge  hat.  Aus  dieser  Erschütterung  ging  der  ungeheure 
Sturm  hervor,  der  sich  gegen  die  Darwinsche  Lehre  erhob.  Nur  wenige 
waren  es,  die  die  ganze  Größe  dieser  Leistung  in  der  vollen  Fülle 
ihrer  Konsequenzen  freudig  bejahend  zu  erfassen  vermochten.  Zu 
diesen  ganz  Wenigen  gehört  Ernst  Haeckel,  der  Mann,  dessen  acht- 
zigsten Geburtstag  wir  in  diesen  Tagen  zu  feiern  die  Freude  haben. 

Obwohl  nicht  zu  Darwins  engerem  Freundeskreis  gehörend,  fern 
von  ihm  in  einem  Lande,  wo  fast  alle  Autoritäten  entrüstet  sich  gegen 
den  neuen  organischen  Heilbringer  wandten,  ergriff  er  sofort  mit 
Feuereifer  seine  Partei,  machte  dessen  Lehre  zu  seiner  eigenen  und 
widmete  die  ganze  Lebensarbeit  der  Aufgabe,  neue  Bausteine  zur 
Erweiterung  und  besseren  Fundierung  des  Gebäudes  beizubringen, 
das  Darwin  aufgerichtet  hatte.  Und  er  ging  noch  über  Darwin  hinaus 
in  der  Kühnheit  seiner  Hypothesen  unterstrich  das,  was  jener  nur 
angedeutet  hatte,  verstärkte  besonders  dessen  Angriffe  gegen  alle 
metaphysisch-teleologischen  Spekulationen.  Die  „Generelle  Morpho- 
logie" und  die  „Natürliche  Schöpfungsgeschichte"  sind  die  leuchten- 
den Dokumente  dieser  großen  historischen  Epoche. 

Es  muß  fast  wie  ein  Wunder  erscheinen,  daß  es  den  jüngeren 
Mitgliedern  der  gegenwärtigen  Generation  noch  vergönnt  ist,  einem 
der  Heroen  des  Entwicklungsgedankens  persönlich  den  Dank  ab- 
statten zu  können  für  das,  was  dieser  ihnen  gegeben.  Wie  langsam 
und  mühsam  sich  der  Kampf  um  jede  kleinste  Errungenschaft  im  All- 
tag auch  hinschleppt,  so  ist  es  also  doch  eine  Tatsache,  daß  wenige 
Jahrzehnte  genügen,  um  etwas,  was  als  heißumstrittene  Hypothese 
ins  Leben  trat,  zum  Gemeingut  der  Wissenschaft  zu  erheben!  Wer 
zweifelt  heute  noch  daran,  daß  nicht  nur  die  menschlichen  Ideen, 
nicht  nur  die  menschlichen  Einrichtungen  im  geschichtlichen  Prozeß 
erarbeitet  wurden,  sondern,  daß  auch  der  Mensch  selber,  ja  sogar 
die  Gattung  homo  sapiens  ein  Produkt  des  Entwicklungsprozesses 
ist,  daß  dieses  hochkomplizierte  Gebilde  nicht  wie  Athene  in  der 
Sage  fertig  dem  Haupt  des  Zeus  entsprang. 

Freilich  —  dieser  ungeheuer  rasche  Werdegang,  der  jeden  Mit- 
kämpfer an  der  lebendigen  Tat  der  Kulturschöpfung  mit  neuem 
Mut  erfüllen  muß,  er  ist  in  erster  Linie  das  Ergebnis  der  Unermüd- 
lichkeit, mit  der  diejenigen,  die  ihr  ganzes  Leben  in  den  Dienst  der 
Entwicklungsidee  gestellt  haben,  ihr  großes  geistiges  Befreiungswerk 

240 


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verfochten.  Durch  nichts  waren  sie  in  der  Kraft  ihrer  Überzeugung 
zu  beirren  —  Hohn,  Spott,  Verächtlichmachung,  Denunziation,  Ver- 
folgung, alles  ließen  sie  ruhig  über  sich  ergehen,  ohne  auch  nur  um 
Haaresbreite  von  dem  abzuweichen,  was  sie  als  wahr,  was  sie  als 
notwendige  Erkenntnis  ansahen.  Diese  Festigkeit  in  ihrer  Über- 
zeugungstreue ist  umso  höher  zu  werten,  wenn  man  sich  vor  Augen 
hält,  welch  ein  ungeheures  Maß  von  seelischer  Stärke  dazu  gehört, 
um  unter  so  schwierigen  Verhältnissen  ohne  Schwanken  auszuharren 
—  weiß  doch  Jeder  aus  eigener  Erfahrung,  wie  oft  man  von  Stun- 
den, ja  Tagen  der  Verzagtheit  überfallen  wird,  welcher  Fond  von 
zäher  Ausdauer  erforderlich  ist,  um  sich  kontinuierlich  seine  unge- 
brochene Initiative  zu  bewahren. 

Und  nun  haben  wir  in  Ernst  Haeckel  das  erhebende  Schauspiel 
vor  uns,  daß  hier  ein  Mensch  noch  unter  uns  lebt,  dem  es  gelungen 
ist,  sich  bis  in  sein  höchstes  Alter  die  volle  Wucht  und  Einheit  seiner 
Persönlichkeit  zu  erhalten  —  ja  mehr  als  das:  die  volle  Kampf- 
freudigkeit für  die  Ideen,  denen  er  seit  jeher  sein  ganzes  Sein  ge- 
widmet. Niemals  ließ  Haeckel  die  Gefahr  an  sich  herankommen, 
zum  bloßen  Pensionär  seines  Ruhmes  herabzusinken,  immer  blieb 
er  in  der  vordersten  Kampfreihe,  stets  war  er  nur  auf  eines  bedacht: 
die  Konsequenzen  seiner  kritisch  und  empirisch  erprobten  An- 
schauungen noch  strenger  und  noch  energischer  zu  ziehen.  Dadurch 
blieb  er  ein  Junger  bis  ins  höchste  Greisenalter. 

Auch  mit  seiner  eigenen  Persönlichkeit  stellte  er  sich  auf  den 
Boden  des  Entwicklungsgedankens,  indem  er  seine  Weltauffassung 
stets  durchaus  im  Einklang  mit  den  Fortschritten  der  Wissenschaft 
zu  halten  bemüht  war.  Wie  hat  Haeckel  noch  im  Jahre  1878  über  die 
Grundlehren  des  Sozialismus  gedacht,  als  Virchow  die  untilgbare 
Schuld  auf  sich  lastete,  die  Entwicklungstheorie  damit  diskreditieren 
zu  wollen,  daß  er  sie  anklagte,  sozialdemokratischen  Tendenzen 
Vorschub  zu  leisten.  Damals  wies  Haeckel,  der  zu  dieser  Zeit  über 
das  engere  Gebiet  der  Naturforschung  noch  nicht  hinausgewachsen 
war,  diesen  Vorwurf  mit  Entrüstung  von  sich.  Man  traut  seinen 
Augen  kaum,  wenn  man  in  seiner  Replik:  „Freie  Lehre  im  freien 
Staat",  die  er  gegen  Virchows  Rede:  „Die  Freiheit  der  Wissen- 
schaft im  modernen  Staate"  richtete,  liest,  wie  er  trotz  seiner  Un- 
voreingenommenheit  in  allen  Fragen,  die  das  Verhältnis  von  Religion 

250 


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und  Wissenschaft  betrafen,  in  sozialer  Hinsicht  so  befangen  war, 
daß  er  die  Ergebnisse  der  Entwicklungslehre  für  unvereinbar  hielt 
mit  den  Grundlehren  des  wissenschaftlichen  Sozialismus.  Wie  hat 
er  sich  seitdem  auf  Grund  besserer  Einsicht,  auf  Grund  unbeugsamer 
innerer  Konsequenz,  geschlossenen  einheitlichen  Denkens  gewandelt! 
Indem  er  seine  naturwissenschaftlichen  Theorien  zu  einer  monisti- 
schen Philosophie  erweiterte,  sah  er  sich  genötigt,  auch  im  Sozialen 
von  allen  Vorurteilen  immer  weiter  abzurücken,  —  ein  Prozeß 
innerer  Wandlung,  der  seit  den  „Welträtseln"  noch  weitere  Fort- 
schritte gemacht  hat.  Er  hat  hierin  einen  ganz  ähnlichen  Weg  ge- 
nommen, wie  der  kürzlich  verstorbene  Mitbegründer  der  Entwick- 
lungslehre Alfred  Russell  Wallace. 

Und  was  ihn  dazu  nötigte,  das  war  die  immer  tiefere  Erfassung 
der  Bedeutung  der  monistischen  Methode  für  alle  Welterkenntnis  und 
Weltgestaltung.  Es  macht  das  Wesen  des  Monismus  aus,  daß  jeder 
seiner  Bekenner  sich  gezwungen  fühlt,  sich  nicht  auf  die  Bearbeitung 
eines  einzelnen  Gebietes  zu  beschränken,  ohne  sich  zugleich  zu  fragen, 
wie  die  von  ihm  gefundenen  Erkenntnisse  widerspruchslos  einge- 
gliedert werden  können  in  das  Gesamtsystem  menschlichen  Erken- 
nens  und  wie  Erkenntnis  und  Tat  zur  Einheit  zusammengeschmiedet 
zu  werden  vermögen.  Auch  Haeckel  konnte  sich  darum  der  Aufgabe 
nicht  entziehen,  darüber  nachzusinnen,  wie  biologische  und  soziale 
Entwicklung  innerlich  zusammenhängen,  welches  die  sozialen  Voraus- 
setzungen geistiger  Freiheit  und  organischen  Fortschritts  sind  —  und 
von  diesem  Gesichtspunkt  aus  wurde  er  zu  Anschauungen  geführt, 
die  ihm  nicht  mehr  erlaubten,  einen  unversöhnlichen  Gegensatz 
zwischen  den  biologischen  und  den  sozialen  Entwicklungsnotwendig- 
keiten anzunehmen.  Zur  Erkenntnis  der  restlosen  Übereinstim- 
mung, die  hier  gegeben  ist,  ist  er  allerdings  auch  heute  noch  nicht 
vorgedrungen.  Dazu  hat  er  die  weitgehende  Revisionsbedürftigkeit 
der  Darwinschen  Selektionstheorie  und  einer  Reihe  der  Grund- 
begriffe der  Entwicklungslehre  nicht  scharf  genug  erfaßt,  hat  er 
nicht  genügend  gewürdigt,  wie  tief  bis  ins  Allerfeinste  hinein  die 
kontinuierliche  Wechselwirkung  zwischen  Individuum 
und  Umwelt  sich  erstreckt.  Aber  bei  der  Beweglichkeit  des  Geistes 
dieses  Achtzigjährigen  ist  zu  erwarten,  daß  er  auch  bezüglich  aller 
dieser  Punkte  noch  nicht  das  letzte  Wort  gesprochen  hat. 

251 


Und  ebensowenig  wie  Haeckel  sich  scheute,  neuen  Tatsachen  Rech- 
nung zu  tragen,  die  aus  der  ganzen  Zeitgeschichte  mit  der  Wucht 
des  Lebendigen  auf  ihn  einstürmten,  —  ja  ihnen  selbst  dort  Rechnung 
trug,  wo  sie  mit  seinen  ursprünglichen  Ideen  nicht  übereinstimmten, 
ebenso  hatte  er  auch  die  Kraft,  Zeitströmungen,  so  machtvoll  sie  sich 
auch  äußern  mochten,  unbesiegbaren  Widerstand  entgegenzusetzen, 
wenn  er  sie  für  ephemer  hielt,  wenn  er  die  Geschlossenheit  ihrer 
Argumentenreihe  trotz  allen  gegenteiligen  Anscheines  nicht  als  auf 
ausreichender  Beobachtung  beruhend  erachtete.  Das  schönste  Zeug- 
nis für  diese  Art  wissenschaftlicher  Zähigkeit  —  bei  aller  Geneigtheit, 
jeder  neuen  gesicherten  Erfahrung  überholte  eigene  Anschauungen 
zum  Opfer  zu  bringen  —  ist  seine  Haltung  dem  Problem  der  Vererb- 
barkeit  erworbener  Eigenschaften  gegenüber. 

Er  ist  nie  schwankend  geworden  in  seiner  Überzeugung  von  der 
Kontinuität  des  Geschehens  und  ebenso  energisch,  wie  er  jede  vita- 
listisch  gedeutete  Eigengesetzlichkeit  der  Lebensvorgänge  entschieden 
bestritt,  so  wandte  er  sich  auch  gegen  alle  Bestrebungen,  die  dem 
Keimplasma  eine  isolierte  Stellung  im  Organismus  zusprechen  wollten, 
die  einen  schroffen  Dualismus  von  Soma  und  Vererbungssubstanz, 
ja  zwischen  Individuum  und  Umwelt  vertraten,  die  hier  Eigengesetz- 
lichkeiten postulierten,  die  außer  jeglichem  Zusammenhang  unter- 
einander stehen.  W'ie  recht  er  darin  hatte,  das  zeigen  gerade  die 
neuesten  Ergebnisse  der  Wissenschaft  aufs  deutlichste,  kann  es  doch 
heute  nur  noch  fraglich  sein,  auf  welchem  Wege  und  in  welchem 
Maße  die  Reize,  die  das  Soma  treffen,  sich  auch  bis  in  die  Keim- 
entwicklung fortsetzen  —  die  Tatsache  der  Einheit  des  Organis- 
mus, der  Ontogenese  ebenso  wie  der  Phylogenese  ist  jedoch 
kein  Problem  mehr. 

Und  auch  in  diesem  Punkte  war  es  seine  monistische  Philosophie, 
die  ihn  vor  Irrtümern  bewahrte.  In  dieser  haben  wir  darum  den  Gipfel 
der  Lebensleistung  Ernst  Haeckels  zu  erblicken.  Sie  ist  das,  was  weit 
über  die  Leistungen  auf  seinem  Spezialgebiet  hinauswirkt,  was  das 
Fundament  einer  neuen  vertieften  allumfassenden  Weltanschauung 
bietet,  die  in  aktivistische  Weltgestaltung  mündet,  in  eine 
mächtig  ausgreifende  Kulturphilosophie,  die  alle  Naturphilosophie 
krönt.  Es  ist  sicherlich  eine  Erscheinung,  die  in  ihrer  Bedeutung 
nicht  leicht  überschätzt  werden  kann,  wenn  der  Entwicklungsgedanke 

252 


nun  durch  Haeckels  und  Ostwalds  unermüdliche  Bearbeitung  im  Einheit- 
lichkeitsgedanken kulminiert,  ein  Ergebnis,  das  bei  der  innigen  Ver- 
wandtschaft zwischen  Entwicklungstheorie  und  Konti- 
nuitätsidee geradezu  als  deren  notwendiges  Produkt  angesehen 
werden  muß. 

Nichts  war  darum  kurzsichtiger,  als  sich  über  Haeckels  Materialis- 
mus aufzuregen.  Die  strenge  Konsequenz,  durch  die  Haeckels  Monis- 
mus sich  auszeichnet,  ließ  ihn  in  eine  idealistische  Spitze  aus- 
laufen, die  dahin  wirkt,  nun  mehr  als  je  in  der  Einheit  des  Erkenntnis- 
zusammenhanges die  oberste  Rechtfertigung  aller  Aussagen  der  Wis- 
senschaft zu  erblicken.  Der  Einheitszwang  ist  der  unablässigste 
Mahner  des  menschlichen  Bewußtseins;  er  drängt  über  die  Einheit 
der  Anschauung  hinaus  zur  Einheit  der  ganzen  Persönlichkeit,  in 
deren  Denken  ebenso  wie  in  deren  Tun,  ja  letztlich  in  diesen  zwei 
Grundfunktionen  alles  Lebendigen  untereinander. 

Wir  wissen  heute:  die  erste  und  letzte  Voraussetzung  der  Ge- 
schlossenheit unseres  wirkenden  Seins  ist  Konsequenz,  die  kein  Aus- 
weichen vor  den  notwendigen  Folgerungen  aus  notwendigen  Prämissen 
gestattet,  im  Handeln  ebensowenig  wie  im  Denken,  —  die  der  Kon- 
tinuität des  Geschehens  und  der  Erfahrungsgesetzlichkeit  voll  gerecht 
wird,  die  nicht  duldet,  daß  irgendwo  im  Gegebenen  ein  Schnitt 
zwischen  durchweg  getrennten  Eigengesetzlichkeiten  gemacht  wird. 
Die  Einheit  der  Persönlichkeit  erlaubt  keinerlei  Dualismus,  der  die 
Äquivalenzbeziehung  aufhebt,  sie  ist  unvereinbar  mit  der  Anschau- 
ung, daß  Wesenheiten,  die  auch  nicht  das  geringste  miteinander 
gemein  haben ,  aufeinander  einwirken  können.  Der  strenge  Einheits- 
und Kontinuitätsgedanke  verbietet  deshalb  auch,  der  Wissenschaft 
an  irgend  einem  Punkte  Halt  zurufen  zu  wollen;  in  Erkenntnis- 
dingen gibt  es  keine  höhere  Instanz  als  die  Vernunft  und  ihre  imma- 
nenten Erfahrungsgesetze;  was  diesen  widerstreitet,  kann  nicht  als 
wahr  hingenommen  werden.  Wo  gegensetzliche  Meinungen  einander 
bekämpfen,  da  können  wir  nur  jenen  zustimmen,  die  mit  der  Einheit 
und  Widerspruchslosigkeit  des  Gesamtzusammenhanges  der  Erfah- 
rung zusammen  zu  bestehen  vermögen.  Das  gilt  in  gleicher  Weise 
für  alle  Aussagen,  mögen  sie  sich  beziehen  auf  was  immer.  Unsere 
Vernunft  kann  sich  weder  beruhigen,  wenn  Glauben  und  Wissen 
einander  widerstreiten,  wie  wenn  Theorie  und  Praxis  eine  weite  Kluft 
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253 


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trennt.  Und  ebensowenig,  wie  zwischen  Tatsachenkonstatierungen 
unüberbrückbare  Divergenzen  bestehen  bleiben  dürfen,  wenn  ein- 
deutige Problemlösungen  zustande  kommen  sollen,  so  ist  auch  jeder 
unbehobene  Widerspruch  zwischen  praktischen  Postulaten  unterein- 
ander ein  sicherer  Beweis  für  deren  Unzulänglichkeit.  Jede  Ordnung, 
wo  das,  was  auf  einem  Gebiet  als  wahr  angenommen  wird,  mit  an- 
geblichen Gewißheiten  eines  anderen  Gebietes  im  Widerspruch 
steht,  ist  als  unbrauchbar,  ja  als  der  Menschenwürde  zuwiderlaufend 
abzulehnen;  möge  sie  von  noch  so  starken  Traditionen  gestützt  sein, 
sie  sprengt  die  Einheitlichkeit  der  Persönlichkeit,  die  sowohl  unser 
größtes  Gut,  wie  unsere  höchste  menschliche  Aufgabe  ist,  und  muß 
darum  energisch  bekämpft  werden. 

Von  diesem  tiefgefühlten  Bedürfnis  nach  strenger  Einheit  der 
Persönlichkeit,  die  den  kritisch  geprüften  Ergebnissen  der  Erfahrung 
niemals  und  nirgends  den  Respekt  versagt,  ist  das  ganze  Leben  Ernst 
Haeckels  geleitet  gewesen.  Von  ihr  getragen  nahm  er  ruhig  den 
Kampf  mit  der  Autorität  von  Staat  und  Kirche  auf,  ging  er  unent- 
wegt hinweg  über  alle  Stürme  der  öffentlichen  Meinung.  Und  selbst 
wo  er  geirrt  hat,  ist  er  darum  eine  erfreulichere  Erscheinung,  als  sie 
minder  streitbare  Naturen  darbieten,  die  allerdings  weniger  geirrt, 
dafür  aber  auch  weit  weniger  geleistet  haben  als  er. 

Die  historische  Gerechtigkeit  wird  ihm  Dank  wissen  für  den  vor- 
bildlichen Mut,  mit  dem  er  immer  seine  ganze  Kraft  für  das  ein- 
gesetzt hat,  was  er  für  wahr  und  notwendig  hielt,  wie  dafür,  daß 
er  jederzeit  bereit  war,  die  ganze  Autorität,  die  er  sich  mühsam  er- 
obert, aufs  Spiel  zu  setzen,  wenn  es  galt,  neuen  Erkenntnissen  über- 
holten autoritativen  Meinungen  gegenüber  zum  Siege  zu  verhelfen. 
Was  ihm  die  Mitwelt  zum  Vorwurf  macht,  gerade  das  wird  ihm 
die  Nachwelt  zum  Verdienst  anrechnen.  Dieser  Wandel  der  Beur- 
teilung hat  sich  noch  zu  allen  Zeiten  am  Schicksale  der  wahrhaft 
Großen  in  der  Geschichte  vollzogen;  zu  unsterblichem  Ruhme 
wurden  sie  gleichsam  hinaufgelästert.  So  unbequem  der  un- 
ermüdliche Kämpfer  im  einzelnen  immer  ist  und  sein  muß,  schließlich 
bemächtigt  sich  sogar  seiner  erbittertsten  Widersacher  die  unabweis- 
bare Überzeugung:  es  ist  doch  das  größte  Glück  für  die  Menschheit, 
daß  die  Persönlichkeiten  nicht  aussterben,  die  sich  Tag  für  Tag  von 
neuem  für  ihre  freien  Ideen  opfern,  die  auch  eine  Welt  von  Wider- 

254 


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spruch  nicht  zum  Schweigen  zu  bringen  vermag,  wenn  ihr  individueller 
Logos  sie  zwingt,  ihre  heiligste  Erkenntnis  tatenfroh  in  die  wider- 
strebende Welt  hinauszuschleudern.  Was  wiegen  demgegenüber 
Irrtümer  im  einzelnen,  besonders  wenn  auch  sie  von  unerbittlichem 
Wahrheitswillen  getragen  sind?  Der  Wahrheitswille  ist  der  Schöpfer 
der  höchsten  menschlichen  Ordnung,  ihn  zu  verehren  ist  darum  das 
oberste  Gebot  der  menschlichen  Seele. 

Durch  einen  solchen  allerlebendigsten,  unerschütterlichen  Wahr- 
heitswillen hat  sich  Haeckel  zu  allen  Zeiten  ausgezeichnet.  Deshalb 
muß  diesen  Mann  jeder,  der  es  ehrlich  mit  unseren  höchsten  Auf- 
gaben meint  —  stehe  er  auf  welchem  Boden  immer  und  trenne  ihn 
auch  noch  so  viel  von  Haeckels  Weltanschauung  —  an  seinem  Jubel- 
tage feiern.  Bei  Erscheinen  der  „Welträtsel"  hat  Paulsen  in  einem 
unüberlegten  Augenblicke  das  bedauerliche  Wort  ausgesprochen:  dieses 
Werk  habe  ihm  die  Schamröte  ins  Gesicht  getrieben.  Temperament- 
voll setzte  er  damit  Überzeugung  gegen  Überzeugung.  Es  ehrt 
diesen  Philosophen  aber,  daß  er  —  wie  ich  aus  authentischer  Quelle 
weiß  —  jenen  vielzitierten  Ausspruch  später  bereute.  Und  wie 
dieser  Einzelne  es  sich  mit  Recht  bei  ruhiger  Überlegung  zum  Vor- 
wurfe machte,  daß  er  sich  an  einer  so  geschlossenen  sittlichen  Indi- 
vidualität mit  seiner  herabwürdigenden  Äußerung  versündigte,  so 
werden  es  auch  spätere  Geschlechter  bereuen,  daß  unter  den  Zeit- 
genossen Ernst  Haeckels  Viele  waren,  die  die  Tiefe  seiner  Einheits- 
arbeit, die  die  Kraft  seines  sittlichen  Einheitswillens,  die  seinen 
Erfahrungsfanatismus  nicht  in  ausreichendem  Maße  würdigten,  denen 
die  ganze  Größe  der  Ziele,  die  die  monistische  Natur-  und  Kultur- 
philosophie sich  setzt,  nicht  voll  zum  Bewußtsein  kam,  die  über 
deren  Mängel  im  einzelnen,  von  denen  keine  neue  Schöpfertat  völlig 
frei  ist,  ihre  ungeheuren  Vorzüge  übersahen,  die  verkannten,  daß 
diesen  Ideen  die  Anfänge  einer  gewaltigen  Kulturbewegung  zugrunde 
liegen,  die  zukunftsschwanger  einen  ganz  neuen  Habitus  der  mensch- 
lichen Seele  aus  sich  hervorzutreiben  berufen  ist.  Der  Mann,  der 
den  Stammbaum  des  Menschengeschlechts  aufzuzeichnen  sich  er- 
kühnte, dessen  Namen  wird  die  Kulturmenschheit  aus  der  Ahnen- 
tafel ihres  schöpferischen  Genies  niemals  löschen! 


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255 


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J.  F.  ZALISZ,  LEIPZIG 

o  o  o 

Heil  dir!  dem  Vergehen  und  Werden 
lebensfrisch  vor  der  Seele  stand. 
Heil  dir!  der  selbst  der  Wahrheit 
ringend  den  Schleier  entwand. 

Vergleichende  Anatomie  (Beobachtungsobjekt)  und  natürliche  Ent- 
stehung der  Erde  als  Denkprodukt  dieser  Beobachtung  ergeben 
die  Nichtexistenz  eines  Gottes.  Deshalb  sei  die  Gottheit  schlafend 
dargestellt  samt  ihren  Helfern,  „den  Engeln".  Ich  versuchte  diesen 
Gedanken  in  meiner  Radierung  „An  Ernst  Haeckel"  festzuhalten. 

,,An  Ernst  Haeckel!"  Welch  eine  Fülle  von  Gedanken  kam  über 
mich,  als  ich  mich  mit  diesem  Blatte  beschäftigte ;  ich  wußte  nicht, 
was  ich  mehr  an  ihm  schätzen  sollte,  den  großen  Forscher,  den  Natur- 
freund, den  Kunstfreund,  den  Menschen  oder  den  Kämpfer  für  Gei- 
stesfreiheit und  Willensstärke.  In  allem  hat  er  Großes  geleistet  und 
Unsterbliches. 

Ein  schlichtes  Denkmal  suchte  ich  ihm  mit  diesem  Blatte  zu  setzen. 
Ich  versuchte  es,  d.  h.  ich  bin  überzeugt,  damit  nur  einen  kleinen 
Teil  Haeckels  erschöpft  zu  haben,  denn  um  ihm  ganz  gerecht  zu  wer- 
den, hätte  ich  schon  zum  Zyklus  greifen  müssen. 


256 


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Nach  einer  Radierung  von  J.  F.  Zalisz,  Leipzig 


17    Haeckel-Festschrift.  Bd.  II 


257 


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EDUARD  AIGNER,  MÜNCHEN 


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Als  im  Jahre  1906  der  deutsche  Monistenbund  von  Professor 
Haeckel  gegründet  wurde,  da  lernte  ich  in  mancher  langwierigen 
und  erlebnisreichen  Beratung  im  zoologischen  Institut  zu  Jena  die  Be- 
geisterung und  Beharrlichkeit  kennen,  mit  der  unser  Ehrenpräsident 
an  der  Organisierung  der  Vertreter  wissenschaftlichen  Denkens  gegen- 
über der  Autorität  des  traditionellen  Glaubens  hing.  Die  Opferfreudig- 
keit des  Führers  hatte  ihre  begeisternde  Wirkung  auf  seine  Mitarbeiter, 
und  wenn  heute  der  Monistenbund  sich  zu  allseitigem  Ansehen  durch- 
gerungen hat,  so  danken  wir  das  in  erster  Linie  dem  damaligen  Wirken 
der  Persönlichkeit  Professor  Haeckels.  Jahre  sind  seither  ver- 
flossen. Ich  habe  Haeckels  Abschiedsvorlesung  und  seinen  Vortrag, 
mit  dem  er  sich  in  Jena  aus  der  Öffentlichkeit  zurückzog,  mit  an- 
gehört. Der  Körper  hat  seitdem  dem  Alter  manchen  Tribut  zahlen 
müssen,  um  so  mehr  scheint  das  Glück,  am  Lebensabend  all  das  sieg- 
reich sich  entwickeln  zu  sehen,  wofür  man  vor  einem  Menschenalter 
mit  aller  Hingebung  gegen  die  finsteren  Mächte  der  Reaktion  ge- 
kämpft, den  Geist  des  nunmehr  Achtzigjährigen  jung  zu  erhalten. 
Möge  es  unserm  Ehrenpräsidenten  noch  recht  lange  vergönnt  sein, 
diesen  einzigartigen  Triumph  zu  feiern. 


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258 


ARNOLD   LANG,   ZÜRICH:    AUS    MEINEM   INTIMEN 

SCHULDBUCH 

o  o  o 

In  wenigen  Wochen  wird  sich  zum  vierzigsten  Male  der  Tag  jähren, 
an  dem  ich  Ernst  Haeckel  zum  ersten  Male  sah.  Zwischen 
damals  und  heute  liegt  meine  ganze  akademische  Laufbahn.  Auf 
ihr  Ende  fällt  des  Meisters  achtzigster  Geburtstag,  an  dem  wir  ihm 
für  alles  danken  wollen,  was  er  uns  war.  Und  wer  hat  mehr,  als  der 
Schreiber  dieser  Zeilen,  Recht,  Grund  und  Pflicht,  dies  zu  tun  und 
immer  wieder  zu  tun.  Heute  darf  ich  mich  wohl  auf  die  Erinnerung 
an  die  persönlichen  Wohltaten  beschränken,  die  mir  mein  Lehrer 
erwies  und  die  so  stark  auf  meinen  Lebensgang  einwirkten. 

Als  Geschenk  zum  Neujahr  1874  hatte  ich  mir,  der  ich  als  Schüler 
Vogts  in  Genf  studierte,  Haeckels  „Generelle  Morphologie"  er- 
beten. So  gewaltig  wirkte  das  geniale  Werk  auf  mich,  daß  es  mir 
Tag  und  Nacht  keine  Ruhe  ließ,  bis  ich  es  ganz  in  mir  aufgenommen 
und  erfaßt  hatte.  Durch  schwere,  innere  Kämpfe  hindurch  verhalf 
es  mir  zu  jener  mutig  frischen  Freude  am  Leben,  Wissen,  Streben 
und  Forschen,  die  dem  denkenden  Menschen  die  Befreiung  von  den 
Fesseln  der  Überlieferung,  das  unbeengte,  reine,  voraussetzungslose 
Ringen  nach  Wahrheit  verschafft. 

Mein  Entschluß  stand  nunmehr  fest,  mich  der  Zoologie  zu  widmen 
und  meine  Studien  bei  Haeckel  fortzusetzen.  Mein  lieber  Vater, 
ein  ebenso  bescheidener  und  wohlwollender,  wie  einsichtiger  und 
aufgeklärter  Mann,  der  mir  ein  umfassendes  Studium  und  besonders 
auch  wiederholte  Studienreisen  ans  Meer  ermöglichte  und  mir  immer 
die  Freiheit  der  Entscheidung  ließ,  auch  wenn  sie  für  ihn  mit  schweren 
Opfern  verknüpft  war,  erteilte  seine  Zustimmung.  Und  so  stand 
ich  an  einem  schönen  Tage  des  ersten  Thüringer  Frühlings  pochenden 
Herzens,  mit  einem  warmen  Empfehlungsschreiben  meines  lieben 
Lehrers  und  nachherigen  Freundes  Carl  Vogt  in  der  Hand,  in 
Haeckels  Arbeitszimmer  zu  Jena. 

Es  erhob  sich  vor  mir  elastisch  die  hohe,  im  Ebenmaß  den  Geist 
verkörpernde  Gestalt  des  gewaltigen  Streiters.  So  wie  ich  ihn  damals 
zum  ersten  Male  sah,  mit  dem  ersten  Eindruck,  den  er  als  vierzig- 
jähriger Mann  auf  mich  machte,  kann  ich  mir  ihn  auch  heute  noch 

17*  259 


ins  Gedächtnis  zurückrufen.  So  wird  er  auch,  wie  ich  glaube,  im 
Gedächtnisse  der  Nachwelt  fortleben.  Mit  seinem  Namen  wird  die 
Vorstellung  der  jugendfrischen,  kampfesfrohen  Kraftgestalt  so  un- 
trennbar verbunden  sein,  wie  mit  demjenigen  Darwins  das  Bild 
eines  sinnenden  alten  Weisen  des  großen  Altertums,  im  silbergrauen 
Bart.  Blonde  Locken  umrahmten  damals  das  männlich-schöne  Ant- 
litz Haeckels.  Freundlich  und  lustig  blickten  die  hellen  Augen  her- 
über zu  mir,  um  dann  sinnend  in  die  Ferne  zu  schauen.  Bald  lag 
in  ihnen,  den  treuen  Spiegeln  der  Seele,  ein  fast  schüchterner  Aus- 
druck kindlicher  Naivität,  bald  blitzten  sie,  etwa  in  Erinnerung 
an  eine  Gefechtsepisode,  fast  mutwillig  auf. 

Die  Augen,  die  so  viel  geschaut  und  die  doch  nimmer  satt  ge- 
worden sind  von  dem  goldnen  Überfluß  der  Welt,  sie  sind  ihm  treu 
geblieben.  Und  wenn  auch  die  Jahre  das  edle  Antlitz  durchfurcht 
und  Bart  und  Haupthaar  gebleicht  haben,  so  schlägt  doch  heute 
das  Herz  noch  jugendfrisch  und  freut  sich  der  ungetrübte  Geist  der 
Gewißheit,  daß  Tausende  und  Tausende  heute  in  Verehrung  seiner 
gedenken,  eine  ganze  Legion  von  Intellektuellen.  Wir  freuen  uns 
dieses  Namens  und  sind  stolz  auf  ihn. 

1874!  Es  war  die  Zeit,  da  der  Kampf  für  oder  gegen  Darwin 
am  heftigsten  tobte  und  Haeckel  stand  schon  damals  im  Vorder- 
treffen. In  Jena,  dem  lieben,  kleinen,  „närrischen",  in  seiner  ur- 
alten Gestalt  noch  ganz  unveränderten  Professoren-  und  Studenten- 
städtchen, verlebte  ich  zwei  fröhliche  und  doch  arbeits-  und  gewinn- 
reiche Studienjahre  zu  Füßen  des  Meisters,  der  mir  ständige  Zeichen 
des  Wohlwollens  gab.  Durch  Haeckel  auf  Lamarcks  Bedeutung 
aufmerksam  geworden,  übersetzte  ich  während  dieser  Zeit  in  den 
Ferien  dessen  „Philosophie  Zoologique"  ins  Deutsche.  Wenn  nicht 
gar  zu  viele  fachwissenschaftliche  Übersetzungsfehler  in  dem  Buche 
enthalten  sind,  so  habe  ich  das  den  bereitwilligen  Belehrungen  Haek- 
kels  zu  verdanken.  Im  März  1876  promovierte  ich  in  Jena.  Ziemlich 
unvorbereitet  wurde  ich  von  dem  alten  lieben  Pedellen  Pilling 
von  der  Ölmühle,  wo  ich  mit  Landsleuten  kegelte,  ins  Examen  weg- 
gerufen. Trotz  meiner  mehr  als  bescheidenen  Kenntnisse  erhielt  ich 
zu  meinem  freudigen  Erstaunen  die  Note  „magna  cum  laude". 
Es  wurde  mir  sofort  klar :  Haeckel  überschätzte  mich  in  seinem  Wohl- 
wollen und  war  wohl  der  sicher  irrtümlichen  Überzeugung,  daß  ich 

260 


viel  mehr  wußte,  als  aus  mir  herauszubekommen  war.  Und  das- 
selbe galt  gewiß  auch  von  meinem  verehrten  Lehrer  Eduard  Stras- 
burger, der  mich  in  Botanik  examinierte.  Merkwürdig,  Rudolf 
Eucken,  der  mich  in  Philosophie  prüfte,  hatte  sich  aus  den  empiri- 
schen Prüfungsresultaten  ein  viel  zutreffenderes  Bild  von  meinen 
wirklichen  Kenntnissen  gemacht,  als  die  beiden  großen  Naturforscher. 
Meinen  freudig  überraschten  Eltern  habe  ich  den  wahren  Sachverhalt 
nie  mitgeteilt.  Ich  bin  nicht  ganz  sicher,  daß  ich  es  nur  deshalb 
unterließ,  um  ihre  Freude  nicht  zu  beeinträchtigen. 

Wenn  ich  jetzt,  nach  so  langer  akademischer  Tätigkeit,  auf  die 
zahlreichen  Prüfungen  zurückblicke,  die  ich  selbst  abgenommen  habe 
und  mich  frage,  ob  ich  alle  meine  Kandidaten  mit  einem  ähnlichen 
Wohlwollen  wie  Haeckel  und  Strasburger  mich  .  .  .  . 

Ich  habilitierte  mich  noch  im  gleichen  Jahre  in  Bern  und  ging 
dann  bald  für  lange  Zeit  nach  Neapel,  ohne  in  einem  Schweizer- 
regiment   Dienst    zu   nehmen,    wie   meine    Großmutter   befürchtete. 

Fast  zehn  Jahre  später  —  ich  hatte  meine  Polycladenmonographie 
eben  publiziert  —  wurde  meine  äußere  Lage  plötzlich  sehr  schwierig. 
In  meinen  bedrängten  Verhältnissen  streckten  mein  Freund  Ludwig 
von  Graff  in  Graz  und  mein  Lehrer  Haeckel  die  helfende  Hand 
nach  mir  aus.  Ich  suchte  und  fand  im  Herbst  1905  Zuflucht  bei  der 
mir  befreundeten  Familie  Pilling  und  im  neu  erstellten  Zoologischen 
Institut  in  Jena,  an  dessen  Einrichtung  ich  mich  noch  etwas  beteiligen 
konnte.  Bald  durfte  ich  erfahren,  wie  sehr  mein  Chef  im  stillen 
um  mich  besorgt  war.  Dabei  hat  es  mir  sicher  nicht  geschadet, 
daß  Haeckels  Famulus,  der  treue  Pohle,  Geheimrat  Pohle,  wie 
er  nach  meinem  Vorgang  in  Professorenkreisen  genannt  wurde  (in 
Studentenkreisen  hieß  es  oft:  Darwin,  Haeckel  und  Pohle),  mich 
von  Anfang  an  in  sein  Herz  einschloß.  Bald  verbreitete  sich  in 
Jena  die  anfänglich  mit  ungläubigem  Kopf  schütteln  aufgenommene 
Kunde,  es  sei  dem  neuen  Schweizer  Zoologen  gelungen,  Haeckel 
zu  überreden,  daß  er  es  zuließ,  daß  wenigstens  in  die  Laboratoriums- 
räumlichkeiten die  Gasleitung  zugeführt  wurde  und  er  habe  es  außer- 
dem dahin  gebracht,  daß  Haeckel  beide  Augen  schließe,  wenn  etwa 
in  gewissen  Räumen  geraucht  werde. 

Im  folgenden  Jahre  gründete  Haeckel  aus  der  neuen  Paul 
von  Ritterschen  Stiftung  die  Ritter-Professur  für  Phylogenie.    Auf 

261 


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seinen  Vorschlag  hin  wurde  ich  zum  ersten  Inhaber  dieser  Professur 
ernannt.  Damit  war  mir  eine,  wenn  auch  bescheidene,  Stellung  ge- 
sichert und  ich  konnte  daran  denken,  meinen  eigenen  Hausstand 
zu  gründen.  Von  Anfang  an  übertrugen  Haeckel  und  seine  ver- 
ehrte Gattin  ihr  großes  Wohlwollen  auch  auf  meine  junge  Frau. 
Seiner  väterlichen  Fürsorge  vor  allem  war  es  zu  danken,  daß  sie 
sich  rasch  im  fremden  Lande  einleben  konnte,  daß  die  Zahl  der 
engbefreundeten  Familien  sich  mehrte  und  daß  uns  Jena  bald  zur 
zweiten  Heimat  wurde.  Bei  meiner  ältesten  in  Jena  geborenen 
Tochter  hat  er  als  Pate  die  Rolle  eines  Schutzpatrons  übernommen. 

Den  Bestimmungen  der  von  Ritterschen  Stiftung  entsprechend 
mußte  ich  alljährlich  eine  öffentliche  Rede  über  ein  phylogenetisches 
Thema  halten.  Ich  hielt  die  erste  am  27.  Mai  1887  über  „Mittel  und 
Wege  phylogenetischer  Erkenntnis".  Noch  lebhaft  erinnere  ich 
mich,  welchen  feierlichen  Eindruck  es  auf  mich  machte,  als  jeweilen 
während  der  Rede  in  der  Aula,  zu  deren  Besuch  das  Läuten  der 
ehrwürdigen  Turmglocke  einlud,  die  anstoßende  Brüdergasse  ab- 
gesperrt wurde.  Die  obligate  Rechnung  für  das  Heizen  der  Aula  (Ende 
Mai  oder  im  Juni!)  hat  jeweilen  Haeckel  selbst  in  seine  geduldige 
Mappe  gelegt.  Das  Abhalten  dieser  Reden  war  für  mich  heilsam.  Es 
lag  darin  ein  äußerer  Zwang,  nicht  nur  den  Blick  auf  das  Allgemeine 
gerichtet  zu  halten,  sondern  auch  zu  versuchen,  der  Darstellung  eine 
gefällige,  allgemeinverständliche  Form  zu  geben. 

Die  Zeit  meines  Jenenser  Ritter-Professorats  war  für  mich  die  denk- 
bar glücklichste  und  fruchtbarste.  Im  Institut  war  es  eine  Lust  zu 
leben  und  zu  arbeiten.  Haeckels  wohlwollende  Liebenswürdigkeit 
und  anspruchslose  Güte  sahen  über  alle  meine  Schwächen  hinweg. 
Er  erwies  mir  auch  sofort  die  seltene  und  hohe  Ehre,  mich  in  den 
illustren  Referierabend  einzuführen,  eine  familiäre,  intime  Vereinigung 
von  gelehrten  Professoren,  in  der  abwechselnd  in  den  Wohnungen 
der  Mitglieder  über  die  neuesten  bedeutenden  Leistungen  auf  dem 
Gebiete  der  Naturwissenschaften  referiert  und  diskutiert  wurde.  Man 
mag  sich  vorstellen,  wie  unschätzbar  wertvoll  für  mich  der  regel- 
mäßige Verkehr  mit  Männern  der  Wissenschaft  wie  Abbe,  Bieder- 
mann, Detmar,  O.  Hertwig,  Max  Fürbringer,  Wilh.  Müller,  Preyer, 
Stahl  und  Winkelmann  war,  von  denen  jetzt  leider  schon  manche 
zu  den  Vätern  versammelt  sind.  Und  der  rege  geistige  Verkehr 
3E]E]gE]S]gggE]gggggE]gggE]gggggggggggggggG]EiE]B]5iB]E]E]E]gE]G]f£]E]S][5]S] 

262 


setzte  sich  auch  auf  gemütlichen  Spaziergängen  in  den  reizvollen 
Umgebungen  Jenas  und  in  den  abendlichen  Zusammenkünften  auf 
dem  Forst  oder  der  Schweizerhöhe  fort,  wo  so  oft  herzerfrischend 
Haeckels  „helles,  lautes,  fröhliches  Lachen"  ertönte. 

In  diese  Zeit  fiel  auch  der  Wohlgemut-Konflikt  mit  meinem 
Heimatland  und  es  kam  meinem  immer  unvorsichtigen  Tempera- 
ment zugute,  daß  namentlich  Abbe  mit  seinem  autoritativen  An- 
sehen zuweilen  seine  schützenden  Fittiche  über  mich  ausbreitete. 
In  meinem  Hause  war  ein  reger,  fröhlicher  Verkehr  tüchtigster 
junger  Gelehrter,  von  denen  die  meisten  jetzt  in  ernstem  Amt  und 
hohen  Würden  stehen  und  mich  trotzdem  noch  freundlich  mit  „lieber 
Lang"  anreden.  Ein  Kränzlein  dankbarer,  aber  wehmütiger  Er- 
innerung sei  hier  Haeckels  vortrefflichen,  charaktervollen  Assistenten 
Alfred  Walter  und  Bernhard  Weißenborn  gewunden,  die  leider  allzu 
früh  ins  Grab  gesunken  sind. 

Im  Herbst  1899  war  die  Professur  Heinrich  Freys  für  Zoologie 
und  verwandte  Fächer  an  beiden  Hochschulen  in  Zürich  zu  besetzen 
und  ich  habe  es  in  erster  Linie  wiederum  der  warmen  Fürsprache 
Haeckels  zu  verdanken,  wenn  ich  an  diese  Stelle  berufen  wurde, 
welcher  seitdem  mein  ganzes  Wissen,  Wollen  und  Können  gegolten 
hat.  Eine  gewichtige  Amtsperson  sagte  später,  als  ich  mich  vor- 
stellte, zu  mir.  „So,  Sie  sind  also  der  Mann,  den  Haeckel  uns  so 
schwer  gerühmt  hat."  Mein  väterlicher  Freund  wollte  der  erste 
sein,  der  uns  in  unserer  Behausung  im  neuen  Wirkungskreis  —  wir 
waren  kaum  eingezogen  —  besuchte  und  als  ich  später  meine  Antritts- 
vorlesung hielt,  saß  er  zuvorderst  unter  meinen  Zuhörern.  Seitdem 
haben  wir  noch  mehrere  Male  das  Glück  gehabt,  ihn  bei  uns  zu  sehen 
und  ihn  bei  seinen  Wanderungen  in  unsern  herrlichen  Schweizer- 
landschaften zu  begleiten,  an  denen  ihm,  dem  Vielgereisten,  der  die 
halbe  Welt  gesehen ,  und  stets  auch  mit  künstlerischem  Auge  erschaut 
hat,  das  unvergleichliche,  unvergängliche  fruchtbare  Grün  als  der  in- 
timste und  eigenartigste  Reiz  erscheint.  Von  den  mannigfaltigen 
Erlebnissen  will  ich  hier  nur  eines  festhalten,  wegen  der  charakte- 
ristischen heiteren  Note.  Als  wir  einst,  Haeckel  aquarellierend,  den 
Gipfel  der  spitzen  Mythenpyramide  bestiegen  und  oben  in  der  kleinen 
Wirtschaft  übernachteten,  wo  er  sich  als  Küster  aus  Apolda  ins  Frem- 
denbuch eintrug,   war  für  die  Versorgung  seiner  hohen  Gestalt  in 

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263 


einem  der  kurzen  Betten  der  zwei  engen  und  kleinen  Schlafkammern 
guter  Rat  teuer  und  es  ging  nicht  anders,  als  daß  Haeckel  über 
die  Fußlehne  seines  Bettes  hinweg  seine  Füße  durch  die  offene  Türe 
in  mein  und  meiner  Frau  Schlafgemach  hinüberstreckte.  —  Jetzt, 
seit  dem  unglückseligen  Mißgeschick,  das  den  greisen  Gelehrten  be- 
troffen, vermissen  wir  schwer  jene  erwärmenden  Sonnenblicke,  die 
sein  Besuch  uns  verschaffte. 

Wie  sehr  Haeckels  Geist  auch  bei  uns  in  weite  Kreise  eingedrun- 
gen ist,  zeigt  die  großartige  Beteiligung  an  der  in  Zürich  bei  Anlaß 
seines  70.  Geburtstages  veranstalteten  Feier,  an  welcher  wir,  mein 
Studiengenosse  und  Mitschüler  Haeckels  Conrad  Keller  und  ich, 
unsere  Festreden  wiederholen  mußten. 

An  dieser  Stelle  darf  ich  wohl  auch  meiner  freudigen  Genug- 
tuung darüber  Ausdruck  verleihen,  daß  es  mir  am  Vorabende  des 
wunderbaren,  hohen  Festes  des  350  jährigen  Jubiläums  der  Universität 
Jena,  der  altberühmten  und  stets  jugendfrisch  fruchtbaren  Pflanz- 
stätte freier  Wissenschaft,  vergönnt  war,  eine  der  Weihereden  bei 
der  Einweihung  und  Übergabe  des  von  Haeckel  gegründeten  Phy- 
letischen  Museums  zu  halten. 

Ich  kann  nicht  von  meinen  Beziehungen  zu  dem  Jubilar  und 
seiner  unverbesserlichen  Überschätzung  meiner  Person  sprechen, 
ohne  das  Ereignis  zu  erwähnen,  das  für  mich  die  denkbar  höchste 
Ehrung  war,  die  mir  zuteil  werden  konnte,  das  Ereignis  nämlich, 
daß  mich,  im  Winter  1908/1909,  der  Senat  der  Universität  Jena, 
wie  man  mir  sagte,  einstimmig,  zu  seinem  Nachfolger  im  Amte  vor- 
schlug. Dem  Rufe  konnte  ich  freilich  nicht  Folge  leisten.  Eine 
etwas  zweifelhafte  Folge  dieser  Ehrung  war  die,  daß  man  mich 
vielfach  mit  ganz  andern  Augen  betrachtete,  als  hätte  ich  plötzlich 
ein  berühmtes,  epochemachendes  Buch  geschrieben.  Nicht  selten 
guckten,  was  mir  immer  unangenehm  ist,  fremde  Leute  auf  mich 
und  im  Tram  belauschte  einer  meiner  Schüler  ein  mich  fixierendes 
Studentenpärchen,  wie  sie  orientierend  sagte:  siehe,  das  ist  der 
Mensch,  den  Haeckel  zu  seinem  Nachfolger  vorgeschlagen  hat. 
Was  ich  aber  vielleicht  alles  dadurch  verscherzte,  daß  ich  den  ehren- 
vollen Ruf  nicht  annahm,  kam  mir  erst  dann  so  recht  deutlich  zum 
Bewußtsein,  als  mir  bei  einer  feierlichen  Gelegenheit  im  Reiche 
draußen  ein  ungefähr  gleichaltriger,  befreundeter  Kollege,  der  mehrere 

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264 


hohe  Orden  mit  mühelosem  und  würdevollem  Anstand  trug,  be- 
kümmert auf  meine  eintönige,  schmucklose  Frackbrust  blickend,  mit 
ehrlichem  Bedauern  zu  mir  sagte:  „Lieber  Lang,  nun  werden  Sie 
ja  niemals  Geheimrat  werden." 

Zum  Schlüsse  darf  ich  wohl  sagen,  daß  ich  Grund  habe  zu  hoffen, 
daß  mich  Haeckel  bei  der  heutigen  Gelegenheit  nicht  überschätzt 
und  gerne  auf  mein  Eingehen  auf  die  höchsten  Welträtsel  verzichtet. 
Eucken  hat  mich  wirklich  vor  vierzig  Jahren  richtig  eingeschätzt. 
Der  erste  Inhaber  der  ersten  Professur  für  Phylogenie  ist  mit  Bezug 
auf  Welterkenntnis  auf  der  phylogenetisch  bedauernswert  primitiven 
Entwicklungsstufe  eines  agnostischen  Freidenkers  stehengeblieben. 
Trotz  oft  wiederholter  Versuche  und  Anstrengungen,  die  Fluida 
nach  den  Stellen  zu  leiten,  wo  sich  jene  Bildungen  hätten  entwickeln 
können,  die  geeignet  gewesen  wären,  mich  in  höhere  und  höchste 
Regionen  zu  erheben,  bin  ich  ein  an  die  Niederungen  gebundenes, 
wenn  auch  anthropomorphes  Lebewesen  geblieben.  Mein  gänzlicher 
Mißerfolg  nach  dieser  Richtung  hat  nicht  wenig  dazu  beigetragen, 
daß  ich  mit  Bezug  auf  die  Leistungsfähigkeit  der  sogenannten  La- 
marckschen  Faktoren  immer  skeptischer  wurde. 

Eines  aber  kann  mein  teurer  Lehrer  und  Freund  —  ich  bin  dessen 
sicher  —  an  mir  nicht  überschätzen,  meine  Gefühle  der  Dankbarkeit 
und  Verehrung  und,  an  dem  heutigen  seltenen  festlichen  Tage,  die 
Innigkeit  des  Wunsches,  daß  ihn  eine  milde  Abendsonne  noch  ge- 
raume Zeit  erwärmen  und  erquicken  möge. 


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265 


ALEXANDER  SOKOLOWSKY,  HAMBURG:  ERNST 
HAECKEL  UND  MEINE  STUDIENZEIT 

o  o  o 

Die  Bekanntschaft  mit  Haeckels  Schöpfungsgeschichte  machte 
ich  bereits  in  den  letzten  Jahren  meiner  Schulzeit.  Mir  fielen 
damals  die  verschiedenen  naturwissenschaftlichen  Bücher  meines 
verstorbenen  Vaters,  der  Arzt  gewesen  war,  in  die  Hände,  unter  denen 
sich  auch  ein  Exemplar  der  ersten  Auflage  des  genannten  Werkes 
befand.  Die  Wirkung,  die  die  Lektüre  dieses  Buches  auf  mein  jugend- 
liches Gemüt  ausübte,  war  eine  so  tief  eindringende  und  nachhaltige, 
daß  sie  für  meinen  Berufsweg  geradezu  bestimmend  wurde.  Für  mich 
stand  es  damals  unbedingt  fest,  daß  ich  mich  der  Naturwissenschaft, 
und  zwar  in  erster  Linie  der  Zoologie,  widmen  wollte.  Es  war  aber 
nicht  nur  die  geistvolle  Auseinandersetzung  der  Darwinschen  Lehren, 
die  mich  zur  Naturwissenschaft  begeisterte,  sondern  es  wirkte  auch 
der  Gestaltenreichtum  der  Naturobjekte,  den  ich  dadurch  kennen 
lernte,  auf  meine  natürliche  Anlage  zum  Malen  und  Zeichnen  so 
elementar,  daß  ich  beschloß,  mich  vor  meinen  naturwissenschaft- 
lichen Studien  künstlerisch  auszubilden,  um  später  die  von  mir 
studierten  Naturobjekte  bildnerisch  wiedergeben  zu  können.  Als 
mich  der  Weg  von  Berlin  aus,  wo  ich  in  der  Kunstakademie  künst- 
lerischen Studien  oblag,  nach  Jena  zu  Haeckel  führte,  trat  mir  in  der 
Person  desselben  ein  Lehrer  entgegen,  der  mich,  meiner  Anlage  und 
Neigung  entsprechend,  daher  in  zweifacher  Hinsicht  zum  Studium  der 
Natur  anregte.  Es  ist  aber  nicht  nur  der  hochbegabte  Naturforscher 
und  Künstler,  der  mich  als  Student  zu  begeistern  verstand,  sondern 
nicht  minder  Ernst  Haeckel  als  Mensch.  Mir  ist  in  späteren  Jahren 
keine  zweite  Persönlichkeit  entgegengetreten,  die  in  gleicher  Weise  als 
liebenswürdiger  und  gütiger  Mensch  imstande  war,  den  Schüler  an  sich 
zu  fesseln,  wie  gerade  Ernst  Haeckel.  Diese  Anhänglichkeit  an  meinen 
alten  Lehrer  habe  ich  ihm  bis  auf  den  heutigen  Tag  treu  bewahrt. 
Die  Haeckelsche  Lehre  und  Auffassung  der  Naturvorgänge  übte 
auf  die  Ideenrichtung  meines  Denkvermögens  bis  auf  die  Gegenwart 
einen  unüberwindlichen  Einfluß  aus.  Ich  kann  gar  nicht  anders  als 
bei  naturwissenschaftlichen  Aufgaben  entwicklungsgeschichtlich  den- 
ken. Der  Frage  nach  dem  „Warum"  gesellt  sich  die  nach  dem  ,, Woher" 

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266 


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stets  bei.  Die  Erkenntnis  nach  dem  kausalen  Zusammenhang  der 
Naturerscheinungen  dünkt  mich  viel  interessanter  als  das  Kennenlernen 
zahlloser  Einzelerscheinungen,  wie  sie  eine  systematische  und  be- 
schreibende Naturbetrachtung  mit  sich  bringt.  Ich  glaube,  das  ist 
die  Stärke  und  die  Schwäche  der  Haeckelschen  Schule:  Während  auf 
der  einen  Seite  der  Trieb  zur  Verallgemeinerung,  mithin  die  allgemeine 
Erkenntnis,  mächtige  Förderung  erhält,  wird  das  auf  zahllose  Einzel- 
heiten basierende  Wissen  in  mancher  Hinsicht  unterschätzt.  Die 
notwendige  Folge  davon  ist  die  Aufstellung  heuristischer  Ideen,  die 
bei  späterer  gründlicher  und  umfassender  Nachprüfung  zum  mindesten 
starke  Modifikation  erfahren  muß.  Dennoch  wage  ich  zu  behaupten, 
daß  gerade  Haeckel  auf  Grund  seiner  spekulativen  und  verallge- 
meinernden Forschertätigkeit  die  Wissenschaft  immens  gefördert 
und  beeinflußt  hat.  Auch  in  solchen  Fällen,  in  denen  dem  greisen 
Forscher  der  Irrtum  unzweifelhaft  nachgewiesen  wurde,  hat  er  dennoch 
das  unstreitige  Verdienst,  die  Frage  in  Fluß  und  sie  dadurch  in- 
direkt zur  definitiven  Beantwortung  gebracht  zu  haben.  In  diesem 
Sinne  schätze  ich  Haeckel  außerordentlich  hoch  ein  —  und  bin  der 
Meinung,  daß  er  die  Naturforschung  der  Gegenwart  in  hervorragender 
und  einzigartiger  Weise  beeinflußt  hat.  Er  ist  als  Forscher  eine  Per- 
sönlichkeit, mit  der  sich  jeder  Zeitgenosse,  mag  er  auch  noch  der 
krasseste  Gegner  der  Haeckelschen  Anschauungen  sein,  unbedingt 
abfinden  muß.  Daß  in  den  letzten  Jahren  die  Zoologie  in  ganz  andere 
Bahnen  einlenkt,  die  mit  Darwinschen  und  Haeckelschen  Anschau- 
ungen nicht  übereinstimmen,  tut  der  Bedeutung  Haeckels  keinen 
Abbruch.  Zu  dessen  gerechter  Würdigung  darf  nicht  verkannt  werden, 
daß  der  Fortschritt  in  der  Wissenschaft  sich  auf  Erkenntnisschlüssen 
aufbaut,  zu  denen  in  großem  Maße  Haeckel  die  Wege  durch  seine 
Arbeiten  geebnet  hat.  Die  wahre  Bedeutung  Haeckels  wird  daher 
erst  erkannt  werden,  wenn  die  Klärung  der  wissenschaftlichen  An- 
schauungen auf  Grund  exakter  Forschung  soweit  fortgeschritten  sein 
wird,  daß  die  Lehren  des  greisen  Naturforschers  keine  Streitfragen  mehr 
sein  können.  Wir  befinden  uns  zur  Zeit  noch  zu  sehr  in  der  Sturm- 
und Drangperiode,  um  eine  volle  historische  Würdigung  der  Haeckel- 
schen Großtat  eintreten  lassen  zu  können.  Um  Haeckel  gerecht  zu  be- 
urteilen, darf  seine  eigenartige  künstlerische  Begabung  unbedingt  nicht 
dabei  vergessen  werden.    Sein  erstaunlich  entwickelter  Formen-  und 

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Farbensinn  verband  sich  mit  einer  reichen  Phantasie  zu  einem  For- 
schungsrüstzeug, wie  es,  in  einer  Person  vereint,  seinesgleichen  sucht. 

Der  Einfluß  Haeckels  auf  das  Kulturleben  der  Gegenwart  ist 
meines  Erachtens  ein  ungeheurer.  Die  Welträtsel  haben  eine  Wirkung 
ausgeübt,  wie  sie  in  dem  Maße  von  einem  anderen  naturwissenschaft- 
lichen Werke  seit  der  Veröffentlichung  von  Darwins  „Entstehung 
der  Arten"  nicht  erreicht  wurde.  Der  Bildungshunger  und  das 
Streben  nach  Wahrheit  der  Massen  kam  dieser  Einwirkung  auf  das 
Kulturleben  der  Gegenwart  auf  halbem  Wege  entgegen.  Namentlich 
war  es  der  Zerfall  mit  der  Kirche,  der  zahllose  unbefriedigte  Denker 
den  Haeckelschen  Lehren  in  die  Arme  trieb.  Unser  ganzes  geistiges 
Leben  ist  zur  Zeit  in  Gärung  begriffen  und  es  ist  heute  noch  nicht 
abzusehen,  welchen  Ausgang  die  geistige  Strömung  nehmen  wird. 
So  viel  steht  aber  für  mich  schon  heute  fest:  Haeckel  gebührt  das 
Verdienst,  den  Stein  ins  Rollen  gebracht  zu  haben.  Ihm  leuchtet  in 
seiner  Forschertätigkeit  das  ehrliche  Ringen  und  Streben  nach  Wahr- 
heit so  zielbewußt  voran,  daß  die  Massen  dadurch  instinktiv  mit- 
gerissen und  beeinflußt  wurden.  Haeckel  ist  daher  als  ein  mächtiger 
Kulturförderer  zu  werten. 

Da  Haeckel  als  genetischer  Anthropolog  der  Abstammung  des 
Menschen  in  seinen  Forschungen  den  wichtigsten  Platz  einräumt,  ist 
es  begreiflich,  daß  ich  mich  als  sein  Schüler  unter  seinem  Einfluß  als 
Tiergärtner  dem  Studium  der  Anthropomorphen  zuwandte.  Da 
mein  Lehrer  seine  Untersuchungen  auf  das  morphologische  Gebiet 
beschränkte,  versuchte  ich  den  psychologischen  Weg  zu  betreten. 
Der  tägliche  Verkehr  mit  lebenden  wilden  Tieren  führte  mich  ganz 
von  selbst  diesem  Arbeitsfeld  zu.  Die  Resultate,  die  ich  durch  meine 
diesbezüglichen  Studien  bei  den  verschiedenen  Anthropomorphen 
erzielte,  führen  mich  einer  polygenetischen  Deszendenztheorie  für 
den  Menschen  zu,  welche  im  Gegensatz  zur  monogenetischen  An- 
schauung Haeckels  die  Entstehung  der  Menschenformen  unabhängig 
voneinander  in  ihrer  Urheimat  aus  einem  besonderen  Affentyp  an- 
nimmt. Wenn  ich  mich  auch  aus  gewichtigen  morphologischen  wie 
psychologischen  Gründen  in  dieser  Ansicht  von  der  Überzeugung 
meines  verehrten  Lehrers  entferne,  so  erkenne  ich  mit  besonderer 
Dankbarkeit  an,  daß  ich  zu  dieser  Anschauung  nur  durch  die  Lehren 
Haeckels  als  Basis  für  die  selbständige  Denkarbeit  gelangen  konnte. 

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268 


JULIUS    SCHAXEL,    JENA:    ERNST    HAECKEL   UND 

SEINE  STUDENTEN 

o  o  o 

Während  der  zwei  letzten  Jahre  der  öffentlichen  Tätigkeit  Ernst 
Haeckels  als  Professor  der  Zoologie  in  Jena  hatte  ich  das  Glück, 
sein  persönlicher  Schüler  zu  sein  und  verehre  in  ihm  heute  den  väter- 
lichen Freund.  Von  dem  Vielen,  was  ich  Ernst  Haeckel  verdanke, 
soll  hier  nur  eines  genannt  werden :  der  immer  wieder  erneute  Eindruck 
seiner  machtvollen  Persönlichkeit. 

Haeckel  ist  der  vollkommene  und  wünschenswerte  Gegensatz  zu 
den  Hochschullehrern,  die  ihre  Aufgabe  darin  erblicken,  eine  gewisse 
Summe  erprobten  Wissensstoffes  ihren  Zuhörern  vorzutragen  und 
mit  der  Erledigung  des  Semesterpensums  ihre  Pflicht  als  „Lehrbeamte" 
erfüllt  zu  haben  glauben.  Studenten  wie  jener,  der  den  Assistenten 
bei  der  Erläuterung  der  Präparate  fragt,  ob  man  das  denn  auch  wirk- 
lich im  Examen  wissen  müsse,  kommen  bei  Haeckel  nicht  auf  ihre 
Rechnung.  Er  erzählt  nicht,  was  der  angehende  geistige  Proletarier 
besser  und  billiger  aus  Kompendien  und  Repetitorien  erfährt.  Haeckel 
lehrt  seine  Überzeugung:  das  mühsam  Errungene  eines  über  die 
Maßen  arbeitsreichen  Lebens. 

Wer  Haeckel  nur  nach  seinen  Schriften  allgemeinen  Inhalts  be- 
urteilt und  nur  auf  das  rein  Sachliche  achtet,  erhält  kaum  ein  treffendes 
Bild  von  seinem  Wesen.  Die  große  Kühnheit,  mit  der  er  die  Probleme 
angreift  und  meist  in  einem  Zuge  alle  Schwierigkeiten  zu  überwinden 
sucht,  findet  nicht  leicht  das  rechte  Verständnis.  Die  Freude  an  der 
Klarheit  des  Schemas  wird  für  Dogmatismus  gehalten  und  der  wieder- 
holte und  nachdrückliche  Hinweis  auf  das  für  wahr  Gehaltene  fana- 
tisch genannt. 

Näher  rückt  Haeckel  schon  dem,  der  sich  mit  seinen  fachwissen- 
schaftlichen Werken  eingehend  befaßt.  Die  liebevolle  Beachtung 
der  einzelnen  Erscheinungen  fällt  auf  und  zwingt  bei  dem  ungeheuren 
Umfang  der  geleisteten  Arbeit  zu  großer  Bewunderung.  Hier  hat 
nicht  nur  Fleiß  und  Ausdauer  gewirkt;  auch  Liebe  und  Güte  führen 
den  Stift,  der  ungezählten  organischen  Formen  nachzeichnend  folgt. 

