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Full text of "Weimarisches jahrbuch für deutsche sprache, litteratur und kunst;"

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iS  0  t 


WEIMARISCHES 

JAHRBUCH 


FÜR 


DEUTSCHE  SPRACHE 


LITTERATUR  UND   KUNST 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


HOFFHANN  VON  FALLERSLEBEN 


l'ND 


OSKAR  SCHADE. 


H.     B  A  N  D. 


HMKOTER. 

CARL     ROM  PL  KR. 
WEOUK  libb.  4M8TERBA11. 

BUUlAini  BÖBLAU.  J.  MOLLEK. 


'. 


INHALT. 


I.  August  Bachner.     Von  H.  ▼.  F 1 

n.  Über  das  Verhältniss  Thüringens  und  Hessens  zur  deutschen  Lit- 

teratur.     Von  A.  Koberstein       40 

in.  Zur  Litteratur  Fischarts.    Sonette.    Mitgetheilt  von  Dr.  O.  Schade  60 
rv.  Ein  Pasquill  aus  der  Zeit  des  30jähr.  Krieges.     Mitgetheilt  durch 

Oscar  Schade 66 

V.  Klopfan.       Ein    Beitrag    zur    Geschichte    der    Neujahrsfeier    von 

Oskar  Schade 75 

VL  Die  Musik.     Kurze  Darstellung  ihres  Wesens  und  ihrer  geschicht- 
lichen EntWickelung.     Von  Dr.  Karl  Emil  Schneider   .    •    •    .  148 
VII.  Die  ältesten  deutschen  Sprichwortersammlungen.    Von  H»  v,  F.  .  173 

Vm.  Liederbuch  der  Frau  von  Holleben.    Von  H.  ▼.  F 187 

IX.  Sechs   ungedruckte  Briefe  von   Martin  Opitz.    Veröffontlicht  Ton 

Friedrich  W.  Ebeling 193 

'X.  Die    deutschen   Bprachverderber    (Nachtrag    zum    Jahrb.    1.    Bd. 

S.  296.)     Von  Ludwig  Erk    .     .     .     . 206 

XI.  Findlinge.    Von  H.  v.  F 210 

1)  Dietrich  von  dem  Werder 211 

2—4)  Friedrich  von  Logau 212 

5)  Elisabeth,  Markgräfin  von  Baden 213 

6)  Sonntagsthee  bei  Herder 219 

7)  Bnrger*s  Nothgedrungene  Nachrede 220 

8)  Schiller  über  die  Minnelieder ^     .  224 

9)  SchiUer*s  Brief  an  die  Gräfin  Purgstall 225 

10)  Kotzebue's  Portrait 226 

11)  Sonnenberg*s  Tod 227 

12)  Immermann  an  M.  Beer 229 

13)  Heinrich  Heine.     Steckbrief 230 

XII.  Die  älteste  deutsche  Räthselsammlung.    Von  H.  t.  F 231 

Xm.  Ein  Liebesbrief.     Mitgetheilt  von  H.  v.  F 236 


Seite. 

XIV.  Der  Tabak  in  der  deutschen  Litteratur.     Von  H.  v.  F.     .     .     .  243 

XV.  Zur  Geschichte  des  Wunderhorns.     Von  H.  v.  F 261 

XVI.  Daniel  von  Czepko.     Von  H.  v.  F 283 

XVII.  Schillers  erste  litterarische  Fehde  und  die  Herausgabe  der  An- 
thologie.    Von  Eduard  Boas 291 

XVIII.  Heinrich  Mühlpforth.     Von  August  Kahlert 304 

XIX.  Liederbuch  Pauls  von  der  Aelst  v.  J.  1602.     Von  H.  v.  F.        .  320 
XX.  Prophetinnen  und  Zauberinnen  mit  Beziehung  auf  das  deutsche 

Alterthum..    Von  Selig  Cassel 357 

XXI.  Zur  makaronischen  Poesie  von  Dr.  O.  Schade 409 

XXII.  Findlinge.  Von  H.  v.  F.  Zweite  Gabe.  Mit  Beiträgen  von 
Gustaf  Eschmann,  August  Kahlert,  Franz  Ludwig  Mittler, 
August  Koberstein  und  August  Spieß. 

1)  Lessing  an  Raspe 465 

2)  Merck  an  Raspe 466 

3)  Merck  an  Wieland 467 

4)  Lessings  Werther 470 

5)  Lessings  Faust • 470 

6)  Der  Chor  in  der  Tragödie       471 

7)  Schiller  und  Fräulein  von  Imhoff 472 

8)  Garve*s  letzter  Brief  an  Kant 475 

9)  Zwei  Briefe  von  Jung  Stilling 478 

10)  Jac.  Grimm  über  den  Adel  in  der  deutschen  Litteratur     .  482 

,    11)  Friedrich  Christoph  Schlosser  über  Göthe  und  Schiller     .  485 

12)  Was  Herr  Dr.  Zarncke  von  Andern  verlangt 486 

13)  Scherenberg  und  sein  alter  Lobebär 487 

14)  Der  Bischof  von  Leitmeritz  und  die  deutsche  Litteratur  487 


I. 


AUGUST  BÜCHNER. 


VON 


H.     V.     F. 


Es  ist  eine  sehr  erfreuliche  Erscheinung  der  neuesten  Zeit, 
dass  die  deutsche  Litteraturgeschichte  sehr  viele  Bearbeiter  ge- 
funden hat.  Noch  erfreulicher  müsste  es  jedoch  sein,  wenn  die 
Bearbeiter  immer  zugleich  auch  Forscher  gewesen  waren. 
Selbst  die  besten  haben  es  leider  nur  zu  ofl  verschmäht,  eigene 
Forschungen  anzustellen  und  sich  mit  dem  Wüste  det  Übier- 
lieferung  begnügt.  Was  hilft  aber  am  Ende  die  geiistreichste 
Behandlung  des  ganzen  Ganges  unserer  Litteratur,  odet*  eines 
einzelnen  Zeitraums,  oder  einer  besonderen  Richtung,  die  sich 
in  irgend  einem  Schriftsteller  kundgibt,  wenn  die  Thätsachen, 
von  denen  man  ausgeht,  theils  unvollständig  oder,  was  noch 
schlimmer,  unrichtig  sind?  Unsere  Litteratürgeschiohteti  tind 
Sammelwerke  mit  litterarhistorischen  Notizen  wimmelb  von  bio- 
graphischen und  bibliographischen  Unrichtigkeiten.  Leidet  trifft 
dieser  Vorwurf  gelbst  die  besseren  Werke,  die  fabrikärtlgeti 
Unternehmungen  dieser  Art  wollen  wir  erst  gär  bidht  inr^St^r 
in  Betracht  ziehen.  Wollte  man  alle  Bücher,  wel^h^  sich  i^^it 
den  80er  Jahren  mit  deutscher  Litteraturgeschichte  befä^ä^ti, 
berichtigen,  so  ließe  sich  gewiss  ein  ziemlich  umfangreiches 
Buch    daraus    machen.     Endlich    muds    aber  doch  einmal    der 

Weimar.  Jb.  II.  l 


2 


Überlieferung  ein  Ziel  gesetzt  werden,  endlich  müssen  die  Erb- 
und  eigenen  Sünden  der  Litterarhistoriker  ausgemerzt  werden, 
damit  eine  gründlichere  Behandlung  angebahnt  und  das  Publi- 
cum zugleich  besser  belehrt  wird. 

Wer  Belege  zu  dieser  Behauptung  sucht,  mag  das  Leben 
und  Wirken  irgend  eines  beliebigen  Dichters,  der  noch  nicht 
Gegenstand  besonderer  Forschung  geworden  ist,  gründlich  selbst 
erforschen  und  dann  Vergleichungen  anstellen  mit  dem,  was  in 
größeren  und  kleineren  Werken  über  ihn  gesagt  ist,  und  er 
wird  meine  Behauptung  mehr  oder  weniger  bestätigt  finden. 

Es  ist  ein  hochfahrender  Dünkel,  jetzt  schon  die  deut- 
sche Litteraturgeschichte  irgend  eines  Zeitraumes  oder  einer 
Richtung,  geschweige  denn  aller  Zeiträume,  aller  Richtungen 
auch  nur  bis  Schiller  als  abgeschlossen  zu  betrachten.  Selbst 
in  jenen  Zeiten,  welche  so  fern  von  uns  liegen,  dass  wir  außer 
allen  näheren  Beziehungen  zu  ihnen  stehen,  sind  die  Darstel- 
lungen nirgend  erschöpfend  und  tragen  mehr  oder  weniger  die 
Färbung  subjectiver  Ansichten  und  werden  mit  Urtheilen  ge- 
mischt, die  aus  einer  ästhetischen  Theorie  entspringen,  welche 
man  für  die  allein  gültige  Richtschnur  hält. 

Das  bleibendere  Verdienst  haben  bis  jetzt  alle  diejenigen 
Werke,  worin  das  Thatsächliche  bis  ins  Einzelne  erforscht  und 
übersichtlich  zusammengestellt  ist  und  der  Leser  in  Stand  ge- 
setzt wird,  sich  selbst  ein  Urtheil  zu  bilden.  Das  Streben  nach 
einer  pragmatischen  Geschichte  des  ganzen  geistigen  Lebens 
und  Treibens  unsers  Volkes  in  seiner  Litteratur  ist  zwar  sehr 
anerkennenswerth,  wird  aber  dann  erst  gerechten  Anforderungen 
genügen  können,  wenn  es  auf  Vorarbeiten  sich  stützen  kann, 
welche  Einer  jetzt  unmöglich  allein  zu  machen  im  Stande  ist. 
Glänzende  Darstellungen,  die  an  Gediegenheit  streifen,  über- 
raschende Behauptungen,  die  sich  durch  Neuheit  und  geist- 
reiche Wendungen  geltend  machen  wollen,  gelegentliche  Ver- 
gleichungen mit  den  geistigen  Erzeugnissen  aller  Zeiten  und 
Volker,  wohlgemeinte  Winke  und  Warnungen  für  die  Gegen- 
genwart  —  werden  freilich  auch  ihr  Verdienst  behalten:  sie 
regen  geistig  an  und  leiten  oft  auf  das  hin,  worauf  es  ankommt, 
aber  -^  Geschichte  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts  sind  sie 
nicht.  Denn  wir  wollen  nicht  wissen,  was  dieser  und  jener  bei 
unserer  Litteraturgeschichte  denkt  und  zu  sagen  weiß,  son- 
d€rn  was  jeder  sagen  darf,  sagen  muss. 


Die  verschiedenartige  Darstellung  einer  und  derselben  Zeit 
von  verschiedenen,  oft  gleichzeitigen  Schriftstellern  verfasst,  wo 
doch  die  Quellen  zugänglich  sind,  muss  schon  misstrauisch 
machen;  wie  anders  aber  erst,  wenn  die  Quellen  minder  offen 
daliegen  oder  erst  mühsam  aufgesucht  werden  müssen? 

Jeder  hat  über  Buchner  geschrieben  und  was  hat  auch 
nur  Einer  von  Buchner  gewusst? 

August  Buchner  war  geboren  den  2.  November  1591  zu 
Dresden.  Seit  dem  16.  November  1604  besuchte  er  sechs  Jahre 
die  Schule  zu  Pforta  und  studierte  dann  seit  December  1610 
zu  Wittenberg.  Hier  wurde  er  1616  Professor  Poeseos  und 
1631  Professor  Oratoriae.     Er  starb  den  12.  Februar  1661. 

Buchner  sprach  und  schrieb  ein  elegantes  Latein,  und  er- 
warb sich  durch  seine  lateinischen  Vorträge,  lateinischen  Ge- 
dichte und  Briefe,  lateinischen  academischen  Reden  und  philo- 
logischen Arbeiten  einen  großen  Namen.  Er  beschäftigte  sich 
auch  mit  deutscher  Poesie,  machte  deutsche  Gedichte  und  hielt 
Vorlesungen  über  deutsche  Dicht-  und  Verskunst.  Letztere 
wurden  erst  nach  seinem  Tode  herausgegeben  und  von  ersteren 
ist  nicht  ein  Dutzend  zu  seinen  Lebzeiten  gedruckt  worden, 
und  alle,  bis  auf  eine  kleine  Sammlung,  sind  dem  Inhalte  und 
der  Art  der  Veröffentlichung  nach  nichts  weiter  als  ganz  ge- 
wöhnliche Gelegenheitsgedichte! 

Und  dennoch  galt  Buchner  für  einen  großen  deutschen 
Dichter,  Morhof  >)  nennt  ihn  sogar  den  größten  seiner  Zeit 
und  Fleming  *)  meint  bei  der  Kunde  von  Opitzens  Tode 
(1639)  und  der  trüben  Aussicht  auf  die  Zukunft  der  deutschen 
Poesie: 

„Ist  Buchner  nur  nicht  todt,  so  lebet  Opitz  noch!'* 

Die  Überlieferung  dieses  Ruhmes  hat  sich  bis  in  unsere 
Tage  fortgepflanzt,  eine  beispiellose  Erscheinung!  Das  Fort- 
leben derselben  beruht  nur  in  der  bisherigen  Unzulänglichkeit 
litterarischen  Forschens,  ihre  Entstehung  findet  einzig  und  allein 
aus  jener  Zeit  ihre  Erklärung. 


1)  Morhofii  Polyhistor,  ed.  Mollen  1708.  T.  I.  p.  333.  Erat  vir  Ule  ad 
onmem  nitOrem  literarom  factas,  Orator  optimus  et  Poeta  certe  inter  Germa- 
nos  suö  tempore  princeps.  (Morhof  f  1691).  —  2)  Gedichte,  Jena  1650. 
S.   188. 


Vier  Di^ige  vermochten  damals  schon  einen  großen  Namon 
zi^  yerleihen:  classische  Gelehrsamjceit,  ein  ehrenvoller  Wir- 
kungskreis, Ehren-  und  Gunstbezeigungen  von  Seiten  der  Höfe 
un4  fr^uodschaftlicfae  Beziehungen  zjli  vornehmen  Leuten  und 
berühmten  Männern. 

Dufch  eine  Reihe  philologischer  Arbeiten  liatte  B.  darge- 
thany  wie  bewandert  er  in  den  Schriften  der  Kömer  und  Grie- 
chen war:  sß}n%  Ausgaben  des  Plautus,  der  Briefe  dps  Plinius 
und  des  Thesaurus  Eruditionis  Scholasticae  von  Ba^ilius  Faber, 
hatten  i^na  einen  weiten  Ruf  erworben.  3) 

In  seiner  Stellung  als  academischer  Lehrer  erfreute  er  sich 
hohen  Ansehens  und  bedeutenden  Einflusses:  achtmal  war  er 
Dec^n  der  philosophischen  Facultas,  dreimal  Rcctor  der  Uni- 
versität, in  allen  wichtigen  A^igelegenh^iten  bediente  man  sich 
seines  Rathes. 

Er  staqd  mit  vielen  gelehrten,  angesehenen  und  berühmten 
J^annern  in  freundschaftlichen  Beziehungen,  wie  sein  Brief- 
wechsel darthut.  JJr  hatte  pehr  innigen  persönlichen  Verkehr 
mit  Opitz.  *) 

Endlich  würdigte  ihn  auch  der  chursächsische  Hof  ganz 
besonderen  Vertrauens  und  huldvoller  Auszeichnung,  wofür  sich 
denn  B.  auf  manche  Weise  erkenntlich  bewies:  er  hielt  eine 
lateinische  Lobrede  auf  Joh.  Georg  I.,  als  dieser  das  Zeitliche 
gesegnet  h^tte,  und  begrüßte  in  zierlichem  Latein  Joh.  Georg  IL 
bei  seinem  Regierungsantritte.  Auch  bei  den  HofTesten  des 
letzteren  finden  wir  B.  betheiligt.  Als  sich  dieser  vergnügungs- 
süchtige, verschwenderische  Churfiirst  im  Nov.  1638  vermählte, 
verfasste  B.  ein  Festspiel  mit  Ballet. 


3)  Der  Rector  Andreas  Knnad  sagt  in  seiner  Leichenrede  (s.  Witten  Me- 
mor.  Philosoph.  Decas  VII.  p.  391.):  Sanc  nihil  antiquitatum  mores,  nihil 
popnloruxn  instituta,  nihil  temporum  continuerunt  gesta,  quod  non  ad  amus- 
^\^t  Q^chneru«  Qalluisaet.  Tulliuin  cogltc^te ,  cpgitate  Platoneip ,  Catonüm  mihi 
memorate,  Buchnerus  erit.  Non  Gallia  eum,  non  Batayiai  nee  remotior  qui^ 
ignorabat  Sarmata. 

4)  Wie  Buchner  seinen  Freund  lobte,  so  wird  es  auch  dieser  nicht  an 
Lobeserhebungen  haben  fehlen  lassen.  B.  spricht  ganz  überschwänglich  von 
Opitsi,  ^.  £pi||t  51.  (in  Morhof  Unterricht  S.  387):  Non  potest  ascendere  al- 
%\VLi{  Mi^a  Pi^tria ,  et  neoesse  est  ut  acquiescat  eo  fastigio ,  quo  tu  collocasti* 
Interim  te  sequemur  longe,  et  tua  vestigia  adorabimus:  »ic  t^qoen  non  oh- 
scnri  prorsns  morituri. 


5 


Nur  dem  Zusammentreffen  Met  dieser  Dinge*  verdankte 
B.  seinen  Ivuhiri,  eineil  Ituhm,  vor  dem  die  ZeiTgciiössen  einen 
solchen  Respect  hatten,  dass  sie  nicht  anders  denken  konnten 
als  dass  der  Mann,  der  in  der  WissenBcbaft  und  irii  amtlichen 
lind  geselligen  Leben  so  hoch  sfantf,  auch  eb^ri  so  fcch  in  der 
deutschen  Poesie  stehen  müsste. 

Woraus  sonst  hätte  sich  der  große  Dichterruhm  Bnchner^s 
herleiten  sollen?  Aus  seinen  deutschen  Gedichten  doch  wahr- 
lich nicht.  Die  wenigen  gedruckfcü  waren  mir  Gelegenheits- 
gedichte und  noch  dazu  ganz  gewöhnlichen  Schlages,  die  nicht 
einmal  über  die  Kreise  derer,  für  die  sie  bestimmt  waren,  hin- 
ausgingen. Und  die  vier  Lieder,-  die  keiner  äußeren  Veran- 
lassung, sondern  einem  inneren  Alitriebe  ihre  Entstehung  ver- 
danken, sind  nur  vier  Blätter  in  Quart  ürid  ohne  Angabe  eines 
Orts  und  Jahrs  und  Verlegers  gedruckt,  also  nicht  für  die 
Öffentlichkeit  bestimmt,  ganz  wie  man  jetzt  etwais  ,^als  Manu- 
scripf*  drucken  lässt  zum  Verschtjiite'ii  an  gute  f^reunde  *). 
Diese  vier  Lieder  erschienen  unter  deiöi  Ifitel: 

„AUGUSTl   BUCHNERI   Naohtmal  des   HErm,     Nebenst 

etlichen  andeni  Chrietliöhrön  Getifehten."  *)= 

Ob  nun  diese  Lieder,  ödbst  wenn  sie  die  allgemeinste 
Verbreitung  gefunden  hätten,  an  und  für  sicli  irgend  einen 
großen  Dichterruhm  erwerben  konnten,  möge  jeder  heutiges 
Tages  beurthcilen,  selbst  wenn  er  die  Ansichten  lihd  Anfor- 
derungen von  Damals  mitbringt.     Sic  laüti^ti  allsb: 

Nachtmal    des   Herrn. 

Jhr,  derer  Glaub  nicht  weiter  geht 

Als  wo  das  Aug  und  Finger  ihn  hinleitet, 


5)  Wie  sie  denn  auch  seinem  Schwager,  dem  chursächsischen  Steuerver- 
wandten  Caspar  Klengeln  gewidmet  sind. 

6)  Das  einzige  mir  vorgekommene  Exemplar  befindet  sich  in  der  Zit- 
t«uer  Rathsbibliothek.  Henning  Witten  in  seinen  Memoriae  Philos.  Decas  VII. 
p.  396.  führt  dasselbe  Büchlein  an,  aber  mit  dem  Zusätze:  ^^Wittenb.  1628.'' 
Die  daselbst  vorkommende  „Trost-  Schriffi  ib.  1644.  in  S^.*'  ist  in  Prosa ,  s. 
Heyse's  Bücherschatz  Nr.  854.  und  die  darauf  folgende  Schrift:  „Weinacht- 
Gedancken.  ibid.  in  4®.**  ist  vielleicht  auch  nur  in  Prosa  —  ich  habe  sie  nie 
gesehen.  Wenn  das  der  Fall  ist,  so  hat  Neumeister  aus  beiden  Titeln  Einen 
gemacht,  p.  19.  heißt  es  nämlich  bei  ihm:  „Weynacht-Gedancken  und  Nacht- 
mal  des  Herrn.     Wittenb.  4,  38  (i.  e.  4».  1638.)" 


6 


Beiseit,  beUeit,  zurückesteht ! 

Für  dir  ist  nichts,  du  schnöder  Häuf,  bereitet. 

Lasst  underswo  spitzfundig  sein 

Und  die  Vernunft  und  scharfen  Sinne  spielen, 
Hier  ist  nicht  nur  schlecht  Brot  und  Wein, 
Wir  nießen  mehr  als  was  wir  sehn  und  fühlen. 

Es  gehet  nicht  nein^)  in  den  Mund, 

Was  seine  Kost  dem  Leibe  nur  mag  geben; 

Der  Tisch  macht  unsem  Geist  gesund. 

Durch  dieses  Mahl  der  innre  Mensch  muss  leben. 

Das  Brot  in  seinem  Wesen  bleibt, 

Der  Wein  ist  Wein  ,  wie  er  in  Kelch  geflossen, 

Geheimbter  Art  wie  einverleibt 

Das  Fleisch  und  Blut,  das  Gott  für  uns  vergossen. 

Die  fromme  Thorheit  gehet  hin. 

Und  mästet  sich  bei  der  so  edlen  Weide ; 

In  ihr  entsteht  ein  neuer  Sinn, 

Sie  weiß  nichts  als  von  lauter  Himmelsfreude. 

Sie  ziehet  ihren  Meister  an; 

Was  Welt  nur  heißt,  zun  Füßen  sie  ihr  leget 

Und  klimmet  bis  zum  Himmel  nan*); 

Der  in  ihr  wohnt,  von  dem  wird  sie  gereget. 

Auf,  meine  Seel,  und  g^rte  dich, 

Und  steh  gerecht ,  du  sollst  dein  Pascha  essen ; 

Dem  grimmen  bösen  Wüterich 

Dem  bist  du  nun,  wann  du  selbst  willst,  entsessen. 

Des  Glaubens  Stab  fass  in  die  Hand, 

Jetzt  sollst  du  aus  Egyptens  Kerker  gehen ! 

Brich  auf,  lass  das  verfluchte  Land 

Mit  seiner  Lust  ihm  selbst  zum  Urtheil  stehen! 

Wer  ferner  drinne  bleiben  kann, 

Mag  nicht  mit  uns  des  Osterlamms  genießen, 

Wir  gehen  hin  in  Canaan, 

Da  lauter  Milch-  und  Honigbäche  fließen. 

Da  bauen  wir  ein  neues  Reich 

Und  eine  Stadt,  die  kein  Feind  wird  bezwingen, 


7)  hinein.  —    8)  hiiinu.  — 


Die  Züit  selbst  nicht ,   und  wann  auch  gleich 
All  HöUenmacht  auf  sie  nein  wollte  dringen. 

Vun  Jaspis  ihre  Mauren  sein, 

Die  Thnrme  drauf  von  lauteren  Topassen, 
Des  feinsten  Goldes  reicher  Schein 
Leucht  überall  durch  die  saphirne  Gassen. 

tn  klare  Perlen  sind  die  Thor 

Und  zwölfe  zwar,  ganz  meisterlich,  gehauen; 

Man  siehet  keine  Riegel  Yor, 

Auch  keine  Wacht,  den  Feinden  aufzuschauen. 

Ks  ist  da  immer  Fried  und  Ruh 

Und  stete  Wonn  und  ewiges  Wolleben ; 

Man  singt  und  jauchzet  immerzu 

Dem,  der  uns  Heil  und  Sieg  und  Kraft  gegeben. 

Da  geht  die  aus^rwählte  Schaar 

Und  hat  das  Haupt  mit  Kränzen  rings  umleget; 

Gott  selbst  ist  Tempel  und  Altar, 

Zu  welchem  man  die  keuschen  Opfer  traget. 

Da  ist  kein  Morgen  und  kein  Heut, 

Und  Jahr  und  Tag,  die  das  Gestirn  regieret; 

Ein  unerschopfet  Ewigkeit 

Aus  seiner  Schoß  *)  Gott  unser  Licht  gebieret. 

Geiz,  Ehbruch,  Mord  sind  ausgejagt, 

List  und  Betrug  darf  sich  nicht  sehen  lassen; 

Der  Neid,  der  sich  am  meisten  plagt, 

Ist  auch  verbannt  und  die  stets  müssen  nassen  '*^). 

Fromm,  still,  gerecht  und  nüchtern  sein. 

Das  ists  das  uns  zu  Bürgern  da  kann  machen; 

Wer  sein  Fass  hier  behalten  rein, 

Der  kommet  dort  zu  groß  und  hohen  Sachen. 

Darum  wer  da  will  kommen  hin, 

Muss  aus  der  Welt  und  seinem  Fleische  springen. 

Und  Gott  ergeben  seinen  Sinn. 

Der  WiU  ist  da:  HErr,  gib  du  das  Vollbringen! 


i))  Die  Schoss,  wie  nocli  Jetst  in  Schletfien.  — 
10)  Nms  sein  mässen,  d.  i.  die  SSufer. 


8 


Der   Christen   Schiffahrt. 

Unser  Leben  ist  ein  Meer, 

Die  Begierden  sind  die  Wellen, 
Die  sich  grausamlich  aufschwellen 
Und  uns  werfen  hin  und  her. 

Bricht  ein  Ungelücke  rein, 

Ist  es  als  ein  Sturm  zu  achten; 
Unser  Port,  darnach  wir  trachten, 
Ist  hier  Ruh,  dort  selig  sein. 

Wer  ist  aber  Steuermann? 

Unser  Glaub  und  weise  Seele. 
An  des  starken  Ankers  Stelle 
Ziehen  wir  die  Hofihung  an. 

Christus  ist  der  Angelstern, 

Nach  dem  wir  die  Fahrt  anstellen; 
Fröhlich  brechen  wir  die  WelleUi 
Sehen  wir  ihn  nur  von  fern, 

Dannoch  aber  hat  es  noth, 

Dass  man  wohl  und  unverletzet 
Komme  durch,  weil  auf  uns  seti^t 
Mancher  offenbarer  Tod. 

Wollen  wir  recht  laufen  ein. 
Allem  Ungemach  entgehen, 
Musst  du,  Christus,  uns  beistehen, 
Schiffer,  Rudel,  Anker  sein. 


Das   Mittel   das   beste. 

Wer  sich  in  der  Mitten  hält 

Und  nicht  strebt  nach  hohen  Sachen, 
Wird  nicht  leichtlich  umgcfallt 
Oder  seines  Feindes  lachen. 
War  er  unberuhmt  im  Land, 
Ist  er  ihm  doch  selbst  bekannt. 

Trifft  nicht  eh  des  Donners  Knall 
Starke  Thürn  und  Fürstenhäuser 
Als  ein  arme  Hütt  und  Stall? 
Bleiben  nicht  die  kleinen  Reiser, 
Wann  der  Nord  sich  auf  sie  rieht, 
Der  die  hohen  Tannen  bricht? 


Wer  nicht  Schifibnich  leiden  will. 
Liebt  das  Uf^r,  schifft  bei  Bande. 
Wer  das  Glucke  furcht,  ist  still. 
Bleibet  in  dem  n ledern  Stande. 
O  wie  selig ,  der  allein 
Ihm  sein  Herr  and  Knecht  narag  sein! 

Ob  sich  gleich  fnr  deiner  Hand 

Das  und  jewes  Meer  verneiget*'); 
Ob  sich  gleich  viel  Volk  und  Land 
Unter  deinem  Scepter  beuget, 
Und  die  ungezähmte  Macht 
Alles  ihr  zu  Diensten  bracht: 

Wann  du  dich  nicht  meistern  kannst, 
Den  Begierden  bist  ergeben 
Und  nur  füllest  deinen  Wanst, 
Musst  du  stets  ein  Sclave  leben. 
Dann  der  sich  selbst  zwingen  kann, 
Der  ist  ein  recht  freier  Mann. 

Sollt  ich  nnn  bemühet  sein, 

Ehr  und  Reichthum  zu  erlangen? 
Andre  trieg  ihr  falaeher  Schein, 
Ich  will  ihnen  nicht  nachhangen. 
Gott  der  ist  mein  hochi»tes  Gut: 
Wo  mein  Schatz,  da  ist  mein  Muth. 

Gemeiner  Irrthum. 

Ach,  wie  irren  wir  so  sehr 

Hier  auf  diesem,  wilden  Meer! 
Alle  wollen  selig  sein, 
Wenig  schicken  sich  darein. 
Wer  trifft  doch  die  rechte  Bahn? 
Wer  greift  doch  das  Werk  recht  an? 

Der  auf  schöne  Blumen  denkt. 

Sich  nicht  zu  den  KUpften  Unkt; 
Der  auf  Steinwerk  ist  bedacht, 
Sich  nicht  in  die  Gärten  macht; 
Und  wer  fischet  auf.  dem  Feld, 
In  den  Seen  Lerchen  steUt? 

Was  durchlaufet  ihr  das  Land?' 
Ihr  habt  alles  in  der  Hand. 


11)'  Im  Dnuk««  wea^e*. 


10 

Was  hängt  ihr  euch  an  die  Welt, 
Die  uns  nur  zum  Fall  bestellt? 
Unser  Hirte  Jesus  Christ 
Einig  allen  alles  ist. 

Ach,  was  soll  dem  falschen  Wahn 
Ich  für  einen  Wunsch  thun  an? 
Dass  sie  stündlich  sein  bedacht, 
Wie  sie  werden  groß  gemacht, 
Und  das  {leg,  in)  Gold,  den  theuren  Koth, 
Setzen  ihren  Trost  in  Noth. 

Nachmals ,  wann  sie  gleich  als  matt 
Von  den  Sorgen  und  jetzt  satt 
Ab  der  falschen  Güter  Last 
Finden  weder  Ruh  noch  Rast, 
Nehmen  in  den  Augenschein, 
Welchs  die  wahren  Schätze  sein. 

Diese  Gedichte  sind  bisher  unsem  Sammlern  und  Litte- 
rarhistorikem  unbekannt  geblieben. 

Von  den  übrigen  Gedichten  '•),  die  ich  bis  jetzt  kenne, 
verdient  nur  ein  einziges  Beachtung.  Es  ist  eine  Ode,  die  B. 
als  Beispiel  der  dactylischen  Versart**)  in  seiner  Anleitung 
Zur  Deutschen  Poeterey  (Wittenberg  1665.)  S.  149  und  150. 
anführt : 


12)  Es  sind  Gelegenheitsgedichte  —  es  mag  genügen,  ihre  Anfange  mit- 
zutheilen : 

Auf,  Wittenberg,  du  Chnrstadt  deiner  Städte  (Ode) 

Ist*s  nun  um  dich   geschehn  —  ach!   dass   ich   nicht   soll   schweigen 

(Leicheng.) 
In  angenehmer  Ruh,  in  stiller  Einsamkeit  (Ehrengedicht) 
Ob  die  Musen  zwar 

Auch  das  graue  Haar  (Hochzeitged.) 
Sollt  ich  das  große  Lob,  den  königlichen  Schein  (Sonett) 
Wollen  wir  uns  überheben  (Ode) 

13)  B.  galt  für  den  Erfinder  der  Dactylen.  Neumeister  de  poetis  germ. 
1695.  p.  19  sagt  von  ihm:  Teutonico  in  carmine  Dactylum  eleganter  cnrrere 
primus  docuit.  Diese  Ehre  lehnt  er  selbst  ab  und  zwar  also,  Anleitung 
S.  151.  „Ob  nun  zwart  wol  die  Erfindung  sowol  der  dactylischen  als  ana- 
pilftischen  Verse  ihrer  viel ,  auch  theils  um  die  deutsche  Poeterei  wolverdiente 
Leute  uns  zuschreiben  wollen,  wir  auch  gar  gern  gestehen,  dass  selbige  wol 
zum  ersten  von  uns  wiederum  hervorgesucht  und  auf  die  Bahn  gebracht  wor- 
den ,    so  sind  wir  doch  so  gar  ehrgeizig  nicht ,    dass  wir  nicht  gern  gestehen 


11 


Lasset  uns,  lasset  uns  mindern  im  Garten 
Heute  der  Kosen  und  Tulipen  Zahl! 
Wollen  wir  arme  noch  Morgen  erwarten? 
Sterbliche  sind  wir  ja  allezumaL 

Die  Blumen  entstehen: 

Wer  säumet  zu  gehen? 

Der  Winter  kömmt  bald, 

Bereifet  die  Wälder, 

Schleift  Wiesen  und  Felder  / 

Und  macht  die  blühende  Sommerlust  alt^^). 

Ach  Gott,  wie  sind  wir  doch  nimmer  recht  weise, 
Wir  das  Geschlechte  von  Leime  gemacht, 
Dass  wir  nicht  besser  die  letztere  Reise, 
Wie  sichs  gebührete,  nehmen  in  Acht! 

Ohn  Sorgen  zu  leben. 

Den  Lüsten  ergeben, 

Da  sind  wir  bemüht. 

Was  mag  uns  das  werben? 

Ein  ewiges  Sterben, 
Welches  die  Seele  zur  Holle  hin  zieht. 

Lasset  uns,  Liebeste,  lasset  uns  finden 
Nicht  nur  wo  Lust  und  wo  Freude  sich  hält ! 
Lasst  die  Gedanken  am  Himmel  sich  binden, 
Wie  so  gar  selig  ist  der  so  die  Welt 

Zurücke  gesetzet, 

In  Gott  sich  ergötzet, 

Sich  Selbsten  yerlacht. 

Der  Erden  obsieget. 

An  dem  sich  vergnüget 
Was  nicht  nur  Nebel  und  Schatten  und  Nacht! 


wollten,    dergleichen  Art  Verse  müssten  auch   den  Alten  nicht  unbekannt  ge- 
wesen sein.     U.  s.  wM    Vgl.  Koberstein  Grundriss  4.  Aufl.  S.  574. 

14)  In  der   unechteu   Aasgabe  der  Anleitang,   die  nnter  dem  Titel  „Weg -Weiser  lur 
Deatsohen  Tichtkunst*'  Jehna  1663.  erschien,  lautet  die  erste  Strophe  also  : 

Lasset  uns,  lasset  uns  schauen  im   Garten, 
Mindern  der  güldenen  Tulipan  Zahl! 
Wollen  vir  armen  noch  morgen  erwarten? 
Sterbliche  seind  yr'n  Ja  allznmal. 
laicht  siumet  zu  gehen, 
Die  Blumen  entstehen, 
Der  Winter  bald  kommt, 
Die  Felder  bereifet. 
Die  Wiesen  zerschleifet, 
Alle  behigliche  Lust  ans  benimmt, 
und  die  3.  Strophe  beginnt: 

Lasset  uns,  Liebeste,  lasset  uns  lenken 
Nicht  nnr  wo  Lust  und  wo  Freude  sieh  halt, 
Uusre  Gedanken  aufs  Himmlische  schwenken  ff. 


Vi 


Auch  soll  B.  noch  ein  Morgenlied  kurz  vor  sehiem  Tode 
abgcfasst  haben: 

Der  schone  Tag  bricht  an. 

Das  einzige  Zeugniss  dafür  ist  ein  sehr  unsicheres.  **) 

Unsere  Kenntniss  von  Buchner's  poetischer  Thätigkeit  wird 
durch  einen  neulichen  Fund  erweitert  und  die  Würdigung  der- 
selben sehr  erleichtert.  B.  verfasste  im  J.  1638  ein  Ballet: 
Opheus  und  Eurydice. 

Durch  den  Stoff  selbst  war  dem  Dichter  die  Gelegenheit 
geboten,  zu  zeigen,  wie  heimisch  er  sich  in  der  alten  Welt 
fühlte.  Dass  er  von  so  guter  Gelegenheit  fleißigen  Gebrauch 
macht,  kann  man  dem  Kenner  des  Alterthums  nicht  verdenken, 
wol  aber  dass  er  wie  ein  lateinischer  Professor  Eloquentiae  seine 
ganze  Gelahrtheit  auskramt,  in  den  gesuchtesten,  geziertesten 
Worten  und  Redensarten  sich  ergeht,  und  dadurch  nicht  allein 
dunkel  und  unverständlich,  sondern  auch  völlig  undeutsch  wird. 

Das  Streben,  bald  recht  zierlich,  bald  erhaben  sich  auszu- 
drücken, artet  oft  in  Schwülst  und  Bombast  aus,  und  wird  so- 
gar zuweilen  höchst  geschmacklos  und  lächerlich.  Obschon 
maüchen  Stellen  sich  ein  freier  ErgAiss  des  Gemüths,  sogar 
Schwung  nicht  absprechen  lässt,  so  macht  doch  das  Ganze  den 
Eindruck  eines  Machwerks  ausT  dem  Kopfe  eines  völlig  verla- 
teinten  sehr  gelehrten  Rhetors. 

Doch  wir  wollen  das  Ganze  mittheilen  und  Jeder  mag 
sich  Selbst  überzeugen,  ob  auch  hierauf  und  ob  überhaupt  auf 
Buchner's  poetische  Leistungen  passt,  was  Gervinus  in  der 
^vierten  gänzlich  umgearbeiteten  Ausgabe"  seiner  Geschichte 
der  deutschen  Dichtung,  4,  Ausg.  (1853.)  3.  Bd.  S.  230  »•)  sagt: 

JE^  ist  ein  allgemeines  Bedauern  ^^),  dass  dieser  Erfinder 
der  deutschen  Daktylen  nichts  Deutschpoetisches  drucken  ließ. 


15)  Wetzel,  Hymnopoeogr.  1.  Thf.  S.  134.  „Er  hat  sich  kurz  vor  sei- 
nem Ende  das  Lied:  Auf  meinen  lieben  Gi Ott' —  vörslAgen  lassen,  und  selbst 
nach  dessen  Melodie  im  Meining.  GB.  A.  1711.  den  Morgengesang  verfertiget: 
Der  schone  Tag  bricht  an.*^ 

16)  Dasselbe  übrigens  sebon  2,  Aufl.  (1«<#(I)  8.  Thl.  S.  233.  und  sogar 
schon  1.  Aufl.  (1838)  3.  Thl.  S.  230. 

17)  Sonderbari  so  spricht  auch  ^eumeister  vor  anderthalb  hundert  Jah- 
ren, de  poetis  gern.  1695.  p.  18.    JD  ölend  um   oert«,  virum  illustrem  nihil, 


13 


als  wenige  Gedichte,  wie  die  Weihnacbtegedankeii  «nd  das 
Nachtmahl  des  Herrn;  und  nach  seinem  Wegweiser  zu  urthei- 
len,  war  er  auch  fast  der  einzige  Mann,  der  deutlich  wusste, 
was  er  wollte,  der,  wie  ihn  Vinc.  Fabricius  aus  Heinsius  Munde 
lobt,  ungezwungen,  nicht  niedrig,  nicht  stolz,  und  ohne  ein  pe- 
dantisch Farblein  schrieb,  der  den  Dünkel  der  Gelehrten  seiner 
Zeit  nicht  theilte,  der  mit  Fleiß  und  Sorgfalt  überdachte  ehe 
er  schrieb,  das  nonum  prematur  in  annum  (wie  Tscherning  an- 
erkennt) genau  und  nur  all  zu  genau  beobachtete,  und  dessen 
Zeilen  man  daher  höher  hielt  als  Anderer  ganze  Bücher.*^ 

Ballet. 

Inhalt   des   ersten    Acts. 

Der  Hirten  treues  Volk,  der  frommen  Nymphen  Schaar 

Krfröhlicht  wünscht  Gelück  dem  neugefugten  Paar 

Und  das  ihm  selber  auch.     Orpheus  zum  Tempel  geht, 

Um  da  zu  beten  an,  indess  ein  Tanz  entsteht 

Auch  in  der  Götter  Ehr,  Eurydice  ihn  fuhrt. 

Und  eh  man's  innen  wird,  der  Neid  sich  unterschlicrt ' ), 

Wirft  eine  Schlang  in   Weg,  Eurydice  verletzt 

Bald  aus  dem  Heihen  fallt,  wird  Lust  und  Lichts  entsetzt. 

Da  reißet  Alles  aus.     Iris  vom  Himmel  kömmt. 

Und  dass  es  sterben  kann ,  des  Fräuleins  Haar  abnimmt  ^). 

Dann  kömmt  auch  Charon  an  vom  bleichen  Acheron, 

Schifft  seinen  Todten  ein  und  segelt  so  darvon. 

Der  Menschen  Thun  setzt  um*)  in  Eil  als  wie  ein  Wind, 

Dass  mitten   unter    Lust   sich   olt  ein   Trauren   findt. 

Der     erste    Act 

Ein   Hirte. 

Brich  an ,  brich  an ,  du  werther  Tag, 
Der  Ziel  und  Endschaft  geben  mag 


ut  scriptorum  reliquorum ,  ita  carminum  inprimis  Germanicorum ,  edidisse,  vel 
saltem  collegisse  ,  praeter  unicum ,  quod  ego  sciam ,  hae  insoripttone :  Wey- 
nacht-Gedancken  und  Nachtmal  des  Herrn.  Wittenb.  4,  38.<*  und  weiß  nichts 
von  Buchner  mitzntbeilen  als  ein  ganz  erbärmliches  Gelegenheitsgedieht,  das 
er  bis  in  die  Wolken  erhebt! 

1)  sich  hineinschleicht,  oiederd.  slüren,  slaren,  slarren,  einhergehen  ohne  die  Füsäe 
sonderlich  Aufzuheben.  —  2)  Durch  das  Abschneiden  der  Locke  wird  der  Sterbende  der 
Unterwelt  geweiht.  Was  hier  die  Götterbotin  Iris  thut,  kommt  eigentlich  der  Proserpinx 
«n  (Virgil.  Aen.  4,  698)  oder  dem  Thanatos   (Eurip.  Alre»t.  74).  —       3)  schlift  am.  — 


14 


Den  schweren  Liebesschmerzen! 
Schau ,  deine  Ruh  ist  dir  bereit, 
Du  Lust  und  Hoffnung  nnsrer  Zeit, 
Nun  hast  du  Fug  *)  zu  scherzen. 

Ein    ander   Hirle. 

Der  harte  Sinn  ist  beigelegt, 
Die  Lieb  hat  Gegenlieb  erregt, 
Treu  wird  belohnt  mit  Treue. 
Dein  selbst,  du  dir  sich  nun  ergiebt; 
Wohl  dem  der  liebt  und  wird  geliebt ! 
Das,  Orpheo,  dich  freue. 

Die   Hirten   alle    zusammen. 

Und  wir  singen  dich  drum  an, 

Dich  du  hochgeehrtes  Paar. 

Von  der  blauen  Himmelsbahn 

Hat  der  guldnen  Brüder  Schaar 

Deines  Gleichen  nie  geschaut, 

Du  edler  Bräutigam  und  du  gleich  edle  Braut. 

Eine   Nymphe. 

Was  willst  du  fliehen  der  dich  sucht, 
Du  Morgensterren  aller  Zucht 
Und  Spiegel  Fräuleins  Jugend  ?  ^) 
Die  Rebe  muss  nicht  stchn  allein, 
Soll  sie  je  tragen  guten  Wein; 
So  auch  nicht  deine  Tugend. 

Eine  Andere. 

Wer  dich,  Eurydice,  nicht  preist 

Und  noch  weit  mehr  als  selig  heißt, 

Ist  von  fast  kalten  Sinnen 

Und  all  zu  übel  nur  bericht. 

Ein  solches  Thor -sein  wolln  wir  nicht, 

O  Schöne,  heut  beginnen. 

Die  Nymphen  alle   zusammen. 

Drum  so  singen  wir  dich  an, 

Dich  du  hochgeehrtes  Paar. 

Von  der  blauen  Himmelsbahn 

Hat  der  guldnen  Bruder  Schaar 

Deines  Gleichen  nie  geschaut, 

Du  edler  Bräutigam  und  du  gleich  edle  Braut. 


4)  BtftogniM.   —  5)   Ha.  Tugend.   — 


15 


Orpheus. 

Hört  auf,  ihr  Götter,  höret  auf! 

Könnt  ich  ein  Mehrers  bitten 

Und  mir  auch  schenken  eure  Macht, 

Meins  Wunsches  Lauf 

Zu  seinem  Zweck  ist  bracht. 

Der  werthe  Dank  erstritten: 

Ich  hab,  ich  habe  dich,  mein  Leben, 

Mein  ganzer  Mtith   und  Sinn! 

K  u  r  y  d  i  c  e. 

Dein  ist  was  ich  bin! 

Was  wollt  ich  lieber  geben 

Dir,  ander  Ich,  als  mich? 

O  meines  Herzens  Trost  und  Wonne! 

Orpheus. 

Helle  Sonne, 

Lass  mir  nie  brechen  deinen  Schein! 

Durch  dich  leb  ich  allein, 

Durch  dich,  o  Band  und  Schlüssel  meiner  Seele! 

Eury  dice. 

Selbst  nicht  die  Hölle 

Uns  trennen  soll  samt  allem  Wüthen, 

Das  der  taube,  taube  Styx  verübt. 

O  rpheus. 

Wer  sich  dir  ergiebt  und  dich  liebt. 

Auf  den  wird  stets  ein  Freudenmeer  sich  schütten. 

Eu  r  y  dice. 

Der  Thau  das  dürre  Land  erquickt. 

Mich  deine  Gunst  erneuet. 

Wann  mir  nur  blickt 

Die  Morgenröthe  deiner  Wangen  — 

Schau,  wie  sie  prangen! 

Da  leb  ich  erst  und  bin  erfreuet. 

Orpheus. 

Ich  spür  und  sehe  mein  Gelück, 

O  Liebste,  doch  geht  oft  Eurück 

Und  schlaget  um  worzu  man  nicht  gebeten 

Der  Götter  Hülf  und  Rath:  drum  will  ich  für  sie  treten, 

Zum  Tempel  gehen  hin  und  ihnen  Opfer  bringen : 

Dies  soll  mein  Erstes  sein. 


16 


Eurvdico. 

O  selige  Band,  das  Gott  selbst  segnet  ein! 

Wir  unterdessen  wollen  singen, 

Die  Götter  gleichfalls  rufen  an. 

Was  uns  trösten  kann 

Und  unser  krankes  Herze  laben, 

Das  alles  sind  des  frommen  Himmels  Gaben. 

Ein  "Schäfer. 

Wir  folgen  dir,  du  Zier  und  Lust  der  Wälder, 
Dein  stet  Geleit  und  treue  Schaar, 
Wir  folgen  dir,  du  keusche  Lust  der  Felder. 
Ein  wenig  steh  beiseit  und  räume  den  Altar! 

Voller  Chor  der  Schäfer. 

Dir  unser  Herz  sich  wendet 
Und  eilt  den  Göttern  zu, 
Viel  heiße  Seufzer  sendet 
Um  die  gewünschte  Ruh, 
Die  dich  heute  soll  umfangen, 
Dir  stillen  dein  Verlangen, 
Du  werther  Orpheus  du! 

Eur  yd  i  CO. 

Nymphen,   meine  Lust,  folgt  nach} 

Fügt  Hand  und  Hand,  zu  singen  einen  Reihen! 

Was  übertäubt  der  Zeiten  Ungemach 

Als  Spiel  und  Tanz  und  gute  Melodeien? 

Doch  was  wir  anjetzt  begehn, 

Ist  nicht  nur  Lust,  es  muss  für  Opfer  stehn.  ^) 

Nymphe. 

Schaff,  Fräulein,  und  befiehl!  denn  zu  gehorchen  dir 
Ist  nicht  nur  unser  Wunsch,  es  ist  auch  die  Gebür. 

Ballet  der  Nymphen  und  dann  de»  Neid». 
Nun  die  Eurydiee  vom  Biete  der  Schlangen  todt  dahin  gefallen  i 

Iris. 

Wie  ist  doch  der  Menschen  Leben, 
Weil '')  sie  hier  und  sterblich  sind. 
Mit  so  manchem  Fall  umgeben! 
Wie  80  plötzlich  und  geschwind 
Liegen  alle  hohen  Gaben, 
So  sie  vor  *)  b«rühmt  gemacht  I 


6)    statt    Opfer   gelten.  --  7)  wihrend.  —  8)  vorher.  — 


17 


Und  sie  werden  selbst  begraben 
In  die  finster  lange  Nacht! 

Mitten  in  der  Blüth  der  Freuden 
Oft  ihr  Ende  sie  befällt, 
Müssen  unerwartet  scheiden 
Nunter  •)  in  die  stumme  Welt, 
Da  nur  Schem'  i®)  und  Schatten  wohnen. 
Keine  Lust  je  wird  gespürt, 
Und  man  weit  von  Kränz  und  Kronen 
Ein   recht  todtes  Leben  führt. 

Alles  kommet  da  zusammen; 
Zepter,  Kronen,  Stadt  und  Feld, 
Auch  die  allergrößten  Namen 
Und  geehrtsten  von  der  Welt. 
Keine  Macht  der  starken  Waffen 
Nützt  dann  oder  machet  frei, 
Auch  die  Weisheit  kann  nicht  schaffen, 
DasB  sie  selbst  nicht  sterblich  seL 

Schonest,  inner  ^^)  diesem  Lande 
Wirst  du  auch  gelangen  an! 
Schau,  jetzt  lös  ich  gleich  die  Bande, 
Dass  der  Geist  sich  trennen  kann, 
Sein  zerbrochnes  Hans  verlaMen, 
Das  ihn  nicht  mehr  hegen  mag, 
Wandern  dunkle  düstre  Straßen 
Ohne  Sonne,  Licht  und  Tag. 

Juno  hat  mich  rab  gesendet, 
Deine  Noth  zwang  ihren  Sinn, 
Nun  ist  ihr  Befehl  vollendet 
Und  ich  kehre  wieder  hin 
Wo  ich  neulich  her  bin  kommen. 
Auf!  komm,  Charon,  jetzt  ist  Zeit! 
Schau!  das  Haar  ist  abgenommen 
Und  nun  deine  diese  Beut. 

Dies  und  Alles  ist  ja  deine, 
Was  nur  worden  kommt  zu  dir, 
Hier  bleibt  nichts  denn  Asch  und  Beine, 
Wann  die  Seel  ergreift  die  Thür. 
Selig  sind  der  Götter  Schaaren, 
Die  noch  Fall**)  noch  Tod  besteht. 


9)  lüiraBi«r.  —  10)  der  Schemen,   Schktteiibild ,  nd.  scheine,  mhd.  sehhne.  —  11)  inner- 
halb. —  12)  Unfall.   — 

Weimar.  Jh.  IL  2 


18 

Sind  befreit  von  Zeit  nnd  Jahren, 
Und  iJir  Wesen  nie  zergeht. 

Selig  man  auch  billig  nennet 
Die  ihr  Leben  so  verbracht, 
Dass,  wann  sie  der  Geist  nun  trennet, 
Bie  zwar  sollen  in  die  Nacht, 
Der  nichts  kann  noch  mag  entkomme». 
Doch  ihr  großer  Name  bleibt, 
Den,  sind  sie  gleich  weggenommen, 
Fama  in  die  Sternen  schreibt. 

Charon§  Ballet. 
Ende  des  ersten  Acts. 

Inhalt    des    andern    Acts. 

Die  Nymphen  führen  Klag  ob  der  Gespielin  Tod. 

Orpheus  vom  Opfer  kömmt,  hört  an,  in  was  für  Noth 

£r  nun  gerathen  sei.     Sein  Herz,  im  Leib  entzündt. 

Von  Schmerzen  irr  gemacht,  noch  Maß  noch  Mittel  findt. 

Setzt  allen  Rath  beiseits,  nimmt  keinen  Trost  nicht  an, 

Zielt  nur  auf  Tänarus  ^*)  hin  wo  die  tiefe  Bahn 

Nah  »*)  geht  in  Plutons  Reich.     Dahin  er  sich  begiebt. 

Ob  zu  erbitten  sei  das  was  er  einig  ^  ^)  liebt 

Von  dem ,  der's  geben  kann ,  wo  nicht ,  will  er  auch  sein 

Da  lebendig  *^),  wo  sonst  sein  Licht  todt  kommen  ein. 

Ein  großes  Heldenherz  schlägt  aus  gemeinen  Weg, 

Und  wo  Gefahr  und  Furcht,  sucht  Tugend  ihren  Steg. 

Der    andere    Act. 

Erste  Nymphe. 

Ach,  ach!  wo  soll  ich  mich  doch  lassen? 
Mag  ich  mein  flüchtigs  Herz  auch  fassen? 
Nein,  neini  es  wallet  stets  in  mir 
Und   ängstet  sich  nur  für  und  für. 
Nicht  anders  als  wie  pflegt  und  thut 
Ein  hohles  Erz  gestellet  an  die  Glut 
Mit  Achelous  i^)  Saft 

Im  Fall  er  nun  der  heißen  Flammen  Kraft 
Mit  vollem  Sode  ^*)  will  entgehen. 
Was  thu  ich?  bleib  ich  stehen? 


13)  Vorgebirge  in  Lacedämon.  Eine  H6hle  daselbst  hielt  man  für  ddn  Eingang  in  di« 
Unterwelt.  —  14)  hinab.  —  15)  eintig.  -^  16)  nach  alter  ursprünglicher  Accentaation:  le- 
bendig. —  17)  Acheloos,  Sohn  des  Okeanos  und  der  G&a,  ein  Flussgott.  Durch  „Saft  des 
A."  ist  hier  nur  Wasser  gemeint.  —  18)  Sod,  das  Aufbrodeln,  kochende  Aufwallen  des 
Wassers.  — 


19 


Oder  geh  ich  fort? 

Mich  schreckt  der  Ort, 

Der  nie  genung  vermaledeit  vird  sein. 

Mir  zittert  Mark  und  Bein. 

Das  Blut  ums  Herz  als  Eis  gerunnen  steht. 

Den  Augen  Licht  und  Glanz  vergeht. 

Ach,  dass  ich  nur  stracks  ward  ein  leichter  Schein 

Und  zn  dir  kam, 

Ohn  welcher  Beisein  unser  Leben 

In  steter  Todesnacht  mnss  schwebei) 

Und  sterben  für  nnd  für, 

O  Auszug  1»)  aller  Zier! 

Zweite  Nymphe. 

Wer  wird  doch  trösten  unser  Klagen? 
Die  Wunde  heilen,  so  geschlagen? 
Wie  manch  berühmtes  Gras  man  meiht*<>) 
Durch  dieses  Thal  zur  Frühlingszeit, 
So  wird  man  doch   nicht  linden 
Ein  solches  Kraut  und  Arzenci, 
Die  gut  und  kräftig  sei. 
Den  Schaden  zu  verbindep. 

Orpheus. 

Was  hör  ich  da?  wa«  will  dies  Leidgeton? 
Wo  Hochzeit  ist,  muss  Trauren  übel  stehn. 
Es  ahnet  mich  nichts  guts,  drum  lasst  uns  eilen: 
Furcht  leidet  kein  Verweilen, 
Ihr  Wind  und  Flügel  ist.  «i) 

Die  erste  Nymphe. 

StI  st! 

Der  Bräutigam  kömmt  wieder. 
Stellt  ein  die  Klagelieder, 
Sie  haben  keine   Zeit. 
Schaut,  er  ist  nicht  weit! 
Kläret  auf  die  trüben  Augen, 

dass  euch  armen  etwa  nicht 
Verrathe  das  Gesicht. 

Ob  ich  gleich  muss  gestehn,  dass  man  nicht  all/uwol 
Sich  fröhlich  stellen  kann,  ist  das  Herz  Trauerns  voll. 

Orpheus. 

Seh  ich  doch  nicht,  die  mich  hieher  getrieben! 

Sagt,  Nymphen,  an,  wo  ist  sie  blieben^ 

Die  ich  bei  euch  nur**)  neulich  hinterlassen? 


19)  -dM  Ut.  epitome,  Inbegriff.  —  20)  im  Niederd.  noch  Jettt  inaien,  holl.  maajeii,  mhd. 
maejen.  —  21)  gani  lateinisch:  ei  est  veiitus  et  als  d.  h.  sie  hat  Wind  und  Flügel.  ~  92) 
so  eben,  lat.  modo. 


O* 


iO 


Erste  Nymphe. 

Ich  weiß  nicht,  auf  was  fremde  Straßen 
Sie  etwan  von  uns  abgekommen. 

Orpheus. 
Habt  ihr  sie  denn  nicht  bass  in  Acht  genommen  ? 

Erste  Nymphe. 

Du  weißt  der  Weiber  Art  und  dass  sie  sicher  sind, 

Und  kaum^')  Bedachtsamkeit  bei  Spiel  und  Lust  sich  iindt. 

Orpheus. 
Wo  ist  sie  dann?  im  Wald? 

Nymphe. 

O  nein,  da  ist  sie  nicht. 
Wir  kommen  nur  **)  heraus. 

Orpheus. 

Wo  dann  doch?  gebt  Bericht! 

Nymphe. 
Sie  ist  nicht  mehr  bei  uns ,  und  mehr  kana  ich  nicht  sagen. 

Orpheus. 

Was  will  mir  diese  Red?    Ich  muss  nur  weiter  fragen: 
Ist  sie  nicht  mehr  bei  euch? 

Nymphe. 

Wie  du  siehst,  ist  sie  nicht 
Bei  uns  mehr  wie  zuvor. 

Orp  heus. 

Sie  schaut  ja  noch  das  Licht! 
Was  so  geschwinder  Fall  hat  sie  betreffen  können? 

Alter  Hirte. 

Wie  pflegen  wir  doch  stets  so  weit  hinaus  zu  sinnen! 

Wir  armen  Sterblichen  bedenken  nicht  die  Stund, 

Die  stets  zu  Haubte  steht  *^)  und  schließen  kann  den  Mund. 


83)  fftr  kaum  (oder  kein)  hat  die  Hs.  kaun.  —  24)  8.  92.  —  2i)  Wol  nach  dam  Volks- 
glauban  :  w«uu  b«i  einar  Krankheit  der  Tod  am  Fussende  des  Bettys  ateht,  so  genM«t  dar 
Kranke;    wenn  er  ans  Haiiptende  tritt,    so  stirbt  or.    — 


21 


Orpheus. 

Dies  Niedersehn  zur  Erd,  dies  lange  Stillet»chweigen 
Ge8chiehet  nicht  umsonst,  es  niuss  auf  etwas  zeigen. 

Alter  H  i  r  t  e. 

AVer  böse  Zeitungen  nicht  gerne  bringen  will, 

Weil  es  unangenehm,  druckt  *^)  immer  und  schweigt  still. 

Orpheus. 

Kein  Seher  zwar  ich  bin,  doch  mag  ich  leicht  ermessen, 

Es  stehe  nicht  zu  wol,  da  Freud  und  Lust  vergessen, 

Wo  beides  sollte  sein.     Ach,  Nymphen,   saget  mir, 

Ohn  einigen  Verzug,  ohn  einiges  Verhelen, 

W^as  ist  da  gangen  vor  mit  der  geliebten  Zier, 

Die  mir  mein  Alles  war?     Es  pflegt  nicht  so  zu  quälen, 

Wie  ihr  dann  wisst. 

Was  klar  vor  Augen  dargestellt, 

Als  dieses  was  man  uns  verhehlt 

Und  doch  zu  spüren  ist. 

Drum  wollt  ihr  mir  noch,   wie  ich  hoffe,    wol, 

So  fliehet  nicht  mir  anzudeuten 

Den  Zustand  meiner  Zeiten*'): 

Ich  leide  was  ich  leiden  muss  und  soll. 

Erste  Nymphe. 

Dass  du  nur  reden  kannst,  du  unglückhafber  Mund! 

Doch  hat  dir  solches  der  vcrgunnt, 

Der  auch  befehlen  kann. 

Acl),   ach!  wo  fang  ich  an, 

Ich  arme?  kann   ich  auch  kaum   nur  ein  Wort  noch  machen! 

Was  weiß  ich  dann?     Ach,    leider  allzuviel! 

Ich  eisre**)  mich  so  lang   ich  will, 

Muss  ich  doch  zum  Ziel. 

Hier  wo  du  siehst   den  bunten  Frühling  blühen 

Und  dieses  ganze  Feld 

^[it  grüner  Lust  umziehen. 

Ward  in  der  Götter  Ehr  ein  lleihen  ungestellt. 

Wir  sungen  allzugleich  dich,  Hymcnäns,  an. 

Andächtig,  fröhlich  auch,   Eurydice  voran. 

O  rpheas. 
Eurydice!  was  wurd  ihr  dann  gethan? 


26)  drucken,  drucksen,  zurücklialteud  sein,  nicht  mit  der  Sprache  herauswollen.  —  37) 
meiner  augenblicklichen  Verhältnisse.  —  28)  ich  oisre  mich,  noch  lu  Norddeutschlaud  neben 
dem  besseren:  ich  eise  mich,  ich  schaudere  mich  (nämlich  es  auszusprechen,  es  hilft  nichts, 
ich  mnss  doch  zum  Ziel).  — 


•22 


Nymphe. 

Yernimms  und  Übertrags!  —  im  Fall  ich  auch  noch  mag 
Und  so  viel  Kraft  in  mir  das  Übel  zu  erzählen  — 
O  den  noch  mehr  als  schwarzen  Tag! 

Orpheus. 
Sag  her,  du  sollst  mir  nichts  verhehlen! 

Nymphe. 

Wir  pflegten  nnsrer  Lust  ganz  sicher,  niemand  dacht 
Auf  das  was  uns  anjetzt  dies  Trauern  hat  gebracht 
(Wie  wir  bei  Freuden  dann  kaum  indenk  *•)  sein). 
Bald  ein  Gespükniss  *®)  kömmt  und  fliehtet  sich  mit  ein. 
Der  Leib  war  ein  Geripp,  mit  Haut  doch  überspannt, 
Erdfarb,  als  wann  ihn  hatt  der  Sonnen  Hitz  verbrannt. 
Die  blauen  Lefzen  runter  hungen,  •*) 
Dass  nicht  ein  Zahn  auch  ward  bedeckt; 
Die  Augen  stunden  tief  als  zwei  Brand  angesteckt^ 
Anstatt  des  Haars  sich  Nattern  schlungen 
Um  beide  Schläfen  rings  herum.  ••) 

Orpheus. 
Was  thäte  dann  das  Ungethüm? 

Nymphd. 

Es  warf  ein  giftig  böses  Thier 

Verrätherich  in  Eil  zur  Erden, 

Eh  wir  es  mochten  inne   werden. 

Dein  Licht  und  unser  Zier, 

Eurydice  tritt  drauf  und  wird  zugleich  verletzet, 

Zugleich  auch  außer  Licht  und  aller  Lust   gcsctzett 

FäUt  längs  die  Erde  hin. 

Kann  kaum  noch  deinen  Namen  nennen^ 

Damit  sie  den  so  treuen  Sinn 

Dir  gebe  zu  erkennen 

Auch  in  der  letzten  Noth. 

Orpheus. 

O  weh,  o  weh!  so  ist  sie  todt! 
Geht  hin ,  ihr  Sterblichen ,  und  bildet  euch  was  eiri, 
Dass  mehr  als  Glas  und  Traum  und  Schatten  möge  sein ! 
Was  thu  ich  hochbetrübter  Mann? 


99)  «ingedenk.  ~  30)  8pnk,  Trugbild.  —  31)  hingen.  -^  tf)  Erfindung  Bnchner's.  Kury- 
die«  starb  nach  Apollodor  Tom  Biss  einer  Schlange,  und  wie  Virgilius  hintuffigt,  als  Hie 
Von   Ari9t&08  verfolgt  floh.  — 


23 


Was  stell  und  fang  ich  an? 

Kurydice!  Eurydice! 

O  weh! 

Bist  du  todt  und  ich  kann  noch  leben! 

Fort,  fort,  mein  Geist!  fort,  fort!  (nicht  mein  Geist,  meine  Pein, 

So  lange  du  verziehest  hier  zu  sein) 

Fort,  folge  die  sich  dir  und  du  dich  ihr  ergeben! 

Alter  Hirte. 

Bedenke  dich  und  halt  den  Zügel  an! 

Du  bist  der  erste  nicht  dem  dieses  leid  gethan, 

Wirst  nicht  der  letzte  sein.     Der  Himmel  giebt  und  nimmt: 

Nichts  trifft  uus,  glaube  mir,  das  er  nicht  vorbestimmt; 

Und  ihme  geben  nach,  auch  sittsam  überwinden 

Was  nicht  zu  ändern  steht ,  das  ist  recht  freie  sein  ! 

Orpheus. 

Die  Liebe  lasset  sich  nicht  binden,  ■ ») 

Die  Götter  sehn  ihr  nach**),  und  ich  bin  nicht  von  Stein: 

Hat  mir  me.n  Herze  dann  ein  Drachenerz  umzogen? 

Ich  habe  Muttermilch  wie  andere  gesogen, 

Bin  eben  auch  ein  Mensch,  nicht  grimmer  Löwen  Art. 

Alter  Hirt. 

Ein  Mensche  freilich  ja,  doch  mit  Vernunft  verwahrt, 
Die  nur  das  siebet  an  was  unser  erb  und  eigen. 
Doch  will  ich  jetzo  stille  schweigen: 
Auch  weise  sein  hat  Zeit  und  Ort. 

Orpheus. 
Auf,  Orpheus,  du  musst  fort! 

Hier  gehet  Orpheus  ein  Mai  pder  etliche  Btiliachweigend  hin  umd  wieder  aU  bedächte 

er  etwas  bei  ihm.    Hernach  fanget  er  an  wie  folget : 

Auf,  auf!  ermunter  dich!  fass  Alles  das  zusammen 
Und  zieh  es   in  die  Eng  was   du  vermagst  und  bist! 
Wie?  schrecken  deinen  Muth  die  blauen  Schwefelflammen, 
Damit  Cocytus'^)  schäumt,  im  Fall  er  grimmig  ist? 
Mag  dich  was  fechten  an,  ob  in  dem  stummen  Reiche, 
Das  Plutons  Hofestadt,  nur  lauter  Tod  und  Leiche, 
Und  grimme  Nacht  zu  aller  Zeit  regiert? 
Kein  Licht  je  wird  gespürt? 

Ist  doch  Eurydice  daselbst,  dein  Tag  und  Sonne, 
Dein  Schatten  für  die  Hitz  und  Leben  für  den  Tod, 


S3)  bewUtigen.  — '  84)   sind  ihr  aach  nnterworfen  ,  können   sich  ihr  nicht  enttiehen.  — 
35)  Kokytos,  Strom  der  Wehklage  in  der  Unterwelt.  — 


24 


Die  Furchtbenehmerin ,  im  Trauren  deine  Wonne^ 
Dein  Schutz  und  sicher  Mal  in  allem  Kreuz  und  Noth. 
Geh  strackes  Fußes  zu,  wo  Tänarus  sich  zeiget 
Bei  der  Spartaner  Stadt  und  bis  in  Himmel  steiget. 
Da  ist  Yorlängst  ein  Schlund  gebrochen  nab, 
In  aller  Welt  ihr  Grab. 

Hat  der  Alcmenen  Sohn  *•)  den  Cerbems  bezwungen, 
Das  ungeheure  Thier  in  unser  Luft  gebracht; 
Auch  der  Athener  Prinz  •^)  hat  ritterlich  getrungen 
Samt  dem  Pirithous  ■*)  durch  alle  Höllennacht, 
Dann  wieder  an  das  Licht  des  schönen  Tags  gekehret. 
Wird  meiner  Hoffnung  nach  mirs  auch  nicht  sein  verwehret: 
Stärk  und  Gewalt  viel  schaffet  und  bezwingt. 
Noch  mehrers  Glimpf  ■  •)  verbringt. 

Was.  andere  durch  Krieg  und  strenge  Schlacht  verübet, 
Dass  wo  sie  angesetzt  ^^)  bald  ihre  Fahnen  bracht, 
Dies  mir  ein  süßer  Ton  und  güldne  Leier  giebet, 
Sie  zwinget  Herz  und  Sinn ,  und  Waffen  *  *)   nur  die  Macht. 
Glimpf  mehr  als  Eisen  thut:  dies  raubet  zwar  die  Güter, 
Und  jagt  das  Leben  aus,  Glimpf  aber  die  Gemüther. 
Sie*')  zähmt  den  Sinn,  nicht  nur  den  Leib  allein 
Und  kann  beliebt  doch  sein. 

Sind  jene  Götterart,  so  hat  mich  auch  getragen 
Ein  Leib,  der  himmlisch  ist;  ich  habe  gleichen  Sinn,    — 
Ein  Held  so  gut  als  sie  —  was  will  man  weiter  sagen?  — 
Nun  ich  auch  bin  *■),  — 

Der  schärfet  mir  den  Muth,  legt  alle  Furcht  bei  Seite. 
Was  steh  ich  an?  er  ist  mein  Führer  und  Geleite. 

Auf,  Orpheus,  auf!  du  brichst  die  güldne  Frucht, 
Die  viel  umsonst  gesucht. 

Du  kühler  Hebrusstrom  **)  und  meine  Lust,  ihr  Wälder, 
Du  klares  Taglicht  auch,  und  allgemeine  W*onn, 
Seid  mir  noch  eins  gegrüßt!     Die  schwarzen  Trauerfelder 
Mich  ziehen  unterhin,  und  da  scheint  meine  Sonn. 
Ich  bleib,  im  Fall  man  will  mein  Seufzen  ferne  setzen. 
Und  wird  mein  einig  All  mich  reichlich  da  ergetzen. 
Komm  ich,  so  kömmt  sie  wieder  auch  mit  ein, 
Dann  mag  ich  göttlich  sein. 


86}  Herakles.  —  87)  Thesens.  —  86)  ging  mit  Theseas  in  die  Unterwelt,  nm  Proserpina 
tn  entfahren.  —  89)  Glimpf,  ein  noch  Eur  Zeit  dos  SOJ&hr.  Krieges  sehr  gebrfiachliches 
Wort:  alles  was  sich  siemt,  angemessenes  Benehmen,  Ehrenhaftigkeit,  guter  Name.  —  40) 
Bum  Angriff  geschritten.  —  41)  n&ml.  swingen  nur  die  Macht,  die  Süssere  Gewalt.  —  43) 
niml.  di«  Leier.  •—  48)  Die  Wort«  auch  bin  fehlen  in  der  Hs.  •—  44)  Uebrus,  Fluss  in 
Thracien.  — 


25 


Voller  Chor  der  Hirten  und  Nymphen. 

Zieh  hin!  der  Himmel  dich  begleit, 
O  Trost  nnd  Hoffnung  unsrer  Zeit! 

Zwei  Hirten. 

Lass  deine  Saiten  schallen, 
Wo  Tod  und  Grausen  waUen! 

Zwei  Nymphen. 

Dein  großes  Herze  mnss,  o  Held, 
Bekannt  auch  sein  der  andern  Welt! 

Zwei  Hirten. 
Du  gehst  da  niemand  wieder  kömmt,  *  *) 
Kein  Gang  zurücke  bricht,  **) 
Da  allem  Thun  sein  £nd  bestimmt, 
Als  nur  der  Tugend  nicht. 

Zwei  Nymphen. 

Sie  kann  und  muts  nicht  nntergehen. 
Siegt  mitten  in  der  Noth, 
Bleibt  unverrückt  auf  ihr  bestehen 
Und  lachet  HÖH  und  Tod. 

Zwei  Hirten. 

Sie  ist  mit  dir. 

Drum  kömmst  du  wieder, 

Zwei  Nymphen. 

O  unsre  Zier, 

Durch  Kraft  der  süßen  Lieder. 

Voller  Chor  der  Hirten  nnd  Nymphen. 

Zieh  hin !  der  Himmel  dich  begleit, 
O  Trost  und  Hoffnung  unsrer  Zeit! 

Inhalt  des  dritten  Acts. 

Ein  neues  Freudenfest  bei  seiner  Hofestadt 

Lässt  Pluto  rufen  ans,  dass  nun  dieselbig  hat 

Eurydice  vermehrt,  dergleichen  Schöne  nicht 

Man  sonsten  irgend  findt  noch  schaut  der  Sonnen  Licht. 

Man  weiß  von  keiner  Pein  und  brauchet  sich  der  Zeit 

Und  übet  lauter  Lust  und  eitel  Fröhlichkeit. 


45)  kömmt:  bestimmt,  Reime,  wie  sie  sich  Opitz  and  seine  ^Nachahmer  gestatteten.  — 
46)  Bergwerksaatdrack :  kein  Gang  wird  sarüekgefaadea,  vgl.  vorher :  d«  iat  Torl&ngst  ein 
Sehland  gebrochen  nab  (hinab).  — 


26 


IixWm  kommt  Orpheus  an,  spielt,  bitt  nnd  findet  Statt,  *'') 
Kuhn  mit  sich  dann  darvon  drum  er  geflehet  hat. 
\Vo  TuKond  mit  der  Kunst  gemachet  einen  Band, 
Mng  nichts  für  ihnen  stehn,  sie  haben  Oberhand. 

Der  dritte  Act. 

Die  erste  Scene. 

Pluto. 

Du  linnt,  luiNt  Alles  wol  gcfasst  und  eingenommen, 
Dnss  nun  i*m  milnniKlich  zu  Ohren  könne  kommen, 
Dftr  (1U*SCN  Z(*ptor  ehrt. 

Geist. 

Herr,  Alles  hab  ich  inil 
Vw\  rli'ht  PN  irntilHt  aus,  well  ich  dein  Diener  bin. 

IMuto. 

M«»  üftMifi«  WM|M*r  nicht I     Was  Fürsten  anbefehlen. 
Will  si'hl«»iitilK  s«ln  voUhrncht.     Du  sollst  mir  nichts  verhehlen 
\Uii\  S'-hwMiKPtt  IikI  d^m  Volk,  es  muss  sein  dargethan, 
IlMMN  l'h  lUu  HiJmrfott  ICrtist  mit  Onado  süßen  kann. 

(Inlst. 

hn  tthi^t-)t*)\iit*n**)  Volk,  Ihr  Hchatlon  ohne  Macht 
i  mi  14'fMi*  Mll'lw»  MMf,  illd  Ihr  dlo  hohle  Nncht 
D«»«  /^tUt*tnu^  ***)  liMwoliui,  hnrsu  und  wim  für  i^achcn, 
^Mt  M*ftf»'H''lM»M'»   Mot ,  li'li  MUi'li  soll  wissend  mnchon 
Im  ^Hmt'it  Hi(d  MMfdil  dos  d«r  den  /.eptcr  führt 
>♦♦*♦  »M»-«i»s  v^i'M"  Mt'ti  li  Hilf  sflller  llnnd  regiertl 
Dl><  }»•  '«IH   l'^itHlitd  ^l»Mt,  iIIm  lllum  tfcohrter  Jugoud, 

^';HU'H'".    MUH    'tt"    «IM«  ll    tlM«iM|l    ^^l»tMt    VfMMUChvt 

l'H'l   ll»    »il»'   IhM^m    NihIiI    mit    AlloM  elUKekohrt, 

Mm»  riMio  »llin«'»»  i  MW  rii  l>;|iti>u  Ihr  ««»weihet 

r»Ml  ^iM  'lii#«  hiIImhImIMi   ^<Ht  )<'uroht  und  Qual   l>eiWiet^, 

Mim  «•»»•!)>'  «•hIhm   I.m«I  uihl  hmuche  nloh  der  /eit> 

DIn  M)  idH  MhI  ^HilliMO'hl  und  uum  den  UüoVen  beut. 

Dml  (U Int  er. 

I.Mftft  uli'h  didueu  UHmm  evlenew,  •*") 
lllih   hid\iu*d»M  l.uM  9\\  pflei^u 
l'Uil  uu«  uu*ei   heute  »elul 
9^.>UU|tt>  d»»»ui»*   l'MHmu\eu  Wellen» 
M»N^,  dsudt  Me  Meh  uleht  iieh\^eU<^n 


27 


Ein  Geist. 

Für  das  Weinen,  für  das  Klägeii, 
Für   das  herbe  Leidetragen, 
Giebet  Fluto  selbt  nun  nach, 
Dies  dein  Ufer  zu  erfreuen 
Mit  Gespiel  und  leichten  Reihen 
Und  vergiebet  keiner  Räch.  *') 

Voller  Chor  der  Geister. 

Wer  sich  jetzo  nicht  will  letzen 
Und  heut  diesen  Tag  ergetzen, 
Hat  sein  selbst  nicht  wol  in  Acht. 
Wenn  der  Morgen  wieder  kommen 
Ist  uns  alle  Lust  genommen, 
Und  die  Strafe  wieder  wacht. 
Folget  dat  Ballet  Tantati  ^  Ixioni;  Tityi  und  der  dreien  dee  Danaue  Töehtvr.  &«) 

Des  dritten  Acts  die  andere  Scene. 

Geist. 

Sieh,  da  steh!  Fremdling,  steh!  es  ist  nicht  ohn  Verdacht, 
Dass  du  dich  lebendig  zu  Todten  hast  geniacht. 

Orpheus. 

Ich  suche  was  mir  ist  genommen 
Und  bin  hieher  zu  bitten  kommen. 

Geist. 

Fort  nur!  du  musst  fürn  königlichen  Thron! 
Wie  du  verdient,  wirst  du  da  nehmen  Lohn. 

Der  Geiet  führet  ihn  fürn  Pluto  uiül  eprieki: 
Herr,  dessen  Pflicht  ich  trage,  *•) 
Gefurcht  in   aller  Welt, 
Die  in  dem  Licht  und  die  so  außer  Tage, 
Hier  wird  dir  vorgestellt 
Der  nur  neulich  kommen  an 
Und  zwar  bei  Leben  noch,  weiß  nicht  was  für  ein  Mann. 

Pluto. 

Ihr,  meine,  haltet  gute  Wacht 

Und  gebet  wie  euch  ziemt  auf  Alles  fleißig  Acht! 

Orpheus. 

Was  will  ich  armer   schaffen! 
Herr,  dies  sind  meine   Waffen! 


51}  ?  hingt  keiner  Rache  nach.  —  53)  Von  den  50  Töchtern  des  Danaus  sind  nur  drei 
ausgewählt,  damit  Jeder  Mann  ein  Fraulein  erh&lt,  also  drei  Paare  tarnen  können.  —  58)  dem 
ich  dienstbar  bin.  — 


28 


Pluto. 

Ich  kenne  dicli)   der  Menschen  freche  Zucht, 

Seiut  **)  Hercules  ihm  einen  Weg  gesucht 

Von  oben  in  mein  lleich  und  sich  fast  kühner  That 

Verräthrisch  unternommen  hat; 

Die  andern  will  ich  übergehen. 

Orphe  US. 

Erlaube  mirs,   ich  komme  nur  zu  flehen, 

O  aller  Ding  ihr  End!  bin  Orpheus  sonst  genannt, 

In  Thracien  erzeugt  und  da  nicht  unbekannt 

Von  dem  was  Männer  zieret, 

Die  Lieb  hat  mich  geführet. 


Pluto. 


Auch  den  Pirithou». 


Orpheus« 

Dies  müsse  ferne  sein!  **) 
Ich  snche  nichts  als  das  gewesen  mein. 
Darum,  o  Vater,  schone  1 
Schau,  hier  ist  meine  Sonnet 
O  angenehmer  Schein! 
Die  Liebe,   die  mich  führet 
Und  euer  Herz  auch  rühret, 
Lass  meinen  Werber  sein! 

W^ie  lang  ist,  dass  man  lebet. 
In  Licht  und  Tage  schwebet! 
Was  wird  euch  doch  entwandt? 
Eurydice  kömmt  wieder. 
Mich  auch  wird  legen  nieder 
Mein  Ziel  in  leichten  Sand. 

Ich  gieße   diese  Zähren, 
Und  ihr  lasst  wieder  kehren 
Die  meinen  Geist  entznndt. 
Euch  fall  ich,  ach!  zu  Füßen. 
Wol  mir,  kann  ich  genießen 
Der  Hulde,   die  euch  bindt. 

Pluto. 

Dein  Suchen  straf  ich  nicht,  vielmehr  rühm  ich  die  Lieder, 

Und  ist  mein  dir  so  sehre  nicht  zuwider 

Als  der  gemeine  Schluss,  mehr  noch  als  Eisen  hart. 


54)  eelt.  —  55)  Pirithou«  wollte  n&mlich  die  Gemalio  det  Pinto  entführen.  — 


29 


Proserpina. 

Herr,  ist  das  Zepters  Art, 

Sich  den  Gesetzen  untergeben 

Und  nicht  nach  freiem  Willen   leben? 

Pluto. 

Die  Kronen  zwar  sind  außer  Eh  **)   und  Band, 

Doch  ihnen  selbst  ihr  Maß. 

Die  heiige  Würd,  der  hohen  Ehren  Stand 

Zieht  sie  nur  stets  auf  das 

Was  Ordnung  anders  heißet. 

Es  wird  ein  Thor  geschätzt,  der  ab  und  niederreißet 

Was  er  kaum  aufgebaut:  so  wird  ein  Fürst  veracht, 

Im  Fall  er  brechen  will  den  Schluss,  so  er  gemacht. 

Proserpina. 

Herr,   dies  Lied  ist  gesetzt,   willst  du  ja  Ordnung  ehren, 

Mag  jemand  auch  dasselbig   hören 

Und  nicht  gebunden  sein. 

Doch  bitt  ich  nur  allein 

Und  suche  Gnad  für  ihn,  wüi  ja  das  Recht  entstehen.  ^^) 

Minos  der  erste  Biohter. 

Des  Mannes  Flehen, 

Herr,  lass  nicht  sein  ohn  Frucht, 

Bevorab,    weils  euch  sucht. 

Die,  derer  Sinn  sonst  ist  dein  Wollen. 

Äacus  der  ander  Richter. 

Thun  wir  ja  hier  nicht  was  wir  sollen, 
Im  Fall  mans  aufs  genauste  wiegt. 
So  thun  wir  doch  was  außer  Tadel  liegt: 
Vernünftig  Gnad  ist  besser  als  scharf  Recht. 

Rhadamanthus. 

Sic  ändert  doch  nicht  das  Geschlecht, 

Bleibt  ein  Mensch  wie  zuvor  und  muss  die  Schuld  beaahlea. 

Nun  die  Frist  wiederkommt. 

Und  dem  auch  selbst,  wie  andern  allen, 

Der  sich  bemüht  sie  zu  erbitten 

Und  mir,  ich  leugn  es  nicht,  mein  Hers  hat  überschrittea, 

Ist  sein  Fall  bestimmt. 


56)  Ehe  in  nrsprünglicher  Bedeatiing:    Gesetz.  —   57)  fehlen.  — 


80 


Pluto. 

Ich  schwanke  wie  ein  Schiff,   auf  welches  hier  der  Nord 
Mit  Schnee  und  Reif  tringt  aller  Ort 
Und  da  der  heiße  Süd  streicht  ein. 

Proserpina. 

Lass ,  Herr ,  erhalten  sein 

Was  Jugend  bitt  und  Kunst 

Und  selbst  ich  noch  dazu,  im  Fall  nur  deine   Gunst 

Ich  noch  verdienen  mag,  wie  damals  zwar*®)  geschah, 

Als  ich  im  Enner  *')  Feld  den  guldnen  Frühling  brach 

Und  meines  dein  groß  Herz  entzundt. 

Pluto. 

Kann  ich  auch  wol  widerstreben 

Denen  Worten,  da  mein, Leben 

Und  ganz  Vergnügen  hängt?     Nein,  nein!  es  sei  vergunnt! 

Hier,  Orpheus,  ist  dein   Wunschi   hier,  Orpheus,  ist  dein  Lohn! 

Den  treue  Lieb  und  Tugend  trägt  darvon. 

Orpheus. 

Was  soll  ich  thun,  was  soll  ich  sagen? 
Dies  sei  gesagt,  dass  ich  nicht  danken  kann 
Wie  du  verdienst,  doch  will  ich,  Vater,    tragen 
Dein  Lob  von  hier  bis  zu  den  Sternen  nan.  ^®) 

Cho  r  der  Geister. 

Die  Lieb  hat  dich  hieher  gebracht. 

Du  edler  Sänger  du. 

Und  dein  Lieb  frei  und  los  gemacht, 

Die  deiner  Seelen  Ruh. 

Was  will  nicht  Liebe  hoffen, 

Nun  selbst  die  grimme  Nacht  ihr  offen? 

Was  will  nicht  richten  ®  *)  Kunst, 

Nun  dies  Orts««)  sie  auch  findet  Gunst? 

O  das  mehr  als  selgc  Bitten, 

Das  der  Hollen  Macht  bestritten! 

Wir  bleiben  hier,  du  ziehest  hin. 

Führst  mit  dir  deinen  Dank, 

Den  dein  beherzter  Muth  und  Sinn 

Erworben  durch  Gesang, 

Magst  deiner  Lust  genießen. 

Wir  leider  ach!  wir  müssen  büßen 


58)  das  alte  se  wflre,  wahrlich.  —  59)  Enna,  Stadt  in  Bicilien.  —  60)  hioan.  —  61)  aas- 
richten.  —  62)  an  diesem  Orte.  — 


31 


Voll  Zittern,  Pein  und  Leid 
In  steter  Traurigkeit. 
O  das  mehr  als  selge  Bitten, 
Das  der  Höllen  Macht  bestritten! 

Inhalt  des  vierten  Acts. 

Wo  sonsten  niemand  hin  mit  Willen  leichtlich  fahrt, 

Und  wann  er  einmal  da,  nicht  wol  zurücke  kehrt, 

Von  dannen  Orpheus  jetzt  wieder  kommet  an 

Samt  seiner  Liebesten,  der  große  Wundermann. 

Sein  Thracien  sich  freut,  er  selbst  auch,   und  singt  Dank 

Dem,  welcher  ihn  geführt,  mit  Saiten  und  Gesang, 

Dem  Meister  aller  W^elt.     Er  singt,  und  alsobald 

Die  Felsen  laufen  zu,  mit  ihnen  kriegt  der  Wald 

Gehör  und  kömmt  herbei,  die  Thiere  treten  auf. 

Die   Vögel  fallen  zu.     Der  tollen  Weiber  Häuf 

Aus  Hass  nur  fallet  an  und  stürmet  auf  ihn  nein, 

Den  doch  der  Himmel  schützt  und  schlägt  mit  Donner  drein. 

Wo  Tugend,  da  ist  Feind;  wo  Kunst,  da  findt  sich  Neid, 

Und  sie  behält  doch  Platz,  Gott  wendet  ihre  Zeit, 

Der  vierte  Act, 

Orpheus. 
O  mehr  als  liebes  Land!*')  o  überschönes  Feldl 

Der  erste  Schäfer. 
O  Wundermann,  o  Held! 

Orpheus. 

Mit  was  für  Freuden  seh  ich  wieder 

Dies  Gebirg  und   dieses  Thal, 

Und  euch,  ihr  Hirten  auch  und  Nymphen  allzumal! 

Der  erste  Schäfer. 

Mein  Licht  ist  mir  selbst  lieber  nicht 

Als  unser  Licht,  dein  Angesicht.  , 

Der  zweite  und  dritte  Schäfer. 

Nun  wird  die  alte  Lust  der  Lieder, 

Die  du  so  trefflich  wol  kannst  singen, 

Aufs  neue  wiederum  durch  Berg  und  Thal  erklingen 

Und  ans  geben  Lust  und  Freud 

Für  das  stumme  Herzeleid. 


6S)  Hs.  Band.  — 


32 


Nymphon  ingesamt. 

So  angenehm  der  Sonnen  klares  Licht 

Am  Morgenhimmel  lencht 

Und  durch  die  Wolken  sticht, 

Wann  Nacht  und  Schatten  weicht: 

So  lieb   auch  sehen  wir, 

Eurydice,  dich  unsern  Glanz  und  Zier 

Wieder  hier. 

Eurydice. 

Dass  ich  auch  euer  wieder  mag, 

O  meine  Lust,  genießen. 

Wie  ehermals  ich  pflag, 

Hier  bei  Helurus  •*)  kühlen  Flüssen, 

Ist  eben,  das^'mich  kann  nicht  wenig  nur  ergetzen. 

Orpheus. 

Lass  dieses  uns  zurücke  setzen, 

Es  darf  nicht  sein  belegt**) 

Die  Lieb  und  Hold,   die  eins  dem  andern  trägt, 

Sie  redet  für  sich  selbst,  darf  keiner  Worte  nicht. 

Im  Fall  an  That  es  ihr  nur  nicht  gebricht. 

Jetzt  soll  ich  ••)  meine  den  besingen. 

Der  nur  Alles  schafft  und  thut. 

Unter  welches  Schutz  und  Hut 

Diese  Gruft  ich  bin  gegangen  außer  Welt  und  Licht  und  Tag 

Und  auch  wieder  angelendet,  da  ich  des  genießen  mag. 

Du  kannst  mit  besscrm  Fug,  o  meine  Harf,  nie  klingen. 

Schäfer  und  Nymphen  ingesamt. 

Wie  der  Himmel  dir  geneigt, 
Überflüssig  ist  bezeugt, 
V-nd  die  Götter  billig  ehren 
Der  sie  über  Alles  acht 
Und  nur  immer  ist  bedacht, 
Ihr  Terdientes  Lob  zu  mehren. 

OrpheusLied. 

Du  Wesen  außer  End,  du  Wurzel  aller  Dinge, 
Und  selbst  dein  Same  dir,  doch  ohne  Tag  und  Zeit, 
Dass  beides  aus  dir  fleußt,  Ton  dir  ich,  König,  singe 
Und  rühme  deine  Macht  und  große  Gütigkeit. 

Chor  der  Schäfer  und  Nymphen 

Was  nur  Wesen  hat  und  Leben 
Soll  sich  seinem  Lob  ergeben! 


M)  Hs.    Herlirns».    —  65)  bewieseo.   —  66)  ich  für  ich,  Ich.  — 


33 


Orpheus. 

Dein  frommed  Herze  hat,  o  Vater,  dich  bewogen, 
Dass  du  dies  weite  Rund  so  herrlich  ausgebaut, 
Die  Wasser  rumgeführt,  um   die  den  Himmel  zogen. 
Da  man  bei  stiller  Nacht  viel  schöne  Feuer  schaut. 

Chor. 

Was  nur  Wesen  hat  und  Leben 
Soll  sich  seinem  Lob  ergeben! 

Orpheus. 

Du  hast  der  Erden  Last  ganz  meisterlich  gehangen 
Recht  mitten  in  die  Luft  stet,  fest  und  unbewegt, 
Mit  Bergen  hier  und  da  als  einen  Wall  umfangen, 
Mit  Blumen  ausgekränzt  und  Bäumen  schon  belegt. 

Chor. 

Was  nur  Wesen  hat  und  Leben 
Soll  sich  seinem  Lob  ergeben  I 

Bauet  der  vier  Bäume  und  zweien  Feiten,  untep  welchem  folgende  Veree  tkeiU  omb 
den  Bdumeny  theile  aue  den  FeUen  Art  einee  Echo  ereehallen  können. 

Bäume:  Wo  ist  den  wir  loben? 

Felsen:  Oben. 

Bäume:  Was  für  Nam   ist  ihm  erkiest? 

Felsen:  Der  ist. 

Orpheus. 

Der  Vogel  leichtes  Volk  von  deiner  Hand  sich  schwinget 
Hin  durch  das  blaue  Feld,  die  ungestützte  Bahn; 
Bald  fliehet  es  Wald  ein  und  auf  den  Ästen  springet. 
Stimmt  dann  in  deiner  Ehr  ein  süßes  Danklied  an. 

Chor. 

Was  nur  Wesen  hat  und  Leben 
Soll  sich  seinem  Lob  ergeben! 

Ballet  der  Fögel. 

Orpheus. 

Der  kluge  Elephant  dich  seinen  Meister  ehret, 

Des  starken  Löwen  Kraft  von  deinem  Athem  brüllt, 

Das  wild  und  zahme  Vieh  durch  deine  Stimm  sich  mehret, 

Von  Gaben  deiner  Hand  ihm  Durst  und  Hunger  stillt. 

Chor. 

Was  nur  Wesen  hat  und  Leben 
Soll  sich  seinem  Lob  ergeben! 
Ballet  der  Thiere. 
Weimar.  Jh.  II.  3 


u 


Orpheus. 

Dein  Hauptwerk  ist  der  Mensch,  da  hast  du  sehen  lassen 

Was  deine  Hand  vermag  und  du  auch  selber  seist: 

£r  ist  dein  Ebenbild,  klug,  witzig  allermaßen, 

Wie  du  ein  Herr  der  Welt  und  was  dich  Schöpfer  heißt. 

Chor. 

Lasst  uns  alle  die  wir  leben 
Unsers  Meisters  Gut  erheben! 

Orpheus. 

Er  sinnet  Alles  aus,  ihm  ist  kaum  was  verborgen; 
Was  je  dem  Aug  entgeht,  das  siebet  der  Verstand; 
Er  bauet  Stadt  und  Feld,  weiß  Alles  zu  besorgen. 
Spannt  seinen  Segel  auf  und  schifft  in  fremde  Land. 

Chor. 

Lasst  uns  alle   die  wir  leben 
Unsers  Meisters  Gut  erheben! 

Sit^aii  und  Bailet  der  tkrmcitcheu  tollen  iVeiber, 

Orpheus. 

Kein  Donnerkeil,  der  durch  die  Wolken  bricht, 
Mit  solchen  Grimme  fahrt, 

Kein  Wirbelwind  mit  gleichem  Sturm  auch  nicht 
Die  hohle  Ficht  umkehrt. 
Als  wann  der  Pöbel  rennet 
Aus  leichtem  Wahn  erregt 
Und  als  für  Hasse  brennet. 
Den  er  der  Tugend  trägt. 

Er  fmdet  an  der  wahren  Weisheit  Licht, 
Liebt  Nebel,  Rauch  und  Wind, 
Und  was  ihm  nur  zu  schaden  ist  gericht 
Das  suchet  er  geschwind. 
Nicht  minder  darf  er  denken. 
Ob  er  allcine  sei. 
Dem  unter  bösen  Ränken 
Doch  Klugheit  wohne  bei. 

Es  rase  nur  die  Thorheit  wie  sie  will, 
Ich  bin  doch  wer  ich  bin 
Und  ringe  stets  nach  dem  gefassten  Ziel 
Mit  freiem  Zügel  hin. 
Sollt  ich  den  Geist  aufgeben, 
Zu  keiner  Zeit  verdirbt 
Und  wird  dann  todt  auch  leben 
Wer  Tugend  wegen  stirbt. 


35 


Von  obeu  rab  und  aus  der  Götter  Rath 
Fleußt  diese  werthe  Brunst. 
Wen  sie  entzündt  und  eingenommen  hat. 
Bleibt  in  des  Himmels  Gunst. 
Es  mag  nur  immer  wüthen 
Der  grobe  Unverstand, 
Die  Tugend  doch  wird  hüten 
Der  Gotter  starke  Hand. 

Kurydice. 

Dass  ich  nun  neben  dir,  mein  Hort,  nun  los  mag  sein. 
Das  weiß  euch  Himmlischen  ich  Preis  und  Dank  allein. 

Ende  des  vierten  Act. 

Inhalt  des  fünften  Acts. 

Vom  Himmel  oben  rab  der  Götter  Bote  kömmt, 

Und  Orpheus  ihren  Schluss  von  ihme  dann  vernimmt. 

Wie  dass  er  vorder  soll  auch  sein  in  ihrer  Zahl 

Und  die  Geliebteste  beim  großen  Göttermal. 

Darauf  stellt  sich  Amor  ein,  die  Venus  oben  blickt 

Und  dieses  edle  Paar  zu  ihr  in  Himmel  rückt. 

Da  bricht  mit  reichem  Schein  ihr  werther  Nam  herfür 

Und  mehrt  der  Sternen  Zahl  mit  einer  neuen  Zier. 

Ihr  großen  Helden  hofft!  die  Tugend  nicht  verfällt; 

Sie  steiget  himmelan  und  leuchtet  durch  die  Welt. 

Der   fünfte   Act. 

Mercurius. 

Dass  meinen  Weg  hieher  ich  jetzo ,  Held ,  genommen 

Und  in  die  Sterblichkeit,  der  ich  nicht  sterblich  bin, 

Wie  du  siebest,  an  bin  kommen, 

Ist  dein  Yortheil  und  Gewinn. 

Du  hast  der  Erden  Kreis  voll  deines  Lobs  gemacht. 

Sodann  den  Acheron  und  dessen  tiefe  Wacht 

Zu  deinem  Ruhm  bezwungen 

Durch  der  Saiten  süße  Kunst. 

Wo  willst  du,  Held,  nur  weiter  suchen  Gunst, 

Nu  Erd  und  Hölle  dein? 

Der  Himmel  ist  noch  übrig  nur  allein, 

Und  jetzo  ruft  er  dir, 

Dass  du  da  sollst  für  und  für. 

Du  und  deine   Schöne  leben. 

In  der  Zahl  der  Götter  schweben. 

So  fasse  nun  dein  Glück  zur  Hand, 

Wie  ich  darum  bin  gesandt, 

Und  lerne  ferner  dann  hierbei, 

3* 


36 


Dass  nicht  allem  der  sturkeii  WaflVn  Mai*ht, 

Die  sonst  manche  kühne  H<»l(len  in  die  Zunft  der  Sternen  bra(fht, 

Der  Himmel  zu  erwerben  sei. 

Edle  Wissenschaft 

Hat  nicht  minder  Kraft 

In  der  Götter  Mal  zu  kommen, 

Da  kein  Thor  wird  aufgenommen. 

Orp  Ileus. 

Ich  kenne  dich,  der  Majen  ^^)  schönes   Kind, 

Das  die  auch  schöne  Mutter  bracht 

Dem  Atlas  und  zum  Vater  ihn  gemacht 

Hier,  wo  Cyllenes  •*)  Höhen  sind 

Mit  stetem  Schnee  und  Reif  bedecket 

Und  Mänalus  ••)  den  gäben  Scheitel  strecket 

Bis  da  der  schönen  Feuer  Zier 

Durch  Nacht  und  Wolken  bricht  herfür. 

Du  Ringergott,  ^®)  du  Redemeister  du, 

Du  Vater  des  Gewinns,  der  Abgeleibtcn  Ruh 

Und  ihr  ander  Leben '^*), 

Beides  ist   dir  geben. 

Für  dir  ich  mich,  o  Vater,  billig  beuge 

Und  tief  hinab  zur  Erden  neige. 

Ob  sonst  durch  mich  was  sei  gethan. 

Warum  mit  Recht  und  Fug  ich  nehmen  kann 

Was  mir  die  fromme  Gunst  der  Götter  angedenket  ''*) 

Und  durch  dich ,  großer  Bot ,  jetzt  schenket, 

Ist   mir  zwar  unbekannt,   sie  aber  Alles  wissen. 

Sonst  hab  ich  jederzeit  mich  nur  dahin  beflissen 

Und  meiner  Pflicht  eracht  zu  sein, 

Ihr  Gebot  and  heiigen  Willen 

Zu  lernen  nicht  allein. 

Sondern  auch  ohn  alles  Murren  in  Gehorsam    zu  erfüllen. 

Sie  haben  mich  von  ihrer  Hand  gestellt,  "^  •) 

Sie  thun  mit  mir  was  ihnen  wolgelällt. 

Chor  der  Cupidinu m. 

Liebe  wer  nur  lieben  kann, 
Hat  or's  Fug'*)  und  treulich  liebt! 
Treue  Lieb  den  Himmel  giebt, 
Bricht  zur  Ewigkeit  die  Bahn. 


ß?)  Maja,  Mutter  des  Mernirins.  —  68)  Herg  in  Arkadien,  wo  MerciiriuH  gnboren  und 
vorehrt  worden,  weshalb  er  auch  ('ylleniud  hcisst.  —  69)  Reig  in  Arkadion.  —  70)  Kr  galt 
für  den  Erfinder  der  Talästra,  Hingerkiinst.  —  71)  (»eleitor  der  AbKeschicdcue«  in  dio  Un- 
terwelt ,  Psychn^OKUM .  PHychupoinyoH ,  ChthonioH.  —  72)  sngedarht.  —  7.1)  d.  h.  au»  ihrer 
Macht  OMtlasricn,  d:iH  lat.  manu  einittere.  —  7.1)  ist  er  daxu  befugt,    \»i  es  ihm  snst&ndig.  — > 


37 


Wer  von  Lieben  weiß  allein, 
Miiss  Gott  oder  göttlich  sein, 
Wirds  mit  Fug  und  Hecht  gethan. 
Liebe  wer  nur  lieben  kann! 

Venus. 

Cieh,  tiüßes  Kind,  und  richte  fleißig  aus 
Warum  wir  angelangt  hier  aus  dem  Götterhaus! 

Amor. 

Dein   Winken,  Mutter,  nur  das  kann  befehlen  mir. 
Der  Wort«  darf  es  nicht,  ich  thu  es  und  bin  hier. 

Gehet  von  der  Mutier  zum  Orpheo  und  der  Eurydiee. 

Ich  der  ich  nicht  gewohnt  an  leichten  Scherz 

Und  nie  ein  irdisch  geiles  Herz 

Durch  meine  Flamm  berühret. 

Dem  Himmel  nur  allein  bekannt 

Und  die  demselben  anverwandt 

Mit  gleicher  Heiligkeit  gezieret, 

Ich  Amor  komm,  o  überedles  Paar, 

Samt  meiner  keuschen  Mutter  an 

In  der  Götter  Schar 

Euch  zu  setzen  und  geleiten. 

Da  kein  Raub  noch  Grimm  der  Zeiten 

Kuch  betrüben  kann. 

Mehr  als  Menschentugend 

Und  du  Licht  der  Jugend, 

Lasst  den  Pöbel  gehen 

Und  die  Erde  stehen, 

Nehmet   euren  Dank  nun  ein! 

Himmelsherzen  sollen  nirgend  als  nur  bald  im  Himmel  sein. 

Orpheus. 

Wohin  mein  Sinn  nur  stets  und  immerdar 

Mit  allem  Fleiß  gerichtet  war. 

Folg  ich  willig  dir, 

O  heilige   Begier! 

Und  über>\'ol  dem  der  so  liebet. 

Vor  allen  Dingen  Gott,  dann  Tugend  sich  ergiebet! 

Er  wird  nimmer  sterblich  sein 

Und  wie  ich  jetzt  zun  Göttern  gehen  ein. 

Chor  der  Cupidinum. 

Liebe  wer  nur  lieben  kann, 
Hat  er 's  Fug  und  treulich  lifbt! 
Treue  Lieb  den  Himmel  giebt, 
Bricht  zur  Ewigkeit  die  Bahn. 


38 


Wer  von  Lieben  weiß  allein, 
Muss  Gott  oder  göttlich  sein, 
Wird«  mit  Fug  und  Recht  gethan. 
Liebe  wer  nnr  lieben  kann! 

Chor  der  Hirten  und  Nymphen. 

So  lebe,  so  lebe  Johannes  Georg 

In  Freuden  ohn  Sorgl 

Und  du  auch,  o  lebe  Magdlena  Sibyll 

In  Freuden  ohn  Ziel! 

Lebe,  güldnes  Paar, 

Der  Sibyllen  Jahr! 

Lfeben  und  Herzen, 

Küssen  und  Scherzen 

Stets  soll  um  euch  sein. 

Nimmer  erkalten. 

Auch  nicht  veralten. 

Bei  euch  nichts  fließen  als  Honig  und  Wein! 

Euere  Namen 

Sollen  sich  samen, 

Ihre  Frucht  breiten! 

Kein  Zorn  der  Zeiten 

Soll  sie  bezwingen. 

Unter  sich  bringen! 

Zepter  und  Kronen 

Sollen  mit  Schilden,  mit  Landen  und  Thronen 

Ihre  halb   gottliche  Tugend   belohnen! 


Dies  Festspiel  findet  sich  bandscbriftlich  im  berzogl.  Ar- 
chive zu  Gotha  J8.  IV.  6.  BL  225  —  245.  in  einem  Folioband: 
„Allerband  Meistentheils  Alte  das  Hauß  Sachßen  betreffende 
Händel."  Das  Stück  selbst  ist  von  gleichzeitiger  Hand  geschrie- 
ben. Der  Altenburger  Consistorial -Präsident  Hans  Dietrich 
von  Schönberg  (Ende  des  17.  Jahrb.)  bat  auf  dem  ersten  Blatte 
bemerkt:  „Ballet  Bey  Churf.  Johann  Georgen  des  Andern  ge- 
haltenen Beylager.  Ist  von  Augusti  Buchneri,  Professoris  zu 
Wittenberg  Arbeit  und  Erfindung."  Eine  Abschrift,  die  ich 
selbst  verglichen  habe,  verdanke  ich  der  gütigen  Vermittelung 
des  Herrn  Archiviaths  Dr.  A.  Beck  zu  Gotha. 

Das  Beilager  wurde  in  Dresden  gehalten.  Die  Festlich- 
keiten bei  dieser  Gelegenheit  dauerten  mehrere  Tage.     Am  20. 


39 


November  1638  wurde,  wie  Antonius  Weck*)  berichtet,  „nach 
aufgehobener  Tafel  aufm  Riesensaal  ein  stattliches  Ballet  mit 
unterschiedenen  Abwechslungen  und  10  Balleten,  auch  einer 
wohl  disponierten  Action  von  dem  Orpheo  und  der  Eurydice 
voUnbracht,  worüber  die  Calliope  als  Obriste  der  Musen  ein 
Cartell  ausgeworfen  und  der  Inhalt  auf  folgende  Maße  von 
HeiTn  Buchnern  P.  P.  zu  Wittenberg  begriffen  worden." 


*)  Der  Chur-Fürstl.  Sachs,  weitberuffenen  Resident/.  -  und  Hanpt-Vestung 
Dreßden  Beschreib-  und  YorsteHung  Durch  Antoniam  Wecken.  (Nürnb.  1680. 
fol.)  —  Seite  365  —  367.  daselbst  der  Inhalt  des  Stückes.  —  Weck  berichtet 
weitere  Festlichkeiten.  „Den  2.  huius  (December)  nach  geendeter  Tafel  wurde 
ein  sohun  Ballet  gehalten,  das  tauerte  Ton  Abends  7  Uhr  bis  In  die  Mitter- 
nacht, hatte  5  Actus."  —  »Am  5.  hielte  man  eine  engeländische  Comödia.**  — 
Die  auf  diese  Vermählung  geschlagene  Denkmünze  ist  abgebildet  in  W.  E. 
Tentzel  Saxonia  Numismatica  p.  527.  Tab.  52. 


II. 


ÜBER  DAS  VERHALTNISS 


•• 


THÜRINGENS  UND  HESSENS 


ZUR  DEUTSCHEN  LITTERATUR. 


VON 


A.  KOBERSTEIN. 

üei  der  Beschäftigung  mit  der  Gescbichte  unserer  Litteratur 
hat  mir  immer  das  Verhältniss  recht  merkwürdig  geschienen, 
in  welchem  zu  ihr  der  Theil  des  mittleren  Deutschlands  steht, 
den  ich  kurzweg  mit  den  althergebrachten  Namen  Thüringen 
und  Hessen  bezeichnen  will.  Während  hier  nämlich  seit  länger 
als  einem  Jahrtausende  die  Wissenschaft  mehr  fast  als  in  irgend 
einem  andern  Theile  unsers  Vaterlandes  Pflege  und  Förderung 
geftmden,  die  Dichtkunst  aber  in  den  Zeiten,  wo  sie  entweder 
zu  vollster  Blüthe  sich  zu  entfalten,  oder  doch  einen  neuen 
Aufschwung  zu  nehmen  im  Begriffe  war,  jedesmal  eine  vor 
allen  übrigen  bevorzugte  Wohnstätte  aufgeschlagen  hat:  dürfte 
auf  diesem  Landstriche,  wenn  mich  nicht  alles  täuscht,  im  Laufe 
der  Jahrhunderte  so  wenig  ein  Denker,  wie  ein  Dichter  ersten 
oder  auch  nur  zweiten  Hanges  geboren  worden  sein.  Ob  bei 
dieser  Erschehiung  die  Natur  des  Landes,  oder  seine  Geschichte 
im  Spiele  gewesen  sind,  wage  ich  kaum  zu  vermuthen,  ge- 
schweige denn  zu  begründen  und  für  Andere  überzeugend  zu 
machen:  dass  sie  sich  jedoch  als  eine  Thatsache  vertreten  lasse, 
will  ich,  wenn  auch  nur  andeutend,  zunächst  darzuthun  ver- 
suchen. 


41 


Die  Geschichte  des  eigentlich  wissenschaftlichen  Lebens  in 
Deutschland  hebt  bekanntlich  mit  der  Gründung  der  Kloster- 
schulen an.  Unter  diesen  war  die  älteste  und  auf  die  äußere 
Gestaltung  und  den  wissenschaftlichen  Geist  aller  übrigen  ein- 
flussreichste die  zu  Fulda  in  Hessen.  Ihre  Einrichtung  ver- 
dankte sie  Alkuins  Schüler,  dem  berühmten  Hrabahus  Maurus, 
der  ihr  seit  804  eine  Reihe  von  Jahren  vorstand  und  ihr  gleich 
einen  so  großen  Namen  machte,  dass  von  nah  und  fern  Jüng- 
linge, unter  ihnen  auch  der  berühmte  Otfried,  dahin  eilten,  um 
seine  Schüler  zu  werden.  Hier  wurden  außer  den  theologi- 
schen Studien  auch  die,  in  dem  Trivium  und  Quadrivium  be- 
griffenen, weltHchen  Wissenschaften,  nebst  den  classischen  Spra- 
chen betrieben.  Zugleich  ward  diese  Schule  eine  Pflanzstätte 
für  Ausbildung  der  deutschen  Sprache,  die  neben  der  lateini- 
schen zur  Schriftsprache  zu  erheben,  sich  Hrabanus  unter  sei- 
nen Zeitgenossen  mit  vorzüglichem  Eifer  angelegen  sein  ließ. 
Er,  wie  es  scheint,  hielt  zuerst  seine  Schüler  zur  Bezeichnung 
des  Tones  deutscher  Wörter  an;  es  gelang  ihm  und  seinen 
Zeitgenossen  auch,  der  barbarischen  Nachlässigkeit  im  Deutsch- 
und Lateinischschreiben,  die  bis  dahin  in  Deutschland  geherrscht 
hatte,  fast  plötzlich  ein  Ziel  zu  setzen.  Er  kann  also  mit  vol- 
lem Rechte  der  Vater  der  Sprachstudien  in  Deutschland  ge- 
nannt werden.  Und  wenn  nun  in  spätem  Jahrhunderten,  zumal 
seit  der  Reformation,  gerade  in  diesen  mittlem  deutschen  Län- 
dern, wo  sie  ihren  Anfang  nahm,  die  classische  Philologie  ganz 
besondere  Pflege  gefunden  hat,  wenn  gar  in  unsern  Tagen  die 
eigentlich  deutsche  Sprachwissenschaft  von  einem  gebornen 
Hessen,  so  zu  sagen,  geschaffen  worden  ist,  von  einem  Thüringer 
aber  die  ägyptische  ihre  Mündigkeit  erwarten  darf:  so  fühlt 
man  sich  leicht  versucht,  hierin  ein  Nachwirken  jenes  Geistes 
zu  ahnen,  der  bereits  zu  Anfang  des  neunten  Jahrhunderts  in 
Fulda  sich  regte  und  die  Richtung  gleichsam  im  Voraus  be- 
zeichnete, welche  die  Wissenschaft  in  den  einst  auch  politisch 
eng  verbundenen  Ländern,  Thüringen  und  Hessen,  späterhin 
vorzugsweise  verfolgen  sollte. 

Ich  sage  mit  Absicht  vorzugsweise.  Denn  wer  möchte 
wohl  behaupten,  dass  seit  der  Zeit,  wo  mit  der  Gründung  von 
Universitäten  eine  höhere  und  allgemeinere  wissenschaftliche 
Regsamkeit  sich  in  Deutschland  aufthat,  diese  beiden  Land- 
schaften darin  hinter   andern   zurückgeblieben  wären?     Bereits 


42 


im  vierzehnten  Jahrhundert  ward,  als  die  vierte  Hochschule  in 
Deutschland,  die  zu  Erfurt  errichtet,  der  sich  späterhin  in  Thü- 
ringen Jena,  in  Hessen  Gießen,  Marburg  und  Rinteln  anschlös- 
sen; und  wem  ist  die  großartige  Einwirkung  ganz  unbekannt, 
die  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  und  zu  Anfang  des 
jetzigen  von  Jena  aus  auf  das  gesammte  wissenschaftliche  Le- 
ben der  Deutschen  erfolgte?  Aber  so  wenig  wie  der  große 
Denker  in  Königsberg,  der  die  Umwälzung  in  der  Philosophie 
einleitete ,  waren  seine  drei  großen  Nachfolger,  die  sich  in  der 
glänzendsten  Zeit  der  Jenaer  Universität  auf  ihr  zusammenfan- 
den, geborne  Thüringer  oder  Hessen;  ja  von  Albertus  Magnus 
an  bis  auf  Hegel,  Schleiermacher  und  Herbart  vermag  ich  in 
der  langen  Reihe  namhafter  deutscher  Philosophen  keinen  ein- 
zigen Hessen,  wenn  nicht  etwa  den  darnach  benannten,  i.  J. 
1397  verstorbenen  Heinrich,  und  nur  einen  Thüringer,  den  zu 
Heldrungen  geborenen  und  zu  Gottingen  gestorbenen  Gottlob 
Ernst  Schulze  nachzuweisen. 

Großer  ist  freilich  die  Zahl  der  Männer  aus  diesen  Ge- 
genden, welche  sich  in  der  poetischen  Litteratur  unsers  Vater- 
landes einen  Namen  gemacht  haben.  Hier  begegnen  uns  zuerst 
im  dreizehnten  Jahrhundert  außer  Herbort  von  Fritzlar,  von 
dem  weiter  unten  nochmals  die  Rede  sein  wird,  einige  Lieder- 
dichter, wie  Hetzbolt  von  Weißensee,  Christian  von  Luppin, 
einer,  der  schlechthin  der  Düring  heißt,  der  namenlose  Ver- 
fasser eines  Theils  der  Lieder  über  den  Wartburgerkrieg,  end- 
lich der  uns  bloß  dem  Namen  nach  bekannte  Hang  von  Salza; 
im  sechzehnten  und  siebzehnten  die  Hessen  Burkard  Waldis, 
Dietrich  von  dem  Werder,  Everhard  Guerner  Happel  und  Johann 
Balthasar  Schuppe,  und  die  Thüringer  Christoph  Homburg, 
Georg  Neumark,  Joh.  Georg  Schoch,  Christian  Friedrich  Hu- 
nold  und  Erdmann  Neumeister;  endlich  im  siebzehnten  und 
achtzehnten  die  aus  Thüringen  oder  dem  zunächst  ostlich  an«* 
grenzenden  Landstriche  herstammenden  Dichter:  Daniel  Wil- 
helm Triller,  Gotter,  Schatz,  Manso,  Jacobs  aus  Gotha  selbst 
oder  dessen  Nähe;  Neubeck  aus  Arnstadt;  Ernst  Wagner  aus 
dem  Meiningischen ;  Heinse  aus  der  Nähe  von  Ilmenau;  Mu- 
saeus  aus  Jena,  Kotzebue  aus  Weimar;  Zachariae  und  Wezel 
aus  dem  Sondershäusischen ;  v.  Brawe  und  Müllner  aus  Weißen- 
fels; Gruber  aus  Naumburg.  Aber  wer  möchte  heutiges  Tages 
auch  nur  einem  einzigen  unter  allen  diesen  Männern  nachrüh- 


43 


men,  dass  er,  wenn  von  deutseben  Dichtern  die  Rede  ist,  in 
erster  oder  nur  in  zweiter  Reihe  mitzählte,  sofern  das  Urtheil 
nicht  von  vorübergegangener,  wenn  auch  noch  so  allgemeiner 
Beliebtheit  und  großer  Berühmtheit  abhängen  soll,  sondern  von 
dem  absoluten  Werthe  ihrer  Werke  und  der  Bedeutung,  die 
ihnen  bei  der  geschichtlichen  Betrachtung  und  Darstellung  un- 
serer poetischen  Litteratur  eingeräumt  werden  kann?  Es  muss 
allerdings  zugegeben  werden,  dass  unsere  Dichterverzeichnisse 
noch  manche  Namen  enthalten,  deren  einstigen  Inhabern  wir 
die  Heimath  entweder  gar  nicht,  oder  bloß  nach  Muthmaßun- 
gen  zu  bestimmen  vermögen.  Dies  würde  jedoch  fast  nur  von 
Dichtem  aus  früherer  Zeit,  vornehmlich  aus  dem  zwölften  und 
dreizehnten  Jahrhundert  gelten,  und  wenn  sich  darunter  auch 
noch  Hessen  und  Thüringer  verstecken  mögen,  so  steht  min- 
destens so  viel  fest,  dass  zu  ihnen  die  großen,  oder  gar  größ- 
ten Meister  der  erzählenden  Dichtung  sowohl,  wie  des  Liedes 
nicht  gehören. 

Wie  durchaus  verschieden  erscheint  dagegen  das  Verhält- 
niss  des  deutschen  Mittellandes  zu  unserer  Dichtkunst,  wenn 
wir  uns  wieder  nach  den  vornehmsten  Pflegstätten  dersel- 
ben in  den  einzelnen  Epochen  ihres  Bildungsganges  umsehen  I 
Ich  brauche  kaum  daran  zu  erinnern,  welche  dichterischen 
Kräfte  seit  den  siebziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  von 
Süden,  Westen  und  Nordosten  in  Weimar  nach  und  nach  zu- 
sammentrafen und  unter  der  schützenden  und  fordernden  Gunst 
eines  hochsinnigen  und  geistvollen  Fürsten  in  regster  Wechsel- 
wirkung ein  neues  Blüthenalter  unserer  Poesie  herauffuhrten. 
Die  hohe  ja  einzige  Stellung,  welche  der  kleine  Ort  unter  allen 
deutschen  Städten  noch  vor  vierzig  bis  fünfzig  Jahren  einnahm 
und  die  er  seinem  Fürsten  und  den  um  ihn  sich  sammelnden 
Dichtern  allein  verdankte,  ist  jetzt  selbst  über  die  Grenzen  un- 
seres Vaterlandes  hinaus  unter  den  Gebildeten  bekannt  genug. 
Ich  will  daher  lieber  gleich  auf  zwei  andere  für  die  Geschichte 
unserer  Litteratur  wichtige  Zeitabschnitte  hinweisen,  wo  eben- 
falls in  Thüringen  unter  fürstlichen  Gönnern  die  deutschen 
Dichter  enger  als  irgend  wo  anders  zusammentraten. 

Den  ersten,  von  uns  aus  gerechnet,  bildet  der  Anfang  des 
siebzehnten  Jahrb.,  wo  sich  der  deutschen  Poesie,  die  bis  da- 
hin von  allen  Ständen  geübt  worden  war,  vorzugsweise  oder 
vielmehr  ausschließlich  die  gelehrt  Gebildeten  bemächtigten  und 


44 


ihr,  nach  Abstreifung  ihres  bis  dahin  mehr  oder  weniger  be- 
wahrten volksmaßigen  ,  freilich  mit  der  Zeit  unscheinbar 
und  unsauber  gewordenen  Gewandes,  ein  neues,  mehr  feier- 
liches und  ins  Auge  fallendes,  nur  leider  fremden  Schnitt  und 
ausländische  Farbe  verrathendes  ICleid  anlegten.  Die  Männer, 
denen  wir  diese  für  die  Folgezeit  sehr  einflussreiche  Umge- 
staltung deutscher  Dicht-  und  Darstellungs weise  zuzuschreiben 
haben,  befanden  sich  bei  ihren  Bestrebungen  in  einem  eigenen 
Zwiespalt.  Einerseits  nämlich  empfanden  die  bessern  unter 
ihnen,  und  hierin  trafen  sie  mit  der  Gesinnung  einiger  wackern 
Fürsten  und  altadeligen  Herren  zusammen,  das  Schimpfliche 
und  Gefährliche  in  der  Hingabe  an  die  Fremde,  jener  Sucht 
zur  Aneignung  und  Nachahmung  ausländischer  Geschmacks- 
weise, Sitte,  Form  und  Sprechart,  wozu  damals  bereits  alles 
bei  uns  drängte:  sie  wollten  also  deutschen  Sinn,  deutsche  Art, 
deutschen  Character,  wie  in  den  Äußerlichkeiten  des  Lebens, 
so  auch  in  den  Gemüthern  wahren  und  festigen,  vor  allem 
Andern  aber  wollten  sie  dem  Kleide  des  Gedankens,  der  Sprache, 
ihre  von  Alters  angeerbte  Reinheit  und  Kraft  sichern  und  zu 
diesem  Ende  verfielen  sie  darauf,  eigene  Gesellschaften  und 
Verbrüderungen  zu  bilden,  die  sich  mit  erkannter  und  ausge- 
sprochener Absicht  dem  Überhandnehmen  der  Ausländerei  ent- 
gegenstemmen, das  Heimische  aufrecht  erhalten  und  schützen 
sollten.  Andrerseits  aber  wurden  die  Dichter  selbst  unwillkür- 
lich von  ihrer  Zeit  und  Umgebung  nach  jener  Richtung  hinge- 
trieben, die  sie  bekämpften.  So  blieb  alles,  was  sie  für  ihre 
Zwecke  unternahmen,  an  Äußerlichkeiten  haften  und  verlor  sich 
in  Spielereien  und  Tändeleien,  die  sie  selbst  wieder,  der  Haupt- 
sache nach,  dem  Auslande  abgelernt  hatten.  Allein  sehr  merk- 
würdig bleiben  diese  Dichter-  und  Sprachgesellschaften  bei  alle 
dem,  wenn  ihnen  auch  weiter  nichts  nachzurühmen  wäre,  als 
dass  sie  in  der  Zeit  von  Deutschlands  tiefster  Erniedrigung 
noch  die  Sehnsucht  nach  der  Ehre  des  Vaterlandes  unter  den 
Bessern  lebendig  erhielten  und  deutlich  erkannten,  dass  die- 
selbe mit  der  Bewahrung  heimischer  Zucht  und  Sitte,  der  Rein- 
haltung der  Sprache  und  dem  Aufschwünge  der  Dichtkunst  eng 
verbunden  sei. 

Die  älteste  und  durch  den  Stand  oder  das  Talent  ihrer 
Stifter  und  Mitglieder  erlauchteste  und  berühmteste  dieser  Ge- 
sellschaften, die  sogenannte  fruchtbringende  oder  den  Palm- 


45 


Orden,  sch^n  wir  nun  im  Jahr  16lt  gerade  wieder  zu  Wei- 
mar ins  Leben  treten,  wohin  auch  ihr  Sitz  und  Mittelpunct, 
nachdem  er  eine  Reihe  von  Jahren  zu  Koethen  gewesen,  vom 
Jahre  1651  bis  1662  verlegt  wurde.  Gestiftet  von  drei  weima- 
rischen Herzogen,  zwei  Fürsten  von  Anhalt  und  vier  Herren 
von  Adel,  unter  denen  sich  der  erste  deutsche  Übersetzer  des 
Ariosto  und  Tasso,  Dietrich  von  dem  Werder,  befand,  zählte 
sie  bis  zum  Jahre  1662  unter  ihren  Mitgliedern  einen  König 
und  Pfalzgrafen,  drei  Kurfürsten,  hundert  und  neunzig  Herzoge 
und  andere  fürstliche  Häupter,  fünf  und  neunzig  Grafen  und 
Freiherren;  von  namhaften  Dichtern  aber:  Martin  Opitz, 
Andr.  Gryphius,  August  Buchner,  Harsdorfer,  Siegmund  von 
Birken,  Moscherosch,  Homburg,  Neumark,  Johann  Rist,  Schot- 
telius  u.  A.,  denen  entweder  ihr  Adel  oder  ihr  schriftstellerischer 
Ruf  die  Aufnahme  in  die  Verbindung  verschafft  hatten.  — 

Ungefähr  vierhundert  Jahre  früher,  als  die  mittelhoch- 
deutsche Poesie  eben  ihre  schönste  und  reichste  Blüthe  im 
Volksepos,  der  kunstmäßigen  Erzählung  und  dem  Liede  ent- 
faltete, finden  wir,  wenn  auch  nicht  in  Weimar  selbst,  doch  in 
dem  heutiges  Tages  eng  damit  verbundenen  Eisenach  an  dem 
Hofe  des  Landgrafen  Hermann  von  Thüringen,  einige  der  größ- 
ten und  berühmtesten  Dichter  jener  Zeit  in  einem  so  lebendigen 
Wechselverkehr  mit  diesem  kunstliebenden  Fürsten  und  unter 
einander,  dass  die  Sage  darin  frühzeitig  genug  Wurzel  schla- 
gen, das  Thatsächliche  mit  ihren  Ranken  und  Geschlingen  über- 
spinnen und  zu  jenen  wundersamen,  noch  immer  nicht  ganz 
enträthselten  Gebilden  auswachsen  konnte,  die  uns  unter  dem 
Namen  der  Lieder  vom  Wartburgerkriege  erhalten  worden  sind. 

Schon  bevor  Hermann  zur  Landgrafen  würde  gelangte,  als 
er  noch  Pfalzgraf  von  Sachsen  hieß  und  in  Freiburg  an  der 
Unstrut  seinen  Sitz  hatte,  treffen  wir  an  seinem  Hoflager  den 
ältesten  unter  den  kunstmäßigen  Dichtern  dieses  Zeitraumes, 
den  Westphalen  Heinrich  von  Veldeke.  An  dem  Hofe  zu 
Cleve  hatte  er  bereits  den  größten  Theil  seines  Hauptwerkes, 
der  Aeneide  naph  einem  französischen  Vorbilde  gedichtet,  als 
es  ihm  entwendet  wurde;  erst  neun  Jahre  später,  wie  er  uns 
selbst  berichtet,  als  er  nach  Thüringen  gekommen  war,  ver- 
schaffte ihm  der  Pfalzgraf  das  angefangene  Werk  wieder  und 
hieß  es  ihn  vollenden,  was  zwischen  1184  und  1189  geschehen 
sein  muss. 


46 


Zu  Eisenach  oder  auf  der  Wartburg  begegnen  wir  aber 
um  das  Jahr  1204  den  beiden  größten  Dichtem  des  ganzen 
deutschen  Mittelalters,  dem  Wol&am  von  Eschenbach  und  dem 
Walther  von  der  Vogelweide;  jener  ohne  Gleichen  in  der  Erzäh- 
lung, dieser  nicht  minder  einzig  im  lyrischen  Liede.  Dass 
Wolfram,  als  er  sein  herrlichstes  Werk,  den  Parzival  dichtete, 
bereits  in  einem  nähern  Verhältniss  zum  Landgrafen  stand, 
geht  aus  einer  Stelle  des  Gedichts,  worin  er  Hermann  anredet, 
unwiderleglich  hervor:  als  er  es  abfasste  und  vorlesen  ließ 
(denn  der  Dichter  selbst  konnte  nach  eigenem  Geständniss 
nicht  lesen),  muss  er  sich  zu  Eisenach  oder  Wartburg  befunden 
haben.  Späterhin  forderte  ihn  der  Landgraf  zur  Bearbeitung 
einer  Kerlingischen  Sage  auf  und  verschaffte  ihm  dazu  dasL  fran- 
zosische Werk,  worin  sie  enthalten  war.  Wolfram  ging  auf 
den  Wunsch  seines  Gönners  ein,  und  fing  wahrscheinlich  noch 
am  Thüringer  Hofe  sein  zweites  erzählendes  Gedicht,  den  Wil- 
helm von  Oranse,  an,  wurde  jedoch,  nachdem  der  Landgraf 
schon  früher  gestorben  war,  durch  den  Tod,  wie  es  scheint, 
an  der  Vollendung  behindert.  —  Von  Walther  haben  wir  meh- 
rere Lieder,  die  an  Hermann  gerichtet  sind  und  ein  näheres 
Verhältniss  zu  demselben,  sowie  des  Dichters  Aufenthalt  zu 
Eisenach  bezeugen.  Eins  darunter,  das  ich  hier  nach  Simrock^s 
Übersetzung  mittheilen  will,  schildert  uns  das  bewegte  und 
fröhliche  Leben  am  Hofe  des  Landgrafen,  und  die  Noth  des 
Sängers,  die  er  zu  bestehen  hat,  ehe  er  Gehör  erlangen  kann. 
Es  lautet  so: 

Wer  in  den  Ohren  siech  ist  oder  krank  im  Haupt, 
Der  meide  ja  Thüringens  Hof,  wenn  er  mir  glaubt: 
Käm^  er  dahin,  er  würde  ganz  bethöret; 

Ich  drang  so  lange  zu,  dass  ich  nicht  mehr  vermag. 
Ein  Zug  fährt  ein,  ein  andrer  aus,  so  Nacht  als  Tag: 
Ein  Wunder  ist's,  dass  da  noch  jemand  höret. 

r^'Omdgraf  hat  so  milden  Muth, 
Dass  er  mit  stolzen  Helden,  was  er  hat,  verthut. 
Davon  ein  jeder  wohl  als  Kämpe  stände: 
Mir  ist  sein  hohes  Thun  wohl  kund. 
Und  galt'  ein  Fuder  guten  Weines  tausend  Pftind, 
Doch  Niemand  leer  der  Ritter  Becher  fände. 


47 


In  einem  zweiten  Liede,  das  im  Dienste  des  Landgrafen 
gedichtet  ist,  preist  Walther  seinen  Herrn  noch  mehr  wegen 
seiner  Freigebigkeit,  oder  wie  es  damals  hieß,  Milde,  und  man 
hört  es  aus  des  Dichters  Worten  deutlich  genug  heraus,  dass 
er  selbst  diese  fürstliche  Milde  wiederholt  erfahren  habe.  Hier 
heißt  es  nämlich: 

Ich  bin  des  milden  Landgrafen  Ingesinde: 
Ich  halt^  es  so,  dass  man  mich  immer  bei  dem  Besten  finde: 

Die  andern  Fürsten  alle  sind  wohl  mild,  jedoch 
So  State  sind  sie^s  nicht:  er  war  es  einst  und  ist  es  noch. 

Drum  kann  er  besser  als  die  Andern  mild  gebahren: 
Er  ist  im  Launenwechsel  unerfahren: 

Wer  heuer  prunkt  und  ist  doch  über's  Jahr  so  karg  als  je, 
Dess  Lob  ergrünt  und  falbet  wieder  gleich  dem  Klee: 
Thüringens  Blume  scheinet  durch  den  Schnee: 
Lenz  und  Winter  blüht  sein  Lob  wie  in  den  ersten  Jahren. 

Minder  berühmt,  als  Wolfram  und  Walther,  sind  zwei  an- 
dere erzählende  Dichter,  die  gleichfalls  in  Beziehung  zum  Thü- 
ringer Hofe  standen  und  von  Hermann  zur  Abfassung  zweier 
uns  erhaltener  Werke  angefordert  wurden.  Der  eine  ist  der 
bereits  genannte  Hesse,  Herbort  von  Fritzlar,  der  den  Stoff  zu 
seinem  Gedicht  vom  trojanischen  Kriege  in  einem  welschen 
Werke  von  dem  Landgrafen  empfing;  der  andere,  Albrecht  von 
Halberstadt,  der  diesem  Fürsten,  nach  seiner  Niederlassung  in 
Thüringen  eine  deutsche  Umbildung  der  Ovidischen  Verwand- 
lungen widmete,  wovon  uns  indess,  außer  dem  Prolog,  nur  eine 
spätere  Um-  und  Überarbeitung  geblieben  ist. 

Weiter  wüsste  ich  keinen  Dichter  zu  nennen,  dessen  Auf- 
enthalt am  Thüringer  Hofe  zu  Hermanns  Zeit  entweder  durch 
sein  eigenes,  oder  durch  das  Zeugniss  eines  Gleichzeitigen  au- 
ßer Zweifel  gesetzt  würde.  Vermuthen  lässt  sich  aber,  dass 
nicht  bloß  der  Kunstdichtung,  sondern  auch  dem  epischen  Yolks- 
gesange  der  Eingang  in  die  Wartburg  un verwehrt  war,  zimial 
wenn  wir  zufolge  einer  scharfsinnigen  Wahrnehmung  Lachmann^s 
von  den  auf  uns  gekommenen  Nibelungenhandschriften  einer, 
wegen  der  darin  durchbrechenden  Spracheigenheiten,  thüringi- 
scl^n  Ursprung  werden  zuschreiben  und  glauben  dürfen,  dass 
sie  für  den  landgräflichen  Hof  angefertigt  worden   sei     Darf 


48 


man  ferner  der  Sage  trauen,  die  mit  ihrem  Zeugniss  wenigstens 
in  die  letzten  Jahrzehnte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  hinauf- 
reicht, so  befanden  sich  um  das  Jahr  1207  zu  Wartburg  außer 
Wolfram  und  Walther  noch  von  andern  namhaften,  uns  auch 
anderweitig  bekannten  Dichtern,  ein  Reinmar,  welches  aber 
kaum,  wie  das  Gedicht  vom  Wartburgerkriege  will  und  die 
Jüngern  Überlieferungen  nacherzählen,  der  von  Zweter  gewesen 
sein  kann,  sondern  nur  etwa  einer  der  beiden  altern  Meister 
dieses  Namens,  also  entweder  Reinmar  der  Alte,  oder  Reinmar 
der  Fiedler;  dann  Biterolf  und  Heinrich,  genannt  der  tugend- 
hafte Schreiber,  und  außerdem  noch  Heinrich  von  Ofterdingen 
und  Klinsor,  von  denen  jedoch  noch  immer  nicht  ausgemacht 
ist,  wie  viel  Anspruch  an  sie  die  Geschichte,  wie  viel  die  Sage 
zu  machen  hat. 

Ich  will  hier  von  den  in  lateinischer  und  deutscher  Prosa, 
sowie  in  den  gereimten  Lebensbeschreibungen  der  heil.  Elisa- 
beth uns  zugekommenen  Berichten  über  den  sogenannten  Wart- 
burgerkrieg  nicht  weiter  reden,  da  sie  ihrem  allgemeinen  Inhalte 
nach  hinlänglich  bekannt  sind.  Noch  weniger  mag  ich  die  dar- 
nach benannten  Lieder,  welche  unter  den  Namen  jener  sieben 
im  poetischen  Wettkampf  auftretenden  Sänger  in  den  Sing- 
sQhulen  des  dreizehnten  und  vierzehnten  Jahrhunderts  umgin- 
gen, näher  zur  Sprache  bringen.  Lieber  will  ich  die  Aufinerk- 
samkeit  gleich  für  ein  Paar  andere  Erscheinungen  aus  einer 
weit  früheren  Zeit  zu  gewinnen  suchen,  die  auch  in  einem  sehr 
nahen  Bezüge  zu  Hessen  und  Thüringen  stehen. 

Wenn  seit  der  Zeit,  wo  in  der  Geschichte  unserer  Poesie 
die  Namen  der  Dichter  aus  dem  Dunkel  herauszutreten  begin- 
nen, jene  deutschen  Mittelländer  weniger  durch  Dichter,  die  sie 
selbst  hervorgebracht  haben,  als  durch  ihre  kunstliebenden  Für- 
sten, welche  die  bedeutendsten  Talente  aus  benachbarten  oder 
entfernteren  Gegenden  an  sich  zu  ziehen  und  an  ihren  Hof  zu 
fesseln  verstanden,  für  die  Entwickelung  und  Gestaltung  der 
deutschen  Dichtkunst  merkwürdig  gewesen  sind:  so  sind  sie  es 
für  eine  frühere  Periode,  wo  die  Persönlichkeit  der  Dichter, 
sofern  sie  nicht  Geistliche  waren  und  kirchliche  Stoffe  behan- 
delten, noch  bis  auf  vollige  Namenlosigkeit  hinter  den  darge- 
stellten Gegenständen  zurücktraten,  dadurch  vor  allen  andern 
deutschen  Ländern  geworden,  dass  die  einzigen  Überbleibsel 
des  damals   nur  noch  in  vereinzelten  Liedern  fortlebenden  und 


49 


sieb  fortbildendeu  Volksepos  in  ihrer  Mundart  uns  aufbebalten 
und  an  zwei  Orten  au%eiiindeu  sind,  Ton  denen  , der  eine  in 
Hessen  liegt,  der  andere,  wenn  er  nicht  mehr  zi^  Tl^üringen 
gerechnet  werden  sollte,  doch  ganz  hart  daran  stoßt.  Ich  meine 
hiermit  das  sogenannte  Hildebrandslied  und  zwei  Gedichte  aus 
dem  deutschen  Heidenthum,  jenes  zu  Fulda  bereits  vor  längerer 
Zeit,  diese  erst  im  Spätherbst  1841  zu  Merseburg  entdeckt  und 
bekannt  gemacht. 

Die  Handschrift  des  Hildebrandsliedes,  die  gegenwärtig  in 
Cassel  aufbewahrt  wird  und  von  der  eine  bis  auf  die  allerge^ 
ringsten  Kleinigkeiten  getreue  Abbildung  von  Wilh.  Grimm  ge- 
fertigt ist,  besteht  aus  der  ersten  und  letzten  Folioseite  einer 
Pergamenthandschrift,  die  außerdem  ein  Paar  Stucke  der  Vul-" 
gata  enthält.  Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  dass  diese  eher 
als  das  deutsche  Gedicht  geschrieben,  die  beiden  anfänglich 
leer  gelassenen  Seiten  aber  späterhin  zur  Aufzeichnung  der  letz- 
teren benutzt  worden  sind.  Entdeckt  wurde  es  von  Eccard, 
der  es  auch  1729  im  ersten  Bande  seiner  „Commentarii  de  re- 
bus Franciae  Orientalis'^,  mit  einer  Schriftprobe,  Einleitung,  la- 
teinischen Übersetzung  und  Erläuterung  abdrucken  ließ.  Achtzig 
Jahre  später  wurde  es  auf's  Neue  von  Reinwald  im  „Neuen 
litterarischen  Anzeiger^  herausgegeben  und  conunentiert.  Beide 
hielten  es  für  niederdeutsche  Prosa,  und  noch  Bouterwek  führte 
es  1812  als  Fragment  eines  alten  Ritterromans  aus  der  ersten 
Hälfte  des  8.  Jahrh.  an,  obgleich  er  die  Sprache  nicht  mehr 
für  rein  niederdeutsch  wollte  gelten  lassen.  Jedoch  bereits  ein 
Jahr  ftrüher  hatte  J.  Grimm  im  2.  Bande  des  „Museums  für 
^td.  litteratur  und  Kunst^  S.  314  bemerkt,  dass  sich  in  dem 
Fragment  die  Alliteration  bestimmt  nachweisen  lasse,  und  1812 
führte  er  den  Beweis  davon  in  der  mit  seinem  Bruder  gemein- 
schaftlich besorgten  Ausgabe  des  Liedes  von  Hildebrand  und 
Hadubrand  und  des  Wessobrunner  Gebets.  Drei  Jahre  später 
lieferte  J.  Grimm  im  zweiten  Bande  der  „altdeutschen  WWder" 
eine  in  manchen  Eiuzelnheiten,  besonders  in  der  Versabtheilung, 
abgeänderte  Herstellung  des  Textes  mit  Erläuterungen,  hier  wie 
in  seiner  ersten  Ausgabe  noch  an  der  Voraussetzung  festhaltend, 
dieses  poetische  Überbleibsel  unserer  ältesten  Heldenpoesie  sei 
fortlaufende,  bis  zum  fehlenden  Schluss  fest  zusammengefügte 
Blrzählung,  eine  Ansicht,  welche  nach  dem  Erscheinen  von  Wilh. 
CrruoEUDS  treuer  Nachbildung  des  Originals  im  Jahr  1830,  zuerst 

Weimmr.  Jh.  IJ.  a 


50 


von  diesem  selbst  in  den  Götting.  gel.  Anzeigen  desselben  Jah- 
res angefochten ,  nachher  von  Lachmann  in  seiner  am  20.  Juni 
1833  in  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  gelesenen 
Abhandlung  iiber  das  Hildebrandslied  widerlegt  wurde,  indeni 
es  seinem  Scharfsinn  gelungen  war,  in  diesem  Hildebrandsliede 
nur  eine  Reihe  vereinzelter,  vielleicht  nicht  einmal  richtig  ge- 
ordneter, durch  prosaische  Zwischensätze  hie  und  da  zusam- 
mengehaltener Bruchstücke  zu  entdecken,  wie  er  dies  in  einer 
besonders  gedruckten  Textherstellung  auch  dem  Auge  erkenn- 
bar gemacht  hat.  Was  seitdem  für  den  Text  und  dessen  Er- 
klärung, namentlich  in  Grimms  Grammatik  und  in  W.  Wacker- 
nag eis  altdeutschem  Lesebuch,  geschehen  ist,  besteht  nur  in 
Einzelnheiten,  hat  aber  noch  nicht  alle  Dunkelheiten  und  Schwie- 
rigkeiten gehoben,  die  sich  hier  und  da  im  Ausdrucke  darbieten. 

Die  Aufzeichnung  dieser  Dichtung  verdanken  wirvermuth- 
lich  zwei  Fuldaischen  Mönchen,  denn  dass  zwei  Hände  dabei 
thätig  gewesen  sind,  lehrt  eine  genaue  Betrachtung  der  Schrift- 
züge. W.  Grimm  meint,  ein  dritter  habe  den  Schreibern  die 
Worte  in  die  Feder  gesagt,  wozu  Lachmann  bemerkt,  dass 
dieser  dritte  dann  wenigstens  schwerlich  ein  Sänger  gewesen 
sein  könne;  denn  wenn  er  sich  auch  der  Worte  nicht  genau 
erinnerte,  so  hätte  ein  solcher  doch  wol  selbst  soviel  von  der 
Kunst  verstehen  müssen,  um  den  Schreibern  das  Gedicht  in 
etwas  vollkommnerer  Form  vorzusagen.  Ihm  ist  es  wahrschein- 
licher, dass  beide  Aufzeichner,  der  eine,  der  den  kleinem  Theil 
des  geistlichen  Inhalts  der  Casseler  Handschrift  geschrieben 
hatte  und  nun  die  erste  und  die  letzte  leere  Seite  mit  diesen 
unschätzbaren  Bruchstücken  ausfiillte,  und  sein  Genoss  dabei, 
von  welchem  nur  acht  Zeilen  herriihren,  sich  mit  einander  aus 
ihrer  weltlichen  Zeit  her  auf  die  Worte  eines  Liedes  besannen, 
das  sie  sonst  wol  von  „bäurischen^  Sängern  gehört  hatten. 

Die  Zeit  der  Aufzeichnung  ist  gewiss  nicht  später,  als  in 
den  Anfang  des  9.  Jahrh.  zu  setzen,  also  in  die  Blüthezeit  der 
Schule  zu  Fidda;  die  Sprache  ist  eine  dem  Niederdeutschen 
sehr  nahe  stehende  mitteldeutsche  Mundart,  in  der  thüringische 
Formen  durchblicken;  die  Versart  die,  worin  alle  deutschen 
Gedichte  vor  der  Mitte  des  neunten  Jahrhunderts  abgefasst  zu 
sein  scheinen,  die  alliterierende,  mit  der  besondern  Bestim- 
mung, dass  jeder  Vers,  von  denen  je  zwei  durch  die  Alliteration 
zusammengehalten  werden,   das   Maß  von  vier  Hebungen  weit 


51 


strenger  beobachtet,  als  dies  in  andern  gleichzeitigen  oder  noch 
altern  Gedichten  von  derselben  Bindeart  der  Fall  ist.  Die  Al- 
literation, die  bekanntlich  auf  dem  Gleichlaut  der  Buchstaben 
beleiht,  mit  welchen  mehrere  der  am  stärksten  betonten  Worter 
zweier  zusammengehörender  Verse  oder  einer  Langzeile  anhe- 
ben, wobei  aber  die  einzelnen  Vocalanlaute  alle  unter  einander 
Bindefähigkeit  besitzen,  die  Alliteration,  sage  ich,  befasst  hier 
gewöhnlich  drei,  bisweilen  aber  nur  zwei,  oder  auch  vier  Sil- 
ben.   Ein  Beispiel  der  ersten  Art  ist: 

Hiltibraht  joh  Hadhubrant  untar  herjun  tvem,  wo  die  Sil- 
ben Hilt-,  Had-  und  her-  in  dem  Consonanten  h  alliterie- 
ren. Zwei  gebundene  Laute,  nämlich  die  Consonanten  s  sind 
gleich  in  der  nächstfplgenden  Langzeile: 

sunufatarungos  iro  saro  rihtun; 

vier  ganz  gleiche  in: 

dat  Hiltibrant  hetti  min  fater:  ih  heittu  Hadubrant, 

oder  mit  sich  kreuzender  Bindung  durch  die  Consonanten  f 
und  w: 

föhem  wortum,  hver  sin  fater  warf. 

Einigemal  bricht  indess  auch  schon  der  Endreim  neben  der  Al- 
literation durch,  der  bald  nachher  diese  ganz  aus  der  deutschen 
Poesie  verdrängte,  einmal  sogar  in  einer  Zeile,  die  gar  keine 
Alliteration  hat, 

dat  sagetun  mi  üsere  liuti, 

eine  Zeile,  die  mehr,  als  alles  übrige  thüringisch -hessische  Ab- 
kunft durch  die  Form  ml  für  mir  bezeugt. 

Durch  seinen  Inhalt  greift  diese  Dichtung  in  den  Sagen- 
kreis von  Dieterich  von  Bern  ein.  Der  alte  Hildebrand  mit 
Dieterich  von  Otacker  vertrieben,  kehrt  nach  dreißig  Jahren 
heim,  begegnet  seinem  als  Kind  zurückgelassenen  Sohne  Hadu- 
brand,  der  einzelne  dem  einzelnen  und  wird  von  diesem  ge- 
zwungen mit  ihm  zu  kämpfen.  Ich  will  hier  Lachmanns  Über- 
setzung mit  einigen  Ergänzungen  geben: 

„Ich  horte  das  sagen,  dass  sich  herausforderten  im  Zwei- 
kampf Hiltibrant  und  Hadhubrant  zwischen  zweien  Heeren. 
Sohn  und  Vater  besorgten  ihre  Rüstungen,  sie  bereiteten  ihre 
Schlachtkleider,  gürteten  sich  die  Schwerter  an,  die  Helden, 
über  die  Ringe  (d.  h.  Panzer),  da  sie  zum  Gefecht  ritten.  Hil- 

4* 


52 


tibrant  sprach:  er  war  der  stolzere  Mann,  an  Geist  der  klügere: 
er  hub  an  zu  fragen,  mit  wenigen  Worten,  wer  sein  Vater  wäre 
der  Leute  im  Volke,  oder  welches  Geschlechtes  du  seiest  Wenn 
du  mir  einen  sagst,  ich  weiß  mir  die  andern,  du  Kind  im  Kö- 
nigreiche: kund  ist  mir  alles  Menschenvolk.  —  Hadubrant  sprach, 
Hiltibrants  Sohn:  Das  sagten  mir  unsere  Leute,  alte  und  kluge, 
die  Yorlängst  dahin  waren  (d.  h.  die  längst  starben),  dasd  Hil- 
tibrant  geheißen  habe  mein  Vater:  —  ich  heiße  Hadubrant.^  — 

Hier  haben  wir  wahrscheinlich  eine  Lücke  in  dem  Gedicht  . 
anzunehmen,  indem  das  zunächst  Folgende  zu  der  Voraussetzung 
berechtigt,  Hiltibrant  habe  sich  als  Hadubrants  Vater  zu  erken* 
nen  gegeben,  bevor  dieser  also  in  seiner  Kede  fortfahren  konnte: 

„Vordem  gieng  er  ostwärts  (er  floh  Otachers  Hass)  fort 
mit  Theotrih  und  seiner  Männer  viel.  Er  verließ  im  Lande 
elend  sitzen  die  Frau  im  Hause,  unerwachsenes  Kind,  erblos 
—  (er  ritt  gen  Osten  fort)  —  das  Volk.  Nachher  traf  Theo- 
trihhen  Verlust  meines  Vaters.  Das  war  so  freundloser  Mann: 
er  war  auf  Otacher  allzu  ergrimmt;  der  Männer  Uebster  war 
er  Theotrihhe;  immer  an  des  Volkes  Spitze:  ihm  war  immer 
Gefecht  zu  lieb:  bekannt  war  er  .  .  .  kühnen  Männern:  ich 
glaube  nicht  mehr  dass  er  lebt.'^ 

Diese  Rede  Hadubrants,  hart  und  starr,  aber  richtig  in  der 
Gedankenverbindung,  würde  nach  unserer  Sprechweise  etwa  so 
lauten:  Hildebrand  floh  mit  Dietrich  vor  Otackers  Hass:  nach- 
her verlor  ihn  Dietrich.  Hildebrand  war  ohne  Freunde,  auf 
Otacker  zürnend  und  geliebt  von  Dietrich,  immer  an  der  Spitze 
des  Heeres  und  zu  kampfbegierig:  er  kann  nicht  mehr  am  Le- 
ben sein.  — 

Hier  deuten  die  letzten,  in  Prosa  eingefiihrten  Worte  wie- 
der eine  Lücke  an,  in  welcher  erzählt  sein  mochte,  dass  EL»-». 
dubrand  auf  den  Zweikampf  drang  und  etwa  sagte:  ich  entzog 
mich  nie,  feige  wie  du,  dem  angebotenen  Zweikampfe,  worauf 
wieder  in  einem  gleich  zu  Anfange  mannigfaltige  Störungen  und 
AusfäUe  des  Ursprünglichen  verratheuden  Bruchstücke,  Hilde- 
brands Antwort  erfolgt:  „Gott  vom  Himmel,  wahrlich  noch  viel 
weniger  strittest  du  jemals  einen  Streit  mit  einem  so  nah  ver- 
wandten Manne^,  woran  sich  dann  die  weitere  £rzählung  an- 
schließt: 

„Da  wand  er  (uämUch  Hildebrand)  vom  Arme  gewundene 
Ringe,    von  einem  Kaisering  (byzantinischer    Goldmünze)    ge- 


58 


macht,  wie  ihm  sie  der  König  gab,  der  Hünen  Herr,  (spre- 
chend): dass  ich  dir's  nun  mit  Huld  gebe.  Hadubrant  sprach, 
Hiltibrantes  Sohn:  Mit  dem  Wurfspieß  wird  der  Mann  Gabe 
empfahen,  die  Spitze  gegen  die  Spitze.  Du  bist  dir,  alter 
Hun,  allzu  klug,  reizest  mich  .  .  .  mit  deinen  Worten,  willst 
mich  mit  deinem  Speere  werfen  (d.  h.  Du  lockst  mich  mit  dei- 
nen Worten,  aber  du  willst  mich  mit  deinem  Speer  werfen). 
Du  bist  ein  so  gealterter  Mann,  wie  du  ewigen  Betrug  ver- 
führtest (oder  uns  verständlicher:  je  älter  du  bist,  je  mehr  hast 
du  Zeitlebens  betrogen).  Das  sagten  mir  Seefahrende  west- 
wärts iiber  den  Wendelsee,  dass  man  Krieg  vernahm:  todt  ist 
Hiltibrant  Heribrants  Sohn.'^  —  Hiltibrant  sprach,  Heribrants 
Sohn:  Wohl  sehe  ich  an  deiner  Rüstung,  dass  du  hast  daheim 
einen  guten  Herrn,  dass  du  noch  durch  diese  Obrigkeit  nicht 
verbannt  worden  bist.  Wehe  nun,  Herrscher  Gott,  Wehschick- 
sal geschieht.  Ich  wallte  der  Sommer  und  Winter  sechzig  au- 
ßer dem  Lande,  wo  man  mich  immer  bestimmte  in  die  Schar 
der  Schützen,  dass  man  mir  nirgend  an  einer  Stadt  den  Tod 
befestigte:  und  nun  muss  mich  mein  trautes  Kind  mit  dem 
Schwerte  hauen,  treffen  mit  seiner  Hacke,  oder  ich  ihm  zum 
Tode  werden!  Du  kannst  ja  leicht,  wenn  dein  Muth  etwas 
taugt,  an  einem  eben  so  stolzen  Mann  Rüstung  gewinnen,  Raub 
erbeuten,  wenn  du  da  irgend  Recht  hasf 

Auf  diese  Rede  des  Vaters , .  der  Sohn  werde  leicht  einen 
andern  Mann  zu  bekämpfen  finden,  den  er  anzugreifen  mehr 
Recht  habe,  fehlt  die  Erwiederung.  In  dem  Folgenden  erklärt 
sich  der  Vater  zum  Kampf  bereit. 

„Der  sei  doch  nun  der  feigste  der  Ostleute,  der  dir  nun 
Krieg  weigere,  nun  dichs  so  wohl  gelüstet.  Die  handgemeine 
Schlacht  versuche,  den  Kampf,  wer  von  uns  sich  heute  der 
Beuten  rühmen  solle,  oder  dieser  Panzer  beider  walten.  Da 
ließen  sie  zuerst  mit  Eschen  schreiten  (d.  h.  die  Pferde  mit 
den  Eschenspeeren),  mit  scharfen  Schauern,  dass  es  in  den 
Schilden  stand  (d.  h.  stecken  blieb).  Dann  traten  sie  zusam- 
men die  Schwertschwinger  (?);  sie  hieben  schmerzlich  weiße 
Schilde,  bis  ihnen  ihre  Linden  (nämlich  Schilde  aus  Leder  und 
Lindenbast)  klein  wurden  gemacht,  und  nicht  zu  den  Bäuchen 
— ^  Hier  bricht  unser  Gedicht  ab;  den  Ausgang  des  Kampfes 
erfahren  wir  nicht.    Nach  spätem  Darstellungen  der  Sage  be- 


54 


siegt  der  Vater  den  Sohn,  versöhnt  sich  mit  ihm  und  beide 
reiten  auf  die  Burg  zu  Gattin  und  Mutter. 

In  dem  Hildebrandsliede  besitzen  wir  bis  jetzt  das  einzige 
Überbleibsel  eines  altdeutschen  Heldenliedes  aus  der  Periode 
unserer  Litteratur,  die  dem  zwölften  Jahrhundert  voraufging; 
und  je  sicherer  wir  in  der  Annahme  sein  dürfen,  das»  unser 
Heldenepos  im  9.  und  10.  Jahrh.  bereits  in  vollster  Blüthe  stand, 
desto  unschätzbarer  sind  uns  diese  Bruchstücke,  weil  sie  uns 
vorzugsweise  die  Umrisse  und  Farben  zu  dem  Bilde  liefern 
müssen,  das  wir  uns  von  dieser  Art  der  Poesie  zu  entwerfen 
vermögen.  Darnach  aber,  so  wie  nach  dem,  was  wir  aus  den 
durch  ihren  Inhalt  dem  althochdeutschen  Heldenepos  nah  ver- 
wandten alten  Eddaliedern  und  der  altsächsischen,  den  Ton  der 
alten  Volkspoesie  noch  ziemlich  festhaltenden  Evangelienhar- 
monie zu  diesem  Behufe  entnehmen  können,  scheinen  vor  dem 
zwölften  Jahrhundert  in  Deutschland  noch  keine  größeren  Dich- 
tungen bestanden  zu  haben,  die  in  fortlaufender,  geordneter 
Erzählung  und  planmäßiger  Entwickelung  eigentliche  Helden- 
sagen von  mehr  oder  minder  bedeutendem  Umfange  wiederge- 
geben hätten.  Vielmehr  werden  diese  Stoffe  wol  nur  in  ein- 
zelnen Liedern  dargestellt  worden  sein,  die  zwar  immer  das 
lebendige  Bewusstsein  von  einem  ganzen  Sagenkreise  bei  den 
Zuhörern  voraussetzten,  sich  auch  wol  auf  einander  bezogen, 
aber  immer  nur  eine  einzelne  Begebenheit  aus  der  Masse  her- 
aushoben und  diese  in  gedrängter,  oft  springender,  nie  bei  ei- 
nem Puncte  lange  verweilender  und  leicht  in  dramatische  Le- 
bendigkeit übergehender  Erzählung  veranschaulichten.  Dabei 
scheint  dieser  Poesie  früh  ein  Vorrath  von  wiederkehrenden 
Wendungen,  Umschreibungen  und  bildlichen  Ausdrücken  eigen- 
thümlich  gewesen  zu  sein,  der  den  Sängern  die  poetische  Um- 
kleidung des  Stoffes  erleichterte,  auf  der  andern  Seite  aber  auch 
die  individuelle  Ausmalung  von  Charakteren  und  Begebenheiten 
hemmte  und  eine  gewisse  Schroffheit  und  Starrheit  in  diese 
Darstellungsweise  brachte,  wie  sie  auch  unser  Hildebrandslied 
nicht  verleugnen  kann.  — 

Wenden  wir  uns  jetzt  zu  den  Merseburger  Gedichten. 

Als  J.  Grimm  18.^5  seine  deutsche  Mythologie  herausgab, 
konnte  er  das  einstmalige  Dasein  einer  reichen  Götterwelt  in 
der  Vorstellung  unserer  Vorfahren,  sofern  dabei  nur  von  den 
eigentlichen  Deutschen  und  nicht  zugleich  von  ihren  scandina- 


55 


vischen  Stammverwandten  die  Rede  sein  sollte,  durch  kein  ein- 
ziges schriftliches  Zeugniss  in  deutscher  Sprache,  das  noch  in 
die  Heidenzeit  zurückreichte,  beweisen;  und  es  gehörte  die  ganze 
staunenswurdige  Gelehrsamkeit,  der  feine  Tact,  das  wunderbare 
Ahnungsvermögen,  endlich  der  seltene  Scharfsinn  und  die  glän- 
zende Combinationsgabe  dieses  echt  deutschen  Mannes  dazu, 
aus  den  scheinbar  entlegensten  Gebieten  der  Litteratur,  aus 
der  Sprache,  den  Sitten,  der  Geschichte,  den  Sagen  und  Mär- 
chen, dem  Aberglauben,  den  Bezeichnungen  von  Naturerschei- ^ 
nungen,  örtlichkeiten,  Thieren,  Pflanzen,  Gesteinen  und  Stern- 
bildern die  Ergebnisse  zu  gewinnen,  die  er  in  jenem  unver- 
gleichlichen Buche  niedergelegt  hat.  Was  noch  nach  wenigen 
Jahren  niemand  zu  hoffen  wagte,  Bestätigung  der  Grimmschen 
Sätze  durch  Gedichte  mythischen  Inhalts  aus  dem  deutschen 
Heidenthum,  das  hat  auf  die  überraschendste  Weise  seitdem 
Statt  gefunden.  Professor  Waitz,  gegenwärtig  in  Gottingen, 
im  November  1841  bei  mir  einsprechend,  um  in  Pforte  etwa 
Ausbeute  für  die  von  Pertz  herausgegebenen  „Monumenta  Ger- 
maniae  historica'^  zu  finden,  ging  von  hier  aus  nach  Zeiz 
und  von  da  nach  Merseburg,  die  dortigen  Stiftsbibliotheken  und 
Archive  in  gleicher  Absicht  zu  durchsuchen.  An  letztgenann- 
tem Orte  findet  er  in  einer  Handschrift,  welche  der  Bibliothek 
des  Domkapitels  angehört,  und  die  nur  bekannte  kirchliche 
Stücke  zu  gewähren  scheint,  auf  einem  Blatte  in  schöner  Schrift 
des  9.  Jahrh.  die  schon  anderweit  bekannte  deutsche  Ent- 
sagungsformel, wie  sie  den  Täuflingen  unter  den  neubekehrten 
Heiden  vorgelegt  wurde,  weiterhin  aber  auf  einem  andern  Blatte 
von  anderer  Hand,  die  mit  Sicherheit  dem  Beginne  des  10. 
Jahrh.  beigelegt  werden  darf,  mitten  unter  kirchlichen  und  firom- 
men  Sätzen  zwölf  altdeutsche  Zeilen,  in  denen  J.  Grimm,  dem 
sie  mitgetheilt  werden,  alsbald  zwei  unter  sich  unzusammen- 
hängende, alliterierende  Gedichte,  offen  heidnischen  Inhalts,  er- 
staunt anerkennt.  Bereits  am  3.  Febr.  1842  liest  Grimm  dar- 
über in  der  Akademie  der  Wissenschaften,  und  nicht  gar  lange 
darauf  erscheint  diese  Vorlesung  unter  dem  Titel:  „Über  zwei 
entdeckte  Gedichte  aus  der  Zeit  des  deutschen  Heidenthums", 
nebst  einem  getreuen  Facsimile  der  Handschrift  im  Druck,  so 
dass  noch  im  Laufe  des  Sommers  ein  anderer  Gelehrter,  W. 
Wackemagel  seinem  eben  fertig  gewordenen  Wörterbuch  zum 
altdeutschen  Lesebuch  in   der  Vorrede  eine  Revision  des  Tex- 


56 


tes  und  eine  theilweise  von  der  Grimmischen  abweichende  Er- 
klärung desselben  anzufügen  vermag. 

Ich  will,  da  beide  Gedichte  nur  von  so  geringem  Umfange 
sind,  sie  in  der  Ursprache  und  Übersetzung  mittheilen.  Das 
erste,  von  Grimm  Idisi,  d.i.  Nymphae,  iiberschrieben,  lautet  so: 

Eiris  sa^un  idifl,  fÄgun  hera  duoder, 
fumä  hapt  heptidun,  fumd.  heri  lezidun, 
fumä  clübödun  umbi  cuoniowidi, 
infprincg  haptbandun,  invar  wlgandun. 

nach  Grimms  lateinischer  Übersetzung :  Olim  sedebant  nymphae, 
sedebant  huc  atque  illuc,  aliae  vincula  vinciebaiit,  aliae  exerci- 
tum  morabantur,  aliae  colligebant  serta,  insultum  diis  compli- 
cibus,  introitum  heroibus;  —  wogegen  Wackernagel,  mit  zwei 
geringen  Abänderungen  im  Text,  deren  eine  noch  dazu  durch 
die  Handschrift  begünstigt  wird  und  der  Überschrift:  Zauber« 
Spruch  über  die  Fesseln  eines  Kriegsgefangenen,  übersetzt: 

„Vormals  saßen  Weiber,  saßen  her  (und  hin):  die  einen 
Fesseln  fesselten,  die  andern  das  Heer  aufhielten,  die  andern 
pflückten  nach  Kniestricken.  Entspringe  den  Fessclbanden, 
entgehe  den  Feinden!" 

Die  Hauptabweiehung  beruht  auf  der  verschiedenen  Auf- 
fassung der  letzten  Zeile;  ich  möchte  jedoch,  da,  wie  wir  spä- 
ter sehen  werden,  die  Bestimmung  dieser  Verse  zur  Zauberfor- 
mel wol  keinem  Zweifel  unterliegt,  der  Wackemagelschen  Auf- 
fassung und  Übersetzung  den  Vorzug  geben,  zumal  die  Grimm- 
sche, nach  seinem  eigenen  Geständniss,  mancherlei  Schwierig- 
keiten darbietet.  Beide  Gelehrte  stimmen  aber  darin  überein, 
dass  die  Idisl  hier  nicht  bloß  Weiber  schlechthin  bedeuten, 
wie  anderwärts,  sondern  Weiber  göttlicher  Art,  Schlachtjung- 
frauen oder  Valkyrjen.  Den  Beweis  dafür  führt  Grimm  in 
seiner  Vorlesung  mit  Bezug  auf  die  deutsche  Mythologie.  — 
Wenn  jedoch  noch  jemand  zweifeln  könnte,  dass  in  diesen  Ver- 
sen wirklich  ein  Denkmal  aus  dem  deutschen  Heidenthum  uns 
vorliege,  so  wird  er  jedes  Bedenken  müssen  bei  dem  zweiten 
Stücke  fahren  lassen,  das  aus  folgenden  acht  alliterierenden 
Langzeilen  besteht,  von  Grimm  überschrieben  Bald  eres  volo, 
d.i.  Balderi  equuleus,  von  Wackernagel:  Zauberspruch  über 
den  verrenkten  Fuß  eines  Pferdes. 


57 


Phol  ende  W6dan  yuorun  zi  holza, 

du  wart  demo  Balderes  volon  fin  vuoj  birenkit; 

ihn  bigüolen  Sinthgunt,  Sunnä  era  fuifter, 

thu  bigüolen  FrM,  VollJL  era  fuiller, 

thu  bigüolen  W6dan,  £5  he  wola  conda, 

föfe  bSnrenkl,  föfe  bluotrenkl,  fofe  lidirenki, 

ben  zi  b^na,  bluot  zi  bluoda, 

lid  zi  geliden,  föfe  gelimida  fin. 

Nach  Wackemagels  Obersetzung,  die  Ton  Grimms  hier  nicht 
abweicht: 

^hol  und  Wodan  begaben  sich  zu  Walde:  da  ward  dem 
Balders  Fohlen  sein  Fuß  verrenkt:  da  besprach  ihn  Sintfagnnt 
(und)  Sunna,  ihre  Schwester;  da  besprach  ihn  Früa  (und)  Volla 
ihre  Schwester;  da  besprach  ihn  Wodan,  wie  er  wol  verstand, 
so  die  Beinverrenkung,  wie  die  Blutverrenkung,  wie  die  Glie- 
derverrenkung, Bein  zu  Beine,  Blut  zu  Blute,  Glied  zu  Glie- 
dern, als  ob  sie  geleimt  seien.^ 

Hier  haben  wir  zunächst  den  schon  anderweitig  für  Deutsch- 
land feststehenden  Hauptgott  Wodan,  hochdeutsch  Wuotan, 
nordisch  Odhin;  dann  die  aus  der  nordischen  Mythologie  be- 
kannten, bis  dahin  für  die  deutsche  mehr  oder  weniger  nur 
gemuthmaßten  Gottheiten  Balder,  Sonne,  Folla  (abundantia)  und 
Freyja,  in  altdeutscher  Form  Früa,  wenn  nicht,  wie  Wacker- 
nagel will,  in  der  Handschrift Frlja  gelesen  werden  muss,  wor- 
auf allerdings  unser  nach  der  Göttinn  der  Liebe  genannter 
sechster  Wochentag  Freitag,  früher  Frltac,  führt;  endlich 
zwei  bisher  auch  dem  Norden  ganz  unbekannte  Gottheiten,  eine 
männliche  Phol  und  eine  weibliche  Sinthgunt;  letztere  be- 
zeichnet dem  Namen  nach  und  als  Schwester  der  Sonne  wahr- 
scheinlich ein  wanderndes  Gestirn,  welches  ?  wagt  Grinun  nicht 
zu  sagen;  man  konnte  aber  an  den  Mond  denken,  wenn  der 
nicht  andere  Namen  führte.  Am  räthselhaftesten  ist  Phol;  doch 
tritt  auch  dieser  Name,  nachdem  er  einmal  die  Aufinerksamkeit 
err^t  hat^  immer  individueller  und  lebendiger  aus  dem  Dunkel, 
wie  insbesondere  einige  Mittheilungen  Grimms  in  Haupts  Zeit- 
schrift für  deutsches  Altertbum  (2,  188.  252.),  worauf  ich  mich 
hier  aber  nicht  näher  einlassen  mag,  darthun  können. 

Dass  beide  Gedichte  erst  im  Anfange  des  10.  Jahrh.  in 
dem  Merseburger  Codex  aufgezeichnet  sein  dürften,  ist  bereite 


58 


bemerkt  worden.  In  der  Nähe  ihres  Fundorts  müssen  sie  der 
Sprache  nach  zu  urtheilen  auch  abgefasst,  wenigstens  nieder- 
geschrieben sein:  denn  die  Sprache  weist  an  die  Saale  nach 
Thüringen  hin,  wo  sich  althochdeutsche  und  altsächsische  Zunge 
berührten.  Ersterer  stehen  diese  Verse  näher,  als  das  Hilde- 
brandslied, das  entschiedener  sächsische  Färbung  trägt,  nament- 
lich in  der  Festhaltung  des  Consonanten  t  für  das  hochdeutsche 
in  den  Merseburger  Stücken  vorfindliche  z. 

Wie  ist  es  aber  zu  erklären,  dass  man  zu  christlicher  Zeit 
bei  dem  Ankämpfen  der  Geistlichkeit  gegen  alles,  was  mit  dem 
alt -germanischen  Götterglauben  zusammenhing,  diese  dahin  of- 
fenbar einschlagenden  Verse  aufzeichnete?  Ja  noch  mehr,  wie 
konnte  ein  Geistlicher  oder  Mönch,  denn  von  solcher  EUmd 
kann  mitten  unter  geistlichen  Dingen  die  Aufzeichnung  nur 
geschehen  sein,  es  über  sich  gewinnen,  dergleichen  vor  dem 
Untergange  zu  retten?  Hierauf  gibt  Grimm  befriedigende 
Antwort. 

„Den  ersten  Christen  galten,  wie  in  der  deutschen  Mytho- 
logie gezeigt  ist,  die  heidnischen  Götter  für  verhasste,  nicht 
für  völlig  machtlose  Wesen.  Selbst  die  Kirche  war  nicht  ab- 
geneigt, römische  oder  deutsche  Gottheiten  als  bösartige  Dä- 
monen aufzufassen,  deren  ehemalige  Herrschaft  jetzt  dem  Reiche 
des  wahren  Gottes  weichen  müsse.  Die  heidnischen  Götter 
traten  zurück  in  einen  schauerlichen  Hintergrund,  der  ihre 
wohlthätigen  Eigenschaften  und  selbst  ihre  alten  Benennungen 
allmählig  schwinden  ließ,  eine  gewisse  teuflische  Macht  und 
Einwirkung  aber  an  die  Stelle  setzte.  Und  wie  wir  in  noch 
späteren  Zeiten  aUmählig  ein  System  von  Teufeln  und  Hexen 
sich  entfalten  sehen,  dem  die  alten  Götter  und  weisen  Frauen 
der  Heiden  zum  Grunde  lagen,  nach  welchem  aber  wirkliche 
Zaubereien  und  Beschwörungen  geübt  wurden:  so  werden  auch 
jene  heidnischen  Lieder  mit  den  verrufenen  Göttemamen  frühe 
schon  als  ein  nicht  gerade  unstatthaftes  Mittel  zu  Heilungen 
und  Besprechungen  gegolten  haben.  Es  ist  beinahe  nicht  zu 
zweifeln,  gar  manche  solcher  Zauberformeln,  wie  sie  die  mei- 
stens mündliche  Überlieferung  folgender  Jahrhunderte  noch 
mehr  entstellt,  aber  doch  fortgepflanzt  hatte,  beruhen  ihren  fast 
immer  erzählenden  Eingängen  nach  auf  heidnischen  Liedern 
und  Weisen,  nur  dass  nach  und  nach  an  den  Platz  der  alten 


59 


Eigennamen  absiclitlich  verdrehte,  ersonnene  oder  anders  woher 
entlehnte  traten." 

Wer  gegen  diese  Erklärung  Bedenken  tragen  könnte,  wird 
es  aufgeben,  wenn  er  erfährt,  dass  der  gesammte  Inhalt  des 
zweiten  Gedichts  in  einer  solchen  jungen  Zauberformel  auch 
wirklich  herauszuerkennen  ist  und  zwar  in  einer,  die  in  weit- 
entlegener Gegend,  in  Scandinavien,  erst  im  vorigen  Jahrhun- 
dert aufgezeichnet  worden,  und  also  lautet: 

„Jesus  ritt  zur  Heide,  da  ritt  er  das  Bein  seines  Fohlens 
entzwei.  Jesus  stieg  ab  und  heilte  es,  er  legte  Mark  in  Mark, 
Bein  in  Bein,  Fleisch  in  Fleisch,  er  legte  darauf  ein  Blatt,  dass 
es  in  derselben  Stelle  bleiben  sollte." 

Man  sieht,  hier  sind  unter  dem  Einflüsse  des  Christen- 
thums  die  heidnischen  Gottheiten  der  Person  Jesu  gewichen, 
in  welchem  der  Besitzer  des  Fohlens  Balder  und  der  zauber- 
kundige, heilende  Wodan  zusammenfallen.  Die  Idee  ist  die- 
selbe, wie  in  dem  heidnischen  Gedichte,  ja  zum  Theil  selbst 
der  wortliche  Ausdruck.  Was  aber  besonders  merkwürdig  ist, 
dieselbe  Idee  finden  wir  in  fast  tausendjährigem  Abstände  an 
den  Ufern  der  Saale  und  in  Dänemark  auftauchen.  Ist  dies 
nicht  Beweises  genug,  dass  wir  in  unserem  Gedichte  Vorstel- 
lungen festgehalten  sehen,  welche  dem  ganzen  heidnischen  Ger- 
manenthum  eigen  waren? 

Fragen  darf  man  auch,  wie  kam  der  Schreiber  des  Merse- 
bnrger  Codex,  dem  wir  diese  Stücke  verdanken,  zu  ihnen?  Es 
bleiben  als  Antwort  nur  zwei  Annahmen  übrig,  wenn  man  er- 
wägt, dass  Thüringen  bereits  im  8.  Jahrb.,  Sachsen  aber  im 
Beginne  des  9.  bekehrt  worden  waren.  Entweder  fand  der 
Geistliche  zu  Anfang  des  10.  Jahrb.  unsere  Zaubersprüche 
schon  anderswo  aufgezeichnet,  oder  er  empfing  sie  aus  münd- 
licher Überlieferung.  Grimm  neigt  sich  zu  der  zweiten  An- 
nahme und  ich  denke,  wir  können  dem  beistimmen. 


Ul. 


ZUR  LITTERATÜR  FISCHARTS. 


SONETTE. 


MITGETHEILT  VON  D'^  O.  SCHADE. 


Ejs  wird  in  dieser  Zeitschrift  mehrfach  Gelegenheit  genommen 
werden,  die  Betrachtungen  unserer  Leser  auf  Johann  Fi« 
schart  zu  lenken,  jenen  grösten  Dichter  des  sechszehnten 
Jahrhunderts  und  geistvollsten  deutschen  Humoristen  überhaupt, 
der  durch  eine  seltsame  Laune  des  Schicksals  zwei  Jahrhun- 
derte lang  fast  verschollen  war  und  auch  jetzt  noch  kaum  von 
Wenigen  näher  gekannt  ist.  Wir  werden  die  verschiedenen 
Richtungen  seiner  literarischen  Thätigkeit  charakterisieren,  seine 
bedeutendsten  Schriften  eingehender  Besprechung  unterziehen 
und  Mittheilungen  über  bisher  noch  unbekannte  oder  unbeach- 
tete Poesien  von  ihm  machen.  Eine  Mittheilung  letzterer  Art 
sind  die  nachfolgenden  Sonette,  die,  abgesehen  von.  ihrer 
Wichtigkeit  für  die  Geschichte  des  Sonettes  in  Deutschland 
(weil  sie  mit  zu  den  frühesten  Versuchen  gehören  diese  fremde 
Form  uns  heimisch  zu  machen),  ihrem  Inhalte  nach,  gerade 
als  politische  Dichtung,  einen  weiihvollen  Beitrag  zum  Charak- 
terbilde Fischarts  liefern.  Es  sind  diese  Sonette  neuerdings 
nicht  gedruckt  und  wol  kaum  Einigen  (wenn  überhaupt  Meh- 
reren) bekannt.  Als  Karl  Gödeke  seine  mit  umfassender  Kennt- 
nis gearbeiteten  Elf  Bücher  deutscher  Dichtung  veröffentlichte. 


61 


wüste  er  wol  um  ihre  Existenz  (siebe  daselbst  Seite  160),  konnte 
sie  aber  nicht  mittheilen,  da  der  Einzige  der  sie  damals  be* 
kannter  Maßen  besaß,  sie  ihm  vorenthielt.  Das  Buch,  in  dem 
sie  enthalten  sind,  befindet  sich  jetifX  in  der  Königlichen  Bib« 
liothek  zu  Berlin,  ein  zweites  Exemplar  auf  der  herzoglichen 
Bibliothek  zn  Wolfenbüttel,  PoUtic.  89.  12.  Dieses  Buch  fuhrt 
folgenden  Titel:  Offentlichs  vnd  |  inn  warheit  wolge- 
gr&ndts  I   Außfchreiben   der  vbelbefridigte   Stand  in 

I  Franckreich,  die  sich  Mal  Content  |  nennen:  In- 
haltend I  Die  Wunderlich  Befchreibung  |  des  Le- 
bens, Verhaltens,  thun  vnd  Wefens  |  der  CATHE- 
RINE von  MEDICIS  |  der  Konig  in  Franckreich  | 
Mutter.  I  Darinnen  gr&ndtlich  weiß  vfi  weg  |  dar- 
durch  fie  fich  in  die  Regierung  des  Reichs  |  einge- 
fchleiffet,    auch  folche  noch   alleweil  zu   verderb  vnd 

I  vntergang  deffelbigen  statt  vnd  wolfahrt  |  vnrecht- 
mAßig  vorhält,  be  |  fchriben  wird:  |  Auß  dem  Frant- 
zofifchen  ins  |  Teutfch  gebracht  |  durch  Emericum 
Lebufium.  |  Neun  Bogen  in  Octav,  unpaginiert  aber  mit 
Zählung  der  Bogen.  Auf  I  Vb  beginnen  die  Sonette  unter  der 
üeberfchrift  An  Ehr  vnd  Billigkeit  |  liebende  Lefer.  | 
Etlich  Sonnet.  Huldrich  Wifart  |  Sic  nehmen  etwas 
über  vier  Seiten  ein.  Fifchart  nennt  sich  hier  Huldrich  Wifart, 
ein  Name,  den  er  sich  auch  anderweitig  beilegt  z.  B.  vor  dem 
Gedichte  in  der  Schrifk  Wacht  fr&e  auff,  das  überschrieben 
ist  An  jedes  auffrecht  redlich  Teutfch  |  Gebl&t  vnd 
Gemfith  |  und  anhebt  Ja  billich  fagt  im  Sprichwort  jhr 

I  Vnbill  ßoß   auff  die  Thftr  etc. 

Die  Sonette  sind  gerichtet  gegen  Katharina  von  Me- 
d  i  c  i  s  ,  die  schone ,  geistreiche ,  kunstliebende ,  intriguante, 
herrsch-  und  prunksüchtige  Florentinerin,  geb.  am  13.  April  1519, 
einzige  Tochter  Lorenzo^s  von  Mediois,  Herzogs  von  Urbino, 
und  Nichte  des  Papstes  Clemens  VII.  Sie  ward  14  Jahre  alt 
mit  dem  zweiten  Sohne  Franz  I.  von  Frankreich,  dem  Prinzen 
Heinrich,  vermahlt.  Das  Beilager  ward  im  October  1533  zu 
Marseille  gefeiert  Man  gab  ihr  viele  Grausamkeiten  Schuld; 
sie  habe  den  1536  verstorbenen  Dauphin  vergiftet,  um  ihren 
Gemahl  an  die  Regierung  zu  bringen.  1549  zur  Konigin  ge- 
krönt wüste  sie  sich  das  Vertrauen  ihres  Gemahls  so  zu  er- 
werben, dass  er  sie«  ais  er   1552  nach  Deutschland  zog,   zur 


62 


Regentin  machte.  Als  dieser  Heinrich  IL  1559  starb,  kam 
ihr  ältester  Sohn  als  Franz  II.  an  die  Regierung,  den  sie  durch 
alle  Lustbarkeiten  zu  verlocken  und  zu  entnerven  suchte,  ma 
ungestört  schalten  und  walten  zu  können.  Der  Tod  dieses 
Franz  gab  die  Zügel  der  Regierung  während  Carl  IX.  Minder- 
jährigkeit ganz  in  ihre  Hände.  Unaufhörliche  Intriguen  zwischen 
den  Parteien  anzettelnd,  bald  för  bald  gegen  die  Protestanten, 
zog  sie  sich  immer  mehr  und  mehr  Haß  zu.  Sie  war  es,  die 
Carl  den  IX.,  als  er  zur  Regierung  gelangt  war,  zu  jenem 
Blutbade  bestimmte,  das  unter  dem  Namen  der  Pariser  Blut- 
hochzeit eine  so  traurige  Berühmtheit  erlangt  hat.  Nach 
CarPs  IX.  Tode  führte  sie  aufs  Neue  die  Regentschaft  bis  zur 
Rückkehr  Heinrichs  III.,  damals  Königs  von  Polen.  Sie  starb 
1589  in  einem  Alter  von  70  Jahren.  Man  gibt  ihr  mit  Recht 
Schuld,  dass  sie  zum  Ruine  der  französischen  Sitten  unendlich 
viel  beigetragen. 

Wir  lassen  nun  die  Sonette  folgen,  eine  Gruppe,  deren 
letztes  als  Abschluss  durch  einen  Coda  von  fünf  neunsilbigen 
auf  einander  reimenden  Versen  verlängert  ist.  Wir  regeln  die 
wilde  Schreibung  des  Druckes  und  bessern  einen  offenbaren 
Druckfehler,  nemlich  7,  5  st  ahn  für  stehn. 

AN  EHR  UND  BILLIGKEIT 

LIEBENDE  LESER. 

ETLICH  SONETT. 

HULDRICH  WISART. 


L 

In  dem  haus  (fpricht  man)  ßehts  nicht  wol 
Und  muß  gewis  was  bös  gemanen. 
Wann  die  hcnn  kreht  über  den  hanen. 

Da  fie  doch  dafür  gachfen  fol 

Zu  leichtern  iren  eierßol. 

AlTo  wie  vil  mer  muß  es  hön 
In  einem  regiment  dann  (lehn, 

Welchs  größer  ift  und  forgen  vol, 
Wann  die  henn  wil  die  hanen  füren: 
Da  muß  fie  die  gewis  verfüren. 


64 


4. 


Dann  welches  fchreit  auß  feinem  ßant, 

Dasfelb  zerreißt  das  menschlich  bant, 

Schafft  unwill  und  groß  misverftant 

Und  verunruhigt  ftat  und  lant, 

Weil  hochmuth  findet  widerftant. 
Darum  got  alles  recht  erfchuf 
Ein  iedes  gfchlecht  in  feim  beruf, 

Den  man  dapfer  mit  rat  und  haut, 

Das  weib  blod  MIl  zu  der  haushaltung: 
Und  ie  ftiller  ift  ir  Verwaltung, 

le  beßer  iß  diefelb  bellellt. 

Denn  ins  haus  ghort  kein  rechten  fechten 
(Es  wird  fonfl;  bofes  garn  fich  flechten), 

Sondern  aufs  rathaus  und  ins  feld. 


5. 

Und  wie  es  eim  man  übel  ßeht, 

Wann  er  fich  weiber  gfchäft  annimpt: 
So  übel  es  fich  auch  gezimpt, 

Wann  ein  weib  mansgefchäft  hie  thet. 

Der  man  ein  Gret,  das  weib  als  not. 
Wann  Sardanapalus  wil  fpinnen, 
Semiramis  die  lant  gewinnen: 

Welchs  tyrannei  ift  al  zu  fchnod, 
So  die  leut  machet  widerfinnig. 
Drumb  liß;  man  vom  Egypten  konig, 

Der,  daß  er  fein  volk  weibifch  fcha£%, 
Ließ  männer  thun  der  weiber  gfchäft, 
Weiber  anmaßen  männer  kraft: 

Damit  keins  bhielt  fein  eigenfchaft;. 


