Skip to main content

Full text of "Werke;"

See other formats


3 1761 04457 2782 


—— 
— *— 
— ⸗ 
— — 
— 
— — 
— — 
— 
— — 
— — 
— — 
— 
— 





FE 12 97 5 We) 


ee te te 














BUN RT IR VEN a A, ur 


or 
TORDOWIG SEN 
J = N met 





KU 
ww 


en Par, 


— 


—B 


— 
ER) N 
— 


* 


Nr) 1 
— NER — X TARIFE 
— — — — 


[7 AN 


er 


I 
*— aan 


RUN 
0 . J — ® 


—2 


* er 


17 F S > NN 


— — Ss — 2* 
< B (2 \ — Ar _ Ne [ ’ W 
F 


ne» 


n 2 
er * 





* A 
. 2 
—* 
—X = 
* 
* Min 2 Bi. > g 
* 
jo > } 4 2 * da 
9 “m: * Ye 
% ’ * — * 
* * = * ni — m 
; 2 "n 
t - — r x 
- > en 8 J— J * 
+ r PR = A en * u 8 
1 *· — * * F} FR r 
£ * er — — 
Pr. * Ar I: W * 
3— a ' . * 64 ‚ 
* 7 * 
F * 
⸗ "Ti 
pP *8 2 * 
- u; 
x 2 * 
> ‚ m. 





zn 


2 
2 ! 


UÄLZIUED 
ÄN 
Fr —. 


— 


Rx 
un 


X 


— 


S 


>.“ 
A) 


> 


EN 
— — 


— 
EN 


* 
SZ 


S : 


— 


X 


AT / 
NER 


6 


INT 


— 


— 
— 
TED 


nenne 
5 
ae 
5 








[/ 


N 
) 6 B 

‘ > JJ | 

[4 | # | j > i 
an 


N 172 
—— 
ar nn”. 


en 
II:E 


4 
* 


FA S 
SED: 
ER FI 


= 


[3 
— 


Pod IN 
2 


IL 777 X 
> 


ER, 
. 
— UN 


— 
⁊ 


8 


— 
=> 
— — 8 


en 
en 


=@ 
nt ST 


Fun — 
| DIETZ 
5 * © ®= 
ae en 
- = b * J 





J 


. ‚ Sin 
> - 4 
* WR“. E 
eitulute Eee 7 * 


“ e 
ö * ES Euer v te" Sn EEE 5 
ö “ » u U, £ % ur, a N * m — Be e — er p 
£ — * Q ü 1 RE Te DE Te Aa — — —— A Te a ee un SE er — * BER neh, — * — nn 
— —— aa en lee ** — au ehe Te De aan ln a m NE eg ee ne N ? . ni i 
x p Ss N * u. —— 63 Kar, 22 RE ie en aa nie le ee ae ae ee nenne —— — Pe —6 ev 4 
* De EN — nen . : - | | 
s u ” . u 2 s \ 4 . . s y N | | | 
5 { | 
ü r Fr h - A Er AM 7 
= \ “ - . 5 , r ’ u i 





Chamillos Werke, 


Eriter Band. 





Mevers Klafliker-Ausgaben 


herausgegeben von Prof. Dr. Ernit Eliter. 


Digitized by the Internet Archive 
in 2011 with funding from 
University of Toronto 


http://www.archive.org/details/werkecha01cham 








| — 
— 
AL 


LG 
.. CAABST 


WV 


x. 


Chamilios Werke. 


Herausgegeben 


von 


Dr. Hermann Tardel, 


Kritifch durchgefehene und erläuterte Ausgabe. 


Eriter Band. 








Leipzig und Wien. 
Bibliograpbilces Inftitut. 









Ü) ⸗ * 














N. Alle Rechte vom Verleger vorbehalten. 





Vorwort. 


Be war man faſt ausſchließlich auf die von Max Koch beſorgte, 
ſehr vollſtändige Ausgabe der „Werke“ Chamiſſos im Cotta— 
ſchen Verlage angewieſen. Für die „Gedichte“ und den „Peter Schle— 
mihl“ ſtand außerdem noch Oskar Walzels mit einer ausführlichen 
Biographie verſehene Ausgabe in der Kürſchnerſchen „Deutſchen Na— 
tional⸗Literatur“ zu Gebote. Koch hat die Geſamtmaſſe der Gedichte 
in den beiden erjten Bänden feiner Ausgabe einer neuen Anordnung 
unterzogen, die unhaltbar ijt, weil ſie hronologifche und ſyſtematiſche 
Einteilungsgründe unorganifch vermiſcht. Walzel hat hingegen die 
urfprüngliche Gruppierung der „Gedichte“ beibehalten und den erjten, 
freilich noch recht lückenhaften Verfuch einer a und erege- 
tiihen Behandlung gemadt. 

Die vorliegende Ausgabe, eine gänzliche Neubearbeitung der 
früheren von Heinrich Kurz herausgegebenen, folgt, den Grundjäßen 
der „Klaſſiker-Bibliothek“ entjprechend, gleichfall3 den vom Dichter 
bejorgten Ausgaben letzter Hand. Bei den dichteriichen Werfen der 
beiden erjten Bände wurde nach möglichiter VBolljtändigfeit gejtrebt, 
indem ſowohl diejenigen Werke, die Chamiſſo und fein eriter Heraus- 
geber Friedrich Palm von der Gefamtausgabe ausgeichloffen Hatten, 
wie auch diejenigen, die fpäter an zeritreuten Stellen veröffentlicht 
wurden, in dieſer Ausgabe Aufnahme fanden. Im dritten Bande 
mußten jedoch beit dem Abdrucd der „Bemerkungen und Anfichten‘ 
zur Weltreife, einer vorwiegend wiljenjhaftlichen Schrift, einige Kür— 
zungen vorgenommen werden. Wenn diefe Ausgabe al3 eine „kritiſch 
durchgeſehene“ bezeichnet wird, jo bezieht fich dies auf die Prüfung des 
Textes an der Hand der älteren, zum Teil ſchon jehr felten geworde- 
nen Ausgaben. E&3 ergab jich dabei, daß der im ganzen fejtitehende 
Text Chamifjos doch ſchon in den neueren Ausgaben verjchiedene will- 
30 Fürliche Änderungen erfahren hat. Eine vollfonmen kritiſche Ausgabe 

5* 


an 


1 


o© 


1 


ot 


2 


Oo 


2 


or 

















Vorort. 








zu bieten, die die Durchſicht des noch in Privakbeſitz befindlichen 


Nachlaſſes des Dichters zur Vorausſetzung gehabt hätte, lag bei der 
furzen, dem Herausgeber zur Verfügung jtehenden Zeit außerhalb der 
Möglichkeit. Das Hauptgewicht wurde auf die Einleitungen und die 
Kommentierung gelegt. Die Biographie betont unter anderem, mehr, 
als das bisher geichehen ijt, den Rouſſeauismus in der Natur Cha- 
mijjos. Die Literarhiftoriiche Würdigung der Lyrif des Dichters hebi 
den meijt unterfhäßten Einfluß der franzöfiichen Literatur jtärfer her- 
vor, die äſthetiſche Abſchätzung jucht die hergebrachten Vorurteile ge- 
gen Chamiſſos Darjtellung des Graujigen und Häßlichen auf das 
richtige Maß zurüczuführen. Die Fußnoten beihränfen ſich inı erjten 
Band auf das Notwendigite, im zweiten Bande treten fie wegen der 
vielen Anfpielungen auf Rerjönlichkeiten und Zeitverhältniffe reich- 
fiher auf. Die rein wijjenichaftlichen Schlußanmerkungen, die für 
die beiden erjten Bände am Schluß des zweiten vereinigt wurden, 
mußten ſich der gedrungeniten Stürze befleißigen. Ich behalte mir aus— 
drücklic) vor, was an neuen Materialien meijt nur durch furze Hin- 
weife angedeutet wurde, in bejonderen Abhandlungen auszuführen. 


Wenn ich mir auch bewußt bin, in den vielen, der Beantwortung harren= - 


den Fragen einen Schritt vorwärts getan zu haben, fo weil ich doc 
jehr wohl, wieviel noch zur allfeitigen Aufhellung zu tun übrigbleibt. 

gu bejonderen Dank bin ich Herrn Prof. Dr. Koßmann im Haag 
verpflichtet, der mir auf wiederholte Anfragen bereitwilligite Auskunft 
zuteil werden ließ. Ebenſo fehulde ich dem Leiter der Handichriften- 
Abteilung der Königl. Bibliothek in Berlin, Herrn E. F. Stern, Dank 
für die Erlaubnis, einige bisher unbekannte Gedichte und Briefe 
Chamiſſos aus den Handjchriftlichen Schägen der Königl. Bibliothek 
veröffentlichen zu dürfen. Herr Prof. Dr. Bernhard Suphan hatte die 
sreundlichfeit, auf den im Goethe-Schiller-Archiv zu Weimar befind- 


25 


lichen franzöfiichen Brief Chamiſſos an Goethe aufmerkſam zu machen 30 


und feine Fakſimilierung zu geitatten. 


Bremen, DOftober 1907. 
Hermann Tardel. 


6* 





Vor * — Aut a re m 
— and — ⸗ 


Uwe A —* — 
fl m es > ih ago, 
— — N, 
1 P WEL me — 
* fr nllmift pi # ulm nm ı : 
7 füyfif vorn di Gig Ierifl 53 Aeiffer d- 
# 2 ag, VRR RS. min) if, Üfopecft Per 
re a a 


rm Machen Bag nf, ih a 
Und Bye die . Mer In Gent In Kahn! 


ID bet w FB. 
— 








1 


2 


B, 


ar 


0 


or 


oO 


or 


Chamillos Leben und Werke, 


Franzos an Blut und ritterlichen Feuer, 
Ein Deutjher an Gemüt und zartem Sinnen, 
So durften wir al3 unſer dich gewinnen, 
Du löwenmähnig Haupt, uns doppelt teuer. 


MH diefen Worten Hat Paul Heyfe in feinen „Dichterprofilen” 
den Schöpfer des „Schlemihl” und den Sänger von „Frauen— 
Liebe und -Leben” gezeichnet. Die glüdliche Bereinigung franzöfiichen 
und deutſchen Wejens it in der Tat der Angelpunft von Chamifjos 
Charakter und Iiterarijcher Stellung. Im allgemeinen dürfen wir wohl 
mit Heyfe in jeinem jtarfen Temperament mehr den Franzofen, in 
jeiner Gemütstiefe mehr den Deutichen erbliden, doc auch dem Fran- 
zofen in ihm fehlte es nicht an dem, was wir Gemüt nennen; das 
angeborene franzöfiiche „sentiment“ erhielt aber im Laufe der fich 
auf deutſchem Boden vollziehenden Entmwidelung des Dichters immer 
mehr eine deutjhe Färbung. Denn jchon feine Geburt und die 
eriten Kinderjahre hatten über fein Naturell entjchieden. Seine Wiege 
ftand in der Champagne. Er nannte fich gern einen Champenois 
oder Champagnard, um anzudeuten, daß er fein rajjenreiner Voll⸗ 
blutfranzoje war. Die Bewohner des öftlichen Frankreich ftehen im 
Gegenſatz zu den keltiſchen Bartjern von jeher vem germanischen Weſen 
durch Grenzbeziehungen und Rafjenmiihung nahe; fie beſitzen eine 
geringere phyſiſche und pſychiſche Beweglichkeit al3 die eigentlichen 
Franzoſen, aber dafür einen größeren Lebensernit. In dieſem oit- 
franzöfifchen Charakter liegt auch der Keim von Chamiſſos Perſönlich— 
feit, von hier aus bildet fich jeine ernſte Biederfeit und grundehrliche 
Geſinnung, die Weichheit feines Empfindens und der Hang zur Träu— 
merei und Schwermut, auch die Heftigfeit jeines Wejens neben 
äußerer Unbeholfenheit und Verjchlofjenheit. Dieje Anlagen befähig- 


WE 


Chamifjos Leben und Werle. 


ten ihn, als ihn das Geſchick aus den fejten Wurzeln der heimatlichen 
Erde losriß, deutſche Eigenart in feltenem Maße in ſich aufzunehmen, 
aber nicht ohne fortgejette Kämpfe und Hemmungen. 


Jugend. 

Das Geſchlecht der Grafen von Chamiſſo gehörte urſprünglich 
dem lothringiſchen Adel an. Der älteſte, in einem Kaufkontrakt von 
1305 genannte Ahnherr, Gérard de Chamiſſot, führte ſchon das 
Wappen der Familie: ein ſilbernes Schild mit fünf Kleeblättern 
und zwei nach unten gewandten Händen, geſtützt von einem ſtehen— 
den und einem ruhenden, halb verdeckten Löwen, darüber eine fünf— 
zackige Krone. Er hieß Sires et Chevaliers de la Chatellenie de 
Chamissot nach einer nicht mehr vorhandenen Ortſchaft Chamiſſot, 
die unter dem Namen Cambisonum, d.h. Chameffon-fur-Geine (einem 
ehemaligen Ort bei Chatillon-fur-Geine), in einer Urfunde Karls des 
Großen al „palatium regis‘“ aufgeführt wird. Die Familie war 
durch großen Grundbefis, treue Anhänglichkeit an ihre Lehnsherren, 
die Herzoge von Lothringen, und durch vornehme verwandtichaftliche 


or 


10 


15 


Beziehungen ausgezeichnet. Geit etiva dem Ende de3 17. Jahrhun- - 


dert finden wir die Samilie in der Champagne auf dem Stammſchloß 
Boncourt, bei Vieildampierre an der Aube (Departement Marne), 
nicht weit von Sainte-Menehould. Der Großvater des Dichters, Robert 
Louis Hippolyte, erhielt von dem Marfchall von Billard, wahrjchein- 
lich am Vorabend der Schlacht von Gtollhofen, wegen eines Fühnen 
Adjutantenritt3 durch da3 feindliche Lager den Degen des Marjchalls 
als Ehrengeſchenk. Der Vater de3 Dichter, Louis Marie Comte de 
Chamifjo, Bicomte d'Ormond, Geigneur de Boncourt, Magnieur ꝛc., 
mar im Sahre 1792 Oberftleutnant und Adjutant des Marſchalls von 
Broglie. Des Dichter? Mutter hieß Marie Anne Gargam. Die Ehe 
wurde mit fünf Söhnen und einer Tochter gejegnet, als vierter Sohn 
wurde im Sahre 1781 der Fünftige deutfche Dichter in Boncourt ge- 
boren. In der Taufe erhielt er am 31. Januar die Vornamen Louis 
Charles Adelaide, über ven Tag feiner Geburt ſchwanken die Angaben 
zwiſchen dem 27. und 30. Sanuar; er felbft befaß jedenfalls fein amt- 
ih beglaubigte Zeugnis darüber, und dies veranlaßte ihn, als er 
während der Weltreife am Kap Bittoria feinen Geburtstag feierte, 
im „Tagebuch“ diefer Reife fcherzhaft zu bezweifeln, ob er überhaupt 
8* 


20 


[IS] 


5 


so 


0 


co 
—* 


1 


1 


2 


2 


3 


oa 


oO 


or 


0 


5 


=} 


Familie, Eltern, Jugenderinnerungen. 





geboren jei.! - Über den Einfluß de3 Elternhaufes auf ihn und über 
feine früheften Zugendeindrüde find mir nur dürftig unterrichtet. 
Seiner Mutter gedenkt er mehrfach mit den liebevollſten Worten, be- 
Hagte aber fpäter al3 echter Roufjeau-Schwärmer, daß er nicht von der 
Bruft der Mutter genährt worden ſei, da jte feins ihrer Kinder jelbit 
geftillt Habe. Die erſten Kinderjahre boten ihm nur trübe Erinnerungen. 
Da jeine Brüder Hippolyte, Prudent und Charles bereits erwachſen 
waren , fo war er mit feiner nur ein Fahr älteren Schweſter Louiſe 
meiſtens in die entlegene Kinderſtube verbannt und einer zwar ehr- 
lichen, aber unwiljenden, überftrengen und abergläubiichen Erzieherin, 
einer Madame Campieu, anvertraut, die oft in ihm daS bittere Gefühl 
ungerechter Behandlung erweckte. Seine Schweiter bezeichnete den 
Bruder al3 einen nachdenflihen, wortfargen Knaben, der fich gern 
bon den Genofjen abjonderte, um finnend feinen eigenen Weg zu 
gehen, und er jelbit erfannte nachmals in feinem vierten Sohn, einem 
zarten, ſchweigſamen, verichloffenen Kinde, das Abbild feiner Jugend. 
Mochte auch die majeſtätiſche Ruhe in den Hallen des väterlichen 
Schloſſes mit dem Burghof und der Kapelle, den alten Waffen und 
Gräbern der Ahnherren die Phantafie de3 Knaben in die Bergangen- 
heit zurüdlenfen, die Einfamfeit de3 Landlebens fernab von dem Ge- 
triebe der Stadt und der Ausblid in die weite hügelige Landichaft der 
Champagne wiejen ihn frühzeitig auf die Beobachtung der ihn um— 
gebenden Natur. Er jelbit hat jpäter befannt, welchen unbefchreiblich 
geheimnisvollen Reiz das Leben und Weben in der Natur, fogar das 
Summen eined Inſektes und die Pracht einer Blume auf ihn aus- 
übten, wie er lange Gemitternächte ausjchauend am offenen Fenfter 
durchwachte, wie jich feine Findlichen Spiele auf phyfifaliiche Erperi- 
mente und das Ergründen natürlicher Geſetze richteten. Er hätte, 
meint er mit einer in Hinblid auf feinen jpäteren Beruf vielleicht 
nicht allzu ftarfen Hhperbel, ein Buffon werden können, wenn ihm 
nur die richtige Anleitung zuteil geworden märe. 

Der Knabe war neun Sahre alt, al3 die rauhe Hand des Schid- 
ſals zu dem furchtbaren Schlage ausholte, der ihn für immer aus der 

1 Chamifjo wird jeinen Namen, auch fpäter in Deutſchland, nad franzöſiſcher 
Art (Chamiſſo) ausgefprochen haben, was uns indes nicht hindern darf, die in 
Deutihland übliche Ausſprache mit der Kürze des Vokals i und der ftarfen Betonung 


der zweiten Silbe al3 maßgebend anzuerkennen, weil fie eine gute Affimilation des 
franzöfifhen Namens daritellt. 


9* 


Chamifjos Leben und Werle. 





Bahn normaler Entwidelung herausriß. Die Revolution erhob ihr 
drohende3 Haupt gegen den König, den Adel und die Geiftlichkeit. 
Um das Jahr 1790 mußte die Familie eiligjt fliehen, um nur das 
nackte Leben vor den NRevolutionshorden zu retten. Das Schloß ward 
geplündert und dem Erdboden gleichgemacht, auch das wertvolle Fa- 
milienandenten, der Degen des Marſchalls von Villars, ging dabei ver- 
foren. Die fat an den Betteljtab gekommene Familie ward zeritreut. 
Hippolyte und Charles traten als Pagen in die Dienjte des unglüd- 
fichen Königs Ludwig XVI. und wurden nach dejjen Hinrichtung Dffi- 
ziere im Emigrantenheere. Die Jrrfahrten der übrigen Familie laſſen 
ih nicht genau verfolgen. Wir finden fie gegen Ende des Jahres 
1792 einmal in Quremburg, in den Sahren 1793 und 1794 in Lüttich 
und im Haag, ganz abhängig von dem wechjelnden Kriegsglück der 
Belgien überſchwemmenden Heere der franzöfiihen Republik. Nach— 
dem die beiden älteren Söhne fich in Düfjeldorf wieder mit der Familie 
bereinigt hatten, wandte man ſich in den Sahren 1794— 95 nad Würz- 
burg, dann nad) dem damals preußischen Bayreuth. Hier bejchäftigte 
ſich Adalbert nach dem Beijpiel der älteren Brüder viel mit Miniatur- 


malerei und erlangte eine gewiſſe Kunjtfertigfeit darin, jo daß er- 


jpäter jein ſpärliches Zeutnantsgehalt durch Jlluminieren von Kupfern 
aufbejjern fonnte, wie ihm denn in der Folge jein zeichneriiches Ta- 
lent auch bei botanischen und mikroſkopiſchen Arbeiten jehr zu jtatten 
fam. Wie wenig wählerijch man in der Berufswahl der Söhne war, 
bemeijt eine Briefitelle: „US Graf von Chamifjo zu Boncourt ge- 
boren, fomme ich nach Würzburg, mo man beratjchlagt, ob man mich 
zum Tiſchler machen ſoll; ftatt dejjen werde ich wohldrefjierter Blu- 
menverfertiger und Verkäufer zu Bayreuth; dann erpediert man mid) 
al3 Porzellanmaler nach Berlin.“ 

In der preußischen Hauptjtadt konnte fich die Familie endlich eine 
gejichertere und jtandesgemäße Stellung erringen. &3 gelang, Adal- 
bert die Stelle eines Pagen bei der Königin Friederike Luiſe, der 
Gemahlin König Friedrih Wilhelms IL, zu verichaffen, die er im 
Mar 1796 antrat. Wenn e3 in dem darauf bezüglichen Geſuch an den 
König von Adalbert hieß: „Il peut encore entrer dans la carriere 
qu’ont tous suivi ses peres, manier une &pee pour servir ses rois“, 
jo wurde ihm damit ohne Rückſicht auf feine Neigung und Fähigkeiten 
die für fein Naturell ungeeignetjte Laufbahn, die militärische, durch 

10% 


Oo. 


— 


0 


— 
or 


1%) 
[art 


10 


15 


20 


25 


35 


Flut; Deutſchland (Berlin). 


den Zwang der Umstände zugewiejen. Die Familie verkehrte in den 
Kreifen der franzöfiichen Kolonie, der Diplomatie und der jüdiſchen 
Finanz und erlangte auch Zutritt bei Hofe. Jetzt fonnte die bisher 
vernachläffigte Erziehung Adalberts jchneller gefördert werden. Durch 
die Fürſorge der Königin erhielt er zuerjt Privatunterricht und nahm 
darauf vom Herbſt 1796— 98 an einzelnen Unterrichtöftunden am 
Franzöſiſchen Gymnafium teil. Franzöſiſche Aufſätze geographiſchen 
und geſchichtlichen Inhalts ſowie ein ſauber ausgearbeitetes Namens— 
verzeichnis zu Ovids „Metamorphoſen“ ſind im Nachlaß erhalten. Aus 
der Feder ſeiner ſpäteren Freundin Helmine v. Chézy, der Urenkelin 
der Karſchin, beſitzen wir eine reizvolle, wenn auch frauenhaft über— 
ſchwengliche Schilderung des Pagen Chamiſſo: „Schlank und zierlich, 
ein mädchenhaft feines Geſicht, wie ein Frühlingstag, weiß, roſig, mit 
feinem, wunderkleinem, ſanftgeſchwelltem Purpurmunde, bläuäugig 
und goldumlockt; die gediegenen Locken ſtäubten wie unwillig den 
Puder von ſich weg, das knappe, halbbetreßte Scharlachkleid ſchien 
zwei Cherubsflügelchen zu verſtecken, denn nach denen ſah ſich um, 
wer dies Angeficht ſchaute. In Peruginos Engeljcharen find jolche 
Köpfe, erniter und inniger als jelbjt die von Raphael... Adalbert 
ſprach damals noch wenig Deutſch, um fo mehr überrajchte es mich, 
al3 er mir einjt eine Abjchrift von Schiller „Ehret die Frauen“ über- 
reichte; er hatte e3 jo zierlich gejchrieben wie die Natur feiner Geficht3- 
züge. Später verlor fich aus jeiner Handjchrift wie aus jeiner Erjchei- 
nung diejer Frühlingsſchimmer holder, blühender Bierlichkeit, aber er 
flüchtete ſich unverleßt in jeine Geele zurüd; dieſe wie jein Herz blieb 
Kind und Engel.” Kommt hier mehr der Liebreiz feiner äußeren Er- 
ſcheinung zur Geltung, jo erfahren wir aus dem Anfang einer Schul- 
prüfungsrede, daß unter diefem glänzenden Pagenkleid jchon tiefe jee- 
liche Erregungen verborgen waren: „Enveloppe des mes plus jeunes 
ans dans les malheurs de la France, à peine je connus la terre na- 
tale; un exil rigoureux fut le partage de ceux dont le sang avait 
coule pour la patrie, ce fut celui de ma famille, ce fut le mien. J’ai 
connu l’infortune, errant de ville en ville, de terre en terre, sans 
liens, sans patrie, presque sans esperance, ce dernier soutien du mal- 
heureux, a peine jouis-je quelquefois du bonheur d’&tre utile aux 
auteurs de mes jours. Suivant leur sort, attache à leurs pas j’ai 
parcouru le Brabant, la Hollande, ’empire; partout l’image du mal- 


14? 


- Chamifjo8 Leben unb Werke, 


heur s’est pr&sentee à mes yeux.“ In diejen Sätzen liegt jchon etwas 
mehr al3 die bloße Nhetorif des Franzoſen, e3 ijt der natürliche, 
ichmerzbemwegte Künftlergeift des Verbannten, e3 iſt wie der elegifche 
Ton feiner fpäteren Lyrik. Die Rede ſchließt mit den Hoffnungzfrohen 
Worten, daß er in den Staaten des Königs von Preußen ein neues 
Baterland gefunden habe. Der Übergang vom Pagen zum Offizier 


geftaltete fich leicht. Nachdem er den Vorlefungen an der Militär- . 


afademie beigemohnt und dem König Friedrich Wilhelm ILL. die pflicht- 
mäßigen militärischen Übungsarbeiten überreicht hatte, wurde er am 
31. März 1798 zum Fähnrich beim Regiment v. Götze in Berlin er- 
nannt. Nach faft drei Fahren wurde er im Alter von 20 Jahren Leut- 
nant in demfelben Regiment mit vem Patent vom 29. Januar 1801. 
AS inzwiſchen Napoleon I. ven Emigranten die Rüdfehr nad) Frank 
reich geftattet Hatte, bejchlojjen die Eltern Chamiffog, in die Heimat 
zurüczufehren, und löſten den Berliner Haushalt im Februar 1801 
auf. Nur Adalbert und fein jüngerer im Potsdamer Kadettenhaus 
erzogener Bruder Eugene blieben in wenig beneidensmwerter Lage 
zurüd. Wohl fühlte Adalbert, daß dieje vielleicht Tebenslängliche 
Trennung von den Eltern zu den ſchmerzlichſten Augenbliden feines 
Lebens gehörte, wohl erfaßte ihn zumeilen Heimmeh nad) der hei- 
matlichen Scholle und dem Schloß feiner Väter; jo heißt e3 einmal in 
einem Brief an die Schweiter: „Neulich malte ich mir den Garten im 
Gedächtnis bis in die Heinjte Krümmung der entferntejten Alleen, bis 
auf den unbedeutendften Strauch, und meine Einbildungskraft wurde 
jo lebhaft, daß fie mir mit der größten Beltimmtheit alle diefe un- 
beachtet gebliebenen Einzelheiten vorführte. Sch war wie außer mir.” 
Uber er wußte fich in ftiller Wehmut ohne unmännliche Klagen in 
da3 Unvermeidliche zu fügen. 


Offizier und Dichter. 


Varnhagen von Enſe Hat uns den Leutnant Chamifjo gejchildert: 
in Sprache, Sinnesart und Temperament fonnte er den Franzojen 
in feinem Zuge verleugnen; nur haftete ihm eine ſonſt unfranzöfifche 
Ungejchidlichfeit der Bewegung an, jo daß ihm feine langen Beine, 


oa 


— 


0 


- 


5 


20 


— 


5 


— 


0 


die fnappe Uniform, der Hut und Degen, der Zopf, der Stocd und die - 


Handſchuhe oft Argernis bereiteten. Er hatte fichtlich ſchwer mit der 
deutſchen Sprache zu kämpfen, aber er radebrechte fie mit einer Art 
12% 


35 


or 


- 
o 


- 
or 


2 


2 


3 


3 


oO 


or 


o 


or 


Abneigung gegen den militärischen Beruf. 


von Meifterichaft und Geläufigfeit. Anfangs widmete er jich dem 
eines franzöfiihen Edelmannz jo würdigen militäriichen Beruf mit 
entichiedenem Eifer, bald aber erfannte er, was für ein Unterfchied es 
it, ob man dem angejtammten oder dem adoptierten Vaterland jeine 
Dienfte leiht. Das dem Dffizierjtande fo ſehr eignende Fameradichaft- 
lihe Gefühl bildete fich bei ihm nicht heraus, da er, al3 Ausländer 
oder „Franzos“ über die Achjel angejehen, bald die Kühlung mit den 
Dffizieren feines Regiments verlor. Als unbemittelter, nur auf feine 
färgliche Gage angemwiejener Leutnant mußte er jich in der gejelljchaft- 
lihen Repräfentation und in allen Lebensgenüſſen die äußerite Ein- 
ichränfung auferlegen und Hinter den Kameraden zurüdjtehen. Der 
Rekrutendrill und der Wachtjtubendienft fagten ihm ebenjowenig zu 
wie der Zwang und die Unterordnung des militärischen Lebens. Der 
Niedergang des preußiſchen Heerweſens entging ihm nicht, und er be- 
Hagte ihn jehr. So machte er denn feinem gequälten Herzen in den 
franzöfifch gejchriebenen Briefen an die Eltern in erregter Schroff- 
heit Zuft. Als feine Schweiter im Begriff ftand, ſich zu verloben, 
malte jich feine erhißte Phantafie aus, welchen Beruf ihre Kinder der- 
maleinft in der Welt ergreifen könnten; nie jollten jie dad Militär- 
handwerk betreiben, „denn“, fchreibt er im Mai 1800, „es verdorrt den 
Geiſt und tötet das Herz; drehe ihnen lieber den Hal3 um, wie in Lafe- 
dämon, aber mache feine preußifchen Soldaten daraus. Wohl it es 
eine jhöne Sache, Soldat für jein Vaterland zu fein, an der Grenze 
zu fallen, fein Zeben in der Mitte von bejiegten Feinden feines Vater— 
landes zu verlieren; aber dieſes Leben, liebe Lieje, zu verkaufen um den 
Preis von 8 Tr. 2 Sgr. monatlich, dag ift ein ſchändliches Metier”. Der 
leßte Grund dieſes aus tiefiter Seele empordringenden Aufjchreis eines 
in Ketten gejchlagenen Jünglings war, daß die in ihm fchlummernden 
Geiltesfräfte aus den einengenden Formen des Militarismus heraus 
nach freier Entfaltung rangen, denn diefer ftrebfame Leutnant benußte 
jede Mußeftunde, um ſich in Literatur und Philoſophie auszubilden. 

Er lief zunächſt, um feinen Lieblingsausdruf zu gebrauchen, 
ven Philofophen durch die Schule. Er las neben Voltaire, Diderot 
und Helvetius vor allem Roufjeau. Durch feinen Lehrer und Gönner 
Erman wurde er in die Kantiihe Philojophie eingeführt, wohin ihn 
auch Schillers philofophiiche Gedichte wieſen — er empfiehlt einmal 
jeinem Bruder, Schillers „Ideale“ al3 einen Brief von ihm zu leſen. 

13* 


Chamiſſos Leben und Werte. 





Dies Studium erfchütterte aufangs feine bisherige pofitiv-fatholifche 
Überzeugung vollfommen, verhalf ihm aber bald nad) inneren Selbjit- 
fämpfen zu einer geläuterten, fejten Anfchauung. Das Glaubenz- 
bekenntnis de3 Vicaire savoyard in Roufjeaus „Emile“ gab ihm den 
Frieden der Seele wieder. Aus ihm lernt er die Grenzen menſch— 
lichen Erkennens und die größte Duldſamkeit gegen alle Befenntnifje 
und Anjchauungen, jo daß ihm der reine Dogmatismus als närriſch, 
die kirchliche Intoleranz al fanatijch erjcheint. Die Planfe, die ihn 
aus dem Widerftreit der Meinungen, aus dem Bruch mit feiner an- 
erzogenen Religion rettet, iſt die Moral, die er unauslöfchlich im 
Grunde jeines Herzens eingejchrieben findet, die um fo feiter gegrün- 
det ift, al3 fie nicht mehr auf bloßen Dogmen und Prinzipien beruht. 
Sm diefer Überzeugung findet er in der Morallehre Kant eine neue 
fefte Stüße, und deshalb fieht er auch in dem Schluß von Schilier3 
„Refignation” einen Troft, eine Erhebung. Er befeftigt jich jchnell in 
diefen Anfchauungen, jo daß er den Materialismus und die joziv- 
logische Moral des Helvetius in einem fpäteren Brief an feinen Freund 
de la Foye mit aller Entjchiedenheit ablehnt. Diefe in der Jugend ae- 
wonnenen, an einzelnen Stellen des „Fauſt“, in „Adelberts Fabel” 
und im „Schlemihl” wiederkehrenden Anjchauungen begleiten ihn fein 
ganzes Leben hindurch, und je feiter ſie jein innerjter Beſitz wurden, 
um jo weniger liebte er e3, Darüber zu reden und zu jtreiten. 
oc) jtärfer als die religiög-philofophiiche 309 ihn die allgemeine 
kulturelle Seite der Rouſſeauſchen Weltanſchauung mit dem Sclag- 
wort de „„Retournons à la nature!“ an. Er, der auch im gejchniegel- 
ten Leutnantsrock Naturburſche geblieben war und in den gejelljchaft- 
lichen Formen und Berjtreuungen der bevorzugten Klafjen nur ein 
Zeichen innerer Hohlheit erblickte, empfand bitter den unausge- 
glichenen Gegenjas von Freiheit und Zivang, von Natur und Kultur. 
„Glaub' mir”, jchreibt er an die Schweſter, „daß ich für alle ihre Ge- 
jellichaften die wohltuende Wärme des Sonnenjtrahles in den eriten 
Srühlingstagen Hingäbe, daß ich das wunderbar wechjelnde Schaufpiel 
der Natur, welches denen unbefannt bleibt, die es nicht mit meinem 
Herzen zu genießen willen, allen ihren Redouten und Feiten vorziehe.“ 
Er jehnt fich fort aus den Paläſten der Reichen in die bejcheidenen 
Hütten der Armut, denn frei ift auch der Reiche nicht, jondern nur der, 
der von jeiner Hände Arbeit lebt — das ift ſchon ganz die Moral arbeit- 
14* 





DD 
© 


= 


0 


8 
[Si 


or 


je 
o 


- 
or 


20 


2 


3 


3 


or 


oO 


or 


Philofophifhe Studien. Einfluß NRoufjeaus. 


famer Genügſamkeit, , wie fie ſpäter in vem Gedicht „Der neue Dio- 
genes“ an einem bejtimmten Beiſpiel ausgejprochen wurde. Geine 
lebendige, Luftſchloß auf Luftſchloß türmende Phantaſie gaufelt ſich 
die ſchönſten Zufunftsbilder vor und malt jich ein idylliſch-utopiſtiſches 
Dafein aus: „Glücklich“, meint er, „wer im Frieden von der Milch 
jeiner Ziegen lebt." Aber jeine Natur ift fchlieglich Doch zu urwüchſig, 
um fich von diefen Hirngefpinften umſtricken zu laſſen: „Wenn ich nun 
auch mit Wohlgefallen einige Augenblide phantafieren kann und mich 
ganz und gar einigen Extravaganzen hinzugeben jcheine, jo rufen mich 
doch meine Feſſeln bald zur vollen Erfenntnis der Wirklichkeit zurück. 
Ich fage mit mehr Demut al3 Stolz, ich glaube nicht, daß dieſe Ideen 
mich jemals zu irgend welchen Torheiten hinreißen können.“ 

E3 war nur natürlich, daß jeine Phantaſie bald einen erotischen 
Flug nahm, war doc jeine Mutter ſchon eifrig bemüht, ihm eine 
pafjende Bartie in Frankreich auszufuchen. Der Roufjfeau-Schwärmer 
geht auch in der Liebe von einem Idealbild aus, und, jeiner Abneigung 
gegen die vornehme Welt entſprechend, wünjcht er jich feine elegante 
Weltdame, feine falte Schönheit, feinen weiblichen Schöngeift, jon- 
dern eine Landſchönheit mit natürlicher Einfalt und Güte und an- 
geborenem Mutterwig. Nur in einer glüdlichen Ehe fieht er das Glück 
der Liebe. „Eine gute Ehe jcheint mir das Meifterjtücd der Schöpfung; 
nichts ift Schöner in der Natur al3 der Anblick zweier jungen Gatten, 
die ein Band noch feiter als das der Liebe, die das heilige Band der 
Elternſchaft vereinigt... Die Rolle der Frau ift die Milde, die Zärt- 
lichkeit, fie it der Efeu, um den Ring gejchlungen; das ſchwache 
Weſen hat jeinem Beihüser ihren eigenen Willen zum Opfer ge- 
bracht, dieſes Opfer aber hat dem Weib nicht3 gefoftet, im Gegenteil, 
es hat ihm das Herz jeines Gatten und das Glüd eingebracht“ — fo 
dachte der Fünftige Sänger von „Frauen-Liebe und -Leben“ fchon als 
Biwanzigjähriger. Schillers Auffaffung der Frau und der deutjche 
Frauencharakter überhaupt haben hier zweifellos ſtark eingewirkt, wie 
denn in den Briefen diejer Zeit mehrfach Stellen aus Schillers „Lied 
bon der Glocke“ und der „Würde der Frauen” zitiert werden. Etwas 
zu vernünftig und altflug aber urteilt er, wenn er meint, daß zu einer 
glücklichen Ehe leidenschaftliche Liebe eben nicht immer von nöten fei. 
Rührend ift eine Vhantafie zu leſen, wie er jeine Kinder ganz nach 
Rouſſeaus Grundfägen erziehen will: „Das einzige Mittel, durch das 

1 gg 


Chamiſſos Leben und Werte. 


ich auf fie einmwirfe, ift die Liebe, die fie zu mir haben; fie zittern nicht 
or einer düfter ummölften Stirn; fie fennen nur die Tränen der Zärt- 
fichfeit, niemal3 hat ihr Freund ihnen Furcht eingeflößt. Sie find 
Männer, ich gebe ihnen Pflichten zu erfüllen gegen die Gejellichaft, 
aber das och, das fie zu tragen haben, ift nicht daS der Sflaverei. Es 
fommt die Zeit, Männer meinen Töchtern, Frauen meinen Söhnen 
zu geben. Werde ich ihnen Zwang anlegen bei der Wahl? D, ich bin 
nur der Freund, den fie um Rat fragen.” Ein jo ſchwärmeriſch ver- 
anlagter Süngling lief Gefahr, das deal der Geliebten in der Wirf- 
lichfeit nie zu finden oder wehrlos in die Nege einer herzlojen Sirene 
zu geraten. Vorderhand fuchte feine Mutter fein Herz für ein junges 
Mädchen aus der Nachbarſchaft Boncourts, Turbanna de Givancourt, 
zu erwärmen, deren Charakter ihm aber nicht zufagte. Überhaupt war 
er in Zweifel, ob eine franzöſiſche Lebensgefährtin das Glüd feines 
Lebens ausmachen könnte. Der Mutter verbirgt er nicht, davon ge- 
träumt zu haben, daß einjt eine Preußin ihn an ihr Land feſſeln könnte. 
Den Brüdern erklärt er in burſchikoſem Ton, in Deutjchland Heiraten 
zu wollen, denn — oü la chevre est attachee, il faut qu’elle broute, 
und geſteht offen, daß er ehrliche deutjche Mädchen den Zierpuppen 
von Schwerenot3franzöfinnen vorziehe. Zunächſt war indes eine Hei- 
rat weder möglich no) erwünſcht. 

Was bei diejen Phantajtereien und den Kümmernijjen des all- 
täglichen Dienſtes jeine Lage immerhin erträglich machte, waren die 
intenjive Bejchäftigung mit deutfcher Sprache und Literatur und die 
erjten deutlicheren Regungen dichterifchen Schaffens. Die früheiten, 
naturgemäß in franzöfiiher Sprache abgefaßten poetiſchen Verſuche 
gehen jchon in die Lütticher und Würzburger Zeit zurüd, die jpäteren 
wurden in einer im Nachlaß erhaltenen Sammlung „Contes en vers 
par un jeune exile, premier cahier 1801“ niedergelegt. Bei feiner 
deutlich erfennbaren jprachlichen Begabung lernte er daS Deutiche, 
dieje „coquine de language“, durch jteten Umgang mit Deutichen und 
eine ausgedehnte Lektüre überrafchend jchnell handhaben, wenn auch 
nicht ſtiliſtiſch und grammatisch richtig gebrauchen, und er fonnte 
jtch bald an größere Dichtwerke heranmachen. Er ftudierte im Fahre 
1798 Klopitod3 „Meſſias“ Vers für Vers mit regem Eifer, dann dej- 
jen „Oden“, die er treffend Meifterftücde der Unklarheit nennt, die 
jelbjt einen Deutſchen erbleihen lajjen. Aus Johann Jakob Engels 

10% 


— 


N 


D 


13) 


w 


— 


0 


5 


0 


0 


5 


an 


- 
o 


9 
or 


Stubium ber deutjchen Literatur. 


Abhandlungen „Der Philojoph für die Welt” (1775) überjeßte er den 
Abſchnitt „Die Göttinnen”, der den Wettſtreit zwiſchen Minerva und 
Benus behandelt. Am meijten bejchäftigten ihn die Werfe Schillers 
und Goethes. Schiller mit feiner Fülle an Kraft und Gemüt fcheint 
ihm im Franzöſiſchen ebenjo unmöglich wie Boltaires Ejprit im Deut- 
ihen. Eine Überfegung von Schillers „Geifterfeher” ins Franzöfifche 
dünkt ihn noch zu ſchwer, dagegen wagt er es um 1801 oder 1802, das 
dreiaftige Trauerfpiel „Le comte de Comminge ou les Amants mal- 
heureux“ bon Frangois de Baculard d’Arnaud, dem Lieblingsdichter 
Friedrich des Großen nach dem Fortgang Boltaires aus Berlin, in 
deutjche Proſa zu übertragen. Das aus den „Memoires du Comte de 
Comminge“ der Madame Mlerandrine de Tencin, der Mutter d'Alem— 
bert3, geſchöpfte Stüd führt nach Goethes Urteil einen fürdhterlichen 
Apparat von Gemölben, Gräbern, Särgen und Mönchskutten vor, die 
den Mangel de3 großen, furchtbaren Tragiſchen erjegen jollen. Ge— 
rade das Graufige des Stoffes jcheint Chamiſſo zu diejer Aufgabe ge- 
führt zu Haben, die nur den Wert einer Übungsarbeit beanfpruchte. 

Die Studien Chamifjos erfuhren eine plögliche Unterbrechung, als 
er im Auguſt 1802 feinen ſchwer erkrankten Bruder zu feinen in der 
Nähe von Plamy in der Champagne wohnenden Eltern zurüdführen 
mußte, wo diejer bald nach der Ankunft jtarb. An Stelle feines Fränf- 
lihen Vater mußte Adalbert noch mehrere Reifen zum Zweck der 
Wiedererlangung des Familienvermögens unternehmen, wodurch fein 
Aufenthalt in Frankreich fich bis in den Anfang des Jahres 1803 ver- 
längerte. Der Abſchied von den Seinen ward ihm diesmal bitterſchwer, 
um jo jchwerer, al ſie für die eigenartige Entwidelung, die jein Geijt 
unter dem Drud der Verhältnifje genommen hatte, fein Verftändnis 
zeigten und feine Deutjchenliebe offen beklagten. Nach jeiner Rüd- 
fehr eröffneten jich ihm in Berlin angenehmere Lebensbedingungen, 
denn er fand jet außerhalb feines Berufskreiſes gleichjtrebende 
Freunde und erlebte feinen erjten Herzensroman mit all feinen Hoch- 
gejchwellten Hoffnungen und unausbleiblichen Enttäufhungen. 

Die jüdiſchen Salons, zu denen er zum Teil ſchon früher Zutritt 
hatte — die reichen Cohens und Ephraims, die Levins, von denen 
Rahel Levin, die jpätere Gattin Varnhagens, durch Schönheit und 
Geiſt blendete, die Familie der Fanny Herb und die Potsdamer Itzigs, 
die Eltern von Eduard Hitig — vermittelten ihm weiteren Berfehr 

Chamifjo. L 17* I 


Chamifio3 Leben und Werte. 
in meiſt afademijch gebildeten Streifen. Mit dem damaligen Refe— 
vendar und fpäteren Kriminalrat Eduard Hißig ſchloß er jenen jelte- 
nen Freundſchaftsbund, der, anfangs voll jugendlicher Überſchweng— 
lichfeit, jpäter von echt männlicher Treue erfüllt, ungetrübt bis 
zum Tode des Dichters dauerte. Gerade der Gegenjaß beider Charaf- 
tere wirkte anziehend. Chamiſſos unjelbjtändige Poetennatur fühlte 
jich bei diefem praftijch veranlagten, weltfundigen und natürlich- 
liebenswürdigen Mann mit jchöngeiftigen Snterejjen und mäcenati- 
ihen Anlagen am ficherjten aufgehoben, und jo iſt es gekommen, daß 
Hitzig in feiner aufopfernden Freundestreue recht eigentlich der Fähr— 
mann von Chamijjo fürderhin oft ſchwankendem Lebensſchiff ge- 
worden it, dag er jchlieglich mit jiherem Griff zum ruhigen Port ge- 
leitete. Im Haufe der Frau Bhilippine Cohen lernte Chamifjo den 
hier al3 Hauglehrer fungierenden Barnhagen von Enje und duch 
diejen den dori als Kontorijten angeftellten Wilhelm Neumann kennen, 
beides jehr ungleiche Naturen: diefer — ein jtill bejcheidener, warın 
empfindender, heimlicher Poet, jener — ein impulfiver, oft abjtogen- 
der Charakter von aufdringlicher Eitelfeit, noch ganz im Unflaren über 
jich, bald literariſchen, bald wiſſenſchaftlichen Studien Hingegeben und 
von dem glühendften Streben erfüllt, fich in den Kreijen der vornehm- 
ſten Gejellichaft durchzujegen. Zu diejen geiellte jich bald Franz There- 
min, ein junger rede- und jprachgewandter lebensluſtiger Theologe, 
ſpäter al3 Konſiſtorialrat ganz Eirchlichen Snterejjen zugewandt. Cha- 
miſſo führte feinen Landsmann und Regimentsfameraden Louis de la 
Foye ein, mit dem ihn das gleiche Schtäjal des Emigranten und Die 
gleiche Begeifterung für die deutjche Literatur verband. Älter und an 
Wiſſen und Bildung gereifter als die Genannten war der Breslauer 
Mediziner Ferdinand Koreff, ein genialer Kopf, der die Medizin mit 
Toejie und Naturphilofophie kritiklos zuſammenwarf, jo daß ihm ein 
Rezept und ein Sonett nur al3 verjchiedene Ausflüjje ein und derjelben 
Gottheit erjchienen. Eine Reihe anderer Fünglinge, wie der Dichter 
Ludwig Robert (der Bruder der Rahel), Adolf v. Uthmann, ein Graf 
Lippe, Georg Reimer, Julius Klaproth, traten allmählich Hinzu, und 
man gründete einen Freundjichaftsbund, dejjen geijtiges Oberhaupt 
Chamiſſo und Varnhagen in Koreff fahen. Man verfammelte ſich an- 
fangs zu poetijchen Tees bei Hisig, Nobert oder Theremin, jpäter bei 
Chamiſſo auf der Wache am Brandenburger oder Potsdamer Tor, um 
18*. 


— 


— 


— 


2 


[>] 


= 


0 


5 


0 


— 


0 


35 


or 


1 


1 


2 


2 


3 


3 


oO 


or 


o 


or 


o 


ou 


Der „Nordfternbund”, 


in lebhaften Gedanfenaustaufch über Boejie, Wiſſenſchaft und Lebens— 
pläne oft halbe Nächte durchzuſchwärmen. 

In Berlin lag damals die ältere rationalijtiiche Schule, Nicolai 
und Garlieb Medel an der Spite, mit der jüngeren romantijchen, 
durch Tief, die Schlegel und Schleiermacher vertretenen Richtung in 
offenem Kampf. Die Freunde ſchwankten nicht lange, ſich der aufſtre— 
benden Richtung anzujchliegen, ohne jich damit deren Anjchauungen 
vollftändig zu eigen zu machen. Die im Winter 1803—1804 von Auguft 
Wilhelm Schlegel in Berlin gehaltenen und von den Freunden fleißig 
bejuchten Borlefungen über fchöne Literatur und Kunft gaben Ber- 
anlafjung, dem Freundjchaftsbund eimen ſymboliſchen Namen zu 
geben. Schlegel wies auf eine Schrift des Theojophen Franz vom 
Baader Hin, der, jelbit durch eine Schrift Schellings, „Bon der Welt- 
jeele” (1798), angeregt, im jelben Jahre eine Kleine Abhandlung mit 
dem merkwürdigen Titel „Über das pythagorätfche Quadrat in der 
Natur oder die vier Weltgegenden” hatte erjcheinen lafjen, in der er 
die vier Himmelsrichtungen in myſtiſcher Weije mit der Religion, der 
Sittlichkeit, der Dichtkunſt und der Wiſſenſchaft in Verbindung brachte. 
Dieje an freimaurerifche Symbole erinnernden Vorftellungen fanden 
um fo leichter in dem Freie der Freunde Eingang, als Barnhagen 
auch im Leben freimaureriſchen Kreifen näher getreten war, und jo 
wählte man den Norden als das Gebiet der Wiſſenſchaft und taufte 
die Vereinigung auf den Namen des „Norditernbundes” mit dem 
Abzeichen 7... a. (7ö Tod nölov doroov), das nun auf lange Zeit 
die Briefe de3 jungen Chamiſſo begleitet. Nachdem man die bei dei 
Zujammenfünften zutage tretenden Einfälle der Laune und des 
Witzes anfangs in einem blauen Heft gejammelt hatte, famen Cha- 
mijjo und Barnhagen auf den Gedanken, die Gedichte in einem eige- 
nen Mujenalmanad) druden zu lajjen, der, da jich Fein Verleger fand, 
aus eigner Tajche beitritten werden mußte. Der 1804 in Leipzig er- 
jchienene, von den Freunden wegen feines Einbands der „Grünling“ 
oder der „Grüne“ genannte Mujenalmanad konnte als eine Urt 
Fortſetzung des im Jahre 1802 eingegangenen Schlegel-Tiedjchen Al— 
manachs angejehen werden. Chamijjo jandte ein Eremplar an Goethe 
mit einem ehrfurchtsvollen Begleitjchreiben, deſſen Fakſimile dem zwei— 
ten Bande diejer Ausgabe vorangeht, ein anderes an Schiller, ohne 
wahrjcheinlich von beiden einer Antwort gewürdigt zu werden. In der 

19* I? 


Chamiſſos Leben und Merte. 


Öffentlichfeit fand der Almanach, da er nur unreife Erftlingswerte 
unbefannter Dichter enthielt, zunächſt nicht die geringjte Beachtung, 
verichaffte aber den Freunden einige neue Beziehungen und Gön- 
ner, jo die lebhafte Zuftimmung Fichtes. Durch fein vieljeitiges 
Wilfen, feine edle Gejinnung, feinen fittlichen Ernft und feine wohl— 
wollenden Ermahnungen, bei allem dichteriſchen Bemühen eine feite 
wiſſenſchaftliche Bildung nicht zu verfäumen, wirkte Fichte vorbild— 
lich auf die Freunde und hielt fie von manden laren Anſchauungen 
der Nomantifer fern. Er wie Koreff veranlaßten Chamifjo, neben den 
militärifchen Pflichten und gejellichaftlihen Zerjtreuungen mit dem 
Studium der antifen Sprachen Ernſt zu maden. Unter der Leitung 
des jpäteren Lektors an der Berliner Univerfität, Karl Friedrich Fran- 
cejon, begann er gegen Ende des Jahres 1804 mit dem Homer, Öram- 
matik und Wortſchatz neben der Lektüre erlernend; nach etwa einem 
halben Sahre Hatte er Homer, zwei Tragüdien des Euripides, drei 
Bücher von Xenophons Anabafis, Anakreon, zwei Dialoge de3 Lucian 
und die erfte Philippika des Demofthenez, natürlich ohne grammatifche 
Sicherheit, inhaltlich bewältigt. 

Kaum hatten die jungen Pichtergenofjen begonnen, fich troß 
mancher individueller Berjchiedenheit als literariſche Gemeinjchaft zu 
fühlen, als einzelne von ihnen bald durch die Macht der Umftände ge- 
zwungen wurden, Berlin zu verlajjen. Hitzig wurde als Aſſeſſor bei 
der preußiihen Negierung nad) Warſchau berufen, wo er bis zum 
Ende der preußiſchen Verivaltung (1806) verblieb und die erjten Jahre 
jeiner glüdlichen Che verbrachte. Theremin wollte in Genf feine 
theologijchen Studien fortjegen, um fich für ein Predigtamt bei der 
franzöfiihen Kolonie in Berlin vorzubereiten. Koreff ging zur Pro— 
motion nad) Halle, und de la Foye eilte auf die Nachricht vom Tode 
jeined Vaters in feine Heimatsftadt Caen zurüd; Julius Klaproth 
ſchloß ſich in ©t. Petersburg einer ruſſiſchen Geſandtſchaft nad) China 
als Gelehrter an. Als etwas fpäter auch noch Varnhagen und Wilhelm 
Keumann nad) Hamburg gingen, um fich auf dem dortigen Johanneum 
unter Gurlitt3 Zeitung auf den Befuch einer Univerfität vorzubereiten, 
blieb jchlieglich Chamiſſo als Einziger des engeren Kreiſes zurück. 
Troß der räumlichen Trennung verband ein reger Briefwechjel und 
ein echt romantischer Freundjchaftsfultus die zerftreuten Mitglieder 
de3 Bundes. Es fehlte nicht an gegenfeitigen Freundfchaftsergüffen, 

20* 


1 


D 


82 


5 


0 


5 


Der Mufenalmanad). 


an Gedichten „von und an uns”, Koreffs jeltene Briefe galten Cha— 
miſſo gar al3 Heilige Sendfchreiben. Während er fich in Varnhagen 
nicht täufchte und die Triebfeder feiner ganzen Unruhe und NReizbar- 
feit in feiner maßlofen Eitelfeit erblickte, fandte er an de la Foye 
ſchwärmeriſche „Liebeöbriefe" und ſchwelgte in Roufjeaufchen Utopien 
— er duräftreift in Gedanken Aſien, die Wiege des Menjchenge- 
ichlecht3 und der Wiſſenſchaft, als Gelehrter und gründet fich in einer 
abgelegenen, üppig umgrünten Bucht des Dfeanos ein mweltabgejchie- 
dene Aſyl. Die Anregung der Freunde und die Richtung des ganzen 
Kreiſes führte Chamifjo mehr und mehr von den Klafjifern weg zur 
Lektüre der romantischen Schrifiitellerr. Wackenroders „Herzens- 
ergiegungen eine Funjtliebenden Klofterbruders”, Schleiermachers 
Reden und Friedrich Schlegel3 „Alarkos“ werden im Briefwechſel ge- 
nannt, die Erneuerung des altfranzöfischen Merlin-Romans von Doro- 
thea Schlegel und Helmine von Cheézy findet er göttlich, und über 
Novalis jagt er: „Seine Dichtungen find Afforde der Aolsharfe, feine 
Reden lautere3 Liebezfeuer.” Da es an Material für eine Fortjebung 
vesMuferalmanachs nicht fehlte und fich diesmal mehrere Verleger um 
die „grüne Gunftbezeugung” bewarben, übernahmen Chamifjo und 
Barnhagen die Sichtung desselben, und nach mehreren Verzögerungen 
fam der zweite Jahrgang des Almanachs im Jahre 1805 Heraus, zuerit 
ebenjo unbeachtet wie der erfte — ein nicht verratenes Geheimnis 
nannte Chamifjo feine Eriftenz. Da erſchien unerwartet in der „Senai- 
ihen Allgemeinen Literaturzeitung”, dem Organ de3 Goetheſchen 
Kreijes, jene von einem wenig befannten Schriftiteller v. Jariges her- 
rührende „Bligmordrezenjion”, die die größte Beftürzung unter den 
Freunden Hervorrief, fich in der Folge aber al3 ſehr Heilfam für ihre 
dichteriiche Selbſteinſchätzung erwies. Noch fehärfer lautete die Kritik 
aus dem Lager Nicolai in der „Neuen Berlinifchen Monatsſchrift“, 
mo Garlieb Merkel erklärte, im Almanach nur ein efelhaftes Gemiſch 
bon Bombaſt und Plattheit gefunden zu haben. Diejen ſchweren 
Schlägen gegenüber fonnten fich die Führer der Romantik begreif- 
licherweiſe nicht zur Verteidigung ihrer Schüßlinge aufraffen, aber 
Schlegel ermunterte mündlich und brieflich durch wohlmollende und 
5 jchonende Kritik. Die verlegte Eitelfeit der jungen Schriftteller machte 

jich in einem fatirifchen Büchlein: „Testimonia auctorum de Merkelio, 

da3 it Varadiesgärtlein für Garlieb Merkel” (1806), Luft, in dem 

2 


a 


1 


oO 


- 
or 


— 
— 


2 


or 


3 


oO 


Chamifjos Leben unb Werte. 





befonder3 Barnhagen all die giftigen Pfeile fammelte, die bon den 
Nomantifern gegen die Führer des Berliner Nationalismus abgejandt 
waren. Chamiffo lehnte in feiner ritterlihen Gefinnung feine Teil- 
nahme an diefer ihm unehrlich und unerjprießlich erfcheinenden Kampf- 
art ab und hielt auch an diefem Standpunft feſt, als die Freunde in 
einer anderen, nicht zuftande gefommenen ©atire: „Das gelehrte Ber- 
fin”, die Berliner Schriftiteller nach berühmten Muftern mit Zenien 
zu überjchütten gedachten. Zwar jchmiedete er auch etliche boshafte 
Diftichen gegen Berliner Größen, aber behielt fie wohlweislich in der 
Schublade zurüd; wie er überhaupt, obmohl dichterifch der ſchwächſte 
unter den Freunden, viel gejunde Selbſtkritik entwidelte. Als Varn- 
hagen eine Sammlung von Rritifen herausgeben mollte, jchrieb ihm 
Chamiffo: „Laß Dir jagen! wir find Jungen, die da kaum lernen, und 
lehren und aburteilen zu wollen, würde mir höchſt ſpaßhaft vor— 
fommen.” Treotz des bisherigen Mißerfolgs wollten die Freunde un- 
gern auf einen dritten Grünling verzichten, aber ein Unjtern maltete 
bon vornherein über dem Unternehmen. Varnhagens Saumjeligfeit 
bei der Sichtung der Beiträge, Chamiſſos Behinderung durch verftärfte 
militärische Snanfpruchnahme und der Bankrott des Verlegers ver- 
anlaßten, daß der Almanach erſt Ende 1806 erjchien und in jener Zeit 
der politiihen Erregung dem Schidjal der Nichtbeachtung verfiel. 
Wenn alfo von allen Blütenträumen der Nordſtern-Jünger nicht viel 
in Erfüllung gegangen war, jo hatten fie immerhin eine Grundlage 
für ihr ſpäteres dichteriſches Schaffen gelegt. Chamijjos Anteil an 
dem Muſenalmanach hat feinen äfthetifchen und literarischen, ſondern 
nur entmwidelungsgefchichtlichen Wert. Was ihn zum Dichter machte, 
mar nicht nur die Freundschaft, fondern noch mehr die Liebe. 

Sn dem Ephraimfchen Haufe lernte Chamiffo im Sommer 1803, 
nachdem er fchon die Freunde gefunden, eine Franzöfin Céres Duver- 
nah, eine bierundzwanzigjährige Witwe von großer Schönheit und 
jeltener Bildung (fie las Shafefpeare und Taſſo in der Urfprache), 
fennen. Widrige, geheimnisvolle und nie ganz aufgeflärte Schicjale 
hatten jie nach Berlin verfchlagen und fie genötigt, in der genannten 
Familie die Stelle einer Erzieherin anzunehmen. Da jie ihren Mäd— 
chennamen verbarg und nicht3 über ihre erfte Ehe, aus der fie einen 
Sohn, Cefar, hatte, verlauten ließ, waren alle Nachforfchungen über 
ipre Herkunft unmöglich. In den Augen der unerfahrenen Freunde 

22* 


ot 


De 


0 


15 


20 


25 


wo 


0 


= 


5 


t 


1 


a 


20 


2 


3 


3 


ai 


oO 


or 


Liebe zu Cere3 Duvernay. 


erhöhte aber gerade dies myſtiſche Dunkel ungfücklicher Verwickelungen 
den Reiz ihrer Erfcheinung. Chamifjo verliebte fich mit dem ganzen 
Ungeftüm der Jugend und der ganzen Aufrichtigfeit eines reinen, un- 
verdorbenen Herzen in fie, und ihre mit Anmut und Geift gepaarte 
gejellfchaftliche Gewandtheit brachte e3 zuftande, daß von dem ſchüch— 
ternen, ſchweigſamen Träumer der Bann der Befangenheit wich. Ihr 
wahrer Charakter enthülft ſich in einer jpäteren Briefitelle, wo jte in 
bezug auf fich jelbft jagt: „Une chaumiere, une bibliotheque et un 
tendre ami peuvent seuls faire le bonheur.‘“ Sie jtrebte, um die 
Rouſſeauſche Schwärmerei von dem Glüd in der „Hütte in die nüch- 
terne Wirklichkeit zu überjegen, nad) einer joliden Ehe und glaubte in 
einem dreißigjährigen Amerikaner Tilton, der feine Rückkehr angezeigt 
hatte, den fünftigen Gatten gefunden zu haben. Der Wunſch nad) einer 
guten Bibliothek war bei einer geijtig jo regfamen Frau, die jpäter 
aus Oſſian überſetzte, ſicherlich innerſtes Bedürfnis. Bedenklicher war, 
daß ihre Kofetterie auch noch nach einem zärtlichen Freund verlangte, 
um ihm gegenüber mit ihrem Geiſt prunfen und mit ihrer Liebe tän- 
deln zu fönnen. Der junge Chamifjo durchſchaute dieje nur ein wenig 
fompfizierte Natur nicht; er glaubte ihr eine Hütte bauen zu fünnen, 
mo er doch nur zu ihrem Freunde auserjehen war. Da fie ihm Avancen 
zu machen fchien, belebte jich feine jtumpfe Ruhe und entflammten 
jeine Sinne. „Hab ich Dich, Göttergleiche, gefunden, Dich endlich ge- 
funden ?" beginnt er eine „Elegie“. Er ſchenkt ihr einen Arbeitöbeutel 
aus weißem Atlas, auf dem die Attribute der griechiichen Ceres finn- 
reich angebracht waren, mit Schnüren eigenen Haares verjehen, oder 
ein andermal zwei Medaillons, das eine mit einem jelbitgemalten 
Bild von jich, das andere mit einer allegorifchen Darftellung des Polar— 
Iterne3, beide durch eine Kette von feinem Haar zufammengehalten. 
„Sende mir, Zeus, fende herab mir Entſcheidung“, fleht er in einer 
Ode „Ceres“, und jie war frivol genug, ihm ein Stelldichein zu ge- 
mähren, worüber er an den Bujenfreund de la Foye etiva Juli 1804 
örtlich berichtete: „Sie gab mir einen Rendezvous, wir lagen lange 
ſtunden im hohen graje gelagert, verjchlungenen Armen, fämpfend in 
heißen Schmerz und Luft und ich — entrang ihr nicht die ernite Ent- 
ſchließung.“ Sie fchidte ihm jetzt oder vielleicht etwas ſpäter die nicht 
mit Sicherheit datierten „Stances irregulieres de Ceres à Adalbert‘“, 
in denen fie ihm da3 fichere Glück der Freundichaft vor dem qualvolfen, 
23* 


Chamifjod Leben unb Werke. 


flüchtigen Glück der Liebe pries, ihn „Bruder” nannte und ſich den 
Namen „Schwefter” ausbat. Chamifjo war naid genug, diefe Verſe 
als „Lied von der Freundſchaft“ in fein geliebtes Deutſch zu übertragen 
und, um eine Lebenderfahrung reicher, die Definition hinzuzufügen: 
„sreundfchaft ift ein Knotenſtock auf Reifen, Lieb’ ein Stäbchen zum 
Spazierengehn.” Damit war der Roman nicht etwa zu Ende, jondern 
er begann erft. Das geſchwiſterliche Thema fpann fich zwischen beiden 
meiter, und Cere3 bereitete ihm jogar wegen einer vermuteten Neigung 
für Henriette Ephraim eine Eiferfuchtsizene. 

War er auch in diefem Fall unjchuldig, ein ganz reines Gewiſſen 
konnte der Leutnant mit dem leicht entzündlichen Herzen nicht immer 
aufmweijen. Sein anderes Flämmchen hieß Maſchinka Burja, die Toch— 
ter des Militärakademie-Profeſſors Abel Burja, ein blaſſes, leidendes, 
nicht eben jchönes, aber heiteres, mitteilfames Gejchöpf, mit dem er 
im Familienkreis al3 halbwegs verlobt galt, weil er ein Gedicht auf 
ſie gereimt und ihren Kopf ffizziert hatte. „Soll ich etwa”, fchreibt er 
an feinen Beichtiger de la Foye, „der CEre3 von der Maſchinka erzählen 
und der Mafchinfa von der Céreès?“ Da er Maſchinka jeltener wieder- 
jah, verblaßte das Bild ihrer lieblichen Erſcheinung bald in feiner Er- 
innerung. Mit neckiſchem Versgeplänfel begann auch eine Schwär- 
merei für Augusta Klaproth, die Schmweiter des genannten Julius 
Klaproth, ein begabtes, Tebhaftes junges Mädchen, das für den eriten 
Sahrgang des „Muſenalmanachs“ Gedichte beigefteuert hatte. Er gab 
ihr franzöſiſche Privatſtunden im Haufe der Eltern, aber diefe jchritten 
aus Furcht vor übler Nachrede ein, und Augufta mußte ihm, mit 
Tränen in den Augen, eine „gefnictte Sehnjuchtsblume”, die Hand 
zum Abſchied reichen. Died war nur ein Flirt, wirkliche Leidenſchaft 
fühlte er nur für die Franzöſin, die jeßt weniger fpröde tat, weil ihr 
erivarteter Verlobter nicht erjchienen war. Da inzwijchen ihre Gtel- 
fung im Ephraimjchen Haufe aus nicht erfennbaren Gründen unhalt- 
bar geworden mar, jo nahm fie Ende 1804 mit ihrem Sohn eine ähn- 
fihe Gtellung in Königsberg an. Bei der Trennung fchenkte fie 
Chamifjo einen Ring, nicht ohne einem anderen Freund, einem ge- 
wiſſen Bing — da fie immer mehrere Eifen im Feuer hatte — eine 
Lode zu geben. Nachdem Chamiffo ihr mehrere glühende Briefe ge- 
jandt, antwortete fie im Mat 1805 in einem recht zärtlichen Brief. 
Dann wurde fie aus ziemlich myftifchen Gründen von ihren Eltern nad) 

24 * 


— 


—* 


— 


0 


5 


5 


a 


10 


1 


or 


20 


2 


3 


3 


a 


o 


or 


Politifhe Lage. 


Frankreich zurücdberufen, denn ihr angeblicher „Verfolger ſei jebt 
entfernt, und fie berührte im September 1805 auf der Durchreije Ber- 
lin. Dasſelbe fofette Spiel wiederholte jih: Chamiſſo bereit, um ihre 
Hand zu werben und die günftigen, jich ihm in der Heimat bietenden 
Heirat3ausfichten zu opfern, fie bald Hingebend, bald abmwehrend und 
jtet3 geheimnisvoll. Sie geht, unbefannt wie jie fam, ihre Adreſſe 
lautete: ‚Paris, poste restante.“ „Nun brannte meine Seele nad 
Frankreich Hin”, ſchrieb Chamifjo tiefbewegt nach dem Abſchied an 
de la Foye. 

So war die Berliner Leutnantszeit durch Freundfchaft und Liebe, 
Studium und Poefie bedeutungsvoll ausgefüllt. Die Laufbahn der 
Freunde ıind die eigene innere Neigung wiejen Chamiſſo auf die Uni- 
verjität und einen wiſſenſchaftlichen Beruf hin, und er plante, im Ja— 
nuar 1806 mit Urlaub nach Frankreich zu gehen, um mit den Eltern 
die Beichaffung der dazu nötigen Geldmittel zu beraten. Allein fein 
militärischer Beruf mar die läftige, Hindernde Kette, die nur ein wenig 
angezogen zu werden brauchte, um geradezu verhängnispoll für ihn 
zu werden. Preußen Hatte zu lange den Napoleoniſchen Eroberungen 
tatenlos abmwartend gegenübergeftanden, um nicht jchließlich wider 
Willen in den Weltkrieg hineingezogen zu werden. Preußens Gejchid 
ward auch Chamiſſos Geſchick. Er, der in dem Deutjchland der Denker 
und Dichter ein neues Vaterland gefunden hatte, mußte die Demüti- 
gung des politiichen Deutichlands erleben. AUS Napoleon im Jahre 
1805 jenen glänzenden Kriegszug durch Siddeutfchland gegen Dfter- 
reich führte und dadurch freie Hand gegen Preußen erlangte, begann 
diejes endlich zu rüften. Sm Dftober jenes Jahres erhielt das Regiment 
v. Göße unerwartet Marfchbefehl. Die durch Haugwitzens zaghafte 
Politif gejchaffene Lage war fo verworren, daß man nicht wußte, ob 
man gegen die Franzoſen oder gegen die Koalierten, die Rufjen, aus— 
rüden follte. Nachdem Chamifjo bei Hibigs in Potsdam Abjchied ge- 
feiert, ritt er mit dem Regiment ind Ungewiſſe ab. Wohl reizte es 
den Abkömmling eines altadeligen Gefchlecht3, in dem flürmifchen Ge— 
wirr des Krieges da3 wilde Spiel der Kräfte fich entipinnen zu fehen, 
aber diejer Krieg drohte ihn in einen verderblichen Konflikt zwiſchen 
Pflicht und Ehre, zwifchen der neuen und der alten Heimat zu ver- 
wickeln. Zunächſt trat ihm wieder der heillofe Verfall des preußifchen 
Militärweſens vor die Augen. Schon in der erſten Berliner Zeit um 

25* 


Chamiſſos Leben und Werte 
1800—1801 Hatte er gejchrieben: „Friedrich (der Große) ift nicht mehr. 
Ein Dritteil des Heeres beiteht aus Fremden, und der Kern unjerer 
Friedenskompanien ift ein abjcheulicher Miſchmaſch des Abſchaums 
aller Nationen. Ohne Zmeifel gibt es darunter auch gute Soldaten, 
allein die Hälfte find Dejerteurs von Profeſſion. Wenn Du mid nad 
ihrem Geiſte fragteit, jo müßte ich antworten: fie haben feinen, jind 
Sklaven der Bürgerjchaft, die fie ernährt." Jetzt jah er beim Aus— 
marſch und im Verlauf des Feldzuges die ganze Rückſtändigkeit der 
Bermwaltung, die Schwerfälligfeit der Bewegung, die Unfähigkeit der 
Führer; jeine aus der unmittelbaren Anſchauung gejchöpften Stim- 
mungöberichte an die Freunde find in ihrer nadten, ſchonungsloſen 
Wahrhaftigkeit Zeugnifje von kulturhiſtoriſchem Wert. Er jelbit erregte 
wegen jeine3 geringen Gepäds (drei Deden, ein Zelt und ein leichter 
Koffer) die Vermunderung jeiner Kameraden, von denen einer flagte, 
daß ihm das Lavendelöl ausgegangen fei. Der Krieg gegen Unbekannt 
beitand zunächſt in zweckloſen Hin» und Hermärjchen an der Weit- 
grenze. Das Regiment 30g über Brandenburg, Magdeburg, am Fuß 
des Brodens vorbei, nach Hildesheim, dann, da es der Armee de3 
Kurfürften von Hejjen angegliedert wurde, ſüdwärts über Göttingen 


bi3 in die Gegend von Fafjel und Fulda. Als Preußen nach dem 2 


ihmählihen Schönbrunner Bertrag ein Bündnis mit Frankreich gegen 
England eingehen und die franzöfiiche Bejagung im Kurfürjtentum 
Hannover auf Napoleons Befehl ablöjen mußte, murde Chamifjos 
Regiment über Wildungen, Friklar, Holzminden zurüdbeordert und 
rüdte am 19. März 1806 in die Wejerfeftung Hameln al? jtändige Be- 
jasung ein. So bejchmwerlich auch die fortgejegten Märjche auf jchlech- 
ten und durchweichten Wegen waren, jo veritand Chamiſſo e3 doch, 
den Dingen die beite Seite abzugemwinnen, indem er ſich mit jugend- 
licher Sorglojigfeit den „Göttern und der weiſen Notwendigkeit” willig 
anvertraute. Der Briefmwechjel mit den Freunden hörte troß der ſchlech— 
ten Verbindungen nicht auf, und auch die Leier entjanf den kriegs— 
bereiten Händen nicht ganz. Im heſſiſchen Bergland befuchte er die 
Ruine Bradenburg und den Weißenftein, im Wefergebirge verlebte er 
herrlihe Dezembertage. In proteftantiihen Pfarrhäufern fand er 


mehrfach gaftlihe Aufnahme: in Rothenberg bei Hildesheim lernt er : 


die lieblichen Töchter de3 Pfarrherrn Kammann fennen, ohne mit 
ihnen leutnantsgemäß zu liebeln („varnhagenifieren” nennt er das), 
26* 


fer 


0 


15 


Se) 
oO 


XD 
or 


w 


0 


a 


1 


oO 


jet 
a 


2 


2 


3 


3 


o© 


a 


o 


ot 


Feldzug 1805. 


nicht minder gut gefällt es ihm bei dem gutherzigen Paſtor Meißner 
in Erbjen bei Göttingen, und in dem Paſtor Bindemwald in Engelörode 
entdect er mitten in dörflicher Abgefchiedenheit einen vorurteilsfreien 
Berehrer Goethes, Wielands und Fichtes. Wo es angeht, ſetzt er feine 
griehifhen Studien fort, denn Homer und Buttmanns griechijche 
Grammatik waren mit eingepadt. Außer Homer lieſt er einige Evan- 
gelien des Neuen Teftament3 im Urtert und vergleicht fie mit Luthers 
Bibelüberſetzung, deſſen echt deutſches Deutſch er bewundert, weshalb 
jeine Briefe aus dem Kriegslager vielfach Ankflänge an das Bibel- 
deutſch enthalten. Aus der Göttinger Univerjitätsbibliothef mill er 
fih fogar die Werfe des romantischen Lieblingsphilojophen Jakob 
Böhme beftellen — e3 wird nicht viele derartige Jünger des Mars im 
preußiichen Heere gegeben haben. 

Das franzöſiſch⸗preußiſche Bündnis war ihm nicht unſympathiſch, 
aber er jah doc, daß das pofitifche Übergewicht zu ſehr auf feiten 
Frankreichs war, und er beantiwortete ſich die Trage, wo jest Deutſch— 
heit zu finden jei, mit ven mwehmütigen Worten: „In dem Buſen 
einiger.” Daß diejes Bündnis nur ein Falljtrid für Preußen war, mar 
damals noch nicht fo offenkundig; vorerjt verjchaffte es unjerm Dich- 
ter über ein halbes Jahr Muße für feine idealen Sonderbejtrebungen. 
Bon entjcheidender Bedeutung war ein kurzes Wiederjehen mit den 
Freunden Varnhagen und Neumann, die ihn auf dem Wege nad) 
Halle zum Beſuch der dortigen Univerjität DOftern 1806 in Hameln 
bejuchten. Ihnen Hatte jich das neuejte Mitglied des Norditern- 
bundes, der damals 17jährige, ſpäter al3 Kirchenhiftorifer berühmt 
gewordene Neander angejchloffen. Wie ehevdem in Berlin, beredeten 
fih die Freunde am zweiten Dftertage mit Chamifjo, der gerade 
am Oſtertor in Hameln die Wache hatte, über ihre fünftigen Lebens— 
pläne. „Unter folhen Erörterungen”, berichtet Barnhagen, „Fam 
die Nacht, die drei Freunde IYuftwandelten bei herrlihem Mond- 
Ichein durch die einfamen Feſtungswerke. Da übernahm Chamifjo 
ein mächtige Gefühl, er fiel den Freunden um den Hal3 und er- 
Härte feſt und feierlich, er wolle nun ganz ihnen gehören, ihre Stu— 
dien und Gejchide teilen, den Abſchied fordern und ihnen nach Halle 
folgen. Bon diefem Augenblide rechnete er jelbft die ganze nachherige 
Entſcheidung feines Schickſals.“ Diefer Entſchluß geftaltete fich bald 
nach der Abreife der Freunde zu dem von Novalis beeinflußten alfe- 

ur 


Chamiſſos Leben und Werte, 





gorischen Märchen „Adelbert3 Fabel', an dem er ſich einmal 
in der Wachtftube die Nacht Hindurch die Augen wund fchrieb. Hier 
übergibt eine hehre Frauengeftalt dem von den Banden de3 Eijes ein- 
gejchloffenen Adalbert einen Ring mit der Auffchrift „Heizıv“ (Wollen) 
und mit einem jelbitbemwußten „Sets. ch will’3" rafft er ich empor, 
und die umgebenden Eismauern löjen fich, und die leuchtende Sonne 
umgibt ihn. So glaubte Chamifjo denn eine Frage an das Schidjal 
frei zu haben und reichte feinen Abjchied bei feinem Oberſten ein, aber 
erit nach vier Monaten, al3 die Gefahr eines Krieges mit Frankreich 
ſchon drohender geworden war, erhielt er den Bejcheid, daß das Ge- 
juch exit nach der gänzlichen Demobilifierung des Heeres genehmigt 
werden fünne, und ed wurde ihm deutlich zu veritehen gegeben, daß 
man fein Vorgehen al3 Zeichen der Undankbarkeit gegen die ihm 
bewieſene fünigliche Gnade auffaſſe. Chamiſſo beſchloß troß Varn— 
hagens aufhetzeriſcher Briefe, mit ruhiger Beſonnenheit auszuharren, 
und wurde in dieſer Auffaſſung von ſeinem neuerworbenen Freund 
Fouqué unterſtützt, der bereits unter dem Pſeudonym „Pellegrin“ 
am dritten Jahrgang des Muſenalmanachs mitgearbeitet und den er 
noch vor ſeinem Abmarſch in Berlin perſönlich kennen gelernt hatte. 
Bon Hameln aus befuchte er ihn zweimal in dem nahen Badeoit 
Nenndorf, wo Fouque fich einer Kur wegen aufhielt, und nachdem 
beide alles Hohe und Heilige ihrer Seelen ausgetauscht Hatten, ſchloſſen 
fie einen innigen Freundſchaftsbund, der auch jpäter fortbeitand, als 
ih ihre Lebenswege und Anfchauungen weit voneinander trennten. 
Chamiſſo jah in dem damals 2Yährigen, auf der Höhe feiner Kraft 
ſtehenden Dichter der „Undine“ eine glücliche Verbindung von Kriegs— 
mann und Dichter und eine markvolle Verkförperung des altpreußi- 
Ihen Adels. Auch Fouqué riet ihm, das Portepee, folange er e3 trage, 
in Ehren zu halten, es aber beim Ausbruch eines Krieges mit Frank— 
reich jogleich niederzulegen, und feine patriotifch-kriegerifche Phantafie 
malte ſich ſchon einen ritterlichen Zweifampf mit Chamifjo aus. Beide 
erörterten die phantaftifche romantische Kunfttheorie von der Möglich- 
feit eine3 Dramas, in dem das Tragische und das Komiſche zu einer 
über Shakeſpeare Hinausgehenden höheren, inneren Einheit verſchmol— 
zen werben.follte. Fouqué empfahl Chamiffo, die Gefchichte von der 
„Fair Rosamund“ in Percys „Reliques of ancient Poetry“ in diefem 
eilt zu bearbeiten, aber diefer glaubte durch eine freie Dramatifie- 
28* 


— 


0 


- 
[311 


180] 
© 


co 
oO 


= 
or 


on 


1 


1 


2 


2 


8 


3 


o 


or 


oO 


or 


oO 


or 


„Adelbert3 Fabel.’ — „Fortunatus.” 


rung des deutjchen Vollsbuches vom „Hortunatus“ beſſer zum Ziele 
zu fommen. Mit friihem Wagemut ging eram 22. Auguſt an die Ar— 
beit. Ein bald nach der Vollendung von „Adelberts Fabel” begonnenes 
zweites Märchen: „Bon dem lieben Gänslein“, mußte Hinter der grö— 
ßeren Aufgabe zurüdtreten, die ein Probierftein jeines dichterifchen 
Könnens fein follte, ob er ſich nämlich neben der rezeptiven Kraft, 
deren er gewiß war, auch noch die produftive zujchreiben dürfe. Wäh- 
rend fchon der Befehl zur Verſchanzung in Hameln gegeben war, baute 
er fih eine eigene Welt der Ideen und der Dichtung auf, vor der Die 
traurige Wirklichkeit verblaßte, und am 22. September hatte er troß 
feiner mangelnden Sprachbeherrihung fat 1800 Verſe mit unjäg- 
licher Mühe zu Papier gebracht — da hinderte ihn ein Ruhranfall und 
der Ausbruch des Krieges an der Fortjegung. 

Inzwiſchen hatte auch fein angejponnener Liebesroman eine ern- 
jtere Wendung genommen. Céres Dupvernay hatte die briefliche Ver— 
bindung aufrecht erhalten, fogar ihre Adreſſe vervollitändigt („Rue du 
Verneuil, St. Germain No. 29, pres la rue du Bacq‘‘) und ihn wieder⸗ 
holt nad) Frankreich gerufen. Während er den „Fortunatus“ vorbe— 
reitete, jchrieb fie ihm am 16. Auguſt 1806 unter allerhand rhetori- 
ſchen Flogfeln, ein nad) Frankreich zurüdgefehrter Emigrant de Mont- 
carel werbe um ihre Hand; ihr Entſchluß jet gefaßt, aber fie wolle ihm 
dieſen erjt mitteilen, nachdem ſie jeine (Chamiſſos) Anſicht darüber 
gehört hätte (in diefem Briefe fommt die bereits früher erwähnte 
Stelle vor, daß eine Hütte, eine Bibliothef und ein Freund zu ihrem 
Glücke gehörten). In der durch die dichteriiche Tätigkeit erzeugten 
Überjchwenglichkeit feines Gefühls verſtand Chamifjo nicht, in diefem 
Brief zwiſchen den Zeilen zu lefen und die ſchonende Einfleidung ihrer 
Abficht zu erraten. Er erwiderte vielmehr: wenn fie, ihrem Herzen 
folgend, ein unmiderrufliches Ja gejprochen habe, wolle er ihr auf- 
richtig Glück wünjchen; habe fie aber ein Nein gejprochen, dann — 
„trouvons la chaumiere et je t’offre le tendre ami... echangeons 
nos promesses!“ Den Freunden jchrieb er in geheimnisvollen, aber 
für diefe verftändlihen Worten, daß fein Briefwechjel mit Frankreich 
jebt die höchſte Wichtigkeit für ihn gemönne, ſchon der nächjte Brief 
fünne entjcheidend fein, und von fich betont er, daß er jelbitändig, 
frei und notwendig handle. Daß er auf eine Ablehnung feines An— 
trages nicht gefaßt war, geht aus einem Brief an de la Fohe vom 

29* 


Chamiffo8 Zeben unb Werke. 


9, Dftober deutlich hervor. In einem Brief vom 25. September, den 
er etwa drei Wochen fpäter erhalten haben wird, erklärte ihm nun 
Cérès rundweg: „Il est possible que je ne sois jamais & un autre, 
mais je fais ici serment de n’etre jamais & toi.“ Es ſcheint faft, al3 
ob Chamiſſo auch aus diefem Brief das ablehnende Nein noch nicht 
herausgehört Hätte und die Nolle des zweiten Bewerbers, im Fall, 
daß der erite zurückzog, nicht al® unmwürdig empfunden habe, denn nad) 
einem Brief an Barnhagen vom 29. Dftober jah er die Angelegen- 
heit, folange er nicht jelbjt nach Frankreich fomme, nicht als ent- 
ihieden an. Indes waren die Würfel des Krieges gefallen. 
Napoleon hatte eine Woche nad) der preußifchen Krieggerflärung 
den Staat Friedrichs des Großen durch die Schlacht bei Jena-Auer— 
jtädt vernichtet, Hatte am 27. Dftober feinen Einzug in Berlin gehalten, 
und Erfurt, Spandau, Küſtrin und Magdeburg hatten jich den Fran- 
zojen feig übergeben. Durch) dad Bamberger Dekret Napoleons vom 
7. Oktober war allen im preußifchen Heere dienenden Franzojen im 
Tall der Gefangennahme Friegsgerichtliche Unterfuhung und Todes- 
itrafe angedroht. Die deshalb von Chamiſſo bei jeinem Oberjten unter- 
nommenen Schritte führten feine Anderung feiner peinlichen Lage 
herbei, doch erwies fich daS Bamberger Dekret in der Ausführung bei 
weitern nicht jo gefährlich, wie es zuerſt den Anfchein Hatte. Ihm blieb 
alſo nichts anderes über, als „gegen ſich jelber in Reih und Glied aus— 
zuharren” — „ein gedungener Sinecht und angebundener Sklave”. Da 
überhebt ihn die unerwartete, ſchmachvolle, ohne Schwertitreich er— 
folgte Übergabe de3 günstig gelegenen und gut ausgerüjteten Hameln 
am 21. November an einen weit ſchwächeren, nur über drei Regimen- 
ter verfügenden Gegner aller Sorgen. Er brauchte zwar nicht mehr 
gegen jeine Landsleute den Degen zu ziehen, aber er war jchon zu 
jehr Deutjcher geworden, um nicht die Schmach des deutſchen Namens 
an jich jelbit mitzuempfinden. Voll Ingrimm und Heiligen Zorn? be- 
richtete er Fouque ausführlich über die haarſträubenden Einzelheiten 
während und nach der Übergabe, aus denen erfichtlich wird, daß die 
Feigheit nur bei ven höheren Offizieren, nicht bei ven Soldaten und 
ven jüngeren Offizieren anzutreffen war, wie es denn auch bei Be- 
fanntwerden der Übergabebedingungen zu einer Empörung gegen 
ven Kommandanten, den 76jährigen General v. Schüler, gefommen 
war. Ja, die gemeinjam erlebten Stunden der Gefahr hatten ihn 
30 * 


5 


— 


5 


D&D 
oO 


[WS] 


0 


Übergabe Hamelns. Austritt aus dem Heer. 


feinen Kameraden, unter deren Mißtrauen er zu leiden hatte, näher 
gebracht, und er urteilt jeßt etwas milder über die fchlecht geleiteten 
preußiihen Soldaten. Mit einem Paß nad Frankreich verließ er 
tränenden Auges den Schauplaß diejer trüben Erlebniſſe. Die zwei 
Sahre jpäter eingejeste Immediatkommiſſion zur Unterſuchung der 
Kapitulationen beantragte gegen die leitenden Generale die Einlei- 
tung des Friegsgerichtlichen Verfahrens, woraufhin der Kommandant 
und der ihm beigeordnete General Lecocq zu lebenzlänglicher, die 
Generale v. Heyn und v. Caprivi zu bierjähriger, vom König auf 
zwei Jahre herabgejeßter Feſtungshaft verurteilt wurden. Auch Cha- 
mifjo mußte ſich über fein Verhalten und feine Beobachtungen in 
einem Bericht an die Immediatkommiſſion rechtfertigen; ex tat dies in 
feiner freimütigen, jcharfen Art und bejchuldigte die beiden Komman- 
deure jeines Regiments, dv. Heyn und v. Caprivi, des Verrat. Dar- 
aufhin wurde ihm unter dem 21. März 1809 daS Zeugnis der Pflicht— 
treue im Kriege erteilt und ihm der Abſchied mit dem Titel eines 
Premierleutnants formell bewilligt. 


x 


1 


o 


fer 
or 


wilden Frankreich und Deultſchland. 
Paris, Champagne (Dezember 1806 bis Dftober 1807). 


20 Nach dem Hameler Erlebnis beginnt der traurigfte Abjchnitt im 
Leben Chamiſſos. Noch nicht Deutjcher genug, um hier feiten Fuß 
fafjen zu können, und nicht mehr der Franzoſe, der ſich in feinem Ge- 
burt3lande wohl fühlt, wird er, ein Opfer des Napoleoniſchen Welt— 
frieges, unſtet zwiſchen Deutjchland und Frankreich Hin und her ge- 
trieben. In einem Brief an Varnhagen nimmt er von den durch den 
Zuſammenbruch des preußifchen Staates nach allen Richtungen Hin 
zeritreuten Freunden wehmütig, aber männlich gefaßt Abjchied und 
ſchließt: „Sch begehre nach Frankreich, Dort will ich mich eine Zeit ver- 
bergen, bis ich wieder unter Euch mich einfinde; denn ein Deutjcher, 
aber ein freier Deutjcher bin ich in meinem Herzen und bleib’ ich auf 
immerdar.” In Paris erhielt er von jeinem Bruder Hippolyte die 
traurige Kunde, daß jeine Eltern, von denen er jeit Oktober feine Nach— 
richt Hatte, beide gejtorben feien, und jein Schmerz faßte fich in die 
wenigen Worte zujammen: „Sch habe fein Haus mehr, da ich wohne.“ 
85 Es drängt ihn, Céres Duvernay in Paris aufzujuhen. Als Berliner 
31* 


2 


or 


3 


o 


Chamiffo8 Leben und Werke. 
Freund wird er in ihre Familie eingeführt und lernt den Vater, einen 
Genieoffizier, namens Barois, kennen. Er iſt jo töricht, ihr wiederum 
feine Hand anzubieten und erhält diejelbe Antwort wie damals; feine 
Mitteilung darüber an de la Foye beginnt mit den melancholiſchen 
Worten: „A propos, Cérèes. Nunja, die ift Hin — nun, was denn mehr. 
Ach ja, hätt’ ich es Doch bald vergefjen!" Bon Paris geht er zu den 
Geſchwiſtern in die Champagne, wohin Ceres ihm jchreibt, daß Herr 
bon Montcarel jest fürmlich um ihre Hand angehalten Habe und an- 
genommen worden jei, und jte bittet ihn, das vertraulihe „Du” fünf- 
tig nicht mehr zu gebrauchen. Da aber ihr Verlobter vorläufig Frank— 
reich auf längere Zeit verlajjen mußte, bedurfte fie noch des Freun- 
des, und der Briefwechjel wurde zum Nachteil Chamifjos fortgejebt. 
Nachdem er eine ihm durch Koreff3 Vermittelung in Ausficht geitellte 
Bibliothefaritelle in Paris abgelehnt hatte, blieb ihm nur die Alterna- 
tive, entweder nach Deutjchland zu den Freunden zurüdzufehren und 
hier zu ftudieren, oder fich in Frankreich günftig zu verheiraten. Zum 
größten Erjtaunen jeiner Angehörigen mweilt er ein ihm bejtimmtes 
reiches junges Mädchen zurüd, doch wohl von der noch nicht überwun- 
denen Liebe zu Céres mit beeinflußt. Zur Fortjegung des „Fortunat“ 
bietet jich feine günjtige Stimmung, obwohl er zu der jchwierigen 
Rolle der Agrippina eine Studie am lebenden Objekt machen mill, 
nämlich an einer in Vertus lebenden Kofette, die ihn ihrer Beachtung 
gewürdigt hatte, Doch Hielt er jich gefeit, nicht in die Netze diejer 
„Sirene jeines Kreidemeeres“ zu fallen. Damals wird er auch in 
der Nähe von Saint Menehould die Stelle wiedergejehen haben, mo 
das Stammſchloß feiner Väter gejtanden hatte und jetzt der Pflug 
de3 Landmannes jeine Furchen zug. Seine Briefe enthalten zwar 
nicht3 darüber, aber jpäter erzählte er im Jahre 1836 dem franzö— 
lichen Schriftiteller Xavier Marmier von dem tiefen Eindrud, den 
der Beſuch jeiner Heimat bald nach dem Tilfiter Frieden auf ihn ge- 
macht habe. Es ift, als ob fich ſchon damals der Keim feines unfterb- 
lichen Liedes vom „Schloß Boncourt” in feine Seele gejenft hätte. 
Das jiegberaujchte Napoleonische Frankreich ward ihn bald verhaßt, 
das alte Deutjchland war zerftört und das neue noch nicht erjtanden, 
jeine Familie war ihm innerlich entfremdet — da erwies ſich die 
unmandelbare Treue feiner deutſchen Freunde als Rettungsanfer, 
und er nahm einen Paß nad) Deutfchland. 
32” 


— 


5 


DD 
o 


DD 
ot 


5 


1 


2 


3 


3 


or 


o 


or 


o 


or 


oO 


or 


Aufenthalt in Frankreich, Rückkehr nah Deutfchland. 





„Berlin (Dftober 1807 bis Januar 1810). 

Welche Figur der damals 26jährige Chamiſſſo als Zivilift machte, 
hat uns Barnhagens Schweiter Roja Maria mit lebhaften Farben 
gejchidert: „Er trug eine elegante polnische Kurtfa mit Schnüren be- 
jest, ging mit ſchwarzem, natürlich Herabhängendem Haar, mit einer 
leichten Mütze, was ihm jehr wohl jtand und nebſt einem feinen 
Schnurrbart feinem geiftreihen Gejicht voll Ernſt und Güte, feinen 


‚Schönen fprechenden Augen voll Treue und Klugheit einen eigentüm— 


fihen Ausdrud verlieh, fo daß er al3 eine angenehme Erjcheinung 
auffiel.” Denjelben Eindrud gewährt eine Zeichnung jeines Kopfes 
von E. T. A. Hoffmann, die Franz Kugler jeinen „Liederheften” vor- 
angejftellt Hat. „Zugleich war er”, fährt Roſa Maria fort, „voll ritter- 
licher Höflichfeit und Galanterie, ein Erbteil feiner franzöjiichen Ab- 
funft, die manchmal einen Anſtrich von Steifheit hatte, weil fie echt 
altritterlich war... Mit feinem lieben Gemüt, feinem ausgezeichneten 
Geiſte wußte er Zuftände und Verhältnifje, bald mit Ernſt und Ge— 
fühl, bald mit Wi und Humor immer richtig aufzufaffen. Manchmal 
mar er voll der heiterften Laune, fröhlich wie ein Kind, zu Spiel und 
Scherz aufgelegt. Er jprach das Deutjche zwar nicht ohne Anſtoß, an 
ſich war e3 jedoch vortrefflich und die Unterhaltung mit ihm immer 
angenehm und interejjant.” 

Nachdem Chamifjo Fouque auf dem Landfik in Nennhaufen bei 
Rathenow befucht und die dahin eingeladenen Freunde Barnhagen 
und Neumann zum erjten Male wiedergejehen hatte, ging er auf furze 
geit nad) Hamburg, wo ihm der um Gurlitt verfammelte Freundes- 
freis lebhafte Teilnahme für feine deutſchen Gedichte und die Deutjch- 
heit feines Wejens bezeugte. Sein Ziel war wieder Berlin, wohin 
Varnhagen und Neumann übergefiedelt waren, als Napoleons Macht- 
jpruch die Univerfität Halle aufgehoben hatte, und wo er auch den aus 
Warſchau ohne Amt zurücgefehrten Hisig wiederjah. Nur zu bald 
zeigte e3 jich, daß Chamifjo, der jveben dem blendenden Glanz des 
fatjerlichen Frankreich entflohen war, ſich in dem gefnechteten Berlin 
erſt recht unfrei fühlen mußte. Die Niederlage des Krieges und der 
Drud der Fremdherrichaft hatten überall eine beklommene, mutlofe 
Stimmung und einen mehr verſteckt als offen zur Geltung fommenden 
Haß gegen das Franzojentum erzeugt, zudem erforderte die Zer— 
rüttung der pefuniären Verhältniffe überall die größte Einjchränfung 

Chanıfjo. I. 33* Il 


Chamiſſos Leben unb Werke. 


der Lebensweife. Auch das geiftige Leben der Haupiftadt ftodte be- 
denflich und bot geringe Anregung. Zwar eilten Friedrich Auguft 
Wolf und Schleiermacher aus Halle, Fichte aus Königsberg herbei, um 
im engeren reife durch Borlejungen zu fördern, aber in dem runden 
Gaale de3 Ufademiegebäudes, mo Varnhagen Fichtes zündenden Reden 
über die Wiedergeburt des deutichen Volkes begeijtert folgte, war 
für Chamifjo fein Pla. Auch die Freunde waren gezwungen, ihre 
eigenen Wege zu gehen, um fich in jenen ſchweren Tagen über Wajjer 
zu halten. Varnhagen, in dejjen egoijtiihe Natur Chamifjo jetzt tiefere 
Blide werfen konnte, war außerdem viel durch gejellichaftliche Be- 
ziehungen gebunden und verließ Michaelis 1808 die preußiſche Haupt- 
ftadt, um erjt in Tübingen, dann in Wien feine Studien fortzufegen. 
Neumann war durch die Stellung eines Hofmeijters in einem gräf- 
Iihen Haufe ganz in Anſpruch genommen. Nur Hikig konnte fich, 
nachdem ihm die Gründung einer Buchhandlung und eines Heinen 
Berlages geglüdt war, Chamijjo etwas mehr widmen; er nahm ihn, 
der nur über 200—300 Taler jährlicher Einfünfte aus dem elterlichen 
Bermögen verfügte, zeitweije jogar in jein Haus auf. Enttäufcht 
ichreibt daher Chamifjo im Oktober 1808: „Mein Leben, das fich jegen 
und geftalten follte, Hat fi) vielmehr in öden Sand gejchlagen und 
verloren.... Die Welt ift mir überall mit Brettern vernagelt, und 
ich weiß nicht, mo aus noch ein." Eine Abwechſelung boten nur häu— 
figere ländliche Befuche bei Fouqué, von dejjen hoher dichterifcher Be- 
gabung er noch ganz dDurchdrungen war, und dem er jet im Geiſt ver- 
traut war: „Du, mein Biederer”, jchreibt er einmal, „bijt mir mehr als 
ich's jagen kann, eine feſte, ruhige Stüße, an der ich mein Haupt mit 
Zutrauen lehne, und warın Du e3 jelbjt nicht ahneſt, gejchieht es oft, 
dag ich Deinen Geift zitiere, auf daß er mit mildem Scheine mid) er- 
helle und vor faljher Bahn mich warne.“ Sein Herz blieb fühl und 
liebeleer. Endlich iſt er jo weit, die noch immer zärtlichen Briefe von 
Céres Duvernay mit kaltem Schweigen zu beantivorten und darin zu 
beharten, als fie ihm, die verlegte weibliche Eitelfeit fchlecht verhüllend, 
Undankbarkeit vorwarf. AS fie fich Anfang 1809 mit Herrn von Mont- 
carel verheiratete, verjchwindet fie in dem Dunkel, aus dem fie her- 
vorgegangen var. 

Seinen mannigfahen Studien fehlte ein fejter Plan. Er lernte 
Lateiniſch und gleichzeitig Spanisch und Italieniſch. Dichteriiche Stim- 


34* 


5 


„ 


0 


[0] 
o 


[30] 


3 


or 


1 


1 


2 


2 


3 


3 


o 


ot 


oO 


x 


oO 


or 


Unbefriebigte3 Leben in Berlin. 


mungen gelangten nicht zum Durchbruch. Das „Fortunatus”-Frag- 
ment lag wie da3 „Eigentum eine3 Berjtorbenen” verfiegelt auf dent 
Tiſch, und zu einer Mitarbeit an einem größeren Roman der Freunde 
fam e3 auch nicht. Varnhagen und Neumann hatten ſich, durch Sean 
Pauls „Tlegeljahre” angeregt, zu einem gemeinjamen Roman: „Die 
Verſuche und Hinderniſſe Karla”, vereinigt, zu dem jeder nad) 
einem flüchtig entworfenen Plan einzelne Kapitel jchreiben jollte. 
Auch Fougque beteiligte fich lebhaft an der Arbeit, und man fcheint ge— 
plant zu haben, Chamiſſos Hameler Kriegserlebnijje vem Roman ein» 
zureihen, doch wurde davon Abſtand genuinmen, und der erjte Teil des 
Werkes erichien Ende 1808. Der von Unwahrſcheinlichkeiten jtroßende, 
mit meijt abgejhmadten Parodie vollgepfropfte Roman war jchon 
feiner Entftehung nad) ein totgeborenes Kind, ver E. T. U. Hoffmanns 
überjchwengliche8 Lob in den „Serapionsbrüdern” entjchieden nicht 
verdiente, wohl aber die brieflich geäußerte jcharfe Ablehnung Brenta- 
n03. Für die beablichtigte Fortjegung de3 wenig beachteten Romans 
entwarf Chamijfo mit Neumann den Plan der eriten Kapitel. Er 
ffizzierte jelbit einen jet aus Varııhagens Nachlaß zugänglich gewor— 
denen, nicht mit Sicherheit datierten, in ven Schlußanmerfungen ab- 
gedruckten Abfchnitt. Er ift wie in „Adelberts Fabel” in der Ich-Form 
verfaßt und behandelt das bei den Romantikern beliebte Doppel- 
gängermotin — der aus fröhlicher Gefellfchaft heimkehrende Adelbert 
erblidt an jeinem Schreibtijch fein geſpenſtiſches Ebenbild — und 
bildet thematifch eine Art Vorſtufe zu der ſpäteren Terzinendichtung 
„Erſcheinung“. 

Um dieſe Zeit muß dem Dichter wider Erwarten und ohne be— 
wußtes Verſchulden von ſeiten eines hochſtehenden Mannes eine ihm 
ſehr ſchmerzliche Kränkung widerfahren fein, über die wir indes nicht 
genau unterrichtet find. Er fchreibt anı 7. Januar 1809 an Fouque: 
„Der Abfall der Freunde ift ein düſtrer Herbft, auch ich, mein Lieber, 
ackre nun mit ſaurem Schweiße dies mir neue Feld der Erfahrung und 
merfe, wie man nach gar feinem vernünftigen Gejebe zu dem Fron— 
dienjte fommandiert wird. Da ijt mir auch ein folcher Hiobsbote ganz 
unerwartet von Dir unbefanntem Orte gefommen und hatmir Scheide» 
briefe gebracht, die nur ein verrückt geiwordener Windftoß veranlaßt 
hat. Soldhe Dinge vermögen einen jehr unglücklich zu machen.” Eine 
beftimmtere und jchärfere Außerung findet fich in der dem „Tagebuch“ 

| 35* III* 


Chamiſſos Leben und Werte, 





der „Weltreife” vorangehenden Lebensſkizze, wobei es dahingeſtellt 
bleibe, ob fie mit der Briefjtelle in direkter Verbindung fteht: „Um zer- 
jtörendften wirkte ein Mann auf mich ein, einer der erſten Geilter der 
‚Zeit, dem ich in frommer Verehrung anding, der, mid) emporzurichten, 
nur eines Wortes, nur eines Winfes bedurft hätte, und der, mir jebt 
noch unbegreiflich, ſich angelegen fein ließ, mich niederzutreten.” Viel- 
leicht ift diejer große Unbefannte Schleiermacher, mit dem er nad) 
mehreren Briefitellen fchon während der Leutnantszeit befannt ge- 
worden var, und vielleicht war eine übertriebene, in jener Zeit er- 
Härfiche patriotiiche Neizbarfeit gegen den Franzoſen Chamifjo der 
Grund der Entzweiung. Auch Varnhagen erzählt, daß er öfters in 
Gegenſatz zu Schleiermacher geraten ſei, weil diejer franzöfierende An— 
jhauungen bei ihm mitterte. Auf alle Fälle war Chamiſſo Berlin 
verleidet, und nachdem der Plan, jich der Landwirtichaft zu widmen, 
auch Fehlgejchlagen war, folgte er dem Auf feiner Angehörigen, nad) 
Frankreich zurüczufehren, um eine ihm durch einen alten Freund der 
Familie verichaffte Profeſſur an einem Lyzeum anzutreten. 


Paris (Februar bis Juli 1810). t 

Nachdem er auf dem Wege in die alte Heimat in Hamburg wie- 
derum einen kurzen Aufenthalt genommen hatte, jeßte er die winter- 
fiche Reife über Osnabrück, Düſſeldorf, Aachen, Lüttich und Brüffel 
fort und erreichte am 8. Februar 1810 Paris, wo wieder wie bei feiner 
legten Anweſenheit eine Hiob3botichaft feiner wartete. Im Begriff, 
nach Napoleonville in der Bretagne (die Stadt hieß eigentlich Pontivy, 
bi3 Napoleon für gut befand, ihr feinen Namen zu verleihen) abzu— 
reifen, um die Stellung eines „„professeur suppl&mentaire“ am dor— 
tigen Lyzeum anzutreten, erhielt er von dem Proviſeur der Anſtalt die 
Kachricht, daß die für ihn bejtimmte Stelle aufgehoben und eine andere 
nicht offen fei. Die ganze unflare Angelegenheit wirft, fall3 nicht eine 
beabfichtigte Myſtifikation vorliegt, ein ſehr ungünftiges Licht auf die 
damalige Verwaltung, da man in der Provinz nicht wußte, mas in der 
Hauptitadt bejchloffen war. Wenn auch enttäuscht, verfolgte Chamiſſo 
jeine Anfprüche nicht weiter, da er fich troß feiner früheren Studien 
nicht reif genug fühlte, um al3 Lehrer des Griechischen tätig fein zu 
lönnen, und ihm die wenig ausficht3reiche Beamtenlaufbahn nicht zu— 
jagte. Die ihm überall entgegentretende autofratiiche Verwaltung 

36* 


ot 


20 


nn 
or 


5 


ws 





“ 


1 


1 


2 


2 


3 


& 
o 


a 


o 


or 


oO 


or 


oO 


Deutſcher in Paris. 





Napoleons widerjprach jeinen jelbjtändigen Neigungen durchaus, und 
faum in Baris warm geworden, wurde er wieder von Sehnjucht nad) 
den deutjchen Freunden erfaßt. Aber auch mitten im Strudel des 
Pariſer Lebens, wo oft nur eine gemeinjame Wand die Bugübungen 
der Frommen bon den Ausjchweifungen der Lüjtlinge trennte, ge- 
dachte er feinen ruhigen deutihen Weg gelafjen Hinträumend fort- 
zuſetzen. „Nirgends bin ich”, jchreibt er an Fouque, „klotziger deutſch 
geweſen als eben in Paris.“ 

Der Zufall wollte, daß er gerade hier alte deutjche Freunde mie- 
derjah und neue gewann. Er traf Koreff wieder, der, von Metter- 
nich gefördert, jich in den Parijer Salons eines glänzenden Rufes er- 
freute, al3 Arzt wegen feiner magnetischen Kuren, al3 Mann von Geift 
wegen feiner Kenntnis der deutjchen Literatur und feiner werbenden 
Begeijterung für Jean Paul und E. T. U. Hoffmann. Er traf Varn— 
hagen wieder, der inzwijchen zum Doktor der Medizin und öfterreichi- 
ſchem Leutnant aufgerüdt war und in Paris in der Gefolgſchaft des 
Grafen Bentheim bei einem offiziellen Mafjenempfang bei Hofe 
Napoleon eine tiefe Berbeugung machen durfte. Er lernte ferner den 
Hamburger Karl Sievefing, einen Freund Varnhagens, fennen, den 
Romaniſten Immanuel Bekker und Ludwig Uhland, die beide die alt- 
franzöfifchen Literaturfchäße der Bibliotheque Nationale durchitöber- 
ten. Er geiteht, daß ihn nächſt Goethe fein Dichter jo jehr angeregt 
habe wie Uhland, jo unanjehnlich auch fein „kleines, dickrindiges und 
klotziges“ Außere ſei — feine fpätere Lyrik beftätigt vollauf den be- 
deutenden Einfluß der Lyrik Uhlands. Diejer fand, daß die ihn zur 
Durchlicht übergebenen „Fortunatus"-Fragmente Chamiſſos fich leben— 
dig genug ausnahmen, und forderte ihn zur Mitarbeit an dem Kerner- 
ihen Muſenalmanach auf. Beide berührten fich in dem Intereſſe am 
Volkslied, und Chamifjo begann dem damals noch fait unbekannten 
franzöſiſchen Volkslied nachzufpüren. Paris war aber nicht der richtige 
Boden für folklorijtiiche Sammlungen, da man hier wenig echte Volks— 
lieder, ſondern meiſtens jchlüpfrige Vaudeville-Chanſons fang, und ex 
iheint auch bald in feinen Bemühungen erlahmt zu fein. Wir wiſſen 
nur, daß er eine in den reis der Taucher-Sagen gehörende Ballade: 


5 „La fille du roi d’Espagne“, Uhland zur Überjegung ins Deutjche über— 


ließ, und dem aus feinem Nachlaß veröffentlichten Lied „Neigentanz der 
Mädchen” liegt ein damals gefundenes franzöfisches Volkslied zugrunde, 
36 


Chamiſſos Leben unb Werke. 


In Paris zog wieder die Liebe in Chamifjos Herz ein. Er er- 
neuerte die Belanntjchaft mit Helmine von Chézy, die und den Pagen 
Chamifjo fo reizend gefchildert hat. Nach der Trennung ihrer erjten 
Che war fie, faft mittellos und auf ſchriftſtelleriſchen Erwerb ange- 
twiefen, nad) Paris zır der als Romanfchriftitellerin befannten Frau 
bon Genlis gezogen, allerding3 gegen den Rat der Mutter Chamiſſos, 
die dem Charakter der Genlis nicht jehr getraut zu haben jcheint, und 
ihre Stellung mar auch bald unerträglich geworden. Eine zmeite, 
mit dem Drientaliften Chezy eingegangene Ehe war gleichfall3 un- 
glüdlich, und beide Gatten lebten getrennt. Chamifjo bejuchte fie 
häufiger in Montmoreitch bei Paris, mo fie ſich während des Sommers 
aufhielt, und entwarf Varnhagens Schwefter folgendes Bild von ihr: 
„Ihr ganzes Leben, das fie mehr aus Begeilterung als nad) Hugem 
Plane gelebt, ift eine lange Kette von Mißgefchiden, die fie jedoch mit 
Mut erträgt. Sie it gut, rein, ganz Liebe, unbegreiflich mie jedes Weib. 
Gie hat zwei Kinder und eigentlich feinen Mann mehr... Sie iſt ganz 
ungelehrt, nur liederreich, doch feine Dichterin. Sie hat aber ein un- 
glaubliches Talent zu fchreiben." Es war wiederum nicht ein junges 
Mädchen, jondern eine gereifte Jrau, die Chamifjos Herz fejjelte. Sie 
teilte mit Cerd3 Duvernay die Schönheit, und diefer Schönheit hatte 
ſchon der Leutnant Chamiſſo gehuldigt, als er ihr den erjten Jahrgang 
des Mufenalmanach mit den nicht mißzuverftehenden Worten „La 
beaut& est la deesse de la poesie“ überfandte. Hatte Céres ihn durch 
Kofetterie an fich gezogen, um ihn hinterher mit berechnender Kühle 
abzumehren, jo war Helmine gun; Weib, und vielleicht dürfen mir 
jagen, ganz Hingebung. Was fie für eine Normalehe untauglic) 
machte, ihr unruhigeg, ſchwärmeriſches Weſen und die große Empfäng- 
fichfeit für die ihrer Schönheit dargebrachten Huldigungen, übte auf 
den Liebhaber einen beſonderen Reiz. Wir können nach vielen Brief- 
ſtellen nicht zweifeln, daß eine innige Zuneigung zwiſchen beiden be- 
tanden hat, doch haben allerhand Irrungen, in die wir nicht Har 
jehen, das Verhältnis bald geftört, und Helmine ging im Jahre 1810 
nad) Deutjchland zurück; der Briefwechjel wurde noch längere Zeit 
hindurch durch Vernittelung der eingeweihten Freunde fortgefebt. 
213 ſich Chamifjo fpäter nach der Weltreife verlobte, fandte fie ihm, 
ohne eine Anzeige erhalten zu haben, einen fchmollenden Gratula- 
tiondbrief, den Chamifjo freundlich, aber nicht ohne eine recht fchroffe 

38” 


— 


fer 


D&D 


IS) 


[>] 


— 


5 


0 


5 


0 


5 


0 


5 


1 


1 


2 


2 


3 


3 


or 


o 


a 


oO 


or 


oO 


or 





Beziehungen zu Helmine von Chézy. 


Äußerung über Helmines ſelbſtverſchuldete Lebensſchickſale beantwor— 
tete. Helmine hatte in Paris eine franzöfifche Überfegung von Auguft 
Wilhelm Schlegel3 Wiener Vorlefungen über dramatifche Kunſt und 
Literatur übernommen und in Chamiſſo einen Mitarbeiter gemonnen. 
Schlegel gehörte zu dem um Frau bon Stael verfammelten Kreis 
Ichöngeiftiger Männer und Frauen, der ſich num auch Chamiſſo öffnete. 


Chaumont, Foſſé (Juli bis Dftober 1810). 


Napoleon hatte die geiftuolle, bedeutende Frau von Staẽl vierzig 
Meilen außerhalb der Mauern von Paris verbannt. Denn er jah in 
ihr und ihren Beitrebungen eine nach geijtiger Befreiung ringende 
Macht fich entwideln, die fogar feinem brutalen Egoismus gefährlich 
werden fonnte, hatte fie doch manche Ideen der Revolution über- 
nommen und an den veralteten Anfchauungen der vornehmen Ge- 
jellfichaft über Religion, Staat und Kunſt mit leidvenjchaftlichem Eifer 
gerüttelt, wollte fie doch die entitehende romantijche Kunftrichtung im 
Kampf gegen den Klaſſizismus unterftügen. Verbannt, fuchte ihre 
nad Freiheit durftende Seele neue Hilfsquellen in dem Lande, das 
Napoleon im Begriff war, zu zerjchmettern. Nach ihrem Beſuch in 
Weimar bei Schiller und Goethe fand fie in Berlin in einem der Füh- 
rer der deutſchen romantischen Schule, Auguft Wilhelm Schlegel, einen 
geiltespermandten Mitarbeiter, der ihr 1805 nach Frankreich folgte. 
Chamifjo erfaßte die Bedeutung diefes Bundes der franzöfiichen und 
deutjchen Romantik auf Grund intimer Nachrichten fehr früh. Schon 
aus Hameln ſchrieb er im Juli 1806 al3 eine geheim zu haltende Mit- 
teilung an Varnhagen, daß bei Schlegel und der Stall Waffen zum 
Kriege gegen das Franztum gejfchmiedet würden, indem Schlegel 
gegen die Franzoſen, die Stael für die Deutfchen fchreiben würde. 
Bier Jahre jpäter war er berufen, diefem geiftigen Kampf gegen das 
autofratiiche Syſtem Napoleons aus nächſter Nähe beizumohnen. 
Auf Einladung der Stadt eilte er im Juli 1810 nach dem herrlich ge— 
legenen Schloß Chaumont an der Loire bei Blois an den „Hof“ der 
Staël und fiedelte Ende Auguſt mit ihr nach) dem nicht weit entfernten 
Schloß Fofje über. Hier war man mit dem Abjchluß des berühmten 
Staelſchen Werfes „De l’Allemagne‘ befchäftigt, an defjen Ausarbei- 
tung Schlegel al3 Lehrmeiſter der Stael in Dingen deutfcher Literatur 
und Kunſt beteiligt war. Diefer arbeitete außerdem an der Fortfüh> 

39* 


Chamiſſos Leben und Werke. 





rung feiner Shafefpeare-Überjegung und der genannten franzöſiſchen 
Ausgabe feiner Borlefungen, an der Chamifjo mithelfen jollte. Seine 
zerftreuten brieflichen Außerungen über die Staẽël reihen ſich den Ur- 
teilen Goethes und Schillers würdig an. Er nennt jie die dicke, feurige 
Stael, der die Natur eine tüchtige Scholle Erde aus Jronie mitgegeben 
habe, aber troßdem iſt fie voll leichter, Froher, anmutiger Bewegung. 
hr Charakter ſetzt ich aus dem Ernſt des Deutichen, der Glut des 
Südens und der Form des Franzofen zufammen. Sie iſt redlich, offen, 
leidenschaftlich, eiferfüchtig, ganz Enthufiasmus. Sie faßt die Gedan- 
fen nur mit der Seele auf, wie ihr denn Mufif über alles geht. Sie 
üt für Freiheit und Rittertum gleichmäßig begeijtert, für jich eine arge 
Ariſtokratin. Gewohnt, in der Region zu leben, wo ſich die politijchen 
Gewitter bilden, verichmachtet fie in der Verbannung. Schlegel war 
ihr ein treuer, arbeitjamer Berater, aber jeine Eitelkeit und Barteilich- 
feit fieß ihn Hein gegen die enthufiaftiiche Stael erjcheinen; gegen 
Chamijjo erwies er jich ſtets freundlich, aber immer förmlich und im 
Grunde falt. An allerhand Liebeleien und Eiferjüchteleien fehlte e3 
in dieſem reife nicht, troßdem wurde viel und angejtrengt gearbeitet, 
jo daß man ich nur während der Mahlzeiten und abends ſprach. Die 
Stael hatte ein eigenartiges, geijtreiches Unterhaltungsmittel in ihrem 
Salon, zu dem an befannteren Perjönlichfeiten auch die ſchöne Réca— 
mier gehörte, eingeführt: jtatt lauter allgemeiner oder gruppenweis ge- 
führter Gejpräche unterhielt man jich ſtumm durch Papierſtreifen, die, 
mit Fragen und Antworten bededt, von Hand zu Hand wanderten. 
Einige Stellen diejer „‚Petite-poste‘‘ genannten Korreſpondenz lajjen 
in Verbindung mit brieflichen Nußerungen Chamifjos damalige Stim- 
mung und Lage in bejonders jcharf umriſſener Beleuchtung erjcheinen. 
Er jpielte in diejer eleganten Umgebung die Rolle des ehrlichen Huro- 
nen. Die Stadl verfuchte zunächſt, ihm die Notwendigkeit gejellichaft- 
licher Formen far zu machen, er aber als Rouſſeauſcher Naturburjche 
entgegnete mwiderjtrebend mit einem jchönen Bilde: „Ne rabotez pas 
l’ecorce d’un chéêne pour le polir, il mourrait — laissez-le surtout dans 
la foret, c’est la qu’il verdit!“ Immerhin lernte er einige „Mores“, 
jo beijpielöweife, daß man in Damengeſellſchaft allenfall3 s’enivrer (ſich 
einen Rauſch antrinfen), nicht aber se griser (fich betrinfen) jagen 
dürfe. Sein fortgejegtes Rauchen erregte argen Anjtoß, jelbit wenn 
er fich in jenem Zimmer einfchloß; zu welch komiſchem Auskunfts— 
40* 


or 


— 


0 


nn 


0 


DD 
[271 


— 


0 


(2) 
— 


a 


10 


15 


25 


30 


35 


Bei Frau von Staẽl. 


mittel er griff und welchen verſchwiegenen Drt er jich einmal eine 
ganze Stunde Yang für jeine Rauchwolfen ausjuchte, und wie er da- 
durch (da fein zweiter da war) das ganze Schloß in fühlbare Ber- 
legenheit verjeßte, hat er ſpäter ſelbſt Varnhagen erzählt; Varnhagen 
hat e3 Laube erzählt und Laube hat es in feinen „Erinnerungen“ 
aller Welt verraten. Nicht3dejtomweniger erkannte die Stael unter der 
rauhen Schale den guten Kern. Sie faßte Vertrauen und Freund— 
ihaft zu ihm und mweihte ihn in ihre Lebenzichidjale ein, worauf 
Chamijjo mit gleicher Offenheit von den feinigen jprach, ja jie nahte 
ihn troß ihrer 44 Lenze mit unzmweideutigen Liebeslorfungen. Er 
aber blieb jtandhaft; fein Bekenntnis an de la Foye jchließt mit den 
Worten: „Sie ijt meine jchöne, hohe Freundin, aber weiter nichts.” 
In einer „Petite-poste‘‘ begann Chamifjo mit dem befannten Vers 
aus Goethe „Klaudine von Billa Bella”: 

Liebe ſchwärmt auf allen Wegen, 

Treue wohnt für jich allein. 

Liebe fommt euch rajch entgegen, 

Aufgeſucht will Treue fein, 
worunter die Stall, Treue mit Freundjchaft vertaufchend, jchrieb: 
„L’amour est une grande affaire, mais l’amitie est une douce chose, 
et il me semble que je Yai aufgejucht!” und Chamijjo erwidert: 
„And gefunden.” Sehr fein und geijtreich wird einmal die Frage 
der Nationalität zwilchen beiden abgehandelt. Chamifjo nennt das 
Staelſche Buch über Deutjchland ein deutjches Buch; die Stadt gibt 
zu, deutſches Blut in den Mern zu haben, aber jte will jich ihrer 
Geburt nad) al3 Franzöfin, ja als Bariferin fühlen, worauf Chamifjo 
bejtimmt entgegnet: „Dann fließt der Rhein zmwijchen uns.” Und 
darauf folgt jene fcharf pointierte Selbitcharafteriftif, die feine da- 
malige Zmitterjtellung zwischen Deutſchland und Frankreich fennzeich- 
net, aber darüber hinaus den Schlüfjel zu feinem Leben, jeinen An— 
ichauungen und jeinen Dichtungen enthält: „Je suis Francais en Alle- 
magne et Allemand en France, catholique chez les protestants, pro- 
testant chez les catholiques, philosophe chez les gens religieux, et 
cagot (Murder) chez les gens sans prejuges; homme du monde chez 
les savants, et pedant dans le monde, Jacobin chez les aristocrates 
et chez les democrates un noble, un homme de l’ancien regime.‘ 


Als endlich das Buch der Stael: „De l’Allemagne“, da3 für die Franzo— 
41* 


Chamiſſos Leben und Werke. 


fen al3 die Enthüllung einer neuen Geiftesmwelt von der weitgreifend- 
ften Wirfung geworden ift, erfchienen war, legte jich die rückſichtsloſe 
Hand des Gemaltigen, gegen den es im le&ten Grunde gerichtet war, 
auf da3 Schidjal feiner Urheberin! Das Buch wurde verboten und 
die Stael binnen zweimal 24 Stunden des Landes vermwiejen. Chamifjo 
war Zeuge diejer Kataftrophe, die jeinen Haß gegen Napoleon ver- 
ſtärkte und ihn mit dem innigjten Mitleid für das Gejchie feiner nad) 
Genf geflüchteten Freundin erfüllte. 


In der Vendée (Oktober 1810 bi3 März 1811). 


Durch) Empfehlung der Stadl wurde Chamifjo zu dem Präfeften 
Baron Proſper Barante, dem Berfafjer einer franzöfifchen Literatur- 
geichichte des 18. Jahrhunderts, nad) der kleinen Stadt Napoleonville 
in der Bendee berufen, um dieſen in die deutjche Literatur einzuführen 
und die Arbeit an den Schlegelichen Borlefungen fortzujegen. Seine 
Stellung war hier die denkbar freiefte, fein Verkehr mit Barante äußert 
freundjchaftlich; er Schildert ihn als angenehmen, janften, gemütvollen, 
unterrichteten, unparteitichen, von den Napoleoniichen Ummälzungen 
unbefriedigten Mann. Barante bemerkt in feinen „Souvenirs“, daß 
er die geringen Kenntniſſe des Deutjchen, die er je befejjen, Chamiſſo 
verdanfte, was ihn allerdings nid,t Hinderte, Schillerfhe Dramen ins 
Franzöſiſche zu überſetzen. War das Leben bei der Stadl doch immerhin 
ein lebhaft bemwegteg, hier umgab Chamiſſo die wohltuendſte, fait ein- 
ſiedleriſche Ruhe. Ein herrlicher Dftoberabend bringt ihm ein nettes 
lyriſches Gedicht: „Heiter blick' ich ohne Reue”, ein, das im Vergleich 
zu den Gedichten des Berliner Muſenalmanachs einen weſentlichen 
Fortichritt befundet. Die langen Winterabende boten ihm Zeit zu 
einer ausgedehnten Lektüre (die literarijche Handlangerarbeit an den 
Schlegelichen Vorlefungen rücte aber nur langſam vor). Er lieſt 
handjchriftliche Aufzeichnungen über die Heldenfämpfe der Vendeer 
Bauern gegen die Heere der Republik und findet in ihnen oft reine 
Motive, große Handlungen und große Charaktere. Wie naturmifjen- 
ſchaftlich er die geichichtlihen Vorgänge aufzufafjen vermochte, erjehen 
mir aus einer jpäteren Stelle in feiner „Flora“, wo er ausführt, daß die 
eigenartige Begetation der Bendee, die meilenmweiten, undurchdring- 


Iihen Stechginftergebüfche, die Art der Kriegführung bedingten, die : 


nur verſtändlich wird, wenn man den Schauplaß fenne. Der Dichter 
42* 


— 


0 


— 


5 


— 


0 


XD 


5 


— 


0 


or 


1 


1 


2 


2 


3 


3 


oO 


— 


oO 


or 


oO 


or 


Hei DBarante. 


des „Fortunatus” findet an einem diden Duartband franzöfiicher 
Bolksbücher (Troyes 162030) großen Gefallen. Der Anfang des 
„Valentin et Orson“ erinnert ihn an Tieds „Oktavian“, der „Huon 
de Bordeaux“ an Wielands „Oberon”; „Les quatre fils Aimon“ ver- 
gleicht er mit dem deutfchen Volfsbuch von den Haimonskindern; am 
gejchloffenften und, was das Wunderbare betrifft, am ergreifenditen 
findet er die „Melusine“. Zwar entgeht ihm die Eintönigfeit in den 
Kampfihilderungen und die gleiche Färbung aller dieſer ausden Ritter- 
tomanen herborgegangenen Werfe nicht, aber er wird durch das in 
ihnen bewahrte echte Gold der naiven Sage vollauf entjchädigt. Mit 
Hilfe von Roquefort3 Gloſſar dringt er in Barbazanz große Sammlung 
der „Fabliaux et contes des poètes francais des XI—XV® siecles“ 
ein. Auch da3 umfangreiche „„Mistere du Viel Testament‘ fällt ihm in 
die Hände, und eine rührende Szene aus dem „Sacrifice d’Abraham* 
(wie Iſaak vor feiner Opferung vom Bater Abjchied nimmt) mill er 
den göttlichen Sachen der Griechen an die Seite ftellen. Die aus dem 
Griechiſchen frei übertragene Baftorale „Daphnis et Chloe“ von dem 
berühmten Überfeger de3 16. Sahrhundert?, Amyot, entzücdt ihn, er 
lieſt im graziös-tändelnden Marot, doch auch der derbe Schalf Rabelais 
lächelt ihm immer vom Schreibtifch entgegen. Dieje Lektüre befundet 
eine für jein fpäteres Schaffen wichtige Vorliebe einerfeits für ſagen— 
und märchenhafte, anderfeit3 für Humoriftiiche Stoffe. Die größere 
Ruhe feines Lebens bei Barante führte zu häufigeren und geflärteren 
Gelbitbetrachtungen über feine fernere Zukunft. Bon feinen inzwiſchen 
zu Amt und Würden gelangten Brüdern entfernte er fich innerlich mehr 
und mehr; der Gedanfe an ein Staat3amt, jei es eine Profeſſur oder 
eine Archivſtellung, wollte fich gar nicht in ihm befeftigen; die Heuchelei 
der herrjchenden Klafjen in Frankreich jagte ihm ebenfomwenig zu wie 
die Freigeiſterei ver Ultraliberalen. Er entdeckte an feiner oft verfann- 
ten, treuen, biederen Art und an feiner leidlich ftrengen Moral, daß er 
nicht mehr auf franzöfifhem Boden, wohl aber im proteftantifchen 
Norden Deutjchlands gedeihen fünne, und fo reifte allmählich der Ent- 
Ihluß in ihm heran, an der neugegründeten Univerfität in Berlin 
ih einem ernithaften Studium zu widmen, um fich eine ftille, ge— 
räuſchloſe Erijtenz mit Weib und Kind gründen zu fünnen. Zuvor 
wollte er Frau von Stadl in der Verbannung befuchen, da er ſich 
ihr verpflichtet fühlte, und eine furze Alpenreiſe daran anjchließen. 
43” 


Chamifjos Leben und Werke. 


Goppet (April 1811 bis Auguſt 1812). 

Kaum in den magischen Bannfreis der Frau von Stakl zurück— 
gekehrt, entdeckte er, daß die unglücdliche, von den meilten Freunden 
verlafjene Frau in einem unmwürdigen, intimen Verhältnis zu einem 
jungen Herrin Sean de la Roca jtand, das ihn ganz von ihr entfremdete. 
Mit ftolzer Verachtung und trüber Melancholie richtete er die Ab— 
ſchiedsverſe „ſ'ai vu la Grece, et retourne en Scythie‘ an jie, Doch ver- 
mied er e3 troß jeiner inneren Abkehr, es zu einem Fränfenden Bruch 
fommen zu laſſen. Er war edel genug, nicht eher von ihr fcheiden zu 
wollen, al3 bis ſich ihre noch immer unfichere Zufunft entjchieden 
hatte; und ſie ihrerjeitS bot ihren ganzen Einfluß auf, ihn an fich zu 
fetten, jo daß die deutſchen Freunde Chamijjos ſchon wegen jeines 
langen Verweilens bei ihr in Sorge gerieten, 

Ein intereffanter Überſetzungsverſuch und eine ausgedehnte Let 
türe füllen die Zeit diefes Aufenthalts aus. Der Dichter Charles 
Guillaume Etienne war wegen einer in Paris mit Erfolg aufge- 
führten Komödie, „Les deux gendres‘ (1811), Mitglied der Afademie 
geworden, al3 man in einem hundert Jahre früher erjchienenen ano- 
nymen Drama „Conaxa“ die nicht genannte Duelle des Stückes ent- 
decte, woraus fich ein fchlimmer Plagiatsifandal entwidelte. In dem 
älteren, neu aufgelegten Stüd glaubte Chamiſſo einen guten Luſt— 
jptelftoff in mittlerer Linie zwiichen Terenz und Moliere gefunden zu 
haben, indem er in der dort gegebenen, ironiſch gemeinten Verklärung 
ver niedrigjten irdischen Macht, des Geldes, einen brauchbaren Angel- 
punkt für eine Komödie erblickte. Er überjeßte das Stüd in einer 
Woche ins Deutjche, anfcheinend in Verſe, wobei ihm Kleiſts „Zer— 
brochener Krug” als Stilmufter vorjchwebte. Die um Rat befragten 
Freunde Hißig, Fouque und Helmine von Chezy waren nach Durch— 
licht des Manuffript3 in der Ablehnung einig, und wir hören nichts 


weiter von dem Stück, deſſen Handjchrift verloren ift. Im Punkt der : 


dichterischen Ausführung werden die Freunde vermutlich recht gehabt 
haben, e3 fragt fich aber doch, ob fie nicht bei ihren romantischen An— 
ſchauungen dieſem realiftifchen Drama gegenüber im Punkt des rein 
Stofflichen ein wenig befangen urteilten. Wenn Fougue noch jeßt 


auf die Fortjebung des „Fortunat” und Doch im ftreng romantijchen : 


Sinne dringt, jo war das ein nicht mehr zu befriedigendes Anſinnen, 
denn Chamiſſo fing an, den Kinderjchuhen der Romantik zu entwachjen 


44* 


or 


— 


0 


20 


1 


1 


3 


or 


o 


or 


oO 


or 


o 


© 
or 


weiter Aufenthalt bei Frau von Stadl. 





und fich auf die eigenen Füße zu ftellen. Die vorwiegend realiſtiſche 
Leftüre der lebten Jahre und die größere Lebenserfahrung fürderten 
bei feinem angeborenen Wirklichkeitsfinn auch das Verſtändnis für reale 
Stoffe und entiprechende Fünftleriiche Darftellung (auch im „Schlemihl“ 
ipielt die Macht des Geldes eine große Rolle) und hoben ihn wie um- 
bewußt über die Freunde hinaus. In Coppet begann er die Erlernung 
des Engliſchen, freilich des gedruckten, nicht des gejprochenen Englisch, 
und feine Ausſprache war derart jchlecht, daß er Damit jpäter bei der 
Landung des „Rurik“ auf engliihem Boden die größte Heiterfeit er- 
regte, aber damals bemwältigte er an 20 Stüde Shafefpeares im Urtert. 
Die Lektüre Spanischer Schriftiteller wurde fortgejebt. Bon deutjchen 
Werfen feſſelte ihn befonders der erſte Teil von Goethes „Dichtung 
und Wahrheit” durch die Ruhe und Stlarheit der Daritellung; außer- 
dem las er zahlreiche Reifebejchreibungen aus den verjchiedenften Zei— 
ten und in verjchiedenen Sprachen. Allen dieſen Studien fehlte noch 
ein bejtimmte3 äußeres Ziel, jo daß er jich wie ein wegen Windſtille 
fejtliegendes Schiff vorfam. 

Endlich raffte fich Frau von Stael auf, ſich der unerträglichen 
politiichen Überwachung, der fie auch in der Schweiz ausgeſetzt war, 
durch die Flucht nach Wien und dann nad) England zu entziehen, und 
diefe Flucht, deren mitwirfender Zeuge Chamijjo wurde, gab auch 
ihm die Freiheit wieder. Damit endete diejer ereignisreiche Aufent- 
halt bei der Stael, der ihn einen Abjchnitt der Gejchichte Napoleons 
miterleben ließ, nämlich, wie er in der biographiichen Skizze zum 
„Zagebuch” der Weltreife jagt, „die Befeindung einer ihm nicht unter- 
würfigen Macht; denn neben und unter ihm jollte nichts Selbftändiges 
beitehen“. 

Eine briefliche Außerung de la Foyes, daß man in der herrlichen 
Natur des Genfer Sees nicht Englifch, jondern Botanik treiben müſſe, 
gab jeßt jeinen Studien eine bejtimmte Richtung, feinem Leben einen 
neuen Impuls. Mit Auguft von Stael, dem ältejten zurücfgebliebenen 
Sohn feiner Herrin, machte er allerhand naturwiſſenſchaftliche Vor— 
jtudien, legte ein Herbarium an, und im Auguft 1812 vereinigten ſich 
beide zu einer Alpenreije. Mit Alpenſtock, Botanifiertrommel und 
Pflanzenprejje bewaffnet, zog der fünftige Naturforfcher frifchen Muts 
dahin und erwies jich alsbald als guter Alpinift, bei dem die Führer 
nicht lange aushielten. Nachdem auf halber Höhe des Col du Bon» 

45* 


Chamiſſos Leben und Werte, 





Homme hinter St. Gervaiß der junge Stall umgefehrt war, ging er 
allein um die Südfeite der Montblanc-Öruppe herum über den Col 
de la Seigne und die Allee Blanche nach Courmayeur, über den Col 
Terret nad) dem Bernhardhojpiz und Martigny, dann im Nhonetal 
weiter über die Gemmi nad) Snterlafen, durchs Berner Oberland nach 
Meiringen, dann über Grimfel, Furka und St. Gotthard nad) Zürid) 
und Schaffhaujen. Anfang September war er bei Fouqué in Nenn- 
haufen und bald danad) in Berlin bei Hißig. 


Hfudent und Welfumfegler. 
Berlin (September 1812 bis Suli 1815). 


Sm 32. Lebenzjahr wurde Chamiſſo am 17. Dftober 1812 als 
Studioſus der Medizin an der Berliner Univerfität inffribiert. Sein 
Plan war diefer: „Sch will alle Naturwiſſenſchaften mehr oder weni- 
ger umfaljen und nach einigen Jahren als ein gemachter Mann und 
ein rechter Kerl vor mir jtehen, der zu einer gelehrten Reiſe im allge- 
meinen und zu einem bejtimmten Zweig in3bejondere in einer größe- 
ren Unternehmung der Art al3 tauglich ſich darftellen könne.“ Er mill 
vergefjen, je ein Sonett gemacht zu haben und, aller jpefulativen 
Philoſophie mehr denn je abhold, jich der exakten Wiſſenſchaft durch 
Beobadhtung und Erfahrung, Sammeln und Vergleichen nähern, der 
Doktorhut winkt als entferntes Ziel! Mit wahrem Feuereifer jtürzt 
er jich in die Studien, im Winterſemeſter 1812—13 hört er Anatomie, 
Zoologie und Botanik und befucht fleißig den Sezierboden. Wie e3 
damals in feinem Arbeitszimmer ausjah, fönnen wir aus einer Stelle 
de3 „Schlemihl” entnehmen: an der einen Geite des Schreibtijches 
ein ©felett, an der andern ein Bündel getrockneter Pflanzen, vor ihn 
die Werke Hallers, Humboldts, Linnes aufgejchlagen, auf dem Sofa 
ein Band Goethe und der eben erjchienene „Zauberring” Fouques. 
Sein gejelliger Berfehr bejchränfte fich auf die allernächiten Freunde, 
da ihm das Studentenleben nicht3 zu bieten vermochte. Nach wie vor 
bleibt Baul Erman fein Freund und Gönner, das Studium bringt ihn 
mit den Botanifern Kunth und Schlechtendahl zufammen, und im 
Frühjahr beginnen die gemeinfamen Ausflüge in die weitere Um- 
gebung Berlins zur Erforfchung der märfifchen Flora. Schlechtendahl 
hat uns den Touriſten Chamiffo gejchildert, der ſchweiß- und jtaub- 

46* 


ot 


10 


0 


[5°] 


DD 


5 


[Sb] 


0 


35 











1 


1 


2 


3 


3 


or 


o 


or 


o 


fe) 


or 


Studium in Berlin. „Peter Schlemihl.” 


bededt, unbefümmert um die gepußten Berliner, Sonntags abends 
durch die Straßen zog: eine alte, ſchwarze Kurtfa und eine nicht min» 
der alte, etwas verſchoſſene und fledige Sommerfleidung, bejtehend aus 
runder Jade und langen Beinkleivern aus demjelben olivengrünen 
Zeuge — jpäter noch das GStaatsfleid eines Südjeehäuptlingg — 
eine ſchwarze Mübe von Samt oder Tuch auf dem lodigen Haupte, 
eine mächtige grüne Kapjel an ledernem Riemen umgehängt, eine 
kurze Pfeife im Munde, ein ſchmuckloſer Tabaksbeutel irgendwo an— 
gehängt, einige Lebensmittel aus den Heinen Geitentajchen der Jade 
hervorjchielend — das war der Aufzug, in welchem er einherging. 