Daß  Haeckel  nicht  nur  der  einzelnen  Sache  bei  der  forschenden 
Untersuchung  hingebende  Anteilnahme  widmet  unter  dem  bestän- 

269 


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digen  Hinweis  auf  die  großen  Zusammenhänge,  sondern  auch  als 
Lehrer  allem  und  jedem  dient,  erfährt  der  Schüler,  der  sich  die  Mühe 
nimmt,  mehr  als  bloße  Worte  zu  hören. 

Wo  sich  keine  engeren,  persönlichen  Beziehungen  anbahnen,  wirkt 
das  Beispiel  des  ganz  von  seiner  Sache  erfüllten  Mannes  vorbildlich. 
Mehr  fast,  wie  er  lehrt,  als  was  er  lehrt,  bedingt  den  tiefen  Eindruck 
auf  alle,  die  ihm  empfänglich  entgegenkommen.  Dabei  sind  es  durch- 
aus nicht  rednerische  Künste  oder  blendende  Demonstrationen,  die 
den  Schüler  fesseln.  Es  darf  vielmehr  gesagt  werden,  daß  Haeckel 
es  nie  zu  einer  besonders  durchgebildeten  Technik  des  Vortrags  ge- 
bracht hat  und  daß  die  seinem  bescheidenen  Institute  zur  Verfügung 
stehenden  Lehrmittel  modernen  Ansprüchen  kaum  genügen  würden. 
Einfache  meist  selbst  verfertigte  Präparate  und  selbst  gezeichnete 
oder  nach  eigenen  Entwürfen  hergestellte  kleine  Wandtafeln  werden 
durch  rasch  hingeworfene  Kreideskizzen  erläutert  und  in  schlichter 
Sprechweise  die  den  Stoff  beherrschenden  Ideen  vorgetragen.  Was 
auch  immer  der  Gegenstand  des  Vortrags  oder  der  Demonstration 
sein  mag,  Haeckel  spricht  im  Geiste  seiner  aus  der  genetischen  Be- 
trachtung der  Lebewesen  stammenden  Philosophie  des  Organischen, 
die  er  auf  alle  Erscheinungen  der  Natur  und  unseres  Lebens  anwendet. 
Es  ist  zu  merken:  hier  gibt  einer  sein  Heiligstes,  gibt  sich  selbst. 
Und  das  soll  der  Universitätsdozent.  Er  muß  mehr  sein  und  bleiben 
als  ein  Einpauker,  der  gerade  so  viel  hinreichend  lehrt,  als  man  braucht, 
um  Prüfungen  zu  bestehen. 

Besondere  Sorgfalt  wendet  Haeckel  den  Schülern  zu,  die  mit  der 
ausgesprochenen  Absicht  zu  ihm  kommen,  sich  seiner  Wissenschaft 
zu  widmen.  Die  liebevolle  Anleitung  und  die  Fürsorge  sogar  in  bezug 
auf  die  Dinge  des  täglichen  Lebens  gestalten  das  Verhältnis  zu  einem 
herzlichen.  Bei  der  Anleitung  im  Laboratorium  wie  im  Gespräch  auf 
Spaziergängen  ist  er  immer  derselbe  ruhige  und  heitere  Beantworter 
aller  Fragen.  Bei  großer  Bestimmtheit  im  eigentlichen  Vortrag  und 
im  geschriebenen  Wort  oder  gar  in  der  öffentlichen  Polemik,  zeigt 
er  sich  in  der  privaten  Diskussion  von  einer  überraschenden  Beschei- 
denheit, von  einer  Zugänglichkeit  für  alle  Einwendungen,  die  niemand 
erwartet,  der  ihn  nur  als  Redner  und  Schriftsteller  kennt.  Er,  der 
bereits  über  50  Jahre  wissenschaftliche  Arbeit  hinter  sich  hat,  scheut 
sich  sogar  nicht,  die  wenig  ausgereiften  Überlegungen  des  zwanzig- 

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270 


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jährigen  Anfängers  eine  für  ihn  wertvolle  Kritik  zu  nennen.  Nichts 
liegt  dem  kühnen  Theoretiker  ferner,  als  die  tastenden  Versuche  des 
Jünglings  in  von  ihm  vorbestimmte  Bahnen  zu  drängen.  Haeckel 
hat  nie  einen  Schüler,  der  bei  ihm  seine  erste  Arbeit  machte,  an  seiner 
Stelle  in  den  Kampf  der  Meinungen  geschickt,  was  viele  Meister  für 
kein  Unrecht  zu  halten  pflegen.  Er  öffnet  nur  begeisternd  und  be- 
geistert die  Welt  der  ungelösten  Fragen  in  ihrer  bunten  Mannigfaltig- 
keit und  deutet  zurückhaltend  die  Wege  an,  die  er  selbst  für  die  gang- 
barsten hält,  um  in  das  Unbekannte  einzudringen.  Er  erzieht  zur 
Selbständigkeit,  indem  er  von  dem  Schüler  Initiative  verlangt  und 
kein  Urteil  über  das  Ergebnis  vorwegnimmt. 

Von  dieser  Art  des  Anlernens  mag  es  herrühren,  daß  aus  Haeckels 
Schule  Forscher  von  recht  verschiedenartigem  Gepräge  ihrer  Gesamt- 
anschauungen hervorgegangen  sind.  Mit  Carl  Gegenbaur  ist  er  der 
Lehrer  der  neueren  vergleichenden  Morphologen;  aber  auch  die  Be- 
gründer und  Führer  der  Entwicklungsphysiologie  sind  seine  Schüler. 
Sogar  der  Neovitalist  H.  Driesch  hat  bei  ihm  promoviert.  Haeckel 
meint  zuweilen,  daß  manche  die  großen  Hoffnungen,  die  er  einst  auf 
sie  setzte,  nicht  erfüllt  haben.  Wer  aber  so  wie  er  aus  dem  Überfluß 
des  weitfassenden  Geistes  mit  vollen  Händen  gibt,  sät  mehr  als  er 
selbst  ahnt.  Wird  nun  gar  der  aufgehenden  Saat  freie  Entwicklung 
gelassen,  so  wird  vielerlei  zur  Blüte  gelangen.  Der  Säemann  mag 
einiges  für  Unkraut  halten.  Für  das  Gedeihen  der  Wissenschaft  ist 
das  vielgestaltige  Bemühen  um  die  Probleme  von  keinem  Schaden 
und  dem  tätigen  Arbeiter  würde  nichts  trostloser  erscheinen,  als  ein 
für  alle  sich  Mühenden  gleich  geltender  Plan  des  Weges  und  Zieles  — 
das  wäre  trauriger  Frohn  in  einer  jede  Eigenart  vernichtenden  In- 
dustrie und  keine  freie  Wissenschaft  mehr. 


271 


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MAX    BRUNNER,    WIEN:    ÜBER   DIE    BEDEUTUNG 

DER  HAECKELSCHEN  WELTANSCHAUUNG  FÜR  DAS 

POPULÄR-PHILOSOPHISCHE  DENKEN 

o  o  o 

Nicht  nur  die  Monisten,  die  sich  Haeckels  Weltanschauung  ganz 
zu  eigen  gemacht  haben,  sondern  auch  jene  Fortschrittsfreunde, 
die  von  seinen  Ansichten  in  entscheidenden  Punkten  abweichen,  ver- 
ehren in  dem  Begründer  des  deutschen  Monistenbundes  einen  geistigen 
Führer,  der  auf  ihr  Denken  bestimmend,  bereichernd  und  befruchtend 
einwirkt.  Dies  bezeuge  eine  Skizze  des  Werdegangs  meiner  Welt- 
anschauung, zu  welcher  mich  ein  tiefempfundenes  Dankgefühl  gegen- 
über Haeckel  und  der  lebhafte  Wunsch  leitet,  zur  Klärung  praktisch- 
prinzipieller Fragen  der  monistischen  Bewegung  einen,  wenn  auch 
noch  so  geringen  Beitrag  zu  leisten. 

Wenn  ich  in  meiner  Erinnerung  nach  dem  ersten  Auftreten  Haeckel- 
scher  Einflüsse  auf  mein  Denken  suche,  so  muß  ich  bis  in  die  ersten 
Jahre  meines  medizinischen  Studiums  zurückgehen.  Von  meinem 
für  alles  Schöne  und  Große  begeisterten  Vater  zur  Naturerkenntnis 
angeeifert,  war  mir  schon  im  Gymnasium,  unbeschadet  der  geist- 
tötenden Mittelschulpädagogik,  eine  Ahnung  von  der  Größe  der 
Darwinschen  Gedankenwelt  aufgegangen,  und  als  mir  nun  von  meinen 
Kollegen  Haeckel  als  der  Darwins  Genius  ebenbürtige  Weiterbildner 
der  Deszendenztheorie  gerühmt  wurde,  da  säumte  ich  nicht,  mir  aus 
der  „natürlichen  Schöpfungsgeschichte"  Belehrung  über  den 
geistesrevolutionierenden  Entwicklungsgedanken  zu  holen.  Die  Wir- 
kung dieses  Buches  auf  mich  war  eine  gewaltige,  war  so  überzeugend, 
daß  ich  selbst  dem  Schlußkapitel  der  mir  vorgelegenen  älteren  Auf- 
lage, welches  die  Urzeugung  als  eine  schon  fast  empirisch  bewiesene 
Tatsache  hinstellte,  keinerlei  kritische  Bedenken  entgegenbrachte. 
Die  in  heißer  Wissensbegier  sich  daran  schließende  Lektüre  der 
„Welträtsel"  wirkte  womöglich  auf  mich  noch  überwältigender. 
Jetzt  glaubte  ich  im  Prinzip  nicht  nur  die  schwierigen  deszendenz- 
theoretischen Probleme,  sondern  auch  andere  dunkelste  Welträtsel  ge- 
löst. Als  ich  nun  einige  Jahre  später,  die,  von  anstrengendem  Prüfungs- 
studium und  der  Sorge  um  eine  Praxisgründung  erfüllt,  der  theoreti- 
schen Weiterbildung  meiner  Weltanschauung  nicht  günstig  waren, 

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272 


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neuerdings  zu  meinem  Lieblingsbuch  griff,  da  war  der  Eindruck  der 
„Werträtsel"  zu  meiner  eigenen  Überraschung  merklich  abgeschwächt. 
Ich  kann  nicht  entscheiden,  ob  das  etwa  bedingt  war  durch  eine 
Reifung  im  Urteilsvermögen  des  selbständig  gewordenen  Arztes, 
hinter  dem  nicht  mehr  der  klinische  Lehrer  als  bequeme  Denkstütze 
stand,  oder  ob  sich  vielleicht  in  die  Freude  des  rein  positivistischen 
Wahrheitsstrebens  des  Studenten  skeptische  Wertbeurteilungen  über 
Haeckels  Weltbild,  namentlich  wegen  dessen  Begründung  auf  die 
,, indirekte  Auslese",  eingemischt  hatten.  Jedenfalls,  was  immer  für 
Gründe  gewirkt  haben  mögen,  war  ich  nachdenklicher  geworden. 
Es  ist  nun  bezeichnend  für  die  Suggestivgewalt  von  Haeckels  Geist, 
daß  mir  gegen  die  Bedenken,  die  mir  bei  der  Lektüre  seiner  Werke 
aufgetaucht  waren,  in  Haeckel  selbst  ein  Helfer  erstand,  indem  er 
mir  durch  das  umfassende  Literaturverzeichnis  der  „Welträtsel" 
neue  und  reiche  Anregung  schuf.  So  konnte  ich  in  Bölsches  Büchern 
meinen  biologischen  Gedankenkreis  erweitern,  Machs  und  Ostwalds 
Schriften  brachten  mir  viel  Neues  und  Überraschendes  in  der  Physik 
und  Erkenntnistheorie,  und  viele,  von  Haeckel  empfohlene  Werke 
der  Fachphilosophie  gaben  mir  Gelegenheit,  die  feinere  philosophische 
Dialektik  kennen  zu  lernen.  Allerdings  war  nun  die  unmittelbare 
Folge  dieser  Studien  kein  direkter  Fortschritt,  sondern  mehr  das 
chaotische  Rohmaterial  dazu,  das  mich  im  Anfang  eher  verwirrte, 
da  die  von  Haeckel  zitierten  Denker  sowohl  untereinander  als  von 
Haeckel  zum  Teil  recht  weit  divergierten. 

Da  war  es  nun  wiederum  ein  Haeckelscher  Grundsatz,  der  mir  aus 
der  Welträtsellektüre  fest  eingeprägt  war,  der  Grundsatz,  von  der 
sicheren  Basis  der  Naturwissenschaften  aus  das  Weltbild  zu  kon- 
struieren, der  mir  neue  und  weite  Wege  wies.  Meine  Vorliebe  zur 
Botanik  führte  mich  bei  dem  nun  in  Angriff  genommenen  natur- 
wissenschaftlichen Studium  zu  dem  von  Haeckel  empfohlenen  „Pflan- 
zenleben" Kerners,  und  auf  der  Suche  nach  neuesten  Werken  stieß 
ich  auf  Frances  Schriften,  die  mich  mit  dem  Neolamarckismus 
bekannt  machten.  Diese  Naturauffassung  übte  auf  mich  bald  eine 
ähnlich  starke  Anziehungskraft,  wie  vor  Jahren  die  Haeckelsche,  ohne 
daß  ich  damit  Haeckels  Grundsätze  aus  den  Augen  verlor.  Denn 
nicht  nur  bewahrte  ich  prinzipiell  meinen  empirischen  Ausgangs- 
punkt für  die  Weltanschauung,  sondern  auch  inhaltlich  leitete  mich 

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18     Haeckel-Festschrift.   Bd.  II 


273 


Haeckels  biogenetisch  -  monistische  Denkmethodik.  Be- 
deutete mir  doch  die  neolamarckistische  Lebensbeseelung  nur  einen 
weiteren  Schritt  in  der  Richtung  der  von  Haeckel  gegen  allen  Ein- 
spruch materialistischer  Naturforscher  in  die  Philosophie  wieder 
eingeführten  Atombeseelung.  Zweifel  an  diesem  letztgewonnenen 
Standpunkt  erweckte  der  bedeutende  Biologe  Kassowitz,  auf  den 
mich  auch  wiederum  Haeckel  hinwies,  da  er  ihn  wiederholt  als  Ge- 
währsmann für  chemisch-physiologische  Fragen  rühmlich  zitiert.  In 
ebenso  amüsanter,  als  geistreicher  Gedankenführung  legt  Kassowitz 
die  Schwächen  sowohl  der  Selektionstheorie,  als  des  entgegenge- 
setzten neolamarckistischen  Standpunktes  bloß.  Aber  seine  eigene 
hypermechanistische  Denkrichtung  gab  mir  auch  keine  Befriedigung. 
Da  griff  ich  denn  wiederum  zu  den  mir  so  unschätzbar  gewordenen 
,, Welträtseln",  die  meinem  Denken  immer  neue  Antriebe  gegeben 
hatten,  und  prüfte,  in  der  festen  Überzeugung,  daß  meine  erste  Be- 
geisterung kein  Strohfeuer  gewesen  sein  konnte,  das  Buch  daraufhin, 
was  denn  immer  wieder  den  tiefen  und  dauernden  Eindruck  gemacht 
hatte,  wiewohl  im  einzelnen  so  mancherlei  abgebröckelt  war.  Und  so 
stieß  ich  bei  nachdenklichem  Suchen  auf  die  zwei  Hauptpfeiler  des 
Haeckelschen  Gedankengebäudes,  auf  das  Postulat,  die  Lebens- 
gestaltung auf  die  wissenschaftliche  Denkweise  aufzubauen, 
und  auf  deren  wichtigstes  inhaltliches  Ergebnis,  den  Entwicklungs- 
gedanken als  die  Leitidee  der  künftigen  Kulturbeherrschung. 
Hiermit  entschied  ich  mich  endlich,  alle  weiteren  theoretischen  Welt- 
anschauungsfragen, die  über  die  praktische,  dem  Leben  unmittelbar 
und  allgemein  dienende  Denkweise  hinausgingen,  an  zweite  Stelle 
rücken  zu  lassen  und  freute  mich,  daß  Ostwalds  Weiterführung  der 
monistischen  Bewegung  in  diesem  Sinne  der  Haeckelschen  Grundidee 
erfolgte,  die  Ostwald  durch  seine  Energetik  so  sinnreich  und  wertvoll 
ausgebaut  hatte. 

In  allen  Phasen  meiner  Weltanschauungsentwicklung  hatte  ich 
mich  also  —  das  sollte  die  vorangegangene  Darlegung  zeigen  —  an 
Haeckels  Populärphilosophie  orientiert,  hatte  aber  dabei  auch  nicht 
versäumt,  in  häufigen  Diskussionen  die  Entwicklung  der  Weltan- 
schauung meiner  Gesinnungsgenossen  zu  verfolgen.  Dabei  machte 
ich  die  Erfahrung,  daß  ein  nicht  geringer  Teil  von  Haeckels 
Anhängerschaft  keine  so  mannigfachen  Wandlungen  durchgemacht 

274 


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hatte,  sondern  vielfach  beim  ursprünglichen  Standpunkt  ver- 
blieben war,  den  im  wesentlichen  die  Lektüre  der  „Welt rätsei" 
geschaffen  hatte.  So  bedeutet  denn  eine  Betrachtung  von  Haeckels 
Populärphilosophie  eine  Auseinandersetzung  mit  den  ,, Welträtseln", 
an  die,  dem  vorliegenden  Zwecke  entsprechend,  nicht  die  Forderung 
der  Gründlichkeit  gestellt  werde,  wie  sie  unter  anderen  Haeckel- 
kritiken  der  lehrreichen  und  ausgezeichneten  Sammelkritik  von 
Dr.  Heinrich  Schmidts  ,,der  Kampf  um  die  Welträtsel"  nachzurühmen 
ist.  Nur  durch  flüchtige  Streiflichter  möchte  ich  im  Sinne  der  posi- 
tivistischen Tendenz  des  Haeckel-Ostwaldschen  Monismus  die  un- 
schätzbaren Vorteile  und  die  möglichen  Schäden,  die  aus 
der  einzigdastehenden  weltweiten  Verbreitung  der  Welträtsellektüre 
erwachsen,  ein  wenig  aufhellen.  Über  die  hervorragende  Eignung 
dieses  Werkes  zum  Volksbuch  sind  alle  Haeckelfreunde  einig.  Schon 
bei  der  ersten  Lektüre  entzückt  der  Grundton  der  Darstellung,  der 
auf  die  so  wirksamen  und  beliebten  Mittel  eines  verfeinerten  Ästhe- 
tizismus  verzichtet,  dabei  aber  nicht  in  das  entgegengesetzte  Extrem 
einer  pedantisch  trockenen  Katechisierung  des  Stoffes  verfällt.  Mit 
der  klaren,  nüchternen  und  eindringlichen  Sprache  der  Wissenschaft 
paart  sich  die  hinreißende  Wärme  des  unerschrockenen  Kultur- 
kämpfers Haeckel  und  bietet  dem  Adepten  der  Naturphilosophie  in 
gemeinverständlicher  Sprache  eine  schier  überreiche  Menge  positiven 
Wissensstoffes  als  Gegengewicht  gegen  die  scharfe  Befehdung  des 
Kirchentums  und  seiner  reaktionären  Helfer.  Nicht  am  wenigsten 
aber  bannt  den  Leser  in  Haeckels  Gedankenkreise  die  weitestgehende 
methodische  Durchführung  der  Entwicklungslehre,  in  ihren 
theoretischen  Verästelungen  sowohl,  als  insbesondere  in  ihrem  un- 
ausschöpfbaren  Anwendungsreichtum  auf  die  Lebenspraxis. 

Soweit  herrscht  Gemeinsamkeit  in  dem  hohen  Lob  dieses  Buches. 
Differenzen  ergeben  sich  erst  in  der  Sonderbetrachtung  der  nach 
Haeckels  eigenem  Geständnis  etwas  ungleich  geratenen  Partien. 
Nicht  vieler  Worte  bedarf  es  zunächst  über  die  gehässigen  Einwände 
des  zu  höchster  Wut  gereizten  Kirchentums  gegen  Haeckels  theo- 
logische Auslassungen.  Was  hätte  denn  der  klerikale  Anwurf  — 
seine  Stichhaltigkeit  selbst  zugegeben  —  Haeckel  habe  aus  zweifel- 
haften Quellen  geschöpft,  für  uns  weiter  zu  bedeuten?  Hätte  Haeckel 
selbst  die  doppelte  Sündenlast  auf  die  Hierarchie  gehäuft,  als  ihr  mit 

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unzweifelhaftem  Recht  aufgebürdet  wird,  so  wollte  das  nicht  mehr 
besagen,  als  der  Unendlichkeit  eine  Million  hinzuzufügen.  Im  übrigen, 
welche  kulturgeschichtliche  Ironie,  die  Kirche,  den  Hort  aller  be- 
wußten Täuschung  und  kulturfeindlichen  Lüge,  sich  zum  gestrengen 
Richter  über  den  ehrlichen,  wenngleich  dem  Irrtum  unterworfenen 
Wahrheitssucher  Haeckel  setzen  zu  sehen!  Schwerer  in  das  Gewicht 
fallen  die  Mängel,  die  von  fachkundiger  Seite  den  physikalischen 
Partien  des  Buches  nachgesagt  werden.  Dabei  erscheinen  diese 
erster,  unkritischer  Lektüre  sehr  klar,  und  wegen  ihrer  Schlicht- 
heit besonders  überzeugend,  und  erst  genauerer  Überlegung  erschließen 
sich  Widersprüche.  Ich  kann  mich  noch  gut  erinnern,  welche  Genug- 
tuung ich  in  der  Erfüllung  von  Haeckels  Postulat  des  Selbstdenkens 
empfand,  als  mir  endlich  die  Schwächen  von  Haeckels  Theorie  über 
die  Konstitution  der  Materie  vor  Augen  traten,  und  wie  ich  daraufhin 
allmählich  zu  der  mich  weit  mehr  befriedigenden  Theorie  der  Ener- 
getik abschwenkte.  WTer  sich  nun  schon  in  Haeckels  physikalischen 
Hypothesen  im  Besitze  evidenter  Vorstellungen  glaubt,  der  ist  natür- 
lich für  die  anderen,  noch  bedeutungsvolleren  Grundzüge  des  Haeckel- 
schen  Weltbildes  leichter  zu  gewinnen.  Wirkt  doch  die  auf  Seiten  des 
Gebers  wie  des  Empfängers  unbewußt  und  ungewollt  erfolgende 
suggestive  Autorität  eines  ehrlichen  und  erfolggekrönten 
Denkers  vielleicht  ebenso  mächtig,  als  der  äußeren  Machtzwecken 
dienende  Dogmenzwang,  der  die  unwahren,  unsittlichen,  kultur- 
hemmenden Thesen  der  Offenbarungsreligionen  zu  decken  hat  und 
darum  von  dem  Aufklärungsfähigen  bald  durchschaut  und  leicht 
abgeschüttelt  werden  kann.  Wie  hat  mir  doch  vor  Jahren,  um  nun 
auf  die  dominierenden  biologischen  Ideen  der  ,, Welträtsel"  zu  kom- 
men, Haeckels  Satz:  Darwin  ist  der  Newton  der  lebenden  Welt,  als 
die  sicherste,  triumpherfüllte  Wahrheit  eingeleuchtet.  Und  wie 
mancher,  der  nicht  zur  Vertiefung  seiner  Weltanschauung  Haeckels 
Literaturratschlägen  gefolgt  ist,  mag  bei  diesem  Kernsatz  des  bio- 
genetischen Denkens  Haeckels  verblieben  sein.  Zwar  erörtert  Haeckel 
in  den  seinen  Welträtsellesern  zugeeigneten  „Lebenswundern",  die 
neuestens  aufgetauchten  biogenetischen  Richtungen  mannigfacher 
Art.  Aber  abgesehen  davon,  daß  wenigstens  in  meinem  Bekannten- 
kreise „die  Lebenswunder"  als  das  schwierigere,  wenngleich  ebenso 
wertvolle  Buch  leider  weit  weniger  gelesen  werden,  als  die  „Welt- 

276 


rätsei",  hat  Haeckel  auch  in  diesem  späteren  Werke  seine  mecha- 
nistische Auffassung  so  stark  accentuiert,  daß  befangene  Leser  wenig 
Initiative  zum  Nachdenken  über  andere  Deutungen  der  Evolutions- 
theorie empfangen  haben  dürften. 

Diese  Lesergruppe  folgt  Haeckel  nun  auch  in  der  Stellungnahme 
zu  den  „Schulphilosophien",  womit  wohl  auf  die  akademischen  Ver- 
treter der  philosophischen  Fächer  in  engerem  Sinne  gezielt  wird.  Bei 
diesem  Kardinalpunkt  des  Themas:  Wirkung  der  Haeckelschen 
Populärphilosophie  angelangt,  möchte  ich  nicht  zurückhalten  mit 
meiner  Meinung,  daß  Haeckel  wohl  schärfer  als  berechtigt  und  nötig 
„Metaphysik",  „Mystik"  und  „Dualismus"  der  „Schulphilosophie" 
angreift.  Hierin  wird  er  aber  gar  sehr  überboten  von  manchen, 
„Haeckel  vergröbernden  und  dogmatisierenden  Anhängern",  um 
mich  der  Worte  eines  Haeckel  sehr  nahestehenden,  ihn  hochschätzen- 
den Gelehrten  zu  bedienen.  Finden  sich  doch  bei  genauerem  Zusehen 
in  den  Schriften  Haeckels  sachlichen  Gegneransichten  gegenüber  sehr 
versöhnliche,  wie  Kompromisse  anmutende  Äußerungen.  So  macht 
er  der  Metaphysik  die  Konzession  einer  mit  der  Forschung  zunehmen- 
den Rätselhaftigkeit  der  Weltsubstanz,  und  ergänzt  dieses  negative 
Zugeständnis  positiv  durch  spekulative  Annahmen,  wie  Atom-, 
Zell-  und  Gewebsseelen.  Das  sind  nun  Hypothesen,  deren  meta- 
physische Natur  von  der  charakterisierten  Art  der  Anhänger  freilich 
oft  ebenso  verkannt  wird,  als  die  Transzendenz  von  Haeckels  einander 
mehrfach  widersprechenden  Aufstellungen  über  das  Verhältnis  zwi- 
schen Leib  und  Seele.  Erst  tieferem,  vergleichendem  Eindringen  in 
Haeckels  Schriften  eben  eröffnet  sich  Haeckels  Aufnahmewilligkeit 
gegenüber  anderen  Denkrichtungen.  Übertreibungen  von  An- 
hängern, nicht  Haeckel  selbst,  sind  darum  die  Hauptkosten  anzu- 
kreiden für  den  üblen  Ruf  der  Dogmatisierungstendenz,  der  oftmals 
der  monistischen  Bewegung  von  gegnerischer  Seite  vorgehalten  wird, 
und  sie  zu  schädigen  geeignet  ist.  In  Rechnung  gesetzt  werden  muß 
aber  auch  als  objektiver  Faktor  das  heutige,  Wissenschaft  und  Philo- 
sophie denkenergetisch  schädigende  Begriffschaos,  dem  Ostwalds 
organisatorisches  Genie  durch  Neuordnung,  Vermehrung  und  Präzi- 
sierung der  Begriffe  zu  steuern  sucht.  Auch  für  diesen  Gesichtspunkt 
bieten  „die  Welträtsel"  reiches  Studienmaterial.  Mechanismus  und 
Vitalismus,  Monismus  und  Dualismus,  sowie  Schulphilosophie,  durch- 

277 


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weg  von  Haeckel  oft  gebrauchte  Ausdrücke,  sind  nachdenkenswerte 
Belege  für  den  Ubelstand  schwankenden,  vieldeutigen  Wortgebrauchs, 
dessen  Analyse  mir  eines  kurzen  Verweilens  wert  erscheint.  „Schul- 
philosophie" als  Tadels  wort  für  Kathedergelehrte  hat  sicher  auch 
heute  noch  viel  Berechtigung  und,  allgemein  kulturenergetisch  be- 
trachtet, steht  darum  hoch  über  den  rein  akademischen  Größen  als 
wahrer  Lebensphilosoph  Haeckel,  der  die  großen  Wahrheiten  der 
Wissenschaft  dem  Volkswohl  dienstbar  zu  machen  und  persönlich 
als  unerschrockener  Kämpe  das  Kirchentum  und  seine  mächtigen 
Verbündeten  zu  bekriegen  bis  in  sein  hohes  Alter  nicht  ermüdet. 
Dagegen  ,,  Schulphilosophie"  als  Spott  wort  für  wirklichkeits- 
fremde, dogmatisierende  und  theologisierende  Spekulation  und  a 
prioristische  Begriffsspintisierung  über  die  Naturwissenschaft  hinweg, 
wie  sie  die  Schellingsche  Richtung  mit  der  größten  Anmaßung  be- 
trieb, ist  kaum  mehr  am  Platze  gegenüber  der  Gesamtheit  der  heu- 
tigen Fachphilosophen.  Denn  deren  überwiegende  Mehrzahl  sucht 
bei  ihrer  abstrakten  Denkarbeit  jeden  Widerspruch  mit  den  Ergeb- 
nissen der  Forschung  zu  vermeiden.  Es  ließe  sich  sogar  die  Zurück- 
gabe des  Vorwurfs  dahin  nicht  ganz  abweisen,  daß  philosophierende 
Naturforscher  oft  den  Wert  dialektischer  Denkmethodik  und  erkennt- 
nistheoretischer Schulung  zu  verkennen  scheinen.  Das  zeigt  sich  eben 
auch  im  ungeschärften  Gebrauch  der  nach  näheren  Bestimmungen 
verlangenden  Begriffspaare  Mechanismus  und  Vitalismus, 
Monismus  und  Dualismus  u.  a.,  deren  schwankender  Gebrauch 
bei  Welträtsellesern,  die  zur  Einseitigkeit  in  der  Weltanschauung 
neigen,  leicht  Verwirrung  stiftet.  So  nennt  der  von  Haeckel  hoch- 
geschätzte Naturphilosoph  Kassowitz  sein  hypermechanistisches,  also 
für  das  Durchschnittsdenken  sehr  monistisches  System  einen  (funktio- 
nalen) Dualismus,  was  wirklich  einen  meiner  Bekannten,  der  zu 
flüchtiger  Denkweise  in  der  Philosophie  veranlagt  ist,  von  der  Lektüre 
dieses  „Dualismus"  abhielt.  Hier  zeigt  sich  so  recht  Haeckels  und 
Ostwalds  Verdienst  der  Definition  des  Monismus  als  wissenschaft- 
licher Methode,  die  im  Gegensatz  zum  Dogmenzwang  der  Offen- 
barungsreligionen inhaltlich  sehr  verschiedene  Weltbilder  ergibt  und 
zuläßt.  Darum  sollte  man  meines  Erachtens  schärfer  zwischen  wissen- 
schaftlichem und  kirchlichem  Dualismus  unterscheiden  und  aus  sach- 
lichen, ethischen  und  Opportunitätsgründen  die  kirchenfreien  Dua- 
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listen  nicht  anfeinden,  ja  im  Gegenteil  ihnen  als  tüchtigen  Dialek- 
tikern, wie  Haeckel  selbst  sie  anerkennend  bezeichnet,  für  die  An- 
regung durch  ihren  oft  scharfsinnigen  Widerspruch  Dank  wissen.  Das 
gilt  noch  mehr  gegenüber  den  lamarckistischen  und  vitalistischen 
Biologen,  unter  denen  hervoragende  und  verdienstvolle  Naturforscher 
genau  so  wie  die  mechanistischen  Denker  sich  als  fortschrittstreue 
und  aufklärende  Volkslehrer  hervortun.  Übrigens  ist  Vitalismus 
genau  so  ein  Sammelname  für  verschiedene  naturphilosophische 
Richtungen  als  Mechanismus,  und  die  Geschichte  der  Philosophie 
lehrt,  daß  von  beiden  Gruppen  alle  möglichen  Schattierungen  zwi- 
schen Dualismus  und  Monismus  existieren. 

Daß  die  hier  auseinandergesetzten  Komplikationen  die  dringend 
nötige  Klärung  von  Weltanschauungsfragen  und  das  Zusammen- 
rücken in  ihrer  Gesinnung  verwandter  Fortschrittspotenzen  ver- 
zögern können,  das  ist  eine  unerwünschte  Möglichkeit,  welche  aus 
der  Dogmatisierung  der  Haeckelschen  Populärphilosophie  erwachsen 
kann.  Darum  sei  Welträtsellesern,  die  trotz  alledem  Haeckels  An- 
sichten zur  Einseitigkeit  ausgestalten  wollen,  endlich  als  stärkster 
Beweis  Haeckels  vorbildliches  Verhalten  im  heutigen  Wettstreit  der 
monistischen  Einzelrichtungen  entgegengestellt.  Aus  dem  praktischen 
Verhalten  schließt  man  ja  nach  monistischen  Grundsätzen  auf  die 
bei  allem  Schwanken  überwiegenden  Vorstellungen  im  Geiste  eines 
Menschen.  Welchen  besseren  Beweis  für  Haeckels  Ablehnung 
jeder  Dogmatisierungstendenz  kann  es  aber  geben,  als  daß 
Haeckel  sich  vor  einigen  Jahren  in  einem  für  die  monistische  Bewe- 
gung kritischen  Moment,  als  bedenkliche  Sonderbestrebungen  auf- 
traten, gegen  die  Usurpation  der  Vorherrschaft  einer  monistischen 
Einzelrichtung,  die  noch  dazu  gerade  die  seinige  war,  mit  größter 
Entschiedenheit  aussprach !  Gewiß  hätte  Haeckel  auch  die  heftige  Ab- 
weisung, die  ich  vor  einigen  Jahren  in  Wien  bei  einer  objektiven  Kritik 
seiner  Weltanschauung  und  erst  vor  kurzer  Zeit  gegenüber  einer  kräf- 
tigen, doch  sachlichen  Charakterisierung  der  Laienurteile  über  Wissen- 
schaft und  Philosophie  erfuhr,  mißbilligt.  Dessen  versichert  mich  das 
wohlwollende  Urteil,  das  er  über  meine  in  wichtigen  Punkten  ihm 
widersprechenden  Schriften  fällte.  So  freundlich  urteüte  freilich  nicht 
bloß  der  Freidenker  und  dogmenfeindliche  Philosoph,  sondern  auch 
der  grundgütige  Mensch  Haeckel,  der  einen  ehrlich  Arbeitenden 

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279 


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nicht  kränken,  ja  im  Gegenteil  eher  ermutigen  will.  So  große  Men- 
schengüte bei  so  bedeutenden  Geistesgaben  erweckt  in  dem  Empfänger 
wieder  innigere  Sympathie  und  neue  Freude  an  dem  Erblühen  von 
Haeckels  Schöpfung.  Nicht  nur  wächst  von  Tag  zu  Tag  die  ansehn- 
liche Schar  der  von  Haeckel  gewonnenen  Fortschrittskämpfer,  son- 
dern sogar  bis  in  die  entlegensten  Gebiete  des  Denkens  und  Kultur- 
schaffens erstreckt  sich  der  Einfluß  von  Haeckels  Gedankenwelt. 
Zwei  Beispiele  mögen  in  die  Weite  dieser  Kulturperspektiven 
hinweisen.  Die  eine  Betrachtung,  naturphilosophischer  Art,  führt  in 
das  Grenzgebiet  zwischen  lebender  und  toter  Natur,  das  Haeckel  in 
echt  monistischer  Problemstellung,  mit  seiner  weit  ausschauenden 
Intuition  für  die  tieferen  zur  Einheit  konvergierenden  Zusammen- 
hänge des  Seins  durchforschte,  und  dessen  Studium  ihm  die  Frage 
aufdrängte,  welche  Stellung  er  der  Kristallisation  in  seinem  System 
anzuweisen  habe.  Die  Lehmannsche  Entdeckung  flüssiger, 
scheinbar  lebender  Kristalle  erscheint  mir  nun  als  eine  Be- 
stätigung von  Haeckels  naturphilosophischer  Ahnung,  daß  der  Kristall 
ein  Übergangswesen  zwischen  organischer  und  anorganischer  Natur 
sei.  Diese  kühne  Hypothese  —  man  möchte  sie  fast  eine  Prophezeiung 
nennen  —  erinnert  mich  in  der  Größe  ihrer  Konzeption  an  Leverriers 
rechnerische  Voraussage  des  Planeten  Neptun,  der  später  von  dem 
Astronomen  Gall  mit  dem  Fernrohr  aufgefunden  wurde.  Weitab  von 
dieser  unteren  Stufe  kosmogonischer  Naturbetrachtung  über  die 
vielen  philosophischen  Probleme  der  Lebensentwicklung  hin  befruchtet 
Haeckels  biologisches  Denken  die  bisher  dem  kirchlichen  Dogmatismus 
fast  gänzlich  ausgelieferte,  für  eine  gedeihliche  Menschheitszukunft 
so  reformbedürftige  Pädagogik.  Das  lehrte  mich  u.  a.  im  Verfolge 
der  praktischen  Ausgestaltung  der  monistischen  Idee  ein  Vortrag 
über  „das  biogenetische  Grundgesetz  in  der  Schule",  auf 
das  der  Redner,  ein  ausgesprochen  kirchenfeindlicher  Lehrer,  die 
Beibehaltung  des  Religionsunterrichtes  in  der  Volksschule  ohne 
wesentliche  Änderung  begründen  wollte.  Diese  Beweisführung  zeigt 
deutlich,  daß  eine  nicht  in  ihrem  ganzen  Umfang  erfaßte  und  ange- 
wendete Idee  Haeckels  auch  zu  zweifelhaften  Konsequenzen  führen 
kann.  Wäre  die  Zusammensetzung  des  biogenetischen  Grundgesetzes 
Haeckels  aus  den  beiden  Komponenten  der  Cenogese  (Neu-  oder 
Störungsentwicklung)  und  Palingenese  (Wiederholungsentwicklung) 
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in  Rechnung  gesetzt  worden,  dann  hätte  die  Rücksichtnahme  auf  die 
so  mächtigen  cenogenetischen  Impulse  in  unserer  Kulturentwicklung 
zu  anderer  Anwendung  für  die  pädagogische  Praxis  geführt.  Immer- 
hin beweist  die  gegenwärtige,  im  Sinne  der  Entwicklungsidee 
veränderte  Gedankenorientierung  selbst  in  der  mangelhaften  An- 
eignung und  Anwendung  Haeckelscher  Leitsätze  deren  machtvolles 
Eindringen  in  das  allgemeine  Menschheitsbewußtsein.  Wenn 
Haeckel  so  mit  freudiger  Genugtuung  auf  allen  Kulturgebieten  die 
reiche  Aussaat  seiner  Gedanken  verheißungsvoll  emporsprießen  und 
unter  Leitung  des  ihm  kongenialen  Führers  Ostwald  die  monistische 
Bewegung  ebenso  in  die  Tiefe  aller  wissenschaftlichen  Kulturorgani- 
sation, wie  in  die  Breite  der  denkenden  und  strebenden  Volksmassen 
eindringen  sieht,  so  mag  ihm  dieser  großartige  Erfolg  seines  idealen 
Strebens  als  die  schönste  Festgabe  erscheinen,  die  ihm  der  Monisten- 
bund darbringen  kann.  Möge  der  Gefeierte  die  sichere  Erwartung, 
daß  er  auch  weiterhin  nur  Freude  am  Gedeihen  seiner  großen  Schöp- 
fung erlebe,  als  den  innigsten  Geburtstagswunsch  seiner  dankerfüllten 
Gemeinde  entgegennehmen ! 


281 


MAGNUS  HIRSCHFELD,  BERLIN:  ERNST  HAECKEL 
UND  DIE  SEXUALWISSENSCHAFT 

o  o  o 

Als  ich  mein  Buch  „Naturgesetze  der  Liebe"  vollendet  hatte, 
,  schien  es  mir  naheliegend,  an  Ernst  Haeckel  die  Bitte  zu  richten, 
die  Widmung  dieser  Arbeit  anzunehmen,  nicht  weil  das  von  mir 
behandelte  Thema  in  unmittelbaren  Beziehungen  zu  der  umfassenden 
Tätigkeit  des  großen  Forschers  stand,  sondern  weil  mir  bei  der  Be- 
arbeitung dieses  Spezialgebietes  der  grundlegende  und  entscheidende 
Einfluß  wieder  einmal  besonders  deutlich  geworden  war,  den  Haeckel 
auf  unser  naturwissenschaftliches  Denken  überhaupt  ausgeübt  hat.  — 
Haeckel  antwortete  mir:  „Jena,  26.  Februar  1912.  Hochgeehrter 
Herr  Doktor! 

Die  freundlichst  übersandten  ersten  Druckbogen  Ihres  neuen 
Werkes  über  die  .Naturgesetze  der  Liebe'  habe  ich  mit  großem  Inter- 
esse gelesen ;  ich  freue  mich,  in  allen  wesentlichen  Anschauungen  mit 
Ihnen  übereinzustimmen.  Welchen  hohen  Wert  ich  auf  eine  vernunft- 
gemäße, wissenschaftliche  Behandlung  der  fundamentalen  Sexual- 
Probleme  lege,  die  durch  Ihre  Bemühungen  so  sehr  gefördert  worden 
ist,  können  Sie  aus  den  Sätzen  über  „Erotischen  Chemotropismus" 
( —  als  Urquelle  der  Liebe  — )  sehen,  welche  ich  in  meiner  ,Anthro- 
pogenie  (Bd.  II,  Kap.  29,  S.  875)  der  phyletischen  Bildungsgeschichte 
unserer  Geschlechtsorgane  eingeflochten  habe.  Wenn  Sie  mir  die  hohe 
Ehre  erweisen  wollen,  mir  Ihr  ausgezeichnetes  Werk  zu  widmen, 
so  nehme  ich  diese  Anerkennung  meiner  biologischen  Lebensarbeit 
mit  herzlichem  Danke  an,  in  der  Hoffnung,  damit  die  weitere  Ver- 
breitung und  Verwertung  Ihrer  bedeutungsvollen  sexuellen  Aufklä- 
rungsbestrebungen zu  fördern.  Als  Sie  mich  vor  einiger  Zeit  in  Jena 
aufsuchen  wollten,  war  ich  leider  verreist.  Ich  hoffe,  daß  mir  noch 
einmal  Gelegenheit  gegeben  wird,  Ihre  persönliche  Bekanntschaft 
zu  machen  und  mit  Ihnen  die  hochwichtigen  Probleme  der  Sexual- 
Physiologie  und  -Psychologie  zu  erörtern.  Hochachtungsvoll  Ihr  er- 
gebener Ernst  Haeckel." 

Bei  dem  Besuch,  den  ich  einige  Monate  darauf  dem  Weisen  in 
Jena  in  seinem  ihm  so  adäquaten  Heim  in  der  Bergstraße  abstattete  — 
aus  den  Fenstern  der  Villa  schweifte  unser  Blick  gemeinsam  über 
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Schillers  und  Goethes  klassische  Spuren  — ,  wurde  es  mir  von  neuem 
so  recht  klar,  wie  tief  dieser  universelle  Geist  auch  in  das  Gebiet  der 
Sexualwissenschaften  eingedrungen  war.  Selbst  für  die  geschlecht- 
lichen Übergangsformen,  von  denen  er  bereits  in  der  ,,Anthropogenie" 
illustriertes  Material  (Gynäkomasten)  veröffentlicht  hatte,  zeigte  er 
das  vollste  Verständnis ;  er  hatte  mir  allerlei  wertvolle  Photographien 
von  männlichen  Negern  mit  weiblichen  Brüsten  zurechtgelegt,  und 
als  ich  ihn  bat,  seine  tiefgründigen  Anschauungen  darüber  in  dem 
von  mir  herausgegebenen  „Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen" 
zu  publizieren,  löste  er  wenige  Monate  darauf  sein  Versprechen  in 
glänzendster  Weise  ein.  In  dieser  Arbeit  über  ,,Gonochorismus  und 
Hermaphrodismus"  im  3.  Hefte  des  XIII.  Jahrganges  behandelt 
Haeckel  das  Problem  der  Geschlechtertrennung  und  Geschlechter- 
mischung von  der  hohen  Warte  biogenetischer  Erkenntnis,  indem  er 
durch  alle  Klassen  des  Tierreiches  diese  beiden  Grunderscheinungen, 
in  denen  auch  die  Notwendigkeit  sexueller  Zwischenstufen  und  Über- 
gangsformen begründet  ist,  in  großzügiger  Weise  verfolgt.  Auch  hier 
erweist  sich  Haeckels  „biogenetischer  Grundsatz"  als  ein  untrüglicher 
Kompaß. 

Es  ist  nach  allem  begreiflich,  daß  Haeckel  es  mit  besonderer 
Genugtuung  begrüßte,  als  in  den  letzten  Jahrzehnten  auch  —  um  mit 
Ostwald1)  zu  reden  —  „die  Sexualprobleme  als  eine  letzte  Stufe  der 
Verwissenschaftlichung  der  Verwaltung  durch  die  Priester  entzogen 
wurden",  einleuchtend  ist  es  aber  auch,  daß  andererseits,  als  im  Beginn 
des  Jahres  1913  in  Berlin  eine  „Ärztliche  Gesellschaft  für  Sexual- 
wissenschaft" ins  Leben  trat,  von  dem  Eröffnungsredner  Iwan  Bloch 
zuerst  Haeckels  Worte  angeführt  wurden,  die  er  kurz  zuvor  an  ihn 
und  den  Verfasser  dieses  Artikels  schrieb :  „Das  Licht  der  wissenschaft- 
lichen Erklärung,  das  die  moderne  Entwicklungslehre  seit  einem  halben 
Jahrhundert  in  alle  Gebiete  des  menschlichen  Denkens  und  Forschens 
erfolgreich  eingeführt  hat,  dürfte  auch  erfreuliche  Helle  verbreiten 
über  jene  ,mystischen  Geheimnisse',  welche  seit  Jahrtausenden  unter 
dem  Drucke  religiösen  Aberglaubens  und  traditioneller  Sitten  der 
Forschung  unnahbar  erschienen.  Dazu  gehört  in  erster  Linie  das 
ungeheure,  ebenso  interessante  als  theoretisch  und  praktisch  wichtige 
Gebiet  der  Sexualität,  des  organischen  Geschlechtslebens.    Jeder  Ge- 

x)  Monistisches  Jahrhundert  vom  8.  November  191 3,  S.  902. 
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bildete  weiß,  welche  unermeßliche  Rolle  im  menschlichen  Leben  die 
sexuelle  Liebe  spielt,  wie  unser  ganzes  soziales  und  Familienleben, 
unsere  Kunst  und  Literatur  mit  diesem  gewaltigen  Problem  verwoben 
ist.  Aber  die  wenigsten  Gebildeten  kennen  die  anatomischen  Grund- 
lagen und  die  physiologischen  Prozesse  dieses  , Liebeslebens',  die 
wenigsten  wissen,  daß  der  , erotische  Chemotropismus  der  Urquell 
der  Liebe'  ist,  wie  ich  schon  vor  40  Jahren  in  meiner  ,Anthropogenie' 
darzutun  versucht  habe.  Erst  die  gewaltigen  Fortschritte  der  Sexual- 
forschung in  den  letzten  30  Jahren,  die  überraschenden  Ergebnisse 
der  physiologischen  und  morphologischen  Untersuchungen  über  Be- 
fruchtung und  Bastardzeugung,  über  den  innigen  Zusammenhang 
unseres  ganzen  Sinnes-  und  Seelenlebens  mit  den  geheimnisvollen 
Vorgängen  der  Geschlechtsliebe  haben  weiteren  Kreisen  die  Augen 
geöffnet  über  die  fundamentale  Bedeutung  der  Sexualität.  Wir 
müssen  es  daher  als  einen  großen  Fortschritt  begrüßen,  daß  in 
neuester  Zeit  eine  , Ärztliche  Gesellschaft  für  Sexualwissenschaft' 
sich  in  Berlin  konstituiert  hat,  und  daß  hervorragende  Gründer  der- 
selben sich  bemühen,  auch  weiteren  Kreisen  von  Gebildeten  die  Augen 
über  diese  bedeutungsvollen  »Geheimnisse*  zu  öffnen." 

So  schwebt  Haeckels  biologisch-logischer  Geist  belebend 
und  befruchtend  auch  über  dieser  jungen  und  bedeutungsvollen 
Wissenschaft,  und  nichts  wäre  wünschenswerter,  als  daß  ihr  seine 
reiche  Erfahrung  und  Regsamkeit  noch  recht  lange  zugute  käme. 


284 


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LEO  GILBERT,  WIEN 


o  o  o 


Wenn  man  einmal  zu  der  dringenden  Arbeit  schreiten  wird,  die 
zum  Betriebe  der  Wissenschaften  unbedingt  nötig  ist,  zur 
Begründung  einer  ,, Psychologie,  Geschichte  und  Methodik  der  Er- 
kenntnis", wird  man  erst  inne  werden,  welche  Bedeutung  Ernst 
Haeckel  für  die  geistige  Entwicklung  der  Menschheit  hat.  Ich  er- 
innere mich  des  tiefen  und  umwälzenden  Eindrucks,  den  auf  uns 
junge  Leute  —  ich  studierte  damals  in  Zürich  —  die  Haeckelsche 
Darstellung  der  menschlichen  Keimesgeschichte  machte  und  wie  sie 
für  unsere  Weltanschauung  grundlegend  wurde.  Schon  vorher  war 
ich  in  der  trefflichen  Mittelschule  zu  Aarau  auf  den  Darwinismus 
gründlich  vorbereitet  worden.  Biologie  und  Physik,  wie  alle  Wirk- 
lichkeitswissenschaften, bilden  die  Einbruchsstationen  in  die  Philo- 
sophie. Daher  werden  solche  Erkenntnisse  besonders  wertvoll,  die 
für  ein  Sturmlaufen  gegen  veraltete  und  verrostete  Anschauungen 
günstige  Einfallstellen  eröffnen.  Es  ist  nun  interessant,  wie  Ernst 
Haeckel,  der  Biologe,  nicht  bei  seiner  Biologie  stehen  blieb,  sondern 
nach  und  nach  zum  Schöpfer  einer  wichtigen  philosophischen  Schule 
und  einer  eigenen  Weltanschauung  heranwuchs.  Ich  will  gleich  hier 
bemerken,  daß  ich  diese  Weltanschauung  nicht  bis  in  die  kleinsten 
Konsequenzen  teile,  daß  ich  aber  eben  deswegen  um  so  mehr  die  durch- 
schlagende Richtigkeit  der  Haeckelschen  Errungenschaften  bewundere, 
soweit  sie  zum  sicheren  Unterbau  für  kommende  Philosophien  dienen. 
Vor  allem  müssen  wir  dem  Professor  Chwolson  in  Petersburg  dankbar 
sein  für  seinen  interessanten  „satirischen"  Angriff  auf  Haeckel.  Zu- 
vor hatte  niemand  in  Deutschland  gewußt,  wer  Chwolson  ist.  Jetzt 
weiß  man's.  Er  war  jener  kühne  Physiker,  der  den  unsterblichen 
Mut  hatte,  all  den  physikalischen  Aberglauben  und  die  plumpen 
beschränkten  Auffassungen  der  heutigen  Mittelmäßigkeiten  zusammen- 
zufassen und  zu  einen  Sturmbock  aus  Papiermache  zu  leimen,  mit 
dem  er  gegen  Haeckels  Anschauungen  von  Energie  und  Substanz  an- 
lief. Es  ist  erfreuend  zu  berichten,  daß  es  Chwolson  gelang,  seinen 
Namen  an  den  Haeckels  heranzudrängen  und  Wohlgefallen,  sowie 
Beistimmung  bei  allen  jenen  physikalischen  Mittelmäßigkeiten  zu 
erregen,  die  der  Meinung  sind,  ihr  Gehirn  hätte  aus  dem  Inhalte 

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ihrer  Schulbücher  den  echten  Wahrheitsextrakt  geschöpft,  sie  wüßten 
wirklich  und  einzig,  was  Substanz  und  Energie  sei.  Gerade  durch  das 
Chwolsonsche  Buch  wurden  ernstdenkende  Gelehrte  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  welch  eine  Fülle  von  Sinnlosigkeiten  in  unseren  physi- 
kalischen Lehrbüchern  steckt,  und  wie  der  Biologe  Haeckel  auch  in 
den  ihm  scheinbar  fernliegenden  physikalischen  Fragen  sich  durch 
einen  besonderen  Scharfblick  und  durch  Folgerichtigkeit  des  Urteils 
auszeichnet.  Damit  kamen  wir  auch  auf  eine  Bereicherung  unseres 
Begriffes:  Genie.  Wir  sehen,  daß  ein  Mann  nur  dann  das  Höchste 
auf  seinem  Gebiete  leisten  kann,  wenn  seine  Intuition,  sein  instink- 
tives Erfassen  der  Realität  auch  auf  den  Nebengebieten  vollkommen 
sicher  geht.  Napoleon  I.  konnte  von  sich  sagen,  daß  er  in  einer  ein- 
geschlossenen Stadt  imstande  gewesen  wäre,  sich  selbst  seine  Kanonen 
zu  gießen.  Vielseitigkeit  ist  nicht  ein  Akzidens  in  den  Schöpfungen  be- 
deutender Männer,  sondern  direkt  ihre  Voraussetzung.  Wenn  wir 
manchmal  geniale  Geister  scheinbar  einseitig  finden,  so  ist  damit 
nur  konstatiert,  daß  sie  auf  Nebengebieten  nichts  Abgeschlossenes 
geleistet  haben;  aber,  um  auf  ihrem  eigensten  und  engsten  Gebiet 
das  Große  zu  schaffen,  mußten  sie  in  den  wichtigsten  Nebenfragen 
von  einem  sicheren  Instinkt  geleitet  sein. 

Haeckel  hat  im  Laufe  seiner  Arbeiten  begriffen,  daß  auch  eine 
Stammesgeschichte  der  Seele  notwendig  sei.  Wenn  diese  auch  vorläufig 
nicht  zu  neuen,  durchschlagenden  Resultaten  geführt  hat,  sondern 
bloß  eine  Betätigung  und  Erweiterung  der  körperlichen  Keimes- 
geschichte darstellt,  so  muß  sie  doch  unzweifelhaft  als  Vorbereitung 
angesehen  werden  zu  bedeutenden  Entdeckungen  über  die  Psyche, 
die  einer  näheren  oder  ferneren  Zukunft  vorbehalten  bleiben.  Diese 
seine  Arbeit  ist  heute  noch  wenig  beachtet,  sie  wird  aber  wichtiger 
werden  als  vieles  notwendig  Vorhergegangenes,  sie  bereitet  die  wert- 
vollsten Aufschlüsse  über  Ursprung,  Umfang  und  Zukunft  unserer 
Psyche  vor. 

Verfolgt  man  den  Weg,  den  Haeckel  nahm,  um  den  Monismus  zu 
schaffen  und  ihm  Anhänger  zu  werben,  so  sieht  man,  welche  unge- 
heure philosophische  Begabung  hier  Hand  in  Hand  mit  praktischer, 
persönlicher  Energie  geht.  Soweit  wir  anderen  philosophische  Theo- 
retiker sind,  werden  wir  uns  vielleicht  mit  Haeckels  „Welträtseln" 
nicht  vollkommen  solidarisch  erklären.    Wir  sind  eben  an  ein  viel 

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ängstlicheres  Hin  und  Her,  an  eine  viel  feinere  Distinktion  von  Grün- 
den und  Gegengründen,  von  Einerseits  und  Andererseits  gewöhnt. 
Dafür  hat  aber  auch  unsere  „höhere"  Philosophie  den  Nachteil,  daß 
sie  zu  keinen  abschließenden  Resultaten  führt.  Die  Sonne  ist  für  uns 
„einerseits"  weiß  und  „andererseits"  schwarz.  Das  beste  Bild  von 
dieser  unzweifelhaft  richtigen  und  möglichen  Philosophie  gibt  uns 
die  Wundtsche.  Bei  diesem  hervorragenden  Gelehrten  finden  wir  alles 
mit  vielem  Scharfsinn  dargelegt,  was  sich  für  eine  Sache  sagen  läßt, 
und  gleich  daneben  auch  alles,  was  ebenso  überzeugend  dagegen 
spricht.  Das  ist  wahre  Philosophie.  Möge  sie  uns  erhalten  bleiben  bis 
ans  Ende  der  Welt.  Denn  nur  aus  diesem  Schaukelzustand  erwächst 
das  großgesäugte  Wissen.  Aber  schließlich  brauchen  wir  auch  ein 
positives  Wissen.  Zweifellos  ist  in  einem  bestimmten  Falle  von  zwei 
Dingen  immer  nur  das  eine  möglich;  in  einem  gegebenen  Augenblick 
ist  die  Sonne  entweder  nur  weiß  oder  schwarz,  oder  gemischt,  grau. 
Kurz,  es  muß  auch  eine  positivistische  Philosophie,  eine  sichere  An- 
schauung innerhalb  der  Grenzen  des  Wirklichen  geben.  Der  Schöpfer 
einer  solchen  muß  robuster  sein,  fester  zugreifen,  bestimmte  Über- 
zeugungen besitzen  und  vor  allem  solche  im  Zuhörer  festigen.  Die 
Philosophie  Haeckels  in  seinen  „Lebenswundern"  und  „Welträtseln" 
stellt  nun  ein  solches  festes  Gebäude,  einen  gut  fundierten  Riesenbau 
dar.  Und  zwar  den  einzigen,  der  zurzeit  möglich  ist.  Indem  er  alles  zu- 
sammenfaßt, was  unsere  Zeit  an  Erkenntnis  gefördert,  indem  sein 
Blick  das  Material  sichtet,  ordnet  und  aufbaut,  schafft  er  seinen 
Zeitgenossen  den  Wohn-  und  Schutzraum  für  ihre  geistige  Existenz, 
steckt  er  den  Bezirk  ab  für  ihr  Können  und  Wollen,  bereitet  er  das 
Fundament  für  die  kommende  wissenschaftliche,  also  auch  natur- 
philosophische Entwicklung.  Hätte  der  an  Goethe  stilistisch  gebildete 
Haeckel  seine  Philosophie  nicht  in  gemeinverständlicher  Sprache, 
sondern  im  Fach  Jargon  der  Schul-Philosophen  geschrieben,  mit  allen 
„Wenn"  und  „Aber",  „Sozusagen"  und  „Einerseits  —  Andererseits", 
so  hätten  die  Schulgelehrten  ihn  höchstwahrscheinlich  als  einen  eben- 
so großen  Philosophen  bezeichnet,  wie  man  ihn  als  Biologen  anerkennen 
mußte.  Der  Monismus,  den  Haeckel  propagiert,  ist  nicht  „eine" 
Weltanschauung,  sondern  die  zurzeit  einzig  mögliche  Grundanschau- 
ung, der  einzig  sichere  Besitz  der  Gegenwart,  über  der  sich  jede  andere 
aufbauen  muß,  die  nachkommt.    Gleichgültig  wie  auch  diese  andere 

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beschaffen  sei.    Ich  kann  mir  ganz  gut  einen  Dualismus  denken,  der 
nachkommt,   der  aber  —  es  klingt  scheinbar  verwunderlich  —  nur 
auf  dem  Fundamente  des  Haeckelschen  Monismus  möglich  ist.    Ich 
plane  sogar  einen  solchen  Dualismus,  der  aber  mit  dem  heutigen  nichts 
mehr  gemein  hat  als  der  Äquator  mit  den  Polen.   Es  ist  bezeichnend 
für  Haeckels  fruchtbares  Wirken,  daß  er  vielleicht  der  einzige  ist, 
der  die  Elemente  des  wahren  Monismus,  das  heißt  der  wahren  Einheit 
alles  Seins,  in  der  Hand  hält,  während  ein  großer  Teil  seiner  Anhänger, 
ja  seiner  besten  und  gelehrtesten  Mitarbeiter  über  diese  Einheitlichkeit 
lange  nicht  so  im  klaren  sind  wie  er.    Was  mich  lächeln  macht,  ist 
der  Gedanke  an  die  Zukunft.    In  fünfzig  oder  hundert  Jahren  wird 
der  Monismus  vielleicht  überwunden  sein  durch  einen  darauf  fundier- 
ten höheren  Aufbau.   Dann  werden  alle  die  Konservativen,  die  Thron- 
und  Altarstützer,  die  Behörden,  die  Religionen  und  ihre  Priester  den 
Monismus,  der  heute  so  von  ihnen  verfehmt  ist,  als  die  einzig  wahre 
Quelle  des  Lichtes  und  des  Heils  betrachten.    Man  wird  dann  von 
Staats  wegen  es  jedem  Neuerer  übelnehmen,  daß  er  dem  revolutionä- 
ren Dualismus  huldigt,  daß  er  nicht  Monist  ist.   Denn  schließlich  liegt 
im  heutigen  Monismus  nichts  Weltstürzendes,  bloß  daß  die  Unzu- 
länglichkeit der  anders  Denkenden  ihn  für  aufreizend  erklärt.    Die 
Gedankenträgheit  findet  es  immer  staatszerstörend,   wenn  ihr  Hirn 
sich  bemühen  soll,  neue  Lehren  in  ihre  überkommenen  Anschauungen 
einzuorganisieren.     Die   von    Haeckel   geschaffene   Weltanschauung, 
man  kann  auch  sagen,  die  von  ihm  und  in  ihm  konzentrierte,  ist  un- 
zweifelhaft die  einzige  und  gesunde  Basis  für  jedes  wissenschaftliche 
Wirken,  zumal  für  das  erkenntniskritische  und  rein  philosophische 
der  nächsten  Zeit.    Sie  bildet  ein  festgefügtes,  ungeheures  System. 
Selbst  der  Dualismus,  ihr  Gegner,  muß,  wie  gesagt,  auf  der  monisti- 
schen Erkenntnisquader  fundieren,  weil  sonst  alles,  was  der  Dualismus 
behauptet,  unserem  gegenwärtigen  Wissen  widerspricht,  aus  Phantas- 
men und  Nebel  zusammengebraut  erscheint  und  wertlose  Hirnge- 
spinste bedeutet.    Für  die  spätere  Entwicklung  mögen  ja  diese  Hirn- 
gespinste wertvoll  sein.    Wie  in  der  Fabel  der  Atomisten  die  heutige 
Äquivalenten-Theorie,  wie  in  dem  Märchen  der  Alchemisten  die  heute 
vermutete  Veränderlichkeit  der  Elemente  unter  dem   Einfluß   der 
Radioaktivität  verborgen  lag,  so  liegt  in  den  dualistischen  Hirnge- 
spinsten, eingehüllt  und  vermummt,  gewissermaßen  in  der  komischen 

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und  aktivitätslosen  Gestalt  einer  Puppe,  irgendeine  Idee,  die  ein 
späteres  Jahrhundert  in  irgendwelcher  Form  realisieren  wird.  Heute 
aber  sind  alle  dualistischen  Redewendungen  nur  phantastische  Schaum- 
schlägerei ohne  Wirklichkeitsgehalt;  sie  werden  es  bleiben,  solange  sie 
nicht  ihre  Opposition  eben  auf  dem  sicheren  Fundamente  des  ange- 
fochtenen Monismus  selbst  aufbauen  werden.  Wenn  Reinke  sich  be- 
müht, darzulegen,  daß  das  Leben  nicht  aus  sich  selbst  und  in  sich 
selbst  entstanden  sein  könne,  sondern  erst  auf  höheren  Befehl  und 
womöglich  außerhalb  unserer  Erde,  so  ist  nichts  dagegen  einzuwenden, 
weder  gegen  das  Zauberkunststück,  noch  gegen  die  angezogene  höhere 
Instanz,  noch  gegen  die  Helmholtzsche  Reise  der  Lebenskeime 
von  Stern  zu  Stern  im  Vehikel  eines  Meteorsteines.  Wir  können  bei 
Jules  Verne  und  Wells  noch  viel  merkwürdigere  Sachen  lesen.  Schließ- 
lich leugnet  ja  auch  Haeckel  nicht,  daß  das  Leben  entstanden  ist,  daß 
es  irgendwo  sich  einstellte,  daß  es  von  irgendwelchen  Kräften  zusam- 
mengebracht werden  mußte.  Was  aber  an  der  Reinkeschen  Erklärung 
auffällt,  ist  einerseits  die  unnatürliche  Umständlichkeit  des  Apparates, 
dessen  er  bedarf,  und  die  nach  unserem  heutigen  Wissen  vollkommen 
überflüssig  ist.  Es  ist  gerade  so,  wie  wenn  wir  in  einem  modernen 
Hotel  mit  elektrischer  Beleuchtung  einen  Lord  antreffen  würden, 
der  in  Hemdsärmeln  im  Schweiße  seines  Angesichts  zwei  Stunden 
lang  sich  bemüht,  Holzklötze  aneinanderzureihen,  um  sich  die  Nacht- 
beleuchtung vor  dem  Schlafengehen  zu  verschaffen.  Der  Dualist 
reibt  noch  immer  wie  ein  wilder  Australneger  mühsam  Holzklötze, 
wo  der  Monist  im  Nu  einen  Schalter  aufdreht  und  eine  elegante  Glas- 
birne zum  Glühen  bringt.  Es  gibt  nun  keine  Möglichkeit  und  keine 
Berechtigung,  dem  Australneger  das  Feuerreiben  zu  verbieten,  wenn 
es  ihm  Spaß  macht,  oder  wenn  er  es  für  seine  heilige  Pflicht  und  schul- 
digsten Ahnenkult  ansieht.  Er  wird  auch  mit  der  Zeit  recht  behalten. 
Denn  eines  Tages  wird  Dr.  Auer  von  Welsbach  ein  Eisenklötzchen 
erfinden,  das  man  nur  zu  kratzen  braucht  und  das  sofort  Funken 
gibt.  Dann  wird  der  Wilde  frohlockend  ausrufen:  „Seht  ihr,  seht  ihr, 
ich  habe  es  ja  immer  gesagt,  nur  in  der  Erzeugung  des  Feuers  durch 
Reiben  liegt  das  Heil  der  Menschheit."  Dieser  Australneger  wird 
eben  immer  übersehen,  daß  der  Weg  zum  pyrophoren  Eisen  mehr  oder 
weniger  mit  dem  Weg  zur  elektrischen  Beleuchtung  zusammenfiel, 
daß  das  Reiben  der  Holzklötze  niemals  zur  Auerschen  Erfindung  ge- 

19     Haeckel-Festschrift.   Bd.  II  289 


führt  hätte.  Ganz  allgemein  ausgesprochen :  Der  Irrtum  —  in  unserem 
Falle  der  Irrtum  des  Dualismus  und  der  religiösen  Anschauungen  — 
bewahrt  uns  Ideen  und  Denkelemente  auf,  die  auf  ihrer  angewach- 
senen Basis  unrichtig  sind,  die  aber  einst  durch  den  Monismus  hin- 
durchgehen werden  und  durch  ihn  zu  einer  neuen,  ganz  anders  ge- 
arteten Wirklichkeit  sich  entfalten  dürften.  Der  Irrtum  ist  konser- 
vativ, er  konserviert  die  Ideen  wie  eingesponnene  Puppen;  erst  die 
Wahrheit  schenkende  Wissenschaft  gibt  ihnen  später  die  schöne, 
aktivitätsfrohe  Schmetterlingsgestalt. 