6. 


Solchs  that  er,  weil  er  fich  befart, 
Sein  volk  möcht  in  umb  tyrannei 
Bekriegen,  fich  zu  machen  frei. 

Übt  aber  nicht  auch  folche  art 


65 


Die  konigin,  wie  man  erfart, 

Die,  daß  man  nicht  irm  mutwill  fteur, 
Außrotten  wil  die  manfcbaft  teur? 

O  da  wert  all  fo  tregt  ein  hart! 

Gleichwol  Tag  ich  nicht,  daß  nicht  auch 
Ein  weib  mog  herschen  nach  landsbrauch, 

Fiir  nemlich  wann  fie  in  irm  Hat 

Pfleget  der  männer  rat  und  that: 

Dton  folches  man  noch  lieber  hat 

Als  herrn  die  weiber  han  zu  rat. 

*<•■.'•-' 
7. 

Sonder  die  firechlich  unterftahn 

Sich  wider  gfatz  und  on  all  wal 

Zu  Hecken  in  gfchäft  überal, 

Den  (fag  ich)  fol  man  widerßahn, 

Weil  in  der  gwalt  nicht  zu  wil  Hahn. 

Darumb  nur,  ir  Franzofen,  dran! 

Erweiß  daß  hauen  mut  ir  hani 

So  wirt  euch  alles  glück  zu  gähn. 

Erweill  daß  ir  von  Tcutfchen  kommen, 

Von  Franken  frei,  den  alten  frommen! 

Dann  fo  kein  frembden  han  ir  duldet 

Der  euch  herfch,  wann  er  euch  nicht  huldet: 

Wie  folt  ir  nicht  die  henn  yerdammen, 
So  frembd  die  hauen  hetzt  zufammen. 

Daß  fie  einander  felbs  erlamen 

Und  gar  außrotten  ireü  ßanunen? 

Derhalben  dran  ins  herren  namen! 

Secht,  ob  man  ein  wild  henn  mag  zamen 

Und  iren  grinmiigen  eir&men! 


.  /*.  //. 


ww. 


Em  PASQUILL 


AUS  DER  ZEIT 


•• 


DES  DREISZIGJAHRIGEN  KRIEGES. 


MITGETHEILT  DURCH  OSCAR  SCHADE. 


£iin  äußerß  interelTantes  PaTquiU  aus  der  Zeit  des  dreißigjäh- 
rigen Krieges  findet  fich  auf  4  Blattern  in  Quart,  ohne  Ort 
und  Jahr,  unter  dem  Titel 

SPECULÜM 
IMPERH  ET  MÜNDL 
Das  ist 
Beichs-  und  Welt- 
Spiegel, 
Darinn  eines  Jeden  Standes  vnd  Ampts  Eigen- 
fchafi^/  gleich  als  eine  Quinta  elTentia  extrahii*et 

vnd  gezeiget  wird/ 
Durch  einer  jeglichen  Perfonen  eigenen  Außfpruch. 

CHolzichnitt) 
Im  Jahre  /  Da  ein  jeder  zum  eulTerßen  w&ndfchet 

Candida  pax  orbi  reddare  recurre  revife 

Erige,  conforta  quae  fera  bella  fiigant. 

Hier  folge  nun  dies  Pasquill  in  geregelter  Schreibung. 


67 


Reichs-  und  Weltspiegel. 

Papft 
Ich  wil  das  geillliche  und  weltliche  Schwert  wider  meine  Feinde 
brauchen. 

Herzog  in  Friedland 
Urbane,  daß  man  das  Schwert  einftecke!  Denn  wer  das  Schwert 
nimbt,  der  fol  durchs  Schwert  umbkommen. 

Römifcher  Keifer 
Ich  profequiere  meine  Victorien,  die  mir  Gott  in  meine  Hände 
gibt,  biß  ich  austilge  was  mir  und  meinem  Haus  fchaden  kan. 

König  in  Spanien 
Ich   dacht,  es  were   nun  fchon   alles  im  Reich  gewonnen:   fo 
fehe  ich  itzo  erß,  daß   die  Würfel  noch  anf  dem  Tifch  liegen. 

König  in  Frankreich 
Vor  dißmal  fucht  ich  nicht  Königreiche   noch  Länder  fondern 
jufiitiam  und  aequilibrium. 

König  in  Engelland 
Aller  Anfang  iß  fchwer. 

König  in  Denemark 
Das  Spiel  wird  erß  recht  gut,  und  ift  mir  yaft  leid,   daß  ich 
aufhören  muß  mit  zu  fpielen. 

König    in  Schweden 
Ego  dabo  inimicis  meis  in  faciem  vulnus  immedicabile. 

Poln. 
Es  ift  Gottes  Werk. 

Churfürß  von  Mainz 
Ich  fehe  daß  man  auch  umb  unfern  Gewand  fpielet.  Wann 
idinur  vorher  gewuft,  daß  die  Cron  Spanien  fo  ein  groß  ver- 
langen nach  unfern  langen  churf.  Röcken  getragen,  fo  wolt  ich 
bei  meinem  interceJOTore  follicitieret  haben,  daß  er  ihn  den  fei- 
nigen vor  feinem  Abfterben  in  feinem  Teftament  vermacht  ha- 
ben folt. 

Churfürft  zu  Köln 
Ich  furchte  böfe  Nachbaren. 

Chur  Trier 
Ich  auch. 

Chur  JBaiern 
Jetzt  wer  es  Zeit  daß  man  Friede  machete,    fo  könte  ich   in 
meiner  Oeonomie  wol  heftehen. 

5* 


68 


Chur   Sachfen 
Cunctando  reftituam  rem. 

Chur   Brandenburg 
PofituB  lum  in  medio:  quo  me  vertam  nefcio. 

Jüngerer  Konig  in   Denemark 
Ich  fchweig  und  gedenke. 

Erzbifchof  zu  Bremen 
Es  ift  leider  fchlecht  beftellt. 

Herzog  zu  Mechelburg 
Wie  der  Keifer  fo  viel  Fürften  machete  und  glcichwol  Teutfeh- 
land   nicht  größer   machen   konte,   hette  ich   leicbtlich  denken 
foUen,  daß  die  alten  Fürfien   endlich   den  neuen  würden  Platz 
machen  müßen. 

Herzog  Friedrich  Ulrich  zu  Braunfchweig 
De  quo  gaudeam  non  habeo. 

Herzog   Chriftian  zu  Lüneburg 
Wenn  wir  Alles  gethan  haben,  fo   müften  wir  dennoch  Tagen: 
wir  find  unnütze  Knechte. 

Herzog  zu   Pommern 
De  profundis  clamavi  ad  te,  Ted  occultafti  te  a  meis  clamoribus. 

Herzog  zu  Würtemberg 
Vereor  mihi  eft. 

Spinola 
Mein  Glück  und  Reputation 
Laufen  beid  mit  einander  davon. 

Peter   Heinz 
Pefiis  eram  vivus,  moriens  ero  mors  tua,  Hifpane! 

Gräfenhagen 
Der  Palaft  vor  den  König  in  Denemark  ift  nunmehr  vergeblich 
zugerichtet. 

Ungarn 
Gaudeamus  libertatel 

Böheimb 
Fuimus  in  multis  tribulationibus. 

Schlefien 
Eandem  jacturam  fecimus. 

Mehren 
O  uiifera  provinciarum! 

Lausnitz 
Inter  fpem  et  metum. 


69 


Boheimirche  Stand 
Spe  fallimur. 

Malae  Contenten 
Monßrum  borrendum  ingens  cui  lumen  ademtum. 

Calviniften  im   Reich 
Ach  Gott,  fei  uns  armen  Calvinißen  genädig! 

Confifcationis   Commiffarii 
Terrori  fumus  multis. 

Deren   Güter  confifciert  werden  follen 
Maximo  periculo  lucrum  fecimus,  fed  nefcimus  cui. 

Edictmacher 
Nimis  prtepoßere! 

Evangelifche  Gemein 
Media  vita  in  morte  fumus  :  quem  quaeremus  adjutorem? 

öfterreich 
Es  iß  mit  unferm  Thun  verloren, 
Verdienen  doch  nur  eitel  Zoren. 

Teutfcher  Krieg 
Dum  finguU  pugnant,  univerfi  vincuntur. 

Union. 
O  pater  omnipotens,  vituli  miferere  unionis, 
quem  Mors  praeveniens  non  finit  effe  bovem! 

Reformierte  ünterpfalz 
Was  Thorbeit  in  der  Welt!  Meinß  du,  catholifche  Obrigkeit, 
daß  du  mir  meinen  alten  Gott  und  vorigen  lieben  Herrn  aus 
dem  Herzen  gerißen  ?  Nein  traun !  Du  haß  mich  gequelet, 
wirft  wieder  von  den  Holländern  gequelet  werden.  Wie  du 
mich  mit  Lift  und  Sinceration  Schreiben  gefangen,  alfo  wil  ich 
dich  auch  in  Feßel  und  Bande  legen  helfen,  dadurch  mir  und 
allen  redlichen  Teutfchen  die  edle  Freiheit  wiederumb  erwerben. 

Anspacher  ex  inferno 
Hifpanicum  rapidis  jam  nunc  liquet  ignibus  aurum. 

Anspacher  Seel 
O   pater  Abraham!    crucior  in  hac  flamma«  quia  multos  habeo 
firatres,   ne  veniant  in  locum,  mitte  ad  illos  Fridricum,   ut  di-, 
cat  illis,  longe  lateque  fugiant  munera  Hifpanica. 

Alter  Graf  von   Turn 
O  focii,  neque  enim  ig^ari  fumus  ante  malorum, 
O  paili  graviora,  dabit  deus  bis  quoque  finem. 


70 


Graf  Ernß  Mansfelt 
Per  varios  cafus,  per  tot  discrimina  rerum 
Tendimus  in  requiem  fedes  ubi  fata  quietas 
Oßendant. 

Graf  Tilli 
Hos  ego  verficulos  feci,  tulit  alter  honores. 
Sic  vos  non  vobis  vertitis  affa  canes. 

Graf  Collaldo 
Ach  Gott,  wie  find  der  Feind  fo  viel! 

Bethlehem  Gaboi 
Verziehet    ein    wenig!     Ich   wil   bald    kommen    und    auch   mit 
fpielen. 

Türkifcher  Keifer 
Signori,    haltet   ein  wenig  inn!     Ich    kan   des  heiligen    Grab« 
nicht  umbfonft  hüten. 

Mofcowiter 
Neutralitas  periculofa. 

Türke 
Wir  trauen  keinen  Sincerationibus. 

Soldaten    im   Reich 
Ach  Gott,  wie  fitzen  wir  uns  fo  krumb  und  lahm  an  der  Con- 
tribution    Tafel!    Wenn    doch    nur   das    churfachfifche    Confect 
möchte  bald  aufgetragen  werden ! 

Catholifche   Liga 
Manus  noßrae  oculatae  funt  :  credunt  quod  vident. 

Churfürftl.    Collegium 
Fürwar    wir   werden    des    Ruhms   mangeln,    den   wir    bei    der 
Pofteritet  haben  foUen. 

Teutfche  Freiheit 
Video  extremam  unctionem. 

Pra?textu8    Juris 
Vis  mihi ,  cara  mater  :  nam  ferreis  gaudeo  fceptris. 

Juftitia 
Sub  terris  lateo  donec  fuperfluat  ira. 

Jus   novum 
Sic  Tolo,  fic  jubeo. 

Religionsfried 
Extrema  cano. 

Reichs   Conftitutiones 
Aurum  cedit  ferro. 


71 


Augspurgifohe   Confeffion 
Non  fum  qaae  eram. 

Deutfchland 
O  weh,  o  weh  der  großen  Not! 
Der  Religionsfried  ift  tot. 

Zukünftiger  Reichstag 
Wilt  du  nicht,  fo  muß  du. 

Niederfächs.  Kraiß 
Spemque  metumque  inter  dubia  feu  vivere  credunt, 
Sive  extrema  pati,  ne  jam  exaudirc  vocatos. 

Hanfe  Städte 
Sinceri  fumus  finceris,  perfidi  perfidis:  fic  ars  delutitur  arte. 

Dänemärkifche  Reichsftände 
Unfer  König  überantwortet  fich  deiTt^einigern. 

Niederfächs.  Krieg  auf  den  Frieden 
Fürwar  wir  werden  nun  nicht  ehe  heraus  hommen,  biß  wir  den 
letzten  Heller  bezahlen. 

Dänemärkifcher  Fried 
Peota  tarn  fuspecta  quam  ignominiofa. 

Jus  rationis 
Wie  man  mir  unter  Augen  gegangen,   alfo  wil  ich  mich  wie- 
derpimb  verhalten. 

Stralfund 
Der  Schiffer  hat  uns  bald  unfern  Sincerationszeug  über  einen 
Haufen  geworfen,  und  wenn  unfer  Stadt  nicht  mit  Ketten  were 
an  den  Himmel  gebunden  gewefen,  hette  er  fie  nieder  gerißen. 

Magdeburg 
Ich  habs  wol  gedacht,  die  Reihe  werde  auch  einmal  an  uns  kommen. 

Erzftift. Magdeburg 
H.  Churfürft  zu   Sachfen,  man  fagt  meine  Thumbkirche  hette 
jetzo,  zween  Erzbifchove  drinnen,   und  des  Keifers  Sohn  bitte 
ich  gar  von  Herzen  fchon,  fag  mir,  welchen  unter  diefen  beiden 
fol  ich  für  meinen  Erzbifchof  halten? 

Neuer  Mechelburgifcher  Herzog 
Meliora  fpero. 
Fleciere  &  nequeo  fuperos,  Acheronta  movebo. 

Fürft  von  Eggenberg 
Mein  Verdienß  beim  Keifer  erfordert   auch  ein  Reichsfürften- 
thumb  ztcr  recompens:  wil  Würtemberg  nicht  pfeifen,  fo  hab 
ich  fchon  das  Maul  gefpitzt 


72 


Evangelifche  Reichsftände 
Si  bona  fuscepimus,  cur  bona   non  fustineamus?     Ecclefia  de- 
dit,  ecclefia  abstulit. 

Chorus  Evangelicorum  ad  Electorem  Sazonisd 
Sancte  Johannes,  o  fancte  Georgi,  ora  pro  nobisl 

Straßburg 
Ich  bleibe  daheim  und  verware  meine  Mauern. 

Nürnberg 
Auch  unfer  Witz  wil  nicht  fein  nütz. 

Ulm 
Und  unfer  Geld  geht  in  die  Welt. 

Reichsfürilen 
Wo  nun  hinaus? 

Reichsßädte 
Difficile  eß,  ex  caroere  et  contributionibus  refpqndere. 

Heilige  drei  Könige 
Der  Stern  wil  nicht  mehr  leuchten. 

Jofeph 
Wo  wil  ich   doch   aus  Egypten  kommen?     Arge  Maufer!    ich 
fürchte  mich  dahin  zu  kommen. 

Prießer  Johannes  in  China 
Venite  ad  me  omnes  qui  laboratis  et  onerati  eftis:  ego  vos  re- 
ficiam. 

In  Germanland 
Es  ift  noch  Raumb  in  der  Herberge. 

Accommodierte 
Ihre  Intention,  veränderte  ungefpeiRe  catholifche  Chriflen.   Wir 
haben   die  alamodifche  Religion  annehmen  müßen  wie  fie  geng 
und  gebe  ift:  verhoffen,  ob  Gott  wil,  lie  fol  bald  abfchlagen. 

Jefuwüten  .  Ja  fie  wüten. 
Es  ift  Zeit  daß  wir  uns  mit  einem  guten  Viatico  verfehen,  denn 
wir  werden  doch  mit  unferm  Sincerieren  und  heilfamcn  Betrieg- 
ligkeit  nicht  mehr  fortkommen  können. 

Cardinal  Clefel. 
Ich  hab   es  alles  zuvor  gefagt  daß  es  fo  hergehen  werde:   wa- 
rumb  folget  man  nicht. 

Landgraf  Moritz  in  Heffen 
Ich  bin  fchwarz  gewefen:  es  finden  fich  aber  Leute  die  wollen 
mich  wieder  weiß  machen. 


73 


Landgraf  Görg  in  Helfen  klagt 
In  unfern  Landen  gehet  es  übel  zu. 

Landgraf  Wilhelm  zu  Hessen  Antwort 
Du  haß  weidlich  darzu  geholfen. 

Fürft  Chrißian  von  Anhalt  der  Eitere 
Veni,  vidi,  fugi,  et  nunc  folitudinem  amo. 

Herzog  von  Savoi 
Wer  da  wil  ein   SchifPman   werden,    der  muß   fich   naqh  dem 
Winter  richten. 

Herzog  zu  Lothringen 
Dura  et  afpera  virtutis  via. 

Herzog  von  Nivers 
In  Deo  et  Gallo  eß  mea  folatio. 

Pfalzgraf  Friedrich 
Alles  zu  feiner  Zeit,  wer  es  nur  mit  Gedult  erwart. 

Alter  Markgraf  von  Durlach 
Omnia  fi  perda^,  famam  fervare  memento. 

Venediger 
Wir  danken  Gott,  daß  S.  Marx  noch  nicht  krank  liegt. 

Cardinal  zu  Rom 
Was  wir  lange  erfchunden   und  erfchabt  haben,    das    wil  der 
Teufel  jetzund  Auf  einmal  wegführen. 

Graubünder 
Nimis  fecurel 

Schweizer 
Felix  quem  faciunt  aliena  pericula  cautum. 

Gubernator   von  Meiland 
Nos  gaudeamus  aliena  ope  fed  non  indifciplinata  foldatescal 

Soldaten  in  Graubünden 
Extra  contributiones  imperii  non  est  falus. 

Ibi  enim 
Vivitur  ex  rapto,  non  hofpes  ab  hofpite  tutus. 
Sive  raptum  live  captum,  mihi  id  omne  eß  aptum. 

Holländer 
Ei  wie  thun  uns  die  Spanifchen  Flotten  fo  wol! 

Prinz  Heinrich  von  Uranien 
Frifch  gewagt  iß  halb  gewonnen. 
Den  Verzagten  iß  viel  Glück  entronnen. 


74 


Generalßaden. 
Der  SpaniTcben  Flotta  Geld 
Bringt  uns  Staden  auch  ins  Feld. 

Infantin  zu  Brülfel 
Die  Staden  hab  ich  zwar  zu  Nachbarn,  aber  ^^^*  ^  Freunden, 

Herzog  Bufch 
Mein  Gott,  mein  Gott!  warumb  haß  du  mich  verlaßen! 

Wefel 
Strick  iß  entzwei  und  wir  find  ifrei. 

Graf  Heinrich  von  Berg 
Satius  eß  recurrere  quam  male  pati. 

Monfier  Pickelhering 
Meine  Herren!  verzeihet  mir  daß  ich  fo  lang  außen  blieben  bin. 
Ich  were  lengß  widerkommen,  wenn  mich  die  Sincerationes  nicht 
geßolen  hetten. 

Pluto  infernalis 
Hört  auf,  ir  Purfch,  cathoHfch  und  beierfch  zu  werden:  ich 
kan  fonß  mit  den  Logiamenten  in  der  Hell  nicht  auskonunen.' 

Jus  Jußinianeum 
Conßitit  et  lacrimans,  quis  locus  (inquit)  lußi? 
Perge  modo  et  qua  te  ducit  via,  dirige  greflum! 

Bauren  Practica 
Der  Wind  geht  ßark:  es  kommen  gewis  Soldaten. 


V. 


K    L    O    P    F    A    N. 


EIN  BEITRAG 


ZUB 


GESCHICHTE  DER  NEUJAHRSFEIER 


VOH 


OSKAR  SCHADE. 


Wir  wollen  hier  die  Aufmerksamkeit  auf  eine  bis  jetzt  noch 
fast  ganz  unbeachtete,  ihrem  Entstehen  und  Wesen  nach  nicht 
gewürdigte  Gattung  unserer  Poesie  lenken,  die  uns  um  so  in- 
teressanter erscheinen  muß,  als  wir  sie  mit  noch  immer  unver- 
siegten,  heidnischem  Kultus  entspringenden  Bräuchen  im  Zu- 
sammenhange finden  werden.  Wir  meinen  eine  eigentümliche 
Art  von  Neujahrswünschen,  die  man  mit  dem  Namen 
Klopf  an  bezeichnet  hat.  Nur  Gervinus  hat  auf  sie  hingewie- 
sen, ohne  jedoch  jenen  Zusammenhang  mit  dem  Leben  und 
den  Sitten  des  Volkes  zu  erkennen.  Er  sagt  (Geschichte  der 
deutschen  Dichtung  4.  Aufl.  2.  Bd.  S.  342):  „Eigentümlich  wie 
dem  Rosenblut  die  Priamel  scheint  dem  Hans  Folz  allenfalls 
in  seinen  Sprüchen  und  Schwänken  die  Neigung,  verschiede- 
ner Menschen  Art  und  Weise  in  dem  plumpen  Stile  der  Zeit 
zu  charakterisieren,  bald  verschiedene  Stände  (in  Form  einer 
Predigt),  bald  einen  Liebesüchtigen,  bald  einen  Spieler,  einen 
Trunkenbold,  Charlatan,  bald  die  schämigen  und  frechen  Frauen. 
Eine  ihm  eigene  Gattung  von  Sprüchen,  die  er  Klopf  an 
nennt,  dient  dieser  Neigung  ausschließlich.  Der  Dichter  for- 
dert darin  Leute  verschiedenen  Charakters  auf  anzuklopfen  und 


76 


gibt  ihnen  dann  Bescheid  nach  Verdienst:  der  Allerliebsten  ei- 
nen frommen  Neujahrwunsch,  dem  Schweinsohr  und  andern 
seiner  Antipathien  einen  greulichen  Empfang  von  Schmähungen. 
Solche  Charakterzeichnungen  leiteii  dann  zum  Fastnachtspiele 
ganz  unmittelbar  über." 

Nicht  alle  aus  älterer  Zeit  uns  überlieferte  Neujahrs  wünsche 
fallen  in  die  Kategorie,  der  wir  hier  eingehende  Besprechung 
widmen  wollen.  Im  sogenannten  Liederbuche  der  Clara  Hätzle- 
rin,  einer  Sammlung  von  Spruchgedichten  und  Liedern,  die 
die  Augsburgerin,  nach  der  sie  genannt  ist,  im  Jahre  1471  zu- 
sammen geschrieben  hat,  finden  sich  welche,  die,  ausgenommen 
die  Zartheit  der  Empfindung  die  aus  ihnen  spricht,  sonst  wei- 
ter keine  bemerkenswerte  Eigentümlichkeit  an  sich  tragen: 
sie  sind  in  Spruchform  abgefaßt  und  an  die  Geliebte  gerichtet. 
Wir  scheiden  sie  von  unserer  näheren  Betrachtung  aus,  wol- 
len sie  jedoch  eben  um  ihrer  Zartheit  willen  hier  mitteilen,  die 
sie  im  scharfen  Gegensatze  zu  der  Roheit  so  vieler  anderer 
poetischer  Erzeugnisse  jener  Zeit  auszeichnet.  Es  sind  ihrer 
acht;  sie  lauten*): 


1. 

Heins  herzen  troß,  nun  wiß  furwar: 
Als  ich  erwacht  im  neuen  jar 
Wol  umb  die  mitternacht. 
Da  lag  ich  und  bedacht. 
Daß  niemant  lebt  uf  erd 
Der  dein  weis  oder  berd 


*)  Die  Schreibung,  in  der  diese  and  die  folgenden  Stacke  mi^^eteüt  sind, 
ist  fall  ganz  dieselbe  welche  U  h  I  a  n  d  in  seiner  kritischen  Ausgabe  der  Volks- 
lieder angewendet  hat.  Ich  habe  mich  für  sie  nach  reiflicher  Erwägung  al- 
les dabei  in  Frage  kommenden  entschieden.  Sie  ist  die  einzig  haltbare  fürs 
15.  and  (wol  kaum  mit  geringer  Abweichung)  fürs  16.  Jahrhundert,  wenn 
man  beiden  Rechnung  trägt,  dem  Schreib-  uns  Sprachgebrauche  der  damali- 
gen Zeit  und  den  Anforderungen,  die  die  historische  Grammatik  stellt.  Der 
Vorwurf  einer  neugemachten  kann  sie  nicht  treffen:  man  lernt  sie  aus  den 
sorgfältigeren  Handschriften  und  alten  Drucken:  durch  die  arge  Verwilderung 
der  schlechteren  selbst  scheint  sie  hindurch.  Es  ist  unverantwortliche  Lüder- 
lichkeit  oder  Bechränktheit ,     wenn    ein    kritischer    Herausgeber    solcher 


77 


Verkeren  müg  mit  ^elimpf. 

Du  biß  in  ernß  unde  fchimpf 

Mit  finnen  wol  behät. 
10    Icli  hab  ganz  freud  und  mut 

Von  dir .  alein  on  reuen 

Und  hoff  zu  deinen  treuen, 

Du  wölleft  mich  nit  verkeren. 

Mein  dienft  wil  ich  dir  meren 
15     Unde  wünfch  mit  ganzer  gir, 

Mein  ußerweltes  freulin,  dir 

Zu  difem  neu  gelückes  vil 

Und  mich  biß  an  meins  endes  zil 

In  dein  herz  verfchloßen. 
20    Ich  lag  gar  unverdroßen 

Wol  in  die  dritten  (lund 

Daß  ich  dein  nie  vergeßen  kund 

Mit  lieblichen  gedenken. 

Dein  roter  munt  tet  fchenken 
25     Mir  manig  freud  unde  luft. 

Ich  truckt  gar  früntlich  an  die  brufl; 

Mein  arm,  als  ob  ich  dich  het 

Lieplich  bi  mir  an  dem  bet. 

Nach  liebem  wan  gefchach  mir  ant, 
30    Wann  du  wärt  in  aim  andern  lant 

Und  mocht  dich  nit  erraichen. 

Dein  lieb  mein  herz  tet  waichen, 


Denkmäler,  allen  gerechton  Anforderungen  zum  Hohne,  verfahrt  wie  der  letzte 
Herausgeber  des  IjajJJRIWcbiffiit  Herr  Friedrich JSlUllcke,  mit  seinem  Texte,  d.  h. 
ihn  mit  Haut  und  Haar  gibt  in  der  ganzen  wüsten  Schreibung,  wie  sie  Ton 
den  schlechtesten  Setzern  herrührt,  er,  der  doch  keinen  Grnmd  hatte  einen 
einzigen  Druck  diplomatisch  genau  wiederzugeben  zum  Behuf  fernerer  Unter- 
suchung und  zur  YerYoUständigung  des  kritischen  Apparates.  Und  das  bei 
Sebastian  Brant,  hinter  dessen  Sprachgebrauch  und  Versbau  doch  so  leicht 
zu  kommen  ist!  So  geht  es  aber,  wenn  man  nichts  lernen  will,  wenn  man 
gewohnt  auf  dem  abgetriebenen  Rezensentenklepper  zu  traben,  in  der  Be- 
thorung  des  Sinnes  sich  selber  vorflunkert  auf  stolzem  Bosse  zu  sitzen  als 
ein  Ritter  ohne  Furcht  und  TadeL  Wie  edell  Was  man  selber  thut,  dar- 
um schilt  man  andere,  die  sich  ihr  Verfahren  doch  erst  reiflich  überlegt  hat- 
ten I  Durch  solches  Treiben  hat  Herr  Friedrich  Zamcke  sein  Schiff  um  ei- 
nen recht  tüchtigen  Narren  schwerer  gemacht. 


78 


Daß  ich  dir  wünichet  alles  gfit. 

Gelück  falde  fireud  und  m&t, 
35     Auch  alles  das  dein  herz  begert 

Und  was  dir  wunn  und  lull  mert: 

Des  günn  dir  als  der  neugebom. 

Ich  hoff,  mein  trü  fei  unverlom: 

Wann  was  mit  eren  künt  gefein, 
40    Des  gnad  mir  als  das  herze  dein. 

Damit  gib  ich  zum  neuen  jar 

Dir,  zart  liebftes  freulin  dar. 

Mich  selbs  mit  herz  unde  mfit. 

Laß  dich  ben&gen,  freulin  g&t! 

Liederb.  der  Clara  Hätzlerin  Bl.  io5.  Haltaus  Ausg.  2,  34  S.  196  fg.  Über, 
fchrift  Ain  newes  Jar  ym  ains  vnd  vierzigillen.  8  Tnd.  10  Ich 
gab  gantz.  15  Vnd.  25  vnd.  26  friantlich.  29  Auf  fo  frohe 
Hoffnung  ward  mir  wehe.  30  war  dt  UnorganlTch  für  du  wfer'e,  du 
warft.  37    alles    d.       New    geporen.         38    trin    f.     vnuerloren 

43    vnd. 

2. 

Meins  herzen  troß,  du  liebßes  ain, 

Zu  difem  neu  ich  dich  vermain 

Geliick  räld  er  und  wunne 

Und  daß  der  freuden  funne 
5     Dich  tägelich  überfchein. 

Ich  wil  auch  genzlich  aigen  fein 

Dein  alain  vor  aller  weit: 

Darnach  hab  ich  lang  zeit  geßelt, 

Und  wünfch  dir,  minneclicher  hört, 
10    Daß  dich  kain  valfche  zung  nit  mord, 

Auch  daß  dir  nichts  gefchaden  müg. 

Und  alles  das  ze  freuden  tüg, 

Des  günn  dir  got  iez  neugeporen. 

Dein  früntlich  triw  hab  ich  erkoren 
15    Für  alles  das  uf  erden  iß, 

Wann  du  alain  mein  mächtig  biß 

Zu  allem  das  du  darß  begeren. 

Befunder  wil  ich  deiner  eren 

Ain  ßatig  diener  bleiben, 
20    O  cron  ob  allen  weihen. 


79 


Mein  troß,  mein  Ichaz,  mein  ußerwelt, 

Sich  hat  mein  herz  zu  dir  gefeit 

Und  ift  in  triwen  dir  begeben. 

Ich  wil  ie  dir  ze  willen  leben 
25    Mit  t&n  und  lan  zu  aller  ßunt. 

Des  mag  dein  rofenÜEurber  munt 

Mich  lieplich  wol  ergezen. 

Mein  trauren  t&ß  du  lezen 

Und  pringft  mir  fireuden  manigfalt. 
30    Nun  peut,  firau,  du  haß  gewalt. 

ledoch  bit  ich,  dein  g&te 

Wunfeh  mir  uß  deinem  gm&te 

Zum  neuen  jar  gunßlichen  gr&fi: 

Damit  gefchicht  mir  unm&ts  p&ß* 
35    Mein  ain,  dein  aigen  herz  dir  gan 

Was  ich  nur  g&ts  erdenken  kan. 

Ich  prinn  von  dir  in  lieber  glöt. 

Halt  veß,  mein  liebßes  freuleip  g&tl 

Liederbuch  der  CUra  Hätslerin  Blatt  106.  Ansg.  von  Haltans  2  Abthell. 
Nr.  35.  Seite  197.  Mit  der  Oberfchrift  Ain  newes  Jar  ym  zway  vnd 
▼  iertzigilleii.  Zeile  3  wann.  4  fräden  fnnn.  5  täglich.  10  chain. 
mordt.  12  fräden.  14  friuntlich  trin.  19  beleiben.  23 
trinen.  begeben  hingeben.  34  b&Be  BeBemng,  Vergütung,  Entfchä- 
digung.        35   ain  fehlt. 

3 

O  hochße  cron,  mßin  ufenthalt^ 
Zu  difem  neu  £o  hab  ich  gwalt 
Meins  herzen  gar,  und  mein  gen^&t 
Das  fei  ergeben  deiner  g&t^ 
5    Auch  tfin  und  lan  n^t  triwer  pflicht. 
Meins  herzen  ban  die  iß  gencht 
Zu  dir  alain  ain  tribqer  p&t. 
Dein  lieb  mich  ganz  enzündet  hat. 
Du  haß  mich  iez  gebunden 
10    Daß  idi^  au  kainen  ßunden 
Vergiß  deiner  firüntlichait. 
Mein  freud  und  hoffen  an  dir  leit 
Darumb,  mein  troß,  mein  hochße  gir, 
Zu  aigen  aigen  gib  ich  dir 


80 


15     Mein  herz,  auch  fin  unde  mfit. 

Ich  wil  mit  ftäter  hut 

Deiner  eren  fein  gerecht. 

Was  du  gepeutß,  das  fei  als  fchlecht. 

Ich  f&re  trü  in  rotem  feit 
20    In  meinem  fchUt:  damit  ich  meld 

Daß  ich  mit  inprunftiger  ger 

Bewaren  wil  dein  zucht  und  er. 

In  meiner  hant  ein  paner  blau, 

Darin  ich  ftät  taglichen  fchau: 
25     Wann  ich  dein  bin  on  als  verkeren, 

Zu  dienft  bereit  den  deinen  eren. 

Mein  hündlin  Harr  das  iß  ganz  weiß: 

Dabi  erkenn  daß  ich  mit  fleiß 

Biß  an  mein  end  dir  wil  beftan 
30    In  rechter  trü  on  argen  wan: 

Wann  als  der  vifch  on  waßer  ftirbt, 

Alfo  mein  hetz  on  dich  verdirbt. 

Darumb,  mein  fchaz,  meins  herzen  bild, 

Bis  rechter  trü  herwider  milt! 
35     Laß  mich  in  deines  herzen  claufen 

Hinfur  als  her  lieplich  häufen! 

So  mag  ich  wol  furwar  fagen 

Daß  ich  mit  re6ht  fol  tragen 

Von  wolgemfit  ain  krenzelein. 
40     Nun  gepeut,  ifrau,  wann  ich  bin  dein, 

Und  fchick  mir  zu  dem  neuen  jar 

Früntlich  dein  gr&ß!  das  freuet  zwar 

Mich  baß  dann  was  uf  erden  ift: 

Wann  du  meins  herzen  &au  biß. 
45    Damit  dem  neugepom  got 

Bevilch  ich  dich,  daß  er  vor  not 

Dich  alzoit  tS  behalten 

Und  laß  dich  frolich  alten 

Ze  luß  und  freud  mir  deinem  knecht 
50    Halt  yeß,  als  du  mir  ie  rerfprächtl 

Liederbuch  der  Clara  HiUlerin  Bl.  106.    Ausg.  von  Haltaus  S.  197  fg.  2  Ab- 
thlg.    Nr.    36.  überfchrift   Ain    newes   Jar   ym    drey   vnd  viertzi- 

giften.         Z.  5  triner.         6  pan.         7  tribner  pfat,  worauf  immer  ge- 
trieben wird,   der  alfo  nicht   öde  ift;  auf  der  Bahn   die  von   feinem  Hersen 


81 


zur  Geliebten  fährt,  gehen  unabl&ßig  feine  Gedanken,  fo  daß  der  Weg  gar 
nicht  leer  wird.  11  frinntlichait.  15  Tnd.  18  als  d.  i.  alles. 
19  trin.  27  Harr  Harren,  perfonificiert  aU  Hund,  alTo  fUter  treuer  Be- 
gleiter.       30    trin.        won.        34   triu.        42   friuntlich    den  g. 

Frau,  meines  wefens  ufenthalt, 

Hab  ,hin  als  her  mein  ganz  gewaltl 

Gepeut,  fchaff,  haiß!  was  du  wilt  han, 

Das  Fol  von  mir  als  fein  getan 
5     Genzlicb  nach  deinem  willen. 

Künt  ich  dir  unmät  ßillen, 

Das  war  meins  herzen  große  freud. 

Wiß  daß  ich  in  gedenken  geud, 

So  ich  in  lieb  bin  dir  gefeit 
10    Und  fich  dein  tru  fo  früntlich  helt 

Nach  allem  mein  begeren. 

Was  du  vermacht  mit  eren, 

Des  bin  ich  ie  von  dir  gewert. 

Mein  trü  fich  auch  von  dir  nie  kert 
15    Als  umb  ain  bar  von  anbegin: 

Du  woneft  ßats  in  meinem  fin 

Nit  anders  dann  in  gät. 

Von  dir  hab  ich  g&ten  mfit. 

Nach  allem  wunfch  biA  du  ain  bild 
20    Mit  ganzer  tugent  gen  mir  milt. 

Dein  fchön  geßalt  iß  lobes  wert, 

Dich  krönet  auch  dein  ßat  geberd, 

Dich  zieren  wol  dein  wort  und  weis, 

Dein  leib  gefchickt  nach  allem  preis, 
25     Den  ich  iez  nit  volloben  kan. 

Wes  ich  dir  aber  g&tes  gan. 

Des  iß  kain  end  ze  fagen. 

Ich  wunfch  von  tag  zu  tagen 

Dir  glückes  vil  und  alles  hail. 
30    Auch  gib  ich  dir  zu  deinem  tail 

Mein  herz  zu  difem  neuen  jar. 

Dein  aigen  bin  ich  ganz  und  gar* 

Leib  fin  und  möt  fei  dir  begeben: 

Dir  ain  wil  ich  ze  willen  leben. 

WHwtmr.  Jh,  IL  ß 


82 


35    In  deinem  dienft  mich  freude  ibt: 

Und  ob  mich  fünft  ichts  betr&bt, 

Das  machft  du  mir  geringer. 

Darumb  in  herzen  ich  beger, 

Daß  dich  der  neugeboren  got 
40    Bewaren  wöll  vor  aller  not. 

Ach  künd  ich  das  erwünfchen  dir, 

Zwar  fo  war  wol  geholfen  mir. 

Darumb,  mein  aller  fchonftes  weib, 

Mein  ftäten  dienft  alfo  befchreib 
45     In  deines  herzen  marmelftaini 

Mit  rechter  lieb  mich  wider  maini 

ledoch  bin  ich  der  forgen  on: 

Mir  Wirt  meiner  trü  widerlon. 

Darauf  ich  ftäticlichen  bau. 
50    Halt  veft,  mein  allerliebfte  fraul 

Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin  Bl.  107,  in  Haltaas  Ausg.  2,  37  S.  198  fgg. 
Überfchrift  Ain  newes  Jar  ym  vier  vnd   viertz  igiften.         10  triu  fo 
friuntlich.         11  meinen.         14  triu.        29  geluckes.        48  triu. 

Zeile   8  ich  gen  de   prale.  33  begeben  hingegeben.  42  zwar 

wahrlich.        46  mainen  lieben. 


5. 

Troftlicher  hört,  mein  hochfte  freud, 
In  herzen  ich  gar  billich  geud, 
So  ich  dein  früntlich  lieb  betracht, 
Ze  haut  mir  alles  trauren  fchwaoht. 
5     Was  ich  mit  eren  tar  begeren, 
Des  t&ft  du  mich  lieplich  geweren. 
Nun  ift  dein  lob  fo  übergroß, 
Und  war  ich  eines  küngs  genoß, 
Noch  wäreft  du  mir  ze  gfit. 

10    Du  tregft  ganz  ftäten  m&L 

Dein  fchön  geftalt  ich  billich  preis: 
Dich  zieren  wol  dein  berd  und  weis. 
Dein  tun  und  lan  ift  rämes  wert 
Darumb  mein  herz  recht  als  ain  fwert 

15     Dein  lieb  tief  hat  verwunt. 
Ich  t&n  dir  wider  kunt, 


83 


Meins  herzen  irau,  zu  difem  neu, 

Daß  ich  bin  dein  mit  ganzer  treu 

Und  wil  dein  ßäts  beleiben. 
20    O  cron  ob  allen  weihen, 

Peut  fchaff  und  haiß  hinfür  als  el 

Ich  bin  gehorfam  immermer 

Und  wil  beßan  in  deinem  gpot. 

Doch  bit  ich  ains  (des  iß  mir  not), 
25     Mein  aller  liebßes  freuelein. 

Laß  mich  deins  herzen  hüslein 

Befetzen  heuer  als  fert 

Umb  den  zins  als  ich  des  gert! 

Herz  mfit  und  fin  ift  darumb  dein. 
30    Ich  wil  dein  ßater  diener  fein 

Und  wünfch  auch  deiner  firüntlichkait 

Daß  dich  vor  allem  herzen  lait 

Das  neugeporen  kint  bewar 

Und  fög  dir  ain  g&t  fälig  jar: 
35     Das  war  mein  luß  und  gröfte  gir. 

Ach,  minneclichs,  nun  halts  auch  mir. 

Als  mir  yerfprach  dein  roter  muntl 

Bedenk,  wie  zu  der  felben  Hund 

Geknüpfet  wart  der  liebe  lazl 
40    Halt  veft,  mein  aller  höchßer  schazi 

Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin  Bl.  108.  Überfchrift  :  Ain  newes  Jar  ym 
fünff  vnd  viertz  igiften.  Ausg.  von  HaltauB  2  Abth.  Nr.  38  Seite  199. 
Zeile  2  geuden  pralen.  3  friuntlich.  4  fchwachen  hier  intranfitlT 
fchwach  fein  oder  dünken.  5  darr  Hs.  ich  tar,  inf.  geturren  lieh  ge- 
trauen, wagen,  dann  auch  (durch  Yermifchung  mit  dürfen)  Erlaubnis  haben. 
10  rtäten  mut  treuen  Sinn.  12  berd  geberden.  17  new.  18  triu. 
21  £e.  e  zuTor,  früher.  23gepott.  27fertim  vorigen  Jahre.  39 
die  laz,  lez,  lezen  Schlinge  oder  Schleife  zum  Fefthalten. 


6. 

Meins  herzen  cron,  meinr  ireuden  zier, 
Zum  neuen  jar  fo  wünfch  ich  dir 
Des  gerumpeis  in  der  mül  ain  tau, 
Frolichen  mfit  gelück  und  hau, 
Auch  mich  felbs  ganz  unde  g^r. 
Mein  aller  Uebfis,  mm  eben  war 


84 


Wie  die  mül  fei  berichtet 
Und  ir  ingebäu  beticbtet. 
Mein  herz  iil  der  mülßain, 

10     Das  rad  iil  die  ere  dein, 

Und  treibet  das  ain  fcbneller  baeh, 
Treu  genant,  on  alle  vacb. 
Der  mülen  knecht  bin  ich  bekant: 
Blau  in  blau  iil  mein  gewant. 

15     Tag  noch  nacht  hab  ich  kain  ru: 
Merk,  zart  weib,  was  ich  da  tu. 
Ain  wannen  nim  ich  in  mein  hant, 
Ift  früntlich  angedank  genant, 
Darein  vaß  ich  die  liebe  dein 

20    Und  fchütt  die  uf  den  mülAain, 
Der  lauft  und  melt  on  underbint: 
Dein  ere  ftbt  mein  herz  gefchwint. 
Das  zuckermel  mir  dann  beleibt: 
Die  fpreiur  es  dannen  treibt, 

25    Die  fint  genant  laide. 

ledoch  gefchicht,  daß  baide 
Mel  und  fpreur  gemifchet  wirt: 
So  bin  ich  armer  dann  verirrt, 
Biß  mir  das  gelück  befchicht 

30    Daß  ich  ains  von  dem  andern  rieht 
Mit  not  und  fwärer  arbait. 
Darzu  mein  gfellen  fint  berait 
State  Harr  unde  Fleiß. 
Uf  der  mül  ain  paner  weiß 

35     m  fchon  gemacht  von  tuch. 
Darein  geflickt  ift  ain  fpruch 
'H&te  wol  und  halt  veß.' 
Dabi  verftanden  fremde  geß 
Daß  die  mül  verbannen  ift. 

40    Ich  wart  dem  zu  aller  frift 

Alain,  mein  bort,  on  als  verdrießen 
Und  bit  dich,  laß  mich  des  genießen, 
S&ch  nit  durch  furwiz  anders  wa 
Dein  malen,  aUer  liebfte  fraw, 

45    Wann  ich  dir  dien  mit  trüem  mfit 
Und  fol  nit  als  mein  hantwerk  t&t. 


85 


Valfcher  tück  ich  dich  vertrag. 
Das  gerumpel  zwingt  mich  nacht  und  tag, 
Des  gleich  ich  dir  erwünfcht  wolt  han. 
50    Ich  waiß,  dein  herz  mir  gätes  gan: 
Darumb  ich  ßäts  in  freuden  brinn. 
Halt  veß,  meins  herzen  kaiferin! 

Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin  Bl.  109,  bei  Haltaus  2-,  39  S.  199  4.    Über- 
fchrift:     Ain  Newes  Jar  ym  Techs  vnd  yiertzigisten.  5  ynd. 

12  das  vach  das  Wehr,  die  Waßerfchwelle.  13  Mülin.  18  friunt- 

lich.  21  on  un  derb  int  ohne  Säumnis.  24  die   fpreur  plur.  von 

das   rpreu  Spreu.       25  laid  Hs.  laide  entw. plur.  zum  fk.  n.  lait,  oder  fing, 
ft.  fem.  die  laide  die  Betrübnis.        27  baid.         29  die  glück,        32  ge- 
fellen.        33  Statt  h.  ynd.        37  Hütt.         39  yerbannen  abgesondert 
d.  i.  für  Fremde  gel^errt.        41  alles.         43  firwitz.        45  triuem 
47  vertragen  yerfchonen.        49  erwünft. 


7. 

Meins  herzen  fchloß,  meinr  freuden  fchrein, 

Ich  main  dich,  lieplichs  freuelein, 

Mit  truen  zwar  on  als  gevar. 

Des  wünfch  ich  dir  ain  feligs  jar, 
5    Zu  difem  neu  gelück  und  hau, 

Auch  alles  gäts  ain  michel  tail. 

Freud  luß  und  wunn  in  eren 

MAß  dir  der  obroft  meren 

Der  uns  iez  neu  geboren  iß. 
10    Meins  herzen  du  gewaltig  bift 

Alain  mit  aUem  recht. 

Ich  bin  deiner  eren  knecht 

Mit  willen  lang  beliben. 

Laß  mich  nur  unvertriben 
15    In  deinem  dienA  beftan. 

Wes  guten  ich  dir  gan. 

Des  ift  kain  end  ze  lagen: 

Sich  mert  von  tag  ze  tagen 

Mein  lieb  und  ftate  treue 
20    Gen  dir  on  afterreue. 

Nach  dir  mir  (ibt  belangen. 

Nun  bin  ich  dein  gefangen: 

Des  ich  dir  ie  yergich. 


86 


Du  baft  gefchäzet  mich 
25     Umb  herz  mfit  unde  fin, 

Darumb  ich  ganz  aigen  bin 

Dein  vor  aller  weit. 

Was  deiner  lieb  gevelt, 

Des  bis  von  mir  gewert: 
30    Ich  bleib  dein  unverkert. 

Tfi  widerumb  als  ich  dir  trau, 

Meins  herzen  fchaz,  mein  liebße  frau: 

Laß  mich  in  dein  genaden! 

So  mag  mir  nichts  gefchaden. 
35    Empfach  mich  uf  das  neu 

In  deines  herzen  treu! 

Gib  mir  dein  frünüich  wortl 

Damit  wirt  mir  erftort 

Meins  herzen  fwär  unde  pein. 
40     Schluß  mich  in  die  arme  dein 

Unde  fchmuck  mich  an  dein  bruft! 

So  hab  ich  größern  luß 

Dann  iemants  der  uf  erden  lebt. 

Mein  herz  in  hoohen  ireuden  ßrebt, 
45     Wann  es  dein  trü  bedenkt. 

Kain  unmöt  mich  bekrenkt: 

So  ich  dein  er  und  wirde  miß, 

Alles  traurens  ich  vergiß. 

Du  bilt  meins  herzen  fpiegel 
50     Und  meiner  ireuden  figel. 

Zu  dir  Hat  al  mein  hoffen. 

Du  hall  mich  ie  getroffen 

Mit  deiner  trüe  fper: 

Kains  arzats  ich  beger 
55     Dann  dein  biß  an  meins  endes  zil. 

Halt  veß,  als  ich  dir  trauen  will 

Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin  Blatt  110,  in  Haltaoa  Amgabe  2,  40  S.  200 
fg.     Überfchrift  Ain  newes   Jar   ym  rieben  vnd  Tiertzi giften.  1 

hertzens.  meiner.  3  triuen.  zwar  d.  i.  ze  wäre  in  Wahrheit 
on  als  gevar  in  Wahrheit,  Verßärkung  von  zwar.  Das  ge^ar,  gewöhn- 
lich gevfere,  gever  Betrug.  6  g{ltz.  8  der  obroft  archaifierende 
mundartliche  Form  für  obereft,  fonft  auch  oberift  und  obrift  der  Oberfte. 
13  beliben  geblieben  16  ich  gan  ich  gönne.  19  trin.  20  äff- 
te rrew;  ohne  daß  es  mich  hinterdrein  Xtthmerzt.       81  belan|;en  Verlangen 


87 


SehnXhoht;  üben  refl.  feine  Kräfte  g^braucheD,  thätig  fein.  Hier:  Sehnfacht 
ift  mir  thätig  nach  dir  hin.  23   ich  vergich  (inf.  verjehen)  aoATStgen, 

eingeftehn.  ie  immer.         24  fch ätzen   einem  das  Geld  (fchaz^  abneh- 

men; einen  fch.   nmb  jemanden  eines  Dinges  berauben.        29  bis  fei. 
30  unyerkert  ohne  Veränderung,  treu.      35  fg.  New:  triu.       37  friunt- 
lich.        38erftort  zerftort,  vemichtet.        39  fwär  mhd.  fwfere  Schmerz* 
vnd.         40  Schliufz.  41  fchmucken  hier  wie  fchmiegen   eng  an- 

fchließend  drücken.  42  luft  als  mafc.  iß  oberdeutfch)  das  femin.  iß  ipäter 
aus  dem  Niederdentfchen  eingedrungen.  43  iemants  Jemand.  45  triu. 
47  ich  miß  ich  meße.        53  triue. 


8. 

Mein  freud,  mein  wunn,  mein  höchßes  hau, 

Meins  herzen  frau,  nim  mich  ze  tail 

Zu  difem  fälgen  neuen  jar! 

So  iedes  des  fein  nimbt  war, 
5     So  ruck  mich  uß  der  gemain, 

Verfchlüß  mich  in  dein  herz  alain! 

Bedenk,  wie  ich  mit  ganzer  treu 

Dir  gedienet  hab  on  reu: 

Des  gleich  ich  auch  verharren  wil 
10    Der  dein  biß  auf  meins  endes  zil 

On  alles  arg:  des  bis  gewis. 

Deiner  lieb  ich  nit  vergiß: 

Wann  edlem  fchaz  ich  nie  gewan 

Dann,  ain,  dein  lieb:  das  wiß  on  wan. 
15    Dabi  mein  herz  in  ßat  beleibt, 

Als  uns  das  ewangeli  fchreibt 

*Wa  dein  fchaz  iß,  da  iß  dein  herz/ 

Das  felbig  halt  ich  unverkerzt: 

Den  fchaz  wil  ich  bewaren 
20    Und  darzä  nichts  erfparen. 

Leib  lin  m&t  und  g&t 

Bab  idi  gericht  zu  deiner  h&t. 

Darumb,  mein  aller  liebße  frau, 

Mit  rechter  tru  du  auf  mich  bau:  * 
21^    Der  gmnt  föl  dir  nit  weichen« 

Die  idi  dir  mCig  geleichen, 

Der  hab  ich  nie  gefehen« 
'i^'    Ich  maß  in  warhait  jehen, 


88 


Du  bift  meins  herzen  fpiegelglas 
30    Darein  ich  fchau  on  underiaß 

Und  vinde  das  mich  erfreut. 

Mein  unmöt  fich  zerßreut, 

So  ich  gedenk  deinr  lieplich  g&t. 

Per  neugeboren  dich  beh&t 
35     Vor  der  klaffer  neide, 

Auch  daß  dich  vermeide 

Ungelimpfes  gewaltl 

Mein  herz  in  freuden  fchalt, 

So  mich  dein  roter  munt  empfacht 
40    Und  dein  ftolzer  leib  umbfacht 

Mit  fruntlicher  geberd. 

Laß  mich  heuer  als  fert 

In  deinem  triien  dienft  beftan, 

So  bin  ich  aller  forgen  an, 
45     Mich  mag  kain  unmfit  letzen. 

Dein  gunft  t&t  mich  ergetzen 

Was  zu  truen  züchet  fich. 

Darumb,  mein  troft,  fo  bit  ich  dich, 

Halt  veA,  bis  frifch  unde  gail 
50    Und  hftt  wol,  aUer  höchftes  hail! 

Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin  Blatt  110,  bei  Haltans  2,  41  S.  201.  Über- 
fehrift:    Zum  Newen  Jar  ym  acht  vnd  viertzigißen.  1  Das  dritte 

mein  fehlt.  3  fäligen.  7  triu.  8  rew.  14  won.  24  trin. 
32  fich  zerßöret.  33  dein.  35  neid.  36  vermeid.  37  nn- 
g e  1  i m p f  unnachfichtiges  unfreundliches  Benehmen.  42  hewr.  43  triuen. 
44  on;  an  d.  i.  ane  mit  vorangehendem  gen  it.     los,  ledig,  beraubt.  45 

letzen  verletzen.  46  ergetzen  wofür  entfchädigen ,   es  vergüten.         47 

triuen  ziuchet  fich.  ziehen  intr.  einen  Weg  einfchlagen,  fich  begeben; 
fich  z.  zu  auf  etwas  fich  beziehen.  Der  Sinn  diefer  Stelle  ifi:  deine  Gnnft 
vergütet  mir  alles  Üble  und  entfchädigt  mich  dafür  durch  das  wodnrch  Liebe 
und  Treue  belohnt  wird.  49  gail  frölicb,  auch  nicht  mit  dem  geringften  An- 
fluge des  Sinnes  den  diefes  Wort  jetzt  hat. 

Was  die  Abfaßungszeit  diefer  fo  eben  mitgeteilten  Stucke 
anlangt,  fo  werden  fie  ins  funfeehnte  Jahrhundert  geh&ren  und 
zwar  in  die  vierziger  Jahre,  wenn  anders  die  Überfchriften  die 
fie  tragen  (fiehe  die  Anmerkungen)  auf  diefe  ihre  Abfaßung 
fich  beziehen.  Außer  dem  find  fie  für  die  Metrik  noch  fehr 
lehrreich:  doch  würde  uns  die  Erörterung  diefes  Punctes  hier 
zu  weit  abführen:  wir  fparen  ihn  für  eine  fpatere  Abhandlung 


89 


auf  'vom  deutfchen  Versbaue  im  14.  15.  und  16.  Jahrhundert*, 
die  die  Fortfetzung  der  im  1.  Bande  des  Weimarifchen  Jahr- 
buchs gegebenen  altdeutfchen  Metrik  bilden  und  in  eine  bis 
jetzt  noch  fo  wenig  erhellte  Periode  mehr  Licht  zu  bringen 
Tuchen  wird. 

Ein  Neujahrsgedicht  des  Liebenden  an  die  Oeli^te  unter 
der  Überfchrift  Das  plümlein  gertlein  findet  fich  auch  in 
einer  Münchner  Handfchrift  des  15.  Jahrhdts  in  4  Nr.  7L4, 
daf.  Bl.  1—12  (Kellers  FasnachtTpiele  S.  1374).  Der  Anfang 
lautet : 

Ich  hab  in  luftes  zier 
Nach  meines  herzen  begir 
Berait  ein  lalliges  gertlein 
Dem  allerliebften  b&ien  mein  etc. 

Schloß : 

Nun  hat  ein  end  das  plibnelgertlein 
Von  den  edelen  fchönen  TÖgelein. 
Das  thue  ich  meinem  lieb  fchenken, 
Daß  es  meiner  großen  lieb  fol  gedenken. 
Und  das  fols  ir  haben  zu  difem  neuen  jar 
Und  mein  lieb  Tor  allen  menfchen  funderbar. 
Und  wünfch:  alles  das  ir  herz  begert, 
Des  wer  fie  in  difem  neuen  jar  gewert  I 

Femer  mögen  hier  noch  zwei  Neujahrslieder  Platz  finden, 
die  auch  dem  fun&ehnten  Jahrhunderte  angehören: 

Ein  faligs  jar  zu  difem  neu 
wünfch  ich  dir,  lieb,  imd  aUes  göt. 
mät        unde  fireud  hab  ich  Ton  dir: 
mir        iß  nie  liebers  worden  kunt« 
ftunt        weil  und  zeit  beid  nacht  und  tag 
mag        ich  doch  nit  vergeßen  dein, 
mein        herze  wil  von  dir  nit  lan, 
wann        ich  dich  ie  tat  menglich  mein 
und  niemants  mer,  du  liebAes  ein. 

Mich  felber  on  als  wenken  gar 
gib  ich  für  eigen  dir,  mein  zart, 
gart,        aller  meiner  fi-euden  hört, 
wort        und  werk  geleichen  alfaie* 


90 


wie        du  das  gerft  nach  deiner  ger, 
ger        ich  nit  mer  wann  mein  lehn 
gebn        dir  zA  g&tem  hail. 
tail        nicht  von  mir!  das  t&n  auch  ich, 
wa  ich  hinker  zwar  ewiclich. 

Mein  hort,^  nim  war  der  treuen  mein 

daß  ich  dein  eigens  eigen  bin. 

in        rechter  lieb  zu  aller  zeit 

leil         all  mein  freud  an  deinem  troß. 

haft        du  dann  zweifeis  an  mir  icht, 

nicht        laß,  du  verr&chft  mich  wie  du  wilt. 

bilt,        meines  herzen  hochßer  Ilrick, 

fchick        daß  wir  ungefcheiden  fein 

durch  aU  dein  er,  wann  ich  bin  dein. 

Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin,  bei  Haltaus  S.  57,  1.  Abt.  Nr  6i.        Ha.  1, 
3  Tnd        1,  7  hertz.         1,  8   dich  nye  für.         2.  1  mich  f.  gar  on  a. 
w.        2,2  dir  mein  zeitt.         2,  5  gir.        2,  6  wann  m.  leben  dir. 
2,  7  bloß  z&  g.  h.         3,  5  trinen.         3,  7  meins. 

1  Zum  neuen  jar  bin  ich  bereit 

ze  wünfchen  dir,  liebs  iräulein  zart, 
geliick  und  alle  falikeit, 
darz&  mein  dienft  gar  unverfpart: 
des  foltu  genzlioh  glauben  mir, 
daß  ich  ganz  nach  deins  herzen  gir 
dir  wil  bellan  uf  rechter  fart. 

2  Wiewol  ich  feiten  bei  dir  bin, 
das  fol,  zart  frau,  nit  irren  mich, 
du  wonft  mir  ßäts  in  memem  fin: 
des  t&t  mein  herz  dick  freuen  lieh 
deinr  gäten  wort  fo  manigfalt, 
darzu  deinr  minnedich  geftalt, 
der  ich  zwar  alzeit  g&ts  vergich. 

3  Des  gleichen  hoff  ich  aUe  tag, 
du  halteß  mir  die  treue  dein, 

fo  wurd  ich  ganz  erloß  von  dag 
und  wil  hinför  dein  diener  fein 
in  difem  fäligen  neuen  jar. 


91 


daß  dir  gelück  nun  widerfar! 
fo  wirt  erfreut  das  herze  mein. 

Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin,  b^  Haltaas  1,  56  S.  54.       Hs.  1,  5  gelau- 
ben.        2,  1  by.        2,  6  dein.        3,  2  triue. 

Nachdem  wir  nun  diefe  Art  der  Neujahrswünfche  in  Spruch- 
und  Liedform  ausgefondert  haben,  wendet  fich  die  Betrachtung 
auf  eine  andere,  der  nur  die  Spruchform  eigen  gewefen  zu  fein 
fcheint,  eben  jene,  die  man  Klopfan  genannt  hat  und  die  Ger- 
vinus  am  oben  a.  O.  dem  Hans  Folz  eigen  nennt,  jenem  be- 
liebten nümbergifchen  Dichter  des  15.  Jahrhunderts,  der, 
Barbierer  von  ProfelBon,  als  Verfaßer  von  Fasnachtfpielen  und 
Schwänken  durch  leine  echt  komifche  Laune  und  die  fchmutzige 
Derbheit  feines  Witzes  einen  fo  interelfanten  Sittenfpiegel  feiner 
Zeit  bietet.  Wir  woUen  alle,  die  wir  aufgefunden  haben,  in 
lesbaren  Texten  und  mit  einigen  Anmerkungen,  die  das  beßere 
Verßändnis  vermitteln  follen,  hier  geben.  Einige  mußen  frei- 
lich als  zu  unflätig  ungedruckt  bleiben,  andere  aber  konnten 
wir  trotz  gewüTen  undelicaten  Anfpielungen  nicht  iibergehen, 
da  fie  gerade  in  ihrer  Stellung  neben  dem  Zartellen  einen  fo\ 
intereßanten  Blick  in  das  Gefühlsleben  und  fittliche  Bewullfeinj 
ihrer  Zeit  thun  laßen  und  (wie  wir  nachher  fehen  werden)  im 
Zufammenhange  mit  einer  uralten  Volksfitte  ßehen,  bei  der 
gerade  die  Ungebundenheit  ein  charakterißifch^s  Moment  war,; 
die  wir  weder  zu  falfchen  noch  zu  bemänteln  berufen  find. 

Die  Situation,  auf  die  diefe  Neujahrswünfche  fich  beziehen, 
iß  nun  folgende.  Zum  neuen  Jahr  (wir  laßen  dahingeßeUt,  ob 
dies  mit  unferem  heutigen  Neujahr  auf  den  erßen  Januar  fal- 
lend oder  mit  dem  Weihnachtstage  beginnend  gedacht  wird*) 
kommen  Leute  verfchiedenes  Gefchlechtes,  Alters  und  Standes 
heran,  fie  klopfen  an  die  Thüre  und  erhalten  darauf  von  innen 
heraus  ihren  Befcheid,  der  je  nach  ihrem  Werthe,  ihrem  Thun 
und  Treiben  und  ihrer  Aufführung  ein  verfchiedener  iß.    Die 


*)  Das  neue  Jahr  wurde  im  15.  Jahrh.  und  darüber  hinaus  noch  häu- 
fig mit  dem  Weihnachtstage  begonnen.  Siehe  Schmeller  2,  270  fg.  der 
dafelbft  entfcheidende  Stellen  anfuhrt.  *An  dem  heiligen  Weihnachtstag, 
als  man  anhub  zu  zelen  von  Chrifti  Geburt  acht  hundert  und  ein  Jar.'^^ 
ÄTent  Chron.  329.  Datum  München  am  St.  Johannstag  zu  Weihnachten 
anno  1431*  d.  h.  27.  Dezember  14S0.  "G^ben  am  Pftnztag  nach  dem  heil. 
Weihnachttag  1446'  d.  h.  30.  Des.  1446  m.  f.  w. 


92 


Liebfte  oder  der  Geliebte  erhält  einen  frommen  Wunfcb,  An- 
dere erhalten  gute  Lehren  mit  auf  den  Weg,  werden  zur  Treue, 
Vorficht  und  Verfchwiegenheit  ermahnt,  dem  Schreihals  und 
Verleumder  wird  alles  mögliche  Üble  und  Unfaubere  an  den 
Hals  gewünfcht,  dem  Trunkenbolde  Prügel  von  feinem  Weibe, 
dem  Siemanne,  daß  es  ihm  inmier  fchlechter  gehen  möge,  der 
lofen  Dirne  ein  ordentlicher  Denkzettel  u.  f.  w. 

Alle  diefe  Spruche  fcheinen  dem  fünfzehnten  Jahrhundert 
anzugehören,  auch  die,  welche  in  Drucken  und  Handfchriflen 
aus  dem  Anfange  des  fechszehnten  überliefert  find.  Wir  laßen 
fie  nun  einzeln  folgen: 

1. 

Klopf  an!  klopf  an! 

Der  himel  hat  fich  auf  getan, 

Darauß  ifl;  hail  und  fald  gefloßen: 

Damit  werdefiu  begoßen, 
5     Du  feifl;  frau  oder  man. 

So  wil  ich  dir  wünfchen  was  ich  kan, 

Ein  kfin  herz,  ein  frifchen  mut. 

Und  was  deinem  leib  wol  tfit. 

Und  fchön  und  fterk  und  Weisheit  vil 
10     Und  was  dein  herz  neur  wil. 

Und  gefunden  leib  und  lank  leben: 

Das  m&ß  dir  got  auf  erden  geben. 

Hab  dir  Sampfons  fterk  und  krafl 

Und  Alexanders  herfchaft, 
15     Und  hab  dir  die  fchon  Abfalons 

Und  auch  die  Weisheit  Salomons, 

Unde  hab  dir  gäten  mfit 

Und  hab  dir  prießer  Johannis  g&t 

Und  hab  dir  Sufannen  unfchult 
20    Und  aUer  fchönen  frauen  hultl 

Als  vil  ßern  am  himel  ftan. 

Als  manig  göts  jar  ge  dich  an! 

Als  vil  tropfen  im  mer  fein. 

Als  manig  engel  pflegen  dein, 
25    Die  weil  du  hie  auf  erden  bift! 

Des  helf  dir  der  heilig  Criß 


93 


Der  von  der  junkiraun  ift  gebom! 

Far  hin  dein  ftraß  von  dan!  kum  morni 

Handfchrift  der  Herzoglichen  Bibliothek  zu  Wolfenbütiel  bez.  29.  6.  Aogaat. 
Blatt  57^  Überfchrift:  Des  Snepprers  an  klopfen.  Kellers  Fasnacht- 
fpiele  3.  Bd.  S.  1433. 1439. 1 149  fg.  4  w  e  r  ft  u  10  n  e  w  r  t  Hs.  mit  angehängtem 
unorgan.  t;  neur,  früher  niur  (nur)  iAznfammen  gezogen  aus  ahd.  ni  wärt, 
mhd.  ne  wfere  es  wäre  denn,  außer.  12  muß.  20  fehonen.  24  pfle- 
gen mögen  pflegen.  27  junckfrawen.  28  von  dannen  kum  mor- 
gen.   Amen. 

Dasfelbe  aus  einer  Pap.  Hs.  des  16.  Jhdts.  mitget.  von  Mone  im  Anzeiger 
7.  Jahrg.  S.  554  fg.  3  fei.  4  werdeß  du.  6  So  wunfch  ich  dir 
daß  ich  kan.  7  gefuntheit  des  leybs  vnd  f.  m.  8  und  alles 

daz  deinem  hertzen  w.  t.  9  Die  zwei  erßen  und  fehlen.  10  und 

die  kunft  aller  feyten  gefpil.  11  fg.  fehlen.  14  Vnd  kunig  A.h. 
15  Vnd  hab  dir  fehlt  16  Vnd  auch  die  fehlt.  17  dir  frydlichen 
m.         18  hab  dir  fehlt.         Joanns.  19  dir  zw  famen  vnfch.         20 

Vnd  hab  dir  aller.         21  Als  manig  ßere  a.  h.  ßent.         22  guete. 
23  Als  manig  tr.       mere.      24  So  vil  heyliger  engel    Der  Reß  fehlt. 

Diefer  fchone  Spruch,  der  in  feiner  allgemeinen  Haltung 
auf  Frauen  und  Männer  überhaupt,  nicht  auf  eine  beftimmte 
PerConlichkeit  geht  und  acht  volksmäßige  Züge  enthält  (vgl. 
Zeile  21.  23),  iH  dem  Snepperer  zugefchrieben.  Das  iß  Hans 
Rofenblut,  der  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  dichtete. 
Er  feierte  als  Heroldsdichter  die  Siege  feiner  Vaterßadt  Nürn- 
berg, fo  den  bei  Hempach  1450,  den  die  Nürnberger  über  einige 
benachbarte  Fürßen  und  Herren  errangen,  an  dem  er  auch  als 
tapferer  Mitkämpfer  perfonlichen  Anteil,  wie  früher  fchon  an 
den  Huflitenkriegen,  genommen  haben  foll.  Er  war  ein  äußerft 
fruchtbarer  Dichter  und  verfaßte  außer  jenen  Heroldsdichtungen 
eine  große  Anzahl  von  poetifchen  Erzählungen,  Priameln,  Wein- 
fegen, auch  Lieder,  die  fich  durch  frifchen  volksmäßigen  Ton 
auszeichnen,  vorzügUch  aber  jene  von  derbßem  Humor  und  fa- 
tirifcher  Laune  ßrotzenden  Fasnachtfpiele,  die  für  die  Gefchichte 
der  Entwickelung  unferer  Komödie  fo  bedeutend  find.  Den 
Spitznamen  Snepperer  d.  i.  Schwätzer,  erhielt  er  wol  weniger 
leiner  fchriftßellerifchen  Fruchtbarkeit,  als  feiner  latirifchen  lo- 
fen  Zunge  wegen.  Er  macht  fich  am  Schluße  eines  Liedes  über 
diefen  Beinamen  felber  luftig  und  findet  ihn  ganz  in  der  Ord- 
nung: 

Der  dlTes  liedlein  hat  gedieht 
das  nni  die  warheit  geit, 


94 


der  trinkt  vil  lieber  wein  dann  waßr, 

und  hets  der  pabß  geweiht. 

Hans  Snepperer  iß  er  genant, 

ein  halber  biderman. 

der  in  ein  großen  fwätzer  heißt, 

der  tut  kein  lunde  dran. 

Der  oben  mitgeteilte  Neujahrswunfch  ift  der  einzige,  den  die 
Überlieferung  ihm  zufchreibt,  fo  viel  eben  jetzt  bekannt  ift.  Es 
fteht  jedoch  zu  erwarten,  das  noch  andere  ihm  zugehören,  viel- 
leicht von  den  folgenden  welche:  doch  können  wir  einstweilen 
beim  Mangel  der  ZeugnüTe  darübeiy  nichts  Beßimmtes  ausfpre- 
chen  und  wollen  die  Vermutungen  für  fpäter  vertagen:  in  Ro- 
fenbluts  Sinne  und  Weife  gedichtet  find  ficher  eine  Reihe  da- 
von. Wir  laßen  fie  folgen:  an  wen  fie  gerichtet  find,  fagen 
fie  felber. 

2. 

Klopf  an,  klopf  an! 
Mein  herz  hat  fich  auf  getan. 
Und  wünfch  dir  glück  und  aUes  gfit. 
Gefunden  leib  und  frifchen  mfit, 
5    Vil  gäter  jar  und  lank  leben: 

Das  muß  dir  got  auf  erden  geben  I 
Ich  wünfch  dir  ein  freulein  wolgeßalt 
Das  dir  im  herzen  wol  gefSält 
Und  dich  lieb  hat  für  ander  knaben: 
10    Die  foltu  dir  zum  neun  jar  haben. 

Pap.  Hs.  16.  Jhdt.  Mones  Anz.  7,  556.  6muß.  Twolgeft&lt.  8 
gefeit.        und  die  dich.        10  zw  dem  newen. 

3. 

Klopf  an,  klopf  an! 
Ein  faligs  neus  jar  ge  dich  an! 
Alles  das  dein  herz  begert. 
Des  wirßu  zu  difem  jar  gewert. 
5    Klopf  immer  mere. 
Daß  dir  widerfar  al  ere 
Und  aUe  glückfelikait! 
Das  helf  uns  Maria  die  raine  maiti 


95 


Der  lieb  herr  fant  Sebolt 
10    Der  beh&t  uns  und  hab  dich  boltl 

Der  liebe  herr  fant  Moriz 

Der  beh&t  dir  fin  und  wiz, 

Und  die  eilftaufent  maid 

Beh&ten  dich  vor  aUem  herzen  laiti 
15    Der  liebe  herr  fant  Veit 

Der  beh&te  dich  zu  aller  zeiti 

Der  liebe  herr  fant  Mertein 

Der  m&ß  alzeit  dein  gferte  fein! 

Sant  Niclas  der  heilig  himelfürft 
20    Der  bfcher  dir  weins  gnuk,  wenn  dich  dürft! 

Got  wol  dir  geben  als  vil  em 

Als  der  himel  hat  manig  ftem 

Und  fo  vil  gflte  zeit 

Als  vil  fantkömlein  im  mere  leit 
25    Und  darnach  das  ewig  leben: 

Das  mfiß  dir  got  mit  freuden  geben. 

Das  wünfch  ich  dir  zum  neuen  jar. 

Sprich  amen  daß  es  werde  war! 

Pap.  Hb.  des  16.  Jhdts.  bei  Mone  im  Anzeiger  7,  555.  4  das.  5  mer. 
6  alle  er.  20  der  befchur.  22  all  manig  d.  h.  hatft,  29  ei 
wer  war. 


4. 

Klopf  an,  du  junger  man! 
Ob  mir  dein  herz  vil  gätes  gan, 
So  geh  dir  got  gelück  und  hail 
Und  bewar  dir  dein  leben  gail! 
5    Das  wünfch  ich  dir  zum  neuen  jar. 
Bühl  mir  feind  haimlich  odr  offenbar, 
So  befcher  dir  got  durch  deinen  giel 
Angft  not  und  ungelückes  viL 
Haß  du  abr  ireuntfchaft  und  ßatigkait 
10    Zu  mir,  fo  wärs  meim  herzen  lait 

Daß  ich  dir  ain  bös  wort  wolt  fprecben. 
Und  wer  dir  lait  tet,  ich  wolts  rechen. 
Du  haß  wol  gemerkt  den  lin. 
Sein  iß  genak:  nu  far  dahin! 


96 

Pap.  Hs.    der  Herzogl.  Bibl.  zu  Wolfenbüttel   ügn.    18.   12   Anguft.     4.     Blatt 
344.     Vgl.  Kellers  Fasnachtfpiele  S.  1355.         2guti8.        4geil  frolich. 
6  mir  aber  f.  h.  oder  o.  7  beTchir.         gil.         8  vngluckß.  9 

aber.         10  wer  es  meinem.         11  poß.         14  dohin. 

Dasfelbe  aus  einer  Pap.  Hs.  des  16.  Jhdts.  in  Mones  Anzeiger  7,  554. 
2  gutz.       3  gluck.       8  vngeluck  vil.       Zwilchen  Z.  8  und  9  ßeht  noch 

ob  mir  dein  hertz  keins  guten  gan 
fo  gee  dich  felber  als  ungeluck  an. 

9  aber  fehlt.         10  wer  es  meines.       12  wolt  es.       14  far  ich  dahin. 


5. 

Klopf  an!  klopf  an! 
Ein  faligs  neus  jar  ge  dich  an! 
Ich  wünfch  dir  das  ewig  leben, 
Das  woUe  dir  got  geben! 
5    Und  wünfch  dir  ain  ft&blein  warm 
Und  dein  bfilen  an  dein  arm. 
O  we,  mechteßu  des  derbeiten! 
So  fetz  fie  freuntlich  an  dein  feiten, 
Druck  fie  lieplich  an  dein  bruß 
10    Nach  deines  herzen  luft 

Und  laß  dir  dann  wol  gefein 
Mit  dem  aller  liebßen  bälen  dein! 
Und  fcheuch  kein  falfchen  klaffer  daran, 
Und  bis  frifchlich  ein  man! 

Pap.  Hs.  der  Herzogl.  Bibl.  zu  Wolfenbüttel.  Ende  des  15.  Jhdts.  in  4.  fign. 
18.  12  AnguA.  Blatt  344.  Mitget.  von  Keller,  Fasnachtt^iele  S.  1355  fg. 
Scheint  unyollftändig.  7  mechßu«  derbeiten  mundartU  für  erbeiten 
erwarten.        9  fie  freuntlich  an. 

Dasfelbe  aus  einer  Pap.  Hs.  des  16.   Jhdts.  mitget.  Ton  Mone  im  Anzei- 
ger 7,  556.        4  das  muß  dir  got  mit  frenden  geben.        5  ftübl  e. 
6  deinen  puelen  an  deinen  a.        7  o  we  wie  magßu  das  drpeyten« 
8  fo  fehlt.        9   lyeplich. 


6. 

Klopf  an,  meins  herzen  hochfter  hört! 
Nun  merk  auf  mein  ireuntliche  wort 
In  folcher  lieb  als  ich  das  main! 
Mein  hoffiiung  iß  zu  dir  nit  klain, 
Wann  aller  dein  handel  und  geber 


97 


Die  lieben  mir  ie  lengr  ie  mer. 

Dein  ßolzer  mut  und  firifcher  fin 

Der  nimbt  mir  vil  traurens  hin. 

Dein  frölichs  herz  und  frifche  jugent 
10    Ift  geneigt  auf  alle  tugent. 

Wer  mocbt  dir  feint  fein  oder  gram? 

leb  fcbreib  fie  all  in  eren  an. 

Ich  lieb  dich  fer  und  bin  dir  holt 

Für  perlein  filber  unde  golt. 
15     Das  ich  auch  von  dir  hoffen  bin, 

Du  liebcft  mich  in  deinem  fin. 

Drumb  wirf  ain  arm  auf  in  der  ßille 

Und  tu  ain  fchrei  durch  meinen  willen 

Daß  ich  dein  herz  genzlich  erfar. 
20     So  hau  dahin!  daß  dich  got  bewar! 

Pap.  Hs.  16.  Jhdts.  Mone  Anz.  7,  556  fg.  1  meines.         2  meine.         5 

gewerb.  6  lenger.  9  froliches.  11  moclit.  14  Vnd  lieb 

dich  für   p.         und.         darum b  wurf.         20  haw  undeutlich 

7. 

lOopf  an  mit  reichem  fchal 

Daß  es  den  leuten  wol  gefal! 

Das  dir  niemant  hab  verark. 

Got  mach  dich  an  dem  leibe  ßark 
5     Und  mach  dich  an  der  fei  gefunt, 

Und  daß  du  an  ern  nicht  werdft  wunt 

Und  alle  dein  fach  mit  glück  end, 

Und  hail  und  f  aide  zu  dir  wend, 

Und  daß  dir  got  wol  bei  fteen, 
10     Und  daß  dir  dein  anfchleg  für  fich  geen, 

Und  hab  dir  aller  menfchen  hult, 

Und  daß  du  nimer  Ilerbft  in  fchult 

Und  in  kainer  totfünd  fterbft 

Und  daß  du  gotes  hult  erwerbft, 
15     Und  daß  du  an  dein  lezten  zeiten 

Miift  wider  die  hellifchen  ßreiten, 

Und  daß  du  inen  obgeligft 

Und  gnad  und  barmherzikait  vindft 

Bei  gof  in  dem  neunten  köre: 
20     Das  wünf^h  ich  dir  zu  ainem  neuen  jore. 

Weimar,  Jh.  IL  7 


98 


Pap.  Hs.  16  Jhdt.  Mones  Anzeiger  7,553  fg.  5  dicli  fehlt.  6  an  dencren 
nicht  werden  w.  8  hayle  und  feie.  0  daz  dw  g.  w.  pey  ftent. 
10  dein  gut  anfchleg  f.  f.   gecnt.  12  daz    dir  nymer.         15   dei- 

nen.        16  fchreyten.         17  u.  d.  dw  i.  allen  obgeliß. 

Zeile  3  verark  haben  verargen.  8  fälde  Glück,  Heil.  10  für 

rieh  geen  vorwärts  gehn,  glücklich  g.       17  ob  1  igen  oben  liegen  als  Sieger. 


8 

Klopf  an,  lieber  fraz! 

Ker  dich  nit  an  mein  guts  gefchwaz 

Das  ich  dir  heint  anßgib, 

Ob  dir  niemant  das  gfpot  darauß  trib. 
5     So  du  das  auf  nimß  für  ein  1er, 

So  ift  deinr  weishait  defter  mer. 

Nimftu  es  aber  in  übel  ein, 

So  magftu  wol  ein  tor  fein. 

Klopfflu  an  in  züchten  und  in  cren, 
10     So  wil  ich  dich  etwas  gäts  leren. 

Haftu  ein  buln,  fo  bis  verfchwigen 

Und  hut  dich  des  nachts  vor  lang  außligen. 

Gilt  deinem  buln  was  du  im  ghaiß 

Und  fag  im  nit  als  das  du  waiß 
15     Und  wend  dich  nit  vil  von  frauen. 

Du  folt  auch  niemant  in  oren  krauen. 

Wiltu  dein  hant  nach  eren  recken. 

So  behut  dich  got  vor  winkelfecken. 

Und  zale  gern  und  borg  nit  vil 
20     Und  h&t  dich  auch  vor  würfeli'pil! 

Tuftu  das,  fo  bift  du  kain  tor. 

Die  1er  hab  dir  zum  neuen  jor. 

Pap.  Hs.  16  Jhdt.  Mones  Anzeiger  7,  554.  3  den  ich.  heint    d.  i. 

hintl   hinaht   diefe  bevorllehende   Nacht.  6   deiner.  7  nemßn. 

Smachlln.  9  züchten,  und  auch  fonll  immer  u  für  u  u o  ü  ü e.  11 
pulen.  12  nachtos.  13  pulen.  geheyll.  14  alles.  18  be- 
hut.        21  duftu.         22  dy. 

Zeile  1  fraz   ungezogenes   Kind,   dann   bloß   für  Kind.  11  bis  fei. 

12  außligen  außer  dem  Hanfe  liegen,   ßch   herum  treiben.  13  ghaiß 

verheißen.         16  krauen  kratzen. 

Die  nächstfolgenden  fieben  Klopfan  find  aus  einer  Hand- 
fchrift  der  großherzoglichen  Bibliothek  zu  Weimar  genommen, 


99 


die  die  Signatur  Q  565  trägt,  im  15.  Jhdt.  gcfchriebcn  ift  und 
einige  Stücke  von  Kofenblut  enthält,  eine  Keihe  von  Priameln, 
Erzählungen,  Kätfeln  niit  meift  recht  obfconem  Inhalte.  Keller 
hat  in  den  Fasnachtfpielen  S.  1453  fgg.  diefe  Papierhandfchrift 
näher  befprochen.  Wir  konnten  nur  fieben  Euiopfan  ausheben, 
einige  mußen  wir  zurückweifen,  da  wegen  ihres  koloflalen  Un- 
flates die  Mitteilung  derfelben  an  diefem  Orte  nicht  geßattet 
fein  kann.  Weil  die  Handfchrift  mehrere  Stücke  von  Rofenblut 
enthält,  fo  konnte  man  ihn  auch  als  Verfaßer  diefer  Neujahrs- 
fprüche  vermuten :  aus  Nürnberg  flammen  fie  einmal  ficher,  da 
fie  eine  Reihe  von  Anfpielungen  auf  Localitäten  dort  enthalten. 
Übrigens  haben  fie  noch  etwas  ganz  Befonderes  an  fich,  was 
wir  weder  bei  den  bereits  mitgeteilten,  noch  bei  den  fpäteren 
von  Folz  finden,  nemlich  (es  gilt  dies  von  den  drei  letzten) 
fie  find  nicht  allgemeiner  gehalten,  fondern  fpielen  auf  gewifle 
Dinge  an  die  im  Verlaufe  des  Jahres  gefchehen  fein  müßcn, 
haben  alfo  einen  beftimmtcr  ausgeprägten  fatirifchen  Character. 
Wir  erwähnen  dies  hier  nur  einßweilen,  um  es  fpäter  weiter 
zu  gebrauchen. 


9. 

Klopf  an,  klopf  an! 

Dein  lieb  wolgetan 

Die  dir  in  deinem  herzen  leit 

Tag  und  nacht  zue  aller  zeit 
5     Und  in  deinem  herzen  leit  gefangen. 

Habe  zu  dir  folichen  verlangen 

Und  fol  zu  dir  komen  fchier 

Und  leben  nach  dcins  herzen  begir, 

Daß  dein  herz  erfreut  werd 
10    Mit  dem  du  ie  von  ir  haft  begert. 

Mit  freuntlichen  worten  auß  irm  roten  munt 

Die  do  gen  auß  herzen  grünt. 

Und  daß  dich  die  lieb  in  freuden  fech, 

Und  das  in  kurz  gefchech, 
15     Sprich  amen  daß  es  dir  war  werd! 

Hdfchr.  der  Großherz.    Bibl.  zu  Weimar  Q.  565.    XV    Jahrh.   Bl.    64    v.  5.  6 
lind  umgestellt.  6  Vnd   habe.  8    deines    hertzn.  9   were. 

10  begert  haft.         15  war  wer. 

7* 


100 


10 

Klopfan,  mein  fchone  rosl 

Von  dir  hab  ich  alain  troll. 

Du  troftes  mich  als  der  ftern  mit  feinem  fchein. 

Werftu  der  ßern  den  ich  do  main, 
5  Den  ich  heut  hab  gefehen, 

Ich  wolt,  daß  er  taufent  jar  folt  leben: 

So  het  ich  freuden  alfo  vil 

Und  alles  das  mein  herz  wil. ' 

Vor  großer  lieb  ich  des  nachts  nit  fchlafen  mag, 
10  Wenn  ich  gedenk  daß  ich  den  ftern  nit  gefehen  hab. 

Vor  großer  lieb  ich  des  tags  weder  trinken  noch  eßen  mag, 

Wann  ich  des  felben  ftern  nit  vergeßen  mag. 

Vor  großer  lieb  mag  ich  nit  frölich  gefein, 

Ich  weft  denn  daß  der  felbig  ftern  mein  folt  fein. 
15  Ich  hoff,  fo  het  ich  freuden  alfo  vil. 

Wenn  mich  der  ftern  erfreuet  warmit  ich  wil. 

Er  ist  fo  helle  mit  feinem  fchein, 

Er  geleichet  dem  edeln  karftmkelftain. 

Der  ftern  gibt  vor  hohikait  widerfchein. 
20  Wann  er  mich  erfreuet  daß  er  mein  folt  fein, 

Nit  mer  wolt  ich  begern  und  haben, 

Allezeit  wolt  ich  mein  kurzweil  im  herzen  tragen. 

Des  fternes  wolt  ich  ftet  beleiben. 

Und  wolt  kaines  andern  wechfel  treiben. 
25  Ich  dem  ftern  fo  vil  guts  gan, 

Ich  wolt  nit  liebers  für  in  hau. 

Das  fag  ich  dir  für  war. 

Got  geb  dir  ein  guts  feligs  neus  jar! 

Far  frolich  von  dann 
30  Und  kum  biß  jar  herwider  an 

Und  klopf  mit  großen  freuden  wider  an! 

Pap.  Hs.    der    Großherz.    Bibl.    zu   Weimar  Q.  1565.     XV    Jahrh.    Bl.   64   r. 
3  gefehenn    das   billu.  11  weder    effen  noch    trinckcn    mag. 

55  ich  gan    ich    gönne.  29    vonn    dannen  d.    Hs.  30  biß  jar 

nbers  Jahr. 

11 

Klopfan,  klopfan! 

Ich  waiß  ein  ireulein  wolgetan, 


101 


Die  hat  aineti  roten  munt 

Und  ain  herz  in  lieb  enzunt, 
5     Zwai  äuglein  braun,  darzue  ein  kurz  kin, 

Ain  grüeblein  darin, 

Ain  finwel  ftim,  ain  Weiße  kein, 

Zwai  wenglein  rot,  ain  lauters  fei. 

Ich  wunfch  dir  auch  die  adeleichen, 
10     Die  macht  dich  allezeit  freudenreiche. 

Und  wo  dir  wirt  ir  gebot, 

So  foltu  es  halten  an  allen  fpot: 

Du  folt  iren  dienit  nit  vermeiden. 

Ich  wunfch  dir  auch  das  haimlich  leiden 
15     Von  fchoner  frauen  wegen. 

Far  hini  got  m&ß  dein  pflegen! 

Pap.  Hs.  der  Großherz.  Bibl.  zu  Weimar  XV  Jahrh.  Q.  565.  Bl.  66  v. 
6  darein  d.  Hs.  1  ein  Tibella  ßirn  Ha,  Tinwel  convex  gerundet, 
kelend.  Hs.  8  feil  Hs.  10  freudenreich  Hs.  15  fchonner 
Hs.         16  muß  Hs. 


12 

Klopf  an,  klopf  an  belchaidenl 

So  mag  dein  klopfen  niemant  laiden. 

Klopfftu  unbefchaiden  an, 

So  haißt  man  dich  ain  gockelman. 
5    Bühl  edel  von  gefchlecht, 

Oder  bist  ain  dienßknecht, 

So  gee  befchaiden  auf  der  gaßeu, 

So  mügen  dich  wenig  haßen. 

Man  vindt  vil  der  läppen 
10    Die  auf  der  gaßen^  here  gnappen 

Und  unter  den  kremen  treiben  vil  gefchwetz 

Und  die  frauen  eben  befchetz: 

Die  ain  ill  enderifch. 

Die  ander  ift  fo  peuerifch, 
15     Die  drit  zue  fchimpflich, 

Die  viert  fo  ungelimpflich, 

Die  fünft  ift  fiift,  die  fechft  ift  fo 

Und  fagt  von  altem  habcrftro. 


102 


Biflu  der  ainer,  fo  thue  dich  des  ab, 
20     Daß  ich  dich  aber  lieber  habl 

HdTchr.  der   Großherz.  Bibl.  zu  Weimar  Q.  565.     XV  Jahrh.     Bl.  67  r. 
Überfchrift  klopffan  klopffan.  1.  klopf  an  nur  einmal  in  der  Hs. 

4  gockels  man  Hs.  Die  gogken  NarrenspoITen.  Aber  der  gogkel  der 
Hahn,  gogkeln  (rom  Hahne)  die  Henne  treten ^  der  gogkeler  Mädchen- 
jäger, Schmeller  2,  26.  Wol  mit  letzterem  gleichbedeutend  ift  gockelman. 
9  der  läpp  eigtl.  blodfinnige  taubftumme  Ferfon,  dann  fcherzhaft  für  Narr 
Schmeller  2,  485  fg.  10  gnappen,  mit  den  FüBen,  vacillare  Schm.  2,  97. 
374.  11  treüben  die  Hs.  unter  den  kremen  bei  den  Krambuden  und 
Kramläden.  12  eben  gleichmäßig  d.  h.  eine  wie   die  andere.  be- 

fc hetzt  die  Hs.  eigtl.  befchetzen  d.  i.  ihren  Werth  taxieren,  ihn  nehmen. 
13  enderifch  ungewöhnlich,  nicht  geheuer  Schmeller  1,  77.  15  Sfchimpf- 
1  i c h  scherzhaft ,  fpottifch.  16  ungelimpflich  ohne  fchickliches  Beneh- 
men, ohne  Nachßcht.  17  füft  —  f  o  fo  —  fo.  18  fchwatzt  albernes 
Zeug,  Ygl.  Schmeller  2,  136  fg.  20  aber  wieder  d.  i.  ein  ander  Mal,  wenn 
du  wieder  kommll. 

Derfelbe  Klopfan  mit  mehrfachen  Varianten  in  einer  Pap.  Hs.  des  16 
Jhdts,  bei  Mone  im  Anzeiger  7,  555  fg.  2  pelayden;  dasfelbe  wie  lai- 
den  Leidthun,  Wehe  thun ,  unangenehm  fein.  4geckelmann  6oder 
piRufunllein  d.  7fopiß  befch.  8fokunnen  dich  w.  leut 
gehaffen.  9  dann  man  fint  manchen  groben  läppen.  10  der 
die  gaffen  umb  lauft  trappen.  11  und  vor  den  leuten  vil  ge- 
fchwätzt.  12  und  die  frawen  hinten  und  vorn  befezt.  13 
eine  fey  zw  erbrifch  undeutl.  14  ä.  fey  zw  p.  15  d.  dr.  fey  nit 
fchimpfig.  16  fey  zw.  17  fey  fünft  d.  f.  fey  fo.  18  und  fagt 
als  von  haberftro.     Von  Z,  19  an  lautet  hier  das  Gedicht 

piftu  der  einer,  fo  gee  fein  ab. 

wiltu  daz  man  dich  lieb  hab 

und  piftu  darumb  her  kumen 

dastu  wilt  fuchen  deinen  frumen, 

fo  wunfch  ich  dir  ein  gluck  feiiges  neus  jar. 

fprich  amen,  fo  were  dein  wunfch  war. 


13 

Klopfan,  klopfan! 

Tregftu  gern  fpitzig  fchuch  an. 

So  gee  nit  vil  für  die  tür, 

Daß  man  dich  nit  bring  für 

Und  mit  der  zungen  trag  auf  das  rathaus, 

Du  muft  Tüft  drei  gülden  geben  herauß: 

Des  man  dich  nit  vertrait, 

Du  fchwerft  dann  dafür  ain  ait. 

Wann  man  hat  vernumen, 


107 


Vor  aller  varb  den  hochßen  preis« 
Wie  wol  doch  grün  der  anfank, 
85     Was  doch  rot  der  lieb  zwank, 

Was  doch  gewert  mit  zucfat  we^> 

Haftu  auf  ßetigkeit  dein  vleiß, 

Wann  ftetigkait  alain  beleibt, 

So  ilt  nichts  nit  das  lieb  von  lieb  treibt« 
90    Pülu  ßet  ine  freuden, 

So  bifhi  auch  ßet  zue  leiden« 

Bilhi  auch  ßet  fo  es  wol  get, 

So  bis  auch  ßet  fo  es  übel  get« 

Beleih  ßet  an  deinem  pulen  gut 
95    Als  das  gürtelteublein  thut: 

Wenn  es  fein  lieb  verlüfl, 

Kain  anders  es  im  außerküß. 

Wenn  du  wilt  ßet  fein, 

So  nim  ein  plaus  plümlein, 
100    Mach   dir  darauß  ein  kränz 

Und  trag  in  frölich  an  dem  renner  tanz« 

Wiltu  der  varb  nit  lenger  darben, 

Denn  j^ftu^  auf  der  fchwarzen  färben. 

Schwarz  bedeut  verporgen: 
105    Das  foltu  halten  in  folgen. 

Wer  iqyn  rot  pla^  oder  y^ffß^ 

Wer  lieb  wil  tragen  in  forgen  vleiß 

Und  bedenkt  nit  wie  er  fich  bewart 

Vor  der  pofen  klaffer  art 
110    Und  wil  feiner  lieb  gerümbt  fein, 

Dem  wont  feiten  treue  bei. 

Merk  die  pfewin  hat  die  art. 

Daß  fie  vor  lieb  die  aier  bewart 

Daß  fein  der  pfaw  nit  werd  gewar: 
115     Alfo  thue  deiner  lieb,     gedenk  gar 

Mit  fchwarz  zue  aller  zeit 

Vor  der  falfchen  klaffer  neiti 

Ni^  foltu  kurzlich  kumen 

Von  dem  adler  auf  der  wegwart  plumen: 
120     Wann  graw  bedeut  hoher  eren, 

Wiltu  dein  lieb  mit  freuden  meren: 

Graw  iß  unvertroßen. 


106 


Den  fenix  auf  der  rofen  rot. 

Kot  ift  ain  zaiehen  prinnender  lieb: 

45     Das  iß  zue  tragen  mit  gutem  fit^ 

Welchs  herz  mit  grün  bat  angefangen 
Daß  es  mit  lieb  begert  zn  erlangen, 
Daß  man  kain  zil  noch  {riß  mag  thon 
Und  kan  im  felbs  nit  wider  ßon, 

50    Daß   er  in  hitziger  begir  flrebt 
Und  üch  mert  die  weil  er  lebt 
Und  üch  wendet  alle  fein  fart 
Nach  des  vogels  fenix  art» 
Der  iß  ainig  auf  der  erden 

55     Und  mag  auch  kainer  mer  werden: 
Ine  dem  feuer  er  üch  vernüt. 
In  trauern  erkückt  dein  lieb  mit 
Nach  des  edelen  fenix  fit. 
Wes  lieb  fich  von  tag  zu  tag  nüt, 

60     Der  trag  rot  der  lieb  flammen: 
So  ßet  freud  auf  fredige  ßammen* 
Nun  vindeßu  mit  züchtigem  vleiß 
Den  famen  auf  der  lilgen  weiß. 
Weiß  iß  der  lieb  ain  edler  tron: 

65     Die  foltu  haben  in  wirden  fchon. 
Wer  im  herzen  lieb  begert 
Und  mit  weiß  wkt  gewert, 
Der  halt  es  fchön  biß  in  fein  end: 
So  nimbt  fein  lieb  ein  frölichs  end. 

70    Mit  weiß  gewert  bedeut  keufch 

Und  züchtige  lieb  an  alles  geteufch. 
Wer  troß  und  freud  von  lieb  begert, 
Der  halt  zucht,  fo  wirt  er  gewert. 
Und  bis  an  treu  und  lieb  nit  laß 

75    Als  der  ßaub  thut  auf  dem  wafnl 
Wenn  du  darauf  legß  dein  vleiß, 
So  magßu  irplich  tragen  weiß. 
Wil  fich  aber  dein  freud  machen, 
So  vindeßu  ein  gürtelteublein  auf  plaw. 

80    Plaw  bedeut  ßet 
Der  im  recht  thet. 
So  het  er  in  aller  weis 


107 


Vor  aller  varb  den  hochften  preis« 
Wie  wol  doch  griin  der  anfank, 
85     Was  doch  rot  der  lieb  zwank, 

Was  doch  gewert  mit  zucht  wejyß^ 

Haftu  auf  ßetigkeit  dein  vleiß, 

Wann  ßetigkait  alain  beleibt, 

So  ilt  nichts  nit  das  lieb  von  lieb  treibt« 
90    Piftu  ftet  ine  freuden. 

So  bifhi  auch  ftet  zue  leiden« 

Bifiu  auch  ftet  fo  es  wol  get, 

So  bis  auch  ftet  fo  es  übel  get. 

Beleih  ftet  an  deinem  pulen  gut 
95    Als  das  giirtelteublein  thut: 

Wenn  es  fein  lieb  verlüft, 

Kain  anders  es  im  außerküft. 

Wenn  du  wilt  ftet  fein, 

So  nim  ein  plaus  plümlein, 
100    Mach   dir  darauß  ein  kränz 

Und  trag  in  frölich  an  dem  renner  tanz« 

Wiltu  der  varb  nit  lenger  darben, 

Denn  j3]fliH^  auf  der  fchwarzen  färben. 

Schwarz  bedeut  verporgen: 
105    Das  foltu  halten  in  folgen. 

Wer  iqyn  rot  pla^  oder  v^giü^ 

Wer  lieb  wil  tragen  in  forgen  vleiß 

Und  bedenkt  nit  wie  er  fich  bewart 

Vor  der  pöfen  klaffer  art 
110    Und  wil  feiner  lieb  gerümbt  fein, 

Dem  wont  feiten  treue  bei. 

Merk  die  pfewin  hat  die  art, 

Daß  fie  vor  lieb  die  aier  bewart 

Daß  fein  der  pfaw  nit  werd  gewar: 
115     Alfo  thue  deiner  lieb,    gedenk  gar 

Mit  fchwarz  zue  aller  zeit 

Vor  der  falfchen  klaffer  neit! 

Ni^  foltu  kurzlich  kumen 

Von  dem  adler  auf  der  wegwart  plumen: 
120    Wann  graw  bedeut  hoher  eren, 

Wiltu  dein  lieb  mit  freuden  meren: 

Graw  ift  unvertroßen. 


108 


Die   wegwartphim  ill  verfchloßen 

Biß  fich  crfcheint  der  funnen  glänz: 
125     So  get  fie  auf  mit  freuden  ganz 

Und  gibt  ireude  über  tag. 

Dabei  ein  ieklichs  wol  merken  mag 

Alfo  nach  riterlichem  fit: 

Alfo  foltu  dein  freud  treiben  mit. 
130     Du  lolt  auch  miltiklich  gepam 

Geleich  dem  milden  adelarn. 

Der  ift  milt  von  rechter  art, 

Der  treu  in  lieb  nit  fpart, 

Der  iß  milt  wol  geleich 
135     Und  tregt  graw  in  freuden  reich* 

Wiltu  aber  nit  entpern 

Und  wilt  nach  gelber  färbe  ftrebn 

Die  dich  nit  wol  thut  preifen, 

So  wil  ich  dich  in  ein  kram  weifen, 
140     So  kauf  dir  der  gelben  varb 

E  und  du  ir  gar  darbft. 

Darmit  wünfch  ich  dir  gelük  und  hail 

Und  aller  freuden  ain  übertail, 

Zue  difem  hof  nach  eren  ftreben 
145     Und  darzu  das  ewig  leben. 

Pap.  Hs.  der  Qroßherz.  Bibl.  zu  Weimar  Q.  565.  XV  Jahrh.  Bl.    61  igg. 
Zeile  6  thut  fchm  eben  die  Hb,  7  jugennt  gesirt   dio    Hs.     gezem 

d.  i.  gezeme  gezieme.  9    aen  die  Hs.     Vielleicht   fehlt    dahinter  das 

Reimwort  auf  all.  10  gronen  die  Hs.  11  Damit  grün  die  paum 
fccht  an  Hs.  13  allem  meinein    find  Hs.  14  angefing  fic  die 

Hs.  angebint?  klaid  die   Hs.  26  er   dem  Hs.  geleich  Hs. 

27  jngeleichem  Hs.  29  nach tigalenn:  halenn  Hs.  33  Das  fie 
jne  freuden  danen  will  die  Hs.  45  mit  guten  fyten  die  Hs.  48 
thun  die  Hs.  49  llan  Hs.  55  werdn  Hft.  58  fiten  Hs.  61 

fredige  vgl.  fredi  Schmeller  1,  601.  64  edler  trän  Hs.  66  hertzu 
Hs.  75  wafenn  Hs.  79  plab  Hs.  80  P lab  Hs.  Diefe  und  die 
folg.  Zeile  find  in  der  Hs.  zufammen  gefchrieben.  84  der  anfangkwas 
Hs.  85  Was  fehlt  hier  in  d.  Hs.  86  weift- vleis  Hs.  88  allein 

todtbel.  Hs.  89  treübt  Hs.  96  te  vleüßt  Hs.  ^        97    aus   er- 

kyßt  Hs.  99  plobs  Hs.  101  an  den  r.  Hs.  103  plab.  varbn 
Hs.  111  wannt  Hs.  112  pfebin  Hs.  114  nit  wer  g.  Hs.  120 
Wan  grob  Hs.  123   verfchloffn    Hs.  128   fytenn    Hs.  129 

treuben  Hs.  131     adler   Hs.  125    grab    Hs.  137    ßerbn    Hs. 

141  darbed  Hs.  144  hoff  Hs. 


109 


Das  letzte  Stuck  hat  fo  manigfache  und  eigentümliche  Schwie- 
rigkeiten, daß  ich  mich  hier  einftweilen  nicht  auf  weitere  Er- 
klärung einlaßen  kann,  die  zu  viel  Kaum  nehmen  würde:  ich 
will  es  nur  mitgeteilt  haben  um  ein  ander  Mal  auf  nähere  Er- 
örterungen desfelben  eingehen  zu  können. 

Die  näcIiOien  fünfzehn  Klopfan  find  aus  einem  alten  uüm- 
bergifchen  Drucke  der  Kunegund  Hergotin  genommen,  deren 
Druckerthätigkeit  zwifcben  die  Jahre  1528  und  1537  fällt.  Es 
iß  1  Bogen  (8  Blätter).  Die  vordere  Seite  des  erften  Blattes 
hat  oben  den  Titel 

Faß  abentheürlich  Klopff 

an  /  Auff  allerley  art. 

Hans  Foltz. 

Danmter  iß  ein  ganz  reizender  Holzfchnitt:  in  einer  Straße 
vor  einem  Haufe  ßeht  ein  junger  Menfch  der  den  Thürklöpfel 
hält,  aus  dem  Fenßer  ficht  ein  junges  Weib  auf  ihn  herab. 
Auf  der  Kückfeite  beginnt  der  Text  der  bis  zu  Ende  der  vor- 
dem Seite  des  letzten  Blattes  geht.     Darunter  ßeht  noch 

^  Gedruckt  zu  NArmberg  durch 
Kunegund  Hergotin. 

Die  letzte  Seite  iß  leer.  Die  verfchiedenen  Stücke  vom  zwei- 
ten an  haben  nur  die  Überfchrift  Ein  ander  klopff  an.  Es  find 
16  au  der  Zahl  und  in  folgender  Ordnung  überliefert: 

1  Klopff  an  meines  hertzen  luß  vnd  wunn 

2  Klopff  an  mein  troß  mein  hertz  mein  hört 

3  Klopff  an  meyns  hertzen  höchßer  fchatz 

4  Klopff  an  klopff  an  lieber  fchweins  or 

5  Klopff  an  Got  geb  dir  ein  gfit  jar 

6  Klopff  an  mein  aller  liebßer  knab 

7  Klopff  an  klopff  an  lieber  troll 

8  Klopfift  an  jr  zarten  jungen  frawen 

9  Klopff  an  bißu  ein  J&ngling  frey 

10  Klopff  an  biß  du  ein  junge  fchnurr 

11  Klopff  an  klopff  an  werder  heldt 

12  Wie  haß  ein  klopffen  gynSffel 

13  Klopff  an  meyn  aller  liebße  zart 

H  Wie  haß  ein  klopffen  vnd  ein  fcharm 


110 

15  KlopfF  an  du  förwitz  a 

16  Kuiopff  an  lieber  Fridel, 

No  16  habe  ich  nicht  mitgeteilt,  weil  es  zu  unflätig  ift.  Aller- 
dings enthalten  einige  der  andern  auch  etwas  ziemlich  derbe 
Ausdrücke ,  die  mit  unfern  heutigen  Begriflfen  nicht  übereinftim- 
men,  für  ihre  Zeit  aber,  weit  entfernt  etwas  anßoßiges  zu  ha- 
ben, ganz  in  der  Ordnung  waren.  Deshalb  mußen  fie  um  die 
Zeit  zu  charakterifieren  mitgeteilt  werden:  fie  find  aber  ans 
Ende  verwiefen  als  die  6  letzten  und  wer  zu  zartfühlend  ift, 
möge  fie  überfchlagen,  mir  aber,  der  ich  mein  Eckartamt  ver- 
fehen,  keine  Vorwürfe  machen,  wenn  ihn  nachher  dies  wütende 
Heer  inconunodiert.  Für  die  fchmutzige  Derbheit  der  letzteren 
entfchädigt  reichlich  die  Innigkeit  der  erfteren,  die  ohne  Zwei- 
fel dem  Zarteßen  beizufetzen  find  was  in  deutfcher  Zunge  ge- 
dichtet worden  ift. 

Der  fo  eben  näher  befchriebene  alte  Druck  befindet  fich 
auf  der  großherzoglichen  Bibliothek  zu  Weimar  und  ift  jenem 
koftbaren  Mifchbande  eingebunden  der  auch  das  einzige  noch 
auf  uns  gekommene  Exemplar  des  älteften  gedruckten  deutfchen 
Liederbuches  enthält.*)  Über  andere  Drucke  der  Klopfan  f. 
Kellers  Fasnachtfpiele  S.  1242  fgg. 

So  wol  in  dem  uns  vorliegenden  vollftändigften ,  als  auch 
in  andern  Drucken  wird  Hanz  Folz  ausdrücklich  als  Verfaßer 
diefer  Stücke  genannt  und  wir  haben  keinen  Grund  gegen  die 
Wahrheit  diefer  Zeugnifl*e  irgend  welche  Zweifel  zu  hegen. 
Hans  Folzens  dichterifche  Thätigkeit  wird  etwa  ins  dritte  Vier- 
tel des  15.  Jhdts  zu  fetzen  fein,  vielleicht  noch  etwas  früher, 
ficherer  wol  hat  fie  auch  noch  fpäter  gedauert,  walirfcheinlich 
bis  in  die  Mitte  der  achtziger  Jahre.  Er  lebte  noch  mit  dem 
älteren  ßofenblut  zufammen.  Hans  Folz  foU  aus  Worms  ftam- 
men,  er  fiedelte  fich  in  Nürnberg  an  und  verblieb  dafelbft  bis 
zu  feinem  Tode.  Er  war  seines  Gewerbes  Barbier,  wahr- 
fcheinlich  befaß  er  zugleich  eine  eigene  Druckerei.  Wann  er 
geftorben,  ift  unbekannt.    Er  war  nach  Kofenblut  der  bedeu- 


*)  In  genauem  Abdrucke  nun  veröffentlicht:  Bergreien.  Eine  Lieder- 
derfammlung  des  XVI.  Jahrhunderts.  Nach  dem  Exemplare  der  Großherzog- 
lichen Bibliothek  zu  Weimar  heransgegcben  von  Oskar  Schade.  Weimar, 
Hermann  Böhlan   1854. 


111 


tcndUe  Fasnachtfpieldichtcr.  Seine  Spiele  find  neuerdings  in 
Kellers  Sammlung  aufgenommen.  Außerdem  verfaßte  er  eine 
große  Anzahl  poetifcher  Erzählungen,  Schwanke,  Priameln  und 
war  auch  als  MciAerfinger  thätig,  der  Art  daß  ihn.  die  Schule 
zum  zwölften  der  zwölf  alten  niarnbergifchen  Meilter  machte. 
Eine  Reihe  von  meillerfingcrifchen  Tönen  tragen,  als  von  ihm 
erfunden,  feinen  Namen.  Die  folgenden  lUopfan  laßen  feine 
dichterifche  Befähigung  in  einem  günftigen,  wenn  nicht  im  gim-^ 
ßigften  Lichte  erfcheinen; 

16. 

Klopf  an,  meins  herzen  lud  und  wunn! 

So  hell  gefchin  noch  nie  die  funn: 

Die  tugent  zier  und  fitten  dein 

Schein  klerer  in  dem  herzen  mein. 
5.     Wann  folch  zier  fchön  und  freuntlich  gßalt 

Wart  nie  von  maiers  haut  gemalt, 

Gerad  jung  frei  ftolz  und  ein  helt 

Des  wefen  iederman  gefeit. 

Des  bit  ich  got,  er  won  dir  bei 
10    In  all  dem  das  dir  dienßlich  fei 

An  leib  an  fei  an  eer  an  gät, 

Und  pflanz  dir  in  dein  fin  und  mut. 

Wo  du  dein  haut  reckeft  nach  eern, 

Daß  du  funll  keiner  th&ft  begern 
15     Dann  eine  die  dich  wiß  zu  halten. 

Daß  euer  lieb  bleib  ungefpalten 

Und  bleibft  bei  deinem  guten  namen. 

Das  wünfch  ich  dir  von  herzen,  amen. 

Der  alte  Druck  Zeile  1  meines. 

17. 

Klopf  an,  mein  aller  liebße  zart! 
Wann  mir  kein  klopfen  lieber  wart. 
All  engel  in  des  himels  tron 
Die  fein  darumb  dein  folt  und  Ion. 
5    All  Patriarchen  und  propheten 

Wölln  dir  dein  leib  und  leben  retten. 


110 

15  KlopfF  an  du  förwitz  a 

16  KJopff  an  lieber  Fridel. 

No  16  habe  ich  nicht  mitgeteilt,  weil  es  zu  unflätig  ift.  Aller- 
dings enthalten  einige  der  andern  auch  etwas  ziemlich  derbe 
Ausdrücke ,  die  mit  unfern  heutigen  Begriffen  nicht  übereinftim- 
men,  für  ihre  Zeit  aber,  weit  entfernt  etwas  anßößiges  zu  ha- 
ben, ganz  in  der  Ordnung  waren.  Deshalb  mußen  fie  um  die 
Zeit  zu  charakterißeren  mitgeteilt  werden:  fie  find  aber  ans 
Ende  verwiefen  als  die  6  letzten  und  wer  zu  zartfühlend  iß, 
möge  fie  überfchlagen,  mir  aber,  der  ich  mein  Eckartamt  ver- 
fehen,  keine  Vorwürfe  machen,  wenn  ihn  nachher  dies  wütende 
Heer  incommodiert.  Für  die  fchmutzige  Derbheit  der  letzteren 
entfchädigt  reichlich  die  Innigkeit  der  erßeren,  die  ohne  Zwei- 
fel dem  Zarteßen  beizufetzen  find  was  in  deutfcher  Zunge  ge- 
dichtet worden  iß. 

Der  fo  eben  näher  befchriebene  alte  Druck  befindet  fich 
auf  der  großherzoglichen  Bibliothek  zu  Weimar  und  iß  jenem 
koßbaren  Mifchbande  eingebunden  der  auch  das  einzige  noch 
auf  uns  gekommene  Exemplar  des  älteßen  gedruckten  deutfchen 
Liederbuches  entliält.*)  Über  andere  Drucke  der  Klopfan  f. 
Kellers  Fasnachtfpiele  S.  1242  fgg. 

So  wol  in  dem  uns  vorliegenden  voUßändigßen ,  als  auch 
in  andern  Drucken  wird  Hanz  Folz  ausdrücklich  als  Verfaßer 
diefer  Stücke  genannt  und  wir  haben  keinen  Grund  gegen  die 
Wahrheit  diefer  Zeugniffe  irgend  welche  Zweifel  zu  hegen. 
Hans  Folzens  dichterifche  Thätigkeit  wird  etwa  ins  dritte  Vier- 
tel des  15.  Jhdts  zu  fetzen  fein,  vielleicht  noch  etwas  früher, 
ficherer  wol  hat  fie  auch  noch  fpäter  gedauert,  wahrfcheinlich 
bis  in  die  Mitte  der  achtziger  Jahre.  Er  lebte  noch  mit  dem 
älteren  Kofenblut  zufammen.  Hans  Folz  foU  aus  Worms  flam- 
men, er  fiedelte  fich  in  Nürnberg  an  und  verblieb  dafelbß  bis 
zu  feinem  Tode.  Er  war  seines  Gewerbes  Barbier,  wahr- 
fcheinlich befaß  er  zugleich  eine  eigene  Druckerei.  Wann  er 
geßorben,  iß  unbekannt.    Er  war  nach  Kofenblut  der  bedeu- 


*)  In  genauem  Abdrucke  nun  veröffentlicht:  Bergreien.  Eine  Lieder- 
derfammlung  des  XVI.  Jahrhunderts.  Nach  dem  Exemplare  der  Großherzog- 
lichen Bibliothek  zu  Weimar  heransgcgoben  von  Oskar  Schade.  Weimar, 
Hennann  Bohlau   1854. 


111 


tcndfte  Fasnachtfpieldichter.  Seine  Spiele  find  neuerdings  in 
Kellers  Sammlung  aufgenommen.  Außerdem  verfaßte  er  eine 
große  Anzahl  poetifcher  Erzählungen,  Schwanke,  Priameln  und 
war  auch  als  Meillerfinger  thätig,  der  Art  daß  ihn-  die  Schule 
zum  zwölften  der  zwölf  alten  nürnbcrgifchen  Meilter  machte. 
Eine  Reihe  von  meißerfingorifchen  Tönen  tragen,  als  von  ihm 
erfunden,  feinen  Namen.  Die  folgenden  lUopfan  laßen  feine 
dichterifche  Befähigung  in  einem  günßigen,  wenn  nicht  im  gun-> 
lligften  Lichte  erfcheinen; 

16. 

Klopf  an,  meins  herzen  lud  und  wunn! 

So  hell  gefchin  noch  nie  die  funn: 

Die  tugent  zier  und  fitten  dein 

Schein  klerer  in  dem  herzen  mein. 
5.     Wann  folch  zier  fchön  und  freuntlich  gftalt 

Wart  nie  von  maiers  haut  gemalt, 

Gerad  jung  frei  ftolz  und  ein  helt 

Des  wefen  iederman  gefeit. 

Des  bit  ich  got,  er  won  dir  bei 
10     In  all  dem  das  dir  dienßlich  fei 

An  leib  an  fei  an  eer  an  gut. 

Und  pflanz  dir  in  dein  fin  und  mut, 

Wo  du  dein  haut  reckeß  nach  eern, 

Daß  du  fünft  keiner  thuß  begern 
15     Dann  eine  die  dich  wiß  zfi  halten. 

Daß  euer  lieb  bleib  ungefpalten 

Und  bleibß  bei  deinem  gäten  namen. 

Das  wünfch  ich  dir  von  herzen,  amen. 


Der  alte  Druck  Zeile  1  meines. 


17. 


Klopf  an,  mein  aller  liebße  zarti 
Wann  mir  kein  klopfen  lieber  wart. 
All  engel  in  des  himels  tron 
Die  fein  darumb  dein  folt  und  Ion. 
All  Patriarchen  und  propheten 
Wölln  dir  dein  leib  und  leben  retten. 


112 


All  zwolfbotn  und  evangeliften 

Wölln  dich  vor  allem  übel  friften. 

All  märterer  und  beichtiger 
10    Bewaren  dich  vor  aller  fchwer. 

Der  junkfraun  und  der  witwen  fchar 

Und  aller  heiligen  famlung  gar 

Wölln  dich  allenthalben  befriden 

An  leib  fei  und  allen  geliden. 
15     Maria  felbs  und  auch  ir  fufl 

Laßen  dich  nimmer  anders  t&n 

Dann  das  dich  hie  und  dort  erner: 

Das  erwerb  dir  als  himlifch  her, 

Und  daß  dir  als  das  günftig  fei 
20    Das  dir  dein  lebtag  wone  bei 

Und  hie  eins  feUgn  ends  erfterbft 

Und  die  ewigen  krön  erwerbll 

Dort  in  dem  aller  hochften  kor, 

Wünfch  ich  dir  zu  eim  neuen  jor. 

Zeile  7  zw&lffpoten  d.  Dr.,  der  zwolfbote  der  Apoftel.  8  vbel. 
d.  Dr.  10  Bewarn  d.  Dr.  fchwer  mhd.  fwsere  Schmerz,  Kummer. 
11  Junckfrawen.  13  befriden  umfriedigen ,  einfchließen  und  dadurch 
vor    Angriffen   fchützen.  14    gliden    d.    Dr.    gelit    f.   v.  a.   lit    Glied. 

15  fon  d.  Dr.  Vielleicht  fon  :  ton.  17  Alles  was  dich  in  diefer  und  jener 
Welt  in  leiblichem  und  geüligem  Leben  und  Wolergchen  erhalte.  18  als 
alles,  und  fo  19.        21  fei  igen  d,  Dr.        24  newen  jar  der  Druck. 


18. 

Klopf  an,  mein  troü,  mein  herz,  mein  hört 
Und  hör  in  g&t  mein  freuntlich   wort 
Die  ich  dir  auß  fonder  lieb  mitteil  I 
Ich  wünfch  dir  glück  fald  frid  und  heil 

5     Mer  dann  ich  felber  denn  gern  het. 
Ja  wer  wider  dein  eer  icht  thet, 
Das  brecht  mir  heimlich  großen  fchmerssen, 
Als  ob  es  mir  felbs  leg  am  herzen: 
Wann  dein  fchön  adelich  perfon 

10    Macht  daß  ich  dir  als  g&ten  gan. 
Dein  gütig  und  freuntlich  geber, 
Dein  handel  wandel  zucht  und  eer, 


113 


Dein  gSt  geßalt  und  al  dein  fitten, 

Dein  günlllichs  und  lieblichs  erbieten 
15     Macht  an  dir  daß  dir  iederman 

Glück  fald  und  aller  eren  gan. 

Des  ich  dir  auch  nit  feint  mag  fein, 

Ob  dus  merkft  an  den  werten  mein. 

So  wunfch  ich  dich  fo  lang  gefunt 
10    Biß  daß  ein  lins  wigt  hundert  pfunt 

Und  biß  ein  mülAein  in  lüften  fleucht 

Und  ein  floch  ein  fuder  weins  zeucht 

Und  biß  ein  krebs  baumwoUe  fpint 

Und  man  mit  fchne  ein  feur  anzünt. 
25     Hiemit  ein  guts  feligs  neus  jarl 

Und  hau  hini  daß  dich  got  bewarl 

Der  a.  Dr.         23    kreps   baumwol.         26   hau  hin   fo  viel  als   far  hin; 
hauen  (ich  fchneU  bewegen,  laufen  Schmeiier  2,  130. 

19. 

Klopf  an,  meins  herzen  hochfter  fchazi 

Vergünn  mir  eins  freuntlichen  fchwaz 

Und  laß  mein  red  dir  nit  misfallenl 

Ich  fprich,  folt  ich  die  weit  auß  wallen 
5.     Zu  kiefen  einen  von  perfon 

Do  ganz  nicht  wer  vergeßen  an, 

An  leib  geßalt  weis  und  geber, 

An  zucht  fcham  tugent  und  an  er, 

An  fchon  und  freuntlichkeit  der  wort, 
10     So  wart  dein  gleich  doch  nie  gehört 

Der  meinem  herzen  baß  gefiel: 

Darbei  ich  nimmer  laugnen  wil. 

Dann  wer  ich  alfo  fchon  und  klar 

Als  Helena  von  Griechen  war 
15     Und  het  ein  har  als  golt  gefpunnen. 

Des  ftraim  erglenzten  für  die  funnen. 

Und  mocht  an  reichtum  und  an  witzen 

Bei  der  küngin  von  Saba  fitzen, 

Die  küng  Salmon  groß  fchenkung  bracht 
20    Und  im  fein  tiefe  frag  auß  flacht. 

Und  wer  gbom  von  edelßem  blut: 

Weimmr.  JÜ.  11.  g 


114 


Dannoch  mein  herz  gedank  und  mut 
Dich  außerkorn  von  aller  weit, 
ledoch  in  ßill  gen  dir  gemelt. 
25     Zeuch  heim  mit  ganz  frolichem  mdtl 
Denk  mein  zum  nechAen  auch  in  gut! 

Z.  2  der  fchwaz  das  Gefchwätz  Schmeller  3,  552.  6  daran  d.  i.  an  dem 
ganz  und  gar  nichts  vergeßen  wäre,  der  vollkommen  wäre.  7  geper  d. 
Dr.  geper  mhd.  gebfere  Benehmen;  das  nhd.  Geberde,  mit  tmorga- 
nifch  eingefchaltetem  d  ,  hat  eine  modificierte  Bedtg  erhalten.  1 1  b  a  ß  Ad- 
verbinm  beßer.  14  von  Griechen  von  Griechenland,  wie  hin  ze  Grie- 
chen nach  Griechenl.  heißt,  ze  Gr.  in  Griechenland.  Griechen  hätte  kön- 
nen ebenfo  gut  Name  des  Landes  werden  wie  Sachfen,  Schwaben, 
Thüringen,  alles  urfprünglich  Dative  Pluralis  der  Volksnamen  die  von  ze, 
zu,  regiert  find,  ze  den  Sah  Ten  bei  den  Sachfen,  dag  laut  ze  Sah  Ten 
das  Land  bei  den  Sachfen.  IGßraim,  der  und  ßraimen  der  Streifen, 
die  Reihe,  auch  die  Strieme;  liechtßraim  radius ;  ßraimen  ßreifen. 
Schmeller  3,  685.  für  die  funnen  mehr  als  die  Sonne,  heller  als  ße. 
18  K&nigin  d.  Dr.  19  Salomo    d.  Dr.     Die   zufammengezogene    Form 

wie  früher  auch  im  15  Jhdt.  die  gewöhnliche,  fo  im  Narrenfchiffe  112,  7.  171, 
27.  20  flacht  jetzt  flocht  von  flechten,  a.  Spr.  flihte  flaht  geflöh- 
ten. Zeile  18  fgg.  bezieht  fich  auf  die  damals  ungemein  verbreitete  Dichtung 
die  unter  dem  Namen  Sibillenbuch  gewöhnlich  geht.  Vgl.  Geiftliche 
Gedichte  des  14  und  15  Jlidts  vom  Niderrhein  herausg.  von  Of»kar  Schade 
daf.  S.  291  fgg.  und  befonders  S.  303  fgg.  Vers  207  fgg.  23  Dennoch  er- 
kören nur  dich  unter  allen  mein  Herz  und  Sinne  auß.  24  gen  dir;  in 
der  alten  Sprache  wird  gegen  (zufgez,  gen)  fall  nur  mit  dem  Dativ  verbun- 
den, feiten  mit  dem  Accufativ.  melden  eigtl.  verraten;  gemelt  ift  hier 
Nomin.  Plur.  auf  herz  gedank  und  mut  bezogen  :  obwol  nur  heimlich 
dir  verraten.         26  in  gut  auf  gute  Weife,  in  Güte  und  Liebe. 

20. 

Klopf  an,  mein  aller  liebßcr  knab! 
Biß  du  der  für  den  ich  dick  hab, 
Getreu  Hat  firum  und  verfcbwigen 
Und  wardß  kein  geudner  nie  gezigen, 
5     Biß  warhaft  unde  liizler  wort, 
Haß  nie  nichts  heimlichs  offenbart 
Und  redeß  von  frauen  das  beß 
Und  dich  niemant  verweifen  leß 
Zu  tun  wider  junkfreulicb  er : 
10    On  zweifei  fo  biß  du  ie  der 

Den  ich  zu  buln  mir  hab  gedacht. 
Hau  hin!  got  geb  dir  ein  gut  nacht I 


115 


Zeile  2  für  den  ich  dich  halte.  4  geudner  Praler,  AafTchneider ,  Groß- 
thaer  :  daraus  hat  fich  erA  fpater  der  Begriff  Verfchwender  entwickelt  und 
daher  im  Neuhochdeutfchen  vergeuden  nach  Analogie  von  verfchwenden 
gebildet.  'gezigen  geziehen,  befchuldigend  genannt;  ich  zihe,  zech, 
gezigen  nach  der  achten  ftarken  Conjug.  Grimms  Gramm.  1,  937.  5  vnd 
d.  Dr.  lüzel  klein,  wenig.  8  verweifen  falfch  weifen,  verfuhren, 
welche  Bedeutung  durch  den  folg.  Vers  gefördert  wird.  An  verweifen  im 
Sinne  von  tadeln  und  ftrafen,  für  verweißen,  mhd.  verwigen,  ift  hier 
nicht  zu  denken.  13    ie  immer  j     zu   aller  Zeit    :    hier    aber    etwas   abge- 

fchwächt  und  mehr  als  Yerßärkung.  11    bulen   d.    Dr.         12   hau    hin 

fahr  hin,  lauf  hin. 


21 

Klopf  an,  klopf  an,  du  werder  helt, 

Wann  es  mir  von  dir  wol  gefeit  1 

Du  klopfeß  an  in  deinem  fcherz, 

Dannoch  geet  es  mir  an  mein  herz. 
5     Des  darflhi  dich  gen  mir  nit  nennen. 

Dann  ich  dich  funll  ie  mein  zu  kennen. 

Und  war  ich  bei  dir  (du  weift  wo). 

Des  war  wir  beide  nit  unfro, 

Wann  wir  wol  heten  auß  zu  tragen^ 
10     Darvon  ich  iez  nicht  vil  wil  Tagen: 

Dann  morgen  kum  (du  weift  wol  wenn), 

Gee  iez  dein  ftraß  e  man  dich  kenn. 

Ein  blechlein  ift  balt  angefchlagen 

Da  man  lang  zeit  hat  an  zu  tragen. 
15     Darumb  weich  ab!  das  ift  mein  rot. 

Und  bh&t  dich  got  vor  aller  not! 

Zeile  1  an  werder  d.  Dr.  2  wann,  mhd.  wände,  Bindewort,  denn. 
4gehet.  ödes  adverbialer  Genit.  Neutr.  deshalb.  darfßu  brauchA 
du.  9  außtragea  ausmachen,  entfcheiden  :  wir  hätten  wol  etwas  mit 
einander  auszumachen.  10  iez  jetzt.  12  Gehe  d.  Dr.  13  ein  blech- 
lein  anfchlagen  oder  anhenken  wie  jetzt  allgemeiner  einem  etwas 
anhängen,  anheften  einen  durch  bufe  Nachrede  brandmarken.  Im  Fas- 
nachspiele Elsli  Tragdenknaben  (Keller  896)  heißt  es 

wenn  iedermann  fein  lafter  hett 
fornen  an  der  ßimen  gefchriben, 
der  wort  wurdend  nit  vil  triben, 
und  kam  darzuo  daß  menger  man 
gar  nienen  far  die  lüt  dörft  gan 

8* 


116 


der  iez  gar  DÜt  an  fin  laßer  denkt 
nnd  iederman  ein  blechli  anhenkt. 

Die  Redensart  kann  daher  kommen ,  daß  man  Verbrechern ,  die  an  den  Pran- 
ger geilellt  wurden,  ein  Täfelchen  anhängte  worauf  ihr  Verbrechen  verzeich- 
net Hand.  So  wird  auch  fiechblächlein,  was  Schmeller  1,  233  von 
Selhamer  anfuhrt,  nicht  Schönpfläfterchen  bedeuten,  fondern  fichtbares  Zei- 
chen der  Krankheit,  des  Siechtums,  das  einer  am  Leibe  trägt,  das  ihm 
gleichfam  auf  der  Stime  gefchrieben  fleht  15  weich  ab  entweich.  rat 
d.  Dr.         16  beh&t  d.  Dr. 


22 

Klopf  an!  biftu  ein  jüngling  frei, 

Daß  dir  als  glück  woll  wonen  bei 

Und  dir  erwerbft  ein  fchonen  bfiln 

Mit  dem  du  tfill  dein  herz  erk&ln! 
5     Bift  aber  du  ein  junge  diem 

Und  haß  zwei  brufilein  als  die  birn, 

So  wünfch  ich  dir  ein  jungen  gfelln 

Dem  du  mügll  al  dein  not  erzein. 

Biß  du  aber  ein  jung  eeman 
10    Und  klopfll  in  züchten  bei  uns  an 

Daß  du  kein  unfiSr  iiächll  darbei, 

So  mach  dich  got  als  leides  frei. 

Bift  du  aber  ein  Jungs  eeweib 

Und  haft  einen  geraden*  leib, 
15     So  halt  dich  ftät  an  deinem  mani 

Nit  beßers  ich  dir  raten  kan. 

Nun  hau  hin,  laß  dich  iez  gen&gen! 

Zum  nechften  mag  fich  aber  f&gen 

Daß  ich  noch  minder  an  dir  fpar. 
20    Zeuch  iez  heim!  daß  dich  got  bewarl 

Zeile  4  erkuln  d.  Dr.  5  dirn  d.  Dr.  6  pr&ftlein  d.  Dr.  7  ei- 
nen j.  gefelln  d.  Dr.  8  erzein  erzählen.  11  unfür,  unf&re  (lark 
Femin.  üble  Lebensweife.        fuchll  d.  Dr. 


23 

Klopft  an,  ir  zarten  jungen  frauni 
Ir  folt  euch  bei  dem  tag  lan  fchaun. 


117 


Solt  man  fich  freuden  mit  euch  aieten, 

So  kiint  man  euch  doch  eer  erbieten. 
5     Ir  wißt,  die  nacht  iA  niemantd  freunt. 

Doch  fo  ir  ie  feit  aufgeleimt, 

So  klopft  an  feuberlich  und  frolich 

Und  redet  niemant  heimlich  holich 

Und  feit  gefchemig  bei  den  mannen, 
10     Treibt  die  fchampern  von  euch  dannenl 

Und  in  der  kirchen  feit  andechtig. 

Daß  euch  nicht  ßrafe  der  almechtig! 

Habt  mit  gelerten  nit  vil  fchwaz, 

Daß  man  euch  nit  liederlich  fchazl 
15     Und  auf  der  gaßen  nit  umbguzen, 

Daß  man  euer  nit  werde  fchmuzen! 

Seit  arbeitfam  daheim  im  haus 

Und  fecht  nit  vil  zum  fenßer  auß! 

Seit  ernßlich  mit  dem  hausgefint 
20     Und  ziecht  auf  tugent  eure  kint! 

Frölich  ob  tifch,  willig  zu  bet. 

Und  welche  frau  im  anders  tet. 

Ob  fie  biß  jar  herwider  kam, 

Wer  weiß  wie  ich  fie  dann  aufnäm. 
25     Ziecht  heim  und  feit  nit  ungefchlacht! 

Got  geb  euch  taufent  guter  nacht! 

Zeile    1    frawen    :  fchawen   d.    Dr.  8   fich   nieten    eines    dinges 

fleh  eifrig  befleißigen.  5  aufgeleunt;   lauen  läunen  durch  laue  Tem- 

peratur erweicht  werden,  aufthauen ;  aufläunen  fchmelzen  aufbhauen;  figür- 
lich Ton  einem  Menfchen  der  anfängt  nicht  mehr  wie  vorher  fremd  oder 
fchüchtern  zu  thun.  Schmeller  2,  405.  8  holich  verholen.  9  gefche- 
mig fchamhaftig.  10  die  fchampern  die  unzüchtigen.  12  ftraff 
d,  Dr.  15  umbguzen  umgucken,  neugierig  umfchaun.  Schmeller  2,  89. 
16  fchmuzen  lächeln.  22  im  neutral  dem  d.  h.  in  diefer  Sache,  darin. 
23  biß  jar  bis  über  jährige  Zeit,  nächftes  Jahr  um  diefe  Zeit.  25  unge- 
fchlacht übel  geartet. 


24 

Klopf  an,  got  geb  dir  ein  gfit  jar! 
Haft  du  anders  ein  kraufes  har 
Und  fpizig  fchuch  und  kauft  fein  tanzen 
Und  tfift  den  meiden  nichts  am  ganzen. 


118 


5     Treibft  mit  fraucn  lieblichen  l'cherz, 

Schmückefl  fie  freuntlich  an  dein  herz 

Und  haft  mit  in  manch  gfit  gefpei, 

So  daß  in  drauß  werd  kein  gefchrei, 

Und  fchonft  ir  darbei  an  im  em 
10    Nach  dem  ein  iede  thut  begern, 

Und  wo  fie  hofen  han  z&  wafchen 

Daß  du  z&tregft  mit  vollen  flafchen 

Feilte  braten  und  groß  wecken 

Und  laß  dich  nit  leichtfam  abfchrecken: 
15     So  laß  ich  dich  iezunt  verßan 

Daß  du  in  bift  ein  gdter  man 

Und  muft  in  irem  dienft  erfterben. 

Solft  du  ein  jar  umb  eine  werben, 

Mit  zfidütteln  umb  fie  nafchen, 
20     Mit  fchüßel  fpftln  und  wintel  wafchen, 

Ir  betten  kern  und  garn  winden 

Und  in  der  küchen  vor  rauch  erblinden: 

So  biß  du  ie  einr  auß  den  knaben 

Da  die  weib  im  narren  an  haben. 

Zeile   18    leichtfam    leicht.  19   zfidütteln    fchön    thun,    fchmeicheln 

Schmeller  1,  405.         23  eyner  d.  Dr.         24  narrn  d.  Dr. 


25 

Klopf  an!  bift  du  ein  junge  fchnurr 
Und  laufn  des  tages  in  der  hurr 
Und  wilt  nachtes  die  man  vcrfchneiden, 
So  folt  man  dich  ein  Ihind  nit  leiden, 
5     Sonder  ein  weifen  zä  dem  wirt 
Do  man  funß  allweg  trucken  fchirt. 
Biß  du  aber  ein  junger  lecker, 

S für  die  tür  große  trecker. 

So  folt  man  dir  dein  maul  drein  pern 
10     Und  dann  die  gaßen  mit  dir  kern. 
Biß  du  aber  ein  flarke  fchlücht 
Und  haß  dich  überal  betrücht 
Und  geeß  davon  und  haß  dein  fpür. 
Ob  du  irgent  iundß  ein  offiie  tür 


119 


15     Daß  du  etwas  möchtß  ermaufen, 

So  folt  man  dir  den  balg  erzaufen 

Und  dich  annageln  mit  den  orn, 

Auf  daß  man  dich  erkennet  mom. 

Biß  du  aber  ein  Ilarker  knol 
20     Und  ßeckeß  aller  bosheit  vol 

Und  harft,  wo  dir  einr  kem  mit  wein 

Daß  du  die  zungen  fchlfigeft  drein 

Und  tr&gll  die  kandl  mit  dir  davon, 

So  geb  dir  got  den  rechten  Ion,  , 

25     Der  andern  dein  geleich  ift  worden, 

Dauß  an  der  dürren  brfider  orden. 

Bift  aber  ein  alt  bärntreiberin 

Und  pflegeft  eins  folchen  gewin. 

Ob  dir  bekem  einr  oder  ein, 
30    Daß  du  fie  föreft  mit  dir  heim 

Und  dann  verkupelft  wo  du  mochteß: 

Darumb  du  nindert  baß  zu  töchteß 

Denn  daß  man  in  ein  fack  dich  ßrickt 

Und  m  der  nacht  nach  fifchen  fchickt. 
35     Biß  du  aber  ein  alter  geheier 

Und  funß  ganz  ein  unniizer  fpeier 

Und  geeß  des  nachts  fchlekmundi  um, 

Ob  dir  ein  klemmerlein  bekum 

Darmit  du  fchmechß  dein  frumes  weib: 
40     Darumb  folt  man  dir  an  deim  leib 

Den  fchwiz  allen  am  . . .  abhauen. 

So  fchonteß  du  der  andern  frauen. 

Hau  hin!  du  feieß  wer  du  weiß: 

Denn  fo  du  dich  lang  daher  ßelß, 
45     Erzürneß  du  mich  leicht  zu  lezt. 

Daß  ich  mein  hundin  an  dich  hezt. 

Zeile    1   fchnurr  Perfon  die  herum  fchnurrt.  2    hurr.      SchmeUer   gibt 

2y  234  die  hur,  eine  eigentümliche  Art  R*auchfang  über  dem  Feuerherde. 
Hier  überhaupt  für  Feuerherd?  in  der  hur  am  Herde,  in  der  Küohe.  Da- 
nach wäre  eine  Küchenmagd  gemeint.  8  verfohneiden  einen  ihm  et- 
was bef.  Geld  abnehmen.  5  ein  hinein.  8  Sch..Jft  für  d.  Dr. 
9  pern  ßoßen.  11  die  fchlücht  auch  fchlucht,  fchlüchtin  un- 
reinliche faule  Perfon.  Schmeller  3,  431,  12  betrücht.  Vgl.  tr ech- 
ten läufig  fein,  von  Thieren  und  Menfchen;  die  truchtel  achtungslofe  Be- 
nennung einer   Weibsperfon,    bef.  wenn  He  dick  ift.      Schmeller  1,   473  fg. 


120 


13  geheß  d.  Dr.  15    möchU   d.  Dr.     18   morgn    d.  Dr.  19    knol 

(wie  knalli  Schmeller  2,  373)  grober  Bengel.  21  harft  harreft.  ey- 
ner  d.  Dr.  23  kandel  Trinkgefchirr.  26  dauß  draußen.  27  der 
bar  ift  das  männliche  Schwein,  Eber,  Zuchteber;  bärntreiber  der  den 
Eber  znm  Behufe  der  Begattung  zu  den  Schweindn  treibt;  bärntreiberin 
figürl.  Kupplerin.  32  töchteft  Conjunctiv  Praet.  Ton  taug  bin  nützlich, 
nindert  d.  i.  niender  nirgend,  hier  nur  verßärkte  Negation:  deshalb  warft 
du  zu    nichts   beßer  nütze.  35    geheien    und   keien    (gheien?)    werfen, 

Ichmeißen,  plagen;  ge heier  ein  Plager,  auch  wol  Zänker.  Schmeller  2,  132. 
36   fpeier    Spötter.  37    fchleckmundi    fic    d.   Dr.  ymb   d.   Dr. 

38  Schmeller  führt  2,  356  die  Redensart  an  einem  ein  klämperlein  an- 
henken etwas  Übles  von  ihm  reden,  oder  auch  ihn  zu  Schaden  bringen. 
Im  Wigalois  heißt  es  2376 

fo  ßnt  die  valfchen  £6  gemuot, 
daß  ß.  lo  ftfete  enmac  gefin, 
fi  neflahen  ir  ein  klempelin 
mit  Worten  und  mit  väre. 

Es  ift  übertragen  von  dem  entehrenden  Zeichen  das  einem  angehängt  wurde. 
41  am  a.s  d.  Dr.        43  feyft  d.  Dr. 


26. 

Klopf  an,  klopf  an,  lieber  fchweinsorl 
Wilt  du  nicht  han  ein  böfes  jor, 
So  gee  von  ft?t,  laß  dein  pochen 
E  das  nun  an  dir  werd  gerochen! 
5     Wann  die  geßalt  die  du  dann  hall 
Macht  ie  daß  du  nicht  ficher  (laß. 
Des  dein  harfchober  ungefär 

Gar  köIUich  zu  a war 

Und  dein  köpf  darmit  zu  kegeln, 

10     Dein  zen  faft  gut  zu  leirennegeln 
Und  dein  nas  gfit  zfi  eim  lefchhorn. 
Dein  zung  ein  dreck  darmit  zfi  born, 
Dein  oren  zu  eim  henkers  greis. 
Dein  äugen  zfi  einr  raben  fpeis, 

15    Dein  maul  war  zfi  eim  prifet  fein 
Daß  wir  all  famen    —  drein. 
So  hettelhi  ein  weil  zfi  fchlecken. 
Dein  arm  warn  gfit  zfi  hirten  ftecken, 
Dein  körper  zfi  einr  fchleier  laden 

20    Da  man  ein  lert  die    -^  gaden, 


121 


Dein  rück  z&  einem  hackftock, 
Dein    —     zfl  einem  feutrog, 
Dein  bein  daß  man  mit  fchl&g  der  keuln, 
Dein  hend  und  föß  z&  wefchpleuln. 
25     Nun  eil  und  heb  dich  hin  dein  ßraß 
E  man  dich  ein  anders  hören  laß! 

Zeile    2    ein    bofes   jor    einen    böfen    Neujahrwunfch.  3    gehe    d.   Dr. 

4  Ee  das  man  an  d.  Dr.  Ehe  das  an  dir  beftraft  wird.  Vielleicht  e  das  m  e  i|n 
an  dir  w.  g.  ehe  die  Unthat  an  dir  gerächt  wird.  7  harlc hober  ver- 
ächtlich für  dickes  Haar  das  wie  ein  Schober  auf  dem  Kopfe  anfgefchichtet 
Ül.  ungefär  wie  äne  gef»r  ohne  Betmg  d.  h.  in  Wahrheit.  8  a..- 
wifchen.  10  zen  Zähne.  faft  mhd.  vaße  fehr.         leirenuegel 

die  Nägel  an  denen  die  Saiten  der  Laute  oder  Zither  befeftigt  und  angezo- 
gen werden?  11  lefchhorn?  13  orn  d.  Dr.  greis,  gereis 
Fall  Abfall?  henkers  greis  Abfall  für  den  Henker?  14  eyner 
d.  Dr.  16  fch.ff.n  d.  Dr.  17  fchlecken  lecken.  19  fchleier- 
lade  wol  Dreckbehälter;  der  fchlier  Schlamm,  vgl.  Schmeller  3,  457. 
20  fch.  .ßgaden  d.  Dr.  21  hackftock  Stock  oder  Klotz  worauf  man 
hackt.  22  Deyn  a..  zu  d.  Dr.  feutrog  Trog  aus  dem  die  Schweine 
freßen.  24  wefchpleul  ein  Klopfel  womit  man  die  Wäfche  fchlägt  in 
Ermangelung  einer  Rolle. 


27. 

Wie  haft  ein  klopfen,  ginoffel? 

Ich  mein,  du  feill  ein  gensloffel. 

MeinA  du  daß  klopfen  ein  kunft  fei. 

So  fchick  ich  dir  zwen  oder  drei 
5     Die  dir  durchberen  all  dein  glider. 

Liebt  es  dir,  fo  kum  morgen  wider: 

So  fol  man  ie  nicht  fpam  an  dir 

Und  dich  pleuen  eins  oder  zwir 

Daß  dir  der  narm  weis  werde  gnäg. 
10    Ich  rat,  trab  ab,  fei  es  dein  f&g, 

E  ich  dir  mit  einr  laug  t&  zwagen 

Die  ich  fchon  hab  herzä  getragen. 

Und  ift  gemacht  vor  eim  prifet 

Da  dicks  und  düns  durch  einander  get. 
15    Nun  heb  dich,  du  bfib  du  gelber! 

Und  wes  du  denkeft,  hab  dir  felberl 

Zeile  1  ginoffel  Schreihals,  Schreimanl,  auch  ginlöffel  Schmeller  2,  52. 
2  gensloffel   Schimpfwort;   der   leffel   ineptus    Schmeller   2,  445.  5 


122 


darehberen  durchprügeln.  6  liebt  es  beliebt  es.         8  2 wir  zweimal. 

11  eyner  d.  Dr.         z wagen  wafchen.         14  gehet  d.  Dr. 


28. 

Klopf  an,  klopf  an,  lieber  trol! 
Mich  dunkt  zwar,  du  feiß  eben  vol. 
Hat  dich  der  rebenhenslein  bißen? 
Ja  folt  es  dein  weib  von  dir  wißen 
5     Daß  du  dein  gelt  verfufen  hetft, 
Sie  lert  dich  daß  dus  nimmer  tetß. 
Ich  mein  du  gehefl;  drumb  do  kriechen. 
Ob  dir  der  wein  wolt  baß  verriechen, 
Und  fo  du  kumeft  zfi  deim  weib, 
10    Daß  fie  dann  minder  gefpeis  treib. 
Sie  tet  dir  aber  in  dein  wangen. 
Heb  dich!  du  bift  nit  recht  gangen. 
So  dir  dein  weib  zurpleut  den  köpf. 
Das  hetft  du  wol  verdient,  du  tropf. 

Zeile  1  trol  ein  grober  ftarker  Kerl  Schmcller  1,  489.  2  zwar   d.  i.  ze 

wäre  in  Wahrheit,    wahrlich.  vol  betrunken.  6  nimmer   nie  mehr, 

nicht  wieder.         7  Ich  glaube ,    du  fchlenderd  deshalb  hier  umher.         10  ge  - 
fpei,  das,  Gefpdtte  Schmeller  3,  553.  559. 


29. 

Wie  haft  ein  klopfen  und  ein  fcharm? 
Meinftu,  ich  hört  nie  mer  ein  narrn? 
Sag,  wer  hat  dich  da  her  geweift? 
Ich  mein  zwar  daß  du  der  einr  feift 
5     Die  ßatigs  auf  der  gaß  umb  trifen 

Und  all  a woUn  erfchliefen 

Und  auf  den  alten  lauten  punkern 
Und  oft  die  ganzen  nacht  umb  glunkem. 
Juchzß  und  fchreift,  fapft  durch  das  kot, 
10    Haft  morgens  ein  geflalt  von  not 
Als  werftu  auß  einr  kil  gezogen. 
Und  bift  den  büteln  kaum  entflogen. 
Darumb  fo  heb  dich  nun  hinweg 
E  daß  man  dich  ins  loch  fehler  leg! 


123 


Zeile  4  eyner  d.  Dr.  5  trieffen  d.  Dr.  Sehmeller  1,  480  gib4  trifeln 
drehen;  aaftrifeln  etw.  figürl.  es  durch  Nachfpüren,  Wenden,  Betrachten 
nach  allen  Seiten  anfiinden;  dann  auch  geifernd  reden,  fpotten.  6  a..lo-'' 

eher  d.  Dr.         erfchliefen  etw.  wohineinfchlüpfen,  kriechen.  7  pun- 

kern pauken,  ßoßen,  klopfen.  Sehmeller  1,  287  punken.  8  glunkern 
wol    hier  fehlendem,   fchlndern.  9  fappen   mit   einem   gewilTen  Laut  im 

Schmutz   herumtreten  SchmeJler  3,  275.  10  von   not  mit  Aufgeben  der 

eigentl.  Bdtg.  gewilTer  Maßen  nur  Folgerungsconjunction ,  daher,  darum:  Tgl. 
Sehmeller  2,  717  fg. 


80. 

Klopf  an,  du  fürwiz  a ! 

Wie  laufll  du  in  der  fchnurr  umb  noch? 
Lfig  daß  dir  nicht  zfi  kum  dein  gleich 
Und  dir  wol  halt  ein  fei  ab  ftreich, 
5     Darzu  den  bauch  vol  buben  mach. 
Wer  meinfhi  der  fein  denn  nit  lach? 
Ich  riet,  du  giengß  und  legH  dich  nider, 
So  mochtft  du  morgen  aufHen  wider, 
Deiner  herfchaft  heizen  und  kern, 
10    E  daß  man  dir  den  rück  werd  pem, 
Darmit  man  dir  den  lurwiz  bfißt, 
Daß  dich  keins  klopfens  mer  geliiD;. 

Zeile  1  fürwiz  Adjecti^um  vorwitzig  Sehmeller  4,  207.  a..loch  d.  Dr. 

2  die  fchnurr  das  Hemmfchnurren ,  d.  h.  mit  Singen,  MuHcieren  etc  her- 
umhetteln  Sehmeller  3,  494^.  3  lug  fieh  zu.  6  fein  neutral,  delTen, 
darüber.         8  m6chft.         auffftehen.         10  pern  prügeln. 

Diefe  Klopfan  gehen,  wie  fie  felbß  angeben,  auf  die  Neu- 
jahrszeit:  ob  gerade  auf  den  Neujahrstag  oder  die  ihm  vor- 
aufgehende  Nacht,  mochte  ich  dahin  gellellt  fein  laßen,  denn 
das  in  mehreren  derfelben  als  gleichzeitig  erwähnte  Geburts- 
fest ChriAi  könnte  fie  etwas  früher  fetzen.  Doch  iß  es  auch 
möglich,  daß  man  die  ganze  Weihnachtszeit  in  Baufch  und 
Bogen,  alfo  die  Zeit  zwifchen  Weihnachten  und  Großneujahr 
gemeint  hat.  Wir  erkennen  in  diefen  Klopfan  manchen  alt- 
iiberlieferten,  echt  volksmäßigen  Zug,  im  Ganzen  aber  find  fie 
keineswegs  alte  Sprüche,  die  etwa  feit  geraumer  Zeit  fchon 
immer  an  diefen  Tagen  wiederholt  worden  wären;  ihre  Form 
und  Inhalt  zeigt  fie  als  Producte  der  Kunßpoefie.  Sind  doch 
bei  einigen  die  Verfaßer  geradezu  genannt,  beziehen  fich  doch 


124 


welche  auf  ganz  fpezielle  Vorfalle,  wie  fie  das  vergangene  Jahr 
in  Nürnberg  (und  diefer  Stadt  werden  wir  wol  alle  zuzu- 
weifen  haben)  vorgekommen  find  und  die  nun  fatirifch  ausge- 
beutet werden.  Eine  andere  Frage  aber  iß,  ob  diefe  Sprüche 
blos  niedergefchrieben  und  gelefen  worden  find,  oder  ob  fie  auf 
wirklichen  Vortrag,  vielleicht  von  dramatifcher  Handlung  be- 
gleitet, berechnet  waren,  d.  h.  ob,  wie  zu  anderer  Zeit  dieFas- 
nachtfpiele  durch  herumziehende  vermummte  Perfonen  in  den 
Häufern  gefpielt  wurden,  fo  diefe  noch  einfacheren  Stücke  vor 
den  betreflfenden  Häufern  (vielleicht  mit  allerhand  lärmendem 
Beiwerke)  förmlich  vorgetragen  worden  find.  Ich  vermute  das 
letztere,  kann  es  aber  leider  durch  ZeugnilTe  jetzt  nicht  belegen. 
Die  Vermutung  wird  geßützt  durch  ähnliche  in  diefe  Zeit  fal- 
lende Bräuche  aus  anderer  Gegend,  die  wir  im  Verlaufe  der 
Unterfuchung  beibringen  werden.  Gerade  auf  das  den  Klopfan 
eigene  fatirifche  Element  wird  hierbei  befonderes  Gewicht  zu 
legen  fein. 

Woher  aber  der  Name  Klopfan?  War  es  vielleicht  üb- 
lich, in  diefer  Jahreszeit  herumzuziehen  und  an  den  Häufern 
anzuklopfen  und  hat  fich  dann  an  diefe  Sitte  das  in  Frage 
flehende  poetifche  Spiel  angelehnt?  Und  wenn  die  Sitte  be- 
ftand,  war  fie  alt  und  worauf  bezog  fie  fich?  Lebt  fie  vielleicht 
noch  bis  auf  den  heutigen  Tag?  In  welchen  Gegenden  dann 
und  in  welcher  Gellet?  Das  foll  den  Gegenfliand  unferer  Un- 
terfuchung ausmachen. 
<  In  Nürnberg  war  ein  alter  Gebrauch,  daß  junge  Leute 

<i!am  6.  Januar  *ind  der  Oberftnacht^  mit  Hämmern,  Schlegeln 
"^^und  Prügeln  den  Leuten  an  die  Hausthüren  und  Läden  unge- 
/  ßüm  fchlugen  und  pochten  und  fich  dann  eilig  aus  dem  Staube 
machten.     Man  nannte  diefe  Nacht  davon  die  Klopfe Isnaoht. 
Siebenkees  Material.  3,  380. 

Die  Klopfleinsnacht  iß  noch  heutzutage  in  Baiern  be- 
kannt und  zwar  iß  fie  der  Abend  des  letzten  Donnerstags 
vor  Weihnachten,  ja  diefer  ganze  Tag,  und  in  weiterer  Be- 
deutung jeder  der  letzten  drei  Donnerstage  in  der  Advent- 
zeit, an  welchen  arme  Leute  und  Kinder,  die  fonß  eben  nicht 
betteln,  vor  den  Häufern  auf  dem  Lande  herumgehen  und  in- 
dem fie  mit  hölzernen  Hämmerchen  oder  fonß  an  die  Thüren 
klopfen  und  einen  gewilfen  Reimfpruch  herfagen,  fich  eine 
Gabe  ausbitten,  die  gewöhnlich  aus  Eßwaaren,  Brot,  Küeoheln, 


125 


Klotzen   u.    dergl.    beßebt.     Der    bierbei   gewobnlichfte    Reim- 
fprucb  beißt: 

Holla,  holla,  klopf  a! 
dfrau  hat  en  fchön  ma. 
geit  me  dfrau  en  küechel  xlo, 
das  i  en  herrn  globt  ha, 
en  küechel  und  en  zeltn 
de  Peda  werds  vegeltn. 
de  Peder  \a  a  haiige  ma, 
der  alle  ding  vegeltn  ka. 

oder: 

Heit  is  kleplsnaeht. 
wer  hats  au  bracht? 
unfes  herrn  Thame 
rumpelt  ei  de  kämme, 
laft  sftiagl  auf  und  a, 
bricht  cem  e  fiießl  a. 
wer  mueß  s  büeßn? 
dfrau  mitn  küechlfpitz, 
dmagd  mitn  ftückl  brot. 
sfeue  hört  me  krache, 
küechl  werd  me  bache, 
dfchlüßl  hört  me  klinge, 
küechl  werd  me  bringe, 
küechl  rauß,  küechl  raußl 
oder  i  fchlag  e  loch  is  haus. 

So  ScbmeUer  im  bairifcben  Worterbucbe  2,  361  £  v.  Klap£ 
Er  fübrt  ferner  an,  daß  (nacb  Spieß,  Arcbivar.  Nebenarbeiten 
2,  88)  die  Gebräucbe  des  Anklopferleinstags  oder  der 
Klopflisnacht  aucb  an  proteftantifcben  Orten  Baiems  noch 
Statt  baben.  In  Franken  pflegen  die  Kinder  bei  ihrem  An- 
klopfeln  zu  fagen: 

Klopfe,  klopfe,  hämmerle! 

sbrot  ligt  inn  kämmerle, 

smeßer  ligt  dernebm: 

folt  mer  eppes  gebm, 

gut  tal,  gut  tal, 

und  mein  gfelln  a  en  tal. 


oder: 


Apfel  rauß,  bim  rauß! 

ge  mer  in  en  anderfch  haus. 


126 


oder: 


oder: 


Drauß  inn  tenne 
lafm  dfafhi  henne. 
drobm  inn  firft 
hange  di  würft. 
get  mer  di  lange, 
laßt  di  karzn  hange! 


Klopf  a,  klopf  a! 
di  bäurin  hat  en  fchon  ma, 
di  bäiirin  is  e  fchone  fra, 
was  R  hat  des  gibts  mer  a. 


Vor  einigen  Thüren  fpreclien  fie  auch: 

Die  Rofen  die  Rofen  die  blühen  auf  dem  Stengel, 
Der  Herr  iß  fchön,  die  Frau  ift  wie  ein  Engel. 

Bei  den  Schneidern  klopft  man  mit  folgendem  Reime  an: 

On  klopfa  heiige  nochtl 
dgas  hat  de  fchneider  gjogt, 
hat  'n  gjogt  biß  oba  nauß, 
fpringt  der  fchelm  zum  loda  nauß. 

Vgl.  Journal  von  und  für  Franken  5  Band  S.  408  fgg. 

In  Miinchen  ift  es  üblich,  daß  in  der  Klopflesnacht 
oder,  wie  man  hier  fagt,  Kröpfeisnacht  die  Mägde  bei  den 
Erannern,  Metzgern  etc.,  wo  fie  das  Jahr  hindurch  einkauften^ 
und  die  Handwerkslehrjungen  bei  den  Kunden  ihrer  Meißer 
eine  kleine  Gabe  in  Geld  oder  fonft  erhalten,  welche  Gabe  lie 
dann  ebenfalls  ihre  Kropfeisnacht  nennen.     Schmeller  2,  362. 

In  Baiern  und  Franken  findet  alfo  noch  heute  diefer  Brauch 
des  Anklopfens  und  Gabeheifchens  am  letzten  Donnerstage  vor 
Weihnachten  oder  mitunter  noch  ausgedehnter  überhaupt  an 
den  Adventsdonnerstagen  Statt.  In  Kärnten  herrfcht  diefelbe 
Sitte,  aber  an  den  Dienstagen.  Da  ziehen  Abends  die  Bur- 
fche  von  Haus  zu  Haus  und  klocken  d.  h.  klopfen.  Die  Leute 
im  Haufe  rufen: 

Biß  a  mon, 
fchloag  brav  drun! 
biß  a  bue, 
fchloag  brav  snel 


125 


Klotzen   u.    dergl.    beßebt.     Der    bierbei   gewobnlicbfte    Reim- 
fprucb  beißt: 

Holla,  holla,  klopf  a! 
dfrau  hat  en  fchon  ma. 
geit  me  dfrau  en  küechel  zlo, 
das  i  en  herrn  globt  ha, 
en  küechel  und  en  zeltn 
de  Peda  werds  vegeltn. 
de  Peder  is  a  haiige  ma, 
der  alle  ding  vegeltn  ka. 

oder: 

Heit  is  klepls nacht, 
wer  hats  au  bracht? 
unfes  herrn  Thame 
rumpelt  ei  de  kämme, 
laft  sftiagl  auf  und  a, 
bricht  eem  e  fiießl  a. 
wer  mueß  s  büeßn? 
dfrau  mitn  küechlTpitz, 
dmagd  mitn  ftückl  brot. 
sfeue  hört  me  krache, 
küechl  werd  me  bache, 
dfchlüßl  hört  me  klinge, 
küechl  werd  me  bringe, 
küechl  rauß,  küechl  raußl 
oder  i  fchlag  e  loch  is  haus. 

So  ScbmeUer  im  bairifcben  Worterbucbe  2,  361  £  v.  Klapf. 
Er  fübrt  femer  an,  daß  (nacb  Spieß,  Arcbivar.  Nebenarbeiten 
2,  88)  die  Gebrauebe  des  Anklopferleinstags  oder  der 
Klopflisnacbt  auch  an  proteßantifcben  Orten  Baiems  noch 
Statt  haben.  In  Franken  pflegen  die  Kinder  bei  ihrem  An- 
klopfein zu  fagen: 

Klopfe,  klopfe,  hämmerle! 

sbrot  ligt  inn  kämmerle, 

smeßer  ligt  dernebm: 

folt  mer  eppes  gebm, 

gut  tal,  gut  tal, 

und  mein  gfelln  a  en  tal. 


oder: 


Apfel  rauß,  bim  rauß! 

ge  mer  in  en  anderfch  haus. 


128 


Sonft  heißen  diefe  NäoLte  auch  Bochselnächte  (vergl. 
Deutfehes  Wörterb.  der  Brüder  Grimm  f.  v.)  von  bochslen, 
lärmen,  durch  polterndes  Gehen,  Stoßen  oder  Werfen  einen 
Lärm  machen. 

Wir  bringen  weiter  unten  älterere  ZeugnilTe  für  diefe  Sitte 
und  die  Zeit,  in  welcher  fie  Statt  fand,  bei  und  wenden  uns 
vor  der  Hand  zu  einer  ähnlichen,  ihr  ohne  Frage  verwanten, 
die  aber  an  einem  andern  Tage  gilt,  nämlich  dem  unfchul- 
digen  Kindlein  Tage,  der  auf  den  vierten  Weihnachtsfeier- 
tag (28.  Dezember)  fällt. 

Noch  immer  herrfcht  an  vielen  Orten  Deutfchlands  die 
Sitte,  daß  an  diefem  Tage  die  Kinder  auf  den  Straßen  umher- 
ziehen, mit  Ruthen  oder  grünen  Reifern  die  Vorübergehenden 
fchlagen,  auch  wol  in  die  Häufer  kommen  und  bei  lautem  An- 
klopfen mit  diefen  Ruthen  eine  Gabe  erbitten.  In  Thüringen 
ift  das  noch  an  vielen  Orten  gebräuchlich.  Die  Verwantfchaft 
mit  der  vorigen  Sitte  fpringt  in  die  Augen:  auch  der  Name 
fpricht  dafür.  Jene  nannte  man  Klopfen,  Glöckeln,  diefe  heißt 
Klingeln  und  der  vierte  Weihnachtstag  der  Klingeltag. 
Wir  begegnen  diefem  Namen  noch  in  mehreren  thüringifchen 


heit  Behafteten,  namentlich  die  Mifelfüchtigen,  die  zu  ihres  gleichen  in  abge- 
fonderte  Häufer  verwiefen  waren.  So  heißt  es  in  Rudolfs  Ton  Ems  Reim- 
chronik mit  Bezug  auf  Numeri  5,  2 

ouch  hieg  got  fundern  von  der  fehar 

die  mifeUuhtigen  gar, 

als  noch  her  an  dife  friA 

der  fite  wol  behalten  ift 

dag  man  Ton  den  gefunden 

n  fundert  zallen  ftunden. 

Noch  zu  Ende  des  18.  Jahrhunderts  fah  man  zu  München  an  den  Quatembem 
die  Sunderfiechen  in  fchwarzen  Mänteln  und  fpitzen  Hüten  Almofen  fammeln, 
indem  fie  mit  einem  hölzernen  Kläpperchen  klapperten  und  in 
fingendem  Tone  ihren  gewöhnlichen  Spruch  fagten 

Gebts,  gebts, 
weilts  lebtsl 
wennts  nimme  lebts, 
künnts  nimme  gebm. 
gebts,  gebts, 
weilts  lebts  t 


129 


Waldorten  z.  B.  in  Hohen  fei  den  bei  Kranichfeld,  4  Stunden 
von  Weimer:  da  fchwärmen  am  benannten  Tage  trotz  dem  Ver- 
bote (weil  es  in  die  Kategorie  Bettelei  fallt)  die  Kinder  auf 
den  Gaßen  und  fchlagen  mit  Birkenreifeijn  (dort  wachfen  meiß 
nur  Birken)  die  Vorübergehenden  um  die  Beine.  Früher  be- 
kamen die  Kinder  allgemein  dafür  Aepfel,  Nüße,  Pfefferfchei- 
ben  und  Stücke  Schittchen,  jetzt  fpenden  nur  noch  Einige. 
Früher  hat  man  auch  dabei  gefungen:  das  ift  in  Folge  der  po- 
lizeilichen Verbote  nun  abgekommen.  In  Weida  (auch  im 
Weimarifchen)  gehen  an  diefem  Tage  die  Kinder  mit  Tan- 
nenzweigen, oft  fehr  großen,  umher  und  fchlagen  auf  den 
Straßen  damit,  wer  fich  blicken  läßt,  dringen  auch  in  die  Häu- 
ser, prügeln  die  Dienfimädchen  und  heifchen  eine  Gabe.  Dazu 
haben  fie  einen  Spruch.  Diefelbe  Sitte  (und  Sprüche  dabei)  ift 
auch  in  Großbrembach  zwifchen  Weimar  und  Kölleda.  Im 
Orlagau  herrfcht  diefer  Brauch  auch  noch,  aber  hat  hier  am 
zweiten  und  dritten  Weihnachtfeiertage  Statt.  Er 
heißt  dort  das  Peitfchen  mit  frifchem  Grün.  Am  zweiten 
Feiertage  peitfchen  die  Mädchen,  confirmierte  und  nicht  con- 
firmierte.  Sie  gehen  zu  den  Eltern,  Pathen  u.  f.  w.  vorzugs- 
weife  mit  frifchen  Tan nenr eifern  und  fchlagen  damit.  Das- 
felbe  thun  dann  am  3.  Feiertage  die  Knaben  und  jungen  Bur- 
fche.  Dienftleute  bedienen  fich  gegen  ihre  Herrfchaft  eines 
Rosmarinftengels.     Der  Spruch  dabei  lautet: 

Guten  Morgen  1 
FrlTcbes  Grün! 
Langes  Leben! 
Ihr  foUt  mir  ein  blanken  Thaler  (Nüße  etc.)  geben. 

Die  drei  erßen  Zeilen  find  beim  Peitfchen  immer  diefelben  für 
all^,  nur  die  letzte  wird  nach  Verfchiedenheit  der  Perfonen 
und  Verhältniffe  verändert.     So  viel  für  jetzt  von  Thüringen. 

In  Schwaben,  der  Oberpfalz  und  einigen  Gegenden 
Frankens  pflegen  am  unfchuldigen  Kiudleintage,  der 
darnach  der  Pfeffer  tag,  Pfefferl  einstag  heißt,  die  kleinen 
und  wol  auch  großen  Jungen  bei  den  kleinen  und  großen  Mäd- 
chen herum  zu  gehen  und  fie  mit  einem  Rütchen  von  Wach- 
holder u.  dergl.  auf  die  Finger  oder  um  die  Beine  zu  fchlagen, 
wofür  dann  eine  kleine  Gabe  zu  reichen  ift.  In  der  Oberpfalz 
fpricht  man  dabei  den  Spruch: 

fFeiimar,  Jb,  IL  9 


130 


is  de  pfefPe  rass, 
weiten  leifn  a? 


Am  Neujahrstage  ifl  dann  die  Reihe  zu  pfeffern  an  den 
Mädchen.  Das  'Pfeffern  am  unfchuldigen  Kindleinstag'  fin- 
det fich  verboten  in  einer  altern  bayreutifchen  Polizeiordnimg. 
Schmeller  im  bairifchen  Wörterbuche  1.  Seite  306  fg.  imter 
pfeffern.  Derfelbe  vermutet  auch,  jene  kleine  Gabe  habe  wol 
urfprünglich  ein  P  f  e  f  f  e  r  z  e  1 1  e  n ,  Pfefferkuchen  fein  müßen  und 
fügt  aus  einer  münchifchen  Handfchrift  des  Virgil  (X. — XI.  Jhdt) 
die  Interlineargloffe  bei:  liba  pheforceltun.  Noch  heutzutage 
darf  bei  Weihnachtbefcheerungen  der  Pfefferkuchen  nicht 
fehlen:  denn  was  im  Katholicismus  auf  die  verfchiedcnen  klei- 
nen Feßtage  um  Weihnachten  fällt,  ift  im  Proteftantismus  auf 
das  eine  Weihnachtfefl  vereinigt  worden.  Am  Epiphaniastage 
hatte  man  früher  in  Franken  noch  einen  ganz  befondern  Brauch 
mit  Pfefferkuchen,  wie  Joannes  Boemus  (Anfang  des  16.  Jhdts.) 
erzählt.  *)  Jede  Hausmutter  buk  an  diefem  Tage  einen  Pfeffer- 
kuchen und  ließ  unverfehens  ein  kleines  Geldftück  in  den  Teig 
fallen.  Wenn  dann  der  Kuchen  fertig  gebacken  war,  zerfchnitt 
man  ihn  in  fo  viele  Teile  als  Glieder  die  Familie  hatte.  Wer 
in  feinem  Teile  dann  das  Geldftück  fand,  der  ward  von  den 
übrigen  unter  Ceremonien  als  König  begrüßt  und  mufte  mit 
Kreide  Kreuze  an  die  Balken  machen,  die  als  ganz  befonders 
gegen  Unheil  fchützend  betrachtet  wurden. 

Auch  im  Bairifchen  bei  Lichtenfels  (wenige  Stunden 
von  Koburg)  ziehen  am  unfchuldigen  Kindleins  tage  die 
Jungen  herum  mit  Rosmarinftengeln  u.  dgl.  und  'pfeffern*  die 
Mädchen,  d.  h.  fchlagen  fie  leicht  damit  an  die  Beine.  Der 
Spruch  ift: 


*)  Joannes  Boemus  Omnium  gentium  leges  et  ritus  unter  Franconla : 
In  Epiphania  domini  fingulie  lamiliae  ex  melle  farina  addito  zinzibere  et  pipere 
libum  conficiunt  et  regem  übi  leguut  hoc  modo :  libnm  materfamilias  facit,  oui 
absque  confideratione  inter  fnbigendum  denarium  nnum  immittit,  poßea  amoto 
igne  fupra  calidum  fooum  illiid  torret,  tofhim  in  tot  partes  frangit  quot  homi- 
nes  familia  habet:  demum  distribuit  cuiqne  partem  unam  tribueus.  Adlignan- 
tur  etiam  ChriAo  bcata^que  virgini  et  tribns  magis  fuse  partes,  qufe  loco  elee- 
mofynse  elargiuntur.  In  cujus  autem  portione  denarius  repertus  fuerit,  hie 
rex  ab  omnibus  falutatus  in  federn  locatur  et  ter  in  altum  cum  jubilo  elevatur: 
ipfe  in  dextra  cretam  habet,  qua  toties  lignum  crucis  fupra  in  triciinii  laquea- 
riis  delineat,  qute  cruces,  quod  obftarc  plur.mis  maus  credantur,  in  multa  ob- 
fervatione  habontur. 


131 

Da  komme  ich  her  getreten 
mit  meiner  frifchen  Gerten, 
mit  meinem  frifchen  Mut 
Schmeckt  der  Pfeffer  tag  gut? 

Dafür  erhalten  fie  Äpfel,  Nüße,  einen  Pfennig,  ganz  Arme  auch 
ein  Stückchen  Brot.  Umgekehrt  ziehen  dann  am  Neujahrs- 
tage  die  Mädchen  herum  und  pfeffern  auf  diefelbe  Art  die 
Knaben.  Sie  haben  dazu  den  gleichen  Spruch,  der  in  der  letz- 
ten Zeile  nur  lautet: 

Schmeckt  das  neue  Jahr  gut? 

Was  in  jenen  genannten  Gegenden  pfeffern  heißt  von 
der  Gabe  alfo,  die  man  erhält,  derfelbe  Brauch  heißt  im  Bai- 
reutifchen  fizeln  von  der  Art,  wie  man  dem  Begehren  Nach- 
druck verleiht:  'fizeln'  ift  'öfters  fitzen'  d.  i.  mit  der  Ruthe 
fchlagen.  Gefizelt  wird  hier  mit  grünen  Rütchen  oder  mit 
Buchsbaum-,  Rosmarin-,  Lorbeer-,  und  andern  grünen  Zwei- 
gen, auch  wie  dort  um  eine  Gabe  an  Geld  oder  Eßwaaren,  den 
fogenannten  Fizelslon,  mit  den  Worten: 


Schmeckt  der  Pfeffer  gut? 


oder: 


Ift  das  Pfefferles  Brot  gut? 
ifts  gefalzen, 
ifts  gefchmalzen? 

Der  unfchuldige  Kindleinstag  heißt  daher  der  Fizelstag. 
Der  alte  Brauch  des  perlonlichen  Fizelns  ift  bereits  fchon  bei 
den  Vornehmern  verfeinert,  indem  man  nur  eine  Fizelsruthe 
überfendet.  Eine  Verordnung  von  1731  verbietet,  'daß  die  Kin- 
der nicht  mehr  am  Neujahrstage  zum  Betteln  und  fogenann- 
ten Fizeln  herumlaufen  Ibllen.'  Schmeller  im  bair.  Wörterb. 
1,  580  f.  V.  fitzen.  *) 


•)  Da  unfere  Weihnachtgebräuche  fich  vielfach  mit  Frühlingsbräuchen 
berühren,  (auch  die  dabei  üblichen  Lieder  und  Sprüche  ftimmen  häufig  zu- 
fammen),  fo  wollen  wir  hier  eines  ungrilchen  Brauches  gedenken,  der  an 
den  Oftertagen  Statt  hat  und  wobei  fowol  das  Fitzen,  als  die  Gegenfei- 
tigkeit  zu  bemerken  ift.  Ich  kenne  diefen  Brauch  namentlich  aus  dem  Pres- 
burger,  Neutraer  und  Barser  Comitate.  Am  Oftermontage  werden  die  Mäd- 
chen Ton  den  Burfchen  mit  Waßer  übergoßen,    wo    iie    (ich    irgend 

9* 


132 


Ein  anderer  Name  für  denfelben  Brauch  am  Tage  der  un- 
fchuldigen  Kindlein  ift  kindein,  aufkindeln.  Auch  die  noch 
Schlafenden  pflegen  dann  von  den  früher  Erwachten  mit  einer 
Ruthe  aufgekindelt  zu  werden. 

Und  an  dem  lieben  Kindlenstag 
Geht  heftig  an  der  Jungfern  Platz : 
Dann  um  Lebzelten  fie  zu  hauen 
Viel  junge  Purfch  lieh  laßen  fchanen. 

heißt  es  im  augsburgifchen  *S  Jahr  ein  MaF  von  1764.  Schmel- 
1er  im  bair.  Wörterb.  2,  310  f.  v.  kindein.  Diefer  Name  der 
Brauchs  ift  offenbar  von  dem  Tage  hergeleitet,  an  dem  er 
Statt  hat. 

Betrachten  wir  nun  die  bisher  beigebrachten  Belege  etwas 
näher.  Faß  überall  handelt  es  fich  hier  um  eine  Gabe,  die 
entweder  geradezu  geheifcht  wird,  oder  die  doch  nicht  außen 
bleibt,  auch  wenn  man  fie  nicht  verlangt.  Dreierlei  ifts  was 
hier  in  Betracht  kommt:  zuerft  die  das  Heifchen  oder  Spenden 
der  Gabe  begleitenden  Umftände,  dann  die  Gabe  felbft  und  zu- 
letzt zu  welcher  Zeit  der  Brauch  Statt  hat. 

Die  näheren  Umftände  beim  Heifchen  der  Gabe  anlangend, 
fo  wird  in  Baiern ,  Franken ,  Schwaben ,  im  Salzburgifchen  und 
in  Kärnten  angeklopft,  an  die  Thüren  gefchlagen,  und  da- 
bei kann  das  Inftrument,  mit  dem  dies  gefchieht,  nicht  gleich- 
giltig  fein.  Wenn  es  ein  Hämmerchen  von  Holz  oder  etwas 
anders  ift,  fo  ift,  früher  wenigftens,  die  Holzart  ficher  beftimmt 


blicken  laßen  und  zwar  mit  ganzen  Eimern,  fo  daß  fie  melft  bis  aufs  Hemd 
durchnäßt  werden.  Wo  der  Adel  die  Sitte  noch  mitmacht,  ift  das  Ausgießen 
aus  Waßereimem  zu  Befprengcn  aus  Fläfchchen  mit  Rofenwaßer  TerfeinerU 
Dafür  rächen  fich  dann  aber  am  Ofierdienfiage  die  Mädchen  mit  Fitzel- 
ruthen. Diefe  werden  aus  Weidengerten  oft  fechs-  bis  achtfach  geflochten 
und  mit  bunten  Bändern  oder  Streifen  von  farbigem  Zeuge  umwunden  und 
verziert.  Solch  eine  Fitzelruthe  heißt  schibäk,  von  schibät  fitzeln  (im  Slova- 
kifchen):  fie  werden  zu  der  Zeit  in  jeder  Große  und  Stärke  feil  geboten. 
Mit  diefeni  Schibäk  nun  prügeln  die  Mädchen  auf  die  Burfche  los,  wo  fie  ih- 
rer habhaft  werden,  nicht  gerade  auf  die  fanftefie  Art,  fo  daß  es  ihnen  durch 
die  trauen  ungrifchen  Höfen  hindurch  ziemlich  fühlbar  fein  muß.  Selbft  die 
geifilichen  Herren  bleiben  mitunter  von  den  Streichen  der  rächenden  Dorf- 
fchoncn  nicht  verfchont  und  ertragen  ihr  Schickfal  je  nach  ihrem  heiteren 
oder  murrifchen  Naturell. 


133 


gewefen,  aus  der  das  Inftrument  gefertigt  fein  muße.  In  man- 
chen Gegenden  wird  nicht  an  die  Thüren  geklopft,  fondem 
man  fchlägt  Andere  mit  Rnthen  von  Tannen,  Wachholder  oder 
Sträuchen,  die  zu  diefer  Zeit  noch  grün  und.  Das  dürfte  wol 
das  Haupterfordernis  dabei  gewefen  fein.  Ich  vermute,  ur- 
fprünglich  waren  es  nur  Tannenreifer  die  man  in  der  Hand 
trug.  Der  Tannenbaum  fpielte  eine  Rolle  bei  den  heidni- 
fchen  Feßgebräuchen  zur  Zeit  unferer  jetzigen  Weihnachten. 
Er,  der  trotz  Schnee  und  Eis  immer  grüne,  gab  ja  das  beße 
Symbol  ab  für  das  unaufhörliche  Walten  in  der  fcheinbar  tod- 
ten  Natur,  er  verfinnlichte  das  Verblühte  und  Abgewelkte  und 
weckte  die  Hoffnung  anf  das  junge  Grün  des  kommenden  Früh- 
lings. In  diefem  Sinne  iA  auch  die  englifche  Sitte  zu  betrach- 
ten das  Haus  zu  Weihnachten  mit  Grün  zu  fchmücken.  üufer 
Tannenbaum,  der  zu  Weihnachten  den  Klindern  errichtet  wird, 
iß  heidnirches  Urfprungs:  er  war  eines  der  Symbole  der  heid- 
nifchen  Gottheit.*) 


*)  Beweifend  hierfür  ift  der  Name  Bechl-  oder  Weibnachtbofchen, 
die  in  einer  falzburgifchen  Waldordnung  von  1755  verboten  werden  (Schmel- 
1er  1,  195)  d.  i.  Berchtlbofchen,  worin  ßch  aUb  der  Name  der  heidni- 
Tchen  Göttin  erhalten  hat.  Der  Bofchen  ift  ein  einzelner  Bnfch,  befondcrs 
von  Nadelhol  f  Schmeller  1,  214.  Der  Ausfall  des  r  in  Bechl  ift  mondartUch, 
fo  auch  in  der  Schweiz  Bechteli  Stalder  1,  150.  —  Die  Sitte  den  Weih- 
nachtbaum zn  putzen  und  anzuzünden  galt  lange  als  eine  fpezififch  pro- 
t^ftantifche.  Der  ProteAantismus  hatte  alle  Mummereien  und  fonftige 
Bräuche,  die  in  den  Zwölften  üblich  waren,  teils  getilgt,  teils  lieh  ihnen 
feindlich  erwiefen,  weil  fie  zu  fehr  nach  Paganismus  fchmeckten  und  um  fich 
dadurch  vom  Katholicismus  fchärfer  abznfcbeiden.  Unzählige  Äußerungen 
der  Leiter  der  reformatorifchen  Bewegung  im  16  Jahrhundert  ließen  fich  hier- 
für beibringen.  Auch  die  Bräuche  des  Nicolasabends  fuchte  man  zu  befeiti- 
gen:  die  zu  diefer  Zeit  üblichen  Gefchenke  aber  übertrug  man  ausfchließlich 
auf  den  Weihnachtabend  um  dadurch  diefem  grösten  Fefte  auch  in  den  Au- 
gen der  Sünder  eine  höhere  Weihe  zu  geben.  Man  ließ  von  allen  fotifti- 
gen  Bräuchen  nur  den  Weihnachtbaum  gelten,  der  zugleich  eine  fymboli- 
fche  Deutung  zuließ.  Er  follte  den  Kindern  jenen  fruchtbringenden  Zweig 
vom  Stamme  Kai  verfinnlifchen ,  die  brennenden  Lichter  auf  das  große  Licht 
hinweifen,  das  den  Völkern  im  Finßem  aufgegangen  war  und  die  Gefchenke 
dabei  auf  jenes  große  das  an  diefem  Tage  den  Menfchen  gefchenkt  worden. 
Die  Protestanten  hielten  an  diefer  Sitte  eben  fo  feft  als  die  Katholiken  aus 
Oppofition  fie  mieden.  Erft  im  Laufe  diefes  Jahrhunderts  hat  fie  aufgehört 
ein  ausfchließlich  confelUonelles  Kennzeichen  zn  bilden.  In  Deutfchland  fel- 
ber  ift  &e  allgemein   geworden,  fo  z.  B.   entfchieden  in  den  Bheinlanden^ 


134 


Die  Sprüche,  die  gefprochen  werden,  find  meiß  bloße 
BettelTprüche,  doch  dürfte  vielleicht  in  den  kärntifchen  no<^ 
etwas  zu  Tuchen  fein.  Da  aufs  Klopfen  von  innen  heraus  ein 
Spruch  folgt  und  der  Klökler  in  entfprechenden  Reimen  ant- 
worten muß,  fo  liegt  die  Vermutung  nahe,  es  könne  diefer 
Brauch  aus  einer  Art  von  (vielleicht  halb  improvifiertem)  Spiel  lieh 
herfchreiben ,  das  uns  hier  in  feinen  letzten  Bruchllücken  vor- 
liege.  Es  muß  dies  natürlich  voll  mythifcher  Züge  gewefen  fein 


wo  ße  dnrch  die  größere  Zahl  ProteAanten,  die  feit  der  preußirchen  Herr- 
fchaft dafelbft  ßch  befinden,  an  Ausbreitung  gewonnen  hat  und  jetzt  auch  bei 
den  Katholiken  je  mehr  und  mehr  Anklang  findet.  Auch  über  die  deutfchen 
Grenzen  hinaus  iß  ße  gegangen i  nach  Frankreich  befonders  unter  Lonis 
Philipp  durch  die  proteßantifche  Herzogin  von  Orleans.  Auch  imOften  unter 
den  Slaven  hat  ße  ßch  verbreitet,  befonders  in  den  ößreichifchen  Kronlän.- 
dem.  In  Ungarn  kannte  man  vor  30  Jahrsn  noch  keinen  Weihnachtbaum, 
vor  etwa  20  Jahren  brannten  die  erßen ,  jetzt  zündet  man  fchon  viele  an, 
doch  nur  in  den  hohen  Familien ,  nicht  beim  Volke.  —  Daß  das  Putzen  und 
Anzünden  folcher  Bäume  weit  über  den  Protedantismus  hinaufreicht,  zeigt 
eine  fchweizerifche  Sitte  (in  den  Vierwaldßätten ,  Zug,  Zürich,  Schaffhaufen, 
Bünden ,  Glarus) ,  wo  am  Nikolausabende  eine  vermummte  Perfon 
kommt,  Samiklaus  genannt,  d.  i.  Sant  Niclaus  mit  einem  Butzmann  in 
fürchterlichem  Aufzuge,  Schmutzli  (dem  deutfchen  Knecht  Ruprecht)  und 
Gefchenke  bringt  um  die  fleißigen  Kinder  aufzumuntern,  die  faulen  aber  sa 
fchrecken.  Diefe  Gefchenke  des  Samiklaus  werden  öfters  an  ein  dazu  ver- 
fertigtes mit  Flittergol  d  ausgez  iertes  oder  mit  kleinen  Wachs- 
lichtern Terfehenes  Bäumchen  gehängt  Stalder  2,  299.  Hier  haben 
wir  alfo  die  Sitte  an  einem  reinkatholifchen  Feßtage  aus  proteßantifcher  2«eit« 
Die  Legende  jenes  Heiligen  entbehrt  durchaus  eines  Zuges,  von  dem  man  daa 
Baumfehmücken  herleiten  könnte:  es  iß  alfo  ein  älterer  Brauch,  der  auf 
das  Feß  des  Heiligen  übertrageu  iß  wie  die  Befcheenmg.  —  Daß  aber  der 
Weihnachtbaum  auch  bei  proteßantifehen  Geißlichen  Anßoß  erregt  hat,  da- 
für hier  nur  eine  Stelle.  Dannhauer  Lact.  Catechct.  V.  p,  649  lagt:  'Unter 
andern  Lappalien,  damit  man  die  alte  Weihnacht/eit  oft  mehr  als  mit  Got- 
tes Wort  begehet,  iß  auch  der  Weihnachtbaum  oder  Tannenbaum, 
den  man  zu  Haufe  aufrichtet,  denfelben  mit  Puppen  und  Zucker  be^ 
hängt  und  ihn  hernach  fchütteln  und  abblümen  läßt.  Wo  die 
Gewohnheit  herkommen,  weiß  ich  nicht:  iß  ein  Kinderfpiel,  doch  beßer  als 
andere  Phantaße,  ja  Abgötterei,  fo  man  mit  dem  Chrißkinde  pfiegt  zu  treiben 
und  alfo  des  Satans  Kapelle  neben  die  Kirche  baut,  den  Kiaderu  eine  folche 
Opinion  einbringet,  daß  ße  ihre  innigliche  Kindergebetlein  für  dem  vermunun- 
ten  und  vermeinten  Chrißkindlein  faß  abgöttifcher  Weis  ablegen.  Viel 
beßer  wäre  es,  man  weifete  ße  auf  den  geißlichen  Cedernbaum  Chri- 
ftum  Jefum.' 