Da drohte der Ausbruch des Befreiungskrieges von 1813 alle 
Pläne und Studien wiederum zu zerjtören. Jedermann griff zu den 
Waffen, die Univerfität wurde gejchlojfen. So jehr fühlte ſich Chamiſſo 
bereit3 als Deuticher, jo jehr riß ihn die allgemeine Begeijterung hin, 
daß er einen Brief an den König aufjegte, um als Freimilliger unter 
die Gardejäger aufgenommen zu werden, aber die Freunde hinderten 
ihn an der Ausführung des Vorjages, und er jah nur zu bald ein, daß 
in diefem Augenblid die Zeit fein Schwert für ihn hatte. Aus diejer 
ziwiejpältigen, unerquidlichen Lage befreite ihn die Aufforderung der 
gräflih Suenpligichen Familie, den Sommer des Jahres auf ihren 
Landgut in Kunersdorf bei Wriegen zuzubringen, eine rettende, ihm 
durch feinen Univerfitätslehrer Profeſſor Lichtenjtein vermittelte Ein- 
ladung. Hier half er den Landjturm einererzieren, botanijierte mit 
dem Obergärtner Walter, begann feine erjte, 1815 erjchienene bota- 
niſche Schrift: „Anmerkungen zu Kunths Berliner Flora in lateinischer 
Sprache”, und jchrieb, wie zur Erholung von gelehrten Forihungen, 
den „Beter SchlemiHl”. 

Kach den erfolglos verhallten Jugenddichtungen fand dies Werk 
allgemeine und uneingejchränfte Anerfennung und begründete den 
literarischen Ruhm feines Urheber3. Die Heine Novelle ift im Grunde 
auch noch nach dem romantischen Rezept von der möglichit engen Ber- 
einigung des Tragiihen und Komiſchen, das er für den „Fortunat“ 
proflamiert hatte, gejchrieben, aber das damit geftellte kunſttheoretiſche 
Problem ift hier viel Harer und jchärfer gefaßt und in der Ausführung 
zu einer Fräftig-anfchaulichen, realiftiichen Darftellung gebracht, die 
alle romantische Berjchrobenheit vermeidet, ohne dabei an der Eigen- 
art romantischer Poeſie und romantijcher Ironie einzubügen. Mit 

47* 


Chamiſſos Leben und Werte, 


Recht ift ſtets der jtarf perjönliche Untergrund der Erzählung betont 
worden. Daß Hinter Schlemihl Chamifjo fteckt, ergab ſich nicht nur 
aus feinem Gewand, der verſchliſſenen Kurtka, jondern vor allem aus 
jeinem Schiefjal, denn Schlemihl3 traurige Iſolierung unter den Men- 
ihen war auch Chamiſſos Geſchick. Für die Zufunft feines eignen 
Lebens ift das erneute Bekenntnis Schlemihl-Chamiſſos von Wichtig- 
feit, daß er bei feiner gejellichaftlichen und politischen Abgeſchloſſenheit 
fein Leben ganz der Natur und ihrer wifjenichaftlihen Erforſchung 
widmen will. Seine Sehnjucht nach einer größeren Entdedungsteije 
findet in Schlemihls Weltreife, die mit den Siebenmeilenjtiefeln Tieck— 
ihen Angedenfens unternommen wird, eine lebendige und für den 
Verfaſſer fait divinatoriſche Darjtellung. 

Nachdem Chamiſſo im DOftober 1814 nach) Berlin zurücgefehrt 
war, ſetzte er jeine Studien fort, hörte im Winter 1814—15 ein phyſi⸗ 
kaliſches Kolleg über Magnetismus und Elektrizität bei Erman, ein 
naturwiſſenſchaftliches bei Horfel, arbeitete an feinem eigenen Her- 
barium und an der Aufitellung der Naturalienfammlungen in den 
föniglichen Mufeen. Auch belegte er bei Wolf ein lateinijches Kolleg, 
um bei der Promotion, einem alten Gelehrtenzopf zuliebe, der lateini- 
Ichen Rede mächtig zu fein. Troß all diejer vieljeitigen Tätigfeit wolfte 
eine menjchlich-frode Stimmung nicht in ihm auffommen — er kam 
jih in trüben Stunden wie ein dahinmwelfendes Blatt vor, das fein 
neues, friſches Neis mehr anjeßt. Der Tod von Hikigs jugendlich- 
ſchöner Gattin berührte auch ihn jehr, um jo mehr, als fich jein Ber- 


fehr mit dem in die Beamtenlaufbahn zurücgefehrten und mit Arbeit : 


überhäuften Freund jebt etwas einjchränfte. Als Erſatz kam man des- 
halb auf Hitzigs Anregung an einem bejtimmten Abend in einem be- 
ſcheidenen Kaffeehaufe zufammen, um mit den näheren Freunden, zu 
denen jet E. T. U. Hoffmann und Conteſſa hinzutraten, traulicher 
Zwieſprache zu pflegen. Napoleons unrühmliche Abdanfung und die 
Wiedereinjegung der Bourbonen veranlaßten Chamifjo zu dem Be— 
fenntnis, nie mehr Unluft am Politiſchen und mehr Efel gegen Frank— 
reich empfunden zu haben al3 gerade jet. Die Rückkehr Napoleons 
aus Elba verwandelte Wejteuropa abermals in ein Kriegslager. Um 
nicht noch einmal den Zufälligfeiten des Krieges ausgejegt zu fein, 
ließ er ji von Hißig zur Ausführung der langerjehnten Auslands— 
reife bejtimmen. Der Plan der Teilnahme an einer Reife des Prinzen 
48* 


— 


0 


— 


5 


— 
— 


189] 
t 


— 


5 


Die Weltreife. 


Mar von Wied-Neumied nach Brafilien zerjchlug ſich, Dagegen ward 
die Bewerbung um die Stelle des Naturforjchers bei der Romanzoff- 
ihen Erpedition zur Erforihung des nördlichen Polarmeeres von 
Erfolg gefrönt. Mitte Juli 1815 verließ Chamiſſo Berlin auf mehr 
als drei Jahre. 


or 


Die Weltreiſe (Suli 1815 bis November 1818). 


Nachdem Chamiſſo in Hamburg die alten Freunde bejucht und in 
Kopenhagen die Dichter Dehlenjchläger und Sngemann fennen und 
ſchätzen gelernt Hatte, jchiffte er jich an Bord des „Kurik“, Kapitän Otto 
bon Kobebue, ein und verließ am 17. Auguſt die dänische Hauptitadt. 
Es war eine jeltfame Laune des Schidjals, daß er jebt einem Mann 
unterftellt war, dejfen berühmter Vater, der Staatsmann und Luſt— 
ipieldichter , al3 Gegner der Romantik die „bete noire“ feiner üng- 
lingsjahre gewejen war. Es gelang ihm während der ganzen Reife 
nicht, mit dem Kapitän in ein erträgliches Verhältnis zu fommen, da 
diejer im Tone Falter, überlegener Höflichkeit einen Grad militärischer 
Unterordnung verlangte, der Chamifjo bei aller Anſpruchsloſigkeit nicht 
nachkommen fonnte. Er hat jich jpäter für die erlittene Unbill in feiner 
Reijebejchreibung mit böjen Sarfasmen an Kobebue gerächt. Bon den 
übrigen Mitgliedern des Unternehmens trat er nur dem Schiffsarzt 
und Naturforſcher Eihicholg aus Dorpat und dem Maler Choris, einem 
Deutſchen von Geburt, näher. Die Reife ging über Plymouth, 
Teneriffa, St. Katharina (in Brafilien) um das Kap Horn herum in 
die Concepcion- Bucht in Chile, von mo die eigentliche Entdeckungs— 
reife des „NRurit” begann. Im Sommer 1816 fteuerte man an der 
Diterinjel und an Sala y Gomez vorbei in die Südfee, und dann 
wurde der Kurs nördlich nad) Kamtjchatfa in den Peter-Pauls-Hafen 
genommen. Sn der Behringitraße dichtete Chamifjo die melancholi— 
ſchen, an Hißig gerichteten Stanzen, die jpäter die Gedichtfammlung er- 
öffneten. Man entdedte die Einfahrt in den Kogebue-Sund und fehrte, 
um die Überwinterung im Eife zu vermeiden, in der Abficht um, im 
nächſten Sommer weiter ins Eismeer vorzudringen. In der Zwiſchen— 
zeit fuhr man an der amerikanischen Küfte entlang und befuchte San 
Francisco, das damals noch eine öde Wildnis war, dann die Sandwich— 
35 und Radack-Inſeln. Hier fand Chamiffo in einem Fugen und anhäng- 

lichen, von den Karolinen ftammenden Infulaner, namens Kadu, einen 
Chamifjo. I. 49* IV 


oO«& 


1 


1 


ou 


2 


oO 


2 


or 


3 


oO 


cChamiſſos Leben und Werfe. 


Begleiter auf der Weiterreije, der ihm für jeine ſprachlichen und ethno- 
graphiichen Beobachtungen auf den Inſeln Polyneſiens von großer 
Wichtigkeit wurde. Er erinnerte jich jtet3 mit Sympathie diejes ſo— 
genannten „Wilden“, den er des Ausdrudes Freund würdigte. Als 
man im Sommer 1817 wieder im Behringdmeer angelangt war und 
einen Vorftoß nach der St. Lorenz-Inſel unternommen hatte, erflärte 
der Kapitän, feiner angegriffenen Geſundheit wegen die Fahıt ab- 
brechen und die Heimreije antreten zu müjjen, ohne dem eigentlichen 
Biel, der Erforſchung der nördlichen Polarregion, näher gefommen zu 
jein. Chamijjo jah als gejunder, den Strapazen der Reife gemachjener, 
forschungsbegieriger Mann in dieſem Zurückweichen eine unmännliche 
Feigheit, machte, glüdlicherweije im geheimen, feiner Erregung in 
einem Spottgedicht: „Die Reife um die Welt" gegen Kotzebue Luft 
und behandelte auch jpäter in feiner Reijebefchreibung die Angelegen- 
heit mit verhaltener Stonie. Man hat neuerdings Kobebue gegen 
Chamijjo in Schuß nehmen wollen, aber jelbjt wenn man zugibt, daß 
Chamifjo in begreiflicher Berjtimmung etwas zu herb urteilte, fo ift 
doch daran feitzuhalten, daß an Stelle des erkrankten Kapitäns ein 
anderer Offizier da3 Kommando hätte übernehmen und die Weiter- 
fahrt hätte verjuchen müfjen. Der „Rurik“ fuhr in die Südſee zurüd, 
und noch einmal hatte Chamifjo Gelegenheit, die urfprüngliche Kultur 
diejer Inſelwelt, die im Begriff war, vor dem Eindringen der Europäer 
und des Chrijtentums für immer zu verſchwinden, Tiebevoll zu jtudie- 
ren. &3 fennzeichnet den Roufjeau- Schwärmer, daß er nicht genug 
Rühmendes von der Naivität diejer Naturvölker, der Schlihtheit ihrer 
Sitten, dem angeborenen Adel der Männer, der feufchen Anmut der 
Frauen und ihrem paradiefiichen Dafein inmitten einer ewig-jonnigen 
Natur zu jagen weiß. Über Manila wurde die Reife nad) dem Kap 
der Guten Hoffnung fortgefegt. In St. Helena, wo der gehaßte ein- 
ſtige Herricher der Welt in engliſcher Gefangenjchaft lebte, wurde der 
„Rurik“ troß feiner ruffiichen Kriegsflagge von den Strandbatterien mit 
einigen Kugeln bedacht und eine Landung verhindert. Im englifchen 
Kanal erfuhr Chamifjo aus einer von einem Lotjen mitgebrachten 
Zeitung den Tod feiner einftigen Herrin und Freundin, der Frau bon 
Stall. Ein einmwöchentliher Aufenthalt in London brachte den Welt- 
reijenden wieder mit europäifcher Kultur in Berührung. Die Reife 
endigte in St. Petersburg, wo der „Rurif” am 3. Auguft 1818 an der 
Ir 


— 


0 


5 


1] 


0 


— 
or 


= 
got 





* 


1 


2 


2 


3 


0 


or 


oO 


or 


oO 


eo 
or 


Heimkehr, Anftelung und Heirat. 


Newa vor dem Haufe des Grafen Nomanzoff vor Anker ging. Nur 
eine einzige Sehnjucht erfüllte Chamiſſo, jeine Verbindungen in 
Petersburg jo jchnell mie möglich zu löfen und zu den deutſchen Freun— 
den nach Berlin zu eilen, von denen er hier zuerjt Nachrichten erhalten 
hatte. Nachdem feine reichen Sammlungen, die man ihm geftattete 
mitzunehmen, verladen waren, fuhr er mit der „Aſträa“ nach Swine— 
münde, und beim Anblick der deutjchen Erde dichtete er die rührenden 
Bere: 


„Heimkehret fernher, aus den fremden Landen, 
In feiner Seele tief beivegt der Wandrer; 

Er legt von fich den Stab und fnieet nieder 
Und feuchtet deinen Schoß mit jtillen Tränen, 
D deutiche Heimat! —“ 


Anfangs November 1818 jaß er jchon in Berlin auf Hitzigs traulichem 
Kanapee und erzählte von den Sandwichinjulanern und Kamtſchatka— 
dalen. Seine Odyſſee war beendet. 


BDollendung. 


Jetzt endlich gelang es Chamiſſo, in Deutichland fejten Fuß zu 
fajjen. Die Weltreije begründete, noch ehe er ihre Ergebnifje veröffent- 
licht hatte, feinen wijjenjchaftlihen Ruf. Zu jener Zeit, wo derartige 
Forſchungsreiſen in Deutjchland zu den größten Seltenheiten gehörten, 
bedeutete jchon die Tatjache der Reife eine Errungenfchaft und rückte 
ihn nach diefer Richtung Hin in die Nähe Aleranders v. Humboldt, der 
zuerjt durch jeine gejelljchaftliche Stellung und fein Vermögen den 
Beruf des Naturforjchers auf die breite Grundlage internationaler 
Beziehungen und außereitropäifcher Unternehmungen gejtellt hatte. 
Die lang erjehnte Doktorwürde brauchte Chamiffo jegt nicht mehr zu 
erwerben, fie wurde ihm von der Berliner Univerfität im Frühjahr 
1819 honoris causa verliehen. Die Gejellfchaft der naturforschenden 
Freunde in Berlin erwählte ihn zu ihrem Mitglied. Um diefelbe Zeit 
beitellte ihn die preußiiche Regierung zum Adjunften beim Botani- 
Ihen Garten in Schöneberg mit einem Anfangsgehalt von 600 Talern 
und freier Amtswohnung. Nun ging auch die Sehnfucht des Jüng— 
ling und Mannes nach einer glüdlichen Ehe in Erfüllung, in einem 
Augenblid, mo gerade das Heiraten unter feinen Freunden „endemifch“ 
zu werden jchien; hatten doch Neumann und de la Foye, beide ſchon in 

51* — 


Chamiſſos Leben unb Werte 


borgerücdten Jahren, dem Junggeſellenleben Ude gejagt. Chamiſſos 
Wahl fiel auf die achtzehnjährige Antonie Piafte, die, in Hibigs Haus 
als Pflegetochter aufgewachſen und erzogen, ihm jchon als Kind in 
der Leutnantzzeit ſcherzweiſe anverlobt worden war. Er hatte, wie 
er e3 fich in der Jugend vorgeſetzt hatte, mit dem Verſtand gemählt, 
ſich nad) einem Plan verliebt. Wenn er die Braut in einem Brief an 
Barnhagen mit ven Worten fchildert: „ste ift jung, blühend und ftarf, 
ihön und fromm, rein und bewußtlos, far, molfenlos und heiter, 
ruhig, verjtändig und froh, und fo liebevoll”, jo entſprach dies Bild 
ganz dem Ideal des Sünglings. Eine hübſche Charafteriftif Antoniens 
gibt ein Stammbuchvers Neumanns: 
„Kennt du das göttliche Weſen, man nennt als Kind es die Unfchuld, 

Aber zur Jungfrau gereift, wird es die Tugend genannt. 

Dir num lächelt im Aug’ ein Wejen, iſt's Kind, iſt es Sungfrau? 

Zweifelnd geb’ ich ihm gern beide die Namen zugleich.” 

Wohl war er jich des großen Mtersunterjchiedes und feines früh 
ergrauten Haars bewußt, aber er vertraute der Kraft feines liebefähi— 
gen, ungebrochenen Herzens und hegte die Zuverficht, auch die junge 
Braut glüdlich machen zu können. Und was wie ein Märchen Klingt, 
daß ein franzöfifcher Graf nach vielen Lebensſchickſalen ein fchlichtes 
deutjches Bürgerfind zum Altar führt, ward zur Wirklichkeit. Die Hoch— 
zeit wurde, als alle Formalitäten der Anftellung erledigt waren, am 
25. September 1819 gefeiert. 

Kun beginnt die glüdlichite Zeit im Leben Chamiſſos. Die Che 
erwies fich al3 die denkbar glüdlichite , das Amt befriedigte ihn voll- 
fommen, jeine Gejundheit blieb unerjchüttert. Er entfaltete eine 
reiche Tätigkeit als Naturforjcher, um die auf der Weltreije eingeheim- 
ten Schäße zu fichten und herauszugeben, und allmählich erfüllte ihn 
auch wieder wie früher Freude am poetijchen Schaffen. Che, Amt, 
Wiſſenſchaft und Poeſie vereint gewannen den Franzojen vollends 
dem Deutjchtum, ſoweit das Aufgeben einer angeborenen Nationalität 
überhaupt möglid) ift. 

Dies ftille Gelehrten- und Poetenleben floß in ruhigem, gleich- 
mäßigem Gange dahin, reich an alten Erinnerungen und inneren Er— 
lebnijfen, an Studien und Schöpfungen, aber äußerlich weit ab von 
dem geräufchbollen Getriebe de3 Tages. Nur wenige Ereignijje und 
Reifen unterbrechen diejen ruhigen Lauf. Im Juli 1822 brach in 

52* 


— 


0 


15 


[80] 
or 


[N 


0 


Kleinere Reifen. 


jeiner Schöneberger Wohnung Feuer aus, das einen Teil der Einrich- 
tung zerftörte, die wichtigen Sammlungen aber größtenteils unverjehrt 
ließ, ihn jedoch nötigte, in Berlin jelbit Wohnung zu nehmen und täg- 
fih den langen Weg nad) Schöneberg zu Fuß zu machen. Seine 
Tätigfeit wandte fich jeitdem mehr dem föniglichen Herbarium zu, das 
dem Botaniſchen Garten gegenüber lag, und führte zu einem jehr an- 
genehmen und erjprießlichen Zufammenarbeiten mit dem Leiter des 
Herbariums, Schlehhtendahl. Überhaupt geftaltete ich derUmgang mit 
den Berliner Fachgenoſſen jehr herzlich. Zu ihnen trat jegt der Arzt 
und Naturforicher Karl Bernhard v. Trinius, mit dem Chamiffo durch 
gleiche wifjenjchaftliche und poetische Intereſſen verbunden war; feine 
hohe Bewunderung für dejjen dichterifche Leiſtungen beruhte allerdings 
auf einer unfritifchen Überfhäsung. Als Trinius fpäter nach Peterz- 
burg überfiedelte, erinnerte er jich dankbar der trauten „Bhilemon- 
und Baucishütte” in Schöneberg und ihrer gaftfreien Inſaſſen. Im 
Sommer 1823 verlieg Chamiſſo zum erjten Male nach feiner Ber- 
heiratung Berlin, um in amtlihem Auftrage in Greifswald und Um- 
gegend barometrische Beobachtungen anzuftellen, Torfmoore zu unter- 
ſuchen und Pflanzen für Schulherbarien zu jammeln. Die alte Wander- 
luft erwachte von neuem, denn er machte die ganze Reiſe innerhalb 
dreier Tage zu Fuß. Auf einem märkiſchen Gut befuchte er die Ham- 
burger Freundin Henriette Herz und meldete fich dabei auf einer Karte 
als „Wilder von den Sandwichinjeln” an; fein Anzug war nach ihrer 
Befchreibung in der Tat dementiprechend: mit lang herabhängenden 
Haaren, unrajiert, in einem grünen Kalmuckflauſch, die Botanijier- 
trommel über die eine Schulter, über die andere den Kaften mit dem 
Barometer. Die bedeutenditen Perjönlichfeiten unter jeinen Greifs- 
walder Befanntichaften waren der Hofrat und Profefjor Borries und 
dejjen Frau Sophie, die jpäter berühmt gewordene Dichterin Diotima. 
Der Aufenthalt endete mit einem Ausflug nad) Stubbenfammer und 
Arkona auf Rügen. Seine Reijeberichte an Antonie find voller Sehn— 
ſucht nad) Weib und Kind und den geliebten vier Wänden der ftillen 
Häuslichkeit und jtrahlen zugleich die reinjte Freude über die Hoch- 
achtung aus, mit der er überall empfangen wurde; begann er doc) 
35 bereit3 al3 Mann ohne Schatten und Weltumfegler berühmt zu wer— 

den. Im Sommer de3 nächſten Jahres machte Chamiſſo troß der Un— 

gunft der Witterung eine Erholungsreije in den Harz und beitieg den 

4 53* 


or 


er 
o 


1 


or 


2 


oO 


2 


or 


3 


© 


Chamifjod Leben und Werte. 


Brocken, an dejjen Fuß er einft als Friegsgemäß ausgerüfteter Leut- 
nant bvorbeimarjchiert war. Der junge Heine war ftolz, den Namen 
des verehrten Chamifjo im Fremdenbuch des Gaſthofs „Zur Krone“ 
in Klausthal zu finden, und verjäumte nicht, diefen Fund in feiner 
„Harzreije” anzumerfen. Eine Reihe von Liedern verdankt dieſen 
Neijen ihre Entjtehung. 

Es war natürlich, daß der intime Verfehr der älter gewordenen, 
mit Berufspflichten und Familienſorgen beladenen Freunde jich nicht 
mehr jo regelmäßig geftaltete wie früher, und daß fich der Wunjch 
herausftellte, einen Kreis jüngerer Genofjen in Apoll um fich ver- 
jammelt zu ſehen. Yu diefem Zweck regte Hitig im Jahre 1824 die 
Gründung einer literariſchen Gejellichaft an, erließ in der Berliner 
„Spenerjchen Zeitung“ einen Aufruf an die dortigen Dichter und 
Schriftiteller; daraufhin wurde die fogenannte Mittwochögejell- 
ſchaft gegründet und Hikig zu ihrem Vorſitzenden ernannt. Zweck der 
Bereinigung war, die Mitglieder mit den neuejten Erjcheinungen der 
Literatur befannt zu machen und zu freiem Meinungsaustaufch anzu- 
regen, doch jollten zur Vermeidung von Zwiſtigkeiten und gegenjeitigen 
Lobhudeleien die Werfe der Mitglieder vom Vortrag ausgejchlofjen 
werden. Die Verfammlungen fanden im „Engliihen Haufe” in der 
Mohrenſtraße anfangs am Mittwoch, dann am Montag ftatt (der ur- 
jprüngliche Name wurde trogdem zur Unterſcheidung von einer an- 
deren älteren literarischen Gejellichaft, vem „Montagsklub“, beibehal- 
ten). Allmählich fanden fich die beiten Geijter Berlins zujammen. 
Die ältere, durch Chamiſſo, Fouquée, Varnhagen und Neumann ver- 
tretene Generation ergänzte jich aus dem jüngeren Nachwuchs der 
Raupach, Gaudy, Kopiſch, Holtei, Wilhelm Müller, Pius Ulerander 
Wolff und anderer zeitweilig in Berlin weilender Schriftiteller, auch 
auswärtige Bejucher, wie Jean Jacques Ampere und Xavier Marmier, 
wurden mit Ehren aufgenommen. Chamifjo fühlte fich in diefem ihn 
verehrenden Kreiſe vollfommen heimifch, dichtete zu den Stiftungs- 
feſten und dem jedesmal bejonders feierlich begangenen Geburtstage 
Goethes eine Reihe gejelliger Lieder und Trinkjprüche und ging aus 
einem poetijchen WWettjtreit über ein gegebenes Thema mit den Ter- 
zinen „Die Netraite” al3 Sieger hervor. Er fuchte für feinen dichten- 
ven Fachgenoſſen Trinius Stimmung zu machen, indem er dejjen 
Drama „Die Wilhelmsichlacht” Tefen ließ; mit größerer Berechtigung 


54* 


or 


— 


0 


— 
or 


so 


5 


an 


fe 
oO 


1 


or 


2 


oO 


2 


or 


30 


35 


Gründung ber „Mittwochsgeſellſchaft“. Letzter Aufenthalt in Frankreich. 
fonnte er für den Dänen Underjen eintreten, dejjen Roman „Der Im— 
probijator” großen Beifall in der Gejellichaft fand. Der franzöfiiche 
Literarhiftorifer Fean Jacques Ampere, der, im Jahre 1827 Gaft der 
Mittwochsgefellichaft, Hier Chamifjo fennen lernte, entwirft folgende 
Schilderung von ihm: „Il etait grand et mince, de longs cheveux 
descendaient et flottaient sur ses Epaules, son visage offrait une sin- 
guliere expression de candeur et de fermete, quelque chose de doux 
et de fort, de paresseux et d’ardent.“ Ahnlich Hat jich neun Jahre 
jpäter ein anderer franzöfilcher Schriftiteller, Kavier Marmier, ge- 
äußert, der gerade anweſend war, als Chamifjo aus feinem geliebten 
Beranger bortrug. Beide Schilderungen entjprechen ziemlich getreu 
dem Eindrud, den das befannte, von dem Maler und Dichter Robert 
Neinid, einem Freunde Chamiſſos, herrührende Porträt gewährt. Ein 
danach) von C. Barth angefertigter Stich, der dem Deutſchen Mufen- 
almanad) von 1833 voranging, ift in diefer Ausgabe als Titelbild wieder- 
gegeben worden. 

Das Jahr 1825 rief Chamiſſo noch einmal auf einige Zeit nad) 
Frankreich zurüd. Die wieder zur Herrichaft gelangten Royalijten 
hatten die Entjchädigungsanjprüche der Emigranten aus der Zeit der 
Revolution auf verfaſſungsmäßigem Wege durchgejegt, und Chamifjo 
erlangte eine dreiprozentige Rüdvergütung feines Erbanteils, wodurch 
für die Zukunft feiner fchnell angemwachjenen Familie bejjer gejorgt war. 
In Paris wurde er von der Familie feines Lieblingsbruders Hippolyte 
mit alter Herzlichfeit aufgenommen, von früheren Befannten ſah er 
Auguft d. Stall und den Maler Choris wieder und machte mit dem 
franzöfischen Weltumjegler D'Urville einen Abtecher nach Caen zum 
Beſuch de la Todes. In Paris jah er im Theätre frangais Schillers 
„Maria Stuart” in Lebruns Überjegung und berichtete mit Stolz 
über den Erfolg des Stüdes, namentlich der Abſchiedsſzene des lebten 
AUftes, bei dem franzöfiihen Publikum. Talmas unvergleichlicher Ham— 
let entzüdte ihn, aber die Bearbeitung des Shafejpearejchen Stüdes 
durch Ducis erfannte er als entitellendes Machwerf. In Delavignes 
„L’Ecole des vieillards“ gefiel ihm das anmutige Spiel der Made- 
moijelle Marz, wie er überhaupt die Überlegenheit der franzöfifchen 
Schauſpielkunſt über die deutjche herborhebt. Im politifchen Leben 
Frankreichs mißfiel ihm der zunehmende Klerikalismus und die volks— 
feindliche reaftionäre Herrſchſucht der Royaliften. Unvergeßlich aber 

55* 


Chamifjos Leben unb Werke. 


blieb ihm das Leichenbegängnis des liberalen Generals %oY, das ſich 
zu einem wahren Bollstrauerfeft geftaltete, und eine lange Unter- 
redung mit dem greijen Freiheitshelden Lafayette. Die Fülle der 
Beobachtungen und Eindrüde regte ihn wiederholt zu Vergleichen 
zwiſchen franzöfischen und deutfchen Berhältnijfen an, und er gelangte 
jebt zu einer objektiven, Licht und Schatten gleichmäßig verteilenden 
Beurteilung beider Nationen. Er ſelbſt Hatte fich für Deutfchland ent- 
ichieden und legte jeßt feiner Gattin noch einmal von Paris aus das 
Befenntnis ab: „Deutſcher Volkstümlichkeit hat fich da3 Tiefere, Hei- 
ligere in mir zugewandt; jo bin ich durch Sprache, Kunft, Wifjenichaft, 
Religion ein Deutfcher.” Was für ein Unterfchied in diefen Worten 
im Vergleich zu der Zerrifjenheit der Stalichen Zeit! Der Alp zwie— 
ipältiger Nationalität war von ihm gemichen, das Selbſtbewußtſein 
geftärkt, die Schaffensfreudigfeit vermehrt. Nach der Rückkehr ent- 
jteht, etwa in den Jahren von 1825—32, der befte Teil feiner Gedichte. 

Die Parijer Reife hatte auch Chamifjos politiiche Anfchauungen, 
die ich jchon lange im ausgefprochenen Gegenſatz zu denen feines 
Bruders Hippolyte in liberaler Richtung bewegt hatten, zur Reife ge- 
bracht. Er war als Torh geboren und erzogen und entdedte nun, daß 
er jchon lange ein Whig gewejen war. Die Eonftitutionelle Charte 
Ludwigs XVII. vom Sahre 1814 war für ihn der rehtmäßige Boden, 
auf dem in Frankreich die liberale Partei ftand; ihren Kampf gegen 
die jejuitisch-feudaliftiiche Regierung Karl3 X. verfolgte er als Lejer 
de3 „Constitutionnel‘“ mit gejpanntejter Teilnahme, und die Ber- 
legung der Charte durch die jogenannten Juliordonnanzen rechtfertigte 
in feinen Augen vollfommen den Ausbruch der Revolution von 1830. 
Als ein Ertrablatt den Bewohnern Berlins den Ausbruch der Revo— 
lution und Karl X. feige Flucht aus Paris verfündete, Tief Chamifjo 
im Hausrod und in Bantoffeln durch die belebten Straßen der Haupt- 
ſtadt zu Hißigs Wohnung, um ihm triumphierend diefe Nachricht zu 
überbringen. In Briefen an den Bruder hob er richtig hervor, daß, 
wenn Karl X. freimillig abgedanft und fein Nachfolger fofort die wich— 
tigften fonftitutionellen Gejegentwürfe vorgelegt hätte, die Revolution 
noch im legten Augenblid hätte vermieden werden fünnen. Mit dem 
feinen Gefühl des Poeten halte er frühzeitig die nahende Ummälzung 
prophetiich vorausgejehen und den davon empfangenen Eindrüden 
in feinen Dichtungen wiederholt Iebhafteften Ausdrud gegeben. Als 

56* 


- 


0 


— 
or 


nn 


5 


— 


0 


or 


- 
or 


2 


3 


3 


— 


© 


ot 


Politiſche Anſchauungen. 


Hitzig ihn zuerſt auf die Schöpfungen des großen Satirikers der Juli— 
revolution, Auguſte Barbier, beſonders auf die „„Curee“, einem Ab— 
jchnitt der „Jambes“, aufmerffam machte, rief er entzückt aus: fo hätte | 
er gejprochen, wenn er ein franzöfiicher Dichter gemejen wäre. Die 
weitere Geftaltung der franzöfiichen Verhältniſſe, die unklare Haltung 
de3 Bürgerfönigs Ludwig Philipp mit der Politik des „„juste milieu“ 
bereitete ihm wie fo vielen eine Enttäufchung. Der ſchwache Rüdichlag 
der Julirevolution in Preußen und Deutjchland interefjierte ihn nicht 
in demjelben Maße; die in Berlin ftattfindenden Zufammenrottungen 
famen ihm nur wie ein „Schneiderauflauf” vor, und die in Deutjch- 
land um fich greifende politifche Kannegießerei mar ihm ganz und gar 
zumider. Er erfannte übrigens an, daß Preußen auch ohne Verfaſſung 
vielfach einficht3poller regiert werde als Frankreich, da doc ſchon 
einige Eonjtitutionelle Forderungen, wie die Kommunalgejeßgebung, 
in Preußen durchgeführt jeien. Er äußerte ji im Auguft 1831 an 
de la Foye eingehend, wenn auch etwas zu optimiſtiſch, über die 
preußiihen Zuftände und ſchloß: „Wir haben eine Gewohnheit der 
Nechtlichkeit, die zu einer andern Natur geworden ift; wir wiſſen nicht, 
mas Gunft heißt. Wir haben eine väterliche Regierung, Liebe und 
Butrauen zu dem DOberhaupte, und in Zeiten der Gefahr hat der In— 
Itinft alle um den Thron verſammelt, da ringsher jich alle gegen ihre 
Regierungen verbündeten. In der Tat hätte ganz Norddeutjchland 
nichts Beſſeres begehrt, al3 preußiich zu werden.“ 

Nachdem mir jo die äußerſt günftigen Bedingungen für eine er- 
ipriegliche produftive Tätigkeit im Leben Chamijjos fennen gelernt 
haben, werfen wir einen Blid auf feine wifjenjchaftlihen und dichte- 
riſchen Leiſtungen in der Zeit feiner Vollendung (die erjteren können 
hier freilich nur kurz geftreift werden). 

Die Beobachtungen und Sammlungen der Weltreife waren jo 
umfangreicher Art, daß fie fait die ganze fpätere Forſchungsarbeit 
Chamiſſos nach Inhalt und Richtung beitimmten. Seine Unter- 
juhungen hatten fich nicht nur auf die Botanik und die eigentliche 
Naturwiſſenſchaft eritredt, jondern auch Geologie, Anthropologie, 
Ethnologie und Linguiftif berührt. Im allgemeinen ift nad) dem 
Urteil der Naturforicher zu jagen, daß er grundlegende neue Ent- 
deckungen auf diejen Gebieten nicht gemacht hat, wohl aber ijt eine 
äußert vieljeitige Bereicherung der Einzeltatjachen feitzujtellen. Das 

57* 


Chamifjoß Leben und Werte. 


Erreichte ift bei den Umftänden, unter denen die Erpedition unter- 
nommen wurde, bedeutend genug; daß nicht noch größere Ergeb- 
nijje erzielt werden fonnten, hat feiner mehr al3 Chamiſſo ſelbſt be- 
Hagt. Nach feiner Rückkehr jchrieb er zunächſt einen kurzen Bericht 
an den Grafen Romanzoff über die Erfolge der Reife in franzöfiicher 
Spradhe. Im Laufe des Jahres 1819 verfaßte er im Auftrage des 
Leiters der Erpedition unter dem Titel „Bemerfungen und 
Ansichten“ zur Weltreife eine Reihe fachwiſſenſchaftlicher Auf- 
läge, in denen außer eigenen aud) die Studien der übrigen in Frage 
kommenden Mitglieder verwertet wurden. Er hatte gehofft, durch 
eine jchnelle Veröffentlichung der wichtigjten Ergebniſſe in ſchwebende 
wiſſenſchaftliche und volitiiche Fragen mit dem Gewicht jeiner Mei- 
nung eingreifen zu fünnen, jah ſich aber durch die verjchleppte Druck 
legung jehr enttäufcht, denn die „Bemerkungen und Anjichten” fonn- 
ten erſt 1821 als dritter Band der allgemeinen, von Dtto v. Kotzebue 
herrührenden Reijebejchreibung erjcheinen. Die Verzögerung hatte 
zur Folge, daß Chamiſſo in einem Nachtrag bereits auf inzwiſchen er- 
ihienene neuere Forihungen anderer Bezug nehmen mußte, und 
daß ſich viele Drudfehler und Ungleichheiten eingejchlihen hatten. 
Der jpäter verwirflichte Gedanke einer eigenen, mehr das Literariſche 
hervorhebenden Reijebejchreibung lag ihm damals noch fern. Darauf 
veröffentlichte Chamifjo in einer Anzahl naturwiljenjchaftlicher Zeit- 
Ichriften und in den Abhandlungen mehrerer Afademien Sonderunter- 
juhungen über Salpen, Algen und verwandte Gegenjtände und be- 
richtete fortlaufend in Schlechtendahl® neugegründeter Zeitjchrift 
„Linnaea“ über die bei der Erpedition gefundenen, nad) Familien ge- 
ordneten Pflanzen; am reichhaltigiten war die Ausbeute bei der Flora 
der Inſeln der Südiee und des Arktiichen Meeres zwiſchen Amerifa und 
Alien. Anderen Gelehrten überließ Chamijfo mit großer Freigebigfeit 
mitgebrachte Materialien, jeine Ranunfeln gab er an Schlechtendadl, 
Farren an flaulfuß, Gräſer an Trinius, Algen anden Schweden Agardh. 
Die Unterfuchungen brandenburgifcher und pommerſcher Torfmoore 
wurden in Karſtens „Archiv für Bergbau” mitgeteilt. Auf Veranlaj- 
fung de3 preußiſchen Kultusminijteriums hatte er die Einrichtung von 
Schulherbarien übernehmen müſſen und jchrieb im Anſchluß daran 
eine populärwiljenjchaftliche, nach dem Linnefchen Syitem angeordnete 
Flora mit dem umftändlichen Titel „Überficht der nußbarften und der 
58* 


— 


— 


150] 


[0] 


w 


5 


0 


5 


0 


0 


8 
t 


or 


oO 


1 


20 


19 
or 


3 


o 


35 


Chamifjo al3 Naturforscher. 


ihädlichiten Gewächſe, welche wild oder angebaut in Norddeutjchland 
vorfommen“ (1827). Ein „jehr dickes Buch über Botanik für Nicht- 
botanifer” fchrieb er unwillig an de la Foye. In der jechs Bogen ſtar— 
fen Einleitung dieſes Buches mit dem Titel „Anfichten von der Pflan- 
zenfunde und dem Pflanzenreiche“ legte er nach einer brieflichen Wen- 
dung jein wiljenschaftliches Glaubensbefenntnis nieder. Doch darf 
man bier nicht etwa eingehende Abhandlungen über die Grund- 
probleme der Naturwiſſenſchaften erwarten. Wie in philofophiichen 
Dingen war er auch auf fachwiſſenſchaftlichem Gebiet jeder Spefula- 
tion abgeneigt und betonte jpäter im „Tagebuch“ der Weltreije, daß er 
zwar Märchen gejchrieben, aber in der Wifjenjchaft nie die Phantaſie 
über das Wahrnehmbare habe hinausschweifen laſſen. Er war ſyſte— 
matijcher Botaniker, vertrat im Sinne Cuviers und Johannes Müllers 
die Lehre von den unveränderlich gegebenen Arten in der Natur und 
lehnte jeden Transformismus ab. In einem Brief an de la Foye vom 
Sanuar 1824 äußert er jich ärgerlich über die Anhänger der „‚genera- 
tio aequivoca [Ürzeugung] und der Ummandlung der Pflanzen in 
Tiere, der Tiere in Pflanzen und der Arten ineinander” und den da- 
duch in der Wiſſenſchaft Hervorgerufenen Wirrwarr der Anjchauungen. 
Sn den genannten „Anfichten‘ bezeichnet er die Arten der für dieſe 
Frage wichtigen Eingeweidewürmer al3 unveränderlich und unwandel— 
bar, die Urzeugung der Infuſorien und Pilze für nicht bewiefen und 
überhaupt die von den VBerfechtern der Verwandlungslehre angeführ- 
ten Bemweije als aller Zuverläffigfeit entbehrend. Man jieht in dem 
köſtlichen Inſtrument des Mikroffops nur zu oft, meint er, wa3 man 
zu jehen wünſcht — „wer aber mit vorgefaßter Meinung beobachtet, 
der gibt jich der Täuſchung hin”. Später erklärte er fich im „Tagebuch“ 
der Weltreije noch einmal in Hinbli auf feine Algenforſchungen be- 
ſtimmt gegen die „Metamorphogler”. Chamiſſo war fein Vorläufer 
Darwins wie etiva Goethe. Die Theorie der biologijchen Anpafjung 
der Arten aneinander lag ihm noch fern. Trotzdem ift gerade ihm 
auf dem Gebiete der Metamorphofen eine nicht unmwichtige Ent- 
vedung über den Generationswechjel der Salpen, einer ozeanijchen 
Mollusfenart, geglüdt („De salpa“, 1819), die, zuerſt angezweifelt, 
nad) des Dichters Tode durch Steenftrups Unterfuchungen (Kopen- 
hagen 1842) al richtig anerfannt und feitdem auch bei anderen Arten 
nachgewiejen worden ift. 


59* 


Chamifjo3 Leben unb Werke. 


Mitten aus jeinen naturwiljenschaftlihen Arbeiten heraus be— 
richtet Chamifjo im Dftober 1822 an de la Foye, daß er noch gelegent- 
lich, wenn es ihm einfalle, ein Lied finge und fich für dieje Zeitrojen 
ein eigene3 Herbarium angelegt habe. Damit war da3 jogenannte 
„Poetiſche Hausbuch” gemeint, fein zunächſt nur für ihn und die 
Freunde bejtimmtes, wie ein Heiligtum gehütetes Poetenjournal. 
Der fo lang zerrijjene Faden der Poejie war damit wieder gefnüpft, 
aber nur mweniges wurde von den damals entitandenen Gedichten 
veröffentlicht, jo die Überfegungen der Thrymsquitha und der ma- 
laiiſchen Volkslieder im „Morgenblatt”" von 1821—22. Die ihm in 
der „Mittmochsgejellichaft" zufliegenden mannigfachen Anregungen 
veranlaßten Chamijjo, ji) von neuem auf dem Gebiete des Dramas 
zu verfuchen. Zur Berjpottung des Mesmerismus und Magnetismus, 
mit dem damals bejonders in Paris viel Schwindel getrieben wurde, 
verfaßte er im Frühjahr 1825 ein ungedrudtes einaftiges Jambenluft- 
ipiel, „Die Wunderkur“, das bei feiner Aufführung in Potsdam 
und Berlin eine völlige Ablehnung erfuhr. Die Handlung ift dürftig, 
die Motivierung unklar, die Komik gering und die Satire ohne atti- 
iches Salz, nur die Sprache ift für Chamiſſos Stil recht fließend und 
gefeilt. Zum Glüd hatte er jich nicht als Verfafjer genannt; er er- 
fannte die Schwächen des Stückes an und hat jeinen Abdrud unter- 
jagt. Viel glüdlicher war er auf feinem eigentlichen Gebiet, der Lyrik. 
Nachdem ſchon Wolfgang Menzel „Moosroſen“ und Gubitzens „Ge— 
jellfchafter” eine Reihe feiner beiten Gedichte gebracht hatten, ent- 
ichloß er fih im Jahre 1827, der zweiten Auflage des „Schlemihl“ 
eine Auswahl jeiner Gedichte anzuhängen. Als diefe eben im Drud er- 
ihienen mar, jchrieb er bejcheiven an Varnhagens Schweiter Roſa 
Maria: „Daß ich Fein Dichter bin und war, ift eingejehen, aber das 
ichließt den Sinn nicht aus, und nicht die Fähigkeit, ein Lied zu 
ingen, wenn im Leben einmal die Luft erwacht.” Aus der alten 
Sammerperiode der Zerfnirichung wurde nur weniges in die Samm- 
lung aufgenommen, das meijte jtammte aus der glüdlichen Zeit 
nad) der Berheiratung. Der Charakter der Sammlung ift ein ganz 
lyriſcher. Das PBerjönliche, Humoriftiihe und Volkstümliche über- 
wiegt, das Herbe und Gräßliche fehlt noch fat ganz; wir jehen den 
Berfajjer bald mit dem Zuge der Schwermut um die Lippen, bald 
mit finnigem, freundlihem Lächeln. In der eriten Abteilung der 

60 * 


er 


0 


m 


5 


15%] 


0 


DD 


5 


or 


—1 


— 


15 


20 


2 


or 


30 


ww 
or 


Dramatifhe Verfude. Sammlung ber „Gedichte. 


Sammlung, den „Liedern und Balladen“, jteht al3 letztes das be- 
rühmte „Schloß Boncourt”. Die andere Gruppe, die „Überjegungen 
und Nahbildungen”, bringen größtenteils Volkslieder, Stimmen ver- 
ichiedener Völker im Herderjchen Sinne. Auch das politiiche Lied, das 
ihm fein garjtiges Lied, fondern innerſtes Schöpfungsbedürfnis war, 
fündete fich in den Liedern „Der Invalid im Irrenhaus“, „Nacht- 
wächterlied”, „Ungemitter" bemerkenswert an. Er fühlte die Neuheit 
de3 politiichen Tones jeiner Lyrik ſehr wohl heraus, wenn er an die 
genannte Freundin fchrieb: „Manches erflinget auch in das Ertojen 
des aufgeregten, jede Hemmung überflutenden öffentlichen Lebens 
hinein oder aus demjelben heraus, dem tief ergriffen ich aus meiner 
Abgefchiedenheit unverwandten Blickes zuzuſchauen mich nicht er- 
mehren kann.“ Die freundliche Aufnahme diejer Proben ftimmte ihn 
ihon hoffnungsvoller, denn er jchrieb im Juni 1828 an den franzöfi- 
ihen Freund: „Was man fich in der Jugend wünſcht, hat man im 
Alter die Fülle; ich glaube faft, ich jei ein Dichter Deutjchlands.“ 
Noch einmal gelüftete es ihn, nad) dramatiſchen Lorbeeren zu ringen. 
Sn Anlehnung an Moliere „Le medecin malgr& lui“ verfaßte er 
ein ungedrudtes dreiaftiges Projaluftipiel, „Der Wunderdoftor”, 
mit einer ähnlichen Tendenz wie in der „Wunderfur”, das zwar vom 
Königsjtädtichen Theater angenommen war und vorbereitet wurde, 
aber nicht zur Aufführung gelangt ift. Der Quell der Lieder jprudelte 
weiter und ergoß fich in den Almanachen der Beit. Das in Wendts 
Muſenalmanach erjchienene Gedicht „Salas y Gomez’ wurde all- 
gemein al3 die preiswürdigſte Dichtung des Jahres bezeichnet. Die 
Inhaber des Weidmannjchen Berlags, Karl Reimer und Salomon 
Hirzel, veranlaßten ihn, eine Gejamtausgabe feiner „Gedichte“ zu 
veranjtalten, die 1831 erſchien. Mit naivem Stolz berichtet er launig 
an de la Foye: „Es will viel jagen, wenn in unjerer politiichen Zeit, 
wo nebenbei jeder Berje macht, feiner welche lieſt, feiner welche fauft 
und feiner als die Berfafjer jelbit welche druden läßt, es einer jo weit 
bringt.” Der jtattlihe Band wird durch die einleitende Gruppe „Der 
Dichter” mit den ganz perjünlichen Gedichten aus der Zeit der Welt- 
reife und der Rüdfehr in die Heimat eröffnet. Die jehr vermehrte 
Hauptmafje der Gedichte deutet ſchon mit ihrem Titel „Lieder und 
lyriſch⸗epiſche Gedichte" ar, daß fich das epifche Element jebt mehr 
entmwidelt hat. Wir finden hier den berühmten Zyklus „Frauen-Liebe 
61* 


Chamiſſos Leben und Werte. 


und -Leben“ und zahlreiche wertvolle Balladen, wie „Die Löwenbraut”, 
„Die Jungfrau von Stubbenfammer”, „Der Graf und der Leibeigene” 
u.a. Die Vorliebe für graufige, grell beleuchtete Motive tritt in Ge— 
dichten wie dem „Waldmann”, dem „Lied von der Weibertreue”, dem 
„Mädchen von Cadir”, der „Giftmijcherin” ftark in die Erfcheinung. 
Soziales Mitempfinden zeigt fich bedeutungsvoll in dem „Bettler und 
jeinem Hund". Hinzugefommen find ferner eine Reihe Humorijtiicher 
Gedichte und Überjegungen aus neueren franzöfifchen Lyrikern, mie 
Delavigne, Victor Hugo und Beranger. Ganz neu ift die Gruppe 
der „Sonette und Terzinen”, unter denen außer „Sala y Gomez“ 
mehrere politiiche Gedichte und die merkwürdigen Künftlerlegenden 
„Das Kruzifir” und das „Malerzeichen” hervorragen. Bon Yugend- 
dichtungen hat nur der „Fauſt“ Gnade vor den Augen des Dichters 
gefunden. Der jichtlich bedeutende Erfolg der Sammlung läßt endlich 
in ihrem Urheber ein berechtigtes dichteriiches Selbitbemußtjein zum 
Durchbruch fommen. „Das Bolf”, jchreibt er im Juni 1832, „ſingt 
meine Lieder, man jingt jie in den Salons, die Komponijten reißen 
ji) danach, die Jungen deflamieren ſie in ven Schulen, mein Porträt 
erjcheint nach Goethe, Tief und Schlegel als das vierte in der Reihe 
der gleichzeitigen deutſchen Dichter, und jchöne junge Damen drüden 
mir fromm die Hand oder jchneiden mir Haarloden ab." Im Jahre 
1834 erichien eine zweite vermehrte, mit Bildern von Dtto Speckter 
verjehene Auflage der „Gedichte”, in der alle Stoffgebiete der 
Chamifjojhen Muſe reichen Zuwachs erhalten haben. Zu „Frauen- 
Liebe und -Leben“ gejellt jich al3 erweiterndes Pendant der Zyklus 
„Lebenslieder und -Bilder”, an Übertragungen von außerdeutichen 
Lyrikern find ſolche aus Anderjen Hinzugetreten, am bezeichnenditen 
it die Zunahme an Terzinengedichten, aljo eine Verſtärkung der epi- 
ichen Kunjtform. Die dritte, nur wenig vermehrte Auflage von 1836 
bringt das befannte „Lied von der alten Wajchfrau”, die Barampthie 
„Die Kreuzichau”, jeitdem ein fejtes Inventarſtück der Schul-Leje- 
bücher, und den literariſch wertvollen „Vetter Anjelmo”. Eine vierte 
Auflage fam im Jahre 1837 heraus. In jeinem Todesjahr fonnte 
Chamiſſo den Erfolg jeiner Lyrik in die ftatiftische Angabe zufammen- 
fafien, daß zu Gelegenheitsgejchenfen in Deutjchland jährlich etwa 
1000 Uhlands und 500 Chamifjo gebraucht würden. Und wenn er 
einmal jcherzhaft bemerkte, daß die Jungen, die ihn in der Schule 
62* 


ot 


— 


0 


— 
ot 


D 
or 


[u] 


0 


5 


co 


or 


— 
— 


fer 
au 


15°] 
oO 


Siterarhiftorifhe Würdigung der „Gedichte”. 


auswendig lernten, ihm eine Unjterblichfeit von fünfzig Jahren jicher- 
ten, fo hat er diejen Zeitraum des Nachruhms bereits glänzend über- 
ſchritten. Das deutſche Volk hat ihm in der Reihe der nachgoethifchen 
Lyriker einen hervorragenden Platz neben Heine, Uhland und Lenau 
eingeräumt. 

Chamiſſos literariſche Sonderftellung und perjönliche Eigenart ift 
bon zwei berühmten zeitgenöfjischen Kritikern, von Heine und Hebbel, 
in funzen, gehaltvollen Außerungen angedeutet worden. Heine fchrieb 
in feiner „Romantiſchen Schule” (1836): „Obgleich Zeitgenofje der 
romantiſchen Schule, an deren Bewegungen er teilnahm, hat doch das 
Herz dieſes Mannes fich in der legten Zeit jo wunderbar verjüngt, daß 
er in ganz neue Tonarten überging, fich als einen der eigentümlichjten 
und bedeutenditen modernen Dichter geltend machte und weit mehr 
dem jungen als dem alten Deutjchland angehört. Aber in den Liedern 
jeiner früheren Periode weht derjelbe Ddem, der uns auch aus den 
Uhlandſchen Gedichten entgegenftrömt; derjelbe Klang, diejelbe Farbe, 
derjelbe Duft, dieſelbe Wehmut, diefelbe Träne... Chamifjos Tränen 
jind vielleicht rührender, weil fie, gleich einem Duell, der aus einem 
Felſen fpringt, aus einem weit ftärferen Herzen herborbrechen.” 

Heine ift alfo geneigt, in der LyrikChamiſſos eine ältere Uhlandiche 
und eine jpätere moderne Periode zu unterjcheiden. Doch handelt e3 
ji) dabei auf dem Höhepunft feines lyriſchen Schaffens weniger um 
ein Nacheinander als vielmehr um ein Nebeneinander ziveier an jich 
berjchiedener Strömungen, die fich in jeinem Wejen und feiner Dich- 
tung vereinigen. Die eine, überwiegend deutſche, unter dem Einfluß 
Uhlands und überhaupt der deutichen Literatur ftehende Richtung 
wird durch den ſtark Herbortretenden Ton der Elegie bezeichnet, der 
lich oft zu bitterer Herbheit erhebt, gelegentlich aber auch ins Weiner- 
fihe umſchlägt. Dadurch ſtellt ſich Chamifjo in gleiche Linie etwa mit 
ven engliihen Dichtern der „Seejchule”, wie Wordsworth und Cole- 
ridge. Die andere Richtung, die oft in der franzöfifchen Gejchichte und 
Literatur ihre Anregungen fucht, ift im mejentlichen politifch-jozialer 
Natur, der dichterifche Abglanz des vorwärts drängenden Zeitgeiftes, 
und ftellt Chamiffo mit dem Franzoſen Beranger und teilweiſe auch 
mit dem Schotten Burns in eine Parallele. Wie ſchon oben gezeigt 
wurde, Hindigt ſich dies moderne Element fchon in der erften Lieder- 
jammlung von 1827 an, die politifchen Sonette „An die Apoftolifchen” 

63* 


Chamifjoß Leben und Werte. 


entitammen fogar jchon den Jahren 1821—22, und in jeiner jpäteren 
Hauptichaffenzzeit findet fich oft ein modern empfundenes , aus dem 
Leben gejchöpftes Gedicht neben einem romantifchen oder barod- 
altfränfiichen Stüd. So entitehen zum Beifpiel im Jahre 1829 neben 
den melancholiihen Strophen „Des Gejellen Heimfehr” und der 
meichlichen Ballade von „Herzog Huldreich und Beatrir” die erregten 
jozialen Gedichte „Die Vergeltung” und „Der Bettler und jein Hund“. 
Eindringender noch al3 Heine äußerte ich Hebbel in einer An— 
zeige von Hitzigs Chamifjo-Biographie in Gutzkows „Telegraphen für 
Deutſchland“ (1840). Der aus dem Franzöfiichen ins Deutjche hinein- 
gewachjenen Perſönlichkeit Chamiſſos legt er unbedenklich einen 
höheren, ſymboliſchen Charakter bei, bezweifelt aber, ob dies auch 
bei jeinen Dichtungen gejchehen fünne. Er rechnet ihn zu denjenigen 
Dichtern, die das ihnen innewohnende Talent als Medium benutzen, 
um das ihrem Wejen Fremde, oft jogar Entgegengejebte ſich einzu- 
verleiben oder fich näher zu bringen verſuchen. Chamiſſo war ein 
lanfter, liebenswürdiger Mann, ihm ging nicht3 über die Behäbig- 
feit, aber er erzählte am liebjten grauenhafte Gejchichten. Zwiſchen 
jeinem Leben und jeinem Dichten zeigt jich jtets in Inhalt und Form 
ein jcheinbarer Widerjprud, dejjen Wurzel in dem injtinktartigen 
Drang gejucht werden muß, jenes durch dieſes zu jupplementieren, 
der aber in feinem unverwüftlihden Humor eine wahrhafte Aus- 
gleichung erhält. Hebbel jchliegt mit einer mehr perjünlich gehaltenen 
Bemerkung: „Mir zum wenigjten war Chamiſſo hauptjächlih darum 
bon jeher jo wichtig, weil er, al3 Individualität, mir die ganze neu- 
franzöſiſche Literatur, joweit fie Durch deuifche Befruchtung ins Leben 
gerufen wurde, in ihrem Entwidelungsgange vorzubilden jchien.“ 
Sn der Tat iſt die dichteriſche Intuition nicht die ftärfite Seite 
der Muje Chamiſſos; Anpafjung und Nachſchöpfung erjegen oft Ur- 
Iprünglichfeit und Unmittelbarfeit. Wie wenige feiner Gedichte können 
lich, ftreng genommen, mit dem vollfommen intuitiven und originalen 
„Schloß Boncourt” auch nur annähernd mejjen! Die Zahl der rein 
Iyrifchen, einem ureignen, inneren Erlebnis entſproſſenen Lieder iſt 
viel geringer al3 die Mafje der aus gegebenen Stoffquellen angeeig- 
neten Gedichte, meijt balladenartigen oder rein epiichen Charakters. 
Seine große Belejenheit in den Literaturen aller Kulturvölker er- 
ichloß ihm die Schäße der Weltliteratur, und Hibig, dem als Redakteur 
64 * 


— 


—2 


D 


w 


so 


0 


5 


0 


0 


5 


a 


- 
o 


1 


2 


2 


3 


3 


a 


o 


SL 


o 


Sr 


Einheit der dichterifchen Konzeption. 





mehrerer friminaliftiicher Zeitjchriften viele Bücher durch die Finger 
gingen, unterjtüste ihn darin. Sn der Aufnahme fremden literarifchen 
Eigentums verfuhr Chamiſſo vollfommen naiv; was ihn aus einem 
bejtimmten Grunde padte, übernahm er unbedenklich. Er, der die 
graue Theorie verabjcheute, liebte es, durch lebendiges Gleichnis und 
Beijpiel zu wirken, wie er auch im Leben am liebjten Anekdoten und 
Geſchichten aller Art (und nicht bloß grufelige) erzählte, und daher 
wohnt jeiner Dichtung vielfach ein in höherem Sinn didaktiſcher Zug 
inne. Die Anmerkungen am Schluß des zweiten Bandes Diejer Ausgabe 
geben zahlreiche Hinweiſe auf die literariichen Borbilder der einzelnen 
Gedichte, Doch iſt die ſich ſchwierig gejtaltende Forſchung darüber noch 
nicht abgejchlofjen. Eine bisher unterſchätzte Hauptquelle der Dichtung 
Chamiſſos ift, wie Hebbel angedeutet, wirklich die franzöfiiche Litera- 
tur in ihren verschiedenen Ausftrahlungen; Chamijfo war da Nach- 
bildner und Vermittler. Die Auswahl der vom Dichter bearbeiteten 
Duellen ift feineswegs eine willfürliche; er bejaß einen feinen Spür- 
ſinn, aus den entlegenjten Winfeln das feiner Natur Zujagende heraus- 
zufinden und Nichtpafjendes beifeite zu lafjen, das dann befreundete 
Dichter mehrfach aufgegriffen haben. Der ihm von außen zufliegende 
Stoff löfte gewiſſe Schwingungen feiner Seele aus, erweckte ſchlum— 
mernde Gedanfenreihen, schuf Bilder und Vergleiche, gejtaltete wieder- 
holt Barallelmotive und ward jo jein Eigen. Daß er bei der Auswahl 
graufige, feiner äußerlich jtillen Natur entgegengejegte Motive bevor- 
zugte, ift richtig, aber jchließlich nicht gar jo unnatürlich, wie die weiter 
folgende äjthetifche Erörterung ausführt. Über die Art der Verarbei— 
tung der überlieferten Stoffe läßt jich noch fein endgültiges Urteil ab- 
geben. Nach den bisherigen Funden gewinnt es allerdings den An— 
Ihein, daß Chamiſſo in vielen Fällen durch jehr engen Anſchluß an 
das Driginal fich mit einer mehr oder weniger gelungenen bloßen 
Nachbildung begnügte und auf größere Selbittätigfeit verzichtete. Aber 
die Entjtehungsgejhhichte von „Salas y Gomez“, die noch nicht quellen- 
fritiich erledigten Gedichte und manche rein lyriſche Schöpfungen 
jollten ung vor übereilten Schlüjjen nach diejer Richtung Hin bewahren. 


So groß nun auch die Zahl der behandelten Stoffe ift, der zugrunde 


liegenden poetischen Antriebe find es nur wenige. Auch bei ihm ift 

die Dichtung die Duintefjenz feines Lebens. Das tiefjte dichteriſche 

Erlebnis ift das Gejchick feines Lebens, das ihm die Träne ins Auge 
Chamifjo. I, 65* V 


Chamiſſos Leben und Merfe. 


drückt und feinen Mienen den Ausdrud des Schmerzes verleiht. Eben 
diefe Schidjalsfügung, die ihn vom hohen Grafenfiß in die bürger- 
fihe Gemeinjchaft hinabſtößt, machte ihn zum politiich-jozialen Dich- 
ter, der mit den Armen weint, mit den Gefangenen flagt, die Unter- 
drücker haßt, willfürliche Einjchränfungen individueller und politischer 
Freiheit befämpft und der Prophet der Julirevolution wird. In ſei— 
ner innerjten Perſönlichkeit mwurzelt gleichfall3 die etwas verjpätete 
NRoufjeau- Stimmung, die Sehnſucht, des Firnifjes der Kultur ledig, 
zur Einfachheit der Natur zurüdzufehren. Dadurd) ward er der poe- 
tiſche Schilderer urjprünglicher und egotijcher Zuftände und der erite 
Folkloriſt der Südſeeforſchung. Diejen aus einer beweglichen, ins Weite 
ſchweifenden Einbidungskraft erwachſenen Anſchauungen jteht eine 
andere einfchränfende gegenüber, die philofophifche Überzeugung von 
einer den Weltlauf bejtimmenden Notwendigfeit, der avayzn der 
Griechen. „Das Waltende” ift der von ihm geprägte Lieblingsausdrud 
diejer Anſchauung, die das Individuum zur Unterordnung und Ein- 
fügung in die Gejebe der Natur nötigt. „Geduld!” und immer wieder 
Geduld! ift Daher das Thema vieler Gedichte. Zu diefen Ausgangs— 
punkten des dichteriihen Schaffens kommen die Empfindungen und 
Erfahrungen feines Liebeslebens und die drajtiiche Freude an komi— 
ihen Situationen und Einfällen Hinzu. Nach feiten der dichterifchen 
Konzeption ift alſo troß der VBielheit der Stoffe der Dichtung Cha- 
miſſos eine gewiſſe Einheit nicht abzujprechen, allein die künſtleriſche 
Geitaltung hält mit dem künſtleriſch Gemollten nicht immer gleichen 
Schritt, und dies führt zur Beurteilung der Dichtung felbit. 

In der äfthetiichen Bewertung der Gedichte Chamiljos hat ich 
jeit langem ein etwas einjeitiges und engherziges traditionelles Urteil 
fejtgejeßt: jeine Liebesdichtungen, der größere Teil der Balladen und 
Volksliednachahmungen, die Humoriftiihen Gedichte und „Salas y 
Gomez” werden als vollendet angejehen, während alle die Nachtjeiten 
der menjchlichen Natur in grellſter Beleuchtung ſchildernden Gedichte 
des graufigen Borgangs wegen verworfen werden; die für die ge= 
Ihichtlihe Auffafjung wichtigen politiichen Gedichte werden dabei 
meiltens ihres und fremd gewordenen Inhalts wegen überjehen. 
Schon der Freund des Dichters, Wilhelm Neumann, vertrat dieſe 
Meinung, wenn er in einer Beurteilung der Gedichte äußerte, daß 
die feine Grenzlinie weiſer Maßhaltung, die das Gebiet der jchönen 

66 * 


— 


— 


D 


nm 


— 


0 


5 


0 


0 


1 


1 


2 


2 


3 


3 


or 


o 


or 


oO 


or 


o 


or 


Äſthetiſche Beurteilung der „Gedichte“. 





Künste umſchließen folle, darin oft überjchritten jei, und beiſpielsweiſe 
ein Gedicht wie „Das Kruzifir” ſchon um des Stoffes wilfen verurteilte. 
Allein wir dürfen an Chamifjos Dichtung nicht den äſthetiſchen Maß- 
jtab des Klaſſizismus oder richtiger des daraus abgeleiteten ängftlichen 
Epigonenjtandpunftes anlegen; wir müjjen vielmehr von der freieren 
Warte der neueren Aſthetik an ihn herantreten, die geneigt ift, dem 
Dichter dann jtärfere Akzente zu geftatten, wenn fie das natürliche 
und notwendige Ergebnis jeines inneren Schöpfungstriebes find. Und 
daran ijt bei Chamiſſo nicht zu zweifeln. Wie er e3 mehrfach in Ge- 
dichten ausgejprochen Hat, trachtete er nicht eigentlich nach Schönheit, 
jondern nach Wahrheit, und er veritand darunter weniger die ideali- 
fierte, dichteriiche, als die wiſſenſchaftliche Wahrheit, wie fie jich ihm 
als empirischen Naturforſcher erichlofjen hatte. Der Jünger Rouſſeaus, 
der den einengenden, die freie Entmwidelung hindernden Zwang der 
modernen Kultur am eigenen Leib erfahren, der vieler Länder Men- 
ihen und Sitten gejehen und in der Südſee eine urjprünglichere, 
robuſtere Kultur kennen gelernt hatte, juchte nach dichteriichen Mo- 
tiven, die ihm urwüchſige Leidenjchaften und ungezügelte Willens- 
fräfte verrieten. Er fand dieje bei den abjeitS von der Heeritraße der 
Kultur gelegenen Gebirgsvölfern, wie den Korjen und Basken und den 
jogenannten „Wilden“, bei den Kulturvölfern auch dann, wenn fie von 
jozialen Leidenschaften aufgewühlt wurden, oder wenn der Einzelne die 
Mittel der Kultur aus brutalem Egoismus zum Verbrechen ausnußte. 
Daneben überjah er nicht den beharrenden Bol in der Entwickelung der 
Kultur und verlieh auch den gutartigen Inſtinkten roher Völker, den 
ihlihten Tugenden der Armen, dem zähen Feithalten an alten über- 
fommenen Überlieferungen Ausdrud. Neben dem „Mateo Falcone” 
ſteht die „Korſiſche Gaftfreiheit”, neben den vielen Nevolutionsgedich- 
ten die „Stille Gemeinde”, ein Loblied auf die fönigstreuen und 
glaubensitarfen Einwohner der Bretagne, neben der fozialen Anklage 
im „Bettler und jeinem Hund” das „Lied von der alten Wajchfrau”. 
In andern Fällen bemühte er jich, das Graufige der Situation durch 
eine ftärfere Erregung des dichterischen Mitleids zu mildern; jo er- 
fahren wir nur aus der Klage des Basken Etchehon die an ihm verüb- 
ten Verbrechen. Alſo die Wahl greller Stoffe darf bei einem Dichter 
von jo außergewöhnlicher Entwidelung nicht von vornherein getadelt 
werden, und geht man mit diejer Vorausſetzung an die Werfe, jo 
67 F 


Chamijjos Leben und Werke, 





wird man manches weniger abjtogend und verfehlt finden, al3 es beim 
eriten Eindrud den Anschein hat. Man wird mehr Wert Darauf legen, 
was der Dichter ideell beabfichtigte, al was er mit feinem im ganzen 
nicht ſtarken Geftaltungsvermögen wirklich erreichte. Denn das ijt 
zuzugeben, daß ihm nicht jeder Wurf gelungen ift, und nicht bloß bei 
Gedichten mit fremdartigen Stoffwelten. Es war ihm nicht vergönnt, 
jederzeit freischaltend über feinem Gegenftande zu ftehen und ihn jo 
vollitändig mit feiner künſtleriſchen Wejensart zu durchdringen, daß 
die äußere Form al3 das natürliche Kleid des verförperten Inhalts 
ericheint. Namentlich rechtfertigt die breite Diktion mancher Terzinen- 
gedichte mit ihren ftiliftiichen Unebenheiten und jpradhlichen Unflar- 
heiten Heines Wort von dem Terzinengefängnis, das der Dichter mehr 
zu ſcheuen habe al3 alle Bleitürme und Mäufefammern der Fürften. 
Kehmen wir den „Don Juanito Marques Berdugo de los Legañes“, 
die graujigite Gejchichte, die Chamiſſo je in Verſe gebracht Hat, jo 
müſſen mir, um Snterefje daran gewinnen zu können, den keineswegs 
aufdringlich hervortretenden Grundgedanken im Auge behalten, das 
Itarre Feſthalten des Menjchen an der Erhaltung feiner Raſſe und 
jeiner Familie: nur damit ein Einziger das Geſchlecht fortpflanzen 
kann, wird eine ganze Spanische Grandenfamilie Hingejchlachtet. Diejer 
Stoff rundet fich aber in Chamiſſos Behandlung infolge der zu breiten 
Ausmalung der einzelnen Borgänge nicht zu Fünftlerijcher Einheit ab, 
während die zugrunde liegende Novelle Balzacs dieje Fehler vermeidet. 
In anderen Dichtungen Hingegen, wie in dem von Wilhelm Neumann 
herangezogenen „Kruzifir”, läßt fich die Darftellung des Graufigen 
ichon viel eher rechtfertigen. Wie ganz anders als der Kunſtphiliſter 
Neumann wußte Lenau den Wert diefes grandiofen Gedicht? nach- 
zuempfinden, wenn er einem Freund jchrieb: „Erinnerjt du dich des 
Gedichtes von Chamifjo, wo der Maler einen Jüngling an das Kreuz 
nagelt, um ein Bild vom Todesjchmerze zu haben? Sch will mich 
jelber ans Kreuz jchlagen, wenn’3 nur ein gutes Gedicht gibt. Und 
wer nicht alles andere in die Schanze fchlägt, der Kunſt zuliebe, der 
meint es nicht aufrichtig mit ihr.” — Dieje allgemeinen Titerar- 
hiſtoriſchen und äfthetiihen Ausführungen, die hier im Anſchluß an 
Heined und Hebbel3 Urteile gegeben wurden, bilden den leitenden 
Gefichtspunft für die weiter unten gebotene Sondereinleitung zu 
den „Gedichten“, 
68* 


ot 


— 


0 


— 


5 


ID 
oa 


[SS] 


5 


1 


1 


2 


2 


3 


3 


a 


0 


ou 


oO 


or 


© 


or 


Der Erfolg feines dichteriſchen Schaffens. 





Eine jo mancherlei Elemente in fich vereinigende, einjame Er- 
iheinung, wie fie Chamiſſo darftellt, fonnte feine literariſche Schule 
bilden, fondern nur als dichteriſche Perjünlichkeit auf einzelne ver- 
wandte Geijter einwirken. So beeinflußte er Freiligrath nach Seiten 
der erotischen Dichtung, fürderte die Dichter des Jungen Deutſchlands 
in der Schöpfung einer politiichen Lyrik, und manche ſpätere Dichter, 
die Chamiſſoſche Stoffe übernahmen, um fie in andere Kunftformen 
umzugießen, haben fich wohl zuerſt von ihm injpirieren laſſen. Die 
nicht eben jtarfe literarische Nachwirkung ijt aber einer breiten Mafjen- 
wirkung feineswegs hinderlich. Seine Liebesdichtung, ein Teil jeiner 
volfsfiedartigen und Humoriftiichen Gedichte, einige Balladen und nicht 
zulegt der „Schlemihl" erfreuen jich einer jeltenen Bolfstümlichkeit. 
Mit jeinen jozialen Gedichten reicht er bis in die unmittelbare Gegen- 
wart al3 wirkende Kraft hinein. Für die Beurteilung des Erfolges 
eines Dichters ift es jtetS von Wert, zu wiſſen, ob und in welchem 
Maße er den darftellenden Künſten, und beim Lyriker beſonders, ob 
er der Mufif Anregung zu Schöpfungen geboten hat. Der „Schle- 
mihl“ Hat jich feit feinem Erſcheinen befonderer Beliebtheit bei deut- 
jchen und außerdeutichen Slluftratoren erfreut, worüber die Sonder- 
einleitung im zweiten Bande nähere Aufjchlüffe gibt. Von den „Ge— 
dichten“ find einzelne ſchon von Zeitgenojjen, wie Otto Speckter, ©. 
Dannhaufer und %. B. Sonderland, bildnerisch dargeftellt worden; in 
neuerer Zeit haben Paul Thumanns zarte Slluftrationen zu „Frauen— 
Liebe und -Leben” und „Lebens-Lieder und -Bilder” große Verbreitung 
gefunden, und das die „Xöwenbraut” daritellende Gemälde von Gabriel 
Mar iſt durch Reproduftionen weithin befannt geworden. Die Ter- 
zinengedichte jind anjcheinend noch nicht illuftrativ ausgebeutet worden, 
obwohl gerade fie ihrer ganzen bejchreibenden Natur nach viele male- 
riſch wirkſame Situationen enthalten. Eine auf Grund der mufifalifchen 
Buchhändlerfataloge aufgeitellte Statiftif fürdert das zunächft über— 
raſchende Ergebnis zutage, daß über 180 Tondichter Kompofitionen zu 
Chamiſſos Gedichten gejchaffen haben, manche mit mehreren Num- 
mern. Darunter finden wir berühmte Namen wie Friedrich Silcher, 
Ludwig Spohr, Karl Löwe, HeinrihMarjchner, Franz Lachner, Robert 
Schumann, Wilhelm Taubert, Robert Franz, Karl Reinede, Edmund 
Kretichmer, Karl Goldmarf, Mar Bruch, Auguft Bungert und andere, 
von Ausländern wären der Däne Gade und der Norweger Grieg zu 

69* 


Chamifjos Leben und Werke. 


nennen; die größere Zahl der Komponiſten ift jebt wenig befannt oder 
verjchollen. Am meijten wurden Anderſens „Soldat” und das grie- 
chiſche Volkslied „Berratene Liebe” jomwie einzelne Stüde aus den 
Zyklen „Frauen-Liebe und -Leben” und „Tränen“ vertont. Die im 
ganzen recht beträchtliche Anzahl der Kompofitionen gibt uns einen 
deutlichen Fingerzeig für das nicht zu unterjchägende mufifalijche 
Element in ven Liedern und Balladen Chamifjos. Maler und Kompo- 
nijten haben nicht unmwejentlich zur Ropularijierung jeiner Muje bei- 
getragen. 


Die lebten Jahre. 


Mit dem Fahre 1833 legten ſich die erſten ſchweren Schatten über 
das bisher heitere und ungetrübte Yamilienglüd des Dichters. Seine 
Gattin Fränfelte fortgefest, und er fonnte über die ernite Natur ihres 
Lungenleidens nicht im Zweifel jein. Er jelbit wurde im Sommer 
diejes Jahres von der Grippe befallen, die einen jchlimmen Hujten 
und eine chronische eiterige Entzündung der Bronchien zurüdließ und 
den Keim zu feinem frühen Tode legte. Die Kräfte des fonft jo rüjtigen 
und gejunden Mannes begannen langjam, aber unverkennbar abzu- 
nehmen. Im Sommer 1834 gönnte er ſich jelbit noch feine Erholung, 


jondern jchidte nur die Gattin mit den Kindern nach Greifswald in : 


Seebad. Im Frühjahr 1835 ging er jelbit mit Antonie und dem ältejten 
Sohne nach Bad Reinerz im Glaber Bergland, und die reine Bergluft 
jtärkte ihn zunächit jo jehr, daß er jogar größere Ausflüge, jo auf die 
Hohe Menje und die Schneefoppe, unternehmen konnte, aber dauernde 
Heilung ward ihm nicht zuteil. Bei Eintritt der fälteren Witterung 
jah er jich in Berlin wieder ans Zimmer gefejjelt und fonnte jeinen 
botanischen Arbeiten im Muſeum, wie ſchon im vorigen Winter, nicht 
mehr in gewohnter Weije obliegen. Auch ein Aufenthalt in dem 
ichlejiichen Bade Charlottenbrunn, das er im Juli und Auguſt 1836 
bejuchte, vermochte an jeinem und jeiner Gattin Zuftand nichts zu 
ändern. Er ertrug feine Leiden mit gottergebener Ruhe, ohne viel 
Klagen und Murten. Ein Bild des alternden Chamijjo von Weiß 
zeigt die lange, hagere Geitalt in einem Lehnſtuhle jigend, mit ſchma— 
lem Gejicht und jpiem Kinn, ein Tuch um den Hals geichlungen, 
die Pfeife in der Linfen, einen Stab zum Gehen daneben. War auch 
der Körper gebrochen, der Geijt erhielt jich in großer Friſche. Die 
70* 


oa 


DD 
Oo 


1 


1 


2 


2 


3 


3 


ot 


o 


or 


o 


or 


oO 


or 


Herausgabe des „Deutihen Muſenalmanachs“. 





Leier freilich entjanf feinen Händen mehr und mehr, oder bange 
Todesahnungen jchlichen jich in ihre zitternden Saiten — er hatte 
ausgejungen. Auch fein politiiches Intereſſe trat zurüd und erwachte 
nur bei bejonderen Anläfjen; jo nahm er an der Maßregelung der 
„Söttinger Sieben’ wegen ihres Einſpruchs gegen den hannover— 
ihen Verfaſſungsbruch lebhaften Anteil. Aber auf allgemeinem litera— 
rischen und wifjenjchaftlichen Gebiet fonnte fich jeine noch ungelähmte 
Arbeitöfraft vollauf betätigen. Die Redaktion des deutjchen Mufen- 
almanach3, die Abfaſſung des „Tagebuchs“ der Weltreije, die Heraus- 
gabe feiner „Werfe”, Studien über die hawaiiſche Sprache und Über- 
ſetzungen aus Beranger find die Werfe feines Alters. 

„Mit einem Mufenalmanad) bin ich aus der Wiege gejtiegen und 
muß nun mit einem Mufenalmanacd) mich zum Abmwärtsiteigen an- 
ſchicken“, fchrieb Chamiffo im Februar 1832 an Fouqué. Als nämlich 
der im Weidmannjchen Berlage ericheinende Wendtiche Muſenalma— 
nach durch die im Jahrgang von 1830 veröffentlichten ſcharfen Angriffe 
Yuguft Wilhelm Schlegel3 gegen Goethe Gefahr Tief einzugehen, 
wandten fich die Verleger, Reimer und Hirzel, an Chamiſſo als den 
erfolgreichiten feitherigen Mitarbeiter des Almanachs mit dem An— 
trage, die Leitung zu übernehmen. Chamijjo ging unter der Be— 
dingung darauf ein, daß Guſtav Schwab wegen feiner Beziehungen 
zu den ſchwäbiſchen Dichtern mit in die Redaktion eintrete, damit 
auch die ſüddeutſchen Dichter dem überwiegend norddeutſchen Unter- 
nehmen angejchlofjen würden. Schwab nahm bereittwiligjt an, und 
der „Deutjhe Muſenalmanach“, wie er nunmehr genannt 
wurde, war gejichert. In einer der Poeſie wenig geneigten Zeit 
jollte der Almanach eine Freiftatt der Muſe fein, eine Arena, in der 
ih die jüngeren, jich dDurchringenden Poeten den feiten Stamm 
älterer anerfannter Meijter angliedern fonnten; wohl jollten auch 
ernite Töne politischer Lieder erjchallen, aber ohne kraſſe PBarteifär- 
bung. In diefem Sinne ſprach ſich Chamifjo in den weihevollen Stan- 
zen „Zur Einleitung de3 deutjchen Muſenalmanachs 1833" aus, fait 
bejchämt, daß e3 gerade ihm vergönnt war, al3 Wächter der Kunft an 
der Pforte dieſes Tempels zu jtehen. Er iſt dem Almanach bis an 
jeinen Tod treu geblieben, obwohl die Durchficht der überreich be- 
meſſenen jährlichen Liederernte Deutichlands hohe Anforderungen an 
jeine Arbeitskraft jtellte. Die Tätigfeit beider Herausgeber ergänzte 


7 


Chamifjos Leben und Werte. 


ſich gegemfeitig. Schwab jichtete das aus Norddeutſchland, Chamiſſo das 
aus Süddeutichland eingehende Material, das danı, mit einen mehr 
oder weniger ausführlichen Urteil verjehen, gegenjeitig ausgetaujcht 
wurde. Bei den zahlreichen wertlojen Einjendungen, die die Schreib- 
tische der Herausgeber ſintflutartig überſchwemmten, jchrieb Chamiſſo 
oft ein Scherzwort Hinzu oder malte einen Totenfopf daneben oder 
bezeichnete wenig gelungene Sachen furz als „Krebſe“. Bei der Beur- 
teilung de3 Aufzunehmenden war Schwab entjchiedener und jtrenger, 
während Chamijjo, oft unficher und nachjichtig, jich auch wohl von 
padenden Einzelheiten bejtechen ließ. Der Hauptmwert des Almanachs 
beruhte auf den Beiträgen der ſtark vertretenen ſchwäbiſchen Dichter, 
Uhland mit dem Gefolge von Schwab, Kerner, Pfizer, Mayer und den 
Dfterreichern Lenau und Anaftafius Grün. Zu den alten Nordftern- 
bündlern gejellten fich Eichendorff, Kopiſch, Rückert, Simrod, Wilhelm 
Wadernagel u. a., die jüngere Generation war durch Jmmermann, 
Freiligrath, Hoffmann d. Fallersleben und Dingelitedt vertreten. Zwar 
hatte Chamiſſo im Punkt literarischer Fehden von vornherein einen all- 
gemeinen Gottesfrieden erklärt, aber ein an jich unbedeutender Zwiſt im 
eigenen Haufe konnte ihm beweijen, daß ein Ulmanachherausgeber auch 
mit gewiljen Jmponderabilien der Zuneigung oder Abneigung, verletz— 
tem Künſtlerſtolz und literariſchem Sektierergeiſt zu rechnen hat, beides 
Dinge, die feiner abgeflärten Ruhe und feinem unparteiischen Urteil 
fremd waren. Chamijjo wollte mit Zujtimmung des Verlegers Heines 
Porträt dem Jahrgang von 1837 voranftellen, nachdem man Uhland 


vergeblich um das jeinige angegangen hatte. Heine war allerdings : 


fein Mitarbeiter des Almanachs, aber Chamiſſo Schäßte in ihm, wenn 
auch nicht den Menjchen, jo doch den gottbegnadeten Dichter und den 
großen Satirifer und jah in diefer Ehrung mehr eine Dekoration als 
eine ausgejprochene Parteinahme und Berherrlichung. Schwab Hin- 


gegen, durc die mehr als fühle Charakteriſtik verlegt, die ihm und : 


Uhland in der eben erjchienenen „Romantiſchen Schule” Heines zu— 
teil geworden war, mißbilligte Chamifjos Borjchlag und legte fein 
Amt nieder. Chamifjo ehrte die Gefinnung des Schwaben , beharrte 
aber auf feiner Meinung, nahm Gaudy als Mitredakfteur auf, und 
Heines Bild erihien. Es fam indeſſen bald zu einer Ausjöhnung; 
der Jahrgang auf 1838 mit Uhlands Porträt an der Spiße mies 
wieder Schmabs Mitarbeit auf. 
72* 


or 


— 


0 


— 


5 


20 


— 


DD 
[Br 1 


80 
x 


ot 


15 


25 


3 


8 


—— 


„Das Tagebuch“ der Weltreiſe. Sammlung der „Werke“. 





Die Leipziger Freunde, Reimer und Hirzel, machten dem Did)- 
ter im Sahre 1834 den Borjchlag, eine Sammlung feiner Schriften 
zu beranjtalten, worauf er mit lebhafter Freude einging. Zu dem 
Zweck bedurfte es zunächjt langmwieriger Berhandlungen mit den 
früheren Berlegern, nämlich mit Johann Leonhard Schrag in Nürn- 
berg, der den „Schlemihl”, und mit den Gebrüdern Hoffmann in 
Weimar, die die „Bemerkungen und Anſichten“ zuerit herausgegeben 
hatten. Bei der Durchficht des leßtgenannten Werfes fam Chamiſſo 
der Gedanke, eine von allem Fachwiſſenſchaftlichen befreite, mehr per- 
Jönlich gehaltene Bejchreibung jeiner Weltreije auf Grund jeines Neije- 
journal3 und feiner Briefe an Hibig zu verfafjen. Im Winter 1834/35 
vollendete er troß aller förperlichen Gebrechen das „Tagebuch“ der 
Weltreije, das ung einen wichtigen Abjchnitt jeines Lebens in jchlichter, 
anjchaulicher Darjtellung und einfach klarem Proſaſtil menjchlich nahe 
bringt. Die „Werfe” erjchienen 1836 in einer vierbändigen Ausgabe, 
deren eriter das „Tagebuch“ der Weltreife als neues Werk umfaßte. 
Der zweite enthielt die „Bemerfungen und Anfichten” in durch— 
gejehener Faſſung, die beiden legten umfaßten die „Gedichte“, „Adel- 
berts Fabel” und den „Peter Schlemihl”. Dieje Sammlung legte 
den Schlußjtein jeines literariſchen Schaffens. Unter den vielen An- 
erfennungen, die ihın deshalb zuteil wurden, ijt befonders ein gehalt- 
voller, in der familie pietätvoll aufbewahrter Brief des damaligen 
Kronprinzen, jpäteren Königs Friedrich Wilhelm IV., bemerkenswert. 

Auf Vorſchlag Kunths und Merander vd. Humboldt wurde Cha- 
mijjo am 7. Mat 1835 von der Berliner Akademie der Wiffenjchaften 
zum Mitglied erwählt und am 28. Juni vom König beitätigt. Die 
wenigen von ihm in der Akademie gejprochenen Worte der Danf- 
jagung jind ein überaus beredtes Zeugnis jeines liebenswürdigen Cha- 
tafters, jeiner ernſten Selbjtkritif und feiner wahrhaft mwiljenjchaft- 
lihen Gejinnung. Daß jich dieſer Erhebung zum Akademiker auch 
eine hHumorijtiiche Seite abgewinnen ließ, bewies dem Dichter eine 
Iherzhafte Glückwunſchepiſtel jeines Freundes Trinius in Petersburg. 
Es war ihm nur wenig mehr als drei Jahre vergönnt, der Akademie 
anzugehören. AS Ergänzung der Arbeiten Wilhelm v. Humboldts 
„Über die Kawi-Sprache“ legte er in der Afademie am 12. Januar 1837 
eine Abhandlung über die „Hawaiiſche Sprache” vor und berichtete 
am 29. März des nächſten Jahres über den Fortgang feiner Studien. 

Chamiffo. 1. 73° V% 


Chamiſſos Leben und Werke. 





Am 21. Mai 1837 endete ein Blutjturz das Leben feiner erft 
36jährigen Gattin Antonie bald nach der Geburt des jiebenten Kin— 
des. Die jtärkite Stütze ſeines Daſeins war ihm damit Hinweggenon- 
men; durch neue Arbeit und neue geijtige Anregung juchte er den 
Schmerz feiner Seele zu befämpfen. Er bearbeitete Hartmanns von 
Aue „Armen Heinrich”, gewiß aus der Stimmung der Trauer und des 
Leidens. Im Auguſt desjelben Jahres unternahm er, der dringenden 
Aufforderung feiner Verleger folgend, eine Schnellpojtreije nach Leip— 
zig, hauptjächlich um die erſte fertig gewordene Station der Leipzig- 
Dresdener Eijenbahn zu befahren. In der Erfindung der Dampfichiff- 
fahrt und Eifenbahn jah er ahnungsvoll die Borboten einer neuen Zeit 
und fchrieb, von jeinen Reiſe-Eindrücken begeiftert, an Fougque: „Im 
Herbft war ich, votum solvens, in Leipzig, die Eifenbahn mit vorge— 
ſpanntem Beitgeijt zu befahren — ich Hätte nicht ruhig ſterben können, 
hätte ich nicht vom Hochſitze dieſes Triumphwagens in die fich ent- 
rollende Zukunft Hineingejchaut.” Herbit und Winter 1837 vergingen 
ihm leidlich, aber im Frühling des nächiten Jahres fühlte er fich der 
Ausübung feiner Amtspflichten nicht mehr gewachjen und bat feine 
vorgeſetzte Behörde um Verſetzung in den Ruheſtand, die ihm unter 


Anerkennung jeiner Berdienjte mit vollem Gehalte gewährt wurde. : 


In den Monaten Februar bis April 1838 übertrug er gemeinfam mit 
jeinem Freund Gaudy jeinen Lieblingsdichter Beranger in einer Aus— 
wahl ins Deutiche — es war jein Schwanenlied —, und wenn es auch 
mehr eine Verdeutſchung als Überjegung war, jo kehrte er doch mit 


diefer Arbeit im Geifte oft zu feinem urſprünglichen Vaterland zurüd. : 


Er erlebte noch gerade die Herausgabe diejes Werfes, arbeitete mit 
ziemlicher Frijche an den Eingängen des Muſenalmanachs, mußte fich 
aber, von Fieberſchauern gerüttelt, am 16. Auguft zu Bett legen und 
verfiel in einen jchlafartigen Betäubungszuftand, aus dem er nicht 
mehr erwachte. Sein Tod war ein janftes Einjchlafen, ex jtarb am 21. 
Auguft 1838 morgens um 6 Uhr. Ir der legten Nacht ſprach er phan- 
injierend fortgejeßt Franzöſiſch, was er ſonſt ohne bejondere Veran— 
lafjung nicht zu tun pflegte. Die urfprüngliche Eigenart brach wieder 
hervor; er ſtarb, wie er geboren war, als Franzofe. Er hatte als Mann 


der Wiſſenſchaft in feiner letztwilligen Verfügung den Ärzten geftattet, : 


jeinen Leichnam zu öffnen, wenn jie vermeinten, daraus Belehrung 
ihöpfen zu fönnen, ein Gedanfe, dem er fchon früher in dem Sonett 
74* 


— 


0 


IX 
© 


30 


so 


ww 
o 


10 


15 


20 


E23 
„Reinerz“ Ausdrud verliehen hatte. Die Seftion ergab eine ſehr ſtarke 
Ausdehnung und gänzliche Beränderung der Bronchien (fogen. Bron- 
cheftafie), diejelbe Krankheit, an der Schiller gelitten hatte und geftor- 
ben war. Die fterbliche Hülle Chamijjos wurde am 23. Auguft in der 
Stille des früheſten Morgens auf dem Halliichen Friedhofe ohne Prunt 
der Erde übergeben. Er ruht unter einem Stein mit feiner Gattin. 
Wie bürgerlich-modern, von allen Vorurteilen frei, der Abkömm— 
ling eines alten Adelsgejchlechts bis an fein Lebensende dachte, zeigt 
ung eine Stelle jeines Tejtaments über die Erziehung jeiner Söhne. 
Sie jollten ftudieren oder zu einen bürgerlichen Gewerbe übergehen, 
denn „die Zeit des Schwertes iſt abgelaufen, und die Induſtrie erlangt 
in der Welt, wie jie wird, Macht und Adel” — der Roufjeau-Schwär- 
mer endete mit einem Lob auf die Induſtrie. 
Als ſich die Kunde feines Todes in Deutjichland verbreitet Hatte, 
feierte die große Gemeinde feiner Berehrer fein Andenken in ftiller 
Trauer, und Anderjen jang von ihm: 


Ein Schwan hat um den Erdkreis ſich geſchwungen — 

Er ſchlummerte im Schoß des Wilden ein; 

In Süd und Norden hat er Lieb’ errungen. 

Herüber quoll jein Sang aus Hermanns Hain; 

Sein leßter waren Frankreichs Freiheitslieder, 

Die Wurzel ſchlugen in der Völker Gunit, 

Dann brad) fein Herz — wann jchlägt ein jolches wieder? — 
Verjenft in Trauer jteht dev Muſe Kunſt. 


rer 


— 
Ot 
% 


ER ! 
Mn 
u Sau 





* 


Gedichte. 


Chamifio. I. 





1 


1 


2 


2 


or 


oO 


or 


o 


ot 


Einleitung des Herausgebers. 





5 begleitet die Iyriiche Muſe, wie bei Goethe, die ganze Zeit 
eines Dichterleben3 in gleihmäßiger Friſche. Gewöhnlich ein 
Geſchenk der Jugend, erlahmt die Gabe Iyrifcher Kunſt bei fort- 
jchreitendem Alter des Dichters ganz oder Hleidet jich in würdige Epit 
oder geſchwätzige Didaktif. Bei Chamiſſo Liegt der vereinzelte Fall 
vor, daß feine dichteriihe Begabung erjt im gereiften Mannesalter 
un vollen Durchbruch kommt, denn jeine Hauptichaffenszeit fällt in 
die vierziger und fünfziger Jahre feines wechjelreichen Lebens, als 
das tiefſchwarze Haar des Jünglings bereit3 dent Weiß de3 Alters zu 
weichen begann. Wir jahen in der Lebensgeichichte des Dichters, wie 
widrige Schickſalsſchläge den Sprößling zweier Nationen unjtet zwiſchen 
Frankreich und Deutjchland umherſchweifen und die hoffnungerweden- 
den Anfänge feiner dichteriihen Frühzeit nicht zur Reife kommen 
liegen. Erjt nah Erlangung einer feiten Lebenzitellung regte jich, 
durch die beglückende Liebe zu der jugendlichen Gattin mächtig ange- 
facht, der poetijche Geijt von neuem in ihm, und jebt tft feine Kenntnis 
und Beherrſchung der deutjchen Sprache fo weit fortgefchritten, daß 
er in ihr dichterifchen Stimmungen vollgültigen Ausdrud zu leihen 
vermag. Seine träumerijche, der Erichlaffung leicht ausgeſetzte Natur 
vafft jich zu greifbaren Leiſtungen empor und jtößt num die jahrelang 
unterdrüdten Empfindungen und Anjhauungen fondenfiert wie mit 
einem gewaltigen Rud aus. Daher enthüllt feine Dichtung mit einem 
Dale nicht nur eine erjtaunliche Fülle von Stimmungen und Motiven, 
jondern zugleich ein Frafjes Nebeneinander widerfprechenditer Empfin— 
dungen. Bejcheidenes Zurücktreten der eigenen Perjon, Neigung zu 
entfagungsreiher Schwermut, tiefinnigite Liebe zu Weib und Kind, 
Mitgefühl für die Armen und Enterbten, humorvolle Auffafjung 
menſchlicher Schwächen, kräftige Satire gegen alles Unwahre und 
Konventionelle, bitterer Hohn gegen die Bedrücder politiicher und 
1 * 


4 | Gedichte. 


religiöfer Freiheit, Nachempfinden der einfachſten Naturlaute der 
Volkslyrik und Berjtändnis für die verzerrteiten Erzeugniffe der Kunſt— 
poeſie — das ilt der mannigfaltige Inhalt der Dichtung Chamiſſos. 
In ihr fpiegelt fich jtets, jelbit no) in der Verfappung uns fremd- 
artiger Stoffwelten, die Berfönlichkeit des Dichter8 wider: hier jeine 
naid=herzliche, träumeriſch-ſchwermütige Art, dort feine ſcharf beobach— 
tende, herb empfindende und ſich ſchroff Außernde Natur, daneben ein 
aus tiefitenn Gemüt hervorquellender, ausgleichend verjühnender 
Humor. Das franzöſiſche und deutiche Element jeines Werdegangd 
halten fich in feiner Dichtung ungefähr die Wage. Neben franzöſiſchem 
„sentiment“ und „esprit findet ſich deutfche Innigkeit und Tiefe, 
neben einer hervorjtechenden Neigung zum Serben und Grotesfen ein 
itark aufgeprägter Sinn für das Zarte, Weiche und Humorvolle. In 
der Liebeslyrik und dem größeren Teil der Balladen bekundet ſich 
mehr der Deutſche; der Franzoje kommt mehr in den temperanıent- 
vollen ſatiriſchen, politiichen und fozialen Gedichten zur Geltung. 
Literarhiſtoriſch betrachtet, zeigt Jich derjelbe Eklektizismus, inſo— 
fern die verjchtedenen, in der deutſchen und franzöſiſchen Literatur 
herrſchenden Strömungen auf ihn einwirken und deutliche Spuren 
hinterlafjen. Die deutjche Romantik beeinflußt Stoffwahl und äußere 
Form und fördert feine Vorliebe für bizarre und graufige Situationen, 
Uhland und das deutſche Volkslied bejtimmen die innere Formen— 
gebung in der Richtung der realiftiichen Geſtaltung, und jelbit der 
Klaſſizismus Schillers und Goethes Eingt mehrfach dur. Außerdent 
begeijtern ihn die Senfationsdihtungen franzöſiſcher Romantiker, wie 
Delavigne, Merimde und Balzac, zu Nahahmungen, und die politijch- 
foziale Lyrik Berangers gibt feiner eigenen Muſe eine für die deutjche 
Dihtung neue Richtung. So gleicht jeine Poeſie einem Januskopf, 
die eine Seite nach der deutjchen, die andere nad) der franzöfiichen 
Geijtes- und Literaturwelt Hin gerichtet. Gewiß hing fein Herz in 
den Jahren feiner Bollendung mehr am deutichen als am franzöſiſchen 
Weſen, aber niemand kann feinen Urjprung verleugnen, und wir 
wiſſen aus feiner Zebensgeihichte, wie aufmerkſam er die Entwidlung 
der franzöſiſchen Kultur verfolgte. Er hat fich jelbjt den großen Ein— 
fluß, den die Literatur feiner alten Heimat auf feine deutjche Produk— 
tion übte, wohl nicht immer eingejtanden; bemerfenswert ijt jeden- 
fall3, daß er bei franzöfiichen Stoffen oder folchen, die ihm durch 
franzöſiſche Vermittlung befannt geworden find, mehrfach jeine Vor— 


„ 


— 


2 


DD 


N 


92 
© 


0 


5 


0 


0 


oa 


10 


- 
[2 


20 


2 


3 


3 


or 


oO 


or 


Einleitung de3 Herausgebers. 5 


lagen nicht angedeutet hat, während er im übrigen oft durch Furze 
Hinweiſe über den Urſprung des Stoffes den Schein faljcher Originali- 
tät von ſich weilt. Im einzelnen lajjen ji, auf Quellen und Ent- 
ſtehung geprüft, Chamiſſos Gedichte in ſolche mit vorwiegend fub- 
jeftivem und ſolche mit vorherrichend objektiven Charakter zerlegen. 
Die erite Gruppe enthüllt jein perſönlichſtes Innenleben in allen Ab- 
jtufungen von reinjter Freude zu tiefiter Melancholie, von lieben3- 
würdigem Scherz bis zu bitterem Hohn, jeine Beziehungen zur Familie, 
zu den Freunden, zur alten und neuen Heimat. Sehen wir hier vor 
allem den Menſchen Chamijjo vor ung, jo tritt ung in den mehr 
objektiven Gedichten der bewußte Künjtler, der feiner Meinung un- 
verhüllt Ausdruck gebende, vor feiner Konſequenz zurücdichredende 
Denker und Foricher entgegen. In ihnen geht der Dichter von einem 
bejtimmten, ihm von außen zugeflojjenen Stoff aus, fucht ihn feiner 
Weiensart anzupafjen und meigelt an ihm wie ein Bildhauer an einem 
Marmorblock mit den Mitteln feiner Kunſt. Die Motive diefer Gruppe 
von Gedichten find teils geichichtlihen Quellen oder zeitgendffischen 
Ereignifjen entnommen, teil ſchöpfen fte aus den feit Sahrtaufenden 
angehäuften, jih von Geſchlecht zu Geichlecht forterbenden Stoffen 
der Weltliteratur volkstümlicher oder gelehrter Herkunft. Es ift nun 
ſehr charakteriitiih, daß die mehr objektive Lyrik im Vergleich zur 
jubjeftiven dem Umfang nach bei weiten überwiegt, und hier bewährt 
ſich Hebbels auf Chamiſſo gemünztes Wort, daß es Dichter gebe, bei 
denen die Poeſie eher ein Einjaugen als ein Ausitrömen fei. Seine 
Darjtellungsart zeigt überall daS Beitreben, die Stoffe, feien ſie auch 
noch jo fentimental oder bizarr, gegenjtändlich zu behandeln, und fo 
jehr er bis zuleßt in der Stoffwahl und in der Berdtechnif von dent 
romantijchen Geijte abhängig bleibt, durch den Realismus feiner 
Daritellung überwindet er die unklare Verſchwommenheit des roman— 
tiihen Stils und jichert jich eine lebendige, fortdauernde Nachwirkung. 
Indem er in den jubjektiven Gedigten von dem Erlebnis, von indivi- 
duellen Empfindungen und Gedanken ausgeht und jie im Gedicht 
geitaltet, jchafft er Gedichte meiſt Iyrifchen Gehalts, jedoch mit einer 
bemerkenswerten Hinneigung zum Epijchen, die fich auch in der 
zykliſchen Verbindung innerlih zufammengehöriger Gebilde fund- 
gibt. Die alten überlieferten Motive nehmen in der Hand des Dichters 
jeltener die Liedform, häufiger die der Ballade, deren dramatiſcher 
Gehalt jeinent Temperament gut anjteht, meijtens die der epijchen 


6 | Gedichte. 


Erzählung in dem von ihm bevorzugten Terzinenversmaß an. Dazu 
fommt in etlichen Fällen die der franzöſiſchen Dichtung entliehene 
Horn der „Chanſon“. 

Gehen wir die Hauptgruppen der „Gedichte Durch, jo erfennen 
wir in den rein ſubjektiven lyriſchen Gedichten die elegifche Stint- 
mung als die vorherrjchende. Mit Rejignation fpricht der Dichter von 
jeiner verlorenen Jugend, vom entihwundenen Glüd, von unerfüllten 
Wünjhen, vom Grauwerden feiner Haare, von den Bejchwerden 
des nahenden Alters, von Todesahnungen — heitere Dajeinsfreude 
und unbewölktes Menjchenglüd finden wir jelten. Die Berle der 
individuellen Gedichte, ein Juwel der deutichen Lyrik überhaupt, iſt 
das Lied „Das Schloß Boncourt”, in dem ſich das harte Lebens— 
ihickjal des Dichters in fanfte, elegiiche Töne auflöft, ummwoben von 
dem romantischen Schimmer, der aus Ruinen fo eindringlich zu uns 
Ipricht, und getragen von der fittlihen Hoheit ſeines Schöpfers, der 
nicht ein Wort des Hafjes gegen die Zerjtörer feines Erbes und ſei— 
ne3 Glüdes übrig hat. „Schon beim Leſen des Gedichtes gehen einem 
die Augen über, und man gibt unwillfürlich Ihnen jelbjt den Segen 
zurüd, welchen Sie dem Aderer auf der teuren Stelle zurufen‘, in 
diefe Worte faßte Friedrih Wilhelm IV. von Preußen die ergreifende 
Wirkung des Gedichts in einem Brief an den Dichter zufammen. Mit 
wenigen Liedjtrophen erreicht Chamiffo hier mehr als ſelbſt Byron, der 
in mehreren Gedichten feiner „Hours of idleness“ und im 13. Gejang 
de3 „Don Juan’ die Ruinen feines väterlihen Schloffes in Newſtead 
Abbey in ähnlicher Weiſe mit epicher Ausführlichkeit befungen hat. 
Das Thema der Schlußitrophe, daß der von der heimatlihen Scholle 
Bertriebene, die Lyra in der Hand, die Weiten der Erde durchmißt, 
fehrt verändert an manchen Stellen, jo in den „Drei Sonnen‘, wie— 
der. Hatten Chamiſſo in der Jugendzeit unjtete Wandernaturen, wie 
Andalofia im „Fortunat“ und Peter Schlemihl, angezogen, fo fejjeln 
ihn jegt der fagenhafte Ahasver und moderne jüdische Ahasvergeital- 
ten, wie der „Abba Glosk Leczeka“ und der „Baal Teſchuba“. Die 
mehr germanijche al3 romanijche Neigung zur Melancholie leitete ihn 
oft in der Auswahl feiner Volksliedbearbeitungen, in der freien An— 
paſſung einzelner jtimmungsgleicher Gedichte der franzöſiſchen Lyrik 
(Millevoye, Bictor Hugo) und führte ihn zu den jeelenverwandten 
Dichtungen des Dänen Anderjen, aus denen er manches zarte, weh— 
mütige Lied und das bei ung volkstümlich gewordene Lied „ES geht 


— 


0 


en 


5 


20 


25 


[JS] 


0 


80 


5 


1 


2 


3 


3 


a 


o 


or 


oO 


or 


Einleitung des Herausgebers. 2 


bei gedämpfter Trommel” übertrug, wodurch er ihn zuerjt in der 
deutſchen Literatur einbürgerte. 

Wie oft bei melandholifchen Naturen, jo findet ſich auch bei 
Chamiſſo neben entjagender Wehmut frifcher, tiefgründiger Humor. 
Da liebt er e8 denn, fich in gefunder, von Heines beigender Selbjt- 
ironie weit entfernter Art als Pechvogel hinzujtellen, al3 einen Men- 
ihen, der ftet3 den Anſchluß verpaßt hat und dann fein Mißgeſchick 
dem Schidjal in die Schuhe jchieben möchte. Die unperjönlichen 
humoriftifchen Gedichte zeigen die feinem deutſch-franzöſiſchen Weſen 
entiprehende Mifhung von naiv-urwüchſigem, zuweilen derb-volfs- 
tümlichem und geiſtreich-ſarkaſtiſchem Humor. Die erite Gattung des 
Humor3 findet fich in den komiſchen Vollsmärden „Hans im Glück“ 
und dem „Urteil des Schemjafa‘, in verfifizierten Anekdoten, wie 
„Böſer Markt‘ und „Der rechte Barbier“, und in zahlreichen Terzinen- 
humoregfen, wie dem „Szekler Landtag“, die Chamifjo zum glücklichen 
Fortjeger der von Lejjing, Öellert, Langbein und Bürger gepflegten 
komiſchen Verserzählung machen. Gelegentlih macht er auch bei 
außerdeutfhen Dichtern eine Anleihe, bei Cervantes im „Don 
Quichote“, bei Arioft im „Roland ein Roßkamm“. Der gallifche, von 
Beranger beeinflußte Humor verrät ſich in den pifanten, in der 
Form der „Chanſon“ abgefakten Gedichten „Polterabend und „Der 
Frau Bafe Huger Rat”: in jenem die vom Sigel der Sinnenluft ge- 
plagte Witwe, in diefem die erfahrene, kuppleriſche Alte. Auch der 
unvermittelte, der Chanſon oft eigentümliche Übergang von aus— 
gelaſſener Luſtigkeit zu tiefer Tragik kommt im „Polterabend“ vor, 
indem ſtatt des erwarteten Bräutigams und der Hochzeitsgäſte Leichen— 
träger erjcheinen. Diefe uns heute noch ganz modern anmutenden Kieder 
fönnten aus dem Repertoire der Yvette Guilbert jtammen, im übrigen 
findet das frivole Lied feine Stätte bei ihm, auch nicht in feinen Über— 
jegungen aus Beranger, wie denn jeine-eigene, ganz deutfche Liebes— 
lyrik nihtS von den Gunjtbezeugungen Glycerens oder Liſettens weiß. 

Die Liebesdihtung Chamiſſos entbehrt, wie nicht anders zu 
erwarten, des jugendlichen Feuers und der finnlichen Leidenschaft, ift 
aber durch Tiefe des Gefühls, Zartheit der Empfindung, ruhige und 
doc temperamentvolle Darftellung, Wohllaut der Sprade und mufi- 
kaliſchen Rhythmus ausgezeichnet. Die beiden berühmten Liederzyklen 
„Srauenliebe und Leben‘ und „Lebenslieder und -Bilder“ enthalten 
dichterijch verflärte Schilderungen gewöhnlicher Menſchenſchickſale von 


8 Gebichte. 


allgemeinſter Verſtändlichkeit, Bilder aus der verſchiedenen Entwid- 
lung der beiden Geſchlechter, wie ſie ſchon Schiller im „Lied von der 
Glocke“, in der „Würde der Frauen“, in den Diſtichen „Die Ge— 
ſchlechter“ gezeichnet hatte. In der erſten Gedichtreihe folgt auf das 
frohe Aufjubeln des Mädchens beim Erblicken des Geliebten die 
Verlobung, das chorartige Brautlied und die intime Schilderung 
des ehelichen Glückes unter Vermeidung jeder Frivolität im größten 
Gegenſatz zu der ungleich gröberen Frauenlyrik unſerer Tage. 
Rouſſeaus Ermahnungen über die natürlichen Mutterpflichten tönen 
in den Verſen „Nur die da ſäugt, nur die da liebt das Kind, dem ſie 
die Nahrung gibt ꝛc.“ zurück. Der zweite Zyklus hebt ſchärfer den 
Unterſchied der männlichen und weiblichen Entwicklung hervor; 
während in dem Lied „Mutter, Mutter, unſere Schwalben“ die früh— 
zeitiger erwachende Gejchhlechtsempfindung des Mädchens in reizend 
naiver Berhüllung zum Ausdrud gelangt, jtudiert der Knabe noch am 
Tacitus und an griehifcher Grammatik und übt feine Kraft an einem 
PBapierdrahen, — das erjte, den Zyklus eröfinende Gedicht ijt eine 
freie, ergößliche RBarodie auf Schillers „Kampf mit dem Draden“. 
Dann Elingt das Thema der Berje Schillers „Vom Mädchen reißt ſich 
ſtolz der Knabe“ durch. Zwar darf der Süngling noch nit am 
Kampfe für das Baterland teilnehmen, wie ja auch für den Dichter 
die Zeit fein Schwert hatte, aber er ſchwärmt im Sreife der Brüder 
für Freiheit, Menſchenrecht und Menſchenwürde. Auch des Dichters 
Aufenthalt in den Alpen Savoyens und der überwältigende Eindrud 
der Hochgebirgswelt reflektiert in der Dichtung ; wurde er jelbjt dadurch 
mit zum Naturforicher bejtimmt, fo wird der Held der „Lebenslieder 
und -Bilder‘ zum Dichter, zum begeijterten Sänger alpinen Lebens. 
Als dann der zum Manne gereifte Süngling von der Höhe in das 
Tal zurückkehrt, erblict er das Mädchen am Rojenhag, und die Liebe 
zieht in fein Herz ein. In einer Neihe von innigen, zum Teil über- 
zarten Liedern wird die ganze Skala der Tiebesgefühle mit Anklängen 
an den erjten Zyklus durdeilt. Nichts ift für Chamifjos Eigenart 
bezeichnender, als daß er beide bis dahin fo harmonisch dahinfliegende 
Dichtungen undermittelt, abernicht unkünftlerifch durch das Dazwiſchen— 
treten finjterer Schickſalsmächte tragisch enden läßt. Wie in Schillers 
„Glocke“ die Bande der Familie durch den Tod der Gattin jäh zer- 
riffen werden, fo bei Chamijjo dur den Tod des Mannes; dem 
tieferniten Klagelied der erjten Gedichtreihe („Nun haft dur mir den 


fer 


0 


DD 


5 


1 


4 


2 


2 


3 


3 


oO 


or 


Oo 


5 


oO 


ot 


Einleitung des Herausgebers. 9 


eriten Schmerz getan‘) entipriht in der zweiten das ergreifende 
Schlußlied: „Beitreut mit Eichenlaub die Bahre dort!“ Durch diefe 
beiden Zyklen iſt Chamiſſo in noch ftärferen Maße als Schiller der 
Sänger der ehelichen Liebe und de3 häuslichen Herdes geworden. 
Die von ihm gefchilderte, weniger durch geiitige Selbitändigfeit als 
durch Jittliche Vorzüge ausgezeichnete Frau, das Abbild von Antonie 
Piaſte, ijt zugleich der Typus der einfach-ſchlichten deutſchen Hausfrau. 
Schon die Zeitgenofjen haben tadelnd bemerkt, daß dieſe Frauengeitalt 
in ihrer Liebe zum Manne zu ſehr als dienende, demütige Magd er- 
jcheint, und heute im Zeitalter der Frauenemanzipation empfinden 
wir diefe Auffafjung ſchon als recht altfräntifch. Indes Eonnte Chamiſſo, 
der hier al3 glüclicher Gatte und Hausvater redet, nur die Durch— 
ſchnittsfrau feiner Zeit mit ihrer geringeren Teilnahme an geijtigen 
Dingen im Auge haben, und zu beachten bleibt auch, daß gerade er al3 
Franzoſe das an der deutichen Frau bejonders ſchätzte, was der roma- 
niſchen weniger eignet, den ſtarken Sinn für eheliche Treue und häus- 
liches Glüd. Zudem iſt der allgemeine Grundgedanke, die aufopfernde 
Hingabe der Frau an den Mann, von ewiger Dauer, heute wie 
damals. Daß der hier gefchilderte Frauencharakter auch in Balladen, 
wie beiipielöweife im „Herzog Huldreich und Beatrir“ oder gelegent- 
lih in einer Terzinendichtung, wie in der Geſtalt der Maria im „Kru— 
zifix“, wiederfehrt, entipricht ganz Chamiſſos Schaffensart, ebenfo daß 
er in anderen Dichtungen die tragijche Seite des Frauenlebens weiter 
ausgejtaltet, wie in dem Zyklus „Tränen“. 

Ganz al3 Deutſcher ericheint Chamifjo, wenn er den Spuren der 
deutihen Volksſage, des deutſchen Volksmärchens und 
Volksliedes nahbildend folgt. Als Führer in diefer romantijchen 
Zauberwelt dienten ihm in erjter Linie die grundlegenden Sagen- und 
Märhenfammlungen der Brüder Grimm, deren er in der Widmung 
jeiner Bearbeitung des „Armen Heinrich” Hartmanns von Aue ehr- 
furchtsvoll und dankbar gedenkt. Für die künſtleriſche Geftaltung der 
Sagen ald Balladen gab ihm fein „hoher Meiſter“ Uhland, der 
Schöpfer der eigentlich gefchichtlichen Ballade, das Vorbild. Nach Art 
von deſſen Zyklus vom „Grafen Eberhart dem Rauſchebart“ dichtete 
Chamiffo in der modernifierten Nibelungenftrophe die ungleichwertige 
Gruppe der „Deutſchen Volksſagen“, von denen das „Rieſenſpielzeug“ 
am befanntejten geworden ijt. In der alten vierzeiligen Chevy-Chaſe— 
Strophe ſchuf er die Lieblihen Balladen vom „Burgfräulein von 


10 Gebdichte. 


Windeck“ und der „Jungfrau von Stubbenkammer“, in einer etwas 
erweiterten Strophenform die Sage vom geſpenſtiſchen „Waldmann“. 
Das finnige Märchen vom Totenhemd formte er zu den Strophen 
„Die Mutter und das Kind“ als Zwiegeſpräch zwifchen der klagenden 
Mutter und ihrent toten, ihr nächtlich ericheinenden Kind. Das Motiv 
der griechiihen Sage von den Kranichen des Jbyfus geitaltet jich 
glüdlih in der deutjhen Märchenballade „Die Sonne bringt es an 
den Tag”. Die tragikomiſche Gejtalt des „Hans im Glück“ mußte 
Chamiſſos eigener Natur ganz bejonders zujagen, und die Berfifizierung 
des Grimmſchen Märchens iſt von größter dramatifcher Lebendigkeit 
und zündendem Humor. Daß er fich aus den altnordiichen Edda- 
liedern gerade das heitere Spielmannslied vom Rieſen Thrym und 
den als Frauen verkleideten Göttern Thor und Donar zur Bearbeitung 
im Stabreim auswählte, ijt ganz bezeichniend. Die von Goethe, den 
Nomantikern, Uhland und befonders Heine gepflegte Wertihätung 
des deutſchen Volksliedes und ihr Bemühen, feine abgejchliffene, zer- 
jungene Form mit neuem individuellen Gehalt aufzufüllen, zog 
Chamiſſo mächtig an. Nicht oft hat er, wie in der „Liebesprobe“, 
direkt ein deutſches Bolkslied nur in eine Fünjtlerifch gehobenere Form 


überführt, häufiger verwendet er alte Volksliedſtoffe, wie das Kilt- 


gangmotiv im „Gemjenjäger und der Sennerin‘ und da3 Thema vom 
treulojen Geliebten in „Laß reiten“. Die urſprünglich vollstümliche, 
von Goethe, Eichendorff und Wilhelm Müller erneuerte Miillerlieder- 
poejte erhielt einen elegiichen Akzent in der „Müllerin“, den fomijchen 


in der „Müllerin Nachbar‘‘, eine eigenartige, phantaſtiſch-dämoniſche 2 


Färbung in dem „Alten Müller“. Mit Borliebe fuchte Chamifjo in 
den außerdeutichen Volksliedern nach geijtesverwandten Gebilden. 
Aus einer Sammlung litauifcher Bolfslieder jtilijierte er das harm— 
(08-heitere Lied vom „Familienfeſt“, die ſtark elegiichen Xieder „Treue 
Liebe” und „Die Waiſe“ und das wahrhaft Fünjtlerifche, mit vielen 
alten, märdenhaften Zügen ausgejtattete Gedicht „Der Sohn der 
Witwe”. Der eriten größeren Sammlung neugriehiicher Volkslieder 
des Franzojen Fauriel, die der Griechenliederdichter Wilhelm Müller 
fongenial in jchlichte deutiche Verje übertragen hatte, verdankt Chamiſſo 
das gejchichtliche Lied „Georges und das reizende, oft fomponierte 
Liedchen „Verratene Liebe‘. 

Chamiſſo, der in jeiner Jugend das leidende Opfer der politijchen 
Wirren jeiner Zeit gewejen war, konnte in den Fragen der Politik 


— 


0 


- 


5 


rd 
oO 


— 
Qt 


w 


0 


80 
— 


1 


2 


2 


3 


3 


a 


o 


or 


oO 


or 


oO 


ot 


Einleitung des Herausgebers. 11 





feine gleihgültige oder abwartende Stellung einnehmen. Er war durd) 
Bildung und Schidjalsfügung ein Liberaler, ein Gegner der Borrechte 
des Adels und der hierarchiſchen Bejtrebungen der Kirche geworden, 
und indem er freimütig für die fortfchrittliche Entwicklung der Staaten 
eintrat, wurde er ein politifher Zeitdichter im beiten Sinne des 
Wortes und ein Vorläufer der jpäteren politifchen Tyrif des „ungen 
Deutſchland“. Sein politifche8 Glaubensbekenntnis legte er in den 
Sonetten „An die Apoſtoliſchen“ (1821 — 22) nieder, die, aus jehr ver- 
ichiedenen Elementen zufammengejeßt, durch den prophetijchen Hin- 
weis auf die nahende Revolution verbunden werden. Mit entjchiedener 
Originalität führt er hier die „öffentliche Meinung‘ redend ein, die 
gegen die reaktionären Beitrebungen der deutjchen Regierungen den 
Borwurf der Undankbarfeit erhebt, da nur durch ſie, durch die allge- 
meine Erhebung des Volkes, die Herrſchaft Napoleons, des, Koloſſes der 
Zeit”, abgefchüttelt worden jet. Die in allen Kulturitaaten erwachende 
Begeijterung für die Freiheitsfänpfe der Griechen, hinter der fich im 
Grunde die eigene Sehnfucht nach nationaler und Iiberaler Betätigung 
der Völker verbarg, fejjelte auch Chamifjo. In den Terzinen „Deutſche 
Barden” bejang er die erfänpfte griechiiche Freiheit und feierte in 
Ludwig von Bayern den königlichen Philhellenen. Im Gegenfaß zu 
den freiheitsbegeijterten Tiraden der Griechenlieder Wilhelm Müllers 
gibt er in dem Zyklus „Chios“ und in dem Gedicht „Sophia Kon— 
dulimo und ihre Kinder‘ Scharf umrijjene, konkret geſchaute Einzel- 
bilder aus dent Kampf der Griechen und Türken, oft graufiger Art 
und nicht immer in Fünjtlerifcher Abrundung. Das äjthetifch wert- 
vollite Gedicht feiner Griechenlyrif, „Lord Byrons lebte Liebe’, ver- 
bindet in padenditer Weife das Lebensende des gefeierten Dichter- 
Philhellenen mit dem heroiihen Motiv der freiwilligen Gelbitauf- 
opferung einer Griehin für ihren im Kampf gefallenen Geliebten. 
Die etwa gleichzeitige europäiſche Dichtung des Napoleonkultus, in der 
in Deutichland die Sehnſucht nach einem machtvollen Herricher, nad) 
dent myſtiſchen „Kaiſer der Zukunft” zum Ausdrud fam, zog auch 
Chamifjo an, ſtimmte jedoch feine Leier mehr Eritifch als enthuſiaſtiſch. 
In der dramatifchen Skizze „Der Tod Napoleons“ und in den Ter- 
zinen „Traum“ vertritt er al3 Feind des autofratiihen Regierungs— 
ſyſtems die Byronſche Auffafjung über die Größe des Korſen, die zwar 
den Genius in ihm bewunderte, aber ebenso fehr die anmaßende Gewalt 
jeiner Herrichaft ablehnte und ihm die ungefrönten amerifanifchen 


i 
i 


12 Gedichte. 


Freiheitähelden Wafhington uud Franklin vorzog. Das Heine, an- 
Ihauliche, feitgefügte Lied „Der neue Diogenes‘ kennzeichnet in der 
Antwort des Veteranen das jtarfe Unabhängigfeitsgefühl des freien 
Mannes, ſelbſt dem Kaifer gegenüber. Unverwandt jhaute Chamiſſos 
Auge nah Frankreich, nach Paris, dem Herd der liberalen Ideen, wo 
die leidenſchaftlichſten Parteikämpfe gegen das Bourbonentum ausge— 
fochten und, von einem Beranger auf der Leier begleitet, zu einen 
gewaltfamen Ausbruch Hindrängten. Unter dem Einfluß Berangers 
ſchrieb Chamiſſo das jatirifche, gegenden Flerifalismus der Bourbonen 
gerichtete „Nachtwächterlied‘‘, aus dem die Berje „Und der König ab- 
jolut, Wenn er unſern Willen tut“ zum geflügelten Wort geworden 
find, und da$ für jpätere politiihe Dichter, wie Dingeljtedt, Herwegh, 
Hoffmann von Falleräleben, ein anfpornender Wedruf geworden iſt. 
Sn den Liedern „Ungewitter”, „Laß ruhen die Toten‘, „Der König 
im Norden‘ zeichnet er den vielbefungenen Herricher de3 mittelalter- 
lihen Feudalſtaats als feines Purpurmantels beraubt und zwijchen 
verfallenen Burgen und Klöjtern ein Scheindafein frijtend. Die unter 
dem unmittelbaren Eindrud der Julirevolution entitandenen Terzinen 
„Memento‘' zeigen den entthronten Herrjcher Frankreichs mit gebrand- 
marfter Stirn als königlichen Ahasverus fein Land verlaſſen. Mit 
ihonung3lofer Konjequenz wird in der recht gelungenen Phantasma— 
gorie „Die Ruine“ angejichts der jiegenden Gewalt der neugebornen 
Zeit die Nichtigkeit des alten Ideals von Thron und Altar durchge- 
führt. Nach diejer Richtung konnte Kinfel von dem Dichter jagen: 


„Des tapfern Franfreihs junge Kraftgedanfen 
Sn fränk'ſchem Kleide führt Chamifjo vor.” 


Allein nicht nur der König im Purpur, auch der Bettler in Lum— 
pen ijt wert, vom Dichter im Liede bejungen zu werden — meint 
Chamifjo am Anfang des „Abba Glosk Leczefa”. Sn einer Reihe 
wertvoller ſozialer Gedichte von unerreichter Herbheit und zugleich 
von unendlihem Mitgefühl für die Armen und Elenden werden, 
wiederum unter der Einwirkung Berangers, einzelne Typen aus dent 
engbegrenzten Milieu der unteren Volksſchichten mit ihren natürlichen 
und entarteten Inſtinkten und ihrem Haß gegen die herrichende Klaſſe 
. vorgeführt. Da tjt der Bettler, der, außerjtande, für jeinen Hund, 
feinen einzigen Begleiter, die Steuer zu bezahlen, fich jelbjt die Schlinge 
um den Hals wirft („Der Bettler und jein Hund“), die Bäuerin, deren 


— 


0 


— 


5 


or 


1 


2 


2 


3 


3 


oO 


oO 


a 


oO 


or 


Einleitung des Herausgebers. 13 


gefamte Habe die Gutsherrſchaft an fich geriffen hat (,,Da3 Gebet der 
Witwe‘), der freiheitstrunfene Leipziger Veteran, der im Irrenhauſe 
die Veitjche des Wärters erhält („Der Invalid im Irrenhaus“), da 
it der Vertreter der verfemtejten Volksklaſſe, der Henker, der in den 
Opfern feines Beils nur die Opfer einer ungerechten Stlafjenjuftiz Tteht 
und an einem gräflihen Lüſtling das Verbrechen der höheren Stände 
rächt („Die Vergeltung‘). Auch die meilterhaft aus Beranger über- 
jeßten Lieder „Der Bettler” und „Die rote Hanne’ wären hier anzu— 
führen. In diefen Liedern fehwebt den Enterbten der Gefellichaft ein 
Fluch gegen die Menschheit auf den Tippen, nur in zwei Gedichten, im 
„Neuen Diogenes“ und im „Lied von der alten Waſchfrau“, find die 
erregten Affekte zu einer gewifjen Ruhe ausgeglichen. An diefe jozialen 
Lieder ſchließt fich ein direkt kriminaliſtiſches Gedicht, die, Giftmiſcherin“, 
die mit den Worten: „Haft du die Macht, du halt dad Recht auf 
Erden‘ bereit3 die Grundſätze des von Daudet gejchaffenen literarischen 
Typus vom „struggleforlifeur‘ verkündet, freilich nicht um diefe aus 
dem Darwinismus hervorgegangene Moral zu rechtfertigen, jondern 
um die Pſychologie des Berbrechens zu ergründen. 

Kein anderer al3 der Naturforicher und Weltreifende Chamifjo 
war mehr berufen, einem derdeutjchen Muſe noch ziemlich fern liegenden 
Gebiet, der erotifchen Lyrik, neue Bahnen zu weifen. Die Indianer- 
dihtung Seumes und Lenaus konnte er freilich nur durch einige von 
ihm felbit nicht hochgeſchätzte Terzinengedichte vermehren. Der von 
ihm gefehaute und ſchmerzlich empfundene Rückgang der polynefifchen 
Naturvölfer vor dem eindringenden Europäertum liegt dem Gedicht 
„Ein Gerichtstag auf Huahine” zugrunde; die Anklagerede Tahutes 
fontraftiert wirkian das lebensfrohe, Fampflujtige Treiben der Inſu— 
laner zur Zeit ihre3 wilden Kriegsgottes Dro mit der fpäteren, duch 
das Chriſtentum herbeigeführten feierlichen Sabbatitille. Fajt als eriter 
fonnte Chamifjo in der „Idylle“ und den wertvollen Liedern „In 
malaiischer Form“ wirkliche Volkslieder der „Wilden zugänglich 
machen. Sein Meifterjtiicd auf diefem Gebiet bleibt jeine größere Ter- 
zinendihtung „Salas y Gomez“. Sie beruht zunächjt auf Autopfie, 
denn der Dichter it im März 1816 auf dem „Rurik“ an der öden 
Seljenklippe des Stillen Ozeans vorbeigefahren, freilich nicht gelandet, 
doch hatte er jo viele ähnliche Landungen mitgemacht, um hier wie von 
Erlebtem fprechen zu können. In feinen ‚Bemerkungen und Anfichten‘ 
(1821) zur Weitreije fügte er der Befchreibung der Inſel die Bemerkung 


14 | Gebichte. 


hinzu: „Man fchaudert, fich der möglichen Fall vorzuftellen, daß ein 
menschliches Wejen darauf verjchlagen werden könnte.“ Hier liegt offen- 
bar der möglicherweife in noch frühere Zeit zurücdreichende Keim der 
Dihtung. Diefe felbit iſt erit 1829, jehr wahrſcheinlich unter der Einwir- 
fung einer älteren Robinſonade, der von Tied herausgegebenen „Inſel 
Felſenburg“ von Schnabel, entjtanden, denn ihr iſt die berühmte dee 
der drei Schiefertafeln entlehnt. Trotzdem iſt die eigene Geitaltungs- 
kraft des Dichters eine jehr bedeutende und eine weit größere als in 
vielen andern Terzinendichtungen. Die früheren Robinjonaden und 
die verwandten StaatSromane haben, vom rein Abenteuerlihen und 
Sentimentalen abgejehen, einen fozial=utoptitiichen Charakter, indent 
fie auf einer Inſel einen idealen Lebenszujtand außerhalb der Be- 
dingungen des Kulturlebeng mit dem Marimum menjhlicher Glück— 
jeligfeit Schildern. Chamiſſo fommt es nicht darauf an, die auf eine 
Inſel Berjchlagenen zu Gründern eines neuen glücdlicheren Gemein- 
wejens zu machen oder fie, wie bei Defoe, nach vielen Entbehrungen 
durch zufällige Rettung in die Heimat zurückkehren zu lafjen, jondern 
er zeigt in realijtifcher Detatlmaleret, wie ein Einzelweſen in menjchen- 
(eerer Einöde, in furhtbarer Bereinfamung den langjamen Tod der 
Verzweiflung ftirbt und die Geschichte dieſes Todes tagebuchartig jelbit 
auf den Tafeln aufzeichnet, und gibt dadurd) dem alten Robin— 
fonadenjtoff eine ganz neue, moderne Form. Salas y Gomez befitt 
ebenjo wie „Das Schloß Boncourt“ Ewigfeitswert, denn in ihnen 
beiden gipfelt die Poeſie Chamiſſos. 


no 


— 


D&D 


0 


0 


Der Dichter. 


Und wie der Menjch nur jagen kann: Hie bin ich 
Daß Freunde feiner fchonend fich erfreun; 
So fann ich auch nur jagen: Nimm es hin. 
Goethe.! 
1. Aus der Beringsitraße 
im Sommer 1816. 
Die Lieder, die mir unter Schmerz und Luſt 
Aus jugendlichem Buſen ſich befreit, 
Nachklangen wohl, ich bin es mir bewußt, 
In derer Herzen, denen ſie geweiht; 
5 Get ſtill, mein Herz, und trage den Verluſt, 
Sie klangen, jie verhallten in der Zeit; 
Mein Lieben und mein Leben find verhallt 
Mit meinen Liedern, um mich ijt es falt. 


Das Leben Hat, der Tod hat mich beraubt, 
10 63 fallen Freunde, jterben von mir ab, 
Es ſenkt ſich tief und tiefer jchon mein Haupt, 
Sch jege träumend weiter meinen Stab 
Und wanfe, müder, al3 wohl mancher glaubt, 
Entgegen meinem Ziele, meinem Grab. 
15 63 gibt des Kornes wenig, viel der Spreu: 
Sch pflüdte Blumen, jammelte nur Heu. 


Das tat ich fonjt, das tu? ich annoch Heute, 
Sch pflüde Blumen, und ich jammle Heu; 


I Worte Tafjos, mit denen er feine Dichtung dem Herzog überreicht (Akt 1, 
Szene 3, V. 388 ff.). 


Gedichte: Der Dichter. 


Botanifieren nennen das die Leute, 

Und ander es zu nennen, trag’ ih Scheu; 

So Ichweift das Menichenfind nach trodner Beute 
Das Leben und die Welt hindurch, die Neu’ 
Greilet ihn, und, wie er rückwärts jchaut, 

Der Abend ſinkt, das Haar ijt ſchon ergraut. 


So, Bruder!, Ihaudert’3 mich auf irrer Bahn, 
Wann düjtre Nebel ruh'n auf trübem Meer; 
Beeiſte Felſen ruf ich liebend an, 

Die falten Maſſen widerhallen leer; 

Sch bin in Sprach' und Leben ja der Mann, 
Der jede Silbe wäget falſch und ſchwer; 

Sch fehre heim, jo wie ich ausgegangen, 

Ein Kind, vom greifen Alter ſchon umfangen. 


Wann erit der VBalme luft'ge Krone wieder 
Sn tiefer Bläue jchlanfgetragen ruht, 
Aus heitrer Höh’ die mächt’ge Sonne nieder 
Zur wonn’gen Erde ſchaut in reiner Glut, 
Dann jchmiegen fich durchwärmt die jtarren Glieder, 
Und minder ſchwer zum Herzen fließt das Blut, 
Dann möchten auch die düjteın Träume weichen 
Und ich die Hand dir jonder Klage reichen. 


2. Bei der Rückkehr. 


Swinemünde im Dftober 1818. 


Heimfehret fernher, aus den fremden Landen 
In jener Seele tief bewegt der Wandrer; 
Gr legt von fi den Stab und Fniet nieder 
Und feuchtet deinen Schoß mit jtillen Tränen, 
O deutiche Heimat! — Wol ihm nicht verjagen 
Für viele Liebe nur die eine Bitte: 
Wann mid am Abend jeine Augen jinfen, 
Auf deinem Grunde laß den Stein ihn finden, 
Darunter er zum Schlaf jein Haupt verberge. 


1 Higig. 


25 


35 


40 


45 


59 


60 


65 


70 


75 


80 


1. Au3 der Beringsftraße. — 2. Bei der Rückkehr. — 3. Berlin. 








3. Berlin. 
Sm Sahr 1831, 
Du, meine liebe deutiche Heimat, halt, 
Warum ich bat, und mehr noch mir gegeben; 
Du ließejt freundlich dem gebeugten Gajt 
Die eigne traute Hütte jich erheben, 
Und der bejcheidne kleine Raum umfaßt 
Ein neuerwachtes Heitres, reiches Leben; 
Sch Habe nicht zu bitten, noch zu klagen, 
Div nur aus frommem Herzen Dank zu jagen. — 


Dul fiehjt mich zweifelnd halb und halb erſchrocken, 
Mit feuchten Augen an, mein gutes Kind; 

Laß nicht den Schein in Irrtum dich verloden, 

Es iſt ja nur des Abends Fühler Wind, 

Des Mondes bleicher Schein auf meinen Locken, 

Die fait wie Silber anzujehen find; 

Ein halbes Hundert mir entraujchter Jahre 

Hat nicht mein Herz berührt, nur meine Haare, 


Mit duft’gen, üpp’gen Blumenfränzen mußt, 
Mit Rofen du beichatten ihren Glanz; 
Sch bin noch jung, noch ſtark, noch voller Luſt, 
Und windet um die Stirne fich der Kranz, 
Und wieget jih mein Haupt an deiner Bruft, 
Und wird der Traum zur Wirklichkeit jo ganz, 
Erblühet zum Gejang mein heimlich Meinen, 
Und alle meine Lieder find die deinen. 


Sa! Lieder, neue Lieder will ich fingen; 
Du, meine Mufe, laufchejt unverwandt, 
Und wenn die Weiſen div zum Herzen dringen, 
Drüdit leife du belohnend mir die Hand; 
Laß ungejtraft um ung die Kinder ſpringen, 
Vielleiht daß fie der Geijt der Lieder bannt; 
Kein Zwang: e8 würden mich die armen dauern, 


Sie dürfen nicht um unjre Freude trauern. 


1 Antonie Piafte. 
Chamifjo. I. 


L9 


17 


18 Gedichte: Der Dichter. 


Und, liebes Kind, laß Tür’ und Fenſter offen; 
Erworben hab’ ich mir der Freunde viele, 
Und habe derer manche Ichon getroffen, 
Die Freude Hatten an dem heitern Spiele; 
Willkommen jet, wer laujchen will: mein Hoffen 
Wär eben, daß es vielen wohlgefiele; 
Wem aber unjre Xieder nicht gefallen, 
Der jtört ung nicht, der wird vorüber wallen. 


85 


ü— cccccccccc 


[17 


10 


15 


20 


Lieder und Iyrifch-epifche Gedichte. 


Singe, wen Geſang gegeben, 
Sn dem deutſchen Dichterwald! 
Uhland.! 


Erauen-Liebe und -Leben. 
F 
yet ich ihn gejehen, 
Glaub’ ich blind zu jein; 
Mo ich Hin nur blide, 
Seh’ ich ihn allein; 
Wie ım wachen Traume 
Schwebt jein Bild mir vor, 
Taucht aus tiefjtem Dunkel 
Heller nur empor. 