Gerade  weil  weder  meinem  philosophischen  Schulgefühl  in  den 
„Welträtseln"  Genüge  geleistet  ist,  noch  mir  die  letzten  Konsequenzen 
genügen,  also  gerade  weil  ich  kein  verbissener  Parteigänger  bin,  muß 
ich  es  aussprechen,  daß  die  Haeckelsche  Naturphilosophie  eine  Schöp- 
fung von  aktuellem  und  höchstem  positiven  Werte  ist,  die  unerbitt- 
lich das  Denken  der  Menschheit  in  ihre  Bahnen  zwingen  muß,  falls 
diese  fortschreiten  soll.  Ihre  Normen,  ihre  Methoden  sind  ein  nicht 
zu  entbehrendes  Gut;  eine  Erkenntnislehre  ohne  Haeckelschen 
Monismus  ist  ein  Unding.  Es  wird  sein  Verdienst  bleiben,  den  Den- 
kern des  kommenden  Jahrhunderts  die  sichere  und  einzig  gangbare 
Straße  gebaut  und  befestigt  zu  haben. 


29O 


KARL  DOPF,  HAMBURG 

o  o  o 

Als  im  Vorjahre,  anläßlich  des  79.  Geburtstages  Ernst  Haeckels 
.im  „Monistischen  Jahrhundert"  sein  Bild  erschien,  habe  ich  es 
lange,  tief  nachdenklich  betrachten  müssen.  Ein  prächtiger  und 
mächtiger  Denkerkopf  voll  Echtheit  und  Schlichtheit,  bedeckt  mit 
einem  breiten  Hute.  Ein  Greisenhaupt  mit  einem  kindermilden  Ge- 
sichtsausdruck, umspielt  von  einem  sanften  Lächeln.  Ein  ehrwürdiges 
Antlitz,  aus  dem  selig  froh  zwei  liebliche  Kinderaugen  leuchten.  Ein 
echt  monistisches  Vorbild,  dieser  ewig  jugendliche  Greis. 

Ja  so  sieht  er  aus,  der  so  gefürchtete  und  viel  gehaßte  große  Frei- 
geist, der  Gottesleugner  und  Revolutionär  der  Schöpfungsgeschichte; 
so  habe  ich  ihn  gesehen  im  Bilde,  den  „Bahnbrecher  der  Zukunft", 
und  würde  ich  ihn  persönlich  kennen,  er  würde  mir  ebenso,  vielleicht 
noch  hoheitsvoller  und  ehrwürdiger  vorkommen. 

Nun  ist  der  Denker  80  Jahre  alt  geworden,  und  begeisterte  Dan- 
kesbezeugungen Tausender,  ja  Hunderttausender  umschmeicheln 
jubelnd  den  Greis,  der  in  nie  ermüdender  Schaffensfreude  sein  Leben 
der  Wissenschaft,  der  Kultur  und  dem  Menschenfortschritt  gewidmet 
hat.  Diesen  Hunderttausenden,  die  in  hoher  Verehrung  ein  inniges 
Band  des  Dankes  und  der  Liebe  um  diesen  Großen  schließen,  möchte 
auch  ich  als  einfacher  Arbeiter  folgen. 

Um  es  zu  erklären,  warum  ich  auch  in  den  Kreis  von  Haeckels 
Verehrern  und  Dankschuldigen  gehören  will,  muß  ich  kurz  einiges 
erwähnen,  wie  ich  mit  Haeckels  Ideen  bekannt  wurde,  um  derent- 
willen ich  den  bedeutungsvollen  Mann  als  Forscher,  Lehrer  und  auch 
als  Mensch  zu  den  Größten  aller  Großen  zähle. 

Ich  bin  ein  Sohn  des  Salzkammergutes,  geboren  auf  jenem  herr- 
lichen Fleckchen  Erde  des  oberösterreichischen  Alpenlandes,  wo  male- 
rische Bergeshöhen  ins  tiefe  Blau  des  Himmels  ragen,  wo  sich  in 
den  klaren  Fluten  zahlreicher  Gebirgsseen  wildromantische  Schluchten 
und  freundliche  Waldabhänge  spiegeln.  Dort  wo  unvergängliche 
Schönheit  und  ewige  geheimnisvolle  Stille  der  Natur  herrscht,  ge- 
nießen schlichte  einfache  Menschen  glücklich  und  zufrieden  frohe 
Lebenstage.  Von  dort  bin  ich  zu  Hause.  Dort  hat  es  auch  Ernst 
Haeckel  oft  hingezogen,   wenn  er  Ruhe  und  Sammlung  für  seinen 

19*  29I 


Geist  suchte,  und  stets  hat  er  sie  in  dem  Frieden  dieses  Berglandes 
gefunden.  — 

Als  Kind  einer  armen  Bauerndienstmagd  kam  ich  zur  Welt  und 
wurde  zur  Erziehung  meiner  Großmutter  übergeben,  die  mir  fast  schon 
in  der  Wiege  vom  lieben  Gott  und  den  schönen  Engeln  erzählte  und 
mir  die  Händchen  zum  ersten  Gebet  faltete.  Bald  darauf,  nachdem  sich 
meine  Mutter  mit  einem  ebenso  armen  mittellosen  Arbeiter  verheiratet, 
kam  ich  in  die  Schule.  Die  oberösterreichischen  Dorfschulen  sind  ja 
heute  noch  bekannt,  daß  dort  zwar  viel,  sehr  viel  Religion  eingedrillt, 
aber  blutwenig  Nützliches  fürs  Leben  gelernt  wird.  Als  ich  aus  der 
Schule  kam,  konnten  mir  meine  Eltern  —  die  bereits  mit  schweren 
Familiensorgen  zu  kämpfen  hatten  —  keine  andere  Existenz  geben  als 
die  des  Arbeiters. 

So  wurde  ich  Bauernjunge.  Als  solcher  war  meine  weitere  Aus- 
bildung die  berufliche  Tätigkeit  und  die  Religion.  Aufgewachsen  in 
Gespensterfurcht  und  Wunderglauben,  umschloß  meinen  Geist  die 
große  chinesische  Mauer  der  römischen  Finsternis.  So  sehr  ich  den 
Drang  in  mir  verspürte,  Bücher  zu  lesen,  es  war  mir  nur  die  Bibel 
erreichbar.  Zum  Lesen  und  Nachdenken  gab  es  keine  Zeit,  hier  hieß 
es  nur  „bete  und  arbeite".  Erst  mit  achtzehn  Jahren,  als  ich  mein 
Bauernbubenleben  mit  dem  des  Fabrikarbeiters  vertauschte,  hat  sich 
das  undurchdringliche  Dunkel  des  Vorhanges  geistiger  Umnachtung 
etwas  erhellt.  Es  erwachte  in  mir  das  Interesse  am  geistigen  Leben 
der  Zeit.  Ich  begann  mich  für  Dichter  und  wissenschaftliche  Forscher 
zu  interessieren,  habe  aber  viel  gelesen,  ohne  zu  verstehen  und  zu  be- 
greifen. Eines  Tages  kam  mir  Arnold  Dodels  Buch  über  das  Leben 
meines  Landsmannes  Konrad  Deubler  in  die  Hände,  worin  ich  Haeckels 
Briefwechsel  mit  dem  Bauernphilosophen  fand.  Dies  regte  mich  an, 
zu  den  Werken  des  großen  Forschers  selbst  zu  greifen.  Die  ,, Welt- 
rätser'  war  das  erste  Buch,  die  „Lebenswunder"  das  zweite,  dem  die 
„Schöpfungsgeschichte"  und  andere  folgten.  Erreichbar  waren  mir 
die  Bücher  in  der  Arbeiterbibliothek. 

Von  da  an  umstrahlte  mich  der  Sonnenglanz  der  mo- 
dernen Aufklärung.  Dieser  Lichtschimmer  durch  die 
Erkenntnis  war  ein  Wendepunkt  in  meinem  Leben,  und 
diesen  verdanke  ich  Ernst  Haeckel.  Es  war  mir  von  da  an, 
als  ob  ein  neues  Leben  für  mich  begonnen  hätte,  als  ob  ich  in  der 
3E]gggggggggEigggggggggggEigggggE]5]ggggggB|ggE]ggEiE]E]gjE]B]EiE;si 

292 


freien  Weltanschauung  meine  geistige  Erfüllung  finden  sollte.  Wie 
Erdbebenstöße  der  Revolution  wirkten  Haeckels  Ideen  auf  meinen 
Geist.  Freilich  bin  ich  kein  Monist  und  habe  noch  nicht  das  Recht, 
mich  als  solchen  zu  bezeichnen,  bevor  ich  mich  nicht  zur  vollkommenen 
Erkenntnis  durchgerungen  habe. 

Für  mich  als  Arbeiter  müssen  viele  der  wissenschaftlichen  Hypo- 
thesen soviel  wie  religiöse  Dogmen  sein;  ich  muß  sie  glauben,  weil 
mir  die  geistige  Kraft  zum  Nachprüfen  fehlt.  Aber  diesen  Glauben 
an  die  Wissenschaft  halte  ich  fest ;  dieser  Glaube  ist  auch  die  höchste 
und  herrlichste  Religion  für  uns  Arbeiter.  In  diesem  Glauben  zu 
wandeln,  liegt  mir  das  rechte  Ziel.  Wenn  auch  viele  Ideen  der  Wissen- 
schaft oft  den  klaren  Ausblick  auf  die  Bahn  zu  diesen  Zielen  trüben, 
eines  steht  fest :  auf  dem  rechten  Wege  bin  ich  doch.  Soweit  ich  Haeckel 
verstehen  konnte,  habe  ich  mich  durch  den  Großteil  seiner  Werke 
durchgerungen,  soweit  ich  seinen  Ideen  nicht  folgen,  sie  nicht  er- 
fassen und  begreifen  konnte,  werde  ich  mich  noch  hindurcharbeiten. 
Wie  Schiller  mein  Lieblingsdichter  ist,  so  ist  Haeckel  mein  Führer 
durch  die  Wissenschaft. 

Und  wenn  ich  auch  mein  Weltbild  noch  kein  vollkommenes  nennen 
darf,  so  entspricht  es  doch  den  Lehren  des  großen  Forschers,  der  im 
Grunde  seiner  freien,  natürlichen  Anschauung  uns  gezeigt  hat,  wie 
wunderbar  verschmolzen,  verwoben  und  versponnen  unser  Leben  mit 
der  Natur  ist. 

Es  steht  mir  zwar  nicht  das  Recht  zu,  über  das  Gesamtbild  seiner 
Leistungen  auf  wissenschaftlichem  und  kulturellem  Gebiete  einen  ab- 
schließenden Ausspruch  zu  tun  —  dazu  sind  Größere  berufen  — ,  aber 
das  Recht,  die  Persönlichkeit  des  alten  Monistenvaters  zu  verehren, 
und  die  Pflicht,  ihm  meinen  Dank  zu  bekunden,  den  ich  ihm  um  meiner 
Welterkenntnis  willen  schulde,  habe  ich  mit  allen  anderen  gleich,  die 
sich  bewogen  fühlen,  in  dieser  Gedenkschrift  Haeckels  Geist  Bewun- 
derung, seinem  Schaffen  Dank  und  Verehrung  entgegenzubringen. 
Dennoch  möchte  ich  auch  dessen  noch  gedenken  und  von  meinem 
Standpunkte  als  Arbeiter  kurz  erwägen,  was  Haeckel  als  Begründer 
des  wissenschaftlichen  Monismus  der  ganzen  Menschheit  ist,  was  dieser 
gewaltige  Denkergenius  für  unsere  Kultur  bedeutet,  und  warum  in 
diesem  größten  Sohn  der  deutschen  Geistesaristokratie  für  uns  der 
Bahnbrecher  der  Zukunft  erstanden  ist. 

3§3S333S35!S^SEiSSl]339SSS3SSS3SE]E]E]E]E]E]E]E]E]E]EiEIEjE]E]EiBJEiEIE]E]B]5!E) 

293 


Was  Haeckels  Lebenswerk  für  die  Menschheit  ist,  wissen  wir, 
wissen  viele,  aber  nicht  allen  ist  es  bekannt,  am  wenigsten  aber  denen, 
die  ihn  hassen  und  befehden.  Diese  mögen  endlich  zu  seinen  Werken 
greifen,  und  einer  in  klarster,  nüchternster  Wissenschaft  gewonnenen 
Erkenntnis  werden  sie  in  Haeckels  Weltanschauung  begegnen.  Ohne 
Schonung  hellte  dieser  erleuchtete  Geist  das  Dunkel  der  Probleme 
des  Menschenlebens  auf.  Und  die  Natur  galt  ihm  als  Lehrerin,  er 
verstand  ihre  Stimme,  erforschte  sie  und  gestaltete  aus  der  reichen 
Fülle  von  gesammelten  Tatsachen  seine  epochemachenden  Zeitideen 
der  Gegenwart. 

Ein  bedeutender  Vorläufer  und  Vorgänger  auf  dem  Wege  zur 
Schaffensmöglichkeit  ist  für  ihn  Darwin. 

Haeckel  und  Darwin  —  mehr  als  je  stehen  sie  heute  nebeneinander, 
die  beiden  Größen  der  Entwicklungslehre.  Hat  der  große  Darwin  den 
Samen  gelegt,  so  hat  Haeckel  die  Frucht  zum  Reifen  gebracht,  indem 
er  mit  seinen  Gedanken  die  unermeßlichen  Weiten  des  ganzen  Welt- 
raumes durchflog  und  in  die  geheimnisvollsten  Tiefen  des  Mikro- 
kosmos eindrang,  um  der  Welt  die  Erleuchtung  zu  bringen,  nach  der 
sie  schon  undenkliche  Zeiten  ringt. 

Was  der  große  Engländer  zum  Gegenstand  seiner  Untersuchungen 
machte,  hat  der  große  Deutsche  zum  Gedankenkreis  einer  haltbaren 
Lebensanschauung  vereinigt.  Was  jener  unausgesprochen,  unausge- 
führt ließ,  hat  dieser  ergänzt  und  zusammengefügt,  und  solch  heroi- 
scher Charakter,  solche  Lichtflut  eines  hohen  Geistes  mußte  bezau- 
bernd auf  uns,  seine  Zeitgenossen  wirken.  Die  Gesetzmäßigkeit  der 
Natur  mit  so  sondierender  Gründlichkeit  darzustellen,  ist  wohl  nicht 
vielen  so  gelungen  wie  ihm.  Alles  ist  bis  in  seine  letzte  Konsequenz 
kristallklar,  alles  ist  in  nie  ermüdendem  Fleiße,  mit  heiligem  Ernste 
und  glühendem  Eifer  geschaffen,  die  Grunderkenntnisse  aller  großen 
Zeitepochen  bringt  er  mit  seiner  Wissenschaft  in  Verbindung.  Dies 
allein  schon  sichert  seinem  Namen  die  Unsterblichkeit.  Aber  wir 
dürfen  Haeckels  Ideen  nicht  immer  nur  so  verstehen,  daß  es  sich  um 
für  unsere  Kultur  wichtige,  rein  wissenschaftlich-abgegrenzte  Welt- 
anschauungsprobleme handelt,  sondern  in  einem  viel  höheren  Sinne : 
Haeckel  ist  nicht  nur  der  große  Wissenschaftler,  Naturforscher  und 
Philosoph,  sondern  er  ist  auch  der  Dichter  und  Maler,  mit  einem 

Wort  der  Schönheitslehrer,  der  zum  Naturschauen  erzieht. 
gggggggg]ggggggggE]gggggggE]gggggg^E]EiBiE]i]E]EiB]EiE]G3EjE]E]EiG]gBiaE] 

294 


Wir  dürfen  nur  seine  „Indischen  Reisebriefe"  zur  Hand  nehmen, 
und  wir  haben  neben  dem  leidenschaftlichen  Naturschwärmer  den 
phantasievollen  Dichter  vor  uns,  der  in  wundervoller,  farbenprächtiger 
Sprache  die  herrliche  Tropenlandschaft  mit  ihrer  mannigfaltigen  Tier- 
und  Pflanzenpracht  in  poetischer  Feinheit  darstellt.  Wir  sehen,  daß 
er  nicht  nur  der  Natur,  der  Welt,  dem  Leben  und  Sein  ihre  inneren 
Geheimnisse  und  Wunder  abgelauscht  hat,  sondern  auch  ihre  äußere 
Schönheit.  Wir  sehen  in  ihm  den  Maler,  der  in  unserer  Allmutter 
Natur  jede,  auch  die  tief  verborgenste  Eigenart  entdeckte  und  wun- 
derherrliche Gemälde  der  Schilderung  schuf,  die  von  einem  vielseiti- 
gen Reichtum  seines  Innern,  seiner  Harmonie  zur  Weltnatur  ein  glän- 
zendes Zeugnis  geben. 

Aus  allen  seinen  Werken  sind  neben  der  wissenschaftlichen  Ge- 
nauigkeit und  Feinheit  der  sprachlichen  Darstellung  besonders  zahl- 
reiche ästhetische  Grundsätze  und  Gefühle  herauszulesen. 

Und  irdische  Schönheit  war  es,  die  des  Denkers  Geist  in  den  „Welt- 
rätseln" sehnsüchtig  nach  den  tiefsten  Tiefen  der  Wahrheit  geführt 
hat.  Kein  Wunder,  wenn  sich  Tausende  durch  seine  Ideen  und  Anre- 
gungen zur  Naturfreude  durchgerungen  haben,  die  sich  nie  sonst  in 
ihrer  innersten  Schönheit  zurecht  gefunden  hätten.  Vielleicht  ohne  es 
zu  wollen,  hat  er  damit  unserer  Kultur  einen  hochentwickelten  Natur- 
sinn gebracht,  der  es  ihr  ermöglichen  soll,  die  höchsten  Höhen  der 
Vollkommenheit  zu  erklimmen. 

Darum  ist  er  auch  ein  Erzieher.  Seine  Werke,  so  streng  wissen- 
schaftlich sie  zu  werten  sind,  so  bedeutungsvoll  ist  auch  der  erziehe- 
rische Wert  derselben.  Wer  darin  nur  eine  monistische  Denklehre, 
bloß  eine  theoretische  Einführung  in  den  Monismus  sieht,  betrachtet 
sie  mit  falschem  Blick.  Wer  sich  aber  in  sie  gründlich  vertieft,  der  muß 
vielmehr  merken,  daß  er  geradezu  zum  Monisten  erzogen  wird;  er 
wird  in  unserer  Kultur  die  steinigen  Wüsten  entdecken  und  wird  an- 
gespornt, Hand  anzulegen,  mit  zuarbeiten,  wo  fruchtbares,  grünendes 
Land  bereitet  werden  soll. 

Und  Haeckel  selbst,  wie  er  als  Mensch  lebt?  Ist  er  nicht  ein  monisti- 
sches Beispiel  ohne  persönlichen  Ergeiz,  ohne  Leidenschaft  und  Stolz, 
voll  Einfachheit  und  Manneswürde  ?  Eine  starke  monistische  Ge- 
stalt, die  mit  voller  Seele  seine  Aufgabe  erfüllt,  durchdrungen  von 
dem  siegessicheren  Idealismus,  von  dem  Glauben  ohne  Zweifel  an 

ggggg§ggG]gE]gggg§ggG]gggggggggggs]S]E!S]E]E]G!E]E]E]EiG!EiE]E]E]E]G]E]EiE]E]' 

295 


33§1333333SS]S15133333SS§li]3SS]ggE]E]gggggE!E]Eis]S3BiE]E]EiEiE]G]E]E]B]E]Ei 

das  absehbare  Endziel  der  Menschheitsentwicklung.  Wir  sehen  ihn  an 
der  Schwelle  seines  Alters  im  Vordergrund  der  Wissenschaf  t  stehen,  und 
trotzdem  ist  er  bei  seinem  Einfluß  auf  die  geistige  Welt  stets  der  an- 
spruchsloseste und  einfachste  Mensch  geblieben.  Ist  das  nicht  echt 
monistisch  ?  Zu  bewundern  und  für  unsere  Kultur  von  höchster  Be- 
deutung ist  an  Haeckels  Persönlichkeit  der  Kämpfer. 

Mit  beispielloser  Klugheit  hat  er,  als  die  Zeit  für  ihn  gekommen 
war,  der  viel  gepriesenen  Kultur  den  Fehdehandschuh  hingeworfen. 
Mit  kühnem  Mute  wagte  er  den  Zorn  der  freien  Rede  selbst  den  Mäch- 
tigsten seiner  Gegner  entgegenzustellen.  Ohne  Scheu  hat  er  offen  be- 
kannt, daß  er  ein  Gegner  kirchlicher  Wunderlegenden  ist,  obwohl 
uns  gerade  er  selbst  die  größten  Wunder  gegeben  hat,  Wunder  aber, 
die  in  voller,  klarer  Reinheit  unserem  Verstände  begreiflich  geworden 
sind.  Weithin  hörbar  klang  seine  Warnungsstimme  vor  kirchlichem 
Offenbarungswahn  durch  die  ganze  Welt,  die  frevelhaftes  Pfaffen- 
gaukelspiel im  Banne  hielt,  und  gab  uns  dafür  die  größte  Offenbarung 
—  das  Evangelium  der  Wissenschaft.  Das  mag  für  ihn  ein 
harter  Kampf  gewesen  sein.  Intransigenten  haben  ihn  umsponnen, 
sie  wollten  ihn  demütigen  und  zurücksetzen,  aber  trotzig  ist  er  im 
Harnisch  seiner  Wahrhaftigkeit  auf  seiner  Lebensbahn  weiterge- 
wandelt, das  Grollen  seiner  Feinde  nicht  beachtend.  Als  dann  gar 
noch  die  Keime  seiner  Naturforschung  und  Lebensbetrachtung  auf- 
gingen, da  entbrannten  die  Kämpfe  um  seine  Ideen  in  noch  rascherer 
Folge.  Aber  die  Gegner  sind  unterlegen.  Immer  reifer  wird  die  Mensch- 
heit, immer  mehr  strebt  sie  ihrer  Kulturvollendung  zu,  und  um  so 
höher  wird  sie  ihren  Bahnbrecher  Haeckel  schätzen,  um  so  mehr  wird 
sie  seine  großen  Ideen  brauchen,  um  ganz  in  Harmonie  mit  dem 
Wollen  des  reichbegabtesten  Vorkämpfers  —  von  denen  wir  viel  zu 
wenige  haben  —  zu  gelangen. 

Haeckel  kommt  mir  als  eine  von  jenen  Männergestalten  vor,  die 
der  Emanzipation  nicht  mehr  bedürfen,  weil  er  sie  durch  sein  moni- 
stisches Denken,  Fühlen,  Leben,  Wirken  und  Schaffen  schon  errungen 
hat.  Er  nennt  sich  Monist,  hat  dem  Monismus  seine  Gesetze  gegeben 
und  hat  ihn  vorgelebt.  Seine  Ideen  steigen  in  der  ganzen  Volkskultur 
kühn  empor,  voran  als  Führer  wie  ein  Prophet  der  neuen  Zeit,  der 
Achtzigjährige  mit  seinen  Silbersträhnen.  Verehrung,  tiefe  Verehrung 
diesem  Feuergeiste,  der  nie  im  Kampfe  unterlegen,  der  nie  die  Waffen 

B]ggE]gggggggggE]gggE]ggE]ggggggggB]E]E]G]EjEjE]E]B]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]E]EJ 

296 


gestreckt,  der  selbst  mit  seinen  achtzig  Jahren  seinen  Geist  nicht 
beugte,  wenn  ihn  auch  die  Knute  der  Unvernunft  von  allen  Seiten 
umsauste.  Wir  wollen  hoffen,  daß  unsre  gesamte  zukünftige  Kultur, 
die  Kunst,  die  Wissenschaft,  die  Erziehung,  die  Politik,  die  Welt- 
wirtschaft sowie  alle  großen  Fortschritte,  die  vorgesteckten  Ziele 
Haeckels  aufgreifen  und  sie  zu  einer  großzügigen  Menschheitskultur 
vereinigen  werden. 

Je  näher  der  Lebensabend  des  greisen  Forschers  herannaht,  um 
so  näher  soll  der  Jugendtag  der  neuen  Menschheit  kommen. 

Darum  vorwärts,  immer  vorwärts  mit  dem  Zeiger  der  Zeitenuhr, 
bis  es  Licht  wird  überall,  bis  die  Zeit  kommt,  wo  das,  was  die  Mitwelt 
an  Haeckel  versäumt  hat,  die  Nachwelt  gut  macht.  Haeckels  Name 
wird,  solange  Weltgeschichte  möglich  ist,  neben  allen  Großen  glänzen, 
seine  Gestalt  wird  aber  wie  ein  mächtiger  Leuchtturm  aus  dem  Strome 
der  vielen  mittelmäßigen  Unberufenen  ragen,  wenn  seine  Mission  er- 
füllt ist. 


297 


E]ggggggggE]gggE]ggE]gE]E]ggggE]ggB]E]GlE]E]EIE]E]51S]E]ElG]G35JEJE]B]ElE]5IG]EIE]BI 

OTTO  KNOPF,  JENA:  ENTWICKLUNGSTHEORIE  UND 

ASTRONOMIE 

o  o  o 

Was  hat  ein  Astronom  mit  der  Entwicklungstheorie  zu  schaffen  ? 
Selbst  wenn  Entwicklungstheorie  und  Astronomie  zwei  Gebiete 
wären,  die  durchaus  nicht  imstande  wären,  sich  gegenseitig  befruch- 
tende Gedanken  zu  liefern,  so  könnte  man  es  weder  einem  Biologen 
noch  einem  Astronomen  verdenken,  wenn  er  sich  in  der  ihm  etwas 
abseits  liegenden  Naturwissenschaft  umsieht.  Haeckel  hat  der  Astro- 
nomie stets  ein  äußerst  reges  Interesse  entgegengebracht  und  sich 
durch  die  Lektüre  astronomischer  Werke  und  Einzelaufsätze  über  die 
wichtigsten  Ergebnisse  der  astronomischen  Forschung  auf  dem  lau- 
fenden gehalten.  Ihn,  der  beim  Studium  der  Welt  des  Mikroskopisch- 
Kleinen  so  viel  Genuß  und  Befriedigung  fand,  ihn  erfüllte  mit  Be- 
wunderung auch  die  Arbeit  der  Natur,  wo  sie  mit  Siriusweiten  statt 
mit  Millimeter  und  Lichtwellenlängen  mißt.  Und  warum  sollte  der 
Astronom  achtlos  an  den  der  heutigen  Naturforschung  ihr  Gepräge 
gebenden  Ideen  vorübergehen,  welche  eine  vollständige  Umwälzung 
nicht  nur  im  Gebiet  der  Biologie  herbeiführten,  sondern  in  weiterer 
Folge  auch  unsere  Ansichten  über  die  Stellung  des  Menschen  in  der 
Natur  von  Grund  aus  änderten,  welche  eben  dadurch  unsere  philo- 
sophische Erkenntnis  vertiefte  und  die  bisherige  Philosophie,  soweit 
sie  dem  Geist,  der  Seele  des  Menschen,  eine  selbständige  Existenz 
zuschrieb ,  aus  der  Reihe  der  Wissenschaften  strich,  welche  auf  unsre 
Rechtsanschauung  und  auf  unser  soziales  Leben  den  größten  Einfluß 
auszuüben  berufen  ist?  Ich  wenigstens  möchte  nicht  durchs  Leben 
gegangen  sein,  ohne  auch  jenes  Gebiet  wissenschaftlicher  Forschung 
in  etwas  kennen  gelernt  zu  haben. 

Aber  haben  Entwicklungslehre  und  Astronomie  nicht  doch  viel- 
leicht etwas  miteinander  gemeinsam  ?  Zweifellos !  Das  Ziel  einer  rein 
mechanischen  Erklärung  der  Tatsachen !  Und  ist  es  hierbei  nicht  viel- 
leicht manchmal  vorteilhaft,  die  auf  dem  anderen  Gebiete  gewonnenen 
Resultate  zu  beachten?  Gewiß!  Sogar  nötig,  wie  uns  ein  Beispiel 
später  zeigen  wird. 

Schon  lange  vor  Lamarck  und  Darwin  hatte  man  für  die  anorga- 
nische Natur  den  Grundsatz  einer  mechanischen  Erklärung  der  Er- 

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298 


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scheinungen  aufgestellt,  und  Kant  setzt  sich  in  seiner  „Allgemeinen 
Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels"  ausdrücklich  die  Aufgabe, 
den  jetzigen  Zustand  des  Weltgebäudes  rein  mechanisch  zu  erklären, 
aber  er  hat  sich  doch  nicht  ganz  frei  machen  können  von  den  alten 
Reminiszenzen  an  die  biblische  Lehre  vom  Eingreifen  einer  außer- 
weltlichen Macht.  Er  geht  aus  von  dem  Zustand  gleichförmig  im 
Raum  verteilter  Materie,  vom  „einfachsten  Zustand  der  Natur,  der 
auf  das  Nichts  folgen  kann".  Er  denkt  sich  die  Materie  durch  einen 
Schöpfungsakt  aus  dem  Nichts  entstanden.  Von  dem  Moment  an, 
wo  der  Schöpfer  seine  Arbeit  geleistet,  ging  allerdings  alles  von  selbst 
seinen  Gang,  die  Naturgesetze  genügten  dann,  das  Weltgebäude  aus 
jenem  „Chaos"  herzustellen. 

Laplace  hat  in  seiner  Kosmogonie  die  unwissenschaftliche  Annahme 
eines  Urzustandes  vermieden,  indem  er  sich  darauf  beschränkte,  die 
Entstehung  des  Sonnensystems  aus  einem  rotierenden,  bis  zu  dem 
äußersten  der  Planeten  reichenden  Gasball  herzuleiten,  ohne  auf  die 
Frage,  wie  dieser  zustande  gekommen  sei,  einzugehen. 

Wohl  aber  gehen  viele  andere  Forscher  von  einem  Anfangszustand 
aus,  so  —  abgesehen  von  Früheren  —  Lockyer,  du  Ligondes,  See, 
Ball  von  einem  chaotischen  Durcheinander  meteorischer,  den  Raum 
durchfliegender  Körper.  Sind  diese  ewig  durcheinander  geflogen,  bis 
sie  sich  von  einem  Moment  an  zu  größeren  Massen  vereinigten? 

Arrhenius  hat  wohl  als  erster  darauf  hingewiesen,  daß  heute  eine 
Kosmogonie  nur  dann  als  wissenschaftlich  beachtenswert  gelten  kann, 
wenn  sie  zeigt,  wie  im  einzelnen  ein  periodisches  Werden  und  Ver- 
gehen im  Weltall  stattfindet  —  wie  z.  B.  kosmische  Gasmassen  sich 
zu  Sternen  verdichten  und  diese  sich  wieder  in  jene  zurückverwandeln 
—  während  das  Ganze  sich  wesentlich  gleich  bleibt. 

Nach  der  Laplaceschen  Nebularhypothese  bestand  die  Sonne,  wie 
oben  bereits  erwähnt,  früher  aus  einem  großen  Gasball,  der  sich  im 
Lauf  der  Zeit  zusammenzog  und  ab  und  zu  einen  Ring  am  Äquator 
absonderte.  Von  der  Zeit,  da  die  Sonne  sich  bis  zur  Neptunbahn  er- 
streckte, bis  heute  sollten  nach  Helmholtz  und  Lord  Kelvin  nicht 
mehr  als  18  Millionen  Jahre  vergangen  sein,  ein  Resultat,  das  im 
grellsten  Widerspruch  stand  zu  der  gewiß  unumstößlichen  Ansicht 
der  Biologen,  daß  für  die  stammesgeschichtliche  Entwicklung  der 
heutigen  Tierwelt  ein  sehr  viel  längerer  Zeitraum  nötig  war,  und  auch 

299 


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im  Widerspruch  zur  Ansicht  der  Geologen  vom  Alter  der  Erdkruste. 
In  der  Tat  mußten  die  Astronomen  auf  Grund  der  biologischen  und 
geologischen  Forschungsresultate  ihre  Meinung  über  die  Dauer  des 
Bildungsprozesses  der  Sonne  ändern.  Die  Entdeckung  des  Radiums 
hat  ihnen  die  Möglichkeit  einer  außerordentlich  viel  längeren  Dauer 
der  Sonnenstrahlung,  als  man  sie  vordem  berechnet  hatte,  an  die 
Hand  gegeben.  Braucht  man  doch  nur  eine  genügende  Menge  radio- 
aktiver Substanzen  auf  der  Sonne  anzunehmen,  um  das  astronomische 
Resultat  mit  dem  biologischen  und  geologischen  in  Übereinstimmung 
zu  bringen.  Die  Astronomie  hat  in  diesem  Fall  eine  Belehrung  durch 
die  Biologie  erfahren. 

Kein  moderner  Naturwissenschaftler  wird  die  Ansicht  vertreten, 
daß  die  Erde  oder  gar  das  Sonnensystem  planvoll  eingerichtet  worden 
sei,  um  als  Wohnstätte  des  Menschen  zu  dienen.  Wohl  aber  spricht 
man  häufig  von  einer  Ordnung  in  unserem  Sonnensystem  oder  auch 
im  Universum,  ja  das  griechische  Wort  für  Ordnung,  Kosmos,  dient 
uns  als  Bezeichnung  für  das  Weltall.  In  gewissem  Sinn  ist  man  dazu 
auch  berechtigt,  insofern  nämlich  die  einzelnen  Glieder  des  Sonnen- 
wie  des  Fixsternsystems  in  manchen  Punkten  eine  Übereinstimmung 
zeigen.  So  bewegen  sich  sämtliche  Planeten  und  die  meisten  Monde 
im  gleichen  Sinn  um  ihren  Zentralkörper;  sieben  von  den  26  Monden 
und  etwa  die  Hälfte  der  Kometen  laufen  allerdings  in  entgegengesetzter 
Richtung.  Die  Bahnen  der  Planeten,  besonders  der  acht  großen,  fallen 
nahe  in  dieselbe  Ebene  und  besitzen  geringe  Exzentrizität;  die  Fix- 
sterne kommen  häufig  als  Doppelsterne  vor,  usw.  Die  Übereinstim- 
mungen sind  zweifellos  eine  Folge  der  Entstehungsweise  der  Himmels- 
körper, sie  sind  nicht  wunderbar,  sondern  notwendig.  Von  ihnen  sei 
im  folgenden  abgesehen. 

Aber  auch  darin  will  man,  im  Universum  sowohl  wie  speziell  im 
Sonnensystem,  eine  Ordnung  erblicken,  daß  die  Materie  im  Raum  so 
verteilt  sei,  daß  hierdurch  eine  fast  unbegrenzte  Dauer  des  Sonnen- 
systems und  somit  der  Menschheit  garantiert  werde.  In  der  Tat  be- 
einflussen sich  die  Planeten,  da  ihre  Massen  im  Verhältnis  zur  Sonnen- 
masse sehr  klein  sind  und  weite  Abstände  voneinander  haben,  in 
ihren  Bewegungen  nur  unbedeutend.  Dieser  Einfluß  macht  sich  zudem 
nur  auf  diejenigen  Bestimmungsstücke  der  Bahn  immer  in  demselben 
Sinn  geltend,  verändert  sie  also  vollständig,  welche  für  den  Bestand 

300 


des  Systems  ohne  Bedeutung  sind.  Hierher  gehören  die  Richtung  der 
großen  Achse  der  Bahnellipse,  die  Richtung  der  Knotenlinie  und  der 
Ort  des  Planeten  in  seiner  Bahnkurve.  Dagegen  bewirkt  er  nur  eine 
periodische  Änderung  der  für  den  Bestand  des  Systems  und  die  Gleich- 
mäßigkeit der  Bedingungen,  unter  welchen  es  existiert,  wichtigen 
Bestimmungsstücke  der  Bahn,  d.  i.  der  Exzentrizität  der  Bahnellipse, 
der  Neigung  der  Bahnebene  gegen  die  Ekliptik  und  der  durchschnitt- 
lichen Entfernung  des  Planeten  von  der  Sonne;  diese  werden  also 
bald  größer,  bald  kleiner,  verbleiben  dabei  aber  stets  innerhalb  ge- 
wisser enger  Grenzen.  Lagrange,  Laplace  und  Poisson  haben  den  Be- 
weis dafür  geliefert,  freilich  nicht  ohne  gewisse  Voraussetzungen,  die 
in  Wirklichkeit  nicht  zutreffen.  Sie  haben  die  Planeten  als  kugel- 
förmig angenommen,  während  sie  Rotationsellipsoide  sind,  sie  haben 
die  Vermehrung  der  Sonnen-  und  der  Planetenmassen  durch  einfallende 
Meteore  und  kosmischen  Staub  nicht  berücksichtigt,  während  doch 
beispielsweise  die  Masse  der  Erde  dadurch  täglich  um  etwa  ioo  Tonnen 
vergrößert  wird,  ebensowenig  den  Verlust  an  Masse  durch  Teilchen, 
die  sich  von  der  Atmosphäre  trennen,  noch  die  Wirkung  der  Gezeiten. 
Wenn  daher  auch  die  Planetenbahnen  noch  viele  Jahrmillionen  fast 
unverändert  dieselben  bleiben,  allmählich  formt  sich  das  System  doch 
vollständig  um. 

Auch  die  äußerst  spärliche  Verteilung  der  Fixsterne  hat  man,  wie 
oben  bemerkt,  im  Sinne,  wenn  man  die  Ordnung  des  Weltalls  rühmt; 
sie  ist  die  Ursache,  daß  unsere  Sonne  gewiß  seit  iooo  Millionen  Jahren 
nicht  in  die  gefährliche  Nähe  eines  andern  Fixsterns  gekommen  ist 
und  sich  infolgedessen  das  Planetensystem  ungestört  entwickeln 
konnte.  Und  wenn  noch  weitere  Billionen  Jahre  das  Sonnensystem 
keine  Katastrophe  durch  die  bedenkliche  Annäherung  an  einen  Fix- 
stern oder  durch  Hineinlaufen  in  einen  kosmischen  Nebel  erleiden 
sollte,  so  ist  das  darum  doch  nicht  für  alle  Zeiten  ausgeschlossen.  Die 
sogenannten  neuen  Sterne,  welche  wir  gelegentlich  am  Himmel  auf- 
tauchen sehen,  dürften  den  Beweis  dafür  liefern. 

Wenn  wir  also  von  einer  Ordnung  des  Universums  und  im  beson- 
deren des  Sonnensystems  reden  als  von  einem  Zustand,  der  die  Garan- 
tie einer  langen  Dauer  in  sich  trägt,  so  ist  das  von  unserem  mensch- 
lichen Standpunkt  aus  nicht  zu  beanstanden,  denn  im  Vergleich  zu 
unserer  Lebensdauer  ist  die  Dauer  für  die  Möglichkeit  menschlichen 

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301 


Lebens  überhaupt  in  der  Tat  außerordentlich  groß.  Millionen  von 
Jahren  mag  das  Menschengeschlecht  noch  bestehen  und  sich  im 
Kampf  ums  Dasein  weiter  entwickeln.  Es  wird  aber  eine  Zeit  kommen, 
wo  kein  Leben  mehr  auf  der  Erde  gedeihen  kann,  so  wie  auch  einstens 
kein  Leben  auf  ihr  möglich  war. 

Ist  es  aber  wunderbar,  daß  Sonnen-  und  Fixsternsystem  sich  in 
einem  Zustand  befinden,  der  dem  Menschengeschlecht  die  Möglichkeit 
einer  nach  unseren  gewöhnlichen  Begriffen  fast  unbegrenzten  Dauer 
verheißt?  Nicht  im  mindesten!  Kämen  leicht  Begegnungen  von 
Sternen  mit  Nebeln  oder  anderen  Sternen  im  Weltall  vor  und  gingen 
die  Umformungen  der  Planetenbahnen  nicht  so  außerordentlich  lang- 
sam vor  sich,  so  wären  wir  Menschen  gar  nicht  entstanden.  Uns  aber 
zu  verwundern,  daß  wir  entstehen  konnten,  haben  wir  —  wenn  wir 
von  einer  Bewunderung  des  Naturschaffens  überhaupt  hier  absehen  — 
keinen  Anlaß.  Sehr  viel  größer  als  die  Zahl  der  Individuen  und  Arten, 
welche  entstehen  konnten,  ist  die  Zahl  derer,  welche  nicht  entstehen 
konnten,  derer,  welche  zum  Schweigen  über  das  Schicksal  ihrer  Nicht- 
existenz  verurteilt  sind,  während  wir  uns  laut  unsres  Lebens  freuen 
und  die  Ordnung  der  Dinge  preisen.  Setzen  wir  die  Zeit,  innerhalb 
deren  die  Erde  geeignet  ist,  Leben  zu  beherbergen,  auf  iooo  Billionen 
Jahre  an,  so  würde  für  die  Wesen,  welche  Billionen  Jahre  zu  ihrer 
stammesgeschichtlichen  Entwicklung  brauchen,  die  Welt  die  Be- 
zeichnung „Kosmos"  verdienen,  nicht  aber  für  solche  Wesen,  die 
Trillionen  Jahre  zu  ihrer  Entwicklung  brauchten. 

Wollte  man  etwa  in  der  Langsamkeit  selbst,  mit  der  sich  die 
Planetenbahnen  ändern,  eine  Ordnung  erkennen,  abgesehen  also  von 
der  dadurch  ermöglichten  langen  Dauer  des  Menschengeschlechts,  so 
ist  zu  bedenken,  daß  die  Begriffe  langsam  und  schnell  überhaupt  ganz 
relativ  sind.  Wir  verfallen  gar  zu  leicht  in  den  Fehler,  bei  diesen 
kosmogonischen  Betrachtungen  den  Menschen  als  das  Maß  der  Dinge 
zu  nehmen.  Auch  möchte  es  dem  einen  wenig  erscheinen,  wenn  die 
Achse  einer  Planetenbahn  sich  in  einem  Jahr  um  i  :  10  ooo  ihres 
Wertes  ändert,  dem  andern  dagegen  sehr  viel,  besonders,  wenn  er  sich 
den  Betrag  in  Metern  ausgedrückt  denkt. 

Bei  Kometenbahnen  finden  totale  Umformungen  so  häufig  statt, 
daß  wir  hier  von  einer  Ordnung  im  Sinn  der  Beständigkeit  nicht  ver- 
sucht sind  zu  sprechen.  Der  nach  seinem  Berechner  benannte  Lexell- 
"B]ggggggggggggE]ggE]ggggggBjggggggggggB]E]EiB]EiE]E3E]E]E]E]E]E]EjE]E]E]5] 

302 


sehe  Komet  wurde  im  Jahr  1767,  als  er  sich  dem  Jupiter  so  stark 
näherte,  daß  er  durch  das  System  seiner  Monde  hindurchging,  aus 
einer  sehr  weiten  Bahn  in  eine  Ellipse  von  nur  572  Jahren  Umlaufszeit 
gezwängt,  so  daß  er  im  Jahre  1770  entdeckt  werden  konnte;  ja  er 
kam  der  Erde  bis  auf  l/7Q  der  Sonnenentfernung  nahe.  Im  Jahr  1779 
wurde  er  jedoch  bei  einer  nochmaligen  Annäherung  an  Jupiter  von 
diesem  wieder  in  eine  weite,  seine  Wiederauffindung  ausschließende 
Bahn  hinausgeworfen.  Hätten  die  Kometen  nicht  eine  ganz  un- 
berechenbar geringe  Masse,  so  würden  von  diesem  Kometen,  wie  bei 
vielen  sonstigen  Gelegenheiten  von  anderen  Kometen,  die  Planeten- 
bahnen vollständig  umgeändert  worden  sein.  Eine  Entwicklung  der 
Organismen  wäre  dann  auf  einem  Planeten  so  wenig  wie  auf  einem 
Kometen  möglich  geworden.  Wollten  wir  die  Stabilität  des  Planeten- 
systems rühmen,  so  müßten  wir  die  Unbeständigkeit  der  Kometen- 
bahnen tadeln.  Die  Ordnung  in  der  räumlichen  Verteilung  der  Him- 
melskörper, sofern  dadurch  ein  langer  Bestand  derselben,  womöglich 
noch  unter  gleichbleibenden  Verhältnissen  bedingt  sein  sollte,  ist  eine 
Illusion. 

Wir  müssen  uns  abgewöhnen,  eine  beabsichtigte  Zweckmäßigkeit 
im  Walten  der  Natur  zu  sehen.  Das  Sonnensystem  ist  so  wenig  eine 
planmäßig  geschaffene  Einrichtung  wie  etwa  das  menschliche  Auge, 
dessen  Entwicklung  aus  den  einfachsten  lichtempfindlichen  Organen 
sich  verfolgen  läßt.  Wäre  es  beabsichtigtermaßen  hergestellt  worden, 
so  würde  es  wohl  besser  sein,  als  es  ist,  und  ebenso  könnte  die  Ver- 
teilung der  Massen  im  Raum  eine  für  den  Bestand  des  Sonnensystems 
noch  vorteilhaftere  sein.  Beides  ist  eben  so,  wie  es  ist,  wie  es  aus  der 
Werkstatt  der  Natur  hervorgehen  mußte. 

Wird  aber  durch  diese  Erkenntnis  unsere  Freude  an  den  Werken 
der  Natur  beeinträchtigt  ?  Im  Gegenteil !  Sie  wird  vermehrt,  weil  wir 
durch  die  Entwicklungsgeschichte  das  Gewordene  erst  recht  verstehen 
lernen. 


303 


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EDWARD  LAURENS  MARK,  CAMBRIDGE,  MASS. U.S.  A 


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Zu  Anfang  der  siebziger  Jahre,  als  ich  Student  in  einer  Universität 
nicht  weit  von  Jena  war,  nahm  Ernst  Haeckel  durch  seine  be- 
geisternden und  anregenden  Werke  die  Aufmerksamkeit  der  Zoologen 
in  hohem  Grade  in  Anspruch.  Seine  Kritiker  waren  ebenso  zahlreich 
wie  seine  Bewunderer.  Zwei  Äußerungen  mögen  die  vielleicht  nicht 
seltene  Stellungnahme  bezeichnen.  Eine  meiner  Studentenbekannt- 
schaften, ein  Amerikaner,  sagte:  „Ich  glaube,  Haeckel  streut  den 
Leuten  Sand  in  die  Augen."  Ich  bin  überzeugt,  daß  er  Haeckel 
niemals  begegnet  ist,  denn  sonst  würde  er  wahrscheinlich  mehr  Ver- 
trauen zu  ihm  gehabt  haben.  Die  andere  Äußerung  kam  von  den 
Lippen  des  verehrten  Professors,  unter  dem  ich  einige  Zeit  gearbeitet 
hatte,  als  ich  ihm  meinen  Plan  mitteilte,  zu  einem  mehrmonatigen 
Studium  nach  Jena  zu  Professor  Haeckel  zu  gehen.  „Na,  sehen  Sie  sich 
mal  die  Geschichte  an",  sagte  er.  Ich  tat  es  und  war  entzückt  von  der 
Einfachheit  und  Aufrichtigkeit  des  Mannes,  den  ich  in  Jena  traf.  Seine 
milde  und  vornehme  Art  war  überraschend;  das  Gleichmaß  seines 
Temperaments  und  die  beständige  Aufmerksamkeit  und  Rücksicht  auf 
andere  waren  bezeichnend,  auch  sein  Diener  Pohle  hatte  keine  Gelegen- 
heit, den  großen  Abstand  zwischen  seinem  Herrn  und  sich  zu  fühlen. 

Eines  Tages,  als  wir  durch  das  Museum  des  Zoologischen  Instituts 
gingen,  bemerkte  Haeckel:  „Sie  sehen,  es  ist  nur  klein;  aber  ich  habe 
beobachtet,  daß  die  Leistungen  eines  Instituts  oft  im  umgekehrten 
Verhältnis  zu  seiner  Größe  stehen."  Eine  ähnlich  ironische  Ader 
kam  gelegentlich  in  seinen  Vorlesungen  zum  Vorschein.  Ich  erinnere 
mich  eines  Falles:  Danas  Werk  über  die  Zoophyten,  herausgegeben 
in  „United  States  Exploring  Expedition"  unter  Kapitän  Wilkes,  lag 
vor  ihm.  Nach  einer  kurzen  Bemerkung  über  dessen  Inhalt  sagte 
Haeckel:  „Ein  großer  Luxus  in  Papier." 

Aber  weder  solche  Scherze  noch  die  beißenden  Worte  einiger 
seiner  Schriften  konnten  mein  Vertrauen  erschüttern,  das  ich  in 
seine  absolute  Aufrichtigkeit  und  Wahrhaftigkeit  hatte  und  noch 
habe.    Haeckel  persönlich  kennen  heißt  an  ihn  glauben. 

Von  seinen  zoologischen  Werken  haben  die  „Generelle  Morpho- 
logie" und  die  „Anthropogenie"  am  unmittelbarsten  nützlich  und 

304 


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20     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II  ^0^ 


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anregend  auf  mich  gewirkt.  Seine  Analysis  der  tierischen  Formen 
in  der  „Promorphologie"  ist  so  umfassend  und  doch  so  einfach! 
Die  Klarheit  seiner  Ausführungen  und  die  Einfachheit  seines  Stils 
in  der  „Anthropogenie"  machen  dieses  Werk  besonders  wertvoll  für 
den  Fremden,  welcher  wenig  mit  der  deutschen  Sprache  vertraut 
ist,  und  war  auch  in  nicht  wenig  Fällen  für  diejenigen  wertvoll, 
deren  Interesse  an  den  Entwicklungsproblemen  durch  das  Buch  ge- 
weckt worden  ist. 

Aber  so  groß  auch  meine  Bewunderung  ist  für  seine  gewaltige 
Beobachtungsgabe  und  seine  Schilderungskunst  in  Wort  und  Bild, 
so  ist  sie  doch  noch  größer  für  seinen  Blick  für  das  Wesentliche 
und  seine  Begabung  für  Vereinheitlichung  und  Vereinfachung,  welche 
ihm  eine  so  hervorragende  Stellung  unter  den  Wissenschaftlern  gibt. 
Diese  sind  jedoch  nur  die  Zugänge,  welche  ihn  zu  seiner  Ansicht 
vom  Universum  geführt  haben,  eine  Ansicht,  die,  wie  mir  scheint, 
mit  der  Zeit  alle  denkenden  Menschen  mit  unbefangenem  Geist  in 
hohem  Grade  beeinflussen  wird. 

Wenn  ich  mich  genau  auf  die  Gründe  besinne,  so  finde  ich,  daß 
es  nicht  Haeckels  Größe  war,  auch  nicht  sein  wissenschaftlicher  Scharf- 
blick oder  sein  Kampf  für  eine  monistische  Kosmologie,  was  mich 
im  Jahre  1910  veranlaßte,  eine  verzweifelte  Anstrengung  zu  machen, 
den  Mann,  den  ich  bewunderte,  zu  sehen.  Es  war  einfach  seine  be- 
zaubernde Persönlichkeit,  nach  der  ich  mich  sehnte.  Für  mein  zwei- 
tägiges vergebliches  Suchen  nach  ihm  in  Venedig  wurde  ich  vollauf 
belohnt,  als  ich  ihn,  ziemlich  unerwartet  für  mich  und  vor  allem  auch 
für  ihn,  plötzlich  in  dem  kleinen  Speisezimmer  eines  bescheidenen 
Gasthauses  in  Feltre  vor  mir  sah.  Als  wir  am  folgenden  Tag  zusammen 
nach  San  Martino  di  Castrozza  wanderten,  fand  ich,  daß  ich  ihn  früher 
nicht  falsch  beurteüt,  und  daß  er  sich  nicht  verändert  hatte :  derselbe 
einfache  und  liebenswürdige  Mensch,  den  kennen  zu  lernen  ich  vor 
35  Jahren  das  große  Glück  hatte. 

Der  Vorsitzende  des  Deutschen  Monistenbundes  hat  einen  Gedan- 
ken, den  ich  oft  gehabt  habe,  so  bewunderungswürdig  ausgedrückt, 
daß  man  mir  verzeihen  möge,  wenn  ich  seine  Worte  hier  wiederhole: 
„Dieser  unversöhnliche  Gegner  alles  dogmatischen  Christentums  er- 
wies sich  als  der  beste  und  vorgeschrittenste  Christ,  den  ich  je  per- 
sönlich kennen  gelernt  hatte." 

306 


J.  A.  PALMEN,  HELSINGFORS,  FINLAND 


o  o  o 


Sehr  geehrter  Herr  Doktor! 

Leider  muß  ich  Ihnen  jetzt  mitteilen,  daß  es  mir  nicht  möglich 
wurde,  einen  Beitrag  zu  Ernst  Haeckels  Festschrift  zu  liefern, 
wie  ich  noch  in  meiner  letzten  Postkarte  eventuellin  Aussicht  stellte. 
Ich  bedauere  dies  um  so  mehr,  da  ich  durch  Ernst  Haeckels 
„Generelle  Morphologie"  eine  überaus  kräftige  Anregung  zum  wissen- 
schaftlichen Denken  erhalten  habe,  und  seine  Forscherpersönlichkeit 
überhaupt  wie  speziell  seine  phylogenetischen  Schriften  mir,  wie  so 
vielen  anderen,  in  fundamentaler  Weise  wegleitend  gewesen  sind.  Die 
zündende  Einwirkung  des  genannten  echt  romantischen  Forschers,  in 
Verbindung  mit  der  des  ebenso  tiefsinnigen  wie  nüchtern  kritischen 
Klassikers,  Carl  Gegenbaur,  dessen  persönlicher  Schulung  ich  unge- 
heuer viel  verdanke,  —  die  Einwirkung  dieser  beiden  Forscher  ersten 
Ranges  werde  ich  alle  Zeiten  in  der  verehrungsvollsten  Erinnerung 
dankbarst  behalten. 

Hochachtungsvoll 

J.  A.  Palmen. 


E]SE1331]3§]35I3E133S33SE133SElEISS3S3SE]SSS5SE;5!^SSSs5ISEiEl^]S35!El 


07 


GEORG  J.  PLOTKE,  FRANKFURT  A.  M. 


0    0   0 


Nicht  dem  großen  Gelehrten,  nicht  dem  schöpferischen  Künstler 
Ernst  Haeckel  habe  ich  soviel  zu  danken,  wie  dem  tiefhumanen 
Menschenbruder,  dessen  Güte  mich  beglückte.  In  zwei  entscheidenden 
Augenblicken  meines  Lebens  wandte  ich  mich  fragend  an  ihn,  und 
wie  so  vielen  anderen  gab  er  auch  mir,  anteilnehmend  wie  ein  naher 
Freund,  den  befreienden  Rat,  den  nur  die  reinste  und  innerlichste 
Menschlichkeit  geben  kann.  Davon  will  ich  Zeugnis  ablegen.  Ver- 
einheitlichung im  letzten  Sinne  ist  dies  Leben,  dessen  wissenschaftlich- 
künstlerische und  menschliche  Grundstoffe  sich  immer  wieder  gegen- 
seitig befruchteten  und  sublimierten,  wie  nur  bei  ganz  wenigen  unserer 
Großen  nach  Goethe. 


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308 


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M.  E.  DELLE  GRAZIE,  WIEN :  ERNST  HAECKEL  DER 

MENSCH 

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Wenn  in  diesen  Tagen  von  einem  Ende  der  gebildeten  Welt  zum 
anderen  der  Name  des  großen  Forschers  fliegt;  wenn  Jünger 
und  begeisterte  Verehrer  sein  Lebenswerk  feiern,  Berufene  neidlos 
es  anerkennen,  Feinde  und  Fanatiker  es  schmähen,  aber  doch  nicht 
daran  vorüberkommen  —  dann  leuchtet  vor  den  Augen  derjenigen, 
die  nicht  bloß  im  Geist  zu  den  Füßen  des  Meisters  gesessen,  sondern 
ihm  auch  in  persönlichem  Verkehre  oft  und  herzlich  nahetreten  durften, 
plötzlich  eine  Sonne  für  sich  auf:  Der  Mensch  Haeckel. 

Selten  noch  hat  das  Wahrwort,  daß  der  Stil  der  Mensch  sei,  in 
so  restloser  Weise  seine  Bestätigung  gefunden  wie  in  der  Persönlich- 
keit Ernst  Haeckels.  Einer  der  wenigen  deutschen  Gelehrten  seit 
Schopenhauer,  die  zugleich  auch  große  Stilisten  sind,  ist  seine  geistige 
Eigenart  so  ganz  der  Spiegel  dessen,  was  er  lebt  und  ist  und  sein  will. 
Und  wer  nur  einmal  diesen  prächtigen,  noch  heute  so  schön  und  frei 
getragenen  Kopf  gesehen,  den  wissenden  Blick  der  blauen  Jovisaugen 
auf  sich  ruhen  gefühlt,  sein  herzliches  und  sieghaftes  Lachen  gehört, 
das  selbst  wie  eine  Klang  gewordene  Lichtfülle  anmutet  —  der  wird 
mit  Entzücken  erkennen,  daß  Haeckel  der  Forscher  und  Haeckel  der 
Mensch  eine  Persönlichkeit  von  solch  vollendeter  Harmonie  bilden, 
wie  sie  das  deutsche  Volk  vielleicht  seit  Goethe  nicht  wieder  besessen. 
Und  in  der  nordischen  Seele  mag  dann  etwas  vom  Verständnis  der 
alten  Hellenenfreude  an  der  „Kalokagathia"  dämmern.  Von  derselben 
Freude,  die  keinen  Geringeren  als  Bismarck  mitriß,  der  den  berühmten 
Naturforscher  bei  Gelegenheit  einer  Anrede  plötzlich  umarmte  und 
herzlich  abküßte.  Und  so  hat  der  Naturforscher  Haeckel  gegenwärtig 
nur  einen  einzigen  Nebenbuhler:  den  Menschen  Haeckel. 

Von  diesem  aber  will  ich  einiges  erzählen.  Und  wenn  ich  ihm  da 
und  dort  vielleicht  allzusehr  ,,aus  der  Schule"  plaudere,  so  mag  er 
mir's  verzeihen.    Sein  Jubeltag  gibt  mir  das  Recht  dazu. 

Ein  glücklicher  Zufall  fügte  es,  daß  meine  erste  Begegnung  mit 
Haeckel  an  einem  Orte  stattfand,  den  schon  ein  anderer  großer  Natur- 
forscher durch  seine  Gegenwart  für  immer  geweiht.  In  unserem  herr- 
lichen Salzburg,  dem  kein  Geringerer  als  Alexander  v.  Humboldt  den 

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Ruhmestitel  der  drittschönsten  Stadt  der  Welt  verliehen.  Dorthin 
kam  am  3.  September  1896  Haeckel,  wie  er  mir  schrieb,  „einzig  zu 
dem  Zwecke",  um  mit  mir  über  eine  Dichtung  zu  sprechen,  die  eine 
künstlerische  Versinnbildlichung  der  modernen  naturwissenschaft- 
lichen Entwicklungsideen  an  einer  der  größten  Weltbewegungen  der 
Neuzeit  versucht  hatte.  Nach  Wochen  endlosen  Regens  brach  gerade 
an  jenem  Tage  zum  erstenmal  wieder  die  Sonne  hervor,  und  so  brachte 
der  erlauchte  Gast  sie  gleichsam  mit  sich.  Himmel-  und  Erdenwande- 
rer, der  er  schon  einmal  ist !  Wir  wohnten  damals  in  einem  Landhaus, 
das  den  barmherzigen  Schwestern  gehört.  Und  noch  erinnere  ich  mich 
des  leisen  Zweifeltones  in  Haeckels  Stimme,  als  er  von  der  Straße 
aus  eine  im  Hof  anwesende  Schwester  fragte,  ob  hier  Fräulein  —  delle 
Grazie  wohne?  Erst  als  ich  ihm  vom  Fenster  aus  ein  fröhliches: 
„Nur  herein,  Meister,  Sie  werden  auch  hier  nicht  bekehrt  werden!" 
zurief,  trat  er  ein  und  nahm  dann,  je  zwei  und  zwei,  rasch  und  elastisch 
die  etwas  steilen  Stufen  des  altertümlichen  Hauses.  Einmal  drinnen 
aber,  brach  er  dann  in  ein  Lachen  aus,  so  herzhaft  und  mitfortreißend, 
daß  ich  es  noch  heute  höre.  Sogleich  aber  dämpfte  er  es,  um,  wie  er 
in  schöner  Menschlichkeit  und  voll  edler  Rücksicht  sagte,  „der  Schwe- 
ster, die  den  Schleier  für  die  Kranken  nahm,  kein  Ärgernis  zu  geben". 
Und  nur  ganz  leise  scherzte  er:  ,,Da  war'  ich  ja  nun  richtig  wie  der 
Teufel  ins  Weihwasser  gefallen !"  Ein  Dictum,  das  mich  um  so  lustiger 
stimmte,  als  der  „Miss  Diana  Vaughan "-Schwindel  Leo  Taxils  gerade 
damals  in  Salzburg  viel  von  sich  reden  machte. 

Daß  wir  mit  unserem  Gespräche  nicht  länger  beim  „Teufel  und 
seinem  Anhang"  verweilten,  als  gerade  notwendig  war,  versteht  sich 
von  selbst.  Und  so  stiegen  wir  aus  dem  Abgrund  der  Hölle  zu  der 
Dichtung,  die  ihn  so  lebhaft  interessierte,  um  von  da  aus  unter  seiner 
Führung  langsam  und  sicher  die  Höhen  zu  erklimmen,  über  die  er 
herrscht,  und  von  denen  aus  er  schon  so  oft  seinen  fröhlichen  Kampf- 
ruf in  die  Welt  hineingeschmettert. 

Den  Nachmittag  und  Abend  jenes  Tages  brachten  wir  auf  dem 
Mönchsberg  zu,  und  wieder  fügte  es  ein  drolliger  Zufall,  daß  Haeckel 
in  die  Nähe  einer  Gesellschaft  geriet,  der  er  sonst  sicher  auf  Meilen- 
weite ausgewichen  wäre.  Es  war  der  „Katholikentag",  der  in  dem- 
selben Restaurant  sein  Festbankett  abhielt,  in  dem  wir  uns  zum 
Abendessen  niedergelassen.  Und  nie  werd'  ich  den  köstlichen  Ausdruck 

310 


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im  Antlitz  Haeckels  vergessen,  mit  dem  er  auf  die  Frage  eines  der 
Festordner,  ob  wir  „auch  zum  Katholikentag  geladen  seien",  halb 
verblüfft,  halb  belustigt  erwiderte:  „Soviel  mir  bekannt  ist  —  nicht!" 
Worauf  wir  uns  aus  dem  Gewirr  der  Festgäste  in  den  hintersten  Winkel 
des  Restaurants  zurückzogen.  Hier  aber  hatte  ich  zum  zweitenmal 
Gelegenheit  zu  beobachten,  welch  feiner  Takt  dem  Manne  eigen  ist, 
der  seinen  Gegnern  als  angriffsfroher  Polemiker  gilt.  Ein  Wiener  Ge- 
lehrter, zugleich  katholischer  Geistlicher,  befand  sich  als  Dritter  in 
unserer  Gesellschaft.  Und  da  wir  über  die  den  ganzen  Nachmittag 
ausfüllenden  Erörterungen  einiger  naturwissenschaftlicher  Streit- 
fragen redlich  hungrig  geworden  waren,  folgte  als  friedlicher  Schluß 
ein  nicht  minder  eifriges  Studium  des  Speisezettels. 