135 


und  vielleicht  ift   die  Bemerkung,   der    Klökler   fei    aus    einem 
todten  Roffe  gefchloffen,  eine  dunkle  Erinnferung  daran. 

Die  Gabe,  die  man  reicht,  befieht  hauptßlchlich  aus  dem 
für  diefe  Zeit  hergebrachten  Backwerke,  das  meift  in  altvorge- 
fchriebenen  Formen  und  mit  beftimmten  bedeutungsvollen  Zu- 
thaten  noch  heute  bereitet  wird,  um  andere  zu  befchenken,  einst 
aber  zur  Ehre  der  gefeierten  Gottheit  und  für  diefe  gebacken 
wurde.  Es  läßt  lieh  an  unzähligen  Gebräuchen  nachweifen, 
daß,  wo  heutzutage  eine  Gabe  an  Arme  und  Begehrende  oder 
fonft  als  Gefchenk  an  beftimmten  Tagen  gefpendet  wird,  diefe 
Gabe  urfprünglich  der  Gottheit  dargebracht  ward,  deren  Feft 
auf  diefe  Zeit  fiel. 

Die  Zeit,  in  welcher  der  hier  gemeldete  Brauch  Statt  hat, 
fchwankt  je  nach  den  verfchiedenen  Gegenden,  eines  Teils  zwi- 
fchen  Weihnachten  und  Großneujahr,  anderes  Teils  zwifchen  den 
Dienßagen  und  Donnerstagen  im  Advent  Es  fcheint  faß,  als 
habe  man  ihn  erft  fpäter  an  manchen  Orten  in  den  Advent  ver- 
legt, um  ihn  der  kirchlichen  Symbolik  dienllbar  zu  machen.  Zu 
diefer  Annahme  führt  die  Bemerkung  bei  Hofpinian:  fo  wie 
die  Adventzeit  zur  Vorbereitung  auf  die  Feier  der  Geburt  Chrißi 
eingefetzt  fei,  fo  fei  auch  die  Sitte  im  Papfttum  entftanden,  daß 
an  den  drei  Weihnachten  voraufgehenden  Donnerstagen  Kna- 
ben und  Mädchen  Nachts  umherlaufen  und  an  die  Thüren 
klopfen,  um  fo  das  nahende  Fell  den  Menfchen  ins  Gedächt- 
nis zu  rufen.*)  Indes  führt  Naogeorgus  ausdrücklich  an,  daß 
diefe  drei  Donnerstagsnächte  für  unheilfchwanger  gelten  und  in 
ihnen  allerhand  Hexenfpuk  getrieben  werde:  und  das  dürfte 
wol  einen  tieferen  Grund  vermuten  laßen.  Diefe  letztere  Stelle 
ßeht  im  Regnum  papißicum  nach  der  Ausgabe  von  1559  S.  130 
und  lautet  ganz: 

Hebdomadas  tris  ante  diem  qua  natos  lefus 
creditur  atque  die  Jovis  et  pueri  atque  puellte 


*)  Hofpinian  US  de  feAis  Chriftianonim  S.  160:  feftum  adyentns  domini 
inftitatum  eA  ut  prseparentur  Chriftianorum  animi  ad  lobriam  vitam  piamque 
meditationem  nativitatis  Chrißi:  unde  etiam  mos  ortus  eß  et  confuetudo  in 
papata  nt  tribns  diebns  Jovis  proxime  natalem  ChriAi  prsece- 
dentibnt  pneri  et  pnellae  noctn  discurrant  et  oftia  pulfent,  Oo 
naUvitStem  domini  hominibus  in  memoiiom  reTocare  Tolentes. 


136 


discurrunt  pulfantque  palam   oliia  cuiicta  dumatim, 

adventum  domini  clamantes  forütan  haud  dum 

Dati  ac  optantes  felicem  habitantibus  anuum. 

inde  nuces  capiunt  pira  nummos  poma  placentas. 

quisque  Inbeus  tribuit:  tres  illse  namque  putantur 

noctes  infaußte:  fatanie  nocumenta  timentur 

fagarnmque  artes  odinmque  immane  papil^is. 

Man  fpendet  gern,  denn  man  fürchtet  die  rächende  Gottheit: 
es  hatte  die  Gabe  hier  alfo  noch  immer  den  Charakter  eines 
Opfers.  Daß  in  diefem  Brauche  Heidentum  ftecke,  findet  fich 
in  einer  beachtenswerten  Stelle  bei  Keifler  ausgefprochen,  An- 
tiquitates  feptentrionales  S.  307:  In  fuperiore  Germanise  parte, 
ea  praßcipue  quae  ad  Almonam  flumen  vergit  marchionatu  Onols- 
bacenfi  comprehenfa,  cujus  incolae  plurimas  gentilifmi  reli- 
quias  retinent,  tempore  adventus  Chrifti  five  media 
hieme  (am  Anklopferleinstag)  vulgus  per  vias  et  pa- 
gos-  currit  malleisque  pulfat  fores  et  feneftras  indefi- 
nenter  clamens  'Guthyl  GuthylT  quod  quidem  non  falu- 
tem  per  Chrifti  adventum  partam  indicat,  quafi  dicercs  gut  heil, 
bona  Talus;  multo  minus  fictitiam  fanctam  Gunthildem,  quam 
rußici  illius  tractus  miris  fabulis  ac  nugis  celebrant:  fed  nomea 
ipfum  vifci  eft.  Darin  hat  nun  Keifler  Unrecht:  fein  *ffut  hyl* 
fcheint  nichts  anderes  zu  fein,  als  der  Ruf  *gut  taF,  ^®^  ^'* 
oben  in  einem  noch  heute  gebrauchten  fränkifchen  Spruche  ge- 
funden haben: 

fült  iner  eppes  gebni, 

guttal,giittal, 

und  mein  gfelln  a  en  tal. 

d.  h.  ihr  follt  mir  etwas  geben,  ein  gut  Teil,  gut  Teil  und 
meinen  Gefeilen  auch  ein  Teil. 

Über  die  Sitte  des  Anklopfens  zu  anderen  Zeiten 
als  um  Weihnachten  herum,  ließe  fich  noch  manches  beibrin- 
gen. Das  erkennen  wir  ficher,  das  diefes  Anklopfen  ein  we- 
fentliches  Moment  bei  gewiffen  altüberlieferten,  urfprünglich 
heidnifchen  Ceremonien  war,  das  nicht  inmier  an  altgehoriger 
Stelle  mehr  haftet,  fondern  hier  auf  diefe,  dort  auf  jene  Zeil 
vertragen  fcheint.  So  erzählt  Prätorius  (Blockes -Berges  Ver- 
richtung S.  117)  eine  Gewohnheit  der  Bauern  im  Stifte  Mün- 
fter  in  Wcftphalen,    die  auf  Pe tri  Stuhlfeier  den  22.  Fe- 


137 


bruar  Statt  hatte,  daß  dafelbft  ein  Freund  dem  andern  frühe 
vor  Sonnenaufgang  an  fein  Haus  fchlug  und  zwar  mit 
einer  Axt  zu  jedem  Worte  des  folgenden  Spruches,  der  dabei 
herkömmlich  war: 

Herut,  herut,  ßnllevogel  u.  f.  w. 

Auf  hochdeutfch  heiße  das 

Heraus,  heraus,  du  Schwellenvogel I 
Sanct  Peters  Stuhlfeier  ift  kommen, 
Verbaut  dir  Haus  und  Hof  und  Stall, 
Hausfchoppen ,  Schenern  nnd  anders  all 
Biß  auf  diefen  Tag  übers  Jahr, 
Daß  hie  kein  Schade  widerfahr. 

Noch  heutzutage  ziehen  zu  Petri  Stuhlfeier  faß  in  ganz  Weft- 
phalen  Schaaren  von  Knaben  durch  die  Straßen,  klopfen  mit 
Hämmern  an  die  Thür  jedes  Haufes  und  fingen  dabei  folgen- 
des Liedchen 

Rint,  riut,  funnenfuegel ! 
Sünte   Peiter  is  kumen, 
Sünte  Tigges  wel  kumen. 
riut,  rint,  olle  mius! 
riut,  riut,  junge  mius! 
allet  Unglück  iut  difem  bius! 
riut ,  riut ! 

Wir  werden  in  einer  andern  Abhandlung  diefe  und  andere  Lie- 
der und  Sitten  der  angeflilirten  Zeit  näher  erörtern. 

Wir  können  bis  jetzt  fchon  mit  ziemlicher  Gewisheit  ver- 
muten, daß  jene  Sitte  des  Anklopfens  und  die  begleitenden 
Umftände  dabei  auf  uralter  Grundlage  ruhen ,  daß  fie  wol  Refte 
eines  heidnifchen  auf  diefe  Zeit  fallenden  Cultus  fein  müßen, 
deflen  weitere  Überbleibfei  wir  aufluchen  wollen,  um  wo  mög- 
lich einen  tieferen  Blick  in  Wefen  und  Weife  diefes  Cultus  zu 
thun. 

In  Schleswig  und  Holllein  ziehen  noch  an  vielen  Or- 
ten um  die  Weihnachtzeit  die  Knaben  mit  einem  fogenann- 
ten  Rummelpott,  Runmieltopf,  herum.  Das  iß  ein  mit  einer 
Ochfenblafe  überfpannter  Topf:  in  die  Blafe  ift  ein  Stück  Schilf- 
rohr eingebunden,  das  aufrecht  lieht.  Man  macht  die  Hand 
inwendig  naß,  faßt  das  Rohe  feil  und  läßt  es  fo  in  der  Hand 


138 


auf  und  nieder  gleiten ,  wodurch  ein  brummendes  Geräufcfa  ent- 
lieht, das  manRiunmeln  nennt  und  jenem  der  Berliner  Wald- 
teufel auf  dem  Weihnachtmarkte  gleichkommt.  Überhaupt 
fcheinen  diefe  beiden  Inßrumente,  Rumpehopf  und  Waldteufel, 
nahe  verwandt,  wenn  nicht  gleich,  und  von  gleichem  uralten 
Brauche  zu  ßammen.  Nun  haben  in  Berlin  die  Lieder,  die  ge- 
wis  früher  dabei  gefungen  wurden,  aufgehört:  die  zum  Rum- 
melpott gehören,  leben  noch.     Sie  lauten  im  Schleswigfchen : 

FrukeUf  mäk  de  dcer  up 

un  lät  de  rummelpot  in! 

an  wenn  dat  fchip  van  Holland  kumt, 

fo  het  dat  moje  win. 

fchipper,  wift  du  wiken  ? 

bosman,  wift  du  ftriken? 

fett  de  Tegel  up  de  top 

un  gif  mi  wat  in  de  rummelpot! 

hallo  hallo  hallo  ! 

Un  as  de  arme  lemau 

to  hufe  kam ,  to  hufe  kam, 

fin  fru  leg  up  dat  her  de. 

fe  fchicken  wol  hin,  fe  fchicken  wol  dar, 

fe  fchickten  na  Jacob  Hänfen  : 

de  kunn  op  de  lute  fpelen 

un  da  können  fe  na  danzen. 

hallo  hallo  hallo! 

Wenn  die  Knaben  dann  eine  kleine   Gabe  erhalten   haben, 
fingen  fi  noch: 

Hau  de  katt  de  fwanz  af! 
hau  en  nich  to  lang  af! 
lät  en  lütjen  ftummel  ftän, 
dat  de  katt  kan  wider  gän  ! 
hallo  hallo  hallo! 

In  Eutin  fingen  die  Kinder  etwas  kürzer  fo: 

Lischen,  mäk  de  doer  apen! 

lat  n  rummelpot  herin! 

wenn  dat  fchip  van  Holland  kämt, 

het  n  goden  win. 

fchipper,  wult  du  wiken? 

fpelman,  wult  du  ftriken? 

fett  n  fegel  opn  top 

un  gü  mi  wat  inn  rummelpot! 


139 


und  dann,  wenn  fie  die  kleine  Gabe  erhalten  haben  beim  Ab- 
fcbiede 

Hau  de  katt  den  fwanz  af! 
hau  en  nich  to  lang  af! 
lat  n  lütten  ßummel  ftänl 
morgen  wöU  wi  wider  gan. 

Firmenich  3,  38.  59.  Alfo  auch  hier  ein  lärmendes  Getöfe 
diu-ch  ein  Inßrument,  das  die  Kinder  tragen,  die  ohne  weitere 
Verkleidung  umherziehen  und  Gaben  fammeln. 

Noch  auflFalliger  ift  eine  Gewohnheit  in  Schwaben,  nach 
der  in  vielen  dortigen  Ortfchaften  die  Kinder  an  gewiffen  Ta- 
gen in  der  Weihnachtzeit  Kuh fc hellen,  fo  viel  fie  bekommen 
können,  an  eine  Schnur  hängen,  diefe  um  nehmen  und  fo  lär- 
mend, Stäbe  in  der  Hand,  den  ganzen  Tag  im  Dorfe  umher- 
fpringen.     Meiers  Sagen  S.  464. 

Glocken  und  Schellen  aber,  dazu  oft  Ketten  mit  de- 
nen ftark  geraßelt  wird,  trägt  auch  der  noch  an  vielen  Orten 
Deutfchlands  zur  Weihnachtzeit  umgehende  Ruprecht,  Clas, 
hele  Krift,  wie  er  im  Norden,  Hans  Muff,  wie  er  am  Nieder- 
rhein als  Begleiter  des  Bifchofs  Nicolas  (am  Vorabende  von 
St.  Niclas),  Hans  Trapp,  wie  er  im  Elfaß  heißt. 

Woher  aber  dies  Kettengeraßel  und  diefe  Glocken  und 
Schellen?  Wie  iß  diefer  Lärm  in  die  den  Chriften  fo  ftille 
Weihnachtzeit  gekommen? 

Gehen  wir  einen  Schritt  weiter,  um  dies  näher  zu  erken- 
nen. Eine  andere  Sitte  wird  uns  dazu  helfen ,  die  Weinhold  in 
den  Weihnachtfpielen  S.  20  beibringt.  Im  MöUthale  nem- 
lich  zieht  die  verkleidete  Berchtel  am  Vorabende  des 
Bercbtentages  (6.  Januar)  und  am  Nachmittage  deflelben 
nach  dem  Segen  in  den  Häufern  herum.  Sie  hat  gewöhnlich 
einen  Pelz  um,  eine  fürchterliche  hölzerne  Larve  vorgebunden 
und  trägt  eine  Kuhglocke  oder  große  Schelle  am 
Rücken.  Mit  wilden  mutwilligen  Geberden  hüpft  fie  im  Haufe 
herum ,  verfolgt  die  Leute ,  fragt  nach  dem  Fleiße  und  der  Ar- 
tigkeit der  Kinder  und  fammelt  Gaben  ein.  Ihr  Spruch  da- 
bei, den  fie  wild  herausftößt,  lautet 


Kinder  oder  Speck! 
derweil  geh  ich  nit  weg. 


140 


Zuweilen  treten  zwei  folcher  Bercfateln  auf,  nie  aber  mehr. 
Diefer  Umgang  heißt  das  Berchteljagen.  Hier  haben  wir 
alfo  die  Berchtel  felber  die  die  Gaben  einfammelt,  die  Göttin 
Berchta,  die  ihre  Opfer  in  eigener  Perfon  in  Empfang  nimmt. 
Gerade  daß  fie  in  ein  fo  wildes  Schreckbild  umgewandelt  ift, 
hat  ihr  das  Leben  gefriftet:  wäre  es  noch  die  alte  milde  müt- 
terliche Gottin,  fo  würde  ihr  Umgang  als  zu  heidnifcb  längft 
von  der  Klirche  verpönt  und  unterdrückt  worden  fein.  Als  un- 
fchuldige  Vermummung  zur  Volksbeluftigung  und  Kinderfcheuche 
wird  fie  geduldet.  Aber  ihr  Umgang  ift  auch  hier  mit  Lärm 
verbunden  und  dabei  fehlt  auch  wol  das  Anklopfen  nicht,  we- 
nigftens  mag  es  früher  dabei  gewefen  fein.  Viel  lärmender  aber 
und  allgemeiner  find  noch  andere  Umzüge,  die  gleiches  Na- 
mens auf  die  gleiche  Göttin  gehen. 

Im  Pinzgau  ziehen  in  den  Rauchnächten*)  bei  hun- 
dert bis  dreihundert  Burfche  bei  heUem  Tage  in  den  poffier- 
lichftcn  Masken  mit  Kuhglocken  und  knallenden  Peit- 
fchen  verfehen  und  mit  allen  Arten  von  Gewehren  bewaffnet 
umher  und  diefes  nennen  fie  das  Berchten,  das  Berchten- 
laufen  oder  den  Berchten  tanz,  fich  felbft  aber  die  Berch- 
ten. (Schm.  1,  185).  Im  Gafteinerthale  geht  der  Zug,  den 
Burfche  bis  zu  dreihundert  bilden,  von  Ort  zu  Ort,  von  Haus 
zu  Haus  j  durch  das  ganze  Thal  hüpfend  und  fpringend.  Myth. 
1  Ausg.  S.  171.»  An  die  Stelle  des  Anklopfens  an  jedem  Haufe 
einzeln  fehen  wir  alfo  hier  einen  Zug  mit  allgemeinerem  Lärme, 
der  in  größerem  Maßßabe  von  Ort  zu  Ort  fich  bewegt,  an 
dem  alfo  nicht  die  Glieder  einer  einzigen  Ortfchaft  allein  be- 
teiligt find,  fondern  der  von  mehreren  Ortfchaften  gebildet  wird, 
und  der,  wie  wild  und  regellos  er  jetzt  auch  ausgeiiihrt  wird, 
wo  die  inneren  Zufammenhänge  vergeßen  find,  fich  doch  noch 
immer  aus  der  Verwildeming  heraus  als  ein  Feftzug  zu  Ehren 
der  alten  Göttin  zu  erkennen  gibt,  deren  Namen  daran  noch 
haftet. 


*)  Die  Rauchnächte  And  die  zwölf  Nächte  oder  überhaupt  die  Zeit 
zwifchen  Weihnachten  und  heil.  Dreikönige.  Warum  Rauchnächte?  Wol 
vom  Ausrauchen,  das  jährlich  in  diefer  Zeit  Statt  fand,  wo  in  den  Wohn- 
ßuben ,  Ställen  u.  f.  w.  unter  gewiflen  Gebeten  und  Ceremonien  Weihrauch 
angezündet  ward.  Die  Geiftlichen  fchreiben  dabei  mit  geweihter  Kreide 
die  Anfangsbuchdaben   der  heiligen   drei  Könige    C.   M.  B.   an   die  Thüren. 


141 


Diefem  Berchtenlaufen  in  den  bairifchen  und  falzburgi- 
fchen  Alpen  vergleicht  fich  die  fogenannte  Poßerlijagd  der 
Entlebucher  in  der  Schweiz,  die  nach  alter  Sitte  Donners- 
tag in  der  vorletzten  Woche  vor  Weihnachten  vor 
fich  geht.  Auf  den  Abend  fammeln  fich  die  meißen  Jungge- 
fellen  und  jungen  Männer  jeder  Pfarre  in  ihren  Dörfern  und 
kommen  mit  einander  überein,  in  welche  Gemeinde  fie  hinzie- 
hen wollen.  Gemeiniglich  geht  der  Zug  dahin,  von  wober  im 
verfloßenen  Jahre  fie  auch  einen  Befuch  bekommen  hatten.  Nun 
ertönt  ein  Ohren  betäubendes  Durcheinanderlärmen  von  Kühe- 
trücheln  (einer  Art  Gabel,  die  man  den  Thieren  an  den  Hals 
hängt,  damit  fie  die  Zäune  nicht  durchbrechen),  von  Ziegen- 
fchellen,  von  Keßeln  und  Pfannen,  es  knallen  armsdicke  und 
klafterlange  Geifeln,  meflingene  und  eiferne  Bleche  werden  an 
einander  gefchlagen,  Alp-  und  Waldhörner  machen  das  Getöfe 
noch  verworrener,  —  und  fo  geht  der  Zug  von  mehr  als  hun- 
dert nervigen  Jungen,  deren  jeder  etwas  zum  Tumulte  beiträgt, 
unter  einem  allgemeinen,  Berg  und  Thal  erfchreckenden  Ge- 
brülle nach  dem  befl;immten  Orte.  Da  fteht  fchon  voll  fro- 
her Erwartung  eine  große  Anzahl  rüftiger  Jünglinge  im  Dorfe. 
Nähert  fich  der  wilde  Zug,  dann  verdoppelt  fich  das  Geräusch 
von  allen  Seiten.  In  einer  langen  Keihe  ziehen  die  Gäße  unter 
beftändigem  Jolen,  Schreien,  Klatfchen,  Schellen  und  Homen 
ins  Dorf.  Einer  aus  diefer  Truppe  Hellt  das  Poßerli  (ein  Ge- 
fpenß,  eine  Art  Unhold)  in  Geftalt  einer  alten  Hexe  oder  ei- 
ner alten  Ziege  oder  eines  Efels  vor,  bisweilen  aber  fchleppt 
man  diefe  pofiierliche  Figur  auf  einem  Schlitten  nach.  In  ei- 
ner Ecke   des  Dorfs  läßt  man   das   Gefpenft  zmrück  und  das 


Ins  Rauchen  gehen  heißt  zn  diefem  Behufe  iu  den  Häufem  hemmgehen. 
Anch  das  Zeltenbrot  (Klözenbrot)  wird  in  den  drei  heiligden  Ranchnächten 
(Chrlftabend ,  Neujahrs  und  Dreikönigsabend)  eingeräucht,  d.  i.  Brot 
welches  mit  gedörrten  Birnen  vermengt  ift,  das  in  Baiern  zu  Weihnachten 
gebacken  wird  wie  in  andern  Gegenden  die  Schittchen,  Stollen  und  wie  man 
es  fonA  heißt.  Die  Mädchen  im  Pangan  befchenken  in  der  Rumpelnacht 
(Chrißnacht)  ihre  Liebhaber  mit  Klözenfcherzen  d.  i.  einem  Stück  diefes  Klö- 
zenbrodes.  Der  Ränchwecken  heißt  in  München  eine  Art  Brot, 
das  zur  Zeit  der  Rauchnächte  gebacken  wijd.  Schmeller  3,  12  fgg.  2,  365. 
fg.  Sonach  wären  Rauchnächte  der  Bedeutung  nach  fad  ganz  dasfelbe  (nur 
zeitlich  erweitert)  wie  Weihnachten. 


142 


korybautifche  Durcbeinauder  hört  auf.  Stalders  fchweizerifches 
Idiotikon  f.  v.  PofterU  1.  S.  208  fg. 

Es  kann  keinen  Augenblick  zweifelhaft  fein,  daß  diefe  aus 
uralter  Zeit  ftammende  Sitte  der  Endebucher  wiederum  den 
Umzug  jener  heidnifchen  Göttin  darfteilt,  der  zu  Eh- 
ren wir  oben  den  geräufchvoUcn  Berchtentanz  auffuhrea  faheu, 
alfo  der  Berchta,  die  hier  zu  einer  alten  Hexe  eingefchrumpft 
iß,  die  man  zuweilen  auf  einem  Schlitten  mitfuhrt*).  Daß  der 
Zug  hier  vor  Weihnachten,  dort  in  die  Zeit  zwifchen  Weih- 
nachten und  Großneujahr  fallt,  darf  uns  nicht  Wunder  neh- 
men, fehen  wir  doch  die  meiften  alten  Weihnachtbräuche  zwi- 
fchen diefer  Zeit  wechfeln,  fahcn  wir  doch  den  gleichen  Fall 
bei  jener  Sitte  des  Anklopfens,  die  nur  noch  als  eine  fch wache 
Erinnerung  gegenüber  diefem  bedeutenderen  Überbleibfel  des 
Heidentums  zu  betrachten  ift**). 

Wie  wir  jenem  Anklopfen  auch  außerhalb  der  Weihnacht- 
zeit begegneten  (wovon  an  einem  andern  Orte  ausfuhrlich  ge- 
handelt und  der  Grund  angegeben  werden  foll),  fo  finden  wir 
die  letztere  hier  erwähnte  Sitte  noch  zu  anderer  Zeit  und  zwar 
in   der  Schweiz   wieder,  nemlich  am  Hirßmontag  d.    i.    der 


*)  Man  fuhrt  lie  mit  lieh  nud  läßt  lie  allein  im  andern  Dorfe  ßehen. 
Da8  fcheint  nicht  ohne  Bedeutung.  Mußen  früher  vielleicht  die  Bewohner 
des  Dorfes,  in  dem  Ae  nun  Hand,  (ie  wiederum  weiter  führen?  Man  kann 
ßch  dabei  des  Gedankens  an  jene  Meldung  Rodulfs  nicht  entfchlagen  über 
das  Landfchiff,  das  in  Ripuarien  erbaut  durch  Limburg  nach  der  Hesbanja 
geführt  wurde  f  von  Ort  zu  Ort  unter  dem  Jubel  des  Volks ,  und  das  nirgend 
bleiben,  fondem  immer  weiter  gebracht  werden  muße  :  quod  locus  ille  et 
inhabitantes  probrofo  nomine  amplius  notarentur,  apud  quos  remanßrfe  in- 
veniretur«  Die  Qöttin,  der  zu  Ehren  dies  Schi£f  umgeführt  ward,  ift  diefelbe 
der  das  oben  befchriebene  Jagen  gilt,  die  Berchta. 

**)  InterelTant  und  für  tiefere  ZuTammenhänge  von  Bedeutung  ill  übri- 
gens, daß  der  Ausdruck  pollernächten  oder  poßernächteln  in  der 
Schweiz  für  eine  zu  andrer  Zeit  abgehaltene  Feier  gilt,  nemlich  auf  den  Ber- 
ner Alpen,  wenn  man  mit  dem  Vieh  einen  andern  Stafel  (d.  i.  Abteilung  ei- 
ner Alpweide)  bezieht  oder  wenn  man  die  Alp  verläßt.  Schon  lange  vorher 
fammeln  die  jungen  Älper  Holz ,  das  ße  oft  Stunden  weit  vorn  an  den  Band 
eines  hohen  FelTens  tragen,  der  das  ganze  unten  liegende  Thal  beherrfcht, 
richten  dafclbft  einen  mächtigen  Hol/.il<)ß  auf,  zünden  deufelben  bei  anbre- 
chender Nacht  an  und  endlich  laßen  lie  die  glühenden  Klötze  von  der  Höhe 
herunter  rollen,  was  den  Thalbewohnern  ein  Tchönes  Schaufpiel  gewährt. 
Diefes  Schüren  von   folchen  Freudenfeuern   nennt   man   im   Berner   Oberlande 


143 


letzte  Montag  in  der  Carnevalzeit.  Da  läuft  eine  yermummte 
Perfon,  der  fogenannte  Hirßnarr  herum.  Von  den  Entlebu- 
chern  ward  alljährlich  an  diefem  Tage  in  allen  Gemeinen  der 
fogenannte  Hirßmontagbrief  abgefungen.  Das  war  ein 
Stachelgedicht  von  Knittelriemen  im  Landesdialect  und  regel- 
lofem  Versbau,  welches  aus  einem  Eingange,  aus  den  Poffen, 
dem  Dorfirufe  und  endlich  dem  Befchluße  beßand.  Das  Abfin- 
gen gefchah  auf  öffenthchem  Platze.  Danach  folgte  der  Hirß- 
mändigfchwung  oder  Hirßmändigftoß.  Es  bildeten  nem- 
lieh  zwei  benachbarte  Gemeinden  eine  Schlachtordnung  gegen 
einander,  öfters  fianden  zwei  bis  dreihundert  Jünglinge  und 
Männer  auf  jeder  Seite  und  in  enggefchloßenen  Gliedern  rück- 
ten fie  auf  einander.  Welche  Partei  die  andere  zurückgeftoßen 
d.  i.  zum, Weichen  gebracht  hatte,  war  Sieger  und  das  EUind- 
gemenge  hörte  auf.     Stalder  2,  45  f.  v.  Hirsmändig. 

Es  wäre  nun  interelTant,  wenn  wir  gerade  in  der  Schweiz 
eine  noch  haftende  Sitte  beibringen  konnten,  in  der  diefe  fati- 
rifchen  Züge,  die  wir  hier  für  die  Faden  finden,  auch  in  der 
Neujahrszeit  fich  zeigten.  Wir  hätten  darin  eine  notwendige 
Ergänzung  zu  jenem  geräufchvoUen  Umzüge,  den  die  Entlebu- 
cher  unter  dem  Namen  Pofterhjagd  veranllalten  und  fomit  (wir 
dürfen  es  wol  behaupten)  eine  in  größerem  Maßfiabe  ausge- 
führte, ältere  und  urfprünglichere  Darßellung  jener  Klopfan  und 
des  damit  verbundenen  Treibens.  Und  in  der  That  können 
wir  folch  eine  Sitte  beibringen:  wir  meinen  das  bis  heute  noch 
im  fchwyzerifchen  Bezirke  March  am  Silvefterabende  geübte 
Broekenund  Zu  fc  hellen.  Das  hat  folgenden  Vorgang.  Beim 
Zunachten  (wenn  es  fchon  dunkel  ifi)  konunen  an  einem  be- 


pofternächten,  Denfelben  Ausdruck  kennen  die  Entlebucher ,  aber  in  der 
Bedeutung  mit  feinen  Nachbarn  eine  frohe  Nacht  in  Saus  und  Braus  zubrin- 
gen, ehe  man  vom  Berge  mit  der  Heerde  wieder  zu  Thal  fahrt.  Stalder  1, 
209  fg.  Alfo  Freudenfeuer  und  Schmaus  nach  der  Sommerzeit  gleichfam  als 
Emtedank:  das  Rollen  der  Klotze  vergleicht  fich  dem  Rollen  der  Räder  von 
den  Bergen  in  andern  Gegenden  (f.  Jac.  Grimms  Mythol.  1  Ausg.  S.  352  ^g.) 
und  der  Wepelrot  im  Saterlande  (Kuhn  nordd.  Sagen  S.  406  fg.  mit  Anm. 
S.  518)  die  zu  Neujahr  geworfen  wird.  Die  Zufammenftimmung  des  Na- 
mens (Pofterlijagd ,  po  de  mächten)  läßt  diefelbe  Gottheit  vermuten,  der  zu 
Ehr^n  beides  gefchah ,  wol  jener  Berclita :  denn  an  Frö  zu  decken  (Wolf 
Beitr.  zur  d.  Myth.  1 ,  115)  ift  nicht  ausdrücklich  nötig.  Vgl.  Schade  Urfula- 
läge  S.  92.  120.    Darüber  an  einem  andern  Orte  ausführlich. 


144 


(timmten  nicht  erhellten  Platze  zuerll  zwei  oder  drei  junge  Leute 
zufammen,  um  das  Zufchellen  anzublafen.  Sie  haben  dazu  ein 
Blasinfirument  von  fchrillem  Tone,  z.  B.  einen  Clarinettenfchna- 
bel,  ein  Hörnchen,  einen  Bücbel  (d.  i.  ein  uraltes  fchalmeien- 
artigcs  Inflrument,  das  auf  dem  See  geblafen  wird).  Auf  dies 
Signal  gefellen  fich  nach  und  nach  immer  mehrere  zu  ihnen, 
oft  bis  achtzig  Mann,  verfehen  mit  verfchiedenartigen  Blasin- 
Itrumenten,  aber  auch  mit  Ketten,  Kuchenblechen  (an  die  mit 
eifemen  Stäbchen  gefchlagen  wird)  und  verfchiedenartigen  Schel- 
len, unter  denen  nie  eine  oder  zwei  Sentefchellen  (das  find  die 
das  Leitthier  trägt)  fehlen  dürfen.  Auch  Tronuneln  nimmt  man 
mit  und  Retfchen  und  fonßige  Schlaginlhnmente,  Triangeln  u. 
dgl.  Wenn  alle  beifammen  find,  beginnt  der  Umzug.  Man 
vermeidet  forgfältig  alle  Straßen,  in  denen  ein  Todtkranker 
oder  ein  Geflorbener  liegt.  DiePerfonen  find  vermummt,  meiß 
in  Frauenkleider.  Sie  ziehen  lärmend  vor  die  Häufer  derer, 
die  durch  einen  groben  Verfloß  die  öffentliche  Meinung  belei- 
digt haben,  fie  feien  Frauen  oder  Männer,  die  alfo  durch  Geiz, 
Prozessfucht,  Hurerei,  getrennte  Ehe  ohne  rechtliche  Scheidung 
und  andere  Laßer  gegen  den  moralifchen  Sinn  der  Bevölkerung 
gefundigt  haben,  ohne  deswegen  von  der  Jußiz  belangt  worden 
zu  fein.  Auf  dem  ganzen  Wege  wird  mit  allen  oben  genannten 
Inßrumenten  ein  fortwährendes,  unauslöfchliches  Getöfe  gemacht, 
ein  Lärm,  als  wenn  das  wilde  Heer  losgelaßen  wäre.  Vor- 
witzige, die  durch  das  Getöfe  neugierig  gemacht,  aus  denFen- 
ßern  fehen,  werden  mit  Lappen,  die  man  in  GKille  (Mißjauche) 
getaucht  und  an  Stangen  befeßigt  hat,  berieben  oder  fie  wer- 
den gar  mit  derfelben  Ingredienz  aus  umgekehrten  Schellen  und 
Töpfen  begoßen.  So  rücken  fie  den  Betreffenden  vors  Haus. 
Zuerß  wird  da  auf  die  angegebene  Art  muficiert,  dann  ein  Ab- 
fatz  gemacht  und  Einer  aus  der  Menge  fängt  an  zu  bröken,  d. 
i.  mit  verßellter  Stimme  zu  fprechen,  entweder  in  Profa,  mit- 
unter auch  in  Knittelverfen.  In  diefer  Rede  werden  mit  der- 
bem, körnigem  Volks witze  die  Vergehungen  desjenigen,  dem 
man  brökt,  dargelegt  und  durchgezogen.  Wenn  der  Erße  ge- 
endet hat,  tritt  die  Mufik  wieder  ein.  Dann  beginnt  ein  An- 
derer, darauf  folgt  wieder  Mufik  und  fo  gchts  fort  bis  der  Gc- 
genßand  erfchöpft  iß.  Dabei  wird  noch  anderer  Unfug  getrie- 
beQ,  an  die  Thürcn  und  Fenßer  gefchlagen,  das  Haus  befchmutzt 
u.  f.  f.     Dann  rückt  man  weiter  zu  einem  Andern  und  derfelbe 


145 


Vorgang  wiederholt  lieh.  Das  geht  in  diefer  Weife  bis  Mit- 
temacht und  oft  noch  darüber  hinaus.  Konunt  der  Zug  an 
eine  Straße,  die  in  die  Mark  ausmündet,  fo  zieht  man  hin* 
aus  aufs  Feld,  am  liebllen  auf  einen  erhöhten  Punct  und 
lärmt,  damit  die  Nachbargemeinde  es  höre.  Die  Sitte  wird 
hauptfachlich  am  Silvelterabende  und  am  Abende  vor  dem  Drei- 
königstage, aber  auch  an  den  drei  großen  Fasnachttagen  (dem 
fchmutzigen  Donnerstag,  Gügelimontag  und  Fasnachtdienstag) 
und  am  erßen  Faßenfonntage  (Altfasnacht)  geübt 

-  Bei  diefer  Volksfitte  ift  noch  der  Umßand  nicht  außer 
Augen  zu  laßen,  daß  alle  Stände  ohne  Ausnahme  am  Umzüge 
fich  beteiligen  und  daß  felbfl  die  erßen  obrigkeitlichen  Perfonen 
des  Ortes  oder  Bezirks  üch  nicht  ausfchließen.  Es  ift  ^h^  ein 
altes  Volksrecht,  das  üch  keiner  nehmen  läßt,  das  durch  die 
Teilnahme  der  von  Rechtswegen  beftellten  Richter  fanctioniert 
wird.  Die  etwa  dagegen  ergehenden  Verbote  find  nicht  wort- 
lich zu  nehmen  und  beziehen  fich  mehr  auf  jene  fchmutzigen 
Extravaganzen  als  auf  den  Kern  der  Sitte  felbft.  Freilich  mö- 
gen jene  häufig  das  Maß  fo  überfchritten  haben,  daß  deshalb 
an  vielen  andern  Orteti  die  ganze  Sitte  in  Miscredit  gekommen 
ift  und  fich  endlich  verloren  hat. 

Das  Alter  diefes  Umzugs  belangend,  fo  werden  wir  uns 
nicht  täufchen,  wenn  wir  auch  feine  Anfänge  in  uralt  heidni- 
fchem  Glauben  und  Leben  fuchen.  Das  Hinausziehen  auf  die 
Mark  ift  ein  höchß  bedeutfamer  Zug,  wenn  er  auch  verftiimmelt 
fein  mag,  zufammen  gehalten  mit  jener  fogenannten  Pofterlijagd. 
Und  ftinmit  der  Lärm  nicht  zum  Getöfe  des  um  diefelbe  Zeit 
umfahrenden  wütenden  Heeres?  Ja  fcheint  es  nicht,  als  ob  er 
in  diefem  fein  Vorbild  hätte?  Ob  das  fatirifche  Element  dabei 
eben  fo  alt  und  eben  fo  volkstümlich  fei,  —  die  Beantwortung 
diefer  Frage  bleiben  wir  für  jetzt  fchtildig.  Das  aber  ift  un<- 
läugbar,  daß  jene  Klopfanfitte  nur  eine  verfeinerte  Abfchwächung 
des  lauteren  und  allgemeineren  Umzuges  ift,  der  den  letzter- 
wähnten Bräuchen  zu  Grunde  liegt. 

Zum  Befchluße  noch  ein  paar  fprachliche  Bemerkungen 
oder,  wenn  man  will,  nur  Vermutung^!. 

Das  fchweizerifche  klapf  bedeutet,  ganz  wie  hoU.  klap 
und  engL  clap  einen  Knall,  Schall  und  dann  einen  fchallenden 
Sdilag  mit  der  flachen  Hand  (Klaps);  kläpfen  heißt  fchlagen, 
daß  es  fchallt,  klapfen,  mit  der  Peitfche  knallen,  natürlich  auch 

WeHmmr,  Jb.  11  20 


146 


in  der  Forn  klopfen;  die  klepfe  ift  eine  kupferne  Schelle. 
Auch  das  Frequent.  mit  doppeltem  confonantifchem  Umlaute  (ff 
für  pf)  kleffelen,  klöf feien  heißt  einen  klappernden  Ton 
von  fich  geben;  der  kleffen  ift  klappernder  Schlag,  die  klef- 
fele,  kloffele  eine  Klapper,  bef.  aber  ein  Bretchen,  durch 
defTen  Mitte  eine  Handhabe  geht,  woran  ein  doppelköpfiger 
Klöpfel  angebracht  ift,  der  von  einer  Seite  des  Bretchens  auf 
die  andere  Seite  übergeworfen  werden  kann  und  bei  den  Ka* 
tholiken  in  der  Charwocfae  ftatt  einer  Klingel  gebräuchlich  ift. 
Diefelbe  Sache  zu  gleichem  Gebrauche  heißt  in  Baiem  das 
kläpflein,  klöpflein.  Nun  kommen  aber  beide  Formen, 
die  in  pf  und  in  ff  in  abgezogener  Bedeutung  vor:  kläpfen 
und  klopfen  fchwatzen,  die  klepf,  klepfe  Alltagsfchwätzerin, 
männlich  klepfer,  klepfi;  klepfig,  klepfhaft  gefchwätzig, 
ausklepfen  ausfch watzen,  verklepfen  verfchwatzen,  verleum- 
den und  davon  ver klepfer,  verklepferin.  Ebcnfo  heißt 
kleffelen  plaudern  und  diefe  Bedeutung  hat  kleffelig,  klef- 
fei  er,  kleffeli.  Aber  auch  die  nicht  umgelautete  Form  mit 
dem  Ablautvocale  o  hat  diefe  Bedeutung:  klopfen  niedrig 
wafchhaft  fein,  Tagesneuigkeiten  herumtragen,  klatfchen  u.  fo 
ausklopfen,  verklopfen,  klopfig,  geklopf,  die  klopfe 
wafchhafbes  Weib,  klopfhaus  ein  Haus  wo  man  die  Stadtge- 
rüchte durchfpricht  und  dann  in  vermehrter  Auflage  verfchleppt. 
In  der  Schweiz  findet  fich  aber  auch  die  unverfchobene  Form 
in  pp  klappern  im  Sinne  von  plaudern,  klapperer,  klap- 
pertäfch,  klapperig,  klapperfaaft.  Unfer  jetzt  gebräuch- 
liches hochdeutfches  klatfchen,  klatfche,  klätfcher,  klat- 
fchig,  klatfchhaft  beruht  auf  demfelben  Übergange  der  Be- 
deutung vom  laut fchallen den  Tone  zur  verläumderifcfaen  Plau- 
derei. Wenn  man  im  Auge  behält,  daß  die  Wandlung  der 
Wortbedeutungen  vielfach  wie  mit  dem  Glauben,  fo  mit  der 
Sitte  des  Volkes  in  Berührung  fteht,  fo  ift  es  gar  nicht  un- 
wahrfcheinlich ,  daß  das  hier  in  Rede  ftehende  Wort  feine  ver- 
fchiedene  Bedeutung  durch  jene  weitläufig  befprochenen,  in  das 
Leben  und  den  Glauben  des  Volks  tief  eingreifenden  Sitten  er- 
halten habe,  alfo  von  den  mit  fatirifchen  Schmähreden  verbun- 
denem Ijärme,  der  fich  zu  gewiflen  Zeiten  wiederholte  und  in 
urfprünglich  mythifchen  Vorftellungen  feinen  Grund  hatte.  Wir 
fehen  daraus  zugleich,  daß  bei  der  Bezeichnung  Klopf  an  nicht 
an  ein  bloßes  Anklopfen  in  unferem  heutigen  Sinne  zu  denken  iß, 


147 


fondern  an  ein  größeres,  lauteres  und  allgemeineres  Geräufcb, 
das  wir  im  unzertrennlichen  Zufammenhange  mit  Bräuchen  ge- 
funden haben,  die  ins  Heidentum  fich  verlaufen,  daß  wir  ferner 
für  diefe  Klopfan  die  Bedeutung  von  Schmähreden  feßhalten 
müßen  und  daß  ihre  Verbreitung  viel  weiter  war,  als  wir  auf 
den  erden  Blick  anzunehmen  geneigt  fein  mochten. 

Wir  hätten  fomit  aus  zerfprengten  Reiten  unferes  alten 
Glaubens,  wie  fie  fich  in  Volksbräuchen  noch  immer  lebendig, 
wenn  auch  unbewust,  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  ha- 
ben, jene  eigentümliche  und  fchöne  Art  von  Neujahrswünfchen 
als  eine  in  altheidnifchem  Wefen  wurzelnde  und  aus  mythifchem 
Boden  entfproßene  Sitte  erkannt.  Wir  haben  für  diesmal  nur 
diefe  eine  Erfcheinung  aus  dem  weiten  und  überreichen  Neu- 
jahrscyclus  ausheben  und  in  ihren  Verzweigungen  verfolgen  kön- 
nen. Möge  der  freundliche  Lefer  diefe  Darllellung  als  Neu- 
jahrsgabe von  uns  annehmen  und  dazu  in  Worten  Rofenbluts 
unfern  herzlichllen  Glückwunfeh: 

Als  vil  ßern  am  himel  (tan, 
als  manig  g&ts  jar  ge  dich  an! 
als  vil  tropfen  im  mer  fein, 
als  manig  engel  pflegen  dein! 


10 


VI. 


DIE    MUSIK. 


KUBZE  DARSTELLUNG  IHRES  WESENS 


UND 


IHRER  GESCHICHTLICHEN  ENTWICKELUNG. 


VON 


D«.  KARL  EMIL  SCHNEIDER. 


Die  menschliche  Phantafie  wird  bei  dem  Streben,  dem  Scho- 
nen in  den  einzelnen  Künsten  eine  ausdrucksvolle  Verkörperung 
zu  geben,  immer  mehr  von  außen  nach  innen,  vom  umfang- 
reichen Stoffe  zu  dessen  Verdünnung  und  Verklärung,  vom 
festen,  gleichzeitigen  Bilde  im  Räume  zur  successiven  Darstel- 
lung in  der  Zeit,  von  der  sinnlichen  Anschauung  in  das  Reich 
der  Empfindung  und  des  Gedankens  fortgeleitet.  Die  drei,  der 
Musik  vorangehenden  Künste,  Baukunst  nebst  Gartenkunst, 
Bildhauerei  und  Malerei,  formen  ihre  Werke  im  rohen  Stoffe, 
stellen  sie,  in  sich  geschlossen  und  unbeweglich,  in  den  Raum 
und  richten  sich  dabei,  wenn  jene  genossen  werden  sollen,  an 
das  Auge  des  Betrachtenden.  Deshalb  nennt  man  diese  Künste 
die  bildenden.  In  der  Musik  nun  wird  dies  ganze  Gebiet  des 
Stoffes,  des  Raumes  verlassen:  der  Stoff  wird  nicht  mehr  in 
seiner  Schwere  und  harten  Festigkeit,  nicht  mehr  in  seinen 
raumerfüllenden  Massen  genommen,  wie  in  der  Architektur  und 
Plastik,  ja  nicht  einmal  mehr  in  der  Verdünnung  zum  farbigen 
Scheine,  wie  in  der  Malerei:  sondern  in  seine  Innerlichkeit,  so 
zu  sagen,  wird  er  zurückgeführt,  seine  Seele  soll  er  sprechen 
lassen,  sein  geheimstes  Leben  offenbaren;  mit  andern  Worten: 


149 


man  läset  den  Stoff  sich  in  sich  selbst  bewegen,  in  seinem  har- 
ten Gefuge  erzittern,'  d.  h.  tönen.  Dies  geschieht,  indem  man 
ihn  entweder  zu  langen,  fadendünnen  Walzen,  den  sogenann- 
ten Saiten,  auszieht,  oder  ihn  zur  umschließenden  Wand  cy- 
linderformiger  Röhren  rundet.  Im  ersten  Falle  setzt  man  den 
so  geformten  Körper  selbst,  im  zweiten  die  von  ihm  einge- 
schlossene Luftsäule  in  Bewegung,  die  dann  die  einschließende 
Wand  mit  der  umgebenden  Luftschicht  in  Schwingung  bringt 
und,  sich  in  Wellen  weiter  und  weiter  ausbreitend,  auch  un- 
ser Ohr  trifft.  Dies  ist  alsdann  der  sogenannte  Ton,  der  schöne 
Klang,  das  Darstellungsmittel  der  Musik.  In  solchen  Tönen 
arbeitet  diese  Kunst,  Töne  giebt  sie  uns  in  ihren  Werken  zu 
hören. 

Der  Ton  ist  aber  nicht  etwas  mit  einem  Mal  fertig  Vor- 
räthiges,  starr  im  Räume  Befestigtes:  er  muss  vielmehr  immer 
erst  hervorgebracht  werden,  bedarf  mithin  der  Zeit  um  zu  ent- 
stehen, um  eine  gewisse  Weile  zu  dauern,  und  verschwebt  auch 
wieder  mit  der  Zeit,  wie  diese  selbst  vorübergeht.  Daraus 
folgt  sofort,  dass  eine  Reihefolge  von  Tönen,  also  ein  ganzes 
Musikwerk,  gleichfalls  eine  bestimmte  Zeitdauer  nöthig  hat, 
um  sich  vor  den  Zuhörern  zu  entfalten  und  zu  vollenden,  dass 
mithin  die  Musik  überhaupt  an  das  Nacheinander  der  Zeit 
gewiesen  ist,  während  ein  Werk  der  bildenden  Kunstfertig  und 
unveränderlich  im  Stoffe  und  Räume  dasteht.  Natürlich  erfor- 
dert jede  Wiederholung  eines  Musikstückes  oder  die  Aufiuh- 
rung  jedes  neuen  einen  neuen  Zeitabschnitt;  und  nur,  indem 
sich  der  Zuhörer  das  ganze  vorübergegangene  Tongebilde  durch 
das  Erinnerungsvermögen  noch  ein  Mal  zusammenfassend  vor- 
fuhrt, tritt  es  ähnlich  wie  ein  plastisches  Bildwerk,  in  seinem 
Totalnmfange  vor  ihn  und  kann  nur  in  dieser  zusammengrei- 
fenden Vergegenwärtigung  nach  seinem  Kunstwerthe  geschätzt, 
wie  als  vergeistigter  Eindruck  nachempfunden  werden. 

Aber  auch  jeder  einzelne  Ton  in  der  Musik  ist  von  ganz 
bestimmter  Zeitdauer,  also  scharfgemessen  und  begrenzt:  denn 
nur  so  wird  er,  im  Unterschiede  von  dem  rohen  Naturlaute, 
zum  kunstschönen  Darstellungsorgane.  Ebenso  sind  sämmtliche 
musikalische  Töne  unter  sich  in  genaue  Zeitgrenzen  gefasst 
und  nach  mathematisch  strengen  Gesetzen  zusammengestellt. 
Solch  eine  Zusammenstellung  zusammengehöriger,  wohlklingen- 
der Töne    heißt    ein   Akkord,    eine   Harmonie,    während  eine 


150 


fortlaufende  gemessene  Reihe  einfacher  Töne  Melodie  genannt 
wird.  Aber  auch  der  gesammte,  aus  Melodie  und  Harmonie 
gebildete  Fluss  der  Musik,  die  vielstimmige  Verschlingung  ei- 
nes Tonwerkes ,  bewegt  sich  in  gemessenem  Gange  und  ist  nach 
bestimmten  Gesetzen  eingetheilt,  was  den  Takt,  den  Rhythmus 
und  das  Zeitmaß  oder  Tempo  ergiebt.  Gerade  deshalb  nun, 
weil  das  kiinstlerische  Schaffen  in  der  Musik  ein  gesetzmäßi- 
ges Zusammenstellen  von  Tönen  ist,  nennt  man  es  Komponi- 
ren,  das  fertige  Werk  eine  Komposition  und  den  produciren- 
den  Kiinstler  selbst  einen  Komponisten.  Der  Inbegriff  der  Re- 
geln aber,  wonach  die  musikalische  Komposition  zu  verfahren 
hat,  heißt  Kompositionslehre,  Harmonielehre  oder  Generalbass, 
oder  auch,  wenn  man  ihr  die  Praxis  der  tönenden  Musikauf- 
f&hrungen  entgegenstellt,  Theorie  der  Musik. 

Trotzdem  nun,  dass  der  musikalische  Ton  auf  kiinstlicfae 
Weise  hervorgebracht  wird  und  streng  gemessen  ist,  bleibt  er 
doch  immer  etwas  Dunkles,  geheimnissvoll  Vieldeutiges.  Der 
Ton  sagt  nichts  aus,  giebt  unserem  innern  Anschauungsvermö- 
gen keine  Vorstellung,  fuhrt  unserm  Gedanken  keinen  Begriff 
zu:  er  ist  bloß  ein  mechanisches  Erzittern  des  Stoffes  und, 
durch  die  mitschwingende  Luft  fortgepflanzt ,  ein  sinnlich  wohl- 
thuendes  Erregungsmittel  unserer  Gehörnerven.  Klarheit  und 
verstandlichen  Inhalt  bringt  erst  das  Wort,  dies  Darstellungs- 
mitte] der  letzten  und  höchsten  Kunst,  der  Poesie:  denn  mit 
dem  Worte  haben  wir  auch  sogleich  einen  Begriff,  ein  Bild 
dessen,  was  es  bezeichnet.  Auf  diese  Weise  steht  der  musi- 
kalische Ton  gerade  in  der  Mitte  zwischen  dem  schweren  Stoffe 
der  bildenden  Künste  und  dem  klaren ,  geistdurchhauchten 
Worte  der  Dichtkunst.  Und  diese  Stellung  des  Tones  ist  ganz 
entsprechend  demjenigen  Gebiete  der  schönen  Kunstdarstellung, 
worin  gerade  das  Wesen  und  die  Aufgabe  der  Musik  beruht, 
nämlich  der  Empfindung.  Die  bildenden  Künste  zeigen  uns 
feingeformte  Massen,  schöngebildete  Menschengestalten,  charak- 
teristische Gruppen  und  Scenen:  in  allen  dreien  ist  noch  der 
Stoff  oder  die  stofiliche  Formgebung  die  Hauptsache.  Die 
beiden  tonischen  Künste  dagegen,  Musik  und  Poesie,  dringen 
von  der  bloßen  Gestalt  oder  der  stofflichen  Außenwelt  in  des 
Menschen  Inneres,  und  zwar  so,  dass  der  Musik  die  Vorstufe 
dieser  Innerlichkeit,  die  Empfindung,  das  Gemüthsleben,  der 
Poesie   dagegen   die  reife,  entschleierte  Innerlichkeit  in  ihrem 


151 


klar  ausgesprochenen   Gepräge   anheimfallt,   (L  h.   der  geistge- 
borene Gedanke,  die  gottgezeugte  Idee. 

In  dieser  aufsteigenden  Entwickelungsreihe  der  einzelnen 
Künste  entspricht  das  Gebiet  einer  jeden  genau  dem  Darstel- 
lungsmittel, wodurch  sie  ihre  Aufgabe  im  Kunstwerk  verwirk- 
licht Ist  die  Aufgabe  der  bildenden  Künste  ein  Bauwerk,  eine 
Statue,  ein  Gemälde  —  Alles  noch  stoffliche  Gegenstände  — 
so  bietet  sich  der  schwere  Stoff  diesen  Künsten  selbst  als  Dar- 
stellungsmittel an.  Ist  auf  der  andern  Seite  das  Reich  der 
Dichtkunst  die  geistbelebte  Innerlichkeit  des  Menschen,  die  in 
Handlungen  und  Kämpfen  sich  durchfuhrende  Idee,  so  konunt 
dieser  Aufgabe  das  geistige  Woi*t  als  Ausürucksorgan  wie  von 
selbst  entgegen.  Ebenso  die  Musik.  Ihr  Bereich  ist  die  Em- 
pfindung, die  Gemüthserregung,  die  es  Angesichts  der  beweg- 
ten Außenwelt  noch  nicht  zu  klaren  Gedanken,  zu  bestimmten 
Entschlüssen,  zu  festen  Thaten  bringt,  sondern  sich  nur  zu 
Ahnungen,  zu  dunkeln  Vorstellungen  anregen  lässt  und  so  gleich- 
sam in  der  Nacht ,  in  der  Dämmerung  vor  der  ansehenden 
Tageshelle  stehen  bleibt,  zu  welcher  der  selbstbewusste  Geist 
mit  dem  klaren  Gedanken,  mit  der  freien  Idee  erwacht.  Diese 
erste,  elementare  Seite  des  menschhchen  Innern,  diese  Na- 
turstufe des  Geistes,  die  sich  nur  erst  in  der  sinnlich  weben- 
den Empfindung  äußert,  die  als  bloßes  Gefühl  schon  im  Na- 
men (von  fühlen)  ihr  sinnlich  dunkles  Keich  andeutet,  sie  ist 
die  eigentliche  Provinz,  die  specifische  Aufgabe  der  Musik. 
Wer  erkennt  nicht,  dass  gerade  der  in  sich  erzitternde,  erto- 
nende Körper  das  entsprechende  Gegenbild  dieses  Gebietes  ist? 
Der  rohe  Stoff  der  bildenden  Künste  ist  in  seiner  massiven 
Schwere  und  Härte  überwunden:  das  Keich  der  bloßen  Form- 
gestaltung hat  die  Musik  bereits  im  Kücken.  Andrerseits  aber 
ist  das  geistige  Wort,  zu  welchem  sich  die  organische  Stoff- 
welt als  zu  ihrem  höchsten  Aeußerungsmittel  erhebt  (das  Wort 
entsteht  aus  der  Bewegung  der  körperlichen  Sprachwerkzeuge 
und  aus  der  dieselben  leitenden  geistigen  Beseelung)  noch  nicht 
erreicht:  die  Poesie,  als  die  höchste  Kunstform,  liegt  über  die 
Musik  noch  hinaus,  die  Musik  hat  diese  Stufe  noch  vor  sich. 
Da  gerade  konunt  der  Musik  mit  ihrer  dunkeln  Empfindungs- 
welt der  ebenso  dunkle  Ton  des  schwingenden  Körpers  entge- 
gen, ^richt  mit  seiner  tönenden  Innerlichkeit  die  beseelte  In- 
nerlichkeit des  menschlichen  Gemüthslebens  aus  und  giebt  sich 


152 


in  der  klingenden  Menschenstimme,  dieser  Mischung  von  or- 
ganischem Stoff  und  gemüthvoUem  Innenleben,  seinen  reinsten 
Ausdruck. 

Aus  dem  Reichthum  der  menschlichen  Empfindung  nun, 
zu  der  das  Gemüth  sich  Angesichts  jeder  Erscheinung  der 
Wirklichkeit,  bei  jedem  äußern  Eindruck,  bei  jedem  eignen 
Erlebniss,  angeregt  fühlt,  ist  sowohl  die  Menge  musikalischer 
Tonmittel,  als  auch  die  große  Mannigfaltigkeit  der  Gattungen 
der  Musik  zu  erklären.  Von  beiden  hier  in  der  Kürze  das 
Nothige. 

1.  Die  musikalischen  Tonmittel.  Das  älteste  und 
naturgemäßeste  derselben  ist  offenbar  die  menschliche  Stimme, 
die  Sing  stimme,  die  sich  zunächst  wieder  in  zwei  weibliche 
spaltet,  mit  vorherrschender  Innerlichkeit  oder  Weichheit,  den 
Sopran  oder  Diskant,  für  erregte,  mehr  nach  außen  gehende 
Stimmungen,  und  den  Alt,  für  gehaltene,  ernstere  Gegenstände; 
sodann  in  zwei  männliche,  Ausdrucksorgane  männlicher  Stärke 
undThat:  den  Tenor,  dessen  Charakter  jugendlich,  ritterlich, 
schwärmerisch  sentimental  ist,  und  den  Bass,  diesen  Reprä- 
sentanten der  Würde,  der  Kraft,  der  Macht.  Der  Bariton, 
eine  sehr  häufige,  besonders  in  der  neuern  Musik  zur  Geltung 
gekommene  Männerstimme,  liegt  zwischen  dem  Tenor  und  dem 
Bass  und  verschmelzt  die  extremen  Stimmungen  beider  in  sei- 
nem sonoren  Wohlklang.  Die  Vereinigung  der  vier  erstge- 
nannten, stehend  gewordenen  Stimmen  zur  zusammenwirkenden 
Masse  bildet  den  Chor;  den  Gesang  einer  einzelnen  Sing- 
stimme aber  nennt  man,  der  Gesammtheit  gegenüber,  Solo- 
Gesang. 

Unter  den  musikalischen  Instrumenten,  deren  Inbegriff 
Orchester  heißt,  wie  wir  es  im  Koncert,  im  Theater  hören, 
stehen  an  der  äußersten  Grenze  kunstschoner  Tonbildung: 
Leyer,  Zither,  Guitarre,  Harfe  und  ähnliche,  und  andrerseits 
Trommel,  Pauke,  Triangel,  Becken  u.  s.  w.,  die  sämmtlich 
nur  zur  Begleitung  oder  Verstärkung  der  Kunstmusik  dienen 
und  eine  selbstständige  Musik  nur  bei  den  unkünstlerischen 
Wilden  ausmachen.  Von  den  Blaseinstrumenten  aus  Holz 
hat  die  Flöte  einen  gehauchten,  säuselnden,  schwindsüchtigen 
Ton,  die  kleine,  hohe  Pikkoloflöte  einen  schrill  pfeifenden. 
Der  Klang  der  Oboe  ist  quäkend,  halb  naseweis,  der  der  Kla- 
rinette dick  und  plump:    man  hört  ihm  an,  dass  er  aus  vollen 


153 


Backen  kommt.  Das  tiefere  Fagott  hat  etwas  Dumpfes,  Wol- 
liges im  Tone.  Blaseinstrumente  aus  Blech  sind  das  ebenso 
elegisch  weiche  als  gellende  und  dröhnende  Hörn;  mit  hell- 
schmetterndem Metallklange,  gleichsam  siegreich  und  triumphi- 
rend,  ertönt  die  Trompete,  während  der  Charakter  der  Po- 
saune Feierlichkeit  ist  mit  dem  metallischen  Beiklange  der 
Kraft.  Der  Zusammentritt  sämmtlicher  Blasoinstrumente  bildet 
die  sogenannte  Hörn-  oder  Militärmusik,  —  Der  Ton  der 
Saiten-,  Streich-  oder  Bogeninstrumente  ist  fließen- 
der und  schwebender,  auch  modulationsfähiger  und  seelenvol- 
ler als  der  der  Blaseinstrumente.  Die  Violine  oder  Geige,  das 
technisch  ausgebildetste  Instrument  und  die  Primadonna  im 
Orchester,  tritt  mit  einer  Art  von  Glanz,  von  Selbstbewusst- 
sein  auf  und  steht  gern  melodiefuhrend  über  der  Instrumental- 
masse, um  dieselbe  zu  leiten  und  vorwärts  zu  treiben.  Die 
Bratsche,  von  der  mittleren  Tonlage  des  Alt  und  Tenor,  ist 
polternd  und  altfränkisch  und  hat  etwas  von  der  Unbeholfen- 
heit und  Geschwätzigkeit  alter  Weiber;  dabei  ist  sie  aber  gut- 
miithig  und  unschädlich:  Grazie  und  Leidenschaft  der  Jugend 
sind  längst  verflogen.  Schön  männlich  dagegen,  geistreich,  fast 
nobel  ist  das  Auftreten  des  Cellos  oder  Violoncells,  während 
der  hohe,  mächtige  Kontrabass,  scherzweise  Brummbass  ge- 
nannt, sich  als  grundfesten,  unverrückbar  sichern  Führer  des 
ganzen  Orchesterschwarmes  hervorthut. 

Weit  umfangreicher  als  die  eben  angeführten  Instrumente 
sind  Klavier  und  Orgel,  jenes  ein  Saiteninstrument  mit  Ta- 
sten, diese,  die  Orgel,  nach  der  Theorie  der  Blaseinstrumente 
gebaut  und  ebenfalls  mit  Tastatur  versehen.  Das  Klavier  oder 
Pianoforte,  das  ziemlich  den  ganzen  Umfang  der  Blase-  und 
Streichinstrumente  in  sich  vereinigt,  miacht  durch  diesen  Ton- 
reichthum  das  gleichzeitige  Spiel  von  Melodie  und  Harmonie 
und  mithin  die  Ausfuhrung  vollstimmiger  Musikwerke  möglich. 
Daher  kommt  ihm  sein  allgemeiner  häuslicher  Gebrauch,  die 
liebevolle  Privatpflege,  die  vielseitige  Anwendbarkeit,  so  dass 
es  selbst  —  man  denke  an  die  sogenannten  Klavierausziige  — 
als  Ersatzmittel  für  umfassende  Gesang-  und  Orchesterkompo- 
sitionen dient;  daher  konunt  ihm  endlich  seine  reichhaltige  Li- 
teratur mit  ihrer  unerschöpflichen  Produktivität  und  dem  un- 
übersehbaren Wachsthum.  Am  dankbarsten  jedoch  erweist  es 
sich  zur  Einübung  und  Begleitung  des   Gesanges,   wobei  aber 


154 


seine  Rolle  nicht  die  eines  gleichgiiltigen  Nebenläufers,  son- 
dern die  eines  vervollständigenden  Tonmalers  ist,  der  die  ly- 
rische Situation,  im  innigsten  Einklänge  mit  der  Singstimme, 
zum  plastischen  Seelengemälde  herauszugestalten  hat.  Trotz- 
dem aber  ist  dies  Instrument  von  einer  gewissen  Armuth  an 
Modulation,  von  seelenloser  Monotonie,  die  nur  durch  ein  sehr 
geföhlvoUes  Spiel  und  eine  besondere  Kunst  des  Anschlags  ge- 
mildert werden  kann,  nicht  freizusprechen.  Die  Orgel  endlich 
ist  das  umfangreichste,  kunstvollste  Instrument.  Aus  einer 
Menge  von  Pfeifen,  Registern  mit  verschiedener  Klangfarbe, 
aus  mehreren  Klaviaturen  und  einem  Pedal  bestehend,  rauscht 
ihre  vollstimmige  Tonmasse  wie  ein  Hymnus  aus  höherer  Welt 
durch  die  weiten  Hallen  unserer  Dome  —  ein  würdiger,  groß- 
artiger Leiter  des  feierlichen  Gemeindegesanges  zum  Lobe  des 
Höchsten. 

2.  Hinsichtlich  der  Gattungen  zerfällt  die  Musik  zu- 
vörderst in  die  beiden  Hauptunterschiede  der  Vokal-  und  In- 
strumentalmusik. Von  den  Unterarten  der  Vokal-  oder  Ge- 
sangmusik (mit  oder  ohne  Begleitung)  ist  die  ursprüngUchste 
das  Lied,  diese  einfache,  ansprechende  Melodie,  von  mäßigem, 
bestimmtem  Umfange  und  von  naiver,  rührend  treuherziger  Ein- 
falt und  warmer  Empfindung.  So  besonders  das  Volkslied, 
worin  ein  noch  naturwüchsiges  Geschlecht  —  man  denke  an 
Slaven  und  Schotten,  Schweizer  und  Tyroler  —  seine  geheim- 
sten Herzensregungen,  seine  innige  Naturliebe,  seine  ruhmvolle 
Geschichte  ausspricht.  Deshalb  ist  das  einfache  Lied  auch  die 
Grundform  und  der  Einheitspunkt  für  die  beiden  auseinander- 
gehenden Zweige  der  geistlichen  und  weltlichen  Musik,  sowie 
für  die  ganze  Instrumentalmusik  geworden.  Nach  weltlicher 
Seite  hat  es  sich  durch  größere,  harmonische  Füllung  und  kunst- 
vollere Behandlung  zur  Arie,  in  allen  größeren  Tonwerken, 
femer,  wo  es  mehrstimmig  auftritt,  zum  Duett,  zum  Terzett, 
zum  Quartett,  theils  dem  gemischten  aus  Sopran,  Alt,  Tenor 
und  Bass,  (Reichardt,  Mendelssohn),  theils  dem  männerstimmi- 
gen aus  zwei  Tenören  und  zwei  Bässen  (Kreutzer,  Silcher, 
Zöllner)  fortgebildet.  Der  geistlichen  oder  kirchlichen  Musik 
hat  das  Lied  den  Choral  geschaffen,  d.  h.  den  einstimmigen, 
in  langsamem  Gleichmaß  fortschreitenden  Gemeindegesang  (Spe- 
ratus:  es  ist  das  Heil  uns  kommen  her.  Spangenberg:  allein 
Gott  in    der  Höh  sei  Elirl     Schindermann:  ¥de  schön  leuchtet 


155 


uns  der  Morgenstern!  Ringhardt:  nun  danket  alle  Gottl 
Neumark;  wer  nur  den  lieben  Gott  lässt  walten.  Gastorius: 
was  Gott  thut,  das  ist  wohlgetban.  Luther:  ein  feste  Burg 
ist  unser  Gott;  vom  Himmel  hoch  da  komm  ich  her;  o  Gott, 
du  frommer  Gott!)  Motette  nennt  man  den  vierstimmigen 
religiösen  Chorgesang  ohne  Begleitung,  auf  der  einfachen  Grund- 
lage des  Chorals  und  mit  freier  Behandlung  desselben  (Seb. 
Bach).  In  der  Hymne  erhebt  sich  der  religiöse  Chorgesang 
mit  gesteigertem  Affekt,  zum  Lobe  Gottes  und  göttlicher  Kräfte 
(das  Hallelujah  der  Schöpfung  von  Kuntze,  das  Tedeum,  der 
Psalm,  z.  B.  die  von  Friedrich  Schneider,  von  Mendelssohn: 
Psalm  42:  wie  der  Hirsch  schreit  u.  s.  w.)  Messe  heißt  die 
Musik  zur  katholischen  Abendmahlsfeier,  wozu  auch  das  Re- 
quiem für  die  Verstorbenen  gehört  (die  h-moll- Messe  von  Seb. 
Bach;  das  Requiem  von  Mozart).  Die  Kantate  ist  eine  ly- 
risch freie,  nicht  streng  kirchliche  Verherrlichung  geistlicher 
und  weltlicher  Gegenstände  (der  Ostermorgen  von  Neukomm, 
die  Bergmannstreue  von  Anacker,  gewöhnlich  Bergmannsgruß 
genannt,  die  vier  Weltalter  von  Franz  Lachner). 

Die  Instrumentalmusik  ihrerseits  ist  vielseitiger,  tech- 
nisch gewandter,  volltönender  und  von  der  einfachen  Urform 
des  Volksliedes  noch  weiter  abgekommen,  als  die  Gesangmusik. 
Dieser  am  nächsten  stehen  noch,  rein  musikalisch  genommen, 
der  Tanz  und  der  Marsch,  diese  gefälligen,  frei  dahinschwe- 
benden  Melodien  mit  noch  dürftiger  Harmoniefüllung,  in  der 
Begrenzung  einer  bestimmten  Taktzahl  und  mit  der  Wieder- 
kehr vieler  Theile,  als  Begleitifng  der  Tanzbewegungen  und  des 
soldatischen  Gleichschrittes  (Lanner,  Strauß,  Grungl).  Die  So- 
nate, zunächst  für  Klavier,  ist  eine  freiere,  kunstreichere  Be- 
handlung des  melodischen  Motivs  zu  einem  selbstständigen, 
harmonisch  durchgearbeiteten  Ganzen  mit  mehreren  Sätzen,  ge- 
wöhnlich einem  AUegro,  einem  Andante  oder  Adagio,  dem 
Scherzo  nebst  dem  Trio  und  dem  Rondo  oder  Finale  (Mozart, 
Beethoven).  Zum  Duo  erweitert  sich  die  Sonate,  wenn  sie  für 
zwei  Instrumente,  am  liebsten  Klavier  mit  Violine  oder  CeUo, 
zum  Trio,  wenn  sie  für  drei,  Klavier,  Violine  und  CeUo,  ge- 
schrieben ist.  Das  sogenannte  Streichquartett  entsteht  aus 
dem  Zusanunenspiel  von  zwei  Violinen,  Bratsche  und  Cello, 
(Haydn,  Mozart,  Beethoven).  Weiter  giebt  es  noch  Quintette, 
Sextette,   Septette  u.  s.  f.     In  ihrer  Grundform  nicht  mehr  er- 


156 


kennbar  ist  die  Sonate  als  Etüde,  Capriccio,  Phantasie, 
wie  überhaupt  als  sogenannte  Bravour-  oder  Koncertmu- 
sik,  entweder  für  Klavier  oder  für  sonst  ein  Instrument,  mei- 
stens mit  Hinzutritt  des  Orchesters.  Musikstücke  dieser  Art 
sind  eine  totale  Auflosung  der  einfachen  Melodie  zu  technischen 
Künsteleien  voll  der  herausgesuchtesten,  schwindelndsten  Schwie- 
rigkeiten, stellenweis  geistreich  und  pikant,  aber  im  Ganzen 
inhaltlos  und  unschön,  eine  Übertreibung  der  Technik  im  Dienste 
des  eiteln  Virtuosenthums,  und  ein  Gift  für  den  gesunden  Ge- 
schmack des  Publikums,  wie  diese  Produkte  selbst  aus  der  ver- 
gifteten Unnatur  überreifer  Kunstansprüche  Seitens  der  moder- 
nen Aristokratie  hervorgegangen  und  von  Künstlern,  wie  Ber- 
lioz,  Chopin,  Liszt  u.  A,  mit  verschwendeter  Genialitat  gepflegt 
worden  sind.  Die  Ouvertüre  ist  ein  einziger  großer  Instru- 
mentalsatz für  volles  Orchester,  entweder  der  Eröfihungssatz 
für  eine  Oper  oder  ein  Drama  (Beethoven's  Koriolan  und  Eg- 
mont,  Mendelssohn's  Sommernachtstraum),  oder  ein  selbststan- 
diges  Ganzes  mit  eigenem  innern  Zweck  und  Abschluss.  Die 
Symphonie  endlich  ist  das  umfangreichste  Instrumentalge- 
mäide,  gewöhnlich,  nach  dem  Vorgange  der  Sonate,  aus  drei 
bis  vier  Sätzen  bestehend,  mit  einer  Art  dramatischen  Verlaufs, 
Schürzung  und  Lösung  von  Konflikten  (außer  Haydn's  '  und 
Mozarf  s  besonders  Beethoven's  unsterbliche  Symphonien).  Misch- 
gattungen der  zusammenwirkenden  Vokal-  und  Instrumental- 
musik sind  das  Oratorium  nach  kirchlicher,  die  Oper  nach 
weltlicher  Seite.  Das  Oratorium  ist  ein  musikalisches  Drama, 
aber  nicht  in  der  Bewegtheit  der  Handlung  wie  das  Bühnen- 
drama der  Dichtkunst,  sondern  nur  in  dem  beruhigten  Nieder- 
schlage der  Empfindung,  in  der  breiten  Entfaltung  lyrischer 
Stimmungen,  die  sich  zu  den  Solo-  und  Chorgesängen  verkör- 
pern. Geistliche  Oratorien  sind  die  von  Händel,  die  beiden 
Passionsmusiken  von  Seb.  Bach,  der  Tod  Jesu  von  Graun,  der 
Paulus  und  der  Elias  von  Mendelssohn;  weltliche  sind  Haydn's 
Schöpfting  und  Jahreszeiten,  Schumann^s  Paradies  und  die  Peri. 
Die  Oper  dagegen,  aus  den  dramatischen  Kirchenstücken  und 
den  musikalischen  Fastnachtsspielen  im  Mittelalter  hervorge- 
gangen, ist  ein  wirkliches  Drama  auf  der  Bühne,  nur  ein  mi- 
misch musikalisches,  d.  h.  es  lehnt  sich  zwar  an  eine  geschicht- 
liche Thatsache  an  und  wird  auch  wirklich  mit  lebendiger  Ak- 
tion gespielt,  hebt  aber  weniger  die  Momente  der  Handlung, 


157 


als  die  Rubepunkte  der  lyrischen  Empfindung,  der  musikali- 
schen Situation  hervor.  In  dem  Wechsel  von  Solo-,  Ensem- 
ble- und  Chorgesang  und  in  der  Folge  mehrerer  Theile  und 
Akte  entwickelt  das  Oratorium,  wie  die  Oper,  die  einzelnen 
Momente  der  Handlung  zu  bestimmten  Gesangstucken  und 
Scenen« 

3.  Die  Geschichte  der  Musik.  Das  klassische  Alter- 
thum,  in  der  Kunst  nur  auf  sinnliche  Anschauung  und  Form- 
gebung beschränkt,  aber  der  erst  mit  dem  Christenthum  auf- 
gegangenen Innenwelt  des  Gemüthes,  der  Empfindung,  noch 
fremd,  hatte  auch  noch  keine  selbstständige  Musik.  Dürftige 
Anfange  von  Melodie  und  Harmonie  dienten,  in  bescheidener 
Unterordnung,  nur  zur  Begleitung  der  rhythmischen  Chorge- 
sänge auf  der  Biihne  oder  des  recitirenden  Vortrags  der  Rhap- 
soden, die  dem  versammelten  Volke  die  alten  Götter-  und  Hel- 
denthaten  zu  den  Klängen  der  Lyra  priesen.  Auch  was  uns 
von  den  Gesängen  der  Griechen  bei  Tanz  und  Spiel,  von  feier- 
lichen Hymnen  bei  Götterfesten  und  Opfern  erzählt  wird,  hat 
sich  über  die  Stufe  anspruchsloser  Vorversuche  nicht  erhoben, 
wie  sich  schon  aus  der  einzigen  Angabe  schließen  lässt,  dass 
man  nur  die  Konsonanzen  der  Quarte,  Quinte  und  Oktave 
kannte.  Von  unserm  ausgebildeten  Tonsystem,  von  dem  har- 
monischen Vollklange  der  modernen  Musik  sind  jene  Anfänge 
hinunelweit  entfernt.  Mag  also  immerhin  die  bildende  Kunft 
der  Alten  mit  ihren  vollendeten  Werken  Grundlage  und  Vor- 
bild für  alle  nachfolgende  Kunstthätigkeit  im  bildenden  Fache 
geworden  sein:  die  antike  Musik  ist  für  uns  so  gut  wie  nicht 
vorhanden.  Vielmehr  hat  sich  dasjenige,  was  wir  gegenwärtig 
von  Musik  haben,  erst  im  Mittelalter,  unter  den  beseelenden 
Einflüssen  des  Christenthums,  rein  aus  sich  selbst,  aus  der  pri- 
mitivsten Rohheit,  auf  miihevollen  Umwegen  und  in  langen 
Zeiträumen  hervorgebildet. 

So  wurde  das  Mittelalter  dasselbe  für  die  Musik,  was 
die  alte  Zeit  für  die  bildenden  Künste  war:  die  Schöpfungs- 
epoche, die  BiMungsperiode  der  musikalischen  Technik  und 
Komposition.  Und  wie  die  antike  Kunst  im  Bunde  mit  der 
Religion  entsprungen  und  groß  geworden  war,  so  vernehmen 
wir  auch  im  Mittelalter  aus  der  Kirche  die  frühesten  musika- 
lischen Klänge.  In  den  frommen  Versammlungen  der  ersten 
Christen  war  es,  wo   sich  zuerst  ein  höchst  einfacher,  kunst- 


158 


und   regelloser  Naturgesang  bildete,   der   sich  alsdann   in  den 
Gemeinden  festsetzte  und  von  einer  auf  die  andere  fortpflanzte. 
Zynischen  300  und  400    versuchten  bereits  einige  fromme  und 
gelehrte  Bischöfe  des  Morgen-  und  Abendlandes,  mit  Benutzung 
einer  altgriechischen  Tonleiter  und  eben  solcher  Intervalle  und 
Akkorde,    den  Kirchengesang   zu  ordnen    und    zu    bestimmten 
Sangweisen    festzustellen.     So    schon  Ambrosius,  Bischof  von 
Mailand  (390),  der  vier  alte  Tonleitern  auswählte  und  dem  öf- 
fentlichen Gemeindegesange  die   erste  bestimmte  Fassung  gab; 
so  besonders  Papst  Gregor  der  Große  (590 — 604).    Dieser  hat 
nicht  bloß  ein  neues  System  von  Tonleitern,  neue  Benennungen 
für  die  sieben  stehend  gewordenen  Töne  und  eine  einfachere 
Notenschrift  aufgestellt,    sondern   auch    die    vorhandenen  Kir- 
chenweisen verbessert,  neue  hinzugefiigt  und  die  von  ihm  be- 
sorgte Sanunlung  für  alle   christliche  Kirchen  verordnet.     Von 
ihm  rühren  auch  die  Anfange  des  mehrstimmigen,  harmonischen 
Gemeindegesanges  her.    Alles  Übrige  in  der  Musik,  was  wir 
heutzutage  fertig  und   wohltönend  allerorten  zu  hören  bekom- 
men können,   war    damals  noch   nicht  vorhanden;   und   es  hat 
Jahrhunderte  gedauert,    ehe   unsere   Intervalle,    konsonirenden 
Akkorde,    aufgelöste  Dissonanzen,   Tonleitern,   unsere  Instru- 
mente eins   nach  dem  andern  erfunden  wurden,  ehe  die  Orgel, 
die  man  Anfangs  mit  dem  Ellenbogen  und  mit  Fäusten  schlug, 
eine  menschlichere  Behandlung  und  kunstgemaße  Vervollkomm- 
nung erhielt,  ehe  das  Orchester  sich  seiner  jetzigen  Zusammen- 
setzung ählich  bilden  lernte,   ehe  die  einzelnen   Gattungen  der 
Musik  sich  von  einander  abschieden  und  aus  dem  massenhaften 
Chorgesange  der  ersten  Jahrhunderte  sich  der  Einzelgesang  im 
Liede,  im  Recitativ  und  der  Arie  loszulösen  anfing.   Das  Meiste 
hierfür  geschah  in  den  Niederlanden  und  Italien. 

Erst  mit  der  neuen  Zeit  nimmt  die  Musik  einen  glän- 
zenden und  schnellen  Aufschwung,  erst  sie  ist  die  Periode  der 
Blüthe  und  Reife.  Im  geistlichen  Fache  treten,  gleichzeitig 
mit  dem  letzten  imd  hervorragendsten  Niederländer,  Or- 
lando Lasso  (Orlandus  de  Lassus,  gestorben  in  München 
1594)  die  Italiener  epochemachend  auf.  Vor  allen  Pale- 
strina  (1524 — 1594),  Kapellmeister  an  St  Peter  im  Vatikan, 
mit  seinen  Motetten,  Litaneien,  Hymnen,  Magnificats,  Messen 
u.  s.  w.,  besonders  der  Missa  Papae  Marcelli,  sämmtlich  im 
großartig  erhabenen,  strengen  Styl.    Sodann  Scarlatti  (1658 


159 


bis  1725),  Königl.  Oberkapellmeister  in  Neapel,  ein  wahrer  Re- 
fonnator  der  Musik  nach  allen  Richtungen,  der  seiner  Zeit 
machtig  vorauseilte,  von  dem  wir  ebensowohl  Opern  als  Eor- 
chcnsachen  haben,  und  der  besonders  das  Recitativ  zu  hoher 
Vollkommenheit  des  Ausdrucks  steigerte.  Femer  Scarlatti^s 
Zeitgenossen:  Lotti,  Kapellmeister  an  St.  Marco  in  Venedig, 
mit  seinen  Kirchenkompositionen,  Marcello,  der  uns  „die  fünf- 
zig Psalmen  Davids^  hinterlassen  hat,  und  Caldara.  Endliph 
die  Neapolitaner  Leonardo  Leo  (lun  1725),  der  die  freie, 
schone  Anmuth  selbststandiger  Melodien*  in  den  Kirchenstyl 
einführte,  und  Dur  ante,  beide  wichtig,  indem  sie  die  Arie 
verlängerten  und  ihr  mehr  Wechsel,  mehr  Gewandtheit  gaben 
und  den  fast  ausschließlich  herrschenden  Streichinstrumenten 
eine  größere  Anzahl  Blaseinstrumente  hinzufugten,  mit  dieser 
ganzen  Thätigkeit  aber  schon  in  die  weltliche  Musik  hinüber- 
weisen. 

Spärlicher  zwar,  aber  auch  mächtiger  erstehen  in  D  e  u tsch- 
land  die  Meister  der  Kirchenmusik,  an  der  Spitze  der  bür- 
gerliche, befcheidene  Thomaskantor  in  Leipzig,  Sebastian 
Bach  (1685  — 1750),  durchaus  kein  naiver,  populärer  Kompo- 
nist, ohne  melodischen  Fluss  und  schmeichlerischen  Wohlklang, 
aber  kühn  und  unerbittlich  streng  in  seinen  harmonischen  Kom- 
binationen und  von  einer  genialen,  kaum  nachzufühlenden  Tiefe 
der  musikalischen  Empfindung:  ein  wahrer  Hoherpriester  des 
Kirchenstyls.  Sein  wohltemperirtes  Klavier,  seine  Fugen,  Cho- 
räle und  Motetten,  seine  h-moU- Messe  und  die  beiden  Pas- 
sionsmusiken nach  Matthäus  und  Johannes  sind  unsterbliche 
Schöpfungen  der  protestantischen  Kirchentonkunst.  Der  zweite 
Heros  derselben  ist  Händel  (1684 — 1759),  melodiöser,  fließen- 
der, weltlicher  als  Bach,  wie  er  denn  auch  vor  seinen  Orato- 
rien, dem  Messias,  Samson,  Judas  Makkabäus  u.  a.,  nur  Opern 
schrieb  und  sich  dem  Volksliede  durch  dessen  Verarbeitung  in 
seinen  Werken  sehr  geneigt  zeigte.  Dabei  ist  er  aber  immer 
noch  tief  und  innig,  großartig  und  majestätisch;  ein  gewaltiger 
Ernst,  eine  hohe  Glorie  geht  durch  alle  seine  Schöpfungen: 
Kleinliches  und  Schwaches  hat  er  nirgends  gegeben.  Einige 
Stufen  tiefer  als  die  Genannten  steht  Graun,  dessen  Tod  Jesu  • 
noch  heute  eine  würdige  Charfreitagsmusik  bildet  und  in  den 
Recitativen  und  Chören  ein  klassisches  Werk  für  immer  blei- 
ben wird,  während  die  etwas  unkirchliohen  Arien  schon  stark 


160 


in  das  sinnliche  Tonkolorit  der  weltlichen  Musik  hinüberstrei- 
fen. Gleichzeitig  brachte  Deutschland  (was  hier  der  Vollstän- 
digkeit halber  zu  erwähnen  ist)  auch  große  Theoretiker  und 
Organisten  hervor,  z.  B.  Mattheson,  Phil.  Em.  Bach,  Marpurg, 
Kimberger,  wie  man  denn  in  Deutschland  schon  seit  der  Re^ 
formation  angefangen  hatte,  das  eigentliche  Kirchenlied,  unsern 
Choral,  zur  Geltung  zu  bringen  und  mit  der  Orgel  harmonisch 
zu  begleiten. 

Auch  die  weltliche  Musik  ist  ein  Kind  der  neuen  Zeit, 
indem  die  Reformation,  die  allerdings  nur  auf  religiösem  Ge- 
biete praktisch  durchgeführt  und  als  Protestantismus,  der  ka- 
tholischen Kirche  gegenüber,  festgehalten  wurde,  die  befangenen 
Geister  aus  diesem  einseitigen  Kirchenbanne  erlöste  und  sie 
auf  alle  Gebiete  und  für  jedes  Geistesstreben  frei  ließ.  Ihrem 
Umschwünge  verdanken  wir  es,  dass  das  Leben  in  seiner  ge- 
sunden Heiterkeit  sich  dem  geöfiheten  Blicke  wiederaufschloss, 
dass  das  Volk  in  seinem  natürlichen  Frohgefühle,  das  Indivi- 
duum in  seiner  sittlichen  Berechtigung  wieder  zur  Anerkennung 
kam  —  eine  Emancipation  des  Geistes-  und  Gemüthslebens, 
die  als  neuerwachter  Reiehthum  von  Lebenslust,  von  Empfin- 
dungsfrische sich  auch  in  der  Musik  zu  Tage  kämpfte  und  sich 
als  Oper,  als  weltliche  Musik  überhaupt,  eine  kunstmäßige 
Gestalt  gab.  Die  ersten  zerstreuten  Spuren  des  dramatischen 
Opernstyls  tauchen  um  1600,  also  schon  im  Zeitalter  Palestri- 
na^s,  bei  den  Italienern  auf,  und  schon  der  wenig  spätere 
Scarlatti,  um  1700,  schreibt  neben  seinen  Kirchensachen  selbst- 
ständige Opern.  Aber  die  erfte  in^s  Große  gehende  Thätigkeit 
auf  diesem  Gebiete  entwickelte  die  Neapolitanische  Schule 
mit  ihrem  graziösen  Styl  und  ihren  ausgebildeten  Arien;  sie 
war  es  zugleich,  die  den  Kunst-  und  Sologesang  zu  kultiviren 
anfing,  nachdem  man  bisher  nur  immer  im  Chor  zu  singen  ge- 
wohnt gewesen  war.  Solche  Pfleger  der  jungen  Oper  aus  der 
Neapolitanischen  Schule  sind:  Piccini,  der  Schopfer  der  italie- 
nischen Opera  buffa  oder  komischen  Oper,  femer  Cimarosa, 
Paesiello,  Zingarelli.  In  Frankreich  war  damals  Lully 
wegen  seiner  tragödies  und  ballets  der  gefeiertste  Opemkom- 
.  ponist,  weil  er  volksthümliche  Tänze  und  Chore  in  die  Oper 
einführte  und  die  leichte  Recitation  des  Dialogs  durch  kurze 
Arien  und  Ritornells  unterbrach.  Der  spätere  Rameau  nahm 
von  diesem  Anfangspunkte  aus  die  Richtung    auf  das  Ernste 


161 


und  ward  der  Gründer  der  sogenannten  großen  Oper  bei  den 
Franzosen,  während  ihre  kleine  komische  Oper,  die  Operette, 
besonders  von  Grfetry,  um  1750,  mit  Gluck  angebaut  wurde. 
Alle  die  Genannten  hatten  weniger  einen  ernsten  und  großar- 
tigen, als  einen  zierlichen  und  lebendigen  Opernstyl,  der  sich 
dann,  wenigstens  in  Italien,  als  weltliche  Grazie,  als  irreligiöse 
Sinnlichkeit,  leider  auch  in  der  geistlichen  Musik  festgesetzt 
hat  und  noch  gegenwärtig  in  den  Kirchen  Italiens  zu  hören  ist. 
Auch  im  Fache  der  Oper  war  es  wieder  Deutschland,  das 
die  Mängel  der  Ausländer  überwinden  und  die  Vollendung  auf 
dem  eingeschlagenen  Wege  erreichen  sollte.  Von  diesem  Ge- 
sichtspunkte aus  ist  Gluck  zu  begreifen  (1714 — 1787),  der 
läuternde  Reformator  der  Oj)er  von  den  Unschonheiten  der 
Neapolitaner :  jenen  vieltheiligen,  langathmigen  Bravourarien  mit 
ihren  inhaltlosen,  entstellenden  Schnörkeln,  und  jenem  stereo- 
typen, todten  Schema,  wonach  sämmtliche  Opern  übereinstim- 
mend gearbeitet  wurden.  Dagegen  steht  Gluck  in  allen  seinen 
Opern,  dem  Orpheus,  der  Alceste,  der  Helena  und  Paris,  der 
Iphigema  in  Aulis,  der  Iphigenia  auf  Tauris,  der  Armide,  wie 
ein  Heiliger,  ein  Priester,  in  edler,  großartiger  Einfachheit  da, 
und  ist  mit  dieser  ein  weit  treuerer  Maler  der  stillen  Tiefe  des 
individuellen  Seelenlebens,  als  alle  jene  Italiener  und  Franzosen 
mit  ihren  zauberischen  Melodien  und  ihren  schwirrenden  Bra- 
vourstücken. Die  sich  an  ihn  unmittelbar  anschließenden  Wie- 
ner Klassiker,  Haydn,  Mozart  und  Beethoven,  dehnen  die 
bisherige  Pflege  dor  Oper  auf  sämmtliche  Musikgattungen  aus 
und  führen  einige  derselben,  z.  B.  die  Instrumentalmusik,  zu 
solcher  Hohe  der  Vollendung,  dass  der  Folgezeit  nichts  darin 
zu  thun  übrig  blieb,  als  eine  hinter  den  Vorbildern  weit  zurück- 
stehende, rein  formelle  Nachahmung.  Joseph  Haydn  (1732  — 
1809)  war  durch  und  durch  ein  kindlich  heiteres  Gemüth:  hat 
er  doch  noch  in  seinen  letzten  Jahren  ein  so  naives,  echt  volks- 
thümliches  Lied  geschrieben,  wie  das  bekannte  „Gott  erhalte 
Franz  den  Kaiser";  und  selbst  bis  zu  der  liebenswürdigen  Spie- 
lerei konnte  er  sich  herablassen,  dass  er  eine  kleine  Kinder- 
symphonie für  die  betreffenden  kindlichen  Instrumente  setzte. 
Glücklich  und  fröhlich  in  sich  selbst,  herzlich  und  wohlwollend 
gegen  Jedermann,  vergnügt  in  seinem  Gott  wie  in  seiner  Welt: 
so  muthet  uns  Haydn  in  allen  seinen  Kompositionen  an.  Nur 
ein  solches  Gemüth  konnte   der  Schopfer   des  weltlichen  Ora- 

ff'eimar.  Jb.  II.  1| 


162 


toriruns  werden,  wie  er  es  mit  der  Schöpfung  und  den  Jahres- 
zeiten geworden  ist,  und  ebenso  der  Schopfer  des  Streichquar- 
tetts und  der  Symphonie,  in  denen  sich  ein  seliger,  scherzhaf- 
ter Kindessinn,  selten  von  elegischen  Tönen  gedämpft,  mit 
bloßen  Instrumentalmitteln  seine  Sprache  giebt.  Stellenweis 
auch  erhaben  und  gewaltig,  wie  in  den  großartigen  Parthiecn 
der  SchöpAing,  athmet  doch  seine  ganze  Musik  ein  glückseliges 
Behagen  und  ist  in  unserer  unbefriedigten  Zeit  eine  wahre  Er- 
quickung für  die  trübgestimmten  Gemüther.  —  Mit  dem  tän- 
delnden Humor  und  der  durchsichtigen  Klarheit  der  Haydn- 
schen  Kompositions  weise  vereinigt  Mozart,  dieser  genialste 
aller  Tonkünstler  (1756-1791),  die  größte  Tiefe  und  Vielsei- 
tigkeit. Geistreich  und  gewandt  in  seinen  Klaviersonaten,  Quar- 
tetten, Symphonien,  erscheint  er  in  seinen  Opern  (Don  Juan, 
Figaro^s  Hochzeit,  Zauberflöte,  Titus,  Entführung  aus  dem  Se- 
rail, Cosi  fan  Tutte,  Idomeneus)  als  der  unübertroffene  Mei- 
ster in  der  Plastik  der  dramatischen  Charaktere,  in  der  Malerei 
der  lyrischen  Situation,  ja  im  Don  Juan  führt  er  uns  in  die 
grausigsten  Tiefen  des  Geisterreichs  hinab  und  schlägt  hier 
bereits  die  ersten  Grundakkorde  der  spätem  romantischen  Oper 
an,  während  bisher  nur  die  heroische  Heldenoper  und  die  fran- 
zösische Konversationsoper  geherrscht  hatte.  Am  Wichtigsten 
aber  für  die  nächstfolgende  Musikpraxis  sollte  die  neugeschaf- 
fene Instrumentalmusik,  besonders  das  Streichquartett,  dieser 
beiden  Meister  werden,  indem  es  nämlich  von  unzähligen  klei- 
nen Geistern,  z.  B.  von  Pleyel,  Gryrowetz,  Wranitzky,  Hoff- 
meister u.  A.  angebaut  wurde  und,  bei  seinen  gemüthlich  volks- 
thümlichen  Elementen,  auch  das  Volk  mit  der  Liebe  zur  In- 
strumentalmusik entzündete.  Zuerst  bildete  sich  der  reiche  Adel 
Privatkapcllen  und  in  ihnen  Pflanzstätten  der  neuen  Lieblings- 
gattung.  Bald  lernte  aber  auch  der  gebildete  Bürger  sein 
Streichquartett  spielen  —  beiläufig  das  erste  Auftreten  des  mu- 
sikalischen Dilettantismus  in  der  deutschen  Musikgeschichte  — 
und  dies  Streichquartett  ist  als  Hausquartett,  als  früheste  Form 
der  Familienmusik,  bis  weit  in  unser  Jahrhundert  herein  der 
Günstling  der  deutschen  Kunstwelt  geblieben.  Erst  mit  den 
technischen  Schwierigkeiten  und  der  dem  Laien  unverständ- 
lichen Genialität  der  Beethoven^schen  Muse  fing  es  an  zurück- 
zutreten. —  Über  Mozart  hinaus  ist  Beethoven,  der  dritte 
der  Wiener  Heroen  (1772 — 1827),  ein  gewaltiger,  ja  ein  epoche- 


163 


machender  Fortschritt.  Alle  seine  Werke  (die  Eülayiersonaten, 
z.  B.  die  pathetique,  les  adieux,  die  cis-moll,  viele  auch  mit 
Violin-  oder  Cellobegleitung,  seine  Streichquartette,  Ouvertü- 
ren, zumal  seine  neun  Symphonien,  seine  Oper  Fidelio)  —  alle 
diese  Werke  sind  nicht  bloß  in  der  Form  ausgedehnter,  son- 
dern von  einem  ganz  neuen,  bis  dahin  nicht  gehorten  Geiste 
durchzogen.  Nicht  naiv  und  fließend  melodiös,  wie  die  popu- 
lären Meister  Haydn  und  Mozart,  war  Beethoven  vielmehr  eine 
Natur  wie  Seb.  Bach,  ebenso  tief  nach  innen  reflektirt,  ebenso 
hohepriesterlich  erhaben.  Durch  Taubheit  von  der  Welt  ab- 
geschlossen und  gegen  sie  erbittert,  dadurch  aber  sich  in  sieb 
selbst  vertiefend,  erschloss  sich  ihm  der  ganze  Reichthum  der 
menschlichen  Innerlichkeit,  durchwühlten  seine  Brust  alle  Lei- 
den und  Freuden  der  menschlichen  Natur.  Diese  eigenthiim- 
liche  Organisation  und  dies  für  einen  Tonkünstler  doppelt  tra- 
gische Schicksal  arbeiteten  in  ihm,  nach  der  ungebrochenen 
Empfindungsfrische  imd  der  klaren  Formschonheit  seiner  Vor- 
gänger, ein  neues  Prindp  heraus,  kündigten  in  seinen  Schopfim- 
gen  eine  nur  erst  geahnte  Zukunft  an:  die  Empfindung  des 
schonen  Subjekts,  die  Verklärung  des  dunkeln  Instrumental- 
klanges zur  Freiheit  des  lyrischen  Dichterwortes,  zum  seelen- 
vollen Gesänge.  Er  selbst  steht  freilich  noch  nicht  auf  dem 
Boden  dieser  neuen  Welt,  er  streift  dies  Gebiet  der  romanti- 
sehen  Gesangmusik  nur  in  seiner  neunten  Symphonie  mit  den 
Schiller^schen  Chören  an  die  Freude  und  in  seinem  Fidelio;  er 
weissagt  prophetisch  nur  diese  kommende  Epoche:  seine  eigene 
Schöpferkraft  bleibt  in  der  wortlos  dunkeln  Symbolsprache  der 
Instrumentalmusik  gefesselt  Unverkennbar  aber  geht  durch 
alle  seine  Werke,  unter  wilden  Zuckungen  und  titanenhaften 
Kämpfen,  der  Drang  nach  diesem  neuen  Geiste;  geheimnissvoU 
mahnend  klopft  er  aus  der  Tiefe  herauf  und  weitet  die  Formen 
über  ihre  angestammten  Grenzen  zum  Ausdrucke  des  Unend- 
lichen und  Ungeheuern,  bis  sie  in  seinen  spätesten  Werken  ins 
Wüste  und  UnscUöne  ausschweifen. 

Mit  Beethoven  trat,  als  Nachfolgerin  der  klassischen,  die 
romantische  Musik  in^s  Dasein,  die  mit  der  vertiefi;en  Em- 
pfindung des  schönen  Subjekts  einen  Stoff  in  die  musikalische 
Darstellung  hereinnimmt,  der,  nur  der  Klarheit  des  lyrischen 
Wortes  erreichbar,  sich  dem  musikalischen  Ausdrucke  entzieht, 
und  hinter  dessen  Unendlichkeit  die  musikalische  Tonsprache, 

11* 


164 


wie  eine  nach  oben  deutende  Hand  ohnmächtig  zurückbleibt. 
Wohl  haucht  das  Gemüth  seine  Empfindungen  in  den  Tönen 
des  Gesanges  aus;  aber  immer  bleibt  ihm  ein  Etwas,  ein  Rest 
von  Gemüthsleben,  den  die  bloße  Tonsprache  wiederzugeben 
unfähig  ist.  Daher  nach  jedem  Gesangwerke,  nach  jedem  tief- 
empfundenen Liede  der  Eindruck  nicht,  wie  bei  einem  plasti- 
schen Bildwerke,  in  sich  selbst  befriedigt  ist,  sondern  über  sich 
hinausweist  und  im  Zuhörer  eine  Ahnung  der  nur  erstrebten 
Vollendung,  eine  Wehmuth  über  deren  Unerreichbarkeit  rege 
macht.  Natürlich  wirfl  sich  der  überschwängliche  Inhalt  auch 
in  die  Form,  die,  wie  schon  bei  Beethoven,  nicht  mehr  das 
schöne  Ebenmaß,  die  plastische  Rundung  der  klassischen  Reife 
innehält,  sondern  ausgereckt,  durchbrochen  und  bis  zum  ver- 
schwebenden  Hauche  verflüchtigt  erscheint. 

Von  dieser  romantischen  Gesangmusik  nun  ergreift  der 
sinnlich  buhlerische  Geist  der  Italiener  diejenige  Gattung,  die 
von  den  deutschen  Klassikern  bereits  ausgebildet  war  «nd  sich 
für  den  Zweck  volksthümlicher  Ergötzung  am  Bequemsten  zu- 
richten ließ:  die  Oper,  indem  man  die  ernste  Gediegenheit 
derselben,  die  vom  deutschen  Geiste  nun  einmal  unzertrennlich 
ist,  mit  der  leichten,  koketten  Grazie  des  südlichen  Naturells 
versetzte.  Rossini  (um  1820)  ist  der  gefeierte  ^Großmeister 
dieser  Richtung,  der  unübertroffene  Matador  dieser  neuitalieni- 
schen Oper,  mit  der  er,  Jahrzehnte  hindurch  und  bis  in  unsere 
Tage  hinein,  die  Bühnen  Europa^s  beherrscht  hat.  Frei  von 
aller  Tiefe  oder  Düsterkeit,  aber  desto  reicher  an  reizvollen 
Melodien  und  bei  aller  Oberflächlichkeit  von  treffendem,  pikan- 
tem Ausdruck,  sind  seine  Opern  höchst  lebhaft  und  sinnlich 
ergreifend;  aller  Zauber  der  Instrumente  und  des  Gesanges  ist 
aufgeboten,  um  sie  unwiderstehlich  zu  machen.  Die  meisten 
bis  zum  Jahre  1829,  z.  B.  der  Barbier  von  Sevilla,  Semiramis, 
Tankred,  sind  von  tändelnder  Leichtigkeit,  von  der  zierlichsten 
Grazie  durchweht;  großartig  und  revolutionär  hingegen  ist  der 
Teil  (1829),  dieser  Vorläufer  der  französischen  Julirevolution, 
sowie  der  großen  historischen  Oper  der  Neuzeit.  Bellini  da- 
gegen (um  1830),  von  dem  wir  die  Norma,  die  Nachtwandlerin, 
die  Puritaner  u.  a.  haben,  ist  weich  und  elegisch  bis  zu  kran- 
ker Sentimentalität  Donizetti  endlich  (gest  1848),  der  uns 
den  Liebestrank,  Belisar,  Lucie  di  Lanmiermoor ,  Lucrezia 
Borgia,  die  Favorite,  die  Kegimentstochter,   seine  beste  Lei- 


165 


stuDg,  gegeben  hat,  ist  oberflächlicher  als  seine  Vorgänger, 
aber  immer  leicht  und  wohlklingend.  Ein  Nachahmer  Doni<- 
zetti^s  ist  Verdi,  gegenwärtig  der  beliebteste  Opernkomponist 
Italiens. 

In   dem  nämlichen  Elemente   des    sinnlichen    Wohlklanges 
wie  die  italienische,  ist  die  französische  Oper,  doch  charak- 
teristischer, pikanter,  effektvoller  und  hat  in  ihrer  besten  Zeit, 
treu  dem  eiteln  Geiste  der  giiande  nation,  immer  ein   Streben 
zum  großen  historischen  Style  gezeigt.     So    hat   vornehmlich 
Spontini  (geb.  1778),  dieser  Verherrlicher  des  Napoleonischen 
Kaiserreichs,  die  pomphafte  Hof-   und  Heldenoper  ausgebildet, 
der  es  nicht  mehr  auf  liebevolle  Detailmalerei  des  Seelenlebens, 
wie  bei  Gluck,  nicht  mehr  auf  plastisch  anschauliche  Zeichnung 
der  Charaktere,  wie  bei  Mozart,    ankommen  konnte,   sondern 
nur  auf  Vorführung  großer  Massen ,   auf  Darstellung  der  Lei- 
denschaften in  großen,  allgemeinen  Umrissen.    So  sein  berühm- 
ter Erstling,  die  Vestalin,  so  seine  folgenden  Opern:  Ferdinand 
Cortez,  Olympia,  Nurmahal,    Agnes   von  Hohenstaufen.     Die 
andere  Seite  des  französischen  Nationalgeistes  vertritt  die  leichte^ 
vaudeville- ähnliche  Volksoper  in  Cherubini  (der  Wasserträ- 
ger) und  Mehul  (Joseph  in  Ägypten).    Unter  den  Neuem  ist 
Boildieu   in  Johann  von  Paris,  im  Kalifen  von  Bagdad  und 
der  weißen  Dame  leicht  und  volksthümlich.    Auber  trat  An- 
fangs gewaltig  und  revolutionär  auf  in  der  Stummen  von  Por- 
tici  (1828),   worin  das  Volk  als  dramatische  Masse,  der  Chor 
als  handelnder  Held   erscheint,  die  Arie  aber  zurücktritt  und 
dagegen  das  volksthümliche  Lied,   die  Barkerole,  in  den  Vor- 
dergrund rückt;  zugleich  nehmen  wir  an  Auber  —  eine  beson- 
dere Stärke  der  neufranzösischen   Musik  —  schon  gewaltsame 
Effekte,  betäubende  Massen  Wirkungen  wahr,  auf  die  u.  A.  der 
noch  lebende  Berlioz  seine,  genialen   Instrumentalgemälde   be- 
rechnet.   Auber  selbst  aber  vereinigt  mit  der  Darstellung  des 
Großartigen  auch    den    leichten    Styl    der   Konversationsoper, 
z.    B.    im  Fra   Diavolo.     Adam  ferner,    der    Komponist    des 
PostiUons  von  Longjumeau,  ist  fnsch  und  gefällig,  aber  leicht- 
fertig, Herold  ein  glücklicher  Nachahmer  Boildieu'^s,  in  der 
Zampa  jedoch,  mit  Ausnahme  schöner  Einzelnheiten,  monströs 
geworden,   Halevy  ein    reflektirter,   ernster  Opemkomponist, 
aber  ohne  Naivetät  und  Fluss  des  Gesanges;  am  Bedeutend- 
sten igt  durch  heroische  Tragik  seine  Jüdin. 


166 


Aas  der  italienisch  französischen  Verflachung  nimmt  sich 
die  moderne  Oper  in  der  deutschen  Weiterentwickehing  zu- 
rück und  taucht  mit  Gemiithsinnigkeit  und  ernster  Haltung  zu- 
erst wieder  in  K.  M.  v.  Weber  auf  (1787—1826),  diesem 
Sänger  der  deutschen  Romantik  nach  den  Freiheitskri^en.  Er 
gab  dem  froherwachten  Siegesgefuhle  der  Nation  in  seinen 
Opern  zuerst  einen  musikalischen  Ausdruck;  er  machte  uns 
durch  den  nationalen  Stoff,  wie  im  Freischütz,  zuerst  aufmerk- 
sam auf  den  Schatz  unserer  eigenen  Sage  und  Geschichte  und 
lehrte  uns,  auch  för  unsere  Kunstbedürfoisse,  in  den  eigenen 
Busen  greifen;  er  entzündete  endlich  von  Neuem  die  Liebe  zur 
Oper,  dieser  in  Deutschland  seit  Mozart  nicht  weiter  angebau- 
ten Gattung.  Weber  verkannte  diese  seine  national -deutsche 
Stellung,  als  er  seine  Stoffe,  wie  den  zur  Euryanthe,  aus  dem 
mittelalterlichen  Ritterthum,  oder,  wie  im  Oberen,  aus  der 
Märchenpracht  des  Morgenlandes  holte;  nur,  wo  er  deutsche 
Volksweisen  in  die  Oper  verflicht,  wie  im  Freischütz,  ist  er 
populär  geblieben;  nur,  wo  er  sich,  wie  hier,  auf  der  mütter- 
lichen Erde  hält,  ist  er  unwiderstehlich  und  unübertroffen. 
Seine  minder  begabten  Nachahmer  sind  Marschner,  jedoch 
ein  glücklicher  Humorist  in  Templer  und  Jüdin;  Konradin 
Kreutzer  (gest.  1849),  ein  sehr  beliebter  Lyriker  in  seinen 
männerstimmigen  Quartetten  und  auch  im  Nachtlager  von 
Granada  durchaus  lyrisch;  femer  Löwe,  fruchtbar  in  düstem 
Balladen  und  originell  in  dem  rein  männerstimmigen  Oratorium : 
die  Apostd  von  Philippi;  Reissiger,  vortrefflich  im  komi- 
schen Liede,  wie  in  Vater  Noah  und  Noah^s  Vermächtniss ; 
Franz  Lachner,  dessen  Katharina  Comaro  keinen  eigenthfim- 
lich  charakteristischen  Zug  hervorkehrt;  Flotow,  der  mit  der 
Martha  mehr  Glück  gemacht  hat  als  mit  Stradella,  hauptsäch- 
lich durch  das  eingewebte  Volkslied:  des  Sommers  letzte  Rose t 
endlich  Lortzing,  der  uns  mit  Zaar  und  Zimmermann,  den 
beiden  Schützen,  dem  Waffenschmid,  Undine  u.  a.  beschenkt 
hat,  volksthümlich  komische  Opern  in  Haydn-Mozart^scher 
Naivität  und  aus  glücklich  kombinirten  und  selbsterfundenen 
Melodien  gemischt.  Im  Gegensatz  zu  den  Genannten  steht, 
als  durchaus  reflektirter  Romantiker,  der  mit  Weber  gleichzei- 
tig aufhretende  Spohr,  der  deshalb  auch  bei  allem  Reichthum 
an  üppigen  Modulationen,  z.  B.  in  seiner  Jessonda,  nicht  volks- 
thümlich hat  werden  können.     Ein  vereinzeltes  GhegenbikI  zur 


167 


Romantik  liefert  Friedrich  Schneider,  ein  fijrchenkomponist, 
etwa  nach  Handels  Vorbilde,  aber  ohne  Handels  Geist  und 
mit  vorromantischer ,  nicht  mehr  zeitgemäßer  Formensteifbeit, 
die  er  nicht,  wie  Mendelssohn,  mit  modemer  Beseelung  zu 
durchwärmen  wusste.  Dafür  zeugen  z.  B.  sein  Weltgericht, 
Pharao,  verlorenes  Paradies  u.  a.,  die  nur  noch  genießbar  sind, 
wenn  man  von  der  spätem  Fortbildung  des  Kirchenstyls  ab- 
strahiren  gelernt  hat. 

Die  bisherige  romantische  Oper  beruhete  wesentlich  auf 
einer  innern  Unwahrheit,  insofern  sie  sich,  mit  Durchbrechung 
der  Naturgesetze,  nur  auf  der  Täuschung  des  Wunders  auf- 
baute und  in  sinnenbetäubender  Pracht  aufging;  nicht  die  feste 
Natur,  nicht  das  wirkliche  Leben  und  die  Geschichte  war  ihr 
Inhalt,  sondern  Uebernatürliches  und  Unbegreifliches.  Meyer- 
beer war  es,  der  diesen  Mangel  empfand  und,  mit  dem  fnsch- 
erwachtcn  historischen  Sinne  der  Neuzeit,  der  sich  auf  Natur 
und  Geschichte  warf,  auch  für  die  Oper  historische  Stoffe  er- 
griff und  konkrete  Gestalten  der  handelnden  Welt  auf  die  Bühne 
stellte  —  der  Fortschritt  von  der  romantischen  zur  historischen 
Oper.  Nicht  mehr  eine  inhaltlose  Zaubergeschichte,  nicht  mehr 
unschuldiger  Feenspuk  ergötzt  uns  in  seinen  Hugenotten,  im 
Propheten  (Robert  der  Teufel,  als  sein  erstes  Debüt,  steckt 
noch  in  der  Romantik):  sondern  geschichtliche  Thatsachen  wer- 
den von  den  geschichtlich  wirklichen  Helden  in  historischer 
Lebenswahrheit  vorgeführt.  Ganze  Massen  handelnder  Indi- 
viduen erscheinen  auf  der  Bühne,  Kämpfe  ganzer  Völker,  ewi- 
ger Ideen  werden  ausgefochten;  die  Musik  weitet  sich  zu  groß- 
artiger Massenwirkung  aus  und  ist  nicht  mehr  auf  schönen 
Tonklang  und  Stimmenentfaltüng,  sondern  auf  scharfe  Charak- 
teristik der  geschichtlichen  Individuen,  auf  Malerei  der  histori- 
schen Situationen  und  der  kämpfenden  Gedanken  gerichtet. 
Eine  Ueberreizung  der  musikalischen  Mittel  zu  ausgereckten 
Formen,  zu  berechneten  Kontrasten  und  Effekten,  die  wäh- 
lerische Vermengung  unvereinbarer  Style  sind  die  Folge  die- 
ses unmusikalischen  Strebens  gewesen.  Meyerbeer^s  Opern 
bieten  geniale,  urschöpferisch  erfundene  Einzelschönheiten,  aber 
keine  bringt  es  zu  innerer  Einheit,  zum  kunstschönen  Ganzen. 
In  jedem  Satze  nimmt  der  Komponist  einen  vielversprechenden 
Anlauf;  id>er  der  Fortgang  täuscht,  und  das  ganze  Werk  lässt 
einen  selir  gemischten,  sehr  zweifelhaften  Eindruck  zurück. 


168 


Ueber  Meyerbeer  noch  hinausgebend,  hat  sich  in  neuester 
Zeit  Richard  Wagner  bis  an  die  äußersten  Grenzen  einer 
möglichen  Kunstdarstellung  überhaupt  vorgewagt  Wagner  ver- 
leugnet die  ganze  bisherige  Geschichte  und  Theorie  der  Musik 
und  sucht  letztere  auf  der  Grundlage  gewaltsamer  Harmonien, 
unerhörter  Intervalle  und  Fortschreitungen,  mit  genialer,  ener- 
gischer Kiihnheit,  neuzuschaffen.  Zugleich  versammelt  er  in 
dem  musikalisch  dekorativen  Drama  der  Oper  sämmtliche 
Künste  und  erblickt  in  diesem  Gesammtorganismus  das  einzig 
berechtigte  Kunstwerk  der  Zukunft  —  ein  noch  gewaltthäti- 
geres,  bedenklicheres  Unterfangen,  als  Kaulbach^s  vielbespro- 
chene Gedankenmalerei.  Mehr  in  der  Weise  der  bisherigen 
Musik  waren  die  Wagnerischen  Opern:  Cola  Kienzi  und  der 
fliegende  Holländer;  in  dem  neuern  revolutionären  Style  sind: 
Tannhäuser,  Lohengrin  und  Nibelungen  (erster  Theü:  das  Rhein- 
gold). Nicht  ohne  Besorgniss  folgt  die  Kunstwelt  den  weitem 
Schritten  und  Schöpfungen    dieses   himmelstürmenden   Genie^s. 

Den  vollendeten  Ausdruck  der  schönen  Empfindung  aber 
gab  sich  die  romantische  Musik  erst  im  reinen  Liede,  dessen 
Pflege  ihre  Erklärung  in  der  modernen  Isolirung  der  Subjekte 
auf  ihr  eigenes  Selbst  und  in  dem  Kultus  ihrer  schönen  Inner- 
lichkeit findet,  wie  sich  dieser  wiederum  aus  der  Gleichgültig- 
keit des  Volkes  gegen  seine  öffentlichen  Zustände,  aus  politi- 
schen Enttäuschungen  und  religiösen  Beschränkungen  von  oben 
herab  herleiten  lässt.  Der  Wiener  Franz  Schubert,  noch 
ein  Zeitgenosse  Beethoven^s,  hat  das  unbestreitbare  Verdienst, 
dass  er  der  Musik  das  Wort  gewann  und  mit  ihm  zugleich  von 
der  Handlung  des  belebten  Operndrama^s  zur  reinen  Empfin- 
dung des  Einzelsubjcktes  fortschritt  und  der  modernen  Be- 
seelung ihre  entsprechende  Verklärung  und  Zuspitzung « im 
Liede  gab  —  der  jüngste  Portschritt  der  Musik  von  der  dra- 
matischen zur  lyrischen  Gattung.  Für  diese  reflektirte  Empfin- 
dungstiefe des  modernen  Bewusstseins  genügte  nicht  mehr  das 
naive  Volkslied,  da  dieses  nur  die  einfachsten  Naturgefuble  in 
den  allgemeinsten  Umrissen  typischer  Melodien  umschreibt: 
vielmehr  erfand  Schubert  dafür  das  sogenannte  durohkomponirte 
Lied,  dessen  einzelne  Strophen  je  nach  dem  Wechsel  ihres 
Empfindungsgehaltes  besonders  gesetzt  sind,  so  dass  die  mu- 
sikalische Fassung  sich  zur  treuesten  Wiedergabe  des  Textes» 
zur  Lebendigk^t  des  dramatischen  Effektes  steigert;  der  poe- 


169 


tische  Text  ist  von  der  Komposition  vollständig  durchdrungen, 
die  feinsten  Nuancen  und  Details  der  Dichtung  gehen  in  die 
TonföUe  des  Liedes  bis  zur  Erschöpfung  auf.  Schuberts  In- 
strumentalkompositionen, z.  B.  seine  Klaviersonaten  und  Sym- 
phonien ,  sind  lyrisch  zerflossen ,  eben  ein  Zeichen ,  welch  eine 
durch  und  durch  lyrische  Natur  er  war.  Aber  als  eine  solche 
steht  er  auch  unerreicht  da:  sein  Schwanengesang,  seine  Win- 
terreise, seine  schöne  Müllerin  und  noch  viele  unter  seinen 
einzelnen  Gesangwerken,  sind  in  der  Musik  des  Liedes  das 
Vollendetste,  was  je  geschaffen  ist 

Die  moderne  Beseelung  über  die  Einseitigkeit  des  subjek- 
tiven Liedes  hinaus  auf  sämmtliche  Gattungen  der  Tonkunst 
auszudehnen,  war  der  Fortschritt  und  die  künstlerische  Mis- 
sion Mendelssohn 's  (gest.  1849.)  Und  sie  gelang  ihm, 
weil  er,  ohne  eigentlich  Genie  zu  sein,  das  neue  Gattun- 
gen in's  Leben  gerufen  hätte,  ein  höchst  vielseitiges,  schmieg- 
sames Talent  war,  das  sich  an  alle  Größen  der  Vergangenheit 
gefügig  anschloss,  die  Vorzüge  aller  Schulen,  die  Eigenthüm- 
liehkeiten  aller  Style,  wie  ein  echter  Eklektiker,  sich  aneignete 
und  die  bedeutsamsten  Musikformen  aus  modernem  Geiste  und 
fiir  den  modernen  Geschmack  neu  erzeugte.  Das  ist  das  Haupt- 
verdienst Mendelssohn's ,  dass  er  uns  das  Alte  wieder  auffrischte, 
ihm  ^ine  saubrere,  anständigere  Haltung  gab  und  es  uns  so 
von  Neuem  lieb  machte,  dass  er  die  starre  Strenge  des  alten 
Kirchenstyls  durchwärmte,  wie  im  Paulus  und  Elias,  ja  dass 
er  selbst  solche  Gestalten  mit  musikalischen  Arabesken  um- 
schlang, bei  denen  man  die  Zuthat  moderner  Tonkunst  für  un- 
möglich hätte  halten  sollen,  wie  Sophokles'  Antigene  und  Sha- 
kespeare^s  Sommemachtstraum.  Auch  seine  Lieder  bieten  nichts 
Neties  oder  Bedeutendes.  In  der  Auffassung  etwas  oberfläch- 
lich, aber  in  der  Form  außerordentlich  schmuck  und  glatt 
sind  sie  da  am  schönsten,  wo  sie  sich  zur  Innigkeit  und  Frische 
des  einfachen  Volksliedes  zurückwenden,  wie  das  Minnelied 
und  das  Lied  vom  Scheiden. 

Die  von  Mendelssohn  errungene  Formvollendung  sollte  sich 
in  der  Fortentwickelung  der  Musik  wieder  auflösen,  indem  der 
einseitige  Empfindungssubjektivismus  sich  noch  mehr  zur  In- 
nerlichkeit vertiefte,  sich  zu  noch  höherer  Ueberschwänglich- 
keit  steigerte  und  so   über  die  nun  mehr  vernachlässigte  'und 


170 


zerbröckelnde  Form  hinauseilte.  Bei  Schumann  und  Franz, 
unstreitig  den  bedeutendsten  Liederkomponisten  der  Neuzeit, 
greift  der  lyrische  Gefuhlsgehalt  und  die  musikalische  Fassung 
sich  nicht  mehr  in  Eins  zusammen,  geht  nicht  zu  verzehrender 
Durchdringung  in  einander  auf,  was  Schubert  auch  im  tiefsten 
Weh,  im  höchsten  Sturme  der  Leidenschaft  noch  gelingt:  viel- 
mehr erscheint  die  Empfindung  bis  zur  form-  und  haltlosen 
Ueberseligkeit  hinaufgespannt,  und  die  Form  zur  gehauchten 
Andeutung,  zum  verschwebenden  Seufzer  verflüchtigt.  Voll- 
endet schöne  Einzelnheiten  in  den  Gesangschöpftmgen  beider 
Komponisten,  bei  Schumann  auch  in  seinen  KJavier-  und  In- 
strumentalwerken, nehmen  wir  aus;  im  Ganzen  aber  ist  hier 
die  Charakteristik  der  lyrischen  Stimmung,  das  Streben  nach 
frappanter  Malerei  des  Ausdrucks,  gegen  die  Natur  der  Mu- 
sik wie  der  Kunstschönheit  überhaupt,  übertrieben.  Bei  Schu- 
mann, der  in  seiner  Geistesdisposition  wie  in  seinen  spätem 
Werken  leider  verkommen  und  wirr  geworden  ist,  dürfte  ein 
Wunsch  für  seine  Zukunft  vergeblich  ausgesprochen  sein.  Um 
so  inniger  wünschen  wir  die  seelenvolle  Muse  Franz^  zu  dem 
Gleichgewicht  von  Empfindungstiefe  und  musikalischem  Aus- 
druck, dieser  unverrückbaren  Grundbedingung  aller  Schönheit, 
zurückkehren  zu  sehen. 

Nicht  um  ihres  musikalischen  Werthes  willen ,  sondern  we- 
gen ihrer  geselligen  Bedeutung  erwähnen  wir  schließlich  noch 
einige  mittlere  Liederkomponisten,  wie  Curschmann  und 
Banck,  und  einige  kleine  und  kleinste,  wie  Kücken,  Proch, 
Dame 8,  T hießen  u,  s.  w.  Curschmann  giebt  in  seinen  Lie- 
dern durchaus  nichts  Neues,  nichts,  was  bleibenden  Werth 
hätte,  aber  auch  nichts  Verschrobenes  und  Unschönes.  Er  ist 
eins  jener  bescheidenen  Talente,  die  nicht  in  die  Tiefe  dringen, 
aber  ihren  Gegenstand  einfach  und  natürlich  auffassen,  und  in 
leichter,  ansprechender  Weise  wiedergeben.  Der  Text  ist  in 
seinen  Liedern  richtig  deklamirt,  die  poetische  Stimmung  im 
Ganzen  getroffen,  die  Singstimme  glücklich  geführt,  die  Be- 
gleitung nicht  unpassend  —  das  ist  auf  diesem  so  vielfach  be- 
sudelten Gebiete  schon  sehr  viel.  Kücken,  Proch  und  Konsor- 
ten stehen  dem  musikalischen  Pranger  schon  weit  näher.  Das 
sind  oberflächliche,  kokett  sinnliche  Bänkelsänger,  moderne 
Landstreicher  der  Kunst,  die  die  raffinirte  Sentimentalität  der 
neuiialienischen  Oper  in  das  deutsche  Lied  eingeschmuggelt  ha- 


171 


ben  und  mit  dieser  Kontrebande  den  leicht  bestechlichen  Ge- 
schmack der  Halbgebildeten  für  ihre  ohrenkitzelnden  Mach- 
werke zu  gewinnen  wissen.  Denen  kommt  es  nicht  auf  Tiefe 
der  Auffassung,  auf  innere  Wahrheit  und  Nothwendigkeit  der 
Darstellung  an,  die  aus  dem  lyrischen  Texte  wie  Ton  selbst 
hervorwachsen  und  sich  aus  ihm  bis  zur  schlagenden  Ueberzeu- 
gung  nachweisen  lassen  muss:  ja  die  fragen  nicht  einmal  nach 
richtiger,  naturgemäßer  Deklamation.  Die  bringen  den  ersten 
besten  Einfall,  der  ihnen  durch  den  Kopf  und  am  Klavier  durch 
die  Finger  fuhrt,  sofort  zu  Papiere  und  tragen  solche  Seifen- 
blasen haufenweise  zu  Markte.  Nur  das  Eine  liegt  ihnen  da- 
bei am  Herzen,  dass  die  Sachen  angenehm  klingen  und  in^s 
Ohr  fallen,  um  die  plebejische  Aristokratie  des  Salons  zu  ent- 
zücken. 

Trotz  diesen  Mängeln  haben  die  modernen  Bänkelsänger 
dazu  beigetragen  und  thun  dies  wider  Willen  fortgehend,  dass 
der  Sinn  für  die  Liedermusik  und  ihre  Pfl^e  eine  so  allver- 
breitete  geworden  ist  und  das  musikalische  Publikum,  auf  die 
Schwächen  dieser  Nichtsnutzigkeiten  ahnälig  aufmerksam  ge- 
worden, zu  dem  Bessern  binübergefuhrt  wird:  denn  man  muss 
erst  das  Schlechte  kennen  und  verabscheuen  gelernt  haben,  ehe 
sich  die  EmpfäDglichkeit  für  das  Schöne  einstellt.  Uniäugbar 
ist  der  Liedergesang  auch  durch  diese  musikalischen  Handlan- 
ger allgemeiner  und  die  Liebe  zur  Musik  auch  in  den  bürger- 
lichen Kreisen  geweckt  worden  —  um  dieses  socialen  Gewin- 
nes und  Verdienstes  willen  gestattet  die  Kunstgeschichte  auch 
diesen  verirrten  Söhnen  großmüthig  den  Zutritt  in  ihre  heili- 
gen Hallen,  wenn  sie  sich  auch  das  Ehrenbürgerrecht  der  rei- 
nen Schönheit  allerdings  nicht  erkauft  haben. 

Bei  so  allgemeiner  Pflege  ist  denn  das  musikalische  Lied 
eine  ebensolche  Macht  in  der  Gegenwart ,  als  es  früher  das 
Streichquartett  und  nachher  das  Pianoforte  war:  jenes  in  der 
Blüthezeit  der  Instrumentalmusik  nach  Haydn  und  Mozart,  wie 
oben  bereits  erwähnt  wurde;  dieses,  das  EJavier ,  seit  den  zwan- 
ziger und  dreißiger  Jahren  unseres  Jahrhunderts:  noch  in  un- 
sem  Tagen  sprechen  die  fast  gleichzeitigen  Namen  HummePs, 
Moscheles%  Kalkbrenner's ,  Herz\  Cherny's,  Thalberg^s,  Hen- 
selfs,  Liszfs,  Klara  Schumann^s,  Wilhelmine  Clauß^  die  Mei- 
sterschaft wie  die  Vorliebe  für  das  Pianoforte  aus.  Beides 
aber  genügte  nicht  mehr,  als  man  eine  tiefere  Beseelung,  einen 


172 


8precbendei*n  Ausdruck  für  das  eigene  Gemütbsleben  suchte. 
Ein  solcher  war  das  Lied,  in  der  Poesie  so  gut  wie  in  der 
Musik.  Darum  hat  es  auch  so  schnell  die  Herzen  erobert  und 
in  alle  Schichten  der  heutigen  Gesellschaft  veredelnd  und  ver- 
bindend eingegriffen.  Für  die  Familie  wurde  es  die  bildendste 
Liebhaberei  und  der  klare  Ausdruck  für  die  unklaren  gegensei- 
tigen Herzensbeziehungen ;  in  die  hohle  Geselligkeit  brachte  es 
den  edelsten  Unterhaltungsstoff,  in  das  Konzert  ein  vertrauteres, 
menschlicheres  Element,  verglichen  mit  dem  halb  unverstande- 
nen Instrumentalgetön;  und  das  moderne  Vereinsleben  ist  zum 
großen  Theil  seine  Schöpfung.  Besonders  in  der  Form  des 
vierstimmigen  Männergesanges  hat  das  Lied  Sängerbünde  und 
Liedertafeln  gestiftet,  die  Massen  begeistert  und  den  schönen 
Kunstgenuss  mitten  in''s  Volk,  bis  in  die  niedrigsten  Stande 
hinab ,  getragen ,  ja  dem  unbefriedigten  Drange  nach  politischer 
Vereinigung  wenigstens  eine  Verwirklichung  en  miniature  ge- 
geben. Und  so  wird  es  noch  fernerhin  segensreich  walten  und 
das  Volk  für  die  künstlerische  Mündigkeit,  auch  für  das  noch 
bildungsfähige  Musikdrama  der  Zukunft  erziehen  helfen. 


VII. 


DIE 


ÄLTESTEN  DEUTSCflEN 
SPRICHWÖRTERSAMMLÜNGEN. 


VON 


H.    V.    F. 


1.     Niederländisch. 

Eine    Sammlung  von    803  niederländischen    Sprichwörtern 
unter  dem  Titel: 

Incipiant  proverbia  seriosa  in  theutonico  prima,   deinde  in 

latino  sibi  invicem  consonantia,  iudicio  coUigentis  pulcher- 

rima  ac  in  hominum  colloquiis  communia. 
Ich  habe  sie  vollständig  mit  den  lateinischen  leoninischen  Hexa- 
metern mitgetheilt  in  meinen  Horae  belgicae,  Pars  IX.  p.  3 — 49. 
Es  ist  von  allen  bisher  bekannten  Sammlungen  die  älteste  und 
zugleich  eine  der  reichhaltigsten. 

Der  Sammler,  der  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  sein 
Werk  drucken  ließ,  hat  augenscheinlich  mit  Lust  und  Liebe, 
gesammelt:  er  hat  die  Sprichworter  aus  dem  Munde  des  Volks, 
wie  er  sie  seiner  Zeit  vorfand,  aufgezeichnet  und  nach  den  An- 
fangsworten geordnet.  Dass  er  sie  für  die  schönsten  hielt, 
wollen  wir  der  VorKebe  für  seinen  Stoff  und  den  damaligen 
Ansichten  von  Schönheit  zu  Gute  halten,  und  so  sind  denn  die 
Worte  des  Titels  „nach  dem  Urtheil  des  Sammlers  die  aller- 
schönsten  und  im  Gespräche  des  Volkes  gäng  und  geben"  ge- 
rechtfertigt. Eine  kleine  Auswahl  der  eigenthümlichsten  wird 
auch  heutiges  Tages  nicht  unwillkommen  sein. 


174 


Das  Büchlein  muss  seiner  Zeit  sehr  beliebt  gewesen  sein. 
Es  lassen  sich  jetzt  noch  verschiedene  Ausgaben  nachweisen. 
Die  von  mir  benutzte  (26  Blätter  4<^.  in  der  Bibl.  des  kathol. 
Gymn.  zu  Köln)  ist  ohne  Ort  und  Jahr;  eine  andere  ebenfalls 
ohne  Ort  und  Jahr  verzeichnet  Hain  Repertorium  bibliogr. 
Nr.  13,429.  Die  einzige  datierte  ist  die:  Buscoducae  per  Ger. 
Leempt  de  Novimagio  1487.  4«.  s.  Cat.  Bibl.  Thott.  Vol. 
VII.  p.  217.  Eine  Ausgabe:  Delphis  in  Hellandia,  wahr- 
scheinlich von  Henricus  Eckert  van  Homberch,  der  von  Ant- 
werpen nach  Delft  zog  und  dort  1498.  99.  druckte,  befindet 
sich  zu  Haarlem,  s.  Supplem.  Cat.  Bibl.  Harlemensis  (autore 
Abr.  de  Vries)  Harl.  1852.  p.  105.  Eine  dieser  Ausgaben  hat 
P.  J.  Harrebomee  benutzt  zu  seinem  Spreekwoordenboek  der 
Nederlandsche  taal.  1.  Aflevering.  Uitrecht  1853. 

Als  de  anxt  meest  is,  so  is  godes  hulpe  aldemaest. 

Wenn   die  Angst  ist  am  größten,  so  ist  Gottes  Hülf^  am 
nächsten. 
Als  enen  wast  sijn  goet,  wast  hem  sinen  moet. 

Wenn  einem  wächst  sein  Gut,  so  wächst  ihm  sein  Muth. 
AI  liecht  die  mont,  dat  hert  en  liecht  niet. 

Lügt  auch  der  Mund,  das  Herz  liigt  nicht. 
Also  goet  coop  gaet  men  tot  smeets  als  tot  smekens  huus. 

Eben  so  billig  geht  man  zu  Schmids  als  zu  Schmidleins 
Haus. 
Alleman  wat:  dat  deelt  schoon. 

Jedem  etwas,  das  theilt  schon. 
Alder  lüde  vrient  is  alder  lüde  sot. 

Aller  Leute  Freund  ist  aller  Leute  Geck. 
AI  te  vele  en  is  niet  ghenoech. 

Allzuviel  ist  nicht  genug. 
Aen  meinen  bint  nieman  peerde  vast. 

An  Meinen  bindet  niemand  Pferde  fest 
Arbeit  wint  dat  vuur  uten  steen. 

Arbeit  gewinnt  das  Feuer  aus  dem  Steine. 
Als  de  sac  comt,  worpt  men  den  budel  achter  die  kist. 

Wenn  der  Sack  kommt,  wirft  man  den  Beutel  hinter  die 
Kiste. 
Also  wee  wort  den  naghel  als  den  gate. 

Ebenso  weh  wird  dem  Nagel  als  dem  Loche. 


175 


Als  ic  doot  bin,  ig  alle  die  werelt  doot. 

Wenn  ich  todt  bin  ist  die  ganze  Welt  todt 
Beter  doot  dan  vriendeloos. 

Lieber  todt  als  freundelos. 
Blint  man  arm  man,  al  had  hi  bonte  cleider  an. 

Blinder  Mann  armer  Mann,  hätt^  er  auch  bunte  Kleider  an. 
Clein  ghepac  is  groot  ghemac. 

Klein  Gepäck  ist  groß  Gemach. 
Dat  dat  oghe  niet  en  siet,  dat  en  begheret  herte  niet. 

Was  das  Auge  nicht  sieht,  begehrt  das  Herz  nicht 
Daer  niet  en  is,  en  rijst  niet. 

Wo  nichts  ist,  fällt  nichts. 
Daer  een  man  is,  daer  en  is  mer  half  tale. 

Wo  Ein  Mann  ist,  da  ist  nur  halbe  Sprache. 
Den  lieyen  kinde  gheefl  men  menighen  name. 

Dem  lieben  Kinde  gibt  man  manchen  Namen. 
Dat  rechte  hevet  dicwijl  hulpe  noot. 

Das  Recht  hat  oftmals  Hülfe  noth. 
De  woorde  sijn  goet,  vervolghen  hem  die  werken. 

Die  Worte  sind  gut,  folgen  ihnen  die  Werke. 
Die  spierinc  doet  den  salm  afslaen. 

Der  Stint  macht  den  Salm  billig. 
Die  van  enen  quade  wijf  seheit,  doet  een  goede  dachvaert. 

Wer  von    einem   bösen  Weibe  scheidet,  macht  eine  gute 
Tagereise. 
Die  vorder  wil  dan  sijn  peert,  sit  af  ende  gae  te  voet. 

Wer  weiter  will  als  sein  Pferd,  sitze  ab  und  gehe  zu  Fuß. 
Die  hem  selven  ketelen  can,  lacht  als  hi  wiL 

Wer  sich  selbst  kitzeln  kann,  lacht  wenn  er  will. 
Die  mi  lief  doet,  bereet  mi  een  sorghe. 

Wer  mir  Liebes  thut,  bereitet  mir  eine  Sorge. 
Die  der  ghemeinten  dient,  dient  enen  quaden  beer. 

Wer  der  Gemeinde  dient,  dient  einem  bösen  Herrn. 
De  altoos  te  vroech  meinet  te  comen,  comt  die  te  laet. 

Wer  immer  meint  zu  früh  zu  kommen,  kommt  oft  zu  spät. 
De  wael  doet,  en  derf  niet  omsien. 

Wer  Grutes  thut,  darf  nicht  umsehn.  *) 


*)  Um  den  Orden  des  Königs  Ludwig  Ton  Holland  stand:    Doe  wel,  zie 
niet  om. 


176 


Die  men  raden  mach,  den  mach  men  helpen. 

Wem  man  rathen  kann,  dem  kann  man  helfen. 
Diet  qualic  gaet,  stoot  hem  aen  een  stroo. 

Wem's  übel  geht,  stößt  sich  an  einen  Strohalm. 
Dat  den  been  goet  is,  dat  is  der  leersen  quaet. 

Waö  dem  Beine  gut  ist,  das  ist  dem  Stiefel  schädlich. 
Die  cat  is  gheern  daer  mense  clauwet.   ^ 

Die  Katze  ist  gern  wo  man  sie  streichelt. 
Die  nae  enen  giilden  waghen  staet,  crighet  gheern  enen  naghel  af. 

Wer  nach  einem  güldenen  Wagen  trachtet,  bekommt  leicht 
einen  Nagel  ab. 
Die  gheringhe  looft,  is  haest  bedroghen. 

Wer  schnell  glaubt,  ist  bald  betrogen. 
Enen  dach  verlenet  dat  een  heel  jaer  weighert. 

Ein  Tag  verleiht  was  ein  ganzes  Jahr  verweigert 
Haddic  was  een  arm  man. 

Hatt-ich  war  ein  armer  Mann. 
Hongher  is  een  scharp  sweert." 

Hunger  ist  ein  scharfes  Schwert. 
Hi  hindert  wael,  die  niet  ghehelpen  en  can. 

Der  bindert  leicht,  der  nicht  helfen  kann. 
Hi  is  lanc  doot  dict  jaer  starf. 

Der  ist  lange  todt  der  das  Jahr  starb. 
Hi  comt  al  vroech  ghenoech,  die  quade  bootschap  brinct. 

Der    kommt   schon    früh    genug,    der    schlimme    Botschaft 
bringt. 
Jae  ende  neen  is  een  langhe  strijt. 

Ja  und  Nein  ist  ein  langer  Streit. 
In  allen  landen  vint  men  ghebroken  potten. 

In  allen  Landen  findet  man  zerbrochene  Töpfe. 
In  eens  arm  maus  hooft  blijft  vele  wijsheit  versmoort. 

In  eines  armen  Mannes  Haupt  geht  viele  Weisheit  zu  Grunde. 
Kindershant  is  haest  ghevolt. 

Kinderhand  ist  bald  gefüllt. 
Lrants  sede  is  lants  ere. 

Landessitte  ist  Landesehre. 
Luttel  te  late  is  vele  te  late. 

Ein  wenig  zu  spüt  ist  viel  zu  spät. 
Men  vint  menighen  esel,  die  nie  sac  en  droech. 

Man  findet  manchen  Esel,  der  nie  Säcke  trug. 


177 


Men  roept  den  esel  niet  tot  bove  dan  als  fai  wat  draghen  moet 

Man  ruft  den   Esel  nicht  zu  Hofe,  als  wenn  er  was   tra*> 
gen  soll. 
Men  voer  een  cat  in  Enghelant,  si  lai  mauwen. 

Man  führe  eine  Katze  nach  England,  sie  wird  miauen. 
Men  drift  enen  verre  tot  Mompelier;   comt  hi  weder,   lu  blijft 
een  stier. 

Man  treibt  einen  Farren  nach  Monipellier;  konunt  er  wie* 
der,  er  bleibt  ein  Stier.     ^ 
Men  set  den  vors  op  enen  stoel,  hi  sprinct  weder  in  sinen  poel. 

Man  setze  den  Frosch  auf  einen  (güldenen)  Stuhl,  er  springt 
wieder  in  seinen  Pfuhl. 
Natuur  gaet  boven  leer. 

Natur  geht  über  Lehre. 
Stelet  eens  ende  blijft  ewelic  een  dief. 

Stiehl  Einmal  und  du  bleibst  ewig  ein  Dieb. 
Siet  wael  toe!  schuum  en  is  gheen  hier. 

Seht  wol  zu!  Schaum  ist  kein  Bier. 
Siet  ment,  so  speel  ic;  siet  ment  niet,  so  steel  ic. 

Sieht  man^s,  so  spieP  ich,  sieht  man^s  nicht,  so  itehr  ich. 
Ten  wart  nie  meister  gheboren. 

Es  ward  nie  Meister  geboren. 
Ten  hincte  nie  man  van  eens  anders  seer. 

Es  hinkte  nie  jemand  von  eines  anderen  Weh. 
Tis  gheen  sac  so  quaet,  hi  en  is  ener  bede  waert 

Es  ist  kein  Sack  so  schlecht,  er  ist  einer  Bitte  werth. 
Tis  qua^t  water,  sprac  die  reigher,  ende  conde  niet  swemmen. 

Es  ist  schlechtes  Wasser,  sprach  der  Reiher,  und  konnte 
nicht  schwimmen. 
Tis  een  quaet  laut,  daer  niemant  vordel  en  hevet. 

Es  ist  ein  schlechtes  Land,  wo  niemand  Nutzen  hat. 
Tis  den  enen  hont  leet,  dat  dander  in  die  ecken  gheet. 

Es    ist   dem   einen   Hunde   leid,   dass    der  andere   in   die 
Küche  geht. 
Tis  al  eens  waer  hi  sit  diet  wael  can. 

Es  ist  ganz  einerlei,  wo  einer  sitzt  der  was  kann. 
Tis  goet  mit  heier  huut  slapen  gaen. 

Es  ist  gut  mit  heiler  Haut  schlafen  gehn. 
Tonluc  hoort  nau. 

Das  Unglück  hört  scharf. 

Weimw.  Jk.  IL  |2 


178 


Tot  gods  faulpe  faoort  arbeit. 

Zu  Gottes  Hülfe  gehört  Arbeit. 
Tkint  seit,  dat  nient  slaet,  mer  niet  waer  om. 

Das  Kind  sagt,  dass  man^s  schlagt,  aber  nicht  warum. 
Tseint  menich  sinen  hont,  daer  hi  seif  niet  comen  eu  wil. 

Es   sendet   mancher   seinen   Hund   wohin   er    selbst   nicht 
kommen  mag. 
Dat  een  jaer  en  leert  dat  ander  niet. 

Das  eine  Jahr  lehrt  das  andere  nicht. 
Tgheruft  doot  den  man. 

Das  Gerücht  todtet  den  Mann. 
Waer  spot  quaet  spot. 

Wahrer  Spott  schlimmer  Spott. 
Wael  ghedaen  is  vele  ghedaen. 

Wolgethan  ist  viel  gethan. 
Wijn  drinct,  wijn  ghelt. 

Trink  Wein,  bezahle  Wein. 
Voor  olde  schult  neemt  men  haver. 

Für  alte  Schuld  nimmt  man  Hafer. 
Wat  schaet  dat  niet  en  schaet? 

Was  schadet  was  nicht  schadet? 
Seif  doen  seif  hebben. 

Selber  thun  selber  haben. 

2.    Niederdeutsch. 

1362  niedeutsche  Sprichwörter,  sprichwörtliche  Redensarten 
und  Sittensprüche.  Antonius  Tunnicius  sammelte  und  übersetzte 
dieselben  in  lateinische  Hexameter  in  seinen  Nebenstunden  zu 
Münster  im  Sommer  des  Jahres  1513  und  widmete  sie  dem 
jungen  Canonicus  Eberwein  Drosten.  *) 


*)  In  der  Zaeignang  spricht  er  sich  über  die  Zeit  der  Abfassung  seines 
Büchleins  und  den  Zweck  also  aus :  Ego  igitur,  studiose  adolescens,  calcaria 
(vt  dicitur)  addens  sponte  currenti,  hoc  licet  incultum  opusculum  in  germano- 
mm  paroemias  a  me  tumultuario  sub  secundarijs  (vt  fertur)  boris  bac  estate 
inter  plurimas  meas  occupationes  conscriptum  et  in  capita  diuisum  tibi  nun- 
cupatim  dedico,  cui  adhuc  etas  discendis  literis  est  congrua  et  acutum  Inge- 
nium et  memoria  tenacissima.  Rogo  itaque  vt  quedam  horum  monostichorum 
(proderunt  enim  vt  spero  non  parum  tue  lingue)  tempore  iuuentutis  memorie 
eommendare  non  pigeat.  —  ex  Monasterio  quinto  calendas  Octobris  Anno  a 
natali  christiano  supra  Millesimum  quingentesimum  deeimo  tertio. 


179 


Die  meisten  sind  entlehnt  aus  den  Proverbia  communia, 
die  dortigen  leoninischen  Hexameter  sind  jedoch  in  bessere  ver- 
wandelt. Tunnicius  hat  die  dort  fehlenden  theils  aus  Büchern, 
theils  auch  wol  aus  mündlicher  Überlieferung  hinzugefügt.  Das 
Niederdeutsche  ist  das  damals  im  Münsterlande  übliche. 

Über  Tunnicius  selbst  habe  ich  nichts  weiter  erfahren 
können,  als  was  Hamelmann  sagt.*)  Er  war  lange  Zeit  Leh- 
rer an  der  Pauliner  Schule  zu  Münster  unter  dem  Rector  Ti- 
mann Camener  und  lebte  noch  im  J.  1544  sehr  bejahrt  als 
Vicarius  (tunc  optimus)  am  Dom  daselbst. 

Von  seinem  Buche  sind  mehrere  Ausgaben  vorhanden.  Ich 
benutzte  die  Kolner  vom  J.  1515,  dasselbe  Exemplar  der  Meu- 
sebachschen  Bibliothek,  woraus  bereits  Julius  Zacher  in  seiner 
Schrift:  Die  deutschen  Sprichwortersammlungen  (Leipzig  1852) 
S.  25  —  30  einige  Proben  mittheilt. 

ANtonij  Tunnicij  Monafterienfis.   in  prouerbia  fiue  paroe- 

mias  Germanorum  Monoftica 

32  Blätter  in  4^.    Am  Ende: 

Liber    hie   adagiorum    iam   nouiter    impreflus    Colonie    in 

domo  Quentel  Anno  domini.     M.  ccccc.  xv.  ad  Aprilem 
Die  Ausgabe,  die  jener  vorhergeht,  schließt  mit  den  Worten: 

Jmpreflum  Coloniae  per   Martinum  (de)   Werdena.  A.    D. 

M.  D.  xiv. 

s.  Panzer  Annal.  VL  p.  374. 
Eine  dritte,  ohne  Ort  und  Jahr,  setzt  Scheller  (Sassische  Bü- 
cherkunde Nr.  464.)   sehr  irriger  Weise  ins  J.  1495  und  soll 
nach  ihm  in  Wolfenbüttel  sein,  wo  sie  aber  noch  niemand  hat 
finden  können. 

AI  verloren  dat  men  den  undankberen  doet. 

Alles  verloren  was  man  den  Undankbaren  thut. 
Ein  junk  engelken  wert  wol  ein  olt  duvel. 

Ein  junges  Engelchen  wird  wol  ein  alter  Teufel. 
He  vischet  up  dem  drogen,  de  den  vos  bedrogen  wil. 

Der  fischet  auf  dem  Trockenen,  der  den  Euchs  betrügen 
wiU. 
We  en  is  nicht  klok  in  synem  sin? 

Wer  ist  nicht  klug  in  seinem  Sinn? 
De  de  kerne  wil  eten,  de  mot  de  not  upbreken. 


*)  Heim.  Hamelmanni  opera  geneal.-bist.  (Lemgo  riae  1711)  p.  171. 

12* 


180 


Wer  den  Kern  will  essen,  muss  die  Nuss  aufbrechen. 
Stotterbemt  beft  Stotterhenneken  leif. 

Stotterbernhard  hat  Stotterheinrichen  lieb. 
D6t  is  beter  dan  leven  sunder  Trunde. 

Tod  ist  besser  als  leben  ohne  Freunde. 
Gedwungen  leifde  vorgeit  balde. 

Gezwungene  Liebe  vergeht  bald. 
Wat  dat  oge  nicht  en  siebt,  dat  en  quellet  dat  herte  nicht. 

Was  das  Auge  nicht  sieht,  das  quälet  das  Herz  nicht. 
Dem  vromen  lecht  nien  ein  küssen,  dem  schalke  twe. 

Dem  Frommen  legt  man  ein  Küssen,  dem  Schalke  zwei. 
Den  exteren  wert  6k  wol  ein  ei  gestolen. 

Den  Elstern  wird  auch  wol  ein  Ei  gestohlen. 
De  böm  en  drecht  neine  appel  to  syner  bäte. 

Der  Baum  trägt  keine  Aepfel  zu  seinem  Nutzen. 
Der  bede  gän  vele  in  einen  sak. 

Der  Bitten  gehen  viele  in  einen  Sack. 
Beter  geswegen  dan  ovel  gesproken. 

Besser  geschwiegen  als  übel  gesprochen. 
We  kan  den  äl  by  dem  sterte  holden? 

Wer  kann  den  Aal  beim  Schwänze  halten? 
Van  druwen  stervet  nummant. 

Von  Drohen  stirbt  niemand. 
De  vulle  munt  sprikt  des  herten  grünt. 

Der  volle  Mund  spricht  des  Herzens  Grund. 
Dem  gelucke  entegen  is,    de  brikt  wol  ein  bein  up   slechter 
Orden. 

Wem  das  Glück  entgegen  ist,  der  bricht  wol  ein  Bein  auf 
ebener  Erde. 
He  doet  6k  wat  de  de  h6ner  v6rt. 

Der  thut  auch  was  der  die  Hühner  futtert. 
Dar  drinken  ere  is,  dar  is  spyen  neine  schände. 

Wo  Trinken  Ehre  ist,  da  ist  Speien  keine  Schande. 
De  einen  to  gaste  bidt,  de  gae  Ersten  wol  to  vleischmarkt. 

Wer  einen  zu  Gaste  bittet,  der  gehe  erst  wol  zum  Fleisch- 
markt. 
Wan  men  nicht  en  mach  als  men  wil,    so   mot  men  doen  als 
men  kan. 

Wenn   man  nicht  mag  wie  man  will,    so  muss  man  thun 
wie  man  kann. 


181 


Ein  ander  kloppet  up  den  buscb,  mer  du  krichst  den  vogel. 

Ein   anderer   klopft   auf   den   Busch,    aber    du   bekommst 
den  Vogeh 
Wan  de  gecken  to  markede  komen,  so  krygen  de  kremer  gell 

Wenn    die  Narren  zu  Markte    geben,    so  bekommen   die 
Krämer  Geld. 
Men  sal  neine  worste  soken  in  des  hundes  stal. 

Man  soll  keine  Würste  suchen  im  Hundestall. 
Men  hovet  nicht  de  vlo  in  den  pels  to  setten. 

Man  braucht  nicht  den  Floh  in  den  Pelz  zu  setzen. 
Ik  hebbe  gesaiet,  mer  ein  ander  maiet. 

Ich  habe  gefaet,  aber  ein  anderer  mähet. 
Se  hinderen  wol  vake,  de  nicht  baten  mögen. 

Die  hindern  wol  oft  die  nicht  nützen  können. 
Gedeilt  viir  bernt  nicht  lange. 

Getheiltes  Feuer  brennt  nicht  lange. 
In  de  haut  gegeven  is  angeneme. 

In  die  Hand  gegeben  ist  angenehm. 
Ein  hastich  man  sal  up  einem  essel  ryden. 

Ein  hastiger  Mann  soll  auf  einem  Esel  reiten. 
He  kumt  nicht  to  late,  de  quade  bdtschap  brenkt. 

Der  kommt  nicht  zu  spät,  der  böse  Botschaft  bringt. 
He  steit  by  synem  gesellen  als  de  hase  by  dem  hunde. 

Er  steht  seinem  Gesellen  bei  wie  der  Hase  dorn  Hunde. 
Ja  undc  nein  scheidt  de  lüde. 

Ja  und  Nein  scheidet  die  Leute. 
He  entfenkt  de  dem  werdigen  gift. 

Der  empfungt,  der  dem  Würdigen  gibt. 
Hillige  dinge  en  sal  men  nicht  antasten  mit  unreinen  banden. 

Heilige    Dinge    soll     man    nicht    antasten    mit     unreinen 
Händen. 
Men  kan  mit  neinen  mdrken  grote  dinger  kopen. 

Man  kann  mit  keinem  Heller  große  Dinge  kaufen. 
Natur  trekt  m^r  dan  «even  perde. 

Natur  zieht  mehr  als  sieben  Pferde. 
Schade,  sorge  unde  klage  wassen  alle  dage. 

Schade,  Sorge  und  Klage  wachsen  alle  Tage. 
Wat  batet  rykdom,  als  men  neine  wysheit  kopen  kan? 

Was  nützt  Reichthum,  wenn  man  keine   Weisheit  kaufen 
kann? 


182 


Ais  men  de  pauwen  loyet,  so  bredet  se  den  stSrt. 

Wenn  man  die  Pfauen  lobt,  so   breiten  sie  den  Schwanz 
aus. 
De  wyn  drinket,  de  mot  6k  wyn  betalen. 

Wer  Wein  trinkt,  der  muss  auch  Wein  bezahlen. 

De  vru  wil  h^r  syn,  de  mot  lange  knecht  syn. 

Wer  früh  will  Herr  sein,  der  muss  lange  Knecht  sein. 

Dat  men  vorleisen  mach,  sal  men  nicht  holden  vor  syn  egen. 
Was  man  verlieren  kann,  soll  man  nicht  halten  für  sein 
eigen. 

Dattu    nummande.  wult    geven,   dat    saltu    6k   van    nummande 
bidden. 

Was  du  niemandem  geben  willst,  das  sollst  du  auch    von 
niemandem  bitten. 

Mit  den  minschen  sal  men  hebben  vrede,  mit  den  sunden  stryt. 
Mit  den  Menschen  soll  man   haben  Friede,  mit  den  Sün- 
den Streit. 

Men  sal  des  geldes  her  syn,  nein  knecht. 

Man  soll  des  Geldes  Herr  sein,  kein  Knecht. 

Ryk  is  he  de  nicht  mSr  begert. 

Reich  ist  wer  nichts  mehr  begehrt. 

Dattu  wult  allene  wetten,  dat  segge  nummande. 

Was  du  willst  allein  wissen,  das  sag  niemandem. 

He  heft  einen   vyent    overwunnen,  de  synen  toren  bedwinget. 
Der  hat  einen   Feind  überwunden,    der    seinen   Zorn   be- 
zwingt. 

Dat  eine  qnki  sleit  vake  to  dem  anderen. 
Ein  Übel  kommt  oft  zum  andern. 

De  cre  is  nicht  dem  se  schfit,  mer  dem  de  se  doet. 

Die  Ehre  ist  nicht  für  den,    welchem  sie  erwiesen  wird, 
sondern  für  den,  welcher  sie  erweist. 

De  dat  schone  br6t  v6r  it,  de  mot  dat  grove  br6t  naeten. 

Wer  das  Weißbrot  vorher  ißt,  muss  das  Grobbrot  nach- 
essen. 

(Sch6nbr6t  in  Hamburg    eine   Art   Weißbrot   mit    zwei 
Timpen.) 

Swygen  hindert  seiden. 

Schweigen  schadet  selten. 


183 


3.    Hochdeutsch. 

0 

Unser  Sprich worterschatz,  dies  schone  Erzeugniss  und  Ge- 
meingut des  ganzen  deutschen  Volkes,  galt  von  je  her  für 
eine  sprudelnde  Quelle  der  Laune,  des  Scherzes,  des  Witzes 
und  Spottes,  für  eine  Fundgrube  köstlicher  Ergebnisse  des 
Nachdenkens  und  Nachsinnens ,  für  eine  immer  flüssige  Kente 
der  mannigfaltigsten  Erfahrungen  in  allen  Lebensverhältnissen 
und  Beziehungen. 

Schon  die  alten  Dichter  haben  es  nicht  verschmäht,  ihre 
Lehrsätze  durch  alte  Sprichwörter  zu  belegen  und  zu  bekräfti- 
gen l)  und  ihre  Sittenlehre  in  das  volksthümliche  Gewand  der 
Sprichwörter  zu  kleiden,  wie  Walther  von  der  Vogelweide  un- 
ter dem  Namen  Freidank  es  gethan. 

Die  große  Bedeutung,  welche  das  Sprichwort  seit  dem 
Mittelalter  bei  uns  bis  auf  den  heutigen  Tag  behalten  hat,  lehrt 
schon  ein  Blick  auf  seine  Litteratur  seit  dem  16.  Jahrhun- 
dert»). 

Gewöhnlich  gilt  Heinrich  Bebel  für  den  ersten  Sammler 
deutscher  Sprichwörter.  Seine  Sammlung  enthält  aber  wie 
auch  der  Titel  besagt  3)  nur  deutsche  Sprichwörter  in  lateini- 
scher Uebersetzung  und  Auslegung. 

Der  erste  Sammler  ist  Johannes  Fabri  de   Werdea: 
„Prouerbia    metrica    et  vulgariter  rjtmifata  Magißri   Johan- 
nis  Fabri  de  werdea  Vtriufque  iuris  baccalarii  Collegii  prin- 
cipis  alme  vniuerfitatis  famofifllmi  ßudii  Lipczenfis   collegiati 
Necnon  eiuTdem  infignis  ftudii  fecretarii  Incipiunt*)." 
24  Blätter  in  4<^.     Am  Ende  das  Druckerzeichen  des  Leipziger 
Buchdruckers  Martinus  Landsberg  de  Herbipoli,  der  sich  ge- 
wöhnlich Baccalaureus  Herbipolensis  nennt  und  vom  J.  1492 — 
1522  zu  Leipzig  druckte.     Das   zweite  Blatt  beginnt  mit  ganz 


1)  Vridankes  bescheidenheit  von  W.  Grimm  S.  LXXXVin  — CVU 
Mone,  Anzeiger  3,  29—31.  Maßmann  in  den  Heidelb.  Jahrb.  1827.  S. 
242—246. 

2)  Julius  Zacher,  Die  deutschen  Sprichwörtersammlungen  (Lpz.  Weigel 
1852). 

3)  Proverbia  germanica  collecta  atque  in  latinum  traducta  (opuscula.  Ar- 
gent.  1508). 

4)  Ich  habe  schon  früher  darauf  aufmerksam  gemacht  in  meiner  Moaat- 
schrift  von  und  für  Schlesien  1829.     S.  91 — 94. 


184 


denselben  Worten  wie  das  Titelblatt;  dann  folgen  die  lateini- 
schen Distichen  oder  Tetrastichen  und  jedesmal  darunter  die 
deutschen  Verse,  die  theils  Fabri  selbst  gemacht  theils  aus 
dem  Munde  des  Volks  entlehnt  hat.  Einige  dieser  deutschen 
Sprüche  und  Sprichworter ,  aber  in  jetziger  Schreibung ,  mögen 
zur  Kenntniss  der  ganzen  Sammlung  dienen. 

Der  nicht  Hurn  und  Buben  in  seim  Gschlecht  hab, 
Der  lösch  fröhlich  diesen  Keim  ab. 
Bisher  hat  ihn  niemands  ausgethan, 
Darum,  lieber  Gesell,  lass  ihn  auch  stahn! 

Alte  Freund  und  alte  Schwert 

Sind  in  der  Noth  ihrs  Geldes  wertb. 

Ich  hab  oft  gehört, 
Dass  ganz  übel  stat. 
Reden  schöne  Wort 
Und  thun  närrische  That. 

Ein  stolzer  Pfaff, 

Ein  kluger  Äff, 

Ein  unverschämtes  Kind 

Sein  des  Teufels  Hofgesind. 

Wer  da  will  buhlen  mit  schönen  Frauen, 
Der  kann  nicht  wol  hohe  Häuser  bauen; 
Denn  ein  itzlicher  Buhler  muss  mild^)  sein. 
Will  er  geliebt  werden  von  den  Fräuelen  fein. 

Den  Topf  erkennt  man  aus  seinem  Klang, 
Und  den  Thorn  und  Narren  aus  seinem  Gesaug: 
Also  einen  itzlichen  Menschen  auf  Erden 
Aus  seinen  Sitten  und  Gebehrden. 

Wenn  Thorn  zu  Markt  kommen. 

Des  haben  die  Krämer  großen  Frommen. 


Von  dem  VerCuser  wissen  wir  nicht  viel  mehr  als  was  er  selbst  von 
sich  auf  dem  Titel  sas^  Er  verfasste  auch  andere  lateinische  Gedichte ,  s. 
Paaxer  Annal.    Vol.  1.  |>.  603. 

5)  freigebig. 


185 

Armuth  und  Stolzheit 

Ist  ein  Spott  und  Thorheit. 

Wuchs  Laub  und  Gras 
Als  Gewalt,  Neid  und  Hass, 
So  äßen  die  Kuh  dester  baß. 

Zehr  ich,  so  verderb  ich, 

Spar  ich,  so  sterb  ich; 

Doch  ist  besser  gezehrt  und  verdorben 

Denn  gespart  und  gestorben. 

Einem  itzlichen  liebet  ö)  sein  Vaterland, 

Darin  er  gebom  ist  und  bekannt: 

Zu  dem  zeucht  ihn  große  Süßigkeit, 

Dass  er  sich  auch  gibt  in  Weges  Fahriichkeit. 

Das  schadet  der  christlichen  Kirchen  zu  allen  Stunden, 
Dass  besser  Laien  denn  Priester  werden  erfiinden. 

Der  karg  Mensch  in  seinem  Muth 
Meint,  er  hab  Geld  und  Gut; 
Aber  fürwahr,  das  Geld  hat  ihn. 
Und  nicht  er  das  Geld,  in  meinem  Sinn. 

Ein  gefleckter  Hund  ist  begehren, 

Dass  alle  Hund  geflecket  wären; 

Also  wollt,  der  mit  Schanden  ist  umgeben, 

Dass  iedermaun  geschändet  wurd  in  seinem  Leben. 

Wer  da  nicht  wol  reden  kann. 

Der  will  mehr  reden  denn  ein  ander  Mann. 

Also  der  nicht  wol  singen  kann. 

Facht  alle  Zeit  viel  Gesanges  an. 

Jedermann  gefällt  sein  Sinn  wol. 
Darum  ist  die  Welt  Narren  voll. 

Der  hoffärtig  Mensch  auf  Erden 
Will  alle  Zeit  geehrt  und  gelobt  werden; 
Denn  die  Tugend  stehn  ihm  nicht  bei, 
Darum  er  rechtes  Lobes  wird  frei. 


8)  ist  lieb. 


186 

Willt  du  werden  bekannt 
In  mancherlei  Stadt  und  Land, 
So  mach  Gedicht  und  lern  Kunst, 
Darum  wirst  du  gelobt  mit  Gunst. 

Das  Wort  freien  als  ich  finde, 
Wird  gesprochen  mit  Widersinne, 
Denn  der  ist  nicht  frei  in  seim  Leben, 
Dem  ein  Weib  wird  zu  der  Eh  gegeben. 

(Dicta  per  antifrasim    vox    vulgi   sit  tibi  freyen. 
Liber  enim  minime  est  quem  gravis  uxor  habet.) 

Der  Schluss  lautet  buchstäblich: 

Hec  metra  cum  rytmis  finxit  werdea  magifter 
Quem  deus  a  vicijs  omtiibus  exoneret 
Dise  Sprüche  vnnd  getieht 
Hat  iohannes  werdea  erdicht 
Den  woll  entpinden 
Von  allen  lästern  vnd  siinden 
Hoftibus  a  cunctis  deus  hunc  conferuet,  vt  ipfe 
Poft  mortem  eterna  pace  fruatur  Amen 
Got  wolle  dem  tichter  vergünnen 
Alle  seyne  feynde  zcu  vberwinden 
Das  ym  nach  diesem  leben 
Der  ewige  fride  werd  gegeben 
AMEN 


Till. 


LIEDERBUCH 


DER 


FRAU  VON  HOLLEBEN. 


VON 


H.    V.    F. 


r  rau  Sophia  Margareta  von  Holleben,  geb.  Normann  war 
eine  große  Freundin  der  Poesie.  Sie  hatte  in  der  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  sich  ein  Lieder album  angelegt,  zu  welchem 
auch  ihre  Freunde,  Gönner  und  Verwandten  beisteuerten.  Die 
Aufzeichnungen  stammen  aus  den  Jahren  1745  — 1776,  es  sind 
die  damals  viel  gesungenen,  allgemein  beliebten  Lieder,  die 
noch  zum  Theil  dem  Anfange  des  18.  Jahrh.  angehören.  Außer 
den  deutschen  enthält  die  Sammlung  viele  franzosische.  Im 
Ganzen  sind  es  weit  über  200,  wovon  die  größere  Hälfte  deut- 
sche. Obschon  die  meisten  von  Edelleuten,  einige  sogar  von 
Fürsten  geschrieben  sind,  so  ist  doch  die  Schreibung  eine 
höchst  verwahrloste.  Auch  die  Lieder  selbst  sind  zum  Theil 
dermaßen  verdorben,  dass  es  oft  schwer  hält,  einen  Sinn  hin- 
einzubringen; daran  ist  nun  auch  wol  Schuld,  dass  sie  aus  dem 
Kopfe  und  nach  mündlicher  Überlieferung  aufgezeichnet  wurden. 
Dennoch  ist  die  Sammlung  ganz  werthvoll:  wir  lernen  daraus, 
welche  Lieder  damals  beliebt  waren  und  gern  gesungen  wurden. 
Sie  geben  zugleich  ein  treues  Bild  der  Neigungen  und  Liebha- 
bereien der  höheren  Stände:  die  damaligen  nobles  passions  sind 
Li^be,  Jagd   und  Soldatenthum,  bei  welchem  letzteren    denn 


188 


auch  das  Crambambuli  -  Lied  (Ein  Günther  singt  das  Lob 
vom  Knaster  etc.)  mit  seinen  40  Strophen  nicht  fehlt.  Einige 
dieser  Lieder  haben  etwas  Volksthümliches,  so  das  Soldaten- 
lied S.  85. 

Ich  will  ein  Soldat  verbleiben, 
Weil  mein  Herz  noch  Othem  spürt, 
Will  mich  auch  nicht  anders  schreiben, 
So  lang  mein  Herz  von  Blut  sich  rührt, 
Denn  auf  dieser  weiten  Erden 
Mir  nichts  Liebers  hier  kann  werden, 
Hab'  ich  doch  mein  Stücklein  Brot 
Oder  einen  honetten  Tod. 

Einige  gehören  einer  fiiihem  Zeit  an,  dem  poetischen 
Schäferthume : 

Damotas  war  schon  lange  Zeit 

Der  jungen  Phyllis  nachgegangen. 

Alle  diese  Lieder  sind  bis  auf  wenige  vergessen  worden, 
zwei  aber  leben,  wiewol  völlig  verändert,  noch  jetzt  im  Munde 
des  Volkes: 

Ein  Herz,   das  sich  mit  Sorgen  plagt,  und 
Wahre  Freundschaft  mnss  nicht  wanken. 

Frau  von  HoUeben  hat  ihrer  Sammlung  folgenden  Titel 
gegeben: 

Sammlung  verschiedener  Melodischer  Lieder,  die  von  den 
Händen  hoher  Gönner  und  Gonnerinnen,  auch  Freunde 
und  Freundinnen  in  dieses  Buch  eingetragen  worden  und 
mir  als  dessen  Besitzerin  zum  Zeugniss  Dero  resp.  Gnade 
und  Freundschaft  dienen,  die  ich  lebenslang  mit  unter« 
thänigstem  und  gehorsamen  Dank  verehren  werde. 

Eine  Abschrift  ließ  Se.  König].  Hoheit  der  verstorbene  Ghro&- 
herzog  Carl  Friedrich  anfertigen  (seit  einiger  Zeit  erst  auf  der 
Bibliothek  su  Weimar).  Die  Abschrift  bei  aller  ihrer  Netttg-* 
keit  läast  viel  zu  wünschen  übrig;  der  Schreiber  hat  besonders 
in  den  mundartlichen  Liedern  arge  Verstöße  gemacht. 

Lied. 

1.     Ein  Herz,  das  sich  mit  Sorgen  plagt, 
Verzehrt  sich  selbst  bei  Zeiten. 
Wer  stetig  üb»r  Unglück  klagt, 
Wird  sich  dM  Grab  bereittn. 


189 

Es  kann  ja  doch  nicht  anders  sein: 
Auf  Regen  folget  Sonnenschein. 

3.    Die  Zeiten  sind  veränderlich, 
Es  wechseln  Tag'  und  Stunden. 
Oft  hat  nach  Blitz  und  Donner  sich 
Die  Stille  eingefunden. 
Die  Nacht  kann  nicht  so  finster  seiii, 
Der  Tag  bricht  wiederum  herein. 

3.  Obgleich  die  dunkle  Finsterniss 
Des  Tages  Licht  verborgen. 

So  glaub'  ich  gänzlich  noch  gewiss, 
Dass  es  sich  endet  morgen. 
Kömmt  bei  mir  auch  wol  noch  d^  Tag, 
Dass  ich  mich  glücklich  nennen  mag. 

4.  Liegt  gleich  mein  Schiff  vor  Anker  noch 
Und  hat  conträre  Winde, 

So  ist  bei  mir  die  Hoffnung  doch, 

Dass  er  sich  endlich  finde, 

Der  Hafen  so  mir  ist  beschert 

Und  den  mein  Herz  schon  längst  begehrt« 

5.  Ein  Schiff,  das  in  der  Wasserfluth 
Mit  Wind  und  Wellen  streitet, 
Verlieret  nicht  sogleich  den  Muth, 
Weil  es  die  Hoffnung  leitet, 

Es  werde  bald  dem  Sturm  entgehn 
Und  in  dem  sichern  Hafen  stehn. 

6.  Wer  weiß,  wo  mir  mein  Glück  noch  soll 
In  voller  Blüthe  stehen. 

Und  scheint  es  heute  noch  so  toll, 
Kann's  morgen  anders  gehen, 
Dass  ich  durch  einen  guten  Weg 
Erlange  den  erwünschten  Zweck. 

7.  Das  Glücke  ist  den  Bädern  gleich: 
Was  unten  ist,  kommt  oben ; 

Wer  heut'  ist  arm,  wird  morgen  reich 
Und  kann  sich  herzlich  loben. 
Wie  mancher  ist  im  Augenblick 
Gelangt  zu  einem  großen  Glück. 

8.  Drum,  mein  Gemüth,  ennuntre  dich 
Und  lass  die  Sorgen  fahren  ! 

Das  Glücke  geht  so  wnnderKeh, 
Man  zieht's  nicht  bei  den  Haaren. 


190 


Lass  sorgen  wer  da  sorgen  willl 
Ich  hoff*  und  warte  in  der  Still 

Vgl.  die  neueren  Texte  bei  £rk,  Volkslieder  1.  Bd.  4.  Heft  Nr.  30.   Lie- 
der-Lexikon Nr.  521.    Trowitzsch  Neuer  Liederkranz  7.  Th.  Nr.  4. 

M  e  n  u  e  t. 

1.  Wahre  Freundschaft  muss  nicht  wanken, 
Ob  man  gleich  entfernet  ist, 

Da  man  doch  in  den  Gedanken 
Seine  wahre  Freunde  küsst. 
Dieses  soll  mich  niemand  hemmen, 
Ihre  Abschrift  heißt  Bestand, 
Eh  lasst  mir  das  Leben  nehmen, 
Eh  zerbrecht  das  Freundschaftsband. 

2.  Trennet  uns  gleich  Berg  und  Hügel, 
Lasst  es  sein,  mir  liegt  nichts  dran. 
Denn  die  Liebe  hat  ja  Flügel, 

Die  kein  Mensch  nicht  binden  kann. 
Weit  entfernet  noch  am  Herzen  I 
Dieses  Sprichwort  gilt  allzeit. 
Denn  die  wahre  Freundschaft^kerzen 
Löschet  nicht  Abwesenheit, 

3.  Dies  sind  die  Versichrungsworte, 
Die  mein  Herz   zum  Abschied  giebt. 
Lebe  wohl  an  diesem  Ortet 

Glaub  dass  der  so  dich  geliebt 
Niemals  keinen  Wechsel  kennet. 
Niemals  keine  Ändrung  glaubt. 
Und  dass  auch  die  Liebe  brennet. 
Bis  der  Tod  das  Leben  raubt 

Vgl.  die  neueren  Texte:  meine  Schles.  Volkslieder  Nr.   108,  Krk  Volksl. 
1.  Bd.  6.  Heft  Nr.  25,  Fink  Hausschatz  Nr.  903.. 

Arie. 

1.  Ich  liebte  nur  Ismenen, 
Ismene  liebte  mich. 

Mit  unverfälschten  Thränen 
Getreu  verließ  ich  dich. 
Noch  fuhr  ich  gleiche  Triebe, 
Nur  du  fliehst  mein  Gesicht, 
Beweg  ihr  Herz,  o  Liebe, 
Nur  straf  Ismenen  nicht  I 

2.  Wie  oft  hast  du  geschworen, 
Du  liebtest  mich  allein. 


k. 


191 


Sonst  sollt*  dein  Witz  verloren, 
Dein  Anblick  schrecklich  sein. 
Aus  Liebe  zn  Narcissen 
Vergesst  du  Schwur  und  Pflicht. 
O  rühre  sie,  Gewissen, 
Nur  straf  Ismenen  nicht! 

3.  Dort  unter  jener  Buchen 
Qabst  du  mir  Blum'  und  Band. 
Dort  kamst  du  mich  zu  suchen. 
Hier  gabst  du  mir  die  Hand. 
Dort  gabst  du  mit  Erröthen 
Den  Ring.    Der  Untreu  bricht  — 
Gedanken,  die  mich  tödten. 
Straft  nur  Ismenen  nicht  I 

4.  Du  grubst  in  diese  Linde 
Mit  eignen  Händen  ein: 
Wer  untreu  wird,  der  finde 
Hier  seinen  Leichenstein. 
Schont,  Götter,  schont  Ismenen, 
Die  selbst  ihr  Urtheil  spricht  I 
Mein  Grab  soll  euch  versöhnen. 
Nur  straft  Ismenen  nicht  I 

Liebeslie.d. 

1.  ,So  küss*  ich  dich  oft  in  Gedanken 

Und  bete  deine  Schönheit  an. 
Mein  Herz   verehrt  dich  ohne  Wanken, 
Ob  ich  dich  gleich  nicht  sehen  kann. 
Mit  dir  vertreib'  ich  mir  die  Zeit 
Wol  in  der  stillen  Einsamkeit 

2.  Was  ich  nur  rede  oder  denke, 
Ist  einzig  und  allein  von  dir. 
Wohin  ich  meine  Sinnen  lenke. 
Da  steir  ich  mir  dein  Bildniss  für. 
Ja,  es  geht  keine  Stunde  hin, 
Wo  ich  im  Geist  nicht  bei  dir  bin. 

3.  Man  wird  auf  meinem  Grabstein  lesen, 
Dass  der  in  diesem  Sande  ruht. 

Bis  an  das  End  getreu  gewesen. 

Ja  dass  vor  einer  Liebesglut 

Die  Asche  glimmt,  ja  selbst  die  Treu 

Steht  bereits  aus  mündlicher  Überlieferung  in  meinen  Schles.  Volkslie- 
dern Nr.  161,  6  Strophen  lang;  die  letzte,  die  hier  unvollständig  und  verwor- 
ren, lautet  dort: 


192 


Und  ob  du  gleich  nicht  willst  erkennen 

Die  Treue  meiner  Redlichkeit, 

So  soll  doch  meine  Liebe  brennen 

Bis  an   das  Ende  dieser  Zeit, 

Ja  selbst  auf  meinem  Leichenstein 

Soll  meine  Treu  zu  lesen  sein. 

Gretchen  und  der  Junker. 

1.  Höre,  Gretchen,  nur  zwei  Worte, 
Stille  meine  Neubegier  I 
Gehörst  du  nicht  an  diesen  Orte? 
Wohnet  nicht  dein  Vater  hier? 
Nur  dein  Blick  macht  mir  bekannt, 
Du  verstellest  deinen  Stand, 
Schönstes  Kind,  eil  ja  nicht  forti 
Schönstes  Kind,  hör  nur  ein  Wort, 

hör  nur  ein  WortI 

2.  6a  he  doch  man  syne  strate! 
br&d'  he  my  nich  al  to  vel! 
kam  ik  den  hemast  to  spade, 
kryg  ik  jo  den  bessenstel. 
r&t  he  den  nich  wer  ik  ben? 
in  dit  dorp  da  hör  ik  hen. 
ne,  dat  is  man  niks,  ne,  ne! 
ik  mut  YÖrl  to  hüs,  adjel 

na  hüs,  adjdl 

und  so  noch  13  Strophen,  immer  die  eine  hochdeutsch,  die  andere  niederdeutsch. 


IX. 

SECHS  UNGEDRÜCKTE  BRIEFE 

VON 

MARTIN      OPITZ. 

VERÖFFENTLICHT 

VON 

FRIEDRICH  W.  EBELING. 


Nachfolgende  Briefe  des  Vaters  der  deutseben  Kunstpoesie, 
deren  Originale  kürzlich  im  Anhaltinischen  Gesammt- Haus- 
archiv aufgefunden,  sind  zweifelsohne  schon  ihres  Verfassers 
wegen  jedem  Freunde  deutscher  Litteratur  kostbare  Reliquien, 
und  sie  der  Öffentlichkeit  länger  vorzuenthalten,  darf  sicher 
einem  Raube  gleichen,  begangen  an  Dem,  was  der  deutschen 
Nation  zur  Stunde  höchsten  und  alleinigen  Stolz  ausmacht. 

Ihr  an  und  für  sich  hohes  Interesse  gewinnt  aber  noch 
dadurch,  dass  sie  Opitz  in  seiner  Eigenschaft  als  Mitglied  der 
^fruchtbringenden  Gesellschaft'^  an  den  Fürsten  Ludwig  von 
Anhalt  schrieb,  und  gerade  sein  Verhältniss  zu  diesem  in  der 
Geschichte  jenes  für  unsere  Sprache  gar  wohl  bedeutenden 
Vereins  bis  jetzt  ziemlich  ungewiss  geblieben,  durch  die  neueste 
Geschichte  der  ftiichtbringenden  Gesellschaft  von  F.  W.  Bart- 
hold indessen  noch  problematischer  geworden  ist.  Seit  langer 
Zeit  ist  mir  kein  Buch  begegnet,  das  wie  dieses  mit  burschi- 
koser Keckheit  völlige  Werthlosigkeit  verbindet  und  verbinden 
musste,  wenn  man  sich  dabin,  wo  die  gewichtigsten  Materialien 
von  vornherein  zu  suchen,  erst  dann  begiebt,  nachdem  das 
geschlossene  Manuscript  bereits   unter   die  Presse   gewandert. 

fTeimar,  Jh.  U.  y^ 


194 


Zwar  hat  Herr  Barthold  durch  einen  Anhang  Manches  gut  zu 
machen  gesucht;  allein  auch  dieser  Anhang  zeugt  dem,  der  die 
Originalactenstücke  des  ältesten  Erzschreins  jener  Gesellschaft, 
allerdings  nicht  mehr  im  Zusammenhange  vorhanden,  kennt, 
von  der  Leichtfertigkeit,  mit  welcher  das  ganze  Buch  gearbeitet 
ist.  Bald  wird  sich  Gelegenheit  bieten,  diesen  Vorwurf,  die 
stellenweis  beispiellose  und  unverzeihliche  Salopperie  thatsäch- 
lich  und  umständlich  nachzuweisen. 

Martin  Opitz  wurde  aber  durch  Vermittelung  des  rühm- 
lichst bekannten,  an  positivem  Wissen  ihm  weit  überlegenen 
Freundes  August  Buchner,  „Professor  Poeseos''  zu  Wittenberg, 
wie  Dietrichs  von  dem  Werder,  Übersetzer  von  Ariosts  ra- 
sendem Boland,  im  Juli  1629  als  der  „Gekrönte,  mit  den  brei- 
ten Blättern  des  Lorbeerbaums'*  in  die  am  24.  August  1617 
hauptsächlich  zum  Zweck  der  Erhaltung,  Ausbildung  und  Ver- 
breitung der  hochdeutschen  Sprache  und  Litteratur  gegenüber 
dem  frech  um  sich  greifenden  Fremdwesen  gestifteten  frucht- 
bringenden Gesellschaft  aufgenommen,  und  hat  seitdem,  wie 
aus  Mittheilungen  anderer  Gesellschafter  hervorgeht,  in  unun- 
terbrochen freundlichem  Briefwechsel  mit  Ludwig  von  Anhalt 
gestanden,  das  will  sagen  während  eines  Decenniums.  Aus 
dieser  ganzen  Zeit  jedoch  haben  sich  bloß  acht  Briefe  erhalten. 
Durch  die  Wirren  und  Verwüstungen  des  dreißigjährigen  Kriegs 
wie  durch  gewissenlose  Verwaltung  des  Archivs  mag  Vieles 
vernichtet.  Einiges  wol,  durch  tausend  Hände  gewandert,  end- 
lich noch  erhalten,  doch  da  aufbewahrt  sein,  wo  bloß  ein  selbst- 
süchtiges antiquarisches  Interesse  sicli  an  ihm  erfreut.  Von . 
diesen  acht  Briefen  sind  zwei  an  „Herrn  von  Schilling**  ge- 
richtet, und  bis  auf  eine  Stelle,  welche  in  den  Anmerkungen 
citiert,  unerheblich,  eigentlich  nur  Zettel  mit  wenigen  Zeilen. 
Deshalb  hielt  ich  ihren  Abdruck  unnütz,  obgleich  jetzt  Mode 
ist,  alle  Winkel  der  Häuser  berühmter  Dichter  zu  durchstöbern 
und  jeden  Papierschnitzel  feierlichst  in  die  Welt  zu  senden. 
Keineswegs  überflüssig  schien  mir  dagegen,  das  von  Robertus 
Kobertinus  verfasste  Schreiben,  weil  es  über  die  letzten  Tage 
des  Altyaters  deutscher  Dichtkunst  authentische  Nachricht  bringt. 

Und  so  möge  denn  das  äußerlich  so  Gerinfügige  und  doch 
wiederum  Einzige  mit  der  Liebe  aufgenommen  und  gehegt  wer- 
den, die  es  sattsamen  Maßes  verdient.  Diese  sechs  Briefe  sind 
Perlen,  die  man  nicht  jeden  Tag  aus  der  Verborgenheit  fordert. 