Sonſt ijt licht- und farblos 
Alles um mich ber, 
Nah der Schweitern Spiele 
Nicht begehr’ ich mehr, 
Möchte lieber meinen 
Still im Kämmerlein; 
Ceit ih ihn gejehen, 
Glaub’ ich blind zu jein. 
2. 
Er, der Herrlichite vor allen, 
Wie jo milde, wie jo gut! 
Holde Lippen, klares Auge, 
Heller Sinn und feſter Mut 


1 Anfang des Gedichts „Freie Kunft”. 


Co ivie dort in blauer Tiefe 
Hell und herrlich jener Stern, 
Alſo er an meinem Simmel, 


Hell und herrlich, Hoch und fern, 


Wandle, wandle deine Bahnen; 
Nur betrachten deinen Schein, 

Nur in Demut ihn betrachten, 
Selig nur und traurig Jein! 


Höre nicht mein jtilleg Beten, 
Deinem Glüde nur geweiht; 

Darfit mich niedre Magd nicht fennen, 
Hoher Stern der Herrlichkeit! 


Nur die Würdigſte von allen 
Soll beglüden deine Wahl, 
Und ich will die Hohe fegnen, 
Segnen viele taufend Mal. 


Will mich freuen dann und weinen, 
©elig, jelig bin ich dann; 

Sollte mir das Herz auch brechen, 
Brich, o Herz, was liegt daran! 


3. 
Ich kann's nicht falten, nicht glauben, 
Es Hat ein Traum mich berüdt; 
Wie hätt’ er doch unter allen 
Mich Arme erhöht und beglüdt? 


Mir wars, er habe geiprochen: 
Ich bin auf ewig dein — 


Mir war's — ich träume noch immer, 


63 kann ja immer jo ſein. 


D, lab im Traume mich jterben, 
Gewieget an jeiner Bruft, 
Den feligiten Tod mich jchlürfen 
Sn Tränen unendlicher Luft. 


25 


30 


35 


40 


45 


50 


60 


65 


70 


79 


80 


Frauen-Liebe und = Leben. al 


4. 
Du Ring an meinem Yinger, 
Nein goldnes Ringelein, 
Ich drüde dic) fromm an die Lippen, 
Dich Fromm an das Herze mein. 


Ich hatt? ihn ausgeträumet, 
Der Kindheit friedlichen Traum, 
Ich fand allein mich, verloren 
Sm öden, unendlichen Raum. 


Du Ring an meinem Finger, 
Da Haft du mich exit belehrt, 

Halt meinem Blick erſchloſſen 
Des Lebens unendlichen Wert. 


Sch werd’ ihm dienen, ihm leben, 
Ihm angehören ganz, 

Hin jelber mich ‚geben und finden 
Berklärt mich in feinem Glanz. 


Du Ring an meinem Finger, 
Mein goldnes Ningelein, 

Sch drüde dich Fromm an die Lippen, 
Dih Fromm an das Herze mein. 


B; 
Helft mir, ihr Schweitern, 
Sreundlich mich ſchmücken, 
Dient der Glüclichen heute, mir. 
Windet gejchäftig 
Mir um die Stirne 
Noch der blühenden Myrte Zier. 


Als ich befriedigt, 
Freudiges Herzens 
Dem Geliebten im Arme lag, 
Smmer noch rief er, 
Sehnjucht im Herzen, 
Ungeduldig den heut’gen Tag. 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Helft mir, ihr Schweitern, 
Helft mir verjcheuchen 
Eine törichte Bangigfeit, 
Daß ich mit klarem 
Aug’ ihn empfange, 
Ihn, die Quelle der Freudigfeit. 
Biſt, mein Geliebter, 
Du mir erichienen, 
Gibſt vu, Sonne, mir deinen Schein? 
Laß mich in Andacht, 
Laß mich in Demut 
eich verneigen dem Herren mein. 


Streuet ihm, Schweitern, 
Streuet ihm Blumen, 
Bringt ihm knoſpende Roſen dar. 
Aber euch, Schweitern, 
Grüß’ ih mit Wehmut, 
Freudig Jcheidend aus eurer Schar. 


6. 

Süßer Freund, du blickeſt 
Mich verwundert an, 
Kannſt e3 nicht begreifen, 
Wie ich weinen fann; 
Laß der feuchten Perlen 

Ungewohnte Zier 
Freudenhell erzittern 
In den Wimpern mir, 


Wie jo bang mein Buſen, 
Wie jo wonnevoll! 

Wüßt' ih nur mit Worten, 
Wie ich’3 jagen joll; 

Komm und birg dein Antlitz 
Hier an meiner Brult, 

Will ins Ohr dir flüjtern 
Alle meine Luft. 


85 


90 


100 


105 


110 


115 


130 


135 


140 


145 


150 


Frauen = Liebe und = Leber. 23 





Hab’ ob manchen Zeichen 
Mutter jchon gefragt, 
Hat die gute Mutter 
Alles mir gejagt, 
Hat mich unterwielen, 
Wie, nach allem Schein, 
Bald für eine Wiege 
Muß gejorget jein. 


Weißt du nun die Tränen, 
Die ich weinen kann, 
Sollſt du nicht fie jehen, 
Du geliebter Mann; 
Bleib an meinem Herzen, 
Fühle deifen Schlag, 

Daß ich feſt und feiter 
Nur dich drüden mag. 


Hier an meinem Bette 
Hat die Wiege Raum, 
Mo fie jtill verberge 
Meinen Holden Traum; 
Kommen wird der Niorgen, 
Mo der Traum erwacht, 
Und daraus dein Bildnis 
Mir entgegen lacht. 


Ti 
An meinem Herzen, an meiner Bruſt, 
Du meine Wonne, du meine Lujt! 
Das Glück iſt die Liebe, die Lieb’ ift das Glück, 
Sch Hab’ es geſagt und nehm's nicht zurück. 
Hab’ überglüdlich mich geichäßt, 
Bin überglüclich aber jett. 
Nur die da jäugt, nur die da liebt 
Das Kind, dem fie die Nahrung -gibt; 


24 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte, 


Nur eine Mutter weiß allein, 

Was lieben Heißt und glücklich fein, 
D, wie bedaur ich doch den Mann, 
Der Mutterglück nicht fühlen kann! 
Du ſchaueſt mich an und lächeljt dazu, 
Du lieber, lieber Engel, du! 

An meinem Herzen, an meiner Bruft, 
Du meine Wonne, du meine Lujt! 


8. 
Nun Haft du mir den erſten Schmerz getan, 
Der aber traf. 
Du ſchläfſt, du harter, unbarmherz'ger Manı, 
Den Todesichlaf. 


63 blidet die Verlaſſ'ne vor fich Hin, 
Die Welt ijt leer. 

Geliebet Hab’ ich und gelebt, ich bin 
Nicht lebend mehr. 

Sch zieh? mich in mein Innres ſtill zurüd, 
Der Schleier Fällt, 

Da hab’ ich dich und mein vergangnes Glüd, 
Du meine Welt! 


9. 
Traum der eignen Tage, 
Die nun ferne find, 
Tochter meiner Tochter, 
Du mein füßes Kind, 
Nimm, bevor die Müde 
Det das Leichentuch, 
Nimm ins friſche Leben 
Meinen Segensſpruch. 
Siehſt mich grau von Haaren, 
Abgezehrt und bleich, 
Bin wie du geweſen 
Jung und wonnereich, 


160 


165 


180 


185 


190 


200 


205 


210 


Frauen = Liebe und -Leben. — Küfjen will ich, ich will füfjen. 





Liebte, wie du Liebeit, 
Ward wie du auch Braut, 
Und auch du wirſt altern, 
So wie ich ergraut. 
Laß die Zeit im Yluge 
Mandeln fort und fort, 
Nur beitändig wahre 
Deines Buſens Hort; 
Hab’ ich's einjt geiprochen, 
Nehm' ich's nicht zurüd: 
Glück iſt nur die Liebe, 
Liebe nur iſt Glück. 


Als ich, den ich liebte, 
In das Grab gelegt, 
Hab’ ich meine Liebe 
Treu in mir gehegt; 
War mein Herz gebrochen, 
Blieb mir fejt der Wut, 
Und des Alters Miche 
MWahrt die heil’ge Olut. 


Nimm, bevor die Müde 
Dedt das Leichentuch, 
Nimm ins friiche Leben 
Meinen Segensiprud: 
Muß das Herz dir brechen, 
Bleibe feſt dein Mut, 
Sei der Schmerz der Liebe 
Dann dein höchſtes Gut. 


Küſſen will ich, ich will küſſen. 


Freund, noch einen Kuß mir gib, 
Einen Kuß don deinem Wunde, 

Ach! ich Habe dich jo Lieb! 

Freund, noch einen Kuß mir gib. 


26 


Gedichte: Lieber und Iyrifch -epifche Gebichte. 


Werden möcht’ ich jonjt zum Dieb, 
Wärſt du farg in diefer Stunde; 
Freund, noch einen Kuß mir gib, 
Einen Kuß don deinem Wunde. 


Küſſen ijt ein ſüßes Spiel, 
Meinſt du nicht, mein ſüßes Leben? 
Nimmer ward e8 noch zuviel, 
Küſſen it ein ſüßes Spiel. 

Küſſe, jonder Zahl und Ziel, 
Geben, nehmen, wiedergeben, 

Küſſen it ein ſüßes Spiel, 

Meinſt dur nicht, mein ſüßes Leben? 


Gibſt du einen Kuß mir nur, 
Tauſend geb’ ich dir für einen. 
Ach, wie jchnelle läuft die Uhr, 
Gibſt du einen Kuß mir nur. 
Ich verlange feinen Schwur, 
Wenn e3 treu die Lippen meinen, 
Gibſt du einen Kuß mir nur, 
Tauſend geb’ ich dir für einen. 


Slüchtig, eilig wie der Wind 
Sit die Zeit, wann wir ung küſſen. 
Stunden, wo wir jelig find, 
Flüchtig, eilig wie dev Wind! 
Scheiden jchon, ach, jo geſchwind! 
O, wie werd’ ich weinen müſſen! 
Flüchtig, eilig wie der Wind 
Sit die Zeit, wann wir uns füllen. 


Muß e3 denn gejchteden jein, 
Noch nur einen Kuß zum Scheiden! 
Scheiden, meiden, welche “Bein! 
Muß e3 denn gejchieden jein? 

Lebe wohl und denke mein, 
Nein in Freuden umd in Yeiden; 


or 


30 


35 


40 


20 


Küffen will ich, ih will küſſen. — Tränen. Pr 


Muß e3 denn gejchieden jein, 
Noch nur einen Kuß zum Scheiden! 
—. — 
Tränen, 
1. 
Mm“ its, 0 Vater, was ich verbrach? 
Du brichft mir das Herz und fragt nicht darnadı. 
Ich Hab’ ihm entjagt nach deinem Befehl, 
Doch nicht ihn vergeſſen, ich hab’ es nicht Hehl. 
och lebt er in mir, ich ſelbſt bin tot, 
Und über mich Jchaltet dein jtrenges Gebot. 
Wann Herz und Wille gebrochen find, 
Bittet um eins noch dein armes Kind. 
Wann bald mein müdes Auge jich jchliekt 
Und Tränen vielleicht das deine vergießt; 


An der Kirchwand dort, beim Holunderftrauch, 
Wo die Mutter liegt, da lege mich auch. 


2. 

Sch habe, bevor der Morgen 
Im Oſten noch gegraut, 
Am Yenjter zitternd geharret 
Und dort hinaus gejchaut. 

Und in der Mittagsftunde, 
Da Hab’ ich bitter geweint, 
Und habe doch im Herzen: 

Er fommt wohl noch, gemeint. 
Die Nacht, die Nacht iſt fommen, 
Vor der ich mich gefcheut; 

Nun iſt der Tag verloren, 
Auf den ich mich gefreut. 
3. 
Nicht der Tau umd nicht der Regen 
Dringen, Mutter, in dein Grab, 
Tränen find es, 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Tränen deine3 armen Kindes 
Rinnen heiß zu dir hinab. 


Und ich grabe, grabe, grabe; 

Von den Nägeln Tpringt das Blut, 
Ach! mit Schmerzen, 

Mit zerriſſ'nem, blut’gem Herzen 

Bring’ ich dir hinab mein Gut. 


Meinen Ring, ſollſt mir ihn wahren, 


Gute Mutter, Liebevoll; 

Ach! fie jagen, 
Daß ich einen andern tragen, 
Weg den meinen werfen joll. 


Ring, mein Ring, du teure Kleinod! 


Muß es denn gejchieden fein? 
Ach! ich werde 

Bald dich Juchen in der Erde, 

Und du wirft dann wieder mein. 


4. 


Denke, denke, mein Geliebter, 
Meiner alten Lieb' und Treue, 
Denke, wie aus freud’gem Herzen, 
Sonder Harm und fonder Reue, 
Frei das Wort ich dir gegeben, 
Dich zu lieben, dir zu leben — 
Suche dir ein andres Lieb! 


Ach! er fam, befah die Felder 

Und das Haus, der Mutter Erbe, 

Sprach und feilichte mit dem Vater, 

Der befahl gejtreng und herbe. — 

Gitel war dag Wort gejprochen, 

Herz und Treue jind gebrochen — 
Suche dir ein andre Lieb! 


Und der Priefter mit dem Munde 
Sprach den Segen unverdroſſen, 


30 


40 


45 


60 


65 


75 


80 


85 


90 


Tränen. 29 


Unerhöret, einem Bunde, 
Der im Himmel nicht gejchloifen. — 
Zieh’ von Hinnen! zieh’ von hinnen! 
Andres Glück dir zu gewinnen, 
Suche dir ein andres Lieb! 
5. 
Die, deren Schoß geboren, 
Sn Wonn' und Luft verloren, 
Ihr Kind in Armen hält, 
Sie gibt dir Preis und Ehren 
Und meint de8 Danfes Zähren 
- Dir, Bater aller Welt. 


Und, welcher du verneinet 
Des Leibes Segen, tweinet 
Und grämt und härmet fich, 
Sie hebt zu dir die Arme 
Und betet: Ach! erbarme, 
Erbarme meiner dich! 


Ich Ärmſte nur von allen, 
Sn Schuld und Schmac gefallen, 
Bin elend grenzenlos; 
Sch bete: — Weh mir! — mache, 
Aus Mitleid oder Rache, 
Unfruchtbar meinen Schof. 
6. 
Sch Hab’ ihn im Schlafe zu jehen gemeint, 
Noch ſträubt vor Entjegen mein Haar fich empor, 
D, hätt’ ich doch ſchlaflos die Nacht durchweint, 
Wie manche der Nächte zuvor. 
Ich jah ihn verjtört, zerriſſen und bleich, 
Wie er in den Sand zu jchreiben Tchien. 
Er ſchrieb unjre Namen, ich kannt' e3 gleich, 
Da hab’ ich wohl laut gejchrien. 
Er fuhr zufammen, vom Schrei erichredt, 
Und blickte mich an, verjftummt wie das Grab; 


30 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Ich hielt ihm die Arme entgegengeitredkt, 

Und er — er wandte fich ab. 
’£ 

Wie jo bleich ich geworden bin? 
Was willit du fragen? 

Freue, freue dich immerhin, 
Ich will nicht £lagen. 

Halt das Haus und die Felder auch, 
Und haſt den Garten, 

Laß mich unterm Holunderſtrauch 
Den Pla erwarten. 

Tier das Bläschen und lang und breit 
Nur wen’ge Schuhe, 

Leg’ ich dort mich zu guter Zeit 
Und halte Ruhe. 

— —— 


Die Blinde. 
R 
3 hat die Zeit gegeben, 
Wo hinaus mein Auge mich trug, 

Zu folgen im tiefen Lichtmeer 

Der flüchtigen Wolfen Zug; 
Zu jtreifen über die Eb’ne 

Nach jenem verichwindenden Saum, 
Mich unbegrenzt zu verlieren 

Sm lichten, unendlichen Raum. 
Die Zeit it abgeflofjen, 

Leb wohl, du heiterer Schein! 
63 jchließet die Nacht der Blindheit 

Sn engere Schranken mich ein. 
O trauert nicht, ihr Schweitern, 

Daß ich dem Licht erſtarb; 
Ihr wißt nur, was ich verloren, 

Ihr wißt nicht, was ich erwarb. 


100 


105 


15 


25 


30 


35 


40 


45 


Tränen. — Die Blinde. 





Ich bin aus irren Fernen 
In mich zurüde gekehrt, 
Die Welt in des Bujens Tiefe 
Sit wohl die verlorene wert. 


Was außen tönet, das jteiget 
Herein in mein Heiligtum; 
Und was die Bruft mir beweget, 
Das ijt mein Eigentum. 
2. 
Wie hat mir einer Stimme Klang geklungen 
Im tiefften Innern 
Und zaubermächtig alfobald verichlungen 
Al mein Erinnern! 
Wie einer, den der Sonne Schild geblendet, 
Umjchwebt von Farben, 
Ihr Bild nur Sieht, wohin das Aug’ er wendet, 
Und Flammengarben: 


So hört’ ich diefe Stimme übertönen 
Die lieben alle, 
Und nun vernehm’ ich heimlich nur ihr Dröhnen 
Im Widerhalle, 
Mein Herz it taub geworden! wehe, twehe! 
Mein Hort verjunfen! 
Sch habe mich verloren, und ich gehe 
Wie jchlafestrunten. 
3. 


Jammernd finm ich und ſinn' immer das Eine nur: 


Wonnejelig die Hand, welche bejeelet, ſanft 
Gleitend über jein Antlit, 
Dürft' ihm Form und Gejtalt verleign! 


Armes, armes Gehör, welches von ferne nur 
Du zu jchlürfen den Ton einzig vermagjt, ins Herz 
Ihn nachhallend zu Leiten, 
Ob nachhallend, doch weſenlos! 


sl 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 


4. 
Stoß, mein Stoß, wohin gefommen! 
Bin ein arıned, armes Kind, 
Deren Augen, ausgeglommen, 
Nur zu weinen tauglich find. 


Leſen fann ich in den einen 
Nicht das heimlich tiefe Wort; 

Meine jchweigen, aber weinen, 
Weinen, weinen fort und fort. 


Sa, wir find getrennt! In Scherzen 

„„ Und in Freuden wandeljt du, 

Über mich und meine Schmerzen 
Schlägt die Nacht die Flügel zu. 


5. 
Wie trag' ich's doch, zu leben 
Nur mir und meiner Pein? 
Dem Liebſten ſollt' ich dienen, 
Da wollt' ich ſelig ſein! 


Ich wollt' ein treuer Page 
Um den Gebieter ſtehn, 

Bereit zu jeder Botſchaft 
Und jeden Gang zu gehn. 


Ich kenne jede Windung 
Der Straßen, jedes Haus 

Und jeden Stein am Wege, 
Und weiche jedem aus. 


Wie freudig zitternd trüg' ich 
Ihm nachts die Fackel vor, 
Die freud'ge Luſt ihm ſpendend, 

Die ſelber ich verlor! 


O, traurig iſt's im Dunkeln, 
Ich weiß es nur zu ſehr! 
Licht wollt' ich, Licht verbreiten 

Um ſeine Schritte her. 


50 


55 


60 


65 


75 


80 


85 


90 


95 


100 


105 


Die Blinde. — Leben» Lieder und Bilder. 





Ihn ſollte jtet3 erfreuen 
Das allerfreu’nde Licht; 
Sein Anblick jollte jeden 
Erfreuen, mich nur nicht. 
Und jollte da mich treffen 
Der Menjchen Spott und Hohn, 
Sch jeh’ es nicht, und Hört’ ich's, 
Auch das ertrüg’ ich jchon. 
6. 
Du mein Schmerz und meine Wonne, 


- Meiner Blindheit andre Sonne, 


Holde Stimme, bit verhallt. 
Meine Nacht Hüllt ſich in Schweigen, 
Ad, jo ſchaurig, ach, jo eigen, 

Alles öd' und leer und falt! 


Leiſe welfen, mich entfärben 
Seht ihr Schweitern mich und fterben, 


Und ihr fragt und forſcht und Elagt; 


Laßt das Forſchen, laßt das Tragen, 
Laßt das Klagen, jeht mich tragen 

Selbſt mein Schidjal unverzagt. 
Hingeſchwunden it mein Wähnen, 
Ohne Tränen, ohne Sehnen 

Welk' ich meinem Grabe zu; 
Nichts dem Leben bin ich jchuldig, 
Stumm, geduldig trag’ ich, duld' ich, 

Schon im Herzen Todesruh'. 

— — 


Lebens-Lieder und Bilder, 
1, Der Ruabe, 


He vom Lindwurm Habt ihr oft, 


Ihr meine Spielgejellen, 
Nun wird es wahr, was ich gehofft, 
Den Drachen werd’ ich fällen. 


Chamifjo. I. 


33 


34 


Gedichte: Lieder und Iyrifch = epifhe Gedichte. 


Er Liegt gefrümmt am dunklen Ort 
Im Kleinen Schrant am Spiegel dort, 
Da hat er feine Höhle, 


Ihr ſeid die beiden Doggen traut, 
Die ich zum Kampfe brauche, 
Sch treib’ euch an, ihr heulet laut 
Und packt ihn unterm Bauche. 
Sch geh’ mit Schwert und Schild voran, 
Mit Helm und Panzer angetan, 
Und jchrei’ ihn aus dem Schlafe. 


Hervor, hervor! Du Höllenbrut! 
Da, jeht den grimmen Drachen! 

Hu! wie er Teuer jpeit und Blut 
Aus weit geſperrtem Rachen! 

Wir kamen unbedachtſam nicht 

Zu diefem Strauß, tut eure Pflicht, 
Ihr meine guten Doggen. 


Und ſchnappt er gierig exit nach mir, 
Ich werd’ ihn Liltig Fallen, 

Die aufgehäuften Bücher hier 
Sind jchwere Felſenmaſſen; 

In jeinen Rachen werf' ich jie, 

Du Untier, exit verichlude die, 
Bevor du mich Fannjt beißen. 


Die Schlacht beginnt, wohl aufgepaßt! 
Wir wollen Gutes hoffen; 

Er denkt: er hält mich jchon gefaßt, 
Sein weites Maul iſt offen, — 

Der die Scheller fliegt hinein, 

Die andern folgen, groß und Elein, 
Der Bröder und der Buttmann.! 


ur 


10 


20 


3) 


1 Die beliebteften Schulwerfe der damaligen Zeit für den altfpradplichen Unter— 
richt: J. J. G. Scheller, Lateinijchsdeutjches und Deutjchelateinifches Handlerifon 
(Leipzig 1792), Ch. G. Bröder, Kleine lateinijhe Grammatik (Leipzig 1795) und 
PH. K. Buttmann, Griediihe Schulgrammatif (Berlin 1816). 


40 


45 


50 


60 


65 


Lebens-Lieder und Bilder. 35 


O Buttinann! 9, was tut du mir, 
Du dummer, zum Berderben! 

Du teiffit den Spiegel, nicht das Tier, 
Da liegen, ach, die Scherben! 

Der dumme Spiegel nur it jchuld, 

Und tragen joll ich in Geduld 
Deshalb noch viele Schläge. 


Das Glück Hat feindlich fich erprobt; 
Getroit, ihr Spielgejellen! 

Sch werde, wenn der Meilter tobt, 
Mich jelbjt für alle jtellen. 

Er ſchlage mich nach Herzensluſt, 

Daß er es kann, iſt mir bewußt, 
Doch wird es jo nicht dauern. 


Sch bin auf immer nicht ein Kind, 
Es wird das Blatt jich wenden; 
Die durch die Rute mächtig find, 
Die Ruten werden enden. 
Sch Hab’ als Kind den Schwur getan, 
Und bin ich exit erwachiner Mann, 
Dann weh’ den Rutenführern! 


2. Das Mädchen. 


Mutter, Mutter! meine Puppe 
Hab’ ich in den Schlaf gewiegt, 

Gute Mutter, fomm und stehe, 
Wie jo engliſch fie da liegt. 


Vater wies mich ab und jagte: 
„Geh, du biſt ein dummes Kind“; 

Du nur, Mutter, fannjt begreifen, 
Welche meine Freuden find. 


Wie du mit den £leinen Rindern, 
Will ich alles mit ihr tun, 
Und ſie joll in ihrer Wiege 
Neben meinem Bette ruhn. 
3* 


36 


Gedichte: Lieber und Iyrifch -epifche Gebichte. 


Schläft fie, werd’ ich von ihr träumen, 
Schreit ſie auf, erwach' ich gleich, 
Meine himmliſch gute Wtutter, 
O, wie bin ich doch jo reich! 


3 &r. 


Möchte doch einer die Fäuſte ſich nagen! 


Alſo zu jung! nicht ſtark noch genug! 
Hören muß ich die Trommel jchlagen, 
Sehen die andern Waffen tragen, 

Fernab ziehen, verichwinden den Zug. 


Hören muß ich und ruhig Tauern, 
Schelten der Fremden Übermut; 
Sehen die Mutter beten und trauern, 
Aber, gefangen in diefen Mauern, 
Kühlen am Tacitus meine Wut. 


Ziehet, ihr glüdlichen, fröhlichen Fechter, 
Corget, daß ihr vom och ung befreit; 
Aber bejtellt mich vertrauend zum Wächter 
Über die fünftigen Schergengejchlechter, 
Einjt auch kommen wird meine Zeit. 


4. Sie, 


Mutter, Mutter! unjre Schwalben — 
Sieh doch ſelber, Mutter, ſieh! 
Junge haben fie befommen, 
Und die Alten füttern fie. 


ALS die Tieben Fleinen Schwalben 
Wundervoll ihr Nejt gebaut, 
Hab’ ich jtundenlang am Fenſter 
Heimlich ſinnend zugeichaut; 


Und wie exit fie eingerichtet 
Und bewohnt das Kleine Haus, 
Haben ſie nach mir gejchauet 
Gar verjtändig Klug hinaus. 


80 


— 


90 


95 


100 


105 


110 


115 


130 


Leben? =Lieder und Bilder. 37 





Sa, es jchien, jie hätten gerne 
Manches heimlich mir erzählt, 
Und es habe fie betrübet, 
Was zur Rede noch gefehlt. 


Alſo Hab’ ich, Liebe Schwalben, 
Unverdroifen euch belaujcht, 
Und ihr Habt mit euren Rätjeln 

Wunderjeltiam mich beraufcht; 


Seht exit, jeßt hat das Geheimnis, 
Das ihr meintet, ſich enthüllt, 
Eure heimlich ſüße Hoffnung 
Hat ſich freudig euch erfüllt. 


Sieh doch Hin! die beiden Alten 
Bringen ihnen Nahrung dar. 
Gibt es Süßeres auf Erden 
Als ein ſolches Schwalbenpaar! 


5. Er. 


Kraft der Erde, Licht der Sonne, 
Schäumt der edle Wein; 

Laßt, ihr Brüder, ernjt und heilig 
Unſre Stimmung fein! 


Heute nicht dem Rauſch der Freude, 
Nicht der eitlen Luit, 

Nein, dem Gotte joll er gelten 
Tief in unfrer Bruſt. 


Gleich dem Weine warm und Fräftig, 
Lauter, rein und Klar, 

Bringen wir das volle Leben 
Ihm zum Opfer dar. 


Schmach der Teigheit! Krieg der Lüge! 
Allem Schlechten Krieg! 

Herrlich für die Freiheit fterben, 
Herrlicher der Sieg! 


38 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Wir für Menſchenrecht und Würde 

Kämpen allzumal, 

Weihen den gefallnen Helden 

Funkelnd den Pokal. 

6. Sie, 

Roſe, Roſe, Knoſpe geſtern 
Schliefſt du noch in mooſ'ger Hülle, 
Heute prangſt in Schönheitsfülle 
Du vor allen deinen Schweſtern. 
Träumteſt du wohl über Nacht 
Don den Wundern, die geſchahen, 
Von des holden Frühlings Nahen 
Und des jungen Tages Pracht? 

7. Er. 
Ich hab’ in den Klüften des Berges gehaujt 
Gar manche fchaurige Nacht, 


Und warn in den Föhren der Sturm gejauft, 
Recht wild in den Sturm gelacht. 


Da, wo die Spur fie) des Mtenjchen verlor, 
Ward’s erjt mir im Bujen leicht; 

Sch bin geflommen auf Gipfel empor, 
Die Jonjt nur der Adler erreicht. 


Das Yand, vom luftigen Horit geichaut, 
Lag unten, von Wolfen verdedt; 

Da Ichallte mein Lied gar grimmig und laut, — 
Das Lied — hat jchter mich erjchredt. 

Und nieder trieb mich die graufige Luft 
Am Strom der Wildnis entlang; 

Ihn überichrie aus bewegter Bruft 
Mein jeltfam braujender Sang. 

Der Strom vertobt in ein friedliches Tal, 
Dort Liegt ein einfames Haus — 

Ein Rofengarten — ein Gartenſaal — 
63 ſchaut wohl jemand heraus. 


140 


145 


160 


165 


185 


190 


195 


Lebens = Lieber und Bilder. 39 





Und wie ich jchweifend vorübergewallt 
Anm Hag, wo die Rojen jind, 

Sind alle die ſchaurigen Lieder verhallt, 
Sch ward jo ein janftes Kind! 


8. Sie. 

Sch muß den Zweig, den böjen Rofenziveig 
Verklagen. 

Er bat ſo ſanft, wie ſollt' ich den ihm gleich 
Verſagen? 

Doch war's, daß ich — ſelbſt zum Strauch geführt, 
Nicht weiſe 

Wo ſeine Hand die meinige berührt 
So leiſe. 

Und als er zögernd aus dem Garten wa 
Gegangen, 

Stand zitternd ich, als hätt' ich Böſes gar 
Begangen. 

O, hätt' ich ſeiner holden Rede nicht 
Gelauſchet! 

Mich nicht an ſeines Auges klarem Licht 
Berauſchet! 


Nun trag' ich unabläſſig, ſchreckhaft, bang, 
Mit Schmerzen, 
Das Licht des Auges und der Stimme Klang 
Im Herzen. 
— 8 
Ein Roſenzweig dich ſchmücken? 
Du Wilder, wie will ſich's ſchicken? 
Was haſt du mit Roſen gemein? — 
Es ſtehen drei Sterne am Himmel, 
Die geben der Lieb' ihren Schein. 


Zwei Knoſpen am Zweig und die Roſe 
Entſcheiden nun meine Loſe, 
Die Dreie, die mein' ich allein. — 


40 


Gebichte: Lieber und Iyrifh = epifhe Gebiäte. 


63 jtehen drei Steine am Himmel, 
Die geben der Lieb’ ihren Schein. 


Die Role, die zarte, blühet, 
Die Liebe blühet und glühet, 
Das fühl ich im Herzen mein. — 
63 ftehen drei Sterne am Himmel, 
Die geben der Lieb’ ihren Schein. 


Noch Knofpen im grünen Laube, 
Die Hoffnung und der Glaube, 
Sie müſſen zur Blüte gedeihn. — 
63 jtehen drei Sterne am Himmel, 
Die geben der Lieb’ ihren Schein. 


Ich pflanz’ ihn in meinen Garten, 
Den Zweig, und feiner zu warten, 


Dem will ich ernſt mich weihn. — 


Es jtehen drei Sterne am Himmel, 
Die geben der Lieb’ ihren Schein. 


Sch ſeh' ihn im freudigen Traume 

Erwachſen zum jtarfen Baume, 
Mein Obdach Toll er jein. — 

63 stehen drei Sterne am Himmel, 
Die geben der Lieb’ ihren Schein. 


Und hat der Traum mich betrogen, 

Verdorrend der Zweig mich belogen, 
Mag alles dann Züge jein; 

Dann fteht fein Stern am Himmel, 


Kein Stern gibt der Liebe den Schein. 


10. Sie, 
Hör ich eine Stimme wieder? 


Weh' mir, weh’ mir! welche Lieder! 


Ach! was hab’ ich ihm getan? 
Mitleid ſollt' ev an mir üben, 
Aber nur mich zu betrüben, 

Sinnt der jehonungslofe Mann. 


200 


205 


210 


215 


225 


230 


235 


240 


245 


250. 


255 


260 


Lebend=Lieder und Bilder. 41 





Bor den Liedern jollt’ ich fliehen, 
Mich verbergen, mich entziehen 
Der bezaubernden Gewalt — 
Aber laufchen muß ich, Laufchen, 
Gierig, ſchmerzlich mich beraujchen, 
Bis der lebte Ton verhallt. 


Schweigt e3, hallt in mir die Weile 
Nach, gar unbegriffnerweife, 
Traurig mild und jcehaurig wild — 
Und die Träume! Wehe, wehe! 
- Mann ich leuchtend vor mir jehe 
Wunderſam jein hohes Bild. 


11,..&r. 


Am Rofenhag im Tal, am Duell der Linden, 

Da haben meine Lieder oft geraufcht; 

Sie hofften glaubig Widerhall zu finden; 

Halt, Widerhall, den Liedern du gelaufcht, 

Und ahndungsvoll gebebt bei ihrem Klange? — 
Zange! 

Geahndet Hätteft du, daß ich dich meinte, 
Und did in Schmerz und Lujt mit mir vereint? 
Und hättejt bald, warn ich verzagend meinte, 
Betrübet und verzagend auch geweint? 

Und bald gehofft, warın ich ermutigt hoffte? — 
Ofte! 

Du kennſt das unbegriffne bange Sehnen, 
Den Widerſtreit in der bewegten Bruſt? 

Den Hochgeſang der Freuden und die Tränen, 

Den liebgehegten Schmerz, die herbe Luſt? 

Der Hoffnung Honigſeim, des Zweifels Galle? — 
Alle! 

Wohlan! Ich werde gehn, mein Haus zu bauen; 
Sei feſt, wie ich es bin, gedenke mein. 

Den dreien Sternen will ich feſt vertrauen, 
Die dort der Liebe geben ihren Schein; 


42 


Gedichte: Lieder und Iyrifch-epifhe Gedichte. 


Und wirſt auch du vertrauen ihrem Schimmer? — 
Immer! 


So lebe wohl, du Seele meiner Lieder, 
Und nur auf kurze Zeit verſtumme du, 
Gar bald erweckt dich meine Stimme wieder, 
Dann rufen wir es laut einander zu, 
Was ungeſagt verſchwiegen nicht geblieben, — 

Lieben! 
12. Sie. 

So ſtill das Tal geworden! — ac)! die Lieder, 
Seitdem er fortgezogen, ſind verhallt; 
Und ſorglos wandl' ich, aber trauernd, wieder 
Am Quell der Linden, wo ſie ſonſt geſchallt. 

Der Winter ſchleicht heran, die Bäume zeigen 
Die Aſte ſchon vom falben Schmuck beraubt, 
Mein Roſenbaum wird bald die Krone neigen, 
Vom Reife ſchwer und ſchimmernd neu belaubt. 


Und auch auf meinen Wangen, hör' ich ſagen, 
Entfärben ſich die Roſen, ſie ſind bleich; 
Und mir iſt wohl, ich habe nicht zu klagen, 
Ich bin in der Grinnerung ſo reich! 

Gr hat, der Miorgenjonne gleich, dem Traume, 
Dem nächtlichen, der Kindheit mich entrüdt; 
Er jchreite vor im Lichterfüllten Raume, 
Es jinft mein Blick geblendet und entzüct. 

Sch werde nicht, einfält’ges Kind, begehren, 
Daß mir die Sonne nur gehören joll; 
Mag fammend mich ihr mächt’ger Strahl verzehren, 
Sch ſegne fie und ſterbe freudenvoll. 


13. Er. 
Wie ſtürmte dev Knab' in das Leben, 
So feindlich jchroff und ergrimmt! — 
Ein Blick in dein klares Auge, 
Ein DBli in den reinen Himmel, 
Wie friedfam ward er geitimmt! 


265 


[80] 
— 
ci 


280 


290 


19 
&D 
a 


300 


305 


3lu 


320 


Rebens Lieder und Bilder. 





Gr Liegt, der Wilde, bejänftigt, 
Gelaſſen, befonnen und mild, 

Zu deinen Füßen gebändigt, 

Und hebet zittend die Hände 
Zu dir, du friedliches Bild! 


Sch habe mir einen Garten 
Beitellt nach allem Fleiß; 
Da jeh’ ich die Roſen erblühen, 
Sich härmen und till verglühen, 
Von denen die Herrin nicht weiß. 


Ich Hab’ ein Haus mir erbauet, 
Begründet es dauerhaft; 

Das jeh’ ich jo düſter trauern, 

Werl nicht in den öden Mauern 
Die jegnende Hausfrau Schafft. 


Sch Habe von reinem Golde 

Beitellt mir einen Ring, 
Den Ring . . . ich zittre verjtunmend — 
Den Ring, du Reine, du Holde, 

Nimm an den goldenen Ring. 


Den Gartenhag und die Rojen, 
Das Haus, des Ringes Zier, 
Nein Herz und meinen Frieden, 
Mein Leben und mein Lieben, 
Die leg’ ich zu Füßen bir. 
14, Sie, 

Mein güt’ger Herr, du willjt herab dich laſſen 
Dejeligend zu deiner armen Magd! 

Mir hat die Sonne deiner Huld getagt! 
Ich kann es nicht ermejjen, nicht erfajfen. 

Du ſollſt nicht wirre Träume neu beleben, 
Mein innres Herz nicht rufen an das Licht, 
Laß ab, du täuſcheſt dich, du kennſt mich nicht, 
Ich habe nichts als Liebe dir zu geben. 


43 


44 Gedichte : Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Laß ab, du Vielgeliebter, von der Armen, 
Die ſchon der Liebe Schmerz um dich beglüdt; 
Sie heißt dich fliehn, und feſt und fejter drückt 
Sie wonnetrunfen dich in ihren Armen. 


15, Er. 


Mie Klang aus deinem Munde 
Das Ja ſo wunderbar? 
Ich bin nun Zwei geworden, 
Der ich ſo einſam war. 
Sie. 
Wie klang es aus deinem Munde 
Beſeligend meinem Ohr? 
Ich habe Ruhe gefunden, 
Da ich in dir mich verlor. 
Er. 
Mein Kind, mein Weib, mein Liebchen, 
Mein ſüßes Eigentum, 
Du meines Laubes Blumte, 
Du meine Freude, mein Ruhm! 
Sie. 

Dein Kind, dein Weib, dein Liebchen 
Und deine Magd und dein! 
Mein teurer Herr, mein Gebieter, 

Du DVielgeliebter mein! 
Er. 
ie ander3 ergeht in die Zukunft 
Sich nun der Gedanken Flug! 
Nun gilt e3, ſtark zu erhalten, 
Beharrlich, bejonnen und flug. 
Sie. 
Vergeſſen aller Zeiten 
An deiner lieben Brujt! 
Der Gegenwart genießen 
In ſüßer, himmliſcher Luft! 


340 


345 


355 


360 


365 


370 


375 


380 


385 


Lebens - Lieder und Bilder. 


Beide. 
Wirt, jegenveicher Vater, 
Den Bli auf die Kinder dein, 
Und laß ihre Fromme Liebe 
Ein Dankgebet dir jein! 


16. Sie. 


Du ſchlummerſt, feiner Knabe, 
Du meiner Treuden Kind, 

So janft in meinen Arnten, 
Die deine Welt noch jind. 


Nun wacht du auf, du lächelit, 
Sch blide wonnereich 

In deines Vaters Augen 
Und in mein Himmelreich. 


Laß Ichwelgend mich genießen 
Der fügen, kurzen Friſt, 
Wo noch an meinem Herzen 
Du ganz der Meine bilt. 


Es will ſich bald nicht pafien, 
63 treibt und dehnt fich aus, 

63 wird dem lock'gen Knaben 
Zu Hein das Mutterhaus. 


63 jtürmt der Mann ins Leben, 
Er bricht ſich feine Bahn; 

Mit Lieb’ und Haß gerüjtet, 
Strebt kämpfend er hinan. 

Und der verarmten Mutter 
Sit nun Entjagung Pflicht; 

Sie folgt ihm mit dem Herzen, 
Ihr Aug’ erreicht ihn nicht. 

D Liebling meines Herzens, 
Mein Segen über dich! 

Sei gleich nur deinem Vater, 
Das andre findet jich. 


46 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


12, Er. 
Dein Vater hält dich im Arme, 
Du goldenes Töchterlein, 
Und träumt gar eigene Träume 
Und ſingt und wieget dich ein. 
63 eilt die Zeit jo Leite, 
Gewaltig und geichwind, 
Aus enger Wiege jteiget 
Hervor das muntere Kind. 


Das Kind wird jtill und stiller, 
63 drängt an die Mutter jich; 

Wie blühet heran die Jungfrau 
Bewußtlos jo minniglich! 


Gin Himmel, welcher Tiefe! 
Ihr Auge jo blau und klar! 
Wie biſt du gleich geworden 
Der Mutter, die dich gebar! 
Nun übertauen Perlen 
Des hellen Blickes Glanz, 
Nun will der Zweig der Myrte 
Sich biegen zum bräutlichen Kranz. 
Dein Bater hält dich im Arme, 
Du goldenes Töchterlein, 
Und träumt von deiner Mutter 
Und jingt und iwieget dich ein. 


18. Sie. 
Du liebſt mich wohl, ich zweifle nicht daran, 
Und lebte nicht, wenn mir ein Zweifel bliebe 
Doch Liebit du mich, du lieber, böjer Mann, 
Nicht jo, wie ich dich liebe. 
Seteilten Herzens, halb, und halb wohl faum, 
Wann eben Zeit und Ort es aljo geben; 
Du aber biſt mein Wachen und mein Traum, 
Nein ganzes Sein, mein Xeben. 


390 


400 


405 


410 


415 


450 


435 


440 


445 


450 


Lebens-Lieder und Bilder. 47 


Du fennjt nicht deiner jüßen Stimme Wtacht, 

Wenn du dich Tiebeflüfternd zu mir neigeit; 

Gin armes Wort, das jchon mich jelig macht, 
Du ſprichſt es nicht, du jchweigelt. 


och mwinde dich aus meinem Arm nicht Fort, 
Laß lefen mich aus deinen Lieben Augen 
Und von dem fargen Yippenpaar das Wort, 

Das ungeiprochne, jaugen. 

19, © 

Sch werde nicht mit dir, du Süße, rechten, — 
Dich Lieben, jo wie du mich liebejt? nein. 
Aus Roſen laß den Siegerkranz dir Flechten, 

Der Liebe Preis iſt dein. 

Die Lieb’ umfaßt des Weibes volles Leben, 
Sie iſt ihr Kerker und ihr Himmelreich: 
Die fih in Demut Tliebend Hingegeben, 

Sie dient und herricht zugleich. 
Gefehrt nach außen ift des Mannes Trachten, 
Und bildend in die Zukunft jtrebt die Tat; 
Als Pflegling muß die Liebe den betrachten, 

Dem jegnend fie jich naht. 

So hab’ ich dir im allgemeinen Bilde, 
Beglüdende, dein eigenes gezeigt, 
Dein Bid, vor dem der Ungefüge, Wilde 

Sich janft gebunden neigt. 

D, laſſe mich in deinen lieben Armen 
Vergeſſen diefer Zeiten düjtern Schein, 
An deiner lieben, treuen Brujt erwarnten 
Und reich und glüdlich jein. 
20. Sie. 

63 wallt das Gewölk hevüber, 
Verhüllt, verfinitert meinen Stern. 
Es Faltet jich trüb und trüber 
Die Stirne meines teuern Herrn. 


48 


Gedichte: Lieber und Inrifch -epifche Gedichte, 


Zu dir erhebet die Hände, 
Erbarmer, die gebeugte Magd; 

Du Ichaffe des Grames Ende, 
Der meinem Herın am Herzen nagt. 


Wo nicht fie vermag zu heilen, 
Bertraut die Liebe div allein; 

Befiehl dem Gewölk, ſich zu teilen, 
Gib meinem Stern du feinen Schein. 


21.. Er. 
Sei jtarf, du meine Männin, reiche mir 
Und weihe, fie berührend, meine Waffen; 
Nicht töricht gilt’S, die Welt mehr umzuſchaffen; 
Sei jtarf! für Recht und Ordnung fämpfen wir. 


Bricht jelbjtverichuldet Unheil auf ein Land, 
Und frächzet mahnend links am Weg der Rabe, 
Wird ihm verderblich feine Sehergabe, 

Ihm gibt des Unheil Schuld der Unverjtand. 


63 hob ſich wider mich der Toren Zunft, 
Sie jtürmten auf mich ein, mich zu zevreißen; 
Ich, Nabe, jchrie: die ſchwangre Zeit will kreißen! — 
Nun bebt die Welt bei ihrer Niederkunft. 


Das Haben ja die Kinder jchon gewußt, 
Und jene haben doch das Wort gejprochen; 
Nun it der Tag des Blutes angebrochen; 
Mit Erz umgürte jich jedwede Bruft. 


Wir ziehen trauernd in die Männerjchlacht, 
Und über Trümmer fämpfen wir und Zeichen. 
Fluch über fie, die ung den Olzweig reichen 
Verſchmähend jahn und Krieg uns zugebracht! 


Fluch über fie! denn losgeriſſen jtürzt 
Anwachjend die Lauwin' und jchafft Berderben. 
Für Recht und Ordnung gilt’3 annoch zu ſterben — 
Wer weiß, wie morgen fich der Knoten jchürzt? 


455 


460 


465 


475 


480 


485 


490 


495 


500 


505 


510 





Leben3= Lieder und Bilder. — Die Braut. 


In Zwietracht auf erfämpftenm Boden mag 
Sich leicht die Schar zeripalten der Genofjen; 
Die heut um mich den Heldenkreis gejchlojjen, 
Sind Teinde mir vielleiht am nächſten Tag. 

Sch werde jtehen, wo ich joll und darf, 

Und fallen, muß e3 jein, wo Edle jtarben, 

Für Recht und Ordnung wehen meine Farben, 
Für Recht und Ordnung ijt der Tod nicht Icharf. 
Sch de’ euch fümpfend mit dem eignen Leib; 

Umarme mich noch einmal, laß das Weinen, 


Bring. her mir meine beiden armen Kleinen, 
Und nun — — Xeb’ wohl, du vielgeliebtes Weib! 


22. ©ie. 
Beitreut mit Eichenlaub die Bahre dort — 
O meine Kinder! jo wird Hergetragen, 
Der unjer Vater war und unſer Hort; 
Sein Herz hat ausgeichlagen. 
Heb' auf das Tuch, du bit jein einz’ger Sohn; 
Dem Sohne wird die Wunde diejes Helden, 
Was Mannestugend jet, und was ihr Lohn, 
Gar unvergeßlich melden. 
Des Namen? Erbe, den er jich erivarb, 
Solljt trachten du dereinjt nach gleichem Adel 
Und sterben, muß es jein, jo wie ex jtarb, 
Stets ohne Furcht und Tadel. 
Du, Auge meiner Freude, fieleſt zu, 
Dich, ſüßer Mund, erjchlieget nicht mein Sehnen, — 
Sa, weine, meine Tochter, weine du, 
Sch Habe feine Tränen. 
BU 
Die Braut. 
79° wohlgefällig hat auf mir 
Des teuern Vaters Auge geruht! 
Wie Iprach der jtumme Blie doch fchier: 
„Biſt meine Luſt, ich bin dir gut.“ 
Chamifjo. I. 4 


49 





Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gebichte, 


Wie hat die Mutter früh und jpat 
Für mich ſich bemühet jo Liebereich! 
Und was fie geichäftig auch alles tat, 
Wie war ihr Segen auf mir zugleich. 


Wie jehen die lieben Schweitern mich 

So trauernd fcheiden aus ihrer Zahl, 
Die, feuchten Auges, heute für dich 

Mich noch geſchmückt zum letztenmal! 
Wie glücklich war ich im Mutterhaus! 

Wie haben alle mich doch geliebt! 
Und dir, Geliebter, folg' ich hinaus, 

Dich hab' ich mehr als alle geliebt. 
Ich werde, Geliebter, dir untertan 

Und werde dir dienen in treuer Pflicht. 
Was ich verlaſſen, was ich getan 

Für dich, du Guter, vergiß es nicht. 


—— 
Der Blapperftord). 
1 


W“ Elappert im Haufe jo laut? horch, horch! 


Ich glaub’, ich glaube, das ijt der Stord). 


Das war der Storch. Seid, Kinder, nur jtill 
Und Hört, was gern ich erzählen euch will. 
Er hat euch gebracht ein Brüderlein 

Und Hat gebiffen Mutter ins Bein. 

Sie liegt nun frank, doch freudig dabei, 

Sie meint, der Schmerz zu ertragen jet. 

Das Brüderlein hat euer gedacht 

Und Zuckerwerk die Menge gebracht; 


Doch nur von den ſüßen Sachen erhält, 
Mer artig it und till ſich verhält. 


or 


20 


10 


Die Braut. — Der Klapperftord. — Die kleine Liefe am Brunnen. 5] 





9) 


Und als das Kind geboren war, 
Sie mußten der Mutter es zeigen; 
15 Da ward ihr Auge voll Tränen jo Elar, 
Es jtrahlte jo wonnig, jo eigen. 


Gern litt ich und werde, mein ſüßes Licht, 
Biel Schmerzen um dich noch erleben. 
Ach! lebt von Schmerzen die Liebe nicht 
20 Und nicht von Liebe das Leben? 


3. 
Der Bater fam, der Vater frug nach jeinem Jungen, 
Und weil der Knabe jo geweint, 
So hat ihm auch der Alte gleich ein Lied gejungen, 
Wie er's im Herzen treu gemeint, 


25 Als jo ich jchrie, wie du nun jchreift, die Zeiten waren 
Nicht jo, wie fie geworden ſind; 
Geduld, Geduld! und kommſt du erſt zu meinen Jahren, 
So wird e3 wieder anders, Kind! 


Da legten ſie mit gläub’gem Sinn zu mir, dem Knaben, 
30 Des Vaters Wappenjchild und Schwert; 
Mein Erbe war's, und hatte noch und jollte Haben 
Auf alle Zeiten guten Wert. 


Sch bin ergraut, die alte Zeit iſt abgelaufen, 
Mein Erb’ iſt worden eitel Rauch. 
35 Sch mußte, was ich hab’ und bin, mir jelbit erkaufen, 
Und du, mein Sohn, da3 wirjt du auch. 


_—— > — 
Die kleine Liefe am Brummen. 


(Frei nah dem Dänifchen von Anderjen.) 
T den Grund de3 Brunnens jchaut 
Lieschen gar gedanfenvoll; 
Was hier diefer Brunnen joll, 
Hat die Mutter ihr vertrant. 
4* 


92 


Gedichte: Lieder und lyriſch⸗ epifche Gebichte. 





„Meine Schweſter ſagte zwar, 
Daß der Storch die Kinder bringt; 
Wie verſtändig es auch klingt, 

Sit es aber doch nicht wahr. 


„ein, das macht fie mir nicht weiß, 


Mutter, wie ich fie gefragt, 
Hat es anders mir gejagt, 
Mutter, die es beſſer weiß. 

„Aus dem Brunnen holt bei Nacht 
Sie die weiſe Frau allein, 

Die hat jüngſt das Brüderlein 
Aus dem Brunnen uns gebracht. 

„Vor fünf Jahren ſchlief ich auch 
Hier im Brunnen, wunderſam, 

Bis ſie mich zu holen kam 
Nach dem hergebrachten Brauch. 

„Könnt' ich nur die Kleinen ſehn! 
Ach, ich ſäh' ſie gar zu gern! 

Doch ſie ſchlafen tief und fern, 
Keines läßt ſich heut erſpähn. 

„Wüßt' ich, wie die Frau es macht, 
Holt' ich eines mir geſchwind. 

So ein himmliſch kleines Kind, 
Ei, das wär' auch eine Pracht! 

„O, was gäb' ich nicht darum! 
Seit es durch den Sinn mir fährt, 
Biſt mir gar nichts, gar nichts wert! 
Garſt'ge Puppe, ſtumm und dumm!“ 


— 


N? 


Die Klage der Nonne. 


(Deutſch nah dem Ehinefischen.) 


or 


10 


15 


20 


25 


ch muß in diefen Mauern in Abgejchiedenheit 
Verſäumen und vertrauern die jchöne Jugendzeit. 
Sie haben ja zur Nonne mich eingemauert arg 
Und haben mich lebendig gelegt in meinen Sarg. 


Die fleine Liefe am Brunnen. — Die Klage ber Nonne. 53 


5 ch muß die Metten fingen, mein Herz tjt nicht dabei. 
Vergib mir, du mein Heiland, wie jündhaft ich auch ſei, 
Vergib mir und vergib auch in deiner reichen Huld 
Den Blinden, den Betörten, die an dem Unheil jchul. 


Hier ſenkt die hohe Wölbung fich ſchwer auf mich herab 
Und drängen fich die Wände zu einem engen Grab; 
Mein Leib nur iſt gefangen, es hält die dumpfe Gruft 
Mein Sinnen nicht, das jchweifet hinaus nach freier Luft. 


Mich zieht die Sehnjucht ſchmerzlich in die erhellte Welt, 
Wo Liebe ſich mit Liebe zu froher Luſt gejellt; 
Die Freundinnen mir waren, fie lieben, find geliebt, 
Und nur für mich auf Erden e8 feine Liebe gibt. 


Ich ſeh' ſie, ihre Männer, ihr häuslich ſtilles Glück, 
Umringt von muntern Kindern, — es ruft mich laut zurück 
In Gottes Welt, ich weine und weine hoffnungslos; 
Ward doch auch mir verheißen des Weibs gemeinſam Los! 


Ich hätte nicht den Reichſten, den Schönſten nicht begehrt, 
Nur einen, der mich liebe, der meiner Liebe wert; 
Ja, keine Prunkgemächer, nur ein beſcheidnes Haus, 
Er ruhte ſich am Abend vom Tagwerk bei mir aus. 


35 ch könnt’ im erſten Jahre in ſtolzer Mutterluſt 
Ein Kind, wohl einen Knaben, jchon drüden an die Bruit; 
Da würden manche Sorgen und Schmerzen mir zuteil, 
Sit doch das Glück auf Erden um hohen Preis nur feil. 


Ich wollt’ an einer Wiege jo treu ihm dienjtbar jein; 
Ihn pflegte ja die Liebe, was jollt’ ev nicht gedeihn? 
Du lächelſt, jtredjt die Händchen, du meine jüße Zier! 

D Vater! fieh den Jungen, fürwahr er langt nach dir! 
Sch müßte bald verjchmerzen, was meine Freude war, 
Ich müßt' ihn ja entwöhnen wohl jchon im nädjten Jahr; 
35 Du blidjt, mein armer Junge, verlangend nach mir Hin, 
Du weint, — ic) möchte weinen, daß ich jo graufam bin. 

Er wächſt, er freucht, er richtet an Stühlen fich empor, 
Verläßt die Stüße, ſchreitet jelbjtänd’ge Schritte vor; 


—1 


1 


or 


2 


o 


oO 


3 


34 „enietes TRiehOr untb 1A FE a 


Gr Fällt: du armer unge! verliere nicht den Mut, 
Ein Hauch von deiner Mutter macht alles wieder gut. 40 


Und wie die erjten Laute er ſchon vernehmlich Lallt: 
Mama, Papa, ihr Klang mir im Herzen widerhallt! 

Und wie ihn veich und reicher die Sprache ſchon vergnügt, 
Und jeltiam noch die Worte er aneinander fügt! 

Er wird jchon groß, wir jchaffen ein Wiegenpferd ihm an, 45 
Er tummelt e3 und peitſcht es, ein fühner Reitersmann. 
Ei! Eletterit du ſchon wieder? Du ungezogner Wicht! 
Er lacht, er fommt, er küßt mich, und zürnen fann ich nicht. 





Er muß in jeinen Jahren bald in die Schule gehn, 
Muß leſen, jchreiben lernen: das wirt du, Vater, jehn, 
So wild er tjt, wir löſen — ja, er wird fleißig ſein, — 
Noch manchen roten Zettel von ihm mit Najchiwerk ein. 

Und wenn von roter Farbe nicht alle Zettel find, 
Sollit, Vater, jo nicht jchelten, ex iſt ja noch ein Kind, 
Er wird noch, unfre Freude und unfer Ruhm zugleich, 55 
Einſt hochgelahrt gepriefen im ganzen röm’ichen Reid. 


0 


ot 


Und Jahr' um Jahre fliehen in ungehemmtem Lauf, 
Er aber durch die Klaſſen arbeitet ſich hinauf, 
Er wird zur hohen Schule entlafjen, er erreicht 
Gewiß ein gutes Zeugnis, das beſte? — ja! — vielleicht! co 


Und wann er uns bejuchet, — o Gott! ich jeh’ ihn ſchon 
Mit einem ſchwarzen Schnurrbart, den echten Mufenjohn. — 
Die Ferien find zu Ende, Adel muß wieder hin, 

Sch komme nun nicht früher, al3 bis ich fertig bin. 

Ein Brief! ein Brief! lies, Vater! — dein Sohn hat ausjtudiert, 65 
Sie haben ihn zum Doktor mit hohem Lob Freiert, 

Mit nächjter Poſt, To jchreibt er, ja, morgen trifft er ein; 
Hol, Mutter, aus dem Keller die letzte Flajche Wein! 

Das Poſthorn Hör’ ich Ichallen! — Ach nein! zu meinem Ohr 
Dringt dumpf nur das Geläute, das ruft mich in das Chor; 
Sie haben ja zur Nonne mich eingemauert arg 
Und haben mich lebendig gelegt in meinen Sarg. 


-ı 


0 


75 


10 


15 


20 


25 


Die Klage der Nonne. — Die drei Schweftern. 55 








Sch muß die Metten fingen, mein Herz ijt nicht dabei. 
Bergib mir, du mein Heiland, wie jündhaft ich auch jet, 
Vergib mir und vergib auch in deiner reichen Huld 
Den Blinden, den Betörten, die an dem Unheil Fchuld! 


Die drei Schweſtern. 


Mm" find drei Schweitern, mit dem Leid vertraut, 
„ Dom Alter minder al3 vom Gram ergraut, 
Zu trauern wohl gewohnt und zu verzichten. 

Und jede meint, der herbſte jei ihr Schmerz; 

Tritt her, der Dichter kennt das Menfchenherz, 

Dein Amt it, zwiſchen ung den Zwiſt zu ſchlichten.“ — 


„Bernimm zuerſt das Leid, das mich betraf. 
Ich rang erwachend mit der Kindheit Schlaf, 
Die Knoſpe ſchwoll, ich fühlt’ ein heimlich Regen. 
Dom Hauch der Liebe brach die Blüt’ hervor, 
Mich zog ein Mann, ein Held zu fich empor, 

Es trat das volle Leben mir entgegen. 


„And mit der Myrte harrt' ich ſchon geſchmückt 
Des Freunds, in dem erſchrocken und entzückt 
Sch Telber mich verloren und gefunden. 
Die Hochzeitferzen warfen ihren Schein — 
Da trugen jeine Leiche fie herein, 
Sein Herzblut floß aus fieben ‚tiefen Wunden. 


„Das Gräßliche, was da ich überlebt, 
Das iſt das Bild, das ewig vor mir jchwebt, 
Das Bild, das Tag und Nacht mic) macht erjchauern. 
Sch Lebe nicht, dem Tod gehöv ich an 
Und fann nicht jterben! DO, daß ich's nicht kann! 
Wie lange joll noch diefe Marter dauern !? 

Die zweite nahm Hierauf dag Wort und ſprach: 
„Des Blutes ist das Bild und nicht der Schmad), 
Das dieje wachend jtet3 und jchlafend träumet. 


Gedichte: Lieber und lyriſch⸗ epifche Gebidhte. 





Mich Hat ein gleicher Hauch hervorgelodt, 
Gejammert hab’ ich, habe Frohgeloct, 
Der Kelch der Liebe hat auch mir geichäumet. 

„Der Lichticehein ſchwand von des Geliebten Haupt, 
Ich ſah ihn jelbjtiich, feig, von Glanz beraubt, 
Und dennoch, weh mir! mußt’ ich noch ihn lieben. 
Er floh. — Ob ihm gejellt die Schande bleibt, 

Ob irrer Wahnfinn durch die Welt ihn treibt, 
Sch weiß es nicht — mir iſt der Schmerz geblieben.“ 

Die dritte nahm Hierauf das Wort und ſprach: 
„Du ſinneſt zwijchen beiden ſchwankend nach 
Und zweifelſt noch, für welche zu entjcheiden. 
Geliebet und gelebt, ein menjchlich Los; 

Nahm auch das Unglüd fie in feinen Schoß, 
Sie beide jäugend mit der Milch der Leiden. 

„Ich weiß in kurze Rede wohl genug 
Des Leids zu fallen, deinen Urteilsſpruch 
Sollſt, Schiedesrichter, du nicht übereilen. 

Vernimm denn, wa3 da3 bejjre Recht mir gibt, — 
Dier Worte nur: ich wurde nie geliebt — 
Du wirft des Leides Palme mir erteilen.“ 


m  —— 


Ar 


Die alte Waſchfrau. 
m" ſiehſt geichäftig bei dem Linnen 
Die Alte dort in weißem Haar, 
Die rüſtigſte dev Wäjcherinnen 
Sm ſechsundſiebenzigſten Jahr. 
So hat ſie ſtets mit ſauerm Schweiß 
Ihr Brot in Ehr' und Zucht gegeſſen 
Und ausgefüllt mit treuem Fleiß 
Den Kreis, den Gott ihr zugemeſſen. 
Sie hat in ihren jungen Tagen 
Geliebt, gehofft und ſich vermählt; 
Sie hat des Weibes Los getragen, 
Die Sorgen haben nicht gefehlt; 


30 


35 


40 


45 


10 


15 


20 


25 


30 


35. 


40 


45 


Die drei Schweitern. — Die alte Wafchfrau. 


Sie hat den kranken Mann gepflegt; 

Sie hat drei Kinder ihm geboren; 

Sie hat ihn in das Grab gelegt 

Und Glaub’ und Hoffnung nicht verloren. 


Da galt’3, die Kinder zu ernähren; 
Sie griff es an mit heiterm Mut, 
Sie 308 fie auf in Zucht und Ehren, 
Der Fleiß, die Ordnung find ihr Gut. 
Zu juchen ihren Unterhalt, 

Entließ ſie jegnend ihre Lieben, 
So ſtand fie nun allein und alt, 
Ihr war ihr heitrer Mut geblieben. 


Sie Hat geipart und hat gefonnen 
Und Flachs gekauft und nachts gewacht, 
Den Flachs zu feinem Garn gejponnen, 
Das Garn dem Weber hingebracht; 
Der hat’3 gewebt zu Leinewand. 

Die Schere brauchte fie, die Nadel, 
Und nähte ſich mit eigner Hand 
Ihr Sterbehemde jonder Tadel. 


Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, jie jchäßt eg, 

Verwahrt's im Schrein am Chrenplaß; 

Es ijt ihr Erſtes und ihr Lebtes, 

Ihr Kleinod, ihr eriparter Schatz. 

Sie legt es an, des Herren Wort 

Am Sonntag früh fich einzuprägen; 

Dann legt ſie's wohlgefällig fort, 

Dis fie darin zur Ruh’ fie legen. 


Und ih, an meinem Abend, wollte, 
Sch hätte, diefem Weibe gleich, 
Erfüllt, was ich erfüllen jollte 
In meinen Grenzen und Bereich; 

Sch wollt’, ich hätte jo gewußt, 
Um Kelch des Lebens mich zu laben, 


97 


58 Gedichte: Lieber und lyriſch⸗ epiſche Gedichte. 


Und könnt' am Ende gleiche Luſt 
An meinem Sterbehemde haben. 


— 19,7, Er 
— *84 


Zweites Lied von der alten Waſchfrau. 
13 hat euch anzuhören wohl behagt, 
Was ich don meiner Walchfrau euch gejagt; 
Ihr habt's für eine Fabel wohl gehalten? 
Fürwahr, mir jelbjt ericheint ſie fabelhaft; 
Der Tod hat längit fie alle Hingerafft, 
Die jung zugleich geweſen mit der Alten. 
Dies werdende Geſchlecht, es kennt fie nicht 
Und geht an ihr vorüber ohne Pflicht 
Und ohne Luſt, jich ihrer zu erbarmen. 
Sie jteht allein. Der Arbeit zu geivohnt, 10 
Hat fie, jolang’ es ging, jich nicht geichont; 
Set aber, wehe der vergeji’nen Armen! 
Seht drückt darnteder fie der Jahre Lait, 
Noch emfig tätig, doch entkräftet fait, 
Geſteht ſie's ein: „So fann’3 nicht lange währen. 15 
Mag's werden, wie’3 der liebe Gott bejtimnt; 
Wenn er nicht gnädig bald mich zu ſich nimmt, — 
Nicht Ichafft’S die Hand mehr, — muß er mich ernähren.“ 
Solang’ fie rüftig noch beim Waſchtrog jtand, 
War für den Dürft’gen offen ihre Hand; 20 
Da mochte fie nicht rechnen und nicht ſparen. 
Sie dachte bloß: „Sch weiß, wie Hunger tut.“ — 
Bor eure Füße leg’ ich meinen Hut, 
Sie jelber ijt im Betteln unerfahren. 
hr Traun und Herrn, Gott lohn' e8 euch zumal, 25 
Er geb’ euch dieſes Weibes Jahre Zahl 
Und jpät dereinjt ein gleiches Sterbekiſſen! 
Denn wohl vor allem, was man Güter heißt, 
Sind’3 diefe beiden, die man billig preiit: 
Ein Hohes Alter und ein rein Gewiſſen. 30 
—_ 


ot 


10 


15 


20 


25 


30 


Zweites Lied von der alten Waſchfrau. — Heimweh. 





Heimweh. 
1% laßt mich jchlafen! o ruft mich 
In die Gegenwart nicht zurück! 
Mißgönnt ihr dem kranken Mädchen 
Den Traum, den Schatten von Glück? 


Was Tprecht ihr mir zu? Vergebens! 
Mein Herz veritehet euch nicht. 
Din fremd in eurem Lande; 
Hier ſchmerzt mi) das Tageslicht. 


Hier dehnt fich das flache Gefilde 
So unabjehbar und leer, 
Darüber legt jih der Himmel 
So freud= und farblos und jchiver. 


Es jieht mein müdes Auge, 
Umflort von bitterm Tau, 

Nur blaſſe Nebelgeitalten, 
Verſchwindende, grau in grau. 


63 rauſchen fremde Klänge 
Vorüber an meinem Ohr, 
63 zählet die innere Stimme 


Nur Schmerzen und Schmerzen mir vor. 


Der Schlaf nur bringt allnächtlich 
Vor Tagesgedanfen mir Ruh, 
63 trägt mich der Traum mitleidig 

Der lieben Heimat zu. 


Und meine Berge erheben 
Die Tchneeigen Häupter zumal 
Und tauchen in dunfele Bläue 
Und glühen im Morgenjtrahl 
Und lauſchen über den Hochwald, 
Der ſchirmend die Gletjcher umjpannt, 
In unjer Tal herüber 
Und ſchauen mich an To bekannt. 


59 


60 Gebichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 





Der Gießbach jchäumet und braufet 
Und ſtürzt in die Schlucht ſich hinab; 
Bon drüben erichallt das Alphorn, — 
Das ijt der Hirtenknab'! 
Aus unjerm Haufe tret’ ich, 
Dem zierlich gefügten, herfür; 
Die Eltern haben’3 gebauet*, 
Die Namen jtehn über der Tür; 
Und unter den Namen jtehet 
Der Spruch: „Gott jegne das Haus 
Und jegne, die frommen Gemütes 
Darin gehn ein und aus.‘ 
Sch bin Hinausgegangen — — 
Weh' mir, daß ich es tat! 
Sch bin nun eine Waiſe, 
Die feine Heimat Hat. 
O laßt mich jchlafen, o ruft mich 
In die Gegenwart nicht zurück! 
Mißgönnt nicht dem kranken Mädchen 
Den Traum, den Schatten von Glüd! 


Der erſte Schnee, 


er leife ichleichend euch umſponnen 
Mit argem Trug, eh’ ihr's gedacht, 

Seht, jeht den Unhold! über Nacht 
Hat er ſich andern Rat erjonnen. 
Geht, ſeht den Schneenmantel wallen! 
Das iſt des Winters Herricherkleid; 
Die Larve läßt der Grimme fallen; — 
Nun wißt ihr doch, woran ihr jeid. 

Er hat der Furcht euch überhoben, 
Lebt auf zur Hoffnung und jeid ſtark! 








* Eigentlich „gebauen”, welche Lesart ich die Schtveizer und die, welche 
die Schweiz fennen, in den Text aufzunehmen bitte. 


35 


40 


45 


50 


15 


10 


15 


Heimweh. — Der erfle Schnee. — Frühling. — Geh du nur hin! 61 


Schon zehrt der Lenz an jeinem Mark, 
Geduld! und mag der Wütrich toben. 
Geduld! ſchon ruft der Lenz die Sonne, 
Bald weben fie ein Blumenklei, 
Die Erde träumet neue Wonne, — 
Dann aber träum' ich neues Leid! 

— ßN 


Frühling. 
er Frühling iſt kommen, die Erde erwacht, 
Es blühen der Blumen genung. 
Ich habe ſchon wieder auf Lieder gedacht, 
Ich fühle ſo friſch mich, ſo jung. 
Die Sonne beſcheinet die blumige Au', 
Der Wind beweget das Laub. 
Wie ſind mir geworden die Locken ſo grau? 
Das iſt doch ein garſtiger Staub. 
Es bauen die Nejter und fingen fich ein 
Die zierlichen Vögel To gut. 
Und ift eg fein Staub nicht, was ſollt' e3 denn jein? 
Mir iſt wie den Vögeln zumut. 
Der Frühling iſt fommen, die Erde erwacht, 
Es blühen der Blumen genung. 
Ich Habe jchon wieder auf Lieder gedacht, 
Ich fühle jo friſch mich, jo jung. 


—— 
Ar 


Geh du nur hin! 

a war auch jung und bin jeßt alt, 

Der Tag ijt heiß, der Abend kalt, 
Geh du nur hin, geh du nur Hin 
Und Schlag dir ſolches aus dem Sinn. 

Du ſteigſt hinauf, ich ſteig' hinab, 

Wer geht im Schritt, wer geht im Trab? 
Sind dir die Blumen eben recht, 
Sind doch ſechs Bretter auch nicht jchlecht. 


69 Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Was ſoll ich Jagen?! 
Tyan Aug iſt trüb’, mein Mund iſt ſtumm, 
Du heißeſt mich reden, es ſei darum. 





Dein Aug' iſt klar, dein Mund iſt rot, 
Und was du nur wünfchejt, das iſt ein Gebot. 


Mein Haar ijt grau, mein Herz iſt wund, 5 
Du bijt jo jung und bijt jo geſund. 


Du heißeſt mich reden und machjt miv’s jo ſchwer, 
Sc jeh’ dich jo an und zittre jo ſehr. 


Morgentau. 


Wi wollten mit Koſen und Lieben 

Genießen der köſtlichen Nacht; 

Wo ſind doch die Stunden geblieben? 
Es iſt ja der Hahn ſchon erwacht. 


Die Sonne, die bringt viel Leiden, TE 
Es weinet die ſcheidende Nacht; 
Ich alfo muß weinen und jcheiden, 
Es ijt ja die Welt ſchon erwacht. 
Sch wollt’, es gäb’ feine Sonne, 
Als eben dein Auge jo Klar, 10 
Wir meilten in Tag und in Wonne, 
Und jchliefe die Welt immerdar. 
—_—— {> — 
Bur Antwort. 
iv it ſonſt der Mund verichloffen, 
Du antworteft mir ja faum, 
Nur zu Liedern ſüßen Klanges 
Offneſt du ihn wie im Traum. 





1 Dies und die folgenden fünf Gedichte find an Chamiſſos Gattin, Antonie 
Piafte, gerichtet. 


Mas fol ih fagen? — Morgentau. — Zur Antwort. — Zur Unzeit 2c. 


5 Könnt ich auch jo dichten, würden 
Hübſch auch meine Lieder fein, 
Sänge nur, wie ich dich Liebe, 
Sänge nur: ganz bin ich dein. 
Ich fann dir ing Antlitz schauen, 
10 Heiter, wie das Kind ins Xicht; 
Ich kann Lieben, koſen, füllen, 
Aber dichten kann ich nicht. 
Könnt' ich auch ſo dichten, würden 
Hübſch auch meine Lieder ſein, 
15 Sänge nur, wie ich dich Liebe, 
Sänge nur: ganz bin ich dein. 


Ir 5-1 em 


Zur Anzeit. 
7° wollte, wie gerne, dich herzen, 
Dih wiegen in meinem rm, 
Dih drücken an meinem Herzen, 
Dich Hegen jo traut und jo warm. 
5 Man vericheuchet mit Rauch) die Fliegen, 
Mit BVerdrieglichkeit wohl den Mann; 
Und wollt’ ich an dich mich jchmiegen, 
Sch täte nicht weile daran. 
Wohl zieht vom jtrengen Norden 
10 Ein trübes Gewölk herauf, 
Sch bin ganz jtille geworden, 
Ich ſchlage die Augen nicht auf. 
nn, 


Auf der a 


m“ wandert’ ich N in trauriger Stund’, 
Es weinte die Liebe jo jehr. 


Der Fuß iſt mir lahm, die Schulter mir wund, 


Das Herz, das ijt mir jo jchwer. 


63 


_Gebigte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 
Was ſingt ihr, ihr Vögel, im Morgenlicht? 5 
Ihr wißt nicht, wie Scheiden tut! 
63 drüden euch Sorgen und Schuhe nicht; 
Ihr DBögel, ihr habt es gut! 
2. 
Der Regen ftrömt, die Sonne jcheint, 
63 geht bergauf, e3 geht bergab, — 10 
Sch denfe jte, die mich nur meint, 
Sie, die mir ihre Treue gab. 
Was gehjt du juchend durch das Land, 
Du Müder mit ergrautem Bart? — 
Sch ſuche nicht, was ich ſchon fand, 15 
Sch ſuche nicht, was mir ſchon ward. 
Sch bin noch friſch, ich bin noch jung, 
Die Welt iſt falt und ohne Luſt, 
Sch hab’ daheim der Freude genung, 
Es wird mir warm an ihrer Bruft. 20 
3. 
Noch hallt nur aus der Ferne 
Ein friiches Liedchen von mir, 
Der Vater eilt zu dem Kinde, 
Der Geliebte, mein Feinlieb, zu dir, 
Gr küßt dich auf die Stirne, 25 
Er küßt dich auf den Mund; 
Nun fie zu dir ihn tragen, 
Sind ihm die Füße nicht wund. 
— 
Gern und gerner. 


er Gang war jchwer, der Tag war raub, 
Kalt weht’ es und ſtürmiſch aus Norden; 
Es trieft mein Haar vom Abendtau, 
Faſt wär’ ich müde geworden. 


Laß blinken den roten, den ſüßen Wein! 5 
63 mag der alte Becher 


10 


15 


20 


Auf der Wanderfchaft. — Gern und gerner. — m Herbft. 65 





Sich gerne jonnen im roten Schein, 
Sich gerne wärmen am Becher, 


Und gerner fich jonnen in trüber Stund’ 
Am Klarblid deiner Augen, 

Und gerner vom roten, vom füßen Mund 
Durhmwärmende Ylammen jaugen. 


Reichſt mir den Mund, mir den Pokal, 
Mir Jugendluſt des Yebens; 

Laß tojen und toben die Stürme zumal, 
Sie mühen um mich fich vergeben?. 


— — 


Im Herbſt. 
Ps ichleicht blaß Hin die entnervte Sonne, 
Herbitlich goldgelb färbt fich das Laub, es trauert 
Rings das Feld ſchon nadt, und die Nebel ziehen 
Uber die Stoppeln. 


Sieh, der Herbſt jchleicht Her, und der arge Winter 

Schleiht dem Herbit bald nach, es erjtarıt das Leben; 

Sa, das Jahr wird alt, wie ich alt mich fühle 
Selber geworden! 


Gute, ſchreckhaft ſiehſt du mich an, erichrid nicht, 

Sieh, das Haupthaar weiß und des Auges Sehfraft 

Abgeſtumpft; warn jchlägt in der Bruft das Herz zwar, 
Uber es friert mich! 


Naht der Unhold, laß mich ins Aug’ ihm jcharf jehn: 

Wahrlich, Furcht nicht flößt er mir ein, ex komme, 

Nicht bewußtlos raff' er mich Hin, ih will ihn 
Sehen und fennen. 


Laß den Wermutstrant mich, den legten, jchlürfen, 

Nicht ein Leichnam längſt, ein vergeſſ'ner, ſchleichen, 

Wo ich markvoll einjt in den Boden Spuren 
Habe getreten. 


Chamijjo. I. 


OL 


66 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Ach! ein Blutjtrahl quiflt aus dem Lieben Herzen: 
Taille Mut, bleib’ jtarf! Es vernarbt die Wunoe, 
Kein und liebwert hegſt du mein Bild im Herzen, 


Nimmer vergänglid. 


l 


— — 


Das Schloß Boncontt, 
7° träum' al3 Kind mich zurüde 
Und jchüttle mein greifeg Haupt; 
Wie jucht ihr mich heim, ihr Bilder, 
Die lang’ ich vergejjen geglaubt? 
Hoch ragt aus ſchatt'gen Gehegen 
Ein ſchimmerndes Schloß hervor; 
Sch fenne die Türme, die Zinnen, 
Die jteinerne Brüde, das Tor. 
Es ſchauen vom Wappenſchilde 
Die Löwen ſo traulich mich an; 
Ich grüße die alten Bekannten 
Und eile den Burghof hinan. 


Dort liegt die Sphinx am Brunnen, 
Dort grünt der Feigenbaum, 
Dort, hinter dieſen Fenſtern, 
Verträumt' ich den erſten Traum. 
Ich tret' in die Burgkapelle 
Und ſuche des Ahnherrn Grab; 
Dort iſt's, dort hängt vom Pfeiler 
Das alte Gewaffen herab. 
Noch leſen umflort die Augen 
Die Züge der Inſchrift nicht, 
Wie hell durch die bunten Scheiben 
Das Licht darüber auch bricht. 
So ſtehſt du, o Schloß meiner Väter, 
Mir treu und feſt in dem Sinn, 
Und biſt von der Erde verſchwunden, 
Der Pflug geht über dich hin. 


10 


15 


20 


Im Herbit. — Das Schloß Boncourt. — Frühling und Herbft. 


Sei fruchtbar, o teurer Boden, 
30 Sc Tegne dich mild und gerührt, 
Und jegn’ ihn ziviefach, wer immer 
Den Pflug nun über dich führt. 


Sch aber will auf mich raffen, 
Mein Caitenjpiel in der Hand, 
35 Die Weiten der Erde durchichweifen 
Und fingen von Land zu Land. 


_—.— 


Frühling und Herbft. 


Türwahr, der Frühling ift erwacht; 
Den holden Liebling zu empfahn, 
Hat fih mit friſcher Blumenpracht 
Die junge Erde angetan. 


5 Die muntern Vögel, Tieberwärmt, 
Begehn im grünen Hain ihr Felt. 
Ein jeder fingt, ein jeder ſchwärmt 
Und bauet emjig fich ſein Neſt. 


Und alles lebt und liebt und jingt 
10 Und preiſt den Frühling wunderbar, 
Den Frühling, der die Freude bringt; 

Sch aber bleibe jtumm und jtarr. 


Dir, Erde, gönn’ ich deine Zier, 
Euch, Sänger, gönn’ ich eure Luft, 
15 So günnet meine Trauer mir, 
Den tiefen Schmerz in meiner Bruft. 


Für mich iſt Herbſt; der Nebelwind 
Durchwühlet kalt mein falbes Laub; 
Die Äſte mir zerſchlagen ſind, 
20 Und meine Krone liegt im Staub. 


— kr — 


67 


68 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Die drei Konnen,! 
3 wallte jo filbernen Scheines 
Nicht immer mein lockiges Haar, 

63 hat ja Zeiten gegeben, 

Wo jelber ich jung auch war. 
Und blick ich dich an, o Mädchen, 

So roſig und heiter und jung, 
Da taucht aus vergangenen Zeiten 

Herauf die Erinnerung. 


Die Mutter von deiner Mutter — 
Noch Jah ich die Schönere nicht, 

Ich ſtaunte fie an wie die Sonne, 
Geblendet von ihrem Licht. 


Und einjt durchbebte mit Wonne 
Der Drud mi von ihrer Hand; 
Sie neigte darauf fi dem andern, 
Da 309 ich ins fremde Land. 
Spät kehrt' ich zurüd in die Heimat, 
Ein Müder, nach irrem Kauf; 
63 jtieg am heimiſchen Himmel 
Die andere Sonne jhon auf. 
Sa, deine Mutter, o Mädchen, — 
Noch Jah ich die Schönere nicht, 
Ich Itaunte ſie an wie die Sonne, 
Geblendet von ihrem Licht. 


Sie reichte mir einjt die Stirne 
Zum Kuſſe, da zittert? ich jehr; 

Sie neigte darauf ſich dem andern, 
Da zog ich über da3 Meer. 


Ich Habe verträumt und vertrauert 
Mein Leben, ich bin ein Greis; 

Heim fehr’ ich, die dritte Sonne 
Grleuchtet den Himmelskreis. 


1 Gemeint find Higigs Schwiegermutter, Gattin und die Tochter Eugenie. 


20 


25 


30 


35 


40 


10 


20 


Die drei Sonnen. — Naht und Winter. 





Du biſt es, o MWonnereiche; 
Noch ſah ich die Schönere nicht, 

Ich ſchaue dich an wie die Sonne, 
Geblendet von deinem Licht. 

Du reichſt mir zum Kuſſe die Lippen, 
Mitleidig mir wohlzutun, 

Und neigſt dich dem andern; ich gehe 
Bald unter die Erde, zu ruhn. 

en 


Macht und Winter. 


pp" des Nordes kaltem Wehen 


Wird der Schnee dahergetrieben, 
Der die dunkle Erde dedet; 
Dunkle Wolken ziefn am Himmel, 
Und es flimmern feine Sterne, 


Nur der Schnee im Dunkel jchimmert. 


Herb und kalt dev Wind fich reget, 
Schaurig jtöhnt er in die Stille; 
Tief Hat jich die Nacht gejenket. 

Wie ſie ruhn auf dem Gefilde, 
Kuhn mir in der tiefiten Seele 
Dunkle Nacht und herber Winter. 


Herb und kalt dev Wind fich reget, 
Dunkle Wolken ziehn am Himmel, 
Tief hat fich die Nacht gejenket. 

Nicht der Freude Kränze zieren 
Mir das Haupt im jungen Lenze 
Und erheitern meine Stirne: 


Denn am Morgen meines Lebens, 
Liebend und begehrend Liebe, 
Mandl ich einfam in der Fremde, 

Wo das Sehnen meiner Liebe, 

Wo das heiße muß, verichmähet, 
Tief im Herzen fich verichließen. 


69 


70 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 
Herb und kalt der Wind ſich reget, 

Dunkle Wolken ziehn am Himmel, 

Und es flimmern keine Sterne. 


Wie ſie ruhn auf dem Gefilde, 
Ruhn mir in der tiefſten Seele 
Dunkle Nacht und herber Winter. 


Leiſe hallen aus der Ferne 
Töne, die den Tag verkünden. — 
Wird der Tag denn ſich erhellen? 


Freudebringend dem Gefilde 
Wird er ſtrahlen, Nacht entſchweben, 
Herber Winter auch entfliehen, 


Und des Jahres Kreis ſich wenden, 
Und der junge Lenz in Liebe 
Nahen der verjüngten Erde. 


Mir nur, mir nur ew'ger Winter, 
Ew'ge Nacht und Schmerz und Tränen, 
Kein Tag, keines Sternes Flimmer! 


Blauer Himmel. 
DB bie ich, ohne Reue 


Sn des Himmels reine Bläue, 
Zu der Sterne lichtem Gold. 
Sit der Himmel, ijt die Freundichaft, 
Sit die Liebe mir doch hold. 
Laure, mein Schidial, laure! 


Keine Stürme, feine Schmerzen, 
Heitre Ruh’ im vollen Herzen, 
Kann es aber ander jein? 
Blauer Himmel, treue Freundichaft, 
Neiche Liebe find ja mein. 
Saure, mein Schickſal, laure! 


25 


30 


40 


10 


Naht und Winter. — Blauer Himmel. — Winter. — Abend, Zi 





Hat das Schickſal arge Tüde, 
Sieh, ich fürchte nicht vom Glücke, 
15 Heiter bin ich wie die Luft. 
Mein der Himmel, mein die Freundichaft, 
Mein die Liebe bis zur Gruft. 
Laure, mein Schikjal, laure! 
—_ —⸗ 
Winter. 


n den jungen Tagen 
Hatt' ich friſchen Mut, 

Sn der Sonne Strahlen 
Mar ich ſtark und gut. 


5 Liebe, Lebenswogen, 
Sterne, Blumenlujt! 
Wie jo jtark die Sehnen! 
Wie jo voll die Bruſt! 
Und es ijt zerronnen, 
10 Was ein Traum nur war; 
Winter it gefommen, | 
DBleichend mir das Haar. 


Bin jo alt geworden, 
Alt und ſchwach und blind, 
15 Ach! veriweht dag Leben 
Wie ein Nebelwind! 
—— — 
Abend. 
T®: Kind, laß meinen Weg mich ziehen, 
Es wird ſchon jpät, es wird ſchon Kalt; 
63 neiget fi) der Tag zu Ende, 
Und erſt dort unten mad’ ich Halt. 


5 Wozu mir deine Lieder fingen? 
Sie treffen mich mit fremden Klang. — 
Wie war das Wort? War's Liebe? Liebe! 
Vergeſſen Hatt’ ich es ſchon lang’. 


172 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 





Und doch, gedenf’ ich ferner Zeiten, 
Mich dünkt, es war ein ſüßes Wort. 
Jetzt aber zieh' ich meiner Straße, 
„Ein jeder kommt an ſeinen Ort.“ 
Hier windet ſich mein Pfad nach unten, 
Die müden Schritte ſchwanken ſehr; 
Mein frühes Feuer iſt erloſchen, 
Das fühl' ich alle Stunden mehr. 
—ñ— ⸗ 


Friſch geſungen. 
Tab’ oft im Kreiſe der Lieben 
In duftigem Graje geruht 
Und mir ein Liedlein gejungen, 
Und alles war hübſch und qut. 
Hab’ einfam auch mich gehärmet 
Sn bangem, düjterem Mut 
Und habe wieder gefungen, 
Und alles war wieder gut. 
Und manches, was ich erfahren, 
Verkocht' ich in jtiller Wut. 
Und fam ich wieder zu fingen, 
War alles auch wieder gut. 
Sollſt nicht uns lange Flagen, 
Was alles dir wehe tut, 
Nur friſch, nur friſch gefungen! 
Und alles wird wieder gut. 
— I — 
Es it nur Jo der Lauf der Welt. 
Mm‘ ward al3 Kind im Mutterhaus 
Zu aller Zeit, tagein, tagaus, 
Die Rute wohl gegeben. 
Und al3 ich an zu wachjen fing 
Und endlich in die Schule ging, 
Erging es mir noch ſchlimmer. 


10 


15 


or 


Abend. — Frifh gefungen. — Es iſt nur fo der Lauf ber Melt. — Geduld! 73 








Das Leſen war ein Hauptverdruß, 
Ach! wer's nicht kann und dennoch muß, 
Der lebt ein hartes Leben. 
10 So ward ih unter Schmerzen groß 
Und hoffte nun ein bejl’res Los, 
Da ging e8 mir noch jchlimmer. 
Wie Hat die Sorge mich gepadt! 
Wie hab’ ich mich um Geld gepladt! 
15 Was hat’3 für Not gegeben! 
Und als zu Geld ich kommen war, 
Da führt ein Weib mich zum Altar, 
Da ging e3 mir noch Ichlimmer. 
Sch hab's verfucht und hab's verflucht, 
20 Vantoffeldienit und Kinderzucht 
Und das Gekreiſch der Holden. 
O, meiner Kindheit ftilles Glück, 
Wie wünjch’ ich dich jet Fromm zurück! 
Die Rute war ja golden! 
— —— 
Geduld! 
AS einſt in Knabenjahren 
Ich an zu kegeln fing, 
Da Hab’ ich ſelbſt erfahren, 
Wie's jenem Kaiſer ging. 
5 Zunelli!, weiland Kaiſer 
Vom Reich Aromata, 
Großmächt’ger Fürſt und weiſer, 
Wie noch ich feinen jah, 
Du Jäger unverdroſſen, 
10 Du knallteſt mannlich (03, 
Und Hatt’jt dur nichts erſchoſſen, 
So lag’ am Zielen bloß. 
1 In Tieds Erzählung „Das Leben de3 Kaiferd Abraham Tonelli” (1798) 


fommt der ehemalige Schneidergejelle Tonelli in das fabelhafte Neich des Kaijers 
von Aromata. 


74 


Gebichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Ich aber ſchob wie feiner, 

Da3 Zielen nur war jhuld; 
Von neumen fiel nicht einer — 
Der Junge rief: „Geduld!“ 

Geduld! Geduld! — Indeſſen 
Bin worden grau und alt, 
Hab' Kegeln jchier vergefien, 
Der Ton noch immer Tchallt. 
Geduld! Geduld! — Ihr Zungen, 
Ihr ſangt ein Lied mir vor, 
Euch jangen’8 taujfend Zungen 
Bielitimmig nach) im Chor. 
Geduld! Geduld! — Die Weiſe, 
Die Stimm’ ich jelbit noch an: 
Geduld auf jpäter Reife, 
Du müder, alter Mann! 


— — 


Per. 
Wi. aus mir hätte vieles 
Werden können in der Welt, 
Hätte tückiſch nicht mein Schickſal 
Si) mir in den Weg geitellt. 
Hoher Ruhm war zu eriverben, 
Wenn die Waffen ich erfor; 
Mich den Kugeln preiszugeben, 
War ich aber nicht der Tor. 
Um der Mufen Gunſt zu buhlen, 
Mar ich minder jchon entfernt; 
Ein Gelehrter wär’ ich worden, 
Hätt' ich leſen nur gelernt. 
Bei den Frauen, jonder Zweifel, 
Hätt’ ih noch mein Glück gemacht, 
Hätten fie mich allerorten 
Nicht unmenſchlich ausgelacht. 


20 


25 


10 


20 


25 


30 


10 


15 


Geduld! — Ped. — Mäßigung und Mäßigfeit. 75 


Wie zum reihen Mann geboren, 
Hätt’ ich dieſen Stand ermwählt, 

Hätte nicht vor allen Dingen 
Simmer mir das Geld gefehlt. 


Über einen Staat zu herrſchen, 
War vor allen ih der Mann, 

Meine Gaben und Talente 
Wieſen diefen Pla mir an. 


König hätt’ ich werden jollen, 
Mo man über Fürften klagt. 
Doch mein Bater war ein Bürger, 

Und das ijt genug gejagt. 


Wahrlich, aus mir hätte vieles 
Werden fünnen in der Welt, 
Hätte tückiſch nicht mein Schidjal 
Sich mir in den Weg geitellt. 


— 


Mäßigung und Mäßigkeit. 
T* das Wort ung geben heute, 

Uns vom Trunfe zu entwöhnen; 
Ziemt ſich's für gejegte Leute, 
Wüſter Völleret zu frönen? 
Nein, es ziemt jih Sittſamkeit. 
Gutes Beiſpiel will ich ‚geben: 
Mäkigung und Mäßigkeit! — 
Stoßet an, ſie jollen leben! 
Mäßigung und Mäßigkeit! 

Maß! Maß! 
Leert darauf das volle Glas! 

Seht, ein Glas iſt Gottes Gabe, 

Und das zweite ſtimmt uns lyriſch; 
Wenn ich gegen drei nichts habe, 
Machen viele doch uns tieriſch; 
Trinket mehr nicht als genung! 


76 





Gebichte: Lieber und Iyrifch = epiſche Gedichte. 


Und mein Lied will ich euch ſingen: 
Mäßigkeit und Mäßigung! — 
Laßt die vollen Gläſer klingen! — 
Mäßigkeit und Mäßigung! 

Maß! Maß! 
Leert darauf das volle Glas! 

Seht den Trunkenbold in ſchrägen 
Linien durch die Gaſſen wanken; 
Kommt die Hausfrau ihm entgegen, 
Hört ſie keifen, hört ſie zanken; 
Das verdient Beherzigung. 

Laßt uns an der Tugend haften: 

Mäßigkeit und Mäßigung! 

Pereant die Laſterhaften! 

Mäßigkeit und Mäßigung! 
Map! Map! 

Leert darauf das volle Glas! 


Was halt, Schlingel, du zu lachen? 


Will das Lachen dir vertreiben; 
Dich moralih auch zu machen, 
Dir die Ohren tüchtig reiben; 
Pack dich fort bei guter Zeit! 
Doch ich will mich nicht erbofen: 
Mäpigung und Mäßigkeit! — 
Eingeichenft und angejtoßen! — 
Mäpigung und Mäßigkeit! 
Map! Map! 
Leert darauf das volle Glas! 


Modus, ut nos docuere, 
Sit in rebus, sumus rati; 
Medium qui tenuere 
Nominatiı sunt beati!; 
O’est le juste Milieu zur Zeit! 


20 


30 


35 


40 


45 


1 Wörtlid: Daß Maß (Mäßigung), wie man uns gelehrt hat, in den Dingen 
zu halten jei, haben wir geglaubt; diejenigen, die den (goldenen) Mittelweg inne— 
gehalten haben, werden glücklich genannt. 


50 


55 


60 


65 





Mäßigung und Mäßigkeit. — Tragiſche Geſchichte. 27 


Ergo! Ergel!! — deutſch gejprochen: 
Mäßigung und Mäßigkeit! 
Friſch das Glas nur ausgeſtochen — 
Mäßigung und Mäßigkeit! 

Maß! Maß! 
Leert darauf das volle Glas! 


Nüchtern bin ich, — Wein her! Wein her! — 
Immer nüchtern, — das verſteht ſich. — 
Nur das Haus, der Boden, — Nein, Herr, 
Nicht betrunken! — Wie doch dreht ſich 
Alles ſo um mich im Schwung? 

Laß mich, Kellner, laß mich liegen! 
Mäßigkeit und Mäßigung! 
Heute muß die Tugend ſiegen! 
Mäßigkeit und Mäßigung! 
Maß! Maß! 
Noch ein Glas — ſo — noch ein Glas! 


—9Q—— 
Tragiſche Geſchichte. 


's war einer, dem's zu Herzen ging, 
Daß ihm der Zopf ſo hinten hing, 
Er wollt' es anders haben. 


So denkt er denn: „Wie fang' ich's an? 
Ich dreh' mich um, ſo iſt's getan —“ 
Der Zopf, der hängt ihm hinten. 


Da hat er flink ſich umgedreht, 
Und wie es ſtund, es annoch ſteht — 
Der Zopf, der hängt ihm hinten. 


Da dreht er ſchnell ſich anders 'rum, 
's wird aber noch nicht beſſer drum — 
Der Zopf, der hängt ihm hinten. 


1Komiſche Diminutivbildung von „ergo“ — daher. 


78 Gebichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Er dreht fich links, er dreht fich rechts, 
Es tut nichts Gut's, es tut nichts Schlecht's — 
Der Zopf, der hängt ihm hinten. 15 


Er dreht fich wie ein Kreifel fort, 
Es Hilft zu nichts, in einem Wort — 
Der Zopf, der hängt ihm Hinten. 


Und jeht, er dreht fich immer noch 
Und denkt: „E3 Hilft am Ende doch —“ 20 
Der Zopf, der hängt ihm Hinten. 


— — 
Nachtwärhterlien. 


Eteignons les lumieres 


Et rallumons le feu. 
Beranger.! 


Zeört, ihr Herrn, und laßt euch jagen, 
35 MWaz die Glode hat geichlagen: 
Geht na) Haus und wahrt das Licht, 
Daß dem Staat fein Schaden geihicht. 
Lobt die Sejuiten! 5 


Hört, ihr Herren, wir brauchen heute 
Gute, nicht gelehrte Leute; 
Seid ihr einmal doch gelehrt, 
Sorgt, daß feiner es erfährt. 
Lobt die Sejuiten! 10 


Hört, ihr Herrn, jo ſoll es werden: 
Gott im Himmel, wir auf Erden, 
Und der König abjolut, 
Wenn er unjern Willen tut. 
Lobt die Jeſuiten! 15 


Seid, ihr Herrn, es wird euch frommen, 
Von den gutgeſinnten Frommen; 





1 Das Motto ſtammt aus Berangerd Gedicht „Les Missionaires“. Chamiſſo 
überjegt es in V. 18f. zu wörtlich, beſſer Geibel: 
Löſcht aus das Licht und zündet 
Die Scheiterhaufen an! 


20 


25 


30 


Tragifhe Geſchichte. — Nachtwächterlied. — Joſua—. 


Blaje jeder, was er Tann, 
Lichter aus und Teuer an. 
Lobt die Jeſuiten! 


Feuer, ja, zu Gottes Ehren, 
Um die Ketzer zu bekehren 
Und die Philoſophen auch, 
Nach dem alten, guten Brauch. 
Lobt die Jeſuiten! 


Hört, ihr Herrn, ihr ſeid geborgen, 
Geht nach Haus, und ohne Sorgen 
Schlaft die lange, liebe Nacht, 
Denn wir halten gute Wacht. 

Lobt die Jeſuiten! 


In — 


Joſua. 
Trade: das war ein Schlagen, 
Ein Schlachten bei Gibeon; 
Der Tag gebrach den Würgern, 
Es neigte die Sonne ji ſchon. 


Sprach Joſua zur Sonne: 
„Du, jted am Himmel feit!" 

Sie ſtand, da gab er gemächlich 
Den Überwundnen den Reit. 


Das war ein Tag der Frommen, 
Wie nie ein andrer getagt, 

Wie nie ein andrer wird tagen, 
Das wird ausdrüdlich gejagt. 

Das war ein feines Kunſtſtück, 
Wie mancher erachten mag, 

Der wohl die Nacht ung wünfchte 
Zu jenem unendlihen Tag. 


Sie beten und ſchimpfen und jchöpfen 
Sn Säcke das Sonnenlicht, 


79 


80 Gedichte: Lieder und lyriſch⸗ epiſche Gedichte. 
Es tief in das Meer zu verſenken — 
Den Tag verdunkeln ſie nicht. 
Laßt dieſes nicht euch kümmern, 
Die Welt iſt kugelrund 
Und rollt von Weſten gen Oſten 
Beſtändig zu aller Stund'. 


Und der das Lied euch geſungen, 
Hat auch die Welt ſich beſchaut; 
Er hat bei den Wilden gehauſet 
Und ſich mit ihnen erbaut. 
— 3 —- 


Ein franzöſiſches Lied. 
Nach der Melodie: Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus.! 
1” ig ich am Tiſche beim Glaſe Wein, 
Trink au! 
Und jtinnmen auch wader die Freunde mit ein, 
Trink aus! 
So geht mir zu Herzen das Heil der Welt: 
's ijt gar zu erbärmlich damit auch beitellt; 
Trink. aus, trinf aus, trinf aus! 
63 treiben’3 die Leute zu kraus! 


Sch follte nur tragen der Herrichaft Laft, 
Trink au! 
63 jtünde bald ander und bejier fait. 
Trink aus! 
Die Preſſe zuerit und die Wahlen fret, 
Die Preſſe, ie dient mir als Polizei. 
Trink aus, trink aus, trinf aus! 
Es treiben’3 die Leute zu kraus! 


Wann erjt in dem Haufe Vertrauen bejteht, 
Trink aus! 

Geht alles von jelbjt, was nimmer jonjt geht. 
Trink aus! 


1 Alte Volkslied aus dem 16. Jahrhundert; Tert und Melodie bei Erck— 
Böhme, „Liederhort”, Bd. 2, ©. 561. 





25 


10 


15 


20 


Joſua. — Ein franzöfifches Lied. 8 


Wir jchaffen uns bald vor den Mönchen Ruh), 
Wir ſchicken die frommiten dem Chaves! zu; 
Trink au, trinf aus, trink aus! 
Es treiben’3 die Leute zu kraus! 


>55 Es mögen die Städte verwalten ſodann — 
Teint aus! 
Die eignen Gejchäfte, es geht fie nur an; 
Trink aus! 
Regieren nur wenig, dad Wenige gut, 
30 Das hab’ ich der Ruhe halber gerubt; 
Trink aus, trinf aus, trink aus! 
Es trieben’3 die Leute zu kraus! 


Und merkt euch, ihr Freunde, wie trefflih es ſchafft! 
Trink aus! 
35 Die Liebe der Völker, da lieget die Kraft, 
Trink aus! 
Wie klingen die Gläſer in heiliger Luſt, 
Wie ſchallt das Gebet mir aus jeglicher Bruſt, 
Trink aus, trink aus, trink aus! 
10 Der König hoch und ſein Haus! 


Sind aber die Gläſer und Flaſchen erſt leer, 
Zu Bett! 
Dann werden der Kopf und die Zunge mir ſchwer, 
Zu Bett! 
5 Mein Weib wird mich ſchelten, mein Herrſchen iſt aus; 
Ich ſchleiche mich leiſe, ganz leiſe nach Haus, 
Zu Bett, zu Bett, zu Bett! 
Daß ſie den Pantoffel nicht hätt'! 


! Emanuel de Silveyra Pinto de Fonſeca, Graf von Amarante, Marquis 
von Chaves (gejt. 1830), reaftionärer portugiefifher Staatsmann, der im Jahre 
1823 eine Nebenregierung unter dem Erzbijchof von Braga in dem Orte Chaves 
errichtete, um die jpanijche Verfafjung zu ftürzen, und auch erreichte, daß Dom 
Miguel in Lifjabon zum abfoluten König ausgerufen wurde. 


Chamifjo. T. 6 


82 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Zileidermarer - Mut. 


A” als die Schneider revoltiert, — 
Gourage! Courage! 
So haben gar grauſam jte mafjafriert 
Und ſtolz am Ende parlamentiert: 
Herr König, das jolljt du uns jchwören. 


Und drei Bedingungen wollen wir jtelfn: — 
Courage! Courage! 
Schaf ab, zum erjten, die Schneidermamjelln, 
Die das Brot verfürzt und Schneidergejelln; 
Herr König, das ſollſt du uns jchwören. 


Die brennende Pfeife, zum andern, ſei — 
Courage! Courage! 

Zum höchſten Arger der Polizei, 

Auf offener Straße ung Schneidern frei; 
Herr König, das jollit du ung jchwören. 


Das dritte, Herr König, noch willen wir's nicht, — 
Courage! Kourage! 
Doch bleibt es daS Beſte an der ganzen Geihicht, 
Wir beſtehn auch darauf bis ans Jüngſte Gericht; 
Das dritte, das jolljt du ung jchwören. 
— — 


Das Dampfroß. 
chnell! ſchnell, mein Schmied, mit des Roſſes Beſchlag! 
Derweil du zauderſt, verſtreicht der Tag.“ — 
„Wie dampfet dein ungeheures Pferd! 
Wo eilſt du ſo hin, mein Ritter wert?“ — 





15 


„Schnell! ſchnell, mein Schmied! Wer die Erde umkreiſt 5 


Bon Dit in Weit, wie die Schule beweiit, 
Der fommt, das hat er von jeiner Müh', 
Ans Ziel um einen Tag zu früh. 

„Mein Dampfroß, Muſter der Schnelligkeit, 
Läßt Hinter fich die laufende Zeit, 


10 


15 


25 


30 


35 


40 


Kleidermaher- Mut. — Das Dampfroß. 83 


Und nimmt’3 zur Stunde nach Weiten den Lauf, 
Kommt’3 gejtern von Djten jchon wieder herauf. 


„Ich Habe der Zeit ihr Geheimnis geraubt, 
Bon geftern zu gejtern zurücd fie gejchraubt, 
Und ſchraube zurüd jte von Tag zu Tag, 
Bis einſt ich zu Adam gelangen mag. 


„Ich Habe die Mutter, jonderbar! 
Sn der Stunde befucht, da fie mich gebar; 
Sich jelber ftand der Kreißenven bei 
Und habe vernommen mein erſtes Gejchret. 


„Biel taujendmal, der Sonne voran, 
Vollbracht' ich im Fluge noch meine Bahn, 
Bis heut ich hier zu bejuchen kam 
Großvater als glüclichen Bräutigam. 


„Großmutter ift die lieblichſte Braut, 
Die je mit Augen ich noch erichaut; 
Er aber, grämlich, zu eifern gemeigt, 
Hat ohne mweitres die Tür mir gezeigt. 


„Schnell! jchnell, mein Schmied, mich efelt fchier, 
Die jebt verläuft, die Zeit von Papier; 
Zurüd, hindurch! es verlangt mich jchon, 
Zu jehen den Kater Napoleon. 


„sch ſprech' ihn zuerſt auf Selena, 
Den Gruß der Nachwelt bring’ ich ihm da; 
Dann ſprech' ich ihn früher beim Krönungsfeit 
Und warn’ ihn, — o, hielt! er die Warnung feit! 
„Biſt fertig, mein Schmied? Nimmt deinen Sold, 
Eintaujendneundundert geprägtes Gold. 
Zu Roß! Hurra! nah Weiten gejagt, 
Hier wieder vorüber, warn gejtern es tagt!" — 
‚Mein Ritter, mein Ritter, du kommſt daher, 
Wohin wir gehen, erzähle noch mehr; 
Du weißt, o jag’ es, ob fällt, ob jteigt 
Der Kurs, der jebt jo ſchwankend fich zeigt? 
6* 


84 Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


„Ein Wort, ein Wort nur im Bertraun! 45 
Iſt's weil, auf Rothſchild Häuſer zu baun?“ — 
Schon hatte der Reiter die Feder gedrücdt, 

Das Dampfroß fern ihn den Augen entrüdt. 


Die golnene Zeit, 


Oh le bon siècle, mes fr£res, 
Que le si&cle où nous vivons!! 
Armanb Charlemagne. 
(„Fliegendes Blatt.“ 


1 die Becher bis zum Rand, 

Tut, ihr Freunde, mir Bejcheid: 

Das befreite Vaterland 

Und die gute goldne Zeit! 

Denn der Bürger denft und glaubt, 5 
Spricht und jchreibt nun alles frei, 

Was die hohe Polizei 

Erſt geprüft Hat und erlaubt. 

Du eröffnejt mir den Mund, 
Du geſchwätz'ger Traubenjaft, 10 
Und die Wahrheit mach’ ich fund 
Rückſichtslos mit freud’ger Kraft. 

Gteigt die Sonne, wird e8 Tag, 
Sinkt fie unter, wird es Nacht. 
Nehm’ vor Teuer fi in acht, 15 
Mer fich nicht verbrennen mag! 
Ungejchiet zum Löjchen ift, 
Wer da Ol gießt, wo e3 brennt; 
Noch iſt drum fein guter Chrift, 
Der zu Mahom fich befennt. 20 
Scheut die Eule gleich das Licht, 
Fährt ſich's doch vorm Winde gut, 
Beier noch mit Wind und Flut, 
Aber gegen beide nicht. 


1 Wörtlich: D! was für ein präcdtiges Jahrhundert, Iiebe Brüber, ift das 
Sahrhundert, in bem wir Ieben! 


30 


40 


45 


50 


55 


60 


Das Dampfroß. — Die goldene Zeit. 


Mer nicht jeden kann, iſt blind; 
Mer auf Krücken geht, iſt lahm; 
Mancher redet in den Wind; 
Mancher geht, jo wie er fam. 
Grünt die Erde weit und breit, 
Glaube nicht den Frühling fern; 
Rückwärts gehn die Krebje gern, 
Aber vorwärts eilt die Zeit. 

Zwar iſt nicht dag Dunkle klar, 
Doch ijt nicht, was gut ift, jchlecht; 


‚Denn wa3 wahr ijt, bleibt doch wahr, 


Und was recht ijt, bleibt doch vecht. 
Goldes-Überfluß macht reich, 
Aber Lumpen find fein Geld. 

Mer mit Steinen düngt jein Feld, 
Macht gar einen dummen Streich. 
An der Zeit ijt nicht zu jpät, 

Doch Geſchehnes iſt geichehn, 
Und wer Diſteln hat geſät, 
Wird nicht Weizen reifen ſehn. 
Geſtern war's, nun iſt es heut, 
Morgen bringt auch ſeinen Lohn; 
Kluge Leute wiſſen's ſchon, 
Nur ſind Narren nicht geſcheit. 
Und am beſten weiß, wer klagt, 
Wo ihn drückt der eigne Schuh; 
Wer zuerſt nur A geſagt, 
Setzt vielleicht noch B hinzu; 
Denn wie Adam Rieſe ſpricht, 


Zwei und zwei jind eben vier — — — 


Gott! wer pocht an unjre Tür? 

Ihr, verratet mich nur nicht! 
„Hebt auf dag verruchte Neit; 

Sie mißbrauchen die Geduld. 

Setzt den Jakobiner fejt! 

Wir find Zeugen jeiner Schuld; 


85 


86 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Er Hat öffentlich gelehrt: 

Zwei und zwei find eben vier.’ — 
Nein, ih jagte.... „ort mit dir, 
Daß die Lehre feiner Hört!“ 


Banon.! 


Shall we rouse the night-owl in a catch, that 
will draw three souls out of one weaver? 
Shakespeare, Tw.N.?2, Act 2, Se. 3. 


Sollen wir die Nachteule mit einem Kanon auf— 
jtören, der einem Leinweber drei Seelen aus 
dem Leibe haſpeln fönnte? 


D it die Not der ſchweren Zeit! 
Das it die ſchwere Zeit der Not! 
Das iſt die jchwere Not der Zeit! 

Das it die Zeit der ſchweren Not! 


TER 
nr 


Das Gebet der Witwe. 
Nah Martin Luther. 
PD" Alte wacht und betet allein 
Sn jpäter Nacht bei der Lampe Schein: 
„Laß unjern gnädigen Herrn, o Herr! 
Recht lange leben, ich bitte dich jehr. 
Die Not lehrt beten.‘ 


Der gnädige Herr, der fie belaufcht, 
Vermeint nicht anders, fie ſei beraufcht; 
Er tritt Höchitjelbit in das ärmliche Haus 
Und fragt gemütlich) das Mütterchen aus: 
„Wie lehrt Not beten?“ 10 
„echt Kühe, Herr, die waren mein Gut; 
Ihr Herr Großvater ſog unjer Blut, 
Der nahm die bejte der Kühe für fich 
Und kümmerte fich nicht weiter um mic). 
Die Not lehrt beten. 15 


I Urjprünglih auf Chamiſſos Notlage während des Befreiungstrieges bezüg— 
lich. — ? ,‚Twelfth-Night or What you will“ („Dreilönigsabend oder Was ihr wollt‘‘). 





ar 


25 


30 


10 


Die goldene Zeit. — Kanon. — Das Gebet ber Witwe. — Katennatur. 


„Ich Flucht ihm, Herr, jo war ich betört, 
Big Gott, mich zu jtrafen, mich doch erhürt; 
Er jtarb; zum Regimente kam 
Ihr Vater, der zweit der Kühe mir nahm. 

Die Not lehrt beten. 


„Dem Flucht’ ich arg auch ebenfalls, 


Und wie mein Fluch war, brach er den Hals: 


Da kamen höchſt Sie ſelbſt an das Reich 
Und nahmen vier der Kühe mir gleich. 
Die Not lehrt beten. 


„Kommt Dero Sohn noch erjt dazu, 
Nimmt der gewiß mir die leßte Kuh — 
Laß unjern gnädigen Herrn, o Herr! 
Recht lange leben, ich bitte dich jehr. 

Die Not lehrt beten.‘ 
Katzennatur. 
's war mal 'ne Katzenkönigin, 
Set 
Die hegte edlen Katzenſinn, 
Sa, ja! 
Verſtand gar wohl zu maufen, 
Liebt' königlich zu ſchmauſen, 
Sa, ja! — Katzennatur! 
Schlafe, mein Mäuschen, jchlafe du nur! 


Die hatt’ ’nen ſchneeweißen Leib, 
Bj 
So ſchlank, jo zart, die Hände jo meich, 
3a, je! 
Die Augen wie Karfunfeln, 
Sie leuchteten im Dunkeln, 
Sa, ja! — Katzennatur! 
Schlafe, mein Mäuschen, jchlafe du nur! 


Ein Edelmausjüngling lebte zur Zeit, 
Sa, ja! 


87 


88 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Der jah die Königin wohl von weit, 
Sa, ja! 
’ne ehrliche Haut von Mäuschen, 
Der froh aus jeinem Häuschen, 
Sa, ja! — Maäufenatur! 
Schlafe, mein Mäuschen, jchlafe du nur! 


Der ſprach: „Sn meinem Leben nicht, 
st, Tal 
Hab’ ich. gejehen jo ſüßes Geficht, 
Sa, gan 
Die muß mich Mäuschen meinen, 
Sie tut jo Fromm ericheinen, 
Sa, ja! — Mäufenatur! 
Schlafe, mein Mäuschen, jchlafe du nur!“ 


Der Maus: „Willft du mein Schätchen ſein?“ 
Sa, jal 
Die Kab’: „Sch will Dich ſprechen allein. 
Se 
Heut will ich bei dir jchlafen — 
Heut jollit du bei mir jchlafen —“ 
Sa, ja! — Katzennatur! 
Schlafe, mein Mäuschen, jchlafe du nur! 


Der Mau, der fehlte nicht die Stumd’, 
„30, 
Die Kab’, die lachte den Bauch fich rund, 
Sa, ja! 
Dem Schatz, den ich erforen, 
Dem zieh’ ich's Tell über die Ohren, 
Sa, ja! — Kapennatur! 
Schlafe, mein Wäuschen, jchlafe du nur! 


— 88* — 
Bternſchnuppe. 


ann einer ausgegangen iſt, 
So iſt er nicht zu Haus; 


20 


30 


40 


45 


ot 


10 


15 


20 


25 


30 


Katennatur. — Sternſchnuppe. 89 


Und wird der Winter hart, jo friert 
Das Ungeziefer aus. 


Ihr war der Knecht jo eben vecht, 
Solang’ allein er warb; 

Der Jäger fam, des Federhut 
Den Handel ihm verdarb. 


Der Pächter nahm, jo wie er fam, 
Ihr Herz gleich in Empfang; 

Kein Wunder, daß dem Amtmann aud) 
Der Meilterihuß gelang. 


Und den Hufarenoffizier 
Erblidte fie von fern: 

„Fahr Hin, fahr Hin, Kartoffelfraut, 
Da geht mir auf mein Stern!" — 


Dein Stern? Was geht dein Stern mid) aı, 
Abfonderlicher Art, 

Mit goldbeichnürtem, rotem Wams 
Und Schnurr= und Badenbart? 


Bald Hat ein folcher fich geichneugt, 
Es liſcht das Lichtlein aus; 
Wann einer ausgegangen tit, 
So iſt er nicht zu Haus. 


Nun bricht der Winter an, es friert; 
Du blickſt nach uns zurüd; 

Ich und wir alle, teurer Schaf, 
Wir wünſchen dir viel Glück. 


Und bleibjt du fiten, teurer Scha$, 
So biſt du nicht allein; 

Noch wird der alten Jungfern Zunft 
Nicht ausgefroren fein. 


nat ER 
— 


90 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Der Erau Bafe kluger Rat. 
m du den ungen haben? 
Den gejunden, friichen, üpp’gen, 
Blondgelodten, jchönen Knaben? 
Gi, ein wahres Zuderpüppchen! 
Eine Luſt, mit dem zu leben! 
Mußt um ihn dir Mühe geben; 
Sa, der iſt ein ſchmucker Mann! 
Kratze, frage, kratze, Trulle, 
Dir den hübſchen Jungen an! 


Dder den, nach altem Brauche, 
Mit Dreimajter, Buderzopfe, 
Dünnen Beinen, dickem Bauche, 
KRupferna)’ und Wackelkopfe? 
Stirbt er, gibt es viel zu erben; 
Und was jollte der nicht jterben? 
Sa, der ift ein reicher Mann! 

Kratze, kratze, Frage, Trulle, 
Kratze dir den Alten an! 


Oder den vom Militäre? 

Silber auf dreifarb'gem Tuche — 

Federhut — „auf meine Ehre!“ 

Lügt er auch wie aus dem Buche. 

Vornehm wirſt du, Eure Gnaden! 

Kommt das Bürgergrob! zu Schaden, 

Hältit du's mit dem Edelmann. 
Kratze, kratze, kratze, Trulle, 

Kratze dir den Leutnant an! 


Oder wen du kannſt, den Lahmen 


Wie den Krummen — laß dich warnen: 


Oft von allen, die da kamen, 
Bleibt nicht einer in den Garnen. 
Einen Mann nur! heutzutage 
Geht die allgemeine Klage: 


1Grob — Bad. 


25 


30 


15 


2) 


Der Frau Baſe Eluger Nat. — Recht empfindfant. 


Sede friegt nicht einen Wann. 
Kratze, Fraße, kratze, Trulle, 
Dir den erſten beſten an 
— 


KRecht empfindſam. 
Tochter. 
Mm teuren. Eltern, habt Erbarmen, 


Laßt mein Leid erweichen euren Sinn! 


Nähm' ich diefen Mann, in feinen Armen 
Welkt' ich zarte Blume bald dahin! 
Bater. 
Mutter, ſieh, wie fie jich zieret! 
Hör’, du dumme Trine du, 
Einen Mann jollit du befommen, 
Greif mit beiden Händen zu! 
Tochter. 
Rauher Wirklichkeit nur mag er frönen; 
Ohne Zartheit, ohne Poeſie, 
Ungebildet, kann ex nur mich höhnen, 
Mich verjtehen, nein, das wird er nie! 
Bater. 
Mutter, die verfluchten Bücher 
Müſſen ihr den Kopf verdrehn. 
Maren wir denn je gebildet? 
Konnten wir ung je verjtehn? 
Tochter. 
Wo die Herzen fremd einander blieben, 
Knüpft ihr nicht ein gottgefällig Band; 
Meder achten fann ich ihn noch Lieben, 
Nimmermehr erhält er meine Hand! 
Bater. 
Mutter, hör' die dumme Trine, 
Hör doch, was es Neues gibt! 
Haben wir uns je geachtet? 
Haben wir uns je geliebt? 


91 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Tochter. 
Lieber will ich in ein Klojter fliehen, 
Gibt's fein Klofter, in mein frühes Grab; 
Wohl denn! diefer Schmach mich zu entziehen, 
Stürz' ih in die Wellen mich hinab! 
Bater. 
Halt du endlich ausgeredet? 
Gut, du bleibjt mir heut zu Haus, 
Hältjt dein Maul und nimmijt den Bengel, 
Punktum, und das Lied iſt aus, 


Dolterabend, 
ww Alte, deine ſchönen 


Saunen? Willſt du ung erfreuen? 
Willſt du dich mit ung verjöhnen? 
Nein, die Alte will noch freien, 

Nein, fie will vor Toresſchluſſe 

Humpeln noch mit lahmem Fuße, 

Und um welchen Preis e3 jet, 
Gi, ei! 

Noch ein Tänzlein oder zwei. 


Hurtig, Hurtig! Liebe Lene, 
Her die Schminke, die Perüde; 
Bringe her mir meine Zähne, 
Meinen Bujen, meine Krüce! 
Alfo will ich feiner Harren. — 
Hör’ ich nicht die Türe fnarren? — 
Sit er's? — Nein — e3 geht vorbei. 

Ei, ei! 

Töpfe werfen jie entzivei. 

Teſtament und Ehepakten 
Hat der Schreiber wohl gejchrieben; 
Beides nahm er zu den Alten, 
Alſo darf ich frei ihn Lieben. 


25 


30 


35 


40 


45 


Recht empfindſam. — Polterabend. — Der vortrefflihe Mantel. 


Alſo will ich jeiner harren. — 

Hör ich nicht die Türe fnarren? — 

Sit er's? — Nein — e3 geht vorbei, 
Ei, ei! 

Töpfe werfen jie entzivei. 


Wird der Priefter, wird der Küſter, 
Werden bald die Gäſte fommen? 
Und mein Bräutigam! o wüßt' er, 
Mie ich jeiner, liebentglommen, 
Bangend harre, wie ich ſchmachte! — — 
Klopft er? — Sit er's? — Sachte! ſachte! 
Ungebetne jind dabei. 

Ei, ei! 

Sind die Leichenträger frei. 


Legen mich die ſchwarzen Leute 
Einjam in ein enges Bette, 
Schleppen ji) mit ihrer Beute 
Langſam nad) der Ruheſtätte; 
Vriejter, Bräutigam und Gäfte 
Singen fröhlich bei dem Feſte, — 
Auch die Rede war vorbei — 

Ei, Ei! 
Nicht ein Tänzlein oder zwei! 
23 Yan Y 
Der vortreffliche Mantel, 


1° Tochter, was Hagit du fo jehr 

7 Um diejen Einen? 

’3 gibt ja der hübjchen Sünglinge mehr 
Laß ab zu weinen!’ — 


„Liebe Mutter, e3 fällt mir nicht ein, 
Um ihn zu flagen; 

Um den Mantel Elag’ ich allein, 
Sch will's dir jagen. 


93 


94 Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte, 





„Ach, der gute Mantel, beſchwert 
Put ſilbernen Stetten! 

Den behielt er noch unverjehrt, 
Wenn den wir nur hätten!“ 


— — 
Fin der Treue, 


Hr, Liebchen, du der flücht'gen Stunde, 

Des Augenblides Luſt? 

Bilt Bruft an Bruft du niht und Mund an Munde 
Der Ewigkeit bewußt? 

Sch Toll nur div und ewig dir gehören; 
Du willſt darauf ein Pfand: 

MWohlan! ih will's mit fräft’gem Eid beſchwören, 
Sch hebe meine Hand: 


Sch ſchwör's, elftaufend Heilige Jungfrauen!, 
Ber eurem keuſchen Bart; 

Bei Jakobs Leiterjprofje, die zu ſchauen 
In Mailand wird bewahrt ?; 


Sch ſchwör' es noch zu mehrerem Gewichte — 
Ein unerhörter Schwur! — 

Beim Borwort zu des Kaiſers Karl Gefchichte? 
Und bei des Windes Spur; 


Beim Schnee, der auf dem Libanon gefallen 
Im letztvergangnen Jahr; 

Bei Nihil, Nemo und dem andern allen, 
Was nie ſein wird noch war. 

Und falls ich dennoch jemals untreu würde, 
Vergäße jemals dein, 

So ſoll mein Eid verbleiben ohne Würde 
Und ganz unbündig ſein. 


1 Die Elftauſend Jungfrauen aus ber Urſula-Legende. — ? Als Reliquie. 
— 3 Man darf wohl an Eginhards Vorrede zu ber „Vita Caroli Magni“ denken. 








10 


Qt 


15 


20 


20 


30 


Der vortrefflihe Mantel. — Eid der Treue. — Minnedienft. 





Minnedienſt. 
we» dort im hellen Saale 
Zuftberaufcht die Gäſte wogen, 
Hält ein Ritter vom Gedränge 
Einjam ſich zurüdgezogen. 


Wie er von dem Sofa aufblidt, 
Wo er ruhet in Gedanken, 
Sieht er neben fich die Dame, 
Der er dienet jonder Wanten. 


„Sind e8 Sterne, find es Sonnen, 
Die in meiner Nacht fich zeigen? 
Sind’3 die Augen meiner Herrin, 
Welche über mich ſich neigen" — 


„Schmeichler! Schmeichler! Sterne, Sonnen 


Sind es nicht, wovon hr Ddichtet; 
Sind die Augen einer Dame, 
Die auf Euch fie bittend richtet.” — 


„Herz und Klinge find Euch eigen; 
Schickt mich aus auf Abenteuer, 
Heißt im Kampfe mich beitehen 
Rieſen, Drachen, Ungeheuer.” — 


Nein, um mich, mein werter Ritter, 
Soll fein Blut den Boden färben; 
Um ein Glas Gefrornes bitt’ ich, 
Laſſet nicht vor Durft mich ſterben.“ — 


„Herrin, in dem Dienjt der Minne 
Wollt’ ich gern mein Leben wagen; 
Aber Hier durch das Gedränge 
Wird es ſchwer, jich durchzuſchlagen.“ 

Und jte bittet, und er gehet, — 
Kommt zurüd, wie er gegangen: 
„Rein! ich konnte, hohe Herrin, 

Kein Gefrorenes erlangen,“ 


95 


96 


Gedichte: Lieber und Iyrifch-epifche Gedichte. 





Und jte bittet wieder; wieder 
Wagt er's, immer noch vergebeng: 
„Rein! man dringt durch jene Türe 
Mit Gefahr nur jeineg Lebens." — 


„Ritter, Ritter, von Gefahren 


Spradet hr, von Kämpfen, Schlachten; 


Und hr laßt vor Euren Augen 
Ohne Hilfe mich verichmachten.“ 


Und ind mwogende Gemwühle 
St der Ritter vorgedrungen, 
Dort verfolgt er einen Diener, 
Hat den Raub ihm abgerungen 


Und die Dame jchaut von ferne, 
Wie mit hochgehaltner Schale 
Er fich durch) den Reigen windet 
In dem engen, vollen Saale; 


Sieht in eines Fenſters Ecke 
Glücklich feinen Fang ihn bergen, 
Sieht ihn Hinter die Gardine 
Ihren Augen fich verbergen; 


Sieht ihn jelber dort gemächlich 
Das Eroberte verjchlingen, 
Wiſchen fih den Mund und fommen, 
Ihr betrübte Kunde bringen: 


„Gern will ich mein Leben wagen, 
Schidt mich aus auf Abenteuer, 
Habt im KHampfe mich bejtehen 
Riefen, Drachen, Ungeheuer. 


„ber Hier, o meine Herrin, 
Hier ijt alle doch vergebens, 
Und man dringt durch jene Türe 
Mit Gefahr nur feines Lebens.“ 


_-— {> — 


40 


45 


50 


55 


60 


Minnebienft. — Lebe wohl. — Krühlinaslieb. 





Lebe wohl. 


er Jollte fragen, wie's geſchah? 
Es geht auch andern ebenſo. 
Sch freute mich, als ich dich jah, 
Du warſt, als du mich ſahſt, auch froh. 


Der erjte Gruß, den ich div bot, 
Macht’ uns auf einmal beide reich; 
Du wurdeſt, als ich fam, jo rot, 
Du wurdeit, als ich ging, jo bleich. 


Nun kam ich auch tagaus, tagein, 
10 Es ging und beiden durch den Sinn; 
Bei Regen und bei Sonnenjchein 
Schwand bald der Sommer uns dahin. 


Wir haben uns die Hand gedrüdt, 
Um nichts gelacht, um nicht$ geweint, 
15 Gequält einander und beglüct 
Und haben's redlich auch gemeint. 


Dann fam der Herbit, der Winter gar; 
Die Schwalbe zog nad) altem Brauch; 

Und: lieben? — lieben immerdar? 

20 Es wurde kalt, es fror uns auch. 

Sch werde gehn ins fremde Land, 
Du ſagſt mir höflich: Lebe wohl! 

Sch küſſe Höflich dir die Hand, 
Und nun ijt alles, wie e3 ſoll. 


— — 


ot 


Frühlingslied. 
MW war der Winter ein harter Gaft, 
Den armen, den trauernden Vögeln verhaßt, 
Die fröhlich wieder nun fingen; 
Aus blauer Luft, auf grüner Flur, 
5 Wie hört man’3 munter erklingen! 
Chamifjo. I. 7 


97 


98 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Und als ſich der Wald aufs neue belaubt, 
Da hat es mir nicht zu weilen erlaubt, 
Sch mußte hinaus und wandern; 
Es fingen jo luftig die Vögel umher, 
Ich ſinge mein Lied wie die andern. 


Und komm' ic) ans Wirtshaus, jo fehr’ ich ein: 


„Frau Wirtin, Frau Wirtin, ein gut Glas Wein! 


Sch Habe mich durjtig gejungen.“ 
Da kommt mit dem Weine die Tochter jogleich 
Sp munter zu mir gejprungen. 


„Der Wein, den du jchenkeft, er ijt fürwahr 

So rot wie dein Mund, wie dein Auge jo Elar, 
Gar Fräftig und Lieblich zu jchlürfen; 

Und darf ich dich anſehn und trinken den Wein, 
So werd’ ich wohl fingen auch dürfen. 

„Ich Habe jveben ein Lied mir exrdacht 

Und Hab’ e3 für dich ganz eigens gemacht, 
Hab’ nimmer zuvor noch gejungen; 

Sp höre mir zu, du rofige Maid, 
Und ſprich, 063 gut mir gelungen? 

„Ich liebe den Frühling, des Waldes Grün, 

Der Vögel Gejang, der Bienen Bemühn, 
Der Blumen Farben und Düfte, 

Den Strahl der Sonne, de3 Himmeld Blau, 
Den Hauch der wärmeren Lüfte. 


„Sieh dort am Tor, was die Schwalben tun, 

Wie emfig fie fliegen, fie werden nicht ruhn, 
Bis fertig ihr Nejtchen fie ſchauen; 

Ich jang wie die Vögel mein munteres Xied, 
Vergaß, ein Nejt mir zu bauen. 


„Ich Liebe, die, friicher als Waldesgrün, 

Noch emfiger jchafft, als ſich Bienen bemüht, 
Bor der die Roſen ſich neigen, 

Deren Blick mich erwärmt wie der Sonne Strahl, 
Daß Lieder dem Bujen entjteigen. 


10 


15 


20 


25 


35 


40 


45 


15 


20 


Frühlingslied. — Hochzeitlieder. 





„Ich habe geſungen, was ſageſt du nun? 
Sieh dort am Tor, was die Schwalben tun! 
Was ſollt' es uns nicht gelingen? 


Frau Wirtin, Frau Mutter, ſie kommt eben recht, 


Sie ſoll noch ihr Amen uns ſingen.“ 





x > — 


Hochzeitlieder. 
3 ſtehn in unſerm Garten 
| Der blühenden Roſen genung — 
Dir blüht, noch ſchöner als Roſen, 
Ein Mägdlein jo friſch und jo jung. 


Sch habe mit Fleiß gewählet 

Die ſchönſten Roſen zum Strauß, — 
Du küſſeſt die roſigen Lippen 

Und ladjt am Ende mich aus. 


2. 

Roſen in dem Maien 
Und der Liebe Feſt! 
Schwalben und die Lieben 
Bauen fi ihr Neit. 


Maienroſen, Lieder, 
Schwalben, Liebe gar! 

Und ich werde wieder 
Jung im grauen’ Haar. 


3. 
er doch durch des Feſtes Hallen 
Wallet mit dem Kranz im Haar? 
Ach, die Beite iſt's von allen, 
Sie, die uns die Liebjte war. 


Und wer tritt mit freud’ger Eile 
Schön und ſtolz an ihrer Hand? 
Hier ſchoß Amor goldne Pfeile, 
Und jein Bruder fnüpft das Band. 


7* 


99 


100 


Gebichte: Sieber und lyriſch-epiſche Gebicte. 


Und ich jeh’ die Götter nieder: 25 
Steigen mit der Scherze Chor, 

Und ich ſinge Glückeslieder, 
Und ich blide froh empor. 


Liebeleben, Glückesbande, 

Langes Leben, ew'ges Feſt! 20 
Tauben durch des Friedens Lande, 

Viele Jungen in das Neſt! 


Immer froh und ohne Sorgen! 
Alles, alles muß gedeihn, 

Und ihr ſollt mit jedem Morgen 55 
Glüclicher und jünger jein. 


ir ee 


In maluaiiſcher Form, 
1. Genug gewandert. 
3 ſchwingt in der Sonne ſich auf 
Ein Bienchen in guldiger Pracht. — 
Bin müde vom irren Lauf, 
Erſtarrt von der Kälte der Nacht. 


Ein Bienchen in guldiger Pracht, 
In würziger Blumen Reihn. — 

Erſtarrt von der Kälte der Nacht, 
Begehr’ ih nach jtärkendem Wein. 


In würziger Blumen Reihn 
Bilt, Roje, die herrlichjte du. — 10 
Begehr' ich nach ſtärkendem Wein, 
Wer trinfet den Becher mir zu? 
Biſt, Roſe, die herrlichite du, 
Die Sonne der Sterne fürwahr! — 
Mer trinket den Becher mir zu 15 
Aus der rojigen Mädchen Schar? 


Die Sonne der Sterne, fürwahr! 
Die Roſe entfaltete ſich, — 


ot 


20 


25 


30 


35 


40 


45 


50 


Re on malnliigee Koran 
Aus der roſigen Mädchen Schar 
Umfängt die Lieblichite mich. 
Die Rofe entfaltete jich, 
Das Bienchen wird nicht mehr geſehn. — 
Umfängt die Lieblichjte mich, 
303 fürder ums Wandern geichehn. 


2. Die Korbflechterin. 
Der Regen fällt, die Sonne jcheint, 
Die Windfahn?’ dreht fih nach) dem Wind, — 
Du find’ft uns Mädchen hier vereint 
Und fingeft uns ein Lied geſchwind. 
Die Windfahn? dreht ſich nach dem Wind, 
Die Sonne färbt die Wolfen rot, — 
Ich fing’ euch wohl ein Lied geichtwind, 
Ein Lied von übergroßer Not. 
Die Sonne färbt die Wolfen rot, 
Ein Vogel jingt und Iodt die Braut, — 
Was hat's für übergroße Not 
Bei Mädchen fein, bei Mädchen traut? 
Ein Vogel fingt und lockt die Braut, 
Dem Fiſche wird das Netz gejtellt, — 
Ein Mädchen fein, ein Mädchen traut, 
Ein raſches Mädchen mir gefällt. 
Dem Fiſche wird das Net geſtellt, 
Es jengt die Fliege ſich am Licht, — 
Ein raſches Mädchen dir gefällt, 
Und du gefällit dem Mädchen nicht. 
3. Totenklage. 
MWindbraut tobet unverdroffen, 
Eule jchreiet in den Klippen. — 
Weh’! euch hat der Tod gejchlojien, 
Blaue Augen, roj’ge Lippen! 
Eule jchreiet in den Klippen, 
Graufig ſich die Schatten ſenken. — 


101 


102 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Blaue Augen, roſ'ge Lippen! 
Hin mein Yieben, Hin mein Denfen! 


Graufig ih die Schatten jenfen, 
Regen jtrömt in falten Schauern. — 
Hin mein Lieben, Hin mein Denken! 
Weinen muß ich ſtets und trauern. 


Regen jtrömt in falten Schauern. 

Ziehn die Wolfen wohl vorüber? — 
Weinen muß ich jtet3 und trauern, 

Und mein Bli wird trüb und trüber. 


Ziehn die Wolfen wohl vorüber, 
Strahlt ein Stern in ew'gem Lichte. — 
Ach! mein Blick wird trüb und trüber, 
Bis ich ihn nach oben richte. 


— f 


Das Kind an die erloſchene Kerze. 


u arme, arme Kerze, 
Gibſt fürder keinen Schein! 
Erloſchen iſt ſo ſchnelle 
Dein Licht, das freud'ge, helle, 
O, mußt' es alſo ſein! 
Du arme, arme Kerze, 
Gibſt fürder keinen Schein! 


's iſt nicht, weil ich nun weilen 
Muß in der Dunkelheit! 

O, brennteſt du nur immer, 

Und gäb' dein lieber Schimmer 
Nur andern Freudigkeit! 

's iſt nicht, weil ich nun weilen 
Muß in der Dunkelheit! 

Du arme, arme Kerze, 
Gibſt fürder keinen Schein! 

's iſt nicht, weil ich alleine 

Im Dunkeln bin und weine, 


60 


ot 


15 


20 


10 


15 


20 


Da3 Kind an die erlofchene Kerze. — Der Glüdsvogel. — Familienfeft. 





Ich bin ja gern allein! 
Du arme, arme Kerze, 
Gibt fürder feinen Schein! 
Der Glücksvogel. 


3 fliegt ein Vogel in dem Hain 
Und fingt und lodt: man jol ihn fangen. 

Es fliegt ein Vogel in dem Hain, 
Aus dem Hain in den Wald, in die Welt Hinein, 
Sin die Welt und über die See. 

Und könnte wer den Vogel fangen, 

Der würde frei von aller Bein, 

Bon aller Bein und Weh! 


Es fliegt der Vogel in dem Hain, 
„O, könnt' ich mir den Vogel fangen!“ 
Es fliegt der Vogel in dem Hain, 
Aus dem Hain in den Wald, in die Welt hinein, 
In die Welt und über die ©ee. 
„O, könnt' ich mir den Vogel fangen, 
Sp wird’ ich frei von aller Bein, 
Don aller Bein und Weh!“ 


Der Knabe lief wohl in den Hain: 
„Ich will den fchönen Vogel fangen.“ 
Der Bogel flog wohl aus dem Hain, 
Aus dem Hain in den Wald, in die Welt Hinein, 
Sn die Welt und über die See. 
Und Hat der Knab' ihn exit gefangen, 
Co wird er frei von aller Bein, 
Don aller Bein und Beh! 


— — 


Familienfeſt. 
(Litauifch.) 
er Vater ging auf die Jagd in den Wald; 
Ein gutes Wild erſah er ſich bald. 


103 


104 Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Er legte wohl an, er drückte los; 
Der Sperling fiel auf das weiche Moos. 


Die Brüder luden zu Schlitten den Fang 
Und ſchleiften ihn heim und jubelten lang'. 


Die Töchter ſchnell das Feuer geſchürt, 
Sie rupften und ſengten ihn, wie ſich's gebührt. 


Die Mutter briet und ſchmort' ihn gleich; 
Der Braten war köſtlich und ſchmackhaft und weich. 


Geſchäftig trugen die Schweſtern ihn auf; 
Es kamen die fröhlichen Gäſte zuhauf. 