Da  bemerkte  ich,  daß  Haeckel  zu  keinem  rechten  Entschluß 
kommen  konnte.  Und  weil  ich  schon  gewählt  hatte,  riet  ich  ihm  zu 
dem,  was  mir  als  das  Beste,  Schmackhafteste  erschien,  zu  einem 
„Wiener  Backhendl".  Haeckel  sah  mich  an,  schüttelte  aber  dann 
leise  das  Haupt  und  bestellte  endlich,  allerdings  mit  etwas  trübseliger 
Miene,  „eine  Portion  Schiel". 

„Doch  nur  als  Vorspeise?"  fragte  ich.  Das  löste  ihm  endlich  die 
Zunge.  Und  leise  sprach  er:  „Wissen  Sie,  ich  wäre  ja  am  liebsten  am 
,Backhendl'  hängen  geblieben.  Aber  da  unser  lieber  Freund  ein 
katholischer  Geistlicher  ist,  wollt'  ich  ihn  nicht  verletzen!"  Und  als 
ich  ihn  darauf  etwas  verblüfft  ansah,  meinte  er:  „Nun  ja,  weil  der 
Katholikentag  ist !  Das  ist  ja  wohl  zugleich  auch  so  eine  Art  Büß-  und 
Fasttag?"  Nun  mußte  ich  herzlich  lachen.  Und  als  es  mir  durch  einen 
freundlichen  Kellner  gelang,  eine  Menukarte  des  Katholikentages 
herüberzuschmuggeln.  könnt'  ich  den  verehrten  Meister  augenschein- 
lich überzeugen,  daß  das  Souper  der  Gäste  des  Katholikentages  nichts 
weniger  als  ein  Fastenmenu  sei.  Unser  geistlicher  Freund  hatte  sich 
unterdes  in  völliger  Unkenntnis  des  leisen  Zwiegespräches  ein  saftiges 
Rostbeaf  bestellt,  welchem  Beispiel  endlich  auch  Haeckel,  ebenso  über- 
zeugt als  erleichtert,  folgte. 

Erst  spät  nach  Mitternacht  brachen  wir  auf.  Es  war  eine  herrliche 
Vollmondnacht;  und  die  schlummernde  Stadt  lag  so  recht,  wie  ein 
Stück  deutscher  Romantik  vor  uns,  mit  ihrem  ragenden  Festungs- 
berg, ihren  grauen  Toren  und  Klöstern  und  dem  heimeligen  Zauber 
ihrer  alten  Giebeldächer,  die  da  und  dort  noch  der  Nüchternheit  der 

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modernen  Straßen  ein  Gesicht  geben  und  den  Adel  einer  Vergangen- 
heit. Von  unten  kam  das  Getos  der  Salzach  herauf,  doppelt  laut  in 
der  tiefen  Stille  der  Nacht.  Sonst  lag  alles  ruhig  und  wie  verzaubert  im 
silbernen  Blau  des  Vollmondglastes.  Und  von  diesem  herrlichen  Bild 
in  tiefster  Seele  ergriffen,  erzählte  uns  Haeckel,  daß  auch  er  hier 
eigentlich  eine  Art  Heimatsrecht  habe,  da  Salzburg  die  „Urheimat" 
seines  Geschlechtes  war  und  sein  Urgroßvater,  ein  Bauer,  zu  jenen 
Salzburgern  gehörte,  die  wegen  ihres  protestantischen  Bekenntnisses 
aus  Salzburg  vertrieben  und  von  Friedrich  dem  Großen  in  Schlesien 
angesiedelt  wurden.  „Wer  weiß,  ob  heute  eine  .Natürliche  Schöpfungs- 
geschichte' existierte,  wenn  das  nicht  geschehen  wäre !"  sprach  Haeckel. 
Und  in  köstlicher  Laune  setzte  er  hinzu:  ,,0  historischer  Kausal- 
nexus!   O  sittliche  Weltordnung!" 

Den  folgenden  Tag  brachten  wir  in  dem  herrlichen  Park  von 
Aigen  zu.  Und  angesichts  des  einzigen  Rundblickes,  der  sich  von  der 
„Kanzel"  aus  dem  entzückten  Auge  bietet,  verging  uns  der  Vormittag 
wie  ein  Traum,  den  Sonnengold  und  Waldesgrün  um  uns  spannen. 
Hier  lernt'  ich  auch  den  Aquarellisten  Haeckel  so  recht  schätzen. 
Seinen  feinen  Blick  für  Lichtwirkungen  und  Luftstimmungen.  Diesen 
echten  Malerblick,  der  das  Ferne  wie  das  Nahe  gleich  zärtlich  umfängt 
und  dabei  ebenso  rasch  als  sicher  überall  das  Charakteristische  ent- 
deckt und  festhält.  Und  die  sichere  Hand,  die  uns  oft  nur  nach  flüch- 
tigen Stationspräparaten  die  ganze  entzückende  Formenfülle  der 
Tiefseeorganismen  festgehalten,  sie  weiß  auch  die  Landschaft  immer 
dort  zu  fassen,  wo  auch  sie  eine  „Kunstform  der  Natur"  ist.  So  hat 
Haeckel  von  seinem  zweimaligen  Aufenthalt  in  den  Tropen  eine  ganze 
Bildergalerie  heimgebracht.  Und  die  meisten  Illustrationen  seiner 
„Indischen  Reisebriefe"  und  der  „Arabischen  Korallen"  sind  von 
ihm  selbst  an  Ort  und  Stelle  aufgenommen.  In  den  Tropen  freilich 
„wird  jeder  Naturforscher  so  eine  Art  Mädchen  für  Alles",  wie  er  ein- 
mal lachend  sagte,  als  er  uns  seine  kleine  Häuslichkeit  in  Belligemma 
schilderte.  Aber  auch  die  herrlichsten  Stücke  seiner  Korallensamm- 
lung hat  er  sich  selbst  aus  dem  Meere  hervorgeholt.  Und  ich  bin  im 
glücklichen  Besitze  einiger  Prachtexemplare,  die  kein  Geringerer  als 
Meister  Haeckel  frei  schwimmend  und  tauchend  in  Punto-Gallo  und 
Belligemma  auf  Ceylon  aus  dem  Meere  herausgeholt. 

Noch  vor  wenigen  Jahren  ein   tüchtiger  Tourist,  hat  er  von  den 
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Höhen  der  Alpen  bis  zur  Tiefe  des  Weltmeeres  wohl  alles  kennen  und 
meistern  gelernt,  was  die  Natur  groß  und  geheimnisvoll  macht  und 
in  jenen  erhebenden  Augenblicken  einsamsten  Schauens  und  Genießens 
die  orphische  Saite  der  Zusammengehörigkeit  mit  dem  großen  All  um 
uns  leis'  und  harmonisch  vibrieren  läßt.  Niemand  kann  dies  besser 
und  hinreißender  schildern  als  Haeckel.  Und  wenn  er  dann  dazwischen 
lacht  —  sein  leises,  sonniges  Lachen,  dann  ist  es  wirklich  wie  ein 
Lockton  aus  der  Flöte  Pans.  Etwas  im  reichsten,  im  schönsten  Sinne 
Heidnisches  strahlt  aus  dieser  Vollnatur.  Und  deshalb  wird  ihm, 
obwohl  er  keinen  persönlichen  Gott  hat,  doch  alles  ringsum  Andacht 
und  Kult.  Daß  ihm  Italien  da  eine  zweite  Heimat  werden  mußte, 
versteht  sich  von  selbst.  Seit  frühester  Jugend  hat  er  es  immer  und 
immer  wieder  durchwandert.  Zuerst  in  Gemeinschaft  mit  dem  seither 
verstorbenen  Marschendichter  Hermann  Allmers,  zumeist  aber  allein, 
forschend,  malend,  genießend.  Oft  auch  bloß  mit  dem  Ränzel  am 
Rücken  und  dem  Kalabreser  auf  dem  Kopf,  so  daß  er  unterwegs  aller- 
lei mögliche  und  unmögliche  Reisegefährten  bekam.  Aber  das  ficht 
ihn  nicht  an.  Es  gehörte  vielmehr  mit  zu  dem  Zauber,  der  von  ihm 
ausgeht,  daß  er  eben  mit  allen  von  allem  reden  kann.  Daß  er  trotz 
seines  Wissens  und  Ruhmes  und  der  feinsten  Kultur  der  Seele  so  ganz 
ein  schlichter  Mensch  geblieben  ist.  Daß  derselbe  Haeckel,  dem  heute 
als  Gast  des  Khedive  ein  ganzes  Kriegsschiff  (die  Dampferkorvette 
„Khartoum")  samt  Bemannung  und  Musikkapelle  ( !)  für  seine  wissen- 
schaftlichen Forschungen  zur  Verfügung  gestellt  wird,  sagen  wir  im 
nächsten  Jahre  eine  Fußreise  unternimmt,  bei  der  sich  ein  Anstreicher- 
geselle vertrauensvoll  an  ihn  anschließt  und  nach  achttägiger,  bester 
Kameradschaft  in  dem  festen  Glauben  von  ihm  scheidet,  all  die  Zeit 
her  mit  einem  —  Anstreicher  beisammen  gewesen  zu  sein!  Und  wie 
lacht  Haeckel,  wenn  er  darauf  zu  sprechen  kommt.  Wie  kann  er  sich 
freuen,  auf  offener  Landstraße  mit  einem  ganz  gewöhnlichen  Menschen 
einmal  so  und  so  viel  Tage  bloß  —  ein  Mensch  gewesen  zu  sein! 

Und  so  werden  ihm  ähnliche  Fahrten  und  Abenteuer  oft  geradezu 
ein  Bedürfnis.  Das  Bedürfnis  einer  gesunden,  starken  Natur,  die  nicht 
nur  dem  Geiste,  sondern  auch  dem  Körper  sein  Recht  läßt,  um  dann 
wieder,  doppelt  verjüngt  und  bis  auf  die  Wurzeln  erfrischt,  einen 
neuen  Trieb  ans  Licht  zu  senden.  Eine  Art  Antäus-Kur.  Wie  er  mir 
denn  einmal  selbst  gelegentlich  schrieb,  „daß  der  alte  Antäus-Mythos 

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schon  seit  seinen  Knabenjahren  eine  der  drei  ethischen  Lieblings- 
vorstellungen war,  die  ihm  besonders  imponierten".  Und  als  deren 
erste  und  zweite  er  den  gefesselten  Prometheus  und  Herkules  am 
Scheidewege  namhaft  macht.  Und  wer  das  innere  und  äußere  Leben 
Haeckels  kennt ,  der  weiß ,  daß  ihn  aus  diesen  tiefsten  Mythen  der  An- 
tike zugleich  auch  etwas  wie  die  Schauer  eigener  künftiger  Schicksale 
angeweht.  Wie  jeder  Wahrheits-  und  Lichtbringer  hat  auch  er  prome- 
theisch  getrotzt  —  prometheisch  gelitten.  Wie  Herkules  nicht  bloß 
eine  Kraft-,  sondern  auch  eine  gesunde  Sinnennatur,  mag  er  wie  oft 
an  der  Wegwende  gestanden  sein,  die  von  der  rauhen  Straße  heroischer 
Kämpfe  in  die  blühende  Irrnis  der  Freuden  dieser  Welt  lockt.  Aber 
er  ist  standhaft  geblieben.  Selbst  den  großen  Lockungen  des  Ehrgeizes 
und  der  äußeren  Anerkennung  gegenüber.  Und  als  ihm  vor  nun  zwei- 
unddreißig Jahren  die  Ehre  einer  einstimmigen  Berufung  an  die 
Wiener  Universität  zuteil  wurde,  hat  er,  nach  hartem,  aber  kurzem 
Kampfe,  mannhaft  abgelehnt.  Sein  Genius  mochte  ihm  zuflüstern, 
daß  die  besten,  die  reichsten  und  tiefsten  Werke  immer  nur  weitab 
vom  lauten  Lärm  der  Welt  gedeihen.  Daß  der  echteste  Ruhm  nicht 
derjenige  ist,  der  einem  zugesprochen  wird,  sondern  jener,  den  man 
immer  wieder  selbst  erwerben  muß.  Täglich  aufs  neue.  Oft  im  Kampfe 
wider  Alle  und  Alles  —  aber  stets  sich  selber  getreu! 

Deshalb  ist  es  auch  für  alle,  die  ihn  kennen,  gewiß  mehr  als  ein 
bloßer  Scherz,  wenn  er  sich  selbst  als  „monachus  monista"  bezeichnet. 
Oder  von  der  „Mönchsklause  seines  zoologischen  Instituts  in  Jena" 
und  von  seiner  „Askese"  spricht.  Und  wer  ihn  wahrhaft  kennt,  der 
weiß,  daß  es  volle  Wahrheit  ist,  wenn  er  schreibt,  „daß  das  drei- 
bändige Ungetüm  der  »Systematischen  Phylogenie'  nur  in  der  Kloster- 
zelle des  zoologischen  Institutes  und  während  einer  dreißigjährigen 
Askese  zustande  kommen  konnte".  Nur  daß  jeder  Wissende  statt  des 
von  dem  allzu  bescheidenen  Meister  beliebten  Ausdruckes  dieses 
„Ungetüm"  mit  Standard  work  übersetzen  wird.  In  der  Sprache  des 
großen  Mannes,  die  Haeckel  seinerseits  wieder  so  hingebungsvoll  und 
erfolgreich  ins  Deutsche  übersetzt. 

Doch  hat  Haeckel  noch  heute  eine  besondere  Vorliebe  für  Wien. 
So  oft  er  kann,  besucht  er  die  schöne  Stadt,  und  mit  zu  seinen  Lieb- 
lingserinnerungen an  junge  Tage  und  Siege  gehört  der  Vortrag,  den 
er  1878  als  Gast  der  „Concordia"  in  Wien  gehalten.  Wie  er  denn  über- 

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haupt,  nicht  bloß  in  seinen  Erinnerungen,  sondern  auch  in  seinen 
Gewohnheiten  eine  Natur  voll  Treue  und  Dankbarkeit  ist.  Und  so 
wird  ihm  auch  von  allen,  die  ihn  kennen  oder  die  er  seiner  Weltan- 
schauung erobert  —  mit  wenigen  traurigen  Ausnahmen  —  die  gleiche 
Treue  erwiesen.  Kein  Geringerer  als  Gabriel  Max,  den  er  durch  seine 
„Natürliche  Schöpfungsgeschichte"  aus  dem  tiefsten  Mystizismus  auf 
die  Höhe  des  Monismus  geführt,  hat  sein  Bild  gemalt  und  sich  herz- 
lich als  seinen  Schüler  bekannt.  Und  —  um  die  Spannweite  des  Kreises 
anzudeuten,  in  dem  Haeckel  verehrt  und  geliebt  wird  —  weitab  von 
dem  genialen  Maler  in  München  sitzt  in  Neutitschein  ein  Bewunderer 
Haeckels,  der  es  sich  schon  seit  Jahrzehnten  nicht  nehmen  läßt,  dem 
verehrten  Mann  alle  Jahre  den  geliebten  „Kalabreser"  zu  liefern. 
Er  heißt  —  mag  er  an  diesem  Tage  seine  Ehre  mit  haben  —  Hickl  und 
ist  Hutmacher.  Und  wenn  Haeckel  auf  Hickl  zu  sprechen  kommt, 
wird  er  dieser  Neutitscheiner  Eroberung  nicht  weniger  froh,  als  seiner- 
zeit der  Verleihung  des  großen  Bressa-Preises  und  der  ehernen  Ge- 
dächtnistafel, welche  ihm  die  Akademie  dei  Lincei  in  Rom  als  ihrem 
„Socio  Straniero"  gewidmet.  Zwei  Auszeichnungen,  die  ihn  nicht  bloß 
hoch  ehrten,  sondern  auch  doppelt  erfreuten,  weil  sie  aus  dem  von  ihm 
über  alles  geliebten  Italien  kamen. 

Was  Haeckel  der  Wissenschaft  war,  ist  und  sein  wird,  was  er  — 
und  dies  sei  hier  besonders  betont  —  nicht  bloß  zur  Popularisierung, 
sondern  auch  zur  Fundamentierung  des  monistischen  Weltbaues  ge- 
tan, das  wird  in  diesen  Tagen  in  allen  Sprachen  und  in  allen  Kultur- 
zentren der  modernen  Welt  erörtert.  Wie  Goethe  hat  auch  Haeckel 
die  Starrheit  des  eleatischen  Seins-Pantheismus  Spinozas  in  einen 
Pantheismus  lebendigen  Werdens,  die  mathematisch  bedingte  Ab- 
hängigkeit des  einzelnen  vom  Ganzen  in  den  lebenquellenden  Strom 
der  Entwicklung  der  Allnatur  verwandelt.  Wie  in  so  vielem  andern 
auch  hier  dem  Spinozismus  gegenüber  heterodox,  gleich  Goethe  — 
„unklar,  was  er  aus  Spinoza  heraus-  oder  hineingelesen",  mit  dem  In- 
stinkt des  vollkommenen  Monisten  mehr  in  der  spinozistischen  Denk- 
richtung, als  in  Spinozas  Denkweise  wandelnd.  Über  die  Rufe  all 
der  Lebenden  hinweg  aber,  die  ihn  in  diesen  Tagen  feiern,  töne  die 
Stimme  eines  der  größten  Forscher  deutscher  Nation,  des  genialen 
Helmholtz,  der  in  seiner  Rede  über  „Goethes  Vorahnungen  kommen- 
der naturwissenschaftlicher  Ideen"  (gehalten  in  Weimar  anläßlich  der 

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Generalversammlung  der  Goethe-Gesellschaft)  1892  Haeckel  als  „einen 
der  ideenreichsten  Vertreter  der  Entwicklungslehre"  feierte. 

Und  so  mag  der  stille  Zufluchtsort,  wohin  sich  Haeckel  vor  dem 
Jubiläumsgedränge  geflüchtet,  ihn  wohl  der  Schar  seiner  Verehrer  ent- 
rücken, nicht  aber  dem  geheimnisvollen  Geistergruße,  der  von  den 
großen  Toten  zu  den  großen  Lebenden  hinüberfindet  und  sie  zeichnet 
als  ihresgleichen,  mit  dem  unauslöschlichen  Merkmal  des  Ruhmes, 
für  das  All  und  für  alle  gelebt  zu  haben! 


3l6 


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CARL    KOTTHAUS,    MÜNCHEN:    HAECKELS    KOPF- 

UND  GESICHTSBILDUNG 

EINE  BIOLOGISCH-PHYSIOGNOMISCHE  STUDIE 
(Mit  zwei  photographischen  Bildnissen1) 

o  o  o 

Doch  bleibet  immer  das  schönste  Denk- 
mal des  Menschen  eigenes  Bildnis.  Dieses 
gibt  mehr  als  irgend  etwas  anderes  einen 
Begriff  von  dem,  was  er  war.     (Goethe.) 


I. 

Wenn  wir  die  vorstehenden  Worte  von  Goethe  als  zu  Recht  be- 
stehend anerkennen  wollen,  so  müssen  wir  uns  freuen,  daß  wir 
von  Ernst  Haeckel  so  viele  ausgezeichnete  Bildnisse  besitzen.  Sie 
offenbaren  uns  von  seiner  Persönlichkeit  mehr,  als  alle  Beschrei- 
bungen und  Biographien.  Hier  redet  die  Sprache  der  Natur.  Das 
Gesicht  des  Menschen  ist  ein  Dokument  von  ihrer  Hand.  Es  ist  be- 
dauerlich, daß  diese  Naturinschriften  in  ihrer  wahren  Bedeutung 
so  wenig  erkannt  und  verstanden  werden. 

Schopenhauer  behauptet  mit  Recht:  „Das  Gesicht  eines  Menschen 
sagt  gerade  aus,  was  er  ist,  und  täuscht  es  uns,  so  ist  dies  nicht  seine, 
sondern  unsre  Schuld."  Und  ferner:  „Allerdings  ist  die  Entzifferung 
des  Gesichts  eine  große  und  schwere  Kunst.  Ihre  Prinzipien  sind  nie 
in  abstracto  zu  erlernen."  — 

Im  Gegensatz  zu  allen  bisherigen  Versuchen,  welche  ausschließ- 
lich von  empirischen,  physiologischen  oder  metaphysischen  Voraus- 
setzungen ausgegangen  sind,  erblicke  ich  in  der  Biologie  —  im  wei- 
testen Sinne  —  die  eigentliche  Grundlage  jeder  ernsthaften  physio- 
gnomischen  Forschung.  Das  Leben  ist  der  universelle  Schöpfer  und 
Bildner  aller  organischen  Formen  und  Farben,  auch  des  menschlichen 
Gesichtes.  Die  Sprache  des  Lebens,  wie  sie  sich  in  der  Körper- 
und  Gesichtsbildung  des  Menschen  offenbart,  zu  studieren,  ist  die 
Aufgabe  der  biologischen  Physiognomik.  Ihre  naturwissen- 
schaftlichen  Grundlagen    sind   in   der    allgemeinen   Menschenkunde 

!)  Dieselben  stehen  gegenüber  den  Haupttiteln  des  I.   und  II.   Bandes. 

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317 


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gegeben.  Insbesondere  haben  wir  in  bezug  auf  die  Entwicklungs- 
geschichte des  Menschen  und  seiner  äußeren  Gestaltung,  der  „An- 
thropogenie"  von  Ernst  Haeckel  die  wertvollsten  Aufschlüsse  zu 
verdanken. 

II. 

An  Hand  der  beigegebenen  Photographien  will  ich  nun  versuchen,  eine 
kurze  physiognomische  Analyse  des  Jenaer  Forschers  zu  geben. 

Ernst  Haeckel  ist  fraglos  eine  der  bemerkenswertesten  und  mar- 
kantesten Persönlichkeiten  unserer  Zeit.  Nicht  nur  in  bezug  auf  sein 
Leben  und  Wirken,  sondern  auch  als  Mensch  in  seiner  äußeren  Er- 
scheinung. Haeckels  Kopf-  und  Gesichtsbildung  sind  in  phy- 
siognomischer  Hinsicht  so  außerordentlich  interessant  und  charakte- 
ristisch, daß  wir  eine  dreimal  so  lange  Abhandlung  wie  die  vorlie- 
gende schreiben  müßten,  wollten  wir  eine  erschöpfende  Darstellung 
geben.  Allein  wir  müssen  uns  auf  einige  allgemein  gehaltene  Angaben 
beschränken. 

III. 

Am  auffallendsten  ist  bei  Haeckel  zunächst  die  ungewöhnlich 
hohe  und  breite  Stirne,  sie  läßt  durch  ihre  wohlgebildete  Form 
und  eigenartige  Plastik  eine  hervorragende  geistige  Begabung  er- 
kennen. Hinter  dieser  Stirne  arbeitet  ein  großes,  starkes  und  wohl- 
organisiertes Gehirn,  welches  dem  des  Durchschnittsmenschen  weit 
überlegen  ist.  —  Wie  die  immer  wieder  aufs  neue  bestätigte  Tatsache 
lehrt,  kommt  die  geistige  Bedeutung  eines  Menschen,  außer  im  Auge, 
in  der  Stirnbildung  am  stärksten  zum  Ausdruck.  Es  ist  daher  not- 
wendig, stets  hierauf  in  erster  Linie  unser  Augenmerk  zu  richten.  — 

Der  untere  Teil  der  Stirne  tritt  bei  Haeckel  stark  hervor:  das 
Zeichen  einer  besonderen  Sinnesschärfe  für  das  Objektive  und  Kon- 
krete, für  Naturbeobachtung-  und  Anschauung.  Wir  finden  diese 
Form  bei  vielen  bedeutenden  Naturforschern:  Carl  Vogt,  Rudolf 
Virchow,  Gegenbaur,  Pettenkofer,  Galton,  Forel,  Semon,  Wallace, 
Ostwald  und  am  auffallendsten  bei  Darwin,  dem  genialsten  aller  Natur- 
beobachter. Im  Gegensatz  hierzu  finden  wir  bei  Kant,  du  Prel  und 
anderen  abstrakten  Denkern  den  unteren  Teil  der  Stirne  verhältnis- 
mäßig schwach  entwickelt. 

Wie  Wissenschaft  und  Erfahrung  lehren,  stehen  die  höheren  gei- 
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318 


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stigen  Fähigkeiten  eines  Menschen  mit  der  Entwicklung  der  vorderen 
und  oberen  Gehirnpartien  in  unmittelbarem  Zusammenhang.  Die 
Entwicklung  des  Gehirns  aber  findet  in  der  Bildung  des  Schädels 
ihren  lebendigen  Ausdruck.  Dieses  sehen  wir  auch  bei  Haeckel. 
Die  außerordentliche  Entwicklung  der  oberen  Stirnpartie  —  welche 
durch  ihre  ungewöhnliche  Höhe,  Breite  und  plastische  Form  eine 
starke  schöpferische  Kraft  erkennen  läßt  —  steht  zu  seinen  geistigen 
Fähigkeiten  und  Leistungen  in  einem  übereinstimmenden  Verhältnis. 

In  mancher  Hinsicht  erinnert  Haeckels  Stirne  an  diejenige  Goethes, 
woraus  sich  z.  T.  seine  Vorliebe  für  den  Dichter  erklären  läßt.  Vieles 
Gemeinsame  ist  auch  in  ihrer  Weltanschauung  und  Denkungsart  zu 
finden:  die  große  Liebe  zur  Natur,  der  Entwicklungsgedanke,  die 
Neigung  zu  naturphilosophischen  Betrachtungen  und  der  panthe- 
istische  Gottesbegriff. 

Auch  die  schriftstellerische  Begabung  kommt  bei  Haeckel  in  der 
Stirnbildung  deutlich  zum  Ausdruck.  Es  zeigt  sich  dieses  besonders 
in  einer  eigentümlichen  Klarheit  der  Formen  und  in  der  schönen 
Abrundung  der  Stirne  nach  oben.  —  Leider  läßt  sich  dies  auf  schrift- 
lichem Wege  schwer  näher  erläutern ;  es  könnte  nur  durch  vergleichende 
Demonstrationen  an  lebenden  Menschen  oder  entsprechenden  Bildern 
geschehen.  Diese  Besprechung  bezieht  sich  lediglich  auf  die  bei- 
gegebenen Photographien.    Es  sind  Aufnahmen  aus  der  letzten  Zeit. 

IV. 

Die  Augen  sind  bei  Haeckel  nicht  eigentlich  ,,groß"  wie  bei 
Kant,  Fichte  oder  Goethe,  dafür  aber  positiver  und  schärfer.  Es  sind 
nicht  die  Augen  des  Metaphysikers,  des  Dichters  oder  Psychologen, 
sondern  des  scharf  analysierenden  Naturbeobachters,  des  Realisten 
und  Kritikers.  Diese  Augen  verraten  Lust  und  Freude  am  objek- 
tiven Sehen,  Untersuchen  und  Vergleichen,  auch  des  Kleinsten. 

Haeckels  Welt  liegt  weniger  im  Menschen  selbst,  als  außer  ihm. 
Daher  ist  er  auch  als  Naturforscher  —  wo  er  es  mit  Objekten  zu 
tun  hat  —  viel  bedeutender  denn  als  Psychologe,  da  ihm  das  tiefere 
Interesse  und  Verständnis  für  das  Subjektive  im  Menschen  mangelt. 

Auch  in  seinen  malerischen  Studien  (Kunstformen  der  Natur  usw.) 
hat  Haeckel  sich  im  allgemeinen  der  größten  Naturtreue  befleißigt. 
Er  ist  ein  reiner  Naturkünstler  in  des  Wortes  realster  Bedeutung. 

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319 


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Aber  diese  Augen  verraten  uns  noch  mehr.  Aus  ihnen  lacht  die 
helle  Freude  am  Leben,  die  Lust  zu  kämpfen  und  nicht  zuletzt  —  der 
Schalk.  Man  muß  es  selbst  gesehen  haben,  wie  diese  Augen  bei  an- 
regendem Gespräch  funkeln  und  sprühen  können  und  welche  Lust 
am  Scherzhaften  und  Ironischen  sich  schalkhaft  hinter  ihnen  zu  ver- 
bergen sucht.  Doch  wer  zu  sehen  vermag,  der  wird  sich  auch  aus 
den  beifolgenden  Bildern  hiervon  einen  anschaulichen  Begriff  zu 
machen  verstehen.  —  Welche  Wohltat,  daß  der  natürliche  Glanz 
dieser  Augen  in  seiner  Wirkung  auf  den  Beschauer  nicht  durch  die 
berühmte  „Gelehrtenbrille"  beeinträchtigt  wird.  — 

V. 

Über  den  „hervorragendsten"  Gesichtsteil  des  Menschen,  die  Nase 
und  deren  physiognomische  Bedeutung,  ist  zu  allen  Zeiten  viel  dis- 
kutiert worden.  Durch  die  Entwicklungslehre  wird  dieses  „Problem" 
in  der  befriedigendsten  Weise  geklärt.  Der  Urmensch,  sowie  fast 
alle  primitiven  Völker  hatten,  bzw.  haben  mehr  oder  weniger  kurze, 
breite  und  platte  Nasen.  Mit  der  kulturellen  Höherentwicklung  des 
Menschen  ist  auch  die  Nase  größer,  schmaler  und  länger  geworden; 
sie  tritt  gewissermaßen  mehr  aus  dem  Gesichte  heraus. 

Bei  den  „herrschenden"  Völkern  finden  wir  im  allgemeinen  auch 
die  größten  Nasen  —  vorausgesetzt,  daß  sich  die  anderen  Gesichts- 
teile nicht  in  einem  primitiven  oder  verkümmerten  Zustande  befinden. 
Diese  Regel  können  wir  auch  auf  das  Individuum  im  einzelnen  an- 
wenden. Julius  Cäsar,  Friedrich  der  Große,  Napoleon  I.,  Goethe, 
Richard  Wagner,  William  Booth  —  alles  Menschen  mit  einer  starken 
persönlichen  Initiative  —  hatten  große,  vorspringende  Nasen.  Eine 
starke  persönliche  Initiative  werden  wir  aber  auch  Ernst  Haeckel 
nicht  absprechen  können.  Er  ist  ohne  Rücksicht  auf  die  Urteile  seiner 
Zeitgenossen  zielbewußt  und  konsequent  seinen  eigenen  Weg  ge- 
gangen —  und  die  Erfolge  sind  nicht  ausgeblieben. 

Die  große,  etwas  nach  außen  gebogene  Nase  gibt  Haeckels  Gesicht 
einen  Zug  ins  Einheitliche  und  Kraftvolle.  Hiermit  im  Zusammenhang 
steht  ein  gewisses  Organisations-  und  Dispositionstalent,  sowie  Inter- 
esse für  Geographie  und  Reisen.  Haeckel  ist  weder  Pedant  noch  Phili- 
ster, eher  besitzt  er  etwas  von  einem  Diktator  und  Autokraten,  wie  fast 
alle  die  oben  genannten  Männer  mit  großen,  vorspringenden  Nasen. 
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320 


VI. 

Der  etwas  geöffnete  Mund  mit  der  sympathisch  geformten  Unter- 
lippe ist  charakteristisch  für  die  leichte,  freundliche  und  anregende 
Art,  mit  welcher  Haeckel  die  Konversation  zu  führen  versteht.  Dieser 
Mund  ist  zum  Reden,  zum  Erzählen  und  Scherzen  wie  geschaffen. 
Haeckel  ist  kein  „Schweiger"  wie  Moltke  mit  seinem  schmallippigen, 
festgeschlossenen  Munde.  Der  leichte  und  anregende  Stil,  welcher 
uns  in  allen  Schriften  Haeckels  begegnet,  steht  mit  seiner  Gabe  zu 
sprechen  und  zu  dozieren  in  innigem  Kontakt. 

Die  verhältnismäßig  kurze  Oberlippe  ist  gleichfalls  ein  Merkmal 
des  höher  entwickelten  Kulturmenschen.  Sie  kennzeichnet  das  Vor- 
walten intellektueller  Interessen  im  Gegensatz  zu  den  physischen  Be- 
dürfnissen des  Körpers. 

Haeckel  trägt  einen  Vollbart,  wie  die  meisten  großen  Natur- 
forscher. Der  natürlich-schlichte  und  väterliche  Ausdruck  seines  Ge- 
sichtes wird  hierdurch  nicht  unwesentlich  erhöht.  Auch  verleiht  der 
Bart  seinem  männlichen  Haupte  zugleich  eine  patriarchalische  Würde. 

VII. 

Die  Ohren  sind  bei  Haeckel  verhältnismäßig  groß,  namentlich 
sind  die  „Läppchen"  lang  und  kräftig  geformt.  Nach  meinen  viel- 
jährigen Beobachtungen  und  Erfahrungen  sind  solche  Ohren  in  der 
Regel  das  Kennzeichen  einer  großen  Zähigkeit  und  Lebensenergie. 
Goethe,  Kaiser  Wilhelm  I.,  Bismarck,  Papst  Leo  XIII.,  Prinzregent 
Luitpold  von  Bayern,  W.  Booth,  Tolstoi,  Wallace  hatten  ungewöhn- 
lich große  und  markant  geformte  Ohren.  Alle  führten  ein  arbeits- 
reiches Leben  und  alle  erreichten  ein  Alter  von  über  80,  teilweise 
sogar  über  90  Jahren.  Dagegen  hatten  Schiller,  Mozart,  Napoleon  I., 
Nietzsche,  E.  A.  Poe,  Carl  du  Prel  verhältnismäßig  kleine  Ohren. 
Alle  starben  vor  oder  bald  nach  dem  50.  Lebensjahre. 

Um  nicht  mißverstanden  zu  werden,  möchte  ich  jedoch  ausdrück- 
lich darauf  hinweisen,  daß  —  ähnlich  wie  in  der  Medizin  —  ein  ein- 
zelnes physiognomisches  Kennzeichen  an  sich  keineswegs  eine  sichere 
Diagnose  oder  Prognose  gestattet,  sondern  daß  es  immer  wieder  darauf 
ankommt,  in  welchem  Verhältnis  diese  einzelnen  Teile  zu  den  übrigen 
Organen  stehen. 

Eine  besondere  musikalische  Begabung  läßt  Haeckels  Ohr  nicht 


21     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II 


321 


erkennen;  es  entbehrt  der  feineren  Modellierung,  welche  wir  beispiels- 
weise an  den  Ohren  von  d' Albert,  Richard  Strauß,  Mascagni,  Wein- 
gartner  und  anderen  berühmten  Musikern  bewundern. 

Hingegen  ist  die  Stellung  von  Haeckels  Ohren  charakteristisch. 
Sie  stehen  etwas  schräg  nach  hinten  und  im  oberen  Teile  —  wenn 
auch  nicht  so  stark  wie  bei  Windthorst  und  Schopenhauer  —  seit- 
lich vom  Kopfe.  Hierdurch  wird  insbesondere  Haeckels  Neigung  zur 
Opposition  und  Polemik  physiognomisch  gekennzeichnet. 

VIII. 

Haeckels  Schädel  besitzt  den  geradezu  enormen  Umfang  von 
62  cm.  Der  Kopfumfang  der  meisten  Männer  beträgt  dagegen  im 
Durchschnitt  ca.  56  cm.  Nur  wenige  Berühmtheiten  haben  es  auf 
einen  Umfang  bis  zu  60  cm  gebracht. 

Die  Form  des  Schädels  erscheint,  auch  von  der  Seite  gesehen, 
außerordentlich  günstig.  Bemerkenswert  ist  die  hohe  Wölbung  des 
Oberkopfes.  Wie  bei  Schopenhauer  und  Tolstoi  deutet  diese  Form 
auf  die  Neigung,  sich  mit  religionsphilosophischen  Fragen  zu  beschäf- 
tigen. Haeckel  ist  im  Grunde  —  wenn  auch  nicht  im  kirchlichen, 
so  doch  im  naturphilosophischen  Sinne  —  ein  ideal  gesinnter,  reli- 
giöser Mensch.  Mit  größerer  Tiefe  und  Begeisterung  wie  er  hat  bisher 
kaum  jemand  die  Wunder  der  Natur  gesehen  und  von  ihrer  Schön- 
heit seinen  Mitmenschen  gepredigt. 

Wie  viele  physiognomische  Details  ließen  sich  aus  diesem  Kopfe 
noch  herausholen.  Wie  manches  könnte  ich  von  dem  Eindruck  er- 
zählen, welchen  Haeckels  lebendige  Persönlichkeit,  gelegentlich  eines 
Besuches  in  Jena,  auf  mich  gemacht  hat.  Aber  dieses  alles  hoffe  ich 
einmal  mit  mehr  Muße  und  einer  ausführlichen  Begründung  in  einer 
anderen  Schrift  zur  Darstellung  zu  bringen. 

IX. 

Überblicken  wir  das  Gesicht  als  Ganzes,  so  fesselt  uns  beson- 
ders der  heitere  und  freie  Ausdruck,  welcher  —  trotz  der  80  arbeits- 
und  kampfesreichen  Lebensjahre  —  der  Physiognomie  des  berühmten 
Forschers  einen  jugendlich-optimistischen  Glanz  verleiht.  Welch  ein 
Gegensatz  zu  dem  zwar  genialen,  aber  saueren  und  griesgrämigen 

Gesichte  Schopenhauers!  — 
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322 


Auch  wer  von  der  Physiognomik  nicht  viel  versteht,  sieht  es  diesem 
Gesichte  an,  daß  Haeckel  ein  Mann  ist,  der  herzlich  lachen  und  sich 
kindlich  freuen  kann,  bei  dem  die  Gelehrsamkeit  den  natürlichen 
Menschen  nicht  erstickt  hat. 

Wieviel  Urwüchsigkeit  und  naives  Glücksgefühl  leuchtet  aus  diesem 
Kopfe!  Schaut  dieser  Mensch  nicht  in  die  Welt  wie  ein  fröhlicher 
Wandersmann  ? !  —  Und  werden  wir  nicht  alle  von  seinem  aus  der 
Tiefe  geborenen  Lächeln  mit  angesteckt?!  —  Ja,  Haeckel  ist  ein 
Lebenskünstler,  der  es  verstanden  hat,  neben  dem  Ernsten  und  Schwe- 
ren das  Heitere  und  Schöne  nicht  zu  vergessen.  Sein  Bild  soll  uns 
stets  erhalten  bleiben  als  das  beste  Denkmal  einer  der  bedeutendsten 
Individualitäten  unserer  Zeit  und  nicht  zuletzt  als  der  Typus  eines 
echten  Deutschen  und  reinen  Germanen. 


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323 


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HELENE  STÖCKER,  BERLIN-NIKOLASSEE 


o  o  o 


Wenn  man  lange  Jahre  Ernst  Haeckels  Namen  als  den  eines  unserer 
hervorragendsten  Kämpfer  für  eine  moderne  Weltanschauung 
in  seinem  Bewußtsein  getragen  hat,  ist  es  gar  nicht  so  leicht,  sich  eine 
Zeit  zu  rekonstruieren,  in  der  diese  Aufnahme  noch  nicht  erfolgt  war. 
Wenn  ich  heute  meiner  Erinnerung  nachgehe,  um  festzustellen,  wann 
der  Name  Ernst  Haeckels  für  mich  zuerst  persönliche  Bedeutung 
gewonnen  hat,  so  komme  ich  auf  ein  Buch  zurück,  das  im  Jahre  1895 
unter  dem  Titel  „Von  Darwin  bis  Nietzsche"  erschienen  ist  — 
„ein  Buch  Entwickelungsethik"  von  Alexander  Tille  (Leipzig,  Verlag 
von  Naumann,  1895).  Für  mich,  die  ich  eine  begeisterte  Schülerin 
des  Philosophen  Nietzsche  war,  der  zuerst  die  neuen  Erkenntnisse 
und  Umwälzungen  der  modernen  Wissenschaft  für  unsere  Welt- 
anschauung, speziell  für  unsere  Ethik,  im  großen  Stile  fruchtbar 
zu  machen  versuchte,  für  mich  hatte  dies  Buch  durch  Thema  und 
Tendenz  das  lebhafteste  Interesse.  In  dem  Vorwort  dieses  Buches 
las  ich  den  Satz:  ,,Wenn  ich  hier  einen  Dank  für  Förderung  aus- 
sprechen soll,  die  ich  bei  diesem  Buche  erfahren  habe,  so  teilt  sich 
derselbe  zwischen  einem  Deutschen  und  einem  Engländer.  Was  ich 
an  Kenntnis  den  Werken  Ernst  Haeckels  verdanke,  das  steht  auf 
jeder  Seite  meines  Buches  geschrieben."  —  Als  ich  einige  Jahre  später 
einen  Winter  an  der  schottischen  Universität  Glasgow  studierte,  wo 
der  nun  bereits  verstorbene  Verfasser  dieses  Buches  damals  Dozent 
für  deutsche  Literatur  war,  da  hat  es  oft  an  dem  behaglichen  schot- 
tischen Kaminfeuer  heiße  Dispute  über  die  Überlegenheit  der  Geistes- 
wissenschaft oder  der  Naturwissenschaft  gegeben.  In  jenen  von  dich- 
tem schottischen  Winternebel  erfüllten  Tagen  kam  mir  die  „Natürliche 
Schöpfungsgeschichte"  Haeckels  zuerst  in  die  Hände.  So  sehr  ich 
nun  rein  theoretisch  auch  die  Bedeutung  dieser  neuen  Entdeckungen 
anerkennen  mußte,  so  ist  mir  eine  persönlichere  nähere  Beziehung  zu 
Haeckels  Schaffen  doch  erst  später  und  mehr  von  einer  anderen  Seite 
seiner  Wirksamkeit  aus  aufgegangen.  Erst  als  ich  nach  Vollendung 
meiner  Studienzeit  an  dem  großen  Kulturkampf  unserer  Zeit  teil- 
nahm und  für  die  Befreiung  von  lähmenden  mittelalterlichen  Vor- 
stellungen, von  glückstörenden  Hemmungen  in  der  Sphäre  der  Liebe, 

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324 


Ehe  und  Elternschaft  eintrat,  begann  ich  die  ganze  Bedeutung  eines 
Kampfes  zu  verstehen,  wie  der  war,  dem  Haeckel  sein  Leben  gewidmet 
hat.  Er  schien  mir  wirklich  in  seiner  Art  die  ganz  seltene  Er- 
scheinung, die  wir  unter  unseren  offiziellen  Vertretern  der  Wissen- 
schaft meist  so  schmerzlich  vermissen:  ein  „Professor",  ein  Bekenner 
und  Kämpfer  für  seine  Überzeugung.  Der  großen  Majorität  seiner 
Berufsgenossen  gegenüber  fühlt  man  sich  unwillkürlich  an  die  Worte 
Richard  Wagners  erinnert,  mit  denen  er  den  jungen  Nietzsche 
einst  gegen  die  dünkelhafte  Geringschätzung  und  Verächtlich- 
machung durch  die  philologischen  Berufsgenossen  nach  dem  Er- 
scheinen seiner  ersten  Schrift  „Die  Geburt  der  Tragödie  aus  dem 
Geiste  der  Musik"  verteidigte.  Wagner  meinte  da,  es  scheine,  als  ob 
diese  offiziellen  Vertreter  der  Wissenschaft  nur  „für  sich  selbst"  da 
seien,  um  wieder  Vertreter  einer  bestimmten  Wissenschaft  hervor- 
zubringen. „Man  sieht,  die  indischen  Brahmanen  waren  nicht  er- 
habener gestellt,  und  man  darf  daher  von  ihnen  wohl  dann  und 
wann  ein  Gotteswort  erwarten,  und  wirklich  erwarten  wir  dies: 
wir  erwarten  nämlich,  daß  einmal  aus  dieser  wundervollen  Sphäre 
ein  Mensch  herausträte,  um  ohne  Gelehrtensprache  und  gräßliche 
Zitate  uns  zu  sagen,  was  denn  die  Eingeweihten  unter  der  Hülle 
ihrer  uns  Laien  so  unbegreiflichen  Forschungen  gewahr  werden,  und 
ob  dieses  der  Mühe,  der  Unterhaltung  einer  so  kostbaren  Kaste  wert 
sei.  Aber  das  müßte  dann  etwas  Rechtliches,  Großes  und  weithin 
Bildendes  sein."  Der  Hochmut  der  Mandarinenkaste,  der  heute  so 
wenig  wie  vor  vierzig  Jahren  zugeben  will,  daß  die  Resultate  der 
Wissenschaft  auch  den  Menschen  im  allgemeinen  zugänglich  gemacht 
werden,  dieser  Hochmut  ist  es,  der  auch  bis  heute  noch  der  Bedeutung 
von  Haeckels  Wirksamkeit  nicht  gerecht  werden  kann.  Wir  aber, 
die  wir  meinen,  daß  die  Wissenschaft  nicht  nur  einigen  Gelehrten, 
sondern  dem  Leben  dienen  soll,  daß  sie,  aller  reinen  Forschung 
unbeschadet,  doch  zur  Erhöhung,  Besserung,  Bereicherung  des 
menschlichen  Lebens,  des  sozialen  Lebens  bestimmt  ist,  wir  meinen, 
wir  können  einem  Manne  nicht  dankbar  genug  sein,  der  seine  bahn- 
brechende wissenschaftliche  Forschung  bewußt  in  den  Dienst  des 
Lebens,  des  großen  sozialen  Lebens  gestellt  hat.  Ihm  war  die  „doppelte 
Buchführung"  unerträglich,  die  von  Seiten  vielleicht  großer  Gelehrter, 
aber  schwächerer  Charaktere  betrieben  wird,  die  sich  ängstlich  vor 

3S3a3ElE]g^gg^^gggggggE]gggggggg^E3B|E]B]EiEjgigglE]B]E]E3E]BJE]E]E]E]E]E]g 

325 


jeder  Berührung  mit  der  Allgemeinheit  fernhalten  und  die  glauben, 
so  lange  nicht  alle  Rätsel  des  Daseins  gelöst  seien,  dürfe  man  auch 
von  den  relativ  gesicherten  Ergebnissen  noch  nichts  mitteilen.  Ernst 
Haeckel  dagegen  war,  wie  seinem  großen  englischen  Vorgänger  und 
Mitkämpfer  Alfred  Wallace,  vor  allem  klar:  „Verglichen  mit  unseren 
erstaunlichen  Fortschritten  in  den  physikalischen  Wissenschaften 
und  ihrer  praktischen  Anwendung  bleibt  unser  System  der  Regierung, 
der  administrativen  Justiz,  der  Nationalerziehung  und  unsere  ganze 
soziale  und  moralische  Organisation  in  einem  Zustand  der  Barbarei!" 
Seine  Bedeutung  für  unsere  Kultur  liegt  daher,  wie  mir  scheint,  in 
der  leider  so  seltenen  Vereinigung  von  intensivster  Forschergabe  mit 
dem  Mute  der  Überzeugung,  mit  der  Wärme  seiner  Menschenliebe, 
wie  ja  übrigens  dieser  von  der  sogenannten  „christlichen"  Staats- 
kirche so  heiß  befehdete  angebliche  Antichrist  die  soziale  Ethik  des 
Christentums,  den  Altruismus,  jederzeit  zu  der  seinen  gemacht  hat. 
Eine  persönliche,  außerordentlich  erfreuliche,  wenn  auch  kurze 
Begegnung  mit  Haeckel  wurde  mir  vor  einigen  Jahren  zuteil.  Als 
ich  im  November  1908  einen  Vortrag  in  Jena  über  meine  Be- 
strebungen: einen  besseren  Schutz  der  Mutter,  der  neuen  Generation, 
der  Verfeinerung  der  Liebesmoral  hielt,  hatte  ich  die  Freude,  Ernst 
Haeckel  zu  den  anwesenden  Zuhörern  zählen  zu  dürfen.  Er  machte 
sich  mir  nach  dem  Vortrag  bekannt  und  schloß  sich  unserer  Organisation 
im  Bunde  für  Mutterschutz  an.  „Zur  freundlichen  Erinnerung  an  unsere 
Begegnung  in  Jena"  sandte  er  mir  später  seine  „Welträtsel "  und  sein 
Bild  mit  sehr  freundlichen  Widmungen.  Wir  verabredeten  noch  einen 
persönlichen  Besuch  in  seinem  Hause  für  den  nächsten  Tag.  Ich  mußte 
an  diesem  Tage  zu  einer  bestimmten  Stunde  Weiterreisen,  da  ich  am 
Abend  wiederum  in  einer  anderen  Stadt  einen  Vortrag  zu  halten  hatte. 
Als  ich  nun  zur  festgesetzten  Stunde  im  Begriff  war,  den  Besuch,  dem  ich, 
wie  sich  denken  läßt,  mit  großer  Freude  entgegensah,  auszuführen, 
trat  mir  beim  Fortgehen  ein  junger  Mann  entgegen,  der  dringend 
meinen  Rat  und  meine  Hilfe  für  eine  in  Not  und  Verlassenheit  befind- 
liche außereheliche  Mutter,  —  es  war  eine  junge  Lehrerin  —  die  in 
diesen  Tagen  ihr  Kind  erwartete,  in  Anspruch  nahm.  Ich  stand 
in  dem  Augenblick  nur  vor  der  Wahl,  entweder  dieser  Bitte  zu 
entsprechen  oder  meinen  Besuch  bei  Ernst  Haeckel  aufzugeben,  was 
mir  begreiflicherweise  ein  großes  Opfer  war.  Ich  darf  vielleicht  sagen, 
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326 


daß  mir  selten  die  Erfüllung  der  freiwillig  übernommenen  Pflicht,  für 
die  Besserung  des  Loses  verlassener  Mütter  und  Kinder  zu  kämpfen, 
so  schwer  geworden  ist  wie  in  jenem  Augenblick,  —  unter  diesem 
Konflikt  zwischen  der  Erfüllung  einer  als  Pflicht  empfundenen  Auf- 
gabe —  und  dem  großen  Wunsche,  den  verehrten  großen  Vorkämpfer 
einer  freiheitlichen  Weltanschauung  noch  eingehender  persönlich  kennen 
zu  lernen.  Aber  ich  mußte  mir  sagen,  daß  gewiß  mein  Verzicht  —  indem 
ich,  so  gut  es  ging,  für  jene  Mutter  noch  Unterstützung  und  Unter- 
kunft bei  gesinnungsverwandten  Menschen  zu  schaffen  versuchte  — 
durchaus  in  dem  Geiste  des  verehrten  Kämpfers  sei,  dem  ich  gerne 
meine  Ehrfurcht  noch  einmal  persönlich  ausgesprochen  hätte  —  und 
daß  ich  ihm  und  seiner  Lebensarbeit  gewiß  so  auch  am  besten 
gerecht  wurde. 

Seitdem  bin  ich  Haeckel  nicht  wieder  persönlich  begegnet;  aber 
mit  den  Schwierigkeiten  des  eigenen  Kampfes  gegen  Mittelalter  und 
Reaktion  auf  dem  Gebiet  des  Geschlechtslebens  ist  mir  das  Ver- 
ständnis für  Haeckels  Bedeutung  immer  besser  aufgegangen,  ist  stets 
gewachsen  und  hat  sich  vertieft." 

So  muß  ich  in  Ernst  Haeckel  nicht  nur  einen  großen  Naturforscher 
sehen,  der  lebenslang  bemüht  war,  „dem  Knochengerüst  der  philo- 
sophischen Spekulation  das  Blut  der  Naturwissenschaft  zuzuführen", 
der  das  in  jedem  tieferen  Menschen  vorhandene  Bedürfnis  nach  einer 
Weltanschauung  auch  zu  befriedigen  bemüht  war,  —  sondern  den  von 
wärmster  Menschenliebe  beseelten  Forscher,  der  für  die  Befreiung 
des  Geistes  und  für  die  Verschönerung  und  Verbesserung  unseres 
Lebens  mit  nie  versagendem  Mute  Großes,  Unverlierbares  gewirkt 
hat.  Man  kann  sich  die  heftige  Gegnerschaft  gegen  Haekels  tapfere 
starke  schlichte  wahrhafte  große  Persönlichkeit  nur  damit  erklären, 
daß  diese  Gegner  seine  eigentlichen  Ziele  und  Bestrebungen  gar 
nicht  kennen.  Hätten  wir  unter  unseren  Führern  der  Wissenschaft 
nur  noch  ein  Dutzend  so  starker  Persönlichkeiten,  die  mit  gleicher 
Energie  und  Unerschrockenheit  die  Resultate  der  Wissenschaft 
auch  für  die  anderen,  für  die  Allgemeinheit  fruchtbar  zu  machen 
versuchten  —  wir  würden  dem  wahren  „Kulturstaate",  dem  wir 
alle  mit  unserer  Arbeit  entgegenstreben,  um  ein  Unendliches  näher- 
gebracht. In  dem  großen  Kulturkampf  um  die  Befreiung  der  Persön- 
lichkeit   auf    allen    Lebensgebieten,  —  die   sich   zugleich    ihrer  so- 

327 


zialen  Gebundenheit  stets  bewußt  bleiben  muß,  —  in  der 
Erkenntnis,  daß  nicht  nur  das  eigene  Glück,  sondern  erst  dasjenige 
der  Gemeinschaft  das  höchste  eigene  zu  geben  vermag,  in  diesem 
großen  Kulturkampf  ist  Ernst  Haeckel  einer  der  tapfersten,  kühnsten, 
entschlossensten,  bahnbrechendsten  Führer.  Die  große  geistige  Be- 
wegung einer  neuen  Weltanschauung  und  Lebensgestaltung,  die  er 
jetzt  —  und  zu  einem  wesentlichen  Teil  völlig  in  seinem  Sinne  — 
ringsum  sich  entwickeln  sieht,  die  Resultate,  die  diese  Bewegung 
hoffentlich  noch  erringt,  mögen  ihm  heute  der  beste  Dank  für  seine 
Lebensarbeit  sein,  als  ein  lebendiges  Zeichen,  daß  sein  Wirken  — 
trotz  aller  Anfeindung  und  Verleumdung  —  reiche  Frucht  ge- 
tragen hat. 


001  — «■" 


328 


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MAX  VERWORN,  BONN 


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Es  war  im  Jahre  1880.  Ich  saß  in  der  Obersekunda,  und  die  Lektüre 
von  Piatos  und  Ciceros  philosophischen  Schriften  brachte  mich 
zum  ersten  Male  mit  philosophischen  Problemen  in  Berührung.  Be- 
sonders die  hier  mehrfach  behandelte  Frage  nach  der  Unsterblichkeit 
der  Seele  machte  damals  tiefen  Eindruck  auf  mich  und  regte  mich 
zum  eigenen  Nachgrübeln  an.  Nicht  daß  etwa  die  Lehrer  jemals 
den  Inhalt  dieser  Lektüre  zur  Erörterung  philosophischer  Fragen 
mißbraucht  hätten!  Um  Gottes  willen!  Diese  Schriftsteller  waren 
lediglich  dazu  da,  daß  wir  die  Feinheiten  der  griechischen  und 
lateinischen  Grammatik  und  Syntax  an  ihnen  studierten.  Aber  es  gab 
doch  drei  oder  vier  Jungens  unter  uns,  die  auch  die  perverse  Neigung 
hatten,  sich  bei  dem  Inhalt  des  Gelesenen  etwas  zu  denken,  und  so 
hatte  ich  mit  zwei  oder  drei  Freunden  auf  unseren  Spaziergängen  nicht 
selten  eifrige  philosophische  Gespräche.  Längst  hatte  mich  das  Inter- 
esse für  die  Naturwissenschaften,  die  Chemie  und  Physik,  die  Zoologie 
und  Geologie  gefangen  genommen  und  zur  Anlage  von  Sammlungen  ver- 
anlaßt. So  hatte  ich  mich  entgegen  der  Erziehung  durch  das  Gymnasium 
gewöhnt,  mich  auch  mit  konkreten  Dingen  zu  befassen  und  anschau- 
lich zu  denken.  Von  dieser  Basis  aus  aber  erschienen  mir  die  Beweis- 
führungen der  alten  Philosophen  manchmal  etwas  naiv.  Da  wollte  es 
der  Zufall,  daß  mir  Ludwig  Büchners  Vorlesungen  über  den  Darwinis- 
mus in  die  Hände  kamen.  Bis  dahin  hatte  ich  den  Namen  Darwins 
nur  selten  gehört  und  dann  lediglich  in  der  Konfirmationsstunde  als 
den  eines  schlimmen  Ketzers,  der  viel  „Verwirrung"  mit  seinen  „Irr- 
lehren" gestiftet  habe.  Dieses  gelegentliche  Auftauchen  seines  Namens 
hatte  mich  nicht  weiter  berührt.  Nun  lernte  ich  die  Lehren  zum 
erstenmal  selbst  kennen,  und  sie  wurden  zu  einer  um  so  mächtigeren 
Anregung  für  mich,  als  Büchner  in  seinen  Vorlesungen  vom  darwi- 
nistischen  Standpunkte  aus  auch  rein  philosophische  Fragen  erörterte. 
In  jener  Zeit  fanden  heftige  philosophische  Kämpfe  in  der  Klasse 
statt.  Es  bildeten  sich  bisweilen  zwei  Parteien,  eine  naturwissen- 
schaftlich-philosophische und  eine  philologisch-theologische.  Der 
Lehrer  wurde  im  Anschluß  an  die  Lektüre  nicht  selten  in  Streitfragen 
hineingezogen,  mochte  er  wollen  oder  nicht.    Ein  dramatischer  Auf- 

329 


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tritt  dieser  Art  ist  mir  noch  lebhaft  in  der  Erinnerung.  Als  offizieller 
„Naturforscher"  und  „Philosoph"  in  der  Klasse  war  ich  wieder  ein- 
mal vorgeschoben  worden,  um  in  erprobter  Weise  durch  die  Ver- 
wicklung des  Lehrers  in  eine  philosophische  Streitfrage  zu  verhin- 
dern, daß  unsere  lateinische  Präparation  kontrolliert  wurde.  So  kam 
es  sehr  bald  wider  Willen  des  Lehrers  zu  einer  lebhaften  Diskussion 
über  die  Unsterblichkeit  der  Seele.  Schließlich  waren  wir  auf  die  Frage 
nach  der  Herkunft  des  Menschen  gekommen,  und  ich  hatte  eben  den 
darwinistischen  Standpunkt  eifrig  vertreten,  als  es  läutete.  Da  schloß 
unser  Klassenordinarius,  indem  er  seinen  Cicero  zuklappte,  mit  der 
geschmackvollen  Wendung:  „Na,  wenn  Ihr  Vater  ein  Affe  ist,  meiner 
ist  keiner."  Die  Stunde  war  aus.  Unser  Zweck  war  erreicht,  und  ich 
erntete  den  Dank  meiner  Partei.  Es  ist  verständlich,  daß  unter  sol- 
chen Verhältnissen  die  Beschäftigung  mit  naturwissenschaftlich- 
philosophischen Fragen  nur  noch  größeren  Reiz  für  mich  und  einige 
Freunde  gewann. 

So  war  der  Boden  gut  präpariert,  und  da  kam  der  Punkt,  wo 
Haeckel  zum  erstenmal  in  mein  Leben  eintrat.  Ich  hatte  mir  zu  mei- 
nem Geburtstage  Haeckels  ,, Natürliche  Schöpfungsgeschichte"  ge- 
wünscht. Das  erste,  was  mich  schon  beim  Aufschlagen  des  Buches 
fesselte,  war  das  schöne  und  freie,  ernste  und  doch  so  sympathische 
Bildnis  des  Verfassers.  Aber  sehr  bald  fesselte  mich  der  Inhalt  noch 
unvergleichlich  mehr.  Hier  fand  ich  die  Fragen,  die  mich  so  lebhaft 
beschäftigten,  sämtlich  in  konsequenter  Weise  vom  entwicklungs- 
geschichtlichen Standpunkte  aus  behandelt.  Ich  konnte  immer  nur 
kurze  Stücke  in  dem  Buche  hintereinander  lesen,  so  erregte  die  Lek- 
türe meinen  jungen  Geist  und  zwang  ihn  zum  eigenen  Weiterdenken! 
Die  wichtigste  Anregung,  die  ich  Haeckel  auf  biologischem  Gebiet 
verdanke,  hatte  hiermit  ihre  Wirkung  begonnen.  Es  war  die  Durch- 
dringung meines  Denkens  mit  dem  Entwicklungsgedanken.  Der 
„Natürlichen  Schöpfungsgeschichte"  folgten  bald  andere  Bücher  Haek- 
kels.  Seine  Studien  über  Moneren  beschäftigten  speziell  den  Natur- 
forscher in  mir,  der  Geist  seiner  Schrift  über  freie  Wissenschaft  und 
freie  Lehre  packte  den  ganzen  Jüngling. 

Als  Student  konnte  ich  endlich  in  meinem  dritten  Semester  dem 
lange  gehegten  Wunsch  folgen  und  einen  Sommer  in  Jena  studieren. 
Hier  stand  ich  im  April  1885  dem  Manne,  der  mich  so  mit  Begeiste- 
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330 


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rung  erfüllt  hatte,  zum  erstenmal  persönlich  gegenüber.  Natürlich 
hatte  ich  ihn  mir  anders  gedacht.  Er  war  ja  auch  etwas  älter  als  auf 
dem  Bilde.  Aber  was  mich  sofort  gefangennahm,  war  die  unge- 
zwungene Liebenswürdigkeit  und  die  hinreißende  Lebhaftigkeit  seines 
Wesens.  Hier  stand  ein  natürlicher,  freier,  furchtloser  Mann  vor  mir, 
der  in  seiner  harmonischen  Menschlichkeit  ein  Ideal  bildete,  wie  es 
in  dieser  Vollkommenheit  meinem  jugendlichen  Auge  noch  nicht  be- 
gegnet war.  Was  ich  dann  im  Kolleg  hörte,  war  mir  bereits  zum  Teil 
bekannt  aus  der  Lektüre  von  Haeckels  Arbeiten.  Viel  neue  Anregung 
aber  bot  mir  das  zoologische  Praktikum,  an  dem  nicht  viel  mehr  als 
zwanzig  Studenten  teilnahmen.  Hier  kam  man  in  engere  persönliche 
Fühlung  mit  Haeckel.  Den  tiefsten  Eindruck  machte  auf  mich  in 
diesen  Stunden  die  erste  Bekanntschaft  mit  der  lebendigen  Zelle. 
Als  ich  sah,  wie  die  einzelligen  Infusorien  unter  dem  Mikroskop  sich 
bewegten,  Nahrung  aufnahmen  und  in  mannigfaltiger  Weise  rea- 
gierten, als  ich  beobachtete,  wie  die  abgetrennten  Flimmerzellen 
einer  Muschel  im  Wassertropfen  ein  selbständiges  Dasein  führten, 
als  ich  erkannte,  wie  sich  aus  der  Teilung  der  Eizellen  der  gewaltige 
Zellenstaat  aufbaut,  den  wir  nachher  im  vollentwickelten  Tier  oder 
Menschen  vor  Augen  haben,  da  wurde  mir  zum  ersten  Male  die  Offen- 
barung, daß  hier  in  der  einzelnen  Zelle  bereits  die  sämtlichen  Pro- 
bleme des  Lebens  verborgen  liegen,  und  der  Wunsch,  die  Enthüllung 
derselben  nach  ihrer  physiologischen  Richtung  hin  selbst  einmal  in 
Angriff  zu  nehmen,  begann  bereits  damals  in  mir  zu  keimen. 

Die  nächsten  Semester,  die  ich  wieder  in  Berlin  verbrachte,  er- 
weiterten meine  speziellen  Kenntnisse  von  der  Zelle  und  ihrem  Leben 
bedeutend.  Niemals  werde  ich  die  Fülle  von  Anregung  vergessen, 
die  ich  in  dem  Laboratorium  meines  verehrten  Lehrers  Franz  Eilhard 
Schulze  beim  Studium  der  Protozoen  empfing.  In  seiner  vorsichtig- 
kritischen Weise  führte  er  mich  in  die  sorgfältige,  geduldige  und  vor- 
urteilslose Beobachtung  der  Formenfülie  und  der  Lebensäußerungen 
der  einzelligen  Organismen  ein  und  kam  so  meinen  eigenen  Wünschen 
in  willkommenster  Weise  entgegen. 