195 


1. 

Durchlauchter,  Hochgeborner,  Gnädiger  Fürst  vndt 
Herr,  Herr, 

Ew.  Fürstl.  Gn.  seindt  nebenst  wundtschung  gueter  gesundt- 
heidt,  ruhigen  Zuestandes  vndt  aller  Fürstlichen  wolfarth 
meine  Vnterthänige  dienste  bevor,  vndt  habe  von  Dero- 
selbigen  annoch  gnädiger  Zueneigung  gegen  meiner  wenigen 
person  ich  auß  des  von  Schilling  *)  schreiben  hiebevor 
mitt  firewden  vernommen,  wündtsche  nur  daß  ich  einige 
wege  erdencken  könne,  wordurch  ich  mich  solcher  hohen 
gnade  ferner  möge  fähig  machen.  Anietzo  vbersende  ich 
meinen  psalter:  darff  keine  außführung  darvon  thun,  weil 
£.  F.  G.  vrtheil  so  herrlich,  daß  sie  von  einem  vndt  dem 
andern  die  entscheidung  selbst  am  besten  machen  können. 
Ich  hoffe  der  hiesige  buchhändler  wirdt  nach  Hamburg 
einen  antheil  der  exemplarien  richten,  domit  sie  mögen 
Zertheilet  vndt  vntergebracht  werden.  Meine  weltliche  ge- 
tichte  erwarte  ich  verfertigt  auff  Ostern :  Deren  erster  theü 
mitt  E.  F.  G.  hochlöblichen  Namen,  als  vor  auch  geschehen, 
außgeZiehret;  der  andere  dem  edlen  Vielgekörnten  •)  Zue- 
geschrieben  ist.  Auch  habe  ich  des  Herrn  von  Sidney 
Arcadie  vbersehen,  vndt  alle  getichte  vndt  lieder  Darinnen 
nach  der  gehörigen  Reimkunst  gesetzet:  wirdt  erinentlich 
von  Merian  schon  mitt  seinen  schönen  kupferstücken  her- 
außgegeben  sein.  Nunmehr  bin  ich  vber  dem  Lateinischen 
wercke  Dacia  Antiqua,  hoffe  es  vor  dem  Frülinge  auß  Zue 
arbeiten,  doferrne  nicht  der  leidige  krieg  sich  nach  diesen 
orten  einsetzt,  wie  es  wol  ein  sehr  gefehrliches  außsehen 
hatt  Doch  der  Höchste  wirdt  alles  Zum  besten  schicken, 
deßen  gnädiger  obsicht  Ew.  Fürstl.  Gn.  ich  Von  Hertzen 


1)  Friedrich  Yon  Schilling,  anhaltischer  Geheimrath,  1586  —  1631, 
Mitglied  der  fr.  6.  unter  dem  Namen  der  „Langsame^. 

2)  Dietrich  von  dem  Werder,  Hessen  -  Casselscher  Geheimrath 
Ober  -  Hofmarschall,  von  1631 — 35  unter  Gustav  Adolf  Oberst  eines  Regiments 
zu  Fuß,  dann  Landschafts  -  Director  in  Anhalt,  endlich  Churbrandenburgscher 
Geheimrath  und  Amtshauptmann  zu  Alten  -  Gadersleben.  £r  starb  1657,  und 
stiftete  sich  ein  bleibendes  Gedächtniss  durch  seine  Übersetzung  des  befreiten 
Jerusalems,  anderer  poetischer  Erzeugnisse  hier  nicht  zu  gedenken. 

13* 


196 


befehle  mitt  angeben.  E.  F.  Gn.  gerube  mir  ferner  mit 
Dero  wolgewogenbeidt  gnädig  beygetban  Zue  Verbleiben. 
Danzig  den  27.  tag  des  Wintermonats  im  1637.  Jhar. 


E.  Fürstl.  Gnaden 


Vntertbäniger  trewer  knecfat 
M.  Opitz. 


2. 

Durchlaucbter,  Hocbgeborner,  gnädiger  Fürst  Vndt  Herr,  Herr, 

Daß  E.  Fürstl.  6n.  die  stralen  ihrer  gütigkeit  auch  hirher 
in  diesen  Mittemächtiscben  Seehafen  strecken,  vndt  mich  dero 
alten  Diener  ihres  gnädigen  handtbrieffleins  würdigen  wollen, 
bievor  habe  ich  mich  in  aller  demut  Zue  bedancken,  werde 
auch  mehrmals  mitt  meinen  gehorsamben  schreiben  anbefohlener 
wege  nach  auff  Zue  warten  ingedenck  sein*  Auch  weiß  ich 
nicht  genugsamb  mitt  werten  Zue  sagen,  wie  trewlich  ich  er- 
kenne die  gnade,  so  E.  Fürstl.  Gn.  mir  hiebeyor,  als  ich  mich 
in  heyrath  Zue  begeben  gesonnen  gewesen,  erZeigen  wollen, 
vndt  daß  sie  solches  auff  solchen  fall  Zue  thun  noch  femer 
geneiget  ist  >).  Der  Höchste  wirdt  es  hoffentlich  ehist  glück- 
seliger als  damals  fügen,  vndt  ich  werde  vmb  solche  hohe  gnade 
femer  mich  vnterthänig  an  Zue  geben  wißen.  Der  blinde  Cu- 
pido  ^)  ist  mitt  sehenden  äugen  geschrieben,  vndt  verdient  nicht 
nur  allein  von  meiner  Wenigkeit  gelesen  Zue  werden.  Des  vor- 
kommenden *)  antwort  habe  ich  allbereit  vor  3.  wochen  von 
hier  fortgefertigt;  hoffe  sie  werde  Zue  recht  anlangen.  Ich 
vermeine  diese  Feyertage  bey  ihm  ab  Zue  treten.    Meine  ver- 


3)  Wie  sich  diese  Heirath  zerschlagen,  schreibt  er  selbst  am  18.  Oct.  1637 
an  Friedrich  von  Schilling  also:  „Ich  schrieb  vor  8  tagen  von  meyner  hey- 
rath; sehe  aber  daß  es  Gott  nicht  also  schicken  wil,  angesehen  ein  Bürgers- 
sohn alhier  vermeinet  einsprach  Zue  thun,  weil  er,  seinem  vorgeben  vndt  ihrer 
xiioht  großen  Verleugnung  nach)  Zuesage  vndt  ring  vorhin  ehe  ich  erlanget. 
Ohngeaohtet  loh  nun  die  sache  wol  Zue  erhalten  verhoffte,  bedenck«  ich  doch, 
daß  bei  solcher  ehe  Gottes  segen  vndt  gueter  außgang  nicht  alzeit  Zue  aeyn 
pflegt« 

4)  Von  dem  „Nährenden'',  dem  Fürsten  Ludwig  von  Anhalt. 
ö)  Ein  Herr  von  Börsin. 


197 


besserte  Getichte,  wann  mich  anders  die  Buchhändler  nicht  vn- 
recht  berichten,  solten  E.  FürstL  Gn.  diesen  Ostennarkt  Zue 
kommen.  Die  Arcadia  des  Ritters  Sidney  hatt  Merian  gewiß 
verfertigt.  Mein  Psalter  wirdt  glückselig  sein  durch  E.  F.  Gn. 
yberlesung,  vndt  ich  noch  mehr,  wann  Dieselbte  mir  dero  gnä- 
diges vrtheil  Dorvoii  ertheilen  wirdt.  Der  Druck  auff  die  klei- 
nere   art  ist  in  etwas  geendert,   weil    des    werkes  *) 

mich  das  erste  mal  nicht  alles  hatt  vherlegen  laßen.  Doch 
wirdt  auch  darinnen  noch  in  dem  stoppel  was  nach  Zue  lesen 
sein;  wie  dann  im  39.  Psalm  im  5,  Satze,  der  schalcksnar- 
ren  ferner  sey,  vndt  im  7:  Gewiß;  der  mensch  ist  ei- 
tel k  ei  t  Zue  setzen  ist.  Der  Höchste  wolle  E.  F.  Gn.  gesundt- 
heit,  langes  leben,  friede,  gliickliche  regierung  Vndt  allen 
Fürstlichen  wolstandt  verleihen;  wie  ich  dann  Ihn  von  hertzen 
darumb  ersuche,  E.  Fürstl.  Gn.  aber,  daß  sie  in  der  gnädig- 
sten Zueneigung  gegen  mir  also  fortsetzen  möge,  als  ich  bin, 
Gnädigster  Fürst  Vndt  Herr,  E.  Fürstl.  Gn. 

Danzig,  den  2.  Aprilstag,  1638. 

trew  gehorsambster  knecht 
Der  Vnwürdige  Gekrönte. 


3. 

Des  Nehrenden  gnädige  Zwei  schreiben  sind  dem  Gekrön- 
ten nach  seiner  Zuerückkunffb  von  der  Königlichen  Polnischen 
hoffstat  wol  worden,  vndt  bedanckt  sich  dieser  mitt  gehöriger 
ehrerbietung  sowol  für  das  vnverschuldete  lob  als  für  die  de- 
mütige errinnerung  des  einem  vnd  dem  andern.  Die  Psalmen 
belangendt  wirdt  er  nichdt  allein  Das  jenige  weßen  der  Keh- 
rende allorts  erwehnt  in  acht  nemen;  (wiewol  dem  hochteut- 
schen  beydes  ein  grimmer  vndt  ein  grimmiger  mensch  etc. 
gemein  ist,  vndt  vieleicht  so  wol  ein  harter  Sonnenschein? 
als  eine  harte  kälte  kau  gesagt  werden,)  sondern  es  ihm  auch 
für  eine  sonderbare  gnade  Zue  schätzen  wißen,  doferrn  er  das 
vrtheil  von  anderen  mehr  orten  vndt  dem  gantzen  wercke  nach 
vndt  nach  erhalten  wirdt.  Das  so  in  kleinerer  gestalt  dem 
Hocherlauchten   Durchdringenden  •)    vndt    dem   edlen    Vielge- 


*)  VdUig  unleserlich. 

6)  Johann  Casimir  von  Anhalt. 


198 


körnten  ynlängst  Zuekommen,  moclite  an  vielen  stellen  gebeßert 
sein;  ohn  daß  im  11.  stellen  des  44.  Psalmens  Zue  lesen  ist: 

Soll  Gott  es  laßen  vngespürt, 
Der  sieht  was  man  im  scfailde  führt, 
Dem  eigentlich  bewußt  vndt  kundt 
Des  Herzen  bahn  vndt  tieffster  grundt? 

Doch  sindt  auch  der  Druckfehler,  wie  Zue  geschehen  pflegt, 
nicht  wenig  vorhanden.  Die  Arcadie  ist  auß  meiner  Durch- 
sehung. Meine  getichte  aber  hatt  ein  Lübecker  buchhandler 
von  den  vorigen  hinter  meinem  wißen  nachgedruckt:  vndt 
sollen  die  neweren,  wie  ich  auß  Franckfurt  am  Main  vertröstet 
werde,  auff  den  Michaelsmarkt  hervorkommen.  Des  liedes  von 
dem  Leiden  vnseres  Erlösers  wirdt  Ihm  dem  Höchsten  Zue 
danck  vndt  dem  Nehrenden  Zue  gehorsamben  willen  der  Ge- 
krönte ehist  nach  vermögen  im  druck  sein;  welcher  seine  Zeit 
auch  beßer  nicht  Zue  besteten  weiß,  sintemal  es  ihm  an  fug 
vndt  befreyung  von  anderen  sorgen  anietzo  nicht  mangelt.  Der 
Vorkommende,  mitt  dem  ich  mich  Zum  offtern  sehe,  hatt  wegen 
der  begehrten  wappen  Zwar  noch  nichts  erhalten:  er  verhoffk 
sie  aber  ehist  Zue  erlangen  vndt  ein  Zue  schicken;  befiehlt 
sich  in  deßen  Zue  beharrlicher  gnädigster  Zuneigung,  als  ich 
in  demut  auch  thue,  den  Allmächtigen  beyncbenst  hertzlich  bit- 
tend, den  Nährenden  mitt  gesundtheit,  langem  leben,  vndt  allem 
Fürstlichen  wolstande  reichlich  Zue  besegnen.  Vndt  ich  verbleibe 
E.  Fürstl.  Gn. 

Danzig,  den  25.  des  Brachmonats, 
im  1638.  Jhar. 

trewlich  gehorsamber  knecht 
Der  Vnwiirdig  Gekrönte 

4. 

Des  Nehrenden  gnädiges  handtbriefflein,  so  den  28.  Augst- 
monats  gefertigt,  ist  Zwar  schon  allhier  ankommen,  hatt  aber 
vom  Gekrönten,  der  abwesendt  sich  beiunden,  nicht  eher  als 
ietzt  in  vnterthänigkeit  können  beantwortet  werden.  Dieser 
nimpt  die  errinnerungen  des  Psalters  wegen,  mitt  gebührender 
ohrerbietung  an;  wil  auch  bey  künfftiger  heraußgebung   eines 


199 


vndt  anders  in  acht  Zue  nemen  nicht  vnterlaßen:  wiewol  er, 
doch  ohn  maßgeben,  vermeinet,  es  können  die  in  Latein  ge- 
nannten Dactili,  wann  sie  nicht  Zue  hart  lauffen,  bißweilen  wol 
standt  haben;  aber  hergegen  sich  bedüncken  leßt,  daß  die  Wör- 
ter augapfel  -^  v^v^  ,  ohrdrummel—  v^  v^  ,  vndt  dergleichen,  wel- 
cher sich  etzliche  hochansehnliche  herren  Gesellschafilcr  Zue 
gebrauchen  pflegen,  so  reine  vndt  helle  Dactili  sindt,  daß  sie 
genawen  obren  baldt  Zue  mercken  sindt. 

Das  liedt  von  dem  Leiden  vnseres  Erlösers  soll,  do  er 
selbst  gnade  dar  Zue  leihet,  sich  ehist  einstellen.  Indessen 
habe  ich  den  Weihenacht  Gesang:  A  Solis  ortus  cardine  bey- 
gefuget,  so  guet  er  mir  gerahten,  vermeine  ihn  mitt  meinen 
Lateinischen  auffmerckungen  gegen  den  feyertagen  drucken  Zue 
laßen.  Anietzo  ist  ein  buch  Griechischer  vndt  Lateinischer 
Epigrammatum  allhier  vnter  der  presse,  welche  ich  auß  den 
besten  alten  vndt  newen  Scribenten  Zuesammen  gelesen,  vndt, 
die  glückseligkeit  vnserer  spräche  durch  gegenhalt  desto  beßer 
Zue  erweisen,  deutsch  gegeben  habe.  Daß  der  höchste  dem 
Nährenden  in  diesem  seinem  alter  ein  Fiirstliches  Söhnlein  auß 
gnade  beschert  hatt,  ist  dem  Gekrönten  eine  hertzliche  frewde, 
der  einig  wundschet,  daß  der  herr  Vater  an  dem  liebsten  kinde 
eine  stete  frewde  vndt  augenlust,  die  vnterthanen  vndt  Diener, 
darunter  sich  der  Gekrönte  auch  demütig  Zehlet,  an  dem  her- 
.ren  Vater  lange  Zeit  schütz  vndt  trost  haben  mögen. 

Des  gnädig  Nährenden 

Danzig  den  f^  Wintermonats, 
im  1638.  Jhar. 

gehorsambst  trewer  knecht 
Der  Gekrönte. 

1.  Von  Morgen  da  die  Sonn^  ansteht. 
Biß  wo  der  erden  gräntze  geht, 
Singt  Christum  an  durch  süßen  thon 
Marien  der  jungfrawen  Sohn. 

2.  Der  stiffter  dieser  newen  Zeit 
Legt  an  ein  sterblichs  knechte -kleidt, 
Wird  fleisch  an  vnsers  fleisches  stat, 
Befreyt  die  er  geschaffen  hatt. 


200 


3.  Des  himmels  gnad^  yndt  reicher  schein 
Zeucht  in  die  frome  Muter  ein: 

Ihr  leib  tregt  ein  gehcimbes  pfandt 
Das  ihrem  hertzen  ynbekanndt. 

4.  Es  wirdt  das  hauß  der  keuschen  brüst 
Ein  Gotteshauß,  sie  Gottes  lust; 

Nimpt  seinen  Sohn  Zue  ihrem  an, 
Auf  Gottes  wort,  vndt  sonder  mann. 

5.  Sie  bringet  den  die  reine  magdt 
Der  Gabriel  ihr  vorgesagt; 

Vndt  den  Johannes  frolich  spürt 
Eh  ihn  die  muter  noch  gebiert 

6.  Er  leßt  sich  legen  au£f  das  hew, 
Tregt  für  den  krippen  keine  schew, 
Wirdt  mitt  geringer  milch  ernährt, 
Der  allen  vögeln  kost  beschert. 

7.  Darob  frewt  sich  der  himmel  Ziehr, 
Die  Engel  singen  Gott  darfür; 

Er  wirdt  den  hirten  dargestellt 
Der  hirt  vndt  schopffer  aUer  weit. 

8.  Dir  sey  lob  ehr  vndt  danck  gesagt 
Du  kiiidt  der  vnbefleckten  Magdt, 
Der  Vater  vndt  der  heiFgo  Geist 
Auch  ewiglicli  mitt  dir  gepreist. 


5. 

Daß  auff  des  Nährenden  schon  vor  etzliehen  wochen  ein- 
geliefertos gnädiges  Schreiben  der  Gekrönte  nicht  alsobaldt 
wie  ihm  gebühren  wollen  geantwortet,  ist  theiis  seiner  abwe- 
senheit,  theils  dem  gehorsamben  wiUen  Zue  Zue  schreiben,  daß 
er  Zuegleich  dem  leutseligen  beehren  wegen  anschlioßung  des 
geistlichen  liedes  auff  diese  Fasten  Zeit  ein  genügen  Zue  thun 
Vorhabens  gewesen.  Nunmehr  er  aber  vber  seinen  fursatz  noch 
daran  gehindert  worden,  auch  morgendes  tages  auff  ein  par 
Wochen  verreisen  muß,  als  hatt  ihm  obgelegen,  dem  Nähren- 
den Zum  wenigsten  mitt  vnterthänigem  schreiben  auff  Zue  war- 


201 


ten,  biß  er  auch  das  vbrige  mit  Göttlicher  Verleihung  gelei- 
sten möge.  Seine  Epigrammata  sollen  mitt  ehister  abschifiimg 
der  Hamburger  auß  diesem  bafen  folgen;  sampt  einem  schönen 
geticht  so  ein  deutscher  Poet  von  500.  jbaren  vndt  drüber  Zue 
gedechtniß  des  Colinischen  Ertzbi8cho£Fs  Anno  auffgesetzt,  bey 
welchem  der  Nährende  viel  worter  der  alten  Francken,  Sach- 
sen vndt  in  gemein  gantz  Deutschlands  erkläret  auß  solchen 
schrifilen  vndt  gedechtnissen ,  die  in  das  gemein  nicht  bekandt, 
auch  theils  niemals  noch  an  das  liecht  kommen  sindt.  Yndt 
wirdt  hoffentlich  der  Nährende  es  sonderlich  mitt  gnädigen 
äugen  ansehen,  alldieweil  Ihm  die  art  vndt  lebhafftigkeidt  welche 
in  der  Vorfahren  büchem  Zue  finden,  iedesmal  gefallen  vndt 
beliebet  hatt.  Des  Geistreichen  Buches  von  Job  ist  er  der 
Gekrönte  auch  gewärtig,  vndt  wirdt  solches  mitt  vmbsichtig- 
keit  vndt  ehrerbietung  durchlesen;  wie  er  dann  hofiet,  daß  er 
allgemach  beßere  rhue  allß  bißhero  durch  die  Göttliche  Ver« 
leihung  vndt  Königliche  gnade  erlangen  wirdt.  Dem  Nähren- 
den wündtschet  er  auch  vom  Höchsten  glück  das  seinem  stände 
gleich  sey  vndt  so  langes  geruhiges  leben,  als  seine  hohe  er- 
lauchte tugenden  verdienen;  wie  er  dann  in  des  Nährenden 
beharrliche  gnädige  Zueneigung  sieh  ingleichen  hertzlich  be- 
fiehlet  als 
Deßelben 

Das  buch  der  fruchtbringenden 
GesellschafiR;  hatt  der  Gekrönte 
nur  biß  auff  sein  eigenes  werck 
vndt  fpruch:  dafeme  es  weiter 
gefertigt  ist,  bittet  er  vmb  den 
vbrigen  theil;  ingleichen  auch  vmb 
die  eigenen  Namen  aller  gesell- 
schaffter,  wann  der  Nährende 
solche  bey  seiner  Cantzelley  oder 
sonst  ab  Zue  schreiben  gnädig  be- 
fehlen wil. 

Danzig  den  10.  Mertzenstag 
des  1639.  Jbars. 

trew  gehorsambster  knecht 
Der  Vnwürdig  Gekrönte. 


202 


6. 

Des  Nährenden  leutseliges  schreiben  vom   4.  Maytage  ist 
mir  ehegestern,  wie  auch  ohngefehr  vor  5.  oder  6.  wochen  das 
so  dem  Hiob   bey gefugt  gewesen,   Zue   banden  gebracht  wor- 
den.    Auff  voriges  hatte  ich   lengst  gehorsambe  antwort,    wie 
auch    das   begehrte    guetachten    einschicken  wollen:    wann  ich 
nicht  durch  eine  reise  an   die  Schlesische  gräntze,   daselbst  ich 
meinen  lieben  Vätern  besucht,  verhindert    worden.     Wolle  es 
also  der  Nährende  in   gnaden   Vermercken,   vndt    des  wolge- 
meinten  vrtheils  auff  erwehntes  buch,    auch   ietzt  vbersendete 
nützliche  Sprachlehre,    (für   welche    ich,    als    auch  wegen  der 
h.  Gesellschaffiter  Tauschnamen,  demütig  dancke)   ehist  gewer- 
tig   sein.     Vndt  damitt  jch   bey  offterer  gelegenheit   mich  des 
glückes  Zue  schreiben  gebrauchen  könne,  als  ersuche  den  Näh- 
renden jch  vnterthänig,    mir  iemanden   namhafft  Zue   machen, 
an  den  ich   solches    in   Hamburg    alle  mal  vbersenden  könne; 
weil  ietziger  beschaffenheit  nach  des  weges  vber  Breßlaw  vndt 
Leipzig  sich  nicht  wol   Zue  gebrauchen.     Vom   Sallust  des  h. 
Lohaufens''^   hatt  ich  ieder  Zeit   eben  dergleichen  vrtheil  ge- 
habt: hoffe  der  Nährende  werde  sein  neweres  buch,   den  ver- 
folgten David,   80  er  außm    Welschen®)  deutsch  gegeben,  in- 
gleichen gesehen  haben,    darbey    er  gar  feine  auffmerckungen 
gefuget  vndt  sich    in   gebung  vieler  schweren  wörter  gar  wol 
gebeßert   hatt.     Die  Epigrammata  so  viel  deren  noch  Zur  Zeit 
gedruckt  (wie  es  dann  auch  vermutlich  darbey  verbleiben  wirdt) 
sindt   allhier  beygefugt,    ingleichen  der  Reim   von  Ertzbischoff 
Annen;  bey  dem  der  Nährende  ihm  die  Außlegung  hoffentlich 
darumb  wirdt  gnädiglich   gefallen  laßen,   daß   viel  wörter  der 
alten    muterfprache    auß    schriffben    herfurgesucht    worden,    so 
entweder   vnbekandt,    oder  auch    noch  vngedruckt   sindt.      In 
Holland  vndt  Britannien  sindt  etzliche  gelehrte  leute,  von  de- 
nen   ich   die  hoffnung  geschopffb,    daß    sie   noch   ältere    vndt 


7)  Der  Titel  dieses  Buches  ist:  „Von  Cattilinarischer  Rottirung  vnd  Ju- 
gurthischem  Kriege.  Bremen  1629."  Der  Vf.  oder  vielmehr  Übersetzer  ist 
Wilhelm  von  Kalchum,  genannt  Lohausen,  Generalkriegscommissar,  in  der  fr. 
Ges.  unter  dem  Namen  der  „Feste"  bekannt. 

8)  Nach  dem  italienischen  il  Davide  perseguitato  von  Virgilio  Malvezzi. 
Die  2.  verbesserte  Auflage  erschien  zu  Cöthen  1643. 


203 


mehr  wichtige  bücher  an  das  tageliecht  bringen  werden.  In 
stifiten  vndt  libereyen  ist  hin  vndt  wieder  viel  dergleichen  Zue 
finden,  vndt  Zweiffeie  ich  nicht,  der  Nährende  kondte  bey  den 
h.  Gesellschafftcrn,  die  sich  allerseits  in  Deutschland  befinden, 
durch  sein  ansehen  vndt  begehren  hierinnen  alles  thun,  wann 
es  seine  höhere  sorgen  Zueließen.  Der  Vorkommende  giebt 
einen  gueten  wirth,  iß  mitt  der  emdte  geschäfftig;  ich  wil  ihn 
aber  dieser  tage  aufiin  lande  besuchen,  vndt  ncbenst  vermel- 
dung des  gnedigen  grußes  der  wappen  halber  errinnern. 

Im  vbrigen  sey  der  Nährende  dem  Allerhöchsten  Zue  sol- 
chem glück  vndt  wolfarth,  wie  es  sein  hoher  standt  vndt  noch 
höhere  tugenden  verdienen  hertzlich  befohlen.  In  Danzig  den 
7.  Augstmonats,  im  1639.  Jhar. 

Des  Nährenden 

gehorsambst  trewer  Diener 
Der  Gekrönte. 


Dies  ist  der  letzte  Brief,  den  Martin  Opitz  an  Fürst  Lud- 
wig von  Anhalt  geschrieben.  Wenige  Tage  darauf  sollte  er 
als  Opfer  jener  Seuche  fallen,  die  damals  ganz  Deutschland 
verheerte.  Sein  hoher  Gönner  selbst  erhielt  erst  am  31.  Sep- 
tember authentische  Nachricht  von  dem  am  20.  August  erfolg- 
ten Ableben  des  Dichters,  sammt  nachstehendem,  bisher  noch 
ungedrucktem  Schreiben  an  „Christian  Herdesianus  von  Har- 
dersheimb ,  Churfurstlichen  Brandenburgischen  wolbestallten 
Secretarius%  das  dieser  dem  Fürsten  übermittelte. 

Hochgünstiger  herr  Herdesian  vndt  wehrter  Freundt,  bey- 
liegend  hatt  der  herr  Zu  empfahen  waß  mir  annoch  Zur 
Zeit  h.  Opitzen  seL  parentation  betreffend  Zu  banden  kom- 
men, Wil  der  herr  ein  exemplar  deß  jenigen  waß  herr 
Dach  auf  herrn  Weyers  neuliche  hochzeit  geschrieben, 
darinner  Er  mit  guter  art  gedacht  wirdt,  Jr.  Fürstl.  Gn. 
Zuschicken,  stehet  in  Deßelben  belieben.  Opitius  sei.  ge- 
denckt  sonst  in  seinem  letzlich  an  tag  gegebenen  Rhythmus 
de  S.  Annone  einer  Fürstlichen  person  die  etwas  in  seinem 
Pfalter  erinnert,  welches  Ihr  Fürstl.  Gn.  Fürst  Ludwig 
seyn,  dem  er  mir  vber  ander  matery  mündlich  gedacht,  sonst 
habe  ich  von  Andreas  Hünefeldt  deß  buchführers  dieses; 
den  15.  Augusti  ist  Er  (herr  Opitz  sei.)  noch  vber  2  stun- 


204 


den  gegen  Abend  bey  meiner  haußfrawen  in  der  bnde  ge- 
seßen  etc.  den  folgenden  Dienstag  Zu  Abend  ist  Er  beym 
herrn  Nigrino  Zu  gast  gewesen,  aber  wenig  genossen, 
den  Mitwoch  bat  Er  an  Vnser  Konigl.  Mayt  noch  briefe 
geschrieben,  den  Donnerstag  hatt  er  sich  gelegt,  vnd  weil 
selben  tag  die  Hamburger  Post  reiset  hatt  ihme  D*  Olha- 
fius  ein  schreiben  gebracht,  welches  Er  ihme  folte  mit 
fortsenden,  der  siebet  vnd  befindet  daß  eß  Pest  ist  vnd 
den  folgenden  Freytag  erfuhren  wir  erst,  (weil  wir  vnge- 
wohnt  daß  Er  in  so  viel  tagen  nicht  bey  vnß  wahr,)  wie 
eß  mit  ihm  beschaffen,  bald  ist  meine  haußfraw  Zu  ihm 
gegangen,  findet  ihn  allein  Zu  bette  liegend  vnd  von  allen 
menschen  verlaßen,  hatt  geklaget  er  hätte  eß  vnß  nicht 
dürfen  ansagen  laßen,  wir  haben  aber  alßbaldt  alles  was 
miiglich  auch  nötig  gewesen  vorsehen,  auch  denselben  tag 
noch  Communiciret ,  welches  herr  Nidassius  veirichtet, 
welchem  er  auch  seines  Lebens  Lauf  erzehlet,  vnter  an- 
dern gesagt  er  sehe  vnd  mercke  wol  daß  Er  diese  weit 
ietzo  verlaßen  müßte,  hoffete  aber  noch  biß  künftigen 
Montag  Zuleben,  aber  den  Montag  lag  er  albereit  in  der 
Erde.  Den  folgenden  Sonnabendt  hatt  ihm  meine  haußfraw 
noch  ein  Hechtlein  Zurichten  laßen,  wovon  Er  lust  Zu 
eßen  gehabt,  aber  Mittag  hora  1.  ist  Er  im  Herrn  ent- 
schlafen. Alß  wir  ihn  den  Montag  Zur  Erde  bestateten, 
hatt  das  gesindlein  welches  sonst  dazu  deputirt  daß  sie 
die  Sterbheußer  versiegeln  sollen,  alle  seine  Kisten  vnd 
Kasten  geöffnet,  mit  gewalt  entzwey  geschlagen  vnd  spo- 
liiret^).  Es  hatt  aber  ein  gut  Freundt  den  Abend  dem 
Oecouomi  zu  Marienburg  Zu  wißen  getahn,  der  solches 
der  Obrigkeit  hochvermeldet,  worauf  gedachter  Kerl  mit 
seinem  Weibe  eingesteckt,  sein  Hauß  mit  Musquelierern 
besezt,  auch  alles  waß  drinnen  versiegelt.  ,Biß  hieher  Hü- 
nefeldt  Herr  Agricola  gedachte  mir  sonst  nähermalß  noch 
etwas  weitern  Verlaufs  seiner  Sache  halber,  hatt  mir  auch 
Zugesagt  sein  curriculum  vitae  wie  solches  obbesagter  herr 
Nidassius  verfaßet   Zu  communiciren.     Vnser   herr  Dach 


9)    Sollte    auf  die^e  Weise    das  Manuscript   der   Daria   Anttqna   verloren 
gegangen  sein? 


205 


ist  auch  willens  gewesen  ihme  mit  mehreren  Zu  parentiren, 
ich  hoffe  er  werde  eß  auch  tuhn ,  wo  nicht  in  andere  wege 
iedoch  bey  seiner  antretenden  profession  in  Oracione  inau- 
gurali. 

Befehle  mich  Zu   meines  günstigen  Herrn  diensten  alß 
deßelben 

stets  geflißenste 
Aufwärter  vnd  Freundt 

Robertus  Robertinus  JC. 
Secret.  Reg.  Pol. 


X. 


DIE 


DEUTSCHEN  SPRACHVERDERBER. 


NACHTRAG 


ZUM  JAHRBUCH  I.  Bd.  S.  296. 


VON 


LUDWIG  ERK. 


Die  koD.  Bibliothek  zu  Berlin  besitzt  zwei  Klagelieder  des 
deutschen  Michels  über  die  Sprachverderberei ,  wie  sie 
zur  Zeit  des  dreißigjährigen  Krieges  in  allen  Ständen  im 
Schwange  war. 

1.  Das  erste,  Fl.  Bl.  in  S^.,  4  Blätter,  hat  den  Titel: 
,^in  new  Klaglied,  Teutsche  Michel  genannt,  wider  alle  Sprach- 
verderber,  welche  die  alte  Teutsche  Muttersprach,  mit  allerley 
frembden  Wörtern  vermischen,  daß  solche  kaum  halber  kan 
erkant  werden.  Im  Thon:  Wo  kompt  es  here,  daß  zeitlich 
Ehre,  u.  s.  w.  (folgt  Holzschnitt:  ein  Wappen,  worin  der 
Name  Hans  Heinrich  von  Ostein)  Zu  Augspurg,  bey  Johann 
Schultes.« 

Es  ist  51  Strophen  lang.  Da  Str.  6  und  alle  übrigen  nur 
die  damals  üblichen  fremden  Wörter  enthalten,  so  scheint 
mir  nur  der  Anfang  mittheilenswerth. 

Ich  teutscher  Michel  versteh  schier  nichil 
In  meinem  Vaterland,  es  ist  ein  Schand! 
Man  thut  jetzt  reden  als  wie  die  Schweden 
In  meinem  Vaterland,  pfui  dich  der  Schand! 


207 


Fast  jeder  Schneider  will  jetzund  leider 
Der  Sprach  erfahren  sein  und  redt  Latein, 
Welsch  und  Franzosisch,  halb  Japonesisch, 
Wann  er  ist  voll,  der  grobe  Knoll. 

Der  Knecht  Matthies  spricht  bona  dies, 
Wenn  er  gut  Morgen  sagt  und  grüßt  die  Magd. 
Sie  wendt  den  Kragen,  thut  ihm  danksagen. 
Spricht  Deo  gratiasy  Herr  Hippocrasl 

Ihr  fromme  Teutschen,  man  sollt  euch  beutschen, 
Dass  ihr  die  Muttersprach  so  wenig  acht! 
Ihr  liebe  Herren,  das  heißt  nicht  mehren, 
Die  Sprach  verkehren  und  zerstören. 

Ihr  thut  Alls  mischen  mit  faulen  Fischen 
Und  macht  ein  Mischgemäsch*),  ein  wüste  Wasch, 
Ein  faulen  Hafenkäs,  ein  wunderseltsams  Gfräß, 
Ein  ganzes  ABC  ich  nicht  versteh. 

2.     Das  zweite  Lied,  4  Blätter  in  4<'.,   ist  mit  Musikno- 
ten begleitet.     Es  hat  den  Titel: 

„Wehe -Klag,  Deß  alten  Teutschen  Michels,  Vber  die  Al- 
lamodische  Sprachverderber ,  ä  3.  Voci  :  Senza  Violino. 
Doi  Tenori,  6  Soprani,  e  Basso.  Con-Basso  Continuo. 
Componirt,  Durch  Michael  Teutschen -Hold,  Musices  Cul- 
torem.  Tenore  Primo.  (die  übrigen  Stimmen  fehlen)  Ge- 
druckt zu  Franckfurt,  bey  Matth.  Kämpffern,  In  Verle- 
gung Johann  Hüttners,  Buchhändlers.  M.  DC.  XLVIH." 
Nur  die  12  ersten  Strophen,  welche  den  „Vortrab  des  Teut- 
schen Michels^  bilden,  mögen  hier  eine  Stelle  finden. 

Ein  gutes  Jahr,  die  alte  Sprach 

Dem  Teutschen  ich  verehre. 

Mein  lieber  Landsmann  nicht  verschmach. 

Die  Muttersprach  begehre. 

O  Teutsches  Gschlecht,  bedenk  dich  recht, 
Wer  deine  Eltern  gwesen. 


*)6emä8ch,    Gemeusch,    Gemengsei,    vgl.    Schmeller   baier.     Wb. 
2,  641. 


208 

Wie  sie  geredt  ak  sie  gelebt, 
Die  jetzt  im  Grab  verwesen. 

Ihr  seid  Schabab  und  liegt  im  Grab 
Mit  Sprach  und  Teutschen  Sitten, 
Von  eurem  Gschlecht  habt  ihr  unrecht 
Ein  solche  Schand  erlitten. 

Die  Jungen  wollen  gscheiter  .sein, 
Ich  darTf  nicht  Löffel  nennen: 
Das  Ei  der  Mutter  redet  ein, 
Ist  gatzger  als  die  Hennen. 

WannU  zwei,  drei  Wort  hie  oder  dort 
Französisch  gatzen  mögen, 
Du  schwürest  beid  bei  einem  Eid, 
Sie  würden  Eier  legen. 

Ein  jeder  dicht,  die  Sprach  vernicht. 

Viel  Fremdes  hört  man  pladem, 

Viel  Gmisch  und  Gmäsch,  viel  seltsams  Gwäsch 

In  allen  Gassen  sohnadem. 

Noch  Fleisch  noch  Fisch,  noch  gsund  noch  irisch 
Ist  jetzt  die  Sprach  der  Teutschen, 
Noch  kalt  noch  warm  ist  der  Zwiedarm, 
Man  sollt  ihn  hinaus  peitschen. 

Gleich  wie  ein  armer  Lumpenmann 
Alls  in  den  Sack  einschiebet: 
Also  der  Teutsch  fein  stückleinsweis 
Die  fremden  Worter  übet. 

Dass  Mäuskoth  will  im  Pfeffer  sein, 
Wem  dieser  Pfeffer  fuget. 
Der  weiß  sioh  drum  recht  grad  und  krumm, 
Der  Krämer  ihn  betrüget» 

Aus  Roth  und  Grün,  aus  Gelb  und  Weiß 
Bekleiden  sich  die  Lappen, 


209 

Aus  aller  Sprach  mit  allem  Fleiß 
Macht  ihm  einr  ein  Narrenkappen. 

Mit  Spieglgcfecht  und  fadenrecht 
Fährst  fort  die  Sprachen  z'mischen. 
Geh  heim,  Schnauzhahn,  du  Brillenmann, 
Mit  deinen  faulen  Fischen! 

Dieses  mit  Schmerz,  mein  teutsches  Herz, 
Thu  ich  dir  sagn  und  singen. 
Wann^s  das  nicht  thut,  muss  aus  Unmuth 
Mit  Fußen  darein  springen. 


fTHmtir.  Jb   iL 


14 


XI. 


FINDLINGE 


vo« 


H.     V.     F. 


Findlinge  nennt  der  Bienenzüchter  diejenigen  Schwärme,  wel- 
che Jemandem  abhanden  gekommen  sind  und  im  Walde  von 
einem  Anderen  gefunden  und  als  herrenloses  Gut  eingefangen 
werden. 

Die  deutsche  Litteratur  ist  ein  großer  Wald,  in  dessen 
Unterholze  und  Gestrüppe  —  den  Zeitungen  und  Zeitschriften 
—  mancher  Schwärm  verloren  geht.  Nicht  eben  den  ganzen 
Schwärm,  aber  Etwas  von  ihm,  was  ein  bleibenderes  Interesse 
hat,  in  litterarischer  Beziehung  belehrend,  berichtigend,  ergän- 
zend ist,  wieder  zu  finden  und  ans  Tageslicht  zu  ziehen,  darf 
in  einer  Zeit  nicht  unverdienstlich  erscheinen,  welche  sich  be- 
strebt, über  den  Entwickelungsgang  unserer  Ijitteratur  zu  grö- 
ßerer Klarheit  zu  gelangen  und  es  wagt,  sich  über  die  über- 
lieferten Einseitigkeiten,  welche  unsere  Litterarhistoriker  oft 
eher  vermehren  als  zu  beseitigen  suchen,  zu  erheben. 

Nicht  allein  aber  aus  selten  gewordenen  oder  sehr  um- 
fangreichen Zeitschriften  sollen  dergleichen  l^^ndlinge  hier  ein 
Unterkommen  finden,  sondern  auch  aus  Handschriften  und  ge- 
druckten Seltenheiten,  so  wie  aus  Briefsammlungen  öffent- 
licher Bibliotheken  und  im  Privatbesitze. 

Beiträge  der  Art  werden  uns  sehr  willkommen  sein. 


211 


1.     Dietrich  von  dem  Werder 

(geb.  1584  f  1657),  einer  der  ersten  Mitglieder  der  fruchtbrin- 
genden Gesellschaft,  der  erste  Übersetzer  von  Tasso^s  befreitem 
Jerusalem  (1626)  und  Aristo^s  rasendem  Roland  (1632),  verlor 
im  J.  1625  seine  Frau,  Dorothea  Catharina,  geb.  von  Waldau. 
Das  gab  ihm  Anlass  zu  einem  Gedichte:  „Selbst  eigene  Gott- 
selige Thränen  Dietrichs  von  dem  Werder,  Die  Er  —  Zu 
Ihrem  Lobe  von  Hertzen  nachgesandt  hat"  (Halle  1625.  4®. 
7  Blätter).  Obschon  der  Schmerz  fast  überall  die  Poesie  be- 
wältigt und  sich  allerlei  Härten  erlaubt  hat,  so  finden  sich  doch 
folgende  Zeilen  darin: 

^     Wie  that  Ihr  doch  so  viel  der  Müh  und  Fleiß  anlegen, 
Dass  oft  mir  unbewusst  Ihr  mein  wol  möchtet  pflegen? 
Wie  habt  mein  WiUen  Ihr,  mein  Natzen,  meine  Lust 
Und  mein  Bcguügimg  doch  zu  suchen  so  gewusst! 
Ihr  naiint  mich  Euer  Herz,  Kur  Haupt,  und  Eure  Sonne, 
Kur  Liebe,  Euern  Trost,  Eur  Freude,  Krön  und  Wonne. 
Ach,  wie  betrübt  Ihr  Euch,  wann  ich  verreisen  sollt! 
Wie  bat  ihr,   dass  ich  doch  die  Reis  einstellen  wollt! 
Wann   ich  dann  Eurer  Bitt  nit  folgen  könnt  ohn  Schaden, 
So  ficngt  Eur  Backen  Ihr  mit  Thränen  an  zu  baden, 
Mit  Seufzen,  mit  Gebet,  mit  Küss,  mit  Weinen  heiß 
That  Ihr  dann  segnen  mich  mit  Gott  auf  meine  Reis. 
Wann  ich  dann  wiederkam,   so  sprangt  Ihr  unterwegen 
Entzündet  im  Gesicht  für  Freuden  mir  entgegen. 
Wo  ich  mich  nur  hinwandt,  ich  las,  stund  oder  gieng 
Im  Hause,  Garten,  Feld,  und  was  ich  nur  anfieng. 
Da  wäret  allezeit  Ihr  bei  mir  an  der  Seiten, 
Ihr  könnt  nicht  lassen  mich  an  alle  Ort  zu  gleiten. 
Wie  ofte  sagt  Ihr  mir:  ach  liebster  Engel  mein,^ 
Geht  doch  nicht  ohne  mich,  ach  lasst  mich  bei  Euch  sein! 
Wer  weiß,  wie  lang  Ihr  mich  noch  bei  Euch  habt  auf  Erden I 
Wer  weiß,  wie  lang  wir  noch  beisammen  bleiben  werden! 
Wie  ofte  bat  Ihr  Gott,  wann  unser  ehlich  Band 
Zerrissen  werden  sollt  einst  durch  des  Todes  Haind, 
Dass  er  mich  dann  so  lang  ja  lebend  woUt  bewahren, 
Bis  Ihr  aus  dieser  Welt  zuerst  wärt   abgefahren! 
(Ach  leider,  leider  mir  zu  gar  früh  wahre  Wort! 
Wort,  die  ich  tausendmal  aus  Eurem  Mund  gehört.) 

Dann  folgt  nun  freilich  wieder: 

In  Summa,  Niemand  kann  die  Treu  lan  recht  erschallen; 
Ja  mitten  im  Gesang  würd  ihm  die  Stimm  entfallen. 
Kein  Zitter,  Orgel,  Geig,  kein  Flöt,  kein  Instrument 
Kann  Eure  Tugend  all  herspielen  auf  ein  End. 


212 


Kein  Bass  und  kein  Discant  so  tief  und  hoch  kann  streichen, 
Der  Eures  Ruhmes  Höh  und  Tiefe  könnt  erreichen. 
Hier  würd  nichts  richten  aus  Marons  Poeterei, 
Orpheus  fehlte  hier  in  seiner  Melodei.    • 

2.    Friedrich  von  Log  an. 

Er  schrieb  einem  seiner  Verwandten  ins  Stammbuch  (jetzt  in 

der  kon.  Bibl.  zu  Berlin): 

^Deus  ducit  ut  conducit. 
Nachdem  es  Gott  schicket. 
Nachdem  es  gelücket. 

Ich  weiß  jetzt,  wie  mir's  geht;  wie  mir's  noch  gehen  werde, 
Weiß  der,  der  mich  gewusst,  eh  Himmel  war  und  Erde. 
Nach  seinem  geht  mein  Weg  und  nicht  nach  meinen  Sinnen, 
Mir  gnüget  redlich  hier,  dort  selig  leben  können. 

Spero  meliora. 

Melius  cras  forsan  habebit. 

Herrscht  der  Teufel  heut  auf  Erden, 
Morgen  wird  Gott  Meister  werden. 

Als  ein  Zeichen  u.  s.  w.  Herrn  Ludwig  v.  Logau 
F.  V.  Logau  mppia.  11.  Oct.  1639.* 

.3.  Ein  Jahr  vor  diesen  Stammbuch versen  gab  Logau  unter 
dem  Namen  Salomon  von  Golau  seine  ersten  Sinngedichte 
heraus.  Lessing  hatte  ein  Exemplar  davon  in  der  Magdalenen- 
Bibliothek  zu  Breslau  gefunden  und  Ramler^n  mitgetheilt»  Dies 
Exemplar  ging  bei  der  Zurücksendung  verloren,  s.  Lessings 
Leben  von  seinem  Bruder  1.  Th.  S.  242.  Das  verloren  ge- 
gangene Exemplar  galt  lange  Zeit  für  das  einzige  in  der  Welt. 
In  neuerer  Zeit  sind  jedoch  mir  allein  3  Exemplare  bekannt 
geworden,  eins  in  der  kon.  und  Univ. -Bibliothek  zu  Breslau: 
,^rstes  (und  Anderes)  Hundert  Teutscher  Keimen  -  Sprüche 
Salomons  von  Golaw.  In  Verlegung  David  Müllers  Buchhendl: 
seel:  Erben  in  Breßlaw.  M.  DC.  XXXVIII.«  57  Blätter  in  12^ 

4.  Logau  besuchte  vom  J.  1614  — 1625,  also  bis  zu  seinem 
21.  Jahre  das  Brieger  Gymnasium.    Weinschenk,  Brieger  Gym- 


213 


nasium  S.  33.  bemerkt  darüber  Folgendes:  ^r  wurde  hier 
den  13.  Oct.  1614  eingeschrieben,  1623  zum  Judice  erwählet 
und  verließ  das  Gymnasium  1625.  Wie  wohl  und  rühmlich  er 
diese  Zeit  allhier  zugebracht,  solches  erhellet  aus  dem  Wunsche, 
womit  ihn  der  Kector  Laubanus  in  der  Matricul  bei  seinem 
Abschiede  begleitet  hat,  woselbst  es  heißet:  die  26.  lunii  pu- 
blice valedixit  ill.  Gymnasio  Fr.  a  Logan,  optimae  notae 
muitorum  annorum  discipulus,  cujus  studiis  merito  fausta  et 
salutaria  precamur  omnes  Gymnasii  Professores.^ 

5.    Elisabeth,  Markgrafin  von  Baden. 

Elisabeth,  Tochter  des  Markgrafen  Georg  Friedrich  von 
Baden  -  Durlach,  geb.  1620,  unvermählt  gestorben  1692. 
Über  sie  und  ihre  Schwester  Anna  (geb.  1617.  f  1672.) 
sagt  Karl  Zell  Folgendes,  s.  Die  Fürstentochter  des  Hau- 
ses Baden  (Karlsruhe  1843.  4«.)  S.  47—49. 

„Von  den  drei  Töchtern  des  Markgrafen  Georg  Friedrich  aus 
seiner  zweiten  Ehe  starb  die  älteste  als  Kind;  die  beiden  an- 
dern, Anna  und  Elisabeth,  waren  sehr  ausgezeichnete  Prin- 
zessinnen und  sowol  durch  ähnliche  geistige  Vorzüge  als  Le- 
bensschicksale  ein  sehr  interessantes  Schwesternpaar.  Der 
größere  Theil  ihres  Lebens  fiel  in  die  Stürme  des  dreißigjäh- 
rigen Krieges.  Sie  verloren  in  der  frühesten  Kindheit  ihre 
Mutter;  ihr  Vater  war  während  derselben  Zeit  mitten  in  den 
Stürmen  dieses  Krieges,  so  dass  er  Jahre  lang  seine  Kinder 
nicht  sah,  und  später  aus  seinem  Lande  vertrieben.  Auch  diese 
Tochter  wurden  durch  die  Bedrängnisse  der  Zeit  aus  der  Hei- 
math vertrieben  und  wohnten  viele  Jahre  zu  Basel.  Beide 
blieben  unvermählt.  Ihre  Talente  und  geistige  Beschäftigungen 
und  in  späterer  Zeit  auch  die  Theilnahme  an  den  jungem 
Sprosslingen  der  fürstlichen  Familie  trösteten  und  verschönten 
ihr  Leben  in  dieser  traurigen  und  unruhvollen  Zeit.^ 

„Die  älteste  Schwester  Anna  war  wohlbewandert  in  Spra- 
chen, auch  des  Lateinischen  kundig;  sie  liebte  die  Leetüre  und 
war  besonders  Freundin  und  Kennerin  der  Poesie.  Noch  ist 
ein  Heft  eigenhändig  von  der  fürstlichen  Verfasserin  geschrie- 
bener Gedichte  vorhanden,  welche,  wie  auch  der  Geschmack 
und  die  Formen  der  deutschen  Poesie  sich  seitdem  geändert 
haben  mögen,  doch  unverkennbar  das  Talent,  den  edeln  Geist 
und  das  gefühlvolle  Herz  der  Prinzessin  beweisen.^ 


214 


„Ihre  jüngere  Schwester  Elisabeth  hatte  erst  in  ihrem 
achten  Jahre  ihren  Vater  kennen  gelernt;  so  verhängni ssvoll 
war  jene  Zeit.  Sie  liebte  nicht  bloß  die  Poesie,  sondern  sie 
übte  sie  auch  bis  in  ihr  spätestes  Alter.  Sie  gehört  auf  diesem 
Gebiete  zu  der  Zahl  der  fürstlichen  Schriftstellerinnen.  Sie 
brachte  nämlich  eine  Auswahl  der  gehaltvollsten,  für  das  sitt- 
liche und  religiöse  Leben  besonders  anregenden  Denksprüche, 
welche  sie  aus  der  heiligen  und  profanen  Litteratur  gesammelt 
hatte,  in  deutsche  Verse,  welche  zu  Durlach  (1685)  gedruckt 
erschien.  Sie  berücksichtigte  dabei,  wie  sie  in  dem  Vorworte 
bemerkt,  besonders  die  geistigen  Bedürfnisse  und  die  Verhält- 
nisse ihres  Geschlechtes.  Man  muss  anerkennen,  dass  nicht 
bloß  die  Auswahl  der  Sentenzen  der  Gesinnung  und  dem  Ver- 
stände der  fürstlichen  Dichterin  Ehre  macht,  sondern  dass  auch 
die  Form  der  meisten  derselben  durch  gedankenreiche  Kürze 
und  kräftige  Haltung  anzieht.  So  haben  also  die  Sprüche  für 
uns  ein  vaterländisches,  wie  ein  litterarisches  Interesse,  und  es 
war  daher  in  doppelter  Beziehung  preiswürdig  und  dankens- 
werth,  als  Ihre  Kön.  Hoheit  die  Frau  Großherzogin  Sophie 
vor  einigen  Jahren  einen  neuen  Abdruck  des  seltenen  Buches 
zu  befehlen  und  den  Ertrag  einem  wohlthätigen  Zwecke  mit 
fiirstlicher  Huld  zuzuwenden  geruhten.  Überdies  aber  hat  sich 
von  der  Prinzessin  Elisabeth  noch  eine  kleine  handschriftliche 
Sammlung  von  Gedichten  erhalten.  Diese  Gedichte  bestehen 
aus  poetischen  Umschreibungen  von  Psalmen,  aus  einigen  Sinn<- 
gedichten  und  andern  kleinern  Gedichten,  zum  größten  Theile 
aber  aus  Gelegenheitsgedichten.  Unter  den  letztern  ist  ein 
allegorisch  -  dramatisches  Gedicht,  nach  der  damals  üblichen 
Bezeichnung  ein  Ballet,  zur  Feier  des  westphälischen  Friedens. 
Es  treten  darin  auf  Mercurius,  Mars,  Concordia,  dann  Ueprä- 
sentanten  der  bisher  unter  sich  kriegführenden  Nationen,  von 
welchen  Personen  jede  nach  ihrer  Weise  über  das  wichtige  und 
erfreuliche  Ereigniss  sich  ausspricht.  Aber  auch  lustige  Hei- 
terkeit fehlt  nicht  in  dem  Festspiel:  es  treten  nämlich  nachein- 
ander noch  auf  ein  Jurist,  ein  Liebender,  ein  Trinker  und  ein 
Bauer,  von  welclien  jeder  die  wohlthätigen  Folgen  des  Friedens 
anschaulich  machen  soll.  Die  übrigen  Gelegenheitsgedichte  be- 
ziehen sich  all('  auf  Veriinlassungon  aus  dem  Familienleben, 
Geburtsfestc,  Namenstage  und  Todesfälle;  darunter  ein  (ledicht 
auf  den  Tod  der  geliebten  Schwester,  und  ein  Gedicht  auf  den 


215 


Namenstag  des  regierenden  Markgrafen  Friedrich  Magnus,  des- 
sen Großtante  die  Prinzessin  Elisabeth  war,  geschrieben  in  dem 
zwei  und  siebzigsten  Lebensjahre  der  Prinzessin.  Diese  poe- 
tischen Erzeugnisse  zeigen  wie  naturlich  den  Geschmack  jener 
Zeit  unmittelbar  nach  dem  dreißigjährigen  Kriege,  welche  be- 
kanntlich eine  der  ungünstigsten  Perioden  der  deutschen  Poesie 
ist.  Aber  auch  durch  diese  veraltete  Form  nimmt  man  die 
Spuren  edler  Gesinnungen  und  eines  empfmdungsvollen  Her- 
zens wahr.  Elisabetha  überlebte  ihre  fürstliche  Schwester 
zwanzig  Jahre,  und  war  in  ihrem  höhern  Alter  bei  dem  mord- 
brennerischen Einfalle  der  Heere  Ludwigs  XIV.  aufs  neue  ge- 
nöthigt,  an  ihren  frühern  Zufluchtsort  nach  Basel  zurückzukeh- 
ren (1685).  Dort  blieb  sie  bis  zu  ihrem  Tode  (1692),  geliebt 
imd  gepflegt  von  ihren  jungem  fürstlichen  Verwandten,  na- 
mentlich von  der  vortrefflichen  Prinzessin  Katharina  Barbara, 
der  Tochter  ihres  Neffen,  des  Markgrafen  Friedrich  VI.  Sie 
überlebte  ihre  Eltern,  siebenzehn  Geschwister,  so  viele  andere 
Verwandte,  und  sah  in  ihrem  Hause  eine  zahlreiche  Jugend 
bis  in  die  vierte  Generation  heranblühen.*^ 

„Dies  war  das  Leben  Elisabetha^'s  von  Baden,  welches  uns 
mitten  in  den  Drangsalen  und  Stürmen  jener  kriegerfüllten  Zeit 
als  ein  freundliches  Bild  der  Frömmigkeit,  Milde  und  eines 
durch  nützliche  und  schöne  Thätigkeit  veredelten  und  verschon- 
ten Daseins  so  wohlthuend  anspricht.  Ein  franzosischer  Schrifl- 
steller  jener  Zeit,  welchem  es  vergönnt  war,  die  beiden  fürst- 
lichen Schwestern  persönlich  kennen  zu  lernen,  giebt  uns  von 
ihrem  Charakter  und  Leben  folgende  Schilderung*):  „Diese 
beiden  Prinzessinnen  sind  würdige  Erben  der  Frönunigkeit  und 
der  Tugenden  Georg  Friedrichs.  Sie  sind  sehr  unterrichtet 
und  sprechen  das  Französische  wie  man  es  im  Louvre  spricht, 
mit  vollkommener  Richtigkeit  und  Feinheit,  was  mich  anfangs 
überraschte,  als  sie  mich  ihrer  Unterhaltung  würdigten.  Sie 
sind  gütig,  freundlich  und  wirken  mit  aller  Sorgfalt  fiir  die 
gute  Erziehung  ihrer  jungen  Nichten,  welche  sie  auf  das  zärt- 
lichste lieben.  Sie  erzeigten  mir  die  Ehre,  mich  in  ihrem  Apar- 
tement  zu  empfangen,  wo  sie  mir  wunderschöne  Arbeiten  der 
jungem  Prinzessinnen  zeigten,  so  wohl  erfunden  und  so  schön 


•)  Chappu^cau,  Allemagne  Protestante  p.  90. 


216 


ausgeführt,  dass  man  nichts  Schöneres  sehen  kann.  Die  bei« 
den  Prinzessinnen  selbst  verbinden  mit  ihren  Kenntnissen  und 
geistigen  Talenten  zugleich  eine  bewunderungswürdige  Geschick-* 
lichkeit  in  weiblichen  Arbeiten.^ 

Von  dem  seltenen  Buche  der  Denksprüche  der  Markgrafin 
Elisabeth  ist  noch  ein  Originaldruck  in  der  Hofbibliothek 
zu  Carlsruhe  Torhanden.  Es  war  mir  vergönnt,  denselben  ein- 
zusehen. Einige  Auszüge  *)  daraus  scheinen  mir  des  Mitthei- 
lens  wol  werth.    Das  Buch  hat  den  Titel: 

„Tausendt  Merckwürdige  GEdenck  -  SPrüch  Auß  Vnter- 
schiedlichen  Authoren  zusammen  gezogen  Und  In  Teutsche 
Verse  übersetzt.  Durlach,  Druckts  Martin  Müller,  1685.**  4<>* 

104  SS.  und  3  Bl.  Vorst.     Die  Vorrede   ist  unterzeichnet: 
£.  M.  z.  B.  (Elisabeth,  Markgräfin  zu  Baden). 

Die  Tugend  hat  die  Art  des  Palmbaums  angenommen: 
Je  mehr  sie  wird  gedruckt,  je  höher  wird  sie  kommen* 

Wer  niemals  leiden  will,  kann  auch  nicht  überwinden, 
Weil  anders  nicht  der  Sieg  als  nach  dem  Kampf  zu  finden. 

Verflucht  ist  der  die  Blüth  der  Jahr  dem  Teufel  schenket, 
Des  Alters  Hefen  Gott  zü  geben  erst  gedenket. 

Bei  manchem  hat  gar  oft  der  Adel  des  Geblüts 
Verändert  und  verderbt  den  Adel  des  Gemüths« 

Die  Seele  lasset  sich  zu  keinem  Glauben  zwingen; 

Der  Grund  der  Wahrheit  muss  nur  dies  zuwegen  bringen. 

Die  grausame  Gewalt  kann  nicht  gar  lang  bestehen. 
Wie  eine  trübe  Wölk  pflegt  sie  vorbei  zu  gehen. 

So  viel  dir  mogUch  ist,  halt  Fried  mit  aUen  Leuten, 
Hingegen  sei  beherzt,  die  Laster  zu  bestreiten. 

Was  in  der  Sterblichkeit  wir  Menschen  Leben  nennen, 
Ist  mehr  vor  einen  Tod  als  Leben  zu  erkennen. 


*)  Unabhängig  von  den  Auszügen,  die  bereit«  Zell  in  seinem  Buche  S.  61 
bis  67  gegeben  hat. 


217 


Wer  fromm  und  redlich  lebt,  der  hat  zu  allen  Zeiten 
Mit  Teufel,  Sund  und  Welt  zu  fechten  und  zu  streiten. 

O  wie  viel  Eitelkeit  findt  sich  in  denen  Sachen, 
Darum  die  Menschen  sich  viel  Müh  und  Arbeit  machen  I 

Ein  König  oder  Fürst,  der  Lande  soll  regieren, 

Muss  durch  sein  Beispiel  selbst  das  Volk  zur  Tugend  führen. 

Wie  in  des  Menschen  Leib,  also  im  Haus  und  Staat, 
Die  Krankheit  von  dem  Haupt  die  meiste  Ursach  hat« 

Das  beste  Gut  der  Welt  wird  einem  nicht  viel  nützen, 
Wenn  er  dasselbe  sollt  ohn  einen  Freund  besitzen. 

Die  Ding,  so  irdisch  sein,  darnach  wir  uns  so  sehnen. 
Die  müssen  ihre  Kraft  von  ewigen  entlehnen. 

Der  wenig  Grut  besitzt,  wird  man  zwar  arm  erkennen, 
Der  immer  mehr  begehrt,  ist  ärmer  doch  zu  nennen* 

Um  keines  Menschen  Gunst  sollt  du  dich  unterstehen, 
Ein  frevelböse  That  muthwillig  zu  begehen. 

Betrachte  stetigs  wohl  drei  Ding  die  schon  vergangen: 
Dass  du  dein  Leben  lang  viel  Böses  angefangen. 
Viel  Gutes  oft  versäumt  durch  Miissiggang  bewegt, 
Auch  viel  verliehne  Zeit  gar  übel  angelegt. 

Die  rechte  Weisheit  ist,  die  hohen  Glaubenssachen 
Verwundernd  anzusehn  und  nicht  viel  Grübelns  machen* 

Wir  pflegen  zwar  ungleich  in  diese  Welt  zu  konunen, 
Wir  werden  aber  gleich  vom  Tod  hinweg  genommen. 

Das  Glück  ist  ungewiss  und  kann  sich  leicht  verwenden: 
Drum  lass  dich  weder  Ehr  noch  Reichthum  nicht  verblenden. 

Wenn  du  ohn  Eigenlieb  dich  selbsten  wirst  betrachten. 
So  lobst  du  dich  nicht  selbst,  wirst  andre  nicht  verachten. 

Gleich  wie  der  Schatten  pflegt  dem  Leib  stets  nachzugehen. 
So  folgt  der  Tod  uns  auch,  wir  gehen  oder  stehen. 


218 


Von  UI18  selbst  ist  nichts  Guts  in  unserm  Thun  zu  spüren: 
Was  Gott  gefallen  kann,  muss  von  ilun  selbst  herrühren. 

Wie  nach  dem  Kegen  oft  die  Sonne  pflegt  zu  scheinen, 
So  sammlet  man  mit  Freud,  was  man  gesät  mit  Weinen. 

Es  ist  in  dieser  Welt  kein  vöUigs  Gut  zu  hoften: 

Kein  Mensch  hat  je  gelebt,  den  Unglück  nicht  betroffen. 

Das  Sicherst  ist  sich  GOTT  zu  Diensten  nur  ergeben, 
Weil  Alles  sonst  Betrug  in  unserm  ganzen  Leben. 

Unglücklich  ist  der  Fürst  und  würdig  zu  beklagen. 
Dem  einmal  keiner  darf  die  Wahrheit  kühnlich  sagen. 

Die  rechte  Tapferkeit  lässt  sich  darinnen  sehen. 
Wenn  sie  den  Lasteren  wird  allzeit  widerstehen,  *) 

Was  dir  das  Glück  beschehrt,  das  schätze  als  gelieben, 
Dieweil  es  sein  Geschenk  kann  wieder  bald  entziehen. 

Was  die  Natur  ertheilt,  das  kann  nicht  lang  bestehen, 
Weil  endlich  die  Natur  muss  Selbsten  untergehen. 

Was   in   der  Welt  der  Mensch  durch  Tugendruhm  erwirbet. 
Dasselbe  hat  Bestand,  weil  Tugend  nimmer  stirbet. 

Lern  leiden,  wenn  du  willt  auch  endlich  überwinden; 
Lern  sterben,  wenn  du  willt  das  rechte  Leben  finden. 

Wer  unter  Domen  wohnt,  der  muss  gestiefelt  gehen; 
Wer  unter  Falschen  ist,  der  hat  sich  vorzusehen. 

Viel  eher  soll  der  Mensch  gar  ohn  Geschäfte  leben, 
Als  dass  er  willig  sich  wollt  bösem  Thun  ergeben. 

Das  Leben  dieser  Welt  ist  mit  dem  Tod  umgeben, 
Und  der  in  Christo  stirbt,  fiudt  erst  das  rechte  Leben. 

Die  größt  Unwissenheit  ist  billig  die  zu  nennen. 

Wenn  sich  der  Mensch  nicht  mehr  will  als  ein  Mensch  erkennen. 


")  Oder  wie  spater;     Die  %>'«lirc  Tapferkeit  lässt   sich  durinn(>n  tfcheti. 

Dasä  »in  den  Lastern  wird  allzeit  entgegen  tftehen. 


•219 


6.     Herder. 

^Sonntagsthee  bei  Herder.  —  Nichts  iu  der  Welt  war 
amüs&uter  als  ein  Sonntagsthee  bei  Herder  hinter  St.  Peter 
und  Pauls  Kirchhof  in  der  Superintendentur.  So  gemischt? 
zahlreich  und  bunt  war  hier  oft  die  Gesellschaft,  die  man  bei- 
sammen traf,  dass  man  zuweilen  nicht  wusste,  wo  man  mit 
dem  Gespräch  anfangen,  und  wo  man  aufboren  sollte,  ohne 
bei  Jemand  anzustoßen.  Der  ehrwürdige  Senior  des  deutschen 
Parnasses  Wieland  aus  Osmanstädt,  der  vortreffliche  Mou- 
nier  aus  Belvedere,  und  ein  paarmal  zum  Besuch  kommend 
sogar  Schlegel  aus  Jena,  der  damals  an  dem  Shakespeare  über- 
setzte, und  Tieck,  der  bei  ihm  im  Hause  wohnte,  und  seine  Geno- 
veva  und  sein  poetisches  Journal  ausarbeitete,  außerdem  der  Ober- 
consistorialrath  Böttiger  aus  Weimar,  Dr.  Merkel,  Prof. 
Meyer,  Falk,  Jean  Paul:  kurz  man  kann  sagen,  dass  Him- 
mel und  Hölle,  Freimüthiger  und  Elegante,  Elysium  und  Tar- 
tarus, mit  einem  Worte,  alle .  Parteien  des  Parnasses,  aUe 
Elemente,  die  seitdem  am  Horizont  der  deutschen  schönen  Lit- 
teratur  die  Kreuz  und  Queer  geblitzt  und  gedonnert  haben,  hier 
noch  friedlich  sich  um  eine  Theemaschine  versammelt  hatten. 
Der  Thee  kochte  —  und  bei  Vielen  kochte  es  auch: 

Denn  wes  das  Gefäß  ist  gefüllt, 
Davon  es  sprudelt  und  überschwillt. 

Dass  es  nicht  völlig  überkochte,  daiur  sorgte  Herders  Uni- 
versalität, die  Allen  gerecht  war.  Jedem  wenigstens  zu  einer 
oder  der  andern  angenehmen  Sensation  sich  anpaßte. 

Er  glich,  so  zu  sagen,  als  Wirth  dieses  Thees  dem  uni- 
versellen Geber  des  Weltalls,  der  bei  dem  allgemeinen  Gast- 
mal der  Dinge,  im  Ideenbild  des  Menschen,  auch  die  verschie- 
densten feindlichsten  Creaturen  um  einen  Tisch  versanmielt  und 
Paar  für  Paar  an  Couverten  neben  einander  sitzend,  zum 
Speisen,  Essen  und  Trinken  nöthigt;  wo  es  denn  freilich  nicht 
darohne  abgeht,  dass  die  diversen  Masken  einander  nicht  auch 
diverse  Gesichter  schneiden  sollten;  aber  es  unterbleiben  doch 
wenigstens  die  groben  Excesse* 

Dadurch  ist  nun  zwar  die  Verlegenheit  der  Unterhaltung 
in  diesen  Abendthees  einigermaßen  verringert,  aber  keineswc- 
ges  aufgehoben  worden.  Wovon  sollte  man  auch  sprechen? 
Etwa  von  den  Fehlgriffen    und   Mängeln    der  ersten  französi- 


•220 


sehen  Nationalversammlung?  Behüte!  Das  hätte  unser 
Mounier  aus  Belvedere  mit  Recht  übel  genommen:  oder 
von  den  Schönheiten  der  gottlichen  Gönoveva?  Da  hatte  der 
in  solchen  ädthetischen  Punkten  unerbittliche  Doctor  Merkel, 
der  als  Kritiker  die  Hirschkuh  für  seinen  Tod  nicht  ausste- 
hen konnte,  gewiss  bedenklich  den  Kopf  geschüttelt:  oder  Von 
dem  Athenäum?  Das  wäre  unhöflich  gegen  den  humanen 
Wirth  und  zugleich  gegen  den  ehrwürdigen  Wicland  gewe- 
sen: oder  vom  Prinzen  Zerbino?  Nein,  da  hätte  Falk;  oder 
vom  gestiefelten  Kater:  da  hätte  Böttiger  protestiert 
Man  konnte  in  diesen  Abendgesellschaften  über  Alles  sprechen 
ohne  anzustoßen,  nur  nicht  über  Politik,  oder  über  Poesie 
oder  über  Philosophie  oder  über  die  neue  Ästhetik.  Dies 
erinnert  an  die  beriihmte  Vergünstigung  einer  deutschen  Re- 
gierung, die  von  derselben  einem  geschickten  Ingenieur  ertheilt 
wurde.  Man  erlaubte  ihm  nämlich  Landkarten,  im  .  .  .  sehen 
Territorio  aufzunehmen,  bloß  mit  der  kleinen  Bedingung:  dass 
alle  Berge,  alle  Wälder,  alle  Flüsse,  alle  Städte  und  alle  Dör- 
fer daraus  wegbleiben  sollten.  So  sehr  durchkreuzten  sich  da- 
mals die  Meinungen  am  deutschen  Pamass,  dass  wenn  ich 
Montagsabend  in  meinem  Logis  auf  dem  Markt  am  Fenster 
stand  und  das  wöchentliche  Leipziger  Paket  gegenüber  in  der 
Buchhandlung  ankommen  sah,  ich  auch  immer  ganz  sicher  dar- 
auf rechnen  konnte ,  dass  ein  kleines  Cadeau  für  mich  oder  ei- 
nen andern  Herrn  aus  der  AbendgeseUschaft  mit  dabei  war.^ 

Falkos  Elysium  und  der  Tartarus  1806.  S.  266.  267. 
„Von  einem  Freunde  des  Verewigten**  d.  i.  von  Falk  selbst, 
wie  schon  aus  dem  Schlüsse  hervorgeht:  Falk  wohnte  beim 
Kaufmann  Horny  am  Markte,  der  W.  Hoffmannschcn  Buch- 
handlung schräg  gegenüber. 

7.    Bürger. 

Seit  dem  J.  1779  bis  zum  J.  1794  gab  Bürger  den  Göttingi- 
schen  Musenalmanach  heraus.  Obschon  zu  gleicher  Zeit  mehrere 
Musenalmanache  erschienen:  der  Vossisohe ,  der  Ch.  H.  Sclmiid- 
sche,  der  Leipziger  und  Wiener,  so  war  doch  der  Göttinger 
als  der  ältere  immer  noch  der  beliebtere;  jüngere  Dichter  wen- 
deten sich  lieber  an  ihn  als  anderswohin,  besonders  seitdem 
ein  so  gefeierter  Name  wie  Bürger  das  Unternehmen  in  die 
Hand  genommen  hatte.    Bürger  erfuhr  bald,  welch  eine  große 


221 


Last  er  sich  aufgebürdet:  es  wurden  ihm  die  wunderlichsten  Zu- 
mutbungen gemacht  und  er  cntschloss  sich  endlich  zu  dner 
Erklärung,  die  im  Musenalmanach  J.  1782  S.  184 — 192  als 
„Notligedrungene  Nachrede^  steht.     Sie  lautet  also: 

„Neben  den  Beiträgen  zu  dieser  poetischen  Blumenlese*) 
werde  ich  mit  vielen  zum  Theil  sehr  gutherzigen,  freundlichen 
und  schmeichelhaften  Briefen  beehret,  die*  ich,  so  leid  mir  da« 
auch  tbut,  unmöglich  beantworten  kann.  Es  sei  mir  erlaubt, 
dies  öffentlich  zu  sagen  und  bei  dieser  Gelegenheit  auf  eins  und 
das  andre  zu  antworten,  damit  mir  mein  Stillschweigen  nicht 
ferner,  wie  schon  geschehen  ist,  von  Diesem  und  Jenem  übel 
ausgelegt  werde,  welcher  vielleicht  gewähnt  hat,  er  sei  der 
Einzige,  den  ich  also  zu  vernachlässigen  scheine.  Mein  Herz, 
so  weit  ich  es  kenne,  weder  von  Grobheit,  Trotz,  Hochmuth 
imd  Diinkel  angesteckt,  noch  guter  Empfindungen  für  gute 
Menschen  beraubt,  vernachlässiget  im  Grunde  Niemand;  und 
fühlt  sich  immer  wohlwollend  und  dankbar  gegen  Alle,  die  mir 
und  dieser  Sammlung  wohlwollen,  wenn  gleich  ich  und  diese 
Sammlung  dadurch  nichts  gewinnen  sollten.^ 

,^s  sendet  nicht  leicht  ein  junger  Dichter  Beiträge  ein, 
der  nicht  zugleich  um  Kritiken  und  Belehrungen,  besonders 
aber  auf  den  Fall  der  Verwerfung  um  rationes  dubitandi  et 
decidendi  bittet.  Wenn  ich  diese  Bitten  erföllen  wollte,  so 
musste  ich  schlechterdings  kein  andres  Geschäft  auf  Erden  ha^ 
ben,  als  Be$pQn$a  poetica  zu  ertheilen.  Ein  allgemeines  Ur^ 
theil  wiirde  dem  Anfänger  wenig  helfen,  bergegen  ins  Detail  zu 
gehen  und  über  ein  Lied  von  wenigen  Strophen  vielleicht  einen 
ganzen  Bogen  yoU  zu  kunstrichtern,  wie  öfters,  weim  es  von 
Nutzen  sein  sollte,  geschehen  müsste,  wann  fände  sich  dazu 
die  Zeit?  Überhaupt  muss  ich  frei  bekennen,  dass  ich  wegen 
eines  mir  natürlichen  und  täglich  sich  mehrenden  Misstrauens 
in  meine  Fähigkeiten  und  Einsichten,  zum  Recensieren  ganz 
ungeschickt  bin«  Ich  kann  mich  daher  auoh  rühmen,  in  mei- 
nem ganzen  Ziehen  noch  keine  Zeile  recensiert  zu  haben^  mit» 
hin  von  allen  ojBentlichen  kritischen  Sünden  so  rein  als  m 
neugebomes  Kind  zn  sein.  Und  wenn  man  sich  einmal  so 
lange  vor  Si^nden  gehütet  hat,  so  hütet  man  sich  auch  ferner.^ 


ii  11 1    •* • 


*)  8o  hieß  der  Musenalmanach   für  jene  Lander,  wo   der  Kalender- 
stenpel  galt  and  der  sonst  beigefügte  Kalender  wegfeilen  mnsste. 


222 


),MBnche  Coiitribuenten  erlassen  mir  ein  schriflHches  Ur- 
theil  und  wollen  sich  allein  die  Aufnahme  oder  Auslassung  ih- 
rer Gedichte  zum  Zeichen  meiner  Billigung  oder  Verdammung 
dienen  lassen.  Allein  diese  können  in  beiden  Fällen  sich  be« 
triegen.  Ich  billige  eben  so  wenig  alles  was  eingerückt  wird, 
als  ich  dasjenige  schlechterdings  missbillige  was  zurückbleibt. 
Überdem  folgt  ja  keinesweges,  dass  dasjenige,  was  meiner  We- 
nigkeit nicht  gefallt,  auch  andern  Leuten  nicht  gefalle  oder 
gar  ausgemacht  schlecht  sei ,  so  wie  im  Gegentheil  mein  Wohl- 
gefallen an  einem  Gedicht  eine  sehr  unsichere  Bürgschaft  fiir 
dessen  Güte  und  Unsterblichkeit  sein  kann.  Manches  Gedicht 
athmet  meiner  Meinung  nach  wahren  poetischen  Geist,  allein 
die  darein  verwebten  allzusehr  auffallenden  Flecken  der  Sprache, 
des  Ausdrucks  und  der  Versification,  die  ich  wegzuwischen 
gerade  nicht  Zeit  noch  Lust  habe,  verhindern  seine  Aufnahme. 
Dagegen  läuft  manches  höchst  mittelmäßige  Alltagsding,  inso- 
fern nur  Sprache  und  Versification  einigermaßen  richtig  sind, 
ganz  frei  mit  durch;  nicht  zu  gedenken,  dass  noch  so  manche 
und  manche  andere  Ursache  als  Werth  zur  Aufnahme  eines 
Stücks  nothigen  kann.  Ich  kann  bei  dieser  Gelegenheit  mei- 
nen lebhaften  Verdruss  darüber  nicht  bergen,  dass  viele,  und 
darunter  manche  die  es  vielleicht  wozu  bringen  konnten,  so 
unbeschreiblich  liederlich  in  Ansehung  der  Sprache 
und  Versification  verfahren.  Mein  Gott!  sperren  denn 
die  Herren  gar  die  Augen  nicht  auf,  um  wahrzunehmen,  wie 
unsre  rechtlichen  Schriftsteller,  sowol  in  Prosa  als  Versen 
schreiben?  Bemerken  sie  denn  gar  keinen  Unterschied?  Ist 
denn  cacatum  und  pictum  in  ihren  Augen  immer  und  ewig  ei- 
nerlei? —  Ist  denn:  Keime  dich,  oder  ich  fresse  dichl 
im  ganzen  Ernst  eine  Kunstregel?  —  Dass  Jemand,  der  gleich- 
wol  Verse  für  einen  Musenalmanach  liefert,  ein  mittelmäßiger 
oder  schlechter  Poet  ist,  das  ist  allenfalls  noch  begreiflich  und 
verzeihlich;  aDein  Grammatik  und  Prosodie  nicht  einmal  zu 
verstehen  und  dennoch  sich  gedruckt  sehen  zu  wollen,  das  ist 
so  unbegreiflich  als  unverzeihlich ,  weil  sieh  so  was  doch  hätte 
lernen  lassen  müssen,  wenn  man  nur  fein  fleißig  in  die  Schule 
gegangen  wäre.  Selbst  ehrliche  Philister,  ob  sie  gleich  nur 
durch  die  Schule  gelaufen  sind,  würden  die  Hände  über  dem 
Kopfe  zusammen  schlagen,  wenn  ich  von  diesem  Greuel,  den 
sich    gewiss    Niemand    arg    genug  vorstellt,    Proben  vorlegen 


22H 


wollte.  Die  Lippen  mochte  man  sich  vor  Unmutb  wund  beißen, 
wenn  die  den  sogenannten  schönen  Geistern  leider!  so  oft  mit 
Kecht  vorgeworfene  Ignoranz  in  andern  Wissenschaften,  sich 
selbst  bis  auf  das  Abc  derjenigen  Wissenschaft  erstreckt,  wozu 
sie  sich  doch  selbst  bekennen.  Kein  Wunder  wäre  es,  wenn 
auf  die  Art  die  wahre  Dichterei,  so  edel  und  vortrefflich  sie 
an  und  für  sich  selber  ist,  vor  Priester  und  Laien  verächtlich 
würde.** 

„Manche   Contribuenten    sind    auf  den    freilich    von  ihnen 
nicht  befürchteten,    dennoch  leider!    möglichen  Fall,    dass  ihre 
Beiträge  nicht  aufgenommen  werden   sollten,  fast  allzu  ängst- 
lich   um    schleunige    und    sichere   Zurucksendung   bekiimmert, 
pflegen  auch  wol  gar  peremtorische  Termine  desfalls  anzusetzen. 
Liebe  Herren,  warum  denn  gleich  zuriicksenden?  Beim   ersten 
Durchlesen  lässt  es   sich  oft  nicht  gleich  bestimmen,   was  ge- 
wählt werden  soll  oder  nicht.     Man  beherzigt  ja  wol  von  Zeit 
zu  Zeit  ein  Ding  mehr  als  einmal,  und  wozu  man  sich  in  die- 
sem Jahre  noch  nicht   entschließen   konnte,    dazu    entschließt 
man  sich  vielleicht  noch  im  kiinftigen. '    Wozu  iiberall   die  Be- 
schwerde  des   Zurücksendens  ?     Etwa  weil   der   Verfasser  nur 
dies  eine  Exemplar  verfertigt  hätte?    Lieber  Gott!   Wo  wäre 
wol  der  Einfaltspinsel,    welcher  glaubte,   dass    ein  Poet,    und 
vollends  ein  schlechter  Poet,  so  wenig  um  die  Erhaltung  seiner 
Verse  besorgt  sein  könne?  Nein!  disseits  der  Presse  gehet  auf 
die  Art  nicht  leicht  ein  noch    so   zerbrechliches   Werk  unter; 
aber  jenseits  derselben,    wo    der  Herr    Verfasser  aller  Gefahr 
entronnen  zu  sein  glaubt,  da  sind  erst  die  tausend  und  aber- 
mal tausend  gefährlichen  Klippen  und  Strudel,  die  ein  Exem- 
plar nach  dem  andern  bis  auf  das  letzte  verschlingen.     Ver- 
langte aber  Jemand  seine  Beiträge  um  deswillen  zurück,  damit 
sie  nicht  im  Schofelarchiv  herumtreiben  möchten,  der  könnte 
ja  lieber  wie  mancher  andre,  den  ich    darum  noch  einmal  so 
lieb  und  werth  habe,   Befehl  zum   Verbrennen  geben,  welcher 
allemal  um  so  lieber  befolgt  werden  soll,  als  man  der  Kosten 
eines  eigenen   zu  Aufbewahrung    des  Schofels    sonst  nöthigen 
Hauses  und  der  Bestellung  eines  eigenen  Schofel -Registrators 
vor  der  Hand  gern  noch  eriibrigt  sein  möchte.   Denn  des  Zeugs 
wird  nach  und  nach  so  viel,  dass  es  in  Einem  Stückfasse  nicht 
mehr  Raum  hat.^ 


224 


^Übriga:i8  kann  ioh  nicht  bergen,  dasg  es  unangepehm  sei, 
wenn  man  eingesandte  Beiträge,  die  etwa  für  dies  Jahr  wegen 
Mangel  des  Raums  nicht  haben  abgedruckt  werden  können, 
kurz  darnach  in  andern  Vers-  und  Prosasammlungen  erschei- 
nen siebet.  Zwar  kann  sich  diese  Blumenlese  des  Verlustes 
halber  wol  trösten;  indessen  laufe  doch  ich,  der  ich  kaum  die 
zehnte  solcher  Sammlungen  zu  Gesicht  bekomme  und  lese,  dar- 
über Gefahr,  bereits  gedruckte  Sachen  hier  noch  einmal  ab*- 
drucken  zu  lassen,  da  es  doch  vielleicht  noch  zweifelhaft  schien, 
ob  sie  nur  einmal  verdienten  gedruckt  zu  werden." 

„Schließlich  wiinschte  ich  von  Herzen,  dass  es  manchem 
gefallen  m&chte,  die  so  oft  in  Prosa  und  Versen  herumgehM* 
delte  Liebe  auf  eine  Zeit  lang  wieder  zu  Athem  kommen  %n 
lassen,  und  dagegen  zur  Veränderung  sich  an  andern  Gegen- 
ständen zu  versuchen,  damit  man  doch  sähe,  wie  die  Herren 
znrecht  kämen,  wenn  dieser  graduH  ad  Pama$8um  sie  nioht 
mehr  mit  seiner  reichen  Phraseologie  versähe.  Um  das  Lie* 
beslied  ist  es  in  der  That  eine  delicate  Sache«  Ich  wurde  es 
lieber  zu  den  Arbeiten  des  Meisters  als  des  Lehrlings  rechnen^ 
Denn  man  muss  einen  Inhalt  für  Geist  und  Herz  hineioziilegeo 
wissen,  welche  es  auch  denen  schmackhaft  macht  die  selbst 
nicht  verliebt  sind.  Keineswegs  ist  es  damit  gethan,  dass  mw 
bloß  über  das  Thema:  ich  liebe  dich!  allerlei  süße  Phrasen  isih 
sammenstoppelt,  woran  es  bei  einem  so  oft  besungenen  Gegen** 
stande  auch  dem  armseligsten  Stümper  nicht  fehlen  ki^m*  '^ 

Nichts  vor  ungut,  meine  Herren!  — 
sagt  Meister  Wunderlich  in  der  Gomodie* 
Geschrieben  im  August  1781.  Bürg^r,^ 

Was  wiirde  wol  Bürger  heutiges  Tages  sagen  mÜsfWf 
wenn  er  einen  Musenalmanach  herauszugeben  hätte? 

8.    Schiller. 

„Schillers  Urtheil  über  Tiecks  Minnelieden  Schiller  haiUe 
mitunter  sehr  sarkastische  Einfälle.  So  wurde  einst,  bei  Ge*» 
legenheit  der  neuen  Ausgabe  der  Minnelleder  von  Tieok,  ub^ 
das  sämmthche  Mobiliar  dn-selben,  ein  witziges  Xnventariupi 
aufgenommen.  Als  Resultat  ergab  sich;  dass  weder  Tisch  npoh 
Stuhl,  noch  Bett,  noch  irgend  sonst  ein  löbliches  Gerätbet 
was  man  nicht  gern  im  Leben  entbehren  mag,  in  ihnen  anw^ 
treffen  sei.     An  einen  ordentlichen  und  echt  poetischen  Haus- 


225 


halt  war  demnach  unter  diesen  Umstanden  gar  nicht  zu  den- 
ken. Wenn  die  Sperlinge  auf  dem  Dach,  sagte  Schiller,  je 
auf  den  Einfall  kommen  sollten  zu  schreiben,  oder  einen  Al- 
manach  für  Liebe  und  Freundschaft  herauszugeben,  so 
lässt  sich  zehn  gegen  eins  wetten,  er  würde  ungefähr  eben  so 
beschaffen  sein.  Welch  eine  Armuth  von  Ideen,  die  diesen 
MinneKedern  zum  Orunde  liegt!  Ein  Garten,  ein  Baum,  eine 
Hecke,  ein  Wald,  und  ein  Liebchen,  ganz  Recht!  das  sind  un- 
gefähr die  Gegenstände  alle,  die  in  dem  Kopfe  eines  Sperlings 
Platz  haben!  Und  die  Blumen,  die  duften,  und  die  Fruchte 
die  reifen,  und  ein  Zweig,  worauf  ein  Vogel  im  Sonnenschein 
sitzt  und  singt,  und  der  Frühling  der  kommt,  und  der  Winter 
der  geht,  und  nichts  was  dableibt  —  als  die  Langeweile.^  Joh. 
Falkos  Elysium  und  der  Tartarus  (Weimar)  1806.  S.  3.  Bis- 
her kannte  man  diese  Äußerungen  Schiller^s  meist  nur  aus  Jör- 
dens,  Lexikon  3.  Bd.  S.  610,  wo  sie  ohne  Angabe  der  Quelle 
mitgetheilt  werden.  Schon  damals  (1806)  fand  man  dieselben 
doch  zu  arg  und  W.  K.  (wol  Wilhelm  Körte)  entgegnete  dar- 
auf in  derselben  Zeitschrift  S.  96:  „Schillers  Urtheil  über  Tiecks 
Minnelieder  ist  doch  wahrhaftig  unendlich  armselig.  Hinunel, 
welch  ein  trivialer  Spaß  mit  dem  Mobiliar  der  Minnelieder, 
mit  dem  Sperlinge!  Beleuchten  Sie  dies  Alles  nur  eine  Minute, 
mit  künstlerischer  Fackel,  und  sagen  Sie,  was  man  von  solcher 

B^tik,  von  solchem  Kunsturtheil  sagen  soll? Schiller, 

dMl^i(j^  ich  schworen,  bat  an  diesem  Urtheil,  so  wie  es  da- 
steht, heilig  und  gewiss  keinen  Antheil.^  —  Zu  diesem  letz- 
ten Satze  macht  Falk  die  einfache  Bemerkung:  „Doch!  es  ist 
wörtlich   aus  seinem  Munde.^ 

9.  Ein  Brief  Schillers  an  die  österreichische  Gräfin  Purgstall, 
der  in  Schloss  Hainfeld  aufbewahrt  wird,  ward  von  der  Ost- 
deutschen Post  veröffentlicht.    Er  lautet: 

„Die  gute  Aufnahme  meiner  Gedichte,  gnädige  Gräfin! 
hat  mich  lebhaft  erfireut,  so  sehr  die  Umstände,  unter  welchen 
sie  von  Ihnen  gelesen  wurden,  mich  betriibten.  Den  Verlust 
der  theuem  Person,  den  Sie  damals  beförchteten,  fühle  ich 
mit  Ihnen;  gewiss  muss  es  eine  wiirdige,  trejBfliche  Mutter  sein, 
die  ein  so  rührendes,  schönes  Zeugniss  des  Herzens  von  Ihnen 
verdienen  konnte.    Aber  ich  hoffe,  der  Himmel  hat  sie  Ihnen 

Weimar,  Jh.  IL  15 


226 


wieder  geschenkt  und  ich  darf  Ihnen  2u  dieser  Freude  Glück 
wünschen. 

Sie  wünschen  in  Ihrem  Briefe,  dass  ich  auf  dem  poeti- 
schen Pfade,  den  ich  betreten,  fortfahren  möchte.  Warum 
sollte  ich  nicht,  wenn  Sie  es  der  Mühe  werth  halten,  mich 
dazu  aufzumuntern?  Ich  gebe  auch  bloß  dem  freiwilligen  Zuge 
meines  Herzens  nach,  indem  ich  Ihren  Rath  befolge.  Von  je- 
her war  Poesie  die  höchste  Angelegenheit  meiner  Seele,  und 
ich  trennte  mich  eine  Zeitlang  bloß  von  ihr,  um  reicher  und 
würdiger  zu  ihr  zurückzukehren.  In  der  Poesie  endigen  alle 
Bahnen  des  menschlichen  Geistes,  und  desto  schlimmer  für  ihn, 
wenn  er  sie  nicht  bis  zu  diesem  Ziele  zu  fuhren  den  Muth  hat. 

Die  höchste  Philosophie  endigt  in  einer  poetischen  Idee, 
so  die  höchste  Moralität,  die  höchste  Politik.  Der  dichterische 
Geist  ist  es,  der  aUen  Dreien  das  Ideal  vorzeichnet,  welchem 
sie  anzunähern  ihre  höchste  Vollkommenheit  ist. 

Möchte  Ihnen  die  Elegie,  die  in  dem  zehnten  Hefte  der 
„Horen^  abgedruckt  ist,  die  Gefühle  zu  überliefern  im  Stande 
sein,  die  mich  erfüllten,  als  ich  sie  niederschrieb.  Ich  fühlte 
mich  glücklich  in  ihrer  Verfertigung,  aber  der  Buchstabe  kann 
das  Herz  nie  erreichen. 

In  wenigen  Wochen  habe  ich  die  Freude,  Ihnen  meinen 
Musenalmanach  zu  übersenden,  der  die  Früchte  einiger  fröh- 
lichen Stunden  enthält  Wie  wünschte  ich,  dass  er  auch  Ih- 
nen einige  gewähren  möchte.  Lassen  Sie,  vortreffliche  GräfinI 
mein  Andenken  unter  Ihnen  leben.  Das  Ihrige  begleitet  mich, 
wie  ein  schöner  Genius,  und  erheitert  mein  Leben. 

Jena,  den  4.  November  1795.  Schiller.** 

Die  O.  D.  P.  bemerkt  dazu:  „Die  Dame,  an  welche  der 
Dichter  einen  so  verehrungsvollen  Brief  schrieb,  lebte  mit  den 
edelsten  Geistern  ihrer  Zeit  in  persönlichem,  später  brieflichem 
Verkehre.  Sie  war  es  unter  Anderm,  die  den  Genius  Walter 
Scott  erkannte  und  seine  erste  poetische  Arbeit:  die  Ueber- 
setzung  von  Bürgers  „Lenore^  zur  Ueberraschung  des  damals 
erst  siebzehnjährigen  Dichters  drucken  ließ.  Namen  und  Scbloss 
vererbte  sie,  die  Letzte  des  Stammes,  in  Bewunderung  und 
Freundschaft  dem  berühmten  Orientalisten  Joseph  von  Ham- 
mer, seit  ihrem  Tode  Hammer -PurgstalL^ 
10.  Kotzebue. 
„August  von  Kotzebue.     Portrait.     A.  v.  K.,  geb.  zu  Weimar 


227 


im  J.  1761.  Als  Dichter  mehr  ein  Dichter  der  Schonen  — 
als  des  Schonen;  mehr  ein  Dichter  aller  Nationen,  als  irgend 
einer  Nation.  Kein  Mann  von  großem  Genie,  aber  ein  Mann 
von  großem  Talent.  Weniger  hervorstechend  durch  die  Origi- 
nalität seiner  Ideen,  als  durch  Witz,  Reichthum  und  seltene 
Productionskraft.  Nicht  ungeübt  im  Colorit;  kein  Neuling  in 
Farben;  ein  Meister  in  der  Situation;  unübertroffen  im  Dialog, 
aber  ohne  Richtigkeit  und  Verdienst  in  der  Zeichnung;  ohne 
echt  idealen  Aufflug  in  Charakteren;  ohne  Natur  und  Kraft  in 
ihrer  Haltung;  ohne  Naivität  in  der  Darstellung.  —  In  der 
Philosophie  ein  Dilettant;  in  der  Kunst  ein  Räsonneur;  in  der 
Kritik  unter  aller  Kritik." 

Falk's  Elysium  und  der  Tartarus  1806.  S.  60.  mit  einer 
Abbildung:  ein  Eselskopf  der  einem  Menschenkopfe  als  Mütze 
dient;  der  Menschenkopf  hat  eine  Feder  hinter  dem  Ohre  und 
zwei  Pinsel  am  Hals  und  Kinn,  welche,  wenn  man  das  Ganze 
umdreht,  zu  Eselsohren  werden. 

Zehn  Jahre  später  war  man  kürzer  und  grober:  Kotze, 
deutscher ,  B  o  u  e ,  franzosischer,  Kotzebue  litterarischer  Dreck! 

11.    Franz  von  Sonnenberg. 

„Sonnenbergs  Tod.  Voll  das  Herz  von  heiliger  Dichterglut 
wie  Klopstock,  von  Gott  und  Vaterland,  stürzte  sich  dieser 
junge,  feurige  Jüngling,  nach  den  ewig  beweinenswerthen  Vor- 
fällen bei  Ulm  in  einem  Anfall  schwermüthigen  Tiefsinnes,  der 
bis  zu  einer  völligen  Geisteszerrüttung  bei  ihm  gestiegen  war, 
zu  Jena  aus  dem  Fenster.  In  jeder  andern  Zeit  —  wer  zwei- 
felte daran  —  der  Sonnenbergs  Auferstehungstag 
Deutschlands  gelesen  hat?  —  hätte  sich  dieser  neue,  muth- 
athmende  Tyrtäus  kiihn  und  unerschrocken  in  die  Schwerter 
der  Feinde  gestürzt,  die  er  jetzt  mit  stolzem  Gesänge  schlug: 
—  aber  als  Sonnenberg  geboren  wurde,  hatten  wir  Deutsche 
kein  Vaterland  mehr.    Und  doch 

Glüht  mein  Herz  dir,  o  Vaterland! 
Dich  läugnet.laut  und  ernst  zwar  der  Mitwelt  Geist, 
Du  aber  warst  und  bist,  und  wirst  sein, 
Vaterland  Hermanns! 

So  sang  Sonnenberg.  Sein  Lied  ist  verklungen:  sein  Lied  ist 
unter  uns. 

15* 


228 

Das   Voglein  oder  Sonnenbergs    Schwanengesang. 
Es  fliegt  ein  Vöglein  über  Tyrol; 
Man  sieht  es  nicht,  doch  hört  man^s  wol, 
Es  singt,  das  gefaUt  mir  nicht  aUzuwol: 
Tempi  passatil 

Es  fliegt  ein  Voglein  über  die  Schweiz, 
Das  singt  mit  allverlockendem  Keiz: 
Lieben  Eidgenossen  allerseits! 
Tempi  passatil 

Die  Jäger  in  Schweiz  und  in  Tyrol, 
Sie  trafen  das  Voglein  nicht  allzuwol. 
Sagt,  ^n  braven  Jäger,  wt)  find^  ich  ihn  wol? 
Tempi  passatil 

Da  ging  ich  zu  Bernhard  in  Sachsenland: 
Herr  Bernhard,  ist  dir  kein  Jäger  bekannt? 
Ich  frug  ihn  —  doch  hat  er  mir  keinen  genannt. 
Tempi  passati! 

Und  soll  mein  Suchen  verloren  denn  sein, 
So  nimm  mich  in  deine  Gruft  mit  ein. 
So  mag  ich  auch  länger  am  Leben  nicht  sein! 
Tempi  passati!^ 

Falkos  Elysium  und  der  Tartarus  1806.     S.  129.  — 

Nach  Falkos  Mittheilung  könnte  man  fhst  glauben,  dass 
Sonnenberg  unmittelbar  nach  der  Kunde  von  den  traurigen 
Vorfallen  bei  Ulm  sich  das  Leben  genommen  habe.  Allerdings 
hatte  der  Fall  Ulm^s  großen  Eindruck  auf  ihn  gemacht.  Gru- 
ber, der  innige  Freund  des  Dichters,  in  seinem  Buche:  „Et- 
was über  Franz  von  Sonnenbergs  Leben  und  Charakter^ 
(Halle  1807)  deutet  auch  darauf  hin.     S.  180  sagt  er: 

„Deutschland  trat  in  Kampf  gegen  Frankreich  auf.  Da  ent- 
glühte alle  seine  Sturmliebe  zum  Vaterland  heftiger,  er  schwelgte 
in  dem  Gedanken,  der  letzte  Deutsche  zu  sein.  Ulm  nun! 
—  Deutschland  gab  er  nun  verloren!  Er  bat  mich,  ihm  keine 
Zeitung  mehr  zu  zeigen,  ihm  nichts  daraus  zu  erzählen.*  — 
Der  FaU  Ulm's  war  aber  den  17.  October  und  erst  den  22.  No- 
vember 1805  starb  Sonnenberg.  Was  seinem  Tode  kurz  vor- 
herging, berichtet  Gruber  S.  181.  also:  „Eines  Morgens  ganz 
irüh  trat  er  in  mein  Zinuner  und  zog  mich  vom  Schreibtisch 
in  die  Hohe,  mir  hinauswinkend.  Welch  ein  Anblick!  Sein 
Auge  starr,  sein  ganzes  Gesicht  entstellt!*    Freund  —  sagte 


K^- 


229 


er  — ,  ich  kann  nicht  mich,  nur  ßie  uüd  die  Ihrigen  retten. 
Nur  Ein  Glaube  macht  selig  1**  —  Lieber,  guter  Sonnenberg, 
antwortete  ich,  Sie  wissen,  ich  bin  Protestant!  Unwillig  ent- 
fernte er  sich.  Ich  folgte  ihm;  bald  stieg  sein  Fieber  zur  höch- 
sten Wuth;  aUe  Schrecken  seiner  Kindheit,  alles  Furchtbare 
seiner  Religion  standen  grässlich  um  das  Lager  des  Leidenden 
her,  und  herzzerreißend  war  sein  Zustand,  der  den  ganzen 
Tag  über  dauerte.  In  der  Natur  war  ein  Aufruhr  wie  in  sei- 
nem Innern,  es  war  ein  schrecklicher  Tag,  dem  eine  noch 
schrecklichere  Nacht  folgte.  Ihm  brachte  sie  Kuhel  In  der 
neunten  Stunde  zu  Abend  den  22.  November  1805  endigte  er 
sein  Leben,** 

12.    Karl  Immermann. 

(Brief  von  Immermann,  wahrscheinlich  vom  J.  1828.  Aus  ei- 
ner Autographensammlung  im  Rheingau.) 

,A  Monsieur  Boumer  poiir  Mr.  M(ejer)  Beer  do  Berlin 
(Postzeichen  Düsseldorf  27.  Juli)  a  Spaa. 

Platens  Gedichte  habe  ich  durchgelesen.  Dieser  Dichter  hat 
das  Eigenthümliche ,  dass  er  ohne  eigentlichen  Inhalt,  die  Sehn- 
sucht nach  der  Schönheit  poetisch  zu  behandeln  weiß.  In  den 
bedeutenderen  Sachen  klingt  fast  nur  *  der  Wunsch  nach  Idea- 
lität des  Daseyns,  und  das  Bewusstseyn,  dieser  Idealität  wür- 
dig zu  seyn,  hervor.  Ich  halte  sehr  viel  von  Platen,  nur  muss 
er  sich  nach  meiner  Ansicht,  vor  einem  zu  großen  Gefallen 
an  besonders  künstlichen  Formen  in  Acht  nehmen.  Unter  den 
Ghaselen  sind  offenbar  viele,  wo  der  Vers  und  das  Reimge- 
setz dem  Dichter  die  Hauptsache  war. 

Haben  Sie  Lenzens  Schriften  herausgegeben  von  Tieck 
und  begleitet  von  einer  langen,  langen  Vorrede  gelesen?  Die 
letztre  ist  in  mehrerem  Betracht  merkwürdig,  ich  mache  Sie 
drauf  aufmerksam.  Sie  behandelt  Goethe,  seine  Zeit,  und  sei- 
nen Einfluss  auf  die  Literatur.  Der  ganze  Tieck  mit  allen  sei- 
nen Tugenden  und  Sünden  steckt  in  dieser  Vorrede.  Ich  habe 
sie  mit  dem  größten  Interesse  gelesen. 

Nun,  mein  Lieber,  wünsche  ich  Ihnen,  dass  Sie  Pouhon- 
und  Geronstere- Quell  nicht  gar  zu  sehr  stärken  mögen,  denn 
wo  sollte  es  dann  mit  aUer  Ihrer  Gesundheit  hin?  Da  kriegte 
unser  alter  August  Wilhelm  am  Ende  zu  viel  Stoff  zu  scUech- 


230 


ten  Epigrammen.  Bis  ich^s  Ihnen  mündlich  sage,  auf  dem  Pa- 
piere von  Herzen 

Ihr  Immermann 

Philister  par  excellence.* 

13.    Heinrich  Heine. 

Die  Litterarhistoriker  haben  sich  oft  vergeblich  bemüht,  der 
Charakteristik  der  Werke  großer  Männer  des  18.  Jahrhunderts 
zugleich  eine  ihrer  Persönlichkeit  hinzuzufügen.  Den  Bearbei- 
tern der  Litteraturgeschichte  der  Gegenwart  wird  das  leichter 
werden,  es  öffnet  sich  ihnen  sogar  manche  amtliche  Quelle. 

Im  April  imd  August  des  Jahres  1844  ward  Heinrich  Heine 
in  einem  deutschen  Bundesstaate  steckbrieflich  verfolgt,  ohne 
jedoch  signalisiert  zu  sein.  Erst  im  Januar  des  folg.  Jahres 
war  es  gelungen,  ein  Signalement  aus  Paris  nachträglich  mit- 
zutheilen;  es  lautet: 

Heine  honmie  de  lettres,  50  ans,  taille  moyenne,  nez  et  men- 
ton  pointus,  type  israelite  marque,  c^est  un  debauch^,  dont 
le  Corps  affaisse  denote  Tepulsement. 


XU. 


DIE 


ÄLTESTE  RÄTHSELSAMMLÜNG. 


Von  H.   V.  F. 


Die  Räthsel  sind  ein  Theil  unserer  Volkslitteratur.  Von  frühen 
Zeiten  her  hat  das  deutsche  Volk  sein  besonderes  Wohlgefallen 
daran  gehabt  und  ergötzt  sich  noch  heute  daran.  Bei  allen 
Gesellschaften,  wo  man  sich  der  Fröhlichkeit  überlassen  durfte, 
mischten  sich  in  die  Scherze  und  Schwanke  der  Unterhaltung 
auch  die  Räthsel.  Bei  den  Hochzeitschmäusen  im  17.  Jahr- 
hundert war  es  noch  stehender  Brauch,  gegen  Ende  der  Tafel 
die  lustige  Stimmung  der  Gäste  durch  Räthsel  zu  erhöhen,  wo- 
bei denn  freilich  oft  die  Grenzen  des  Anstandes  überschritten 
wurden,  wie  davon  allerlei  zu  dergleichen  Festlichkeiten  beson- 
ders verfasste  Gelegenheitsgedichte  Zeugniss  geben.  Wo  man 
scherzt  und  lacht,  pflegt  man  auch  heute  noch  Räthsel  in  die 
Unterhaltung  zu  streuen.  Im  zweiten  Jahrzebent  unseres  Jahr- 
hunderts gehörte  es  sogar  zum  guten  Tone,  Räthsel  und  Cha- 
raden  in  Gesellschaften  sich  aufzugeben,  und  es  sind  noch  viele 
handschriftliche  und  gedruckte  Sammlungen  vorhanden,  die  je- 
ner Zeit  ihre  Entstehung  verdanken. 

Die  Räthsel  sind  in  Deutschland  so  alt  wie  ihre  Benennung. 
Alle  Jahrhunderte  seit  dem  neunten  kommt  das  Wort  vor,  frei- 
lich in  sehr  verschiedenen  Formen. 

Im  Althochdeutschen  ist  die  gewöhnliche  Form  diu  rä- 
tissa,  rätussa,  daneben  auch  wol  rätisca,  rätiski,  sehr 
selten  jedoch  nur  rätinisca,  r&tnissida,  rätnussa  (rätisli 
wird  gefolgert  aus  einer  einzigen  Glosse  radislen,  worin  für 
1  vielleicht  c  zu  lesen).    Im  12.  und  13.  Jahrhundert  findet  sich 


232 


rStische,  raetische,  raetsche,  raetelnisse,  rsedilse,  und 
im  15.  Jahrhundert  retsche,  redersch.  Im  16.  bleibt  das 
letzte,  wird  aber  meist  rettersche,  redtersche  geschrieben, 
daneben  gibt  es  auch  ein  räterle.  Im  17.  Jahrh.  kommt 
noch  rätersch  vor.  Unsere  jetzige  Form:  Räthsel  machte 
sich  bald  geltend  und  wiurde  endlich  allgemein.  Schon  die  Vo- 
cabularien  des  15.  Jahrh.  haben  ratsal,  retzel.  Dazu  stimmt 
denn  auch  das  mittelniederländische  raetsel,  gheraeisel  und 
das  angelsächsische  rädels,  rädelse. 

Alle  diese  Benennungen  sind  Beweise  genug,  dass  die  Sache 
alle  Jahrhunderte  hindurch  vorhanden  war  *).  Trotzdem  sind 
unsere  Räthsel  noch  nicht  in  den  Kreis  wissenschaftlicher  For- 
schung gezogen  worden.  Man  hat  sich  begnügt,  aus  alten 
Handschriften  und  allerlei  Büchern  Räthsel  mitzutheilen  *).  Aber 
schon  aus  diesem  kleinen  Vorrathe  ergibt  sich,  dass  die  mei- 
sten Räthsel  sich  von  Jahrhunderten  her,  oft;  sogar  in  derselben 
Fassung,  fortpflanzten  und  manche  sogar  noch  im  Munde  des 
Volkes  fortleben  "). 


1)  Hone  bemerkt  sehr  richtig  (Anzeiger  8,  232): 

^Der  Beichthum  der  Formen,  ihre  Verbreitung  durch  alle  deutschen  Mundar- 
ten, ihr  Alter  und  fortwährender  Qebrauch  beweist  ohne  Widersprach  den 
deutschen  Ursprung  des  Wortes ;  dass  auch  seine  Bedeutung  uns  eigenthiimtich 
ist,  geht  daraus  herror,  dass  unser  eines  Wort  für  so  manche  lateinische  Be- 
gaffe ausreichen  musste  und  dass  es  in  seinem  öigentUchen  Sinne  von  aXv^fftm 
grundverschieden  ist,  da  dieses  von  alvog  herkommt,  in  den  Begriff  der  Fa* 
bei  und  bildlichen  Rede  zurückgeht,  während  im  Worte  Räthsel  der 
Begriff  einer  Aufgabe  und  Auflosung  liegt.  Der  alvog  sagt  etwas  Bild- 
liches und  meint  etwas  Wirkliches,  das  Räthsel  enthält  nur  die  wirklichen 
Bigenschaften  eines  Dinges,  ohne  Bildlichkeit.  Dem  griechischen  Wort  und 
Begriff  sind  die  Römer  gefolgt  und  von  diesen  ist  das  Wort  lenigma  tu  allen 
romanischen  Völkern  gekommen.  Hätten  die  Deutschen  dafür  nichts  Ei^en* 
thümliches  gehabt,  so  würden  sie  w^ol  auch  die  römische  Benennung  angenom* 
men  haben,  wie  sie  das  für  andere  Gegenstände  gethan,  die  sie  erst  durch  die 
Römer  kennen  lernten  wie  Kreuz  von  cruz,  segnen  von  signare,  Mauer  von 
murus,  Ziegel  von  tegula  und  hundert  andere.  Die  deutsche  Benennung  ist 
auch  darin  eigenthümlich,  dass  die  Formen  rätisea,  ratiscon,  rätische,  rättcbe, 
rätersche  durch  die  Ableitung  —  isc  ein  persönliches  Wesen  Rath  vor- 
aussetzen, gleichsam  eine  persotM  divinairiXj  was  in  der  griechischen  Vor- 
stellung nicht  liegt.^ 

2)  Mone  Anzeiger  7.  Jahrg.  Sp.  258—268;  371—582.  8.  Jahrg.  Sp.  317 
bis  320;  femer  Maßmann  (mit  vielen  Druekfehlem,  wie  bei  ihm  gewöhnlich) 
2.  Jahrg.   Sp.  236—240. 

3)  MeinerVs  Fylgie  8.  284  ff. 


233 


Erst  zu  Anfange  de«  16.  Jahrb.  fing  man  an,  die  Käthsel 
zu  sammeln  und  gleich  unter  gewisse  Rubriken  zu  bringen. 
Die  älteste  bisher  bekannte  Sammlung  ist  die  unter  folgendem 
Titel  erschienene: 

Welchem  an  Kurtzweil  thet  zerrinnen. 
Mag  wol  dis  Bfichlin  durchgr&nde. 
Er  findt  darin  vil  kluger  ler. 
vö  retersch  gedieht  vnd  vil  nuwer  mer. 

Straßburg  ohne  Drucker  1519.  24  Blatter  in  4».  So  bei  Ebert. 
Bibliogr.  Lexikon  Nr.  24026.  —  Eine  andere  Ausgabe  Straßb- 
o.  J.,  nur  22  Blätter  stark,  befand  sich  in  einer  Klosterbiblio- 
thek, s.  Helmschrott,  Typographische  Incunabeln  der  BibL  des 
Stifts  St.  Mang  in  Fueßen  2.  Th.  (1790)  S.  70. 

Dies  Büchlein  wnrde  die  Hauptquelle  fiir  alle  übrigen 
Räthselsammlungen.  Leider  hat  selten  jemand  alle  noch  vor- 
handenen Exemplare  beisammen,  um  ermitteln  zu  können, 
in  welchem  Verhältnisse  die  spätem  Drucke  zu  diesem  ersten 
stehen.  Das  steht  jedoch  vorläufig  fest:  diese  Sammlung  von 
1519  wurde  fleißig  nachgedruckt.  Der  älteste  mir  vorge- 
kommene Nachdruck  ist  der  von  mir  bereits  früher  besprochene 
im  Aufsess-Moneschen  Anzeiger  1833.  Sp.  310 — 312.  y^Das 
Reterbüchlein  ff.  Getruckt  zu  Franckfiirt  am  Mayn,  Durch  Ni- 
colaum  Basse,  vnnd  Sigmund  Feyrabend,  im  Jar  M.  D.  LXU.^ 
8^.  Ein  gldichzeitiger  ist  der  in  Wolfenbüttel  befindliche  Köl- 
ner, 332  Bäthselfiragen  enthaltend: 

Das    Reter- 
büchlein. 
Welchem  an  kurtzweil  thut  zerrinnen, 
Mag  wol  dis  Büchlein  durch  gründe 
*  Er  find  darinnen  viel  kluger  lehr. 

Von  Reter  gedieht  vnd  newer  mehr. 

Jetzt  von  newem  in  Track 

verfertigt. 

(Holzschnitt) 

Gedrückt  zu  Collen  vor  Sanct  Lupus. 

«ö.     40  bez.  Blätter. 

1.  Rath.     Ich  sähe  drei  Starker,  waren  groß, 
Ihr  Arbeit  was  ohn  Unterlaß. 


232 


rätische,  raetische,  raetsche,  raetelnisse,  raedilse,  und 
im  15.  Jahrhundert  retsche,  redersch.  Im  16.  bleibt  das 
letzte,  wird  aber  meist  rettersche,  redtersche  geschrieben, 
daneben  gibt  es  auch  ein  räterle.  Im  17.  Jahrh.  kommt 
noch  ratersch  vor.  Unsere  jetzige  Form:  Räthsel  machte 
sich  bald  geltend  und  wurde  endlich  allgemein.  Schon  die  Vo- 
cabularien  des  15.  Jahrh.  haben  ratsal,  retzel.  Dazu  stimmt 
denn  auch  das  mittelniederländische  raetsel,  gheraeisel  und 
das  angelsächsische  rädels,  rädelse. 

Alle  diese  Benennungen  sind  Beweise  genug,  dass  die  Sache 
alle  Jahrhunderte  hindurch  vorhanden  war  *).  Trotzdem  sind 
unsere  Räthsel  noch  nicht  in  den  Kreis  wissenschaftlicher  For- 
schung gezogen  worden.  Man  hat  sich  begnügt,  aus  alten 
Handschriften  und  allerlei  Büchern  Räthsel  mitzutheilen  ^).  Aber 
schon  aus  diesem  kleinen  Vorrathe  ergibt  sich,  dass  die  mei- 
sten Räthsel  sich  von  Jahrhunderten  her,  oft  sogar  in  derselben 
Fassung,  fortpflanzten  und  manche  sogar  noch  im  Munde  des 
Volkes  fortleben  "). 


1)  Mono  bemerkt  sehr  richtig  (Anzeiger  8,  232): 

«Der  Beichthum  der  Formen,  ihre  Verbreitang  durch  alle  deutschen  Mundar- 
ten, ihr  Alter  und  fortwährender  Qebrauch  beweist  ohne  Widerspruch  den 
deutschen  Ursprung  des  Wortes ;  dass  auch  seine  Bedeutung  uns  eigenthümlioh 
ist,  geht  daraus  hervor,  dass  unser  eines  Wort  für  so  manche  lateinische  Be- 
griffe ausreichen  musste  und  dass  es  in  seinem  6igentlicheii  Sinne  von  atytffta 
grundverschieden  ist,  da  dieses  von  alyog  herkommt,  in  den  Begriff  der  Fa« 
bel  und  bildlichen  Rede  zurückgeht,  während  im  Worte  Räthsel  der 
Begriff  einer  Aufgabe  und  Auflosung  liegt.  Der  ajyog  sagt  etwas  Bild- 
liches und  meint  etwas  Wirkliches,  das  Räthsel  enthält  nur  die  wirklichen 
Bigenschaften  eines  Dinges,  ohne  Bildlichkeit.  Dem  griechischen  Wort  und 
Begriff  sind  die  Römer  gefolgt  und  von  diesen  ist  das  Wort  lenigma  ra  allea 
romanischen  Völkern  gekommen.  Hätten  die  Deutschen  dafür  nichts  £i^e»- 
thümliches  gehabt,  so  würden  sie  wol  auch  die  römische  Benennung  angenom- 
men haben,  wie  sie  das  für  andere  Gegenstände  gethan,  die  sie  erst  durch  die 
Römer  kennen  lernten  wie  Kreuz  von  crux,  segnen  von  signare,  Mauer  von 
murus,  Ziegel  von  teg^a  und  hundert  andere.  Die  deutsche  Benennung  ist 
auch  darin  eigenthümlich,  dass  die  Formen  rätisea,  ratiscon,  rätiache,  rätiohe, 
rätersche  durch  die  Ableitung  —  isc  ein  persönliohei  Wesen  Rath  vor- 
aussetzen, gleichsam  eine  persona  divinairiXj  was  in  der  griechischen  Vor- 
stellung nicht  liegt.^ 

2)  Mone  Anzeiger  7.  Jahrg.  Sp.  258—268;  371—382.  8.  Jahrg.  Sp.  317 
bis  320;  femer  Maßmann  (mit  vielen  Druekfehlem,  wie  bei  ihm  gewöhnlich) 
2.  Jahrg.   Sp.  235—240. 

3)  Meinert  8  Fylgie  8.  284  ff. 


233 


Erst  zu  Anfange  de«  16.  Jahrb.  fing  man  an,  die  Käthsel 
zu  sammeln  und  gleich  unter  gewisse  Rubriken  zu  bringen. 
Die  älteste  bisher  bekannte  Sammlung  ist  die  unter  folgendem 
Titel  erschienene: 

Welchem  an  Kurtzweil  thet  zerrinnen. 
Mag  wol  dis  Bfichlin  durchgr&nde. 
£r  findt  darin  vil  kluger  1er. 
v5  retersch  gedieht  vnd  vil  nuwer  mer. 

Straßburg  ohne  Drucker  1519.  24  Blatter  in  4».  So  bei  Ebert. 
Bibliogr.  Lexikon  Nr.  24026.  —  Eine  andere  Ausgabe  Straßb* 
o.  J.,  nur  22  Blätter  stark,  befand  sich  in  einer  Klosterbiblio- 
thek, s.  Helmschrott,  Typographische  Incunabeln  der  BibL  des 
Stifts  St.  Mang  in  Fueßen  2.  TL  (1790)  S.  70. 

Dies  Büchlein  wurde  die  Hauptquelle  für  alle  übrigen 
Räthselsammlungen.  Leider  hat  selten  jemand  alU  noch  vor- 
handenen Exemplare  beisammen,  um  ermitteln  zu  können, 
in  welchem  Verhältnisse  die  spätem  Drucke  zu  diesem  ersten 
stehen.  Das  steht  jedoch  vorläufig  fest:  diese  Sammlung  von 
1519  wurde  fleißig  nachgedruckt.  Der  älteste  mir  vorge- 
kommene Nachdruck  ist  der  von  mir  bereits  früher  besprochene 
im  Aufsess-Moneschen  Anzeiger  1833.  Sp.  310 — 312.  y^Das 
Reterbüchlein  ff.  Getruckt  zu  Franckiurt  am  Mayn,  Durch  Ni- 
colaum  Basse,  vnnd  Sigmund  Feyrabend,  im  Jar  M.  D.  LXU.^ 
80.  Ein  gldichzeitiger  ist  der  in  Wolfenbüttel  befindliche  Kol- 
ner, 332  Bäthselfiragen  enthaltend: 

Das    Reter- 
büchlein. 
Welchem  an  kurtzweil  thut  zerrinnen, 
Mag  wol  dis  Büchlein  durch  gründe 
*  Er  find  darinnen  viel  kluger  lehr. 

Von  Reter  gedieht  vnd  newer  mehr. 

Jetzt  von  newem  in  Track 

verfertigt. 

(Holzschnitt) 

Gedrückt  zu  C611en  vor  Sanct  Lupus. 

««.     40  bez.  Blätter. 

1.  Rath.     Ich  sähe  drei  Starker,  waren  groß, 
Ihr  Arbeit  was  obn  Unterlaß. 


234 


Der  ein  sprach:  ich  wollt  dass  es  Nacht  war! 
Der  ander:  des  Tages  ich  begehr. 
Der  dritt:  es  sei  Nacht  oder  Tag, 
Kein  Ruh  ich  haben  mag. 

Antwort.    Die  Sonn,  der  Mond  und  der  Wind. 

2.  Rath.     Von  wann  gehet  jedes  Ding  und  wohin  gehet  es? 
Antwort.    Aus  der  Jugend  in  das  Alter. 

2.*"    Es  schickt  ein  Ritter  über  Rhein 
Der  liebsten  Frauen  sein 
Guten  Wein  ohn  Glas 
Und  ohn  alle  ander  Trinkfass: 
Rath,  worein  der  Wein  was? 

Antwort.      Er  schickt  ihr  Trauben,  darein  hätt  sie  den  Wein. 

3.  Rath.    Etwas  ist  nichts  und  nichts  ist  etwas;  so  nu  nichts 

etwas  ist,  muss  etwas  nichts  sein. 

Antwort.  Der  Schatten  von  der  Sonnen  oder  eines  Lichtes  ist 
ein  Schein  eines  Dinges  und  ist  doch  an  ihm  selbs 
nichts. 

4.  Rath.    Was  hat  seinen  Busen  voll  Stein 

Und  wird  gefunden  selten  allein, 

Hat  auch  ein  rothes  Röcklein  an, 

Thät  mannichem  nichts,  ließ  man  es  stan? 

Antwort   Dotlen  oder  Hiefen  (Hagebutten,  Frucht  der  wilden 
Rose). 

5.  Rath.     Seit  das  p  gehet  iiir  das  g. 

Und  das  u  für  Jas  t. 
So  hat  das  u  und  das  p  solche  Macht, 
Dass  man  weder  g  noch  t  acht 
Antwort.    Das  p  bedeutet  den  Pfenning,  das  g  Gott,  das  u 
Untreu,  das  t  Treu. 

6.  Rath.    Was  ist  das,  es  gehet  Alles  darein? 
Antwort.    Das  Alter. 

7.  Rath.     So  du  es  siebest,  so  lässt  du  es  liegen; 

siebest  du  es  nicht,  so  hebst  du  es  auf. 

Antwort.    Das  Loch  an  einer  Haselnuss. 


235 


8.  Ein  Frag.    Welches    Handwerk   am    wenigsten   vergebens 

arbeit? 

Antwort.  Die  Maler:  so  er  einen  Engel  verderbt,  macht  er 
einen  Teufel  aus  demselbigen. 

9.  Rath.     Der  es  macht,  der  bedarfs  nicht; 

der  es  kauft,  der  will^s  nicht,  und 
der  es  braucht,  der  weiß  es  nicht. 

Antwort.    Eine  Todtenbahre  (oder  vielmehr:  der  Sarg). 

10.  Ein  Frag.    Warum  die  Störche  nicht  auf  die  Mühle  nisten? 
Antwort.    Sie  furchten,  die  Müller  stehlen  ihnen  die  Eier. 

11.  Rath.    Ein  Baum  hat  zwölf  Äst, 

Und  jeglicher  Ast  hat  vier  Nest, 
Und  in  jeglichem  Nest  sieben  Junge, 
Der  hat  jeglicher  seinen  Namen  besunder. 

Antwort.  Das  Jahr  hat  12  Monat,  die  Monat  vier  Wochen, 
die  Wochen  ihre  Tage. 

12.  Rath.    In  welchem  Land  kein  Pferd  sind? 
Antwort.   In  Schwabenland,  da  sind  Ross. 

13.  Rath.    Welches  die  stärksten  Buchstaben  sind? 

Antwort.  Das  O  und  das  E:  mjt  dem  O  hält  einer  Wagen 
und  Pferd,  das  E  bindt  zwei  Menschen  zusammen, 
dieweil  sie  leben. 

Über  andere  Räthselsammlungen  künftig  einmal. 


XIII. 


EIN    LIEBESBRIEF. 


MITGKTHEILT 


VOM 


H.  V.  F. 


Im  13.  Jahrhundert  pflegte  man  Liebesbriefe  anf  langen  schma- 
len Pergamentstreifen  zu  schreiben,  die  dann  zusammengerollt 
und  wahrscheinlich  mit  einem  seidenen  Fädchen  zugebunden 
abgeschickt  wurden.  Zu  Boten  derselben  dienten  diejenige, 
die  um  das  Liebesgebeimniss  wussten,  wie  noch  heutiges  Ta* 
ges.  Der  Liebende  war  auch  wol  selbst  Überbringen  H  ad- 
le üb  schlich  als  Pilger  verkleidet  seiner  Geliebten  nach,  die 
eben  aus  der  Frühmette  kam,  und  heftete  ihr  vermittelst  eines 
Häkchens  einen  solchen  Brief  verstohlen  an  ihr  Gewand.  Er 
erzählt  das  selbst  in  einem  seiner  Lieder,  in  dem  ersten  der 
sogen.  Manessischen  Sammlung  (bei  Bodmer  2,  185). 

Ach  mir  was  lange  nach  ir  s6  we  gesln, 

da  von  dähte  ich  vil  ange,  dag  ir  dag  wurde  schln. 

ich  nam  ir  ahte  in  gewande  als  ein  pUgerin, 

so  ich  heinlichste  mähte,  dö  si  gienc  von  mettin. 

dö  hate  ich  von  sender  klag 

einen  brief,  dar  an  ein  angel  was, 

den  hienc  ich  an  si,  dag  was  vor  tage, 

dag  si  niht  wisse  dag. 

Auch  im  14.  und  15.  Jahrhundert  erhielt  sich  dieselbe  Sitte. 
Ein  langes  Pergamentstreifchen  mit  einem  Liebesbriefe  um  1360 
ist  (von  Docen)  mitgctheilt  und  erläutert  im  Morgenblatt  1815. 


237 


S.  665.  666.  (später  von  Maßmann  urkundlich  im  Aufsess.  An- 
zeiger 1833.  Sp.  39.  40.)  Dass  man  zu  der  poetischsten  An- 
gelegenheit des  Lebens  sich  der  Poesie  bediente,  yersteht  sich 
von  selbst.  Auch  ijn  15.  Jahrhundert  sind  die  Liebesbriefe, 
die  sich  erhalten  haben,  gereimt  oder  doch  wenigstens  assonie- 
rend:  man  sehe  den  vom  J.  1463  im  Morgenblatt  1819,  S.  239; 
einen  andern,  nicht  jungem  aus  dem  Konigsberger  Archive  in 
den  Beitragen  zur  Kunde  Preußens  5.  Bd.  (Konigsb.  1822)  S. 
182  ff;  femer  die  beiden  einer  Papierhandschrift  aus  dem  Auf. 
des  16.  Jahrh.  in  Mone^s  Anzeiger  7,  552. 

Wenn  wir  alle  diese  Briefe  vergleichen,  so  finden  wir  in 
Worten  und  Oedanken  viele  Übereinstimmung.  Es  lag  also 
allen  wol  ein  im  ganzen  Volke  traditionell  erhaltenes  Brief- 
muster zum  Grunde,  wenigstens  waren  gewisse  Bilder  und  Ge- 
danken so  stet  geworden,  dass  sie  immer  wieder  verwendet 
wurden.  Der  Art  sind  die  gelegentlichen  Aufzeichnungen,  wie 
sie  in  Handschriften  und  auf  Vorsetzblättern  vorkommen: 

Ich  wünschen  dir  ein  gäte  nacht, 

von  rosen  ein  dach, 

von  gilgen  ein  bett, 

von  musgat  ein  tür, 

von  neglein  ein  rigel  darfiir.*) 

Got  geb  euch  ein  gute  nacht, 

von  rosen  ein  dach, 

von  lilgen  ein  bett, 

von  veiel  ein  deck, 

von  muscat  ein  tür, 

von  negelein  ein  rigelein  darfuri 

got  geb  euch  ein  korblein  mit  rosen, 

ich  ein  halbe  nacht  mit  euch  zu  kosen,  **) 

In  dem  „puelbrief'  (Pp.  Hs.  aus  dem  Anfange  des  16.  Jahrh. 
Mone  Anzeiger  7,  552)  lauten  diese  Zeilen  also: 

dan  geb  dir  got  ein  gute  nacht 
und  von  lilgen  ein  dach, 


*)  Mone  Anzeiger  3,  290. 

**)  Anfsess  Anzeiger  1S33,  Sp.  74. 


238 

und  von  baisam  ein  wolgeschmach, 
und  von  cypressen  ein  kemmerlein, 
und  von  neglein  ein  betstatt  darein, 
und  von  lilien  ein  bett,  *  • 

und  von  wolgeniut  ein  deck 
und  mit  roten  rosen  wol  umbsteckt. 

Wie  die  alten  Briefe  unter  einander  übereinstimmen,  so 
auch  nun  Tviederum  mit  jenen  die  neuen,  nämlich  jene  volks- 
thümlichen,  wie  sie  noch  vor  zwanzig  Jahren  „gedruckt  in  die- 
sem Jahr^  auf  allen  Jahrmärkten  und  Kirchweihen  feilgeboten 
wurden.  Um  dies  noch  anschaulicher  zu  zeigen,  möge  hier  ein 
alter  Buhlbrief  aus  der  zuletzt  erwähnten  Handschrift  folgen: 

Gruß  in  grüß  verschlossen, 

mit  steter  lieb  umbgossen, 

var  hin  du  edles  briefclein, 

gr&ß  mir  die  allerliebsten  mein 

und  gr&ß  mirs  nit  von  mund  allein,*) 

sunder  von  herzen  schon  und  sag 

ir  vil  guter  tausent  jar  und  tag, 

ich  hoff  sie  vernem  meines  herzen  große  klag. 

wann  euer  roter  munt 
der  tut  mir  liebe  kunt, 
eur  lieplich  angesicht 
mich  tag  und  nacht  anficht, 
und  gr&ß  euch  got  als  oft  und  dick, 
als  maniger  stem  aus  dem  himel  erblickt, 
und  als  manigs  blüemel  entsprießen  mag 
von  Ostern  bis  auf  sant  Jacobs  tag, 
und  laß  euch  got  als  lange  leben 
und  bis  auf  einem  mülstein  wachsen  Weinreben, 
und  must  als  lang  mein  steter  bul  sein 
bis  dieselbigen  reben  tragen  wein, 
nun  gr&ß  dich  got  durch  einen  seiden  faden 
mich  und  dich  in  einem  finstern  gaden.  **) 
ach  got  daß  ich  es  euch  nit  als  verschreiben  mag, 


*)  In  der  Hs.  and  groß  mirs  nit  von  sanden  —  ^^  in  der  Ha.  für  ga- 
den garn. 


239 


das  ist  meines  herzen  große  klag. 

nit  me  dan  spar  euch  got  gesunt, 

bis  daß  ein  has  fecht  einen  hunt. 

datum  gegeben  an  dem  tag  nach  seinem  abent 

von  mir  ungenant,  ich  ho£P  ich  sei  euch  wol  bekant*). 

Von  den  neuern  Liebesbriefen  gibt  es  gewiss  viele  Fas- 
sungen. Zwei  Texte  sind  gedruckt  im  Wunderhom  2,  52  — 
56,  ohne  Angabe  der  Quelle,  nur  bei  dem  ersten  das  ungenü- 
gende ,^us  Franken;^  ein  älterer  vom  J.  1603  in  Büsching^s 
wöchentl.  Nachrichten.  1,  86.  87.  (wiederholt  bei  Erlach  3, 
40 — 42),  und  ein  ganz  kurzer  in  Bragur  1,  283.  (bei  Erlach 

Der  folgende  ist  ein  halber  Bogen  in  4^.  mit  der  Aufschrift: 

iasasasasBSHsasEBasasBsasasBSBSB 

Dieses  kleine 

Briefele 

kommt  an  die 

Herzallerliebste  mein 


^  In  dem  anderen  Liebesbriefe  derselben  Handschrift  laatet  der  Schlass  also : 

and  gr&ß  dich  got  als  oft  und  dick 

als  maniger  stem  ans  dem  himel  blickt, 

und  als  maniges  blüemel  entsprießen  mag 

von  Ostern  bis  auf  sant  Jacobs  tag. 

und  grhQ  dich  got  durch  ein  hant  toI  seiden: 

ich  wil  alle  frischen  freien  herzen 
Yon  deiner  wegen  meiden. 

grfiß  dich  got  durch  ein  hant  vol  gerstenkom: 

sag  mir  herzlieb  sein  mein  dienst  angelegt 
oder  sein  sie  gar  verlorn? 

und  gr&ß  dich  got  durch  ein  seiden  faden 

mich  und  dich  in  einem  finstem  gaden. 

und  bist  du  als  frum  und  als  bider, 

schick  mir  herzigs  herz  ein  fruntlichen 
grüß  herwider. 

nit  mer  dan  spar  dich  got  gesimt 

bis  ein  has  gilt  hundert  pfunt. 
Die  ersten  Zeilen  haben  Ähnlichkeit  mit  der  16 — 18.  Strophe  in:     Es  stond 
eine  Lind'  im  tiefen  Thal,  Nr.  22  meiner  Schles.  Volkslieder. 


240 


Der  ^Zensur -Stempel  des  K.  P.  Polizei -Präsid.   zu  Cöln* 
weist  auf  die  Heimath  des  Druckes  hin. 
Der  Wohlbekannten,  Herzliebgenannten, 
Der  Schonen  und  Feinen,  der  Zarten  und  Keinen, 
Der  Wohlgestalten  und  Frommen 

soll  dieser  Brief  zu  Ehren  kommen. 
Wenn  es  ihr  geht  noch  glücklich  und  wol, 
So  ist  mein  Herz  ganz  freudenvoll. 
Nun  schwing  dich,  Feder,  Dinten  und  Papier 
Und  schreibe  nach  meines  Herzens  Begier, 
Schreib  mir  ein  kleines  Briefelein 
Zu  der  Herzallerliebsten  mein. 
Verkündige  ihr  einen  freundlichen  Gruß 
Vom  Haupte  an  bis  auf  den  Fuß. 
Sage  ihr  auch  mündlich  dabei, 
Dass  sie  mir  nächst  Gott  die  Liebste  sei. 
Ja  grüß  sie  mir  so  oft  und  dick 
So  mancher  Stern  am  Himmel  blickt. 
So  manches  Blümlein  wachsen  mag 
Von  Ostern  bis  Michaelistag, 
So  viel  als  Gras  wird  abgemäht. 
So  viel  als  Korn  wird  ausgesä% 
So  viel  als  Blüh  herfür  thut  schießen. 
Noch  viel  mehr  thu  mir  sie  begrüßen. 
Griiß  sie  nicht  nur  mit  dem  Mund, 
Sondern  aus  rechtem  Herzensgrund. 
Nun  will  ich  von  dem  abelahn 
Und  will  was  anders  fangen  an. 

Ach  Hinunel,  was  müssen  die  doch  leiden 
Die  sich  lieb  haben  und  müssen  von  einander  bleiben, 
Und  dürfens  doch  niemand  klagen 
Was  sie  für  Leid  in  ihrem  Herzen  tragen! 
O  Roselein  roth,  o  Blümelein  weiß. 
Du  bist  meines  Herzens  Paradeis. 
Fürwahr,  ich  lieb  dich  aus  der  Maßen, 
Und  darf  es  doch  nicht  merken  lassen. 
(Denn  gottesfurchtig,  keusch  und  züchtig  dabei 
Ist  auch  den  Jungfern  die  schönste  Livrei. 
Auch  Kochen,  Waschen,  Stricken  und  Nähn 
Thut  den  Mädchen  sehr  wohl  anstehn.) 


241 


Mein  Herz  hat  dich  mir  auserkoren 

Für  andre  Jungfrauen  hochgeboren, 

Denn  keine  ist  auf  dieser  Welt, 

Die  meinem  Herzen  sonst  gefallt. 

Du  liegst  mir  in  mein  Herz  begraben. 

Geschrieben  mit  sechs  goldnen  Buchstaben: 

Die  erste  heißt  lieb,  die  zweite  zart, 

Die  dritte  liebgeboren  hat. 

Die  vierte  ist  ganz  silberschön, 

Ach  könnte  ich  dich  täglich  sehn! 

Die  fünfte  ist  von  Perlen  fein. 

Ach  könnt'  ich  immer  bei  dir  sein! 

Die  sechste  ist  von  Samjuet  und  Seiden: 

Du  musst  andre  Junggesellen  meiden 

Und  mein'  Herzallerliebste  bleiben! 

Willst  du  denn  mein  Herz  erkennen, 

So  werd  ich  meinen  Schatz  dich  nennen. 

So  sollst  du  denn  mein  Liebste  bleiben, 

Bis  ein  Wagen  das  fUd  thut  treiben, 

Bis  ein  Krebs  Baumwolle  spinnt. 

Bis  ein  Licht  den  Schnee  anzündt. 

Bis  ein  Low  im  Kasten  fliegt. 

Bis  ein  Muck  ein  Fuder  Wein  wegzieht. 

Bis  der  Hahn  auf  der  Kirchen  lebet. 

Und  der  Thurm  zu  Straßburg  in  den  Lüften  schwebet, 

Bis  dass  mein  Herz  findt  Honigseim, 

Und  aus  den  Felsen  springt  der  Wein, 

Bis  Weintrauben  auf  den  Disteln  stehn 

Und  die  Kieselsteine  vergehn. 

Bis  dass  ein  Mühlstein  schwimmt  über  den  Rhein: 

So  lang  sollst  du  mein  Liebste  sein. 

So  wünsch'  ich  dir  indessen  so  viel  gute  Zeit, 

Als  Sandkörner  am  Meere  sein. 

Von  Gold  bald  ein  Kränzelein, 

Von  Sammet  ein  Bettelein, 

Von  Silber  eine  Thür, 

Von  Muscaten  eine  Riegel  dafür. 

Von  Edelgestein  eine  Schwell, 

Und  mich  zu  deinem  Schlafgesell. 

Meine  Lieb  soll  nicht  weichen  ab. 


242 


Bis  man  mich  legt  in  das  Grab. 

Niemand  soll  mich  von  dir  scheiden  mit  großer  Noth, 

Bis  uns  scheidet  der  bittre  Tod, 

Denn  ohne  dich  kann  mir  auf  Erden 

Nie  ein  frohes  Leben  werden. 

Du,  o  Freundin,  nur  allein 

Sollst  mein  Wunsch  und  Alles  sein. 

Hiemit  schließt  ich  mein  Gedicht, 
Ich  hoflF,  du  wirsts  verachten  nicht. 
Ich  will  mich  nicht  mit  Namen  nennen, 
Ich  glaub,  du  wirst  mich  doch  wol  kennen. 
Fahr  hin,  du  kleines  Briefelein, 
Grüß  mir  die  Herzallerliebste  mein. 
Verkündige  ihr  noch  einen  freundlichen  Gruß. 
Welcher  geschrieben  steht  auf  einem  Nachtigallsfiiß 
Und  auf  einem  jeden  Klauen 
Stunden  viele  tausend  Jungfrauen, 
Unter  diesen  allen  hat  mir  sonst  keine  gefallen 
Als  der  ich  das  Briefelein  hab  zugeschrieben 
Die  thu  ich  aus  Grund  des  Herzens  lieben 
Und  will  sie  mein  Lebtag  nicht  betrüben. 

Nun  Briefelein  eile  dich  geschwind  und  sei  behende, 
Lass  dich  empfangen  schneeweiße  Hände, 
Fahr  nicht  zu  hoch  und  nicht  zu  nieder! 
Bring  mir  eine  fröhliche  Botschaft  wieder! 

Mit  rechter  Treu  und  Glauben  fein 
Sollst  du  von  mir  besiegelt  sein. 

Geschrieben  im  Jahr 
Da  ich  losledig  war. 


DER  TABAK 

IN  DER  DEUTSCHEN  LITTERATUR. 

Von  H,  V.  F. 

Der  Tabak  hat  eine  weltgeschichtliche  Bedeutung.*)  Jeder 
muss  ihm  das  zuerkennen,  ganz  einerlei,  ob  er  ihn  für  gesund 
oder  schädlich  hält,  ihn  liebt  oder  verabscheut. 

Der  Tabak  hat  bald  nach  seinem  Bekanntwerden  auch  in 
Deutschland  eine  große  Bedeutung  erlangt:  seit  länger  als  200 
Jahren  ist  er  ein  Lieblingsgenuss  der  Jünglinge  und  Männer, 
eine  nothwendige  Zugabe  aller  Gesellschaften,  ein  eigener  Zweig 
des  Erwerbs  und  Handels,  ein  Gegenstand  polizeilicher  Be- 
rücksichtigung, ja  sogar  eine  Finanzquelle. 

Wie  alle  neuen  Erfindungen  und  Entdeckungen  mehr  oder 
minder  auf  das  materielle  und  geistige  Leben  eines  Volkes  ein- 
wirken, so  finden  wir  auch,  dass  der  Tabak  in  Deutschland  als 
ein  wichtiges  Ereigniss  nach  allen  Seiten  hin  sich  geltend 
machte  und  auch  auf  unsere  geistigen  Bestrebungen  und  Lei- 
stungen von  sichtlichem  und  nachihaltigem  Einflüsse  war.  Es 
gibt  einen  Zeitraum  in  unserer  schönen  Litteratur,  etwa  von 
1690  bis  1730,  wo  jedes  Blatt  nach  Tabak  riecht. 

Um  dies  in  der  Kürze  darzutbun,  scheint  mir  nicht  nothig, 
die  ganze  Geschichte  des  Tabaks,  wie  er  sich  allmälig  in  Eu- 
ropa verbreitet  hat,  herzuerzahlen.  Darüber  sind  Abhandlungen 
und  Bücher  genug  geschrieben.  Da  ich  mich  auf  Deutschland 
überhaupt  nur  beschränke,  so  darf  genügen,  das  Bekanntwerden 
'  des  Tabaks  und  die  allmälige  Verbreitung  des  Tabakrauchens 
kurz  zu  berichten. 


*)  So  dachte  anch  ;9chlözer,  BrieiVechsel  3.  Th.  S,  153. 
WeinuNT,  Jb,  IL  lg 


244 


Adolf  Occo,  Stadtphysicus  zu  Augsburg  (f  1606)  erhielt 
Tabakspflanzen  und  Blätter.  Diese  schickte  ohne  Namen  und 
Beschreibung  ein  Menuninger  Arzt,  Johann  Funck,  an  seinen 
Schwager,  den  berühmten  Conrad  Gesner  in  Zürich.  Gesner 
erkannte  sie  für  Tabak  und  schrieb  darüber  im  November  1565 
an  seine  Freunde. 

Das  Tab^rauchen  wurde  erst  später  in  Deutschland  be- 
kannt. Wahrscheinlich  ward  es  durch  die  englischen  Soldaten, 
welche  1620  dem  Pfalzgrafen  Friedrich  zu  Hülfe  geschickt  wur- 
den, in  Deutschland  bekannt  und  verbreitet. 

Diese  2000  Mann  kamen  im  Juli  1620  in  die  Lausitz  und 
brachten  das  Tabakrauchen  mit.  *)  Sie  hatten  ihren  Weg  durch 
Holland  genommen  und  scheinen  dort  NachahmPi-  ihrer  Rauch- 
kunst gefunden  zu  haben.  Zu  Anfange  der  zwanziger  Jahre 
des  17.  Jahrhunderts  sang  man  in  den  Niederlanden  bereits  ein 
Lied  auf  den  Tabak.  Der  Anfang  desselben  steht  zur  Bezeich- 
nung der  Melodie  in  einem  Liederbuche  von  1626.**)  Es  ist 
das  älteste  Tabakslied  und  lautet  nach  einem  Liederbuche  von 
1635  abo: 

1.  Is  ^er  iemand  uit  Oostindien  gekomen 
die  'er  wat  van  weet? 

heeft  hy  daer  niet  van  den  toebak  vemomen? 
geeft  my  bescheedl 

is  hy  wel  goed  voor  's  menschen  bloed? 
of  hy  deugd  doet?  zegt  het  my  vroedl 

2.  AI  de  vroukens  zyn  'er  zeer  vileinig 
tegen  den  toebak, 

en  zy  achten  zyn  deugd  zeer  weinig, 
geven  hem  een  lak: 

zy  zeggen  'er  van,  dat  daardoor  de  man 
verdroogen  kan  —  is  daer  iet  van? 
3«    Zou  de  toebak  kunnen  doen  verdooven 
der  mannen  vuer? 

d'  Indiaensche  vroukens  hem  wel  gedoogen 
dag  ende  uer. 


*)  J.  B.  CarpzoYÜ  Analecta    fastonun  Zittayiensinm   1.  Th.  8.  MS« 

**)  Nederlandtsche  Gedenck  -  clanck.     Door   Adrianum    Yalerinm.     Tot 
Haerlem  16S6.    4«.    bL  164. 


245 


al  even  koen  haer  mans  daer  doen 
avond  en  noen  't  vrouwensermoen. 

4.  Toebak  drinken  is  een  goed  medecyne: 
stelt  u  te  vree! 

d^  asschen  is  goed  voor  de  tandepyne, 
wryft  ze  daer  mee! 
ZOO  is  den  rook  voor  den  man  ook, 
al  is  ^t  maer  smook,  beter  dan  look. 

5.  Alle  dingen  doet  in  goede  malen 
naer  's  wyfs  bevell 

al  te  veel  waer'  zeker  gelaien, 
dat  weten  wy  wel. 

ZOO  drinkt  dan  hier  naer  uw  pleizier 
een  pyp  of  vier  by  wyn  of  bierl 

9  1,  6.  yroed  zeggen,  kundthun  —  2,  1.  vi  lein  ig,  garstig,  aufgebracht, 
da«  frz.  Tilain  —  2,  4.  lak  gereii,  eins  anhängen  —  3,  !•  verdooven, 
dampfen,  schwächen  —  3,  2.  gedoogen,  erlauben  —  4.  1.  toebak  drin- 
ken, so  auch  bei  uns  früher  und  noch  jetzt  in  vielen  Gegenden  des  Südens, 
im  baier.  Gebirge  (Schmeller  Wb.  1,  493),  im  badischen  Oberlande  (Heber» 
allemann.  Gedichte).  Wie  wir  jetzt  rauchen  und  schmauchen  sagen ,  so 
die  Holländer  rooken  en  smooken  —  4,  3.  tandepyn,  Zahnschmerz  — 
4,  4.  wrjTen,  reiben. 

Der  churpfalzische  Rath  und  Abgesandte  im  Haag,  Job. 
Joachim  von  Rusdorff  (geb,  1589.  f  1640),  mochte  in  Hol- 
land zuerst  das  Tabakrauchen  kennen  gelernt  haben.     In  seiner 
„Metamorphosis  Europae^  vom  J.  1627  beschreibt  er  es  also:*) 
*Ich  kann    nicht    umhin    mit  einigen  Worten  jene   neue  er- 
staunliche und  vor  wenigen  Jahren  aus  America  nach  unserm 
Europa  eingeführte  Mode  zu  tadeln,   welche  man  eine  Sau- 
ferei des  Nebels  nennen  kann,  die  alle  alte  und  neue  Trink- 
leidenschaft übertriflft.    Wüste  Menschen  pflegen  nämlich  den 


*)  8.  seine  gesammelten  Schriften :  Consilia  et  negotia  politica  p.  284. 
Habent  siphuncnlos  canaliculatos,  ex  argilla  Candida  dactos,  qni  ea  parte,  qua 
immittuntor  ori,  in  conum  desinont,  in  altera  eztremitate  orificium  est  nucis 
avellanae  magnitudine,  in  quod  plantae  nicotianae  folia  siccata,  minutim  con- 
cisa,  vel  suffriata  inferciont  et  stipant,  deinde  carbone  vel  qaolibet  igniario 
fomite  et  siifflatn  accendunt,  siphunculum  primoribus  labris  accipiunt,  et  dnctim 
sorbillando  et  pitissando  nebulas  intra  dentes  et  bnccas  attrahunt,  quas  his  ad 
tnmorem  naqne  repletis  per  os  et  per  nares  itemm  emittunt,  et  tanquam  sae- 
yam  foetore  cuncta  replentem  mephitim  ezhalant. 

16* 


246 


Rauch  von  einer  Pflanze,  die  sie  Nicotiana  oder  Tabak  nen- 
nen, mit  unglaublicher  Begierde  und  unerloschlichem  Eifer 
zu  trinken  und  einzuschlürfen,  was  sie  folgendermaßen  thun: 
Sie  haben  hohle  Rohrlein  von  weißem  Thon,  die  an  dem 
Theile,  wo  sie  in  den  Mund  gesteckt  werden,  spitz  zulaufen; 
an  dem  anderen  Ende  ist  ein  Ansatz  im  Umfange  einer  Wall- 
nuss,  worein  sie  die  gedörrten  Blätter  der  Pflanze  Nicotiana 
klein  geschnitten  oder  zerkrümelt  stopfen,  dann  mit  einer 
Kohle  oder  irgend  einem  brennenden  Zunder  und  Daraufbla- 
sen anstecken,  das  Rohrlein  vorn  zwischen  die  Lippen  neh- 
men und  zugweise  mit  Schlurfen  und  Spucken  den  Rauch 
zwischen  Zähne  und  Backen  einziehen,  und  wenn  letztere  bis 
zum  Strotzen  davon  voll  sind,  ihn  wiederum  durch  Mund 
und  Nase  von  sich  geben  und  gleichsam  eine  gräuliche  Pest, 
die  Alles  mit  Gestank  erfüllt,  aushauchen.' 

Wir  wollen  nun  sehen,  wie  deutsche  Dichter  und  Prosaisten 
diese  neue  unerhörte  Mode  auffassten  und  besprachen  und  wie 
allmälig  das  was  sie  nicht  genug  zu  verachten  und  zu  be- 
spötteln wussten,  endlich  selbst  ein  Lieblingsgegenstand  poe- 
tischer Behandlung  wurde.  Die  Aussprüche  unserer  Dichter 
und  Prosaisten  haben  einen  doppelten  Werth:  sie  dürfen  zu- 
gleich als  Zeugnisse  für  die  Geschichte  des  Tabaks  in  Deutsch- 
land betrachtet  werden. 

Zuerst  tritt  Wenzel  Scherffer  auf:  in  seinem  Grobianus 
1640.  S.  215  berichtet  er,  was  ihm  ein  guter  Freund  erzählt  haL 

Nun  hat  der  Geier  jetzt  ein  neu  Getränk  erwählet. 
Davon  ein  guter  Freund  mir  unlängst  dies  erzählet. 
Viel  hundert  Jahr  (er  sprach)  hat  Deutschland  seinen  Durst 
Mit  Wein  und  Bier  gelescht,  und  niemands  hat  gethurst 
Ein  ander  Weis^  und  Art  des  Trinkens  mehr  zu  finden. 
Bis  Mars  der  Praler  kam  und  sich  wollt  unterwindeo 
Was  anders  einzuführn.    Denn  als  mit  Raub  und  Brand 
Er  anfing  anzufalln  das  schöne  Böhmerland, . 
Da  war  in  seinem  Heer  ein  fremdes  Volk  vorhanden. 
Das  brachte  mit  sich  aus  den  Menschenfressers -Landen 
Den  stinkenden  Tabak,  zusammen  hübsch  gerollt, 
Dem  war  es  mehr  als  fast  dem  Brote  selber  hold. 
Sprach  jemand  ihme  zu  binn  seinen  Zelt-  und  Hütten, 
So  konnt^  es  keinem  nicht  ein  höher  Ehr^  anbitten 


'    U7 

Als  eine  Pip  Tabue.     Da  musste  man  mit  Dank 

Und  großer  Höflichkeit  annehmen  den  Gestank. 

Ohn  diesen  keiner  sich  begab'  in  sein  Gefieder, 

Und  kam  auch  aus  dem  Pocht'*)  ohn  diesen  keiner  wieder. 

Tabac  war  Brandtewein,  und  durch  den  ganzen  Tag 

War  Abendszeit  und  früh  sein  bester  Trank  Tabac. 

Im  Felde  nicht  allein,  bei  seinem  Winterlager 

Und  wo  es  immerdar  gab  einen  Leuteplager, 

Da  musste  sein  Tabac.     So  war'  es  nicht  zu  faul 

Und  fuhrt'  im  Zuge  selbst  die  Pipe  bei  dem  Maul 

Und  blies  den  Rauch  zur  Höh.     Auch  bei  dem  Wachefeuer 

Gebraucht''  es  immerzu  dies  seltzam  Afientheuer. 

Dass  das  Tabakrauchen  erst  um  diese  Zeit  üblich  ward, 
bestätigt  auch  ferner  folgendes  Verbot  desselben  von  Seiten  des 
Magistrats  zu  Budissin  v.  J.  1651.  (Neue  Laus.  Monatsschrift 
1801.     II.  Th.  S.  252—254): 

'Wir  Bürgermeister  und  Rathmanne  der  Stadt  Budissin  fü- 
gen hiermit  zu  wissen  männiglich,  Demnach  bei  dem  unseligen 
Kriegswesen,  womit  unser  geliebtes  Vaterland  deutscher  Na- 
tion so  viele  lange  Jahre  her  heimgesuchet  worden,  nebenst 
allerhand  eingerissenen  Missbräuchen  und  Unordnungen  auch 
der  schädliche  Gebrauch  des  Tabaks  aufkommen  und  in  Schwang 
gebracht  worden,  welcher  aber  nicht  nur  der  Gesundheit  des 
Menschen  sehr  nachtheilig,  sondern  auch  (nebenst  dem,  dass 
demjenigen,  die  bei  und  unter  dergleichen  Tabakssäufern  sitzen 
sollen,  von  dem  garstigen  Schmauch  und  Rauch,  schändlichem 
Spritzein  und  Auswerfen,  und  heftigem  Niesen  und  Schneuzen, 
und  was  dergleichen  mit  Verlaub  zu  gedenken,  Unflats  mehr 
ist,  nur  allerhand  Verdrießlichkeit,  Unlust,  Beschwer  und 
Grauen  zugezogen  wird,  zu  geschweigen  wie  deren  Kleidung 
von  dessen  übelm  Gestank  durchzogen,  die  Losament  hässlich 
verunsaubert  und  Tisch  und  Bänke  schädlich  verunglänzet  wer- 
den) sonsten  allerlei  Ungelegenheit,  Gefahr  und  Schaden,  wie 
es  die  Erfahrung  leider  an  manchen  Orten  bezeuget,  verur- 
sachet hat,  und  also  großes  Unheil  davon  entstanden  ist,  da 
doch  dergleichen  üppiges  Tabaktrinken  vor  30,  40   und  mehr 


3 


*)  Pocht,   Bocht,    noch  jetzt  schlesisch    iur  Bette,   vgl.  Orimm  Wb. 
,  301. 


248 


Jahren  und  bei  unsrer  Voreltern  Zeiten  ganz  unbekannt  gewe- 
sen, und  sie  dennoch  bei  dem  Trunk  ihre  Lust  und  zulässige 
Ergotzlichkeit  ohne  denselben  gar  wol  haben  können,  auch  zu 
Erhaltung  ihrer  Gesundheit  dieses  unnutzbaren  Mittels  nicht 
ersten  bedurft  und  dahero  auch  ohne  dessen  Gebrauch  gesund 
geblieben,  ja  alt  und  grau  werden  können,  Uns  aber  als  or- 
dentlicher Obrigkeit  zufbrderst  nach  dem  wiedererlangten  Frie- 
den (dafür  Gott  dem  Allerhöchsten  Lob  und  Dank  gesaget 
seil)  obliegen  und  gebüren  will,  was  dergleichen  Schändliches 
und  Schädliches  etwan  eingerissen,  gleich  in  der  Nachbarschaft 
allbereit  auch  geschehen*),  ernstlich  abzuschaffen,  als  gebieten 
und  befehlen  wir  allen  und  jedem  unsern  Bürgern,  Inwohnern, 
Schutzverwandten,  Eingesessenen  und  Unterthanen,  sonderlich 
auch  denen  Biereigen**),  Gasthaltern,  Wirthen  auf  der  Hand- 
werker Herbergen,  zugelassenen  Brand  Weinschenken,  und  bei 
welchen  etwa  sonsten  allhier  dergleichen  unnöthiges  Tabak- 
trinken bishero  in  Gebrauch  gewesen  sein  mag,  dass  sie  ins- 
gesammt  und  besonders  nicht  allein  vor  sich  und  die  Ihrigen, 
sondern  auch  ihre  einkommende  Gäste,  wer  Der  und  Die  auch 
sein  möchten,  sich  allhier  des  Tabakgebrauchs,  es  sei  an  Rauch- 
oder Schnupftabak,  gänzlichen  enthalten  sollen ,  mit  diesem  aus- 
driicklichen  Andeuten,  dass  der  oder  dieselbe,  welche  sich  sol- 
chen Tabaks  fuhrohin  wider  dieses  unser  Verbot  gebrauchen 
würden.  Fünf  Thaler  verfallen,  auch  derjenige  Wirth,  bei 
welchem  das  Licht,  Funken  oder  Kohlen  und  also  das  Feuer 
darzu  hergegeben  und  aufgetragen  werden  wird,  gleichfalls  Fünf 
Thal  er  zur  Strafe  erlegen,  und  von  beiden  toties  quoties  un- 
nachbleiblich  abgefordert  werden  sollen,  gestalt  wir  uns  daeu 
einen  Jedweden  aller  schuldigen  und  gehorsamen  Folge  und 
Bezeigung  hierauf  zuverlässig  versehen.  Decretum  in  Consessu 
Senfttus  den  18.  Aprilis  Anno  1651  und  urkundlich  mit  Unserm 
und  gemeiner  Stadt  Insiegel  besiegelt.' 

So  oft   sich  aber   auch  dergleichen  Verbote*  wiederholten, 
so  viel  auch  die  Aerzte   schrieben  und  die  Geistlichen    predig- 


*)  Im  benachbarten  Churfurstenthnm  Sachsen;  hi«r  wurde  n&mlioh  in  Be- 
zug auf  frühere  Verbote  abermals  am  25.  Mai  1653  aller  Gebrauch  and 
Verkauf  des  Tabaks,  sogar  in  den  Apotheken,  bei  10  Thlr,  Strafe  verboten. 
Dies  Verbot  steht  im  Codex  Augnsteus  von  Lonig  (1724.)    Sp.  1548. 

*)  Biereigen,  der  Brauberechtigte ,  vgl.  Grimm  Wb.  1,  1823, 


««> 


249 


.> 


ten,  wie  schädlich  der  Tabak  für  Leib  und  Seele  sei,  nur  der 
Teufel  könne  so  etwas  erfinden,  nur  Teufel  in  der  Holle  konn- 
ten sich  an  solchem  Tranke  laben  —  half  Alles  nichts. 

Selbst  der  Helmstädter  Professor  der  Medicin ,  Jacob  Tap- 
pius,  der  1653  bei  Niederlegung  seines  Prorectorats  eine  so 
gründliche  Rede  gegen  das  Tabakrauchen  hielt,  und  die  aka- 
demischen Jünglinge  himmelhoch  beschwor,  sich  dieses  Lasters 
zu  enthalten,  musste  doch  gestehen:  'Nichts  destoweniger  gibfs 
heutiges  Tages  keine  Gegend,  keine  Stadt,  kein  Haus,  kein 
Gässchen  in  unserm  Europa,  in  Amerika  und  fast  mochte  ich 
sagen,  auf  dem  ganzen  Erdkreise,  wo  nicht  ohne  Unterschied 
jedes  Alter,  jedes  Geschlecht  mit  dem  Dichter  zu  reden  je- 
nes staubige  Nass  trinke  und  trunken  vom  trockenen  Weine 
taumele*).* 

Alle  Ermahnungen,  alle  Warnungen  waren  umsonst,  und 
die  Verbote  von  Seiten  der  Behörden  blieben  gewöhnlidi  niu: 
kurze  Zeit  in  Kraft,  da  die  Vollstrecker  der  Gesetze  selbst  das 
Rauchen  nicht  lassen  konnten.  Nur  in  Bern  erhielt  sich  bis  in 
die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  ein  Tabaksgericht,  die  soge- 
nannte Chambre  du  tabac.  Ihre  Wirksamkeit  begann  mit 
dem  Jahre  1661.  In  der  damaligen  Polizeiordnung,  die  nach 
den  zehn  Geboten  abgetheilt  ist,  steht  das  Verbot  Tabak 
zu  rauchen  imter  der  Rubrik:  du  sollt  nicht  ehebrechen.  Im 
Jahre  1675  wurde  dies  Verbot  erneuert  und  Thurm-,  Pranger- 
und Geldstrafe  den  Uebertretern  in  Aussicht  gestellt. 

Kurz  vor  seinem  Tode  1660  schrieb  Martin  Zeiler**): 
'Das  Tabaktrinken  ist  durch  die  Soldaten  vor  30  oder  mehr 
Jahren,  also  in  unserm  Schwabenland  eingeführt  worden,  dass, 
ob  es  wol  an  manchem  Ort  verboten,  doch  zugleich  verboten 
und  ungehalten  verbleiben  wird.  Es  muss  der  Tabak  eine  Pa- 
nacea,   ein  Heil -all -Welt,  oder  Heil -all -Krankheit  sein.    Ja, 


*)  Von  dieser  Oratio  de  Tabaoo  ^usque  hodiemo  abasa  kabe  ich  die 
dritte  Auflage  vor  mir:  Helmstadii  1689  4^.  Nihilomiaus  tarnen  hodie  non 
eei  Ulla  provincia,  non  civitas,  non  domus,  aut  angiportos  in  Europa  noatra, 
in  Aaepoa  et  toto  propemodum  dixerim  orbe  terramoi ,  in  quo  non  sine  dis- 
crimine  oomis  aetae,  omnii  »exua  pulverenm  illad  hauriat  flumen  et 
sicco  titnbet  aero,  nt  Poetae  verbis  ntar. 

^  Herrn  Martin  Zeülers  Centoria  Epistolarom  MisoeUanaaraa  (Ulm  1668. 
S».)  S.  672. 


250 


man  trinkt  ihn  nicht  oder  am  wenigsten  wider  die  Krankhei- 
ten des  Leibes  und  zu  Erhaltung  der  Gesundheit,  sondern  er 
muss  auch  fast  yor  Hunger  und  Durst  dienen.  Ist  einem  die 
Weile  lang,  er  hat  nichts  zu  thun,  so  trinkt  er  Tabak.  Ist  er 
unlustig,  zornig,  und  gehet  ihm  was  Widerwärtiges  im  Kopf 
um,  so  nimmt  er  die  Pfeifen  in's  Maul  und  schlotzet  ein  Weil 
daran.  Koldert*),  marret**)  und  zanket  das  Weib,  zo  lau- 
fet der  Mann  seiner  Tabakpfeifen  zu  und  gibt  ihr  vor  ihr  Maul 
voll  Wort  ein  Maul  voll  Rauch,  und  so  fort  an.' 

Hans  Jacob  Christoffel  von  Grimmeishausen  (oder 
wie  er  sich  vor  seinem  Simplicissimus  nennt:  Samuel  Greifen- 
son  vom  Hirschfeld)  beschreibt  im  andern  Theile  seines  Satyri- 
schen Pilgrams***)  vom  Jahr  1666  alles  mögliche  Gute  und  Böse 
vom  Tabak,  wie  er^s  in  seinem  Vaterlande  kennen  gelernt  hatte. 
Da  dies  Buch  zu  den  Seltenheiten  und  er  selbst  zu  den  merk- 
würdigsten Prosaisten  des  17.  Jahrhunderts  gehört,  so  wollen 
wir  den  Abschnitt  vom  Tabak,  (IL  Th.  S.  47 — 61.)  soweit 
er  etwas  Neues  enthält  oder  das  Frühere  bestätigt,  daraus  ent- 
lehnen: 

* 

'Im  verwichenen  deutschen  Krieg  aber  (30j.)  haben  es  der 
Holländer  Seefahrer  nach  Haus,  und  die  Hispanier,  Irr-  und 
Engländer  in  Deutschland  gebracht,  von  welcher  Zeit  an  sich 
die  Gewohnheit,  Tabak  zu  trinken  dermaßen  ausgebreitet, 
dass  allerdings  keine  Nation  in  der  Welt  mehr  zu  finden,  die 
sich  dessen  nicht  gebraucht,  und  kein  Baurenhaus  in  Deutsdi- 
land,  darinnen  sich  nicht  etwan  eine  Pfeife  findet.  Theils  sau- 
fen den  Tabak,  andere  fressen  ihn,  und  von  etlichen  wird  er 
geschnupft,  also  dass  mich  wundert,  warum  sidi  noch  keiner 
geftinden,  der  ihn  auch  in  die  Ohren  steckt.   Zwar  hab  ich  ihn, 


*)  Koldern,  kollern,  zankend  lärmen,  Schmeller  Wb.  2,  293. 
**)  marren,  die  Zähne  fletschen  und  knnrren  wie  die  Hunde. 
•♦•)  „Satyrischer  Pilgram,  Das  ist:  Kalt  und  Warm,  Weiß  und  Schwartz, 
Lob  und  Schand  etc.  vieler  St&ndt  und  Ding  der  Sichtbam  und  TJnsichtbam 
der  Zeitlichen  und  Ewigen  Welt.  Beydes  lustig  und  nützlich  suleien,  von 
Neuem  zusammen  getragen  durch  Samuel  Greifnson,  vom  EUrfcbfeld. 
Daselbst  druckts  Hieronymus  Grisenius,  und  in  Leipzig  Bey  Georg  Heinrich 
Frommannen  Buchhändlern  zu  finden,  Anno  1667*  12<*.  zwei  Theile"  Er 
starb  als  Amtschultheiß  zu  Renchen  17.  August  1676.  S.  mehr  über  ihn 
W.  A.  Passow  in  den  Blättern  für  litter.  Unterhaltung  1843.  Nr.  859^^ 
264.     1844.  Nr.  119.     1847.  Nr.  273. 


251 


ob  er  aswar  etwan  das  heilige  Kraut  geheißen  wird,  wol  an  ein 
ander  Ort  sehen  reiben,  es  geschähe  aber,  um  denen,  so  gar 
zu  heftig  darauf  verpicht  gewesen,  denselbigen  zu  puffen.^ 

'loh  hab  ihn  essen,  trinken  und  schnupfen  sehen  durch 
aQe  Stande,  vom  Fürsten  an  bis  auf  den  Bettler,  vom  Bischof 
bis  auf  den  Bader  beides  eingeschlossen;  und  weiß  ein  jedwe- 
derer  zu  sagen,  wovor  er  ihn  gebrauche  und  worzu  er  ihm 
wohl  bekomme:  dem  einen  erläutert  er  die  Augen,  dem  andern 
zeucht  er  die  Fluss  aus  dem  Hirn,  dem  dritten  lindert  er  das 
Zahnwehe,  dem  vierten  vertreibt  er  das  Sausen  und  Brausen 
in  Ohren,  dem  fünften  bringt  er  den  Schlaf,  dem  sechsten  löscht 
er  den  Durst,  dem  siebenten  zeucht  er  die  Schädlichkeiten  des 
eingesoffenen  Wassers  wieder  aus  dem  Leibe,  dem  achten  ist 
er  gut  vor  bösem  Luft,  dem  neunten  taugt  er  die  Zeit  zu  ver- 
treiben und  dem  zehenten  Gesellschaft  halber  mit  zu  machen. 
Und  findet  man  keine  Brüderschaft  in  der  Welt,  die  einander 
so  getreulich  mitgetheilet,  als  die  Tabakbrüder  einander  spen- 
dieren, also  dass  darvor  zu  halten,  der  Tabak  stifte  Freund- 
schaft und  Einigkeit  zwischen  den  Menschen,  ff.  Und  lässt  sich 
ansehen,  dass  diejenige,  so  den  Tabak  für  ein  unnütz  Ding 
halten,  kein  gut  Judicium  haben;  denn  er  nutzt  ja  dem  Bauren 
der  ihn  zielet,  demjenigen  der  ihn  spinnet,  dem  Fuhrmann  der 
ihn  über  Land  bringt  und  dem  Kaufherrn  oder  Krämer  der  da- 
mit schachert.  Und  hab  ich  nicht  weit  vom  Rheinstrom  eine 
Mühle  gesehen,  die  nur  den  Schnupftabak  darauf  zu  mahlen 
erbauet  worden,  allwo  man  denn  auch  eine  Invention  erfunden, 
mit  dem  Tabak  die  Tücher  zu  färben.  So  haben  sich  nicht 
weniger  die  Hafner  seiner  auch  zu  erfi'euen  als  welche  Pfeifen 
darzu  machen  und  ihr  gut  Geld  draus  lösen.  Und  ist  mir  zu 
Sinn,  wann  der  Tabak  nicht  ein  so  edel  und  köstlich  Ding 
wäre,  dass  er  von  der  jetzigen  spitzfundigen  und  klugen  Welt 
in  so  kurzer  Zeit  nicht  so  eifrig  würde  allenthalben  angenom- 
men worden  sein;  taugt  ihm  auch  zu  nicht  geringer  Ehre,  dass 
in  einem  großen  Sterben  zu  London  in  England  die  schädliche 
Contagion  kein  Haus  berührt,  darinnen  man  denselben  gespon- 
nen und  verarbeitet;  und  scheinet  gleichsam,  als  wenn  aus  son- 
derer Vorsehung  Gottes  in  diesen  letzten  Zeiten  dem  schwachen 
menschlichen  Geschlecht,  welches  allem  Ansehen  nach  auf  der 
Neige  geht,  zum  Besten  der  edel  Tabak  offenbaret  worden 
wäre,   dessen  hinfällige  matte  Kräften    damit  zu   stärken  und 


252 


den  zufälligen  widerwärtigen  neuen  Krankbeiten  damit  za  be- 
gegnen; dahero  etliche  Fürsten,  die  ihn  ihren  Unterthanen  bei 
hoher  Strafe  verboten,  bishero  noch  wenig  ausrichten  mögen, 
wird  auch  schwerlich  mehr  wiederum  aus  Deutschland  gebannet 

werden  können.' 

'Gegensatz. 

Der  Tabak  ist  bei  etlichen  so  verhasst,  dass  ihm  auch 
Philander  von  Sittenwald*)  einen  eigenen  Teufel  in  der  HöUe 
zugibt,  der  ihm  vorstehe  und  die  furwitzige  Menschen  darzu 
anreize,  maßen  in  seinen  Visionen  zu  ersehen,  dass  derselbige 
Tabakteufel  einen  immerwährenden  Rauch  aus  Maul  und  Na- 
sen gehen  lasse,  damit  er  gleichsam  ohne  Unterlass  spiele  wie 
die  Wallfischc  mit  dem  Meerwasser,  wenn  sie  ein  Ungewitter 
merken;  und  wenn  man  die  Wahrheit  bekennen  wollte,  so  konn- 
ten die  Menschen  schier  keine  ärgere  Thorheit  erdenken,  als 
diese,  sich  den  Teufeln  in  der  Hollen  ähnlicher  zu  erzeigen. 
Man  sehe  mir  doch  um  Gottes  Willen  nur  so  einen  Kerl  an, 
wie  er  dort  stehet  mit  dem  Feuer  in  der  Hand  und  der  Ta- 
bakpfeif im  Maul;  wie  begierig  er  den  stinkenden  Bauch  an 
sich  zeucht,  und  wie  schnell  er  ihn  wieder  von  sich  bläst!  Wie 
er  die  Lfuft  mit  Gestank  erfüllet  und  die  Erde  mit  Unflat  be- 
schmeißt! Was  wiirde  doch  einer,  der  sonst  nichts  von  dieser 
Thorheit  wüsste  oder  niemaln  keinen  Tabak  hätte  saufen  sehn, 
von  einem  solchen  närrischen  Aufzug  halten?  Wenn  er  nicht 
gedächte,  er  wäre  ein  Gaukler  oder  Marktschreier,  der  Werg 
firisst  und  Feuer  ausspeiet,  so  wiirde  er  ihn  nothwendig  gar 
vor  einen  Narren ,  oder  (wer  weiß)  wol  gar  vor  einen  jungen 
Grasteufel  halten.  Wie  idi  noch  ein  junger  Soldat  war,  fragte 
mich  mein  Wirth,  welcher  den  Tabak  schrecklich  hasste,  ob 
ich  auch  wiisste,  warum  die  Soldaten  vor  andern  Leuten  dem 
Tabaksaufen  so  sehr  ergeben  wären?  Da  ich  nun  antwortet) 
weil  sie  vielerlei  Wasser  trinken  müssten,  sagte  er,  nein,  dies 
ist  die  Ursache  nicht,  sondern  sie  thun^s  darum,  damit  sie 
nach  und  nach  des  Feuers,  Rauchs  und  Gestanks  gewohnen, 
auf  dass,  wann  sie  kiinftig  in  Nobiskrug  (Hölle)  müssten  Schwe- 
fel und  Pech  saufen,  sie  solches  nicht  so  sauer  ankäme.' 

*£s  ist  nichts  auf  der  Welt,  dass  einer  den  andern  so 
gern  lernet   als  das  Tabaksaufen,  und  die  Lehrjungen  begrei« 


*)  Geeichte  1.  Tb.  (Aug.  voa  1660)  S.  StS. 


253 


fen  auch  nichts  behenders  als  eben  diese  Thorheit,  wiewol  sie 
gleich  in  den  Lehrjahren  Hosen  und  Wammes  davon  pflegen 
voll  zu  machen.  Wann  es  ein  Phantast  begreift  und  ein  we- 
nig übt,  so  kommt  er  in  eine  Gewohnheit  und  kann  dessen 
die  Tag  seines  Lebens  ninuner  mehr  müßig  stehen  und  sollte 
er  anstatt  Tabaks  dorre  Hutzlen  (Holzbirnen)  oder  faul  Heu 
einfüllen;  davon  stinken  sie  dann  immerhin  so  abscheulich  aus 
dem  Maul  heraus,  wie  ein  abgebranntes  Dorf ,  also  dass  andere 
*  Leute  nicht  um  sie  bleiben  können,  ff.' 

'Wiewol  ich  nun  hiervon  gemeldet  habe,  dass  sich  hoch- 
und  niederes  Standes  Personen  des  Tabaks  gebrauchen,  so  thun^s 
jedoch  am  allermeisten  die  Soldaten,  Landfahrer  und  Bettler, 
nach  denselben  aber  auch  Bürger,  Handwerksleute,  Bauren 
und  Taglöhner,  deren  theils  so  hart  darauf  verbeißt  sein,  dass 
ihnen  der  Tabak  nimmermehr  vom  Maul  kommt,  und  meinet 
mancher,  er  seie  kein  rechter  Soldat  oder  sonst  ein  genügsamer 
praver  Kerl,  wenn  er  nicht  waidlich  Tabak  saufen  könne,  ff.* 

'Oberzählte  Tabakbrüder,  sonderlich  diejenige  so  ihre  eigne 
Haushaltungen  und  ihre  Nahrung  mit  ihrer  Handarbeit  zu  ge- 
winnen haben,  verlieren  und  verderben  durch  diese  schleunige 
Zech  viel  von  der  edlen  unwiederbringlichen  Zeit,  in  welcher 
sie  wol  nützlichers,  bessers  und  eintraglicheres  verrichten  könn- 
ten; ja  es  ist  allbereit  so  weit  kommen,  dass  sich  kaum  einer 
unter  zehen  Taglöhnern  findet,  der  nicht,  wenn  es  ihn  ankommt, 
aus  der  Arbeit  gehet,  Feuer  schlägt,  Tabak  schneidet,  einfüllt, 
und  des  besten  Muths  daher  sauft,  als  wenn  er^s  verdingt  hätte, 
Gott  geb  oder  Gott  griißl  derjenige  der  ihn  angestellt  und  be- 
lohnet, mag  sauer  oder  süß  darzu  sehen,  ff.' 

Gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  verstanden  sich  die  Poe- 
ten noch  nicht  dazu,  das  Tabakrauchen,  diesen  neuen  Lebens- 
genuss  der  Deutschen,  zu  verherrlichen.  Einer  Flugschrift  die 
ich  besitze:  „Herrn  D.  Laurembergs  Bericht  von  Taback,  woher 
er  komme  u.  s.  w.^  Amsterdam  1678.  A^,*)  ist  ein  Gedicht  an- 
gehängt, worin  dem  Rauchen  noch  der  Stab  gebrochen  wird. 
Der  große  Jupiter  ward  einsmals  angebunden 
Von  dreien  Göttinnen,  die  sehr  wohl  bei  ihm  stunden. 


*)  Steht  auch  in  den  Aaserlesenen  Ergötzlichkeiten  vom  Tabac  1715. 
S.  57  mit  der  Veberschrift:  „Ascanii  de  Oliva  Historie  Vom  Ursprange  des 
Tabac  -  Rauchens.     Aas  dem  Niederländischen  übersetzet 


254 


Die  Ceres  schickt  ihm  zu  drei  Fass  Hamburger  Bier, 

Das  sie  gebrauet  hat  auf  himmlische  Manier. 

Diana  gab  dazu  ein  Schwein  und  vierzehn  Hasen, 

Es  musste  Pan  vorher  mit  einer  Pfeifen  blasen. 

Die  Venus  trug  hernach  von  ihrem  Haar  ein  Band, 

Das  fugte  sie  verliebt  ihm  selbst  an  seine  Hand. 

Es  kunnte  Jupiter  den  Possen  leicht  verstehen, 

Dass  dies  auf  einen  Schmaus  hinaus  nur  wiirde  gehen. 

Er  macht'  ein  groß  Banket,  lud  alle  Gotter  ein, 

Sie  stellten  sich  auch  dar  und  wollten  lustig  sein. 

Als  man  nun  Tafel  hielt  und  hatte  wol  gegessen. 

Da  ward  der  Salus  drauf  mit  Humpen  ausgemessen. 

Des  starken  Malzes  Kraft  nahm  ihre  Häupter  ein, 

Sie  jauchzten  allesamt,  die  Geigen  gingen  drein. 

Vulcanus  als  ein  Gott  des  Rauches  und  der  Funken 

Fing  an  sein  eigne  Lust,  dieweil  die  andern  trunken. 

Das  Bier,  sprach  er,  schmeckt  nicht!  und  griff  iiif  seinen  Sack, 

Bracht'  eine  Pfeif  hervor  und  stinkenden  Tabak. 

Die  Götter  sahen  zu.     Mit  einer  Feuerkohlen 

Kunnt'  aus  dem  Schmochtabak  heraus  gar  häufig  holen 

Den  Kauch,  der  sich  ergoss  auch  bis  an's  Himmels  Band. 

Cupido  dacht',  es  war  der  Himmel  angebrannt. 

Die  Sternen  leschten  aus,  die  Wolken  wurden  dicke. 

Der  Mond  verhiillte  sich,  zog  auch  den  Schein  zurücke. 

Der  Götter  klar  Gesicht  und  schön  als  goldgelb  Haar 

Von  diesem  Bauche  ward  benebelt  ganz  und  gar. 

Die  Schönsten  sahen  aus  wie  sonst  gemalte  Götzen 

Der  Russen,  die  sie  hoch  an  ihre  Stuben  setzen: 

So  voller  Rauch  und  Dampf,  so  hässlich  und  so  geel 

Wurd  ihre  Stirn,  die  sonst  so  weiß  als  Weizenmehl. 

Der  kiihne  Hercules  sprach:  was  soll  dieser  Posse? 

Neptunus  ging  hinaus,  den  Musen  es  verdrösse, 

Die  keuschen  Gratien  verhüllten  ihr  Gesicht, 

Als  die  an  Stirn  und  Mund  kein  Trübes  leiden  nicht 

Auch  der  Venus  fallt  der  Dampf  auf  ihre  zarte  Brust  und 
sie  fragt;  wer  macht  den  Dampf?  bist  du  es  nicht,  Vulcan? 

Ja,  ja!  das  dacht'  ich  wol  —  ach,  pfui,  du  grober  Mann! 
—  Vulcan  erzählt  nun,  wie  er  dazu  gekommen  sei.  Ein  jun- 
ges Teuflichen   aus  Plutos  Reich   habe  ihm  auf  seines  Herrn 


255 


Befehl  die  Pfeife  gebracht,  er  mochte  draus  trinken;  weil  er 
nun  wie  Pluto  auch  ein  Rauch-  und  Feuergott  sei,  so  trinke 
er  auf  diese  Manier  d.  h.  rauche  Tabak.  Die  Gotter  wurden 
alle  unwillig  darüber  und  wollten  fortgehen. 

Ohol  sprach  Jupiter,  Vulcan,  ich  sage  dir, 

Mach  einen  Unterschied  auch  zwischen  Hol!  und  hier! 

So  dir  belüsten  wird  noch  mehr  Tabak  zu  trinken. 

So  geh  in  Plutons  Reich,  da  höher  gilt  dein  Stinken; 

Hier  bei  der  Gotter  Schaar  ich  dies  nicht  leiden  mag: 

Zum  Himmel  wirf  hinaus  die  Pfeifen  und  Tabak  I 

Sonst  wird  es  dir  mein  Blitz  von  deiner  Nasen  treiben.  — 

Vulcanus  höret  auf  und  ließ  das  Stänkern  bleiben. 

Gedachte:  soll  mir  so  der  Trunk  gesegnet  sein, 

So  steck  ich  alsobald  die  Pfeife  wieder  ein. 

Mercurius  der  nahm  mit  zornigen  Geberden 

Den  Plunder  und  warf  ihn  hinunter  auf  die  Erden. 

Er  fiel  ins  Mohrenland,  da  wurd  er  hochgeehrt, 

Als  wie  ein  großer  Schatz  vom  Jupiter  verehrt. 

Allda  ging  erst  recht  an  das  vielbeliebte  Schmauchen, 

Die  Nasen  sähe  man  wie  Feuermauern  rauchen. 

Sie  pflanzten  dieses  £j:aut,  zu  sehen  ob  es  sich 

Vermehren  wollt:  es  wuchs  wie  Unkraut  mildiglich. 

Drum  wolltens  auch  nicht  so  die  Morianen  sparen. 

Vom  Rauch  und  Stanke  sie  wie  junge  Teufel  waren. 

Der  Spanier  sah  an  den  Indianer -Rauch, 

Bald  seine  Nas  und  Mund  entzündeten  sich  auch. 

Bei  denen  blieb  es  nicht.    Der  butte  Niederlander 

Sprach:  Wel,  wel,  ik  moet  ook  zoo  smooken  als  een  ander. 

Der  zarte  Contreman  in  Schott-  und  Engeland 

Hat  jetzt  in  dieser  Kunst  den  Ruhm  und  Oberhand. 

Der  Teutschen  Africa,  das  sehr  viel  AiEen  heget, 

Thuts  auch  den  Volkern  nach:  ein  jeder  sieh  fast  traget 

Mit  Pfeifen  und  Tabak  und  stänkern  wol  so  sehr 

Als  wenns  der  Feuergott  Vulcanus  selber  war. 

Je  nun  so  schmauchet  doch  und  stänkert  allzusammen 

So  lang  als  ihr  nur  wollt  und  haltets  mit  den  Flammen! 

Ich  halt  es  mit  dem  Bier  und  mit  dem  klaren  Wein 

Und  lasse  Rauchtabak  euch  zum  Getränke  sein. 


256 


Zu  Ende  des  17.  Jahrhunderts  verbeitete  sich  das  Tabak- 
rauchen und  der  Tabaksbau  in  gleichem  Verhältnisse  zu  einan- 
der immer  mehr.  Wenn  früher  nur  Soldaten,  Handwerksleute, 
Tagelöhner  und  Bauern  geraucht  hatten,  so  fingen  nun  audi 
die  Studenten  und  Professoren  an.  Schon  Marcus  Zuerius 
Boxhom  war  ein  so  leidenschaftlicher  Raucher,  dass  er  sich 
ein  Loch  in  seinen  Hut  geschnitten  hatte  und  dadurch  die 
brennende  Pfeife  steckte,  um  nicht  am  Lesen  und  Schreiben 
gehindert  zu  werden.  Die  Gelehrten  waren  bemüht,  sich  wegen 
dieser  neuen  ergötzlichen  Gewohnheit  zu  entschuldigen  und  zu 
rechtfertigen:  sie  schrieben  allerlei  lateinische  und  deutsche 
Tractatlein  vom  guten  Nutzen  dieses  heilsamen  Krautes  u.  s.  w. 
Schon  1647  sagte  Henricus  Barnstein,  geschworner  Leib-  und 
Wundarzt  zu  Erftirt,  in  seiner  „Kurtzen  Beschreibung  Deß  Ta- 
backs^:  'Der  Tabak  ist  sehr  gut  den  Studenten  und  andern  so 
den  Kopf  brauchen  müssen.'  Bald  gehorte  es  auf  Universitäten 
mit  zum  Comment,  sein  Pfeifchen  zu  rauchen,  und  Bruder 
Studio,  der  im  16.  Jahrh.  nur  von  Liebe,  Wein  und  Lauten- 
schlagen zu  singen  wusste,  sang  nun  eben  so  begeistert  vom 
Tabak. 