Sie ſetzten zu Tiſch ſich und ſaßen feſt 
Und taten ſich gütlich beim weidlichen Feſt. 


Sie ſchmauſten den Sperling in guter Ruh' 
Und tranken drei Fäſſer des Bieres dazu. 


—— 


Verratene Liebe, 
Meugriechiſch.) 
a nachts wir uns küßten, o Mädchen, 
Hat keiner uns zugeſchaut; 
Die Sterne, die ſtanden am Himmel, 
Wir haben den Sternen getraut. 


Es iſt ein Stern gefallen, 
Der hat dem Meer uns verklagt; 
Da hat das Meer es dem Ruder, 
Das Ruder dem Schiffer geſagt. 


Da ſang derſelbe Schiffer 
Es ſeiner Liebſten vor; 

Nun ſingen's auf Straßen und Märkten 
Die Mädchen und Knaben im Chor. 


or 


15 


10 


10 


15 


ot 


10 


Derratene Liebe. — Die Durelle. - — Der Gemfenjäger unt und die Sennerin. 








Die Quelle. 
IT Duelle fommt im Schatten 
Duft’ger Linden an das Licht, 
Und wie dort die Vögel fingen, 
Nein, das weiß doch jeder nicht! 


Und das Mädchen fam zur Duelle, 
Einen Krug in jeder Hand, 

Wollte jchnell die Krüge füllen, 
Al ein Jüngling vor ihr ftand. 


Mögen wohl geplaudert haben, 

Kam das Mädchen jpät nach Haug: 

„Gute Mutter, jolljt nicht jchelten, 
Sandteſt jelbjt ja mich hinaus. 


„Geht man leicht zur Quelle, trägt man 
Doh zu Haus ein ſchwer Gewicht, 

Und wie dort die Vögel fingen — 
Mutter, nein, das weißt du nicht!“ 


RE NER 
Der Gemfenjäger und die Sennerin. 


A mich verirrten Jäger, 

Du gute Sennerin, auf! 

63 lockte mich über die Gleiſcher 
Die Gemſe mit flüchtigem Lauf. 


„Bin fremd auf dieſer Alpe, 
Verlaſſen für und für; 
In rauher Nacht verſchließe 
Nicht hart mir deine Tür!“ — 
„Muß, Jäger, wohl ſie verſchließen, 
Ich bin ja ganz allein; 
Gar eng iſt meine Hütte, 
Für dich kein Lager darein.“ — 
„Nur Schutz an deinem Herde, 
Ein Lager begehr' ich nicht; 


106 


Gedichte: Lieder und lyriſch⸗epiſche Gedichte. 





Ich ſcheide, ſobald die Gletſcher 


Sich färben mit rötlichem Licht.“ — 


„And wenn ich ein dich ließe... 
O Säger, laß mi in Ruh’! 
Nachrede gäb's und Geſchichten; 
Was jagte der Hirt dazu? — 
„Der Hirt ſoll nicht mich hören, 
Das, Gute, veriprech’ ich dir: 
Sch Halte mich friedlich und ſtille; 


Befürchte doch nicht von mir!" — 


„And willſt du dich Halten, o Jäger, 
Ein jtiller und friedlicher Gaft, 
Sp werd’ ich herein dich laſſen: 


Die Nacht ijt zu graufig doch faſt.“ 


Sie öffnete leife die Türe 
Und ließ den Jäger herein; 
Es loderte gajtlih vom Herde 


Die Flamme mit freundlichem Schein. 


Und bei dem Scheine ſahen 

Die beiden ſich ſtaunend an. — 
Die Nacht iſt ihnen vergangen; 

Der Morgen zu dämmern begann. 


„Wie ließ ich dich ein, o Jäger, 
Ich weiß nicht, wie es kam; 
Nun rötet der Morgen die Gletſcher 
Und meine Wangen die Scham. 

„O lieber, lieber Jäger, 

So ſchnell vergangen die Nacht! 
Auf, auf! du mußt nun ſcheiden, 
Bevor der Hirt noch erwacht.“ — 
„Und muß für heut ich ſcheiden, 

So bleibe, du Gute, mir hold; 
Haſt keinen Grund zu weinen, 

Nimm dieſen Ring von Gold! 


15 


25 


35 


40 


45 


Der Gemferjäger und die Sennerin. — Die Jungfrau von Stubbentanmer. 107 





„Sin Haus, das mir gehöret, 
50 Dort drüben im anderen Tal, 
Mein Stuten, auf Gleticher und Felſen 
Die flüchtigen Gemjen zumal: 


„sh kann Dich ehrlich ernähren, 
Du liebe Sennerin mein; 

55 Und fteiget zu Tal der Winter, 
Soll unfere Hochzeit fein.“ 


EIN MT 
ng ; 


Die Jungfrau von Stubbenkammer. 
Volksſage. 


ch trank in ſchnellen Zügen 
Das Leben und den Tod 
Beim Königsſtuhl auf Rügen 
Am Strand im Morgenrot. 


5 Sch kam am frühen Tage 
Nachfinnend einfam her 
Und laufcht dem Wellenichlage 
Und jchaute übers Meer. 


Wie jchiweifend aus der Weite 
10 Mein Bli fich wieder neigt, 
| Da hat jih mir zur Seite 
Ein Teenweib gezeigt. 


An Schönheit jondergleichen, 
Wie nimmer Augen jahn, 
15 Mit goldner Kron' und reichen 
Gewändern angetan. 


Sie fniet’ auf Feljenfteinen, 
Umbrandet von der Flut, 
Und wuſch mit vielem Weinen 
20 Ein Tuch, befleckt mit Blut. 
Umfonft war ihr Beginnen; 
Sie wuſch und wuſch mit Fleiß; 


108 


Gebichte: Lieber und Igrifh=epifche Gebichte, 


Der böje Fleck im Linnen 
Erſchien doch nimmer weiß. 


Da Jah fie unter Tränen 
Mich an und bittend fait; 

Da hat ein heiße Sehnen 
Mic namenlos erfaßt. 


„Gegrüßet mir, du blendend, 


Du mwunderfames Bild!" — — 


Sie aber, ab fich wenden, 
Sprach ſchluchzend, aber. mild: 


„sch weine trüb und trüber 
Die Augen mir und blind; 
Gar viele ziehn vorüber 
Und nicht ein Sonntagskind. 


„ac langem, bangem Hoffen 
Erreihit auch du den Ort — 
O, hättejt du getroffen 
Zum Gruß das rechte Wort! 


„Hätt'ſt du ‚Gott helf'! gejprochen, 


Ich war erlöjt und bein; 
Die Hoffnung ift gebrochen, 
Es muß gejchieden ſein!“ — 


Da jtand fie auf, zu gehen, 
Das Tuch in ihrer Hand; 

Und wo die Pfeiler ftehen, 
Verſank fie und verſchwand. 


Sch trank in jchnellen Zügen 
Da3 Leben und den Tod 
Beim Königsftuhl auf Rügen 

Am Strand im Morgenrot. 


ii 


30 


co 
St 


40 


45 


50 


er 


15 


20 


Die Jungfrau von Stubbentammer. — Das Burgfräulein von Winde. 109 








Das Burgfräulen von Windeck.! 


Talt an den jchnaubenden Rappen, 
3 Verblendeter Rittersmann! 
Gen Winde fleucht, dich verlodend, 
Der luftige Hirſch Hinan. 
Und vor den mächtigen Türmen, 
Vom äußern, verfallenen Tor 
Durchſchweifte ſein Auge die Trümmer, 
Morunter das Wild fich verlor. 


Da war e& jo einfam und ftille, 
Es brannte die Sonne jo heiß; 
Er trodnete tiefaufatmend 

Bon feiner Stirne den Schweik. 


„Ber brächte des föjtlichen Weines 
Mir nur ein Trinkhorn voll, 
Den hier der verjchüttete Keller 
Verborgen noch hegen joll?“ 
Kaum war dag Wort beflügelt 
Bon jeinen Lippen entflohn, 
So bog um die Efeumauer 
Die jorgende Schaffnerin jchon. 
Die zarte, die Herrliche Jungfrau 
In blendend weißem Gewand, 
Den Schlüfjelbund im Gürtel, 
Das Trinkhorn Hoh in der Hand. 
Er ſchlürfte mit gierigem Wunde 
Den würzig föftlichen Wein, 
Er ſchlürfte verzehrende Flammen 
Sn feinen Bujen hinein, 
Des Auges klare Tiefe! 
Der Loden flüſſiges Gold! — 
63 falteten jeine Hände 
Sich flehend um Minnejold. 


1 Dorf Winded mit Schlofruine bei Baden-Baden. 


110 


Gedichte: Lieder und Iyrifch =epifche Gedichte, 


Sie jah ihn an mitleidig 
Und ernſt und wunderbar, 
Und war ſo ſchnell verſchwunden, 25 
Wie ſchnell ſie erſchienen war. 
Er hat ſeit dieſer Stunde, 
An Windecks Trümmer gebannt, 
Nicht Ruh', nicht Raſt gefunden 
Und keine Hoffnung gekannt. 40 
Er ſchlich im wachen Traume 
Geſpenſtig, fiech und bleich, 
Zu jterben nicht vermögend 
Und feinem Lebendigen gleich. 
Sie jagen: jte ſei ihm zum andern 45 
Erſchienen nad) langer Zeit 
Und hab’ ihn gefüßt auf die Lippen 
Und jo ihn dom Leben befreit. 
— 
Herzog Huldreich und Benatrir. 


Trerr Huldreich, der Herzog im Böhmerland, 
35 Er jagt auf den Höhen zur Stund’; 
Die Bäuerin wäſcht die Leinewand 

Am Bach im jchattigen Grund. 


‚„Bedürftig und müde verirrtejt du 5 
Did, Jäger, in unjer Tal; 
Laß bier dich nieder zu kurzer Ruh’ 
Und teile mit mir da3 Mahl!" — 
„Hab Dank, Hab’ Dank, du freundliches Kind! 
Du ſpendeſt, wo mancher raubt; 10 
Wie mir ermattet die Glieder find, 
Sinft jorgenfchwer auch mein Haupt.” — 
„Und naht die Sorge bei freudiger Jagd 
Dir, Jäger, im luftigen Wald? 
Wann nagend den alten Vater fie plagt, 15 
Bericheuchet mein Lied fie bald." — 


20 


35 


40 


45 


Das Burgfräulein von Windel. — Herzog Huldreih und Beatrir. 











„Kein Lied aus treuer, freudiger Brujt! 
So einfam inmitten der Schar! 

Kein Stern der heiteren, innigen Luft, 
Kein Aug’ wie das deine jo Karl" — 


„Doch Leuchtet aus kühngewölbten Brau'n 
Mildfreundlich dein Augenitern; 

Wer möchte nicht in den Himmel jchaun, 
Mer nicht in das Auge dir gern?" — 


„gu mir hinauf wohl manche jah, 
Frug nicht nach des Auges Licht; 
Und hätte gejtanden ein anderer da 
Statt meiner, ſie merkt? es nicht.” — 
„Huf, Jäger, es mag gejchteden num jein; 
Dort windet dein Pfad fich Hinan. 
Noch ſchaut' ich ind Auge dem Vater allein, 
Sonjt feinem anderen Mann.‘ — 


„Mißdeute nicht ein trübes Wort, 
Das nicht, du Gute, dir galt; 


Und ſchickſt du von Hinnen mich zürnend fort, 


Mo find ich auf Erden noch Halt?" — 


„Ich zürne nicht, wie du es meinft, 
Sch bin vom Zürnen wie fern! 

Gott jegne dich und die dereinjt 
Wird deines Himmels Stern!" — 


„Gott jegne dich, du liebe Maid! 
Noch eins verfünde mir mild: 
Geden? ich dein in Freud’ und Leid, 
Wie nenn’ ich das ſüße Bild?‘ — 
„Beatrix nennt der Vater mich), 
Des Hütte dort fich zeigt; 
Du aber Iprih: Wie nenn’ ich dich, 
Der Huldreich fich mir geneigt!" — 
„Beatrir, Heilesbringerin! 
Wohl wirt du als ſolche befannt; 


da 


Gedichte: Lieber und epifh= Iyrifhe Gedichte. 








Und fragit nach) mir? mit zartem Sinn 
Halt jelbjt du mich eben genannt.” — 

„Du Huldreich? Hab’ ich's doch gedacht, 
Wie unjer Herzog hier; 

Und käm' er daher in der Herrichaft Pracht, 
Sch blickte doch nur nah dir.“ — 


„sh dünkte der Freude mich fremd noch fait _ 


Und hab’3 dir, Beatrir, vertraut; 
Doh wenn um Liebe du Liebe halt, 
Verbinde der Ring mir die Braut.” — 


„Du lieber, du jeltiamer Jägersmann, 
So huld- mir und liebereih! 

Den Ring, den nehm’ ih vom Vater nur an; 
Sch führe zum Alten dich gleich.” — 

„Wohlan, wohlan, du jüße Geftalt, 
Sch mwerb’ um deine Hand; 

Der Alte findet den Beljern halt 
Doch nicht im böhmiſchen Land.“ 

Da kamen die folgen Genoſſen der Jagd, 
Den Herzog juchend, einher. 

Es dienet der Herr der Bauermagpd; 
Sie zürnen und jchelten fie jehr. 

„Was zürnt ihr und fcheltet die Bauermagd? 
Die heut euch dünfet zu Elein, 

Sie wird, bevor der Morgen noch tagt, 
Wohl über euch Herzogin jein,“ 


_—I— 


Liebesprobe, 
Nah dem Volkslied.) 
3 wiegte die alte Linde 
Ihr blühendes Haupt in dem Winde, 
DBerjtreuend Duft in das Land; 
Und unter der Linde ſaßen 
Zwei Liebende Hand in Hand. 


60 


65 


70 





10 


15 


20 


25 


30 


35 


40 


Herzog Huldreich und Beatrir. — Liebesprobe. +13 





„Heinlied, ich muß nun jcheiden, 
Dich ſieben Jahre meiden, 
's iſt eine lange Seit; 
Ich frage nach fieben Fahren, 
Ob du den andern gefreit.” —- 
„Ach nein! ich will dich erwarten 
Die fieben Jahre, die harten, 
Sch will die Deine fein; 
Sch will die Treue dir Halten 
Und feinen andern frein.“ 


Es zogen Jahre nach Jahren; 

Die fieben veritrichen waren, 
Das achte jchon begann; 

Schon fam dom vierten Monat 
Der vierte Tag heran. 


Es wiegte die alte Linde 
Ihr falbes Haupt in dem Winde, 
Verjtreuend ihr Laub in das Land, 
Und unter der Linde rannen 
Zwei Quellen heiß in den Sand. 


„Du, Linde, wirjt es ihm jagen; 
Du blühteſt in jenen Tagen, 

Nun Hat der Herbit dich entlaubt; 
Ich Habe geglaubt und geweinet, 

Ich habe geweint und geglaubt.“ 

Ein Reiter lenkte die Zügel 
Vom Weg ab hinan zum Hügel, 

Ritt ſtolz und ſpähend einher: 
„Gott grüß dich, feines Mägdlein, 

Was klagſt du, was weint du jo ſehr?“ — 
„Gezogen find Jahre nach Jahren, 
Nicht Hab’ ich vom Liebſten erfahren, 

Die Lind’ es bezeugen mag; 

Sie ſieht mich im vierten Monat 

Verweinen den vierten Tag.’ — 

Chamiffo. I. 8 


114 


Gebichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


„Er hat in den Wind e3 geiprochen, 
Er bat dir die Treue gebrochen 

Für eine jchönere Braut; 
Hab’ unter blühenden Linden 

Der Hochzeit ſelbſt zugeichaut.” — 


„War's auch in den Wind gejprochen, 

Sind Treue und Herz mir gebrochen, 
Ihm wend' es Gott zum Gewinn! 

Sch werd’ ihn jegnen und jegnen, 
Bis ſtumm ic) geworden bin.“ 


Was guldig Schimmerndes zog er 

Vom Yinger fi), was bog er 
Sich über ihren Schoß? 

Sie weinte, daß der Goldring 
Sn ihren Tränen floß. 


Er jprang vom Roß behende, 
Er legte in ihre Hände 
Ein feines Linnentuh: 
„Trockn' ab, trodn’ ab die Auglein! 
Geweinet Haft du genug. 


„Ich habe dich nur verjuchet; 
Und hätteft du mir gefluchet, 
Mußt' weiter geritten jein; 
Sch Hatte e8 hoch geichworen: 
Nun jollit du die Meine ſein.“ 
63 wiegte die alte Linde 
Ihr Haupt im Abendwinde, 
Und jchattiger wurde das Land; 
Und unter der Linde Taken 
Zwei Glüdlihe Hand in Hand. 
— > — 
Die Mutter und das Kind, 


ie ward zu jolchem Sammer 
Der ſtolzen Mutter Luſt? 


45 


50 


55 


60 


65 


20 


25 


30 


Liebesprobe. — Die Mutter und das Kind. 115 





Sie weint in öder Kammer, 
Kein Kind an ihrer Bruft; 
Das Kind gebettet haben 
Sie in den ſchwarzen Schrein 
Und tief den Schrein vergraben, 
Als müßt’ es alſo jein. 


Wie da die Erde, fallend 
Auf den verjenkten Sarg, 
Ihn dumpf und jchaurig ſchallend 
Vor ihren Augen barg, 
Hat Tränen fie gefunden, 
Die nicht zu hemmen find; 
Sie weint zu allen Stunden 
Um ihr geliebtes Kind. 


Mann andrer Luft und Sorgen 
Der laute Tag bejcheint, 
Weilt ſchweigſam fie verborgen 
In finjtrer Klauſ' und weint; 
Wann andrer Schmerzen lindert 
Die Nacht und alles ruht, 
Vergießt fie ungehindert 
Der Tränen bittre Flut. 


Wie einjt fie unter Tränen 
Die jtumme Mitternacht 
In Hoffnungslojem Sehnen 
Verjtört herangewacht, 
Sieht wunderbarerweile 
Das Kindlein fie ſich nahn; 
Es tritt jo leiſe, leiſe, 
Es ſieht ſie traurend an. 


„O Mutter, in der Erden 
Gewinn' ich keine Raſt; 
Wie ſollt' ich ruhig werden, 
Wenn du geweinet haſt? 
| A 


116 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 





Die Tränen fühl ich rinnen 
Zu mir ohn' Unterlaß, 

Nein Hempdlein und das Linnen, 
Sie ind davon jo naß. 


„O Mutter, laß dein Lächeln 
Hinab ins feuchte Haus 
Mir laue Lüfte fächeln, 
Dann trodnet’3 wieder aus; 
Und jcheinet deinem Kinde 
Dein Auge wieder klar, 
Umblühn es Ro) und Winde, 
Wie jonjt e8 oben war. 


„O weine nicht! ſei munter! 
Was helfen Tränen dir? 
Komm lieber doch hinunter 
Und lege dich zu mir; 
Da magjt du leije koſen 
Mit deinem Kindelein, 
Du liegſt auf weichen Roſen 
Und jchläfit jo ruhig ein.“ 
Sie Hat aus ſüßem Munde 
Die Warnung wohl gehört, 
Sie Hat von dieſer Stunde 
Zu weinen aufgehört. 
Wohl bleichten ihre Wangen, 
Doch blieb ihr Auge Klar; 
Sie iſt hinabgegangen, 
Wo jchon ihr Liebling war. 
1 
Der Kranke, 
(Nah Millevoye.) 
Hei mir gegrüßt, o mein geliebter Wald! 
Du Schauplatz meiner Kindheit froher Spiele, 
Zum letztenmal gegrüßt! ich ſcheide bald. — 
So jung annoch und ſchon am letzten Ziele! 


40 


45 


50 


55 


60 





5 


10 


20 


25 


30 


Die Mutter und das Kind. — Der Kranke. — Die Großmutter. 117 


Dein Laub wird gelb und gelber, Fällt jchon ab; 
Sch ſeh' es wohl und fühle mich gebrochen 
Und blide trauernd in mein frühes Grab. 
Sm Sommer hat der Arzt zu mir gejprochen: 


„Es prangt der Wald im grünen Schmud noch heut; 
Du ſiehſt ihn bald fich noch einmal entfärben, 
Und wann der Herbit ſein falbes Laub verjtreut, 
So wirft du, Frühverwelfter, jelber jterben.‘ 


Es iſt ein Gejtern worden, unerhört! 
Das Heut, wo du im grünen Schmud gepranget; 
Herbit iſt's, es fällt dein Laub, wie fich’S gehört, 
Und mahnt mi, daß der Tod nad) mir verlanget. 
D falle, Laub! ich fenne ja mein Los, 
Zu jterben, ohne noch gelebt zu haben; 
Sie werden Hanglos bald und namenlos 
Am Fuße diejer Eiche mich vergraben. 
D falle, Zaub! Dem Aug’ entziehe du 
Der Mutter, die mit Schmerzen mich geboren, 
Die ſchmerzlich jtille Stätte meiner Ruh’! 
Sie hat die Hoffnung, unerfüllt, verloren. 
Wenn aber eine fommt, die ich gemeint, 
Und jucht den Heinen Pla in Waldesräumen, 
Und auf den Hügel fie fich wirft und weint, 
O rauſche, Laub! ich werde von ihr träumen. 
Er lieget nun am Fuß der Eiche dort; 
Nicht aber iſt, die er gemeint, gefommen; 
63 überdeden Laub und Schnee den Dit, 
Und weit umher wird nur das Wild vernommen. 


— 
Die Großmutter, 
(Nah Victor Hugo.) 


Br Ichläfit du? Deine Lippen pflegen 
" Wie betend fi) im Schlafe zu beivegen: 
Wie biſt du Heute regungslos und bleich! 


118 Gebichte: Lieber und lyriſch⸗ epiſche Gedichte. 





Die Hände ſtarr auf deiner Bruſt vereinet, 
Die nicht dein Atem zu erheben ſcheinet, 
Dem Marmorbild der Schmerzensmutter gleich. 


„Blick' auf, erwache, rede! Wie betrübeſt 
Du, Mutter, deine Kinder, die du liebeſt! 
Was taten wir? Wir waren beide fromm. 
Du zürneit uns? Du hörſt nicht unfre Stimmen? 
Sieh her! die Lampe fladert im Berglimmen, 
Und ſchon das Teuer auf dem Herd verglomm. 


„And willſt du Licht und Teuer nicht erhalten, 
Sp müſſen wir erjitarren in dem falten 
Und finjtren Haus; zu jpät erwacht du dann. 
Auch wir beharren jtumm in deinen Armen 
Und können nicht an deiner Brujt erwarmen, 
Du rufſt die Heiligen vergebens an. 


„Öroßmutter, o, wie falt find deine Hände! 
Wir wollen jte in unſern wärmen, wende 
Nur deinen Blid ung freundlich wieder zu; 
Da haft du dein Geſangbuch, nimm es wieder, 
Du Halt es fallen laſſen; fing’ ung Lieder — 
Du nimmſt es nicht, und nichts erwiderſt du? 


„eig uns, wir waren fromm, uns zu belohnen, 
Das Bild der Bibel, wo die Heil’gen wohnen 
Beim lieben Gott, umftrahlt von jeinem Licht; 
Erklär' uns dann die göttlichen Gebote 
Und fprich vom beſſſren Xeben nach dem Tode — 
Was ijt der Tod? — Du brichjt das Schweigen nicht!“ 


So hallte lange noch der Waiſen Klage; 
Die Nacht brach ein, fie wich dem jungen Tage, 
Die Turmuhr maß die Zeit mit gleihem Schlag. 
Zur offnen Türe laujchend, jah die Kleinen 
Am GSterbebette Inien, beten, weinen 
Ein Wandrer jpäte noch) am andern Tag. 


— 


ot 


10 


15 


30 


ot 


ö— —— —— Eee EEE Fu e üä⏑ä⏑— 


10 


15 


20 


Die Großmutter. — Die Waiſe. — Treue Liebe. 





Die Waiſe. 
(Eitauiſch.) 
— haben mich geheißen 
Nach Heidelbeeren gehn; 
Ich habe nach den Beeren 
Im Walde nicht geſehn. 
Ich bin hinaus gegangen 
Zu meiner Mutter Grab, 
Worauf ich mich geſetzet 
Und viel geweinet hab'. — 
„Wer ſitzt auf meinem Hügel, 
Von der die Tränen ſind?“ — 
„Ich bin's, o liebe Mutter, 
Sch, dein verwaiſtes Kind. 
„Ber wird Hinfort mich kleiden 
Und flechten mir das Haar? 
Mit Liebeswort mir jchmeicheln, 
Mies deine Weile war! — 
„Geh Hin, o liebe Tochter, 
Und finde dich darein! 
Es wird dir eine ziveite, 
Statt meiner, Mutter fein. 
„Ste wird das Haar dir Flechten 
Und Eleiden dich Hinfort; 
Ein Jüngling wird dir fchmeicheln 
Mit zartem Liebesivort.‘ 
als ie 
Treue Liebe, 
(Litauiich). 
3 ichallten muntre Lieder 
Hell durch den Fichtenwald. 
63 fam ein muntrer Reiter 
Zum Förſterhauſe bald. 
„Frau Muhme, guten Morgen! 


Abo bleibt die Liebjte mein?!’ — 


119 


120 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 





„Sie lieget, krank zum Sterben, 
Im obern Kämmerlein.“ 


Er ſtieg in bittern Tränen 
Die Treppe wohl hinauf; 

Er hemmte vor der Türe 
Der Liebſten ihren Lauf. 


„Herein, herein, Geliebter, 
Zu ſchmerzlichem Beſuch! 

Die heim du holen wollteſt, 
Deckt bald das Leichentuch. 


„Sie ſchläft in engem Sarge, 
Drauf liegt der Myrtenkranz; 

Du wirſt nicht heim ſie führen, 
Nicht bei Geſang und Tanz. 


„Sie werden fort mich tragen 
Und tief mich ſcharren ein; 
Du wirſt mir Tränen weinen 
Und eine andre frein.“ — 


„Die du mich nie betrübet, 
Du meine Zier und Luſt, 

Wie haſt du jetzt geſchnitten 
Mir ſcharf in meine Bruſt!“ 


Drauf ſahen zueinander 

Die beiden ernſt und mild, 
Verſchlungen ihre Hände, 

Ein ſchönes, bleiches Bild. 
Da ſchied ſie ſanft hinüber; 

Er aber zog zur Stund' 
Das Ringlein ſich vom Finger 

Und ſteckt's in ihren Mund. 
Ob er geweinet habe, 

Als ſolches iſt geſchehn? — 
Ich ſelber floß in Tränen, 

Ich hab' es nicht geſehn. 


10 


15 


20 


35 


40 


Treue Liebe. — Der Sohn der Witwe. 121 





Es gräbt der Totengräber 
Ein Grab und noch ein Grab; 
Er fommt an ihre Seite, 
Der ihr das Ringlein gab. 
— ⸗ 
Der Zohn der Witwe. 
(Litauifd.) 
er zogen die Schwäne mit Kriegsgejang: 
Zu Roß, zu Roß! es dröhnend erflang. 
Es reiten aus allen Höfen umher 
Die jüngern Söhne zum Kriegesheer. 
5 „3 iſt mit uns gar ſchlimm beitellt, 
Und feiner bleibt, wenn einer fich jtellt. 
„Du ziehjt, mein Bräut'gam, mein Bruder, mein Sohn, 
Du ziehft in den Krieg, das willen wir jchon. 
„Wir Frauen bedienen den Kriegesfnecht; 
10 Den Helmbuſch ſteckt die Braut dir zurecht, 
„Yen Rappen führt die Schweiter dir vor, 
Dir öffnet die Mutter des Hofes Tor. 
„Bann fehrit du, mein Bräut’gam, mein Bruder, mein Kind, 
Wann fehrit du zurüd? das ſag' ung geſchwind!“ — 
35 „Sind Luft und Waller und Land exit fret, 
Dann ſäum' ich nicht länger, dann eil’ ich herbei.” — 
Und Luft und Waller und Land find frei; 
„Bas ſäumt er noch länger und eilt nicht herbei? 
„Bir Frauen, wir wollen entgegen ihm gehn, 
20 Wir wollen vom Hügel entgegen ihm jehn.“ 
Dort harren die Frauen und laujchen zu Tal 
Die Straße entlang im Sonnenjtrahl. 
Und auf und nieder die Sonne jteigt; 
Kein Reitersmann dem Blicke fich zeigt. 
35 Jetzt hebt ſich Staub, jebt fommt im Lauf 
Ein Rappe daher — ein Reiter ſitzt drauf. 


122 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Sie fangen ihn ein, ſie fragen ihn aus: 


„Wie kommſt du, mein Rappe, doch ledig nach Haus? 


„Biſt, ſchlechter Gaul, dem Herrn du entflohn? 


Wo blieb mein Bräut'gam, mein Bruder, mein Sohn?“ 


„Sie haben erſchoſſen ihn in der Schlacht, 
Auf grüner Heide ſein Bett ihm gemacht. 

„Mich ließen ſie laufen in alle Welt, 
Ich habe die Botſchaft trauernd beſtellt.“ 

Es zogen drei Schwäne mit Klagegeſang, 
Ein Grab zu ſuchen, die Heide entlang. 

Sie ließen ſich nieder, wie ſie es erſahn, 
Zu Füßen, zu Haupte, zur Seite ein Schwan. 

Zu Haupte die Schweſter, zu Füßen die Braut, 
Zur Seite die Mutter, hoch ergraut: 

„O wehe, weh’ Verwaiſten ung drei'n! 
Wer ſtimmt in unſre Klage mit ein?“ 

Darauf die Sonne, ſich neigend, begann: 
„Ich ſtimme mit ein, ſo gut ich kann. 

„Neun Tage traur' ich im Nebelflor 
Und komm' am zehnten nicht hervor.“ 

Die Trauer der Braut drei Wochen war; 
Die Trauer der Schweiter, die war drei Jahr; 

Die Mutter hat der Trauer gepflegt, 
Bis müde fie jelbjt ins Grab fich gelegt. 

— — 
Laß reiten, 


3 ritt ein Reiter die Straße hinaus, 
Die Spur vermwehte der Wind. 

Ein Mädchen zerpflücdt einen Rojenjtrauß 
Und weint die Augen jich blind. 


„Du warjt mir jo rofig und wohlgemut, 
Wie bijt du geworden jo bleich? 


35 


40 


45 


50 


10 


15 


Der Sohn der Witwe. — Laß reiten. — Die Müllerin. 





Was heimlich im Herzen dir wehe tut, 
Mein Kind, vertraue mir gleich.“ — 


„Ich weine ja nicht um heimlichen Schmerz, 
Weiß nicht, wie in Leiden ich jteh’, 

Es tut mir, o Mutter, nicht bloß das Herz, 
Es tut mir gar manches noch weh." — 


„Herr Doktor, Herr Doktor, die Tochter iſt Frank, 
D helft doch dem Kinde mein!“ — 

Wohl milchte der Doktor ’nen bittern Trank, 
Doch konnt's nicht geholfen mehr ein. 


„nen bittern Trank, den hab’ ich ſtill 
Getrunfen: — nun iſt's vorbei! 

Laß reiten, laß reiten, wer mag und will! 
Man kommt doch dem Winde nicht bei.“ 


— — 
Die Müllerin. 
ie Mühle, die dreht ihre Flügel; 
Der Sturm, der jaufet darin; 


Und unter der Linde am Hügel, 
Da weinet die Müllerin: 


Laß ſauſen den Sturm und braujen, 
Sch habe gebaut auf den Wind: 

Sch Habe gebaut auf Schwüre — 
Da war ich ein törichtes Kind. 


Noch Hat mich der Wind nicht belogen, 
Der Wind, der blieb mir treu; 
Und bin ich verarmt und betrogen — 
Die Schwüre, die waren nur Spreu. 
Wo tft, der fie geſchworen? 
Der Wind nimmt die Klagen nur auf; 
Er hat ih aufs Wandern verloren — 
Es findet der Wind ihn nicht auf. 


— 92 — 


123 


124 


Gebichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 





Der Müllerin Nachbar. 


ie Mühle, die dreht ihre Flügel, 
Der Wind, der jaujet darin; 
Sch wollte, ich wäre der Müller, 
Don wegen der Müllerin. 


Der Müller iſt geſtorben; 
Gott ſchenk' ihm die ewige Ruh’! 
Sch wollte, es holte der Henker 
Den legel von Knecht noch dazu. 


ax 


Am Sonntag in der Kirche, 

Da glaubt’ ich, fie ſchiele nach mir; 10 
Sie fchielte an mir nur vorüber; 

Der Knecht, der jtand an der Tür. 


Und als es ging zum Tanze, 
Da kam jte eben mir recht; 

Sie grüßte mich freundlich und fragte — 15 
Und fragte mich gar — nad) dem Knecht. 


Der Knecht, der Knecht! — Ich wollte... 
Mir kocht in den Mdern das Blut — 
Ich wollte an ihm mich rächen, 
Ich wollte, ich hätte den Mut. 20 


Ich wollte.... Nun, was weiß ich? 
Sch weiß nicht, wo ich bin. — 

Die Mühle, die dreht ihre Flügel; 
Der Wind, der jaufet darin. 


ee — 
Don Auizote, 


7» ein Abenteuer, 

„ Welches Ruhm veripricht; 
Siehft du auf dem Hügel 

Dort die Riefen nicht? 


15 


20 


25 


830 


35 


40 


Der Müllerin Nahbar. — Don Quixote. 


Turmhoch, mißgeichaffen, 

Drohend in den Wind 

Welche anzujchauen 

Faſt wie Mühlen find?" — 
„Mit Vergunſt, Herr Ritter, 
Kann ich da nur jehn 
Mühlen, die im Winde 
Shre Flügel drehn.“ — 


„Seien, feiger Knappe, 
Deinem jtumpfen Sinn 


Dieſe Ungeheuer 


Mühlen immerhin; 

Hülle fih mit Trugichein 

Zauberhaft der Graus, 

Findet doch der Ritter 

Sich die Riefen aus.’ — 
„Mit Vergunſt, Herr Ritter, 


Glaubt’3 mir, auf mein Wort, 


Das find echte Mühlen 
Auf dem Hügel dort.” — 
„Dürft ihr's euch exfrechen, 
Haltet mir nur Stand! 
Strauß mit euresgleichen 
Sit mir Kindertand. 
Einer gegen alle, 
Falſche Höllenbrut, 
Und die Erde trinkt bald 
Eure Herzen? Blut.” — 


„Mit Bergunft, Herr Ritter, — 


Hört mi do nur an, 
Mühlen ſind's, nur Mühlen, 
Wie ih ſchwören kann.“ — 

„Süße Dulcinea, 

Blick' auf mich herab!“ 

So der wackre Ritter, 

Spornt den Gaul in Trab, 


125 


126 Gedichte: Lieber und lyriſch⸗ eviſche Gebidhte. 


Treibet auf den erſten, 
Der da Jeiner harrt — 
Und gejchleudert ſtürzt er 
Auf die Erde hart. 
„zebt Ihr, guter Ritter, 45 
Oder ſeid hr tot? 
Aber tat's mit Mühlen 
Euch zu raufen not?“ 


Sollte wer mich Fragen, 
Wie man vieles fragt, 50 
Ob e3 Rieſen waren, 
Wie der Herr e3 jagt, 
Dder bloße Mühlen, 
Mie e8 meint der Knecht: 
Geb’ ich unbedenklich 55 
Unjerm Ritter recht. 
Mit den Herrn es halten, 
Dleibt das klügſte noch; 
Was von ſolchen Dingen 
Willen Knechte doch! 60 
—— æ — 
Der alte Müller, 
3 wütet der Sturm mit entjeglicher Macht, 
Die Windmühl ſchwankt, das Gebälk erkracht. 
Hilf, Himmel, erbarme dich unfer! 
Der Meijter iſt nicht, der alte, zur Hand; 
Er ſteht an der Felswand ſchwindligem Rand. 5 
Hilf, Himmel, erbarme dich unjer! 
Da jteht er allein, mit dem Winde vertraut, 
Und Spricht mit den Lüften vernehmlich und laut. 
Hilf, Himmel, erbarme dich unfer! 
Er Ichüttelt im Sturme fein weißes Haar, 10 
Und was er da jpricht, Klingt Tonderbar. 
Hilf, Himmel, erbarme dich unjer! 


15 


20 


25 


30 


Don Duirote. — Der alte Müller. — Bier Lieder von Beranger. 127 





Willtommen, willflommen, großmächtiger Wind! 

Was bringit du mir Neues? Verkünd' es gejchtwind! 
Hilf, Himmel, erbarme dich unser! 

Du Haft mich gewiegt, du Haft mich genährt, 

Du haft mich geliebt, du haſt mich gelehrt. 
Hilf, Himmel, erbarme dich unjer! 

Du Haft mir die Worte wohl binterbracht, 

Die Worte der Weisheit, von Toren verlacht. 
Hilf, Himmel, erbarme dich unjer! 

Ihr Toren, ihr Toren, die fabtet ihr nicht, 

Die faßte der Wind auf, der gab mir Bericht. 
Huf, Himmel, erbarme dich unfer! 

Das Wort wird Tat, da3 Kind wird Mann, 

Der Wind wird Sturm, wer zweifelt daran? 
Hilf, Himmel, erbarme dich unfer! 

Willkommen, willkommen, großmächtiger Wind! 

Und was du auch bringejt, vollend es geſchwind. 
Hilf, Himmel, erbarme dich unfer! 

Das Map iſt voll, die Zeit ijt aus; 

Seht fommt das Gericht in Zerjtörung und Graus. 
Hilf, Himmel, erbarme dich unjer! 

Ein Wirbeliwind faßt den Alten zumal 

Und jchleudert zerichmettert ihn tief in das Tal. 
Hilf, Himmel, erbarme dich unfer! 

Zerichellt ift der Mühle zerbrechlicher Bau, 

Und Wogen von Sand bededen die Au. 
Hilf, Himmel, erbarme dich unjer! 

— — 


Vier Lieder von Beranger, 
1. Die Rartenlegerin. 
lief die Mutter endlich ein 
Über ihre Hauspoftille? 
Nadel, Liege du nun jtille! 
Nähen, immer nähen, — nein! — 


128 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gebichte. 





Legen will ich mir die Karten. 
Gi, was Hab’ ich zu erwarten? 
Ei, was wird das Ende fein? 


Trüget mich die Ahnung nicht, 
Zeigt ſich einer, den ich meine — 
Schön! da fommt er ja, der eine, 
Goeurbub fannte feine Pflicht. — 
Eine reihe Witwe? — mehe! 

Sa, er freit fie, ich vergehe! 
O verruchter Böſewicht! 


Herzeleid und viel Verdruß, — 
Eine Schul' und enge Mauern, — 
Carreaukönig, der bedauern 
Und zuletzt mich tröjten muß. — 
Ein Geſchenk auf art’ge Weiſe — 
Er entführt mid — Eine Reife — 
Geld und Luſt in Überfluß! 


Diefer Carreaufönig da 
Muß ein Fürſt jein oder König, 
Und e3 fehlt daran nur wenig, 
Bin ich ſelber Fürftin ja. — 
Hier ein Feind, dev mir zu fchaden 
Sic) bemüht bei Seiner Gnaden, 
Und ein Blonder jteht mir nah. 


Ein Geheimnis kommt zutag, 
Und ich flüchte noch beizeiten, — 
Fahret wohl, ihr Herrlichkeiten! 
O, das war ein harter Schlag! 
Hin iſt einer, eine Menge 
Bilden um mich ein Gedränge, 
Daß ich) kaum jte zählen mag. 


Diejer hier im grauen Haar 
Sit ein Junker wohl vom Lande; 
Spröde halt’ ich ihn am Bande, 
Und ih führ’ ihn zum Altar. — 


10 


20 


25 


40 


45 


50 


55 


60 


65 


70 


Vier Lieder von Beranger. 


Nach Paris! — Ein luſtig Leben! 
Brummt der Vtann, jo lach’ ich eben, 
Bleibt doch alles, wie e8 war. — 


Kommt das grämliche Gejicht, 
Kommt die Alte da mit Keuchen, 
Lieb’ und Luft mir zu vericheuchen, 
Ch’ die Jugend mir gebricht? — 
Ach! die Mutter iſt's, die aufwacht 
Und den Mund zu jchelten aufmacht. — 
Nein, die Karten lügen nicht! 


2. Die rote Hanne oder das Weib des Wilddiebes. 


Den Säugling an der Bruft, den ziveiten 
Der Knaben auf dem Rüden, führt 
Sie an der Hand den Erjtgebornen, 
Der fait entkleidet, barbuß friert. 
Den Vater haben jte gefangen, 
Er fühlt im Kerker feinen Mut; 
Sei, Gott, dur mit der roten Hanne! 
Der Wilddieb fit in fichrer Hut. 


Ich ſah fie oft in beilern Tagen, 
Schulmeiſters Liebes Töchterlein; 
Sie ſpann und jang und las und nähte, 


Ein herzig Kind und ſchmuck und fein; . 


Beim Sonntagstanz im Kreis der Linden, 
Wie war jie froh und wohlgemut! 

Sei, Gott, du mit der roten Hanne! 
Der Wilddieb ſitzt in fichrer Hut. 


Ein junger, hübſcher, reicher Pächter 
Verſprach ihr einjt ein beſſ'res Glück; 

Ihr rotes Haar, das ward verjpottet, 
Der reiche Freier trat zurüd; 

63 famen andre, gingen wieder; 
Sie hatte ja fein Heiratsgut. 

ei, Gott, du mit der roten Hanne! 
Der Wilddieb fit in fichrer Hut. 


Chamifio. I. 9 


129 


130 


Gebichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte, 





Ein Taugenichts war jchnell entichloffen: 
Sch nehme dich, blond oder rot; 

Drei Büchfen hab’ ich, weiß die Schliche, 
Der Förſter macht mir feine Not; 
Den Schwarzrod will ich auch bezahlen, 
Des Sprüchlein und zufammentut. 
Sei, Gott, du mit der roten Hanne! 
Der Wilddieb ſitzt in jichrer Hut. 


Sie ſprach nicht nein; mit janfter Lockung 
Gebot Natur in ihrer Bruft, 
Und dreimal ward allein im Walde 
Ste Mutter unter bittrer Luft; 
Die Kinder treiben und gedeihen, 
Ein blühend friſch gejundes Blut. 
Sei, Gott, du mit der roten Hanne! 
Der Wilddieb fit in fichrer Hut. 


Dez treuen Weibes nächt’gen Sammer 
Erhellet noch ein milder Schein; 
Sie lächelt, ihre Kleinen werden 
Schwarzlodig wie der Vater fein; 
Sie lächelt; ach! aus ihrem Lächeln 
Schöpft der Gefangne friihen Mut. 
Set, Gott, du mit der roten Hanne! 
Der Wilddieb figt in fichrer Hut. 


3. Der Bettler. 


Ich will in diefer Rinne jterben, 
Bin alt und fiech genug dazu; 
Sie mögen mich „betrunfen‘ jchelten, 
Mir recht! fie laſſen mich m Ruhr. 
Die werfen mir noch ein’ge Grojchen, 
Die wenden ab ihr Angeficht; 
Sa, eilt nur, eilt zu euren Yelten! 


Zum Sterben brauch’ ich euch doch nicht. 


Vor Alter muß ich aljo jterben, 
Man jtirbt vor Hunger nicht zumal; 


80 


85 


95 


100 


105 


110 


115 


120 


125 


135 


140 


Vier Lieder von Beranger. 





Ich Hofft’ in meinen alten Tagen 

Zulegt noch auf ein Hojpital. 
©o viel des Elends gibt’3 im Volke; 

Man kommt auch nirgends mehr hinein; 
Die Straße war ja meine Wiege, 

Sie mag mein Sterbebett auch fein. 


Lehrt mich ein Handwerk, gebt mir Arbeit, 
Mein Brot verdienen will ich ja! — 
Geh betteln! hieß es; Arbeit? Arbeit? 
Die ift für alle Welt nicht da. 
Arbeite! jchrien mich an, die ſchmauſten, 
Und warfen mir die Knochen zu. 
Ich will den Reichen doch nicht Fluchen; 
Sch fand in ihren Scheunen Ruh). 


Sch Hätte Freilich jtehlen können, 

Mir ſchien zu betteln minder hart; 
Ich habe höchitens mir am Wege 

Ein paar Kartoffeln ausgeſcharrt; 
Und immer allerorten jtecte 

Die Polizei mich dennoch ein, 
Mir raubend meine einz’ge Habe — 
- Du, Gottes Sonne, bijt ja mein! 


Was fümmern mich Gejeß und Ordnung, 
Gewerb' und bürgerliches Band? 
Was euer König, eure Kammern? 
Sagt, hab’ ich denn ein Baterland? 
Und dennoch al3 in euern Mauern 
Der Tremde Herr zu jein gemeint, 
Der Tremde, der mich reichlich ſpeiſte, 
Ich Narr, wie Hab’ ich da geweint! 


Ihr hättet mich erdrücken jollen, 
Wie ich das Licht dev Welt exrblidt; 
Ihr hättet mich erziehen ſollen, 
Wie ſich's für einen Menſchen ſchickt; 
9* 


131 


132 Sebichte: ererrn 





Ich wäre nicht der Wurm geworden, 
Den ihr euch abzuwehren ſucht; 

Ich hätt' euch brüderlich geholfen 
Und euch im Tode nicht geflucht. 


4. Prophezeiung des Nojtradamus! auf das Jahr MM. 


Schreibt Noſtradamus, der die Zeit beſchwören 
Und aus den Sternen konnte prophezein, 
Im Jahr Zweitauſend wird von Jubelchören 
Das glückliche Paris durchtönet ſein; 
Man wird nur einer Stimme Mißlaut hören, 
Die wird am Fuß des Louvre kläglich ſchrein: 
Ihr glücklichen Franzoſen, wollt des armen, 
Des letzten Königs Frankreichs euch erbarmen! 


Aus Rom gekommen, wird ein ſiecher Greiſe 
Ein armer Lazarus, den Ruf erheben 
Und einem weiten, dichtgedrängten Kreiſe 
Bon Straßenjungen ſich zum Schauſpiel geben; 
Drauf gibt ihm ſtreng ein Senator Verweiſe: 
„Hört, Freund! hier darf von Betteln keiner leben.“ — 
„Ihr werdet doch, mein gnäd'ger Herr, des armen, 
Des letzten Königs Frankreichs euch erbarmen!“ — 


„Biſt wirklich du von jener Sippe?“ — „Ja! 
Der ich zu Rom zur Papſtzeit noch die Krone 
In meines Ahnherrn Händen ſchimmern ſah. 
Er mußte ſie verkaufen; die Spione, 
Die Skribler und die Helfer heiſchten da 
Den vollen Goldeswert zu ihrem Lohne. 
Ein Stab iſt nun mein Zepter. Wollt des armen, 
Des letzten Königs Frankreichs euch erbarmen! 


‚Mein Bater ſtarb bejahrt im Schuldenturme; 
Er hatte mir ein Handwerk unterfagt; 





1 Eigentlih Michel de Notredame, Aitrolog des 16. Jahrhundert3, ber 
durch feine gereimten Prophezeiungen „Centuries“ (zuerjt yon 1555) berühnt 
wurde. Berangers Gedicht ift durch den Sturz der Monarchie infolge der Juli— 
vevolution von 1830 veranlaßt worden. 


145 


150 


155 


160 


165 


170 


175 


180 


185 


190 


10 


Bier Lieder von Beranger. — Nach dem Dänifchen von Anderfen. 183 





Sch bettle.e Hart erweilt ihr euch dem Wurme, 
Ihr Glückeskinder, ſei es Gott geklagt! 

Ich komme her, verſchlagen von dem Sturme; 

Ihr habt ſo oft die Meinen weggejagt; 

O, wollt doch, da ihr glücklich ſeid, des armen, 
Des letzten Königs Frankreichs euch erbarmen!“ 


Wird der Senator bei der Hand ihn faſſen 
Und ſprechen: „Komm mit mir nach meinem Gute! 
Wir hören auf, die Könige zu haflen; 
Die lebten fühlen höflich unſre Rute; 
Darfit dem Senat dein Schiefal überlaflen. 
Der ich aus altem Königsmörderblute 
Entiproffen bin, ich will indes des armen, 
Des legten Königs Frankreich mich erbarmen.“ 
Und Noſtradamus jchreibt: Dem Fürjten jpenden 
Wird der Senat zweitaujend Franken jährlich; 
Der Alte wird zum Guten noch jich wenden, 
Als Mair’ von Saint-Cloud wird er ſchlicht und ehrlich, 
Ein wackrer Bürger, feine Laufbahn enden. 
Die Chronik macht’3 der Nachwelt dann erklärlich, 
Wie Frankreich fi im Glüde jeines armen 
Und letzten Königs mochte mild erbarmen. 
—— — 
Nach dem Däniſchen von Anderſen. 
1. Märzveilchen. 
er Himmel wölbt ſich rein und blau; 
Der Reif ſtellt Blumen aus zur Schau. 
Am Fenſter prangt ein flimmernder Flor; 
Ein Jüngling ſteht, ihn betrachtend, davor. 
Und hinter den Blumen blühet noch gar 
Ein blaues, ein lächelndes Augenpaar. 
Märzveilchen, wie jener noch feine geſehn! 
Der Reif wird angehaucht zergehn. 
Eisblumen fangen zu ſchmelzen an — 
Und Gott jei gnädig dem jungen Mann! 


134 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


2. Muttertraum. 
Die Mutter betet herzig und ſchaut 
Entzückt auf den ſchlummernden Kleinen; 
Er ruht in der Wiege ſo ſanft, ſo traut; 
Ein Engel muß er ihr ſcheinen. 
Sie küßt ihn und herzt ihn; ſie hält ſich kaum, 
Vergeſſen der irdiſchen Schmerzen; 
Es ſchweift in der Zukunft ihr Hoffnungstraum; 
So träumen Mütter im Herzen. 
Der Rab’ indes mit der Sippichaft ein 
Kreiicht draußen am Fenſter die Weife: 
Dein Engel, dein Engel wird unjer fein! 
Der Räuber dient ung zur Speije! 


3. Der Soldat.! 

Es geht bei gedämpfter Trommel Klang; 
Wie weit noch die Stätte! der Weg wie lang! 
D, wär er zur Ruh’ und alles vorbei! 

Sch glaub’, es bricht mir das Herz entzwei! 

Sch hab’ in der Welt nur ihn geliebt, 

Nur ihn, dem jet man den Tod doch gibt. 
Bei Elingendem Spiele wird paradiert; 
Dazu bin auch ich fommanbdiert. 


Nun Schaut er auf zum letztenmal 
Sn Gottes Sonne freudigen Strahl; — 
Nun binden jte ihm die Augen zu — 
Dir jchenfe Gott die ewige Ruh’! 
63 haben die Neun wohl angelegt; 
Acht Kugeln haben vorbeigefegt. 
Sie zitterten alle vor Sammer und Schmerz — 
Sch aber, ich traf ihn mitten ins Herz. 





1 Napoleon I. ließ im Jahre 1808 die dänischen Inſeln durch ein franzöfifches 
Heer, dem fich mehrere ſpaniſche Negimenter anjchliegen mußten, bejegen. Die 
Spanier empörten fich, ein Teil floh auf englifhen Schiffen, andere wurden ftands 
rechtlich erfhoffen. So ſah auch Anderfen einft in feiner Jugend, wie ein Spanier 
auf ber Inſel Fühnen zum Nichtplag geführt wurde, weil er einen Franzofen er— 
morbet hatte. Später jhuf er in Erinnerung an biejen Vorfall das obige Gedicht. 


20 


25 


30 


35 


Nach dem Dänifhen von Anderfen. — Der Müllergejell. 135 





4, Der Spielmamn. 
Sm Städtchen gibt es des Yubelz viel, 
40 Da Halten jie Hochzeit mit Tanz und mit Spiel; 
Den Fröhlichen blinfet der Wein jo rot, 
Die Braut nur gleicht dem getünchten Tod. 
Sa, tot für den, den nicht fie vergißt, 
Der doch beim Feſt nicht Bräutigant it; 
45 Da ſteht er inmitten dev Gäſte im Krug 
Und jtreichet die Geige luſtig genug! 
Er jtreichet die Geige, jein Haar ergraut; 
Es jpringen die Saiten gellend und laut; 
Er drückt fie ans Herz und achtet e3 nicht, - 
50 Ob auch ſie in taujend Stüden zerbricht. 
Es iſt gar graufig, wenn einer jo jtirbt, 
Wann jung fein Herz um Freude noch wirbt; 
Ich mag und will nicht länger e3 jehn; 
Das möchte den Kopf mir ſchwindelnd verdrehn. — 
55 Mer heißt euch mit Fingern zeigen auf ntich? 
D Gott! bewahr' uns gnädiglich, 
Daß feinen der Wahnfinn übermannt! 
Bin jelber ein armer Mufikant 
— — 
Der Müllergeſell. 
(Frei nah dem Däniſchen des Anderſen.) 
ch hab' in dieſer Mühle gedienet ſchon als Kind; 
Die Tage meiner Jugend mir hier entſchwunden ſind. 
Wie war des Müllers Tochter ſo herzig und ſo traut! 
Wie hat man zu den Augen ihr in das Herz geſchaut! 
5 Site ſetzte ſich vertraulich am Abend oft zu mir; 
Wir ſprachen viel zuſammen, und alles ſagt' ich ihr; 
Sie teilte meinen Kummer und teilte meine Luſt — 
Das eine nur verſchwieg ich, die Lieb' in meiner Bruſt. 
Das hätte ſie geſehen, wenn ſelber ſie geliebt. 
10 Iſt's denn das Wort, das arme, das die Verſtänd'gung gibt? 


136 Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Sch Iprach zu meinem Herzen: Laß fahren und ei jtill! 
Für Dich, du armer Burſche, ſich's doch nicht ſchicken will. 


Und wie ich till mich härmte, da fprach fie Tiebereich: 
„te Haft du dich verändert, wie bilt du worden bleich! 
Mußt wieder fröhlich werden! mir iſt um dich jo bang!“ 1 
So fam’s, daß ich aus Liebe die Liebe ſelbſt bezwang. 


Sie fam mir nachgeiprungen einjt bei der Felfenwand; 
Ihr Auge ftrahlte heller, fie faßte meine Hand: 
‚Nun mußt du Glüd mir wünjchen, du grüßejt eine Braut, 
Und du, du bijt der erſte, dem ich mein Glück vertraut.” 20 


Wie ich die Hand ihr küßte, verbarg ich mein Geficht; 
63 floſſen meine Tränen, und reden fonnt’ ich nicht; 
63 ward mir, als verichlänge vor mir zur jelb’gen Stund’ 
Mein Denken und mein Hoffen der Erde tiefjter Grund. 


Am Abend war Verlobung, wobei ich jelber war; 25 
Ich ſaß am Ehrenplaße vor dem beglücten Paar; 
Man Tieß die Gläfer Elingen und jtimmte Lieder ar; 
Sch mußte fröhlich jcheinen, da jte mich alle jahn. 


Es ging am andern Morgen mir in dem Kopf herum; 
Inmitten ihrer Freude war ich verwirrt und jtumm. 30 
Was fehlte mir? Nur eines? Es war jo wunderjam; 

Sie liebten ja mich alle, fie jelbit, ihr Bräutigam. 


Sie trugen mich auf Händen und wußten nicht mein Weh. 
Wie fie einander liebten und koſten, daß ich's jeh‘, 
Kam mir die Luft, zu wandern weit in die Welt hinein. 3 
Ich ſchnürte gleich mein Bündel; gejchieden mußt’ e3 jein. 
Ich bat: „Laßt jet mich jehen die Welt und ihre Luſt!“ 
Sch meinte nur: vergefjen die Welt in meiner Bruft. 

Sie jah mi) an und jagte: „O Gott, was fällt dir ein? 
Wir lieben dich jo Herzlich; wo kannſt du befjer jein?“ 40 
Da ftürzten meine Tränen. Diesmal war’3 guter Braud); 
Man weint ja, wenn man jcheidet: fie jagt’ e3 jelber auch. 

Sie haben mich geleitet, als ich mich fortgemacht, — 
Ste haben frank zum Sterben mich wieder heimgebracht. 


or 


a 


Der Müllergejell. — Roland ein Roßkamm. 137 





35 Sie pflegen in der Mühle mich gar mit Zärtlichkeit, 
Sie fommt mit ihrem Liebjten zu mir zu aller Zeit. 
Sm Yuli wird die Hochzeit; fie aber wollen's jo: 

Sch joll mit ihnen ziehen und werden wieder froh. 


Sch Höre ftumm dent Braujen des Waſſerrades zu 

50 Und denke: Tief da unten, da fänd' ich exit die Ruh’! 

Dann wär ich ohne Schmerzen und ledig aller Bein! 
Das wollen ja die beiden: ich ſoll zufrieden fein. 


_—— en — 
Roland ein Roßkamm.! 


(„Orlando furioso“ 30, 5.) 
rer Roland ein jeltfjamer Roßkamm, 
Z Als feil er die Stute bot. 
Ausnehmend jchön war die Stute, 
Sie aber war leider tot. 


5 „Sieh her, die vortreffliche Stute, 
Du faufit fie, das jag’ ich dir! 
Mein Ohm, der mächtige Kaiſer, 

Bejigt fein jchöneres Tier. 


„Betrachte den Hals und die Hüften, 
10 Den zierlichen Gliederbau; 
Kein Fehler an ihr zu rügen, 
Und forſchteſt du noch jo genau. 


„Iſt leider fie tot, was verichlägt das? 
Ein Unglück iſt es doch nur, 
15 Kein Fehler; es lieget das Totjein 
In ſolcher Stuten Natur. 
„Steh her, die untadlige Stute, 
Du kaufſt jie, das jag’ ich dir! 
Mein Ohm, der mächtige Kaijer, 
20 Beſitzt fein jchöneres Tier.” — 


1 Roßtäuſcher. 


138 


Sit mufterhaft auch gejchrieben 
Und regelrecht das Gedicht, 
Wir kaufen die tote Stute, 
Wir leſen die Verſe doch nicht. 


— ⸗ 





Hans Aürgen und fein Kind. 


Tanz Jürgen, läßt du dag Trinken nicht fein 
5 Und läßt nicht vom leidigen Branntewein, 


Du wirſt zur Verzweiflung mich bringen; 
Im Weiher dort ijt’3 bald geichehn, 
Da wirſt du dein Kind mich ertränten jehn, 
Mich ſelbſt hinunterſpringen.“ — 


„Ach, Frau, ſei mir darum nicht gram, 
Weiß ſelber kaum, wie geſtern es kam, 

Der Goldene Löw' iſt ſchuldig; 
Ich kam an der Schenke vorüber und ſann; 
Das Tier mich anzuglotzen begann; 

Der Löw', er gleißte ſo guldig. 


„Ich ging hinein, das war nicht gut; 
Ich trank, hinauszugehn, mir Mut, 
Kam unter dem Tiſche zu liegen; 
Wenn abermals es dem Teufel gelang, 
Sei, liebes Herz, darum nicht bang! 
Er ſoll nicht wieder mich kriegen. 


„Die Augen zu! Ein Wort, ein Mann! 
Ich bringe dir heut, was ich alles gewann, 
Und eine trockene Kehle.“ 
So ging er zu ſeinem Meiſter hin; 
Es lag ihm ſchwer in ſeinem Sinn, 
Es quält' ihn in ſeiner Seele. 


Und als es Feierabend war, 
Und heim er kam, da fühlt' er gar 
Den leidigen Durſt ihn beißen. 


10 


15 


20 


25 


30 


85 


40 


45 


50 


55 


60 


Noland ein Roßkamm. — Hans Yürgen und fein Kind. 139 





Die Augen zul: Er fam mit Glüd 
Der Klippe vorbei, da jchaut er zurüd; 

Er jah den Löwen jo gleiten. 
„Jedweder Tugend ihren Lohn! 

Berdient, wahrhaftig, Hab’ ich ihn ſchon; 

Ein Schluf darauf wird ſchmecken!“ — 
Und taumelnd gelangt’ er und jpät nach Haus; 
Die Frau jaß da, jah finfter aus; 

Er mußte vor ihr exichreden. 

Sie prüft’ ihn mit den Augen ftumm; 

Es ging ihm jeltfam im Kopf herum, 
Gedenfend der eigenen Schmwüre. 

Sie aber jchritt zu der Wiege Hin 

Und nahm das Kind, das gelegen darin, 
Und eilte hinaus zur Türe. 

Er iſt da nüchtern geworden fait; 

Ein kaltes Entjegen hat ihn erfaßt: — 

Dahin, dahin gefommen! — 

Hana Yürgen, rette, rette dein Kind! 
Zum Weiher, zum Weiher! geſchwind, geſchwind! 

Sie hat den Weg genommen. — 

Er eilt ihr nad) im vollen Lauf; 
Ein Plätſchern Ichallt vom Weiher herauf, — 

Nur noch die Mutter zu jehen: — 
„Zurück! das Kind, ich Hol es hervor; 

Noch Halten’3 die ſchwimmenden Tücher empor; 

Zurüd! genug iſt geſchehen.“ — 

Er ſchreit es und ſpringt in das Waſſer hinein; — 
Das Waſſer, das mochte ſo tief nicht ſein, 
Die Beute leicht zu erhalten. 
Er trägt das Wickelkind im Arm 
Und drückt's an die Bruſt ſo innig und warm 

Und ſteigt aus dem Bade, dem kalten. — 
„An meinem Herzen, an meiner Bruſt, 

Du meine Wonne, du meine Luſt! 

Doch mußt du mich nicht ſo kratzen. 


140 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Ein gutes, ſchönes Kind, allein 
63 fraßet doch ganz ungemein: 
„Was halt denn du für Tatzen?“ 


Und wie er's näher unterjucht, 
Erkennt er den ſchwarzen Kater und Flucht 
Den Kater, ihm zum Poſſen. — 
„Ach Frau, ach Frau, wo bijt denn du?" — 
Die fißt zu Haufe, die Tür iſt zu; 
Die Türe bleibt verichloffen. — — 


„Ach Frau, das ijt ein froftiger Spaß! 

Es it jo falt, ich bin ſo naß.“ — 
Die Türe bleibt verſchloſſen; 

Und wie er pocht und flucht und lärmt 

Und fleht und winſelt und ſich härmt, 
Die Türe bleibt verſchloſſen. 


Die Nachbarsleute, die Gäſte zuhauf 
Vom Goldenen Löwen paßten wohl auf, 
Das kann leicht einer ſich denken; 

Die haben wacker ihn ausgelacht 
Und haben ein Lied auf ihn gemacht 
Und ſingen's in allen Schenken: 


„Hans Jürgen, rette, rette dein Kind! 
Zum Weiher, zum Weiher! geſchwind, geſchwind! 
Doch laſſe dich ja nicht kratzen! 
Und ſchmeckt, Hans Jürgen, der Branntewein, 
Komm her zu dem Goldenen Löwen herein; 
Wir ſingen ein Lied dir zum Platzen.“ 
— ——— 
Böſer Markt. 
Bi fam vom Künigsmahle! 
Sn den Park, ſich zu bewegen; 
Aus dem Bujch mit einem Wale 
Trat ein andrer ihm entgegen; 





1 Sn London (nad) der Vorlage). 


80 


85 


10 


15 


20 


25 


30 


85 


Hans Jürgen und fein Kind. — Böſer Marft. 141 





Zwiſchen Rod und Kamiſole 
Griff der fchnell, und die Pijtole 
Seht er jenem auf die Bruft. 


„Zeile, leiſe! muß ich bitten; 

Was wir hier für Handel treiben, 

Mag dom unberufnen Dritten 

Füglich unbelaujchet bleiben. 

Wollt Ihr Uhren nebſt Gehenfen 

Wohl verkaufen? nicht verjchenfen; 
Nehmt drei Batzen Ihr dafür?" — 

„Mit Vergnügen!“ — „Nimmer richtig 

Sit die Dorfuhr noch gegangen; 

Tut der Küſter auch) jo wichtig, 

Weiß er's doch nicht anzufangen; 

Seder weiß in unjern Tagen, 

Mas die Glode hat geichlagen; 
Gottlob! nun erfahr’ ich's auch. 


„Sagt mir ferner, könnt Ihr miſſen, 

Was da blinkt an Euren Fingern? 

Meine Hausfrau, jollt Ihr willen, 

Sit gar arg nach ſolchen Dingern; 

Solde Ringe, ſolche Sterne, 

Wie Ihr da habt, fauf ich gerne; 
Nehmt drei Batzen Ihr dafür?" — 


„Dit Vergnügen!” — „Habt Ihr künftig 
Mehr zu handeln, laßt mich holen; 
Edel jeid Ihr und vernünftig, 
Und ich lob' Euch unverhohlen 
Gleich mich dankbar Euch zu zeigen, 
Laß ich jede Rückſicht jchweigen 

Und verkauf Euch, was Ihr wollt. 
„Seht den Ring da, den ich habe; 
Nur von Meſſing, ichlecht, unſcheinſam, 
Aber meiner Liebjten Gabe; 
Ah, fie ſtarb und ließ mich einſam! 


142 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Nicht um einen Goldeshaufen .. .! 
Aber Ihr, wollt Ihr ihn kaufen, 
Gebt mir zehn Dufaten nur.” — 


„Mit Vergnügen!” — „Et! was jeh’ ich?! 
Schöner Beutel, goldgejchwolen, 
Du gefällit mir, das gejteh’ ich; 
Die Piſtole für den vollen! 
Sie iſt von dem beiten Meifter, 
Kuchenreuter!, glaub’ ich, heißt er, 

Nehmt fie für den Beutel hin!“ — 


„Mit Vergnügen! Nun, Gejelle, 
Iſt die Reih' an mich gefommen! 
Her den Beutel auf der Stelle! 
Her, was du mir abgenommen! 
Gib mir das Geraubte wieder, 
Gleich! ich ſchieße jonjt Dich nieder, 


Wie man einen Hund erichiegt!! — 


„Schießt nur, ſchießt nur! Wahrlih, Schaden 
Wär't Ihr fähig anzurichten, 
Wäre nur das Ding geladen. 
Ihr gefallt mir jo mitnichten. 
Unfern dürft’ ich wohl Euch jchelten: 
Abgeſchloſſ'ne Händel gelten, 

Merkt es Euch und — gute Nacht!“ 


Ihn verlachend unumwunden, 

Langgebeint, mit leichten Sätzen, 

War er in dem Buſch verſchwunden 

Mit den eingetauſchten Schätzen. 

Jener, mit dem Kuchenreuter 

In der Hand, ſah nicht geſcheiter 
Aus als augenblicks zuvor. 


— 


I Ein berühmter Waffenfabrikant des 18. Jahrhunderts. 


45 


50 


55 


60 


65 


70 


10 


15 


20 


30 


Böfer Markt. — Der rechte Barbier. 


Der rechte Barbier. 


WM ſoll ih nah Philijterart 
„ Mir Kinn und Wange pußen, 
So will ich meinen langen Bart 
Den lebten Tag noch nußen. 
Sa, ärgerlich, wie ich nun bin, 
Vor meinem Groll, vor meinem Kinn 
Soll mander noch erzittern! 


„Hola! Herr Wirt, mein Pferd! macht fort! 
Ihm wird der Hafer frommen. 

Habt Ihr Barbierer Hier im Ort? 
Laßt gleich den rechten kommen. 

Waldaus, waldein, verfluchtes Land! 

Sch ritt die Kreuz und Quer und fand 
Doch nirgends noch den rechten. 


„Zritt her, Bartputzer, aufgejchaut! 
Du ſollſt den Bart mir raten; 

Doch kitzlig ſehr ift meine Haut, 
Sch biete Hundert Batzen; 

Nur, machſt du nicht die Sache gut, 

Und fließt ein einz’ges Tröpflein Blut, — 
Fährt div mein Dolch ins Herze.“ 


Das ſpitze, kalte Eiſen ſah 
Man auf dem Tiſche blitzen, 

Und dem verwünſchten Ding gar nah 
Auf ſeinem Schemel ſitzen 

Den grimm'gen, ſchwarzbehaarten Mann 

Im ſchwarzen kurzen Wams, woran 
Noch ſchwärz're Troddeln hingen. 


Dem Meiſter wird's zu grauſig faſt, 
Er will die Meſſer wetzen, 

Er ſieht den Dolch, er ſieht den Gaſt, 
Es packt ihn das Entſetzen; 


143 


144 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Er zittert wie das Eſpenlaub, 


Gr macht ſich plößlih aus dem Staub 


Und ſendet den Geſellen. 


„Einhundert Baten mein Gebot, 
Falls du die Kunjt bejigeit; 

Doch, merf e3 dir, dich ſtech' ich tot, 
©o du die Haut mir rißejt.“ 

Und der Gefell: „Den Teufel auch! 

Das iſt des Landes nicht der Brauch.“ 
Er Läuft und ſchickt den Jungen. 


„Bit du der Rechte, Eleiner Molch? 
Friſch auf! fang an zu jchaben; 
Hier iſt das Geld, hier iſt der Dolch, 

Das. beides iſt zu Haben! 
Und jchneidejt, rigejt du mich bloß, 
So geb’ ich dir den Gnadenjtoß; 
Du mwärejt nicht der erſte.“ 


Der Junge denft der Bagen, drudit 
Nicht lang’ und ruft verwegen: 

„Nur Still gejellen! nicht gemuckſt! 
Gott geb’ Euch jeinen Segen!“ 

Er jeift ihn ein ganz unverdußt, 

Er wetzt, er jtußt, er fraßt, er pußt: 
„Gottlob! nun jeid Ihr fertig.” — 


„Nimm, Eleiner Knirps, dein Geld nur hin; 


Du bijt ein wahrer Teufel! 
Kein andrer mochte den Gewinn, 
Du hegteſt feinen Zweifel; 
63 fam das Zittern dich nicht an, 
Und wenn ein Tröpflein Blutes rann, 
So ſtach ich dich doch nieder.‘ — 
„Ei! guter Herr, jo jtand es nicht, 
Ich hielt Euch an der Kehle; 
Verzucktet Ihr nur das Gejicht 
Und ging der Schnitt mir fehle, 


85 


50 


55 


60 


65 


70 


75 


10 


15 


20 


Chamifjo. I. 


Der rechte Barbier. — Hans im Glüde. 


So ließ ih Euch dazu nicht Zeit; 
Entſchloſſen war ich und bereit, 
Die Kehl Euch abzuſchneiden.“ — 
„Sp, jo! ein ganz verwünjchter Spaß!“ 
Dem Herın ward’3 unbehäglich; 
Er wurd’ auf einmal leichenblaß 
Und zitterte nachträglich: 
„Sp, jo! das hatt’ ich nicht bedacht, 
Doch Hat es Gott noch gut gemacht; 
Sch will's mir aber merken.‘ 
| m 
Hans im Glürke. 
mw zurüd zu deiner Mutter? 
— Hans, du biſt ein braver Sohn; 
Haſt gedient mir treu und redlich; 
Wie die Dienſte, ſo der Lohn. 
Gebe dir zu deinem Sold 
Dieſen Klumpen da von Gold; 
Biſt du mit dem Lohn zufrieden, 
Hans im Glücke?“ — 
„Ja, zufrieden! und die Mutter, 
Ja, die gute Mutter ſoll 
Mich beloben und ſich freuen; 
Alle Hände bring' ich voll. 
Alles, alles trifft mir ein, 
Muß ein Sonntagskind wohl ſein 
Und auf Glückeshaut geboren, 
Hans im Glücke!“ 
Und er ziehet ſeine Straße 
Rüſtig, friſch und frohgeſinnt; 
Doch es ſticht ihn bald die Sonne, 
Die zu ſteigen ſchon beginnt, 
Und der Klumpen Gold iſt ſchwer, 
Drückt die Schulter gar zu ſehr; 
Du erliegeſt unterm Golde, 
Hans im Glücke! 


10 


145 


146 


Gedichte: Lieder und lyriſch-eplſche Gebichte. 


Kommt ein Reiter ihm entgegen; — 
„Schimmel! ei, du muntres Tier! 
Aber ſchleppen muß ich, ſchleppen 
Den verwünfchten Klumpen hier; 
So ein Reiter hat es gut, 
Weiß nicht, wie das Schleppen tut; 
Hätt’ ich dieſen Schimmel, wär ich 

Hana im Glücke.“ — 
„Lümmel, fage mir, was ijt eg, 
Was du da zu Ichleppen haft?’ — 
„Nichts ala Gold, mein werter Ritter!" — 
„Gold?! — „Und mich erdrüdt die Laſt“ 
„Nimm dafür den Schimmel!" — „Zopp! — 
Und fo reit’ ich, Hopp, hopp, hopp! 
Trade, Schimmel! trabe, Schtinmel! 

Hans im Glide, 


„Hopp, hopp, Hopp! der dumme Zeufel 
Schwitzt num unter meinem Schaß; 
Hopp, hopp! Hopp, hopp! lachte, Schimmel! 
Pur Dich!" — Plautz! ein Seitenſatz, 
Und er lieget da zum Spott, 
Danfet aber feinem Gott, 
Daß er nicht den Hals gebrochen, 
Hans im Glücke. 
Kommt ein Bauer, treibt gemächlich 
Vor fich hin ein magres Rind; 
„Halt’ den Schimmel! halt’ den Schimmel!‘ 
Schreit ihn an das Glückeskind. 
„sa! e3 lief jehr glüdlich ab; 
ber hart iſt doch der Trab, 
Und ich will nicht wieder reiten, 
Hans im Glücke! 
„Sine Kuh gibt Milch und Butter; 
Der Beſitzer hat's nicht ſchlecht.“ — 
„Wollt Ihr mit den Tieren tauſchen? 
Mir iſt ſchon der Schimmel recht.“ —- 


| 


25 


30 


40 


50 


55 


60 


65 


75 


80 


90 


95 


Hans im Glüde. 


„Mut den Tieren taujchen?! Topp! 
Trabe, Bauer, Hopp, hopp, hopp!“ 
Selig, überjelig preijt fich 

Hans im Glücke. 
Erſt den Dienjt und dann die Bürde, 
Wieder nun den Schimmel los! 
Immer beſſer! immer befjer! 
Nein, mein Glück it allzu groß! — 
Und im beißen Sonnenschein 
Findet bald der Durſt ſich ein: 
Hajt ja deine Kuh zu melten, 

Hanz im Glüde. — 


Melken alfo; ex verjucht es, 
Nicht gedeiht es ganz und gar, 
Weil er melfen nicht gelernt hat 
Und die Kuh ein Ochſe war; 
Und er jtößt und wehret fich: 
„Ber! prr! ruhig! denkſt du mich, 
Wilde Beitie, totzujchlagen? 
Hans im Glücke.“ — 
Und des Weges zog ein Mlebger, 
Der ein Schwein zur Metzig trieb: 
„Giel, bleibe von dem Ochien, 
Halt du deine Knochen Lieb!" — 


„Bon dem Ochſen?!“ — „Tritt zurück!“ — 


„Iſt's ein Ochie? welch ein Glück! 

Sch erfahrt’ es noch beizeiten, 
Hans im Glücke. 

„ber ach! die Milch? die Butter? 

Nun! der wird zu jchlachten fein. 

Aber Schweinefleiſch iſt beſſer, 

Und ich lobe mir das Schwein; 

Schweinebraten, Rippenſpeer, 

Speck und Schinken, ja, noch mehr, 

Friſche Wurſt und Metzelſuppe! 
Hans im Glücke!“ — 


147 


148 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 
„Dieſes alles kannſt du haben, 
Gib dafür den Ochſen hin; 
Willſt du tauſchen?“ — „Herzlich gerne! 
Ja, der Handel iſt Gewinn. 
Auf! mein Schweinchen, trabe du 
Luſtig unſerm Dorfe zu! 
Ja, die Mutter wird mich loben, 
Hans im Glücke!“ 


Und es hat ein loſer Bube 
Bei dem Handel ihn belauſcht, 
Hätte gern auf gute Weiſe 
Sich von ihm das Schwein ertauſcht, 
Kommt daher mit einer Gans, 
Schaut das Schwein an, dann den Hans: 
„Haſt du ſelbſt das Schwein geſtohlen, 
Hans im Glücke?“ — 
„Schwein geſtohlen?!“ — „Wie denn anders? 
Ja, das iſt geſtohlnes Gut. 
Sei du mir im nächſten Dorfe 
Vor dem Schulzen auf der Hut! 
Auf der Inquiſitenbank, 
Dort im Amthaus ...“ — „Gott ſei Dank! 
Das erfahr' ich noch beizeiten, 
Hans im Glücke.“ — 
„Nun! dir wäre ſchon zu helfen, 
Mach' ich doch mir nichts daraus; 
Gib das Schwein und nimm den Vogel! 
Ich gehöre hier zu Haus, 
Weiß die Schliche durch den Wald; 
Man ertappt mich nicht jo bald.“ —- 
„Ei! ſchon wieder außer Sorgen, 
Hans im Glide! 
„Freuen wird fich doch die Mutter; 
Eine Gans ift gar fein Hund, 
Und nach gutem Gänfebraten 
Wäſſert lange mir der Mund; 


100 


105 


110 


115 


120 


125 


130 


135 


140 


150 


155 


160 


165 


Sans im Güde. 149 


Und das edle Gänfefett 
Und die Daunen für das Bett! 
Ei! wie wirt darauf du jchlafen, 
Hana im Glücke! 
„Nicht das Beſte zu vergeſſen: 
Auch der Tederfiele viel! 
Nichts iſt mächtiger auf Exden 
Als ein jolcher Gänfekiel, 
Wenn der Kantor Wahres jpricht; 
Aber jchreiben kannſt du nicht; 
Hättejt jchreiben du gelernt, 
Hanz im Glücke!“ — 
Und ein luſt'ger Scherenfchleifer 
Kam daher die Straß’ entlang, 
Machte Halt mit feinem Karren, 
Rieb die Hände jih und jang: 
„Geld im Sad und nimmer Not; 
Meine Kunjt ijt fichres Brot.” — 
„Könnt ich dieſe Kunſt, jo wär’ ich 
Hana im Glücke!“ — 
„Kerl, wo haſt du diefe Ganz her?!" — 
„Hab' getaujcht fie für mein Schwein.” — 
„And dein Schwein?" — „Für meinen Ochfen.” — 
„Dieſen?“ — „Für den Schimmel mein.’ — 
„And den Schimmel?” — „Zür mein God.’ — 
„Gold?!“ — „Sa, meiner Dienjte Sold.’ — 
„Blitz! du haſt dich ſtets gebeſſert, 
Hans im Glücke! 
„Aber eins mußt du bedenken! 
Eine Gans iſt bald verzehrt; 
Mußt auf eine Kunſt dich legen, 
Die ein ſichres Brot gewährt.“ — 
„Meiſter! Ja, das mein' ich auch; 
Lehrt mich Scherenſchleifer-Brauch! 
Bin ich Scherenſchleifer, bin ich 
Hans im Glücke.“ — 


0 


Gedichte: Lieder und Iyrifh=epifhe Gedichte. 


„Willſt dafür die Gans mir geben?“ — 
„Ja, es lohnet wohl der Kauf.“ — 
Zwei der Steine, die da lagen, 
Hebt der Schalk vom Boden auf, 
Wohlgerundet, glatt und rein, 
Nicht zu groß und nicht zu klein: 
„Wirſt ein tücht'ger Scherenſchleifer, 
Hans im Glücke! 
„Her die Gans, und nimm die Steine, 
Trage ſie im Arme, ſo! 
Auf dem klopfſt du, auf dem ſchleifſt du, 
Und das iſt das A und O! 
Geld im Sack und nimmer Not; 
Deine Kunſt iſt ſichres Brot; 
Alles andre wird ſich finden, 
Hans im Glücke!“ — 
Und er nimmt mit Gans und Karren 
Schnell den nächſten Seitenſteg; 
Hans mit ſeinen Steinen ziehet 
Jubilierend ſeinen Weg: 
„Alles, alles trifft mir ein, 
Muß ein Sonntagskind wohl ſein 
Und auf Glückeshaut geboren, 
Hans im Glücke!“ 
Aber ſpäte war's geworden, 
Fern das Dorf, und Eſſenszeit, 
Nichts gegeſſen, nichts getrunken, 
Hunger, Durſt und Müdigkeit; 
Und die Steine waren ſchwer, 
Drückten, wie das Gold, auch ſehr: 
„Holte die der Teufel, wär' ich 
Hans im Glücke!“ — 
Dort am Brunnen will er trinken, 
Setzt wie ein bedächt'ger Mann 
Auf den Rand die Steine nieder, 
Schaut ſich um und ſtößt daran; 


170 


180 


185 


190 


195 


200 


re 


15 


Hans im Glüde. — Das Urteil de3 Schemjäka. 





Plump! fie liegen in dem Grund, 

Und er lacht den Bauch fich rund: 

„Auch der Wunjch ijt eingetroffen, 
Hana im Glüce! 


„gu der Mutter!” ruft ex freudig, 
„Zu der Mutter, leicht zu Fuß! 
Sollſt mich Toben! jollit dich Freuen! 
Bringe Glüdesüberfluß; 
Alles, alles trifft mir ein, 
Muß ein Sonntagskind wohl jein 
Und auf Glüdeshaut geboren, 
Hans im Glücke!“ 
Das Urteil des Schemjäkal. 
(Ruſſiſches Volksmärchen.) 
FDilf, Bruder, lieber Bruder mein, 
H Hilf, Reicher du, dem Armen! 
Wirſt gegen mich doch menſchlich ſein, 
Wirſt meiner dich erbarmen; 
Leih' mir den Gaul auf einen Tag, 
Daß ich zu Holze fahren mag; 
Gar grauſam iſt der Winter!“ — 


„Dich lehrt das Roß, das du verlangſt, 


Die Zunge zu bewegen; 
Wann erſt du an zu betteln fangſt, 
Wird's nicht ſo bald ſich legen. 
So nimm es hin und ſchier dich fort 


Und ſieh dich vor! denn auf mein Wort: 


Heut iſt's zum letzten Male!“ — 
„Hilf, Bruder, lieber Bruder mein, 
Hilf, Reicher du, dem Armen! 
Wirſt gegen mich doch menſchlich ſein, 
Wirſt meiner dich erbarmen; 


1 Des Richters. 


151 


152 


Webhipte: Bieber r 
Du gibjt das Kummet! noch daran, 
Daß ih zu Holze fahren fann; 

Du leihſt mir noch das Kummet?“ — 


„Wirſt mich in einem Atemzug 
Um Haus und Hof noch bitten; 
Du halt das Rob, das ijt genug, 
Hier, Punktum! abgeichnitten. 
Mas zauderjt du? Co jchier dich fort, 
Du friegit es nicht, nein! auf mein Wort, 
Ich Leihe dir fein Kummet!“ 


Und gab er nicht das Kummet her, 
Wird nur der Gaul es büßen, 

Wird mit dem Schwanze weit und ſchwer 
Den Schlitten ziehen müſſen. 

Noch diefe Scheiter obenauf, — 

Nun iſt's gepadt; lauf, Schimmel, Lauf! 
Heut gilt’3 zum letzten Male. 


Und wie er fam in jeinem Stolz, 
Nichts ahndend von Gefahren, 
Mit einem tücht’gen Fuder Holz 
Den Hof hinangefahren, 
Erlitt er Schiffbruch ſchon am Ziel; — 
63 jtolperte der Gaul und fiel 
Und riß fih, ah! den Schwanz aus. 


„Hier, Bruder, lieber Bruder, fchau! 
Hier Halt den Gaul du iieder; 
Nimm's, Bruderherz, nicht zu genau, 
Er Hat gefunde Glieder; 
Er iſt noch gut, er iſt noch ganz; 
Es Fehlt ihm nichts als nur der Schwanz; 
Der Schwanz — iſt ausgeriſſen.“ — 


1 Eine Art Halsgeſchirr für Zugpferde, 


20 


25 


30 


85 


40 


45 


55 


60 


65 


70 


75 


80 


Das Urteil des Schemjäka. 153 


„And Haft du mir mein gutes Pferd 
Verſtümmelt und gejchändet, 

Und zahljt du mir nicht gleich den Wert, 
So weiß ich, wie das endet: 

Schemjafa ſpricht, der Richter, ſchon 

Mit dir aus einem andern Ton; 
Du folgjt mir vor den Richter!‘ 


Dem Armen, der die Sach’ ermißt, 
Behaget Schlecht da3 Wandern; 

Weil's aber doch nicht anders ilt, 
So folgt ex jtill dem andern. 

Sie famen, wo zur rechten Hand 

Am Weg die weiße Schenke jtand; 
Zeit war e8, einzufehren. 


Gleich ward der grüne Branntewein 
Dem Reihen aufgetragen; 

Mit trank der Wirt, das muß jo fein; 
Dem Armen fnurıt der Magen; 

Er jteiget auf die Ofenbant, 

Derichlafen will er Speiſ' und Tranf; 
Er hat's nicht zu bezahlen. 


Der Hunger ijt ein ſcharfer Gait, 
Der Schlaf Hat jeine Launen; 
Er findet oben feine Kalt, 
Er hört ſie unten raunen; 
Er dreht fich Hin, ex dreht fich her 
Und jtürzt am Ende plump und ſchwer 
Herunter auf die Wiege. 


„Nein Kind! mein Kind! e3 ijt erjtict! 
Der hat den Mord begangen! 
Du haſt's erwürgt, du haſt's erdrückt, 
Du wirt vom Galgen bangen! 
Schemjafa jpricht, der Richter, ſchon 
Mit dir aus einem andern Ton; 
Du folgſt mir vor den Richter!‘ 


4 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Zum Richter wallten nun die dret, 85 
Sich um ihr Recht zu balgen; 
Dem Armen ward nicht wohl dabei, 
Er träumte Rad und Galgen; 
Drum auf der Brüde, die nun fam, 
Gr plöglich einen Anlauf nahm, 90 
Er ſprang dem Tod entgegen. 
Juſt unterhalb der Brüde fuhr 
Ein Greis in jeinem Schlitten; 
Sm Fall erdrüct er diefen nur 
Und Hatte nicht? gelitten. — 95 
„Sin Mord! ein Mord! du haſt's vollbracht, 
Halt mir den Vater umgebracht! 
Du folgjt mir vor den Richter!“ 


Zum Richter wallten nun die vier, 
Der Arme gar mit Grimme: 100 
„Bas hilft mein Sterben wollen mir? 
Das Shlimmite jagt das Schlimme. 
Zwei Tote zu dem Pferdeſchweif! 
Und bin zum Galgen ich jchon reif, 
Sp will ich Rache haben. 105 


„Den Stein da will ich in mein Tuch 
Gewickelt bet mir tragen, 
Und lautet wider mich ſein Spruch), 
Ich ſchwör', ihn zu erichlagen; 
Nicht Hab’ ich Geld, nicht Hab’ ich Gut, 110 
Und ſoll ich geben Blut um Blut, 
Will Blut um Blut ich nehmen.“ 


Auf hohem Richterjtuhle ſitzt 
Schemjafa da, der Weile; 

Die Kläger treten ein exhikt 115 
Und jtellen ſich zum reife; 

Der Arne, zorn’gen Herzens, Itellt 

Sich Hinter jte, und fertig hält 
Er ſchon den Stein zum Wurfe. 


130 


140 


145 


150 


Da3 Urteil des Schemjaäka. 15 


Der reiche Bruder war nicht faul, 
Die Klage zu erheben: 

„Der Schwanz, der Schwanz fehlt meinem Gaul, 
Den joll er wiedergeben!“ 

Dicht Hinter ihm der Arme jtand, 

Hielt Hoch den Stein in jeiner Hand 
Und drohte Schon dem Richter. 


Gerechtigkeit war immer blind; 
Schemjäka jah’3 von ferne, 
Er meinte: Hundert Rubel find 
. 63 wohl, die nehm’ ich gerne. 
„Und Rechtens folgt daraus der Schluß, 
Daß er den Gaul behalten muß, 
Bis wieder ihm der Schwanz wächſt!“ 


Der Schenkwirt trat zum andern vor, 
Die Klage zu erheben: 

„Das Kind, das Kind, das ich verlor, 
Er jol’3 mir wiedergeben! 

Dicht Hinter ihm der Arme jtand, 

Hielt hoch den Stein in jeiner Hand 
Und drohte noch dem Richter. 


Gerechtigkeit war immer blind; 
Schemjafa ſah's von ferne: 
Aha! noch Hundert Rubel find 
Zu haben, herzlich gerne! 
„Sp nehm’ er denn zu fich dein Weib 
Und zeuge dir aus ihrem Leib 
Ein Kind, das dich entjchädigt!” 


Zuleßt begann des Greifes Sohn, 
Um Mord ihn anzuflagen: 

„Gib diefem Mörder feinen Lohn! 
Mein Vater liegt erichlagen.“ 

Dicht Hinter ihm der Arme jtand, 

Hielt hoch den Stein in feiner Hand 
Und drohte baß dem Richter. 


156 


Gebichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 





Gerechtigkeit war immer blind; 
Schemjafa jah’3 vom weiten‘ 
Gi, Gottesjegen! wieder find 
Hier Hundert zu erbeuten. — 
„Sp jollt Ihr zu der Brüde gehn, 
Er unten und du oben jtehn; 


Dann jpringit du und erichlägit ihn!“ 


Und früh erſchien am andern Tag 
Der Arme vor dem Reichen: 

„Gib her den Gaul! Schemjafa mag 
Ich Saloınon vergleichen. 

Gewiß, ich bring’ ihn dir zurüd, 

Sobald ihm nur zu gutem Glüd 


Hinwiederum der Schwanz wächſt.“ — 


„Ich hab's bedacht, es war nicht Klug, 
Um einen Roßſchweif zanfen; 
Der Gaul ijt jo mir gut genug, 
Ich will für beſſ'res danken. 
Laß Freund’ ung fein! Sch jchenfe dir 
Die Ziege mit dem Zidlein hier 
Und noch zehn Rubel Silber.” 


Dem Schentwirt macht’ er den Beſuch: 
„Ich will dein Weib mir holen, 

Du weit Schemjafas Richteripruch 
Und was er mir befohlen; 

Ich will zur Sühne meiner Schuld 

Die Straf’ erleiden in Geduld 


Und gleich zum Werke fchreiten.” — 


„Bemüh' dich nicht! Es tut nicht not; 
Viel Kinder, viele Sorgen; 
Und ijt mein armes Kindlein tot, 
Sch will fein fremdes borgen. 
Als Friedenspfand nimm diefe Kuh, 
Das Kalb, die Stute noch dazu 
Und Hundert Rubel Silber!" 


160 


165 


170 


175 


180 


185 


190 


195 


200 


205 


210 


215 


220 


Das Urteil des Schemjäta. 157 





Er fam zu dem verwaiſten Sohn: 
„sch bin bereit zum Zode, 

Du kennſt Schemjafas Urteil jchon, 
Sch jteh’ dir zu Gebote. 

Was zauderjt du? Der Weg tit lang; 

Der Eleine Sprung, der mir gelang, 
Er wird dir ſchon gelingen.” — 

„Der weite Gang unnötig tt, 
Gefällt mir auch mitnichten; 

Sch bin verfühnlich al3 ein Ehriit, 

- Wir wollen’s gütlich jchlichten; 

Und weil die Sache dich verdroß, 

So ſchenk' ich dir ein gutes Roß, 
Dazu dreihundert Rubel.‘ 

Und wie fein Vieh er überjchaut 
Und läßt die Münze £lingen, 

Tritt ein Schemjafas Diener traut, 
Ein jeltiam Wort zu bringen: 

„Gib her, was du gezeiget halt, 

Der weißen Rollen Silberlait, 
Gib Her dreifundert Rubel!’ — 

„Dreihundert Rubel, ſagſt du? Nein, 
Wer hat die zu verichenfen? 

Gezeiget hab’ ich ihm den Stein, 
Den nimm zum Angedenten! 

Mißfiel jein Spruch) mir, ſag's ihm mur, 

Geſchworen hatt’ ich einen Schwur, 
Mit dem ihn zu erichlagen." — 

„Ben Stein, o Herr, den Ichiet ev nur 
Und läßt dabei dir jagen: 

Mißfiel dein Spruch ihm, galt jein Schwur, 
Mit dem dich zu erſchlagen.“ 

Da hat gehuftet, ſich geſchneuzt 

Schemjafa, und zulegt bekreuzt: 
„Sottiob! das lief noch gut ab.“ 


u — 


158 Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Gin Lied von der Weibertreue, 


S’il est un conte use, commun et rebattu, 
C'est celui qu’en ces vers j’accomode à ma gnise.! 
Lafontaine, 
ie haben zwei Tote zur Ruhe gebracht; 
Der Hauptmann fiel in rühmlicher Schlacht, 
Mit Ehren ward er beigejebt; 
Und der, den jüngſt er wader geheßt, 
Der Räuber hängt am Galgen. 


Da hält die Wacht als Schildergaft 

Ein junger Landsknecht, verdrießlich fait; 

Die Nacht ft falt, er Flucht und friert, 

Und wird ihm geraubt, der den Galgen ziert, 
So muß für ihn er bangen. 


Im Grabgewölb” bei des Hauptmanns Leib 
Verweilt verzweiflungsvoll jein Weib; 
Sie hat geſchworen in bittrer Not, 
Für ihn zu jterben den Hungertod, 
Die Amme zur Gejellichaft. 


Die Amme jpricht: „Gebieterin! 

Ich habe geſchworen nach Eurem Sinn; 

Beklagt und lobt den jel’gen Herrn! 

Da jtimm’ ich mit ein von Herzen gern; 
Doch plagt mich jehr der Hunger. 


„Er war, jo alt er war, gar gut, 
Nicht eiferfüchtig, von ſanftem Mut. 
Ach, edle Frau, Ihr findet zwar 
Den zweiten nicht, wie der erſte war; 
Doch plagt mich jehr der Hunger. 


„Such war’, es ijt mir wohl bewußt, 
Ein harter Schlag, ein großer Verluſt; 
1 Anfangsverje des Gebicht „La Matrone d’Ephöse“. Wörtlih: „Wenn e3 


eine abgedrofchene, alltägliche und oft aufgewärmte Geſchichte gibt, jo ift es bie, 
bie ich in den folgenden Berjen meiner Art anpafje.‘ 


25 


30 


40 


45 


50 


55 


Ein Lied von der Weibertreue. 


Doch jeid Ihr noch Schön, doch jeid Ihr noch juna 
Und könntet noch haben der Freude genung; 
63 plagt mich jehr der Hunger.“ 





Die Amme jo; und jtumm beharrt 

Die edle Frau, im Schmerz erjtarıt; 

Erloſchen jcheint der Augen Licht; 

Sie klaget nicht, fie weinet nicht; 
Es plagt fie jehr der Hunger. 


Und draußen bläft der Wind gar jcharf; 

Der Landsfnecht läuft, jo weit er darf, 

Indem er fich zu erwärmen jucht; 

Und wie er läuft, und wie er Flucht, 
So fieht ein Licht er jchimmern. 


Von wannen mag der Schimmer jein? 

Er jchleicht Hinzu, er tritt hinein: 

„Gegrüßet mir, ihr edle Fraun; 

Wie muß ich hier im Grabe ſchaun 
So hoher Schönheit Schimmer!“ 


So jtaunend er; und jtumm beharıt 

Die edle Frau, im Schmerz erjtarrt; 

Erloſchen jcheint der Augen Licht, 

Sie flaget nicht, fie weinet nicht; 
Es plagt jte jehr der Hunger. 


Die Amme drauf: „Das jeht Ihr Ja, 

Mir trauern um den Toten da; 

Wir haben geihworen in bittrer Not, 

Für ihn zu jterben den Hungertod; 
Es plagt mich jehr der Hunger.“ 


Drauf er: „Das ijt nicht wohlgetan 
Und Hilft zu nichts dem toten Wann. 
Co ſchön! jo jung! Ihr ſeid nicht Klug, 
63 hat die Welt der Freude genug; 
Entjeglich nagt der Hunger! 


159 


160 


Gedichte: Lieder und Iyrifh=epifhe Gebichte. 


„Ich Tage nur, ihr Frauen jollt 


Mich eſſen jehn, dann tun, was ihr wollt. 
Hier hab’ ich Brot, hier hab’ ich Wurft, 


Hier eine Flaſche für den Durft; 
Es plagt auch mich der Hunger.“ 


Und wie er tut, was er gejagt, 

Und ihn jo wohl das Eſſen behagt, 

Da ſinkt der Alten ganz der Wut: 

„ech! edle Frau, das ſchmeckt jo gut! 
Und ad, mich plagt der Hunger!” 


Drauf er: „So eßt, ich Habe für zwei 
Genug, und habe genug für drei; 

Sch eſſe jonjt allein für vier; 

Sp eßt und trinkt getrojt mit mir! 

Das Hilft ſchon für den Hunger.‘ 
Die Amme verfuht auf gutes Glück 
Ein Stüdchen erjt und dann ein Stück; 
Sie jieht der Herrin ind Angejicht; 
Sie klaget nicht, fie weinet nicht; 

Es plagt fie jehr der Hunger. 
„Ich, edle Frau, das ſchmeckt jo gut! 
Ihr wißt jchon, wie der Hunger tut; 
Was hat davon Euer Herr Gemahl? 
63 ei genug für diejes Mal! 

Entjeglich nagt der Hunger.“ 

Er tritt zu ihr: Verſucht eg nur!“ 


Sie aber fpricht: „Mein Schwur! mein Schwur!“ 


Und ſtößt ihn dennoch nicht zurüd; 


Sie nimmt ein Stüdchen und dann ein Stüd: 


Das Hilft denn für den Hunger. 
Er fällt vor ihr auf feine Knie: 
„sch Jah ein jchöneres Weib noch nie, 
Nur ſollt Ihr Hinfort mir Flüger fein! 
Nun muß ich gehen. Gedenket mein! 
Sch komme morgen iwieder. 


65 


75 


80 


85 


90 


95 


100 


105 


110 


115 


125 


130 


Ein Lied von der Weibertreue. 161 


‚Nichts da von Lebensüberdruß!“ 

Er ſpricht's und vaubt ihr einen Kuß 

Und jtürzt hinaus, er ijt jchon fort; 

Die Alte ruft: „So halt’ auch Wort, 
Du lieber, lieber Landsknecht!“ 


Und ferner jpricht fie zu dev Frau: 

„Bedenf ich, Herrin, die Sache genau, 

Er Hat es gar nicht jchlecht gemacht 

Und uns auf guten Weg gebracht, 
Der Liebe, liebe Landsknecht!“ 


Sie jagt nicht nein, fie jagt nicht ja; 
Sie jteht betroffen, errötend da, 
Gibt ihren Tränen freien Lauf 
Und jeufzet leis eratmend auf: 
„Du lieber, lieber Landsknecht!“ 
Der Landsknecht aber verwundert fich ehr; 
Er jteht vor dem Galgen, und der jteht leer. 
„Bl Hagel! das war mein Henkersihmaus! 
Den Pla da Füll ich morgen noch aus, 
Ich armer, armer Landsknecht!“ 
Er läuft zurüd: ‚Nun jchafft auch Rat! 
Sonjt muß ich hangen, ich fam zu ſpat.“ 
Sie fragen ihn aus; wie er alles gejagt, 
Da weint die edle Frau und klagt: 
„Du armer, lieber Landsknecht!“ 


Die Alte Ipricht: „Geduld! Geduld! 

Ich waſch' ihn rein von aller Schuld; 

Er hat ung errettet, das wißt Ihr doch? 

Verſteht mich, Traul Was zaudern wir noch? 
Du lieber, lieber Landsknecht! | 


„Man hat ihm jeinen Toten geraubt: 
Wir Haben auch einen; wenn hr e3 erlaubt, 
Gebt ihm den unjern, gebt Euren Schab! 
Der füllt wie einer jeinen Platz. 

Du lieber, lieber Landsknecht! 


Chamifjo. I. il 


162 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gebichte. 


„Und wer betrachtet's ſcharf genug, 

Daß er entdecke den Betrug? 

Friſch angefaßt und ſchnell ans Werk! 

Daß keiner dort den Mangel merk'! 
Du lieber, lieber Landsknecht!“ 


Wie er die Hand an den Toten legt, 
Da ruft der Landsknecht tief bewegt: 
„Mein Hauptmann! was? du biſt es fürwaäahr! 
Nun bring’ ich dich an den Galgen gar! 
Du lieber, guter Hauptmann!“ 
Die Frau verjeßt: „Was zauderit du? 
Geihwind! jonjt fommen noch Leute dazu; 
Geſchwind! ich helfe, was ich kann; 
Geſchwind! geihmwind! du lieber Mann! 
Du lieber, Lieber Landsknecht!“ 
Und er darauf: „ES geht nicht an; 
Dem Räuber fehlt ein VBorderzahn.‘ 
Da nimmt Jie jelber einen Gtein 
Und ſchlägt den Zahn dem Toten ein: 
Du lieber, Lieber Landsknecht! 
So jchleifen hinaus ihn alle drei 
Und hängen ihn an den Galgen frei; 
Uud ftreift nun der Wind die Heide entlang, 
So geben die Knochen gar guten Klang 
Zum Lied don der Weibertreue. 


Han Vito. 
Fi Sahre zur See! Das jechite Jahr 


Sieht Heim mich kehren, jo arm ich war. 


Sch bin — ich bin ein geichlagener Mann, 

Dem nicht? auf der Welt gelingen kann, 
Dem nicht will helfen San Bito! 

„Da bin ih, Frau, und reife nicht mehr. 

Wie aber gehſt du jo jchmud einher? 

Was haſt du für jchöne Kleider an! — 


135 


140 


145 


150 


155 





10 


15 


20 


25 


10 


Ein Lied von der MWeibertreue. — Ean Vito. — Vetter Anfelmo. 


„3 iſt Gottes Segen, mein lieber Mann, 
Wozu mir half San Vito.“ — 


„And ausgebaut da unjer Haus! 

Wie fieht’3 jo räumlich und blank jegt aus! 

Mer Half uns dazu? das jage mir an!’ — 

„8 iſt Gottes Segen, mein lieber Mann, 
Wozu mir half San Vito.“ — 


„Und drinnen wie glanzig alles und rein! 

Das prächtige Bett, der Spiegel, der Schrein! 

Woher uns das alles? da3 jage mir an!" — 

„'s iſt Gottes Segen, mein lieber Wann, 
Wozu mir half San Vito.“ — 

„Ein luſtig Büble, das daher jpringt, 

An dich ih klammert und dich umjchlingt! 

Mer ift das Kind, das jage mir an!" — 

„uch Gottes Segen, mein lieber Wann, 
Wozu mir half San Vito.“ — 

„Mord Element, zuviel ijt zuviel! 

Laß jolchen Segen mir aus dem Spiel! 

San Bito Her, San Bito Hin! 


163 


Sch bin — Gott beſſer's! — ih bin.. ich bin. 


Hole der Hund San Bito!“ 
-— > — 
Vetter Anſelmo. 
1 


7% war zu Toledo in hohem Flor 
Die heimliche Kunjt, die jonjt ſich verlor; 
Ein weiſer Meijter war dort befannt, 
Yglano, der Magier und Nekromant. 

Wie abends er einjt vor dem Stundenglas 
Sn feinem Muſeum finnend jap, 
Trat ein zu ihm demütig fajt 
Cein Better Anjelmo, ein jeltener Gajt. — 

„Herr Better Anjelmo, wie hat man das Glüd? 
Was führt Euch endlich zu ung zurüd? 

11* 


164 


Gebichte: Lieder und Iyrifh-epifhe Gedichte, 


Ihr wart ja ſonſt auf der rechten Bahn; 
Was gingen Euch da die Verwandten an!’ — 


„Seid grauſam nicht und ungerecht, 
Herr Better, veriteht mich endlich recht! 
Mich Hielt von Toledos Leuchtendem Stern, 
Don Don Yglano nur Ehrfurcht fern. 


„DO, wüßtet Ihr, wie der Bufen mir jchwoll, 
Wann Euer Lob mir entgegen ericholl! 
Wie jtolz und jubelnd ich eingejtimmt: 
Der tt ung allen zum Mufter bejtimmt! 


„Der eine rief, der andere jchrie: 
So einen jah die Welt noch nie, 
Der, zaubermächtig und weile zugleich, 
Beherrſcht der Geiſter nächtliches Reich! 


„Er iſt das Gold der Wiſſenſchaft 
Und iſt das Erz und iſt die Kraft, 
So mannmlich feſt, jo kindlich mild, 
So aller Tugend vollendetes Bild! 
„Doch hat Euch einer zu tadeln gewußt, 
Den alle ſo preiſen zu meiner Luſt; 
Und dieſer Tadel, daß Ihr es wißt, 
Iſt eben der Wurm, der das Herz mir frißt. 


„Er ſprach: Wie kommt es, wer macht mir das klar, 


Daß Euer Löw' und Lamm und Aar 

Den Biedermann, der ſein Vetter doch iſt, 

Den guten Anſelmo ſo ſchmählich vergißt?“ — 
„Was ſagtet denn Ihr, wenn ich bitten darf, 

Zu ſolchem Tadel, ſo ſpitz und ſcharf? 

Sch machte die Lehre mir gerne zu Nutz; » 


Ihr nahmt mich, Better, doch wader in Schuß?" — 


„Vermocht' ich es denn, der ich da jtanp, 
Dem hämijchen Kläger bequem zur Hand, 
Um fo mich zu legen ad acta gleich, 
Zerlumpt, verhungert, hager und bleich? 


20 


55 


60 


65 


——— 165 
„Ich frag' Euch: O, blickt doch auf mich herab! 

Sah je ein Bettler als Leiche im Grab 

Erbärmlicher aus? O, tilgt doch die Schmach! 

Sie trifft Euch zumeiſt, wie der Neider ſprach. 


„Mir eine Pfründe, ein Biſchofsſtab! 
Das macht nur bald mit dem Teufel ab! 
Und ihm und Euch mit Haut und Haar 
Verſchreib' ich mich auf immerdar.“ — 


„Herr Vetter, Herr Vetter! Ei, ei! mit Vergunſt! 
Von Gott allein iſt meine Kunſt, 
Verſteht mich recht, von Gott allein! 
Hab' mit dem Teufel nichts gemein.“ — 


„Von Gott, verſteht ſich! ſagt' ich es nicht? 
Es iſt der Hunger, der aus mir ſpricht. 
Mit Gott, Herr Vetter, verhelft mir zu Brot 
Und rechnet auf mich auf Leben und Tod!“ — 


„Ihr wolltet dankbar, erkenntlich ſodann 
Vergelten, was Gutes ich Euch getan, 
Wann einen Gönner und Schutzpatron 
Ich einmal ſuchte für meinen Sohn?“ — 


„sa, dankbar, ja! mit unendlicher Luſt! 
Die Dankbarkeit ijt die Tugend juft, 
Die einz’ge vielleicht, deren unverblümt 
Mit Fug und Recht mein Herz ſich rühmt. 


‚Man hat von mir Euch Böſes gejagt, 
Mich manches Laſters angeklagt, 
Mich angefhwärzt zu aller Stund, 
Oft, leider! vielleicht nicht ohne Grund. 
„sh weiß, Herr Better, ich habe gefehlt, 
Das Gute verfäumt, das Böſe gewählt, 
Gewatet in Sünden bis an die nie; 
Undankbar aber, das war ich nie. 
„O Dankbarkeit, du ſüße Pflicht, 
Du Himmelsluſt, du Himmelslicht! 


166 


Getigte: Sieber. und TnHP SERIE WERDE 
Wie hab’ ich dich mir eingeprägt, 
Wie Hab’ ich ſtets dich Heilig gehegt! 
„And Euer vortrefflicher, teurer Sohn — 
Wie Lieb’ ich den Tieben Better doch ſchon! 
D wel ein Glüd ift Dankbarkeit! 


D, wär’ ich doch erit, Herr Better, jo weit!” — 


„Gemach, gemach! das liegt noch fern, 
Und nicht das Nächite verfäum’ ich gern. 
Da fommt Frau Martha, die eben fragt, 
Was mir zum Abendeſſen behagt. 

„So hört, Frau Martha, jeid eben gefaßt — 
Nicht wahr, Herr Vetter? — auf einen Gajt! 
Ihr habt zwei Hühner; das zweite Huhn 
Steckt erſt an den Spieß, wenn ich’S Heiße tun! 

„Set aber nehmt die Flaſche dort 
Und dort den Humpen von jeinem Ort, 

Und ſchenkt mir langjam den edlen Wein 
Bon Hoch, recht perlend und ſchäumend ein! 

„Ihr, Better, indes kommt näher zu mir 

Sn dieſen Kreis auf dem Ejtrich hier! 

Da, nehmt das Stundenglas in die Hand 

Und Schaut nur jcharf auf den rinnenden Sand! 
„Es iſt nur jo ein Experiment, 

Ihr wißt den Anfang, ich weiß das End’. 

Sic hocus pocus, bracadabra! 

Mir find noch hier und wähnen uns dal" — 

Er Hatte die Worte murmelnd gebraucht 
Und heimlich zugleich ihn angehaucht; 

Anjelmo jtand, die Augen verdreht 
Und ftarr, wie ein hölzerner Heiliger jteht. 
2. 

Die Boten find fommen, Anfelmo, du bijt 

Biichof geworden zu diejer Friſt; 


Vernimmſt du's? Biſchof! Erſchrickt dir vor Luft 


Das ſchlagende Herz in der ſchwellenden Bruſt? 


80 


85 


90 


95 


100 


105 


110 


115 


120 


125 


130 


135 


140 


145 


Better Anfelmo. 


Wirt ab die ſchlechten Lumpen geſchwind, 
Die grau und zerichliget vor Alter find; 
Leg’ an da3 jeidene Purpurgewand; 

Zum Segen lee falten die Hand! 


Das Kreuz auf die Brujt, das blinfende Ding! 


An deinen Finger den Siegelring! 
Leg’ an, Anjelmo, den vollen Ornat 
Und zeige dih uns als jtolzer Prälat! 


Und wie im Palaſt er heimiſch war, 
Umgligerten rings ihn die Wände jo Klar; 
Gr legte fich, jtrahlend vom Widerjchein, 
Ins Fenſter und jah in die Straße hinein. 


Da hätt’ er gerne die Leute gefragt: 
Ihr Lumpenvolk da unten, jagt, 
Wie nehm’ ich denn hier oben mich aus? 
Steht trefflich mir nicht das prächtige Haus? 


Doh ward es ihm bald zu öd' und zu weit; 
Ihm graute jchier in der Einjamteit; 
Da kam ihm eine....... Nichte nad), 
Bon welcher man jchon zu Toledo ſprach. 


Hoffärtig war und launiſch das Kind, 
Wie ſolche Nichten zuzeiten es find; 
Die trug nun auch ein jeidenes Kleid 
Und brauchte Perlen und andre Geſchmeid'. 


Das Regiment, wie fich’3 gebührt, 
Ward bald allein von ihr geführt, 
Und Regen fam und Sonnenjchein 
In Haus und Kirche don ihr allen. 
Wie wetterwendiſch ſie's immer trieb, 
Er ärgerte ſich und hatte ſie lieb; 
Und alſo kam es, bei Arger und Spaß, 
Daß ganz er Vetter Yglano vergaß. 
Wie einſt beim Veſpern er fröhlich war, 
Bedünkte es ihn faſt ſonderbar; 


168 Gedichte: Lieder und lyriſch- epiſche Gedichte. 


Die Tür ging auf, und herein gewallt 
Erſchien Yglanos vergegne Geitalt. 


„Gott grüß' Euch, Herr Better! ch bin erfreut, 
Euch wohl zu finden; mitnichten geveut 150 
63 mich, was immer ich für Euch getan, 
Sofern Ihr ſeid ein zufrtedener Mann. 


„Doc jeht: die Welt iſt fugelrund; 
Der Supplifant, der bin ich zur Stumd’; 
Entjinnt Euch, ich ſprach Euch von meinem Sohn, 155 
Verſorgt mir ihn jeßt, das jet mein Lohn! 


„Die feine Pfründe, die eben vakant 
Geworden iſt, wie wohl Euch bekannt, 
Und die Ihr erſt vergeben ſollt, 
Die wäre jo recht, was für ihn ich gewollt." — 160 


„Die Pfründe“, verjegte haſtig die Maid, 
„Iſt Schon vergeben, es tut mir leid; 
Mein Bruder befommt jte; Ihr ſeht ſelbſt ein, 
Das nächte Recht war doch wohl ſein. 


„And nächſtens, — fünftig, — einjt vielleicht 165 
Wird Eurem Sohn das Seine gereicht; 
Geht's Heut nicht an, iſt's unſre Schuld? 
Der Vetter muß warten; Geduld! Geduld!" — 


„Muß warten!” erhub in demjelben Ton 
Der würdige Biſchof jeinen Sermon, 170 
„Ihr Bruder... mein Neffe... wir ändern es nicht; 
Die Sache verhält fich jo, wie fie Ipricht. 
„Ein Bistum it fein Königreich! 
Sch werde geplagt dem Beſten gleich, 
Don Schranken und aber Schranken beengt, 175 
Don Supplifanten und Bettlern bedrängt. 
„Ste haben den Vorteil, ich Habe die Dual; 
Ich kann nicht Helfen allen zumal, 
Nicht jeden fördern nach jeinem Begehr; — 
Ein Kardinal, der könnte jchon mehr. 180 


185 


190 


195 


200 


205 


Better Anfelmo. 169 


„sa, Better, hättet hr mich gemacht 
Zum Kardinal, und entipräche die Macht 
Dem redlihen Willen des Herzens nur, 
Sp wollt’ ih Euch Helfen, bei meinem Schwur!“ 


Darauf mit großer Seelenruh' 
Der Better Nglano: „Da drückt Euch der Schuh? 
Der rote Hut, der rote Hut! 
Nicht wahr, das iſt, was not Euch tut?” — 


Darauf erglühend im Angeficht 
Der geiftliche Herr: „Sch leugn' es nicht; 
Und wenn Ihr den mir noch verichafit, 
So wahr mir helfe des Zauber Kraft!" .... 


Ihm fiel dev Wundertäter ins Wort: 
„Genug! fein Schwur ift hier am Ort; 
Ich laſſe mich den Verſuch nicht reun, 
Euch mag der rote Hut noch erfreun!“ 


Er Hub die Hand bedrohlich fait, 
Zog Krei3 auf Kreis in die Luft mit Haft: 
„Sic hocus pocus Schiboleth! 
Es wird exit Tag, warn die Nacht vergeht!" — 


Ihm Ichaute zu und atınete faum 
Der geijtlihe Herr, wie im Fiebertraum: 
Das Wort war gejprochen, das Werk vollbracht; 
Gr rieb fich die Augen; es war noch Nacht. 
3. 
Da fam vom heiligen Vater der Brief, 
Der unſern Prälaten nah) Rom berief; 


Zum Fürſten der Kirche, zum Kardinal 
Grhebt ihn des Dreimalgefrönten Wahl. 


Der alten Günftlinge junger Genof, 
Erſchien er am Hof, wo bald ihn umfloR 
Der trüglichen Sonne blendendes Licht, 

Das dort auf ſchwankendem Boden fich bricht. 


170 Gedichte Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Selbſtſüchtig ſchritt, ehrgeizig hinan 
Er unverdroſſen die ſchwindlige Bahn 
Und hatte, bei üppiger Luſt und Pracht, 215 
Mitnichten noch an Yglano gedacht. 


Einſt ſaß er am offenen Fenſter allein 
In der ſcheidenden Sonne verlöſchendem Schein 
Und ſtarrte, befallen mit finſterem Mut, 
Hinaus in die blutig dämmernde Glut. 220 


Da regte Geräuſch fih im Säulengang; 
Hin warf er den Blid; noch jchimmerte lang’ 
Ein farbiges Spiel dem Geblendeten vor; 
Iglano erichien, als der Schein fich verlor; 


Und wie er ihn ſcharf in dag Auge gefaßt, 225 
Ward eines ihm Kar, er exzitterte fait: 
Die Sonne finft, dein Stern geht auf! 
Der lenkt für dich des Geſchickes Lauf. 


Wie kühn er den Wurf ſchnell überjchaut, 
Trat haſtig er vor und grüßt' ihn vertraut 20 
Und ſprach, al3 ein welterfahrener Mann, 
Geflügelten Wortes zuerjt ihn an: 


„Du fommit, mich zu mahnen an deinen Sohn, 
Mich anzujpornen, dag merk ich jchon; 
Doch jolches, mein Alter, it niht am Ott; 235 
Vergaß ich denn je ein gegebenes Wort? 


„And was ich bin, dir Schuld’ ich es nur, 
Dein bin ich, deine Sreatur; 
Ich ſag' es laut, ich befenn’ es frei; — 
Du zweifelſt, ob ich erkenntlich ſei? 240 
„Du haft mich erzogen und meiner gepflegt, 
Halt, guter Better, mich Liebgehegt, 
Du halfeſt dem Liebling nach deiner Macht; 
Doch eines Haft nicht recht du bedacht. 
„Du hätteſt gern vecht Hoch mich gejtellt, 245 
Zu wirken, zu Schaffen in Kirche und Welt; 


250 


260 


265 


270 


275 


Better Anfelmo. 171 


Ein Kardinal! das Wort jchallt recht; — 
Sein Sinn ijt: der Knechte niedrigiter Knecht. 


„Mein guter Vetter! DO, wüßteſt du doch, 
Wie geipannt du mich Haft in ein jchmähliches Zoch! 
Der Neid umlagert die Pfade der Gunft: 
Es gilt, fich zu drehn und zu wenden, für Kunſt. 


„Di lockt die Larve, du trauejt ihr wohl? 
So ſchlag' an das Herz, da Elingt e& Hohl; 
Von Ränfen und aber Ränten umgarnt; 
Der jtellt dir ein Bein, der vor Schlingen dic) warnt. 


„Die Schuld, die heimlich im Finſtern jchleicht, 
Die hat das Ziel am erjten erreicht; 
Verworfene Dirnen, um Sünde und Geld, 
Und Schächer beherrſchen die hrijtliche Welt. 


„Du wähneſt annoch, gutherziger Mann, 
Daß deinen Sohn ich befördern kann? 
Ich bin, ob jündenhaft, zu rein, 
Um irgend in Rom vermögend zu fein. 


„sn meinem Bistum vermocdht’ ich’3 einmal, 
Zu ſchalten, zu walten nah Einficht und Wahl; 
Das jchlechtejte Dorf ijt ein Kleines Reich; 

Sn Rom ift der zweite dem letzten gleich. 


„Der heilige Vater iſt Schwach und alt, — 
Der müden Hand entjinft die Gewalt, — 
Er ilt jehr Frank, — er leidet viel, — 
Er jehnt fich ſelbſt nach dem lebten Ziel, 


„Ex Tinto: fterben, der alte Mann. 
Er könnte! mein lieber Better, und dann ..... 
Sch meine nidt ...... verſteh' mich nur: 


Er könnte, e3 liegt im Lauf der Natur. 
„Sieh krampfhaft deine Knie mich umfah'n! 
Verbeſſre, vollende, was du getan; 
Zieh mic) empor aus dem Sündenpfuhl 
Und bahne den Weg mir zum heiligen: Stuhl! 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 





„Dann bricht mir an der gehoffte Tag, 
Wo alles ich dir zu vergelten vermag; 
Dein Sohn Gebiete, Vetter! du biſt 
Mein einziger Gott, mein Heiland, mein Chriſt.“ 


Gelaſſen darauf Yglano: „Genug! 
Zuviel geſprochen in einem Zug! 
Was aber dahinter verborgen und nicht, 
Wir fördern es, mein' ich, ſogleich an das Licht. 


„Der Kardinal iſt Euch zu gering; 
Es dünkt Euch Papſt ſein ein anderes Ding; 
Wir wollen ſehn, wir wollen ſehn; 
Euch mag nach Eurem Glauben geſchehn!“ 


Er Hub die Hand bedrohlich faſt, 
Zog Kreis auf Kreis in die Luft mit Halt: 
„Sic hocus pocus Schiboleth ! 
Es wird erſt Tag, wann die Nacht vergeht!" — 


Ihm jchaute zu und atmete faum 
Der Kardinal, wie im Tiebertraum; 
Das Wort war geiprochen, das Werk vollbracht; 
Er rieb ſich die Augen; es war noch Nacht. 


4. 


Und bald jprang auf ein verichloffenes Tor; 
Der Papſt Anjelmo trat hervor 
Und ward geweiht in Sankt Petri Dom; 
Ihm jauchzte entgegen das heilige Rom. 


Darauf von den hohen Stufen herab 
Gr urbi et orbi den Segen gab 
Und jah vor feiner Heiligkeit 
Sich beugen die jämtliche Ehriftenheit. 


Dann eilten herbei von nah und fern 
Die Abgejandten der Fürjten und Herrn, 
Den Fuß in Demut zu Füffen bejtellt 
Dem dreimalgefrönten Beherrjcher der Welt. 


290 


295 


300 


310 


315 


320 


330 


335 


340 


345 


Better Anfelmo. 4173 





Drauf ſaß er geruhig im Vatikan, 
Der niedern Sorgen abgetan, 
Und nicht war an Luft und Freuden farg 
Der enge Raum, der ihn verbarg. 


Der Tiih war gut, die Pfühle weich, 
Der Kämmerling dem geübtejten gleich; 
Ein Kardinal ging ihn zur Hand, 

Der Lejen und Schreiben trefflich verjtand. 


Und was das läjtige Volk betrifft, 
Das nicht zufrieden noch mit der Schrift, 
Nedjelig ung oft viel Kummer macht, — 
Da hielten die Pförtner Schon gute Wacht. 


Die Sonne jtieg am Nlorgen auf, 
Beichloß am Abend ihren Lauf; 
63 wurde Tag, es wurde Nacht, 
Und alles ging, wie hergebracdt. 


Der Frühling fam mild, dev Sommer warm, 
Der Herbit kam reich, der Winter arm; 
63 wurde Tag und wurde Nacht, 
Und alles ging, wie hergebracht. 


Da wiegte der heilige Vater jein Haupt 
Und ſprach: „Sch Hätte nimmer geglaubt, 
Bevor ich Telber die Macht erreicht, 

63 jei die Welt zu regieren jo Leicht.‘ 


Und wie im Traum ein Bild uns erjcheint, 
Das längſt wir tot und verjchollen gemeint, 
Trat einjt ein DBergefjener mahnend vor ihn, 
Der ſchier ihm unheimlich, geſpenſtiſch erſchien: 
„sh bin’s, Herr Better! Erkennt Ihr mich nicht? 
Es it Yglano, der mit Euch jpricht; 
Ich ließ Euch Zeit, ich hatte Geduld! 
Nun komm’ ich, einzufodern die Schuld.“ 
Errötend, erblaifend in einem Nu, 
Sprang auf der Papſt und jchrie ihm zu: 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 








„Hinweg aus meinem Angeficht! 
Hinweg! entfleuch! ich kenne dich nicht.” 


Yglano blieb geruhig und trat 
Zwei Schritte noch vor, dann lächelnd tat 
Er auf den Mund mit leifem Hohn 
Und jprad in jchaurig flüjterndem Ton: 


„O Dankbarkeit, du füße Pflicht, - 
Du Himmelsluſt, du Himmelslicht! 
Wie hat fich diefer dich eingeprägt! 
Wie hat er jtetS dich Heilig gehegt! 


„Ich zog did, Wurm, au deinem Staub 
Und mäjtete dich mit der Kirche Raub; 
Du jtiegeft und jtiegeft im ſchwindelnden Flug 
Auf meinen Flügeln, nicht3 galt dir genug. 


„Ich machte, nach deiner gierigen Wahl, 
Zum Biſchof dich, zum Kardinal, 
Und machte dic) gar am Ende zum Papſt; — 
Wo blieb dad Wort, das du mir gabſt?“ 


Der heilige Vater Hub an zu jchrein: 
„Ber ließ mir den groben Gejellen herein? 
Trabanten und Wachen herbei! wir find 
Gefährdet; ergreift den Alten geſchwind!“ 


Da feiner erichien, fuhr Yglano fort: 
„Grfülle mir, Papſt, dein gegebeneg Wort! 
Zum andern, zum dritten fodr’ ich dich auf, 
Sch, welcher noch lenkt des Geſchickes Lauf.“ 


Und laut und lauter inzwijchen erſcholl 
Die Stimme des Papſtes, er jchrie wie tolf: 
„Berruchter! Zauberer! Ketzer! dein Lohn, 
Der Scheiterhaufen, erwartet dich ſchon!“ 
Yglano darauf: „Herr Better! Ihr wißt 
Aus Erfahrung jeßt, was des Brauche ijt: 
Ein jeder für ſich; — was frommte mir nun, 
Das Allergeringite für Euch zu tun?“ 


350 


360 


365 


370 


375 


350 


885 


390 


395 


400 


Vetter Anfelmo. — Der neue Ahasverus. 175 


Dann trat er vor ihn und gab ihm zugleich 
Mit fliegender Hand einen Badenjtreich. 
Anfelmo jtarrte erwachend empor; 

Ihm Schalten die letzten Worte im Ohr. 


Er jah fih um; im Bücherjaal 
Yglanos jtand er wie dazumal; 
Zerlumpt, da3 Stundengla3 in der Hand, 
Und unvermindert rann der Sand. 


Dort ſtand Frau Martha und jchenkte den Wein 
Mit erhobener Hand in den Humpen ein; 
Und wie er gefüllt bis zum Rande war, 
So reichte jie ihn dem Hausherrn dar. 


Yglano nahm den Humpen und trank 
Und jegte ihn weg und jagte: „Schön Dank!“ 
Erbat fich ſodann das Stundenglas 
Und jtellte es hin zu dem Zintenfaß. 


Und ſprach: „Wir Haben uns bedacht, 
Frau Martha; ein einziges Huhn zur Nacht! — 
Es tut, Herr Better, mir herzlich leid, 
Daß Ihr zu falten gejonnen ſeid. 


„Sp lebt denn wohl! — Frau Martha, das Licht! 
Daß nicht der Better den Hals noch bricht! 
Ihr leuchtet ihm hübſch die Treppe hinab 
Und jchließt die Haustür Hinter ihm ab!“ 


Der neue Ahasverus. 


Tegit im Herzen du die Stunden 
3 Unſrer Kindheit noch, die Träume, 
AL mein Lieben, all mein Hoffen? 
Siehſt du wandeln und verbunden 
Durch des Paradiejes Räume, 

Und die Zukunft vor ung offen, 


176 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Sternbeglängt und ungemefjen, 
Wie des Athers reines Blau? 
Nein, Sie haben das vergejlen, 
Gnäd’ge Frau! 
Sa, vergeſſen! und es jollen 
Die franzöſiſch wohlgeſtellten 
Worte für Erinnrung gelten! 
Mitleid alfo und Erbarmen 
Schenken gnädig Sie dem Armen, 
Deifen Tränen Sie entrolten 
Sehen, ohne nur zu willen, 
Welch ein Dämon ihn betört. 
D, du haft mein Herz zerrifjen 
Unerhört!! 
Hab’ in altem Buch? gelejen 
Eine wunderfame Sage, 
Wer der ew’ge Sud’ geweſen. 
Nicht kann Ahasverus jterben, 
Sterben nicht, noch Ruh? eriwerben, 
Bis der Herr am Süngiten Tage 
Ruft die Toten aus dem Grabe, 
Und auch ex vernimmt das Wort; 
Und er wanft am Wanderjtabe 
Fort und fort. 


Fürder durch der Erde Weiten 
Raſtlos, müden Fußes wallt er, 
Läßt die Weltgeſchicke Fluten. 
Nenjchenalter ihm Minuten 
Und Minuten Menſchenalter, 
Stehen ſtill vor ihm die Zeiten, 
Bleibt in ihm ſein Herz, das alte, 
Drin der alte Schmerz gebannt, 
Laſtend über ihm die kalte 
Schickſalshand. 


ı Nachllang von des Dichters Liebe zu Céeres Duvernay. — ? Das Volks— 


buch von Ahasver. 


10 


15 


25 


30 


35 


40 


Der neue Ahasverus. — Der Schaf. #77 





Aber jtet3 nach Hundert Jahren 
Treibt’3 nah) Salem! ihn zu wandern, 
Bon der Heimat zu erfahren. 
Römer, Sarazenen, Franken 

45 Wechſelten, verdrängt von andern; 
Tempel und Altäre janten; 
Mauern und Paläjte brachen; 
Flüſſe wandten ihren Lauf; 
Neue Götter, neue Sprachen 

50 Stiegen auf. 


Düfter finnt der Fremdgewordne 
Uber unbefannten Trümmern, 
Daß im Geiſt er's wieder ordne; 
Und er fragt und fragt vergebens, 
55 Keiner will um ihn ſich kümmern; 
Auf dem Grabe feines Lebens 
Steht verjteint der Sohn der Schmerzen. 
Über ihn Hin brauft der Sturm, 
Und in feinem alten Herzen 
60 Nagt der Wurm. 
Sch bin Ahasverus, jag’ ich, 
Sieh darauf mich an verwundert, 
Salem du, wovor mir grauet! 
Irrens mid’, das Haar ergrauet, 
65 Wank' ich Heim nach aber hundert 
Sahren, und vergebens frag’ ich, 
Kup ih — in den öden Mauern 
Weck' ich feinen Widerhall; — 
Sieh Berjteinten mich betrauern 
70 Salem3 Fall. 


Der Schatz. 


FE aus geheimen Schreine 
Winft ein Schaf jo wunderbar; 


1 Serufalem. 
Chamifjo. L 12 





178 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 





Weiß allein nur, wen er meine, 
Und den Ort, wo er bewahrt. 
Und wir jtreben, und wir meinen, 5 
Streben, meinen immerbar, 
Schweifen durch des Lebens Weite 
Und verachten die Gefahr; 
Mir begehren nur das eine, 
Wir begehren immerdar; 10 
Smmerdar auch will's erjicheinen, 
Ah, verſchwinden immerdar! 


—HR— 
Herein! 


Xaioere, rexva Auös, zal Eumv tuumoar aoıdnv.! 
(Melodie des Chors: Bekränzt mit Laub 2c.) 
Tragifer. 
(Fartatten hab’ ich, wie der Geiſt e8 mir gebot, 

Nah meinem Bilde aus dem Schattenreich hervor— 
Gerufen, Leben ihnen eingehaucht und fo, 
Gelbjtändig und einander widerjtrebend, fie 
Sich jelber überlaſſen und dem Waltenden. 5 
Sie jtürmten unaufhaltiam dem verderblichen, 
Zermalmend fie exeilenden Geſchicke zu. 

Ich trete, faum aufatmend, tief erjchüttert noch, 
Vor euch: Gewährt Aufnahme mir in euren Kreis! 
Chor. 
Herein! herein! du erjter unſrer Fürſten, 10 
Das haft du gut gemadt! :,: 
Du jollit uns nicht beim frohen Mahle dürjten! 
Den Humpen ihm gebracht! :,: 
Komiker. 
Geſtalten aus dem Schattenreich hervor— 
Zurufen, Leben ihnen einzuhauchen, 15 
Verſteh' ich auch, ich hab’ es auch getan; 


1 ‚Seid gegrüßt, Kinder des Zeus, und ehret meinen Geſang!“ 


20 


25 


30 


85 


40 


45 


Der Schag. — Herein! 179 


Nur Hab’ ich fie gejehen närriſch ich, 
Wie eben andre Menſchen tun, gebärden; 
Und doc — e3 dünft mich, muß ich frei geitehn, 
Wir Haben nicht verjchtedene Geitalten, 
Verſchieden wohl diefelben nur geſchaut; 
Denn alle Menjchen find einander gleich. 
Ihr Hört, ich bin ein Liberaler, wollt 
Mih drum aus eurem Bunde nicht verbannen! 
Chor. 
Herein, herein! du köſtlicher Gejelle, 
Da3 Haft du gut gemacht! :,: 
Dir fließe gleich des Weines reichte Duelle! 
Den Humpen ihm gebradt! :,: 
Mimiler. 
Ich zeigte Weſen euren Blicken, die 
Des Dichters innres Auge nur gejchaut, 
Und machte feines Hirnes Träume wahr; 
Den ex gedacht, der war ih. Räumet mir 
Den nächſten Sit zu jeiner Linken ein! 
Chor. 
Herein, herein! du bilt der Sohn vom Haufe, 
Das Halt du gut gemacht! :,: 
Er dürfte nicht bei unjerm frohen Schmauje! 
Den Humpen ihm gebradt! :,: 
überjeßer. 
Ihr jtaunet ob dem föniglichen Gait, 
Der jtolz ericheint inmitten eurem Rat, 
Ein Heim’icher doch, und doch ein Fremder fait. 
Ich bin's und bin ein andrer euch genadt; 
Nicht Szepter und nicht Krone rühm' ich mein, 
Doch führ' ih Kron' und Szepter in der Tat. 
Forſcht nicht und jchafft mir Platz in euren Reihn! 
Chor. 
Herein, herein! mit fremder Herricherfrone, 
Das haſt du gut gemadt! :,: 
12* 


180 


Gedichte: Lieber und Igrifch = epifche Gebichte. 





Dir fliege Wein, gereift in glüh’nder Zone! 
Den Humpen ihm gebracht! :,: 
Lyriker. 
Gewiegt in ihren weichen Armen, 
Gelehnt das Haupt an ihrer Bruſt, 
Da fühlt' ich wohlig mich erwarmen, 
Da ward Geſang aus ſüßer Luft. 

63 klang wohl gut in diefer Stunde; 
Doch, was es war, ich weiß e3 nicht: 
Nein Lohn — ein Kuß von ihrem Munde 
Und ihres Auges jtrahlend Licht. 

Ich jinge gerne, trinke gerne 
Und liebe wohl, geliebt zu jein: 
Mit eurem Lorbeer bleibt mir ferne, 
Don euren Weinen jchenkt mir ein! 


Chor. 
Herein, herein! du Lieblingskind der Muſen, 
Das Haft du recht gemacht! :,: 
Dir wärme Wein den liedervollen Bufen! 
Den Humpen ihm gebracht! :,: 
Maler. 
Ob ih ein Dichter ſei? Geht diefe Tafel, 
Wo Tarben Leben werden und der Geilt 
Hervor aus fchönen Formen jtrahlt! Ich bin 
Ein Glied von eurer Kette. Laßt mich ein! 
Chor. 
Herein, herein! du Dichterfürjt der Farben, 
Das haft du gut gemacht! :,: 
Du darfjt und nicht beim frohen Mahle darben; 
Den Humpen ihm gebracht! :,: 
Mufiker. 
Rauſchend auf Cherubs— 
Schwingen getragen, 
Verträum' ich mein Leben 
In Harmonien. 


55 


60 


65 


75 


80 


85 


90 


100 


105 


Herein! — Liederftreit. 181 


Aber es ſenkt jich 
Der Flug hernieder, 
Und in der Halle, 
Der feſtlich exhellten, 
Geh’ ich der Stühle 
Diele bereitet, 
Und der goldene Nektar blinkt, 
Empfangt mich gajstlich, 
Söhne der Muſen, 
Neicht mir die Schale, 
Trinkt mir die funfelnde zu! 
Chor. 
Herein, herein! Beherricher du der Tüne, 
Das Haft du gut gemadt! :,: 
Ihm fliege Wein, daß er jich hergewöhne! 
Den Humpen ihm gebradt! :,: 
Leſer. 
Ich habe meine Pflichten treu erfüllt, 
Genützt, wie ich geſollt; einheimiſch dann 
Im ſchönen Dichterlande, hab' ich Ohr 
Und Herz dem Zauber eurer Schöpfungen 
Geliehn und nicht den oft verſchuldeten, 
Den ſchweren Vorwurf über mich geladen, 
Daß ich, was beſſer ungeſchrieben wär' 
Geblieben, doch geſchrieben hätte; — nein, 
Ich trete kühn in dieſen Kreis, es ſind 
Die Hände mir von Tinte rein geblieben. 
Chor. 
Herein, herein! du ſeltenſter der Gäſte, 
Das haſt du gut gemacht! :, 
Er dürſte nicht bei unſerm frohen Feſte! 
Den Humpen ihm gebracht! :,: 
Liederftreit. 
Die Sänger ſaßen in dem Saal, 
Gelehnt auf ihre Harfen, 


182 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Nach dem Genofjen ihrer Wahl 
Sie rings die Blide warfen: 
Die Jünger ftreben hohen Drangs; 
Mer iſt ein: Meijter des Gejangs? 
Wem reichen wir die Balme? 
Der Sünger. 
Der Palmen nicht begehrend, naht’ 
Sch euch ehrwürd'gen Meijtern, 
DVerteilet jie nach weiſem Rat 
Den jangbegabten Geiftern! 
Mir jchläft dag Lied in tieffter Bruft 
Und träumt, fich ſelber unbewußt, 
Und kann fich nicht geftalten. 
Mich laßt, wo ihr begeijtert fingt, 
Bei mächt'ger Harfen Raujchen, 
Nach dem, was mir im Buſen ringt, 
Sn euren Liedern Yaujchen. 
Es Schwellen wogend Luſt und Schmerz; 
Ich bin ganz Ohr, ich bin ganz Herz, 
Und meine Tränen rollen. 
Die Sänger. 
Das deutiche Lied, der deutſche Laut 
Sind frei, jo wie Gedanfen; 
Ihr Sünger, die ihr euch vertraut, 
Mir öffnen euch die Schranfen. 
Verhalle, was nur leerer Schall, 
Und were jpäten Widerhall, 
Wem e3 ein Gott gegeben! 