Nicht  immer  war  es  in  jener  Zeit  in  Berlin  eine  Empfehlung, 
wenn  man  sich  zu  Haeckels  Anschauungen  bekannte.  Ich  habe  das 
beim  philosophischen  Doktorexamen  erfahren.  Als  ich  in  der  Philo- 
sophie geprüft  werden  sollte,  sagte  ich  mir,  daß  ich  bei  meiner  leb- 

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331 


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haften  Beschäftigung  mit  den  Problemen  und  der  Geschichte  der 
Philosophie,  ohne  mich  besonders  erst  zum  Examen  einzupauken, 
gewiß  so  viel  Kenntnisse  besäße  wie  jeder  Durchschnittsdoktorand, 
der  in  der  Philosophie  als  Nebenfach  geprüft  wird.  Da  ich  infolge- 
dessen keinen  besonderen  Wunsch  hinsichtlich  des  Examinators  ge- 
äußert hatte,  wurde  ich  dem  allgemein  als  „gefährlich"  gemiedenen 
Professor  Dilthey  zugewiesen,  den  ich  nie  zuvor  gesehen  hatte.  Als 
ich  Dilthey  besuchte,  um  ihn  zum  Doktorexamen  einzuladen,  fragte 
er  mich,  wofür  ich  mich  besonders  interessierte.  Ich  sagte  ihm  ganz 
ehrlich:  ,,Für  den  modernen  Monismus."  Das  war  verfehlt,  wie  ich 
gleich  sah.  „Monismus?  Monismus  kenne  ich  nicht!  Na  wir  werden 
ja  sehen!"  Das  war  Diltheys  ermutigende  Antwort.  Am  Tage  des 
Doktorexamens  legte  er  mir  wieder  dieselbe  Frage  vor.  Das  war 
mir  verdächtig,  und  ich  antwortete:  „Spinoza",  was  ebenso  zutref- 
fend war.  „Nun  dann  setzen  Sie  mir  einmal  die  Grundzüge  der  Leib- 
nizschen  Philosophie  auseinander!"  Ich  dachte  mir:  freundlich  ist  das 
nicht,  jemanden  erst  zu  fragen,  wofür  er  sich  besonders  interessiert, 
und  ihn  dann  über  etwas  ganz  anderes  zu  prüfen.  Aber  mir  war 
Leibniz  ebenso  recht  wie  Spinoza,  und  so  begann  ich  denn  ausein- 
anderzusetzen, in  welcher  Weise  Leibniz  durch  Giordano  Bruno  und 
Spinoza  beeinflußt  wäre.  Ich  habe  das  gewiß  nicht  sehr  geschickt 
gemacht.  Kaum  waren  die  ersten  Worte  meinen  Lippen  entflohen,  da 
sprang  Dilthey  mir  über  den  Tisch  entgegen  mit  blaurotem  Gesicht  und 
schrie  mich  an:  „Wollen  Sie  mich  uzen?"  Ich  habe  mir  diese  Worte 
gemerkt,  weil  sie  mir  ungewöhnlich  erschienen.  LTngewöhnlich  war  auch 
der  Eindruck,  den  sie  im  Prüfungssaale  machten,  denn  nun  strömten  von 
allen  Seiten  die  Zuschauer  zu  unserem  vorher  einsamen  Tisch,  während 
Dilthey,  ohne  daß  ich  weiter  zu  Worte  kam,  mir  zehn  Minuten  lang 
erregt  auseinanderzusetzen  suchte,  was  für  einen  komprimierten  Un- 
sinn ich  nach  seiner  Meinung  gesagt  hatte.  Das  Zeugnis,  das  mir  Dilthey 
für  das  Fach  der  Philosophie  gab,  lautete  „genügend".  Ich  war  im 
stillen  verwundert,  daß  er  sich  selber  so  ungünstig  zensierte,  denn  es 
war  ja  Dilthey  gewesen,  der  den  Prüfungsvortrag  gehalten  hatte. 

Derart  waren  meine  Erfahrungen  in  Berlin.     Ich  sagte  mir:   In 

Jena  sind  doch  bessere  Menschen,  und  ging  ausgerüstet  mit  dem, 

was  ich  bei  Eilhard  Schulze  gelernt  hatte  und  zugleich  in  du  Bois- 

Reymonds  Vorlesungen  und  Laboratorium  physiologisch  mehr  vor- 

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332 


gebildet,  nach  dreijähriger  Zwischenzeit  wieder  nach  Jena.  Von  nun 
an  blieb  ich  in  dauerndem  Konnex  mit  Haeckel,  wenn  ich  auch  seit- 
dem im  physiologischen  Laboratorium  arbeitete. 

Die  Anregungen,  die  ich  in  den  folgenden  Jahren  von  Haeckel 
empfing,  entsprangen  vorwiegend  dem  persönlichen  Verkehr.  In  jener 
Zeit  bildete  sich  allmählich  in  Jena  ein  kleiner  Kreis  von  Biologen 
der  verschiedensten  Gebiete  heraus,  der  sich  nach  und  nach  ver- 
größerte und  in  seiner  durchaus  zwanglosen  und  freundschaftlichen 
Form  lange  Jahre  bestand.  Da  war  Stahl,  der  Botaniker,  und  Detmer, 
der  Pflanzenphysiologe.  Da  war  Wilhelm  Müller,  der  Pathologe,  und 
Fürbringer,  der  Anatom.  Da  war  der  Physiologe  Biedermann  und 
Arnold  Lang,  der  Ritterprofessor  für  Phylogenie.  Da  war  Johannes 
Walther,  der  Geologe,  und  der  Zoologe  Kükenthal.  Da  war  der  Ana- 
tom Semon  und  der  Chirurg  Heinrich  Haeckel  und  gelegentlich  noch 
mancher  andere  Naturforscher  und  Mediziner.  Ernst  Haeckel  aber 
war  der  Mittelpunkt.  Man  traf  sich  bei  gutem  Wetter  regelmäßig 
jeden  Dienstag  gegen  Abend  auf  der  Schweizerhöhe  und  aß  sein  Rost- 
brätchen  zum  Lichtenhainer  Bier.  Da  ging  es  lebhaft  zu.  Gespräche 
über  allgemein-menschliche  Dinge  wechselten  ab  mit  wissenschaft- 
lichen Diskussionen.  Naturwissenschaftliche  und  medizinische  Fragen 
wurden  erörtert,  Weltanschauungsprobleme  wurden  behandelt  und 
die  Ereignisse  des  politischen,  sozialen  und  literarischen  Lebens  be- 
sprochen. Manches  zündende  Wort,  mancher  sprühende  Witz  flog  her- 
über und  hinüber.  Eine  Fülle  von  Anregung  auf  den  verschiedensten 
Gebieten  menschlichen  Geisteslebens  wurde  genommen  und  wurde 
gegeben,  und  mancher  neue  Gedanke  wirkte  noch  lange  nach,  wenn 
wir  uns  spät  am  Abend  wieder  trennten.  War  das  Wetter  verlockend, 
so  brach  der  eine  oder  andere  von  uns  mit  Haeckel  schon  etwas  früher 
am  Nachmittag  auf,  wenn  Haeckel  sein  Praktikum  geschlossen  hatte, 
um  vor  dem  Zusammentreffen  auf  der  Schweizerhöhe  noch  einen 
Spaziergang  durch  die  herrlichen  Seitentäler  des  malerischen  Mühl- 
tales zu  machen.  Hier  kam  es  zu  intimeren  Diskussionen  über  die 
Streitfragen  der  Wissenschaft  und  Weltanschauung.  Nicht  immer 
war  in  allen  speziellen  Punkten  vollkommene  Übereinstimmung  zu 
erzielen.  Aber  darin  lag  gerade  das  Anregende  und  Reizvolle  der 
Unterhaltung,  daß  sie  noch  einen  Rest  zum  weiteren  Nachdenken  für 
jeden  zurückließ,  und  die  großzügige  freie  Gesinnung  Haeckels  war 

333 


jederzeit  bereit,  eine  abweichende  Meinung,  die  einer  ehrlichen  Über- 
zeugung entsprang,  zu  würdigen.  So  knüpften  sich  auch  die  Bande, 
durch  die  Haeckel  mich  selber  gefesselt  hatte,  von  Jahr  zu  Jahr  enger. 

Mein  Bericht  über  das,  was  ich  Haeckel  verdanke,  wäre  lückenhaft, 
wenn  ich  nicht  meine  Reisen  erwähnte,  an  denen  er  keinen  geringen 
Anteil  hat.  Nicht  nur,  daß  die  große  Freude  am  Reisen  und  am  Natur- 
genusse  von  ihm  auf  seine  Schüler  überging,  so  daß  die  meisten 
von  ihnen  selbst  wieder  große  Reisen  unternahmen,  nein,  auch  durch 
Zuschüsse  aus  der  Ritterstiftung  unterstützte  er  diese  Forschungs- 
reisen. So  ermöglichte  auch  mir  die  Ritterstiftung  im  Verein  mit 
den  Mitteln  der  Berliner  Akademie  eine  zweimalige  größere  Studien- 
reise nach  verschiedenen  Punkten  des  Mittelmeeres  und  des  Roten 
Meeres,  Reisen,  die  für  meine  Entwicklung  als  Physiologe  und  als 
Mensch  eine  gleich  ausschlaggebende  Bedeutung  gewonnen  haben. 
Nie  hat  sich  in  meinem  Leben  mein  Gesichtskreis  für  die  Beurteilung 
allgemein-menschlicher  Dinge  sowohl,  wie  speziell  wissenschaftlicher 
und  philosophischer  Fragen  in  so  kurzer  Zeit  so  enorm  erweitert 
wie  in  dem  einen  Jahre  meiner  ersten  Studienreise,  die  mir  gleichzeitig 
die  Bekanntschaft  mit  meiner  zukünftigen  Frau  brachte.  Auf  dieser 
Reise  nahmen  besonders  bei  langen,  einsamen  Ritten  durch  die  Wüste 
meine  weiteren  Arbeitspläne  festere  Gestalt  an.  Auf  dieser  Reise 
entstand  auch  die  Idee  meiner  Allgemeinen  Physiologie.  Diese  Reise, 
und  zwar  schon  die  voraufgehende  freudige  Erwartung,  mit  der  ich 
sie  antrat,  dann  aber  weiter  die  Begeisterung,  mit  der  ich  sie  ausführte, 
zugleich  erfolgreich  arbeitend  und  froh  genießend,  verdanke  ich  in 
erster  Linie  Haeckel. 

Soll  ich  schließlich  sagen,  wofür  ich  Haeckel  unter  allem,  was  ich 
von  ihm  empfangen  habe,  am  meisten  dankbar  bin,  so  ist  es  nicht 
bloß  die  erste  Einführung  in  die  Geheimnisse  des  Zellebens,  nicht  bloß 
die  tiefgehende  Bekanntschaft  mit  dem  Entwicklungsgedanken  und 
seinen  weitreichenden  Konsequenzen,  nicht  bloß  die  Anregung  zur 
unermüdlichen  Arbeit  an  einer  einheitlichen  und  harmonischen  Welt- 
anschauung, sondern  in  erster  Linie  die  begeisterte  Liebe  für  ein 
natürliches,  freies  und  schönes  Menschentum.  Daß  Haeckel  mir 
gerade  in  meinen  entscheidenden  Entwicklungsjahren  den  Sinn  da- 
für geweckt  hat  durch  das  Vorbild  seiner  eigenen  Persönlichkeit, 
das  werde  ich  meinem  alten  Lehrer  und  Freunde  niemals  vergessen. 

334 


MAX  FÜRBRINGER,  HEIDELBERG:  WIE  ICH  ERNST 
HAECKEL  KENNEN  LERNTE   UND  MIT  IHM  VER- 
KEHRTE   UND    WIE    ER    MEIN   FÜHRER    IN    DEN 
GRÖSSTEN  STUNDEN  MEINES  LEBENS  WURDE 

o  o  o 

Die  folgenden  Blätter  enthalten  ganz  schlichte  und  anspruchslose 
Skizzen,  die  nirgends  in  die  Tiefe  gehen,  aber  dem  Bilde,  wie 
wir  es  aus  Haeckels  Werken  und  Lebensbeschreibungen  kennen, 
vielleicht  einige  minder  bekannte  Züge  hinzufügen.  Ich  folge  damit 
der  freundlichen  Einladung  des  Deutschen  Monistenbundes  und  danke 
demselben  für  die  meinen  Zeilen  gewährte  Gastfreundschaft. 

Mit  Ernst  Haeckel  verbinden  mich  langjährige  Beziehungen; 
unter  den  jetzt  noch  Lebenden  gehöre  ich  vielleicht  mit  zu  seinen 
ältesten  Schülern. 

Zu  Ostern  1865  war  ich  als  junger  Student  nach  Jena  gekommen, 
um  nach  dem  Rate  meines  väterlichen  Freundes  und  Lehrers  Pro- 
fessor Carl  Theodor  Liebe  daselbst  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaften zu  studieren.  Von  letzteren  sollte  der  Physik  und  Chemie 
mit  ihrem  Nebenfache  Mineralogie  mein  Hauptstudium  gelten,  die 
biologischen  Wissenschaften  aber  erst  an  zweiter  Stelle  dazukommen. 

Da  lernte  ich  den  älteren  Pringsheim  und  den  jüngeren  Haeckel 
kennen ;  ersterer  führte  mich  in  die  wissenschaftliche  Botanik,  letzterer 
in  die  Zoologie  ein,  und  damit  wurde  mein  Studienplan  total  verändert. 
Wenn  ich  auch  pflichtgemäß  und  der  Examina  wegen  bis  zum  Ende 
meiner  Studienjahre  an  dem  mathematisch-naturwissenschaftlichen 
Programm  festhielt,  meine  Liebe  gehörte  von  da  ab  den  biologischen 
Wissenschaften. 

Haeckel  trat  unter  meinen  damaligen  Lehrern  ganz  in  den  Vorder- 
grund; in  den  Jahren  1865  und  1866  hörte  ich  bei  ihm  Zoologie, 
Paläontologie  und  Darwinsche  Theorie  und  arbeitete  in  seinem  zoolo- 
gischen Praktikum.  Hell  und  deutlich,  als  wäre  es  vor  wenigen  Tagen 
geschehen,  steht  mein  erstes  Kolleg  bei  ihm  vor  meinen  Augen.  Das 
Auditorium,  ein  mäßig  großes  Zimmer,  im  zweiten  Stocke  des  soge- 
nannten Schlosses  freundlich  nach  Süden  gelegen,  eine  große  An- 
zahl bunter,  sämtlich  von  Haeckel  gemalter  Unterrichtstafeln  an 
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den  Wänden,  vor  den  Bänken  Tische  mit  niederen  Tieren  und  Prä- 
paraten, auch  diese  fast  durchweg  von  Haeckel  gesammelt  und  be- 
arbeitet. In  dem  Zimmer  eine  für  die  damalige  Frequenz  der  Uni- 
versität (etwa  500  Studenten)  ganz  ansehnliche,  aber  wohl  kaum  aus 
mehr  als  40 — 50  Köpfen  bestehende  Zuhörerschaft.  Alle  glühend  von 
Begeisterung  und  Erwartung.  Man  wußte,  daß  Ernst  Haeckel,  ob- 
wohl erst  31  Jahre  alt,  bereits  zu  den  gefeiertsten  Lehrern  Jenas  ge- 
hörte, der  aufsteigende  Stern  Jenas,  berühmt  durch  seine  bahnbrechen- 
den Forschungen  an  den  niedersten  Wassertieren,  den  Protozoen  und 
Cölenteraten,  und  durch  sein  großes  Radiolarienwerk,  zugleich  durch 
sein  volles  Eintreten  für  Darwins  Lehre  von  der  Zunft  der  damaligen 
Fachvertreter  angefeindet,  jedoch  in  seiner  Erkenntnis  und  Be- 
geisterung für  Wahrheit  und  Fortschritt  den  Größten  aus  Jenas  großer 
Vergangenheit  gleichend.  Jung  an  Jahren,  aber  nach  Art  des  Goethe- 
schen  Genies  vollendet  und  das  gewöhnliche  Maß  der  Menschen 
weit  überragend.  Man  erzählte  auch,  daß  er  an  einem  neuen  großen 
Werke  —  der  im  September  1866  erschienenen  Generellen  Morpho- 
logie —  schreibe,  welches,  die  gesamte  Lebewelt  umfassend,  eine  voll- 
ständige Revolution  auf  botanischem,  zoologischem  und  philosophi- 
schem Gebiete  und  darüber  hinaus  herbeiführen  werde.  Und  man 
sprach  von  seiner  Freundschaft  mit  dem  großen  Jenaer  Anatomen 
Carl  Gegenbaur,  die  ihn,  den  geborenen  Preußen,  in  das  freie  Jena 
geführt  hatte,  auch  von  dem  großen  Verluste  seines  Lebens,  der  ihm, 
geradeso  wie  zur  gleichen  Zeit  dem  Freunde  Gegenbaur,  die  Gattin 
nach  1  jähriger  glücklichster  Ehe  geraubt  hatte,  und  wie  beide  Männer 
nur  durch  übermenschliche  Arbeit  bei  Tag  und  Nacht  der  Verzweif- 
lung Herr  geworden. 

Und  nun  trat  er  in  das  Auditorium,  nicht  im  bedächtigen  Schritt 
des  Professors,  sondern  im  siegreichen  Dahinstürmen  des  apollini- 
schen Jünglings  nach  dem  Katheder  eilend,  eine  große,  schlanke, 
imponierende  Gestalt,  ein  blühendes,  wohl  von  viel  Nachdenken  und 
Arbeiten  erzählendes,  aber  nicht  von  ihnen  angekränkeltes  Antlitz, 
eine  gewaltige,  von  einem  prachtvollen  Großhirn  zeugende  Stirn, 
goldene  fliegende  Locken,  große,  blaue,  blitzende  und  so  freundliche 
Augen,  —  wohl  der  schönste  Mensch,  den  ich  bisher  gesehen,  und  mir 
war  es,  als  ob  das  schon  zuvor  ganz  heitere  Zimmer  merklich  heller 
wurde.    Und  dann  begann  die  Vorlesung,  nicht  ausgefeilt  und  wohl- 

336 


gedrechselt,  sondern  ein  unmittelbarer  Erguß,  ein  Sprühen  und  Leuch- 
ten neuer  Offenbarungen.  Die  Erscheinung,  der  Glanz  der  Gedanken 
und  die  besondere  Art  seines  Vortrages  wirkten  zunächst  fast  aus- 
schließlich auf  mich;  erst  weiterhin  packte  mich  der  Inhalt. 

Ich  habe  mir  aber  nicht  die  Aufgabe  gesetzt,  auszuführen,  was 
Haeckel  schon  damals  als  Lehrer  und  Forscher  bedeutete,  —  eine 
unnötige  Wiederholung  von  längst  Bekanntem  — ,  sondern  nur  zu 
schildern,  wie  er  gleich  beim  ersten  Eindruck  auf  mich  wirkte,  wie  er 
meinen  Studiengang  beeinflußte  und  umgestaltete  und  wie  ich  sein 
Schüler  werden  mußte. 

Durch  meine  zoologischen  Studien  bei  ihm  wurde  ich  zur  Ana- 
tomie geführt  und  zu  Carl  Gegenbaur,  dessen  Vorlesungen  und  Übun- 
gen ich  1866  und  1867  besuchte.  Welche  seligen  Stunden  in  dem 
kleinen,  nur  7000  Einwohner  zählenden  Neste  mit  seinen  großen  Män- 
nern und  mit  seiner  wundervollen,  zum  Naturgenusse  zwingenden 
Umgebung ! 

Im  Herbst  1867  mußte  ich  das  geliebte  Jena  verlassen,  um  als 
Sohn  eines  preußischen  Beamten  und  für  die  Lehrerlaufbahn  in 
Preußen  bestimmt  auf  einer  preußischen  Universität,  in  Berlin, 
weiter  zu  studieren.  Auch  da  trat  die  Zoologie  in  meinen  Studien  in 
den  Vordergrund.  Ich  wurde  u.  a.  studentischer  Volontärassistent 
bei  dem  dortigen  Zoologen  Wilhelm  Peters,  und  meine  Berliner 
philosophische  Doktorarbeit  behandelte  ein  zootomisches  Thema,  — 
alles  das  der  Einfluß  von  Haeckel  und  Gegenbaur.  Haeckels  Generelle 
Morphologie  und  Gegenbaurs  Vergleichende  Anatomie  und  seine 
Untersuchungen  zur  vergleichenden  Anatomie  der  Wirbeltiere  waren 
meine  Erbauungsbücher.  Die  historisch-genealogische  Behandlung 
und  Betrachtung  der  biologischen  Wissenschaften,  die  Ontogenese 
und  Phylogenese  und  das  biogenetische  Grundgesetz  pulsierten  in 
meinem  Blute. 

Nach  Abschluß  meiner  Berliner  Studien  am  Beginne  des  Jahres 
1870  stand  ich,  ein  freidenkender  und  unbemittelter  Mann,  vor  der 
Alternative:  Preußischer  Gymnasiallehrer  unter  dem  Ministerium 
Mühler  oder  Versuch  einer  akademischen  Laufbahn,  am  liebsten  in 
einer  orthodoxem  Einflüsse  entrückten  Universität.  Die  Wahl  war 
entschieden,  als  mir  durch  Gegenbaur  die  Möglichkeit  ward,  bei  ihm 
in  Jena  Assistent  am  anatomischen  Institute  zu  werden  und  nach 

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32     Haeckel-Festschrift.   Bd.  II 


337 


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seinem  Rate  und  Wunsche  zugleich  Medizin  zu  studieren,  wozu  mir 
meine  bisherige  mathematisch-naturwissenschaftliche  und  anato- 
mische Ausbildung  manche  Erleichterung  gewährte.  So  kam  ich  mit 
Beginn  des  Sommersemesters  1870  wieder  in  mein  Jena  und  verlebte 
da,  abgesehen  von  einer  durch  den  Feldzug  in  Frankreich  bedingten 
halbjährigen  Unterbrechung,  glückliche  Jahre  fleißiger  Studien  und 
eigener  Untersuchungen,  erfrischender  Lehrarbeit  und  Hilfeleistung 
bei  Gegenbaurs  Unterricht  und  Forschungen.  Die  persönlichen  Be- 
ziehungen zu  Haeckel  wurden  weiter  gepflegt,  und  viele  erhebende 
Stunden  verdanke  ich  ihm  und  seinen  Freunden. 

Gegenbaur  übernahm  im  Herbste  1873  die  anatomische  Professur 
und  Direktorstelle  in  Heidelberg,  und  ich  folgte  ihm,  nach  Absolvie- 
rung meiner  ärztlichen  Approbationsprüfung  und  meines  medizini- 
schen Doktorexamens,  Ostern  1874  dorthin.  Im  Jahre  1879  wurde  ich 
Ordinarius  der  Anatomie  an  der  vergrößerten  Amsterdamer  Universi- 
tät und  hatte  da  das  Glück,  Gegenbaurs  und  Haeckels  Lehren  mit 
Erfolg  zu  verbreiten  und  auch  sonst  in  ihrem  Sinne  zu  wirken. 

Im  Herbste  1888  führte  mich  die  Berufung  als  Oskar  Hertwigs 
Nachfolger  auf  den  Lehrstuhl  der  Anatomie  wieder  nach  Jena  und 
an  Haeckels  Seite.  Hier  verlief  die  glücklichste  und  arbeitsreichste 
Zeit  meines  Lebens.  Mit  Ernst  Haeckel  verband  mich  treueste  Kolle- 
gialität und  Einheit  im  Arbeiten  und  Streben.  Er,  der  viel  Größere 
und  weiter  Angelegte,  mit  dem  unbegrenzten  Streben,  die  Güter 
seines  Wissens  und  Glaubens  womöglich  Jedermann  anzuvertrauen, 
ein  Held  der  Wissenschaft  und  zugleich  ein  Künstler,  Prophet  und 
Religionsstifter ;  ich,  geschult  in  der  Herbheit  Gegenbaurschen  Geistes 
und  Gegenbaurscher  Methode,  im  begrenzten  Gebiete  meiner  Wissen- 
schaft konzentriert,  mehr  in  die  Tiefe  als  in  die  Weite  strebend  und 
womöglich  vor  jeder  Berührung  mit  der  Außenwelt  und  der  profanen 
Menge  ferner  stehender  Geister  scheu  zurückweichend.  Aber  in  dem 
Großen  und  Ewigen  fanden  wir  uns  immer. 

Die  Stadt  Jena  war  damals  gegenüber  meiner  Studienzeit  auf 
das  Doppelte  angewachsen,  zu  ihrem  Segen  aber  immer  noch  ein 
kleines  Städtchen,  ein  „akademisches  Dorf",  wie  es  von  uns  mit  Vor- 
liebe genannt  wurde,  geblieben.  Die  klassischen  Zeiten  der  Universität, 
als  unter  Großherzog  Karl  August  und  unter  Goethes  Curatorium 
Schiller,  Wilhelm  von  Humboldt,  Fichte,  Schelling,  Hegel,  Oken  u. 
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v.  A.  hier  tätig  waren,  wo  die  Kantische  Philosophie  zur  ersten  Aner- 
kennung und  Verbreitung  gelangte,  wo  Jenas  Geisteshauch  befreiend 
und  erhebend  die  Welt  durchdrang,  bildeten  die  große  Tradition  und 
Resonanz.  Ein  neues  Geschlecht  bedeutender,  freidenkender  Männer 
war  ihnen  in  den  verschiedensten  Gebieten  der  Wissenschaften  ge- 
folgt. Haeckel  war  der  hervorragendste  unter  ihnen,  seine  macht- 
volle Persönlichkeit  und  sein  hohes  Ansehen  unter  den  Zeitgenossen, 
sein  Weltruf  gab  der  Universität  ihr  besonderes  naturwissenschaft- 
liches Gepräge;  Jena  stand  unter  seinem  Zeichen. 

Wie  hervortretend  er  aber  auch  war,  da  zeigte  sich  nichts  von 
jenem  prof essoralen  Hochmut,  jenem  anspruchsvollen  geheimrät- 
lichen  Wesen,  welches  so  oft  als  üble  Zutat  bei  großen  und  kleinen 
Gelehrten  als  Zeichen  des  beginnenden  Alters  in  Erscheinung  tritt. 
Bei  Haeckel  gab  es  kein  Altern.  Er  war  ja  bekannt  als  scharfer  und 
nicht  selten  recht  derb  losschlagender  Polemiker,  mitunter  selbst 
mit  einem  fast  religiös-unduldsamen  Einschlage,  wenn  es  den  Kampf 
für  den  Monismus  und  gegen  orthodoxe  Überhebung  und  Engherzig- 
keit und  gegen  niedrige  Kampfesmittel  galt.  Persönlich  war  er  aber 
der  bezaubernde  Jüngling  wie  vor  25  Jahren  geblieben,  sozusagen  der 
Jüngste  unter  uns,  und  zugleich  der  reine,  einfache  Mann  von  fast 
spartanischer  Lebensführung.  , , Höchstes  Glück  der  Erdengüter  ist  doch 
die  Persönlichkeit."  Der  Sonnenglanz  seiner  Persönlichkeit  verklärte 
alles  um  ihn.  Im  alten  Griechenland  wäre  er  zum  Sonnengotte  erhoben 
worden.  Das  wäre  jedoch  nicht  nach  seinem  Sinne  gewesen ;  wohl  aber 
freute  es  ihn,  als  in  einer  launigen  Tischrede  einer  seiner  Freunde  (Th. 
W.  Engelmann)  ihn  Heliozoon,  Sonnentierchen  nannte  und  zu  der  so  be- 
zeichneten Abteilung  der  Urtiere  in  Parallele  brachte.  Obwohl  ein  beson- 
ders begnadeter  Mensch,  wollte  er  doch  nicht  über  die  Tierwelt  erhoben 
sein,  und  es  machte  ihm  besonderen  Spaß,  daß  er  gerade  mit  so  tief- 
stehenden Vertretern  derselben  verglichen  wurde.  Mit  seinen  Kollegen 
in  den  Naturwissenschaften  und  den  propädeutischen  medizinischen 
Fächern  hatte  er  sogenannte  Referierabende  gegründet,  die  aller  vier 
Wochen  bei  den  Kollegen  umgingen  und  in  welchen  mit  großem  Fleiße 
mehrere  Stunden  lang  über  alle  neuen  wichtigeren  naturwissenschaft- 
lichen Erscheinungen  referiert  und  debattiert  wurde;  ein  ganz  ein- 
faches, früh  endigendes  Abendessen  unter  dem  Vorsitze  der  Hausfrau 

beschloß  diese  ebenso  lehrreichen  wie  angenehmen  Abende.  Wöchent- 
1 


22" 


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lieh  traf  er  sich  auch  im  Sommersemester  mit  seinen  Freunden  und 
Getreuen  und  deren  Frauen  und  erwachsenen  Kindern  zu  zwanglosen 
Zusammenkünften  auf  der  „Schweizerhöhe"  und  dem  „Forste",  zwei 
anmutig  auf  Jenas  Bergen  gelegenen  und  eine  reizvolle  Aussicht  dar- 
bietenden einfachen  Wirtschaften,  zu  welchen  wir  meist  auf  stunden- 
langen, eifrig  botanisierenden  Spaziergängen  in  Jenas  blumenreichen 
Höhen  und  Wäldern  gelangten.  Den  von  unten  Kommenden  ver- 
kündete sein  fröhliches,  herzliches  Lachen  schon  von  weitem,  daß  er 
bereits  oben  eingetroffen  war.  Und  auf  den  Umwegen  nach  Forst  und 
Schweizerhöhe  erwies  er  sich  als  großer  Botaniker  und  Spezialist  der 
Jenaischen  Flora,  der  manchen  verborgenen  Standort  seltener  Orchi- 
deen und  anderer  Raritäten  nur  den  nächsten  Freunden  offenbarte, 
nicht  minder  auch  als  mächtiger  Felsenschleuderer  und  Wegever- 
besserer,  namentlich  auf  der  Höhe  über  dem  Münchenröder  Grunde, 
wo  er  die  von  den  dortigen  Böschungen  auf  den  Weg  herabgestürzten 
Felsblöcke  mit  den  Freunden  um  die  Wette  mit  gewaltiger  Faust  in 
die  Tiefe  des  Abgrundes  hinabschleuderte. 

Ein  besonders  lieber  Platz  war  ihm  auch  die  „Ammerbacher  Platte", 
ein  hoch  und  steil  über  dem  Dörfchen  Ammerbach  sich  erhebender 
Aussichtspunkt  mit  weitem,  umfassendem  Ausblicke  auf  die  liebliche 
und  zugleich  charaktervolle  Umgegend.  An  diesen  von  ihm  ent- 
deckten Platz  führte  er  auch  die  näheren  Kollegen  und  Freunde  mit 
verbundenen  Augen  und  nahm  ihnen  die  Binden  erst  ab,  wenn  man 
an  der  schönsten  Stelle  angelangt  war.  Herzog  der  Ammerbacher 
Platte  zu  sein,  und  daß  dereinst  seine  Asche  von  deren  Höhe  in  die 
Lüfte  verstreut  werde,  war  ein  gern  von  ihm  geäußeiter  Wunsch. 

Bei  diesen  Spaziergängen  und  abendlichen  Zusammenkünften  gab 
es  keine  Rangstufen;  der  älteste  Professor  und  der  jüngste  Assistent 
standen  sich  gleich.  Welche  Ausgelassenheit  herrschte  da,  welches 
Sprudeln  und  Sprühen  der  Gedanken!  Jenaer  Genius  loci.  Sang  doch 
schon  Goethe:  Freitag  gehts  nach  Jena  fort,  denn  das  ist  bei  meiner 
Ehre  doch  ein  allerliebster  Ort;  —  Weimar,  Jena,  da  ist's  gut!  An 
diesen  Abenden  wurden  Schweizerhöhe  und  Forst  von  vielen  Fremden 
besucht,  die  sich  versammelten,  um  Haeckel  und  das  verrückte  Völk- 
lein um  ihn  zu  sehen.  Und  wie  luxuriös  wurde  da  gelebt!  Eine  Rost- 
bratwurst, wenn  es  hoch  kam,  ein  Rostbrätchen,  und  als  einmal  die 
Frau  eines  eben  nach  Jena  berufenen  Kollegen  sich  in  Unkenntnis  der 

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Jenaer  Sitten  nach  der  Rostbratwurst  noch  einen  „Truthahn",  d.  i. 
eine  Portion  Butter  und  Käse  bestellte,  da  wurde  sie  als  der  Gipfel- 
punkt sybaritischer  Üppigkeit  angestaunt.  Die  Verlobung  der  Tochter 
eines  Kollegen  wurde  „Im  grünen  Baum  zur  Nachtigall",  so  anmutig 
hieß  das  Gasthaus  eines  anderen  kleinen  Dörfchens,  Kospeda,  auf  den 
Höhen  um  Jena  mit  frischer  Blut-  und  Leberwurst  und  mit  Lichten- 
hainer  Bier,  jenem  berühmten  oder  berüchtigten,  fürchterlichen,  aber 
erfrischenden  und  „mit  Musik"  (einem  Zusätze  von  geriebenem  Brot, 
Zucker  und  Korinthen)  eben  erträglichen  Getränke,  gefeiert,  und  bei 
dem  Brauen  einer  für  den  Schluß  vorbehaltenen  Bowle,  der  Freund 
Wilhelm  Müller  mit  seinem  Cumarin  den  üblichen  Glanz  verlieh  und 
zu  welcher  ein  Kollegenpaar  als  besondere  Feierlichkeit  eine  neue 
Essenz  mitgebracht  hatte,  wurde  diese  vollständig  vergessen;  erst 
beim  Heimweg,  zu  spät,  erinnerten  wir  uns  mit  Lachen  an  die  löb- 
liche, nun  unausgeführt  gebliebene  Absicht.  In  dieser  Einfachheit  des 
damaligen  Jenas,  auf  die  Haeckel  mit  großer  Sorgfalt  hielt,  lag  ein 
großer  Reiz.  Später,  als  er  sich  mit  den  Jahren  mehr  zurückzog,  kam 
auch  hier  leider,  leider  eine  reichlichere  Lebensführung  wie  ander- 
wärts auf,  und  damit  ging  Jena  ein  besonderer  Zauber  verloren. 

Während  dieser  ganzen  Zeit  erhielt  der  einfach  lebende  Mann 
eine  Fülle  von  Ehrungen  von  Universitäten  und  Akademien,  Ehren- 
doktorate und  Ehrenmitgliedschaften,  dazu  eine  ungezählte  Menge  von 
Beweisen  der  Liebe,  Verehrung  und  Dankbarkeit  aus  weitesten  Krei- 
sen der  Bevölkerung,  zu  denen  er  durch  seine  mehr  populären  Schriften 
in  nähere  Beziehung  getreten  war  und  denen  er  Licht  und  Aufklärung 
gebracht  hatte. 

Nur  einer  Ehrung  will  ich  hier  noch  kurz  gedenken.  Sie  kam  1890 
aus  Amsterdam,  der  Stadt,  wo  Swammerdam  gelebt  hatte,  und  wo  der 
große  Swammerdam-Preis  an  Haeckel  vergeben  wurde,  —  von  dem 
großen  holländischen  Naturforscher,  der  vor  200  Jahren  seine  „Bibel 
der  Natur"  geschrieben,  an  den  umfassenderen  deutschen  Natur- 
forscher, der  in  seiner  Generellen  Morphologie  eine  noch  höhere  Bibel 
der  Natur  der  Menschheit  geschenkt.  Wir,  meine  Frau  und  ich,  die 
wir  9  Jahre  lang  in  Amsterdam  gelebt,  begleiteten  ihn,  als  er  dort- 
hin reiste,  um  auf  besondere  Einladung  hin  den  Preis  persönlich  in 
Empfang  zu  nehmen,  und  wir  wurden  Zeugen  und  Teilnehmer  an 
den  Ehrungen,  welche  ihm  Stadt  und  Universität  und  zahlreiche 

341 


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nach  Amsterdam  geeilte  holländische  Gelehrte  und  gelehrte  Gesell- 
schaften erwiesen,  und  wir  saßen  mit  dem  Amsterdamer  Bürger- 
meister und  Rektor,  den  befreundeten  Kollegen  und  den  vielen  Hun- 
derten von  Studenten  zu  seinen  Füßen,  als  er  in  der  großen  Aula  seine 
Ehrenvorlesung  hielt.  Ich  kannte  die  Holländer  nach  ausreichender 
Erfahrung  als  eine  warmblütige,  aber  immer  das  Deftige,  die  vor- 
nehme Würde  und  gleichmäßige  Ruhe  in  der  Lebensführung  wahrende 
und  darum  dem  Ausländer  leicht  als  kalt  und  phlegmatisch  erschei- 
nende Nation.  Einen  solchen  Enthusiasmus,  wie  er  bei  dieser  Gelegen- 
heit und  bei  der  Überreichung  der  Medaille  ausbrach,  hätte  ich  aber 
meinen  Holländern  niemals  zugetraut.  Die  Haeckelsche  Leuchte 
hatte  hier  einen  gewaltigen  Brand  angezündet  und  seine  sonnige 
Persönlichkeit  schien  selbst  das  nebelreiche  holländische  Klima  zu 
besiegen. 

Was  waren  das  glückliche  Zeiten  in  Jena,  als  mich  des  Schicksals 
Hand  noch  nicht  hart  angepackt  hatte,  und  welche  himmlische  Ruhe 
für  die  eigenen  Untersuchungen! 

Ich  bin  später,  dem  dringenden  Wunsche  meines  großen  Lehrers 
Gegenbaur  folgend,  nach  Heidelberg  übergesiedelt,  als  sein  Nach- 
folger. Meiner  Natur  nach,  als  Canis  familiaris,  mußte  ich  das  tun. 
Ich  habe  dort  einen  größeren  Wirkungskreis  und  auch  sonst  viel  gutes 
gefunden,  —  glücklichere  Verhältnisse  und  solche  Muße  zur  produk- 
tiven Arbeit  wie  in  Jena  nicht.  Haeckel  ist  immer  in  Jena  geblieben, 
als  echte  Felis  domestica,  und  er  hat  damit  vielleicht  das  bessere  Teil 
erwählt.  Auch  Gegenbaur  hat  von  Jena  gesagt:  Es  war  in  jeder  Hin- 
sicht meine  hohe  Schule. 


Nun  aber  das  schönste  und  größte  Wunder,  das  meine  Frau  und 
ich  von  Jena  aus  und  in  Jena  mit  Haeckel,  durch  ihn,  erleben  durften. 

In  jedes  Mitlebenden  Gedächtnis  ist  mit  un verlöschbaren  Lettern 
eingegraben,  wie  Fürst  Bismarckim  Jahre  1892  entlassen  und  auf 
seiner  Reise  zur  Hochzeit  seines  ältesten  Sohnes  nach  Wien  durch 
Schreiben  seines  unfähigen  Nachfolgers,  einer  der  traurigsten  Er- 
scheinungen in  Deutschlands  Geschichte,  bei  den  in  Betracht  kom- 
menden Gesandtschaften  und  Höfen  geächtet  wurde.  Der  größte 
Deutsche  und  Held  seiner  Zeit,  der  Mann,  der  mehr  Gehirn  und  mehr 
schöpferische  Tatkraft  hatte  als  sämtliche  Regierende  und  Staats- 

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männer  seiner  Zeit,  der  in  endlicher  Erfüllung  von  jahrhundertelan- 
gem Sehnen,  aber  unter  anfänglichem  Widerstreben  seines  Königs  ein 
mächtiges  Deutschland,  ein  Deutsches  Reich  von  Bismarcks  Gnaden 
geschaffen,  war  zudem  als  Handlanger  seines  Herrn  bezeichnet  worden. 
Die  Vertreter  des  deutschen  Volkes,  Reichstag  und  Abgeordnetenhaus, 
hatten  nicht  den  Mut  und  den  kategorischen  Imperativ  gefunden,  gegen 
das  Geschehene  zu  protestieren;  eine  jämmerliche  Presse  hatte  sich  an 
der  Hetze  gegen  ihn  beteiligt.  Es  ist  das  schwärzeste  Blatt  in  Deutsch- 
lands Geschichte;  es  erzählt  von  einer  Undankbarkeit  und  Untreue, 
wie  sie  zuvor  im  Lande  der  deutschen  Treue  unbekannt  gewesen.  Ein 
französischer  Schriftsteller  schrieb  damals:  „Nein,  die  Deutschen 
sind  kein  großes  Volk;  das  Pantheon,  das  Himmelszelt  wäre  uns 
nicht  hoch  genug,  um  diesen  Mann  hineinzusetzen!"  Längst  hat  die 
Geschichte  darüber  gerichtet,  und  unser  von  einer  elenden  Kama- 
rilla belogener,  übel  beratener  und  mißleiteter  Kaiser  würde  wohl 
viele  Jahre  seines  Lebens  darum  geben,  wenn  er  diese  Tat  ungeschehen 
machen  könnte. 

Da  erhob  sich  das  Volk,  in  Sachsen,  in  Österreich,  in  Süddeutsch- 
land, dann  auch  in  Norddeutschland,  um  seinem  größten  Helden 
seine  Liebe,  Verehrung,  Treue  und  Dankbarkeit  zu  bezeigen.  Ein 
Sturm  der  Entrüstung  und  zugleich  ein  Sturm  des  Jubels  um  Bis- 
marck  durchbrauste  Deutschland.  Das  alles  ist  in  den  Annalen  der 
Geschichte  aufbewahrt. 

Auch  in  Jena  flammte  es  auf,  in  der  Universität,  in  der  Bürger- 
schaft. Haeckel  war  das  treibende  Element.  Jena  mit  seinen  großen 
Erinnerungen  an  Luther,  Goethe,  Schiller  und  Fichte,  mit  seinen 
Kämpfen  für  die  geistige  Befreiung  und  Veredelung  der  Menschheit 
und  mit  seinen  zuerst  in  der  Jenenser  Burschenschaft  gepflegten  und 
von  da  aus  in  alle  deutsche  Universitäten  verbreiteten  Idealen  für 
Deutschlands  Einigung  galt  ihm,  wie  klein  es  auch  unter  den  Städten 
Deutschlands  war,  doch  als  das  Herz  unseres  Vaterlandes,  nach 
geographischer  Lage  und  nach  geschichtlicher  Überlieferung.  War 
es  denn  gar  so  vermessen,  zum  Fürsten  nach  Kissingen  zu  gehen  und 
ihn  einzuladen,  auf  der  Rückreise  nach  seiner  Heimat  Jena  und  seiner 
Universität  die  Ehre  seines  Besuches  zu  schenken?  Dieser  Besuch 
sollte  zugleich  eine  Art  Entsühnung  von  dem  unsäglichen  Unglücke 
sein,  das  im  Jahre  1806  mit  der  Schlacht  bei  Jena  über  Deutschland 

343 


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hereingebrochen  war.  Der  Kurator  unserer  Universität,  ein  wohl- 
wollender und  uns  Allen  wohlgesinnter  Mann,  hielt  es  für  seine  Pflicht, 
uns  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  diese  Reise  und  Einladung 
möglicherweise  für  uns  und  die  Universität  verhängnisvolle  Folgen 
haben  könne.  Was  galten  uns  diese,  wo  die  glühende  Dankbarkeit 
und  unser  heißes  Sehnen  gebot!  Für  unseren  Fürsten,  für  die  Be- 
kundung unserer  Treue,  Verehrung  und  Dankbarkeit  wären  wir  auch 
in  den  Tod  gegangen. 

In  schnell  zusammenberufenen  Sitzungen,  wie  im  Rausche,  wurde 
die  Anfrage  in  Kissingen  beschlossen  und  zugleich  eine  Deputation 
gewählt,  welcher  von  selten  der  Universität  die  Professoren  Haeckel, 
Geizer  und  ich,  von  Seiten  der  Stadt  Bürgermeister  Singer,  Gemeinde- 
vorstand Köhler  und  der  Vorsitzende  des  Kriegervereins,  Walter, 
Ritter  des  Eisernen  Kreuzes,  angehören  sollten.  Und  das  Wunder  ge- 
schah. Fürst  Bismarck  nahm  unseren  Besuch  an  und  lud  uns  durch 
ein  Telegramm  seines  Sekretärs  Chrysander  auf  den  10.  Juli  ein.  Auch 
meine  Frau,  die  aus  einer  um  den  Gedanken  der  Einigung  Deutsch- 
lands wohlverdienten  Famüie  stammte  und  von  einer  der  Anbetung 
gleich  kommenden  Verehrung  für  den  Fürsten  erfüllt  war,  nahm  die 
gute  Gelegenheit  wahr,  ihren  heißen  Wunsch,  ihn  endlich  von  Person 
zu  sehen,  zu  erfüllen.  Haeckel  und  wir  Beiden  reisten  am  9.  Juli 
vormittags  nach  Kissingen,  nach  alter  Jenenser  Art  3.  Klasse,  diese 
aber  auf  der  Station  vor  Kissingen  mit  der  2.  Klasse  vertauschend; 
dem  großen  Zwecke  und  der  Weihe  des  Ortes  entsprechend  mußte 
unsere  Ankunft  in  Kissingen  in  denkbar  vornehmster  Weise  erfolgen, 
höheres  als  die  zweite  Klasse  gab  es  für  Jenaer  Professoren  nicht! 
Mit  einem  späteren  Zuge  kamen  die  anderen  Mitglieder  der  Deputation 
an ;  aus  freier  Initiative  stießen  noch  zu  uns  unsere  Kollegen  Stintzing 
und  Kluge  und  unser  Jenaer  Diakonus  Dr.  Kind.  Zuvor  war  Haeckel 
mit  mir  zur  oberen  Saline,  der  Residenz  des  Fürsten  gegangen,  um 
mit  dessen  Leibarzte  Professor  Dr.  Schweninger  und  dessen  Sekretär 
Dr.  Rudolf  Chrysander  das  Genauere  über  den  morgenden  Empfang  zu 
vereinbaren;  Beide  erschienen  uns  als  Huld  spendende  Götter  durch 
ihre  große  Liebenswürdigkeit  und  ihr  überaus  gütiges  Entgegenkom- 
men. Meiner  Frau  wurde  gestattet,  dem  Fürsten  und  der  Fürstin 
Blumen  zu  überreichen.  Als  ich  zu  ihr  kam,  erzählte  sie  mir  mit 
Tränen  in  den  Augen,  sie  habe  soeben  den  Fürsten,  von  der  Menge 
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um  jubelt,  gesehen,  nun  sei  ihr  höchstes  Sehnen  erfüllt.   Ihre  Gefühle 
bei  meiner  Mitteilung  zu  schildern,  ist  unnötig. 

Am  nächsten  Mittag  fuhren  wir  Alle  zur  Saline  und  wurden  von 
Prof.  Schweninger  und  Chrysander  empfangen.  Bald  traten  der 
Fürst  und  die  Fürstin  mit  einigen  begrüßenden  Worten  in  das  Zimmer. 
Aus  oft  gelesenen  Schilderungen,  auch  als  Zuschauer  im  Abgeordneten- 
haus und  im  Reichstag  hatten  wir  uns  eine  Vorstellung  von  des  Für- 
sten imposanter  Persönlichkeit  gebildet.  Aber  so  nahe  uns  gegenüber 
erschien  er  uns  viel  größer  und  gewaltiger,  über  jeden  Begriff  er- 
haben. 

Zuerst  sprach  Jenas  Bürgermeister,  dann  Haeckel.  Seine  An- 
sprache kennzeichnet  den  ganzen  Mann,  darum  sei  sie  hier  wieder- 
gegeben.   Er  sagte: 

„Durchlauchtigster  Fürst!    Durchlauchtigste  Fürstin! 

Der  herzlichen  Einladung,  welche  unser  Bürgermeister  an  Euer 
Durchlaucht  gerichtet  hat,  erlaube  ich  mir,  als  eines  der  ältesten 
Mitglieder  unserer  Thüringer  Landes-Universität,  einige  Worte  hin- 
zuzufügen. Jena  gehört  zu  jenen  kleinen  deutschen  Universitäten, 
deren  hohe  Bedeutung  für  die  Entfaltung  des  freien  Geisteslebens 
Sie  schon  wiederholt  und  erst  kürzlich  hervorgehoben  haben.  Daraus 
schöpfen  wir  den  Mut,  Sie  zum  Besuche  unserer  stillen  und  kleinen, 
aber  geistig  lebendigen  Musenstadt  einzuladen.  Jena  liegt  mitten 
im  Herzen  von  Deutschland,  und  mit  der  ganzen  Wärme  des  deut- 
schen Herzens  haben  wir  hier  jene  glänzendste  Periode  der  deutschen 
Geschichte  durchlebt,  welche  der  unvergleichliche  staatsmännische 
Geist  des  Fürsten  Bismarck  seit  einem  Menschenalter  geschaffen  hat. 
Wenn  wir  Euer  Durchlaucht  bitten,  uns  auf  Ihrer  Rückreise  die  Ehre 
Ihres  Besuches  zu  schenken  und  einen  Tag  in  unserem  idyllischen 
Saaletale  zu  verweilen,  so  wollen  wir  damit  nur  unseren  Gefühlen 
der  höchsten  Bewunderung  und  der  wärmsten  Dankbarkeit 
Ausdruck  geben.  Besonderes  Bedürfnis  ist  uns  dies  in  einem  Zeit- 
punkte, in  welchem  leider  ein  großer  Teil  der  deutschen  Presse  sich 
bemüht,  die  nationalen  Verdienste  und  die  patriotische  Persönlich- 
keit Eurer  Durchlaucht  in  den  Staub  zu  ziehen.  Es  würde  uns  ein 
beglückender  Gedanke  sein,  in  demselben  „Gasthof  zum  schwarzen 
Bären",  in  welchem  Martin  Luther  einst  mit  Jenenser  Studenten 
verkehrte,  auch  den  genialen  Begründer  des  Deutschen  Reiches  als 

345 


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lieben  Gast  zu  bewirten.  Wir  erfüllen  damit  einfach  die  Pflicht 
der  nationalen  Dankbarkeit.  Für  uns  ist  allezeit  Fürst  Bismarck 
der  unsterbliche  Nationalheld,  welcher  unter  Überwindung  der  größ- 
ten Schwierigkeiten  der  deutschen  Nation  die  lebensfähige  Form  ge- 
geben und  das  neue  deutsche  Kaisertum  geschaffen  hat.  Bei  diesem 
Gedanken  steigt  neben  Euer  Durchlaucht  das  edle  Heldenbild  Wil- 
helms I.  vor  uns  auf,  des  allgeliebten  ersten  Hohenzollern-Kaisers, 
der  die  größten  Erfolge  mit  der  liebenswürdigsten  Bescheidenheit 
und  die  reichste  Erfahrung  mit  der  unermüdlichsten  Pflichttreue  ver- 
band. Wie  Kaiser  Wilhelm  I.  einst  das  Wort  „Niemals"  unter  Ihr 
Entlassungsgesuch  schrieb,  so  antwortet  der  beste  Teil  des  deutschen 
Volkes  mit  „Niemals"  auf  die  Frage,  ob  die  unsterblichen  Ver- 
dienste des  ersten  deutschen  Reichskanzlers  um  die  Wiedergeburt 
unseres  Vaterlandes  je  vergessen  werden  können. 

Die  Universität  Jena  hat  aber  noch  eine  besondere  Veranlassung, 
den  Besuch  Ew.  Durchlaucht  zu  erbitten.  In  dem  Sagenkranze, 
welchen  die  deutsche  Volkspoesie  schon  bei  Lebzeiten  um  das  Haupt 
ihres  Altreichskanzlers  flicht,  findet  sich  auch  die  Erzählung,  daß  Sie 
einst  als  Göttinger  Student  Jena  besucht  haben,  aber  wegen  einer 
Mensur  aus  unserer  Stadt  ausgewiesen  seien.  Sollte  diese  Angabe 
wahr  sein,  so  müßte  die  Universität  Jena  jetzt  doppelt  wünschen, 
jene  Ausweisung  zu  sühnen,  und  Sie  in  unsere  Stadt  zurückzuführen. 
Wie  stolz  würden  wir  sein,  wenn  Sie  damals  in  Jena  geblieben  wären, 
und  Ihr  Name  das  Album  unserer  akademischen  Bürger  zierte!  Wir 
dürfen  aber  zugleich  versprechen,  daß  das  ganze  Thüringer  Land 
die  Gelegenheit  Ihres  Besuches  ergreifen  wird,  um  Sie  durch  den 
Ausdruck  der  aufrichtigsten  Verehrung  und  der  herzlichsten  Dank- 
barkeit zu  erfreuen." 

Den  Fürsten  während  der  beiden  Ansprachen  zu  sehen,  war  ein 
hoher  Genuß.  Als  er  mit  seinen  buschigen  Augenbrauen  über  den 
gewaltigen  Augen  zuckte,  duckten  wir  unwillkürlich;  einen  solchen 
Eindruck  mag  der  donnernde  Zeus  erweckt  haben.  Und  wenn  er  dann 
bei  dieser  oder  jener  Stelle  lächelte  und  damit  seinem  Einverständnis 
Ausdruck  gab,  wie  gütig,  wie  übermenschlich  gütig  waren  da  seine 
Züge!  Da  ging  uns  erst  ein  Ahnen  auf,  wie  groß,  wie  unendlich  groß 
der  Mensch  in  seinem  höchsten  Gipfel  sein  kann. 

Und  dann  antwortete  er.  Seine  Rede  ist  bekannt  und  allenthalben 
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346 


gedruckt.  Da  wurde  kein  wichtiges  Moment  aus  Jenas,  aus  Weimars, 
aus  Thüringens  Geschichte  vergessen,  auch  der  Wartburg  und  der 
Burschenschaft  mit  ihren  edlen,  wenn  auch  verfrühten  Bestrebungen 
wurde  gedacht,  und  die  hohe  Bedeutung  von  Weimars  und  Jenas 
Literatur  und  Kultur  als  damaliges  einziges  Band  nationaler  Einig- 
keit hervorgehoben.  Das  alles  in  den  großartigsten  Zügen.  Glücklich 
Diejenigen,  die  dabei  zugleich  Zuhörer  und  Zuschauer  sein  durften. 
Auf  die  Einladung  nach  Jena  kam  er  mit  sichtbarer  Freude  zurück; 
eine  endgültige  Entscheidung  sei  aber  erst  nach  Überlegung  mit  seiner 
Frau  und  seinem  Arzte  möglich. 

Meine  Frau  durfte  dann  dem  Fürsten  und  der  Fürstin  unsere 
Sträuße  unter  Handkuß  überreichen,  den  aber  der  Fürst  ablehnte, 
indem  er  sie  auf  die  Wange  küßte,  und  dann  ging  es  zum  Frühstück, 
der  Fürst  meine  Frau  führend,  die  Fürstin  von  Bürgermeister  Singer 
geführt,  Haeckel  mit  Schweninger,  dann  aber  zwischen  Fürst  und 
Fürstin  sitzend.  Die  Unterhaltung  an  der  Tafel  war  die  denkbar 
reichste;  da  war  keine  Kenntnis  in  Geographie  und  Geschichte,  in 
Kunst  und  Wissenschaft,  selbst  in  den  Details  der  klassischen  Philo- 
logie, wo  der  Fürst  nicht  genauesten  Bescheid  wußte,  und  mit  Jedem 
von  uns  gewann  er  Fühlung,  als  genialer  Seelenleser  sofort  eines 
Jeden  innerste  Empfindungen  und  Neigungen  erkennend. 

Auf  unseren  Großherzog  Karl  Alexander  hielt  er  beim  ersten  Glase 
Schaumwein  in  dankbaren  und  bewegten  Worten  eine  feierliche  Tisch- 
rede, und  begeistert  stießen  wir  auf  unseren  gütigen  und  geliebten 
Landesherrn  aus  Johann  Friedrichs  des  Großmütigen  und  Karl 
Augusts  Geschlechte  an. 

Die  Fürstin,  die  echte  deutsche  Frau,  treu  besorgt  um  das  Wohl 
ihres  Gatten,  von  hoher  Bildung,  feinstem  Verständnis  und  bezau- 
bernder Liebenswürdigkeit  gegen  uns.  Und  Professor  Schweninger 
und  Chrysander,  prachtvolle  Menschen;  wie  beglückte  es  uns,  daß 
solchen  Männern  des  Fürsten  leibliches  Wohl  und  die  Hilfeleistung 
bei  seinen  Arbeiten  anvertraut  war!  Und  hier  wurde  auch  das  Kom- 
men nach  Jena  beschlossen! 

Gegen  Ende  der  Tafel  kam  eine  eigens  zum  Fürsten  gereiste 
Zigeunerkapelle,  ihn  mit  ihren  feurigen  Klängen  zu  erfreuen,  und 
dann  erscholl  brausender,  mächtiger,  endloser  Jubel  aus  dem  an  das 
Gebäude  grenzenden  Hofgarten.    Die  700  Württemberger  und  zahl- 

347 


: 


reiche  Deutsche  aus  anderen  Gauen  waren  erschienen,  mit  ihren 
Frauen  an  die  Tausend,  um  dem  Fürsten  zu  huldigen.  Sofort  ging  er, 
von  Schweninger  und  Chrysander  begleitet,  in  den  Garten,  über  eine 
Stunde  unbedeckten  Hauptes  in  der  heißen  Mittagssonne  stehend, 
der  77 jährige  Mann,  Reden  auf  Reden  anhörend  und  immer  wieder 
beantwortend,  darunter  jene  herrlichen  Worte  auf  die  deutschen 
Frauen,  ungezählte  Händedrücke  und  Beweise  glühendster  Liebe  und 
Verehrung  empfangend.  Wir  durften  zuhören  und  zuschauen,  und 
die  schwere  Last  wälzte  sich  von  unserer  Seele;  ein  Gefühl  von  Er- 
lösung überkam  uns.  Auch  Haeckel  griff  ein,  indem  er  seiner  Begei- 
sterung Ausdruck  gab,  daß  Süddeutsche  und  Norddeutsche  sich  hier 
gefunden  und  sich  die  Hände  gereicht,  und  indem  er  alle  Anwesenden 
aufforderte,  unserem  deutschen  Vaterlande  und  dem  Fürsten  Bismarck, 
dessen  größtem  Nationalheros,  Treue  zu  schwören.  Bei  dem  aufs 
neue  ausbrechenden  Jubel  erfaßte  den  Fürsten  die  tiefste  Rührung. 
„Ich  bin  überzeugt,"  erwiderte  er,  „daß  nach  dem  Wunsche  des  Herrn 
Vorredners  hinter  mir  das  Deutsche  Reich  unbewegt  und  unentwegt 
seinen  Weg  fortsetzen  wird,  so  wie  es  ihn  begonnen  hat,  denn  die  Ein- 
drücke der  Befriedigung  über  seine  Herstellung,  die  Geleise,  in  denen 
es  seit  20  Jahren  geleitet  worden  ist,  sind  zu  tief  geworden,  als  daß 
sie  der  Reichswagen  je  wieder  verlassen  könnte.  Das  Gesamtergebnis 
unseres  Siebziger  Krieges  und  unseres  ganzen  Weges  durch  die  Wüste, 
den  wir  vorher  geführt  worden  sind,  wird  uns  keine  Macht  wieder 
entreißen."  Und  dann  wandte  er  sich  um,  umarmte  und  küßte  Haeckel, 
er,  der  auf  das  Evangelium  eingeschworene  Dualist,  den  Monisten 
Haeckel.  Wo  sich  die  Menschheit  auf  ihren  höchsten  Höhen  begegnet, 
wie  geringfügig  werden  da  alle  Unterschiede  der  von  Menschen  ge- 
bildeten und  Menschen  trennenden  Dogmen  und  Konfessionen  und 
verschwinden  vor  dem  Größten,  was  die  Herzen  bewegt  und  zu- 
sammenschlagen läßt! 

Seid  umschlungen  Mülionen !  Diesen  Kuß  der  ganzen  Welt !  Wohl 
Mancher  von  uns  mag  in  der  Schule,  wo  er  den  Hymnus  an  die  Freude 
lernte,  und  auch  nachher  sich  gefragt  haben,  ob  unser  Schiller  da  nicht 
zu  Uberschwängliches  gesungen;  später  beim  Anhören  der  9.  Sym- 
phonie ist  ihm  wohl  die  Empfindung  geworden,  es  sei  doch  möglich. 
Hier  in  Kissingen,  als  wir  schieden  und  uns  der  Fürst  „Auf  Wieder- 
sehen!" zurief,  da  erfüllten  sich  unseres  großen  Dichters  glühende, 

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348 


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trunkene  Worte  buchstäblich.  Wir  waren  berauscht.  Es  läßt  sich 
nicht  beschreiben.  Wenn  Schiller  und  Beethoven  das  gesehen  und 
miterlebt  hätten! 

Gegen  4  Uhr  schieden  wir  von  der  Saline,  gingen  wieder  in  das 
Kurhaus  und  versuchten  unsere  Erlebnisse  und  Eindrücke  in  einem 
Berichte  zusammenzufassen.  Es  gelang  nicht;  wir  waren  zu  tief  er- 
griffen. Später  hat  wohl  der  Eine  oder  Andere  von  uns  seine  Gefühle 
zu  Papier  gebracht. 

An  unseren  edlen  Großherzog  sandten  wir  aber  ein  ausführliches 
Telegramm  ab.  Und  diese  spontane  Mitteilung  wurde  huldvoll  an- 
genommen und  sollte  uns  die  Wege  für  den  Empfang  des  Fürsten  in 
Jena  ebnen.  Auch  hier  erwies  sich  unser  Landesherr  und  Rector 
magnificentissimus  vor  so  vielen  Anderen,  welche  die  große  Zeit  klein 
gefunden,  groß,  dankbar  und  treu  gegen  den  Schöpfer  des  Deutschen 
Reiches. 

Abends  um  8  Uhr  fuhren  wir  ab;  die  Abendsonne  schenkte  uns 
ihren  goldenen  Abschiedsgruß.  In  Ritschenhausen,  wo  es  inzwischen 
Nacht  geworden  war,  machten  wir  Station,  unter  wunderlichen  Um- 
ständen, welche  in  Erinnerung  an  die  Kissinger  Stunden  mit  Humor 
ertragen  wurden.  Ursprünglich  hatten  wir  beabsichtigt,  noch  einen 
Tag  auf  den  Höhen  des  Thüringer  Waldes,  in  Oberhof,  zu  verweilen. 
Es  ließ  uns  aber  keine  Ruhe,  es  trieb  uns  am  nächsten  Morgen  nach 
Hause,  den  Freunden  zu  verkünden:    Er  kommt,  er  kommt! 

Inzwischen  ereigneten  sich  in  Kissingen  jene  großen  nationalen 
Kundgebungen,  wo  Tausende  von  deutschen  Männern  aus  Baden, 
Rheinpfalz,  Hessen,  Thüringen  mit  ihren  Frauen  und  Kindern  zum 
Fürsten  eilten,  ihm  Huldigungen  ohnegleichen  bereiteten  und  das 
Köstlichste  von  ihm  empfingen,  was  Menschen  von  seiner  Größe 
schenken  können. 

Und  dann  kam  er  zu  uns,  mit  seiner  Familie  und  mit  seinen  Ge- 
treuen, und  mit  ihm  kamen  die  großen  Jenaer  Tage  vom  30.  und 
31.  Juli,  die  größten,  die  Jena  jemals  erlebt  hat.  In  das  gleiche  Haus, 
in  welchem  Luther  350  Jahre  zuvor  gewohnt,  in  den  Gasthof  zum 
schwarzen  Bären  zog  jetzt  Fürst  Bismarck  mit  den  Seinen  ein.  Erst 
der  Reformator  ecclesiae,  jetzt  der  Reformator  Germaniae.  Zwei 
eherne  Tafeln  am  Bären  zeigen  an,  welche  beiden  Männer  innerhalb 
seiner  Wände  gewohnt.    Kommt  dazu  noch  Goethe,  dessen  Erinne- 

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349 


rungen  Jena  durchdringen.  Die  drei  größten  Geisteshelden  Deutsch- 
lands in  unserem  Städtchen.    Kleines  und  so  hoch  begnadetes  Jena! 

Es  liegt  mir  fern,  darauf  einzugehen,  welcher  Jubel  die  ganze 
Reise  des  Fürsten  von  Kissingen  nach  Jena  begleitete,  was  in  Jena 
geschah,  welche  guten  und  großen  Worte  da  gewechselt  wurden. 
Das  alles  ist  in  ausführlichen  Schilderungen  niedergelegt  und  für  immer 
in  die  Weltgeschichte  eingetragen.  Auch  habe  ich  den  mir  zur  Ver- 
fügung gestellten  Raum  längst  überschritten.  Unsere  Deputation 
hatte  ihre  Aufgabe  in  Kissingen  erfüllt,  naturgemäß  trat  sie  jetzt, 
abgesehen  von  Jenas  Bürgermeister,  in  der  Öffentlichkeit  mehr  zu- 
rück, aber  auch  hier  ward  Haeckel  zu  originellsten  Kundgebungen 
—  u.  a.  ernannte  er  den  Fürsten  Bismarck  zum  Ehrendoktor  der 
Stammesgeschichte  —  Gelegenheit  gegeben,  und  ich  verlebte  mit  den 
Meinigen  beseligende  Stunden  in  der  Umgebung  des  Fürsten. 

Fortes  fortuna  adjuvat.  Den  Mutigen  gehört  die  Welt.  Hätte 
damals  Ernst  Haeckel  nicht  die  Initiative  ergriffen,  so  hätten  die 
Jenenser  kein  Kissingen  erlebt  und  Jena  nicht  seine  großen  Tage. 
So  verdanken  wieder  ihm  Stadt  und  Universität,  denen  er  immer 
treu  geblieben  und  unvergänglichen  Ruhm  gebracht,  auch  hier  das 
Erhabenste,  was  ihnen  seit  Goethes  Zeiten  zuteil  geworden. 