So  ging  gewiss  aus  der  Mitte  tabaksbegeisterter  Studenten 
ein  Büchlein  hervor,  das  eine  reiche  Blumenlese  damals  üblicher 
Tabakslieder  enthält.    Es  hat  den  Titel: 

„Auserlesene  Ergotzlichkeiten  Vom  TABAC  u.  s.  w.  Allen 
seinen  Liebhabern  zur  Vergnügung  mitgetheilet  von  einem 
beständigen  Tabacs-Freunde.  Leipzig,  Auf  Kosten  der  Com- 
pagnie.  1715.«    8».    96  Seiten. 

„Johann  Rauchwohls  Sinnreiches  Lob  des  Tabaks«  ist  sehr 
überschwänglich  und  ohne  Ende  —  es  sind  101  sechszeiUge 
Strophen.    Es  beginnt: 

Kommet,  ihr  Krämer!  erscheinet,  ihr  Bräuer I 
Stehet,  ihr  Gießer  der  Pfeifen  uns  beil 
Strafet  die  Feinde  mit  blitzendem  Feuer, 
Welche  mit  giftigem  Hundesgeschrei 
Euere  Nahrung  und  unsere  Pfeifen 
Alle  zusammen  verwegen  angreifen. 

Der  Dichter  kennt  keinen  würdigeren  Gegenstand  der  Poesie 
als  den  Tabak: 


257 


Gegen  die  Pfeifen  verstummen  und  schweigen 
Herrliche  Lieder,  die  Saiten  und  Geigen. 

Trotzdem  hat  dies  Lied  kein  Glück  gemacht,  andere  dieser 
Sammlung  erhielten  sich  länger,  sie  finden  sich  auch  noch 
sonstwo  vor.    Z.  B. 

Was  ist  doch  in  der  Welt, 

Das  uns  kann  recht  ergötzen? 

Sind^s  Jungfern  oder  Geld? 

Sind^s  Hunde,  Pferde,  Bier,  Musik? 

Sind's  Degen,  Bucher,  Friede,  Krieg? 

Herr  Schwager,  weit  gefehlt! 

Isk's  etwan  rheinscher  Wein? 
Sind^s  Leipziger  Mesdames? 
Auch  dieses  kann  nicht  sein! 
Wenn  ich  die  Sache  nennen  soll. 
Alsdann  verändert  sich  der  Pol: 
Es  ist  gewiss  Tabac.    U.  s.  w.  *) 

Femer: 

Rosen  und  Violen  mögen  Kinder  holen, 
Eander  dieser  Zeit; 
Das  was  meinen  Sinn  erfreut, 
Und  in  meiner  Pfeifen  brennet, 
Wird  Tabac  genennet 

Drum  soll  mich  nichts  treiben. 

Von  dir  weg  zu  bleiben, 

Wenn  der  Pobel  sagt,. 

Dass  mir  Rauch  und  Dampf  behagt, 

Bis  mein  Geld  und  meine  Tasche 

Wird  zu  Rauch  und  Asche,    ff.**) 

Ein  anderes  von  17  Strophen  beginnt: 

Jammer,  ich  hab^  eine  Frau,  au,  au,  aul 
Die  nichts  kann  als  beißen,  keifen. 


^  Hier  ans  einer  Mensebachschen  Hb. 
**)  Auch  in  Hoffmannswaldan  Gedichten  1.  Th.  S.  393.  mit  der  Lesart: 

Kr,  Bein  6^1d  nnd  seine  Taschen 
Wird  sn  Rauch  nnd  Aschen. 


258 


Unser  meiste  Streit  und  Zwist  kommt  und  ist 
Bloß  von  der  Tabakespfeifen. 

Pfeifchen,  was  hast  du  gethan?    Sag  es  an! 
Dass  sie  dich  nicht  kann  vertragen, 
Dass  sie  dich  wo  sie  dich  findt  auch  geschwind 
Pflegt  in  kleine  Stück  zu  schlagen?  ff. 

Pfeifchen  und  ein  Fidibus  soll  und  muss 
Mit  mir  stets  zu  Bette  gehen 
Und  das  edle  Kraut  Tabac  soll  und  mag 
Allzeit  mir  zu  Dienste  stehen,  ff. 

Die  Loblieder  auf  den  Tabak  wurden  immer  häufiger,  im- 
mer länger  und  langweiliger.  So  dichtete  Johann  Christian 
Günther  zu  Anfange  seiner  akademischen  Studien,  etwa  um 
1715,  „ein  Lob  des  Knaster-Tabacks'*.  Obschon  das  Lied  zwei- 
undzwanzig Strophen  hat,  so  blieb  doch  der  Poet  pathetisch 
genug  bis  an  den  Schluss,  der  also  lautet: 

Wollt  ihr  Ländern  rathen, 
So  verpflügt  die  Saaten, 
Haut  die  Wälder  aus, 
Macht  uns  ein  Tabaksfeld  draus. 
Und  umzäunt  es  mit  den  Reben, 
Die  uns  Freude  geben. 

Topp,  es  leben  alle. 

Die  bei  diesem  Falle 

Der  Tabak  ergetzt! 

Drum  ihr  Brüder  raucht  und  netzt. 

Bis  der  Blick  vom  andern  Tage 

Uns  zu  Bette  jage. 

Junge,  schneide  Knaster! 

Dieses  Lebens -Pflaster 

Ist  ein  Polychrest. 

Dem  der  uns  nicht  rauchen  lässt, 

Soll  anstatt  der  Nerv  und  Flachsen 

Ein  Tabaksstrunk  wachsen! 

Keiner  aber  hat  mit  mehr  Liebe  und  Begeisterung  den 
Tabak    besungen,   als   Günthers  Landsmann,  der  Hirschberger 


259 


Conrector  Daniel  Stoppe*).  In  einem ' Sendschreiben  an  sei- 
nen ehemaligen  HauS'-  oder  Stiibe&barschea  trämqit  er  sich  in 
sein  ehemaliges  Leipz%er  Studenteoleben  (1719 — 1722)  zur&ck 
und  gedenkt  unter  ihren  mancherlei  Ergot^ungen  m^ch  der  Ta- 
baksfreude folgendermaßen  (1.  Samml.  S.  113): 

Will  auch  nach  dieser  Lust  der  Schlaf  sich  noch  nicht  finden, 

Uns  durch  sein  sanftes  Band  die  Augen  zu  verbinden, 

So  stehn  wir  wieder  auf  und  tappen  hin  und  her, 

Bis  dass  das  Feuerzeug,  doch  nicht  von  ohngefahr. 

Uns  in  die  Hände  lauft.    Denn  hat  es  gute  Wege, 

Der  Feuerstein  kriegt  Kirms,  die  wiederholten  Schläge 

Erbetteln  endlich  noch  die  Funken  von  dem  St^hl, 

Und  wenn  dieselbigen  in  der  gehörigen  Z^ 

Den  leichten  Zunderschwamm  nach  Wunsche  glimmend  machen, 

So  hört  man  schon  voraus  die  Tobakspfeifen  luchen. 

Das  ausgelöschte^  Licht  wird  wieder  angesteckt» 

Indem  man  seine  Hand  gleich  nach  der  Dose  streckt. 

Und  das  gelehrte  Kraut  fest  in  die  Pfeifen  dr&cket. 

Das,  wenn  der  Fidibus  sich  zu  dem  Brennen  schicket. 

Den  schönsten  Rauchaltar  durch  D^n^f  und  ^Nebel  zeigt, 

Der  uns  mit  Appetit  in  Mund  und  Nase  steigti 

Wie  fein  erholen  sich  durch  solcherlei  Geschäfte 

In  der  sonst  todten  Nacht  die  schlaffen  Lebenskräfte! 

Nur  Schade,  dass  uns  nicht,  wie  Wunsch,  und  Sinn  begehrt. 

Ein  angesteckter  Pfiff  zwei  ganze  Stunden  währt; 

Wir  miissen  allzuoft,  von  neuem  einzustopfen. 

Das  Caput  mortuum  aus  der  Retorte  klopfen. 

Doch  diese  kleine  Mjih  verdreußt  uns  niemals  nicht. 

Die  allzuschöne  Lust  verdoppelt  diese  Pflicht, 

Erleichtert  und  versüßt  die  missvergniigten  Stunden. 

Er  ist  so   ganz   ein  Tabakspoet  und    gesteht    offenherzig 
(1.  Samml.  S.  41): 

Meine  Muse  flieht  die  Leier, 
Wenn  nicht  auch  die  Pfeife  glimmt. 
Weil  sie  stets  von  diesem  Feuer 
Zunder  zu  dem  Dichten  nimmt 


*)   S.  über  ihn  meine    Spenden   znr   deutschen    Litteratargeschichte   2. 
Bindchen  (Lpz.  1844)  S.  179  — 192. 

fFHmmr»  /*.  H.  27 


260 

Wort  üüd  Reime  wollea  wanken, 
Weim  sie  nicht  4er  Knaster  stützt, 
.    I>ess6ü  Räuehwerk  die  Gedanken, 
Wie  dafii  Fleisc^^  tor  Fauhing  schützt* 

Am  kräftigsten   aber  nimmt  er  sich  seines  Freundes  an  in  der 
^tobacks-Arie«*  (2.  Samml.  S.  55): 

1.    Knai9ter  ist  mein  Element! 

Dieses  kann  bei  trüben  Tagen 

Alle  Feinde  niederschlagen, 

Die  man  Gram  und  Saiden  nennt. 
2i    Khaflter  ist  mein  Freudenpferd,. 

Das  mit  meinen  Kummersteinen, 

Wenn  die  leeren  Hände  weinen. 

Eilends  ans  dem  Wege  fährt 
3.    EInaster  ist  mein  Morgenstern, 

Der  mich  aus  den  Federn  treibet, 
'     Und  mein  Frühgerichte  bleibet: 

Nüchtern  rauch' idi  gar  XU  gem. 
i>    E^nAster  ist  mein  Abendliohtl 

Sind  die  Lebensgeister  müde, 

So  erhalten  sie  den  Friede, 

Wenn  der  Dampf  die  Augen  bricht 
5.   'foiäster  ist  mein  liebster  Schatz, 

Der  hält  mir  beständig  stille. 

Kein  Verdammter  Widerwille 

Hat  m  unsrer  Eintracht  Platz. 
6t    Knaster  ist  Itiein  Espagnol, 

Der  müde  meinen  Reimideen 

HuHig  in  die  Nase  gehen, 

Wenn  ich  Verse  machen  soll. 
7.    Elnaster  ist  mein  MedicusI  u.  s.  w. 


\.Ci 


So  wurde  noch  eine  Zeit  lang  fortgedichtet,  bis  denn  end- 
lich die  Poesie  sich  wiedel^  mdär  und  mehr  aus  dem  Alltags- 
leben erhob  und  sich  bedingeiiswertheren  Gegenständen  zu- 
wandte. 


XV. 


ZUR 


GESCHICHTE  DES  WÜNDERHORNS. 

Von  H.  V.  F. 

Als  Deutschland  nach  den  unglücklichen  Kriegen  mit  Napo- 
leon in  seiner  tiefsten  politischen  Erniedrigung  lag,  da  suchten 
die  edelsten  Gemüther  durch  das  Schönste,  was  übrig  geblie- 
ben war,  durch  die  deutsche  Sprache  und  Poesie  sich  zu  trösten 
und  sich  und  das  Vaterland  aufzurichten.  Mit  einer  reineren 
Liebe,  mit  einem  höheren  Eifer  als  jemals  zuvor  erfasste  man 
das  eigenthümliche  geistige  Leben  unseres  Volkes  in  allen  sei- 
nen Erscheinungen;  es  begann  ein  gründlicheres  und  vielsei- 
tigeres Studium  unserer  Sprache  und  aller  ihrer  Denkmäler  der 
Vergangenheit  und  Gegenwart. 

Die  Jahre  18Q5  und  1806,  die  uns  in  politischer  Beziehung 
nur  die  allörtraungsten  Erinnerungen  zurückließen,  nichts  als 
Niederlagen  zu  verkünden  wissen,  müssen  wir  begrüßen  als 
Siegesjahre  für  die  Belebung  des  vaterländischen  Sinnes  und 
die  Beinerhaltung  und  Entwickelung  unserer  Volksthümlichkeit. 
Nach  allen  Seiten  hin  war  große  Thätigkeit,  alle  Regungen  des 
deutschen  Geistes  zu  verfolgen,  die  Denkmäler  der  Sprache  und 
Kunst  zu  retten,  zu  erhalten,  dem  Studium  und  Genüsse  zu- 
gänglich zu  machen,  und  die  betrübten  Gemüther  damit  zu 
trösten,  daran  aufzurichten  und  zu  volksthümlichen  Erzeugnissen 
in  Kunst  und  Wissenschaft  anzuregen. 

So  entstand  denn  endlich  das,  was  wir  heute  mit  Kecht 
deutsche  Philologie  nennen  können,  dieser  Inbegriff  der  man- 
nigfaltigsten Bestrebungen  und  Forschungen,  das  geistige  Le- 
ben onsers  Volkes,  insofern  es  sich  durch  Sprache  und  Litte- 
ratur  kundgiebt,  darzustellen. 

17* 


262 


Mit  Dank  müssen  wir  die  Männer  nennen,  die  uns  hiezu 
die  Bahn  öfiheten  und  später  wirkten,  ja  noch  jetzt  zum  Theil 
mit  dem  herrlichsten  Erfolg  wirken:  Bernhard  Jos.  Docen,  Ja- 
cob und  Wilhelm  Grimm,  v.  d.  Hagen,  Büsching,  Gorres,  Be- 
necke u.  a. 

An  sie  schlössen  sich  damals  an  Achim  v.  Arnim  und  Cle- 
mens Brentano,  die  Herausgeber  des  Wunderhorns.  Ihr 
großes  Unternehmen,  die  deutschen  Volkslieder  der  Vergangen- 
heit und  Gegen v^art  zu  sammeln,  kündigten  sie  folgendenaa- 
ßen  an  im  Intelligenzblatt  der  Jen.  Allg.  Lit.  -  Zeit.  1805. 
Nr.  106.    Sp.  891.  892. 

„Zur  Leipziger  Michaelis -Messe  d.  J.  erscheint: 

Des  Knaben  Wunderhorn.  Alte  deutsche  Lieder,  gesam- 
melt von  A.  T.  Arnim  und  Clemens  Brentano,  gr.  8^. 
Frankfurt  a.  M.,  bey  J.  C.  B.  Mohr  und  Heidelberg,  bey 
Mohr  und  Zimmer. 

Wir  zeigen  die  erste  größere  Sammlung  älterer  deutscher 
Lieder  an,  wie  sie  die  Neueren  unter  den  Namen :  Romanzen 
und  Balladen  begreifen,  wie  die  Vorzeit  sie  im  Gesänge  er- 
fand und  überlieferte,  wie  sie  von  uns  aus  dem  Munde 
des  Volks,  aus  Büchern  und  Handschriften  gesammelt,  ge- 
ordnet und  ergänzt  sind.  —  Der  Reichthum  dieses  natio- 
nalen Gesanges  wird  der  allgemeinen  Aufmerksamkeit  nicht 
entgehen,  es  wird  Viele  überraschen,  manche  Bemühung 
unserer  Zeit  ergänzen  oder  aufheben.  Wir  erwarten  sehr 
viel  von  der  festen,  freudigen  Lebensweise  dieser  Lieder^ 
einen  mannichfaltigen  volleren  Ton  in  der  Poesie,  einen  An- 
klang von  bestimmten,  echteigenen  Gedanken;  in  Anderen 
eine  Anregung  mancher  halbvergessenen  Jugenderinnerung; 
sie  werden  nicht  bloß  gelesen,  sie  werden  behalten  und  nach- 
gesungen werden;  sie  umschließen  ihrem  Inhalte  und  ihrer 
Empfindung  nach  vielleicht  den  größten  Theil  deutscher  Poesie, 
sie  werden  dadurch  manches  unbestimmte  Verlangen  befreien, 
was  sich  im  Viellesen  unberuhigt  fiihlt,  sie  werden  dem 
deutschen  Gemüthe  wie  eine  schöne  Geschichte  erscheinen, 
die  zugleich  wahr  ist,  dem  fVemden  sind  sie  eine  wunder- 
bare hohe,  vielleicht  schon  untergegangene,  Bildungsstufe. 

A.  (Achim  v.  Arnim)^ 


263 


Im  J.  1806  erschien  der  erste  Band: 

„Des  Knaben  Wunderhom.  Alte  deutsche  Lieder  L.  Achim 
von  Arnim.  Clemens  Brentano.  Heidelberg,  Mohr  und 
Zimmer.^ 

Im  J.  1808  folgten  der  zweite  und  dritte. 

Das  große  Publicum  zeigte  die  größte  Theilnahme  und 
Anerkennung,  die  Gelehrten  aber  waren  darüber  getheilter  Mei- 
nung. Während  die  einen  das  Werk  als  ganz  vortrefflich  an- 
priesen, suchten  die  anderen  dies  Lob  zu  beschränken,  wussten 
nicht  genug  daran  zu  mäkeln  und  verschiedene  Mängel  und 
Gebrechen  herauszustellen. 

Außerordentlich  gunstig  wirkte  Göthes  Beurtheilung. 

Jenaische  Allg.  Litteratur- Zeitung  1806.  Nr.  18.  19. 
„Die  S[ritik  dürfte  sich  vorerst  nach  unserem  Dafürhalten  mit 
dieser  Sammlung  nicht  befassen.  Die  Herausgeber  haben  solche 
mit  so  viel  Neigung,  Fleiß,  Geschmack,  Zartheit  zusammenge- 
bracht und  behandelt,  dass  ihre  Landsleute  dieser  liebevollen 
Mühe  nun  wohl  erst  mit  gutem  Willen,  Theilnahme  und  Mit- 
genuss  zu  danken  hätten.  Von  Rechtswegen  sollte  dieses  Büch- 
lein in  jedem  Hause,  wo  frische  Menschen  wohnen,  am  Fenster 
unterm  Spiegel,  oder  wo  sonst  Gesang-  und  Kochbücher  zu 
liegen  pflegen,  zu  finden  seyn,  um  aufgeschlagen  zu  werden  in 
jedem  Augenblicke  der  Stimmung  oder  Unstimmung,  wo  man 
denn  immer  etwas  Gleichtonendes  oder  Anregendes  fände,  wenn 
man  auch  allenfalls  das  Blatt  ein   paarmal  umschlagen  müsste.'^ 

„Am  besten  aber  läge  doch  dieser  Band  auf  dem  Ciavier 
des  Liebhabers  oder  Meisters  der  Tonkunst,  um  den  darin  ent- 
haltenen Liedern  entweder  mit  bekannten  hergebrachten  Melo- 
dien ganz  ihr  Recht  widerfahren  zu  lassen,  oder  ihnen  schick- 
liche Weisen  anzuschmiegen,  oder,  wenn  Gott  wollte,  neue  be- 
deutende Melodien  durch  sie  hervorzulocken.^ 

„Wiirden  dann  diese  Lieder,  nach  und  nach,  in  ihrem 
eigenen  Ton-  und  Klangelement  von  Ohr  zu  Ohr,  von  Mund 
zu  Mund  getragen,  kehrten  sie,  allmälig,  belebt  und  verherr- 
licht, zum  Volke  zurück,  von  dem  sie  zum  Theil  gewisser- 
maßen ansg^angen:  so  konnte  man  sagen,  das  Büchlein  habe 
seine  Bestimmung  erfüllt,  und  könne  nun  wieder,  als  geschrie- 
ben und  gedruckt,  verloren  gehen,  weil  es  in  lieben  und  Bil- 
dung de^  Natipn  übergegangen.^ 


264 


„Weil  nun  aber  in  der  neueren  Zeit,  besonders  in  Deutsch«- 
land,  nichts  zu  existieren  und  zu  wirken  scheint,  wenn 
nicht  darüber  geschrieben  und  wieder  geschrieben 
und  geurtheilt  und  gestritten  wird:  so  mag  denn  auch 
über  diese  Samml.  hier  einige  Betrachtung  stehen,  die,  wenn 
sie  den  Genuss  auch  nicht  erhöht  und  verbreitet,  doch  wenig- 
stens ihm  nicht  entgegen  wirken  soll." 

„Was  man  entschieden  zu  Lob  und  Ehren  dieser  Samml. 
sagen  kann,  ist,  dass  die  Theile  derselben  durchaus  mannich- 
faltig  charakteristisch  sind.  Sie  enthält  über  zweihundert  Ge- 
dichte aus  den  drei  letzten  Jahrhunderten,  s'ammtlich  dem  Sinne 
der  Empfindung,  dem  Tone,  der  Art  und  Weise  nach  derge- 
stalt von  einander  unterschieden,  dass  man  keins  dem  andern 
vollkommen  gleichstellen  kann.  Wir  unternehmen  das  unter- 
haltende Geschäft,  sie  alle  der  Reihe  nach,  so  wie  es  uns  der 
Augenblick  eingiebt,  zu  charakterisieren." 

Diese  Charakterisierung  füllt  8J  Spalten.  So  anerkennend 
und  lobend  sich  Göthe  über  das  ganze  Unternehmen  ausspricht, 
so  war  er  doch  viel  zu  besonnen,  als  dass  er  die  Art  und  Weise, 
wie  die  Herausgeber  verfahren  waren,  nicht  hätte  durchschauen 
sollen;  er  fügt  deshalb  seine  Wünsche  und  Bedenken  schließ- 
lich hinzu: 

„Mochten  die  Herausgeber  aufgemuntert  werden,  aus  dem 
reichen  Vorrath  ihrer  Sammlungen,  so  wie  aus  allen  vorliegen- 
den schon  gedruckten,  bald  noch  einen  Band  folgen  zu  lassen, 
wobei  wir  denn  freilich  wünschen,  dass  sie  sich  vor  dem 
Singsang  der  Minnesinger,  vor  der  bänkelsängeri- 
schen Gemeinheit  und  vor  der  Plattheit  der  Meister- 
sänger, so  wie  vor  allem  Pfäffischen  und  Pedantischen 
hochlich  hüten  mögen." 

„Haben  wir  gleich  zu  Anfang  die  Competenz  der  Kritik, 
selbst  im  höheren  Sinn,  auf  diese  Arbeit  gewissermaßen  be- 
zweifelt: so  finden  wir  noch  mehr  Ursache,  eine  sondernde 
Untersuchung,  in  wiefern  das  alles,  was  uns  hier  gebracht  ist, 
völlig  acht,  oder  mehr  und  weniger  restauriert  sei,  von  diesen 
Blättern  abzulehnen." 

„Die  Herausgeber  sind  im  Sinne  des  Erfordernisses  so  sehr, 
als  man  es  in  späterer  Zeit  sein  kann,  und  das  hie  und  da 
seltsam  Restaurierte,  aus  fremdartigen  Theilen  verbundene,  ja 
das  Untergeschobene,  ist  mit  Dank   anzunehmen.    Wer  weiß 


265 


nicht,  was  ein  I^ed  auszustehen  hat,  wenn  es  durch  den  Mu]a4 
de»  Volkes,  und  nicht  «twa  nur  des  uagebüdetfOEi,  eine  Weile 
durchgeht!  Warum  soll  der,  der  es  in  letsit^  Instant  av^ 
zeichnet,  mit  anderen  zusammenstellt,  nicht  auch  ein  gewisses 
Recht  daran  haben?  Besitzen  wir  doch  aus  früherer  Zeitkiun 
poetisches  und  kein  heiliges  Buch,  als  insofern  es  dem  Auf- 
und  Abschreiber  solches  zu  überliefern  gelang  oder  beliebte.^ 

„Wenn  wir  in  diesem  Sinne  die  vor  uns  liegende  gedrueJMe 
Sammlung  dankbar  und  lässlich  behandeln,  so  legen  wir  dw 
Herausgebern  desto  ernstlicher  ans  Herz,  ihr  poetisches  ArcbiiT 
rein,  streng  und  ordentlich  zu  halten.  Es  ist  nicht  nütze,  dass 
Alles  gedruckt  werde;  aber  sie  werden  sich  ein  Verdienst  um 
die  Nation  erwerben,  wenn  sie  mitwirken,  dass  wir  eine  Ger 
schichte  unserer  Poesie  und  poetischen  Cultur,  worauf  es  denn 
doch  nunmehr  nach  und  nach  hinausgehen  muss,  gründlich, 
aufrichtig  und  geistreich  erhalten.  ^^ 

Sehr  beifällig  begrüßte  auch  ein  anderer  Recensent  dtp 
Wunderhoms  (Heidelberger  Jahrbücher  2.  Jahrg.  1809.  1.  64* 
S.  231.)  das  Unternehmen. 

„Die  meisten,  eigentlichen  Volkslieder  stammen  aus  jener 
früheren  Zeit.  Unsere  Tage,  die  nur  im  politischen  Enthusias- 
mus etwas  Tüchtiges,  allgemein  Einschneidendes  gewirkt,  haben 
äüch  nur  Einen  tüchtigen  Gassenhauer,  den  Marseiller  Miarsch, 
hervorgebracht,  der  die  Franzosen  zu  Schlacht  und  Siegbef- 
geisterte,  während  die  Deutschen  ihr  Freut  euch  des  Leb^as 
girrten,  und  damit  aus  der  Ferne  schon  die  Genussras«rei  fae^ 
grüßten,  die  b^d  sax  die  Stelle  der  kurzen  Anstrengung  treten 
sollte.  Mit  den  Kleidermoden  drang  auch  die  individuelle  FoiSr 
sie  der  hohlen  Stände  zum  Volk  herab,  und  Op^marien,  i^ifCk- 
ralien,  Almanachslieder  schwimmen  im  bunten  Gemische  di^ofa 
einander,  und  es  ist  nichts  Nationelles  und  Charakteristiscbes 
mehr  im  Volksgesange,  außer  jenen  alten  Überresten,  za  luit- 
terscheiden.^^ 

„Darum  haben  die  Herausgeber  des  Wunderhoms  die 
Burgerkrone  verdient  um  ihr  Volk^  dass  9if  r.^t%ß%^n 
wof^  4<Bm  Untergänge,  was  sich  nooli  retten  l^^ß,^^ 

Awb  ¥9ik  49^  seiner  damals  erst  gegrüiadeten  ^tsetu^: 
Eljnuwi  und  ia^  Tiurtarus,  W^ar  1806.  Nr.  3.  und  4.  lobjke 
das  Unteraehm^n,  wenn  auch  nicht  Alles  daran.  HauptoäcU^ 
missfiel  ihm  aber  eigentlich  nur  Amim^s  Sprache  in  d^  44^ 


266 


handlung  „von  Volksliedern^.  „Aber  das  Merkwürdigste,  sagt 
F.,  von  diesem  Anhange  ist,  dass  derjenige,  der  sich  darin  für 
Volkspoesie  ereifert,  selbst  die  verschrobenste,  überkünstelte 
Sprache  führt^  Letzteres  veranlasst  Falk,  „Akten  aus  der 
großen  Gerichtsstube  des  Tartarus.  In  Sachen  contra  Achim 
V.  Arnim,  zu  Berlin  im  Viereck  Nr.  4^  folgen  zu  lassen,  worin 
Lessing,  Ramler  und  Herder  als  Richter  auftreten.  Es  han- 
delt sich  lim  Arnim^s  Stil.  Nur  Lessing  schweift  etwas  ab  und 
meint,  dass  Manches  im  Buche  selbst  am  besten  ungelesen 
bliebe.    Nach  der  Abstimmung  erfolgt  die  Sentenz: 

„Achim  von  Arnim,  angeklagt  wegen  Mangels  an  Ge- 
schmack, üppigen  Colorits,  Vernachlässigung  des  Stils,  der 
Sprache  und  der  Zeichnung;  auch  deshalb,  wie  aus  den  Acten 
zu.  ersehen  ist,  schuldig  erfunden:  wegen  höhern  Verdienstes 
aber,  als  genialer  Kopf,  als  Sammler  altdeutscher  Volksgedichte 
und  des  echten  Dichtergefühls ,  das  ihn  bei  diesem  schweren 
Geschäft  geleitet  hat,  freigesprochen  und  mit  einem  doppelten 
Ehrenkranz  nach  Elysiiun  entlassen.^^ 

Minder  günstig  spricht  sich  der  Rec.  darüber  auä  in  der 
(Hallischen)  Allgemeinen  Litteratur  -  Zeitung  1807.  Nr.  42. 
(1.  Bd.  Sp.  329—335.) 

y^lhr  Unternehmen  ist  lobenswerth  und  wäre  es  noch  mehr, 
wenn  sie  erstens  von  festeren  Begriffen  über  das,  was  sie  woll- 
ten, ausgegangen  wären,  und  sodann  ihr  ganzes  Geschäft  mit 
etwas  mehr  Nüchternheit  betrieben  hätten.^^ 

„Unter  diesem  Mancherlei  der  Dichtungen  nun,  die  unter 
dem  Namen  Volkslieder  umherirren,  bedarf  es  gewiss  einer 
großen  Vorsicht  und  sorgfältigen  Sichtung  des  Spreues  vom 
Korne,  da  man  so  manches  unter  dem  Volke  singen  hört,  was 
entweder  nicht  eigentliche  Volkspoesie  ist,  oder  bei  weitem  nicht 
zur  besseren  gehört;  manches,  von  Schmutz  und  Unsauberkeit 
überladen,  jedem  besseren  Gefühle  widersteht,  einiges  verdor- 
ben durch  fremde  Zusätze,  verstümmelt  durch  die  Zeit  —  da- 
her ohne  S[ritik  eine  solche  Sammlung  nicht  wohl  unternommen 
werden  kann  —  wahren  Unsinn  enthält,  einiges  ursprünglich 
schon  leerphantastisch  ist,  und  nichts  als  eiteln  Klingklang  in 
sich  fasst,  nur  wenige  oft  durch  echte  Naivität,  Herzlichkeit, 
Fülle  der  Phantasie  auch  einem  gebildeteren  Geschmacke  ge* 
nfijgen.^^ 


267 


,,Rec.  hat  sich  diese  Ergießung  als  Epilogus  hauptsächlich 
darum  erlaubt,  weil  unter  den  Einflüssen  des  Zeitgeistes,  wo 
nüchterne,  besonnene  Einsicht  so  gern  für  gemeine  gescholten 
wird,  so  viele  jetzt  alles  Heil  in  der  Volkspoesie,  ohne  oft 
recht  zu  wissen,  was  für  ein  Begriff  mit  dem  Worte  zu  ver- 
binden sei,  suchen,  und  weil  es  ihm  schien,  als  ob  wirklich 
auch  die  Herausgeber  dieser  sonst  in  vieler  Rücksicht  schätz- 
baren Sanunlung  theils  keine  ganz  bestimmte  Idee  von  ihrem 
Unternehmen,  theils  zu  abenteuerliche  Begriffe  von  der  Volks- 
poesie selbst,  wie  wenigstens  die  A  mimische  «angehängte  ganz 
dithyrambische  Abhandlung  bezeugen  mochte,  gehabt  hätten.^ 

Der  Recensent  in  der  Neuen  Leipziger  Litteraturzeitung 
1807.  103  Stück  ist  dagegen  gar  nicht  befriedigt  durch  das, 
was  die  Herausgeber  geleistet  haben.  „Ein  Kranz,  sagt  er, 
blieb  noch  inuner  zu  erringen  übrig,  der  Kranz  von  Eichen- 
zweigen, welchen  das  Vaterland  demjenigen  seiner  Söhne  schuldig 
sein  würde,  dem  es  gelänge,  die  schönsten  Blüten  altdeutscher 
Volkspoesie  aus  ihrer  Asche  wieder  ins  Leben  zu  rufen,  und 
nach  Befinden,  zugleich  mit  den  Blumen  neuerer  deutscher  Dich- 
ter von  gleichem  Duft  und  Glanz,  zu  Ehren  deutscher  Nation, 
der  Nachwelt  aufzubewahren.  —  Ob  aber  Hr.  von  Arnim  und 
Hr.  Clemens  Brentano  auf  jenen  £[ranz  Anspruch  machen  kön- 
nen? ob  sie  ein  so  ehrenwerthes  Ziel  erreicht,  oder  auch  nur 
mit  Bewusstsein  und  möglichster  Anstrengung  darnach  gerun- 
gen haben?  darüber  urtheile  der  unbefangene  Leser  selbst,  wenn 
er  sich  aus  dem  Folgenden  überzeugt  hat,  was  von  ihnen  ge- 
leistet oder  nicht  geleistet  worden  ist.^^  Einer  Sammlung  wie 
der  vorliegenden,  meint  Rec,  könnten  nur  zweierlei  Absichten 
zum  Grunde  liegen :  entweder  müsste  sie  eine  Vorlese  des 
Tre£Bichsten,  einzig  Aufbewahrungswerthen  sein,  oder  eine  der- 
gleidien  Auswahl  selbst.  Letztere  sei  von  den  Herausgebern 
beabsichtigt  worden  und  könne  von  mehreren  Seiten  aus  be- 
trachtet werden.  Rec.  führt  folgende  auf:  die  eigentlich 
musikalische,  die  wissenschaftliche  in  Hinsicht  auf 
Sprachkunde,  die  politisch -historische  und  die  rein 
poetische.  Er  geht  sie  alle  durch  und  findet,  dass  in  keiner 
Hinsicht  das  Wunderhom  befriedige.  „Zwar  ist  nicht  zu  ver- 
kennen, dass  die  Herausgeber  uns  manches  der  Erhaltung  Wür- 
diges, kräftig  und  lieblich  Anziehendes  zum  erstenmal  in  einer 
gedruckten  Sammlung  dargeboten  haben;  allein  wenn  sie  da- 


268 


g«gen  80  mancherlei  Schmackloses,  Gemeines  und  Plattes,  was 
den  Kenner  deutscher  Volkspoesie  unmöglich  freuen,  noch  dem 
Fremdling  einen  vortheilhaften  Begriff  von  deutscher  Art  und 
Kunst  beibringen  kann,  der  verdienten  Vergessenheit  zu  ent- 
reißen suchten,  so  können  sie  sich  deshalb  gewiss  nicht  auf 
den  uneingeschränkten  Dank  des  Freundes  vaterländischer  Lit- 
teratur  Rechnung  machen.^ 

Ueberall  hatte  man  wenigstens  dem  Unternehmen  Gerech- 
tigkeit widerfahren  lassen.  Nun  aber  fand  sich  im  folgenden 
Jahre,  1808,  ein  Gegner  ein^  der  an  Allem  nicht  ein  gutes 
Haar  ließ. 

J.  H.  Voss  beginnt  seinen  „Beitrag  zum  Wunderhom^ 
(Morgenblatt  1808.  Nr.  283.  284.)  mit  folgenden  Worten :  J>ie 
bei  Mohr  und  Zimmer,  unter  dem  Titel  des  Knaben  Wun^- 
derhorn,  im  J.  1806  erschienene  Sammlung  alter  Volkslieder, 
deren  geheuchelte  Einfaltsmiene  eine  zu  nachsichtige  Aufinun- 
terung  erschlich,  ist  seitdem,  was  der  edle  AufSmuntei-er  nicht 
argwöhnte,  als  ein  zusammengeschaufelter  Wust,  voll  muthwil- 
liger  Verfälschungen,  sogar  mit  untergeschobenem  Machwerk, 
gerügt  worden*).  Ohne  sich  gegen  die  schmähliche  Beschuldi- 
gung zu  verantworten,  haben  die  rüstigen  Schaufeler  ihren 
Wust  in  der  letzten  Messe  mit  zwei  ansehnlichen  Haufen  ver- 
mehrt.^   Diesem  Eingange  fügt  er  folgende  Anmerkung  hinsu: 

„*)  Eine  verständliche  Andeutung  dieser  forgery  gaben 
die  Herren  Büsching  und  von  der  Hagen  bei  ihrer  Sammlang 
deutscher  Volkslieder,  Berlin  1807,  wo  S.  VIIL  gesagt  wird: 
„Noch  weniger  haben  wir  diese  Lieder  durch  Auslassungen, 
Zusätze,  Ueberarbeitung  und  Umbildung  versetzen,  Fragmente 
ex^änzen,  oder  gar  ganz  eignes  Machwerk  dabei  einBcfawärsen 
wollen;  dies  ist,  aufs  gelindeste,  eine  poetische  Falschmünierei, 
wofür  die  Historie  keinen  Dank  weiß.^  Grade  heraus  werden 
die  Sammler  des  Wunderhorns  von  Fr.  Schlegel  in  den 
Heidelb.  Jahrbüchern  der  Literatur  1808.  I.  Heft  S.  135 »  als 
solche  Schmuggeler  genannt.  „Wenn  nur,^  heißt  es  von  ihrer 
Sammlung,  „auch  die  Sorgfalt  der  Behandlung  und  der  —  Aus- 
wahl einigermaßen  entspräche!  wenn  nur  nicht  so  manches 
Schlechte  mit  angenommen,  so  manches  Eigne  undFremi- 
artige  eingemischt  wäre,  und  die  bei  einigen  Liedern  sicht- 
bare  willkürliche    Veränderung    nicht  bei   dem 


.y 


269 


Th«Oe   der   Leser    ein   gerechtes    Misstrauen   auch  gegen   die 
übxigen  einflößen  müsstel^ 

Voss  war  nicht  mehr  der  sanfte  und  stille  Jüngling  von 
1773;  er  war  alt  geworden,  sehr  reizbar  und  mitunter  sehr 
grämKch.  Seine  classischen  Studien  hatten  ihn  n&chtern,  seine 
gelehrten  Streitigkeiten  derb  und  heftig  gemacht.  Erstarrt  in 
seinen  geistigen  Richtungen  und  sittlichen  Grundsätzen  war  cir 
schonungslos  und  misstrauisch  gegen  Alles  was  seinem  Wesen 
entgegentrat  oder  nur  entgegen  zu  treten  schien;  die  neuere  Rich- 
tung der  Poesie  und  Philosophie  misshagte  ihm,  er  witterte 
Pietismus,  Mysticismus,  Unsinn  aller  Art,  Untergang  des  gu- 
ten Geschmacks,  Geistesbarbarei.  Was  ihm  früher  lieb  und 
werth,  war  ihm  jetzt  nicht  allein  fremd,  sondern  konnte  ihta 
widerwärtig  und  verhasst  werden.  IVüher  hätte  er  das  Wun-> 
derhom,  wie  es  nun  einmal  war,  gewiss  anders  willkommen 
heißen!  Von  Gottingen  aus  schrieb  er  24.  Febr.  1773  an  sei- 
nen Freund  Brückner:  „Man  hat  im  Englischen  so  vortreffHohe 
alte  Balladen  aus  dem  15.  Jahrhundert.  Sollten  in  Mecklen- 
burg nicht  noch  einige  von  unsem  alten  sich  erhalten  haben? 
Wo  ich  nicht  irre,  haV  ich  bbweilen  solche  alte  Abentheuer 
absingen  hören.  Bemühe  Dich  doch  ja  um  alle  Gassen- 
hacier,  und  wenn  Du  was  Gutes  findest,  so  theil^s  mit;^  und 
abermals  von  dort  aus  den  13.  Juni  desselben  Jahrs  an  den- 
selben: ^ber,  lieber  Brückner,  ja  alte  Gassenlieder  mit  Ge- 
schichten gesammelt!  Einzelner  Stellen  entsinne  ich  mich  z.  B. 
eine  Zauberin  flieht  vor  einem  Zauberer,  und  nift  dabei:  Hhine 
my  Nacht,  un  vor  my  Dag,  dat  keen  Minsch  my  seen  magl 
Der  Zauberer  eilt  mit  Stiefeln  hinter  ihr  her,  worin  jeglieker 
Schritt  sieben  Meilen  ist." 

Vossens  Angriff  ist  von  seinem  Standpunkte  aus  wol  zu 
entadiuldigen,  aber  nicht  2u  rechtfertigen:  er  hatte  nicht  allein 
das  Wunderhorn  schlecht  gemacht,  sondern  auch  die  Heraos- 
geber  zu  verdächtigen  gesucht. 

Arnim  vertheidigte  sich  von  Cassdi  aus  8.  December  1808 
im  Intelligenzblatt  der  Jen.  A.  L.  Z.  1809.  Sp.  22—24.  Er 
nennt  die  heimliche  Einführimg  eigener  Arbeit  erlogen,  in- 
dem er  sich  auf  seine  Ankündigung  des  1.  Bandes  bezieht 
(worin  es  heißt  „Von  uns  gesammelt,  geordnet  imd  ergänzt^ *^ 


*)  In  dem  Titel  (t.  vjotü  S.  ^62)  stellt  übrigent  oor  „geesmmelt« ! 


270 


und  glaubt  somit  „hinlänglich  allen  Vorwurf  der  Heimlichkeit 
in  diesen  Ergänzungsversuchen  schöner  Fragmente  zu  yeroich- 
ten^  u.  8.  w.  Schließlich  droht  er,  gegen  Voss  die  Gerichte 
in  Anspruch  zu  nehmen!  „Doch  jetzt  ein  ganz  ernsthaftes  Wort 
an  Sie;  sowol  wegen  jener  Beschimpfimgen,  als  auch  wegen 
der  Beschuldigung  einer  von  mir  erschlichenen  Recension  in  der 
Jenaer  Zeitung,  vorüber  Sie  Sich  mit  Hrn.  Hofrath  Eich- 
städt  verständigen  mögen,  verlange  ich  binnen  sechs 
Wochen  öffentliche  Abbitte,  wenigstens  ein  öffentliches 
Bekenntniss,  dass  Sie  Sich  geirrt  haben;  sollten  Sie  diesen 
Termin  versäumen,  so  werde  ich  Sie  als  einen  boshaften  Ver- 
läumder  gerichtlich  in  Heidelberg  und  außergerichtlich  durch 
Abdruck  Ihres  ganzen  Wörterbuchs  von  Schimpfreden  bestra- 
fen, womit  Sie  allerlei  Männer,  unter  denen  ich  der  unbedeu- 
tendste bin,  seit  dem  Anfange  ihrer  litterarischen  Laufbahn  ge- 
schändet und  unschuldige  Leute  genug  zum  Nachsprechen  ver- 
fuhrt haben.^ 

Voss  antwortete  gleich  darauf  in  demselben  Blatte  S.  31.  32., 
und  meinte  zu  der  Entgegnung:  „Warum  in  einer  verlornen 
Anzeige?  warum  nicht  auf  dem  Titel  des  Buchs?  warum  nicht 
wenigstens  über  den  willkürlich  ergänzten  Fragmenten 
selbst?  Dann  erst  wären  die  Ergänzungen  entschuldigt.*^ 
Voss  blieb  im  Ganzen  bei  seiner  Behauptung,  was  schon  die 
Worte,  womit  er  seine  Antwort  schließt,  darthun:  „Der  wahr- 
hafte und  unverfängliche  Titel  des  Buchs  wäre  dieser: 
Alte  deutsche  Lieder  und  Schnurren,  auf  Glauben 
zusammengerafft,  umgearbeitet  und  ausgeflickt;  su- 
gleich  mit  neuen  Liedern,  auch  eigenen,  untermengt, 
von  N.  N.« 

Arnim  blieb  keine  Antwort  schuldig.  Von  Berlin  aus 
20.  Januar  1809  richtet  er  seine  Entgegnung  im  InteUigens- 
blatt  der  Jen.  A.  L.  Z.  1809.  S.  103.  104.,  nicht  eben  sehr 
zart  und  schließt  mit  den  Worten: 

„Sie  sprechen  am  Schlüsse  noch  einmal  von  eigenem  Mach- 
werke und  willkürlichen  Aenderungen,  also  ganz  können  Sie 
Ihr  Unrecht  noch  nicht  einsehen;  nun  wolan,  so  fordere  ich 
Sie  auf,  mir  ein  Lied  anzuzeigen,  dem  kein  älteres 
Fragment  oder  Sage  zum  Grunde  liegt,  oder  eine  Aen- 
derung,  für  die  ich  keinen  Grund  anzugeben  wüsste, 
aus   höherer   Kritik   oder  allgemeiner  Verständlich- 


271 


keit.  -*-  Gestehen  Sie  nur,  wer  mit  ruhiger  Ueberzeugong 
so  etwas  fodern  kann,  der  ist  noch  nicht  zum  Verstummen 
gebracht^ 

Die  Sache  selbst  hatte  durch  dies  litterarische  Intermezzo 
mehr  verloren  als  gewonnen,  denn  Gewinn  kann  man  das  nicht 
nennen,  dass  die  Herausgeber  selbst  ihre  Ergänzungen  schöner 
Bruchstücke  eingestanden ,  die  Litteraten  konnten  das  ohnedem 
wissen  und  ftkr'^s  große  Publikum  kann  es  auch  jetzt  noch  gleich- 
gültig sein;  dagegen  ist  der  Nachtheil  ersichtlich:  die  Heraus- 
geber scheinen  nämlich  durch  die  Vossischen  Angriffe  ihrem 
unternehmen  entfremdet  worden  zu  sein,  denn  von  alle  dem 
was  sie  für  das  Wunderhorn  noch  in  Ausführung 
bringen  wollten,  ist  nie  etwas  ins  Leben  getreten. 

In  Bezug  auf  das  Wunderhorn  und  seine  Fortsetzung  er- 
schienen noch  von  Seiten  der  Herausgeber  die  beiden  folgen- 
den Anzeigen,  die  erste  bloß  von  Brentano,  die  andere  von 
beiden  Herausgebern  unterzeichnet.  Intelligenzblatt  der  Jen. 
A.  L.  Z.  1809  vom  8.  März  Sp.  147. 

„Anzeige  betreffend  die  alt -deutsche  Lieder -Sammlung:  des 
Knaben  Wunderhorn.     3.  Bände.^ 

„Da  die  Absicht,  aus  welcher  deutschliebenden  Lesern  die 
nun  mit  dem  2ten  und  3ten  Bande  und  den  Kinderliedem  ge- 
schlossene Sammlung  mannigfacher  alter  und  immer  sich  er- 
neuernder Lieder  und  Volkslieder,  unter  dem  Namen:  Wun- 
derhorn, mit  nicht  geringer  Mühe  und  großer  Liebe  zu- 
'sammengestellt  worden,  hie  und  da,  theils  aus  gutmeinender 
Eoitik,  theils  irrigem  üebelverständniss ,  gänzlich,  doch  kei- 
neswegs mir  unerwartet,  misdeutet  wurde:  so  finde  ich  f&t 
nothig,  hier  voraus  anzuzeigen,  was  ich  ohne  das  zu  leisten 
entschlossen  war,  nämlich,  nach  meinen  Kräften  und  mit  der 
Beihülfe  einiger  Freunde,  welche  während  unserer  Sammlung 
dahin  arbeiteten,  eine  gedrängte  Geschichte  der  Volkslie- 
der, mit  möglicher  Zeitbestimmung,  wie  auch  eine  Kritik 
der  ächten  und  zweifelhaften  Stücke  unserer  Sammlung  nach 
einiger  Zeit  folgen  zu  lassen,  um  auch  das  litterarische  Be- 
dürfiiiss  zu  befriedigen.  Es  war  durchaus  unmöglich,  eigene 
Liebe,  das  verschiedenste  lebendige  Interesse  und  das  bloß 
gelehrte  zugleich  zu  befriedigen;  und  ich  hoffe,  durch  we- 
nige Bogen  jedem  Bedürinisse  zu  zeigen,  was  ihm  in  dem 
großen  Umfang  der  Sammlung  taugen  kann,  indem  ich  zu- 


272 


gleich  nicht  in  Abrede  sein  kann,  dass  ich  allen  Gesinnun- 
gen gerne  wenigstens  Etwas  geleistet  hätte. 

C.  Brentano.* 

Intelligenzblatt  der  Jenaischen  A.  L.  Z.  10.  März  1810.  Sp.  166. 

«An  die  Leser  des  Wunderhorns.*) 
Vielen  schriftlichen  und  mündlichen  Auffoderungen  zur  Fort- 
setzung des  Wunderhorns  glauben  wir  die  öffentliche  Anzeige 
schuldig,  dass  diese  Fortsetzung  zwar  nicht  in  der  nächsten 
Messe,  aber  doch  gewiss  in  den  nächsten  Jahren  erscheinen 
wird.  Beiträge  sind  uns  willkommen;  wir  bitten,  sie  durch 
Buchhändlergelegenbeit  an  die  hiesige  Realschulbuchhandlung 
gelangen  zu  lassen.  Ein  Anfang  dieses  künftigen  vierten  Ban- 
des wird  Berichtigungen  und  Zusätze  zu  den  erschienenen  drei 
Bänden  enthalten;  auch  wollen  wir,  was  bisher  ausser 
unserem  Plane  lag,  litterarische  Anmerkungen  zur 
Geschichte  des  Volksliedes  und  unserer  Sammlung 
den  Littcratoren  zu  gefallen  hinzufügen,  wobei  wir 
uns  die  Hülfe  unserer  Freunde  Grimm  in  Cassel  ver- 
sprechen, deren  gründliche  Kenntniss  bisher  so  erquicklich 
zur  Anregung  lebendiger  Ansicht  der  älteren  deutschen  Lit- 
teratur  gewirkt  hat  Was  uns  durch  Recensenten  an  gutem 
Rath  und  Berichtigung  geworden  ist,  soll  benutzt  werden; 
aber  freilich  ist  diese  Ausbeute  bei  den  späteren  beiden  Bänden 
nicht  groß.  Die  Recension  im  Morgenblatte  (1808.  Nr.  283. 
284.)  enthielt  außer  der  widrigsten  Verdrehtheit  und  Unwis- 
senheit durchaus  nichts  als  Schimpfreden;  eine  andere  in  den 
Heidelberger  Jahrbüchern  (2.  Jahrg,  1809.  1.  Bd.  S.  222—237.), 
die  uns  vollkommen  zu  verstehen  schien  und  manches  Lehr- 
reiche hoffen  ließ,  ist  mit  der  Einleitung  abgebrochen  worden 
und  unbeendigt  geblieben;  eine  andere  in  der  Hallischen  Zeitung 
(1807,  Nr.  42.  1.  Bd.  Sp.  329  —  335.)  ist  beim  gänzlichen  Man- 
gel an  Volkssinn  und  Kenntniss  so  urtheilslos,  unveränderte  alte 
Lieder  für  neu,  und  halbergänzte  für  alt  zu  erklären;  das 
ernstliche  Bemühen  des  Recensenten  vom  zweiten  Bande  in  der 
Jenaer  Zeitung  (1810.  Nr.  35  —  38),  sich  in  das  Litterarische 
hineinzuarbeiten,  verdient  alles  Lob,  ein  paar  Nachweisungen 
über  den  früheren  Abdruck  von  Liedern  sind  uns   lieb;   wenn 


*)  Die  NachweUangen  in  Klammern  habe  ich  hinaugefugt.    H.  y.  F. 


278 


et  (v.  d.  Hageti)  sioh  noch  ein  pftar  Jahre  fleißig  knit  dem  Ge- 
gengtaiide  beschäftigt^  wird  er  vielleicht  anders  daräber  urihei- 
leü;  tfX  einet  Sa,tbm\nhg  in  unserer  Gesinnong  gehört  überhaupt 
mehr,  als  er  2a  ahnden  scheint,  wovon  aber  der  Jenaer  Re* 
censent  des  ersten  Bandes  (1806.  Nr.  18. 19.  Gothe)  sehr  wohl 
unterrichtet  war.  Haben  die  beiden  später  erschienenen  B&nde 
manche  eigenthütnliche  Freude  gewährt,  die  dem  ersten  fdilte: 
so  danken  es  die  Leser  hauptsächlich  den  Erinnerungen  jenes 
Recetisenten  des  ersten  Bandes,  der  mit  Weisheit  das  Lit- 
terarische und  Kritische  von  unserem  Unternehmen  sonderte, 
und  uns  immer  aufinerksamer  machte  auf  charakteristische  In^ 
dividualitäten  in  den  älteren  Liedern ,  die  wir  durch  Emenemng 
und  durch  Zusammenstellung  mit  einigen  neueren  Liedern'  noch 
mehr  herauszuheben  trachteten.  Wir  bedauern,  dass  die  Samm- 
lungen, die  der  erste  Theil  des  Wunderhoms  veranlasste,  wir 
meinen  die  von  Seckendorf,  Docen,  Hagen  und  Bü- 
sching  herausgegebenen,  sobald  aufgehört  haben;  Secken- 
dorf hat  ein  fr&her  Tod  hinweggerafft,  ihm  schien  Glftck  und 
Gelegenheit  besonders  günstig.  Wenige  Jahre  ändern  in  un- 
serer Zdt  sehr  viel,  —  mit  Bedauern  müssen  wir  bemer- 
ken, dass  jetzt  ein  breites  litterarisches  Geschwätz, 
das  in  Überflüssigen  Citaten  stolziert,  die  erwachte 
tiieh^  £U  älterer  deutschen  Litteratur  allmählich 
wieder  unterdrückt  und  lebendigere  Menschen  da- 
von zurückschreckt! 

Berlin  den  1.  März  1810. 

L.  Achim  von  Arnim.    Clemens  Brentano.^ 

Nachdem  einmiU  über  das  Wunderhom  ein  so  heftiger  Streit 
ausgebrochen  war,  hatte  Goethe  keine  Lust,  sich  weiter  mit 
einer  Beurtheilung  der  beiden  letzten  Bände  zu  befassen.  Diese 
übernahm  nun  von  der  Hagen.  Er  fühlte  es  nicht  gerathen, 
„die  einzelnen  Lieder  mit  sicheren  und  treffenden  Zügen  nach 
ihrer  inneren  Bedeutung  geistreich  und  kunstreich''  zu  würdi- 
gen, t^  „hoffi;  sich  am  besten  aus  der  Sache  zu  ziehen,  wenn 
er  hier  seilie  Betrachtung  besonders  auf  die  andere  bis  dahin 
Aoch  übersehene  Seite,  die  litterarische  und  instorisohe,  und 
zwar  diesmal  besonders  in  Beziehung  auf  den  2.  Band  richtet.'' 
Das  hat  denn  von  der  Hagen  mit  großer  Weitläufigkeit  ge«- 
than,  auf  88  Spähen,  Jenaische  Allg.  Lit- Zeitung  1810.  Nr.  35 


274 


—  38.   Auf  den  Vossesohen  Streit  will  er  sich  nicht  weiter  ein- 
lassen; er  betrachtet  den  Vorwurf  der  Interpolation',  den  Voss 
den.  Herausgebern  machte,  durch  ihre  Erklärung  im  Intelligenz- 
Blatte  der  Jen.  Allg.  LZ.  1805.  S.  891  und  1809.  S.  23.  besei- 
tigt^  darüber  könne  nun  kein  Streit  mehr  obwalten.     „Dieser, 
fährt  er  dann  fort,  besteht  freilich  noch  über  die  andere  Frage: 
ob  die  Herausgeber  hier  nicht  auch  ganz  eigene  Poesieen  mit 
einfließen  lassen?   Die  Nach  Weisung  derselben,  zu  welcher  sie 
(S.  104.  des  Vorjahr.  Intell.- Blattes)  aufgefordert  haben,  mochte 
auf  jeden  Fall  sehr    schwierig  sein.      Da   diese    Aufforderung 
noch   keine  gerade  Ableugnung  enthält,   so   darf  Rec.  wol  sa- 
gen,   dass  er   seiner   Seits  allerdings  geneigt   ist,   an  die  Ein- 
mischung von  dergleichen  Liedern  zu  glauben,  und  diese  nicht 
eben  für  die  schlechtesten  der  Sammlung  zu  halten.   Rec.  hätte 
auch  eben  so  wenig   etwas  dagegen,   als  gegen  die  eingestan- 
dene Interpolation,    wenn  die  in  beiden,   so    wie  in  der  Auf- 
nahme ganz  neuer   bekannter  Lieder   und  der   eigenmächtigea 
Behandlung  der  wirklich  alten  sich  ausdrückende  Absicht  voll- 
ständig durchgeführt  wäre.    Es  war  nämlich  gar  kein  geringes 
Unternehmen,  den  großen  Kreis  des  nationalen  Lebens,  seiner 
Sitten,  Gebräuche,  Denkweise,  Empfindungen,  Fabeln,  Sageu 
und  Geschichten,  in  allgemein  verständlichen,  wahrhaft  volks- 
mäßigen Liedern  zusammen  zu  stellen,  ohne  alle  Rücksicht  auf 
Alt  oder  Neu  oder  sonstige  gelehrte  Beziehung,   sondern  gaiis 
in  der  Art,  wie   einige  bekannte  Goethe^sche  Lieder,  von 
denen  vielleicht  Niemand  mehr  weiß,  ob  sie  oder  wie  viel  von 
ihnen  dem  Volke  oder  ihm  angehören.     Etwas  dem  Aehnliches 
hat  den  Herausgebern  gewiss  vorgeschwebt.    Aber  so  wie  ihre 
Beiugniss  und  Fähigkeit  dazu  noch  dahin  gestellt  bleibt,  so  ist 
auch  ihr  Werk  gar  nicht  in   diesem  Geiste   vollendet.     Einmal 
ist  die  Auswahl  des  Gesammelten  gar  nicht  dadurch  bestimmt| 
sondern  sehr  vieles  hat  nur  ein  antiquarisches  oder  historisches 
Interesse,  z.  B.  so  manche  von  den  historischen  Liedern  und 
Gedichten.     Sodann  stellt  sich  die  ganze  Sammlung  durch  die 
jedesmalige  Hinweisung  auf  ihre  Quellen,  wie  es  auch  um  ei- 
nige derselben,  besonders  um  das  so  häufige:  Mündlich,  und: 
altes   Manuscript,    stehen    mag  —   unwiderruflich   vor  die 
zwar  eben  nicht  geachtete  (vgL  Bd.  L  S.  457)  Kritik,  und  gibt 
ihr  selber  den  Maßstab  in  die  Hand,  die  Hinweisungen  zu  prü- 
fen, die  Quellen  so  weit  als  möglich  auflEUSuchen  und  zu  ver^ 


275 


gleichen.  Die  Herausgeber  können  sich  darüber  um  so  we- 
niger beschweren,  als  kürzlich  auch  einer  von  ihnen  (Bren- 
tano, im  vorjähr.  Intell.-Bl.  S.  147  — )  ähnliche  Anmerkungen 
über  ihre  Sammlung  angekündigt  hat.^ 

Da  das  Wunderhom  eine  so  bedeutende  Stelle  in  der  Ge- 
schichte der  deutschen  Volkspoesie  einnimmt,  so.  mögen  nun 
noch  einige  Ansichten  und  Meinungen  jener  Zeit  folgen. 

Docen,  Miscellaneen  1.  Bd.  S.  252.  „so  ist  es  ebenfalls 
zu  wünschen,  dass  die  ursprüngliche  Form  und  Integrität  un- 
srer  alten  Volkslieder  erhalten  werde;  wobei  es  aber  thoricht 
wäre,  aus  dieser  bloßen  Rücksicht*)  die  Herausgeber  des  Wun- 
derhoms  zu  tadeln.^ 

Docen,  Zusätze  zu  den  Miscellaneen  1809.     S.  6. 

„Manchem  Tadel  über  jene  willkürliche  Behandlungsart  die- 
ser Lieder,  wodurch  der  Werth  des  Wunderhoms  in  einen 
sehr  zweideutigen  Ruf  gebracht  worden,  würden  die  Heraus- 
geber leicht  vorgebeugt  haben,  wenn  sie  gleich  anfänglich  sich 
vernehmlich  über  den  von  ihnen  gewählten  Zweck  erklärt  hät- 
ten, mit  der  beruhigenden  Versicherung  für  Alle,  die  dem  Mo- 
dernisieren abgeneigt  sind,  dass  für  die  Aufbewahrung  der  Ori- 
ginale ihrer  Sammlung  hinlänglich  gesorgt  sei,  und  dass  sie 
selbst  einer  andern  Benutzung  derselben  nicht  hinderlich  sein 
würden,  sobald  durch  ihre  Bemühungen  die  Stimmung  des 
Publikums  für  den  schönen  Sinn  dieser  Lieder  hinlänglich  ge- 
weckt wäre.  Unterdessen  hat  Hr.  Cl.  Brentano  neulich  einen 
kritischen  Anhang  zum  Wunderhom  versprochen,  um  auch  den 
Gesinnungen  jener  Uufreunde  des  Modernisierens  zu  genügen; 
da  er  aber  dieses  in  wenigen  Bogen  zu  leisten  sich  vorgesetzt 
hat,  so  kann  dabei  an  eine  vollständige  Variantensammlung 
wohl  nicht  gedacht  sein,  die  wir  —  wie  so  etwas  denn  schon 
an  sich  eine  beschwerliche  Leserei  sein  würde  —  von  den  Her- 
ausgebern auch  nicht  einmal  zu  fordern  berechtigt  sind.  — 
Uebrigens  ist  der  bedeutendste  Vorwurf,  der  dem  Wunderhom 
gemacht  werden  kann,  grade  noch  am  wenigsten  beachtet  wor- 


*)  »So  geht  es  oft:  statt  es  jemandem  Dank  zu  wissen,  für  eine  gute,  un- 
billig vergessene  Sache  auf  irgend  eine  Art  mitgewirkt  zu  haben,  beäugelt 
der  müssige  Tadel  das  Wie,  und  vergisst,  dass,  wenn  es  auf  ihn  ange- 
kommen  wäre ,  das  Ganze  unberührt  und  unbekannt  noch  hundert  Jahre  hätte 
fortmhen  können.^    Docen. 

fTeimmr.  Jk  U.  lg 


276 


den.  Dass  die  Herausgeber  mehrere  wenig  genießbare  Stücke 
durch  Umformen  unsrer  Liebe  werth  gemacht,  bei  andern  ent- 
behrliche oder  störende  Strophen  unterdrückt ,  und  in  sehr  vie- 
len Liedern  einzelne  matte  oder  unklare  Zeilen  geändert  haben, 
—  wer  wollte  alles  dieses ,  eingedenk  des  Zwecks  der  Samm- 
lung, nicht  mit  Beifall  und  Dank  erwiedem?  Allein  dadurch, 
dass  sie  oft  ganz  disparate  Elemente  und  Glieder  als  Ein  Gan- 
zes darbieten,  haben  sie  offenbar  der  Poesie  geschadet; 
denn  was  könnte  für  die  lyrische  Gattung  misslicher  sein,  als 
ein  solches  Mengen  und  Aneinanderleimen  verschiedenartiger 
Theile?« 

Briefe  eines  reisenden  Nordländers.  Geschrieben  in  den 
Jahren  1807  bis  1809.  Herausgegeben  von  J.  F.  Reichardt. 
Neue  Aufl.  (Leipz.  und  Altenb.,  Brockh.  1816.  8^.)  Seite  156: 

„Es  ist  eine  Schwester  (Bettina)  des  herum  schwirrenden^ 
lustigen,  witzigen  Dichters  Brentano  aus  Frankfurt  am 
Mayn,  mit  dem  ein  Herr  von  Arnim  Volkslieder  in  Wun- 
derhörner  sammelt,  die  nur  den  Einen  Fehler  haben,  dass 
sie  fast  alles,  was  hineingeschüttet  wird,  verwandeln,  sonst  wär^ 
es  ein  gar  erfreuliches  und  rühmliches  Unternehmen.^ 

Ergänzungsblätter  zur  (Hall.)  Allg.  Litteratur-Zeitung  1809. 
Nr.  57.    Sp.  449—456. 

Des  Knaben  Wunderhorn  2.  und  3.  Band. 

„Nach  einer  zweijährigen  Pause  erscheinen  die  Herausge- 
ber dieser  Sammlung  mit  der  längst  angekündigten  Fortsetzung 
wieder  vor  dem  Publicum,  und  zwar  mit  zwei,  und,  wenn  wir 
den  Anhang  der  Kinderlieder  dazu  rechnen,  mit  drei  Lieferun- 
gen zu  gleicher  Zeit.  Konnte  man  der  ersten  1806  erschiene- 
nen und  von  uns  bereits  (A.  L.  Z.  1807.  Nr.  42)  angezeigten 
den  Vorwurf  mit  Recht  machen,  sie  trage  die  Spuren  der  Eil- 
fertigkeit mit  der  sie  zusammengerafit  worden  zu  sichtbar  an 
sich;  vermisste  nicht  nur  Rec,  sondern  der  größte  Theil  der 
unbefangenen  Lesewelt  Strenge  der  Wahl  und  Sonderung  mit 
Genauigkeit  in  Anordnung  und  Behandlung  des  Gesammdten; 
so  war  zu  erwarten,  die  Unternehmer  des  an  sich  gewiss  lo- 
benswürdigen  Instituts  würden  die  für  ein  solches  Geschäft 
nicht  unbeträchtliche  Zwischenzeit  dazu  benutzt  haben,  den  ge- 
rechten Forderungen  des  Publicums  bei  dieser  Fortsetzung  mehr 
zu  genügen,  um  der  deutschen  Litteratur  ein  Werk  zu  sehen- 


277 


ken,  das  dem  gepriesenen  von  Percy  und  dem  noch  nicht  ge- 
nug gekannten  ebenfalls  trefflichen  (Minstrelly  of  the  Scottish 
Border,  in  three  Volumes.  Edinburgh  1803)  an  die  Seite  ge- 
setzt zu  werden  verdiente.  Allein  leiderl  sind  unsere  Hoffnun- 
gen nur  kärglich  erfüllt  worden.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass 
die  Herausgeber  uns  manches  sehr  gute,  theils  schon  bekannte, 
theils  unbekannte,  geliefert  haben,  und  dafür  sei  ihnen  auch 
unser  voller  Dank  gebracht,  allein  wir  würden  dies  Gute  mehr 
schätzen,  wenn  es  nicht  unter  so  vielem  Trivialen  und  Schlech- 
ten stände.^ 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.  LH.  Jahrg.  (1810) 
9.  Heft    S.  50-^52. 

^ben  darum  aber,  weil  diese  Poesie  keine  Historie  hat, 
und  darum  auch  nicht  historisch  behandelt  werden  kann,  moch- 
ten wir  die  Herausgeber  dieser  Sammlung  in  Schutz  nehmen 
gegen  die  Beschuldigung,  dass  sie  zu.  wenig  die  historische 
Treue  in  der  Anordnung  und  Behandlung  des  Buches  geachtet 
hätten.  Sie  haben  besonders  im  ersten  Bande  eimcelne  Ge- 
didite  eingelegt,  andere  mannigfaltig  restauriert,  und  durch 
Zusammenschieben  fragmentarisch  geschiedener  Theüe  ^e  zu 
einem  zusammenhangenden  Ganzen  gefugt,  und  rieh  also  bei- 
nahe alle  die  Freiheiten  genommen,  die  wir  eben  als  störend 
die  eigentliche  Geschichte  dieser  Gattung  angeführt.  Die  Her- 
ausgeber wollten  nicht  eine  Chronik  deutscheu  Volksgesanges 
geben ,  das  würde  bei  dem  unmäßigen  Umfange  dieser  Gattung 
und  bei  dem  vielen  Schlechten,  das  sie  au%€nommen,  eine  un- 
erschwingliche und  undankbare  Unternehmung  gewesNi  sein; 
sie  wollten  vielmehr  in  Einen  Brennpunkt  die,  durch  das  Volk 
zerstreuten  Strahlen  sammeln,  um  im  engsten  Räume  einge- 
schlossen, was  über  die  Weite  unscheinbar  auseinander  gelau- 
fen, der  Anschauung  vorzuführen.  Oft  genug  musste  der  Fall 
eintreten,  dass  von  guten  Gedichten  nur  ein  Haufen  Trümmer 
sich  erhalten  hatte.  Der  Witz  gefiel  sich  darin,  diese  Frag- 
mente so  zu  ordnen,  dass  aus  fremdartigen  Gliedern  verschie- 
dener Gattungen  doch  ein  Bild  erwuchs,  das  nichts  Wider- 
sprechendes in  seiner  Zusammensetzung  zdgte.  Ein  solches 
Spiel,  in  der  Plastik  kaum  auszufuhren,  muss  in  der  Poesie 
als  ein  Erlaubtes  zugegeben  werden,  öfter  noch  musste  ei- 
niges Gute   Schlechtem    oder  Mittelmäßigem  eingesprengt  er- 

18^ 


280 


Noth  oder  aus  Missverständniss,  vorgenommen.  Die  Quellen- 
angabe ist  oft  mit  Absicht  oder  aus  Nachlässigkeit  verschwie- 
gen oder  sehr  ungenügend  gelassen  worden:  so  ist  das  vieldeu- 
tige „mündlich"  auch  da  beigefugt,  wo  alte  Texte  zu  Grunde 
liegen  oder  namhafte  Verfasser  allgemein  bekannt  waren  (Gott 
grüß  euch,  Alter  1  mündlich).  Die  Ueberschriften,  so  treffend 
sie  oft  ausgefallen ,  sind  doch  mitunter  nicht  allein  dunkel,  son- 
dern auch  albern.  Neben  den  wirklich  schonen  geistlichen  Lie- 
dern sind  bei  weitem  mehr  höchst  geschmacklose  und  läppi- 
sche Stücklein  aufgenommen;  die  Capuziner-  und  Jesuitenver- 
selei und  die  süßliche  protestantische  Pietistenpoesie  sind  über- 
haupt mit  besonderer  Vorliebe  vertreten. 

Trotz  dem  und  alledem  ist  und  bleibt  das  Wnnderbom  ein 
Werk,  dessen  wir  uns  immer  freuen  dürfen  und  mit  Liebe  und 
Dank  gedenken  müssen.  Es  war  von  nachhaltiger  guter  Wir- 
kung, zunächst  auf  unsere  lyrische  Poesie,  dann  auch  auf  die 
Musik  und  die  zeichnenden  Künste;  es  hat  das  deutsche  Ele- 
ment mit  wieder  zu  Ehren  gebracht;  es  hat  den  Sinn  für  das 
Volksthümliche  geweckt  und  genährt;  es  hat  das  Studium  des 
Volksliedes  angebahnt  und  Manchen  zum  Sanuneln  und  For^ 
sehen  ermuntert,  so  dass  nach  und  nach  der  Schatz  unserer 
alten  Lieder  aus  seltenen  Büchern  und  Handschriften  ans  Licht 
getreten  ist  und  die  noch  im  Volke  vorhandenen  vom  allmäli- 
gen  zwar,  aber  doch  sichern  Untergange  gerettet  sind.  Dms 
Wunderhorn  hat  seine  Sendung  erfüllt. 

Erst  nach  dem  Tode  beider  Herausgeber  erschien  eine  neae 
Ausgabe  des  Wunderhorns:  „1.  Bd.  Charlottenburg,  Egbert 
Bauer  1845.  2.  und  3.  Bd.  Berlin  1846.  Expedition  des  v.  Ar- 
nimschen  Verlags.^ 

Auf  dem  gestochenen  Titel  des  1.  Bandes  steht:  „Neu 
herausgegeben  und  vermehrt  nach  Achim^s  von  Arnim  hinter- 
lassenen  Vorarbeiten." 

Das  „vermehrt"  ist  so  unbedeutend,  dass  es  ß^lich  hatte 
wegbleiben  können.  Im  1.  Bande  sind  nur  elf  Lieder  (S.  226* 
259.  310.  320.  338.  347.  349.  351.  352.  359.  378)  hinzugekom- 
men,  im  2.  Bande  nur  ftinf  (S.  53.  104.  160.  201.  213)  und  im 
3.  nur  die  Anmerkung  zu  Pfeffers  Gott  grüß  euch,  Alter! 

Der  neue  unbekannte  Herausgeber  verstand  seine  Aufgabe 
nicht  und  war  derselben  auch  nicht  gewachsen,    er  hätte  Bonet 


281 


wol  mehr  gethan  als  nur  hie  und  da  bessere  Texte  aufzuneh- 
men, einige  Quellen  anzugeben  und  einige  Lieder  hinzuzufügen. 

Im  J.  1854  erfolgte  zu  dieser  neuen  Ausgabe  ein  vierter 
Band  von  370  Seiten  (mit  200  und  einigen  Liedern):  ,,Nach 
A.  V.  Arnim's  handschriftlichem  Nachlass  herausgegeben  von 
Ludwig  Erk."  Die  Texte  sind  alle  urkundlich  bis  auf  die 
Schreibung  mitgetheilt,  die  meisten  aus  alten  gedruckten 
Liederbüchern  und  fliegenden  Blättern  und  neueren  gedruck- 
ten Sammlungen;  doch  auch  die  mit  „mündlich^^  bezeichneten 
sind  größtentheils  schon  gedruckt  vorhanden.  Es  muss  be- 
fremden, dass  trotzdem  Arnim's  handschriftlicher  Nach- 
lass dabei  überhaupt  erwähnt  werden  konnte,  denn  nur  ein 
einziges  Mal  (S.  193)  ist  ein  „Handschriftlich  in  v.  Arnim's 
Sammlung"  als  Quelle  angegeben,  und  ich  wüsste  auch  nicht 
wo  es  überhaupt  noch  vorkommen  könnte,  denn  die  nicht  nä- 
her bezeichneten  Lieder  wurden  nach  Arnim's  Tode  oder  doch 
ohne  Bezug  auf  ihn  von  Andern  gesammelt  (man  vgl.  die  von 
mir  mitgetheilten  und  andere  schon  in  meinen  Schlesischen 
Volksliedern  befindliche!) 

Der  neue  Band  ist  eine  für  sich  bestehende  werthvolle 
Sammlung,  die  sich  nur  in  Einer  Beziehung  an  die  früheren 
Bände  anschließt.  Wie  dort,  so  ist  auch  hier  Volkslied,  volks- 
thümliches  Lied  und  Kunstlied  aus  alter  und  neuer  Zeit  ver- 
treten: der  alte  Hildebrand,  die  Frau  von  Weißenburg,  der 
Tanhäuser,  der  edle  Moringer,  Eppele  von  Geilingen,  Raum- 
sattel, Lindenschmid;  Insbruck,  ich  muss  dich  lassen;  O  Straß- 
burg, o  Straßburg;  Beigerad,  du  schöne  Stadt;  Opitzens  Ach 
Liebste,  lass  uns  eilen;  Rist's  Daphnis  ging  vor  wenig  Tagen; 
Tscherning's  Wer  ungereget  die  Sinnen  traget;  Vulpius'  Der 
Lenz  ist  angekommen ;  Heiners  Es  fiel  ein  Reif  in  der  Winter- 
nacht; Feuchtersleben^s  Es  ist  bestimmt  in  Gottes  Rath  und 
Häring's  Fridericus  Rex,  unser  König  und  Herr.  Auch  einige 
Schnitterhüpfel  kommen  vor,  und  sogar  Lieder,  die  keine  Lie- 
der sind,  wie  die  drei  Liebesbriefe  S.  117 — 125;  dagegen  fehlt 
das  eigentliche  Meisterlied. 

Erk  hat  sich  noch  einer  sehr  dankenswerthen  Miihe  un- 
terzogen: er  hat  den  4  Bänden  Register  zugefögt  und  bei  den 
drei  ersten  auf  die  alte  Ausgabe  verwiesen.  Ein  Register  über 
alle  vier  Bände  wäre  noch  besser  gewesen;  friiher  durfte  man 
nur  dreimal,  jetzt  muss  man  viermal  nachsehen. 


282 


So  sonderbar  es  mir  und  andern  vorkommen  muss,  dass 
einem  ein  Buch,  was  man  eigentlich  selbst  gemacht  hat,  ge- 
widmet wird,  so  schließe  ich  mich  doch  gern  der  Widmung 
dieses  vierten  Bandes  an: 

„Dem  um  Deutschlands  Volkslieder  hochverdienten  Lud- 
„wig   Erk    ertöne    dankend    in   Widmung    seines   vierten 


„Bandes 


das  Wunderhorn." 


XFI. 


DANIEL  VON  CZEPKO. 

Von  a  V.  F. 

Ziu  seinen  Lebzeiten  sind  von  Czepko  außer  einigen  Gelegen- 
heitsgedichten nur  folgende  etwas  umfangreichere  Gedichte  ge- 
druckt: 

Trophaeum  Bibranum   De  Face    Imperatoriae    Domus  Austr. 

VratisL  1635.     4^.     15  Blätter. 
Dan.  Cepconis  Pierie.  A.  C.  cIo  loc  XXXVL  4o.    23  Blätter. 
Triumph  Bogen  Ferdinand  dem  Dritten.    Breßhtw  M.  DC* 
XLI.    fol.     12  Blätter. 
Nach  seinem  Tode  erschienen: 
Dan.  von  Czepko  Rede  auß  seinem  Grabe.    Breßlau  1660. 

fol.  4  Blätter. 
Sieben  «Gestirne  Königlicher  Busse.  Zum  Brieg  1671.  8^. 
31  Blätter. 
Das  ist  allerdings  wenig  und  dies  Wenige  ist  noch  dazu  sehr 
selten.  Kein  Wunder,  dass  daher  Czepko  von  unseren  Litte- 
rarhistorikern  gar  nicht  erwähnt  wurde  und  dass  erst  Gervinus 
seiner  gedenkt,  ihn  aber  sehr  kurz  abfertigt  (4.  Aufl.  3.  Bd. 
S.  246),  nachdem  erst  August  Kahlert  durch  einen  besonderen 
Aufsatz  in  Prutz,  Litterar.  Taschenbuch  1844.  S.  133 — 152  mit 
Recht  auf  ihn  aufmerksam  gemacht  hatte. 

Der  Litterarhistoriker  kann  allerdings  in  den  Zeiten  nach 
Erfindung  der  Buchdruckerei  sich  nur  an  das  halten,  was  wirk- 
lich gedruckt  ist.  Es  fragt  sich  aber,  ob  bei  Beurtheilung 
der  Dichter  dies  allein  maßgebend  sein  darf.  Schwerlich. 
Was  einer  an  und  für  sich  als  Dichter  war,  darf  eben  so  gut 
die  Aufgabe  der  Litteraturgeschichte  sein,  als  was  er  seinen  Zeit- 


284 


genossen  gewesen  ist.  Manche  Dichter  waren  zu  ihrer  Lebzeit 
nichts  und  wurden  noch  heute  unbekannt  sein,  wenn  sie  nicht 
gewissermaßen  erst  wieder  entdeckt  wären,  wie  Andreas  Scul- 
tetus;  manche  haben  erst  lange  nach  ihrem  Tode  eine  bessere 
Würdigung  gefunden.  In  einer  Zeit,  bei  der  es  fast  zu  ver- 
wundem ist,  dass  überhaupt  noch  ein  Buch  gedruckt  wurde, 
müssen  wir  auch  zu  den  Handschriften  unsere  Zuflucht  neh- 
men, und  von  Czepko  sind  noch  Handschriften  genug  vorhan- 
den, *)  nach  denen  wir  für  ihn  eine  größere  litterarische  Be- 
deutung in  Anspruch  nehmen  können. 

Czepko  war  als  Dichter  fruchtbar  und  vielseitig  und  wusste 
die  metrischen  Formen  so  wie  die  Sprache  gut  zu  handhaben, 
wenn  er  auch  wie  seine  dichtenden  Landsleute  nicht  frei  von 
Silesismen  ist.  Er  hatte  ein  tiefes  Gemüth,  das  zwar  sich  gern 
den  übersinnlichen  Dingen  zuwendete,  aber  doch  auch  für  die 
Freuden  der  Welt  empfänglich  blieb :  einige  seiner  Liebes-  und 
Scherzgedichte  dürfen  seinen  ernsteren  an  die  Seite  gestellt  wer- 
den. Freilich  sind  ein  sittlicher  Ernst,  eine  männliche  Würde 
und  ein  tiefes  religiöses  Gefühl  diejenigen  Eigenschaften,  die 
ihn  vor  seinen  dichtenden  Zeitgenossen  auszeichnen,  ßr  ist, 
wie  ich  schon  früher  gesagt  habe  (s.  Politische  Gedichte  aus  der 
deutschen  Vorzeit,  Leipzig  1843.  S.  259)  einer  der  gesinnungs- 
reicheren und  edleren  Charaktere  des  traurigen  17.  Jahriinn- 
derts.  Er  ließ  sich  durch  keine  kaiserlichen  Ehren-  und  Ghia- 
denbezeigungen  abwendig  machen  vom  Glauben  seiner  Väter 
und  blieb  eifrig  bemüht,  für  seine  unterdrückten  Glaubens- 
genossen in  den  schlesischen  Erbfürstenthümem  Jauer  und 
Schweidnitz  größere  Freiheit  in  Ausübung  der  evangelischen 
Religion  zu  erwirken. 

Ln  J.  1645  that  er  der  kais.  Majestät  ganz  freim&ihig  dar 
in  einem  „unverfänglichen  Bedenken^%  dass  trotz  der  gewalt- 
samen Reformation  (seit  1629)  doch  niemand  katholisch  ge- 
worden sei  als  solche,  die  dadurch  zu  einem  Amte  gelangen 
oder  einer  weltlichen  wohlverdienten  Strafe  hätten  entgÄien 
wollen;  überhaupt  gäbe  es  in  den  Städten  außer  den  Rathsbe- 
amten  beinahe  gar  keinen  Katholiken. 


*)  Sie  werden  in  der  Rehdigersehen  Bibliothek  zu  Breslau  aufbewahrt 
und  sind  Abschriften  von  der  Hand  des  um  die  schles.  Litteratur  sehr  ver* 
dienten  Sammlers  Ezechiel. 


285 


Ich  hatte  früher  einmal  die  Absicht,  Czepko  ausführlicher 
zu  behandeln.  Durch  andere  Arbeiten  bin  ich  darin  unterbro- 
chen worden.  Aus  meinen  Sammlungen  will  ich  jedoch  Einiges 
mittheilen,  wonach  Czepko  doch  etwas  bedeutender  scheinen 
wird  als  aus  den  Proben  bei  Kahlert. 

Aus  einem  Gedichte  an  Donath. 
Wresin  20.  April  1632. 

Wo  Freiheit  ist  und  Recht,  da  ist  das  Vaterland. 
Dies  ist  uns  aber  nun  und  wir  ihm  unbekannt. 
Es  streite  wer  da  will!     Es  ist  dahin  gekommen, 
Der  falsche  Frieden  hat  das  Land  nun  eingenommen, 
Die  Faulheit  aber  uns.     Doch  wüthe  dar  und  hier! 
Auch  aus  der  Asche  wirft  die  Freiheit  Flammen  für, 
Die  kein  Blut  nicht  verloscht.    Lass  alle  Kirchen  schließen 
Und  jage  Gott  selbst  aus.  Er  kommt  in  die  Gewissen. 

Wo  nicht  vor  das  Vaterland,  jedoch  mit  dem 

Vaterlande. 

Über  eines  treuen  Landmanns  Abschied. 

Nachdem  des  Himmels  Räch  in  grimmen  Schlachten  glüht, 
Und  niemand  keine  Treu  in  deutschen  Herzen  sieht; 
Nachdem  ein  jeder  lasst  das  allgemeine  Wesen, 
Aus  dessen  Fall  er  ihm  sein  eignes  weiß  zu  lesen; 
Nachdem  wir  die  Gesetz  und  aUes  Recht  verloren 
Und  alle  müssen  thun  was  Einer  auserkoren; 
Nachdem  man  hat  den  Hut  der  Freiheit  abgezogen. 
Und  das  verfluchte  Joch  um  ihren  Hals  gebogen; 
Nachdem  der  Pobel  sich  zu  fremden  Gottern  seilt 
Und  nichts  von  Ehrbarkeit  und  guter  Aufsicht  hält; 
Nachdem  der  deutsche  Muth  von  großen  Häusern  komimen. 
Die  Furcht  und  Heuchelei  indessen  eingenommen; 
Nachdem  das  Band  der  Welt,  der  Glauben  abgethan. 
Und  Misstreu  Frieden  heißt,  der  Alles  stürzen  kann; 
Nachdem  das  Vaterland  zu  Sturm  und  Grund  gegangen 
Und  seine  letzte  Hülf  und  Ölung  hat  empfangen; 
Nachdem  der  Schatten  selbst  des  ersten  Standes  fleucht. 
Und  mit  der  Leichen  sich  in  ihre  Gruft  verkreucht  — 
Stirbst  du,  o  theurer  Mann.     Wollt  ihr  es  recht  verstehen: 
Er  will  zu  Grabe  hin  mit  unserm  Lande  gehen. 


284 


genossen  gewesen  ist.  Manche  Dichter  waren  zu  ihrer  Lebzeit 
nichts  und  würden  noch  heute  unbekannt  sein,  wenn  sie  nicht 
gewissermaßen  erst  wieder  entdeckt  wären,  wie  Andreas  Scul- 
tetus;  manche  haben  erst  lange  nach  ihrem  Tode  eine  bessere 
Würdigung  gefunden.  In  einer  Zeit,  bei  der  es  fast  zu  ver- 
wundern ist,  dass  überhaupt  noch  ein  Buch  gedruckt  wiurde, 
müssen  wir  auch  zu  den  Handschriften  unsere  Zuflucht  neh- 
men, und  von  Czepko  sind  noch  Handschriften  genug  vorhan- 
den, *)  nach  denen  wir  für  ihn  eine  größere  litterarische  Be- 
deutung in  Anspruch  nehmen  können. 

Czepko  war  als  Dichter  fruchtbar  und  vielseitig  und  wusste 
die  metrischen  Formen  so  wie  die  Sprache  gut  zu  handhaben, 
wenn  er  auch  wie  seine  dichtenden  Landsleute  nicht  frei  von 
Silesismen  ist.  Er  hatte  ein  tiefes  Gemüth,  das  zwar  sich  gern 
den  übersinnlichen  Dingen  zuwendete,  aber  doch  auch  für  die 
Freuden  der  Welt  empfänglich  blieb:  einige  seiner  Liebes*  und 
Scherzgedichte  dürfen  seinen  ernsteren  an  die  Seite  gestellt  wer- 
den. Freilich  sind  ein  sittlicher  Ernst,  eine  männliche  Würde 
und  ein  tiefes  religiöses  Gefühl  diejenigen  Eigenschaften,  die 
ihn  vor  seinen  dichtenden  Zeitgenossen  auszeichnen,  ßr  ist, 
wie  ich  schon  früher  gesagt  habe  (s.  Politische  Gedichte  aus  der 
deutschen  Vorzeit,  Leipzig  1843.  S.  259)  einer  der  gesinnungs- 
reicheren und  edleren  Charaktere  des  traurigen  17.  Jahriinn- 
derts.  Er  ließ  sich  durch  keine  kaiserlichen  Ehren-  und  Ghia- 
denbezeigungen  abwendig  machen  vom  Glauben  seiner  Väter 
und  blieb  eifrig  bemüht,  für  seine  unterdrückten  Glaubens- 
genossen in  den  schlesischen  Erbfürstentbümem  Jauer  und 
Schweidnitz  größere  Freiheit  in  Ausübung  der  evangelischen 
Religion  zu  erwirken. 

Im  J.  1645  that  er  der  kais.  Majestät  ganz  freim&thig  dar 
in  einem  „unverfänglichen  Bedenken^%  dass  trotz  der  gewalt- 
samen Reformation  (seit  1629)  doch  niemand  katholisch  ge- 
worden sei  als  solche,  die  dadurch  zu  einem  Amte  gelangen 
oder  einer  weltlichen  wohlverdienten  Strafe  hätten  entg^eü 
wollen;  überhaupt  gäbe  es  in  den  Städten  außer  den  Rathsbe- 
amten  beinahe  gar  keinen  Katholiken. 


*)  Sie  werden  in  der  Rehdigerschen  Bibliothek  zu  Breslau  aufbewahrt 
und  sind  Abschriften  von  der  Hand  des  um  die  schles.  Litteratur  sehr  ver* 
dienten  Sammlers  Ezechiel. 


285 


Ich  hatte  früher  einmal  die  Absicht,  Czepko  ausführlicher 
zu  behandeln.  Durch  andere  Arbeiten  bin  ich  darin  unterbro- 
chen worden.  Aus  meinen  Sammlungen  will  ich  jedoch  Einiges 
mittheilen,  wonach  Czepko  doch  etwas  bedeutender  scheinen 
wird  als  aus  den  Proben  bei  Kahlert. 

Aus  einem  Gedichte  an  Donath. 
Wresin  20.  April  1632. 

Wo  Freiheit  ist  und  Recht,  da  ist  das  Vaterland. 
Dies  ist  uns  aber  nun  und  wir  ihm  unbekannt. 
Es  streite  wer  da  will!     Es  ist  dahin  gekommen, 
Der  falsche  Frieden  hat  das  Land  nun  eingenommen, 
Die  Faulheit  aber  uns.     Doch  wüthe  dar  und  hier! 
Auch  aus  der  Asche  wirft  die  Freiheit  Flammen  für, 
Die  kein  Blut  nicht  verlöscht.    Lass  alle  Kirchen  schließen 
Und  jage  Gott  selbst  aus.  Er  kommt  in  die  Gewissen. 

Wo  nicht  vor  das  Vaterland,  jedoch  mit  dem 

Vaterlande. 

Über  eines  treuen  Landmanns  Abschied. 

Nachdem  des  Himmels  Räch  in  grimmen  Schlachten  glüht, 
Und  niemand  keine  Treu  in  deutschen  Herzen  sieht; 
Nachdem  ein  jeder  lasst  das  allgemeine  Wesen, 
Aus  dessen  Fall  er  ihm  sein  eignes  weiß  zu  lesen; 
Nachdem  wir  die  Gesetz  und  alles  Recht  verloren 
Und  alle  müssen  thun  was  Einer  auserkoren; 
Nachdem  man  hat  den  Hut  der  Freiheit  abgezogen, 
Und  das  verfluchte  Joch  um  ihren  Hals  gebogen; 
Nachdem  der  Pobel  sich  zu  fremden  Göttern  seilt 
Und  nichts  von  Ehrbarkeit  und  guter  Aufsicht  hält; 
Nachdem  der  deutsche  Muth  von  großen  Häusern  konmien, 
Die  Furcht  und  Heuchelei  indessen  eingenommen; 
Nachdem  das  Band  der  Welt,  der  Glauben  abgethan, 
Und  Misstreu  Frieden  heißt,  der  Alles  stürzen  kann; 
Nachdem  das  Vaterland  zu  Sturm  und  Grund  gegangen 
Und  seine  letzte  Hülf  und  Ölung  hat  empfangen; 
Nachdem  der  Schatten  selbst  des  ersten  Standes  fleucht, 
Und  mit  der  Leichen  sich  in  ihre  Gruft  verkreucht  — 
Stirbst  du,  o  theurer  Mann.     Wollt  ihr  es  recht  verstehen: 
Er  will  zu  Grabe  hin  mit  unserm  Lande  gehen. 


286       . 

So  gut  sie  gerathen. 
Ad  seine  Freunde. 

Wann  ich  vom  Felde  komm^  und  etwan  einem  Hasen 
Das  durch  beschwitzte  Fell  durch  meinen  Wind  gezwagt, 
Wann  ich  dem  grimmen  Wolf  ein  Schäflein  abgejagt, 
So  dicht'  ich  ofte  Vers\  indem  ich  soll  Verblasen. 

Oft,  (es  ist  mein  Gebrauch,)  wenn  meine  Leute  dreschen, 
Muss  mit  dem  Schieferbuch  ein  Junge  bei  mir  stehn. 
Wenn   ich  den  Schäfer  schelt'  und  heiß  ihn   von  mir  gehn, 
So  muss  den  Zorn  in  mir  ein  Epigramma  loschen. 

Gefall'  ich  euch,  ihr  Freund',  und  lobt  ihr  meine  Sachen, 
So  glaub'  ich,  dass  ich  nicht  der  letzte  Dichter  sei. 
Wo  nicht,  betrüg'  ich  mich.    Jedoch  bedenkt  dabei, 
Ob  man  es  besser  auch  könnt'  untern  Bauern  machen.  *) 

Alles  hin,  bis  auf  das  Gemuthe. 
Seiner  Feder  Begräbniss. 

Nur  aus,  o  Buch!  das  Dorf  vom  Merzen  das  ist  Graus, 
Der  schöne  Meierhof  zu  Kletschkau  wüste  worden, 
Das  Striegen  Vorwerk  fort;  das  viert'  in  diesem  Orden 
Will  auch  mein  Berggut  sein  —  darum,  o  Buch,  nur  ausi 

Die  Güter  nehmen  ab,  die  Schätzung  aber  zu. 

Das  Haus  wird  leer  an  Geld  und  voll  an  Krieges -Knechten. 

Kehr'  ich  mich  hundertmal  zur  Linken  oder  Rechten, 

So  hab'  ich  Tag  und  Nacht  bei  keinem  keine  Ruh. 

Ich  will  hier  unterm  Kalk  und  meiner  Güter  Staub 
Die  Feder,  meine  Lust  mit  ihrem  Thun  begraben. 
So  lange  wir  bei  uns  die  Schwedschen  Krieger  haben, 
Ist  sie  der  Motten  zwar,  wir  ihrer  Hände  Raub. 

Nicht  ohne  Wunderwerke. 
Von  dem  durchlauchtigen  Hause  von  Österreich. 

Seht,  unser  Österreich  steht  über  den  Gestirnen, 
Es  grünt  und  blüht  je  mehr,  je  mehr  es  Feinde  hat. 


*)  Czepko  lebte  viel  auf  seinen  Gütern;  außer  Merzendorf  bei   Schweid« 
nitz  besaß  er  noch  drei  Vorwerke. 


287 

Was  machst  du  hier,  o  Welt?     Es  wird  sich  früh  und  spat 
Die  ganze  Welt  zu  Tod  an  diesem  Hause  zürnen. 

Mit  der  Säule,  das  Gebäude. 
An  Deutschland. 

Ich  sag^  es,  Deutschland,  dir:    Soll  Österreich  ja  fallen, 
(Wie  jedem  seinen  Fall  der  Himmel  auserkiest) 
Du  fällst  mit  ihm.    Ich  hör\  ich  höre  Häuser  fallen, 
Denn  mit  der  Säulen  fällt  was  drauf  gebauet  ist. 

Ehrsucht,  nächster  Todtengräber. 
Wallensteinischer  Tod. 

Der  alles  wusst  allein,  was  er  durch  andre  that, 
Und  zwar  von  Friedland  kam,  doch  Krieg  und  Streit  erhaben, 
Liegt  ohne  Titel  dar.     Fragst  du,  wer  ihn  begraben? 
Deutsch  weiß  ich's  nicht,  sonst  heißt  es:  la  raison  d^Etat. 

Alte  Zeit  bringt  Leid. 
An  seinen  eingerissenen  Meierhof. 

Ich  lieg^  und  schaue  hier  den  Ackerleuten  zu, 

Klag^  über  meine  Feind^  und  die  verstörte  Ruh. 

Ich  muss  das  Feld  vor  mir,  und  hinter  mir  die  Mauern, 

Weil  jenes  ohne  Saat,  ohn  Zimmer  die,  bedauern. 

Das  Feld,  ach,  dass  ich  dran  gedenken  soll  und  darf! 
Wo  Wellen  weit  und  breit  das  Meer  der  Ähren  warf, 
Wird  vor  der  Äser  Schaar  nicht  mehr  im  Felde  funden. 
Weil  hier  nichts  als  Gezelf  anstatt  der  Mandeln  stunden. 

Das  Haus  ist  aus,  in  dem  der  kranke  Herzog  lag 
Und  Torstenson  viel  Rath  mit  seinen  Helden  pflag. 
Wo  ich  die  Pferde  sah  auf  den  bedüngten  Hüben 
An  ihren  Pflügen  gehn  bei  Tisch  in  meiner  Stuben. 

Ihr  Schafe,  die  kein  Wirth  so  gut  wird  treffen  an, 
Ihr  Kühe,  die  so  gut  kein  Schweizer  melken  kann, 
Ihr  Stuten,  die  ihr  war^t  in  Friesland  auferzogen: 
Die  Ställe,  die  sind  euch,  den  Ställen  ihr  entflogen. 

Ihr  Ställ^  auch  und  dann  du  der  Scheuern  schöne  Bahn, 
Wo  durch  das  Jahr  nie  ward  ein  Flegel  abgethan, 


288 


Und  du  gemauerter  Stock  —  was  habet  ihr  begangen, 
Dass  der  Verwüster  euch  ließ  keine  Gnad^  erlangen? 

Kann  auf  zweitausend  Schritt  allhier  nichts  sicher  sein, 
So  trägt  die  Weichbilds  -  Stadt  nichts  unserm  Landwirth  ein. 
Das  heißt  dem  Jüngsten  Tag  aus  Freundschaft  vorgegriffen. 
Wie  wird  dafür  das  Fett  von  dem  Zerstörer  triefen! 

Todesgedanken.     Ao.  1660.  2.  Aug. 
In  meinem  Siechbettlein. 

Wenn  Krankheit,  Weh  und  Schmerzen 

Des  Todes  Boten  sind, 

So  nehm'  ich  recht  zu  Herzen, 

Was  Gott  mit  mir  beginnt 

Ich  lieg'  in  seinem  Willen, 

(Sein  Willen  der  ist  gut,) 

Weil  meine  Pein  zu  stillen 

Kein  Arznei  etwas  thut. 

Und  was  ist  unser  Leben? 
Was  ist's?     Ein  Sommertag. 
Es  kann  sich  viel  begeben, 
Als  wie  es  heute  pflag. 
Schon  heimlich  war  der  Morgen, 
Des  heißen  Donners  Macht 
Setzt  Mittags  uns  in  Sorgen; 
Der  Abend  bringt  die  Nacht. 

Was  wir  verstehn  und  sehen, 
Nicht  sehn  und  nicht  verstehn, 
Ist  lauter  Angst  und  Flehen 
Und  heißt  uns  untergehn. 
Der  Krieg,  das  wilde  Wesen, 
Der  unser  Land  verheert, 
Macht,  dass  ihm  zu  genesen 
Kein  Christensiim  begehrt 

Ich  höre  täglich  läuten: 
Frag'  ich,  so  sagt  man  mir 


•)  Mit  Weglassnng  von  vier  Strophen. 


289 

Von  nichts  als  Todesbeuten, 

Die  trägt  man  außen  für. 

Die  Glocken,  wann  sie  klingen. 

So  rufen  sie  mir  zu: 

So  wird  man  morgen  bringen 

Vielleicht  auch  dich  zur  Ruh. 

Die  Bücher,  meine  Liebe, 
Die  um  mein  Bette  stehn, 
Wie  sehr  ich  mich  betrübe. 
Doch  schreien  sie,  ich  soll  gehn. 
Die,  so  sie  konnten  schreiben. 
Sind  mehrentheils  dahin. 
Wo  soll  dann  ich  verbleiben. 
Der  ich  noch  schlechter  bin? 

Die  Schnitter,  so  itzt  hauen, 
Ertheilen  den  Bericht: 
So  ist  der  Tod  zu  schauen, 
Kein  Halm  bleibt  vor  ihm  nicht. 
Des  Weizens  Kolben  sinken. 
Des  Habers  Rispen  fliehn  — 
So,  wann  er  pflegt  zu  winken, 
Muss  der  und  ich  entfliehn. 

Rechn^  ich  mich  nach  den  Jahren 
Halb  hab'  ich  ausgelebt. 
Viel  sind  zu  Gott  gefahren, 
Die  nicht  dies  Ziel  erhebt. 
Der  Krankheit  langes  Wesen, 
So  mich  mein  Bürdlein  heißt 
Anitzt  zusammen  lesen. 
Erfreuet  meinen  Geist. 

Drum  fleuch  aus  dieser  Holen, 

Aus  diesem  Neste  hin. 

Du  Geist  von  meiner  Seelen! 

Der  Tod  ist  dein  Gewinn. 

Halt  dich  in  wahrem  Glauben 

Aus  fester  Zuversicht; 

Das  kann  dir  Niemand  rauben. 

Was  Jesus  dir  verspricht. 


290 

Schleuß  dich  in  seine  Wunden, 
Und  forsche  weit  und  breit, 
Bis  du  das  Kind  gefunden 
Der  Lehns  -  Gerechtigkeit. 
Siehst  du  den  Titul  blinken, 
So  sprich:  der  Erden  Pracht, 
Ihr  Reich,  ihr  Purpur  stinken! 
Ihr  Freunde,  Gute  Nacht! 


SGHILLER'S  ERSTE  LITTERARISCHE  FMS)fi 

UND  DIE 

HERAUSGABE  DER  ANTHOLOGIE. 

VON 

EDUARD     BOAS. 

(Das  hier  abgedruckte  „Fragment  ist  aus  dem  hinterlassenen  Werke  „Fi^ie"- 
drich  l^ctiiller,  ölne  Lebensbeschreibung'^  von  meinem  vörttorbt^. 
nen  Freunde  E du ard^  Boas.  Die  Vollendung,  dieser  Tortrefniehen- Unter- 
nehmung  —  von  dem  Verfasser  mit  der  größten  Sorgfalt  und  Mufa^  behati>* 
delt  —  hat  er  leider  durch  sein  frühes  Scheiden,  nicht  ausführen  dürfen.  Der 
Entstehung  und  Bearbeitung,  des  Werkes  ist  der  Unterzeichnete  mit  inniger 
Theilnahme  von  Abschnitt'  zu  Abschnitt  gefolgt  und  hat  oft  die  Freude'  ge- 
habt Beiträge  oder  N^hWei^ungen  hierzu  mittheilen  zu  können'.  'Vfie  anb- 
führlich  der  Plan  dtv  Ganzen  angelegt  war,  beweiset  dass  das  ausgidlnrbeitisfe' 
Manuscript  —  bis  zu  Schillers  Aufenthalt  in  Dresden  —  über  800  Seiten  um- 
fasst,  und  da  dieses  schon  ein  für  sich  selbständiges  Werk  bildet,  des  sich 
nicht  allein  durch  neue  Forschungen  und  Berichtigungen  als  auch  durch  eine 
blühende  kräftige  Schilderung  auszeichnet:  wird  der  Unterzeichnete  diOseltie 
jetzt  füi*  den  Dtuck  vorbereiten. 

Berlin.  W.  von  Maltzahn.) 

Zur  Zeit,  als  Schiller  die  Carlsakademie  verlassen  hatte,  wai^ 
die  Sucht  nach  Musenahnanachen  in  Deutschland  epidemisch 
geworden«  Jede  Stadt,  jede  Landschaft,  die  nur  noch  irgend 
im  Reiche  des  guten  Geschmacks  mitzählen  wallte,  musste  all- 
jährlich ihre  poetische  Blumenlese  aufzeigen  können,  und  die 
Metropole  des  sangberühmten  Schwabens  durfte  natürlich  nicht 
zurückstehn.  Aber  es  fehlte  der  Choraget,  um  dessen  berühm- 
ten Namen  sich  die  Keihen  der  Dichter  schaaren  konnten,  und 
in  Ermangelung  eines  solchen,  pflanzte  Gotthold  Friedrich 
Stäudlin  sein  Banner  auf.  Derselbe,  1758  zu  Stuttgart  ge- 
boren, war  dort  als  Kanzlciadvokat  angestellt  und  hatte  1780 
das  Gedicht  „Albrecht  von  Haller  ,^^  dann  „Proben  einer  deut- 
schen   Aeneis ,     nebst    lyrischen     Gedichten ,"     herausgegeben. 

fTeimar.  Jh.  iL  19 


292 


Zwar  besaß  er  wenig  Talent  zur  Poesie,  doch  wusste  er  die- 
sen Mangel  vor  ungeübten  Blicken  durch  Reimfertigkeit  und 
Dreistigkeit  zu  verstecken.  Er  gründete  also  die  „Schwä- 
bische Blumenlese^^  und  als  er  1781  den  ersten  Jahr- 
gang vorbereitete,  da  fand  sich,  wie  arm  das  einst  so  lie- 
derreiche Schwaben  geworden  sei.  Wieland  lebte  fem, 
Schubert  saß  auf  dem  Asperg.  Stäudlin  konnte  nur  mit 
Noth  ein  Dutzend  Poeten  zusammenbringen,  und  diese  glichen 
großentheils  dem  Grase,  das  der  Herr  auf  dürren  Bergen  wach- 
sen lässt.  Lauter  farblose  Namen  begegnen  uns,  und  da  die 
Lebenden  nicht  ausreichten,  wurde  aus  dem  Nachlass  zweier 
Todten  noch  eine  poetische  Beisteuer  citirt  Hierzu  gesellte 
sich  Schiller  mit  seinen  Freunden  Hang  und  Conz.  Hang  lie- 
ferte muntere  Epigramme  und  einige  Lyrika,  Conz  gab  schwär- 
merische Dichtungen  ä  la  Klopstock ,  Schiller  stiftete  eine 
Lauraode  für  den  Almanach:  „die  Entzückung  an  Laura.'^') 
Man  glaubte  sonst,  der  ganze  Cyklus  von  Lauragedichten  sei 
zuerst  in  der  Anthologie  an*8  Licht  getreten,  bis  meine  Nach- 
träge (HL  10.)  auf  jenen  früheren  Abdruck  hinwiesen.  Zwar 
ging  die  Ode  bald  nachher  in  Schiller^s  eigene  Blumenlesc  über, 
allein  sie  zeigt  sich  dort  so  bedeutend  verändert,  dass  eine  Zu- 
sammenhaltuug  beider  Formen  wohl  von  Interesse  ist. 

Wir  sehen,  dass  zwischen  Schiller  und  Stäudlin  zur  Zeit 
ein  gutes  Vernehmen  waltete,  aber  schon  in  kurzer  Frist  fin- 
det sich  dasselbe  vollständig  zerstört.  Was  den  Bruch  herbei- 
geführt hat,  darüber  würde  uns  jede  Auskunft  fehlen,  wenn 
nicht  eine  Epistel  an  „Herrn  Professor  S-[chott]  in  Er- 
lang. >)  welche  Stäudlin  1782  niederschrieb,  die  Ursache 
mit  ziemlicher  Klarheit  andeutete.  Darin  schildert  er  seine 
Plagen  als  Redakteur  des  Musenkalenders,  und  entwirft  ein  er* 
schreckendes  Bild  von  den  Beiträgen,  die  ihm  zugeschickt 
worden : 

„Ich  brech'  ein  zweites  Siegel  auf  —  und  hu! 
Ein  Odensturm  —  wie  tobt  er  auf  mich  zul 
Gehäufter  Unsinn  überall 
Und  ungeheurer  Worterschwall  — 


>)   Schwäbischer  Musenalmanach,    1782,    S.    140. 
«)   Schwäbischer   Musenalmanach,    1783,  S.    186  f. 


293 


Ha!  welch  ein  Flug!  —  Das  tont  mir  allzu  lyrisch I 

Mich  dünkt,  ich  lese  gar  sibirisch!  ^) 

Es  wirbelt  strudelt  donnert  braußt 

In  jeder  Zeile  so  wie  in  des  Dichters  Hirne. 

Die  eine  Stelle  sagt:  Hier  schlug  sich  mit  der  Faust 

Der  Autor  an  die  spröde  Stime! 

Die  andre:  Hier  hat  er  in  Fieberglut  geträumt! 

Die  dritte:  statt  zu  denken,  fad  gereimt! 

Was  soll  ich  thun!  —  die  arme  Leserwelt 

Tyrannisch  auf  des  Unsinns  Folter  spannen  ? 

Nein!  lieber  das  Gedicht  verbannen, 

So  sehr  mein  Pindar  auch  für  Meisterstück  es  hält!^^ 

Man  kann  nicht  zweifeln,  dieser  Angriff  war  auf  Schiller 
und  seine  Lauraoden  gemünzt,  von  denen  er  muthmaßlich  noch 
mehrere  für  den  Almauach  eingesendet  hatte.  Staudlin  aber 
—  mag  der  Aulass  nur  Eifersucht  oder  wirklicher  Unverstand 
gewesen  sein  —  nahm  nur  „die  Entzückung^^  auf,  und  ließ 
vielleicht  noch  eigenmächtig  die  zwei  Strophen  wegfallen,  um 
welche  wir  das  Gedicht  in  der  Anthologie  (Nr.  4)  vergrößert 
finden.  Maßlose  Selbstüberschätzung  auf  der  einen  Seite  und 
gerechter  Stolz  auf  der  andern  waren  also,  wie  es  scheint,  die 
Haupthebel  jener  raschen  Trennung  zwischen  Schiller  und 
dem  Almanachsredakteur.  So  rollen  die  Jahre  und  so  ändert 
sich  die  Zeit.  Damals  dünkte  sich  Staudlin  ein  erhabner  Mei- 
ster gegen  Schiller,  und  heute  nennen  wir  seinen  Namen  nur 
deshalb,  weil  er  doch  in  einer,  wenn  auch  feindseligen  Bezie- 
hung zu  unserm  Oichter  stand. 

Solcher  Zwist  trübte  übrigens  Schiller^s  kritische  Unpar- 
teilichkeit nicht,  und  als  er  für  das  Wirtembergische  Reper- 
torium  eine  Recension  des  Almauachs  schrieb,  tadelte  er  zwar 
was  er  tadeln  musste,  lobte  Staudlin  indess,  wo  derselbe 
irgend  Lob  verdiente.  Die^  Beurtheilung  des  Büchleins  lau- 
tet dort: 

„Bei  der  gegenwärtigen  Mode ,  Kalender  zu  machen 
(Seuche   darf  ich   sie  doch  nicht  nennen,    denn   man  streitet. 


>)  Als  Staadlin  die  Epistel  in  seinen  Gedichten  (Stuttgart  1791,  Bd.  2. 
S.  324)  wieder  abdrucken  ließ,  tilgte  er  diese  zwei  Zeilen. 

19* 


294 


ob  Elrankheitcn  aufkommen,  die  die  Alten  nicht  schon  gehabt 
haben,  und  Musenalmanache  hatten  sie  doch  wohl  nicht),  bei 
der  so  empfindsamen  .^Witterung  im  ganzen  Deutschland,  ist 
eine  Wirtembergische  Blumenlese  kein  Phänomen  mehr.  Man 
beschuldigt  sonsten  die  Schwaben,  dass  sie  erst  anfangen,  wenn 
ihre  Nachbarn  Feierabend  machen,  und  in  dieser  Hinsicht  — 
Gesegnet  sei  die  endliche  prophetische  Ankunft  des  schwäbi- 
schen Musenalmanachs!^^ 

„Bücher  dieser  Art  lassen  sich  nur  von  drei  Seiten  anse- 
hen. Entweder  sie  sind  die  Freistatt  angehender  schüchterner 
Schriftsteller,  die  hinter  dieser  Tapete  Ruf  oder  Abschreckung 
vom  Publikum  erwarten.  Man  billigt  sie  in  dieser  Rücksicht, 
nur  muss  Letzterer  Gehorsam  geleistet,  und  jener  —  nicht  vor- 
ausgesetzt werden.  (Doch  auch  hiebei  die  unmaßgebliche 
Frage  I  Sind  denn  unser  Klopstock  und  seines  gleichen  wie- 
derum neuerdings  begierig  worden,  das  Maß  ihres  Genies  zu 
wissen,  dass  ich  auch  sie  in  der  Gesellschaft  finde,  und  lassen 
sie  sich,  gleich  alten  Grenadieren,  im  hohen  Alter  noch  mes- 
sen, um  zu  erfahren,  um  wie  viel  sie  zurückschlugen?)  —  Oder 
ein  Almanach  ist  der  unflätige  Kanal,  der  die  Indigestionen 
der  Musen  durch  die  Nasen  des  Publikums  flößet?  Pftii  ihm! 
wenn  er  das  wäre  —  vielleicht  die  Bude  verlegener  Waaren^ 
und  da  lobte  ich  mir  unsere  pfiffigen  Schöngeister,  die  ihren 
abgestumpften  Witz  gelegentlich  bei  dieser  letzten  Instanz  noch 
umtreiben,  gleichwie  man  veraltete  Meubles  und  abgetragene 
Kleider  nach  Auktionen  schickt,  um  ihrer  mit  Vortheil  nooh 
los  zu  werden?  —  Oder  endlich  will  man  dem  schönen  G^e- 
schlecht  ein  Präsent  damit  machen?  Unnöthiger  Aufwand; 
eben  das  thut  ein  Bischen  Seife,  in  Wasser  au%elöst,  hübsch 
durch  ein  Strohhälmchen  drein  geblasen,  treibt  Bläschen  anf^ 
blau,  grün,  roth,  violett,  und  —  ei,  da  fi'euen  sich  die  Kinder I^ 

„Doch  daran  mag  izo  wahr  sein,  was  wolle!  gegenwärtiger 
Almanach  ist  immerhin  nicht  der  schlechteste  in  Deutschland. 
Mir  sind  schon  Kameraden  von  ihm  zu  Gesicht  gekonunen, 
die  nur  die  Namen  großer  Dichter  bei  sich  führten,  unfirucht- 
bar  und  arm,  wie  sie  etwa  auf  ihren  Grabmälern  stehen  dürf- 
ten. Wenn  also  ein  Musenalmanach  der  Maßstab  der  Provin- 
zialkultur  ist,  so  mag  Schwaben  sich  immerhin  getrost  an  die 
Sachsen  und  Rheinländer  anreihen  —  aber  der  Heerführer  der 
schwäbischen   Musen,  Hr.   Stäudlin,  gürtet  sein  Schwert  um, 


295 


dem  ganzen  unschwäbischeu  Deutschland  ein  Generaltreffen  zu 
liefern,  und  dieses  soll  kein  Haar  weniger,  als  das  Genie  der 
Provinz  entscheiden.  Audaees  fortuna  juvat!  Mag  sich  der 
Ausländer  verschanzen,  so  gut  er  kann  —  heißkopfige  Nord- 
länder sind  gefährliche  Leute.  —  Es  beliebt  dem  Herausgeber, 
seine  eigene  heroische  Person  einem  Gärtner  zu  vergleichen, 
der  einen  Versuch  in  seinem  nordischen  Klima  wagt,  ob  die 
herrliche  Pflanze  des  Genies  nicht  auch  hier  ge- 
deihe? Wahr  ist's,  viel  thut  hiebei  die  Milde  der  Zone 
—  viel,  sehr  viel  Begießen  und  Sonne  —  viel  ein  wohlan- 
gebrachter Schnitt  —  Aber  der  Gärtner  muss  die  Ananas 
von   keinem  —  Holzapfelkern  erwarten!" 

„Davon  genug.  Unter  dem  Schwall  von  Mittelmäßigkeit, 
dem  Froschgequäke  der  Reimer  hört  man  noch  hie  und  da  ei- 
nen wahren  Saitenklang  der  Melpomene.  Die  mehrsten  Ge- 
dichte von  Hrn.  Thill ,  die  Schwermuth  vom  Herausgeber  selbst, 
Laura  vom  V.  der  Räuber,  einige  Arbeiten  von  Reinhard  und 
Conz,  einige  Epigramme  von  .  .  .  g,  O,  und  Armbruster  ver- 
dienen den  besten  ihrer  Art  an  der  Seite  zu  stehen.  .  .  .  g 
ist  ftir  das  Sinngedicht  gemacht,  und  sollte  diese  Anlage  nicht 
versäumen.  Armbruster  ist  ganz  ohne  Bildung,  aber  er  ver- 
diente gebildet  zu  werden.  Reinhardts  Poesien  verrathen  die 
zärtlichste  Empfindung  und  den  liebenswürdigsten  Charakter 
ihres  Verfassers  (er  hat  sich  auch  an  eine  Uebersetzung  des 
TibuU  gemacht,  und  wird  zuverlässig  darin  gliicklich  sein). 
Conz  hat  den  Klopstock  studiert  und  hat  einen  kühnern,  männ- 
lichem Ton.      Die  Uebrigen  machen  die  Masse." 

„Dem  Almanach  ist  ein  Titelkupfer  vorgesetzt,  und  stellt 
den  Aufgang  der  Sonne  über^m  Schwabenland  vor« 
Pozl  was  wir  Zeitgenossen  des  ITSgsten  Jahrzehends  nicht  er- 
leben! Der  Stäudlinische  Almanach  die  Epoche  des  Vater- 
lands! —  Wenn  diese  Erscheinung  nicht  zum  Unstern  ein  Nord- 
licht ist,  das,  wie  die  Wetterverständigen  behaupten.  Kälte 
prophezeiht  —  so  sehe  doch  der  Epochmacher  zu,  dass  ihr 
rother  feuriger  Morgenstrahl  ihm  die  Augen  nicht  verblende, 
und  er  —  in  der  Finstemiss  taumelnd  —  an  den  Schwert- 
spitzen der  Kritik  sich  spieße." 

Trotz  aller  Mäßigung,  war  durch  den  Streit  Schiller ^s 
Kampflust  rege  geworden.     Wie  später  in  den  Xenien,  so  er- 


294 


ob  Elrankheitcn  aufkommen,  die  die  Alten  nicht  schon  gehabt 
haben,  und  Musenalmanache  hatten  sie  doch  wohl  nicht),  bei 
der  so  empfindsamen  ..Witterung  im  ganzen  Deutschland,  ist 
eine  Wirtembergische  Blumenlese  kein  Phänomen  mehr.  Man 
beschuldigt  sonsten  die  Schwaben,  dass  sie  erst  anfangen,  wenn 
ihre  Nachbarn  Feierabend  machen,  und  in  dieser  Hinsicht  — 
Gesegnet  sei  die  endliche  prophetische  Ankunft  des  schwäbi- 
schen Musenalmanachs!^' 

„Bücher  dieser  Art  lassen  sich  nur  von  drei  Seiten  anse- 
hen. Entweder  sie  sind  die  Freistatt  angehender  schüchterner 
Schriftsteller,  die  hinter  dieser  Tapete  Ruf  oder  Abschreckung 
vom  Publikum  erwarten.  Man  billigt  sie  in  dieser  Rücksicht, 
nur  muss  Letzterer  Gehorsam  geleistet,  und  jener  —  nicht  vor- 
ausgesetzt werden.  (Doch  auch  hiebei  die  unmaßgebliche 
Frage  I  Sind  denn  unser  Klopstock  und  seines  gleichen  wie- 
derum neuerdings  begierig  worden,  das  Maß  ihres  Genies  zu 
wissen,  dass  ich  auch  sie  in  der  Gesellschaft  finde,  und  lassen 
sie  sich,  gleich  alten  Grenadieren,  im  hohen  Alter  noch  mes- 
sen, um  zu  erfahren,  um  wie  viel  sie  ziu*ückschlugen?}  —  Oder 
ein  Almanach  ist  der  unflätige  Kanal,  der  die  Indigestionen 
der  Musen  durch  die  Nasen  des  Publikums  flößet?  Pftii  ihml 
wenn  er  das  wäre  —  vielleicht  die  Bude  verlegener  Waaren, 
und  da  lobte  ich  mir  unsere  pfiffigen  Schöngeister,  die  ihren 
abgestumpften  Witz  gelegentlich  bei  dieser  letzten  Instanz  noch 
umtreiben,  gleichwie  man  veraltete  Meubles  und  abgetragene 
Kleider  nach  Auktionen  schickt,  um  ihrer  mit  Vortheil  noch 
los  zu  werden?  —  Oder  endlich  will  man  dem  schönen  G^e- 
schlecht  ein  Präsent  damit  machen  ?  Unnothiger  Aufwand; 
eben  das  thut  ein  Bischen  Seife,  in  Wasser  au%elöst,  hübsch 
durch  ein  Strohhälmchen  drein  geblasen,  treibt  Bläschen  anf^ 
blau,  grün,  roth,  violett,  und  —  ei,  da  freuen  sich  dieKinderl^ 

„Doch  daran  mag  izo  wahr  sein,  was  wolle  1  gegenwärtiger 
Almanach  ist  immerhin  nicht  der  schlechteste  in  Deutschland. 
Mir  sind  schon  Kameraden  von  ihm  zu  Gesicht  gekonunen^ 
die  nur  die  Namen  großer  Dichter  bei  sich  führten,  unfirucht- 
bar  und  arm,  wie  sie  etwa  auf  ihren  Grabmälern  stehen  dürf- 
ten. Wenn  also  ein  Musenalmanach  der  Maßstab  der  Provin- 
zialkultur  ist,  so  mag  Schwaben  sich  immerhin  getrost  an  die 
Sachsen  und  Rheinländer  anreihen  —  aber  der  Heerführer  der 
schwäbischen   Musen,  Hr.   Stäudlin,  gürtet  sein  Schwert  um, 


295 


dem  ganzen  unschwäbischeu  Deutschland  ein  Generaltreffen  zu 
liefern,  und  dieses  soll  kein  Haar  weniger,  als  das  Genie  der 
Provinz  entscheiden.  Audaces  fortuna  juvat!  Mag  sich  der 
Ausländer  verschanzen,  so  gut  er  kann  —  heißköpfige  Nord- 
länder sind  gefährliche  Leute.  —  Es  beliebt  dem  Herausgeber, 
seine  eigene  heroische  Person  einem  Gärtner  zu  vergleichen, 
der  einen  Versuch  in  seinem  nordischen  Klima  wagt,  ob  die 
herrliche  Pflanze  des  Genies  nicht  auch  hier  ge- 
deihe? Wahr  ist's,  viel  thut  hiebei  die  Milde  der  Zone 
—  viel,  sehr  viel  Begießen  und  Sonne  —  viel  ein  wohlan- 
gebrachter Schnitt  —  Aber  der  Gärtner  muss  die  Ananas 
von   keinem  —  Holzapfelkern  erwarten!" 

„Davon  genug.  Unter  dem  Schwall  von  Mittelmäßigkeit, 
dem  Froschgequäke  der  Keimer  hört  man  noch  hie  und  da  ei- 
nen wahren  Saitenklang  der  Melpomene.  Die  mehrsten  Ge- 
dichte von  Hrn.  Thill ,  die  Schwermuth  vom  Herausgeber  selbst, 
Laura  vom  V.  der  Räuber,  einige  Arbeiten  von  Reinhard  und 
Conz,  einige  Epigramme  von  .  .  .  g,  O,  und  Armbruster  ver- 
dienen den  besten  ihrer  Art  an  der  Seite  zu  stehen.  •  •  •  g 
ist  für  das  Sinngedicht  gemacht,  und  sollte  diese  Anlage  nicht 
versäumen.  Armbruster  ist  ganz  ohne  Bildung,  aber  er  ver- 
diente gebildet  zu  werden.  Reinhardts  Poesien  verrathen  die 
zärtlichste  Empfindung  und  den  liebenswürdigsten  Charakter 
ihres  Verfassers  (er  hat  sich  auch  an  eine  Uebersetzung  des 
TibuU  gemacht,  und  wird  zuverlässig  darin  gliicklich  sein). 
Conz  hat  den  Klopstock  studiert  und  hat  einen  kühnern,  männ- 
lichem Ton.      Die  Uebrigen  machen  die  Masse." 

„Dem  Almanach  ist  ein  Titelkupfer  vorgesetzt,  und  stellt 
den  Aufgang  der  Sonne  über'm  Schwabenland  vor« 
Pozl  was  wir  Zeitgenossen  des  178gsten  Jahrzehends  nicht  er- 
leben! Der  Stäudlinische  Almanach  die  Epoche  des  Vater- 
lands! —  Wenn  diese  Erscheinung  nicht  zum  Unstern  ein  Nord- 
licht ist,  das,  wie  die  Wetterverständigen  behaupten.  Kälte 
prophexeiht  —  so  sehe  doch  der  Epochmacher  zu,  dass  ihr 
rother  feuriger  Morgenstrahl  ihm  die  Augen  nicht  verblende, 
und  er  —  in  der  Finstemiss  taumelnd  —  an  den  Schwert- 
spitzen der  Kritik  sich  spieße.^ 

Trotz  aller  Mäßigung,  war  durch  den  Streit  Schiller ^s 
Kampflust  rege  geworden.     Wie  später  in  den  Xenien,  so  er- 


296 


klärte  er  auch  jetzt  seinem  Gegner  oflfnen  Krieg;  nicht  rivali- 
siren  wollte  er  mit  Stau  dl  in,  sondern  dessen  mittelmäßigen 
Musenalmanach  ,,zermalmen."')  Er  sammelte  nun  wieder  ein- 
mal die  dichtenden  Jugendgenossen  um  sich,  und  sie  brachten 
Beiträge  dar ,  welche  großentheils  noch  auf  der  Akademie  ent- 
standen waren.  Petersen  wurde  zunächst  in^s  Vertrauen  ge- 
zogen, er  musste  bei  der  ganzen  Angelegenheit  behülflich  sein; 
Scharffenstein  und  Hang  lieferten  gewiss  gern,  was  sie 
von  kleiner  poetischer  Münze  eben  vorräthig  hatten,  und  aus- 
serdem werden  uns  noch  zwei  andere  Mitarbeiter  genannt: 
F.  F.  Pfeiffer,  und  ein  Graf  Zuccato.«) 

Ferdinand  Friedrich  Pfeiffer,  geboren  1759,  ein  Sohn 
des  Bürgermeisters  von  PAillingen ,  gehörte  zu  den  talentvollsten 
und  fleißigsten  Eleven  der  Akademie.  Er  hatte  Kameral Wissen- 
schaften studiert,  wurde  gleichzeitig  mit  Schiller  als  Amts- 
Kammer- Secretarius  entlassen,  und  erhielt  1782,  neben  seinem 
Amt,  eine  Lehrerstelle  in  der  Anstalt,  deren  Schüler  er  noch 
vor  kurzem  war.  Pfeiffer  übersetzte  1781:  „Nanine,  eine 
Comödie  von  Voltaire"  und  seine  Vorrede  suchte  darzn- 
thun:  dies  sei  das  einzige  Lustspiel  in  seiner  Art,  wozu  Götz 
von  Berlichingen  und  die  Räuber  Beweise  liefern  sollten.  Schil- 
ler sagte  darüber  im  Wirtemb.  Repertorium  (I,  192): 
„Uebrigens  ist  die  Uebersetzung  so  gar  schlecht  nicht,  als  die 
Vorrede  schließen  lässt.  Der  üebersetzer  ist  ein  —  Kamera- 
list, und  findet  sich  verpflichtet  —  den  vaterländischen  Han- 
delsmann mit  Makulatur  zu  versehen."  Da  diese  Recension 
bald  nach  der  Anthologie  erschien ,  so  wird  man  zugeben,  dass 
Schiller  seinen  Mitarbeiter,  wenn  es  Pfeiflfer  wirklich  war,  aus 
Kameraderie  nicht  eben  geschont  hat. 

Georg  Johann,  Graf  von  Zuccato,  aus  Parenzo  im 
venetianischcn  Antheil  von  Dalmatien,  trat  1773  in  die  Aka- 
demie. Er  zählte  damals  zwölf  Jahre ,  war  katholisch,  und  sein 
Vater   wird   in  den  Listen   als  „Herr  auf  seinen   Gütern*  be- 


')  Scharffenstein  im   Morgenblatt   1837,  Nr.   58. 

*)  Döring,  nach  einer  Mittheilung  des  Hauptmann  Ton  Schau- 
rodt,  der  auf  der  Karlsakademie  Schüler's  Zeitgenosse  gewesen  war,  und 
als  hochbejahrter  Greis  noch  1841  in  Jena  lebte. 


297 


zeichnet.  Erst  im  Frühjahr  1783  verließ  er  die  Karlsschule 
und  wurde  Lieutenant  im  herzoglichen  Jägerkorps. 

Hierzu  kommt  noch  der  Verfasser  des  Gedichts:  „Gefühl 
am  ersten  October*^  (Anthologie,  Nr.  83).  Dieser  war  kein 
junger  Akademiker,  denn  er  sagt  selbst,  dass  „Silberlocken  seine 
Schläfe  umwallten^,  und  außerdem  muss  es  schon  ein  hochge- 
stellter Mann  gewesen  sein,  der  den  mächtigen  General  Rie- 
ger ö£Pentlich  „Freund^  nennen  durfte.  Ich  möchte  deshalb  an 
Friedrich  Eberhard  von  Gemmingen  denken,  geb.  1726; 
seit  1767  Geheimer  Rath  und  Regierungspräsident  zu  Stuttgart, 
wo  er  1791  starb.  Derselbe  war  als  Dichter  bekannt,  und 
Schiller  kam  vielleicht  durch  dessen  Bruder  Otto  Heinrich 
von  Gemmingen  (s.  o.  S.  413)')  mit  ihm  in  Verbindung. 

Der  einzige  Mitarbeiter,  den  wir  mit  voller  Sicherheit  be- 
zeichnen können,  ist  Hoven,  zur  Zeit  Arzt  am  Militär -Wai- 
senhause in  Ludwigsburg.  Schiller  schrieb  ihm :  ^)  „Lieber 
Freund!  Petersen  wird  Dir  von  meinem  vorhabenden  Almanach, 
oder  besser  Anthologie,  schon  gesagt  haben.  Du  hast  ihm  eine 
Romanze  geschickt,  die  ich  schlechterdings  nicht  brauchen  kann, 
weil  sie  die  theologische  Censur  nicht  passirt  und  das  ganze 
Institut  hintertreiben  könnte.  Sei  also  so  gut  und  verfertige 
etwas  anders,  das  wider  die  Intolefanz  unserer  Censur  nicht 
so  schnurgerade  anrennt.  Schick  mir  auch  Deinen  Ossianischen 
Sonnengesang  und  gute  Epigramme,  auch  überhaupt  lass  Deine 
komische  Muse  für  uns  nicht  verloren  gehen.  Ich  leg  es  Dir 
nahe.  Lieber,  weil  ich  es  für  einen  wahren  Verlust  rechnen 
würde,  wenn  Du  nicht  bei  uns  entrirtest.  Vier  Bogen  sind 
schon  gedruckt,  und  zwar  sehr  schön,  mit  dem  schönsten  Pa- 
pier. Komm  überhaupt  dieser  Tage  hieher  und  dann  das 
weitere.** 

Wir  haben  nun,  so  gut  es  gehen  wollte,  den  kleinen  Kreis 
von  Schiller's  Hülfstruppen  gemustert;  übrigens  sagt  Scharffen- 
stein  ausdrücklich:     „Die  meisten   Gedichte  in  der  Anthologie 

1)  Im  Manuskript,     t.  M. 

2)  HoTen*6  Biographie,  S.  378.  Da  das  Schreiben  ohne  Datum  ist,  so 
ließen  die  Herausgeber  es  auf  ein  anderes  v.  25.  Mai  1782  folgen,  doch  müsste 
es  diesem  unbedingt  voranstehen,  denn  es  wurde  mehrere  Monate  früher  ab- 
gefasst.  Döring  hat  in  der  Compilation  „Beiträge  zur  Charakteristik 
Schiller's,  Altenburg  1845«  hinzugefügt:  „Stuttgart,  den  17.  Oc- 
tober  1781,«  aber  dies  ist  nichts,  als  eine  müssige  Erfindung. 


298 


sSM  von  Schiller,  deun  seine  Fahne  hatte  etwas  Ujiheiwlioh^s^ 
Energisches,  das  sentimentale,  weichliche  poetische  Eelputo^i 
eher  abschreckte  als  anzogt  >) 

Man  wusste  auch  damals  in  der  litterarischea  Welt,  ebe 
die  Blumenlese  noch  ans  Licht  kam,  dass  »e  großentheils 
Schiller''s  eigenes  Werk  sei.  Die  Berliner  LitterMtur-  «n^ 
Theaterzeitung  (herausgegeben  von  Bertram),  machte  4UH  16. 
Februar  1782  folgende  Mittheilung:  „Der  V^itsser  des  fichau- 
Spiels  die  Räuber,  welches  nächstens  zu  Mftnnheim,  auf  Ver- 
langen der  dortigen  Bühne,  bei  Schwan  ganz  umgearbeiiet  er* 
scheinen  wird,  ist  der  Regimentsdoktor  Schiller  zu  Stuttgwnt 
der  eine  neue  Anthologie  herausgeben  wird,  woria  die  niei- 
sten  Gedichte  von  ihm  selbst  und  von  einem  Feuer  sein  soUeii, 
wie  man  es  von  dem  Dichter  der  Räuber  erwarten  darf.^' 

Mit  diesen  Zeugnissen  kontrastirt  es  freilich,  dass  uns  in 
der  Anthologie  vier  und  zwanzig  verschiedene  Chiffren  begeg- 
nen, aber  der  Widerspruch  ist  nur  scheinbar.  Eben  weil  ee 
ihm  an  Mitarbeitern  fehlte,  sah  Schiller  sich  gienöthigt,  sdbet 
unter  recht  vielerlei  Gestalten  aufzutreten,  um  dadurch  der 
Sanunlung  das  Ansehen  größerer  Mannigfaltigkeit  zu  gebe«. 
Leider  besitzen  wir  keine  authentische  Urkunde  über  SofaiUer^B 
Beiträge  zur  Anthologie,  und  wir  müssen  daher  in  ihren  dun- 
keln Schacht  hinabsteigen,  um  dort  aufmerksame  UBtersuchiui- 
gen  anzustellen.  Sie  ist  ein  Album  der  Karlsakademie,  in  wal-f 
ches  die  poetischen  Zöglinge  sich  eingezeichnet  haben,  und  sie 
bildet,  mit  ihren  Zügellosigkoiten  aller  Art,  ein  merkwürdigee 
Dokiunent  für  Schiller's  Jugendleben.  Jener  geistige  Benif^ 
den  er  nachmals  so  groß  und  schön  erfüllt  hat,  trieb  ihn  svr 
Herausgabe:  der  Beruf,  die  farblose,  entnervende  Mittelmäftig* 
keit,  die  zugleich  Kunst  und  Geschmack  verdirbt,  aus  ihrem 
weichen  Polsterstuhl  aufzujagen.  Wenn  ihm  jetzt  auch  noch 
nicht  die  volle  dichterische  Thatkraft  gegeben  war,  so  besaß  er 
doch  schon  den  ganzen  Thatendrang;  in  der  Anthologie  sehen 
wir  den  Jüngling  sich  zum  Epigrammendichter  vorbereiten,  und 
als  solcher  hat  er  denn  auch  später,  in  den  Xenien  und  Votiv- 
tafeln,  eine  bewundernswerthe  Höhe  erreicht. 

„Stäudlin  hat  für  einen  Bogen  seiner  Verse  einen 
Dukaten   bekommen, ^^  schrieb  Schiller   1781    an  Petersen« 


1)  Morgenblatt  1837,  Nr.  58. 


299 


£!r  BeihBt  w,9X  ^oht  so  glücklich,  sondern  musste  die  Antholo- 
gie ftuf  leigieae  Kosten  «drucken  käsen,  wodnrch  die  Sofaiilden 
sieb  ^ergroßerien,  mit  deaen  ihn  der  Verlag  seiner  Räuber  be« 
kstet  bstte.  Dennoch  wurde  das  Buch  sehr  gut  ausgestattet, 
und  Sdijtter  iräblie  statt  des  winzigen  Foimats,  das  sonst  für 
MusieAAteiaiwshe  beliebt  war,  ein  s(^ankes  Octav.  Als  Vig- 
nette nwsBte  die  Anthologie  ein  sauber  gestocfaeoes  Apollo- 
brustbild ^»chimcken ;  Köcher  und  Pfeile  f iifart  der  Didiergott, 
und  in  leiueiu  BJUtte  4es  Lforibeers,  welcher  ihn  umkränzt,  hat 
der  Kupferstecher  seinen  Namen  angebracht  Für  uobewaffiiete 
Augen  ist  derselbe  betnahe  «nsichtbar,  aber  durch  cKe  Loupe 
liest  mw:  £.  Verbalst^).  Der  Titel  lautet:  „Anthologie 
auf  das  J^hr  1782.  Gedrukt  in  der  Buchdrukerei 
zu  Tobolsko^^  (271  Seiten.)  Dieser  fingirte  Dnickort  und 
die  sibirisicbs  Maske  überhaupt,  waren  eine  Parodie  auf  Staud- 
lin^s  Keilender,  denn  dessen  Titelkupfer  zeigte  die  Sonne  der 
Poesie,  über  dem  Schwabenlande  aufgehend,  und  im  Vorwort 
hieß  es:  mau  möge  nur  sagen,  ob  denn  die  armen  Schwaben 
wirklich  unter  einem  so  bootischeB  Himmel  wohnten,  dass  die 
herrliche  Pflanze  des  Genies  hier  nicht  gedeihen  können?  — 
Wir  haben  bereits  erfahren,  dass  Schiller  diese  Stelle  in  seiner 
Kritik,  bespöttelte,  und  dass  er  von  dem  Bilde  meinte:  die  Er- 
scheinung möchte  statt  der  Sonne,  wohl  gar  ein  Kälte -brin- 
gendes Nordlicht  sein. 

Die  Anthologie  kam  frühe  in  Vergessenheit,  wozu  der  un- 
vollkommene Titel  das  seinige  beitrug,  da  derselbe  weder  Her- 
ausgeber, noch  Druckort,  noch  Verleger  nannte.  Schon  nach 
zehn  Jahren  war  das  Buch  gewissermaßen  eine  litterarische 
Seltenheit  geworden,  obgleich  in  Stuttgart  noch  Exemplare  ge- 
nug lagerten.  Am  11.  Mai  1793  schrieb  Körner  an  Schiller: 
„Leider  habe  ich  Deine  Anthologie  nicht  mehr.  Mein  letztes 
Exemplar  hat  Huber  auf  kurze  Zeit  von  mir  verlangt,  und  ich 
habe  es  nicht  wiederbekommen.  Um  ein  anderes  zu  bekonunen, 
habe  ich  schon  allerwärts  aufgestellt,  aber  ohne  Erfolg.^^ 

Nun  giebt  es  noch  eine  Edition  der  Anthologie,  welche 
bisher  von  keinem  Biographen  oder  Bibliographen  erwähnt 
worden  ist;  sie  erschien  1798,  als  Schiller's  Ruhm  bereits  voll- 


1)    £gydia8    Verhelst   (geb.   1742)   war  Kupferstecher  in  Mannheim, 
und  hat  1787  ein  schönes  Titelbild  zum  Don  Carlos  geliefert. 


300 


ständig  begründet  war.  Diese  Ausgabe  war  aber  nur  dne  neae 
Titelausgabe,  wodurch  die  Buchhandlung  ihre  noch  vorhandenen 
Exemplare  unterzubringen  hoffte.  Der  veränderte  Titel  lautet: 
„Anthologie  auf  das  Jahr  1782.  Herausgegeben  von 
Friedrich  Schiller.  Stuttgart,  bei  Johann  Benedikt 
Metzler."')  Einen  besondern  litterarischen  Werth  erhält  das 
Buch  durch  folgenden,  vom  Verleger  hinzugefügten  Vorbericht: 
„Schiller,  dessen  Namen  der  Deutsche,  wie  die  Namen 
Klopstock,  Göthe  und  Wieland,  mit  patriotischem  Stolz^  und  Ehr- 
erbietung ausspricht,  gründete  seinen  Kuhm  schnell  und  auf  im- 
mer. Nächstens  erhalten  wir  an  seinem  Wallenstein  ein  neues 
Meisterwerk.  Wenn  nun  auch  die  frühsten  Geistes -Produkte 
an  sich  und  besonders  in  so  fem  stets  merkwürdig  bleiben,  als 
die  Leser  schon  in  den  frühesten  Jünglings  -  Versuchen  das  „os 
magna  sonaturum"  erkennen  und  nur  desto  mehr  staunen  müs- 
sen, wie  rasch  und  zu  welcher  Hohe  sich  sein  Genius  auf- 
schwang; so  hoft  der  Verleger  der  Schillerischen  Anthologie 
auf  das  Jahr  1782.  den  Dank  des  Publikum  zu  verdienen,  wenn 
er  sie  unter  ihrer  wahren  Firma  in  den  Buchhandel  bringt,  und 
so  die  vielen  Liebhaber  des  langen  Fragens  und  Suchens  von 
diesem  Buch,  das  wegen  des  verschwiegenen  Namens  des  Her- 
ausgebers und  des  erdichteten  Drukorts  nicht  allgemc^jn  be^ 
kannt  worden  ist,  mit  Einemmal^  überhebt.  Vorzüglich  die 
mit  M.  P.  Wd.  und  Y.  bezeichneten  Gedichte  sind  von  Schil- 
ler. Vielleicht  findet  der  Herr  Verfasser  mehrere  derselben 
der  Aufnahme  in  eine  künftige  Sammlung  seiner  Werke  nicht 
unwürdig. Ostermesse  1798."^) 

Das  Zeugniss,  welches  hier  ein  Mann  ablegt,  der  dem 
Buche  seit  seinem  Ursprung  nahe  gewesen,  ist  uns  von  großer 
Wichtigkeit.  Wir  erfahren  daraus,  was  ich  auch  schon  früher 
vermuthet  und  ausgesprochen  hatte,  dass  Schiller  sich  gewisser 
Chiffren  bediente,  und  dass  alle  Gedichte,  unter  denen  sich 
diese  Chiffren  wiederfinden,  für  sein  Eigenthum  anzuerkennen 
sind.  Jene  Vorrede  erschien  aber  noch  beim  Leben  des  Dich- 
ters und  seiner  nächsten  Jugendfreunde;  sie  konnte  ihnen  nicht 


1)  Diese  Mittheilung  empfing  Boas  von  mir.     v.  M. 

2)  Schwab    muss    diese    Vorrede  wohl  gekannt    haben;   vergl.    desaen 
Schiller's  Leben^"  S.  90. 


301 


fremd  bleiben,  und  ohne  Zweifel  würde  irgend  einer  widerspro- 
chen haben,  wenn  sie  etwas  Falsches  enthalten  hätte. 

Der  fernere  Text  beider  Ausgaben  ist  durchaus  gleichlau- 
tend. Wir  treffen  zunächst  auf  eine  gar  seltsame  Dedikation, 
worin  Schiller  das  Buch  „seinem  Prinzipal,  dem  Tod^^ 
zugeeignet  hat.  Dieselbe  beginnt:  „Großmächtigster  Czar 
alles  Fleisches,  Allezeit  Vermindrer  des  Reichs,  Un- 
ergründlicher Nimmersatt  in  der  ganzen  Natur!  Mit 
unterthänigstem  Hautschauem  unterfange  ich  mich  deiner  ge- 
fräßigen Majestät  klappernde  Phalanges  zu  küssen,  und  dieses 
Büchlein  vor  deinem  dürren  Kalkaneus  in  Demut  niederzulegen. 
Meine  Vorgänger  haben  inuner  die  Weise  gehabt,  ihre  Säch- 
lein  und  Päklein,  dir  gleichsam  recht  vorsezlich  zum  Ärger, 
hart  an  deiner  Nase  vorbei,  ins  Archiv  der  Ewigkeit  transpor- 
tiren  zu  lassen,  und  nicht  gedacht,  dass  sie  dir  eben  dadurch 
um  so  mehr  das  Maul  darnach  wässern  machten,  denn  auch 
an  dir  wird  das  Sprüchwort  nicht  ziun  Lügner :  Gestohlen  Brod 
schmeckt  gut.  Nein!  dediziren  will  ich  dir^s  lieber,  so  bin  ich 
doch  gewiss,  dass  du's  —  weit  weglegen  werdest.  Doch  Spaß 
beiseite!  —  Ich  denke,  wir  zween  kennen  uns  genauer,  denn 
nur  vom  Hörensagen.  Einverleibt  dem  äskulapischen  Orden, 
dem  Erstgebornen  aus  der  Büchse  der  Pandora,  der  so  alt  ist 
als  der  Sündenfall,  bin  ich  gestanden  an  deinem  Altare,  habe, 
wie  der  Sohn  Hamilkars  den  sieben  Hügeln,  geschworen  un- 
sterbliche Fehde  deiner  Erbfeindin  Natur,  sie  zu  belagern  mit 
Medikamenten  Heereskraft,  eine  Wagenburg  zu  schlagen  um 
die  Stahlische  Seele  ^),  aus  dem  Feld  zu  schlagen  mit  Sturm 
die  Trozige  die  deine  Sportein  schmälert,  und  deine  Finanzen 
schwächt,  und  auf  dem  Wahlplaz  des  Archaeus  hoch  zu  bäu- 
men deine  mitternächtliche  Kreuzstandarte.  —  Dafür  nun  (denn 
eine  Ehre  ist  werth  der  andern)  wirst  du  mir  auswürken  den 
kostlichen  Talisman,  der  mich  mit  heiler  Haut  und  ganzer 
Wolle  an  Galgen  und  Rad  vorübergeleitef*  u.  s.  w. 

Nun  steigert  sich  der  Ton  bis  zum  ungemessenen  Aus- 
druck der  Räuber;  ein  gewisses  Fümet  von  der  Anatomie  hat 


1)  Georg  Ernst  Stahl,  ein  berühmter  Arzt  usd  Naturforscher  (geb. 
1660,  gest.  1734)  suchte  die  versumpfte  Wissenschaft  der  Medizin  auf  ratio- 
nelle Grundsätze  zurückzuführen,  besonders  in  seinem  Buche  „Theoria  me- 
dica  Vera.    Halle  1737.''  B. 


302 


sich  auch  darin  erhalten,  und  nur  ein  junger  Mediziner  konnte 
solche  Zueignung  niederschreiben.  Auf  dieselbe  folgt  dann  ein 
frischeres  Vorwort,  um  die  sibirische  Fiktion  weiter  fortzu- 
spinnen: 

Tobolsko  den  2.  Februar. 

—  Tum  primum  radüs  gelidi  incaluere  Triones,  —  *) 

„Blumen  in  Sibirien?  —  Dahinter  stekt  eine  Schel- 
merey,  oder  die  Sonne  muss  Front  gegen  Mittemacht  machen. 

—  „Und  doch  —  wenn  ihr  euch  auf  den  Kopf  stelltetl  Es  ist 
nicht  anders;  —  Wir  haben  lange  genug  Zobel  gefangen,  laast^s 
uns  einmal  auch  mit  Blumen  versuchen.  Sind  nicht  sdum 
Europäer  genug  zu  uns  Stiefsöhnen  der  Sonne  gekommen  und 
durch  unsern  hundertjährigen  Schnee  gewatet,  irgend  ein  be- 
scheidenes Blümchen  zu  pflücken?  Schande  unsern  Ahnen  — 
wir  wollen  sie  selbst  sammeln,  und  einen  ganzen  Korb  toU 
nach  Europa  frankiren.  —  Zertretet  sie  nicht,  ihr  Söhne  des 
milderen  Himmels!^ 

„Aber  im  Ernst  zu  reden  —  das  eiserne  Gewicht  des  wid- 
rigen Vorurtheils,  das  schwer  über  dem  Norden  brütet,  von 
der  Stelle  zu  räumen,  federte  einen  stärkeren  Hebel,  als  den 
Enthusiasmus  einiger  wenigen,  und  auch  ein  festeres  Hypo- 
mochlion,  als  die  Schultern  von  zween  oder  drey  Patfioten. 
Doch  wenn  schon  auch  diese  Anthologie  euch  lekerhafte  Eu- 
ropäer so  wenig,  als  —  wenn  ich  den  Fall  seze  —  Unser  Mvi«* 
senalmanach,  den  wir  —  wenn  ich  ja  den  Fall  sezen  wollte  — 
hätten  können  geschrieben  haben,  mit  uns  Schneemännern  ver» 
söhnen  wird,  so  bleibt  ihr  doch  mindestens  das  Verdienst^ 
Hand  in  Hand  mit  ihren  Kameradinnen  im  weitentlegenen 
Teutschland  dem  ausröchelnden  Geschmack  den  G^nikfiuig 
geben  zu  helfen,  wie  wir  Tobolskianer  zu  sprechen  belieben«^ 

„Wenn  eure  Homere  im  Schlaf  reden  und  eure  Herkules 
Müken  mit  ihren  Keulen  erschlagen  —  Wenn  jeder,  der  sei«- 
nen  bezahlten  Schmerz  in  Leichenalexandriner  auszutropfen  ver- 
steht, das  für  eine  Vokazion  auf  den  Helikon  auslegt  —  wird 
man  uns  Nordländern  verdenken ,  mitunter  auch  in  den  Leyer- 
klang  der  Musen  zu  klimpern?  —  Eure  Matadore  wollen  Silber- 
geld gemünzt  haben,  wenn  sie  ihr  Brustbild  auf  elendes  Mes- 
sing prägten;  —  und  zu  Tobolsko    werden  die  Falschmünzer 


1)  Ovid.  Metam.  U.  171. 


303 


aufgehangen.  Zwar  möcbt  ihr  oft  auch  bei  uns  Papiergeld  statt 
russischen  Rubels  finden,  aber  Krieg  und  theure  Zeit  entschul- 
digen alles.^ 

„So  geh  dann  hin,  Sibirische  Anthologie  —  Geh  —  du 
wirst  manchen  Süßling  beseeligen,,  wirst  von  ihm  auf  den  Nacht- 
tisch seiner  Herzeinzigen  gelegt  werden,  und  zirni  Dank  ^ire 
alabasterne  Lilienschneehand  seinem  zärtlichen  Kuss 
verrathen.  —  Geh  —  du  wirst  in  den  Ajssembk^i  und  Stadt- 
visiten manchen  gähnenden  Schlund  der  Langeweile  ausfüllen, 
und  vielleicht  eine  Circassienne  ablosen,  die  sich  im  Plazregen 
der  Lästerung  müde  gestanden  hat.  —  Geh  —  du  wirst  die 
Küche  mancher  Kritiker  berathen;  sie  werden  dein  Licht  fliehen, 
und  sich  gleich  dem  Käuzlein  in  deinen  Schatten  zurückziehen, 
—  Hu  hu  hu!  —  Schon  hör  ich  das  ohv&erfezende  Geheule 
im  unwirthbaren  Forst,  und  hülle  mii^b;  angstvoll  in.  meinen 
ZobeL«  0 

Jetzt  wenden  wir  uns.  ^u  dem  poetisoben.  Inhalt-  de r  An- 
thologie. Die  Entstehungszeit  der  einzelnen  Beitrage  »vonSchifler 
lä^st  sich  nicht  genau  angeben,  deoo  die  Jahrzahl*  17Sr2,,  wielbha 
er  ihnen  in  seiner  Godicfats^mmlung'  beifügte^  kann  atßh  mir^ 
auf  den  ersten  Abdruck;  beziehen,  da  die  VoTcede  der  Aotho^ 
logie  vom  2,  Februar  1762  d^tirt  iat.  Der  „Leichienpkanr 
tasie^  hat  Schiller  das  Dicbtungsjahr  178Q  vorangeselzt;  die 
„Elegie  auf  dea  Tod  einee  Jünglinga^^  und  ,,Die  s>elir 
gen  A.ugenblicMß'^  wurden  schütn.' 1781.  gedruckt,  undtdies^ 
Jahrzahl  findet  sich  i^uch  über-  dem  EnofiTnungsgedicbte:  n^Die 
Journalisten  und.Minos.^  Einzelne  Stücke  mögen  wohl 
noch  von  der  Akademe  hßii^toxamen^.abei!  die  meisten  entstan- 
den gewiss  im  Jahre  1781,  Um:  eine  überaiditUche  Vergib 
chong  der  Poesien  zu  erleichtern,  werde  ich  sie,  nach  ihren 
Chiffiren,  gruppenweise  zusammenstellen. 


1)  Die  Dedikation  und  das  Vorwort  sind  T.  unterzeichnet,     v.  Hf. 


Xfnm. 


HEINRICH  MÜHLPFORTH. 


VON 


AUGUST  KAHLERT. 

Die  Gelegenheitsdichterei  ist  in  Schlesien  seit  mehr  als  zwei 
Jahrhunderten  vollkommen  heimisch,  und  Opitzens  Bemerknng, 
„dass  in  seinem  Vaterlande  keine  Hochzeit,  kein  Begräbniss, 
ohne  Verse  sein  können  ,^^  bestätigt  sich  bis  auf  die  neueste 
Zeit  vollkommen.  Opitz  selbst  hatte  den  Ton  angegeben,  der 
so  lange  in  den  Poesien  seiner  Landsleute  nachhallte,  indem  er 
eben  mit  seinen  Gelegenheitsgedichten  vorzugsweise  den  Großen 
huldigte;  denn  aus  den  höheren  Kreisen  und  aus  den  Studier^ 
Stuben  verbreitete  sich  jene  poetische  Complimentierwuth  über 
den  Bürgerstand  und  ward  dadurch  friihzeitig  einzelnen  küm- 
merlich besoldeten  Gelehrten  eine  keineswegs  schimpfliche  Er- 
werbsquelle. Vergleichen  wir  die  neuern  schlesischen  Gelegen- 
heitsgedichte mit  den  altern,  so  finden  wir  natürlich  den  Fort- 
schritt der  Sprache  und  des  poetischen  Geschmacks  darin 
erkennbar  ausgedrückt,  die  Gesinnung  aber  nicht  wesentlich 
verändert.  Eine  behäbige,  leicht  zur  Weitschweifigkeit  verfüh- 
rende Darstellungsweise,  wohlwollende  Theilnahme  an  fremder 
Lust  und  Unlust,  Gefühl,  das  aber  mehr  in  die  Breite  als  in 
die  Tiefe  gebt,  sprechen  sich  in  leicht  hinfließenden  Strophen 
behaglich  aus.  Den  Reimen  hängt  bis  auf  die  neueste  Zeit  die 
gänzlich  fehlerhafte  Aussprache  der  Vocale  an,  die  das  schle- 
sische  sprachliche  Idiom  charakterisiert.  Die  Consonanten 
werden  dafür  schon  in  den  ältesten  schlesischen  Gedichten 
richtiger,  als  z.  B.  in  sächsischen  gewürdigt.  Der  Schlesier 
reimt  leicht:  Freud  und  Leid,  Liebe  und  trübe,  Seele  und  Höhle, 
aber  schwerlich:  geneigt  und  leicht,  laden  und  rathen  u.  s.  w. 
—  Hat   sich  solchergestalt  das  nationelle  Prinzip  schon  in  den 


305 


ältesten  Denkmälern  nicht  verläugnet,  so  ist  doch  davon  vieles 
zu  trennen,  was,  dem  Zeitgeschmacke  angeborig,  in  jenen  uns 
häufig,  ja  bis  zum  Ueberdrusse  begegnet.  Der  ganze  antike 
mythologische  Staat,  den  erst  Klopstock  vertrieb  und  selbst 
Schiller^s  Vorliebe  nicht  auf  die  Länge  wieder  in  Aufnahme 
brachte,  gehörte  der  Litteratur  des  siebzehnten  Jahrhunderts 
zu  sehr  an,  als  dass  auch  das  harmloseste  Gelegenheitsgedicht 
darauf  hätte  verzichten  sollen.  Das  Missverständniss  des  an- 
tiken Geistes  ward  insbesondere  durch  die  Franzosen  befördert. 
Die  Deutschen  haben  dieselben  leider  lange  über  das  Zeitalter 
Ludwig  des  vierzehnten  hinaus,  worin  jene  den  europäischen 
Geschmack  repräsentierten,  nachgeahmt;  und  unter  den  Deut- 
schen wieder  waren  es  damals  besonders  die  Schlesier,  die  für 
dichterische  Production  geschaffen  schienen,  was  auch  von  der 
Welt  laut  anerkannt  wurde.  Wenn  vrir  also  in  den  schlesi- 
schen  Hochzeits-  und  Begräbnissgedichten  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  die  Bekanntschaft  des  ganzen  Olymps  machen, 
so  haben  wir  uns  darüber  nicht  zu  wimdern,  sondern  uns  zu 
freuen,  dass  die  Würde  des  deutschen  Volksthums  später  den- 
noch gerettet  worden  ist. 

Geschichtlieh  merkwürdig  wird  es  immer  bleiben,  dass  das 
Gelegenheitsgedicht  über  ein  Jahrhundert  lang  den  Thron  der 
Poesie  behauptet  hat,  und  eine  Vorliebe,  welche  vielleicht  aus 
der  schlesiscfaen  Nationalität  sich  erklären  lässt,  auch  in  den 
andern  deutschen  Provinzen  so  lange,  ohne  zum  Spotte  zu 
werden,  gepflegt  werden  mochte.  Es  gibt  keine  andere  Erläu- 
terung für  diese  Erscheinung,  als  dass  das  vom  dreißigjährigen 
Kriege  verwüstete  und  zerrissene  Deutschland  kein  Boden  für 
Poesie  war.  Der  Poesie  fehlte  würdiger  Inhalt,  die  Form  aber 
hatte  sich  ausgebildet;  als  Stoff  war  also  die  erste  beste  Ge- 
legenheit zu  reimen  willkommen.  Wenn  wir  denn  versucht 
sind,  die  wohlbeleibten  Sammlungen  jener  Ergüsse  auf  den 
Bücherbrettern  in  Ruhe  zu  lassen,  so  laden  wir,  so  scheint  es, 
dadurch  eben  keinen  Vorwurf  auf  uns;  —  hat  doch  die  geistige 
Entwickelung  unserer  Tage  Ansprüche  an  den  Litteraturforscher 
zu  machen,  welche  ihn  dringend  auffordern,  sich  von  dem  für 
spätere  Geschlechter  werthlosen  Ballast,  den  vorübergehende 
Zustände  aufhäuften,  nicht  erdrücken  zu  lassen.  Gar  zu  un- 
wichtig aber  sind  jene  Gelegenheitsgedichte  für  Kenntniss  man- 
nigfacher Lebensrichtungen  nicht,  als  viele,    durch    die  Form 


B06 


Abgeschreckte  voreilig  meinen.  Müssen  wir  die  auigehäuftett 
Brocken  von  Gelehrsamkeit  auch  in  den  meisten  Fidlen  für 
nutzlos  und  für  eine  Frucht  der  Eitelkeit  nicht  überstromendiei* 
Weisheit  erklären,  so  bleibt  ihnen,  wo  der  äsiihetüsche' Werfli 
abgeht)  oH  noch  der  practische,  dass  sie  zur  Biographief  merk- 
würdiger Personen  einzelne,  anderswo  vergeblich  gesuchte  No- 
tizen beibringen. 

Dieses  Alle»  verdient  einige  Erwägung,  wenn  man  die  Be- 
kanntschaft eines  Gelegenheitsdichters  —  denn  diesen  Namen 
verdient  er  vor  Vielen  —  machen  will,  der  zu  den  ftnchtbarsteiij 
und  man  darf  sagen,  späteren  Andenkens  würdigsten  des  sieb' 
zehnten  Jahrhunderts  gehört.  Mit  Recht  ist  auf  H^inridi 
Mühlpforth  um  mancher  gelungenen  Lieder  und  sinnvollto* 
Einfälle  willen  bereits  von  Wachler*)  aufmerksam  gemaobt 
worden.  Genauer  auf  den  wenig  bekannten  Mann  ist  Ftwaz 
Hörn**)  eingegangen,  dessen  Urtheil  über  ihn  richtig,  wenn 
auch  nicht  erschöpfend  scheint;  weder  letzterer  jedoch,  nodi' 
andere  deutsche  Litteraturhistoriker  theilen  über  des  Diditers 
Lebensumstände,  die  nur  aus  altern,  zum  TheU  trüben  Quellen* 
zu  schöpfen  sind,  etwas  Genügendes  mit  Eine  Darstelltuig' 
seines  Seins  und  Wirkens  zu  versuchen,  werden  wir  unt^  die- 
sen Umständen  hinlänglich  aufgefordert. 

Heinrich  Mühlpforth  ward  am  10.  Juli  1639  zu  Bres- 
lau geboren,  woselbst  sein  Vater,  wie  es  scheint,  sebr  ange- 
sehen, als  Kaufmannsältester  lebte.  Die  ganze  FamiKe  des  Na- 
mens zählte  mehrere  ausgezeichnete,  selbst  litterarisch  gerühmte' 
Männer.  So  wird  noch  ein  Heinrich  Mühlpforth,  Arst  nr 
Oels  und  Vorfahre  unseres  Dichters,  wegen  der  Gleichbeit  dtr 
Vornamen  leicht  mit  diesem  verwechselt,  von  Gunradus  in  des-- 
sen :  Silesia  togata  als  Dichter  gepriesen.  Einen  größeren  Bnf 
als  solcher  erwarb  er  weiter  nicht.  Unser  Heinrich  nun  hatte 
das  Unglück,  seinen  Vater  zu  verlieren,  da  er  erst  12  Jahre 
alt,  noch  sehr  hülfsbedürftig  war.  Wer  sich  zunächst  seiiMr 
angenommen,  ist  nicht  zu  ermitteln;  wohl  aber  erfahren'  wirj 
dass   in  dem   talentvollen  aufgeweckten  Knaben  die  Lust  zur' 


*)  Vorlesungen  über  deutsche  National-Litteratur.     Frankfurt,  1818.  Bd. 
II.  S.  47. 

**)  Die  Poesie  und  Beredsamkeit  der  Deutschen  von  Luther's  Zeit  bis  xiir 
Oej?onwart.     Berlin,  1823.     Bd.  II.  S.  85. 


307 


Malerei  frühzeitig  erwachte  und  dass  er  behufs  weiterer  Aus- 
bildung einem  gewissen  Ezechiel  Paritius,  polnischem  Hofmaler, 
damals  zu  Breslau  wohnhaft,  als  Schüler  anvertraut  wurde. 
Die  Fortschritte  entsprachen  nicht  den  Erwartungen,  und  Ver- 
wandte bestinunten  ihn,  die  Apothekerkunst  zu  erlernen.  In 
gelehrtem  Wissen  wurde  er  nebenher  von  dem  später  als  Leh- 
rer am  Magdalenäum  verstorbenen  Karl  Rhenisius  unterrichtet, 
mit  solchem  Erfolge,  dass  die  gelehrte  Laufbahn  des  Knaben 
zu  fördern  beschlossen  ward.  Dem  Magdalenäum  als  Schüler 
übergeben,  ward  er  durch  sein  unruhiges  Temperament  bald 
aber  in  Misshelligkeiten  versetzt^  die  ihn  1656  an  das  Elisa- 
bethan  überzugehen  bestimmten.  Wahrscheinlich  hatte  seine 
später  noch  mehr  hervortretende  Neigung  zum  Witz  Schuld 
daran,  denn  als  er  an  dem  letztirenannten  Gymnasium  zum  er- 
stenmale  in  die  Classe  trat,  empfing  ihn  seinTuer  Lehrer  Jo- 
hann  Gebhard  mit  den  Worten:  es  patri  similis,  nee  possum 
dicere  plura,  eine  Bemerkung,  welche  darin  ihre  Erklärung  fin- 
det, dass  Heinrich^s  Gesichtsziige  einen  fortdauernden  satyri- 
schen  Ausdruck  trugen.  EUer  schon  machte  er  zwei  Gedichte, 
die  vielen  Beifall  erhielten,  uns  aber  nicht  aufbehalten  sind. 
Die  Gymnasialzeit  war  vollendet;  den  fast  mittellosen,  mit  gu- 
ten Zeugnissen  ausgestatteten  Jüngling  unterstützte  die  Bres- 
lauische Kaufmanns -Innung  durch  Stipendien,  so  dass  er  1658 
die  Universität  zu  Leipzig  beziehen  konnte.  Hieselbst  studierte 
er  die  Arzneiwissenschaft,  erlangte  auch  die  Gunst  ausgezeich- 
neter Professoren  und  würde  vielleicht  in  dieser  Laufbahn  aus- 
gehalten haben,  hätte  ein  neues  Ereigniss  seine  ganzen  Lebens- 
verhältnisse nicht  umgeschafifen.  Er  fasste  zu  einer  jungen  Frau, 
Wittwe  des  Doctors  B erlitt,  von  Geburt  Zabel,  eine  so  ent- 
schiedene Neigung,  dass  er,  der  jugendlich  rasch  entschlossene 
Student,  sie  heirathete,  ein  Schritt,  den  er  im  Stillen  oft  bereut 
haben  mag,  weil  die  Liebenswürdigkeit  der  jungen  Frau  spä- 
terhin einem  unleidlichen  zanksüchtigen  Wesen  Kaum  gab.  Auch 
in  Leipzig  missbilligte  man  den  übereilten  Schritt,  bis  es  end- 
lich dahin  kam,  dass  Mühlpforth  den  Ort  und  zugleich  sein 
bisheriges  Studium  verließ;  er  ging  1660  nach  Wittenberg  und 
studierte  nun  mit  Eifer  die  Rechte.  Hier  dichtete  er  auch,  wie 
es  scheint,  wenig;  mindestens  sind  uns  von  dem  Leipziger  Auf- 
enthalte mehr  Gedichte  übrig,  als  von  dem  zu  Wittenberg. 
Dafür  schrieb  er  hier  eine  Dissertation  de  iure  sepulturae,  wo- 

fTeitmmr.  H,  II,  20 


306 


Abgeschreckte  voreilig  meinen.  Müssen  wir  die  aufgehäuftett 
Blöcken  von  Gelehrsamkeit  auch  in  den  meisten  Fidlen  ffir 
nutzlos  und  für  eine  Frucht  der  Eitelkeit  nicht  überströmeüdiei* 
Weisheit  erklären,  so  bleibt  ihnen,  wo  der  ästhetische' Werfli 
abgeht,  oft  noch  der  practische,  dass  sie  zur  Biographie'  merk- 
würdiger Personen  einzelne,  anderswo  vergeblich  gesuchte  No- 
tizen beibringen. 

Dieses  Alles  verdient  einige  Erwägung,  wenn  man  die  Be- 
kanntschaft eines  Gelegenheitsdichters  —  denn  diesen  Namen 
verdient  er  vor  Vielen  —  machen  will,  der  zu  den  ftnchtbarstenj 
und  man  darf  sagen,  späteren  Andenkens  wiirdigsten  des  sieb' 
zehnten  Jahrhunderts  gehört.  Mit  Recht  ist  auf  H^inridi 
Mühlpforth  um  mancher  gelungenen  Lieder  und  sinnvoll^ti- 
Einfälle  willen  bereits  von  Wachler*)  aufmerksam  gemaobt 
worden.  Genauer  auf  den  wenig  bekannten  Mann  ist  Ftuns 
Hörn**)  eingegangen,  dessen  Urtheil  über  ihn  richtig,  wenn 
auch  nicht  erschöpfend  scheint;  weder  letzterer  jedoch,  nodi' 
andere  deutsche  Litteraturhistoriker  theilen  über  des  Diditers 
Lebensumstände,  die  nur  aus  altern,  zum  Theil  trüben  Quellen* 
zu  schöpfen  sind,  etwas  Genügendes  mit  Eine  Darstellong' 
seines  Seins  und  Wirkens  zu  versuchen,  werden  wir  unter  die- 
sen Umständen  hinlänglich  aufgefordert. 

Heinrich  Mühlpforth  ward  am  10.  Juli  1639  zu  Bres- 
lau geboren,  woselbst  sein  Vater,  wie  es  scheint,  sehr  ange- 
sehen, als  Kaufmannsältester  lebte.  Die  ganze  Familie  des  Na- 
mens zählte  mehrere  ausgezeichnete,  selbst  litterarisch  gerühmte' 
Männer.  So  wird  noeh  ein  Heinrich  Mühlpforth,  Arst  £U' 
Oels  und  Vorfahre  unseres  Dichters,  wegen  der  Gleicfabeit  der 
Vornamen  leicht  mit  diesem  verwechselt,  von  Cunradus  in  des-^ 
sen:  Silesia  togata  als  Dichter  gepriesen.  Einen  größeren  BoP 
als  solcher  erwarb  er  weiter  nicht.  Unser  Heinrich  nun  hatte 
das  Unglück,  seinen  Vater  zu  verlieren,  da  er  erst  12  Jahre 
alt,  noch  sehr  hülfsbedürftig  war.  Wer  sich  zunächst  seiner 
angenommen,  ist  nicht  zu  ermitteln;  wohl  aber  erfahren'  wir^ 
dass   in  dem   talentvollen  aufgeweckten  Knaben  die  Lust  zur- 


*)  Vorlesungen  über  deutsche   National-Litteratur.     Frankfurt,  1818.  Bd. 
II.  S.  47. 

•*)  Dio  Poesie  und  Beredsamkeit  der  Deutschen  von  Luther's  Zeit  bis  »ur 
Gej?enwart.     Berlin,   1823.     Bd.  II.  S.  8ö. 


307 


Malerei  frühzeitig  erwachte  und  dass  er  behufs  weiterer  Aus- 
bildung einem  gewissen  Ezechiel  Paritius,  polnischem  Hofmaler, 
damals  zu  Breslau  wohnhaft,  als  Schüler  anvertraut  wurde. 
Die  Fortschritte  entsprachen  nicht  den  Erwartungen,  und  Ver- 
wandte bestimmten  ihn,  die  Apothekerkunst  zu  erlernen.  In 
gelehrtem  Wissen  wurde  er  nebenher  von  dem  später  als  Leh- 
rer am  Magdalenäum  verstorbenen  Karl  Rhenisius  unterrichtet, 
mit  solchem  Erfolge,  dass  die  gelehrte  Laufbahn  des  Knaben 
zu  fördern  beschlossen  ward.  Dem  Magdalenäum  als  Schiller 
übergeben,  ward  er  durch  sein  unruhiges  Temperament  bald 
aber  in  Misshelligkeiten  versetzt^  die  ihn  1656  an  das  Elisa- 
bethan  überzugehen  bestimmten.  Wahrscheinlich  hatte  seine 
später  noch  mehr  hervortretende  Neigung  zum  Witz  Schuld 
daran,  denn  als  er  an  dem  letztgenannten  Gymnasium  zum  er- 
stenmale  in  die  Classe  trat,  empfing  ihn  sein  neuer  Lehrer  Jo- 
hann Gebhard  mit  den  Worten:  es  patri  similis,  nee  possum 
dicere  plura,  eine  Bemerkung,  welche  darin  ihre  Erklärung  fin- 
det, dass  Heinrich^s  Gesichtsziige  einen  fortdauernden  satyri- 
schen  Ausdruck  trugen.  Euer  schon  machte  er  zwei  Gedichte, 
die  vielen  Beifall  erhielten,  uns  aber  nicht  aufbehalten  sind. 
Die  Gymnasialzeit  war  vollendet;  den  fast  mittellosen,  mit  gu- 
ten Zeugnissen  ausgestatteten  Jüngling  unterstützte  die  Bres- 
lauische Kaufmanns -Innung  durch  Stipendien,  so  dass  er  1658 
die  Universität  zu  Leipzig  beziehen  konnte.  Hieselbst  studierte 
er  die  Arzneiwissenschaft,  erlangte  auch  die  Gunst  ausgezeich- 
neter Professoren  und  würde  vielleicht  in  dieser  Laufbahn  aus- 
gehalten haben,  hätte  ein  neues  Ereigniss  seine  ganzen  Lebens- 
verhältnisse nicht  umgeschafifen.  Er  fasste  zu  einer  jungen  Frau, 
Wittwe  des  Doctors  Berlitt,  von  Geburt  Zabel,  eine  so  ent- 
schiedene Neigung,  dass  er,  der  jugendlich  rasch  entschlossene 
Student,  sie  heirathete,  ein  Schritt,  den  er  im  Stillen  oft  bereut 
haben  mag,  weil  die  Liebenswürdigkeit  der  jungen  Frau  spä- 
terhin einem  unleidlichen  zanksüchtigen  Wesen  Kaum  gab.  Auch 
in  Leipzig  missbilligte  man  den  übereilten  Schritt,  bis  es  end- 
lich dahin  kam,  dass  Mühlpforth  den  Ort  und  zugleich  sein 
bisheriges  Studium  verließ;  er  ging  1660  nach  Wittenberg  und 
studierte  nun  mit  Eifer  die  Rechte.  Hier  dichtete  er  auch,  wie 
es  scheint,  wenig;  mindestens  sind  uns  von  dem  Leipziger  Auf- 
enthalte mehr  Gedichte  übrig,  als  von  dem  zu  Wittenberg. 
Dafür  schrieb  er  hier  eine  Dissertation  de  iure  sepulturae,  wo- 


308 


durch  er  die  Würde  eines  Doctors  beider  Rechte  erwarb.  Eben 
jetzt  starb  in  Breslau  ein  gewisser  Machner,  Notarius  bei 
dem  Consistorial-  und  Vormundschaftsgericht,  mit  dem  beson- 
dern  Titel  ab  expeditionibus  latinis,  was  eine  Beschäftigung  mit 
Secretariatsgeschäften  zu  bedeuten  scheint.  Es  gelang  Mühl- 
pforth's  Freunden,  ihm  dieses  Amt  zu  verschaffen,  welches 
Mühlpforth,  mit  Weib  und  Kind  schleunig  zurückkehrend,  an- 
trat und  bis  an  seinen  Tod  bekleidet  hat.  Er  wird  übrigens 
an  einigen  Orten,  namentlich  in  einem  Leichengedichte,  womit 
die  Breslauische  Rathskanzellei  sein  Andenken  feierte,  nicht  mehr 
Notarius,  sondern  Kegistrator  genannt,  und  für  den  Zeitge- 
schmack witzig  genug,  von  ihm  gesagt: 

Jetzt  machest  Lieder  Du  zu  loben  Deinen  Gott 
und  registrierest,  was  kein  Auge  hat  gesehen. 
Der  Umfang  seines  Amtes  scheint  mit  einem  Worte  nicht  klein 
gewesen  zu  sein  *) ,  denn  er  beklagt  sich  mehrmals  über  Last 
der  Amtsgeschäfte.  Er  bekleidete  es  über  zwanzig  Jahre  hin- 
durch, nicht  allein  durch  seine  Pflichterfüllung,  sondern  auoh 
durch  andere  Umstände  geistig  bedrückt,  doch  nicht  gebengt. 
Seine  Frau  wird  als  eine  zweite  Xantippe  geschildert  Da- 
zu war  sein  Körper  seit  dem  zwanzigsten  Lebensjahre  krank- 
lich; Nervenzufälle  und  Gichtschmerzen  quälten  ihn  abwech- 
selnd. Von  sechs  Kindern  überlebte  ihn  nur  eine  Tochter. 
Aber  sein  Geist  blieb  ungetrübt,  heiter  und  erfinderisch  in 
launenvoUcn  und  witzigen  Scherzen,  die  die  Würze  auigeränm- 
ter  geselliger  Kreise  ausmachten,  ihm  aber  auch  viele  Femde 
zuzogen.  Dazu  war  er  dichtend  unermüdlich  thätig.  Wahr^ 
scheinlich  mussten  bei  gesteigertem  Lebensbedarf  die  Gelegen- 
heitsgedichte ihm  Erwerbsquellen  werden,  denn  die  Sammhing 
seiner  Gedichte  enthält  allein  gegen  zweihundert  Leichengesange 
und  eine  ganze  Schaar  von  Hochzeits-  und  Glückwünschnngs- 
gedichten  auf  die  verschiedenartigsten  Personen.  Dass  das  Ge- 
legenheitsgedicht in  weit  höherem  Ansehn  als  heute  zu  jenen 
Zeiten  stand,  ist  bekannt,  und  so  rechneten,  wie  aus  vielen 
Zeugnissen  ersehen  wird,  Mühlpforth^s  Zeitgenossen  ihm  diese 
durch  die  vielseitigste  Nothigung  abgedrungenen,  unglaublidh 
schnell  hingeworfenen  Arbeiten  zum  hohen  Ruhme  an.  Ab 
Gönner  zeigte    sich  ihm  namentlich   der    damals   im    höchsten 


*)  Schulmann,  wie  Franz  Hom  behauptet,  ist  Mühlpforth  nie  gewesen. 


309 


Ansehn  stehende  Hoffmann  von  Uoffmannswaldau,  ein 
Breslauischer  Patrizier,  dessen  frivole  Verse  noch  ein  halbes 
Jahrhundert  später  sehr  gerühmt  wurden,  und  der  jetzt  noch 
oft,  doch  fast  nur  zum  Spotte  genannt  wird.  Wenn  es  daher 
wahr  ist,  dass  das  auf  Mühlpforth  bei  dessen  Lebzeiten  ver- 
fertigte Epigramm: 

Neun  Wörter  und  nicht  mehr  soll  dieser  Grabstein  haben, 
Hier  nnter  diesem  Stein  liegt  Gicht  und  Durst  begraben  — 

von  Hoffmannswaldau  herrührt,  so  ist  es  wahrscheinlich  nur 
in  einer  übermüthigen  augenblicklichen  L^une  entstanden  und 
nicht  so  böse  gemeint  gewesen.  Die  kunstvollen  lateinischen 
Gedichte,  welche  Mühlpforth  auf  Ho£Pmannswaldau^s  Ueber- 
nahmc  der  Rathspräsidentenstelle  und  dessen  Tod  verfertigt 
hat,  —  Hoffmannswaldau  starb  zwei  Jahre  vor  Mühlpforth  — 
zeugen  von  aufrichtiger  Ergebenheit,  wenn  wir  die  darin  ent- 
haltenen Schmeicheleien  auch  sehr  übertrieben  nennen  müssen. 
Auch  scheint  des  hohen  Gönners  wegen  M.  oft  beneidet  wor- 
den zu  sein.  Neben  amtlicher  und  dichterischer  Thätigkeit, 
geselligem  Verkehr  und  häuslichen  und  körperlichen  Leiden  las 
Miihlpfoi*th  fortwährend  die  alten  Classiker  mit  Lust  und  Leich- 
tigkeit; dass  wir  gerade  besonders  den  Claudian  und  Statius 
hervorgehoben  finden,  könnte  befremden,  wenn  dies  aus  dem 
Geschmacke  des  siebzehnten  Jahrhunderts  nicht  erklärlich  würde. 
Die  Leichtigkeit  in  Ueberwinduug  metrischer  Schwierigkeiten, 
welche  er  besonders  in  lateinischen  Gedichten  bewährt,  verräth 
eine  nicht  gewöhnliche  classische  Bildung.  Das  alcäische  Maß, 
der  scazontische  Vers,  der  Hexameter  wird  von  ihm  mit  Frei- 
heit behandelt.  Ferner  liebte  und  übte  er  die  Musik,  deren 
Preise  er  ein  eignes  Sonett  widmet,  sang  und  spielte  die 
Laute.  —  Gegen  das  Ende  seines  Lebens  wuchsen  die  körper- 
lichen Leiden  des  Dichters;  ob  zum  Theü  durch  Neigung  zu 
geistigen  Reizmitteln,  worauf  Hoffmannswaldau^s  Epigramm  hin- 
deutet, lassen  wir  dahingestellt.  Er  sah  dem  Tode,  wie  meh- 
rere Gedichte  verrathen,  gefasst  entgegen,  bis  der  vielfach  ge- 
peinigte Mann  denn  endlich  am  1.  Juli  1681  durch  einen 
Schlagfluss  von  jahrelanger  Qual  befreit  wurde.  Es  ist  ein 
schönes  Zeugniss,  welches  in  dem  erwähnten  Nachruf  seines 
Amtscollegen  ihm  in  den  Worten  ertheilt  wird: 


20 


310 


Dn  hast  hier  oft  gezeigt,  dass  ein  gesetzter  Muth 

Auch  auf  der  Folterbank  der  Glieder  könne  lachen. 

Gott  war  zuvorderst  dir,  dann  auch  ein  Freund  dein  Gut, 

Das  dich  vergnügete  und  konnte  lustig  machen. 

Du  hast  bei  manchem  Grab  dein  Grabelied  gemacht, 

Bei  deiner  Gliederqual  vorlängest  lernen  sterben 

Und  hast  die  Ewigkeit  in  dieser  Zeit  bedacht« 

Weit  übertriebener  wird  er  in  einem  von  Christian  Knorr 
verfassten  Gedichte  gerühmt,  sogar  mit  den  Dichtem  des  Al- 
terthums  gepaart;  und  endlich  ist  von  ihm  gesagt: 

Hat  dich  Bernini  gleich  in  Marmel  nicht  gehauen, 

Rauchmnller's  kluge  Faust  in  Helfenbein  geätzt, 

So  wird  die  Nachwelt  doch  die  Pyramiden  schauen, 

Die  du  dir  aus  Papier  hast  selber  aufgesetzt. 

Die  werden  sicherlich  weit  mehr  als  jene  dauern: 

Kein  Moder  langer  Zeit,  kein  Schimmel  greift  sie  an  u.  s.  w., 

Diese  letztere  Prophezeihung  hat  sich  nicht  ganz  erfüllt,  wie 
die  in  den  Bibliotheken  weniger  Litteraturfreunde  aufbewahrten 
Exemplare  der  Mühlpforth^schen  Gedichte  augenscheinlich  leh- 
ren. Indessen  ist  das  Gedicht  zwanzig  Jahre  später  noch  iu 
den  „schlesischen  Helikon^,  jene  zu  ihrer  Zeit  sehr  gerühmte 
Anthologie  von  Stie£P  übergegangen.  Auch  war  von  den  Mühl- 
pforth^schen  Gedichten  bei  Lebzeiten  des  Dichters  wenig  oder 
nichts  gedruckt;  nach  seinem  Tode  aber  entstand  so  starke 
Nachfrage  danach,  dass  endlich  im  Jahre  1686  eine  sehr  im- 
sehnliche  Auswahl,  nach  Zeitsitte  geordnet,  bei  dem  Buch- 
händler Johann  Georg  Steckh  erscheinen  konnte.  Wer  die 
Ausgabe  besorgte,  ist  nicht  bekannt.  Sowohl  die  deutschen, 
als  die  lateinischen  Gedichte  bilden  besondere,  jede  mit  eignem 
Titel  versehene  Sammlungen.  Die  deutschen  erhielten  im  fol- 
genden Jahre  noch  einen  zweiten  Theil.  Wieder  aufgelegt  hat 
man  sie  später  nicht.  Aber  ihr  Ruf  erhielt  sich  lange,  zu  des- 
sen Begründung  das  Lob  HofPmannswaldau^s,  der  ihn  mit  dem 
Königsberger  Titius  von  seinen  Zeitgenossen  fast  aUein  als 
namhaften  deutschen  Dichter  in  der  Vorrede  zu  seinen  eigenen 
Gedichten  hervorhebt,  nicht  wenig  beigetragen  haben  mag.  In- 
dessen ist  jene  Sammlung  nicht  vollständig.  Mühlpforth,  der, 
wie  einer  sdner  Panegyriker  mittheilt,  „an  Schnelligkeit  dem 
Naso  glich, ^  producierte  zu  unaufhaltsam  und  war  dabei  zu 
bescheiden  in  Selbstbeurtheilung ,   als  dass   er  eine   Gesammt- 


311 


ausgäbe  vorzubereiten  Lust  gehabt  hätte.  Es  wird  namentlich 
ein  größeres  Gedicht:  ^Hiob^,  wovon  uns  Bruchstücke  auf- 
bewahrt sind,  und  worin  er  seiner  eigenen  Leiden  dichteri- 
schen Ausdiniük  versucht  haben  mag,  von  gelehrten  Zeitgenos- 
sen vermisst. 