Du aber fomm, jeltfamer Gaft, 
Du ſitzeſt bei uns nieder 
Und übjt die Gabe, die du haft, 
Du Widerhall der Lieder; 
Die Palme, die des Sieges Pfand, 
Wir legen fie in deine Hand, 
Dem Würd’gen ſie zu reichen. 
— — 


ot 


10 


15 


25 


30 


35 





10 


15 


20 


30 


Siederftreit. — Tie Lömwenbraut. 183 





Die Löwenbraut. 


Mm der Myrte geſchmückt und dem Brautgejchmeid”, 
Des MWärter Tochter, die rofige Maid, 

Tritt ein in den Zwinger des Löwen; er liegt 

Der Herrin zu’ Füßen, vor der er fich jchmiegt. 


Der Gewaltige, wild und unbändig zuvor, 
Schaut fromm und verjtändig zur Herrin empor; 
Die Jungfrau, zart und wonnereich, 
giebjtreichelt ihn janft und weinet zugleich: 


„Bir waren in Tagen, die nicht mehr find, 
Gar treue Gejpielen, wie Kind und Kind, 
Und Hatten uns lieb und hatten ung gern; 
Die Tage der Kindheit, jte liegen uns fern. 


„Du jchüttelteft machtvoll, eh” wir's geglaubt, 
Dein mähnenummogtes, königlich Haupt; 
Sch wuchs heran, du ſiehſt es, ich bin 
Das Kind nicht mehr mit kindiſchem Sinn. 


„O, wär ich ein Kind noch und bliebe bei dir, 
Mein ſtarkes, getreues, mein redliches Tier! 
Ich aber muß folgen, fie taten’3 mir an, 
Hinaus in die Fremde dem fremden Mann. 


„Es fiel ihm ein, daß ſchön ich jet; 
Sch wurde gefreiet, es ijt nun vorbei -— 
Der Kranz im Haare, mein guter Gejell, 
Und nicht vor Tränen die Blide mehr hell. 


„Verſtehſt du mich ganz? ſchauſt grimmig dazu; 
Ich bin ja gefaßt, jet ruhig auch du! 
Dort jeh’ ich ihn kommen, dem folgen ich muß, 
So geb’ ich denn, Freund, dir den lebten Kup!“ 


Und wie ihn die Lippe des Mädchens berührt, 
Da hat man den Zwinger erzittern gejpürt; 
Und wie er am Gitter den Züngling erichaut, 
Erfaßt Entjeßen die bangende Braut. 


184 Gedichte: Lieber und lyriſch⸗ epiſche Gedichte. 
Er ſtellt an die Tür ſich des Zwingers zur Wacht, 
Er ſchwinget den Schweif, er brüllet mit Macht; 
Sie, flehend, gebietend und drohend, begehrt 35 
Hinaus; er im Zorn den Ausgang wehrt. 


Und draußen erhebt fich verworren Geſchrei. 
Der Süngling ruft: „Bringt Waffen herbei! 
Ich ſchieß' ihn nieder, ich treff' ihn gut!“ 
Auf brüllt der Gereizte, jchäumend vor Wut. 40 

Die Unſel'ge wagt’3, ſich der Türe zu nah’n, 
Da fällt er, verwandelt, die Herrin an; 
Die Ichöne Geftalt, ein gräßlicher Raub, 
Liegt blutig, zerrifien, entjtellt in dem Staub. 

Und wie er vergojlen das teure Blut, 45 
Er Legt ſich zur Leiche mit finfterem Mut; 
Er Liegt jo verjunfen in Trauer und Schmerz, 
Bis tödlich die Kugel ihn trifft in das Herz. 

— — 
Der Bettler und ſein Hund. 


PD“ Taler erlegen für meinen Hund! 

So ſchlage das Wetter mich gleich in den Grund! 
Was denken die Herren von der Polizei? 

Was ſoll num wieder die Schinderei? 


Sch din ein alter, ein franfer Mann, 5 
Der feinen Grojchen verdienen kann; 
Ich Habe nicht Geld, ich habe nicht Brot, 
Ich lebe ja nur von Hunger und Not. 


Und wann ich erkrankt und warn ich verarmt, 
Wer hat fi) da noch meiner erbarmt? 10 
Mer hat, warn ih auf Gottes Welt 
Allein mich fand, zu mir fich gejellt? 

Wer hat mich geliebt, wann ich mich gehärmt? 
er, wann ich fror, hat mich gewärmt? 
Wer hat mit mir, warn ich hungrig gemurtt, 15 
Getroft gehungert und nicht gefnurrt? 


25 





Der Bettler und fein Hund. — Der Invalid im Srrenhaus. 





Es geht zur Neige mit uns zwei'n, 
63 muß, mein Tier, geichieden jein; 

Du bijt, wie ih, nun alt und krank; 

Sch ſoll dich erfäufen, das ijt der Dan! 
Das iſt der Dank, das ijt der Lohn! 

Dir geht’3 wie manchem Erdenjohn. 

Zum Teufel! ich war bei mancher Schlacht; 

Den Henker Hab’ ich noch nicht gemacht. 

Das iſt der Strid, das ijt der Stein, 
Das it das Waller, — es muß ja jein. 
Komm Her, du Köter, und fieh mich nicht an, 
Noch nur ein Fußſtoß, jo iſt es getan! 

Wie er in die Schlinge den Hals ihm gejteckt, 
Hat wedelnd der Hund die Hand ihm geledt; 
Da zog er die Schlinge jogleich zurück 
Und warf fie jchnell um fein eigen Genick. 

Und tat einen Fluch, gar jchauderhaft, 
Und raffte zufammen die lekte Kraft 
Und jtürzt in die Flut fi), die tönend jtieg, 
Im Kreiſe ſich zog und über ihm ſchwieg. 

Wohl ſprang der Hund zur Rettung hinzu, 
Wohl heult' er die Schiffer aus ihrer Ruh', 
Wohl zog er ſie winſelnd und zerrend her; 
Wie ſie ihn fanden, da war er nicht mehr. 

Er ward verſcharret in ſtiller Stund', 

Es folgt' ihm winſelnd nur der Hund; 
Der hat, wo den Leib die Erde deckt, 
Sich hingeſtreckt und iſt da verreckt. 


— Ge 
Der Invalid im Irrenhaus, 


1% Leipzig! arger Boden, 

Schmach für Unbill Ichaffteft dır. 

Hreiheit! hieß es, vorwärts, vorwärts! 
Trankſt mein rotes Blut, wozu? 


186 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Freiheit! vief ich, vorwärts, vorwärts! 
Was ein Tor nicht alles glaubt! 

Und von ſchwerem Säbeljtreiche 
Ward gejipalten mir das Haupt. 


Und ich lag, und abwärts wälzte 
Unheilſchwanger fich die Schlacht; 
Über mich und über Leichen 

Sanf die falte, finjtre Nacht. 


Aufgewacht zu graufen Schmerzen, 
DBrennt die Wunde mehr und mehr; 
Und ich liege Hier gebunden, 
Grimm’ge Wächter um mich her. 
Schrei’ ich wütend noch nach Freiheit, 
Nach dem bluterfauften Glüd, 
Peitſcht der Wächter mit der Peitſche 
Mich in ſchnöde Ruh? zurüd. 
— SR — 
Des Geſellen Heimkehr. 
m" Elopft jo ſtark? wer begehrt ins Haus? 
. Sch ſchließe nicht auf, mein Eh'herr ift aus.” — 
„And jag’ ich dir an, der Elopft, ijt dein Sohn, 
O Mutter, o Mutter, jo öffnet du ſchon.“ — 
„Bas fehrtejt du Heim, mein Sohn, Jo geſchwind, 
Bevor noch die Jahre verjtrichen find!" — 
„Sch kehrte Heim — ich war wohl betört — 
Haft, Mutter, du nie vom Heimweh gehört?" — 
„Mein Wann, befürcht ich, vernimmt's nicht gern; — 
O weh, daß ich freite den anderen Herrn!“ — 
„O weh, daß dem zweiten du Hin dich warfjt 
Und nicht mit dem Sohne dich freuen mehr darfit!" — 


„Nein Sohn, o jchone der Mutter dein 
Und laß das Gericht nur Gottes fein!” — 


10 


15 


10 


15 


25 


30 


= 35 


40 


45 


Der Invalid im Yrrenhaus. — Des Gefellen Heimkehr. 187 





„O meine Mutter! — doch mache mir fund, 

Wo weilt die Chriftel zu diefer Stund'?“ — 
‚Mein Mann ift jtreng, unfreundlich fait; 

Er trieb aus dem Haus den ihm läſtigen Gaſt.“ — 
„Des Sohnes Braut aus dem Haufe gejagt! — 
So auch den Sohn, jei Gott e& geklagt! 

„Das Heimweh trieb, ich kam geeilt; 

Die Heimat Hat gar bald mich geheilt. 

„Und falls Frau Mutter mich länger nicht hält, 
Möcht' weiter ich ziehn in die weite Welt. 
„Wohin — wen fümmert’3? — auf gutes Glüd, 
Und fäme vielleicht ſo bald nicht zurüd. 

„de! du gibjt deinen Segen mir doch — 

Und Gott vielleicht erbarmet fich noch!“ 

So jhied er und wandte zu gehen fih um; 

Die Mutter verharrte zitternd und jtumm. 

Und wie hinab er die Straße gewallt, 

Am Tor, vor der Wache, da machte er Halt. 


Stand Chrijtel dort im Soldatenſchwarm 
Und hing verbuhlt dem einen im Arm. 


Wie aber fie erſt den Gejellen erichaut, 
Verhüllt' fie ihr Antlig und meinte laut. 
Da Haben umher die Soldaten der Wacht 
Mit lärmendem Jubel fie ausgelacht. 

Er Hat nicht gelacht, er Hat nicht geweint; 
Er jtarrte fie an und war wie verjteint. 

Er raffte fich endlich, endlich auf 

Und jtürzte hinaus mit jchnellerem Lauf. 
Wohin? wen kümmert's? man weiß e3 nicht, 
Erzählt fich zur Kurzweil nur manche Gedicht. 
Er war hienieden jo ganz verarmt, 

Hat Gott vielleicht ſich jeiner erbarmt? 


188 Gedichte: Lieder und lyriſch- epiſche Gedichte. 


Sein Nam’, al3 eines Verſchollenen, hat 
Zu dreimal gejtanden im Wochenblatt. 





Die Sonne bringt 25 an den Tag. 


in der Werkſtatt jaß 
Zum Frühtrunk Meiſter Nikolas, 
Die junge Hausfrau ſchenkt' ihm ein, 
Es war im heitern Sonnenſchein. — 
Die Sonne bringt es an den Tag. 5 


Die Sonne blinkt von der Schale Rand, 
Malt zitternde Kringeln an die Wand, 
Und wie den Schein er ins Auge faßt, 
So jpricht er für ſich, indem ex erblaßt: 
„Du bringſt e8 doch nicht an den Tag.” — 10 


„Wer nicht? was nicht?” die Yrau fragt gleich, 
„Bas ſtierſt du jo an? was wirſt du jo bleich?“ 
Und er darauf: „Sei ftill, nur ſtill! 
Ich's doch nicht jagen kann noch will. 

Die Sonne bringt’3 nicht an den Tag.” 15 


Die Frau nur dringender forjcht und fragt, 
Mit Schmeicheln ihn und Hadern plagt, 
Mit jüßem und mit bitterm Wort; 
Sie fragt und plagt ihn fort und fort: 
„Bas bringt die Sonne nicht an den Tag?“ 20 


‚Rein, nimmermehr!" — „Du ſagſt es mir noch.“ — 
„Ich ſag' es nicht.” — „Du ſagſt e& mir doch.“ — 
Da ward zuleßt er mid’ und ſchwach 
Und gab der Ungejtümen nad. — 
Die Sonne bringt es an den Tag. 25 
„uf der Wanderjchaft, 's find zwanzig Jahr', 
Da traf es mich einjt gar jonderbar; 
%ch hatt’ nicht Geld, nicht Ranzen, noch Schub), 
War hungrig und durjtig und zornig dazu. — 
Die Sonne bringt’3 nicht an den Tag. 30 


35 


40 


45 


50 


50 


60 


65 


Die Sonne bringt e8 an ben Tag. 189 





„Da kam mir juft ein Jud' in die Due, 
Ringsher war’ ſtill und menjchenleer; 
Du Hilft mir, Hund, aus meiner Not! 
Den Beutel her, jonjt jchlag’ ich dich tot! 
Die Sonne bringt’3 nicht an den Tag. 


„And er: ‚Vergieße nicht mein Blut, 
Acht Pfennige find mein ganzes Gut!‘ 
Sch glaubt ihm nicht und fiel ihn an; 
Er war ein alter, jchwacher Mann — 
Die Sonne bringt’3 nicht an den Tag. 


„Sp rüdlings lag ex blutend da; 

Sein brechendes Aug’ in die Sonne jah; 

Noch Hob er zudend die Hand empor, 

Noch Ichrie ex röchelnd mir ins Ohr: 
‚Die Sonne bringt es an den Tag!‘ 


„sh macht ihn ſchnell noch vollends jtumm 
Und kehrt' ihm die Taſchen um und um: 
Acht Pfenn’ge, das war das ganze Geld. 
Sch ſcharrt' ihn ein auf jelbigem Ted — 
Die Sonne bringt’3 nicht an den Tag. 
„Dann zog ich weit und weiter hinaus, 
Kam Hier in Land, bin jebt zu Haus. — 
Du weißt num meine Seimlichkeit, 
So halte den Mund und fer gejcheit! 
Die Sonne bringt’3 nicht an den Tag. 


„Bann aber fie jo flimmernd jcheint, 

Sch mer? es wohl, was fie da meint, 

Wie fie ſich müht und jich erboſt, — 

Du, ſchau nicht Hin und jei getroft: 
Sie bringt es doch nicht an den Tag.“ 

So hatte die Sonn’ eine Zunge nun, 

Der Frauen Zungen ja nimmer ruhn. — 

„Sevatterin, um Jeſus Chrift! 

Laßt Euch nicht merken, was Ihr nun wißt!“ — 
Nun bringt’ die Sonne an den Tag. 


190 


Gedichte: Lieber und Iyrifch=epifche Gedichte. 





Die Raben ziehen frächzend zumal 

Nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl. 

Wen Flechten jie auf? Rad zur Stund’? 

Was hat er getan? wie ward es Fund? 
Die Sonne bracht’ e8 an den Tag. 


a — 


Das Auge. 
ir iſt der alte Müller befannt, 
Bolei, der wackre wird er genannt, 
Bettlägerig ins zwanzigite Jahr, 
Der Geijt noch fräftig, heiter und klar. 


Ihn rührte der Schlag in der Schredensnacht, 


Wo vom Stall herüber, vom Sturme gefacht, 
Der ungeheure Brand das Schloß 
Ergriff und über das Dorf ſich ergoß. 


Wo's galt zu retten, war ex dabei, 
Der erſte, der kühnſte, der wadre Bolet; 
Er meint und jprang in die Glut hinein, 
Der Stallfnecht möchte zu retten noch jein. 


Den Friß begrub der lodernde Graus, 
Selbſt fam ev mit brennenden Kleidern heraus; 
Und wie darauf er ind Waſſer Iprang, 

Ward er gelähmt auf fein Leben lang. 


Sein Aug’ iſt wunderbarlich hell, 
Den Kindern und Reinen ein freudiger Duell; 
Doch nimmer den jcharfen Lichtbliet exträgt, 
Wer ſelbſt im Buſen Nächtliches heat. 


Bolei war jüngjt im Haug allein; 
63 trat ein fremdes Weib zu ihm ein; 
Ein Fäßlein Branntwein trug ſie daher, 
Den bot fie feil und rühmte ihn ehr. 


„63 jteht nach Branntwein nicht mein Sinn; 
Geh’ du mit Gott nur wieder Hin!“ 


70 


or 


10 





Die Sonne bringt e8 an den Tag. — Das Auge. 191 


Sie ließ fich nicht abweijen und trat 
Zudringlid näher und troßte und bat. 


Er ſah fie an verwundert jchier: 
20 „Geh du mit Gott! was ſuchſt du noch hier?“ 
Sie machte frech der Worte noch viel, 
Bis ſcharf fein Blik ihr ins Auge fiel. 


Dem wollte fie nicht noch weichen jogleich 

Und wurde doch ſtumm und wurde doch bleich; 
35 Da jchrie fie auf: „Was ſiehſt du mich an? 
Was willit du? was Hab’ ich Böſes getan?” 


Er aber lag auf dem Lager dort, 
Sah bloß fie an und jprach fein Wort; 
Und zitternd jtand fie gefefjelt und jchten 
Unmächtig, fih dem Blick zu entziehn. 


„Bas willit du von mir, Entjeglicher, ſprich! 
Laß ab von mir! was peinigjt du mich? 
Sch bin nicht ſchuldig; was hältſt du Gericht? 
Wend' ab dein Auge, halte mich nicht!” 


35 Gr aber lag auf dem Lager dort, 
Sah jcharf fie an und ſprach Fein Wort. 
Und heftiger immer erzitterte fie 
Und rang, ſich loszureißen, und jchrie: 


„Wend' ab dein Auge! was Halt du exrdacht? 
50 Was hältſt du mich fejt? wer gibt dir die Macht? 
Was dringt dein Bli mit dem blutigen Schein 
Des lodernden Brandes jo auf mich ein?! 


„Wer redet vom Brande? was geht der mich an? 

Wie darfit du jagen: ich hab’ es getan?! 

Sch Tage: Nein! was feiner werk, 

Das macht mich nicht bang’ und macht mich nicht Heiß.“ 
Er aber jaß auf dem Lager dort, 

Sah ſchärfer fie an und fprach fein Wort. 

Sie rang, wie ihrer ſelbſt nicht bewußt, 

6° Da eriholl ein Schrei aus zerriffener Bruft: 


4 


oO 


5 


or 


192 Gebihte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 





„Du weißt e3 jchon, daß ich eg war! 
Nun ja! nun jal es ilt doch wahr! 
Der böje Yeind Hat mich verjucht, 

Die Liebe, was weiß ich? die Eiferjucht! 


„Das weißt du: Fritz, der die Eh” mir verſprach, 
Ging jeßt der Anne Marie doch nach; 
Ich hatt's ihm gejagt, und — wie er jchlief — 
Das Mefjer war Icharf, der Schnitt war tief. — 


„Er zappelte noch) und röchelte bang; 
Das Blut, dad rann die Dielen entlang; 
Er Hatte des Blutes entjeßlich viel! 

63 trieb der Böſe damit fein Spiel. 


„Ja, wenn die Flamme das Blut nur let 
Mit roter Zunge, jo wird e8 verdedt. 
Und unten im Stall war willig das Stroh, 
Auf einmal fladert e3 lichterloh!“ 


Sie ſprach's und jtöhnte und vaffte fich auf 
Und war verjchwunden in jchnellem Lauf. 
Er jah ihr nach erjchroden faft, 
Bis er zum Beten fih jtille gefaßt. 


—— he — 
Des Basken Etchehons Klage. 


(„Gazette des tribunaux.“ !) 


endarınen, ausgejendet, 
Zu fahen den Etchehon, 
Ihr ſucht ihn vergeblich zu Barcus, 
Er ijt zu den Bergen entflohn. 


Die Pyrenäen verbergen 
Ihn gaftlich in ihrem Schoß, 
Da teilt ex in bitterem Elend 
Des flüchtigen Wildes Los. 


1 Eine franzöſiſche kriminaliſtiſche Zeitjchrift. 


65 


80 


or 


Das Auge. — Des Basten Etchehons Klage. 193 





63 jtaunen Ya Soules Hirten 
10 Zu Eguiton ihn an 
Und reichen dag Brot des Mitleids 
Dem blutigen Sängersmann. 


Ihr jtaunt, mitleidige Hirten, 
Wie blutig die Hand mir je? — 
15 Zehn Jahre hab’ ich gejchmachtet 
Sin Ketten und Sflaveret. 


Sch Hab’ ein Weib mir gefretet 
- Sn meiner Jugend Kraft; 
Sie hat mich umſtricket in Xiebe, 
20 Mir Gift in das Haus nur gejchafft. 


Fünf Jahre lag ich in Ketten, 

War faum noch meiner bewußt; 
Sn Eiferjucht zehn Fahre, 

Die reißt exit ſcharf in die Bruft. 


25 Ich trug wohl, Gauiapal, 
Um dich der Ketten Laſt; — 
Wa3 trieb dich, mein Weib zu verführen, 
Der ſelbſt du ein Weib doch Haft? 


Du wußteſt Ränfe zu jchmieden, 
30 Du ſpannteſt um mich den Verdacht; 
Derweil in Sünde du jchivelgteit, 
Verkam ih in Kerkersnacht. 


Ich lag in Ketten, im Kerker, 
Auf Stroh, in Elend und Not, 
35 Erweichte mit meinen Tränen 
Mein hartes, mein trodenes Brot. 


Du, übermüt’ger Gejelle, 
Warſt Herr in dem Haufe mein 
Und jchliefeft auf meinen Pfühlen 
40 Und tranfejt von meinem Wein. 
Chamijjo. L 13 





194 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Und als den Tag der Freiheit 
Ich endlich, endlich geſchaut, 
Da dünkte reif uns die Rache, 
Da hat es vor mir dir gegraut. 


Ja, zittre, tückiſcher Bube! 
Ich lade verhängnisvoll 

Ins Feuerrohr die Kugel, 
Die nieder dich ſtrecken ſoll. 


So harrt' ich zu Nacht bei der Brücke 
Von Barcus auf dich, mein Ziel; 
Es trieben die Geiſter der Hölle 
Mit mir ihr grauſiges Spiel. 


Ich ſah dich; du kamſt gegangen; 
Ich zielte ſicher und gut; 

Ein Druck — und — Etchegoyen 
Lag röchelnd in ſeinem Blut. 


Mein Etchegoyen, der liebend 

Mich ſtets zu erfreuen geſtrebt! — 
Das iſt das Blut, ihr Hirten, 

Das mir an den Händen klebt. 


Und nicht vergebens ſchreit es 

Um Rache zum Himmel empor; 
Du biſt mir, Eguiapal, 

Der Schuldige, ſiehe dich vor! 


Du mochteſt frevelnd dich rühmen, 
Wie trefflich dir alles gelang; 

Durch dich ein gleiches Verderben 
Die Beſten von Barcus umſchlang. 


Bin müde, nur Lieder zu dichten 
Zu müßigem Zeitvertreib, 

Nur Tränen der Wut zu weinen, 
Gleich einem gekränkten Weib. 


43 


60 


Des Basten Etchehons Klage. — Das Mädchen zu Cabir. 195 


Es zieht mit Gewalt mich hinunter, 
Hinunter ins heimiihe Tal; 
75 Ob ich, ob du jolljt dienen 
Den Geiern des Himmels zum Mahl? 


> 


Das Küdchen zu Cadirx. 
mw“ ein Schlechter unter Schlechten, 


j Um die Spanierin du buhlen? 
Girrend zu der Laute jingjt du, 
Und der Franke hält die Runde. 


5 „Geht, ich kenn’ euch, Taubenherzen! 
Geht, ich kenn’ euch, Andalufier! 
Euch die Spindel, uns die Waffen, 
Beiler jtänd’3 mit Spaniens Ruhme! 


„Regen fich in ihrer Scheide 
10 Eure Meſſer ungeduldig, 
Durſtend nach) dem Blut der Fremden, 
Sprecht ihr zu dem Eijen: Ruhig! 


, „D, der übermüt'gen Fremden! 
Über euch jei ihre Rute, 

15 Über euch, ihr feigen Knechte, 
Würdig jolher Nebenbuhler!“ — 


„Herrin, Worte ſchweren Inhalts 
Sprichſt du aus mit leichter Zunge; 
Stehit du mit den fremden Henkern 
20 Scherzend gegen mich im Bunde?“ — 
„Dünken dich, mein zarter Knabe, 
Schon des Mädchen? Worte furchtbar? — 
Sieh den Franken! — willſt du Schuß nicht 
Unter meinem Mantel ſuchen?“ — 
25 „Unverhohlen, was begehrit du? 
Eh ih jolde Schmach erdulde, 
13* 





196 


_Gerihte: Lieber und Lpeifh -epilde Gebiete, 
Will ich jede Tat begehen, 
Sehen jelber dann zugrunde!” — 
„Diefer fommt im Glanz der Waffen 
Und vertrauet jeiner Jugend; 
Biſt ein Spanier du, beweil’ es, — 
Nieder mit dem jtolzen Buben!“ — 
Uber röchelnd lag der fremde 
Krieger ſchon in jeinem Blute; 
Schergen holten ein den Täter, 
Brachten ihn daher gebunden. 
Und das Mädchen jang Frohlodend: 
„Diesmal it es mir gelungen! 
Eines Toren werd’ ich ledig, 
Und der Franke zahlt die Buße.“ 
Diefe Worte hört der Spanter, 
Winket jchweigfam ſeiner Buhlen, 
Ziehet jchweigfam dann vorüber, 
Finſtern Sinnes, kecken Mutes. — 
‚Nicht ihr, Franken, gebt den Tod mir, 
Nicht um Sühne muß ich bluten, 
Weil ich Spanien? Boden jchmücte 
Wit dem ihm verfallnen Purpur. 
‚Nein, ich trag’ in meinem Herzen 
Schweigſam jchon die Todesiwunde; 
Meine Herrin hat gerichtet, 
Meine Stunde hat gerufen!’ — 
Alſo jang er dor der Fronte, 
Als die Augen ihm verbunden; 
Auf den Wink des Führers Tank er, 
In dem Herzen jieben Kugeln. 


el em 
ur 


Nächtliche Fahrt. 


J. Purpur pranget der Abend, 
Der Landwind hebet ſchon an; 





30 


35 


40 


45 


50 





25 


30 


Das Mädchen zu Cadix. — Nächtliche Fahrt. 197 





Zur Luftfahrt ladet der Filcher 
Did, Mädchen, in feinen Kahn.” — 


„Noch heißer begehr’ ich jelbander 
Wit dir zu fahren als du. 

Gib voll das Segel dem Winde! 
63 kommt zu jtenern mir zu.” — 


„Du ſteuerſt zu fühn, o Mädchen, 
Hinaus in das offene Meer; 
Du trauejt dem leichten Fahrzeug 

Bei Hohen Wellen zu ſehr.“ — 


„Mißtrauen jollt ich dem Fahrzeug? 
Ich Habe dazu nicht Grund, 

Die einjt ich deiner Treue 
Getrauet in böjer Stund'.“ — 


„Unfinnige, wende das Ruder! 
Du bringejt uns beide in Not; 

Schon treiben der Wind und die Wellen 
Ihr Spiel mit dem jchwachen Boot. — 


‚zaß treiben den Wind und die Wellen 
Mit diefen Brettern ihr Spiel! 

Hinweg mit Rudern und Segel! 
Hinweg! ich bin am Ziel. 


„Wie du mich einst, jo Hab’ ich 
Dich Heut zu verderben berüdt; 

Nach’ Frieden mit dem Himmel; 
Denn fiehe, der Dolch ijt gezückt! 

„Du zitterjt, verivorfner Betrüger, 
Vor dieſes Meſſers Schein? 

Verratene Treue fchneidet 
Noch ſchärfer ing Herz hinein! 

„And manche betrogene Buhle 
Härmt Stille zu Tode fich: 

Sch weiß nur, mich rächend, zu fterben. 
Weh über di und mich!" — 


198 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Der Yüngling rang die Hände, 
Der eigenen Schuld bewußt; 
Sie ftieß den Dolch in das Herz ihm, 
Und dann in die eigene Bruſt. 40 


63 trieb ein Wrack an das Ufer 
Dei wiederfehrender Flut; 

Es lagen darauf zwei Leichen 
Gebadet in ihrem Blut. 


—— 
Die Sterbende. 


Hi ihallt vom Turm herab, 

Es ruft der Tod, es gähnt ein Grab. 
Ihr fünd’gen Menſchen zum Gebet! 

Gin gleiches Los bevor euch jteht. 


Im Sterben liegt ein ſchönes Weib, 5 
Sie weint um ihren jungen Leib, 
Sie weint um ihre Jünd’ge Luit, 
Sie ringt die Hände, fie jchlägt ihre Bruft. 


63 harrt des Ausgangs ihr Gemahl, 
Blickt Starr und kalt auf ihre Dual; 10 
Sie mwindet ſich in diefer Stund’ 
Zu jeinen Füßen, jte öffnet den Mund: 


„Vergib mir, Gott, in deiner Huld! 
Dergib, Gemahl, mir meine Schuld! 
Ich ag’ es an in bittrer Rew; 15 
Weh mir! ich brach geſchworne Treu'.“ — 


„Vertrauen iſt Vertrauen wert! 
Und machſt du mir kund, wie du mich entehrt, 
So mach' ich dir kund in deiner Not: 
Du ſtirbſt am Gift, das ich dir bot.“ — 20 


Di 





20 


Nächtliche Fahrt. — Die Sterbende. — Die Giftmifcherin. 


Die Giftmiſcherin. 


Die hier der Block, und dorten klafft die Gruft. 


Laßt einmal noch mich atmen dieſe Luft 
Und meine Leichenrede ſelber halten. 
Was ſchauet ihr mich an ſo grauſenvoll? 
Ich führte Krieg, wie jeder tut und ſoll, 
Gen feindliche Gewalten. 
Ich tat nur eben, was ihr alle tut, 
Nur beſſer; drum, begehret ihr mein Blut, 
So tut ihr gut. 


Es ſinnt Gewalt und Liſt nur dies Geſchlecht; 
Was will, was ſoll, was heißet denn das Recht? 
Haſt du die Macht, du haſt das Recht auf Erden. 
Selbſtſüchtig ſchuf der Stärk're das Geſetz, 
Ein Schlächterbeil zugleich und Fangenetz 

Für Schwächere zu werden. 
Der Herrſchaft Zauber aber iſt das Geld: 
Ich weiß mir Beſſres nichts auf dieſer Welt 

Als Gift und Geld. 


Ich habe mich aus tiefer Schmach entrafft, 

Vor Kindermärchen Ruhe mir geſchafft, 

Die Schrecken vor Geſpenſtern überwunden. 

Das Gift erſchleicht im Dunkeln Geld und Macht; 

Sch Hab’ es zum Genofjen mir erdacht 
Und hab’ es gut befunden. 

Hinunter jtieß ich in das Schattenreich 

Mann, Brüder, Bater, und ich ward zugleich 
Geehrt und reich. 


Drei Kinder waren annoch mir zur Laſt, 
Drei Kinder meines Leibes; mir verhaßt, 
Erſchwerten fie, mein Ziel mir zu erreichen. 
Ich Habe fie vergiftet, fie geſehn, 
gu mir um Hilfe rufend, untergehn, 

Bald jtumme, Falte Leichen. 


199 


Gedichte Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 
Ich hielt die Leichen lang’ auf meinem Schoß 
Und jchien mir, fie betrachtend tränenlos, 
Erſt Stark und groß. 


Nun frönt ich ficher heimlichem Genuß; 
Mein Gift verwahrte mich vor Überdruß 
Und ließ die Zeugen nach der Tat verjchwinden. 
Daß Lult am Gift, am Morden ich gewann, 
Wer, was ich tat, erwägt und fallen fanın, 
Der wird's begreiflich finden. 
Sch teilte Gift wie milde Spenden aus 
Und weilte Lüjtern Auges, wo im Haus 
Der Tod hielt Schmaus. 


Ich habe mich zu ficher nur geglaubt 
Und büß’ es billig mit dem eignen Haupt, 
Daß ich der Vorſicht einmal mich begeben, 
Den Yehl, den einen Fehl berew ich nur 
Und gäbe, zu vertilgen deſſen Spur, 
Wie viele eurer Leben! 
Du, ſchlachte mich nun ab, es muß ja fein! 
Ich blicke ſtarr und feſt vom Nabenjtein 
Ins Nichts hinein. 


—— 


Der Tod des Rüubers. 
Nah Delavigne.) 


Dem Söldner zahlt den ausgerufnen Preis! — 
Der ſonſt um Romas Mauern weit im Kreis 


Gemordet und geraubt, liegt überwunden; 

Der Schreckliche verſpritzt aus tiefen Wunden 
Sein Blut ſo heiß. 

Die Seinen haben ihn hinabgetragen 

In ihre Höhle, wo beim Fackelſchein 

Um den Gefallnen ſie gekauert klagen; 

Der Alte liegt beſinnungslos, allein 
Die Pulſe ſchlagen. 


40 


15 


30 


40 


Die Giftmifcherin. — Der Tod des Näubers. 201 





Der ſpäht, indem den Brand er näher jchiebt, 

Ob er fein Lebenszeichen von ſich gibt, 

Der Ipricht, indem er geht, das Grab zu graben, 

Und jeine Tränen er verichludt: „Wie haben 
Mir ihn geliebt! 

Die um das Sterbebett des Papſtes weilen, 

Sie haben nicht für ihn die Herzlichkeit. 

Wie wußt' er zu der Plünderung zu eilen! 

Wie ſtark im Kampf und welche Ehrlichkeit 
Sodann beim Teilen! 


Er war ein echter Chrift vom alten Schlag; 

Gr hielt die Falten, wie nur einer mag, 

Die heil’ge Kirche nebſt den Heil’gen ehrt’ ex, 

Und Raub und Mord und jedes Werk verivehrt er 
Am Feiertag. 

Da hatte nicht ein Chrijtenfind zu beben; 

Der Ketzer durfte nur, wie ſich's gebührt, 

Der Engeländer uns zu jchaffen geben. — 

Beeifert euch, wenn's jo zu jterben führt, 
Noch Fromm zu leben! 


Nun regt er jich; erwartet ſein Gebot!" — 

Er jtredt die Hand aus, breit und blutig rot, 

Sie juchet jeine Flinte noch zu fallen; 

Nicht will ex von der alten Waffe laſſen, 
richt in den Tod. 

Sie war jo manche Jahre fein getreuer, 

Sein einziger Beichüber und Genof; 

Er freut ſich ihrer, die ev hält jo teuer, 

Verſucht mit jtarrem Finger noch das Schloß — 
Da gibt fie Feuer. 


„Schon gut, du fennjt mich noch; — indeſſen rafft 
Der Söldner mich inmitten meiner Kraft; 
Ich kann nicht jelber meine Rache nehmen; 
Du mußt dich einer jtärfern Hand bequemen, 
Die Rache Ichafft. 


202 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Durch dich getroffen, mu der MWicht erjtarren, 
Den ſchuldeſt du mir noch, verfage nicht! 
Sie werden in die Erde mich vericharren! 
Drei Tage geb’ ich Zeit; tu’ deine Pflicht, 
Ich werde harren.” 50 


Des Weges z0g ein Mönch von ungefähr; 

Mit Geld und milden Gaben hatten ſchwer 

Die Gläub’gen ihn beladen; diejeg bracht’ er 

Dem Kloſter zu, des Geldes nur gedacht’ er; 
So zog er her. 55 

Ein Räuber hieß, ehrfürdhtig die Gebärde, 

Das Haupt entblößt, ihn folgen zu dem Plab; 

Er fam unweigerlich, den Blick zur Erde, 

Mit leiſem Schritt, daß klingend nicht jein Schat 
Verraten werde. 60 


Und brünſtig betet? ev zu Gott empor; 

Da Lang dies Wort unheimlich in jein Ohr: 

„Ihr Tollt mich beichten hören, mich entbinden, 

So lieb Euch Euer Kopf it, meiner Sünden. 
Confiteor: 

Es laſtet mancher Mord auf meiner Seele, 

Darauf war einmal mein Gewerb’ gejtellt.“ 

Demütig ſprach mit angſtgeſchnürter Kehle 

Der Mönch: „Wer it, mein Sohn, in diefer Welt 
Ganz frei von Fehle?“ 


Erbaulich Ereuzigte, wer um ihn jtund, 

Ber jeden Mord ſich traurend, den fein Mund 

Berichtete; und ferner jprach der Alte: 

„Wie fich’3 mit meinem Nachlaß noch verhalte, 
Ich mach’ es Fund. 

Im Namen Gottes und der Jungfrau follen 

Gehören meinem Weib Geſchmeid' und Tand; 

Dir mein Gewehr, um Rache mir zu zo0llen! 

Euch, Herr, mein Geld! — die Seel in Gottes Hand! 
Mög’ er fie wollen! 








Der Tod des Näubers. 203 


Der Mönch empfing in Schreden feinen Lohn 
Und gab dem Sünder Abjolution; 
Dann trat das ſchöne, Weib herein mit tieren, 
Mit ſtolzen Augen, in den Armen ihren 
Unmiünd’gen Sohn. 
„Tot“, rief fie, „tot! doch hat er nicht die Seinen 
Berlaffen, und fein Teiger Liegt er da!" — 
„Nein! jchrie er zornig auf, „wer dürft? e8 meinen?“ 
Das Kind indeſſen meinte, weil e3 ſah 
Die Mutter weinen. 


Sie warf fich neben den geliebten Mann, 
Nahm in den Schoß jein Haupt und weinte dann. 
Ihm klapperten vor Schmerz die Zähne heftig; 
Bezwingen wollt’ er fich noch willenskräftig; 

E3 ging nicht an. 
„Bir werden länger nicht vereinigt bleiben; 
Leb' wohl, du gutes Kind! e8 wird nun wahr: 
Der jcheidet, will auch uns vonſammen treiben.‘ 
Er lächelte, — Jein Lächeln aber war 

Nicht zu beichreiben. 


„And weißt du noch den Kuß, der und verband, 
Den eriten, als im Wald ich einjt dich fand, 
Dich widerſtrebend feſt umfchlungen hatte 
Und liebesſtark, dein Bräutigam, dein Gatte, 
Dich überwand? 
Co laß mit einem letten Kup uns jcheiden! 
Nicht wonnetrunfen, taumelnd, unbewußt, 
Nein, jchmerzenreich befiegelt ev ung beiden 
Wie jener erjte dort die erſte Luft, 
Die letzten Leiden. 


„Es will nicht taugen, daß du einfam bilt; 

Nimm einen wadern Mann nad furzer Frift, 

Und beide Tiebet meinen armen Knaben! 

Sat, wie ich jelbit, ihn Gott vor Augen Haben 
Als guter Chriit! 


204 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 





Wann dreizehn Jahr er alt it, jo erjchein’ er 

Zum Abendmahl; dann ſprich zu ihm das Wort: 

‚Dein Vater, der dich ſchaut, war fühn wie feiner; 

Sieh hier jein Grab, die offne Straße dort, — 
Und denfe jeiner!““ 


Er ſprach's; dann ging's zu jterben; in dev Wut 
Der Schmerzen wälzt ex jtöhnend fi im Blut, 
Das Antlitz bleih, von Angſtſchweiß überflofjen. 
Noch rief ev: „Ave!“ — „Amen!“ die Genofien 
Mit trübem Mut. 
Dann ſank jein mides Haupt zurüd. SHienieden 
Gebührt die Chr’ ihm: Yeuert in die Luft 
Joch dreimal die Musfeten! jchaffet Frieden 
Vor Kinderjchrei um dieſes Mannes Gruft! 
Er iſt verjchieden. 


EICH 
CRYz£) 








Der Graf und Der Leibeigene, 
1 


1%: Graf, die Jagd und wende dein Roß! 
63 wird, bevor du erreicheit dein Schloß, 
Wo freißend die Gräfin begehret dein, 

Der Erbe vielleicht dir geboren fein. 


Wie iprengt ex daher mit freudigem Mut! 
Nie trieft der Rappe von Schweiß und von Blut! 
Die Burg erreicht er mit letzter Kraft, — 
Verwirrung herrſcht in der Dienerjchaft. 


63 dringt in das Frauengemach der Graf; 
Die MWöchnerin liegt in ruhigem Schlaf, 
Die Frauen entfernt, die Fenſter verhängt, 
Die Wiege dicht an das Bette gedrängt. 


Er deckt die Wieg’ auf, atmend kaum; — 
Zwei Knaben faßt der enge Raum, 
Zu Haupt liegt einer, der andre am Fuß; 
ie ſchwelgt num fein Herz in Überfluß! 


130 


30 


35 


40 


45 


Der Tod des Räubers. — Der Graf und der Leibeigene. 








Er hebt den einen, den andern mit Luſt 
Aus enger Wiege an jeine Bruit; 

Er legt jie beifammen, und wieder hervor 
Sie hebend, hält er die beiden empor. 

„Wie bin ich jo reich, wie war ich jo arın! 
Nun wieg’ ich der Sprößlinge zwei im Arm; 
Nun grünt mein Stamm in Uppigkeit; 

Yun ſoll er mir ragen in Herrlichkeit!“ 


Da fommt die Wehemutter hevem; 
Sie ahndet ſchon, was gejchehen mag jein, 
Sie hört und ſieht ihn erjchroden an: 
„Bas halt du, Graf, was haft du getan? 


„Entbunden ward mit der Herrin zugleich 
Die Schaffnerin, — was wirjt du jo bleih? — 
Sie hat, die hier fich geſchäftig verlegt, 
Der Kinder eins in die Welt gejett. 


„gu Häupten lag, der dir gehitt, 
Der andre zu Füßen, wie fich’3 gehört. 
er ijt dein Blut, wer dein Geſchlecht? 
Leibeigen wer und niedrer Knecht?“ 


Da ruft er entjeßt: „Was hab’ ich getan? 
Mein Sohn, mein Sohn! wer zeigt mir ihn an?“ 
Erwachend ruft die Gräfin: „Mein Kind! 

D, gebt mein eigenes Kind mir gejchwind!” 


Bergeblihe Klage! Kein Zeuge jpricht, 
Zu fennen jind die Kinder nicht, 
Verloren iſt der Irrung Spur, | 
Die Zeichen jchweigen, es jchweigt die Natur. 


19) 


— 


„Bald Legt jih der Alte zur lebten Ruh’, 
Und fällt fein brechendes Aug’ exit zu, — 
Auf welcher Seite jei das Recht, — 
So bin ich der Herr, jo biſt du der Knecht.” — 


205 


206 


Gedichte: Lieber und Iyrifch=epifche Gedichte. 


„Du, Doppelgänger, bijt mir fait, 
So wie ich dir, in der ©eele verhaßt; 


Und ſchläft er... ich frage nach feinem Recht, 
Sp bin ich der Herr, jo bit du der Knecht.” — 


„sh bin dev Graf, wer widerjagt 
Dem hochgeborenen Herrn? Wer wagt 
Verblendet gegen mich den Raub? 

Vor mir, Leibeigener, in den Staub!" — 


„sch bin der Graf und dulde hier 
Dein blafjes Bild nicht neben mir; 
Sch werfe dich in den tiefiten Turm; 
Zu meinen Füßen freuh, du Wurm!” — 


„Wenn ſchmähen deine Zunge darf, 
Sit doch dein Schwert viel minder jcharf, 
Sonſt müßte bald entjchieden jein 
Wohl zwiichen ung da3 Nein und Dein.’ — 


„Was warten wir, daß fein Auge bricht? 
Sch fälle dich gleich, du Böſewicht!“ —- 
„Was warten wir? das ſprachſt du gut; 
Gleich dünge mein Land dein ſchwarzes Blut!“ 

Bernahmit du, Graf, der Waffen Klang 
Vom Hag herüber die Halle entlang? 
as trägt dein ſchwankender Fuß dich dahin? 
Ach! Unheil ahnet dein finjterer Sinn. 

Und über zwei Leichen auf blutigem Grund 
Da ringt er, verwailt, die Hände wund 
Und meint die alten Augen blind 
Und jchüttelt fein greifes Haar in dem Wind. 


ig 
Der Waldmann, 


er Wandrer eilt das Tal hinauf, 
Er jteigert fait den Schritt zum Lauf; 


50 


55 


60 


65 


70 


[413 


10 


15 


20 


30 


Der Graf und der Leibeigene. — Der Waldmann. 


Der Pfad iſt ſteil, die Nacht bricht ein, 
Die Sonne ſinkt in blut'gem Schein, 
Die Nebel ziehn um den Drachenſtein. 
Und wie er bald das Dorf erreicht, 
Ein ſeltſam Bild vorüberſchleicht, 
Geſpenſtiſch faſt, unheimlicher Gaſt. — 
Drückt ihn annoch des Lebens Laſt? 
Gewährt das Grab ihm keine Raſt? 
„Ihr friedlichen Leute, was zaget ihr 
Und kreuziget euch und zittert ſchier?“ — 
„Ob mir das Haar zu Berge ſteigt, 
Ich ſag's dir an, wenn alles ſchweigt: 
Es hat der Waldmann ſich gezeigt.“ — 


„Der Waldmann?“ — „Ja. Du wirſt nicht bleich, 


Du biſt hier fremd, ich dacht' es gleich; 
Ich bin ein achtzigjähr'ger Mann 
Und war ein Kind, als ſich's entſpann; 
Ich bin's, der Kunde geben kann. 

„Die Drachenburg ſtand dazumal 
Stolz funkelnd noch im Sonnenſtrahl; 
Da lebte der Graf in Herrlichkeit, 

Bei ihm, bewundert weit und breit, 
Das junge Fräulein Adelheid. 

„Der Schreiber Waldmann, höflicher Art, 
Trübſinnig, blaß und hochgelahrt, 
Erfreute ſich der Gunſt des Herrn; 

Er ſah das Fräulein nur zu gern, 
Und der Verſucher blieb nicht fern. 

„Zu reden wie er kein andrer verſtund; 
Er webte fein mit falſchem Mund 
Das Netz, womit er ſie umſchlang; 

Er ſprach von Lieb', er ſprach von Rang, 
Von freier Wahl und hartem Zwang, 

„Von Gott und Chriſto nebenbei 

Und Sündenhaftes allerlei; 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 





So hat er ſie bejtürmt, geplagt, 
Gequält, umgarnt, ſei's Gott geklagt! 
Bis ſie ihm Liebe zugeſagt. 

„Spät ward's dem Vater hinterbracht, 
Sein Zorn, ſein Mitleid ſind erwacht; 
Sein Kind Erbarmen bei ihm fand; 

Der falſche Schreiber ward verbannt 
Bei Leibesſtrafe von Burg und Land. 

„Schön Adelheid in Tränen zerfloß, 
Der Waldmann aber irrt' um das Schloß; 
Er kannt' nicht Ruh', er wußt' nicht Rat, 
Er wütete, brütete früh und ſpat 
Und ſann auf ſchauerliche Tat. 

„Er ſandt' ihr heimlich einen Brief, 
Wovor es kalt ſie überlief: 

Zuſammen ſterben! hieß es darin; 
Getrennt zu leben, bringt feinen Gewinn; 
Nach einem Dolchftoß ſteht mein Sinn. 


„Du ſchleichſt zu Nacht aus des Schloſſes im 


Und ftellft dich ein beim Käſtenbaum! 
Beitellt das Brautbett findejt du, 
Das Bett zur langen, langen Ruh'; 

Am Morgen deckt dein Vater uns zu. 
„And wie in jchiverem Fiebertraum 
Zog's fie zu Nacht nach dem Käjtenbaunt. 
Ob da Sie jelbjt den Tod begehrt, 
Ob widerjtrebt, ob ſich gewehrt, 


Die Nacht verbirgt’3, fein Menſch es erfährt. 


„Der Tag, wie er in Oſten ergraut, 
Hat exit das blut’ge Werk gejchaut; 
Gr hat in der Geliebten Bruft, 

Die Liebe nur atmet und ſüße Luft, 
Den Dolchſtoß Jicher zu führen gewußt. 
„Wie aber fie ſank in feinen ent, 


Ihr Blut verjprißte jo vot und warn, 


40 


45 


60 


— — — — — — 


75 


90 


95 


Der Waldmann. — Vergeltung. 





Da merkt’ ex exit, wie das Sterben tut, 
Da ward er feig, da jank fein Mut, 
Da dünkt' e8 ihn zu leben gut. 


„Er hat die Leiche Hingejtrect 
Und ijt entflohn und Hat fich veritedt. 
Es ward das Schrecknis offenbar, 
Wie kaum die Arme verblichen war; 
Der Vater zerraufte ſein greiſes Haar. 


„Er hat dem Mörder grauſig geflucht: 
Dem Tod zu entkommen, der drohend ihn ſucht; 
Er hat das Grab der Tochter beſtellt, 
Er hat ſich bald zu derſelben geſellt; 
Sein Stamm verdorrt, die Burg zerfällt. 


„Der Waldmann dort bei den Gräbern hauſt, 
Beim Käſtenbaum, wann der Sturm erbrauſt, 
Geſpenſtiſch faſt, unheimlicher Gaſt. — 

Drückt ihn annoch des Lebens Laſt? 
Gewährt das Grab ihm keine Raſt? 


„Man weiß es nicht; doch wann er ſteigt 
Hinab zu Tal, im Dorfe ſich zeigt, 
So folgt ihm Unheil auf dem Fuß; 
Verderben bringt ſein ferner Gruß, 
Und wen er anhaucht, ſterben muß.“ 


—— 
Vergeltung. 


ie der Mai du anzuſchauen, 
Wonnereiche, Zarte, Feine, 
Mit des Haares Gold, der blauen, 
Klaren Augen Himmelsreine; 
Mit den Lippen von Korallen, 
Mit der Gabe zu gefallen, 
Holdes, ſüßes Mägdelein! — 
Mußt, unſeligſte von allen, 
Du des Henkers Tochter ſein?! 


Chamiſſo. L. 14 


209 


210 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 








Und der Vater fam nach Haufe 
Düftern, fait verjtörten Mutes; 
Ihn verfolgt das Bild, das graufe, 
Des am Tag vergojj’nen Blutes: 
„Haben, die den Stab gebrochen, 
Nach den Rechten auch geiprochen, 
Schreit um Rache doch dies Blut; 
Jene Rechte find bejtochen, 

Sind der Unterdrüder Gut. 


„Sa, die Mächt’gen, die Beglüdten, 
Sa, die Götter diefer Erden! 
Ihnen muß der Unterdrücten 
Sühnend Blut geopfert werden, 
Kein von Blut find ihre Hände; 
Das Geſetz verlangt die Spende, 
Wie der Richter jelber Tpricht; 
Sch Verworfner bring's zu Ende, 
Ob das Herz darob mir bricht. 
„Recht und Freiheit! rufen wollte 
Diejer noch, da ſcholl der dumpfe 
Trommelſchlag, — ein Wink, — es rollte 


Schnell fein Haupt, getrennt vom Rumpfe, 


Morgen werden Mütter weinen; 
Morgen folgen zwei dem einen, 
Und gebrandmarkt werden dreil — 
Möchte noch der Tag mir jcheinen, 
Wo Vergeltung Lojung ſei!“ — 
Wühlt in jeines Herzens Wunden 
So der Alte trüb und trüber, 
Und die nächtlich bangen Stunden 
Stehen träg an ihm vorüber; 
Ewig jcheint die Nacht zu dauern; 
Wahngebilde jteht er lauern, 
Wo jein Auge jtarrend ruht, 
Sieht an den geweißten Mauern 
Rieſeln der Gerechten Blut. 


10 


25 





50 


5 


60 


80 


Bergeltung. 


Und ex hofft die düſtern Sorgen, 
Sich beſchäft'gend, abzuitreifen; 
Im voraus zum andern Morgen 
Will er Beil und Meſſer jchleifen, 
Will am Herde ſich bemühen, 
Noch die Stempel auszuglühen, 
Die er morgen brauchen joll; — 
Blutrot jieht er Funken ſprühen 
Um da3 Eijen fchredenvoll. 


Blut und Blut! die graujen Bilder 

Stürmen auf ihn ein und hadern; 
63 empöret wild und wilder 
Sich da3 Blut in feinen Adern; 
Frieden hofft er nur zu finden, 
Sich der Angjt nur zu entwinden 
Sn der reinen Unſchuld Näh': 
„Diefer Spuk, er wird verichtoinden, 
Wann ich meine Tochter jeh. 

„Nahen will ich ihr, mich halten 


Ihr zu Häupten, nur fie jchauen, 


Zum Gebet die Hände falten 

Und auf meinen Gott vertrauen.” — 
Wie er jagte, aljo tat er; 

Sorglich, leichten Schrittes naht?’ er, 
Nicht zu ſtören ihre Ruh’. — 

Was, verzweiflungspoller Bater, 
Zuckſt dein jcharfes Meſſer du? 

Ach, du ſieheſt, weh dir Armen! 
Siehjt den Wüſtling, ſiehſt den Grafen, 
Siehjt der Tochter in den Armen 
Den DVerführer eingejchlafen. 

Im Begriff, den Stoß zu führen, 
Wirt du andre noch erfüren, 

Sa, du wirft das Meſſer weit, — 
Zeit war's, jene Glut zu jchüren, 
Und der Stempel Liegt bereit. — 


14* 


211 


219 Gedichte: Lieder und lyriſch⸗ epiſche Gedichte. 


„Wirſt nicht, Schandbub', mit dem Leben 
Nur die Freveltat mir büßen; 
Werde meinen Fluch dir geben, 
Und du wirſt dich krümmen müſſen! 
Trage du auf deiner bleichen 
Stirne dieſes Kainszeichen, 
Eingebrannt von meiner Hand! 
Magſt ſo ungefährdet ſchleichen, 
Mann der Sünde, durch das Land!“ 
Ziſchend brennt ſich ein das Eiſen; 
Schreiend fährt er aus dem Schlafe 
Und erblickt den grimmen Greiſen 
Mit dem Werkzeug ſeiner Strafe. — 
„Zeuch von hinnen! Dein Erwachen 
Möge den noch glaubend machen, 
Der Vergeltung nicht geglaubt; 
Gott iſt mächtig in dem Schwachen!“ 
Spricht's und wiegt ſein graues Haupt. 
— ⸗ 
Der König im Norden.“* 
3 war ein König im Norden, 
Gar ſtolz, gewaltig und reich; 
Ihm gleich iſt feiner geworden, 
Und nie wird einer ihm gleich. 
Und als es galt zu jterben, 
Gr jaß am üden Meer; 
63 ſchlichen herbei feine Exben, 
Der Wolf, die Eule, der Bär. 
Da ſprach er zum zottigen Bären: 
„Dir laſſ' ih Forft und Wald; 
Kein Jagdherr wird dich jtören 
Im luftigen Aufenthalt.‘ 
* Ich ſchmücke mich mit fremden Federn. Dieſes Gedicht iſt eigentlich 


von Julius Curtiusz; ich Habe es nur beim Abſchreiben unbedeutend in 
den Worten verändert. 


85 


90 


95 





Vergeltung. — Ter König im Norden. — Laß ruhn die Toten. 9213 


Und weiter ſprach er zur Eule: 
„sch laſſe fonder Zahl 

Dir Burgen und Städte, verteile 
Sie deinen Töchtern zumal!‘ 


Und ſprach zum Wolfe desgleichen: 
„Dir laſſ' ich ein jtilles Teld, 
Mit Leichen und aber Leichen, 
So weit ich geherricht, beſtellt.“ 


Und wie er jolches geiprochen, 

So ſtreckt' er ſich aus zur Fu — 
Gin Sturm ijt angebrocen, 

Der deckte mit Schloßen ihn zu. 


SH 
Tg 





Lak ruhn die Toten. 


3 ragt ein altes Gemäuer 
Hervor au: Waldesnacht; 
Wohl ftanden Klöjter und Burgen 
Einſt dort in herrlicher Pracht. 


Es Liegen im fühlen Grunde 
Behauene Steine gereiht; 

Dort jchlummern die Frommen, die Starken, 
Die Mächt’gen der alten Zeit. 


Was kommſt du bei nächtlicher Weile 
Durchwühlen das alte Gejtein? 

Und fürderjt herauf aus den Gräbern — 
Nur Staub und Totengebein! 


Unmächtiger Sohn der Stunde! 
Das ijt der Zeiten Lauf. 
Laß ruhn, laß ruhn die Toten, 
Du wedit ſie mit Klagen nicht auf! 


ne — 


214 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Angewitter. 


m" hohen Burgeszinnen 
Der alte König ſtand 
Und überjchaute düſter 

Da3 düſter umwölkte Land. 


63 309 das Ungewitter 

Mit Sturmesgewalt herauf, 
Gr jtüßte feine Rechte 

Auf jeineg Schwerte Knauf. 


Die Linke, der entfunfen 

Das goldene Zepter ſchon, 
Hielt noch auf der finftern Stirne 

Die ſchwere, goldene Kron’. 
Da zog ihn feine Buhle 

Lei’ an des Mantels Saum: 
„Du haft mich einjt geliebet, 


Du liebſt mich wohl noch kaum?“ — 


„Was Lieb’ und Luft und Minne? 
Laß ab, du ſüße Geſtalt! 

Das Ungewitter ziehet 
Herauf mit Sturmesgewalt. 


„Ich bin auf Burgeszinnen 


Nicht König mit Schwert und Kron', 


Ich bin der empörten Zeiten 
Unmächtiger, bangender Sohn. 
„Was Lieb' und Luſt und Minne? 
Laß ab, du ſüße Geſtalt! 

Das Ungewitter ziehet 
Herauf mit Sturmesgewalt.“ 
— — 


Der alte Zänger. 
"N der jonderbare reife 


Auf den Märkten, Straßen, Gaſſen 


15 


19 


15 


30 


35 


Ungewitter. — Der alte Sänger. 215 


Gellend, zürnend feine Weile: 
„Bin, der in die Wüſte ſchreit. 
Langſam, langjam und gelajjen! 
Nichts unzeitig! nicht? gewaltſam! 
Unabläjfig, unaufhaltiam, 
Allgewaltig naht die Zeit. 


„Torenwerk, ihr wilden Knaben, 
An dem Baum der Zeit zu vütteln, 
Seine Laſt ihm abzuftreifen, 

Wann er exit mit Blüten prangt! 


‚Laßt ihn feine Früchte reifen 


Und den Wind die Aite jchütteln! 
Selber bringt er euch die Gaben, 
Die ihr ungejtüm verlangt. 


Und die aufgeregte Menge 
Zucht und ſchmäht den alten Sänger: 
„Lohnt ihn jeine Schmachgejänge! 
Tragt ihm jeine Lieder nach! 
Dulden wir den Knecht noch länger? 
MWerfet, werfet ihn mit Steinen! 
Ausgeitoßen von den Keinen, 
Treff ihn allerorten Schmach!“ 


Sang der jonderbare Greiſe 
In den füniglichen Hallen 
Gellend, zürnend jeine Weife: 

„Bun, der in die Wüſte ſchreit. 
Vorwärts! vorwärts! nimmer Täflig! 
Nimmer zaghaft! kühn vor allen! 
Unaufhaltiam, unablälfig, 

Allgewaltig drängt die Zeit. 


„Mit dem Strom und vor dem Winde! 


Mache dir, dich ſtark zu zeigen, 


Strom- und Windezfraft zu eigen! 
MWider beide gähnt dein Grab. 
Steure fühn in grader Richtung! 


216 Gedichte: Lieber und lyriſch- epiſche Gedichte. 


Klippen dort? die Furt nur finde! 
Umzulenken heiſcht Vernichtung, 
Treibſt als Wrack du doch hinab.“ 40 


Ginen ſah man da erichroden 
Bald erröten, bald erblafien: 
„Wer hat ihn hereingelaffen, 
Deſſen Stimme zu uns drang? 
MWahnfinn ſpricht aus diefem Alte; 45 
Soll er un? das Volk verloden? 
Sorgt, den Toren feitzuhalten, 
Laßt verjtummen den Gejang!“ 


Sang der jonderbare Greije 

Immer noch im finſtern Turme 50 

Ruhig, heiter feine Weije: 
„Bin, der in die Wüſte ſchreit. 

Schreien mußt’ ich e8 dem Sturme; 

Der Propheten Lohn erhalt’ ich! 

Unabläſſig, allgewaltig, — 
Unaufhaltſam naht die Zeit.“ 


—— 
Deutſche Volksſagen. 


„Die Sage will ihr Recht. Ich ſchreit' ihr nach.“ 
Fouqueé an Fichte. (Held d. N. IT)! 
1. Das Rieſen-Spielzeug. 
Murg Niedeck iſt im Elſaß der Sage wohlbekannt, 
Die Höhe, wo vorzeiten die Burg der Rieſen ſtand; 
Sie ſelbſt iſt nun verfallen, die Stätte wüſt und leer; 
Du frageſt nach den Rieſen, du findeſt ſie nicht mehr. 


Einſt kam das Rieſenfräulein aus jener Burg hervor, 
Erging ſich ſonder Wartung und ſpielend vor dem Tor 


+ 


1 Aus ber „PRoetifhen Vorrede an Fichte”, die Fouqué feinem Drama „Sigurb3 
Rache”, dein zweiten Teile bed Zyklus „Der Held bed Nordens” (Berlin 1810), 
voranftellte. 


Der alte Sänger. — Deutſche Volksſagen: 1. Das Niefens Spielzeug. 217 





Und jtieg Hinab den Abhang bis in das Tal hinein, 
Neugierig zu erkunden, wie's unten möchte jein. 


Mit wen’gen raſchen Schritten durchkreuzte fie den Wald, 
Grreichte gegen Haslach das Land der Menjchen bald, 
Und Städte dort und Dörfer und da3 beitellte Teld 
Erichienen ihren Augen gar eine fremde Welt. 


Wie jebt zu ihren Füßen fie ſpähend niederjchaut, 
Bemerkt fie einen Bauer, der feinen Ader baut; 
Es kriecht das Kleine Wejen einher jo jonderbar, 
63 glikert in der Sonne der ‘Pflug jo blank und Klar. 


„Gil artig Spieding!” ruft fie, „das nehm’ ich mit nach 
Haus,” 
Cie knieet nieder, jpreitet behend ihr Tüchlein aus 
Und feget mit den Händen, was da Jich alles regt, 
Zu Haufen in ein Tüchlein, da3 fie zufammenjchlägt; 


1 


oO 


a 


1 


2 


oO 


Und eilt mit freud’gen Sprüngen — man weiß, wie 
Kinder find — 
Zur Burg hinan und Juchet den Vater auf gejchwind: 
„Ei Vater, lieber Vater, ein Spielding wunderfchön! 
So allerliebjtes jah ich noch nie auf unjern Höhn.“ 


Der Alte ſaß am Tiſche und trank den fühlen Wein, 
Er ſchaut fie an behaglih, er fragt das Töchterlein: 
„Was Zappeliges bringt du in deinem QTiuch herbei? 
Du hüpfeſt ja vor Freuden; laß jehen, was e3 jet!“ 


Sie jpreitet aus das Tüchlein und fängt behutfam an, 
Den Bauer aufzujtellen, den Pflug und das Gejpann; 
Wie alles auf dem Tiſche fie zierlich aufgebaut, 

So Elatjcht fie in die Hände und jpringt und jubelt laut. 


Der Alte wird gar ernjthaft und wiegt fein Haupt und 
Ipricht: 
„Was Haft du angerichtet? das ijt fein Spielzeug nicht! 
5 Mo du es hergenommen, da trag’ e3 wieder Hin! 
Der Bauer ijt fein Spielzeug, was fommt dir in den Sinn! 


D 
© 


3 


oO 


218 Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte, 


„Sollſt gleich und ohne Murren erfüllen mein Gebot; 
Denn wäre nicht der Bauer, jo hättejt du fein Brot; 


63 jprießt der Stamm der Riefen aus Bauernmark hervor; 


Der Bauer ijt fein Spielzeug, da jet und Gott davor!“ 


Burg Niedek iſt im Elfaß der Sage wohlbekannt, 
Die Höhe, two vorzeiten die Burg der Rieſen jtand; 
Sie ſelbſt ijt num verfallen, die Stätte wüſt und Leer; 
Und fragjt du nach den Rieſen, dur findejt fie nicht mehr. 


2. Die verfunfene Burg. 


40 


63 ragt, umfrönt von Türmen, empor aus dunklem Yorit 45 


Ein fteiler, luft'ger Felſen, das iſt der Raubherrn Horit, 
Und wie aus blauen Lüften der Aar auf ſeinen Fang, 
So ſchießen ſie auf Beute von dort das Tal entlang. 


Drei Brüder ſind's, auf Straßen zu Roß in blankem 


Stahl, 
In Hermelin und Purpur daheim im Ritterſaal, 
In Blut und Luſt und Sünden, in Stolz und üppigkeit, 
So ſchwelgen ſie und praſſen, gefürchtet weit und breit. 


Und ihre freche Buhle weiß nicht, wie Hunger tut; 
Sie prunkt in Gold und Seide und tritt aus Frevelmut 
Die heil'ge Gottesgabe verächtlich in den Kot, 

Sie geht einher auf Schuhen von feinem Weizenbrot. 

Der Wächter hat gerufen: „Auf, Ritter, auf! zu Roß! 
Von Reiſigen erſcheinet ein ſtaubumwölkter Troß; 

Das ſind die fremden Kaufherrn, das iſt der reiche Zug, 
Die führen wenig Eiſen, doch rotes Gold genug.“ — 


„Vergeßt nicht eure Buhle“, ruft ihnen nach die Maid, 


„Schafft Gold und Edelſteine, ſchafft funkelndes Geſchmeid', 


Verſorgt mit Singevögeln aufs neu den Roſenhag, 
Daß ſich an ihrem Zwitſchern mein Ohr erfreuen mag!“ 


Und bald mit Jubel ziehen ſie wieder Burg hinan, 


Vor ihnen die Gefangnen, gebunden Mann fir Mann. — 


65 


7 


o 


I 
a 


8 


8 


9 


9 


8 


a 


© 


ot 


Deutihe Volksſagen: 2. Die verjunlene Burg. 219 





„Bir bringen dir die Vögel, die du begehret haft, 
Im Rofendag zu zwitichern, und Goldes manche Laſt.“ 


Der Rofenhag: tief öffnet und eng ſich eine Gruft, 
Das Burgverlies, es jteiget empor der Leichen Duft; 
Tief unten gähnt der Abgrund, ein jäher Teljenipalt; 
Kein andrer Ausgang führet aus dieſem Aufenthalt. 


Da galt es zu verhungern. Der Angjtruf, welcher drang 
Aus diefem Schredensjchlunde, das war der Vogellang; 
Und wenn hinab fich jtürzte, am Felſen fich zerichlug 
Verzweiflungsvoll ein Opfer, da3 war der Bogelflug. 


Sie jtiegen nun die Armen hinab in diejen Graus; 
Da rief ein Greis, ein Priejter, noch händeringend aus: 
„Weh über euch, ihr Toren! die ihr verblendet jeid, 
Einſt werden jolche Werke mehr euch denn uns noch Leid!“ 


Da rief ein Ritter grimmig: „Nun — Blutſchuld, Sinnen- 
luſt? 
Ich bin der eignen Werke vollkommen mir bewußt; 
Ich will darüber brüten, bei meinem teuren Eid! 
Bis zu dem Weltgerichte, ſie werden mir nicht leid.“ 


Da rief der andre höhnend: „Du willſt der Rabe ſein? 
Die Sorg' um meine Werke ſowie die Luſt iſt mein; 
Ich ſelber will ſie tragen, bei meinem teuren Eid! 
Bis zu dem Jüngſten Tage, ſie werden mir nicht leid.“ 


Da rief der dritte lachend: „Hinunter in den Schlund! 
Als Nachtigall zu ſingen, der hier gebellt als Hund! 
Ich trage meine Werke, bei meinem teuren Eid! 

Bis an den Tag der Tage, ſie werden mir nicht leid.“ 


Wie frevelnd ihren Lippen das ſchnelle Wort entflohn, 
Entgegnet aus der Tiefe ein Wehgeſchrei dem Hohn, 
Und „Amen!“ ruft die Buhle, die hölliſch gellend lacht; 
Da ſchallt und rollt der Donner, der Felſen wankt und kracht. 


Und jene kreiſcht verwandelt, es rauſcht der Flügelſchlag, 
Sie ſchwingt ſich in die Lüfte, verfinſtert wird der Tag; 


220 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte, 


Die Erde flammenjprühend eröffnet ihren Mund, 
Und wie die Burg verjunfen, jo ebnet fich der Grund. 100 


Du forſcheſt nach der Stätte, wo einjt die jtoße jtand? 
Du frageft nach dem Namen, wie jene jonjt benannt? — 
Dergebliches Beginnen! Es waltet da3 Gericht; 

Vergeſſen und verichoflen! die Sage weiß es nicht. 


3. Die Männer im Zobtenberge. 


E3 wird vom Zobtenberge gar Geltfames erzählt: 105 
AS taujend und fünfhundert und fiebzig man gezählt, 
Am Sonntag Quafimodo luſtwandelte hinan 
Sohannes Beer aus Schweidnit, ein jchlichter, Frommer Mann. 


Er war des Berges fundig, und Schlucht und Felfenwand 
Und jeder Stein am Stege vollflommen ihm bekannt; 110 
Wo in gedrängtem Kreife die nadten Feljen jtehn, | 
War diesmal eine Höhle, wo feine fonjt zu jehn. 


Er nahte jich verwundert dem unbekannten Schlund, 
Es Hauchte Falt und ſchaurig ihn an aus feinem Grund; 
Er wollte zaghaft fliehen, doch bannt ihn fort und fort 115 
Ein lüſternes Entjeßen an nicht geheuren Ort. 


Er faßte fich ein Herze, er jtieg hinein und drang 
Durch enge Feljenjpalten in einen langen Gang; 
Ihn lockte tief da unten ein ſchwacher Dämmerjchein, 
Den warf in eh’rner Pforte ein Kleines Fenſterlein. 120 


Die Pforte war verjchloffen, zu welcher er nun fam; 
Er Elopfte, von der Wölbung erdröhnt' e8 wunderſam; 
Gr Elopfte noch zum andern, zum drittenmal noch an, 
Da ward von Geijterhänden unfichtbar aufgetan. 


An rundem Tiſche ſaßen in jchwarzbehangnem Saal, 125 
Grhellt von einer Ampel unficher bleichem Strahl, 
Drei lange, hagre Männer; betrübt und zitternd jahn 
Ein Pergament vor ihnen je jtieren Blickes an. 
Er, zögernd auf der Schwelle, bejchaute fie genau, — 
Die Tracht jo altertünılich, das Haar jo alt und grau; — 130 





Deutſche Volksſagen: 3. Die Männer im Zobtenberge. — 4. Der Birnbaum. 221 


Gr rief mit frommem Gruße: „Vobiscum Christi pax!“ 
Sie jeufzten leife wimmernd: „Hic nulla, nulla pax!“ 


Er trat nun von der Schwelle nur wen’ge Schritte vor, 
Dom Vergamente blicten die Männer nicht empor, 
135 Er grüßte fie zum andern: „Vobiscum Christi pax!“ 
Sie lallten zähneflappernd: „Hic nulla, nulla pax!“ 


Er trat nun vor den Tiſch Hin und grüßte wiederum: 
„Pax Christi sit vobiscum!“ fie aber blieben jtumm, 
Erzitterten und legten da3 Pergament ihm dar: 

140 „Hie liber obedientiae“ darauf zu lejen war. 


Da fragt’ er: wer fie wären? — Sie wüßten’3 jelber nicht. 
Er fragte: was fie machten? — Das endlihe Gericht 
Erharrten fie mit Schreden, und jenen Jüngſten Tag, 

Wo jedem jeiner Werke Vergeltung werden mag. 


15 Gr fragte: wie fie hätten verbracht die Zeitlichkeit? 
Mas ihre Werke waren? Ein Vorhang wallte breit 
Den Männern gegenüber und bildete die Wand; 
Sie bebten, jchiwiegen, zeigten darauf mit Blick und Hand. 


Dahin gewendet, Hob er den Vorhang jchaudernd auf: 
150 Geripp’ und Schädel Lagen geipeichert da zuhauf: 
Vergebens war’ mit Purpur und Hermelin verbdedt, 
Drei Schwerter lagen drüber, die Klingen blutbeflect. 


Drauf er: ob zu den Merken fie fich befennten? — „Sa.“ 
Ob jolche gute waren, ob böſe? — „Böje, ja.“ 
155 Ob leid fie ihnen wären? Sie ſenkten das Geficht, 
Erſchraken und verjtummten; fie wüßten’3 jelber nicht. 


4, Der Birnbaum auf dem Waljerfeld. 


Es ward von unjern Bätern mit Treuen uns vermacht 
Die Sage, wie die Väter fie ihnen überbracht; 
Wir werden unjern Kindern vererben fie auf neu; 
160 Es wechjeln die Gejchlechter, die Sage bleibt fich treu. 


Das Walferfeld bei Salzburg bezeichnet ift der Ort, 
Dort jteht ein alter Birnbaum, verjtümmelt und verdorrt; 


222 „ Geriöte: Sieber un us — 


Das iſt die rechte Stätte, der Birnbaum iſt das Mal, 
Geſchlagen und gewürget wird dort zum letztenmal. 


Und iſt die Zeit gekommen, und iſt das Maß erſt voll, — 165 
Ich ſage gleich das Zeichen, woran man’3 fennen joll — 
So wogt aus allen Enden der jündenhaften Welt 
Der Krieg mit jeinen Schreden heran zum Walferfeld, 


Dort wird es ausgefochten, dort wird ein Blutbad jein, 
Wie feinem noch die Sonne verliehen ihren Schein; 170 
Da rinnen rote Ströme die Wiejenrain’ entlang, 

Da wird der Sieg den Guten, den Böjen Untergang. 


Und wann dag Werk vollendet, jo dedt die Nacht es zu; 
Die müden Streiter legen auf Leichen fich zur Ruh’; 
Und wann der junge Morgen bejcheint das Blutgefild, 175 
Da wird am Birnbaum hangen ein blanfer Wappenichild. 


Nun jag’ ich euch das Zeichen: Ihr wißt den Birnbaum dort, 
Er trauert nun entehret, verſtümmelt und verdortt; 
Schon dreimal abgehauen, jchlug dreimal auch zuvor 
Er ſchon aus feiner Wurzel zum jtolzen Baum empor. - 180 


Wann nun jein Stamm, der alte, zu treiben neu beginnt 
Und Saft im morjchen Holze aufs neu lebendig rinnt, 
Und warn den grünen Laubſchmuck er wieder angetan, 
Das iſt das erjte Zeichen: es reift die Zeit heran. 


Und hat er feine Krone erneuet dicht und breit, 185 
Sp rüdt heran bedrohlich die lang verheißne Zeit; 
Und ſchmückt er ſich mit Blüten, jo iſt das Ende nah; 
Und trägt ex reife Früchte, jo iſt die Stunde da. 

Der heuer ift gegangen zum Baum und ihn befragt, 
Hat wunderfame Kunde betroffen ausgejagt; 190 
Ihn wollte jchier bedünken, al3 rege jich der Saft 
Und jchwöllen jchon die Knoſpen mit jugendlicher Kraft. 

Ob voll das Maß der Sünde? ob reifet ihre Saat 
Der Sichel ſchon entgegen? ob die Erfüllung naht? 
Ich will e3 nicht berufen, doch dünkt mich eins wohl Klar: 195 
63 jind die Zeiten heuer gar ernjt und jonderbar. 


20 


© 


20 


or 


21 


o 


Deutſche Volksſagen: 5. Die Meiber von Winsperg. 223 


5, Die Weiber von Winsperg. 
Der erite Hohenjtaufen, der König Konrad, lag 
Mit Heeresmaht vor Winsperg ſeit manchen langen Tag; 
Der Welfe war geichlagen, noch wehrte jich das Reit, 
Die unverzagten Städter, die hielten es noch feit. 


Der Hunger fam, der Hunger! das ijt ein fcharfer Dorn; 
Nun juchten fie die Gnade, nun fanden fie den Zorn. 
„Ihr Habt mir hier erjchlagen gar manchen Degen wert, 
Und öffnet ihr die Tore, jo trifft euch doch das Schwert.“ 

Da find die Weiber fommen: „Und muß e8 alfo jein, 
Gewährt ung freien Abzug! wir find vom Blute rein.“ 
Da hat fi vor den Armen des Helden Zorn gefühlt, 

Da Hat ein ſanft Erbarmen im Herzen er gefühlt. 
„Die Weiber mögen abziehn, und jede habe fret, 

Was fie vermag zu tragen und ihr das KLiebjte jei! 

Laßt ziehn mit ihrer Bürde fie ungehindert fort, 


- Das ijt des Königs Meinung, das it des Königs Wort.“ 


21 


or 


15] 
DD 
oO 


225 


Und als der frühe Morgen im Oſten faum gegraut, 
Da hat ein jeltnes Schaufpiel vom Lager man geichaut; 
Es öffnet leije, leife ich das bedrängte Tor, 

Es ſchwankt ein Zug von Weibern mit ſchwerem Schritt hervor. 


Tief beugt die Laft jte nieder, die auf dem Naden ruht, 
Sie tragen ihre Eh’herin, das iſt ihr liebſtes Gut. 
„Halt an die argen Weiber!“ ruft drohend mancher Wicht; — 
Der Kanzler Ipricht bedeutfam: „Das war die Meinung nicht.“ 

Da Hat, wie er's vernommen, der Fromme Herr gelacht: 
„Und war e3 nicht die Meinung, fie haben’3 gut gemacht; 
Geiprochen iſt geiprochen, das Königswort beſteht, 
Und zwar von feinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht.“ 

So ward das Gold der Krone wohl vein und unentweiht. 
Die Sage jchallt herüber aus halbvergeſſ'ner Zeit. 
Im Sahr eilfdundertvierzig, wie ich’3 verzeichnet fand, 
Galt Königswort noch heilig im deutichen Vaterland. 

— — — 


ID 
ID 
He 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Abdallah. 
(„Zaujendbundeine Nadt.”) 
Abdallah Liegt behaglih am Quell der Wüſte und ruht, 
Es weiden um ihn die Kamele, die achtzig, ſein ganzes Gut; 
Er Hat mit Kaufmannswaren Balfora glücdlich erreicht, 
Bagdad zurüdzugewinnen, wird ledig die Reiſe ihm leicht. 


Da kommt zur jelben Quelle, zu Fuß am Wanderjtab, 
Ein Derwiih ihm entgegen den Weg von Bagdad herab. 
Sie grüßen einander, ſie jegen beiſammen fih zum Mahl 
Und loben den Trunk der Quelle und loben Allah zumal. 


Sie haben um ihre Reife teilnehmend einander befragt, 
Was jeder verlangt zu willen, willfährig einander gejagt; 
Sie haben einander erzählet von dem und jenem Ort, 
Da ſpricht zulegt der Derwiſch ein gar bedächtig Wort: 


„Ich weiß in dieſer Gegend, und fenne wohl den Platz 
Und könnte dahin dich Führen, den unermeßlichiten Schat. 
Man möchte daraus belajten mit Gold und Edelgeitein 
Wohl achtzig, wohl taufend Kamele, e8 würde zu merken 

nicht ſein.“ 


Abdallah Laujcht betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz, 
63 riejelt ihm kalt durch die Adern, und Gier erfüllet ihn ganz: 
„Mein Bruder, hör’, mein Bruder, o führe dahin mich gleich! 
Dir kann der Schatz nicht nüben, du machſt mich glüdlich 

und reich. 


„Laß dort mit Gold uns beladen die achtzig Kamele mein, 
Nur achtzig Kameleslajten, es wird zu merken nicht fein. 
Und dir, mein Bruder, verheiß' ich, zu deines Dienjtes Solo, 
Das beite von allen, das jtärfite, mit feiner Laſt von Gold.“ 


Darauf der Derwilch: „Mein Bruder, ic) Hab’ es ander 
gemeint, 
Dir vierzig Kamtele, mir vierzig, das ift, was billig mir fcheint; 
Den Wert der vierzig Tiere empfängft du millionenfach, 
Und hätt’ ich gejchtwiegen, mein Bruder, o denke, mein Bruder, 


doch nach!“ 


at 


— 


0 


r 


5 


20 


25 


Abdallah. 295 


„Wohlan, wohlan, mein Bruder, laß gleich uns ziehen dahin, 

so Mir teilen gleich) die Kamele, wir teilen gleich den Gewinn.“ 

Er ſprach's, doch taten ihm heimlich die vierzig Laſten leid; 
Dem Geiz in feinem Herzen gejellte ſich der Neid. 


Und jo erhoben die beiden vom Lager fich ohne Verzug: 
Abdallah treibt die Kamele, der Derwilch leitet den Zug. 
3 Sie fommen zu den Hügeln; dort öffnet, eng und jchmal, 
Sich eine Schluht zum Eingang in ein geräumig Tal. 


Schroff, überhangend umfchließet die Felswand rings den 
Raum, 
Noch drang in dieſe Wildnis des Menſchen Fuß wohl kaum. 
Sie halten; bei den Tieren Abdallah ſich verweilt, 
40 Der fie, der Laſt gewärtig, in zwei Gefolge verteilt. 


Indeſſen häuft der Derwiih am Fuß der Teljenwand 
Verdorrtes Gras und Reilig und jtect den Haufen in Brand; 
Er wirft, jowie die Flamme fich praſſelnd erhebt, hinein 
Mit ſeltſamem Tun und Reden viel Fräftige Spezerein. 


5 In Wirbeln wallt ver Rauch auf, verfiniternd jchter den Tag; 
Die Erde bebt, es dröhnet ein jtarfer Donnerichlag: 
Die Finſternis entweichet, der Tag bricht neu hervor, 
Es zeigt fi in dem Felſen ein weit geöffnet Tor. 


Es führt in prächtige Hallen, wie nimmer ein Aug’ fie 
geichaut, 
50 Aus Edelgeitein und Metallen von Geijtern der Tiefen erbaut; 
Es tragen goldne PBilafter ein hohes Gewölb' von Kriftall, 
Hellfuntelnde Karfunfeln verbreiten Licht überall. 


Es lieget zwiſchen den goldnen Bilajtern, unerhört, 
Das Gold Hoch aufgefpeichert, des Glanz den Menſchen betört; 
55 Es wechjeln mit den Haufen des Goldes, die Hallen entlang, 
Demanten, Smaragden, Rubinen, dazwiſchen nur jchmal der 
Bang. 


Abdallah ſchaut's betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz, 
Es riejelt ihm Falt durch die Adern, und Gier erfüllet ihn ganz. 


Chamifjo. L 15 


296 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Sie jchreiten zum Werke; der Derwiich hat klug fi) Demanten 
erwählt, 
Abdallah wühlet im Golde, im Golde, das nur ihn bejeelt. 


Doch bald begreift er den Irrtum und wechjelt die Laſt 
und taujcht 
Für Edelgejtein und Demanten das Gold, de3 Glanz ihn 
berauſcht, 
Und was er fortzutragen die Kraft hat, minder ihn freut 
Als was er liegen muß laſſen, ihn heimlich wurmt und reut 


Geladen ſind die Kamele, ſchier über ihre Kraft; 
Abdallah ſieht mit Staunen, was ferner der Derwiſch ſchafft: 
Der geht den Gang zu Ende und öffnet eine Truh' 

Und nimmt daraus ein Büchschen und jchlägt den Dedel zu. 


Es it von ſchlichtem Holze, und was darin verwahrt, 
Sleich wertlos, jcheint nur Salbe, womit man jalbt den Bart; 
Er hat e3 prüfend betrachtet, das war das rechte Geſchmeid', 
Er ſteckt es wohlgefällig in jein gefaltet Kleid. 


Drauf fchreiten hinaus die beiden, und draußen auf dem Plan 
Vollbringt der Derwijch die Bräuche, wie er’3 beim Eintritt 
getan; 
Der Schaf verſchließt ſich donnernd; ein jeder übernimmt 
Die Hälfte der Kamele, die ihm das 203 bejtimmt. 


Sie brechen auf und wallen zum Quell der Wiüjte vereint, 
Wo fich die Straßen trennen, die jeder zu nehmen meint; 
Dort jcheiden fie und geben einander den Bruderkuß; 
Abdallah erzeigt fich erfenntlich mit tönender Worte Erguß. 


Doch wie er abwärts treibet, ſchwillt Neid in ſeiner Bruft; 
Des andern vierzig Lajten, fie dünken ihn eigner Verluſt: 
Ein Derwiſch ſolche Schäße, die eignen Kamele, — das kränkt, 
Und was bedarf der Schäße, wer nur an Allah denkt? 

„Mein Bruder, hör’, mein Bruder!” — fo folgt er Jeiner 

Spur — 
‚Nicht um den eignen Vorteil, ich dent an deinen. mur; 


70 


je} 


0 


85 





Abdallah. 297 


Du weißt nicht, welche Sorgen, und weißt nicht, welche Laſt 
Du, Guter, an vierzig Kamelen dir aufgebürdet haft. 


„Noch kennſt du nicht die Tücke, die in den Tieren wohnt, 
» O glaub: es mir, der Mühen von Jugend auf gewohnt, 
Verſuch' ich's wohl mit achtzig, dir wird’3 mit vierzig zu 
ſchwer, 
Du führſt vielleicht noch dreißig, doch vierzig nimmermehr.“ 


Darauf der Derwiſch: „Ich glaube, daß recht du haben 
magſt; 
Schon dacht' ich bei mir ſelber, was du, mein Bruder, mir ſagſt. 
5 Nimm, wie dein Herz begehret, von dieſen Kamelen noch zehn! 
Du ſollſt von deinem Bruder nicht unbefriedigt gehn.‘ 


Abdallah dankt und jcheidet und denkt in jeiner Gier: 
Und wenn ich zwanzig begehrte, der Tor, er gäbe fie mir. 
Er kehrt zurüd im Laufe, es muß verjuchet jein; 
100 Er ruft, ihn Hört der Derwiſch und harret gelaſſen jein. 


„Mein Bruder, hör’, mein Bruder, o traue meinem Wort: 
Du fommit, unfundig der Wartung, mit dreißig Kamelen 
nicht fort; 
Die widerſpenſtigen Tiere find ftörriger, denn du denkt, 
Du macht e3 dir bequemer, wenn du mir zehen noch ſchenkſt.“ 


15 ° Darauf der Derwiih: „Sch glaube, daß recht du haben 
magit; 
Schon dacht’ ich bei mir jelber, was du, mein Bruder, mir ſagſt. 
Nimm, wie dein Herz begehret, von diefen Kamelen noch zehn! 
Du jollit von deinem Bruder nicht unbefriedigt gehn.“ 


Und wie jo leicht gewähret, was faum er ſich gedacht, 
110 Da ijt in jeinem Herzen erſt vecht die Gier erwacht; 
Er Hört nicht auf, er fodert, wohl ohne fich zu jcheun, 
Noch zehen von den zwanzig und von den zehen neun. 
Das eine nur, das lebte, dem Derwiſch übrigbleibt, 
Noch dies ihm abzufodern, des Herzens Gier ihn treibt; 
115 Er wirft fich ihm zu Füßen, umfaſſet jeine Knie: 
„Du wirjt nicht mein mir jagen, noch jagtejt du nein mir nie.“ 
15* 


228 Gedichte: Lieder und Iyrifh=epifhe Gebichte. 
„Sp nimm das Tier, mein Bruder, wonach dein Herz 
begehrt! 
Es ijt, daß trauernd du ſcheideſt von deinem Bruder, nicht wert. 
Ser fromm und wei im Reichtum und beuge vor Allah 
dein Haupt, 
Der, wie er Schätze jpendet, auch Schätze wieder raubt.“ 


Abdallah dankt und ſcheidet und denkt in jenem Sinn: 
Wie mochte der Tor vericherzen fo leicht den reichen Gewinn? 
Da Fällt ihm ein dag Büchschen: das iſt das rechte Geſchmeid', 
Wie barg ev’3 wohlgefällig in jein gefaltet Kleid! 


Er kehrt zurüd: „Mein Bruder, mein Bruder, auf ein Wort! 

Mas nimmjt du doch das Büchschen, das fchlechte, mit dir 
noch fort? 

Was joll dem frommen Derwijch der weltlich eitle Tand?“ — 

„Sp nimm es!“ jpricht der Derwiſch und legt e3 in jeine Hand. 


Ein freudiges Erichreden den Zitternden befältt, 
Wie er auch noch das Büchschen, das rätjelhafte, hält; 
Er jpricht, kaum dankend, weiter: „Sp lehre mich nun auch, 
Was hat denn diefe Salbe für einen beiondern Gebrauch“ 


Der Derwiſch: „Groß iſt Allah, die Salbe wunderbar. 
Bejtreichjt du dein linkes Auge damit, durchſchaueſt du klar 
Die Schäbe, die ſchlummernden alle, die unter der Erde find; 
Beitreichjt du dein rechtes Auge, jo wirft du auf beiden blind.“ 


Und jelber zu verjuchen die Tugend, die er fennt, 
Der wunderbaren Salbe, Abdallah nun entbrennt: 
„Mein Bruder, hör’, mein Bruder, du machſt es beifer, traun! 
Beftreiche mein Auge, das linke, und laß die Schäbe mich 
ſchaun!“ 


Willfährig tut's der Derwiſch; da ſchaut er unterwärts 
Das Gold in Kammern und Adern, das gleißende ſchimmernde 
Erz; 
Demanten, Smaragden, Rubinen, Metall und Gdelgeitein, 
Sie fchlummern unten und leuchten mit jeltfam lockendem 
Schein. 


125 


30 


— 


35 


140 


Oo 


a 


oO 


ot 


oO 


Abdallah. 229 


Er ſchaut's und ſtarrt betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz, 
Es rieſelt ihm kalt durch die Adern, und Gier erfüllet ihn ganz. 
Er denkt: Würd' auch beſtrichen mein rechtes Auge zugleich, 
Vielleicht beſäß' ich die Schätze und würd' unermeßlich reich. 


„Mein Bruder, hör', mein Bruder, zum letztenmal mich an! 
Beſtreiche mein rechtes Auge, wie du das linke getan; 
Noch dieſe meine Bitte, die letzte, gewähre du mir; 

Dann ſcheiden unſere Wege, und Allah ſei mit dir!“ 


Darauf der Derwiſch: „Mein Bruder, nur Wahrheit ſprach 
mein Mund, 
Ich machte dir die Kräfte von deiner Salbe kund. 
Ich will, nach allem Guten, das ich dir ſchon erwies, 
Die ſtrafende Hand nicht werden, die dich ins Elend ſtieß.“ 


Nun hält er feſt am Glauben und brennt vor Ungeduld, 
Den Neid, die Schuld des Herzens, gibt er dem Derwiſch ſchuld; 
Daß dieſer ſo ſich weigert, das iſt für ihn der Sporn, 
Der Gier in ſeinem Herzen geſellet ſich der Zorn. 


Er ſpricht mit höhniſchem Lachen: „Du hältſt mich für ein Kind; 
Was ſehend auf einem Auge, macht nicht auf dem andern 
mich blind; 
Beſtreiche mein rechtes Auge, wie du das linke getan, 
Und wiſſe, daß, falls du mich reizeſt, Gewalt ich brauchen kann!“ 


Und wie er noch der Drohung die Tat hinzugefügt, 
Da hat der Derwiſch endlich ſtillſchweigend ihm genügt: 
Er nimmt zur Hand die Salbe, ſein rechtes Aug' er be— 
ſtreicht — — 
Die Nacht iſt angebrochen, die keinem Morgen weicht. 


„O Derwiſch, arger Derwiſch, du doch die Wahrheit ſprachſt, 
Nun heile, Kenntnisreicher, was ſelber du verbrachſt!“ — 
„Ich habe nichts verbrochen; dir ward, was du gewollt, 
Du ſtehſt in Allahs Händen, der alle Schulden zollt.“ 


Er fleht und ſchreit vergebens und wälzet ſich im Staub, 
Der Derwiſch abgewendet, bleibt ſeinen Klagen taub; 


230 Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte, 


Der ſammelt die achtzig Kamele und gen Baljora treibt, 175 
Derweil Abdallah verzweifelnd am Duell der Wüſte verbleibt. 


Die nicht er ſchaut, die Sonne vollbringet ihren Lauf, 
Sie ging am andern Morgen, am dritten wieder auf, 
Noch lag er da verichmachtend; ein Kaufmann endlich Fam, 
Der nah) Bagdad aus Mitleid den blinden Bettler nahm. 180 


Der heilige Martin, Biſchof von Tours. 


Legende. 

pi Martin”, rief der Satan, — 

* Fürchtet nichts, ihr Höllengeiſter, 

Fürchtet nichts und hört den Rat an, 

Den geſchmiedet euer Meiſter! — 

Dieſen Martin, der, geplaget, 5 
Angefochten, — unverzaget, 

Unverfährdet, uns zum Hohn, 

Wiederbringt die Kreaturen, 

Die zu unſern Zeichen ſchwuren, 

Dem verhaßten Menſchenſohn, 10 
Diejen gilt e8 zu verderben; | 
Alſo will um ihn ich werben, 

Zählt ihn zu den unfern ſchon!“ 


Redend hat der Geilt der Lüge 
Form und Körper angenommen, 15 
Und es find des Heiland Züge, 
Welche feiner Argliit frommen. — 
„Fürchtet nichts, o Vielgetreue, 
Fürchtet nichts, wenn euch aufs neue 
Tief verhaßt der Anblick kränkt; 20 
Fürchtet nichts, ich bin der Alte, 
Der, wie er jein Antlitz alte, 
Alten Grolles nur gedentt; 
hm, den fie den Heil’gen jchelten, 
Will ich fir den Juden gelten, 25 
Bis er feine See uns ſchenkt.“ 


30 


35 


40 


45 


50 


55 


60 


Abdallah. — Der Heilige Martin, Bischof von Tours. 





Und in Burpur prunft er eitel, 
Gleich den Königen der Exde, 
Die Tiar’ auf jeiner Scheitel, 
Stoß und Hochmut die Gebärde. 
Und die Teufel faßt ein Grauen, 
Wie das Schredenbild ſie Ichauen, 
Und ein Weheruf erichallt; 
Heulend jtürzen jie vonfammen, 
Suchen Schuß in ew’gen Flammen 
Bor des Rächer? Mllgewalt; 


Und mit Angjt erfüllt nicht minder 


Auch den argen Trugserfinder 
Die erfrevelte Gejtalt. 


Biſchof Martin Liegt indeſſen, 
Lieb’ im Herzen, Hoffnung, Glaube, 
Tief in Demut, jelbitvergeifen, 

Bor dem Kruzifix im Staube: 

„Der du jtarbit, uns zu erlöfen, 
Sieh un? Schwache von dem Böen, 
Von der Sünde Garn umitellt; 
Straf ung nicht in deinem Zorne, 
Waſch uns rein im Önadenborne 
Von der Schuld, die auf uns Fällt!” 
Und e3 tritt der Geijt der Lüge 
Bor ihn Hin, er trägt die Züge 
Des Erlöſers diefer Welt. 


Und in Burpur prunft er eitel, 
Gleich den Königen der Erde, 
Die Tiar' auf feiner Scheitel, 
Stolz und Hochmut die Gebärde: 
„Martin, jieh, ich bin der wahre 
Chrijtus, und ich offenbare 
Dem mich, der zu mir fich neigt; 
Und es iſt dir anbefohlen, 
Unzubeten unverhohlen, 
Der ſich deinen Augen zeigt.“ 


231 


932 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte, 


Martin jtarıt, die Augen offen, 
Schier entrüftet und betroffen 
Den Verſucher an und fchmweigt. 


Und der Arge redet wieder: 
„Chriſtus bin ich und befehle: 
Talle betend vor mir nieder 
Und ergib mir deine Seele!“ 
Er darauf: „Der Allerbarmer 
War hienteden jelbjt ein Armer; 
Er, die Wahrheit, er, das Licht, 
Er, mein Chrijtus, ſtarb am Holze; 
Aber dih in deinem Gtolze, 
Did — entfleuh! — dich kenn' ich nicht.” 
Und e3 war der Trug zeritoben; 
Nartin feinen Gott zu loben, 
Liegt im Staube fromm und ſchlicht. 


— Kr — 


Alba Glosk Lerseka.! 


3 jchallen gut im Liede der Purpur und das Schwert, 
Doch Hüllt ſich oft in Lumpen, der auch iſt preifenswert; 
Ich führ' euch einen Juden und Bettler Heute vor, 
Den Abba Glosk Leczeka; verſchließt ihm nicht das Ohr! 


Er harıte vor der Türe von Moſes Mtendelsjohn 
Gelaffen und geduldig vor Sonnenaufgang ion; 
Wie hoch in Himmelsräumen zu fteigen fie begann, 
Trat erſt aus feiner Wohnung der weitberühmte Mann. 


1 Abba Glo3f, nad einer Stadt in Kleinpolen benannt, mit dem Zunamen 
Leczeka, ift eine geſchichtliche Perfönlichkeit; er Iebte gegen das Ende bes 18. Jahr— 
Hundert3, und fein Geringerer ald das Haupt der deutjchen Aufflärung, Nicolai, 
hat einen Abriß feines Lebens und feines Kampfes gegen bie jübdifche Unduldjam- 
keit, beven Opfer er geworben ift, gefchrieben. Er gehörte zu den berufsmäßigen, 
zumeilen burh Wit und Scharffinn ausgezeichneten Talmudiften, ben fogen. Dar— 
fhonim, bie gleich den mittelalterlihen chriftlichen Disputatoren in ben größeren 
jüdifhen Gemeinden Vorträge über fchwierige Talmudftellen hielten. Durch bie 
Tragik feine Geſchicks und die Wucht feiner fanatifhen Berebfamkeit erwarb er 
fih ben Schug und die Freundihaft Moſes Mendelsjohns, bes Verfaſſers des 
„Phädon“. Die erjte Begegnung beider fpielte fih in der Bernardichen Seiben- 
manufaktur in Berlin, in der Mendelsfohn beſchäftigt war, ab. 


65 


Der heilige Martin, Bifhof von Tours. — Abba Glost Leczeka. 9233 





Ihn grüßt der fremde Bettler in polnifch jüd'ſcher Tracht, 
10 Sein Gruß den Schriftgelehrten dem andern fenntlich macht; 
Gr aber geht vorüber: „An Zeit es mir gebricht!” — 
Der Fremde weicht zurüde, doch von der Schwelle nicht. 


Und Mittag ward’3 und Abend, und als zur Nacht es ging, 
Die Stadt in ihren Straßen die Schatten ſchon empfing, 
15 Kam heim zu jeinem Herde der weitberühmte Mann; 
Da grüßt ihn noch der Bettler, wie morgens er getan. 


Er jucht in jeiner Börje nach einem Gilberjtüd, 
Ihm hält der fremde Bettler die milde Hand zurüd: 
„Das nicht von dir begehr’ ich, nur dein lebend’ges Wort; 
20 Mich Führt der Durjt nach) Wahrheit allein an diejen Ort.” — 


„Du ſcheinſt der Kleinen Gabe bedürftig mir zu fein.” — 
„Du hältjt mich für unwürdig der größern!“ — „Zritt herein! 
Suchſt redlich du die Wahrheit, die vielen jo verhaßt, 
©o jet dem Gleichgefinnten ein Liebgehegter Gaſt!“ 


35 Beim mwogenden Geipräche, beim häuslich trauten Mahl, 
Beim Becher edlen Weines, dem flüſſ'gen Sonnenjtrahl, 
Erblüht dem fremden Bettler die Nede wunderbar, 

Ein Gläub’ger und ein Denker, wie nie noch einer var. 


Er hat des Wortes Feſſel gejprengt mit Geijtesfraft, 
Gr hängt am Guten, Wahren jo recht mit Leidenschaft, 
Er jprühet Lichtgedankten jo machtvoll vor fich Hin, 

So eignen Reiz verleiht ihm jein heitrer, froher Sinn. 


Und ob des jeltnen Mannes verwundert und erfreut, 
Der jeine Neigung feſſelt und Ehrfurcht ihm gebeut, 

Fragt Mendelsfohn ihn traulih: „Wie haben Schul und Welt 
So jeltjam dich erzogen und deinen Geiſt erhellt?" 

Drauf er: „Du lenkſt vom Lichte die Blicke niederwärts, 
Zu forichen nach dem Menjchen und jchauen ihn ins Herz; 
Ich zeige mich dem Freunde und meinen Weg und Ziel, 
40 Und melde, wie die Binde mir von den Augen fiel. 

„Mein Forſchen und mein Trachten, das bin ich ſelbſt und ganz; 

Minuten jo wie diefe find meines Lebens Glanz; 


3 


oO 


3 


a 


234 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Ich trage jechzig Jahre noch friſch und wohlgemut, 

Noch ſchmilzt den Schnee de3 Alters des Herzens innre Glut. 
„gu Glosk in unſern Schulen befam ich Unterricht; 45 

Der Talmud und der Talmud! fie wußten andres nicht; 

Berhangen und verfinjtert das göttliche Gebot, 

Das lei’ aus tiefitem Herzen ſich doch mir mahnend bot! 


„Wie Hab’ ich oft mit Schmerzen die jtumme Mitternacht 
Auf ihren toten Büchern verjtört herangewacht! 50 
Wie hätt’ ich Fromm und willig den Lehrern nur geglaubt, 
Und wiegte doch verneinend mein jorgenjchweres Haupt! 


„Und nun ich follte Lehren, jo twie ich ſelbſt belehrt, 
Da hat fih mir die Rede gar wunderjam verkehrt; 
Da ihalt aus mir die Stimme auf Sabungen und Trug, 5 
Dem Blige zu vergleichen, der aus den Wolfen jchlug. 


„Sie haben fich entjeget, fie haben mich fortan 
Bedrohet und gefährdet und in den Bann getan; 
Ich Hatte mich gefunden, ich war, der ich nun bin, 
Ich folgte meiner Sendung mit leichtem, jreud’gem Sinn. 60 


„Sp wallt’ ich, in der Heimat ein Fremder, nun Hinfort 
Beritoßen, fluchbeladen, unftet von Ort zu Ort 
Und forichte, ſprach und lehrte und trachtete doch nur, 
Das arme Volk zu leiten auf eine beſſre Spur. 


„Und dreizehn Bücher hatt’ ich verfaßt mit allem Fleiß; 65 
Die Bücher, fie enthielten das Bejte, was ich weiß; 
Zu Wilna, o! da waren falt graufam allzujehr 
Die Alleſten des Volkes, wie nirgends anders mehr. 


„Sie haben meine Bücher zerriſſen insgeſamt 
Und haben zu den Flammen ſie ungehört verdammt; 70 
Sie jchichteten den Holzſtoß beim alten Apfelbaum 
Bor ihrer Synagoge im innern Hofesraum. 

„Da Itanden in dem Nauche die Alten blöd’ und blind, 
Den jchlug auf fie hernieder ein mächt’ger Wirbelwind; 
Gereinigt ſchwang die Flamme fich zu dem Höhen Licht; 75 
Den Geiſt, das Licht, die Sonne vernichten fie doch nicht. 


Abba Glosk Leczeka. 235 


„Ich ſelbſt, ich ſollte ſterben, kaum heimlich war der Rat; 
Doch fand ſich ein Rabbiner, der um mein Leben bat; 
Ich wurde bloß gegeißelt, und als man frei mich gab, 

so Sp griff ich heitern Sinnes zu meinem Wanderſtab. 


„Der freud’ge, rüſt'ge Waller zieht über Berg und Tal, 
Ihm jcheinet,-ihn erwärmet der lieben Sonne Strahl; 
Der Schoß der grünen Erde empfängt mit rechter Luft 
Cein müdes Haupt am Abend, er ruht an Mutterbruft. 


5 „Wer je von jeinen Brüdern den Hunger jelber litt, 
Zeilt ihm. vom lebten Brote gern einen Broden mit; 
Er zieht dur) Land und Städte und rühmt fich reich und frei 
Und weiß von feiner Armut und feiner Sklaverei. 


„Bor Sprach: und Stammverwandten entquillt an jedem Ort 
so Aus übervollem Herzen ihm das lebend'ge Wort, 
Zu lehren und zu bejjern, zu fichten jonder Scheu 
Den Glauben von dem MWahne, den Weizen von der Spreu. 


„Iſt Felſen auch der Boden, die Saat verjtreue nur! 
Es träufelt auf den Felſen wie auf die grüne Flur 
95 Des Ew'gen milder Regen. Beharrlichkeit! Geduld! 
Du zahlejt deinem Schöpfer jo deines Lebens Schuld. 


„And herwärtszog mich mächtig und ahndungsvoll mein Herz, 
Don deine® Namens Klarige gelodt, du reines Erz! 
Du bijt, den ich gejuchet, du, der vom Wahne fern, 
100 Zerbricht die hohle Schale und jucht nad) ihrem Kern. 


„Das will auch ich, jo reiche mir deine liebe Hand! 
Wir jchaffen hier und knüpfen ein gottgefällig Band; 
Das Licht, das iſt das Gute; die Finſternis, die Nacht, 
Das iſt das Reich der Sünde und ijt des Böen Macht. 
105 „Dir jtrömet von den Lippen ein ruhig klarer Born, 
63 leiht gewalt’ge Worte mir oft ein heil'ger Zorn; 
So laß vor unjerm Volke zerreißen und vereint 
Des Aberglaubens Schleier, bis Hell der Tag ihm jcheint! 
„Richt träge denn, nicht Läffig! die Hand ans Merk gelegt! 
110 Berfammle du die Jünger; e& tagt, die Stunde jchlägt! 


236 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Wir Hammern an den Felſen, bis hell der Stein erklingt, 
Und an das Licht der Sprudel Lebend’gen Waſſers ipringt.“ 


Darauf mit Rührung lächelnd der Wirt zu feinem Gaft: 
„Senügt dir nicht, du Guter, was du erduldet Haft? 
Sol wiederum fich ſchichten ein Scheiterhaufen? kann 
Die Geißel nicht dich Lehren? du Lehrbegierrger Mann! 


„Du forſcheſt nach der Wahrheit; erkenne doch die Welt, 
Die feiter al3 am Glauben am Wberglauben hält! 
Was je gelebt im Geifte, gehört der Ewigfeit; 
Nur ruft es erſt ins Leben die allgewalt’ge Zeit. 


„Bleib hie und lerne ſchweigen, wo jprechen nicht am Ort! 
Du magſt im jtillen forichen, erwägen Get und Wort 
Und magit das Korn der Furche der Zeiten anvertraun; 
Vielleicht wird einjt dein Enkel die goldnen Saaten ſchaun.“ 


Drauf er: „Du jchweigit, du Kluger, und ſchweigen joll 
mein Mund! 
So ſprich, wer joll denn reden und tun die Wahrheit fund? 
Du helles Licht des Geiſtes ſollſt leuchten freundlich mir; 
Die Hand darauf! — Wir jcheiden! mein Pfad, der trennt 
ih hier.” 

Gr ging; dem Flammengeiſte, dem Flammenherzen galt 
Für Teigheit jede Vorficht, und freundlich zürnend ſchalt 
Ihn Mendelsſohn vergebens; er ging und lehrt’ und jprach, 
Bis über ihn aufs neue das Ungewitter brach). 


Die Älteſten des Volkes, entrüftet, Yuden ihn 
Vor ihre Schranken: „Rede, was machſt du in Berlin” — 
„Sch forſch' in dem Geſetze, darüber jprech’ ich auch 
Mit andern Schriftgelehrten nach hergebrachtem Brauch.” — 

„Du ſtehſt in feinem Dienjte? Haft fein Gewerbe?” — „Nein! 
Ich kann und will nicht Handeln und mag nicht dienjtbar ſein. — 
„Und wir, nach hieſ'ger Ordnung, verbieten diefe Stadt 
Dem ärgerlichen Neu’rer, der hier geläjtert hat.‘ 

Darauf erhob ſich Abba und ſprach: „Hartherzigkeit, 
Du bijt zur Ordnung worden, du herrſcheſt hier zurzeit! 


15 


— 


120 


125 


Abba Glosk Leczeka. 237 


Und kennt ihr den Propheten Jeremia denn nicht, 
Der ſo aus meinem Munde zu euch, ihr Starren, ſpricht: 


„Die Miſſetat der Tochter von Sion, unerhört! 
Verdunkelt Sodoms Sünde, die doch mein Grimm zerſtört!““ 
Die Schrift und die Propheten, die le’ ih Tag und Nacht 
Und hab’ auch andre Worte zu eigen mir gemacht! 


„Du ſollſt dich nicht entjeßen und ſollſt, du Menſchenkind, 
Bor ihnen dich nicht fürchten, die mir abtrünnig find; 
Du wohnt bei jcharfen Dornen und Skorpionen dort; 
Doch ſollſt du dich nicht fürchten, verfündeit du mein Wort.‘ 


Sie holten ihn am Abend wohl mit der Polizet, 
Ihn auf die Poſt zu bringen; er rief den Freund herbei, 
Der Ichafft ihm einen Dienftichein; geſchirmet war er fo 
Bor jeinen Widerfachern, fie waren des nicht froh. 


Und eine Rechnung reichten zur Zahlung fie ihm dar, 
Wo Poſtgeld nebjt der Bütteln Gebühr verzeichnet war; 
Er aber ſprach und lachte: „Geduldet euch, ihr Herrn! 
Hier paßt wohl ein Geſchichtchen, und ich erzähl’ es gern: 


„Den Unjern wird zu Lemberg ein fummervolles Los, 
Die jungen Herrn, die Schüler, find ganz erbarmungslos; 
Den armen Unterdrücdten mißhandeln fie und ſchmähn 
Und werfen ihn mit Steinen, wo immer fie ihn jehn. 


14 


or 


15 


o 


ent 
or 
or 


16 


o 


165 „AS einer, den fie jchlugen, nah am Berjcheiden war, 
Vermaß ich die Gemeinde, bedrängt von der Gefahr, 
Den Jeſuiten-Obern zu Klagen ihre Not; 

Die haben unparteiiich erlaſſen ein Verbot: 

„Es dürfen nicht die Schüler aus eitlem Zeitvertreib 
Die Juden jo mißhandeln, daß fie an ihrem Leib 
Beichädigt werden möchten; es wird auch unterjagt, 
Blutrünjtig fie zu ſchlagen, wie eben wird geklagt. 

„Ein arglos Schimpfen, Werfen, ein Stoß und jolcherlei, 
Das müſſen fie erdulden und ſteht den Schülern frei, 


17 


oO 


I Aus „Seremiä Klageliedern”, Kap. 4, V. 6. 


238 Gedichte: Lieber und lyriſch⸗ epiſche Gebichte. 


Weil mancher unter dieſen iſt guter Eltern Kind, 175 
Und Juden doch am Ende nur eben Juden find,‘ 


„Ein Jud' in diefen Tagen, der hier die Straße fanı, 
Bemerfte, daß ein Schüler ihn recht zum Ziele nahm. 
Er bückte fich beizeiten und wich dem Stein noch aus, - 
Der klirrend flog ins Fenſter dem nächiten Bürgerhaus. 180 


„Die Scheibe war zerbrochen; der Bürger ſäumte nicht 
Und 309, Erſatz zu fordern, den Juden vor Gericht: 
‚Denn hätteſt du gejtanden dem Wurf, wie fich’3 gebührt, 
Sp wurde von dem Steine mein Yenjter nicht berührt.‘ — 


„Ihr habt den Stein geworfen, ich Habe mich gebüct, 
So hat der Wurf die Scheibe des Nachbars nur zerjtüdt; 
Ich Toll die Scheibe zahlen, das Recht, das eure, ſpricht's; 
Doh Hat das Recht verloren, denn jeht! ich Habe nichts.“ 


Als jene fich entfernet, verblieben noch die zwei 
Im traulichen Gefpräche; fie dachten laut und frei; 190 
Begegnen fich die Geijter verwandt im Lichtrevier, 
Das iſt des Lebens Treude, das ijt des Lebens Bier. 


Und Abba zu dem Freunde: „Bin friedlich ja geiinnt; 
Du fiehit, daß allerorten ji Hader um mich jpinnt; 
Frei muß ich denten, jprechen und atmen Gottes Luft, 
Und wer die drei mir raubet, der legt mich in die Gruft. 


„Bon Hinnen will ich ziehen, den Wanderjtab zur Hand, 
Ein Land der Freiheit juchen, nah Holland, Engeland; 
Der Drud Hat Hier den Juden Bedrüdung auch gelehrt; 
Wohl wird er Duldung üben, wo Duldung er erfährt.“ 

Und Mtendelzjohn dagegen und ſchüttelte das Haupt: 
„Du liebewerter Schwärmer, der noch an Duldung glaubt, 
Zeuch hin, dich bloß zu geben auch dort der Eulenbrut! 
Dein zugewognes Glüdsteil, das ijt dein froher Mut.” — 

„Mein zugewognes Glüdsteil, das ijt die Liebe mein 205 
Zu meinem Bolt; mein Glaube, zu beijern müſſ' es jein; 
Mein Hoffen, mitzuwirken dazu mit Gut und Blut; 

Du nennjt die drei zufammen, das ijt mein froher Mut.‘ 


» 


85 


— 


95 


— 


00 





Abba Glosk Leczefa. — Der neue Diogenes. 239 


Und rohen Mutes nahm er den Wanderjtab zur Hand 
210 Und zog wohl in die Fremde, nach Holland, Engeland; 
Den blut’gen Welterob’rer verfolgt die Sage nur, 
Dom Menjchenfreund und Bettler verlieret fi) die Spur. 


Zurück nad) manchen Jahren gleich frohen Mutes fam 

Er nad Berlin gewandert; jein rechter Arm war lahm, 
215 Und blind jein andre Auge, vernarbt jein Angeficht, 
Sein Herz allein, das alte, verändert war e3 nicht. 


So trat er freundlich lächelnd vor Moſes Mendelsjohn: 
„Wie dort es mir ergangen, du Kluger, ſiehſt es jchon; 
Sie haben mich geihmähet, mißhandelt und verbannt; 

220° War ihnen Macht gegeben, fie hätten mich verbrannt.“ 


Und wieder frohen Mutes, da ihn Berlin veritie, 
Zog ex nad) feiner Heimat, die Haß ihm nur verhieß; 
Da wallt er rüſt'gen Schrittes, ein Fremder, fort und fort, 
Verſtoßen, fluchbeladen, unjtet von Ort zu Ort. 


25 Einſt ſucht' er wohl vergebens jeit manchem Tag vielleicht, 
Wer ihm don jeinem Brote das dürft'ge Stüd gereicht; 
Der Schoß der Mutter Erde empfing zur letzten Ruh’ 
Sein graue3 Haupt, ihm fielen die müden Augen zu. 

Der nene Diogenes, 
m preilen ſich die dichten Maſſen 
Des Volkes in den engen Raum? 
Es faljen, Amiens, deine Straßen 
Da3 wogende Gedränge kaum. — 
5 Der Kaijer naht, der Herr der Welt, 
Hebt Siegeslieder an zu fingen! 
Er hat der Feinde Macht zerichellt, 
Er naht, den Seinen Heil zu bringen! — 
Der Freudenrauſch, der ſich ergoſſen, 

10 Gr läßt den einen unberührt: 

Ein Steinmeß iſt's, der unverdroſſen 
Den Meikel und den Hammer führt; 








40 Gedichte: Lieder und lyriſch⸗ epifche Gedichte. 


Der läßt den Zug vorübergehn 

Und nicht im Tagewerk ſich ſtören, 

Als hab' er Augen nicht, zu ſehn, 

Als hab' er Ohren nicht, zu hören. 
Vom Roß herab bemerkt von ferne 

Der Kaiſer dort den rüſt'gen Mann; 

Es reizt ihn, daß er kennen lerne, 

Wer ſo von ihm ſich ſondern kann. 

Er hat ſich ihm genaht, er fragt: 

„Was ſchaffſt du da?“ — „Den Stein behauen!“ 

Entgegnet der, und wie er's ſagt, 

Er kann ihm ſcharf ins Antlitz ſchauen. 


„Ich ſah dich bei den Pyramiden, 
Du ſchlugſt dich gut, du warſt Sergeant; 
Wie kam's, daß du den Dienſt gemieden, 
Vergeſſen hier und unbekannt?“ — . +* = 
„Ich habe meine Schuldigkeit 
Getan, o Herr, zu allen Stunden 
Und ward nach ausgedienter Zeit 
Von Eid und Kriegespflicht entbunden!“ — 
„Es tut mir leid, im Heer zu miſſen, 
Wer brav ſich hielt im Kriegeslauf; 
Laß deinen kühnſten Wunſch mich wiſſen, 
Des Kaiſers Gnade ſucht dich auf!“ — 
„Ich brauche nichts; die Hände mein 
Genügen noch, mich zu ernähren; 
Laß mich behauen meinen Stein 
Und deiner Gnade nicht begehren!“ 


—i 
Georgis.! 
(Neugriechiſch.) 
eorgis, Held Georgis, haſt oft die Hände rot 
Gefärbt in Türkenblute, gib einem noch den Tod! 


I Die Taten bed Kreters Georgis, dem bie Türken den derben Spott— 
namen „Skatoverga“ gaben und ber im griedifchen Volkslied befungen wird, 


20 


25 


30 


35 


40 


Der neue Diogenes. — Georgis. 241 





Mer aber bringt dir Hunde aus ferner Heimat her? 
Du trägit nun Sklavenbande in unver Feinde Heer. 


5 Der Türke Ariph jchaltet in Kretas ebnem Land, 
Er hat die jtolze Botjchaft den Rajas! rings gejandt: 
„Es jollen eure Töchter erjcheinen allzumal, 

Zu meiner Luft zu tanzen vor mir in meinem Saal!“ 


Und an Georgi’ Vater jein Wort ergangen tt: 
10 „&3 werde deine Tochter beim Tanze nicht vermißt!“ 
Sie fam, und als am Abend er frei die andern ſprach, 
Da hatt’ er fie erforen zu jeines Bettes Schmad). 


Die Jungfrau, jtark und tüchtig, von aller Hilfe bloß, 

Entwand jih dem Verſucher und rang von ihm fich (03; 
1: Im jchnellen Lauf entflohen dem prunfenden Gemad), 

Erreichte, „Fromm und züchtig, fie bald das heim’iche Dach. 


Zu ihres Bater3 Haufe am Morgen Ariph ging, 
Der Greis auf ſeiner Schwelle den argen Gajt empfing; 
Er Ichiet ihn aus zum Frondienſt und dringt ins Innre nun; » 
20 Die Jungfrau jucht der Wilde, Gewalt ihr anzutun. 


Bor ihr in iyrer Kammer in Waffen er exjcheint, 
Die Türen find verjchloffen, ev nun zu fiegen meint; 
Mit mannlichen Erfühnen greift jelber fie ihn an, 

Er liegt vor ihr entwaffnet, ein furchtſam feiger Mann. 


5 Da ſchwur er beim Propheten ihr einen teuren Eid, 
Er würde nun und nimmer verjuchen eine Maid; 
Da gab fie dem Bezwungnen die Treiheit, aufzuitehn, 
Und ſchenkt' ihm feine Waffen und hieß hinaus ihn gehn. 


Er aber zähnefnirichend, der tiefen Schmach bewußt, 
so Nach blut’ger Rache dürſtend, ſtößt jchnell in ihre Bruft 
Denjelden Dolch, den eben ihm ihre Hand gereicht; 
Sie finkt zu feinen Füßen, verblutet und exbleicht. 


jolen um 1806 geſchehen jein. Er befand fi vor der Schandtat des Ariph in 
Konjtantinopel auf der Galeere. — 1 Die nicht mohammedanifhen Untertanen 
der Pforte. 


Chamifjo. J. 16 


942 Gedichte: Lieder unb lyriſch-epiſche Gedichte. 


Vom Frondienſt fommt der Alte zurüd in böſer Stund’, 
Er ſchaut die teure Leiche und ringt die Hände wund: 
„Mein Sohn, mein Sohn Georgis, Haft oft die Hände rot 35 
Gefärbt in Türkenblute, gib einem noch den Tod!“ 


Und Ariph Hört den Sammer und fchaut des Greijes 
Schmerz; — 
Es it ein Schuß gefallen, die Kugel traf ins Herz; 
Der Vater und die Tochter find blutig nun vereint, 
Und feiner ift vorhanden, der über beide weint. 40 


Georgis, Held Georgis, haft oft die Hände rot 
Gefärbt in Türkenblute, gib einem noch den Tod! 
er aber bringt dir Kunde aus ferner Heimat her? 
Du trägſt nun Sflavenbande in unjrer Teinde Heer. 


Die Möwen bringen Runde von Kretas heim'ſchem Strand, 45 
Er hört die Möwen, jchüttelt und Iprengt jein Sklavenband, 
Gin Landamann schafft ihm Waffen, ein andrer Überfahrt, 
Er brütet Tag’ und Nächte auf Rache feltner Akt. 


Was mwühlt er jtumm und graufig ein neugejchüttet Grab 
Und ſtört die Leiche dejjen, der ihm das Leben gab? 50 
Wohl jchneidet aus dem Herzen er Ariphs Blei hervor 
Und ladet vielbedächtig damit fein Feuerrohr. 


Der Türke hat vernommen, fein Feind ijt heimgefehrt; 
Er ſchickt ihm eine Botichaft, daß feiner er begehrt. 
„Er möge heim mich ſuchen; ich traur’ im öden Haus, 55 
Sch komme nicht zu Ariph und trete nicht hinaus.“ 


Wie jener es gehöret, erwacht der alte Groll; 
Er rufet jeine Türken und ſpricht bedeutungsvoll: 
„Mir folgen zehn in Waffen! der Raja ſpricht mir Hohn, — 
Dem Vater und der Tochter gejell’ ich noch den Sohn.” 60 


Er jchreitet zu. Georgis wohl in dad Haus hinein; 
Der Held ſaß überm Tiſche und trank den Fühlen Wein, 
Er greift nach feiner Waffe: „Hab' oft die Hände rot 
Gefärbt in Türkenblute, dir ſchuld' ich noch den Tod.“ 


Georgis. — Lord Byrons legte Liebe. 243 





65 Er ſpricht's und jchießt zurüde die Kugel, die er nahm 
Aus ſeines Vaters Leiche, auf den, von dem ste fan; 
Gr zielte nach dem Herzen und trifft, dev Schüße, gut, — 
Der Ariph wälzt fich röchelnd in feinem jchwarzen Blut. 

Georgis, Held Georgi, haft oft die Hände rot 

70 Gefärbt in Türfenblute, gabjt Ariph auch den Tod! 
Dein Nachruhm Lebt in Liedern in aller Griechen Mund 
Und wird noch unjern Enkeln in jpäten Zeiten fund, 


Lord Byrons lebte Liebe, 


yron ijt erichtenen!! Der Kamönen 
Und de3 Ares Zögling jtrahlt, ein Held, 
Unter Hellas' heldenmüt’gen Söhnen 
Auf den blutgedüngten Freiheitzfeld. 
5 Und ihm jchlagen aller Griechen Herzen — 
Eines nicht, nach) welchem er doch ringt; 
Und er ſchafft ſich unabläſſig Schmerzen, 
Wo er jelbjt das Heil den Bölfern bringt. 
„Wie mein Volk, jo will ich dich verehren!“ 
10 Mild, doch ungerührt die Jungfrau jpricht: 
„Magſt die Krone von Byzanz begehren, 
Meine Liebe nur begehre nicht!“ 


Eilig ward er einjt zu ihr entboten, 
Die der Stern iſt feiner innern Nacht; 
15 Stürmend folgt er, ahnungsvoll dem Boten. — 
Welch ein Schredensbild vor ihm erwacht! 


Starr lag, regungslos die Schmerzenreiche, 
Um ein Schwert die rechte Hand geballt; 
Sangjam richtet fich empor die bleiche, 
20 Geiſterartig herrliche Geitalt. 
Sie beginnt: „Du jolljt e3 jeßt erfahren; 
Frühe traf ich jchon der Liebe Wahl, 


I Byron hatte im Juli 1823 die Fahrt nach Griechenland angetreten; er 
landete in Mifjolunghi im Januar 1824 und ftarb dort am 19. April. 


16* 





244 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Gab jein Schwert auch meinem Palikaren!, 
Als das Vaterland e8 mir befahl. 


„Scheidend ſprach ich ernſt in ernjter Stunde: 
‚Sieg nur oder Tod, das wiſſen wir; 

Auf denn! und ein Wort aus treuem Munde: 
Stirbit du unſerm Volke, ſterb' ich dir.‘ 


„Du nun fiehjt mich dem Gejtorbnen jterben; 
Sallend jandt’ er mir zurüd fein Schwert; 

Nimm es Hin, du Dichterheld! Zum Exben 
Solchen Gutes bijt nur du mir wert!“ 


Mit Entjegen foriht er — und gelafjen 

Spricht fie: „Gift!“ — und atmet, merklich faum, 
Und vollbracht iſt's; — jeine Arme faſſen 

Erſt als Leiche ſeines Lebens Traum. 


Byrons Züge ſeit der Stunde waren 
Trüb' und nächtlich wie fein düjtres Los; 
Und er nahm das Schwert des Palikaren 
Bald mit ſich hinab in Grabes Schoß. 


a 


Sophia Kondulimo und ihre Binder. 


(Ed. Blaquiere, „Letters from Greece“. London, 1828.) 


»" finkejt, Miffolunghi?, und Tiegjt in Trümmern nun, 
Bezeichnend nur den Friedhof, wo deine Helden ruhn; 
Einziehend jauchzt der Moslem, der unſerm Glauben flucht, 
Und jtrauchelt über Leichen, wo er nach Sklaven jucht. 


Sophia Kondulimo, die nun verwitwet jtand, — 
Ihr Gatte war gejtorben den Tod fürd Vaterland — 
Drüct ihre beiden Kinder an ihr gebrochnes Herz 
Und mißt die nächſte Zukunft mit grenzenlojem Schmerz. 


1 Bei den Griehen und Albanefen allgemeiner Name für einen jungen Krie= 
ger. — ? Die von ben Griechen lange verteidigte Feftung Miffolungpi fiel zwei 
Jahre nah Byrons Tod am 22. April 1826 in bie Hände ber Türken. 


Lord Byrons legte Liebe. — Sophia Kondulimo und ihre Kinder. 945 


Die blüh'nde Jungfrau gleichet an hoher Schönheit Ruhm 
10 Der goldnen Aphrodite vom blinden Heidentum; 
Nicht Jüngling noch zu nennen, der Knab' entjchüttelt kaum 
Der blondgelodten Stirne den frohen Kindheitztraum. 


„uf, auf! der wüjte Lüjtling, der Türke jtürmt herbei; 
Noch ſteht ein Tor uns offen, ob wohl noch Rettung jei? 
15 Nimm, Sohn, des Vaters Waffen, du — gejtern noch ein Kind, 
E3 jpricht die Zeit dich mündig; nun jei, was Männer find! 


„Der Schande gilt’3 zu wehren, die gräßlich uns bedroht, 

Wir flieden vor der Schande, wir fürchten nicht den Tod; 

Den letzten Schuß verwahrjt du, auf meinen Wink bereit! 
0 Sch werde dir bezeichnen das Ziel und auch) die Zeit.“ 


Es wälzt fich durch die Straßen, bedrängt von der Gefahr, 
Der Witwen und der Waifen verzweiflungsvolle Schar, 
Und flüchtend zu den Bergen, ergießt fie fich durchs Teld 
Und wird in vollem Sammer vom Brand der Stadt erhellt. 


>25 Berittne Haufen jchweifen und jtellen auf dem Plan, 
Sich Sklavinnen zu fangen, ein Menjchentreiben ar. — 
O weinet, meine Augen! ich kann im Clendmeer 
Sophia mit den Hhren nicht unterjcheiden mehr. 


Dort taucht fie aus der Menge, dort, bei der Bergesichlucht; 
30 O rette deine Kinder, beflüigle deine Flucht! 
Es brechen Menjchenräuber dort aus dem Hinterhalt, 
Und feldwärt3 jagen Reiter herbei mit Sturmgewalt. 


Zu jpät! Die Schmerzenreiche ermißt, was fommen muß; 

Der Sohn, des Winks gewärtig, bereitet ſich zum Schuß, 
35 Und fie — verhüllt ihr Antlitz und ruft: „Der Türke naht! — 
Dein Ziel — der Schweiter Buſen!“ — Gejchehen ijt die Tat. 


Stumm liegt zu ihren Füßen die göttergleihe Maid, 
Don deren Herzensblutquell ſich gräßlich färbt ihr Kleid. 
„Hinweg, hinweg! Sie ruhet gejichert jo vor Schmach, 

40 Hinweg dor dem Entjegen, wovor das Herz ung brach!” 


246 Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Sie find nur wen’ge Schritte noch weiter ab geflohn, 
Da ſinkt an ihrer Seite verwundet auch der Sohn; 
Und wie in ihren Armen fie ihn zu bergen glaubt, 

Da bligt ein Türkenſäbel hernieder auf ihr Haupt. 


Sie det den zarten Sprößling mit ihrem eignen Leib: 
„Halt an! Und fieheit, Unmenjch, du nicht, ich bin ein Weib!“ 
Der Türfe hält, getroffen vom Mutterangitgejchrei, 

Und jparet die Gefangnen für harte Sklaverei. 





Woher auf jenem Eiland das freudige Gewühl? 
Sie füffen dort den Boden mit frommem Dankgefühl. 
Sa, Eynards! Boten eilten zur blutgedüngten Statt; 
Die Griechenjklaven find e8, die er erfaufet hat. 


Sophia Kondulimo, du Schmerzensmutter, bier, 
Und auch, den du gexettet, der Sohn zur Seite dir? 
Biſt du zu längerm Sammer bienteden aufgeipart, 
Das blut’ge Bild der Tochter in jteter Gegenwart? 


Noch bringen andre Schiffe der Treigefauften viel, 
Und viel des bittern Elends erreicht der Hoffnung Ziel; 
Der junge Kondulimo, gemiſcht in ihre Schar, 
Teilt Freud’ und Leid mit jedem, den Griechenland gebar. 


„Ber bijt du, Licht der Jungfraun? O, wäre nicht gejchehn, 
Was jelbit doch ich vollbrachte, ich dächte dich zu ſehn, 
O Schweiter! — ja, du bift es, ja, meine Schwejter du! 
Nun führ ich felbjt der Mutter die Neugeborne zu!“ 


Eynard, du Freund der Menjchheit, du jegenreicher Mann, 
Den auch der Dichter preijend nicht höher ehren kann, 
Sr beugt vor dir ſich ſchweigſam und zollet dir gerührt 
Mit Tränen frommer Ehrfurcht den Dank, der dir gebührt. 


Kr 








ı Kean Gabriel Eynard (1776 —1868), berühmter Philhellenift, der von 
Genf aus die internationalen Griechenfomitees zur Unterftügung der Griechen im 
Kampf gegen die Türten leitete. 


45 


6 


oO 





10 


15 


20 


Sophia Konbulimo und ihre Kinder. — Chios: 1. Der Didter. 947 


Chios. 
1. Der Dichter. 

9" wach’ auf! entjeglih müfjen 

e Fieberträume dich erjchreden, 
Krampfhaft jtöhnjt du, — laß mit Küſſen 
Died dein treue Weib erwecken!“ — 
Dank dir, Weib! verſcheuchſt die bangen 
Träume, hegſt mich traut umfangen, 
Und noch ſtarrt mein Haar empor; 
och, wohin die Blice ſchweifen, 
Seh' ich blut’ge Leichen schleifen, 
Schwebt der Greuel Bild mir vor. 


Dieſes Buh* — es iſt vergebeng! 
Laß an deiner Bruſt mich weinen! 
Nimmer wird die Luſt des Lebens 
Wieder lächelnd mir erſcheinen. 
Chios, blüh'nder Friedensgarten, 
Weh! du unterliegſt dem harten, 
Dem entmenſchten Blutgericht; 
Deine neunzigtauſend Bürger 
Sind erwürgt, es zürnt der Würger, 
Daß an Opfern es gebricht. 


Allah! ruft der Moslem, hauet 
Greiſe nieder, Kinder, Frauen; 
Chriſtus! ruft der Raja, ſchauet 
Himmelwärts mit Hochvertrauen; 


*Pouquevilles „Geſchichte der Wiedergeburt Griechenlands“, 6. Buch. 


I Die Chioten hatten ſich dem allgemeinen Aufſtand gegen die Türken nur 
zögernd angefhlofjen, fie hatten ihnen jogar viele Notabeln der Stadt, darunter 
den Erzbiſchof Plato (vgl. V. 241), als Geifeln geftellt. Als aber die türfifchen 
Befehlshaber Elez Aga und Vehib Paſcha (B. 55) die Bedrückungen begannen, lan— 
dete Lykurgis Logothetes mit einer Schar von Samiern (B. 51) und zwang die 
Türken, fih in die Zitadelle zurüdzuziehen. Da erjhien im April 1822 der tür— 
kiſche Großadmiral Kara Ali mit der Flotte, landete 7000 Türken und richtete 
ein furdtbares Blutbad an. 23,000 Einwohner wurden ermordet, 47,000 in die 
Sklaverei verfauft (die Angabe in V. 18 ift ungenau). 


948 Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 








Er begehrt die heil'ge Palme; — 
Menſchen mähet der wie Halme, 
Sauchzet auf ob Allahs Sieg. — 
Das iſt zu des Himmels Rache, 
Das ijt für die heil'ge Sache 
Völker- und Vernichtungskrieg! 


Die dem Wüterich zu Willen 
Chriſtenſklaven hier verladen, 
Schnöden Goldesdurſt zu ſtillen, 
Sich in Blut und Tränen baden, 
Die nach Stambul blut'ge Glieder 
Liefern der erſchlagnen Brüder — 
Weh mir! — ſind — o Schand' und Spott! 
Wagt mein Mund es auszuſprechen? — 
Franken! ſind es, und die Frechen 
Nennen Chriſtum ihren Gott. 


Und die Pairs von Frankreich haben 
Eines hohen Rats gepflogen, 
Solcher Schandtat, ſolchen Knaben 
Recht und Strafe zugewogen. 
Du — Villdle?, ſollſt mir jagen, 
Der den Rat zu unterſchlagen 
Du dich nicht entblödet haſt: 
Kennſt du noch des Schlafes Mächte? 
Nicht die Träume meiner Nächte 
Tauſcht' ich gegen deine Raſt! 


2. Die Brüder. 

„Als von Samos du uns brachteſt, 
Logothetes, die Empörung, 
Unglückſel'ger, du bedachteſt 
Nicht die drohende Zerſtörung, 








1 In der Türkei allgemeine Bezeichnung aller chriſtlichen Europäer, die nicht 
Griechen find. — ? Graf Joſeph Villele, von 1822—28 franzöfifher Minifter- 
präfident unter Karl X. Sein ſchwankendes, zögerndes Verhalten in der Griechen 
frage iſt vom diplomatifchen Standpunkt wohl nicht jo ganz zu verurteilen wie 
vom rein menjchlichen. 


DD 
wi 


35 


40 


45 


50 


55 


60 


65 


70 


75 


80 


85 


90 


Chios: 1. Der Dichter. — 2. Die Brüder. 


Nicht Vehib und jeine Rotte, 

Alt nicht und feine Ylotte, 
Nicht der Aſiaten Brut; 

Du entfleuchft, — wir find vernichtet; 
Der gereizte Tiger richtet, 

Sättigt ſich in unferm Blut.” 


„ Und er jchreitet jpähend, zagend 
Über Schutt und zwijchen Leichen, 
Gold und Edelſteine tragend, 
In die Feſtung ſich zu jchleichen. 
Ah, er fommt, um zu den Füßen 
Dez Vehibs den Staub zu Füllen, 
Kommt, den Unmenjch zu erflehn; — 
Wird dem Glanz der Edeliteine, 
Wird Vehib dem Goldezicheine 
Unerbittlich widerjtehn? 

„Du und Ali habt’3 beraten: 
Alle Geijeln müſſen jterben, 
Keiner joll von den Primaten 
Unſers Volkes Gnad’ eriverben. 
Nicht mit meinem Herin zu rechten, 
Kam ich Her; mit euren Knechten 
Schaltet, wie ihr's rätlich glaubt; 
Nimm hier deines Sklaven Gabe, 
Nimm, Herr, feine ganze Habe, 
Nimm jein dargebrachtes Haupt! 

„Ja, mein Haupt! Der Geijeln einer 
Sit mein Bruder; nicht den Guten 
Straf am Leben, nimm jtatt feiner 
Mich und laß für ihn mich bluten! 
Er iſt Vater vieler Kinder; 
Haupt um Haupt, e3 zählt nicht minder 
Meines ala das teure Haupt. 
Nimm hier deines Sklaven Gabe, 
Nimm, Herr, meine ganze Habe, 
Nimm mein dargebrachtes Haupt! 


249 


250 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gedichte. 


Und es jcheint, daß er fich freue 
An dem Glanze des Metalles: 
„Gilt dir, Raja, Brudertreue 
Überfchtwenglich mehr al3 alles? 
Willſt den Tod für ihn erleiden? 
Wohl, ich werde nicht euch jcheiden. — 
Schafft zur Stelle, den er meint!“ 
Wie fie fih umarmen wollen, 
Winkt er; — beider Häupter rollen, 
Und der Tod hat fie vereint. 


3. Die Märtyrer. 


Welche nicht gewohnte Klänge 
Hallen von den Klüften wider? 
Subelruf und Feltgejänge: 

„Heil dem Kreuz!” und Giegezlieder; 
Und der Türke ſchaut verzaget 

Nah den Bergen Hin und fraget, 
Ob der Halbmond unterliegt? 

Sa, die Chrijtugitreiter waren 

Stark in harten Kampfs Gefahren, 
Sa, es hat das Kreuz gefiegt. 


Neun Tag’ iſt das Blut geflojjen; 
Der Barbaren wilde Horbden, 
Die jih rings ins Land ergofjen, 
Fangen Menſchen ein und morden; 
Herdenweiſe heimgetrieben, 
Mie fie feit im Glauben blieben, 
Sind dem Tode fie geweiht; 
Wen’ge jparet man zu Sklaven; 
Sie zu feilſchen, find im Hafen 
Fränk'ſche Schiffe ſchon bereit. 