350 


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WILHELM  KLEINSORGEN,  BERLIN-GRUNEWALD : 
ERNST  HAECKEL;  ALS  ETHIKER 

o  o  o 

Ernst  Haeckel  hat  stets  betont,  daß  ihm  die  Probleme  der  prak- 
tischen Philosophie  nicht  liegen  und  daß  es  ihm  bei  seinen  „Stu- 
dien zur  monistischen  Philosophie"  vor  allem  um  die  Ausbildung  des 
theoretischen  Monismus  zu  tun  gewesen  sei.  Als  ich  mit  Haeckel 
zum  ersten  Male  über  meine  Absicht  sprach,  meine  im  „Freien  Wort" 
1906  veröffentlichte  Skizze  über  „Cellularethik"  ausführlicher  zu 
bearbeiten,  ermunterte  er  mich  sehr  und  erzählte  mir,  daß  er  erst 
kürzlich  wieder  gebeten  worden  sei,  doch  seine  in  den  „Welträtseln" 
nur  kurz  skizzierten  ethischen  Ansichten  einmal  näher  auszuführen; 
er  müsse  es  aber  ablehnen,  diesem  öfter  geäußerten  Verlangen  nach- 
zukommen, da  ihm  diese  Materie  nicht  liege,  und  ich  möchte  mich 
nur  ja  dieser  wichtigen  Aufgabe  unterziehen,  zumal  ein  großes  Be- 
dürfnis dafür  vorliege.  Als  ich  Haeckel  dann  im  Jahre  1910  das  Manu- 
skript der  Cellularethik  überreichte1)  und  ihn  um  Annahme  der  Wid- 
mung bat,  betonte  er  wieder,  wie  lückenhaft  seine  Ausführungen  über 
„Unsere  monistische  Sittenlehre"  seien  und  wie  sehr  er  sich  freue,  daß 
einer  seiner  Schüler  dieses  Gebiet  in  Bearbeitung  genommen  habe. 
Diese  Bescheidenheit  Haeckels  der  eigenen  Leistung  gegenüber  hat 
auf  mich  umso  mehr  Eindruck  gemacht,  als  seine  Behandlung  der 
monistischen  Ethik  keineswegs  die  starken  Vorzüge  der  Haeckelschen 
Erfassung  philosophischer  Probleme  vermissen  läßt.  Ja,  es  reizt  mich 
direkt,  hier  zu  zeigen,  mit  wie  sicherem  Blick  Haeckel  bereits  die 
wichtigsten  Konsequenzen  der  monistischen  Weltanschauung  für  die 
Ethik  gezogen  hat,  und  wie  wenig  vor  allem  die  Theologen  ein  Recht 
haben,  so  hochmütig  auf  den  Ethiker  Haeckel  herabzuschauen.  In 
Wirklichkeit  zeigen  Haeckels  Ausführungen  über  monistische  Ethik 
ein  tieferes  und  feineres  Verständnis  für  wahre  Sittlichkeit,  als  es  die 
kirchenchristliche  Ethik  aufzuweisen  hat. 

Darwins  prophetisches  Wort:  „Meine  Theorie  wird  zu  einer  ganzen 
Phüosophie  führen",  ist  wohl  von  keinem  Jünger  Darwins  mit  solcher 
Energie  und  Klarheit  in  Erfüllung  gesetzt  worden,  wie  durch  Ernst 

1)  191 2  bei  Alfred  Krön  er,  Leipzig,  unter  dem  Titel:  „Cellular-Ethik  als  moderne 
Nachfolge  Christi"  erschienen. 

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351 


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Haeckel.  Daß  die  neue  entwicklungsgeschichtliche  Weltanschauung 
auch  zu  einer  neuen  Ethik  oder,  vielleicht  richtiger,  zu  einer  neuen 
Grundlegung  der  Ethik  führen  mußte,  hat  Haeckel  klar  erkannt. 
Eben  deshalb  hat  er  auch  im  Jahre  1892  der  in  Berlin  neugegründeten 
„Gesellschaft  für  ethische  Kultur"  gegenüber  die  Abhängigkeit 
der  Ethik  von  der  Weltanschauung  betont,  ein  Punkt,  der 
für  die  Auffassung  vom  Wesen  der  Ethik  und  von  der  Stellung  der 
Ethik  im  System  der  Wissenschaften  von  grundlegender  Bedeutung 
ist.  Da  das  ganze  Universum  im  Lichte  des  Entwicklungsgedankens 
ein  zusammenhängendes  Ganze  darstellt,  so  ist  natürlich  für  Haeckel 
die  sittliche  Welt  nur  ein  Teil  der  allesumfassenden  Natur.  Dement- 
sprechend betrachtet  er  die  Ethik  als  Naturwissenschaft  und 
fordert  eine  biologische  resp.  physiologische  und  entwicklungsge- 
schichtliche Begründung  derselben.  Dabei  betont  Haeckel  mit  Recht, 
daß  diese  Auffassung  nicht  zu  einem  Verlust  der  Ideale  führt,  sondern 
im  Gegenteil  dieselben  als  tief  in  der  menschlichen  Natur  begründet 
erweist.  Überhaupt  vertritt  ja  Haeckel,  ähnlich  wie  Goethe  —  ent- 
gegen der  herrschenden  Auffassung  des  Christentums  die  Über- 
zeugung, ,,daß  wahre  Naturerkenntnis  nicht  allein  dem 
grübelnden  Verstände,  sondern  auch  dem  sehnenden 
Gemüte  volle  Befriedigung  und  unversiegliche  Nahrung 
zuführt."  (Der  Monismus  als  Band  zwischen  Religion  und  Natur- 
wissenschaft S.  35.)  „Ihnen,  hochgeehrte  Anwesende,  als  Natur- 
forschern und  Naturfreunden  —  heißt  es  an  einer  anderen  Stelle  dieses 
berühmten  Altenburger  Vortrages  —  brauche  ich  nicht  auseinander 
zu  setzen,  wie  sehr  jedes  tiefere  Eindringen  unseres  Verstandes  in  die 
Erkenntnis  der  Naturgeheimnisse  gleichzeitig  auch  unser  Gemüt  er- 
wärmt, unserer  Phantasie  neue  Nahrung  zuführt  und  unsere  Schön- 
heitsanschauung erweitert.  Um  sich  zu  überzeugen,  wie  eng  alle  diese 
Gebiete  der  edelsten  menschlichen  Geistestätigkeit  zusammenhängen, 
wie  unmittelbar  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  mit  der  Liebe  zum  Guten 
und  der  Verehrung  des  Schönen  verknüpf  t  ist,  genügt  es,  einen  einzigen 
Namen  zu  nennen,  den  größten  deutschen  Genius:  Wolf  gang  Goethe." 
(S.  34).  Wer  diese  Grundüberzeugung  Haeckels  und  auch  Goethes  zu 
würdigen  weiß,  wird  verstehen,  welches  Armutszeugnis  sich  diejenigen 
Gegner  Haeckels  ausstellen,  die  in  einer  naturwissenschaftlichen  Be- 
gründung der  Ethik  eine  Herabwürdigung  des  Sittlichen  erblicken. 
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352 


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Wie  monistische  Ethik  nur  naturalistische  Ethik  sein  kann,  so 
hat  Haeckelmit  aller  nur  wünschenswerten  Konsequenz  auch  den  deter- 
ministischen Charakter  der  monistischen  Ethik  betont  und 
dabei  mit  Recht  auf  das  noch  viel  zu  wenig  beachtete  Beweismaterial  auf- 
merksam gemacht,  das  uns  die  moderne  Vergleichende  Physiologie  und 
Entwicklungsgeschichte  zugunsten  des  Determinismus  liefert. 

Die  positive  Bedeutung  der  modernen  Naturerkenntnis  für  die  Ethik 
demonstriert  Haeckel  durch  die  Begründung  des  menschlichen  Pflicht- 
gefühls auf  die  sozialen  Instinkte,  die  wir  bei  allen  gesellig  lebenden 
höheren  Tieren  finden,  und  deren  Bedeutung  für  die  Ethik  schon  Darwin 
erkannt  hat.  Mit  gutem  Grund  zieht  Haeckel  eine  solche  reale  Be- 
gründung des  Pflichtgebotes  der  Illusion  eines  Kantschen  kate- 
gorischen Imperativs  oder  gar  eines  göttlichen  Gebotes  vor. 

Auch  eine  Entwicklungsgeschichte  des  Sittlichen  wird  von 
Haeckel  versucht.  Anfänge  der  sozialen  Tugenden  findet  er  schon 
bei  den  in  Zellvereinen  lebenden  Einzelligen.  Letzten  Grundes  sind 
auch  die  Sitten  als  erblich  gewordene  Gewohnheiten,  als  Anpassungs- 
formen des  Selbsterhaltungstriebes  der  Organismen  zu  bewerten. 

Das  Fundamentalgebot  der  monistischen  Ethik  sieht  Haeckel 
in  einer  vernunftgemäßen  Gleichberechtigung  des  Selbst-  und 
Arterhaltungstriebes,  wie  sie  ja  auch  in  dem  christlichen  und 
vorchristlichen  Gebot:  „Was  du  willst,  daß  dir  die  Leute  tun  sollen, 
tue  ihnen  auch"  zum  Ausdruck  kommt.  Der  kirchenchristlichen 
Vernachlässigung  des  Selbsterhaltungstriebes  gegenüber  —  in  der 
Haeckel  sehr  richtig  einen  Widerspruch  zum  christlichen  Grund- 
gebote: „Liebe  deinen  Nächsten  wie  dich  selbst"  sieht  —  betont 
Haeckel  den  fundamentalen  ethischen  Wert  der  Selbstliebe: 
„Nichts  Großes,  nichts  Erhabenes  ist  jemals  ohne  Egoismus  geschehen 
und  ohne  die  Leidenschaft,  welche  uns  zu  großen  Opfern  befähigt." 
(Welträtsel,  S.  408).  Auch  in  dieser  hohen  Bewertung  des  Selbst- 
erhaltungstriebes stimmt  Haeckel  durchaus  mit  Goethes  ethischen 
Anschauungen  überein.  Sehr  treffend  weist  übrigens  Haeckel  auf 
den  schneidenden  Widerspruch  zwischen  der  vom  Kirchenchristentum 
empfohlenen  überspannten  altruistischen  Moral  des  einzelnen  Men- 
schen und  der  realen,  rein  egoistischen  Moral  der  christlichen  Kultur- 
staaten hin.  „Es  wäre  interessant"  —  bemerkt  er  mit  berechtigtem 
Sarkasmus  —   „mathematisch   festzustellen,    bei  welcher  Zahl  von 

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23     Haeckel-Festschrift.  Bd.  II  353 


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vereinigten  Menschen  das  altruistische  Sittenideal  der  einzelnen 
Person  sich  in  sein  Gegenteil  verwandelt,  in  die  rein  egoistische  .Real- 
politik' der  Staaten  und  Nationen."  (Welträtsel,  S.  409).  So  sehr 
Haeckel  aber  auf  der  einen  Seite  den  Wert  des  Selbsterhaltungstriebes 
hervorhebt,  so  wenig  verkennt  er  andererseits  die  große  Bedeutung 
der  Nächstenliebe:  „Will  der  Mensch  in  geordneter  Gesellschaft 
existieren  und  sich  wohl  befinden,  so  muß  er  nicht  nur  sein  eigenes 
Glück  anstreben,  sondern  auch  dasjenige  der  Gemeinschaft,  der  er 
angehört  und  der  .Nächsten',  die  diesen  sozialen  Verein  bilden.  Er 
muß  erkennen,  daß  ihr  Gedeihen  sein  Gedeihen  ist  und  ihr  Leiden 
sein  Leiden."  (Welträtsel,  S.  404).  Es  ist  ein  entschiedenes  Verdienst 
der  Haeckelschen  Ethik,  daß  sie  nicht  in  die  naheliegende  Einseitigkeit 
einer  rein  selbstsüchtigen  „Kampf-ums-Dasein-Ethik"  verfallen  ist, 
wie  sie  gerade  von  Darwinisten  so  oft  als  ,,darwinistische"  Ethik  ver- 
treten worden  ist,  trotzdem  Darwin  anderer  Meinung  war  und  auch 
Haeckel  von  ihr  geäußert  hat,  sie  befinde  sich  in  einem  „biologischen 
Irrtum".  Mat  hat  nun  aber  gerade  wegen  dieser  Gleichberechtigung 
von  Egoismus  und  Altruismus  der  Haeckelschen  Ethik  oft  vorge- 
worfen, daß  sie  damit  zwei  feindliche,  entgegengesetzte  Prinzipien 
vertrete.  Dieser  Einwurf  ist  wohl  verständlich,  wenn  man  bedenkt, 
wie  verschieden  die  Begriffe  Egoismus  und  Altruismus  von  den  ein- 
zelnen Autoren  ausgelegt  werden;  aber  in  dem  Sinne,  wie  sie  Haeckel 
gebraucht  hat  und  wie  sie  vernunftgemäß  allein  gebraucht  werden 
können,  besteht  kein  Gegensatz  zwischen  Selbstliebe  und 
Nächstenliebe,  denn  mit  vollem  Recht  betont  Haeckel:  „Ebenso 
wie  einerseits  das  Gedeihen  der  Gesellschaft  an  dasjenige  der  Personen 
geknüpft  ist,  die  sie  zusammensetzen,  so  ist  andererseits  die  volle 
Entwicklung  des  individuellen  Menschenwesens  nur  möglich  im  Zu- 
sammenleben mit  seinesgleichen.  Die  Christenmoral  predigt  die  aus- 
schließliche Geltung  des  Altruismus  und  will  dem  Egoismus  keinerlei 
Rechte  zugestehen.  Gerade  umgekehrt  verfährt  die  moderne  Herren- 
moral (von  Max  Stirner,  Friedrich  Nietzsche  u.  a.).  Beide  Extreme 
sind  gleich  falsch  und  widersprechen  in  gleicher  Weise  den  gesunden 
Forderungen  der  sozialen  Natur."    (Welträtsel,  S.  463). 

Zu  den  schönsten  Stellen  der  Haeckelschen  Ethik  gehört  seine 
Auffassung  vom  Mitleid:  „Ich  gehe  von  meiner  persönlichen 
Ansicht  aus,  daß  das  Mitleid  (Sympathie)  nicht  nur  eine  der  edelsten 

354 


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und  schönsten  Gehirnfunktionen  des  Menschen,  sondern  auch  eine 
der  ersten  und  wichtigsten  sozialen  Bedingungen  für  das  gesellige 
Leben  der  höheren  Tiere  ist.  Die  Gebote  der  christlichen  Liebe,  die 
das  Evangelium  mit  Recht  in  den  Vordergrund  der  Ethik  stellt,  sind 
nicht  von  Christus  zuerst  entdeckt,  wohl  aber  von  ihm  und  seinen 
Jüngern  mit  größtem  Erfolge  geltend  gemacht  zu  einer  Zeit,  wo  der 
raffinierte  Egoismus  die  überfeinerte  römische  Kulturwelt  dem  Zerfall 
entgegenführte.  Tatsächlich  bestanden  die  natürlichen  Gebote  der 
Sympathie  und  des  Altruismus  nicht  nur  Jahrtausende  vorher  in  der 
menschlichen  Gesellschaft,  sondern  auch  bei  allen  höheren  Tieren, 
die  in  Herden  oder  Staaten  vereinigt  leben;  sie  haben  ihre  älteste 
phylogenetische  Wurzel  sogar  schon  in  der  geschlechtlichen  Fort- 
pflanzung der  niederen  Tiere,  in  der  sexuellen  Liebe  und  Brutpflege, 
auf  der  die  Erhaltung  der  Art  beruht.  Daher  sind  die  modernen  Pro- 
pheten des  reinen  Egoismus  Friedrich  Nietzsche,  Max  Stirner  usw.  in 
biologischem  Irrtum,  wenn  sie  allein  ihre  ,Herrenmoral'  anstelle  der 
allgemeinen  Menschenliebe  setzen  wollen  und  wenn  sie  das  Mitleid 
als  eine  Schwäche  des  Charakters  oder  als  einen  moralischen  Irrtum 
des  Christentums  verspotten.  Gerade  in  der  Betonung  des  ,Mitleidens' 
liegt  der  hohe  ethische  Wert  der  christlichen  Lehre,  der  immer  fort- 
dauern wird,  wenn  ihre  morschen  Dogmen  längst  in  Trümmer  gefallen 
sind.  Nur  sollte  man  dieses  hehre  Gebot  der  Nächstenliebe  nicht  auf 
den  Menschen  allein  beschränken,  sondern  auch  auf  seine  »nächsten 
Verwandten',  die  höheren  Wirbeltiere,  ausdehnen,  wie  überhaupt 
auf  alle  Tiere,  bei  denen  wir  auf  Grund  ihrer  Gehirnorganisation  be- 
wußte Empfindung,  das  Bewußtsein  von  Lust  und  Schmerz,  annehmen 
dürfen."  (Lebenswunder,  S.  131).  Die  Ausdehnung  des  Mitleids 
auch  auf  die  Tiere  wie  überhaupt  die  Wertung  der  Tiere 
als  unsere  „Brüder"  auf  Grund  des  Darwinismus  erhebt  die 
Haeckelsche  Ethik,  weit  über  die  christliche,  speziell  kirchliche.  Mit 
Recht  schreibt  Haeckel  (Welträtsel,  S.  411):  „Das  Christentum  kennt 
nicht  jene  rühmliche  Liebe  zu  den  Tieren,  jenes  Mitleid  mit  den 
nächststehenden,  uns  befreundeten  Säugetieren  (Hunden,  Pferden, 
Rindern  usw.),  welche  zu  den  Sittengesetzen  vieler  anderer  älterer 
Religionen  gehören,  vor  allem  der  weitverbreitetsten,  des  Buddhismus. 

Wie  erhaben  steht  in  dieser  Beziehung  die  monistische  Ethik 

über  der  christlichen!    Der  Darwinismus  lehrt  uns,  daß  wir  zunächst 

355 


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von  Primaten  und  weiterhin  von  einer  Reihe  älterer  Säugetiere  ab- 
stammen und  daß  diese  ,unsere  Brüder'  sind;  die  Physiologie  beweist 
uns,  daß  die  Tiere  dieselben  Nerven  und  Sinnesorgane  haben  wie  wir; 
daß  sie  ebenso  Lust  und  Schmerz  empfinden  wie  wir." 

Zu  den  stärksten  Seiten  der  Haeckelschen  Ethik  gehört  auch  die 
sittliche  Bewertung  des  Natur-  und  Kunstgenusses,  der 
Kulturerrungenschaften,  der  Familie,  des  Geschlechts- 
lebens und  der  Achtung  vor  der  Frau.  Auch  in  diesen  Punkten 
ist  sie  der  christlichen  Ethik  weit  überlegen,  die  gerade  hier  höheren 
sittlichen  Ansprüchen  nicht  genügt.  Speziell  was  Haeckel  über  die 
ethische  Bedeutung  des  Natur-  und  Kunstgenusses  und  über  die 
Veredelung  des  Menschenwesens  durch  die  Liebe  zum  anderen  Ge- 
schlecht schreibt,  beweist,  wie  befruchtend  und  veredelnd  der  Natu- 
ralismus auf  die  Ethik  wirkt. 

Nur  blinde  Unwissenheit  und  fanatischer  Haß  erklären  die  heftigen 
Angriffe,  die  man  gegen  die  ethischen  Anschauungen  Ernst  Haeckels 
gerichtet  hat.  In  Wirklickeit  entspringen  seine  ethischen  Lehren 
demselben  glühenden  Idealismus  und  Wahrheitsdrang,  die  den  Zauber 
seiner  Persönlichkeit  ausmachen  und  die  allein  auch  die  gewaltige 
praktisch  -  ethische  Wirkung  erklären,  die  Haeckel  als  Mensch, 
Lehrer  und  Forscher  auf  die  weitesten  Kreise  ausgeübt  hat  und  noch 
ausübt.  Eben  diesem  Idealismus  und  Wahrheitsdrange  entspringen 
auch  seine  heftigen  Angriffe  gegen  die  christliche  Ethik  und  Religion 
und  gegen  herrschende  Vorurteile  und  Mißstände.  Mannhaft  und  un- 
erschrocken hat  Haeckel  alte  Götter  und  Götzen  gestürzt,  um  freie  Bahn 
für  neue  sittliche  Ideale  zu  schaffen.  Eben  dieser  hochsittliche  Bekenner- 
mut hat  ihm  ungezählte  Sympathien  eingebracht  und  seinem  Namen 
jenen  Glanz  verliehen,  der  ihn  weit  über  seine  Zeitgenossen  hervorhebt. 
Was  Haeckel  über  das  Scheinchristentum,  über  den  Papismus,  über 
die  sittliche  Verlodderung  und  Verlogenheit  der  herrschenden  Zu- 
stände geschrieben  hat,  setzt  seinen  ethischen  Anschauungen  allein 
schon  ein  ehrendes  Denkmal.  Die  ganze  ethische  Bedeutung  Haeckels 
wird  aber  den  breiten  Massen  erst  dann  zum  Bewußtsein  kommen,  wenn 
die  herrschende  Goethe  m  o  d  e  oder  besser  Goethe  prostitution  einem 
wirklichen  Goethe kult  gewichen  ist.  Erst  dann  werden  alle  die 
Vorurteile  gefallen  sein,  die  heute  noch  weite  Kreise  gegen  die  wahre 
Bedeutung  dieses  unseres  größten  Zeitgenossen  blind  machen. 

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IWAN  BLOCH,  CHARLOTTENBURG 


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Die  Bedeutung  Ernst  Haeckels  für  die  Entwicklungslehre  und 
für  die  moderne  Weltanschauung  lernte  ich  zuerst,  noch  vor 
dem  Studium  seiner  eigenen  Werke,  aus  den  Schriften  zweier  anderer 
großer  Denker  des  19.  Jahrhunderts  kennen,  nämlich  aus  der  berühm- 
ten „Geschichte  des  Materialismus"  von  Friedrich  Albert  Lange  und 
aus  dem  klassischen  „Lehrbuch  der  Anatomie"  von  Karl  Gegenbaur, 
dessen  Vorlesungen  ich  im  Sommer  und  Winter  1892/93  hörte.  Das 
Urteü  dieser  beiden  durch  umfassendes  Wissen  und  besonnene  Kritik 
gleich  ausgezeichneten  Forscher  über  den  begeisterten  Apostel 
Darwins,  ihre  rückhaltlose  Anerkennung  seiner  genialen  Entdeckun- 
gen, namentlich  seines  fundamentalen  biogenetischen  Grundgesetzes, 
machte  damals  einen  tiefen  Eindruck  auf  mich  und  steigerte  nicht 
nur  meine  Empfänglichkeit  für  die  alsbald  mit  Begeisterung  auf- 
genommene Lektüre  der  einzelnen  Schriften  Haeckels  (zuerst  der 
„Natürlichen  Schöpfungsgeschichte",  dann  der  „Anthropogenie", 
der  „Generellen  Morphologie",  der  „Populären  Vorträge",  später  der 
„Welträtsel",  „Lebens wunder"  und  der  kleineren  Einzelschriften), 
sondern  bildete  fortan  die  unerschütterliche  Grundlage  der  Ver- 
ehrung seiner  Großtaten  gegenüber  allen  Anfeindungen  und  Ver- 
dächtigungen der  Kritik.  Diese  Großtaten  gipfeln  in  der  einen 
und  höchsten,  daß  Haeckel  wie  kein  anderer  in  unserer  Zeit  den 
Kampf  für  eine  einheitliche  Welt-  und  Lebensanschauung  aufge- 
nommen und  mit  einer  bewunderungswürdigen  Konsequenz  durch- 
geführt hat.  Er  ist  der  Georgsritter,  der  den  Drachen  der  „Zer- 
rissenheit" des  modernen  Menschen  getötet,  der  alle  dualistischen 
Uberlebsel  vorwissenschaftlicher  Kulturen  als  Hemmnisse  des  geistigen 
und  sittlichen  Fortschritts  der  Menschheit  unerbittlich  gebrandmarkt 
hat. 

Bei  meinen  Forschungen  über  das  Sexualleben  des  Menschen  war 
mir  die  Auffassung  Haeckels  über  die  körperlich-seelischen  Elementar- 
phänomene der  Liebe  von  größtem  Werte.  Er,  der  im  zweiten  Bande 
der  „Anthropogenie"  die  gewaltige  Macht  des  Eros  in  herrlichen 
Worten  geschildert  hat,  hat  in  seiner  Lehre  vom  „erotischen  Chemo- 
tropismus"    die    durch   die   heutigen   Forschungen  über   die   innere 

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Sekretion  immer  mehr  zur  Anerkennung  gelangende  wichtigste 
biologische  Grundlage  der  Sexualwissenschaft  geschaffen  und  den 
sexuellen  Chemismus  als  „Urphänomen"  der  Liebe  erkannt.  Es  war 
mir  eine  besondere  Freude,  in  meiner  in  der  ersten  Sitzung  der 
neugegründeten  „Ärztlichen  Gesellschaft  für  Sexualwissenschaft"  ge- 
haltenen Eröffnungsrede  (Februar  1913)  auf  die  große  Bedeutung 
der  Forschungen  Haeckels  für  die  Sexualwissenschaft  hinzuweisen 
und  die  schönen  Worte  vorzulesen,  mit  denen  er  diese  erste  Or- 
ganisation der  wissenschaftlichen  Sexualforschung  begrüßte  und  so 
die  letztere  als  neue  vollwertige  Disziplin  der  Naturwissenschaft  an- 
erkannte. 


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A.  CARRARO,  WIEN 


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Während  meiner  Studienzeit  (bis  1881)  an  einer  k.  k.  Lehrerbildungs- 
anstalt hatte  ich  nichts  von  Haeckel  und  seinen  Werken  gehört. 
Naturgeschichte  war  für  mich  damals  ein  zusammenhangloses  Ge- 
misch verschwommener,  nur  Bestimmungszwecken  dienender  Syste- 
matik und  ödester  Morphologie;  Biomechanik  und  Biologie  waren 
uns  allen  spanische  Dörfer.  Dieses  vollständig  unorientierte  Notizen- 
wissen, dieser  bloße  Gedächtnisballast  befriedigte  mich  um  so  weniger, 
als  ich  seit  meiner  Kindheit  ein  reges  Bedürfnis  nach  kausal  gerich- 
tetem Naturverständnis  hatte.  Meine  grüblerische  Geistesrichtung 
suchte  schon  damals  unbewußt  in  den  Erfahrungswissenschaften 
nach  dem  Schlüssel  zum  Weltverstehen  und  zur  Erkenntnis  in  den 
großen  Menschheitsproblemen. 

Und  so  war  ich  in  aller  Stille  ein  Vertreter  naturwissenschaft- 
lichen Denkens  geworden.  Da  fand  ich  eines  Tages  in  dem  Heiß- 
hunger autodidaktischen  Strebens  in  der  Hand  eines  Freundes  ein 
mir  bisher  fremdes  Buch,  die  Welträtsel.  Schon  beim  bloßen 
Blättern  entdeckte  ich  darin  eine  neue  Welt  und  es  ist  bezeichnend 
für  meine  damalige  Geistesverfassung,  daß  ich  gerade  das  XI.  Kapitel, 
das  von  der  Unsterblichkeit  der  Seele  handelt,  sofort  mit  heißen 
Augen  verschlang.  Die  Lektüre  dieses  Kapitels  übte  auf  mich  eine 
unbeschreibliche  Wirkung  aus,  es  war  mir,  als  wäre  eine  Zentnerlast 
von  Brust  und  Gehirn  genommen,  es  war  ein  Gefühl  der  Erlösung 
vom  dumpfen  Drucke  dogmatischen  Denkzwanges.  Freier  atmete 
ich  auf,  denn  ich  hatte  gefunden,  wonach  ich  so  heiß  begehrte:  den 
Schlüssel  zu  einem  naturwissenschaftlich  begründeten,  durch  keinen 
Denkzwang  getrübten  oder  gefälschten  Weltbilde! 

Mit  fieberhaftem  Eifer  studierte  ich  das  ganze  Werk  und  später 
alle  übrigen  Schriften  Haeckels,  und  welches  Problem  ich  auch 
studieren  mochte,  immer  war  ich  von  der  Einheitlichkeit  der  darin 
geübten  Forschungs-  und  Denkmethoden  bis  ins  innerste  ergriffen. 

Und  so  lernte  ich  mein  früheres  Lexikonwissen  ordnen  nach  den 
großen  Gesichtspunkten  der  Kausalität,  nun  erst  wußte  ich,  was 
Naturwissenschaft  ist.  So  wurde  ich  Schüler  Haeckels  und  bin  es 
all  die  Jahre  her  treu  gewesen. 

359 


Von  höchster  Bedeutung  aber  schien  mir  in  meinen  weiteren 
Studien  die  Tatsache,  daß  sich  der  Entwicklungsgedanke  und  das 
Kausalitätsdenken  auf  alle  Gebiete  menschlichen  Lebens  und  mensch- 
licher Forschung  mit  großem  Nutzen  anwenden  ließen. 

Das  habe  ich  ganz  besonders  auf  meinem  engeren  Arbeitsgebiete, 
der  Jugenderziehung,  bestätigt  gefunden.  Ich  erkannte,  daß  die 
Erziehungswissenschaft  mit  physischen  und  intellektuellen  Ent- 
wicklungsgesetzen des  Kindes  rechnen  muß  und  daß  es  sich  bei 
Erziehungsproblemen  und  Unterrichtsmethoden  um  angewandte 
Naturwissenschaft  handelt.  Die  Erziehungsziele  konnten  sich 
nunmehr  nicht  aus  den  Bedürfnissen  engherziger  Kirchen-  oder  kurz- 
sichtiger Staatsgedanken  ergeben,  sondern  mußten  geschöpft  werden 
aus  den  Bedürfnissen  wahrer  Menschlichkeit.  Ich  bekenne  freudig, 
daß  Haeckel  auch  auf  dem  Gebiete  der  Ethik  subjektiv  und  objektiv 
mein  Lehrer  war. 

Daß  sich  seine  erzieherische  Kraft  auf  einen  großen  Teil  der 
Lehrerschaft  aller  Grade  erstreckt  hat,  ist  aus  den  die  ganze  päda- 
gogische Welt  erfüllenden  Reformbestrebungen  zu  ersehen:  Phy- 
siologie, Psychologie,  Ethik  und  alle  anderen  pädagogischen  Teil- 
wissenschaften stehen  heute  dank  Haeckels  und  seiner  Schule  unter 
dem  Einflüsse  naturwissenschaftlich  gerichteter  Denkweise. 

Da  müßte  man  denn  erwarten,  daß  unsere  Schulbehörden  und 
unsere  Gesetzgebung  der  Pflege  des  Entwicklungsgedankens  und 
der  modernen  Denkweise  auf  dem  Gebiete  der  Lehrerbildung  die 
größte  Aufmerksamkeit  und  Förderung  zuteil  werden  lassen?  Trotz- 
dem das  ganze  praktische  Leben  unter  dem  befruchtenden  Einflüsse 
der  Erfahrungswissenschaften  steht,  ist  in  unseren  Elementar-  und 
Mittelschulender  Entwicklungsgedanke  offiziell  nicht  anerkannt. 
Hat  man  einstens  dem  Lehramtszöglinge  die  Namen  und  Werke 
Lamarcks,  Darwins  und  Haeckels  bloß  vornehm  verschwiegen,  so  ist 
man  heute  unter  dem  Einflüsse  klerikaler  Behörden  niederen  und 
höheren  Grades  daran,  diese  Bildungsquellen  zu  verfälschen  und  so 
erfahren  die  jungen  Leute  von  obgenannten  Männern  oft  nicht  mehr, 
als  daß  sie  „Gottesleugner"  waren,  deren  Schriften  ohne  Erlaubnis 
des  geistlichen  Beraters,  Beichtvaters  etc.  nicht  gelesen  werden 
dürfen.  Nebenbei  bemüht  man  sich  durch  die  Art  der  Unterrichts- 
erteüung  und  der  Lehrbücher,   den  jungen  Leuten  womöglich  das 

360 


Studium  der  Naturwissenschaft  systematisch  zu  verekeln.  (Siehe 
Keplerbundschrif  ten. ) 

So  ist  denn  der  Lehrernachwuchs  (wenigstens  in  Österreich),  wenn 
er  sich  überhaupt  den  geistlichen  und  geistigen  Fesseln  zu  entringen 
vermag,  auf  die  seinem  Privatfleiß  zufällig  unterkommenden  Bildungs- 
quellen angewiesen. 

Esisteines  der  Haupt verdiensteunseresli eben  Haeckel, 
daß  diese  Bildungsquellen  in  Form  gemeinverständlicher 
Schriften  und  Vorträge  heute  so  reichlich  sprudeln,  daß 
sich  die  jungen  Geister  daran  trotz  aller  Gewaltstreiche  einer  uner- 
müdlichen Reaktion  immer  wieder  erquicken  und  aufrichten  können. 

Da  stehen  sie  in  meinem  Bücherschrank,  die  lieben  und  ver- 
trauten Freunde  aus  Haeckels  Feder  und  immer,  wenn  ich  sie  um 
Rat  frage,  schenken  sie  mir  Stunden  der  Erkenntnis,  der  Weihe  und 
Andacht,  begeistern  mich  zur  Tat,  machen  mich  besser  und  glück- 
licher, und  lassen  mich  erkennen,  daß  dieses  angeblich  gottgewollte 
irdische  Jammertal  zum  Freudental  der  ganzen  Menschheit  werden 
kann. 

Aus  Haeckels  Leben  und  Werken  gewann  ich  die  Tatkraft 
und  Arbeitsfreudigkeit,  die  mithelfen  will,  das  Leben  persönlich 
und  sozial  glücklich  zu  machen.  Daß  ich  Gutes,  Wahres  und  Schönes 
erlebt  habe  und  es  mit  meinen  kleinen  Kräften  in  einem  kleinen 
Wirkungskreise  weitergeben  und  weitererwecken  darf,  das  verdanke 
ich  Haeckel. 


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36l 


JAKOB  KOLTAN,  HEIDELBERG 


o  o  o 


Nach  Absolvierung  meines  Studiums  an  einer  Universität  in 
Rußland  habe  ich  mich  einige  Jahre  mit  chemischer  Praxis 
beschäftigt.  Der  Drang  zu  wissenschaftlichen  Verallgemeinerungen, 
der  ja  sehr  verbreitet  ist,  zwang  mich  zur  Ausbildung  einer  Welt- 
anschauung, die  auf  meinen  dürftigen  Kenntnissen  in  Chemie,  Physik 
und  Biologie  gegründet  war.  Eine  allgemeine  philosophische  Bildung 
konnte  ich  mir  nicht  erwerben,  schon  aus  dem  Grunde,  weil  es  in 
Rußland  keine  philosophischen  Fakultäten  gibt.  Allerdings  war  ich 
im  „Darwinismus"  so  weit  beschlagen,  daß  ich  mir  bei  meinen  Kollegen 
den  Scherznamen  ,,Der  Darwinist"  zugezogen  hatte.  Dabei  muß  ich 
hinzufügen,  daß  ich  Darwin  lange  nicht  in  allen  Punkten  zugestimmt 
hatte.  Skeptiker,  wie  ich  einmal  bin,  habe  ich  aber  auch  mir  selbst 
in  philosophischen  Dingen  wenig  zugetraut,  ich  habe  vielmehr  an- 
genommen, daß  andere  ihre  Weltanschauung  wohl  viel  feiner  und 
schöner  ausgebaut  haben  mögen  als  ich.  Daher  beschloß  ich,  bei 
günstiger  Gelegenheit  im  Auslande  Philosophie  zu  studieren. 

Diese  Gelegenheit  bot  sich  mir  im  Jahre  1899,  als  ich  mich  an 
der  Universität  Zürich  immatrikulieren  ließ.  Hier  habe  ich  haupt- 
sächlich die  philosophischen  Disziplinen  in  den  Bereich  meiner 
Studien  gezogen.  Nebenbei  habe  ich  aber  die  , »akademische  Freiheit" 
dazu  benutzt,  auch  viele  andere  „Fächer"  zu  hören.  Endlich  an 
einem  schönen  Tage  fühle  ich  mich  „soweit  reif",  um  an  eine  „Doktor- 
Dissertation"  zu  denken.  Mein  hochverehrter  Lehrer  (ein  hervor- 
ragender Psychologe)  gab  mir  entsprechend  meiner  naturwissen- 
schaftlichen Vorbildung  eine  Arbeit  in  der  modernen  Naturphüosophie, 
wobei  er  mich  besonders  auf  die  Werke  von  Haeckel,  Reinke,  Mach 
und  Ostwald  verwies.  Nun  machte  ich  mich  an  die  Arbeit  und  begann 
natürlich  mit  dem  altern  Naturphilosophen,  mit  Haeckel.  Eine 
„wichtige  Tatsache"  war  mir  dabei  von  vornherein  bekannt:  mein 
Lehrer  war  ein  erbitterter  Gegner  Haeckels,  den  er  als  „oberfläch- 
lichen Denker"  titulierte,  weshalb  er  sich  mit  seinen  Werken  gar  nicht 
beschäftigen  wollte;  er  urteilte  über  Haeckel  mehr  vom  „Hörensagen". 
Der  Wahrheit  halber  muß  ich  aber  hinzufügen,  daß  lange  nicht  alle 
Philosophieprofessoren  über  Haeckel  so  „oberflächlich"  urteilen. 
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362 


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Denn  der  zweite  Professor  (der  in  Zürich  nur  kurze  Zeit  dozierte  und 
jetzt  in  Deutschland  wirkt)  hat  in  unseren  philosophischen  Übungen 
über  „Spinozas  Ethik"  mehrmals  „Haeckels  Welträtsel"  zitiert  mit 
der  offenen  und  mutigen  Bemerkung:  „Bei  Haeckel  kann  man  immer 
noch  etwas  lernen." 

Nun  faßte  ich  aber  die  Sache  und  meine  Aufgabe  mit  der  „denk- 
würdigen Dissertation"  ganz  anders  auf,  als  mein  hochgeschätzter 
Lehrer.  Ich  wollte  nämlich  nicht  bloß  über  die  erwähnten  Natur- 
philosophen kurz  referieren,  sie  mit  scharfen  Bemerkungen  abtun, 
um  meine  „philosophische  Überlegenheit  und  Reife  zur  Doktorwürde" 
zu  beweisen;  es  war  mir  vielmehr  darum  zu  tun,  die  Problem- 
lösungen gründlich  zu  untersuchen.  Dann  hat  sich  aber 
herausgestellt,  daß  meine  Abhandlung  über  Haeckel  allein  zu  einer 
stattlichen  Dissertation  herangewachsen  war.  Es  hat  sich  aber 
noch  mehr  ergeben,  daß  ich  nämlich  in  vielen  Fragen  meinem  Lehrer 
direkt  widersprechen  mußte.  So  z.  B.  in  der  Frage  des  „Unbewußt- 
Psychischen",  wo  er  ganz  rationalistisch  befangen  und  einseitig  war. 
Die  einzige  Konzession,  die  ich  ihm  machte,  war  die,  daß  ich  gegen 
Haeckels  Naturphüosophie  mehr  formale  Einwendungen  erhob, 
als  es  mir  lieb  gewesen  wäre,  weil  ich  sonst  auf  formale  Fehler  kein 
großes  Gewicht  lege.  Dagegen  in  prinzipiellen  Fragen  stimmte 
ich  Haeckel  meist  zu.  Über  die  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen 
machte  ich  meinem  Lehrer  Mitteilung.  Natürlich  sah  er  sich  ge- 
zwungen, mir  zu  sagen,  daß  er  meine  Begründung  prüfen  müsse. 
Nachdem  er  meine  Begründung  (durch  eine  Stichprobe!)  geprüft  hatte, 
gab  er  mir  zu  verstehen,  daß  er  wegen  einer  Arbeit  über  Haeckel 
allein  (!)  und  noch  einer  für  diesen  günstigen  (!)  keine  „Doktorwürde" 
zusprechen  könne,  daß  er  nur  eine  Abhandlung  über  weitere  Natur- 
philosophen einer  ernsten  Prüfung  zu  unterziehen  bereit  sei.  Um  meinen 
Überzeugungen  und  denen  meiner  Examinatoren  keinen  Zwang  anzu- 
tun,  habe  ich  beschlossen,  auf  die  „Gloriole  des  hohen  Doktorhutes" 
zu  verzichten,  zumal  es  mir  nicht  um  den  Titel,  sondern  um  die  Wissen- 
schaft zu  tun  war.  Der  Gerechtigkeit  wegen  sei  noch  bemerkt,  daß  dieser 
„Doktorstreit"  nichts  mit  der  „akademischen  Freiheit"  speziell  an  der 
Universität  Zürich  zu  tun  hat.  Mein  Opponent  ist  auch  kein  Schweizer 
und  er  doziert  jetzt  in  Deutschland,  wo  die  „Haeckel-Gegner"  noch 
immer  mehr  Aussicht  auf  Erfolg  haben  als  die  „Haeckel-Jünger". 

363 


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Und  nun  der  Ertrag  meiner  Studien  der  Haeckelschen  Schriften, 
besonders  der  „Welträtsel"  und  ,  .Lebenswunder".  Es  ist  mir  freilich 
unmöglich,  sie  genau  zu  bestimmen,  zumal  ich  mich  gleichzeitig 
mit  allen  möglichen  Studien  befaßt  hatte.  Jedenfalls  waren  die 
Anregungen  Haeckels  mitbestimmend  für  meine  Stellungnahme 
und  Entscheidung  in  einigen  grundlegenden  und  wichtigen  Fragen, 
die  ich  nachstehend  kurz  andeuten  möchte. 

i.  Das  Substanzproblem.  Als  Jünger  der  Naturforschung 
war  ich  natürlich  zunächst  geneigt,  mich  mit  den  Begriffen  „Materie 
oder  Energie  als  Weltbegriff"  zu  begnügen.  Das  habe  ich  auch  getan, 
indem  ich  in  meiner  früheren  „ureigenen  Weltanschauung"  selbst 
die  geistigen  Erscheinungen  einfach  als  Funktionen  bzw.  Trans- 
formationen der  Materie  oder  Energie  betrachtete.  Allein  meine  Be- 
schäftigung mit  der  modernen  Psychologie  hat  mich  überzeugt, 
daß  diese  Lösung  in  ihrer  primitiven  Form  unzulänglich  ist.  Der 
„psychophysische  Parallelismus",  der  seit  Fechner  und  Wundt  in 
der  empirischen  oder  besser  physiologischen  Psychologie  vorherrschend 
ist  und  der  mich  zuerst  als  philosophische  Spitzfindigkeit  anmutete, 
zog  mich  mehr  und  mehr  an,  besonders  als  ich  seine  ganze  Tragweite 
erkannte.  Das  war  eben  der  erste  Anstoß  und  Grund,  warum  ich 
Spinozas  bzw.  Haeckels  Substanz-  und  Attributenlehre  im  Prinzip 
als  annehmbar  anerkannte.  Freilich  die  Begründung  der  Substanz- 
lehre läßt  sich  noch  vervollkommnen.  In  einem  Aufsatz  „Ansichten 
der  Chemie  und  Physik  und  Monergie  als  Weltbegriff"  (Neue  Welt- 
anschauung Heft  g,  1912)  habe  ich  den  Versuch  gemacht,  die  Be- 
gründung der  Substanzlehre  weiter  zu  entwickeln.  Ich  beabsichtige, 
bei  späterer  Gelegenheit  diese  Lehre  ausführlicher  zu  erläutern  und 
zu  begründen.  Vorderhand  kann  ich  nur  auf  jenen  Aufsatz  verweisen, 
und  auf  meine  Schriften:  „E.  Haeckels  monistische  Weltansicht 
(besonders  die  Dreiattributenlehre)  und  J.  Reinkes  dualistische 
Weltansicht  (besonders  Deutung  des  psychophysischen  Parallelismus). 

2.  Das  Unbewußt-Psychische.  Wie  jedem  „naiven"  Natur- 
forscher und  manchem  „kritischen"  Philosophen  schien  mir  zuerst 
der  Begriff  des  „Unbewußt-Psychischen"  als  Widersinn  oder  Wider- 
spruch (contradictio  in  adjecto).  Allein  mein  Studium  der  Psycho- 
logie, besonders  der  Gedächtniserscheinungen  hat  mich  zur  Über- 
zeugung geführt,    daß   die  Annahme  des   „Unbewußt-Psychischen" 

364 


geradezu  eine  Selbstverständlichkeit  ist.  Es  hat  mich  daher  ge- 
wundert, daß  es  solche  kurzsichtige  Psychologen  gibt  (darunter  mein 
sonst  so  begabter  Lehrer),  die  dies  nicht  einsehen  und  begreifen 
können.  Ich  war  infolgedessen  froh,  daß  ich  in  dieser  Frage  mit 
einem  so  hervorragenden  Mann  wie  Haeckel  einig  war,  d.  h.  daß  ich 
ihn  auf  meiner  Seite  hatte.  Jetzt  gibt  es  aber  unter  den  Philosophen 
gar  viele  Anhänger  des  „Unbewußten",  während  die  „kritischen" 
Psychologen  sich  mit  dem  Begriff  des  —  „Unterbewußten  oder 
Unterbewußtseins"  zu  behelfen  wissen.  (Vgl.  meine  Haeckel- 
Schrift,  Kapitel  10). 

3.  Die  Entropielehre.  Haeckel  hat  in  den  ersten  Auflagen 
seiner  „Welträtsel"  die  Gültigkeit  des  Entropiesatzes  für  das  Weltall 
sehr  eingeschränkt,  er  hat  sich  dabei  aber  „physikalisch"  nicht  ganz 
richtig  ausgedrückt.  Darob  wurde  er  von  vielen  „berühmten,  aber 
frommen  und  kurzsichtigen"  Physikern  heftig  angegriffen.  Ich  habe 
in  meiner  obigen  Haeckel-Schrift  auf  die  Mißverständlichkeit  mancher 
physikalischer  Ausdrücke  hingewiesen,  in  der  Sache  aber  mit  Grund- 
angabe Haeckel  zugestimmt.  Gegenwärtig  haben  solche  bedeutende 
Physiker  wie  Felix  Auerbach  in  Jena  (Ektropielehre)  und  Svante 
Arrhenius  in  Stockholm  die  Einschränkung  des  Entropiesatzes  bzw. 
das  Freiwerden  der  gebundenen  oder  entwerteten  Energie  mit 
aller  Entschiedenheit  postuliert  (Kreislauf  der  Energie).  Der  „Dile- 
ttant" Haeckel  hat  also  richtig  gesehen,  und  ich  habe  ihm  also  mit 
gutem  Grund  zugestimmt.  Die  Frage  ist  bekanntlich  von  großer 
Tragweite ! 

4.  Das  biogenetische  Grundgesetz.  In  der  Entwicklungs- 
lehre habe  ich  allerdings  nicht  in  allen  Punkten  Haeckel  zustimmten 
können.  Ich  habe  in  meiner  Haeckel-Schrift  wenigstens  auf  die 
Möglichkeit  mehrfacher  Entwicklungsreihen  (Polygenesis  und  Poly- 
transformation)  hingewiesen.  Dagegen  habe  ich  die  Annehmbarkeit 
und  Brauchbarkeit  des  „biogenetischen  Grundgesetzes"  schon  damals 
erkannt  und  anerkannt.  Dieses  Gesetz  sollte  mir  in  der  Folge  noch 
einen  merkwürdigen  Dienst  leisten.  An  der  Universität  Basel  habe 
ich  mich  nämlich  auch  mit  theologischen  Studien  befaßt.  Bei  meiner 
Lektüre  der  Religionsgeschichte  ist  mir  der  Entwicklungsgang 
der  Ereignisse  besonders  aufgefallen.  Das  biogenetische  Grund- 
gesetz, das  im  Dunkel  meines  Unbewußt-Psychischen  oder  Unter- 

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365 


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bewußteins  schlummerte,  hat  bei  seinem  Erwachen  die  ganze  Situation 
in  helles  Licht  gerückt.  Ich  habe  nämlich  bereits  im  Jahre  1909 
die  Gültigkeit  des  biologischen  Prinzips  für  die  gesamte  Kultur 
erkannt.  Doch  haben  die  Umstände  mir  nicht  erlaubt,  mit  der  Be- 
gründung dieser  Gesetzmäßigkeit  mich  ausführlich  und  genauer 
zu  befassen.  Erst  in  den  nächstfolgenden  Jahren  (in  Straßburg  und 
Heidelberg)  habe  ich  mich  mit  der  Sache  weiter  beschäftigen  können. 
Leider  ist  es  mir  noch  nicht  möglich  gewesen,  mein  ganzes  Material 
zu  veröffentlichen.  Daher  habe  ich  beschlossen,  zum  80.  Geburtstag 
unseres  hochverehrten  Altmeisters  und  Führers  wenigstens  die  Er- 
gebnisse meiner  Untersuchungen  in  kurzen  Zügen  zusammenzufassen. 
Ich  habe  sie  in  einer  Abhandlung  —  „Gesetz  und  Ordnung  in  der 
Kulturentwicklung"  —  an  den  hochverdienten  Jubüar  gerichtet, 
der  sie  freundlich  anerkannt  und  angenommen  hat.  Sie  zerfällt  in 
zwei  Teile:  1.  Das  psychogenetische  Kulturgesetz  und  2.  das  natür- 
liche periodische  System  der  Idealkulturphasen. 

Überblicke  ich  das  Gesamtergebnis  meiner  philosophischen  und 
naturphilosophischen  Studien,  so  muß  ich  feststellen,  daß  ich  die 
meisten  positiven  Anregungen  von  Ernst  Haeckel  erhalten  habe, 
während  die  anderen  Denker  mich  gar  oft  so  „belehrt"  haben,  „wie 
man  nicht  denken  soll".  Diese  negative  Lehre  muß  ich  allerdings 
ebenfalls  mir  auf  das  Pluskonto  setzen,  daher  liebe  ich  auch  meine 
ehrlichen  Gegner.  Schon  aus  meinen  kurzen  Darlegungen  geht 
deutlich  hervor,  daß  Haeckel  fast  auf  allen  Wissensgebieten  schöpfe- 
risch und  anregend  gewirkt  hat.  Die  Wissensgebiete  sind  jetzt  aber 
so  ausgedehnt  und  zahlreich,  daß  ein  Universalgenie  entweder  un- 
möglich ist  oder  er  notwendig  ein  „Dilettant"  sein  muß.  Ein  solches 
Universalgenie  ohne  Fachdünkel  ist  Haeckel.  Ich  bin  der  Ansicht, 
daß  Ernst  Haeckels  Lebenswerk  ein  Markstein  und  Wendepunkt  in 
der  Kulturentwicklung  darstellt  und  daß  wir  mit  ihm  in  eine  neue 
Epoche,  in  die  wissenschaftliche  Kulturphase  eingetreten  sind  oder 
einzutreten  beginnen. 


366 


WILHELM   SCHALLMAYER,    KRAILLING-PLANEGG : 
ERNST  HAECKEL  UND  DIE  EUGENIK 

o  o  o 

Die  Anwendung  der  Gesichtspunkte  der  Entwicklungslehre  auch 
auf  das  Menschengeschlecht  war  so  unvermeidlich,  daß  selbst 
Darwin  trotz  seiner  Scheu  vor  der  öffentlichen  Behandlung  dieser 
Seite  seiner  Lehre  —  eine  Scheu,  die  nach  Lage  der  Dinge  nichts 
weniger  als  unbegreiflich  war  —  sich  dieser  Konsequenz  nicht  ent- 
ziehen konnte.  Um  die  zu  erwartende  Gegnerschaft  gegen  seine 
Entwicklungslehre  so  wenig  wie  möglich  herauszufordern,  fand  er  es 
gut,  in  seinem  1859  erschienenen  Grundwerk  „Über  die  Entstehung 
der  Arten"  dieser  Konsequenz  nur  durch  die  kurze  Bemerkung 
Rechnung  zu  tragen:  „Viel  Licht  mag  auch  noch  über  den  Ursprung 
des  Menschen  und  seine  Geschichte  verbreitet  werden".  Erst  viel 
später,  1871,  nachdem  seine  Theorie  in  so  gewaltigem  Maße  Beachtung 
gefunden  hatte,  daß  sie  nicht  mehr  unterdrückt  werden  konnte,  ver- 
öffentlichte er  seine  „Abstammung  des  Menschen". 

Sein  Freund  Ernst  Haeckel  war  in  dieser  Hinsicht  etwas  anders 
geartet.  Seiner  Siegfriednatur  war  vorsichtige  Zurückhaltung  schlecht- 
hin fremd,  und  niemals  trug  er  das  geringste  Bedenken,  sich  vor  der 
Öffentlichkeit  zu  jeder  seiner  Anschauungen  auf  das  freimütigste  zu 
bekennen,  ohne  irgendeine  Rücksicht  auf  die  öffentliche  Meinung 
oder  gar  auf  eine  Gefährdung  seiner  persönlichen  Interessen.  Der 
Universität  Jena  und  der  Regierung  des  Großherzogtums  Sachsen- 
Weimar  gebührt  Ruhm  und  Ehre  für  die  Duldsamkeit,  die  sie  sich 
gegenüber  diesem  unbändigem  Feuerkopf  abrangen.  An  den  meisten 
anderen  deutschen  Universitäten  wäre  damals  für  einen  Haeckel 
schwerlich  ein  Platz  gewesen.  Später  allerdings  erhielt  Haeckel  sogar 
einen  Ruf  an  die  Universität  Berlin,  aber  er  hatte  mehr  als  nur  einen 
Grund,  ihn  abzulehnen  und  Jena  treu  zu  bleiben,  unter  anderen  auch 
den  der  Dankbarkeit  für  die  Duldung,  die  dort  in  kritischer  Zeit  von 
maßgebender  Stelle  gegen  ihn  geübt  worden  war.  Damals  wußte  Jena 
schon,  was  es  an  Haeckel  hatte,  und  noch  mehr  weiß  das  heutige  Jena, 
wie  viel  es  seinem  Haeckel  verdankt.  Eine  Zeit  lang  aber  war  er  ernst- 
lich in  Gefahr  gewesen,  diese  seine  Freistätte  zu  verlieren,  wie  er 
während  eines  mehrstündigen  Spazierganges,  den  der  Schreiber  dieser 

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Zeilen  mit  ihm  und  Professor  H.  E.  Ziegler  im  Jahre  1903  in  Jenas 
Umgebung  machen  durfte,  uns  erzählte.  Der  Freimut  seiner  Vor- 
lesungen schien  der  Aufsichtsbehörde  der  Universität  Jena  einmal 
das  zulässige  Maß  allzusehr  zu  überschreiten;  vergeblich  wurden  ihm 
amtliche  Vorhaltungen  darüber  gemacht.  Schließlich  siegte,  wieHaeckel 
erzählte,  die  ihm  gegenüber  offen  ausgesprochene  Erwägung,  daß 
er  ja  in  dem  kleinen  Jena  nur  weniger  Schaden  stifte  als  anderswo. 

Wie  vor  keiner  anderen  Konsequenz  der  Entwicklungslehre 
scheute  Haeckel  also  auch  nicht  davor  zurück,  sie  auch  auf  die  Ent- 
wicklungsgeschichte der  Menschheit  anzuwenden  und  aus  ihr  Schlüsse 
auf  die  Zukunft  der  Menschheit  zu  ziehen;  auch  der  Grundgedanke 
der  Eugenik,  daß  die  Erkenntnisse  der  Entwicklungslehre  auch  prak- 
tisch nutzbar  gemacht  werden  können  und  müssen,  indem  wir  eine 
solche  Gestaltung  unserer  sozialen  Zustände  und  unserer  Kultur  über- 
haupt zu  erstreben  haben,  daß  mindestens  eine  Rasse  Verschlechte- 
rung verhindert  und  allmählich  auch  eine  Rasse  besser  ung  erzielt 
wird,  ist  in  Haeckels  Schriften  schon  frühzeitig  mehrfach  angedeutet. 

An  der  späteren  Entwicklung  des  neuen  Wissenschaftszweiges  der 
Rassehygiene  oder  Volkseugenik  und  der  auf  Rassedienst  gerichteten 
Bewegung  ist  Haeckel  ebenfalls  beteiligt,  indirekt  und  direkt. 

Auf  dem  Spaziergang,  von  dem  oben  die  Rede  war,  und  der,  wie 
beiläufig  bemerkt  werden  mag,  eine  gute  Gelegenheit  mit  sich  brachte, 
uns  auch  über  die  ungewöhnliche  körperliche  Rüstigkeit  des  damals 
nahezu  Siebzigjährigen  zu  freuen,  erzählte  er  auch,  daß  er  die  uner- 
wartet große  Wirkung  der  „Welträtsel"  auch  noch  auf  andere  Weise 
zu  spüren  bekommen  habe,  als  nur  durch  den  riesigen  Absatz  des 
Buches.  Bis  zum  Erscheinen  der  „Welträtsel"  hatte  seine  überaus 
starke  Menschenfreundlichkeit  ihn  stets  dazu  bestimmt,  jede  aus  ernst- 
haftem Interesse  an  seinen  Publikationen  hervorgegangene  höfliche 
Zuschrift  zu  beantworten.  Nach  dem  Erscheinen  der  „Welträtsel" 
aber  wurde  das  sehr  bald  schlechterdings  unmöglich,  so  riesig  schwoll 
die  Menge  solcher  —  und  zumteil  auch  ganz  anderer  —  Zuschriften 
an,  und  diese  Hochflut  hatte  sich  damals  noch  nicht  ermäßigt.  Aber 
auch  mündlich  wandten  sich  so  viele  wissenschaftlich  Interessierte  an 
ihn,  daß  ich  die  ersten  Worte,  die  ich  aus  seinem  Mund  zu  hören  be- 
kam, nur  allzu  begreiflich  finde.  Zunächst  wirkten  sie  allerdings  etwas 
verblüffend  auf  mich.  Jch  war  brieflich  zu  ihm  geladen,  hatte  mich 
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24     Haeckel-Festschrift.  Bd.  II  3^9 


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zur  bestimmten  Stunde  im  Zoologischen  Institut  in  Jena  eingestellt 
und  ließ  mich  zu  Professor  Haeckel  führen.  Als  ich  schon  eingetreten 
war,  sah  ich  ihn  noch  beschäftigt.  Das  veranlaßte  mich,  den  Wunsch 
auszusprechen,  daß  ich  ihn  nicht  allzusehr  in  seiner  Arbeit  störe, 
worauf  ich  die  Antwort  erhielt:  „Mich  stört  man  ja  immer  in  der 
Arbeit,  das  bin  ich  schon  gewöhnt."  Unter  den  durch  Haeckels 
Schriften  Angeregten  war  auch  der,  einige  Monate  vor  meinem  Be- 
such bei  Haeckel  aus  dem  Leben  geschiedene  größte  Industrielle 
Deutschlands  gewesen,  Alfred  Krupp,  der  auch  sonst  sehr  starke 
wissenschaftliche  Interessen  hegte,  obschon  ihn  die  Öffentlichkeit  von 
dieser  Seite  wohl  nur  wenig  kennt.  Als  Krupp  den  Entschluß  faßte, 
dieses  Interesse  auch  durch  eine  Preisstiftung  zu  betätigen,  bat  er,  da 
er  selbst  zunächst  ungenannt  bleiben  wollte,  Professor  Haeckel,  die 
Sache  zu  übernehmen.  Das  Thema,  dessen  Bearbeitung  er  durch  ganz 
ungewöhnlich  hohe  Preise  zu  fördern  wünschte,  lautete:  „Was  lernen 
wir  aus  den  Prinzipien  der  Deszendenztheorie  für  die  innerpolitische 
Entwicklung  und  Gesetzgebung  der  Staaten?"  Das  Ausschreiben 
dieses  Themas  war  von  „Erläuterungen"  begleitet,  die  der  Stifter 
selbst  verfaßt  und  mit  seinen  wissenschaftlichen  Freunden  beraten 
hatte.  Unterzeichnet  war  die  Veröffentlichung  an  erster  Stelle  von 
Prof.  E.  Haeckel,  außerdem  von  den  Professoren  J.  Conrad  in  Halle 
und  E.  Fraas  in  Stuttgart.  Der  erste  von  den  ausgesetzten  Preisen 
wurde  einer  Schrift  erteilt,  welche  die  obige  Frage  hauptsächlich  im 
Sinne  des  Rassedienstes  beantwortete.  Dieses  Ergebnis  der  Preis- 
stiftung hat  zur  Verbreitung  des  Ideals  des  Rassedienstes,  die  bei  uns 
gerade  seit  diesem  Zeitpunkt  ausnehmend  rasche  Fortschritte  ge- 
macht hat,  sicherlich  sehr  viel  beigetragen.  War  es  doch  zuvor  fast 
unmöglich,  bei  uns  einen  angesehenen  Verleger  für  eine  Schrift  mit 
einem  derartigen  Inhalt  zu  finden.  Das  hatte  der  Verfasser  dieser 
Zeilen  zur  Genüge  erfahren,  als  er  im  Jahre  1886  seine  erste  rasse- 
hygienische Schrift  „Über  die  drohende  körperliche  Entartung  der 
Kulturvölker"  geschrieben  hatte.  Erst  fünf  Jahre  später  gelang  es, 
sie  zu  veröffentlichen,  aber  auch  dann  nur  unter  finanzieller  Sicher- 
stellung des  Verlegers  auf  Kosten  des  Verfassers. 

Daß  jene  rassehygienische  Bearbeitung  der  Preisfrage  zur  Aus- 
führung kam,  dazu  hat  Haeckel  noch  in  besonderer  Weise  beigetragen. 
Die  schon  erwähnten  „Erläuterungen",  die  der  Preisfrage  beigegeben 

370 


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waren,  schienen  nämlich  eine  Beantwortung  der  Frage  hauptsächlich 
im  Sinn  des  Rassedienstes  aussichtslos  zu  machen,  so  daß  eine  der- 
artige Bearbeitung  ganz  gewiß  unterblieben  wäre,  wenn  nicht  Profes- 
sor Haeckel  auf  eine  dieses  Bedenken  betreffende  Anfrage,  die  ihr 
Verfasser  vor  Beginn  seiner  Arbeit  an  ihn  richten  ließ,  weitherzig 
und  ermunternd  geantwortet  hätte. 

Auch  nachher  hat  Prof.  Haeckel  den  mit  Hilfe  jener  Stiftung  ver- 
öffentlichten Schriften  so  viel  Wert  beigemessen,  daß  nach  seiner 
Absicht  der  von  ihm  ins  Leben  gerufene  Monistenbund  „gewisser- 
maßen die  Stelle  werden  sollte,  welche  die  Gedanken  der  in  dem  Sam- 
melwerk, Natur  und  Staat'  vereinigten  Preisschriften  nun  weiteren 
Kreisen  zugänglich  machen  und  weitere  Arbeiten  dieser  Art  anregen 
sollte."  F.  Siebert,  der  erste  Vorsitzende  des  deutschen  Monisten- 
bundes direkt  nach  seiner  Gründung,  der  im  ,, Volkserzieher"  vom 
28.  September  1913  in  dem  Artikel  ,, Der  Monistenbund"  diese  Mittei- 
lung macht,  bekennt  sich  auch  seinerseits  zu  der  Meinung,  daß  so 
ein  geeigneter  Boden  zu  aufbauender  Arbeit  schon  vorhanden  ge- 
wesen wäre,  indem  man,  wie  es  besonders  in  der  ersten  Preisschrift 
geschehen  war,  die  Folgerungen  zog,  die  sich  aus  der  Entwicklungs- 
lehre für  die  zukünftige  Gestaltung  unseres  Lebens  ergeben.  Diese 
Auffassung  ist  nun  freilich  nachher  im  Monistenbund  nur  sehr  wenig 
zur  Verwirklichung  gelangt,  weil  eben  die  Tätigkeit  eines  derartigen 
Bundes  weit  weniger  von  den  Grundsätzen  und  Idealen  bestimmt 
wird,  die  zu  seiner  Gründung  führten,  als  vielmehr  von  den  Ideen  und 
Bestrebungen  der  jeweils  an  der  Spitze  stehenden  Personen. 

Der  Glanz,  von  dem  der  Name  Ernst  Haeckel  umstrahlt  ist,  hat 
viel  stärkere  Quellen.  Vor  allem  sind  ja  seine  fachwissenschaftlichen  Lei- 
stungen in  der  Zoologie  und  Biologie  so  groß,  daß  seinem  Namen  wohl 
niemals  ein  hervorragender  Platz  in  der  Geschichte  der  Wissenschaften 
bestritten  werden  wird,  es  sei  denn,  daß  einmal  jene  Mächte,  die  nur  eine 
ihren  Interessen  dienende  Wissenschaft  als  wahre  Wissenschaft  gelten 
lassen  und  in  der  freien  Forschung  ein  Übel  sehen,  in  der  ganzen 
Menschheit  zum  Siege  gelangen.  Gerade  gegen  diese  Mächte  war  ja 
Haeckel  ein  so  erfolgreicher  Kämpfer  wie  nur  sehr  wenige.  Er  hat 
auch  außerhalb  seines  Fachkreises  die  Anschauungen  der  Gebildeten 
in  außerordentlichem  Umfang  beeinflußt.  In  den  tonangebenden 
Kreisen  wird  freilich  die  Popularisierung  von  Forschungsergebnissen, 

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soweit  sie  geeignet  sind,  die  Weltanschauung  und  Lebensauffassung 
in  nicht  orthodoxem  Sinn  zu  beeinflussen,  vorherrschend  mißbilligt. 
Aber  um  derartige  geheimrätliche  Grundsätze  hat  sich  Haeckel  sein 
Leben  lang  wenig  gekümmert.  Unabhängigkeitssinn  war  von  Anfang 
an  einer  seiner  ausgeprägtesten  Züge.  Es  entsprach  seiner  Natur, 
rückhaltlos  für  das  einzutreten,  was  er  als  wahr  erkannt  hatte.  Stets 
galt  ihm  Erkenntnis  bedingungslos  als  ein  Gut,  an  dem  die  ganze  Mit- 
und  Nachwelt  nach  Möglichkeit  teilzunehmen  ein  Recht  hat.  So  hat 
Haeckel  sich  nicht  damit  begnügt,  ein  großer  Forscher  zu  sein,  er 
verwendete  seine  Kräfte  nicht  weniger  auf  weiteste  Verbreitung 
seiner  Erkenntnisse  und  war  auch  hierhin  wieder  besonders  erfolg- 
reich. Wie  groß  der  Einfluß  war,  den  allein  die  unerhörte  Verbreitung 
der  „Welträtsel"  auf  das  geistige  Leben  unserer  Zeit  in  allen  Kultur- 
ländern hatte,  ist  kaum  zu  ermessen;  das  aber  läßt  sich  sagen,  daß 
wohl  selten  einem  Buch  wissenschaftlichen  Inhaltes  eine  so  ausge- 
dehnte und  starke  Wirkung  beschieden  war. 