Fragen  wir  nun  nach  dem  schriftstellerischen  Charakter 
eines  Mannes,  der  unter  nicht  eben  begeisternden  Umständen 
sehr  fruchtbar  war,  so  ist  an  das,  was  über  Gelegenheits- 
poesie jener  Tage  im  Allgemeinen  einleitend  gesagt  worden, 
zuvorderst  zu  erinnern.  Von  den  Fehlern  jener  epidemischen 
Poeterei,  welche  das  siebzehnte  Jahrhundert,  als  das  der  Un- 
natur und  des  'undeutschen  Wesens  hinreichend  documentiert, 
ist  Mühlpforth  nicht  frei,  durch  Keichthum  an  Kenntnissen, 
durch  ehrenwerthe  Gesinnung  und  durch  sichtbares  Ringen  mit 
den  Fesseln  des  Jahrhunderts  vor  vielen  Zeitgenossen  ausge- 
zeichnet. Er  bewegt  sich  in  der  Opitz^schen  Richtung  und 
steht  dieser  wirklich  näher  als  Ho£fmannswaldau,  der  damals 
von  aller  Welt  bewunderte  vornehme  Dichter,  in  dessen  un- 
mittelbarer und  beschützender  Nähe  doch  Mühlpforth  gerade 
lebte,  ohne  von  ihr  augesteckt  zu  werden.  Wir  finden  bei  ihm 
nur  wenige  Spuren  von  jener  Schlüpfrigkeit,  jener  aus  den 
schlechtem  italienischen  Vorbildern  entliehenen  Unzüchtigkeit 
der  Schilderungen,  die  Hofimannswaldau  zum  Lieblingsschrift- 
steller der  kraftlosen  deutschen  Welt  fiir  lange  Zeit  gemacht 
hat.  Weitschweifig  sind  sie  freilich  alle  beide;  aber  Mühlpforth 
ist  selbst  in  Gelegenheitsgedichten  gedankenreicher.  Die  latei- 
nische Verskunst  besitzt  und  übt  er  mit  großer  Leichtigkeit, 
oft  mit  Eleganz;  die  deutsche  nicht  minder,  wenn  ihm  auch 
schlesische  Provinzialismen  oft  entschlüpfen  und  dann  und  wann, 
in  Folge  der  schnellen  Production,  die  Quantität  der  Sylben 
minder  streng  als  in  Opitzens  spätem  Sachen  beachtet  ist. 

Unter  den  lateinischen  Gedichten  darf  man  ein  großes 
Lobgedicht  auf  die  Stadt  Breslau,  die  von  allen  dichtenden 
Schlesiem  damals  außerordentlich  gepriesen  wurde,  „Vratis- 
lavia,  urbs  Augusta  Silesiae^  hervorheben.     Er  nennt  die  Stadt: 

Unio  terranun,  vicinoramque  Smaragdus, 
certa  domus  Musis,  perfecta  meta  nitoris. 

Femer  sind  ein  Dankgedicht  auf  Warmbrunn,  dessen  Heil- 
quelle  des  Dichters  Gichtschmerzen  gelindert  hatte,  „Thermae 


312 


Hirschbergenses^  betitelt,  das  Epicedium  auf  Hoffmannswaldau 
und  ein  Lobgedicht  auf  den  Frühling  alles  Lobes  werth.  Wich- 
tiger freilich  sind  uns  die  deutschen  Gedichte.  Diese  zerfallen 
in  der  Gesammt -  Ausgabe  in  verschiedene,  zum  Theil  chrono- 
logisch geordnete  Rubriken.  Der  erste  Theil  enthält:  Glück- 
wünschungs-,  Hochzeit-,  Leichengedichte;,  dann  vermischte 
Gedichte,  geistliche  Lieder;  der  zweite  Theil  eine  Nachlese  zu 
den  Gelegenheitssachen,  religiöse  Gedichte,  Uebersetzungen, 
geistliche  Lieder,  Sonette  und  sogenannte:  „Verliebte  Gedan- 
ken." Was  die  Gelegenheitsgedichte  zuvörderst  betrifft,  so  ist 
bei  ihrer  großen  Zahl  —  es  sind  ihrer  zusammen  gegen  ein 
halbes  Tausend!  —  die  Mannigfaltigkeit  der  Behandlung  ewig 
wiederkehrender  Stoffe  bewundernswürdig.  Sehr  geschickt  weiß 
Mühlpforth  den  einzelnen  Gedichten  durch  Benutzung  gegebe- 
ner Verhältnisse  ein  gewisses  individuelles  Gepräge  zu  geben. 
Er  nimmt  sich  gewöhnlich  ein  allgemeines  Thema,  das  er  dann 
ausfuhrt,  indem  er  es  dem  speciellen  Fall  gewandt  anpasst. 
Da  heißt  ein  Leichengedicht:  „Unverblühte  Lilie,"  ein  andres: 
„die  Fremdlinge  allhier,"  oder  „Triumphirende  Gedult"  u.  s.  w. 
Nicht  selten  wendet  er  in  Hochzeitsgedichten  dramatische  Form 
an,  wobei  denn  antike  Gottheiten  gewöhnlich  figurieren  müs- 
sen. Auch  die  von  Hoffmannswaldau  eingeführte  Form  der 
Heroide  benutzt  er.  In  den  Versmaßen  ist  ebenfalls  Abwech- 
selung. Die  leidigen  Alexandriner,  welche  alle  Poeten  jener 
Tage  zur  Weitschweifigkeit  verführten,  wendet  freilich  auch 
unser  Dichter  am  meisten  an,  doch  oft  mit  zweckmäßiger  Ab- 
wechselung des  Einschnitts;  die  kürzeren  Versmaße  aber  ge- 
rathen  ihm  sehr  wohl.  Wie  schön  z.  B.  sind  folgende  Stro- 
phen aus  einem  Hochzeitsgedichte  vom    lOten  September  1676. 

Ferle  keuscher  Zucht  und  Tugend, 
Bild  der  angenehmen  Jugend, 
Schöne  Braut,  was  soll  es  sein, 
Dass  sie  ihrer  Freiheit  Schätze 
Liefert  in  des  Ehstands  Netze, 
Und  stellt  sich  gefangen  ein? 

Oder  will  sie  nach  den  Zeiten 
Ihre  klugen  Sinnen  leiten. 
Weil  sich  jetzt  verjüngt  das  Jahr, 
Und  fangt  alles  an  zu  blühen, 
WiU  sie  dies  zum  Beispiel  ziehen. 
Wenn  sich  schnäbelt  Paar  und  Paar? 


313 

Mass  die  Schoß  der  reichen  Erden 
Jetzt  des  Himmels  Braut  nicht  werden, 
Wenn  sie  sich  mit  Blumen  schmückt? 
Wenn  er  mit  den  goldnen  Strahlen 
Pfleget  ihre  Brust  zu  mahlen, 
Und  viel  tausend  Farben  schickt? 

Wenn  jetzt  in  den  bunten  Lenzen 
Tulpen  und  Narcissen  glänzen, 
Und  der  Gärten  Reichthum  prangt? 
Wenn  der  Baum  in  seinem  Glänze 
Als  wie  in  schneeweißer  Seide, 
Die  vollkommne  Zier  erlangt? 

Sollte  da  der  Mensch  nicht  leben. 
Da  die  Gotter  selbsten  schweben 
In  erwünschter  Fröhlichkeit? 
Sollte  dann  der  Mensch  nicht  lieben, 
Dem  schon  in  das  Blut  geschrieben: 
Paart  euch  dass  ihr  fruchtbar  seid? 

Reich  an  erhabenen  Gedanken  finden  wir  folgendes  Lei- 
chengedicht vom  17.  September  1679,  dessen  tiefer  Ernst  er- 
greifend ist: 

Die  Zeit  will  durch  Minuten  sterben, 
Sie  fleucht  und  folgt  ihr  selber  nach. 
Wie  eine  Fackel  ja  verderben 
Muss  durch  ihr  Scheinen  allgemach: 
So  lauft  der  Zirkel  aller  Zeiten, 
Der  gar  nicht  zu  verändern  ist. 
Die   Alten  wollten  dies  andeuten. 
Wenn  der  Saturn  die  Kinder  frisst. 

Ihr  Schlund  verzehret  Tag  und  Stunden, 
Sie  wächst  und  stirbet  in  der  Flucht. 
Der  Tag  hat  kaum  den  Monat  funden. 
Der  Monat  ein  Jahr  aufgesucht; 
Es  schleust  sich  kaum  der  Ring  vom  Jahre, 
So  fängt  sich  schon  ein  neues  an. 
Dies  stürzt  ein  anders  auf  die  Bahre 
Und  wird  auch  wieder  abgethan. 

Jahr,  Monat,  Tag  und  Stunden  fliehen. 
Was  weg,  bleibt  ewig  weggeschwenunt. 
Kein  Rad  kann  was  zurücke  ziehen. 
Mit  Ketten  wird  hier  nichts  gehemmt. 


3U 


Der  Adler  mag  sich  nicht  so  schwingen 
Mit  Pfeil -geschwinder  Hurtigkeit, 
Als  unsre  Tage  sich  verdringen, 
Und  sich  verlauft  der  Kreis  der  Zeit. 

Egypten  indenk  es  zu  machen. 
Mahlt  einen  tief-  und  finstern  Grund, 
Der  stets  bewahrt  von  einem  Drachen, 
Und  der  mit  aufgesperrtem  Schlund 
Den  eignen  Schwanz  ihm  abgefressen 
Und  unersättlich  dran  genagt. 
Wer  wollte  nicht  hieraus  ermessen, 
Es  sei  uns  von  der  Zeit  gesagt? 

So  ists  demnach  so  hoch  zu  schätzen: 
Wenn  sich  die  Lebens -Frist  verlängt. 
Wer  was  den  Jahren  bei  kann  setzen, 
Dass  der  so  großes  Gut  empfängt? 
Was  hilfts  mit  flüchtigem  Gewebe 
Das  kurze  Garn  zu  unterziehn? 
Und  dass  man  wohl  beschneiet  lebe, 
Sich  mit  viel  Seufzern  zu  bemühn? 

Ein  Kind  das  in  der  Wieg  erbleichet, 
Und  der  gebückt  von  hinnen  fährt, 
Die  haben  gleiches  Ziel  erreichet, 
Und  eine  Zeit  hat  sie  verzehrt. 
Die  Wenigkeit  der  kurzen  Tage, 
Die  hohen  Staffeln  vieler  Jahr, 
Erwogen  auf  gerechter  Wage, 
Sind  unterschieden  nicht  ein  Haar. 

Der  Mensch  bleibt  nur  der  Zeiten  Beute, 
Auch  Elemente  tauren  nicht. 
Wer  wollte  nun  nicht  lieber  heute, 
Gesegnen  dieser  Sonnen  Licht, 
Als  dass  bei  Martern  und  bei  Quälen 
Und  aller  Schmerzen  Ueberfluss 
Er  mög'  ein  tiefes  Alter  zählen, 
Besaamt  mit  Ekel  und  Verdruss. 

Flieht  nun  die  Zeit,  verschwindt  die  Stunde, 
Raubt  alles  die  Vergessenheit, 
Gehn  Erd  und  Himmel  selbst  zu  Grunde, 
Was  soll  der  Mensch,  ein  Spiel  der  Zeit? 
Sich  in  der  Welt  so  sehr  vergaffen, 
Und  dieser  Meinung  fallen  bei, 
Wie  dass  er  bloß  allein  erschaffen 
Um  hier  nur  wohl  lu  leben  sei? 


315 

Nein,  aus  des  Monden  Vorbild  lernet 
Ihr  Sterblichen  den  wahren  Zweck: 
Je  mehr  der  Sonnen  er  entfernet, 
Und  von  den  Strahlen  kommet  weg, 
So  wird  er  zwar  dem  Kreis  der  Erden 
Gewähren  seinen  hellen  Schein, 
Doch  himmelwärts  mehr  dunkel  werden. 
Weil  er  muss  ohne  Sonne  sein. 

So  gehts :  je  mehr  wir  uns  entziehen 
Der  Sonne  der  Gerechtigkeit 
Und  denken  vor  der  Welt  zu  blühen, 
Dass  unser  Ruhm  sich  weit  und  breit 
Vergrößern  mag  mit  neuen  Strahlen, 
So  scheint  es  prächtig,  schön  und  groß; 
Kömmts  die  Schuld  der  Natur  zu  zahlen, 
So  stehn  wir  nackend,  arm  und  bloß. 

Wir  sind  verfinstert  am  Verstände, 
Und  kennen  nicht  das  höchste  Licht 
Wir  irren  weit  vom  Vaterlande. 
Gesetzt,  der  äußre  Mensch  zerbricht. 
So  wird  er  innerlich  verneuret. 
Zu  unermessner  Herrlichkeit. 
Wohl  dem  der  Gott  die  Seele  steuret 
Durch  seine  ganze  Lebenszeit! 

Man  sieht  in  diesen  Gedichten  die  größte  Leichtigkeit  in 
der  Behandlung  der  Sprache,  und  muss  zugeben,  dass  unsere 
heutigen  Gelegenheitsdichter  vor  jenen  zum  Theil  nur  eingebil- 
dete Vorzüge  haben.  Vieles  kommt  nach  unserm  Schicklich- 
keitsgefiihl  uns  hart  und  verwerflich  vor  was  damals  allgemein 
üblich;  viele  Worte  hatten  einen  ganz  andern  Sinn,  der  all- 
mählich durch  milder  klingende  Worte  ausgedruckt  wurde. 
So  hieß  damals  „geiP  nicht  viel  mehr  als  »begierig;'^  für 
„Brunst*^  sagen  wir  „Glut,*^  für  „Wollust"  bloß  „Lust"  Sind 
ferner  die  Mühlpforthschen  Epicedien  und  Epithalamien  mit 
gelehrten  Anspielungen  nach  unserer  Meinung  zu  reich  ver- 
ziert, so  muss  man  erwägen,  dass  im  siebzehnten  Jahrhundert 
Gelehrsamkeit  bei  dem  Dichter,  der  freilich  deshalb  auch  eine 
allgemeine  Achtung  genoss,  vorausgesetzt  wurde.  Was  dort 
zu  viel  gegeben  war,  jener  Schmuck  von  zum  Theil  fern  lie- 
genden Gleichnissen  und  Zierrathen,  erhalten  wir  vielleicht 
heute  zu  wenig.  Bei  uns  gilt  Seichtigkeit  und  plattiertes  Ge- 
fühl eben  das  was  damals  jene,  lästige  Putzsucht  galt,   Perücke 


318 


gen  scheint,  verletzt.  Dasjenige,  was  ihn  auszeichnet  vor  vie- 
len Zeitgenossen,  wird  gerade  von  diesen  am  wenigsten  erkannt, 
nämlich  die  Achtung  vor  dem  Unvergänglichen  in  der  mensch- 
lichen Natur,  während  er  seines  uns  eben  nicht  mehr  zusagen- 
den Witzes  wegen  von  jenen  am  Meisten  gepriesen  wird.  Die 
übrig  gebliebenen  einzelnen  Kapitel  seines  größeren  Gedichtes 
„Hiob"  lassen  den  Verlust  des  ganzen,  den  wir  schon  erwähn- 
ten, bedauern.  Endlich  hat  Mühlpforth  uns  noch  einige  sehr 
freie  üebertragungen  von  Stücken  des  Horaz,  Martial,  Ovid, 
Seneca  hinterlassen,  die  freilich  durchaus  kein  genügendes  Bild 
der  Originale  liefern. 

Dies  ist  in  kurzer  Uebersicht  der  litterarische  Nachlass 
eines  für  seine  Zeit  nicht  unbedeutenden  Dichters,  der  Tau- 
sende der  mit  ihm  Lebenden  durch  sein  Talent  reichlich  erfreut 
hat.  Es  schließen  die  wenigen  mitgetheilten  Proben  seiner 
Leistungen  wohl  am  würdigsten  mit  einigen  Strophen,  die  er 
schmerzbedrückt  im  Vorgefühle  des  Todes  verfertigte: 

Verlangen   nach   dem  Tode. 

Ich  freue  mich  der  letzten  Stunde, 
Die  sonst  dem  Menschen  Schmerzen  macht. 
Geht  Erd  und  Himmel  selbst  zu  Grunde, 
Was  bin  denn  ich,  ein  Wurm,  bedacht. 
Mein  laimen  Haus ,  die  irdnen  Wände 
Zu  schätzen  ewig  ohne  Ende! 

Die  Hand  so  mich  zuerst  erbauet. 
Die  reißt  mich,  ihr  Geschöpf  auch  ein. 
Wem  vor  des  Todes  Pfeilen  grauet, 
Der  kann  kein  Ueberwinder  sein. 
Lass  Fleisch  und  Blut  das  Leben  lieben. 
Die  Seele  muss  sich  anders  üben. 

Ich  seh  >    dass  jeden  Tag  was  stirbet ; 
Ja,  dass  der  Leib  ein  Siechhaus  heißt; 
Wenn  da  bald  Hand  bald  Fuß  verdirbet. 
Und  das  veralte  Kleid  zerschleißt: 
So  sucht  der  Geist  sich  frei  zu  machen 
Und  wird  der  mürben  Fessel  lachen. 

Drum  komm,  o  Tod,  denn  meine  Seele 
Erschrickt  ob  deiner  Ankunft  nicht. 
Zeuch    sie  aus   dieses  Körpers  Hole 
Zu  jenem  unumschriebnen  Licht. 


319 


Komm,   süßer  Gast,  mein  heiß  Verlangen 
Ist  schon  bestellt  dich  zu  empfangen. 

Ich  bilde  mir  nicht  dürre  Knochen 
Und  wie  man  dich  sonst  malet  ein. 
Wenn  meine  Augen  sind  gebrochen, 
So  wirds  ein  sanfter  Schlaf  nur  sein. 
Ein  Thor  der  mag  dich  hässlich  nennen, 
Ich  aber  muss  dich  schön  bekennen. 

Das  Grab ,  das  auch  die  Alten  fliehen, 
Nenn  ich  des  Himmels  Vorgemach. 
Der  Kittel,  den  man  an  muss  ziehen, 
Scheint  heller  als  der  Sternen  Dach. 
Der  Schlaf  ist  kurz,  die  Nacht  ist  enge. 
Zu  jenes  großen  Tages  Länge. 

Ein  Dichter ,  der  mit  solchen  Gesinnungen  aus  einem  Leben, 
das  ihm  so  viele  Qualen  bot,  scheiden  konnte,  hat  gewiss  ge*- 
rechten  Anspruch  auf  wohlwollendes  Andenken   der  Nachwelt. 


Nachweisung  der  benutzten  Quellen« 

Heinrich  Mühlpforths  Teutsche  Gedichte.  Breßlau,  Ver- 
legts  Johann  Georg  Stcckh,  Buchhändler.  Franckfurth  am 
Mayn  Druckts  Johann  Philipp  Andrea.  1686.  8®.  (Die  Seiten- 
zahlen laufen  nicht  durch^s  ganze  Buch,  sondern  beginnen 
bei  jeder  Rubrik  nach  alter  Sitte  von  Neuem.) 

H.  Mijhlpforths  Poetischer  Gedichte.  Ander  Theil.  Eben 
daselbst.     1687.     S^. 

Heinrici  Mühlpforti  Poemata.     Ibidem  1686.     8®. 

Erdmann  Neumeister,  Dissertatio  de  poetis  Germanicis 
seculi  decimi  septimi.  (Zuerst  Leipzig  1695,  dann  Witten- 
berg 1708,  mit  dem  Druckfehler  1808.)     4».    p.  71. 

J.  Sigmundi  Johnii  Parnassi  Silesiaci  centuriae  duae.  Wra- 
tislaviae.     1729.     L    p.  149. 

Leuschner's  Spicilegia  (zu  Cunradi  Silesia  togata).     Hirsch- 
berg. Spicileg.  IX.     Daselbst  1753.   4^.     (Die  Mittheilungen 
Leuschner^s  sind,  wie  fast  in  allen  Fällen,   so  auch  hier  auf 
sorgfältige  Forschung  gegründet). 
Mangelhaft  ist,  was   Witten  im  Diarium  biographicum   und 

Mencken   im    Gelehrten  -  Lexikon    über   Mühlpforth    mittheilen. 

Unter  den  Neueren  hat  ihn  Franz  Hörn  a.  a.  O.  noch  am  Aus- 
fuhrlichsten besprochen. 


LIEDERBUCH 

PAULS  VON  DER  AELST 

VOM  JAHKE  1602. 

IN  DER  GROSSHERZ.   BIBLIOTHEK   ZU    WEIMAR. 

Von     H.  V.  F. 

X  aul  von  der  Aelst  war  Buchdrucker  in Deventer,  der  Haupt- 
stadt Overijssels.  Er  besaß  eine  höhere  Bildung  als  sie  heu- 
tiges Tages  bei  seinen  Staudesgenossen  vorzukommen  pflegt. 
Damals  galt  die  Buchdruckerei  noch  für  eine  freie  Kunst,  und 
die  sich  damit  befassten,  hielten  sich  für  mehr  als  bloße  Hand- 
werker. Paul  schriftstellerte  und  dichtete  sogar.  Wenn  auch 
seine  Gedichte  nicht  eben  ausgezeichnet  zu  nennen  sind,  so 
sind  sie  doch  nicht  schlechter  als  viele  seiner  dichtenden  Zeit- 
genossen.   Er  liebte  eine  Deventerin; 

allhie  ist  sie  geboren 
in  dieser  löblich  Stadt. 

Er  liebte  sie  um  ihrer  Zucht  und  Ehre  willen  und  sang  ihr 
ein  langes  Lied  (Nr.  127),*)  worin  er  am  Schlüsse  den  An- 
fangsbuchstaben ihres  Namens:  E.  A.  D.  den  seinigen  ebenso 
hinzufugte:  P.  von  der  Ae. 

Ob  sein  Werben  glücklich  war,  darüber  gibt  dies  Lied 
keine  Auskunft,  es  lässt  sich  eher  das  Gegentheil  annehmen, 
denn  gleich  in  der  ersten  Strophe  heißt  es: 

ein  Jungfrau  hübsch  und  zart 
die  ich  begehret  hab, 
die  man  mir  thut  abschlagen, 
das  kränket  mich  gar  hart. 


*)  Kommt  abermals  vor  unter  Nr.  163. 


321 


Wahrscheinlich  war  er  unbemittelt  und  seine  Geliebte  ireich: 
in  einem  Liede,  worin  jede  Strophe  mit  einem  Buchstaben  Bei- 
nes Namens  beginnt,  singt  er: 

es  ist  wol  mehr  gesehen 
ein  Heirath  so  ungleich, 
und  wenns  nicht  sollt  geschehen, 
dieweil  ich  nicht  bin  reich, 
mein  junges  Herz,  merk  eben, 
würd  sich  dem  Tod  ergeben 
und  wie  ein  Turteltaubelein 
enden  sein  junges  Leben. 

Nach  einem  andern  Liede  dagegen  an  dieselbe  (Nr.  125) 
sollte  man  glauben,  er  sei  doch  noch  gliicklich  in  seiner  Liebe 
gewesen,  denn  er  schließt: 

Der  dies  Lied  hat  gesungen, 
groß  Lieb  hat  ihn  bezwungen, 
ihm  ist  es  noch  gelungen 
bei  seiner  Liebsten  fein. 

Später  muss  ihm  sein  Wunsch  erfüllt  sein,  wenn  der  An- 
fang seines  Scherzgedichtes  (des  letzten  seiner  Sammlung):  wie 
die  Männer  ihren  Frauen  gütlich  thun  sollen,  „um  sie  schön  zu 
behalten^  nicht  auch  ein  bloßer  Scherz  ist: 

Als  ich  für  meinen  Leib 

nahm  ein  schön  junges  Weib  ff. 

Dass  sein  Lied  nur  Scherz  war,  lehrt  die  Schlussstrophe: 

Ich  habs  aus  Kurzweil  gdicht, 
keinr  Mann  muss  halten  nicht, 
ich  thus  auch  keinem  rathen, 
es  kost  gar  viel  Ducaten, 
die  findt  man  auf  keinem  Felse, 
das  sagt  Paul  von  der  Aelste. 

Seine  Dichterei  beschränkte  er  nicht  auf  Liebe ,  er  ver- 
wendete sie  auch  zur  Verherrlichung  seines  Berufes ,  der  Buch- 
druckerei,  dieser  edelen  freien  Kunst  und  der  damit  verbun- 


322 

denen  Schriftstellerei.      Sein   langes  Lobgedicht   besobliefit  er 
also: 

Soll  ich  alls  melden  mit  Fug 
was  Nutz  die  Druckrei  bringt, 
ein  Ries  Papier  war  nit  gnug, 
was  Guts  daraus  entspringt,  ff. 
Dies  Liedlein  ist  gedichtet 
der  Druckerei  zu  Ehm, 
zu  Lob  und  Preis  gerichtet 
denen  die  sich  mit  nahm. 
Thu  es  mein  Gsellen  schenken, 
fleußt  her  von  einem  Fels, 
wollet  im  besten  gdenken 
des  Pauli  von  der  Aelst. 

Wie  er  mit  einem  langen  Lobe  seiner  Kunst  seine  Samm- 
lung beschließt,  so  beginnt  er  sie  mit  einem  langen  Lobe  der 
„Feder^^  oder  der  „Schreiber^^  d.  h.  aller  derjenigen  die  lesen 
und  schreiben  können  und  dadurch  zu  höheren  Ehren,  Ämtern 
und  Würden  gelangen. 

Dieser  gesangliebende,  dichtereiübende  Buchdrucker  yeran- 
staltete  zu  Deventer  im  J.  1602  eine  Liedersammlung,  die  nn-* 
ter  folgendem  Titel  erschien: 

Blum  vnd  Außbund  Allerhandt  Außerlesener  Weltlicher,  Züch- 
tiger Lieder  vnd  Rheymen,  Welche  bey  allen  Ehrlichen  Ge- 
seUschafiPten  können  gesungen,  vnd  auff  allen  Instrumenten 
gespiellt  werden  Zu  dienstlichem  wollgefallen  vnd  ergetzung 
allen  Ehrliebeuden  jungen  Gesellen,  Frawen  vnd  Jungfrawen, 
so  wol  auß  Frantzösischen,  als  Hoch-  vnd  Nider  Teutschen 
Gesang-  vnd  Liederbüchlein  zusamen  gezogen,  vnd  in  Truck 
verfertigt  (Holzschnitt)  Gedruckt  zu  Deuenter,  im  jähr 
M.  DG.  JJ. 

Kl.  quer  8^.  8.  BI.  Vorstücke,  190  pag.  Seiten.  Auf  dem  Titel  4  Zei- 
len schwarz,  5  rothgedruckt.  Der  Holzschnitt  ein  Herz,  rechts  TOn 
einem  Schwerte,  links  von  einem  Pfeile  durchstochen  und  bis  sur 
Mitte  von  einer  Säge  durchsägt. 

In  der  Vorrede  spricht  sich  der  Sammler  also  über  sein 
Buch  aus: 


323 


^Vorrede  an  den  gutherzigen  Leser.  Es  ist,  giinstiger  Her 
ber  Leser,  ohne  Zweifel  allen  Mensehen  wol  bewusst,  wie  dass 
die  alten  Poeten  eine  sonder  Liebe  und  Neigung  gehabt  im  Tich- 
ten  und  derowegen  viel  schöner  und  herrlichen  Getichte,  Reime 
und  Lieder  hinter  sich  verlassen,  und  solche  Kunst  bei  ihnen 
auch  in  hohen  Ehren  gehalten  worden.  Weil  aber  heutigs 
Tags  auch  noch  vi^l  Liebhaber  unter  den  Menschenkindern 
gefunden  werden,  welche  auch  etwas  begehren  zu  lernen  und 
zu  erfahren,  und  doch  diemenschliche  Natur  gar  ungleich,  also 
dass  der  eine  zu  dieser,  der  ander  zu  jener  Kunst  eine  Lust 
oder  Begierde  geschopfet,  gleich  wie  einer  etwan  ein  Stück 
Fleisch  in  einer  sauren,  der  ander  in  einer  süßen  Brüh,  oder 
der  eine  gesotten,  der  ander  gebraten  haben  will:  Ebener- 
maßen finden  sich  auch  jetzigei*  Zeit  viel  Menschen  hohen  und 
niedriges  Stands,  jung  und  alt,  welche  eine  sonderliche  Lust 
in  der  Musik  oder  Singkunst  haben,  und  ihre  Gemüther,  (welche 
jetzt  mit  dieser,  bald  einer  andern  Fan tasei  beladen)  mit  einem 
schonen  Liedlein  erfrischen.  Dieweil  aber  einem  jeden  die 
Notengesäng  nicht  bekannt,  seind  derhalben  für  dieser  Zeit  an 
vielen  unterschiedlichen  Orten  etliche  teutsche  Liederbüchlein 
getruckt  worden,  welche  zwar  mit  vielen  unverschämten,  un- 
züchtigen und  nichtswürdigen  Liedern  erfüllet,  an  welchen  nie- 
mand Lust  noch  Wohlgefallen  zu  lesen,  viel  weniger  zu  sin- 
gen, wie  es  dann  auch  sich  nit  gebühren  will,  denn  durch 
solche  unzüchtige  Lieder  wird  die  Jugend  zur  Leichtfertigkeit 
bewegt  und  verfuhrt:  derohalben  ich  nicht  unterlassen  können, 
jedoch  auf  freundliches  Begehren  und  Anhalten  etlicher  ehr- 
liebenden Gesellen  und  tugendsamen  Jungfrauen,  ein  neues 
Liederbüchlein  ins  Werk  zu  richten  und  in  Truck  zu  verfer- 
tigen, damit  die  Jugend  sich  in  fröhlichen  Conviviis  oder  ehr- 
lichen Gesellschaften  möge  in  aller  Ehrbarkeit  erlustieren  und 
sich  ihres  Gemüths  ergetzen  und  ein  jeder  ein  schönes  Lied- 
lein singen  oder  auf  einem  Instrument  spielen,  damit  alle  un- 
züchtige und  nichtswürdige  Gesang  vermieden  und  hintan  ge- 
setzt und  andere  züchtige  und  zierliche  an  deren  Statt  können 
gebraucht  werden.  Hab  mir  derowegen  furgenommen,  sowol 
aus  französischen  als  hoch-  und  niederteutschen  Gesang-  und  Lie- 
derbüchlein die  furnehmste,  schönste,  lieblichste  und  züchtigste*) 


*)  Dies  nun  weniger:    es   sind  einige  Lieder   darin    enthalten,   die   selbst 
fFeimmr,  Jk  Jl-  21 


324 


Liedlein,  welche  nach  poetischer  Kunst  und  nach  Art  der  wel- 
schen und  franzosischen  Canzonetten,  als  gut  ich  die  zusam- 
men bringen  können,  bei  einander  zu  fugen.  Obwol  ich  deren 
mehr  hätte  beieinander  bringen  können,  hab  ichs  doch  hiebei 
bleiben  lassen,  dieweil  zu  End  eines  jeden  Liedleins  etliche 
schone  Reime  hinzugesetzt,  auch  damit  dies  Büchlein  nicht  su 
groß  würde  und  um  ein  geringes  Geld  konnte  verkaufet  wer- 
den. Obwol  mir  wol  wissend,  dass  mir  etliche  neidische  und 
heimtückische  Missgonner  solches  zum  ärgsten  werden  deuten 
und  auslegen,  hab  ich  mich  dessen  leichtlich  zu  trösten,  die- 
weil noch  viel  mehr  gutherziger  Leut  gefunden,  welche  ihrer 
Vernunft  zu  viel  zugeben  und  erkennen  können,  dass  ich  hie- 
mit  die  junge  Gesellen  und  Jungfrauen  etlichermaßen  von  La- 
stern und  Untugenden  abziehen,  zur  Tugend  aber  und  Ehrbar- 
keit allgemach  imd  mit  Glimpf  anhalten  wollen.  —  Bitt  der- 
halbcn  einen  jedwedem,  wes  Standes  und  Wesens  er  auchseie^ 
wolle  dieses  mein  geringschätzige  Arbeit  in  keinem  Weg  mir 
verargen,  tadlen  oder  schmähen,  denn  ichs  aus  gutem  Herzen 
hab  gethan.  Solches  um  einen  jeglichen  zu  verschulden,  bin 
ich  jederzeit  willig  und  bereit.  Thu  mich  und  die  meinigen 
samt  E.  L.  jetzt  und  künftiglich  dem  Allmächtigen  in  seinen 
Schutz  befehlen.  Datum  den  20.  Novemb.  im  Jahr  M.  DC.  JJ* 

E.  L.  Dienstwilliger  P.  V.  D.  AE.' 

Diese  Vorrede  gibt  uns  wie  schon  der  Titel  Aufschluss  ge- 
nug über  das  Verfahren  des  Sammlers.  Er  hat  aus  gedruck- 
ten Liederbüchern  aufgenommen  was  ihn  eben  ansprach.  So 
machten  es  damals  die  Drucker  solcher  Bücher  überhaupt,  nur 
dass  Aelst  eher  etwas  geändert  und  auch  wol  selbst  mehrere 
Lieder  erweitert  hat:  zu  beiden  Dingen  hielt  er  sich  als  Dich- 
ter befähigt  Was  übrigens  anderen  Druckern  zu  b^egnen 
pflegte,  begegnete  auch  ihm:  er  hat  mehrere  Lieder  zweimal 
aufgenommen,  sogar  sein  eigenes  (Nr.  127.  153)1  Wie  die 
Sanmiler  mehr  oder  minder  dem  Zeitgeschmacke  dienstbar  sind 
und  um  ihres  Gewinns  willen  sein  müssen,  so  auch  Paul  von 
der  Aelst.  Sein  Buch  fällt  gerade  in  die  Zeit,  als  das  Fremde 
auch  in  der  Poesie  anfing  sich  geltend  zu  machen.     Die  ein- 


nach   den   damaligen  BegriAen   von   Sittlichkeit  durchaus  nicht  r.üchtig,  ge- 
schweige denn  züchtigst  genannt  werden  dürfen. 


325 


fachen  deutschen  Volkslieder  gefielen  nicht  mehr,  man  liebte 
dafür  die  künstlichen  welschen  Liedesformen  und  allerlei  Spie- 
lereien. So  hat  denn  auch  Aelst  Übersetzungen  und  Nachah- 
mungen solcher  welschen  Canzonetten,  Madrigalien,  Villanellen, 
Galliarden  und  wie  das  Zeug  alles  heißt*),  ferner  Namenlieder 
(Acrosticha) ,  Echos  und  dergleichen.  Doch  ganz  huldigt  er 
dieser  neuen  Richtung  nicht:  er  kann  sich  vom  deutschen  Volks- 
gesange  nicht  trennen,  er  liebt  die  uralten  Weisen  und  fugt 
sie  neueren  Texten  hinzu,  und  was  sein  größtes  Verdienst  ist, 
er  gibt  uns  mehrere  schöne  alte  deutsche  Volkslieder,  einige 
sogar,  die  sich  anderswo  nicht  mehr  finden. 

Ebendeshalb  ist  denn  oftmals  der  Wunsch  von  vielen  Sei- 
ten laut  geworden,  das  ganze  sehr  seltene  Büchlein  durch  ei- 
nen buchstäblichen  Abdruck  zu  vervielfältigen  und  so  jedem 
Forscher  und  Liebhaber  unserer  Liederdichtung  zugänglicher 
zu  machen.  Ich  muss  die  Zweckmäßigkeit  eines  solchen  Ab- 
drucks entschieden  in  Abrede  stellen.  Die  große  Masse  unbe- 
deutender, oft  sogar  schlechter  Liebeslieder  verdient  gar  nicht 
weiter  gedruckt  zu  werden;  das  Bessere  und  Beste  ist  bereits 
wieder  gedruckt,  imd  das  was  sonst  noch  für  die  Poesie  und 
die  Geschichte  derselben  einigen  Werth  hat,  lässt  sich  auf  we- 
nigen Seiten  abmachen,  wie  ich  es  hier  in  der  alphabetischen 
trbersicht  des  ganzen  Inhalts  versuchen  will.  Wer  zu  einzelnen 
Liedern,  wo  ihm  die  anderswo  vorhandenen  Texte  nicht  genü- 
gen, den  Paul  von  der  Aelst  vergleichen  möchte,  mag  sich 
selbst  an  die  Quelle  wenden,  das  Buch  ist  jedem  zugänglich. 

Bei  dieser  Gelegenheit  muss  ich  mich  über  das  Wiederab- 
drucken einiger  seltenen  Bücher  aus  dem  Gebiete  der  poeti- 
schen Litteratur  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  aussprechen. 
Ich  halte  es  nur  dann  für  gerechtfertigt,  wenn  das  Werk  selbst 
in  poetischer  oder  sprachlicher  oder  litterarhistorischer  Bezie- 
hung bedeutenden  Werth  hat.  Die  Masse  des  Stoffs  ist  be- 
reits für  Liebhaber  und  Forsober  so  groß  geworden ,  dass  jene 
eher  abgeschreckt  als  gewonnen  werden,  und  diese  mehr  und 
mehr  verflachen,  indem  sie  bei  den  vielen  Seiten,  welche 
das  deutschphilologische  Studium  darbietet,  sich  mitbetheiligen 
wollen  und  auf  eine  leichte  Weise  auch  können.     Die  For- 


*)  S.  meine  Vorrede  zu  meinen-  Qesellschaftsliedem  S.  IX. 

21* 


326 


scher  sollten  sich  nachgerade  darauf  beschränken,  den  ange- 
häuften Stoff  zu  sichten  und  sich  dadurch  einen  schöneren  Dank 
verdienen,  dass  sie  mit  Kritik  und  Geschmack  das  Bessere  in 
reiner  Form  und  mit  Erläuterungen  versehen  hinsteUen,  damit 
endlich  das  Schone  der  Vergangenheit  ein  bleibendes  Eigen- 
thum  jeder  Gegenwart  unsers  Volkes  werden  könne. 

Im  Frühlinge  1842  war  es  mir  in  Jena  vergönnt,  den  Paul 
von  der  Aelst  zu  benutzen.  Meine  damaligen  Auszüge  habe 
ich  jetzt  erweitert  und  gebe  sie  in  einer  alphabetischen  Über- 
sicht des  ganzen  Inhalts.  Das  Original  hat  zwar  keine  ge- 
druckten Nummern;  da  aber  dieselben  mit  Bleifeder  hinzuge- 
fügt sind  und  bis  jetzt  kein  Exemplar  *)  weiter  bekannt  ist,  so 
darf  diese  Ergänzung  als  lu'sprünglich  betrachtet  werden. 

Der  Kürze  wegen  sind  die  Sammlungen,  worauf  ich  mich 
beziehe,  durch  Abkürzungen  angegeben. 

Uhland  =  Uhland^s  Alte  hoch-  und  niederdeutsche  Volks- 

Ueder  1845. 
Frkf.  LB.  =  Lieder-Büchlein  1582.  Abdruck  des  litter.  Ver- 
eins zu  Stuttgart:  Das  Ambraser  Liederbuch  vom  J.  1582. 
Herausg.  von  Jos.  Bergmann. 
GL.  =  meine    „deutschen  GeseUschaftslieder   des  16.   und 
17.  Jahrhunderts^  Leipzig  1844. 

127.    Im  Ton:     Wo  soll  ich  mich  hinkehren  etc. 
Ach  dass  ich  könnt  erleben 

die  freudenreiche  Zeit  ff.     14  Str.  von  Aelste. 

abermals  Nr.  153  mit  dem  Anfange:  Ach  Gott,  mocht  ich 
erleben  ff. 

153.    Im  Ton:     Wo  soll  ich  mich  hinkehren  etc. 
Ach  Gott,  mocht  ich  erleben  ff.     14  Str. 

ganz  wie  Nr.  127.    Ach  dass  ich  könnt  erleben  ff. 

50.    Im  Ton:    Ich  armes  Mägdlein  etc. 
Ach  Gott,  wie  ist  so  gut  und  fein 

geliebt  werden  und  frei  sein  ff.     5  Str. 

179.    Im  Tont    Reich  Gott  wem  soll  ichs  etc. 
Ach  Gott,  wie  mag  es  konmien, 

dass  ich  so  voll  Leidens  bin  ff.     16  Str. 


*)  Ob  Eschenburg  eins  besaß,   habe    ich  nicht  ermitteln  können,   es   ist 
möglich,  vgl.  Wunderhorn  3,  48.     Das  Weimar,  stammt  aus  Gottsched's  Bibl. 


327 

140.     In  seinem  eigen  Ton. 
Ach  herzige  Herz,  mit  Schmerz 

erkennen  thu  ff.     7  Str. 

Namenlied  ANNA 

21.     In  seinem  eigen  Ton. 

Ach,  ich  kann  euch  nicht  gwähren  ff.     4  Str. 

17.     Im  Ton:     Ich  hoff  der  Zeit,  welch  jetzt  etc. 
Ach  Jungfrau  zart  und  mild, 

erzeig  dich  nicht  so  wild  ff.     3  Str. 

183.    In  seiner  eigenen  Melodei. 
Ach  Lieb  mit  Leid  ff.    3  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  6. 

71.     Ein  anders,  im  Ton:     Es  kam  ein  Gans  aus  Sachsen. 
Ach  Mägdlein,  willt  du  mit  mir  gähn?  ff.     8  Str. 

175.    Ein  Lied  von  den  edlen  Studenten.  In  seinem  eigen  Ton. 
Ach  Mutter,  liebste  Mutter  mein  ff.     10  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  65.     GL.  Nr.  148. 

5.     Ein  anders  in  gleicher  Melodei  (wie  Nr.  4.) 

Ach  Unglück,  wie  hast  du  mich  so  hart  verwundt  ff.  3  Str. 

29.     Ein  ander  schön  Lied  in  seinem  eigen  Ton. 
Ach  was  für  Klag  führ  ich  all  Tag  ff.     9  Str. 
Namenlied  ANNA  MARIA 

3.*    In  seinem  eigen  Ton. 
Ach  weh  mir  ist  durchschossen 

das  junge  Herze  mein, 

und  liegt  darin  verschlossen 

ein  schön  Jungfräuelein. 

Cupido  blind,  seht  zu  wie  gschwind 

hat  mich  gebracht  in  Pein. 

9  Str.    Ein  Lied  gleiches  Anfangs,  aber  ganz  verschieden 
GL.  Nr.  44. 

13.     In  seinem  eigen  Ton. 

Ach  wie,  mein  herzigs  Schätzlein  fein  ff.     4  Str. 

100.    Ein  jämmerliche   Klag,   die  ein  Liebhaber  seiner  Aller- 
liebsten hat  zugeschickt  u.  s.  w. 


328 

Ach  wie  wollt  ich  so  gern  sein  todt, 
als  dass  ich  leid  so  große  Noth  £f. 
Kein  Lied. 

104.     Im  Ton:    Muss  ich  armes  Mägdelein  etc. 
Adieu  und  ich  muss  scheiden  ff.     7  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  169. 

134.     Im  Ton:     Wie  möcht  ich  fröhlich  singen  etc. 
Alle  mein  jung  Leben  ff.    4  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  247. 

194.    Im  Ton:     Venus  du  und  dein  Kind  etc. 
Als  ich  für  meinen  Leib 

nahm  ein  schön  junges  Weib  ff.     29  Str. 

Von  Paul  von  der  Aelst. 

49.     Im  Ton:  Venus  du  und  dein  etc. 
Amor,  würd  deine  Freud  ff.    4  Str. 

106.  In  seiner  eigenen  Melodei. 
Aus  argem  Wahn  so  heb  ichs  an, 

ein  Fräulein  zu  beklagen  ff.     5  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  162. 

107.  Im  Ton:    Wie  sollt  ich  fröhlich  singen  etc. 
Beschaffnes  Glück  ist  unversaumt  ff.     3  Str. 

Frkfc  LB.  Nr.  197. 

161.     In  seiner  eigenen  Melodei. 

Bessers  ist  nicht  auf  dieser  Erd  ff.     4  Str. 

36.     Im  Ton:     Hilf  Gott,  dass  mir  gelinge  etc. 
Billig  soll  man  euch  loben, 

schöns  zartes  Jungfräulein  ff.     7  Str. 

Namenlied  BARBARA 

7.     Ein  Tanzliedlein. 

Bitt,  wollt  mir  ein  Tänzlein  klein 

machen  nach  dem  Willen  mein  ff.     2  Str. 

124.    Ein  anders. 

Brauns  Mägdlein,  zieh  dein  Hemdlein  ab  ff.    3  Str. 


329 


149.    Im  Ton:     Gedenk  Herzlieb  des  Anfangs  etc. 
Brinnende  Lieb,  du  heiße  Flamm  £f.     7  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  110. 

Namenlied  BARBARA 

147.     Im  Ton:     Gott  wolle  euch  gesegenen  etc. 
Dass  du  von  meinetwegen 

gesetzet  bist  in  Pein  S.    4  Str. 

146.    In  seinem  eigen  Ton. 
Dass  ihr  euch  gegen  mir 

so  freundlich  thut  erweisen  £f.    4  Str. 

151.     In  seinem  eigen  Ton. 

Dein  Gsundheit  ist  mir  lieb,  mein  einger  Trost  £f.     10  Str. 

57.     In  seiner  eignen  Melodei. 

Den  lieben  langen  Tag  führ  ich  mein  Klag, 

noch  ists  alles  umsunste,  hab  gar  kein  Gunste, 

drum  ich  nicht  leben  mag. 

Ich  fühl  im  Leibe  mein  viel  tausend  Pein, 

ich  fühl  in  meinem  Herzen  viel  tausend  Schmerzen: 

wann  wird  es  doch  gnug  sein? 

Amor  so  mich  verhaft,  solchs  bei  mir  schafft, 

lässt  mich  der  Lieb  nit  gnießen,  thut  mich  verdrießen, 

nimmt  mir  des  Lebens  Kraft. 

Meim  Herzen  Freud  gebrist,  ohn  Hoffnung  ist, 
wozu  soll  mir  das  Leben,  weil  dich  freut  eben 
mein  Schmerz  zu  aller  Frist? 

Herzlieb,  du  Tausendschön,  thu  mich  verstehn! 

wann  ich  an  dich  thu  denken,  thust  mein  Herz  kränken, 

ach  lass  dein  Grimm  vergehn! 

53.    Ein  anders  auf  das  vorige  (Kein  besser  Lieb  auf  Erd)  im 

vorigen  Ton. 
Den  lieben  langen  Tag 

führ  ich  ein  stete  Klag, 

und  wann  ich  dann  soll  schlafen, 

so  gibt  mirs  noch  zu  schaffen. 

Solch  große  Schmerz  und  Peine 

gibt  mir  die  Liebste  meine. 


330 


Du  edle  Jungfrau  rein, 

von  Herzen  ich  dich  mein, 

du  bist  wol  werth  der  Ehre, 

dass  dich  ein  Fürst  und  Herre 

so  herziglichen  liebe, 

als  ich  mich  gen  dir  übe. 

Gedenk  der  Seuüzen  groß, 

die  mich  ohn  Unterlass 

an  Leib  und  Herz  krank  machen. 

Vielleicht  du  thust  drum  lachen, 

wann  ich  so  streng  thu  klagen, 

dass  ich  kein  Wort  kann  sagen. 

Doch  lass  ich  drum  nicht  ab 
von  dir,  dich  stets  lieb  hab 
als  den  Trost  meines  Herzen, 
so  mir  benimmt  mein  Schmerzen; 
hoff,  wirst  mich  noch  in  Ehren 
meinr  Bitt  zuletzt  gewähren. 

32.*    Ein  anders. 

Der  süße  Schlaf,  der  sonst  alls  stillet  wol  ff.    4  Str. 
GL.  Nr.  56. 

108.  In  seinem  eigen  Ton. 

Der  Tag  wol  durch  die  Wolken  drang  ff.     7  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  179. 

109.  Im  Ton:     Nachtigall,  du  kleines  Vöglein  etc. 
Der  Wächter  der  blies  an  den  Tag  ff.     7  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  155. 

101.     Im  Ton:     Der  Sommer  jetzt  andringet  etc. 
Der  Winter  fährt  von  hinnen, 

die  traurig  kalte  Zeit, 

vor  Freud  mein  Herz  thut  brinnen, 

vergisst  jetzt  alles  Leid; 

der  Sonuner  jetzt  erfreuet 

die  Erd  mit  seiner  Gab, 

all. Ding  sich  jetzt  vemeuet, 

freu  ich  mich  junger  Knab.     7  Str. 

Bis  auf  die  letzte  Str.  wie   Nr.  118.    Winter,  fahr  du 
von  hinnen  ff. 


329 


149.     Im  Ton:     Gedenk  Herzlieb  des  Anfangs  etc. 
Brinnende  Lieb,  du  heiße  Flamm  S.     7  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  110. 

Namenlied  BARBARA 

147.     Im  Ton:     Gott  wolle  euch  gesegenen  etc. 
Dass  du  von  meinetwegen 

gesetzet  bist  in  Pein  ff.    4  Str. 

146.     In  seinem  eigen  Ton. 
Dass  ihr  euch  gegen  mir 

so  freundlich  thut  erweisen  ff.     4  Str. 

151.     In  seinem  eigen  Ton. 

Dein  Gsundheit  ist  mir  lieb,  mein  einger  Trost  ff.     10  Str. 

57.     In  seiner  eignen  MelodeL 

Den  lieben  langen  Tag  führ  ich  mein  Klag, 

noch  ists  alles  umsunste,  hab  gar  kein  Gunste, 

drum  ich  nicht  leben  mag. 

Ich  fühl  im  Leibe  mein  viel  tausend  Pein, 

ich  fühl  in  meinem  Herzen  viel  tausend  Schmerzen: 

wann  wird  es  doch  gnug  sein? 

Amor  so  mich  verhaft,  solchs  bei  mir  schafft, 

lässt  mich  der  Lieb  nit  gnießen,  thut  mich  verdrießen, 

nimmt  mir  des  Lebens  Kraft. 

Meim  Herzen  Freud  gebrist,  ohn  Hoffnung  ist, 
wozu  soll  mir  das  Leben,  weil  dich  freut  eben 
mein  Schmerz  zu  aller  Frist? 

Herzlieb,  du  Tausendschön,  thu  mich  verstehn! 

wann  ich  an  dich  thu  denken,  thust  mein  Herz  kränken, 

ach  lass  dein  Grimm  vergehn! 

53.     Ein  anders  auf  das  vorige  (Kein  besser  Lieb  auf  Erd)  im 

vorigen  Ton. 
Den  lieben  langen  Tag 

führ  ich  ein  stete  Klag, 

und  wann  ich  dann  soll  schlafen, 

so  gibt  mirs  noch  zu  schaffen. 

Solch  große  Schmerz  und  Peine 

gibt  mir  die  Liebste  meine. 


332 


nießen  oder  nit.     Darauf  ihm  dann  alsbald  die  im  Felsen 
wohnende  Echo  ein  trostUche  Antwort  gibt. 
Dies  traurig  und  verborgen  Ort, 

da  man  nichts  sieht  und  hört  kein  Wort  £f. 

54.    Ein  Liebhaberin  befragt  sich  gegen  einer  Echo  u.  s.  w. 
Echo,  ich  bitt,  verziehe  mir  £f. 

111.    Im  Ton:    Es  ist  auf  Erden  kein  etc. 
Ein  Kraut  Jelängerjelieber  heißt  ff.    9  Str. 
Namenlied  ELISABETH 

113.  Im  Ton:     Ach  Mündlein  roth  etc. 

Ein  Mägdlein  fein  ist  bei  mir  gsein  S.    3  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  157. 

143.     In  seiner  eigenen  Melodei. 

Ein  süßer  Traum  mich  thät  ff.    4  Str.    GL.  Nr.  8. 

37.     Im  Ton:     Ich  will  nach  Frankfurt  ziehen  etc. 
Ein  Tochter  hätt  ihr  Ehr  verscherzt  ff.     4  Str. 

114.  Ein  anders. 

Ein  weiblich  Bild  mein  Herz  bezwungen  hat  ff.     11  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  198. 

70.    Ein  anders. 

Eins m als  ich  sanft  entschlief, 

ein  süßen  Traum  ich  hätt  ff.    8  Str. 

46.     In  des  Krämers  Ton. 
Einsmals  in  einem  tiefen  Thal 

der  Kuckuck  und  die  Nachtigall  ff.    6  Str.    GL.  Nr.  178. 

66.    In  seiner  eigenen  Melodei. 

Eilend,  Jammer  und  groß  Unruh  ff.     7  Str. 

dasselbe  Lied,  welches  beginnt:  Groß  Eilend  ff.  Nr.  59. 

168.    Ein  anders. 

Entlaubt  ist  uns  der  Walde  ff.     12  Str. 

Vgl.  Uhland  Nr.  68  und  GL.  Nr.  4.    3  Str. 

75.    Im  Ton:    Mein  Herz  mit  Lieb  eto. 
Ergeben  hab  ich  mich  zu  dienen  fein  ff.    6  Str. 


331 


186.    In  seinem  eigen  Ton. 

Des  Spielens  ich  gar  kein  Glück  nicht  han  S.    3  Str. 

170.     Im  Ton:     Wo  soll  ich  hin,  wo  etc. 
Die  höchste  Freud,  die  ich  gewann  £f.     9  Str. 

Die  vorletzte  Str. 

Schons  Lieb,  was  hat  dir  der  Rocken  gethan, 

dass  du  nimmer  magst  spinnen?  £f. 
▼gl.  dazu  ühland  Nr.  194. 

64t.    In  seinem  eigen  Ton. 

Die  Nacht  ganz  ungeheure  S.     7  Str. 

180.    Im  Ton:     Venus  du  und  dein  Kind. 
Die  schon  Atlanta  kam 

von  königlichem  Stamm  S.    4  Str. 

122.     In  seiner  eignen  Melodei.    . 

Die  schöne  Sommerzeit  £f.     8  Str. 

Namenlied  DOROTHEA 

8.    Ein  anders  (Tanzliedlein). 

Dies  Fräulein  zart  gefallt  wol  jedermann, 

weil  sie  von  Art  recht  höflich  tanzen  kann. 

Drum  schaut  nur  zu  alls  was  ich  thu, 

lass  ich  ihr  jetzt  kein  Ruh, 

tapfer  rum  spring,  sie  umher  schwing, 

weil  sie  macht  so  ring, 
•    dass  ich  vermein,  ich  tanz  allein. 

Frisch  auf,  macht  mir  eins  drein! 

Billig  bhält  sie  das  Lob  jetzund  für  allen, 
weil  sie  eben  die  so  jedem  thut  gfallen: 
ganz  adelich,  züchtig,  freundlich 
weiß  sie  zu  stellen  sich, 
im  Drehen  gschwind  gleich  wie  der  Wind, 
ihrs  Gleichen  man  nit  findt, 
dass  ich  vermein,  ich  tanz  allein. 
Frisch  auf,  macht  mir  eins  drein! 

12.     Reimen  darin  sich   ein   Amant  beklagt  und  befraget  sich 
gegen  einem  Felsen,  ob  er  seiner  Liebsten  noch  würd  ge- 


334 


Schlussstrophe : 

Der  uns  zwei  scheidt  das  ist  der  Tod, 
er  scheidet  gar  manches  Mündlein  roth, 
er  scheidet  die  Knaben  und  die  Diren, 
er  scheidt  das  Kind  aus  der  Wiegen. 

22.     Im  Ton :     Venus  die  Gottin  etc.  von  einer  Nymphen  einem 

Liebhaber  zu  Trost  gesungen. 
Fortunio,  Fortunio, 

erfreue  dich  nun  und  bis  froh  S.    4  Str. 

20.     In  seinem  eigen  Ton. 

Fräulein,  ich  bitt,  verarg  mir^s  nit  £f.    4  Str. 

141.    In  seinem  eigen  Ton. 
Freud  und  Muth  ist  gar  dahin  S.    4  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  182.    3  Str. 

45.*    Ein  anders. 

Freundlicher  Art  du  hast  mich  hart 
mit  deiner  Lieb  besessen  £f.     3  Str. 

68.    Im  Ton:    Herzliebste  mein,  ich  sag  etc. 
Fröhlich  bin  ich  aus  Herzengrund  £f.     12  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  81. 

174.     Im  Ton:     Könnt  ich  von  Herzen  singen  etc. 
Fröhlich  so  will  ich  singen 

mit  Lust  ein  Tageweis  S.    26  Str. 

Wächterlied. 

105.     Im  Ton:     Venus  bringt  mir  groß   Schmerzen  etc. 
Fröhlich  wollen  wir  singen, 

kein  Traurigkeit  mehr  pflegen  £f.     5  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  210. 

128.    In  seinem  eigen  Ton. 

Ganz  sehr  betrübt  ist  mir  mein  Herz  ff.     11  Str. 

72.     In  seinem  eigen  Ton. 
Gar  lieblich  ist  spazieren  gähn  ff.    8  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  108.  etwas  abweichend. 

92.    Im  Ton:     Venus  du  und  dein  etc. 
Gehabt  hab  ich  groß  Glück  ff.    7  Str. 


335 


61.  Im  Ton:     Ach  Mägdlein,  willt  du  etc. 
Gestern  kam  ich  hieher 

und  fand  von  ungefähr 

ein  schone  Schäferinne  ff.     6  Str. 

192.     In  seiner  eigenen  Melodei  oder  im  Ton:  Mon  Verlee. 
Gleich  wie  der  weiße  Schwane 

stirbt  und  singt  ein  traurig  Lied  ff.     8  Str. 

Aus  dem  Niederl. 

62.  Im  Ton:     Ich  habs  gewagt  mit  mancher  etc. 
Gott  bhüte  dich,  desgleichen  mich  ff.     4  Str. 

51.    Ein  anders  im  Ton:     Venus  du  und  dein  etc. 
Groß  Ehr  hat  Müh  und  Pein, 

lass  dirs  nicht  seltsam  sein  ff.     6  Str. 

59.     Im  Ton:    Freundliches  Herz  etc. 
Groß  Eilend,  Jammer  und  Unruh  ff.     7  Str. 

Die  vorletzte  Strophe: 

Ach  Magdalen,  du  grimme  Magd, 

wann  bin  ich  doch  von  dir  gnug  gplagt? 

du  bist  viel  grimmer  als  ein  Bare. 

Mein  Lieb  und  Freundschaft,  Treu  und  Gut 

dir  alls  zumal  missfallen  thut, 

mein  gflissen  Dienst  sind  dir  unmäre  (unlieb). 

Dasselbe  Lied  später  nochmals  Nr.  66:     Eilend,  Jammer 

und  groß  Unruh  ff. 

177.    Im  Ton:     Groß  Lieb  hat  mich  umfangen 

zu  dienen«  eim  etc. 
Groß  Lieb  hat  mich  umfangen 

gen  einem  Junglein  gut  ff.    4  Str. 

123.     Im  Ton:     Mit  Lieb  bin  ich  umfangen  etc. 
Groß  Lieb  hat  mich  umfangen, 

zu  dienen  eim  Fräulein  fein  ff.     5  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  200. 

148.    Ein  anders. 

Gut  GseU,  gut  Gsell,  du  machst  dein  IQagen  ff.    4  Str. 

39.    Die  sieben  Wünsch. 

Hätt  ich  sieben  Wünsch  in  meiner  Gwalt  ff.     7  Str. 
Uhland  Nr.  15.  A. 


334 


ScUussstrophe : 

Der  uns  zwei  scheidt  das  ist  der  Tod, 
er  scheidet  gar  manches  Mündlein  roth, 
er  scheidet  die  Knaben  und  die  Diren, 
er  scheidt  das  Kind  aus  der  Wiegen. 

22.     Im  Ton :     Venus  die  Göttin  etc.  von  einer  Nymphen  einem 

Liebhaber  zu  Trost  gesungen. 
Fortunio,  Fortunio, 

erfreue  dich  nun  und  bis  froh  £f.     4  Str. 

20.     In  seinem  eigen  Ton. 

Fräulein,  ich  bitt,  verarg  mir^s  nit  £f.    4  Str. 

141.     In  seinem  eigen  Ton. 
Freud  und  Muth  ist  gar  dahin  £f.     4  Str. 
Frk£  LB.  Nr.  182.    3  Str. 

45.*    Ein  anders. 

Freundlicher  Art  du  hast  mich  hart 
mit  deiner  Lieb  besessen  £f.     3  Str. 

68.     Im  Ton:    Herzliebste  mein,  ich  sag  etc. 
Fröhlich  bin  ich  aus  Herzengrund  ff.     12  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  81. 

174.    Im  Ton:     Könnt  ich  von  Herzen  singen  etc. 
Fröhlich  so  will  ich  singen 

mit  Lust  ein  Tageweis  ff.    26  Str. 

Wächterlied. 

105.     Im  Ton:     Venus  bringt  mir  groß  Schmerzen  etc. 
Fröhlich  wollen  wir  singen, 

kein  Traurigkeit  mehr  pflegen  ff.     5  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  210. 

128.    In  seinem  eigen  Ton. 

Ganz  sehr  betrübt  ist  mir  mein  Herz  ff.     11  Str. 

72.    In  seinem  eigen  Ton. 
Gar  lieblich  ist  spazieren  gähn  ff.    8  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  108.  etwas  abweichend. 

92.    Im  Ton:     Venus  du  und  dein  etc. 
Gehabt  hab  ich  groß  Glück  ff.    7  Str. 


335 


61.  Im  Ton:    Ach  Mägdlein,  willt  du  etc. 
Gestern  kam  ich  bieher 

und  fand  von  ungefähr 

ein  schone  Schäferinne  £E1     6  Str. 

192.    In  seiner  eigenen  Melodei  oder  im  Ton:  Mon  Verlee. 
Gleich  wie  der  weiße  Schwane 

stirbt  und  singt  ein  traurig  Lied  £f.    8  Str. 

Aus  dem  Niederl. 

62.  Im  Ton:     Ich  habs  gewagt  mit  mancher  etc. 
Gott  bhüte  dich,  desgleichen  mich  ff.     4  Str. 

51.    Ein  anders  im  Ton:     Venus  du  und  dein  etc. 
Groß  Ehr  hat  Müh  und  Pein, 

lass  dirs  nicht  seltsam  sein  ff.     6  Str. 

59.     Im  Ton:     Freundliches  Herz  etc. 
Groß  Eilend,  Jammer  und  Unruh  ff.     7  Str. 

Die  vorletzte  Strophe: 

Ach  Magdalen,  du  grimme  Magd, 

wann  bin  ich  doch  von  dir  gnug  gplagt? 

du  bist  viel  grimmer  als  ein  Bare. 

Mein  Lieb  und  Freundschaft,  Treu  und  Gut 

dir  alls  zumal  missfallen  thut, 

mein  gflissen  Dienst  sind  dir  unmäre  (unlieb). 

Dasselbe  Lied  später  nochmals  Nn  66:     Eilend,  Jammer 

und  groß  Unruh  ff. 

177.    Im  Ton:     Groß  Lieb  hat  mich  umfangen 

zu  dienen«  eim  etc. 
Groß  Lieb  hat  mich  umfangen 

gen  einem  Junglein  gut  ff.     4  Str. 

123.    Im  Ton:     Mit  Lieb  bin  ich  umfangen  etc. 
Groß  Lieb  hat  mich  umfangen, 

zu  dienen  eim  Fräulein  fein  ff.     5  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  200. 

148.    Ein  anders. 

Gut  GseU,  gut  Gsell,  du  machst  dein  IQagen  ff.    4  Str. 

39.     Die  sieben  Wünsch. 

Hätt  ich  sieben  Wünsch  in  meiner  Gwalt  ff.     7  Str. 
Uhland  Nr.  15.  A. 


336 


28.     Im  Ton:     Siebet  wie  ich  so  etc. 
HElft  mir  aus  Pein,  zarts  Jungfräulein  ff.     3  Str. 
Namenlied  HE  LE  NA 

165.    Ein  hübsch  Tanzliedlein. 
Herbei,  ihr  Gspielen  all 

zu  diesem  Tanz  und  mir  nach  singt 

mit  freudenreichem  Schall! 

Als  ich  noch  ward  ein  Mägdlein  zart, 

lehrt  mich  die  Mutter  mein, 

ich  sollt  nicht  müssig  sein, 

und  wo  man  tanzet,  hüpft  und  springt, 

mich  mischen  auch  darein. 

Solcher  Lehr  folget  ich 

und  hätt  solch  groß  Gefallen  dran, 

dass  sonst  nichts  freuet  mich. 

Mein  Gmüth  und  Herz  nach  Schimpf  und  Scherz, 

nach  Freud  und  Kurzweil  gut  -^ 

nur  allzeit  streben  thut. 

Freud  so  mit  Ehm  geschehen  kann, 

erfrischt  mir  meinen  Muth. 

Mein  Mutter  lehret  mich 

singen  manch  schönes  Liedelein: 

derselben  folget  ich. 

Drum  singet  all  fröhlich  mit  Schall 

ein  Liedlein  wolgethan, 

welchs  also  fahet  an: 

konmi,  komm,  herzliejbster  Buhle  mein, 

und  bring  mir  einen  MannI 

Mein  Gspielen  allzumal 
folgten  mir  und  lehrten  gemach 
Springen  und  Singen  wol, 
trieben  so  lang  den  Sprung  und  Gsang 
'  bis  sie  mit  höchster  Freud 
gnossen  der  Süßigkeit, 
so  die  Lieb  endlich  bringen  thut 
nach  Hoffnung  recht  zur  Zeit. 


337 


155.    Im  Ton:     Ich  hört  die  Vögelcin  singen  etc. 
Herzlich  thät  mich  erfreuen 

die  lieblich  Sommerzeit  £f.    7  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  20.  ühland  Nr.  57.  GL.  Nr.  95.  (nur  5  Str.) 

25.    Im  Ton:     Gott  weiß,  dass  ich  mich  etc. 
Herzlieb,  betracht  und  nicht  gring  acht  £f.    4  Str. 

120.     Im  Ton:     Fröhlich  in  allen  Ehren  etc. 
Herzlieb,  ich  muss  dir  klagen  ff.     10  Str. 

34.     Im  Ton:     Wo  soll  ich  hinaus  etc. 
Herzliebstes  Jungfräulein, 

kunnt  es  auch  möglich  sein  ff.     6  Str. 

157.     In  seiner  eignen  Melodei. 
Herz  lieb,  je  mehr  ich  liebe  dich  ff.     5  Str. 
'     GL.  Nr.  17.  nur  3  Strophen. 

103.    In  seinem  eigen  Ton. 

Hör  zu,  mein  Schatz  und  einiger  Trost  ff.    9  Str. 

Vgl.  Nr.  80.  Wach  auf,  wach  auf,  meins  Herzen  ein  Krön  ff. 

47.     In  seinem  eigen  Ton. 
Hört  Wunder  über  Wunder, 

was  gschehen  ist  jetzunder 

zu  Collen  in  der  Stadt, 

da  maus  gesehen  hat! 

da  ist  zu  Tisch  gesessen 

einer  der  hat  vergessen 

ein  Glas  mit  Wein  in  Händen  sein, 

er  suchts  mit  Schmerz  und  Pein. 

Er  sah  bald  hin  und  wieder, 
bald  über  sich,  bald  nieder: 
ach  liebe  Gsellen  mein, 
wer  nimmt  mir  doch  mein  Wein? 
Wie  ers  nun  nicht  kunnt  finden, 
da  ward  er  erstlich  innen 
das  Glas  mit  Wein  in  Händen  sein, 
des  lacht  die  ganz  Gemein. 
Und  noch  eine  Str. 


338 


187.    In    seinem   eigen    Ton   und   ist   auch  ein  Tanzlied  vom 

Ehstand. 
Hort  zu,  ihr  Junggesellen  gemein  K    7  Str. 

130.    Im  Ton:    Aus  hartem  Weh  klagt  sich  ein  Held  etc. 
Ich  armes  Mägdlein  klag  mich  sehr  £f.  4  Str. 
Vgl.  Frkf.  LB.  Nr.  7  und  Uhland  Nr.  71. 

16.    Im  Ton:     Weil  du  mir  nicht  etc. 

Ich  armes  Mägdlein  klag  mich  sehr  S.   4  Str.    Ein  Lied  glei« 
ches  Anfangs,  sonst  ganz  verschieden  Uhland  Nr.  71. 

87.    Ein  anders. 

Ich  erfreue  mich  aus  Herzengrund, 

dass  du,  schons  Lieb,  bist  frisch  und  gsund  ff.     12  Str. 

137.    In  seinem  eigen  Ton. 
Ich  ging  mir  nachten  Abend  heraus  ff.     6  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  153. 

74.     Im  Ton:    Es  ist  auf  Erden  kein  schwerer  etc. 
Ich  hab  dich  lieb,  wie  du  wol  weißt, 

Gott  weiß,  wie  du  mit  Namen  heißt  ff.     11  Str. 

189.    Im  Ton:     Venus  du  und  dein  Kind  etc. 
Ich  hab  ein  lange  Zeit, 

Mägdlein,  um  dich  gefreit  ff.    4  Str. 

193.     Im  Ton:     Ich  weiß  ein  Weib,  heißt  selten  etc. 
Ich  hab  ein  Mann,  der  gar  nichts  kann 

als  essen,  trinken,  schlafen, 

ist  Nachts  ein  Block,  bei  Tag  ein  Stock, 

er  dient  wol  in  Schlauraffen. 

Hätt  er  ein  Gwerb,  fürwahr  er  stürb, 

all  Arbeit  thut  er  fliehen. 

Oft  filz  ich  ihn,  doch  ohn  Gewinn, 

kann  nichts  aus  ihm  erziehen. 

Wann  er  aufsteht,  kommt  erst  vom  Bett, 
darf  Vormittag  nicht  gschehen, 
so  blitzet  er  und  geht  daher, 
als  künnt  er  noch  nicht  sehen. 
Doch  bald  so  fragt  er  meine  Magd, 
ob  fertig  sei  das  Essen. 


339 

Er  bat  nur  Sorg,  durch  lange  Borg 
möcht  man  der  Speis  vergessen. 

Nach  dem  Frühmabl  nichts  überall 

thut  er  den  Tag  anfahen; 

furcht,  geh  er  aus  von  seinem  Haus, 

der  Blitz  mocht  ihn  erscblaben, 

bleibt  nur  daheim  und  thut  in  gheim 

sich  hintern  Ofen  legen, 

da  liegt  er  still  bis  zum  Nachtziel, 

thät  sich  nicht  einmal  regen. 

Um  fünf  Uhr  hin  so  kratzen  ihn 

die  Hühner  in  dem  Magen 

mit  großem  Grimm,  drum  muss  man  ihm 

das  Essen  bald  auftragen. 

Sobald  er  hat  sich  gfressen  satt, 

kein  Stund  kann  er  aufbleiben, 

läuft  stracks  zum  Bett,  das  treibt  er  stet, 

kein  Mensch  kann  ihn  draus  treiben. 

182.     In  seinem*  eigen  Ton. 

Ich  hatt  ein  stetigs  Minniken  ff,     7  Str. 

Aus  dem  Niederl.,  s.  Weimar.  Hs.  8®.  146.  Nr.  1. 

132.     Im  Ton:    Ein  Jungfrau  hat  mic)i  etc. 
Ich  hab  zwar  alle  Zeit  gehofft  ff.     5  Str. 

10.     Ein  ausbündig  artig  neu  Lied  zu  Ehrn  und  Wolgefallen 

Der  Feder  Prob  und  ehrlich  Lob 
Der  Schreiber  Gunst  und  ihrer  Kunst. 

Im  Ton:     Viel  Untreu  ist  auf  Erden,  oder: 
Mit  Lieb  bin  ich  umfangen. 

Ich  kann  und  mag  mit  nichten 
vor  großer  Huld  und  Gunst 
untrlassen  jetzt  zu  dichten 
so  viel  vermag  mein  Kunst, 
das  Federlein  zu  preisen, 
es  ist  sein  gar  wol  werth, 
das  darf  nicht  viel  Beweisens, 
sein  Werk  das  selbst  erklärt. 

ITeimsr.  Jb.  IL  22 


340 

19  Str.  von  Paul  von  der  Aelst. 
Letzte  Strophe: 

Dies  Liedlein  ist  gedichtet 
der  Federen  zu  Ehrn, 
zu  Lob  und  Preis  zugrichtet 
denen  die  sich  mit  nahm; 
thu  ihn  dies  Liedlein  schenken, 
fleußt  her  von  einem  Fels, 
wollt  im  besten  gedenken 
des  Paul  von  der  Aelst. 

35.     Im  Ton:     Ich  kann  ohn  dich  nicht  länger. 
Ich  kann  und  mag  nicht  fröhlich  sein, 

wann  ich  nit  seh  die  Liebste  mein  ff.     8  Str. 

67.     Ein  schon  neu  Lied,  wie  man  um  den  Kranz  singt. 

In  seinem  eigen  Ton. 
Ich  komm  aus  fremden  Landen  her 

und  bring  euch  viel  der  neuen  Mahr  ff. 

Etwas  ausführlicher  als  bei  Uhland  Nr.  3  und  hie  und  da 
abweichend.  Der  Uhlandsche  Text  nach  einem  Fl.  Bl.  mit 
dem  Zeichen:  T.  B.  S.  (Thiebolt  Berger,  Straßburg,  um 
1570).  Nach  einem  andern  Fl.  Bl.  „Gedruckt  zu  Nürn- 
berg, durch  Valentin  Newber"  im  4.  Bande  des  Wunder- 
horns  S.  265  —  271,  stimmt  ganz  mit  Uhland,  nur  dass 
hier  der  von  U.  weggelassene  Schluss,  4  Fragen  und  Ant- 
worten, die  auch  bei  v.  d.  Aelst,  mitabgedruckt  ist, 

4.     Ein  anders  in  seinem  eigen  Ton. 
Ich  steh  allhie  und  klag  gar  heimelich  mein  Leid  ff. 
8  lange  Str. 

83.     In  seinem  eigen  Ton. 

Ich  wein  und  seufze  Nacht  und  Tag  ff.     4  Str. 

135.     Ein  anders. 

Ich  weiß  mir  ein  Mägdlein  ist  hübsch  und  fein  ff.     5  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  99. 

191.     Im  Ton:     In  Lieb  ist  sie  gegen  etc. 
Ihrs  gleiclien  lebt  auf  Erden  nicht, 

der  icli  mich  hab  mit  liieb  verpflicht. 


341 


In  Ehren  und  mit  Zucht  die  edel  Frucht 
ist  sie  gekrönt  auf  Erden^ 
die  mir  hoff  ich  soll  werden. 

Ihrs  gleichen  ist  noch  nicht  gebom, 
so  ich  mir  jetzt  hab  auserkom: 
gottsfürchtig,  frumm,  in  einer  Summ 
thut  Gott  sie  hoch  begaben 
und  für  andre  erhaben. 

Ihrs  gleichen  wird  nicht  mehr  auf  Erd, 
sie  ist  all  Lobs  und  Ehren  werth, 
bis  in  mein  Grab-lass  ich  nicht  ab, 
sie  loben,  preisen  und  ehren, 
kein  Mensch  soll  mirs  nicht  wehren, 

Ihrs  gleichen,  sag  ich  noch  ein  mal, 
find  ich  weder  zu  Berg  noch  Thal, 
wünscht  mir  nit  mehr,  noch  nichts  begehr 
dann  nur  dass  ich,  merk  eben, 
bei  ihr  in  Ehm  sollt  leben. 

33.     In  seinem  eigen  Ton. 
Jetzund  will  ich  erst  lustig  sein 

und  irohlich  allzeit  singen, 

weil  ich  nun  ledig  bin  der  Pein, 

so  die  Lieb  mit  thut  bringen. 

Amor  mit  Macht  ich  ganz  veracht: 

darum  mein  Herz  stets  lacht. 

Mit  Tanzen  und  auch  mit  Springen 
will  ich  mein  Zeit  vertreiben; 
ich  hoff  es  soll  mir  noch  glingen, 
will  auch  darbei  verbleiben, 
denn  was  soll  Freud  so  nur  allzeit 
bringt  viel  der  Traurigkeit? 

Die  Lieb  die  ist  ja  nur  ein  Strick, 

damit  mancher  wird  gfangen; 

sie  bringet  Pein  all  Augenblick 

und  schmerzliches  Verlangen, 

drum  ich  nicht  will  mehr  sein  im  Spiel 

wie  man  dem  sonst  findt  vieL 

22 


342 


Kein  Vogel  willens  kommt  ins  Schlag/, 
kein  Wild  lässt  sich  gern  hetzen; 
zum  Buhlcr  ich  wol  sagen  mag, 
er  thut  sich  selbst  verletzen, 
wann  er  so  blind  mit  Venuskind 
sich  also  stark  verbindt. 

Diese  Strophen,  nur  etwas  verschieden,  in  Nr.  58.   Warum 
sollt  ich  nicht  fröhlich  sein  ff.     Die  letzte  lautet  dort: 

Kein  Vogel  wissend  fleugt  ins  Schlag, 

kein  Wild  lässt  sich  gern  hetzen, 

drum  ich  zum  Buhler  sagen  mag: 

willt  du  so  gring  dich  schätzen? 

Der  Jungfraun  Lieb  ein  Vogelhaus: 

wer  drein  kommt,  kommt  so  leicht  nit  raus  — 

thu  dich  nicht  selbst  verletzen! 

77.     Ein  anders. 

Jungfräulein,  sollt  ich  mit  euch  gähn 

in  euern  Rosengarten  ff.     9  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  111.   10  Str.  vgl.  daselbst  Nr.  77.     Uhland 

Nr.  52.     GL.  Nr.  31. 

98.     Im  Ton:     Nun  sehet  zu  dem  Spott  etc. 
Jungfrau,  eur  scharpfe  Augen  ff.     5  Str. 

95.     Im  Ton:     Jungfrau,  eur  scharpfe  Augen  otc. 
Jungfrau,  eur  Wankelmuth 

ist  mir  zu  Ohren  kommen  ff.     4  Str. 

52.     Im  Ton:     Groß  Ehr  hat  Müh  und  etc. 
Kein  besser  Lieb  auf  Erd 

glaub  ich  gefimden  werd  ff.     6  Str. 

164.     In  seiner  eigenen  Melodei. 

Kein  großer  Pein  auf  dieser  Welt 
glaub  ich  wird  nicht  gefunden  ff.     4  Str. 

156.     Im  Ton:     O  Glück,  bist  du  mir  beschert  otc. 
Kein  Lieb  ohn  Leid  wird  iunden  ff.     6  Str. 

144.     Im  Ton:     Kein  besser  Freud  auf  dieser  etc. 
Kein  Lust  hab  ich,  des  freu  ich  mich 

zu  keiner  sonst  auf  Erden  ff.    4  Str. 

Frkf,  LB.  Nr.  160  und  212. 


343 


142.     Im  Ton:     Venus  du  und  dein  etc. 
Kein  Stund,  kein  Tag  nicht  ist  ff.     4  Str. 

166.    Im  Ton:    Es  wohnet  Lieb  bei  etc. 
Könnt  ich  von  Herzen  singen 

ein  schöne  Tageweis  ff.     19  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  253. 

31.    Im  Ton:     Lieb  und  freundlich  müssen  etc. 
Mach  mir  ein  Gsang,  doch  nit  zu  lang  ff.     3  Str. 

2.     In  seinem  eigen  Ton. 

Man  acht  das  Gsang  so  hoch  und  theur  ff.     3  Str.     Schluss: 

und  sprechen  all  vernünftig  Leut: 

Gesang,  Wein  und  Weiber  machen  Freud 

allweg  und  zu  jeder  Zeit. 

1.     In  seiner  eignen  Melodei. 
Man  findt  in  vielen  Gschichten 

vom  Fisch  Delphin  genannt, 

wie  man  solchen  mit  nichten 

könn  bringen  an  das  Land; 

allein  durch  lieblichs  Singen 

thut  man  denselben  zwingen, 

dass  er  kommt  an  das  Land. 

5  Str.  Namengedicht:  MARIA 

65.  Ein  schön  neu  Lied  von  dem  Mai  und  von  dem  Herbst, 
wie  sie  mit  einander  turnieren  um  das  Kleinod.  Im  Ton, 
wie  man  den  alten  Hildenbrand  singt  oder  von  dem  Gra- 
fen von  Rom. 

Merkt  auf,  ihr  Herrn  gemeine, 
was  ich  euch  singen  will, 
ein  schönes  Liedeleine, 
ob  ich  nur  triff  das  Ziel! 
so  will  ichs  fröhlich  singen 
und  darzu  heben  an, 
ich  hoff  mir  soll  gelingen, 
der  gut  Wein  soll  mir  beistan.     54  Str. 

Könnte  ganz  hübsch  sein,  wenn  es  vollendeter  in  der  Form 
und  nicht  gar  zu  lang  wäre;  es  lässt  keine  Vergleichung 
zu  mit  dem  Kampf  des  Sommers   und  Winters  bei  Uhland 

Nr.  8.  .  -. 


344 

Vom  Mai  heißt  es: 
Die  Speer  die  er  thnt  fuhren 
die  ist  sehr  groß  und  lang, 
das  sollt  du  glauben  mire, 
gemacht  von  Vogelgsang. 
Sein  Ross  das  ist  die  Heide, 
das  sollt  du  glauben  mir, 
darauf  er  nun  thut  reiten, 
fürwahr  das  sag  ich  dir. 

38.    Ein  anders. 

Man  schreibt  und  thut  viel  singen 
von  jungfräulicher  Art  ff.    4  Str. 

26.  In  seiner  eigenen  Melodei. 

Mein  Buhl  thut  mich  aufgeben  gar  ff.     6  Str. 
NamenUed  MARTHA 

79.    Im  Ton:    Wie  mocht  mir  bass  etc. 
Mein  Herz  mit  Lieb  verwundet  ist 

und  hat  kein  Ruh  zu  aller  Frist  ff.     4  Str. 

27.  In  seinem  eigenen  Ton. 
Meins  Herzen  eine  Krön  ff.     5  Str. 

Namenlied  MARIA 

78.    Im  Ton:  Wie  sein  wir  jetzt  so  lustig  etc. 
Mir  ist  ein  feins  brauns  Mägdelein 
gefalln  in  meinen  Sinn  ff.     5  Str. 
Frkf,  LB.  Nr.  24. 

8L     In  seinem  eigen  Ton. 
Mir  ist  verkündt  meins  Herzen  Krön  ff.     7  Str. 
Wächterlied. 

152.     Im  Ton:  Ein  freundlichs  Aug  etc. 
Mit  freundlichen  Augen  winken  ff.     7  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  156  auch  7  Str.,  aber  sehr  verschieden. 

9.    In  seiner  eigener  Melodei. 
Mit  Herz  und  Mund  zu  aller  Stund 

seu£s^  ich  ohn  Unterlassen  ff.    4  Str. 


345 

76.     In  seinem  eigen  Ton. 
Mit  Lieb  bin  ich  umfangen, 

Herzallerliebste  mein  S,     8  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  88.     7  Str. 

154.     Im  Ton:     Mit  Lieb  bin  ich  umfangen  etc. 
Mit  Lieb  bin  ich  umgeben  ff.    5  Str. 
Namenlied  MARIA 

48.  Ein  artigs  und  lüstigs  Lied  gesprächsweise,  im  Ton  die^ 
ser  folgenden  Melodeien:  Im  Maien  wenn  alle  die  Vöge- 
lein singen  —  Vom  Lindenschmid  —  In  dich  hab  ich  ge- 
hoffet, Herr  —  Von  Konig  Christian  von  Dänemark  — 
Vom  Storzenbecker. 
Acrostichis  Alterna. 

Mit  Lust  und  Freud  ich  zieh  dahin  31  Str. 
Namenlied  MATTHAEVS  SPONSVS 
KATHARINA  SPONSA 

138.    Im  Ton:     Mit  freundlichen' Augen  etc. 

Mo  cht  ich,  feins  Mägdlein,  stets  bei  dir  sein  ff.     4  Str. 

91.     In  seiner  eigenen  Melodei. 
Muss  dann  mein  Treu  so  ganz  verloren  sein  ff.     8  Str. 

171,     Im  Ton:    Paris  du  bist  etc. 
Nach  Willen  dein  mich  dir  allein 

in  Treuen  will  erzeigen  ff.     8  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  3  nur  die  ersten  3  Strophen. 

30.     In  seinem  eigen  Ton. 
Nichts  Bessers  ist  auf  dieser  Erd  ff.     4  Str. 

173.     Im  Ton:     Ich  stund  an  einem  Morgen  etc. 
Nimm  wahr,  mein  Morgensterne  ff.     7  Str. 

86.     Ein  Liebhaber  fraget  ein  Echo  u.  s.  w. 
Nun  bin  ich  doch  ein  armer  Mann  ff. 

163.     Im  Ton:     Zart  schon  etc. 
O  Venus  dein  Art  ff.     3  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  211. 


346 


167.     Im  Ton:     Schöns  Mägdelein  beut  etc. 
Ob     ich  schon  arm  und  eilend  bin  ff.     20  Str. 
Vgl.  Uhland  Nr.  72.     5  Str. 

126.    Ein  anders. 

Ob  sc  hon  Amor  übt  seine  Tück 

gen  mir  und  lässt  mir  gar  kein  Glück  ff.     3  Str. 

63.     In  seinem  eigen  Ton. 
Ob  schon  mein  Munde  singet, 

so  weinet  doch  mein  Herz  ff.     12  Str. 

178.  Ein  ausbündig  und  artig  neu  Lied  zu  Ehrn  und  Wolge- 
fallen  der  edler  Kunst  Buchdruckerei.  Im  Ton:  Mit  Lieb 
bin  ich  umfangen. 

Papiers  Natiu*  ist  rauschen 

und  rauschen  will  es  viel  ff.     17  Str. 

Von  Paul  von  der  Aelst.    Die  beiden  ersten  Strophen  ent- 
lehnt aus  einem  altern  Licde,  Uhland  Nr.  263. 

15.    In  seinem  eigen  Ton. 
Pein,  Eilend  und  Schmerzen 

empfind  ich  alle  Stund  ü\     17  Str. 
Namenlied  PAVLVS  VON  DER  AELST 

159.     In  seinem  eigen  Ton. 
Reich  Gott,  wie  mag  das  wesen  ff.     16  Str. 
Aus  dem  Niederländischen. 

44.*     In  seinem  eigen  Ton. 
Rosina,  wo  war  dein  Gestalt 

bei  König  Paris  Leben  ff.     3  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  174. 

18.     In  seinem  eigen  Ton. 
ROsinfarb  recht  schön  zart 

ist  dies  Röslein  von  Art, 

so  ich  hiemit  verehr 

euch  Jungfäulein  ohn  Bschwer 

aus  Grund  des  Herzen  mein. 

Ach  was  für  Schmerz  und  Pein 

leidt  iur  und  für  mein  junges  Herz 


347 

um  euch  mit  soviel  tausend  Schmerz. 
Ach  es  ist  mir  kein  Scherz! 

Sicher  und  gwiss  thut  sein, 
zart  schönes  Jungfräulein, 
wofern  ihr  solchs  veracht 
und  dies  nicht  wol  betracht, 
da  SS  zuletzt  eur  Schönheit, 
darauf  ihr  euch  allzeit 
verlasst,  wird  endlich  also  gleich 
werden  wie  dieses  Roslein  weich, 
wann  solchs  verdorrt  bei  euch. 

NAtürlich  ist  nun  dis, 

drum  wollts  halten  für  gwiss, 

auch  nehmen  ab  darbei, 

dass  ich  eur  Diener  sei, 

so  euch  liebt  also  sehre, 

je  länger  je  mehre, 

auch  wie  ich  es  hiemit  vermein, 

obschon  das  Gschenk  ist  schlecht  und  klein, 

seh  an  den  Willen  mein! 

96.     Im  Ton:     Fröhlich  in  allen  Ehren  etc. 
Schöns  Lieb,  dir  muss  ich  klagen, 

dass  ich  durch  Liebesfeur  ff.     10  Str. 

99.     Im  Ton:     Wie  möcht  mir  bass  geschehen  etc. 
Schons  Lieb,  es  will  das  Herz  in  mir 

vor  Schmerzen  gar  zerspringen  ff.     8  Str. 

24.     Im  Ton:     Ach  mein  Herr,  dir  ich  allein  etc. 
Schöns  Lieb,  lasst  euch  abwenden  nit  ff.     8  Str. 

185.     Im  Ton:     Herzlieb,  vergönn  mir  ein  etc. 
Schwer  langweilig  ist  mir  die  Zeit  ff.     3  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  22.    GL.  Nr.  69. 

125.     Im  Ton:     Wie  möcht  ich  fröhlich  singen  etc. 
So     fah  ich  an  von  Herzen  ff.     10  Str. 

94.     Ein  anders. 

So    wünsch  ich  ihr  ein  gute  Nacht 


348 

zu  hundert  tausend  Stunden  ff.    3  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  11. 

136.    Im  Ton:     Kein  hab  ich,  des  freu  etc. 
Sonst  kein  ohn  dich  erfreuet  mich  ff.     5  Str. 

119.    Im  Ton:     Mit  Lieb  bin  ich  umfangen  etc.    wenn    zwei 

Gesätz  zusammen  gethan  werden. 
Steh  ich  allhie  verborgen 

die  finster  lange  Nacht 

so  gar  in  großen  Sorgen 

ganz  blind  und  unbedacht.     16  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  114.     16  Str.  und  etwas  verschieden. 

131.    In  seinem  eigen  Ton. 

Tanz,  Mägdlein,  tanz  und  lass  dich  nicht  gereuen  ff.     13  Str. 

184.    Ein  anders. 
.    Tröstlicher  Lieb  ich  mich  stets  üb  ff.     3  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  44. 

85.    In  seinem  eigen  Ton« 
Venus  du  und  dein  Kind 

seid  aUe  beide  blind 

und  pflegt  auch  zu  verblenden, 

die  sich  zu  euch  thun  wenden, 

wie  ichs  wol  hab  erfahren 

in  meinen  jungen  Jahren.     11  Str. 

GL.  Nr.  32  nur  4  Str. 

56.    Ein  anders. 

Vergangen  ist  mir  Schmerz  und  Mutli  ff.     5  Str. 

19.     Im  Ton:    Weil  ich  dich  feins  etc. 
Vertrauter  GseU,  mir  kommt  zu  Ohren  tL    4  Str. 

84.    In  seiner  eignen  Melodei. 

Von  deinetwegen  bin  ich  hie  ff.     8  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  56.    vgl.  Görres  S.  91.  S. 

129.    Im  Ton,  wie  man  den  Grafen  von  Serin  singet  etc. 
Vor  Zeiten  war  ich  lieb  und  werth 


349 

die  ich  mir  hatt  auserkoren  fp.    5  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  28.     Görres  S.  67. 

150.    Im  Ton:     Brinnende  Lieb  etc. 
Wach  auf,  mein  Hort,  vemimm  mein  Wort  flf.     9  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  202.    vgl.  daselbst  Nr.  23. 

115.     In  seinem  eigen  Ton. 

Wach  auf,  wach  auf!  mein  Herz  das  brinnt,  :|: 
mein  feines  Lieb  hat  mirs  angezündt.  :|: 

Schenk  ein,  schenk  ein  ein  volles^  Glas! 
trink  aus,  fein  Lieb!  was  schadt  dir  das? 

Es  schadt  mir  nichts,  es  sclmieckt  mir  wol, 
ich  weiß  wol  eine  die  es  zahlen  soU. 

Die  es  zahlen  soll,  die  ist  nicht  hier. 
Ist  sie  nicht  hier,  so  kommt  sie  schier. 

Kommt  sie  dann  nicht  zu  rechter  Zeit, 
nimm  ich,  feins  Lieb,  ein  ander  Weib. 

Nimmst  du  ein  Weib,  so  nimm  ich  ein  Mann, 
liegt  mir,  feins  Lieb,  nicht  viel  daran. 

Fahr  hin,  fahr  hin,  du  freier  Held! 
mach  du  es  wol  wie  dirs  gefällt. 

Gefallt  dirs  nicht,  fahr  immer  hin! 
ich  will  wol  bleiben  der  ich  bin. 

Und  wer  ich  bin,  man  kennt  mich  wol, 
ich  weiß  noch  einen  ders  werden  soll. 

Ders  werden  soll,  der  ist  nicht  weit, 
er  wird  wol  kommen  zu  rechter  Zeit. 

Auf  rechte  Zeit,  zu  guter  Stund  — 
der  liebe  Gott  spar  ihn  gesund! 

Mein  Herz  ist  frisch  und  wolgemuth, 
es  tracht  nicht  sehr  nach  großem  Grut. 

Allein  nach  Ehr  und  Tugend  schon  (lies:  gut) 
mein  junges  Herz  nur  ringen  thut. 

Bringt  uns  der  Mai  den  grünen  E^lee, 
scheiden  von  seinem  Lieb  und  das  thut  weh. 

Wer  ist  der  uns  dies  Liedlein  sang? 
ein  gut  Gsell  bleibt  sein  Leben  lang. 


350 

Er  singt  uns  das  und  noch  wol  mehr: 
Gott  behüt  allen  Jungfräulein  ihr  Ehr! 

80.     Im  Ton:     Wach  auf  in  Gottes  etc. 

Wach  auf,   wach  auf  meins  Herzen  ein  Krön  ff,     9  Str. 

Abermals  Nr.  103.  Hör  zu  mein  Schatz  und  einiger  Trost, 
nur  die  beiden  ersten  Strophen  verschieden;  diese  beiden 
hat  Uhland  Nr.  56.  weggelassen,  vgl.  Uhland  S.  1003.  Hei- 
deröslein. 

90.     In  seinem  eigen  Ton. 
War  ich  ein  wilder  Falke, 

ich  wollt  mich  schwingen  aus, 

ich  wollt  mich  niederlassen 

für  eines  reichen  Kaufmanns  Haus.     14  Str. 

Wunderh.  3,  25.  ohne  Angabe  der  Quelle,  mit  Weglass. 

der  letzten  Strophe: 

Die  eine  heißt  Margareta, 

die  ander  heißt  Annalein, 

die  dritte  ich  nicht  nennen  will, 

die  soll  mein  eigen  sein. 

43.     Im  Ton:     Venus  du  und  dein  Kind  etc. 
Wann  ich  den  ganzen  Tag 

gefiihret  hab  mein  Klag, 

so  gibt  mirs  doch  zu  schaffen 

des  Nachts ,  wenn  ich  soll  schlafen : 

ein  Traum  mit  großem  Schrecken 

thät  mich  gar  oft  aufwecken.     5  Str. 

6.     Ein  ander  schöns  Lied. 
Wann  ich  der  Zeit, 

darin  ich  hätt  groß  Freud, 

täglich  bei  mir  bedenke  ff.     4  Str. 

Dasselbe  Lied  mit  der  Überschrift: 

In  seinem  eigen  Ton.     Nr.  169. 

55.     In  seinem  eigen  Ton. 

Wann  sich  mein  Unfall  gnug  ließ  klagen  ff.     5  Str. 

58.     In  seinem  eigen  Ton. 

Warum  sollt  ich  nicht  fröhlich  sein  ff.     5  Str. 

Vgl.  Nr.  33.     Jetzund  will  ich  erst  lustig  sein  ff. 


351 


CO.     Ein  anders. 

Warum  thust  du,  mein  kaltes  Herz  ff.     18  Str. 

93.     Im  Ton:     Fröblich  in  allen  Ehren  etc. 
Warum  willt  du  wegziehen, 

o  du  mein  höchster  Trost?  ff.     13  Str. 

181.     Ein  ander  schöns  Lied. 
Was  mich  erfreut  ist  weit  ff.     7  Str. 
Namenlied  WALBVRG 

176.     Im  Ton:     Wie  ist  die  Welt  so  bös  gestellt  etc. 
Was  wird  es  doch  des  Wunders  noch  ff.     9  Str. 

Die  letzte  Strophe: 

Man  lauft,  man  rennt,  man  reiht,  man  springt, 

uachm  Geld  stehn  all  ihr  Sinnen, 

in  Regen  und  Schnee,  auf  Land  und  See, 

wie  man  nur  Geld  mög  gwinnen, 

man  lässt  nicht  ab  bis  in  das  Grab, 

Geld,  Geld  ist  nur  ihr  Leben, 

Geld  ist  ihr  Gott  frühe  und  spat, 

wie  kanns  doch  ärger  werden! 

Im  Frkf.  LB.  Nr.  21  nur  die  ersten  drei  Strophen. 

160.     In  seiner  eigenen  Melodei. 

Wer  sehen  will  zween  truckne  Brunnen  ff.     3  Str. 

190.     Ein  anders  im  gleichen  Ton  (Venus  du  und  dein  Kind). 
Wer  wird  dann  trösten  mich, 

wann  ich  verliere  dich  ff.     4  Str. 

162.*    Ein  schönes  Lied  gesprächsweis ,  in  seinem  eigen  Ton. 
Wes  soU  ich  mich  ernähren! 

ich  bin  gehalten  sehr  hart  ff.     8  Str. 

110.    Im  Ton:    Ach  Banden  hart  etc. 
Wie  gern  woUt  ich  nur  fröhlich  sein, 

wenn  es  sich  nur  wollt  schicken  ff.     7  Str. 

11.    In  seinem  eigen  Ton. 
Wie  möcht  ich  fröhlich  singen, 

weil  mir  nicht  will  gelingen  ff.     7  Str. 


352 


102.    Ein  anders. 

Wie  schon  blüht  uns  der  Maie  ff.     5  Str. 

Frkf.  LB.  Nr.  30.     Uhland  Nr.  58,  in  beiden  4  Str. 

139.  Im  Ton  des  Admirant  von  Spanien,  oder:  Rosina,  wo 
war  dein  Gestalt,  oder  vom  alten  Tanhäuser,  oder:  Freut 
euch,  freut  mich  zu  dieser  Zeit,  so  zwei  Gesätz  zusam- 
men gethan  werden. 

Wie  steh  ich  wilder  Eichbaum  hie 
so  gar  auf  trucknen  Auen, 
darum  mich  auch  kein  Mensche  nie 
für  fruchtbar  thät  anschauen.    31  Str. 

69.    In  seinem  eigen  Ton. 
Wie  wird  mir  dann  geschehen  ff.    9  Str. 
GL.  Nr.  13.     12  Str. 
—    Bei  Aelst  fehlen  3  Strophen  und  3  sind  anders. 

118.     Im  Ton:     Nun  fahr  hinweg  du  kleines  etc. 
Winter,  fahr  du  von  hinnen, 

du  traurige  kalte  Zeit  ff.     6  Str. 

Ganz  wie  Nr.  101.    Der  Winter  fahrt  von  hinnen  ff.,  nur 

dort  die  letzte  Str.  mehr. 

23.    In  seinem  eigen  Ton. 

Wo   ichs  vor  ließ,  fang  ichs  jetzt  an  ff.     5  Str. 

40.*    Im  Ton:    Jungfraulein  seind  wie  ich  etc. 
Wo  lauf,  Gelück,  dich  zu  mir  kehrl 

mein  Trauern  will  mir  wenden  ff.     7  Str. 

172.    Im  Ton:    Nun  höret  zu  mit  Schalle,  ihr  etc. 
Wo  lauf,  ihr  Studenten  alle, 

gegen  diese  Sommerzeit  ff.    5  Str. 

97.     In  seinem  eigen  Ton. 
Wo  lauf,  mein  junges  Herz, 

dir  bringt  jetzt  großen  Schmerz  ff.     10  Str. 

41.     In  seiner  eignen  Melodei. 

Zart  schön  Jungfrau,  gedenk  und  schau  ff.    3  Str. 
Frkf.  LB.  Nr.  2. 


353 


88.    Im  Ton:     Wie  schön  blüht  uns  der  Maie. 
Zart  schone  Jungfraue, 

du  edle  Creatur  ff.    8  Str. 

158.     In  seinem  eigen  Ton. 

Zu  aller  Stund  von  Herzengrund 

seufz  ich  ohn  Unterlassen  ff.    4  Str. 

14.    In  seinem  eigen  Ton,  oder:  Wie  du  mich  hast  etc. 
Zwei  Ding  wünsch  iclx  auf  Erden 

von  ganzem  Herzen  mein: 

ich  hoff,  sie  soll  mir  werden 

und  stetig  bei  mir  sein 

das  ganze  Leben  mein.     15  Str. 

Die  12.  Strophe: 

Dein  Fuß  seind  weiß  wie  Kreiden, 
dein  Ermlein  Helfenbein, 
dein  ganzer  Leib  ist  Seiden, 
dein  Brüst  wie  Marmelstein 
glatt,  zart,  gelind  und  rein. 

Den  einzelnen  Liedern  sind  in  größerer  Schrift  noch 
Sprüche  hinzugefiigt,  meist  auf  das  Lied  bezüglich  und  von 
vier  Zeilen.    Zur  Probe  mögen  folgende  genügen : 

Obschon  du,  schöns  Lieb,  bist  von  mir  weit, 
bleibt  doch  mein  Herz  bei  dir  allzeit, 
soll  auch  von  dir  nicht  lassen  ab, 
weil  ich  ein  Blutstropf  in  mir  hab. 

Gedenk  an  mich  wie  ich  an  dich, 
sonst  mehrers  nichts  begehren  ich. 

Schein  mir,  du  klarer  Sonnenschein, 
erleucht  die  Herzallerliebste  mein, 
dass  sie  trag  gleiche  Lieb  zu  mir, 
wie  ich  allzeit  gethan  zu  ihr. 

Ach  herzigs  Herz,  mein  Hab  und  Gut, 
mein  treues  Gmüth  und  junges  Blut 
gab  ich  für  dich  in  Angst  und  Noth, 
eh  ich  verließ  dein  Mündlein  roth. 


354 

Ach  Koslem  roth,  ach  Blümlein  weiß, 
du  bist  meins  Herzen  Paradeis  I  ♦ 

Dich  hab  ich  gwisslich  auserkoren 
über  all  Jungfraun  hochgeboren. 

Im  J.  1602  gab  Paul  von  der  Aelst  auch  noch  eine  Kunst 
zu  lieben  heraus.  Da  mir  mein  eigenes  Exemplar  nicht  zur 
Hand  ist,  so  war  Herr  Ludwig  Erk  so  gütig  mir  über  das 
der  kön.  Bibliothek  zu  Berlin  nähere  Nachricht  zu  ertheilen. 

^jDe  Arte  Amandi:  Das  ist.  Von  Kunst  der  Lieb.  In 
'  Latein  beschrieben  durch  Ouidium  Nasonem  den  Sinnrei- 
chen vnd  Hochverstendigen  Poeten,  der  vor  Zeiten  vnter 
dem  Keyser  Augusto  zu  Rom  florieret  hat.  Mit  vielen 
lustigen  Reimen  vnd  Liedern  gezieret  vnd  gebessert.  Al- 
les zu  einer  ehrlichen  Ergetzung  den  jungen  Leuten  zuge- 
fallen zum  ersten  mahl  in  Druck  verfertigt.  Non  Dvlce 
Amare,  (Holzschnitt)  Sed  Redamari.  Erstlich  gedruckt 
zu  Deuenter,  Im  Jahr  1602.«     8«. 

188  Seiten.  Dann  noch  ein  Schlussblatt  mit  demselben  Holz- 
schnitte wie  vorn,  darunter:  „Frolich  in  Ehren,  Kan  niemand 
wehren.  FINIS."  Am  Schluss  der  Vorrede  „P.  V.  D.  Ae.** 
Diese  Buchstaben  kommen  auch  noch  S.  11.  109  u.  111  vor. 

Im  J.  1629  erschien  davon  ein  Nachdruck. 
^De  Arte  Amandi:     Das  ist,  Von  Kunst  der  Lieb.  flf. 
Erstlich  gedruckt  zu  Leipzig,  Anno  1629."    8®. 

189  Seiten.  Am  Ende:  „Zu  finden  in  Franckfurt  am  Mayn 
bey  Jacob  de  Zetter.  ^  Bis  auf  wenige  Auslassungen  und  Zu- 
sätze ganz  gleich  der  Ausgabe  von  1602,  ein  verschlechterter 
Abdruck.     (Auch  in  der  kön.  Bibl.  zu  Berlin), 

Die  hie  und  da  zerstreuten  Lieder  (die  meisten  stehen 
S.  112  ff.  unter  der  Überschrift:  „Folgen  etliche  schone  Lied- 
lein") finden  sich  bis  auf  eins  alle  wieder  in  Aelst's  Lieder- 
buche, es  sind  die  in  der  alphab.  Übersicht  mit  einem  Stern 
bezeichneten.  Das  eine  dort  fehlende,  vielleicht  von  P.  von 
der  Aelst  selbst  verfasstc,  lautet  also: 

Gut  Ding  muss  haben  Weil: 
Drum  gut  Gesell  nicht  eil, 
denn  was  bald  soll  verderben, 
ist  leichtlich  zu  erwerben: 


355 

dies  wirst  du  noch  erfahren, 
eh  du  kömmst  zu  den  Jahren. 

Gut  Ding  muss  haben  Weil, 
drum,  gut  Gesell  nicht  eil, 
und  lass  dich  nicht  erschrecken, 
wenn  es  sich  schon  thut  strecken: 
das  wirst  du  noch  erfahren, 
eh  du  kommst  zu  dein  Jahren. 

Gut  Ding  muss  haben  Weil: 
drum,  gut  Gesell,  nicht  eil, 
denn  es  wird  oft  erlanget 
damit  man  lang  hat  gpranget: 
das  wirst  du  noch  erfahren, 
eh  du  kommst  zu  dein  Jahren. 

Gut  Ding  muss  haben  Weil: 
darum  du  auch  nicht  eil, 
denn  was  dir  ist  bescheret, 
des  wirst  du  wol  gewähret, 
und  gwisslich  noch  erfahren, 
eh  du  kömmst  zu  dein  Jahren. 

Außer  einzelnen  Sprüchlein,  „lustigen  Reimen'^^  wie  sie  das 
Liederbuch  in  Menge  enthält,  enthält  die  Ars  amandi  noch 
zwei  'lustige  Buhlenbriefe.'  Der  zweite  ist  aus  einem  nieder- 
ländischen übersetzt,  wenigstens  nachgebildet,  der  erste,  ob- 
schon  mit  P.  A.  unterzeichnet,  ist  ganz  volksthümlich  und  ge- 
hört zu  den  im  Jahrb.  2,  236  ff.  besprochenen: 

Ach  Gott,  was  müssen  die  leiden 
Die  sich  lieben  und  niüssen  meiden 
Und  dürfens  auch  niemands  sagen 
Was  Leids  sie  im  Herzen  tragen  I 
Ach  Rose  roth,  ach  Blümlein  weiß, 
Du  bist  meins  Herzen  Paradeis! 
Meiü  Herz  das  hat  dich  auserkoren 
Über  alle  Jungfiraun  hochgeboren. 
Euch  hab  ich  mir  nun  auserwählt, 
Kein  schöner  mir  im  Herzen  gefällt. 
Ihr  seid  mein  ällerschönstes  Lieb, 

fTehrnrnr,  Jb.  17.  23 


356 


Darum  schreib  ich  Euch  diesen  Brief. 
Von  Euch  zu  wissen  ich  begehr, 
Ob  ich  bei  Euch  der  Liebste  war. 
Wenn  Ihr  mich  nicht  von  Herzen  meinten, 
Herzlieb,  wollt  mir  den  wiedersenden; 
So  will  ich  gehen  meiner  Straßen 
Und  mich  auf  Euch  nicht  mehr  verlassen. 
Gleich  wie  ein  Turteltäublein  thut, 
Wenn  es  sein  Part  verloren  hat 
Und  traurig  auf  ein  Zweig  sich  setzt 
So  lang  bis  es  auch  stirbt  zuletzt. 
Mein  jungen  Leib  würd  ich  Verliesen, 
Wenn  ich  ein  ander  für  Euch  sollt  kiesen. 
Ach  Gott,  sollt  mir  mein  Herz  nicht  brechen. 
Euch  lieb  haben  und  nimmer  sprechen? 
Möcht  ich  erlangen  Euer  Gütigkeit, 
Das  war  meim  Herzen  ein  große  FreudI 
Es  würd  auch  nimmer  traurig  sein. 
Wenn  ich  bei  dir  mocht  sein  allein. 
In  Zucht  und  Ehr  wollt  mit  dir  scherzen. 
Erfreuen  unser  beider  Herzen. 
Nun  fahre  du  hin,  mein  Briefelein, 
Wol  zu  der  Allerliebsten  meini 
Mit  rechter  Treu  und  Glauben  rein 
Sollt  du  von  mir  besiegelt  sein. 
Eil  dich  geschwind  und  bis  (sei)  behend I 
Dich  empfangen  schneeweiße  Hand. 
Thue  bald  aufschwingen  dein  Gefieder, 
Ein  freundlich  Botschaft  bring  mir  wieder. 
Anzeig  mir  ob  mein  Liebst  mich  thut 
Lieben  aus  rechter  Herzenglutl 
Hiemit  bewahr  sie  der  liebe  Gott 
Herzliche  Liebe  treibt  kein  Spott. 
Treu,  Glauben  muss  man  halten  fein. 
Vergissnichtmein  lass  der  Siegel  seinl 
Euer  Allerliebst  und  Ungenannter, 
Euerm  Herzen  aber  Wohlbekannter. 
Aus  Furcht  darf  ich  mich  nicht  nennen, 
Damit  die  Kläffer  mich  nicht  kennen. 


PROPHETINNEN  und  ZAUBERINNEN 

MIT     BEZIEHUNG 

AUF  DAS  DEUTSCHE  ALTERTHUM. 

VON 

SELIG    GASSE  L. 

Im  Winter  des  Jahres  1853 — 54  war  zum  Besten  des  Gothe- Schil- 
ler -  Wielanddenkmals  in  Weimar  ein  Cyclas  populär  -  wissenschaft- 
licher Vorlesungen  in  Erfurt  veranstaltet  worden,  an  welchem  sich  die  gebil- 
dete Einwohnerschaft  der  Stadt  mit  rühmlichen  Interesse  betheiligte.  Das 
Comit^  für  dieselben  hatte  aus  den  Herrn  Oberregierungsrath  t.  Tettaa, 
Director  Seh 5 1er,  Prof.  Weißenborn  und  dem  Unterzeichneten  bestan- 
den. Denselben  hatten  sich  mehrere  andere  Herren  in  Erfurt,  so  wie  die  Herren 
Hofräthe  Sauppe  und  SchöU  in  Weimar  und  Prol  Schieiden  in  Jena  ange- 
schlossen. 

Nachstehender  Aufsatz  ist  ein  Vortrag,  der  am  19.  November  1853  in 
diesem  Cyclus  gelesen  ward.  Er  ist  auf  Wunsch  wörtlich  so  belassen  wor- 
den, als  er  gehalten  wurde  und  sind  nur  wenige  Abänderungen  vorgenommen 
worden.  Die  Anmerkungen  bringen  einige  Belege  und  nähere  Ausführungen. 
Es  ist  natürlich,  dass  von  Lesern  und  Leserinnen  eine  noch  größere  Nach- 
sicht gehofit  wird,  als  sie  schon  von  den  Zuhörern  erbeten  werden  musste. 

Erfurt  12.  Februar  1856.  S.  C. 

„Junger  Mann!  die  Frauen  kennen 
Ist  Dir  nützlich;  dieses  Wissen 
Uebersteiget  jedes  Andre : 
Doch  zu  weithin  forsche  nicht.*" 

Herder  :  Cid. 

$.  1.  Was  das  menschliche  Leben  im  Yerhältniss  ^um 
Himmel  ist,  ist  die  Sage  zu  dem,  was  wir  Geschichte  nennen* 
Unser  Leben  auf  dieser  Erde  ist  gewiss  kein  Himmel;  das  Wort 
des  ewigen  Seins  ist  nur  unvollkommen  verkörpert;  wir  wissen 
es  Alle,  wie  die  unsterbliche  Glückseligkeit  noch  nirgends  ihre 
Zelte  unter  uns  aufgerichtet  hat  —  aber  ihr  Schein  ist  über 

23* 


358 


die  Menschheit  aufgegaDgen;  ihr  Wort  und  Wesen  ist  erkenn- 
bar aus  aller  Sterblichkeit  und  Unvollkommenheit;  aus  aller 
Bruchstücklichkeit  und  Dürftigkeit  geht  in  mächtigen  Zügen 
die  wahrhaftige  Gewalt  einer  Vorsehung  hervor.  Also  steht 
die  Sage  zur  Geschichte.  Es  ist  vielleicht  nichts  geschehen, 
wie  es  die  Sage  erzählt;  es  hat  oft  nirgends  gelebt,  von  dessen 
Ruhm  und  Thaten  sie  berichtet;  es  hat  das  Leben  niemals  den 
Glanz  und  die  bunte  Herrlichkeit  besessen,  wie  es  die  wan- 
delnde Phantasie  des  Rhapsoden  uns  überliefert  —  gleichwohl 
spiegelt  sich  in  allem  dem  die  wahrhafte  Begebenheit,  die  wirk- 
liche Menschennatur,  wie  mit  seinen  Wolken  und  Nebeln  der 
Horizont  im  Meeresgrunde  abfärbt;  gleichwohl  ist  die  Sage  die 
wunderbare  Chronik,  in  welche  die  Menschen  aller  Zeiten  die 
Mysterien  ihres  innersten  Gemüths  und  Gedankenlebens  einge- 
tragen haben.     Was  der  Dichter  sagt: 

„Was  sich  nie  und  nirgends  hat  begeben, 
Nur  das  ist  ewig  wahr'' 

gilt  eben  von  der  Sage;  in  ihr  flüstern  sich  die  Zeiten  und  Ge- 
schlechter zu,  was  man  aus  dem  Ernste  historischer  Bücher 
verdrängt  oder  was  in  denselben  den  Schmelz  des  irischen  Em- 
pfindens verloren  hatte.  Und  die  alte  historische  Sage  ist  voll 
von  den  Geschicken,  die  von  der  wunderbaren  Macht  der 
Frauen  zeugen;  von  den  Katastrophen,  an  denen  sie  Schuld 
und  Ursache  gewesen;  an  ihren  Zauber  knüpft  die  Sage  jeg- 
liche Erschütterung  der  menschlichen  Gesellschaft.  Starke 
Vesten,  große  Königreiche  sind,  so  singt  die  Sage,  um  ihret- 
willen gebrochen;  ganze  Völker,  um  einer  Frau  willen,  in 
Knechtschaft  und  Leiden  gestürzt  worden ;  der  Tod  auf  Schlacht- 
feldern und  bei  vergifteten  Festmählern  ftihrt  auf  die  Frauen- 
reize und  Frauenmächte  als  Quell  zurück.  —  Was  die  Sage 
erzählt,  ist  sicherlich  der  Abdruck  einer  großen  Wahrheit  und 
wie  tief  auch  die  Dichter  in  die  Phantasie  eingetaucht  haben 
mögen,  wenn  es  sich  auch  nie  und  nirgends  hat  begeben,  noch 
die  beglaubigte  Geschichte  späterer  Zeiten  zeigt,  wie  ewig  wahr 
ihre  Lieder  gewesen  sind.^)    Wir  schweigen  von  dem  Trojani- 


>)  Wenigstens  hat 'die  neue  Zeit  und  die  Gegenwart  die  schöne  Wahrheit 
des  Sophocleischen  Chores  in  der  Antigene :  ^'ß^ütg  Mxart  ^a^aw  noch  nir- 
gends verleugnet.     Hierdurch  ennuthigt  gestatten  wir  uns  gegen  die  Autorität 


359 


sehen  Kriege,  in  dem  ragende  Fürsten  und  Schlösser  fielen  um 
eines  schönen  Weibes  willen,  von  dem  tragischen  Ende  des 
römischen  Königthums,  in  welchem  ein  greiser  König  um  der 
Siinde  des  lüsternen  Sohnes  in  ein  trübes  Exil  getrieben  wird; 
es  ist  ja  keine  Nation,  welche  in  ihren  Annalen  nicht  große 
Erinnerungen  und  Thaten  ausgelöscht  und  yermscht  findet  von 
den  Thranen  einer  Frau  und  umschrieben  von  dem  Blute  Tau- 
sender, die  als  Opfer  der  LeideMchaft  fielen.  Die  Dynastie 
des  Ju  in  China' ging  in  den  Schandthaten   der  schönen  Meihi 


eines  hochverehrten  Mannes  eine  Lesart  in  ihm  zu  vertheidigen ,  welche  die- 
ser in  seiner  Uebersetzang  der  Antigene  angefochten  hat  (Sophokles  An- 
tigene. 2.  Au6.  Berlin  1842.  p.  26.  not)  Statt  wie  die  Handschriften  ge- 
ben, zn  lesen 

"Bqiag  ayixaif  /ua^ny^ 

"BQODfy  og  iy  xrif^ectf*  mnrttg  etc. 

soll  ein  nij/uturt  vorgezogen  werden  and  übersetzt  sein 

„O  Eros,  allsiegender  Held, 
Der  du  die  Unglücklichen  anfällst.*^ 

Freilich  hatte  er  ein  Recht  gegen  die  Uebersetzang  von  xri/dara  darch 
^Heerden'  und „Reichthümer''  zu  protestiren;  es  ist  von  Personen  die  Rede, 
welche  ihre  Zustande  nicht  gegen  den  allsiegenden  Eros  schützen.  Eros,  so 
singt  der  Dichter,  lässt  niemanden  sich  entrinnen;  es  hilft  dem  Magdlein 
nichts,  dass  es  schläft:  durch  ihre  Träume  und  Phantasien  fliegt  er  ihr  in*s 
Herz;  wir  entrinnen  ihm  nicht,  wenn  wir  aufs  Meer  fliehen,  wie  ihm  der  ein- 
fache Landmann  im  Stillleben  seines  Dorfes  nicht  entgeht;  kein  unsterblicher 
Gott  kann  ihm  enteilen,  ihn  schützt  nicht  diese  Unsterblichkeit,  wie  den  Men- 
schen auch  nicht  seine  Eintäglichkeit  und  Lebenskürze  ror  ihm  bewahrt  Nicht 
passend  würde  in  dieser  Zusammenstellung  ron  Unglücklichen  gesprochen 
sein.  Kein  Gegensatz  von  „Glücklichen'^  ist  dafür  vorhanden,  wo  nur  von 
äusseren  Lebenszuständen  die  Rede  ist.  Auch  psychologisch  passt  es  nicht 
Entweder  der  Unglückliche  ist  wirklich  gegen  Liebe  verschlossen ,  —  oder  er 
ist  nicht  mehr  unglücklich,  wenn  ihn  Eros  besiegt-  Aber  wie  nicht  der  Schlum- 
mer, nicht  die  Reise,  nicht  das  Stillleben,  so  singt  der  Dichter,  schützt  euch 
nicht  die  Unfreiheit  vor  ihr.  Auch  wer  schon  die  Fesseln  der  Knecht- 
schaft Anderer  trägt,  ist  von  Eros  nicht  befreit;  wer  selber  im  Besitz 
eines  Herren  ist  und  von  ihm  gleichwohl  besessen;  auch  die  Unfreien, 
die  nicht  über  ihren  Willen  verfügen,  unterwirft  er.  Denn  als  Unfreie, 
Sklaven,  wie  noch  oft,  sind  hier  xtifAotct  zu  fassen.  Man  darf  sich  mit 
Recht  wundem,  dass  man  trotz  den  zahlreichen  Conjectaren ,  die  man  um  diese 
Stelle  machte  (Vgl.  Brunck  zu  diesem  Verse)  diese  Bedeutung,  die  ihr  eine 
so  schöne  Erweiterung  verleiht,  übersehen  hat     In  der  Römischen  Sklaveroi 


364 


bekommert,  so  halte  Dich  frei  von  Anmaßung,  suche  ihn  nidit 
KU  yemacblässigen  und  gestatte  Deinem  Herzen  nicht,  im  Wi- 
derspruch mit  ihm  zu  sein.  Hüte  Dich,  dass  du  nirgends  Ver- 
TAÜk  an  ihm  begehst,  dass  Du  keinem  andern  einen  Genuss  ge- 
währst, denn  dies  ist  in  eine  Grube  ohne  Boden  faHen,  aus 
der  keine  Rettung  ist.  Nach  den  Gebräuchen  der  Welt  wird 
man,  wenn  es  bekannt  wird,  Dich  tödten,  auf  die  Straße  wer- 
fen, dass  dein  Kopf  zermalmt  und  auf  den  Boden  geschleift 
werde.  Aber  Flecken  und  Unehre  werden  die  Vorfahren  tref- 
fen und  ihren  Ruhm  durch  die  Unreinheit  Deiner  Sünde  ver- 
dunkeln. Man  wird  von  Dir  sagen ,  daß  Du  im  Staube  Deiner 
Sünden  begraben  wiu'dest^  **^).  Wie  nirgends  vieUeicht,  bie- 
tet nach  der  sagenhaften  chinesischen  Geschichte  jenes  uner- 
messliche  Land  wunderbare  Beispiele  der  dämonischen  Ge- 
walt der  Frauen  über  Zeiten  uud  Männer.  Während  grauen- 
voUe  Ungeheuer  wie  Tanki  den  Kaiser  Tsheu,  Pao  den  Jeu, 
Liuheu  den  Hiaoeiti,  Hu  den  Wuti,  Wuheu  den  Kaotsong  be- 
herrschten und  das  Land  mit  Mord,  Unzucht  und  Tücke  er- 
füllten, geben  andere  chinesische  Frauen  die  edelsten  und  ruh-- 
rendsten  Beispiele  von  Besonnenheit,  Treue  und  Aufopferung. 
Die  Gemahlin  des  Suen,  welche  den  Irrweg  erkannte,  auf  dem 
der  Kaiser  sich  befand,  verließ  ihren  geliebten  Gemahl:  denn 
sagte  sie,  sie  wollte  lieber  seine  Liebe  entbehren,  ab  dass  er 
aus  Liebe  zu  ihr  Thron  und  Ehre  verliere.  Als  der  Frau  des 
Tschingti  einst  von  ihrem  kaiserlichen  Gatten  angeboten  ward, 
sich  in  seinen  Staatswagen  bei  öffentlichem  Aufzuge  zu  setzen, 
erwiederte  sie,  einem  Kaiser  gezieme,  sich  mit  Weisen  zu  um- 
geben. Schon  die  Maler  zeichneten  einen  schlechten 
Fürsten  in  Gesellschaft  von  Frauen.  Die  persische  Sage  stellt 
die  tückische  Sudabe,  welche  aus  Rache  über  verschmähte 
Liebe  ihren  Stiefsohn,  den  edelen  Sijawusch,  wie  Potiphars  Weib 
den  Joseph  verfolgte,  aus  Reich  und  Heimath  trieb  und  dem 
Meuchelmorde  seiner  Urfeinde  in  die  Hände  lieferte,  der  edel 
weiblichen  Ferengis  entgegen,  die  mit  Sijawusch,  obschon  ihr 
Vater  es  war,  der  ihn  ermorden  ließ,  in  Ejraft  duldete  und  in 
Treue  verharrte. 


10)  Aus  Sahagun:    historia  de  nueva  Espana  lib.  6.  cap.  19  bei  Preteoli 
Gesch.  T.  Mexico  2.  467. 


365 


Wer  kennt  nicht  Medea,  die  wunderbare  Frau,  dämonisoh 
in  ihrer  Liebe,  fürchterlich  in  ihrer  Rachel  Ehre  des  Vater- 
landes, Liebe  der  Verwandten  opferte  sie,  um  dem  Manne  ihres 
Herzens,  Jason,  zu  folgen;  als  sie  in  ihrem  Herzen  yerrathen 
wurd,  ist  des  Oräuels  kein  Ende,  welchen  sie  süßer  Rache  yoU 
begeht.  Die  eigenen  Kinder  fallen  ihrer  mütterlichen  Liebe 
zum  Opfer,  dass  sie  dem  verrätherischen  Vater  ohne  sie  nicht 
zur  Freude  yerbleiben.     Gewiss  sagt  sie  von  sich  mit  Recht: 

„Ein  Weib,  wie  zag  sonst  und  von  Furcht  erfüllt, 
Zu  sanft,  den  Kampf,  des  Schwertes  Blitz  zu  sehn, 
Ist,  wird  das  Herz  von  rauher  Hand  verletzt, 
Blutdürstiger  als  je  ein  andrer  Sinn.^  ^>) 

Eine  andere  Medea,  aber  idealischen  Zweckes  und  eines  Dich- 
ters würdig,  ist  Aretaphila  aus  Cyrene,  ein  Weib  von  der  Sage 
umsponnen,  obschon  sie  nicht  im  mythischen  Zeitalter  lebte. 
Nicoer ates,  ein  Tyrann,  hatte  zu  ihrer  Zeit  sich  der  Stadt  be- 
mächtigt und  brachte  seiner  grausamen  Willkür  Recht  und 
Pflicht  zum  Opfer.  Er  tödtete  die  reichen  Bürger,  er  achtete 
die  Heiligthümer  der  Götter  nicht.  Den  Gemahl  der  Areta- 
phila tödtete  er  und  nahm  sie,  schön  und  geistreich,  wie  sie 
war,  zur  Gemahlin.  Aretaphila  benutzte  die  Herrschaft^  die  sie 
über  ihn  gewann,  bald  zu  Plänen  für  die  Befreiung  ihrer  Va- 
terstadt .  von  einem  so  unwürdigen  Herrscher.  Sie  beschloss, 
ihn  zu  vergiften.  Aber  schon  die  Vorbereitungen  dazu  wurden 
verrathen.  Calbia,  die  Mutter  des  Tyrannen,  ein  fanatisches 
Weib,  rieth  dem  Sohne,  die  gefährliche  Frau  zu  tödten.  Aber 
der  Tyrann,  welcher  sie  foltern  ließ,  von  der  Mutter  ge- 
drängt, in  Qualen,  die  sie  lächelnd  überstand,  hatte  nicht  das 
Herz,  die  Geliebte  zu  tödten,  ließ  sich  leicht  von  ihr  überre- 
den, es  sei  nicht  Gift,  sondern  ein  Liebestrank  gewesen,  wel- 
chen sie  gebraut  hatte,  und  räumte  ihr  die  frühere  Herrschaft 
wieder  ein.  Aretaphila  ließ  nicht  ab,  ihre  Pläne  zu  verfolgen. 
Ihre  Tochter,  schön  wie  die  Mutter,  lehrte  sie  den  Bruder  des 
Tyrannen  durch  kokette  Reize  zu  umstricken,  und  als  er  ganz 
in  ihren  Händen  war,  gegen  den  eigenen  Bruder  zu  stacheln. 
Dieser  ließ  wirklich  den  Bruder  ermorden.  Statt  sich  damit 
zu  begnügen,  wie  man  erwartete,  äußerte  Aretaphila,  sie  habe 


11)  Euripidis  Medea  t.  263  etc. 


866 


ja  in  ihrem  Schwiegersohn  keinen  Brudermörder,  sondern  einen 
Tyrannenmörder  sehen  wollen,  er  aber  setze  ja  die  Tyrannei 
fort,  und  so  .brachte  sie  es  denn  auch  zur  Empörung  gegen 
diesen  ihren  Schwiegersohn  und  zur  Freiheit  der  Stadt.  Die 
dankbaren  Bürger  boten  ihr  an,  Theil  an  der  Regierung  der 
Stadt  zu  nehmen;  sie  aber  zog  sich  in  das  Stillleben  die  Ein- 
samkeit zurück,  vielleicht  bedenkend,  was  der  Dichter  die  Me- 
dea  sagen  lässt: 

qVon  Natar  sind  wir  zu  Gutem  oft  zu  schwach, 
Aber  des  Grauenvollen  sind  wir  größte  Meister. *"' *) 

Aber  besonders  die  deutsche  Sage  ist  reich  an  diesen  mäch- 
tigen Frauengestalten,  in  denen  eine  unheimliche  Gewalt  die 
Fessel  der  Gewöhnlichkeit  durchbricht  und  die  Tugend  zur 
Leidenschaft  umschafiend  sanfte  Pflichtgefühle  mit  der  Dolch- 
spitze einer  unstillbaren  Rache  versieht.  In  der  That  ist  es 
bei  deutschen  Frauen,  wie  bei  Aretaphila  kein  unheilig  Feuer, 
welches  Zäune  und  Schranken  weiblicher  Milde  verzehrt;  viel- 
mehr ist  es  die  tiefste  Tugend,  die  am  feinsten  Lebensnerv 
ihres  Herzens  betroffen,  sich  auflehnt  gegen  die  Gesetze  dieser 
Welt  und  zu  den  Waffen  greift,  welche  ihr  der  verhängnissvoll 
erweckte  Dämon  weiblicher  Natur  verleiht.  Ihnen  ist  dann, 
nach  dem,  was  sie  betroffen,  gleichgiiltig,  was  geschieht,  ob  das 
Theuerste,  ob  sie  selbst  mit  untergehn,  sie  achtens  nicht,  auf 
aller  Leben  steht  als  Sinnvers  das  Wort  der  Antigone: 

^Denn  wer  so  viel  von  Leid  umzingelt  lebt 

Als  ich,  wie  fände  dieser  nicht  am  Tod  Gewinn.'' 

Sie  achten  dann  nicht  die  Flammen,  die  über  ihre  Häupter 
zusammenschlagen  und  Haus  und  Vaterland  verzehren.  Die 
deutsche  Sage  kann  nicht  satt  werden  an  der  Darstellung  sol- 
cher Fraucnbilder.  Brunhild,  wie  sie  in  der  Edda  im  dritten 
Lied  von  Sigurd  vorkömmt  *■),  war  ein  edles  Weib  „an  der 
Keinen  (heißt  es)  war  nichts  zu  rügen,  kein  Fehl  zu  finden, 


12)  Eurip.  Med.  407  —  9.     Die  Geschichte   der  AreUphila  wird  von  Plu- 
tarch  in  den  Virtutes  muliernm  n.  19.  erzahlt. 

13)  Vgl.  Lieder  der    altern    Edda,   herausg.    von   den    Brüdern   Grimm. 
Berlin  1815.  1.  243  etc.  Die  angefahrten  Stellen  sind  nach  Simrock  p.  177  etc. 


367 


noch   auszuforschen.^     Aber  sie  gewann   den  Sigurd  lieb,   der 
der  Gudrun  angehörte.    Und  in  ihrem  Sinne  ward  der  Dämon 
mächtig.     ,,Allein  (sagt  das   Lied)   saß  sie  außen,    wenn   der 
Abend  kam;  laut  zu  sprechen   mit  sich  begann  sie:     Sterben 
will   ich  oder  Sigurd   hegen    den  alljungen   Mann   in   meinem 
Arm.^    Und  die  Treue  und  Liebe  Sigurds  zu   seiner  Gudrun 
reizte  sie  zum  Mord.     Sie  gewann  ihren  Gemahl,  den  tapfem 
Sigurd  im  Schlummer  an   Gudruns  Seite  zu  todten.    Mit  gel- 
lendem Lachen  begrüßte  sie  den  entsetzlichen  Wehschrei  der 
erwachenden  Gudrun,   die    ihren   Gemahl   im    Blute   erblickte. 
Ihr  eigener  Mann  erschüttert  ruft  ihr  zu:  „schlage  kein   Ge- 
lächter auf.   Schadenfrohe,  heiter   in  der  Holle,  als  brächt  es 
Dir  HeiL    Wie  hast  Du  die  lautere  Farbe  verloren,  Verderben- 
stifterin,  die  nun  selbst  verdirbt.^     Aber  sie  wollte  nicht  leben 
nach  Sigurd^s  Tod.     „Wollt  Einen  lieben,  ruft  sie  aus,  nicht 
mehr  als  Einen,  nicht  wankelmüthigen  Sinns   war  die  Maid!^^ 
Sich  zu  todten  ließ  sie  sich  nicht  abhalten,   weder  von  Bitten, 
noch  vom  Zureden   der  Verwandten  und  Freunde.     Als  diese 
den  Högni  befragen,   wie  sie  vom  Tode  abzuhalten  sei,    ant- 
wortet er:    „Verleid^  ihr  Niemand  den  langen  Gang  und  werde 
sie  nimmer  wieder  geboren;  sie  kam  schon  krank  vor  die  Knie 
der  Mutter;  zu  allem  Bösen  ist  sie  geboren;  manchem  Manne 
zu  trübem  Muth.^    So  starb  sie;  selbst  ein  böses  Riesenweib, 
das  die  Höhle  bewohnte,  durch  welche  sie  zur  Unterwelt  ftdir, 
rief  sie  tadelnd  an:   „Fort,  erfrech  Dich  nicht  zu  fahren  durch 
meine  steingestützten  Häuser;  besser  ziemt  Dir  Borten  zu  wir- 
ken,  als  des  Gatten  begehren  der  Andern.^    Sie  aber  antwor- 
tete ihr  verächtlich :  „zum  Unheil  werden  noch  allzulange  Män- 
ner und  Weiber  zur  Welt  geboren;  aber  wir  beide  jetzt  bleiben 
zusammen.  Ich  und  Sigurd.^    Und  dieselbe  Gudr\in,  deren  Ge- 
mahl gemordet  war,  die  vor  dem  unglücklichen  Schmerze  „nicht 
schluchzte,  noch  schlug  sie  die  Hände,  brach  nicht  in  Klagen 
aus,   wie  Brauch  ist   der  Frauen^  .  .  .   kein  Trost  und  keine 
Thräne  nahte  ihr.     Vor  Zorn,  sagte  die  Edda,  konnte  sie  nicht 
weinen  und  vor  Gram,   der  sie*  füllte  um  des  Fürsten  Mord. 
Erst  als  sie  das  bleiche  Haupt  des  Gatten  wieder  ansah,  das 
Haar  verharscht  vom  Blut,   die  leuchtenden  Augen  erloschen, 
da    ward  ihre   Wange    roth,    ein    Regenschauer   rann    in    den 
Schooß.    Auf  die  grässliche  That   folgte  auch  grausiges  Ge- 
schick: das  Geschlecht  der  Niflungen  ging  unter. 


368 


Andere  Farbe  trägt  das  ähnliche  Drama  Tom  Tode 
frieds  und  Rache  Chriemhildens  erst  in  der  Wilkina  und  Nif- 
lunga  saga,  denn  in  unserm  Nationalepos  der  Nibelungen.  Hier 
rächt  sich  Brunhild  wegen  der  Anspielung  auf  ihre  yermeintlich 
verletzte  Keuschheit  und  des  Spottes,  den  Siegfried  mit  ihr 
ohne  ihr  Wissen  getrieben.  Es  ist  ein  Kampf  der  Eitelkeit 
und  des  Hochmuths,  der  sich  zweier  edler  Weiber  bemächtigt, 
dessen  Leidenschaft  alle  Schranken  überfluthet,  und  zwar  in 
Blut  und  Jammer.  Den  schnellen  Siegfried  meuchelmordet  Ha- 
gen und  Brunhild  befiehlt,  seinen  Leichnam  zu  Chriemhilden 
in  ihr  Schlafgemach  zu  bringen;  „sie  schläft,  ruft  sie  aus,  um- 
arme sie  nun  den  Todten;  er  hat,  was  er  verdient,  sie  des- 
gleichen.^ 

Der  Schmerz  unglücklicher  Liebe,  welchen  die  Edda  in 
das  tragische  Motiv  Brunhilden^s  eingemischt,  ist  scheinbar  auf- 
gegeben und  nur  die  Wuth  über  verletzte  Ehrliebe  tritt  hervor; 
genaue  Aufmerksamkeit  wird  jedoch  die  alten  Spuren  einer 
versteckten  Liebe  Brunhildens  zu  Siegfried  auch  in  den  mit- 
telhochdeutschen Liedern  nicht  vermissen.  Es  brechen  ihre 
Mannen  wirklich  der  Kammer  Thüre  auf  und  werfen  der  schlum- 
mernden Gattin  die  kalte  Leiche  in  die  Arme.  Und  so  er- 
wachte die  unglückliche  Frau.  Nach  den  Nibelungen,  die  schon 
christliche  Färbung  tragen,  legen  die  Männer  den  Leichnam 
vor  Chriemhildens  Thür,  damit  sie  ihn  finden  sollte,  wenn  sie 
zur  Frühmesse,  die  die  firomme  Frau  nie  versäumte,  eilen  würde. 
Und  die  milde  liebe  Königin,  die  firomme  Frau,  deren  Herz 
schier  brach  unter  dem  Schmerze,  war  besonnener  Rache  voll; 
sie  warnte  ihren  Schwiegervater  und  ihre  Mannen  vor  übereil- 
tem Kampfe,  der  nicht  zu  gutem  Ende  führen  konnte  und 
sprach:  „lasst  es  sein  bis  es  sich  besser  fügt;  dann  wollen  wir 
ihn  gebührend  rächen;  jetzt  bleibet  und  duldet  mit  mir,  Gott 
möge  ihnen  vergelten,  was  sie  an  uns  gethan  haben«^  Aber 
sie  erwartete  nicht  länger  als  sieben  Jahre  Gottes  Vergeltung; 
so  lange  hatte  die  zärtliche  Gattin  ihm  Liebe  und  Rache  selbst 
als  Gemahlin  eines  Andern  gehegt.  Und  nach  dieser  Zeit  en- 
dete diese  Vergeltung  in  einem  grauenvollen  Kampfe,  den  das 
dämonische  Weib  gegen  ihre  Brüder  und  Gäste  entspann,  durch 
den  sie  das  Haus  ihres  schwachen  Gemahls  zu  einer  Mörder^ 
grübe  machte,  endlich  auf  den  Leichenhügeln  tausend  Tapferer 
selber  getodtet  ward  und  nichts  als  Klagen  und  Jammer,  Rui- 


869 

nen  und  Untergang  zurückließ.  So  blieb  ihr  Name  durch  dä- 
monischen Haas  und  Liebe  gleich  berühmt,  dass  von  ihr  der 
Vers  des  alten  Dichters  gilt: 

„Durch  Hass  den  Feinden  und  durch  Huld  den 

Freunden 
Wird  Menschenleben  ruhmesvolL"  i*) 

§.  2.  Nach  den  allgemeinen  Vorführungen  wird  es  ge- 
stattet sein ,  auf  den  Mittelpunkt  unserer  Erläuterungen  vorzu- 
gehen. 

Indem  Jacob  Grimm  i^)  in  seiner  Mythologie  von  den 
prophetischen  Frauen  der  deutschen  und  nordischen  Sage  zu 
berichten  anfangen  will,  wirft  er  die  interessante  Frage  au^ 
warum  es  bloß  „ein  bedeutsamer  Zug^  des  altdeutschen  Hei- 
denthums  sei,  besonders  prophetischen  Frauen  als  einer  Art 
Halbgotter  zu  begegnen,  während  die  jüdische  und  christliche 
Ansicht  einen  Gegensatz  bildet;  denn  hier  sind  es  zumeist  Pro- 
pheten, Engel  und  Heilige,  auf  welche  die  verkündende  Kraft 
im  Auftrage  Gottes  zu  reden,  niedergelegt  ist.  Es  wäre  also 
die  Frage  zuerst  zu  erledigen,  worauf  die  besondere  Stellung 
der  Frauen  als  Zauberinnen  und  Prophetinnen  im  deutschen 
Alterthume  beruht. 

Die  Frage  erledigt  sich  wirklich  und  gründlich  nur  durch 
die  Erkenntniss  des  Gegensatzes,  den  das  Heidenthum  in  seiner 
Auffassung  im  Allgemeinen  zur  Offenbarungslehre  einnimmt. 

Das  Heidenthum  ist  großentheils  nichts  Anderes  als  eine 
Religion  der  Sprache^*).  Die  Sprache  fesselt  ursprünglich 
Gedanken  in  feste  Formen,  oder  sie  combiniert  diese  festen  For- 
men durch  neue  Gedanken  zu  constanten  Reihen.  Die  spre- 
chende Nachwelt  agiert  mit  Worten  und  Sätzen  wie  mit  Ver- 
steinerungen aus  verschiedenen  Schichten  der  Vorwelt.  Die 
Sprachforschung  versucht  aus  der  Erstarrung  das  ursprüngliche 
lebendige  Wesen  zu  entwickeln. 


14)  Enripld.  med.  809.  10. 

16)  Cap.  XVI:  Weise  Frauen  p.  369. 

16)  VgL  darüber  eines  weiteren  meine  Abhandlung:  Die  Wissenschaft 
und  die  Akademien  in  der  Denkschrift  der  Erf,  Akademie  der  Wissenschaften 
vom  19.  Joli  1854.    Abschnitt  I.  §.  4.  p.  XII  etc« 


370 


Das  Heidenthum  in  seiner  Totalität,  ob  Germanen,  Gelten 
oder  Griechen  angehörig,  besteht  in  derselben  Action  wie  die 
Sprache  und  durch  dieselbe.  Die  menschliche  Erkenntniss,  Er- 
fahrung, Erinnerung  und  Beobachtung  nach  den  unzahligen 
Seiten,  welche  das  Leben  der  Völker,  jedes  für  sich  bietet, 
jedes  nach  seiner  Eigenthümlichkeit  produciert,  jedes  im  Laufe 
der  Zeiten  steigend  und  wandelnd  gefunden  und  erhalten,  also 
der  Mensch  mit  seinem  menschlichen,  aber  nichts  als  mensch- 
lichen Intelligenz  vermögen  —  das  ist  der  Inhalt  allen  Heiden- 
thums,  wo  auch  immer  seine  Heimath,  welches  auch  immer  sein 
Name  sei. 

Der  Begriff  ward  zum  Wort,  das  Wort  zum  constanten 
Wesen  und  zum  verkörperten  Genius;  die  psychologische  .Er- 
fahrung versteinert  sich  zum  Wort  und  erhebt  sich  in  den 
Himmel  als  verehrte  Gottheit.  Das  Heidenthum  ist  die  Reli- 
gion der  Sprache.  Sein  Himmel  ist  überall  mit  Worten,  fest- 
gewordenen Gefäßen  eines  flüssigen  Gedankens  bevölkert,  die 
durch  die  künstlerische  Phantasie  menschliche  Formen,  Häup- 
ter und  Leiber  erhielten. 

Menschen  aus  Ton  zu  kneten  oder  aus  Elfenbein  zu  bil- 
den haben  die  Menschen,  wie  Pygmalion  ohne  die  Götter  nie 
gekonnt.  Aber  die  Götter  selbst  haben  sich  die  Menschen 
künstlerisch  geschaffen.  Sie  gössen  den  Gedanken  in  die  Form 
der  Sprache  und  schufen  daraus  das  beliebige  Bild,  welches 
in  der  Seele  bewahrt  blieb.  Das  Griechische  Heidenthum  ging 
einen  Schritt  weiter.  Seine  Kunst  goss  diese  Götterbilder  uiid 
Statuen  der  Seele  in  Erz,  schuf  sie  zu  Marmor  und  übte  an 
ihnen  tausend  wunderbare  Künste.  Sie  malten  und  entwarfen 
aus  ihrer  Seele,  wo  es  lebte,  das  Götter-  oder  Genienbild  und 
es  lebte  nicht  bloß  in  der  Seele  des  Künstlers  so,  sondern  im 
Geiste  des  Volkes,  dem  es  Genius  war.  Der  Geist  des  Volks 
war  der  Vorkünstler  gewesen,  welcher  aus  dem  Wort  und  Be- 
griff, wie  aus  einem  kalten  Steine  die  vielfachen  Gestalten  er- 
habener, übermenschlicher,  vorzeitlicher  Gottheiten  erschuf. 

Die  Griechen  haben  außer  ihrer  Mythologie  eine  Kunst- 
wissenschaft. Die  erste  ist  die  Wissenschaft  der  starrgewor- 
denen menschlichen  Gedanken,  Reflexionen  und  Erinnerungen; 
die  zweite  die  Wissenschaft  der  in  Stein  und  Erz  und  Elfen- 
bein abgezeichneten  und  wiedergegebenen  Versteinerungen  der 
Seele.    Letztere  haben  bloß  Völker,  wie  Griechen  und  Römer 


371 


in  besonderem  außerordentlichem  Maße.  Erstere  hat  das  Hei- 
denthum  aUer  Völker  nach  seinen  variierenden  Standpunkten. 

Das  Heidenthum  niuss  daher  Polytheismus  sein,  Vielgöt- 
terei, denn  es  entspricht  eben  der  Sprache,  die  auch  in  ihren 
einfachsten  Elementen  nicht  aus  einem  Worte  besteht.  Was 
der  Mensch  schafil  und  denkt  ist  immer  mannigfaltig,  weil  ver- 
einzelt; nur  was  Gott  ihn  gelehrt  ist  ein  einzig  umfassend  Sym- 
bol :  es  ist  der  Name  des  ewigen  Gottes  selber. 

Das  altdeutsche  Heidenthum  —  das  neudeutsche  liegt  au- 
ßerhalb des  Kreises  unserer  Betrachtung  —  und  die  Stellung 
der  Frauen  darin  bieten  dazu  auch  in  den  skizzenhaften  No- 
tizen, die  ich  anführe,  hinreichende  Belege.  Fast  alle  ihre  Er- 
fahrung, Beobachtung ,  Verehrung  der  Frauen  nach  den  ein- 
zelnen Zügen,  welche  das  Leben  hervorruft  und  diesem 
Mannigfaltigkeit  in  Reiz  und  Anmuth  geben,  haben  sie  zu 
lebendigen  Phantasiegestalten  aus  dem  Worte,  dessen  sie  sich 
bedienten,  herausgemeißelt.  Wie  durch  magische  Hand  eines 
Schwarzkünstlers  aus  irdenen  Geräthen  plötzlich  Blumen  sprie- 
ßen und  Vöglein  emporsteigen  —  so  fliegen  aus  den  schlichten 
Worten,  welche  den  einzelnen  Empfindungen  ihren  Ausdruck 
geben,  Genien  gen  Himmel,  begabt  mit  den  idealischen  Kräf- 
ten, von  denen  jene  Empfindungen  redeten.  Aus  der  Fiille 
jener  göttlich  gewordenen  menschlichen  Erkenntnisse,  wie  sie 
das  deutsche  Alterthum  bietet,  erkennen  wir  anderseitig  wieder 
die  Feinheit  und  Zartheit,  wie  die  tiefe  Kenntniss  des  ganzen 
weiblichen  Wesens,  welche  die  Alten  gegen  die  Frauen  be- 
obachteten. Meist  ist  uns  sogar  die  ideale  Eigenschaft  des 
zur  Göttin  gewordenen  Wortes  deutlicher  überliefert,  als  das 
Wort,  aus  welchem  sie  ward  —  wegen  des  urgrauen  Alter- 
thums,  in  welchem  die  Metamorphose  vorgegangen  ist«  Darum 
ist  auch  nicht  bloß  das  Heidenthum  die  Religion  der  Sprache, 
sondern  jedes  etymologisch  forschende  Sprachstudium  ist  auch 
eine  Wissenschaft  des  Heidenthums. 

Schon  an  einigen  Zügen,  wie  sie  uns  die  jüngere  Edda  von 
den  Asinnen,  den  weiblichen  Göttinnen  berichtet  mögen  wir 
diese  Weise  der  Schöpfting  erkennen.  Freia  hat  einen  sterb- 
lichen Menschen  zum  Gemahl,  Odur,  Othr,  Othar  genannt 
Dieser  zog  in  fremde  ferne  Wege:  die  treue  Frau  weint  ihm 
nach  und  fahrt  zu  allen  Völkern,  um  den  Gemahl  zu  suchen. 
Daher  sie  verschiedene  Namen  trägt    Es  ist  das  ein  dunkler 

fFeimmr.  Jk  Ih  24 


368 


Andere  Farbe  trägt  das  ähnliche  Drama  vom  Tode 
frieds  und  Rache  Chriemhildens  erst  in  der  Wilkina  und  Nif- 
lunga  saga,  denn  in  unserm  Nationalepos  der  Nibelungen.  Hier 
rächt  sich  Brunhild  wegen  der  Anspielung  auf  ihre  vermeintlich 
verletzte  Keuschheit  und  des  Spottes,  den  Siegfried  mit  ihr 
ohne  ihr  Wissen  getrieben.  Es  ist  ein  Kampf  der  Eitelkeit 
und  des  Hochmuths,  der  sich  zweier  edler  Weiber  bemächtigt, 
dessen  Leidenschaft  alle  Schranken  iiberfluthet,  und  zwar  in 
Blut  und  Jammer.  Den  schnellen  Siegfried  meuchelmordet  Ha- 
gen und  Brunhild  befiehlt,  seinen  Leichnam  zu  Chriemhilden 
in  ihr  Schlafgemach  zu  bringen;  ,,sie  schläft,  ruft  sie  aus,  um- 
arme sie  nun  den  Todten;  er  hat,  was  er  verdient,  sie  des- 
gleichen.^ 

Der  Schmerz  unglücklicher  Liebe,  welchen  die  Edda  in 
das  tragische  Motiv  Brunhilden^s  eingemischt,  ist  scheinbar  auf- 
gegeben und  nur  die  Wuth  über  verletzte  Ehrliebe  tritt  hervor; 
genaue  Aufmerksamkeit  wird  jedoch  die  alten  Spuren  einer 
versteckten  Liebe  Brunhildens  zu  Siegfried  auch  in  den  mit- 
telhochdeutschen Liedern  nicht  vermissen.  Es  brechen  ihre 
Mannen  wirklich  der  Kammer  Thüre  auf  und  werfen  der  schlum- 
mernden Gattin  die  kalte  Leiche  in  die  Arme.  Und  so  er- 
wachte die  unglückliche  Frau.  Nach  den  Nibelungen,  die  schon 
christliche  Färbung  tragen,  legen  die  Männer  den  Leichnam 
vor  Chriemhildens  Thür,  damit  sie  ihn  finden  sollte,  wenn  sie 
zur  Frühmesse,  die  die  fromme  Frau  nie  versäumte,  eilen  würde. 
Und  die  milde  liebe  Königin,  die  fromme  Frau,  deren  Herz 
schier  brach  unter  dem  Schmerze,  war  besonnener  Rache  voll; 
sie  warnte  ihren  Schwiegervater  und  ihre  Mannen  vor  übereil- 
tem Kampfe,  der  nicht  zu  gutem  Ende  führen  konnte  und 
sprach:  „lasst  es  sein  bis  es  sich  besser  fügt;  dann  wollen  wir 
ihn  gebührend  rächen;  jetzt  bleibet  und  duldet  mit  mir,  6ott 
möge  ihnen  vergelten,  was  sie  an  uns  gethan  haben.^  Aber 
sie  erwartete  nicht  länger  als  sieben  Jahre  Gottes  Vergeltung; 
so  lange  hatte  die  zärtliche  Gattin  ihm  Liebe  und  Rache  selbst 
als  Gemahlin  eines  Andern  gehegt.  Und  nach  dieser  Zeit  en- 
dete diese  Vergeltung  in  einem  grauenvollen  Kampfe,  den  das 
dämonische  Weib  gegen  ihre  Brüder  und  Gäste  entspann,  durch 
den  sie  das  Haus  ihres  schwachen  Gemahls  zu  einer  Morder- 
grube machte,  endlich  auf  den  Leichenhügeln  tausend  Tapferer 
selber  getodtet  ward  und  nichts  als  Klagen  und  Janmier,  Rui- 


369 


nen  und  Untergang  zurückließ.  So  blieb  ihr  Name  durch  dä- 
monischen Haas  und  Liebe  gleich  berühmt,  dass  von  ihr  der 
Vers  des  alten  Dichters  gilt: 

„Durch  Hass  den  Feinden  und  durch  Huld  den 

Freunden 
Wird  Menschenleben  ruhmesvoll."  i*) 

§.  2.  Nach  den  allgemeinen  Vorführungen  wird  es  ge- 
stattet sein ,  auf  den  Mittelpunkt  unserer  Erläuterungen  vorzu- 
gehen. 

Indem  Jacob  Grimm  *•)  in  seiner  Mythologie  von  den 
prophetischen  Frauen  der  deutschen  und  nordischen  Sage  zu 
berichten  anfangen  will,  wirft  er  die  interessante  Frage  au^ 
warum  es  bloß  „ein  bedeutsamer  Zug"  des  altdeutschen  Hei- 
denthums  sei,  besonders  prophetischen  Frauen  als  einer  Art 
Halbgotter  zu  begegnen,  während  die  jüdische  und  christliche 
Ansicht  einen  Gegensatz  bildet;  denn  hier  sind  es  zumeist  Pro- 
pheten, Engel  und  Heilige,  auf  welche  die  verkündende  Kraft 
im  Auftrage  Gottes  zu  reden,  niedergelegt  ist.  Es  wäre  also 
die  Frage  zuerst  zu  erledigen,  worauf  die  besondere  Stellung 
der  Frauen  als  Zauberinnen  und  Prophetinnen  im  deutschen 
Alterthume  beruht. 

Die  Frage  erledigt  sich  wirklich  und  gründlich  nur  durch 
die  Erkenntniss  des  Gegensatzes,  den  das  Heidenthum  in  seiner 
Auffassung  im  Allgemeinen  zur  Offenbarungslehre  einnimmt. 

Das  Heidenthum  ist  großentheils  nichts  Anderes  als  eine 
Religion  der  Sprache^*).  Die  Sprache  fesselt  ursprünglich 
Gedanken  in  feste  Formen,  oder  sie  combiniert  diese  festen  For- 
men durch  neue  Gedanken  zu  constanten  Reihen.  Die  spre- 
chende Nachwelt  agiert  mit  Worten  und  Sätzen  wie  mit  Ver- 
steinerungen aus  verschiedenen  Schichten  der  Vorwelt.  Die 
Sprachforschung  versucht  aus  der  Erstarrung  das  ursprüngliche 
lebendige  Wesen  zu  entwickeln. 


U)  Euripid.  med.  809.  10. 

16)  Cap.  XVI:  Weise  Frauen  p.  369. 

16)  VgL  darüber  eines  weiteren  meine  Abhandlung:  Die  Wissenschaft 
und  die  Akademien  in  der  Denkschrift  der  Erf,  Akademie  der  Wissenschaften 
vom  19.  Juli  1854.    Abschnitt  I.  §.  4.  p.  XII  etc« 


370 


Das  Heidenthum  in  seiner  Totalität,  ob  Germanen,  Gelten 
oder  Griechen  angehörig,  besteht  in  derselben  Action  wie  die 
Sprache  und  durch  dieselbe.  Die  menschliche  Erkenntniss,  Er- 
fahrung, Erinnerung  und  Beobachtung  nach  den  unzahligen 
Seiten,  welche  das  Leben  der  Völker,  jedes  für  sich  bietet, 
jedes  nach  seiner  Eigenthümlichkeit  produciert,  jedes  im  Laufe 
der  Zeiten  steigend  und  wandelnd  gefunden  und  erhalten,  also 
der  Mensch  mit  seinem  menschlichen,  aber  nichts  als  mensch- 
lichen Intelligenzvermögen  —  das  ist  der  Inhalt  allen  Heiden- 
thums,  wo  auch  immer  seine  Heimath,  welches  auch  immer  sein 
Name  sei. 

Der  Begriff  ward  zum  Wort,  das  Wort  zum  constanten 
Wesen  und  zum  verkörperten  Genius;  die  psychologische  .Er- 
fahrung versteinert  sich  zum  Wort  und  erhebt  sich  in  den 
Himmel  als  verehrte  Gottheit.  Das  Heidenthum  ist  die  Reli- 
gion der  Sprache.  Sein  Himmel  ist  überall  mit  Worten,  fest- 
gewordenen Gefäßen  eines  flüssigen  Gedankens  bevölkert,  die 
durch  die  künstlerische  Phantasie  menschliche  Formen,  Häup- 
ter und  Leiber  erhielten. 

Menschen  aus  Ton  zu  kneten  oder  aus  Elfenbein  zu  bil- 
den haben  die  Menschen,  wie  Pygmalion  ohne  die  Götter  nie 
gekonnt.  Aber  die  Götter  selbst  haben  sich  die  Menschen 
künstlerisch  geschaffen.  Sie  gössen  den  Gedanken  in  die  Form 
der  Sprache  und  schufen  daraus  das  beliebige  Bild,  welches 
in  der  Seele  bewahrt  blieb.  Das  Griechische  Heidenthum  ging 
einen  Schritt  weiter.  Seine  Kunst  goss  diese  Götterbilder  und 
Statuen  der  Seele  in  Erz,  schuf  sie  zu  Marmor  und  übte  an 
ihnen  tausend  wunderbare  Künste.  Sie  malten  und  entwarfen 
aus  ihrer  Seele,  wo  es  lebte,  das  Götter-  oder  Genienbüd  und 
es  lebte  nicht  bloß  in  der  Seele  des  Künstlers  so,  sondern  im 
Geiste  des  Volkes,  dem  es  Genius  war.  Der  Geist  des  Volks 
war  der  Vorkünstler  gewesen,  welcher  aus  dem  Wort  und  Be- 
griff, wie  aus  einem  kalten  Steine  die  vielfachen  Gestalten  er- 
habener, übermenschlicher,  vorzeitlicher  Gottheiten  er8chu£ 

Die  Griechen  haben  außer  ihrer  Mythologie  eine  Kunst- 
wissenschaft. Die  erste  ist  die  Wissenschaft  der  starrgewor- 
denen menschlichen  Gedanken,  Reflexionen  und  Erinnerungen; 
die  zweite  die  Wissenschaft  der  in  Stein  und  Erz  und  Elfen- 
bein abgezeichneten  und  wiedergegebenen  Versteinerungen  der 
Seele.    Letztere  haben  bloß  Völker,  wie  Griechen  und  Romer 


371 


in  besonderem  außerordentlichem  Maße.  Erstere  hat  das  Hei- 
denthum  aller  Völker  nach  seinen  variierenden  Standpunkten. 

Das  Heidenthum  nmss  daher  Polytheismus  sein,  Vielgöt- 
terei, denn  es  entspricht  eben  der  Sprache,  die  auch  in  ihren 
einfachsten  Elementen  nicht  aus  einem  Worte  besteht.  Was 
der  Mensch  schafft  und  denkt  ist  immer  mannigfaltig,  weil  ver- 
einzelt; nur  was  Gott  ihn  gelehrt  ist  ein  einzig  umfassend  Sym- 
bol: es  ist  der  Name  des  ewigen  Gottes  selber. 

Das  altdeutsche  Heidenthum  —  das  neudeutsche  liegt  au- 
ßerhalb des  Ki*eises  unserer  Betrachtung  —  imd  die  Stellung 
der  Frauen  darin  bieten  dazu  auch  in  den  skizzenhaften  No- 
tizen, die  ich  anführe,  hinreichende  Belege.  Fast  alle  ihre  Er- 
fahrung",'Beobachtung,  Verehrung  der  Frauen  nach  den  ein- 
zelnen Zügen,  welche  das  Leben  hervorruft  und  diesem 
Mannig&ltigkeit  in  Reiz  und  Anmuth  geben,  haben  sie  zu 
lebendigen  Phantasiegestalten  aus  dem  Worte,  dessen  sie  sich 
bedienten,  herausgemeißelt.  Wie  durch  magische  Hand  eines 
Schwarzkünstlers  aus  irdenen  Geräthen  plötzlich  Blumen  sprie- 
ßen und  Vöglein  emporsteigen  —  so  fliegen  aus  den  schlichten 
Worten,  welche  den  einzelnen  Empfindungen  ihren  Ausdruck 
geben,  Genien  gen  Himmel,  begabt  mit  den  idealischen  Kräf- 
ten, von  denen  jene  Empfindungen  redeten.  Aus  der  Fülle 
jener  göttlich  gewordenen  menschlichen  Erkenntnisse,  wie  sie 
das  deutsche  Alterthum  bietet,  erkennen  wir  anderseitig  wieder 
die  Feinheit  und  Zartheit,  wie  die  tiefe  Kenntniss  des  ganzen 
weiblichen  Wesens,  welche  die  Alten  gegen  die  Frauen  be- 
obachteten. Meist  ist  uns  sogar  die  ideale  Eigenschaft  des 
zur  Göttin  gewordenen  Wortes  deutlicher  überliefert,  als  das 
Wort,  aus  welchem  sie  ward  —  wegen  des  urgrauen  Alter- 
thums,  in  welchem  die  Metamorphose  vorgegangen  ist«  Darum 
ist  auch  nicht  bloß  das  Heidenthum  die  Religion  der  Sprache, 
sondern  jedes  etymologisch  forschende  Sprachstudium  ist  auch 
eine  Wissenschaft  des  Heidenthums. 

Schon  an  einigen  Zügen,  wie  sie  uns  die  jüngere  Edda  von 
den  Asinnen,  den  weiblichen  Göttinnen  berichtet  mögen  wir 
diese  Weise  der  Schöpfung  erkennen.  Freia  hat  einen  sterb- 
lichen Menschen  zum  Gemahl,  Odur,  Othr,  Othar  genannt. 
Dieser  zog  in  fremde  ferne  Wege:  die  treue  Frau  weint  ihm 
nach  und  fahrt  zu  allen  Völkern,  um  den  Gemahl  zu  suchen. 
Daher  sie  verschiedene  Namen  trägt.    Es  ist  das  ein  dunkler 

Weimmr.  J*  Ih  24 


372 


Mythus,  der  offenbar  ZusammenhaDge  mit  dem  der  Isis,  der 
weiblichen  Gottheit  Ägyptens  bat,  die  den  Osiris,  den  verlor- 
nen ebenfalls  durch  alle  Welt  sucht.  >  ^)  Es  ist  auch  die  Namen- 
verwandtschafl  beider  Männer  ofienbar.  Freia  ist  aber  das 
Bild  der  Frau,  denn  dieses  bedeutet  ihr  Name  und  aus  diesem 
Namen  sind  die  schönsten  Bilder  ihrer  Mythen  entstanden, 
nicht,  wie  man  zu  meinen  pflegt,  aus  der  Freia  der  Name 
Frau.  Wie  hier  den  Schmerz  der  Trennung,  schildert  im 
Lied  der  alten  Edda  die  Freude  des  unerwarteten  Wieder- 
sehens treuer  Liebenden.  Swipdagr,  der  Verlobte  Menglod^s, 
ist  durch  das  Geschick  lang  von  ihr  ferngehalten. 

„Des  Geschickes  Willen,  sagt  er,  widersteht  Niemand,  wie 
leichtsinnig  es  auch  schalte.^  Unerkannt  kommt  er,  um  die 
Geliebte  zu  überraschen  und  stellt  er  den  Wächtern  des  Pa- 
lastes verfängliche  Fragen,  um  sich  von  der  Treue  der  Braot 
zu  überzeugen.  Er  erfährt  deren  treues  Herz  und  eilt  zur  Ge- 
liebten.    Diese  empfängt  ihn  mit  den  Worten: 

„'Willkommen  seist  Du!  mein  Wunsch  erfüllt  sich. 

Den  Gruß  begleite  der  Kussl 

Unversehenes  Schauen  beseligt  doppelt, 

Wo  rechte  Liebe  verlangt. 

Lange  saß  ich  auf  liebem  Berge 

Nach  Dir  schauend  Tag  und  Nacht: 

Nun  geschieht  was  ich  hoffte, 

Da  Du  heimgekehrt  bist, 

Süßer  Freund,  zu  meinem  Saal.'* 


17)  Schon  in  den  Wissenschaftlichen  Berichten  I,  2,  p.  118  not.  habe  ich 
darauf  hingedeutet.  Ohne  die  verschiedenen  Gedanken,  welche  die  mythischen 
Personen  Othr  und  Freya,  wie  Osiris  und  Isis  außerdem  umkleiden,  hier 
auflösen  zu  wollen,  dünkt  doch  der  Gegensatz  von  Mann  und  Frau,  Herr  und 
Herrin  in  beiden  erkannt  zu  werden.  In  Othr  möchte  allerdings  ein  Zusam- 
menhang mit  Osiris,  Sanscrit  ^ira,  aramäisch  aser,  lat.  herus  innerlich  klarer 
sein,  als  die  von  Grimm  (Myth.  858)  aufgestellte  Yermuthung.  Isis  habe  ich 
an  angeführtem  Orte  durch  das  hebr.  ischa ,  Frau ,  von  isch ,  der  Mann,  ge- 
deutet; diese  Deutung  unterstützt  die  Bemerkung  Horapollo*s  I,  3.  yyiytavroy 
d§  ßovlo/Lifyot  (ftiX(3(Xat  l<nyf  rovrictt  yvyatxa  ^tayQtufovct,  r^  cfi  ailr^ 
xal  r^y  S-idy  crj/naiyovffiM  Dass  diese  Deutungen  manchen  andern  in  alter 
Zeit  gegebenen  widersprechen ,  ist  bekannt.  Aber  diese  Zufalls  -  Erklärungen, 
wie  die  Plutarchs  von  Isis  als  nalte",  weil  as  alt  heiße,  sind  wenig  geeignet, 
große  Autorität  zu  verdienen.  Von  Frau  in  der  Bedeutung  domina,  ähnlich 
wie  das  griech.  yvyrj  so  oft  verwandt  wird,  hat  Grimm  überzeugend  gehan- 
delt (Myth.  276). 


873 


Menglod  ist  ifarem  Namen  und  Wesen  nach  das  Symbol  der 
Jungfräulichkeit. 

Die  losende  Kraft  der  rauhen  und  starren  Herzen  in  Män- 
nern und  Frauen  ist  die  Liebe;  siafhi  heißt  sie  in  uralter 
Sprache;  drum  gibt  es  auch  eine  andere  Asin  mit  Namen 
Siöfn^*);  sie  sucht,  sagt  die  Edda,  die  Gemüther  der  Men- 
schen zärtlich  zu  stimmen.  An  Hindernissen,  welche  Liebenden 
in  den  Weg  gelegt  werden,  hat  es  nie  gefehlt;  eine  erhabene 
Kraft  ist  es,  welche  sie  beseitigend  die  Verbindung  erlaubt. 
Daher  eine  andere  Gottin  Lofn,  deren  Name  noch  in  unserem 
Urlaub,  Erlauben  erkennbar  ist.  Aber  Männer  und  Frauen 
sind  nicht  immer  so  treu,  wie  sie  sollten  und  die  Eide,  die  sie 
sich  schworen,  brechen  schneller  wie  Glas.  Da  ist  die  Asin' 
Wara,  welche  diese  wahrnimmt  und  an  den  Sündern  rächt. 
Die  schätzende  Asin  heißt  Syn ,  denn  syn  >  ^)  ist  Bewahrhei- 
tung und  Vertheidigung;  die  aufrecht  erhaltende  ist  Hlin,  denn 


18)  Bei  Grimm  Myth.  286  (Vgl.  Dieffenbach  goth.  Lex.  2.  203)  findet  man 
die  bekannten  altnordischen  Wortformen  verzeichnet,  die  noch  zn  diesem  Na- 
men gehören,  sift  amicus,  (amasins)  sift  Verwandter,  wozu  dann  das  goth. 
sibja,  althoehd.  sippa,  angels.  sibb  und  si^an  etc.  zn  stellen  sind.  Grimm  lei- 
tet davon  sif,  die  Gemahlin  des  Thor,  ab.  Sprachvergleichend  wichtig  ist; 
dass  man  in  siafini,  sibja  ](ein  anderes  Wort  zu  erkennen  hat,  als  die  semi- 
tischen Sprachen  in  ahab,  verstärkt  ahabhab,  arabisch  und  chaldäisch  mit  dem 
Spiritus  asper  ehab,  vgl.  bebr.  chabab  besitzen.  Die  germanischen  Sprachen 
haben  den  Anlaut  zum  s  verschärft  in  ähnlichem  Verhältniss,  wie  das  lat 
Septem,  sieben,  zu  Inrä^  simplex  zu  aTtXovg  sich  verhält.  Eine  Abwandlung 
von  ahab  ist  agab,  was  zn  dyenata  gestellt  ist.  Daraus  geht  hervor,  dass  die 
Vermuthung  von  Benfey  (griech.  Lex.  1,  542)  der  dyanan  als  ein  dya-ffnämy 
dya^ndCofiat  denkt,  noch  nicht  ganz  sicher  ist,  aber  in  aifTtaCo/nat  ist  aller- 
dings dieser  s-Laut,  der  in  sibja  erscheint,  schon  vorhanden.  Wie  überall, 
folgen  wir  in  den  Anfuhrungen  aus  der  altern  und  jungem  Edda  der  schonen 
Übersetzung  Simrocks.  Die  obige  Stelle  steht  p.  263.  Vom  Texte  der  jün- 
geren Edda  ist  mir  leider  im  Augenblicke  nur  der  des  Resenius  (Havniae 
1665.)  zur  Hand.     cf.  Fab.  30. 

19)  Syn  ist  die  bewahrheitende  Genie,  die  dadurch,  dass  sie  als  wahr 
bestätigt,  was  die  Menschen  sagen,  sie  schützt.  Dies  erg.bt  sich  sehr  schon 
ans  dem  Gebrauche  in  der  Gothischen  Bibelübersetzung,  wo  sunis,  sunja  das 
hebräische  emeth  trefflich  wiedergeben.  Es  ist  daher  mit  sinnigem  Verständ- 
niss  statt  des  Griechischen  dtiuuovyj  dnoXoyia  wiedergegeben  worden.  So  Lu- 
cas 7,  35:  99x0}  idtnatt^  17  ifoqfia<*f  wo  man  zu  übersetzen  pflegt:  „und  es 
wurde  gerechtfertigt",  wo  es  richtiger  dem  Sinne  nach  heißt:  „und  es  wurde 
für  wahr  befunden.^  So  auch  2.  Corinther  7,  11,  wo  sunjons  viel  tiefer  als 
apologia  greift 

24» 


374 


hleinir  ist  anlehnen.  Die  Edda  gibt  vielfach  Zeugniss  von  der 
genauen  Erfahrung,  welche  die  alten  nordischen  Volker  von 
dem  dämonischen  Zauber  der  Frauen  gemacht  haben.  »Ver- 
derben stiften  (singt  ein  Alter)  einem  Krieger  sah  ich  Übeln  Wei- 
bes Wort;  die  giftige  Zunge  gab  ihm  den  Tod,  nicht  seine 
eigene  Schuld."  ^^)  Ein  Anderer  ruft:  „Mädchenreden  vertraue 
kein  Mann,  noch  der  Weiber  Worten.  Auf  geschwungenem 
Rad  ward  ihr  Herz  geschaflFen,  trug  es  in  der  Brust  verbor- 
gen." **)  „Du  warst  die  schädlichste  Zauberin  (redet  ein  An- 
derer eine  mythische  Dame  an)  aber  bei  Allvater  allvermogend; 
man  sah  die  Erhabnen  Alle  sich  raufen,  verwünschtes  Weib, 
um  Deinetwillen."  **)  Dem  Sigurd  wird  folgender  Rath  ge- 
geben: „Muntere  Augen  braucht  ein  Menschensohn,  wo  es  kommt 
zum  heißen  Kampf.  Böse  Weiber  sitzen  oft  am  Wege,  die 
Schwerdt  und  Sinn  betäuben."  „Wo  Du  schöne  Frauen  sitzen 
siehst  auf  Bänken,  lass  Weiberschonheit  Dir  den  Schlaf  nioht 
rauben."**)  Sie  haben  deshalb  diesen  dämonischen  Zauber 
symbolisiert,  in  Gestalt  übersetzt  und  Zauberinnen  für  ihre  Gei- 
sterwelt, nicht  bloß  für  diese  Welt  geschaffen.  Eine  solche 
alte  Zauberin  heißt  dann  Volva,  Völe  (Vala)  *♦)  von  dem  alt- 
nordischen v6],  Kunst,  Zauber,  woher  sich  auch  der  Name  des 
aken  nordischen  Künstlers  Wieland  herschreibt,  was  Künst- 
ler, Zauberer  bedeutet.  Eine  Wole  ist  es,  von  der  das  älteste 
und  dunkelste  Stück  der  alten  Edda  handelt,  Voluspa  genannt 
und  von  der  es  darin  heißt:  „wohin  sie  kam,  wusste  sie  Zau- 
ber; Sudkunst  (Zauberkunst)  konnte  sie,  übte  sie;  stets  war 
sie  die  Wonne  übler  Weiber."  ••)  Dem  Gotte  Odin  wird  vor- 
geworfen, „von  Haus  zu  Haus  als  Wöla  vermummter  Zauberer 
trügst  Du   das    Menschenvolk,   das    dünkt   mich   eines   Argen 


20)  In  Loddfafhirs  Lied,  bei  Simrock  p.  89,  Edda  Saemandar  hina  Üroda 
ed.  Rask  p.  25. 

21)  Im  Havamal  ibid.  p.  85.    Rask  p.  20.  n.  85. 

22)  Im  ersten  Liede  von  Helgi  dem  Hundingstodter  Strophe  38,  antnl 
amatlig  at  alfaudr  beißt  sie;  statt  „Terwettert*'  hatten  die  Brüder  Grimm 
„svevis  kona**  mit  „trugweise**  wiedergegeben.     Lieder  der  alten  Edda  p.  74. 

23)  Einer  der  Rathschläge,  den  die  Waikyrie  Signrdrifa  dem  Sigord 
selbst  gibt  Str.  27.  28.  bei  Simrock  p.  172. 

24)  Über  die  Formen  von  .viel*"  cf.  Grimm  Myth.  350  und  Wissensohaft- 
liche  Berichte  I,  1,  p.  43. 

25)  Strophe  26  bei  Simrock  p.  6.    Edda  Saem.  Rask  p.  4.  n.  25. 


375 


Art.^*^)  Solche  Zauberweiber  getodtet  zu  haben,  rühmt  sich 
der  stärkste  der  Götter  Thor  zum  Ruhme  au.  Aber  die  Weise 
des  Zaubers,  welchen  sie  übten,  ist  der  Gegenstand  der  tief- 
sten Beobachtung.  Sie  zaubern  mit  dem  Blick,  mit  dem  Lä- 
cheln des  Mundes.  Wenn  eine  reizende  Jungfrau  lacht,  *^) 
heißt  es  in  alten  Sagen  und  Liedern,  zaubert  sie  Rosen  in 
ihre  Schürze,  **)  die  von  ihren  Lippen  fallen,  eine  Zauberei, 
die  auch  in  schonen  Versen  in  der  neuen  Dichtung  von  Louise 
V.  Plonnies.  Mariken  v.  Nymwegen  wiedergegeben  ist.  *•)  Sie 
zaubern  mit  dem  Kuss.  Ein  Kuss  macht  Alles  vergessen  oder 
schenkt  die  Erinnerung  wieder.  Er  ist  der  Zaubertrank,  wel- 
chen weibliche  Genien  den  Menschen  geben,  die  sie  lieben. 
Sie  zaubern  durch  die  Pflege,  die  sie  den  Männern  zu  Theil 
werden  lassen,  und  die  sie  im  Zubereiten  von  Speisen  wie  in 
der  Mischung  von  Salben  für  den  wunden  Korper  bekunden. 

Aber  mehr  als  durch  Alles  zaubern  sie  durch  die  Sprache: 
Beredtsamkeit  ist,  wie  die  Sage  zeigt,  ein  uraltes  Erbtheil  der 
Frauen,  dem  in  ihren  Erfolgen  und  Einflüssen  gewiss  der  größte 


26)  Loki  wirft    es  ihm  vor  in    dem  merkwürdigen  Oegisdrecka   bei  Sim- 
rock  p.  55.    Loka-Glepsa  ed.  Rask  p.  63.  n.  24. 

27)  Im  Harbardslied  ib.  p.  42.  43.  ed.  Rask  p.  78. 

28)  Grimm  Mythol.  1054.  55. 

29)  Gesang  6.  p.  98  (Berlin  1853): 

„Und  wenn  sie  lächelt  —  o  wanderbar! 

Da  zittern  Lichter  im  goldnen  Haar, 

Da  blitzen  Strahlen  im  feuchten  Aug*, 

Vom  süßen  Munde  strömt  Rosenhauch, 

Und  in  der  Wange  erhöhtem  Schein 

Da  zieht  als  Sieger  die  Liebe  eini 

Und  wo  ihr  Lächeln  so  sonnig  glüht, 

Ist  eine  Rose  voll  Glanz  erblüht. 

Die  Rose  ringt  sich  vom  Frühling  los 

Und  fallt  der  Schönsten  wohl  in  den  Schooß.' 

Während  der  h.  Angelas  predigte,  fielen  ihm  Rosen  und  Lilien  aus  dem  Munde. 
Schon  von  Radowitz  notirt  in  der  Iconographie  der  Heiligen  Ges.  Schriften  1.  22. 
Der  Biancabella  im  zweiten  Märchen  des  Straparola  (übers.  ▼.  Schmidt 
p.  29.  cf.  p.  283)  fallen  Perlen  und  Edelsteine  vom  Haupt;  aus  ihren  weißen 
Händen  gehen  Rosen  und  Veilchen  und  Wohlgerüche  hervor.  Ahnliches  er- 
eignet den  ausgesetzten  Kindern  des  Königs  Lancelpt  (16.  p.  51).  In  der  Er- 
zählung in  Gobarts  Collection  of  populär  stories  2.  5,  die  ich  nur  aus  Stra- 
parola kenne,  fallen  die  Edelsteine  und  Blumen  dem  Mädchen  aus  dem  Munde« 


376 


Theil  beizumessen  ist.  Mit  ihr,  heißt  es,  überreden  sie,  schmei- 
cheln sie,  bestechen  sie  das  gern  glaubende  Herz,  veriheidigen 
sie  und  verwunden  sie  bis  zum  Tode.  Zu  sprechen  ist  in  grauen 
Zeiten  eine  große  Kunst  gewesen  und  als  solche  betrachtet 
worden.  Als  die  Zustande  der  Gesellschaft  noch  so  geordnet 
waren,  dass  die  Männer  einer  mehr  nach  außen  gerichteten 
Thätigkeit,  Streit  und  Waffenübung  oblagen,  als  der  nach  innen 
zu  waltenden  Arbeit  des  Denkens  und  Schreibens,  war  auch 
das  Kedenkönnen  eine  wunderbare  Ej-aft,  eine  große  Tugend. 
Es  waren  noch  nicht  alle  äußerlichen  Kedeformen  so  geläufig, 
dass  man  hätte  reden  können,  ohne  zu  denken;  wer  sprach, 
musste  denken  und  reden  zugleich,  denken  und  verständlich 
sein  in  einem  Zuge,  und  das  ist  in  allen  Zeiten  nicht  leicht  ge- 
wesen. Aber  den  Frauen,  wenn  sie  eine  innere  Bewegung 
trieb,  floss  zu  allen  Zeiten  die  Rede  vom  Munde;  wie  aus  der 
Tiefe  eines  Brunnens  die  silberne  Quelle,  so  strömten  ans  dem 
leidenschaftlich  erregten  Herzen  der  Frau  die  erfolgreichen 
Worte.  Je  höher  das  Redenkönnen  im  Werthe  stand,  desto 
mehr  erschien  diese  Beredtsamkeit  der  Frauen  ein  denkwürdig 
Zeichen  weiblichen  Elementes,  ein  deutlich  Zeiehen  weiblichen 
Zaubers.  Denn  Erfolg  sichert  den  Zauber.  Und  gewiss  gab 
es  nur  seltene  Fälle,  in  denen  die  Kraft  der  Frauenrede  ohne 
Erfolg  gewesen  wäre.  Die  Zauberin  Wöle  wird  daher  in  der 
Edda  die  „wohlredende^  genannt.  Die  bösen  Frauen  betrugen 
die  Männer  nach  der  Sage  mit  der  Zunge.  „Einem  redenden 
Weibe  soll  man  so  wenig  trauen,  wie  einem  lachenden  Himmel, 
einem  lustigen  Herrn  und  einem  trauernden  Kleid."  •  ®)  Aber 
auch  ein  cdeles  wissendes  Weib  ward  geschildert  mit  den  Wor- 
ten: „Sie  wird  Runen  lehren  alle  die  Menschen,  die  wissen 
möchten,  dazu  in  allen  Zungen  reden  und  heilende  Salben  ken- 
nen.** 3')  Denn  Reden  ist  der  alten  Anschauung  so  viel  wie 
wissen,  denn  nur  wer  weiß,  ist  der  Sprache  mächtig.  Dies 
gilt  aber  besonders  von  dem  Wissen,  welches  in  einem  tie- 
fen Blick,  dessen  sich  kein  anderes  Alterthum  in  dem  Maße 
rühmen  kann,  das  deutsche  Alterthum  den  Frauen  übertragen. 
Es  ist  das  Wissen,  welches  ein  Vorherwissen,  ein  Schauen, 
ein  Ahnen,  Verkünden  bedeutet.     Die  Beredtsamkeit  der  Frauen 


30)  Im  Havamal  Strophe  86.  p.  85,  86.  ed.  Rask  p.  21, 

31)  In  Gripirs  WeUsagung  p.  150.  str.  17.  ed.  lUsk  p.  174. 


377 


ist  an  und  für  eich  immer  als  ein  wunderbares,  unerklärliches 
Wesen,  der  innersten  Natur  angehörig  und  entsprossen  be- 
trachtet worden.  Sie  ist  kein  eigentlich  Resultat  des  Reflec- 
tierens  und  Nachdenkens,  der  gelehrten  Meditation;  sie  spricht 
aus  dem  geheimnissvollen  Quell  innerer  Erregung  und  f&hlt 
und  trifft  die  individuelle  Eigenthümlichkeit,  welche  ihr  gegen- 
über steht.  Es  verbindet  sich  damit  ein  anderer  wundetbarer 
psychologischer  Zug  des  Frauenwesens,  es  ist  der  eines  ah- 
nungsvollen Wesens,  das  selbst  unbewusst  auf  den  Gebieten, 
wo  ihre  Seele  erregt  ist,  sieht  und  erkennt,  ohne  die  Er- 
kenntniss  deuten  und  erläufern  zu  können.  Wie  von  einem 
Genius  zugeflüstert,  erkennt  der  Frauen  Sinn,  da  wo  ihre  ganze 
Natur  in  Wallung  ist,  was  in  andern  Herzen  vorgeht,  durch- 
bricht in  blitzähnlicher  Ahnung  Formen  und  Schranken;  sie 
wissen,  ohne  zu  wissen,  woher  und  warum,  sie  entscheiden  von 
einem  innem  Geiste  getrieben,  sie  vernehmen,  wie  Göthe^s 
Iphigenie  sagt,  „die  Stimme  der  Götter,  die  durch  ihr  Herz 
reden.^^  Es  offenbart  sich  dieser  Zug  in  aller  Vielheit  durch 
die  tausend  Verbältnisse,  in  denen  ein  Mädchen,  eine  Frau, 
eine  Mutter,  von  innerer  Bewegung  ergriffen,  hoffit  und  fürchtet, 
kämpft  und  sorgt.  Von  dem  dämonischen  Wesen,  das  die 
erfasst,  wenn  sie  von  den  Geschicken  in  die  wallende  Fluth 
der  Leidenschaften  geschleudert  werden,  ist  dies  nur  ein  Theil. 
Die  dunkle  Ahnung,  welche  ihnen  aus  der  Seele  steigt,  treibt^ 
sie  zum  herrUchen  Opfer,  zum  bewunderungsvollen  Kampf,  aber 
auch  zur  grauenvollen  unsäglichen  That.  Diesem  Dämon  ihrer 
Seele  sind  sie  unterworfen;  ihm  folgen  sie  mit  blinder  Hast  — 
dann  dringt,  wie  Thoas  sagt,  „vergebens  treu  und  mächtig 
der  Überredung  goldne  Zunge  auf  sie  los.^^  Das  firiedliche 
Abbild  dieses  innem  Gesichtes  in  den  eingedämmten  Verhält- 
nissen unseres  Lebens  ist  der  Takt,  der  Frauen  schönste 
Zierde,  von  dem  die  Prinzessin  in  Göthe^s  Tasso  mit  Recht 
verlangt,  „dass  man  bei  edlen  Frauen  anfragen  solle,  was  sich 
ziemt^^  Das  ganze  Frauenleben  ruht  auf  der  Concentration 
ihres  Wesens  in  dem,  was  ihr  Herz  besitzt  oder  verlangt; 
aus  dieser,  wie  aus  aller  Concentration  dringt  auch  ohbö  Be- 
lege und  Beweise  ein  sehender  Blick  und  eine  ahnungsvolle 
Überzeugung  heraus.  Aber  eben  da  besonders,  wo  die  Seele 
der  Frau  in  einer  besonderen  Wallung,  Aufregung,  edlem  odef 
unedlem  Rausch  der  Leidenschaft  sich  befindet,  bricht  das  Di-» 


378 


monische,  welches  iu  allen  Frauenherzen  schlummert,  durch; 
dann  zuckt  die  Sprache  wie  eine  züngelnde  Flamme  dahin 
und  wie  Funken  springen  aus  ihr  die  seherhaft  in  das  Unbe- 
kannte treffende  Pfeile,  welche  die  entfesselte  Anmuth  hinaus- 
sendet.  Es  ist  diese  Seelenerregung,  dieses  Außersichselbstsein 
oder  Werden,  welches  nach  den  verschiedenen  Individualitäten 
die  Frauen  zu  Seherinnen  macht  und  welche  das  Alterthum 
als  besondere  Erscheinung  menschlicher  Divination  und  Vor- 
hersagekunst aufgefasst  hat.  Die  Griechen  stellten  diese,  aus 
einem  besondem  Seelenzustande  hervorgehende  Sehergabe  der 
aus  vernünftiger  Ueberzeugung  sjtrechenden  Erfahrung  gegen- 
über. So  lehrt  ein  sonst  dunkler  Mythus  vom  Wettkampfe 
des  Sohnes  der  Manto  "^)  mit  dem  Kalchas.  Manto,  eine 
Seherin,  hat  ihren  Namen,  wie  mantis,  der  Seher,  von  dem 
griech.  mainomai,  was  diesen  Zustand  des  Außersichseins ,  des 
leidenschaftlichen  Erregtseins,  des  Rasens  bedeutet.  Ihr  Sohn 
steht  dem  Kalchas,  dem  besonnenen  Manne  gegenüber,  der  sei- 
nen Namen  von  dem  griech.  kalchaino  hat,  was  in  der  Brust 
überlegen,  bedenken,  sorgen  bedeutet '3)  Aber  der  Manie 
Spross  besiegt  den  Kalchas,  der  wilde  Enthusiasmus  den  sin- 
nenden Verstand.  Manto  wird  als  die  Tochter  des  Teiresias 
ausgegeben,  von  dem  die  Sage  geht,  er  habe,  nachdem  er  blind 
geworden  war,  die  Weissagungsfahigkeit  erhalten.  Aus  der 
Blindheit  die  Weissagung  ist  eben  diese  aus  der  Seele  ihr 
selbst   unbewusst   brechende  Rede,    in    welcher    die   Alten  die 


32)  Dieser  Sohn  der  Manto  ist  Mopsiis;  sein  Vater  soll  Apollo  oder 
Rhanius  gewesen  sein.  Die  alten  Sagen  erwähnen  noch  einen  andern  Mopsns, 
aber  auch  dieser  war  ein  großer  Seher.  Die  Heimath  seines  Wesens  ist,  wie 
alle  Spuren  ausweisen,  Kleinasien.  Seinen  Namen  aus  dem  Griechischen 
zu  deuten,  möchte  daher  vergeblich  sein.  Aber  in  die  Augen  springend  ist 
der  Vergleich  mit  dem  hebr.  mopeth  (mofez),  das  Wunder,  Zeichen;  An- 
sehe mopeth  sind  Leute,  die  Zeichen  schauen,  Auguren,  teratoscopi.  Dies 
ist  um  so  wahrscheinlicher,  als  Teiresias,  sein  Großyater,  wohl  mit  tigttsy  was 
griechisch  dasselbe  heißt,  verbunden  werden  kann.  Dieses  tt(itts  vergleicht 
man  mit  Recht  zu  tttQogy  Stern,  Licht  und  auch  mopeth  hat  Gesenius  ähnlich 
zu  entwickeln  versucht.  Das  Wunder  ist  ein  sichtbares,  allen  gläniend  er- 
kenntliches Zeichen.  Den  Sohn  der  Manto,  der  Seherin,  als  das  Wunder 
zu  denken,  ist  gewiss  ein  sinniger  Mythus. 