Von den Bergen niederwallen 
Sieht man einen neuen Saufen; 
Dieje jind, ach! abgefallen, 

Sich vom Tode loszukaufen; 


95 


100 


105 


110 


115 


120 


130 


135 


140 


145 


150 


155 


Chios: 2. Die Brüder. — 3. Die Märtyrer. — 4. Die Geretteten. 


Türken, welche jie begleiten 

Und voran dem Zuge reiten, 
Triumphieren hoch entzüdt; 

Doch fie jelbjt mit dumpfem Schweigen 
Und mit Schamerröten zeigen, 

Wie die Schmad fie niederdrüdt. 


Wie zum Richtplaß fie gelangen 
Und dem Tod ind Auge jchauen, 
Dort, wo ihre Brüder hangen, 
Überwinden fie da Grauen; 

E3 erfaßt jte, und fie beben 

Vor der Sünde nur, dem Leben, 
Vor der Schande bittrer Not: — 
„Heil dem Kreuze! wir find Chriften, 
Wollen nicht das Leben frilten; 

Gebt ung Märtyrern den Tod!“ 


Und der Paſcha winkt im Grimme 
Seinen Schergen, fie zu jchlachten; 
Laut erichallt von feſter Stimme 
Der Gejang der Chrijtenjchlachten; 
Blut beginnt den Grund zu färben, 
Und fie fingen, und ſie jterben, 

Und des Kreuzes Hymne jchaltt, 
Bi erfüllt des Himmels Wille, 
Schauerli in Todesſtille 
Endlich der Gejang verhallt. 


4. Die Geretteten. 


Bor der Wiege Tieget blutig, 
Yung und jchön, der Mann erichlagen, 
Hat die jchweren Wunden mutig 
Dorn auf jeiner Bruft getragen; 
Auf der Wiege jelber Tieget, 
Angeklammert, angejchmieget, 
Regungslos das zarte Weib, 


251 


252 


Gedichte: Lieber und Iyrifchsepiihe Gedichte. 


Und den Säugling, welcher weinet 
Und der Bruſt bedürftig jcheinet, 
Dedt fie jtarr mit ihrem Xeib. 


Jourdain, der mit ziveien Booten 
Kam, die Küſte zu eripähen 
Und den letzten der Chioten 
Rettung bringend beizuftehen, 
Sourdain fieht das Bild mit Schaudern, 
Sudt die Mutter ohne Zaudern 
Zu erwecken — falt und tot! 
Zitternd nimmt er in die Arme 
Nun das Kind, es trieft das arme 
Von der Mutter Blut jo rot. 


Schüſſe, die er höret, ziehen 
Ins Gebirg’ ihn; mit Barbaren 
Kämpft ein Grieche; jene fliehen, 
Und befreiet von Gefahren, 

Zeigt ihm diejer eine bleiche 
Junge Frau, die auf die Leiche 
Des durchbohrten Säugling weint; 
Troſt will diefer Schmerzenreichen 
Hochergraut ein Prieſter reichen, 
Und er weint mit ihr vereint. 


In den Schoß des jungen Weibes 
Legt den Findling Jourdain nieder: 
„Nahm das Kind dir deines Leibes 
Gott, er jchenfet eins dir wieder; 
Nennen jollit du's: Gottesgabe. 

Aber auf! und folgt! ich habe 
Boote dort bereit zur Fahrt.“ 
Wie die Gatten folgend danken, 
Redet zu dem edlen Franken 
So der Priejter, Hochbejahrt: 


„Zeuch mich Gott, der her dich jandte, 
Und er leuchte deinen Wegen! 


160 


165 


175 


180 


185 


190 





195 


200 


205 


210 


215 


225 


Chios: 4. Die Geretteten. — 5. Die Leichen. 253 
Der in dir zu uns fich wandte, 
Spendet auch durch mich den Segen; 
Schau auf dieſe meine Haare, 
Die gebleichet achtzig Jahre! 
Nicht der Luft gehör ich an; 
Es geziemt mir, hier zu wandeln, 
An den Brüdern jo zu Handeln, 
Mie du, Fremder, haft getan.“ 


5. Die Leichen. 


Da, wo Chios einſt geweſen, 
Herrſchet Stille ſondergleichen; 
Auf der Trümmerſtatt verweſen 
Zwanzigtauſend Chriſtenleichen; 
Andre füllen Strand und Hafen; 
Keine Raja, keine Sklaven 
Frönen mehr am öden Ort; 

Es beginnt die Peſt zu wüten, 
Und, die Seuche zu verhüten, 
Zog der Türke weiter fort. 


Ausgeſpannt die dunkeln Flügel, 
Deckt die Nacht die ſtummen Trümmer; 
Doch wer geht, wer gräbt am Hügel 
Einſam bei der Lampe Schimmer? 
Ach! es iſt der Gottesdiener, 

Iſt der fromme Kapuziner, 

Der aus Frankreichs Konſulat; 
Armer Greis! ins Grab ſie betten 
Muß er, die er jüngſt von Ketten 
Und vom Schwert errettet hat. 


Das Gekreiſch, was hat's zu ſchaffen, 
Angſtvoll auf dem Meer erhoben? 
„Zu den Waffen! zu den Waffen! 
Allah, ſollen wir dich loben? 
Schwarzer Ali, du ſollſt wachen!“ 
Donnerndes Geſchützeskrachen 


4 


Gedichte: Lieder und Iyrifch = epifhe Gedichte. 


Weckt den fernen Widerhall; — 
„gu den Waffen! Feinde kommen, 
Rajas kommen hergeſchwommen, 
Wagen einen Uberfall!“ 


Und aus finſtrer Wolkenſchichte 
Bricht hervor des Mondes Scheibe; 
Schaudernd ſehn ſie bei dem Lichte, 
Daß der Landwind Leichen treibe, 
Leichen in gedrängten Scharen, 
Raja-Leichen, die da waren 
Alis grauſes Siegesmal. 

Angeſpült wie von Gedanken, 
Legen ſie ſich um die Flanken 
Seines Schiffes ſonder Zahl. 


Biſchof Platon dort, der Greiſe, 
Scheinet ſtarr ihn anzuſchauen, 
Und es wird ſein Blut zu Eiſe, 
Es erfaſſet ihn ein Grauen; 

Will ſich dieſem Graus entziehen, 
Will vor ſeinen Toten fliehen — 
Schwarzer Ali, nur gemach! 
Sieh, in deines Kieles Gleiſe 
Ziehn ſie wunderbarerweiſe 
Ihrem Mörder drohend nach. 


6. Ranaris.! 


Mondlos iſt die Nacht; im Dunkeln 


Sieht man fernher von den Maſten 
Alis farb'ge Lichter funkeln; 
Schwelgend feiert er die Faſten, 
Hat auch für ein Feſt zu ſorgen, 
Dem Propheten weiht er morgen 


235 


240 


245 


250 


255 


I An ber Naht vom 18. auf ven 19. Juni 1822 gelang es Konftantin Ka— 
naris, während bie Türken das Bairamfeft feierten, zwei Brander in die Nähe der 
Flotte zu treiben und das Abmiralfhiff mitfamt Kara Ali in die Luft zu fprengen. 


260 


265 


270 


275 


235 


290 


© 


Chios: 5. Die Leichen. — 6. Kanaris. 


Kinder, die er jüngſt geraubt; 

Und die fränk'ſchen Schiffe brachten 
Ihm Trophä'n von Kretas Schlachten, 
Ihm Baleſtes blut'ges Haupt. 


Siegsmuſik und Hohn dem Armen! 
Schwelge, ſchwelge noch Sekunden! 
Hält dich feſt in Flammenarmen 
Doch dein Schickſal ſchon umwunden. 
„Heil dem Kreuze!” — „Feuer! Feuer!“ 
Held Kanaris, Ungeheuer, 

Leitete den Brander gut; 

Deine Zeit iſt um, die Flammen 
Schlagen über dir zuſammen, 
Unter dir ergrimmt die Flut. 


Unter gräßlichem Geheule 
Stürzen krachend Maſt' und Raaen, 
Wirbelnd ſteigt die Feuerſäule, 
Keine Hilfe wagt zu nahen; 
Sonder Führung und Gebote 
UÜberfüllen fich die Boote, 

Sie verichlingt de3 Meeres Schoß; 
Glut erfaßt nach kurzem Jammer 

Endlich) auch die Pulverfammer, — 
Alt, du erfüllit dein Los. 


Schmweigfam jteuert — angegriffen, 
Wird jein Boot er jelber jprengen — 
Held Kanaris zwiſchen Schiffen, 

Die in blinder Flucht fich drängen; — 
Keine mag um ihn fich fümmern — 
Steuert zwiſchen Schiffestrümmern, 

Bis er freier um fich ſchaut: 

„Heil dem Kreuz!” vor Pſaras Strande, 
Bor dem teuren Baterlande, 

Flaggt er, al3 der Morgen graut. 


255 


B 
Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 


„Seht die Flaggen! Heil dem Sieger! 
Heil dem Rächer! ihm zum Lohne, 
Der erlegt den grimmen Tiger, 
Lorbeer, winde dich zur Krone!“ 
Und, ſein Steuerruder tragend, 295 
Landet, jchreitet er entjagend 
Durch die Haufen, ſtumm und taub, 
Barhaupt, barfuß zur Kapelle, 
Und er wirft auf heifger Schwelle 
Bor dem Kreuz fih in den Staub. 300 


_—o— 


Korſiſche Gaftfreiheit. 
ie Bliße erhellen die finjtere Nacht, 
Der Regen jtrömt, der Donner kracht, 

Der mächtige Wind im Hochwald ſauſt, 
Der wilde Gießbach ſchwillt und brauft. 

Und düjterer noch als der nächtliche Graus 5 
Starrt Rocco, der Greis, in die Nacht hinaus, 
Er jtehet am Fenſter und jpäht und laujcht 
Und fährt zufammen, wenn's näher raujct. 

„Der Bote muß e8, der blutige, Jein. 
Du bit es, Better Giujfeppe? — Nein! — 10 
Die Zeit ift träg — es wird ſchon jpat — 
Sit Tolche Nacht doch günjtig der Tat. 

„Du, Polo, bringſt uns jelber dein Haupt, 
Halt töricht die Rache jchlafend geglaubt, 
Halt her dich gewagt in unjern Bereich, 15 
Die Nahe wacht, das erfährit du gleich. 

„Du fommjt dort über den Gießbach nicht. 
Euch Schüten geben die Blite Licht; 
Geſchmähet jeid ihr — trefft ihn gut! 
MWajcht rein die Schmach in jeinem Blut!“ 20 

Da pocht's an die Tür; er fährt empor, 
Er öffnet jchnell — mer jteht davor? — 


25 


30 


35 


40 


45 


Chios. — Korfifche Gaftfreiheit. — Der arme Heinrich. 





„Du, Bolo? — zu mir? — zu jolcher Zeit? 
Was willit du? rede!” — „Gaſtlichkeit! 


„Die Nacht iſt ſchaurig, unmwegbar das Tal, 
Es lauern mir auf die Deinen zumal.” — 
„sch weiß dir Dank, daß würdig du hajt 
Don mir gedacht; willlommen, mein Gajt!“ 


Er führt ihn zu den Frauen hinein 
Und heißt fie ihm bieten Brot und Wein; 
Sie grüßen ihn ſtaunend, gemefjen und falt; 
Die Hausfrau jchafft ohn' Aufenthalt. 


Sobald er am Herd ſich gewärmt und gejpeift, 
Erhebt fich Rocco, der folgen ihn heikt, 
Und führt ihn jelbit nach dem obern Gemach: 
„Schlaf unbejorgt, dich ſchirmt mein Dach!“ 


Er jteht, wie im Oſten der Morgen graut, 
Vor jeinem Lager und rufet laut: 
„Bach auf! jteh auf! es ijt nun Zeit, 
Sch gebe dem Gaſt ein fichres Geleit.“ 


Er reicht ihm den Imbiß und führet alsbald 
Ihn längs des Tals durch den finjteren Wald 
Und über den Gießbach die Schlucht hinan 
Bis oben auf den freieren Plan. 


„Hier jcheiden wir. Nach Korienbrauch 
Hab’ ich gehandelt, jo tätejt du auch; 
Die Rache jchlief, fie ift erwacht: 
Nimm fürder vor mir dich wohl in acht!” 


— 


Der arme Heinrich. 
Zueignung an die Brüder Grimm. 
br, die den Garten mir erichlofien, 

Den Hort der Sagen mir enthüllt, 
Mein trunfne® Ohr mit Zauberflängen 
Aus jener Märchenwelt erfüllt; 


Chamiſſo. I. 17 


257 


258 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gebichte. 








Sch ſchuld' es euch, daß, wie im Traume 
Berührt, mein Saitenjpiel erflang 

Und fich dem übervollen Bujen 
In Schmerz und Luſt das Lied entrang. 


Da wollt’ ich euch zum Kranze winden 
Die ſchönſten Blunten, die ich fand, 

Doch abgelöjt von ihrer Wurzel, 
Verdorrten fie in meiner Hand. 


Und immer jprach zu meinem Herzen 
Ich zögernd: Alſo ſoll's nicht jein; 
Unwürdig wirjt den wadern Meijtern 
So nicht'ge Gabe du nicht weihn. 


Und immer hofft’ ich: morgen, morgen! — 
Ich ward indeſſen ſchwach und alt; 

Nehmt heute denn des Greifen Gabe, 
Bevor jein letztes Lied verhallt! 





Meilen iſt die Burg, die dort verödet 
Mitten in den: jehönen Schwaben trauert? 


Gras und Farrenkraut bewächſt die Stiegen, 


Und die Eule nijtet in den Türmen. 


Guter Ritter Heinrich von der Aue, 
Blume du der Jugend und der Schöne, 
Klarer Spiegel aller Rittertugend, 


Schwert der Kraft und Rojenhag der Milde, 


Mund der Wahrheit, Fels der echten Treue, 


Der Bedrängten Schirm und Hort, der Freunde 


Ehrenſchild und Banner, heller Stern du, 
O, wie bijt du, heller Stern, gefallen! 


Seine Geißel hat der Herr geſchwungen 
Über den Weltjeligen, ergriffen 


Hat ihn ſchmählich Leid, ihn hat der Ausſatz 


Heimgejucht, und ekelnd abgewendet 
Haben jchnell fich, die an ihm gehangen. 


20 


25 


30 


35 


45 


50 


59 


60 


65 


70 


Der arme Heinrich. 359 


Seht da3 Vorwerk dort am Waldesrande! 
Weltverlaſſen, Hat dev arme Heinrich 
Dort beim Meter ein Aſyl gefunden. 
Und der Alte dienet ihm in Treuen, 
Und die greife Mutter pfleget jeiner, 
Und das Töchterlein, das er im Scherz oft 
Seine Eleine Frau nennt, weiß gefällig, 
Spielend, koſend, ihm des bittern Grames 
Wolken von der Stirne zu vericheuchen. 


Alſo war das dritte Jahr dem Dulder 
Schon verjtrichen, und er jaß in Unmut 
Düjter brütend, al3 der gute Meier 
Ihm zuredend jprach die flücht’gen Worte: 


„Herr, Ihr müfjet deſſen nicht verzagen! 
Gibt's zu Montpellier und zu Salerno 
Sa der funfterfahrnen. weiſen Mteijter 
Viele no, da ſollt Ihr Hilfe juchen!“ 


Drauf der arme Heinrich bitter lächelnd: 
„Bin zu Montpellier und zu Salerno 
Hilfe juchend früher wohl geweſen; 

Bon den weilen Meijtern nicht der eine, 
Nicht der andre mochte Trojt mir geben, 
Schlechten Troſt nur einer zu Salerno, 
Der mich lehrte, wie ich zwar zu heilen, 
Aber ungeheilt doch müfje bleiben.“ 


Drauf der Meier: „Herr, Ihr ſprecht in Rätfeln.” 
Und der Kranke: „Wohl, das Rätjel Iöf’ ich: 
Schafft mir, ſprach der Meijter, eine Jungfrau, 
Die aus freiem Mut für Euch zu fterben 
Sich entſchließt und aus der Bruft das Herz ſich 
Schneiden läßt, jo will ich wohl Euch Heilen.“ 


Es verjtummten beide, jtille ward e2. 
Laujchend ſaß die Maid, wie fie gewohnt war, 
Unbemerfet ihrem Herrn zu Füßen, 

Und ein leiſes Wimmern ward vernommen. 
17* 


260 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 





Als darauf zu Nacht die beiden Alten 
Sich gelegt, das Kind zu ihren Füßen, 
Konnte fie vor Herzeleid nicht jchlafen. 
Shres Herrn gedenfend, troff der Regen 
Shrer Augen auf der Eltern Füße, 

Die verjtöret aus dem Schlaf erwachten. 


Um ihr Weh befragte fie der Vater 


Jetzt mit janften, jet mit jtrengen Worten, 


Bis ſie's länger nicht verhehlen Eonnte: 
„Denk' ich unſres güt’gen Herrn und feines 
Bittern Elends, muß ich immer weinen. 
Ach, e3 gibt den Beſſern nicht auf Erden!“ 
Und der Vater und die Mutter jagten: 


„Kind, das jprichit du wahr, doch kann dem Guten 


Unſer Harm nicht frommen, über ihm iſt 
Gottes Mrteil, drum laf ab zu Klagen!“ 


So gejhweigten fie dag Kind, doch fchlaflos 
Blieb fie über Nacht und ſtumm in Trauer 


Tags darauf, bi fie zur Ruh’ fich Tegten. 
Aber auf gewohnter Lagerjtätte 

Fand das gute Mädchen feine Ruhe; 

Gin Gedanfe war in ihrem Herzen, 
Wuchs in ihrem Herzen übermächtig; 

Grit nachdem mit Gott fie feſt beſchloſſen, 
Herz und Herzblut ihrem Herrn zu opfern, 
Ward fie wieder froh und leichten Mutes. 
Aber bald zur Angft wuchs eine Sorge: 
Ob Herr Heinrih, ob die Lieben Eltern 
Ihren Willen ihr gewähren möchten. 
Wieder, des verzagend, troff der Regen 
Ihrer Augen auf der Alten Füße, 

Die verjtöret aus dem Schlaf erwachten. 


Auf fich richtend, jchalt der Liebe Vater 
Unverjtändig, kindiſch ihre Klage, 
Da nur Gott im Himmel könne helfen. 


75 


80 


85 


90 


95 


100 


105 





110 


115 


120 


125 


130 


135 


140 


Der arme Heinrich. 261 


„And doch”, ſprach die janfte Maid erwidernd, 
„And doch Hat mein Herr gejagt, ihn fünne 
Wohl geholfen werden. Tauglich bin ich 

Ihm zur Argenei; ich will euch bitten, 

Wehrt mir nicht, daß ich mit Gott mein Herzblut 
Treudig für den Guten möge geben!‘ 


Ob der Ned’ entjegten ſich die Alten, 
Und betrübten Mutes jprach der Vater: 
„Kind, du redejt, wie die Finder reden, 
Hajt noch nicht den herben Tod gejchauet, 
UÜberſchwengliches verſprichſt du töricht; 
Lab den Leichtjinn, laß die Träume fahren 
Und verjtör” und müßig nicht die Nächte!” 


Und e3 ſchwieg das Mägdlein, aber jchlaflog 
Dlieb fie über Naht und ftumm in Trauer 
Tags darauf, big fie zur Ruh? fich legten. 
Wieder troff der Regen ihrer Augen 
Auf der Alten Füße, fie erweckend. 


Aufrecht figend, ſprach zu der Bedrängten 
So die greife Mutter, jelbjit in Tränen: 
„Sinnjt Unjeligeg du uns zum Jammer? 
Kind du meiner Schmerzen, die du jolltejt 
Unſers Alter® Stab jein und ung ehren, 
Willſt dein Heil verwirken, willit das Leben 
Uns verleiden und das Herz uns brechen 


Dem entgegnete die Fromme Tochter: 
„wege Gott mir Worte auf die Lippen, 
Die das Herz der teuren Eltern treffen! 
Nicht mein Heil verwirken, nicht zum Sammer 
Will ih euch, ihr DVielgeliebten, jterben; 
Nicht auch red’ ich kindiſch, angejchauet 
Hab’ ich ernſt den herben Tod, wie einer 
Nur vermag, dem noch dag Leben lieb it. 
Sterben muß doch auch, wer alt geworden; 
Aber ſchwer in Arbeit alt geworden, 


262 


Stirbt in Sünde mancher Hin; ihm wäre 
Beſſer, wär’ er nie zur Welt geboren. 

Mir aus Gottes Hulden wird’3 zu teile, 
Um der Seele Heil in jungen Jahren 
Meinen Leib zu geben; jolches günnt mir, 
Denn jo muß es jein! Die Leute jagen, 
Daß ich ſchön bin; würd ich älter, möchte 
Leicht der Weltluft Süße mich verftriden. 
Mollt ihr einem Manne mich vermählen: 
Lieb’ ich ihn, iſt's eine Not, ich Habe 
Meinen armen Herrn doch jtet3 vor Augen; 
Wird er mir verhaßt, jo iſt's der Tod gar. 
Mein begehrt ein Freier, dem ich gerne 
Folgen will, dem mag ich wohl vertrauen. 
Set mich in ein Glück, das nicht vergehet; 
Laſſet Gott mich preifen, der jo Wertes 
Will durch mich einfält’ges Kind vollenden. 
Laßt für ew’gen Lohn um furzes Leiden 
Mich vergüten unjerm Herrn das Gute, 
Das er unabläſſig uns gejpendet. 

Seid der Tat teilhaftig, und vergelt’ euch 
Gott, was nimmer ihr verfagen dürfet! 
Wieder heben muß der Baum des Ruhmes 
Zu dem Lichte feine volle Krone, 

Aber ihr im Schatten feiner Milde 

Werdet fein euch freuen und der Tochter.” 


Schneidend drangen in das Herz der Alten 
Dieje Worte, denn dag Mädchen Hatte, 
Keinem Kinde gleich, mit Macht geiprochen. 
Wagten auch nicht länger, ihr zu wehren, 
Jammernd ſchwiegen fie und kämpften lange 
Mit dem Liebesichmerz im wunden Herzen, 
Bis ſie Iprachen: „Möge denn gejchehen, 
Was dich jo der Geilt erbeten Lehrte!‘ 


Freute jeßt dem jungen Tag entgegen 
Sich die Jungfrau; aber faum exhellte 


145 


150 


160 


165 


170 


175 


180 


185 


190 


195 


200 


205 


210 


Der arme Heinrich. 


Sich der Oſten, trat fie leifen Schrittes 
An das Bett de3 Siechen, fniete nieder, 
Seinen Schlaf bewachend, bis die Sonne 
In die Kammer jchten und ihn erweckte. 


Und der erſte Bli des armen Heinrich 
Viel ins Aug’ ihr, das verfläret jtrahlte 
Ihres reinen Herzens janften Frieden. 

Und er fragte: „Liebe Frau, was bringt dich 
Heute zu mir her jo früh am Tage?“ 


Flehend hob gefaltet ihre Hände 
Sie zu ihm empor und ſprach in Demut: 
„Hab’ an meinen Herrn wohl eine Bitte; 
Zürne mir mein Herr nicht! darf ich Hoffen, 
Daß ich nicht vergebens werde bitten 


MWohlgefällig ruht’ auf ihr fein Auge: 
„Was ich darf vor Gott und meiner Ehre, 
Das getrau’ ih mir, dir zu verheißen.“ 


Sie darauf: „Mein lieber Herr, ich dank Euch, 
Sag’ Euch auch, was Ihr mir Habt gewähret. 
Sammernd jahen wir die Tag’ und Nächte 
Eurem Leide zu, dem Toll geholfen 
Wohl noch werden; jeht, ich bin die Jungfrau, 
Die aus freiem Mut fich feft entſchloſſen, 

Aus der Brujt das Herz wird jchneiden laſſen. 
Auf denn, nach Salerno! Laßt den Meijter 
Seine Kunjt an Eurer Magd beweijen!“ 


Range Zeit jah zweifelnd, fait exichroden, 
Tränen in den Augen, er die Maid an; 
Sprach bejonnen dann, fie zu verjuchen: 
„sind, du Seltjame, dein fromm Gemüte, 
Das erjcheinet Klar in diefer Stunde; 
Willſt für mich du jterben, Kind, bedenke, 
Deiner Eltern bijt du, mußt fie fragen!“ 
Uber anders fam es, al3 er meinte, 
Eingerufen, traten ein die Eltern, 


269 


264 


Gedichte: Lieber und lyriſch-epiſche Gebichte. 


Sprachen beide fchluchzend: „Nimm fie, nimm fie! 
Haben ihr gewehrt drei lange Nächte, 

Ihr ift nicht zu wehren; aus dem Mädchen 

Hat zu uns ein höh’rer Geift geiprochen.‘ 


Als der arme Heinrich jet erkannte, 
Daß einmütig doch das Ungeheure 
Alle wollten und von ihm begehrten, 
Stieg in ihm aufs neue Lebenzluft auf, 
Sah er ſchon im Geifte fich genejen, 
Andres nicht gedacht er, und mit Graujen 
Sprach er lei’ und langjam: „Alſo fer es!“ 
Großes Leid erhob fih, nur die Jungfrau 
Schaute jelig lächelnd in die Runde. 


Nah Salerno! nad) Saleıno! Prächtig 
Schmückte Heinrich zu der Fahrt das Opfer, 
Ließ ihr Samt und Hermelin und Bobel, 
Brautgeſchmeid' und goldne Spangen reichen; 
Und des weltlich eitlen Tandes freute 
Selber fich die Maid, wie Himmelsbräute, 
Die entjagend zum Altare treten. 


Nach Salerno! Wohl nach ſchwerem Abjchied 
Bogen nad) Salerno jett Die beiden, 
Sreud’gen Herzens aber nur die Jungfrau. 


Angekommen, gleich zum weiſen Meifter 
Führt er fie. Verwundert, jie zu prüfen, 
Nahm der fie beifeite, ſtarrte lange 
Zweifelnd jcharf fie an und fprac mit Nlachdrud: 
„Sag’, Unjelige, dein Herr hat jolches | 
Dir geboten, nicht dein Wille war es.“ — 
„Bar und ijt mein Wille‘, ſprach fie ruhig. 
Gr dagegen: „Tritt zurück! noch kannſt du, 
Upp’ge Lebensluſt ziemt deinen Jahren; 
Halt die Angſt de3 Todes nicht verjtanden, 
Weißt nicht, welche Marter dir bevoriteht; 
Wirſt dich ſchämen, ſchon mir zu enthüllen 


215 


225 


230 


235 


240 


225 


250 


255 


260 


265 


270 


275 


280 


Der arıne Heinrich. 265 


Deinen zarten Buſen. Siehe! binden 

Werd' ich dich mit Stricken, werde wühlen 

Mit dem ſcharfen Eiſen nach dem Herzen 

In der Bruſt dir und heraus es ſchneiden. 
Wankt dein Wille, von dem Schmerz erſchüttert, 
Und bereueſt du die Tat, — zu ſpät iſt's. 
Nichts mehr wird ſie deinem Herren frommen 
Und dein junges Leben iſt verloren. 

Tritt zurück! ich will mich dein erbarmen.“ 


Ihm entgegnete die Jungfrau lächelnd: 
„Lieber Herr, Ihr habet mir die Wahrheit 
Deſſen wohl gejagt, was mir bevorſteht; 

Habet Dank! das eine nur befürcht' ich: 

Seht Euch vor! es wird die Hand Euch zittern 
Und den Preis des Werkes noch gefährden. 
Zaghaft ſeid Ihr; Eure Rede ziemet 

Einem Weibe ſich, nicht einem Manne; 

Faßt ein Herz, getrauet Euch zu ſchneiden! 
Ich, ein Weib, getraue mich zu dulden.“ 


Solches hörend, ſtand der greiſe Meiſter 
Vor der zarten Jungfrau, ihr ins Antlitz, 
In das fromme, ruhig heitre ſchauend; 

Er erbleichte vor dem Mut des Kindes. 
Lange ſtand er alſo; endlich wandt' er 

Langſam ſich der Türe zu, dem Siechen, 
Was er jetzt erkundet, zu berichten. 


Aber haſtig trat ihm der entgegen, 
Ihm zurufend: „Meijter, lieber Meiiter, 
Bringjt mir Leben, Leben und Genejung? 
Sprich e3 aus, erfreue meine Seele! 
O, der Sieche nur ermißt im Sammer 
Ganz den Preis des vollen, friſchen Lebens!“ 


Ihm erwiderte gefaßt der Meijter: 
„Züchtig hat fürwahr dem blut’gen Dienfte, 
Den zu deiner Heilung du ihr anfinnit, 


266 


Gedichte: Lieder und lyriſch-epiſche Gedichte. 





Wunderſam! fich diefe Maid bewähret. 
Div nun ziemt’3, gebietend zu entjcheiden.“ 


Aber mit verhüllten Angefichte 
Ab fich Fehrend, winkte Heinrich: „Schneide!“ 
Und der Meiſter wandte jich zu gehen; 
Bon der Schwelle ſchaut' er noch zurücke, 
Aber nicht zurücke rief ihn jener. 


Zu der Maid, die hoffend ungeduldig 
Seiner harrte und des bittern Todes, 
Kam er, winkte, und te folgte freudig. 
Durch den Kreuzgang in ein heimlich Zimmer 
Führt' er ſie hinein und ſchloß die Tür ab. 


Nicht geheuer gleißte von den Wänden 
Rings befremdlich wunderjam Geräte; 
Rotbeitrichen jtand ein Tiſch inmitten, 
Kettenwerk darauf und blante Meijer. 


Und der Meiſter hieß jte fich entkleiden; 
Alſo tat fie, willig, ſonder Scheue; 
Nicht die Spangen einzeln erſt zu löſen, 
Riß ſie hajtig in der Naht die Kleider, 
Schneller nur dem jcharfen Todesſchnitte 
Ihren reinen Bujen zu entblößen. 
Auf des Meiſters Wink bejtieg den Tiſch fie, 
Legte Hin fich, ließ die zarten Glieder 
Set mit Riemen und in Eifen jchließen. 


Als der greife Meiſter jet des Mädchens 
ungen Leib erfah, des nicht ein ſchönrer 
Mocht’ auf Erden je gefunden werden, 
Sammer!’ ihn im Herzen zum DBerzagen, 
Daß jo jchön fie jet und müſſe fterben. 


Aber er ergriff das krumme Meſſer, 
Prüfte deſſen Schärfe, fand mitnichten 
Sie jo jchneidig, als er wohl begehrte. 
Und er nahın den Schleifitein, ſtrich bedächtig 


285 


290 


295 


300 


305 


310 


315 


330 


335 


340 


345 


350 


Der arıne Heinrich. N 967 


Hin und Her darauf die krumme Klinge, 
Oft mit leiſem Finger fie verjuchend. 
Sanfter mocht' er gern den Tod ihr antun. 


ber draußen wand indes in Zweifel 
Sich der arme Heinrich, und des Ausgangs 
Harrend, ſprach er jo zu feinem Herzen: 
„Herz, mein Herz, ſei Hart in diefer Stunde) 
Haft nicht ſelbſt die grauſe Tat verichuldet; 
Hat das janfte Kind ſich doch ihr Schickſal 
Selbſt erjonnen, ſelbſt ja will jte jterben! 
ende dich dem Leben zu, der Freude! 
Lab die Toten ruhn! Der Tod der Unjchuld, 
Solcher Unihuld Tod iſt zu beneiden! 
Aber du, auf deinem Sterbepfühle..... 
Weh mir! Still! — ih will ja, will ja Leben, 
Schwelgend, taumelnd in das Leben tauchen 
Und vergefjen diefer Schredenzitunde! 
Beten will ich, bis die Tat gefchehen, 
Beten, daß zu Stein mein Herz erhärte.“ 
Und die Hände ringend warf und weinend 
Sih vor Gott der Arme; feine Worte 
Quollen ſchier verkehrt aus feinem tiefern, 
Beſſern Herzen, und er ſchrie zu Gott auf: 
„Herr, barmherz'ger Gott, gib Kraft mir Sünder, 
Kraft zu dulden, was du ſelbſt verhängt halt; 
Laß in Demut mich mein Siechtum tragen, 
Aber nicht in deinem Zorn der Unjchuld 
Schreiend Blut auf meine Seele laden!“ 


Und vom Eſtrich ſprang er auf verwandelt, 
Lief den Gang hinab zu jener Kammer, 
Rief und jchrie und rüttelt’ an der Türe: 
„Meiſter, Höre, Meiſter!“ — Der von innen 
Gab die farge Antwort: „Wartet, wartet!!! — 
„Laß mich ein!“ ſchrie Heinrich; der dagegen: 
„Herr, geduldet Euch, bald iſt's geſchehen!“ 
Heinrich ſchrie: „Halt ein! das Kind joll Leben!” 


268 


Gedichte: Lieber und Iyrifch=epifche Gedichte. 





Stein und Mejjer ließ der Alte fallen, 
Schloß die Tür auf; Heinrichd Blicke juchten, 
Trafen jchnell die Jungfrau; als jo ſchmählich 
Er die Wonnigliche Jah gebunden, 
Meint er laut und ſprach: „Laß gleich fie frei fein! 
Gottes Urteil mag an mir gejchehen, 
Aber nicht ſoll dieſe für mich büßen!“ 
Und die beiden Löten jchnell das Mädchen. 


Sie mur brach in Klagen aus, fie konnte, 
Daß fie leben follte, nicht verivinden. 
„Wie doch hab’ ich's“, Elagte fie, „verichuldet, 
Daß ich meinen Heren nicht zu erlöfen, 
Daß ich nicht der reichen Himmelskrone 
Mehr gewürdigt werden fol? Was tat ich? 
Euch gebricht der Mut, des joll ich Leiden? 
Mie doch Hat die Welt mich hintergangen, 
Die Euch unverzagt vor allen rühmte!“ 


Zog in tiefer Demut gottergeben 
Seht der arme Heinrich nach der Heimat, 
Wo ihm Hohn bevorjtand; mit dem Giechen, 
Abgehärmt, verweint, da3 gute Mädchen. 


Uber der die Nieren prüft und Herzen, 
Der nach feiner Lieb’ und Macht die beiden 
Schwer verfuchte, jchied von ihrem Elend 
Die Bewährten. Sieh! der böje Ausſatz 
MWich zur Stunde von dem armen Heinrich, 
Und der gute Ritter don der Aue 
Kehrt' in Ehren in die liebe Heimat, 
Schön und fräftig, wie er je geweſen. 


Bor ihm ber erſcholl durch Schwabens Ganen 
Schnell der Freudenruf: Er fehret wieder, 
Kehret rein von feiner Schmach, der Gute! 

Und e3 eilten Vettern rings und Freunde, 
Gilten jeine Mannen ihm entgegen, 


360 


365 


370 


375 


380 


385 


390 


395 


400 


405 


Der arme Heinrich. 969 





Daß fie Lieb’ und Ehrfurcht ihm erwieſen. 
Ei, mit welchen Wonnetränen herzten 
Da die Alten ihre Fromme Tochter! 


Uber auf der Burg welch Feſtgewühle! 
Faßt die Halle faum die Herrn und Frauen; 
Ritter Heinrich teilt den Schwarm, die Jungfrau 
Führt er in den Kreis und ſpricht die Worte: 


„Hört mich an, ihr lieben Herrn und Sippen! 
Einzig diejer guten Jungfrau jchuld’ ich 
Chr’ und Leben; frei und ledig ijt fie, | 
Wie ich jelbit; mir rät das Herz, zum Weibe 
Sie zu nehmen; aljo wird’3 gejchehen, 
Wenn e8 Gott und euch gefällt; wenn anders, 
Will, fürwahr! ich unverehlicht jterben. 
Doch euch insgeſamt, bei Gottes Hulden! 
Will ich bitten, daß es euch gefalle.“ 


Und e3 jprachen alle: „So geziemt ſich's!“ 


Und der Abt trat jegnend zu den beiden, 
Die in Andacht auf die Kniee fanken. 


Honette und Terzinen. 


Sch danfe dir, daß du ein freundlich Licht 
An meine Buſens Himmel angezündet, . 
Dem Monde gleich, wenn ſchon der Sonne nicht. 
Trinius. 


Der einſt zum Grabſtein Blüchers beſtimmte Granitblock 
am Bobten,! 


m diefer mächt’ge Stein der fünft’gen Zeit 

Von uns erzählen wird? Ihr mögt ihn fragen; 
Er wird euch ſchroff und kalt die Antwort jagen: 
Ich bin der Denkſtein der Vergeſſenheit. 


Um Freiheit ward und Unabhängigkeit 
Begeijtert manche Völkerſchlacht geichlagen, 
Ein Held war Bölkerfürjt in diefen Tagen 
Und Borwärtsführer in den heil’gen Streit. 


Sch ward bejitimmt, als Grabjtein diefes Helden 
Der jpäten Nachwelt die Begeijterung, 10 
Die jchnell verrauchende des Tags, zu melden, 


Doch al3 ſie her mich zogen, war indefjen 
Das Rad der Zeit gerollt in jchnellem Schwung, 
Und er und ich, wir waren jchon vergeilen. 


RE BEE. 


I Blüher war am 12. September 1819 in Krieblowit geftorben. Dan beab— 
fihtigte urjprüngli, ihm dort nad der Art der Heldengräber der Vorzeit durch 
einen großen Felsblod vom Zobtenberg ein Grabdenkmal zu jegen. Doc reichten 
angeblih die Beförbderungsmittel jener Zeit nicht aus, ben Stein borthin zu be= 
fördern, und bie Sade geriet in Vergefjenheit (erjt im Jahre 1845 ließ Friedrich 
Wilhelm IV. durch den Baurat Strad ben Plan zu einer Grabfapelle entwerfen, 
und am 28. Auguft 1853 wurden bie Gebeine Blüchers aus einer proviforijchen 
Gruft in bie Rapelle iiberführt). 


Gt 





10 


20 


25 


An die Apoſtoliſchen. 
L. 
Ev. Matth. e. 24. 
a, überhand nimmt Ungerechtigkeit, 
Und Not, Empörung, Haß, DBerrat befährden. 
Die falſchen Chrifti wollen ſich gebärden 
Als mit dent Unrecht, nicht dem Recht im Streit. 


Bald aber, nach der Trübjal diejer Zeit, 
Wird den Geichlechtern allen auf der Erden 
Des Menjchen Zeichen offenbaret werden 
Mit großer Kraft und hoher Herrlichkeit. 


Vom Feigenbaume lernt! An jeinen Ziveigen 
Erfennet ihr de Sommers Anbeginn, 
Wann jteigt der Saft und Blätter jchon fich zeigen. 


Wo Habt ihr, blöde Toren, doch den Sinn? 
Ihr jeht den Saft in alle Zweige jteigen 
Und leugnet euch den Sommer immerhin! 


2. 
Ev. Matth. c. 15— 23. 
Senkt fih die Sonn’ in klarer Herrlichkeit, 
So jagt ihr: Morgen wird das Wetter gut; 
Und hüllt der Morgen ſich in trübe Glut, 
Ürteilt ihr: ein Gewitter iſt nicht weit. 


Könnt ihr denn nicht die Zeichen diefer Zeit 
Auch deuten, wie ihr doch den Himmel tut? 
Ihr Heuchler, Bharifäer, Otterbrut, 

Wohl hat von euch Jeſajas prophegeit: 

„Es ipricht der Herr: ‚Dieweil ich e8 erfahren, 
Daß, wenn fie mich befennen mit dem Wunde, 
Sie mit dem Herzen ferne don mir find, 

„Will ſeltſam ich mit diefem Volk verfahren, 
Daß jeiner Werfen Weisheit geh’ zugrunde 
Und jeiner Klugen Klugheit werde blind.‘ 


ID | Gedichte: Sonette und Terzinen. 


3. 
Schiller. 

Ihr wollt zurück uns führen zu den Tagen 

Charakterloſer Minderjährigkeit? 

Ihr hängt umſonſt an der Vergangenheit, 

Ihr werdet nicht die Zukunft unterſchlagen. 
Es iſt ein eitel, ein vergeblich Wagen, 

Zu greifen ins bewegte Rad der Zeit; 

Der Morgen graut, verſcheucht die Dunkelheit, 

Und leuchtend ſtürzt hervor der Sonnenwagen. 


Die, blind und taub, ihr Augen habt und Ohren, 


Nicht Stimmen hören wollt, nicht Zeichen ſehen, 


Ich zittre nur für euch, ihr blöden Toren! 


Denn Gottes Ratſchluß wird dennoch beſtehen, 
Die Frucht der Zeit zu ihrer Zeit geboren 
Und das, was an der Zeit iſt, doch geſchehen. 


4. 
Die öffentliche Meinung jchreit und klagt: 
Ihr habt von mir erborget eure Kraft; 
Durch mich geihah, was Großes ihr geichafft, 
Durch mich gelang, was ſiegreich ihr gewagt. 
Und nun ich euch erhöht, wollt ihr als Magd 
Mich züchtigen mit Ruten und mit Haft? 
Ihr ſchämt euch flüchtiger Genofjenjchaft 
Und habt mir, eurer Herrin, widerfagt? 
Und doch, ihr hörtet meine Donner rollen, 
Und der Koloß der Zeit! war jchon zerjtoben, 
Von deilen och ich kam euch zu erlöjen. — 


Ihr Seifenblafen, die mein Hauch geſchwollen 
Und flücht’gen Schimmerd meine Huld gehoben, 
Ihr eitle Seifenblajen — ſeid geivejen! 


1 Napoleon I. 


30 


50 


An die Apoftolifhen. — Mahnung. 273 





- 


O. 
Wer hat zum Schreier alſo dich bedungen? 
Es möchten Lieder beſſer dir gedeihen, 
Welchen auch gern das Ohr die meiſten leihen; 
60 Haft du nicht jonjt von Lieb’ und Wein gefungen? 


Könnt ich aus eh’rner Bruft doch tauſend Zungen 
Mit Hauch beleben, alle wollt’ ich weihen, 
Gellend das eine alte Lied zu jchreien, 

Bis in verſchloſſ'nen Ohren es erflungen! 


65 Es iſt Hoch an der Zeit, fie aufzujchreden, 
Die taumelnd um den Rand des Abgrunds wallen, 
Ob jchlafend nicht, dennoch nicht zu exiveden; 


O, muß die ſchwache Stimme jo verhallen! 
Es drohet euch der Sturz, mir bloß das Schreden,; — 
70 Ein Bogel Ihwingt fih auf, wo Eichen fallen. 


— 


Mahnung. 


Altv Gpıorsvew xal Ünelooxov Euusvar dl)mv, 
un ÖE yEvos narEowv aloxvveusv, ol uEy’ üpıoroı.! 
1. SV 208: 


my deines Haujes Glanz du aufrecht halten? 
Laß rojten deiner Väter Schild und Schwert, 
Die tun e3 nicht, die geben nicht den Wert, 
Die Zeit ijt abgelaufen, wo fie galten. 


5 Das Neue wird; das Alte muß veralten. 
Die Meinung hat im Lichten ſich verflärt 
Und von der rauhen Fauſtkraft abgefehrt; 
Das Wort iſt's, der Gedanke, welche walten. 


Dort magjt du die verfemten Häupter jehen, 
10 Männer des Wortes, welche tüchtig waren, 
Und jehen ihre Site ledig jtehen. 


1 ,Smmer der Erfte zu fein, und vorzuftreben vor andern, Daß ich der Väter 
Geſchlecht nicht ſchändete, welches die erjten (Männer in Ephyra zeugt).” — GVoß.) 


Chamifjo. I. 18 


274 Gedichte: Sonette und Terzinen. 





Von dir laß die Geſchichte gleiches melden; 
Tüchtig wie ſie, erwirb und laſſe fahren, 
Und Deutſchland rechnet dich zu ſeinen Helden! 


Memento. 


er nennt mir diefen Flüchtling, diefen Alten, 
Der zitternd führt den Wanderjtab zur Hand 
Und bleich die Stirne zieht in düjtre Falten? 
Bejudelt, jcheint mir Purpur fein Gewand, 
Und auf der Stirne, well) ein jeltiam Mal? 
War der ein König über diefes Land? 
Er war es gejtern, und zum drittenmal 
Entfleucht er, und zum lebten, feinen Reichen, 
Worüber nicht mit Weisheit ex befahl. ! 
Und nun? — Er hofft, die Fremde zu erreichen, 10 
Das fremde Land, wo ihm des Fremden Gnade 
Das bittre Brot des Mitleids möge reichen. 
Gelangend an da3 Meer auf jcheuem Pfade, 
Wo Schiffe, Fremde Schiffe, jeiner warten, 
Blickt er zurüf zur Heimat vom Gejtade 15 
Und lauft — dem trunfnen Freudenruf, dem harten, 
Der himmelan getragen widerhallt 
Inmitten neuerblühten Friedensgarten: 
„Zerriß er den Vertrag? doch ſelbſt, da galt 
Es nur, das Feſt der Freiheit zu erneuen; 20 
Er jtand allein und drohte mit Gewalt!“ 


ot 


1 Gemeint ift Karl X., der zuerft al3 Graf von Artois im Juli 1789 vor der 
Revolution nad) Turin floh und von da aus die Koalition der Mächte gegen Frank— 
reich betrieb. Während der Reftaurationgzeit wieder in Frankreich, mußte er bei 
der Rückkehr Napoleons von Elba 1815 wieder fliehen und begab fid nach Gent. 
Seit 1824 franzöfifcher König, rief er durch die Juli-Ordonnanzen, die das Wahl- 
gefeg änderten und die Preßfreiheit aufhoben, die Revolution von 1830 hervor. Er 
mußte am 2. Auguft abdanten, jchiffte fih, nur von wenigen Anhängern begleitet, 
am 16. Auguft in Cherbourg ein und begab fi nach dem Schlofje Holyrood in Eng— 
land. — 2 Die fogen. Charte Ludwigs XVIII., die Konftitution von 1814, bie durch 
die erwähnten Juli-Ordonnanzen verlegt war. Vgl. „Der Republikaner“, B. 66 
(S. 300 bieje3 Bandes). 


30 


10 


15 


Memento. — Der vertriebene König. 275 


Die Stimmen nur von wenigen Getreuen 
Erheben jich, die, vor den freud’gen Scharen, 
Sich jeinen Stern nicht zu betrauern fcheuen, 
Die Stimmen derer, muß er nun erfahren, 
Die er verjtieß mit Unbill und mit Schmad), 
Weil Toren nicht, weil Knechte nicht fie waren. -— — 
Und ſolchem Bilde finnt der Dichter nad), 
Berftummt, von Gunjt und Mißgunſt gleich entfernt; 
Er finnt und weint, fein Saitenfpiel zerbrad). 
Ihr Mächtigen der Erde! jchaut und lernt! 


Im 
“wac 


Der vertriebene Bönig. 


Cento novelle antiche. Ed. Manni. Nov. VII. . 


ie alle freien Stimmen ihr verdächtigt, 
So ihr, dasjenige euch vorzujagen, 
Was nur ihr hören wollt, nicht jelbjt ermächtigt, 
Vernehmt die Stimme denn uralter Sagen! 
Hie bin ich, Schlicht die Worte des Verſtandes 
Aus eurer Väter Zeit euch vorzutragen. 
63 war einmal ein König Griechenlandes, 
Dem jegnend der Allmächtige verliehen 
Macht, Weisheit und die Liebe jeines Landes. 
Er ließ von Weiſen feinen Sohn erziehen; 
Die famen denn und jpraden: „Nimm ihn hin 
Und prüf ihn, unjer Werk iſt wohl gediehen!“ 
Und daß er prüfe feines Sohnes Sinn, 
Hieß vieles Gold aus jeines Schatzes Hallen 
Er Holen und es legen vor ihn Hin. 
Und vor den Rittern und Baronen allen, 
Das Gold ihm jchentend, ſprach er zu dem Sohne: 
„Verwende dies nach deinen Wohlgefallen!‘ 
Und er befahl, die andern jollten, ohne 
Ihm Rat zu geben, jcharf auf ihn nur jehen 
Und dann Bericht erjtatten vor dem Throne. 
18* 


276 Gedichte: Sonette und Terzinen. 








Da ſah der Königsjohn vorübergehen 
Die Karawanen aus den ferniten Oxten 
Und hieß die Reiſenden ihm Rede ſtehen. 


Gewandt und kühn, mit wohlerwognen Worten 
Sprach einer: „Herr, ich bin ein Handelsmann, 
Und mir gehören die Kamele dorten. 


„Durch eigene Betriebſamkeit gewann 
Ich Schätze, die ich keinem ſonſt verdanke, 
Da mir das Land und mancher danken kann.“ 


Ein zweiter ſprach, verloren in Gedanken — 
Er wäre lieber unbefragt geblieben —, 
Indem zur Erde ſeine Blicke ſanken: 


„Ich bin der König Syriens, den vertrieben 
Die aufgeregten Völker; mein Verhalten 
War ſo, daß ſie die Schuld mir zugeſchrieben.“ 


Und alles Gold, worüber er zu ſchalten, 
Gab dieſem alſobald das Königskind, 
Darob entrüſtet die Barone ſchalten. 


Sie klagten vor dem Throne: „Herr, es ſind 
Nicht deines Sohnes Taten lobenswert; 
Er ſchlug der Weisheit Lehren in den Wind, 


„Er ließ den Wohlverdienten unbeehrt, 
Indem er unbeſonnen ſeine Gabe 
Dem andern, Unbeſonnenen beſchert.“ 


Es wurde vorgefodert nun der Knabe, 
Daß Rechenſchaft er gäbe, wie verwendet 
Das ſeiner Hand vertraute Gut er habe. 


„Ich habe nichts verſchenkt und nichts verſchwendet“, 
Sprach zuverſichtlich da der Königsſohn, 
„Und nicht vom Würdigen mich abgewendet. 
„Bezahlet hab’ ich nur verdienten Lohn; 
Bon dem ich nichts gelernt, den ließ ich ziehen, 
Des andern Lehre galt um meinen Thron. 


25 


40 


45 


55 


10 


15 


Der vertriebene König. — Aus der Vendee: 1. Im Jahre 1832. 977 





„Sein Beijpiel Hat mir gellend zugefchrieen: 

Nur mächtig ift, den feine Völker Lieben, 

Denn über ung ift ihnen Macht verliehen! 
Was ih ihm gab, fein Schuldner bin ich blieben.“ 


— 


Aus der Vendee. 
1. Im Jahre 1832. 


MW“ jtört der jtillen Gegend Widerhall? 
Sch ſehe durchs Gebüſch die Roſſe nicht, 
Ich Höre nur der flücht’gen Hufe Schall. 


Dort windet eine Schlucht fich an das Licht; 
Sch ſeh' daraus den rüjt’gen Führer jteigen; 
Ein Landmann, der die Bahn durchs Dickicht bricht. 


Wer wird in dem Geleite doch ſich zeigen? 
Ein Weib allein, — fie iſt's! ſchau nicht ihr nad), 
Du haſt fie nicht gejehn, du weißt zu jchweigen, 


Und wie der Tag den Flüchtlingen gebrach, 
Sein letter Schein im Weiten jich verlor, 
Da jahn fie im Gebüjch ein einfam Dad). 


Und fie: „Salt an! und klopf' an dieſes Tor! 
Sch bin erichöpft, ich will zur Nacht Hier rajten.“ 
Darauf der Landmann: „Sei und Gott davor! 


1 Das Gedicht bezieht fih auf Marie Karoline von Neapel, Herzogin 
von Berry, die Witwe des zweiten Sohnes Karl3 X. und die Mutter Heinrichs V., 
de3 Grafen von Chambord, defjen Geburt ſchon von der legitimiftifchen Partei mit 
Freuden begrüßt wurde; verfaßten doch Victor Hugo und Lamartine Gedichte auf 
daS „Enfant du Miracle“. Nah der AJulirevolution von 1830 mußte fie Karl X. 
nah Holyrood in England folgen, geriet jedoch mit ihm wegen der Erbfolge in 
Streitigkeiten. Um ihrem Sohn die Krone zu verjchaffen, verließ fie England 
im Juni 1831, durdeilte Holland, Deutſchland und Stalien, landete im April 
1832 bei Marjeille und erregte einen Aufitand gegen Louis Philipp. Sm Mai 
besjelben Jahres erließ fie in der Vendée eine Proflamation und begab fih dahin, 
als Bäuerin verkleidet; die „Chouans” erhoben fih, wurden aber am 6. Juni bei 
Vieillevigne gefchlagen, fie mußte fliehen. Nachdem fie fi mehrere Monate in 
Nantes verborgen hatte, wurde jie am 6. November 1832 verhaftet und nad) dem 
Fort Blaye gebradt. 


278 Gedichte: Sonette und Terzinen. 








„Die Höhle da gehöret dem Berhaßten, 
Der dein Berderben ſpinnt mit Rat und Tat; 
Das Roß gejpornt! wir müfjen fürder halten.“ 


Sie aber ſchwang vom Pferde ſich und trat 
Anz Tor und Elopfte; bald erichten ein Licht, 
Der Hausherr forichte jelber, wer genaht. 


Und fie zu ihm: „Sch bin's, erſchrecke nicht! 

Ich bin's, die Schirm und Schuß von dir begehrt 
Und Obdach hier zu finden ſich verjpricht.” — 

„Sntfleuch, Unfelige! denn meinen Herd 
Umlagern, die dich ſuchen“ — „Mir den Arm! 
Dein Ruf mir volle Sicherheit gewährt.“ 

Sie tritt mit ihm ins Haus; e3 teilt der Schwarm 
Sich der Bewaffneten; mit Ehrfurcht weichen 
Zur Seite der Gardiſt und der Gendarm. 

Und wie das innre Zimmer fie erreichen, 

Wo jeine Töchter jagen am Klavier, 
Sieht, angejtaunt von ihm, fie ihn erbleichen. 

Und Ste beginnt: „Das wundert dich don mir? 
Verdopple feine Wachten doch in jteter 
Befürchtung, den nun drücdt der Krone Zier! 

„Seächtet, ehrt der Landmann mic) und Städter; 
Ich ſchweife ficher durch das Königreich 
Und find in Frankreich nirgends den Verräter.“ 

Drauf er entrüftet: „Und bewundr' ich gleih — 
Sch jelbit bin Vater — deinen Heldenmut, 


‚Macht doch das Mitleid nicht dag Herz mir weich. 


„Di mahn ich an den Fluch, der auf euch ruht; 
63 hat euch Frankreich zürnend ausgejpieen, 
Da3 du mit Schmach bededen willſt und Blut. 


„Der eurem Rechte jeine Kraft verliehen, 
Der Fremde wird, zum dritten Wale jchon, 
Bon deinen Frevel laut herbeigejchrieen; 


20 


30 


40 


50 


95 


60 


65 


70 


75 


Aus der Vendee: 1. Im Jahre 1832. 279 


„Durch Blut und Schande willit du deinem Sohn 
Den düjtern, unheilvollen Weg von neuen 
Eröffnen zu dem angejtammten Thron. 


„Am Blute mag der Löwe jich erfreuen! 
Doch Schande, hörſt du? Schande..! — Hör mich an: 
Hier Ichärfit du nur das Beil für deine Treuen; 


„Div ebnet fich zur Flucht der Ozean; 
Berzihtend laß die ſchnöde Selbſtſucht fahren 
Und nimmer mich bereun, was ich getan!” 


Und fie mit Wehmut, ihre Augen waren 
Bon Tränen feucht: „Was Selbſtſucht und was Schande?! 
Und ſoll ich ſolche Kränkung noch erfahren! 


„Dein blinder Eifer lodert auf zum Brande, 
Du brichſt den Stab, erfenne mich erjt recht: 
Ich opfre ja mich ſelbſt dem Vaterlande. 


„Bas gelt’ ich hier, was gilt Hier mein Gejchlecht? 
Es gilt bei meinem blut’gen Unterwinden 
Allein das göttliche, das ew'ge, Recht. 


„Im Recht iſt Heil für Tranfreih nur zu finden; 
Auf Schmach gerichtet, meinjt du, jei mein Streben; 
Was zögerit du? hier bin ich, laß mich binden! 


„Mißachtet mag ich Dulderin nicht Leben; 
Laß mich ein Opfer deines Wahnes jein, 
Du meinjt es gut, ich habe dir vergeben.“ 


Die Tür jprang auf, Gendarmen traten ein: 
„Bir jigen auf, es iſt zu reiten Seit; 
Gibt's Heute Neues zu berichten? — „Nein!“ — 
„Richt Nachricht von der Fliehenden?“ — „Verzeiht! 
Laßt mich allein mit meiner Sorgen Laſt 
Und ehrt die Schatten meiner Häuslichkeit!“ 
Wie fie hinausgegangen, jprach gefaßt 
Zu jeinen Töchtern er mit leifem Munde: 
„Ihr jorgt mit Ehrfurcht für den hohen Gaſt! 


380 Gedichte: Sonette und Terzinen. 





„Wohl quoll der Zorn, wie Blut aus tiefer Wunde, 
Aus meinem Herzen, euch geziemt das nicht! 
Mit ftiller Andacht feiert dieſe Stunde 
„Und überlaßt dem Höchſten das Gericht!“ 85 


2. Im Jahre 1833.' 


„And überlaßt dem Höchiten das Gericht!” 
So ſprach ich einjt, und jeht: er hat gerichtet. 
Nicht ward im Blute diefer Zwiſt gejchlichtet, 
Es hatte da das Eiſen fein Gewicht. 


Die blinden, Schwachen Menſchen haben nicht 0 
Durch Weisheit oder Kraft e3 ausgerichtet; 
Blickt Hin! die Macht des Gegners ift vernichtet; 
Der Höchſte ſprach im Zorn: es werde Licht! 
Seht! jtrafend regt die Frucht ſich ihres Leibes, 
Zerſtoben ift des Widerſachers Reich, 95 
Sein Stolz und jeine Hoffnung jind geweſen 
Kein Spott, fein Hohn dem Sammer diefeg Weibes! - 
Sie ilt, dem blitzgetroffnen Felſen gleich, 
Ein von dem Waltenden gezeichnet Wejen 
eh 


Deutfche Barden, 


Eine Fiktion. 


E⸗ ſchimmerten in rötlich heller Pracht 
Die ſchnee'gen Gipfel über mir; es lagen 
Die Täler tief und fern in duntler Nacht. 


Der frühe Nebel ward emporgetragen; 
sch Jah ihn in den Schluchten bald zerfließen, 5 
Bald über mich die feuchte Hülle jchlagen; 





I Während der Gefangenschaft ber Herzogin von Berry verbreiteten ſich be— 
unruhigende Gerüchte über ihre Gejundheit. Die Negierung wurde angeklagt, fie 
im Kerker verfchmachten laſſen zu wollen, eine Unterjuchung wurde angeordnet. Da 
erfläcte die Herzogin zur größten Überraſchung ſelbſt ihrer Parteigänger, daß 


10 


15 


25 


30 


35 


Aus der Vendee: 2. Im Jahre 1833. — Deutſche Barden. 81 








Den Bergjtrom Hört’ ich brauſend fich ergießen, 
Das jtarre Meer des Gletjchers ſich zeripalten 
Und donnernde Lauvinen niederſchießen. 


Sch hatte Müh’, den jteilen Pfad zu halten, 
Auf dein ich klomm zum hohen Bergestor, 
Don wo die Blide oſtwärts fich entfalten. 


Und wie ich zu der Höhe mich empor 
Geihwungen Hatte, traf mit heim'ſchem Klange 
Hochdeutiche Mundart lodend mir das Ohr. 


Sch ſtand gefeifelt, und ich Laufchte Lange 
Und hörte der gewalt’gen Rede Fluten 
Melodiſch Ichwellend werden zum Gejange. 


Es jtand der Sänger einfam, in die Gluten 
Der Sonne jtarrend, die fih nun erhoben 
Aus Wolken, die am Horizonte ruhten. 


Der Schleier, blutigrot aus Dunjt gewoben, 
Auf ebne, weite Landichaft ausgebreitet; 
Das tiefe Blau der Himmelswölbung oben; 


Die Bilder, jo der Morgen hier bereitet, 
Sie wurden auf der Griechen Heldenfampf 
Verherrlichend vom Liede hingeleitet. 


Sch Hört’ ihm zu, jah über Blut und Dampf 
Die Treiheitsijonne Hellas’ ſich erheben, 
Das Leben jtegen ob dem ZTodesframpf: 


„Du, goldne Freiheit, bit das Licht, das Leben; 
Die blut’ge Taufe tilgt der Ketten Schmad); 
Du haft dir, Heldenvolf, das Sein gegeben.“ 


Er ſchwieg, ich laufchte noch; vortretend, ſprach 
Den Mann ih an mit dargereichter Rechten: 
„Du deutjcher Bard’, der fi) die Palme brach, 





fie eine heimliche Ehe mit dem Marchefe Luchefi-Palli eingegangen jei und ſich 
jhwanger fühle. Seitdem war ihre politijhe Rolle ausgejpielt. 


282 


Gedichte: Sonette und Terzinen. 





„Du ſiehſt mein Aug’ von deines Liedes Mächten 
Geſchmückt noch mit der Tränen Perlenzier, 
Und nicht ob meinem Antrag wirft du rechten. 


„Ich bin ein Deuticher jo wie du, und mir 
Entjtrömet der Geſang aus Herzens Grunde 
Um Freiheit, Recht und Glauben jo wie dir. 


„Die Wildnis bringt ung näher und die Stunde, 
Was in der Bruſt wir tragen und im Schilde: 
O, reihe mir die Hand zu heifgem Bunde!“ 


Drauf er, mit Wehmut lächelnd und mit Milde: 
„Mich Freut in deinem Aug’ der Widerſchein 
Von dem aus mir hervorgeblühten Bilde, 


„Doch blicke Hier ins offne Tal hinein: 
Du wirft auf jenem Pfade niederjteigen 
Und Menſch dort unten unter Menfchen fein. 


„Dein Wille, deine Kraft, fie find dein eigen; 
Du magſt mit Lieb’ und Haß ins Triebrad greifen 
Und magjt, jo wie du bijt, dich offen zeigen. 


„Dort wird der Freundichaft edle Frucht dir reifen, 
Dort gilt der Wärme glüdliche Gewalt, 
Die es verſchmäht, zu diefen Höh’n zu jchweifen. 
„Blick' um uns her! wie lebensleer und kalt 


Die jtarren Zinnen des Gebirges trauern! 
Hier iſt mein winterlicher Aufenthalt. 

„Sie jind der Völkerfreiheit feſte Mauern 
Und jammeln jtill die Wolfen für das Tal 
Zu Quellenjegen und zu Regenjchauern. 


„sh hau in Sturm und Wolken hier zumal, 
Dem diefer Alpen iſt mein Schaffen gleich, 
Ob aber liebend, ob aus freier Wahl —? 

„Ber blickt in meine Herzens Schattenreich? 


Wer fragt nach mir, der einfam ich verbannt 
Aus menschlicher Genoſſenſchaft Bereich? 


40 


50 


60 


70 


a 


10 


20 


Deutfche Barden. — Erjcheinung. 283 


„Die flücht’ge Stunde, wo du mich erkannt, 

Du magjt in der Erinnerung fie feiern, 

Wir find getrennt, jobald ich mich genannt — 
„Sch bin der König Ludewig von Bayern.‘ ! 


— i — 
Erſcheinung. 
PD" ziwölfte Stunde war beim Klang der Becher 
Und wüjten Treiben ſchon herangewacht, 

AS ich hinaus mich ftahl, ein müder Becher. 
Und um mich) lag die falte, finſtre Nacht; 

Sch hörte durch die Stille widerhallen 

Den eignen Tritt und fernen Ruf der Wacht. 


Wie aus den Hangreich feiterhellten Hallen 
Sn Einſamkeit fih meine Schritte wandten, 
Ward ich von ſeltſam trübem Mut befallen. 

Und meinem Haufe nah, dem mwohlbefannten, 
Gewahrt ich, und ich ſtand verjteinert fait, 
Daß Hinter meinen Fenjtern Lichter brannten. 

Ich prüfte zweifelnd eine lange Raſt 
Und fragte: „Macht es nur in mir der Wein? 
Wie käm' zu diefer Stunde mir ein Gajt?“ 

Sch trat Hinzu und konnte bei dem Schein 
Sm mwohlverichlojf’nen Schloß den Schlüfjel drehen 
Und öffnete die Tür und trat hinein. 

Und wie die Blide nach dem Lichte jpähen, 

. Da ward mir ein Geficht gar jchredenreih, — 
Ich jah mich ſelbſt an meinem Pulte ftehen. 

Ich rief: „Wer bift du, Spuk?" — Er rief jogleich: 
„Ver jtört mich auf in jpäter Geiſterſtunde?“ 
Und ſah mic) an und ward, wie ich, auch bleich. 


I Die „Gedichte” König Ludwigs J. von Bayern waren gerade erfchienen; 
fie hatten jeine philhellenifche Gefinnung, den tragifhen Gegenjag feiner hohen 
Stellung und feiner dichterijchen Beftrebungen, freilich auch den Mangel dichterijchen 
Könnens fundgetan. 


284 Gengdichte: Sonette und Terzinen. 


Und unermeßlich wollte die Sefunde 
Sich dehnen, da wir ftarrend wechjeljeitig 
Uns anjahn, jprachberaubt mit offnem Munde 


Und aus beflommmer Bruft zuerjt befreit’ ich 
Das ſchnelle Wort: „Du graue Truggeftalt, 
Entweiche, mache mir den Platz nicht ſtreitig!“ 


Und er, als einer, über den Gewalt 
Die Furcht nur hat, erzwingend fich ein leijes 
Und jcheues Lächeln, jprach erwidernd: „Halt! 


„sh bin's, du willſt eg jein; — um diejes Kreiſes, 
Des wahnfinn-droh’nden, Quadratur zu finden, 
Biſt du der Rechte, wie du jagit, beweil’ e3; 


„Ins Mejenloje will ich dann verſchwinden; 
Du Spuk, wie du mich nennſt, gehit du das ein, 
Und willft auch du zu gleichem dich verbinden?“ 


Drauf ih entrüjtet: „Sa, jo ſoll es jein! 
63 joll mein echtes Sch fich offenbaren, 
Zu nicht? zerfließen deſſen leerer Schein!“ 

Und er: „So laß und, wer du ſeiſt, erfahren!“ 
Und ich: „Ein jolcher bin ich, der getrachtet 
Nur einzig nah dem Schönen, Guten, Wahren; 


„Der Opfer nie dem Götzendienſt gejchlachtet 
Und nie gefrönt dem weltlich eitlen Brauch, 
Berkannt, verhöhnt, der Schmerzen nie geachtet; 


Der irrend zwar und träumend oft den Rauch 
Für Flamme hielt, doch mutig beim Erwachen 
Das Rechte nur verfocht: — biſt du das auch?“ 

Und er mit wilden, Freifchend lautem Lachen: 
„Der du dich rühmſt zu fein, der bin ich nicht. 
Gar anders iſt's beitellt um meine Sachen. 

„sch bin ein feiger, lügenhafter Wicht, 

Ein Heuchler mir und andern, tief im Herzen 
Nur Eigennuß und Trug im Angeficht. 


45 


55 


ES TB Sn rn — 


60 


10 


Erſcheinung. — Evangelium Et. Lurcae 18, 10. — Traum. 235 





„Berfannter Edler du mit deinen Schmerzen, 

Mer kennt fih nun? wer gab das rechte Zeichen? 

Wer fol, ich oder du, jein Selbſt verjcherzen? 
„Zritt her, jo du es wagjt, ich will dir weichen!“ 

Drauf mit Entjegen ich zu jenem Graus: 

„Du biſt eg, bleib, und laß hinweg mich jchleichen!” — 
Und jchlich, zu weinen, in die Nacht hinaus. 

rau. 


Evangelium &t. Lucae 15, 10. 
er Phariſäer trat im Tempel vor, 
Stand zuverfichtlich betend vor ſich Hin 
Und richtete zu Gott den Blid empor: 
„Dir dank' ich, Herr, daß wohl ich ander bin 
Als andre Menjchen, welche fort und fort 
Nur trachten nach unredlichem Gewinn; 
„Sh’brecher, Räuber, wie der Zöllner dort, — 
Ich fajte zweimal wöchentlich, entrichte 
Den Zehnten und erfülle ganz dein Wort.‘ 
Der Zöllner mit gejenktem Angefichte 
Stand fern und ſchlug an jeine Bruft und ſprach: 
„Sei Gott mir Sünder gnädig im Gerichte!“ 
Sch? — welchem von den beiden jprech’ ich nach? 
— kr — 
Traum. 


n% war e8, wo ich feſten Schlafes jchlief; 

Darin mein Selbjtbewußtjein fich verlor, 
Als eine Stimme mich bei Namen rief. 

Und dreimal traf erneut der Ruf mein Ohr; 
sch dünkte mich, darob erwacht zu fein 
Und richtete vom Pfühle mich empor. 

„Ber rufet mir, wer fand bei mir fich ein?“ 
Und jeltfam ernjt und mild gebietend, jtand 
Ein Jüngling mir zu Haupt in hellem Schein. 


286 Gedichte: Sonette und Terzinen. 





Um jeine blondgelocdte Stirne wand — 
Der Herrichaft Zeichen — fich ein goldner Reif, 
Und Schwert und Wage ziemten jeiner Hand. 


„Ber bilt du, Herr, dor dem ich wie der Reif 
Vergehe vor der Sonne milder Macht?” — 
„Ich bin, der fommen joll, die Zeit ift reif. 


„Der Tag ijt aber wie die Mitternacht, 
Die Gegenwart ijt falſch, das Leben lügt; 
Der weiß e8, der die Toten reden macht. 


„Die Toten, deren Zeugni3 mir genügt, 
Solljt du verhören über diejen Streit; 
Steh auf und geh! ich hab? e3 ſo verfügt. 


„Dann tritt die Zukunft in die Wirklichkeit, 
Dann ſchaff' ich Recht in die erneute Welt 
Und richte wieder ein den Lauf der Zeit." — 


Ich ging, zu tun, wozu er mich beitellt; 
Es ſchien in jchauerlicher Nacht fein Stern, 
Das Innre nur des Münjters war erhellt. 


Geläut' und Orgelton erjchallten fern; 
Sie glihen der Poſaune des Gerichts, 
Und ich dem Werkzeug in der Hand des Herrn. 


Sch aber dachte nicht und ſchaute nichts, 
Und mühſam über Gräber tappend naht’ 
Ich mich dem Duelle des verborgnen Lichts. 


Des Münſters Tore jprangen auf; es trat 
Hervor ein Prieſter, deſſen Haupthaar weiß 
Umwallte den geheiligten Ornat. 

Mit Buch und Kerze trat zu mir der Greis 
Und jah mich jchweigend an und winkte mir, 
Und fchweigend folgt’ ich ihm auf fein Geheiß. 

Ein gähnend Grab inmitten dem Revier 
Der Gräber bot ſich ung zum Gingang dar, 
Davor mein Führer hielt und winfte: Hier! 


20 


25 


30 


35 


40 


45 


50 


55 


60 


65 


70 


Traum. 


Mir ftiegen durch dasjelbe, fonderbar, 
An viele Taujend Stufen wohl hinab 
Und wurden in der Tiefe Licht gewahr. 


63 wölbte höher jich der Gang und gab 
Dem Aug’ ein unermeßlich Feld Hinfort; 
Wir beide waren ftumm wie jelbjt das Grab. 


Ein Tiſch, ein Stuhl, ein Schreibzeug waren dort, 
Und einer Lampe Schein erhellte farg 
Den nächſten Umkreis von dem Schredensort. 


Es lagen unabjehbar Sarg an Sarg. 
Am Tiſch zu ſitzen, wies den Pla mir an 
Mein Führer, der jodann ji) mir verbarg. 


Und wie ich jo verlafjen mich bejann, 
Rief dröhnend eine Stimme durch den Raum, 
Die jene vorzuladen nun begann. 


Der aufgerufne Tote hörte kaum 
Sich nennen, regt’ er jtöhnend fich, als jei 
Er mühſam aufgewacht aus jchwerem Traum; 


Entrang fich feinem Sarg und fam herbei, 
Schlaftrunfen, jtaunend jchauend in die Rund’ 
Und ftellte ſich vor mi) am ZTijche frei. 


Die Stimme tat ihm dann die Fragen fund, 
Und unbeſtochen nach der Wahrheit ſprach 
Gewicht’ges Zeugnis er mit blaffem Mund. 


Sch aber, ob darob das Herz mir brad), 

Verfaßte das Verhör, wie ſich's gehört, 

Und ſchrieb die ſchweren Worte treulich nach. 
Es wurden auch in ihrer Ruh' geſtört 

Die nicht verhörten Toten allzumal 

Und ſtöhnend in der Särge Schoß gehört. 
Es waren aber, nach der Stimme Wahl, 

Die Bürgerhelden Franklin, Waſhington 

Die erſten in der Vorgerufnen Zahl. 


288 Gedihte: Sonette und Terzinen. 


Und ich, ich durfte, niedrer Menſchenſohn, 
Betrachten diefer Herrlichen Geitalt 
Und trinken der verehrten Stimmen Ton, 
Dem jechiten nach) dem zehnten Ludwig galt 
Der nächſte Auf; der Dulder jchritt einher, 80 
Ein ſchwaches Rohr, geknickt von Sturmgewalt. 
Vernommen wurden dann Rouſſeau, Boltatre, 
Dann Neder, Mirabeau und, ängſtlich bang, 
Das blutbefleckte Schredbild Robespierre. 
Des nächjitgerufnen Namens mächt'ger Klang 85 
Erweckte Widerhall im Totenreich, 
Wovor der Dedel vieler Särge jprang. 
„Napoleon!“ Er fam fich jelber gleich, 
Gejtüßt auf des zerbrochnen Cchwertes Knauf, 
Im abgeriſſ'nen Purpur ſtolz und bleich; 90 
Und viele von den Toten jtanden auf, 
Begierig, den Gewaltigen zu jehn, 
Und drängten fih um ihn und mich zuhauf. 
Und Fürſt und Veannen wollten auferjtehn, 
Und rings ergoß ſich der Verweſung Duft; 
Ich fühlte jchter den Atem mir vergehn. 
„Zurück, zurück! Bewohner ihr der Gruft, 
Die nicht ihr ſeid geladen vor Gericht, 
Was doch verpeitet ihr umjonjt die Luft?“ 
Ich rief e8, doch die Toten hörten nicht; 

Ich ſtreckte meine Hand nach ihnen aus, 
Die Lampe fiel, und es erloſch das Licht. 
Nun warf fih über mich in Saus und Braus, 
Unbändig und im Schuß der finjtern Nacht, 

Der falten Leichen jchauerlicher Graus. 
Da bin ich vor Entjegen aufgewacht. 
Sch Fand, wie ich die müden Augen vieb, 
Dom Strahle mich des Morgens angelacht, 
Vergeifen und verjchollen, was ich jchrieb. 
Kr 














——— — — — — 


15 


20 


25 


co 
oO 


Traum. — OANATOE. 


QANATO2. 


(Fiebertraum, durch die Erzeugniffe der neueren franzöfifhen Romanenliteratur 


veranlaßt.) 
—J meiner Mutter Hütte, — laß mich weinen! 
Ja, bringt die alten Tränen mir zurück, 
Ihr alten Bilder, wollt ihr mir erſcheinen! — 


In meiner Mutter Hütte war das Glück; 
Die Liebe ſchaffte ſtill mit leiſer Hand 
Und leuchtet' über uns im Mutterblick. 


Da hing ein ſeltſam Bildnis an der Wand, 
Davor wir lernten unſre Hände falten 
Und Worte ſprechen, die ich nicht verſtand; 


Und Hatten wir am Tag ung fromm verhalten, 
So nahten unjern Wiegen ſich die Träume 
Als Lichter Engel jegnende Geitalten. 


Vor unſrer Hütte lagen jonn’ge Räume, 
Um dieje breiteten ein duft'ges Zelt 
Die dichten Reihen hoher Lindenbäume. 


Noch war der Umkreis unſre ganze Welt, 
Und von dem Bache jenjeit3 längs dem Hage 
Die äußerſte der Grenzen ung gejtellt; 


Und hier am Ufer jtand ich lange Tage, 
Hier zog und hielt mich, wie ein böjer Traum 
Mit fieberhaft erhöhten Herzensichlage, 
Zu ſchaun hinüber nach dem fernen Saum, 
Dem blauen Nebelving, beichränfend dort 
Den grünen, weiten, ausgejpannten Raum; 
Zu ſehnen mich hinüber fort und fort 
In jene rätjelhafte blaue Weite, 
Der Schranke zürnend, die mich hielt am Drt. 
Da dacht’ ich: wärjt du erſt auf jener Ceite 
Des Waſſers! dieſes Waſſer aber muß 
©o tief nicht fein. Ich war mit mir im Streite. 
Chamifjo. I. 19 


290 Gebdichte: Sonette und Terzinen. 


Bald reifte der Gedanke zum Entſchluß; 
Ich ſtieg hinein, e8 wuchs mir das Dertrauen, 
63 trug an jenes Ufer mich mein Fuß. 


Und vorwärts, ohne Hinter mich zu jchauen, 
In grader Richtung Hub ich an zu wallen 35 
Dem blauen Streifen zu durch blüh’nde Auen. 


Der Mutter Nachruf Hört’ ich wohl erjchallen 
Und, wie ich unaufhaltiam vorwärt3 jchritt, 
In ſchauerliche Stille bald verhallen. 


Grün ward der Boden rings um meinen Tritt, 40 
Da dor mich Hin, jo wie ich vorwärts drang, 
Der blaue Nebel fern und ferner glitt. 


Und wie ih jo im Zauberkreiſe rang, 
Bejann ih mich; da war ich mid’ und alt, 
Die Heimat Hinter mir verihwunden lang’. 45 


Und vorwärts, unabläjlig vorwärts galt 
Es durchzudringen; wie die Hoffnung ſchwand, 
Da änderte der Boden die Geitalt. 


Das Grün erjtarb, es ſchien das öde Land, 
Beraubt des Schmudes, lechzend zu erblaſſen, 
Ein ausgebrannter, windbewegter Sand. 


Die Ferne Ihien in Formen ſich zu fallen, 
Ich jah den blauen Nebel halb zerrinnen 
Und Halb erjtarren zu begrenzten Mailen; 


Und Ebenmaß und Ordnung zu gewinnen 
Schien meinem Aug’ ein riefenhafter Bau 
Mit luft'gen Türmen und mit zack'gen Zinnen; 


Der ſtieg dor mir, entfaltend fih zur Schau, 
Aus nackter Ebne mehr und mehr empor, 
Am Horizonte fern, noch blau auf blau. 

Zu wogen jchien ein klarer See davor, 

Den Duritgequälten lockend lügenhaft, 
Der ſtaunend in Gedanken ich verlor, 





65 


80 


85 


90 


OANATOE. 991 


Beharrlich ſetzt' ich fort die Wanderjchaft 
Mit wundem Fuß und ausgedorrten Lippen 
Und ftrengte jtandhaft an die letzte Kraft. 

Das Waſſer floh vor mir, e3 jtiegen Klippen 
Aus dejlen Spiegel und dem Jand’gen Plan, 
Der Bau zerfiel zu ſchroffen Felsgerippen. 

Ich ſtieg auf nactgebrannter Felſenbahn, 

Auf ſcharfen Steinen und zerſpaltnem Grunde 
Den Abhang des Gebirges ſchon hinan. 

Und ſteiler ward der Pfad mit jeder Stunde, 
Der Kieſel ſchärfer in der Schluchten Schoß, 
Darüber troff mein Blut aus mancher Wunde. 

Die zack'gen Gipfel ſtarrten nackt und bloß, 

Die Wüſte jchivieg, des Lebens ganz beraubt; 
Kein Wurm ıumd fein Getier, fein Halm, fein Moos! 


Und wie bereit3 erklommen ich geglaubt 
Den Scheitel des Gebirges, Jah ich ragen 
Hoch über mir ein andres Felſenhaupt. 
Kaum wollten meine Glieder noch mich tragen; 
Sch kroch hinauf; von dorten ſah ich nur 
Ein Meer von Trümmern jtarre Wellen jchlagen. 
Kein Quell, fein Grün, von Leben feine Spur! 
Hier hält mich, jonder Ausgang, fajt erichroden, 
Die tote, die entgötterte Natur. 
Sch Ichüttle mit Verzweiflung greiſe Locken; 
Der Durjt! der Durſt! o, gebt mir meine Tränen! 
Das Herz iſt dürr, die Augenhöhlen troden. 
Wie lange wird fich diefe Marter dehnen? 
Wird Wahnfinn grinjend mir ins Auge jtarren? 
Wirſt du, Vernichtung, hungrig nach mir gähnen? 
Du läßt den ſchon Eritorbenen noch harren! 


a — 


19* 


2923 Gedichte: Sonette und Terzinen. 





Die Kreuzſchau. 

D" Pilger, der die Höhen überjtiegen, 

Sah jenfeit3 ſchon das ausgejpannte Tal 
In Abendglut vor feinen Füßen liegen. 

Auf duft'ges Gras, im milden Sonnenſtrahl 
Stredt’ er ermattet ſich zur Ruhe nieder, 
Anden er jeinem Schöpfer fich befahl. 

Ihm fielen zu die matten Nugenlider, 

Doc jeinen wachen Geist enthob ein Traum 
Der ird'ſchen Hülle ſeiner trägen Glieder. 

Der Schild der Sonne ward im Himmelsraum 
Zu Gottes Angeficht, dag Firmament 
Zu jeinem Kleid, das Land zu deſſen Saum. 

„Du wirſt dem, deſſen Herz dich Vater nennt, 
Nicht, Herr, im Horn entziehen deinen Frieden, 
Nenn jeine Schwächen ex vor dir befennt. 

„Daß, wen ein Weib gebar, jein Kreuz hienieden 
Auch duldend tragen muß, ich weiß e3 lange, 
Doh find der Menſchen Laſt und Leid verjchieden. 

‚Mein Kreuz iſt allzujchwer; fieh, ich verlange 
Die Laſt nur angemeſſen meiner Kraft; 

Sch unterliege, Herr, zu hartem Zwange.“ — 

Nie To er ſprach zum Höchſten Finderhaft, 

Kam braujend her der Sturm, und e8 geichah, 
Daß aufwärts er fich fühlte Hingerafft. 

Und wie er Boden faßte, fand er da 
Sich einfam in der Mitte räum’ger Hallen, 
Wo ringsum ſonder Zahl ev Kreuze ſah. 

Und eine Stimme hört’ er Dröhnend hallen: 

Hier aufgeipeichert ift das Leid; du haft 


SS 


Zu wählen unter diefen Kreuzen allen.‘ 
Verſuchend ging ex da, unichlüffig faſt, 

Von einem Kreuz zum anderen umher, 

Sich auszuprüfen die bequemre Laſt. 


or 


10 


15 


20 


25 


30 








35 


40 


45 


50 


50 


Die Kreuzſchau. — Die Ruine, 295 


Die3 Kreuz war ihm zu groß und das zu ſchwer, 
So ſchwer und groß war jenes andre nicht, 
Doch ſcharf von Kanten, drüdt’ es dejto mehr. 

Das dort, da3 warf wie Gold ein gleißend Licht, 
Das lockt' ihn, unverſucht es nicht zu laſſen; 
Dem goldnen Glanz entipradh auch dag Gewicht. 

Er mochte diefes heben, jenes fallen, 

Zu feinem neigte noch fich feine Wahl, 
63 wollte feines, feines für ihn paflen. 

Durchmuſtert hatt? er jchon die ganze Zahl — 
Verlorne Müh'! vergebens war’3 gejchehen! 
Durchmuſtern mußt ex fie zum andernmal. 

Und nun gewahrt er, früher überjehen, 

Ein Kreuz, da3 leidlicher ihm jchien zu jein, 
Und bei dem einen blieb er enplich jtehen. 

Ein ſchlichtes Marterholz, nicht Leicht, allein 
Ihm paßlih und gerecht nach Kraft und Maß: 
„Herr“, rief er, „jo du willſt, dies Kreuz ſei mein!“ 

Und wie er's prüfend mit den Augen maß — 

Es war dazjelbe, das er jonjt getragen, 
MWogegen er zu murren ſich vermaß. 
Er lud es auf und trug's nun jonder Klagen. 


Die Ruine. 
ch ſchweifte raſtlos auf den höchiten Bergen 
Allein und fern von aller Menſchenſpur, 
Mich ſelbſt und meinen Unmut zu verbergen. 
Behaglih war’3 mir, wo die Gemje nur 
Die flücht’ge Bahn fich über Gletſcher bricht, 
Recht einfam in der wildeiten Natur. 
Was mir im Buſen tobte, frage nicht: 
Entblößejt du, der jo mich fragen darf, 
Die eignen Wunden an das Tageslicht? 


294 J 

Der Abend ſank, die Winde wehten ſcharf; 

Ein Feuer hatt’ ich mir zu Nacht geſchüret, 
Das auf das Schneefeld rote Strahlen warf. 

Bald ward vom mächt’gen Zugwind aufgerühret 
Der Schnee in Wirbeln und der TFelfenwand, 
Die Shut mir geben jollte, zugeführet. 

Zur Flucht gedrängt, ergriff ich einen Brand 
Und juchte durch die Klüfte mich zu jchlagen 
Zu Tal, zur Burgruin’ am Waldesrand. 

Die Wolfen, die exit um die Gipfel Tagen, 
Ergoſſen jet fi wogend durch den Raum 
Und jchienen ein Gewitter anzujagen. 

Wie ich den Ort erreicht, ich weiß es faum, 
Doch jtanden jie vor mir, die alten Mauern, 
In Brandes= Fladerichein an Waldesſaum: 

„Beſchirmt mich vor den falten Regenjchauern, 
Seid gaftlih, Trümmer ihr der alten Zeit! 


Wo Hafft ein Spalt, wo fann ich unterfauern?” 


Gin Riß im Mauerwerfe, nur jo breit, 
Daß mich Hindurchzupreifen faum gelang, 
Gewährte vor dem Sturm mir Sicherheit. 


Der führte mich in einen ſchmalen Gang, 
In dem, vorjchreitend bei des Brandes Helle, 
Sch tief und tiefer, in das Innre drang. 


Hier eine Tür; ich hielt auf deren Schwelle, 
Den düſtern Ort betrachtend, zu erfahren, 
Ob das ein Grab jei, ob die Burgfapelle. 


Denn Bilder, halbverjtümmelt, Waffen waren 
Rings aufgejtellt, zerſtreut auch hin und wieder, 
Berihüttet und verjtaubt von vielen Jahren. 

Ich lagerte zur Ruhe meine Glieder, 

Auf Schutt geſtreckt, das Haupt auf einen Stein; 
Doch mied der Schlaf die müden Augenlider. 


10 


nd 
or 


35 


40 


St 


Die Ruine. 9 





63 wirkten jene Bilder auf mich ein, 
An denen ich mit jtieren Blicken hing; 
5 Der Brand, verglimmend, warf den lebten Schein; 


Und num die Nacht, die tiefjte, mic) umfing — 
Bermag ich mein Entjegen da zu jchildern 
Beim Anblick deſſen, was nun vor fich ging! 


Gin bleicher Schein entjtrömte jenen Bildern, 
5° Sch Jah fie in der Finſternis ich regen, 
Sie wurden laut, fie huben an zu mildern. 


Und dumpf erſcholl's: „Aufl aus dem Schlaf, ihr Trägen!“ 
Ein Herrſcher war e8, der dag Wort gejprochen, 
Die Hand verjucht’ er an dag Schwert zu legen; 


55 Das war von Holz geweſen und zerbrochen; 
Nach einer Krone griff er, — goldesbar, 
Ein altes, morſches Holz, vom Wurm zerjtochen. 


Dem Rufe jtellte bald jich eine Schar, 
In Holz gewappnet halb und halb in Eiſen, 
6° Die nicht geheuer anzuſchauen war. 


Und ihm zur Rechten jah ich einen Greifen, 
Der, Ihwac und zornig, geijtlich angetan, 
Verdroſſen jchten, ihm Ehrfurcht zu erweiſen. 


Er mujterte die Seinen, Mann für Nlann, 
65 Dann naht’ er ſeltſam lächelnd fich dem Alten, 
Zu dem ex leife flüfjternd jo begann: 


„Schwach worden bijt du, mußt an mir dich halten 
Und ich an dir, es ijt nicht Hadernszeit; 
Bedecke mich mit deines Mantel? Falten!“ 


70 Und zu den Mannen: „Seid zum Kampf bereit! 
Ihr Habt noch Eiſen, gut! ih muß euch Toben; 
Altar und Thron! das iſt ein guter Streit. 

„Nun gilt’3, einander Eintracht zu geloben: 
Durch euch, für euch! ihr wit, ich weiß es nun; 

5 Ich weiß, ihr wißt auch, was fie jchiwaßen oben. 


296 Gedidte: Sonette und Terzinen. 


„Ste wollen, Abgejtandnes müſſe ruhn; 
Ihr aber jeid noch ein bewehrter Haufen, 
Und nächtlich werdet ihr daS eure tum. 


„Ste jagen, unſre Zeit ſei abgelaufen, 
Nun jet es Tag; doch ſeht! es iſt ja Nacht, 80 
Und mögen ſie's mit anderm Worte taufen! 


„Das Licht —! 63 ijt zum Lachen! Lacht doch, Tacht!“ 
Und wie er ſelbſt dariiber wollte lachen, 
Hat doch das Licht ihn ſtumm und ſtarr gemacht. 


Der Bliß ergoß, der grauje Feuerdrachen, 85 
Durch einen Spalt der Wölbung Lichtesgarben, 
Und hell erklang des Donners zürnend Krachen. 


Die Bilder, die zu Holz und Stein eritarben, 
Srwachten jpät und zögernd nur zum Leben, 
Bis wiederum die Sprache fie erivarben. v0 


Da jah ich jenen Priejter fich erheben; 
Der nahm das Wort und jchüttelte jein Haupt: 
„Der Himmel hat ein Zeichen euch gegeben! 


„Er bat, daß ihr's mit Augen jeht, erlaubt, 
Wie Untergang er euren Yeinden drohe; 95 
Ihr aber lobt die Yinjternis und glaubt! 


„And weil ich euch die Deutung gab, die Frohe, 
Und klärlich ihr erkannt des Herrn Gefallen, 
Der zu euch jprach in feines Zornes Lohe, 


„Sp laßt vor ihm uns auf die Kniee fallen, 100 
Lobpreiſend ihr mit unjern ſchwachen Zungen, 
Yaßt Te deum laudamus laut erichallen!“ 


So wurde denn der Lobgefang gejungen, 

Mißtönig, unerhört! Mir mußte deuchten, 

Als Hielte Fieberwahn mich feſt umjchlungen. 105 
Ich ſah die zweifelhaften Weſen Leuchten 

Mit bleichem Schimmer, der ich Ipähend lag; 

So ſchimmert morjches, faules Holz im Feuchten. 


110 


115 


130 


135 


Die Ruine, 297 


Die Zeit verjtrich, die nimmer ruhen mag; 
Durch jenen Spalt drang ein ein jchwacher Strahl, 
Verkündigend den neugebornen Tag. 


Und bei dem Schein erblaßten allzumal 
Die Wunderjamen, ihr Gejang verhallte, 
Es ſchwieg bald der, bald jener aus der Zahl. 


Ein Angſtgeſchrei des Oberheren erſchallte: 
„Hilf, Prieſter, du! es tagt! es darf nicht tagen! 
Den Mantel her! verhänge dur die Spalte! 


„Beſteige den Altar! ich will dich tragen, 
Dich Halten; das Entſetzen quillt von dort 
Und drohet unſre Herrſchaft zu zerichlagen!” 
Wohl tat der Priejter nach des Fürſten Wort, 
Doch wollte nicht der alte Mantel frommen, 
63 wuchs die Tageshelle fort und fort. 


Er aber bebte heftig, angjtbeflommen, 
Und ſank zulegt erſtarrt zu den Erſtarrten, 
Denn allen war des Lebens Schein genommen. 


Und in der Dämmerung, der lang erharıten, 
Sah ih von Holz und Stein die Bilder nur, 
Die Halbverjtümmelten, in Schutt verjcharrten. 

Beim Priejter lag am Pfeiler die Figur 
Des Oberherrn, der nächtlih wüſte Graus 
Zerronnen und verjchollen ohne Spur. 

Da lacht’ ich ob dem tollen Traum mich aus, 
Und von des Fürſten Krone mir zum Mal 
Brad ich ein Stück und nahm es mit nad Haus. 

Ich ſtieg zu Tag: im heitern Morgenftrahl 
Erglühten rings des Schneegebirges Zinnen, 
Und jchon ergoß das Licht ſich in das Tal. 

Anbetend fühlt’ ich meine Zähren rinnen. 


— ——— 


298 | Gedihte: Sonette und Terzineit. 


Der Bepublikaner 
zu Baris am 7. Auguſt 1830. 
Nah Viktor Strauß.) 
zn ordnen fie den Zug im Trauerhaug; 
Hier werden jte vorbei die Bahre tragen 
Und langſam ſich verlieren dort hinaus, 


Und ich, verſteckt, will jcheue Blide wagen — — 
Ich darf, von feinem Blut die Hände rot, 
Um meinen Toten nicht wie andre Flagen. 


Herz meines Herzens! Freund und Bruder! tot! 
Sch Habe dich, ich ſelbſt dich umgebracht, 
Der wehrlos mir die Brujt entgegenbot. 


Du Liebezitern in meines Grimmes Nacht, 
Du bit erlofchen, und in alten Bildern 
Erſcheint mir erſt dein Licht in voller Pracht. 
Wie ſanft und Fräftig lenkteſt du den mildern 
Gefährten, bändigtejt den Ungefügen 
Und wußteſt ſeines Zornes Glut zu mildern! 
Der Friede lag in deinen holden Zügen; 
Wir waren, al wir ew'ge Treu’ und jchwuren, 
Noch Kinder, und wir wußten nichts von Lügen. 
Die Feindlich widerjtreitenden Naturen 
Ergänzten jich zu wunderbarer Einheit; 
Mitſchüler nannten uns die Dioskuren. 
O ſel'ge Zeit der Unjchuld und der Reinheit! 
och boten, eines Herzens, wir zujammen 


Dem Schlechten Krieg, Verachtung der Gemeinheit. 


Beim Tacitus entlodert ih in Flammen, 
Haß ſchwur ich den Tyrannen; faſt erſchrocken, 
Vermochteſt du den Schwur nicht zu verdammen. 
Ich ſeh' dich ſchütteln deine blonden Locken, — 
Ein Blick, ein Druck von deiner lieben Hand — 
Und in die Gegenwart zurück mich locken. 


20 


30 





40 


45 


60 


Der Republitaner zu Paris am 7. Auguft 1830. 299 





Wir wuchjen auf, es wuchs in mir der Brand; 
Es rief die Zeit mit grimmen Leidenschaften. 
Das Ungemwitter, das bevor uns jtand. 


Du wollteit noch an morjchen Trümmern haften, 
Den Baum umklammern, welchen, jchon verdorrt, 
Dahin die gottgejandten Stürme rafften. 


Da fiel das Wort, o das unſel'ge Wort! 
Du hatteſt jonder Arg es ausgeiprochen; — 
„Herr Graf, wir find getrennt!“ Co ſtürmt' ich Fort, 


Ich war in meines Herzens Herz gejtochen; 
Du riefft mir nach mit ausgejtredten Händen: 
„Was hab? ich, Bruder, wider dich verbrochen?“ 


Nicht mocht’ ich rückwärts nach dem Ruf mich wenden, 
Ich ſchwieg und jchritt hinaus: „Sein adlig Blut!“ 
Ich ſchrie und rang, das Opfer zu vollenden. 


Sch Ichweifte durch die Nacht, ich weinte Wut, 
Und finjtrer, al3 um mich die Schatten waren, 
Und jchauerlicher war mein franfer Mut. 


Was da ich Mitt, du haſt es jebt erfahren, 
Du wirſt, verflärter Geift, verjühnlich fein, 
Du bit ob meiner Liebe jet im Klaren. 


Der Morgen fam, er gab jo trüben Schein; 
Sch log mir vor, es jet nun überwunden, 
Und Stand verwaiſet auf der Welt allem. 


Ich Habe nur noch einen Halt gefunden: 
War jelber mir daS Leben leer und öde, 
Plebejiſch fühlt’ ich meines Landes Wunden. 

Ich Jah, wie nicht die Willkür fich entblöde, 
Die gleihgebornen Menjchen doch in Klafjen 
Zu teilen, dieſem huldreich, jenem jchnöde; 

Sch Jah fie Ketten jchmieden, durfte haffen; 
Tyrannenhaß war meines Herzens Schlag 
Und widerhallte mir aus allen Maſſen. 


300 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Geduld! Geduld! und fieh, da jchien der Tag! 

Sie jelbjt, ſie pflanzten auf den blut’gen Schild, 
BZertretend mit den Füßen den Vertrag. 

Da hab’ ich noch gelacht, laut, grimmig, wild, 
Den lebten Kelch der Freude noch genofjen, 
Dann zu den Waffen! in das Blutgefild! 

Rings wogte drohend jchon das Volk, es ſchloſſen 
Die Haufen fich, zu richten und zu jtrafen; 
Stolz überzählten jih die Kampfgenofjen. 


Und kommend, wo die Schlacht entbrannt war, trafen 


Auf dich die Blide, die den Feind begehrten, 
Auf dich, ihr Oberhaupt, den jtolzen Grafen. 
Sn ſtummer Haltung jtanden die Bewehrten, 
Mit blajfem Antlitz, ohne Waffenluſt, 
Gehorchend dem, den fie als Führer ehrten. 


Sch fiel dich ar, du botejt deine Bruft 


Mir dar, du riefit...-— ich ſeh' im Todeskrampf 


Dich zucden, alles andern unbewußt. 
Sch hab’ umſonſt gefucht, im heißen Kampf 
Die innre Ruhe wieder zu erwerben, 
Und lechzend mich beraufcht in Blut und Dampf. 
Vollendet ift das Werk, die Krone Scherben. 
Mer gab um dich, o Freiheit, was ich gab? 
Seht aber bin ich. mid’ umd möchte jterben, 
Und — wehe, weh’! — fie tragen ihn herab; 
Die Mutter weint, der ich das Herz zerbrad. — 


O Wilhelm, fchlafe janft im frühen Grab! — — 


Wie noch der Unglückſel'ge jolches ſprach, 
Das Schmerzenzbild noch feine Blicke jogen 
Und ftarrten jtraßenauf dem Zuge nach), 

Graofien jtraßenab ſich Menſchenwogen, 

Die, rufend, jauchzend, Freud’gen Taumels voll, 
Den Zug verdrängten und borüberzogen; 


80 


90 


100 


an 


10 


20 


Der Republikaner zu Paris am 7. Aug. 1830. — Chafjane und bie Waldenfer. 301 








63 war der Auf, der aus dem Strom erſcholl, 
Der, wie des jturmerregten Meeres Tofen, 
Betäubend laut und immer lauter Ihwoll: 

„Hoch Lebe, Hoch! der König der Franzoſen!“ 


try 
ee 


‘s 


Chaſſanẽ und die Waldenfer, 
Geſchichtlich. 1540. 
er heil’gen Kirche waren zwei Pilaſter 
Don Ar und Air die würdigen Prälaten, 
Anfämpfend wider Stegerei und Laſter. 
Das Unkraut auszujäten aus den Saaten 
Der Wahrheit und zu werfen in die Glut, 
Bezweckten unabläffig ihre Taten. 


Waldenfer wird genannt die Otterbrut. 
Auf jener Antrieb Hat zu Recht erkannt 
Das Parlament, verfemet iſt ihr Blut. 
63 gilt für Recht: Xebendig wird verbrannt, 
So Weib als Mann, jo viele ihrer find, 
Die zu dem falſchen Glauben fich bekannt; 
Mit ihrer Ajche jpielen joll der Wind; 
Es Fällt dem Schatze zu, was ſonſt ihr eigen, 
Nebit Hab und Gut auch das unmünd’ge Kind; 
Wo blühend ihre Städt’ und Dörfer fteigen, 
Soll ebnen, Schutt und Afche, ſich der Grund, 
Und da die Wildnis fluchbelajtet ſchweigen. 
Solch Urteil ſprach der Richter ftrenger Mund; 
Vollziehen laſſen ſoll's der Präfident, 
Den Schergen wird durch ihn ihr Blutamt kund. 
Die Feder ſchon berührt das Pergament, 
Da fühlt er leiſe ſich den Arm gehalten, 
Und einer tut's, den er von Jugend kennt. 


1 Obwohl man in der Zulirevolution das Königtum geftürzt hatte, wurde 
Hald naher in dem fogen. „Bürgerfönig” Louis Philipp ein neuer Herrſcher ges 
wählt, der ſchon am 9. Auguft 1830 die Verfaffung bejchwor. 


302 | Gebihte: Sonette und Terzinen. 
Alenius jpricht: „Sei drum nicht ungehalten! 25 
Wirt, Chaljane, noch immer Zeit genug 
Zu deines Namens Unterichrift behalten. 


„Dein Blutwerk, mein’ ich, duldet den Verzug; 

Ich will aus deiner eigenen Gejchichte 

Dir ins Gedächtnis rufen einen Zug; 30 
„Du biſt mir Zeuge, daß ich’3 nicht erdichte: 

Einſt famen her die Bauern und verflagten 

Die Mäufe vor dem geijtlichen Gerichte; 


„Die Mäuſe, die das liebe Korn zernagten 
Und, wie der Böſe nur es ftiften fann, 35 
Sie jonder Zahl auf Yeld und Tenne plagten. 


„Die Bauern trugen auf Vergeltung an, 
Die Mäuſe, die jo vieles doch verbrochen, 
Zu ftrafen mit der Kiche Fluch und Bann. 


„Den Mäufen ward ein Anwalt zugeiprochen, — 40 
er war der Anwalt, hätt’ ich dich zu fragen, 
Der Keber, denen ihr den Stab gebrochen? — 


„Der Advofat der Mäuje, wollt’ ich jagen, 
Tat an den Tieren rvedlich feine Pflicht 
Und wehrte Hug den laut erhobnen Klagen: 


„Die Mäufe find von Gott, vom Böfen nicht; 
Da laſſe nicht der Menſch den Mut exichlaffen 
Und ziehe nicht den Schöpfer vor Gericht!‘ 


„Sr kämpfte jiegreih mit des Rechtes Waffen, 
63 wurde Frevelnd nicht geflucht den Wejen, 
Die Gott in feiner Weisheit auch exichaffen. 

„Du, Chaffane, du bijt es jelbjt geweſen, 

Den Gottes ewige Gerechtigkeit 
Zur Abwehr diefer Sünde Hat erlejen. 

„Die Mäuſe Haft vom Bannfluch du befreit; 
Als Mäuſe zu verteid'gen es gegolten, 

Da kannte doch dein Herz Barmherzigkeit. 





Chafjand und die Waldenfer. — Die Predigt de3 guten Briten. 303 





„Sch will nicht glauben, Richter unbejcholten, 
Daß Menfchen, die zum Scheiterhaufen wallen, 
60 63 Stein in deinem Bujen finden jollten. 


„Du unterjchreibft nicht? läßt die Feder fallen? 
Hab’ Dank!" Sie drücten ſchweigend fich die Hand; 
Der Ketzer Sache jollte jo verjchallen. 


Doch die Brälaten! Nach vier Jahren ftand 
65 63 wieder ander3, da erhellten fern 
Die Scheiterhaufen das erjchredte Land, 
Und jene jangen: „Lobet Gott den Herrn!“ 


rn 


Die Predigt des guten Briten. 


(Wahre Anekdote.) 


NE Anno Dreiundachtzig fich zum Krieg 
Gerüſtet Engeland und Niederland, 
Ward beiderjeit3 gebetet um den Gieg. 


Ein ausgejchriebner Buß- und Bettag fand 
5 Sn beiden Ländern jtatt, doch um acht Tage 
Früher in Holland als in Engeland. 


Hier Stand ein Prediger vom alter Schlage, 
Tach Eräft’ger Predigt betend am Altar, 
Und führte vor dem Höchſten feine Klage: 


10 „Du wirst dich noch erinnern, Herr, es war 
Am lebten Sonntag, die Holländer brachten, 
Wie heute wir, div Bußgebete dar. 
„Die Jakob einjt den Bruder Gau, dachten 
Sie ung um deinen Segen zu betrügen, 
15 Wenn fie die erjten an dein Ohr ich machten. 
„Slaub’ ihnen nicht! trau’ nicht den Winkelzügen 
Der falſchen Otterbrut; ihr gutes Recht 
Und frommes Tun find eitel, eitel Lügen! 





304 Gedichte: Sonette und Terzinen. 





„Slaub’ ung und mir, ich bin dein treuer Anecht, 
Sch Habe mit der Lüge nichts zu jchaffen; 20 
Wir Engeländer find ein Fromm Gejchlecht; 

Ser du mit uns und jegue unjve Waffen!“ 


— 


Biſſon vor Stampalin.! 
Um 4. November 1827. 


(Nah dem Berichte des Seeminifters in der Eitung der franzöfifden Kammer der 
Abgeordneten vom 5. April 1828.) 


um Unheil Hat uns nur der Sturm verjchont, 
Der uns verichlagen Hat vor Stampalin, 
Das Neſt, wo dieſes Raubgejindel wohnt. 


„Die zwei Gefangnen, welche ſich vorhin 
DBefreiten, ſchwimmend an das Land begaben — 5 
O, diefe zwei —! Verſteh' mich, Trementin: 


„gu Ihrem Nejte flogen dieje Raben, 
Und einem Kampfe jehen wir entgegen, 
Wo nicht zu fiegen wir die Hoffnung haben. 


„Doch, find uns ſchon die Räuber überlegen, 10 
Noch ſteht ung, nicht bejiegt zu werden, frei; 
Wir können tun, wie wackre Leute pflegen. 


„Lebt einer noch von beiden, wer es ſei, — 
Zur Bulverfammer — schnell! — du bijt ein Mann — 
Vorſorglich brennt die Lunte ſchon dabei!" — 15 
Drauf Trementin: „Ich dachte jo daran: 
Du, Biffon, oder ih — e3 fliegt in Rauch 
Die Brigg auf, eh der Feind ſich freuen kann!“ 
Sie drücten ficd die Hand. Kein Wind, fein Hauch 
Durchſchwirrt das jchlaffe Tauwerk. Stumm die Nacht. 20 
Schlagfertig liegt das Schiff nach gutem Brauch. 





! Stampalia (griechiſch Aftropalia), türkiſche Infel im ſue en Teil des 
Agäiſchen Meeres. 


25 


30 


35 


40 


Biffon vor Stampalin. — Don Raphael letztes Gebet. 305 





Nur fünfzehn Tapfre find der Franken Macht; 
Auf zweien Miſticks! neunmal fünfzehn kommen, 
Die Gegenwehr zu finden kaum gedacht. 
Sie rudern her; — der Kampf iſt jchon entglommen. 
Geſchützesdonner, Kriegesjtimmen Hallen, 
Sie entern, das Verdeck iſt eingenommen. 
Es find von fünfzehn neune jchon gefallen, 
Und Bifjon blutet jelbjt aus jchweren Wunden; 
Er rafft fih auf und läßt den Ruf erichallen: 
„Auf! Über Bord, wer nicht den Tod gefunden!“ 
Es ſpringen die Gefährten in die Flut, 
Er ſelbſt it in den Schiffsraum fchnell verſchwunden. 
Und der Pirat, der nun vom Streite ruht, 


Der nicht zu morden findet einen mehr, 
Beichauet fich den Raub in Übermut. 


Da flieget donnernd auf das Schiff, dag Meer 
Miſcht gijchend fih mit Trümmern und mit Leichen, 
Ein Dampfgewölt bededt es jtumm und jchwer, 
Und Biſſons Name ftrahlet jondergleichen. 


— — 


Don Raphaels? letztes Gebet. 
(Spaniſch.) 
Der ich zuerſt das Freiheitswort geſprochen, 
Das mächtig widerhallende, muß ſterben, 
Und ſchon iſt über mich der Stab gebrochen. 


Ich wende mich zu deinem Kreuz im herben 
Moment, das Blutgerüſte zu beſteigen, 


Und bete: Herr, laß Gnade mich erwerben! 


1 Franzöſiſch mistic (mistique), ſchnellſegelndes Fiſcherboot auf dem 


Mittelländiſchen Meer; der Hauptmaſt in der Mitte hat viereckige, der Fockmaſt 
und Hintermaſt lateiniſche Segeln. — ? Raphael Riego y Nufñez ſtiftete im 
Jahre 1820 eine Empörung gegen die ſpaniſche Regierung an und wurde Feld— 
marſchall und Präſident der Cortes. Von den Franzoſen gefangen genommen, 
wurde er der Regierung ausgeliefert und am 7. November 1823 durch den Strang 
hingerichtet. Er iſt der Held der nach ihm bekannten Riego-Hymne. 


Chamiſſo. J. 20 


306 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Mir ward hienieden Hoher Ruhın zu eigen, 
Sch gebe mich verſöhnt in deine Hut, 
Des Hafles und der Rache Stimmen fchmweigen. 

Der aber fich befledt mit meinem Blut — 

Vergib ihm, Herr! die Fülle jeiner Schande 
Ser Sühne dir; er weiß nicht, was er tut. 

Ich meint es treu mit meinem lieben Lande, 
Vermaß mi — — Aber du vermagjt’s allein — 
63 hat gefühlt, gejchüttelt jeine Bande. 

Du rufeit meine Träume bald ins Cein, 

Die blut’ge Röte deutet auf den Morgen, 
Die Sonne bricht hervor, ihr Sieg tjt dein. 

Dem ich gelebet, ſterb' ich, jonder Sorgen 
Für andre Güter, liebe, hoffe, glaube; 

Dir find mein Herz, die Zukunft nicht verborgen. 

Und Hab’ ich mich gewälzet auch im Staube, 
Gejündigt als ein ſchwacher Menſchenſohn, 

Du gibjt mich nicht dem argen Feind zum Raube. 

Mit eh'rner Zunge ruft die Glocde ſchon, — 
Wohlan, ich war's, ich bin’s, und bin bereit; 

Den Trommeln bietet meine Stimme Hohn. 

Sie hallte ja durch Spanien weit und breit 
Und ſtreut' in vieler Herzen Thon den Samen, 
Der Spanier hört, was Riegos Blut ihm jchreit — 

Du, Herr, empfange meine Seele! Amen! 


at rn a 
Ar 


Die Verbannten. 


1. Woinarowski. 
1740. 
Nah dem Ruſſiſchen des NRelejeff.* 


Ern Reich des Winters ſtarrt das öde Land, 
Durch welches ſich die breite Lena windet 
Zu einem ewig eisumtürmten Strand. 


* Das Gedicht Woinarowski von Relejeff, ſeinem Freunde Beſtujeff zu— 
geeignet, erſchien zu St. Petersburg im Jahre 1825. Relejeff beſtieg bald 


15 





| 
| 
j 
\ 
| 





10 


15 


20 


25 


30 








Don Raphaels lestes Gebet. — Die Verbannten: 1. Woinaromstfi. 307 








Auf Schnee, auf frojterjtarıter Rinde findet 
Sich wegbar nur das ausgelpannte Moor, 
Bon dem die weiße Dede kaum verichtwindet. 


Sm weiten Kreife blickt daraus hervor 
Ein Schwarzer Föhrenwald und jcheinet ſchier 
Auf falten Leichentuch ein Trauerflor. 

Aus Balken grob gezimmmert, veihen hier 
Sich dunkle Zurten! längs dem Fluß: die Stadt 
Des Schreckens in der Schrednifje Revier, — 


Jakutsk, an Kerkers und an Grabes Statt 
Beitimmt, die Unglücjeligen zu begen, 
Die ſchon das Leben ausgejpieen hat. 
Wer iſt, der dort auf unbetretnen Wegen 
So heimlich düjter durch die Nebel jchleicht, 
Die kalt am Morgen auf das Moor jich legen? 
Mit kurzem Kaftan, Gurt und Mütze gleicht 
Er dem Koſaken von des Dniepers Auen; 
Das Alter nicht Hat jo fein Haar gebleicht. 
Und die zerjtörten Züge! welch ein Grauen 
Flößt dieſes Antlib ein! des Henkers Mal 
Sit aber auf der Stirne nicht zu ſchauen. — 
Und dort am Walde hält er auf einmal, 
Erhebt gen Weiten ſchmerzensüberwunden 
Zugleich die Arme mit der Augen Strahl; 
Und jo wie Blut aus tiefen Herzenswunden 
Entquillt ein Schrei: „O du mein Vaterland!“ 
Er iſt im Waldesdicicht ſchon verſchwunden. 
Wer ijt, wer war er, eh der Unbejtand 
Ihn des Geſchickes in den Abgrund raffte? 
Wie Heißt der Waldbewohner? — Unbenannt. 





darauf als Verſchworner und Empörer das Blutgerüft, und Beltujeji ward 
nach Sibirien verbannt. 





1 Einfache Hütten mit Filzdad). 
20 * 


308 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Wen ber das ſchwarzverdeckte Fuhrwerk jchaffte, 
Gin Sarg lebend’ger Toten, ijt verichollen, 
Und jtumm verhüllt ich diefer Rätjeldafte. — 

Um Opfer edlen Wiſſensdurſt zu zollen, 

Hat Müller! zu der Zeit dies Land bereiit 
Und zu Jakutsk den Winter dulden wollen. 

Sn dürft'ger Hütte lebt' ev und verwaiſt, 

Ein Menſchenfreund und Priefter der Natur, 

Wofür die Nachwelt feinen Namen preiit. 
Erholung war die Luſt der Jagd ihm nur; 

Oft lockten in den Forſt ihn feine Hunde 

Auf leichtem Schneefhuh auf des Rennes? Spur. 

Des Weges einjt vergeſſen und der Stunde, 
Fand er am ſpäten Abend fich allein, 
Verirrt, erſchöpft, erſtarrt im Waldesgrunde. 

Die Kälte frißt am Leben, ohne Schein 
Hat über ihm der Himmel ſich bedeckt, 

Er hüllt gefaßt zum letzten Schlaf ſich ein; 

Und bald hat ein Geräuſch ihn aufgeſchreckt: 

Ein flüchtig ſcheues Renn durchfliegt den Tann, 
Ein Schuß — es liegt zu Boden hingeſtreckt. 

Und dort erſcheint er, der den Schuß getan, 
Der Sträfling, deſſen Anblick ſonderbar 
Den Unerſchrockenſten verwirren kann. 

Er ſtarrt ihn an und zweifelt, ob ſich dar 
Errettung bietet, oder ihn bedroht 
Vom wilden Schützen andere Gefahr? 

Und ſchnell beſtimmt den Zweifelnden die Not: 
„Blick' her und übe du Barmherzigkeit! 
Ein Menſch wie du erwartet hier den Tod. 


1 Gerhard Friedrih Müller (1705— 83) war Mitglied der für die Er— 
forfhung Sibiriens fehr wichtigen jogenannten Kamtſchatkaſchen Expedition. Er ver— 


lieg 1733 St. Petersburg, traf 1736 den nach Jakutsk verbannten Woinarowski und 


fehrte erft 1743 nad Rußland zurück. — ? Das Nenn (ältere Form) — Nenntier, 


45 


60 


65 


80 


85 


90 


95 


Die Berbannten: 1. Woinarowski. 





„Gib auf den Weg zur Stadt mir dein Geleit! 
Sch bin verirrt.” Drauf jener: „Hör' ein Wort! 
Die Nacht wird dunkel, und der Weg iſt weit. 


‚Nicht aber fern iſt meine Jurte dort; 
Geichlagen hat auch dich des Schickſals Tücke, 
63. bietet div mein Elend einen Port. 


„Da ruheſt du und Hoffit und träumjt von Glücke, 
Ich aber ruhe, Hoffe, träume nicht, 
Und jcheint dev Morgen, führ' ich dich zurücke.“ 


Und ob den Worten jtaunend, die der Tpricht, 
Erhebet Müller fich und folgt dem Alten, 
Der durch die Wildnis ihm die Bahnen bricht. 


Beichwerlicher wird jtet3 der Pfad zu halten; 
Sie jchreiten ſchweigend zu, der Urwald fchweigt, 
Nachhallend nur von froitgeriff’nen Spalten. 
Die Nacht Hat ich geſenkt, die Kälte jteigt, 
Und Müller unterliegt den Mühen fait, 
Als jpät und einſam fich die Jurte zeigt. 


Sie treten ein; der Jäger jorgt mit Halt, 
Dez Teuer Macht aufs neue zu beleben, 
Die kniſternd bald das dürre Reiſig Fakt. 


Und wie die Flammen lodernd ſich erheben, 
Erſchimmern an den Mauern Waffen blank, 
Die ringsher Widerſchein der Lohe geben. 


Der Wirt beſchickt die Lampe, rückt die Bank 
Dem Herde näher und den Tiſch herbei, 
Den er verſorgend deckt mit Speiſ' und Trank. 


Er grüßt den Gaſt; es ſetzen ſich die zwei, 
Der Wärme ſich zu freuen und der Speiſe, 
Und aus dem Herzen quillt die Rede frei. 


Gar inhaltſchwere Worte läßt der Greiſe 
In dieſer weltvergeſſ'nen Wildnis hallen, 
Die Nachklang wecken möchten aus dem Eiſe: 


309 


310 Gedichte: Sonette und Terzinen. 





„Du bit ein Deutjcher; alle Schranken fallen, 
In denen ich vor Ruſſen mich verbaut; 
Die Sprache meines Herzens darf erichallen. 


„And nun erjchreeit mich meiner Stimme Laut, 
Der, halbvergeſſen, ſpät herauf beſchwört 
Den Traum, dem, jung und gut, ich einſt vertraut. 


„Dich hat nicht ſo wie mich der Traum betört, 
Doch träumt ihr auch im Schlaf, wann mächt'gen Klanges 
Ihr Deutſche ſolches Wort erdröhnen hört. 


„Du wirſt mich faſſen. Freiheit! Freiheit! klang es 
Am Dnieper durch die Ebnen wundervoll; 
Der Ton erweckte mich, mein Herz verſchlang es. 


„Des manngewordnen Jünglings Buſen ſchwoll, 
Ich fand dem Heldenfürſten mich geſellt, 
Aus deſſen Mund der mächt'ge Ruf erſcholl. 


„Erkenne, den das Elend ſo entſtellt, — 
Ich war Mazeppas! Freund in meinen Tagen, 
Und Woinarowski nannte mich die Welt. 


„Nicht langſam ſchmerzlich will ich wieder ſagen, 
Was in das Buch mit eh'rnem Griffel ſchon 
Der Genius der Zeiten eingetragen. 


„Man weiß genug, wie Karl, des Sieges Sohn, 
Verwegen unſern Zwingherrn lang' bekriegte 
Und faſt erſchütterte der Zaren Thron, 


„Wie noch mit unſerm Blut der Schwede ſiegte, 
Als wir Ukrainer ſchlugen ſeine Schlachten 
Und falſch die Hoffnung kurze Zeit uns wiegte. 


„Weh über uns! daß wir an Fremde dachten, 
Wo eigne Kraft für eignes Recht nur galt; 
Ein Bund der Sünde war es, den wir machten. 


I Der Koſakenhetman Mazeppa täuſchte das Vertrauen Peters des Großen, 
indem er fih nad dem Altranftädter Frieden (1706) mit Karl X, von Schweden 
gegen Nußland verband, 


110 


115 


120 


125 





130 


135 


140 


145 


155. 


nn. 


Die Berbannten: 1. Woinarowski. 311 


‚„Bultawal, deine Donner find verhaltt, 
Ein Flüchtling tft der Schwede, wir, vernichtet, 
Erliegen zähnefnirjchend der Gewalt. 


„Kein Kreuz jteht auf dem Hügel aufgerichtet, 
MWorunter du, Mazeppa, moderft num, 
Dem Türken um die Spanne Grund verpflichtet. 


„Dir ward es nicht zuteil, bet dir zu ruhn; 
Der deinen legten Hauch ich eingelogen, 
Ich Hatte nichts beim Türken mehr zu tun. 

„Als ſich gelegt des wilden Krieges Wogen, 
Wollt ich zu meinem Werbe heim mich jchleichen, 
Von namenlojer Sehnjucht hingezogen. 

„Dein armes Land! ein Anblick Tondergleichen ! 
Rings lagen ausgejtellt zum Fraß den Naben 
Der Beiten meines Volks zerteilte Leichen. 


„Wie Wut ich bei dem Anblick weinte, haben 
Die Schergen mich ergriffen, fortgeführt, 
In diefe Wüſtenei mich zu vergraben. 
„Ich glaube, daß du weint, du bijt gerührt; 
Ich habe jolchen Tau jeit vielen Jahren 
In diejen dürren Höhlen nicht verjpürt. 
„Als ich geiwürfelt mit dem großen Zaren 
Und Lieb’ und Haß im Buſen noch gejtrebt, 
Da hab’ ich wohl gewußt, was Tränen waren. 
„Ich bin erjtorben nun, und faum erhebt 
Sich ſchweifend noch mein Blick nach Welten Hin, 
Das Land begehrend, wo ich einjt gelebt. 
„Und doch, wie immer ich gebrochen bin, 
Wie meine Brujt erfaltet und zerriffen, 
Es glimmt der heil’ge Funken noch darin. 


1 Die für die Ruſſen fiegreihe Schlacht bei Pultawa (1709) vernichtete 


Mazeppas ehrgeizige Pläne, er mußte mit Karl XII. von Schweden nad) Bender 
fliehen und jtarb wahrſcheinlich durch Selbjtmord. 


312 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„Du, Guter, haft in meinen Finfterniffen 
Zeilnehmend und gerührt auf mich gejehen; 
Du ſollſt mein heimlich Heiligftes noch willen. 
„Komm mit hinaus! — Dort, wo die Föhren ftehen, 1 
Des Niondes Sichel wirft den blaſſen Schein, 
Dort wirjt das dunkle Kreuz du ragen jehen. 


„Ich lade dich zur Luft des Schmerzes ein, 
Die lebte, heil’ge, jo ich treu erfunden; 
Du bit am Ort, hier ruhet ihr Gebein. 165 
„Als von der Heimat fpurlos ich verſchwunden, 
Hat jih mein Weib mit Liebesheldenmut, 
Mich in der Welt zu ſuchen, untertwunden. 
„And irre jchweifend Hat fie nicht geruht, 
Zwei Jahre find der Dulderin verjtrichen, 170 
Bis fie gefunden ihr verlornes Gut. 
„Doch ihre ſchon verzehrten Kräfte wichen, 
Und al? der Winter kam, da ging’® zu Ende, 
Da iſt in meinen Armen fie erblichen. 


fer) 


0 


„Hier haben aufgerilfen meine Hände 175 
Den harten, durchgefrornen Schoß der Erde 
Und ihr gegeben meine lette Spende. 


„And bier, bei meinem Lieb- und Lebensherde, 
Hier iſt e8, wo ich dir auf heil'gem Grunde 
Mein andres Heiligtum vertrauen werde, 180 
„Die letzten Worte, die mit blafjem Munde 
Mazeppa vor dem ftaunenden Genofjen 
Vrophetiich ausrief in der Sterbeſtunde: 
„Was wir geträumt, noch war e3 nicht befchlofjen; 
Laß eine Zeit noch laden Schuld auf Schuld, 185 
Sich dehnen und entkräften den Kolofjen, 
„Umfafjen eine halbe Welt — Geduld! 


Im Spiegelichein der Sonnen eitel jchimmern, 
Das Herz von Übermut gejchwellt — Geduld! 





190 


195 


200 


205 


210 


215 


Die Verbannten: 1. Woinarowsti. 313 


„Ihn wird der Zorn des Himmels doch zertrümmern. 
Gott heißt Vergeltung in der Weltgejchichte 
Und läßt die Saat der Sünde nicht verfümmern.‘ 


Der Alte ſchwieg. Auf jeinem Angefichte, 
Dem ſchaurig wiederum erjtarıten, ſchwand 
Der Strahl, der e3 erhellt mit flücht’gem Lichte. 


Und Müller, wunderbar ergriffen, jtand 
Gedankenvoll zur Seite dem Gefährten 
Und drüdte ftumm dem Schweigenden die Hand. 
Die beiden, endlich ſich befinnend, kehrten 
Zur Siedelei zurücd, wo halbverglommen 
Des Herdes lebte Gluten fich verzehrten. 
Da ſprach der Greis: „Laß itzt den Schlaf dir frommen, 
Der mich vergeſſen Hat jeit langen Jahren; 
Die Nacht verjtreicht, der junge Tag wird kommen; 
„Der führt zurück dich zu der Menſchen Scharen, 
Wo diefer Nacht Erinnrung dir dverbleicht; 
Sc werd’ im wunden Herzen fie bewahren.” 
Vergeſſen mochte Müller nicht jo leicht; 
Er hat ihn oft bejucht und oft dem Sohne 
Der Schmerzen lindernd milden Troft gereicht; 
Hat vor der Zarin Anna höchſtem Throne 
Für ihn gebeten und für jich begehrt 
Dez Alten Gnade nur zu eignem Lohne. 
Als wiederum der Winter wiederfehrt, 
Wird Antwort von der Zarin ihm zu Zeile: 
„Dir ilt, was du gebeten haft, gewährt.” 
Die Luft des Glücklichen kennt feine Weile, 
Nach jenem Walde Hin! Er hält jih faum, 
Betreibend jchnell die Fahrt mit freud’ger Eile. 
Die Nartel, vennbeipannt, durchfliegt den Raum, 
Sie macht im Walde vor der Jurte Halt; 


Er überläßt ſich noch) dem ſüßen Traum. 


1 Ein Renntierjglitten, 


314 Gedichte: Sonette und Terzinen. 





Sr ruft dem Freunde zu; der Auf verhallt — 
Co jhaurig ftumm, die Türe dort verjchneit! — 
Er tritt hinein: das Innre leer und kalt. — 


Kein Feuer brannte hier jeit langer Zeit; 
Er jpäht umher: des Jägers Waffen bangen 
Bollzählig, wohlgeordnet dort gereiht. 


Wo tit, der hier gehaufet, Hingegangen? — 
Er juchet ihn mit düftrer Ahnung Schauern 
Am Grab, das feines Herzen Herz empfangen. 


Wie Bilder auf der Fürften Gräbern trauern, 

So ſieht ex jonder Regung dort gebannt 

Ein Jammerbild am Fuß des Kreuzes fauern. 
Geſtützt auf beide Hände, hingewandt 

Gen Weiten, ſtarr das Angeficht, daS bleiche: 

Das war, den Woinarowski man genannt. 
Schon halb verichüttet war vom Schnee die Leiche. 


2. Bejtujeff.! 
1829. 

„Ihn wird der Zorn des Himmels doch zertriimmern. 

Gott Heißt Vergeltung in der Weltgejchichte 

Und läßt die Saat der Sünde nicht verfümmern.“ 
Co klang es zu Jakutsk beim Sternenlichte 

In kalter Nacht. Ein rüft’ger Jäger ſang, 

Gar jeltnen Reiz verleihend dem Gedichte. 
Ein fremdes Ohr belaufchte den Gejang, 

Ein Mann?, der jüngit, dev Wiſſenſchaft zu frönen, 

Bis Hieher in das Neich des Winterd drang: 





I Die durch den Tod Kaifer Aleranders I. entftandene Verwirrung benutzte 
bie liberale Partei am 14. Dezember 1825 zu einem Militärputjch in Petersburg, 
der, bald unterdrüdt, den meiften VBerfchwörern das Leben foftete; der daran be— 
teiligte Leutnant Alexander Beftujem, ein Freund des Dichters Nylejew, wurde 
nad Sibirien verbannt. — ? Adolf Erman, ber Sohn von Chamiſſos Jugend— 
freund Paul Erman, lernte auf feiner Reife durch Norbafien (1828 —30) Beſtüjew 
fennen. 


225 


*w 
co 
ai 


rn 
„> 





Die Verbannten: 1. Woinarowski. — 2. Beitujeff. 315 





„Wer bijt du, der die Nacht belebt mit Tönen?" — 
„Ver dir, der dur mich fragit? das Lied ijt mein, 
250 Du wirſt e8 nicht zu fingen mich entwöhnen.“ — 


„Sefraget hat ein Fremder dich allein, 
Weil ihn des Liedes mächt’ger Klang erfreute; 
Es lag ihm fern, unfreundlich dir zu ſein.“ — 


„Sei mir gegrüßt! und nicht zum Argen deute 
255 Der ungemeſſ'nen Rede flücht’ge Halt, 
Dieweil mir jtolz zu jein geziemet heute. 


„Komm in mein Haus, jei des Verbannten Gait! 
Ich werde dir berichten jonder Säumen, 
Was du zu willen Luft bezeuget halt. 


260 Ich bin in diefes meines Grabes Räumen 
Ein freier Mann und bin die Nachtigall, 
Die hier allnächtlich fingt von ihren Träumen. 


„Mir bleibt der freien Stimme voller Schall, 
Die volle Luft des ungebrochnen Mutes, 
265 Und der ich bin, der bin ich überall. 


„Die Erde lehrt mich, und der Himmel tut es, 
Die Sterne, welche freifend zu mir jagen: 
63 treibt ung unabläffig, nimmer ruht es. 


„Sieh' cheitelvecht dort über dir den Wagen, 
270 Noch lenkt er aufwärts, jtrebet noch Hinan, 
Um zu der Tiefe jenjeit3 umzujchlagen. 


„sh bin zur Tiefe fommen meiner Bahn, 
Ich oder andre müſſen wieder jteigen, 
Und was ich träumte, war fein leerer Wahn. 
25 „Das wird am Tag der Völker bald fich zeigen; 
Denn hält die Wage ſchwankend ſich noch gleich, 
So muß die volle Schale doch fich neigen. 
„Gewürfelt hab’ ich um ein Kaijerreich; 
Noch einmal ift der kühne Wurf mißlungen, — 
280 Er bot die Brut entblößt dem ZTodesitreich! 


316 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„Ich bin Bejtujeff, welchen viele Zungen 
Relejeffs Mitverſchworenen genannt, 
Dem er ſein hohes Schwanenlied geſungen; 


„Das Lied von Woinarowski, wo entbrannt 
Für Freiheit er ſein Heiligſtes gegeben, 285 
Weil, jcheint e8, ex fein Los vorausgekannt. 
„Roh hallt das Lied, zur Nachwelt wird es ſchweben, 
Er aber hat das Blutgerüſt beitiegen; 
Ich muß ihn zu Jakutsk noch überleben! 


„Dein Woinarowski jah dich unterliegen, 290 
O mein Mazeppa, und bewahrt dein Wort 
In ſeines Herzens Schreine goldgediegen. 


„Du andrer Müller ſtehſt am jelben Ort, 
Um wieder gleiche Bilder zu betrachten. - 
Die nimm du im Gedächtnis mit dir fort! 295 


„Und wenn die quten Götter heim dich brachten, 
So gib den Stoff dem Dichter zum Gedicht; 
Gr leb' im Lied, den fie zu töten dachten! 


„Das wird der andre Gang, der lebte nicht; 
Heil aber, dem der dritte vorbehalten! 300 
Der dritte heißt Vergeltung und Gericht.” 
Wie drohend noch Beſtujeffs Worte hallten, 
Ward Licht am nord’schen Himmel ausgegojfen, 
Und einen. Bogen Jah man ſich gejtalten; 
Und aus dem Bogen blut’gen Lichtes ſchoſſen 305 
Gen Süden wunderſame Funkengarben, 
Die neigend ſich zum Horizont verflofien; 
Mit Zittericheine wechjelten die Farben; 
Die Sterne wie der Lohe Säulen jtiegen, 
Verloren ihre Strahlen und erjtarben. 310 
Tach Norden jtarrten beide Hin und ſchwiegen. 


nn 


Die Berbannten: 2. Beftujerf. — Ein Gerichtstag auf Huahine. 317 








Gin Gerichtstag auf Huahine, 
Im Herbit 1822. 


Ellis, „Polynesian researches“ II, pag. 457. Pomare II, König von Tahiti, er- 

hielt, der exfte unter den Inſulanern diefer Gruppe, die Taufe zu Papaoa auf Tahiti 

am 14. Suli 1819. Am 13. Mai desjelben Jahres waren dajelbft die erjten ge= 

fhriebenen Gefege in feierlicher Vollsverfammlung angenommen und ausgerufe 

worden. Erjt im Mai 1822 erhielt die Inſel Huahine auf gleihe Weife ihr erftes 

Geſetzbuch. Dro war auf diefen Infeln der Gott des Kriegs, dem menjchliche Opfer 
geſchlachtet wurden. 


omares hohe Wittib iſt erichienen 
Auf Huahin’, ein königlicher Gaſt, 
Und Bol und Fürſten eifern, ihr zu dienen; 

Sie ſtrömen her aus allen Tälern fait, 

5 Tahitis Herrin huldigend, und bringen 
Zu ihren Füßen der Gejchente Laſt. 

63 bilden ihren Hofjtaat und umringen 
Sie ihrer Wannen viele, was erſann 
Die Königin, willfährig zu vollbringen. 

10 Don diejen einer fam, der Zimmermann: 
„gum Bau des Schiffes fehlt ein ftarfer Baum; 
Erhabne Herrin, weije den ung an!“ 

Drauf fie: „Dort jeht in jenes Hages Raum 
Den Brotfruchtbaum die volle Krone wiegen, 

15 Den fällt, den beſſern findet ihr doch kaum!“ 

Die Art ward angelegt und mußte fiegen, 

Der Stamm ward fortgeichafft; der Eigner fand 
Am Abend, al3 er fam, die Aite liegen. 
Er war ein armer Wann von niederm Stand, 
20 Ein rechtlicher, er nannte fich Tahute; 
Die Miſſionare haben ihn gekannt. 

Er foricht umher und fragt mit trüben Mute: 
„Ihr lieben Nachbarn, jagt mir, was ihr wißt: 
er hat gefrevelt hier am fremden Gute?“ 

35 Wie er es hört, die Ungebühr ermißt, 
Die ihn von der Gewaltigen gejcheben, 
Dem Manne, der aus niederm Stand nur it, 





318 Gesichte: Sonette und Lerzinen. 

Beichließt er, vor den Nichter gleich zu gehen: 
„Es famen auf, ſeit Chriſti Wort eriholl, 
Geſetze; ſoll die Willkür fortbeſtehen?“ 

Ori, der Richter, hört ihn kummervoll 
Und ſendet alſobald den Boten hin, 

Der vor Gericht die Fürſtin laden ſoll. — 

Sri, der Richter, Ipricht durch mich: „Sch bin, 
Der morgen wird am Quell das Buch entfalten; 
Dich Lad’ ich dort in Ehrfurcht, Königin.‘ 

Und wie des Morgens erjte Stimmen Hallten, 
Die Dämmrung mit der Yinjternis noch vang, 
Und das Gebirg begann jich zu gejtalten, 

Im fühlen Seewind noch die Palme ſchwang 
Ihr luft'ges Haupt, und nun aus dunkler Flut 
Der Siegesichild der Sonne flammend Tprang: 

Da ſaß Dri zu des Geſetzes Hut 
Am Duell des Hügel3 mit dem Buche jchon, 
Worauf des Unterdrüdten Hoffnung ruht; 

Schon drängte fich zu einer weiten Kon’ 

Um ihn das Bolt, es ſaß zu jeiner Rechten 
Bereit3 die Fürjtin auf erhabnem Thron, 

Und eine Schar von Höflingen und Knechten 
Umlagerte die Herrin; noch verlor 
Sich in den Haufen, dem e3 galt zu rechten. 

Der Richter rief und hielt da3 Buch empor: 


„Hier gilt das Recht; wer Klagen darf, der klage!“ — 


Da trat Tahute aus dem Volk hervor: 
„Es jtand ein Brotfruchtbaum in meinem Hage, 


Der fieben Mond’ im Jahr mich nebjt den Meinen 


Ernährt' und Schirm ung gab am heißen Tage. 


„Ich Hatte jelbjt mein Haus mir unter jeinen 
Weit ausgelpannten Aſten auferbaut 
Und durfte wohlgemut mich glücklich meinen. 


30 


35 


40 


45 


50 


60 


69 


80 


85 


90 


Ein Gerichtätag auf Huahine. 319 





„Bli Hin! von diefem Abhang überjchaut 
Dein Bli dort unten das bewohnte Tal; 
Siehjt du die Stüße noch, der ich vertraut? 


„Dort ragt mein nadte® Dach im Sonnenjtrahl, 
Dabei ein leerer Raum, — die weite Wunde, 
Die Lücke, — ſieh! das 1jt des Frevels Mal. 


„Denn gejtern fam ich Heim zur Abenditunde, — 
Verwaiſet und verwüſtet war der Dit, 
Sch forſchte Händeringend nach der Kunde; 


„Zerhauen lagen rings die Ajte dort, 
Der Wurzelſtock verweinte jeinen Saft, 
Allein der Stamm, der mächt'ge Stamm, war fort, 


„Sie jagen aus: Dies Unheil hat geichafft 
Tahitis Königin, ihr Wille war es, 
Durch ihrer Mannen übermüt’ge Kraft. 


„Ich weiß nicht, ob fie Faliches oder Wahres 
Berichten; laß fie reden, warn ich jchweige; 
Don ihnen und der Königin erfahr’ es! 


„Ich aber frage nun, indem ich zeige, 
Bekräftigend, ich ſei befugt zu fragen, 
Hier meines abgehaunen Baumes Zweige: 


„Was gilt nun das Gejeß, von dem fie jagen, 
Es jet erdacht zu unjerm Schu und Frommen, 
Die üpp’ge Macht der Willkür zu zerichlagen? 