In  seinen  jüngeren  Jahren  ein  unermüdlicher  Sucher  und  genialer 
Finder  überaus  bedeutungsvoller  Erkenntnisse,  am  Abend  seines 
Lebens  ein  von  ungezählten  Tausenden  verehrter  Verkünder  des  von 
ihm  Erkannten,  so  darf  Haeckel  wahrlich  mit  Befriedigung  auf  sein 
an  Arbeit,  Erfolgen  und  Verdiensten  so  reiches  Leben  zurückblicken, 
wie  es  unter  vielen  Millionen  kaum  einer  mit  so  gutem  Rechte  tun  kann. 

In  einem  Punkt,  der  zu  den  glänzendsten  im  Charakterbild  Haeckels 
gehört,  sollte  jeder  den  Glauben,  den  Mut  und  den  Willen  haben,  ihm 
gleichzukommen:  Haeckel  war  zeitlebens  ein  leuchtendes  Beispiel 
unbeugsamen  Wahrheitsmutes.  An  solchen  Charakteren  herrscht 
leider  niemals  Überfluß,  und  unsere  Zeit  bedarf  ihrer  dringend.  Wenn 
Haeckel  in  diesem  Punkt  recht  vielen  zum  Vorbild  wird,  so  gehört 
das  zum  Wertvollsten  von  dem  vielen,  was  die  Menschheit  ihm 
verdankt. 


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W.  O.  FOCKE,  BREMEN 

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Kennen  gelernt  habe  ich  Ernst  Haeckel  im  Oktober  1855  zu  Würz- 
burg im  „Roten  Ochsen",  wo  wir,  jeder  mit  seinem  Freundes- 
kreise, zu  Mittag  zu  speisen  pflegten.  Während  zweier  Semester 
begegneten  wir  uns  auch  in  Vorlesungen  und  bei  sonstigen  Anlässen 
nicht  selten,  doch  blieb  unser  Verkehr  ein  gelegentlicher  und  ober- 
flächlicher. Als  ich  dann  aber  zu  Anfang  Mai  1857  m  Wien  eintraf, 
fand  ich  Haeckel  dort  vor  und  wurde  von  ihm  sehr  freundlich  auf- 
genommen. Aus  seinen  anfangs  ziemlich  bunt  gemischten  Bekannten- 
gruppen sonderte  sich  bald  eine  kleine  Zahl  von  Nordländern  heraus, 
lauter  Medizinern,  die  auch  naturwissenschaftliche  Interessen  pflegten. 
Außer  einem  ehemaligen  Schulgefährten  Haeckels,  dem  Dichtersohne 
Adalbert  Chamisso,  gehörten  der  Zoologe  Harald  Krabbe  aus  Kopen- 
hagen und  ein  junger  schottischer  Arzt  namens  Cowan  unserem 
Kreise  an.  An  den  gewöhnlichen  Wochentagen  besuchten  wir  fleißig 
Krankenhäuser  und  medizinische  Vorlesungen,  aber  nicht  nur  Sonn- 
tags, sondern  auch  Sonnabends  waren  wir  frei,  und  außerdem  gab  es 
zu  Anfang  des  Sommers  zahlreiche  kirchliche  Feiertage.  Wir  teilten 
unsere  Zeit  zwischen  ernsten  Studien  und  heiteren,  mehr  oder  weniger 
naturgeschichtlichen  Ausflügen.  Als  ich  am  1.  Mai  in  Wien  anlangte, 
lagen  die  dicht  belaubten  und  im  Anfang  der  Blütezeit  stehenden 
Kastanienalleen  des  damals  noch  recht  breiten  Glacis  unter  einer 
wuchtigen  Schneedecke,  und  die  Höhen  des  Wiener  Waldes  blickten 
weiß  verschneit  zur  Stadt  herüber.  Das  junge  Buchenlaub  war 
erfroren,  aber  auf  den  kalten,  winterlichen  Gruß  folgte  ein  unge- 
wöhnlich warmer  und  fast  regenloser  Sommer,  der  unsere  Wander- 
pläne kaum  jemals  störte.  Die  zahlreichen  arbeitsfreien  Tage  be- 
nutzten wir  zu  Ausflügen  in  die  schönen  Umgebungen  Wiens,  in  die 
wir  Budapest  und  den  Neusiedler  See,  Laxenburg  und  den  Semmering 
mit  der  Raxalp  einbezogen.  Überwiegend  war  bei  uns,  und  auch 
bei  Haeckel,  die  Freude  an  der  schönen  Natur,  insbesondere  an  der 
reichen  Flora,  vertreten,  doch  ließen  uns  unsere  Zoologen  auch  an 
mancherlei  Beobachtungen  über  Tiere,  namentlich  über  Insekten, 
teilnehmen.  An  unseren  gemeinsamen  Verkehr  gewöhnten  wir  uns 
bald  so  sehr,  daß  wir  auch  an  den  Arbeitstagen  zur  Mittagsstunde 

373 


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und  am  Abend  fast  regelmäßig  zusammentrafen.  Volksleben  und 
Ungarwein  sowie  die  Schätze  der  Kunst  haben  wir  damals  genügend 
gewürdigt;  nur  der  Verkehr  mit  der  holden  Weiblichkeit  Wiens  kam 
bei  unsern  vielseitigen  Bestrebungen  etwas  zu  kurz. 

So  mannigfaltig  auch  die  Tatsachen  und  Beobachtungen  waren, 
die  Haeckel  und  ich  auf  unsern  Ausflügen  austauschten,  so  entsinne 
ich  mich  doch  aus  jenen  Wiener  Tagen  nur  einer  einzigen  kurzen 
Aussprache,  in  der  wir  unsere  naturwissenschaftlichen  Grundanschau- 
ungen berührten.    Es  war  die  Zeit,  in  der  Wallace  und  Darwin  den 
Sauerteig  ihrer  entwicklungsgeschichtlichen  Ideen  noch  nicht  in  die 
reichhaltige  Tatsachensammlung  der  Zoologie  und  Botanik  hinein- 
geworfen hatten.    Wohl  gab  es  manche  Forscher  —  ich  nenne  nur 
Lyell,  Weddell  und  Naudin  —  die  nicht  an  die  Spezies  der  Cuvierschen 
Lehre  glaubten,  aber  keiner  von  ihnen  überblickte  ein  hinreichend 
weites  Gebiet,  um  die  herrschenden  Schulmeinungen  ernstlich  be- 
kämpfen zu  können.     Frei   von   dem  Zwange  kirchlicher  Dogmen, 
suchte   auch  ich  eifrig  nach  Beweisen  für  die  Wandelbarkeit  der 
organischen  Arten  und  glaubte  sie  damals  besonders  bei  Rubus,  bei 
Lotus,  in  der  Gruppe  der  Silene  inflata  und  in  ähnlichen  Fällen  zu 
finden.    Eines  Tages  stellte  mich  nun  Haeckel  ernstlich  zur  Rede 
wegen  meiner  zwecklosen  Beschäftigung  mit  gleichgültigen  Abarten 
und  „schlechten"  Arten.    Ich  hatte  vor  kurzem  auf  einem  Ausfluge 
eine  gute  Saxifraga  verkannt,  was  Haeckel  als  eine  Folge  meiner 
törichten  Liebhaberei  für  die  „Varietäten"  auffaßte.  Auf  seine  Frage, 
was  ich  damit  bezwecke,  erwiderte  ich,  daß  ich  in  solchen  Abände- 
rungen beginnende  neue  Arten  vermute.   Haeckel  meinte  darauf,  eine 
solche  Anschauungsweise  sei  zwar  verständlich,  aber  er  halte  sie  ent- 
schieden für  unrecht;  er  wolle  den  Lehren  seines  alten  würdigen 
Geistlichen  treu  bleiben,  nach  welchem  die  wirklichen  Arten  unver- 
änderlich und  einstmals  selbständig  erschaffen  seien.    Ich  war  über- 
rascht von  diesen  Ansichten  meines  sonst  so  vorurteilsfreien  Freundes, 
ahnte  aber  nicht,  daß  bei  ihm  schon  so  bald  der  amicus  Plato  durch 
die  magis  amica  veritas  in  den  Hintergrund  gedrängt  werden  würde. 
Als  ich  zu  Anfang  1858  für  einige  Monate  nach  Berlin  kam,  traf 
ich  dort  Haeckel  im  Elternhause  und  kurz  vor  Beendigung  seines 
medizinischen  Staatsexamens  an.    Unter  diesen  Verhältnissen  sahen 
wir  uns  seltener,  doch  konnte  ich  damals  meine  Stellung  als  Mediziner 
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benutzen,  um  ihn  während  der  Absperrung,  der  er  und  dann  auch 
seine  alte  Mutter  als  Pockenkranke  unterworfen  wurden,  zu  besuchen. 
Durch  gelegentlichen  brieflichen  Verkehr  blieb  ich  mit  Haeckel 
in  Verbindung,  verfolgte  ihn  auf  seiner  Italienfahrt,  wurde  durch 
ihn  auf  meinen  engeren  Landsmann  Hermann  Allmers  aufmerksam 
und  begrüßte  schließlich  die  reife  Frucht  der  Reise ,  das  große  schöne 
Radiolarienwerk,  mit  Freude.  Aus  meinem  begeisterten  und  schwär- 
menden Freunde  war  nun  ein  anerkannter  Forscher  geworden  und 
die  Entwicklungslehre  trennte  uns  nicht  mehr. 


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375 


L.   REH,  HAMBURG:   ERNST  HAECKEL,  ER- 
INNERUNGEN UND  EINDRÜCKE 

o  o  o 

Etwa  in  meinem  15.  Lebensjahre  fiel  mir  ein  Schriftchen  in  die 
Hand:  „Glaubensbekenntnisse  eines  modernen  Naturforschers", 
dessen  Urheberschaft  in  einer  ihm  beiliegenden  Anpreisung  dem  jungen 
Virchow  zugeschrieben  wurde.  Über  seinen  Wert  vermag  ich  heute 
nichts  mehr  zu  sagen.  Damals  wirkte  es  jedenfalls  wie  eine  Offenba- 
rung auf  mich.  In  meinem  Innersten  schlummernde  Gedanken  und 
Urteile,  die  von  mir  seither  gewaltsam  unterdrückt  waren,  fanden 
hier  schärfsten,  klaren  Ausdruck.  Ich  wurde  gewissermaßen  aus  einer 
geistigen  Lethargie  aufgeweckt.  Die  Folge  war,  daß  ich  von  nun  an 
alles  gierig  verschlang,  was  mir  über  Darwin,  Haeckel  usw.  in  die 
Hände  fiel,  Gutes  und  Schlechtes.  Etwa  in  meinem  17.  Jahre  las 
ich  dann  auch  Haeckels  „Schöpfungsgeschichte",  die  auf  mich  ebenso 
mächtig  einwirkte  wie  auf  Tausende  anderer  Menschen,  und  die  mich 
endgültig  zu  einem  begeisterten  Anhänger  Haeckels  machte. 

Von  Kind  auf  zum  Zoologen  bestimmt,  war  es  nun  selbstverständ- 
lich, daß  ich  in  Jena  studieren  würde.  Sofort  nach  meinem  Abitu- 
rium  ging  ich  schon  zur  Ableistung  meines  Militär] ahres  dorthin. 
Meine  Absicht,  nebenbei  bei  Haeckel  und  anderen  Vorlesungen  zu 
hören,  konnte  ich,  wie  nicht  anders  zu  erwarten,  nur  höchst  unvoll- 
kommen ausführen.  Hierdurch  und  durch  die  mangelhaften  Kennt- 
nisse in  der  Zoologie,  die  ich  von  der  Schule  mitgebracht  hatte,  er- 
klärt es  sich  wohl,  daß  ich  mich  in  nichts  mehr  an  den  Inhalt  der 
Vorlesungen  bei  Haeckel  erinnere. 

Umso  mehr  an  seine  Persönlichkeit.  Wohl  war  sie  mir  durch  Schriften 
von  ihm  und  über  ihn,  durch  Porträts  usw.  vertraut.  Immerhin  war 
der  Eindruck,  als  ich  Haeckel  nun  in  vollem  Leben  auf  dem  Katheder 
sah,  ein  so  mächtiger,  daß  mir  heute  noch  sein  damaliges  Bild  leben- 
diger vor  Augen  steht,  als  das  aus  seinen  späteren  Jahren,  das  sich 
nur  wenig  mit  jenem  vermischte.  Wenn  ich  an  Haeckel  denke,  sehe 
ich  immer  noch  den  53  jährigen,  noch  ganz  blonden,  aufrechten, 
frischen  Mann  vor  mir,  wie  er  auf  dem  Katheder  steht,  den  Blick  meist 
durch  das  Fenster  zu  seiner  Rechten  in  die  Ferne,  auf  seine  geliebten 
Saalberge  gerichtet,  nur  hie  und  da  ihn  über  seine  Zuhörer  schweifen 

376 


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lassend,  halb  geistesabwesend,  halb  durchdringend,  als  ob  er  in  der 
Seele  jedes  Einzelnen  lesen  wollte.  Auch  die  großen,  abgerundeten, 
schwunghaften  Bewegungen  sehe  ich  noch  vor  mir,  mit  denen  er  die 
Zeichnungen  an  die  große  Wandtafel  entwarf,  immer  nur  großzügig  das 
Wesentliche  betonend,  nebensächliche  Kleinigkeiten  vollständig  außer 
Acht  lassend.  So  machte  es  mir  immer  besonderen  Spaß,  daß  er  keine, 
eigentlich  geschlossene  Kurve  auch  wirklich  schloß,  sondern  nur  so- 
weit führte,  bis  man  sah,  sie  solle  sich  schließen;  den  Rest  zu  ergänzen 
überließ  er  seinen  Hörern. 

Besondere  Verhältnisse  veranlaß ten  mich,  nach  Abdienung  meines 
Militär jahres  zunächst  wieder  nach  meiner  Heimat,  Darmstadt,  zu- 
rückzukehren und  hier  einige  Semester  zu  studieren.  Aber  auch  hier 
blieb  ich  bis  zu  gewissem  Grade  unter  Haeckelschem  Einflüsse,  in- 
dem meine  beiden  Zoologie-Lehrer  Schüler  von  Haeckel  waren,  der 
künstlerisch  hochbegabte  Prof.  Dr.  G.  von  Koch  und  der  genial- 
philosophische, wie  ein  leuchtendes  Meteor  am  Biologen-Himmel  auf- 
tauchende und  ebenso  rasch  und  vollständig  wieder  verschwindende 
Wilhelm  Haacke,  beide  grundverschieden  voneinander,  geradezu 
Gegensätze,  beide  aber  in  gewissen  Seiten  ihres  Wesens  mit  Haeckel 
übereinstimmend,  auf  jeden  Fall  seinen  Geist  und  Einfluß  weiter- 
gebend. 

Als  ich  dann  später  wieder  für  meine  Schlußsemester  nach  Jena 
kam,  hatte  Haeckel  sich  von  seiner  Lehrtätigkeit  schon  ziemlich 
zurückgezogen.  Zwar  seine  Vorlesungen  hielt  er  noch;  das  Prakti- 
kum für  Mediziner  usw.  leitete  er  noch  ein,  überließ  es  dann  aber  in 
der  Hauptsache  seinem  Assistenten.  In  das  große  Praktikum  kam 
er  nur  selten  und  nur  vorübergehend.  So  konnte  naturgemäß  sein 
Einfluß  auf  uns  Studenten  nicht  mehr  so  groß  und  unmittelbar  sein, 
wie  in  früheren  Jahren,  in  denen  er  sich  noch  ausgiebiger  mit  diesen 
abgab. 

Hier  seien  mir  einige  Worte  über  seine  Vorlesungen  gestattet. 
Seit  nahezu  30  Jahren  hatte  er  sie  schon  gehalten;  die  Verbindung 
mit  der  Masse  seiner  Zuhörer  beschränkte  sich  in  der  Hauptsache 
auf  die  Prüfungen.  So  ist  es  wohl  verständlich,  wenn  ihm  allmählich 
das  Empfinden  dafür  abhanden  gekommen  war,  was  und  wieviel  er 
bei  diesen  voraussetzen  oder  vielmehr  eigentlich  nicht  voraussetzen 
durfte.    In  der  Hauptsache  bestand  das  Auditorium  damals  aus  Medi- 

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zinern  und  anderen  Gymnasialabiturienten,  denen  in  der  Zoologie 
gewöhnlich  auch  die  elementarsten  Vorkenntnisse  fehlten.  Kein  Wun- 
der, daß  sie  seinen  Vorlesungen  schlecht  folgen  und  ihnen  kein  oder 
nur  wenig  Interesse  abgewinnen  konnten.  Besonders  trat  das  hervor 
bei  denen,  die  Ostern  kamen  und  nun  sofort  die  „Allgemeine  Zoo- 
logie" hörten,  die  ihnen  zum  großen  Teile  unverständlich  bleiben 
mußte. 

Ganz  anders  war  dagegen  der  Eindruck  auf  uns  Zoologie-Studie- 
rende, besonders  auf  uns  ältere,  die  wir  über  die  nötigen  Vorkenntnisse 
schon  verfügten,  Die  Durchgeistigung  und  vollkommene  Beherr- 
schung des  Stoffes,  die  klare,  immer  von  großen  Gesichtspunkten  be- 
herrschte Vortragsweise  Haeckels  machten  uns  seine  Vorlesungen 
geradezu  zu  einem  hohen  Genüsse,  namentlich  seine  „Allgemeine 
Zoologie",  die  ich  im  ganzen  dreimal  hörte,  mit  immer  steigendem 
Verständnisse  und  Genüsse. 

Typisch  für  Haeckels  Vorlesungen,  und  im  Gegensatz  zu  vielen 
anderen  war,  daß  er  nie  die  Tatsachen  als  Selbstzweck  vorbrachte, 
also  nicht  eigentlich  seinen  Hörern  Kenntnisse  vermitteln  wollte; 
alle  Tatsachen  waren  vielmehr  für  ihn  nur  Beziehungen,  nur  Glieder 
einer  Kette,  nur  Äußerungen  von  Naturgesetzen.  Ganz  besonders 
trat  diese  philosophische  Durchdringung  auch  des  sprödesten  Tat- 
sachenmateriales  hervor,  als  Haeckel  in  unserem  letzten  Winter- 
semester in  seiner  Vorlesung  über  die  Wirbeltiere  mit  größter  Ge- 
nauigkeit und  Ausführlichkeit  die  Zahnformeln  der  ausgestorbenen 
und  lebenden  Säugetiere  behandelte,  nicht  gerade  zur  Erbauung  seiner 
medizinischen  Hörer,  auch  nicht  zum  Ergötzen  von  uns  älteren  Zoo- 
logie-Studierenden, die  wir  bald  bei  ihm  promovieren  wollten  und 
nur  mit  Schrecken  an  diese  Unendlichkeit  von  Zahlenformeln  denken 
konnten.  In  der  Vorlesung  war  es  für  uns  aber  bewundernswert 
zu  sehen,  wie  Haeckel  nicht  nur  alle  diese  Formeln  beherrschte, 
sondern  auch  zu  deuten  und  zu  verknüpfen  verstand,  daß  uns  an  ihnen 
die  Phylogenie  der  Säugetiere  fast  plastisch  entgegentrat.  Und,  nur 
nebenbei  sei  es  bemerkt,  in  der  Prüfung  verschonte  uns  Haeckel  mit 
den  Formeln,  bzw.  nahm  es  nicht  übel,  wenn  wir  sie  nicht  genau 
kannten,  solange  wir  nur  ihren  Sinn  zu  deuten  wußten. 

Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  daß  so  leicht  kein  Akademiker  den 
Einfluß  seiner  Lehrer  im  späteren  Leben  verleugnen  kann.   Fast  jeder 

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378 


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der  letzteren,  sobald  er  nur  von  einiger  Bedeutung  ist,  macht 
„Schule".  Man  sollte  nun  annehmen,  daß  der  Einfluß  einer  so  über- 
ragenden Persönlichkeit  wie  der  Haeckels  auf  seine  Schüler  ein  ganz 
besonders  großer  hätte  sein  müssen,  daß  also  Haeckel  ganz  besonders 
„Schule"  gemacht  habe.  Wie  alle  seine  Freunde  wissen,  und  wie 
Haeckel  selbst  oft  zugegeben  hat,  offenbar  mit  einem  leisen  Be- 
dauern, ist  das  aber  keineswegs  der  Fall.  So  groß  sein  Einfluß  auf 
unser  allgemeines  Kulturleben  ist,  so  gering  war  er  verhältnismäßig 
auf  seine  Schüler.  Er  selbst  rechnet  nur  wenige  seiner  früheren  Hörer 
dazu;  und  ich  bin  stolz  darauf,  von  ihm  selbst  dazu  gestellt  zu  werden. 

Auch  nach  meinem  Abgange  von  der  Universität  suchte  ich  diesen 
Einfluß  Haeckels  auf  mich  zu  erhalten,  durch  Studium  seiner 
Schriften,  der  alten  und  der  neu  erscheinenden.  Gelegentliches 
Wiedersehen,  hie  und  da  ein  Brief  und  andere  Freundschaftszeichen 
Haeckels  sorgten  dafür,  daß  auch  der  unvergleichliche  Zauber  seiner 
einzigartigen  Persönlichkeit  nicht  erlosch. 

Es  dürfte  schwer  der  ganze  Einfluß  einer  so  vielseitig  genialen 
Persönlichkeit  auf  seine  beeinflußbaren  Schüler  festzustellen  sein. 
Ich  möchte  daher  nur  drei  Seiten  seines  Charakters  kurz  erwähnen, 
die  immer,  im  Hörsaale,  im  Verkehr  und  in  seinen  Schriften  beson- 
deren Eindruck  auf  mich  machten. 

In  erster  Linie  dürfte  da  Haeckels  künstlerische  Betrachtung  der 
ganzen  Natur,  seine  glühende  Begeisterung  für  alle  ihre  Schönheiten, 
von  ganzen  Landschaften  bis  herab  zu  den  kleinsten  ihrer  Gebilde, 
zu  nennen  sein,  die  überall  bei  ihm  zutage  trat  und  seinen  Vorlesungen 
einen  eigenen  Reiz  verliehen.  Haeckels  Bedeutung  für  die  künst- 
lerische Wertschätzung  der  Natur  ist  so  allgemein  anerkannt,  daß 
hierüber  Worte  nicht  weiter  zu  verlieren  sind. 

Wie  schon  erwähnt,  war  die  geistige,  philosophische  Durchdrin- 
gung des  wissenschaftlichen  Tatsachenmateriales  wohl  die  hervor- 
stechendste Eigenart  seiner  Vorlesungen  und  ist  es  auch  in  seinen 
Werken.  Darauf  beruht  ja  auch  in  erster  Linie  seine  allgemeine  Be- 
deutung. Selbst  seine  ärgsten  Gegner  stehen  hierin  völlig  unter  seinem 
Einflüsse.  Es  braucht  also  auch  hierauf  nicht  weiter  eingegangen  zu 
werden. 

Wie  oft  wurde  und  wird  Haeckel  der  Vorwurf  gemacht,  er  spiele  sich 
als  „Papst"  auf.  Kaum  Jemand  aber  kann  bescheidener  und  duld- 
§Si3333333333ilS93E]E]ggggG]ggggg§E]gE]E]E]gE)G]E]G]G]E]Eiü]E]E]GSG]G]E]E] 

379 


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samer  sein  als  gerade  er.  Immer  und  immer  wieder  führte  er  uns, 
seinen  Schülern,  zu  Gemüte,  und  bekennt  er  auch  in  seinen  Schriften, 
daß  es  keine  absolute  Wahrheit  gäbe,  sondern  nur  eine  relative.  Unsere 
Naturkenntnis  und  -erkenntnis  im  kleinsten  wie  im  größten,  von 
einer  beliebigen  Tatsache  bis  zu  Weltanschauungsfragen,  sind  nur 
Produkte  unseres  gegenwärtigen  Entwicklungszustandes.  Wahrheit 
als  solche  gibt  es  nicht,  nur  relative  Augenblicks  Wahrheit,  die  aber 
jeder  Mensch  zu  ergründen  suchen  müsse  und  für  die  er  mit  seinem 
ganzen  Wesen  einzustehen  habe. 

Diese  Einsicht  macht  bescheiden  und  duldsam.  Und  Bescheiden- 
heit und  Duldsamkeit  sind  mit  die  hervorragendsten  Charakterzüge 
Haeckels,  die  ihm  von  seinen  Gegnern  zwar  immer  abgesprochen 
werden,  die  aber  seine  Freunde  und  Schüler  immer  wieder  von  neuem 
an  ihm  bewundern  müssen.  Unduldsam  wird  Haeckel  nur,  wo  er 
Böswilligkeit  oder  wenigstens  Mangel  an  gutem  Willen  voraussetzt 
oder  vermutet.  Hier  allerdings  kann  er  in  seinem  Urteile  nicht  nur 
außerordentlich  hart,  sondern  selbst  ungerecht  werden.  Gewiß  ist 
das  ein  Fehler  von  ihm.  Aber  wo  wäre  der  seiner  Gegner,  der  frei 
von  Fehlern  ist,  und  wo  ist  der,  der  so  bereit  wäre,  Fehler  und  Irr- 
tümer einzusehen,  einzugestehen  und  wieder  gut  zu  machen  wie 
Haeckel  ? 

Wie  aus  Allem  ersichtlich,  mußte  ich  so  allmählich  von  Haeckels 
Einfluß  förmlich  durchdrungen  werden.  Und  das  erklärt  wohl  auch, 
wie  merkwürdig  es  mir  mit  seinen  „Welträtseln"  erging.  Er  selbst 
sandte  mir  das  Buch  mit  der  Bitte,  darüber  zu  referieren.  Ich  tat 
das  in  der  „Naturwissenschaftlichen  Wochenschrift"  Bd.  15,  1900, 
und  besprach  es,  wie  jedes  andere  Haeckelsche  Buch,  ohne  Ahnung, 
welches  Aufsehen  es  bald  erregen  sollte.  War  doch  für  mich  kein 
Gedanke  darin,  den  ich  nicht  schon  aus  Haeckels  früheren  Schriften 
kannte  oder  der  nicht  eine  einfache,  logische  Folgerung  der  darin 
geäußerten  war  oder  wenigstens  mir  schien. 

Von  dem  Sturme,  den  die  „Worträtsel' '  erregten,  für  und  wider, 
wurde  ich  also  vollkommen  überrascht.  Mag  man  sich  dazu  stellen, 
wie  man  will  —  ich  bekenne  mich  gerne  und  freudig  zu  ihnen  — , 
eines  muß  wohl  auch  der  schärfste  Gegner  zugeben:  sie  haben 
in  einer  Weise  aufrüttelnd  gewirkt,  wie  wohl  selten  ein  Buch.  Die 
geistige  Trägheit,    die  ja  charakteristisch  ist  für  die  große  Masse, 

380 


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hat  einen  Stoß  erhalten,  der  sich  noch  jetzt,  nach  15  Jahren  über- 
all fühlbar  macht.  Die  lebhafte,  an  sie  anknüpfende  Diskussion  hat 
allseitig  ein  früher  nie  für  möglich  gehaltenes  Interesse  für  die 
Naturwissenschaften  geweckt,  das  seinen  deutlichsten  Ausdruck 
findet  in  der  Flut  von  naturwissenschaftlicher  Literatur,  mit  der 
die  Verleger  sich  gegenseitig  zu  überbieten  suchen.  Mag  man  über 
die  „Volksaufklärung"  denken  wie  man  will,  mag  unter  der  er- 
wähnten Literatur  noch  so  viel  Minderwertiges  sein,  ich  müßte 
kein  Zoologe  und  nicht  ein  Schüler  Haeckels  sein,  wenn  ich  mich  nicht 
über  dies  drängende  Verlangen  nach  naturwissenschaftlicher  und  natur- 
philosophischer Aufklärung  freuen  sollte.  Und  haben  nicht  von  diesem 
Drängen  der  naturwissenschaftliche  Unterricht  in  der  Schule,  die 
naturwissenschaftlichen  Institute  letzten  Endes  große  Förderung  er- 
fahren ?  Ob  das  alles  so  gekommen  wäre  ohne  den  mächtigen  Trom- 
petenstoß der  „Welträtsel"? 

Selbstverständlich  haben  auch  sie  nichts  Neues  geschaffen,  son- 
dern nur  Latentes  geweckt ;  auch  sie  waren  nur  ein  Glied  in  der  Ent- 
wicklung. 

Damit  ist  die  Wirkung  der  Haeckelschen  Schriften  aber  nicht 
erschöpft.  Am  meisten  äußert  sie  sich,  wie  nicht  anders  zu  erwarten, 
in  der  Biologie  selbst,  besonders  in  der  Zoologie  im  weitesten  Sinne. 
Um  sich  ein  Bild  von  dieser  Wirkung  zu  machen,  genügt  es,  zoologische 
Schriften  etwa  aus  der  1.  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  mit  jetzigen 
zu  vergleichen.  Mindestens  in  der  Zoologie  dürfte  seit  Jahrzehnten 
keine  Arbeit  veröffentlicht  sein,  die  nicht  auf  Grundlagen  fußt,  die 
erst  von  Haeckel  in  die  Wissenschaft  eingeführt  sind,  oft  unter  dem 
Widerstände  der  zünftigen  Wissenschaft.  Und  mit  am  meisten  findet 
man  Haeckels  Spuren  in  den  Schriften  seiner  Gegner,  besonders  auf 
naturphilosophischem  Gebiete,  die  oft  völlig  auf  Haeckelschen  Grund- 
lagen aufgebaut  sind,  nur  daß  dann  andere  Folgerungen  daraus  ge- 
zogen werden. 

Aber  unser  ganzes  Leben  ist  von  Haeckelschem  Einflüsse  durch- 
tränkt, unsere  Literatur,  Soziologie,  Ethik,  selbst  die  moderne  Theo- 
logie. Überall  wird  mit  den  Begriffen  Vererbung,  Anpassung,  Kampf 
ums  Dasein,  Zuchtwahl,  Entwicklung  usw.  gearbeitet ;  Begriffe,  deren 
Einführung  in  die  Geisteswissenschaften,  scharfe  Fassung  und  Ver- 
ständnis vorwiegend  Haeckel  zu  verdanken  sind. 

381 


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Fraglich  könnte  es  nur  sein,  wieviel  von  diesen  Begriffen  auf  Dar- 
win, wieviel  auf  Haeckel  zurückzuführen  ist.  Ohne  aber  Darwins 
Verdiensten  irgendwie  zu  nahe  treten  zu  wollen :  das  unterliegt  keinem 
Zweifel,  daß  der  Siegeszug  seiner  Ideen  in  erster  Linie  dem  entschlos- 
senen, begeisterten  und  überzeugenden  Eintreten  Haeckels  für  sie 
zu  danken  ist,  ebenso  wie  ihre  Anwendung  auf  philosophische  Fragen 
und  unsere  ganze  Kultur. 

In  der  Tat  dürften  wir  alle  noch  viel  zu  sehr  unter  der  Einwir- 
kung dieser  Haeckelschen  Gedankenarbeit  stehen,  um  sie  ganz  wür- 
digen und  überschauen  zu  können.  Ihr  völlig  gerecht  zu  werden, 
bleibt  der  Zukunft  überlassen. 


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HEINRICH  HAECKEL:  PERSÖNLICHE  ERINNE- 
RUNGEN AN  ERNST  HAECKEL 


o  o  o 


Wenn  es  mir  als  einem  der  nächsten  Verwandten  Ernst  Haeckels 
vergönnt  ist,  an  dieser  Stelle  zu  schildern,  wie  er  durch  seine 
Person  und  durch  seine  Ideen  auf  mich  einwirkte,  so  hat  diese  Schil- 
derung vielleicht  darin  etwas  Besonderes,  von  den  übrigen  Beiträgen 
zu  dieser  Festschrift  Abweichendes,  als  sie  einmal  zeigen  kann,  wie 
die  Einwirkung  sich  gestaltete,  wenn  sie  schon  in  frühester  Jugend 
auf  ein  Kind  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  traf,  und  sodann,  weil 
ich  in  fünfzigjährigem,  innigen  Verkehr  mit  dem  seltenen  Manne 
sein  Wesen  so  gut  kennen  lernte  wie  nur  wenige;  die  Begeisterung 
des  Knaben  für  seine  urgermanische  Lichtgestalt  ging  bei  wachsen- 
dem Verständnis  seiner  gewaltigen  Leistungen  über  in  bewunderndes 
Aufschauen  zum  Heros  der  Wissenschaft,  um  im  Lauf  der  Jahre 
bei  immer  tieferem  Vertrautwerden  mit  dem  Menschen  sich  zu  warmer 
Freundschaft  zu  entwickeln. 

Soweit  mein  Gedächtnis  in  die  ersten  Zeiten  dämmernden  Bewußt- 
seins zurückreicht,  leuchtet  Ernst  Haeckel  als  die  markanteste  Per- 
sönlichkeit unter  allen  Erinnerungsbildern  hervor.  Ein  sehr  aus- 
geprägter Familiensinn  verband  ihn  aufs  innigste  mit  seiner  Mutter, 
meiner  Großmutter,  und  seinem  einzigen,  um  10  Jahre  älteren  Bruder, 
meinem  Vater.  Dadurch  daß  die  Großmutter  als  Witwe  nach  Pots- 
dam, dem  Wohnsitz  meines  Vaters,  zog  und  zuletzt  in  demselben 
Hause  mit  uns  wohnte,  kam  es,  daß  Ernst  Haeckel  wenigstens  zwei- 
mal in  jedem  Jahr  zu  längerem  Besuch  zu  uns  kam.  Diese  Zeiten  wur- 
den stets  als  ein  Fest  erwartet,  das  Strahlende  seiner  sieghaften  Natur 
brachte  Licht  und  erhöhtes  Leben  in  das  Haus,  seine  Liebenswürdig- 
keit und  übersprudelnde  Lustigkeit  im  Umgang  mit  der  übermütigen 
Kinderschar  nahm  uns  völlig  gefangen,  und  so  wirkte  schon  auf  mich 
als  Knaben  der  Zauber  seiner  gewinnenden  Persönlichkeit. 

Daneben  aber  dämmerte  schon  bald  die  Empfindung  auf,  einen 
ungewöhnlich  groß  angelegten,  schöpferischen  Mann  vor  sich  zu 
haben.  Schon  die  Art  seiner  Zeitverwendung  zwang  uns  zur  Be- 
wunderung. Das  war  ganz  etwas  anderes,  als  was  wir  unter  Genuß 
der  Ferien  verstanden.    Saß  er  im  Zimmer  bei  der  Großmutter,  so 

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383 


erging  er  sich  nicht  in  bloßer  Unterhaltung,  sondern  es  wurde  stets 
eine  Arbeit  dabei  vorgenommen.  Auf  einem  möglichst  großen  Tisch 
wurden  Bücher,  Schreibpapier,  Farbennäpfchen,  Skizzenbücher  aus- 
gebreitet, und  nun  wurde  geschrieben,  Druckbogen  wurden  korri- 
giert, Aquarellskizzen  von  Landschaften  feiner  ausgeführt  und  da- 
zwischen gesprochen,  aber  während  des  Plauderns  ruhte  nie  die 
Arbeit.  Auf  Spaziergängen  in  der  Umgebung  Potsdams  bemerkten 
wir  mit  freudigem  Erstaunen,  wie  er,  der  die  herrlichsten  Land- 
schaften fast  der  ganzen  Welt  gesehen,  für  die  Reize  unsrer  märkischen 
Heimat  voll  empfänglich  geblieben  war.  Abends  war  er  stets  bereit, 
die  reichen  Schätze  seiner  Skizzen,  die  er  als  Nebenfrucht  seiner 
ausgedehnten  zoologischen  Forschungsreisen  mit  heimgebracht,  zu 
zeigen.  Es  machte  ihm  selbst  das  größte  Vergnügen,  dabei  seine 
Reiseerlebnisse  zu  erzählen  und  eine  Schilderung  der  Gegenden  zu 
geben,  und  so  übertrug  er  früh  seine  Reiselust  und  den  Drang  in 
die  Ferne  auf  die  aufmerksam  lauschenden  Zuhörer. 

Besonderen  Eindruck  machte  die  Art,  wie  grundverschiedene 
Weltanschauungen  hier  aufeinander  trafen  und  doch  sehr  gut  mit- 
einander auskamen.  Die  Mutter  und  der  Bruder  standen  auf  einem, 
wenn  auch  liberalen,  so  doch  durchaus  festen  christlichen  Stand- 
punkt, sie  waren  überzeugt  religiöse  Naturen  in  den  Bahnen  Schleier- 
machers, zu  dessen  Füßen  die  Mutter  gesessen  hatte  —  und  daneben 
der  Sohn,  der  volle  Freigeist,  der,  sprühend  von  Übermut,  gelegentlich 
auch  leichte  Neckereien  gegen  den  frommen  Glauben  der  Mutter 
nicht  zurückhalten  konnte.  Da  war  es  rührend  und  reizend  zugleich 
zu  sehen,  wie  bei  der  sonst  so  strengen  Frau  das  Bestreben,  ihren 
eigenen  religiösen  Standpunkt  zu  wahren,  stritt  mit  der  innigen 
Liebe  zu  „ihrem  Jungen",  wie  sie  noch  in  hohen  Jahren  den  Sohn 
zu  nennen  pflegte,  und  dem  Stolz  auf  die  wachsende  Berühmtheit 
des  Sohnes.  Aber  nie  führte  dieses  liebenswürdige  Geplänkel  zu  einem 
ernsthaften  Konflikt. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  begreiflich,  daß  Ernst  Haeckels 
Ideen  Eingang  bei  mir  fanden,  sobald  ich  Weltanschauungsfragen 
näher  trat.  Die  „Natürliche  Schöpfungsgeschichte"  wurde  von  mir 
und  gleichgesinnten  Freunden  schon  während  der  Schulzeit  mit  Be- 
geisterung verschlungen,  bald  kamen  die  populären  Vorträge  und 
die  „Anthropogenie"  dazu.    Ein  Vortrag,  von  ihm  in  der  Wohnung 

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der  Großmutter  vor  Freunden  und  Bekannten  über  die  Gasträa- 
theorie  an  der  Hand  von  vielen  Tafeln  mit  Abbildungen  gehalten, 
ist  einer  meiner  ersten  Eindrücke  naturwissenschaftlicher  Art. 

So  kam  es,  daß  die  Entwicklungslehre,  fast  möchte  ich  sagen, 
mit  der  Muttermilch  von  mir  eingesogen  wurde.  Später,  beim  Studium 
der  Medizin,  vor  allem  durch  die  Vorlesungen  Gegenbaurs,  konnten 
die  Haeckelschen  Ideen  nur  noch  befestigt  und  vertieft  werden. 
Die  hohe  Blüte  aller  Gebiete  der  Naturerkenntnis,  der  volle  Glanz 
des  Zeitalters  der  Naturwissenschaft  lag  auf  meiner  Studienzeit. 
Nimmt  man  dazu,  daß  auch  Haeckels  Goetheverehrung  früh  auf  mich 
überging  und  in  dem  weimarischen  Großen  die  reifste  Frucht  deut- 
schen Geisteslebens  erblicken  ließ,  so  ist  es  erklärlich,  daß  sich  mir 
nach  nur  geringem  Kampf  mit  anderen  Gedankenkreisen  eine  Welt- 
anschauung in  den  Bahnen  der  Entwicklungslehre  wie  von  selbst  ge- 
staltete und  bis  heute  zu  restlos  innerer  Befriedigung  unverändert 
geblieben  ist.  Die  Bildung  dieser  Weltanschauung  ging  so  vor  sich, 
daß  sie  mir  wie  ein  Produkt  der  Natur,  wie  ein  durchaus  selbst- 
verständlicher Ausfluß  der  Atmosphäre,  in  der  ich  atmete,  erschien 
und  mich  vor  vielen  Konflikten  zwischen  Glauben  und  Wissen  be- 
wahrte, mit  denen  andre  sich  lange  auseinanderzusetzen  haben.  Da- 
für ist  mir  freilich  das  Glücksgefühl  der  Anderen  entgangen,  bei  denen 
das  Bekanntwerden  mit  Haeckels  Ideen  in  reiferen  Jahren  wie  eine 
plötzliche  Offenbarung  wirkte.  Viele,  und  besonders  solche,  die  aus 
strengkirchlichen  und  hochkonservativen  Kreisen  stammen,  haben 
mir  geschildert,  wie  es  ihnen  namentlich  beim  Lesen  der  „Welträtsel" 
wie  Schuppen  von  den  Augen  gefallen  sei,  wie  sie  auf  einmal  befreit 
von  verstaubten  Vorurteilen  die  frische  Luft  der  neuen  Erkenntnis 
eingesogen,  freudig  erstaunt  in  eine  freie,  lichte  Welt  neuer  Vor- 
stellungen geschaut  haben. 

Später  war  es  mir  während  meiner  mehr  als  zehnjährigen  Tätig- 
keit als  Assistent  an  der  chirurgischen  Klinik  in  Jena  und  Dozent  an 
der  Universität  vergönnt,  in  fast  täglichem  Verkehr  Ernst  Haeckel 
näher  und  näher  zu  treten  und  voll  den  Zauber  zu  empfinden,  dem 
die  meisten  unterliegen,  welche  persönlich  mit  ihm  in  Berührung 
kommen.  Neben  der  gewinnenden  Liebenswürdigkeit  und  frischen 
Natürlichkeit  seines  Wesens  trat  imponierend  hervor  der  hohe  sitt- 
liche Gehalt  seiner  Persönlichkeit.    Bei  all  seinen  Äußerungen  auf 

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25     Haeckel-Festschrift.   Bd.  II  385 


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dem  Katheder  und  im  Gespräch  hatte  man  den  Eindruck  vollkom- 
mener Ehrlichkeit  und  Aufrichtigkeit ;  man  fühlte:  das,  was  er  sagt, 
ist  seine  feste  Überzeugung.  Für  ihn  waren  die  Worte  nicht  da, 
um  die  Gedanken  zu  verbergen.  Nun  gibt  es  viele,  die  zwar  nichts  gegen 
ihre  Überzeugung  sagen,  aber  noch  lange  nicht  alles  sagen,  was  ihre 
Überzeugung  ist.  „Das  Beste,  was  du  wissen  kannst,  darfst  du  den 
Buben  doch  nicht  sagen"  ist  nie  Haeckels  Sache  gewesen.  In  seinem 
erfrischenden  Freimut  hielt  er  nie  mit  seiner  Ansicht  hinter  dem 
Berge,  und  äußere  Rücksichten  konnten  ihn  nie  dazu  bringen,  seine 
wahre  Meinung  zu  unterdrücken.  Aber  die  hohe  Auffassung  seines 
Berufs  als  Forscher  und  Lehrer  führten  ihn  noch  weiter;  war  das, 
was  seine  eigene  Überzeugung  geworden,  richtig,  so  empfand  er  es 
als  zwingende  Pflicht,  es  nicht  bloß  einem  kleinen  Kreise  von  Zu- 
hörern, sondern  mit  allen  Konsequenzen  Allen  zugänglich  zu  machen, 
und  so  entstanden  seine  zahlreichen,  für  die  weitesten  Kreise  be- 
rechneten Werke.  Wie  sehr  sie  in  das  Volk  gedrungen,  sehe  ich  oft 
beim  Gang  durch  die  Säle  meines  Krankenhauses ;  da  finde  ich  oft  die 
Welträtsel  bei  den  einfachsten  Leuten,  denen  ich  nie  die  Neigung  zu 
solchen  Studien  zugetraut  hätte. 

So  überzeugt  Haeckel  klar  Erkanntes  festhielt,  klebte  er  doch 
nicht  an  vorgefaßten  Meinungen  fest,  sondern  war  bereit,  sie  bei 
besserer  Erkenntnis  zu  ändern.  So  wurde  er,  politisch  sonst  nicht 
im  Sinne  von  Parteileben  ausgesprochen  interessiert,  aus  einem 
Gegner  Bismarcks,  in  dem  er  zur  Konfliktszeit  nur  den  reaktionären 
preußischen  Junker  sah,  mit  der  Zeit  ein  begeisterter  Verehrer  des 
Reichsgründers  und  einer  der  Hauptveranlasser  zu  dem  berühmten 
Besuch  Bismarcks  in  Jena  1892.  Lebhaft  steht  mir  vor  Augen  die 
Art,  wie  die  Einladung  zu  diesem  Besuch  zustande  kam,  und  sie  ist 
zugleich  sehr  bezeichnend  für  Haeckels  Weise,  frisch  und  unbe- 
kümmert um  Schwierigkeiten  und  Bedenken  eine  Sache  in  die  Hand 
zu  nehmen.  Wir  saßen  an  einem  warmen  Juliabend  auf  der  Schweizer- 
höhe, einer  jener  kleinen  Bergwirtschaften  bei  Jena,  die  Erregung 
über  die  Ereignisse  bei  Bismarcks  Aufenthalt  in  Wien  war  groß, 
sein  begeisterter  Empfang  in  München  wurde  lebhaft  besprochen. 
Da  warf  einer  aus  der  Korona  das  Wort  hin,  dann  könne  man  ja 
auch  Bismarck  nach  Jena  einladen.    Halb  als  Phantasiespiel  wurde 

alsbald  ausgesponnen,  was  man  ihm  in  Jena  bieten  könne,  was  für 

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ein  Programm  ins  Auge  zu  fassen  sei,  doch  fast  niemand  nahm  die 
Sache  ernst,  da  es  ausgeschlossen  schien,  daß  Bismarck  in  unsere 
kleine  Universitätsstadt  kommen  werde.  Bei  Haeckel  aber  blieb  diese 
hingeworfene  Idee  sitzen:  warum  sollte  man  es  nicht  versuchen? 
Das  Schlimmste  könne  eine  Ablehnung  sein;  eine  solche  Gelegenheit 
kehre  nie  wieder,  also  frisch  gewagt !  Schon  nach  wenigen  Tagen  war 
er  mit  einigen  Gleichgesinnten  auf  der  Reise  nach  Kissingen,  um 
Bismarck  einzuladen,  auf  der  Rückreise  nach  Varzin  in  Jena  Aufent- 
halt zu  nehmen.  Der  Empfang  dort  war  über  Erwarten  freundlich, 
und  es  kam,  was  die  Einladenden  selbst  kaum  gehofft  hatten,  zu 
dem  unvergeßlichen  Besuch  des  Fürsten  in  Jena. 

Erstaunlich  war  seine  Arbeitskraft  und  -lust.  Während  des  Se- 
mesters sah  ihn  sein  Institut  Tag  für  Tag  mit  der  größten  Regel- 
mäßigkeit an  der  Arbeit,  vom  Morgen  bis  spät  in  den  Abend,  nur  durch 
die  Vorlesung  und  eine  kurze  Mittagspause  unterbrochen.  Um  in  der 
Woche  möglichst  ungestörte  Zeit  zum  Hintereinanderarbeiten  zu 
haben,  wurde  im  Anfang  des  Winters  regelmäßig  eine  kleine  Komödie 
aufgeführt.  Die  Studenten,  welche  das  sehr  beliebte  zoologische 
Praktikum  Haeckels  belegen  wollten  —  es  stand  im  Lektionskatalog 
unter  „noch  zu  bestimmenden  Stunden"  —  mußten  sich  äußern, 
welche  Stunden  sie  noch  frei  hätten;  bei  allen  Überlegungen  fanden 
sich  natürlich  nie  in  der  Woche  Stunden,  welche  allen  paßten,  und  so 
wurde  durch  freie  Wahl  der  Studiosen  das  Praktikum  stets  auf 
4  Stunden  des  Sonntagsvormittags  gelegt :  eine  unerhörte  Abweichung 
von  alten  akademischen  Gewohnheiten  —  aber  die  Studenten  hatten 
es  ja  selbst  so  gewollt!  Ich  konnte  Haeckels  unverwüstliche  Arbeits- 
kraft besonders  bewundern,  als  er  sich  einen  schweren  Knöchelbruch 
zugezogen  hatte.  Während  der  Behandlung,  die  er  mir  anvertraut 
hatte,  war  ich  erstaunt,  schon  nach  wenigen  Tagen,  wo  das  Bein 
noch  sehr  schmerzte  und  auf  eine  Schiene  gewickelt  sich  in  nicht 
sehr  bequemer  Lage  befand,  zu  einer  Zeit,  wo  andre  Patienten  sich 
noch  voll  gehen  lassen  und  von  ihren  Leiden  ganz  beherrscht  sind, 
zu  sehen,  daß  um  das  Krankenlager  herum  eine  Menge  Bücher  auf- 
gestapelt waren  und  er  sich  mitten  im  Schreiben  befand.  Wie  ein 
Tiger  über  seinem  Raube  saß  er  schon  wieder  über  der  Arbeit  und 
förderte  in  den  Wochen  der  unfreiwilligen  Muße  an  seiner  ,, Syste- 
matischen  Phylogenie"   mehr,   als   er   sonst   in   der   doppelten   Zeit 

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geschafft  hätte.  Dieses  Arbeitsbedürfnis  zeigte  sich  auch  auf  gemein- 
schaftlichen Reisen  und  Exkursionen.  Sich  behaglich  ins  Gras  zu 
strecken  und  den  Himmel  anzuschauen,  lag  ihm  nicht,  ebensowenig, 
wie  längere  Zeit  an  einem  Ort  rein  als  Erholungsaufenthalt  zu  weilen ; 
häufig  den  Ort  wechseln,  Neues  sehen  und  dabei  produktiv  tätig  sein 
d.  h.  malen,  das  war  seine  Neigung.  Als  wir  mit  einem  gemeinschaft- 
lichen Freunde  noch  vor  fünf  Jahren  in  einem  kleinen  Motorboot 
auf  dem  Vierwaldstätter  See  fuhren,  wo  man  sich  doch  sonst  so  gern 
auf  dem  Wasser  einem  dolce  far  niente  hingibt,  ließ  er  wiederholt 
halten,  um  vom  Boot  aus  hier  eine  Kapelle,  dort  ein  altes  Haus  zu  aqua- 
rellieren, ja  selbst  auf  dem  vielbesuchten  Hauptaussichtspunkt  des 
Pilatus,  dem  „Esel",  mußte  inmitten  zahlreicher  Touristen  rasch  die 
Kette  der  fernen  Schneegipfel  ins  Skizzenbuch  eingefangen  werden. 
Bei  diesen  Aquarellstudien  trat  der  schon  erwähnte  Zug  seines  Wesens, 
die  Art,  wie  er  eine  Sache  in  Angriff  nimmt,  sehr  bezeichnend  in 
Erscheinung.  Ebenso  wie  er  frisch  und  flott  an  wissenschaftliche 
Probleme  heranging  und  ohne  viel  Bedenken  und  zaghaftes  Zaudern 
den  Stier  an  den  Hörnern  faßte,  so  schreckte  ihn  auch  beim  Aqua- 
rellieren keine  Schwierigkeit  zurück,  und  Maler  vom  Fach  sagten  ihm 
vor  manchen  Skizzen,  das  hätten  sie  nie  gewagt,  anzupacken. 

Dieser  Arbeitsfreude  konnte  er  nun  nach  Herzenslust  fröhnen 
im  stillen  Jena;  hier  fehlten  die  tausend  Sitzungen,  Kommissionen, 
Examina  der  großen  Universität,  die  Geselligkeit  raubte  wenig  Zeit, 
ungestört  konnte  er  sich  ganz  in  seine  Arbeit  vertiefen,  und  nur  der 
Möglichkeit  dieser  ungeheuren  Konzentration  ist  die  überwältigende 
Fülle  seiner  Werke  zu  verdanken. 

Ein  hervorstechender  Zug  seines  Wesens  ist  eine  große  Einfach- 
heit in  seinen  Lebensverhältnissen ;  das  ist  ein  Erbstück  seiner  Mutter, 
die,  obwohl  sie  wohl  in  der  Lage  war,  sich  ein  behagliches  Leben 
zu  gestatten,  in  fast  puritanischer  Einfachheit  lebte.  In  Kleidung, 
Essen,  auf  Reisen  ist  ihm  das  Einfachste  das  Liebste;  sich  helfen, 
bedienen  lassen,  ist  ihm  greulich:  was  man  selbst  machen  kann, 
soll  man  selbst  machen.  Hotels  ersten  Ranges  sind  ihm  verhaßt, 
und  wenn  er  doch  einmal  als  Gast  reicher  Freunde  darin  wohnen 
muß,  so  ist  es  spaßhaft  zu  sehen,  wie  er  in  gewohnter  einfacher  Weise 
auftritt,  unbeirrt  durch  eine  glänzende  internationale  Gesellschaft. 
An  einem  heißen  Augusttage  ging  ich  mit  ihm  über  die  Strandprome- 
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nade  in  Saßnitz,  er  zog  sich  die  Jacke  aus  und  lachte  vergnügt  über 
die  mißbilligenden  Blicke  der  Badegäste,  welche  über  den  Wanderer 
in  Hemdsärmeln  ihre  Empörung  nicht  unterdrücken  konnten.  Sehr 
gelungen  war  es  auch,  zur  Zeit  der  letzten  Pariser  Weltausstellung 
mit  ihm  über  die  Boulevards  zu  gehen  und  die  erstaunten  Augen 
der  zylindertragenden,  eleganten  Menschheit  zu  sehen,  wenn  sie  der 
hohen  Gestalt  in  grauer,  einfacher,  kurzer  Joppe  und  dem  mächtigen, 
breitkrempigen  Schlapphut  nachblickten  —  „Schöpfungshut"  wurde  er 
in  Jena  genannt,  da  ein  Hutmacher  in  Österreich  und  begeisterter  Ver- 
ehrer der  „Schöpfungsgeschichte"  ihm  alljährlich  ein  Prachtexemplar 
dieser  Gattung  schenkte. 

Dieser  ausgesprochene  Sinn  für  Einfachheit  im  täglichen  Leben 
hat  dazu  geführt,  daß  er,  der  im  geistigen  Leben  nicht  fortschrittlich 
genug  sein  kann,  in  seinen  häuslichen  Lebensgewohnheiten  durchaus 
konservativ  ist.  Konservativ  ist  er  außerdem  noch  auf  einem  andern 
Gebiete,  dem  der  bildenden  Kunst.  Während  er  in  der  Wissenschaft 
mit  Begeisterung  jeden  Fortschritt  begrüßt  und  sich  nicht  im  gering- 
sten scheut,  Altes  niederzureißen  und  Neues  aufzubauen,  ist  er  auf  dem 
Gebiete  der  Kunstauffassung  dem  Standpunkt  treu  geblieben,  den 
sie  etwa  um  die  Mitte  des  letzten  Jahrhunderts  hatte.  Ihm  spielt 
der  Inhalt  des  Kunstwerks  noch  eine  ausschlaggebende  Rolle  für 
seine  Bewertung,  während  die  bloße  Vollendung  der  Form,  die  Hoch- 
schätzung der  Qualität,  das  l'art  pour  l'art  keinen  Eingang  bei  ihm 
fand.  Der  Impressionismus,  Pleinairismus,  die  Sezession,  geschweige 
denn  die  modernsten  Ausläufer  der  Kunstentwicklung  liegen  ihm 
fern.  Bei  der  nur  als  Jüngling  bezeichneten  Statue  von  Adolf  Hilde- 
brand in  der  Nationalgalerie  vermißte  er  doch  bei  aller  Bewunderung 
der  klassisch  vollendeten  Form,  daß  nicht  gesagt  sei,  was  sie  vor- 
stellen solle,  daß  man  sich  also  nichts  dabei  denken  könne. 

Neben  dem  hohen  Ernst  seines  Schaffens  bewahrte  er  sich  aber 
trotz  manchem  Schweren,  das  ihm  das  Leben  gebracht,  doch  einen 
hohen  Grad  von  Fröhlichkeit.  La  joie  de  l'esprit  en  marque  la  force, 
und  wenn  Fröhlichkeit  die  Mutter  aller  Tugenden  ist,  so  hat  sich 
das  bei  ihm  bewährt.  Wenn  wir  mit  jüngeren  und  älteren  Freunden 
und  Kollegen  nach  einer  wissenschaftlichen  Sitzung  zusammen 
waren  oder  nach  einem  Gang  über  die  Jenenser  Berge  in  einer  der 
reizenden  Bergwirtschaften  bei  einem  bescheidenen  Abendessen  saßen, 

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dann  übertraf  er  uns  Jüngere  alle  an  Lebhaftigkeit,  weithin  tönte 
sein  ansteckendes  Lachen,  und  gegen  sein  sprühendes  Temperament 
kamen  wir  uns  wie  Greise  vor.  Dabei  konnte  sich  seine  Lustigkeit 
in  harmlosester  Weise  äußern.  Wenn  wir  beim  Abstieg  von  den  Bergen 
in  den  Feldern  die  eigentümlich  schnarrenden  Töne  des  Wiesen- 
schnerzes  hörten,  so  rief  er  stets  mit  schallendem  Lachen:  „Da  ist 
ja  wieder  der  Geist  des  Kirchenrats  N."  —  so  hatte  sein  Freund 
Gegenbaur  den  Wiesenschnerz  getauft  wegen  der  auffallenden  Ähn- 
lichkeit seiner  Stimme  mit  dem  schnarrenden  Organ  des  Kirchenrats 
auf  der  Kanzel.  Dieser  Grundzug  der  Freudigkeit  ist  ihm  auch  heute 
noch  geblieben,  wo  der  Achtzigjährige  zu  seinem  Leidwesen  durch 
eine  schwere  Hüftverletzung  sehr  in  seiner  freien  Beweglichkeit  be- 
hindert ist.  Daß  er  einer  seiner  größten  Liebhabereien,  dem  Wandern 
und  Reisen,  ganz  hat  entsagen  müssen,  trifft  den  früher  so  Beweg- 
lichen besonders  schwer,  und  er  klagt  lebhaft  über  sein  Schicksal. 
Aber  bei  angeregter  Unterhaltung  macht  sich  bald  auch  heute  noch 
seine  unverwüstliche  Freudigkeit  Bahn,  das  Erfrischende  seines 
Wesens  bricht  leuchtend  durch,  und  der  Alte  ist  dann  ganz  wieder 
der  alte. 


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ORTSGRUPPE  LEIPZIG  DES  DEUTSCHEN  MONISTEN- 
BUNDES 

o  o  o 

Vorbemerkung  des  Herausgebers:  Schon  beinahe  fertig  mit  der  Zusammenstel- 
lung dieser  Haeckel-Schrift,  erhalte  ich  aus  Leipzig  die  Nachricht,  daß  die  dortige 
Ortsgruppe  des  Monistenbundes  im  kleinen  Maßstab  schon  zu  Haeckels  jj.  Geburts- 
tag eine  ähnliche  Idee  verwirklicht  hat,  wie  sie  in  diesem  Buch  zur  breiteren  Aus- 
führung gekommen  ist.  Herr  Paul  Otto  Ruppert,  Leipzig,  hatte  die  Güte,  mir  eine 
Abschrift  dieses  interessanten  Dokuments  zu  senden,  die  ich  im  nachstehenden  zum 
Abdruck  bringe. 

Die  Ortsgruppe  Leipzig  möchte  zum  yy.  Geburtstage  E.  Haeckels 
unter  den  Glückwünschenden  vertreten  sein  und  bittet  daher  ihre 
Mitglieder  bis  zum  15.  2.  um  Übersendung  einer  Postkarte,  auf  der 
in  kurzer,  schlichter  Weise  die  Frage  beantwortet  ist: 

,, Welchen  Einfluß  hat  das  Lebenswerk  Haeckels,  insbesondere 
darunter  die :  ,  Welträtsel'  auf  meine  Welt-  und  Lebensanschauung  ge- 
habt; was  dankt  meine  geistige  Entwicklung  Haeckels  Lehre?" 

Die  eingehenden  Antworten  werden  dem  Gelehrten  in  einem  Album 
überreicht  und  sollen  ihm  den  unmittelbaren  Dank  für  sein  Wirken 
ausdrücken. 

Nachstehende  Äußerungen  sind  eingegangen,  in  einem  Album  ver- 
einigt, und  verbunden  mit  Glückwünschen  auf  ein  noch  recht  lang- 
währendes beglücktes  und  beglückendes  Leben  an  Prof.  Dr.  Ernst 
Haeckel  übersendet  worden. 

Wankten  schon  die  orthodoxen  Grundpfeiler,  als  ich  anfing 
selbständig  zu  denken,  so  wurde  dieser  Eindruck  noch  beschleunigt 
durch  Haeckels  Welträtsel.  Doch  nicht  nur  eingerissen,  sondern  auch 
wieder  aufgebaut  wurde,  und  neues  Leben  rankte  aus  den  Ruinen. 
—  Basierend  auf  dem  Grundgedanken  der  natürlichen  Entwicklung 
der  Dinge  vollzog  ich  in  mir  eine  neue  Geburt  mit  vollständiger  Ver- 
drängung der  althergebrachten  eingetrichterten  Anschauung.  Mein 
Lebenszweck  wurde  mir  durch  die  Welträtsel  erst  voll  bewußt,  und 
nicht  mehr  verließ  ich  mich  auf  ein  höheres  Wesen  in  überirdischem 
Sinne  im  Kampf  ums  Dasein,  sondern  lediglich  auf  meine  eigene  Kraft, 
vereint  mit  Selbstbewußtsein.  Dazu  kommt  noch,  daß  sich  in  mir 
das  Denken,  Fühlen  und  Wollen  verfeinerte  und  vertiefte.    Nur  dem 

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volkstümlich  geschriebenen  Werke:  ,,Die  Welträtsel"  danke  ich  diese 
Erkenntnis,  und  ich  habe  nur  diesen  Herzenswunsch,  daß  die  Welt- 
rätsel noch  recht  viele  aus  der  geistigen  Finsternis  in  den  Bannkreis 
des  Lichtes  tragen  mögen. 

Walter  Großmann,  Zeichner. 

Ein  Stern,  ein  leuchtender  Stern  in  den  Finsternissen  des  Lebens, 
in  den  rauchenden  Tiefen  des  Alltags  bist  du  mir,  großer  Meister, 
und  deine  Werke.  —  Was  mir  der  lärmende,  mordende  Arbeitstag 
raubt,  das  gibst  du  mir  wieder  in  meinen  Feierstunden,  wo  deine  Werke 
mir  die  Welt  vergolden  und  meine  staubige  Brust  so  frei,  so  stark 
atmet.  Möge  der  Monismus  seinen  Hoheitsstempel  der  ganzen  Mensch- 
heit aufprägen  und  so  eine  paradiesische  Zukunft  schaffen,  das  sei 
mein  Geburtstagswunsch. 

Wilh.  Schmidt,  Weber1). 

Haeckels  großen  Einfluß  auf  meine  Welt-  und  Lebensanschauung 
erkenne  ich  vor  allem  darin,  daß  er  durch  seine  wissenschaftlichen 
Forschungen  wie  kaum  ein  anderer  meine  Überzeugung  gefestigt  hat : 
wie  für  alles  in  der  Welt,  so  gilt  auch  für  Entstehen,  Bestehen  und 
Vergehen  des  Menschen  und  aller  seiner  Lebensäußerungen  das  Natur- 
gesetz der  Entwicklung,  sei  es  Fort-  oder  Rückbildung;  also  niemals 
und  nirgends  kann  es  ein  ,, übernatürliches"  Geschehen  geben. 

Dr.  phil.  J.  Kippenberger,   freireligiöser  Prediger. 

Was  ich  Haeckel  danke?  Ich  bin  sehend  geworden  und  trat 
an  seiner  Hand  in  vorher  nie  geschautes  Land.  Die  Nebel  und  Dünste 
einer  eingebildeten  Schein  weit,  die  wirklich  zu  erreichen  ich  nie  hoffen 
durfte  trotz  allen  Glaubens,  sanken  unter  seinem  klaren  Worte  und 
vor  dem  Lichte  seiner  Erkenntnis  zu  Boden;  aus  ihnen  entstieg  und 
lag  nun  vor  mir  ausgebreitet  in  reiner  Schönheit,  klar  geordnet  in 
allen  Teilen,  begreifbar  und  eindeutig  die  Erde,  die  Welt;  jauchzend 
stand  ich  inmitten  aller  ihrer  tausendfachen  Erscheinungen,  die  nun 
mir  so  nahe  verwandt,  meines  eigenen  Wesens  mich  dünkten,  und 
ein  neuer  Wille  zu  einem  guten,  schönen  und  wahren  Leben  in  diesem 

x)  Ein  stark  schwindsüchtiger  Mensch,  dessen  ganzes  seelisches  Glück  in  der  Teil- 
nahme an  der  monistischen  Bewegung  bestand.  Der  arme  Mensch  ist  vor  3  Jahren 
gestorben. 

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wohnlich,  weil  mir  vertraut  gewordenen  Räume,  im  Verein  mit  meinen 
mir  nun  zu  Brüdern  gewordenen  Nebenmenschen,  zur  Erfüllung  meiner 
gesetzten  Zeit  im  natürlichen,  d.  h.  ursächlichtätigwirkungsvollen  Ver- 
laufe der  Dinge  durchflutete  meinen  Verstand  und  mein  Gemüt,  sie 
beide  erziehend  zu  neuartiger  stimmungsvoller  Hingebung  an  das 
Ganze.  So  wandelte  sich  mir  in  beglückender  Entwicklung  immer 
tieferer  Erkenntnis  der  Gott  einengender  Religionsbegriffe  und  eng- 
umgrenzter Glaubenslehren  über  die  sichtbar  erforschliche  Gottnatur 
der  Welten  in  das  rein  unbezogene  Göttliche  alles  Seienden  schlechthin. 