33)  Hesychius  hat:  ^jXctX^aiyu^  ragattttHy  no^vQHy  <niyttj  if>QomiCih 
äx^fTM^^  etc.  Die  Ableitung  des  Kalchas  von  diesem  Worte  schon  beim 
Eustatins. 


379 


DiTUiatioii  symbolisierten  und  constant  festhielten.  Dem  blin- 
den Teiresias  steht  der  Ausdruck  9,  der  Seh  er  ^,  wie  ihn  die 
Bibel  überliefert,  treffend  entgegen.  '^) 

Die  altdeutsche  Anschauung  hat  mit  tiefem  Zuge  dies  fast 
nur  auf  Frauen  übertragen.  Ihre  weisen  prophetischen  Frauen 
nennt  sie  sp&konor  d.  h.  sprechende  Frauen,  von  einem  Stamme 
der  noch  ganz  deutlich  im  Englischen  speak  vorhanden  ist.  **) 
So  hat  auch  die  biblische  Debora  von  Dabar,  reden  ihren  Na- 
men, s^)    Das  lateinische  vates  ist  das  griechische  phates,  der 


34)  1.  Sam.  9.  9.  heißt  es:  „Denn  den  man  jetzt  Nabi  nannte,  hieß  man 
damals  den  Seher*',  den  Mann,  der  Gesichte  hatte.  In  Nabi  allerdings  scheint 
sprachlich  dem  Begriffe  des  /uayrtg  näher  getreten,  wie  der  Gebrauch  meh- 
rerer Stellen,  so  namentlich  Jerem.  29.  26.  zeigt.  Aber  ich  halte  naba  far 
dasselbe  semitisch  gestaltete  Wort  wie  inny.  Für  den  Kundigen  ist  gewiss, 
dass  das  semitische  n  oft  mit  i  und  e  am  Anfange  wechselt  (Jazab,  nazab; 
naah,  jaah)  oder  mit  dem  Vocal  umgeschoben  wird.  Wie  intty  nur  Dichter, 
das  begeisterte  Reden  und  die  Rede  überhaupt  bezeichnet,  so  auch  naba  und 
nabi.  Nabi  war  nicht  bloß  der  begeisterte  Weissager,  sondern  überhaupt 
der  Ausleger  und  Redner,  der  die  Sprache  in  seiner  Gewalt  hatte,  um  zu  ver- 
iLÜnden,  was  er  in  der  Tiefe  seiner  Seele  von  Gott  oder  von  Anderen  erfah- 
ren. Hiedurch  wird  besonders  Exod.  7.  1.  deutlich,  wo  Gott  die  Stellung 
Mosis  zu  Pharao  mit  der  vergleicht,  welche  Er  sonst  zur  Welt  einnimmt. 
Sonst  ist  Moses  der  Yerkünder  Gottes.  Hier  dem  Pharao  gegenüber  soll 
Moses  gleichsam  Gott  sein,  d.  h.  der  die  Gedanken  mittheilt,  Aharon  aber 
der  Verkünder,  Ausleger  und  Redner. 

Diese  Erläuterung  von  der  Identität  des  prophetischen  Wissens  oder 
Dichtens  und  Redens  in  naba  wie  in  Itthk   hilft  die  folgende  Note  einleiten. 

35)  späkonor  kommt  von  altnord.  späkr,  weise,  alth.  spahi ,  was  man  mit 
Unrecht,  wie  auch  Massmann,  Grimm  folgend,  bei  Graff,  Althochd«  Sprach- 
schatz 6.  32.  Anm.  thut,  zu  spähen  ,  speculari  stellt.  Es  sind  die  Spruch 
sprechenden  Frauen,  die  Weisen.  Noch  Angelsächs.  heißt  sprechen  spre- 
can  und  specan,  alth.  spehhan  und  sprehan.  Volksthümlich  ist  bei  Schmeller 
spacht,  spächten;  cf.  Graff  6.  369  und  vieles  andere  bei  Dieffenbach  Goth* 
Lex,  1.  325.  Möglich,  daß  man  bei  diesen  Modulationen  euphonischen  Rück- 
sichten gefolgt  ist.  Aber  die  Spruchsprechenden  waren  eben  die  weisen  und 
klugen  Frauen.  Daher  aus  sprechend  der  Begriff  kundig  ward,  so  dass  alth. 
ein  redospähi,  rvdekundig,  vorkommt. 

36)  Diese  Ableitung  ist  offenbar  sinngemäßer  als  die  von  „Biene**,  die 
man  gewöhnlich  annimmt.  Damit  ist  nicht  gesagt,  dass  ein  Frauenname  im 
Sinne  von  melitta  nicht  annehmbar  gewesen  wäre,  aber  die  Wichtigkeit  des 
«Biene^  der  melitta  für  das  Orakelwesen  ist  überall  aus  der  sprachlichen 
Deutung  ihres  Namens  (melos)  abzuleiten.  Benfey  (gr.  Lex.  2.  63*  unten) 
nimmt  vates  zu  einem  Sanskritstamme  katha  für  vatha,  der  sagen  heiße.  Das 
würde  in  der  Sache  dasselbe  sein* 


380 


Redende,  d.  h.  der  Verkündende.  In  der  strömenden  Macht 
der  Rede  fand  man  die  Kraft  einer  tiefen  Überzengang  imd 
Wahrheit.  Denn  nicht  bloß  die  schmeichlerisch  überredende 
Kraft  ist  von  dämonischer  Wirkung  der  Zauberei;  auch  die 
dunkele  aus  dunkeler  Unklarheit  auf  besondere  Erregung  her* 
vorbrechende  Spruchweisheit.  Zauberinnen  sind  es  daher,  wel- 
che mit  dunkelen  Sprüchen  besprechen,  wie  Prophetumen 
und  Orakel  in  dunkelen  Sätzen  verkünden.  Diese  dunkelen 
Gedanken  erscheinen  in  poetischer  Form,  denn  die  Poesie  ist 
die  Sprache  dieser  Begeisterung,  dieses  Seelenenthusiasmus,  der 
mächtiger  als  der  bewusste  Wille  zum  Leben  drängt.  Der 
Poet  ist  der  Verkünder,  die  wissende  Frau  die  Zauberin.  Da- 
her nennen  die  Alten,  was  wir  besprechen  nennen,  besingen 
aeidein,  incantare,  althochdeutsch  galstar'^);  daher  vriedenim 
die  älteste  Poesie,  reden,  epein,  das  Gedicht  ein  Epos;  daher 
die  alte  romische  Verkünderin  Carmenta  von  Carmen,  das  Lied. 
Daher  finden  sich  auch  in  den  Vorstellungen  der  alten  Deut- 
schen von  den  dämonischen  Frauen,  in  welchen  sie  das  dämo- 
nische Wesen  des  weiblichen  Geschlechts  symbolisiert  haben, 
alles    dies  zusammen.     Die  Schicksalsgöttinnen  '*)   der  Alten, 


37)  Grimm  Myth.  1173. 

38)  Grimm  Mythol.  376  sagt:  ..Norn  (parca)  hat  sich  bisher  in  keinem 
andern  Dialekt  aufgefunden,  gehört  jedoch  ohne  Zweifel  echtdentscher  Wnrael 
an.*  Nichtsdestominder  erlauben  wir  uns  daran  zu  zweifeln  and  nom  (nor-n 
wie  dor~n)  für  das  griechische  /aoTIq«  zu  halten.  Der  Übergang  von  m  in 
n  ist  bekannt  genug.  So  erklärt  sich,  woran  man  bisher  Zweifel  zu  haben 
schien,  althochd.  nunna,  angels.  nunne,  die  Nonne,  aus  dem  griech.  fUr^ff 
/uoyfiy  fAovkog,  Denn  ich  glaube  nicht,  dass  die  Anfahrungen  bei  Da  Gange, 
wonach  nonnus  und  nonna  im  mittelalterlichen  Latein  ein  Aasdrnek  der  Ehr- 
furcht sind,  im  hohem  Sinn  wie  Vater  und  Mutter,  der  sich  in  der  Borna- 
nischen  Sprache  als  ital.  nonno  bewahrt  hat,  dazu  veranlassen  können,  einer 
andern  Meinung  zu  huldigen.  Denn  das  Wort  erscheint  erst  in  der  christ- 
lichen Zeit  und  ist  nur  durch  christliche  Anwendung  bekannt.  Die  iltetto 
Erwähnung  des  Wortes  bei  Hieronymus,  wo  es  heißt:  „quia  maritornm  ez- 
pertiD  dominatum  viduitatis  praeferunt  libertatcm,  castae  yocantar  et  aoa- 
nae'  deutet  Yielmehr  schon  darauf  hin,  dass  der  Ansdrnck  der  Bhrftircht, 
welchen  das  Volk  hineingelegt,  in  der  religiösen  Bewunderung  Tor  denen, 
welche  das  Gelübde  der  Jungfräulichkeit  oder  Keuschheit  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten des  Christenthums  abgelegt  hatten,  seine  Warzel  hat.  Das  Wesen 
einer  Mönchin  imponierte,  wie  das  eines  Einsiedlers  und  ihre  NauMn  worden 
der  Begriff  von  Ehrwürdigkeit,  wie  man  in  späteren  Zeiten  ^Bruder  nnd 
Schwester^  verwandte.     Dem  Volke   war  dieser   Übergang  von  m  in  n  ge* 


381 


die  Nomen,  sind  aach  poetische  Frauen  und  haben  den  Bei- 
namen quidr,  redend;  wie  fatum  von  fari  reden;  denn  nach 
dem  UrbegrifF  des  Redens  ist  Wort  und  Wahrheit  dasselbe. 
Was  gesprochen  ist,  ist  wahr;  daher  sind  die  Redenden  die 
Wahrheit  verkündenden  und  die,  welche  das  Schicksal  ewig  in 
Händen  halten  und  beschließen,  werden  durch  Redende  be- 
sieichnet.  Aus  diesem  Ghrunde  ist  der  Nome  der  Zukunft  in 
der  alten  Sage  ein  Brunnen  beigelegt  Ein  solcher  ist  der  Be<* 
sits  derer,  die  in  die  Zukunft  sehen.  '')  Wie  aus  dunkler  Tiefe 
des  Brunnens  der  Quell,  so  sprudelt  dem  Kundigen  das  Wort  aus 
der  verborgenen  Zukunft.  Der  weise  Mimer,  der  nichts  ist, 
als  das  personificierte  Gedächtniss  (memoria),  hat  einen  Brunnen 
des  Wissens;  bei  ihm  hat  Odin,  der  höchste  der  Gotter,  für 
einen  Trank  daraus  sein  Auge,  d.  i.  die  Sonne,  die  sich  wie- 
derspiegelt, versetzt.    Der  alles  wissende  Wieland  wird  darum 


wohnlich.  So  sagt  Diez  (Etym.  Wörterb.  der  Roman.  Spr.  p.  237),  indem 
er  das  roman.  nespola  nespera,  nefle  vom  lat.  mespilam  mispel  richtig  ab- 
leitet, wozu  auch  althochd.  nespil  gehöre,  ,,e8  sei  durch  den  gemein- 
romanischen Übergang"  des  m  in  n  geschehen.  Als  solche  Volkswaodelungen 
erklären  sich  auch  die  von  Salmasius  (Exercit.  Plinianae  824.  b)  beigebrachten 
Beispiele  von  /unoin^oy  and  ytToirnoy  etc.  In  einer  Stelle  des  Talmuds,  die 
anderswo  näher  zu  erläutern  ist,  steht  ein  bisher  unerklärtes  Wort  nucli  bes- 
ser uncli.  Es  ist  nichts  als  das  lateinische  amiculum;  n  steht  für  m. 
Ebenso  habe  ich  bereits  (Mag.  Alterth.  p.  268)  nachgewiesen,  dass  kimmeria 
im  Talmud,  also  im  Volksausdrucke  der  Zeit  kineria  genannt  ward.  Arabisch 
heißt  onphak,  was  griechisch  S/uq-ajucy  genannt  ist.  In  den  Wissenschaftl. 
Berichten  I  (2.  3.  p.  213.  Anm.)  ist  gothisch  hnasqvus  zu  griechisch  fudaxog 
gestellt.  Von  sprachlicher  Seite  kann  also  keine  Schwierigkeit  dagegen 
erhoben  werden,  dass  in  nor-n  das  griechische  moira  vorhanden  sei.  Eine 
andere  aber  gibt  es  nicht.  Denn  die  ganze  Ausbildung  der  drei  Nomen, 
wie  es  drei  Mören  gibt,  ruht  auf  ähnlichen  Gedanken,  was  sich  selbst  in  Ein- 
/.elnheiten  nicht  verleugnet.  Auch  die  Mören,  wie  die  Hymne  an  Merkur  zeigt, 
sind  weissagende  Jungfrauen.  Wie  die  deutschen  Mährchen  die  früheren  Kör- 
nen in  den  «Tod''  verwandeln,  so  sind  auch  die  Mören  der  dahinraffende  Tod, 
wie  Hesiod  sie  schildert  und  wie  man  ihren  Namen  selbst  zu  /ue^ec  und  mors 
gestellt  hat  (vgL  PreUer  Mythol.  1.  330).  Wie  die  Nomen  und  Walkyrien  in 
einander  nach  der  nordischen  Sage  übergehen,  so  sind  auch  die  Mören  Kriegs- 
jungfranen.  Sie  streiten  auf  den  Schlachtfeldern  mit  den  Keren  um  die  Ge- 
fallenen (Hesiod,  Schild  des  Hercules  v.  258),  außerdem  nahmen  sie,  wie  Apol- 
lodor  1.  6.  2.  berichtet,  Theil  am  Kampfe  der  Giganten  and  erschlagen  den 
Tbeon.  Dass  die  Sage  von  der  Fackel  des  Meleager  auch  im  deutschen  Al- 
terthume  vorhanden  ist,  hat  schon  Grimm  (Myth.  386). 

39)  Grimm  Myth.  379.  not.  Wissenschaftl.  Berichte  1.  1.  p.  44.  not. 


382 


der  Besitzer  eines  Brunnens  genannt.  In  dem  Pholesbrnnno, 
welches  vorkommt,  ist  ein  Apollobrunnen  ^^)  zu  erkennen,  denn 
Apollo  ist  der  Gott  der  Weissagekunst.  So  erzählt  auchPau- 
sanias  von  weissagenden  Brunnen  des  Apollo  in  Lycien.  Noch 
in  späterer  Zeit  sind  Vorstellungen  davon  vorhanden.  Darum 
werden  die  Nomen  ferner  spakonur,  Redende,  wie  die  weisen 
Frauen  und  völvur,  Zauberinnen,  genannt.  Auch  die  Feen  sind 
ursprünglich  fata,  nämlich  parcen,  mehrere  Fatums,  welche 
über  das  irdische  Leben  zu  beschUeßen  und  zu  zaubern  Macht 
haben.  Anderseitig  sind  dann  Völen  Zauberinnen,  prophetische 
Frauen;  ähnlich  wie  Saul  die  Hexe  von  Endor  aufsucht,  eilt 
Odin  unter  dem  angenommenen  Namen  Wegtam,  Wanderer, 
in  die  Unterwelt,  wie  es  in  der  Edda  heißt,  „wo  er  der  Wola 
Hügel  wusste,  das  Wecklied  begann  er  der  Weisen  zu  singen, 
schüttelte  Stäbe  nach  Norden  schauend,  sprach  die  Beschwö- 


40)  Im  Phol  einen  Apollo  zu  erkennen ,  habe  ich  schon  WissenschaftL 
II.  2.  3.  p.  157  angedeutet;  Koberstein  hat  in  diesem  Jahrbuch  p.  57  die 
Mersebnrger  Sprüche  noch  einmal  abdrucken  lassen,  was  mich  veranlasst, 
einige  Bemerkungen  hinzuzufügen ,  weil  sie  mir  gewissermaßen  für  jenes  be- 
stätigend scheinen.  Phol  und  Wodan  kann  ich  mir  nicht  als  Brüder  den- 
ken ,  auch  nicht  Sinthgund  und  Sunna  —  wie  Frua  und  Volla  als  je  zwei 
Personen.  Sinthgund  übersetze  ich  (von  alto.  sinna  curare,  heilen,  observare) 
und  gund  Wunde)  die  wundheilende.  Die  Sunna,  Sonne,  wird,  weil  sie 
im  Deutschen  als  Frau  gedacht  ist,  hier  als  die  Schwester  des  Lichtgottes 
Phol  (Apollo)  betrachtet.  Dann  sehe  ich  in  Frua  Vollä  die  jungfräuliche 
Frau,  die  mit  Artemis  als  Selene  correspondiert.  Dass  Frua  zu  Artemis  ge- 
stellt werden  (in  der  Yoluspa  heißen  Sonne  und  Mond  Geselle)  können, 
hat  Grimm  selbst  anerkannt.  Volla,  Fulla  wird  in  der  Edda  wie  Geflon  »Is 
keusche  Jungfrau  dargestellt.  Sonne  und  Mond  sind  also  Schwestern 
des  Phol.     Den  Sinn  des  Spruches  würde  ich  dann  so  fassen: 

„Phol  und  Wodan  fuhren  ins  Holz, 

Da  ward  dem  Balders  Fohlen  sein  Fuß  verrenkt: 

Da  besprach  ihn  die  wundheilende  Sonne,  seine   Schwester,  (ira  =  sna) 

Da  besprach  ihn  die  jungfräuliche  (Selene)  Frau,  seine  Schwester." 

Als  es  aber  die  heilende  Sonne,  noch  der  Mond,  welchem  bekanntlich  sau- 
berkräftiger  Einfluss  auf  Wunden  zugeschrieben  ward,  nicht  konnten,  —  da 
erst  war  dies  die  Kunst  Wodan^s  im  Stande.  Die  NaturheUnng  wich  der 
Kunstheilung.  Sollten  nicht  durch  diese  Deutungen  Grimms  Zweifel  bei  Hanpt 
2.  189.  und  in  der  Myth.  zu  verscheuchen  begonnen  sein.  Anch  war  es 
Grimm,  der  (Myth.  285)  Fulla  als  Vollmond  für  möglich  hielt,  was  dies 
Bild  als  Schwester  der  Sonne  und  ihre  jungfräuliche  Eigenschaft  fast  rar 
Gewissheit  erhebt. 


383 


rung  und  heischte  Bescheid,  bis  gezwungen  sie  aufstand,  Un- 
heil verkünd^id.^  Wola  spricht:  „Welcher  der  Männer  bringt 
mir  Beschwer,  stört  mir  die  Ruh?  Schnee  beschneite  mich, 
Regen  beschlug  mich,  Thau  beträufte  mich,  todt  war  ich  lange.^ 
Und  so  erklärt  sich  denn  auch  die  Stelle  des  Tacitus,  in  wel- 
cher er  von  der  Veleda  erzählt:  „diese  Jungfrau  (sagt  er) 
herrschte  weit  iiber  die  Bructerer,  nach  alter  Sitte  bei  den 
Deutschen,  nach  welchen  sie  meist  alle  Frauen  für  prophetisch 
und  bei  steigendem  Aberglauben  für  Gottinnen  halten/^  Nicht 
jedem  war  der  Zutritt  zu  ihr  gestattet.  Man  wurde  von  ihrem 
Anblick  abgehalten,  sagt  der  Romer,  um  die  Verehrung  zu 
wahren.  Sie  befand  sich  in  einem  Thurme.  Eine  ausgewählte 
Umgebung  vermittelte  Frage  und  Antwort  Es  ist  kein  Zwei- 
fel, dass  in  diesem  Namen  der  der  Völe,  der  wissenden  Zau- 
berin, enthalten  ist.  Tacitus  berichtet  femer:  „Aber  auch  die 
Aurinia  und  mehrere  Andere  haben  sie  einst  verehrt,  aber  nicht 
in  Abgotterei  und  nicht,  dass  sie  sie  zu  Gottinnen  machten/^ 
Für  Aurinia  hat  man  vieUeicht  statt  der  bisherigen  Vermu- 
thungen  Naurinia  oder  Norinia^')  zu  lesen  und  darin  die 
Nome  zu  finden.  In  späteren  Zeiten  wird  einer  ähnlichen  Frau 
mit  Namen  Ganna  erwähnt.  Noch  König  Gunthram  befragte 
eine  Frau  im  Jahre  527  um  ihren  prophetischen  Rath.  Dem 
romischen  Feldherm  Drusus,  als  er  sich  der  Elbe  näherte,  trat 
eine  übermenschlich  scheinende  Frau  entg^en,  die  ihm  vorzu- 
dringen wehrte,  und  sein  nahes  Ende  prophezeite. 

Wer  selbst  begeistert  ist,  kvnn  auch  begeistern,  wer  hin- 
gerissen ist,  reißt  hin;  in  dessen  Seele  ein  dämonisches  Wal- 
ten mächtig  ist,  ergreift  auch  die  Nahestehenden  mit  fortstür- 
mender Gewalt.  Die  Frauen  begeistern,  reißen  hin,  erwecken 
zu  Wetteifer  und  Tapferkeit,  machen  den  schlummernden  Ehr- 
geiz lebendig,  vor  ihren  Augen  will  Niemand  schwach  und 
feige  sein. 

Der  Deutschen  Ruhm  und  Ehre,  Thätigkeit  und  Wirkungs- 
kreis war  besonders  der  Krieg;  die  Begeisterung  zum  Kriege 
daher  der  Frauen  edles  Amt,  und  sie  erhoheten  den  Muth  zum 
Kampfe  durch  den  Werth  ihrer  Personen,  durch  ihre  Gegen- 
wart, durch  ihre  begeisternde  Rede. 


41)  Germania  8.    Die   Vermathung  ist  keinesfalls  kühner,  als  die,  durch 
welche  man  bisher  statt  Aurinia,  Aliruna  la^. 


384 


Dieses  Verhältniss  der  deutschen  Frau  zum  Manne  ist 
ebenfalls  zu  edlem  Bilde  aus  der  Sprache  aufgestiegen  und  hat 
die  Walkyrien,  die  Schlachtjungfrauen  der  Sage  geschaffen.  In 
ihnen  ist  die  Sehnsucht  nach  Sieg  und  Kampf  ausgedrückt; 
sie  entscheiden  über  denselben,  sie  ermuthigen,  sie  beleben  den 
Krieg.     Wal,  woher  der  Name,  heißt  Streit,  Kampf. 

Die  tiefsinnige  Anschauung  der  altdeutschen  Sage  vom 
Frauenwesen  fasst  jede  Seite  desselben  auf,  ohne  über  die  Ein- 
heit desselben,  in  welchem  sich  alle  verschiedenen  Eigenthfim- 
lichkeiten  wieder  zusammenfinden,  zu  verlieren. 

Daher  finden  wir  die  Walkyrien,  die  Schlachtjungfirauen 
einmal  als  liebende  Frauen.  Die  edelsten  Helden  der  Eldda 
haben  treue  Gemahlinnen  an  Walkyrien.  Zu  Sigurd  sagt  die 
Walkyre  Sigurdrifa:  „Dich  liebe  ich  und  keinen  Andern,  hätte 
ich  auch  zu  wählen  unter  allen  Männern.^  Dieselben  werden 
dann  als  weissagend  vorgestellt.  Die  Walkyrienfrauen  helfen 
ihren  Männern  nicht  bloß  durch  ihre  begeisternde  Kraft,  son- 
dern auch  durch  ihre  voraussehende  Weisheit.  Dieselbe  8v^ 
gurdrifa^  welche  ein  Gelübde  gethan  hatte,  sich  keinem  Manne 
zu  vermählen,  der  sich  fürchten  könne,  die  aber  ihm  mit  Math 
und  Minnetrank  bewirthete,  wird  von  ihm  gebeten,  ihm  Weis- 
heit zu  lehren,  „da  sie  alle  Geschichten  aus  der  ganzen  Welt 
wisse.^ 

Dieselben  Walkyrien  werden  darum  auch  nicht  von  den 
Nomen,  den  Schicksalsgöttinnen,  ganz  geschieden.  Die  jüngste 
der  Nomen,  Skuld,  d.  h.  die  Zukunft,  wird  auch  eine  Wal- 
kyre genannt.  In  tiefsinnigster  Weise,  denn  die  Zukunft  ist 
für  alle  Welt  noch  die  Zeit  des  Kampfes,  ist  selber  die  Ge- 
nie, welche  zum  Kampf  und  Sieg  aufibrdert  Nur  eine  Aas- 
legung  dieser  Identität  ist  es,  wenn  ein  alter  Held  in  der  Sage 
durch  einen  Felsenspalt  singende  Frauen  mit  Spinnen  beschäf- 
tigt sieht,  die  sich  als  Walkyren  bezeichnen,  während  sonst 
doch  die  Nomen,  die  Schicksalsgöttinnen,  so  gedacht  werden. 
Bei  ihrem  Gewebe  haben  sie  Menschenhäupter  lEum  Gewicht, 
Därme  zu  Garn,  Schwerdter  zur  Spule,  Pfeile  zum  Kamm. 
Die  Zukunft  voller  Kampf,  Tod  und  Sieg  webt  ihr  Riesenge- 
webe mit  Menschenköpfen  und  Schwertern. 

Aus  Begriffen,  Erfahrungen,  Empfindungen,  nationalen  Ei- 
genthümlichkeiten,  so  weit  sie  die  Frauen  angingen,  ist  die 
Idealisierung  und  Syuibolisierung  der  Frauennatur  entstanden. 


385 


Die  alte  reUgioae  Anachauung  achaffit  wie  der  Künatler  und 
Diohter ;  aie  erhebt  daa  Sterbliche  in  daa  Ideale,  loat  die  Makel 
ab,  und  eracha£ßb  ihre  Genien  aua  den  Erkenntniaaen  dea  Le« 
bena,  nur  in  dem  Maße  potenziert  und  erhoben,  ala  die  Poeaie 
nöthig  findet  für  den  Grad  der  Verehrung,  der  Bewunderung 
und  Furcht.  Daher  iat  eben  daa  Heidenthum  die  Religion  der 
Sprache,  der  Poeaie.  Denn  reden  und  dichten  fallt  im  Urbe- 
griff  einer  Nation  zuaammen.  Daa  Bilden  der  Worte  iat  eine 
poetiache  Schöpfung;  daa  erate  Wort,  daa  erate  poetiache 
Werk.  Mit  dem  letzten  Menschen  zieht  der  letzte  Dichter 
hinaua. 

Dieae  kurzen  Anführungen  konnten  ala  Belege^*)  an  die- 
aem  Orte  genügen.  Die  berühmte  Stelle  dea  Tacitua,  wo  er 
von  den  deutachen  Frauen  handelt,  kann  ala  daa  treffendate 
Zeugniaa  nicht  übergangen  werden.  Er  sagt:  „den  Deutachen 
in  der  Schlacht  sind  die  Frauen  die  ehrwürdigsten  Zeugen,  die 
höchsten  Lobertheilenden.  Zu  den  Müttern,  zu  den  Frauen 
bringen  aie  ihre  Wunden,  und  ea  acheuen  aich  jene  nicht,  nach 
den  Verletzungen  zu  aehen  und  aie  zu  unterauchen,  und  brin-* 
gen  sie  den  Streitenden  Nahrung  und  Ermunterung.  Ja,  man 
erzählt,  ea  seien  schon  erschütterte  und  wankende  Schlacht- 
ordnungen von  Frauen  wieder  hergestellt  worden  durch  die 
Unablässigkeit  ihres  Zuredens,  und  dadurch,  dass  sie  ihr 
eigenes  Leben  oder  ihre  Freiheit  in  Gefahr  brachten;  denn  die 
Gefangen  achaft  ihrer  Frauen  trugen  sie  bei  weitem  unwilliger, 
ala  die  eigene,  so  dass  die  Gesinnungen  der  Genossenschaften 
(civitatum)  wirksamer  verpflichtet  werden,  denen  unter  den  Gei- 
ßeln auch  edele  Jungfrauen  zu  stellen  angegeben  wird.  Denn 
ihrer  Ansicht  nach  ist  in  ihnen  etwas  Heiliges  und  Prophetisches 
(sanctum  aliquid  et  providum)  und  darum  verschmähen  sie  we- 


42)  Von  den  Maunuiem  enuUilt  Procop  in  den  Vandalifchen  Merkwür- 
digkeiten 3.  8.  Folgendes:  ,^a  der  Zeit,  als  man  die  Verrnnthung  hatte,  es 
werde  die  kaiserliche  Flotte  nach  Libyen  kommen,  fürchteten  die  Maunuier, 
dass  sie  dadurch  Verluste  erleiden  würden  und  bedienten  sich  darum  der 
Wahrsagekünste  der  Weiber.  Denn  nach  ihren  religiösen  Begriffon 
darf  bei  diesem  Volke  keine  Person  die  Wahrsageknnst  treiben,  sondern 
Weiber,  welche  in  Folge  eines  feierlichen  gottesdienstUchen  Aktes  in  Begei- 
sterung gerathen,  sagen  die  künftigen  Begebenheiten,  wie  früher  die  Orakel 
voraus." 


386 


der  ihre  Rathschläge,  noch  verachten  sie  ihre  Bescheide."**) 
In  diesen  wenigen  Sätzen  ist  die  ganze  Anschauung  enthalten, 
mit  welcher  die  Mythe  der  alten  Deutschen  ihre  Halbgottinnen, 
Prophetinnen,  Priesterinnen,  Nornen,  Volen  und  Walkyrien 
bald  nach  den  besonderen  Eigenschaften,  bald  nach  dem  con* 
centrierten  Wesen  der  Frauen  geschaffen  hatten.  Es  sind  die 
Frauen,  welche  den  Krieger  ermuthigen  und  anstacheln  und 
den  Lorbeerkranz  aus  weißer  Hand  reichen;  sie  pflegen  nüd 
heilen  den  Wunden;  für  sie  geht  seine  Ritterlichkeit  auch  in 
das  verlorne  Treffen  zurück.  Endlich  glauben  sie  in  allen 
Frauen  etwas  Heiliges  und  Prophetisches.  Dieser  letzte  Zog, 
den  der  große  Geschichtschreiber  aus  ihrem  Leben  richtig  er- 
kannt hat,  bezeugt  deutlich  die  Richtigkeit  unserer  Auffassung, 
dass  der  Quell  des  Gedankens  der  germanischen  Volen  und 
Walkyrien,  Zauberinnen  und  wissender  Nornen  im  germani- 
schen Leben  enthalten  ist.  Dem  Heidcnthume  ist  das  Leben 
der  Volker  der  Maßstab  für  das  Leben  der  Gotter  und  Ge- 
nien. Die  tiefe  und  sinnige  Stellung  der  Frauen  bei  den  Ger- 
manen gab  die  Basis  zu  den  wunderbaren  Vorstellungen  des 
mythologischen  Frauenwesens.  Und  wiederum  geben  uns  die 
vorhandenen  Kunden  aus  alter  Göttersage  des  Heidenthums 
und  des  Germauenthums  insbesondere  Zeugniss  von  dem  ur- 
alten Leben  der  Völker  auf  dieser  Erde. 

Darum  hat  auch  Tacitus  Recht,  wenn  er  die  Erscheinung 
weiblichen  Einflusses  auf  das  Leben  der  Männer,  ganz  beson- 
ders der  Deutschen,  mit  denen  hier  zum  Theil  die  celtische^*) 
Sitte  übereinkommen  mochte,  zuschrieb.     Denn  nur  bei  ihnen 


43)  German.  7.  8.  „numerare  piagas''  habe  ich  nicht  geglaubt,  einÜMsh 
„die  Wunden  zählen''  übersetzen  zu  können.  Es  drückt  doch  wohl  mehr 
die  Thätigkeit  der  Frau  aus,  welche  den  Körper  des  Verwundeten  näher  un- 
tersucht, wie  sehr  und  an  welchen  Theilen  das  Geschoss  des  Feindes 
ihn  getroffen.  ^Die  Wunden  zählen''  konnte  auch  einen  Sinn  auszudrücken  schei- 
nen, der  wenigstens  nur  zum  Theil  von  dem  Geschieh tschreiber  angedeutet  ist. 

44)  Plutarch  über  die  Tugenden  der  Frauen  cap.  G.  erzählt,  dast  unter 
den  Gelten  einst  ein  arger  Zwiespalt  ausgebrochen  sei.  Damals  hätten  nun 
die  Frauen  diesen  Streit  so  weise  geschlichtet,  dass  daraus  die  innigste  Bin- 
tracht  gefolgt  sei.  Daher  ist  in  späterer  Zeit  von  den  Gelten  die  Sitte  be- 
wahrt worden,  dass  sie  bei  ihren  Berathungen  über  Krieg  und  Frieden  die 
Frauen  zuzogen  und  die  Streitigkeiten  mit  ihren  Bundesgenossen  doroh  ihre 
Hülfe  beilegten.    (Moralia  II.  14.  Wyttenbach). 


387 


hat  das  Leben  immer  die  Harmonie  offenbart  mit  der  Auffas- 
sung der  Sage  und  Religion.  Das  Leben  enthielt  zu  aller  Zeit 
noch  die  Elemente,  aus  welchen  jene  mythischen  Gestalten  her- 
vorgingen und  wären  sie  noch  nicht  geschafiPen,  neugeschaffen 
werden  konnten.  Noch  immer  trägt  im  germanischen  Leben 
die  Frauennatur  eine  dämonische  Kraft  für  Verhältnisse  des 
Privat-  und  öffentlichen  Lebens.  Aus  allen  Ereignissen  seiner 
Geschichte  tritt  mit  den  Thaten  der  Männer  immer  auch  ein 
großes  dämonisches  Heldenweib  mit  wallendem  Hauptschmuck 
hervor.  Nach  dieser  Seite  hin  zeichnet  sich  die  germanische 
Sitte  allerdings  nicht  bloß  nach  dem  Orient  hin,  sondern  auch 
von  der  Griechensage  nicht  unwesentlich  ab.  Der  griechischen 
Mythologie  sind  Zauberinnen  und  Prophetinnen,  welche  grie- 
chischer Heimath  entstammten,  bei  weitem  nicht  in  dem  Maße 
eigenthümlich ;  sie  konnten  es  auch  nicht  sein,  weil  das  griechi- 
sche Familienleben,  so  weit  es  die  historische  Zeit  erkennen  lässt, 
minder  geeignete  Grundlage  zu  dieser  dämonischen  Idealisierung 
gab,  und  das  Verhältniss  des  griechischen  Mannes  zur  grie- 
chischen Frau  nie  den  zarten  Schmelz  erreichte,  den  das  deut- 
sche Leben  immer  getragen  hat.  Außerdem  ist  eine  Betrach- 
tung der  griechischen  Mythologie,  so  weit  sie  zur  Comparation 
mit  dem  griechischen  Leben  auffordert,  immer  eine  noch  mehf 
schwierige,  als  dies  überhaupt  bei  solchen  uralten  Kunden  der 
Fall  ist.  Denn  in  ihr  ist  zum  großen  Theil  nicht  bloß  das 
Glauben  und  Anschauen  von  Crriechenland  allein,  sondern  der 
damaligen  bekannten  Welt  zusammengeflossen.  Kunst,  Dich- 
tung, Menschenkunde  haben  für  den  griechischen  Sagenkreis 
alles  zusammengetragen  und  centralisiert,  was  im  Horizonte  da- 
maliger griechischer  Kenntniss  lag;  das  griechische  Heiden- 
thum  ist  daher  j\i  seinen  Ursprüngen  viel  schwerer  als  irgend 
ein  anderes  zu  sondieren,  je  verschiedener  die  Elemente,  je 
mannigfaltiger  die  Schichten  der  Bildung  und  je  weiter  auf 
einem  entwickelten  geistigen  Leben  der  Gedanke,  die  Person, 
die  Phantasie  ihre  Arme  ausstreckt,  um  zu  schaffen,  zu  verbin- 
den, zu  wetteifern.  Das  zeigt  sich  in  der  Sage,  so  weit  sie 
Frauen  angeht,  recht  deutlich.  Nicht  als  ob  die  eigentliche 
Ursage  von  Hellas  arm  wäre  an  großen,  dämonisch  bedeutsam 
men  Frauen  —  daran  ist  keine  Nation  arm,  wie  wir  oben  be- 
reits bemerkten  —  aber  bezeichnend  ist,  dass  diejenigen  weib- 
lichen Gestalten,  welche  die  griechische  Mythe  als  Zauberinnen 

fTHrnrnr.  J».  //.  25 


388 


und  zum  Theil  auch  als  Prophetinnen  bezeugt,  aus  der  Fremde 
und  aus  Gegenden,  und  Sprachen  stammen,  die  zuweilen  an 
Germanische  oder  Celtische  Einflüsse  erinnern.  Hecate,  die 
Zauberin  der  Nacht,  wie  Circe  wohlbekannt  in  allen  Misch- 
und  Zaubertränken,  die  Männer  in  Thiergestalten  verwandelte, 
stammen  aus  dem  fernen  Colchis.  Medea,  die  dämonische  Frau 
ist  eben  daher;  Jason,  als  er  über  ihr  Wesen  erschrickt,  ruft 
beim  Euripidas  aus:  „Kein  griechisch  Weib  wahrhaftig 
hätte  dies  je  gethan.''**)  Nach  dem  Scythischen  Tauris  wird 
Iphigenia  versetzt,  der  Diana  zu  dienen;  der  Dienst  besteht, 
wie  es  beim  alten  Dichter  heißt,  „zu  opfern  jeden,  denn  so  ist 
alte  Sitte  dieser  Stadt,  wer  je  aus  Griechenland  hieher  ver- 
schlagen ist;^  Iphigenia  freilich  weihet  die  Opfer  nur  als  Frie- 
sterin,  den  Mord  überlässt  sie  Andern,  aber  deutlich  erinnert 
dies  an  die  grauen  barfiißen  Priesterinnen  der  Cimbem,  die  im 
weißen  Gewände  die  Gefangenen  schlachten  und  aus  dem  im 
Kessel  siedenden  Blute  prophezeien;  was  aber  besonders  merk- 
würdig sein  muss  und  viele  Irrthümer  früherer  Zeit  aufhellt, 
ist,  dass  der  Name  der  berühmtesten  Weissagerin  des  klassi- 
schen Alterthums,  der  Sibylle,  deutschen  Ursprungs  scheint. 
Spill on  heißt  gothisch  verkünden  und  wird  für  evangelizes- 
thai,  das  Evangelium  verkünden,  wiedergegeben.  Spill  heißt  so 
viel  als  Mythos.  In  anderen  Dialecten  spell,  spiall.  Rede,  Fa- 
bel, Zauberlied,  spello,  reden,  voraussagen,  daher  im  Althoch- 
deutschen wärspello,  ein  Prophet  von  Ezechiel  gebraucht,  gud- 
spiaU,  das  Evangelium,  woher  das  englische  gospel.  Beim  Be- 
sprechen ist  der  Zauberspruch  ags.  spell,  goth.  spill,  wie  spell 
noch  heute  englisch  auch  für  Zauberei,  Besprechung  gebraucht 
wird.  *•)  Wie  auch  ein  alter  Autor  berichtet,  „man  habe  eine 
Zauberin  Sibylle  genannt,  da  sibyllainein  so  viel  sei  als  begei- 


45)  Medea  1340.  y^Ovx  Mcxw  ijrig  jovj*  av  'BlXfivig  yvyii  frlti  7ro^*<<« 

46)  Von  welchem  Interesse  diese  Ableitung  ist,  wenn  sie,  wie  ich  gern 
hoffe,  angenommen  wird,  beweist  schon,  dass  Dieffenbach,  ein  Qelehrter,  der 
in  etymologischen  Dingen  um  verwandte  Stamme  selten  verlegen  ist,  für  dM 
goth.  spill  keine  exotischen  Verwandten  findet  und  dass  Benfey  für  Sibylle 
nichts  als  die  alte  unhaltbare  Verwandtschaft  von  ßovXi^  beizubringen  weiß. 
Wenn  es  später  gelingen  sollte,  meine  Untersuchungen  über  Hecate,  Circe  und 
Sibylle  zusammenzustellen,  so  soll  diesem  Gegenstande  erneuerte  Untenuohuog 
gewidmet  sein. 


389 


Stert  werden."  *^)  Diese  Abstammung  ist  für  die  Zusammen- 
hänge deutschen  Lebens  mit  den  Griechen  and  Römern  bereits 
im  zweiten  Jahrhundert  vor  Chr.  Geburt,  von  Interesse  und 
gibt  einen  wichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  der  Herkunft  der 
Sibylle  und  ihrer  Orakel,  welche  noch  jetzt  aufbewahrt  für 
die  Bewegungen  auf  dem  Gebiete  christlicher  Lehre  iiv  den  er- 
sten Jahrhunderten  bedeutungsvoll  sind. 

§.  3.  Fassen  wir  das  Resultat  des  Angeführten  zusammen, 
so  nehmen  Frauengestalten  als  Priesterinnen  und  Zauberinnen 
die  Stelle  im  deutschen  Alterthume  aus  dem  Grunde  ein,  weil 
wie  die  heidnische  Mythe  immer  nur  ein  ideell  erhabener  Abriss 
des  menschlichen  Lebens  und  Wesens  war,  das  Verhältniss  der 
Frauen  im  deutschen  Alterthume  als  ein  besonders  eigenthüm- 
liches,  tiefes  und  edles  ebenfalls  zu  einer  besondern  Eigenthüm- 
lichkeit  im  mythischen  Himmel  gelangte.  Es  war,  wie  das  Hei- 
denthum  in  sich  die  Mannichfaltigkeit  des  Lebens  der  Volker 
erkennen  lässt,  der  besondere  Character  der  Frauenstellung  im 
deutschen  Leben  auch  in  dem  mythischen  Zauberspiegel  beson- 
ders niianciert. 

Wir  haben  die  Frage  zu  beantworten,  weshalb  im  Juden- 
und  Christenthum  Propheten,  Engel,  Heilige  prävalieren.  Dies 
möge  durch  folgendes  geschehen. 

Das  Heidenthum  war  die  Religion  der  Sprache;  die  Bibel 
lehrte  Gott  deu  Unaussprechlichen;  das  Heidenthum  wurzelt  in 
der  Mannigfaltigkeit,  die  Bibel  lehrt  den  Einen,  Allgemeinen, 
jenes  göttliche  Bruchstücke,  diese  ein  unendliches  untheilbares 
Ganze. 

Jenes  beruht  auf  der  menschlichen  Natur  und  Geschichte, 
war  also  mit  Menschen  zu  aller  Zeit  und  iiberall  vorhanden ; 
der  biblische  Gott,  den  Menschen  aus  ihrer  Contemplation  nicht 
fassten,  offenbarte  sich  der  einzelnen  Nation,  aus  der  er  auf 
den  Stufen  der  erleuchteten  Zeit  in  die  Erkenntniss  der  Men- 
schen stieg. 

Das  Menschenthum ,  welches  aus  dem,  was  menschlich  an 
ihm  ist,  Gestalten  construiert,  die  mehr  als  Menschen  sein  sol- 
len und  deshalb  Heidenthum   ist^    entbehrt   nicht   den   ewigen 


47)  Diodor.  Sicul.  4.  66:    „to  yäq  i^S-tdCity  naträ  yXtSiray  vnaqx^iv  tf»- 


25 


♦ 


390 


Gott,  aber  es  weiQ  ihn  nicht;  es  wird  von  ihm  geleitet,  aber 
weil  es  ihn  nicht  sieht,  schafft  es  sich  Gestalten  aus  eigenem 
menschlichen  Thon. 

Es  ist  wie  die  Nacht;  die  Sonne  ist  nicht  untergegangen, 
ihr  heilsames  Licht  nährt  noch  den  Erdball.  Aber  sie  sieht 
sie  nich^  durch  die  Ordnung  der  Ewigkeit,  wie  das  Heiden- 
thum  Gott  nicht  sah  durch  den  Willen  der  Vorsehung.  Es  ist 
wie  ein  Mensch,  dem  das  Leben  ein  Gefäß  ist  voll  sinnlicher 
Lust  und  Triebe.  Es  fehlt  ihm  nicht  die  Seele,  die  in  ihm 
schafft  und  erhält,  aber  er  weiß  nichts  von  ihr  und  aus  eige- 
nem StofP  macht  er  sich  ein  trübes  Lebensziel  zurecht. 

Das  Heidenthum  ist  das  irdische  Wesen,  nicht  ohne  Gott^ 
aber  in  Unwissenheit  von  Gott,  in  der  Abkehr,  in  der  Selbst- 
schaffimg  ohne  Gott. 

Alles,  was  auf  ihm  steht,  baut  und  schafft  daher  aus  sterb- 
lichem mit  Endlichem,  mit  Natürlichem  d.  h.  mit  sichtbaren 
Erscheinungen  der  Natur,  bruchstücklichen  Erinneningen  und 
individuellen  oder  nationalen  Erfahrungen  des  Menschen  nnd 
Volkslebens. 

Weil  dies  der  Fall  ist,  so  hat  das  Heidenthum  keinen  Be- 
griff wirklicher  Unendlichkeit.  Jupiter  und  Odin  fangen  an 
und  gehen  unter.  Denn  wer  auf  menschliche  Erinnerungen,  und 
wären  es  tausende  von  Millionen  Jahren  sich  stützt ,  hat  eine 
Vergangenheit,  die  anfängt;  wer  sie  hat,  dem  fehlt  auch  der 
Blick  in  die  Zukunft.  Nur  wer  ewig  ist,  kann  immer  ein  Pro- 
phet sein.  Nur  im  Ewigen  fallt  Vergangenheit  und  Zukunft 
wie  ein  Moment  zusammen,  und  darum  gibt  es  nur  eine  ge- 
wisse Prophetie,  die  des  ewigen  Gottes,  in  dem  was  ist  und 
wird  und  war  ein  Punkt  ist,  und  vor  dessen  Einheit  alles  was 
geschieht  als  das  Eine,  als  das  Gleichzeitige,  als  das  Gleich- 
örtliche wie  auf  einer  Hand  ausgebreitet  liegt. 

Die  Orakel,  die  Weissagungen  des  Heidenthums,  sind  Er- 
zeugnisse des  menschlichen  und  natürlichen  Waltens;  sie  bre- 
chen oft  unbewusst  aus  dem  mysteriösen  Bau  der  menschlichen 
Natur  heraus;  sie  werden  aus  dem  unbewussten  Zusammen- 
hang mit  Gott  als  Ahnung,  als  dunkeles  Schauen  erzeugt.  Sie 
geben,  wie  Blumen  der  Nacht  ohne  Sonne,  obschon  der  Erd- 
ball ihrer  nicht  entbehrt,  so  ohne  Gott,  in  nächtigem  Schatten 
aus  der  Seele  auf.  Deshalb  ist  der  Traum  ein  besonderes  Merk- 
mal heidnischer  Weissagung,  weil  er  eben  sich  im  Menschen 


389 


Stert  werden/^  4^)  Diese  Abstammung  ist  für  die  Zusammen- 
hänge deutschen  Lebens  mit  den  Griechen  and  Römern  bereits 
im  zweiten  Jahrhundert  vor  Chr.  Geburt,  von  Interesse  und 
gibt  einen  wichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  der  Herkunft  der 
Sibylle  und  ihrer  Orakel,  welche  noch  jetzt  aufbewahrt  für 
die  Bewegungen  auf  dem  Gebiete  christlicher  Lehre  iiv  den  er- 
sten Jahrhunderten  bedeutungsvoll  sind. 

§.  3.  Fassen  wir  das  Resultat  des  Angeführten  zusammen, 
so  nehmen  Frauengestalten  als  Priesterinnen  und  Zauberinnen 
die  Stelle  im  deutschen  Alterthume  aus  dem  Grunde  ein,  weil 
wie  die  heidnische  Mythe  immer  nur  ein  ideell  erhabener  Abriss 
des  menschlichen  Lebens  und  Wesens  war,  das  Verhältniss  der 
Frauen  im  deutschen  Alterthume  als  ein  besonders  eigenthüm- 
liches,  tiefes  und  edles  ebenfalls  zu  einer  besondern  Eigenthüm- 
lichkeit  im  mythischen  Himmel  gelangte.  Es  war,  wie  das  Hei- 
denthum  in  sich  die  Mannichfaitigkeit  des  Lebens  der  Volker 
erkennen  lässt,  der  besondere  Character  der  Frauenstellung  im 
deutschen  Leben  auch  in  dem  mythischen  Zauberspiegel  beson- 
ders nuanciert. 

Wir  haben  die  Frage  zu  beantworten,  weshalb  im  Juden- 
und  Christenthum  Propheten,  Engel,  Heilige  prävalieren.  Dies 
möge  durch  folgendes  geschehen. 

Das  Heidenthum  war  die  Religion  der  Sprache;  die  Bibel 
lehrte  Gott  deu  Unaussprechlichen;  das  Heidenthum  wiurzelt  in 
der  Mannigfaltigkeit,  die  Bibel  lehrt  den  Einen,  Allgemeinen, 
jenes  göttliche  Bruchstücke,  diese  ein  unendliches  untheilbares 
Ganze. 

Jenes  beruht  auf  der  menschlichen  Natur  und  Geschichte, 
war  also  mit  Menschen  zu  aller  Zeit  und  überall  vorhanden ; 
der  biblische  Gott,  den  Menschen  aus  ihrer  Contemplation  nicht 
fassten,  offenbarte  sich  der  einzelnen  Nation,  aus  der  er  auf 
den  Stufen  der  erleuchteten  Zeit  in  die  Erkenntniss  der  Men- 
schen stieg. 

Das  Menschenthum ,  welches  aus  dem,  was  menschlich  an 
ihm  ist,  Gestalten  construiert,  die  mehr  als  Menschen  sein  sol- 
len und  deshalb  Heidenthum   ist,    entbehrt  nicht   den   ewigen 


47)  Diodor.  Sicul.  4.  66:    „to  yäq  iyd-taCf^y  xarSt  yAaJiT«!'  vnuQX^iy  tf»- 


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392 


als  Sonnengott,  Helios,  der  Alles  hell  sieht,  sondern  vielmehr 
im  Gegentheil  als  Dichtergott,  als  das  Symbol  poetischer  Ent- 
zückung, die  aus  dem  inneru  Drang  hervorstürzt  in  freierem 
Schwünge  als  dem  des  sinnenden  und  entwickelten  Gedanken. 
Denn  seine  Sprüche  sind  eben  dunkel  poetischer  •  •)  Natur, 
aus  dem  verzückten  Rausch  der  Priesterin  herausgeschleudert, 
und  dem  Gefühl  wie  Verstandniss  der  Anderen  wie  eine  Dithy- 
rambe anheimgegeben.  Daher  auch  die  Pythia  Lorbeerkränze 
trug,  das  Orakelgewolbe  lorbeerbehängt  war,  auf  dem  Al- 
tar Raucher  werk  von  Lorbeer  brannte.  Der  Dunst,  der  aus  ei- 
nem Erdschlund ,  also  aus  der  Erde  aufstieg ,  soll  die  Priesterin 
zu  dunklem  prophetisch  -  dichterischem  Enthusiasmus  verzückt 
haben,  aus  dem  die  bewussten  Ausleger  deuteten.**) 

Auf  dem  Gebiete  des  Heidenthums  konnte  ein  Orakel  das 
andere  nur  mit  Unrecht  verleugnen;  auch  jedes  Volk  jedes 
Orakel  als  wahrhaftig  anerkennen;  der  Synkretismus,  d.  h.  die 
Verschmelzung  der  Heidenthümer,  den  man  bei  den  Alten  so 
auffallend  findet,  ist  ganz  natürlich,  da  es  doch  immer  diesel- 
ben Grundelemente  sind  und  anerkannt  werden ,  welche  die  An- 
sicht des  Einen ,  wie  des  andern  Volkes  trägt  Es  ist  ganz  in 
der  Ordnung,  wenn  lydische  und  persische  Könige  griechische 
Orakel,  wenn  Romer  asiatische  Sibyllenbücher  oder  das  del- 
phische Orakel  befragen;  der  dunkele  Kern,  aus  dem  des  Hei- 
denthums Weissagung  entsprang,  ist  ja  bei  Allen  derselbe,  nur 
die  Auslegung  wird  und  ist  eine  verschiedene. 

Eine  andere  Stellung  nimmt   dazu  die  biblische  Lehre  ein. 

Sie  kann  dem  Götzendienst  nicht  duldsam  zusehen,  denn  das 
wiirde  die  eigene  Wahrheit  verkennen  heißen.  Sie  muss  die 
Götter  von  den  Altären  stürzen ,  denn  es  sind  eben  keine  Got- 
ter, sondern  sterbliche  Wesen  nach  Entstehung  und  Gestalt. 
Ebensowenig  kann  sie  die  heidnische  Weissagung  und  Zauberei 
dulden.  Denn  es  gibt  keine  Weissagung  außer  im  ewigen 
Gott,  und  die  Anerkennung  einer  solchen  gleicht  der  Leugnung 
der  Einheit  und  Unendlichkeit  des  offenbarten  Gottes. 


53)  Socrates  sagt  in  der  Apologie  des  Plato  cap.  22 :  ^jfyrtity  o^y  »al 
nfQt  T(oy  7¥otfiT(oy  iy  SXiyip  rovroy  ort  ov  <ro(f'i^  noioUy  a  notoUyy  ^JiXd  iptifit 
jtyi  xal  iyS-otüia^oyjfSy  t5<fn(Q  oi  d-to/LtttyjHgf  xtd  ol  x^ti<f/nttdoL^^ 

54)  Vgl.  Preller  Mythologie  1.  178» 


398 


Jede  Aufrichtung  eines  Götzenbildes  ist  kein  anderer  Pro- 
zess  als  die  Errichtung  eines  Orakels,  welches  den  Menschen 
das  Unbekannte  nach  Wunsch  verkündet. 

Das  Heidenthum  sagten  wir,  entbehrte  nicht  den  Gott, 
aber  es  wusste  ihn  nicht  ^^)  Es  lag  der  dunkele  Trieb  in  ihm, 
der  Gott  sucht;  aber  es^  suchte  in  Abkehr  von  der  Gottheit, 
im  Menschenwesen  selber.  Durch  die  Gestaltung,  welche  diese 
dunkele  Sehnsucht  von  der  Menschennatur  erhielt,  wurde  sie 
so  mannigfaltig  als  das  Menschenleben  selber,  ein  Abbild  der 
Menschennatur  selbst  d.  h.  gab  es  so  viele  Götter  als  Gedan- 
ken der  Menschen  über  sich  und  jedes  Götzenbild  war  der 
festgewordene  menschUche  Commentar  des  dunkelen,  instinctiv 
waltenden  Dranges  nach  Oben.  Die  biblische  Lehre  stürzt  das 
Götzenbild,  nicht  weil  sie  den  dunkelen  Trieb  als  ungöttlich 
erkennt,  sondern  weil  sie  die  Gestaltung,  welche  ihm  gegeben 
war,  als  menschlich,  als  die  dürre,  sterblich  vereinzelnde  mensch- 
liche Willkür,  als  unwahr  erkennt,  weil  sie  dieser  Gestaltung 
nicht  mehr  bedarf,  da  das  Dunkele  hell,  die  Nacht  zu  Tag, 
die  Sehnsucht  nach  oben  nicht  mehr  unklar  ist,  wen  sie  suchen 
und  wo  sie  zu  finden  hat. 

So  beruht  auch  die  heidnische  Weissagung  auf  der  Nacht 
der  Ahnung,  auf  den  dunkeln  Schauern  einer  geheimnissvollen 
Natur  in  uns,  auf  einem  unbewussten  Walten  der  Phantasie, 
einem  unbekannten  Verhältniss  der  Nerven  und  des  Bluts;  und 
dieses  Mysterium  des  Lebens  entbehrt  nicht  eine  unausgespro- 
chene Wahrheit,  aber  es  kennt  sie  nicht  und  darum  wird  sie 
zur  Unwahrheit  und  zum  Aberglauben,  so  bald  sie  ausgespro- 
chen und  ausgelegt  wird. 

Denn  die  Auslegung  ist  wieder  der  Mensch  und  zwar  nicht 
in  dem  Stadium  der  dunkelen  Bebauung,  sondern  dem  der 
Selbstbetrachtung  und  Selbsterinnerung.  Es  empfangt  hierdurch 
die  Vielfachheit  und  Vereinzelung  der  Auslegung,  welche  der 
Mensch  sich  nach  seinem  Wesen  gestaltet,  dadurch  eben  die 
Unwahrheit  und  Ungöttlichkeit.  Die  Furcht  ist  eine  Gewalt 
im  Menschen,  die  von  derselben  Natur  ist,  eine  instinctive  Ge- 


55)  Sehr  merkwürdig  ist  der  Aussprach  Heraklit's  von  der  SibyUe:  fitu- 
vofiivf^  <n6f4ftT&  dyiXaüja  xal  axalitonKfra  x<d  tt/uvQKfra  qfd'tyyo/uiyii  ;|f*AiQiv 
irtSy  l|*xy|*To*  Tg  (fatytjf  (fax  toy  &(6y^^  Vgl  Schleiermscher:  Heraklit  der 
Dunkele  in  seinen  Philosoph«  Schriften,  Werke  2.    p.  14. 


394 


burt  unseres  vitalen  Lebens ,  ein  Erzeugniss  der  Nachtseite  der 
Seele  —  wie  wir  von  der  Furcht  ergriffen  sind,  gestalten  wir 
Alles  nach  den  Formen ,  welche  unsere  menschliche  Individua- 
litat uns  fürchterlich  vorstellt,  wir  bilden  aus  unserer  Einbil- 
dungskraft tausend  Gestalten,  die  unserm  gewohnlichen  Lebens- 
kreise entsprossen  sind,  und  die  wir  wirklich  sehen.  Der  Trieb 
der  Furcht  ist  hier  keine  Unwahrheit,  sondern  die  Schöpfun- 
gen sind  es,  welche  wir  erzeugten.  Das  böse  Gewissen  geht 
mit  uns  ähnlich  zu  Werke.  Es  zaubert  uns  vor  die  Seele  all 
die  Geister  in  lebendiger ,  sichtbarer,  vereinzelter  Gestalt,  welche 
uns,  um  unserer  Vergehen  halber  nahen  und  verfolgen.  Wir 
sehen,  was  wir  nicht  sehen,  wir  gestalten,  was  nie  gestalts- 
mäßig  und  möglich  ist. 

Man  kann  insofern  auch  nicht  sagen,  dass  der  Trieb  des 
Heidenthums  zum  Orakel  ungöttlich  war,  aber  die  Auslegung 
des  Orakels  war  abergläubisch  und  ungöttlich.  Denn  es  war 
ja  der  Mensch,  welcher  gläubig  oder  ungläubig,  ehrlich  oder 
in  der  Täuschung  das  geheimnissvolle  Dunkel  nach  sterblichem, 
augenblicklichen  Bedürfhiss  und  Leben,  auslegte. 

Die  biblische  Lehre  muss  diese  Weissagerei  verwerfen, 
denn  es  ist  keine  außer  m  Gott.  Seine  Erkenntniss  ging  auf^ 
wie  die  Sonne;  vor  ihm  verschwinden  alle  Nachtgesichte.  Die 
Auslegungen  dieser  dunkele^i  Schauung  sind  nichts  besseres  als 
Götzenbilder;  sie  fixieren  nav^h  endlich -räumlicher  und  zeitlicher 
Weise  und  mit  menschlicher  Willkür  und  fordern  für  dieselbe 
den  Glauben,  der  nur  der  Ewigl^eit  gebührt. 

Als  das  Orakel  in  Delphi  d^.e  Autorität  verlor,  befragte 
man  es  nicht  über  Staatsangelegenheiten,  aber  über  private 
Dinge,  über  Sclavenkauf,  Heirathen,  Feldbau  und  Geschäfte 
aller  Art.  Den  Alten  war  aber  der  Gegenstand  der  Frage  der 
Maßstab  der  Bedeutung.  Darin  zeigt  sich  der  heidnische  Lr- 
thum  am  meisten.  Denn  sie  begränzten  die  Kraft  der  Weis- 
sagung selbst  durch  die  Enge  der  menschlichen  Verhältnisse, 
aus  denen  die  Frage  kam,  während  es  für  das  Orakel  eben  so 
schwer  war,  zu  wissen,  in  welchem  Jahre  ein  Mädchen  ihren 
Geliebten  heirathen  werde ,  als  ob  der  König  Krösus  über  den 
Grenzfluss  gehen  solle.  Vielmehr  wurden  diese  Gesellschafts- 
und Familienfragen,  wie  mau  sie  in  neuerer  Zeit  an  drei  und 
vierbeinige  Orakel  zu  stellen  pflegte,  der  Auslegung  der  privi-. 
legierten  Deuter  immer  schwer,  weil  der  Kreiß  der  Deutung  oder 


395 


yielmehr  der  Vieldeatung,  immer  enger  ward.  Aber  diese  Auf- 
fassung musste  dem  Heidenthum  eigen  sein,  denn  das  heidni- 
sche Orakel  weiß  nichts,  als  was  die  .Menschen  fra- 
gen und  auslegen;  sein  Wissen  erscheint  daher  je  weiter 
und  größer,  je  ausgedehnter  die  Kreise,  die  politischen  und 
geographischen  Gränzen  sind,  aus  denen  die  Fragen  kommen. 
Denn  einen  Begriff  von  einer  Ewigkeit,  welche  sich  nicht  blos  auf 
ein  einfach  Vor-  und  Rückwärts  beschränkte,  in  welcher  nicht 
blos  alles  Hintereinander,  sondern  auch  jedes  Nebeneinander 
in  einen  Brennpunkt  zusammenfiel,  in  der  also  die  einzelne  Be- 
gebenheit ebenso  fern  und  nahe  lag,  als  die  dunkele  Zukunft 
und  die  dunkele  Vergangenheit,  hatte  das  Heidenthum  eben 
nicht. 

Die  biblische  Lehre  verwirft  alle  Wahrsager,  Geisterbe- 
schworer,  Todtenbeschwörer ,  wie  Götzendiener,  sie  verkünden 
im  Namen  falscher  Götter;  denn  Gott  ist  es  ni^ht,  der  um  der 
Neugier  und  der  gewöhnlichen  Fragelust  der  Menschen,  in  die 
Hände  einiger  Ausleger  das  Verborgene  gegeben  hat.  „Diese 
Völker,  die  du  vertreibst  (sprach  wörtlich  Moses  zum  Volke) 
hören  auf  Wolkendeuter  und  Wahrsager,  —  Dir  aber  verkün- 
det nicht  so  der  ewige  Gott.  Einen  Propheten  wie  mich  wird 
der  Ewige  dein  Gott  aus  deinen  Brüdern  erwecken,  und  auf 
den  sollst  du  hören. '^  (Vgl.  Evangel.  Matthäi  17.  5,  Lu- 
cae  9.  36.  wo  die  Erfüllung  dieser  Verkündung  in  Christo  of- 
fenbart wird.)  Die  Prophetie  des  Moses  ist  hier,  wie  eine  Art 
Norm  für  aUe  Prophetie  im  Namen  des  ewigen  Gottes  hinge- 
stellt. Und  wie  ist  denn  diese  Prophetie  beschaffen!  Sie  un- 
terscheidet sich  von  dem  Orakel  wie  Gott  von  Apollo  sich  ab- 
zeichnet. Ihr  Maßstab  und  Norm  ist  eben  nie  etwas  Anderes 
als  die  ewige  Lehre,  der  allgegenwärtige  Gott.  Ihr  Zweck  ist 
nie  ein  anderer,  als  für  die  sittlichen  Wirkungen  und  Folgen 
der  Lehre  des  Herrn.  Die  Gränzen  der  Prophetie  sind  nicht 
die  Gegenwart,  darum  beschränkt  sich  auch  nicht  ihr  Wort 
auf  ein  bestii|;^ntes  Verhältniss  und  eine  bestimmte  Zeit.  Sie 
nimmt  ihren  Ausgang  nicht  von  dem  einzelnen  Menschen,  son- 
dern immer  vom  allgemeinen  Gedanken.  Sie  wartet  darum 
nicht  bis  sie  gefragt  wird,  sie  redet  von  den  Gesetzen  der 
Welt  auch  gegen  den  Willen  und  gegen  die  Mode  der  Zeit. 
Sie  sieht,  wie  Elia  über  dem  Sturm,  dem  Donner,  den  brau- 
senden Elementen  den    stUlen  waltenden    Geist  der  Ewigkeit, 


396 


sie  zeigt,  wo  Alles  dürr  und  erstarrt  ist,  auf  den  Flecken  am 
Himmel  wie  eine  Hand  groß,  den  noch  Niemand  sieht,  das« 
von  ihm  herunterstrome  das  Geschick  der  Zukunft;  sie  lehrt 
die  Völker,  mit  denen  sie  lebt,  an  den  ewigen  Gesetsen 
Gottes  und  der  Wahrheit  ihr  Leben  und  ihren  Vortheil  mes- 
sen ,  und  darum  sind  ihre  Verkündungen ,  auch  wenn  die 
Personen  zu  denen  sie  spricht,  wechseln,  immer  noch  dieselben; 
ihre  Aufgabe  ist  nicht,  das  was  den  Menschen  Ter- 
borgen  bleiben  muss  zu  enthüllen,  sondern  das,  was  ih- 
nen kund  werden  muss  zu  erklären:  die  kleinen  GelCtsie 
menschlicher  Neugier  erfüllt  sie  nie;^^)  wenn  sie  dem  Ein- 
zelnen antwortet,  den  ein  individuelles  Schicksal  drückt,  bo 
geschieht  dies  nur  mit  Hinweisung  auf  die  Norm  des  ewigen 
Geschicks  und  zur  Deutung  der  unendlichen  Sittlichkeit,  die  in 
jedem  Herzen  als  Richter,  wie  als  Zeuge  sitzt.  Wenn  der  Mat- 
ter des  Abia,  eines  königlichen  Prinzen  über  die  Krankheit 
desselben  ein  Bescheid  gegeben  wird,*^)  so  geschieht  es  nnr 
um  der  Sünde  ihres  Gemahls  einen  Sittenspiegel  vorzuhalten. 
Dagegen  nähert  sich  ein  anderer  Prophet  dem  armen  Weib,**) 
die  ihr  Kind  verloren  glaubt,  mit  heilender  Kraft,  denn  sie  glaubte, 
dass  er  ihrer  Sünden  wegen  nahe  und  ihr  die  Schuld  an  der 
Kjrankheit  ihres  Lieblings  deuten  werde.  „Lehrer  der  Umkehr^ 
werden  sie  daher  treffend  von  Gregorius  v.  Nyssa  genannt.**) 
Die  Prophetie  im  Namen  des  Ewigen  bedarf  daher  keiner  Ver- 
zückung und  dunkeler  Begeisterung.  Sie  legt  vielmehr  den 
hellen  Tag  in  die  Seele  des  Menschen,  in  dem  er  sieht,  was 
durch  lokale  und  zeitliche  Hindernisse  von  Andern  nicht  ge- 


56)  Tief  und  trefflich  heißt  es  daher  in  einem  Briefe  der  heiligen  Hilde» 
gard,  worin  sie  einem  Petenten  aus  Coblenz  ablehnt  seine  Fragen  über  die 
Zukunft  zu  beantworten!  „de  salute  autem  animarum  magis  loqnor,  quam  de 
casibus  hominnm  et  ideo  multotiens  de  his  sileo,  quia  Spiritus  sanctns  non  sf- 
fiidit  manifestationem  in  confusione  criminum  popnlorum  sed  jostom  Jodieiam* 
Epp.  var.  n.  27.  bei  Martene  et  Durand  Vett  ss.  et  monn.  junplis.  coUeotlo 
2.  p. :  1047.  48.  Auch  der  h«  SeTerinus  antwortet  dem  fragenden  König  der 
Rugier :  Du  hättest  mich  vielmehr  über  das  ewige  Leben  fragen  BoUea. 
^Disce  insidias  cavere,  non  ponere  et  in  lectulo  quippe  tuo  pacifico  fine  traof- 
ibis."     Acta  sanct.  Surii  Jan.  p.  160. 

57)  1  Kon.  15.  7.  8. 
68)  1  Kön.  17.  17. 

59)  Vgl.  Suicer.  thef.  eccles,  2,  871. 


397 


sehen  wird,  indem  ihm  der  Moment  wie  ein  Tropfen,  worin 
sich  der  ewige  Gedanke  reiner  oder  trüber  abspiegelt,  und 
vorglanzt  sein  eigener  Geist,  erhoben  über  die  Beengtheit 
des  individuellen  Naturells,  die  Sprache  findet,  in  welcher  er 
redend  dieses  Gesicht  wie  in  ein  GeHLß  verbirgt,  um  ewig 
den  Menschen  zu  verbleiben.  Sehr  fein  drückt  sich  darüber 
d.  h.  Basilius  aus :  „wie  kann  denn  der  sinnlos  verzückt 
werden,  welcher  von  Gottes  Allgegenwart  ergriffen  wird^ 
wie  denn  der  seinen  Verstand  verlieren,  der  in  der  Seele  die 
göttlichen  Lehren  bewegt,  der  seine  eigenen  Reden  nicht  ver- 
stehen, der  Andern  hierdurch  Verstandniss  bringt.^  Es  liegt 
ja  das  bereits  in  den  Worten  des  Moses,  die  Prophetie  werde 
auf  einen  Mann,  wie  er  übertragen  sein  —  mit  dem  Gott  nie 
in  Räthseln  sprach,  und  der  selbst  nicht  einmal  mit  dem  ge- 
wöhnlichen Namen  „Prophet^  sondern  Mann  Gottes  genannt  wird. 

Die  Prophetie  beruht  auch  nur  auf  einem  ganz  von  Glau- 
ben und  Lehre  erfüllten  Wesen  —  dies  ist  unwiderstehliche 
Bedingung.  Daher  erklärt  sich,  wie  mit  der  Vorschrift,  die 
Zauberer  zu  vertreiben,  das  Gebet  verbunden  war,  „denn  du 
sollst  ganz  sein  mit  dem  ewigen  Gotf  •®)  Nichts  in  der  Seele 
soll  andern  Instincten  und  Neigungen  folgen.  Der  ganze  Mensch 
soll  ein  Spiegel  ewiger  Reinheit  werden.  Es  ist  daher  ein  tie- 
fer Satz,  wenn  Theophylactus  sagt  „Jeder  Gläubige  ist  eine 
Art  Prophet;  denn  er  sieht,  was  er  nicht  sieht,  er  hört,  was 
er  nicht  hört."  Wenn  es  im  Leben  des  heiligen  Gregor  von 
Nazianz  heißt  „reine  Naturen  haben  für  die  Erkenntniss  der 
Dinge  einen  wunderbaren  Blick.**) 

Der  Prophet  selbst  ist  daher  auch  kein  Maßstab  für  die 
Prophetie  Gottes.  Der  Prophet  ist  ein  Mensch  durch  dessen 
Individualität  das  Licht  mehr  oder  weniger  scheinen  kann.**) 


60)  Denteronomium  18.  13. 

61)  Vgl.  meine  Aasführimg  des  4.  Makarismus  in  der  Bergpredigt  Christi 
bei  Matthäus  5.  n^^liS  sind  die  reines  Herzens  sind,  denn  sie  werden  Gott 
schaaen*'  in*.  Irene,  eine  sprachlich  -  exegetische  Skizze  von  Selig  Cassel- 
Erfurt  1855.     p.  29  —  32. 

62)  Vgl.  die  schönen  Worte  des  Papstes  Gregor  darüber  Acta  Sanctor. 
Sur.  Mart.  p.  369.  «prophetiae  spiritns  prophetamm  mentes  non  semper  irra- 
diät«"  etc. 


398 


Dies  ist  der  Sinn,  wenn  es  iu  der  Schrift  heißt:  man  werde 
einen  Maßstab  für  die  Wahrheit  des  Propheten  haben,  dass 
das  Wort,  welches  er  sprach,  sich  bestätige;  bestätigt  sich  es 
nicht,  so  hat  es  Gott  nicht  geredet.  Es  ist  hier  nicht  die 
Rede  von  einem  Factum,  einer  bestimmten  Angelegenheit,  etwa 
wie  viele  Jahre  man  leben  werde,  welche  als  Maßstab  gemeint 
wird ;  eine  solche  Prüfling  würde  ja  vom  Volke  in  vielen 
Fällen  gar  nicht  anzuwenden  sein;  sondern  immer  nur  Ton 
den  Grundsätzen,  den  geistigen  Normen  welche  der  Prophet 
vorschlägt,  und  die  daher  sich  gründen  müssen  auf  die  ewige 
Lehre,  Anwendung  erleiden  in  nächster  Nähe  und  größter  Feme, 
engster  Besonderheit  und  größter  Allgemeinheit.  Der  Pro- 
phet hat  dann  mit  Leichtsinn  prophezeit,  sagt  die  Schrift, 
wenn  er  mehr  sein  besonderes  Ich,  seine  eigene  Natur,  sein 
menschliches  Verhältniss,  menschliche  Rücksichten  als  den  all- 
gemeinen über  alle  Besonderheit  des  Menschen  schwebenden 
Standpunkt  ewigen  Rechts  eingenommen.  Indem  er  dies  nicht 
that,  so  irrt  er. 

Darum  auch  prävalieren  für  die  heilige  Lehre 
nicht  Frauen,  sondern  Männer  als  Träger  der  Prophetie. 
Was  Frauen  für  die  heidnische  Weissagung  als  besonders  ge- 
eignet erscheinen  ließ,  ließ  sie  im  Lichte  der  ewigen  Lehre 
minder  tüchtig  erscheinen. 

Die  Frauen  sind  eben  Trägerinnen  jener  instinctiven  dun- 
kelen  Schauung,  besonders  begabt  mit  der  nervösen  Reizbar- 
keit, welche  wechselnde  Stimmungen,  Verzückungen  begünstigt, 
auf  der  ein  besonderer  Trieb  zur  Hellsehung  d.  h.  zum  dunke- 
len  Greifen  nach  Ahnungen  und  Sympathien  ruht. 

Die  Concentration  des  Frauenwesens  auf  das  Herz  gibt 
ihnen  die  Natur  eines  begeisterungsvollen  Wortes,  mit  dem 
sie  oft  unbewusst  in  die  Ferne  und  das  Geheimniss  treffen; 
aber  dieselbe  bannt  auch  Alles,  was  sie  betrifft  oder  berührt, 
in  den  Kreis  ihrer  Individualität;  sie  können  sich  von  dieser 
niemals  befrein  und  losmachen;  es  ist  die  ganze  Welt  nur  der 
Umlauf  um  dieses  ihr  concentriertes  Wesen  im  Herzen;  nur  das 
in  der  Welt  ist  vorhanden,  wohin  ein  Strahl  ihres  Herzens, 
welches  Inhalts  auch,  ausläuft. 

Diese  Natur  macht  sie  für  das,  was  das  Heidenthum  Weis- 
sagung nennt,  vollkommen  geeignet,  das  verlangt  ja  blos  Ein- 
zelnes, für  einen  gewissen  Lebenskreis  Beschränktes,  auf  be- 


399 


stimmte  Interessen  Abgegränztes;  dies  verlangt  ja  auch  ein 
dunkeles  Begeistertsein  um  wie  aus  Wolken,  mit  den  Augen 
dieser  beschränkten  Neigungen  und  individueller  Verhältnisse 
zu  lesen.  Es  handelte  sich  um  Thatsachen,  eine  Schlacht,  ei- 
nen Entschluss,  ein  Opfer;  nicht  um  Grundsätze,  die  ewig 
gelten,  um  Allgemeinheiten,  die  für  alle  Welt  ein  Spiegel 
sein  sollen.  Die  schwache  Natur  der  Frau  ist  ihre  starke 
Natur.  Das  was  sie  nach  der  Seite  ihrer  besonderen  Na- 
tur bewundernswerth  und  gewaltig  macht,  lässt  sie  in  Be- 
ziehung auf  den  Geist  allgemeinen  Lebens  als  unbefähigt  und 
schwach  erscheinen.  Ihre  dämonische  Natur  beruht  auch  nur 
auf  der  Kraft  des  Individuellen,  auf  ihrem  Einfluss  im  Einzelnen 
und  auf  das  Einzelne.  Auf  ihnen  kann  aber  kein  Gedanke 
ruhn,  der  losgelöst  vom  Individuum,  abstreifend  aUe  Beruhrun- 
gen persönlicher  Theilnahme  und  Rücksichten,  getragen  wird 
zur  Wahrheit  aller  Zeiten  und  zum  Eindruck  auf  das  Ganze 
und  Dauernde. 

Auf  diesem  innern,  gewaltigen,  reizenden  Zusammenhange 
mit  dem  Augenblicke,  mit  der  Person,  mit  dem  bestimmten 
Verhältniss,  ruht  der  Ruhm,  die  Macht,  der  Einfluss  der  Frauen 
in  aller  Zeit.  Aber  auf  dem  Mangel,  der  in  dieser  Natur  sich 
offenbart,  begründet  sich  auch  die  Entfernung,  welche  die  Lehre 
der  Dauer  und  Allgemeinheit  von  ihr  einnimmt.  Auch  die  Vor- 
urtheile  mancher  Zeiten  und  extremen  Secten  beruhen  auf  die- 
ser Erkenntniss  des  Mangels  in  ihnen.  Es  ist  ganz  natürlich, 
dass  die  Ketzersecten  des  Marcion  und  Manes,  welche  allen 
Prophetismus  für  einen  schlechten  hielten,  den  Frauen  beson- 
ders unhold  waren  und  ihr  ganzes  Geschlecht  für  ein  Werk 
des  Teufels  hielten;  wozu  ein  wackerer  Mann  im  vorigen 
Jahrhundert  in  seiner  naiven  Weise  bemerkte:*')  „Sie  dachten 
nicht,  dass  sie  selber  davon  herkommen  und  meistentheils  ihr 
Wesen  haben  und  sich  also  am  meisten  damit  schimpfeten.  Weil 
sie  aber  Christen  sein  wollten,  so  ist  es  ihnen  und  allen,  die 
noch  dieses  edle  Geschöpf  Gottes  so  vernichten,  destoweniger 
zu  verzeihen.^  Und  nicht  blos  im  6.  Jahrhundert  hat  ein  Bi- 
schof die  ungalante  Behauptung  aufgestellt,  Frauen  seien  keine 


63)  Eberti's    Eröffbetes  Cabinet   des  gelehrten  Frauenzimmers   Frkf.    und 
Leipzig  1706.  Vorrede. 


400 


Menschen,  sondern  noch  im  16.  Jahrhundert  wurde  dies  ver- 
theidigt,  so  dass  die  Schrift  von  einem  Merseburger  Superin- 
tendenten für  ketzerisch  erklärt  und  von  den  Theologischen 
Facultäten  zu  Leipzig  und  Wittenberg  den  Studenten  verboten 
worden  ist,  was  gewiss  sehr  nothwendig  war.**) 

Die  biblische  Lehre  verbannt  außer  den  Zauberern  und 
Wolkendeutern  ausfuhrlich  die  Zauberinnen.  Konig  Saul  hatte, 
als  er  noch  im  Lichte  des  Gesetzes  regierte,  alle  Zaubereien 
aus  dem  Lande  geschafft;  als  er  aber  abgefallen  war,  als  ihm 
Gottes  Stimme  in  seiner  Zerwürfniss  wie  es  heißt,  sowohl  in 
Träumen,  als  in  Propheten  schwieg  —  da  wandte  er  sich  zu 
den  Meistern  der  Nachtgesichte  und  suchte  die  Hexe  von  £n- 
dor  auf.  Wer  abfiel  vom  hellen  Tag  des  ewigen  Glaubens 
kehrt  sich  zu  den  kundigen  nächtigen  Zaubereien.  Wer  inner- 
lich zerrissen  die  reine  Stimme  der  Allgegenwart  Gottes  nicht 
mehr  hört,  sucht  die  Befriedigung  im  mystischen  Kitzel  dun- 
keler  Naturkräfte.  Diesen  Gegensatz  hat  das  Christenthnm 
iibernommen  und  wie  die  biblische  Lehre  ihn  gegen  den  Aber- 
glauben der  Urbewohner  des  heiligen  Landes  festzuhalten  hatte, 
so  das  Christenthum  gegen  all  die  Fiille  heidnischer  Sitten  und 
Gedanken,  denen  es  auf  dem  ganzen  Umkreis  seiner  Verbrei- 
tung begegnete. 

Nirgends  mehr  als  in  Deutschland  hatte  es  die  Meinung 
und  die  heidnische  Ansicht  von  übernatürlichen  Kräften  der 
Frauen  zu  bekämpfen. 

Das  Christenthum  hat  viel  reizende  Poesie  und  liebliche 
Sage  in  Deutschland  zerstört,  aber  der  Sonnenstrahl  zerstreut 
so  auch  die  bunten  und  malerischen  Träume  der  Nacht,  die 
phantasiereichen  Hoffnungen  des  Morgenschlummers,  der  mit 
Flügeln  über  Hindemiss  von  Raum  und  Zeit  hinwegÄhrt 

Sollte  es  seine  Lehre  wahrhaftig  ausbreiten,  musste  es  den 
fremden  Göttern,  welche  man  ehrte,  feindlich  begegnen;  sollte 
es  den  Völkern  in  aller  Majestät  erscheinen,  musste  es  dem 
Aberglauben  die  glänzenden  Kleider  ausziehn,  die  er  trug; 
sollte  das  Licht  der  neuen  Lehre  von  einem  ewigen  Gotte  aitf- 
gehen,  musste  in  die  Nacht  zurück  alles,  was  dem  widersprach 
oder  von  ihm  abwich.    Und  so  verkehrt  es  aU  den  Glanz  und 


64)  Eberti  ibid.  Vorrede  not.  4.  aus  Titios  Lit.  bist.  Art.  9.  cap.  S.  p.  196. 


401 


Reiz  des  alten  Glaubens  in  Hasslichkeit  und  nächtiges  Wesen; 
sein  Heil  wird  zum  Schaden ,  sein  Trost  zum  Gift.  Der  Schmet- 
terling ward  zur  hässlichen  Raupe.  Die  Götter  werden  zu 
Gespenstern;  die  halbcbristliche  Heimskringla  stellt  Odin  nur 
noch  als  Zauberer  und  Erzähler  dar.  Die  holde  Freia  wird 
zum  wüthenden  Nachtgespenst,  die  als  Frau  Holle  gefurch- 
tet und  grausig  ist.  Die  edlen  Ausdrücke  des  Wissens,  Kun- 
digseins verwandeln  sich  in  die  Bedeutung  vo  n  böser  Zauberei. 
Die  Namen  spamaedr  und  spakona,  Bezeichnungen  der  weisen 
Frauen,  fiölkunnigr,  das  Yielkönnen  wird  das  schlimme  Wis- 
sen unrechter  Dinge;  die  holden  Frauen  werden  unholde  Teu- 
felinnen. Hans  Sachs  wechselt  noch  mit  Bezeichnungen  wie 
weise  Frau  und  alte  Unhuld  ab.  Denn  statt  der  ewig  jungen 
Göttinnen  werden  lauter  alte  Hexen.«*)  Das  reizend  verfüh- 
rerische Auge  wird  roth  und  triefend;  noch  in  späten  Jahr- 
hunderten hielt  man  ein  rothtriefendes  Auge  für  das  Merkmal 
einer  Hexe.  Das  Lächeln  wird  zum  Grinsen,  der  Kuss  zu 
Gift.  Es  erinnert  dies  Alles  an  uralte  Schöpftingen.  •  Nicht 
blos  der  böse  Blick  ist  iiberall  hin  als  gegnerischer  Aberglau- 
ben verbreitet.  Bezeichnend  ist  was  vom  Kuss  die  Iranische 
Sage  meldet.  Er,  welcher  das  Zeichen  von  Huld  und  Treue 
ausdrückt,  wird  aus  dem  Munde  des  bösen  Geistes  Ahriman 
eine  grause  Strafe.  Als  der  listige  Teufel  den  Zohak  auf  die 
Schultern  küsst,  springen  Schlangen  hervor,  die  unvertilgbar 
sind  und  mit  Menschenbein  gefuttert  werden  müssen.  Die  Erin- 
nyen  und  Medusen  haben  Schlangen  statt  lockender  Locken 
vom  Haupte  herunter  rieseln.  So  wird  auch  dann  die  heilsame 
Pflege  mit  Speisen  und  Salben  zur  Hexenküche.  Die  Walky- 
rien,  welche  als  Frauen  edler  Männer  den  Beruf  der  Liebe 
und  des  überirdischen  Wandels  zugleich  erfüllen,  werden  zu 
bösen  Weibern,  welche  in  der  Nacht  ihren  Mann  verlassen 
und  in  die  Hexenversammlung  eilen.««)  Die  Schwanfrauen 
mit  dem  Schwanenhemde,  die  durch  Luft  und  Himmel  fliegen. 


65)  Vgl.  Grimm  Mythol.  p.  987.  etc. 

66)  Von  Hermogenes  v.  Klazomenae  wird  bekanntlich  berichtet,  dass 
seine  Seele  bei  Nachtzeit  den  Leib  veriassen  konnte,  dass  aber  einst  seine 
Frau  den  seelenlosen  Leib  verbrennen  ließ,  während  er  fort  war  und  die 
Seele  daher  nicht  zurückkehren  konnte.  Plini  us  histor.  nat.  7«  58.  Vgl.  He- 
gel Gesch.  der  Philosophie  1.  346. 


402 


werden  alte  Weiber,  die  auf  Besen  durch  die  Wolken  reiten. 
Es  ist  hier  unmöglich  den  ganzen  Kreis  des  Sagenschatzes  auch 
nur  annähernd  zu  berühren;  aber  überall  ist  der  Gegensats 
festgehalten  zum  Schonen,  Jungen,  Edelen,  zum  Natürlichen 
und  Vernünftigen.  Die  Schilderung  des  Treibens  auf  dem 
Blocksberge,  viel  bekannt,  ist  der  Gegensatz  alles  anmnthigen 
Wesens  durch  Ekel  und  Garstigkeit,  der  Gegensatz  jedes  Ge- 
nusses durch  Dürftigkeit  und  Abscheu.  Denn  nicht  etwas  or- 
dentliches zu  essen  und  zu  trinken  bekamen  die  armen  Hexen. 
So  erzeugte  der  Gegensatz  des  Christenthums  zur  alten  Sage 
den  Gegensatz  in  ihr  selber.  Wie  aus  der  edelen  Phantasie 
der  vorchristlichen  Zeit  die  schönen  Gestalten  der  Gottinnen 
und  Feen,  so  aus  der  verdorbenen,  der  antichristlichen  Zeit  die 
Karrikaturen  der  Hexen  und  bösen  Weiber;  das  Christenthum 
bekämpfte  die  heidnischen  Ueberreste  durch  sich  selber,  wie 
man  die  phantastischen  Lockungen  sinnlichen  Rausches  durch 
die  malerische  Darstellung  der  reuevollen  Nüchternheit  zer- 
stört. Dieser  Gegensatz  war  aber  im  Volksbewusstsein  nur 
instinctweise  vorhanden.  Sonst  würde  man  diesen  Krieg  ge- 
gen das  Heidenthum  im  Ueberreste  seiner  Traditionen  nicht 
auch  mit  solchen  leiblichen  Waffen  geführt  haben,  wie  dies  in 
den  Hexenverbrennungen  leider  geschehen  ist.  Es  sind  diese 
eine  trübe  Erfahrung  der  christlichen  Völker,  die  weit  in  die 
neuere  Zeit  hineinreicht,  die  aber  erklärt  und  durch  diese  Br- 
klärung  lehrreich  werden  kann. 

Seitdem  die  biblische  Lehre  der  Erkenntniss  des  Menschen 
geschenkt  worden  ist,  ist  Alles,  was  aus  dem  Irdischen  und 
Menschlichen  allein  hervorgehend  zu  Übermenschlichem  sich 
gestalten  will,  was  dunkele  Geheimnisse  des  irdischen  Men- 
schen nach  Willkür  und  besonderem  Interesse,  kraft  eigener 
Einsicht  zur  Wahrheit  und  gegen  das  Gesetz  der  göttlichen 
Verborgenheit,  auslegen  will,  was  mit  den  Schauem  der  Nacht 
und  der  irdischen  Elemente  auf  das  Herz  zu  wirken  unter- 
nimmt, für  verwerflich,  abgöttisch  und  sündig  betrachtet  worden. 

Frühzeitig  ist  nun  auch  der  umgekehrte  Schluss  gang- 
bar geworden,  dass  auch  bereits,  was  in  Geheimniss  gehüllt 
erscheint,  was  nicht  Allen  verständlich,  was  den  Meisten  uner- 
klärlich schien,  was  sich  verborgen  hielt  —  als  unchristlich 
betrachtet  werden  müsse  und  könne  und  dem  dunkelen  Treiben 
des  zauberischen  Heidenthums  angehöre. 


408 


Daher  erklärt  man  sich  nicht  bloß  manche  wunderbare 
Erzählungen  von  großen  Gelehrten  des  Mittelalters,  sondern 
auch  die  seltsamen  Vorwürfe,  welche  man  den  von  der  Kir- 
chenlehre abweichenden  Secten  der  Albigenser,  Waldenser  und 
Hugenotten  machte. 

Durch  das  Umsichgreifen  dieser  Secten  war  die  Praxis 
der  Kirchenlehre  eine  energische  und  strenge  geworden.  Indem 
man  das  Ketzerwesen  mit  dem  Hexenwesen  auf  eine  Linie 
stellte,  wurde  diese  energische  Strenge  auch  gegen  die  über- 
tragen, welche  man  im  Besitze  dunkeler  Künste,  also  im  Ab- 
fall von  der  Lehre  der  Kirche  betrachtete. 

Dies  datiert  ungefähr  seit  dem  13.  Jahrhundert.  Vorher 
war  die  Praxis  eine  mildere  gewesen.  Nur  diese,  die  Strafe, 
der  Prozessact,  sind  später  gegen  sie  war  eine  andere  voll  grö- 
ßerem Schrecken  und  Grauen  geworden.  Die  Ansicht  über 
ihre  Verwerflichkeit  brauchte  keine  andere  zu  werden. 

Das  Verfahren  gegen  sie  bewies  nur  durch  seine  Härte 
und  Furchtbarkeit  den  festgewurzelten  Glauben  an  das  Vor- 
handensein solcher  heidnischer  Kräfte,  an  die  Wahrheit  der 
Geständnisse,  welche  die  Folter  den  Hexen  abzwang. 

Es  zeigt  dieser  Glaube  nur  die  Mangelhaftigkeit  der  Vor- 
stellung, nicht  bloß  von  dem  Wesen  und  der  Schöpfung  des 
Heidenthums  selbst,  sondern  auch  von  dem  ganzen  geistigen 
Prozesse,  durch  welche  an  die  Stelle  der  Nornen  und  Walky- 
ren  Hexen  und  Zauberinnen  getreten  sind.  Man  stand  also 
nicht  außerhalb  der  Atmosphäre,  in  der  man  jenes  gestalten 
sah,  sondern  innerhalb  der  Wolken,  in  welche  der  Kampf  ge- 
hüllt war.  Dadurch  erhielt  der  Aberglaube  selbst  eine  Berech- 
tigung, weil  man  nicht  verstand,  seinen  Quell  und  seine  Ge- 
schichte zu  erkennen,  und  in  seinem  Walten  das  natürliche 
dauernd  Menschliche  und  das  unnatürlich  heidnische  Endliche 
zu  unterscheiden. 

Man  darf  sich  dabei  nicht  auf  die  heilige  Schrift  berufen, 
dass  doch  die  Hexe  von  Endor  allerdings  auch  im  Stande  ge- 
wesen sei  zu  zaubern  und  die  Wahrheit  zu  treffen.  Hierbei  soll 
eben  nur  gelehrt  werden,  dass  die  Wahrheit,  die  dem  sündigen 
Saul  mitgctheilt  werden  soll,  nicht  mehr  von  ihm  verdient  war 
durch  das  Organ  der  ächten  Prophetie  zu  vernehmen;  sie  wird 
ihm  durch  die  Zauberin  mitgetheilt,  die  selber  eine  lebendige 
Mahnung  ist  an  die  Zeit,  in  welcher  man  dem  Gesetz  gehor- 

fFeimar.  Jb.  lt.  26 


404 


sam  lebte  und  alle  Zauberinnen  vertrieb.  Man  kann  auch  nickt 
sagen,  dass  das  mosaische  Gesetz  ihren  Tod  befohlen.  Es  steht 
nicht,  wie  sonst,  „Du  sollst  eine  Zauberin  todten",  sondern 
nur,  du  sollst  eine  solche  nicht  existieren  lassen,*^)  d.  h.  nicht 
als  Zauberin  mit  offener  Verhöhnung  der  ewigen  Lehre  ihr 
Gewerbe  treiben  und  das  Volk  verführen  lassen.  Daher  68 
auch  von  Saul  nur  heißt,  dass  er  sie  aus  dem  Lande  verbannt 
habe.*®)  Der  Grund  des  Gesetzes  liegt  in  der  tiefen  Er- 
kenntniss  der  menschlichen  Natur,  die  sich  eben  nach  Jahr- 
hunderten noch  bestätigt.  Sie  soll  das  Volk  nicht  verfCdiren, 
an  magische  Kräfte  zu  glauben,  die  entweder  nicht  da  sind, 
oder  wenn  sie  da  sind,  nicht  durch  menschlichen  Witz  und 
personliche  Willkür  ausgelegt,  sondern  allein  an  dem  ewigen 
Gott  gemessen  und  von  ihm  durchleuchtet  werden  sollen.  Eis 
ist  daher  für  alle  Zeiten  lehrreich,  sich  immer  den  historischen 
Entstehungsprozess  des  Heidenthums  vorzustellen  und  zwischen 
seinen  Elementen  und  den  daraus  entstandenen  Producten  zu 
unterscheiden.  Man  täuscht  sich  wohl  nicht,  wenn  man  dies 
gerade  in  unserer  Zeit  für  wichtig  hält. 

Denn  heidnische  Anschauung  ist  jeder  Glaube  an  die  Mög- 
lichkeit einer  Zauberei;  richtig  aber  ist  die  Anerkennung  einer 
dunkelen  Macht  im  menschlichen  Leben,  die  in  tausend  Ge- 
stalten und  Formen  auf  unser  Herz  losstürmt,  die  durch  wun- 
derbare Träume,  Sympathien,  Ahnungen  unsere  Phantasie  axif- 
regt  und  beflügelt,  die  wie  ein  feuriger  Drache  uns  bald  zu 
Furcht  erschreckt,  wie  eine  glatte  Schlange  zu  Abwegen  führt, 
wie  ein  wackelnder  Tisch  zu  heidnischem  Spiele  verleitet  — 
aber  dieser  Anerkennung  geht  voran  die  Pflicht,  den  Glauben 
an  den  ewigen  Gott  durchdringen  zu  lassen  den  ganzen  Men- 
schen und  die  ganze  Seele,  dass  das  Leben  von  ihm  erfüllt 
werde,  wie  ein  Leuchte  vom  Licht,  dass  er  durchschimmere 
auch  durch  den  dunkelen  Traum,  dass  er  Maß  werde  auch  für 
das  Unerforschte  und  Unerforsehliche.  Denn  wie  ein  alter 
Kirchenlehrer  sagte:  „ein  Gläubiger  ist  ein  Prophet."  Und  ein 
Prophet  will  und  darf  nicht  wissen  wollen,  was  verborgen  blei- 


67)  Kxodiis  22.  18.    Damit  steht  Loviticus  20.  27  nicht  im  Widersprach. 

68)  1.  Sam.  28.  9.     In   der  That  ist  dieses  Capitel   der  Schrift  eines  dffr 
dnnkelstcn,  zwar  nicht  dem  Wortlaute,  aber  dem  Geiste  nach. 


405 


ben  muss,  und  nur  verkünden  und  erklären,  was  offenbar  wer- 
den soll. 

Wenn  aber  auch  durch  diese  Stellung  der  Prophetie  auf 
dem  Grunde  der  Ewigkeit  und  Allgemeinheit  für  das  Juden- 
und  Christenthum,  Männer  als  Träger  derselben  prävalieren 
mussten,  so  hat  es  doch  nicht  an  wunderbaren  Frauen  gefehlt, 
welche  der  Geist  erfüllt  hat  und  bei  denen  der  enthusiastische 
Drang  wie  eine  Perle  in  der  Schale  erhabenen  Gottesbewusst- 
seins  lag.  Debora,  die  Prophetin,  erträgt  nicht  länger  die 
Schmach  ihres  Volks  unter  dem  Kananiterkönig:  sie  ruft  auf 
die  Muthigen  des  Volks.  Aber  auch  der  Muthigste  antwortet: 
Ziehst  Du  mit,  so  ziehen  wir;  wenn  nicht,  so  bleiben  wir. 
Und  sie  zog  mit;  ihre  That  und  ihr  Gesang  sind  für  alle  Zeit 
verblieben.  Wie  eine  Dithyrambe  aber  in  Sonne  getaucht, 
wie  ein  Bardinnenruf,  aber  mit  heilig  hallendem  ^Echo,  wie  ein 
bacchantischer  Päan,  aber  auf  ewigem  Psalter  tönt  ihr  Lied: 
„Untergehen  werden  alle  deine  Feinde,  Ewiger;  deine  Freunde 
aufgehen,  wie  die  Morgensonne  in  Herrlichkeit.^ 

Eine  Prophetin  war  die  Chulda,  welche  dem  frommen  Kö- 
nige Josias,  dem  Reformator  der  alten  Lehre  über  das  Geschick 
der  Zukunft  in  düsterer  Rede  weissagte.  Ihr  Auge  sah  in  die 
Ferne  und  ihre  Verhängnisse;  auch  ihr  Name  erinnert  an  diese 
Kraft. 

Die  heilige  Geschichte  des  Christenthums  ist  reich  an  ede- 
len  Frauen,  in  deren  Auge  und  Seele  ein  Spiegel  des  unend- 
lichen Glaubens,  tiefsinniger  Gedanken  und  heiliger  Begei- 
sterung war. 

Die  Martyrerlegenden  heiliger  Frauen  und  Jungfrauen  bil- 
den die  rührendsten  Episoden  in  der  Geschichte  der  Duldungen 
für  die  christliche  Lehre.  Aber  auch  die  besondere  Gabe  der 
Prophetie  besaßen  nicht  wenige.  Bereits  unter  den  Montani- 
sten, einer  Sekte  des  zweiten  Jahrhunderts,  in  welcher  Ver- 
geistigung des  Menschen,  Lossagung  vom  Irdischen,  ekstati- 
sches Entsagen  edles  Streben  war,  treten  schwärmerische 
Frauen  auf,  Maximilla  und  Priscilla,  welche  Gesichte  vom  Him- 
mel und  dem  tausendjährigen  Reiche  hatten. 

Aber  besonders  in  der  rechtgläubigen,  namentlich  deut- 
schen Kirche  zeichnen  sich  Frauen  durch  wundersame  Seher- 
kraft, wie  die  Heiligengeschichte  mitthcilt,  aus.  Der  heiligen 
Brigitta  von  Kildare,  der  Patronin  von  Irland,  werden  dunkel 

26* 


406 


prophetische  Bucher  zugeschrieben,  die  sie  in  Offenbarung  ver- 
fasst  liat.  Darauf  beziehen  sich  die  Symbole,  welche  ihr  auf 
Bildern  gegeben  werden:  sie  hat  eine  Lampe  in  der  Hand, 
Feuerflammen  leuchten  um  ihr  Haupt.  Einen  deutschen  Na- 
men trägt  die  heilige  Godoleva,  ®^)  welche  unter  allen  Leiden 
die  sie  ihrem  Manne  verdankte,  verkündete,  einst  berühmter 
wie  alle    Frauen  Flanderns    zu  werden. 

Die  h.  Lidwina  aus  Schiedam'''^)  sah  in  die  Herzen  und 
Fernen  und  ihr  Katb  half  dem  Frommen  auf  den  Grundsätzen 
seiner  Lehre  auszuharren.  Ein  Seefahrer,  der  auf  ihren  Rath 
nicht  am  Festtage  in  die  See  stechen  wollte,  rettete  dadurch 
Theben  und  Freiheit. 

Die  h.  Gertrud  von  Oesten'")  verkündete  die  Zukunft, 
aber  sie  verweigerte  Bescheid,  bis  or  ihr  im  Geiste  verkündet 
ward. 

Die  h.  Adelheid  wurde  zu  unerwarteter  Hellseherei  in  ge- 
lehrten Dingen  entzückt.  Berühmter  als  alle  war  aber  die  h. 
Hildegard,  Aebtissin  bei  Bingen  am  Khein,  die  Verfasserin 
mehrerer  durch  Erleuchtung  empfangener  Werke.  In  der  Vor- 
rede eines  dieser  Bücher,  Scivias  genannt,  sagt  sie:  Als  ich 
42  Jahre  7  Monate  alt  war,  kam  ein  feurig  Licht  von  blen- 
dendem Strahle  vom  Plimmel,  durchgoss  mit  ganzes  Gehirn, 
das  ganze  Herz  und  Brust  wie  eine  Flamme,  nicht  verzehrend, 
sondern  wärmend,  und  entzündete  mich  so,  wie  die  Sonne  alles 
erwärmt,  auf  welches  sie  ihre  Strahlen  sendet.  Und  so  ver- 
stand ich  plötzlich  den  Sinn  der  Auslegung  des  Neuen  und 
Alten  Testaments;  ich  hatte  aber  weder  eine  Uebersetzung 
ihrer  Texte,  noch  verstand  ich  ihre  grammatische  Form.**^*) 
Ihr  Symbol  in  bildlicher  Darstellung  ist  daher  ein  Buch. 

Aber  es  bedarf  weder  der  Aufzählung  der  Zauberinnen  der 
Sage,  noch  der  Prophetinnen  der  Legende,  lun  die  große  Welt- 
wandlung zu  erkennen,  welche  seit  dem  Erscheinen  der  Sonne, 
seit  dem  Aufgange  des  Morgenlichts  in  der  Wahrheit  der  hei- 
ligen Lehre  mit  der  Stellung  der  Frauen  vorgegangen  ist. 


69)  Acta  Sanct.  Sur.  Jiil.  p.   111. 

70)  Act.  Sanct.  Sur.  Apr.  745.  4G. 

71)  Act.   Sanct.  Jan.  p.  9.   10. 

72)  Act.  Sanct.  Sur.  Sept.  346. 


407 


Freilich  die  Natur  derselben  hat  sich  nicht  verändert.  Sie 
tragen  noch  dieselben  Zauberm'achte  in  sich,  aus  welchen  einst 
die  Genien  emporstiegen;  noch  immer  waltet  in  ihnen  die  dä- 
monische Gewalt,  welche  das  Herz  der  Männer  beherrscht  und 
fesselt;  noch  immer  gliihn  die  Feuer,  aus  welchen  die  sdiön- 
sten  wie  die  heftigsten  Leidenschaften  lavaähnlich  über  das 
Leben  dahinrollen. 

Nicht  untergegangen  ist  der  Reiz,  welcher  mit  magneti- 
scher Wunderkraft  die  Liebe  ausstreut  hinweg  über  die  natür- 
lichen und  unnatürlichen  Schranken  dieser  Welt.  Noch  lebt 
die  süße  Heimlichkeit,  welche  die  treue  Häuslichkeit  der  züch- 
tigen Hausfrau  um  den  thätigen,  sorgen-  und  kampfgeübten 
Mann  webt. 

Noch  waltet  die  magische  Kraft  der  Mutterliebe,  bereit 
zur  entzückenden  Hingebung.  Noch  begegnet  mau  außerge- 
wöhnlichen Gewalten  in  den  Seelen  der  Frauen,  mit  unwider- 
stehlicher Sehnsucht  drängend  zu  freier  Bewegung  des  Geistes 
und  mit  Adlerschwingen  deckend  *ein  sanftes,  mildes  Herz;  es 
sind  noch  alle  die  Eigenschaften  da,  welchen  die  menschliche 
Poesie  die  Gestalten  von  Wölen  und  Hexen,  die  Schwanjung- 
frauen und  Walkyrien  entlockten  —  das  dämonische  Gelüste 
der  Sinne  rauscht  noch  heute  gespensterhaft  wie  Frau  Holle 
durch  die  Gemüther.  —  Aber  alle  diese  Gaben  und  Elemente 
sind  nicht  mehr  allein.  Ueber  ihnen  steht  die  goldne  Scheibe 
sonniger  Erkenntniss.  Ueber  ihnen  leuchtet  der  lächelnde 
Mond  verzeihender,  duldender,  gottlicher  Liebe. 

Medea^s  fanatischer  llachegeist  schmilzt  von  dem  Anblick 
ewiger  Milde. 

Aretaphila  kann  nicht  mehr  die  irdische  Freiheit  eines 
Volkes  erkaufen  wollen  durch  die  diabolische  Knechtschaft 
menschlicher  Listen  und  Gräuel. 

Brunhild  kann  nicht  mehr  in  ihrer  verzehrenden  Leiden- 
schaft Genugthuung  finden  für  die  dämonische  That  gegen  den 
Geliebten. 

Chriemhildens  Ruhm  ist  untergegangen,  welcher  groß  wurde 
durch  den  Rachemord  gegen  sündige  Briider  und  Verwandte. 

Die  ewige  Liebe  ist  als  Bändiger  der  Leidenschaft  er- 
schienen. Der  allgegenwärtige  Dulder  unseres  Wesens  als  der 
fesselnde  Zeuge  unserer  losbrechenden  Schmerzen.  Die  dämo- 
nische Macht  der  Frauen,   die  sich  auflehnt  gegen  die  Gesetze 


408 


der  Welt,  und  die  dunkelen  Schatten  der  Nacht  uicht  scheut 
herauszufordern  für  ihre  Sehnsucht  und  Lust,  ist  zur  ange- 
lischen geworden,  welche  ihre  überirdische  Macht  beweiset 
durch  ein  hinreißendes,  bewältigendes  Dulden. 

Den  Frauen  ist  eine  neue  Zauberkraft  geworden,  starker 
denn  alles,  was  sie  bisher  besessen,  gewaltiger  wie  die  entfes- 
selnde Leidenschaft,  die  kein  Mittel  scheut,  die  bannlose  Lust, 
die  mit  der  eigenen  Natur  die  Zerstörung  anfangt  —  es  ist 
eben  die  engelgleiclie  Bewältigung  des  Dämons  durch  Liebe 
und  Duldung  in  und  vor  Gott. 

Wahrhaft  bewundernswerth  ist  der  Wahlspruch,  den  die 
h.  Theresa  sich  gewählt  hat;  er  überragt  an  beschattender  Wahr- 
heit alles,  was  die  weise  Edda  enthält.  Aut  pati  aut  mori 
schrieb   das   fromme  Mädchen:   entweder  dulden  oder  sterben. 

Dulden,  d.  h.  lieben  und  Segen  verbreiten  in  Gott,  ist 
leben.     Ohne  dies  ist  nächtiger  Schatten  des  Todes. 

Dulden  ist  die  Kraft,  welche  in  den  Augen,  der  Geberde, 
den  Worten  des  Weibes  ausspannt  die  siegreiche  Fessel  um 
Alles,  was  da  lebt. 

Für  die  größte  Frau  der  größeste  Ehrgeiz,  das  herrlichste 
Ziel,  die  siegreichste  Schlacht  ist  dulden. 

Deutsche  Frauen  begreifen  die  unendliche  Tiefe  dieses  dul- 
denden Lebens  bis  zu  beseligender  Wirkung.  Noch  immer 
herrscht  in  ihnen,  wie  zu  Tacitus  Zeit,  „etwas  Heiliges  und 
Yoraussichtiges^  ihnen  und  ihrer  Duldung  galt  auch  mein  ein- 
faches Wort  von  dem  Sterblichen  und  dem  Ewigen,  von  der 
Schwäche   der  Gewalt  und  dem  unendlichen  Anfang. 

Vorm  Werden  war  das  Wort;  aus  ihm  entquoll  die  Zeit. 
So  ist  die  Liebe  worden  die  Mutter  der  Ewigkeit. 

Vorm  Werden  war  das  Wort;  die  Pforte  ist  der  Geist, 
Doch  Liebe  ist  der  Schlüssel,  der  in  das  Dunkle  weist. 

Das  Wort,  ein  weites  Meer,  drei  Perlen  schwimmen  drin, 
Poesie,  ein  Frauenherz,  ein  gottesgläubger  Sinn. 


ZUR 


MAKARONISCHEN  POESIE 


von 


D^  OSKAR  SCHADE. 

Unter  makaronischer  Poesie  hat  man  oft  fälschlich  entweder 
jede  Vermengung  verschiedener  Sprachen  oder  Mundarten  im 
Verse  zu  komischem  wie  nicht  komischem  Zwecke  verstanden, 
oder  die  Einmischung  fremder  Worter,  Phrasen,  Satz-  und 
Versglieder  in  die  Nationalsprache.  Sonach  fiele  also  jede 
Mischpoesie  und  Sprachmengung  ins  Bereich  des  Makaroni- 
schen,  also  z.  B.  jene  halb  lateinischen,  halb  altdeutschen  Verse, 
wie  die  des  Leichs  auf  die  Versöhnung  Ottos  I.  mit  seinem 
Bruder  aus  der  Mitte  des  10.  Jhdts.: 

Nunc  almus  allis  filius  thero  ewigero  thicrnün, 

benignus  fautor  mihi,  thag  ig  ig  cdlan  muogi 

de  quodam  duce,  themo  heron  Heinriche, 

qui  cum  dignitate  thero  Beiaro  riebe   bewarodu  u.  s.  w. 

oder  Lieder  des  12.  Jhdts,  wie 

Virgo  qutedam  nobilis 

diu  gic  ze  bolze  umbe  ris  u.  f.  w. 

Floret  iiWa  undique : 

nach  mime  gefellen  ill  mir  we  u.  f.  w. 

oder  das  spätere  Kirchenlied: 

In  dulci  jubilo 

nun  finget  und  feit  fro! 

alle  unfer  wunne 

leit  in  profepio.  u.  f.  w. 


uo 


ferner : 


Puer  natus  ift  uns  gar  fchon  n.  f.  w. 
Vinum   qu»  pars  —  verftehlla  das?  u.  s.  w. 


oder  Vermengung  des  Nordfranzosischen  und  Deutschen,  wie: 

dag  was  Erec  fils  li  roy  Lac  — 

oder  jene  Verse  des  Dante: 

Ahi  fsLulx  ris  per  qe  trai  haves 

Oculos  meos  et  quid  tibi  feci, 

Che  fatto  m*hai  cos!  fpietata  fraade  — 

in  denen  Provenzaliscb ,  Lateinisch  und  Italiänisch  abwechseln, 
oder  wenn  ein  provenzalischer  Dichter,  Rambaldo  di  Vacchera, 
in  eine  Canzone  der  Reihe  der  Strofen  nach  fünf  verschiedene 
Sprachen  oder  Mundarten  einflocht,  Provenzalisch,  Italiänisch, 
Franzosisch,  Gascognisch  und  Spanisch,  —  das  alles  wiirde 
dann  makaronische  Poesie,  wenigstens  würden  es  makaronische 
Verse  sein.  Der  beste  makaronische  Dichter  der  Welt  wäre 
dann  wol  ein  Deutscher,  Oswald  von  Wolkenstein,  der  ein  Ge- 
dicht aus  Wortern  von  sieben  Sprachen  gebildet  hat,  aus  dem 
Hochdeutschen,  Flämischen,  Italiänischen,  Franzosischen,  Ungri- 
schen.  Lateinischen  und  Slavischen *).     Doch  dem  ist  nicht  so: 


*)  Die  erste  Strofe  dieses  Qedichtes  lautet: 

Do  fraig  amors, 

adjnva  me! 

ma  lot,  min  ors 

na  moi  ferce 

rent  mit  gedank, 

frau,  pur  a  ti. 

ek   lop,  ek  llap 

vel  quo  vado, 

we  fegg,  min  krapp, 

ne  dirs  dobro 

ju  gAaf  c  frank 

raerfchi  vois  gri. 

Deutfch  vrelifch  mach, 
iranzoifch  wacli, 
ungrifchen  lach, 
prot  windifch  pach, 
floming  fo  krach, 
latcin  die  libcud  fpraoh! 


411 


jene  Oefinitioneu  beruhen  auf  Irrtümern.  Die  makaronische 
Poesie  hat  vielmehr  zur  Grundlage  ihres  sprachlichen  Materials 
immer  das  Lateinische,  das  dann  mit  nachgemachtem  Latein 
aus  den  Wörtern  einer  andern  Sprache  (je  nach  der  Nationa- 
lität des  Dichters)  versetzt  wird:  an  diese  Worter  werden  la- 
teinische Endungen  gehängt  und  sie  werden  dann  wie  latei- 
nische decliniert  und  conjugiert,  man  beobachtet  möglichst  die 
lateinischen  Constructionen  und  selbst  die  Gesetze  der  latei- 
nischen Metrik,  sofern  es  thunlicli,  wenigstens  scheinbar.  Der 
makaronische  Stil  hat  es  also  allemal  nur  mit  zwei  Sprachen 
zu  thun,  der  lateinischen  und  einer  beliebigen  andern  latini- 
sierten in  organischer  Verbindung,  wenn  man  so  sagen  darf. 
Der  italiänisch-makaronische  Dichter  verbindet  also  das  Latein 
mit  latinisiertem  Italiänisch,  z.  B.: 

Poßqaam  Falcbettnm   fniftra  cercaverat  ante 
Nee  valuere  Tai  crebro  chiamando  gridores 
Perdideratque  vise  dudum  veftigia  rectas, 
Snpra  depictam  diverfo  flore  piazzam 
Improvifus  adell,  ubi  dulcis  Yen  tu  las  afflat, 
In  cujus  medio  vivi  fontanula  faxi 
PerHrepit  undiculas  teneram  fundendo  per  herbani. 
(Merl.  Coc.  Mac.  XVI,  ed.  Amßel.  1692  p.  242.) 

oder: 

Non  dux,  non  princeps,  non  rex,  non  dcnique  papa 
Mangiat,  ni  tavol«  ßet  fibi  Mosca  comes. 

Immo  reprefentant  vix  coram  rege  piatum, 
Credenzam  regi  Mosca  galanta  facit. 

(Merl.  Coc.  Mosch.  43.) 

Die  Worte  selber  brauchen  auch  nicht  gut  toskanische  zu  sein : 
es  sind  mundartliche  aller  Art  erlaubt.  So  bringt  Teofilo  Fo- 
leugo  viele  lombardische  Ausdrücke  an,  ja  nach  seiner  Heimat 
speziell  mantuanische.  Der  Provenzale  verbindet  das  Latein 
mit  latinisierten  provenzalischen  Wörtern:  • 

Non  facias  totiens  nobis  mutare  banaßas, 

Argentum  coAat  de  trahinare  foras. 
Ipfe  meos  libros  jam  carregiare  per  orbem 

Feci  et  cum  bonibus  milleque  mille  vices. 
Facherias  grandes  ftudiantes  fiepe  repaffant 

Matando  libros  bagagiumque  fuuni. 
(Anton,  de  Arena.) 


412 


Der  Deutsche  macht  aus  Wörtern  seiner  Sprache   lateinische, 
es  mögen  nun  niederdeutsche  sein,  wie  einige  in 

U  1 0 f  i t e  (([Uiefo)  mihi !  mihi  glofite  (quae  fo) ,  fodales ! 
Stepius  expertus  r  e  d  o  hoc  ,  cum  \V  o  1  k  i  b  u  s  altis 
Deleuchtunt  Sternse  et  fchinit  Mane  undique  lechte 
Et  fuadent  Slapum  vollbringere  tempora  finftra, 
Solum  verhindrunt  tardiim  fwarta  agmina  Slapum. 

oder  hochdeutsche,  wie  in 

Afchä  vermifchta  Biero  et  hinc  inde  gcßreuta 
Per  Tifchos  quidam  ceperunt  reihere  Zäh  dos 
£t  rurfus  klaro  fibi  Biero  ausfpülere  Mundum. 

Diese  Beispiele  mögen  vor  der  Hand  genügen,  um  das  bei 
Bildung  makaronischer  Verse  in  Anwendung  kommende  Gesetz 
zu  veranschaulichen.  Dasselbe  gilt  fürs  Spanische,  Englische, 
Holländische:  denn  auch  Dichter  dieser  Sprachen  haben  sich 
in  solchen  Versen  versucht. 

Die  makaronische  Poesie  ist  ein  Kind  des  italiänischen 
Witzes.  In  Italien  ward  sie  geboren,  hier  erhielt  sie  ihre  voUe 
Ausbildung,  von  da  erst  wanderte  sie  zu  den  übrigen  stamm- 
verwandten Romanen  und  den  germanischen  Volkern.  Auch 
ihr  Name  schmeckt  nach  der  italischen  Heimat.  Sie  ist  be- 
nannt nach  den  Maccaroni,  jener  bekannten  Leibspeise  der 
Italiäner  und  ganz  besonders  der  Landleute.  Ob  deshalb,  weil 
auch  in  ihr  verschiedenerlei  Ingredienzien  gleichsam  in  einen 
Teig  verknetet  sind  (wie  Lessing  in  den  CoUectaneen  zur  Li- 
teratur will)  bezweifle  ich;  wahrscheinlicher  ist,  dass  man  sie 
durch  diesen  Namen  als  acht  italiänische  derbe  nationale  Kost 
(vielleicht  nicht  ohne  Rücksicht  auf  die  Derbheit  des  in  ihr 
waltenden  Humors)  von  vorn  herein  hat  kennzeichnen  wollen, 
gerade  im  Gegensätze  zu  den  Pedanten,  die  ihre  Verse  in  der 
Muttersprache  mit  allerhand  gelehrten  Zuthaten  zu  versetsen 
trachteten.  *) 


*)  Ars  poetica  maearonica  a  macaronibns  derivata,  qui  macarones  Amt 
quoddam  pulmentum  farina  cafeo  botiro  compaginatum,  groflam  mde  et  rufti- 
canum  :  idco  macaronices  nil  niii  gralTedinom  ruditatem  et  vocabulazzos  debet 
in  fe  conttncrc.'  Merlini  Cocaii  Apologetica  in  Tai  excufationem,  in  der  Aus- 
gabe Vunetiis  ap.  Bevilacquam  1613  pag.  10 fg.  —  Le  Poesie,  le  quali  Teo- 
iilo   (IUI  efemplarmente  ritratta,  ß  chiamano   maccaroniche   o  maccharoniche 


413 


Was  gab  nun  aber  den  Anlass  zur  Entstehung  dieser  Dicb- 
tuugsart  und  wann  kam  sie  auf? 

Bei  den  Dichtern  des  15.  Jahrhunderts  finden  sich  mehr- 
fach Einmischungen  lateinischer  Flexionen  ins  Italiänische ,  ab- 
sichtlich als  gelehrter  Zierrat  hinein  gebracht.  In  dieser  Ab- 
geschmacktheit zeichnete  sich  besonders  Bettino  Tricio 
(gegen  Ende  dieses  Jahrhunderts)  aus,  der  in  seiner  Letilogia 
Verse  machte  wie: 

Sythari  el  fano  cum  Aßriani, 

Amazoni  Medomm  ac  Perfarum 

Kt  tntti  Athenicnli  et  Micenaruni, 

Indiani  Longobardi  et   Egyptiaui, 
Macedoiii  Corinthi  et  Argivorum 

Lacedemonii     Lydi  cum  Judey, 

Laurent!  et  d'Israhel  et  Glamorey, 

Cretenß  cum  Albani  et  Latinorum  etc.  *) 


per  la  paßa  groITa  della  locuzione  burlefca  e  barbara,  nella  quäle  föne  a  bello 
Audio  compoße,  dicendoli  maccaroni  in  Lombardia  e  gnocchi  in  Roma  quel 
cibo  dl  palla  leflata,  che  e  condito  dl  cafcio  e  butiro.  Fontanini,  Biblio- 
teca  dell*  eloquenza  Italiana,  Venezia  1753  tom.  1  pag.  304.  —  Poema  Fo- 
lengus  tanquam  rüde  et  ruAicum  Macaroneum  appelavit:  macarones  enim  Ita- 
lis  bucellie  funt  ex  rudi  farina  ovis  et  cafeo  trito,  quie  inter  menfie  delicias 
agrellibus  habentur.  Tomafini  £logia  pag.  73.  —  Eine  andere  Herleitung 
des  Namens  von  den  sogenannten  Macronen  oder  Macaronen,  einem  groß- 
und  dickköpfigen  Yolksstumm  am  schwarzen  Meere  (Rhodiginus  erzählt 
von  ihnen  in  den  Lectt.  antiq.),  nach  denen  man  dann  stumpfsinnige,  bäurische 
Menschen  überhaupt  benannt  habe,  kann  nur  als  gelehrte  Deutelei  betrachtet 
werden. 

*)  Nicht  viel   anders  haben   es  manche  deutsche  Dichter  desselben  Jahr- 
hunderts gemacht,  vgl.  z.  B« : 

Durch  Barbarei,  Arabia, 

durch  Hermani  in  Perßa, 

durch  Tartari  in  Suria, 

durch  Romani  in  Turgia, 

Ibernia 

der  fprüng  hab  ich  vergeßen. 

Oswald  V.  Wolkenstein,  Beda  Webers  Ausg.  S.  31  fg. 

Es  feua  dort  her  von  orient 
der  wint,  levant  iß  er  genent. 
durch  India  er  wol  erkent, 
in  Suria  ift  er  behent. 
cbendas.  S.  111. 


414 


Aber  Camillo  Scrofti  (in  der  Mitte  des  16.  Jahrhdts) 
inacbte  von  dieser  Sprachmischung  absichtlichen  Gebrauch  und 
bildete  die  aus  gelehrter  Lüderlichkeit  stammende  Manier  zu 
einer  ganz  besondern  Gattung  Poesie  aus.  Er  veröffentlichte 
seine  Gedichte  unter  dem  Titel  Cantici  di  Fidenzio  Glottocri- 
lio  Ludimagiftro ,  und  nach  dem  Namen  Fidenzio  ward  die 
ganze  G  attung  die  f i  d  e  n  z  i  a  n  i  f  c  h  e  genannt,  neben  dorn  frühe- 
ren Spottnamen  pcdantefca.  Vgl.  Crescembeni,  Tiftoria  della 
volgar  Poeßa,  Ven.  1731.  1.  Bd.  S.  366.  242  und  73,  wo  ein 
schönes  Sonett  Scrofas  als  Probe  mitgeteilt  ist. 

Als  Tochter  nun  jener  pedantischen  Sprachmengerei  des 
15.  Jhdts,  die  später  zur  Poefia  pcdantefca  ausgebildet  ward, 
bezeichnen  die  Italiäner  die  makaronische  Poesie.  Cre- 
fcembeni  1,  S.  367.*) 


Si  tcmpft  die  ganzen  mulica 

mit  großer  refonanz, 

diu  recht  menfur  appoilta, 

all  noten  hol  und  ganz 

hit  n  crzittren  durch  ir  kel. 

ebendas.  S.  222. 

•)  Bestimmungen  über  die  Bildung  makaronischer  Wörter  und  ihre  Quan- 
tität fürs  Italiänische  finden  sich  in  einer  unter  des  Merlinus  Cocajus  Namen 
gehender  Apologie  dieser  Gattung  von  Poesie,  die  in  einigen  Ausgaben  der 
Werke  dieses  Dichters,  z.  B.  Venet.  ap.  Bevilacquam  1613  Seite  19  feg. 
Amßel.  Someren  1692  sich  findet: 

Normula  macaronica  de  sillabis. 

Normula  iillabarum  macaronicarum  hfec  cH.  Ut  quielibet  vocabula  mlgaritcr 
latinizata  fcribi  debent  in  forma  vulgari,  ücut  orecchia,  occhius,  rozzus,  raxsa 
et  innumerabilia.  latina  vero  vocabula  fuam  obferrant  quantitatem,  ut  caballus, 
focus,  accensdo  etc. 

Qua^libet  dictio  macaronica  cujus  prima  fülaba  duas  habet  confonantes 
non  hserentes  fequenti  ßllabae,  Amt  ad  placitum,  ut  gridare,  sbraiare,  tracag> 
num,  tamen  non  fuccendente  vocali,  quia  tunc  brcvis  oflet,  ut  brioITus. 

Quielibet  dictio  qua»  literam  i  et  u  claudit  iuter  duas  vocales  latino  fit 
longa,  ut  Maja;  Ted  macaronice  fit  ad  placitum,  ut  taiarc,  sbraiare  etc.  qua»- 
libet  adverbia  terminantia  in  a  aut  in  e  aut  in  o  latine  funt  longa,  quamvis 
multa  in  e  exctpiuntur,  Ted  macaronice  funt  ad  placitum,  ut  valde  longe  retro 
ultra  erga  et  cet.  reli([ua  vera  latinitatis  aut  vulgaritatis  orthographiam  fer- 
vant,  verbi  gratia,  li  hoc  nomen  aqua  non  poteA  latiniter  aptari  verfibusi 
fcribe  vulgariter  aoquu,  tunc  de  brevi  fit  longa  fillaba.  denique  ficut  Vergi- 
liuR  ac   (-{eteri  vates   in   arte   poetica  potucrunt  altcrarc  lillabas  autoritate  fua, 


415 


Der  erste  bekannte  makaronische  Dichter  in  Italien  (und 
deshalb  vielleicht  zu  schnell  als  Erfinder  dieser  Gattung  Poe- 
sie gepriesen)  ist  Typhis  Odaxius,  zu  Padua  geboren  und  da- 
selbst auch  im  Jahre  1488  gestorben.  Er  verfasste  Carmen 
macaronicum  de  Patavinis  quibusdam  arte  magica  delusis,  das 
trotz  seinem  Gebote  auf  dem  Sterbebette,  es  zu  verbrennen, 
doch  gedruckt  und  hinter  einander  mehr  als  zehnmal  wieder 
aufgelegt  wurde.  Es  war  seiner  Zeit  eine  Lieblingslectiire  für 
ganz  Italien  und  es  wird  ihm  eine  solche  Komik  nachgerühmt, 
dass  es   die  Leser    vor  Lachen   fast  platzen  gemacht   hatte.*) 


verbi  gratia,  reliquias:  ita  macaroniciis  poeta  non  minus  hanc  auctoritatem 
poHidet  circa  fcientiam  et  doctrinam  propriam,  ut  catare  et  cattare,  quamvis 
rarirrime.  item  mäcaronice  potes  duas  vocales  colUdere  in  medium  dictionis, 
ut  curiofus  trißUabum  facere  potes ,  nt  flare  pollit  carmen. 

Item  licut  plarima  vocabula  differunt  a  derivatis  fuis  quantum  ad  fillabas, 
ut  fedes  babet  priraam  longam  et  fedile  brevem,  fiagrum  et  flagellum:  ita  mä- 
caronice dicemus  fratcr  et  fradcllus,  cagna  et  cagnola,  et  multa  alia.  tarnen 
de  principio  ad  finem  libri  reperies  me  latin^  poeiiie  et  regiilje  famma  cum  di- 
ligentia adlijerere.  Reliqna  vero  non  beii«3  ubi  quadruntia  »quo  animo  feras 
et  haec  baAabilia  funt  quantum  ad  iillabarum  macaronicarnm  regulam. 

*)  Bernardini  Scardconii  Canonici  Patavini  de  antiquitate  nrbis 
Patavii  et  claris  civibus  Patavinis  libri  tres  in  qnindecim  clafles  distincti. 
BafiU  Nicol.  Kpiscop.  jun.  1560.  Lib.  II  clafs.  X  pag.  238  fq:  Addamus  le- 
pidilTimum  poetam  Typhim  Odaxinm,  ajtatis  protecto  fu»  urbis  et  orbis 
magnas  delicias,  qui  vel  ob  hoc  ipfum  celebratiHim^e  famie  fuit,  quod  novo^ 
et  ridiculse  admodum  poefeos  auctor  fuerit.  Adinvenit  enim  primus  ridicn* 
lum  carminis  genus,  nunquam  prius  a  qnopiam  excogitatum,  quod  macaro- 
nenm  nuncupavit,  multis  farcitum  falibus  et  fatirica  mordacitate  reiperfum, 
«luo  facetiam  de  quibusdam  Patavinis  magica  arte  delulis,  tanto  cum  joco 
effmxit,  ut  legentes  cachinnos  et  rifu  pene  rumpantur.  Hunc  deinde  minus  fe- 
liciter  fecuti  funt  pleriqne  viri  doctiHimi,  qui  inani  laborc  tentanint  hoc  ridi- 
oulum  gcnus  aflcqui  ac  etiam  eiTmgere  doctius:  nemo  tarnen  eo  carminis  ge- 
nere  omnium  judicio  lepidins  ufus  eil  neque  qui  profundiores  cachinnos  ex- 
cutiat  quam  Typhis:  vel  quod  exprellius  ftultorum  hominum  Ingenium  ap- 
tioribus  ad  id    verbis   efFingat  habita   eleganter   perfonarum    rationc    ac    etiam 

materiie,  cui  ejusmodi  verfus  maxime  conveniant. Quam  frequenter  au- 

tem  tunc  eo  ieculo  ii  verfus  in  ore  omnium  femper  faerint  etiam  doctüTimo- 
rum,  vix  credi  poteft.  Merito  ergo  (fi  conferre  exemplum  liceat)  tantum  huie 
noftro  oivi  Macaron^um  carmen  debet,  quantum  heroicnm  Virgilio  et  Danti 
aut  Petrarchse  vernaculum.  In  ipfo  etenim  joco  aliquid  nbique  probi  ingeuii 
femper  elucet  et  eo  magis  quo  res  qusepiam  feria  eo  loco  lepide  occulitur. 
Verum  enimvero  et  ft  fciam  quosdam  efle  qui  ludicra  iAa  parum  probent, 
non  propterea  hwc  a  me  tacenda  hoc  locu  cenfui ,  ne  laude  tarn  praeftantis  in- 


41G 


Doch  ist  08  später  nicht  wieder  gedruckt  und  gehört  zu  den 
großen  literarischen  Seltenheiten;  es  gieng  mit  dem  Interesse, 
das  man  an  einem  speciellen  Vorfalle  nahm,  mit  der  Stimmung 
und  den  Anforderungen  seiner  Zeit  zu  Grabe.  Und  wie  hätte 
es  auch  lebendig  bleiben  können  neben  den  Werken  Folengos, 
die  bald  Italien  in  Staunen  setzen  sollten? 

Dieser  Teophilo  Folengo  war  es,  der  die  makaro- 
nische  Poesie  zur  fertigen,  ausgebildeten  Kunstgattung  erhob 
und  sie  in  Epopöe  und  Idylle  den  großen  poetischen  Leistun- 
gen seiner  Landsleute  ebenbürtig  an  die  Seite  stellte.  Er  war 
zu  Mantua,  am  8.  Novbr.  1491  geboren  aus  einem  alten  Pa- 
triziergeschlechte,  das  Besitzungen  unweit  seiner  Geburtsstadt 
hatte,  bei  Cipada,  dessen  er  in  seinen  Gedichten  mehrfach  ge- 
denkt.*) Die  Eltern  gaben  ihm  in  der  Taufe  den  Namen  Gi- 
rolamo,  den  er  spater  bei  seinem  Eintritte  ins  Kloster  mit  Teo- 
filo  vertauschte.  Als  Dichter  nannte  er  sich  Merlinus  Co- 
cajus.**)  Im  sechszehnten  Jahre,  1507,  trat  er  in  ein  Bene- 
dictinerkloster  und  that  nach  bestandner  Probezeit  am  24.  Juni 


genii  Odaxius  oninino  fraudnretur ,  quuin  is  in  hoc  carminum  genere  antiqaas 
fatiras  non  infeliciter  fucrit  imitatus,  qufe  a  priscis  illis  poctis  de  quornndam 
iniproboruiu  civium  moribiis  licentcr  vu!go  publice  palamqiie  cdebantur.  Id 
quoqiie  taeendam  non  putavi ,  qiiod  ipfemct  Typhis  in  morte  cavit,  no  nn- 
quam  volumen  ilhid  publice  in  vulgus  legcnduni  traderctur,  Ted  igni  potinB 
comburendum.  Nihil  tarnen  ea  cautione  provifiiin  eil,  quin  libellus  plasqaam 
decies  imprefTus  in  tota  Italia  ab  onmibus  haberetur  et  magna  cum  volnptate 
legeretur.  Das  Zuviel  des  Lobes  muss  man  auf  Rechnung  des  Patriotiflmns 
schreiben. 

•)    Z.  B.  Baldus,  Phantas.  5.  Edit.  Amllelod.  a.  Iß02  pag.  1)8: 

Credc  mihi,  non  eft  tcllns  lequanda  Cipadie. 
Taiat  abundanter  frumentum  lignaque  bofchi, 
Mungit  abundanter  vaccas,  facit  inde  ricottas. 
Sunt^jue  Cipadcnfes  aptl  ftudiarc  terenum: 
Alter  habet  Tantum  melius  foHata  cavare, 
Alter  arat  boITumque  tenct  fubarando  gumcrum, 
Alter  feit  melius  vignte  podarc  maderoH, 
Alter  feit  putridis  Ilallam  net«zare  boazzis 
Pingnificoque  ruto  campos  implero  Ilrinatos. 

Nomine  Merlinus  dicor,  de  fanguine  Mantus, 
K(l  mihi  cognomcn  Cocains  Maccaronenlis. 
Bnldu8,  phant.  XX,  edit.   AmOet.   1693  pag.  a09. 


••> 


417 


1509  Profess.  Die  klosterliehe  Einsamkeit  scheint  ihm  aber 
nicht  sonderlich  behagt  zu  haben:  der  Mensch  und  der  Dich- 
ter regten  sich  in  ihm  stärker  als  es  mit  der  Ordensregel  ver- 
träglich war  und  nach  einigen  Jahren  floh  er  aus  dem  Kloster 
einem  schonen  Weibe  und  der  Poesie  nach,  für  die  er  schon 
früher  unläugbaren  Beruf  gezeigt  hatte.  Im  Jahre  1517  er- 
schien sein  großes  komisches  Heldengedicht  in  17  Phantasien, 
das  eine  Masse  von  Auflagen  erlebte  und  dem  er  erst  später 
noch  7  Phantasien  hinzufugte.  Er  soll  zuerst  ein  umfassendes 
lateinisches  Heldengedicht  ganz  oder  teilweise  (die  Angaben 
sind  verschieden)  gearbeitet  und  den  Ehrgeiz  gehabt  haben, 
den  Virgil  zu  übertreflen.  Da  er  aber  nach  dem  Urteile  geist- 
reicher Freunde  jenem  gefeierten  Sänger  den  Lorbeer  nicht  ent- 
rissen, habe  er  sein  Gedicht  verbrannt  und  sich  auf  die  maka- 
ronische  Dichtung  geworfen,  um  so  großer  Nebenbuhlerschaft 
ein  fiir  alle  Male  enthoben  zu  sein.  Er  führte  nach  seiner  Ent- 
weichung aus  dem  Kloster  ein  irres,  umherschweifendes,  recht 
makaroiiisches  Leben,  durchzog  Italien,  auch  als  Soldat,  die 
Kreuz  und  Quere,  dabei  immer  der  Poesie  nachhängend  und 
mit  Kuhm  überschüttet,  bis  er  müde  der  Irrfahrten  und  gesät- 
tigt von  Kuhm  und  Lebensgenuss ,  Kulie  ersehnend ,  im  Sß.  Jahre 
seines  Alters,  1527,  in  die  Heimlichkeit  seines  Klosters  zurück- 
kehrte. Er  beschrieb  seine  Verirrungen  selber  im  Chaos  de 
Triperuno  und  verbesserte  seine  Gedichte,  suchte  Anstößiges 
zu  entfernen  und  übergab  sie  dann  1530  seinem  Bruder  zur 
Herausgabe.  Reuevoll  über  seine  zu  beißende  Satire  schrieb 
er  das  Epigramm: 

Cum  mihi  prseteriti  fubeant  infomnia  Baldig 

Tum  pudet  ut  pndeat  non  puduilTe  fatis. 
Infelix  tarnen  ipfe  minus  fortalTe  viderer, 

Lunnem  varios  A  ßne  deute. modos. 

Seine  komische  makaronische  Muse  war  verstummt,  er  wandte 
sich  der  geistlichen  Poesie  zu,  ein  Feld  wohin  ihm  der  Beifall 
nicht  folgte.  So  schrieb  er  1536  auf  37  ein  italiänisches  Ge- 
dicht in  Ottaverimen  La  humanita  del  figliulo  di  Dio  entweder 
zu  Brescia  oder  bei  Caprä.  Dann  begab  er  sich  nach  Sicilien, 
wo  sein  Gönner  Ferrante  de  Gonzaga  Vicekonig  war,  und 
stand  einem  Kloster  unweit  Palermo  in  reizender   Gegend  ein 


418 


Jahr  lang  vor.    Beim  Abschiede  schrieb  er  an  die  Wand  seiner 
Zelle  folgende  schöne  Distichen: 

Dulce  foluni  patria'que  instar,  mea  cura,  Ciambrc, 

Accipe  .snprcmnin  (oogor  abire)  vale! 
Vos  rupcs  atqiie  antra,  cari  gratiquc  recelTus, 

Quodquc  horrore  neinus,  iilva  virore  places, 
Vos  vitrei  Ibntes  et  amoris  confcia  nostri 

Murmura  perpetuo  vere  cadentis  aquie, 
Tufpie  mei  tellata  gravem  vix  longa  laborcnif 

Tuque  olim  fancto,  ccllula,  culta  feni, 
Si  vcUri  curam  gcin  quidquamve  pcrcgi, 

Quo  facti  aiiotorem  fas  Ut  amare  boni,  — 
Mantoum  aetemis  niemorate  Teophilon  aunis 

Sitque  mcn^  vobis  caufa  fcpulta  fuga^  ! 

Er  musste  in  eine  Abtei  nach  Palermo  übersiedeln  und  schrieb 
hier  unter  anderm  auch  ein  Myßerium,  das  in  einer  Kirche 
gespielt  wurde  und  die  Schöpfung  und  Menschwerdung  behan- 
delte. Weiter  schrieb  er  einige  Tragödien  und  auch  ein  latei- 
nisches Gedicht,  Uagiomachia,  das  die  Kämpfe  der  Märtyrer 
feierte.  Im  Jahre  1543  verließ  er  Sicilien  undgieng  ins  Kloster 
Santa  Cruce  di  Campefc  bei  Baffano,  wo  er  bald,  am  9.  De- 
zember 1544,  sein  Leben  beschloss  und  in  der  Klosterkirche 
begraben  ward.  Vgl.  Theophilus  Folengus  in  Jacobi  Philippi 
Tomaflni  Patavini  Elogia,  Patav.  Seball.  Sardi  1644  pag.  72 
fqq.  BibUoteca  dell^  eloquenza  Italiana  di  Giußo  Fontaniui 
con  le  aunot.  del  Sign.  Apoftolo  Zeno  Venez.  1753  tom.  1.  p, 
301  fqq.  Genthes  Gefchichte  der  macaronifchen  Poefie  S.  99  fgg. 
Das  Hauptwerk  Folengos  ist  ein  großes  komisches  erzah- 
lendes Gedicht,  die  Phantafia;  Macaronic«  (es  hat  deren 
fiuif  und  zwanzig),  das  die  Thaten  und  Fahrten  des  Baldus 
von  Cipada  besclireibt,*)  eines  zweiten  Ilector  und  Orlando- 


**)  Den  ungefähren  Inhalt  des  Baldus  gibt  der  Dichter  selbst  am  Knde 
der  ersten  Phantasie  an  durch  die  prophetische  Stimme  die  er  über  seinen 
neugeborenen  Helden  ausgehen  lässt: 

Nafccre,  parve  puer,  cui   coelum  terramque  fretumquo 

Ac  elementa  dabuut  tot  cafus  totque  malaunos ! 

Ne  dubita,  quoniam  gaiarditer  omnia  vinces! 

Tn  profone  diu  Aabis  fub  rege  CiaioflTo, 

Sub  qua  non  unquam  fperabis  cernere  luconi. 

Noa  tibi  mancahunt  aftut»  Cingaris  artes. 


419 

quo  non  hectorior,  quo  non  orlandior  alter  — ,  nach  dem  Vor- 
bilde der  Aeneide  des  Virgil  gearbeitet,  dieses  durchs  ganze 
Mittelalter  hindurch  bis  auf  jene  Zeit  hinab  gefeiertesten  Dich- 
ters. Sein  Trachten  gieng  dahin,  die  Palme,  die  Virgil  im  ern- 
sten Epos  erhalten,  fürs  komische  zu  erringen.**)  Die  Einlei- 
tung des  Werkes  beginnt 

Phantafia  mihi  quaddam  phantaftica  venit, 
Hiftoriam  Baldi  grollis  cantare  CamflBnis, 
Altifonam  cujus  famam  nomenque  gaiardum 
Terra  tremit  baratrumque  metu  fe  cagat  adoITam.  etc. 

Nach  ihr  hebt  das  eigentliche  Gedicht  so  an: 

Eft  locus  in  Franza  montagn»  Accus  in  alto 
Culmine,  quem  caprsd  celeres  appena  falirent: 
Hunc  Montalbanum  Franzefa  brigata  dimandat. 
Non  urbs  nee  villa  eft,  verum  fortillima  rocca, 
QnsB  faxo  vivo  tribus  eß  obcincta  murajis, 
Dam  bombardarum  Aimmans  batimenta  fonantum, 


Pro  quibus  exibis  tenebrofum  carceris  antrum. 
Sed  non  ilhid  erit  fortnn»  munus  iniqu», 
Namque  valenter  enim  dum  t^cum  Cingare  folo 
Urbs  alTaltabit  ßipantibus  SBtera  lancis. 
Cuncta  fracalTabis  victorque  fcapabis  ab  urbe. 
Non  terrte  Tat  erit  tantas  ruperalTe  fadigas, 
Verum  quam  citius  pelagum  tentare  parabis. 
Cunctus  ab  undofis  montagnis  nulla  yidcbis 
Aetera,  Ted  pluvias  patlere,  tonitrua,  ventos, 
Fulmina  corfaros  ac  tandem  mille  diablos. 
Aft  ubi  Araccatus  faiüs  exibis  ab  undis, 
Sasva  tibi  rapiet  carum  MuTelina  Lonardum. 
Invenies  patrem  confectum  tempore ,  quem  tu 
Et  vivum  puncto  mortumquc  yidebis  eodem. 
Poll  coelum  terram  pelagumque  lubibis  Avernum: 
Ac  ita,  parve  puer,  venturus  nafcere  foelix! 

**)  Magna  luo  yeniat  Merlino  parva  Cipada 

Atque  Cocaiorum  furgat  cafa  balTa  meorum. 
Mantua  Yirgilio  gaudet,  Verona  Catuilo, 
Dante  fuo  florens  urbs^Tusca,  Cipada  Cocaio. 
Dicor  ego  fuperans  alios  levitate  poetas 
Ut  Maro  medeßmos  fuperat  gravitate  poetas. 

Baldus,  Phant.  3  fin.  Edit.  Am^l.     1692  pag.  79. 
fFeimur.  Jb  IL  *^'^ 


420 


Quam  ftimant  afini  rnnscas  bufatique  tavanos; 

Quam  famosus  homo  quondam  ferus  ille  Rinaldns 

(Si  cantant  verum  Turpini  fcripta)  tenebat, 

Et  feptem  ceutos  proprio  fub  jure  ladrones 

Banditos  habuit,  tres  fratres  atque  forellam. 

Ipüus  a  razza  poll  longum  tempus  et  annos 

Exiit  armipotens  vir  magnns  nomine  Guido, 

Maturus  placidus  fapiens  generofus  et  armis 

Deditus  et  regi  Francorum  gratior  altris, 

Miecenasque  alter  claros  erat  intra  barones. 

Pro  cujus  nimia  forma  nimioque  vigore 

Unica  capta  fuit  FranzeA  filia  regis, 

Quam  Baldovinam  proprio  rex  ore  vocarat. 

HflBc  erat  in  toto  formoüor  orbe  puellis, 

Unica  nata  patris,  patriae  regina  futura: 

Quam  non  mortali  credebant  ftirpe  creatam, 

Sed  magis  angelicam  jurabant  elTe  figaram. 

Altera  Pallas  erat  fensu ,  Venus  altera  vultu, 

Cui  formte  fummam  laudem  jungebat  Honeftas, 

Ingeniofa,  gravis,  frontis  mentisque  pudica, 

Relig^ofa  magis  quam  fecli  tradita  pompis, 

Sed  tamen  arcta  fuit  tanto  Guidonis  amore, 

Quod  nunquam  potuit  quicquam  reperire  quietis.  etc. 

Wie  man  an  einen  Goldfaden  Perlen  reiht,  so  hat  der 
Dichter  an  die  wunderlichen  Schicksale  seines  Helden  Episoden 
geknüpft,  in  denen  er  Gelegenheit  findet,  sich  über  Bräuche  und 
Einrichtungen  seiner  Zeit  auszulassen,  über  Sitten  und  Laster 
der  verschiedenen  Stande  und  Geschlechter.  Er  geißelt  eine 
Reihe  damals  berühmter  und  berüchtigter  Persönlichkeiten  und 
tnSt  mit  nicht  der  geringsten  Härte  seine  Feinde.  Auch  über 
Kunst  und  Wissenschaften  verbreitet  er  sich,  —  und  das  Alles 
mit  so  feiner  Beobachtungsgabe,  so  ausgebreiteter  Welt-  und 
Menschenkenntnis,  so  klarer  Einsicht  in  alle  bestehenden  Ver- 
hältnisse, mit  so  unauslöschlicher  Laune,  in  so  anmutiger,  ge- 
wandter Sprache,  entsprechender  Feinheit  der  poetischen  Form, 
dass  man  in  ihm  ohne  Frage  einen  der  ersten  Dichter  seiner 
Zeit,  den  ersten  komischen  Dichter  bewundem  muss.*) 


*)  Tomafini  Elogia  p.  73  fq:  Nimirnm  omnia  hie  falfe,  opipare  con- 
dita  omnia,  quibus  nemo  fatis  ezTatiabitur ,  cognofcet  qui  vel  femel  ea  dega- 
ßaverit.  Amoeniora  literarum  Iludia  ß  quis  defiderat,  nihil  hie  defiderabit:  d 
fevera,  fub  joeofis  amicorum  nominibus  ea  lic  latent,  ut  nihil  calamo  exciderit 
unde  non  aliquid  utile  jucundis  facetiis  inflnnetur.      Quanta  artificio  fuperbos 


421 

Ein  anderes  komisches  makaronisches  Gedicht  Folengos  ist 
die  Moschaea,  in  elegischen  Distichen,  das  in  äußerst  anmu- 
tiger Sprache  und  mit  vielem  Humor  den  Krieg  der  Mücken 
und  Ameisen  behandelt.     Anfang: 

Grandia  Moscarum  Formicanimque  farentum 

Prselia,   desdegnos,  fata  cruenta  cano. 
Tunc  et  alhora  fuos  abscondit  Apollo  cavallos, 

Cum  mere  armatos  vidit  in  arma  dnces. 
Cuncta  per  intomum  tellus  qualTata  tremebat, 

Poca  fuper  coelos  nee  cagarella  fait. 
Gens  ceratana  Unat  vecchias  cantare  batajas, 

Squarzet  Yirgilios  turba  pedanta  Ihos. 
Magna  fuit  (confelTo  quidem)  ruinatio  Trojte, 

Quanda  cavallazzo  credidit  illa  bufo. 
Fare  parangonem  Ted  quisqnis  vojat  ad  ipfam, 

Dictns  ab  cgregia  gente  bachiocchus  erit 
Maxima  materies  ilhi  eil  quam  fprezzat  Homems, 

Sit  nifi  macronicas  dignus  habere  deas. 
Non  eß  Clionis,  non  eil  imprefa  Polyn», 

Hanc  melius  fomam  Togna  gajarda  ferat.  etc. 

Das  idyllische  Gedicht  Zanitonella  hat  die  Liebe  des 
Schäfers  Tonellus  zur  Schäferin  Zauina  zum  Gegenstande.  Es 
besteht  aus  sieben  Eclogen,  die  teils  in  Hexametern,  teils  in 
sapphischer  Strofe  abgefasst  sind,  wozu  noch  13  sogenannte 
Sonologien  in  elegischen  Distichen  kommen  und  am  Schlüsse 
dieser  eine  Strambotolegia  in  gleichem  Maße.  Zauberisch  ist 
hier  die  Wirkung  die  der  Dichter  übt,  wenn  er  mit  dem  zar- 
ten Schmelze  seiner  Sprache  das  antike  Odenmaß  umgibt: 


titulos  heronm  taxat!  quos  non  mores  hominum  sub  diverfis  tegnmentis  de- 
pingitl  quam  bene  lentas  inertium  moras,  quam  vere  curiofa  nimis  mortalium 
pudla  commemorat!  quil  non  adverfus  ventri  deditos  tela  Itringit!  quam  fe- 
vere  alienie  virtuti  cavidentes  impetiti  Yirtutis  oblectamenta  quam  divine  pro- 
fequitur!  quam  docte  fna  cuique  regioni,  quie  mirantur  naturse  imperiti,  red- 
dit!  Nulla  certe  artium  documenta  prsBtermifit.  Quin  omnium  ludorum,  ar- 
gutiarum  et  certaminum  apparatus,  ritus,  ceremonias,  athletas,  arma,  currus, 
balnea,  popinas,  tabemas  miro  ordine  propofuit.  Sed  quid  exactius  quam 
vitia  in  medium  proferre  et  ea  fine  offenüone  mordere?  —  Über  Folengos 
Sprache  urteilt  Eichllädt  De  poeü  Macaronica  Jen»  1831  p.  9:  Erat  in 
eo  inexhaullus  fons  facetiarum,  Ungute  latin»  accurata  fcientia,  parsimonia 
quiedam  in  verbis  mifcendis,  callitas  in  jocis  ferendis,  mira  in  verübus  fun- 
dendis  et  facilitas  et  elegantia,  coijuncta  iUa  cum  recto  ufu  artis  profodiaca» 
et  metriefe,  quam  mohi  hujus  generis  poet»  fusque  deque  habuemnt. 

27* 


422 

Ayme,  qno  dulcis  properas  Zanina? 
Ayme,  cur  fchenam  traditora  voltas? 
Ayme,  fta  meo        (precor)  et  hunc  bellum 

Accipe  pomumi 
Barbaros  yincis  feritate,  Moros, 
BiAones,  Turcos,  Sguiceros,  Todescos, 
Belhas  omues,  animas  diabli 

Belzebuelis. 
Curfe  planinum,  tibi  faxa  mangiant 
Cmda  fcarparum,  fparamenta  folas, 
Cancar  ortighis  yeniat  qnod  ipße 

Crura  cruentant. 
Deh  quid  indamnm  fequor  hanc  ribaldam? 
Beb  quid  uuius  fub  amore  ladrsB 
Ducor  ad  forcam?  mihi  jamque  lazzum 

Boia  parayit.  u.  s.  w. 

Diesen  großem  Werken  Folengos  aus  der  Gattung  der 
komischen  makaronischen  Poesie  schließen  sich  in  den  gewöhn- 
lichen Ausgaben  noch  mehrere  kleinere  Stücke  an,  so  drei 
Episteln  (1.  Merlini  epißola  colerica  adPolaflum,  in  quem  mul- 
tas  depingit  laudes.  2.  Epißola  fecunda  faceta  ad  Falchettum 
familiärem  fuum.  3.  Epillola  tertia  de  StorneUis  et  Gala  ad 
Baldum)  und  sieben  Epigramme. 

Von  Folengos  Nachfolgern  in  Italien,  deren  keiner  ihm 
aber  gleichgekommen  ist  weder  an  Genialität  in  der  Concep- 
tion  noch  an  Feinheit  der  Ausfuhrung  noch  an  Fruchtbarkeit, 
werden  genannt  Guarini  Capeila  in  den  zwanziger  Jahren 
des  16.  Jahrhunderts,  Egidio  Berzetti,  ein  AuguAiner, 
Giovanni  Ariane  um  1560,  Bartolomäus  Bolla  etwas 
später  (der  meist  in  Deutschland,  besonders  zu  Heidelberg 
lebte),  und  außer  andern  besonders  Cefare  Orsini  um  die 
Mitte  des  17.  Jhdts,  der  unter  dem  Namen  Magifter  Stop- 
pinus  schrieb  und  unter  allen  am  meisten  gerühmt  wird.  Vgl. 
Crefcembeni  IV  p.  149.  Leflings  CoUectaneen  zur  Literatur 
hrsg.  y.  Efchenburg  fub  lit.  M.  Macaron.  P.  Genthes  Geschichte 
der  macaron.  Poesie  S.  139  fgg. 

Die  Anfange  der  makaronischen  Poesie  in  Italien  fallen 
also  in  die  zweite  Qälfte.,  vielleicht  noch  in  die  Mitte  des  fünf- 
zehnten, ihre  Blüte  in  die  erste  Hälfte  des  sechszehnten  Jahr- 
hunderts; doch  noch  das  siebzehnte  hindurch  ward  sie  geübt. 

Natürlich  musste  diese  komische  Dichtungsart,  die  in  Ita- 
lien so  ungeheures  Aufsehen  machte  und  so  aUgemeine  Beliebt- 


423 


heit  errang,  sich  bald  über  die  Grenzen  dieses  Landes  hinaus 
verbreiten.  £s  geschah  mit  reißender  Schnelligkeit:  denn  we-* 
nige  Jahre  nach  dem  ersten  £k'scheinen  von  Folengos  Gedich- 
ten (wahrscheinlich  schon  vor  Anfange  der  zwanziger  Jahre) 
finden  wir  sie  in  Südfrankreich  und  einen  Provenzalen 
damit  beschäftigt,  das  Idiom  seiner  Heimat  zu  ihr  zu  verwen- 
den. Es  war  Antonius  Arena,  auch  Sablon  oder  de  la 
Sable  genannt,  aus  Soliers  in  der  Diocese  Toulon,  der  unter 
Alciatus  die  Rechtswissenschaften  studierte  und  als  Richter  zu 
St.  Remi  1544,  dem  Todesjahre  Folengos,  starb.  Er  wird  als 
gewandter  Jurist  gerühmt,  der  auch  als  solcher  schriftstellerisch 
thätig  war.  Berühmter  jedoch  machten  ihn  seine  makaronischen 
Gedichte ,  von  denen  das  eine  wenigstens  noch  auf  der  Univer- 
sität zu  Avignon  gefertigt  sein  wird.  Es  wurde  dies  zuerst  in 
Südfrankreich,  später  auch  mehrere  Male  in  Paris  gedruckt 
und  gehört  zu  den  grollen  literarischen  Seltenheiten.  Es  han- 
delt von  der  Tanzkunst,  verbreitet  sich  aber  vorher  noch  über 
allerhand  andre  ergötzliche  Stoffe.     Der  Titel  ist 

Antonius  de  Arena  Provenealis  de  bragardilTima 
viUa  de  Soleriis  ad  fuos  compagnones,  qui  funt 
de  perfona  friantes,  balTas  danfas  et  branlos 
practicantes,  novellas  de  guerra  Romana,  Neapo- 
litana  et  Genuenfi  mandat.  Una  cum  epißola  ad . 
fallotülimam  fuam  garfam  lanam  Rofaeam  pro 
paffando  tempus. 

Ein  anderes  noch  seltneres  makaronisches  Gedicht  Arenas 
behandelt  humoristisch  den  Feldzug  Karls  Y.  in  Frankreich  vom 
Jahre  1536.  Es  erschien  zuerst  zu  Avignon  1537,  soU  aber 
bald  aus  Staatsrücksichten  von  der  französischen  Regierung  un- 
terdrückt worden  sein. 

Das  ist  gewis  dass  sich  Arena,  so  groß  immer  sein  Ruf 
seiner  Zeit  in  Frankreich  war,  weder  in  Wahl,  Anlage  und 
Behandlung  des  Stoffes ,  noch  in  Feinheit  der  Sprache  und  des 
Versbaues,  noch  seiner  ganzen  poetischen  Intention  überhaupt 
nach,  nur  im  Entferntesten  mit  Folengo  messen  kann.  Doch 
scheint  er  der  einzige  zu  sein,  der  die  makaronische  Poesie  in 
Südfrankreich  und  im  Idiome  seiner  Heimat  mit  größerem  Bei- 
falle geübt  hat  und  dem  wol  ohne  Zweifel  die  Ehre  der  Über- 


424 


mitteluug  dieser  von  Italien  empfangenen  Gattung  an  Nord- 
f rankreich  gebührt.  Rabelais  (geb.  1483  zu  Chinon  in 
Touraine,  -j-  1553  zu  Paris)  hat  hier  etwa  zehn  Jahre  nach 
dem  ersten  Erscheinen  des  Hauptwerks  von  Antonius  Arena 
im  ersten  Buche  seines  Gargantua  sich  der  makaronischen 
Schreibart  für  seinen  komischen  prosaischen  Stil  mehrfach  be- 
dient, so  besonders  im  19.  Capitel  in  der  Rede  des  Meisters 
Janotus  vonBragmardo,  durch  die  er  die  breite  Genüglichkeit  und 
das  unwissende  Behagen  schulfuchsiger  Professoren  geißelt. 
Nicht  als  ob  er  den  makaronischen  Stil  erst  vom  Antonius  Arena 
gelernt,  denn  bei  seiner  ausgebreiteten  Gelehrsamkeit  und  Kennt- 
nis von  Sprachen  und  Literaturen  mufle  er  ja  auch  in  der  ita- 
liänischen  bewandert  sein,  zumal  diese  seit  anderthalb  Jahr- 
hunderten die  grösten  Geißer  die  ihrigen  nannte:  und  er  be- 
kundet auch  vielfach  seine  Bekanntschaft  mit  Folengos  Werken 
und  seine  Achtung  vor  diesem  Dichter.  Aber  die  größere  Zahl 
der  Gebildeten,  denen  die  Werke  des  großen  Italiäners  min- 
der zugänglich  und  minder  verständlich  waren,  haben  sicher 
erst  durch  Arena  von  der  neu  aufgekommenen  Gattung  komi- 
scher Poesie  Notiz  genommen  und  sind  mit  ihr  vertraut  gewor- 
den. Bald  fanden  sich  auch  andere  französische  Dichter,  die 
sie  zu  humoristischen  Zwecken  verwandten.  So  Remy  Bel- 
leau  (geb.  um  1523,  f  1577),  der  'Dictamen  metrificum  de 
hello  Hugenotico  et  Reistrorum  Pigliamine  ad  Sodales^  ver- 
fasste;  ferner  Etienne  Taburot  (-j-  1590)  und  Andere,  auch 
Ungenannte,  und  der  noch  ins  folgende  Jahrhundert  hinüber- 
reichende (er  starb  1631)  Janus  Cäcilius  Frey,  ein  Deut- 
scher von  Geburt  aus  Kaiserstul  am  Rheine,  der  erst  Philo- 
soph, dann  Mediziner,  auch  der  makaronischen  Muse  im  'Be- 
citus  veritabilis  fuper  terribili  Esmeuta  Payfanorum  de  Ruello* 
seinen  Tribut  entrichtete.  Im  dritten  Viertel  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  ward  sie  endlich  auch  in  die  Komödie  einge- 
führt und  zwar  vom  ersten  französischen  Komödiendichter  sel- 
ber, von  Molifere  (geb.  1620,  f  1673):  er  verwandte  sie  äu- 
ßerst passend  im  Malade  imaginaire  am  Schlüsse  zur  Schilderung 
des  Doctorexamens  und  der  Promotion  des  Bacalaureus  Argan, 
jenes  Stückes,  das  eine  ebenso  derbe  als  witzige  Satire  auf  die 
Jünger  Aesculaps  ist.    Es  beginnt 

Savantidimi  doctores, 
mcdiciiiie  profeiTores, 


425 

qui  hie  alTemblati  eftis, 
et  Y08,  alti  meüiores, 
rententianun  facultatis 
fideles  executores, 
chirurgiani  et  apothicari 
atque  tota  compagnia  auili, 
faluB  hooor  et  argentum 
atque  bonum  appetitoml  n.  s.  w. 

Die  weitere  Geschichte  der  makaronischen  Poesie  in  Frank- 
reich, ob  und  in  wie  weit  sie  im  vorigen  Jahrhunderte  geübt 
ward,  ob  man  sich  ihrer  noch  jetzt  vielleicht  zu  komischen  Ge- 
legenheitsgedichten bedient,  darüber  sind  wir  außer  Stande 
Aufschluss  zu  geben. 

In  Frankreich  sehen  wir  also  die  makaronische  Muse  zu- 
meist im  sechszehnten  Jahrhundert  (vom  zweiten  Viertel  des- 
selben an),  dann  auch  noch  im  siebzehnten  im  Dienste  einzel- 
ner, auch  begabter  Dichter,  aber  mehr  als  Kind  augenblick- 
licher komischer  Laune,  als  zu  höheren,  weitgehenderen  poe- 
tischen Absichten  verwandt.  Kein  einziger  Dichter,  der  sicti 
nui'  einiger  Maßen  an  Begabung  mit  jenem  Folengo  messen 
könnte,  hat  sein  Streben,  auch  nur  teilweise,  aber  mit  Ernst 
ihr  gewidmet. 

Wir  lassen  die  Beteiligung  der  Literaturen  anderer  Völker 
an  dieser  Kunstgattung,  der  Spanier  und  Portugiesen,  ferner 
der  Engländer  und  Holländer,  für  diesmal  außer  Acht  xmd 
wenden  uns  sogleich  zu  den  Deutschen. 

Hier  finden  wir  makaronische  Verse  erst  im  zweiten  Vier- 
tel des  sechszehnten  Jahrhunderts.  Denn  jene  Haushaltungs- 
regeln aus  dem  Anfange  des  fünfzehnten 

Sage  körn  Aegidii,  haveren  gerften  Benedict!  a.  s.  w. 

(vgl.  W.  Wackem.  Gesch.  des  deutschen  Hexameters  S.  12  fgg.) 
und  der  fast  eben  so  alte  versifizierte  Vocabular  (ebend.  S.  15 
fg.)  mit  Versen  wie 

Pawus  vel  pabo  phaw,  cignus  tibi  fwan  eft, 

NiTos  ein  IJ^erber,  accipiter  habicht  tibi  fignat  u.  dergL 

beides  ist  nicht  makaronisch,  denn  die  deutschen  Worte  sind 
ohne  Veränderung  den  lateinischen  angereiht,  ohne  durch  Flexio- 
nen   latinisiert   zu  sein.     So   nahe   es  auch  solcher   Sprachmi« 


426 


schung  lag,  diesen  kleinen  Schritt  weiter  zu  gehen,  er  ist  selb- 
ständig nicht  gethan  worden  und  erst  der  Impuls  von  außen 
hat  ihn  bewirkt.  Aber  woher?  Von  Frankreich?  Wol  eher  di- 
rect  von  Italien,  der  Wiege  des  Humanismus,  mit  der  Deutsch- 
land in  ununterbrochenem  geistigen  Verkehre,  in  näherem  als 
mit  Frankreich  stand.  Nicht  bloß  die  Werke  der  Humanisten 
verbreiteten  sich  ja  rasch  über  Deutschland,  auch  einzelne  der 
italiänischen  Literatur  fanden  hier  schnellen  £ingang  und  Ach- 
tung: schon  in  den  siebziger  Jahren  des  fünfzehnten  Jahrhun- 
derts übersetzte  man  den  Boccaccio  ins  Deutsche,  der  seitdem 
unzählige  Auflagen  und  Bearbeitungen  erlebte.  Obwol  wir  keine 
beweisende  Stellen  dafür  beibringen  können,  müssen  wir  es 
fast  für  mehr  als  wahrscheinlich  halten,  dass  der  Name  Folen- 
gos  nicht  nur,  auch  einige  seiner  Werke  oder  doch  Stücke  da- 
von frühzeitig  in  Deutschland  bekannt  wurden,  wenn  wir  bei- 
des betrachten,  die  Berühmtheit  dieses  Dichters  in  Italien  und 
die  Schonungslosigkeit  seiner  Satire,  auch  gegen  die  Geist- 
lichkeit, die  in  diesem  satirisch  gestimmten,  polemischen  Zeit- 
alter ganz  besonders  ansprechen  musste. 

Das  älteste  Stück  makaronischer  Poesie  in  Deutschland, 
das  uns  bekannt  geworden,  ist  ein  Pasquill  aus  der  zweiten 
Hälfle  der  vierziger  Jahre  des  16.  Jhdts.    Es  lautet: 

Pasquillus 

auf  den  protestierenden  krieg  seit  1546« 

Heitz  ein,  Landgrafil  gieß  an,   Sachs!  Schertle,  befchers  wol! 

Reibs  auß,  Carle  pater!  folvite,  ReichßettitesI 
Reichftettites  narri,  quos  ciphus  et  amphora  duxit 

Saxonica  ins  fchweißbad,  ferre  quod  hi  nequeunt. 
Gallia  nunc  vobis,  Kuemaul,  nunc  Marcus  et  seger 

Conülii  Danus,  Anglia  verba  dedit. 
Nee  qui  gotswortum  veftrum  befchirmere  vellet, 

Turcüs  erit,  ho  ho,  perfida  gfelliditas! 
Spes  erat  in  bauris  auflaufos  machere  doctis, 

Protulit  ad  fpießos  ruIHca  turba  fero. 
Witz  habuit  Nürmberg,  achslä  tragavit  utr&que, 

Ratfchlägiis  veftris  fensit  inefl*e  metum. 
Eia  agite  in  witzis  fervando  Ca^fari  glauben, 

Ne  Senecse  badum  wermere  conveniat! 

Aus  einem  Foliobande  des  frankfurtiflchen  Stadtarchivs  mitget.  durch  Fr. 
Böhmer  in  Haupts  Zeitschrift  6,  538. 


427 


Einige  Jahre  später  finden  wir  makaronische  Stellen  bei 
Hans  Sachs  und  zwar  in  Poesien,  die  er  in  den  Jahren  1552, 
1554  und  1556  geschrieben  hat. 

Zuerst  in  einem  Fasnachtspiele  Der  geftolen  bachen, 
das  Hans  Sachs  nach  seiner  eigenen  Angabe  am  6.  Dezem- 
ber 1552  vollendet  hat  (Nürnberger  Ausg.  der  Werke  H.  S. 
durch  Leonhard  Heusler  1589.  3  Buch  3  Teil  fol.  40  fgg.). 
Einem  geizigen  Bauern  wird  von  einem  Nachbar  aus  Schaber- 
nack eine  Speckseite  gestolen.  Der  Bestolne  wendet  sich  an 
den  Pfarrer  mit  der  Bitte,  durch  seine  schwarze  Kunst  den 
Dieb  zur  Rückgabe  zu  zwingen.  Der  Pfarrer  (der  mit  dem 
Diebe  unter  einer  Decke  steckt)  entgegnet,  das  könne  er  zwar 
nicht,  doch  wolle  er  ihm  wenigstens  den  Bachendieb  anzeigen. 
Er  lässt  sich  im  voraus  fünf  Batzen  geben  und  tri£%  seine  Zu- 
richtungen zum  Zauber.  Er  nimmt  drei  Stückchen  verzucker- 
ten Ingwer  (für  sich,  den  Dieb  und  einen  andern  Nachbar) 
und  noch  ein  viertes  Stück,  das  auch  von  außen  verzuckert  ist, 
aber  innen  aus  Aloe  und  Hundsdreck  besteht:  das  soll  dem 
Bestolnen  zugeschanzt  werden.  Wer  seinen  Ingwer  essen  kann, 
der  ist  vom  Verdachte  frei;  wer  ihn  aber  nicht  hinunterbringt? 
ist  der  Dich.    Der  Pfarrer  spricht  nun  die  Beschwörungsformel : 

Nun  hört  mir  zu  den  ßarken  fegen  I 
In   narribus   phantaßibus 
Nequaquam   et  in   diebibus, 
Hanges   in  galgare   fane 
Rabique  nagare  pame. 

Nun  fezt  euch  all  znfamen  nider! 
Da  nembt  nach  einander  ein  ieder 
Ein  ingwer  zehn,  ir  liebe  kint! 
Welcher  fein  keuet  und  verfchlint^ 
Der  iß  unfchuldig  an  dem  bachen: 
Welicher  aber  in  fein  rächen 
Den  grün  ingwer  nit  bringen  kan, 
Derfelb  den  diebßal  hat  gethan. 
Nun  dife  kunll  frei  zu  probiern, 
Wil  ich  zum  erften  mich  purgiern. 

Er  nimmt  sogleich  seinen  Ingwer  und  verspeist  ihn  ohne 
den  Mund  zu  verziehen ,  ebenso  die  beiden  Nachbarn  nach 
einander.   Unerschrocken  und  im  Gefühle  seiner  Unschuld  greift 


428 


der  Kläger  auch   zum  seinigen  und  steckt  ihn  in  den  Muud, 
muBS  aber  sogleieh  alles  ausspeien  und  schreit: 

Er  hat  mir  smaul  fo  gar  verbittert: 

Mein  ganzer  leib  bidmet  und  zittert 

Und  that  mir  swaßr  zun  augn  außtreiben. 

Solt  ich  ein  dieb  mein  lebtag  bleiben, 

So  wils  nit  nein,  es  muß  als  wek : 

Es  fchmecket  gleich  wie  ein  hundsdreck. 

Es  wil  mir  gleich  zum  herzen  Ilechen: 

Hab  forg,  ich  muß  mich  kotzn  und  brechen. 

Da  stellen  sich  die  Nachbarn  empört  über  seine  ruchlose 
Anklage,  faUen  über  ihn  her  und  drohen,  seiner  Frau  zu  sa- 
gen, er  habe  die  Speckseite  selber  ausgetragen  und  sie  der 
Strigel  Christe  gegeben.  Er  bittet,  nur  das  nicht  zu  thun  und 
ihm  keine  böse  Ehe  zu  machen.  Da  verlangt  der  Pfarrer  als 
Buße  einen  Gulden  zum  gemeinsamen  Vertrinken  und  zwanzig 
Bratwürste.  Der  Bestolne  verspricht  lieber  zwei  Gulden  zu 
geben :  nur  solle  man  ihm  die  Würste  erlassen ,  die  er  vor  sei- 
ner Frau  nicht  anrühren  dürfe.     Der  Pfarrer  beschließt: 

Alfo  muß  man  fchucheu  die  äffen 

Und  die  filzingen  geizhels  Arafen, 

Die  wimmer  muß  man  mit  keihi  klieben: 

Ir  lebtag  ü  Ainfl  wimmer  blibeii. 

Die  fchanz  ift  uns  nur  wol  geraten. 

Nun  kompt!  fo  wöl  wir  fiedn  und  braten 

Und  von  dem  kargen  pauren  zechen. 

Weft  ers,  im  mocht  fein  herz  zerbrechen. 

Nun  wöl  wir  trinken  guten  wein 

Und  mit  einander  frölich  fein 

Im  pfarrhof  biß  es  heint  wil  tagen, 

Den  Herman  laßn  an  knochen  nagen, 

Weil  er  feins  guts  felb  nit  geneußt 

Und  es  vergrebet  und  befchloußt. 

So  hat  er  uns   das  gelt  eingraben. 

Ein  Sparer  muß  ein  zerer  haben. 

Daß  der  geltfack  zu  groß  nit  wachs 
Bei  kargen  leuten  ,  wünTcht  Hans  Sachs. 

In  dem  Fasnachtspiele  Die  wunderlichen  mänder 
und  unheuslichen  weiber  gefchlacht  und  heuslich  zu 
machen  (Nürnb.  Ausg.  1589.  4  Buch  3.  Teil  fol.  31  v.  fgg.), 
das  am  24.  April   1554  geschrieben  ist,  tritt  eme  junge  Prau 


429 


ein  altes  Weib  (eine  Unhulde,  die  von  Wahrsagerei  und  Zau- 
berei aller  Art  lebt)  mit  der  Bitte  an,  durch  ihre  Kunst  ihren 
wunderlichdn  groben  Mann  geschlacht  und  sanftmütig  zu  ma- 
chen. Die  Alte  fragt  nach  den  Gewohnheiten  des  Mannes  und 
es  stellt  sich  bald  heraus,  dass  es  ein  ganz  solider  ordentlicher 
Mensch  ist  und  dass  daher  die  Schuld  der  Unverträglichkeit 
auf  die  Frau  fallen  muss.  Sie  gibt  ihr  daher  den  Kat,  bei  ei- 
ner Gottin  selber  Hilfe  zu  erfragen: 

Ir  müBt  hin  auf  die  wegfcheid  gehn 
Da  der  groß  holzöpfelbaom  ftebt 
Morgen  firu  e  die  fonn  aufgeht. 
Nembt  mit  euch  drei  neu  thaler  fein 
Und  drei  klein  rote  bentelein! 
Werft  den  erden  gen  occident 
Und  den  andern  gen  Orient 
Und  den  dritten  gen  mitternacht  t 
Zu  iedem  wurf  fprecht  mit  andacht 
DiTen  heiligen  krefting  fegen 
Und  neiget  euch  darzu  allwegen; 

Trutz  eigenfinn  und  klaffibus, 
Widerpellen  und  muffibus 
Venit  brügel   und  faudibus 
Sub   capite   et  lendibus. 

Auf  den  fegen  fo  I^recht  hernach 
Mit  lauter  Stimm  in  teutfcker  fprach: 
Göttin  Airann ,  ich  ruf  dich  an : 
Hilf  tugendhaft  machen  mein  man ! 

Beim  dritten  Male  werde  die  Gottin  Antwort  geben:  die 
solle  fie  wol  merken  und  darnach  thun,  zum  Opfer  aber  die  Tha- 
ler liegen  lassen.  Am  andern  Morgen  steckt  sich  die  Alte  in 
jenen  Holzapfelbaum,  um  die  RoUe  der  Göttin  zu  übernehmen. 
Die  Frau  kommt  auch  wirklich  bald,  wirft  den  ersten  Thaler 
gegen  Orient  und  spricht: 

Truts  eigenfinn  und  klaffibus, 
Widerpellen  und  muffibus 
Yenit  brügel   und   fauftibns 
Sub    capite   et  lendibus. 

Darauf  sagt  sie  auch  die  deutschen  Worte  und  thut  solch  Wer- 
fen und  Segnen  zum  andern  und  zum  dritten  Male,  —  da 
schreit  die  alte  Unhuld  aus  dem  Baume: 


430 


Weib,  merk  mit  fleiß  drei  Mck  mit  nami 

Erlllich  fei  deinem  man  ghorfam! 

Zam  andern ,  fchickt  dein  man  dich  auß, 

So  kom  bald  widerumb  zu  haus! 

Zum  dritten  fchweig,  wenn  zomt  dein  mont 

So  kombft  nngerchlagen  darvon. 

Stillschweigend  entfernt  sich  da  die  junge  Frau ,  geht  heim  und 
gelobt  ihrem  Manne  Besserung  und  die  drei  Ratschläge  treu- 
lich zu  halten. 

Noch  ein  anderes  Fasnachtspiel  ist  für  uns  ausgibig,  Der 
los  man  mit  dem  munketen  weib  (ebendas.  fol.  35  v.  fgg.)? 
dem  Hans  Sachs  als  Geburtstag  den  24.  Mai  1554  beigesetzt 
hat.  Ein  munket  (d.  i.  eigensinnig,  trotzig)  Weib  hat  einen 
losen,  lüderlichen  Mann,  der  mehr  in  den  Wirtshäusern  als  in 
der  Werkstatt  sitzt,  das  Geld  verthut  und  sich  um  seine  Fa- 
milie nicht  kümmert.  Auch  jetzt  geht  er  wieder  zum  Zechen: 
vergebens  erinnert  ihn  sein  Weib  an  die  lünder,  die  barfuß 
laufen,  an  den  Hauszins,  der  fällig  ist.  Während  das  Weib 
traurig  dasitzt,  kommt  ihre  Mutter,  hört  die  Klage  der  Toch- 
ter an  und  ermahnt  sie,  durch  Sanftmut  ihren  Mann  zu  bes- 
sern und  an  Häuslichkeit  zu  gewohnen,  ihr  launisches,  mucki- 
ges, trotziges  Wesen  abzulegen  und  so  das  Unglück  abzuweh- 
ren. Zu  Nacht  kommt  der  Mann  voll  heim  und  bringt  noch 
einen  Zechgesellen  mit,  den  Schlaflrunk  mit  ihm  zu  trinken. 
Die  Frau  sieht  sie  und  nimmt  sich  vor,  zum  Ärger  nicht  ein 
einziges  Wort  zu  sprechen.  Ihr  Mann  und  sein  ZechgeseU 
bieten  ihr  guten  Abend,  der  Mann  heißt  sie  ein  Maß  Wein 
holen,  einen  Rettig,  —  sie  schweigt;  er  fragt  nach  ihrem  Be- 
finden, —  keine  Antwort.  Da  meinte  der  ZechgeseU ,  sie  schiene 
die  Munksucht  zu  haben. 

Der  man 

Ei  rat ,  wie  helf  wir  ir  denn  ab  ? 

Der  zechgefell 
Meinr  muttr  iß  oft  die  fprach  verlegen: 
So  het  mein  vatr  ein  krefting  fegen, 
Den  fprach  denn  über  fie  mein  mum 
Und  das  fchwarz  kirfchenwaßer  num 
Und  beßrich  ir  bruß,  rück  und  lend, 
Hals,  beide  fchultem  füß  und  hend. 
Zu  hand  kam  ir  die  fprach  denn  wider: 
Das  hats  allmal  geholfen  iider. 


431 

Der  man 
Wo  fol  Ich  hin?  es  ift  zu  fpat: 
Die  apotek  man  zugfperrt  hat. 
Wie  fol  ich  widerbringn  ir  fprach? 

Der  zechgefell 
Hinder  deim  haus  da  ßeht  gar  nach 
Ein  fchwarcer  hoher  kirfchenbaum : 
Za  dem  lanf  hin  und  dich  nit  fanm 
Und  hau  ein  brügel  dir  darvon, 
Weil  du  nit  kirfchenwaßr  magft  hon. 
Weil  die  kirfchen  anß  difes  faft 
Zeucht  auß  dem  holz  fo  große  kraft, 
Glaub  ich,  das  holz  die  kraft  auch  han. 

Der  man 
Was  muH  ich  aber  darmit  than? 

Der  zechgefell 
Wenn  du  dein  weib  darmit  thetft  falben 
Umb  die  fchulter  wol  allenthalben. 
So  glaub  ich  warhaftiglich  ie, 
So  bald  würd  wider  reden  iie. 

Sie  gehen  hinaus,  den  Kirschenprügel  zu  holen;  das  Weib  aber 
nimmt  sich  vor,  weiter  auf  ihrem  Schweigen  zu  verharren.  Bald 
tritt  der  Mann  mit  seinem  Gesellen  wieder  ein,  hat  einen  Prü- 
gel in  der  Hand  und  spricht: 

Mein  weib,  dir  ift  dein  fprach  verlegen. 
Ich  wU  dir  fprechn  ein  krelting  fegen, 

Darvon  dein  fprach  komb  widerumb, 

Daß  du  nit  allzeit  bleibll  ein  Ilumb. 

Mala    beßia  in  fpelunkis, 
Habes   kümaul   que  ^t  munkis, 
Bengelque   fub   fchulter   et  lendes 
Facit   dein   rüffel  hie  loquentes. 

Dabei  schlägt  er  sie  mit  dem  Stecken  drei  Mal  über  die  Lende. 
Auf  der  SteUe  gewinnt  sie  die  Sprache  und  läßt  ihren  Schimpf- 
reden freien  Lauf  Als  der  Mann  weiter  auf  sie  einschlagen 
will,  geht  sie  zornig  ab.  Zuletzt  tritt  die  Schwiegermutter  auf, 
redet  zur  Güte  und  Versöhnung  und  ladet  die  Eheleute  zu 
Gaste. 

Endlich  müssen  wir  eines  Schwankes  Erwähnung  thun 
Das  unhulden  bannen,  der  am  10.  Januar  1556  gedichtet 
ist  (Ausg.   von  1590.   Nürnbg.   2  Buch  4  Teil  fol.  48  v.  fg.> 


432 


Ein  abergläubischer  schwäbischer  Bauer  schrieb  alles  Unglück, 
das  ihm  widerfuhr,  wenn  ihm  ein  Pferd  oder  eine  Kuh  krank 
wurde,  den  Truten  zu.  Er  wollte  sich  deshalb  an  ihnen  rä- 
chen und  wünschte  sie  kennen  zu  lernen.  Einst  kommt  ein 
fahrender  Schüler  zu  ihm;  der  verspricht  ihm  seinen  Wunsch 
zu  stillen  und  lehrt,  wie  er  es  anfangen  müsse. 