„Ans it das Licht der heitern Luft verglommen, — 
Ihr Taget ja, daß ihr an Chrijtum glaubt! — 
Und joll die Zeit des Blutes wiederfommen ? 


„Nehm' auch mein Leben, wer mein Gut mir vaubt; 
Und mög’ ich Liegen auf Oros Altar, 
Wie blutig einjt jchon meines Vaters Haupt! 
„Als feine Tempel ftanden, ja, da war 
Die volle freud’ge Kraft noch unbezwungen, 
Die wogend Krieg und ſüße Luft gebar. 


320 Gedichte: Sonette und Terzinen. 





„Ward in der Männerjchlacht der Speer geſchwungen, 
Galt doch das Leben nur dem Dienst der Luft, 95 
Und nur das Lied der Freude ward gejungen. 


„Nun ſchlägt der Sünder an die hohle Bruft; 
Geſang und Waffenſchall find gleich verhallt; 
Der Stille Sabbat jammert dem Berluft. 


„sch Telber bin nun worden ſchwach und alt, 100 
Und wieder zweifelnd frag’ ich das Gericht: 
Gilt euer Recht? gilt wieder die Gewalt?“ 


Sr ſchwieg. Darauf Ori: „Der Kläger Tpricht, 
Du habeſt, Herrin, feinen Baum gefällt; 
Sit jolches wahr?‘ Und fie: „Sch leugn' es nicht.” — 105 


„Dir jet die eine Frage noch geftellt: 
Halt du gewußt, daß wir Gejeße Haben, 
Und nicht der Eigenmacht gehört die Welt? 


„Seichriebene Geſetze, die uns gaben, 
Nachdem wir jelbjt darüber uns vereint, 110 
Die jo nächſt Gott find über uns erhaben?“ — 


„Ich wußt' es — ja! doch Hab’ ich auch gemeint, 
Den gottbejtellten Herrichern jei verblieben 
Die Macht, die ſelbſt ihr zu verkennen ſcheint.“ — 
„Hier ift das Buch; wo jteht darin gejchrieben, 
Den Herrſchern vorbehalten ſei die Macht, 
Zu halten und zu brechen nach) Belieben 
Sie ſchwieg, den ſtolzen Blick verhült in Nacht. 
Den ihre Diener hatten holen müſſen, 
Ein Beutel Piajter ward vor fie gebracht; 
Sie winkte herriich, zu des Klägers Füßen 
Die königliche Spende zu verjtreuen, 
Und dachte, jo für ihren Fehl zu büßen. 
‚Nicht alſo!“ Hub der Richter an von neuen; 
„Grit Sprich: war recht die Tat, die du begangen, 
Und jcheinejt jeßt, o Herrin, zu bereuen?“ 





130 


135 


140 


5 


10 


Ein Gerichtstag auf Huahine. — Der Stein der Mutter ꝛc. 321 
Sie jagte: „Nein! — ich habe mich vergangen.“ 
Ihr Antlitz überflog ein roter Schein, 
Und Tränen jtürzten über ihre Wangen. 


Der Richter ſprach: „Der Kläger darf allein 
Den Preis bejtimmen dem Geſetze nad). 
Tritt vor und fodre du, jo joll es jein!“ 


Zahute trat zum andern vor und ſprach: 
„Ich Habe, was ich nur gewollt, erreicht; 
Gebüßet hat ihr Mund, was fie verbrad). 


„Behalte, Herrin, deine Piaſter; Leicht 
Und mütterlih ernähret mich die Erde, 
Den nicht der Zorn ob Unbill mehr bejchleicht.‘ 


Darauf Ori: „Shr hört, daß der Beſchwerde 
Entſagt Hat, der die Klage hier erhoben, 
Und fürder Rechtens nichts begehret werde. 
Ihr mögt in Frieden gehn und Chriſtum loben!“ 


— 
AP 


Der Stein der Mutter oder der Gunhiba- Andianerin. 


(Humboldt: „Voyage aux regions equinoxiales.“ 
Liv. 7, Ch. 22, Ed. 8, V. 7, p. 286.) 


Mm’ dureh die Eb’nen in der heißen Zone 
In ihrem jtoßgen Laufe ſich gejellen 
Der Drinofo und der Amazone, 
Und wann zur Regenzeit die Ströme jchiwellen, 
Unwirtbar, ungugänglich, wunderbar, 
Der Urwald fich erhebet aus den Wellen; 
Da herrſcht im Wald der graufe Jaguar, 
Das Krokodil auf überfloſſ'ner Flur, 
Den Tag verdunfelt der Moskitos Schar. 
Der Menſch exjteht, verjchwindet ohne Spur, 
Ein armer unbedachter Gajt der reichen, 
Der riejenhaft unbändigen Natur. 
Chamiffo. I. 2i 


322 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


63 pflanzt der Miffionar des Heiles Zeichen 
An Fluſſesufern weit hinauf, wovor 
Der Wildnis freie Söhne fern entmweichen.! 


Am Atabapos-Ufer ragt empor 
Ein Stein, der Stein der Mutter, wohlbefannt 
Dem Schiffer, der den Ort zur Raſt erfor. 


So ward er unjerm Humboldt auch genannt, 
Als diejen Strom der Wildnis er befahren, 
Don Wiſſensdurſt und Tatenluſt entbrannt. 


„Der Stein der Mutter? Laſſet mich erfahren, 
Was redet diejer Stein mit ſtummem Munde? 
Was ſoll für ein Gedächtnis er bewahren?“ ° 


Es jchwiegen die Gefährten in der Runde. 
Erſt jpäter, zu San Carlos angekommen, 
Gab ihm ein Miſſionar die graufge Kunde: 
„Einſt ward von San Ternando unternommen 
Ein Zug, um Seelen für den heil'gen Glauben 
Und Stlaven, die uns dienen, zu befommen. 
„Des heil’gen Ordens Sabungen erlauben, 
Gewaltiam zu der Völker Heil zu Ichalten, 
Und Heiden galt’3 am Guaviar zu rauben. 
„Es ward, wo Rauch vom Ufer jtieg, gehalten; 
Im Boote blieb, ein Betender, der Vater 
Und ließ die rauhe Kraft der Seinen walten. 
„Sie überfielen, ohne Schuß und Kater, 
Ein wehrlos Weib; mit feiner Söhne Macht 
Verfolgte wohl den Jaguar der Vater, — 





1 Der Schauplat dieſes Gedichts ift das vielen Überfhwemmungen ausgefegte 
Gebiet zwifchen bem Oberlauf des Drinofo und bem oberen Rio Negro, bem großen 
Nebenfluß des Amazonenftroms. San Fernando (8.28) liegt an der Stelle des 
Drinofo, wo ber Atabapo (B. 16) und der Guaviar (8.33) in den Orinoko fließen. 
Der Steindber Mutter, jpanifd) „la Piedra de la madre“, liegt an der Einmün— 
dungsitelle ded Guafacavi in den Atabapo. Noch jüdlicher liegt San Carlos am 
Rio Negro (2.26). An San Fernando und San Carlos fanden ficd Mifftons- 
ftattonen fpanifcher Sefuiten. Weiter ſüdlich liegt bad Dorf Javita (2. 79) am 
Fluß Temi in der Nähe des oberen Nio Negro. 


15 


20 


25 


30 





or 


EEE Ai er Zn iin in u el SAU. ge 


nn 0 ME 


oO 


ot 


or 


Der Stein der Mutter ober der Guahiba-Indianerin. 323 


„An Chriſten hatte nicht der Tor gedacht. 
Und die Guahiba- Mutter ward gebunden 
Mit zwei unmünd’gen Kindern eingebracht; 


„Sich wehrend, hätte fie den Tod gefunden, 
Sie war umringt, ihr blieb zur Flucht niht Raum; 
Leicht ward fie, ob verzweifelnd, überwunden. 


„Es war wie dieje jchmerzenreich wohl faum 
Noch eine der Gefangnen, unverwandt 
Rückſchauend nach der heim'ſchen Wälder Saum. 


„Entfremdet ihrer Heimat, unbekannt 
Zu San Fernando, faum erlöjt der Bande, 
Hat ſich die Rajende zur Flucht gewandt. 


„Den Fluß durchſchwimmend, nad) dem Vaterlande 
Entführen wollte ſie die Kleinen beiden; 
Sie ward verfolgt, erreicht am andern Strande. 


„Drob mußte harte Züchtigung fie Leiden; 
Noch blut’gen Leibes hat zum andernmal 
Berjucht fie, zu entkommen zu den Heiden, 


„Und härter traf fie noch der Geikel Qual; 
Und abermals verfuchet ward die Tat; 
Nur Freiheit oder Tod war ihre Wahl. 


„Da ſchien dem Miſſionar der beſte Rat, 
Von ihren Kindern weit fie zu entfernen, 
Mo nimmer ihr der Hoffnung Schimmer naht. 


„Sie ſollt' ihr 203 am Rio Negro lernen. 
Sie lag gefefjelt, und es glitt das Boot 
Den Fluß hinauf, fie ſpähte nach den Sternen. 


„Sie fühlte nicht die eigne bittre Not, 
Sie fühlte Mutterliebe, Kern des Lebens 
Und Feſſeln, und fie wünjchte fich den Tod. 


70 „Die Feſſeln ſprengt fie plößlich kräft'gen Strebens, 


Da, wo den Stein am Ufer man entdedt, 
Und wirft fich in den Strom und ſchwimmt, — vergebens! 
21° 


324 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„Ste ward verfolgt, ergriffen, hingeſtreckt 
Auf jenen Stein, geheißen nach der Armen, 
Mit deren Schmerzensblut er ward befleckt. 5 


„Sie ward gepeitjcht, zerfleiichet ohn' Erbarmen, 
Geworfen in das Boot zur weitern Fahrt 
Mit auf dem Rüden feitgejchnürten Armen. 


„Javita ward erreicht auf jolche Akt; 
Die wund, gebunden, kaum fich konnte regen, 80 
Ward dort zu Nacht im Fremdenhaus verwahrt. 


„Es war zur Regenzeit, das wollt erwägen, 
Zur Regenzeit, wo jelbjit der fühnjte Mann 
Nicht wagt den nächſten Gang auf Landeswegen; 
„Wo uferlos die Flüſſe waldhinan 85 
Geſtiegen ind; der Wald, der Nahrung zollte, 
Dem Hunger faum Ameiſen bieten fann; 
„Wo, wer in Urwaldsdidicht dringen wollte, 
Und wird’ er vor dem Jaguar nicht bleich, 
Und wenn ihm durchzubrechen glücden jollte, 90 
„Verſenkt fih fände in ein Schattenreich, 
Vom jternenlojen Himmel ganz verlaflen, 
Dem führerlos verivrten Blinden gleich. 
„Bas nicht der keckſte Jäger ohn' Erblafjen 
Nur denfen mag, das hat dag Weib vollbracht; 
An dreißig Meilen mag die Strede faſſen. 
„Wie ſich die Angeſchloſſ'ne frei gemacht, 
Das bleibt in tiefem Dunfel noch verborgen, 
Sie aber war verſchwunden in der Nacht; 
„Zu San Ternando fand der vierte Morgen 
Sie händeringend um das Haus beflifien, 
Das ihre Kinder barg und ihre Sorgen.” — 
„O ſagt's, o jprecht es aus, daß wir es wiſſen, 
Daß nicht der Mutterliebe Heldin wieder 
Unmenſchlich ihren Kindern ward entriſſen!“ 





nn — ——— — — —— — — —— — 


Der Stein der Mutter 2c. — Verbrennung der türkiſchen Flotte zu Tſchesme. 325 


Er aber ſchwieg und jchlug die Augen nieder 
Und ſchien in ſich zu beten. Red’ hinfort 
Dem ihn Befragenden zu jtehn, vermied er. 
Doch was verichwiegen blieb dem Humboldt dort, 
110 Aus feinem Buche jchaurig widerhallt; 
Es ward berichtet ihm an andrem Dit. 


Sie Haben fern nach Oſten mit Gewalt 
Sie weggeführt, die Möglichkeit zu mindern, 
Daß fie erreiche, was ihr alles galt. 
115 Sie haben fie getrennt don ihren Kindern! 
Sie fonnten, Hoffnung fürder noch zu hegen, 
Sie konnten nicht zu jterben fie verhindern. 


Und wie verzieifelnd die Indianer pflegen, 
Sie war nicht, jeit der legten Hoffnung Stunde, 
120 Daß Nahrung ein fie nehme, zu bewegen. 
So ließ fte fich verhungern! Dieje Kunde 
Zu der Guahiba und der Chrijten Bildnis 
Erzählet jener Stein mit jtummem Munde 
Am Atabapos-Ufer in der Wildnis. 


— — 
Verbrennung der fürkiſchen Flotte zu Tſchesme.! 
el willig euch nicht taub und blind, es rächt ich! 
Der mächt’ge Sultan? mußt’ es jelbjt erfahren 
Eintaujend fiebenhundert achtundjechzig, 
Es machten ihm in dem und nächiten Jahren 
5 Viel Ungemach die undbeichnittnen Hunde, 
Die gar im Krieg ihm überlegen waren. 
Und jeinem Diwan gab geheime Kunde 
Ein andrer Hund, Gelandter einer Macht, 
Die eben mit den Ruſſen nicht im Bunde: 


I Hafen an der Weftfüjte Kleinafiend, Chios gegenüber. Hier gewann bie 
ruffiihe Flotte am 5. Juli 1770 einen Sieg über die türfifche, die jich darauf ins 
Innere der Bucht von Tſchesme zurüdzog; dort wurde fie zwei Tage jpäter von 
den Rufjen verbrannt. — ?* Muftafa III. (1757— 74). 


326 - Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Es jei ihm fichern Ortes Hinterbracht, 
Mit welchen Plänen fi die Zarin! brüfte, 
Zur Tat gediehen, ed man fich’3 gedacht; 
Wie in den Oſtſeehäfen ſie ſich rüjte, 
Und eine Flotte, bald zur Fahrt bereit, 
Bedrohe fernher Griechenlandes Küſte. 
Darauf die Herrn: Er mög' in künft'ger Zeit 
Sich hüten, mit ſo unverſchämter Lüge 
Das Ohr zu kränken Seiner Herrlichkeit. 
Der hohe Sultan wiſſe zur Genüge: 
Von dorther ſei ins Mittelländ'ſche Meer 
Kein Waſſerweg, der eine Flotte trüge. 


Drauf er entrüſtet ob der neuen Mär: 
„Seht ſcharf die beigelegten Karten an! 
Es iſt nicht, wie ihr ſagt, ihr irret ſehr. 

„Die Nordſee, der Kanal, der Ozean 
Eröffnen um Europa weit im Kreiſe 
Zu Herkuls Säulen eine feuchte Bahn.“ 

Drauf ſie: „Du nennſt uns fabelhafterweiſe 
Den Herkules, den gibt es nicht; vor allen 
Iſt aber unſer Herrſcher groß und weiſe. 

„Drum hüte dich, beſchwerlich ihm zu fallen! 
Du biſt gewarnt; er läßt, ungläub'ger Chriſt, 
Sich ſolche Neuerungen nicht gefallen.“ 

Es blieb bei dem Beſcheid. Ihr aber wißt, 
Was doch ſich bald zu Tſchesme zugetragen, 
Wo jener Stolz zu Rauch geworden iſt. 

Ihr wißt es ja, und wollt uns dennoch ſagen: 
„Die Nacht iſt gut, worin wir euch umſchlungen, 
Es darf und wird euch keine Sonne tagen; 

Wir halten nichts von euren Neuerungen.“ 


Zr 





I Katharina II. 


10 


20 


25 





10 


15 


20 


25 


Berbrennung der türfifhen Flotte zu Tihesme. — Der Szeller Landtag. 397 





Der Sekler Landtag, 


7° will mich für das Faktum nicht verbürgen, 
Sch trag’ es vor, wie ich’3 gejchrieben fand, 
Schlagt die Geſchichte nach von Siebenbürgen! 


Als einjt der Sichel reif der Weizen jtand 
Sin der Geſpanſchaft Szekll, da fam ein Regen, 
Wovor des Landmanns ſchönſte Hoffnung jchwand. 


Es wollte nicht der böſe Welt fich legen, 
Es regnete der Regen alle Tage, 
Und auf dem Feld verdarb der Gottesjegen. 


Gehört des Volkes laut erhobne Klage, 
Gefiel es, einen Landtag auszujchreiben, 
Um Rat zu halten über dieſe Plage. 


Die Landesboten Tiefen nicht fich treiben, 
Sie famen gern, entſchloſſen, gut zu tagen 
Und Satzungen und Bräuchen treu zu bleiben. 


Da wurde denn nach bräuchlichen Gelagen 
Der Tag eröffnet, und mit Ernjt und Kraft 
Der Tal vom Landesmarſchall vorgetragen: 


„Und nun, Hochmögende Genofjenichaft, 
Weiß einer Rat? Wer tft es, der zur Stunde 
Die Ernte troden in die Scheune ſchafft?“ 


Es Herrichte tiefes Schweigen in der Runde, 
Doch nahm zulekt das Wort ein würd’ger. Greife 
Und jprach gewichtig mit beredtem Munde: 


„Der Tal iſt ernjt, mit nichten wär’ es weiſe, 
Mit übereiltem Ratſchluß einzugreifen; 
Wir handeln nicht unüberlegterweife. 


—— 


1 Ungarifh Szék, Kleine Stadt, ehemals Sig de3 Komitats Geſpanſchaft) 
Doboka in Siebenbürgen, jet zum ungarijchen Komitat Szolnok-Doboka gehörig. 
Der Voltsftamm der im öftlihen und nordöftlihen Siebenbürgen angefiedelten 
Szefler ift magyariſcher Abkunft und Hatte bis 1848 eine eigene Verfafjung mit 
vielen Sonderrechten. 


328 Gendichte: Sonette und Terzinen. 


„Drum iſt mein Antrag, ohne weit zu jchweifen: 
Laßt uns auf nächſten Samstag uns vertagen! 
Die Zeit bringt Rat, fie wird die Sache reifen.” 30 
Beichlojfen ward, worauf er angetragen. 
Die Friſt verſtrich bei ew'gen Regenjchauern, 
Hinbrüten drauf und bräuchlichen Gelagen; 
Der Samstag fam und Jah diefelden Mauern 
Umfaſſen noch de3 Landes Rat und Hort, 35 
Und ſah den leid’gen Regen ewig dauern. 
Der Landesmarichall ſprach ein ernſtes Wort: 
„Hochmögende, nun tut nach eurer Pflicht! 
Ihr jeht, der Regen regnet ewig fort. 
„Wer iſt e3, der das Wort der Weisheit jpricht? 40 
Mer bringt in unſres Sinnes düftre Nacht 
Das lang’ erwartete, begehrte Licht? 
„Sur Tat! hr habt erwogen und bedacht. 
Ich wende mich zuerjt an diejen Alten, 
Des Scharfſinn einmal Thon uns Trojt gebradt: . # 
„Ehrwürd'ger Greis, laß deine Weisheit walten!“ 
Der ftand und ſprach: „Sch bin ein alter Mann, 
Ich will euch meinen Nat nicht vorenthalten. 
„Bir jehn es vierzehn Tage noch mit an, 
Und hat der Negen dann nicht aufgehört, 50 
Gut! regn' es denn, jo lang’ e8 will und kann!“ 
Er ſchwieg, es ſchwiegen, die das Wort gehört, 
Koch eine Weile jtaunend, dann evicholl 
Des Beifalls Jubelnachklang ungejtört. 
Einſtimmig, heißt es in dem Protokoll, | 55 
Einſtimmig ward der Ratſchluß angenommen, 
Der nun Geſetzeskraft behalten Joll. — - 
Sp Schloß ein Szekler Landtag, der zum Frommen 


Des Landes Weiſeres vielleicht geraten 
Als mancher, deſſen Preis auf ung gelommen. 60 








10 


15 


20 


Der Szefler Landtag. — Tue es Lieber nicht! 329 


Sowie die Väter, ſtolz auf ihre Taten, 
Nach bräuchlichen Gelagen heimgekehrt, 
Erſchien die Sonne, trodneten die Saaten 
Und ſchwankten heim die Wagen goldbejchwert. 


— — 


Tuer es lieber nicht! 
(Juftus Möjer, „Patriotifhe Phantafien”, II. Berlin 1776. ©. 492, 497.) 


u Holten bei der Burg vor langen Sahren, 
Erzählt uns Möſer, gab eg in der Schar 
Der Bauern, die dem Gutsherrn pflichtig waren, 


Ein jchlichtes, Frommes, altes Ehepaar, 
Des Tochter Sylifa ganz unbeitritten 
Die ſchönſte aller Bauerdirnen war. 


Sie ward vom jungen Burgheren wohlgelitten, 
Der einſt im Feld, wo er allein fie fand, 
Es wagte, fie um einen Kuß zu bitten. 


Sie hätt’3 getan wohl ohne Widerjtand; 
Jedoch die Mutter, die da außer Sicht 
Im nächjten Garten hinterm Zaune jtand, 


Die Mutter rief ihr zu: „Tu's Lieber nicht, 
Tu's nicht, mein Kind! da3 will ſich nicht gehören, 
Draus möchte Leicht erwachjen eine Pflicht.‘ 


Der Junker tät auf Ritterehre ſchwören, 
Er werde jo geheim den Kuß ihr geben, 
Daß feine Zeugen jeien zu verhören; 


Doh konnt’ er nicht dev Mutter Zweifel heben. 
Sie ſprach: „Das jei dem Manne vorbehalten, 
Und wie der Alte meint, jo jei es eben.‘ 


Und jelb’gen Abends, als am Herd die Alten 
Einmütig jagen, trug die Mutter por 
Ausführlich, wie die Sache fih verhalten. 


330 . Gedichte: Sonette und Terzinen. 





Es kratzte fich der Alte hinterm Ohr, 25 
Erwägend, wie man dies und jenes Deute, 
Bis er, ein kluger Mann, den Rat erfor: 


„Nicht mich betrifft's allein, nein, alle Leute, 

Die zu der Burg gehören; füht einmal 

Der Junker unſrer Mädchen eine Heute, 30 
„Sp hat er's morgen nach belieb’ger Wahl 
- Und füßt, die er nur will; da muß ich fragen 

Die andern pflicht’gen Bauern allzumal.“ 


Und alſo tat er; faum begann’3 zu tagen, 
Hat er den Hör'gen, ohn' es zu verfchieben, 35 
Die ganze Sache haarklein vorgetragen, 


Und bei dem Ausſpruch iſt es dann geblieben: 
„Das darf von Eurem Mädchen nicht geichehen, 
Und wird’ auch ſelb'ger Kuß nicht angejchrieben. 

„Denn fehlen Zeugen, die die Tat gejehen, 40 
So haben die Juriſten noch den Eid 
Erfunden, um damit zu Leib’ zu gehen. 

„Den Kuß, den ſie empfangen, kann die Maid 
Doch nicht abſchwören, und jo heißt es: Gelt! 
Der Herr iſt im Beſitz! — da3 wird ung leid; 

Beſitz entjcheidet alles in der Welt.‘ 


age von Alerandern. 
Nah dem Talmud. 
n alten Büchern jtöbr ich gar zu gern, 
Die neuen munden jelten meinem Schnabel, 
Ich bin ſchon alt, das Neue liegt mir fern. 


Und manche Sage fteigt und manche Fabel 
Verjüngt hervor aus längſt vergefj’nem Staube, 
Don Ahasverus!, von dem Bau zu Babel, 


I Bol. das Gedicht „Der neue Ahasverus”, oben, ©. 175. 





10 


20 


25 


30 


35 


Tue e3 lieber nit! — Sage von Alerandern. 331 


Bon Weibertreu’, verklärt in Witwenhaubel, 
Von Joſua? und dann von Mlerandern, 

Den ich vor allen unerichöpflich glaube; 

Der jtrahlt, ein heller Stern, vor allen andern; 
Wer gründlich weiß die Mitwelt zu verheeren, 
Muß unvergeßlich zu der Nachwelt wandern. 

Wer reiht uns peitjcht, den lernen wir verehren; 
Doch plaudert da3 Geheimnis mir nicht aus 
Und forgt nur, eure Gläſer jchnell zu leeren! 


Ich geb’ euch alten Wein beim jchmalen Schmaus 
Und tiſch' euch auf veraltete Geichichten, 

Ihr jeid in eines alten Schwätzers Haus. 

Sch will von Mlerandern euch berichten, 

Was ih im Talmud aufgezeichnet fand; 
Ich wage nicht ein Wort Hinzuzudichten. 

Dur eine Wüſte zog der Held, ins Land, 
Das drüben lag, Verwültung zu verbreiten, 
Da fand er ſich an eines Fluſſes Rand; 

Und er gebot, zu rajten, von dem weiten 
Fahrvollen Marſch erſchöpft, und hieß jein Mahl 
Am ſchönbegrünten Uferfaum bereiten. 

So jtill und friedlich blühend war das Tal, 
©o Klar der Strom, der Schatten von den Bäumen 
So duftig fühl im heißen Mittagsſtrahl. 

Doch mochte nur der Ungejtüme träumen 
Geraubte Kronen und vergoſſ'nes Blut, 
Verdroſſen, hier die Stunde zu verjäumen. 

Er ſtieg, des Durſtes fieberhafte Glut 
Zu löfchen, zu dem Waſſerſpiegel nieder, 

Er ſchöpfte, trank die fühle, klare Flut; 

Und mie er die getrunfen, fühlt’ ex wieder 

So wunderbar verjüngt den Buſen ſchwellen, 


So hohe Kraft durchſtrömen jeine Glieder. 


I Bol. das Gedicht „Ein Lied von der Weibertreue”, oben, ©. 158. — ? Bol. 


bas Gedicht „Joſua“, oben, ©. 79. 


332 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Da wußt' er nun, daß diejes Fluſſes Wellen 
Gntjtrömten einem jegensreichen Lande, 
Und Fried und Glück umblühten feine Quellen. 


„Dahin, dahin mit Schwert und TFeuerbrande! 
Sie müſſen dort auch unfern Mut erfahren 
Und fojten unjern Stahl und unjre Bande!“ 


Da hieß er ſchnell fich rüften feine Scharen 
Und drang den Strom hinauf beharrlich vor, 
Das Land zu juchen, wo die Quellen waren. 


Und mancher Tapfre ſchon den Mut verlor, — 
Vor drang der fühne Held doch unverdroſſen; 
Co fam er vor de Paradiejes Tor. 


Feſt aber war das hohe Tor verichlofien, 
Davor ein Wächter, der gebot ihm Halt 
Mit Bligesihwert und Donnerkeilsgeſchoſſen: 


„Zurück! zurück! was frommte dir Gewalt? 
Ein Mächtigerer hat mich hier beitellt, 
Dez Herrn und heilig iſt der Aufenthalt.‘ 

Und er darauf: „Sch bin der Herr der Welt, 
Bin Alexander.“ Jener drauf: „Vergebens! 

Du haſt dein Urteil ſelber dir gefällt. 

„Dem Sel'gen öffnet ſich das Tor des Lebens, 
Der ſelber ſich beherrſcht, nicht deinesgleichen, 
Dem ſtolzen Sohn des blutig wirren Strebens.“ 

Drauf Alexander: „Muß vor dir ich weichen, 
Nachdem ich dieſe Stufen ſchon betrat, 

Gib, daß ich ſie betreten, mir ein Zeichen, 

„Ein Malz; die Welt erfahre, was ich tat, 
Erfahre, daß dem Tor des Paradiejes 
Der König Alexander fich genaht!“ 

Darauf der Wächter: „Sei's gewährt! nimm diejes! 
Wie töricht deiner Weiſen Weisheit war, 

Dein blöder Wahn, dein Frevelmut bewies es. 


40 


45 


50 


55 


60 


7 


o 


Sage von Alerandern. 333 


‚Nimm, was e8 dir zujchreien möge, wahr 
Und lern’ es, Unbejonnener, erwägen! 
75 Es hegt der Weisheit Lehren wunderbar. 


‚Nimm Hin, und Weisheit leuchte deinen Wegen!“ 
Er nahm’3 und ging. Ihr aber, Freunde, trinkt! 
Verträumt mir nicht den lieben Gottezjegen! 


O, lernt beherzt die Freude, die euch winkt, 
90 Mit raſcher Luft, wie fich's gebührt, erfaffen 
Und leert den Becher, wann ex perlend blinkt! 


Ich hätt' es, glaubt's mir, weislich unterlafjen, 
Wär' jener ich geweſen, meine Tage, 
Die kurzgezählten, blutig zu verpraſſen. 


35 Sch lieb' und lobe mir, daß ich's euch ſage, 
Die Ruh', den Schatten und ein liebend Weib, 
Die mich verſchont mit leid'ger Liebesklage. 


Die Kinder ſind mein liebſter Zeitvertreib, 
Nur halt' ich, die unbändig bengelhaft 
90 Unmäßig jchreien, ferne mir vom Leib. 


Sch Lieb’ und lobe mir die Wifjenichaft 
Und dann die heitre Kunjt, der Mufen Gabe, 
Und wadrer Freunde Kunſtgenoſſenſchaft. 


Sch Liebe, hört ihr, was ich alles habe; 
9 Doch Lieb’ ich auch, was ich entbehren muß, 
Den Wein, woran mein Menfchenherz fich abe. 


Ich trinke meiſt nur Waſſer aus dem Fluß 
Und kann's mit beſtem Willen doch nicht loben; 
Getrunken hab' ich's mir zum Überdruß. 


100 Hat Menzel! mir den Lorbeerkranz gewoben, 
Und Hat auch Deutſchland Einſpruch nicht getan, 
Ich wollt, ich hätte beſſern Lohn erhoben. 





1 Der Stuttgarter Literaturpapft Wolfgang Menzel hatte ſich in feinem 
Bude „Die deutjche Literatur” (1828) jehr anerfennend über Chamifjo geäußert. 


334 - Gebidte: Sonette und Terzinen. 


Den Lorbeer biet’ ich meiner Frauen an, 
Sie braucht ihn in der Wirtſchaft nicht, und ehrlich 
Geſtanden, iſt's damit ein leerer Wahn. 105 
Der Lorbeer und der Hochmut find gefährlich; 
Bon Deutihland möcht’ ich Lieber mir bedingen 
Ein Fäßchen Wein, ich mein’, ein Fäßchen jährlich. 
Und welche Lieder wollt’ ich da nicht fingen! 
Um ....9D Bopoil! wo bin ich Hingeraten! 110 
Mer kann auf die verlorne Spur mid) bringen? 


Sch ſprach von Alexanders Heldentaten. 
Berufen hatt’ er um fich jeine Weiſen, 
Das Gaſtgeſchenk des Wächter? zu beraten. 


Er ließ zornfunkelnd rings die Augen freifen: 115 
„Gebührte mir, dem Helden, jolcher Hohn! 
Was joll der morſche Knochen mir beweijen?!“ 
Ein Weiler ſprach: „Du jollit, o Philipps Sohn, 
Auch diefen morſchen Knochen nicht verachten! 
Weißt du zu fragen, gibt er Antwort jchon.“ 120 


Und auf Geheiß des weiſen Meiſters brachten 
Sie eine Wage, deren eine Schale 
Mit Gold und aber Gold er hieß befrachten. 


Und in die andre legt’ er bloß das kahle, 
Das kleine Knochenſtück, und, wunderſam! 125 
Die ſenkte ſchnell und mächtig fich zu Tale. 


Und Mlerander, den es wundernahm, 
Ließ Gold noch zu dem Golde häufen, ohne 
Daß jelb’ge Schale nur ins Schwanten Fam. 
Da warf er Zepter noch hinein und Krone; 130 
Die überfüllte Schale ſchwankte nicht, 
Und ihn befiel Entjeßen auf dem Throne: — 
„Was ſtört Hier unerhört das Gleichgewicht? 
Was kann die Kräfte der Natur eriweden?!‘“ 
Der Meifter drauf: „Das iſt der Erde Pflicht!“ 135 





I Der homerifhe Ausbrud des Staunend & römoı. 





140 


145 


150 


155 


160 


165 


Sage von Aleranbern. 335 


Mit mwen’ger Erde ließ er da verdeden 
Das Knochenſtück, das wurde leicht jofort, 
Und nieder ſank das goldbejchwerte Becken. 


Der König jtaunend: „Sprih, was wurde dort 
Sn Wundern und in Rätjeln ausgejprochen?” 
Bor trat der Meifter und ergriff das Wort: 


„Sin Schädel, gleich dem deinen, ward zerbrochen, 
Und Höhlung eines Auges, jo wie deines, 
Mar einit in jeinen Tagen diefer Knochen. 


„&3 iſt des Menſchen Auge nur ein Kleines, 

Das doch in ungemeſſ'ner Gier umfaßt, 

Mas blinkt und gleiket in der Welt de3 Scheine2. 
„Es fodert Gold und aber Gold zur Maft 

Und wird es ungejättiget verichlingen, 

Und Kron’ und Zepter zu des Goldes Lat. 


„Da kann's der dunklen Erde nur gelingen, 
Genugzutun der Ungenügjamfeit; 
Der Gierblid wird aus ihr hervor nicht bringen. 


„Gehalt und Wert des Lebens und der Zeit 
Erwäge du, dem dieje Lehren galten! 
Du ſiehſt das Ziel der Unerfättlichkeit.‘ 


Des Fürſten Stirne lag in düſtern Falten, 
Bald jcehüttelt’ er jein Haupt und jprang empor 
Und rief, daß rings die Klüfte widerhallten: 


„Auf, auf! zum Aufbruch! tragt die Zeichen vor! 


Ja, flüchtig iſt die Zeit und kurz das Leben; 
Schmach treffe den, der Trägheit ſich erkor je 
Und zu den Wolfen jah man fi) erheben 


Den Sand der Wüſte, und vom Hufichlag fühlte 
Man rings den aufgewühlten Grund erbeben. 


So 30g der Held nach Indien hin und wühlte 


Großartig tief und tiefer fich in Blut, 
Bis ihm den Übermut die Exde fühlte, 


336 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Ich habe jelbjt vergeſſen, wo er ruht; 
63 famen Würmer, ſich an ihm zu leben, 170 
Und andre taten’3 am gevaubten Gut. 


Ihr göttlich Recht ſei's, Frevel zu verleken, 
Schrien überlaut, die angeflammert lagen 
Auf feines Purpurs abgeriſſ'nen Fetzen. 


Es ging ſchon damals wie in unſern Tagen; 175 
Sch Habe zum Hiftorifer mich nicht 
Bedungen, laßt e8 euch von andern jagen! 
ein her! friſch eingeſchenkt! Was Teufel ficht 
Uns Alexander an! So lakt erichallen 
Ein altes gutes Lied, ein Volksgedicht! 180 
Das Neue will nur feiten mix gefallen. 


ar — 


Rede des alten Briegers Bunte- Schlange im Rate der 
Greek - Indianer. 


m Nat der Greef- Indianer ward der Bote 
Des Präſidenten Jackſon! vorgelafjen; 
Der Brief, den er verlas, enthielt Gebote. 


Die Landmark, welche diezjeit3 fie bejaken 
Des Miſſiſſippi, ſollten gleich jie räumen, 5 
Und der Entiehluß blieb ihnen nur zu fallen. 


Und Starr und ſtumm beharrten, wie in Träumen, 
Die Oberhäupter; man vernahm noch lange 
Das Säufeln nur des Windes in den Bäumen. 
Da bob ſich aus der Männer erjtem ange 10 
Der Hundertjähr’ge, waffenmüde Greis, 
Ein Nejtor feines Volks, der Bunte Schlange. 





I Andrew Jadjon war von 1828—87 Präfident der Vereinigten Staaten; 
als Anführer eines Milizheeres hatte er jhon 1813 einen Einfall ver Creek-Indianer 
in Georgia und Alabama zurüdgemiefen. 


15 


25 


30 


35 


40 


45 


Rebe des alten Kriegerd Bunte- Schlange im Rate der Creek-Indianer. 337 








Er trat, gejtüßt von zweien, in den Kreis; 
Und wie gejpannt ein jeder auf ihn jah, 
Begann er jeine Rede klug und wei): 


„Ihr, meine Brüder, höret jelber ja, 
Was unſers großen Bater3 Meinung tt; 
Er Tiebet jeine roten Kinder ja. 


„Sr iſt jeher gut, — ihr, meine Brüder, wißt, 
Sch Habe früher oft fein Wort vernommen — 
Er iſt jehr gut, wohl ohne Falſch und Lift. 


„Wie exit vom großen Waller er gekommen, 
Er war jehr klein, er trug ein rotes Kleid, 
Es mocht ihm länger nicht im Boote frommen. 


„Der weiße Mann tat unfern Brüdern leid; 
Er bat um Land, fein Teuer anzuzünden, 
Und wartete geruhig auf Bejcheid. 


„Gr wollte, gab er vor, uns bloß verkünden, 
Was vieles wir zu unjerm Glüde brauchten; 
Wir aber wollten uns mit ihm verbünden. 


„Am Ufer des Savannahſtromes rauchten 
Die Muskotſhihs mit ihm die Friedenzpfeife; 
Dort war’3, wo in den Wind den Rauch fie hauchten. 


„Sie machten ihm ein Teuer an; die Gteife 
Der Glieder wärmte da der weiße Mann; 
Sie gaben Land ihn, wo nach Wild er jchtweife. 


„Er war jehr Klein; es feindeten ihn an 
Des Südens blalje Männer, die um Beute 
Sich wider ihn erhoben; Krieg begann. 
„Für ihn ergriffen unsre jungen Leute 
Den Tomahawk und gaben nicht ihn bloß 
Dem Mefjer zu jfalpieren, das er jcheute. 
„Und wie darauf er, feines Feindes los, 
Sich unter und erwärmet und genährt, 
Da wuchs er auf, da ward er riejengroß; 
Chamifjo. I. 22 


338 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„2a hat jein Tritt das Jagdrevier verheert, 
Da hat er überholt die ferniten Horden 
Und Wal und Flur und See für fich begehrt. 


„Nach Süden reichte jeine Hand und Norden 
Und feine Stirne zu des Mondes Schil; 50 
Da iſt er unjer großer Vater worden. 


„Zu feinen roten Kindern ſprach er mild, — 
Er liebt fie ja: ‚Geht weiter, weiter! hört! 
Sonjt tret’ ih euch jo wie im Forſt das Wild,‘ 


„Er ſtieß fie mit dem Fuße, unerhört! 55 
Den Dconih hinüber; dann zertrat er 
Die Gräber ihrer Bäter ungejtört. 


„Und immer war er unjer großer Bater 
Und liebte jeine roten Kinder fehr, 
Und ihnen wiederum zu willen tat er: 60 


„Ihr jeid mir noch zu nah, entfernt euch mehr!‘ 
Eins war, wie jeßt, ichon damals zu bedauern: 
Es fanden Schlechte ſich in unjerm Heer. 


„Die ſah man um der Väter Gräber trauern 
Und finjtern Sinnes jchleichen in die Runde 65 
Und um den Fußtritt unſers Vaters lauern. 


„Und ihre Zähne biſſen eine Wunde 
In ſeinen Fuß; da liebt' er uns nicht minder, 
Doch ward er böſ' auf uns zur ſelben Stunde. 


„Da trieb er mit Kanonen uns geſchwinder, 70 
Weil träg’ er und und ungelehrig fand; 
Und dennoch liebt’ ex jeine roten Kinder. 


„Wie unfern großen Vater ich verjtand, 

Am Tag er zu uns jprad im Zorne jein: 

‚Geht weiter abwärts, dort ift ſchönes Land!‘ 75 
„So ſprach er auch: ‚Dies Land ſoll euer fein, 

Solang’ ihm nicht des Himmel Tau gebricht, 

Solang’ e3 grünet in der Sonne Schein!‘ 


Nede des alten Kriegers Bunte-Schlange 2c. — Das Mordta. 339 


„Gehöret hab’ ich, was er heute jpricht; 
80 Er ipriht: ‚Das Land, das ihr zur Zeit bewohnet, 
Nicht euer it es, es gehört euch nicht. 
„Durchkreuzt den Miſſiſſippi, drüben lohnet 
Das Wild dem Jäger, euch gehört der Dit; 
Wohnt dort, jolang’ die Sonn’ am Himmel thronet!‘ 
5 „Wird unjer großer Vater nicht auch dort 
Zu ung hinüberreichen? — Wein, er jagt, 
Er werde nicht, und Wahrheit ijt jein Wort. — 
„Ihr Brüder, unjer großer Vater Elagt, 
Daß unsre jchlechten Menſchen ihn betrühbt, 
90 Mit Mord an einen Weißen fich gewagt. — 
„Bo find die roten Kinder, die er liebt? 
So zahlreich) wie im Walde jonjt das Laub, 
Wie kommt's, daß ihre Zahl wie Laub zerjtiebt? 
„ch! jeinen weißen Kriegern find zum Raub 
95 Gar viele worden, viele find erichlagen, 
Und viele trat ſein Fuß jelbjt in den Staub. 
Sch Habe, Brüder, weiter nichts zu jagen.‘ 
Das Rlordtal. 


(Zwifchen New = Drleans und Savanıah.) 
(„North-american Review.‘ 


3 überfiel mich Müden einjt die Nacht 
In eines Tales wildbewachſ'nem Grunde, 
Des Namen auszujprechen ſchaudern macht. 
Die Bäume nannten ihn, die in der Runde 
5 Mit Ihmwarzgebrannten Stämmen mich umjtanden: 
„Das Mordtal!” ſprach ich aus mit leiſem Munde. 
An diefem Ort des Schredens übertwanden, 
Sfalpierten die Indianer dreißig Weiße, 
Die jchlafend fie in ihrem Lager fanden; 
10 Sie ſchonten nicht der Kinder, nicht der Greiſe. 
Und einfam übernachten jollt’ ih Hier 
In diefer Bäume jchauerlichem Kreife. 


ID 
Io) 
% 





340 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Ich Torgte für mein Pferd, mein müdes Tier, 
Sodann, des Herde Flamme zu erwecken, 
Und jtillte des gereizten Hunger? Gier; 


Und wollte ruhbedürftig Hin mich jtreden, 
Als neben mir im dürren Laub erflang 
Ein Raſſeln, wohl geeignet, mich zu ſchrecken. 


Die Klapperichlange war’3; vom Lager ſprang 
Ich auf und ſah bei meines Teuer Lichte 
Den Wurm, den zu vertilgen mir gelang. 


Sc wiederum, wie es geſchehen, richte 
Zum Schlaf mich ein, do mir im Sinne lagen 
Der giftge Wurm und jene Mordgejchichte. 


Wie da mir war, ich weiß es nicht zu jagen; 
Ich Tag, ob jchlaflos, doch wie fchlafestrunten, 
Sah über mir die Wipfel windgejchlagen, 


Und Jah, wie märchenhafte Lichte Funken, 
Leuchtfäfer ſchwirren durch des Laubes Zelt, 
Da rings die Landſchaft tief in Nacht verjunfen. 


Vom Fladern nur der Flamme jchivach erhellt, 
Erihimmerten die Stämme mit den Zeichen; 
Ich fühlte vecht allein mich in der Welt. 


So wie der Mond vom Horizont die bleichen, 
Unfichern Strahlen durch die Räume warf, 
Begann dor ihm die Yinjterni3 zu weichen; 

Und wie er ftieg am Himmel, Jah ich jcharf 
Und jchärfer aus dem Dunkel treten, was 
Ich fonder Schauer nimmer denken darf. 


Gelehnt an einen jener Stämme ſaß 
Ein Sohn der Wildnis, welcher regungslos 
Mich wunderſamen, ſtarren Blickes maß; 
Nicht jung von Jahren, kräftig, ſchön und groß, 
An Schmuck und Waffen einem Fürſten gleich, 
Das Feuerrohr, den Bogen in dem Schoß; 


15 


20 


25 


30 


40 


45 





50 


50 


60 


65 


70 


75 


Das Mortal. 341 


Im ſchön geſtickten Gürtel zierlich reich 
Den Tomahawk nebjt Meſſer zu jkalpieren, 
Gleich einem Schemen aus dem Schattenreich. 


Ich ſah ihn an, jo wie er mich, mit ftieren 
Und unvderwandten Augen; jah ihn lange 
Und jchien mir alle Tatkvaft zu verlieren, 


Dem Vogel zu vergleichen, den die Schlange 
Mit zauberkräfttgem Blick in Bande jchlug, 
Gelähmt von der Gedanken wirren Drange. 


Da dacht’ ich wieder: dieſes Bild iſt Trug, 
Ein Angjtgeipenjt nur ohne Weſenheit, 
Das dein erhibtes Hirn ins Außre trug; 


Und ſchlug die Augen zu nach langer Zeit 
Und jchlug fie wieder auf, — er war vericehtvunden, 
Sch dünkte mich von böſem Wahn befref. 


Da fiel von Müdigkeit ich überwunden 
Sn tiefen Schlaf; der Morgen graute jchon, 
Er hielt mich jeldjtvergeifen noch gebunden. 


Der Wind, der fih erhob wie Sturmes Drohn, 
Erwedte mid, — und wiederum jaß dort, 
Es war kein Wahn, der Wildnis grauj’ger Sohn, 


In gleicher Haltung und am jelben Ott, 
Noch ſtumm und jtarr, noch ohne fich zu regen, 
Den Blick auf mich geheftet fort und fort. 

Da ſprang ich auf und auf ihn zu, verwegen, 
Mit vorgehaltener Piſtol'; er jtand 
Nun auf und trat gelaſſen mir entgegen. 


Wie hart ih Mann an Mann mich vor ihm fand, 
Da traf ein Schlag mich, den er plöglich führte, — 
Entwaffnet war ich und in feiner Hand. 

Und wie fie fräftig mir die Kehle jchnürte, 

Eriprühten über mich de3 Auges Flammen, 
Die lang’ verhaltner Haß befriedigt jchürte, 


342 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Sch fühlte zu dem Tode mich verdammen, 
Vermochte nicht zu flehen um mein Leben 80 
Und ſank zerfnicdt, ein jchwaches Rohr, zufammen. 


Er aber ſchien fich jelbjt zu widerjtreben, 
Zu bändigen die rajche, wilde Wut; 
Ich ſah ihn unvermutet frei mich geben. 


Die Pfeife ſteckt' er an des Herdes Glut 85 
In Brand und reichte rauchend fie mir dar, 
Wie Triede bietend es der Wilde tut. 


Durch Tolches Pfand gefichert vor Gefahr, 
Bermocht ich nicht zu brechen noch das Schweigen, 
Der ich unfundig jeiner Sprache war. 90 


Und er auf engliſch: „Folge mir, dort fteigen 
Herauf die Wolfen vor des Sturmes Nahn; 
Zu Pferd! Sch werde meinen Weg dir zeigen.“ 


Sch ſprach — er ſchwieg und ging den Pfad voran 
Und bog zurüd das Haupt und winkte nur; 95 
Ich Jah zu Pferd und folgte feiner Bahn. 
Der Steg, durch Schluchten, welche die Natur 
Mit Waldespdicicht wuchernd überfponnen, 
Verfolgte berghinan des Wildes Spur. 
63 drang durch MWaldesnacht fein Strahl der Sonnen; 100 
Und etlend jchritt und hielt mein Pferd am Zaum 
Mein Führer ſchweigſam, jicher und befonnen. 
Sch ließ ihn jchalten, folgend wie im Traum. 
Cein Haus erjchten, dag nächſte Ziel der Reife, 
Inmitten einem lichten Waldesraum. 105 
Gr führte mich hinein, ev brachte Speife, 
Er hieß mich fißen, jorgend für den Gaft 
Auf ſchweigſam ernjte, würdevolle Weife. 
Sch aber warf den Blick mit jcheuer Haft 
Rings um mich her, und mich befiel ein Grauen 110 
Beim Anblick deſſen, was der Naum umfaßt. 











nn — — — — 


115 


120 


130 


135 


140 


Das Morbtal. 343 


Da waren prunfend ausgeſtellt zu jchauen 
Bei fünfzehn Sfalpe, blut’ges Siegesmal, ° 
Bon weißen Menſchen, Männern, Kindern, Frauen. 


Er ließ mich überzählen deren Zahl 
Und nahm fie nacheinander von der Wand 
Und ding um feinen Hals fie allzumal 


Und ſchmückte fih mit Waffen und Gewand, 
Als ſei's zum Feſtmahl oder auch zur Schlacht, 
Und Iprach jodann, mit Stolz zu mir gewandt: 


„Du biſt ein Weißer, und ich fand zu Nacht 
Dich Ichlafend; meiner Friedenspfeife Rauch 
Hat Sicherheit des Lebens dir gebracht. 


„Einſt fand ein Weißer meinen Vater auch 
Sin feinem Schlaf, — id) war noch ungeboren — 
Er ſchlug den Schlafenden nach eurem Braud); 


„Und ‚Rache‘ war, zu der ich auserkoren, 
Das erſte Wort, das ich zu lallen lernte, 
Und war der erſte Schwur, den ich geſchworen. 


„Die blut’ge Saat gedieh zu blut’ger Ernte; 
Sc hielt al3 Mann, den ich als Kind gelallt, 
Den Schwur, von dem mein Sinn fich nie entfernte; 


„Und. al3 ich noch für einen Knaben galt, 
Mit Skalpen ſchmückt' ich, jo wie dieje hier, 
Die Hütte, meiner Mutter Aufenthalt. 
„Bir hauſten im Ontario- Revier! 
Vier Kinder, die euch haſſen ich gelehrt, 
Vier Hoffnungsvolle Söhne blühten mir. 
„Die einft ich von der Jagd zurücdgetehrt, 
Da jtieß mein Fuß auf Trümmer und auf Leichen, 
Vier Leichen, von den Flammen halb verzehrt. 
„Mein jtand meine Mutter bei den Leichen, 
Vergoß unmächt’ger Tränen bittre Flut 
Und jtöhnte: ‚Rache! Rache diefen Leichen!‘ 


344 . Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„Ich habe Tränen nicht, ich habe Blut, 
Der Weiten rotes Herzensblut vergoflen 
Und Habe nicht gefühlt noch meine Wut. 


„Wo wider weiße Menſchen je beſchloſſen 
Von meinen roten Brüdern ward ein Krieg, 
Gewannen mich die Tapfern zum Genoſſen. 


„Der uns Verbündete geführt zum Sieg, 
Tekumteh, fiel in ſeines Ruhmes Prangen, 
Mit dem die Hoffnung auch zu Grabe ſtieg. 


„Da ſprach ich zu der Mutter: Ausgegangen 
Iſt unſer Stamm, wir beide ſind allein, 
Es ſoll die tiefſte Wildnis uns umfangen. 


„Bir zogen jüdlich in die Wüſtenein, 
Wo unſre Hütte wir ung hier erbaut 

. Und beigejeßt der Unſrigen Gebein. 

„Sin Weißer einit, von Haaren hoch ergraut, 
Begehrte gajtlih Schuß don unjerm Dache, 
Und wie ihn jcharf die Mutter, angejchaut, 

„Da Ichrie fie leife mir ins Ohr: ‚Exriwache! 
Der iſt es, der den Vater dir erichlagen; 
Gedenfe deines Schwures: Nache! Rahel! —- 

„Ich will, was folgt, am andern Ort dir Jagen. 
Erhebe dich, mein Gajt, und folge mir!“ 


Er ſchwieg und ging; ich folgte nur mit Zagen. 


Durch Urwalds Dickicht, undurchdringlich ſchier, 
Auf ſteilem Abhang klommen wir empor, 
Am Abſturz einer Bergſchlucht hielten wir. 


Der Blick vor uns ſich unterwärts verlor 
In nächt'ge Tiefe, kaum erſcholl das Brauſen 
Des Bergſtroms noch herauf zu unſerm Ohr. 


Da Stand der Wilde in des Sturmes Saufen 
Und warf zornfunfelmd einen Blid mir zu, — 


Zu Berge ſträubte ſich mein Haar dor Graufen. 


145 


150 


155 


160 


165 


170 





180 


185 


190 


195 


205 


210 


Das Morodtal. 345 


„Wo jenen ich geführet, jtehjt nun du!“ — 
Beginnend jo nach langem Schweigen, tat er 
Wie einer, der dem Sturm gebietet Ruh’. — 


„Er fürchtete den Tod, und winjelnd bat er 
Um Leib und Leben, doch ich jtieß ihn Fort: 
‚Den du gemordet, räch’ ich, meinen Vater! 


„Du fommft mit mir ins Land der Geifter, dort 
Erwartet meiner rühmlicher Empfang; 
Das Opfer bring’ ich, und ich halte Wort.‘ 

„Und ihn mit kräft’gen Armen faſſend, jprang 
Ich hier Hinab, in dieſes Schlundes Rachen, 
Zu jeinem und zu meinem Untergang. 

„Noch Hör’ ich jeines Körpers dumpfes Krachen, 
Der dort am jehwarzen Telfen ward zerichlagen; 
Sch jelber jollte noch dem Licht erwachen. 


Du ſiehſt den Wipfel einer Zeder ragen, 


Dort unter und aus enger Felſenſpalte; 
Dort ward ih wunderſam im Schwung getragen. 


„And wie mich janft die Zweige wiegten, jchallte 
Erfreulih meinem Ohr der dumpfe Ton, 
Der von der Felswand drüben widerhallte. 


„Da ſprach der große Geiſt zu feinem Sohn: 
‚sehr’ um, vermehre deiner Opfer Zahl; 
Es bleibet vorbehalten dir dein Lohn!‘ 


„Da tat ih, wie die Stimme mir befahl; 
Mir Half die Wurzel dort hinauf mich winden; 
Sch trage noch des Lebens Lajt und Dual.“ — 


Und ich darauf: „Du wirſt nun Ruhe finden, 

Du haft erfüllt der Rache lebte Pflicht; 

Der Mörder fiel, dich fannı fein Schwur mehr binden.” — 
„Der Mörder, ja — mein lebtes Opfer nicht.“ 

So er und jah mich jeltiam düjter an, 

Als hielt’ er über mich das DBlutgericht. — 


346 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„en jenem Tag, wo ich dem Tod entrann, 
Hat andres mir der große Geist geboten; 
Fünf Stalpe find’3, die jeither ich gewann. 


„Ich ſandte vor mir her noch fünf der Boten; 
Hab” aber nicht am Leben mehr Gefallen, 
Seit ſich die Mutter legte zu den Toten; 


„Bin mid und traurig worden, jo zu mwallen, 
Der Lebte meines Stammes und allein; 
Und heute joll mein letztes Opfer fallen. 


„Der vor'gen Nacht gedenfe, wo der Schein 
Mich. deines Feuers an dein Lager brachte! 
Da mochte dir dein Schlaf gefährlich fein! 
„Unjeliger, du jchliefit! ich aber wachte: 
Du ſchliefſt To ruhig, wie, den andern gleich, 
Sch meiner Rache dich zu opfern dachte; 
„And wie ich ſchwang den Tomahawk zum Streich 
Und aus der Scheide jcharf mein Meſſer zog, 


Da mocht ich nicht, da ward ich träg und weich; 


„Und wie mein eignev Mut mich To betrog 
Und nicht beherrjchend mehr die läſſ'gen Glieder, 
Sich von der Tat zurück mein Wille bog, 


„Da warf ich vor dem großen Geijt mich nieder, 
Der mich errettet einft aus diefem Schlunde, 
Und ich vernahm diejelbe Stimme wieder. 


„Sie gab don dem, was ich zu tun, mir. Kunde, 
Du wirst, wie ich gehorchen lernte, jehen. 
Mein letztes Opfer fällt in diefer Stunde.“ 
Er Ichwieg und wandte langjam fich zu gehen 
Und winfte mir; ich folgte finnend nad) 
Und mochte nicht der Rede Sinn verjtehen: 
Wer wird dad Opfer fein, das er verſprach? 
Bin ich das Schlachttir? — Ruhig jchritt voraus, 
Der ih in neue Richtung Bahnen brach. 


215 


230 


235 


240 


245 


250 


260 


265 


Das Morbdtal. 347 


Der Wald erdröhnte von dem Sturmgejaus, 
63 gab der Donner jchmetternd jeinen Klang, 
Sn Strömen fiel dev Negen mit Gebraus. 


Des Sturmes Stimmen übertönend, ſang 
Sin feiner Väter Sprache jonderbar 
Der Wilde tief ergreifenden Gejang. 


Da war e8 mir in meiner Seele Klar, 
Daß dieſe ſeltſam jchauerliche Weile 
Das eigne Sterbelied des Sängers war. 


Und bald erſchien — es ward mein Blut zu Eiſe, 
Und auf den Lippen mir erjtarb das Wort — 
Ein ſchlichtes Grab in Hoher Bäume Kreiſe. 


Und er zu mir: „Halt an! wir find am Ott. 

Du ſollſt nach unſern Bräuchen mich beitatten. 
63 führet dich zurüd der Fußſteig dort. 

„Hier legſt du mich zur Ruh’ nach dem Ermatten! 
Dies Grab enthält der Meinigen Gebein 
Und wird umſchwirrt von meiner Bäter Schatten.“ 

Gr ſprach's und trat in jeiner Toten Reihn, 
Beitieg den Hügel, ruhig, würdevoll, 

Sich feſtlich jelbjterfornem Tod zu weihn. 

Der innre Sturm, der ihm im Bujen jchwoll, 
Verhallte jchaurig in dem Schwanenjang, 

Der herzzerreißend jenem Mund entquoll. 

Ein Nachhall ſchien des Donner3 mächt’ger Klang, 
Des äußern Sturmes langgezognes ‚Stöhnen, 
Der Stimme, die jih feiner Bruſt entrang. 

Die Sprache bald verlafjend von den Söhnen 
Des Waldes, wand!’ er feiner Augen Licht 
Mir zu und jang in meiner Sprache Tönen: 

„Sch bin der Lebte meines Stammes, nicht 
Bon Yeindes Hand zu fallen, wird mein Los, 
Noch wie die Zeder, die vor Alter bricht. 


348 Gedichte: Sonette und Terzinen, 


„Denn jeht, ich reife mich vom Leben (03 
Und geh’ ins Land der Geijter freien Mutes, 
Von Schwächen und von Tadel bar und bloß. 


„Der Mein’gen Mörder! Räuber meines Gutes! 280 
Ihr Weißen! denen meine Rache galt, 
Genug vergoſſen Hab’ ich eures Blutes. 


‚sch bin gejättiget und müd' und alt, 

Mein Nam’ iſt am Ontario verklungen 

Und it in Waldes Widerhall verhallt. 285 
„Ich babe ſelbſt mein Sterbelied gejungen, 

Der ich der Lebte meines Stammes bin; 

Kein Lied erichallt um mich von andern Zungen. 
„Schon lange neigt hinunter ſich mein Sinn, 

Und euer, meine Väter, bin ich wert; — 290 

Des Donnerd Stimme ruft, — ic komme Hin!’ — 


Ich aber jtand von fern und abgefehrt, 
Verhüllt das Haupt in meines Mantel3 Falten, 
Solang’ fein leiſes Röcheln noch gewährt. 


Und wie die legten Töne nun verhallten 295 
Und ſtill es ward, da mußt’ ich mich enthüllen 
Und treten zu der Ruheſtatt des Alten, 

Um jeinen legten Willen zu erfüllen. 


—— 


Don Juanito Margues Verdugo de los Leganes, 
ſpaniſcher Grande.“ 
ie noch in jenem Stolz Napoleon! 
Den König Joſeph zu erhalten vang 
Auf Spanien? unerhört geraubtem Thron 


* Das Spanische Wort „Verdugo“ bedeutet „Henker. 


1 Nachdem Napoleon I. ven fjpanifchen Königsthron feinem Bruder Yofeph 
gegeben hatte, erhoben fich die Spanier, von den Engländern unterjtügt, im Jahre 
1809. Die hier aus biefem Kriege erzählte Gefhichte beruht vielleicht auf einem 
wirklichen Borfommnis, der Name des Ortes (Menda) und ber ber ſpaniſchen Fa— 
milie find jedoch verändert worden. Der Offizier wird ald Victor Marchand, der 
General mit ven Chiffern ©..t..r bezeichnet. 


ot 


10 


15 


20 


25 


35 


Don Juanito Marques Verdugo de los Leganes, jpanifher Grande. 








Und durch die Lande unter hartem Zwang 
Ein meuchleriicher Volkskrieg ſich ergoß, 
Der unabläſſig ſchnell ſein Heer verſchlang, 


War einſt ein Feſt, ein Ball auf Mendas Schloß. 


Marques de los Leganes! heut ein Ball, 
Und Spaniens Feind, du Grande, dein Genoß? 


Bei rauſchender Muſik und Zymbelnſchall 
Beengten Viktor dieſes Schloſſes Mauern; 
Der Boden wankt in Spanien überall. 


Ihn ließ ein Blick von Klara tief erſchauern, 
Und um ſich ſchauend in der Gäſte Reihen, 
Sah er Verrat aus aller Augen lauern. 


Den Saal verlaſſend, ſchrie er auf im Freien: 
„O Klara, Klara! ſoll auch uns das Herz 
Verbluten in dem Kampfe der Parteien?“ 


Von der Terraſſe Rand ſah niederwärts 
Er düſtern Mutes in das tiefe Tal; 
Gedanken waren fern, er war nur Schmerz. 


Die Felſenwand, die Gärten allzumal, 
Die Stadt, das Meer, darüber ausgeſpannt, 
Erſchimmerten im klaren Mondesſtrahl. 


Da weckt ihn eine Stimme: „Kommandant, 
Ich ſuche dich; befiehl, die Zeit iſt teuer, 
Bevor uns die Empörung übermannt. 
„Es iſt im Rabenneſte nicht geheuer, 
Sie feiern trotzig die Johannisnacht, 
Und wider Ordnung brennen ihre Teuer. 
„Sieh dort, was fie jo übermütig macht!“ 
Er wies hinaus aufs hohe Meer und jchwieg: 
Her jegelten die Schiffe, Englands Macht. 
Und ziichend von des Schloifes Zinnen ftieg 
Ein Teuerball, der rief mit argem Munde: 
„uf, Spanier, auf! es gilt Vertilgungskrieg!“ 


349 


350 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Sin Gegenruf erſcholl aus ZTalesgrunde, 


Und plötzlich ſtiegen wirbelnd Rauch und Flammen 


Von allen Bergesgipfeln in der Runde. 


Es fiel ein Schuß: „Gotte möge ſie verdammen!“ 
Schrie taumelnd auf und ſterbend der Soldat; 
Das Blei ſaß in der Bruſt, er ſank zuſammen. 


Die Stadt iſt jetzt ein Schauplatz grauſer Tat; 
Viktor, der Pflicht gehorchend, die ihn band, 
Will hin im Flug, es bleibt der einz'ge Rat. 


Da hält ihn ſanften Druckes Klaras Hand: 
„Entfleuch! die beiden Brüder folgen mir; 
Dort hält ein Roß am Fuß der Felſenwand.“ 
Sie ſtößt ihn fort, er hört ſie rufen: „Hier! 
Hier, Juanito, Philipp, hier! ihm nach!“ 
Die Stieg' hinab entfleucht der Offizier. 
Die Kugeln ſauſten, während ſie noch ſprach, 
Und trieben ſeine Flucht ihn zu beflügeln; 
Ihm folgten auf den Ferſen Tod und Schmach. 


Er endlich ſitzt zu Pferd feſt in den Bügeln, 
Dem Hauptquartier zujagend ſonder Raſt 
Mit blut'gen Sporen und verhängten Zügeln. 


So kommt er vor den General mit Haſt: 
„Ich bringe dir mein Haupt, mein Haupt allein, 
Sonſt keines, das du mir vertrauet haſt.“ — 

„Mag minder ſchuld vielleicht als Unglück ſein; 
Dem Kaiſer bleibt das Urteil vorbehalten, 
Der kann erſchießen laſſen und verzeihn. 

„Nun iſt's an mir, die Rache zu verwalten.“ 
Man ſah, wie erſt der andre Morgen graute, 
Vor Menda die Kolonnen ſich entfalten. 

Die jüngſt aufs Meer ſo übermütig ſchaute, 
Die Stadt war eigner Ohnmacht überlaſſen, 
Und nicht erfolgt die Landung, der ſie traute. 


40 


45 


50 


55 


60 


65 


75 


80 


85 


90 


95 


Don Juanito Marqued Verbugo be los Leganes, jpanifcher Grande. 


Die tags zuvor jo aufgeregten Maſſen 
Der ftolgen Bürger, jtarr vor Schreden, ließen 
Den Rächer einziehn durch die jtillen Gafjen; 


Und Blut begann jogleih um Blut zu fließen; 
Es boten ſelbſt die Schuldigen jich dar. 
Zweihundert Tieß jofort ex niederichießen. 


In jenem Tanzſaal auf dem Schloſſe war 
Sein Hauptquartier; umringt von jeinem Stabe, 
Befahl von dort er Blut’ges jeiner Schar. 


Was ſchwer Leganes auch verjchuldet habe, 
Er ſelbſt ein Greis, fein Weib, die Kinder alle, 
Zwei Männer, zwo Sungfrauen und ein Knabe, 


Ein Jammerbild des Stolzes nach dem Falle, 
Gefnebelt find fie mit unwürd’gen Striden, 
Gefeifelt an die Säulen dort der Halle; 


Mit ihnen acht Bediente, die exjticen 
Sn tiefiter Bruft der eignen Klage Laut, 
Wie voller Ehrfurcht fie auf jene bliden. 


Und blut’gen Werkes Borbereitung jchaut 
Man auf der Schloßterrafje mancherlei, 
Da wird aus Balken ein Gerüft erbaut; 


Und der's vollitreden wird, der jteht dabei, 
Er jcheint fich jelber jchaudernd zu verachten, 
Daß aufgeipart er jo Verruchtem ei. 


In jtummer Haltung jtehn umher die Wachten, 
Und Hundert Bürger werden hergetrieben, 
Berurteilt, jolhes Schaufpiel zu betrachten. 

Hülftätig it ein Franke nur geblieben, 

Der bleich und zitternd zu den Opfern fchleicht, 
Verachtung erntend für jein treue Lieben. 

Nuft Klara nicht: „Viktor, du haſt's erreicht!” 
Doch nein, fie ſpricht mit ihm; fie flüftern leife, 
Indem ſie bald errötet, bald erbleicht. 


352 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Pit Ingrimm jchaut auf fie der ſtolze Greije; 
63 trübt und ſenkt fich ihrer Augen Licht, 
Sie winft dem Freund auf würdevofle Weiſe. 105 


Der tritt nun vor den General und Tpricht: 
„Ich bin, der deine Gnade hier begehrt" — 
„Du Gnade” — „Sa! die lebte traur’ge Pflicht: 


„Laß richten die Leganes mit dem Schwert, 
Nicht aber mit dem Strange!” — „Zugeſtanden!“ — 110 
„Der Beiltand eines Priejters... 2?" — „Wird gewährt.” — 


„Befreien laſſe jie von ihren Banden! 
Sein Wort, mein Wort wird Sicherheit dir geben.“ — 
„Bit Bürge du, jo bin ich einverſtanden.“ — 


Noch wagt ein Onadenruf fich zu erheben: 115 
„Sein ganzes Gut zu jühnen, was geichah! 
Schenk' einem jeiner Söhne nur dag Leben!" — 


„Des Königs it das Gut; was will er da 
Noch Feilihen? Alle jterben, alle. Nein!’ — 
„Und auch. das Kind, der zarte Knabe!’ — „Sal 120 
„Bir find in Spanien. Wein her! jag’ ich, Wein! 
Ihr Herin, dem Katfer! Laßt die Becher klingen!“ — 
„Und joll das Harte Wort dein letztes ſein?“ — 
„Das its, und... nein! Mag Gnade fich erringen 
Und Leib und Gut erivirfen, der es tagt, 125 
Den Blutdienft an den andern zu dvollbringen! 


„Das it mein letztes Wort. So wie er's ſagt, 
Da jträubet manchem fich da3 Haar empor, 
Der doch Für tapfer gilt und unverzagt. 
Man jchweigt; er winkt gebietend, und Viktor 130 
Verläßt den Saal; er tritt, und möchte weinen, 
Zu den Gefangnen in der Halle vor. 


Man ſchaut auf ihn, und mancher dürfte meinen, 
Daß nicht unmenschlichen Befehl er brächte; 
Entfeifelt wird Leganes und die Seinen. 135 








140 


145 


155 


160 


165 


Don Auanito Marques Berdugo de los Leganes, jpanifcher Grande. 





Gr jelber löſet zitternd das Geflechte, 
Das Klaras zarte Hände hält gebunden; 
Man übergibt dem Henker dort die Knechte. 


„Du Armer, jage nun mir unumwunden“, 
So fragt die hohe, Herrliche Geſtalt, 
„Hat deine Stimme fein Gehör gefunden?“ 


Und er, fich neigend, faum vernehmlich lallt 
Ihr Worte zu, die jchauerlich empören 
Cein tiefjtes Herz, es überläuft ihn kalt. 


Sie aber jcheint ihm ruhig zuzuhören. 
Zum Bater fie: „Laß deinen Sohn und Erben 
Dir Unterwerfung und Gehorfam ſchwören! 


„Gebiete du! ihn trifft es, zu erwerben, 
Was du begehrt, durch Taten... . jchauderhaft! 
Wir haben’3 gut, wir haben nur zu jterben. 


„O Juanito! du verjüngter Schaft 
Der Lilien, die Leganes' Schild bejchatten, 
Steig’ auf in unjrer Väter Heldenkraft!“ 


Rings um den hochergrauten. Vater Hatten 
Sich ahndungsvoll gedrängt des Haufes Glieder, 
Gejtüßt die Mutter an die Brujt des Gatten; 


Ihr Aug’ erhellte jich, fie hoffte wieder; 
Da ſprach die Maid das Gräßliche zu Ende; 
Sie ſank entjeßt, erſchöpft, ohnmächtig nieder. 


Der Bater rief: „O Juanito, wende 
Die Schmach von und, die Ärger als der Tod!” 
Er jehüttelte da3 Haupt und rang die Hände. 
„Bit du mein Blut, erfülle mein Gebot! 
Du biſt des Hauſes Stamm.” Er aber jchrie: 
„Ber färbt in Batersblut die Hände rot?“ 
Und Klara warf vor ihm fich auf die Knie: 
„O Bruder, wenn du mich zu lieben meinft, 
Berühre jener Schreeliche mich nie! 


Chamiſſo. 1. 253 


ei) 


354 . Gedichte: Sonette und Terzinen. 





„Du biſt ja, der zu mir gejprochen einft: 
Bevor du angehören jolljt dem Franken, 
Bor dem du nicht zurüczubeben jcheinit, 


„DBertilget den unwürdigen Gedanken 
Mein eigner Dolch in deiner falichen Bruft; 
Kun laß den Tod mich deiner Liebe danken!“ 


Und Bhilipp ſprach: „Du armer Bruder mußt, 
Du mußt des Haujes Schild empor noch tragen; 
Daß ſonſt er untergeht, iſt div bewußt.“ 


Die jüngre Tochter und die Mutter lagen 
Sic) weinend in den Armen; zürnend jchalt 
Der Knabe jeiner Schweiter weibiſch Klagen. 


Die Stimm’ erhob der Alte mit Gewalt: 
„Dar der von jpan’ichem Adel, der allein 
Das eigne Leid erwog, da's Taten galt? 


„Du warjt mein Sohn nicht, darfjt es nimmer fein, 
Und dich verleugn’ ich in der Sterbeſtunde!“ 
Die Mutter ftöhnte: „Still! er willigt ein.“ 

Ein Priejter zeigte ſich im Hintergrunde; 

Sie führten ihn zu Juanito gleich, 
Und Klara gab ihm jchnell von allem Kunde. 

Wie ſonſt dem Sünder zu den. Todezjtreich, 
Sprah Mut ihm ein zu leben jener Bote: 
Er jagte: „Ja!“ und wurde leichenbleich. 

Die Friſt verjtrih, die Trommel rief und drohte 
Von der Zerralje her; fie traten vor 
Auf ihren Ruf, dem Tode zu Gebote. 

Sie hielten Schritt und blidten fejt empor, 
Nicht Stoß und Haltung Hatten fie verlaflen; 
Da war nur einer, der die Kraft verlor, 


Der jollte leben! den nur mußte fafjen 
Der Beichtiger und führen. Dort bereit 


Der Blod, das Schwert, ein Anbli zum Erblaſſen. 


175 


180 


185 


190 


195 


200 








210 


220 


225 


230 


Don Juanito Marques Verdugo de los Leganes, ſpaniſcher Grande. 355 








Da jtand auch einer, nicht vom Blocke weit, 
Den, zu volljtreden hier die blut’ge Tat, 
Das fchauerliche Machtgebot befreit. 


Und zu dem blutgewohnten Manne trat 
Nun Suanito; Leije flüjternd, leiſe 
Sprach der ihm zu und gab ihm feinen Rat. 


Und fieh, die Kinder knieten ſchon im Kreife, 
Zunächſt der Mutter jtand der Kapelları, 
Und stolze Blife warf umher der Greiſe. 


Zum Bruder Mariquita nun begann: 
„Ich bin nicht jtark, mein Bruder, wie ich follte; 
Erbarme dich und fange mit mir an!“ 


Es pfiff das Schwert; getrennt vom Rumpfe rollte 
Ihr lock'ges Haupt, der Mutterbruſt entquoll 
Ein Schrei, den ſie umſonſt erſticken wollte. 


Kam Raphael, der fragte liebevoll, 
Wie er das Haar ſich aus dem Nacken ſrich: 
„Bin ich ſo recht, du Guter, wie ich ſoll?“ 


Da fiel der Streich, und Klara ſtellte ſich; 
Wie er ins Antlitz ſah der Bleichen, Schönen: 
„Du weineſt!“ ſprach er. Sie: „Ich denk' an dich!“ 


Er ſchwang das Schwert, da hörte man ertönen: 
„Halt! Gnade! Gnade!” — Wird der Ruf auch wahr? 
Wird er den Mut der Sterbenden verhöhnen? — 


Hervor trat Biktor aus der Franken Schar 
Und ftellte bleich jich, bebend und verjtört 
Dem Auge des geliebten Mädchens dar: 
„Du, deren Herz, ich weiß es, mir gehört, 
Sei mein, mein Weib! das eine Wort, o, jag’ eg! 
Die Macht, die dich verfolgt, hat aufgehört! 
„Das Leben nur, o ſüße Maid! ertrag’ es 
An meinem Arm, an meiner treuen Bruft, 
Zu weinen ob den Greueln dieſes Tages! 
23* 


356 Gebichte: Sonette und Terzinen. 


Vertraue mir und trage den Berluft! 235 
Dir biet' ich zum Beſchützer mich und Xeiter, 
Sch träume jelbit von feiner ſüßern Luft.“ 


Sie jah ihn hellen Blides an und heiter 
Und wandte ſich, nicht ſchwankend ob der Wahl, 
Dem Blode zu, und: „Suanito, weiter!‘ 240 


Da fiel ihr Haupt, und jprang ein roter Strahl, 
Das Herzensblut, dem mocht’ er nicht entweichen; 
Den Wanfenden verbarg der Freunde Zahl. 


Und Philipp nahm nach weggeräumten Leichen 
Den Platz der Schweiter ein und jtarb zuleßt, 245 
An Stärke nur den andern zu vergleichen. 


Bor trat Leganes jelbjt, der Vater, jekt, 
Um jich betrachtend jeiner Kinder Blut, 
Und Juanito jprang zurüd entjeßt. 


Doch er: „Ermanne dich und falle Mut! 250 
Hört's, Spanier, hört's! und jagt’3 dem Baterlande! 
Er it der Sohn, auf dem mein Segen ruht. 


„Marques de [03 Leganes, jpan’icher Grande, 
Triff fiher nur! du bijt des Tadels bar; 
Dem Teinde deines Landes bleibt die Schande!“ 255 


Wohl traf ex gut; ein Röcheln jonderbar 
Hat aus der atemlojen Bruft bezeugt, 
Daß feine letzte Kraft geſchwunden war. 


Wie nun Die Mutter vortrat, tief gebeugt, 
Doch würdevoll, er fie ins Auge faßte, 260 
Da jchrie er laut: „Sie hat mich ja gejäugt!“ 


Der Schrei erweckte Nachhall, es erblaßte 
Im weiten Kreiſe jegliches Geficht, 
Das Mahl veritummte, wo der Franke praßte. 
Sie ſprach ihm zu, ex aber hörte nicht; 265 
Da jchritt fie zu der Bruftwehr und vollſtreckte, 
Hinab fich jtürzend, ſelbſt das Blutgericht. 





— — — —— 


Don Juanito Marques Verdugo de los Leganes ꝛe. — Das Vermächtnis. 





ei —— Dort der Blaſſe weckte 
Wohl deine Neugier; deine Augen ſahn es, 
270 Wie Gramesnaht die hagern Züge dedkte. 
Die Turchen find die Spuren nicht des Zahnes 
Der allgewalt’gen Zeit, das jtehjt du ſchon; 
Verdugo heißt der Mann, de [08 Leganes. 
Bewundert und bedauert und geflohn, 
275 So ſchleicht und wird er jchleichen allerwegen, 
Bis ihm geboren wird der erjte Sohn; 
Dann wird er zu den Übrigen fich Legen. 


Das Vermüchtnis. 
ch bin jehon alt, es mahnt der Zeiten Lauf 
Mich oft an längſt geichehene Gejchichten, 
Und die erzähl ich, horcht auch niemand auf. 
So weiß ich aus der Chronik und Gedichten, 
5 Wie bei der Veit eg in Ferrara war, 
Und will davon nur einen Zug berichten. 
Es ſcheute wohl fich jeder vor Gefahr, 
Den pejterfrantten Vater floh der Sohn, 
Die Mutter ſelbſt das Kind, das fie gebar. 
10 Es war zu heißer Sommerzeit; geflohn 
Von Freunden und Verwandten, weltverlaffen, 
Lag Baſſo della PBenna jterbend jchon. 
Sein Tejtament, da3 wollt’ ex jchreiben laſſen; 
Es ließ ſich endlich ein Notar beivegen, 
15 Das Dokument rechtskräftig zu verfaſſen. 
Und er: „Ih will e8 ihnen auferlegen, 
Sch meine meinen Kindern, meinen Erben, 
Anſtändig meine Fliegen zu verpflegen.‘ 
Und der Notar: „Ihr lieget ſchon im Sterben; 


rd 


Anjtatt um Euer Heil Euch zu bewerben!” 


0°. Wie jchiet ſich's, Baſſo, daß Ihr Scherze treibt, 


— 


358 Gedichte: Sonette und Terzinen. 





Drauf diejer: „Schreibt, wie ich Euch jage, jchreibt! 
Ihr ſeht mich ja verlaifen von den Meinen, 
Da noch dies Tliegenvolt mir treu verbleibt. 

„Nur treu aus Gigennuß, jo mögt Ihr meinen; 
Ich wills nicht unterfuchen, will allein 
63 willen, daß die Treu'ſten ſie mir jcheinen; 

„Bei Gott! ih muß und will erfenntlich fein. 
Drum jchreibt es nieder, jo wie ich Euch fage! 
Denn mwohlerwogen iſt der Wille mein: 

„Alljährig jollen fie am Jakobstage 
Ausjegen einen Scheffel reifer Feigen 
Den liegen allzumal zum Yeltgelage. 

„And follten ſie darin Fich läſſig zeigen, 

Und unterblieb’ es nur ein einzig Mal, 
Fällt Hab und Gut dem Armenhaus zu eigen.“ 

Und noch geſchieht e& jo, wie er befahl, 

Und am bejtimmten Tage zugemeſſen 
Wird noch den Fliegen ihr bejtimmtes Mahl. 
Der Fliegen hat fein Erbe je vergejjen. 
Der Geift der Mutter. 
ie Mufe führt euch in das Schloß des Grafen; 
Sie hat den alten Wappenichild am Tor 
Verhangen, und e& joll jein Name jchlafen. 

Seht dort ihn jelbjt, der bleich und hager vor 
Dem Bergamente zähneknirichend lacht 
Und zitternd, wie es raufchet, Fährt empor. 

Schaut nicht hinab in feine Buſens Nacht, 

Fragt nicht nach feinem Unmut, feinem Groll, 
Und nicht, was vor ihm jelbjt ihn jchaudern macht! 

Blickt ab von ihm; jeht ſchweigſam, ahndungsvoll 
Die Dienerichaft den einz’gen Sohn erwarten, 
Dem jeßt der Mutter Erbe werden joll! 


25 


40 


o 


10 





15 


25 


30 


35 .» 


40 


Das Vermächtnis. — Der Geijt ber Mutter. 359 





Gr ward in Schul und Welt und Krieg vom harten 
Geſchick verjtoßen, jeit die Augen ſchloß, 
Die liebend pflegte jeiner Kindheit Garten. 


Nun kehrt er heim in jeines Vaters Schloß; 
Er wieget jich in zaubervollen Träumen 
Und jpornt vor Ungeduld fein feurig Roß. 


Und dort beginnt inmitten grünen Räumen 
Das Dorf mit voten Dächern zu erjcheinen, 
Die Kirche dort, und unter jenen Bäumen....! 


Er hat den Baum gepflanzt, der jet mit jeinen 
Meitausgeipannten Aiten ſchirmt das Grab 
Der Mutter, wo er beten muß und weinen: 


„Bernimm du mich, die mir das Leben gab, 
Du, deren Bild ich jtet3 in mir getragen; 
Nicht wende jet die Augen von mir ab! 


„Der fremdgewordnen Heimat werd’ ich Elagen, 
Daß meine Träume noch nur Träume find; 
Du ſollſt um mich die Geilterarme Tchlagen.” — 


Und nun zu Roß! zum Schloß hinan geſchwind! 
Der Bach, — die Felſenwand, — die alten Führen, 
Ihr dunkles Haupt bewegt der Abendivind; 


Sie jheinen feines Herzens Gruß zu hören 
Und zu erwidern; Fremde find allein 
Die Menſchen, die die Täuſchung ihm zerjtören. 


Und hier, um diejen Felfen muß es jein, — 
Es wendet ſich der Weg, und vor ihm prangen 
Des Schloſſes Zinnen rot im Abendichein; 


Da rollen Tränen über jeine Wangen; 
Cr jtürmt den Hof hinan, und Diener fommen 
Neugierig fremd herbei, ihn zu empfangen. 


Nach jeinem Bater fragt er, jucht ihn frommen 
Und liebedurſt'gen Blides; Hat er, ach! 
Bon jeines Sohnes Heimkehr nichts vernommen? 


360 - Gedichte: Sonette und Terzinen. 





Dem äger folgt er durch die Halle nach; 
Der trägt Gepäd und Mantel und Bijtolen 
Und führt ihn ein ins innere Gemad). 

Da tritt vor ihn ein Wann mit jtieren, hohlen, 
Entjternten Augen, deſſen düſtre alten 
Die Schatten jeines Innern wiederholen. 

Der jpricht: „Die Kunde hab’ ich jchon erhalten; 
Ihr fommt, der Mutter Erbe zu begehren, 
Ich kann Euch nicht dag Eure vorenthalten.” 


Da fann er fih des Schauderns nicht eriwehren, 
Es ſinken jchlaff die ausgejtredten Arme, 


Und jtumm und jtarr verjchludt er jeine Zähren. 


An dieſes Herz doch jchlagen muß der Arme, 
Nicht dringt hinein die Stimme der Natur; 
Da jchweigt er, überwältigt von dem Harme. 


Er jtammelt: „Schlaf!" Da winkt der Alte nur; 
Er folgt dem Jäger bei der Kerze Schimmer 
Zum andern Flügel über Gang und Flur. 


Da öffnet ſich vor ihm, er fieht es immer, 
Gr hat es mit dem Herzen jchon erkannt, 
Da3 don der Mutter ſonſt bewohnte Zimmer. 


Da jteht nun der Verwaiſte wie gebannt, 
Betrachtet jinnend die gemalten Wände, 
Bon bittrer Luft und Schmerzen übermannt. 


Sie lag auf diefem Lager, als die Hände 
Sie jegnend legte auf fein lockig Haupt; 
Dann ſank fie hin, ihr Leben war zu Ende, 
Hier ward er ſeines Teuerſten beraubt, 
Hier hat der Ernit des Lebens ihn erfaßt 
Und feiner Kindheit üpp’ges Reis entlaubt. 
Und jeßt! — To jteht er eine lange Raſt, 
Von Sarnen der Erinnerung umjtellt, 
Das Herz zermalmt von namenlofer Laſt. 


50 


oO 
en 


60 


70 


-1] 
ST 





90 


95 


100 


105 


110 


Der Geift der Mutter. 361 


Und endlich nieder auf das Lager fällt 
Er weinend, jchluchzend, Tchmerzenüberwunden, 
Den Schlaf nicht juchend, der fich ferne hält. 

Der Schloguhr eh’rne Zunge zählt die Stunden, 
Es jchließt die Nacht ſich zu, das Licht verglimmt, 
In graujer Stille bluten jene Wunden. 

Da mahnt ihn ein Geräufch, das er vernimmt, 
Daß drüben bei dem DVBater er gelafjen 
Die Waffen, die zu feinem Schuß bejtimmt. 

Und ringsher ſpähend fieht er einen blaſſen, 
Unfihern Schimmer durch das Zimmer wehen; 
Es reizt ihn, den ins Auge jcharf zu fallen. 

Gr höret draußen leiſen Schrittes gehen; 

Er ſiehet jenen Schimmer ich gejtalten 
Und fiehet jeine Mutter vor ihm jtehen. 
Sie winkt ihm, regungslos jich zu verhalten, 
Sie hebt die Augen jchmerzenreich empor, 

Sie jcheinet über ihn die Wacht zu halteı. 

63 raufcht, die Tür geht auf, — ſie tritt davor, - — 
Ein lauter, angjterprekter Schrei erichaltt, 

Die Stimme ſeines Vaters traf jein Ohr; 

Da wirft man Schweres Elirrend Hin, es Hallt 
Der Gang von flücht’gen Schritten, es verklingt, — 
Zerflojfen iſt in Nebel die Geitalt. 

Er aber dort auf jeinem Lager ringt 
Mit dem Entjegen, bis mit hellem Scheine 
Der junge Tag in jeine Augen dringt. 

Gr jhaut umher; die Tür iſt auf, und jeine 
Piltolen liegen auf der Schwelle dort; 

Er fragt fich nicht, was er darüber meine. 

Gr jchleicht hinaus fich leiſe, jpricht fein Wort, 

Er jattelt, jteigt zu Roß und drüdt die Sporen; 
Erit ihrem Grabe zu, dann weiter fort. — 
63 hat ſich jede Spur von ihm verloren. 


— — 


362 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Die Retraite, 
m Sonntagabend auf dem Werder waren 
Zum lujtgen Waher in dem Fiicherfrug 
Die ſechs Trompeter da von den Hufaren. 
Herüber don dem andern Ufer trug 
Sie noch das Eis, nun gab es Spiel und Tanz; 
Es waren zum Orcheſter fünf genug. 
Der ſechſte Hielt ſich abgejondert, Franz, 
Er fojte wohl mit jeiner Braut verjtohlen, 
Der Margarete, der gehört er ganz. 


„Bir haben unſre Sache Gott befohlen, 
Und hat der Frühling erſt den Fluß befreit, 
So fomm’ ih nur, hinüber dich zu holen.” — 

„DO Franz! und diefe lange, bange Zeit! 
Wie joll ich, dich zu jeden, mich entwöhnen! 
Du bijt mein Leben, meine Seligkeit.“ — 

„Du Hörjt mich, höreſt die Trompete dröhnen, 
Sie wird dir meiner Liebe Botſchaft bringen 
Bei der Retrait’ in Nachhall3- Zittertönen. 


„Wenn dieje leßten Töne zu dir dringen, 
Ich bin's, gedenfe mein! dann weht von drüben 
Dir meine Seele zu auf ihren Schwingen. 
„Mag doch der Eisgang kurze Feindſchaft üben, 
Der Frühling unjrer Liebe wird eriwachen 
Und feine Trennung fürder uns betrüben.” — 
„Hört auf! wer mag noch lärmen bier und lachen!“ 
Ein Fiſcher iprang herein und jchrie das Wort: 
„Hört ihr denn draußen nicht des Eiſes Krachen!? 
„Ihr Herrn, die ihr hinüber müßt, macht fort; 
Stromauf! da hält ſich's länger, bis es bricht, 
Dem Lichte zu am andern Ufer dort!" — 
„DO Franz, bleib hier!” — „Mein Lieb, ich darf e3 nicht, 
Nicht Urlaub Hab’ ich.“ — „Meines Vaters Haus..." — 
„Ich bin Soldat und fenne meine Pflicht." — 





2% 


10 


15 


20 


30 


35 


40 


55 


co 


Die Netraite. 363 


„D lieber Yranz, in jolchem nächt’gen Graus...!" — 
„Bir jcheiden ja, mein Lieb, zum lebten Male, 
Laß ab! jei jtark! die andern jind voraus.“ 


Stromauf, jehräg über, nach dem Lichtfignale, 
Sie ſchritten ſchnell und ſchweigſam durch die Nacht, 
Erhellt von feines Sternes bleichem Strahle; 


In Nebeln, von dem Winde hergefacht, 
Schien ihnen oft das Lichtlein zu verſchweben; 
Sie jchritten zu, als ging es in die Schlacht. 


Sie fühlten unter jih das Eis erbeben 
Und hörten’3 graufig donnernd ſich zeripalten 
Und jahn es aufgeriſſen ſich erheben; 


Und wie des Abgrunds Stimmen rings erichallten, 
Beflügelten den Lauf fie landhinan, 
Erſt jenjeit3 auf dem feiten Grund zu halten. 


Und wie fie dort erreicht den Rettungsplan, 
Da zählten fie und zählten. — „Gott und Bater! 
Mir find nur fünf! e8 fehlt der jechjite Mann! 


„Der fehlt, iſt Franz; jte hielt ihn auf; was tat er? 
Doch ſeht den Schatten dort! das muß ex fein, 
Im twindgefegten Schneegewölfe naht er. 


„Franz! Franz! gib Antwort! — feine Antwort! Nein, 
Er iſt es nit. Das Schneegewölf zerfallen; 
Stumm, ebenmäßig hüllt die Nacht uns ein.“ 


Und von dem Strome her, wo wirbelnd wallen 
Die Schollen und einander fich zerichmettern, 
Hört laut man wohlbefannten Ton erichallen; 


Der ehernen Trompete mutig Schmettern, 
Retrait’! ihm ſelbſt Poſaune des Gerichtes, 
63 ruft dem Tode, nicht den ird'ſchen Nettern. 
Und jtromabgleitend fern und ferner bricht eg, 


Und lei und leijer, aus der Nacht hervor, 
Ein Hauch der Ahnung überivd’schen Lichtes. 


364  Gebihte. Sonette und Terzinen. 





Dem Krug vorbei! da laujchet wohl ein Ohr! 
Und lang gezogen, leije zitternd ſchwingen 
Des Nachhalls letzte Töne fich empor. — 
„Denn dieje lekten Töne zu div dringen, 70 
Ich bin’3, gedenfe mein! dann weht von drüben 
Dir meine Seele zu auf ihren Schwingen. 
„Mag doch der Eisgang furze Feindichaft üben, 
Der Frühling unfrer Liebe wird eriwachen 
Und feine Trennung fürder uns betrüben.‘ 75 
Und unterwärts erichallt mit Donnerzfrachen 
Das Eis, daß Scholle fih auf Scholle ballt, 
Und dröhnend öffnet fich de3 Todes Rachen. 
63 jchweigt, die legten Töne find verhallt. 


—_—— an —_ 
Gin Baal Teſchuba.! 


7» hatte der Rabbiner nicht begonnen 
Zu unterrichten; im gedrängten Kreiſe 
Der Schüler Hatte ſich Gejpräch entiponnen, 
Geſpräch von jenem rätjelhaften Greife, 
Der in die Synagoge war gefommen 5 
Salt eigentümlich jchauerlicher Weiſe; 
Der auf der Trauerbant den Pla genommen, 
Dem Sträfling gleich, andächtig immerdar, 
Ein Borbild der Erbauung allen Frommen, 
Und wie das Schlußgebet geiprochen war, 10 
Aufipringend mit befremdlicher Gebärde, 
Sein Haupt verhüllt im faltigen Talar, 
Sih quer am Eingang auf die harte Erde 
Vor allen niederjtürzend hingejtredt, 
Auf dag mit Füßen er getreten twerde. 15 





I Inter den fogen. Baalei Teſchuba (büfende Sünder) verfteht man Juden, 
die ein unvorſätzlich begangenes Verbrechen durd eine freimillige Buße fühnen, 
ohne fich der weltlichen Obrigkeit zu unterwerfen. Der im Gedicht genannte Baal 
Teſchuba lebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Königsberg, in der 
dortigen Eynagoge fpielt der Eingang der Erzählung. 


25 


30 


40 


45 


Die Retraite. — Ein Baal Tefchuba. 365 





Doch feiner tat’3, denn jeder wich erjchrect 
Zur Seite, daß den Starren er vermeide, 
Den erjt der legten Schritte Hall eriwedt. 


Ein Pole müßt’ er jein nach feinem Kleide; 
Doch Haben, die ihn jprachen, ausgejagt, 
Daß ihn die deutihe Mundart unterjcheide. 


ach jeinem Namen haben jie gefragt, 

Worauf er jeufzend Antwort nicht gegeben; 
Sie haben mehr zu fragen nicht gewagt. 

Da trat, wie jo die Schüler Tprachen, eben 
Der Greiß herein, dem Winter zu vergleichen, 
Bon jugendlihem Frühlingsreis umgeben. 

Es jahn die Ringsveritummenden ihn fchleichen 
Dem lebten Platze zu, um den er bat, 

Ihn jollte da das heil’ge Wort erreichen. 


Und der Rabbiner, fich erhebend, trat 
Mit ernjtem Worte zu dem jeltnen Gaft: 
„Hier gilt es, auszujtreuen gute Saat. 

„Wie du im Tempel dich betragen halt, 
Erſcheint vielleicht in zweifelhaften Lichte 
Dem, der den Gang des Lebens nicht erfaßt; 

„Bas aber dich beivogen, das berichte 
Du dieſen hier, damit auch jie e3 willen; 
Sc fodre deine düjtere Gejchichte. 

„Gar mancher ift der Weisheit nicht befliffen, 
Der wahrlich anders würde fein, verjtünd’ er 
Den Ernſt der Tat im ftrafenden Gewiſſen.“ — 

„Ich bin ein Baal Teſchuba, bin ein Sünder, 
Der, wallend durch das Elend, Buße tut, 
Und jet der eignen Miſſetat Verkünder. 


„Nach meinen Namen forjchet nicht, der ruht 
Ber meinen Hinterlaffnen, Weib und Kindern, 
Und liegt bei Haus und Hof und Hab und Gut. 


366 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„Ich handelte, geehrt und reich, mit Rindern 
Und ſah mit Stoß auf meine® Hauſes Flor, 
Der ſollte jähen Sturzes bald fich mindern. 

„Ich Stand indes dem Chrenamte vor, 


Die Spenden der Gemeinde darzureichen 
Den fremden Armen vor des Tempels Tor. 


„Ein Weib, ihr Bild will nimmer von mir weichen, 
Ein ſchwangres Weib ſchalt einjt mich einen Wicht 


Und zankte, ſchrie und ſchmähte Tondergleichen. 


„Da Takte mich der Zorn, ich hielt mich nicht, 
Sch Hob die Hand zu unheilvoller Stunde 
Und ſchlug die Keiferin ins Angeficht. 

„Das Wort eritarb in ihrem blafjen Munde, 


Sie wankte, fiel, da lagen ſcharfe Scherben, 
63 quoll ihr Blut aus einer tiefen Wunde. 


„Ich jah das grüne Gras ſich purpurn färben, 
Sah frampfhaft noch fie zuden eine Zeit, 
Dann ftarr geſtreckt zu meinen Füßen jterben. 

„Nicht in die Hände der Gerechtigkeit 
Geliefert hätte mich die Brüderfchaft, 

Sc war von jeder äußern Furcht befreit. 

„Doch einen Richter gibt’3, dev Rache Ichafft, 
Gewiſſen heißet, der die jcharfen Krallen 
Ins Herz mir eingeriifen voller Kraft. 

„And ich erfor, ein Yragender, zu wallen 
Zu einem frommen Greife: Rabbi, Tprich, 
ie büß' ich, der ich jo in Schuld gefallen? 

„Und harter Bußen viele lud auf mich 
Der ſtrenge Mann mit Beten, Baden, Yalten, 
Nur eine, eine nur war fürchterlich. 

‚Mit meinem Fluche ſollt' ich mich belajten, 
Ins Elend willig gehn am Betteljtabe 
Und fieben Jahre nicht auf Erden rajten. 


50 


60 


65 


75 


80 


90 


95 


100 


105 


110 


Ein Baal Teſchuba. 367 


„Ich hab's getan, ein Baal Teſchuba, habe 
Sechs Jahr' ich ſchon vom Mitleidsbrot gezehrt, 
Sechs Jahre mich genähert meinem Grabe. 


„Die Heimat zu betreten, war verwehrt; 
Sch habe mich, zu machtvoll angezogen, 
Sn immer engern Kreifen ihr genäh’rt. 


„Und einft, da jtand ich vor des Tores Bogen 
Der Baterjtadt, da jtand ich, wie gebannt, 
Mit ausgejtredten Armen vorgebogen. 


„Ich hätte fliehen jollen; übermannt 
Bon namenlojer Sehnjuht, trat ich ein, — 
Wie ſelbſt jo fremd! wie alles jo befannt! 


„Des langen Haupt= und Barthaars Silberichein, 
Der Stirne Furchen und die fremde Tracht — 
Sch mochte jedem wohl unfenntlich fein. 


„Wie jchlug das Herz mir in der Bruft mit Macht! 
Ich ichlich daher, jo wie der Sünder jchleicht, 
Und wo die Straß’ am Markt die Biegung madt... 


„Gott Israels! mein Haus! — Ein Kind — vielleicht 
Mein eignes Kind! — ein Mädchen tritt Heraus, — 
Hat Rahel jolh ein Alter wohl erreiht? — 


„Der Ew’ge jegne dich und dieſes Haus, 
Mein ſüßes Kind! ein Bettler ruft dih an 
Aus bittern Elends namenlofem Graus.“ 


„Sie ſah mich freundlich an und ſchritt ſodann 
Ins Haus zurück und kam nach kurzer Friſt: 
‚Die Mutter ſchickt dir das, du armer Mann.‘ — 


„Es war ein Kreuzer nur — ‚Die Mutter!? Sit 
Bekannt auch deiner Mutter, daß jo Elein 
Die Gift fie einem Baal Teſchuba mit“ 

„Ste ſah mich jtaunend an und ging hinein 
Und fam jogleich auch wieder her zu mir: 
‚Die Mutter jagt: es fann nicht anders ein, 


368 . Gedichte: Sonette und Terzinen. 





„Sie hat's jetzt nicht, denn Vater ijt gleich dir 
Ein Baal Teichuba; würdeit mehr befommen, 
Wär unfer armer guter Vater hier.‘ 
„Nun hatt’ ich’3 ja aus ihrem Mund vernommen! 
Ich Habe fchluchzend ſchnell mich abgewandt 
Und nicht mein Kind an meine Bruft genommen, 
Ins Elend Hab’ ich mich zurückgebannt.“ 


Mateo Falcone, der Korſe. 
on weſſen Rufe hört man widerhallen, 
Die her zu dieſen Höhen führt, die Schlucht 
Von Porto-Vecchio? Flintenſchüſſe fallen. 
Die Gelben! ſind's, die Jäger, und es ſucht 
Vor ihnen her den Buſchwald zu erreichen 
Ein ſchwer Verwundeter in ſcheuer Flucht. 


Aus dem Gehöfte will ein Kind ſich ſchleichen, 
Zu ſpähen, was bedeute ſolcher Ton; 


Es ſiehet vor ſich ſtehn den Bluben, Bleichen. — 


„Du biſt, ich kenne dich, Falcones Sohn; 
Sch bin Sampiero; Hilf mir, feines Kind, 
Verſtecke mich, die Gelben nahen ſchon!“ — 


„Ich bin allein, die beiden Eltern find 


Hinausgegangen.” — „Schnell denn und verichlagen! 
Wohin verfriech’ ich mich? jag’ an, geſchwind!“ — 


„Was aber wird dazu der Vater Jagen?" — 
„Der Bater jagt, du habeſt vecht getan; 
Und du zum Dank jollit diefe Münze tragen.“ 
Die Münze nahm der Sinabe willig an. 
Ein Haufen Heu, der fih im Hofe fand, 
Verbarg den blutigen, zerlumpten Mann. 


I Die wegen ihren gelben Nodfragens „Les Jaunes“ genannten franzöjis 
ſchen Soldaten. 


115 


or 


369 


Cin Baal Tejhuba. — Mateo Falcone, ber Korſe. 


Dann ging das Kind, des Blutes Spur im Sand 
Austretend, nach dem äußern Tor beſonnen, 
Wovor ſchon lärmend der Verfolger ſtand. 
5 Es war der Vetter Gamba. — „Wo entronnen, 
Sprich, Vetter Fortunato, iſt der Wicht, 
Dem wir die Fährte hierher abgewonnen?“ — 
„Ich ſchlief.“ — „Ein Lügner, der vom Schlafe ſpricht! 
Dich hat zu wecken mein Gewehr geknallt.“ — 
30 Noch knallt es wie des Vaters Büchſe nicht.” — 
„Antworte, Burſche, wie die Frage ſchallt; 
Und führſt du ſolche Reden mir zum Hohne, 
So ſchlepp' ich dich nach Corte! mit Gewalt.” — 
„Verſuch' es nur, mein Vater heißt Falcone!“ — 
35 „Ich aber werde deinem Water jagen, 
Daß er mit Schlägen dir die Lüge lohne.“ — 
„Ob er es tut, das möchte noch jich fragen.” — 
„Bo iſt dein Vater? ſprich!“ — „Sch bin allein; 
Im Buſchwald wird er fein, ein Wild zu jagen.‘ 
+0 Und Gamba zu den Untergebnen jein: 
„Hier führt, ich traf ihn gut, die Spur des Blutes; 
Durchſucht das Haus, er wird zu finden fein!“ 
Ein Jäger drauf: „So Ihr e3 wollt, jo tut es; 
Doch jolltet Ihr's erwägen, Adjutant, 
45 Uns bringt Falcones Feindſchaft nimmer Gutes.’ 
Er aber jtand unſchlüſſig, abgewandt 
Und ſtach ins Heu, nachläflig, in Gedanten, 
Wie einer, der das Rechte nicht erkannt. 
Der Knab' indeſſen jpielte mit dem blanfen 


so Gehenke feiner Uhr und jchob gelinde 
Ihn vom Verſteck zurüd des armen Kranken. 


Und wieder freundlich jprach er zu dem Finde: 
„Du jpielit mit meiner Uhr und halt noch feine; 


Die hatt? ich dir bejtimmt zum Angebinde.“ — 


1 Im Innern Korfitas gelegen (Porto Vecchio liegt an der Südoſtküſte) 
24 


Chamifjo. I. 


370 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„In meinen zwölften Jahr befomm’ ich eine.’ — 
„Biſt zehn erſt alt, betrachte diefe nur!“ 
Und blinfend hielt er ſie im Sonnenfcheine. 
Gar argen Glanzes funfelte die Uhr; 
Das zierlihe Gehäus jo blank und klar, 
Die Nadeln Gold, das Zifferblatt Laſur. — 


„Wo tet Sampiero®' — „Wird dein Wort auch wahr?” —- 


Dem Knaben jhwur er zu mit teuerm (ide, 
Daß fie der jchnöde Preis des Blutes war. 


Des Knaben Rechte hob nach dem Gejchmeide 
Sich langjam, zitternd; niederwärts ſich neigend 
Berührt' es fie; ihm brannt' das Eingeweide. 


Da hob ſich auch die Linke, rückwärts zeigend, 
Und gab den Schützling dem Verfolger bloß; 
Geſchloſſen war der Kauf, der arge, ſchweigend. 


Da ließ der Adjutant die Kette los; 
Das Kind, vom köſtlichen Beſitz befangen, 
Vergaß ſich ſelbſt und des Verratnen Los. 


Und Gamba ließ hervor den Flüchtling langen; 
Der blickte ſtumm verächtlich auf den Knaben 
Und gab dem Jäger willig ſich gefangen. — 


„Ihr müßt, Freund Gamba, ſchon die Güte haben, 
Schafft eine Bahre her! ich kann nicht gehen; 
Verblutet Hab’ ich mich, im Heu vergraben. 


„Ihr Jeid ein Schü, man muß es Euch gejtehen, 
's iſt aus mit mix; Ihr habt mich gut gefaßt, 
Doch Habt Ihr auch, was ich vermag, gejehen.‘ 


Und menjchlich ſorgte man und freundlich faſt 
Für einen, den man doch als tapfer pries 
Und, wo es galt, al3 Gegner nur gehaßt. 

Die Minze reicht! ihm Fortunat; er jtieß 
Zurüd den Knaben, welcher voller Scham 
Entwich und jenen Taler fallen ließ. 


55 


60 


65 


80 


Mateo Falcone, der Korfe. 871 


Falcone jegt mit jenem Weibe fanı 
Dom Walde her; um jein Gehöfte jah 
0 Gr Jäger jchwärmen, was ihn wundernahm. 


Schußfertig, fühn, vorjichtig naht’ er da 
Und hieß das Weib der zweiten Büchſe pflegen, 
Wie's Brauch) it, wo der Schü dem Teinde nah. 


Ihn fennend, ging ihm Samba jchnell entgegen. — 
„Derkennt den Freund nicht!” — Langſam jtieg der Lauf 
Der Büchſe, die im Anjchlag ſchon gelegen. — 


„Bir hatten, Vetter, einen weiten Lauf, 
Der Tag war heiß, wir haben ihn erjagt, 
Doch gingen auch der Unjern zwei darauf; 


„Ich meine den Sampiero.“ — „Was hr jagt! 
Sampiero, der die Ziege mir gevaubt, 
Vom Hunger freilih wohl und jcharf geplagt.” — 


„Er hat gefochten, wie e3 feiner glaubt; 
Wir Haben ihn und danfen’3 Fortunato, _ 
Der ung geliefert jein geächtet Haupt.“ 
Der Bater rief entrüjtet: „Fortunato?“ — 
Die Mutter ſank zujammen wie gebrochen 
Und wiederholte jchaurig: „Fortunato?“ — 
„Er hatte dort ſich in das Heu verfrochen, 
110 Der Better zeigt’ ihn an; man fol’3 erfahren, 
Und ihm und Euch wird hohes Lob geiprochen.” — 
Sie traten an das Haus; die Jäger waren 
Gejchäftig und bemühet um den Alten, 
Die Bahre wohl mit Mänteln zu verwahren. 
115 Und wie zu jeinem Ohr die Schritte jchallten 
Und er fich ummgejehen, wer genaht, 
Da konnt’ er nicht zu lachen fich enthalten; 
Ein Lachen, gar entjeglich in der Tat. 
Das Haus anjpeiend, jchrie er: „Lug und Trug! 
120 In diefen Mauern Haujet der Verrat!’ — 


9 


Qı 


10 


o 


10 


ar 


24* 


372 J 
Erbleichend, zitternd hört's Falcone, ſchlug 
Vors Haupt ſich die geballte Fauſt, und ſtumm 
Verharrt' er, bis man fort den Alten trug. 
Es ſah ſich Gamba grüßend nach ihm um; 
Er merkt' es nicht, er ließ die Truppe ziehen, 
Er ſtarrte zu dem Knaben taub und ſtumm. 
Es will vor ihm das Kind erzitternd knieen, 
Er ſchreit es an: „Dein erſtes Stück war gut! 


Zurück von mir!“ — Es hat nicht Kraft zu fliehen. — 


Und zu der Frau gewandt: „Iſt der mein Blut?“ — 
„Ich bin dein Weib“ — und ihre bleichen Wangen 
Erglühen ſchnell von wunderſamer Glut. — 


„Und ein Verräter!“ — Ihre Blicke hangen 
An ihrem Kinde, ſie erſpäht die Uhr: 
„Von wem haſt dieſes Kleinod du empfangen?“ — 
„Vom Vetter Gamba.“ Heftig an der Schnur 
Sie reißend, ſchleudert und zerſchellt Falcone 
An einen Stein der Tat verhaßte Spur. 
Dann ſtarrt er vor ſich hin und ſcharrt, wie ohne 
Gedanken, mit dem Kolben in dem Sand 
Und rafft ſich endlich auf und ruft dem Sohne: 
„Mir nach!“ Das Kind gehorcht. Er ſelbſt, zur Hand 
Sein trautes Feuerrohr, nimmt durch die Heide 
Den Richtpfad nach dem nächſten Waldesrand. 
Ihn hält die Mutter ſchreckhaft an dem Kleide: 
„Dein Sohn, dein einz'ger Sohn, den Gott dir gab, 
Den mit Gelübden wir erflehten beide!“ 
Und er: „Ich bin ſein Vater, drum laß ab!“ 
Da küſſet ſie verzweiflungsvoll den Kleinen 
Und ſchaut ihm nach bis in den Wald hinab. 
Dann geht ſie, vor das Heil'genbild der reinen 
Gebenedeiten Mutter ſich allein 
Zu werfen und zu beten und zu weinen. 


125 


130 


135 


140 


150 


Mateo Falcone, der Korfe. 373 


Falcone Hält im Wald am jchwarzen Stein, 
15 Verſucht den Boden und erwählt die Stätte; 
Hier ift die Erde leicht, hier wird es fein. 


„Knie nieder, Yortunato, knie und bete!“ 
Der Knabe niet und winjelt: „Vater, Water! 
Du willjt mich töten?” — Und der Bater: „Bete!“ 


Und mweinend, jchluchzend jtammelt er das „Pater“; 
Mit feiter Stimme jpricht der Vater: „Amen!“ 
Und meiter jftammelt ev das „Ave Mater”. — 


„Bit du nun fertig?" — „Bon den Klofterdamen 
Erlernt’ ih noch die Litanei ſoeben.“ — 
„Sehr lang ift die; jedoch in Gottes Namen!“ 


Er hat gebetet. — „Vater, laß mich Leben, 
O, töte mich noch nicht!" — „Bit du am Schluß?“ — 
„Vergib mir‘ — „Gott, der möge dir vergeben!“ 


Die Hände jtredt er aus — da fällt der Schuß. 
170 Vom Leichnam wendet fich der Vater ab, 
Und heimmwärt3 jchreitend, wanfet nicht fein Fuß. 


Sein Aug’ ift dürr, mit jeines Alters Stab 
Sein Herz gebrochen. Alſo Holt der Mann 
Den Spaten, um zu graben dort das Grab. 


Die Mutter jtürzt beim Schuß entjeßt heran, 
Sie jtürmet händeringend auf ihn ein: 
„Mein Kind! mein Blut! Was Haft du nun getan!” — 


„Gerechtigkeit. — — Er liegt am ſchwarzen Stein. 
Ich Lak ihm Meilen Iejen, der als Chrift 
Gejtorben ijt, und alfo mußt’ es fein. 

„Sobald du aber jelbit gefaßter biit, 

Verkünde unjerm Tochtermann Renzone, 
Daß meine wohlerivogne Meinung it, 
Daß künftig er mit ung mein Haus bewohne.‘ 


16 


oO 


165 . 


a 


or 


17 


18 


oO 


” 
— — 


374 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Die Verſöhnung. 
Korſiſche Gejhichte. 
ie echten Korjen, welche jelten nur 
Don des Gebirges Höhn zu Tale jteigen, 
Grfüllen heut Ajaccios Präfektur. 
Was bringt den tiefgehegten Groll zum Schweigen, 

Den dieje freien Männer fort und fort 
Zu den Beherrichern ihres Bodens zeigen? 


Zwei Gruppen bilden fie im Saale dort; 


Sie trennt der Haß und jpricht aus ihren Mienen, 


Doch eignet ſich zu Taten nicht der Dit. 
Zwei Sippen find es, Blut ijt zwijchen ihnen, 


Und Blut will Blut; dem Spruche zu genügen, - 


Hat vielen jchon der letzte Tag gejchienen. 


Ein Greis mit düjterm Blick und hohlen Zügen, 
Mit langem jchwarzen Bart und weißem Haar 
Scheint ungewohnt dem Zwange ſich zu fügen; 


Denn unterm Ztegenfell jucht immerdar 
Die Hand des Dolches Griff und Hält fich kaum; 
Er jcheint das Haupt zu jein der einen Schar. 


Bereitet ıjt ein Tiſch im mittlern Raum, 
Darauf das Kruzifix iſt aufgerichtet; 
Der Anblik Hält die Männer nur im Zaum. 
Ein Bote Chrijti, der für fich verzichtet, 
Ein Miſſionar, befannt den Bergesjöhnen, 
Ber welchen viele Fehden ex geichlichtet, 
Hofft dieje beiden Stämme zu verjühnen, 
Die hier er am Altar zufammenbrachte; 
Er jehaut fie Scharf an, jeine Worte tönen: 
„Sp wie ich, meine Brüder, euch betrachte, 
Die Troß ihr jeder Fährlichkeit wohl bötet, 
Von euch iſt feiner, dem e8 Schande machte, 


or 


15 


30 


35 


40 


45 


50 


50 


60 


Die Verjöhnung. 37 





„Daß nicht ex mind'ſtens ſeinen Mann getötet?" — 
Geſtändig jahn die Männer frei empor, 
Zur Erde nur eine Knabe jchamgerötet. 


Da donnerte des Prieſters Wort hervor: 
„Du hörst es, Gott am Kreuze; hör’ es nicht! 
Berichließe ſolchem Frechen Hohn dein Ohr! 


„Seh nicht mit diefen Mördern ins Gericht! 
Du halt für fie dein teures Blut gezahlt, 
Das nun Verdanımniz über alle jpricht. 


„Nicht einer, nein, nicht einer, der nicht prahlt, 
Er babe dir zum Hohn die Hände rot 
Mit deinem, deiner Brüder Blut bemalt! 


„63 ſei denn diefer Knabe — dein Gebot 
Gehalten noch zu Haben, finnt verdroſſen 
Er ſchon vielleicht auf jeines Bruders Tod. 


„Es hat der Dolch des Blutes mehr vergojlen, 
D Heiland! ala von deinen heil’gen Malen, 
Von Sünde fie zu retten, iſt gefloſſen. 


„Ihr jeht mich küſſen fie zu vielen Malen, 
Benetzen fie mit heißen Tränengüflen; — 
Denkt eures Heiles und der Hölle Qualen! 


„Denkt Chriſti, der nach ewigen Bejchlüffen 
Für euch, ihr Sünder, Schmad und Tod erfor! — 
Erfrecht ihr jeine Wunden euch zu füllen?“ 


So hielt dag Kruzifix er ihnen dor, 
Sie ſcharfen Blickes prüfend, ob die Saat 
Auf harten Feljen fallend fich verlor. 
Gerührt, gebeugt und reuig in der Tat 
Erweiſen jich die Männer, ſonſt jo wild; 
63 haben die Getrennten fich genaht. 
„Verſöhnung!“ jpricht der Friedensbote mild, 
„Lobt Chriſtum, der euch Hier zufammenführt, 
Verzeiht, vergeßt und tut nach jeinem Bild!“ 


5 


376 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Schon haben auf dem Kreuze fich berührt 
Zwer Hände, ſchaudernd ſchnell ſich auch getrennt, 
Als Habe jede heißes Gift verjpürt. 

Denn Recco, jener grimme Greis, erkennt 
Sich gegenüber eben den VBerhaßten, 

Den er den Mörder jeine® Sohnes nennt. 

Das Angeficht erglüht dem Schmerzerfaßten, 

Die alten Wunden brechen auf, es walten 
Der Zorn, der Rachedurit nach furzem Raſten; 

Noch jtehet tiefgebüdt — ob vor dem Alten, 

Ob vor dem Kruzifir! — der Süngling bleich, 
Erwartend, ob Vergebung zu erhalten; 

Noch kämpft mit feinem Herzen fchmerzenreich, 
Geſicht und Farbe wechjelnd oft, der Greije; 
Noch ſpricht die Gnade, jchreit die Rache gleich. 

Und feierliche Stille herrſcht im Kreiſe, 

Indes an ihm die fcheuen Blicke hangen; 
Er endlich, ſchwer aufatmend, redet leiſe: 


„Nein Sohn! — an meinem Sohn ward Mord begangen. — 


Er ſollte meines Namens Erbe ſein! 
Er Hat im Elſenbuſch! den Schuß empfangen. — 


„Still! Gnecco, ſtill! — dort warjt du nicht allein — 
Ein andrer.... Still! — Sch will's vergeilen. Schweige! 


Bon feinem Blut find deine Hände rein. — 


‚Mein alter Stamm treibt fürder feine Zweige, 
Nur eine Tochter ſchmückt noch jeine Kron’; 
63 geht mit meinen Tagen auf die Neige. 


„Du, Gnecco, liebſt die Maid, ich weiß es ſchon, — 


Mag werden, was ich früher nicht geglaubt, — 

So nimm fie und erjee mir den Sohn!" — 
Ihm lag der Sohn in Armen jprachberaubt, 

Er aber mußte jchaudernd fich gewöhnen, 

Noch Lieb zu Hegen das verfemte Haupt. 


I Elfe (ſlawiſchen Urfprungs) — Erle. 


75 


80 


90 


95 


100 


105 


110 


115 


125 


Die Verföhnung. 377 


„Bin müde“, rief er aus, „den Haß zu frönen! 
Sch tat den erjten Schuß — vorzeiten — dort, — 
Vergeltung ward verübt an meinen Söhnen. 


„Bier Söhne raffte diefer Zwiſt mir fort, 
Ich jelber blieb verjchont auf diejen Tag; 
Der alte Stamm, der Aſte bar, verdorrt. — 


„Hohmwürd’ger Herr, laßt zeichnen den Vertrag, 
Mer weiß, wie jonjt der Menjchen Sinn ſich wenden 
Und was die nächſte Stunde bringen mag! — 


„Roh Takt das Kruzifix in meinen Händen, 
Ich war ja Chriſt, bevor ich Vater war, — 
Ich will das Gutbegonnene vollenden.” 


Die Schrift verlas darauf der Miſſionar, 
Darin des Gottezfriedens Klauſeln jtanden, 
Und ließ fie unterzeichnen am Altar; 


Und denen, die zu jchreiben nicht verjtanden, 
Führt er die Hand zu eines Kreuzes Mal, 
Wodurch fie jämtlich eidlich ſich verbanden. 


Er zählte dann die Zeichen allzumal, 
Und wieder überzählt’ er jie und fand, 
63 fehle noch ein Zeichen an der Zahl. 


Und abjeit3 mit den Seinen hadernd jtand, 
Der nicht gezeichnet Hatte, jener Knabe, 
Und ſtreckte gegen Recco jeine Hand: 


„Nein Vater jchreit um den aus feinem Grabe! 
Sch Feiliche nicht um meines Vaters Blut, 
Denn Blut will Blut, wie ich gelernet habe. 


„Fürwahr! der Prieſter Hat zu reden gut, 
Mein Bater, nicht fein. Vater ward erichlagen — 
Laßt ab von mir, jchaut jelber, was ihr tut! 
„Koch jeh? ich her die blut’ge Leiche tragen, 
Sie legen auf den Tiſch und dann entkleiden, 
Und Höre wild umher die Weiber Elagen. 


378 - Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„Die Mutter nur verichloß in fich ihr Leiden, 130 
Sie weinte nicht, fie jchien in jtarrer Ruh’ 
Am grenzenloſen Sammer fich zu meiden. 
„Sie führte mich, das Kind, dev Leiche zu: 
Blick her! blick her! die meuchleriihe Wunde, — 
Du biſt ein Kind, Doch wirjt ein Mann auch du; 135 


„Und haft, den Ernſt zu faſſen, du geſunde 
Gedanken, zeig’ es, raffe dich zujammen, — 
Beriprich mir, zu gedenken diefer Stunde!“ 


Des Prieſters Eifer lodert auf in Flammen: 
„Zomafio! jet ein Chriſt!“ Doch er im. Flug: 140 
„Hört erſt mich aus, dann mögt Ihr mich verdammen! 


„sh Trug: Was ſoll ih tun? Wie jo ich frug, 
Gab jte das Hemd des Vaters mir zu eigen, 
Das an der Bruft, hier, blut’ge Spuren trug, 


„Und iprach: ‚Weich willen Lafjen, feinem Feigen 145 
Ser’3 worden, diejen Tapfern zu beexrben; 
Das mußt du mir an Reccos Hemde zeigen. 


„Du mußt es rot, ſo wie das deine, färben, 
Denn Blut will Blut, das iſt der alte Brauch!‘ — 
Und auf das Wort der Mutter will ich ſterben. 150 


„So ſchwör' ich .. . “ — „Knabe! ſchwöre nicht! der Hauch, 
Womit du Gottes Namen Iprichit, iſt Sünde!” — 
Er murrte: „Was ich ſchwöre, halt’ ich auch.” 


63 ſchien, al3 ob der alte Necco jtünde, 
Ob Stolz und Reue ſchwankend, zweifelnd wog 155 
Er ſchuldbewußt im Herzen beider Gründe; 
Und endlich trat er vor das Kind und bog 
Das jteife nie vor ihm, demütig fait, 
Die Hand ergreifend, die jich ihm entzog: 


or 
“ 


„Tomaſio, diefem jungen Manne Hajt 160 
Du mich verzeihen ſehen, der vielleicht... . 
Sie ſagen's, legen ihm die Tat zur Laſt — 


165 


180 


185 


Die Berfühnung. — Ein Kölner Meifter. 37° 


„uch du wirft Vater und erfährjt, es gleicht 
Der BVaterliebe nimmer Kindespflicht; 
Don Marmor war mein Herz, e8 it erweicht. 
„And wenn das Fleisch von meinen Fleiſche nicht. 
Zu rächen ich, der Vater, mic) bezwungen, 
So leuchtet wohl auch dir der Gnade Licht.“ 
Den Grimm zu hegen, war e3 nicht gelungen 
Dem Knaben, der gerührt nicht wollte jcheinen 
Und jeine Tränen immer noch verichlungen. 
Sich fträubend, wandt er jchnell jich zu den Seinen; 
Er Jah zu ihm die Hände fich erheben 
Wie bittend, und die Augen aller weinen. 
Noch wollt’ er tückiſch ſeine Hand nicht geben 
Und fühlte, wie er jie dem Greis entrang, 
Sie in der Hand des Friedensboten beben. 
Der 309g — war's Überredung, war e8 Zwang? — 
Ihn vor, im Namen Chrijti, zum Altar; 
Ein Ruf, der endlich ihm zum ‚Herzen drang. 
Die Feder reicht er ihm zum Zeichen dar 
Am Fuß des Kruzifires, wo entfaltet 
Das Dokument des Gottesfrieden war, 
Und führte jeine Hand, bis er gejtaltet 
Das Kreuz, das lebte noch von allen Zeichen: 
„Es iſt vollbracht, der Gottesfriede mwaltet! 
Laßt, meine Brüder, und die Hände reichen!“ 


Ein Bölner WMeifter 
zu Ende des XIV. JahrhundertS. 
(Nach) Ghiberti.) 
u haft, Ghiberti!, ſcharf und jtreng und richtig 
Beurteilt meine Kunjt und mich gelobt, 


Das Lob aus deinem Munde Elang gemwichtig. 


I Lorenzo Ghiberti war ein berühmter florentinijcher Bildgießer des 15. 


Jahrhunderts. Einer feiner Freunde, wahrſcheinlich Johann Peter von Freiburg, 


380 





erzählte ihm von biefem ungenannten Kölner Meifter, ber in den Dienften bes 


Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Ich habe dir, den ih als Freund erprobt, 
Von meines Meiſters Kunft zu Köln am Rheine 
Den höchiten, jeltenjten Genuß gelobt. 


Blick her! du glüheſt wie vom jungen eine, 
Worauf dein Auge fällt, ein Meijterjtüc! 
Du jauchzeft und du fieheit, daß ich meine. 


Entſchwundne Tage ruft mir dies zurüd 
Und auch) den Tag, wo ih ihn trug zu Grabe, 
Der lehrend mich und Tiebend war mein Glüd. 


Auf diefem Bruchſtück Hier der heitre Knabe, 
Der von der Stirne ſich die Locken jtreicht, 
Der bin ich, wie ich erjt gedient ihm habe. 


Er hat mir treu die Führerhand gereicht, 
Sch wurde jtark in jeinem milden Strahle, 
Tun Hat der Winter mir da3 Haar gebleicht. 


Die grieh’ichen Meijter find dir Ideale, 
Sei jelbjt du zwiſchen ihm und ihnen Richter, 
Auf welche Seite neiget ſich die Schale? 


Sieh, wie er hochgelehrt und doch mit jchlichter 
Natürlichkeit das Nackte hier gejtaltet 
Und hier die hohe Schönheit der Gefichter! 


Die Kunſt bewundre, die ex hier entfaltet, 
Die Zierlichfeit der Arbeit, die Vollendung, —- 
Und diefer Riß — da hat wohl Gott gewaltet! 


Das Werk bejtimmte feines Schidjald Wendung, 
Es ſollt' ihn zu des Ruhmes Gipfel tragen 
Und ward das Merkzeug einer höhern Sendung. 

Ich muß vom frommen Meifter mehr dir jagen; 
Wie Tieblich er in feiner Kunft erjcheint, 

War Jelbjt ex Tiebeswert in jeinen Tagen. 


Herzogs von Anjou ftand. 


J 


15 


20 


25 


30 


Ein Kölner Meifter. 





Anjou, der mit der Kunjt es gut gemeint, 
85 Hat ihn geehret vor den Meijtern allen, 
Die Huldreih er an jeinem Hof vereint. 


Für Anjou hat der Meijter den Metallen 
Das Siegel feines Geijtes eingedrüct 
Und Kirchen ihm verziert, Altar und Hallen; 


40 Auch jeinen Schenktiſch hat er ihn geichmückt, 
Geſchmiedet ihm Pokale, Krüge, Schilde, 
Die jedes Kunſterfahrnen Blick entzücdt. 


Da wollte denn der Fürſt in jeiner Wilde, 
Daß noch aus lauterm Golde jondergleichen 
45 Sein Meijterwerf er, eine Tafel, bilde; 


Verſehen jollt’ er die mit jeinem Zeichen, 
Auf daß die Nachwelt feinen Ruhm erfahre 
Und ftaunend ihm den Lorbeer möge reichen. 


Hier liegt der Riß dir vor, den ich bewahre; 
50 Am Werke ſelbſt Hat meines Meiſters Hand 
Gehammert und gefeilt drei volle Jahre. 


Und wie er fertig war, wie er's gejandt 
Dem guten Fürjten, welcher e3 bejtellt, 
Da Hatte jih das Glüf von dem gewandt. 


55 Die Teindichaft weißt du, die fich eingejtellt 
Verderblich zwiſchen ihm und Lanzelote, 
Und aufgereget eine halbe Welt. 


Da fam zum Meijter ein betrübter Bote: 
Einſchmelzen hatt’ er jene Tafel laſſen, 
60 Weil ihm fein Gold, fein jchnödes, zu Gebote. 


Da Jahn den guten Meijter wir erblafjen, 
Erſchrocken jchweigen eine lange Zeit 
Und frampfhaft nach dem wunden Herzen faifen. 
Dann, niederiniend in Unterwürfigfeit, 
65 Sprach er und hob die Arme himmelwärts: 
„Auch das war eitel! eitel Eitelfeit! 


382 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„Am ird'ſchen Abglanz hing mein töricht Herz, 
An dem vergänglichen des ew'gen Xichtes, 
Nun faßt um Eitles mich ein eitler Schmerz ! 


„O Herr! was faljch und eitel war, bvernicht’ es 
Sn meinem Busen! dienen dir und büßen, 
Das will ich bis zum Tage des Gerichtes!“ 


Co Stand er auf und jah uns an mit füßen, 
Wehmüt’gen Blicken, ſchritt jodann hinaus, 
Rückſchauend nur, noch einmal uns zu grüßen. 


Und in die Berge, in der Wildnis Grau 
Trug weltverlafjend ihn jein Fuß, zu bauen 
Einſiedleriſch Kapell’ und niedres Haus, 


Da mocht er Unvergänglichem vertrauen 
Und juchen Karen Auges, reines Licht, 
Vermeidend, in das Nebeltal zu jchauen. 


ie Fromm er war, ein Frömmler war er nicht; 
Oft juchten wir ihn auf, er jah uns gerne 
Und gab uns lächelnd Rat und Unterricht. 
Er liebte noch die Künjte, wie die Sterne, 
Und jeine lieben Schüler und Genojjen; 
Gr hielt jein Herz nur bon dem Schlechten ferne. 
Einit fanden wir wie ſchlummernd hingegoſſen 
Am Kreuz ihn, wo zu beten ex gepflegt; 
Sein altermüdes Auge war geichloflen. 
Wir weinten, als wir ihn zur Ruh’ gelegt. 
— HH — 


Francesco Francias Tod, 


Ba Francia! war zu jeiner Zeit 
Italiens Stoß, gerühmt von allen Zungen 
Als Aurifer und Maler weit und breit. 


I $SrancescoNaibolini, genamt Krancia (1450—1518), aus Bologna, 


mar als Goldjchmied und Maler berühmt, 


80 


85 


90 


10 


15 


25 


30 





Ein Kölner Meifter. — Francesco Francias Tod. 





Zu ihm, dem Alten, ijt der Ruf gedrungen 
Dom jungen Römer, welcher jondergleichen 
Sich früh gar hohen Künſtlerruhm errungen. 


Zwar fonnt’ er noch zu ſehen nicht erreichen 
Ein Werk von ihn, doch Haben fie geehret 
Einander und gewechjelt Freundichaftszeichen. 


Ihm wird die Freude jeßt, die er begehret; 
Sieh! jener jchreibt: „Mein Bitten werde mir 
Von meinem väterlichen Freund gewähret! 


„sch käme ſelbſt, doch andres Hält mich hier; 
Nein Bild für die San Giovanni Slapelle, 
Die heilige Cäcilie, jend’ ich dir.! 

„Bertritt, mein lieber Meijter, meine Stelle, 
Sieh helfend nach, ob Schaden es befommen, 
Ein Rip, ein led das zarte Werk entjtelle; 


„And haft den Pinſel du zur Hand genommen, 
Verbeſſ're du zugleich auch Liebevoll, 
Wo jelber meine Kunjt zu kurz gekommen! 
„Dann jtell’ e3 auf, das Bild, da, wo es joll, 
Mit Liebe jorgend für das beite Licht, 
Und nimm entgegen meine Dankes Zoll! 


„Dein Raphael. — Der Meijter ſchnell exrbricht 


Die Kite, zieht das Bild hervor und rüdt 


Es ſich ins Licht und fieht und glaubt es nicht. 


Er jteht davor erjchroden und entzüdt; 
Grfüllet it, was jeine Träume waren, 

Er fühlt jich jelbjt vernichtet und beglüdt. 
„Heil mir! und Breis dir, Herr! der offenbaren 
Du ſolches noch gewollt in meinen Tagen; 
Nun laß in Frieden deinen Diener fahren!‘ 





1 Naffaels berühmtes, für eine Kapelle in San Giovanni in Monte bei Bo- 


logna bejtimmtes, um 1516 vollendetes Bild der Heiligen Cäcilie befindet fich jest 
in der Pinafothef in Bologna. 


384 - Gedichte: Eonette und Terzinen. 





Die Jünger hörten ihn die Worte jagen, 
Den legten Laut aus jeinem frommen Munde; 35 
Nicht Antwort gab er mehr auf ihre Fragen: 

Es war des alten Francias Sterbeſtunde. 


— > 


Das Kruzifix. 
Eine Künſtler-Legende. 
1. 
m" Ingrimm mochte nur jein Werk betrachten 
Der Meiiter, der davor nachſinnend jtand; 
Er ward verfucht, ſich jelber zu verachten. 


Er Hat mit Kunjt, mit Fleiße, mit Verſtand 
Das Bild des Heilands Hingejtellt, allein 5 
Ein Bid, ein totes Bild von Menſchenhand. 


Das Leben drang in diejen Blod nicht ein; 
Nicht kann, was Fleiſch nicht ward, den Schmerz nen, 
Der tůckſche Marmor bleibt ein ſtarrer Stein. 


Mag Ebenmaß und ſchöne Form ſich finden, 10 
Nicht will des funjtgeübten Meißels Spur 
Vor der erwachenden Natur verichwinden: 


„Natur! o wende dich nicht ab, Natur! 
Sch will zum Ideal dich ſchon erheben; 
Allein du jchweigit, ein Pfuſcher bin ich nur!“ 15 
Und eingetreten in die Werkitatt eben, 
Dem Meijter jteht ein Jünger jeiner Kunſt 
Zur Seite, frommem Anjchaun Hingegeben. 
Der buhlet um derjelben Muſe Gunft, 
Beraufchet ſich am Anblid hier de8 Schönen 20 
Und fühlt, jein eignes Streben jet nur Dunft. 
Zu ihm der Meiſter: „Willſt du mich verhöhnen? 
Du ſtauneſt diejen falten Marmor an, 
Als mwollteft du dem Tode dich gewöhnen.‘ 


25 


50 


35 


40 


45 


50 


en 
St 


Francesco Franciad Tod, — Das Kruziftr. 335 





Der Fremde drauf: „Du wunderfamer Mann, 
Mag deinen Chriſtus auch de3 Todes Ruh’ 
So ſchweigſam, jo abjonderlih umfahn, 


„Dem Großen, Schönen jchau’ ich ftaunend zu, 
In mich e3 lernbegierig einzujaugen; 
Was da ijt, frag’ ich bloß, was mangelt, du.‘ 


Und auf dem Fremden ruhn des Meiſters Augen — 
Der Jugend Kraft, der hohen Schönheit Zier, — 
Ihm möcht’ ein jolcher zum Modelle taugen. — 


‚Du, Jüngling, findejt mich verzweifelnd jchier, — 
Wie Schmerz und Leben aus dem Stein zu jchlagen? 
Das Anjchaun der Natur verläßt mich hier. 


„Dergeblih wärs, nah Mietlingen zu fragen, 
Und bät’ ich dich, den edlen Kunſtgenoſſen, 
Du würdeſt deine Hilfe mir verjagen.” — 


„Ich würde”, Iprach der Jüngling, „unverdroifen, 
Der Kunjt zum Frommen und zu Gottes Ruhme, 
Dir leilten, was zu heiſchen du beſchloſſen.“ 


Er ſagt's, und jtrenger Schönheit jeltne Blume 
Enthüllt jofort dem Meiſter fi zur Schau 
In der verſchloſſ'nen Werkitatt Heiligtume. 


Er prüft mit Kennerblick und prüft genau 
Und kann ſich dem Gedanken nicht entwinden: 
Durchzuckte Schmerz den edeln Gliederbau! — 


„Und ſoll ich, was du ſprachſt, bewähret finden, 
So mußt du mir von dieſem Holze hangen!“ 
Der Jüngling läßt ans Kreuz ſich willig binden. 

Und wie er in die Schlingen ihn gefangen, 

Die Nägel holt, den Schlägel er herbei, 
Das Opfer muß den Martertod empfangen. 

Der erſte Nagel faßt, es ſchallt ein Schrei, 

Er trifft kein Ohr, kein Herz, das Auge wacht 
Allein und forſcht, was Schmerzensausdruck ſei. 


Chamiſſo. J. 25 


386 .  Gebichte: Sonette und Terzinen. 





Und haſtig wird das Gräßliche vollbracht, 
Und jchnell das blut’ge Vorbild aufgeſtellt; 
Gr jchreitet nun zur Arbeit mit Bedacht. 


Von graujer Freude wird ſein Blick erhellt, 
Wie der Natur er jebt es abgewonnen, 
Wie jih im Schmerz ein ſchöner Leib verhält. 


Die Hand Ihafft unabläſſig und bejonnen, 
Das Herz iſt allem Menſchlichen verdortt, 
Zu fühlen hat der harte Stein begonnen; 


Db aber bete der am Kreuze dort, 
Ob er in hoffnungslofer Qual verzage, 
Gr meißelt unabläſſig fort und fort. 


So kommt die Nacht heran vom dritten Tage; 
Verſchmachtet wird der Dulder bald erblaffen, 
Und bald verhallen eine letzte Klage. — 


‚Mein Gott, mein Gott, jo haft du mich verlaffen!“ 
Es ſinkt das Haupt, das fich erhob, zurüd; 
63 ijt vollbracht, was feine Worte Fallen, 

Und auch vollendet iſt ein Metjterjtüd. 


2. 


‚Mein Gott, mein Gott, Jo haſt du mich verlafjen!” 
Im Dome ward zur Nacht der Ruf vernommen; 
Wer ihn erhob? jie wußten's nicht zu fallen. 


Am Hochaltar, worauf ein Licht geglommen, 
Bewegte ſich geſpenſtiſch die Gejtalt, 
Aus deren Mund der Schmerzensſchrei gekommen. 


Sie warf ſich dann zur Erde, mit Gewalt 
Die Stirne ſchlagend an des Eſtrichs Steine, 
Die Wölbung hat vom Schalle widerhallt. 

Dann war's, als ob ſie unaufhaltſam weine 


Und in den Tränen Linderung gefunden; 
Sie ſtöhnte bei der Kerze letztem Scheine. 