Paul  Otto  Ruppert,   Kaufmann. 

Das  ist  eins  der  größten  Verdienste  unseres  Haeckels,  daß  er 
in  seinen  volkstümlichen  Werken  zum  Volke  niederstieg,  zur  großen 
Masse  sprach  und  ihr  den  kristallenen  Trank  der  Wahrheit,  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis  reichte.  Was  nützt  denn  alle  Weis- 
heit, alle  tiefgründige  Erkenntnis,  wenn  nur  einzelne,  und  nicht  die 
Allgemeinheit  im  Besitze  dieser  wissenschaftlichen  Erkenntnis  ist? 
Ja,  seien  wir  offen:  was  ist  denn  Schuld  an  unseren  gesamten  uner- 
quicklichen sozialen  Verhältnissen?  Weil  das  Volk  nicht  aufgeklärt 
ist,  um  den  Weizen  von  der  Spreu  zu  unterscheiden. 

Karl  Wiegand,   Beamter. 

Aufgezogen  in  den  beengenden  Schranken  einer  altersgrauen  Kon- 
fession und  in  mißlichen  Lebensverhältnissen,  war  der  Trost  meiner 
Kindheit  die  Hoffnung  auf  ein  besseres  Jenseits.  Der  Jüngling  durch- 
tränkte sich  mit  Fachwissenschaft,  die  all  sein  Denken,  seine  Kraft 
und  Zeit  in  Anspruch  nahm  und  ihn  der  Möglichkeit  beraubte,  die 
Fortschritte  anderer  Wissenszweige  kennen  zu  lernen.  —  Die  mit 
der  Fachwissenschaft  erweckte  Erkenntnis  vieler  Naturgesetze  hatte 
den  Verlust  des  beseeligenden  Kinderglaubens  zur  Folge  und  mit 
ihr  den  der  Lebensfreude;  die  Zeit  des  Grübelns  um  den  Zweck  des 
Lebens  führte  mich  fast  an  den  Rand  des  Abgrunds,  zur  Lebensver- 
leugnung, zum  gewaltsamen  Abschluß  des  Lebens.  —  Heute  —  in 
reiferen  Jahren  —  verdanke  ich  dem  Studium  der  Werke  unseres 
Meisters,  daß  das  Gefühl,  bloß  ein  Stäubchen  im  Weltall  darzustellen, 
dessen  Kommen  und  Schwinden  im  Weltganzen  spurlos  vorübergeht, 
zurücktritt  hinter  der  hehren  Gewißheit,  auch  mit  den  kleinsten  Kräf- 

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ten  und  in  stiller  Zurückgezogenheit  mitarbeiten  zu  können  am  Wohl, 
am  Fortschritt  der  Gesamtheit  der  Menschen,  beizutragen  zu  immer 
höherer  Entwicklung  des  Ganzen!  Das,  was  ich  als  richtig  und  be- 
wiesen erkannt  habe,  kann  ich  hinausschreien  in  alle  Himmels- 
richtungen ohne  ängstliche  Rücksichten  auf  die  möglichen  Folgen 
und  somit  neuen  Wahrheiten  mit  zum  Siege  zu  verhelfen:  „den  Mut 
des  Bekenners,"  der  aus  jedem  Wort  unseres  Meisters  strahlt,  diesen 
verdanke  ich  ihm  und  damit  das  wiedergefundene  Gleichmaß  der 
Seele. 

Dr.  M.  Goldschmidt,   Chemiker. 

Was  habe  ich  als  geborener  Proletarier  einem  unsterblichen  Men- 
schen, einem  E.  Haeckel  zu  verdanken.  Eine  nicht  mit  meinem  Wort- 
schatz wiederzugebende  innere  Glückseligkeit,  welche  ich  durch  Be- 
greifung und  Erlebung  seiner,  der  Menschheit  gegebenen,  monisti- 
schen Weltanschauung  gewonnen  habe.  „Ach,  könnte  doch  jeder 
diesen  Lebenstrost  im  harten  Daseinskampf  sein  eigen  nennen!"  — 
Wohl  habe  ich  die  Überzeugung,  daß  durch  die  Menschen  unwürdigen 
Angriffe  vonseiten  der  herrschenden  Kirchen  und  ihrer  Helfer 
auf  seine  ehrliche,  unermeßlich  reich  gebende  Person  das  große,  die 
Menschheit  erhebende  Lebenswerk  eines  E.  Haeckels  nicht  aufge- 
halten werden  kann.  „Alles  Entwicklung,  ewiges  Werden  und  Ver- 
gehen zu  neuer  Form!"  Ja,  Haeckel,  du  gabst  mir  Gewißheit:  „Die 
Naturwissenschaft  ist  der  Fels,  auf  dem  die  Kirche  der  Zukunft  er- 
richtet werden  wird." 

Hermann  Käppel,  Werkmeister. 

Haeckels  wissenschaftliche  Feststellung,  daß,  wie  überall  in  der 
Natur  das  weniger  Vollkommene  und  weniger  Gute  von  Höherem 
und  Besserem  besiegt  und  abgelöst  wird,  so  auch  für  uns  Menschen 
eine  Höherentwicklung  stattfindet  und  endlich  bessere  und  idealere 
Verhältnisse  kommen  werden,  ja  kommen  müssen,  diese  Erkenntnis 
hat  meinem  Leben  erhöhten  Wert  gegeben,  und  das  Gefühl,  ein  Glied 
in  der  Höherentwicklung  zu  sein  und  in  jedem  Lebewesen  ebenfalls 
einen  Teil  des  sich  zu  Höherem  entwickelnden  Ganzen  zu  sehen, 
hat  bei  mir  wahrhaft  religiöse  Empfindungen  ausgelöst. 

Arthur  Rolle,   Aufseher. 
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G]E^ggggG]G]G3GjggG}G3gggggggggggG]gggG]G]S]§gggE]EiG]G]G3G]G3G]gGiG]G3G]gG3 

In  Jena  war  ich,  ein  junger  Student, 
Doch  selten  froh  und  toll  mit  den  Jungen, 
Hielt  meist  mich  still  von  den  andern  getrennt 
Und  schien  ich  sorglos,  war  halb  es  erzwungen. 

In  Jena  war  ich,  in  schweigender  Nacht 
Hat  mich  mein  Schritt  auf  die  Berge  getragen: 
Während  die  andern  gezecht  und  gelacht, 
Schlug  mir  das  Herz  voll  Sorgen  und  Fragen. 

In  Jena  war  ich,  im  Paradies 
Hab'  ich  zur  Nacht  auf  der  Brücke  gestanden, 
Ob  mir  die  rauschende  Tiefe  verhieß 
Antwort  auf  Fragen,  die  wir  nicht  fanden! 

In  Jena  war  ich,  an  deinem  Mund 
Hab'  ich  mit  strahlenden  Blicken  gehangen: 
Was  du  mich  lehrtest,  das  machte  gesund: 
Von  dir  hab'  ich  mein  Leben  empfangen. 

Dr.  H.  Welcker,   Rechtsanwalt. 

Durch  die  Lektüre  Joh.  Scherrscher  Schriften  schon  frühzeitig 
aus  der  Lethargie  mechanischen  Hinnehmens  von  mechanisch  Ge- 
gebenem aufgeschreckt,  hat  mir  Haeckel  auf  alle  die  Zweifel,  die  meine 
Seele  bewegten,  eine  bündige  Antwort  gegeben  und  mich  aus  dem 
dunklen  Tasten  in  der  Wirrnis  meiner  Lebensauffassung  von  Welt 
und  Mensch  zu  lichten  Pfaden,  zu  sicherem  Verstehen  geleitet,  auf 
Wege,  auf  denen  ich  zufriedenen  Herzens  weiter  pilgern  kann. 

Georg  Stiebner,   Kaufmann. 

Die  Kenntnis  der  Werke  Haeckels,  insbesondere  der  Welträtsel, 
bewirkte  eine  Befestigung  und  Vertiefung  meiner  freigeistigen  Welt- 
anschauung, und  ich  verdanke  dem  Einflüsse  Haeckels  die  Empfin- 
dung freien  Menschentums  und  wahre  menschliche  Glückseligkeit,  die 
sich  auch  vor  dem  Tode  nicht  fürchtet. 

Georg  Schubert,   Kaufmann. 

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Haeckels  furchtloses,  mutiges  Kämpfen  gegen  die  Mächte  der 
Finsternis  erfüllt  mich  mit  freudigem  Stolze. 

Frau  Luise  Karch. 

Meine  Abendlektüre,  die  Welträtsel,  haben  mir  schon  so  viel 
Belehrung  gebracht,  daß  ich  das  Buch  als  meine  monistische  Haus- 
bibel betrachte,  daß  sich  gleichzeitig  aber  auch  ein  Haß  gegen  pfäf fi- 
schen Lug  und  Trug  erzeugte.  Wir  Deutschen  können  stolz  sein, 
daß  wir  in  unserm  Professor  E.  Haeckel  einen  kühnen  Streiter  und 
Wahrheitsforscher,  kirchlichen  Irrlehren  gegenüber,  haben;  mögen 
seine  Welträtsel  noch  Hunderttausenden  die  Augen  öffnen  und  sich 
diese  Tausende  der  monistischen  Bewegung  anschließen.  Mein  Kir- 
chenaustritt ist  kürzlich  erfolgt. 

Th.  Funke,   Lithograph,  81  jährig. 

Obwohl  schon  eine  Reihe  von  Jahren  vorher  zur  freien  Gemeinde 
übergetreten,  gab  mir  die  Lehre  Haeckels  erst  den  Schlußstein  zur 
Bildung  einer  einheitlichen  Weltanschauung  für  die  Entwicklung 
eines  freien  Menschentums. 

Joseph  Julius  Beck,   Ingenieur. 

Ich  habe,  ähnlich  wie  ja  auch  mancher  andere,  eine  Reihe  von 
Jahren  geschwankt  und  bin  im  Unklaren  geblieben,  in  welcher  Weise 
ich  mir  meine  Welt-  und  Lebensanschauung  bilden  sollte.  Die  Lek- 
türe von  Haeckels  Schriften,  insbesondere  der  „Welträtsel"  und  des 
„Monismus  als  Band  zwischen  Religion  und  Wissenschaft"  hat  viel 
dazu  beigetragen,  daß  es  mir  möglich  geworden  ist,  mir  eine  feste  und 
gesicherte  Weltanschauung  zu  bilden.  Als  die  beiden  wichtigsten 
Punkte  erscheinen  auch  mir  einerseits  der  Kampf  ums  Dasein  mit 
dem  eng  damit  verbundenen  Trieb  zu  unaufhaltsamem  Fortschritt, 
andererseits  die  auch  von  Haeckel  im  letzten  Teil  der  „Welträtsel" 
vertretene  „Goldene  Lebensregel":  „Handle  gegen  jeden  anderen 
stets  so,  wie  du  wünschest,  daß  man  gegen  dich  handle." 

Dr.  F.  Joel,   Lektor. 

Die  Lehre  vom  Monismus,  die  unser  großer  deutscher  Naturfor- 
scher wissenschaftlich  begründet  hat,  muß  auch  eine  andere  Welt- 
anschauung hervorrufen  als  die  dualistische,  die  nicht  auf  Forschung 

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beruht,  sondern  angeblich  auf  Offenbarungen.  Was  es  mit  solchen 
Offenbarungen  auf  sich  hat  —  wie  sie  entstehen,  von  wem  sie  kommen 
und  wer  sie  verbreitet  ?  —  da  gibt  es  nur  eine  Antwort :  die  Kirche ! 
Die  gibt  sich  mit  wissenschaftlichen  Forschungen  nicht  ab,  höchstens 
mit  dem  Studium  verschimmelter  alter  Kirchenväter.  Ich  danke  es 
dem  unerschrockenen  Forscher  Haeckel,  daß  ich  zu  denen  gehöre, 
die  die  Wahrheit  seiner  Lehre  aus  voller  Überzeugung  gewonnen  haben. 
Meinen  Austritt  aus  der  evangelischen  Kirchengemeinde  habe  ich 
vollzogen. 

E.  A.  Funke  (geb.  1832). 


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KONRAD  HUSCHKE,  GREIZ 


o  o  o 


In  der  „Villa  Medusa",  die  so  freundlich  aus  grüner  Hülle  zu  dem 
Berg  mit  dem  rötlich  strahlenden  Gipfel  hinübergrüßt,  bin  ich  schon 
in  meiner  Schülerzeit  kraft  meines  Neffenprivilegs  viel,  oft  auf  meh- 
rere Wochen,  zu  Besuch  gewesen.  Damals  und  auch  später  in  meiner 
Studenten-  und  Referendarzeit  war  es  in  erster  Linie  der  „Mensch" 
und  „Künstler"  Haeckel,  der  mich  begeisterte  und  zur  Bewunderung 
fortriß,  diese  sprühende,  lachende,  sonnige,  von  Humor  durchtränkte 
Persönlichkeit,  die  jeden,  der  nicht  ein  Erzphilister  war,  unwider- 
stehlich in  ihren  Bann  zog.  Die  Ausflüge  nach  seiner  geliebten  Ammer- 
bacher Platte,  nach  dem  Forst,  den  Kernbergen,  die  lustigen  Szenen 
beim  Bocciaspiel  im  Garten,  bei  denen  sein  helles  Lachen  so  oft  zu 
einem  köstlichen  Lachduett  mit  dem  ebenso  bezwingenden  Lachen 
meiner  liebenswürdigen,  feinsinnigen  Tante  zusammenklang,  stehen 
als  leuchtende  Punkte  in  meiner  Erinnerung  ebenso  wie  die  Stunden, 
wo  er  auf  der  Rückreise  von  seinen  Fahrten  nach  Ceylon  und  Palä- 
stina bei  uns  Station  machte  und  seine  farbenprächtigen,  mit  genialer 
Intuition  hingeworfenen  Aquarellskizzen  vor  uns  ausbreitete.  Mein 
ganzes  Sehnen  galt  damals  der  Kunst,  vor  allem  der  Musik,  und  wenn 
Haeckel  auch  gerade  dieser  Kunst  nicht  huldigte  —  ich  sehe  ihn  noch, 
wie  er  lachend  am  Klavier  saß,  sein  Bravourstück  Santa  Lucia  sang 
und  sich  schauerlich-schön  begleitete  — ,  seine  Persönlichkeit  war  doch 
durch  und  durch  künstlerisch  mit  ihrem  blühenden,  feurigen  Enthu- 
siasmus und  der  herzerquickenden  Frische  und  Lebensanmut,  die 
sonst  die  Gelehrten  so  gern  zwischen  ihren  Büchern  vergessen  und 
zu  den  Akten  legen. 

Der  große  „Wissenschaftler"  Haeckel  spielte  im  Bereiche  meiner 
Großhirnrinde  noch  eine  sehr  verworrene  Rolle.  Mit  dem  Substanz- 
gesetz, der  Entwicklungslehre,  dem  biogenetischen  Grundgesetz,  der 
Gastraeatheorie  usw.  wußte  ich  nicht  viel  anzufangen.  Und  neben  den 
Beethovenschen  Sonaten  und  Symphonien  und  den  Wagnerschen 
Musikdramen  fanden  Medusen  und  Radiolarien  keine,  auch  nicht  eine 
noch  so  bescheidene  Stätte.  Zwar  hatte  ich  im  ersten  Semester  droben 
im  Zoologischen  Institut  bei  Haeckel  Vorlesungen  gehört,  aber  bei 
20 — 250  Wärme  mittags  zwischen  12  und  1  nach  römischen  Institu- 
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398 


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tionen,  Einführung  in  die  Rechtswissenschaft  und  anderen  zermür- 
benden Kollegs.  Wie  sehr  habe  ich  später  bereut,  daß  damals  der 
Reiz  zur  Naturwissenschaft  und  Philosophie  noch  von  dem  erst- 
semestrigen  Hang  zu  leichterer  Geistesnahrung  überwuchert  wurde. 
Die  Folge  war,  daß  mangels  weiterer  Anregung  neben  dem  Berufs- 
studium die  Kunst  fast  10  Jahre  lang  allein  im  Vordergrund  blieb, 
reichen  Segen  spendend,  aber  zu  einseitiger  Bildung  führend.  Auch 
Schopenhauer  und  David  Friedrich  Strauß,  deren  Studium  mir  mein 
Vater,  selbst  ein  treuer  Freund  und  Verehrer  Haeckels  und  philo- 
sophisch wie  künstlerisch  hochgebildet,  neben  dem  von  Haeckels 
Natürlicher  Schöpfungsgeschichte  ans  Herz  legte,  ohne  sie  mir  auf- 
zuzwingen, wurden  nur  flüchtig  gelesen. 

Da  kam  ich  in  den  Bann  der  „Welträtsel".  Man  mag  gegen  dieses 
vielbefehdete  und  -verketzerte  Buch  vorbringen,  was  man  will,  man 
mag  es  insbesondere  als  verderblich  hinstellen  für  philosophisch  noch 
nicht  geschulte,  unerfahrene  Köpfe,  für  mich  ist  es  im  höchsten 
Maße  segensreich  gewesen.  Und  vielen  Tausend  anderen  ist  es  ebenso 
gegangen.  Es  hat  mich  mit  den  in  ihm  behandelten  Problemen  nicht 
losgelassen,  vielmehr  mit  wunderbarer  Triebkraft  in  entwicklungs- 
geschichtliche und  philosophische  Studien  hineingetrieben,  so  daß 
diese  Studien  jetzt  neben  Familie  und  Kunst  mein  höchstes  Glück 
bedeuten.  So  war  auch  bei  mir  Haeckel,  wie  bei  so  vielen  sonst,  der 
große  Anreger,  der  den  spröden  Stoff,  der  sich  ihm  gerade  bei  mir  bot, 
trotz  allen  Widerstandes  zwar  spät,  aber  nun  um  so  intensiver  be- 
zwang. Er  zeigte  mir  die  tiefgründige,  lichtschaffende  Größe  der 
Entwicklungslehre  und  ihre  so  unendlich  große  Bedeutung  für  die 
gesamte  Biologie  und  Soziologie,  Ethik,  Geschichtswissenschaft  und 
selbst  für  die  heute  so  vielfach  noch  im  argen  liegende  Jurisprudenz. 
Er  beleuchtete  hell  und  eindringlich  das  gewaltige  Substanzproblem 
und  die  dunklen  Gänge  der  Psychologie.  Er  weckte  meine  Begeiste- 
rung für  Spinoza,  dessen  erhabene  Gott-Natur-Substanz-Einheit  er  so 
genial  erneuert  hat.  Er  lehrte  mich  einen  neuen  Goethe  kennen,  den 
Naturforscher  und  monistisch -pantheistischen  Denker  Goethe,  der 
so  oft  geflissentlich  entstellt  wird.  Er  trug  endlich  wesentlich  zur 
Befreiung  meines  religiösen  Fühlens  von  den  Schlacken  starren  Dog- 
mas und  irreführenden  Wunderglaubens  bei,  die  aus  dem  einseitig- 
orthodoxen Religions-Unterricht  im  humanistischen  Gymnasium,  das 

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mir  auch  sonst  so  wenig  fürs  Leben  mitgegeben  hat,  infolge  der  starken 
Beeinflussung  im  empfänglichen  Knaben-  und  Jünglingsalter  leider 
lange  und  fest  in  mir  haftete,  und  förderte  damit  in  mir  ein  tieferes 
religiöses  Empfinden.  Ist  ja  doch  überhaupt  der  innerste  Kern  seiner 
natürlichen,  wissenschaftlichen  Weltanschauung  Religion,  nicht  im 
kirchlichen  Sinne,  nach  dem  Schema  einer  bestimmten  Konfession, 
sondern  als  Inbegriff  von  Erkennen  und  ernstem  Wollen,  voll  Glauben 
an  die  fortschreitende  Entwicklung  unseres  Erkenntnisvermögens  und 
voll  fester  Zuversicht  auf  eine  stetige  Weiterentwicklung  auch  unserer 
ethischen  Kräfte,  auch  als  Inbegriff  höchsten  Glücksgefühls  im  Be- 
wußtsein, mit  Gott  als  der  ewig  waltenden  Naturkraft  eins  zu  sein, 
so  daß  ich  mein  Denken  und  Tun,  mein  Wollen  und  Vollbringen  in 
die  ewige  Harmonie  einordne  nicht  allein  zu  meinem  eigenen  inner- 
sten Glücke,  sondern  auch  zu  dem  meiner  Mitmenschen.  Ich  verweise 
auf  Arnold  Dodel  in  seiner  bekannten  Schrift  ,, Ernst  Haeckel  als 
Erzieher".  Und  Alfred  Brehms  treffliches  Wort  fällt  mir  ein:  ,,Sie 
schelten  uns  Gotteslästerer  und  unser  Forschen  gottverlassen.  Wenn 
sie  unsere  Arbeit  zu  würdigen  verständen,  so  würden  sie  sie  viel- 
leicht Beten  nennen."  Wie  schön  paßt  das  auf  Ernst  Haeckel! 

Alles  aber  ist  nur  ein  Teil  von  dem,  was  er  mir  gegeben  hat, 
und  ich  kann  ruhig  sagen,  daß  ich  neben  meinen  geliebten  Eltern 
ihm  für  meine  Geistesbildung  das  meiste  zu  verdanken  habe  und  daß 
er  auch  in  meiner  Herzens-  und  Gemütsbildung  tiefe  Spuren  hinter- 
lassen hat.  In  Ehrfurcht  neige  ich  mich  daher  an  seinem  80.  Geburts- 
tage dem  großen,  schöpferischen  Geist,  dem  tiefgründigen  Gelehrten, 
dem  edlen  Künstler,  dem  lieben  Menschen. 


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400 


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E.  FRIEDERICI,  BERLIN 


o  o  o 


Noch  ehe  ich  das  Glück  hatte,  Ernst  Haeckel  persönlich  kennen 
zu  lernen,  klang  sein  Name  meinem  Ohr  vertraut.  Schon  früh 
hörte  ich  ihn  mit  Bewunderung  nennen  im  Hause  meiner  freidenken- 
den Eltern,  die  uns  Kinder  außerhalb  der  Kirche  erzogen  haben. 
Wie  oft  erzählte  mir  mein  vor  Jahresfrist  verstorbener  Vater  von 
den  genußreichen  Wochen,  die  er  beim  Bauernphilosophen  Deubler 
in  Goisern  verlebte;  wenn  auch  in  jenem  Sommer  1882  dessen  großer 
Freund  Haeckel  nicht  zum  Besuch  dort  weilte,  so  haben  die  beiden 
Männer  desto  mehr  von  ihm  gesprochen  und  in  seinen  Werken  ge- 
lesen. —  Mein  Vater  war  bei  einer  Naturforscherversammlung  mit 
Haeckel  persönlich  bekannt  geworden.  — 

Als  die  Welträtsel  erschienen,  ging  ich  noch  zur  Schule,  ich  las 
sie  erst  1903  in  der  Aufsehen  erregenden  Volksausgabe.  Vorher  jedoch 
lernte  ich  ein  anderes  Werk  kennen  und  lieben :  die  Indischen  Reise- 
briefe. Mein  Vater  las  uns  —  seiner  lieben  Gewohnheit  folgend  — 
dies  Werk  vor  und  ich  weiß  noch  heute,  welchen  Genuß  ich  beim  Zu- 
hören empfand,  und  mit  welchem  Entzücken  meine  Augen  immer 
wieder  auf  dem  darin  befindlichen  Bilde  des  Forschers  weilten,  das 
ihn  so  schön  und  stattlich  im  hellen  Tropenanzug  darstellt.  —  Damals 
ahnte  ich  nicht,  daß  mein  Wunsch,  dies  Buch  zu  besitzen,  von  Ernst 
Haeckel  selbst  einst  erfüllt  werden  sollte. 

Welche  Wirkung  die  „Welträtsel"  auf  mich  hervorriefen,  kann 
ich  schwer  sagen.  Ich  las  das  Buch  von  Anfang  bis  zu  Ende,  und  über 
die  Stellen,  die  mir  nicht  verständlich  waren,  weil  sie  der  wissen- 
schaftlich ungeschulte  Verstand  eines  so  jungen  Mädchens  noch  nicht 
verarbeiten  konnte  (die  damalige  Mädchenschulbildung  ließ  in  bezug 
auf  Naturwissenschaft  alles  zu  wünschen  übrig!),  las  ich  einfach 
hinweg.  Erst  nach  und  nach  arbeitete  ich  mich  durch  die  Kapitel 
über  das  Wesen  der  Seele  hindurch,  bis  sie  mir  immer  verständlicher 
wurden.  Nie  hat  das  Buch  aufgehört,  mich  zu  fesseln.  Einen  Aufruhr 
in  meiner  Weltanschauung  konnte  das  Werk  nicht  verursachen,  war 
ich  doch  weder  gläubig,  noch  indifferent,  sondern  schon  damals  über- 
zeugte Freidenkerin.  Wohl  aber  vertiefte  und  festigte  sich  meine  Welt- 
anschauung durch  dies  Buch  und  mein  junges  Herz  glühte  vor  Be- 
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26     Haeckel-Festschrift.    Bd.  II 


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geisterung  für  diesen  Mann,  der  als  deutscher  Professor  es  wagte, 
solch  Buch  zu  schreiben.  Und  als  nun  im  Herbst  1904  dieser  über- 
zeugungstreue Kämpfer  persönlich  in  mein  Leben  trat,  da  empfing 
ich  durch  ihn  eine  unermeßliche  Bereicherung  meines  Innenlebens. 
Ich  verdanke  Ernst  Haeckel  viel  mehr,  als  ich  auszudrücken  vermag. 

Von  dieser  Bekanntschaft  möchte  ich  erzählen,  denn  mehr  als 
seine  Werke  noch,  hat  der  Mensch  Haeckel  auf  mich  gewirkt. 

Es  war  am  19.  September  1904,  als  ich  mit  meinen  Eltern  und 
einigen  Deutschen  auf  dem  Bahnhof  in  Rom  stand,  um  Prof.  Haeckel 
zu  empfangen,  der  anläßlich  des  Internationalen  Freidenkerkongresses 
dort  erwartet  wurde.  Nie  werde  ich  vergessen,  wie  des  Gelehrten  hohe, 
noch  ungebeugte  Gestalt  sich  aus  der  ankommenden  Menge  löste, 
und  er  —  ein  Handtäschchen  und  Plaid  am  Arm  —  mit  jugend- 
licher Elastizität  über  die  Schienen  eilte.  Mit  welcher  Herzlichkeit 
drückte  er  uns  die  Hände,  für  unsere  Begrüßung  dankend,  seine  Augen 
lachten  und  strahlten  wie  die  eines  ganz  jungen  Menschenkindes. 
Seine  Anwesenheit  in  Rom  machte  jene  Tage  zu  den  schönsten 
meines  Lebens.  —  Wir  waren  in  der  kurzen  Zeit  öfter  mit  ihm  zu- 
sammen. —  Wie  jubelten  die  ungezählten  Freidenker  aller  Nationen, 
als  unser  Ernst  Haeckel  am  20.  September  bei  der  Kongreßeröffnung 
sich  vom  Podium  erhob  —  im  Hofe  jenes  alten  Jesuitenklosters  — 
unter  dem  tiefblauen  Himmel,  von  dem  die  liebe  Sonne  so  recht  be- 
haglich strahlte  auf  alle  die  Ketzer,  die  den  heiligen  Boden  Romas 
entweihten  —  um  erst  deutsch  beginnend,  dann  italienisch  fortfahrend, 
Rom  als  den  idealen  Mittelpunkt  der  zivilisierten  Welt  zu  begrüßen.  — 
(In  der  italienischen  Zeitung  II  Messaggero  stand  darüber:  Haeckel 
si  avanza  a  parlare,  il  piü  grande  de  gli  scienziati  tedeschi,  un  vecchio 
bellissimo.)  —  Hier  in  Rom  wurden  die  monistischen  Thesen  verteilt, 
welche  die  Grundlage  zum  nachmaligen  Deutschen  Monistenbunde 
bildeten.  —  Wir  Deutschen  verlebten  einen  schönen  Abend  mit  unse- 
rem verehrten  Meister  zusammen  —  er  plauderte  vom  alten  Rom, 
von  der  Zeit,  da  er  mit  seinem  Freunde  Hermann  Allmers  hier  ge- 
weilt —  mit  dem  er  in  der  prächtigen  Kirche  San  Paolo  ein  Tänzchen 
gewagt.  Auch  amüsierte  er  sich  köstlich,  daß  die  Italiener  seinen 
Namen  ohne  das  ,,h"  aussprachen:  „Man  hat  mich  hier  schon  zum 
,EkeP  gemacht",  meinte  er.  —  Als  wir  dann  alle  gemeinsam  vom 
kleinen  Garten  im  ,,Tre  Re"  in  ein  Zimmer  wanderten  und  an  langer 

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Tafel  saßen,  Reden  hielten  und  Lieder  sangen  —  da  sprach  auch 
Ernst  Haeckel  zu  uns.  Jene  Worte,  in  denen  seine  Goetheverehrung 
und  seine  tiefe  wirkliche  Religiosität  zum  Ausdruck  kam,  wirkten 
unbeschreiblich  auf  mich  und  haben  gewiß  bei  allen  Gesinnungs- 
freunden einen  bleibenden  Eindruck  hinterlassen. 

Nachdem  sah  ich  Ernst  Haeckel  nur  noch  einmal  in  Berlin,  als 
er  seine  Vorträge  über  den  Entwicklungsgedanken  hielt.  Ich  fand 
ihn  viel  weniger  frisch  als  vor  einem  halben  Jahre  in  Rom,  nur  die 
Augen  hatten  noch  das  alte  Feuer.  Wieder  begrüßte  er  mich  mit 
jener  bezaubernden  Herzlichkeit  und  lud  mich  nach  Jena  ein.  Allein 
ich  hatte  nicht  das  Glück,  ihn  dort  wiederzusehen,  jedesmal,  wenn 
ich  nach  Jena  oder  in  die  Nähe  kam,  war  er  abwesend.  —  Schriftlich 
aber  bin  ich  mit  Ernst  Haeckel  in  Verbindung  geblieben  und  besitze 
so  manchen  lieben  Brief  und  manches,  mit  einer  Widmung  seiner 
Hand  versehene  Buch  von  ihm.  —  Es  hat  mich  immer  so  gerührt, 
daß  er,  der  vielbeschäftigte  Mann,  doch  stets  Zeit  fand,  mich  unbe- 
deutendes Menschenkind  mit  seinem  Gedenken  zu  erfreuen  —  so 
erhielt  ich  auch  jahrelang  immer  einen  Gruß  zur  Erinnerung  an  den 
XX.  Settembre  in  Roma  1904.  — 

Haeckels  Kunstformen  und  Wanderbilder  zu  betrachten,  ist  mir 
immer  ein  Fest;  ich  weiß  nicht,  was  ich  mehr  bewundern  soll,  seinen 
beispiellosen  Fleiß  oder  die  Gabe,  so  die  Schönheit  des  Lebens  zu 
empfinden.  Er  ist  doch  wirklich  ein  Lebenskünstler,  wie  selten  ein 
Mensch. 

Über  meinem  Schreibtisch  hängt  eine  große  Photographie  von 
Ernst  Haeckel,  so  aufgenommen,  wie  er  mir  1904  zuerst  entgegen- 
trat —  von  diesem  Bilde,  das  mir  seine  lebendige  Persönlichkeit  vor- 
zaubert, ist  mir  in  dunklen,  qualvollen  Stunden  meines  Lebens 
Trost  und  Kraft  gekommen,  ihm  danke  ich  es,  daß  ich  nicht  ver- 
zweifelte. 

Ernst  Haeckel,  der  Gelehrte,  der  Künstler  und  vor  allem  der 
Mensch  hat  meinem  Leben  die  Weihe  gegeben,  daß  ich,  immer 
strebend,  mich  bemühe,  dem  Wahren,  Guten  und  Schönen  zu  dienen. 


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ROBERT  H.  LOWIE,  NEWYORK:  HAECKELS  VER- 
HÄLTNIS ZU  AMERIKA 


o  o  o 


Die  im  Harperschen  Verlage  veröffentlichte  Übersetzung  von 
Haeckels  „Welträtseln"  wird  das  amerikanische  Volk  mit  An- 
sichten vertraut  machen,  die  in  ihrem  bedingungslosen  Gegensatz  zu 
seinen  religiösen  Traditionen  von  allem  ihm  bisher  Bekanntgewordenen 
wesentlich  abweichen.  Wir  sagen  „von  allem",  und  dies  ist  keine 
Übertreibung.  Denn  wenn  wir  von  mehreren  rein  populären  Erzeug- 
nissen absehen,  können  wir  getrost  die  Behauptung  aufstellen,  daß 
von  den  Vertretern  liberaler  Tendenzen,  welche  sich  in  der  zweiten 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  an  das  Englisch  sprechende 
Publikum  wandten,  kein  einziger  mit  einer  der  Haeckelschen  auch 
nur  nahekommenden  Konsequenz  die  Resultate  der  modernen  For- 
schung philosophisch  verwertet  hat. 

Dies  gilt  in  erster  Linie  von  den  englischen  Vorkämpfern  der  Ent- 
wicklungslehre. Wir  beabsichtigen  deshalb  nicht,  ihr  Anrecht  auf 
dankbare  Anerkennung  in  Frage  zu  ziehen.  Im  Kampfe  gegen  die 
Unduldsamkeit  der  Orthodoxie  haben  sie  sich  wahrlich  als  wackere 
Streiter  bewährt  und  haben,  trotz  der  heftigsten  Opposition,  den 
neueren  Ideen  der  Wissenschaft  in  einem  noch  vor  kurzem  ungeahnten 
Maße  die  Gunst  der  gebildeten  Kreise  errungen.  Für  diesen  großen 
Dienst  gebührt  ihnen  gewiß  uneingeschränktes  Lob.  Aber  nichtsdesto- 
weniger bleibt  es  eine  unumgängliche,  sich  dem  unparteiischen  Be- 
obachter gewaltsam  aufdrängende  Tatsache,  daß  keiner  von  ihnen 
seine  Lehren  zum  logischen  Ende  verfolgt  hat,  daß  sie  sich  vielmehr 
sämtlich  in  letzter  Instanz,  wenn  nicht  der  Reaktion,  so  doch  einem 
friedlichen  Vergleich  mit  der  Reaktion,  unterwarfen. 

Der  unter  ihnen  in  seiner  geistigen  Entwicklung  erhaben  allein- 
stehende Darwin  bildet  zwar  individuell  eine  bemerkenswerte  Erschei- 
nung, aber  in  seiner  unmittelbaren  Beeinflussung  der  in  seinem  Vater- 
lande vorherrschenden  Tendenzen  gar  keine  Ausnahme.  Wenn  es  ihm 
auch  in  späteren  Jahren  gelang,  das  Joch  des  Konservatismus  abzu- 
schütteln und  sich  dem  für  einen  Naturforscher  einzig  folgerechten 
philosophischen  Bekenntnis,  dem  materialistischen  Monismus,  anzu- 
schließen, verschwieg  er  sorgfältig  mit  charakteristischer  Bescheiden- 

404 


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heit  die  Ansichten,  welche  er  sich  über  außerhalb  der  Fachwissenschaft 
liegende  Probleme  gebildet  hatte.  Die  wenigen  seiner  Urteile,  welche 
trotzdem  in  die  Öffentlichkeit  drangen,  konnten  wegen  ihrer  milden 
Fassung  leicht  mißverstanden  werden  und  wurden  tatsächlich  von 
Rechtgläubigen  als  die  Äußerungen  eines  friedliche  Eintracht  zwi- 
schen Religion  und  Wissenschaft  anstrebenden  Gemüts  aufgefaßt. 
Somit  gipfelte  der  philosophisch-theologische  Einfluß  Darwins,  in- 
sofern er  sich  überhaupt  fühlbar  machte,  in  der  Befestigung  jenes 
ängstlichen,  sehr  gemäßigten  Liberalismus,  dessen  Entstehung  den 
oben  von  uns  der  Inkonsequenz  bezichtigten  Gelehrten,  Spencer, 
Huxley  und  Fiske,  zugeschrieben  werden  muß. 

Daß  Männer  von  so  hervorragenden  Fähigkeiten  auf  halbem  Wege 
stehen  geblieben  sind,  dürfte  im  ersten  Augenblick  überraschen.  Aber 
das  Rätsel  ist  sogleich  gelöst,  wenn  wir  unsere  Aufmerksamkeit  jenem 
bigotten,  reaktionären  Puritanismus  zuwenden,  der,  wie  Taine  in 
seiner  meisterhaften  Literaturgeschichte  nachweist,  seit  mehr  als  zwei 
Jahrhunderten  in  England  —  teilweise  auch  in  den  Vereinigten  Staa- 
ten —  grassiert,  und  innerhalb  dieses  Zeitraums  seinen  verderblichen 
Druck  auf  jedes  Erzeugnis  englischen  Geistes  ausgeübt  hat. 

Frömmelei,  Engherzigkeit,  starres  Festhalten  an  einer  der  Vernunft 
widerstrebenden  Moralsatzung  sind  seine  wohlbekannten  Merkmale; 
hemmend  steht  er  allem  im  Wege,  das  sich  nicht  mit  seinen  spieß- 
bürgerlichen Begriffen  verträgt;  eifrig  widersetzt  er  sich  jeder  Kund- 
gebung unabhängiger  Gesinnung.  Wir  erkennen  seinen  Einfluß  in 
der  stumpfsinnigen  Verunglimpfung  Goethes  —  dem  untrüglichen 
Prüfstein  des  reinsten  Philistertums;  in  der  unablässigen  Forderung, 
die  Kunst  zur  Magd  der  Moral  herabzusetzen;  in  der  hartnäckigen 
Aufrechterhaltung  der  mittelalterlichen  ,, blauen"  Gesetze,  welche  ein 
so  eigentümliches  Streiflicht  auf  den  vielgerühmten  englischen  Frei- 
heitssinn werfen.  Um  aber  die  Macht  des  Puritanismus  als  die  Trieb- 
kraft englischen  Denkens  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  zu  begreifen, 
müssen  wir  uns  daran  erinnern,  daß  ein  Gladstone  im  letzten  Dezennium 
des  vorigen  Jahrhunderts  die  wissenschaftliche  Berechtigung  der  bibli- 
schen Schöpfungslehre  zu  verteidigen  wagte.  Dann  begreifen  wir  auch 
alles,  dann  verstehen  wir,  was  Spencer  und  Huxley  vom  Durchbruch 
zu  gänzlicher  Freisinnigkeit  abhielt,  was  bei  Fiske  die  normale  Ent- 
wicklung seiner  Lebensanschauungen  ausschloß.    Wo  einer  der  her- 

405 


vorragendsten,  schätzenswertesten  Vertreter  der  Intelligenz  sich  zu 
einem  solchen  Grade  fortschrittlichen  Ideen  verschließen  konnte,  da 
war  es  allerdings  notwendig,  die  furchtbare  Anklage  des  Materialis- 
mus durch  wiederholt  betonte  Abweisung  niederzuschlagen.  Da  mußte 
freilich  das  Augenmerk  selbst  der  liberalen  Gelehrtenwelt  hauptsäch- 
lich auf  die  friedliche  Versöhnung  des  Neuen  mit  der  Tradition  ge- 
richtet sein:  da  war  also  das  Erstreben  vollständiger  Aufklärung  bei 
einzelnen  Individuen,  wie  bei  der  großen  Masse,  eine  Unmöglichkeit. 

Und  nun  tritt  vor  unser  amerikanisches,  unter  denselben,  wenn 
auch  nicht  in  gleichem  Maße  tätigen,  Einflüssen  leidendes  Publikum 
der  streng  konsequente,  jedes  Kompromiß  mit  dem  Feindeslager  ver- 
werfende Haeckel;  zwar  nicht  zum  ersten  Male,  aber  zum  ersten  Male 
mit  der  Macht,  so  allgemein  tiefes  Interesse  zu  erwecken.  Denn  heute 
kann  man  seinen  Radikalismus  nicht  mehr  wie  einst  vorübergehender 
Titanensüchtelei  zuschreiben,  heute  steht  fest,  daß  gereif teres  Urteil 
die  Schlußsätze  des  jugendlichen  Stürmers  bestätigt  hat.  Haeckel  ist 
nicht  nach  Canossa  gegangen:  endgültig  wirft  der  im  Dienste  der 
Wissenschaft  ergraute  Geistesheros  der  Orthodoxie  wie  dem  Halb- 
liberalismus den  Fehdehandschuh  hin ;  endgültig  erdröhnt  der  Posau- 
nenschall seines  „Impavidi  progrediamur!" 

Wie  mannigfache  Beispiele  aus  der  Kulturgeschichte  der  Mensch- 
heit bezeugen,  verbreiten  sich  Ideen  zwar  nur  langsam  und  mit  Schwie- 
rigkeit durch  ihren  inneren  Wert,  aber  mit  desto  zündenderer  Gewalt, 
wenn  sich  eine  große  Individualität  ihrer  annimmt.  Und  eine  solche 
Individualität  ist  Haeckel  unbedingt.  Ehern,  unbeugsam,  erhaben 
tritt  seine  Gestalt  aus  dem  Gewühle  der  durch  die  Darwinsche  Theorie 
heraufbeschworenen  Kämpfe  hervor.  Während  die  englischen  Agno- 
stiker taumelnd  vor  den  letzten  Folgerungen  ihrer  Philosophie  zurück- 
wichen, während  die  einstigen  Gesinnungsgenossen  sich  abtrünnig  dem 
Konservatismus  zuwendeten,  hat  Haeckel  mit  unerschütterlicher  Uber- 
zeugungstreue  das  Licht  der  Aufklärung  verbreitet,  ohne  die  Schrek- 
kensrufe  ob  der  Vernichtung  ihrer  ideellen  Luftgebilde  klagender 
Schwärmer,  ohne  die  Drohungen  der  aus  sanftem  Schlafe  aufgeschreck- 
ten Obskuranten  im  geringsten  zu  beachten.  Dieser  Mann,  der  seit 
vierzig  Jahren  trotz  aller  Anfeindungen  das  Banner  des  Liberalismus 
emporgehalten,  die  Angriffe  der  Orthodoxie  mit  nie  wankender  Festig- 
keit zurückgeschlagen,  der  willkürlichen,  von  reaktionären  Gelehrten 
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406 


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geforderten  Beschränkung  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  sein 
entschiedenstes  Veto  entgegengesetzt  hat;  dieser  aufopferungsvolle 
Diener  der  Wahrheit,  dieser  Lessing  im  geistigen  Kampfe  der  Gegen- 
wart, muß,  alle  Hindernisse  traditioneller  Vorurteile  überwindend, 
den  beim  amerikanischen  Volke  so  stark  entwickelten  Heldenbewun- 
derungstrieb wecken  und  für  sich  einnehmen. 

Dann  wird  er  mit  Erfolg  an  unseren  Verstand  appellieren,  uns  durch 
seine  Logik  zur  Annahme  der  monistischen  Weltlehre  zwingen  können. 
Dann  wird  er  seinen  Einfluß  auf  unser  tägliches  Leben  ausdehnen, 
uns  von  dem  schwer  auf  uns  lastenden  Puritanismus  erlösen ;  auf  den 
Trümmern  der  abderitischen  Puritanermoral  die  Ethik  des  daseins- 
frohen, menschenfreundlichen,  Kunst  und  Wissenschaft  fördernden 
Freidenkertums  begründen.  Um  es  kurz  zu  fassen:  er  wird  dazu  bei- 
tragen, ein  politisch  freies  Volk  auf  das  Niveau  eines  auch  geistig 
freien  zu  erheben.  —  Wenn  ihm  dies  gelingt,  dann  wird  der  Einfluß 
des  Deutschen  Haeckel  höher  zu  schätzen  sein,  veredelnder  gewirkt 
haben,  als  der  dreihundertjährige,  oft  so  gepriesene  unseres  „Mutter- 
landes" England. 


407 


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ODON  DE  BUEN,  MADRID :  HAECKEL  IN  SPANIEN 


0   0    0 


Schon  als  ganz  junger  Student  fing  ich  an,  mich  mit  der  Philosophie 
Haeckels  zu  beschäftigen.  Mein  alter  Lehrer  der  Malakologie 
war  ein  begeisterter  Verehrer  Lamarcks,  aber  er  riet  uns  dringend 
von  seinen  verderblichen  philosophischen  Neigungen  ab.  Von  dem 
Dreigestirn  Lamarck,  Darwin,  Haeckel  wollte  er  erst  recht  nichts 
wissen.  Die  Angriffe  auf  den  genialen  Jenenser  Gelehrten  wurden 
außerordentlich  heftig  und  hartnäckig  vorgebracht.  Natürlich  erregte 
das  unsere  Neugierde  und  wir  lasen  die  „Natürliche  Schöpfungs- 
geschichte" mit  einer  wahren  Gier  und  diskutierten  mit  Feuereifer 
darüber.  Am  Ende  unserer  Studienzeit  waren  fast  alle  von  uns  jungen 
Naturwissenschaftlern  Haeckelianer. 

Im  akademischen  Lehrkörper  überwogen  die  Reaktionären  unter 
der  Führung  meines  Lehrers  der  Malakologie.  Die  heftigen  Aus- 
einandersetzungen zwischen  der  sehr  unduldsamen  äußersten  kleri- 
kalen Rechten  und  der  revolutionären  Linken  in  jener  Epoche,  der 
Spanien  zum  großen  Teil  den  Aufschwung  der  letzten  Zeit  verdankt, 
zerrten  Haeckel  in  den  Kampf  der  Meinungen.  Universitäten  und 
Akademien,  öffentliche  Vorträge  und  Zeitungen  hallten  von  seinem 
Namen  wider.  Während  ihm  die  einen  fluchten  und  ihn  beschimpften, 
verteidigten  und  rühmten  ihn  die  andern. 

In  dieser  Kampfeszeit  war  ich  Professor  an  der  Universität  Bar- 
celona und  veröffentlichte  eine  Naturgeschichte  im  Sinne  des  Monis- 
mus. Langsam  gewann  meine  Überzeugung  Anhänger  unter  der 
jungen  Generation,  aber  bald  bemühten  sich  die  Klerikalen,  meinen 
Einfluß  zu  untergraben.  Meine  „Allgemeine  Zoologie"  und  meine 
„Geologie"  wurden  auf  den  Index  gesetzt,  und  im  Jahre  1895  entzog 
man  mir  meine  Professur  in  Barcelona. 

Der  inzwischen  schon  mutig  hervortretende  liberale  Geist  Spaniens 
stellte  sich  mir  zur  Seite.  Die  akademische  Jugend  führte  in  edler 
schrankenloser  Begeisterung  einen  tapferen  Krieg  zu  meinen  Gunsten, 
so  daß  ich  nach  drei  Monaten  meine  Lehrtätigkeit  wieder  aufnehmen 
konnte.  Zahlreiche  Auflagen  meiner  Bücher  wurden  vergriffen  und 
ich  konnte  ohne  weitere  Unterbrechung  in  monistischem  Geiste  als 

Lehrer,  Forscher  und  Aufklärer  wirken. 

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408 


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Ich  war  immer  der  Überzeugung,  daß  die  philosophische  wie  die 
soziale  Entwicklung  sich  in  drei  wohl  unterscheidbaren  Phasen  ab- 
spielt: Herrschaft  des  Dualismus,  Kampf  zwischen  Dualismus  und 
Monismus,  Sieg  des  Monismus.  In  der  Physik  bestand  der  Dualismus 
in  dem  Gegensatz  von  Kraft  und  Stoff,  in  der  Psychologie  von  Leib 
und  Seele,  in  der  Politik  von  Herrscher  und  Untertan,  in  der  Sozial- 
wissenschaft von  Kapital  und  Arbeit,  in  der  Philosophie  von  Ursache 
und  Wirkung  und  in  der  Ethik  von  Gut  und  Böse.  Die  Wissenschaft 
hat  die  Abgründe,  die  Kraft  und  Stoff,  Seele  und  Körper,  Ursache 
und  Wirkung  trennten,  überbrückt.  Die  Demokratie  wird  den  Dualis- 
mus zwischen  Gut  und  Böse,  Herrscher  und  Untertan,  Kapital  und 
Arbeit  aufheben. 

Ich  kann  versichern,  daß  in  Spanien  Haeckel  an  Volkstümlichkeit 
kaum  seinesgleichen  hat.  Seine  Lehre  hat  auf  die  Entwicklung  des 
spanischen  Gewissens  einen  außerordentlichen  Einfluß  gehabt.  Mit 
Stolz  behaupte  ich,  daß  in  meinem  Vaterland  Freiheit  und  Duldsam- 
keit immer  mehr  Boden  gewinnen  und  daß  sich  mit  dem  Ausbreiten 
und  dem  Gedeihen  der  Naturwissenschaften  eine  Zukunft  des  Wohl- 
standes, des  Friedens  und  des  Fortschrittes  vorbereitet. 

Dem  Meister  Haeckel  wünsche  ich  an  seinem  achtzigsten  Geburts- 
tag noch  viele  Jahre  des  Lebens. 

(Aus  dem  Spanischen  von  H.  Schaxel.) 


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4O9 


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MAX  PAATSCH,  DESSAU 


o  o  o 


Aus  dem  Dunkel  des  Akasa 
dämmernd  bist  Du  aufgestiegen, 
ewigem  Gesetz  gehorchend. 
Licht  und  lichter  ward  es,  wo  auch 
Du  den  Fuß  hinwenden  mochtest, 
und  beglückender  Erkenntnis 
wichen  trüben  Wahnes  Nebel. 
Furchtlos  tratest  Du  und  freudig 
vor  des  Kosmos  düstre  Sphinx: 
Deinem  jugendstarken  Werben 
konnte  sie  nicht  widerstehen, 
und  die  ewig  Rätselvolle 
gab  Dir  manch'  Geheimnis  preis. 
Zu  den  „Müttern",  wie  einst  Faustus, 
bist  auch  Du  hinabgedrungen, 
Antwort  glühend  heiß  begehrend 
auf  die  „Frage  aller  Fragen". 
,, —  Sie  lebt  in  lauter  Kindern, 
und  die  Mutter,  wo  ist  sie?" 
Dies,  das  einzige  Weltenrätsel, 
das  Du  im  „Substanzgesetze" 
rein  und  machtvoll  vor  uns  aufrollst, 
wird  es  jemals  uns  gelingen, 
dieses  Rätsel  zu  bezwingen? 


Keine  Macht  der  Welten  hemmet 
uns  den  raschen  Schritt  der  Zeit; 
niemals  ward  sie  eingedämmet, 
ist  in  Wahrheit  Ewigkeit. 
Aller  Kräfte  Wechselspiel 
fügt  sich  des  Gesetzes  Band; 
fragest  du  nach  Zweck  und  Ziel, 
oder  wo  die  Meisterhand  — ? 

410 


„Freude,  schöner  Götterfunken" 
singt  des  Lebens  lautes  Tönen, 
und  nur  der  versteht  sein  Wehen, 
der  vor  ihm  aufs  Knie  gesunken. 

Doch  ob  auch  das  Bild  von  Sa'is 
niemals  ganz  sich  uns  entschleire, 
eines  haben  wir  gewonnen, 
eines  müssen  wir  Dir  danken: 
Klar  und  stark  und  fest  und  freudig 
können  wir  zum  Werke  schreiten, 
das  die  Zukunft  von  uns  fordert. 
Ausgelöscht  der  Götter  Willkür, 
kann  das  Göttliche  im  Menschen 
endlich  wieder  frei  nun  wirken, 
Fußend  auf  der  heil'gen  Erde, 
nicht  vor  sich  das  Ungewisse, 
auf  die  eigne  Kraft  vertrauend, 
keines  Gottes  Gnade  achtend, 
ward  der  neue  Mensch  geboren, 
der  nicht  nur  ein  Teil  des  „Brahman", 
sondern  dieses  selber  ist. 

Wahrheitsuchen  ist  Dein  Leben, 
nur  die  Wahrheit  kann  uns  lösen; 
nur  dem  Guten  gilt  Dein  Streben, 
Wahrheit  dienet  nicht  dem  Bösen; 
innerster  Erkenntnis  Kraft, 
sie  allein  zwingt  Leidenschaft. 
Das  Mysterium  des  Schönen 
hast  Du  vor  uns  aufgeschlagen; 
stetig  rätselvolles  Wunder 
ist  uns  wieder  neu  geworden. 
Wir  sind  mitten  in  ihm  drinnen, 
wir  sind  stets  von  ihm  umgeben  — 
keiner  weiß  doch,  wie  es  wirke, 
niemand  mag  es  uns  entwirren. 

411 


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Freuen  wollen  wir  uns  seiner! 
Freude  sollen  wir  genießen, 
wo  auch  wir  das  Schöne  sehen, 
wo  es  siegend  sich  uns  zeigt.  — 

Wäre  doch  der  Tag  noch  ferne, 
wo  Du,  vielgeliebter  Meister, 
ehernem  Gesetz  gehorchend, 
wollend,  und  mit  heitrer  Ruhe, 
froh  der  Lebensarbeit,  rücksinkst 
in  das  Dunkel  des  Akasa  — 

Doch  nicht  diese  Töne,  Freunde, 
sollen  heute  uns  bewegen; 
freudenvollere  und  heitre 
mögen  heute  mit  uns  sein. 
Noch  beleuchtet  unsre  Sonne 
mild  des  Meisters  Silberhaare; 
Sonne  seiner  Jugendtage, 
du  bist  immer  noch  die  alte; 
sonnengleiches  Herz  voll  Feuer  — 
froh  und  jung  bist  du  geblieben, 
ja,  uns  allen  bist  Du  teuer, 
nur  eins  können  wir:  Dich  lieben! 
Möge  blinder  Feinde  Grollen 
Dich  nicht  kümmern,  noch  erregen! 
Nimm  aus  unserm  übervollen 
Herzen  unsre  Lieb'  entgegen, 
Die  Du  redlich  Dir  erworben, 
die  wir  ungeheißen  bringeni 
da  Du  Güte  uns  gelehrt, 
Güte,  welche  ewig  währt. 


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412 


ALPHABETISCHES  VERZEICHNIS  DER 

MITARBEITER 

o  o  o 

Seite 

Aigner,    Dr.  med.  Eduard,  Schriftführer  des  Deutschen  Monistenbundes, 

München II,  258 

Altmann-Bronn,  Ida,  Schriftstellerin,  Rombach II,   142 

Antipa,  Prof.  Dr.  Gregorio,  Direktor  des  Museo  storia  natural,    General- 
inspektor im  Ministerium  des  Ackerbaus  und  der  Domänen,  Bukarest  I,  408 

Baege,  M.  H.,  Dozent,  Friedrichshagen  b.  Berlin II,   150 

Beck,  Prof.  Dr.  Paul,  Leipzig-Gohlis II,     34 

Beiles me,  Prof.  Dr.   Jousset  de,  Brüssel       II,     56 

Bloch,  Dr.  med.  Iwan,  Charlottenburg      II,  357 

Blossfeldt,  Willy,  Schriftleiter  des  „Monistischen  Jahrhunderts",  Leipzig  I,  298 

Boerner,  Wilhelm,  Schriftsteller,  Leipzig II,   139 

Brauckmann,  Carl,  Instituts-Direktor,  Jena I,  1.  II,   156 

Breitenbach,    Dr.  Wilhelm,  Herausgeber  der  „Neuen  Weltanschauung", 

Brackwede  i.  W I,  204 

Bresgen,  Sanitätsrat  Dr.  M.,  Wiesbaden      I,  215 

Brunner,  Dr.  med.  Max,  prakt.  Arzt,  Wien       II,  272 

Buen,  Dr.  Odon  de,  Professor  an  der  Universität  Madrid       II,  408 

Carraro,  Oberlehrer  A.,  Wien II,  359 

Crompton,  Frau  Elli  von,  Berlin-Grunewald I,  287 

Crutcher,  Dr.  Howard,  Roswell,  Neu-Mexiko II,     48 

Davidoff,  Dr.  M.,  Direktor  des  zoologischen  Laboratoriums,  Villefranche- 

sur-Mer I,   319 

Daxenbichler,  Frau  Fanny,  Salzburg II,     93 

Dopf,   Karl,  Arbeiter,  Hamburg      II,  291 

Dosenheimer,  Amtsrichter  E.,  Ludwigshafen  a.  Rh II,     38 

Eulenberg,  Dr.  Herbert,  Schriftsteller,   Kaiserswerth  a.  Rh II,   138 

Felden,  Emil,  Pastor  an  St.  Martini,  Bremen II,   125 

Ficalbi,  Dr.  Eugenio,  Professor  der  Zoologie,  Pisa II,   179 

Flothuis,  M.  H.,  Oberlehrer,  Amsterdam II,     50 

Focke,  Dr.  med.  Wilhelm,  Bremen II,  373 

Forel,  Prof.  Dr.  August,  Yvorne,  Schweiz       I,  241 

Friederici,  Fräulein  E.,  Berlin II,  401 

Froelich,  Heinrich,  Baurat,  Georgenswalde I,  295 

Fürbringer,  Prof.  Dr.  Max,  Geh.  Hofrat,  Heidelberg II,  335 

Gadow,  Dr.  Hans,    Professor    an    der    Universität    Cambridge    (England)  II,   160 

Georg  y,  Ernst  August,  Schriftsteller,  Halle  a.  S I,   309 

Gerling,  Friedrich  Wilhelm,  Wiesbaden I,  223 

Glatz,  Friedrich,  Kaufmann,  Wien II,     61 

Gilbert,  Leo,  Redakteur  der  „Zeit",  Wien      II,  285 

Goldscheid,  Rudolf,  Soziologe,  Wien II,  247 

Grazie,  Fräulein  Maria  Eugenie  delle,  Wien II,  309 

Greil,  Dr.  Alfred,  Professor  der  Anatomie  a.  d.  Universität  Innsbruck  .    .  II,  211 

Gurlitt,  Prof.  Dr.  Ludwig,  München I,  234 

gggggg]ggggggggggg^E]G]gggE]g5]E]gEiggggE]gB]E]E]E]E]E]B]E]E]E]B|E]GlE]EIE]B] 

414 


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Seite 
383 
233 
165 
282 
I20 
419 
398 


H  a  e  c  k  e  1 ,  Prof.  Dr.  Heinrich,  Direktor  des  Städtischen  Krankenhauses,  Stettin 

Hatschek,  Prof.  Dr.  Berthold,  Hofrat,  Wien 

Hertwig,  Prof.  Dr.   Richard  von,  Geheimer  Hofrat,  München 

Hirschfeld,  Dr.  med.  Magnus,  Berlin       

Holgers,  Frl.  Maria,  Berün 

Hopf,  Dr.  med.  Ludwig,  Stuttgart 

Huschke,  Dr.  Konrad,  Mitgl.  der  Fürstl.   Kammer,  Greiz       I 

Ihering,    Prof.  Dr.   Hermann  von,    Dir.  des  Museo  Paulista,  Sao  Paulo, 

Brasilien      

Jans,   Johann,  Elva,  Livland         

Juliusburger,  Oberarzt  Dr.  Otto,  Steglitz-Berlin  

Kahl,  August,  Schriftsteller,  Hamburg      I 

Kammerer,  Dr.  Paul,  Privatdozent  an  der  Universität  Wien        ....      I 
Keller,  Dr.  Conrad,  Zürich,  Professor  am  Eidgenössischen  Polytechnikum, 

Zürich      

Keller,  Prof.  Dr.  Robert,  Direktor  des  Gymnasiums  in  Winterthur     .    . 

Kleinsorgen,  Wilhelm,  Berlin -Wilmersdorf I 

Knopf,  Hofrat  Prof.  Dr.  Otto,  Jena I 

Kocks,  Dr.  med.   Josef,  Universitätsprofessor,  Bonn I 

Koltan,  Jakob,  Schriftsteller,  Heidelberg I 

Koerner,  Prof.  Ernst,  Berün       I 

Kotthaus,  Carl,  München I 

Krauseneck,  Dr.  Gustav,  Triest       

Kroell,  Dr.  Hermann,  Geheimer  Sanitätsrat,  Straßburg       

Lang,  Dr.  Arnold,  Professor  der  Zoologie  an  der  Universität  und  dem  Eid- 
genössischen Polytechnikum,  Zürich I 

Leege,   Karl  O.,  Jena I 

Leipzig,  Ortsgruppe  des  Deutschen  Monistenbundes I 

Leon,  Dr.  Nicola,  Professor  an  der  Universität,  Jassy      I 

Lipsius,  Dr.  Friedrich,  Privatdozent  an  der  Universität,  Leipzig      .    .    .      I 

Loeb,  Dr.  Jacques,  Professor  an  der  Universität  Newyork       I 

Lowie,  Robert  H.,  Newyork        I 

McCabe,  Joseph,  London  N.  W I 

Mark,  Prof.  Dr.  E.  L.,   Dir.  of  the  Zool.  Lab.  Harvard  University,  Cam- 
bridge, Mass I 

May,  Dr.  Walther,  Professor  an  der  Technischen  Hochschule,     Karlsruhe 

Meyer,  Dr.  Erich,  Kgl.  pr.  Landesgeologe,  Dahlem-Berlin       

Meyer,  Professor  R.,  Berlin I 

Michelis,  Dr.  phil.   Heinrich,   Oberlehrer,   Königsberg  i.  Pr 

Morton,    James    F.,    Rechtsanwalt,    Präsident   der  Thomas    Paine   Asso- 
ciation, Newyork 

Neu  mann,  Carl  W.,  Herausgeber  von  Reclams  Universum,  Leipzig    .    .      I 
Ort  mann,  Prof.  Dr.  Arnold,  Curator  of  the  Dep.  of  the  Invertebrate  Zool. 

am  Carnegie  Museum,  Pittsburg       

Ostwald,  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Wilhelm,  Groß-Bothen 

Paatsch,  Max,  Handlungsgehilfe,  Dessau I 

Palmen,  Dr.  Axel,  Professor  an  der  Universität  Helsingfors       I 

Plotke,  Georg  J.,  Frankfurt  a.  M I 


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391 
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323 

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Porten,  Dr.  med.  Max  von  der,  Hamburg       

Rabl,  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Carl,  Dir.  des  Anatomischen  Instituts,  Leipzig     I 

Rahner,  Dr.  med.   Richard,  Gaggenau  i.  Bad 

Regel,  Dr.  Fritz,  Professor  an  der  Universität  Würzburg I 

Reh,  Dr.  Ludwig,  Custos  am  Naturhist.  Museum,  Hamburg I 

Reichel,  Eugen,  Berlin -Schöneberg I 

Rheindorf,  Dr.  med.,  Augenarzt,   Krefeld 

Rieß,  Carl,   Kaufmann,  Hamburg I 

Römer,  Prof.  Dr.  Julius,  Kronstadt  (Siebenbürgen)       

Sars,  Dr.  Ossian,  Professor  an  der  Universität  Christiania       

Schall mayer,  Dr.  Wilhelm,   Krailling- Planegg  bei  München       I 

Schatt,  Carl  Oswald,  Fachlehrer,  Brunn  i.  Mähren 

Schaxel,  Dr.  Julius,  Privatdozent  an  der  Universität  Jena         I 

Scheffauer,  Hermann,  Schriftsteller,  London I 

Schmidt,  Dr.  Heinrich,  Jena      

Schneider,  Hugo,  Bankbeamter,  Berün       I 

Schrickel,  L.,  Schriftsteller,  Klotzsche  bei  Dresden 

Schwaner,    Wilhelm,    Herausgeber  des   „Volkserziehers",   Schlachtensee- 
Berlin       

Schwarz,  Arthur,  Generaldirektor,  Gr.  Lichterfelde-Berlin I 

Schweninger,  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Ernst,  München      I 

Seber,  Dr.  Max,  städtischer  Tierarzt,  Dresden 

Semon,  Prof.  Dr.   Richard,  München 

Siebert,  Dr.  Fritz,  Spezialarzt  für  Haut-  und  Geschlechtsleiden,  München 

Sokolowsky,  Dr.  Alexander,  Hamburg I 

Spitzer,  Dr.  Hugo,   Professor   der   Philosophie    an    der   Universität   Graz     I 

Sprenger,  Dr.  med.  et  phil.  G.,  Mainz I 

Steman,  Friedrich,  Oberlehrer  a.  D.,  Weimar 

Stoecker,  Frau  Dr.  phil.  Helene,  Berlin I 

Stona,  Gräfin  Maria  Scholz-,  Schloß  Strzebowitz,  Schlesien 

Thiele,  C.  H.,  Privatgelehrter,  München-Solln 

Thieme,  Friedrich,  Schriftsteller,  Weimar I 

Trapp,  Frau  Grete,  Zürich       

Tschirn,  Georg,  Präsident  des  Deutschen  Freidenkerbundes,  Breslau 

Unna,   Prof.  Dr.  P.  G.,  Hamburg I 

Verworn,  Prof.    Dr.    Max,    Direktor    des    physiologischen    Instituts    der 

Universität  Bonn       I 

Vogtherr,  E.,  Mitgüed  des  Reichstags,  Dresden I 

Walther,  Prof.  Dr.  Johannes,  Dir.  des  Mineralogischen  Instituts,  Halle  a.  S.     I 
Weber,  Alfred  Ritter  von  Ebenhof,  k.  k.  Ministerialrat  d.  R.,  Wien    .    .      I 

Wolfsdorf,  Eugen,  freirel.   Prediger,  Nürnberg       I 

Yung,  Dr.  Emile,  Professor  an  der  Universität  Genf       I 

Zalisz,   J.  F.,  Leipzig I 

Zucca,  Prof.  Antioco,  Cagliari,  Sardinien 


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