Er  fprach  "fo  nimb  zu  dir  swen  man 

und  geh  mit  in  nauß  für  den  walt 

da  im  feld  ftoht  ein  eichen  alt 

gleich  bei  der  dreifachen  wegfcheid. 

da  folt  du  haben  und  fie  beid 

iedes  in  der  band  ein  bloß  fchwert. 

und  machet  ein  kreiß  an  der  erd 

etwan  auf  dreißig  klafber  weit 

umb  dife  eichen  groß  und  breit 

nach  dem  fo  fchürt  ein  großes  feur 

in  dem  kreiß  zu  der  abenteur 

und  lauft  darum  drei  mal  ringwerts 

und  werft  ins  fener  ein  kalbs  herz, 

das  neulich  hall  geftochen  du. 

fprich  difen  fegen  auch  darzu: 

▼  enite,   ir  unhuldibusi 
bringt  pengel    her  uns  ßnltibus, 
die  femper  mit  uns  fpentibus 
fub   capite   et  lendibus! 

fchau  wenn  ir  das  habt  drei  mal  gi]prochen, 

fo  kommen  auß  dem  wald  mit  pochen 

die  unhuldn  umb  den  kreiß  mmb  rennen, 

daß  ir  fie  mögt  perfonlich  kennen. 

denn  fprecht  den  fegen  widerumb, 

daß  kein  ungwitter  übr  euch  kumb. 

doch  wo  ir  feiet  an  dem  ort 

an  dem  fegen  ein  einigs  wort, 

fo  Wirt  der  teufel  unverholn 

zu  euch  werfen  feurige  koln 

und  die  unhulden  wem  on  fcheuch 

ein  ungwitter  machn  über  euch 

und  euch  vor  angflen  machen  heiß. 

doch  bleibet  all  drei  in  dem  kreiß! 

wo  fich  einer  darauß  wirt  geben, 

fo  wirt  es  koßen  im  fein  leben.' 

Froh  versprach  der  Bauer  um  Mittemacht  mit  zweien  andern 
zu  konunen.  Der  fahrende  Schüler  aber  gieng  des  Abends  in 
die  Rockenstube,  gewann  neun  rüstige  Bursche,  hieß  sie  Frauen- 


433 


kleider  anlegen  wie  alte  Unhulden,  gehörige  Prügel  mitnehmen 
und  machte  sich  hinaus  mit  ihnen  in  den  Wald.  Sie  versteck- 
ten sich  da  und  der  Schüler  kletterte  auf*  die  benannte  Eiche. 
Um  Mitternacht  erschien  der  Bauer  mit  zweien  Nachbarn  und 
that  Alles  wie  ihm  geheißen.  Als  die  Bursche  das  Feuer  sahen, 
kamen  sie  aus  ihrem  Verstecke  und  tanzten  mit  Gabeln,  Besen 
und  Schaufeln  in  ungestümem  Geschrei  herum.  Die  Bauern 
erschraken  und  vergaßen  ihren  Segen.  Da  warf  der  Schüler 
vom  Baume  herab  Kohlen  unter  sie,  —  da  meinten  sie  gar, 
das  habe  der  Teufel  selber  gethan  und  werde  sie  alle  holen. 
Die  Truten  rückten  immer  näher  ihnen  auf  den  Leib,  warfen 
sie  mit  den  Prügeln  und  trafen  sie  an  Kopf  und  Lenden,  dass 
sie  sich  wie  Topfe  umdrehten,  —  und  doch  wagte  sich  keiner 
aus  dem  Kreiße  heraus.  Als  die  Unhulden  ihre  Prügel  ver- 
worfen, liefen  sie  wieder  in  den  Wald.  Da  aihmeten  die  Bauern 
endlich  auf,  traten  aus  dem  Kreiße  und  schlichen  hinkend  und 
voll  Beulen  nach  Hause.  Der  Schüler  erhielt  den  bedungenen 
Lohn  und  zog  am  andern  Morgen  weiter.  Die  Bursche  aber 
plauderten  das  Abenteuer  aus  und  so  mussten  die  drei  zum 
Schaden  noch  die  Schande  haben. 

Diese  makaronischen  Brocken  (denn  mehr  ist  es  nicht) 
bei  Hans  Sachs  haben  sonst  weiter  keine  Bedeutung,  als  dass 
sie  die  Bekanntschaft  des  Dichters  mit  dieser  Gattung  des  ko- 
mischan  Stiles  verraten.  Er  verwendet  sie  nur  zu  Segen  and 
Zaubersprüchen  und  trägt  noch  ein  parodisches  Moment  mehr 
hinein  durch  absichtliche  Entstellung  der  latinisierenden  Fle- 
xionen (*ir  unhuldibus*  für  *ir  unhuldae*)  zum  Zwecke  der  Ver- 
spottung jener  Segen,  die  betrügerische  Ignoranz  Abergläubi- 
schen als  wirkliche  Zaubersprüche  aufband. 

Einzelne  makaronische  und  zahlreicher  noch  makaronisie- 
rende  Stellen  finden  sich  dann  bei  Johann  Fischart.  Dieser 
fabelhaft  belesene  Schriftsteller  kannte  auch  den  Folengo,  wie 
aus  einer  Stelle  im  ersten  Capitel  der  Geschichtsklitterung  (die 
erste  Ausgabe  davon  erschien  1575)  hervorgeht: 

Schreibet  doch  Merlin  Cocai  in  seinen  Nuttelverfen: 
plus  Roma  parit  quam  Francia  Gallos,  nemlich  in  illo  tem- 
pore da  man  bald  hernach  die  Sicilianisch  Vesper  hat  ge- 
spielet.* 
Mit  Nuttelverfe,  d.  i.  Nudelverfe,  übersetzt  er  richtig: 
Versus  maccaronici,  die  von   den  Maccaroni,    den   be- 


434 


kannten  italiänischen  Nudeln,  ihren  Namen  haben.  Ein  maka- 
ronischer  Pentannter  findet  sich  im  8.  Capitel,  der  Trunkenen 
Litanei  (Ausg.  v.  1608  L  5  v.):*) 

*Ich  hab  auch  des  Krauts  RauTch  wider  Baufch.  Laß 
mich  machen,  ich  hab  Haar  im  A  .  .  .  Hui  hui  dem  Ofen 
zu,  zur  Stub  hinaus I  Hie  liegt  er  im  Treck  in  aller  Sau 
Namen.  En  jacet  in  Treckis,  qui  modo  palger 
erat:  wie  ein  gefchlachtes  Bürslein.' 

Femer  makaronische  Stellen  in  Prosa  im  22.  Capitel,  von  der 
schonen  Glockenoration  (dem  19.  bei  Kabelais,  das  wir  oben 
erwähnten),  so  S  7  r.  Ausg.  v.  1608: 

'Herr  Domine,  wann  ihr  bei  mir  zu  Nacht  eßen  wollt  in 
Camera,  bei  dem  Sackerr  auf  Krifam,  charitatis  nos  facie- 
mus  bonum  Cherubin  et  Gefchirrium.  Ego  occidi  unum 
porcum,  ego  habet  bonum  vino  et  tria  oves.  Aber  von 
gutem  Wein  kan  man  nit  reden  bös  Latein.  Et  ego  fol- 
vam  Zecham.  Videto  wolan  de  parte  Dei,  bei  Gott  umb 
Gottes  Willen  date  nobis   Glockas  noftras,  noßra  Tiatina, 

Tiatina. S  7  v:      Vultis  etiam  Pardonos   et  Ablaß? 

Per  Diem  apud  Deum  vos  habebitis  et  nihil  payabitis  noch 

zaletis.     O  Herr  Domine,    glockedonaminor  nobis  1 

S  8  r:  Ich  wils  euch  ßattlich  be wären,  daß  irs  uns 
geben  folt.  Ego  fic  argumentor,  Jungherr,  refpondens: 
Omnis  glocka  glockabilis  in  glockerio  glockando  glockans 
glockative  glockare  facit  glockabiliter  glockantes.  ParifiuB 
habet  glockas,  ergo  glüch.  Ha  ha  hal  das  heißt  narriertl 
das  heißt  parliertP 

Und  weitere  Verse  im  24.  Capitel  *Von  des  Stroßengurgels 
beftem  ßudieren''  Ausg.  von  1608  T  7  r: 

'Hei  wie  fauber  KJüppelvers  für  die  Jugend: 

Nicht  hindere  Brunzen,  nicht  notige  heftiglich  ArfumI 


*)  Makaronisierende  Stellen:  L.  VI  v.  Nun  iü  bibendom,  nun  pede  libero 
zu  trappelen  tellus  und  zu  lappelen  häl  ns;  wie  man  fchreibt  in  tabemacolii 
ruHicorum,  im  Lande  zu  Sachfen,  ubique  in  altiquo  mure  mit  weißen 
Holen :  Sauf  dich  voll  und  leg  dich  nider  I  Steh  früh  auf  und  fäll  dich 
wider  1  So  vertreibt  ein  Füll  die  ander,  —  fchreibt  der  fromme  Prießer  Ars» 
lexander.  M  III  y.  Ja  ja  Tityre  du  Platzars,  reck  den  Schwans  fnb  tegmine, 
KühTchwanz!  Ille  ego  qui  quondam,  Kannen  vinumque  cano.     u.  f.  w. 


435 


Mit  efelen  farois  ftreite,  fic  non  eges  arzis! 

Vier  ding  auß  winden  veniunt,  fo  venire  verfchwinden. 

Vinum  fanre  klinglitum  farit  in  aure. 

Rüben  helfen  fiomachum,  wißen  zu  fordern  wintum, 

forderen  urinam,  fchädigen  auch  zano  ruinam.^  u.  f.  w. 

Diese  Beispiele  ans  Fifchart  mögen  genügen,  um  seine  Be- 
kanntschaft mit  dem  makaronischen  Stile  zu  bezeugen  und  die 
Art,  wie  er  ihn  handhabte.  Er  wendet  ihn  nur  stellenweise 
an,  allerdings  in  komischer  Absicht,  aber  ohne  höhere  und  wei- 
tere Intention. 

Der  Zeit  nach  folgt  nun  das  erste  wirkliche  makaronische 
deutsche  Gedicht,  das  im  Jahre  1593  zuerst  gedruckt  erschien 
und  von  Niederdeutschland  im  niederdeutschen  Idiome  aus- 
gieng.  Wir  lassen  es  hier  aber  einstweilen  bei  Seite  liegen 
und  erwähneif  es  erst  später,  da  wir  eine  hundert  Jahr  spätere 
hochdeutsche  Bearbeitung  mitteilen  werden. 

Im  Jahre  1627  erschien  ein  Gedicht  folgendes  Titels: 

DELINEATIO 

Summorum   Capitum 
LUSTIDÜDI- 

NIS  STUDEN- 
TICAE 

in 

nonnuUis  Academijs  ufitatae. 

Epigr. 

Catoni  Cenforio. 

Hoc  Studioforum  convivia  Carmen  adumbrat, 

Nee  tam  quid  deceat,  fed  foleat  fierL 

V.  V.  V. 
Anno  M.  DC.  XXVII. 

Es  ist  auch  in  die  Faceti»  facetiarum,  Pattopoli  1657  S.  7  fgg. 
aufgenonmien  und  neuerdings  bei  Genthe  a.  a.  O.  S.  323  ge- 
druckt.    Der  Titel  besagt  schon  seinen  Inhalt.    Es  beginnt: 

Ha  viva  fratres,  vival  precor  effe  corafli, 
nam  vos  ex  animo  laetor  adelTe  meo. 

Efte  coralfi  hodie,  mihi  milTa  pecunia  prsefens 
trillitiamque  tulit,  laatitiamque  dedit. 

Et  fi  non  eflet  mihi  mißa  pecunia,  quid  tum 
poflem  hodie  nihilo  la^tior  efle  minus? 

fFHmmr.  Jh.  IL  28 


436 


Graßina  non  lux  eß  mihi  cur»,  dummodo  Sluckopf 

in  bona  cum  Biero  dat  mihi  vina  fidem. 
Ha  falala  falalal  Spehnanni,  brummite  in  unum 

et  mußcdß  fpecimen  promite  dulcifonael 
Yos  famuli  Kannis  Bacchum  demergite  tiefis 

et  date  Rhenano  pocula  plena  merol 
In  Glafis  etiam  longis  cereviüa  fpumet, 

fervet  et  alternas  potio  jufta  vices.  u.  I.  w. 

Dieses  Gedicht  ist  übrigens  nur  stellenweis  makaronisch,  meist 
lateinisch  und  hie  und  da  makaronisierend. 

Wir  wenden  uns  nun  zu  jenem  bereits  erwähnten  ersten, 
dem  bekanntesten  und  (wenn  man  so  sagen  darf)  berühmtesten 
deutschen  makaronischen  Gedichte,  das  einen  eben  nicht  zu 
delikaten  Stoff  mit  meist  gutem,  wenn  auch  derbem  und  mit- 
unter niedrigem  Witze  behandelt,  der  Floia.  Sie  ist  von  einem 
ungenannten  Niederdeutschen  in  Hamburg  (wie  der  Schluss 
besagt)  geschrieben  worden.  Die  älteste  bekannte  Ausgabe  ist 
vom  Jahre  1593.  Lessing  (Collectaneen  zur  Literatur  2,  102) 
gibt  den  vollständigen  Titel  so  an:  Floia,  cortum  verficale, 
de  flois,  fchwartibus  illis  deiriculis,  quse  omnes  fere 
Minfchos,  Nonnas,  Weibras,  Jungfras  etc.  behuppere, 
et  fpitzibus  fuis  fchnaflis  ßeckere  et  bitere  folent, 
autore  Gripholdo  Knickknackio  ex  Floilandia«  In 
Quart.  Er  führt  femer  noch  eine  andere  Ausgabe  von  1614 
an  mit  (wie  er  meint)  einer  hübschen  Vignette,  wo  sich  eine 
ganze  Familie  bis  auf  den  Hund  flöht.  Es  gibt  außerdem 
noch  eine  ganze  Reihe  von  Ausgaben;  auch  ist  das  Gedicht  in 
verschiedene  Sammlungen  komischer  Stücke  aufgenonmien  wor- 
den, so  in  die  Nugse  venales,  den  Thefaurus  ridendi  et  jo- 
candi,  die  Facetiae  facetiarum.  Noch  in  neuerer  Zeit  wieder 
hat  man  seine  Herausgabe  nicht  verschmäht  und  ein  bedeuten- 
der Name  hat  sich  mit  ihm  verbunden,  Aeander  d.  i.  Karl  Im- 
mermann (Münster  1822,  8^.  mit  einer  Epißola  laudatoria). 
Zuletzt  ist  es  gedruckt  in  Genthes  Gesch.  der  macaron.  Poesie 
S.  333  fgg.  Gleich wol  können  wir  uns  nicht  entschlagen,  es 
hier  mitzuteilen  und  zwar  nach  einer,  wie  es  scheint,  bis  jetzt 
noch  ganz  unbekannten  Version,  einer  Übertragung  ins  Hoch- 
deutsche,   die   stellenweise   sich   zu   selbständiger    Behandlung 


437 


herbeilässt.  Unser  alter  Druck  ist  vom  Jahre  1689,  4  Blätter 
in  4,  und  sein  Yollstandiger  Titel  lautet: 

FLOCHIA 

feu 

GEDICHTUM  VERSICALE 

DE  FLOCHIS, 

Schwartzis  illis  Thiericulis,  qui  omnes  fere 

Menfchos,  Hannos,  Weibras,  Jungfras,  Kindros,  etc. 

behupfere,  fpitzibus  fuis  Schnablis 

ßechere  et  beiffere  folent. 

AUCTORE 

Greisholdo  knickknackio  Fiochlando. 

[Holzfchnitt- Seitenverzierungen,  in  der  Mitte 

ein  Kranz,  worin  ßeht:  Der  kurtzweilige  Floch.] 

ANNO  1689. 

Wir  geben  einen  gereinigten  Text  und  teilen  am  Schlüsse  die 
den  alten  Druck  entstellenden  Fehler  für  Liebhaber  solcher 
Curiosen  mit. 

Gedichtum  versicale 
de  Flochis. 

Angla  Flochosque  canam  qui  wachsunt  pulvere  fchwarzo 
£  Waßroque  ümul  fließente  et  Schweißide  warmo, 
Multipedes  Thieri  qui  poflunt  hupfere  longe 
Non  aliter  quam  fi  Flüglos  natura  dedisset,  — 
5  Ulis  funt  equidem,  funt  (inquam)  corpora  kleina, 
Sed  mille  erregunt  MenTchis  Martrasque  Plagasque, 
Cum  fteckunt  Schnablum  in  Leibum  Blutumque  rubentem 
Exfaugunt:  homines  fic  vexierere  poflunt,  — 
Et  qu»  tandem  illis  pro  üintä  Lonia  reftent 
10  Vexeritate  et  quem  nemant  per  vulnera  Todum. 

Sunt  variae  Martrse  quibus  ob  fua  Sünda  fuamque 
Ob  Mutwillitiam  Menfchos  abßrafit  acerbe 
nie  deus ,  coelum  et  Sternos  qui  fecit  et  Erdam. 
Hunc  ftichit  Schlangus,  laufit  Dollhundus  in  illum, 
15  Beißit  et  in  Leibum  ut  cogatur  reddere  Geiftum* 
Alt  alium  WoUus  frißit  Bärusve  zureißit. 
Hie  habet  innumeros  Laufes  et  tempore  nullo 
Freudam  habet:  hi  laufunt  per  Kleidros  et  male  beißunt. 

28* 


438 


Aß  reliquos  inter  Thieros  non  boefior  ulla  eft 

20  Nee  magis  infeßat  Menfchos  illisque  molefias 
Erregit  Martras  quam  peffima  turba  Flochorum. 
Non  Ulis  fatis  efl;  finftri  fub  tempore  Nachti 
Siechere  et  e  fanfto  Mägdas  aufweckere  Schlafo, 
Sed  quoque  fub  Tago  durchkriechunt  undique  Kleidros, 

25  Nunc  huc  nunc  illuc  fpringentes,  fpitzibus  aegre 
Beißentes  Schnablis,  üc  ut  de  corpore  Blntus 
Saepe  fluat  Fleckique  rubri  cernantur  in  Hauto. 
Glaubite  (quaefo)  mihi!  mihi  glaubite  (quaefo),  fodalesi 
Saepius  expertus  redo  hoc.    Cum  Wolkibus  altis 

30  Sterni  deleuchtunt  et  fcheinit  ab  Himmlide  Mondus 
Et  fuadent  Schlafe  fe  tradere  tempora  finftra, 
Solum  yerhindrunt  tardum  fchwarza  agmina  Schlafum. 
Nunc  eft  Luftus  iis  per  weichum  fpringere  Beddum, 
Nunc  vero  auflleigunt  Beinos,  Beinisque  relictis 

35  In  medio  fitzunt  Baucho  prope  Nablia  runda, 

Nunc  quoque  per  Bartumkriechunt:  dant  vulnera  Menfchis, 
Vulnera  quae  fchmerzunt,  Augos  Nafosque  geheiunt. 
Deinde  juvat  rurfus  warmo  fe  tradere  ßeddo 
Et  Schultros  Armosque  Handosque  invilere;  quin  et 

40  SaBpe  infra  wandrunt  corpus,  lluckumque  befuchunt 
Et  rundos  Lendos,  treibentes  undique  lufirum. 
Non  fecus  atque  folet  dicko  Morderus  in  Holzo 
Wandere  9  non  tantum  ut  longum  vertreibere  tempus 
Detur,  at  fchlagat,  verwundat,  denique  tcedat, 

45  Si  qui  begegnunt  Leuti  qui  Beutila  Geldo 

Plena  geruht  Kleidrosque  bonos  in  corpore  tragunt: 
Sic  quoque  nigrorum  damnanda  caterva  Flochorum 
In  Beddo  late  fchleichit  Kleidrosque  befuchit 
Non  propter  longum,  quoniam  fed  quasrit  in  ipfis 

50  Gliederibus  Blutum,  fchonum  quoque  merkitat  Hautum« 
Protinus  ut  findit,  veluti  Morderus  adhupfit, 
Ausfieckit  Schnablum,  fub  quo  fcharpfiflima  femper 
Angla  latent,  zartum  quae  tiefe  fteckit  in  Hautum. 
Ausfaugit  Blutum  nefcitque  aufhorere,  donec 

55  Se  fuße  füllat  Safto  plenusque  recedat 

Nee  faugit  tantum,  verwundit  et  undique  Leibum, 
Ut  Schlangus  ftichit,  furiofus  beißit  ut  Hundus 
Et  poft  fe  multos  Fleckes  Mahlosque  relinquit 


489 


RotigenoB.  Schlafens  hasc  quando  fühlit,  in  andrum 
60  Se  wirfit  Seitum  nofere,  wegßoßit  et  Handis 

Deckbeddum,  fchanit  Näglis  Schadumque  beffUilit, 
Sed  quando  Martram  Gliedo  vertreibfit  ab  uno, 
Mox  Flochus  ex  Stundo  weghupfit  et  alta  behendus 
Vulnera  dat;  fi  nee  Stetto  quoque  tutus  in  illo  eft, 
65  Rurfum  alio  fpringit  proqne  nno  vulnere  ftichit 
Plurima,  ut  ille,  femel  Schlafe  qui  aufwachuit  alto, 
Non  itemm  poIHt  müdos  zufchließere  ocellos: 
Se  walkit  mifere,  ruckit  flnchitque  rufitque 
Infequiturque  Flochos  fühlitque  in  corpore,  verum 
70  Greifere  cum  tentat,  Blutum  fibi  greifit  in  Hautum. 
Ssepe  igitur  totos  fine  Schlafe  ducere  Nachtos 
Cogitur  et  multas  leidit  Martrasque  Plagasque. 

Nee  faltem  haec  fiunt,  Beddo  cum  ligimus  alto, 
Sed  quoque  cum  lefimus,  cum  fchreibimus,  eßimus,  imo 

75  Betere  cum  volumus,  male  plagitur  undique  corpus. 
Praßcipue  Beinos  intra  zartisque  fub  Armis, 
Summis  in  Kragiis,  hlc  hlc  funt  regna  Flochorum. 
Hlc  grüblunt,  ftechunt,  beifiunt,  kizluntque  fubinde,  ut 
Ssepe  pati  nequeas  et  fcharras  NägUbus  Hautum. 

80  Et  (quod  yerwundrunt  omnes)  non  ullus  in  Erdft 
Lebet  Thiericulus,  non  ullus  in  aere  fchwebit 
Qui  tarn  magnanimus,  tam  fit  quoque  künus  ut  unus 
Exiguusque  Flochus:  non  forchtitat  ille  potentes 
Kerlos,  non  Pabßi  Kronä  verfcfarickit  ab  ipfiL: 

85  Buchum  perkriechit  fanctum  laufitque  behende, 
Donec  berührat  bloßum  cum  Schnablide  Leibum. 
Cogitur  hinc  Pablhis  Buchum  Kreuzumque  facratum 
Werfere  de  manibus  Thierumque  fiigare  bidentem. 
Non  förchtit  Keifros,  nee  reges,  nee  patriarchas 

90  Cardineosque  patres,  Hutos  qui  margine  breite 
Tragunt  in  Kopfis.    Verum  nihil  achtit  hie  Hutos 
Nee  Stabes  Golde  decoratos:  fliehit  in  Hautum, 
Hutus  ut  Kopfis  et  fallat  Stabus  ab  Handis. 
Nee  Flochus,  an  doctor  fis,  quaerit,  five  magifl^r: 

95  Ipfe  vel  ad  Backum  vel  fe  cito  fetzit  ad  Halfum 

Atque  anglum  feharpfum  per  dünnum  druckitat  Hautum, 
Ut  Fedrus  exfallat  dexträ  laev&que  Papyrus. 


432 


Ein  abergläubischer  schwäbischer  Bauer  schrieb  alles  Unglück, 
das  ihm  widerfuhr,  wenn  ihm  ein  Pferd  oder  eine  Kuh  krank 
wurde,  den  Truten  zu.  Er  wollte  sich  deshalb  an  ihnen  rä- 
chen und  wünschte  sie  kennen  zu  lernen.  Einst  kommt  ein 
fahrender  Schüler  zu  ihm;  der  verspricht  ihm  seinen  Wunsch 
zu  stillen  und  lehrt,  wie  er  es  anfangen  müsse. 

Er  fprach  'fo  nimb  zu  dir  zwen  man 

und  geh  mit  in  nauß  far  den  walt 

da  im  feld  ftoht  ein  eichen  alt 

gleich  bei  der  dreifachen  wegfcheid. 

da  folt  du  haben  und  fie  beid 

iedes  in  der  hand  ein  bloß  fchwert. 

und  machet  ein  kreiß  an  der  erd 

etwan  auf  dreißig  klafter  weit 

umb  dife  eichen  groß  und  breit. 

nach  dem  fo  fchnrt  ein  großes  feur 

in  dem  kreiß  zu  der  abenteur 

und  lauft  darum  drei  mal  ringwerts 

und  werft  ins  feuer  ein  kalbs  herz, 

das  neulich  haft  geftochen  du. 

fprich  difen  fegen  auch  darzu: 

Tcnite,   ir  unhuldibusi 
bringt  pengel    her  uns  ßnltibns, 
die  femper  mit  uns  fpentibns 
fub  capite  et  lendibus! 

fchau  wenn  ir  das  habt  drei  mal  gi]prochen, 

fo  kommen  auß  dem  wald  mit  pochen 

die  unhuldn  umb  den  kreiß  mmb  rennen, 

daß  ir  iie  mögt  perfSnlich  kennen. 

denn  fprecht  den  fegen  widerumb, 

daß  kein  ungwitter  übr  euch  kumb. 

doch  wo  ir  feiet  an  dem  ort 

an  dem  fegen  ein  einigs  wort, 

fo  Wirt  der  teufel  unverholn 

zu  euch  werfen  feurige  koln 

und  die  unhulden  wem  on  fcheuch 

ein  ungwitter  machn  über  euch 

und  euch  vor  angllen  machen  heiß. 

doch  bleibet  all  drei  in  dem  kreiß! 

wo  fich  einer  darauß  wirt  geben, 

fo  wirt  es  kollen  im  fein  leben.' 

Froh  versprach  der  Bauer  um  Mittemacht  mit  zweien  andern 
zu  konunen.  Der  fahrende  Schüler  aber  gieng  des  Abends  in 
die  Rockenstube,  gewann  neun  rüstige  Bursche,  hieß  sie  Frauen- 


433 


kleider  anlegen  wie  alte  Unhulden,  gehörige  Prügel  mitnehmen 
und  machte  sich  hinaus  mit  ihnen  in  den  Wald.  Sie  versteck- 
ten sich  da  und  der  Schüler  kletterte  auf'  die  benannte  Eiche. 
Um  Mitternacht  erschien  der  Bauer  mit  zweien  Nachbarn  und 
that  Alles  wie  ihm  geheißen.  Als  die  Bursche  das  Feuer  sahen, 
kamen  sie  aus  ihrem  Verstecke  und  tanzten  mit  Gabeln,  Besen 
und  Schaufeln  in  ungestümem  Geschrei  herum.  Die  Bauern 
erschraken  und  vergaßen  ihren  Segen.  Da  warf  der  Schüler 
vom  Baume  herab  Kohlen  unter  sie,  —  da  meinten  sie  gar, 
das  habe  der  Teufel  selber  gethan  und  werde  sie  alle  holen. 
Die  Truten  rückten  immer  näher  ihnen  auf  den  Leib,  warfen 
sie  mit  den  Prügeln  und  trafen  sie  an  Kopf  und  Lenden,  dass 
sie  sich  wie  Topfe  umdrehten,  —  und  doch  wagte  sich  keiner 
aus  dem  Kreiße  heraus.  Als  die  Unhulden  ihre  Prügel  ver- 
worfen, liefen  sie  wieder  in  den  Wald.  Da  aihmeten  die  Bauern 
endlich  auf,  traten  aus  dem  Kreiße  und  schlichen  hinkend  und 
voll  Beulen  nach  Hause.  Der  Schüler  erhielt  den  bedungenen 
Lohn  und  zog  am  andern  Morgen  weiter.  Die  Bursche  aber 
plauderten  das  Abenteuer  aus  und  so  mussten  die  drei  zum 
Schaden  noch  die  Schande  haben. 

Diese  makaronischen  Brocken  (denn  mehr  ist  es  nicht) 
bei  Hans  Sachs  haben  sonst  weiter  keine  Bedeutung,  als  dass 
sie  die  Bekanntschaft  des  Dichters  mit  dieser  Gattung  des  ko- 
mischan  Stiles  verraten.  Er  verwendet  sie  nur  zu  Segen  and 
Zaubersprüchen  und  trägt  noch  ein  parodisches  Moment  mehr 
hinein  durch  absichtliche  Entstellung  der  latinisierenden  Fle- 
xionen (*ir  unhuldibus*  für  *ir  unhuldae*)  ziun  Zwecke  der  Ver- 
spottung jener  Segen,  die  betrügerische  Ignoranz  Abergläubi- 
schen als  wirkliche  Zaubersprüche  aufband. 

Einzelne  makaronische  und  zahlreicher  noch  makaronisie- 
rende  Stellen  finden  sich  dann  bei  Johann  Fischart.  Dieser 
fabelhaft  belesene  Schriftsteller  kannte  auch  den  Folengo,  wie 
aus  einer  Stelle  im  ersten  Capitel  der  Geschichtsklitterung  (die 
erste  Ausgabe  davon  erschien  1575)  hervorgeht: 

Schreibet  doch  Merlin  Cocai  in  seinen  Nuttelverfen: 
plus  Roma  parit  quam  Francia  Gallos,  nemlich  in  illo  tem- 
pore da  man  bald  hernach  die  Sicilianisch  Vesper  hat  ge- 
spielet.' 
Mit  Nuttelverfe,  d.  i.  Nudelverfe,  übersetzt  er  richtig: 
Versus  maccaronici,  die   von   den  Maccaroni,    den   be- 


442 


Quid  fagam?  Miris  pulices  qusBruntur  in  Ortis. 

175  Vidi  illas  Rockumque  aufdeckere  et  undique  Strimpfbs 
Nunc  bio  nunc  illic  befuchere,  ftreichere  Fußes: 
Namque  fciunt  Weibrae  quod  Strimpfos  gerne  bewonant. 
Et  quando  Wollam  femel  infprinxere,  weg  ire 
Non  facile  poflunt.    Ergo  quam  magna  Flochomm 

180  Agmina  fanguntur  per  wtdleos  undique  Strimpfos, 
Flochere  cum  incipiunt  Weibrael     Tunc  bella  videres: 
Tunc  angftum  magnum  treibit  captiva  Flochorum 
Turba  atque  arbeitit  toto  cum  corpore,  Schnkblum 
Ausitreckit,  Beinos  ad  faltus  fetzit:  at  hangit 

185  In  Woll&  mifere.    Tunc  fangunt  undique  Weibrae 
Nigrantes  Schelmes  et  toUunt  Bankio  in  barto 
Delleroque.    Hlc  hlc  mordunt,  Handisque  tremendis 
Vertilgunt,  fetzunt  Näglos  in  corpora  fchwarza 
Et  Knickknack  fpielunt,  ut  circum  Blutus  in  Erd& 

190  Fließat,  nee  prius  aufbörunt,  nifi  tota  caterva 
Tradita  fit  Todo.   Tunc  ligunt  agmina  tanta, 
Vitam  qui  laßuere  fuam,  ut  wegraffere  polBs 
Fingris:  Ted  Befmis  auskehrunt  faepeque  füllunt 
Ingentem  Meßum  Schauflumve  et  flumine  mergunt» 

195  Unde  folent  reliqui  fchwarzos  antragere  Kleidros, 
Alter  ut  alterius  poflint  beweinere  Todum. 

Quid  memorem  Jungfras  Mägdasque?  Schonuntne  nigellis 
Thiericulis?  fchenkunt  vitam?  Non  fchenkere  fas  eft 
Ajunt:  nam  quando  debent  haB  fpinnere,  quando 

200  Ad  Stubas  kommunt,  fcharpfis  ut  nägere  Nadlis 
Pofllnt,  nulla  illis  Freuda  eß:  niger  infidet  Hauto, 
Hauto  moUiculo  Flochus  et  fe  fanguine  Magd» 
Füllit,  repletus  per  EJeidros  fpringit  et  hupfit 
Vexieritque  adeo  ut  Jungfrau  faepe  absque  pudore 

205  Aufdeckant  fefe  et  Beinos  Bauchumque  beguckant 
Et  kratzant,  donec  paulum  Wehtagia  cedant. 
Saepe  etiam  Kragia  aufinachunt  et  Düttita  runda 
Defendunt  fcheichuntque  Flochos,  ne  Maulide  laodant 
Et  Blutum  ausfaugant.  Fieri  fi  denique  poflüet, 

210  Tam  böfos  pulices  omnes  ad  tartara  nigra 
Projicerent.  Vidi  quasdam  qui  Morgene  früho, 
Si  quando  vaccas  Herdo  nachtreibere  veUent, 


448 


Solo  Hembdo  indut»  poterant  non  cemere  Freudam: 
Nunc  Hando  in  Rackum  greifebant,  nunc  fua  Naglis 
215  Düttita  fcharrebant,  nunc  Lenda,  Beina  Knigosque 
Nee  fcio  quid  reliquum,  cementes  fcheliter  ad  rem. 

HaBC  ideo  Yobis,  o  Brüdri,  fchicko  fideles, 
Saepe  üt  denkatis  gutum  et  liebatis  amicum. 
Et  qüoties  beißunt  vos  fchwarzi  Schnablide  Thieri, 

220  Et  quoties  Händig  veftris  ingreifitis  Hofos, 

Fangere  nempe  Flochos,  tales  effbndite  Wortos: 
'Jam  Flöchus,  Hamburgä  quem  fchickuit  urbe  politus 
Altus  Bekanntns,  bloßum  me  flichit  in  Hautom, 
Scilicet  ut  denkamque  fui  denkamque  jocorum 

225  BoITorumque  fimul:  denkam  ergo.    Cedito.rurfus, 

Parve  Floche,  et  noßrum  mifere  quoque  plage  bekanntum 
Freundum,  ut  fit  memor  et  nullis  vergeßat  in  annis 
Noßri!  Sic  durat  Freundfchaftia.*  Nun  hat  es  ein  End. 

Der  alte  Druck  gibt  Zeile  7  (lekant.  8  Ezfugant.  10  nemmsnt.  11 
martide.  12  O  für  Ob.  17  Hinc  habet.  18  bieffunt  23  Tclafo. 
30  delenchtnng.  31  fchlaTo.  32  fchwatza.  37  fehmirtzuiit 
41  Et  tnndos.  44  verwunda.  tsdat.         47   Si   quoqne.  61 

moBderus  adhupffit.         63  lutent         66  fäerfo.         66  Ne  fagit. 
60  feiternm.         66  quoque  uno  vulnere  lleckit.  69  fulitqne. 

77   hie   einmal.  91    a.   h.    nutos.  100  nodia.  107  lafo.  108 

moBftum  nimmo.         110  tröfcheri  fielide  korum.  111  martrnnt. 

113  fchweinhardos.  116    diebusque.  118  dictisqne.  120 

mifer  ipfius  anh.        122  berübram.  143  liggit       147  nemmens. 

147  wegfregit.  164  corrido  budigofma  tarandula.  160  Flocbn. 
163  Splendeete.  164  nehere«  172  floccos;  n.  fcharror  elendos. 
191  tunc  lefunt  a.        197  memerem.        203  Fühlit.        216  Düttia. 

Die  Yorgtehende  hochdeutsche  Bearbeitung  der  Flochia  wird 
wol  schwerlich  viel  älter  sein  als  der  Druck:  sie  bezeugt  aber 
die  andauernde  Beliebtheit  des  Gedichtes,  das,  nachdem  es  ein 
ganzes  Jahrhundert  umgegangen  war,  noch  dieser  Veränderung 
wert  gehalten  ward. 

Wir  gehen  zu  zwei  anderen  bisher  unbekannten  makaro- 
nischen  Gedichten  über,  Erzeugnissen  studentischer  Muse,  die 
ihren  Stoff  aus  dem  Universitätstreiben  genommen  haben.  Sie 
werden  in  dieselbe  Zeit,  wie  die  vorige  Bearbeitung,  ins  Ende 
des  siebzehnten  Jahrhunderts  gehören. 

Das  erste  findet  sich  in  einem  alten  Drucke  vom  Jahre 
1689,  2  Blätter  in  4.    Die  Titelseite  gibt: 


iU 


CERTAMEN 
STÜDIOSORÜM 

cum 
VIGILIBUS  NOCTÜRNIS. 

LECTORI 

Integra  nee  celebris  Lector  tibi  quaere  Maronis 
Carmina,  Ted  duro  pollice  fcripta  lege. 

Nam  quia  de  Benglis  nunc  fermo  grobibus  inßat, 
Sit  quoque  conveniens  grobica  metra  dare. 

Nil  igitur  numerus  Lector  te  turbet  ineptu?^ 
Sponte  requifitus  claudicet  ordo  metri. 

Ecce,  vide  fpice,  fchau,  Gug,  Botz  Veite  videte. 

Typis  et  impenfis 

BURSTAE  Studentorum  qui  tempore  finftere  noctis, 

Wächtrisque  boren  den  Efel  ab  oren. 

1689. 

Es  behandelt  einen  nächtlichen  Straßenkampf  zwischen  Stu- 
denten und  Nachtwächtern ,  in  dem  die  ersteren  sich  tapfer 
wehren  und  endlich  als  Sieger  das  Feld  behaupten.  Es  gehört 
nicht  zu  den  besten  Gedichten  dieser  Art,  da  das  makaronisohe 
Gesetz,  möglichst  alle  einheimischen  Worte  durch  Flexion  zu 
latinisieren,  hier  vielfach  verletzt  ist.     Es  lautet: 

Certamen  ßudioforum  cum  vigilibus  nocturnis. 

Burfa  Studentorum  cum  tempore  finßere  noctis 
Cum  Cytharis  Gigisque  gaßatim  laufen  et  Harpfis 
Inque  Steines  hauen,  thut  Feuer  ausfpringen  ab  ipfis: 
Non  aliter  rabidi  vigiles  quam  reißende  Wolfi 
5  Accurmnt  celeres  cum  Prüglis,  Penglis  et  Heblis, 
Hisque  Studiofos  antaßen  illico  verbis: 
'Ite  domum,  Schelmi!  fonuit  jam  zwölfen  ab  Uns.' 
At  contra  ßudiofa  cohors  in  talia  trutzig 
Verba  mit  Wächtrisque  boren  den  Efel  ab  Oren: 

10  'Trutz  tibi!  Trutz  aliisl  Ju  huil  Trutz  omnibus  iftisr 
Ac  iterando  magis  'Ju  huiT  clamoribus  altis 
Cuncta  movent  Degorumque  citant  ftridore  vicinos. 
Tum  jubet  Elberger  Spermundos  hielten  ut  ipfi, 
Knopfuis  ac  alsbalde  fuas  lieh  butzten  ad  aßdes: 

15  Sin  minus  et  Wegium  zeigurum  fefe  per  haftas 


Üb 


Machurumque  pedes  per  Prüglen,  Penglen  et  HeUen. 
Hi  vero  haud  quidqnam  moti  Ju  £chreieii  et  usque 
Wirmifche  Scharganten  cum  Juchaibus  atque  gezucktis 
EuübtiB,  hos  bochiunt  et  trutzige  dicta  reponunt 

20  Scharfeque  mox  fpadios  ac  fpitzige  ziehen  heraußer 
Lußiglich  et  Steinos  fiiriofi  kratzen  et  hauen, 
Liechtige  quo  Funki  de  faxis  fpringen  et  hupfen. 
Hisque  fuos  Wächtros  rabidas  entzünden  ad  iras 
Atque  fibi  magnas  addunt  ßudentirche  mentes. 

25  His  ita  commoti  Scharganten  roßige  Spießos 

Umkeriunt  tremuli,  moxque  uno  turbine  promptam 
Anfallunt  Bursam  minitantes  £seva  Studentum. 
Sed  leider  ac  mifere  klopfuntur  Deifelin  arme. 
Nam  licet  et  Rilpis  fit  turba  munitaque  Fleglis, 

30  Et  licet  henkeriis  bene  fit  circumdata  Pruglis, 
Diebifcbe  fint  banzris  Harnißis  undique  cincta 
Pectora,  fit  tectus  Beckel  groß  Kopfius  Hauben: 
Attamen  ut  primiun  es  geht  ans  leidige  Treffen, 
Stant  adeo  firmi,  daß  weder  förder  noch  hinder 

35  Ulterius  polfit  vel  Fußum  tendere  rurfum, 
Sic  etiam  citterant  ut  naßus  Kalbius  unquam 
Et  quafi  Scharganteis  animus  cecidifi'et  in  Hofos. 
Poß  ubi  Wächtrorum  redivivurn  leidige  Gfchwadrum 
Luftige  Burfa  videt,  fpadiis  mox  impigre  verfis 

40  Umwicklen  brachiis  tutantia  Mantlia  pronis, 

Quo  ficherer  poifint  Spießorum  eludere  Streidios. 
Trutziglich  interea  cuncti  fe  ft;ellen  in  d^Ordnung, 
Enfibus  et  fpitzigis  fe  mox  engiflime  jungunt, 
Unus  ut  auxilio  focio  beifpringat  amico, 

45  Neve  wie  die  Schelmen  junctos  anfaUere  poifint. 

His  ita  dispofitis  animati  praelia  miscent 
Fortiter  et  ftrictis  invadunt  enfibus  hoftem. 
Pars  fahret  an  lezten  jam  prope  timore  peremptos 
Wächtren  et  horrendis  mox  zeichnen  Wundibus  ipfos. 
50  Pars  fahret  in  medios:  fpadiis  braviterque  fireitando 
Laufige  Wächtrorum  certrennunt  Schare  fulorum. 
Alter  et  interea  focium  *ne  define,  fraterl* 
Alloquitur,  'potius  nunc  protege  jura  Studentum! 
Gnaviter  infracUxs  Fleglorum  frangito  Grindes  T 


446 


55  Frater  et  ad  focium  fic  fatur  *Jura  tuebor: 

Vel  horum  reprimam  Henkorum  bochige  mentes, 

Vel  hlc  ftudentifch  victus  generofe  peribo. 

Hau,  Petre,  beiß,  kratz,  flieh,  ftupf,  quomodocunque  zu- 

kommeflir 
His  ita  prsefatis  Soarmizlio  faevius  inftant 

60  Ac  animis  denuo  Gfellio  monitore  beherztis 
Invadunt  Wächtros  et  mifere  butzen  inertes. 
Exoritur  fubito  Wachtrorum  traurige  clamor. 
Hie  icbreiet  ad  focium  *Gerg  hilf!'  Hans  damat  et  alter 
*Hilf  tul  Weh  nobis!  nam  funera  certa  cademus.* 

65  Qui  ferat  auxilium  nee  läßt  lieh  blicken  et  hören. 
Poft  ubi  terrarum  miferi  jam  Deifelin  errent, 
Ignorant  penitus;  vor  Not  vor  Angflque  Studentos 
Protinus  anrufunt,  Himlosque  deosque  deasque 
Ergo  rogant:  'Domini,  Gnad,  Gnad  conferre  mifellis 

70  QuaefumusI  ah  armis  noßris  miferemini  Kindrisl 
Publice  vos  Meißros  nofliros  profitemur  et  Heros  I* 
Afl;  hi  ganz  witige  fternunt  per  compita  Wächtros 
Et  rapiunt  tremulis  iuriofi  Prüglen  et  haßas 
Es  fchlagiunt  ipfis  umb  d**  Ohren  faepe  herumber. 

75  Mox  etiam  varios  wie  d**  Hund  fic  fchlagen  auf  Erden. 
Hoc  ubi  confpiciunt  reliqui,  de  Staubiis  alsbald 
Se  machiunt,  trepidi  currunt,  was  gibllu,  was  haftu, 
Atque  finunt  fefe  non  blicken,  fehen  et  hören. 
EUque  replent  onmes  Vu  hui'  clamando  plateas, 

80  Enfibus  eliciunt  ex  Steinis  allezeit  ignes. 
Ergo  ftudiofi  großmächtige  Herren  et  Hänfen 
Sunt  ubi  gaßatim  per  compita  cuncta  geloffen, 
Tecta  fecura  petnnt  cum  Prüglis,  Penglis  et  Heblis, 
Quos  prius  abjagerant  den  faulen  Wächtren  ßreitando. 

85  Denique  fic  jochomant,  daß  ßickete  wickete  pleni 
Sint  omnes  nullusque  fuum  pene  findere  lectum 
Poffit  et  in  Kamris  wütigi  rumbtrimlen  et  hasplen. 

Zeile  1   gibt  der   alte   Druck  Burfta.  2.  Cum  Cytharisque  Gigis 

gafsatum  d.  a.  Dr.  Vielleicht  gafratiin  umlaufen  3.  hawen  thout 
f.  d.  a.  Dr.  6.  Beßer  makaronifch  wäre  antaftunt,  wie  Z.  3  haunnt 
und  (wenn  der  Vers  es  erlaubte)  Z.  2  laufunt  9.  Beßer  wäre  borunt 
d«  E.  ab  Oris.  Und  fo  öftere  Verilöße  in  diefem  Stucke  gegen  das  feinere 
makaronifche  Gefetz.  13  Spermundis.  17  hautq.  d.  Dr.  27  Bur- 
dam  d«  Dr.     32  Pectora  Tic  tectus  bekell  gros  d.  Dr.    36  citerant 


447 


89  Bnrftft  d.  Dr.     vern.      42  in  die  o.     60  prsTiterque.      60  Gfelio 
d.  Dr.         82  gafffttum  d.  Dr.        84  Wächtre  d.  Dr. 

Das  andere  studentische  makaronische  Gedicht  findet  sich 
in  einer  komischen  Dissertation  folgendes  Titels:  Curiofe 
Inaugural-Disputation  von  demRecht^Privilegiisund 
Prserogativen  der  athenienfifchen  Profefforen-Pur- 
fchen  wider  die  Bürger-Purfche  und  Communitäter, 
welche  unter  dem  Praefidio  des  durch  und  durch  ge- 
lahrten, und  erfchrecklich  geßudirten  Herrn  Horri- 
bilii  Pruftii  Renomifti,  Profefforen-Purforum  p.  t. 
Vicarii  etc.  etc.  pro  gradu  Profefforen -Purfchico, 
Privilegiisque  in  hac  Dignitate  rite  capeffendis  in 
CoUegio  fubterraneo  i.  e.  Studenten-Keller,  horis  an- 
teet  pomeridianis  zur  öffentlichen  Ventilation  dar- 
geftellet  Coecius  Tappius  Schlingfchlangfchlorum. 
Athen,  gedruckt  Sub  Prelo  auff  Koften  der  Profeffo- 
ren-Purlche.     In  Diebus  Canicularibus.     5  Bogen  in  4. 

Der  erste  Teil  der  Dissertation  (Seite  3  — 17)  handelt 
'Von  dem  Recht  der  Athenienfifchen  ProfelToren-Purfchen.'  Zu- 
erft  ift  die  Definition  von  *Profefforenpurfche'  gegeben  im  All- 
gemeinen, dann  von  den  Beftandteilen  aus  dem  das  Wort  zu- 
sammengesetzt ist,  also  von  Professor  (mit  Etymologia,  Syno- 
nymia  und  Homonymia)  und  Pursche  (wiederum  mit  Etymo- 
logia,*) Synon.  und  Homon.);  weiter  werden  die  übrigen  Teile 


*)  'Zu  wissen  ist,  dass  Parfche  eigentlich  ein  franzSsisch  Wort  and  auf 
Teutsch  so  viel  heißt  als  ein  Beutel:  nicht  zwar  einen  solchen  Beutel,  wie 
man  in  Mahlen  hat ,  welcher  von  Haaren  gemacht  ist,  dadurch  das  Mehl  ge- 
beutelt wird,  daher  die  Mühlknappen  sagen,  sie  wollten  den  Mägden,  wenn 
sie  mahlen,  einen  groben  Beutel  vorhängen;  sondern  einen  Oeld-Beatel. 
Fragt  man  nun,  warum  man  denn  einen  Studenten  einen  Beutel  nenne,  so  sind 
zwar  einige  Autores,  z.  E.  Beyerus  de  jare  Opificum  etc.  in  den  Gedanken, 
dass  es  darum  geschehen,  weil  an  einem  Studenten  nichts  mehr  und  höher 
als  der  Beutel  »ftimiret  werde,  denn  wenn  ein  Purfch  bray  Geld  zu  verzeh- 
ren hat,  ift  er  allenthalben  lieb  und  werth,  und  wird  von  jedermann  gleich- 
fam  auf  den  Händen  getragen;  hat  er  aber  nichts  mehr  im  Beutel,  fo  gehet 
ihm  keine  Magd  quer  über  den  Weg.     Secundum  illud 

Quand  ma  bourfe  fait  bim  bim  bim, 
Tout  le  monde  eft  mon  Coufin: 
Mais  quand  eile  fait  da  da  da, 
Tont  le  monde  dit:  Tu  t*en  val 


448 


der  Definition  näher  beleuchtet  und  besonders  die  Vorzüge  der 
Professorenbursche  vor  den  übrigen  Studenten  herausgehoben. 
Diese  sind:  sie  können  sich  Hoffiiung  auf  späteren  höheren 
Rang  machen,  da  sie,  als  viel  um  den  Professor,  diesem  seine 
Manieren  absehen  und  manches  erschnappen  'das  man  nicht 
auf  die  Catheder  bringt  und  einem  jeden  auf  die  Nafe  klebt'; 
sie  haben  in  allen  Kirchen  auf  dem  Studentenchore  die  Oberstelle, 
ebenso  bei  Disputationen  und  sonstigen  Feierlichkeiten  immer 
den  nächsten  Platz  am  Catheder,  wie  sie  im  Colleg  beim  Tische 
sitzen,  die  andern  auf  Bänken;  sie  allein  dürfen  beim  Univer- 
sitätsfechtmeister das  Fechten  erlernen ;  ihre  Dissertationen  kön- 
nen in  Folio  gedruckt  werden;  auf  dem  Keller  haben  sie  ihren 
eigenen  Tisch;  ihre  Hunde  dürfen  sie  mit  in  die  Kirche  und 
die  KoUegia  nehmen;  die  Frauenzimmer  sind  gegen  sie  galan- 
ter, erwiedern  auch  ihren  Gruß  mit  'fchönen  Dank',  die  der 
übrigen  nur  mit  'großen  Dank';  vor  ihnen  müssen  die  Kom- 


Welches  fioh  alles  wohl  hören  läHet,  einem  accnraten  Nahmensforrcher  aber 
keine  Oenüge  thnt  Besser  hat  es  wohl  meines  Erachtens  der  französiaohe 
Autor  des  Tractats  de  TOrigine  des  Academies  FranpoiTes  getroffen,  welcher 
es  ex  antiquitate  auf  eine  solche  Manier  deduciret,  die  einer,  der  ein  wenig 
nachdenken  will,  wenn  er  gleich  nicht  mit  Simsons  Kalbe  gepflüget,  leicht 
errathen  sollte :  Es  wäre  nehmlich  der  Name,  daß  man  die  Studenten  Purfche 
nennet,  zu  Paris  ohngefahr  ums  Jahr  1320  mit  einer  lacherlichen  Oceafion 
aufgekommen,  indem  die  Studenten  -  Mägde  daselbst,  samt  andern  definentibns 
in  X  e.  g.  netrix,  lotrix  etc.  an  den  Studenten,  welche  sie  mit  dem  gemeinen 
Weibemahmen  Tafchen  geheißen,  sich  revangiret,  und  die  Studenten  wiederum 
auf  französisch  Burfe  d.  i.  Beutel  (a  fcroto  quod  in  inguine  gerunt)  ge- 
nennt, damit  sie  einander  nichts  schuldig  blieben,  welches  zu  derselbigen  Zeit 
da  die  Leute  noch  nicht  so  empfindlich  gewesen  wie  heutiges  Tages,  Ton  den 
Studenten  nicht  übel  aufgenommen  worden,  sondern  als  ein  Nomen  Generis 
masculini  in  Gebrauch  kommen,  indem  es  so  viel  heißet  als  ein  Kerl  oder 
ein  Mannsbild.  Ja  es  hat  nicht  lange  gewährt,  so  hat  man  die  Studenten 
CoUegia  auch  Burfas  (auf  teutsch  Börsen)  genennet.  Daher  die  Regentes 
Burfie  so  viel  als  Infpectores  Collegii  sind.  Warum  aber  der  Purschen  Nähme 
auf  andere  Nationes  kommen  und  fort  gepflantzet  worden,  der  Tafchen  Nähme 
aber  den  Jungfern  nicht  ßcher  mehr  darf  gegeben  werden,  überlalTen  wir 
den  hochgelehrten  Criticis  zu  examiniren,  und  meritiret  diese  Materie  eine 
eigene  Disputation.  Und  so  viel  de  Etymologia  des  Wortes  Pursche,  welches 
bißher  unter  tausenden  nicht  einer  gewusst  hat.  Denn  wenn  die  Herren  Stu- 
denten gewusst  hätten,  was  ich  weiß,  sie  hätten  den  Nahmen  längst  abge- 
schafft. Man  wird  sehen,  ob  es  nicht  bald  wird  in  Deoadence  kommen,  nach- 
dem wir  sein  Stamm  -  Register  gefunden.*    Seite  5fgg. 


449 


munitater  auf  der  Straße  den  Hut  ziehen,  ancb  wenn  ihnen 
darauf  nicht  gedankt  wird;  sie  dürfen  zum  Rector  magnificofi 
mit  dem  Degen  gehen;  alle,  auch  die  lächerlichsten  Moden. sind 
bei  ihnen  wol  anständig;  bei  Hochzeiten,  wenn  sie  den  Großr 
vater  holen,  auch  beim  Tanze  sonst  haben  sie  immer  den  Vor- 
rang; wenn  sie  den  Kammertopf  zum  Fenster  hinausgießen  wol- 
len, brauchen  sie  nur  einmal  'Kopf  weg^  zu  rufen,  während  die 
andern  es  wiederholen  müssen;  sie  werden  von  den  Betteljun- 
gen 'Ihre  Gnaden'  tituliert;  sie  brauchen  keine  Thür  zuzu* 
machen  und  keinem  aus  dem  Wege  zu  gehen;  sie  haben  das 
Privilegium  ihre  Miethen  hoher  zu  bezahlen ;  sie  haben  besseren 
Credit  als  die  übrigen  Studenten;  auch  ihre  'Jungens*  haben 
am  Rechte  ihrer  Herren  Anteil  und  gehen  den  Jungen  der 
übrigen  vor. 

Der  andere  Teil  der  DüTertation  handelt  Von  der  recht- 
liehen  Verteidigung  des  Profeflbren  -  Purfchen  -  Rechts.  Das 
erfte  Fundament  desfelben  befteht  auf  dem  Unterfchied  menfch- 
lieber  Stände;  das  andere  ift  gegründet  auf  die  philofophifche 
Regel :  non  omnium  poteft  reddi  ratio ;  das  dritte  auf  die  Kost* 
barkeit  der  Profeflbrentifche  und  folglich  auf  den  Reichtum 
der  Profeflbrenburfche;  das  vierte  beruht  auf  der  Gewohnheit 
'die  nicht  einmal  mit  der  Mißgabel  ausgerottet  wei*den  kann, 
gefchweige  denn  mit  der  Feder';  das  fünfte  kommt  ex  ratione 
ßatus,  da  die  Profeflbrenburfche  viel  drauf  gehen  laflen;  das 
fechße  gründet  fich   auf  die  Autorität*),  das  fiebente  Funda- 


*)  'Denn  gefetzt,  daß  alle  Torige  Grunde  nicht  gültig  wären,  £o  muß  uns 
im  Gegentheil  leicbtlich  recht  gehen,  weil  man  ja  aus  allen  Dingen  genug 
ßehet,  daß  die  ProfelTores  Athenienfes  denen  alliirten  Bürger  -  Purfchen  und 
Convictoriften  nicht  beilegen,  fondem  allwege  uns  den  Rücken  halten  und 
unfern  Vorzug  defendiren.  Denn  fo  fich  die  Communitater  oder  Bürger- 
Purfche  untergehen  auf  der  Profeiforen -Purfchen  Porkirche  zu  treten  und 
wir  es  ihnen  fub  poBua  Ohrfeigen  unterfagen,  fo  wird  es  ihnen  (wenn  lie  es 
Magiftratui  Academico  klagen)  gleichfalls  vom  Rectore  Magnifico  verboten, 
und  wenn  fie  Ach  daran  nicht  kehren,  werden  fie  mit  der  Relegation  bedrohet« 
Wer  kann  auch  die  Herren  Profelfores  darum  verdenken,  daß  &q  uns  in  un- 
ferem  Rechte  überhelfen  und  uns  dabei  fchützen?  Denn  wenn  ihr  Tifch  kei- 
nen Vorzug  vor  andern  hatte,  würden  die  Purfche  gewis  an  einem  andern 
Orte,  da  fie  vor  ein  geringeres  Geld  eben  fo  g^t  fpeifen  und  ihren  Willen 
beßer  als  bei  Profeiforen  haben,  den  Tifch  erwehlen  und  möchte  alfo  der 
Frau  Profelforin  fehr  in  die  Küche  regnen.*    Seite  20  fg. 


450 


ment  ift  genommen  ab  abfurdo,  denn  weil  alle  Dinge  in  der 
Welt  eingeteilt  find,  wäre  es  ungereimt,  wenn  die  Burfche  nur 
einerlei  fein  Tollten.  *Alfo  haben  wir  nun  (fährt  der  Autorder 
Düfertation  fort)  das  Profefforen-Purfchen- Recht  auf  fieben 
unbewegliche  Säulen  gegründet,  wiewol  wir  das  große  halbe 
Mandel  leichtlich  hätten  voll  machen  können,  wenn  wir  nicht 
die  fiebente  als  eine  heilige  Zahl  für  kräftiger  gehalten:  und 
müße  ein  großer  Simfon  fein,  wer  diefe  fieben  Säulen  umrei- 
ßen follte.' 

Weiter  folgen  die  Widerlegungen  der  Einwurfe,  die  man 
gegen  das  in  Rede  flehende  Recht  machen  konnte.  Sie  find  im 
hergebrachten  DilTertationsftile  flireng  gehalten  und  mit  viel  ge- 
fundem  Humor  gefchrieben.  Wir  bedauern  auf  diefe  Stücke 
acht  komifcher  Laune  hier  nicht  näher  eingehen  zu  können. 

Es  folgt  'Corollaria  oder  Zugabe':  17  Thefen,  die  zur  nähe- 
ren Erörterung  au%eßellt  werden,  z.  B.  Ob  die  Fundatoren  der 
Univerfitäten  oder  der  heilige  Pabß  als  aller  Univerfitäten  und 
Studenten  Großvater  den  Unterfchied  der  ProfelToren-Purfche 
und  Communitäter  etc.  intendiert  gehabt;  —  oder:  Ob  ein 
ProfefToren  -  Purfchen  -  Floh  weitere  Sprünge  mache  als  ein 
Bürger -Purfchen- Floh;  —  oder:  Wenn  ein  Purfch  eine  Jung« 
fer  im  Dunkeln  herzt,  ob  fie  merken  könne,  daß  es  ein  Pro- 
fefToren-Purfch  oder  ein  gemeiner  Purfch  fei;  —  oder:  Ob  die 
ProfefToren -Purfchlichkeit  und  Pennal -Putzerei  einander  näber 
verwandt  als  Gefchwifter  Hurkinder?  u.  f.  w. 

Nun  kommt  ein  Lied  in  21  Strophen:  Eines  partheiifchen 
Poeten  nagelneues  Traumlied  über  dem  Athenienfifchen  Profef- 
foren-Purfchen etc.  Unterfcheids.    Anfang: 

Hort  ihr  Herrn  und  laßt  euch  üigen, 
Was  die  Mnsen  zu  beklagen, 
Daß  Athen  in  Grund  verdirbet 
Und  warom  fein  Rohm  faft  ßirbet« 
Diefes  ift  der  Unterfcheid. 
Thorheitl  Thorheitl 

Darauf  folgt  das  triumphierende  Profit,  das  wir  als  Stück 
makaronifcher  Poefie  fogleich  mitteilen  werden  und  zum  Schlüsse 
Epiflola  gratulatoria  Martis  fummi  locum  tenentis^  apud  In- 


*)  Oberftlieutenant. 


451 


fanteriam  et  Cayalleriam  i.  e.  apud  Dragones  five  Hennäjphro- 
ditos  militares  et  Prsefecti  Duellantium. 

Unfere  komifche  DilTertation,  die  unter  dem  Scheine  der 
Verteidigung     die    ProfelTorenburfchen  -  Wirtfchaft    verfpottet 
ftammt  hocbft  wabrfcheinlicb   aus  Leipzig  und  aus  dem  Ende 
des  17.  oder  ganz  aus  dem  Anfange  des  18.  Jhdts. 

Triumphierendes  Prosit 

so  den  Herren  Professoren-Purfchen*),  als  sie  ihr 

Recht  in  einer  folennen  Disp«  erhalten, 

zurufet 

BACCHUS 

Collegii  subterranei  Director  et  p.  t.  Decanus. 

Hem  Profefforenbursi,  nunc  rufite  juch  hei! 
Luftigeosque  fimul  multos  anftimmite  LiedrosI 
Schmaufite  et  in  tiefam  fub  Schmaußs  faufite  Nachtami 
Non  etenim  yobis  unquam  bona  Bieria  fefalunt: 


*)  UnTere  komifche  DilTertation  gibt  von  diefem  Worte  folgende  Defini- 
tion: *£in  Profefforen  -  Porfche  ift  ein  Studiofas,  welcher  bei  einem 
ProfeiFore  und  ewar  an  feinem  Tifche  und  in  delfen  Gegenwart  eine  gewilTe 
Zeit  fpeifet  nnd  daher  einen  Vorzug  in  allen  Dingen  vor  denen  Convictoriften 
und  Bürger  -  Purfchen  hat  oder  von  Rechts  wegen  haben  foll.*  Seite  3.  Und 
weiter  Seite  8  fg.  *Wenn  wir  aber  beide  Worte  (nemlich  ProfeiForen  und  Pur* 
fche)  in  fenfu  proprio  anfehen,  fo  find  es  Correlata,  wie  Speck  und  fauer 
Kraut,  deren  keins  ohne  das  andre  fein  kann.  Zum  andern,  ratione  mixti, 
müifen  wir  uns  nicht  einbilden  als  wäre  ein  ProfeiForen  -  Pnrfch  fo  zu  fagen 
ein  Hermaphrodit,  auf  teutfch  ein  Zwitter,  und  gleichfam  von  zweien  contra- 
riis,  als  ProfeiForen  nnd  Purfche,  zufammen  gefetzt,  wie  der  Cardinal  Porto- 
carrero  auf  einer  Seite  wie  ein  Pfaff,  auf  der  andern  wie  ein  Cayalier  gemalet 
wird,  daß  es  fo  yiel  hieße  als  ein  Purfch  der  in  andern  Abfehen  ein  Pro- 
feiFor  wäre  oder  der  Collegia  active  et  paiffire  hielte,  oder  ein  ProfelFor  der 
bei  andern  ProfeiForen  noch  die  Collegia  beAichte  und  fich  hoc  rel^ectu  nur 
als  einen  Purfchen  auffuhretej  oder,  wie  gar  oft  zu  Athen  und  Paris  gefchicht 
ein  ProfelFor,  der  mit  feinen  Haus-  und  Tifch -Purfchen  fchmaufet,  da  er  die 
Paruque  abgelegt  und  die  Tobac- Pfeife  im  Maule  hat,  oder  gar  in  einem 
Tumult  feine  eigene  FenAer  hilft  einfchmeißen  (ut  in  Actis  publicis  pluribus 
yid.),  Jungfern  Ständgen  bringt,  zu  gewilFen  Zeiten  mit  feinen  Haus -Ehren 
draußen  auf  der  Mühle  fein  Kälbgen  wichtig  auslädt,  vermasquiert  mit  ihnen 
auf  den  Dörfern  tanzt,  fich  alle  Jahrmärkte  mit  der  MelFe  ein  nicht  geringes 
Anfehen  macht,  alfo  daß  er  der  befte  Hahn  im  Korbe,  daß  man  ihn  unter 
den  Purfchen  Tor  keinen  ProfeiForen,  fondem  auch  vor  einen  Purfchen  an- 
fiehet:  —  fondern  nach  der  Regel  der   alten  Kirchenlehrer  Prisciani  und  Do- 

fTeitmmr,  Jb,  U.  29 


452 


5  Namque  Halberstadicam  Breihanam,  Gratia,  DuchAein 
Et  Zerbfterbierium  in  Menga  femper  babetis. 
Adfunt  et  langse  Pfeif»  et  Bremenfe  Tabacum 


nati  (wenn  zwei  SubftantiTS  zufammen  kommen,  fo  ftehet  das  hinterfte  im 
Genitivo;  wenn  aber  eines  das  ander  erkläret,  ftehen  ße  in  gleichem  CaTu) 
flehet  man ,  daß  es  fich  wol  zufammen  fchickt.  Dergleichen  Wörter  man  auch 
im  Tentfchen  viel  obfervieret,  als  ein  Kriegs -Mann,  ein  Dorf-Ochfe,  eine 
Staats  -  Penique  etc.  etc.  Auf  diefe  Manier  heißet  das  Wort  Profeflbren- 
Purfche  fo  viel  als  der  Profefforen  ihre  Purfche,  da  die  ProfeiTores  als  Wirthe 
oder  SpeifemeiAer ,   die  Purfche  aber  als   Gäfte   oder  Tifchgänger  betrachtet 

werden.* Weiter   S.  lOfgg.   heißt  es:    'Indem   des   Profefforis   gedacht 

wird,  werden  dadurch  ausgefchlolfen  alle  Communitater,  item  alle  Purfche  fo 
bei  Bürgern  oder  auf  ihren  Stuben  oder  auf  den  Garküchen,  in  den  Löchern, 
in  Gafthöfen,  auf  Wein-  und  Bierkellem  oder  fonften  fpeifen;  item  die  men- 
fam  ambulatoriam  haben  oder,  wenn  ihre  Eltern  nicht  weit  von  Athen  woh- 
nen, fich  das  Elfen  von  Haufe  ausfchicken  lafTen;  item  die  fich  felbfi  bekö- 
fiigen,  jezuweilen  ein  Schweingen  kaufen,  folches  (wie  auch  Gänfe,  Hüner  und 
Tauben)  in  ihren  Kammern  aufziehen,  fchlachten,  kochen  und  braten,  wie  e. 
g.  die  Ungarn,  Sclavonier  und  Hottentotten,  die  allhier  fiudieren,  öfters  zu 
thun  pflegen;  ingleichen  die,  wenn  fie  nichts  haben,  mit  Elia  bei  den  Ra- 
ben zu  Tifche  gehen,  fich  unter  den  Wacholderbanm  legen  und  den  Bauern 
die  Gänfe  und  Enten  wegbüchfen  und  bei  der  Wäfcherin  folche  kochen  und 
braten  lassen:  acquirendi  modi  enim  funt  varii,  und  weiß  weder  Plato  noch 
AriAoteles,  wovon  ein  jedweder  fatt  wird.  Doch  ifi  zu  merken,  daß  alle 
jetztgedacbte  modi  zu  fpeifen  in  den  modum  Profeflbren  -  Purfchicum  können 
verwandelt  werden  et  contra.  Das  Subjectum  muß  an  des  Profefforis  Tifche 
fpeifen*.  denn  es  ift  nicht  genug  daß  einer  in  eines  ProfefiV>ris  Haufe  oben 
auf  feiner  Stuben  oder  als  ein  Famulus  mit  den  Mägden  in  der  Küche  fpeifet 
etc.,  dieweil  auf  folche  Art  der  Hund,  der  unter  der  Profeflbris  Tifche  l^Ubt, 
noch    näher   wäre   und   auch  das  Recht  des  Profefibren  -  Purfche   genöflSs,   id 

quod  efi*et  abfurdum. Hier  ifi  wol  zu  merken,  daß  es  nichts  prfsjudi- 

ciret,  wenn  der  Profeflbr  gleich  den  hölzernen  Tifch  geborget  oder  gemiethet 
hat,  gnug  daß  er  vor  feinen  Tlfch,  fo  lange  er  daran  fpeifet,  gerechnet  wird, 
wie  im  Gegentbeil  derjenige  vor  keinen  Profefforen  -  Tifch  paffiret  werden 
kann,  den  ein  Profeflbr  einem  Bürger  geliehen  hat:  denn  die  Purfche,  fo 
daran  fpeifen,  die  fpeifen  nicht  Profeflbren-purfchice,  fondem  vulgariter.  — 
Femer  muffen  fie   in  des   Profeflbris   Gegenwart  fpeifen,   alfo   daß  der  Pro- 

feflbr  felbß  mit  am  Tifche  fitzt  und  mit    ihnen  fpeifet Es  muß  eine 

gewifie  oder  geraume  Zeit  gefchehen,  indem  einer  nicht  gleich  vor  einen  Pro- 
feiforen -  Purfchen  zu  achten,  wenn  ihn  ein  Profefibr  einmal  oder  awei  lu 
Gälte  gehabt,  hernach   aber  nicht  wieder  kommen  darf,  fondem  (jpeifen  mnß 

wo  er  lange  gefpeifet  : Ja  es  kann  einer  davor  patfiren,   wann  er  nur 

bezeugen  kann  daß  er  fich  bei  einem  Profeflbre  an  Tifche  verdinget,  wenn  er 

gleich  noch  nie  dafelbß  gefpeifet  hätte. Sie  muffen  endlich  vor  ihr  Geld 

fpeifen,  damit  die  fo   beim  Profeflbre  menfam  gratuitam  haben,  die  man  fonH 


453 


Cum  Cranzo.     Vobis  vero  fi  Geldria  defnnt, 
Ne  modo  forgatis,  nam  fcitia  vivere  Credit: 

10  Optimus  hie  semper  veftmm  Curator  et  Hfllfa. 
Ergo  (preoor)  tiefam  Studiorum  binl^te  Sorgami 
Quisque  suo  Freundo  zufprechat  eumque  befchmaufatl 
Trinkite  cum  ganzis  et  ne  quid  bleibat  in  Humpis, 
In  Naglum  Daumi  poßreman  gießite  guttami 

15  Si  bene  fcbmauMis,  tandem  galTatim  eatisl 
Hauite  in  Steinos  ut  Feurum  fpringat  ab  illisl 
Rufite  juch  juch  hei!  cum  Degis  kritzite  fiz  faz, 
Donec  frühmorgens  tandem  post  Betta  gebatisl 
Sic  ergo  vobis  commendo  Lusticitatem, 

20  Freiheitas  vestras  dum  differtatio  praefens 
Juraque  defendit     Quare  brauchatis  eisdem 
Porroque  subjectos  habeatis  ConvictoriliasI 
At  tibi,  Refpondens,  tantos  glückwunfcho  profectus 
Inque  tuam  florixios  nunc  trinkat  quisque  Salutemi 

Bei  weitem  die  besten  deutschen  makaronischen  Gedichte 
sind  nächst  der  Floia  (und  vielleicht  übertre£Pen  sie  diese  noch) 
ein  paar  Hochzeitscarmina,  Rhapsodien  zur  Braut- 
suppe, wie  sie  sich  nennen,  von  einem  unbekannten  Verfasser, 
der  sich  auf  dem  Titel  als  'Scholae  Petri  Dresdensis 
Alumnus'  bezeichnet,  d.  h.  nicht  etwa  Schüler  der  Peters- 
schule, sondern  Schüler  und  Nachahmer  des  Stiles  vom  Pe- 
trus Dresden  Tis,  jenem  Dichter  aus  dem  Ende  des  14.  und 
Anfange  des  15.  Jahrhunderts,  dem  die  Kirchenlieder  In  dulci 
jubilo  und  Puer  natus  in  Bethlehem  zugeschrieben  werden. 
Wie  er  sich  aber  Nachfolger  des  Petrus  Dresdenfis  nennt, 
preist  er  die  makaronische  zugleich  als  Verbesserung  jener 
Mischpoesie,  die  sich  in  den  eben  angeführten  Liedern  zeigt: 

Ipfe  etenim  tantum  Sprachamm  Wörtra  duamm 
In  bmos  ftudait  Zeilorum  einfcbließere  Reimos*. 
No8  binas  Sprachas  in  Wortnm  einbringimus  anum. 

Beide  Rhapsodien  sind  von  einem  und  demselben  Dichter: 
er  erwähnt  beim  Beginne  der   zweiten  die   erste  als   durchaus 


Freifrefler  nennet,  item  der  Herr  Informator,  oder  der  Herr  Famulus  exclu- 
dirt  fein ,  indem  die  baare  Bezahlung  vomemlich  hier  den  Unterfchied  macht, 
ohne  welche  einer  mit  einem^  geringen  Tractament  muß  yor  lieb  nehmen.' 


29 


454 


von  ihm  geschrieben.  Sie  scheinen  erst  im  achtzehnten  Jahr- 
hunderte verfasst  und  zwar  in  den  ersten  Jahren  desselben  (vgl. 
novi  fecli  I,  367),  denn  an  hundert  Jahre  früher  kann  nicht  ge- 
dacht werden,  da  das  Tabakrauchen  (I,  104  fgg.)  damals  in 
Deutschland  noch  unbekannt  war  und  erst  in  der  Mitte  des 
17.  Jahrhdts«  in  die  Gegend  eingebracht  ward,  der  diese  Stücke 
zugehoren.  Sie  stammen  höchst  wahrscheinlich  aus  Leipzig, 
kaum  wol  aus  einer  andern  sächsischen  Stadt:  nach  Sachsen 
weisen  einige  Provinzialismen  und  dass  die  Gesundheit  des 
Königs  getrunken  wird,  d.  h.  des  Churfürsten  von  Sachsen 
als  Königs  von  Polen. 

Beide  Gedichte  sind  ohne  Ort  und  Jahr  in  4  gedruckt: 
Das  erste  hat  6,  das  zweite  14  Blätter.  Wir  geben  hier  nur 
das  erße,  da  der  Raum  uns  nicht  mehr  gestattet  und  behalten 
das  zweite  für  eine  spätere  Mitteilung. 

RHAPSODIA 
verfu  heroico  macaronico 

ad 

BRAÜTSUPPAM 

in  nuptiis 

Butfchckio-Denickianis 

prsefentata 

a 

fcholae  Dresdenfis   Petri 

alumno. 

Lobibus  Ehftandum  quis  non  erheberet  hochis 
Himmlorum  Sternis  glänzentium  ad  usque  Gewolbos? 
Scilicet  illo  Menfchorum  mediante  Gefchlechtum 
Vermehrere  elt  licitum  totamque  erhaltere  Weltam 
5  PoITumus;   atque  andres  huic  Zwecke  ergreifere  Mittlos 
Omnibus  in  Rechtis  verbietitur  atque  Gefetzis. 

Alt  andri  ehlofum  malunt  erwählere  Standum, 
Hangere  ne  femper  Weibo  zwingantur  ab  uno, 
Haltere  Gefiudum  multosque  ernehrere  Kindros, 
10  Plageutes  variis  fe  Sorgis  atque  Befchwerdis: 
Pro  freiis  potius  wünfchunt  laborare  Gefellis. 
Cumque  fuas  nequeant  Lüfias  Fleifchique  Begierdas 
Zahmere,  Mätrefsas  haltunt,  abdanka«^  femper 


455 


Quas  poilint  frifchamque  fibi  zulegere  Dimam. 

15  Omnibus  in  Treppis  jungas  anpackere  Menfchras 
Sucbunt,  qu8B  Frauis  nachtretere,  trägere  Poßas 
Atque  Officieros  Schreibrosve  beßellere  doct», 
Interea  haud  faul»  fibimet  quoque  fuohere  Gimplum. 

20  At  bonus  hie  Grumpus  verhangnum  fchießere  amoris 
Non  prohibet  Züglum,  fireium  fed  laßere  laufiun 
Haud  dubitat,  donec  geilse  fe  erweifere  fchoenus 
Incipiat  Liebae  fructus  fchwellatque  puellae 
Schwängratse  Bauchus,  Stadtrichterusque  refcifcat 

25  Atque  citet  Vetlam,  cupiens  mox  wißere  verum 
Hurkindi  Vatrum,  fubito  quem  Vetla  bekennit, 
Et  petit  herbringi  feinum  hunc  jungumque  Gefellum, 
Antrauique  illum  fibi  zugebique  maritum. 

Ad  Klagam  einftellens  Tefe  excipiensque  beklagtus 
30  Se  negat  elTe  Vatrum,  nunquamque  id  poffe  beweifi. 
Setzere  fe  Fallum,  quod  poflit  Vatrus  haberi, 
Nebmere  nequaquam  tarnen  hanc  fe  velle  Caroingam, 
Cui  nil  geßeherit,  cui  nil  zufagerit  unquam, 
Se  nee  ad  boe  ullis  verbindi  poffe  Gesetzis 
35  Cumque  fuä  Bitta  hane  abweifere  poftulat  Huram. 

Klägra,  quia  eß  arma  Hura,  fibi  nequit  baltere  theuros 
Juriftas,  hane  qui  könnant  ausfuhrere  Saeham. 
Zwingitur  interea  multis  annehmere  Bittis 
Elendum  Stimprum,  qui  fefe  einlaßere  non  vult, 
40  Erbietens  fefe  ad  Gütam,  quam  ergreifere  poftquam 
CepiflTet,  rotfehavit  eo  tandem  fua  Sacha, 
Ut  Klägra;  zahlat  eertum  pro  more  Beklagtus 
Ziehgeldum  fehwangrse,  fi  vivum  kriegere  Kindum 
Contigerit,  Bürgos  fetzat  Kranzumque  bezahlat. 

45         Annuit  ad  Klägrae  Vorfehlagas  hasee  Beklagtus, 
Dum  fefe  a  Plagä  modo  liberet  ißius  Hexae. 
Tune  Stadtriehterus  Parteiae  herlefit  utrique 
Verdientum  derbum  fitque  hartum  de  jure  Capitlum 
Verbreehumque  jubet  brava  verbüßere  Strafa, 

50  Ipfis  ut  pofljjt  geilum  hune  vertreibere  KitzlunL 

Armus  at  hie  Teuflus  pergroßis  non  fine  Sehmerzis 
Hunc  potuit  feufzens  unerhörtum  trägere  Sehimpfimi. 


456 


Per  compagnias  railjatur  in  omnibus  Ortis 
Iftos  ob  Poflbs,  ut  faepe  gerathat  in  Händlos. 

55  Ocüupat  hie  Kummrus  ganzum  Sinnum  atque  Gemüthum, 
Augos  ut  nequeat  per  ganzas  fchließere  Nachtas. 
Propterea  fpielendo  juvat  vertreibere  Sorgas, 
QuaB  tarnen  inde  magis  wachfunt,  omnem  quia  Geldum 
Non  ceffavit  quin  Sitzo  verfpielerit  uno. 

60  Hicque  mens  Matzus  fedet  et  fe  kratzit  in  Heupto: 
Non  effet  Wundrum,  fieret  fi  toUius  inde. 
Gläubigen  ankommunt  Schuldasque  mahnare  per  omnes 
Anfangunt  Winklos,  quo  fe  verfteckerat,  atque 
Nullas  zulaßunt  Fridas  cupiuntque  bezabli. 

65  Interea  ipfe  fuos  beitos  quos  norat  et  altos 
Erfuchit  Freundos,  ipfi  qui  aushelfere  guto 
Se  Geldi  Stücko  pronos  facilesque  befindunt. 
Quo  fe  a  Schuldis  auswicklat  penitusque  befreiat 
A  tarn  verftocktis  unverfchämtisque  Gefpenftris, 

70  Armis  qui  Lentis  Leibum  Selamque  befitzunt 
Et  nifi  per  Geldum  non  fefe  austreibere  laßunt. 
Heiliga  Kircha  folet  Manißas  nennere  Kezros 
Non  absque  Urfachä:  nam  in  großum  bringere  Schadum 
Sa;pe  folent  manchos  verlaßnos  atque  betrübtos 

75  Herzos  et  multos  bankrottos  machere  ubique. 
Nefcio  num  plane  Pietillis  ßnt  grobiores, 
Qui  plagunt  etiam  multos  fchreckuntque  Gewißnos 
Atque  nimis  fchwarzum  pflegunt  abmahlere  Teuflom 
(Quem  tarnen  Aethiopes   weißum  blondumque  bebauptunt), 

80  Cumque  fuis  qui  verbietunt  fe  ergötzere  gutis 
Duzbrüdris  aut  cum  galantis  fcherzere  Damis. 

Nofter  homo  genus  hoc  Kezrorum  haßebat  utrumque 
Atque  fuo  Geldo  wenige,  a  Freundisque  geborgte, 
Quantum  pro  liello  fibi  laßavere  Gefpenftri, 
85  Cum  Compagnonis  kleinum  fibi  trinkere  Tummlum 
Vult  in  Bierfchenkis  et  fic  verfaufere  Grillos. 

Ut  primum  ingreditur  Schenkfiubam,  ex  more  begrüßit 
Praefentes  Gäftos  ibi  praßcipueque  Gefattros, 
Poft  andres  gutes  Camerados  atque  Bekantos, 
90  Quorum  quisque  illi  vollam  zureichit  Hubatgam, 

Ex  quibus  ipfe  bonum  Zugum  et  blindum  facit  hauftum. 


457 


Hio  videas  andros  leeros  einfchenkere  GlaOros, 
Contra  andros  claro  vollos  auslaufere  Biero. 
All  andrus  Bierum  fodrens  aufklopfit  Hubatgä. 
95  Hi  eingießunt  nimium  et  GlaTum  überlaufere  maohunt, 
EU  magnum  fadunt  nebengießendo  Geflezum, 
Ut  de  Tifcho  etiam  Diehlas  ablaufat  ad  usque, 
Quod  furkommeret,  hoc  aliquis  ni  aufleokeret  Hundus. 
Hie  unus  duplumque  videns  multumque  berauTchtaa 

100  Sandfeigrum  in  Fenfiro,  eredens  fe  einfobenkere  GlaAim, 
£x  alto  aufgießit  Bierummagnäque  Gewalt& 
De  Fenßri  Lehnä  ruptum  dejecit  in  Erdam. 
Andros  confectum  videas  tractare  Studentüm: 
Pars  fupra  Bretlos  Tabacum  fcbneidere  kleinum, 

105  Pars  ex  Papiere  fibi  wicklere  Fidibus  alto, 

Pars  etiam  ex  Holzo  dunnos  fibi  fchnitzlere  Spänlos, 
Pars  ßoppare  Pipas  illasque  anßeckere  Feuro. 
Illice  tunc  cernas  dickum  fe  erhebere  Neblum 
Et  ganzum  impleri  Kaucho  ftinkente  Gemachum, 

110  Ut  vix  Nachbarus  Nachbarum  erkennere  pollit 
Atque  fatis  videas  dunklos  erfcheinere  Lichtros. 
Afchä  vermifchta  Biero  et  hinc  inde  gelfareuta 
Per  Tifchos  quidam  coeperunt  reibere  Zähnos 
Et  rurfus  claro  fibi  Biero  auslpielere  Mundum: 

115  Namque  ferunt,  Zähnis  hoc  conciliare  nitorem. 
Hie  hoeras  quosdam  fchönos  herfingere  Liedros, 
Andros  elatis  immenfum  juchzere  Stimmis. 
Hie  Bierfiedleri,  BalTum  bene  reißere  docti, 
Braviter  aufllreichunt  animantque  ad  gaudia  Gäßos. 

120  Et  jungi  danzunt  Purfchi  cum  Mägdibus  ELaufi: 
Hi  foli  könnunt  ipfis  ausfchwenkere  Rockos. 
Sicque  hoc  in  Zimmro  tractat  fua  quisque  Gefchäfta, 
Quodlibet  in  motu  eft,  trägumque  haud  videris  ullum. 

Heroi  noßro,  quo  non  purfchaliter  alter 
125  Talibus  in  Dingis,  Moda  perplacet  ifia  lebendL 

Propterea  in  folchis  einfindit  fe  öftrior  Oriis, 

Omnia  mitmachens  qu»  Compagnia  jubebat. 

Quodque  patrant  argum  focii,  patrat  ärgius  ipfe, 

Et  fic  in  ßäto  fallebat  tempora  Ludro, 
130  Tandem  gleichgeltens  quodvis  Laftrum  fiiit  illL 


458 


Accidit  ut  fefe  in  Zechhaufo  aliquando  befindens 
Zngegnis  tunc  cum  Soldatis  trinkeret,  atque 
Cum  quidam  illorum  Diebßahlum  zeiheret  ipfi, 
Quodque  fuam  quam  fupra  Tifchum  aufzäblerat  örtam 

135  Abstulerit,  perbibens ,  Herri  ipfum  Geldra  teuere 
Effeque  Soldatum,  in  magnos  geratheret  Hähdlos. 
Nam  quoniam  ad  Kriegum  fchlechtam  fcheinebat  habere 
Lußam,  fe  Füßis  atque  Händis  wehrere  coepit, 
Multas  Ohrfeigas  edit  recipitque  vicillim. 

146  All  hasc  lucta  parum  tam  tapfro  profuit  Heldo, 
Namque  ipfum  mifere  tractatum  Prüglibus  atque 
Erdä  projectum  abripiunt  fchleppuntque  per  Haaros 
In  Cordegardam  Schmocho  Dampfoque  repletam. 
Hlc  ipfi  faciunt  Carefsas  more  Tragonüm, 

145  Queis  Hugenottas  afficiunt  illosque  bekehrunt. 
Tamque  diu  kitzlunt,  donec  verfprecheret  ipfis, 
Se  fore  Soldatum  et  Kalbfello  folgere  velle: 
Quo  Werbri  fe  vergnügunt  et  mitius  illum 
Jam  tractant,  trauunt  tarnen  haud  nimis  ipfi, 

150  Hütentes  illum  probe,  ne  entlaufere  pofEt. 

Jamque  novam  fuchens  Lillam  et  fichrum  fugiendi 
Mittlum,  forte  videt  pendentem  e  pariete  Tafcham. 
Runda  venit:  cuncti  nauslaufiint  atque  Gewehrum 
Praefentant:  jam  fe  advertens  verbleibere  folum, 

155  Ex  Tafch4  entwendit  furtim  ter  quinque  Patronas, 
Illas  ausleerit  Pulvro  leerasque  reponit 
Hülfas  in  Tafcham:  Pulfrum  poft  colligit  omnem 
In  Tüchlum,  tamque  id  caute,  ne  merkeret  ullus 
Egrelforum,  prasfertim  quia  valde  befoffhi 

160  Wißebant  ipfi  vix  quid  facerent  fieretve. 

Namque  ipfis  dederat  Schmaufum  tanquam  Camerada 
Neuus  pro  acceflu,  mifchens  ipfis  aquavitam 
In  Bierum,  ut  citius  poflint  fibi  faufere  Raufchum. 
Hicque  diarrhoeam  fibi  forte  ankommere  fingens, 

165  Obtinet,  ausgehere  ut  liceat.  Comitatur  euntem 
Ex  Wach4  quidam,  ex  Refpectu  ad  limina  Thür» 
Wartens  aufmerkensque,  ipfis  ne  entlaufere  poflit 
N  öfter  ibi  poft  Thüram  alleinum  fe  efle  befindens 
Eligit  ex  Holzi  Stoßo  diokum  atque  bequemum 

170  Zerfpaltnum  Scheitum  et  tanti  cum  dexteritate 


459 


In  Spaltam  Tüohlum  cum  Pulfro  einftopfere  novit, 
Exterius  nullum  ut  Zeichnum  inde  erfcheineret  unquam. 
Hoc  Scheitum  fumit  Lfochumque  anlähnit  ad  Ofhi. 
Poft  fefe  in  Stubam  rurfus  confert  et  in  Erdam 

1T5  Se  ad  Ofiii  Fußum  legit  quafi  fdilafere  vdlet. 
Interei^  quosdam  Scheitos  calefactor  in  Ofiram 
Cumque  andris  etiam  prsedictnm  anlegit  abitque. 
Tum  focii  in  Stnb&  fchlafentem  aufweckere  tentant 
Et  forfchire  ipfum,  furgat  faciatque  Befcheidum. 

180  Dumque  ita  circumftant  ipfum  et  fua  Gläfra  propinant, 
Pulfirum  terribili  Knallo  displodit  et  Ofnum 
Cum  Stubse  Deckä  et  Dacho  quoque  disfilidre 
In  plus  quam  centum  Stückos,  Feurumque  per  omnes 
Disjectum  Winklos  Windo  blafente  Gewaltam 

185  Continuo  rchnellam  nullo  lefcbente  gewinnit 
Soldati  erßaununt  vivumque  putant  ibi  Teuflum, 
Illius  et  diram  penitus  loswerdere  Muttram. 
Nee  minus  et  Nacht»  Schlafe  atque  quiete  ftnentes 
Hoc  Bombo  erweckti  zulauftint  undique  Bürgri 

190  Et  Cordegart»  cernunt  jam  brennere  Dacbum 
Atque  mali  Urfacham  tanti  frufira  petere  aufi 
Schildwacham,  quia  erat  Soldatis  voUior  andris, 
Intrant  et  findunt  bleffatos  undique,  quosdam 
Blasphemis  multos  Wortis  ausfohüttere  Flüchos, 

195  Andros  halbtodtos  vix  poITe  bewegere  Leibros, 

Andros  ob  Schmerzum  magnum  formare  Gefchreium: 
Quos  omnes  miferati  austragunt  atque  reponunt 
In  ireiam  Luftam,  Feldfchererique  befehlunt 
Heilendos  curae  et  wartendos.     Nofter  at  heros 

200  Horrendum  brullit  (quamvis  nil  laefus,  in  Erda 
Cum  fiierit  fichrus  fatis  a  discrimine  Pulfri), 
Verleztum  quoque  fe  ftellens,  ne  fuspicionem 
Incurrat  Flucht«  pro  tempore  fuscipiendae: 
Hinc  asgre  in  Füßos  recipit  fe  et  machere  Schrittos 

205  Hinkendo  kurzos  fatagit,  Stecknisque  duobus 
Subnixus  ftarkis  fic  fe  fortfchleichere  velle 
Ad  Feldfchereri  perhibet  curam  et  medicinam. 
At  fimul  atque  datum  eft  poft  Eckam  anlangere  Gäßli 
Engi,  continuo  Stecknos  wegwerfit  et  inter 

210  Se  Pöblum  mifcens  zulaufentemque  Getümmlum, 


460 


In  medÜB  Nacht»  tenebris  ankommit  ad  Haufum 
Vertrauti  Freundi,  cujus  verfichrere  Treu» 
Se  poterat  freiusque  a  cunctis  elTe  Gefahris. 

Incepit  Morgnu8  finftram  vertreibere  Nacbtani 

215  Et  Tambourierus  Drommlä  toccare  Reveillam, 
Cum  fefe  Officieri  ausforfchere  facta  befleißnnt 
Vergangn»  Nacht»  ganzamque  verhorere  Waoham. 
Inter  bloITatos  noßer  Yermillitur  Heldua 
Non  fine  Verdaohto  quod  Feurum  aoßeckerit  ißud. 

220  Unde  apud  ejus  vertrautes  gutosque  Bekantos 

Suchitur,  at  frulira:  nam  dudum  entwifcherat  atque 
Per  Bürgerthorum  Tago  anbrechente  receffum 
Sumferat  e  Statta,  velut  iftum  Wacha  Borichtum 
In  Thoro  Bürgrorum  ertheilerat;  et  quia  nullam 

225  Ipfum  obfervarunt  Iiibereiam  trägere  et  Handlus 
Cum  Soldatis  haud  ad  eorum  kommerit  Ohras, 
Non  ullo  potuere  modo  muthmaßere,  quod  fit 
Soldatus  nee  ei  merito  verfagore  Paffum. 
Omnibus  ergo  illum  in  Straßis  ausforfchere  laßunt 

230  Atque  Herrum  findunt  Urianum,  illumque  reductum 
Ceu  Deferteurum  Mordbrennerumque  bewachunt. 
Coram  Kriegsrechto  vorßellitur  atque  befragtur: 
Pulfrum  nuper  an  in  Wachftubie  anlegerit  Ofiio? 
Antwortit:  quod  non:  atque  id  fe  erhärtere  velle 

235  Eidum  per  theurum.    Quare  ergo  enüauferit?   inftant. 
Non  propter  malefactum  aliquod  fe,  ait,  arripaifle 
Fluchtam,  fed  fraudos  verfluchtas  infidiasque 
Werbronim  ut  tanto  melius  vermeidere  pollit: 
Nauique  andres  (pioque  durante  entlaufilTe  tumultu 

240  Se(]ue  per  Anzuchtam  rupto  faWafle  Gegittro. 
Forlitan  hi  Pulfrum  poterant  anlegere  tanquam 
Freu,  quois  Ortus  femper  patet  omnibus  ifte. 
Contra  iuifle  arreflatum  fefe  atque  gefangnum. 
Urgent  ulterius:  tarnen  haud  fe  leugnere  pofle, 

245  Quod  priua  e  Stub&  ausgeherit,  quam  fpringeret  Ofoas. 
Ipfo  nt  Durchlaufum  fe  tunc  habuifle  reponit, 
Quodc|ue  ox  Ilauptwaoha  ipfum  aliquis  begleiterit  atque 
Cxnw  uiAgnii  AuflichtA  haud  ex  Augis  laßerit,  ex  quo 
Ouuiia  quo  pacto  fuerint,  er£ahrere  poffeut. 


461 


250  Egreflbs  sndros  pofl;  fe  folosque  ftuffe 

Absque  ull&  WachA  neque  quisquam  angeberit  illos, 
Se  potius  femper  quodyis  modo  trübere  Waßrum: 
Saliern  Officieros  hoc  erfundiffe  Gedichtum, 
Quod  gutum  Geldi  fortafle  ausproITere  St&ckum 
Ex  ipfo  könnant,  veluti  moliis  quoque  guiis 

255  Ehrlichis  Kerlis  permagn&  non  fine  Schande 

Saepius  hoc  facerent:  quia  vero  fpiokere  Beutlum 
Hac  vice  non  poITeiit,  quod  eorum  entwifchere  Klauis 
Contigerit,  zumant  et  fic  fe  rächere  quaurant. 

260  Judicium  contra  erleuchtum  haud  Weifis  fiigere  uUis 
Quaeftus,  quos  fuchunt  verfluchtos  atque  Gewinftos. 
Propterea  fe  omni  quo  könnat  bittere  Fleifio, 
Ut  yelit  in  freium  rurfus  fe  ftellere  Fußum, 
Contra  tam  ergrimmtos  wildosque  befcbützere  Bäros, 

265  Unrechtam  hanc  iinerhörtam  magnamque  Gewaltam 
Jußis  verdientis  atque  hartis  ahndere  Strafis, 
Utque  omncs  Schädnos  atque  Unkollas  liquidandas 
Erßattant  ipfi,  fub  certä  auflegere  Bußft. 

Hisce  illum  abfuhrunt,  cum  ejusFreundi  atque  propinqui 
270  Verwanti  pro  illo  Vorbittam  einlegere  tentant, 
Ausfagam  einbringunt  Zeugnorum  judicialem 
Juratamque,  in  qua  teftes  uno  ore  bezeug^nt, 
GuarnifonsB  in  werbende  procedere  iniqunm, 
Prefluram  et  Zwangum  enormem  contra  omnia  Rechta: 
275  Soldatos  pro  Geldo  altos  abdankere,  neuos 

Par  Force  au£fahere,  ut  fibi  pollint  fchmelz^re  Geldum: 
In  fpecie  et  Schlagas  Graufamkeitasque  verubtas 
Contra  inquifitum,  Cordegartseque  ruinam 
Cunctis  cum  Umftändis,  inter  quos  profuit  ipfi, 
280  Lefchentes  Bürgros  Feurum  invenifle  Patronas 
In  Tafchä  leeras  Pulfro:  nam  contra  Befitzrum 
Tafchae  anfangerunt  mox  hagere  fuspicionem, 
Quod  fuerit  Thätrus  tantaeque  Urlacha  Gefahrae. 

Jam  taceo  Ausredas  andras,  queis  fchützere  feie 
285  Noftro  inqui/ito  placuit,  nam  ergreifere  quosyis 
Quos  poterat  Mittlos,  adeo  ut  beftecheret  ipfos 
Judicii  Gliedros  Geldo,  properayit,  ut  iftä 
Ex  fchlimmi  8ach&  fe  aaswickleret  atque  Befdiwerdi. 


462 


Et  licet  ipfe  armus  fiierit,  tarnen  haud  dubitavit 

290  Quin  Lügnis,  Spielis,  Diebftahlis  atque  Betrugis 

Supplere  in  Mangio  Zufagamque  baltere  konnat. 

Inquifitores  in  eo  videre  Gemüthum 
Ad  quosvis  Ränkos  habilem  fatis  atque  gefchicktum. 
Nam  fi  wahrus  in  hoc  Thätrus  fit  crimine,. Chartas 

295  Tarn  dextre  ifthoc  in  Spiele  vermifchere  fcivit, 

Ut  ipfum  Thatae  haud  queat  überweifere  quisquam, 
Ex  quo  conßat,  eum  fatis  ad  Kriegum  fore  nützum. 
Hinc  fefe  entfchließunt  ipfum  zulaßere  ad  Eidum, 
Ad  quod  fefe  obtulerat,  tarnen  hac  fub  conditione 

300  ExprelTa,  ut  fiat  Soldatus  qua  velit  ipfe 
In  Gompagniä.     Si  vere  conditionem 
Hanc  non  annehmat,  fe  machere  polfe  gefaßtum 
Ad  fcharfam  Fragam.     Non  fe  Inquifitus  in  engä 
Hac  PrelTa  Schraubaque  diu  multumque  befinnit, 

305  Sed  potius  Martram  fibi  wählere  fpiritualem 

Tanquam  Soldatus,  quam  Martram  in  corpore  tanquam 
Hundsnafus  cupit.     Ad  fchwerendum  fe  ergo  refolvit, 
Sefe  Wachlhibae  in  Ofnum  non  impofuilTe 
Pulfrum  illud,  per  quod  fe  Feurum  entzunderit  ilhid, 

310  Nee  juffiire  illud  andres  imponere  in  Ofnunu 
Atque  illud  falvo  fe  fchwerere  poffe  Gewißno, 
Non  dubitavit:  nam  Pulfirum  fefe  impofuilTe 
In  Scheitum  faltem,  fe  fcire  quidem,  fed  in  Ofnum 
Haud  uUis  propriis  factis  ullove  Geheißo: 

315  Sicque  animo  haud  magnam  gaudet  fe  leidere  Foltram. 
Ultra  nee  renuit  Soldatus  werdere,  donec 
Ad  Fluchtam  crblickat  Zeitam  fibi  commodiorem. 

Heldus  at  hie  nofter  Maufchlo  gotüofior  omni 
In  Lugnis,  cautis  Diebftahlis  atque  Betrugis, 

320  In  falfchis  Miinzis,  Handbriefis  atque  figillis 
Dextre  formandis  quo  non  verwegnior  ullus, 
Quas  non  Intrigas  Iliftit?  quas  non  ibi  Tuckas 
Contra  Ofiicieros  obrosque  untrosque  beweifit? 
Queis  non  erdichtis  angebit  apud  Generalem 

325  Multos  Auflagis,  ut  vix  fe  non  fine  magn& 
Expenfä  e  tantis  poüint  auswicklere  tricis? 
Queis  non  erlognis  Verlaufis  atque  Oefchichtis? 


46S 


Unum  contra  andrum  yerbetzit,   disfidiorum  üt 
Inter  eos  magnorum  ausftreuat  femina  Daepe 
330  Usque  adeo,  ut  toties  impenfe  reueret  ipfos, 

Unquam  quod  fuerit  Soldatus  eorum  ope  factus. 

Sed  nos  in  Stando  quo  lebit  laßimus  illmn, 
Incerti  quis  adbuc  erwartat  Galgnus  eundem, 
Aut  cigus  Diebshankri  aliquando.  geratbat  in  Händas. 

335  Ebftandi  manet  bicce  Haßores  atque  Veräcbtros 
Ausgangus  meritoque  quidem  plerosque  malignus. 
Nam  faulos  pflegunt  ante  omnia  liebere  Tagos, 
Lebnum,  quod  beßrum  vix  dixeris  loblicbiusve 
Quam  noftri  berois  Lebnum  fupraque  gedacbtae 

340  Vetlse,  nam  ad  minimum  bonus  eß  Anfangus  ad  illud. 

Ite,  o  jungi  nunc  erwacbsnique,  ite,  Gefellil 
Tte  et  verftorbnä  traurentes  conjuge  Wittbril 
Ite,  o  Jungfrauae  et  Wittb»  jungse  atque  betrübt» 
Lerniteque  Ebllandum  moniti  baud  verwerfere  fanctum! 

345  In  quo  non  manglent  Freud»  vobis  zugelaßnae 
Atque  licebit  guto  unverletztoque  Gewißno 
Pflegere  cum  veftro  Liebse  idque  impune  Gemahlo 
Et  fic  ex  eigno  fitientes  trinkere  Brunno. 
Schläfere  feu  libeat,  feu  wacbere,  utrumque  licebit 

350  Cum  yeßro  Ebgatto,  atque  Ehpflanzlos  zeugere  feinos, 
Qui  Yobis  poterunt  mancbam  quoque  macbere  Lußam, 
Sive  patri  foleant  et  ßreichlere  et  herzere  Backos, 
Sive  Alis  zartis  Bartum  ipfi  flockere  Patfcblis, 
Sive  afierre  Hitfcbam  Muttrae  fodrendo  Gebühram, 

355  Sive  Eltris  quocunque  modo  vertreibere  Weilam. 
Quod  fi  jam  cunctas  Ehitandi  erzeblere  vellem 
Delitias,  peterem  mihi  te,  mea  Mufa,  Gehülfam. 
Sed  juvat,  hanc  andrse  Arbeitam  überlaßere  Zeit». 
Sufficit  hoc  Yobis,  quod  Monfieur  Butzfchckius  unum 

360  Giebit  Beifpielum  fimul  et  fua  Brauta  geliebta 

Jungfra  Denickia  ad  Ehßandi  noftrumque  Behufiim: 
Horum  verliebtos  cum  keufchse  entzünderit  Herzos 
Lieb»  flamma,  baud  Ehftandum  erwehlilTe  yideres, 
Ni  illum  tam  magnis  baltilTent  femper  in  Ebris. 

365         Auguror  Ehßandum  hunc  vollum  Segno  atque  Gelücko, 
Ut  queat  in  yielos  longe  fe  erftreckere  Jahros, 


464 


Imo  noYi  ganzam  per  Zeitam  ausdaurere  fecli 
Et  Leibi  baud  paucas  aliquando  zeblere  Frücbtas, 
Eltros  quae  yideant  Hocbzeitam  machere  Jabros 
370  Verlaufhos  denuo  poft  quinquaginta  gefundam 
Et  tandem  omni  Woblfartbä  Glückoque  redundet. 
Atque  erfolgat  ut  boc,  ex  ganzis  wünfcbimus  Herzisl 

Quod  fupereft,  Glafum  magnum  Weinoque  gefulltum 
Rbenano  laeti  in  fponfique  faaeque  falutem 
375  Brautie  ausßecbamus!  De  Tifcbo  furgite,  Pfeifril 
Blaßte  Trompetas  et  Keßli  fcblagite  PaukasI 

Der  alte  Druck  gibt  Zeile  6    Terbittitur.         11   wuntfcbunt.  17  Of- 

ficiros.       aOfchisfere.       80  verbittunt.         216  officiri.  237   li- 

bere.         330  reweret.         341  junghi.         343  jnnghie.  358   banc 
fehlt.         372    wnntfchimiis. 


FINDLINGE. 

Von     H.  V.  P. 

Zweite  Gabe.    Mit  Beiträgen  von  August  Kahlert,  August  Ko- 
berstein,  Franz  Ludwig  Mittler  und  August  Spieß. 


1)  L  es  sing  an  Rudolf  Erich  Raspe.     Mitgetheilt  von  Franz 
Ludwig  Mittler.*) 

Hocbedelgebohmer  Herr, 

Hochzuverehrender  Herr  Rath, 
Hr.  Andrea  in  Hannover  hat  mir  Dero  Anmerkungen  vnder  Klo- 
tzen zugeschickt,  und  ich  kann  nicht  umhin ,  Ihnen  meinen  ver- 
bindlichen Dank  dafür  abizustatten.  Wenn  es  möglich  ist,  dass 
der  Mann  sich  schämen,  und  in  sich  gehen  kann:  so  dürfte  es 
vielleicht  nun  geschehen,  wenn  er  sieht,  dass  ich  es  nicht  allein 
bin,  der  ihn  in  dem  Fache  der  Kunst  und  des  Alterthums  för 
einen  unwissenden  Prahler  erkläret.  Denn  mich  glaubt  er  von 
Nikolai  bestochen  und  bildet  sich  ein,  dass  Ich  die  allgemeine 
Bibliothek  rächen  wollen ,  in  die  ich  noch  zur  Zeit  keine  Sylbe 
gearbeitet  habe.  Mit  diesem  Verwände  hat  er  alle  Fehler,  die 
ich  ihm  gewiesen,  den  Lesern  seiner  deutschen  Bibliothek  als 
elende  Kleinigkeiten  und  boshafte  Zudringlichkeiten  angekün- 
diget;  und   ich  muss  mir  es  schon  vors  erste  gefallen  lassen. 


*)  Herr  Mittler  wird  aus  dem  Easpesohen  Briefvireohsel  in  der  Landes - 
bibiiothek  zu  Cassel  das  litterarhistorisch  Bedeutendere  theils  Yollständig ,  theils 
auszüglich  in  den  folgenden  Heften  des  Jahrbuchs  mittheilen  und  zwar  zu- 
nächst Briefe  von  Gleim,  Herder,  Höpfner  und  Boie,  und  in  einem  Vorworte 
Rudolf  Erich  Raspe*s  litterarisches  und  sonstiges  Thun  und  Treiben  be- 
sprechen. H.  V.  F. 


466 


von  seinen  Bewunderern  für  einen  Sophisten,  und  ich  weis 
nicht  noch  wofür,  gehalten  zu  werden.  Vors  erste,  sage  ich: 
denn  wenn  nach  und  nach  sich  noch  mehr  solche  Stimmen,  als 
die  Ihrige,  mit  meiner  verbinden,  so  denke  ich  doch  wohl, 
dass  das  leichtgläubige  deutsche  Publicum  ein  wenig  misstraui- 
scher  gegen  ihn  werden  wird. 

Sie  müssen  itzt  mit  allen  Hülfsmitteln  zu  dem  Studio  des 
Alterthums  versehen  seyn.  Ich  erinnere  mich  vor  einigen  Jah- 
ren das  Cabinet,  welches  Sie  unter  Ihrer  Aufsicht  haben,  mit 
einigen  flüchtigen  Blicken  durchlaufen  zu  haben.  Ich  wünsche 
sehr  es  näher  kennen  zu  lernen,  und  wäre  nicht  ungeneigt,  ehe 
ich  die  hiesigen  Gegenden  verlasse  (da  ich  ohne  dem  noch 
nach  Hannover  und  Göttingen  will),  auch  nach  Cassel  auf  ein 
acht  oder  vierzehn  Tage  zu  kommen,  wenn  ich  auf  Ihren  freund- 
schaftlichen Vorschub,  das  Merkwürdigste  daselbst  mit  Muße 
sehen  zu  können,  Rechnung  machen  dürfte.  Doch  warum  sollte 
ich  das  nicht  dürfen?  Nur  diejenigen  sind  mit  den  Schätzen, 
die  sie  unter  ihrer  Verwahrung  haben,  zurückhaltend  und  nei- 
disch, die  sie  selbst  nicht  zu  brauchen  wissen.  Dazu  habe  ich 
mich  auch  inuner,  als  einen  Ihrer  alten  Freunde  betrachtet,  gegen 
den  man  immer  ein  wenig  gefälliger  ist,  als  gegen  eitien  Fremden. 

Ehe  ich  von  hier  wegreise,  lasse  ich  einen  Theil  meiner 
Bücher  verauctionieren.  Ich  nehme  mir  die  Freiheit,  Ihnen  ei- 
nen Catalogum  davon  zuzuschicken;  nicht  zwar,  als  ob  ich 
glaubte,  dass  Sie  etwas  für  Sich  darin  finden  wiirden,  sondern 
weil  Sie  vielleicht  sonst  einen  Liebhaber  wissen  mochten,  dem 
einiges  daraus  anständig  wäre;  In  diesem  Falle  würde  unser 
Freund  Hr.  Meyer  die  Commission  gern  übernehmen. 

Ich  bin  mit  vollkommener  Hochachtung 

Dero 

ganz  ergebenster  Fr.  u.  D. 

Lessing. 
Hamburg  d.  30.  December  1768. 

2)  Merck  an  Raspe.    Mitgetheilt  von  F.  L.  Mittler. 

Darmstadt  den  2.  Jan.  1772  (wahrsoh.  1773.) 

Wohlgebohrner  Herr, 
Hochzuverehrender  Herr  Rath, 
Schon  zu  Anfang   des  vorigen  Jahrs,   als   ich  durch   Hr. 
Deinet  erfuhr,  dass  Ew.  Wohlgebohren  an  der  Frf.  Gelehrten- 


467 


Zeitung  Antheil  zu  nehmen  geneigt  wären,  hatte  ich  an  iMe- 
selben  geschrieben,  um  Ihnen  meine  wahre  Hochachtung,  und 
Dan'kbarkeit  deswegen  zu  bezeigen.  Hr.  HfR.  Deinet  schickte 
mir  aber  den  Brief  zurück,  mit  der  Bitte,  ohne  sein  Vorwissen 
nicht  an  Ew.  Wohlgebohren  insbesondre  zu  schreiben,  weil 
er  leicht  dadurch  (nach  seinem  eignen  Ausdruck)  zum  Liigner 
werden  konnte.  In  wie  fem  er  es  durch  mich  geworden  wäre, 
will  ich  nun  nicht  untersuchen,  allein  das  thut  mir  leyd,  dass 
mich  der  Yerdruss  über  ihn,  gehindert,  das  zu  thun,  was 
mir  mein  Herz  längst  vor  dem  unseeligen  ¥rt.  Institut,  einge- 
geben hatte.  Es  ist  nun  Gottlob  alles  glücklich  mit  diesem 
Jahre  zu  Ende,  und  weder  Herder,  noch  ich,  oder  meine  an- 
dere BVeunde  die  imbekannt  seyn  wollen,  werden  den  gering- 
sten Antheil  mehr  an  dieser  Rauferey  haben.  Ich  nehme  mir 
die  Freiheit  hier  einige  Kleinigkeiten  beyzulegen,  die  durch 
meine  nähere  oder  entferntere  Veranstaltung  an  das  Licht  ge- 
treten sind. 

Ich  erinnere  mich ,  dass  Ew.  Wohlgebohren  an  den  HfR. 
Deinet  im  vorigen  Jahre  erwähnten,  dass  Sie  unter  andern  mit 
dem  Critical  Review  versehen  wären.  Dürfte  ich  wol  die  Frei- 
heit nehmen,  Dieselben  zu  ersuchen,  mir  den  Jahrgang  von 
1772  höchstens  auf  einen  Monat  anzuvertrauen,  und  ihn  dem 
Prof.  Hoepffner  nach  Gießen  zu  übersenden,  wo  ich  ihn  sicher 
bekomme.  Dieselben  würden  mich  dadurch  ungemein  verbin- 
den, und  ich  verspreche  aufs  heiligste,  ihn  ohne  die  geringste 
Beschädigung  sogleich  nach  verflossener  Frist  wieder  zu  über- 
senden. 

Ich  bin  mit  der  vollkommensten  Verehrung 

Ew.  Wohlgebohren 

ergebenster  Diener 
Joh.  Heinr.  Merck 

3)  Merck  an  Wieland.    Mitgetheilt  von  A.  Koberstein. 

Von  einem  Freunde,  der  Autographa  sammelt,  ist  mir  ein 
bisher  noch  nicht  gedruckter  Brief  von  Merck  anvertraut  und 
zugleich  erlaubt  worden,  ihn,  wo  sich  die  Gelegenheit  dazu 
fände,  abdrucken  zu  lassen.  Eine  solche  bietet  sich  mir  in 
dem  Jahrbuch,  und  ich  darf  bei  den  Freunden  der  vaterlän- 
dischen Litteratur  wohl  so  viel  Interesse  an  allem,  was  von 
Mercks  Hand  herrührt,   voraussetzen,  dass   ihnen   auch  dieser 


468 


kleine  Beitrag  zur  Vervollständigung  der  von  K.  Wagner  her- 
ausgegebenen Briefsamnilungen  willkommen  sein  werde.  Dass 
dieser  Brief  an  Wieland  gerichtet  ist  und  sicli  zwischen  die 
von  diesem  an  Merck  unter  d.  8.  Jimi  und  d.  11.  Juli  1781 
geschriebenen  (Briefe  an  J.  H.  Merck  etc.  herausg.  von  K.  Wag- 
ner. Darmstadt  1835.  8.  S.  289  ff.  S.  299  ff.)  so  einfugt,  dass 
er  die  Antwort  auf  den  ersten  von  beiden,  der  zweite  aber 
wieder  die  Antwort  auf  ihn  ist,  ergibt  sich  aufs  allergewisseste 
aus  ihrem  Inhalt.  Schon  dadurch  würde  die  Echtheit  des 
merckschen  Schreibens  gesichert  sein;  es  kommt  indess  noch 
hinzu,  dass  die  Hand  und  die  Unterschrift  darin  mit  dem  Fac- 
simile  genau  stimmt,  das  K.  Wagner  hinter  den  ^Briefen  an 
und  von  Merck.^  Darmstadt  1838.  8.  zu  S.  62  mitgetheilt  hat 
—  Ich  habe  es  für  angemessen  gehalten,  im  Druck  die  Wort- 
schreibung Mercks  treu  wiederzugeben. 

Lieber  Bruder,  ich  size  nun  wieder  hier  seit  4  Wochen, 
ganz  vergnügt  und  gesund  in  meinem  Hause,  habe  Katuns  die 
Fülle,  Luft  von  allen  Seiten,  und  finde  dass  auch  dieses  auf 
die  Gesundheit  meiner  Kinder  einen  großen  Einfluss  hat.  Nur 
habe  ich  seit  meiner  Ankunft  ein  solches  Verwirr  von  allerley 
Arten  von  Geschäften  vorgefunden,  dass  ich  an  noch  nichts 
Kluges  habe  denken  können.  Ich  schike  Dir  daher  auch  nur 
einen  kleinen  Versuch  meiner  mineralogischen  Excursion  und 
Beobachtungen  in  Cassel,  die  aber  doch  alle  neue  Dinge  ent- 
halten, und  daher  den  Kennern  nicht  unangenehm  seyn  wer- 
den. Nächstens  will  ich  fleißiger  seyn,  und  Du  wirst  Proben 
davon  sehen.  Für  Deinen  letzten  außerordentlich  gutmüthi- 
gen  Brief  danke  ich  von  Herzen,  und  ich  denke  es  wird  wol 
dabey  bleiben,  dass  wir  mit  Einander  aushalten  biß  an  der 
Welt  Ende.     Von  den  Ausfallen  des  Hrn.  Geh.  K.  Jac.*)  habe 


*")  „Über  Recht  und  Gewalt  oder  philosophische  Brwägnng  eines  Auf- 
satzes von  dem  Herrn  Hofrath  Wieland,  über  das  gottliche  Recht  der  Obrig- 
keit im  deutschen  Merkur,  November  1777.''  Von  Fr.  H.  Jacobi,  im  deut- 
schen Museum  1781.  1,  S.  522  ff.  u.  2,  S.  95  f.  Wieland  musste  wohl 
schon  diesen  Aufsatz  von  Jacobi  selbst  gelesen  haben,  als  er  am  8.  Juni 
darüber  an  Merck  schrieb  (S.  292).  Merck  dagegen  scheint,  nach  dem  Nächst- 
folgende!) in  seinem  Briefe  zu  schließen,  das  S  r.  unterzeichnete  „Schreiben 
über  dat<  Heclit  des  Starkem* ,  in  d.  Mus.  1 ,  H.  70  ff.  im  Sinne  gehabt  zu 
haben. 


469 


ich  durch  dpn  Hr.  CPris.  v.  Kajib  gehört.  Du  irrst  Dich  aber, 
wenn  Du  glaubst,  dass  das  alles  seye.  Dies  erste  Anlauffen  i^t 
nur  von  Einem  seiner  unbekannten  JuQger  und  wird  bald  der 
zweyte,  aber  ernsthafte  Angriff  folgen,  von  Sr.  Hoebwürden 
selbst.  Ich  lese  nichts  dergl.  Dichter  n.  Also  kan  ich  auch  nicht  sa- 
gen, wie  mirs  gefallen  hat.  Mir  ist  überhaupt  von  den  schö- 
nen Produkten  der  lezten  Messe  noch  nichts  vorgekommen. 
Habe  doch  die  Güte,  und  schike  mir  meinen  Merkurius  von 
diesem  Jahre,  damit  ich  einmal  sehe,  was  geschehen  ist.  Dein 
vorlezter  Brief  ist  auf  Verlangen  an  den  Herzog  abgegangen, 
der  so  viel  davon  gehört  hatte,  und  ihn  selbst  speisen  wollte. 
Ich  hoffe  aber  er  wird  mir  ihn  zurückschiken,  mit  so  viel  an- 
dern guten  Dingen,  die  Er  von  mir  hat.  Gieb  mir  doch  Nach- 
richt, ob  die  Zeichnung  des  Jungen  Kamberg  von  Cassel  bey 
der  Herzogin  angelangt  ist  Die  Frl.  Jöcbhausen  hätte  mir 
wenigstens  für  meinen  guten  Willen  die  Ankunft  davon  mel- 
den sollen. 

Nicolai  wird  nächstens  bey  uns  hier  eintreffen,  so  wie  der 
alte  Tischbein,  der  jezo  in  Warthausen  bey  dem  Grafen  Sta- 
dion sizt. 

Sag  doch,  was  an  dem  Mährchen  von  Göthes  Gesundheit 
ist.  K.  und  Sekendorf  haben  mir  allerley  davon  gesagt,  das 
mich  ernsthaft  niederschlägt.  Ich  mag  mit  keinem  Menschen 
laut  darüber  reden.  Auch  Kayser  der  bey  uns  durchgegan- 
gen ist,  sprach  bedenklich  davon.  Wenn  es  nur  nicht  Miss- 
muth  an  der  Welt  ist  oder  an  dem  was  ihn  umgiebt,  das  an 
seinem  Innern  nagt.  Ich  bin  gewohnt  alle  Hoffnungen  aufzu- 
geben, so  sehr  ich  mich  alle  14  Tage  auch  mit  einem  neuen 
Projektchen  wiege.  Glücklicherweise  ist^s  schon  aus  dem  Kopfe, 
ehe  es  würklich  zu  Grunde  ist,  und  die  Vergessenheit  ist  wie 
der  Schlaf,  alles  was  uns  die  Götter  noch  gelassen  haben. 

Von  Müllern  in  Cassel  kan  ich  Dir  nichts  sagen,  weil  ich 
ihn  nicht  habe  kennen  lernen.  Mir  schien  er  ein  großer  Pe- 
dante  zu  seyn,  und  sogar  kam  er  Gatterem  so  vor,  der  warr- 
lich  es  weniger  ist  als  Er,  so  alt  auch  die  Perüke,  oder  so 
schief  der  Rok  sein  mag. 

Ich  danke  Dir,  dass  du  den  Gift  gegen  die  Poeten  hast 
ausschütten  wollen.*)     Da  wo   es   offne  Schäden  getroffen  hat. 


*)   Mercks    Schreiben  „An  den  Herausgeber   des  d.  Merkur   betreffend  die 

ao* 


470 


mag  es  geazt  haben,  ob  ich  gleich  im  Publiko  keinen  Menschen 
wahrgenommen  habe,  der  es  nur  seiner  Aufmerksamkeit  im 
Guten  oder  Bösen  gewürdigt  hätte. 

Vielleicht  hörst  Du  noch  zu  Ende  dieser  Woche  etwas 
von  mir,  wenn  das  Glük  gut  ist.  Ich  habe  etwas  auf  dem 
Korn,  das  ich  ausführen  will,  und  ich  denke  es  soll  gut  gehen. 

Adio  hab  mich  ferner  lieb  mit  allen  meinen  Häuten,  und 
Vorhäuten,  Mängel  und  Gebrechen,  die  ich  alle  einsehe,  ohne 
sie  weder  abzulegen,  noch  abzustreifen. 

Wir  haben  hier  am  Rhein  ein  Jahr,  wie  es  in  50  Jahren 
keins  war;  Weins  die  Fülle,  und  wahrscheinlich  herrlicher  als 
75,  und  79.  Alle  Juden  und  Wucherer  werden  zu  Gnmde 
gehen,  und  Ihr  alle  werdet  künftig  um  10  pC.  wohlfeiler  po- 
culiren. 

D.  2.  Jul.  1781. 

J.  H.  M. 

4.  Lessings  Werther.    Von  A.  Koberstein. 

In  der  Anzeige  einer  jämmerlichen  Umarbeitung  von  Les- 
sings Emilia  Galotti,  die  unter  dem  Titel:  „Bianka.  Ein  tra- 
gisches Gemähide  in  fünf  Aufzügen^  zu  Leipzig  1800.  8.  er- 
schien, bemerkt  Langer  —  Lessings  Nachfolger  in  der  Bi- 
bliothekarstelle zu  Wolfenbüttel  —  in  der  neuen  allgem.  d.  Bi- 
blioth.  54,  S.  56:  „Nur  ein  Paar  Monate  vor  Lessings  Tode 
war,  wie  Rec.  weiß,  der  unvergessliche  Mann  mit  Ausarbeitung 
eines  Drama  beschäftigt,  das  den  lange  genährten  und  in  son- 
derbarer Lage  endlich  ausgeführten  Entschluss  eines  Selbstmör- 
mörders  zur  Katastrophe  hatte.  Lessings  Lebensbeschreiber 
haben  dieser  Arbeit  nicht  gedacht.^ 

Sollte  mit  diesem  Drama  nicht  „Werther,  der  bessere^ 
gemeint  sein,  von  dem  uns  der  Inhalt  der  ersten  Scene  erhal- 
ten, und  in  Lachmanns  Ausgabe  2,  S.  576  abgedruckt  ist? 

5)  Lessings  Faust.    Von  A.  Koberstein. 

In  „J.  H  F.  Müllers  Abschied  von  d^  k.  k.  Hof-  und 
National  Schaubühne.  Mit  einer  kurzen  Biographie  seines  Le- 
bens und  einer  gedrängten  Geschichte  des  hiesigen  Hoftheaters.^ 


Zweckmäßigkeit  der  Errichtung  eines  Poetenstifts;  gedruckt  im  d.  Merk.  1781. 
2,  S.  139  ff. 


471 


Wien  1802.  8.  heißt  es  u.  A.  auch,  wo  er  über  seinen  Aufent- 
halt in  Berlin  berichtet,  S.  127  (vgl.  die  neue  allg.  d.  Biblioth. 
87,  S.  392):  „Engel  erzählte  dem  Verfasser,  dass  Lessing 
seinen  Faust  sicher  herausgeben  würde,  sobald  G(othe)  mit 
dem  seinigen  erschienen;  und  dass  Lessing  gesagt  habe:  mei- 
nen Faust  holt  der  Teufel;  aber  ich  will  —  G  — s  seinen  holenl^ 

6.  Der  Chor  in  der  Tr^odie.    Von  A.  Koberstein. 

Als  nach  dem  Erscheinen  von  Schillers  Braut  von  Messina 
in  öffentlichen  Blättern  viel  über  die  Statthaftigkeit  oder  Un- 
statthaftigkeit  des  Chors  in  der  neuern  Tragödie  gestritten 
wurde,  erschien  in  der  von  G.  Merkel  herausgegeben^i  Z^eit« 
Schrift  „Ernst  und  Scherz**  1803.  Nr.  44,  8.  176  folgender, 
den  Gegenstand  des  Streites  ironisierender,  mit  E — d.  unter- 
zeichneter Vorschlag. 

„Schillers  glänzender  Versuch,  den  Chor  auch  auf  die  neuere 
Bühne  einzufuhren,  wird  ohne  Zweifel  bald  sehr  viel  Nachah- 
mer finden.  Nur  ein  Paar  Schwierigkeiten  scheinen  vielen 
noch  unüberwindlich;  nämlich:  wie  macht  man  bei  einem  Stoffe 
aus  der  neuern  Geschichte  seine  Gegenwart  wahrscheinlich? 
Und  wie  verschafft  man  ihm  das  religiöse  Interesse,  das  er  ur- 
sprünglich auf  der  griechischen  Bühne  hatte?  —  Ich  bin  so 
glücklich,  diese  Schwierigkeiten  heben  zu  können,  und  ich  halte 
mich  verpflichtet,  meine  Gedanken  zur  Vervollkonunnung  der 
tragischen  Poesie  beizutragen. 

Wie  konnte  man  es  doch  so  lang  übersehen,  dass  der 
Chor  der  Alten  selbst  in  unserm  bürgerlichen  Leben  noch  ganz 
so  da  ist,  als  man  ihn  zum  Behuf  der  Tragödie  braucht? 

Fast  in  allen  deutschen  Städten  existiert  noch  aus  uralten 
Zeiten  die  Einrichtung,  dass  sogenannte  Current- Schüler  unter 
Anführung  ihres  Cantors  oder  eines  Vorsängers  herumziehen. 
Gefiele  es  den  Dichtern,  ihnen  die  Rolle  des  tragischen  Chors 
zu  ertheilen,  so  wären  alle  Schwierigkeiten  gehoben.  Ihre  Er- 
scheinung wäre  natiirlich:  denn  da  die  Knaben  unaufhörlich 
auf  den  Gassen  sind,  wie  sollten  sie  sich  nicht  überall  einfin- 
den, wo  es  etwas  zu  sehen  gibt,  z.  B.  wo  ein  Bruder  den  an- 
dern ermordet  hat,  oder  eine  Prinzessin  vergiftet  werden  soll? 
—  Während  der  Handlung  selbst  würden  sie,  ihrer  Jungen- 
Natur  gemäß,  ohne  Theilnahme  mit  offnem  Munde  dastehen 
und  so   die  Pflicht  des   antiken  Chors,  auch  ohne  Anweisung, 


472 


erfüllen,  —  eben  so  natürlieli  aber,  sobald  die  Bühne  leer  wird, 
auch  wieder  ihre  lyrischen  Betrachtungen  —  anstimmen,  umi 
derenwillen  sie  herumziehen." 

7.  Schiller  und  Fräulein  von  Imhoff. 
„Auszüge  aus  Briefen  Schiller's  an  eine  junge  Dichterin"  in  der 
Zeitung  für  Emsiedler  19  Stück  4.  Juny  (Sp.  149—152)  mit- 
getheilt  mit  folgender  Anmerkung:  „Wir  geben  diese  Auszüge 
nicht  um  mit  einem  berühmten  Namen  zu  prangen,  sondern 
um  ein  belehrendes  Beyspiel  zu  geben,  was  Critik  seyn  kann, 
wenn  sie  ein  frommes  Geheimniss  zwischen  zween,  keine  feile 
Öffentlichkeit  ist.     Einsiedler." 

Von  dieser  Zeitung  erschienen  nur  vier  Monate,  April  bis 
Juli  in  dem  unglücklichen  Jahre  1806.  Sie  bekam  nachher  den 
Gesamttitel:  „Trost  £)insamkeit.  Herausgegeben  von  Ludwig 
Achim  von  Arnim.  Heidelberg  1808."  4*^.  Sie  ist  so  selten 
geworden,  dass  die  Berliner  Bibliothek  das  aus  der  Meusebach- 
schen  Bibl.  stanimende  Exemplar  nicht  ausleiht.  Nach  diesem 
Exemplare  lernte  ich  die  nachfolgenden  Auszüge  kennen  und 
Herr  Freih.  W.  v.  Maltzahn  war  so  gütig,  mir  nach  seinem 
Exemplare  eine  Abschrift  zu  besorgen. 

Schade,  dass  die  Briefe  nicht  vollständig  abgedruckt  sind! 
Die  junge  Dichterin,  an  welche  sie  Schiller  richtete,  ist  Fräu- 
lein von  Imhoff,  nachherige  Fr^u  von  Helwig.  Sie  war  damals 
kaum  zwanzig  Jahre  alt.     Ihr  Nachlass  ist  in  Dresden. 

1. 

„ Mit  vielem  Vergnügen  les'  ich  Ihre  Gedichte.    Ich 

entdeckte  darin  denselben  Geist  der  Contemplation ,  der  allem 
aufgedrückt  ist,  was  Sie  dichten.  Ihre  Phantasie  liebt  zu  sym- 
bolisiren ,  und  alles,  was  sich  ihr  darstellt,  als  einen  Ausdruck 
von  Ideen  zu  behandeln.  Es  ist  dies  überhaupt  der  herrschende 
Charakterzug  des  deutschen  poetischen  Geistes,  wovon  iins 
Klopstock  das  erste  und  auffallendste  Muster  gegeben,  und  den 
wir  alle,  der  eine  mehr,  der  andre  weniger,  nicht  sowohl  nach- 
ahmen, als  durch  unsre  nordisch  -  philosophirende  Natur  ge- 
drungen folgen.  Weil  leider  unser  Himmel  und  unsre  Erde, 
der  eine  so  trüb,  die  andre  so  mager  ist,  so  müssen  wir  sie 
mit  unsern  Ideen  bevölkern  und  aufschmücken,  und  uns  an  den 
Geist  halten,  weil  uns  der  Körper  so  wenig  fesselt     Deswegen 


473 


[)liilo8ophiren  alle  deutschen  Dichter,  einige  ausgenommen,  wel- 
che Sie  80  gut  kennen,  als  ich.  —  Ich  habe  mir  die  Freyheit 
genommen,  und  in  Ihren  Gedichten  einiges  .angestrichen,  wo- 
gegen ein  strenger  Aristarch  etwas  einwenden  mochte.  Sie 
finden  vielleicht  Zeit  und  Lust,  diese  Kleinigkeit  zu  andern. 
Das  beschreibende  Gedicht  hat  besonders  meinen  Beyfall,  nur 
find  ich  es  um  ein  merkliches  zu  lang.  Auch  dieses  ist  ein 
Fehler,  den  wir  alle  mit  Ihnen  theilen,  und  den  ich  um  so 
weniger  Bedenken  trage  zu  rügen,  da  ich  ihn  mir  selbst  Tor- 
zuwerfen  habe. 

Allen  den  jetzt  iiberschickten  Gedichten  haben  Sie  dea 
Geist  der  Melancholie  aufgedrückt.  Nun  wünschte  ich  auch 
einige  zu  lesen,  die  eine  frölige  Stimmung  und  einen  Geist  der 
Lustigkeit  athmen.  Leben  Sie  recht  wohl  und  nehmen  meine 
Bemerkungen  so  freundschaftlich  auf,  als  ich  sie  niedergeschrie- 
ben habe.     Jena   den  18.  Jan.  1795." 

2. 

„Die  Mühe,  welche  Sie  auf  Verbesserung  Ihrer  Gedichte 
verwendet  haben,  ist  durch  einen  sehr  glücklichen  Erfolg  be- 
lohnt. Klarheit,  Leichtigkeit  und  (was  bey  Produkten  der 
weiblichen  Muse  ein  so  seltenes  Verdienst  ist)  Correctheit 
zeichnen  solche  sehr  vorzüglich  aus.  Ihre  Vorliebe  für  jenes 
beschreibende  Gedicht  ist  sehr  gerecht,  denn  ^as  in  den  übri- 
gen Gedichten  einzeln  zerstreut  ist,  Geist,  Empfindung,  poe- 
tische Mahlerey  und  fließende  Sprache  ist  in  diesem  vereinigt. 
Was  die  Abkürzung  dieses  Gedichtes  betrifil,  so  war  meine 
Meinung  nicht,  eine  Auswahl  unter  den  einzelnen  Stanzen  zu 
treffen,  sondern  aus  einem  Gedicht  deren  zwey  zu  machen,  weil 
ich  zwey  verschiedene  Töne  der  Empfindung  darin  zu  bemer- 
ken glaubte,  und  mir  gegen  die  Einheit  des  Geistes  gefehlt 
schien.  Nach  einem  zweyten  Lesen  fallt  mir  aber  dieser  Um- 
stand weit  weniger  auf,  und  so  wie  es  ist,  bin  ich  jetzt  auch 
vollkommen  damit  zufrieden.^ 

3. 

„Ihre  Briefe  sind  recht  interessant  zu  lesen  und  mit  vielem 
poetischen  Feuer  geschrieben,  sie  machen  mich  auf  das  Ganze 
sehr  begierig,  und  ich  zweifle  gar  nicht ,  dass  sie  das  Interesse 


474 


des   Publikums  erregen  werden.     Einzelne  kurze  Stellen  würd 
ich  zu  mildern  rathen.^ 

4. 

,^n  Ihren  Gedichten  finde  ich  sehr  viel  Schönes  in  Absicht 
auf  den  Inhalt  sowohl,  als  auf  den  Ausdruck.  Gegen  die  Er- 
zählung in  Prosa  habe  ich  erhebliche  Einwendungen,  und  wollte 
Ihnen  nicht  dazu  rathen,  vor  der  Hand  einen  Gebrauch  davon 
zu  machen.  Lassen  Sie  das  Manuscript  noch  einige  Monate 
liegen,  es  wird  Ihnen  fremde  werden,  und  Sie  werden  sich  dann 
gewiss  selber  sagen,  was  ich  oder  ein  andrer  Ihnen  jetzt  dar- 
über sagen  würde.  Die  Charactere  sind  zu  wenig  bestinunt^ 
die  Maximen,  nach  denen  gehandelt  wird,  wollen  sich  nicht 
ganz  billigen  lassen,  die  Erzählung  geht  einen  zu  schleppenden 
Gang,  an  einzelnen  Schönheiten  fehlt  es  nicht,  und  kann  bey 
einer  Arbeit  Ihres  Geistes  auch  niemals  fehlen.^ 

5. 

„Sie  haben  mich  mit  den  ersten  Briefen  Ihres  Romans 
gestern  und  heute  recht  angenehm  überrascht,  ich  finde  darin 
einen  so  schnellen  und  großen  Fortschritt,  den  Ihr  Darstel- 
lungstalent zu  einer  höhern  Vollkommenheit  gethan  hat,  dass 
ich  Ihnen  recht  von  Herzen  dazu  Glück  wünsche.  Diese  Briefe 
sind  mit  einer  sehr  angenehmen  Leichtigkeit  und  schönen  Sim- 
plicität  geschrieben,  es  ist  sichtbar,  wie  sehr  Sie  Ihres  Stoffes 
sind  mächtig  geworden,  und  wie  Sie  sich  durch  eine  glückliche 
Oultur  vor  manchen  Fehlem,  mit  denen  das  noch  nicht  ausge« 
bildete  Talent  gewöhnlich  anfängt,  und  oft  lang  genug  zvt 
kämpfen  hat,  zu  befreyen  gewusst  haben.  Ich  kann  Ihnen  nichts 
wünschen,  meine  vortreffliche  Freundin,  als  auf  diesem  Wege 
fortzufahren,  in  den  Sie  jetzt  so  glücklich  eingetreten  sind.^ 

6. 

„Der  Fall,  von  dem  Sie  schreiben,  ist  das  Schicksal  so 
vieler,  die  Ihr  Talent  zu  einer  hohem  Thätigkeit  bestinmite, 
und  manche  vorzügliche  Fähigkeit  geht  dadurch  für  das  Beste 
der  Kunst  und  Wissenschaft  verloren.  Aber  glauben  Sie  mir, 
dass  wenn  es  möglich  ist,  sich  aus  einer  solchen  Lage  zu  reis- 
sen,  dieses  nur  durch  strenge  Beharrlichkeit  auf  dem  guten 
Wege  und  durch  keine  Abweichung  von  demselben,  durch  keine 


475 


Nadigiebigkeit  gegen  den  fehlerhaften  Geschmack  geschehen 
kann.  Man  glaubt  oft  mit  der  Quantität  weiter  xu  kommen, 
als  mit  der  Qualität,  aber  außerdem,  dass  man  nur  durch  letz- 
tere sich  selbst  genug  zu  thun  im  Stande  ist,  so  ist  auch  nur 
von  dem  Guten  und  nicht  von  dem  Vielen  ^n  wahrer  äußerer 
Vortheil  zu  erwarten«  Ich  gestehe,  dass  ich  für  Sie  fürchtete, 
sobald  ich  von  dem  vorhabenden  Journale  erfuhr.  Eine  solche 
Unternehmung  schien  mir  nachtheilig  für  Sie,  und  ich  konnte 
auch  keinen  äußern  Vortheil  davon  für  Sie  erwarten,  der  Ih- 
nen eine  andre  Art  schriftstellerischer  Beschäftigung,  wobey  Sie 
mit  Muße  und  Liebe  beharrten,  nicht  in  einem  viel  höhern 
und  fiir  Sie  selbst  unendlich  beiriedigcnderm  Grade  gewährte: 
Sie  haben  keine  Ursache  zu  zweifeln,  Arbeiten  die  auf  diese 
Art  entstanden,  und  ausgeführet  worden,  auch  in  demjenigen 
Sinne  zu  nutzen,  wie  jeder  Schriftsteller  jetzt  die  seinigen  nutast 
Auch  Ihre  Wahl  ist  gar  nidit  begrenzt,  da  Sie  außer  Ueber- 
setzungen,  welche  die  leeren  Stunden  füllen  können.  Zu  die« 
sen  Arbeiten  stehen  Ihnen  mehrere  Journale  offen.  Wieland 
wird  Beyträge  von  Ihnen  mit  Vergnügen  in  den  Merkur  auf- 
nehmen. Die  Flora,  eine  Zeitschift  für  das  Frauenzimmer,  wird 
Sie  gern  zur  Mitarbeiterin  haben,  und  was  Sie  mir  für  die 
Hören  anbiethen,  werde  ich  eben  so  bereitwillig  auftiehmen. 
Der  Vortheil  von  diesen  verschiedenen  Journalen  ist  zwar  nicht 
gleich,  aber  es  ist  auch  nicht  nöthig,  dass  die  Arbeiten  gleich 
sind.    Den  23.  Dec.  1795.** 

8.     Garve's  letzter  Brief  an  Kant.     Mitgetheilt  von  Dr. 
August  Kahlert. 

Vorbemerkung. 

Im  elften  Bande  der  Rosenkranz  -  Schubert^schen  Ausgabe 
von  Kantus  sämmtlichen  Werken  kommt  im  Verlaufe  der  ge- 
nauen und  anziehenden  Darstellung,  die  Schubert  von  Kantus 
Lebensschicksalen  giebt,  auch  das  Verhältniss  dieses  Philoso- 
phen zu  Garve  zur  Sprache.  Insbesondere  ist  dort  nach  einem 
noch  vorhandenen  Originale  ein  in  Garve^s  letztes  Lebensjahr 
fallender  Brief  desselben  an  Kant,  welcher  sich  auf  des  Erstem, 
Kant  dedicierte  Abhandlung  über  die  Moralsysteme  bezieht, 
und  eine  frühere  zwischen  beiden  Männern  obschwebende  Span- 
nung zu  beseitigen  wünscht,  mitgetheilt.  Allein  der  Zufall  ließ 
mich  einen  andern,   sehr   inhaltsreichen,   wahrscheinlich   noch 


476 


einige  Wochen  später  als  jener  geschriebenen  Briefe  Garve^s 
an  Kant  entdecken,  der,  da  Garve  am  1.  Dezember  1798  starb, 
und  das  Werk,  welches  er  an  Kant  überschickt,  zur  Michaelis- 
messe desselben  Jahres  herausgekommen,  wohl  als  sein  Ab- 
schiedswort zu  betrachten  ist.  Im  Maihefte  des  „Morgenblatts 
für  gebildete  Stände^  (Jahrgang  1811)  macht  nämlich  Mor- 
genstern, Professor  in  Dorpat,  (gestorben  daselbst  als  russi- 
scher Staatsrath  15.  Sept.  1852)  die  Mittheilung,  dass  in  Kant's 
Nachlasse  sich  mehre  Briefe  Garve^s  vorgefunden  hätten,  ans 
verschiedenen  Jahren,  darunter  der  hier  folgende  ohne  Datum, 
den  Morgenstern  aber,  dem  Inhalte  nach,  mit  voUem  Rechte 
in  den  Herbst  1798  setzt,  lieber  die  Zersplitterung  der  von 
Kant  nachgelassenen  Papiere  hat  Schubert  (im  Bd.  XI  Abthei- 
lung I  S.  218)  berichtet,  und  sich  dabei  auch  auf  einen  Brief 
Morgensternes  vom  22.  Febr.  1838  berufen.  Letzterer  mochte 
wohl  seine  27  Jahr  früher  an  das  Stuttgarter  Journal  gemachte 
Mittheilung  damals  längst  vergessen  haben.  Der  Garve^sche 
Brief  schien  mir  aber,  seines  Inhalts  wegen  voUkommen  wür- 
dig, dem  Untergange  entrissen  zu  werden.  A.  K. 

Theuerster  Freund! 

Ich  habe  Alles,  was  sich  auf  die  Schrifl,  welche  ich  Ihnen 
widme  imd  mit  diesem  Briefe  überschicke,  bezieht,  und  das, 
was  meine  Gesinnungen  gegen  Sie  betrifft,  in  der  Zueigunngs- 
schrift  selbst  so  vollständig  gesagt,  dass  ich  hier  nichts  hinzu- 
zusetzen habe.  Ich  werde  Sie  immer  als  einen  unsrer  größten 
Denker,  und  der  mich  selbst  zur  Zeit  als  ich  nur  noch  Lehr- 
ling und  Anfänger  war,  als  Meister  der  Kunst  zu  denken, 
darin  übte,  hochachten.  Ich  bin  von  der  andern  Seite  über- 
zeugt, dass  Sie  auch  von  mir,  so  weit  man  einen  Mann  blos 
aus  seinen  Schriften  kennen  lernen  kann,  nicht  ungünstig  ur- 
theilen  und  selbst  eine  Neigung  zur  Freundschaft  fiir  mich 
fühlen. 

Diese  verborgene  und  stillschweigende  Verbindung,  welche 
schon  lange  unter  uns  vorhanden  ist,  gegen  das  Ende  unsres 
I^bens  noch  fester  zu  knüpfen,  dazu  ist  diese  Zueignung  be- 
stimmt. Kann  ich  auch  keinen  großen  oder  langen  Genuas 
mehr  davon  hoffen,  so  wird  doch  auch  dies  mich  freuen,  wenn 
ich  es  noch  erlebe,  Ihr  Urtheil  über  diese  kleine  Schrift,  welche 
die  Resultate  vieler  meiner  Meditationen  zusammengedrängt  ent- 


477 


hält,   erfahre,  und   wenn   ich  zugleich   von  Ihren  freundschaft-' 
liehen  Gesinnungen  versichert  werde. 

Ich  wünschte  zwar  auch  Ihr  Urtheil  über  die  neuesten 
Fortschritte,  welche  einige  ihrer  Schüler,  besonders  Fichte, 
glauben  in  der  Philosophie  seit  der  Erscheinung  der.  Kritik 
gemacht  zu  haben,  zu  wissen.  Aber  Sie  können  billige  Ur- 
sachen haben,  warum  Sie  weder  öffentlich  noch  in  Privatbrie- 
fen  ein  entscheidendes  Urtheil  darüber  fällen  wollen.  Ich  selbst 
bin  nur  sehr  oberflächlich  davon  unterrichtet;  ich  habe  die 
Schwierigkeiten  der  Kritik  überwunden,  und  ich  bin  im  Ganzen 
dafür  belohnt  worden.  Aber  ich  habe  nicht  das  Herz  noch 
die  Kraft  mich  den  noch  weit  größeren  Schwierigkeiten  zu  un- 
terziehen, welche  mir  die  Lektüre  der  Wisseuschaftslehre  ma- 
chen würde.  Jetzt  macht  meine  täglich  wachsende  Krankheit 
mir  solche  überfeine  Spekulationen  ohnedies  unmöglich.  Ich 
wiirdc  Ihnen  hier  meinen  Zustand  schildern,  der  gewissermaßen 
eben  so  merkwürdig  und  sonderbar  als  kläglich  ist.  Aber  eine 
genaue  Beschreibung  desselben  würde  ein  weitläufiges  Werk 
sein,  wozu  es  mir  an  Kräften  gebricht,  und  —  ohne  Genauig- 
keit, wozu  kann  eine  solche  Schilderung  dienen?  Ein  äußerer 
Schaden,  der  vor  ungefähr  dreizehn  Jahren  sehr  unschuldig 
scheinend,  am  rechten  Nasenflügel,  nicht  weit  vom  Augenwin- 
kel entstand  *),  —  der  eigentlich  nicht  Krebs  nach  allen  Symp- 
tomen, aber  darin  vollkommen  krebsartig  ist,  dass  er  sich  nicht 
blos  nach  der  Oberfläche,  sondern  in  kubischem  Verhältnisse 
erweitert,  und  eben  so  tief  aushöhlt,  als  sich  weiter  ausbreitet, 
und  der  endlich  darin  allen  Heilmitteln  widerstand,  zu  welchen 
freilich  der  Nachbarschaft  des  Auges  wegen  keine  ätzenden 
Mittel,  vielleicht  die  wirksamsten  in  solchen  Fällen,  gebraucht 
werden  konnten.  Dieser  Schaden  hat  nunmehr  das  ganze  rechte 
Auge  und  einen  Theil  der  rechten  Wange  verzehrt,  hat  eine 
eben  so  große  Höhle  in  den  Kopf  gebohrt,  und  Zerstönmgen  einer 
seltenen  Art  angerichtet.  Es  scheint  unmöglich,  dass  ein  Mensch 
dabei  leben  könne,  es  scheint  noch  unmöglicher,  dass  er  dabei 
denken  und  selbst  mit  einem  gewissen  Scharfsinn  und  einer  ESxal- 
tation  des  Gemüthes  denken  könne:  und  doch  ist  Beides  wahr! 


•)  Manso,  der  Garve's  vieljähriger  Hausfreund  war,  behauptete,  dass  man 
die  Entstehung  der  Krankheit  einer  messingnen  Brille,  welche  Grünspan  an- 
gesetzt, und  Ton  der  Garve  sich  nicht  habe  trennen  wollen,  beimessen  müsse. 


478 


Dieser  unwahrscheiDliche  aber  glückliche  Umstand  hat  ^^9  ^^^^ 
ich  von  Schwäche  und  Schmerz  wechselsweise  geplagt  und  von 
der  menschlichen  Gesellschaft  entfernt  bin,  die  vorzüglichste 
Erleichterung  und  den  Trost  meines  Lebens  verschafft.  Nie 
habe  ich  die  Schönheit  eines  Verses,  die  Bündigkeit  eines  Rä- 
sonnements  und  die  Annehmlichkeit  einer  Erzählung  deutlicher 
wahrgenommen  und  mit  mehr  Vergnügen  empfunden. 

Aber  wie  klein  bleibt  bei  Allem  diesem  der  Ersatz  für  die 
Leiden,  welche  ich  von  Zeit  zu  Zeit  auszustehen  habe,  und  wie 
lange  werde  ich  diesen  Kampf  noch  kämpfen  müssen  I  Sie  ha- 
ben von  der  Macht  des  Gemüthes  über  den  Schmerz  und  selbst 
über  Krankheiten  in  Ihrem  Briefe  an  Hufeland  geredet.  Ich 
bin  vollkommen  darüber  mit  Ihnen  einig,  und  weiß  es  aus 
eigener  Erfahrung,  dass  das  Denken  eine  Heilkraft  habe,  aber 
dieses  Mittel  lässt  sich  nicht  bei  Allen  auf  gleiche  Weise  an- 
wenden. Einige,  zu  welchen  Sie  gehören,  helfen  ihrem  Uebel 
dadurch  ab,  dass  sie  ihre  Aufmerksamkeit  davon  abwenden. 
Ich  habe  dem  meinigen  z.  B.  Zahnschmerzen,  dadurch  am  Be- 
sten abhelfen  können,  indem  ich  meine  Aufinerksamkeit  darauf 
concentrirt  und  an  nichts  als  an  meinen  Schmerz  gedacht  habe. 
Aber  solche  äußere  Uebel,  wie  das,  an  welchem  ich  jetzt  leide, 
sind  der  Macht  des  Gemüths  am  Wenigsten  unterworfen  und, 
wie  es  scheint,  ganz  mechanisch  und  körperlich.  Doch  sie  sind 
der  Macht  der  Vorsehung  und  des  Weltr^erers  unterworfen. 
Diese  erhalte  Ihnen  die  Gesundheit  und  die  Kräfte,  deren  Sie 
bisher  in  Ihrem  hohen  Alter  genossen  haben.  Er  bringe  mich 
mit  erträglichen  Schmerzen  zum  Ziele  meines  Lebens,  da  eine 
Befreiung  von  denselben  unmöglich  ist.  Ich  bin  mit  dem  auf- 
richtigsten Herzen 

Ihr  ergebener  Freund 
Garve. 

9.    Zwei  Briefe  von  Jung  Stilling.     Von  August  Spieß. 

Es  gibt  gewiss  wenige  deutsche  Schriftsteller,  welche  eine 
so  ausgedehnte  Correspondenz  geführt  haben,  als  Jung  Stilling, 
und  noch  wenigere,  bei  denen  dieselbe  mit  EUntansetzung  alles 
persönlichen  Interesses  so  sehr  nur  allgemeinen  Zwecken  ge- 
dient hat,  als  bei  ihm.  Der  Dualismus  der  Thätigkeit,  der  sich 
bei  Stilling  schon  in  seiner  Jugend  zeigt,  so  dass  er  nothge- 
drungen  manchmal  die  Nadel  wieder  ergreifen  musste,  wenn  es 


479 


mit  dem  Unterrichten  nicht  mehr  gehen  wollte,  gestaltete  tioh 
in  seinen  späteren  Jahren  ra  einer  neben  einander  lanfenden 
zwiefachen  Thätigkeit,  die  ihn  sogar  Ton  sich  sagen  ließ,  er 
habe  zwei  ,3^^^^^^^^^!^%  deren  jede  hinreiche,  das  Leben  eines 
Mannes  ansznfüUen.  Seine  Hand  f&hrte  nun  die  Staarnadel 
mit  großem  Erfolg  nnd  gab  mehr  als  zweitausend  Menschen 
das  Augenlicht  wieder;  aber  auch  die  Lebrthatigkeit  hatte  sich 
in  großartigem  Maßstabe  erweitert  und  erhöht;  der  von  Ju- 
gend auf  in  Stilling  lebendige  Drang,  für  das  Christenthum  zu 
wirken,  erhielt  seine  yolle  Befriedigung  in  litterarischer  Thä- 
tigkeit, zumal  nachdem  er  vom  Kurfürsten  von  Baden  „als  re- 
ligiöser Schriflsteller^  angestellt  worden  war.  Beide  ,3^^^^* 
arten^  gingen  jedoch  vielfach  Hand  in  Hand,  besonders  brach- 
ten Stilling  die  für  die  damalige  Zeit  außerordentlichen  Beisen, 
welche  er  wegen  Augenkuren  nach  der  Schweiz,  nach  Bremen, 
Schlesien  etc.  unternahm,  in  die  mannichfachsten  Beziehungen 
zu  Gesinnungs-  und  Glaubensgenossen,  und  trugen  wesentlidi 
dazu  bei,  seiner  litterarischen  Wirksamkeit  auch  durch  den 
Verkehr  mit  den  Einzelnen  noch  größere  Ausdehnung  und  tie- 
fere Bedeutung  zu  geben.  Schon  in  Marburg  hatte  sich  seine 
Corrcspondenz  dermaßen  gehäuft,  dass  er  nach  der  Rückkehr 
von  einer  Reise  nach  Bremen  sagt,  Consultationen  wegen  Au- 
genkrankheiten und  Briefe  religiösen  Inhalts  seien  posttäglicfa 
in  solcher  Menge  angekommen,  dass  er  sie  mit  aller  Mühe  habe 
kaum  beantworten  können.  Diese  enorme  Correspondenz,  vor- 
nehmlich religiösen  Inhalts,  deren  Postgeld  zu  bezahlen  „die 
Honorarien  bei  weitem  nicht  zureichten^,  mag  denn  allerdings 
ihres  Gleichen  suchen.  Dass  es  übrigens  Jung  Stilling  bei 
derselben  nicht  bloß,  wie  man  ihm  wohl  nachgesagt  hat,  darum 
zu  thun  war,  mit  Fürsten  und  Grafen  in  Verbindung  zu 
stehen,  sondern  dass  er  „für  das  Reich  des  Herrn  zu  wir- 
ken^ überall  für  seinen  Beruf  ansah,  und  bereitwillig  auch  Un- 
bekannten und  Niedrigen  mit  Rath  und  That  beigestanden  hat, 
davon  geben  uns  auch  die  beiden  Briefe  Zeugniss,  die  wir  un- 
ten mittheilen.  Sie  stammen  aus  der  Zeit,  wo  er  in  Carlsruhe 
lebte,  und  sind  an  einen  Juden  zu  Herborn  im  Nassauisohen 
gerichtet.  Dieser  war  aus  Bingen  am  Rhein  gebürtig,  hatte 
unter  Napoleon  gedient  und  sich  später  in  Herboni  als  Wein- 
händler niedergelassen.  Schon  frühe  hatte  er  den  Entschluss 
gefasst,  zum  Christenthum  überzutreten,   wenn  seine  alten  El- 


480 


tern  gestorben  waren.  Die  Lectürc  der  Stilling'scLen  Schriften 
bestärkte  ihn  in  seinem  Entschlüsse,  und  veranlasste  ihn,  sich 
personlich  an  den  Verfasser  zu  wenden.  Durch  die  Professo- 
ren Grimm  und  Fuchs  in  Herborn  wurde  er  an  denselben  em- 
pfohlen. Im  Jahre  1812,  in  demselben  Jahre,  aus  dem  die 
Briefe  herrühren,  trat  er  im  Pfarrhaus  zu  Herbom  in  Gegen- 
wart dieser  beiden  Männer  und  zweier  Freunde  zum  Cbristen- 
thum  über.  Die  Zahl  der  Briefe,  welche  er  von  Jung  Stilling 
empfangen  habe,  gab  er,  wohl  übertrieben,  auf  ungefähr  drei- 
ßig an.  Sie  waren  ihm  jedoch  alle  bis  auf  die  beiden  folgen- 
den abhanden  gekommen.  Er  hatte  dieselben  vor  Zeiten  einer 
eifrigen  Anhängerin  Stillings  gegeben,  sie  jedoch  von  dieser 
nicht  wieder  zurückerhalten.  Auch  mir  ist  es  trotz  aller  Be- 
mühungen nicht  gelungen,  dieselben  aus  den  Händen  der  lei- 
denschaftlichen Verehrerin  zu  erlangen.  Unterdessen  ist  sie 
sowohl  wie  der  rechtmäßige  Besitzer  der  Briefe  gestorben  und 
ein  nochmaliger  Versuch,  mir  dieselben  zu  verschaffen,  hat  bis 
jetzt  noch  nicht  gemacht  werden  können. 

(Folgen  die  Briefe.) 

Carlsruhc  den  7.  Januar  1812. 

Mein  theurer  und  herzlich  geliebter  Freund! 

Ihr  lieber  Brief  vom  3ten  dieses  hat  mir  wahre  Freude 
gemacht;  und  Sie  können  ganz  gewiss  meiner  Verschwiegen- 
heit versichert  seyn;  darauf  verlassen  Sie  sich  vest.  Dass  Sie 
bey  Ihrer  jezzigen  Seelenlage  und  bey  Ihrem  Vorhaben  keine 
irrdiscben  Absichten  haben,  davon  bin  ich  überzeugt;  der  Geist 
aus  dem  Ihr  Brief  geflossen  ist  versichert  mir  das.  Seyen  Sie 
nur  ganz  ruhig  und  folgen  Sie  meinem  Kath:  gehen  Sie  in  Ihr 
Kämmerlein,  schließen  Sie  die  Thür  hinter  sich  zu,  damit  Sie 
niemand  überraschen  kann.  Dann  fallen  Sie  nieder  auf  die 
Knie,  oder  aufs  Angesicht,  und  bäten  ungefehr  folgender  Ge- 
stalt: Jesus  Christus!  Siehe  hier  kommt  ein  verlohrenes 
Schaaf  vom  Hauß  Israel,  einer  Deiner  Brüder  nach  der  mensch- 
lieben Natur,  und  sucht  Trost,  Kath  und  Hülfe  bej  Dir.  Als 
meine  Urväter  die  Söhne  meines  Stanmivaters  Jakob,  in  Egyp* 
ten  ihren  verkauften  und  mishandelten  Bruder  Joseph  wieder- 
fanden, da  sie  in  der  Angst  ihres  Herzens  vor  Ihm  knieten  und 
flehten,  so  offenbarte  er  sich  ihnen  und  sagte:  ich  bin  Joseph 
eui^r  Bruder!     Acli,  so  sprich  doch  auch  zu  meiner  tiefgebeug- 


481 


teu  und  Ruhe  sucheiideu  Seele:  Ich  bin  Jesus  dein  MesaUa, 
deiu  Heyland  und  Erlöser;  erbarme  Dich  über  oiich  und  über 
Dein  armes  verlasenes  Judenvolk,  über  Dein  altes  Israel,  das 
sich  so  sehr  an  Dir  versündigt  hat;  auf  djiese  und  auf  äbnliohe 
Weise  bäten  Sie  täglich  und  lesen  Sie  dann  fleißig  das  Neue 
Testament,  so  wird  Ihnen  auch  das  alte  Testament,  Ihre  Bibel, 
immer  klärer  und  deutlicher  werden,  und  Sie  werden  nach  und 
nach  überzeugt  werden,  dass  der  Gott  Jehovah  der  Gott  des 
alten  Israels,  kein  anderer  gewesen  ist,  als  Jesus  Messias  selbst, 
der  vor  1812  Jahren  in  Palästina  Mensch  wurde,  um  sein  Volk, 
und  die  gesammte  Menschheit,  so  viele  ihrer  Ihn  im  Glauben 
annehmen  würden,  von  ihren  Sünden  zu  erlösen  und  selig  zu 
machen.  Wer  also  Jesum  Christum  anbätet,  der  bätet  den 
Gott  Israels  an,  und  wer  den  n^n^  ^^HH  anbätet,  der  bätet 
Jesum  Christum  an,  ohne  dass  ers  weiß,  und  dies  ist  der  Fall 
bei  den  Juden.  Dann  müssen  Sie  sich  auch  ganz  an  die  Füh- 
rung Seines  heiligen  Geistes  übergeben  und  beständig  im  An- 
denken an  Ihn  zu  bleiben  suchen,  und  dabey  innerlich  in  Ihrem 
Herzen  seufzen,  ohne  ein  Wort  zu  sagen:  Herr  Jesus  erbarme 
Dich  meiner!  Wenn  Sie  darinnen  treu  bleiben,  so  werden  Sie 
bald  ein  anderer  Mensch  werden  und  Sie  werden  in  Ihrem  In- 
nersten eine  Ruhe  und  einen  Frieden  empfinden,  wovon  Sie 
vorher  keinen  Begrif  gehabt  haben.  Dies  Alles  aber  thun  Sie 
für  sich  allein,  ohne  nur  einem  Menschen  das  geringste  davon 
zu  sagen,  und  trennen  Sie  sich  noch  zur  Zeit  von  der  Juden- 
gemeine nicht,  gehen  Sie  in  ihre  Synagoge,  nehmen  Sie  aber 
keinen  Antheil  au  irgend  etwas,  das  zur  Verläugnung  oder  zum 
Nachtheil  Christi  vorgenommen  wird.  Beobachten  Sie  noch 
mit  andern  Juden  die  Gebräuche  und  das  Gesetz  Mosis,  und 
verhalten  Sie  sich  ruhig  und  lasen  Sie  sich  nicht  merken;  denn 
wenn  Sie  dem  Herrn  Christus  treu  bleiben,  so  wird  Er  Ihnen 
den  rechten  Zeitpunkt  anzeigen,  wenn  Sie  zur  christlichen  Ge- 
meine übergehen  sollen;  so  lang  aber  müssen  Sie  auch  mit  dem 
Heuratben  warten;  denn  wenn  Sie  eine  Israelitische  Frau  und 
Kinder  hätten,  so  würde  Ihnen  der  Uebergang  schwerer,  und 
jetzt  als  Jude  heurathet  Sie  keine  Christin.  Ich  werde  Ihnen 
hinführo  mit  Rath  und  That  beystehen;  schreiben  Sie  mir  also, 
so  oft  Sie^s  nöthig  halten  und  bekümmern  Sie  sich  um  meinen 
Titel  nicht,  so  wie  Sie  ihn  geschrieben  haben,  so  ist  er  ganz 
recht.     £s  wird  auch  gut  soyn,  wenn  Sie  des  Christliclieu  Men- 


482 


schenfVeunds  biblische  Erzähingen  lesen ,  es  sind  5  Heft  dayon 
heraus,  und  ich  schreibe  jest  am  sechsten.  Sie  können  sie  in 
Franckfurth  in  der  Joh.  Christian  Hermannischen  Buchhand- 
lung, sowie  alle  meine  Schriften  bekommen. 

Sie  sind  nicht  der  einzige  Jude  der  sich  nach  Christo  sehnt, 
ich  weiß  dass  viele  tausend  Juden  heimliche  Christen  sind,  die 
alle  mit  einander  heimlich  verbunden  sind,  und  nur  so  lang 
warten,  bis  ihrer  genug  sind,  um  den  Bann  der  Rabbinen  nicht 
mehr  zu  fürchten.  Wissen  Sie  auch  dass  viele  Familien  aus 
Polen,  Litthauen  und  Rusland  schon  nach  Palästina  und  Jeru- 
salem ziehen?  Verwichenen  Sommer  sind  allein  aus  Litthauen 
60  Familien  dahingezogen.  Sie  erwarten  in  8  Jahren  den  Mes- 
sias. Er  wird  auch  kommen,  und  sich  ihrer  erbarmen.  Er 
sey  auch  mit  Ihnen,  lieber  Bruder  in  Christo! 

Jung  Stilling. 

• 

Carlsruhe  16  März  1812. 

Mein  theuerster  und  herzlich  geliebter  Freund  I 

Im  Drang  meiner  Geschäfte  kann  ich  Ihnen  heut  nur  wenige 
Zeilen  schreiben:  bringen  Sie  Einliegendes  dem  Herrn  Profes- 
sor Grimm,  der  wird  thun  was  möglich  ist,  um  Ihnen  zu  Ihrem 
Zweck  zu  verhelfen.  Allein  dazu  ist  fest  erforderlich,  dass  Sie 
in  der  Religion  Jesu  gegriindet  werden,  eilen  Sie  daher  auch 
nicht  gar  zu  sehr,  und  bekümmern  Sie  sich  um  das  Räsonniren 
der  Christen  und  Juden  nicht.  Ich  erinnere  mich  nicht  mehr 
was  ich  Ihnen  versprochen  habe,  haben  Sie  doch  die  GKite, 
mich  wieder  daran  zu  erinnern.  Ich  will  Ihnen  von  Herzen 
gerne  zu  Willen  seyn,  wo  ich  kann.  Der  Herr  Jesus  Christus 
schenke  Ihnen  seinen  heiligen  Geist,  der  Sie  in  alle  Wahrheit 
führen,  und  Sie  heiligen  und  seegnen  wird  zum  ewigen  Leben. 
Ich  grüße  Sie  herzlich  als  Ihr 

wahrer  Freund 
Jung  Stilling. 

10.    Jacob   Grimm   über   den  Adel   in  der   deutschen 

Litteratur. 

In  der  52.  Sitzung  der  Frankftirter  Nationalversammlung 
(1.  August  1848)  war  unter  den  Rednern  für  und  wider  den 
Adel  auch  Jacob  Grimm.  Er  sprach  nach  den  Stenographi- 
schen Berichten  Nr.  53.  (2.  Bd.  S.  1810.  1311)  also: 


483 


^Audi  mir  leuchtet  ein,  dass  der  Adel  als  beTorrechteter 
Stand  aufhören  müsse,  denn  so  hat  schon  der  Zeitgeist  seit 
ein  paar  Generationen  geurtheilt,  so  bat  er  im  Stillen  geur- 
theilt,  jetzt  darf  er  ein  lautes  Zeugniss  dafür  abgeben.  Der 
Adel  ist  eine  Blume,  die  ihren  Geruch  verloren  hat,  vielleicbt 
auch  ihre  Farbe.  Wir  wollen  die  Freiheit  als  das  Höohste 
au&teUen,  wie  ist  es  dann  möglich,  dass  wir  ihr  noch  etwas 
Höheres  hinzugeben?  Also  schon  aus  diesem  Ghrunde,  weil  di^ 
Freiheit  unser  Mittelpunkt  ist,  darf  nicht  neben  ihr  noch  etwas 
anderes  Höheres  bestehen.  Die  Freiheit  war  in  unserer  Mittet, 
so  lange  deutsche  Geschichte  steht,  die  Freiheit  ist  der  Grund 
aUer  unserer  Rechte  von  jeher  gewesen;  so  schon  in  der  älte- 
sten Zeit.  Aber  neben  der  Freiheit  hob  sich  eine  Knechtschaft^ 
eine  Unfreiheit  auf  der  einen  und  auf  der  anderen  Seite  eine 
Erhöhung  der  Freiheit  selbst.  In  dieser  Gliederung  scheint 
mir  ein  Beweis  gegen  den  Adel  zu  liegen.  Als  die  härtere  Un- 
freiheit sich  in  eine  mildere  auflöste  und  neben  der  härteren 
bestand,  da  entsprang  auch  eine  Erhöhung  der  Freiheit  in  den 
Adel  und  des  Adels  in  die  fürstliche  Wiirde.  Nachdem  diese 
Erhöhung  der  Unfreiheit  aufgehört  hat,  muss  auch  die  des 
Adels  faUen.  Meine  Herren,  ich  will  den  Adel,  ich  kann  ihn 
nicht  so  schwarz  malen,  wie  Redner  vor  mir  gethan  haben; 
ich  will  vielmehr  von  seinem  Preise  ausgehen  und  hemaoh 
einige  milde  Schatten  werfen.  In  unserer  ältesten  Geschichte 
glänzt  der  Adel  in  vielen  Lichtpunkten.  Wir  wissen  zwar  oft 
nicht  in  den  Geschichtschreibern  zu  unterscheiden,  ob  freie 
oder  adelige  Männer  gemeint  seien;  es  wird  aber  in  den  alten 
Volksrechten  zwischen  beiden  Ständen,  wenigstens  bei  vielen 
Stämmen,  wenn  auch  nicht  bei  aUen,  untersdiieden.  Ich  will, 
was  Sie  mir  gewiss  erlauben  werden,  weil  es  mir  am  nächsten 
liegt,  herausheben,  wie  der  Adel  in  unserer  Litteratur 
geglänzt  hat,  und  das  ist  doch  ein  Zeugniss  für  die  geistige 
Befähigung  der  Völker  gewesen.  Im  13.  Jahrhundert  blühte 
die  deutsche  Poesie  auf,  wie  nie  vorher.  Unter  200  oder  mehr 
als  200  Dichtern  ist  die  überwiegende  Mehrheit  dem  Adel  zu- 
gehörig gewesen,  unser  größter  deutscher  Dichter  des  18.  Jahr- 
hunderts war  Wolfram  von  Eschenbach  und  nur  ein  anderer 
vermag  ihm  etwa  das  Gleichgewicht  zu  halten,  Gottfried  von 
Straßburg,  der  kein  Adeliger  war,  sondern  aus  einer  deutschen 
Stadt,  die  jetzt  nicht  mehr  zu   uns  gehören  will.     Dies   Ver- 


484 


hältniss  der  Stande  blieb  noch  ein  paar  Jahrhunderte.  Nach- 
her trat  ein  großer  Wandel  ein:  als  mit  Wiedererweckung  der 
classischen  Litteratur,  mit  der  Erfindung  der  Bnchdmckerei  die 
ganze  Wissenschaft  neu  geschaffen  wurde,  konnte  die  Befähi- 
gung des  Adels  nicht  mehr  als  ausschließliche  erscheinen.  Die 
Buohdruckerei  ging  gerade  so  der  Freiheit  im  Glauben  voraus, 
wie  heutzutage  die  Erfindung  des  Dampfes  der  Freiheit  der 
Völker  yorausgegangen  ist.  Beide  sind  Vorboten  einer  Frei- 
heit, die  nichts  aufhalten  konnte.  Seit  Erfindung  der  Bnch- 
dmckerei wich  die  Wissenschaft  aus  den  Klöstern  und  Perga- 
menten und  ging  über  in  die  gedruckten  Bücher,  die  dem  gan- 
zen Volke  zugänglich  waren,  und  siehe  da,  von  jetzt  an  war 
die  Wissenschaft  überwiegend  in  den  Händen  der  sogenannten 
Bürgerlichen  und  nicht  mehr  der  Adeligen.  Der  größte  deut- 
sche Mann,  der  unsere  Glaubensfreiheit  bewirkte,  Luther,  war 
aus  geringem  Stande,  und  so  ist  es  von  nun  an  in  allen  fol- 
genden Jahrhunderten.  Sie  werden  immer  sehen,  dass  die 
Mehrzahl  der  erweckten  großen  Geister  dem  Bürgerstande  an- 
gehörte, obgleich  auch  noch  treffliche  Männer  unter  dem  Adel 
auftraten,  wie  vorhin  schon  Hütten  genannt  worden  ist.  Aus 
den  neueren  Zeiten  erinnere  ich  an  Lessing,  Winkelmann,  Klop- 
stock,  Göthe,  Schiller,  lauter  Unadelige,  und  es  war  ein  Raub 
am  Bürgerthum,  dass  man  den  beiden  letzten  ein  „von^  an 
ihren  Namen  klebte.  (Bravo  auf  der  Linken  und  im  Centrum.) 
Dadurch  hat  man  sie  um  kein  Haar  größer  gemacht.  Da  ich 
doch  einmal  auf  dieses  Wörtchen  „von^  zu  sprechen  gekommen 
bin,  das  in  den  letzten  Jahrhunderten  Manchem  den  Kopf  ver- 
rückt hat,  so  sei  es  mir  vergönnt,  einen  Augenblick  dabei  zu 
verweilen.     Es  ist  nichts  als  eine  Präposition*),  d.  h.  in  der 


*)  So  gpricht  sich  auch  Tileman  Dothias  Wiarda  über  das  von  aus  in 
seinem  Buche  „Über  deutsche  Vornamen  und  Geschlechtsnamen  (Berlin  1800)** 
S.  146:  „Jeder  neue  Edelmann,  wenn  er  nicht  bei  Erhöhung  in  den  Adel- 
stand mit  einem  neuen  oder  veränderten  Namen  begnadiget  wird ,  nimmt  das 
Prädicat  t  o  n  an,  um  sich  von  seinen  nnadlichen  Geachwistem  and  Verwand- 
ten SU  unterscheiden,  und  die  äußere  Gestalt  seiner  bürgerlichen  Herkiuiftbei 
späterer  Nachkommenschaft  zu  vertuschen.  Dass  übrigens  diese  Partikel  an 
sich  unbedeutend  ist,  indem  sie  nach  der  Reichshofräthlichen  Taxrolle  mit  30 
Gulden  erworben  werden  kann  (Hommel  Rhaps.  Obs.  503.  n.  14),  und  den 
Adel  nur  scheinbar  machet,  durchaus  aber  nicht  bewähret,  wird  nicht  bettritten 
werden  können.  <*    H.  ▼   F. 


485 


Grammatik  ein  Wort,  das  einen  Casus  regiert  (Beifall).  Es 
rnnss  also  von  diesem  Worte  ein  Casus  abgehangen  haben, 
sonst  würde  es  sinnlos  sein.  Immer  ist  es  mir  erschienen,  dass, 
was  in  der  Sprache  albern  und  sinnlos  scheint,  es  auch  im  Le- 
ben ist.  Es  fordert  also  inuner  einen  Besitzer  oder  Herrn  des 
Guts,  worauf  e»  sich  bezieht.  Ein  Heinrich  von  Kronberg, 
ein  Heinrich  von  Weißenstein,  das  hat  Sinn;  aber  es  klingt 
unsinnig:  ein  Herr  von  Göthe,  ein  Herr  von  Schiller,  ein  Herr 
von  Müller,  denn  Müller,  Göthe  und  Schiller  sind  niemals  Orte 
gewesen.     (Beifall.)'' 

11.     Friedrich   Christoph  Schlosser  über  Göthe  und 

Schiller. 
(Schlosser,  Geschichte  des  19.  Jahrb.  7.  Bd.  2.  Abth.  S.  58.) 
„Schiller  stand  dem  Volke  und  der  Jugend  näher,  Göthe  war 
mehr  für  die  aristokratischen  Kreise  und  für  das  classisch  ge- 
bildete Publicum.  Schiller  war  und  blieb  in  seinen  Gedichten 
feierlich  und  gemüthlich,  Göthe  war  unter  Frankfurter  vorneh- 
men Leuten  geboren,  ward  Hofmann  und  Minister,  seine  Poesie 
ward  vornehm  mit  ihm,  er  sah  die  Moral  tief  unter  der  Ge- 
nialität, er  gebrauchte  gleich  den  Diplomaten  die  Welt^  wozu 
sie  ihm  gut  war.  Er  fühlte  sich  der  Welt  überlegen,  wie  Bo- 
naparte, nur  in  anderer  Weise,  und  jeder,  der  ihn  antasten 
wollte,  würde  gewiss  des  Zoilus  Schicksal  haben;  wir  tadeln 
daher  auch  nicht,  sondern  deuten  nur  an,  was  unseres  Berufes 
ist,  wie  Schiller,  der  als  Genie  weit  unter  ihm  stand,  dem  ge- 
selligen und  häuslichen  Leben  des  gesanmiten  Volks  sehr  viel 
mehr  nutzte  als  Göthe.  Dieser  folgte  ganz  aUein  der  gött- 
lichen Inspiration,  die  ihn  fähig  machte,  ohne  Mühe  zu  schaf- 
fen ;  er  schuf  auf  diese  Weise  eine  bezaubernde  Schöpfung  nach 
der  andern,  immer  leichter  und  leichter,  bis  er  die  Menschen 
verachtend  mit  ihnen  sein  Spiel  trieb,  Altes  für  Neues  gab, 
ganz  verschiedenartige  Stücke  zusanmienstückelte  und  flickte 
und  Kunstwerke  hervorzauberte,  die  durch  Sprache,  Styl  und 
leichte  Unterhaltung  entzückten,  bei  näherer  Betrachtung  jedoch 
Nebel  und  Dunst,  aber  keine  solide  Belehrung  gewähren,  weil 
sie  keinen  festen  Körper  haben,  den  der  Verstand  oder  das 
Gedächtniss  festhalten  kann.  Schiller  ist  feierlicher  und  ob- 
gleich er  keinem  System  huldigt,  positiver  Philosophie  zuge- 
wendeter als  Göthe  und  eher  geneigt,  den  deutschen  Geschmack, 

31» 


486 


einfache  Sätze  pomphaft  auszudrucken  und  den  Vortrag  etwas 
auf  Stelzen  zi>  stellen,  zu  befriedigen.  Er  kleidete  das  Resultat 
seiner  Philosophie  in  eine  poetische  Form  und  machte  gewisse 
Sprüche  und  Sätze  durch  den  Vers  behaltbar,  er  ward  also 
unmittelbar  Lehrer  der  Nation,  da  hing^en  Göthe  immer  nur 
mittelbar  lehrt^ 

12.     Was  Herr  Dr.  Zamcke  von  Andern  verlangt! 

Im  Literar.  Centralblatt  1851.  Nr.  15.  Sp.  244.  sagt  er  bei 
Besprechung  der  Bibl.  des  litt.  Vereins  in  Stuttgart  bei  Bd. 
XXI.  Meister  Altswert.  Herausg.  von  W.  Holland  u.  A.  Kel- 
ler (Stuttg.  1850). 

^Die  Herausgeber  haben  die  Orthographie  „gelegentlich" 
vereinfacht,  und  glauben  „eine  weitere  und  durchgreifende  kri- 
tische Textbehandlung  werde  bei  diesen  Denkmalen  ihnen  kaum 
jemand  zumuthen."  Uns  dünkt  es  aber  eine  sehr  gerechte  Zu- 
muthung,  dass  Herausgeber  nicht  Texte,  die  oft  bis  zu  gänz- 
licher Sinnlosigkeit  entstellt  sind,  in  aller  Verderbniss  mit  Haut 
und  Haar  wiederholen." 

Sp.  245.  bei  Bd.  XXIII:  Der  Ring  von  Heinrich  Wit- 
tenweiler.     Herausg.  von  Ludw.  Bechstein  (Stuttg.  1851.) 

„Dieses  bisher  unbekannte  Gedicht  aus  dem  15.  Jahrh. 
erinnert  durch  den  Kreis  seines  Inhaltes  an  das  ältere  Gedicht 
von  Meier  Betzen  Hochzeit:  es  ist  eben  so  ungeschlacht  im 
Ton,  in  der  Sprache  verwilderter,  aber  von  größerem  Umfange, 
viel  mannigfaltiger  und  merkwürdig  genug,  dass  seine  Bekannt- 
machung Dank  verdient.  Noch  größer  würde  dieser  Dank 
sein,  wenn  auch  hier  mehr  Mühe  an  die  Verbesserung  des 
schmählich  verderbten  Textes  gewandt  wäre.  Aber  alle  Fehler 
des  Schreibers,  die  erheblichsten  Sinnstorungen  und  kleine  Ver- 
sehen in  Menge,  die  man  freilich  aus  dem  Stegreif  verbessern 
kann,  sind  getreulich  wiederholt,  und  die  Anmerkungen,  welche 
die  Vorrede  nachträgt,  helfen  nur  einem  geringen  Theile  der 
Verbrechen  ab." 

Centralblatt  1851.  Sp.  863.  in  der  Rec.  von:  Reinfilt  von 
Braunschweig.    Von  Karl  Gödeke  (Hanover  1851). 

„Wem  die  ersten  Anfangsgründe  der  mittelhochdeutschen 
Grammatik  noch  nicht  geläufig  sind,  der  sollte  bescheidener 
sein  und  lieber  alle  Fehler   und   Ungenauigkeiten  einer  wenn 


487 


aach  schlechten  Hs.  abdrucken  lassen,  als  kritischen  Gelüsten 
nadihängen.^ 

13.  Scherenberg  und  sein  alter  Lobebärl     Mitgetbeilt 
von  Gustaf  Eschmann. 

Durch  Herrn  Scberenberg,  den  Poeten  von  Waterloo,  ist  un» 
serer  Sprache  eine  kostbare  Bereicherung  zu  Theil  geworden. 
In  seinem  Gedichte  ^Leuthen^  (Berlin  1852)  steht  S.  2i  zu 
lesen: 

Der  Würtemberg,  der  Brannschweig ,  der  Anhalt  -  Dessan ,  der 
Nie  aas  der  Richtung  konnte,  wie  sein  alter  Lobebär  ff. 

Auf  diese  Stelle  und  ihr  wahrscheinliches  Verhältniss  zur  er- 
sten Strophe  des  Nibelungenliedes  machte  schon  ein  Recen- 
sent  im  ^Archiv  fiir  das  Studium  der  neueren  Sprachen^  auf- 
merksam; ich  führe  eine  ähnliche  desselben  Verfassers  an,  die 
das  Kunstblatt  (1854.  Nr.  28  ^in  Album'O  ohne  irgend  wel- 
chen Anstoß  zu  nahmen  unbefangen  abdruckt. 

Aasgriff  der  Rath  znnächst  in  alle  Weisen, 

Das  alte  Schicksal  aller  Rathesherm, 

Verstieg  sich  in  die  rauhen  Reckenzeiten 

Und  derben  Spaße  dieser  Lobebär' n. 

^Die  sind  zn  grob!^  brummt  Solms,  selbst  bärenbeißig  .  .  .  . 

Das  letzte  Wort  erhebt  zur  Gewissbeit,  dass  Herr  Seh.  im 
mhd.  Adjectiv  lobebsere  (Müller  Mittelhochd.  Wörterbuch  1, 
1020)  unser  nhd.  Bär  erkennt.  Abgesehen  von  dem  überaus 
Lächerlichen  einer  solchen  Sprachschnitzerei  —  welche  Vor- 
stellung von  unserem  Epos,  dem  zur  Charakteristik  seines  edel- 
sten Helden  (denn  jene  bekannte  Stelle,  deren  sich  vermuthlich 
Hr.  Seh.  erinnert,  hat  doch  wol  zunächst  und  vor  Allen  Sieg- 
fried im  Auge!)  kein  besserer  Vergleich  als  mit  dem  ungefüg- 
sten aller  Vierfiißler  zu  Gebote  stünde! 

Wenn  Scherenberg  auch  zu  loben  war, 
Nie  wäre  zu  loben  sein  Lobebär. 

* 

14.  Der  Bischof   von   Leitmeritz    und    die    deutsche 
Litteratur. 

In  einem  Rundschreiben  des  Bischofs  von  Leitmeritz  zu  An- 
fange dieses  Jahres  heißt  es  unter  anderm:     ,,Es  lässt  sich  von 


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einer  weisen  Regierung  sicher  erwarten,  dass  das  Prinoipder 
Christianisierung  an  den  katholischen  Gymnasien  Oester* 
reichs  auch  in  den  deutschen  Lehrbüchern  gebührende 
Geltung  erhalten  werde,  und  dass  aus  dem  reichen  Schatze  der 
vorzüglichsten  katholischen  Schriftsteller  auch  reichhaltige  Pro- 
ben Torzugsweise  werden  geboten  werden;  es  lässt  sich  erwar- 
ten, dass  auch  die  ergreifenden,  erhabenen,  wunderbaren  Kir- 
chenhymnen einen  vorzüglichen  Platz  in  dergleichen  Sammlun- 
gen finden.  —  Was  von  den  Dichtern  gilt,  gilt  auch  von  den 
Prosaikern.  Mit  den  vortrefBichen  katholischen  Geschichts- 
schreibern, z.  B.  Stolberg,  Jarke,  Phillips  etc.,  soll  unsere  ka- 
tholische studierende  Jugend  vertraut  gemacht  werden,  weil 
sie  da  eine  echt  christianisierte  Geschichte  nach  der  Wahr- 
heit erhält.  —  —  Man  möge  sich  nicht  tauschen  I  Die 
protestantische  deutsche  Litteratur  hat  im  Allgemeinen  einen 
kirchlich -religiösfeindlichen  Character  schon  seit  längerer  Zeit 
angenommen.  Wieland^s  Werke,  Göthe^s  Romane  und  die  mei- 
sten seiner  Dramen,  Lessing'^s  Nathan  u.  A.  werden  von  kri- 
nem  Gymnasialschüler  ohne  Nachtheil  gelesen  werden.  Bei 
diesem  Stande  der  Sachen  ergeben  sich  für  die  Lehrer  der 
deutschen  Litteratur  die  wichtigsten  Pflichten.  Sie  müssen  im 
Allgemeinen  die  ganze  Litteratur  mit  katholischem  Auge 
und  in  katholischem  Geiste  ansehen  und  prüfen,  müssen  be- 
züglich jedes  Schriftstellers  und  Werkes  sich  die  Frage  steUen: 
was  würde  die  heilige  Kirche  hierüber  urtheilen?* 


DcQck  der  Hof- Buchdrücke rei  in  Weimar. 


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