60 


65 


80 


85 


90 


95 


100 


105 


110 


115 


Das Kruzifix. 387 


Und als der Nacht unheimlich bange Stunden 
Verfloſſen und der Morgen ſich erhellt, 
War's ſtill, und die Erſcheinung war verſchwunden. 


Nun eilt zum Kirchgang die erwachte Welt. 
Es drängen ſich die Chorherrn zum Altar; 
Drauf ragt ein Kruzifix, erſt aufgeſtellt. — 


Ein Gnadenbild, wie nie noch eines war; 
So hat der Gott den Todeskampf gerungen, 
So bracht' er ſich für uns zum Opfer dar. 


Es ſehend, ſchreit der Sünder reudurchdrungen 
Zu dem, der Sündern auch das Heil gebracht, 
Und: „Chriſt' eleiſon!“ ſchallt von allen Zungen. 


Nicht ſcheint das Werk von Menſchenhand gemacht; 
Wer möchte ſo das Göttliche geſtalten? 
Wie ſeltſam ſtieg es auf im Schoß der Nacht? — 


Des Meiſters iſt es, der uns hingehalten 
Mit Ausflucht (ange zögernd, zweifelsohne 
Das Äußerſte der Kunft noch zu entfalten. — 


Was bringen wir dem Trefflichen zum Lohne? 
Es iſt das Gold, das jchlechte, nicht genug; 
Gebührt dem Edlen nicht die Lorbeerkrone? 


Und bald geordnet war ein Ehrenzug, 
An welchem Lat’ und Prieſter Anteil nahmen; 
Voran ging, der den grünen Lorbeer trug. 


Und wie jte vor des Meiſters Wohnung kamen, 
War weit geöffnet, aber jtill das Haus, 
Auch ſtill beim Widerhall von feinem Namen. 


Wohl Ihallten Bauf und Zymbeln mit Gebraus 
Zu der Drommeten gellend hellem Ton, 
Doh niemand kam zum Teltempfang heraus. 


Verddet war dag Haus am Morgen jchon, 
Aus dem ein Nachbar ſich entfernen nur 
Sah pilgernd einen jehlichten Menſchenſohn. 


95 * 


20 


388 ‚. „berliner? EANNEE RE 


Die Herren traten jpähend auf den Flur, 
Sie brachen fih durch wüſte Zimmer Bahn, 
Sie trafen nicht auf eines Menſchen Spur; 


Sie riefen, ohne Antwort zu empfahn, 

Und hörten leer die Räume widerhallen; 

Sie drangen in die Werkitatt: was fie jahn — 
Darüber läßt das Lied den Schleier fallen. 


3: 


Den heim ſie bringen, haben fie beichuldigt, 
Daß den Propheten er geläjtert habe 
Und ihrem falſchen Mahom nicht gehuldigt. 


Der fremde Bilger iſt's am Wanderitabe, 
Der büßend unter diefen Palmen wallte 
Und uns erzählte von dem heil'gen Grabe. 


Wird gegen ihre Henker diejer Alte 
Bewähren eines Chrijten feiten Mut? 
Ihn jtärfe Gott, daß er am Glauben Halte! 


63 gleißet arg verlodend zeitlich Gut; 
Ihm iſt's beichteden, läßt er fich verleiten, 
Und bleibt ex unerichüttert, fließt jein Blut. 


Blickt dort nicht Hin! Ein Gräßliches bereiten 
Die blutgewohnten Schergen. Wehe, Wehe! 
Vielleicht, daß bald wir ihn dahin begleiten. 


Er kommt, — fie führen ihn daher; ich ſehe, 
Wie ein Geretteter, ihn freudig heiter, 
Als ob er neuem Glück entgegengehe. 


Hat er erfauft..... NRo nein! fie jehreiten weiter 
Der blut’gen Stätte zu; jo war's gemeint! 
Die Palme winkt dem ſtarken Gottesjtreiter. — 
„Weint nicht! ich Habe jelber nicht geweint, 


Als ich and Kreuz den jchönen Jüngling ſchlug; 
Mir war in meiner Bruſt das Herz verjteint.“ — 


125 


130 


140 


145 


150 


155 


160 


165 


170 


175 


Das Kruzifir. — Salas y Gomez: 1. 389 


Und angjtgepeitfcht begann den irren Zug 
Der Frevler unter feiner Sünde Laſt, 
Der Kains Zeichen an der Stine trug. — 
„Der du für mich den Tod erduldet Haft, 
Verfügſt du Huldreih, daß die Marter ende? 
Noch hofft’ ich, noch begehrt’ ich feine Raſt. 
„Unmwürdig, daß dein Blid auf mich ſich wende, — 
Der Tod, das Leben nicht, ijt leicht zu tragen; — 
Nimm, Gott der Gnade, mich in deine Hände!“ 
Als ihn die Schergen, ihn ans Kreuz zu jchlagen, 
Erariffen, jchten es ihm exit wohl zu fein; 
Die ihn umſtanden nur erhoben Klagen. 
Und als der Schmerz durchzucte fein Gebein, 
Und er am Marterholz erhoben war, 
Genoß er Frieden vor der innern Bein. 
Ora pro nobis! betete die Schar 
Der Gläub’gen, die am Fuß des Kreuzes wachte; 
Sein Dulden war ein Beten immerdar. 
Der Tag, die Nacht vergingen, und es machte 
Der zweite Tag fein Ende feiner Qual; 
Die dritte Sonne jchon den Lauf vollbrachte; 
Und wie fie jcheidend warf den letzten Strahl, 
Verſucht' er noch, ins Auge fie zu faſſen, 
Und rief und atmete zum lettenmal: 
„Mein Gott, mein Gott, du haſt mich nicht verlafjen!” 


an 


"alas y Gomez. 
1 


ns y Gomez raget aus den Fluten 
Des jtillen Meers, ein Felſen kahl und bloß, 
Verbrannt von jcheitelrechter Sonne Gluten, 
Ein Steingeſtell ohn’ alles Gras und Moos, 
Das ich das Volk der Vögel auserkor 
Zur Ruhſtatt im beivegten Meeresſchoß. 


390 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


So ſtieg vor unſern Blicken ſie empor, 
Als auf dem „Rurik“: „Land im Weſten! Sand!“ 
Der Ruf vom Maſtkorb drang zu unjerm Ohr. 


Als und die Klippe nah’ vor Augen jtand, 
Gewahrten wir der Meeresvögel Scharen 
Und ihre Brütepläße längs dem Strand. 


Da friicher Nahrung wir bedürftig waren, 
So ward beichlofjen, den Verſuch zu wagen, 
In zweien Booten an das Land zu fahren. 


63 ward dabei zu Jein mir angetragen. 
Das Schrecknis, das der Ort mir offenbart, 
Ich werd’ es jet mit jchlichten Worten jagen: 


Wir legten bei, bejtiegen wohlbewahrt 
Die ausgejetten Boote, jtießen ab, 


Und längs der Brandung rudernd ging die Fahrt. 


Wo unterm Wind das Ufer Schuß uns gab, 
Ward angelegt bei einer Felſengruppe, 
Wir jeßten auf das Trockne unjern ‚Stab. 


Und eine recht3 und links die andre Truppe, 
Verteilten ficd den Strand entlang die Mannen, 
Sch aber ftieg Hinan die Felſenkuppe. 

Vor meinen Füßen wichen faum von dannen 


Die Vögel, welche die Gefahr nicht Fannten 
Und mit getreten Hälfen fich bejannen. 

Der Gipfel war erreicht, die Sohlen brannten 
Mir auf dem heißen Schieferjtein, indeſſen 
Die Blicke den Gefichtäfrei3 rings umjpannten. 

And wie die Wüſtenei ſie exit ermeſſen 
Und wieder erdiwärt3 ſich gejentet haben, 

Läßt eines alles andre mich vergefjen. 

63 hat die Hand de3 Menſchen eingegraben 

Das Siegel jeines Geiftes in den Stein, 


Worauf ich jteh’, — Schriftzeichen ſind's, Buchſtaben. 


10 


20 


30 


40 


49 


50 


60 


65 


Salas y Gomez: 1. 391 


Der Kreuze fünfmal zehn in gleichen Reih'n, 
Es will mich dünken, daß ſie Lang’ bejtehen, 
Doch muß die flücht’ge Schrift Hier jünger fein. 
Und nicht zu leſen! — deutlich noch zu jehen 
Der Tritte Spur, die jte verlöjchet fait; 
Es jcheint ein Pfad darüber Hin zu gehen. 
Und dort am Abhang war ein Ort der Raft, 


Dort nahm er Nahrung ein, dort Gierjchalen! 
er war, wer it der graujen Wildnis Gajt? 


Und jpähend, lauſchend jchritt ich auf dem fahlen 
Geſims einher zum andern Felfenhaupte, 
Das zugemwendet liegt den Morgenſtrahlen. 
Und wie ich, der ich ganz mich einfam glaubte, 
Erklomm die leßte don den Schieferitiegen, 
Die mir die Anficht von dem Abhang raubte: 
Da jah ich einen Greifen vor mir Liegen, 
Wohl Hundert Jahre, mocht’ ich jchägen, alt, 
Des Züge, Ichten es, wie im Tode jchwiegen. 
Nackt, langgeſtreckt die riefige Geitalt, 
Von Bart und Haupthaar abwärts zu den Lenden 
Den hagern Leib mit Silberglanz umwallt, 
Das Haupt getragen von des Tellen Wänden, 
Im ſtarren Antli Ruh’, die breite Bruft 
Bedeckt mit übers Kreuz gelegten Händen. 
Und wie entjeßt, mit ſchauerlicher Luſt 
Ich unverwandt das große Bild betrachte, 
Entfloſſen mir die Tränen unbemwußt. 
Als endlich wie aus Starrkrampf ich erwachte, 
Entbot ich zu der Stelle die Gefährten, 
Die bald mein lauter Ruf zuſammenbrachte. 
Sie lärmend herwärts ihre Schritte kehrten 
Und jtellten, bald veritummend, ji zum Kreis, . 
Die fromm die Feier jolchen Anblids ehrten. 


392 f Gebichte: Sonette und Terzinen. 
Und ſeht, noch reget jich, noch atınet Leis, 
Noch Ichlägt die müden Augen auf und bebt 
Das Haupt empor der wunderſame Greis. 75 


Er ſchaut uns zweifelnd, jtaunend an, bejtrebt 
Sich, noch zu jprechen mit erjtorbnem Wunde, — 
Umfonjt! er ſinkt zurüd, er hat gelebt. 
Es ſprach der Arzt, bemüh’nd in diefer Stunde 
Sih um den Leichnam noch: „Es iſt vorbei!” &0 
Wir aber jtanden betend in der Runde. 
E3 lagen da der Schiefertafeln drei 
Mit eingerigter Schrift; mir ward zu Teile 
Der Nachlaß von dem Sohn der Wüſtenei. 
Und wie ich bei den Schriften mich verweile, 85 
Die rein in ſpan'ſcher Zunge find geichrieben, 
Gebot ein Schuß vom Schiffe her uns Eile, 
Ein zweiter Schuß und bald ein dritter trieben 
Von dannen ung mit Haft zu unjern Booten; 
Wie dort er lag, tjt liegen ex geblieben. 90 
Es dient der Stein, worauf er litt, dem Toten 
Zur Ruheſtätte wie zum Monumente, 
Und Friede jet dir, Schmerzenzjohn, entboten! 
Die Hülle gibjt du hin dem Glemente; 
Allnächtlich jtrahlend über dir entzünden 95 
Des Kreuzes Sterne! fih am Firmamente, 
Und was du littejt, wird dein Lied verfünden. 
2. Die erjte Schiefertafel, 
„Mir ward von Freud’ und Stolz die Bruft gejchwellt, 
Ich Jah bereit3 im Geijte hoch vor mir 
Gehäuft die Schäße der gejamten Welt. 100 
„Der Ebdeljteine Licht, der ‘Perlen Zier 
Und der Gewänder Indiens reichſte Pracht, 
Die legt’ ih alle nur zu Füßen ihr. 








1 Das füblihe Kreuz ift ein Sternbild des füdlichen Himmels (vier in Kreuz— 
form ftehende heile Sterne). Vgl. V. 166 und 316. 


105 


110 


115 


120 


125 


135 


Salas y Gomez: 1. — 2. Die erfte Schiefertafel. 5393 





„Das Gold, den Mammon, dieje Erdenmacht, 
An welcher jich das Alter liebt zu jonnen, 
Sch Hatt’3 dem grauen Vater dargebracht. 


„And jelber hatt!’ ich Ruhe mir gewonnen, 
Gekühlt der tatendurjt’gen Jugend Glut 
Und war geduldig worden und bejonnen. 


„Sie Schalt nicht fürder mein zu raſches Blut; 
Ich wärmte mich an ihres Herzens Schlägen, 
Bon ihren weichen Armen janft umruht. 


„Es ſprach der Vater über ung den Gegen, 
Ich fand den Himmel in des Haujes Schranten 
Und fühlte feinen Wunſch ſich fürder regen. 


„So wehten töricht vorwärts die Gedanfen; 
Ich aber lag auf dem Verdeck zu Nacht 
Und Jah die Sterne durch das Tauwerk ſchwanken. 


„sh ward vom Wind mit Kühlung angefacht, 
Der jo die Segel jpannte, daß wir faum 
Den flücht’gen Weg je jchnellern Laufs gemacht. 


„Ya jchredte mich ein Stoß aus meinem Traum, 
Erdröhnend durch das ſchwache Bretterhaus; 
Ein Wehruf hallte au dem unterm Raum. 


„Ein zweiter Stoß, ein dritter; frachend aus 
Den Fugen riß das Plankenwerk, die Welle 
Schlug jhäumend ein und endete den Grau. ' 


„Verlorner Schwimmer in der Brandung Schwelle, 
Noch rang ich jugendkräftig mit den Wogen 
Und ſah noch über mir die Sternendelle. 


„Da fühlt’ ich in den Abgrund mich gezogen, 
Und wieder aufwärts fühlt’ ich mich gehoben 
Und jchaute einmal noch des Himmels Bogen. 

„Dann brach die Kraft in der Gewäller Toben; 
Sch übergab dem Tod mich in der Tiefe 
Und jagte Lebewohl dem Tag dort oben. 


394 . Gedichte: Sonette und Terzinen. 





„Da jchien mir, daß in tiefem Schlaf ich jchliefe, 
Und jei mir aufzumwachen nicht verliehen, 
Obgleich die Stimme miv’3 im Sinnen tiefe. 


„Ich rang, mich ſolchem Schlafe zu entziehen, 
Und ich beſann mich, ſchaut' umher und fand, 
63 habe hier das Meer mich ausgefpieen. 

„Und wie vom Todesſchlaf ich auferjtand, 
Bemüht’ ich mich, die Höhe zu erjteigen, 

Um zu erfunden dies mein Rettungsland. 

„Da wollten Meer und Himmel nur fich zeigen, 


Die diefen einfam nadten Stein umimanden, 
Dem nackt und einjam jelbjt ich fiel zu eigen. 


„Wo dort mit voller Wut die Wellen branden, 
Auf fernem Riffe war dag MWrad zu jehen, 
Woſelbſt es lange Jahre noch gejtanden. 


„Mir unerreihbar! — und des Windes Wehen, 
Der Strom, entführen jeewärt3 weiter fort 


Des Schiffbruchs Trümmer, welcher dort gejchehen. 


„Ich aber dachte: nicht an ſolchem Ort 
Wirt lange die Gefährten du beneiden, 
Die früher ihr Geſchick ereilte dort. 


‚Nicht aljo, — mich, es will nur mich vermeiden! 
Der Vögel Eier reichen Hin allein, 
Mein Leben zu verlängern und mein Leiden. 


„Selbander leb' ich Jo mit meiner Bein 
Und kratze mit den jcharfen Muſchelſcherben 
Auf diefen mehr al3 ich geduld’gen Stein: 
‚sch bin noch ohne Hoffnung, bald zu ſterben.“ 


3, Die andere Sciefertafel, 


„sch ſaß vor Sonnenaufgang an dem Strande, 
Das Sternenkreuz verkündete den Tag, 
Sich neigend zu des Horizontes Rande. 


140 


145 


150 


160 


165 


Salas y Gomez: 2. Die erfte Schiefertafel. — 3. Die andere Sciefertafel. 395 











„And noch gehüllt in tiefes Dunkel lag 
Vor mir der Often, leuchtend nur entrollte 
170 Zu meinen Füßen ich der Wellenichlag. 


„Mir war, al3 ob die Nacht nicht enden wollte; 
Mein jtarrer Bli lag auf des Meeres Saum, 
Mo bald die Sonne fich erheben jollte. 


„Die Bögel auf den Nejtern, wie im Traum, 
175 Erhoben ihre Stimmen; blaß und blaſſer 
Erlojeh der Schimmer in der Brandung Schaum; 
„Es jonderte die Luft fih von dem Wafjer, 
In tiefem Blau verſchwand der Sterne Chor; 
Ich kniet' in Andacht, und mein Aug’ ward najfer. 
10 ‚Nun trat die Pracht der Sonne jelbit hervor, 
Die Freude noch in wunde Herzen ſenkt; 
Sch richtete zu ihr den Blick empor. 
„Ein Schiff! ein Schiff! mit vollen Segeln Ienft 
63 herwärts jeinen Lauf mit vollem Winde; 
185 Noch Lebt ein Gott, der meines Elends denkt! 


„O Gott der Liebe, ja, du jtrafjt gelinde; 
Kaum hab’ ich dir gebeichtet meine Reu', 
Erbarmen übjt du ſchon an deinem Kinde. 

„Du öffneft mir das Grab und führt aufs new’ 


190 Zu Menſchen mich, jie an mein Herz zu drüden, 

Zu leben und zu lieben warm und treu. 
„And oben von der Klippe höchſtem Rüden 

DBetrachtend ſcharf das Fahrzeug, ward ich bleich; 
Noch mußte mir bemerkt zu werden glücken. 

195  ,&S wuchs das hergetragne Schiff, zugleich 
Die Angſt in meinem Buſen namenlo3; 
Es galt des Fernrohr? möglichen Bereich. 


„Nicht Rauch! nicht Flaggentuch! jo bar und bloß, 
Die Arme nur vermögend auszubreiten! 
200 Du kennst, barmherz’ger Gott, du fühlt mein Los! 


396 Gedichte: Eonette und Terzinen. 


„Und ruhig Jah ich Her das Fahrzeug gleiten 
Mit mwindgejchiwellten Segeln auf den Wogen, 
Und Ichwinden zwiſchen ihm und mir die Weiten. 


„Und jegt —! e3 hat mein Ohr mich nicht betrogen, 
Des Meiſters Pfeife war's, vom Wind getragen, 205 
Die wohl ich gier’gen Durjtes eingejogen. 


„Wie wirjt du erjt, der ſeit jo langen Tagen 
Entbehrt ich habe, wonnereicher Laut 
Der Menſchenred', and alte Herz mir jchlagen! 


„Sie haben mich, die Klippe doch erichaut, 210 
Sie rüden an die Segel, im Begriff, 
Den Lauf zu ändern. — Gott, dem ich vertraut! 


‚Nah Süden — —? Mohl! fie müjlen ja das Riff 
Umfahren, fern fich halten von der Brandung. 
O, gleite ficher, hoffnungsichweres Schiff! 215 


„Jetzt wär es an der Zeit! o meine Ahndung! 
Blickt her! blickt her! legt bei! ſetzt aus das Boot! 
Dort unterm Winde, dort verfucht die Landung! 


„And ruhig vorwärtsitrebend, ward das Boot 
Nicht ausgejeßt, nicht ließ es ab zu gleiten, 220 
Es wußt' gefühllos nicht3 von meiner Not. 


„And ruhig Jah ich Hin das Fahrzeug gleiten 
Mit windgejchwellten Segeln auf den Wogen, 
Und wachſen zwijchen ihm und mir die Weiten. 


„Und al3 es meinem Blicde jich entzogen, 225 
Der's noch im leeren Blau vergebens Jucht, 
Und ich verhöhnt mich wußte und belogen, 


„Da hab’ ich meinem Gott und mir geflucht, 

Und an den Felſen meine Stirne ſchlagend, 

Gewütet Tinnverwirret und verrucht. 250 
„Drei Tag’ und Nächte lag ich jo verzagend, 

Wie einer, den der Wahnfinn hat gebunden, 

Im grimmen Zorn am eignen Herzen nagend, 





240 


250 








Ealas y Gome;: 3. Die andere Schiefertafel. — 4. Die legte Schiefertafel. 


„Und hab’ am dritten Tränen erjt gefunden, 
Und endlich e8 vermocht, mich aufzuraffen, 
Vom allgewalt’gen Hunger überwunden, 

Un meinem Leibe Nahrung zu verichaffen.“ 


4, Die letzte Schiefertafel, 


„Geduld! Die Sonne jteigt im Oſten auf, 
Sie finft im Weſten zu des Meeres Plan, 
Sie hat vollendet eines Tages Lauf. 


„Geduld! Nach Süden wirft auf ihrer Bahn 
Sie jet bald wieder jenfrecht meinen Schatten, 
Ein Jahr iſt um, es fängt ein andres an. 

„Geduld! Die Jahre ziehen ohn' Ermatten, 

Nur grub für fie fein Kreuz mehr deine Hand, 
Seit ihrer funfzig fich geveihet Hatten. 

„Geduld! Du harreſt ftumm am Mteeresrand 

Und blickeſt jtarı in öde, blaue Ferne 


Und lauſchſt dem Wellenihlag am Teljenitrand. 


„Geduld! Laß kreiſen Sonne, Mond und Sterne, 
Und Regenſchauer mit der Sonnenglut 
Abwechjeln über dir! Geduld erlerne! 


„Ein Leichtes iſt's, der Elemente Wut 
Sin hellen Tagesſcheine zu ertragen, 
Bei regem Augenlicht und wachen Mut. 


„klein der Schlaf, darin ung Träume plagen, 
Und mehr die jchlaflos lange, bange Nacht, 
Darin jie aus dem Hirn hinaus fich wagen! 


„Sie halten graujig neben uns die Wacht 
Und reden Worte, welche Wahnfinn locken; — 
Hinweg! hinweg! wer gab euch jolche Macht? 


„Das jchüttelft du im Winde deine Locken? 
Sch kenne dich, du rafcher, wilder Knabe, 
Sch ſeh' dich an, und meine Pulſe ſtocken. 


397 


398 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„Du biſt ich jelbjt, wie ich gejtrebet Habe 265 
In meiner Hoffnung Wahn vor grauen Jahren, 
Ich bin du jelbit, das Bild auf deinem Grabe. 


„Was ſprichſt du noch vom Schönen, Guten, Wahren, 
Von Lieb’ und Haß, von Tatendurſt? Du Tor! 
Sieh her! ich bin, was deine Träume waren. 270 


„And führeſt wiederum mir dieje vor? 
Laß ab, o Weib, ich habe längjt verzichtet, 
Du hauchſt aus Aſchen noch die Glut empor! 


Nicht jo den ſüßen Bli auf mich gerichtet! 
Das Licht der Augen und der Stimme Laut, 275 
Es Hat der Tod ja alles ſchon vernichtet. 


„Aus deinem hohlen, morſchen Schädel ſchaut 
Kein jolcher Himmel mehr voll Seligfeit; 
Verfunfen iſt die Welt, der ich vertraut. 


„sh habe nur die allgewalt’ge Zeit 280 
Auf diefem öden Felſen überragt 
In graujenhafter Abgeſchiedenheit. 


„Was, Bilder ihr des Lebens, widerſagt 
Ihr dem, der ſchon den Toten angehöret? 
Zerfließet in das Nichts zurück, es tagt! 285 


„Steig auf, o Sonne, deren Schein beſchwöret 
Zur Ruh’ den Aufruhr diefer Nachtgenofien, 
Und ende du den Kampf, der mich zerjtöret! 


„Sie bricht hervor, und jene find zerfloffen. — 
Sch bin mit mir allein und Halte wieder 290 
Die Kinder meine Hirns in mir verſchloſſen. 


„O, tragt noch Heut, ihr altersitarren Glieder, 
Mich dort hinunter, wo die Nejter liegen; 
Sch Lege bald zur lebten Rajt euch nieder. 
„Verwehrt ihr, meinem Willen euch zu Fchmiegen, 295 
Wo machtlo8 innre Qualen fich erprobt, 
Wird endlich, endlich doch der Hunger ſiegen. 


300 


305 


310 


315 


alas y Gomez: 4. Die lette Schiefertafel. — Das Malerzeichen. 399 





„Es Hat der Sturm im Herzen ausgetobt, 
Und hier, wo ich gelitten und gerungen, 
Hier hab’ ich auszuatmen auch gelobt. 

„Laß, Herr, durch den ich jelber mich hezwungen, 
Nicht Schiff und Menſchen diefen Stein erreichen, 
Bevor mein leßter Klagelaut verklungen! 

„Lab Elanglos mich und friedjam bier exbleichen! 
Was frommte mir annoch in jpäter Stunde, 
Zu wandeln, eine Leiche über Leichen? 

„Sie ſchlummern in der Erde fühlem Grunde, 
Die meinen Eintritt in die Welt begrüßt, 

Und längſt verichollen ift von mir die Kunde, 

„Ich habe, Herr, gelitten und gebüßt, — 

Doch fremd zu wallen in der Heimat — nein! 
Durch Wermut wird das Bittre nicht verfüßt. 

„Laß, weltverlaſſen, jterben mich allein 
Und nur auf deine Gnade noch vertrauen! 
Von deinem Himmel wird auf mein Gebein 

Das Sternbild deines Kreuzes niederſchauen.“ 


Das Malerzeichen. 
Maria jang: 
3 wird aus trägen Stunden 
Am Ende doch auch ein Tag, 
Ein trüber Tag, den die Sonne 
Nicht jcheinend erfreuen mag. 
Du bijt nicht gefommen, Wilhelm, 
Und warjt mir einjt doch qut; 
Dein Aug’ hat wohlgefällig, 
Dein klares, auf mir geruht. 
Halt wohl ein Gemälde gefertigt, 
Wo deine Muf’ ich war; 
63 jtellt dag verlaffene Mädchen 
Ein anderes Bild nun dar. 


. 
a) 


400 . Gedichte: Sonette und Terzinen. 





Und wenn ich allein auch weinen, 
Sa, weinen und jterben muß, 

Ich habe durch dich empfunden 
Des Glüdes Uberfluß. 


Und wenn du auch mich betrübelt, 
Du bijt mein einziges Licht; 
Und trüg’ ich dich nicht im Herzen, 
Sp möcht’ ich das Leben nicht. 


Sch will dich Lieben, dich ſegnen, 
Dich jegnen viel taujfendmal, 
So viel al3 Sterne am Himmel, 
So viel al3 Blumen im Tal, 


So viel als Blätter im Walde 
Verjtreut der herbitliche Wind, 

Co viel al3 von meinen Augen 
Dir Tränen geflojjen jind. 


Der Hofrat ſprach: „Laß, junger Mann, dich warnen, 


Im Labyrinthe weiſen dich zurechte 
Den väterlichen Freund, den vielerfahrnen! 


„Du ringjt nach Freiheit; aber gleich dem Knechte 
Frönſt willenlog du blinder Raſerei, 
Denn dich beherrjchen der Begierden Mächte. 


„Zerbrich dein Joch, ergib dich uns und fei 
Der unſre nur; im heil’gen Ordensbunde, 
Im Stande des Gehorſams wirſt du frei. 

„Entjagjt du mutig in der Weihe Stunde 


Den Götzen, die ala höchſter Zweck dir galten, 
Und reißejt blutig fie aus Herzens Grunde, 


„Wirſt über jie als Mittel du noch Tchalten, 
Dann dienen Kunſt und ird'ſche Liebe dir 
Und frönen deinem gottgeweihten Walten, 


15 


30 


35 


40 


45 


50 


55 


60 


65 


70 


Das Malerzeichen. 401 





„Die Mittel heiliget der Zwed, und hier 
Tritt jündentilgend ein der Kirche Macht: 
Der Geijt it willig, ſchwach des Fleiiches Gier.“ 


Der Maler drauf: „Halt eines du bedacht? 
Du willit das Heil der Seele mir verkünden 
Und haft um meine Ruhe mich gebracht. 


„Dir find die Kunft, die feujche Liebe Sünden; 
Einfältig wähnt ich, Fromm zu fein und qut, — 
Ich kann dich nicht erfaſſen, nicht ergründen.“ 


Er Ipricht’3 mit trüben, mit gebrochnem Mut; 
Es hat fich von der Staffelei erhoben 
Sein blaues Auge, das auf jenem ruht. 


Und er darauf: „Dein Sinn ift noch umwoben 
Von trübem Nebelflor, dein Auge blind; 
Doch biſt du folgſam, wirft du noch mich Toben. 


„Der Glanz, der Reichtum dieſes Haufe find 
Dir Zeugen, e3 bedenke jchon hienieden 
Die Kirche, die da jelig macht, ihr Kind. 


„zaß in die goldnen Ketten exit dich jchmieden, 
63 führt der Orden dich zu Glück und Ehren, 
Und erſt in ihm erlangejt du den Frieden. 


„Großmutter wird des befjern dich belehren; 
Erwarte fie, dein Herz verjchließe nicht 
Der janften Lockung ihrer Elugen Lehren. 


„Mich ruft der Glockenſchlag zu andrer Pflicht. 
Betjtunde muß ich mit den Weinen halten; 
Benuße du indes das Tageslicht. 


„Du halt das Bild der Unſchuld zu geitalten, 
Dir jißt dazu mein holdes Schmweiterlein; 
Du magjt hiev deine Kunſt mit Luft entfalten!“ 
Er ſprach's und ging; der Jüngling blieb allein 
Mit jener Schweiter und den eignen Qualen; 
Es mochte wohl gar nächtlich in ihm jein. 
Chamifjo. I. 26 





402 Gedichte: Sonette und Terzinen. 


63 war das Mädchen, das er jollte malen, 
Verführeriich und. reizend wie die Luft, 
Und blendend jchöner als der Sonne Strahlen. 


Doch war er feiner Lockung fich bewußt; 
Er trug, und diejes jah er nur, verichlofjen 
Ein andres Bild in feiner tiefjten Bruft. 


Des jeltnen Kindes wonn’ge Blide floſſen 
Von jenem wunden Herzen ab; e& drang 
Kein Pfeil, auf die verwahrte Bruſt geſchoſſen. 


Und wieder bald jtrenenartig jang 
Das Feenkind gar wunderjame Lieder; 
Er malte, laufchte nicht dem Zauberflang. 


Er jah fie an mit Künjtlerblid, und wieder 
Das eigne Werk, doch ihren Reizen blind; 
Schon ſenkte dämmernd fich der Abend nieder. 


Die Alte Fam; es flog ihr Enkelkind 
Zu ihr liebkoſend mit anmut’gem Ccherze; 
Sie ſchloß fie in die Arme traut und lind: 
„Du biſt mein Schoßfind, biſt mein liebes Herze!“ 
Und Wilhelm, der vor jeiner Tafel jtand, 
Hub an zu reden mit verhaltnem Schmerze: 


„Du wirt das Werk, o Herrin, meiner Hand 
Nicht loben; wurde doch von mir begehrt 
Der Unschuld Engelbild im Lichtgewand; 
„Es hat jich in die Wolluſt mir verkehrt.“ 
Und fie darauf: „Hier find’ ich nicht? zu rügen, 
Die Unschuld wird am erjten jo verehrt. 
‚Man muB die Welt zu ihrem Heil betrügen, 
Nur werde den Betrug fie nimmer inne; 
hr taugt die Unjchuld mit der Wollujt Ziigen. 
„Die förnet und gar manchen zum Gewinne, 
Gar manchen, der die nadte Wahrheit jcheute, 
Denn mächtig in dem Mtenjchen find die Sinne. 


80 


85 


90 


100 


105 


110 


115 


120 


125 


130 


135 


140 


Das Malerzeichen. 


„Du wartejt, daß ich deinen Weg dir deute? 


Sie iſt mein Kind, du fannjt das andre fein, — 


Sei unfer nur, ergib dich uns noch heute! 


„Vo nur mein Enkel weilt?“ — Der trat herein, 


Beitürmend fie mit rätielhaften Fragen: 


„Großmutter, warjt du dort, und wird's gedeihn? 


„Wird deine Saat auch dort in Flammen jchlagen?“ 
Sie Jah mit Stoß ihn an und hob das Haupt: 


„Zriumph! du Hajt den Sieg davongetragen!” 


Er jtand, ungläubig fait, wie jinnberaubt: 


„Du haft vermocht ...? — Der Meineid, den er jhwur... 
Sie late: „Du! der noh an Schwüre glaubt?! 


„Des Schlojjes Eleine Tür, jobald die Uhr 
Die zwölfte Stunde jchlägt, wird aufgetan, 
Ein Weib ericheint, du folgeſt ihrer Spur; 

„Man wartet deiner auf dem SHochaltan; 
Und graut im Oſten exit der junge Tag, 


So bricht der Morgen deiner Herrſchaft an.“ 


Der Maler Hatte fich entfernt; es lag, 


Entihluß zu fallen, ſchwer ihm, wie Verbrechen, 


Als einem, der ſich jelbjt nicht trauen mag. 
Er war, um nur von jeiner Kunjt zu jprechen, 


Nur Rajt vom innern Kampfe zu erlangen 
Und der Gedanken Drang zu unterbrechen, 
Zum gleichgefinnten Kunjtfreund Hingegangen. 





Maria jang: 
Sch habe mit Bangen und Grauen 
Die tiefe Mitternacht, 
Dein treue Bild im Herzen, 
Und trauernd herangewacht. 
63 iſt gar müde geworden 
Das Auge, das Tränen vergiekt, 


26* 


4053 


404 . Gedichte: Sonette und Terzinen. 


Und banger drohen die Stunden, 
Wann: erit es der Schlummer verichließt. 


63 lauern die böſen Träume, 
Verwirrend des Menſchen Sinn, 
63 beugen die Nachtgejpeniter 
Verſuchend fich über ihn Hin. 
Schlaf wohl! jchlaf wohl, mein Geliebter! 
Ich grüße dich inniglich; 
Sch will zu dem Vater beten, 
Will beten für dich und mich: 
Grlaß uns unjere Schulen, 
Wie jelbjt wir andern getaı! 
Entferne von uns den Verjucher, 
Verſchließ uns des Böſen Bahn! 
Dein Heiliger Wille gejchehe 
Auf Erden, der unjere nicht! 
Geheiliget werde dein Name, 
Und fomme dein Reich und das Licht! 


Er Hatte laut gefprochen, Wein genojjen 
Und lauter jtet3 zu ſprechen fich befliſſen, 
Bejtaunt von feinem Freund und Kunſtgenoſſen; 
So hoffend, wie da3 Herz ihm auch zerriffen, 
Gr werde deſſen Stimme überjchrein 
Und ſich und jenen zu betrügen willen. 


Und in der öden Wohnung nun allen, 
Im Stillen Schoß der düjtern Mitternacht, 
Bei jeiner Lampe jpärlich blaffem Schein, 
Da war der innre Zwiſt neu angefacht; 
Er ging mit heft’gen Schritten durch das Zimmer, 
Durchwühlend grimmig feines Buſens Schacht: 
‚Maria, Reine! Dich verlaffen? Nimmer! 
Biſt ja mein Herz, bijt meines Lebens Kern, 
Biſt meiner treuen Hoffnung ferner Schimmer! 


145 


150 


160 


165 


170 


185 


190 


195 


205 


Das Malerzeichen. 405 





„Mein Himmel ijt die Kunjt und du mein Stern; — 
Und diefer auch, und auch der Kunſt entjagen? 
Kein, nein! Es bleibe die VBerfuchung fern! 

„Sch werd’ euch im getreuen Bujen tragen, 

Der ich euch jonder Wanken treu geblieben, 
Solang’ ic atme und die Pulſe jchlagen. 
„And diefe Menſchen, welche doch mich Lieben! 
Der Hofrat, welcher fat mir Bater war 
Und jchon mich zur Verzweiflung jchier getrieben 


„And weile war jein Wort und jchien auch wahr, 
Und flug der Anjchlag, den er fromm erſonnen, — 
Wohl it die Frömmigkeit der beiden flar. — 

„Bon welchen Negen fühl ich mich umfponnen? 

Wer hat zum VBormund dieje mir bejtellt? 
Daß ſolche Macht fie über mich gewonnen! 
„zum Zeufel! — Teufel?" — Innehaltend, fällt 
Ein Pinſel ihm ins Aug’, ihn faßt die Hand, 
Er hält ihn, wie man den zum Wtalen hält, 
Und malt, und malt den Teufel an die Wand; 
Er malt mit Fleiß die fraßenhaften Züge 
Und jtarıt ihn an, den Satan, unverwandt. 

Er ſchilt ihn aus: „Verſucher! Geiſt der Lüge! 
Wie jchon in mir, jo auch da draußen haufe 
Und jteh mir Rede, was ich auch dich früge!“ 

Da rauſcht's, da löſt ji von der Wand das grauje, 
Das jcheußliche, geipenitiiche Geſicht; 

Es reckt ſich, raget in die innre Klauſe, 

Verdreht die Augen, ſtarrt ihn an und ſpricht 
Mit gräßlich aufgeſperrtem, weitem Rachen: 

„Dir Rede ſtehn? nun ja! warum denn nicht?“ 

Dann bricht es aus in ſchauderhaftes Lachen; 

Und bleich und zitternd ſtand davor der Maler; 
Und weiter ſpricht es: „Nun, was willſt du machen? 


406 - Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„Du wollteſt Rat und zitterit? Pfui! du Prahler! 
Der uns von euch gejondert hält, der Strich 
Sit, merkſt du nun zu ſpät, doch nur ein jchmaler. 


„Nein Rat it der: Die Kirche, welche ſich 210 
Um dich bewirbt, der Rat, das alte Weib, 
Du haft e3 los, fie jind dir miderlich; 


„Dir bleibt die Kunſt ein beſſ'rer Zeitvertreib, 
Und als Maria minder auch behagt 
Das dumme Ding dir mit dem weichen Leib. 215 


„Wohlan denn! nicht gejammert noch geklagt! 
Du ſollſt Schon, den du braucheit, an mir haben 
Und wirt von feinem Frommen mehr geplagt. 


„Du malit, ich wuchre noch mit deinen Gaben, — 
Ein armes Nichts, ein bißchen Höllendunſt, 220 
Ein Firnis, Aug’ und Herz daran zu laben; — 


„Bor deinen Tafeln Fällt die Welt in Brunft, 
Mit Lorbeer krönt fie dich nach altem Brauch 
Und ſchreit: o Wunder! über deine Kunft. 


„Das Wunder, Schaß, bewirket nur ein Hauch, 225 
Ein bloßer Hauch aus deines Knechtes Munde; 
Sch bin ja, wie du weißt, ein Künjtler aud). 


„Sei exit, du armer Schelm, mit mir im Bunde, 
So ſchwillt dein Glüd; du wirt es nicht bereuen, 
Denn viel vermag ich auf dem Erdenrunde. 230 


„So muß auch bald Wearia dich erfreuen; 
Und wirst in ihrem Arm du falt und wüſt, 
Will ich zur Sünde dir die Kraft erneuen; 
„And haft an ihr du deine Luft gebüßt, 
Beihaff ich andres für den nächjten Morgen, 235 
Denn erſt durch Wechjel wird das Ding verfüßt. 
„Du ſchwelgeſt immer zu und läßt mich Jorgen; 
Dein Freund, dev Nat, der heuchleriiche Schuft, 
Kommt noch zu Dir, um Geld von div zu borgen. 


240 


250 


265 


Das Malerzeichen. 407 


„D das Gezücht! ich wittre Höllenduft! — 
Sind dir die Frommen jo wie mir verhaßt, 
So ſchimpfe mit! es macht der Lunge Luft.“ 


» Der Maler: „Schweig! Berleumder, halte Rajt! 


Du wirjt mich auf die Weiſe nicht gewinnen; 
Wohl Gottes find, die du geläjtert haſt. 


„Bas mir zu tun geziemet, werd’ ich ſinnen; 
Doch, Scheuſal, Satan, wie dich Namen nennen, 
Du wirft mir aus dem Garne nicht entrinnen. 


„Dir auf der Stine joll mein Zeichen brennen, 
Bei Gott! mein votes Kreuz und allerorten 
Will ich daran, wie du dich jtellit, dich fennen.“ 


Flugs greift er nach dem roten Binjel dorten: 
Zwei Striche, — ſo! — das Kreuz — des Maler3 Zeichen, 
Er hat es ſchnell vollführt nach jeinen Worten. 


Da ſieht er wiederum zurücdemweichen 
Wie jchredhaft das erjterbende Geſicht, 
Sich mit der flachen Mauer auszugleichen. 
Was Raufh, was Wahnfinn war, er weiß es nicht; 
Vom Fieberfrojte jchlottern feine Glieder, 
Er ſinkt zu Boden, e3 erlischt das Licht, 
Und endlich träufelt Schlummer auf ihn nieder. 





Maria fang: 
Willkommen, du Gottesionne, 
Willtonımen im Himmelsraum! 
Halt freudig mich aufgewecket 
Aus einen freudigen Traum. 


Erſchauſt du meinen Geliebten, 

O, Ihmeihl ihm mit freundlichem Strahl 
Und jag’ ihm, ich ließ’ ihn grüßen, 

Sa, grüßen viel taujendnral. 


— 





408 - Gedichte: Sonette und Terzinen. 





180) 
1 
© 


Der erjte Strahl der Niorgenjonne traf 
Des Maler Augen, welcher hingeſtreckt 
Noch auf dem Ejtrih lag in tiefem Schlaf. 
Und wie der helle Schein ihn aufgeweckt, 
Bejann er ſich und fuchte nach der Spur 
Der Bilder, die zu Nacht ihn jo erichredt. 275 
Ob er's erlebt Hat, ob geträumet nur? — 
Nicht alles war ein Traum, — noch zeigt die Wand 
Die jonderbare teufliiche Figur. 
Sie iſt fein Merk, unficher nur die Hand, 
Den Bildern auch phantaſtiſch zu vergleichen, 280 
Die eines Trunknen UÜbermut erfand. 
Noch aber will ein Zweifel ihn bejchleichen: 
63 fehlt, und müßte da jein, — ſonderbar! — 
Da, auf der Stirne fehlt das Mtalerzeichen; 
Und ijt ihm die Erinnerung doch Klar, 285 
Er zeichnete damit den böjen Geilt, 
Daran ihn zu erkennen immerdar. 
Der Nlangel diejes Zeichens, ex beweiit, 
Daß auch mit Wahngebilden er gerungen; 
Er fragt fich jelbjt, was ihm der Spuk verheißt. 290 
Er prüft des Nachtgeipenites Läjterungen, 
Prüft jeiner frommen Freunde janften Zug 
Und fühlet dem zu folgen fich gedrungen. 
Die Wut des Unholds, die in Flammen jchlug, 
Als Ihrer ward erwähnt, jein grimmig Hallen, 295 
Sein Hohn, ſein Schmähn, ſie reden laut genug. — 
„Dir opfr' ich, Gott, was feine Worte fallen; 
Nimm jo mich Hin, wie ich verarmt nun bin! — 
Ich will mich ihrer Führung überlaſſen.“ 
Er ipricht’3 und weint, er meint in feinem Sinn: 300 
Es werde jchnell das Schmerzliche vollendet. 
Er weint und rafft ſich auf und gehet hin. 





Das Malerzeichen. 409 





Und wie er dorthin jeine Schritte wendet, 
Betäubt jein Ohr ein dumpfes Sturmgeläute; 
305 Vom Glanz der Waffen wird jein Aug’ geblendet. 
Berfehrt die Stadt zum Schlachtgefild ſich Heute? 


Er ijt jo fremd im eignen Vaterlande, 
Er weiß nicht, was das Gräßliche bedeute. 


63 lodern Tadeln dort bereit zum Brande, 
310 Und das Geihüg wird drüben aufgefahren; 
Hier rüjten Haufen jih zum Widerjtande; 


Die Straßen füllen fih mit Kriegesicharen; 
Man müht ſich dort, das Pflaſter aufzuraffen, 
Dort fliehen Frauen mit zerrauften Haaren; 


35 Hier reihen Mütter ihren Söhnen Waffen, 
Grmahnen, die zu Streitern te beitellten, 
Zu jterben oder Ruhm fich zu verichaffen. 


Er fragt und forſcht und hört im Volke jchelten: 
„Der Tag wird heiß; der Teufel iſt mit feiner 
320 Großmutter los; der Hofrat wird’3 entgelten.“ — 
Und drüben zeigt mit Dolh und Brand ſich einer: — 
„Bas will denn der? mir deucht, ich jollt’ ihn kennen; 
Er iſt es jelbjt, fürwahr, er iſt's, jonjt feiner. — 


„Herr Hofrat!“ Diejer, hörend jo fich nennen, 
325 Kehrt her das Haupt — ihm auf der Stirne jieht 
Das Kreuz, dag rote Kreuz, er graufig brennen. 
Zujammenjchredend vor dem Maler, flieht 
Er ſchnell, verbirgt ſich in die dicht’jten Gruppen 
Und hält das Kreuz verhüllt, das ihn verriet. — 
s0 Der Teufel iſt's, dort jchirmen ihn die Truppen; 
Entjegen hat den jungen Mann erfaßt, 
63 fallen von den Augen ihm die Schuppen: 
„Du bilt es, Geiſt der Lüge, der du fait 
Um Kunjt und Liebe höllifch mich betrogen, 
335 Mich von Maria jchier entfremdet halt. 


410 - Gedichte: Sonette und Terzinen. 


„So ward ich un mein Himmelreich belogen. 
Zu ihr, zu ihr! die ſchwere Schuld zu büßen, 
Zu ihr, die auf zum Lichte mich gezogen!“ 
Er fommt und wirft jih zu Marias Füßen, 
Sie hebt ihn ſanft in ihrem Arm empor, 340 
An jeinem Herzen jchlägt das Herz der Süßen; 
Der Warten Schall verhallt an ihrem Ohr. 


Sie fangen: 
Sie. 
Du Freund an meinem Herzen, 
Du langerjehnter, du! 


Ich habe dich wiedergefunden; 345 
O fließet, ihr Tränen, nur zu! 
Er. 


Maria, du Süße, du Reine! 
Nun ſcheidet ung nur der Tod! 
Schutzengel jei mir und Leitſtern, 
Mein Morgen-, mein Abendrot! 330 
Sie. 
Nun ſollſt du die Kunſt erjt Lieben 
Und fromm und freudig fein; 
Nun bit du mein auf ewig, 
Nun bin ich auf ewig dein. 
Er. 
Nun werd’ ich die Kunſt erſt lieben 355 
Und fromm und freudig je; 
Nun bin ich dein auf ewig, 
Nun bit du auf ewig mein. 
Beide. 
Wir wollen uns lieben, ung herzen 
Und jein wie Kind und Kind! 360 
Nun freun fich die Engel im Himmel, 
Da wir vereinigt find. 


— — 


an 


10 


1 
& 


Das Malerzeihen. — Die ftille Gemeinde. 411 





Die ſtille Gemeinde. 
er Mufe folgt nach der Bretagne Strand! 
Altar und Thron find umgejtürzt, der Schreden 
Herricht fiber Blut und Trümmern rings im Land. 
Doch Bilder nicht des Blutes aufzudeden, 
Lenkt fie nach jenen Dünen ihre Schritte; 
Dort wird aus Leid den Trojt fie auferweden. 
Seht dort die Bauern, treu der Väter Sitte, 
Ginfält’gen Herzens beten, dulden, harren — 
Ein Mann des Schredeng droht in ihrer Mitte: 
„Die Kirchen jted? ich euch in Brand, ihr Starren, 
Die ihr noch hängt am alten Aberglauben 
Und bei verjährtem Unſinn wollt beharren.‘ 
Darauf ein Greis: „Wirſt nicht die Stern’ ung vauben, 
Die werden Turm und Gloden überdauern, 
Uns mahnend, an den Schöpfer doch zu glauben.‘ 


Das Wort ward Tat: um die geijchwärzten Mauern 
Sah man, die Blide Himmelwärt3 gewandt, 
Den frommen Landmann jtillergeden trauern. 


Ein frech Soldatenvolf ward hergejandt, 

Die widerjpenitig jtarre Brut zu zwingen, 

Und läſternd ward der Heiland mur genannt. 
Noch hört nicht auf, allnächtlich zu vollbringen 

Die gottgewollte Bahn, das Sternenheer, 

Dem Schöpfer mahnend Huld’gung darzubringen. 
Was glimmt dort für ein Stern auf hohem Meer? 

Was regt jich in den Buchten leije, leiſe? 
Mas jchleicht zum Strande von den Dünen her? 
63 jahren Boote, ſchwenken ſich zum Kreiſe, 

Man Hört die Welle nur, die brandend bricht; 

Still rudern Männer, Weiber, Kinder, Greife. 
Dort fern auf hohem Mteer das Fleine Xicht, 

Das ijt der Stern, dem unter Gottes Hut 

Die Schar ſich zugewandt mit Zuverficht. 


412 Gedichte: Sonette und Terzinen. 
Ein ſchwanker Nachen auf bewegter Flut, 
Das iſt der Tempel, iſt des Herrn Altar, 85 
Worüber ausgelpannt der Himmel ruht. 


Und am Altare jteht im weißen Haar, 
Der feſt geblieben in der Trübjal Stunde, 
Der Hirt, der alte, der bedrängten Schar. 


Und der Geächtete, den in der Runde 4) 
Die gläubige Gemeinde hat umgeben, 
Vollbringt das Opfer nach dem neuen Bunde; 


Dann betet er: „Herr über Tod und Leben, 
Erhör' uns du: Vergib ung unfre Schuld, 
Wie jelber unjern Schuld’gern wir vergeben! 45 


„Bir beten: Nimm von ung in deiner Huld 
Den bitten Kelch, den du uns auserjehen; 
Wenn nicht, gib ihn zu leeren uns Geduld! 


„Denn dein, nicht unfer Wille Toll gejchehen; 
Dein iſt die Kraft, dein ift die Herrlichkeit, 50 
Und ewig wird allein dein Neich bejtehen. 


„Bir Kinder Frankreichs beten allezeit: 
Nicht wende du im Zorn dein Angejicht 
Von unjerm Land und unſrer Obrigkeit! 


„Seh nicht, o Herr, mit ihnen ins Gericht, 
Die frevelnd fich aus deiner Hand gewunden! 
Was fie getan, fie wiljen’3 jelber nicht. 

„Ihr aber, die den Herrn zu allen Stunden 
Einmütiglich befannt und Troſt hienieden 
In Lieb’ und Glaub’ und Hoffnung habt gefunden, 60 

Kehrt heim verjühnten Herzens und mit Frieden!“ 


ar 
— 








Selegenheitsgedichte. 


Sie tönten, jie verhallen in der Zeit. 
Sdiller.! 


Der jungen Freundin? ins Stammbuch. 


a Zentner jchwer aus lauterem Dufatengold 
Verfertige der Meiſter Goldſchmied einen Stuhl 
Und jpare Diamanten nicht, Rubinen nicht, 

Nicht leuchtende Karfunfel, nicht der Perlen Zier 
An diefem Kunjtwerf, welches ich, To reich es Sei, 
So reih und koſtbar, voll und bar bezahlen will, 
Wird nur der Fall, wofür ich es bejtimme, wahr; 
Denn dir verheiß’ ich, teures Kind, jotanen Stuhl, 
Darauf gemächli du in Ehren jigen magit, 

Im Falle man dich überhaupt nur jiten läßt. 


Auf den Ton non Otte von Pirdy.’ 


m" birgt da unten tief die jchwarze Truhe, 

Die von dem Fall der Erde dunpf erichaflt? 
Sagt, welchen Müden legt ihr da zur Ruhe” — 

„Bon Pirch.“ — „Ihr lügt! gar lebenzfreudig wallt, 


Ich ſah ihn geſtern noch im Tagesſcheine, 
Die kräft'ge, jugendſtrahlende Geſtalt.“ — 





1 Aus „Des Sängers Abſchied“, V. 14. — ? Hitzigs Tochter Eugenie. — 
3 Dtto Ferdinand von Pirch, geb. 1799, Hauptmann im preußiſchen General— 
jtab, jtarb am 20. Juli 1832 in Breslau durch einen Sturz mit dem Pferde. Er 
war befannt als Berfaffer der „Reife in Serbien im Spätherbft 1829” (1830) und 
der „Caragoli, Neifemitteilungen aus Ungarn und Stalien‘ (1832). 


414 Gendichte: Gelegenheitsgebichte. 





„Da liegt er bleich und falt im engen Schreine.“ — 
„Er jollt’ e8 fein?!” — „Er iſt's, den wir begraben.” — 


Der Edle, Tapfre, Weile, Fromme, Reine! 
Er, welchen ſchmückten alle höhern Gaben, 
Den wir, ein Mufter aller Tüchtigkeit, 
Geehrt vor allen und geliebet haben. 
Er, den in diefer dünfelhaften Zeit 
Der Reiz der Demut zierte wunderbar, 
Dem Beſſern ſtets zu Huldigen bereit. 


Der wie ein Held, der wie ein Kind auch war, 


Der .... O mein Pirch! du biſt dahingegangen! 


Sch aber jchüttle noch mein greijes Haar. 


Dein klares Aug’ und deine frischen Wangen, 
Dein Bild wird, der Vergänglichkeit entrafft, 
Stet3 jugendhell vor meiner Seele prangen! 


Das Alter aber zehrt an meiner Kraft, 
Der Lenz erwedt in mir den alten nicht; 
Da prüf ich mich, da fühl ich mich erichlafft. 
63 zieht ein Nebelflor vor mein Geficht, 
Von meinem Ohr entfernen jich die Töne; 
Ich merke, wie der Bau zujammenbricht. 


Dih nahm der Tod in deiner vollen Schöne, 
Du fühlteſt nicht dich ſterben Stück für Stüd, 
ie andre morjch gewordne Menfchenjöhne. 


Div war das Leben Hoffnung nur und Glück, 
Gnttäufchung hat e8 nimmer dir vergällt; 
Wir aber rufen jchmerzlich dich zurück. 

Denn alt geworden ift um uns die Welt; 
Es gleicht, was noch bejteht, dem legten Traum 
Zur Stunde, wo der Djten fich erhellt. 

63 tragen ſich die morſchen Pfeiler faum; 
Der Boden wankt, der Glauben it verloren, 
Tiar'- und Kronengold iſt eitel Schaum. 


15 


20 


30 


Auf den Tod.von Otto von Bird. — Stimme der Zeit. 415 





0 Dem Alten ijt der Untergang geſchworen, 
Verweſung greift um jich, die Stoffe gären, 
Im Schmerze wird die neue Zeit geboren; 
Sie wird nach Männern jo wie du begehren. 


rn 


Stimme der Zeit. 
Zur Subelfeier des Königlih Preußiſchen Staatsminijters Grafen 
von Lottum.“ 
Am 9. April 1834. 
er den gejtirnten Himmel flüchtig Tähe, 
Der ließe fih den Wahn vielleicht nicht rauben, 
Daß unbeweglih jtarı dort alles ſtehe; 


Und wer die Zeitgejchichte, möchte glauben, 
Man Habe fie zum Stoden ſchon gebracht, 
Und leichtlich ließe fie zurück fich ſchrauben. 

Wer aber während einer halben Nacht 
Die Sterne jih erheben jah und neigen, 
Und ſolchem Schauspiel finnend nachgedacht, 


10 Der wird die Wahrheit nimmer fich verichweigen 
Und Iprechen, warn der Tag im Djten graut: 
„Dort muß der Schild der Sonne bald fich zeigen!” 
Und wer ein halb Yahrhundert nur geichaut, 
Sit mit der Weltgeihichte jtetem Gange 
15 Und allgewalt’gem Fortſchritt ſchon vertraut. 
Ein Stern der Vorzeit jtand im Niedergange, 
Als Luther aufitieg, der, ein Held, befreit 
Die Halbe Welt von jchnöden Geiſteszwange. 
Was Großes er vollbracht, war an der Zeit; 
20 Nur mußte, wo das Licht nicht eingedrungen, 
Sich grimmiger erneun der alte Streit; 


Qt 





1 Sriedrig Hermann, Graf Wylid und Lottum (1767— 1841), wer 
preußifher General der Infanterie und Staatsminifter unter Friedrich Wilhelm III. 
(vgl. V. 377.). 


6 ei 2.0 


Denn wirrer hatte jich der Knäu'l gejchlungen, 
Derweil im Schwung das Rad der Zeit gerollt 
Und unvernommen, was fie jchrie, verflungen. 

Das Licht, das mild erhellen nur geiolft, 

63 ward zum Blißjtrahl, und in Ungewittern 
Ward graufig Schuld und aber Schuld gezollt. 

Wir jahen rings um uns den Boden zittern 
Und jahn in Blut und Aufruhr und Empörung 
Der Throne morſch gewordnes Hol, zeriplittern. 

Im Finſtern hauft Verrat nur und Verſchwörung; 
Vom jonnenhellen, feiten Ufer ſahen 
Wir unbefährdet zu der Weltzeritörung, 

Wir, die von Vater Händen jchon empfahen 
Die Güter, denen nad) fie jagen, ohne, 

Vom Schein verlodt, den gleißenden zu nahen. 

Heil ihm, der, weil und jtarf auf feitem Throne, 
Mit unſrer Liebe ſchirmend ſich umgibt, 

Aus Gold der Treue Jchmiedend feine ‚Krone! 

Den wie ein Sohn ein jeder Preuße liebt, 

Bor deifen Fuß, ausbrandend ohne Schaden, 
Der Zeit empörter Wellenichlag zeritiebt! 

Heil dir, der, ihm zunächſt im Glanz der Gnaden, 
Das edle, treue, waffenfreud'ge Roß 
Hilft lenken an der Liebe Seidenfaden, 

Das Roß, vor deſſen Hufichlag der Koloß, 

Der laitend auf Europa einjt gelegen, 
Gleich einem eitlen Nebelbild zerfloß! 

Heil dir, du Biedermann! Du teilft den Segen, 
Wo Liebend du geteilt der Sorgen Laſt, 

Und unſre Herzen fchlagen dir entgegen. 

Heil dir, der mitgewirkt du rühmlich Haft 
Gin halb Jahrhundert zu des Landes Heil, 
Und wirkſt noch unabläffig ohne Raſt! 

Dir wird der Liebe Huldigung zuteil. 

—— 


30 


40 


45 


50 


55 


Stimme der Zeit. — Trinffprud in einer literarifhen Gejelfhaft 1831. 417 


Trinkſpruch in einer literariſchen Geſellſchaft 1851. 








laſſet uns in diejer düjtern, bangen Zeit, 
Wo hochanſchwellend, donnernd der Geihichte Strom 


Die jtarren, langgehegten Eiſesfeſſeln ſprengt, 
Da3 neue Leben unter Trümmern bricht hervor 


5 Und fich in Stürmen umgejtalten will die Welt, 


O, lafiet uns, ihr Freunde, — rings verhallt das Lied, 
Und unjerm heitern Saitenjpiele laujcht fein Ohr, — 
Dennoch die Gottesgabe des Gejanges treu 

Im reinen Buſen hegen, wahren, daß vielleicht 


ı0 Wir, Hochergraute Barden, einjt die Sonne noc) 


15 


Mit Hochgejang begrüßen, welche, das Gewölt 
Zerteilend, die verjüngte Welt bejcheinen wird! 
Prophetiſch, Freunde, bring’ ich dieſes volle Glas 
Der fernen Zukunft einer andern Liederzeit! 


——— 


Bur Einleitung des „Deutſchen Muſenalmanachs 1833*. 


W: mir im Buſen jchwoll, mir unbemwußt, 
Sch konnt' es nicht verhindern, ward Gelang; 
Zum Liede ward mir jede jüße Luit, 

Zum Liede jeder Schmerz, mit dem ich vang; 
Das Lied erhob aus zornerkrankter Bruſt 

Sich jturmbeflügelt in der Zeiten Drang; 

Sch hörte nur die eigne Stimme raujchen 

Und forgte nicht, man fünne mich belaujchen. 


Doch ihr, die ich beivundert wie die Gterne 
Des Himmels über mir, jo hoch und Klar, 
Die nur entblößten Hauptes aus der Ferne 
Zu grüßen, mir ein Traum des Dünkels war; 
Shr, meine hohen Meijter, laujchtet gerne 
Dem jhlichten Laut; aufblidend nahm ich wahr, 
So wie des Liedes Wogen ausgebrandet, 
Daß lächelnd ihr im Kreife mich umſtandet. 


Und eurem Hohen Chor war’3 mir bejchieden, 
Errötend faj ich's nicht, mich anzureihn; - 
Chamiſſo. L 27 


418 


Gedichte: Gelegenheitsgedichte. 


Wohl herrlich iſt es, von den Homeriden — 


Ein Größrer ſprach's! — der letzte noch zu ſein; 


Ihr ſchmücktet mit der Binde mich hienieden, 


Ich werde nicht das Prieſtertum entweihn; 
Der Ernſt, die Liebe wohnen mir im Buſen, 
Und alſo ſchreit' ich zum Altar der Muſen. 
Ihr habet auf die Stufen diefer Halle 
As Wächter mi und Herold hingeſtellt; 
Zum Feſte des Geſanges lad’ ich alle, 
Die einer Sprache Mutterlaut gejellt. 
Herein, herein! das deutſche Lied erſchalle 
Volltönig, kräftig in die ernſte Welt! 
Herein! Du Meiſter mit der Lorbeerfrone, 
Du Jünger, der noch ringt nach gleichem Lohne! 


Herein! Du Jünger, zaudre nicht, zu neigen 


Dein lock'ges Haupt vor deinen Meijtern hier; 

Dir ziemt, vor ihnen Ehrfurcht wohl zu zeigen, 

Du ringjt hinan zu ihrem Xichtrevier; 

Und wehte nicht aus ihres Lorbeerd Zweigen 

Des Gottes Schöpferatem exit zu Dir? 

Bin jo wie du, objchon in grauen Haaren, 

Ein Jünger nur; vertraue meinen Jahren! 
Herein! Du Dichterfürſt in deinem Ruhme, 

Und laß die Mächte deiner Lieder walten! 

Beichivme diefe du im Heiligtume! 

Dir ziemt, die Jugend ehrenvoll zu halten; 

Wer weiß, ob nicht die exit erſchloſſ'ne Blume 

Zur Ichönern Frucht ſich werde noch entfalten? 

Du haft, wie fie, im niedern Wald verborgen, 

Gerungen und gejtrebt an deinem Morgen. 
Mer will, jei mit im Uns; die Kunjt it frei, 

Es jinge, wen ein Gott Gejang gegeben! 

Die Sonne wet die Blumen auf im Mai 


Und reift im Herbſt das flüſſ'ge Gold der Neben. 


1 Goethe in der Elegie „Hermann und Dorothea”, B. 30. Vgl. V. 41. 


30 


or 
od 


40 


50 


60 


ot 


10 


15 


Zur Einleitung des „Deutſchen Muſenalmanachs 1833. — Nachhall. 





Ob jpäter Herbit, ob Frühling in uns fet, 
Es jteigt der Saft, es veget fich das Leben, 
Und jo wir raufchend in die Saiten greifen, 

Die Blumen wachen auf, die Früchte reifen. 
Doch jeht, am Himmel welch ein trüber Flor, 
Gewitterdrohend in des Tages Schwüle! | 

Die Welt ijt ernjt geworden, fie verlor 
Sn Sturmesdrang die Luft am Saitenjpiele. 
Wer, Treunde, laujchte jegt noch unjerm Chor? 
Wer ijt, der in der Dichtung ich geftele? 
Laßt friedfam ung und fromm im Liedergarten 
Des uns vertrauten heil'gen Funkens warten! 
Nachhall. 

Mm" jeßt der Baum im falten Nebelwind 

Mit nadten Zaden, alfo trau’ ich ſelbſt; 
Es veget ſich fein Lied in meiner Bruft, 
Und müßig auf der Harfe ruht die Hand. 
Hat jolches mir der Herbſt nur angetan, 
Und wird ein Frühling wieder mich erwecken? — 
Vielleicht, — ich weiß e3 nicht. -— Sit aber ganz 
Berfiegt in mir die Duelle des Gejanges — 
Geduld, mein Herz! du wirt e3 überwinden, 
Dich hat das Leben jchon den Tod gelehrt. 


Du, mein vertrauter Freund, mein Saitenfpiel, 
Magſt hier indes am jtillen Herde bangen; 
Sch will die Efeuranke um dich winden, 
Dich ſcheidend ſchmücken mit dem Wintergrün. 
Haft du mich doch geſchmückt mit meinen Blüten 
In Luft und Leid, verherrlicht meine Freuden, 
Den Schrei des Schmerzes lindernd aufgelöft 
In Mohllaut, und die Lohe meines Zornes 


⸗* 


Verklärt ergoſſen in des Athers Strom. 


I ALS Nachwort zum „Deutſchen Muſenalmanach von 1835” aufzufaſſen. 


27* 


419 


Gedichte: Gelegenheitägebichte. 


Und meine Lieder Iocten feuchte Perlen 
In ſitt'ger Frauen Augen, ja, fie weten 
In manchem deutichen Bujen Widerhall; 
Die Jugend nennt und liebt den alten Sänger, 
Des Namen guten Slanges nicht verichallt, 
Bevor das werdende Gejchlecht erliſcht; 
Ich weiß es, und ich ſprech' es ruhig aus, 
Nicht jtolz, nicht eitel, nein, von Dank erfüllt. 


Ich danke div, mein heimiſch deutjches Land, 
Du haft in dieſer ernjten, jtürm’ichen Zeit 
Mir unverhofft geliehen Ohr und Herz 
Und hajt, mitfühlend, mir die eignen Freuden, 
Die Luft der Lieder in bewegter Bruft 
Reich, überichwenglich reich gelohnt. Hab’ Dan! 
Ich ſang ja nur, jo wie der Vogel fingt. 
Ihr jüngern Sangbegabten, jammelt euch 
Um mich! ich rechne mit dem Leben ab, 
Sp jcheint e3; laßt mich einmal noch zu euch) 
Aus vollem Herzen reden; hört mich an! 
Des Sehers und des Sänger? Gaben find 
Bon Gott und heilig; ehrt den Gott in euch; 
Srönt nicht mit Heiligem dem Weltlichen; 
Buhlt mit der Lyra nicht um jchnöden Lorbeer. 
Und nicht um ſchnödres Gold! DVermeßt euch nicht, 
Mit unver Zeit und unſerm Baterlande 
Zu badern, weil nach eurem Dünkel nicht 
Euch Preis und Ehre zugemeljen ward; 
Derklagt die Mitwelt bei der Nachwelt nicht! 
In Berges Klüften ſchläft dev Widerhall 
Und jchläft in aller Herzen; wen ein Gott 
Die Macht verliehen hat, der ruft ihn wach. 
Und das iſt Sängerslohn. Begehrt ihr mehr? 
Begehrt den Lohn vielleicht ihr der Propheten? 
rei ſchallt aus freier Bruft das deutjche Lied, 
Bon feinem Ludwig wird e3 ausgejät; 
rei wie der Bogel jei der Deutjche Sänger! 


20 


30 


40 


45 


50 


55 


60 


65 


70 


75 


10 


Nachhall. — Dichters Unmut, 421 


Und mög’ er vogelfret auch ſein, ihn ſchützt 
Der Gott, der ihn zum Liebling fich erwählt, 
Ihm lohnt der Ton, der aus der Kehle dringt; 
Er borget nicht3 von ird'ſcher Majeſtät. 

Es finge, wen Gejang gegeben warb, 

Im deutjchen Dichterwald, doch nie entwürdigt 
Zum jchnöden Handiverf werde der Gejang! 
Ernähret euch von ehrlichen Erwerb! 

Eßt euer Brot, das ift der Menſchen Los, 

In eures Angefichtes Schweiß! Dem Tage 
Gehöret jeine Plage: Tpaltet Holz, 

Karrt Steine, wenn die Not es von euch heiſcht! 
Wann aber jchlägt die Abendfeierjtunde, 

Und in des Himmels Räumen fich entzündet 
Das Licht der Sterne, dann, Geweihte, jchüttelt 
Von euch die Sorgen! frei erhebt das Haupt 
Und frei belebt die Heil’ge Nacht mit Tönen! 
Ruft in den Schlafenden die Träume wach, 

Die Träume jener Welt, die in euch lebt! — 
Da3 Reich der Dichtung iſt das Reich der Wahrheit; 
Schließt auf da3 Heiligtum, es werde Licht! 


—o.— 


Dichters Anmut. 
(Nah Fouqué.) 
iv tragen gar im Herzen manche ‘Pfeile, 
Und blutet’3 in dem jtillen Schoß der Nacht, 
So wird vom Schmerz das Lied hervorgebracht, 
So reihet wunderbar jich Zeil an Zeile. 


Sie lejen’3 nun, jo für die Langeweile, 
Wann träg und laß fie die Verdauung macht, 
Und finden’3 hübſch und finden’3 jchlecht erdacht, 
Und hier iſt's ſchwach, und dort entbehrt’3 der Teile. 
Wir haben’3 aber jo in der Natur! 
Wir jchreiben ganz mit unjer3 Herzens Blut, 
Was fie befrittelm zwiſchen Schlaf und Wachen. 


A232 Gedichte: Gelegenheitsgedichte. 





O Pelikaneswirtſchaft! wär's doch nur 
Für keine gar ſo miſerable Brut! 


Was tut's? wir werden's drum nicht anders machen! 





GG 
a — 


Die lebten Zonette. 
1; 

Dr ſangeſt ſonſt von Frauen-Lieb' und Leben, 

: Mein trauter Freund, mir jchöne Lieder vor; 
An deinen lieben Lippen hing mein Ohr, 

Ich fühlte mich in Lieb’ und Luſt erbeben. 

„Du fingft nicht mehr; — um deine Lyra weben 
Die Spinnen, dünkt mich, einen Trauerflor; 
Sprich, wirft du nie die Luft, die ich verlor, 
Du ſüßer Liedermund, mir wiedergeben?“ 

Ich trage ſelbſt — Still, fill! mein gutes Kind — 
Geduldig und entbehre ſonder Klage; 

Bin müde jeßt, verklungen iſt mein Singen. 

Ein Sänger war ich, wie die Vögel find, 

Die Kleinen, die nur ziitichern ihre Tage. — 


Der Schwan mur.... — Reden wir don andern Dingen! 


(5) 


Ich Fühle mehr und mehr die Kräfte ſchwinden; 
Da3 it der Tod, der mir am Herzen nagt, 
Sch weiß es ſchon; und was ihr immer ſagt, 
Ihr werdet mir die Augen nicht verbinden. 


Sch werde müd' und müder ſo mich winden, 
Bis endlich der verhängte Morgen tagt, 
Dann finft der Abend, und wer nach mir fragt, 
Der wird nur einen ftillen Mann noch finden. 
Daß jo vom Tod ich Tprechen mag und Sterben, 
Und doch ſich meine Wangen nicht entfärben, 
63 dünkt euch mutig, übermutig fait. 


19 
ai 


10 





Die legten Sonette. — An Trinius. 423 


Der Tod! — der Tod? — Das Wort erfchredt mich nicht, 
Doch hab’ ih im Gemüt ihn nicht erfaßt, 
Und noch ihm nicht geichaut ins Angeſicht. 


— PTR 
Nr 


Ar Trinius. 
er Unhold, der im Schlaf mich überfallen, 
Brach meine Kraft ohn' allen Wideritreit; 
Auf meine Bruft fich Legend ſchwer und breit, 
Riß er ins Fleiſch mir jchmerzlich feine Krallen. 
Ich ſprach: „Geichehe, was dem Herin gefallen! 
Rufſt du, jein Knecht, mich ab? iſt's an der Zeit? 
Du findejt mich gerüjtet und bereit.” — 
Er ließ ein Hohngelächter gellend jchallen. 
Sch Ichaute ſcharf ihn an; da troff ein falter 
Angſtſchweiß von meiner Stirn herab, da hatt’s 
Ein Ende bald mit meinem feden Wut. 


Er ſprach: „Geduld, ich ſauge bloß dein Blut; 


Du meintejt jchon den Tod? nicht alſo, Schaf: 
Ich bin, von dem du fabelteft — das Alter.“ 


* * 
* 


Es iſt ja Sommer, wie die Leute ſagen; 
Du, Sonne, ſcheinſt erkaltet und verblaßt; 
Sprich, biſt auch du denn alt geworden, haſt 
Nicht mehr die Kraft wie in der Jugend Tagen? 
Das Alter, ja! was frommte da zu klagen, 
Das iſt ein arger, unbequemer Gaſt! 
Man lernt wohl noch ſich fügen feiner Laſt, 
Das Unvermeidliche getroſt ertragen. 
63 iſt ja nur um eines Tages Lauf; 
Nacht wird’3, ich fann zum Werke nicht mehr jehen 
Und muß wohl jchon die Abendfeier halten. - 





Karl Bernhard Trinius (1778 —1844), Freund Chamifjos. und wie 


diejer. zugleich Lyriker und Botaniter. 


424 Gendichte: Gelegenheitögedichte. 


Ein Vorhang fällt, ein andrer wallet auf; 
Viel gab, des Wille jol und wird gejichehen; 
Sch will zum Danfgebet die Hände falten! 


Traum und Erwachen. 


De iſt der Schein nicht heimiſcher Geſtirne; 
Wohin mit mir, du ſchwankes Bretterhaus!? 
63 wird mir wüſt und jchmerzt mich im Gehirne 
Vom tollen Rollen, Schwirren und Gejaus, 

Du fächelſt feine Kühlung meiner Stirne, 
Großmächt'ger Wind, und weh'ſt die Glut nicht aus, 
Du fülleit unſres Schwanenkleides Schwingen, 

Uns, rätielhaft an welches Ziel, zu bringen. 


Du ſchwankes Bretterhaus, wohin mit mir? 
Mir wird es, der das Steuer hält, nicht Jagen; 
Ein Fremder bin ich unter Fremden hier, — 
Der Wind —? ja doch! ich ſoll den Wind es We 
63 ichlafend abzuwarten, dürfte ſchier 
Das beite jein. — — Die Augen zugeichlagen! — 
Orkan, du magſt mich wiegen! — Schlafen? Ichlafen! — 
Wachen und Handeln einst vielleicht im Hafen! 


Wohin mit mir, du fieberhafter Traum? 
Zeit ilt es, daß ich deinen Schleier Lüfte. 
Auf, meine Augen! — Grüner Waldesraum, — 
Bandanen?, — warme Sonne, — würz’ge Düfte, — 
Dort tauchet jchlank und kühn der Kofosbaum 
Sein jtolges Haupt in tiefazurne Lüfte; 
Ein friedlih Meer beipület hier Korallen, 
Und Brandungstojen hör’ ich fernher Hallen. 


Hier it gut Hütten bauen! — Sieh’, Kadu?!? 
Du willſt zum Frühtrunk mir den Kokos reichen? 


1 Der „Rurik“ auf der Weltreiſe. — 2 Pandanus, meift ftrauchartige 
Pflanzengattung aus ber Familie der auf den polynefiichen Inſeln fehr verbreiteten 
Panbanazeen. — 3 Chamiſſos Neifebegleiter feit dem Aufenthalt auf Radack. 


1 


a 


20 


25 


30 


35 


40 


45 


50 


55 


60 


Traum und Erwaden. 425 


Sch Ichlief, und mir zu Häupten wachteft du, 
Liebwerte, treue Seele jondergleichen! 

Was haben wir an Eijen? fchaue zu! 

Hier fiedeln wir uns an; ſieh dieje Zeichen! 

Hier unjer Dach), dort weiter ab der Garten; 

Die Hand ana Werk! was willjt du länger warten? 


Kadu, was jtehjt du trauernd da? wir hatten 
In freud’ger Tatenluſt den Bund gejchlofjen; 
Wie wirit du bleih? was hefteſt du die matten, 
Erſtorbnen Augen ſtarr auf den Genoſſen? 

Du weichſt vor mir zurüd in MWaldesichatten? 
Du biſt, ein Schemen, Luft in Zuft zexflofien! 
Und ich, der feit das Leben wollte halten, 
Steh’ finnend da, ein Spiel von Wahngeltalten. 


Auf! ſchüttle, junger Dichter, deine Loden! 
Weh mir! die find zu einem Zopf gebunden! 
Sch Tieß mich von Homeros wohl verloden, 
Nicht achtend auf den jchnellen Flug der Stunden; 
Stiefletten, Bendel!, ſchnell! ich ſeh' erichroden, 
Daß ich bereit3 der Obriſt eingefunden. — 
Der Wirbel jchallt: — „Herr Leutnant, nach der Wache! 
Sa, Bücher jchreiben, das iſt Ihre Sache!“ 
Ich bin gelähmt, gebannt an dieje Stelle, 
Im Schlaf, im Traum, mich Drüdt der Alp wohl gar. 
Erweckt mich! — Ha! dies ift die Schloßfapelle, 
Die Heimat. Heil, daß e8 ein Traum nur war! 
Die Tür ijt auf; ich jpähe von der Schwelle; 
Dort kniet ein Weib und betet am Altar. — 
D meine Mutter! ja, du weinjt im jtillen 
Bor Gott um des verloren Sohnes willen. 


Der einz’ge bin ich unter deinen Söhnen, 
An welchem du nur Schmerz erlebet haft; 
Ich konnt an diefe Welt mich nicht gewöhnen, 


Die fich verichloß dem ungefügen Galt; 


1 Chamiffos Offiziersburfche. 


426 - Gedichte: Gelegenheitägedichte. 





Ich taugte nicht, in einem Amt zu frönen, — 
So fiel ih allen und mir ſelbſt zur Lat. 
Laß, Mutter, mich in Demut und in Treuen 
Dir dienen und den Brüdern, und bereuen! 


D Mutter, Mutter, laß dein Angeficht, 
Laß deine lieben Züge nur mich jchauen! 
Blick her! es wird auf mich das milde Licht 
Des mütterlichen Auges Ruhe tauen; 
Beharrit du jtumm und ſtarr? Du regjt dich nicht? 
O! mich bejchleicht ein namenlojes Grauen! — 
Und langjam wendeſt du — ich atme freier — 


Nach mir dag Haupt, — du greifjt nach deinem Schleier. — 


eh mir! ein Schädel ftiert, ein morjch Gebein 
Mich an aus Höhlen ohne Stern und Kraft; 
Du, Mutter, biſt ja tot, ich jeh’ es ein; 
Was aber brichit du aus des Grabes Haft? 
Laß ab, nach mir zu langen! — Folgen? — Nein! — 
Da, in die dunkle Tiefe? — Schauderhaft! 
Du ziehft dir nach hinab mich in die Gruft; 
Sie hält mich, Jchließt fich über mir! — Luft! Luft! 


„Bach auf! wach auf!” Wer fanrı herauf beichiwören, 
Den ſchon der finjtre Schlund hinunter ſchlang? — 
„Bir jind es, Vater; jtöhnen dich zu Hören 
Im Schlaf und röcheln, macht uns, ach! jo bang!" — 
Dem ird'ſchen Scheine ſoll ich noch gehören? 

63 war der Kampf ein eitler, den ich rang? — 
„Bir wollten dieſe böjen Träume hindern; 
Du biſt erwacht, bijt unter deinen Kindern!” — 


So hat euch wohl die Angjt zu mir getrieben? — 
„Bir jind um dich verfanmelt.” — Alle! — gut! 
Laßt mich euch überzählen: jechie, jteben — 

Und — jagt mir — eure Mutter? — „Mutter ruht.” — 
Das will auch ich; bin müde, meine Lieben, 
Drum, fahret wohl! wir find in Gottes Hut; 


10 


29 


30 


Traum und Erwachen. — Wer bat’ getan? 427 





Fahrt wohl, ich geb’ euch allen meinen Segen! 
Sch will bequemer mich zur Ruhe legen. 
Mer hat's getan? 
ch trinfe meijt nur Waſſer aus dem Fluß 

S Und kann's mit beſtem Willen doch nicht Toben; 
Getrunfen hab’ ich's mir zum UÜberdruß.“ 

Und meinen Mut anjcheinlich zu erproben, 

Wird, groß und ſchwer, bedrohlich in der Nacht 
Ins Haus mir eine Kijte zugeichoben. 

Was. joll mir das? wer hat ich das erdacht? 
Nicht pflegt, wer Gutes finnt, fich zu verfteden; 
Höllenmajchinen gibt's, nehmt euch in acht! 

Behutſam auf! das Unheil nicht zu wecken; — 
Was tet darin? Bli Hagel! Flaſchen ſeh' ich 
Die ſchönen, blanfverzinnten Hälfe reden, — 

Shampagnerflaichen! Nein — verſteinert ſteh' ich; 
63 ſpukt, e8 geht nicht zu mit rechten Dingen. 
Wer it in Deutichland ſolchen Streiches fähig!? 

„und welche Lieder wollt’ ich da nicht fingen!“ 
Ach nein! mit meinem Singen ijt’3 vorbet, 

Die Mu entwichen und gelähmt die Schwingen. 

Lebend’ger Geiſt in diejen Flaſchen, jei 
Ein Liebesbalfam meiner Franken Bruft, 

Erweckſt du gleich nicht mehr den alten Mai! 

„Ich liebe wohl, geliebt zu fein”, gewußt 
Hat das der Freundliche, der dich gejendet, 

Und wohl empfand auch ex die gleiche Luft. 

Der Liebe, die dich edlen Trank geipendet, 
Geweihet jei andächtig immerdar 
Und werde jonder Liebe nie verichwendet! 

Mir Icheint am Abend jpät der Himmel Elar, 

Der rote Streif, das ijt der Liebe Glut; — 
Reicht einen Trunk von meinem Wein mir dar: 


. Denn, went die Liebe bettet, ruhet gut! 








sn Orantalifcher Form. 


Sch ſeh' die Fehler jebt. 
Dehlenjhläger. „Correggio“, 3. Handl.! 


Der Tod Napoleons. 
Nah Aleſſandro Manzoni. 


Vergin di servo encomio 
E di codardo oltraggio. 
„A. Manzoni.? 


Napoleon. Montholon. Antomarchi, der Arzt. Europa, Geſchichte und 
Poeſie, Erſcheinungen. Stumme Umgebung: Bertrand, ſeine Frau und vier Kin— 
der; der Abt Vignali; Marchand und ſechs Bedienten. Zwei engliſche Offiziere. 


Longwood am 5. Mai 1821. 


Napoleon (auf dem Sterbebette),. Montholon. Antomardi. 


Montholon. 
Des Fieber Glut hat ausgetobt, er jcheint zu ruhn. 
Napoleon (im Schlafe). 
Mein Heer! 
Montholon. 
Er träumt — 
Napoleon. 
Dem Adler folgt und mir! hinan! 





1 Worte Correggios, als Michelangelo ihn auf die Mängel feines von ihm 
jehr hoch geſchätzten Bildes aufmerkſam macht, in dem Trauerfpiel „Correggio” 
(1816) von Adam Dehlenjchläger (am Schluß des zweiten Aufzuges). — ? Das 
Motto entjtammt der berühmten, von Goethe und vielen andern überfesten Ode 
zum Todestage Napoleons I.: „Il einque Maggio“ von Alefjandro Manzoni, dem 
Berfafjer der „Promessi Sposi“. Die Verje wollen befagen, daß nad) dem Tode 
des großen Heroen bie Muſe 

Sungfräulich rein vom Sflavenlob 
Und nie von Schmähung trunfen (Paul Heyſe) 
an fein Grab tritt, ihm ein Totenlieb zu fingen. 


Der Tod Napoleons. 429 


Veontholon. 
Don Schlachten, lenkt im Geiſte noch die Völker. 

Napoleon. 

Sieg! 

Montholon. 
O ſcharfer Mißlaut dieſes Wortes hier und jeßt! 

Napoleon Cewachend). 

5 Wer bin ich? 
Montholon. 
Herr und Kaifer. 
Napoleon. 
Wo? 
Montholon. fl. 
Du bilt, o Herr, 

Sinmitten deiner Treuen. 

Napoleon. 

Wo? 
Montholon. 
Ein Felſenſitz ... 

Napoleon. 
Sankt Helena?! 

Montholon. 

Du ſprachſt es aus. 
Napoleon. 3 
Die Zeit iſt um. 
Abtrünnig werd’ ich ſelber mir, jo wie die Welt. — 
Die mein annoch fich nennen, ruft herbei! ich will 
10 Abrechnen mit dem Leben. 
Montholon bie Tür öffnend). 
Tretet alle her! 
(Gefolge. Die Kinder fnieen am Bette.) 

Napoleon. 
Daß ich geliebt bin worden, legt ihr Zeugnis ab. 
Habt Dank! Ich aber ſcheide hin. Bald haben ſie, 
Mit deren Kronen ich geſpielt, den Haß gekühlt. 
Sie ließen uns nur unſrer Taten Ruhm zurück. 


430 ‚ Gedichte: Sn bramatifcher Fort. 





hr werdet bald, aus ſelbſterkor'ner Haft erlöft, 15 
Mein jtolz durch mich geweſ'nes Frankreich. wiederjehn 
Und trauern an dem vielgeliebten Seinejtrand. 
9, grüßt mein Frankreich, grüßet mir mein heimiſch Land! 
Wär Frankreich dieſer nadte, ſturmgeſchlagne Fels, 
Ich woll® ihn Lieben. 

Montholon. 

Frankreich finden wir, o Herr, 20 
Nur immerdar, wo dein geweihtes Haupt verweilt. 

Napoleon. 
Nicht alſo, nein — mein Frankreich grüßt und... meinen Sohn! 
Gntfernet euch! nicht Jollet ihr mich weinen jehn! — 
Grüßt meinen Sohn, den graufam mir entfvemdeten! — 
Nein Sohn, mein Sohn! 

Antomardi. 

Gehorcht dem Kaifer, tretet ab! 2 

Napoleon ift mit verhüllten Antlig zurüdgejunfen. Alle heften fragend die 


Augen auf Antomarki, der unverwandt den Stranfen betrachtet. Sie entfernen 
ſich zögernd.) 


St 


Untomardi 
(allein bei Napoleon. Lange Paufe. Er wirft fih in einen Sejjel im Vorder: 
grunde und verhüllt fein Antlih). 


Löſch' aus, du Stern der Herrlichkeit! 
(ES erfheinen Europa, Geſchichte und Poesie. Napoleon ftredt die Arne 
nach ihnen aus.) 
Curopa. 

Napoleon! 
Weltherrſcher einit, in Feſſeln nun Berichmachtender! 
Zurück von div nicht fordernd das vergoſſ'ne Blut, 
Das teure meiner Kinder, nein, den hohen Preis, 
Um welchen fließen es gejollt, erſchein' ich dir. s0 
63 vangen zwei Weltalter um die Herrichaft; du 
Stiegit auf, du Schidjalsmächtiger, da ward es jtill, 
Nicht Friede; ſchweigſam lagen ſie zu Füßen dir; 
Du Franklin nicht, nicht Walhington!, du haft gebaut 


I Franklin und Wafhington als Helden des amerikanischen Befreiungsfrieges, 
ver die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten (1783) und damit die weitere 


Der Tod Napoleons. 431 





35 Vergänglich für die trunfne Luſt des Augenblicks. 


4 


o 


Du ſankſt, du ſtirbſt — ich frage bang: wen beug’ ich nun 
Den jochgewohnten Naden? Weh! 
Napoleon. 
Mein Sohn! mein Sohn! 
Europa. 
O Hättejt Frieden du geichafft nach deiner Wacht, 
och jtänden aufrecht deine Bilder, unentweiht 
Bon Händen, die zu heben unvermögend find 
Das dir entjunfne, dein gewicht’ges Herrſcherſchwert! 
Geſchichte. 
Standbilder eines Mannes ſtürzen Knaben um, 
Umfonjt bemüht, zu tilgen meines Griffels Spur 


Zukünft'gem Alter, ſchwerem Urteil aufbewahrt. 


45 5 


50 


Poeſie. 
Zu ſchmähn, zu ſchmeicheln haben Knechte nur vermocht; 
Jungfräulich deines Namens iſt annoch mein Mund, 
Hinfort geweiht zu ewigem Geſang, mein Held! 

Europa. 
Ihr Griffel, ihre Lyra, meine Tränen, die 
Der eignen Schmach ich weine; rückgewendet dies 
Hienieden. — Jenſeits ...? Kaiſer auf! der Schleier reißt! 
(Rapoleon ſtirbt, die Erſcheinungen verſchwinden. Bei dem Ausatmen Napoleons 


erhebt fich Antomarchi ſchnell und tritt zu dem Toten, den er lange betrachtet, er 
geht jodann nad) der Tür. — Montholon und das Gefolge kommen ihn entgegeit.) 


Montholon. 

Der Katjer? 

Antomardi. 

Weint! Das war er! Länger zügelt nicht 
Die bleiche Furcht von dieſem Kerker aus die Welt. 
Verbeugt vor dem euch, der ihn jchlug! — zerſtreuet euch, 
Das Xiebesopfer eures Lebens ijt erfüllt! 
Montholon hat den Kaifermantel über die Leiche ausgebreitet, der Abt ein Kruzifix 
darauf gelegt; alle weinen. Zwei englijche Offiziere dringen ein. Der Vorhang fällt.) 


glänzende Entwidelung Amerifas zur Folge — Vgl. das Gedicht „Traum“, 
V. 74 (S. 287 dieſes Bandes). 








432 „Gebigte: In bramatilher Form. 


Fauſt. 
Ein Verſuch. 
1803. 
Doch wozu iſt des Weiſen Torheit nütz? 


Schlegels Shakeſpeare. 
(„Was ihr wollt.” UI, 1.), 


Fauſt. Sein guter und fein böſer Geift, zwei Stimmen. 
(Fauftens GStudierzimmer, von einer einzigen Lampe erleuchtet.) 
Fauſt. 

Der Jugend kurze Jahre find dahin, 
Dahin die Jahre kräft'ger Mannheit, Fauſt! 
E3 neigt fich jchon die Sonne deines Lebens — 
Haft du gelebt? Hier, fremd in diefer Welt, 
Verträumtejt du die farggezählten Stunden, 5 
Nach Wahrheit ringend, die Pygmäenkräfte 
Anjtrengend in dem Rieſenkampf — o Tor! 


Du, der in wilden Jugendfeuer jchivelgend, 
Uneingedenf der Zukunft, deiner jelbit, 
Des großen Weltall3, das um dich fich Freift, 0 
Genuß nur kennſt, Genuß nur kennen willt; 
Beglückter Liebling du der Gegenwart, 
Did muß ich wei)’, fo wie du glüdlich bijt, 
Auch preifen. — Weil’! — und Tor? — ESinnleere Namen! 
Nur Kranke gibt’3; ich kenne feine Toren. 15 
Ein Funke glomm im Bujen mir (ihn legte 
Die fremde Hand), er mußte hoch entlodern 
Und ewig ungelöfchten Durft mir flammen; — 
Dom Allerichaffer fordr' ich alle Schuld; 
Wir müflen wollen, ja, wir müſſen! — müjjen? 20 
Nicht frei denn? — aljo wollend nur ein Stein, 
Der in die Tiefe fällt und fühlt — er wolle, 


Was bit du, Menjch, denn? gier'ger Allumfaffer, 
Des Univerfums fühner Freier du, 
Der blind, in Nacht, in zwiefach ew'gem Dunkel 25 
Gebannt zu irren, nichts erkennen kannſt, 


30 


35 


40 


45 


50 


50 


60 


Fauſt. 488 


Ein ewig ungelöſtes Rätſel dir. 

Erſchaffer deiner Welt nach ewigen 

Geſetzen, ſelbſt von ihr erſchaffen, 

Was biſt du, mächt'ger, nicht'ger Erdenwurm? 
Ein Gott in Banden oder nur ein Staub? 
Was iſt des Denkens, was der Sinnen Welt? 
Die Zeit, der Raum, die Allumfaſſenden, 

Und ihre Schöpfungen, durch die ſie werden? 
Was außer ihnen, das Unendliche? 

Was iſt die Gottheit, jeder großen Kette 

Ein erſtes, ewig unbegriffnes Glied, 

Das, nicht getragen, alle Glieder trägt? 
Erſcheinung nur und Wahn iſt alles mir. 

Es wirft das Licht, das innre, dort hinaus 
Auf ausgeſpannte Nacht die Bilder hin, 

Ein leerer Widerſchein des eignen Ichs, 

Und ſo entſteht die Welt, die ich erkenne. 

So hat — vielleicht der Zufall es geordnet. 
Der große Bildner, den ſie Gottheit nennen. 
Und wenn, nicht bloß gedacht, dort Geiſt und Körper 
Und Gottheit ſind, wie faſſ' ich ſie? — Umſonſt! 
Es treten ewig zwiſchen ſie und mich 

Der Sinne Lügen, der Vernunft Geſetze. 


Ihr, ew'ge Rätſel, ſchrecklich grimm'ge Nattern, 
Die ſtets ihr euch erzeugt und euch verzehrt 
Und mir das Herz verzehrt im grauſen Spiele 
Der ſtets verſchlungnen und erzeugten Kreiſe! 

Ich kann euch nicht verſcheuchen, nicht erdrücken, 
Ihr ſtürmet raſtlos mir die bange Seele. 

Weh dem, den ihr zum ernſten Kampfe reizet! 
Es furchet tief des Denkers Stirne ſich, 

Und Zweifel iſt der ſchwererrungne Preis. 

Nein! länger ſoll der Schlangenbiß des Zweifels 
Nicht langſam mir am kranken Herzen nagen, 
Nicht giftig veizen mehr der Wunden Schmerzen. 
Sch will gejunden in der Wahrheit Scheine, 


Chamiſſo. I. 23 


434 BeBigtes" Dr ER 


Erſchwingen fühn das fternenferne Ziel, 
Das eitel jtrebend nimmer ich erflommen. 


(Er ſucht eine magiſche Rolle hervor, entfaltet fie auf feinem Tifhe und fpricht, 


indem er die Hand auf die Zauberjchrift Iegt:) 

Sind’3 feine Träume, die du Hingezeichnet, 
©o folg’ ih, Seher, deiner Rieſenſpur, 
Sch Tchreite deine Bahn und zage nicht. 
Wenn, horchend deinem mächt’gen Rufe, Geifter, 
Dir dienend, ihres Reiches Nacht entjtiegen, 
Wird mir die Geijterwelt jich auch eröffnen. 
Belehrung zollen mir die finjtern Mächte, 

(Die Geifterbefhiwörung.) 

Die ihr, gehüllt in furchtbar dunklen Schleier, 
Die Seele mir umwallt, gehorchet, Geifter, 
Dem erniten, feiten Willen, der euch ruft! 


Böſer Geiſt. (Eine Stimme zur Linken.) 


Dem ernten, feiten Willen wird gehorchet. 
Du Sohn de3 Staubes, ihm entſchwungen kühn 
Und ähnlih uns, ſprich dein Begehren aus! 


Fauſt! Fauſt! 
Fauſt. 

Auch du! dir hab' ich nicht gerufen, fleuch! 
Abſchütteln will ich deiner Knechtſchaft Joch, 
Entfleuch! Nicht du, Unmächtiger, vermagſt 
Den heißen Durſt des Lechzenden zu ſtillen, 

Die ſturmgeſchlagnen Wellen zu beſprechen. 

Du lähmſt den Flug mir, hebe dich von dannen! 

Ich will ihn männlich fliegen und nicht zagen. 

Ich wende mich von dir, ich folge dem; 

Belehrung fordr' ich, Wahrheit und Erkenntnis! 
Böſer Geiſt. 


Nicht menſchlich ſprichſt du Worte hohen Sinnes. 


Haſt du mit Mannes Ernſt mich hergebannt, 
So ſchwöre mir den Preis zu — deine Seele! 
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze, 
Und was der Menſch vermag, ſollſt du erkennen. 


Guter Geiſt. (Eine Stimme zur Redten.) - 


65 


75 


80 


85 


90 


Fauft. 435 


Guter Geift. | 
Fauſt! Fauft! 
Den jeligen Menſchen 
95 | Gewährte der Vater, 
Bon allen den Früchten 
Des Gartens zu fojten; 
Den jeligen Menjchen 
Berwehrte der Vater 
100 Die einzige Frucht. 


Und liſtig jchmeichelnd, Hob die Schlange fidh: 
„Ihr würdet Göttern gleich, wenn ihr die Frucht, 
Die Herrliche, zu fojten euch erfühntet, 
Die euch der Vater ftreng verwehrt zu brechen, 
105 Nicht Vater er, der neidiihe Tyrann!“ 
Fauſt! Fauit! 
Dem kindlichen Menſchen 
Die Freuden des Lebens, 
Sie knoſpen ihm alle. 
110 Er weilet, wo duftend 
Die Rojen ihm blühen, 
Die Früchte ihm winken. 
Geflügelten Schrittes 
Leicht Hin über Dornen 
115 Zu ſchweben, zu eilen, 
Geſellt' ihm der Vater 
Die holden Gefährten, 
Den Glauben, die Hoffnung, 
Treu ihm in wechjelndem Glück. 
120 Fauſt! Fauſt! 
Es gab, zu ahnden das Unendliche, 
Der Vater dir den Geiſt, 
Gab, liebend anzubeten, dir das Herz; 
Und rechtend mit dem Vater, wageſt du, 
135 Vom Strahle ſeiner Liebe mild beſchienen, 
Zu fordern jene Frucht, des Todes Frucht. 
Verſchmäh, verſchmäh des Lebens Glück und Kronen 


28* 


4156 Gedichte: In dramatiſcher Form. 





Und ringe nach der Gottheit fernem Ziele; 
Des Rächers Rache trifft den ſchuld'gen Scheitel! 
Fauſt. 
Erſchuf zu ausgeſuchten Qualen mich 130 
Ein Gott des Haſſes, den der Schmerz erfreut? 
Guter Geiſt. 
Das Glück umblühte deines Lebens Pfade. 
Fauſt. 
Es iſt Erkennen mir das einz'ge Glüd. 
Guter Geiſt. 
Die Hoffnung blüht dem Dulder, lern' entbehren! 
Fauſt. 
Sie welkte in der ſchwer erkrankten Bruſt. 135 
Guter Geiſt. 
Der Tugend Kranz umgrüne deine Locken! 
Fauſt. 
Auch dieſen Kranz entriß der Zweifel mir. 
Guter Geiſt. 
Du willſt, du willſt, und deine Freuden welken. 
Fauſt. 
So wähl' ich denn, nicht frei, das eigne Weh. 
Guter Geiſt. 
Fauſt! handle glaubend, wie du frei dich fühleſt. 140 
Fauſt. 
Nein, nein! ich bin nicht frei, ich will's nicht ſein. 
Guter Geiſt. 
So treffe denn die ſchwere Schuld den Frevler! 
Fauſt. 
Die ſchwere Schuld wälz' ich dem Schöpfer zu, 
Der mich zu hoch begabt, zu tief gedrückt, 
Der feindlich mir den regen Geiſt gegeben. 145 
Suter Geiit. 
Um ihn zu bändigen, den Willen, dir. 
Des Rächer Rache trifft den jchuld’gen Scheitel! 





155 


160 


165 


170 


Fauſt. 487 


Fauſt. 

Dich, Geiſt der frühen Rache, ſchrecklicher, 
Der furchtbar ahndend nicht begangne Sünden, 
Gedanken nur des Herzens, angſtumziſchend 
Der Hölle Schlangen furchtbar um mich ſchlingſt, 
Erſchütternd nicht des Mannes ernſten Willen, 
Dich ſtraf' ich Lügen! Nein, ich bin nicht frei; 
Ein eh'rnes Schickſal waltet über mir, 

Und unaufhaltſam reißt es mich dahin, 
Und eiſern fällt und trifft das grauſe Los. 
Böſer Geiſt. (Halblaut.) 
Der Falſche lügt ſich deinen guten Geiſt. 


Fauſt. 

Du lügſt dich meinen guten Geiſt, entfleuch! 
Ich wende mich von dir, ich folge dem. 
Belehrung fordr' ich, Wahrheit und Erkenntnis! 

Böſer Geiſt. 

Wohlan! ſo ſchwöre mir den Preis zu, Fauſt! 
Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze, 
Und was der Menſch vermag, ſollſt du erkennen. 
Selbſt brich den Stab denn über deine Seele! 

(Der Stab des Gerichtes wird Fauſten in die Hand gezaubert; er erſchrickt und 
faßt ſich raſch wieder.) 
Fauſt. 

Du, raſcher Sohn des Augenblickes, Wille, 

Gebäre raſch die Tat! 

Guter Geiſt. 

Die ernſte Tat, 

Die ſpät fortwirkend in der Zeiten Schoße, 
Entfallen dir, ein Raub der fremden Mächte, 
Gehöre ewig der Notwendigkeit! 
Noch, Fauſt, gehört des Herzens Willen dir. 

Böſer Geiſt. (Halblaut und langſam.) 

Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schäße, 
Und was der Menſch vermag, ſollſt du erkennen. 


438 . Gedidte: In dramatiſcher Form. 


Fauſt. 
Gehört noch mir, — gedacht, gewollt, gehandelt! 
Guter Geiſt. 

Und wagteſt du zu denken ihn, den großen, 

Den ſchrecklichen Gedanken: Ewigkeit? 
Fauſt. 

Ich dacht' ihn, ja! doch der Moment allein 
Gehört dem Menſchen, im Momente lebt er, 
Drum kauft er um der Zukunft teuren Preis 
Des Augenblickes raſch entflohne Luſt. 

Es kann die Zukunft auch ein Traum nur ſein. 
Guter Geiſt. 
Und wenn auf Wahrheit jener Traum hindeutet? 
Fauſt. 

So mag der Schreckenstraum ſich dann entfalten! 
Du wetzeſt ſelbſt des Zweifels gift'gen Zahn, 
Der mich zerfleiſcht. Nicht Wahrheit kann das Herz 
Zermalmend treffen, das für ſie nur ſchlägt; 
Nur ſchrecklich iſt die Qual mir, die ich dulde; 
Sie muß fih enden. Stählern ijt die Bruft, 
Und jedes Schmerzes Pfeil entprallt unmächtig, 
Den nicht des Zweifels Schreckensarm geichnellt. 
Sch will der ew’gen Rache männlich Harren 
Und feſten Blickes ihr entgegeniehn. 

Ich fluche dir und deinem Gott und breche 
Entſchloſſen felber des Gerichtes Stab. 
Guter Geift. 
Wehe dem Menjchenerzeugten! 
Wehe, zerbrechet die Krone! 
Gr jtürzet; nachhallend 
Empfängt ihn die Tiefe, 
Zerichmettert vom jähligen Fall. 
63 wandle im Tale 
Der Menſchenerzeugte 
Und weide die Blide 
An blumigen Auen! 


175 


180 


185 


190 


195 


200 


205 


210 


215 


230 


235 


Fauſt. 439 


Nicht wag' er zu heben 
In blendende Höhen 

Zur Sonne den Blick! 
Vom lieblichen Kleide 
Der nährenden Erde 
Rückſtrahlt ihm die Farbe, 
Ein ſanfteres Licht. 

Ihm g'nüge der bunte, 
Der liebliche Schein! 
Nicht gierigen Herzens 
Erheb' er die Wünſche 
Zur Sonne empor! 
Erklimmt er der Berge 
Beſchneiete Gipfel, 

Zu nahen der Sonne 
Verzehrendem Licht, 

Nicht näher der fernen, 
Erblindet das Aug' ihm, 
Und ſchwankenden Schrittes 
Entgleitet der Fuß. 

Der ſchwindlichten Höhe 
Entſtürzt er; nachhallend 
Empfängt ihn die Tiefe, 
Zerſchmettert vom jähligen Fall. 


Wehe dem Menſchenerzeugten! 
Wehe, zerbrechet die Krone! 
Entwunden den Armen 
Der ſorgenden Liebe, 

Hin eilt er — und ſtürzet; 

Er ſtürzet, nachhallend 
Empfängt ihn die Tiefe, 
Zerſchmettert vom jähligen Fall. 


Fauſt. (Den Stab zerbrechend.) 


Zerbrochen iſt der Stab! 


Guter Geiſt. 
Er iſt zerbrochen! 


440 Gedichte: In dramatiſcher Form. 


Böſer Geiſt. 
Er iſt zerbrochen! 
(Lange Stille.) 


Fauſt. 
Nun? 
Böſer Geiſt. 
Ich lache deiner, leichtes Spielwerk du 240 


Der gier'gen Wünſche deines ſtolzen Herzens; 
Ich Tache deiner, Tor, den ich verachte, 
Und zolle dir den Preis, den Du bedungen. 


Der Zweifel iſt menſchlichen Wiſſens Grenze, 
Die nur der blinde Glaube überjchreitet. 245 
Dich dann’ ich, ohne Anker, ohne Segel, 
Zu irren auf dem feindlich dunklen Meere, 
Wo dir fein Grund, wo feine Ufer dir, 
Dem ohne Hoffnung Strebenden, ericheinen; 
Bis vor dir nächtlich ſich das Tor eröffnet, 250 
Das furchtbar dir geahndete, des Todes, 
Und neue Schauder jchredlich dich ergreifen; 
Denn mir gehöret deine Givigfeit: 
Sch zolle dir den Preis, den du bedungen. 


Des Glaubens Blume blühte Eindlich dir, 255 
Du haft fie jtolz zertreten, forderſt Wahrheit. 
Wohl! jchredend ruf ich dir die Wahrheit zu: 
Aus deiner Weiſen Widerfprüchen Ttrahlte 
Sie dir entgegen, die geahndete: 
Der Zweifel iſt menschlichen Wiſſens Grenze, 260 
63 fann der Staubumbüllte nichts erkennen, 
Dem Blindgebornen Fann fein Licht erjcheinen. 


So wie die Sprache, wie des Wortes Schall 
Div Mittler des Gedankens iſt und Zeichen, 
So iſt des Sinns Empfinden, der Gedanke ſelbſt 205 
Dir Sprache bloß und eitles, leeres Zeichen 
Der ewig dir verhüllten Wirklichkeit. 
Du fannjt nur denken durch den Mittler Sprache, 





160) 
— 
oO 


275 


280 


290 


295 


Fauſt. 441 


Nur mit den Sinne jchauen die Natur, 

Nur nad) Gejeßen der Vernunft fie denten. 

Und hätteſt Hundert Sinne du und taufend, 

Du Kargbegabter, und erhöbe freier 

Sich dein Gedanke ins vieljeitiger- 

Befühlte All, jo würdeſt immer du, 

Getrennt, vereint mit ihm durch Körpers Bande, 
Nur eigne Schatten ſchaun und nicht3 erkennen. 


Es jtrebe, trachte angejtemmt der Menſch! 
Ihm fiel das Los. Der reine Geijt allein, 
Der ruhende, erkennt; nicht ihn umfaßt 
Die ew'ge Mauer, die ji) zwijchen dir 
Und der erjehnten Wahrheit trennend hebt. 
Die Mauer ftürzt der Tod; die Rächerin, 
Sie harret furchtbar deiner in dem Lande, 
Mo nicht gejtrebet, nicht getrachtet mehr, 
Wo zollen einer wird des Lebens Lohn. 


Tachhallen muß ich deiner Worte Schall, 
Nachipiegeln deines Denkens Schatten dir, 
Nachlügen deiner Weiſen Traumgebilde, 

Dir, einem Menjchen, ich, ein Geijt, zu nahen; 
Gedanken, Worte, Menjchenträume faſſen 

Kein ähnlih Bild der ewig dir Verhüllten. 

Doh Wahrheit, Wahrheit haft du div bedungen; 
Nun! was der Menjch vermag, jollit du exfennen: 


Der Zweifel iſt menschlichen Willens Grenze, — 
Iſt furchtbar rächend deines Lebens Schlange. 
DVerzweifle, niedrer Erdenwurm, den tiefer 
In feinen Staub zurücd ich niedertrete! 

Nicht heben darfjt du jenen dunklen Schleier; 
63 bringt die Zeit div feine Blume mehr, 
Und mir gehöret deine Giwigfeit. 

So öffn' ich rächend dir der Wahrheit Schäße, 
So zoll’ ich div den Preis, den du bedungen. 


442 Gedichte: In dramatifcher Form. 


Fauſt 
(im Begriff, ſich niederzuwerfen gegen die Seite, woher die Stimme des guten 
Geiſtes hallte, erhebt ſich raſch wieder und ſpricht): 


Nein! niederknieen nicht vor dir, Verkünder 
Des ſiebenmal erfüllten ſchweren Fluches, 
Der mir das Haupt umflammt, und nicht vor ihm! 305 
Vernichtung heißt der Gott, den ich anrufe. 
Ihr ſeid unmächtig, der Vergangenheit 
Ihr leicht erworbnes Eigentum zu rauben. 


O, könnt' ich wieder fluchen euch! o, könnt' ich 
In Menſchenqualen euch verzagen ſehn, 810 
In ew’gen Menſchenqualen euch verzweifeln, 
Und laut auflachend gräßlich euch verhöhnen! 
Fluch jelber mir, daß ich ohnmächtig bin, 
Daß nur ein leifer, eitler Laut der Lippe 
Gntbebet, in dem Winde zu verhallen! 315 


Erſehnte Spornerin der eitlen Wünſche! 
Sch habe, Wahrheit, deine Dunjtgejtalt 
Berfolgt und unermeßlich weit verfolgt, 
Und ihr geopfert jeden Hoffnungsichimmer; 
Geftrandet, ſteh' ich nun auf ſchroffer Klippe, 320 
Ringsum mich her die dunkle, tiefe Flut, 
Und um dag Haupt mir donnerichwang’re Wolfen. 
Ich werde nimmer, nimmer fie umfangen, 
Um die ich hin den teuren Preis geworfen! 

Böſer Geiſt. 

Die Mauer ſtürzt der Tod; die Rächerin, 325 
Sie harret furchtbar deiner in dent Lande, 
Wo nicht geftrebet, nicht getrachtet mehr, 
Wo zollen einer wird des Leben Lohn. 





Fauſt. 
Die Mauer ſtürzt der Tod; — ſie harret meiner 
In jenem Lande... — Schlange meines Lebens! 330 


Wo nur das Aug’ ich wende, jtarrejt du | 
Mich gräßlicd an! — Berdammnis, — Ewigkeit, 
Laßt eure Qualen nicht den Zweifel Jein! 


Fauſt. 443 


Umſtürze du, Erfüllung, jene Mauer! 
35 Verhüllte Rächerin, jet Rettung mir! 
Sch will in jenem Lande dich verfolgen. 

(Wie er fich gegen den Geift wenden will, den Tod zu erflehen, wird ihm ein Dolch 
in bie Hand gezaubert; er wendet die Spige gegen fein Herz und ftößt ihn lang— 
fam hinein.) 

Verdammnis; ewige, in deinen Schoß! — 
Vielleicht Vernichtung nur, vielleicht Erkenntnis, 
Gewißheit doch! 
(Er ftürzt, die Lampe erliicht, das Theater ift tief verfinjtert. Langjam fällt der 
E Vorhang.) 


Uberfeßungen. 
Die Heiden, Heißt es, waren 

Nicht Ehrijten jo wie wir: 
Sie jchlachteten die Leute 
Und brauten ſchlechtes Bier. 

a Franz Kugler! 

Das Lied von Thrym 
oder Die Wiedereroberung Mivellners, des Hammers des 
Donners. 
Aus dem Isländiſchen.* 


1; 
ornig ward Thor, 
Als beim Erwachen 
Gr jeinen Sammer 
Vorhanden nicht fand. 
Schüttelnd den Bart, 
Schlagend jein Haupt, 
Der Sohn Odins ſuchte 
Umſonſt umber. 
2. 
Und es war jein Wort, 
Melches zuerjt ev ſprach: 10 
*“ Thryms quida edr Hamarsheimt. Edda Saemundar Hafn. 1787. 
p.183. Der gelehrte Forjcher des nordijchen Altertum$ möge mir dei Verſuch 
nicht verargen, das iSländifche Lied in einer leichten Verdeutſchung den Laien 
und Ungelehrten vorzutragen. ch Habe den Geiſt und die Weije des Originals 
in unjerer Sprache wieder zu beleben geſucht und mich jonjt beinüht, jedes Wort 
zu entfernen, zu deſſen Verſtändnis es gelehrter Erörterungen bedurft hätte. 


[1 3 











1 Aus dem „Baterländifchen Trinklied‘, Str. 2, B.5f. in Franz Kugler 
„Skizzenbuch“, S. 105 (Berlin 1830), in den „Gedichten“, Stuttgart 1840, ©. 115. 





25 


30 


35 


40 


Das Lied von Thrym. 445 


„Höre nun, Loki, 
Hör', was ich ſage, 
Was weder auf Erden 
Weiß irgend einer, 
Noch hoch im Himmel: 
Mein Hammer iſt geraubt.“ 
3. 
Sie gingen zum herrlichen 
Hauſe der Fraya, 
Und es war Thors Wort, 
Welches zuerſt er ſprach: 
„Wolle mir, Fraya, 
Flügel verleihen, 
Ob erlauſchen vielleicht 
Mein Hammer ſich läßt!“ 
4. Fraya ſang: 
„Und wären von Gold ſie, 
Ich gäbe ſie dir; 
Und wären ſie Silber, 
Du ſollteſt ſie haben.“ 
Da flog auf Loki flugs, 
Der Flügelſchlag rauſchte, 
Bis hinten er ließ 
Das Land der Götter, 
Und er erreichte 
Der Rieſen Reich. 


2 

Thrym ſaß auf dem Hügel, 
Der Herricher der Rieſen, 
Tert’gend den Hunden 
Feſſeln von Gold, 
Glättend den Roſſen 
Die Mähnen zurecht. 

6. Thrym fang: 

„Wie jteht’3 mit den Göttern? 

Wie ſteht's mit den Elfen? 


446 


Gedichte: Überfegungen. 


Was reiſeſt allein du 
Tach Rieſenheim?“ 
7. Roki fang: 

„Schlecht ſteht's mit den Göttern, 
Schlecht jteht’3 mit den Elfen, — 
Du hältſt wohl verborgen 
Den Hammer des Thors?“ 

8. Thrym fang: 

„Ich halte verborgen 
Den Hammer des Thors 
Wohl unter der Erde 
Acht Morgen tief; 

Und wieder erwerben, 
Fürwahr, ſoll ihn feiner, 
Er führe denn Fraya 
Zur Frau mir heim!“ 


9. 

Da flog auf Loft flugs, 
Der Flügelſchlag raujchte, 
Bis Hinten er ließ 
Das Land der Rielen, 
Und er erreichte 
Das Reich der Götter. 

Er traf den Thor an 

Vor der Tür jeiner Halle, 

Und e3 war fein Wort, 

Welches zuerit er ſprach: 
10. 

„Halt das Gejchäft du 
Geichafft mit der Arbeit, 
Laß von der Höhe mid) 
Hören die Kunde! 

Oft im Sitzen gejtört, 
Stodet die Rede, 

Leicht im Liegen erfinnt 
Züge ſich nur.“ 


45 


c0 


65 


70 





75 


80 


85 


90 


95 


100 


105 


Das Lied von Thrym. 


11. Loft fang: 

„Hab' das Gejichäft wohl 
Geichafft mit der Arbeit. 
Thrym Hat den Hammer, 
Der Herricher der Riefen, 
Und wieder eriverben, 
Fürwahr, ſoll ihn feiner, 
Er führe denn Fraya 
Zur Frau ihm heim.“ 

12. 

Sie gingen, zu fragen 
Fraya, die herrliche, 

Und &8 war Thor Wort, 
Welches zuerſt er ſprach: 
„Bräutliches Leinen 
Lege dir an, Fraya! 
Mir beide, wir reifen 
Nach Riefenheim.“ 

13. 

Zornig ward Fraya. 

Sie zitterte heftig, 
Der ganze Palaſt 
Der Götter erbebte; 
Es ſprang und entfiel ihr 
Der funkelnde Halsſchmuck: 
„Wohl möchteſt du meinen, 
Daß mänmlich ich ſei, 
Wenn beide wir reiſten 
Nach Rieſenheim.“ 

14. 

Raſch kamen die Götter 
Zum Rate zuſammen, 
Die Göttinnen raſch 
Zu reden bereit. 

Die himmliſchen Häupter 
Verhandelten da, 


447 


448 


Gedichte: Überjegungen. 


Wie den Hammer des Thor 
Zu holen gelänge. 
15. 
Da Hub Heimdall an, 
Der hellleuchtende Gott, 110 
Welcher da weiſe 
Wußte die Zukunft: 
„Bräutliches Leinen 
Legen dem Thor wir an; 
Er habe den hehren, 115 
Den funkelnden Halsſchmuck. 
16. 
„Klug laß er erklingen 
Geklirr der Schlüſſel; 
Ein weiblich Gewand 
Umwalle ſein Knie; 120 
Laß blinken die Bruft ihm 
Von breiten Juwelen, 
Hochgetürmt uud gehüflt 
Das Haar ihm auch jein!“ 
IN} 
Da hub Thor an, 125 
Der hochernite Gott: 
„Es würden die Götter 
Mich weibiſch jchelten, 
Legt’ ich das bräutliche 
Leinen mir an.“ 130 
18. 
Da Hub Loki an, 
Loveyias Sohn: 
„Thor, ſolcher Worte 
Woll' dich enthalten! 
Raſch werden die Rieſen 135 
Vom Reich ung verdrängen, 
Holit deinen Hammer 
Heim du nicht ſchnell.“ 





140 


145 


150 


155 


160 


Das Lied von Thrynt. 





19. 

Bräutliches Leinen 
Legten dem Thor fie an; 
Er Hatte den hehren, 
Den funkelnden Halsſchmuck; 
Klug ließ er erklingen 
Geklirr der Schlüſſel; 
Ein weiblich Gewand 
Umwallte ſein Knie; 
Es blinkte die Bruſt ihm 
Von breiten Juwelen; 
Das Haar war gehüllt ihm 
Und hoch getürmt. 

20. 

Da hub Loki an, 
Loveyias Sohn: 
„Ich will dich gleichfalls 
Begleiten als Maid; 
Wir beide, wir reijen 
Nah Riejenheim.‘ 


21. 

Haſtig die Hirſche!, 
Heimgetrieben, 

Wurden dem Wagen geſchirrt 
Wohl zur eiligen Fahrt. 
Die Steine zerſtoben, 
Flamme ſtieg auf. 
So reiſte Odins Sohn 
Nach Rieſenheim. 

22. 

Da hub Thrym an, 
Der Herrſcher der Rieſen: 
„Auf! auf! ihr Rieſen, 
Bereitet die Bänke, 


449 


1 Richtiger: die gehörnten Böcke, genannt „Zahnkniſterer“ und „Zahnknirſcher“, 
die Thor Wagen ziehen, 


Chamiſſo. 


I. 


29 


450 Gedichte: liberfegungen. 





Nun Führt mir Fraya, 
Die Frau, herein!“ 170 
23. 
Heim famen die YFarren!, 
Die goldgehörnten, 
Die ſchwarzen Rinder, 
Dem Riejen zur Luft: 
„Habe der Schäße viel, 175 
Habe der Spangen viel, 
Tehlte mir Fraya 
Zu freien annoch.“ 
24. 
Früh fanden die Gäjte 
Zum Feſte ſich ein, 180 
Und reichlich gereicht ward 
Den Rieſen der Tranf. 
Thor aß einen Ochlen, 
Gr aß acht Lachie, 
Zulammen, was Süß’res 185 
Sonjt gab für die Frauen?; 
Er trank wohl des Metes 
Drei Maße allein. 
25. 
Da Hub Thrym an, 
Der Herrſcher der Riejen: 190 
„ann haſt du Bräute 
Hungriger je geſehn? — 
Nie hab’ ich Bräute 
Hungriger je gejehn; 
Nie Mägpdlein des Metes 195 
Mehr genießen als jte.“ 
26. 
Saß Kofi dabei, 
Die löbliche Maid, 


I Eigentlih Ochfen, wohl für Kühe. — ? Richtiger; (Thor af) alles Wiirz- 
wert, auch das den Weibern beftimmtg, 





200 


205 


210 


215 


220 


Das Lieb von Thrynt. 


Bereit, dem Rieſen 

Rede zu jtehn: 

„Seit acht Nächten nichts 
Genoſſen hat Fraya, 
Raſend vor Reiſeluſt 
Nach Rieſenheim.“ 


27. 


Thrym lüftet' das Leinen 
Aus Luſt, ſie zu küſſen; 
So weit der Saal war, 
Ward zurück er geſchreckt. 
„Wie ſind doch furchtbar 
Frayas Augen, 

Dünkte mich, Feuer hervor 
Funkeln zu ſehn!“ 


28. 


Saß Loki dabei, 
Die löbliche Maid, 
Bereit, dem Rieſen 
Rede zu ſtehn: 
„Seit acht Nächten nicht 
Genoß ſie des Schlafes, 
Raſend vor Reiſeluſt 
Nach Rieſenheim.“ 


29.1 


Da trat in den Saal Thryms 
Traurige Schwelter, 
Die gar fich die Gaben 
Zu begehren erfühnt: 


1 Die Strophe ift mißverftanden. Nach Gerings Überjegung: 
Hinein trat des Thurſen betagte Schweiter, 
die das Brautgeſchenk zu erbitten wagte (von Freyja): 
„Laß vom Arm dir die roten Ninge ftreifen, 
willft gern du erwerben die Gunft der Alten, 
die Gunft der Alten, ihre ganze Huld.“ 


451 


452 


Gedichte: UÜberſetzungen. 
„Ich reiche die roten 
Ringe dir dar; 
Verlangt' dich in Luft 
Nach Frayas Liebe? 
Nah Frayas Liebe 
Und freudiger Huld?“ 
30. 
Da Hub Thrym an, 
Der Herricher der Rieſen: 
„Bringt zur Weihe der Braut, 
Bringt den Hammer herbei, 
Leget den Mioellner 
Der Maid in den Schoß! 
Vollbringet die Bräuche, 
Die Braut ſei mein!“ 
31. 
Da lachte dem Thor wohl 
Im Leibe ſein Herz, 
Als mitten im Harme 
Er den Hammer erkannte. 
Da traf er zum erſten 
Thrym, den Herrſcher. 
Und ſchlachtete dann 
Sein ganzes Geſchlecht. 
82. 
Da traf er auch Thryms 
Traurige Schweſter, 
Die gar ſich die Gaben 
Zu begehren erkühnt; 
Ihr klangen nicht Münzen, 
Ihr klangen nur Schläge, 
Für tönende Ringe 
Der tötende Hammer. — 
So hat ſeinen Hammer 
Odins Sohn ſich geholt. 


——— 
* N 


230 


235 


240 


245 


250 





10 


20 


25 


30 


Das Lied von Thrym. — Idylle. 453 


Idylle. 


Möglichſt treue Überfegung aus der Tonga-Sprache. 


Mariner's Account of the Tonga-islands. Second edition, with additions. 


London 1818. V. II. Grammar. (Ohne Seitenzahl.) 


my plaudernd von dem äußern Strande 
Meilten wir und weilten, al3 daher fam, 
Uns auffordernd, eine Schar von Mädchen: 
Kommt, wir wandern nach dem äußern Strande, 
Schaun von dort den Untergang der Sonne, 
Lauſchen dort dem Zwitſchern von den Vögeln 
Und der Klage von der wilden Taube, 
Blumen wollen wir am Fuß der Klippen 

Bei Matöwto pflüden, und das Mahl dort, 
Das von One man ung bringt, genießen, 

Sn dem Meere jchwimmen, in den ſüßen 
Waſſerbächen ung das Salz abjpülen, 

Dann mit duft’gem Sandelöl ung jalben 

Und zu Kränzen unſre Blumen flechten. 

Wann vom Scheitelpunft der Vogelhöhle 
Atemlos wir in die Tiefe ftarren 

Und des Meeres Ternen überjchauen, 

Weht zu ung, den Träumen Hingegebnen, 
Von der Ebne her der mächt’ge Landwind 
Durch die Wipfel ſchlanker Kajuarinen; 

Und betrachtend, wie die Brandung unten, 

An den feiten Fuß des Felſens jchlagend, 

Sich unfinnig müht, ihn durchzubrechen, 
Fühlen wir ung das Gemüt erweitert; 

Wohler wird uns aljo, denn beharvend 

In des Lebens niedernt Kreis befangen. 


Spät wird's, laßt zur Stadt zurüd uns kehren! — 
Horcht! der Sänger Stimme jchallt herüber; 
Mögen wohl zum Fackeltanz jich üben, 
Ihn zu Nacht beim Grabpla von Tanka 
Aufzuführen. Laßt dahin uns wandern! 


4 


4 


. Gedichte: Überfegungen. 


O, der Tage müſſen wir gedenken, 
Ch der Krieg das arme Yand zerriffen! 
Wehe! furchtbar iſt der Krieg; o, jehet 
Das Gefträuch auf unjern Marken mwuchernd, 
Und die frühen Gräber vieler Helden! 
Unfre Fürſten irren ohne Wohnſitz, 
Schleihen nicht mehr einfam bei dem Mondlicht, 
Das geliebte Mädchen aufzujuchen. 
Eitles Sinnen! Laſſet ab zu grübeln, 
Wütet doch der Krieg auf unſern Inſeln! 
Die von Fiji haben uns, von Tonga, 
Krieg gelehrt; nun heiſcht's, wie fie zu Handeln. 
Zafjet uns des flücht’gen Tags genießen, 
Gilt's vielleicht doch morgen jchon zu jterben! 
Mollen uns mit Blumenkränzen ſchmücken 
Und mit bunten Zeugen uns umgürten, 
Wollen duft’ge Blumen um die Stirne, 
Aber weiße um den Hals ung winden, 
Unſre Bräune Tieblich zu erhöhen! 
Hört die Männer, hört, wie jte uns preijen! 


Aber Ichon der Yadeltanz vollendet, 
Und bereit3 umbergereicht das Yeltmahl. 
Morgen kehren wir zur Stadt zurüde. 


Nicht begehren unfrer wohl die Männer? 
Bitten dringend nicht um unſre Kränze? 
So mit Schmeichelveden uns erhebend: 
Nicht wohl find ausnehmend ſchön zu nennen 
Unſre Mädchen von dem äußern Strande?! 
Nicht wohl reizend ihre Sonnenbräune?! 
Duftverbreitend wie die blumenreichen 
Schluchten Mäta-löcos und Vi-büas! 
Uns verlangt e3 nach dem äußern Strande, 
Laßt am nächjten Morgen uns dahin gehn! 


35 


40 


45 


50 


60 


Idylle. 455 


B.1,4, 59, 63. Der Äußere Strand. Licoo, der Rüden der Inſel, die 
windwärts gelegene, den Schiffen unzugängliche Küfte, im Gegenjaß zu 
der Küfte unter dem Winde, wo die Landungspläge und die Wohnungen 
der Menjchen jind. Auf den niedern, jogenannten Koralleninjeln und 
Snjelgruppen: der Strand am äußern Meere, Illüch der Karoliner, 
Tligieth der Radader, im Gegenjaß zu dem Strande am Binnenwaſſer, 
Iar der Radader. Vergleiche meine Schriften Thl. 2, ©. 108 u. 206 u. ff. 

3.3, 59. Mädchen. Fafine. Frauen im weitern Sinne, und hier folche, 
die dem Manne noch nicht unterthan find. x 

3.13. Sandelöl. Fango nanomoo. Das wohlriehende DI von Tonga 
wird aus dem Sandelholz geivonnen. 

8.27, 54. Die Stadt. Mooa. Unbedenklich die Hauptitadt, die Stadt, 
urbs, ro äszv, obgleih) ohne Mauern und aus Strohhäufern bejtehend. 

3.37. Fürſten. Egi, ho-egi. Edle, Fürjten, und zwar durch göttliches 
Recht und ohne Anfehtung. Wo der Adel, wie bei uns, erworben und 
verwirkt werden kann, ijt er fein Adel mehr. 

3.42. Wie im Berfehr mit den friegeriichen Bewohnern der Fiji-Inſeln die 
Snjulaner von Tonga ſich deren Sitten angeeignet, jiehe bei Mariner. 

8.44. Carpe diem. Hor. Und die aljo dichten und fingen, werden 
meift von unfern Schriftgelehrten, ja, von unjern Reijenden „Wilde“ 
genannt! Ein Sprachgebrauch, dem ich mich nicht fügen kann. 


Er — 


Inhalt. 


Chamiſſos Leben und Werke 


Gedichte. 


Einleitung des Herausgebers. 


% 


Der Dichter. 
1. Aus der Beringsitraße. . 15 


Eeite 


2. Beisder Aidieht . . o . 16 

ennn nr, 
Lieder und lyriſch-epiſche Ge: 

dichte. 

Frauen=Liebe und Leben . . 19 
Lüſſen will — will TE 25 
ETanelt ee... 27 
Die Blinde. . N) 
Lebens = Lieder und Bilder SR >’ 
De Braut: 2 =... 49 
Der Klapperſtorch Nr 90 
Die kleine Lieje an Brummen vo och 
Die Klage der Nonne. . . . 52 
Die drei Schhweilere. 2 2 2238 
Die alte Waſchfrau . . 56 
Zweites Lied von der alten iuWaſch 

J 58 
Heimweh . . et) 
Der erite Schnee . en a 
Frühling. . . 2 a 
Seh du nur hin! EN. 
Was fol ih jagen? . . . . 62 
Morgentau. . . ei) 
Aut Antport . RN OR 
Zur Unze; 2% a en 
Auf der Wanderſchaft — — 
Gern d gertiet. . » ... . 64 
Sn Herbit . . a re 
Das Schloß Boncomt. . . . 66 


Zruhling und Herbit - 2. »6%. 


Geite 5* 

Seite 3 
Seite 
Diesnrer onen 28.77 „768 
Naht and Yanttern 68 
Blnier Simmel n,r/2.r0 4 70 
EINE ana En 71 
Anertd.r..... LEER ME | 
Friſch gefungen . ; 72 
Es ijt nur jo der Lauf der Welt 72 
Geduld! . . 73 
Pech. ne | 
Mäpigung. und Maͤßigteit — —— 
Tragiſche Geſchicht . . . 77 
Rachtwächteried - . . 2. 78 
Sojua . en 
Ein franzöſiſches io. ee: 1) 
Kleidermaher- Mut . . . . 82 
Da8 Dambfiob. » . :..:.8 
Die MOlBENE Betr. a... 084 
Kanon . . PERS: 
Das Gebet der Witte AS 
Bobo et Al 
Steruſchnuppe m. 
Der Frau Baje kluger Kat . 90 
Recht empindlam " : ..... 9 
Polterabend . . N 
Der bortreffliche Mantel... 98 
Eid-der Treue . ı, . —9 
innen = 595955 
Kebe wa, inet 97 
Srublingeleu ne sa 97 
Hptbasttlienern, 9999 
In malaiiiher Form. . . . 100 
1. Genug gewandert . . . 100 
2. Die Korbflehterin . . . 101 


8 Sntenflanes 00 





Das Kind an die erlojchene aa 
Der Glücksvogel — 
Familienfeſt . 
Verratene Liebe. 
Die Quelle . 
Der Semjenjäger und ie Sen⸗ 
nerin. 
Die Jungfrau "bon Stubben- 
fammer . . 
Das Burgfräulein don Windet 
Herzog Huldreih und — 
Liebesprobe . . ; 
Die Mutter und das Kind. 
Der Kranfe . 
Die Großmutter 
Die Waije 
Treue Liebe . . 
Der Sohn der Witwe 
Laß reiten. 
Die Müllerin . . ® 
Der Müllerin Nachbar 1 
Don Quixote ER 
Der alte Miller 
Bier Lieder don Beranger . 
1. Die Kartenlegerin . . 
2. Die rote Hanne oder das 
Weib des Wilddiebes . 
3. Der Bettler — 
4. Prophezeiung des Noftra- 
damus auf das Jahr MM 
Nach dem —— von An⸗ 
der 
Märzveilcen . 
2. Muttertraum . 
3. Der Soldat . . 
4. Der Spielmann . 
Der Müllergejell 
Koland ein Roßkamm 
Hans Jürgen und — Kind. 
Böſer Markt. 
Der rechte Barbier 
Hans im Glüde . . 
Das Urteil des Schemjäfe . 
Ein Lied don der Weibertreue 
Gar Bild. - . 
Better Anfelmo . 
Der neue Npasverus : 
Der Schatz : 
Seren] 
Liederitreit i 
Die Löwenbraut . 
Der Bettler und jein Hund 


Chamifjo. I. 


Snhalt. 
Seite 
102 | Der Invalid im Irrenhaus 
103 | Des Gejellen Heimkehr . s 
103 | DieSonne bringt es an den zug 
104 | Das Auge. . . 
105 | Des Basfen Etchehons Klage. 
Das Mädchen zu Cadir. 
105 | Nächtliche Fahrt 2 
Die Sterbende . 
107 | Die Giftmifcherin.. . . 
109 | Der Tod des Räubers . . 
110 | Der Graf und der Yeibeigene . 
112 | Der Waldmann. 3 
114 | Vergeltung ? 
116 | Der König im Norden . 
117 | Laß ruhn die Toten . 
119 | Ungemitter 
119 Der alte Sänger 
121 | Deutjche Bolfsjagen . 
122 1. Das Niejen = Spielzeug 
123 2. Die verjunfene Burg . 
124 | 3. Die Männer im Zobten— 
124 berge. . 
126 4. Der Birnbaum auf dem 
127 Walierfeld ä 
127 5. Die Weider von Winsperg 
Abdallah . 
129 | Der heilige Martin, Bifgof von 
130 ZONEBE 2% : 
Abba Glost Seczeta R 
132 | Der neue Diogenes 
Georgi® . . 
133 | Lord Byrons leßte Siehe . . 
133 | Sophia Kondulimo und. en 
134 Kinder . 3 
134 Chios . . 
135 1. Der Dichter 
135 2. Die Brüder 
137 3. Die Märtyrer. 
138 4, Die Geretteten 
140 5. Die Leichen 
143 6. Kanaris. . . 
145 | Korfiiche Saftfreiheit . 
151 | Der arme Heintih. . 
158 
as Sonette und Terzinen. 
175 | Der einjt zum Grabjtein Blü- 
127 chers bejtimmte Granitblod 
178 GRBSDODlEn. - ... 
181 | An die Apoftoliichen . 
183 1. Ev. Matth.e.24 . . 
184 2. Ev. Matth. e. 15— 23 
29* 


458 


nn 


Sr ) 


Mihiung. 
Memento. — 
Der vertriebene König 
Aus der Vende . . 
1. Sm Sahre 1832 
2. Sm Sahre 1833 
Deutſche Barden 
Erfcheinung . 
Evangelium St. Luͤcae i8, 10 
Traum . i 
BANATOZ ..u% 
Die Kreuzichau Br 
Die Ruine Det 
Der Republifaner . k 
Chaſſané und die Waldenjer x 
Die Predigt de guten Briten 
Bilfon vor Stampalin . . . 
Don Raphaels letztes Gebet . 
Die Verbannten . — 
1. Woinarowski. 
2. Beſtujeff.. 
Ein Gerichtstag auf Huahine . 
Der Stein der Mutter oder der 
Suahiba= Sndianerin . s 
Verbrennung der türkiſchen 
Flotte zu Tichesme. 3 
Der Szetler Landtag . 
Tue es lieber nicht! . 
Gage von Alerandern 
Rede des.alten Kriegers Bunte- 
Schlange im Rate der Ereef- 
Indianer . 
2 Mordtal 
Don Juanito Margıres Verdugo 
de los Leganes, ſpaniſcher 
Grande . . en ae 
Das Vermächtnis E 


Anhalt. 
Seite 
272 | Der Geijt der Mutter 
272 | Die Netraite . : 
273 | Ein Baal Teihuba j 
273 | Mateo Falcone, der sorfe. 
274 | Die Verjöhnung : 
275 | Ein Kölner Meifter 
Du Srancesco Francias. Tod 
277 | Das Kuunzifir. . 
280 an y Gomez 
280 
283 5: Die erſte Schiefertafel . 
285 3. Die andere Schiefertafel . 
285 4. Die legte ——— 
289 | Das Mealerzeichen . ; 
292 | Die ftille Gemeinde 
293 
298 Gelegenheitsgedichte. 
ns Der jungen Freundin ins 
304 Stammbud . 
305 Auf den Tod von Otto von pirch 
306 Stimme der Zeit . 
306 Trinkſpruch in einer literariſchen 
214 Gejellichaft 1831. 179 
217 Zur Einleitung des Deutſchen 
ek 1835. , 
321 Nachhall 
Dichters Unmut .. A 
995 Die Testen Sonette. 1.2 . 
397 An Trinius . Mi, 
399 Traum und Srwadhen 
‚8 
330 Wer hat's getan 
In dramatiſcher Form. 
336 | Der Tod a. 
39 | Fauft j 
überjegungen. 
348 | Das Lied von hr 
357 1 Spule”. 
RE — 


Drud vom Bibliographiihen Inſtitut in Leipzig 


a 
- Fu Rp} i 
> ae * 


ee 


* F air * 





& 
8 
> 
» 
* 
— 
— 


2) 


Author “hamissoy- Ad 


VIRTTZARTS UT  Naai HITARS SISZ/EN 
NER 


J 
x 


— 


— 


UNIVERSITY OF TORONTO 
LIBRARY 


the card 
from thıs \ 


Pocket. 


Acme Library Card Pocket 
Under Pat. “ Ref. Index File.” 
Made by LIBRARY BUREAU 





TANAURSUZREUZ N 
VIER 


a 


0 900 20 10 0% St 6€ 
9 W3ll SOd J1HS AVd 39NV4 Q 





M3IASNMOG Lv ILN